Wie ſtaunenswerth auch die Rüſtigkeit ſein mag, mit welcher in den letzten Decennien die geographiſchen Forſchungen fort - geſchritten, derjenige, welcher ſich in das Studium der Erdkunde verſenkt, wird nur zu bald gewahr, wie ſpärlich oft noch das Material über einzelne Planeteſtellen fließt, wie viele Orte, ja ganze Regionen es gibt, die noch niemals der Fuß eines gebil - deten Europäers betreten hat. Geradezu überraſchend mag es erſcheinen, daß ſolche gar nicht oder nur ſehr oberflächlich ge - kannte Gebiete mitunter hart an der Schwelle dicht bewohnter und oft durchſtreifter Länder, ja in der nächſten Nähe der europäiſchen Culturſtaaten liegen. Nirgends iſt dies mehr der Fall, als in jenen Länderſtrichen, welche wir kurzweg als den „ Orient “zu bezeichnen pflegen und worunter man die europäiſche Balkan-Halbinſel und ganz Vorder-Aſien, d. h. Klein-Aſien mit den ſyriſchen Geſtaden bis an die Hochſtufen Perſiens verſteht. Noch ſind es nur wenige Jahre her, daß das heute viel genannte Bulgarien ſo gut wie völlig unbekannt geweſen und kaum fünf - zehn deutſche Meilen von den ſchwarzgelben Grenzpfählen eine wahre terra incognita ſich ausbreitete, von welcher die Ausdauer eines öſterreichiſchen Forſchers erſt kurz vor Ausbruch des jüngſten türkiſch-ruſſiſchen Krieges den Schleier hinweggezogen hat. Bis dahin wußte man über einzelne Theile Afrikas thatſächlich genaueren Beſcheid, als über das uns doch ſo nahe gelegene Innere des osmaniſchen Reiches.
Die Regionen, in welche der durch frühere Arbeiten ſchon vortheilhaft bekannte Verfaſſer des vorliegenden Buches den Leſer hauptſächlich führt, ſind nun zwar nicht eine terra incognita in dem Sinne, daß ſie niemals beſucht und unterſucht worden wären; vielmehr haben verſchiedene, freilich nicht all zu vieleVIII Reiſende, Engländer und Andere, Armenien und Kurdiſtan wenigſtens theilweiſe durchwandert und die Ergebniſſe ihrer Beobachtungen in einzelnen Reiſewerken niedergelegt. Armenien ſelbſt iſt bis zur Stunde politiſch unter drei Mächte, Rußland, Perſien und die Türkei, vertheilt, und das den Ruſſen gehörige Stück iſt längſt, ſo gut es die Verhältniſſe geſtatteten, von ihnen dem Verkehre zugänglich gemacht und großentheils wiſſenſchaftlich durchforſcht worden. Immerhin iſt unſere Kenntniß jenes im gegenwärtigen Augenblicke ſo wichtig in den Vordergrund treten - den Theiles Aſiens, beſonders der nichtruſſiſchen Gebiete und namentlich Kurdiſtan, eine überaus kärgliche und muß die Erdkunde dankbar jede Gabe empfangen, welche den Umfang unſeres Wiſſens nach dieſer Richtung erweitert. Noch immer entbehren wir in der Literatur aller Sprachen eines Buches, welches in zuſammenhängender Weiſe und auf Grund eigener Anſchauung ein Geſammtbild jenes Landes vor Augen bringt, weitere Kreiſe mit Natur und Sitte in Armenien vertraut machen kann. Der Verfaſſer dieſer Schrift hat ſich nun bemüht, dieſer Aufgabe gerecht zu werden, indem er mit den Reſultaten ſeiner eigenen Unterſuchungen eine genaue Kenntniß der bisher über Armenien erſchienenen Literatur verbindet und in an - ſpruchsloſer Weiſe, geſchmackvoller Darlegung und fern von jedem gelehrten Scheine zu ſchildern verſteht. Fachmänner werden die auf ältere Arbeiten verweiſenden Noten gewiß dankbarſt auf - nehmen und darin die Mittel zu weiterer Vertiefung in dieſes Thema finden.
Im Hinblicke auf eine ſo bewegte Zeitgeſchichte, wie die heutige es iſt, wird auch der Politiker gern nach einer Arbeit greifen, welche ihn über den Werth des ſtreitigen Gebietes zu orientiren im Stande iſt. Manche Vorurtheile wird er darin zerſtreut, manchen Irrthum berichtigt finden und ſchließlich wohl Niemand das Buch ohne Nutzen aus der Hand legen.
Cannſtatt, im April 1878.
Friedrich von Hellwald.
Rußland und England in Vorder-Aſien. — Der ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien. — Die Territorial-Veränderungen durch den Frieden von San Stefano (3. März 1878).
Alle Welt ſpricht ſeit vielen Luſtren von der in ihren Con - ſequenzen unberechenbaren Rivalität der Ruſſen und Engländer in Central-Aſien. Die Geneſis der gegenſeitigen Machtbeſtre - bungen der beiden Rivalen hierſelbſt iſt zur Genüge bekannt, aus Zeitungsberichten und Parlamentsreden, aus politiſchen Ab - handlungen und dickleibigen Reiſeberichten ſowohl ruſſiſcher, als engliſcher Schriftſteller. Mag es nun mit den theoretiſchen Calculs eines Zuſammenſtoßes der beiden Coloſſe an dem rieſigen Grenzwall des Himalaya-Syſtems und den dazu gehörigen Hoch - ländern von Badaghſchan und der Pamyr wie immer beſtellt ſein, ſoviel ſteht feſt, daß die Natur in dieſer grandioſen Gebirgs - welt, dem „ Dache der Welt “, wie Fedtſchenko ſie nennt, Factoren in Mitleidenſchaft zieht, welche die ſogenannte „ central-aſiatiſche Frage “einer definitiven Löſung nicht gar ſo bald entgegenführen werden. Die Machtbeſtrebungen beider Staaten collidiren indeß nicht in Central-Aſien allein; an der ganzen Längenachſe des aſiatiſchen Continents, vom Cap Baba-Kaleſſi unweit Trojas bis zu den Geſtaden des ochotzkiſchen Meeres, gibt es nahezu aller - orts Territorien, wo die vielbeſprochene Rivalität einen mehr oder minder ſcharfen Ausdruck erhält. So documentirt ſich denn auch in Vorder-Aſien allenthalben der Anglo-ruſſiſche Antago - nismus, und es dürfte unſeres Erachtens am Platze ſein, einem Buche, das ſich mit einem ſo wichtigen, in politiſcher, wie inXIIEinleitende Bemerkungen.geographiſcher Beziehung wichtigen Lande, wie Armenien, be - ſchäftigt, ein Capitel politiſchen und zeitgeſchichtlichen Inhaltes voranzuſetzen …
Mit Rußlands Verlegung ſeiner Grenzpfähle bis zum Großen Ararat nach den perſiſchen und ruſſiſch-türkiſchen Kriegen 1826 bis 1829, d. h. nach den Friedensſchlüſſen von Turkmantſchai und Adrianopel, ſchien England des müßgen Zuſehens gegenüber den ſtetig ſtattfindenden Machtverſchiebungen an der Schwelle Irans überdrüſſig. Eine politiſche Preſſion auf die Verhältniſſe ſchien freilich nicht gut möglich, und ſo bediente man ſich an - fänglich engliſcherſeits anderer Mittel. Der Beſuch engliſcher Miſſionäre nahm um dieſe Zeit in Vorder-Aſien erheblich zu, namentlich in den öſtlichen und centralen tauriſchen Diſtricten, alſo an der eigentlichen geographiſchen Schranke zwiſchen einer allfälligen ruſſiſchen und engliſchen Macht - und Intereſſen-Sphäre. Leider ſind über dieſe Anfänge brittiſchen Einfluſſes nur Er - innerungen zurückgeblieben, welche das allerungünſtigſte Licht auf die engliſche Proſelytenmacherei werfen. So hatten beiſpiels - weiſe die Kurden des Neſtorianer-Diſtrictes von Hakkiari eine für jene Naturſöhne höchſt außergewöhnliche Hochachtung vor dem Wirken der amerikaniſchen Miſſionsbrüder erlangt, wie es vor einigen Decennien und gerade nach dem erſten ſiegreichen Feldzuge der Ruſſen in Armenien (1829) blühte. Dagegen wußten die engliſch-hochkirchlichen Miſſionäre nichts beſſeres zu thun, als die Kurden, welche doch unter Umſtänden ſehr fanatiſche Mohammedaner zu ſein vermögen, gegen die Amerikaner und ihre neſtorianiſchen Schutzbefohlenen aufzuhetzen, und ſo jenes Blutbad hervorzurufen, das weit erſchütternder war als die Maronitenſchlächterei im Jahre 1860, wobei die Engländer be - kanntlich gleichfalls ihre Hände im Spiele hatten. Das Haupt der damaligen hochkirchlich-biſchöflichen Propagandiſten in Hakkiari aber war ſo naiv, oder übelwollend, daß es nach der entſetzlichen Kataſtrophe von Aſchitah das Handeln des blutdürſtigen Bedr Khan noch zu entſchuldigen wagte. „ Wie myſteriös “, ruft Hr. Badger (The Nestorians, I, 301) aus, „ waren die Wege des Allmächtigen, indem er zuließ, daß die ungläubigen Kurden ſo viele Tauſend Anhänger Chriſti ſchlachteten! Wir dürfen gleich - wohl nicht zweifeln, daß Gott ein erhabenes Ziel bei dieſer Zu -XIIIRußland und England in Vorder-Aſien.laſſung hatte … “Das war der ſeinerzeitige Repräſentant des engliſchen Einfluſſes in Kurdiſtan; er hatte es auch dahin ge - bracht, daß der nach Perſien (Urumia) exilirte Neſtorianer-Pa - triarch Mar Schimun alle neſtorianiſchen Anhänger der ameri - kaniſchen (nicht biſchöflichen) Kirche verfluchte, den moslemiſchen Pöbel gegen dieſelben und die proteſtantiſchen Miſſionäre auf - hetzte und ſo zu Blutſcenen Anlaß gab, die erſt durch das Ein - ſchreiten der — perſiſchen Regierung ihr Ende fanden.
Nach dieſen wenig erfreulichen Reſultaten griff man eng - liſcherſeits zu anderen Mitteln, und zwar zu ſolchen handels - politiſcher Natur. Die Schlachtfelder in Armenien waren von dem vergoſſenen Blute (1829) kaum erſt trocken geworden, als die brittiſche Regierung mehrere Expeditionen mit handelspolitiſchen Miſſionen nach den Ländern des Eufrat und Tigris entſandte. Oberſt Chesney wandte ſich dem Eufrat zu, Ainsworth dem Tigris. Der im Grunde doch nur höchſt problematiſchen Frage der Beſchiffung des Eufrat mit Dampfern, wie ſie der engliſche Oberſt aufwarf, folgte bald deſſen, rein nur akademiſchen Werth beanſpruchendes Project einer directen Schienenverbindung des ſyriſchen Geſtades mit dem Perſiſchen Golfe durch eine dem Eufrat-Thale entlang laufende Bahnlinie. Die Projecte an ſich waren aber nicht das Schwerwiegende an der Frage, ſondern die damit verbundene handelspolitiſche Tendenz, den perſiſch-kur - diſchen Export, welchen die Ruſſen mit viel Umſicht und Energie in der kürzeſten Zeit an ſich zu reißen wußten, über den Per - ſiſchen Golf abzulenken. Seit vierzig Jahren nun macht Eng - land in dieſer Richtung ganz außerordentliche Anſtrengungen, und man kann ſagen, daß es an der Themſe keine politiſche oder national-ökonomiſche Capacität gibt, die ſich mit dieſer Frage nicht eingehend beſchäftigt und ſie als mit den vitalſten Intereſſen des Inſelreiches gleichbedeutend erachtet hätte. Alle Projecte, welche ſich mit einer Paralyſirung der ruſſiſchen commerziellen Präponderanz in Vorder-Aſien beſchäftigen, ſind derart angelegt, daß ſie die Wechſelwirkung zwiſchen dem Emporium Conſtan - tinopel und dem Perſiſchen Golfe in irgend einer Art zum Aus - drucke bringen.
Sehr eingehend hat ſich neuerdings ein Parlamentsausſchuß mit dieſer Frage befaßt, der im Jahre 1872 die AngelegenheitXIVEinleitende Bemerkungen.einer Sicherung des Eufrat-Thales in Erwägung zog (unter dem Vorſitze des jetzigen Schatzkanzlers Sir Stafford Northcote), und ſich dahin ſchlüſſig gemacht: daß die politiſchen, wie die Handels - vortheile, welche die Sicherung jener Straße gewähren, zu jeder Zeit beträchtlich und unter möglichen Verhältniſſen außerordentlich groß ſein würden. In der Denkſchrift ſelbſt (Report from the Select Committee on Euphrates Valley Railway etc. …) wurden drei Varianten eines Schienenweges durch Vorder-Aſien nach Indien discutirt, und zwar: erſtens, von einem nordſyriſchen Küſtenpunkt aus (Suwedje oder Skanderun) über Aleppo zum Eufrat und dieſem thalab folgend bis zum Perſiſchen Meerbuſen; zweitens, von denſelben Ausgangspunkten ab durchs meſopotamiſche Binnenland, alſo entweder am linken Eufrat - oder rechten Tigris - Ufer, mit dem gleichen Endpunkt (Kuweit, Korna oder Basra); drittens endlich, eine Linie über Djarbekr und Moſſul, alſo längs der Südgrenze Kurdiſtans nach Bagdad und weiter zum Perſiſchen Golfe. Für das erſte Project wurde überdies auch noch die Wahl des Küſtenpunktes Tripolis (Tarabulus) in Mittel - Syrien anempfohlen, wodurch eine große Strecke der Eufrat-Bahn in die ſyriſch-eufratenſiſche Wüſte (Palmyra-Deïr) fallen würde. Auch gibt es ein Project (durch den Aſſyriologen und Präſi - denten der Londoner „ Geogr. Soc. “, Sir Henry Rawlinſon ver - treten), nach welchem die Bahn von Scutari ab ganz Klein - Aſien und Armenien, weiterhin Perſien und Afghaniſtan durch - ſchneiden ſoll, um entweder bei Peſchawer oder Schikarpur ans indiſche Netz anzuſchließen. Hiebei handelt es ſich ſelbſtverſtändlich keineswegs um ein ruſſiſches Armenien, wie überhaupt alle Pro - jecte ſich möglichſt fern von den ruſſiſchen Reichsgrenzen halten. Die Vorzüge nun, welche die Eufratbahn der Theorie nach auf - wies, wurden in der Praxis ſtark paralyſirt. Von Tripolis di Siria bis Bagdad allein beträgt dieſe Linie nicht weniger als 1200 Kilometer, längs der es keine Städte, keine Hilfsquellen, kein Holz und in den Wüſtenſtrecken ſelbſtverſtändlich auch kein Waſſer gibt. Daß bei ſolch ungünſtigen Vorbedingungen das Comité die Koſten des Baues der Eufratbahn auf nur zehn Millionen Pfund Sterling veranſchlagte, iſt eine Illuſion; der Bau würde mindeſtens die doppelte Summe beanſpruchen. Außer - dem iſt die Bahn auch techniſch kaum ausführbar, da der StromXVRußland und England in Vorder-Aſien.zahlloſe mächtige Curven beſchreibt, denen die Linie nicht folgen darf, ſoll ſie nicht die Zahl der Kilometer unverhältnißmäßig erhöhen; den Curven aber auszuweichen, d. h., zahlloſe Brücken anzulegen und die vorliegenden Ufervorſprünge zu tunneliren — das allein ſchon würde das Unternehmen derart vertheuern, daß es auf ein Jahrhundert hinaus unrentabel bliebe. Das fragliche Comité ſelbſt hat ſeiner Zeit wohl gewiſſe Vorzüge dieſer Linie, wie bereits oben angedeutet, anerkannt, konnte aber über die praktiſche Seite dieſer Frage nicht ſchlüſſig werden. Wie die Dinge ſtehen, wird die ſogenannte „ Eufrat-Bahn “augen - ſcheinlich niemals, oder doch nur in ſehr ferner, unbeſtimmbarer Zeit, zu Stande kommen, wohl aber eine „ Tigris-Bahn “, die, von einem nordſyriſchen Hafen abgehend, durch das fruchtbare Hoch-Meſopotamien, alſo an der kurdiſch-meſopotamiſchen Grenze, und im weiteren Verlaufe längs der perſiſchen Grenze nach Bagdad und dem Perſiſchen Meerbuſen führen würde. Die eventuelle engliſche Intereſſenſphäre rückt demnach um ein be - deutendes Stück weiter nach Norden, bis an die Marken Kur - diſtans hinauf, das heißt, das Gegengewicht muß an einem Punkte geſucht werden, deſſen Ingerenz bis zu der genannten Grenze reicht. Daß ein ſolches Gegengewicht nur durch eine unge - ſchmälerte Machtſtellung am Perſermeere, niemals aber in dem ſo entlegenen und außer aller Communication mit den britiſchen Beſitzungen ſtehenden Tigris-Thale zu ſuchen ſei, liegt auf der Hand. Hiebei erwächſt freilich die moraliſche Schwierigkeit, daß eine Machtſtellung Englands am Perſiſchen Golf ſo ziemlich gleichbedeutend mit dem Beſitze der dortigen Küſtenländer und, wenn nicht aller, ſo doch der türkiſchen Provinz Irak Araki (Bagdad) und des perſiſchen Küſtenſtriches von Suſiſtan iſt.
