PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II][III]
Armenien.
[IV][V]
Armenien.
Ein Bild ſeiner Natur und ſeiner Bewohner
Im Anhange: Anatoliſche Fragmente. Mit einem Vorwort von Friedrich von Hellwald.
Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten.
Jena. Hermann Coſtenoble.1878.
[VI][VII]

Vorwort.

Wie ſtaunenswerth auch die Rüſtigkeit ſein mag, mit welcher in den letzten Decennien die geographiſchen Forſchungen fort - geſchritten, derjenige, welcher ſich in das Studium der Erdkunde verſenkt, wird nur zu bald gewahr, wie ſpärlich oft noch das Material über einzelne Planeteſtellen fließt, wie viele Orte, ja ganze Regionen es gibt, die noch niemals der Fuß eines gebil - deten Europäers betreten hat. Geradezu überraſchend mag es erſcheinen, daß ſolche gar nicht oder nur ſehr oberflächlich ge - kannte Gebiete mitunter hart an der Schwelle dicht bewohnter und oft durchſtreifter Länder, ja in der nächſten Nähe der europäiſchen Culturſtaaten liegen. Nirgends iſt dies mehr der Fall, als in jenen Länderſtrichen, welche wir kurzweg als den Orient zu bezeichnen pflegen und worunter man die europäiſche Balkan-Halbinſel und ganz Vorder-Aſien, d. h. Klein-Aſien mit den ſyriſchen Geſtaden bis an die Hochſtufen Perſiens verſteht. Noch ſind es nur wenige Jahre her, daß das heute viel genannte Bulgarien ſo gut wie völlig unbekannt geweſen und kaum fünf - zehn deutſche Meilen von den ſchwarzgelben Grenzpfählen eine wahre terra incognita ſich ausbreitete, von welcher die Ausdauer eines öſterreichiſchen Forſchers erſt kurz vor Ausbruch des jüngſten türkiſch-ruſſiſchen Krieges den Schleier hinweggezogen hat. Bis dahin wußte man über einzelne Theile Afrikas thatſächlich genaueren Beſcheid, als über das uns doch ſo nahe gelegene Innere des osmaniſchen Reiches.

Die Regionen, in welche der durch frühere Arbeiten ſchon vortheilhaft bekannte Verfaſſer des vorliegenden Buches den Leſer hauptſächlich führt, ſind nun zwar nicht eine terra incognita in dem Sinne, daß ſie niemals beſucht und unterſucht worden wären; vielmehr haben verſchiedene, freilich nicht all zu vieleVIII Reiſende, Engländer und Andere, Armenien und Kurdiſtan wenigſtens theilweiſe durchwandert und die Ergebniſſe ihrer Beobachtungen in einzelnen Reiſewerken niedergelegt. Armenien ſelbſt iſt bis zur Stunde politiſch unter drei Mächte, Rußland, Perſien und die Türkei, vertheilt, und das den Ruſſen gehörige Stück iſt längſt, ſo gut es die Verhältniſſe geſtatteten, von ihnen dem Verkehre zugänglich gemacht und großentheils wiſſenſchaftlich durchforſcht worden. Immerhin iſt unſere Kenntniß jenes im gegenwärtigen Augenblicke ſo wichtig in den Vordergrund treten - den Theiles Aſiens, beſonders der nichtruſſiſchen Gebiete und namentlich Kurdiſtan, eine überaus kärgliche und muß die Erdkunde dankbar jede Gabe empfangen, welche den Umfang unſeres Wiſſens nach dieſer Richtung erweitert. Noch immer entbehren wir in der Literatur aller Sprachen eines Buches, welches in zuſammenhängender Weiſe und auf Grund eigener Anſchauung ein Geſammtbild jenes Landes vor Augen bringt, weitere Kreiſe mit Natur und Sitte in Armenien vertraut machen kann. Der Verfaſſer dieſer Schrift hat ſich nun bemüht, dieſer Aufgabe gerecht zu werden, indem er mit den Reſultaten ſeiner eigenen Unterſuchungen eine genaue Kenntniß der bisher über Armenien erſchienenen Literatur verbindet und in an - ſpruchsloſer Weiſe, geſchmackvoller Darlegung und fern von jedem gelehrten Scheine zu ſchildern verſteht. Fachmänner werden die auf ältere Arbeiten verweiſenden Noten gewiß dankbarſt auf - nehmen und darin die Mittel zu weiterer Vertiefung in dieſes Thema finden.

Im Hinblicke auf eine ſo bewegte Zeitgeſchichte, wie die heutige es iſt, wird auch der Politiker gern nach einer Arbeit greifen, welche ihn über den Werth des ſtreitigen Gebietes zu orientiren im Stande iſt. Manche Vorurtheile wird er darin zerſtreut, manchen Irrthum berichtigt finden und ſchließlich wohl Niemand das Buch ohne Nutzen aus der Hand legen.

Cannſtatt, im April 1878.

Friedrich von Hellwald.

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Inhalt.

  • Seite
  • Einleitende BemerkungenIX
  • I. Im Ararat-Gebiet. Rundblick vom Ararat. Bajazid. Bis Kars. Ar - meniſche Culturſtätten. Zur Völkerſtellung der Armenier. Der Patriarchenſitz Etſchmiatſin1
  • II. Hoch-Armenien. Von Kars nach Erzerum. Die armeniſche Capitale und ihre geſchichtliche Vergangenheit. Die Plaſtik Hoch-Ar - meniens. Erzingian und der heilige Berg . Die ältere Literatur der Armenier43
  • III. Das pontiſch-armeniſche Geſtadeland. Trapezunt, die Türkenſtadt. Hiſtoriſche Reminiscenzen. Das Gartenland Dſchanik . Zur Kaukaſiſchen Emigration. Griechiſche Küſtengaue. Laziſtan und das Volk der Lazen69
  • IV. Van und die Kurden. Im armeniſchen Kaſchmir. Die Stadt Van und ihre Denk - male. Hakkiari, der Neſtorianer-Diſtrict. Die Kurden und ihre geographiſche Verbreitung93
  • V. Ueberblick auf Geſammt-Armenien. Klein-Armenien. Das Halysplateau mit Siwas. Das plaſtiſche Total-Bild Armeniens. Die Hochſteppen. Die Eufrat-Katarakte. Armeniens culturhiſtoriſche Stellung zu Aſien. Das armeniſche Volk der Gegenwart und ſein bis - heriges Verhältniß zur entſprechenden Race115
  • Anhang: Anatoliſche Fragmente. Die Stammheimat der Osmanen. Hellespont und Ilion. Smyrna. Zwiſchen Taurus und Halys. Die Garten - ſtadt Amaſia. Sinope, ein Culturbild. Allgemeines über Anatolien145
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Einleitende Bemerkungen.

Rußland und England in Vorder-Aſien. Der ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien. Die Territorial-Veränderungen durch den Frieden von San Stefano (3. März 1878).

Alle Welt ſpricht ſeit vielen Luſtren von der in ihren Con - ſequenzen unberechenbaren Rivalität der Ruſſen und Engländer in Central-Aſien. Die Geneſis der gegenſeitigen Machtbeſtre - bungen der beiden Rivalen hierſelbſt iſt zur Genüge bekannt, aus Zeitungsberichten und Parlamentsreden, aus politiſchen Ab - handlungen und dickleibigen Reiſeberichten ſowohl ruſſiſcher, als engliſcher Schriftſteller. Mag es nun mit den theoretiſchen Calculs eines Zuſammenſtoßes der beiden Coloſſe an dem rieſigen Grenzwall des Himalaya-Syſtems und den dazu gehörigen Hoch - ländern von Badaghſchan und der Pamyr wie immer beſtellt ſein, ſoviel ſteht feſt, daß die Natur in dieſer grandioſen Gebirgs - welt, dem Dache der Welt , wie Fedtſchenko ſie nennt, Factoren in Mitleidenſchaft zieht, welche die ſogenannte central-aſiatiſche Frage einer definitiven Löſung nicht gar ſo bald entgegenführen werden. Die Machtbeſtrebungen beider Staaten collidiren indeß nicht in Central-Aſien allein; an der ganzen Längenachſe des aſiatiſchen Continents, vom Cap Baba-Kaleſſi unweit Trojas bis zu den Geſtaden des ochotzkiſchen Meeres, gibt es nahezu aller - orts Territorien, wo die vielbeſprochene Rivalität einen mehr oder minder ſcharfen Ausdruck erhält. So documentirt ſich denn auch in Vorder-Aſien allenthalben der Anglo-ruſſiſche Antago - nismus, und es dürfte unſeres Erachtens am Platze ſein, einem Buche, das ſich mit einem ſo wichtigen, in politiſcher, wie inXIIEinleitende Bemerkungen.geographiſcher Beziehung wichtigen Lande, wie Armenien, be - ſchäftigt, ein Capitel politiſchen und zeitgeſchichtlichen Inhaltes voranzuſetzen

Mit Rußlands Verlegung ſeiner Grenzpfähle bis zum Großen Ararat nach den perſiſchen und ruſſiſch-türkiſchen Kriegen 1826 bis 1829, d. h. nach den Friedensſchlüſſen von Turkmantſchai und Adrianopel, ſchien England des müßgen Zuſehens gegenüber den ſtetig ſtattfindenden Machtverſchiebungen an der Schwelle Irans überdrüſſig. Eine politiſche Preſſion auf die Verhältniſſe ſchien freilich nicht gut möglich, und ſo bediente man ſich an - fänglich engliſcherſeits anderer Mittel. Der Beſuch engliſcher Miſſionäre nahm um dieſe Zeit in Vorder-Aſien erheblich zu, namentlich in den öſtlichen und centralen tauriſchen Diſtricten, alſo an der eigentlichen geographiſchen Schranke zwiſchen einer allfälligen ruſſiſchen und engliſchen Macht - und Intereſſen-Sphäre. Leider ſind über dieſe Anfänge brittiſchen Einfluſſes nur Er - innerungen zurückgeblieben, welche das allerungünſtigſte Licht auf die engliſche Proſelytenmacherei werfen. So hatten beiſpiels - weiſe die Kurden des Neſtorianer-Diſtrictes von Hakkiari eine für jene Naturſöhne höchſt außergewöhnliche Hochachtung vor dem Wirken der amerikaniſchen Miſſionsbrüder erlangt, wie es vor einigen Decennien und gerade nach dem erſten ſiegreichen Feldzuge der Ruſſen in Armenien (1829) blühte. Dagegen wußten die engliſch-hochkirchlichen Miſſionäre nichts beſſeres zu thun, als die Kurden, welche doch unter Umſtänden ſehr fanatiſche Mohammedaner zu ſein vermögen, gegen die Amerikaner und ihre neſtorianiſchen Schutzbefohlenen aufzuhetzen, und ſo jenes Blutbad hervorzurufen, das weit erſchütternder war als die Maronitenſchlächterei im Jahre 1860, wobei die Engländer be - kanntlich gleichfalls ihre Hände im Spiele hatten. Das Haupt der damaligen hochkirchlich-biſchöflichen Propagandiſten in Hakkiari aber war ſo naiv, oder übelwollend, daß es nach der entſetzlichen Kataſtrophe von Aſchitah das Handeln des blutdürſtigen Bedr Khan noch zu entſchuldigen wagte. Wie myſteriös , ruft Hr. Badger (The Nestorians, I, 301) aus, waren die Wege des Allmächtigen, indem er zuließ, daß die ungläubigen Kurden ſo viele Tauſend Anhänger Chriſti ſchlachteten! Wir dürfen gleich - wohl nicht zweifeln, daß Gott ein erhabenes Ziel bei dieſer Zu -XIIIRußland und England in Vorder-Aſien.laſſung hatte Das war der ſeinerzeitige Repräſentant des engliſchen Einfluſſes in Kurdiſtan; er hatte es auch dahin ge - bracht, daß der nach Perſien (Urumia) exilirte Neſtorianer-Pa - triarch Mar Schimun alle neſtorianiſchen Anhänger der ameri - kaniſchen (nicht biſchöflichen) Kirche verfluchte, den moslemiſchen Pöbel gegen dieſelben und die proteſtantiſchen Miſſionäre auf - hetzte und ſo zu Blutſcenen Anlaß gab, die erſt durch das Ein - ſchreiten der perſiſchen Regierung ihr Ende fanden.

Nach dieſen wenig erfreulichen Reſultaten griff man eng - liſcherſeits zu anderen Mitteln, und zwar zu ſolchen handels - politiſcher Natur. Die Schlachtfelder in Armenien waren von dem vergoſſenen Blute (1829) kaum erſt trocken geworden, als die brittiſche Regierung mehrere Expeditionen mit handelspolitiſchen Miſſionen nach den Ländern des Eufrat und Tigris entſandte. Oberſt Chesney wandte ſich dem Eufrat zu, Ainsworth dem Tigris. Der im Grunde doch nur höchſt problematiſchen Frage der Beſchiffung des Eufrat mit Dampfern, wie ſie der engliſche Oberſt aufwarf, folgte bald deſſen, rein nur akademiſchen Werth beanſpruchendes Project einer directen Schienenverbindung des ſyriſchen Geſtades mit dem Perſiſchen Golfe durch eine dem Eufrat-Thale entlang laufende Bahnlinie. Die Projecte an ſich waren aber nicht das Schwerwiegende an der Frage, ſondern die damit verbundene handelspolitiſche Tendenz, den perſiſch-kur - diſchen Export, welchen die Ruſſen mit viel Umſicht und Energie in der kürzeſten Zeit an ſich zu reißen wußten, über den Per - ſiſchen Golf abzulenken. Seit vierzig Jahren nun macht Eng - land in dieſer Richtung ganz außerordentliche Anſtrengungen, und man kann ſagen, daß es an der Themſe keine politiſche oder national-ökonomiſche Capacität gibt, die ſich mit dieſer Frage nicht eingehend beſchäftigt und ſie als mit den vitalſten Intereſſen des Inſelreiches gleichbedeutend erachtet hätte. Alle Projecte, welche ſich mit einer Paralyſirung der ruſſiſchen commerziellen Präponderanz in Vorder-Aſien beſchäftigen, ſind derart angelegt, daß ſie die Wechſelwirkung zwiſchen dem Emporium Conſtan - tinopel und dem Perſiſchen Golfe in irgend einer Art zum Aus - drucke bringen.

Sehr eingehend hat ſich neuerdings ein Parlamentsausſchuß mit dieſer Frage befaßt, der im Jahre 1872 die AngelegenheitXIVEinleitende Bemerkungen.einer Sicherung des Eufrat-Thales in Erwägung zog (unter dem Vorſitze des jetzigen Schatzkanzlers Sir Stafford Northcote), und ſich dahin ſchlüſſig gemacht: daß die politiſchen, wie die Handels - vortheile, welche die Sicherung jener Straße gewähren, zu jeder Zeit beträchtlich und unter möglichen Verhältniſſen außerordentlich groß ſein würden. In der Denkſchrift ſelbſt (Report from the Select Committee on Euphrates Valley Railway etc. ) wurden drei Varianten eines Schienenweges durch Vorder-Aſien nach Indien discutirt, und zwar: erſtens, von einem nordſyriſchen Küſtenpunkt aus (Suwedje oder Skanderun) über Aleppo zum Eufrat und dieſem thalab folgend bis zum Perſiſchen Meerbuſen; zweitens, von denſelben Ausgangspunkten ab durchs meſopotamiſche Binnenland, alſo entweder am linken Eufrat - oder rechten Tigris - Ufer, mit dem gleichen Endpunkt (Kuweit, Korna oder Basra); drittens endlich, eine Linie über Djarbekr und Moſſul, alſo längs der Südgrenze Kurdiſtans nach Bagdad und weiter zum Perſiſchen Golfe. Für das erſte Project wurde überdies auch noch die Wahl des Küſtenpunktes Tripolis (Tarabulus) in Mittel - Syrien anempfohlen, wodurch eine große Strecke der Eufrat-Bahn in die ſyriſch-eufratenſiſche Wüſte (Palmyra-Deïr) fallen würde. Auch gibt es ein Project (durch den Aſſyriologen und Präſi - denten der Londoner Geogr. Soc. , Sir Henry Rawlinſon ver - treten), nach welchem die Bahn von Scutari ab ganz Klein - Aſien und Armenien, weiterhin Perſien und Afghaniſtan durch - ſchneiden ſoll, um entweder bei Peſchawer oder Schikarpur ans indiſche Netz anzuſchließen. Hiebei handelt es ſich ſelbſtverſtändlich keineswegs um ein ruſſiſches Armenien, wie überhaupt alle Pro - jecte ſich möglichſt fern von den ruſſiſchen Reichsgrenzen halten. Die Vorzüge nun, welche die Eufratbahn der Theorie nach auf - wies, wurden in der Praxis ſtark paralyſirt. Von Tripolis di Siria bis Bagdad allein beträgt dieſe Linie nicht weniger als 1200 Kilometer, längs der es keine Städte, keine Hilfsquellen, kein Holz und in den Wüſtenſtrecken ſelbſtverſtändlich auch kein Waſſer gibt. Daß bei ſolch ungünſtigen Vorbedingungen das Comité die Koſten des Baues der Eufratbahn auf nur zehn Millionen Pfund Sterling veranſchlagte, iſt eine Illuſion; der Bau würde mindeſtens die doppelte Summe beanſpruchen. Außer - dem iſt die Bahn auch techniſch kaum ausführbar, da der StromXVRußland und England in Vorder-Aſien.zahlloſe mächtige Curven beſchreibt, denen die Linie nicht folgen darf, ſoll ſie nicht die Zahl der Kilometer unverhältnißmäßig erhöhen; den Curven aber auszuweichen, d. h., zahlloſe Brücken anzulegen und die vorliegenden Ufervorſprünge zu tunneliren das allein ſchon würde das Unternehmen derart vertheuern, daß es auf ein Jahrhundert hinaus unrentabel bliebe. Das fragliche Comité ſelbſt hat ſeiner Zeit wohl gewiſſe Vorzüge dieſer Linie, wie bereits oben angedeutet, anerkannt, konnte aber über die praktiſche Seite dieſer Frage nicht ſchlüſſig werden. Wie die Dinge ſtehen, wird die ſogenannte Eufrat-Bahn augen - ſcheinlich niemals, oder doch nur in ſehr ferner, unbeſtimmbarer Zeit, zu Stande kommen, wohl aber eine Tigris-Bahn , die, von einem nordſyriſchen Hafen abgehend, durch das fruchtbare Hoch-Meſopotamien, alſo an der kurdiſch-meſopotamiſchen Grenze, und im weiteren Verlaufe längs der perſiſchen Grenze nach Bagdad und dem Perſiſchen Meerbuſen führen würde. Die eventuelle engliſche Intereſſenſphäre rückt demnach um ein be - deutendes Stück weiter nach Norden, bis an die Marken Kur - diſtans hinauf, das heißt, das Gegengewicht muß an einem Punkte geſucht werden, deſſen Ingerenz bis zu der genannten Grenze reicht. Daß ein ſolches Gegengewicht nur durch eine unge - ſchmälerte Machtſtellung am Perſermeere, niemals aber in dem ſo entlegenen und außer aller Communication mit den britiſchen Beſitzungen ſtehenden Tigris-Thale zu ſuchen ſei, liegt auf der Hand. Hiebei erwächſt freilich die moraliſche Schwierigkeit, daß eine Machtſtellung Englands am Perſiſchen Golf ſo ziemlich gleichbedeutend mit dem Beſitze der dortigen Küſtenländer und, wenn nicht aller, ſo doch der türkiſchen Provinz Irak Araki (Bagdad) und des perſiſchen Küſtenſtriches von Suſiſtan iſt.

Gegen die unleugbaren Fortſchritte Englands am Schat-el - Arab ſcheint Rußland in irgend einer Art Perſien entgegenge - ſchoben zu haben. Engliſcher Einfluß iſt in Perſien ſchon ſeit geraumer Zeit gebrochen; er erhielt den letzten Stoß, als es verſchiedenen Intriguen gelungen war, Hrn. v. Reuter ſammt ſeiner theuer erkauften Eiſenbahnconceſſion aus dem Lande zu drängen und ſomit jeder indirecten engliſchen Speculation die Spitze abzubrechen. Wenn der Nachfolger im Beſitze jenes Danaer-Geſchenkes, General Falkenhagen, ſeiner kurzen Errungen -XVIEinleitende Bemerkungen.ſchaft nicht froh werden konnte, zunächſt aus Mangel an Capital, ſo ſtand hinter ihm dennoch die ruſſiſche Regierung, wobei allerdings keine ſolidariſche Verpflichtung behufs Realiſirung des Unternehmens vorlag. Zweifellos iſt es, daß der Beherrſcher des Sonnenreiches, dem Punkte, zu dem die Welt ſich neigt , im ruſſiſchen Sinne handelte und ſich überhaupt an den nor - diſchen Nachbar enger anſchloß. Gleichzeitig ereigneten ſich bald hierauf jene großen Kataſtrophen zu Conſtantinopel (1876), welche dem türkiſch-ſerbiſchen und türkiſch-ruſſiſchen Kriege voran - gingen, und ein königlicher Prinz aus dem Geſchlechte der Kad - ſcharen (man ſagt der Thronfolger), fand ſich veranlaßt, den verwegenen Ausſpruch zu thun: daß er alle osmaniſchen Fa - milienglieder, falls er die Macht hiezu beſäße, in Conſtantinopel aufknüpfen würde. Das war eine ſehr deutliche Sprache, und ihr gegenüber nahmen ſich die Freundſchaftsverſicherungen zwiſchen Schah und Chalifen zum mindeſten ſehr draſtiſch aus. Die Sympathien der ſchiitiſchen Perſer zu den ſunnitiſchen Türken waren nie abſonderlich warme; ganz und gar unerträglich aber iſt erſteren der Gedanke, die Paſſionsſtätten ihres Glaubens, welche am fernen Eufrat-Geſtade liegen, in türkiſchen Händen zu wiſſen. Dort ruhen in ſumpfiger oder wüſter Niederung, in - mitten eines höchſt unſicheren Beduinen-Territoriums, die größten ſchiitiſchen Märtyrer, Ali zu Nedſchef und ſein Sohn Hoſſein zu Kerbela. Alljährlich ziehen die ſogenannten Todtenkarawanen mit ihren peſthauchenden Särgen vom iraniſchen Hochlande in die meſopotamiſche Niederung hinab, denn es iſt für Perſer ſehr erſprießlich in Nachbarſchaft jener Heiligen zu ruhen. Die Be - duinen aber ſind da ganz anderer Meinung und ſo wiederholen ſich ihre räuberiſchen Ueberfälle auf die, im Grunde ſehr ſanitäts - widrigen Leichenkarawanen, immer wieder, zum Theile aus Glau - benshaß, anderntheils der Schätze halber, welche die Verwandten der reichen Todten als Geſchenke für die Grabmoſcheen mit ſich führen. Aus dieſem Anlaß iſt der perſiſch-türkiſche Antagonismus uralt, und es iſt bekannt, daß noch in den erſten Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts Perſien die gewaltigſten Anſtrengungen machte, um wieder in den Beſitz von Bagdad zu gelangen, über welche Stadt jener Pilgerweg weiterhin zum Eufrat-Geſtade bei Hilleh führt. Dieſe Beſtrebung iſt auch die Lieblingsidee desXVIIRußland und England in Vorder-Aſien.jetzigen Schah geblieben, und er ſetzte auf ihre Verwirklichung ſehr viel Hoffnung, da ſchob England auch hier ganz uner - wartet dem, von Rußland begreiflicherweiſe ſehr warm unter - ſtützten Plane, einen Riegel vor; es faßte in dem elenden Dorfe Mohammereh, an der Mündung des Schatt-el-Arab, Fuß, um ſich hier in Zukunft ſein meſopotamiſches Singapur zu gründen.