Gegen die unleugbaren Fortſchritte Englands am Schat-el - Arab ſcheint Rußland in irgend einer Art Perſien entgegenge - ſchoben zu haben. Engliſcher Einfluß iſt in Perſien ſchon ſeit geraumer Zeit gebrochen; er erhielt den letzten Stoß, als es verſchiedenen Intriguen gelungen war, Hrn. v. Reuter ſammt ſeiner theuer erkauften Eiſenbahnconceſſion aus dem Lande zu drängen und ſomit jeder indirecten engliſchen Speculation die Spitze abzubrechen. Wenn der Nachfolger im Beſitze jenes Danaer-Geſchenkes, General Falkenhagen, ſeiner kurzen Errungen -XVIEinleitende Bemerkungen.ſchaft nicht froh werden konnte, zunächſt aus Mangel an Capital, ſo ſtand hinter ihm dennoch die ruſſiſche Regierung, wobei allerdings keine ſolidariſche Verpflichtung behufs Realiſirung des Unternehmens vorlag. Zweifellos iſt es, daß der Beherrſcher des Sonnenreiches, dem „ Punkte, zu dem die Welt ſich neigt “, im ruſſiſchen Sinne handelte und ſich überhaupt an den nor - diſchen Nachbar enger anſchloß. Gleichzeitig ereigneten ſich bald hierauf jene großen Kataſtrophen zu Conſtantinopel (1876), welche dem türkiſch-ſerbiſchen und türkiſch-ruſſiſchen Kriege voran - gingen, und ein königlicher Prinz aus dem Geſchlechte der Kad - ſcharen (man ſagt der Thronfolger), fand ſich veranlaßt, den verwegenen Ausſpruch zu thun: daß er alle osmaniſchen Fa - milienglieder, falls er die Macht hiezu beſäße, in Conſtantinopel — aufknüpfen würde. Das war eine ſehr deutliche Sprache, und ihr gegenüber nahmen ſich die Freundſchaftsverſicherungen zwiſchen Schah und Chalifen zum mindeſten ſehr draſtiſch aus. Die Sympathien der ſchiitiſchen Perſer zu den ſunnitiſchen Türken waren nie abſonderlich warme; ganz und gar unerträglich aber iſt erſteren der Gedanke, die Paſſionsſtätten ihres Glaubens, welche am fernen Eufrat-Geſtade liegen, in türkiſchen Händen zu wiſſen. Dort ruhen in ſumpfiger oder wüſter Niederung, in - mitten eines höchſt unſicheren Beduinen-Territoriums, die größten ſchiitiſchen Märtyrer, Ali zu Nedſchef und ſein Sohn Hoſſein zu Kerbela. Alljährlich ziehen die ſogenannten Todtenkarawanen mit ihren peſthauchenden Särgen vom iraniſchen Hochlande in die meſopotamiſche Niederung hinab, denn es iſt für Perſer ſehr erſprießlich in Nachbarſchaft jener Heiligen zu ruhen. Die Be - duinen aber ſind da ganz anderer Meinung und ſo wiederholen ſich ihre räuberiſchen Ueberfälle auf die, im Grunde ſehr ſanitäts - widrigen Leichenkarawanen, immer wieder, zum Theile aus Glau - benshaß, anderntheils der Schätze halber, welche die Verwandten der reichen Todten als Geſchenke für die Grabmoſcheen mit ſich führen. Aus dieſem Anlaß iſt der perſiſch-türkiſche Antagonismus uralt, und es iſt bekannt, daß noch in den erſten Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts Perſien die gewaltigſten Anſtrengungen machte, um wieder in den Beſitz von Bagdad zu gelangen, über welche Stadt jener Pilgerweg weiterhin zum Eufrat-Geſtade bei Hilleh führt. Dieſe Beſtrebung iſt auch die Lieblingsidee desXVIIRußland und England in Vorder-Aſien.jetzigen Schah geblieben, und er ſetzte auf ihre Verwirklichung ſehr viel Hoffnung, — da ſchob England auch hier ganz uner - wartet dem, von Rußland begreiflicherweiſe ſehr warm unter - ſtützten Plane, einen Riegel vor; es faßte in dem elenden Dorfe Mohammereh, an der Mündung des Schatt-el-Arab, Fuß, um ſich hier in Zukunft ſein meſopotamiſches Singapur zu gründen.
Einen noch viel entſchiedeneren Einfluß wußte ſich England im öſtlichen Arabien zu ſichern, wo namentlich die turbulenten politiſchen Ereigniſſe im Sultanat von Maskat die brittiſche Intervention geradezu herausforderten. Zum Verſtändniſſe der heutigen Lage daſelbſt müſſen wir indeſſen die Geſchichte Omans in aller Kürze vorbringen. Die eigentlichen Wirren in dieſem Sultanat datiren ſeit der unglücklichen Entſchließung des Sultans Sayid Said (geſt. 1856): ſein Reich in Aſien und Afrika in zwei Theile, wie ſie die Natur allerdings begünſtigte, zu trennen und ſo aus einem Staate zwei zu ſchaffen. Es erhielt Said Medſchid die Territorien an der oſtafrikaniſchen Küſte mit San - ſibar, und Said Tsueni das Sultanat von Oman, mit der Hauptſtadt Maskat. Bald nach dem Regierungsantritte Tsuenis entſpann ſich in Oman ein Bruderzwiſt, hervorgerufen durch ein geradezu uſurpatoriſches Auftreten Saids Achmeds, des dritten Sohnes Sayid Saids. In ſeiner Bedrängniß rief der Regent die Wahabiten, die Hochländler von Nedſched, zu Hilfe, ſchlug mit dieſen ſeinen Bruder Achmed und warf ihn ins Gefängniß, wo er wahrſcheinlich eines gewaltſamen Todes ſtarb, denn es hat ſeitdem von ihm nichts mehr verlautet. Wir wollen nun noch hinzuſetzen, daß bereits der Vater Tsuenis, als ganz unmündiger Knabe noch, ſeinen eigenen Oheim, den Sultan Bedr, auf ſeinem Schloſſe zu Burka ermordet hatte, und ſomit ſich und ſeine Nachkommen der in Arabien noch mit voller Intenſität graſſirenden Blutrache überlieferte. Das Familien-Drama ſollte auch in der That nicht zu lange auf ſich warten laſſen. Unter den unab - hängigen Beduinen im Innern des Landes lebte ein Enkel Bedrs, Azran Ibn Ghais, der den eigenen Sohn des omanitiſchen Sul - tans für eine Verſchwörung gegen dieſen und ſein Regiment gewann, und ſo wurde Tsueni (im Sommer 1867) durch ſeinen eigenen Sohn im Schloſſe Burka hinterliſtig ermordet. Dieſe blutige That hat dem jungen Said Salem ſchlechte FrüchteSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. IIXVIIIEinleitende Bemerkungen.getragen. Er lebte ſpäter vergeſſen und verſchollen auf einer Inſel des Perſermeeres, nachdem er nach kaum zweijähriger Re - gierung aus Maskat entfliehen mußte, um Schlimmerem zu ent - gehen. Aus dieſem Verſchwinden des jungen Sultans wollte der ſchon erwähnte Enkel Sayid Saids ſeinen Vortheil ziehen, und ſo zog eines Tages Ibn Ghais mit ſeinen Nomaden-Horden und Wüſten-Räubern in Maskat ein, um ſich des Thrones zu be - mächtigen. — Bis hieher hatte England vom benachbarten Indien aus ſtets den ſtummen, aber gleichwohl ſehr aufmerkſamen Beob - achter abgegeben. Die turbulenten Ereigniſſe lagen ganz in ſeinem Intereſſe, und es handelte ſich nur um den richtigen Zeit - punkt zum Einſchreiten, der auch hereinbrach, als Ghais in ſeiner tyranniſch-despotiſchen Art den engliſchen Conſul von Maskat ſehr „ von oben herab “behandelte, ja, ſich nachgerade ſeiner ent - ledigen wollte, um der ihm unbequemen, argusäugigen Controle zu entgehen. Sein Schickſal war indeß in Bombay bereits vorgezeichnet, wo der jüngſte Sohn Sayid Saids — Said Turki für den Thron von Maskat präparirt wurde. Im Spätſommer 1870 eroberte Turki mit brittiſchem Gelde und brittiſchen Waffen Maskat, und nachdem Ibn Ghais im Kampfe gefallen war, beſtieg er den Thron ſeiner Väter als — Vaſall Englands. Lange ſcheint indeß die Herrlichkeit Turkis nicht gedauert zu haben, denn neuerdings (1877) trafen Nachrichten aus Maskat ein, welche ein getreues Abbild der früheren Zuſtände liefern. Im abgelaufenen Jahre empörten ſich nämlich die Bewohner Maskats, angeblich wegen zu hohen Steuerdrucks und verjagten ihren Sultan Abdul Aziz. Aus einem Verſtecke im nahen Küſtenge - birge ſetzte ſich dieſer in Verbindung mit der Regierung in Cal - cutta, die auch ſofort das Kriegsſchiff „ Teazer “nach Maskat abſegeln ließ, um den Sultan wieder einzuſetzen. Während dieſer Zeit herrſchte in der Reſidenzſtadt der größte Terrorismus und die dortigen engliſchen Unterthanen flüchteten mit ihren Familien theils nach Kuratſchi, theils nach Bombay. Zwölf Tage nach der Flucht des Sultans erſchien nun das erwähnte Kriegsſchiff und ſtellte die alte Ordnung (nach vorangegangener Drohung, die Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln) wieder her. Das Ende vom Liede wird aber binnen Kurzem auch hier eine — engliſche Annexion ſein.
XIXRußland und England in Vorder-Aſien.So ſehen wir unleugbar das mälige Anwachſen der brittiſchen Herrſchaft am Perſermeere. Welcher Contact aber liegt nun zwiſchen den Territorien daſelbſt und den elenden Hochſteppen Armeniens oder den verwahrloſten pontiſchen Küſtenſtädten? Wir haben darüber aus dem Munde der engliſchen Staatsmänner nie etwas Poſitives erfahren, weil der fragliche Contact gar nicht exiſtirt. Englands Intereſſen-Linien laufen ſchon ſeit Jahr - zehnten von den Delta-Marſchen des Nil und der ſyriſchen Küſte nach dem Perſiſchen Golfe, beziehungsweiſe nach Indien, während jene Rußlands identiſch ſein dürften mit den alten Handelswegen vom Pontus durch Armenien nach Nord-Perſien. Beide Linien - Zonen, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, laufen zu einander parallel, aber auch nur der Theorie nach; in Wahrheit liegt zwiſchen dieſer beiderſeitigen Intereſſen-Sphäre ein ganzes Reich — Türkiſch-Aſien — und der Maſſenumſatz zweier ganz ver - ſchiedener Welthälften, der nördlichen und der ſüdlichen. Die eingebildete Gefahr, daß durch den ruſſiſchen Beſitz der Eufrat - quellen Englands Machteinfluß in Vorder-Aſien lahmgelegt werden könnte, iſt ſomit nicht einmal eine geographiſch ſtichhaltige, ge - ſchweige eine greifbar politiſche oder commerzielle. Wenn indeß die Engländer glauben, daß in letzterer Beziehung die Ruſſen in Armenien dennoch ein ſchwerwiegender Factor ſeien, ſo wäre dagegen nur einzuwenden, daß über Erzerum und Armenien überhaupt der engliſche Handel von und nach Indien gleich Null iſt, daß von den durchſchnittlich 300 Poſt - und Waaren-Dampfern, welche jährlich den Hafen von Trapezunt anlaufen, nur fünf engliſcher Flagge und ein ganzes Drittel ruſſiſcher Flagge ſind, und daß unter den 1000 Transport-Dampfern, welche jahrein und jahraus nach und von den Seeplätzen Keraſunt, Ineboli und Samſun an der Pontusküſte verkehren, nach dem letzten ſtatiſtiſchen Ausweis (1876) nur — ſieben engliſcher Flagge waren. Unter ſolchen Umſtänden vermag man durchaus nicht die Logik heraus - zufinden, nach der man in England Intereſſen bedroht ſehen will, die thatſächlich, wenigſtens in commerzieller Beziehung gar nicht exiſtiren.
Hiebei geht die öffentliche Meinung in England auch in anderer Beziehung zu weit, namentlich wenn ſie — wie un - mittelbar nach Schluß des ruſſiſch-türkiſchen Krieges — in BezugXXEinleitende Bemerkungen.auf die ruſſiſche Territorial-Erwerbung in Armenien das alte Geſpenſt herannahender Gefahr für Indien citirt. So ſchrieb damals der türkenfreundliche „ Daily-Telegraph “, daß durch die Erfolge Rußlands nicht nur die Geſchicke der Türkei, ſondern auch jene — Englands entſchieden werden würden. Die Frage ſei von gleich ernſter Bedeutung für die Engländer, wie für die Türken; die Eroberung Armeniens wurde ausdrücklich unter - nommen, um Großbritannien entſchieden Nachtheil zuzufügen, während der Durſt Rußlands nach Gebietsvergrößerung nur in zweite Linie zu ſtellen komme. Das Blatt betonte ferner, daß eine Machterweiterung Rußlands ſüdlich des Kaukaſus von der größtmöglichſten Rückwirkung auf den mohammedaniſchen Oſten ſein würde, und einen Einfluß geltend machen müßte, der den britiſchen vollends in den Hintergrund drängen dürfte … Es fällt ſchwer, von der Expanſionskraft Rußlands ſo vollſtändig überzeugt zu ſein, um derlei Bilder zu entrollen, und zu glauben, daß die Koſaken, auf Grund des Erfolges in Armenien, mit der Zeit ganz Aſien überſchwemmen, Indien, Syrien und Egypten verſchlingen und zuletzt an den Nilquellen Halt machen würden. Und dennoch konnte dieſe abenteuerliche Perſpective bis auf den Tag bei den Engländern eine Rolle ſpielen. Man hat auch nicht verabſäumt zu erklären, daß Rußland, einmal im Beſitze von Kars und Batum, nicht blos das Eufratthal beherrſchen würde, ſondern ſich auch jederzeit Syriens bemächtigen könnte, da die Pforte, durch die unerhörten Anſtrengungen zu Tode erſchöpft, fortan in Rußlands Händen ſein würde, und da für die Beſetzung Syriens ſich leicht ein frommer Vorwand in der angeblichen Befreiung der heiligen Stätten aus der Gewalt der Ungläubigen finden ließe. Herr Bright habe bereits einen ſolchen Kreuzzug als hochverdienſtliches Werk geprieſen, und alle Vorkämpfer des Chriſtenthums in England, die ganze Partei der Ritualiſten würde Rußland Beifall zujauchzen. Syrien aber ſei die Pforte Egyptens und des Suez-Canals … Iſt das nicht der ſchönſte Weg über Aden und Sanſibar zur Cap-Colonie, ja, zum Südpol? Nach dieſen Politikern bedroht aber ein Groß - Armenien unter ruſſiſcher Herrſchaft nicht blos Syrien und Egypten, ſondern auch das Eufratthal und mithin den wich - tigſten Ueberlandweg nach Indien. Von einer ſolchen kann aberXXIDer ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.hier nicht die Rede ſein, will man ſich etwa nicht an das bekannte Sprichwort halten, daß alle Wege nach Rom — folglich auch nach Calcutta — führen. Es iſt ganz unbegründet von einer Beherrſchung des Eufratthales zu ſprechen, ſobald Rußland ſich nur im Beſitze des ganz unbedeutenden Oberlaufes dieſes Fluſſes befindet. Es wäre etwas ganz Aehnliches, wenn man annehmen wollte, daß Württemberg, oder Süddeutſchland, oder Deutſchland überhaupt, im Beſitze des Oberlaufes der Donau, eine abſolute Herrſchaft über den Strom ausübe. Alles in Allem, der ruſſiſche Beſitz der Grenzprovinz in Armenien kann noch lange nicht maßgebend für eine Bedrohung des Ueberlandweges nach Indien ſein. Ganz Perſien und Afghaniſtan, in gewiſſem Sinne auch Kurdiſtan, liegen dazwiſchen, und erſt demjenigen werden ſich die Pforten nach dem Pendſchab öffnen, der Herr des Iraniſchen Hochlandes ſein wird …
Gehen wir nun zu den letzten kriegeriſchen Ereigniſſen in Armenien ſelbſt über. Es kann hier nicht die Abſicht vorliegen, eine erſchöpfende Geſchichte des ruſſiſch-türkiſchen Feldzuges auf dem aſiatiſchen Kriegsſchauplatze zu liefern, aber eine chrono - logiſche Aneinanderreihung der entſcheidenden und hauptſächlichen Momente in dieſer Action würde gleichwohl ſich in den Rahmen dieſer Schrift einfügen laſſen … Gleichzeitig mit den erſten Colonnen der europäiſchen Armee, rückten nach erfolgter Kriegs - erklärung (24. April 1877) auch in Armenien die ruſſiſchen Ab - theilungen über die Grenze. Die Armee hierſelbſt, unter Com - mando des General-Lieutenants Loris-Melikoff geſtellt, wurde auf etwa 115,000 Mann Infanterie, 26,000 Pferde und 370 Geſchütze, darunter 64 ſchwere Belagerungsgeſchütze, berechnet und beſtand aus dem Hauptcorps oder dem „ Detachement von Alexandrapol “, aus dem rechten Flügel oder dem „ Detachement von Ardaghan “und ſchließlich aus dem linken Flügel, oder dem „ Detachement von Eriwan “. Ein beſondern Corps, das ſich ſüd - wärts des Rion echelonnirt hatte, ſollte gegen Batum vordringen, um nach geglückter Action wahrſcheinlich durch das Thal des Tſchuruk mit den übrigen Colonnen gegen Erzerum vorzurücken. Die ſtrategiſche und geographiſche Situation lag ſo, daß, bei Annahme eines allſeitigen Gelingens der Operationen, alle De - tachements in Erzerum, der armeniſchen Capitale, eintreffenXXIIEinleitende Bemerkungen.ſollten. Im Allgemeinen befanden ſich die türkiſchen Streitkräfte, unter Commando des Muſchirs Achmet Mukhtar geſtellt, zu Beginn des Krieges nicht in der Lage, dem Gegner erheblichen Widerſtand zu leiſten. Es waren meiſt nur Irreguläre, Kurden, Tſcherkeſſen, ja ſelbſt Araber, welche unter die Fahnen des tür - kiſchen Generals geeilt waren, während die eigentliche reguläre Feldarmee eine ſehr beſcheidene Ziffer repräſentirte. So gelang die erſte ruſſiſche Invaſion ſpielend. Bereits eine Woche nach erfolgter Kriegserklärung zog General Tergukaſſoff an der Spitze des Detachements von Eriwan in Bajazid ein und in den erſten Tagen des Mai erſchien die Hauptcolonne vor Kars, wo ſie, ohne eine Cernirung zu bewirken, einige Zeit liegen blieb, indeß Seiten-Colonnen gegen den Araxes ſtreiften, wobei das Städtchen Kagisman am 9. Mai den Ruſſen in die Hände fiel. Tergu - kaſſoff war wenige Tage ſpäter in Djadin eingetroffen und am 17. Mai gelang es dem General Komarow, nach kurzem aber hartnäckigem Kampfe ſich der Feſtung Ardaghan zu bemächtigen, wobei zwei Paſchas, 7600 Mann in Gefangenſchaft geriethen und 96 Kanonen, 2000 Zelte und 7000 Gewehre erbeutet wurden. Unterdeſſen erging es den Ruſſen an den Pontusküſten minder gut. Die reſpectable türkiſche Panzerflotte hatte nicht nur einzelne ruſſiſche Häfen blokirt, ſondern auch zahlreiche Truppen in Batum ans Land geſetzt, die nicht nur gleich im Anfange einen jeden Offenſiv-Verſuch des Rioncorps vereitelten, ſondern auch ſpäterhin, für die ganze Dauer des Krieges, daſſelbe zur Unthätigkeit verurtheilten. Gleichzeitig war Fazly Paſcha mit einem Expeditionscorps, nachdem vorher von einer Escadre Suchum-Kaleh an der Küſte Abchaſiens zuſammengeſchoſſen ward, daſelbſt gelandet, um den Kaukaſus zu inſurgiren. Die Abſicht ſchien Anfangs von Erfolg gekrönt werden zu wollen, denn die aufſtändiſche Bewegung pulſte bis tief ins Binnenland hinein und bald erhoben ſich auch einzelne Stämme in der Tſchetſchna und im Dagheſtan, aufgemuntert durch das Erſcheinen eines Sohnes Schamyls und haranguirt durch eine Proclamation Sultan Abdul Hamids, die an den Opfermuth der „ bedrückten Glaubensbrüder “appellirte. Die Ruſſen wurden indeß der Be - wegung bald Meiſter und wenn es auch hin und wieder zu blutigen Zuſammenſtößen kam, ſo waren gleichwohl die MittelXXIIIDer ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.der Aufſtändiſchen nicht darnach, ſie zu Herren der Situation zu machen. Vollends belanglos blieben die Leiſtungen Fazly Paſchas, der ſich in den Küſtenſtrichen mit kleinen ruſſiſchen Abtheilungen herumſchlug und zwar mit ziemlich wechſelndem Erfolge.
In der zweiten Hälfte des Mai war Loris-Melikoff mit dem Centrum der armeniſchen Invaſions-Armee vor Kars ange - langt und zwiſchen dem 20. und 24. ſchritt man zum erſten - male zu einer heftigeren Beſchießung des Platzes. An eine ernſt - liche Action gegen Kars dachte man aber umſo weniger, als man die Gelegenheit nicht verſäumen wollte, dem, im vollen Rückzuge auf Erzerum ſich befindlichen Mukhtar Paſcha nachzurücken, um ihm geeigneten Orts eine Schlacht anzubieten. Auf dieſem Vormarſche wurde das Soghanly-Gebirge (Mitte Juni) nahezu anſtandslos überſchritten, nachdem es vorher noch gelang, die tſcherkeſſiſche Reiterei unter Muſſa Paſcha durch einen nächtlichen Ueberfall bei Begli-Achmed nahezu ganz zu vernichten. Mit dem Erſcheinen der Hauptcolonne jenſeit des Soghanly-Gebirges waren auch die Seiten-Detachements in unmittelbarer Nähe eingetroffen, jenes von Ardaghan bei Olti (am 8. Juni), das Detachement Tergu - kaſſoffs bei Seidekhan, wo es alsbald in heftige Gefechte mit dem rechten Flügel der Truppen Mukhtars verwickelt ward. Der türkiſche Marſchall ſelbſt hatte, augenſcheinlich nach den Dispo - ſitionen ſeines Generalſtabschefs Feizi Paſcha (einem ungariſchen Emigranten Namens Kollmann), eine ſehr vortheilhafte Stellung bei Zewin, in den weſtlichen Vorbergen des Soghanly, genommen und von dieſer Central-Poſition aus Offenſivſtöße gewagt, die allenthalben gelangen. Schon am 14. Juni beſetzten die Türken das verlorene Olti wieder, mußten aber das obere Murad-Becken nach einem verlorenen Treffen bei Sedekchan und Deli-Baba vollſtändig räumen und Anlehnung an den Araxes-Ufern zunächſt Choraſſan und Köprüköi ſuchen. Am 25. endlich ſchritt Loris - Melikoff, nachdem kurz zuvor Großfürſt Michael auf dem Kriegs - ſchauplatze erſchienen war, zum allgemeinen Angriff auf die Po - ſition von Zewin, wurde jedoch geſchlagen. Mit einem Verluſte von 4000 Mann erfolgte deſſen Rückzug über das Soghanly - Gebirge in der Richtung auf Kars.
Wochen vergingen ſeit dieſer Kataſtrophe, ohne daß es auf dem armeniſchen Kriegsſchauplatze zu ernſtlichen ZwiſchenfällenXXIVEinleitende Bemerkungen.gekommen wäre. Bei der notoriſchen türkiſchen Nachläſſigkeit und Sorgloſigkeit gewannen die Ruſſen Zeit, erhebliche Ver - ſtärkungen nach dem Arpatſchai zu dirigiren, was ihnen umſo leichter wurde, als bereits Anfangs Auguſt türkiſcherſeits die weitere Invaſion Abchaſiens aufgegeben wurde und die Ein - ſchiffung der dortigen Truppen und Abchafen am 8. deſſelben Monats ihren Abſchluß erreicht hatte. Gleichwohl blieb die ruſſiſche Actions-Armee auch fernerhin vollkommen inoffenſiv und am 10. Auguſt überſchritten die erſten fliegenden Detachements der Türken die Ararat-Kette und erſchienen ſo auf ruſſiſchem Gebiete. General Tergukaſſoff befand ſich um dieſe Zeit nächſt Igdyr vorwärts des Araxes, ohne ſich ernſtlich mit ſeinem Gegner Ismail Kurd Paſcha einzulaſſen, der auch Bajazid wieder beſetzt hatte und die in der Citadelle zurückgebliebene ruſſiſche Beſatzung ernſtlich bedrängte; anders am Arpatſchai, wo Mukhtar Paſcha am 23. Auguſt die Offenſive ergriff und den Ruſſen bei Ge - dikler in der Ebene öſtlich von Kars einen empfindlichen Schlag beibrachte. Dieſer Sieg trug dem türkiſchen Marſchall von Seiten des Sultans ein Beglückwünſchungstelegramm ein. Zwei Tage ſpäter gewannen die Türken auch die günſtige Poſition am Kyzil-Tepe und verdrängten ſo ihre Gegner vollends aus dem Bereiche jener dominirenden Höhen, die ſich im Bogen zwiſchen Kars und Ani (am Arpatſchai) legen. Die Ruſſen verhielten ſich von da ab wieder vollends in der Defenſive, indem ſie ſich in der Poſition von Kurukdere concentrirten und die ſo drin - genden Verſtärkungen abwarteten, die, in Anbetracht der unge - heueren Entfernungen, noch immer nicht eingetroffen waren.
So verging der ganze September in gegenſeitiger Unthätigkeit. Am 2. October begann aber eine Reihe von Kämpfen, die nach der Hartnäckigkeit, mit der ſie beiderſeits ſtattfanden, und nach der Zahl der hiebei aufgewendeten Streitkräfte, nothgedrungen zu einer Entſcheidung führen mußten. Eine ſolche war aber bei der vorgeſchrittenen Jahreszeit doppelt geboten. Die erſten dieſer Kämpfe fielen zwiſchen den 2. und 4. October, wo mit wech - ſelndem Glücke um einzelne Poſitionen des Aladſcha-Gebirges geſtritten wurde. Die Ruſſen hatten den großen Jaghni-Hügel bereits genommen, als ſie ſich, angeblich wegen Waſſermangels, wieder zurückzogen. Auch am 10. gelang es Mukhtar PaſchaXXVDer ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.noch einmal ſiegreich zu bleiben — was ihm von Seite des Sultans den Titel eines Ghazi oder „ Siegreichen “eintrug — dann ſchlug aber das Kriegsglück um und am 15. und 16. gelang es den vereinigten Streitkräften der Generale Heymann und Loris-Melikoff, die feindlichen Stellungen auf den Aladſcha-Höhen zu durchbrechen, einen großen Theil der Armee Mukhtars ge - fangen zu nehmen, den Reſt aber nach Kars hineinzuwerfen. Dieſe ſiegreiche Schlacht der Ruſſen koſtete ihren Gegnern ſieben Paſchas und 12,000 Mann als Gefangene, dann 84 Geſchütze, 4000 Zelte und 10,000 Gewehre, welche dem Sieger als Beute zufielen.
Die Folgen dieſes entſcheidenden Schlages zeigten ſich ſehr bald. Zunächſt räumte Ismail Paſcha ſchleunigſt das ruſſiſche Gebiet, da eine von Kars gegen das obere Murad-Becken diri - girte Colonne ſeine Rückzugslinie bedrohte. Mukhtar beließ den Reſt ſeiner Feldarmee in Kars, das er zu halten hoffte, und nahm ſeinen fluchtartigen Rückzug mit nur wenigen Abtheilungen über das Soghanly-Gebirge ins obere Araxes-Becken, um Erzerum zu decken. Nach mittlerweile erfolgter Vereinigung mit Ismail Paſcha war er in der Lage, eine zuwartende Haltung auf den Höhen oſtwärts Erzerums einzunehmen, wo er jedoch ſchon am 6. November von den Ruſſen, die mit einem Theile ihrer Truppen Kars cernirt hatten, mit dem Reſte aber unausgeſetzt vorrückten, angegriffen, delogirt und bis unter die Kanonen der Außen - werke Erzerums verfolgt wurde. Trotz des nunmehrigen raſchen Ganges der Operationen ſetzte man türkiſcherſeits gleichwohl noch berechtigte Hoffnung in den Waffenplatz Kars, der ſeit dem letzten Kriege mit einem Kranze ſteingebauter und caſemattirter Forts umgeben ward. Es kam indeß anders. Kars fiel nur einen Monat nach der Schlacht am Aladſcha, am 18. November durch nächt - lichen Sturm. Man konnte im Anfange zu dieſem überraſchenden Erfolge im Abendlande keine ſtichhaltige Erklärung finden, doch ſtellte es ſich ſpäter heraus, daß gerade diejenigen Werke, welche der offenen Stadt im Süden vorlagen, ſich keineswegs in jenem hohen Grade von Vertheidigungsfähigkeit befanden, als man allgemein angenommen hatte. Auch die Verkettung von allerlei Zwiſchenfällen beſchleunigte die Kataſtrophe. So waren ruſſiſche Abtheilungen, einmal im Beſitze der Stadt, aus dieſer von rückwärtsII*XXVIEinleitende Bemerkungen.in die großen Forts im Nordoſten — die überdies durch die Bürgermiliz vertheidigt wurden — eingedrungen, und zwar ohne beſonders hartnäckigen Kampf. Als dann früh Morgens die eigentliche Beſatzungstruppe jenſeit des Fluſſes und innerhalb eines ganzen Kranzes ſtarker Forts die ruſſiſchen Flaggen auf den Wällen der öſtlichen Fortificationen erblickte, hielt ſie die Capitulation für perfect und räumte ohne Kampf ihre Poſitionen. Später über den Irrthum aufgeklärt, machte ſie allerdings den Verſuch durchzubrechen, woran ſie jedoch von den übrigen ruſſiſchen Cernirungs-Abtheilungen verhindert wurde. Der türkiſche Verluſt in dieſer Affaire betrug vier Paſchas, 22,000 Mann an Gefangenen, dann 350 Geſchütze, 6000 Zelte und 18,000 Gewehre. Die Ruſſen büßten bei dem Sturme 2700, die Türken 5000 Mann an Todten und Verwundeten ein.
Der mit gewohnter Strenge hereingebrochene Winter hatte alle Operationen zum Stillſtande gebracht. Die Türken ſchickten ſich an, Erzerum zu vertheidigen, und wieſen auch mehrere An - griffe auf die Außenwerke der Feſtung ab, im Uebrigen aber be - ſchränkten ſich die Ruſſen mehr auf eine Beobachtung des Platzes, ſowie auf eine mälige Cernirung deſſelben, da ſie ohne ſchwere Belagerungsgeſchütze an einen gewaltſamen Angriff nicht denken konnten. Dieſe aber mitten im Winter über die verſchneiten Gebirge und Päſſe zu ſchaffen, erwies ſich nur zu bald als eine abſolute Unmöglichkeit. Die unerwarteten Erfolge der Ruſſen auf dem europäiſchen Kriegsſchauplatze, die mehrfachen Balkan - Uebergänge trotz Eis und Schnee, der Einzug der Armee des Großfürſten Nicolaus in Adrianopel und die Offenſive eines Theiles derſelben mitten im Winter gegen Conſtantinopel, waren auch für den Verlauf des Feldzuges in Armenien von Ent - ſcheidung. Am 1. Februar trat ein einmonatlicher Waffenſtill - ſtand in Europa und Aſien in Kraft und am 3. März (n. St.) ward der ruſſiſch-türkiſche Friedensvertrag zu San Stefano bei Conſtantinopel unterzeichnet.
Nach Artikel XIX (Alinea b) dieſes Vertrages erfolgte eine Abtretung armeniſcher Gebietstheile an Rußland, die wie folgt umſchrieben wurden: Die neue Grenzlinie läuft, die Küſte des Schwarzen Meeres verlaſſend, dem Kamm der Berge entlang, welche die Zuflüſſe des Fluſſes Choppa von jenen des TſchurukXXVIITerritorial-Veränderung durch den Friedenstractat.trennen, und der Kette der Berge im Süden der Stadt Artwin bis zum Fluſſe Tſchuruk bei den Dörfern Allat und Behagſcht; von da geht die Grenze über die Gipfel der Berge Derwenik - Gheki, Hortſchezor, über den Kamm, welcher die Waſſerſcheide zwiſchen den Zuflüſſen des Torthum Tſchai und Tſchuruk bildet, und über die Höhen bei Jali-Vihim, um beim Dorfe Vihim Kiliſſa am Torthum Tſchai zu enden; von da folgt ſie der Kette Sivri-Dagh bis zur Höhe des Kammes, geht am Dorfe Noriman ſüdwärts vorüber und läuft ſüdoſtwärts auf Zewin zu, wo ſie ſich im Weſten der Straße, die nach Choraſſan zieht, ziemlich parallel hält und endlich über den Soghanly bis zum Dorfe Gilitſchman zieht. Weiter überſetzt ſie den Scharian-Dagh und weiters den Murad zehn Werſt unterhalb Hamur, um von da, entlang den Kämmen des Ala -, Hori - und Tandurek, ſüdwärts an Bajazid vorüberzuziehen und zuletzt auf die alte türkiſch-perſiſche Grenze ſüdlich des Sees Kazli-Göl zu ſtoßen.