Einen noch viel entſchiedeneren Einfluß wußte ſich England im öſtlichen Arabien zu ſichern, wo namentlich die turbulenten politiſchen Ereigniſſe im Sultanat von Maskat die brittiſche Intervention geradezu herausforderten. Zum Verſtändniſſe der heutigen Lage daſelbſt müſſen wir indeſſen die Geſchichte Omans in aller Kürze vorbringen. Die eigentlichen Wirren in dieſem Sultanat datiren ſeit der unglücklichen Entſchließung des Sultans Sayid Said (geſt. 1856): ſein Reich in Aſien und Afrika in zwei Theile, wie ſie die Natur allerdings begünſtigte, zu trennen und ſo aus einem Staate zwei zu ſchaffen. Es erhielt Said Medſchid die Territorien an der oſtafrikaniſchen Küſte mit San - ſibar, und Said Tsueni das Sultanat von Oman, mit der Hauptſtadt Maskat. Bald nach dem Regierungsantritte Tsuenis entſpann ſich in Oman ein Bruderzwiſt, hervorgerufen durch ein geradezu uſurpatoriſches Auftreten Saids Achmeds, des dritten Sohnes Sayid Saids. In ſeiner Bedrängniß rief der Regent die Wahabiten, die Hochländler von Nedſched, zu Hilfe, ſchlug mit dieſen ſeinen Bruder Achmed und warf ihn ins Gefängniß, wo er wahrſcheinlich eines gewaltſamen Todes ſtarb, denn es hat ſeitdem von ihm nichts mehr verlautet. Wir wollen nun noch hinzuſetzen, daß bereits der Vater Tsuenis, als ganz unmündiger Knabe noch, ſeinen eigenen Oheim, den Sultan Bedr, auf ſeinem Schloſſe zu Burka ermordet hatte, und ſomit ſich und ſeine Nachkommen der in Arabien noch mit voller Intenſität graſſirenden Blutrache überlieferte. Das Familien-Drama ſollte auch in der That nicht zu lange auf ſich warten laſſen. Unter den unab - hängigen Beduinen im Innern des Landes lebte ein Enkel Bedrs, Azran Ibn Ghais, der den eigenen Sohn des omanitiſchen Sul - tans für eine Verſchwörung gegen dieſen und ſein Regiment gewann, und ſo wurde Tsueni (im Sommer 1867) durch ſeinen eigenen Sohn im Schloſſe Burka hinterliſtig ermordet. Dieſe blutige That hat dem jungen Said Salem ſchlechte FrüchteSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. IIXVIIIEinleitende Bemerkungen.getragen. Er lebte ſpäter vergeſſen und verſchollen auf einer Inſel des Perſermeeres, nachdem er nach kaum zweijähriger Re - gierung aus Maskat entfliehen mußte, um Schlimmerem zu ent - gehen. Aus dieſem Verſchwinden des jungen Sultans wollte der ſchon erwähnte Enkel Sayid Saids ſeinen Vortheil ziehen, und ſo zog eines Tages Ibn Ghais mit ſeinen Nomaden-Horden und Wüſten-Räubern in Maskat ein, um ſich des Thrones zu be - mächtigen. Bis hieher hatte England vom benachbarten Indien aus ſtets den ſtummen, aber gleichwohl ſehr aufmerkſamen Beob - achter abgegeben. Die turbulenten Ereigniſſe lagen ganz in ſeinem Intereſſe, und es handelte ſich nur um den richtigen Zeit - punkt zum Einſchreiten, der auch hereinbrach, als Ghais in ſeiner tyranniſch-despotiſchen Art den engliſchen Conſul von Maskat ſehr von oben herab behandelte, ja, ſich nachgerade ſeiner ent - ledigen wollte, um der ihm unbequemen, argusäugigen Controle zu entgehen. Sein Schickſal war indeß in Bombay bereits vorgezeichnet, wo der jüngſte Sohn Sayid Saids Said Turki für den Thron von Maskat präparirt wurde. Im Spätſommer 1870 eroberte Turki mit brittiſchem Gelde und brittiſchen Waffen Maskat, und nachdem Ibn Ghais im Kampfe gefallen war, beſtieg er den Thron ſeiner Väter als Vaſall Englands. Lange ſcheint indeß die Herrlichkeit Turkis nicht gedauert zu haben, denn neuerdings (1877) trafen Nachrichten aus Maskat ein, welche ein getreues Abbild der früheren Zuſtände liefern. Im abgelaufenen Jahre empörten ſich nämlich die Bewohner Maskats, angeblich wegen zu hohen Steuerdrucks und verjagten ihren Sultan Abdul Aziz. Aus einem Verſtecke im nahen Küſtenge - birge ſetzte ſich dieſer in Verbindung mit der Regierung in Cal - cutta, die auch ſofort das Kriegsſchiff Teazer nach Maskat abſegeln ließ, um den Sultan wieder einzuſetzen. Während dieſer Zeit herrſchte in der Reſidenzſtadt der größte Terrorismus und die dortigen engliſchen Unterthanen flüchteten mit ihren Familien theils nach Kuratſchi, theils nach Bombay. Zwölf Tage nach der Flucht des Sultans erſchien nun das erwähnte Kriegsſchiff und ſtellte die alte Ordnung (nach vorangegangener Drohung, die Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln) wieder her. Das Ende vom Liede wird aber binnen Kurzem auch hier eine engliſche Annexion ſein.

XIXRußland und England in Vorder-Aſien.

So ſehen wir unleugbar das mälige Anwachſen der brittiſchen Herrſchaft am Perſermeere. Welcher Contact aber liegt nun zwiſchen den Territorien daſelbſt und den elenden Hochſteppen Armeniens oder den verwahrloſten pontiſchen Küſtenſtädten? Wir haben darüber aus dem Munde der engliſchen Staatsmänner nie etwas Poſitives erfahren, weil der fragliche Contact gar nicht exiſtirt. Englands Intereſſen-Linien laufen ſchon ſeit Jahr - zehnten von den Delta-Marſchen des Nil und der ſyriſchen Küſte nach dem Perſiſchen Golfe, beziehungsweiſe nach Indien, während jene Rußlands identiſch ſein dürften mit den alten Handelswegen vom Pontus durch Armenien nach Nord-Perſien. Beide Linien - Zonen, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, laufen zu einander parallel, aber auch nur der Theorie nach; in Wahrheit liegt zwiſchen dieſer beiderſeitigen Intereſſen-Sphäre ein ganzes Reich Türkiſch-Aſien und der Maſſenumſatz zweier ganz ver - ſchiedener Welthälften, der nördlichen und der ſüdlichen. Die eingebildete Gefahr, daß durch den ruſſiſchen Beſitz der Eufrat - quellen Englands Machteinfluß in Vorder-Aſien lahmgelegt werden könnte, iſt ſomit nicht einmal eine geographiſch ſtichhaltige, ge - ſchweige eine greifbar politiſche oder commerzielle. Wenn indeß die Engländer glauben, daß in letzterer Beziehung die Ruſſen in Armenien dennoch ein ſchwerwiegender Factor ſeien, ſo wäre dagegen nur einzuwenden, daß über Erzerum und Armenien überhaupt der engliſche Handel von und nach Indien gleich Null iſt, daß von den durchſchnittlich 300 Poſt - und Waaren-Dampfern, welche jährlich den Hafen von Trapezunt anlaufen, nur fünf engliſcher Flagge und ein ganzes Drittel ruſſiſcher Flagge ſind, und daß unter den 1000 Transport-Dampfern, welche jahrein und jahraus nach und von den Seeplätzen Keraſunt, Ineboli und Samſun an der Pontusküſte verkehren, nach dem letzten ſtatiſtiſchen Ausweis (1876) nur ſieben engliſcher Flagge waren. Unter ſolchen Umſtänden vermag man durchaus nicht die Logik heraus - zufinden, nach der man in England Intereſſen bedroht ſehen will, die thatſächlich, wenigſtens in commerzieller Beziehung gar nicht exiſtiren.

Hiebei geht die öffentliche Meinung in England auch in anderer Beziehung zu weit, namentlich wenn ſie wie un - mittelbar nach Schluß des ruſſiſch-türkiſchen Krieges in BezugXXEinleitende Bemerkungen.auf die ruſſiſche Territorial-Erwerbung in Armenien das alte Geſpenſt herannahender Gefahr für Indien citirt. So ſchrieb damals der türkenfreundliche Daily-Telegraph , daß durch die Erfolge Rußlands nicht nur die Geſchicke der Türkei, ſondern auch jene Englands entſchieden werden würden. Die Frage ſei von gleich ernſter Bedeutung für die Engländer, wie für die Türken; die Eroberung Armeniens wurde ausdrücklich unter - nommen, um Großbritannien entſchieden Nachtheil zuzufügen, während der Durſt Rußlands nach Gebietsvergrößerung nur in zweite Linie zu ſtellen komme. Das Blatt betonte ferner, daß eine Machterweiterung Rußlands ſüdlich des Kaukaſus von der größtmöglichſten Rückwirkung auf den mohammedaniſchen Oſten ſein würde, und einen Einfluß geltend machen müßte, der den britiſchen vollends in den Hintergrund drängen dürfte Es fällt ſchwer, von der Expanſionskraft Rußlands ſo vollſtändig überzeugt zu ſein, um derlei Bilder zu entrollen, und zu glauben, daß die Koſaken, auf Grund des Erfolges in Armenien, mit der Zeit ganz Aſien überſchwemmen, Indien, Syrien und Egypten verſchlingen und zuletzt an den Nilquellen Halt machen würden. Und dennoch konnte dieſe abenteuerliche Perſpective bis auf den Tag bei den Engländern eine Rolle ſpielen. Man hat auch nicht verabſäumt zu erklären, daß Rußland, einmal im Beſitze von Kars und Batum, nicht blos das Eufratthal beherrſchen würde, ſondern ſich auch jederzeit Syriens bemächtigen könnte, da die Pforte, durch die unerhörten Anſtrengungen zu Tode erſchöpft, fortan in Rußlands Händen ſein würde, und da für die Beſetzung Syriens ſich leicht ein frommer Vorwand in der angeblichen Befreiung der heiligen Stätten aus der Gewalt der Ungläubigen finden ließe. Herr Bright habe bereits einen ſolchen Kreuzzug als hochverdienſtliches Werk geprieſen, und alle Vorkämpfer des Chriſtenthums in England, die ganze Partei der Ritualiſten würde Rußland Beifall zujauchzen. Syrien aber ſei die Pforte Egyptens und des Suez-Canals Iſt das nicht der ſchönſte Weg über Aden und Sanſibar zur Cap-Colonie, ja, zum Südpol? Nach dieſen Politikern bedroht aber ein Groß - Armenien unter ruſſiſcher Herrſchaft nicht blos Syrien und Egypten, ſondern auch das Eufratthal und mithin den wich - tigſten Ueberlandweg nach Indien. Von einer ſolchen kann aberXXIDer ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.hier nicht die Rede ſein, will man ſich etwa nicht an das bekannte Sprichwort halten, daß alle Wege nach Rom folglich auch nach Calcutta führen. Es iſt ganz unbegründet von einer Beherrſchung des Eufratthales zu ſprechen, ſobald Rußland ſich nur im Beſitze des ganz unbedeutenden Oberlaufes dieſes Fluſſes befindet. Es wäre etwas ganz Aehnliches, wenn man annehmen wollte, daß Württemberg, oder Süddeutſchland, oder Deutſchland überhaupt, im Beſitze des Oberlaufes der Donau, eine abſolute Herrſchaft über den Strom ausübe. Alles in Allem, der ruſſiſche Beſitz der Grenzprovinz in Armenien kann noch lange nicht maßgebend für eine Bedrohung des Ueberlandweges nach Indien ſein. Ganz Perſien und Afghaniſtan, in gewiſſem Sinne auch Kurdiſtan, liegen dazwiſchen, und erſt demjenigen werden ſich die Pforten nach dem Pendſchab öffnen, der Herr des Iraniſchen Hochlandes ſein wird

Gehen wir nun zu den letzten kriegeriſchen Ereigniſſen in Armenien ſelbſt über. Es kann hier nicht die Abſicht vorliegen, eine erſchöpfende Geſchichte des ruſſiſch-türkiſchen Feldzuges auf dem aſiatiſchen Kriegsſchauplatze zu liefern, aber eine chrono - logiſche Aneinanderreihung der entſcheidenden und hauptſächlichen Momente in dieſer Action würde gleichwohl ſich in den Rahmen dieſer Schrift einfügen laſſen Gleichzeitig mit den erſten Colonnen der europäiſchen Armee, rückten nach erfolgter Kriegs - erklärung (24. April 1877) auch in Armenien die ruſſiſchen Ab - theilungen über die Grenze. Die Armee hierſelbſt, unter Com - mando des General-Lieutenants Loris-Melikoff geſtellt, wurde auf etwa 115,000 Mann Infanterie, 26,000 Pferde und 370 Geſchütze, darunter 64 ſchwere Belagerungsgeſchütze, berechnet und beſtand aus dem Hauptcorps oder dem Detachement von Alexandrapol , aus dem rechten Flügel oder dem Detachement von Ardaghan und ſchließlich aus dem linken Flügel, oder dem Detachement von Eriwan . Ein beſondern Corps, das ſich ſüd - wärts des Rion echelonnirt hatte, ſollte gegen Batum vordringen, um nach geglückter Action wahrſcheinlich durch das Thal des Tſchuruk mit den übrigen Colonnen gegen Erzerum vorzurücken. Die ſtrategiſche und geographiſche Situation lag ſo, daß, bei Annahme eines allſeitigen Gelingens der Operationen, alle De - tachements in Erzerum, der armeniſchen Capitale, eintreffenXXIIEinleitende Bemerkungen.ſollten. Im Allgemeinen befanden ſich die türkiſchen Streitkräfte, unter Commando des Muſchirs Achmet Mukhtar geſtellt, zu Beginn des Krieges nicht in der Lage, dem Gegner erheblichen Widerſtand zu leiſten. Es waren meiſt nur Irreguläre, Kurden, Tſcherkeſſen, ja ſelbſt Araber, welche unter die Fahnen des tür - kiſchen Generals geeilt waren, während die eigentliche reguläre Feldarmee eine ſehr beſcheidene Ziffer repräſentirte. So gelang die erſte ruſſiſche Invaſion ſpielend. Bereits eine Woche nach erfolgter Kriegserklärung zog General Tergukaſſoff an der Spitze des Detachements von Eriwan in Bajazid ein und in den erſten Tagen des Mai erſchien die Hauptcolonne vor Kars, wo ſie, ohne eine Cernirung zu bewirken, einige Zeit liegen blieb, indeß Seiten-Colonnen gegen den Araxes ſtreiften, wobei das Städtchen Kagisman am 9. Mai den Ruſſen in die Hände fiel. Tergu - kaſſoff war wenige Tage ſpäter in Djadin eingetroffen und am 17. Mai gelang es dem General Komarow, nach kurzem aber hartnäckigem Kampfe ſich der Feſtung Ardaghan zu bemächtigen, wobei zwei Paſchas, 7600 Mann in Gefangenſchaft geriethen und 96 Kanonen, 2000 Zelte und 7000 Gewehre erbeutet wurden. Unterdeſſen erging es den Ruſſen an den Pontusküſten minder gut. Die reſpectable türkiſche Panzerflotte hatte nicht nur einzelne ruſſiſche Häfen blokirt, ſondern auch zahlreiche Truppen in Batum ans Land geſetzt, die nicht nur gleich im Anfange einen jeden Offenſiv-Verſuch des Rioncorps vereitelten, ſondern auch ſpäterhin, für die ganze Dauer des Krieges, daſſelbe zur Unthätigkeit verurtheilten. Gleichzeitig war Fazly Paſcha mit einem Expeditionscorps, nachdem vorher von einer Escadre Suchum-Kaleh an der Küſte Abchaſiens zuſammengeſchoſſen ward, daſelbſt gelandet, um den Kaukaſus zu inſurgiren. Die Abſicht ſchien Anfangs von Erfolg gekrönt werden zu wollen, denn die aufſtändiſche Bewegung pulſte bis tief ins Binnenland hinein und bald erhoben ſich auch einzelne Stämme in der Tſchetſchna und im Dagheſtan, aufgemuntert durch das Erſcheinen eines Sohnes Schamyls und haranguirt durch eine Proclamation Sultan Abdul Hamids, die an den Opfermuth der bedrückten Glaubensbrüder appellirte. Die Ruſſen wurden indeß der Be - wegung bald Meiſter und wenn es auch hin und wieder zu blutigen Zuſammenſtößen kam, ſo waren gleichwohl die MittelXXIIIDer ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.der Aufſtändiſchen nicht darnach, ſie zu Herren der Situation zu machen. Vollends belanglos blieben die Leiſtungen Fazly Paſchas, der ſich in den Küſtenſtrichen mit kleinen ruſſiſchen Abtheilungen herumſchlug und zwar mit ziemlich wechſelndem Erfolge.

In der zweiten Hälfte des Mai war Loris-Melikoff mit dem Centrum der armeniſchen Invaſions-Armee vor Kars ange - langt und zwiſchen dem 20. und 24. ſchritt man zum erſten - male zu einer heftigeren Beſchießung des Platzes. An eine ernſt - liche Action gegen Kars dachte man aber umſo weniger, als man die Gelegenheit nicht verſäumen wollte, dem, im vollen Rückzuge auf Erzerum ſich befindlichen Mukhtar Paſcha nachzurücken, um ihm geeigneten Orts eine Schlacht anzubieten. Auf dieſem Vormarſche wurde das Soghanly-Gebirge (Mitte Juni) nahezu anſtandslos überſchritten, nachdem es vorher noch gelang, die tſcherkeſſiſche Reiterei unter Muſſa Paſcha durch einen nächtlichen Ueberfall bei Begli-Achmed nahezu ganz zu vernichten. Mit dem Erſcheinen der Hauptcolonne jenſeit des Soghanly-Gebirges waren auch die Seiten-Detachements in unmittelbarer Nähe eingetroffen, jenes von Ardaghan bei Olti (am 8. Juni), das Detachement Tergu - kaſſoffs bei Seidekhan, wo es alsbald in heftige Gefechte mit dem rechten Flügel der Truppen Mukhtars verwickelt ward. Der türkiſche Marſchall ſelbſt hatte, augenſcheinlich nach den Dispo - ſitionen ſeines Generalſtabschefs Feizi Paſcha (einem ungariſchen Emigranten Namens Kollmann), eine ſehr vortheilhafte Stellung bei Zewin, in den weſtlichen Vorbergen des Soghanly, genommen und von dieſer Central-Poſition aus Offenſivſtöße gewagt, die allenthalben gelangen. Schon am 14. Juni beſetzten die Türken das verlorene Olti wieder, mußten aber das obere Murad-Becken nach einem verlorenen Treffen bei Sedekchan und Deli-Baba vollſtändig räumen und Anlehnung an den Araxes-Ufern zunächſt Choraſſan und Köprüköi ſuchen. Am 25. endlich ſchritt Loris - Melikoff, nachdem kurz zuvor Großfürſt Michael auf dem Kriegs - ſchauplatze erſchienen war, zum allgemeinen Angriff auf die Po - ſition von Zewin, wurde jedoch geſchlagen. Mit einem Verluſte von 4000 Mann erfolgte deſſen Rückzug über das Soghanly - Gebirge in der Richtung auf Kars.

Wochen vergingen ſeit dieſer Kataſtrophe, ohne daß es auf dem armeniſchen Kriegsſchauplatze zu ernſtlichen ZwiſchenfällenXXIVEinleitende Bemerkungen.gekommen wäre. Bei der notoriſchen türkiſchen Nachläſſigkeit und Sorgloſigkeit gewannen die Ruſſen Zeit, erhebliche Ver - ſtärkungen nach dem Arpatſchai zu dirigiren, was ihnen umſo leichter wurde, als bereits Anfangs Auguſt türkiſcherſeits die weitere Invaſion Abchaſiens aufgegeben wurde und die Ein - ſchiffung der dortigen Truppen und Abchafen am 8. deſſelben Monats ihren Abſchluß erreicht hatte. Gleichwohl blieb die ruſſiſche Actions-Armee auch fernerhin vollkommen inoffenſiv und am 10. Auguſt überſchritten die erſten fliegenden Detachements der Türken die Ararat-Kette und erſchienen ſo auf ruſſiſchem Gebiete. General Tergukaſſoff befand ſich um dieſe Zeit nächſt Igdyr vorwärts des Araxes, ohne ſich ernſtlich mit ſeinem Gegner Ismail Kurd Paſcha einzulaſſen, der auch Bajazid wieder beſetzt hatte und die in der Citadelle zurückgebliebene ruſſiſche Beſatzung ernſtlich bedrängte; anders am Arpatſchai, wo Mukhtar Paſcha am 23. Auguſt die Offenſive ergriff und den Ruſſen bei Ge - dikler in der Ebene öſtlich von Kars einen empfindlichen Schlag beibrachte. Dieſer Sieg trug dem türkiſchen Marſchall von Seiten des Sultans ein Beglückwünſchungstelegramm ein. Zwei Tage ſpäter gewannen die Türken auch die günſtige Poſition am Kyzil-Tepe und verdrängten ſo ihre Gegner vollends aus dem Bereiche jener dominirenden Höhen, die ſich im Bogen zwiſchen Kars und Ani (am Arpatſchai) legen. Die Ruſſen verhielten ſich von da ab wieder vollends in der Defenſive, indem ſie ſich in der Poſition von Kurukdere concentrirten und die ſo drin - genden Verſtärkungen abwarteten, die, in Anbetracht der unge - heueren Entfernungen, noch immer nicht eingetroffen waren.

So verging der ganze September in gegenſeitiger Unthätigkeit. Am 2. October begann aber eine Reihe von Kämpfen, die nach der Hartnäckigkeit, mit der ſie beiderſeits ſtattfanden, und nach der Zahl der hiebei aufgewendeten Streitkräfte, nothgedrungen zu einer Entſcheidung führen mußten. Eine ſolche war aber bei der vorgeſchrittenen Jahreszeit doppelt geboten. Die erſten dieſer Kämpfe fielen zwiſchen den 2. und 4. October, wo mit wech - ſelndem Glücke um einzelne Poſitionen des Aladſcha-Gebirges geſtritten wurde. Die Ruſſen hatten den großen Jaghni-Hügel bereits genommen, als ſie ſich, angeblich wegen Waſſermangels, wieder zurückzogen. Auch am 10. gelang es Mukhtar PaſchaXXVDer ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.noch einmal ſiegreich zu bleiben was ihm von Seite des Sultans den Titel eines Ghazi oder Siegreichen eintrug dann ſchlug aber das Kriegsglück um und am 15. und 16. gelang es den vereinigten Streitkräften der Generale Heymann und Loris-Melikoff, die feindlichen Stellungen auf den Aladſcha-Höhen zu durchbrechen, einen großen Theil der Armee Mukhtars ge - fangen zu nehmen, den Reſt aber nach Kars hineinzuwerfen. Dieſe ſiegreiche Schlacht der Ruſſen koſtete ihren Gegnern ſieben Paſchas und 12,000 Mann als Gefangene, dann 84 Geſchütze, 4000 Zelte und 10,000 Gewehre, welche dem Sieger als Beute zufielen.

Die Folgen dieſes entſcheidenden Schlages zeigten ſich ſehr bald. Zunächſt räumte Ismail Paſcha ſchleunigſt das ruſſiſche Gebiet, da eine von Kars gegen das obere Murad-Becken diri - girte Colonne ſeine Rückzugslinie bedrohte. Mukhtar beließ den Reſt ſeiner Feldarmee in Kars, das er zu halten hoffte, und nahm ſeinen fluchtartigen Rückzug mit nur wenigen Abtheilungen über das Soghanly-Gebirge ins obere Araxes-Becken, um Erzerum zu decken. Nach mittlerweile erfolgter Vereinigung mit Ismail Paſcha war er in der Lage, eine zuwartende Haltung auf den Höhen oſtwärts Erzerums einzunehmen, wo er jedoch ſchon am 6. November von den Ruſſen, die mit einem Theile ihrer Truppen Kars cernirt hatten, mit dem Reſte aber unausgeſetzt vorrückten, angegriffen, delogirt und bis unter die Kanonen der Außen - werke Erzerums verfolgt wurde. Trotz des nunmehrigen raſchen Ganges der Operationen ſetzte man türkiſcherſeits gleichwohl noch berechtigte Hoffnung in den Waffenplatz Kars, der ſeit dem letzten Kriege mit einem Kranze ſteingebauter und caſemattirter Forts umgeben ward. Es kam indeß anders. Kars fiel nur einen Monat nach der Schlacht am Aladſcha, am 18. November durch nächt - lichen Sturm. Man konnte im Anfange zu dieſem überraſchenden Erfolge im Abendlande keine ſtichhaltige Erklärung finden, doch ſtellte es ſich ſpäter heraus, daß gerade diejenigen Werke, welche der offenen Stadt im Süden vorlagen, ſich keineswegs in jenem hohen Grade von Vertheidigungsfähigkeit befanden, als man allgemein angenommen hatte. Auch die Verkettung von allerlei Zwiſchenfällen beſchleunigte die Kataſtrophe. So waren ruſſiſche Abtheilungen, einmal im Beſitze der Stadt, aus dieſer von rückwärtsII*XXVIEinleitende Bemerkungen.in die großen Forts im Nordoſten die überdies durch die Bürgermiliz vertheidigt wurden eingedrungen, und zwar ohne beſonders hartnäckigen Kampf. Als dann früh Morgens die eigentliche Beſatzungstruppe jenſeit des Fluſſes und innerhalb eines ganzen Kranzes ſtarker Forts die ruſſiſchen Flaggen auf den Wällen der öſtlichen Fortificationen erblickte, hielt ſie die Capitulation für perfect und räumte ohne Kampf ihre Poſitionen. Später über den Irrthum aufgeklärt, machte ſie allerdings den Verſuch durchzubrechen, woran ſie jedoch von den übrigen ruſſiſchen Cernirungs-Abtheilungen verhindert wurde. Der türkiſche Verluſt in dieſer Affaire betrug vier Paſchas, 22,000 Mann an Gefangenen, dann 350 Geſchütze, 6000 Zelte und 18,000 Gewehre. Die Ruſſen büßten bei dem Sturme 2700, die Türken 5000 Mann an Todten und Verwundeten ein.

Der mit gewohnter Strenge hereingebrochene Winter hatte alle Operationen zum Stillſtande gebracht. Die Türken ſchickten ſich an, Erzerum zu vertheidigen, und wieſen auch mehrere An - griffe auf die Außenwerke der Feſtung ab, im Uebrigen aber be - ſchränkten ſich die Ruſſen mehr auf eine Beobachtung des Platzes, ſowie auf eine mälige Cernirung deſſelben, da ſie ohne ſchwere Belagerungsgeſchütze an einen gewaltſamen Angriff nicht denken konnten. Dieſe aber mitten im Winter über die verſchneiten Gebirge und Päſſe zu ſchaffen, erwies ſich nur zu bald als eine abſolute Unmöglichkeit. Die unerwarteten Erfolge der Ruſſen auf dem europäiſchen Kriegsſchauplatze, die mehrfachen Balkan - Uebergänge trotz Eis und Schnee, der Einzug der Armee des Großfürſten Nicolaus in Adrianopel und die Offenſive eines Theiles derſelben mitten im Winter gegen Conſtantinopel, waren auch für den Verlauf des Feldzuges in Armenien von Ent - ſcheidung. Am 1. Februar trat ein einmonatlicher Waffenſtill - ſtand in Europa und Aſien in Kraft und am 3. März (n. St.) ward der ruſſiſch-türkiſche Friedensvertrag zu San Stefano bei Conſtantinopel unterzeichnet.

Nach Artikel XIX (Alinea b) dieſes Vertrages erfolgte eine Abtretung armeniſcher Gebietstheile an Rußland, die wie folgt umſchrieben wurden: Die neue Grenzlinie läuft, die Küſte des Schwarzen Meeres verlaſſend, dem Kamm der Berge entlang, welche die Zuflüſſe des Fluſſes Choppa von jenen des TſchurukXXVIITerritorial-Veränderung durch den Friedenstractat.trennen, und der Kette der Berge im Süden der Stadt Artwin bis zum Fluſſe Tſchuruk bei den Dörfern Allat und Behagſcht; von da geht die Grenze über die Gipfel der Berge Derwenik - Gheki, Hortſchezor, über den Kamm, welcher die Waſſerſcheide zwiſchen den Zuflüſſen des Torthum Tſchai und Tſchuruk bildet, und über die Höhen bei Jali-Vihim, um beim Dorfe Vihim Kiliſſa am Torthum Tſchai zu enden; von da folgt ſie der Kette Sivri-Dagh bis zur Höhe des Kammes, geht am Dorfe Noriman ſüdwärts vorüber und läuft ſüdoſtwärts auf Zewin zu, wo ſie ſich im Weſten der Straße, die nach Choraſſan zieht, ziemlich parallel hält und endlich über den Soghanly bis zum Dorfe Gilitſchman zieht. Weiter überſetzt ſie den Scharian-Dagh und weiters den Murad zehn Werſt unterhalb Hamur, um von da, entlang den Kämmen des Ala -, Hori - und Tandurek, ſüdwärts an Bajazid vorüberzuziehen und zuletzt auf die alte türkiſch-perſiſche Grenze ſüdlich des Sees Kazli-Göl zu ſtoßen.

Nach dieſer Grenz-Umſchreibung erwächſt dem ruſſiſchen Reiche ein ungefährer Gebietszuwachs von 650 Quadrat-Meilen, mit annähernd 300,000 Einwohnern. Statiſtiſche Details ſind derzeit noch völlig unbeſtimmbar, da ſelbſt die alten Daten des officiellen Staats-Kalenders kaum verläßlich ſein dürften.

Andere Artikel des Friedensvertrages, welche ſich ſpeciell auf Armenien beziehen, ſind:

Artikel XVI: Da die Räumung der von den ruſſiſchen Truppen in Armenien beſetzten Territorien, welche an die Türkei zurückfallen, Anlaß zu Conflicten und für die guten Beziehungen der beiden Länder gefährlichen Verwickelungen geben könnte, ſo verpflichtet ſich die Pforte, ohne Aufſchub die Verbeſſerungen und die von den Localbedürfniſſen in den von Armeniern bewohnten Provinzen geforderten Reformen durchzuführen und die Sicher - heit der Armenier gegen die Kurden und Tſcherkeſſen zu garantiren.

Artikel XVIII: Die Hohe Pforte wird die von den Com - miſſären der vermittelnden Mächte bezüglich des Beſitzes der Stadt Khotur ausgeſprochene Meinung in ernſte Erwägung ziehen und verpflichtet ſich, die Arbeiten behufs Beſtimmung der türkiſch-perſiſchen Grenze ausführen zu laſſen.

XXVIIIEinleitende Bemerkungen.

Artikel XIX, der die neuen armeniſchen Grenzen feſtſtellt, enthält auch die entſprechenden Beſtimmungen, wonach dieſe Gebiets-Abtretung als Aequivalent der Summe von einer Milliarde und hundert Millionen Rubel der Kriegs - entſchädigung (von 1410 Millionen Rubel) betrachtet wird.

Artikel XXV handelt von der ſtattzufindenden Räumung des türkiſchen Gebietes in Aſien durch die ruſſiſchen Truppen, innerhalb ſechs Monaten, vom Tage des definitiven Friedens - ſchluſſes gerechnet

[1]

I. Im Ararat-Gebiet.

Rundblick vom Ararat. Bajazid. Bis Kars. Armeniſche Cultur - ſtätten. Zur Völkerſtellung der Armenier. Der Patriarchenſitz Etſchmiadſin.

Am Südhange des ſogenannten kleinen Kaukaſus, welcher die Kur - und Rion-Landſchaften vom großen Aras-Becken abtrennt, breitet ſich unweit Eriwans, dem bisherigen Hauptſitze der ruſſiſchen Herrſchaft in Armenien, eine großartig ſchöne Ebene zu beiden Seiten des Fluſſes Araxes oder Aras aus. Berg - rieſen, wie wir ſie in Europa nur auf ungeheueren Räumen ver - theilt finden, liegen hier knapp nebeneinander und beſäumen nahezu kreisartig das blüthenbeſäete und von Kornfeldern wogende Tiefland: im Norden der gewaltige Alagiös (12,000 '), im Oſten der Uetſchtepe (11,000'), im Weſten der Kotur (8000 ') und im Süden das Doppelhaupt der erloſchenen Vulkangruppe der beiden Ararat, deſſen weſtlicher Kegel mit ſeiner 15,800 Fuß hohen Schneehaube weit in die großartige Gebirgslandſchaft hinaus lugt. Wie der Sinai im Südweſten des aſiatiſchen Continents, ſo iſt auch der Ararat hier auf der Grenzſcheide zwiſchen Iran und Vorder-Aſien ein Markſtein der Menſchen - und Cultur - geſchichte, ein Hochaltar der Welt Von Eriwan, das an ſeinen Bergabhängen maleriſch ſituirt iſt, geht der Weg dahin in nahezu ſüdlicher Richtung, mitten durch die reichen Fluren des Aras hindurch, bis mit dem Betreten der erſten Stufen des Gebirgsmaſſivs eine andere Welt dem Wanderer ſich erſchließt. Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 12Im Ararat-Gebiet.Die Culturen verſchwinden mehr und mehr, einzelne Bäume nur kleben hin und wieder an den Felsabſtürzen und zwiſchen den rieſigen Trachytblöcken ſprießt ſpärliches Gras. Allenthalben iſt hier der Boden ſchlackig von uralten geſtockten Lavamaſſen. Hoch oben in unendlicher Bläue glitzern die Eis - und Schnee - zinnen der beiden Rieſengipfel und die Senkung zwiſchen beiden wird wohl ein Paß genannt, doch wird er von Reiſenden nie betreten. In dieſem Einſchnitte liegt auch das, in Folge des letzten großen Erdbebens verſchüttete Kloſter St. Jacob1An derſelben Stelle wurde nach Moſ. v. Chorene auch der frevel - hafte König Artawaſt II. (reg. 129 136 n. Chr.) durch den ſich öffnenden Boden verſchlungen, was wohl auf ein Naturereigniß zurückzuführen ſein dürfte. (Vgl. Hermann, Das ruſſiſche Armenien , 15.). Anders verhält es ſich aber mit jenem Paß-Einſchnitte, der ſich über eine deutſche Meile lang zwiſchen dem großen Ararat und dem Pambuſch von Norden nach Süden zieht. Die Sattelhöhe dürfte hier kaum 6000 Fuß überſteigen und der ſonſt ſo gefürchteten Riſſe und Spalten gibt es hier verhältnißmäßig wenige. Immer - hin bleibt eine Paſſage an dieſer Stelle ein kühner Zug, doch nicht ohne höhere Reize, im Angeſicht des mächtigen Kegels, deſſen Scheitel unter ewigem Schnee und Eis begraben liegt. Die Nordſeite dieſes Kegels, alſo jene, welche in die Araxes - Ebene und gegen Eriwan hinblickt, war einſt der Schauplatz einer ganz wunderlichen Miſſion. Eine Anzahl Bergſteiger mit ſchwerer Laſt hatte ſich manchen Tag abgemüht, die Höhe des Bergrieſen zu gewinnen. Wiederholt mußte der Verſuch eines weiteren Emporkletterns eingeſtellt werden, aber die Kräfte wollten nicht erlahmen und nach gefahrvollem Nachtlager auf dieſer oder jener Felsplatte, umgeben von gewaltigen Schneemaſſen, Eis - und Felsblöcken, ging es immer wieder von Friſchem an die Arbeit. Endlich ward die Höhe unter entſetzlichem Schneegeſtöber gewonnen und die mitgebrachte Bürde ihrer Beſtimmung zuge - führt. Es war ein rieſiges ſchwarzes Kreuz, das ſo aufgerichtet wurde, daß es durch die dahinterliegende weiße Schneewand ge - hoben, vom Kloſter Etſchmiadſin oder von Eriwan aus geſehen werden konnte. In ein zwei Fuß tief ins Eis eingehauenes Loch wurde daſſelbe eingefügt, mit Eisſtücken befeſtigt, mit Schnee ummauert. Die daran befeſtigte Bleiplatte enthielt die Inſchrift:3Der Ararat. Auf Kaiſer Nicolaus Befehl errichtet 1829. Nach der da - maligen Barometer-Ableſung ſtand das Kreuz 15,138 P. Fuß hoch, alſo vierthalbhundert Fuß über der Montblanc-Spitze1Parrot, Reiſen , I, 138 u. ff..

Der Gipfel des Ararat, auf welchem nach der bibliſchen Tradition die Arche Noahs ſitzen blieb, iſt mäßig gewölbt, mit einem Umfange von ungefähr 200 Schritt. Der Abfall iſt be - ſonders gegen Süd - und Nordoſt ſteil. Von dieſer Höhe, der ewigen Eiskrone des Altvaters aller Berge der Welt, mag man wohl die großartigſte aller Fernſichten genießen. Die ganze weitläufige Araxes-Ebene liegt dem Beobachter zu Füßen, Eriwan, Sardarabad und andere Niederlaſſungen kaum mehr dem unbe - waffneten Auge erkennbar. Im Süden treten die niederen Berge Bajazids, die Stadt ſelbſt und ihre Ebene in den Blick und hieran ſchließen mehr oder minder regellos eine erkleckliche Zahl be - deutender Kegelſpitzen, Vulkanen nicht unähnlich, durch tiefe Thalfurchen oder Sättel von einander getrennt. Weit im Nord - weſten prangt die, lang als unerſteigbar gegoltene Felſenkrone des Alagiöz, im Nordoſten blitzt ein großer Theil des Spiegels des beinahe 6000 Fuß hoch liegenden Goktſcha-Sees auf, und im blaſſen Schimmer ſind ſogar noch die dahinter liegenden Rand - ketten wahrzunehmen. Unmittelbar im Oſten blickt man auf den Scheitel des kleinen Ararat hinab; keine Flache Höhe, wie die ſeines größeren Zwillingsbruders, ſondern an den Rändern und in der Mitte mit kleinen Felskegeln und Blöcken verſehen2Wie auf den Gipfelhöhen des Hauran, Hor und Sinai, ſo finden ſich auch auf der des kleinen Ararat eine Anzahl moslemiſcher Grabſtätten, denn möglichſt hoch begraben zu werden, war und iſt im mohammedaniſchen Oriente allezeit ein brennender Wunſch. Auf einer der Grabplatten auf der Scheitelhöhe des kleinen Ararat iſt zu leſen: Mein Gott, deine Gnade ſei über Mohammed. Der Gründer dieſes Grabes, Osman, hat’s ge - ſchrieben im Monat Schewal des Jahres 650 (nach kurdiſcher Zeitrechnung; 1292 n. Chr.). Bei Ritter, Erdkunde , X.).

Wir ſteigen nun die Südſeite des Gebirgswalles hinab, an welchem der braune Häuſerknäuel von Bajazid ſeine Ausdehnung nimmt. Es ſind noch keine ſechzig Jahre her, daß hier der Centralſitz aller jener unbotmäßigen kurdiſchen Elemente war, durch welche die Grenzterritorien zwiſchen Perſien und der Türkei1*4Im Ararat-Gebiet.berüchtigt wurden, und ebenſo lange iſt es, daß die verrufene Stadt Bajazid von ſich zum erſtenmale reden machte. Die Ge - ſchichte, die ſich hieran knüpft, klingt ziemlich romantiſch, aber derlei war damals im Oriente immerhin möglich, zumal bei Völkern, die noch heute keiner eigentlichen Autorität unterſtehen und in jedem Thale, auf jeder Gebirgszinne und in jedem hoch - ländiſchen Schlupfwinkel auf eigene Fauſt ſchalten. Napoleon I., der bekanntlich von langer Hand den Feldzug gegen Rußland geplant hatte, um durch einen alexandriniſchen Zug, bis tief in die ſarmatiſchen Steppen hinein, ſeinem Kriegsruhme erhöhteren Glanz zuzuführen, war unausgeſetzt bemüht, zwiſchen Rußland und dem, damals allerdings noch etwas kriegeriſcheren Perſien politiſche Complicationen herbeizuführen, um einen Theil des feindlichen Heeres anderweitig zu beſchäftigen und daraus Vor - theile zu ziehen. Zu derartigen politiſchen Verſchwörungen über die Köpfe der geſammten damaligen officiellen Welt hinweg, be - durfte es nun auch der entſprechenden Miſſionen und mit einer derſelben war Jaubert betraut, welcher als geheimer Geſchäfts - führer über Conſtantinopel und Erzerum unbehelligt bis Diadin, nur eine Tagreiſe vor Bajazid, gereiſt war. Der ſchlechte Ruf des damaligen Kurdenchefs, Mahmud, bewog ihn, der Stadt ſelbſt auszuweichen, aber nur zwei Meilen ſüdlich von ihr ward der Reiſende ſammt ſeiner militäriſchen Escorte, die aus ver - kleideten Franzoſen beſtand, durch den Verrath eines anderen Häuptlings aufgehoben und vor Mahmud geſchleppt1Bei Ritter, a. a. O., 340 u. ff.. Obgleich dieſer kurdiſche Winkel-Despot auf ſeinem Raubneſte, der Citadelle von Bajazid, den halb unabhängigen Vaſallen der Pforte ſpielte, ſo fand er ſich dennoch veranlaßt, Jaubert und ſeine Genoſſen dem perſiſchen Statthalter von Eriwan auszuliefern, was aller - dings im Intereſſe des Gefangenen gelegen geweſen wäre. Die Auslieferung wurde aber nur fingirt und kaum am Fuße des Ararat angelangt, wurden die Fremden überfallen, geknebelt und mit verbundenen Augen zurück nach Bajazid escortirt. Während man die Bedauernswerthen verſicherte, daß ſie nur vorſichts - halber auf dieſe Art weiter nach Eriwan transportirt würden, um das zu durchreiſende Land ihren Blicken zu entziehen, wan -5Belul von Bajazid.derten ſie in ihr altes Gefängniß zurück, den ſchwerſten Leiden ausgeſetzt Nun kommt die Romantik des ganzen Zwiſchen - falls. Die ewige Geißel dieſer Länder, die auch heute wieder über ſie hereingebrochen iſt, die Peſt, brach plötzlich aus und holte unter ſeinen Opfern auch den Winkeltyrannen Mahmud. Sein Nachfolger hatte die Franken bereits zum Tode ver - urtheilt, aber ehe noch die Execution vollzogen war, wurde auch er von der Seuche hinweggerafft und der Bruder Mahmuds zum Stammchef ausgerufen. Mittlerweile aber mußte es irgend einer der Gefangenen der Frau des Kerkermeiſters angethan haben, denn ſie benutzte die allgemeine Verwirrung, um ein ge - heimes Schreiben an den Statthalter von Eriwan gelangen zu laſſen, der auch ſofort die Auslieferung der gefangenen Europäer verlangte. So langten Jaubert und ſeine Genoſſen nach vierzig - tägiger Haft, in ewig banger Sorge zwiſchen Tod und Leben, in Trapezunt ein, wo ihre geſcheiterte Miſſion ihr Ende fand.

Auch ſpäter blieben die Zuſtände in dieſem Räuberlande dieſelben, namentlich unter Belul, dem Sohne Mahmuds. Von dieſem rührt auch das Schloß auf der Felshöhe von Bajazid her, der Stammſitz der Kurdenchefs des Territoriums ſüdlich vom Ararat. Daß im Oriente unter dem despotiſchen Drucke einzelner Emporkömmlinge die Bevölkerungen immer den gleichen Leiden ausgeſetzt ſind, ſei es nun die rechtmäßige Staatsgewalt oder die autoritative Anmaßung irgend eines Winkel-Urſurpators, beweiſen ſchon die Zuſtände, in welchem ſich die Kurden unter Mahmuds Herrſchaft befanden. Sie, die in der Regel ſich keinem Zwange fügen und nur ihren wilden Inſtincten folgen, zumal dem Triebe der perſönlichen Freiheit, verrichteten ihrem Haupte Frohndienſte, wie nie früher und nie ſpäter irgend einer Behörde oder einem ihrer Chefs. Mahmud hatte ſein früheres Schloß, das auf der anderen Seite der Stadt gelegen war, halb in Grotten verſteckt und voll weitläufiger Magazine, verlaſſen, und durch die Hände ſeiner Leute ein neues, prächtigeres auf der Felshöhe gegenüber dem Gefängniſſe aufführen laſſen1Vgl. J. Brant, Notes of a journey through a part of Koordistan , l. c. 420 u. ff..