Nach dieſer Grenz-Umſchreibung erwächſt dem ruſſiſchen Reiche ein ungefährer Gebietszuwachs von 650 Quadrat-Meilen, mit annähernd 300,000 Einwohnern. Statiſtiſche Details ſind derzeit noch völlig unbeſtimmbar, da ſelbſt die alten Daten des officiellen Staats-Kalenders kaum verläßlich ſein dürften.
Andere Artikel des Friedensvertrages, welche ſich ſpeciell auf Armenien beziehen, ſind:
Artikel XVI: Da die Räumung der von den ruſſiſchen Truppen in Armenien beſetzten Territorien, welche an die Türkei zurückfallen, Anlaß zu Conflicten und für die guten Beziehungen der beiden Länder gefährlichen Verwickelungen geben könnte, ſo verpflichtet ſich die Pforte, ohne Aufſchub die Verbeſſerungen und die von den Localbedürfniſſen in den von Armeniern bewohnten Provinzen geforderten Reformen durchzuführen und die Sicher - heit der Armenier gegen die Kurden und Tſcherkeſſen zu garantiren.
Artikel XVIII: Die Hohe Pforte wird die von den Com - miſſären der vermittelnden Mächte bezüglich des Beſitzes der Stadt Khotur ausgeſprochene Meinung in ernſte Erwägung ziehen und verpflichtet ſich, die Arbeiten behufs Beſtimmung der türkiſch-perſiſchen Grenze ausführen zu laſſen.
XXVIIIEinleitende Bemerkungen.Artikel XIX, der die neuen armeniſchen Grenzen feſtſtellt, enthält auch die entſprechenden Beſtimmungen, wonach dieſe Gebiets-Abtretung als Aequivalent der Summe von einer Milliarde und hundert Millionen Rubel der Kriegs - entſchädigung (von 1410 Millionen Rubel) betrachtet wird.
Artikel XXV handelt von der ſtattzufindenden Räumung des türkiſchen Gebietes in Aſien durch die ruſſiſchen Truppen, innerhalb ſechs Monaten, vom Tage des definitiven Friedens - ſchluſſes gerechnet …
Rundblick vom Ararat. — Bajazid. — Bis Kars. — Armeniſche Cultur - ſtätten. — Zur Völkerſtellung der Armenier. — Der Patriarchenſitz Etſchmiadſin.
Am Südhange des ſogenannten kleinen Kaukaſus, welcher die Kur - und Rion-Landſchaften vom großen Aras-Becken abtrennt, breitet ſich unweit Eriwans, dem bisherigen Hauptſitze der ruſſiſchen Herrſchaft in Armenien, eine großartig ſchöne Ebene zu beiden Seiten des Fluſſes Araxes oder Aras aus. Berg - rieſen, wie wir ſie in Europa nur auf ungeheueren Räumen ver - theilt finden, liegen hier knapp nebeneinander und beſäumen nahezu kreisartig das blüthenbeſäete und von Kornfeldern wogende Tiefland: im Norden der gewaltige Alagiös (12,000 '), im Oſten der Uetſchtepe (11,000'), im Weſten der Kotur (8000 ') und im Süden das Doppelhaupt der erloſchenen Vulkangruppe der beiden Ararat, deſſen weſtlicher Kegel mit ſeiner 15,800 Fuß hohen Schneehaube weit in die großartige Gebirgslandſchaft hinaus lugt. Wie der Sinai im Südweſten des aſiatiſchen Continents, ſo iſt auch der Ararat hier auf der Grenzſcheide zwiſchen Iran und Vorder-Aſien ein Markſtein der Menſchen - und Cultur - geſchichte, ein Hochaltar der Welt … Von Eriwan, das an ſeinen Bergabhängen maleriſch ſituirt iſt, geht der Weg dahin in nahezu ſüdlicher Richtung, mitten durch die reichen Fluren des Aras hindurch, bis mit dem Betreten der erſten Stufen des Gebirgsmaſſivs eine andere Welt dem Wanderer ſich erſchließt. Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 12Im Ararat-Gebiet.Die Culturen verſchwinden mehr und mehr, einzelne Bäume nur kleben hin und wieder an den Felsabſtürzen und zwiſchen den rieſigen Trachytblöcken ſprießt ſpärliches Gras. Allenthalben iſt hier der Boden ſchlackig von uralten geſtockten Lavamaſſen. Hoch oben in unendlicher Bläue glitzern die Eis - und Schnee - zinnen der beiden Rieſengipfel und die Senkung zwiſchen beiden wird wohl ein Paß genannt, doch wird er von Reiſenden nie betreten. In dieſem Einſchnitte liegt auch das, in Folge des letzten großen Erdbebens verſchüttete Kloſter St. Jacob1An derſelben Stelle wurde nach Moſ. v. Chorene auch der frevel - hafte König Artawaſt II. (reg. 129 — 136 n. Chr.) durch den ſich öffnenden Boden verſchlungen, was wohl auf ein Naturereigniß zurückzuführen ſein dürfte. (Vgl. Hermann, „ Das ruſſiſche Armenien “, 15.). Anders verhält es ſich aber mit jenem Paß-Einſchnitte, der ſich über eine deutſche Meile lang zwiſchen dem großen Ararat und dem Pambuſch von Norden nach Süden zieht. Die Sattelhöhe dürfte hier kaum 6000 Fuß überſteigen und der ſonſt ſo gefürchteten Riſſe und Spalten gibt es hier verhältnißmäßig wenige. Immer - hin bleibt eine Paſſage an dieſer Stelle ein kühner Zug, doch nicht ohne höhere Reize, im Angeſicht des mächtigen Kegels, deſſen Scheitel unter ewigem Schnee und Eis begraben liegt. Die Nordſeite dieſes Kegels, alſo jene, welche in die Araxes - Ebene und gegen Eriwan hinblickt, war einſt der Schauplatz einer ganz wunderlichen Miſſion. Eine Anzahl Bergſteiger mit ſchwerer Laſt hatte ſich manchen Tag abgemüht, die Höhe des Bergrieſen zu gewinnen. Wiederholt mußte der Verſuch eines weiteren Emporkletterns eingeſtellt werden, aber die Kräfte wollten nicht erlahmen und nach gefahrvollem Nachtlager auf dieſer oder jener Felsplatte, umgeben von gewaltigen Schneemaſſen, Eis - und Felsblöcken, ging es immer wieder von Friſchem an die Arbeit. Endlich ward die Höhe unter entſetzlichem Schneegeſtöber gewonnen und die mitgebrachte Bürde ihrer Beſtimmung zuge - führt. Es war ein rieſiges ſchwarzes Kreuz, das ſo aufgerichtet wurde, daß es durch die dahinterliegende weiße Schneewand ge - hoben, vom Kloſter Etſchmiadſin oder von Eriwan aus geſehen werden konnte. In ein zwei Fuß tief ins Eis eingehauenes Loch wurde daſſelbe eingefügt, mit Eisſtücken befeſtigt, mit Schnee ummauert. Die daran befeſtigte Bleiplatte enthielt die Inſchrift:3Der Ararat.„ Auf Kaiſer Nicolaus’ Befehl errichtet 1829. “ Nach der da - maligen Barometer-Ableſung ſtand das Kreuz 15,138 P. Fuß hoch, alſo vierthalbhundert Fuß über der Montblanc-Spitze1Parrot, „ Reiſen “, I, 138 u. ff..
Der Gipfel des Ararat, auf welchem nach der bibliſchen Tradition die Arche Noahs ſitzen blieb, iſt mäßig gewölbt, mit einem Umfange von ungefähr 200 Schritt. Der Abfall iſt be - ſonders gegen Süd - und Nordoſt ſteil. Von dieſer Höhe, der ewigen Eiskrone des Altvaters aller Berge der Welt, mag man wohl die großartigſte aller Fernſichten genießen. Die ganze weitläufige Araxes-Ebene liegt dem Beobachter zu Füßen, Eriwan, Sardarabad und andere Niederlaſſungen kaum mehr dem unbe - waffneten Auge erkennbar. Im Süden treten die niederen Berge Bajazids, die Stadt ſelbſt und ihre Ebene in den Blick und hieran ſchließen mehr oder minder regellos eine erkleckliche Zahl be - deutender Kegelſpitzen, Vulkanen nicht unähnlich, durch tiefe Thalfurchen oder Sättel von einander getrennt. Weit im Nord - weſten prangt die, lang als unerſteigbar gegoltene Felſenkrone des Alagiöz, im Nordoſten blitzt ein großer Theil des Spiegels des beinahe 6000 Fuß hoch liegenden Goktſcha-Sees auf, und im blaſſen Schimmer ſind ſogar noch die dahinter liegenden Rand - ketten wahrzunehmen. Unmittelbar im Oſten blickt man auf den Scheitel des kleinen Ararat hinab; keine Flache Höhe, wie die ſeines größeren Zwillingsbruders, ſondern an den Rändern und in der Mitte mit kleinen Felskegeln und Blöcken verſehen2Wie auf den Gipfelhöhen des Hauran, Hor und Sinai, ſo finden ſich auch auf der des kleinen Ararat eine Anzahl moslemiſcher Grabſtätten, denn möglichſt hoch begraben zu werden, war und iſt im mohammedaniſchen Oriente allezeit ein brennender Wunſch. Auf einer der Grabplatten auf der Scheitelhöhe des kleinen Ararat iſt zu leſen: „ Mein Gott, deine Gnade ſei über Mohammed. Der Gründer dieſes Grabes, Osman, hat’s ge - ſchrieben im Monat Schewal des Jahres 650 (nach kurdiſcher Zeitrechnung; 1292 n. Chr.). “— Bei Ritter, „ Erdkunde “, X.).
Wir ſteigen nun die Südſeite des Gebirgswalles hinab, an welchem der braune Häuſerknäuel von Bajazid ſeine Ausdehnung nimmt. Es ſind noch keine ſechzig Jahre her, daß hier der Centralſitz aller jener unbotmäßigen kurdiſchen Elemente war, durch welche die Grenzterritorien zwiſchen Perſien und der Türkei1*4Im Ararat-Gebiet.berüchtigt wurden, und ebenſo lange iſt es, daß die verrufene Stadt Bajazid von ſich zum erſtenmale reden machte. Die Ge - ſchichte, die ſich hieran knüpft, klingt ziemlich romantiſch, aber derlei war damals im Oriente immerhin möglich, zumal bei Völkern, die noch heute keiner eigentlichen Autorität unterſtehen und in jedem Thale, auf jeder Gebirgszinne und in jedem hoch - ländiſchen Schlupfwinkel auf eigene Fauſt ſchalten. Napoleon I., der bekanntlich von langer Hand den Feldzug gegen Rußland geplant hatte, um durch einen alexandriniſchen Zug, bis tief in die ſarmatiſchen Steppen hinein, ſeinem Kriegsruhme erhöhteren Glanz zuzuführen, war unausgeſetzt bemüht, zwiſchen Rußland und dem, damals allerdings noch etwas kriegeriſcheren Perſien politiſche Complicationen herbeizuführen, um einen Theil des feindlichen Heeres anderweitig zu beſchäftigen und daraus Vor - theile zu ziehen. Zu derartigen politiſchen Verſchwörungen über die Köpfe der geſammten damaligen officiellen Welt hinweg, be - durfte es nun auch der entſprechenden Miſſionen und mit einer derſelben war Jaubert betraut, welcher als geheimer Geſchäfts - führer über Conſtantinopel und Erzerum unbehelligt bis Diadin, nur eine Tagreiſe vor Bajazid, gereiſt war. Der ſchlechte Ruf des damaligen Kurdenchefs, Mahmud, bewog ihn, der Stadt ſelbſt auszuweichen, aber nur zwei Meilen ſüdlich von ihr ward der Reiſende ſammt ſeiner militäriſchen Escorte, die aus ver - kleideten Franzoſen beſtand, durch den Verrath eines anderen Häuptlings aufgehoben und vor Mahmud geſchleppt1Bei Ritter, a. a. O., 340 u. ff.. Obgleich dieſer kurdiſche Winkel-Despot auf ſeinem Raubneſte, der Citadelle von Bajazid, den halb unabhängigen Vaſallen der Pforte ſpielte, ſo fand er ſich dennoch veranlaßt, Jaubert und ſeine Genoſſen dem perſiſchen Statthalter von Eriwan auszuliefern, was aller - dings im Intereſſe des Gefangenen gelegen geweſen wäre. Die Auslieferung wurde aber nur fingirt und kaum am Fuße des Ararat angelangt, wurden die Fremden überfallen, geknebelt und mit verbundenen Augen zurück nach Bajazid escortirt. Während man die Bedauernswerthen verſicherte, daß ſie nur vorſichts - halber auf dieſe Art weiter nach Eriwan transportirt würden, um das zu durchreiſende Land ihren Blicken zu entziehen, wan -5Belul von Bajazid.derten ſie in ihr altes Gefängniß zurück, den ſchwerſten Leiden ausgeſetzt … Nun kommt die Romantik des ganzen Zwiſchen - falls. Die ewige Geißel dieſer Länder, die auch heute wieder über ſie hereingebrochen iſt, die Peſt, brach plötzlich aus und holte unter ſeinen Opfern auch den Winkeltyrannen Mahmud. Sein Nachfolger hatte die „ Franken “bereits zum Tode ver - urtheilt, aber ehe noch die Execution vollzogen war, wurde auch er von der Seuche hinweggerafft und der Bruder Mahmuds zum Stammchef ausgerufen. Mittlerweile aber mußte es irgend einer der Gefangenen der Frau des Kerkermeiſters angethan haben, denn ſie benutzte die allgemeine Verwirrung, um ein ge - heimes Schreiben an den Statthalter von Eriwan gelangen zu laſſen, der auch ſofort die Auslieferung der gefangenen Europäer verlangte. So langten Jaubert und ſeine Genoſſen nach vierzig - tägiger Haft, in ewig banger Sorge zwiſchen Tod und Leben, in Trapezunt ein, wo ihre geſcheiterte Miſſion ihr Ende fand.
Auch ſpäter blieben die Zuſtände in dieſem Räuberlande dieſelben, namentlich unter Belul, dem Sohne Mahmuds. Von dieſem rührt auch das Schloß auf der Felshöhe von Bajazid her, der Stammſitz der Kurdenchefs des Territoriums ſüdlich vom Ararat. Daß im Oriente unter dem despotiſchen Drucke einzelner Emporkömmlinge die Bevölkerungen immer den gleichen Leiden ausgeſetzt ſind, ſei es nun die rechtmäßige Staatsgewalt oder die autoritative Anmaßung irgend eines Winkel-Urſurpators, beweiſen ſchon die Zuſtände, in welchem ſich die Kurden unter Mahmuds Herrſchaft befanden. Sie, die in der Regel ſich keinem Zwange fügen und nur ihren wilden Inſtincten folgen, zumal dem Triebe der perſönlichen Freiheit, verrichteten ihrem Haupte Frohndienſte, wie nie früher und nie ſpäter irgend einer Behörde oder einem ihrer Chefs. Mahmud hatte ſein früheres Schloß, das auf der anderen Seite der Stadt gelegen war, halb in Grotten verſteckt und voll weitläufiger Magazine, verlaſſen, und durch die Hände ſeiner Leute ein neues, prächtigeres auf der Felshöhe gegenüber dem Gefängniſſe aufführen laſſen1Vgl. J. Brant, „ Notes of a journey through a part of Koordistan “, l. c. 420 u. ff..
In Gold und bunten Arabesken ſchimmerte das Gemach,6Im Ararat-Gebiet.durch deſſen Fenſter der Blick eine der pittoreskeſten Landſchaften Armeniens umfaſſen konnte. Arkaden und ſchattige Lauſch - plätzchen in dem weitläufigen Hofe geſtalteten dieſen Raubhorſt geradezu zu einem Mußeſitze. Das Harem des Schloſſes com - municirte mit dem nebenangelegenen Gefängniſſe und ſo iſt für Romanbefliſſene der rothe Faden zur wunderbaren Rettung Jauberts und ſeiner Genoſſen gegeben. Der Palaſt dominirt ſelbſtverſtändlich die Stadt, da die umliegenden Höhen aber auch dieſen beherrſchen, ſo fiel es ſowohl im Jahre 1828, wie im letzten Kriege den Ruſſen nicht ſchwer, die ganze Poſition nach kurzem Kampfe in ihre Hände zu bekommen. Belul, der 1828 als türkiſcher Paſcha und Halb-Vaſall der Pforte in Bajazid regierte, floh in die ſüdlichen Berge mit einem großen Theile der Stadtbewohner, und was damals noch in den elenden Hütten zurückblieb, erlag der Peſt, welche in dem Räuberneſte furchtbar aufräumte. So verfiel der Platz, umſomehr, als mit dem Ueber - gang des Bezirkes von Eriwan an die Ruſſen, der Verkehr nach dieſem Theile Armeniens den kurdiſchen Nomaden gänzlich unter - bunden war und Perſien nach ſeiner Niederwerfung durch Pas - kiewitſch nicht daran denken konnte, der kurdiſchen Räuberromantik irgendwie Vorſchub zu leiſten1Bei Ritter, a. a. O., X. . Später wanderten auch die Armenier aus und was in den ſchmutzigen Behauſungen zwiſchen Schutt und Gräbern zurückblieb, war ein rohes, bösartiges Ge - ſindel, eine wahre Stammcolonie berüchtigter Meuchelmörder und Wegelagerer.
Die Ebene von Bajazid iſt ein gutes Concentrirungsfeld im militäriſchen Sinne. Ueber drei Meilen breit nimmt ſie nord - wärts gegen den Ararat ihre Ausdehnung, deſſen Doppelhaupt, vollkommen abgetrennt von allen übrigen Gebirgen, auf ſie hinabblickt. Allenthalben iſt dieſe platte Niederung von Lava - kegeln und Trachytklippen durchſetzt2Parrot, „ Reiſen “, I, a. a. O., ein ſprechendes Zeugniß von dem vulkaniſchen Charakter der ganzen Gegend, der ſich auch wiederholt durch furchtbare Erderſchütterungen darthat. Rechnet man zu den zeitweiligen Schrecken dieſer Erſcheinungen noch das rauhe Klima, den einer Seehöhe von 6000 Fuß entſprechenden,7Umgebung von Bajazid. — Die Bajazider Kurden-Tribus.nahezu ſechsmonatlichen Winter mit Schneeſtürmen, Froſt und Unbilden aller Art, ſo erſcheint uns dies Territorium würdig der Bewohner, die es noch erbärmlicher machen, als es ohnedies von Natur aus iſt … Trotz all dieſer Thatſachen beſitzt Bajazid dennoch einen hervorragenden militäriſchen Werth, der nur Strategen vom Schlage der türkiſchen Generale nicht klar zu werden vermochte. Das Thal von Bajazid iſt das einzige, welches, neben ſeiner natürlichen Communication mit Erzerum — ein Handelsweg, der ſeit Jahrhunderten beſteht — auch mit dem Seebecken von Van und der Quellregion des Tigris in Verbindung ſteht, und zwar durch eine ganz leidliche Communi - cation. Kein geringeres Volk wie die Römer hat dieſe Thatſache zuerſt erkannt und von ihr auch den beſtmöglichſten Gebrauch gemacht. Tacitus nennt dieſes Territorium, durch das das Römerheer des Corbuls nach Artaxata marſchirte, Taurantium, „ das Land des Taurus-Einganges “1Mannert, „ Geogr. d. Griech. u. Röm. “, V, 2, 228., eine Bezeichnung, die zur Genüge auf die ſtrategiſche Bedeutung deſſelben hinweiſt. Ein weiterer Vortheil für die Kriegführung in dieſem Gebiete iſt der von altersher bekannte Reichthum an Heerden. Ueberall auf den prächtigen Weideſtrecken des öſtlichen Murad-Beckens trifft man auf Lämmer - und Ziegenrudel, die oft nach Tauſenden von Stücken zählen. Freilich erforderte deren ungeſtörter Beſitz bisher, ſelbſt in den Zeiten des tiefſten Friedens, einen ganz an - ſehnlichen Apparat lebenden Schutzes, denn bei der Gewaltthätig - keit der Gebirgsbewohner bedarf ſozuſagen jedes Thier ſeinen eigenen Wächter, und Niemand, ſei er nun Freund oder Feind ſeines Nachbars, konnte ſeiner Habe froh werden.
Was die Kurdenſtämme weſtwärts von Bajazid anbetrifft, ſo ſind es ſammt und ſonders ſolche, welche ſeit jeher mit der Pforte in Streit und Hader lagen. Die richtige Politik gegen dieſe unzuverläſſigen Grenzhorden hat indeß nur Rußland zu ver - folgen gewußt2Vgl. A. E. Macintoſh, „ Reiſe ꝛc. “, bei K. Koch, „ Die kaukaſiſchen Länder “, 237.. — Es iſt aus verſchiedenen Epiſoden der letzten ruſſiſch-türkiſchen Kriege hinlänglich erwieſen, wieviel Anſtrengung es ſich die Gouverneure des Kaukaſus koſten ließen, um in irgend8Im Ararat-Gebiet.einer Art die Kurden an der Grenze zu gewinnen, eine Politik, die durch den Umſtand weſentlich unterſtützt wurde, als dies wilde Nomadenvolk weder von den Perſern, noch von den Türken jene Behandlung erfuhr, die es gefügiger hätte machen können. Als die Pforte vor circa drei Jahrzehnten gar den groben Fehler beging, den Stammhäuptling von Rowandiz bei ſeiner Rückkehr von Conſtantinopel meuchlings ermorden zu laſſen, hatte ſie die letzte Sympathie der Bergvölker verwirkt und dieſe begannen ſolche, zu - mal an der Grenze von Rußland, demonſtrativ für letzteres — ob auch aufrichtig, bleibt dahingeſtellt — zur Schau zu tragen. Auf dieſe ſpontane Annäherung hin erklärte Rußland, es wäre ganz geneigt, den Grenzübertritt verſchiedener Stämme zu bewilligen mit dem weiteren Vorrecht für die Emigranten, nach Bedarf ihre Weide - plätze in der Heimat von Zeit zu Zeit wieder aufſuchen zu dürfen, wobei ſie — ſelbſt auf türkiſchem Gebiete (!) — unter ruſſiſchem Schutze verbleiben ſollten. Die Natur des Nomadenlebens — machte man ruſſiſcherſeits den Kurdenchefs begreiflich — ließe ein derartiges Abkommen notywendig erſcheinen, im Grunde aber war es nur ein Mittel mehr, die türkiſche Autorität, oder beſſer: den blaſſen Schatten derſelben vollends zu untergraben. Kurz vor Ausbruch des letzten Krieges hat die Pforte immerhin einige Anſtrengungen gemacht, dieſes abnorme Verhältniß einigermaßen zu paralyſiren und ſo kam es auch, daß einige Stämme bot - mäßiger wurden und in den Schooß der türkiſchen Autorität zurückkehrten, wie beiſpielsweiſe der kriegeriſche Stamm der Gilalis (auch Selanlis) …
Wir gelangen in ſein Gebiet, wenn wir Bajazid weſtwärts verlaſſen. Der Weg geht mitten zwiſchen zwei gewaltigen Ge - birgsmauern hindurch, im Norden iſt es die Gebirgskette, welche unter verſchiedenen Namen vom Ararat aus durch zwei Längen - grade den öſtlichen Eufratlauf (Murad) begrenzt, im Süden ſind es die Randketten des Hochbeckens von Van, gleichfalls die Schlupf - winkel berüchtigter Kurdenſtämme, welche es lieben durch das Einfalls - thor zwiſchen dem 10,000 'hohen Aladagh u. 11,000' hohen Chori die Niederung am Van-See heimzuſuchen, zumal die armeniſchen Dörfer. So ſpielt in dieſem großartigen Gebirgslabyrinthe die ewig blutige Fehde die Hauptrolle im Daſein. Wie das Raubwild des Hoch - gebirges wechſeln die Nomaden ihr Operationsgebiet dies - und9Von Bajazid nach Kars. — Kars.jenſeits nahezu unzugänglicher Päſſe, indem ſie bald der Schrecken des einen, bald des andern Thales ſind … Auf unſerem weiteren Wege zwiſchen dieſen Gebirgsmauern gelangen wir bald in das Quellbecken des öſtlichen Eufrat. In den ausgedehnten Thal - landſchaften, in welchen meiſt üppige Weiden1Eli Smith, Miss. researches etc., 423. die vielen Dörfer umgeben, rieſeln zahlloſe Bäche, die Abflüſſe der Schneehöhen und an dieſen kryſtallenen Wäſſern iſt gute Raſt für ſonſt ruhe - loſe Nomaden. Auch iſt nicht zu vergeſſen, daß mitten die buntſcheckige Niederlaſſung hindurch die Karawanenſtraße führt, auf der alljährlich einigemale zwiſchen Trapezunt und Tabris, dem perſiſchen Handelsemporium in Azerbeidſchan reichbeladene Karawanen verkehrten, für die lüſternen Bergvölker ein weiterer Anlaß, dieſe Niederung als ein kleines Eldorado zu betrachten.
Wenn wir uns aus dem Centrum dieſes Beckens genau nach Norden wenden, ſo liegt jene obenerwähnte Gebirgsmauer noch immer vor uns; aber zwiſchen den Schneewipfeln iſt eine Einſenkung bemerkbar, ein Paß, Namens Schachjol, das iſt: der „ Königsweg “, ſomit aller Wahrſcheinlichkeit nach eine jener ur - alten Communicationen, welche ſchon zur Zeit der aſſyriſchen Weltherrſchaft ganz Vorder - und Mittelaſien, vom Aegäiſchen Meere bis zum Indus, vom Pontus bis zum Perſer-Meere durchzogen. Heute führt da hinauf kein Königsweg mehr, ſondern ein elender Saumweg, über gewaltige Felsblöcke, an ſchauerlichen Abgründen vorüber, oder in pfadloſer Waldesnacht2Macintoſh, a. a. O. (Bei Koch, 216 — 224.). Nur hin und wieder überſetzt man Alpentriften, auf denen ein verdächtiges Kurdenpiquet lagert. In ſolchem Falle trat in der, ohnedies genug beſchwerlichen Reiſe immer eine ſehr unwillkommene Pauſe ein. Die kleine Karawane hilt jäh in ihrem Ritte inne, die Kurden ſchwangen ſich in die Sättel und kreuzten ihre Lanzen in regelloſem Haufen. Nur wenn die Escortemannſchaft ſich in der Ueberzahl befand, war es möglich, unbeläſtigt dieſe Alpentriften, auf denen ſich die Natur ſo wunderbar großartig, die Menſchen ſo elend verkommen präſentiren, zu kreuzen, ſonſt ſetzte es blutige Köpfe ab, oder noch mehr, wovon ſchon die Gebeine von Menſchen10Im Ararat-Gebiet.und Pferden ſprachen, welche in den Schluchten bleichten. Wer dieſe Höllenpforte einmal hinter ſich hat, genießt plötzlich eines der impoſanteſten Panoramen Armeniens. Vor dem Reiſenden, gerade nach Norden hin, liegt die ganze gewaltige Plateau-Maſſe Central-Armeniens, eine baumloſe Hochebene, von Hügelzügen oder einzelnen Kegeln unterbrochen; um dieſe ſelbſt, im Kreiſe, ein ſteinernes Meer von Bergmaſſen, Längsketten, Zacken, Domen, dazwiſchen wieder coloſſale Pforten — die Thaleinſchnitte des Tſchuruk, Kur, Aras und Arpatſchai. — Von dieſem Ausſichts - punkte müßte ein ſcharf bewaffnetes Auge ſowohl Kars, als Alexandrapol, das erſte genau im Norden, das letztere im Nord - oſten bemerken. Keine vorliegenden Höhen verſperren die weit - läufige Perſpective, nur die grauen Dünſte des nördlichen Plateau - randes könnten die Caſtellzinne des alten Türken-Bollwerkes oder die Wälle der Alexandra-Stadt umſchleiern. Unmittelbar zu Füßen erſcheint Alles todt und öde. Kein Fluß, oder Bach, der nahe vorbeiziehende Aras ausgenommen, ſchimmert aus dem einförmigen Steppenbilde und ſelbſt von den Ortſchaften iſt ihr Umfang und ihre Anlage nicht leicht auszunehmen. Wenn wir dann jene baumloſe Hochplatte betreten, ſo wird es uns allerdings klar, daß die betreffenden Niederlaſſungen nicht ſo leicht entdeckt werden konnten, denn der Armenier liebt es, ſich in die Erde einzugraben, oder vielmehr, er iſt es aus Mangel an Bauholz gezwungen zu thun. Dies Bild begleitet uns, bis plötzlich vor uns das Felſendefilé des Karsfluſſes mit ſeinen, von Forts ge - krönten Gipfeln und Stufen ſich öffnet und der Blick auf die Terraſſen des vielgenannten Kars fällt.
Das geſunkene türkiſche Bollwerk hat eine lange, weit in vorosmaniſche Epochen hineinreichende Geſchichte. Die Stadt Kars wird bereits bei den älteſten armeniſchen Schriftſtellern genannt, ſie ſcheint aber erſt unter den Byzantinern ihren heutigen Namen erhalten zu haben, und ſie galt bei denſelben als eine der Capitalen Armeniens, die ſie auch thatſächlich war, da die bagratidiſche Dynaſtie, bekanntlich eines der älteſten chriſtlichen Königsgeſchlechter, durch nahezu ein halbes Jahrhundert in der düſteren Terraſſenſtadt von „ Armenia magna “reſidirte. Unter dem letzten ſelbſtſtändigen Beherrſcher des Königreichs Kars, Kakig II., kam die Stadt und das Reich in der zweiten Hälfte des elften11Kars.Jahrhunderts an die Byzantiner1St. Martin, Mémoire sur l’Armenie, I, a. a. O., von wo ab die Quellen eine große Lücke in Bezug auf die weiteren Schickſale und Ereigniſſe, welche mit Kars verflochten ſein dürften, fühlen laſſen. Die Seldſchuken, welche bekanntlich allenthalben die byzantiniſche Erbſchaft antraten, waren auch in den Beſitz dieſes Grenzboll - werkes gegen die Perſer und Georgier getreten, doch wahrſcheinlich nicht für lange Zeit, da die allgemeine Mongolenfluth auch die einſamen, wenig fruchtbaren Tafelländer Armeniens nicht ver - ſchonte und ihre neue Herrſchaft mit Feuer und Schwert zur Geltung brachte. Schließlich fiel die Stadt in die Hände der Osmanen, ſeit welcher Zeit ſie erſt ihre Bedeutung als Grenz - bollwerk erlangte, da Sultan Murad III. es war, der vor etwa drei Jahrhunderten (1579) die erſten Befeſtigungen anlegen ließ2Hammer-Purgſtall, „ Geſch. d. osm. Reiches “, IV, 76., Befeſtigungen, die ſich in ihrer urſprünglichen Form und Stärke bis auf den Tag erhalten hatten. Es iſt dies zunächſt das domi - nirende Caſtell im Norden der Stadt, über hoher Uferſtufe des Karsfluſſes dräuend, mit einfacher Umwallung gegen die ſturm - freie nördliche und nordweſtliche Seite und mit doppelter gegen die zugänglicheren Abdachungen nach Süd und Südoſt. An dieſen Abdachungen liegt auch die alte, man darf in Betracht ihrer Antecedentien wohl ſagen, klaſſiſche Stadt, in kurzen, ſteilen Terraſſen erbaut, meiſt aus ſehr hohen, mehrſtöckigen Häuſern beſtehend, die von der Ferne geſehen, eines der pittoreskeſten Städtebilder präſentiren. In der Nähe iſt es freilich anders und dieſelben luftigen Steinbauten, meiſt aus dunklem, düſterem Baſalt, begrenzen die denkbar ſchmalſten Straßen, wahre Cloaken, in denen ſich Bewohner und Hausthiere, die ſchakalartigen Straßen - köter nicht ausgenommen, chaotiſch herumtummeln. Es ſcheint in Kars nicht immer ſo geweſen zu ſein, denn wir beſitzen orien - taliſche Reiſeberichte, welche Wunderbares genug von der mäch - tigen Grenzſtadt zu berichten wiſſen, und die vielfach die Sorge der Sultane hervorheben, welche dieſe für Kars an den Tag legten. Das eigentliche Hinderniß, daß Kars niemals zu einer wahren und dauernden Blüthe ſich emporſchwingen konnte, mag eben darin liegen, daß es als Grenzbollwerk ſeit jeher den an -12Im Ararat-Gebiet.ſtürmenden Feinden des Oſtens, zumal den Perſern und Georgiern, ſpäter den Ruſſen ausgeſetzt war, und denen ein Emporkommen des Platzes begreiflicherweiſe nicht erwünſcht ſein konnte. Aber die eigentlichen alten Befeſtigungen ſind hiebei nie vollkommen zerſtört worden und die Murad’ſche Citadelle, ſowie die ſieben Bollwerke der „ ſieben anatoliſchen Beglerbegs “, welche nach orientaliſchen Autoren jene nach einander errichteten, haben ſich bis auf unſere Tage erhalten. Unter den „ ſieben Bollwerken “dürften indeß nur die baſtionartigen Thurmbauten der Enceinte und Verſtärkungen der Citadelle gemeint ſein, keineswegs aber iſolirte Außenwerke, deren es bekanntlich in dem vorletzten ruſſiſch - türkiſchen Kriege eine hinreichende Anzahl gab. Die meiſten der ſtarken Forts und detachirten Werke, welche im diesmaligen Kriege ſozuſagen durch Handſtreich dem Eroberer in die Hände fielen, verdankten ihr Entſtehen erſt der Zeit nach dem Krimkriege, nachdem man infolge der zweimaligen Einnahme des Bollwerkes durch die Ruſſen (1828 und 1855) eingeſehen hatte, daß die alten Schutzmittel unzulänglich ſeien1S. „ Einleitende Bemerkungen “..