In Gold und bunten Arabesken ſchimmerte das Gemach,6Im Ararat-Gebiet.durch deſſen Fenſter der Blick eine der pittoreskeſten Landſchaften Armeniens umfaſſen konnte. Arkaden und ſchattige Lauſch - plätzchen in dem weitläufigen Hofe geſtalteten dieſen Raubhorſt geradezu zu einem Mußeſitze. Das Harem des Schloſſes com - municirte mit dem nebenangelegenen Gefängniſſe und ſo iſt für Romanbefliſſene der rothe Faden zur wunderbaren Rettung Jauberts und ſeiner Genoſſen gegeben. Der Palaſt dominirt ſelbſtverſtändlich die Stadt, da die umliegenden Höhen aber auch dieſen beherrſchen, ſo fiel es ſowohl im Jahre 1828, wie im letzten Kriege den Ruſſen nicht ſchwer, die ganze Poſition nach kurzem Kampfe in ihre Hände zu bekommen. Belul, der 1828 als türkiſcher Paſcha und Halb-Vaſall der Pforte in Bajazid regierte, floh in die ſüdlichen Berge mit einem großen Theile der Stadtbewohner, und was damals noch in den elenden Hütten zurückblieb, erlag der Peſt, welche in dem Räuberneſte furchtbar aufräumte. So verfiel der Platz, umſomehr, als mit dem Ueber - gang des Bezirkes von Eriwan an die Ruſſen, der Verkehr nach dieſem Theile Armeniens den kurdiſchen Nomaden gänzlich unter - bunden war und Perſien nach ſeiner Niederwerfung durch Pas - kiewitſch nicht daran denken konnte, der kurdiſchen Räuberromantik irgendwie Vorſchub zu leiſten1Bei Ritter, a. a. O., X. . Später wanderten auch die Armenier aus und was in den ſchmutzigen Behauſungen zwiſchen Schutt und Gräbern zurückblieb, war ein rohes, bösartiges Ge - ſindel, eine wahre Stammcolonie berüchtigter Meuchelmörder und Wegelagerer.

Die Ebene von Bajazid iſt ein gutes Concentrirungsfeld im militäriſchen Sinne. Ueber drei Meilen breit nimmt ſie nord - wärts gegen den Ararat ihre Ausdehnung, deſſen Doppelhaupt, vollkommen abgetrennt von allen übrigen Gebirgen, auf ſie hinabblickt. Allenthalben iſt dieſe platte Niederung von Lava - kegeln und Trachytklippen durchſetzt2Parrot, Reiſen , I, a. a. O., ein ſprechendes Zeugniß von dem vulkaniſchen Charakter der ganzen Gegend, der ſich auch wiederholt durch furchtbare Erderſchütterungen darthat. Rechnet man zu den zeitweiligen Schrecken dieſer Erſcheinungen noch das rauhe Klima, den einer Seehöhe von 6000 Fuß entſprechenden,7Umgebung von Bajazid. Die Bajazider Kurden-Tribus.nahezu ſechsmonatlichen Winter mit Schneeſtürmen, Froſt und Unbilden aller Art, ſo erſcheint uns dies Territorium würdig der Bewohner, die es noch erbärmlicher machen, als es ohnedies von Natur aus iſt Trotz all dieſer Thatſachen beſitzt Bajazid dennoch einen hervorragenden militäriſchen Werth, der nur Strategen vom Schlage der türkiſchen Generale nicht klar zu werden vermochte. Das Thal von Bajazid iſt das einzige, welches, neben ſeiner natürlichen Communication mit Erzerum ein Handelsweg, der ſeit Jahrhunderten beſteht auch mit dem Seebecken von Van und der Quellregion des Tigris in Verbindung ſteht, und zwar durch eine ganz leidliche Communi - cation. Kein geringeres Volk wie die Römer hat dieſe Thatſache zuerſt erkannt und von ihr auch den beſtmöglichſten Gebrauch gemacht. Tacitus nennt dieſes Territorium, durch das das Römerheer des Corbuls nach Artaxata marſchirte, Taurantium, das Land des Taurus-Einganges 1Mannert, Geogr. d. Griech. u. Röm. , V, 2, 228., eine Bezeichnung, die zur Genüge auf die ſtrategiſche Bedeutung deſſelben hinweiſt. Ein weiterer Vortheil für die Kriegführung in dieſem Gebiete iſt der von altersher bekannte Reichthum an Heerden. Ueberall auf den prächtigen Weideſtrecken des öſtlichen Murad-Beckens trifft man auf Lämmer - und Ziegenrudel, die oft nach Tauſenden von Stücken zählen. Freilich erforderte deren ungeſtörter Beſitz bisher, ſelbſt in den Zeiten des tiefſten Friedens, einen ganz an - ſehnlichen Apparat lebenden Schutzes, denn bei der Gewaltthätig - keit der Gebirgsbewohner bedarf ſozuſagen jedes Thier ſeinen eigenen Wächter, und Niemand, ſei er nun Freund oder Feind ſeines Nachbars, konnte ſeiner Habe froh werden.

Was die Kurdenſtämme weſtwärts von Bajazid anbetrifft, ſo ſind es ſammt und ſonders ſolche, welche ſeit jeher mit der Pforte in Streit und Hader lagen. Die richtige Politik gegen dieſe unzuverläſſigen Grenzhorden hat indeß nur Rußland zu ver - folgen gewußt2Vgl. A. E. Macintoſh, Reiſe ꝛc. , bei K. Koch, Die kaukaſiſchen Länder , 237.. Es iſt aus verſchiedenen Epiſoden der letzten ruſſiſch-türkiſchen Kriege hinlänglich erwieſen, wieviel Anſtrengung es ſich die Gouverneure des Kaukaſus koſten ließen, um in irgend8Im Ararat-Gebiet.einer Art die Kurden an der Grenze zu gewinnen, eine Politik, die durch den Umſtand weſentlich unterſtützt wurde, als dies wilde Nomadenvolk weder von den Perſern, noch von den Türken jene Behandlung erfuhr, die es gefügiger hätte machen können. Als die Pforte vor circa drei Jahrzehnten gar den groben Fehler beging, den Stammhäuptling von Rowandiz bei ſeiner Rückkehr von Conſtantinopel meuchlings ermorden zu laſſen, hatte ſie die letzte Sympathie der Bergvölker verwirkt und dieſe begannen ſolche, zu - mal an der Grenze von Rußland, demonſtrativ für letzteres ob auch aufrichtig, bleibt dahingeſtellt zur Schau zu tragen. Auf dieſe ſpontane Annäherung hin erklärte Rußland, es wäre ganz geneigt, den Grenzübertritt verſchiedener Stämme zu bewilligen mit dem weiteren Vorrecht für die Emigranten, nach Bedarf ihre Weide - plätze in der Heimat von Zeit zu Zeit wieder aufſuchen zu dürfen, wobei ſie ſelbſt auf türkiſchem Gebiete (!) unter ruſſiſchem Schutze verbleiben ſollten. Die Natur des Nomadenlebens machte man ruſſiſcherſeits den Kurdenchefs begreiflich ließe ein derartiges Abkommen notywendig erſcheinen, im Grunde aber war es nur ein Mittel mehr, die türkiſche Autorität, oder beſſer: den blaſſen Schatten derſelben vollends zu untergraben. Kurz vor Ausbruch des letzten Krieges hat die Pforte immerhin einige Anſtrengungen gemacht, dieſes abnorme Verhältniß einigermaßen zu paralyſiren und ſo kam es auch, daß einige Stämme bot - mäßiger wurden und in den Schooß der türkiſchen Autorität zurückkehrten, wie beiſpielsweiſe der kriegeriſche Stamm der Gilalis (auch Selanlis)

Wir gelangen in ſein Gebiet, wenn wir Bajazid weſtwärts verlaſſen. Der Weg geht mitten zwiſchen zwei gewaltigen Ge - birgsmauern hindurch, im Norden iſt es die Gebirgskette, welche unter verſchiedenen Namen vom Ararat aus durch zwei Längen - grade den öſtlichen Eufratlauf (Murad) begrenzt, im Süden ſind es die Randketten des Hochbeckens von Van, gleichfalls die Schlupf - winkel berüchtigter Kurdenſtämme, welche es lieben durch das Einfalls - thor zwiſchen dem 10,000 'hohen Aladagh u. 11,000' hohen Chori die Niederung am Van-See heimzuſuchen, zumal die armeniſchen Dörfer. So ſpielt in dieſem großartigen Gebirgslabyrinthe die ewig blutige Fehde die Hauptrolle im Daſein. Wie das Raubwild des Hoch - gebirges wechſeln die Nomaden ihr Operationsgebiet dies - und9Von Bajazid nach Kars. Kars.jenſeits nahezu unzugänglicher Päſſe, indem ſie bald der Schrecken des einen, bald des andern Thales ſind Auf unſerem weiteren Wege zwiſchen dieſen Gebirgsmauern gelangen wir bald in das Quellbecken des öſtlichen Eufrat. In den ausgedehnten Thal - landſchaften, in welchen meiſt üppige Weiden1Eli Smith, Miss. researches etc., 423. die vielen Dörfer umgeben, rieſeln zahlloſe Bäche, die Abflüſſe der Schneehöhen und an dieſen kryſtallenen Wäſſern iſt gute Raſt für ſonſt ruhe - loſe Nomaden. Auch iſt nicht zu vergeſſen, daß mitten die buntſcheckige Niederlaſſung hindurch die Karawanenſtraße führt, auf der alljährlich einigemale zwiſchen Trapezunt und Tabris, dem perſiſchen Handelsemporium in Azerbeidſchan reichbeladene Karawanen verkehrten, für die lüſternen Bergvölker ein weiterer Anlaß, dieſe Niederung als ein kleines Eldorado zu betrachten.

Wenn wir uns aus dem Centrum dieſes Beckens genau nach Norden wenden, ſo liegt jene obenerwähnte Gebirgsmauer noch immer vor uns; aber zwiſchen den Schneewipfeln iſt eine Einſenkung bemerkbar, ein Paß, Namens Schachjol, das iſt: der Königsweg , ſomit aller Wahrſcheinlichkeit nach eine jener ur - alten Communicationen, welche ſchon zur Zeit der aſſyriſchen Weltherrſchaft ganz Vorder - und Mittelaſien, vom Aegäiſchen Meere bis zum Indus, vom Pontus bis zum Perſer-Meere durchzogen. Heute führt da hinauf kein Königsweg mehr, ſondern ein elender Saumweg, über gewaltige Felsblöcke, an ſchauerlichen Abgründen vorüber, oder in pfadloſer Waldesnacht2Macintoſh, a. a. O. (Bei Koch, 216 224.). Nur hin und wieder überſetzt man Alpentriften, auf denen ein verdächtiges Kurdenpiquet lagert. In ſolchem Falle trat in der, ohnedies genug beſchwerlichen Reiſe immer eine ſehr unwillkommene Pauſe ein. Die kleine Karawane hilt jäh in ihrem Ritte inne, die Kurden ſchwangen ſich in die Sättel und kreuzten ihre Lanzen in regelloſem Haufen. Nur wenn die Escortemannſchaft ſich in der Ueberzahl befand, war es möglich, unbeläſtigt dieſe Alpentriften, auf denen ſich die Natur ſo wunderbar großartig, die Menſchen ſo elend verkommen präſentiren, zu kreuzen, ſonſt ſetzte es blutige Köpfe ab, oder noch mehr, wovon ſchon die Gebeine von Menſchen10Im Ararat-Gebiet.und Pferden ſprachen, welche in den Schluchten bleichten. Wer dieſe Höllenpforte einmal hinter ſich hat, genießt plötzlich eines der impoſanteſten Panoramen Armeniens. Vor dem Reiſenden, gerade nach Norden hin, liegt die ganze gewaltige Plateau-Maſſe Central-Armeniens, eine baumloſe Hochebene, von Hügelzügen oder einzelnen Kegeln unterbrochen; um dieſe ſelbſt, im Kreiſe, ein ſteinernes Meer von Bergmaſſen, Längsketten, Zacken, Domen, dazwiſchen wieder coloſſale Pforten die Thaleinſchnitte des Tſchuruk, Kur, Aras und Arpatſchai. Von dieſem Ausſichts - punkte müßte ein ſcharf bewaffnetes Auge ſowohl Kars, als Alexandrapol, das erſte genau im Norden, das letztere im Nord - oſten bemerken. Keine vorliegenden Höhen verſperren die weit - läufige Perſpective, nur die grauen Dünſte des nördlichen Plateau - randes könnten die Caſtellzinne des alten Türken-Bollwerkes oder die Wälle der Alexandra-Stadt umſchleiern. Unmittelbar zu Füßen erſcheint Alles todt und öde. Kein Fluß, oder Bach, der nahe vorbeiziehende Aras ausgenommen, ſchimmert aus dem einförmigen Steppenbilde und ſelbſt von den Ortſchaften iſt ihr Umfang und ihre Anlage nicht leicht auszunehmen. Wenn wir dann jene baumloſe Hochplatte betreten, ſo wird es uns allerdings klar, daß die betreffenden Niederlaſſungen nicht ſo leicht entdeckt werden konnten, denn der Armenier liebt es, ſich in die Erde einzugraben, oder vielmehr, er iſt es aus Mangel an Bauholz gezwungen zu thun. Dies Bild begleitet uns, bis plötzlich vor uns das Felſendefilé des Karsfluſſes mit ſeinen, von Forts ge - krönten Gipfeln und Stufen ſich öffnet und der Blick auf die Terraſſen des vielgenannten Kars fällt.

Das geſunkene türkiſche Bollwerk hat eine lange, weit in vorosmaniſche Epochen hineinreichende Geſchichte. Die Stadt Kars wird bereits bei den älteſten armeniſchen Schriftſtellern genannt, ſie ſcheint aber erſt unter den Byzantinern ihren heutigen Namen erhalten zu haben, und ſie galt bei denſelben als eine der Capitalen Armeniens, die ſie auch thatſächlich war, da die bagratidiſche Dynaſtie, bekanntlich eines der älteſten chriſtlichen Königsgeſchlechter, durch nahezu ein halbes Jahrhundert in der düſteren Terraſſenſtadt von Armenia magna reſidirte. Unter dem letzten ſelbſtſtändigen Beherrſcher des Königreichs Kars, Kakig II., kam die Stadt und das Reich in der zweiten Hälfte des elften11Kars.Jahrhunderts an die Byzantiner1St. Martin, Mémoire sur l’Armenie, I, a. a. O., von wo ab die Quellen eine große Lücke in Bezug auf die weiteren Schickſale und Ereigniſſe, welche mit Kars verflochten ſein dürften, fühlen laſſen. Die Seldſchuken, welche bekanntlich allenthalben die byzantiniſche Erbſchaft antraten, waren auch in den Beſitz dieſes Grenzboll - werkes gegen die Perſer und Georgier getreten, doch wahrſcheinlich nicht für lange Zeit, da die allgemeine Mongolenfluth auch die einſamen, wenig fruchtbaren Tafelländer Armeniens nicht ver - ſchonte und ihre neue Herrſchaft mit Feuer und Schwert zur Geltung brachte. Schließlich fiel die Stadt in die Hände der Osmanen, ſeit welcher Zeit ſie erſt ihre Bedeutung als Grenz - bollwerk erlangte, da Sultan Murad III. es war, der vor etwa drei Jahrhunderten (1579) die erſten Befeſtigungen anlegen ließ2Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , IV, 76., Befeſtigungen, die ſich in ihrer urſprünglichen Form und Stärke bis auf den Tag erhalten hatten. Es iſt dies zunächſt das domi - nirende Caſtell im Norden der Stadt, über hoher Uferſtufe des Karsfluſſes dräuend, mit einfacher Umwallung gegen die ſturm - freie nördliche und nordweſtliche Seite und mit doppelter gegen die zugänglicheren Abdachungen nach Süd und Südoſt. An dieſen Abdachungen liegt auch die alte, man darf in Betracht ihrer Antecedentien wohl ſagen, klaſſiſche Stadt, in kurzen, ſteilen Terraſſen erbaut, meiſt aus ſehr hohen, mehrſtöckigen Häuſern beſtehend, die von der Ferne geſehen, eines der pittoreskeſten Städtebilder präſentiren. In der Nähe iſt es freilich anders und dieſelben luftigen Steinbauten, meiſt aus dunklem, düſterem Baſalt, begrenzen die denkbar ſchmalſten Straßen, wahre Cloaken, in denen ſich Bewohner und Hausthiere, die ſchakalartigen Straßen - köter nicht ausgenommen, chaotiſch herumtummeln. Es ſcheint in Kars nicht immer ſo geweſen zu ſein, denn wir beſitzen orien - taliſche Reiſeberichte, welche Wunderbares genug von der mäch - tigen Grenzſtadt zu berichten wiſſen, und die vielfach die Sorge der Sultane hervorheben, welche dieſe für Kars an den Tag legten. Das eigentliche Hinderniß, daß Kars niemals zu einer wahren und dauernden Blüthe ſich emporſchwingen konnte, mag eben darin liegen, daß es als Grenzbollwerk ſeit jeher den an -12Im Ararat-Gebiet.ſtürmenden Feinden des Oſtens, zumal den Perſern und Georgiern, ſpäter den Ruſſen ausgeſetzt war, und denen ein Emporkommen des Platzes begreiflicherweiſe nicht erwünſcht ſein konnte. Aber die eigentlichen alten Befeſtigungen ſind hiebei nie vollkommen zerſtört worden und die Murad’ſche Citadelle, ſowie die ſieben Bollwerke der ſieben anatoliſchen Beglerbegs , welche nach orientaliſchen Autoren jene nach einander errichteten, haben ſich bis auf unſere Tage erhalten. Unter den ſieben Bollwerken dürften indeß nur die baſtionartigen Thurmbauten der Enceinte und Verſtärkungen der Citadelle gemeint ſein, keineswegs aber iſolirte Außenwerke, deren es bekanntlich in dem vorletzten ruſſiſch - türkiſchen Kriege eine hinreichende Anzahl gab. Die meiſten der ſtarken Forts und detachirten Werke, welche im diesmaligen Kriege ſozuſagen durch Handſtreich dem Eroberer in die Hände fielen, verdankten ihr Entſtehen erſt der Zeit nach dem Krimkriege, nachdem man infolge der zweimaligen Einnahme des Bollwerkes durch die Ruſſen (1828 und 1855) eingeſehen hatte, daß die alten Schutzmittel unzulänglich ſeien1S. Einleitende Bemerkungen ..

Was Kars als Stadt beſonders werthvoll macht, das iſt ſeine günſtige Lage zwiſchen Armenien, Transkaukaſien, Kurdiſtan, Pontus und Perſien, ein wahrer Handelsknotenpunkt, was zu erkennen bisher freilich nicht Sache der Pforte war, die bekannt - lich wenig oder gar keine Thätigkeit auf Intereſſengebieten zu entwickeln beliebt, die mit der inneren Kräftigung eines Staates identiſch zu ſein pflegen. Dennoch war Kars auch in den letzten ruhigen Zeiten ein kleines Schacherbabel des Oſtens, nach welchem die vielſprachigen Bewohner vom Kaukaſus bis zum Van-See und von Anatolien bis Khoraſſan, dem Lande der Sonne , ihre geriebenſten Repräſentanten ſendeten. Auch das Land iſt frucht - barer als ſonſtige Striche Armeniens; ſchwarze Acker-Erde bedeckt ſelbſt noch die unteren Stufen der die Plateaux begrenzenden Berge und Kettenzüge, und das Klima zählt, trotz ſeiner conti - nentalen Extreme, dennoch zu den gemäßigteren der armeniſchen Hochzonen. Dem Sommer, der Temperatur-Maxima von 35 bis 40 Grad C. aufzuweiſen pflegt, folgt ein verhältnißmäßig längerer Herbſt und erſt Mitte November fällt Schnee, der im Verlaufe13Kars.des Winters dann allerdings ausgiebig genug, bei Temperatur - Minima von 20 Grad C. unter Null, den Boden zu bedecken pflegt1Vgl. Hamilton, Asia minor , I, 206.. Aber es fehlen dem Karſer Plateau die vielartigen en - demiſchen Krankheiten, welche die, geographiſch viel günſtiger ge - legenen Nachbargebiete heimzuſuchen pflegen, und ſelbſt die Epi - demien ſtreifen nur ſelten die einſame Hochlandsſtadt. Gleichwohl iſt das Land um Kars äußerſt dünn bevölkert und es ſoll nach einem ruſſiſchen Berichte auf einer Fläche von mehr als 5000 Quadrat-Werſt keine 300 Dörfer geben, oder 16 Quadrat - Werſt auf ein Dorf (circa 30,000 Einwohner, Kars inbegriffen, für das ganze Land). Aber ſelbſt die wenig vorhandenen Dörfer ſind für das Auge des Beobachters wie ſchon oben erwähnt nicht eigentlich ſichtbar und nur die ſteinernen Stirnfronten der Erdlöcher treten an Terrain-Anſchwellungen zu Tage. In dieſen Troglodyten-Löchern hauſen Menſchen und Thiere in brüderlicher Gemeinſchaft, und nur eine dünne Matte, oder ein defecter kurdiſcher Teppich, ſowie eine kleine Erhöhung des Hütten - bodens trennt die erſteren von den letzteren2Anſichten bei W. Ouſeley, Trav., III. . Licht vermag nur durch die Thüre einzudringen, welche übrigens ſtark genug her - geſtellt iſt, um auch den zeitweiiigen Angriffen der kurdiſchen Räuber widerſtehen zu können. Daß die einzelnen Vorſtädte von Kars gleichfalls über eine bedeutende Zahl derartiger erbärm - licher Wohnſtätten verfügen, geht aus verſchiedenen Andeutungen von Reiſenden und Berichterſtattern hervor 3Der leere Raum unter den ſchwellenden Ottomanen dieſer Miſt - hütten wird niemals gereinigt. Dort leben, lieben und gebären die Katzen; dort erblicken Milliarden Flöhe das Licht der Welt und finden die ewige Ruhe; dort träumen Billionen Wanzen des Lebens ſeligen Traum. Und Nachts marſchiren ſie auf, zahlreicher denn die Streiter Sanheribs, und peinigen ihren Erbfeind, den Menſchen, bis zum Wahnſinn. Die Orien - talen wiſſen ſich täglich einige Minuten Ruhe zu verſchaffen. Die Fladen, welche als Serviette und Brod dienen, werden in großen, in die Erde gegrabenen Töpfen bereitet; ſobald ſie gar ſind, entkleiden ſich alle Mit - glieder ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts und ſchütteln ihre Kleidungsſtücke über dem Topfe, ſo daß das betäubte Ungeziefer hinein - fällt, kniſternd verbrennt, um in Kohlenform in dem nächſttägigen Fladen gegeſſen zu werden (Brief in der Allg. Zeitg. , 1877, Nr. 242).

14Im Ararat-Gebiet.

In den letzten hundertfünfzig Jahren hat Kars ſünf Be - lagerungen erlebt, darunter zwei mit ſiegreichem Ausgange, und zwar 1735 gegen Nadir Schah von Perſien, der mit 100,000 Mann und einem erdrückenden Artillerie-Park vor der Feſtung erſchienen war1Hammer-Purgſtall, Geſch. d. o. Reiches , VIII, 56., und dann im Jahre 1807, als die ruſſiſchen Streitkräfte gelegentlich des perſiſchen Krieges einen Handſtreich auf die Feſtung verſuchten. Dafür iſt ſie in den drei folgenden Belagerungen unterlegen, und zwar 1828 nach kaum vier Tagen, 1855 nach einer regelrechten ſechsmonatlichen Belagerung und neueſtens durch Sturm und Handſtreich zugleich, deren Details bereits in den Einleitenden Bemerkungen berührt wurden. Als die Ruſſen unter Marſchall Paskiewitſch-Eriwanski vor Kars erſchienen, befand ſich daſſelbe in nahezu gleichem Zuſtande, wie hundert Jahre vorher unter Nadir Schah. Von Außenwerken gab es auch nicht eine Spur, und ſo mußte es den Angreifern ein Leichtes ſein, ſich in unmittelbarer Nähe des Platzes, auf dem dominirenden linken Ufer des Karsfluſſes, der Citadelle gegen - über feſtzuſetzen (zwiſchen dem heutigen Werke Veli-Paſcha-Tabia und der Vorſtadt Temur-Paſcha) und den eigentlichen Haupt - angriff von Süden her kräftigſt zu unterſtützen. Die Angreifer hatten ſich eheſtens in der, hart an die Feſtung im Süden an - ſchließende Vorſtadt Orta-Kapu feſtgeſetzt, ſodann Breſche in die alte Wallmauer gelegt und in der Feſtung ſelbſt eingeniſtet. Auf die Citadelle beſchränkt, willigte der Kommandant äußerſt vorſchnell in die ruſſiſcherſeits von ihm verlangte Kapitulation ein, die auch am 23. Juni, olſo nur acht Tage nach Ueberſchrei - tung des Arpatſchai erfolgte, in dem Augenblicke, als das Entſatz - heer des Kioſſa Mehemet Paſcha in der Ebene von Kars in Sicht kam. Die ganze Garniſon, bei 10,000 Mann, nebſt 150 Stück ſchweren Geſchützes fielen in die Hände des Siegers2O. R. Chesney, Die ruſſiſch-türkiſchen Feldzüge 1828 1829 , 147. (Ueberſ.) .

Im Jahre 1855 ſpielten ſich die Ereigniſſe ſchon weſentlich anders ab, ja ſie beſitzen eine gewiſſe Aehnlichkeit mit denen des letzten Krieges. Der Cernirung und Belagerung von Kars ging damals die mörderiſche Schlacht von Kurukdara voran, die ſich15Kars.ſo ziemlich auf derſelben Stelle abſpielte, wie die letzten Kämpfe zwiſchen Kars und dem Arpatſchai. General Bebutoff hatte kurz vorher ein ſtarkes Detachement gegen Bajazid detachirt, um dieſen Platz in ſeine Hände zu bekommen, was auch eheſtens gelang, und nun dirigirte er daſſelbe, gleichſam im Rücken Zariffi Paſchas, gegen die Aladſcha-Höhen, um den Türken den Rückzug nach Kars zu verlegen. Der türkiſche Armee-Commandant bekam von dieſem Manöver rechtzeitig Wind und beſchloß den ſofortigen Angriff gegen Bebutoffs ſchwaches Armeecorps, doch verſtrichen, in Folge kindiſcher Bedenken von Seite Zariffis, dennoch drei Tage und als er dann die Ruſſen attakirte, fand er dieſelben vollkommen bereit und an günſtigen Stellungen poſtirt. Am 6. Auguſt 1854 ward die türkiſche Armee vor Kars, in deren Ober - leitung dieſelbe Zerfahrenheit, wie neueſtens unter Mukhtar Paſcha, geherrſcht zu haben ſcheint, geſchlagen, total zerſprengt und ſo - gleich nach Kars hineingeworfen. Aber erſt neun Monate ſpäter (!), im Juni 1855, ſchritten die Ruſſen zu einer regelrechten Bela - gerung, während welcher ſich die Garniſon, unter Commando des engliſchen General Williams, ein volles halbes Jahr hielt, um ſchließlich, wie es hieß, durch Hunger getrieben, die Thore des Bollwerkes dem General Murawieff zu öffnen. Die Bela - gerer waren hiebei 30,000 Mann ſtark1A. Sandwith, A Narrative of the siege of Kars , a. a. O..

Nimmt man von Kars die Wegrichtung gegen Alexandrapol2Alexandrapols Lage auf breitrückiger Bergplatte iſt eine domini - rende; der Platz war wie geſchaffen zur Anlage eines großen Grenz - Waffenplatzes. Seine Herſtellung hat den Ruſſen aber auch Geld genug gekoſtet. Es iſt übrigens nicht die Stadt ſelbſt, welche befeſtigt iſt, ſondern der an ihr vorüberziehende Grenzſtrich, welcher namentlich gegen Nord - weſten mit mehreren permanenten Werken verſehen iſt, abgeſehen von den fortificirten Lagerplätzen und den großen Magazinen. Der centrale Kern dieſer Fortificationen, in deren Nähe bald eine kleine Stadt entſtand, die mit dem früheren Neſte Gümri zu einer einzigen verſchmolz, erhielt von Kaiſer Nicolaus zu Ehren ſeiner Gemahlin den Namen Alexandrapol (nicht Alexandropol, wie man vielfach lieſt). Der Arpatſchai fließt bei der Feſtung durch üppig grüne Wieſen und Matten und erſt einen Kilometer weiter öſtlich ſteigen die Ufer zum dominirenden Plateau empor, auf dem die Befeſtigungen errichtet ſind., ſo haben wir die Baſaltterraſſen des Aladſcha-Gebirges zu kreuzen,16Im Ararat-Gebiet.welche ſüdoſtwärts in eine ganz baumloſe, wellige gegen Oſten mälig anſteigende Ebene übergehen. Bei Hadſchi-Weli-Köi, wo die Ruinen eines alten Caſtells ſich zwiſchen Reihen von Baſalt - ſäulen erheben, gewinnt das Land gegen den Arpatſchai zu einen mehr freundlichen, belebten Charakter. Hier bietet ſich von dieſer Seite dem Kommenden zum erſtenmale der Fernblick auf den gewaltigen Schneewipfel des Ararat, der ſich ſcheinbar ganz iſolirt mehrere tauſend Fuß über alle anderen Gipfel erhebt, die auf allen Seiten meiſt mit vulkaniſchen Kegelformen emporſtarren. Um Alexandrapol ſelbſt ſtreichen nur niedere Bergrücken, das Land hat, wie der gegenüberliegende Strich Armeniens, ausge - ſprochenen Plateaucharakter. Im Oſten ſteigt mit gigantiſchen Formen der Kegelberg Alagiös (bei 13,000 Fuß), welcher oſtwärts das Gebiet von Schuragel abgrenzt, empor.

Das wichtigſte Object an dem Unterlaufe des Arpatſchai iſt Ani.

In einem älteren Buche1J. Morier, Ayesha or the maid of Kars . lieſt man phantaſtiſche Be - ſchreibungen dieſer Ruinenſtadt. Tempelbauten mit grandioſen Colonnaden, kühngewölbten Kuppeln und monumentalen Treppen; dann weitläufige Paläſte mit natürlichem Mauermoſaik aus gelben, ſchwarzen und rothen Steinen, Thürmen, welche die Dächergiebel überragen und dunkle Thorwarten, auf hohen über - hängenden Klippen aufgeführt und in dem vorbeitobenden Fluſſe ſich ſpiegelnd: Alles wie durch Zauberſpruch entſtanden auf völlig iſolirtem Felsſchemel in einem ſtillen Winkel Armeniens. Das Wunderbare an dieſer Ruinenſtadt, welche zwar einer Reihe ſchwerer Schläge erlegen iſt, der Hauptſache nach aber durch eines jener furchtbaren Erdbeben zerſtört wurde, die noch heute den Araratbezirk heimſuchen, iſt, daß ihr Totalanblick auch in ihren jetzigen Fragmenten noch vor dem Beſchauer das Bild einer, im Zauberbanne liegenden Stadt erſtehen läßt Bei unſerer Annäherung von Nordoſten her vermag man ſchon von Weitem das Rauſchen des Arpatſchai zu vernehmen, indeß ſein Gewäſſer dem Auge, ſelbſt noch in nächſter Nähe völlig verborgen bleibt, denn tief liegt das Rinnſal zwiſchen kantigen Baſaltufern und geradlinigen Stufen gelblichten Sandſteins, auf denen Lava -17Die Ruinen von Ani.blöcke auflagern. Das erſte, was der Wanderer erblickt, iſt die empordräuende Stadtumwallung, welche über die tiefe Kluft des Arpatſchai ins Land lugt. Dort erheben ſich, noch in ihren Ruinen impoſante Thorthürme1Als Hamilton (1836) die Ruinen unterſuchte, war das weſtliche der beiden Thore durch herabgeſtürzte Steinmaſſen derart verrammelt, daß es nicht paſſirt werden konnte. Mit Durchſchreitung des Oſtthores paſſirte man gleichzeitig die Doppelmauer der Umwallung, von denen an der inneren zahlreiche armeniſche Inſcriptionen angebracht waren. Ein Fran - zoſe (Boré) will dieſe während eines ſiebentägigen Aufenthaltes zwar ent - ziffert und der Academie des Inscriptions überſendet haben, doch ſind dieſelben in Verluſt gerathen. Die Wahrheit dieſer Thatſache wurde im Uebrigen von Gelehrten vielfach bezweifelt., von deren Zinnen einſt der Ausblick über die Culturflächen der weſtlichen Alagiös-Ab - dachungen wohl noch ein lohnender geweſen ſein mochte, bis die mongoliſchen Horden das Land mit Feuer und Schwert ver - wüſteten und der rohe Tſchamar-Khan in die bagratidiſchen Paläſte drang, um in ihnen ein grauſiges Blutbad anzurichten. Von jenen Paläſten erhebt ſich einer, noch allenthalben in ſeinen hauptſächlichſten Conſtructionsgliedern erhalten, ganz im Weſten der Stadt, auf dominirender Felskante, die in einen natürlichen Felsgraben abtaucht2W. Hamilton, Account of the ruins of the City of Ani , a. a. O.. Anis Ruinen erheben ſich nämlich auf einer felſigen Halbinſel, mit der Längenachſe nach Nord-Süd, im Oſten durch den Arpatſchai, im Weſten durch ein trockenes Felſen - thal begrenzt. Nur im Norden war die Stadt von Natur aus ungeſchützt (wie Conſtantinopel im Weſten) und dort hatte man eine gewaltige doppelte Wallmauer mit flankirenden Rundthürmen gezogen, um ſich eines jeden Landangriffes zu erwehren.

Wie Ani’s Ruinen ſich heute dem Beobachter darbieten, ſo waren ſie es ſchon vor fünf Jahrhunderten. Sie gleichen mehr einer verlaſſenen, denn einer vollſtändig zerſtörten Stadt, und während ringsum auf dem öden Plateau die Bewohner in elenden Erd - löchern hauſen, iſt anderſeits der Anblick der einſtigen armeniſchen Prachtbauten auch heute noch geeignet, Bewunderung für ein Geſchlecht hervorzurufen, das nicht nur vom Zauber der älteſten menſchlichen Traditionen umwoben iſt, ſondern auch ſonſt im Verlaufe der Jahrhunderte einen Wall gegen aſiatiſche BarbareiSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 218Im Ararat-Gebiet.bildete. Man wandelt heute noch in Ani in förmlichen Gaſſen, ſtößt hier auf die grandioſe Façade eines Palaſtes, buntſcheckig aus ſchwarzen, rothen und gelben Quadern aufgeführt, dort auf das klaffende Portal eines Domes, durch deſſen zuſammen - geſtürzte Kuppel das Tageslicht hereinlugt. Aber auch vollſtändig erhaltene Kuppelbauten gibt es, und ſie dienten bisher den kur - diſchen Hirten und ihren Heerden zum Schlupfwinkel, wenn die Sonne des armeniſchen Sommers die Hochſteppen ungaſtlich machte1Das Ueberraſchendſte iſt die große chriſtliche Kirche, die man wohl zum Unterſchiede von den andern derartigen Bauten, die Patriarchalkirche oder den großen Dom nennen könnte. Sie liegt faſt im Süd des Thor - weges in Geſtalt eines lateiniſchen Kreuzes und war noch vor einiger Zeit gut erhalten. Das Dach iſt zugeſpitzt, mit großen Steinplatten ge - deckt, von Bogen getragen, die noch allenthalben erhalten daſtehen. Von den zwanzig größeren Bauwerken im Inneren verdienen auch zwei prächtige octogonale Thürme hervorgehoben zu werden, an deren einen eine Moſchee, die gleichfalls in Trümmern liegt, angebaut wurde. Das Innere der erwähnten Kirche beſteht aus einem Hauptſchiffe und zwei Nebenflügeln. Der Styl hat altſaraceniſchen Charakter, mit Anklängen an byzantiniſche Formen. Die runden Gewölbbogen erheben ſich auf ſchlanken Pfeilern. (Ritter, a. a. O. X.). Selbſt der Thorweg im öſtlichen Walle exiſtirt noch, aber bisher ſind durch denſelben nicht viele Forſcher eingezogen, um etwa aus der lapidaren Geſchwätzigkeit der Armenier, welche ſich, wie bei den Aſſyriern durch zahlreiche Mauer-Inſcriptionen kundgibt, manches hiſtoriſche Geheimniß, das noch ein dichter Schleier umgibt, zu erforſchen Ani war unter der Reihe armeniſcher Königsreſidenzen, die ſich alleſammt auf dem be - ſchränkten Territorium zwiſchen dem Unterlaufe des Arpatſchai und des benachbarten Fluſſes erheben, die letzte. Zur Zeit des Bagratidenkönigs Aſchad I. war an ihrer Stelle nur eine Art Caſtell, behufs Aufbewahrung der Kronſchätze2St. Martin, Mém. s. l’Arm. , I, a. a. O. und ihrer Siche - rung gegen die Araber, welche bekanntlich gegen Ende des achten Jahrhunderts bis tief nach Armenien eingedrungen waren. Ein Aſchad, der dritte ſeines Namens, war es auch, der hieher de - finitiv ſeine Reſidenz verlegte und der Stadt jene Ausdehnung verlieh, wie ſie heute noch in ihren Ruinen zu verfolgen iſt. Sie blieb es bis um die Mitte des elften Jahrhunderts, wo der19Die Ruinen von Ani.letzte Bagratidenkönig Kakig II. den Waffen des byzantiniſchen Kaiſers Conſtantinus Monomachos unterlag und Ani, ſowie die befeſtigte Grenze, welche durch den Arpatſchai markirt war, zur Schutzwehr gegen das von Oſten vordringende Türkenthum wurde. Der kleine Grenzfluß hatte demnach ſchon vor mehr als neun Jahrhunderten eine ähnliche Rolle geſpielt wie neueſter Zeit, aber die Byzantiner waren keine Zerſtörer und wie Ani nichts von ſeinem Glanze einbüßte, ſo blieb auch das umliegende Land in voller Blüthe, bis die Reiter des Seldſchukiden Alp - Arzlan durch die bagratidiſchen Tempelhallen ritten und auf den Hochaltären der Patriarchendome ihre Roſſe fütterten. Dieſe Kataſtrophe trat nach kaum zwanzigjähriger Occupation Anis durch die Byzantiner ein. Aber auch den Seldſchukiden ſollte das armeniſche Emporium noch einmal abgenommen werden, und zwar ſechzig Jahre ſpäter (1124) durch den georgiſchen König David, der es an ſich riß und ſo unter chriſtliche, wenn auch nicht armeniſche Herrſchaft brachte. Er hatte Abulſevar ſeiner Satrapie entſetzt und mit ſich nach Georgien fortgeſchleppt, dafür wälzte bald hierauf Pchadlun, der Sohn des Gefangenen, ſeine Schaaren aus Choraſſan nach dem Arpatſchai und nach zwei - jähriger Belagerung zog er in Ani ein ohne der Stadt etwas anzuthun. Die Geſchichte der Seldſchukiden gibt widerholt Be - weiſe derartiger Großmuth und Toleranz und man braucht nur den Namen eines Melek-Schah zu nennen, um ſich des gewal - tigen Unterſchiedes zwiſchen dieſer erſten Turk-Dynaſtie und ihren Nachfolgern bewußt zu werden. Dafür kam bald darauf das furchtbare Gewitter der Mongolen-Invaſion, die zwei Drittel der Bewohnerſchaft Anis unters Meſſer brachte1Gleichwohl haben auch die Fürſten und Heerführer dieſer anderen Weltſtürmer mitunter Städte und Einwohner geſchont, wie beiſpielsweiſe ſelbſt der wüthende Hulagu-Khan, der in dem eroberten Bagdad den Be - fehl gab, an der brennenden Stadt ſo viel als möglich zu retten. Noch weit beſſeres Beiſpiel haben Hulagu’s Nachfolger oder die Ilkhane ge - geben, zumal Arghuns Sohn Gaſan, dem der Ruhm gebührt, geſetzliche und civiliſirte Zuſtände geſchaffen zu haben, wie nach ihm keine zweite Dynaſtie mehr, die das Erbe des Chalifats antrat. Der kleine, häßliche mongoliſche Prinz, der ſich Gaſan nannte, hatte überdies auch eine hiſto - riſch erwieſene Schwäche für das Chriſtenthum. Wie die letzten frei -, und zu Anfang2*20Im Ararat-Gebiet.des vierzehnten Jahrhunderts legte ein furchtbares Erdbeben die Stadt in Trümmer. Seitdem hat keine Hand mehr an dieſe armeniſche Culturſtätte gerührt und gleichwie in einem oberirdi - ſchen Pompeji vermag heute der Wanderer durch die verödeten Gaſſen zu ſchreiten, die Palaſthallen zu bewundern und ſich an dem kunſtvollen Moſaik-Getäfel zu erquicken, das, trotz der viel hundertjährigen Wetterunbilden, noch immer mit ſeltener Pracht von den Wänden der bagratidiſchen Herrſcherſitze herabflimmert Durch alle dieſe Räume heult heute der Sturm, der von den Schneewipfeln des Ararat niederbrauſt; nur wenige Menſchen haben ſich in den Ruinen eingeniſtet und ihre primitiven Stein - hütten inmitten der früheren Pracht liegen in den Fels - ſpalten im Weſten des Ruinenfeldes, wo dieſes in die erwähnte trockene Felsſchlucht abtaucht. Die, Katakomben nicht unähnlichen Grabhöhlen aber (noch immer geſchmückt mit Säulenſchäften und ſtylvoller Portal-Ornamentik an ihren Eingängen)1Hamilton, a. a. O. ſind den kurdiſchen Wegelagerern willkommene Schlupfwinkel.

Auf der nur ſechs Meilen langen Strecke von Ani bis zur Einmündung des Arpatſchai in den Aras, unweit des heutigen Hadji-Bairamli (deſſen platte Steindächer aus Gärten von Wall - nuß - und Mandelbäumen hervorlugen)2Ker Porter, Trav. II, 641. , hätten wir über nicht weniger als drei andere armeniſche Cultur-Emporien zu berichten. Vor Allem hätten wir der Götterſtadt Pankaran zu gedenken, in der ſich das heidniſch-armeniſche Pantheon für Götterſtatuen befand. Ihre Lage iſt bisher nicht ganz ſichergeſtellt, doch glaubt man, ſie an den Arpatſchai verlegen zu müſſen, und zwar dort, wo der Bergfluß Akhur in dieſen mündet, alſo unweit der1geiſtigen Chalifen Harun, Mamun, Al Mutaſſim und Wathik, von denen hin und wieder einer ſogar die Göttlichkeit des Korans leugnete, durch ihre in der Geſchichte des Islams geradezu beiſpiellos daſtehende Toleranz, das orthodoxe moslemiſche Gebäude bedenklich erſchütterten, ſo lag ſpäter unter den Ilkhanen ſogar die Gefahr nahe, daß das geſammte Mongolen - thum chriſtlich werden konnte. Nur politiſche Bedenken hielten Gaſan von dieſem Schritte ab. Mekka war gerettet und die beturbante Recht - gläubigkeit hatte nimmer zu befürchten, daß an die Stelle der Kaaba eine Prachtkathedrale treten würde. (Vgl. Malcolm, Geſchichte von Perſien , I. 21König Erowant II. Reſidenzen.wilden Engſchlucht, wo heute das Kloſter Kotſchiran liegt1Ker Porter, Trav. I, 177; auch bei St. Martin, Mémoire sur l’Arménie , I, 297.. Von der Felszunge, wo der Arpatſchai mit wildem Gebrauſe in den ruhigeren, ſilberglänzenden Araxes mündet, dräut ein längſt ver - laſſenes und vergeſſenes Gemäuer in die romantiſchen Thal - ſchluchten hinab. Es iſt König Erowants II. Burg2Anſicht bei Dubois, Voy. p. 36. und ſeine Reſidenz (die dritte, die dieſer armeniſche Trajan erbaute), das einſt weit berühmte Erowantagerd lag nicht weit hievon, mit ſeinem Schmucke von Paläſten und Mauſoleen. Die Völker - ſtürme und Erdbeben haben hier der Nachwelt nur ſpärliche Er - innerungen gelaſſen, und nur die ſchwarzen Grabſteine aus hartem Lavageſtein ſind als ſinnige Ueberreſte an der Stelle der einſtigen Pracht zurückgeblieben. Gleich einſam und öde iſt’s auf der Fels - kuppe von Erowantaſchad, welche ſich gerade gegenüber der eben beſchriebenen Localität, am linken Ufer des Fluſſes erhebt. Es iſt die vierte in der Reihe der Reſidenzen am unteren Arpa - tſchai. Erowant, der Uſurpator aus arſacidiſchem Königsgeſchlechte, der Sanadrugs Herrſchaft über Armenien und Edeſſa in Trümmer geſchlagen hatte, erbaute ſie als ſeine zweite Reſidenz, nachdem er ſich in dem älteren Armavir (am Araxes ſüdlich von Etſch - miadſin) nicht mehr behaglich fühlte. Mit dieſem bauluſtigen Beherrſcher Armeniens berühren wir eine der intereſſanteſten Geſchichtsepochen des Landes. Sanadrug, den Erowant nicht nur aus dem Felde geſchlagen, ſondern ihn auch mit ſeinem ganzen Hofſtaate hinrichten hatte laſſen, beſaß einen Sohn Namens Ardaſches, der jenem Blutbade entronnen war und bei den Parthern Schutz gefunden hatte. Er war während der langen Regierungszeit Erowant II. herangewachſen, hatte den Beiſtand der parthiſchen Könige gewonnen und den Thronräuber unter den Mauern ſeiner eigenen Reſidenz geſchlagen3Nachmals verſäumte Ardaſches nicht, ſeine parthiſchen Freunde königlich zu belohnen, namentlich den Bagratiden Sempad, den er zu ſeinem Kronfeldherrn (Sbarabied) machte. Unter ihm erſtand auch wieder. die ältere Arſaciden-Reſidenz Ardaſchat (Artaxata), welche unter Corbulo durch Kaiſer Neros Legionen zerſtört worden war. Aus ſämmtlichen Re - ſidenzen Erowant II. wurden die Schätze, namentlich aber die zahlreichen.

22Im Ararat-Gebiet.