Was Kars als Stadt beſonders werthvoll macht, das iſt ſeine günſtige Lage zwiſchen Armenien, Transkaukaſien, Kurdiſtan, Pontus und Perſien, ein wahrer Handelsknotenpunkt, was zu erkennen bisher freilich nicht Sache der Pforte war, die bekannt - lich wenig oder gar keine Thätigkeit auf Intereſſengebieten zu entwickeln beliebt, die mit der inneren Kräftigung eines Staates identiſch zu ſein pflegen. Dennoch war Kars auch in den letzten ruhigen Zeiten ein kleines Schacherbabel des Oſtens, nach welchem die vielſprachigen Bewohner vom Kaukaſus bis zum Van-See und von Anatolien bis Khoraſſan, dem „ Lande der Sonne “, ihre geriebenſten Repräſentanten ſendeten. Auch das Land iſt frucht - barer als ſonſtige Striche Armeniens; ſchwarze Acker-Erde bedeckt ſelbſt noch die unteren Stufen der die Plateaux begrenzenden Berge und Kettenzüge, und das Klima zählt, trotz ſeiner conti - nentalen Extreme, dennoch zu den gemäßigteren der armeniſchen Hochzonen. Dem Sommer, der Temperatur-Maxima von 35 bis 40 Grad C. aufzuweiſen pflegt, folgt ein verhältnißmäßig längerer Herbſt und erſt Mitte November fällt Schnee, der im Verlaufe13Kars.des Winters dann allerdings ausgiebig genug, bei Temperatur - Minima von 20 Grad C. unter Null, den Boden zu bedecken pflegt1Vgl. Hamilton, „ Asia minor “, I, 206.. Aber es fehlen dem Karſer Plateau die vielartigen en - demiſchen Krankheiten, welche die, geographiſch viel günſtiger ge - legenen Nachbargebiete heimzuſuchen pflegen, und ſelbſt die Epi - demien ſtreifen nur ſelten die einſame Hochlandsſtadt. Gleichwohl iſt das Land um Kars äußerſt dünn bevölkert und es ſoll nach einem ruſſiſchen Berichte auf einer Fläche von mehr als 5000 Quadrat-Werſt keine 300 Dörfer geben, oder 16 Quadrat - Werſt auf ein Dorf (circa 30,000 Einwohner, Kars inbegriffen, für das ganze Land). Aber ſelbſt die wenig vorhandenen Dörfer ſind für das Auge des Beobachters — wie ſchon oben erwähnt — nicht eigentlich ſichtbar und nur die ſteinernen Stirnfronten der Erdlöcher treten an Terrain-Anſchwellungen zu Tage. In dieſen Troglodyten-Löchern hauſen Menſchen und Thiere in brüderlicher Gemeinſchaft, und nur eine dünne Matte, oder ein defecter kurdiſcher Teppich, ſowie eine kleine Erhöhung des Hütten - bodens trennt die erſteren von den letzteren2Anſichten bei W. Ouſeley, Trav., III. . Licht vermag nur durch die Thüre einzudringen, welche übrigens ſtark genug her - geſtellt iſt, um auch den zeitweiiigen Angriffen der kurdiſchen Räuber widerſtehen zu können. Daß die einzelnen Vorſtädte von Kars gleichfalls über eine bedeutende Zahl derartiger erbärm - licher Wohnſtätten verfügen, geht aus verſchiedenen Andeutungen von Reiſenden und Berichterſtattern hervor …3Der leere Raum unter den „ ſchwellenden Ottomanen “dieſer Miſt - hütten wird niemals gereinigt. Dort leben, lieben und gebären die Katzen; dort erblicken Milliarden Flöhe das Licht der Welt und finden die ewige Ruhe; dort träumen Billionen Wanzen des Lebens ſeligen Traum. Und Nachts marſchiren ſie auf, zahlreicher denn die Streiter Sanheribs, und peinigen ihren Erbfeind, den Menſchen, bis zum Wahnſinn. Die Orien - talen wiſſen ſich täglich einige Minuten Ruhe zu verſchaffen. Die Fladen, welche als Serviette und Brod dienen, werden in großen, in die Erde gegrabenen Töpfen bereitet; ſobald ſie gar ſind, entkleiden ſich alle Mit - glieder ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts und ſchütteln ihre Kleidungsſtücke über dem Topfe, ſo daß das betäubte Ungeziefer hinein - fällt, kniſternd verbrennt, um in Kohlenform in dem nächſttägigen Fladen gegeſſen zu werden (Brief in der „ Allg. Zeitg. “, 1877, Nr. 242).
14Im Ararat-Gebiet.In den letzten hundertfünfzig Jahren hat Kars ſünf Be - lagerungen erlebt, darunter zwei mit ſiegreichem Ausgange, und zwar 1735 gegen Nadir Schah von Perſien, der mit 100,000 Mann und einem erdrückenden Artillerie-Park vor der Feſtung erſchienen war1Hammer-Purgſtall, „ Geſch. d. o. Reiches “, VIII, 56., und dann im Jahre 1807, als die ruſſiſchen Streitkräfte gelegentlich des perſiſchen Krieges einen Handſtreich auf die Feſtung verſuchten. Dafür iſt ſie in den drei folgenden Belagerungen unterlegen, und zwar 1828 nach kaum vier Tagen, 1855 nach einer regelrechten ſechsmonatlichen Belagerung und neueſtens durch Sturm und Handſtreich zugleich, deren Details bereits in den „ Einleitenden Bemerkungen “berührt wurden. Als die Ruſſen unter Marſchall Paskiewitſch-Eriwanski vor Kars erſchienen, befand ſich daſſelbe in nahezu gleichem Zuſtande, wie hundert Jahre vorher unter Nadir Schah. Von Außenwerken gab es auch nicht eine Spur, und ſo mußte es den Angreifern ein Leichtes ſein, ſich in unmittelbarer Nähe des Platzes, auf dem dominirenden linken Ufer des Karsfluſſes, der Citadelle gegen - über feſtzuſetzen (zwiſchen dem heutigen Werke Veli-Paſcha-Tabia und der Vorſtadt Temur-Paſcha) und den eigentlichen Haupt - angriff von Süden her kräftigſt zu unterſtützen. Die Angreifer hatten ſich eheſtens in der, hart an die Feſtung im Süden an - ſchließende Vorſtadt Orta-Kapu feſtgeſetzt, ſodann Breſche in die alte Wallmauer gelegt und in der Feſtung ſelbſt eingeniſtet. Auf die Citadelle beſchränkt, willigte der Kommandant äußerſt vorſchnell in die ruſſiſcherſeits von ihm verlangte Kapitulation ein, die auch am 23. Juni, olſo nur acht Tage nach Ueberſchrei - tung des Arpatſchai erfolgte, in dem Augenblicke, als das Entſatz - heer des Kioſſa Mehemet Paſcha in der Ebene von Kars in Sicht kam. Die ganze Garniſon, bei 10,000 Mann, nebſt 150 Stück ſchweren Geſchützes fielen in die Hände des Siegers2O. R. Chesney, „ Die ruſſiſch-türkiſchen Feldzüge 1828 — 1829 “, 147. (Ueberſ.) .
Im Jahre 1855 ſpielten ſich die Ereigniſſe ſchon weſentlich anders ab, ja ſie beſitzen eine gewiſſe Aehnlichkeit mit denen des letzten Krieges. Der Cernirung und Belagerung von Kars ging damals die mörderiſche Schlacht von Kurukdara voran, die ſich15Kars.ſo ziemlich auf derſelben Stelle abſpielte, wie die letzten Kämpfe zwiſchen Kars und dem Arpatſchai. General Bebutoff hatte kurz vorher ein ſtarkes Detachement gegen Bajazid detachirt, um dieſen Platz in ſeine Hände zu bekommen, was auch eheſtens gelang, und nun dirigirte er daſſelbe, gleichſam im Rücken Zariffi Paſchas, gegen die Aladſcha-Höhen, um den Türken den Rückzug nach Kars zu verlegen. Der türkiſche Armee-Commandant bekam von dieſem Manöver rechtzeitig Wind und beſchloß den ſofortigen Angriff gegen Bebutoffs ſchwaches Armeecorps, doch verſtrichen, in Folge kindiſcher Bedenken von Seite Zariffis, dennoch drei Tage und als er dann die Ruſſen attakirte, fand er dieſelben vollkommen bereit und an günſtigen Stellungen poſtirt. Am 6. Auguſt 1854 ward die türkiſche Armee vor Kars, in deren Ober - leitung dieſelbe Zerfahrenheit, wie neueſtens unter Mukhtar Paſcha, geherrſcht zu haben ſcheint, geſchlagen, total zerſprengt und ſo - gleich nach Kars hineingeworfen. Aber erſt neun Monate ſpäter (!), im Juni 1855, ſchritten die Ruſſen zu einer regelrechten Bela - gerung, während welcher ſich die Garniſon, unter Commando des engliſchen General Williams, ein volles halbes Jahr hielt, um ſchließlich, wie es hieß, durch Hunger getrieben, die Thore des Bollwerkes dem General Murawieff zu öffnen. Die Bela - gerer waren hiebei 30,000 Mann ſtark1A. Sandwith, „ A Narrative of the siege of Kars “, a. a. O..
Nimmt man von Kars die Wegrichtung gegen Alexandrapol2Alexandrapols Lage auf breitrückiger Bergplatte iſt eine domini - rende; der Platz war wie geſchaffen zur Anlage eines großen Grenz - Waffenplatzes. Seine Herſtellung hat den Ruſſen aber auch Geld genug gekoſtet. Es iſt übrigens nicht die Stadt ſelbſt, welche befeſtigt iſt, ſondern der an ihr vorüberziehende Grenzſtrich, welcher namentlich gegen Nord - weſten mit mehreren permanenten Werken verſehen iſt, abgeſehen von den fortificirten Lagerplätzen und den großen Magazinen. Der centrale Kern dieſer Fortificationen, in deren Nähe bald eine kleine Stadt entſtand, die mit dem früheren Neſte Gümri zu einer einzigen verſchmolz, erhielt von Kaiſer Nicolaus zu Ehren ſeiner Gemahlin den Namen Alexandrapol (nicht Alexandropol, wie man vielfach lieſt). Der Arpatſchai fließt bei der Feſtung durch üppig grüne Wieſen und Matten und erſt einen Kilometer weiter öſtlich ſteigen die Ufer zum dominirenden Plateau empor, auf dem die Befeſtigungen errichtet ſind., ſo haben wir die Baſaltterraſſen des Aladſcha-Gebirges zu kreuzen,16Im Ararat-Gebiet.welche ſüdoſtwärts in eine ganz baumloſe, wellige gegen Oſten mälig anſteigende Ebene übergehen. Bei Hadſchi-Weli-Köi, wo die Ruinen eines alten Caſtells ſich zwiſchen Reihen von Baſalt - ſäulen erheben, gewinnt das Land gegen den Arpatſchai zu einen mehr freundlichen, belebten Charakter. Hier bietet ſich von dieſer Seite dem Kommenden zum erſtenmale der Fernblick auf den gewaltigen Schneewipfel des Ararat, der ſich ſcheinbar ganz iſolirt mehrere tauſend Fuß über alle anderen Gipfel erhebt, die auf allen Seiten meiſt mit vulkaniſchen Kegelformen emporſtarren. Um Alexandrapol ſelbſt ſtreichen nur niedere Bergrücken, das Land hat, wie der gegenüberliegende Strich Armeniens, ausge - ſprochenen Plateaucharakter. Im Oſten ſteigt mit gigantiſchen Formen der Kegelberg Alagiös (bei 13,000 Fuß), welcher oſtwärts das Gebiet von Schuragel abgrenzt, empor.
Das wichtigſte Object an dem Unterlaufe des Arpatſchai iſt Ani.
In einem älteren Buche1J. Morier, „ Ayesha or the maid of Kars “. lieſt man phantaſtiſche Be - ſchreibungen dieſer Ruinenſtadt. Tempelbauten mit grandioſen Colonnaden, kühngewölbten Kuppeln und monumentalen Treppen; dann weitläufige Paläſte mit natürlichem Mauermoſaik aus gelben, ſchwarzen und rothen Steinen, Thürmen, welche die Dächergiebel überragen und dunkle Thorwarten, auf hohen über - hängenden Klippen aufgeführt und in dem vorbeitobenden Fluſſe ſich ſpiegelnd: Alles wie durch Zauberſpruch entſtanden auf völlig iſolirtem Felsſchemel in einem ſtillen Winkel Armeniens. Das Wunderbare an dieſer Ruinenſtadt, welche zwar einer Reihe ſchwerer Schläge erlegen iſt, der Hauptſache nach aber durch eines jener furchtbaren Erdbeben zerſtört wurde, die noch heute den Araratbezirk heimſuchen, iſt, daß ihr Totalanblick auch in ihren jetzigen Fragmenten noch vor dem Beſchauer das Bild einer, im Zauberbanne liegenden Stadt erſtehen läßt … Bei unſerer Annäherung von Nordoſten her vermag man ſchon von Weitem das Rauſchen des Arpatſchai zu vernehmen, indeß ſein Gewäſſer dem Auge, ſelbſt noch in nächſter Nähe völlig verborgen bleibt, denn tief liegt das Rinnſal zwiſchen kantigen Baſaltufern und geradlinigen Stufen gelblichten Sandſteins, auf denen Lava -17Die Ruinen von Ani.blöcke auflagern. Das erſte, was der Wanderer erblickt, iſt die empordräuende Stadtumwallung, welche über die tiefe Kluft des Arpatſchai ins Land lugt. Dort erheben ſich, noch in ihren Ruinen impoſante Thorthürme1Als Hamilton (1836) die Ruinen unterſuchte, war das weſtliche der beiden Thore durch herabgeſtürzte Steinmaſſen derart verrammelt, daß es nicht paſſirt werden konnte. Mit Durchſchreitung des Oſtthores paſſirte man gleichzeitig die Doppelmauer der Umwallung, von denen an der inneren zahlreiche armeniſche Inſcriptionen angebracht waren. Ein Fran - zoſe (Boré) will dieſe während eines ſiebentägigen Aufenthaltes zwar ent - ziffert und der Academie des Inscriptions überſendet haben, doch ſind dieſelben in Verluſt gerathen. Die Wahrheit dieſer Thatſache wurde im Uebrigen von Gelehrten vielfach bezweifelt., von deren Zinnen einſt der Ausblick über die Culturflächen der weſtlichen Alagiös-Ab - dachungen wohl noch ein lohnender geweſen ſein mochte, bis die mongoliſchen Horden das Land mit Feuer und Schwert ver - wüſteten und der rohe Tſchamar-Khan in die bagratidiſchen Paläſte drang, um in ihnen ein grauſiges Blutbad anzurichten. Von jenen Paläſten erhebt ſich einer, noch allenthalben in ſeinen hauptſächlichſten Conſtructionsgliedern erhalten, ganz im Weſten der Stadt, auf dominirender Felskante, die in einen natürlichen Felsgraben abtaucht2W. Hamilton, „ Account of the ruins of the City of Ani “, a. a. O.. Anis Ruinen erheben ſich nämlich auf einer felſigen Halbinſel, mit der Längenachſe nach Nord-Süd, im Oſten durch den Arpatſchai, im Weſten durch ein trockenes Felſen - thal begrenzt. Nur im Norden war die Stadt von Natur aus ungeſchützt (wie Conſtantinopel im Weſten) und dort hatte man eine gewaltige doppelte Wallmauer mit flankirenden Rundthürmen gezogen, um ſich eines jeden Landangriffes zu erwehren.