Im Verfolge unſerer Tour thalab des Araxes ſtoßen wir in wildem Stromdefilé auf die altarmeniſche Feſte Kara-Kaleh (Schwarzburg); ſie iſt nahezu ganz iſolirt auf ſchwarzem Lava - felſen, unter ſich den toſenden Strom und gegenüber am rechten Ufer eine zweite, ſcheinbar noch immer vertheidigungsfähige Zwingburg, Surmanly. Zwei Seiten der erſteren Burg ſind durch tiefe Spalten in der Lavamaſſe natürlich vertheidigt, die dritte iſt es durch den vorüberfließenden Araxes; es bleibt alſo nur die nördliche Landſeite übrig, auf der ehemals ein mehr - facher Kranz von Mauern und Thürmen ſich erhob1Dubois, Voy. III, 446.. Die Neubauten ſind meiſt aus ſchwarzen Lavaſtücken erbaut und vor der Citadelle liegt ein Friedhof voll Grabmäler verſchiedener Nationen, darunter ſolche mit perſiſchen und tartariſchen In - ſcriptionen und Sculpturen von Widderfiguren, die man früher blos für Bezeichnungen armeniſcher Grabſtätten gehalten hatte. Am Nordfuße des Lavaſtromes, der die Citadelle und die Ortſchaft trägt, fließt der Araxes vorüber, an deſſen Süd-Ufer liegt jedoch eine kleine Ufer-Ebene, auf welcher einſt die untere Stadt mit ihren Gärten lag, die aber gegenwärtig ganz verlaſſen iſt. Auch Reſte einer alten Brücke ſollen noch zu erkennen ſein (wie bei Ani)2Ganz in einem Winkel der verworrenen Gebirgsketten ſüdlich des Araxes liegt das Dorf Kulpi, weit in Armenien, ja in ganz Trans - kaukaſien berühmt durch ſeine uralten Steinſalzwerke. Das Dorf iſt amphi - theaterartig an eine nackte. Felswand angebaut, in der Mitte deſſelben eine kleine Kirche mit plattem Dache. Die übrigen Häuſer ſind ſo dicht an einander gebaut, daß die Bewohner bei ſchlechtem Wetter, wo die engen Gaſſen durch den aufgeweichten Salzmergel unpaſſirbar ſind, über die Häuſerdächer hin von einem Ende des Dorfes zum andern verkehren. (Dubois, a. a. O.) Auch bei Radde, Vier Vorträge ü. d. Kaukaſus , 47. .. Zwiſchen Kara-Kaleh und Igdyr, einem im letzten Feldzuge vielgenannten Orte und Concentrirungsplatz des Detache - ments Tergukaſſoffs, nimmt mälig die große Araxes-Ebene, die wir gleich Anfangs unſerer Tour durchwandert hatten, ihre Aus - dehnung. Sie iſt nur wenige Fuß über den Spiegel des Fluſſes erhoben, faſt ohne Steine und von zahlreichen Canälen durch -3Götterſtatuen nach der neuen Reſidenz gebracht, die ſich, mit Tempeln und Hainen geſchmückt, zu neuem Glanze erhob. (Moſ. v. Chorene bei Ritter, Erdkunde , X, 454.)23Die Araxes-Ebene. Zur Völkerſtellung der Armenier.ädert. Nur wenige Meilen ſüdöſtlich von Igdyr liegt am Nord - fuße des Ararat ein Dörfchen im einſamen Thälchen, Agurie. Ein kleines Gewäſſer beſpült gewaltige Lavamaſſen, thalab be - ſäumen es dichte Schilfwälder und höher die Ufer hinan fette Weideplätze, der Lieblingsaufenthalt jener kurdiſch-perſiſch-arme - niſchen Miſchrace, die hier unter ruſſiſchem Einfluſſe ſich mälig zur Lebensweiſe der Halb-Nomaden emporgeſchwungen hat. Jenes Dörfchen Agurie iſt aber nach armeniſcher Tradition der Ort, wo Altvater Noah nach ſeiner wunderbaren Rettung den Altar zum Dankopfer errichtete1An der Stelle dieſes Altars ſteht heute eine kleine, aus ſchwarzen Lavablöcken erbaute Kirche, die mindeſtens 1000 Jahre alt ſein dürfte, wie allenthalben aus den umherliegenden Grabſteinen hervorgeht. Im Innern befindet ſich auf einem Pfeiler eine Inſchrift Kakig I. (989 König von Armenien), ein Sohn Aſchad III., der dem Dorfe verſchiedene Privilegien ſicherte, an die ſich freilich die Zeitläufe nicht kehrten. Gleichwohl zeichnet auch heute noch die Bewohner Aguries ein gewiſſer Stolz aus, den ihnen die Heiligkeit der Stätte des einſtigen Verſöhnungsopfers einimpft. (Vgl. Parrot, Reiſe ꝛc. , I, 219; Dubois, Voy., III.). Die rieſigen Schneewipfel der beiden Ararat im Rücken, vorn im äußerſten Norden die herrlichen Ge - birgsringe der Eriwanſchen Randketten und dazwiſchen die weit - läufige ſchimmernde Araxes-Ebene: die Situation iſt zum mindeſten erhebend genug, um obiger Tradition Vorſchub zu leiſten.

Schon in Pakaran am Arpatſchai hatten wir jenen claſſiſchen Boden betreten, auf dem ſich die legendenreiche Vor - und Ur - geſchichte Armeniens abſpielt. Es iſt daher an der Zeit, uns mit dem Volke der Armenier ſelbſt zu beſchäftigen und deſſen ethniſche Entwickelung in knapper Form darzuſtellen Die Uranfänge der Armenier verdämmern in blaſſen Mythen, wie die der meiſten übrigen aſiatiſchen Culturvölker. Aber während ſich die vorgeſchichtliche Zeit der Aſſyrier und Iranier und jene Turans in unermeßlichen, fabelhaften Zeiträumen bewegt, in denen unſere Vorſtellungen von greifbaren, räumlichen Verhält - niſſen in Nichts zerfließen2Die vor-zoroaſtriſche Chronologie der Iranier gibt uns ein ſolches Syſtem ungeheuerer Perioden. Jeder Fixſtern regierte den Himmel tauſend Jahre allein und dann weitere 1000 Jahre mit einem anderen Fixſterne, der gewiſſermaßen die Stelle eines Veziers vertrat. Nach 1000 Jahren dankte er dieſen ab und regierte mit einem zweiten, dann mit einem, wurzelt der armeniſche Stamm -24Im Ararat-Gebiet.baum in der erſten Epoche der Menſchengeſchichte überhaupt. Haik, der Stammvater des erſten armeniſchen Titanen-Ge - ſchlechtes, ſoll nämlich nach der älteſten Tradition ein Enkel Japhets geweſen ſein1In den bibliſchen Stammtafeln kommt indeß dieſer Name nicht vor. Nach dem 1. Buche Moſe (10, 2 4) hießen die Enkel Japhets (nach den beiden Söhnen Gomers und Jawans) Askenas, Riphat, Thogarma, Eliſa, Tharſchiſch, Hittim und Dodanim.. Nach dieſem Haik benannten die Ar - menier ihr Land, Haiasdan, während ſie die Nachkommen des - ſelben als Haigasan, Abkömmlinge des Haik , bezeichnen, indeß, ſelbſt im Vulgär-Armeniſchen das alleinſtehende Wort Haik noch heute den geographiſchen Begriff von Armenien deckt. (z. B. in Partsr Haik = Hoch-Armenien, das Land zwiſchen Oſt-Armenien und Erzingian.) Nachdem Haik in die baby - loniſche Niederung hinabgeſtiegen war und daſelbſt den König Belus erſchlagen hatte, zog er mit ſeinem Geſchlechte, dreihundert gigantiſche Männer, wieder heimwärts und nahm ſeinen Sitz dieſſeits des Ararat, im Gau Daron, den die Forſchung nach vielen Um - ſchweifen in dem heutigen Murad-Becken zwiſchen Chamur und Muſch wiedererkannt hat. Thatſächlich gibt es daſelbſt noch heute einen Ort Haik. Es war Xenophon, der auf ſeinem glorreichen Rück - zuge durch das Land der Kharduchen zuerſt das heutige mittlere Murad-Becken betrat und ſo zuerſt Kunde brachte von dem eigentlichen Stammlande der Armenier, die er aber keineswegs ſo nennt, ebenſo wenig wie vorher Herodot, der nur vom Volke aus dem Quelllande des Euphrat und ſeinen Handelsbeziehungen mit Bagdad berichtet. Wunderbarer Weiſe iſt uns dieſer hoch - intereſſante, claſſiſche Boden im Laufe der Jahrtauſende voll - kommen verloren gegangen und erſt einem Reiſenden unſeres Jahrhunderts2J. Morier, Journey through Persia, Armenia etc. , 1808 1809.) war es vorbehalten, die Murad-Quelle und ſo - mit ſein ganzes Quellgebiet förmlich zu entdecken. Seitdem2dritten und ſo nach und nach mit allen Fixſternen des Himmels. Hatte er alle Fixſterne zu ſolchen Mitregenten gehabt, ſo trat er ſodann die Herrſchaft an denjenigen ab, der zuerſt ſein Mitregent war, wonach ſich die Epochen von 1000 zu 1000 Jahren wiederholten, bis zum letzten Fix - ſterne: eine überwältigende Vorſtellung von unbegreifbaren, unendlichen Zeiträumen. (Vgl. J. Kruger, Geſchichte der Aſſyrier und Iranier , 65.)25Haik und Armenac.hat ſich unſere Kenntniß von demſelben topographiſch nicht weſentlich erweitert, aber es wurde im Verlaufe des nächſten halben Jahrhunderts, alſo bis in unſere Zeit hinein, die Iden - tität verſchiedener Localitäten der erſten armeniſchen Entwickelungs - Epoche mit den heutigen topographiſchen Oertlichkeiten conſtatirt und ſo die Handhabe zu tiefgreifenden Unterſuchungen gegeben.

Erſt Armenac, der Enkel Haiks, ergriff den Wanderſtab und ſtieg mit ſeinem ganzen Geſchlechte über das nordöſtlich vor - liegende Gebirge in eine Ebene hinab, welche auf allen Seiten von hohen Gebirgen umgeben war, im Süden aber grüßte ihn (Armenac) mit ſchneeweißem Scheitel ein Altvater zwiſchen Jüng - lingen 1Moſes von Chorene.. Daß es ſich hier um den Ararat handelte, beziehungs - weiſe um die Ebene des Araxes, erſcheint völlig zweifellos, aber Namen hatte damals weder jener, noch dieſe. Armenac ſelbſt gründete am Fuße eines mehr nördlich liegenden Berges eine Niederlaſſung, die er nach ſeinem Sohne Araghaz nannte, wie der gewaltige erloſchene Vulkan zwiſchen Eriwan und Alexandrapol noch heute heißt. Auch die übrigen Söhne des Armenac, des zweiten Stammvaters der Armenier, gaben Städten, Flüſſen und Landſtrichen ihre Namen, und allenthalben haben ſich dieſe bis auf unſere Tage erhalten. Der zweite Sohn, Armavir, gründete ſeine Stadt2Dieſe Reſidenzſtadt, die anderthalb Jahrtauſende geblüht hatte und das älteſte heidniſche Götter-Pantheon beſaß, lag ſchon zur Zeit Arſchaks II. (363 381 n. Chr.) vollends in Trümmern. Seit Einführung des Chriſtenthums mußte ſie wohl ihre ganze frühere Bedeutung verlieren und ſo erſcheint es erklärlich, daß die Forſcher der Neuzeit nicht einmal mehr ihre Lage präciſe anzugeben im Stande waren. Am Fuße einer Akro - pole lag die weitberühmte Stadt, von der neueſtens nur mehr einige Mauerreſte zu ſehen ſind. (Vgl. Dubois, Voy. III, a. a. O.) am großen Fluſſe , welcher die Ebene zwiſchen den ſüdlichen und nördlichen Bergen durchſtrömte. Dieſer Fluß aber ward nach Armavirs Sohn, Eraſt, Eraſches (Araxes) be - nannt, und er hat dieſen Namen bei den Armeniern bis auf den Tag beibehalten3Auch für die Benennung des Ararat, der urſprünglich Maſis hieß, haben wir, wenn auch keinen hiſtoriſchen, ſo doch legendaren Anhaltspunkt. Araï, das iſt der Schöne , war am Fuße des Rieſenberges der aſſyriſchen Schemiram (Semiramis) erlegen. Die Gegend hieß ſeitdem nur mehr Aus dieſen kurzen Andeutungen geht26Im Ararat-Gebiet.hervor, daß die Armenier ein Glied jener Völkergruppe waren, welche ſeit dem hiſtoriſchen Beginne der Menſchengeſchichte die Ländermaſſen einnahmen, die wir geographiſch Weſt-Aſien nennen, alſo den engeren Complex zwiſchen dem Schwarzen Meere und dem indiſchen Ocean einerſeits und dem Kaukaſus und den tau - riſchen Pforten in Khoraſſan anderſeits. Dieſe Völker, Aſſyrier, Chaldäer, Meder, Perſer, Armenier und Kharduchen (Kurden), ſpäterhin Parther und Saſſaniden, waren ſich innig verwandt durch Sprache und Religion und repräſentiren ihrer ethnolo - giſchen Stellung nach die ariſch-iraniſche Völkergruppe, wodurch die iraniſche Abſtammung der Armenier, die übrigens niemals ernſtlich bezweifelt wurde, zur Evidenz feſtgeſtellt erſcheint. Be - denklich wäre es nur, daß gerade Armenien, an der Peripherie des oben beſchriebenen Ländergebietes gelegen, die Nachbarſchaft anderer Völker, zumal gegen Norden hin, in Verbindung mit den ſkythiſchen Stämmen jenſeits des Kaukaſus, empfindlich fühlen und ſo die Reinheit des Blutes ſeiner Bewohner beeinträchtigt hätte werden können, eine Annahme, die ſich inſofern als unbe - gründet erweiſt, als die Urgeſchichte der Armenier eigentlich identiſch mit jener Aſſyriens iſt. Von den obgenannten Völkern haben mehrere eine mehr oder minder längere Rolle geſpielt, ihre Nachbarn zeitweilig unterdrückt und auf ihre Koſten eine glänzende Weltherrſchaft geführt (wie die Aſſyrier und Perſer), niemals aber die Armenier, welche ſelbſt unter ihrer jüngeren, ſelbſtändigen Königen im Grunde doch nur in einem ſehr ab - hängigen Vaſallen-Verhältniſſe zu den Neu-Perſern ſtanden. Auch die Kurden (Kharduchen) haben ſich, wie wir noch ſpäter ſehen werden, niemals ein einheitliches, feſtes Staatengebilde zu ſchaffen gewußt, eine Eigenthümlichkeit, die auffallend genug ſich auch heute noch in dem Stammes-Antagonismus der kurdiſchen Berg - völker manifeſtirt

3Araï-jarat, die Niederlage Araïs , und bezog ſich ſomit eigentlich mehr auf das Ereigniß, als wie auf die Localität. Auf alle Fälle ging die Benennung, welche doch nur der Ebene (bei dem heutigen Igdyr), wo jene Schlacht ſtattgefunden hatte, gelten konnte, erſt viel ſpäter auf die beiden Bergrieſen über. (Indſchidſchean, a. a. O.; Hermann, Das ruſſiſche Ar - menien , Ritter, Erdkunde X, ꝛc. ..)

27Aſſyrier in Armenien.

Zur Zeit des zweiten aſſyriſchen Weltreiches (1244 bis 725 v. Chr.) waren die Armenier politiſch bereits vollkommen in demſelben aufgegangen1Daß beiſpielsweiſe Arbakes in der Form Arpag in einer armeniſchen Königsliſte erſcheint, darf uns nicht wundern, weil Diodor ausdrücklich meldet, nach Ninivehs Untergang habe er über ganz Aſien (ſoll heißen Vorder-Aſien) geherrſcht. Zudem iſt nach Moſ. v. Chorene die alte Königsgeſchichte der Armenier aus aſſyriſchen Annalen geſchöpft, ſo - mit mit der Aſſyriens in mancher Hinſicht identiſch. (Vgl. J. Kruger, a. a. O., 113.). Doch ſollte ein eigentliches Ein - ſtrömen aſſyriſcher Elemente viel ſpäter, nämlich erſt unter Sanherib, alſo bereits zur Zeit der Spaltung des früheren Weltreiches in ein aſſyriſch-iraniſches Doppelreich, ſtattfinden. Als nämlich Sanherib nach ſeiner vergeblichen Belagerung Jeruſalems in Niniveh einzog, wurde er von ſeinen beiden Söhnen im Tempel des Götzen Nisrochs ermordet, worauf dieſe, Adramelech und Sarezer, in das Land Ararat flüchteten2II. Buch d. Könige, 19, 37.. Daß ihr unmittelbarer Anhang mitemigrirte, ſcheint aus dem Verlaufe der nächſten Ereigniſſe unzweifelhaft hervorzugehen, denn die beiden Prinzen allein hätten ſich unmöglich ſo raſch und ſicher in dem, ihnen vom armeniſchen Könige angewieſenen Ländereien (Daron) zu inſtalliren vermocht, wenn nicht ſofort aſſyriſche Elemente zur Hand geweſen wären. Beide Prinzen waren die Begründer der aſſyriſch-armeniſchen Familiengeſchlechter der Saſſunier und Arzdrunier, die ſogar häufig den Eigennamen Sanherib beibehielten. Beſonders hervorgethan haben ſich im Verlaufe der Zeit die Arzdrunier, die Adlerträger am Hofe der armeniſchen Könige und nachmalige Begründer eines Königs - geſchlechtes von Van, aus dem wunderlicher Weiſe auch ein byzantiniſcher Kaiſer (Leo V.) hervorging. In den diesbezüg - lichen Geſchichtsquellen iſt freilich immer nur von dem Armeniſchen Abkömmling die Rede, aber nicht nur in Leo, auch in Baſilius I. und in ſeinem Enkel Conſtantinus Porphyrogeneta floß un - zweifelhaft aſſyriſches Blut3Neumann, Verſuch einer armeniſchen Literatur . Bei der Wieder - herſtellung der alten byzantiniſchen Reichsgrenzen in Thrakien nach Unter - gang des oſtbulgariſchen Reiches (970 n. Chr.) war es nicht ſo ſehr das helleniſche Element, welches den Auſſchwung herbeiführte, ſondern das. Später gewannen die Enkel der28Im Ararat-Gebiet.einſtigen aſſyriſchen Emigranten ſtets mehr an Würde und Macht und ſie waren thatſächlich die Beherrſcher des ganzen Länder - ſtriches am oberen Tigris von Amid (Diarbekr) bis öſtlich über Van hinaus, eine Länderzone, die ſich geographiſch und politiſch zwiſchen Aſſyrien und Armenien lagerte.

Unter Nebucadnezar fand ein zweites hochwichtiges Ein - ſtrömen fremder Bevölkerungs-Elemente nach Armenien ſtatt. Die furchtbare Niederlage, welche der Feldherr Chiniladans, Holofernes, in Paläſtina erlitten hatte, beziehungsweiſe die Auf - löſung des aſſyriſchen Heeres durch ſeines Feldherrn tragiſches Ende (durch Judith), ſcheint die nächſten Könige nicht behindert zu haben, hebräiſche Gefangene in den armeniſchen Bergen zu coloniſiren. Die Colonien gediehen augenſcheinlich auch ziemlich raſch, doch war von einem Anwachſen derſelben zu einer gewiſſen Suprematie, wie bei den Ardzruniern, lange nicht die Rede, bis endlich ein gewiſſer Schambad auftrat und der Gründer eines berühmten Stammes, der Bazradunier (oder Bagradunier) ward, eines Stammes, der unter der Namensform Bagratiden ein alt - berühmtes chriſtliches Königsgeſchlecht hervorbrachte, deren letzte (georgiſche) Sproſſen noch heute in Rußland exiſtiren. Es iſt wunderlich genug, daß es gerade ein jüdiſcher Edelmann ſein mußte, dem es vorbehalten war, eine Dynaſtie zu gründen, die durch ein Jahrtauſend den Schirm der Chriſtenheit im Oſten abgab1Die Bagratiden rühmen ſich auch derſelben Abkunft wie Chriſtus und führten ihren Stammbaum bis auf David zurück, augenſcheinlich mit mehr Berechtigung als die bekannten Montgomerys in Frankreich. (K. Koch, Kaukaſiſche Länder , 74.). Die Bagratiden traten mit ihrem ſehr zahlreichen (chriſtlichen) Anhange bald die armeniſche Herrſchaft an, indem ſie dieſelbe von ihrem urſprünglichen Stammſitze Daron über Paſſin (obere Araxes-Gegend), Kars und ſpäter bis Georgien ausdehnten und unter Aſchad II. endlich auch von den arabiſchen3armeniſche (aſſyriſch-armeniſche). Kaiſer Joannes Tzimiſches, der Eroberer Oſtbulgariens, war ein Armenier, ebenſo die vorzüglichſten Feldherren und der Kern der Armee Baſilius II. Zur Befeſtigung des neueroberten Phi - lippopolis ſiedelte Tzimiſches, wie einſt Conſtantin V., zahlreiche Armenier in der Umgebung an. (C. J. Jirecek, Die Heerſtraße von Belgrad nach Conſtantinopel , 79.)29Die Bagratiden.Chalifen als berechtigte Dynaſtie anerkannt wurden. Das merk - würdige Eingreifen der Bagratiden in die politiſchen Schickſale Armeniens, ein Eingreifen, das augenſcheinlich nur ſehr langſam und durch geiſtige Suprematie, aber keineswegs gewaltſam ſtatt - fand, gibt uns den beſten Beweis, wie wenig inneres Bewußt - ſein zum Herrſchen und Beherrſchen den eigentlichen Armeniern eigen war und wie ſie ſpäter dies geradezu fremden Dynaſtien überließen; gerade ſo, wie ſie anfänglich keinerlei Miene machten, ſich der aſſyriſchen Präponderanz zu erwehren, wie etwa die Meder, die Zertrümmerer des zweiten aſſyriſchen Weltreiches

In Armenien herrſchten die Bagratiden, wie bereits oben erwähnt wurde, bis ums Jahr 1030 nach Chr., d. i. bis zur Aufhebung des Königreichs Kars unter Kakig II. durch die Byzantiner1Neumann, Vahrams Chronicle of the Armenian Kingdom , l. c. p. XI., bei Ritter a. a. O.. Aber durch Verwandtſchaft an Georgien gefeſſelt, verging ein nur unbedeutender Zeitraum, und wieder traten die Bagratiden als ruhmreiche Könige und Eroberer während der nächſten Jahrhunderte auf, bis endlich im Jahre 1802, durch Uebergang Georgiens, Kahetiens und Imeretiens in den Beſitz der Ruſſen, die nahezu zwölfhundertjährige Dynaſtie zu herrſchen aufgehört hatte2Ueber die letzten Bagratiden gehen indeß die Meinungen aus - einander. Einige ſind ihres Lobes voll (vgl. O. Spencer, Journey trough Tsherkessia etc. ), während Andere wieder (wie K. Koch, Die kaukaſiſchen Länder , 8) es als eine Wohlthat bezeichnen, daß Rußland unter den ver - ſchiedenen transkaukaſiſchen Duodez-Herrſchern aufgeräumt und ſo uralte Fehden erſtickt hat. Es gilt dies namentlich von den letzten Königen Min - greliens, den Dadians , den nahen Verwandten des abhaſiſchen Ge - ſchlechtes der Serwaſchidſes. Jene gelangten indeß erſt im vorigen Jahr - hundert zur Regierung, während die älteren Dadians, von den Türken vertrieben, in Rußland Zuflucht erhielten und den Namen Dadianoff an - nahmen (K. Koch, a. a. O., 74 u. ff.).. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Bagratiden, als ſie zu Macht und Anſehen gelangt waren, eingedenk ihrer eigentlichen Abſtammung, ſelbſt als chriſtliche Machthaber den Israeliten ſtets ſehr zugeneigt waren und jeder Coloniſation der - ſelben auf armeniſchen Territorien beſtmöglichſt Vorſchub leiſteten3Um die Mitte des vierten Jahrhunderts, alſo zur Zeit der größten Chriſtenverfolgungen in Armenien, ſoll es allein in der Stadt Erowantaſchad. 30Im Ararat-Gebiet.Von Tigranes, einem Vorgänger der Bagratiden, dem Gründer der einſt blühenden Reſidenz Tigranokerta, und Zeitgenoſſen des Pompejus, iſt dies zum Mindeſten erwieſen, da er als Beſieger Paläſtinas ſeinen Herrſcherſitz, wenn ſchon nicht anders, zwangs - weiſe coloniſirte, wie er ja auch mit den Kappadociern ähnlich verfuhr1Strabo XII. Auch bei Moſ. v. Chor..

Nicht minder intereſſant, als das Einſtrömen aſſyriſcher und hebräiſcher Elemente in Armenien, iſt das eines anderen Volkes, welches die Ethnologie mit dem Namen Mamigonier belegt. Nach den armeniſchen Annaliſten ereignete es ſich zur Zeit der Herrſchaft des zweiten Saſſanidenkönigs, Sapor I. (oder Schahpur), alſo zwiſchen 240 271 n. Chr., daß ein Prinz aus Dſchenasdan (Tſchin oder China) mit all ſeinem Anhange den Anſchlägen auf ſein Leben von Seite ſeines Oheims Arpag-Pagur durch die Flucht entging und ſich mit ſeinen Getreuen, wie es kurz vorher die Orpelier in Georgien gethan2Zweige dieſer Orpelier nach ihrem Fürſten Orpeth ſo genannt ließen ſich ſpäter auch in Armenien nieder, wo ſie durch Ehen mit den Bagratiden verwandt wurden. Im Uebrigen aber waren ſie für Georgien das, was die Mamigonier für Armenien waren, Heerführer und Palladine. (Vgl. St. Martin, Mémoire sur l’Arménie , II, 57 u. ff.), in Armenien anſiedelte. Daß wir es hier nicht mit eigentlichen Chineſen, wohl aber mit Be - wohnern des heutigen Turkiſtans zu thun haben, geht ſchon daraus hervor, daß der armeniſche Annaliſt die Eigenſchaften der Mamigonier als überaus vortheilhafte bezeichnet und ihren regen Verkehr mit den Bewohnern Irans und Arabiens hervor - hebt, ein Verkehr, der zwiſchen dieſen und den eigentlichen Chineſen niemals beſtanden hat. Auch andere, viel näher liegende Thatſachen weiſen darauf hin, daß es ſich unmöglich um eigent - liche Chineſen oder Stämme mongoliſcher Race überhaupt, handeln könne, die erſt viel ſpäter und da unter ganz anderen Umſtänden mit dem Weſten in Verbindung traten. Zudem ſpricht auch ein3an 30,000 jüdiſche Häuſer gegeben haben, als dieſelbe zerſtört wurde. Ebenſo zu Van 10,000, zu Nakhitſchevan 16,000, in Artaxata 9000 Bei 70,000 Familien wurden damals zwangsweiſe um Nakhitſchevan an - geſiedelt (vgl. die Chronik Fauſtus von Byzanz bei St. Martin, Histoire des révolut. de l’Arm. etc. )31Die Mamigonier.anderer armeniſcher Chroniſt Vakſtang ſtets von Turaniern, wenn er der Mamigonier gedenkt Waren nun dieſe auch Turanier im ethnologiſchen Sinne, nämlich Zugehörige zu jener anderen großen Völkergruppe, welche man im Gegenſatze zu den Iraniern ſo benannte, und die man heute mit dem Collectiv der ural-altaiſchen Völker belegt? Wir haben Gründe dies entſchieden zu bezweifeln. Aus den Schilderungen alter Chroniſten geht überzeugend genug hervor, daß die Mamigonier ein den Perſern und Armeniern verwandtes, ſomit ariſches Volk waren, und wir vermögen dies um ſo weniger zu bezweifeln, als ariſche Elemente ſich auch heute noch allenthalben unter den turkiſtaniſchen Völker - ſchaften zerſtreut vorfinden1Es ſind die ſogenannten Tadſchiks (vgl. H. Vámbéry, Die Iranier Turkeſtans , Oeſterr. Monatsſchr. f. d. Orient, II, 7). Im Jahre 1857 hatten die Brüder Schlagintweit, unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Central-Aſien, ihre Ueberzeugung ausgeſprochen, daß die Bewohner Oſt - Turkeſtans tartariſirte Arier ſeien. Es wären alſo nicht nur, wie un - zweifelhaft, die heute perſiſch redenden Tadſchiks, ſondern auch die der - malen türkiſch ſprechenden Stämme Oſt-Turkeſtans ariſchen Urſprungs. Mit andern Worten, die Urbevölkerung wäre die ariſche und nicht die türkiſche (turaniſche) geweſen. Dieſe Meinung hat auch durch die Beob - achtungen Robert Schaws an hoher Wahrſcheinlichkeit gewonnen. Die meiſten Tadſchiks trifft man unter den Kaufleuten (alſo wie zur Zeit der Mamigonier); ſie ſtammen aus Andiſchan, oder ſind Emigranten aus Badagh - ſchan, Afghaniſtan und andern benachbarten Ländern. (F. v. Hellwald, Central-Aſien , 190.) Gleiches behauptet J. Kruger ( Geſchichte der Aſſyrier und Iranier , 188 u. ff.). Nach ihm war der herrſchende Stamm in Turan zur Zeit des großen Bruderkampfes entſchieden ariſcher Herkunft. Der Name Turan will hiebei nichts bedeuten, denn nach dem perſiſchen Königsbuche des Firduſi erhielt das Land jenſeit der Grenzen Irans erſt jenen Namen von Feriduns zweitem Sohne Tur. Später gab es zwiſchen den Turaniern und Iraniern ſtets furchtbare Rachekriege, welche der Be - gründer des zweiten aſſyriſchen Weltreiches Minotſcher (Chala, Ninos) im 13. Jahrhunderte v. Chr. inaugurirt hatte. Er ſchlug hiebei denſelben Weg ein, den Alexander d. Gr. tauſend Jahre ſpäter benützte, um Darius in ſeinem letzten Verſtecke aufzuſuchen. Unter den Mauern von Balkh kam es zu jener großen Entſcheidungsſchlacht, durch welche den Iraniern die Weltherrſchaft zufiel und Turan nur eine Provinz des aſſyriſchen Welt - reiches ward. Tur war im Kampfe gefallen und ſein Sohn Dewſchin leiſtete als Vaſall dem Minotſcher den Eid der Treue. In welchem Grade ſich die Mamigonier in ihrer neuen Heimat ſpäterhin vermehrt hatten,32Im Ararat-Gebiet.iſt nicht genau bekannt, doch ſcheinen ſie etwa um die Mitte des dritten Jahrhunderts n. Chr. immerhin zahlreich genug geweſen zu ſein, denn als zu dieſer Zeit der armeniſche König Tiridates II. durch den Beiſtand der Römer den Thron ſeiner Väter den Saſſaniden wieder abnahm, ſchlug ſich Mamkon auf die Seite des Königs, wofür er als erblichen Sitz für ſich und ſeine An - hänger daſſelbe Daron erhielt, in welchem ſich bekanntlich die Enkel Haiks und ſpäter die Nachkommen Sarezers und Scham - bads (die erſten Ardzrunier und Bagratiden) niedergelaſſen hatten1Bei Moſ. v. Chor., a. a. O.. Später thaten ſich die Mamigonier ſtets mehr durch Treue, Tapfer - keit und andere Tugenden hervor, wodurch ſie zu einer feſten Stütze des immerdar bedrohten armeniſchen Reiches wurden. Die letzte Erwähnung von ihnen geſchieht im neunten Jahrhundert und zwar in byzantiniſchen Chroniken. Bemerkenswerth iſt, daß der bekannte moderne Geograph der Armenier, Indſchidſchean, in dem Kurdenſtamme Manekzier die letzten Reſte der Mami - gonier erblicken will2Indſchidſchean, Armeniſche Antiquitäten ., wodurch dieſer ariſche Stamm wieder nur in einem anderen ariſchen Stamm aufgegangen wäre

In der älteren Völker-Bewegung Armeniens ſollen auch die Bulgaren eine Rolle geſpielt haben. Die Annahme iſt ziemlich veraltet; gleichwohl bekennt ſich noch der Gelehrte Carl Ritter3Ritter, Erdkunde , X, 589. zu ihr, indem er in dem Namen Wunt (Went), den der Führer der angeblichen Bulgaren geführt haben ſoll, einen Anklang an Wenden (Winden) findet und darin einen Beleg für die ſlaviſche Einwanderung in Armenien erblickt. Das klingt freilich wunder - lich genug vom Standpunkte der modernen Forſchung, die in den Bulgaren bei ihrem erſten hiſtoriſchen Auftreten bekanntlich nichts weniger als Slaven, ſondern einen finniſch-ugriſchen Stamm erkennt. Da die Skythen bekanntlich wiederholt über den Kau - kaſus geſtiegen ſind und den vorder-aſiatiſchen Herrſchern ver - ſchiedener Epochen zu ſchaffen machten, ſo dürfte es ſich wohl um ſolche Elemente in Bezug auf Armenien handeln; von einem Einfluſſe derſelben auf die ethniſche Entwickelung der Armenier kann aber unter ſolchen Umſtänden ſelbſtverſtändlich keine Rede33Zur jüngeren Völkerbewegung.ſein1Viel beachtenswerther erſcheint der, freilich in eine viel ſpätere Zeit fallende Verkehr (die erſten Bulgaren-Einwanderungen ſollen unter Ar - ſaces I., alſo vor Ablauf des zweiten Jahrhunderts v. Chr. ſtattgefunden haben) der Wolga-Bulgaren mit den Bagdader Khalifen. Es war ein langjähriger, geiſtig-religiöſer Verkehr, doch keine Begegnung der Maſſen. Daß dieſer Verkehr über Armenien ging, liegt in der geographiſchen Situation. Ein Sohn des Königs Almus wallfahrtete ſogar über Bagdad nach Mekka, und die ganze Cultur des Bulgarenreiches an der Wolga nahm einen orientaliſchen Charakter an, wie auch ein Geſchichtsſchreiber in demſelben auftauchte, der in arabiſcher Sprache eine Geſchichte der Bulgaren geſchrieben hatte, die leider verloren ging. (R. Rösler, Romä - niſche Studien , 245 u. ff.) Bei Annahme eines zeitweiligen Einſtrömens ſkythiſcher Elemente in Armenien iſt es überdies fraglich, ob es wirkliche Bulgaren, oder chazariſche Tulas und Lugar, oder Burdas, die Ibn Daſta (Rösler, ebenda, 359) als die, nördlich des Kaukaſus wohnenden Völker angibt, waren, die mit den Armeniern in Berührung kamen. Die ſpätere Völkerbewegung zur Zeit der Seldſchuken, Mongolen, Osmanen und Tartaren dürfte kaum weſentlich die armeniſche Population durchſetzt haben, wenngleich die Eigen - thümlichkeit derſelben, Fremdes ſich zu aſſimiliren und die eigene Individualität ausländiſchen Einflüſſen gegenüber wenig zu wahren, in Bezug auf das Osmanenthum nicht ohne Conſequenzen geblieben ſein dürfte. Dies alterirt aber ſelbſtverſtändlich nicht im Geringſten die Thatſache, daß die Armenier ariſchen Stammes ſind und in den erſten Stadien ihrer ethniſchen Entwickelung ſtets nur mit ihnen verwandten Stämmen Blutmiſchungen er - fuhren. Für die ariſche Abſtammung der Armenier ſpricht über - dies auch ihre Sprache2Ueber die armeniſche Sprache exiſtirt eine kleine aber um ſo ge - diegenere und werthvolle Literatur. Die bedeutendſten Arbeiten hierin ſind: Petermann, grammatica linguae armeniacae , Patkanoff, Recher - ches s. l. format. d. l. langue arménienne , Bötticher, Vergleichung der armeniſchen Conſonanten mit denen des Sanskrit , dann Abhandlungen von Lagarde, F. Müller, F. Windiſchmann, Schröder u. A. Die arme - niſche Sprache beſteht (P. de Lagarde, Armeniſche Studien , 208) aus drei Beſtandtheilen, dem Haikaniſchen, dem Arſacidiſchen (Pahlâwi) und dem Saſſanidiſchen. Die letzteren zwei ſind ſelbſtverſtändlich iraniſchen Charakters, aber auch das Haikaniſche gehört der Sprachenfamilie an, deren älteſter Vertreter das Zend iſt. Entſchieden iraniſch in ſeine Laut - lehre, hängt es in ſeinem Wörterbuche mit den Dialekten Griechenlands und dem Slaviſchen zuſammen. Feſtzuſtellen, wie weit dies auch in der Grammatik ſtattfindet, muß weiterer Unterſuchung vorbehalten bleiben..

Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 334Im Ararat-Gebiet.

Zunächſt bewegen ſich alle alt-armeniſchen Sagen im gleichen Rahmen, wie die Helden des perſiſchen Königsbuches, wodurch die geiſtige Verwandtſchaft der Armenier mit den Iraniern als thatſächlich hingeſtellt erſcheint1Neumann, Verſuch einer arm. Literatur , a. a. O.. Der grammatikaliſche Bau der claſſiſchen armeniſchen Sprache, oder des Haikaniſchen, wohl zu unterſcheiden von dem ſogenannten Vulgär-Armeniſchen, welches die heutigen Bewohner Armeniens ſprechen und das mit zahl - reichen türkiſchen und neu-perſiſchen Worten untermiſcht in zwei Haupt-Dialekte, dem weſtlichen und öſtlichen, zerfällt2Von dieſen beiden Dialekten iſt jener, welcher im Oſten Armeniens, im Gebiete von Eriwan geſprochen wird, der weitaus reinere; der andere (im Weſten) aber voll fremder, namentlich türkiſcher Wörter. Am reinſten ſoll indeß das alte Haikiſche von den armeniſchen Coloniſten in Aſtrachan geſprochen werden. Die Sprache der armeniſchen Bewohner am unteren Araxes aber ſoll ein vollkommenes Kauderwälſch ſein., iſt der - ſelbe, welcher den alten ariſchen (indo-germaniſchen) Sprachen eigen iſt. Namentlich die einſilbigen Wortwurzeln deuten darauf hin, daß der Semitismus das Haikaniſche niemals ummodelte, trotz des langjährigen Verkehrs der Armenier mit den Aſſyriern und den eingewanderten coloniſirten Hebräern. Da das Haikaniſche überdies als eine Art todte Sprache zu betrachten iſt, da mit dem Ende der claſſiſchen Literatur (um die Mitte des XIV. Jahr - hunderts) das Rein-Armeniſche nur mehr in den Klöſtern ſeine Pflege fand, ſo war den Sprachforſchern, an der Hand der Ueberlieferungen und Mittheilungen der gelehrten Mechitariſten, die beſte Gelegenheit gegeben, den ariſchen Urſprung des Arme - niſchen endgiltig zu beweiſen, trotz einiger Widerſacher, die, wunderlich genug, aus manchen tartariſchen Elementen derſelben, wobei ſie ſich aber nur an das Neu-Armeniſche hielten, eine Verwandtſchaft mit dem Türkiſch-Tartariſchen herausfinden wollten. Bekanntlich verfügt auch das Neu-Perſiſche über einen ganz an - nehmbaren Wortſchatz aus dem Türkiſchen und Arabiſchen, es würde aber hiebei gleichwohl Niemandem einfallen, die perſiſche Sprache anderswohin zu rangiren, als unter die ariſchen Sprachen, unter die ſie, wie männiglich bekannt, gehört. Im Haikaniſchen finden ſich aber überdies alle jene Worte vor, ſtatt deren heute türkiſche im Gange ſind, ein Beweis mehr, daß die betreffenden35Die armeniſche Sprache. Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.Einwendungen vollends bedeutungslos ſind. Auch hat man ſich daran gehalten, daß im Van-Lande armeniſche Texte in Keil-Inſchriften entdeckt wurden. An dieſer Thatſache iſt nichts zu bemäkeln, doch darf nicht vergeſſen werden, daß erſt Mesrop (im 5. Jahr - hundert) ein eigenes armeniſches Alphabet conſtruirte und bis dahin die Alphabete anderer Nachbarvölker, der Aſſyrier und Perſer, ja ſelbſt jenes der Griechen, in Uebung waren

Ehe wir das Ararat-Gebiet verlaſſen, haben wir noch einer Localität zu gedenken, die uns urplötzlich aus der claſſiſchen Vorepoche Armeniens in die chriſtlich-mittelalterliche und moderne verſetzt. Es iſt dies der Patriarchenſitz zu Etſchmiadſin. Vom oberen Stadttheile Eriwans erblickt man genau im Weſten, in einer Entfernung von etwa vier Meilen, drei eigenthümlich ge - formte Kirchenbauten, welche aus der ſchimmernden Araxes-Ebene emportauchen. Die Silhouetten dieſer drei rieſigen Markſteine auf dem geradlinigen Karawanenwege nach Sardarabad und weiter nach Alexandrapol gleichen, namentlich bei der nicht un - bedeutenden Entfernung, eher egyptiſchen Pyramiden, als chriſt - lichen Tempeln, die ſie thatſächlich vorſtellen. An Ort und Stelle angelangt, ändert ſich freilich das Bild, ſobald man der hohen, im Quadrat gezogenen Umfaſſungsmauern des einen dieſer Tempel, dann der Annexe und Zubauten anſichtig wird und ſchließlich den Blick die, aus wunderlichen Styl-Motiven zuſammengeſetzte Tempel-Façade hinan bis zur altehrwürdigen Kuppel ſchweifen läßt Es iſt der Patriarchendom von Etſchmiadſin, der religiös - politiſche Mittelpunkt Armeniens. Schon mit ſeiner Gründung fallen Ereigniſſe zuſammen, die im unmittelbaren Contacte mit den großen Bewegungen zur Zeit der Partherherrſchaft und ihrer Gegner, der Saſſaniden, ſtehen. Von weit höherem Zauber iſt der Ort freilich noch für den orthodoxen Armenier, in deſſen Seele die Legende von der Erſcheinung des einigen Sohnes nachſchimmert, die einſt der armeniſche Apoſtel und Bekehrer, Gregorios Illuminator, auf der Stelle des heutigen Tempels hatte. Die Kämpfe im Orient, welche der Mehrzahl nach doch nur Glaubenskämpfe oder Racenkriege, ſelten aber rein politiſche Fehden ſind, haben ja mit der Zeit bei den meiſten öſtlichen Völkern ihr politiſches Bewußtſein in dem weit mächtigeren religiöſen aufgehen laſſen, und ſo glänzen in den Annalen3*36Im Ararat-Gebiet.Etſchmiadſins vor Allem die religiöſen und rein kirchlichen Tra - ditionen.

Als Rußland in Folge des Friedens von Turkmantſchai (1827) in den Beſitz des Khanats Eriwan trat und ſo ſich die Provinz Ruſſiſch-Armenien ſchuf, war es ihm vielleicht ebenſoſehr um den Beſitz des im Uebrigen nicht abſonderlich großen Landſtriches zu thun, als um den Patriarchenſitz Etſchmiadſin, dem eigentlichen geiſtigen Machtcentrum Groß-Armeniens. Unmittelbar nach dem Concile vor Khalkedon (dem heutigen Kadiköi bei Conſtantinopel), durch welches in der armeniſchen Kirche das bekannte Schisma platzgriff, erwählen die papiſtiſchen Armenier das ferne Sis bei Tarſus (in Cilicien) zu ihrem Patriarchenſitze, indeß der grego - rianiſche Katholikus, einfach nur auf die Sublimität des Ortes Etſchmiadſin (i. e.: Descensus) ſich ſtützend, ſeine Herrſchaft hier zu begründen ſtrebte1Hermann, Das ruſſiſche Armenien , 18 u. ff.. Rußland rechnete demnach hier nicht blos auf das Alter einer mächtig eingewurzelten Tradition, ſondern auch, und das vielleicht in weit höherem Grade, auf die unge - ſchwächte Anziehungskraft, die der Patriarchenſitz unter allen Umſtänden auf die Gläubigen in den türkiſchen Gebieten ausüben mußte. Etſchmiadſin iſt und war ja immer ein religiöſer Mittel - punkt, ein Hort des Glaubens (wie das päpſtliche Rom), das Heim asketiſchen Mönchthums und ſtumpfſinniger Abgötterei, das Wanderziel zahlloſer Ekſtatiker durch alle Jahrhunderte2Die Verhältniſſe waren hier gleichwohl noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wenig erfreuliche. Die regierenden Patriarchen waren voll Neid, falſchem Ehrgeiz und Habſucht und miſchten ſich mit ihren Episkopen allenthalben in die weltlichen Händel des benachbarten türkiſchen und des eigenen, damals noch perſiſchen Reiches. Auch blieb der Einfluß derſelben auf die armeniſchen Bewohner, die in Armuth und Unwiſſenheit verkommen waren, ein vollends unbedeutender. Für die Rohheit der damaligen Sitten ſpricht überdies der Umſtand, daß man Gäſte nicht beſſer, als durch kirchlich eingeweihte Stiergefechte zu ehren wußte. (Vgl. Tavernier, Six Voy. etc., und Chardin, Voy. en Perse, bei Ritter, Erdk. X, 517.). Auf die urſprüngliche Bedrückung von Seite andersgläubiger Be - herrſcher folgte eine Periode des Glanzes. Der Patriarch reſidirte in ſeinem ummauerten Kloſter, wie jeder andere morgenländiſche Autokrat, mitunter nicht ohne despotiſche Härte, immer aber mit37Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.dem Bewußtſein und der Macht eines unfehlbaren Ausübers göttlichen Rechtes und göttlichen Willens. In jener Zeit, die noch in die letzten abgelaufenen Jahrzehnte fällt, hatte ein Beſuch des arme - niſchen Kirchenhauptes ſtets das Gepräge einer officiellen Audienz, wobei jener, auf ſeinem ſchimmernden Throne ſitzend, von zahl - loſen aſſiſtirenden Episkopen und Mönchen, die vor ihm das Kniee beugten, umgeben war1Macintoſh bei K. Koch, Die kaukaſ. Länder , 274..