Wie Ani’s Ruinen ſich heute dem Beobachter darbieten, ſo waren ſie es ſchon vor fünf Jahrhunderten. Sie gleichen mehr einer verlaſſenen, denn einer vollſtändig zerſtörten Stadt, und während ringsum auf dem öden Plateau die Bewohner in elenden Erd - löchern hauſen, iſt anderſeits der Anblick der einſtigen armeniſchen Prachtbauten auch heute noch geeignet, Bewunderung für ein Geſchlecht hervorzurufen, das nicht nur vom Zauber der älteſten menſchlichen Traditionen umwoben iſt, ſondern auch ſonſt im Verlaufe der Jahrhunderte einen Wall gegen aſiatiſche BarbareiSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 218Im Ararat-Gebiet.bildete. Man wandelt heute noch in Ani in förmlichen Gaſſen, ſtößt hier auf die grandioſe Façade eines Palaſtes, buntſcheckig aus ſchwarzen, rothen und gelben Quadern aufgeführt, dort auf das klaffende Portal eines Domes, durch deſſen zuſammen - geſtürzte Kuppel das Tageslicht hereinlugt. Aber auch vollſtändig erhaltene Kuppelbauten gibt es, und ſie dienten bisher den kur - diſchen Hirten und ihren Heerden zum Schlupfwinkel, wenn die Sonne des armeniſchen Sommers die Hochſteppen ungaſtlich machte1Das Ueberraſchendſte iſt die große chriſtliche Kirche, die man wohl zum Unterſchiede von den andern derartigen Bauten, die Patriarchalkirche oder den großen Dom nennen könnte. Sie liegt faſt im Süd des Thor - weges in Geſtalt eines lateiniſchen Kreuzes und war noch vor einiger Zeit gut erhalten. Das Dach iſt zugeſpitzt, mit großen Steinplatten ge - deckt, von Bogen getragen, die noch allenthalben erhalten daſtehen. Von den zwanzig größeren Bauwerken im Inneren verdienen auch zwei prächtige octogonale Thürme hervorgehoben zu werden, an deren einen eine Moſchee, die gleichfalls in Trümmern liegt, angebaut wurde. Das Innere der erwähnten Kirche beſteht aus einem Hauptſchiffe und zwei Nebenflügeln. Der Styl hat altſaraceniſchen Charakter, mit Anklängen an byzantiniſche Formen. Die runden Gewölbbogen erheben ſich auf ſchlanken Pfeilern. (Ritter, a. a. O. X.). Selbſt der Thorweg im öſtlichen Walle exiſtirt noch, aber bisher ſind durch denſelben nicht viele Forſcher eingezogen, um etwa aus der lapidaren Geſchwätzigkeit der Armenier, welche ſich, wie bei den Aſſyriern durch zahlreiche Mauer-Inſcriptionen kundgibt, manches hiſtoriſche Geheimniß, das noch ein dichter Schleier umgibt, zu erforſchen … Ani war unter der Reihe armeniſcher Königsreſidenzen, die ſich alleſammt auf dem be - ſchränkten Territorium zwiſchen dem Unterlaufe des Arpatſchai und des benachbarten Fluſſes erheben, die letzte. Zur Zeit des Bagratidenkönigs Aſchad I. war an ihrer Stelle nur eine Art Caſtell, behufs Aufbewahrung der Kronſchätze2St. Martin, „ Mém. s. l’Arm. “, I, a. a. O. und ihrer Siche - rung gegen die Araber, welche bekanntlich gegen Ende des achten Jahrhunderts bis tief nach Armenien eingedrungen waren. Ein Aſchad, der dritte ſeines Namens, war es auch, der hieher de - finitiv ſeine Reſidenz verlegte und der Stadt jene Ausdehnung verlieh, wie ſie heute noch in ihren Ruinen zu verfolgen iſt. Sie blieb es bis um die Mitte des elften Jahrhunderts, wo der19Die Ruinen von Ani.letzte Bagratidenkönig Kakig II. den Waffen des byzantiniſchen Kaiſers Conſtantinus Monomachos unterlag und Ani, ſowie die befeſtigte Grenze, welche durch den Arpatſchai markirt war, zur Schutzwehr gegen das von Oſten vordringende Türkenthum wurde. Der kleine Grenzfluß hatte demnach ſchon vor mehr als neun Jahrhunderten eine ähnliche Rolle geſpielt wie neueſter Zeit, aber die Byzantiner waren keine Zerſtörer und wie Ani nichts von ſeinem Glanze einbüßte, ſo blieb auch das umliegende Land in voller Blüthe, bis die Reiter des Seldſchukiden Alp - Arzlan durch die bagratidiſchen Tempelhallen ritten und auf den Hochaltären der Patriarchendome ihre Roſſe fütterten. Dieſe Kataſtrophe trat nach kaum zwanzigjähriger Occupation Anis durch die Byzantiner ein. Aber auch den Seldſchukiden ſollte das armeniſche Emporium noch einmal abgenommen werden, und zwar ſechzig Jahre ſpäter (1124) durch den georgiſchen König David, der es an ſich riß und ſo unter chriſtliche, wenn auch nicht armeniſche Herrſchaft brachte. Er hatte Abulſevar ſeiner Satrapie entſetzt und mit ſich nach Georgien fortgeſchleppt, dafür wälzte bald hierauf Pchadlun, der Sohn des Gefangenen, ſeine Schaaren aus Choraſſan nach dem Arpatſchai und nach zwei - jähriger Belagerung zog er in Ani ein — ohne der Stadt etwas anzuthun. Die Geſchichte der Seldſchukiden gibt widerholt Be - weiſe derartiger Großmuth und Toleranz und man braucht nur den Namen eines Melek-Schah zu nennen, um ſich des gewal - tigen Unterſchiedes zwiſchen dieſer erſten Turk-Dynaſtie und ihren Nachfolgern bewußt zu werden. Dafür kam bald darauf das furchtbare Gewitter der Mongolen-Invaſion, die zwei Drittel der Bewohnerſchaft Anis unters Meſſer brachte1Gleichwohl haben auch die Fürſten und Heerführer dieſer anderen Weltſtürmer mitunter Städte und Einwohner geſchont, wie beiſpielsweiſe ſelbſt der wüthende Hulagu-Khan, der in dem eroberten Bagdad den Be - fehl gab, an der brennenden Stadt ſo viel als möglich zu retten. Noch weit beſſeres Beiſpiel haben Hulagu’s Nachfolger oder die „ Ilkhane “ge - geben, zumal Arghuns Sohn Gaſan, dem der Ruhm gebührt, geſetzliche und civiliſirte Zuſtände geſchaffen zu haben, wie nach ihm keine zweite Dynaſtie mehr, die das Erbe des Chalifats antrat. Der kleine, häßliche mongoliſche Prinz, der ſich Gaſan nannte, hatte überdies auch eine hiſto - riſch erwieſene Schwäche für — das Chriſtenthum. Wie die letzten frei -, und zu Anfang2*20Im Ararat-Gebiet.des vierzehnten Jahrhunderts legte ein furchtbares Erdbeben die Stadt in Trümmer. Seitdem hat keine Hand mehr an dieſe armeniſche Culturſtätte gerührt und gleichwie in einem oberirdi - ſchen Pompeji vermag heute der Wanderer durch die verödeten Gaſſen zu ſchreiten, die Palaſthallen zu bewundern und ſich an dem kunſtvollen Moſaik-Getäfel zu erquicken, das, trotz der viel hundertjährigen Wetterunbilden, noch immer mit ſeltener Pracht von den Wänden der bagratidiſchen Herrſcherſitze herabflimmert … Durch alle dieſe Räume heult heute der Sturm, der von den Schneewipfeln des Ararat niederbrauſt; nur wenige Menſchen haben ſich in den Ruinen eingeniſtet und ihre primitiven Stein - hütten — inmitten der früheren Pracht — liegen in den Fels - ſpalten im Weſten des Ruinenfeldes, wo dieſes in die erwähnte trockene Felsſchlucht abtaucht. Die, Katakomben nicht unähnlichen Grabhöhlen aber (noch immer geſchmückt mit Säulenſchäften und ſtylvoller Portal-Ornamentik an ihren Eingängen)1Hamilton, a. a. O. ſind den kurdiſchen Wegelagerern willkommene Schlupfwinkel.
Auf der nur ſechs Meilen langen Strecke von Ani bis zur Einmündung des Arpatſchai in den Aras, unweit des heutigen Hadji-Bairamli (deſſen platte Steindächer aus Gärten von Wall - nuß - und Mandelbäumen hervorlugen)2Ker Porter, Trav. II, 641. , hätten wir über nicht weniger als drei andere armeniſche Cultur-Emporien zu berichten. Vor Allem hätten wir der Götterſtadt Pankaran zu gedenken, in der ſich das heidniſch-armeniſche Pantheon für Götterſtatuen befand. Ihre Lage iſt bisher nicht ganz ſichergeſtellt, doch glaubt man, ſie an den Arpatſchai verlegen zu müſſen, und zwar dort, wo der Bergfluß Akhur in dieſen mündet, alſo unweit der1geiſtigen Chalifen Harun, Mamun, Al Mutaſſim und Wathik, von denen hin und wieder einer ſogar die Göttlichkeit des Korans leugnete, durch ihre in der Geſchichte des Islams geradezu beiſpiellos daſtehende Toleranz, das orthodoxe moslemiſche Gebäude bedenklich erſchütterten, ſo lag ſpäter unter den Ilkhanen ſogar die Gefahr nahe, daß das geſammte Mongolen - thum — chriſtlich werden konnte. Nur politiſche Bedenken hielten Gaſan von dieſem Schritte ab. Mekka war gerettet und die beturbante Recht - gläubigkeit hatte nimmer zu befürchten, daß an die Stelle der Kaaba eine Prachtkathedrale treten würde. (Vgl. Malcolm, „ Geſchichte von Perſien “, I. 21König Erowant II. Reſidenzen.wilden Engſchlucht, wo heute das Kloſter Kotſchiran liegt1Ker Porter, Trav. I, 177; auch bei St. Martin, „ Mémoire sur l’Arménie “, I, 297.. Von der Felszunge, wo der Arpatſchai mit wildem Gebrauſe in den ruhigeren, ſilberglänzenden Araxes mündet, dräut ein längſt ver - laſſenes und vergeſſenes Gemäuer in die romantiſchen Thal - ſchluchten hinab. Es iſt König Erowants II. Burg2Anſicht bei Dubois, Voy. p. 36. und ſeine Reſidenz (die dritte, die dieſer armeniſche Trajan erbaute), das einſt weit berühmte Erowantagerd lag nicht weit hievon, mit ſeinem Schmucke von Paläſten und Mauſoleen. Die Völker - ſtürme und Erdbeben haben hier der Nachwelt nur ſpärliche Er - innerungen gelaſſen, und nur die ſchwarzen Grabſteine aus hartem Lavageſtein ſind als ſinnige Ueberreſte an der Stelle der einſtigen Pracht zurückgeblieben. Gleich einſam und öde iſt’s auf der Fels - kuppe von Erowantaſchad, welche ſich gerade gegenüber der eben beſchriebenen Localität, am linken Ufer des Fluſſes erhebt. Es iſt die vierte in der Reihe der Reſidenzen am unteren Arpa - tſchai. Erowant, der Uſurpator aus arſacidiſchem Königsgeſchlechte, der Sanadrugs Herrſchaft über Armenien und Edeſſa in Trümmer geſchlagen hatte, erbaute ſie als ſeine zweite Reſidenz, nachdem er ſich in dem älteren Armavir (am Araxes ſüdlich von Etſch - miadſin) nicht mehr behaglich fühlte. Mit dieſem bauluſtigen Beherrſcher Armeniens berühren wir eine der intereſſanteſten Geſchichtsepochen des Landes. Sanadrug, den Erowant nicht nur aus dem Felde geſchlagen, ſondern ihn auch mit ſeinem ganzen Hofſtaate hinrichten hatte laſſen, beſaß einen Sohn Namens Ardaſches, der jenem Blutbade entronnen war und bei den Parthern Schutz gefunden hatte. Er war während der langen Regierungszeit Erowant II. herangewachſen, hatte den Beiſtand der parthiſchen Könige gewonnen und den Thronräuber unter den Mauern ſeiner eigenen Reſidenz geſchlagen3Nachmals verſäumte Ardaſches nicht, ſeine parthiſchen Freunde königlich zu belohnen, namentlich den Bagratiden Sempad, den er zu ſeinem Kronfeldherrn (Sbarabied) machte. Unter ihm erſtand auch wieder. die ältere Arſaciden-Reſidenz Ardaſchat (Artaxata), welche unter Corbulo durch Kaiſer Neros Legionen zerſtört worden war. Aus ſämmtlichen Re - ſidenzen Erowant II. wurden die Schätze, namentlich aber die zahlreichen.
22Im Ararat-Gebiet.Im Verfolge unſerer Tour thalab des Araxes ſtoßen wir in wildem Stromdefilé auf die altarmeniſche Feſte Kara-Kaleh (Schwarzburg); ſie iſt nahezu ganz iſolirt auf ſchwarzem Lava - felſen, unter ſich den toſenden Strom und gegenüber am rechten Ufer eine zweite, ſcheinbar noch immer vertheidigungsfähige Zwingburg, Surmanly. Zwei Seiten der erſteren Burg ſind durch tiefe Spalten in der Lavamaſſe natürlich vertheidigt, die dritte iſt es durch den vorüberfließenden Araxes; es bleibt alſo nur die nördliche Landſeite übrig, auf der ehemals ein mehr - facher Kranz von Mauern und Thürmen ſich erhob1Dubois, Voy. III, 446.. Die Neubauten ſind meiſt aus ſchwarzen Lavaſtücken erbaut und vor der Citadelle liegt ein Friedhof voll Grabmäler verſchiedener Nationen, darunter ſolche mit perſiſchen und tartariſchen In - ſcriptionen und Sculpturen von Widderfiguren, die man früher blos für Bezeichnungen armeniſcher Grabſtätten gehalten hatte. Am Nordfuße des Lavaſtromes, der die Citadelle und die Ortſchaft trägt, fließt der Araxes vorüber, an deſſen Süd-Ufer liegt jedoch eine kleine Ufer-Ebene, auf welcher einſt die untere Stadt mit ihren Gärten lag, die aber gegenwärtig ganz verlaſſen iſt. Auch Reſte einer alten Brücke ſollen noch zu erkennen ſein (wie bei Ani)2Ganz in einem Winkel der verworrenen Gebirgsketten ſüdlich des Araxes liegt das Dorf Kulpi, weit in Armenien, ja in ganz Trans - kaukaſien berühmt durch ſeine uralten Steinſalzwerke. Das Dorf iſt amphi - theaterartig an eine nackte. Felswand angebaut, in der Mitte deſſelben eine kleine Kirche mit plattem Dache. Die übrigen Häuſer ſind ſo dicht an einander gebaut, daß die Bewohner bei ſchlechtem Wetter, wo die engen Gaſſen durch den aufgeweichten Salzmergel unpaſſirbar ſind, über die Häuſerdächer hin von einem Ende des Dorfes zum andern verkehren. (Dubois, a. a. O.) Auch bei Radde, „ Vier Vorträge ü. d. Kaukaſus “, 47. .. Zwiſchen Kara-Kaleh und Igdyr, einem im letzten Feldzuge vielgenannten Orte und Concentrirungsplatz des Detache - ments Tergukaſſoffs, nimmt mälig die große Araxes-Ebene, die wir gleich Anfangs unſerer Tour durchwandert hatten, ihre Aus - dehnung. Sie iſt nur wenige Fuß über den Spiegel des Fluſſes erhoben, faſt ohne Steine und von zahlreichen Canälen durch -3Götterſtatuen nach der neuen Reſidenz gebracht, die ſich, mit Tempeln und Hainen geſchmückt, zu neuem Glanze erhob. (Moſ. v. Chorene bei Ritter, „ Erdkunde “, X, 454.)23Die Araxes-Ebene. — Zur Völkerſtellung der Armenier.ädert. Nur wenige Meilen ſüdöſtlich von Igdyr liegt am Nord - fuße des Ararat ein Dörfchen im einſamen Thälchen, Agurie. Ein kleines Gewäſſer beſpült gewaltige Lavamaſſen, thalab be - ſäumen es dichte Schilfwälder und höher die Ufer hinan fette Weideplätze, der Lieblingsaufenthalt jener kurdiſch-perſiſch-arme - niſchen Miſchrace, die hier unter ruſſiſchem Einfluſſe ſich mälig zur Lebensweiſe der Halb-Nomaden emporgeſchwungen hat. Jenes Dörfchen Agurie iſt aber nach armeniſcher Tradition der Ort, wo Altvater Noah nach ſeiner wunderbaren Rettung den Altar zum Dankopfer errichtete1An der Stelle dieſes Altars ſteht heute eine kleine, aus ſchwarzen Lavablöcken erbaute Kirche, die mindeſtens 1000 Jahre alt ſein dürfte, wie allenthalben aus den umherliegenden Grabſteinen hervorgeht. Im Innern befindet ſich auf einem Pfeiler eine Inſchrift Kakig I. (989 König von Armenien), ein Sohn Aſchad III., der dem Dorfe verſchiedene Privilegien ſicherte, an die ſich freilich die Zeitläufe nicht kehrten. Gleichwohl zeichnet auch heute noch die Bewohner Aguries ein gewiſſer Stolz aus, den ihnen die Heiligkeit der Stätte des einſtigen Verſöhnungsopfers einimpft. (Vgl. Parrot, „ Reiſe ꝛc. “, I, 219; Dubois, Voy., III.). Die rieſigen Schneewipfel der beiden Ararat im Rücken, vorn im äußerſten Norden die herrlichen Ge - birgsringe der Eriwanſchen Randketten und dazwiſchen die weit - läufige ſchimmernde Araxes-Ebene: die Situation iſt zum mindeſten erhebend genug, um obiger Tradition Vorſchub zu leiſten.
Schon in Pakaran am Arpatſchai hatten wir jenen claſſiſchen Boden betreten, auf dem ſich die legendenreiche Vor - und Ur - geſchichte Armeniens abſpielt. Es iſt daher an der Zeit, uns mit dem Volke der Armenier ſelbſt zu beſchäftigen und deſſen ethniſche Entwickelung in knapper Form darzuſtellen … Die Uranfänge der Armenier verdämmern in blaſſen Mythen, wie die der meiſten übrigen aſiatiſchen Culturvölker. Aber während ſich die vorgeſchichtliche Zeit der Aſſyrier und Iranier und jene Turans in unermeßlichen, fabelhaften Zeiträumen bewegt, in denen unſere Vorſtellungen von greifbaren, räumlichen Verhält - niſſen in Nichts zerfließen2Die vor-zoroaſtriſche Chronologie der Iranier gibt uns ein ſolches Syſtem ungeheuerer Perioden. Jeder Fixſtern regierte den Himmel tauſend Jahre allein und dann weitere 1000 Jahre mit einem anderen Fixſterne, der gewiſſermaßen die Stelle eines Veziers vertrat. Nach 1000 Jahren dankte er dieſen ab und regierte mit einem zweiten, dann mit einem, wurzelt der armeniſche Stamm -24Im Ararat-Gebiet.baum in der erſten Epoche der Menſchengeſchichte überhaupt. Haik, der Stammvater des erſten armeniſchen Titanen-Ge - ſchlechtes, ſoll nämlich nach der älteſten Tradition ein Enkel Japhets geweſen ſein1In den bibliſchen Stammtafeln kommt indeß dieſer Name nicht vor. Nach dem 1. Buche Moſe (10, 2 — 4) hießen die Enkel Japhets (nach den beiden Söhnen Gomers und Jawans) Askenas, Riphat, Thogarma, Eliſa, Tharſchiſch, Hittim und Dodanim.. Nach dieſem Haik benannten die Ar - menier ihr Land, Haiasdan, während ſie die Nachkommen des - ſelben als Haigasan, „ Abkömmlinge des Haik “, bezeichnen, indeß, ſelbſt im Vulgär-Armeniſchen das alleinſtehende Wort „ Haik “noch heute den geographiſchen Begriff von Armenien deckt. (z. B. in Partsr Haik = Hoch-Armenien, das Land zwiſchen Oſt-Armenien und Erzingian.) Nachdem Haik in die baby - loniſche Niederung hinabgeſtiegen war und daſelbſt den König Belus erſchlagen hatte, zog er mit ſeinem Geſchlechte, dreihundert gigantiſche Männer, wieder heimwärts und nahm ſeinen Sitz dieſſeits des Ararat, im Gau Daron, den die Forſchung nach vielen Um - ſchweifen in dem heutigen Murad-Becken zwiſchen Chamur und Muſch wiedererkannt hat. Thatſächlich gibt es daſelbſt noch heute einen Ort Haik. Es war Xenophon, der auf ſeinem glorreichen Rück - zuge durch das Land der Kharduchen zuerſt das heutige mittlere Murad-Becken betrat und ſo zuerſt Kunde brachte von dem eigentlichen Stammlande der Armenier, die er aber keineswegs ſo nennt, ebenſo wenig wie vorher Herodot, der nur vom „ Volke “aus dem Quelllande des Euphrat und ſeinen Handelsbeziehungen mit Bagdad berichtet. Wunderbarer Weiſe iſt uns dieſer hoch - intereſſante, claſſiſche Boden im Laufe der Jahrtauſende voll - kommen verloren gegangen und erſt einem Reiſenden unſeres Jahrhunderts2J. Morier, „ Journey through Persia, Armenia etc. “, 1808 — 1809.) war es vorbehalten, die Murad-Quelle und ſo - mit ſein ganzes Quellgebiet förmlich zu entdecken. Seitdem2dritten und ſo nach und nach mit allen Fixſternen des Himmels. Hatte er alle Fixſterne zu ſolchen Mitregenten gehabt, ſo trat er ſodann die Herrſchaft an denjenigen ab, der zuerſt ſein Mitregent war, wonach ſich die Epochen von 1000 zu 1000 Jahren wiederholten, bis zum letzten Fix - ſterne: eine überwältigende Vorſtellung von unbegreifbaren, unendlichen Zeiträumen. (Vgl. J. Kruger, „ Geſchichte der Aſſyrier und Iranier “, 65.)25Haik und Armenac.hat ſich unſere Kenntniß von demſelben topographiſch nicht weſentlich erweitert, aber es wurde im Verlaufe des nächſten halben Jahrhunderts, alſo bis in unſere Zeit hinein, die Iden - tität verſchiedener Localitäten der erſten armeniſchen Entwickelungs - Epoche mit den heutigen topographiſchen Oertlichkeiten conſtatirt und ſo die Handhabe zu tiefgreifenden Unterſuchungen gegeben.
Erſt Armenac, der Enkel Haiks, ergriff den Wanderſtab und ſtieg mit ſeinem ganzen Geſchlechte über das „ nordöſtlich vor - liegende Gebirge “in eine Ebene hinab, „ welche auf allen Seiten von hohen Gebirgen umgeben war, im Süden aber grüßte ihn (Armenac) mit ſchneeweißem Scheitel ein Altvater zwiſchen Jüng - lingen “1Moſes von Chorene.. Daß es ſich hier um den Ararat handelte, beziehungs - weiſe um die Ebene des Araxes, erſcheint völlig zweifellos, aber Namen hatte damals weder jener, noch dieſe. Armenac ſelbſt gründete am Fuße eines mehr nördlich liegenden Berges eine Niederlaſſung, die er nach ſeinem Sohne Araghaz nannte, wie der gewaltige erloſchene Vulkan zwiſchen Eriwan und Alexandrapol noch heute heißt. Auch die übrigen Söhne des Armenac, des zweiten Stammvaters der Armenier, gaben Städten, Flüſſen und Landſtrichen ihre Namen, und allenthalben haben ſich dieſe bis auf unſere Tage erhalten. Der zweite Sohn, Armavir, gründete ſeine Stadt2Dieſe Reſidenzſtadt, die anderthalb Jahrtauſende geblüht hatte und das älteſte heidniſche Götter-Pantheon beſaß, lag ſchon zur Zeit Arſchaks II. (363 — 381 n. Chr.) vollends in Trümmern. Seit Einführung des Chriſtenthums mußte ſie wohl ihre ganze frühere Bedeutung verlieren und ſo erſcheint es erklärlich, daß die Forſcher der Neuzeit nicht einmal mehr ihre Lage präciſe anzugeben im Stande waren. Am Fuße einer Akro - pole lag die weitberühmte Stadt, von der neueſtens nur mehr einige Mauerreſte zu ſehen ſind. (Vgl. Dubois, Voy. III, a. a. O.) am „ großen Fluſſe “, welcher die Ebene zwiſchen den ſüdlichen und nördlichen Bergen durchſtrömte. Dieſer Fluß aber ward nach Armavirs Sohn, Eraſt, Eraſches (Araxes) be - nannt, und er hat dieſen Namen bei den Armeniern bis auf den Tag beibehalten3Auch für die Benennung des Ararat, der urſprünglich Maſis hieß, haben wir, wenn auch keinen hiſtoriſchen, ſo doch legendaren Anhaltspunkt. Araï, das iſt „ der Schöne “, war am Fuße des Rieſenberges der aſſyriſchen Schemiram (Semiramis) erlegen. Die Gegend hieß ſeitdem nur mehr … Aus dieſen kurzen Andeutungen geht26Im Ararat-Gebiet.hervor, daß die Armenier ein Glied jener Völkergruppe waren, welche ſeit dem hiſtoriſchen Beginne der Menſchengeſchichte die Ländermaſſen einnahmen, die wir geographiſch Weſt-Aſien nennen, alſo den engeren Complex zwiſchen dem Schwarzen Meere und dem indiſchen Ocean einerſeits und dem Kaukaſus und den tau - riſchen Pforten in Khoraſſan anderſeits. Dieſe Völker, Aſſyrier, Chaldäer, Meder, Perſer, Armenier und Kharduchen (Kurden), ſpäterhin Parther und Saſſaniden, waren ſich innig verwandt durch Sprache und Religion und repräſentiren ihrer ethnolo - giſchen Stellung nach die ariſch-iraniſche Völkergruppe, wodurch die iraniſche Abſtammung der Armenier, die übrigens niemals ernſtlich bezweifelt wurde, zur Evidenz feſtgeſtellt erſcheint. Be - denklich wäre es nur, daß gerade Armenien, an der Peripherie des oben beſchriebenen Ländergebietes gelegen, die Nachbarſchaft anderer Völker, zumal gegen Norden hin, in Verbindung mit den ſkythiſchen Stämmen jenſeits des Kaukaſus, empfindlich fühlen und ſo die Reinheit des Blutes ſeiner Bewohner beeinträchtigt hätte werden können, eine Annahme, die ſich inſofern als unbe - gründet erweiſt, als die Urgeſchichte der Armenier eigentlich identiſch mit jener Aſſyriens iſt. Von den obgenannten Völkern haben mehrere eine mehr oder minder längere Rolle geſpielt, ihre Nachbarn zeitweilig unterdrückt und auf ihre Koſten eine glänzende Weltherrſchaft geführt (wie die Aſſyrier und Perſer), niemals aber die Armenier, welche ſelbſt unter ihrer jüngeren, ſelbſtändigen Königen im Grunde doch nur in einem ſehr ab - hängigen Vaſallen-Verhältniſſe zu den Neu-Perſern ſtanden. Auch die Kurden (Kharduchen) haben ſich, wie wir noch ſpäter ſehen werden, niemals ein einheitliches, feſtes Staatengebilde zu ſchaffen gewußt, eine Eigenthümlichkeit, die auffallend genug ſich auch heute noch in dem Stammes-Antagonismus der kurdiſchen Berg - völker manifeſtirt …
3Araï-jarat, „ die Niederlage Araïs “, und bezog ſich ſomit eigentlich mehr auf das Ereigniß, als wie auf die Localität. Auf alle Fälle ging die Benennung, welche doch nur der Ebene (bei dem heutigen Igdyr), wo jene Schlacht ſtattgefunden hatte, gelten konnte, erſt viel ſpäter auf die beiden Bergrieſen über. (Indſchidſchean, a. a. O.; Hermann, „ Das ruſſiſche Ar - menien “, Ritter, „ Erdkunde “X, ꝛc. ..)
27Aſſyrier in Armenien.Zur Zeit des zweiten aſſyriſchen Weltreiches (1244 bis 725 v. Chr.) waren die Armenier politiſch bereits vollkommen in demſelben aufgegangen1Daß beiſpielsweiſe Arbakes — in der Form Arpag — in einer armeniſchen Königsliſte erſcheint, darf uns nicht wundern, weil Diodor ausdrücklich meldet, nach Ninivehs Untergang habe er über ganz Aſien (ſoll heißen Vorder-Aſien) geherrſcht. Zudem iſt nach Moſ. v. Chorene die alte Königsgeſchichte der Armenier aus aſſyriſchen Annalen geſchöpft, ſo - mit mit der Aſſyriens in mancher Hinſicht identiſch. (Vgl. J. Kruger, a. a. O., 113.). Doch ſollte ein eigentliches Ein - ſtrömen aſſyriſcher Elemente viel ſpäter, nämlich erſt unter Sanherib, alſo bereits zur Zeit der Spaltung des früheren Weltreiches in ein aſſyriſch-iraniſches Doppelreich, ſtattfinden. Als nämlich Sanherib nach ſeiner vergeblichen Belagerung Jeruſalems in Niniveh einzog, wurde er von ſeinen beiden Söhnen im Tempel des Götzen Nisrochs ermordet, worauf dieſe, Adramelech und Sarezer, in das „ Land Ararat “flüchteten2II. Buch d. Könige, 19, 37.. Daß ihr unmittelbarer Anhang mitemigrirte, ſcheint aus dem Verlaufe der nächſten Ereigniſſe unzweifelhaft hervorzugehen, denn die beiden Prinzen allein hätten ſich unmöglich ſo raſch und ſicher in dem, ihnen vom armeniſchen Könige angewieſenen Ländereien (Daron) zu inſtalliren vermocht, wenn nicht ſofort aſſyriſche Elemente zur Hand geweſen wären. Beide Prinzen waren die Begründer der aſſyriſch-armeniſchen Familiengeſchlechter der Saſſunier und Arzdrunier, die ſogar häufig den Eigennamen „ Sanherib “beibehielten. Beſonders hervorgethan haben ſich im Verlaufe der Zeit die Arzdrunier, die „ Adlerträger “am Hofe der armeniſchen Könige und nachmalige Begründer eines Königs - geſchlechtes von Van, aus dem wunderlicher Weiſe auch ein byzantiniſcher Kaiſer (Leo V.) hervorging. In den diesbezüg - lichen Geſchichtsquellen iſt freilich immer nur von dem „ Armeniſchen Abkömmling “die Rede, aber nicht nur in Leo, auch in Baſilius I. und in ſeinem Enkel Conſtantinus „ Porphyrogeneta “floß un - zweifelhaft aſſyriſches Blut3Neumann, „ Verſuch einer armeniſchen Literatur “. Bei der Wieder - herſtellung der alten byzantiniſchen Reichsgrenzen in Thrakien nach Unter - gang des oſtbulgariſchen Reiches (970 n. Chr.) war es nicht ſo ſehr das helleniſche Element, welches den Auſſchwung herbeiführte, ſondern das. Später gewannen die Enkel der28Im Ararat-Gebiet.einſtigen aſſyriſchen Emigranten ſtets mehr an Würde und Macht und ſie waren thatſächlich die Beherrſcher des ganzen Länder - ſtriches am oberen Tigris von Amid (Diarbekr) bis öſtlich über Van hinaus, eine Länderzone, die ſich geographiſch und politiſch zwiſchen Aſſyrien und Armenien lagerte.
Unter Nebucadnezar fand ein zweites hochwichtiges Ein - ſtrömen fremder Bevölkerungs-Elemente nach Armenien ſtatt. Die furchtbare Niederlage, welche der Feldherr Chiniladans, Holofernes, in Paläſtina erlitten hatte, beziehungsweiſe die Auf - löſung des aſſyriſchen Heeres durch ſeines Feldherrn tragiſches Ende (durch Judith), ſcheint die nächſten Könige nicht behindert zu haben, hebräiſche Gefangene in den armeniſchen Bergen zu coloniſiren. Die Colonien gediehen augenſcheinlich auch ziemlich raſch, doch war von einem Anwachſen derſelben zu einer gewiſſen Suprematie, wie bei den Ardzruniern, lange nicht die Rede, bis endlich ein gewiſſer Schambad auftrat und der Gründer eines berühmten Stammes, der Bazradunier (oder Bagradunier) ward, eines Stammes, der unter der Namensform Bagratiden ein alt - berühmtes chriſtliches Königsgeſchlecht hervorbrachte, deren letzte (georgiſche) Sproſſen noch heute in Rußland exiſtiren. Es iſt wunderlich genug, daß es gerade ein „ jüdiſcher Edelmann “ſein mußte, dem es vorbehalten war, eine Dynaſtie zu gründen, die durch ein Jahrtauſend den Schirm der Chriſtenheit im Oſten abgab1Die Bagratiden rühmen ſich auch derſelben Abkunft wie Chriſtus und führten ihren Stammbaum bis auf David zurück, augenſcheinlich mit mehr Berechtigung als die bekannten Montgomerys in Frankreich. (K. Koch, „ Kaukaſiſche Länder “, 74.). Die Bagratiden traten mit ihrem ſehr zahlreichen (chriſtlichen) Anhange bald die armeniſche Herrſchaft an, indem ſie dieſelbe von ihrem urſprünglichen Stammſitze Daron über Paſſin (obere Araxes-Gegend), Kars und ſpäter bis Georgien ausdehnten und unter Aſchad II. endlich auch von den arabiſchen3armeniſche (aſſyriſch-armeniſche). Kaiſer Joannes Tzimiſches, der Eroberer Oſtbulgariens, war ein Armenier, ebenſo die vorzüglichſten Feldherren und der Kern der Armee Baſilius II. Zur Befeſtigung des neueroberten Phi - lippopolis ſiedelte Tzimiſches, wie einſt Conſtantin V., zahlreiche Armenier in der Umgebung an. (C. J. Jirecek, „ Die Heerſtraße von Belgrad nach Conſtantinopel “, 79.)29Die Bagratiden.Chalifen als berechtigte Dynaſtie anerkannt wurden. Das merk - würdige Eingreifen der Bagratiden in die politiſchen Schickſale Armeniens, ein Eingreifen, das augenſcheinlich nur ſehr langſam und durch geiſtige Suprematie, aber keineswegs gewaltſam ſtatt - fand, gibt uns den beſten Beweis, wie wenig inneres Bewußt - ſein zum Herrſchen und Beherrſchen den eigentlichen Armeniern eigen war und wie ſie ſpäter dies geradezu fremden Dynaſtien überließen; gerade ſo, wie ſie anfänglich keinerlei Miene machten, ſich der aſſyriſchen Präponderanz zu erwehren, wie etwa die Meder, die Zertrümmerer des zweiten aſſyriſchen Weltreiches …
In Armenien herrſchten die Bagratiden, wie bereits oben erwähnt wurde, bis ums Jahr 1030 nach Chr., d. i. bis zur Aufhebung des Königreichs Kars unter Kakig II. durch die Byzantiner1Neumann, „ Vahrams Chronicle of the Armenian Kingdom “, l. c. p. XI., bei Ritter a. a. O.. Aber durch Verwandtſchaft an Georgien gefeſſelt, verging ein nur unbedeutender Zeitraum, und wieder traten die Bagratiden als ruhmreiche Könige und Eroberer während der nächſten Jahrhunderte auf, bis endlich im Jahre 1802, durch Uebergang Georgiens, Kahetiens und Imeretiens in den Beſitz der Ruſſe