An Etſchmiadſin und St. Gregorios, der in hohem Greiſenalter in Erzingian (weſtwärts von Erzerum in Hoch-Armenien) ſtarb und dortſelbſt auch ſein Grab gefunden hatte (in einer der natürlichen Katakomben des Sepuh-Berges), knüpfte ſich eine der bewegteſten Epochen der Geſchichte Armeniens. Als die Parthermacht in Vorder-Aſien gebrochen war und eine neue Dynaſtie ſich des per - ſiſchen Thrones bemächtigt hatte, tauchte in Armenien plötzlich ein thatendurſtiger Arſaciden-Sprößling, Prinz Khosrew, auf, der ſofort gegen den Stifter der neuen Saſſaniden-Dynaſtie, Ardeſchir-Babakhan, ins Feld rückte. Es war das letzte Auf - flackern der alt-armeniſchen Unabhängigkeit. Leider ward der Untergang des Arſaciden-Hauſes durch einen ganz gewöhnlichen Meuchelmord ſehr unrühmlich herbeigeführt, denn Anag, ein an - derer Arſacidenprinz und Schützling Ardeſchirs, trat als Partei - gänger für die Saſſaniden auf und half mit dieſen das frühere Königshaus ausrotten, ohne zu bedenken, daß er in ſeinem eigenen Fleiſch und Blute wühlte2St. Martin, Mém. s. l’Arm. , I, a. a. O.. Aus dieſem allgemeinen Blutbade vermochten die armeniſchen Parteigänger nur die beiden Kinder Khosrews, Tiridat und ſeine Schweſter Khosrewi-Tukht (wörtlich: Khosrews Tochter) zu retten, welche ſo raſch wie möglich nach Rom gebracht wurden. Dreißig Jahre währte der Aufenthalt Tiridats in der Weltſtadt am Tiber, dann kehrte er, wie ſchon oben berichtet wurde, nicht unerheblich von Seite der Römer unterſtützt, in ſeine Heimat zurück, um die Saſſaniden zu ver - treiben und den Thron ſeiner Väter wieder in Beſitz zu nehmen.

Erſt von Dertad-Medz (das iſt Tiridates II. ) werden größere Thaten gemeldet und in der armeniſchen Geſchichte wird ſeiner38Im Ararat-Gebiet.immer nur rühmlichſt Erwähnung gethan1In ſeine Regierungszeit (259 314 n. Chr.) fällt das active Auf - treten der oben erwähnten Mamigonier.. Er brach zunächſt die Fremdherrſchaft im ſüdlichen Armenien, indem er die dort regierenden Statthalter zu einer gemeinſamen Action gegen den Saſſaniden-König Schahpur II. gewann. Später brachte er, nach einem Beſuche in Rom, römiſche Hilfstruppen, mittels derer er bald ganz Armenien an ſich riß, die Einfälle der Kaukaſus - Völker zurückwies und ſchließlich ſelbſt in perſiſches Gebiet ein - brach. So waren die Thaten dieſes Königs, der an der Schwelle des heidniſchen und chriſtlichen Armeniens ſtand, ohne Zweifel ſehr bedeutende. Einer der intereſſanteſten Zwiſchenfälle ſpielte ſich aber gegen Schluß der Regierungszeit Tiridates II. ab Wir haben oben des Apoſtaten Anag gedacht, deſſen Beihilfe Ardeſchir ſo ziemlich alle Erfolge in Armenien zu verdanken hatte. Leider ſollte dieſer Arſacidenprinz der Früchte ſeines Verrathes nicht theilhaftig werden, denn er wurde nach gut altaſiatiſcher Sitte unmittelbar nach Ausrottung der armeniſchen Dynaſtie gleichfalls mit ſeinem Anhange niedergemacht. Wie dort bei Khosrew, war es auch hier, daß ein Sohn dem Maſſacre ent - ging. Er ward nach Cäſarea in Cappadocien gebracht und unter Chriſten auferzogen. Dieſer Sprößling Anags war nun Niemand geringerer als Gregorios, der nachmalige armeniſche Apoſtel und Bekehrer des Tiridates, dem größten heidniſchen und erſten chriſtlichen Könige der Armenier. So raſch und leicht ſollte indeß dem Apoſtel die Aufgabe keineswegs gemacht werden, das ſcheint durch geſchichtliche Belege erwieſen; die Legende hat freilich des Wunderlichen und Wunderbaren genug hinzugefügt, und noch heute zeigt man zu Khorwirab in der Araxes-Ebene einen trockenen Brunnen, in welchem Gregorios über 13 Jahre geſchmachtet haben ſoll2Dubois, Voy. III, 481.. Tiridates, der durch ſeinen langen Aufenthalt in Rom und durch ſeine unausgeſetzten Verbindungen mit dem Welt - reiche ganz naturaliſirter Römer geworden war, that es dem er - lauchten Cäſaren auch im Punkte der Grauſamkeiten gegen Anders - gläubige, namentlich gegen Chriſten, in allen Stücken nach. Da - mals wüthete am Tiber eben der größte Chriſtenfreſſer aller39Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.Zeiten, Diocletian, und um einem barbariſchen Schickſale zu entgehen, flüchtete eine Jungfrau aus prinzlichem Geblüte, Hrip - ſime, aus Latium nach Armenien, dem damaligen Horte der Chriſtenheit1Moſ. v. Chor.. Es galt dies ſelbſtverſtändlich nur vom weſtlichen, von Tiridates Herrſchaft wenig fühlenden Theile des Landes (Klein-Armenien oder Sebaſta Siwas und Cappadocien). Hripſime ſuchte aber unvorſichtiger Weiſe ihr Aſyl in der heid - niſchen Stadt Vagharſchabad, die ſich auf derſelben Stelle befand, auf der ſich heute Etſchmiadſin erhebt. Als ſie eines Tages ihre Bekehrungsverſuche auch auf den König erſtreckte, wurde ſie mit ſammt ihren Gefährtinnen ergriffen und geſteinigt. Es war die letzte chriſtenfeindliche That Tiridates; kurz nach dem Martyrium der Römerin ließ er ſich durch Gregorios, dem Sohne Anags, des verruchten Mörders von Tiridates Vater Khosrew, bekehren, und er empfing mit ſeinem ganzen Heere in Alaſchgerd, dem heutigen Toprak-Kaleh, die Taufe2Moſ. v. Chorene, III. Nach Strabo (XI) am Fuße des Berges Nebad, der von mancher Seite als mit dem Maſius oder Ararat identiſch angeſehen wird. (Vgl. St. Martin, a. a. O.). Die erſte Gründung Tiri - dates, der nun den lateiniſirten Namen ablegte und den arme - niſchen (Dertad-Medz) annahm, war die Kirche von Surp-Ohannes, dem heutigen Utſch-Kiliſſa zwiſchen Diadin und Karakiliſſa3Daß bald hierauf die Zerſtörung ſämmtlicher heidniſchen Tempel, die einer verderbten Zoroaſterlehre dienten, im großartigſten Style in Angriff genommen wurde, dafür dürfte Gregorios Uebereifer allenthalben Sorge getragen haben. Es waren dies die Tempel des Aramadz (Ormudz), der Anahid (Artemis) und der Mihr; dann die der ſarmatiſch-nordiſchen Gottheiten Parſham und Nanu, welche in den armeniſchen Götterhimmel hereinragen, und ſchließlich die Cultusſtätten des indiſchen Gottes Keſane.. Dieſe Gründung fällt in das Jahr 306, alſo in dieſelbe Zeit, wie jene Etſchmiadſins, das Dertad damals freilich in ganz anderer Geſtalt, als es ſich heute dem Beſucher darſtellt, dem erſten Biſchofe und Patriarchen von Armenien, Gregorios Illuminator, erbauen ließ und zum Sitze anwies.

Als Dertad ſein ruhmreiches Leben abgeſchloſſen hatte, wurde die armeniſche Königsreſidenz von Vagharſchabad4Angeblich ſchon um das Jahr 600 v. Chr. durch einen König Vardſche gegründet, hat ſie gleichwohl erſt unter Vagharſch oder Valar - nach Ani40Im Ararat-Gebiet.verlegt und der Sitz des Patriarchen hundert Jahre nach Gregors Tod von Etſchmiadſin nach Towin1St. Martin, a. a. O. bei Artaxata (drei Meilen ſüdöſtlich von Eriwan), wo die altersgraue Silhouette noch heute von mäßig hohem Berghange in das fruchtbare Araxesthal hinab - blickt. Hier verblieben die armeniſchen Patriarchen bis ins achte Jahrhundert hinein, wo die Epoche ihrer ſchwerſten Bedrängniß hereinbrach und nahezu bis zum Ausgange des Mittelalters währte. Zur Zeit als der Seldſchukide Alp-Arzlan dem armeniſchen Reiche ein Ende gemacht hatte, befand ſich der Patriarchenſitz wieder in Etſchmiadſin, wo über den heiligen Stätten ſich im Laufe der Zeit ſtets größere Zu - und Neubauten erhoben. Neben der Urkirche, die dem Nationalpatron geweiht iſt, erhebt ſich auf der Stätte der einſtigen Arſaciden-Capitale die Kirche Hrip - ſime, ein Denkmal an das Martyrium der römiſchen Chriſtinnen, zu welchem Dertad, zur Sühne, ſelbſt den Grundſtein legte; die dritte heilige Stätte iſt das Kloſter Gaiane2Vgl. Parrot, Reiſen , I, 82 u. ff. Umſchimmert von einer ſchweren Menge hochgehaltener Traditionen, die ab und zu in legendaren Kundgebungen verdämmern und ſo den Reiz des Glaubenshortes nur noch erhöhen, bietet Etſchmiadſin heute zwar nicht mehr das poetiſche Bild eines den Stürmen der Zeit und feindlichen Barbaren trotzenden Aſyls, auch nicht das eines außergewöhnlichen Glanzes, wie noch vor wenigen Decennien, ſondern es bildet vielmehr den religiös-politiſchen Central - und Kryſtalliſationspunkt Armeniens. Daß demjenigen, der die Ober - hoheitsrechte über Etſchmiadſin ausübt, auch die kirchliche Supre - matie und die politiſche Sympathie in ganz Armenien geſichert ſei, hat Rußland weit raſcher noch begriffen, als der kluge Schah Abbas, der den Mönchsſitz bei Eriwan mit allen denkbaren Vor - rechten ausſtattete und ſogar jeden ſeiner Verfolger, der ſie künftighin ſchmälern wollte, mit Fluch bedrohte.

Wie der Tempel des heiligen Gregorios heute zu Etſchmiadſin daſteht, läßt er kaum mehr ſein Alter in architektoniſcher Hin -4ſaces, als erſte Reſidenz der Arſaciden ihre eigentliche Bedeutung erhalten. Sie blieb bis unter Arſaces III. (um 354 n. Chr.) Reſidenz der Könige aus dieſem Hauſe, worauf ſie der Zerſtörungswuth des Saſſaniden Schah - pur II. zum Opfer fiel.41Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.ſicht erkennen. Nur der Grundplan erinnert an den griechiſchen Bauſtyl und hiemit iſt auch der Fühlungspunkt mit dem Gründer, König Tiridates II., gefunden, der in ſeiner Bauluſt nur antike Formen, wie er ſie in Rom und in Griechenland kennen gelernt hatte, zur Geltung kommen laſſen wollte. Die Hauptmaſſe der Kirche iſt übrigens vollkommen armeniſchen Styls, nebenbei mit Vorſprüngen, Hallen und Thürmen in unregelmäßiger An - ordnung verſehen; eine Art der Schmälerung des urſprünglichen Styltypus, die man auch an der Aja Sofia zu ſtudiren, oder beſſer: zu beklagen Gelegenheit findet. Ueber der Herzmitte des gleicharmigen Kreuzes, das nach vier Weltrichtungen ebenſoviele Schiffe bildet, ruht auf vier gewaltigen Pfeilern die uralte Kuppel. Unter dieſer erhebt ſich der Hauptaltar mit Alabaſterſäulen aus Tabris, wunderbar hervorleuchtend aus dem matthellen Raume, den die gewaltigen Porphyrwände einſchließen1Anſicht bei Dubois, Voy. III, pl. VII VIII, und bei Parrot, Reiſen , I, 87.. In dem über - mäßigen Detail aller äußeren und inneren architektoniſchen Aus - ſchmückungen, Zuthaten und Ornamenten iſt immerhin das typiſche Gepräge des armeniſchen Bauſtyles gewahrt, wenngleich dieſelben aus den verſchiedenſten Epochen herrühren. Nur ein Denkmal, dieſem Lande völlig fremden Bauſtyles, hat ſich in ſpärlichen, immerhin aber noch genug intereſſanten Reſten erhalten, der joniſche Prachtpalaſt2Dubois, ebd., den Tiridates für ſeine Schweſter zu Kharnei (etwas über zwei Meilen ſüdöſtlich von Eriwan) erbauen hat laſſen. Dort erheben ſich die Trümmer des, durch eines der furchtbaren Erdbeben, welche früher häufig den Ararat-Bezirk heimſuchten, zerſtörten Baues an den Steilhängen einer kleinen Schlucht, am Fuße des bei 12,000 Fuß hohen Ala-Dagh. Die Perſer nennen die Ruine auch heute noch Takth Dertad ( Thron des Dertad ), ein Beweis, wie mächtig auch bei den anders - gläubigen Nachbarvölkern die alt-armeniſchen Geſchehniſſe nach - geklungen haben.

Um Etſchmiadſin ſelbſt breitet ſich ein Theil jenes frucht - reichen Tafellandes, das der Araxes durchſtrömt. In dem alt - ehrwürdigen Kloſtergarten ſtehen auch die unförmlichen Sarko -42Im Ararat-Gebiet.phage zahlreicher Patriarchen, die in den Jahrhunderten der Be - drängniß von dieſer öſtlichſten Warte des Chriſtenthums aus, die Horden der aſiatiſchen Eroberer vorüberſtürmen ſahen. Min - der intereſſant ſind die beiden anderen Tempel, Sancta Gaiane und Hripſime, von denen der erſtere die leere Gruft der Mär - tyrin enthält. In dem nahen Dorfe Vagharſchabad hat ſich, wie man ſieht, der Name der alten Capitale erhalten, aber der Ort iſt heute durch nichts anderes berühmt, als durch den vor - züglichen Wein, der auf den ſüdwärts gekehrten Gebirgsterraſſen gedeiht. Dieſer Theil Armeniens war eben immerdar, ſelbſt unter der Herrſchaft der Perſer, die ja durch Hafiz das mos - lemiſche Gebot der Enthaltſamkeit einigermaßen zu umgehen gelernt hatten, ein hervorragendes Weinland, und die Armenier von Naſchitſchewan ſind beiſpielsweiſe nicht wenig von der vermeint - lichen Thatſache erbaut, daß ſie in dieſelbe Erde ihre Reben pflanzen, die ſchon dem Altvater Noah das köſtliche Gewächs gedeihen ließ. Der gute Tropfen, die altersgrauen Kirchen - bauten von Etſchmiatſin und einige hundert alte Manuſcripte in Mesrops hieroglyphenartiger Schrift, welche in der Kloſterbiblio - thek gehütet werden, ſcheinen ſonach das einzige Erbe zu ſein, das Alt-Armenien dem lebenden Geſchlechte hinterlaſſen hat.

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II. Hoch-Armenien.

Von Kars nach Erzerum. Die armeniſche Capitale und ihre geſchicht - liche Vergangenheit. Die Plaſtik Hoch-Armeniens. Erzingian und der heilige Berg . Die ältere Literatur der Armenier.

Vom Caſtellberge der Feſtung Kars fällt der Blick mit der Ausſchau gegen Süden vorerſt auf das armeniſche Viertel. In den vorangegangenen Kriegen durch die ruſſiſchen Sturmangriffe am meiſten hergenommen, lag es ſeit Jahrzehnten nahezu voll - ſtändig in Ruinen und nur die Hauptrichtung des winkeligen Gaſſennetzes iſt hin und wieder durch ein renovirtes, aus dunklen Baſaltblöcken aufgeführtes Haus markirt. Ueber die baufällige Brücke und durch die elend gepflaſterten, furchtbar engen Straßen ziehen noch immer die Karawanen weſtwärts nach Erzerum. Mit einem letzten Blick auf die kahlen nordwärts vorliegenden Höhen verläßt der Wanderer die einſt ſo blühende Ebene, denn bald nimmt ihn das enge, vielfach gewundene Felsdefilé auf, welches der Fluß von Kars durch die quervorliegende Gebirgs - kette geriſſen. Dieſe Felſenpforte wurde bisher noch immer von den Eroberern des Oſtens zu ihrem weiteren Vordringen benützt; ſie iſt auch nur eine Stunde lang, und jenſeits nimmt das ſo - genannte mittlere Karsbecken ſeine Ausdehnung. Von den nörd - lichen Vorhöhen iſt der Blick da hinab immerhin lohnend, wenn - gleich die einſtige Ueppigkeit und Wohlhabenheit1Vgl. Ker Porter, Trav., II, 652 u. ff. (1819). der Ebene44Hoch-Armenien.nur mehr wie eine Fabel klingt und das Auge mehr Ruinen wie Wohnſtätten wahrnimmt. Das Charakteriſtiſche der arme - niſchen Tafelländer, die Baumloſigkeit, wird im Uebrigen hier einigermaßen durch die grünen Matten paralyſirt, die ſich allent - halben die Lehnen hinanziehen, aber wo der Fels zu Tage tritt, iſt er ſtets verwitterter Säulenbaſalt, der hin und wieder den graſigen Boden durchſetzt, bis mit dem Vordringen in das Quell - becken des Kars-Fluſſes auch hier wieder die Großartigkeit der armeniſchen Gebirgsnatur in ihre Rechte tritt. Schon die vielen ſeitlichen Einblicke in die Schluchten, aus denen Nebenbäche in ſprudelnden Cascaden dem Fluſſe zuſtrömen, ermangeln nicht einigen Reizes, bald aber geht es die Vorhöhen des Soghanly - Gebirges hinan, und zwiſchen den engen, immer gewaltiger himmel - wärts ſtrebenden Baſaltwänden donnern die Echos des nieder - toſenden Bergwaſſers.

Das iſt das eigentliche Defilé des Karsfluſſes den Soghanly hinan. Ab und zu dräuet ein altes Gemäuer, die Reſte einer längſt verfallenen Burg auf hoher Felsſtirne, umrahmt von Pinienhainen1W. Ouſeley, Trav., III. , ſonſt iſts ſtille in dieſer Gebirgswildniß, wenn gerade keine kurdiſchen Wegelagerer an der Karawanenſtraße liegen. Der vielhundertjährige Verkehr auf dieſem Wege zwiſchen dem öſtlichen Armenien und den weſtlichen Eufratländern hat es nicht dazu gebracht, auch nur den blaſſen Schatten irgend eines Culturanlaufes zu ſchaffen, ja es muß nachgerade überraſchen, daß die ſinnloſe türkiſche Wirthſchaft2Vgl. W. Hamilton, Asia minor , I, a. a. O. wenigſtens dieſe Höhen nicht ganz ihres Baumſchmuckes beraubt hat und das Auge ſich an Pinienkronen und anderem Nadelholz zu laben vermag. So wird der Rundblick mit dem weiteren Anſtieg auch begreiflicher - weiſe von Schritt zu Schritt romantiſcher. Der gewundene Pfad hebt ſich mehr und mehr aus der anfänglich tief einge - ſchnittenen Thalſchlucht; ausgedehnte Hochmatten unterbrechen die Beſtände und von dem breiten Rücken des Soghanly-Gebirges, der der Hauptſache nach in nördlicher Richtung verläuft, fällt der Blick in die Thalſchluchten von Meſchingert, an denen vorbei ſich im weitläufigen Becken der Araxes windet. Auch auf dieſer45Von Kars nach Erzerum.Seite ſind die Schneeberge, welche auf allen Seiten das groß - artige Panorama umſchließen, die Schlupfwinkel berüchtigter Kurdentribus, und ihre Thaten haben dem finſteren Baſaltſockel, der in die enge Schlucht von Meſchingert hinabblickt, den Namen Blutberg verſchafft. Weit berüchtigter waren ſie noch höher, am Wurzelſtocke des Soghanly. Dort führt ein zweiter Paßweg längs der terraſſenartig anſteigenden Randketten des Tſchoruk - Syſtems, jede Terraſſe mehr oder minder dicht bewaldet und ſcheinbar getragen von zutageliegenden gewaltigen Baſaltſäulen, welche aus den auſſtarrenden Felswänden hervorwachſen. Auf dieſer Scheitelhöhe des Gebirges liegt Bardez, mitten in einem natürlichen Säulenwalde, ein Naturwunder, das zu ſehen bisher. nur einzelnen Forſchungsreiſenden vergönnt war1Ebd. I, 207 u. ff.. Der Gebirgs - wall, welcher nordwärts vorliegt, überbietet ſelbſt im Vergleiche zu den übrigen armeniſchen Hochlandſchaften, Alles an urſprüng - licher Wildheit und Großartigkeit. Es bedarf mehrerer Tagreiſen, um ihn zu überſchreiten und thalab des Bardez-Fluſſes in die Tſchoruk-Landſchaften bei Petrakretz zu gelangen. Der Weg aber, an dem wir feſthalten wollen, führt ſüdwärts über ausgebreitete Alpentriften, im Frühling geſchmückt mit dem ſchönſten Blüthen - flor, dann durch eine ſchroffe Schlucht in ſüdweſtlicher Richtung, an einer verfallenen Burg vorüber bis Choraſſan, wo jener andere Weg über Meſchingert und an dem Blutberg vorbei einmündet. Jene verfallene Burg Kör-Oghlu-Kaleſſi war einſt der Sitz des berüchtigtſten aller kurdiſchen Räuber-Chefs, des Kör-Oghlus, des Rinaldini Armeniens, von deſſen angeblichen Heldenthaten noch heute Jedermann zwiſchen Erzerum und Tabris zu berichten weiß. Das Merkwürdige hiebei iſt, daß Kör-Oghlu nicht ohne dichteriſches Talent war und all die verſchiedenen Rhapſodien eines verwegenen Räuberlebens ihn zum Verfaſſer haben2Karl Koch, Die kaukaſiſchen Länder , Note S. 201..

Mit dem Eintritte in das Aras-Becken erhält die Landſchaft bald wieder ihr früheres einförmiges Gepräge. Die ebenen Graſungen nehmen überhand in dem Maße, als die Beſtände abnehmen und dies namentlich von dem Dorfe Köprüköj (Brücken - dorf) ab. Der Ort iſt weniger ſeiner ſiebenbogigen Brücke halber,46Hoch-Armenien.welche hier den ziemlich breiten Araxes überſpannt1Tſchöban-Köprü, d. i. die Hirtenbrücke , auf den Karten., erwähnens - werth, als vielmehr in Rückſicht ſeiner Lage an zwei ſehr wich - tigen Communicationen. Von hier führt nämlich der einzige practicable Weg über die Randketten des öſtlichen Eufratbeckens an Toprak-Kaleh vorüber nach Bajazid2Toprak-Kaleh liegt etwa zwei Meilen des eigentlichen Weges, der ſich weſtlich des größeren armeniſchen Dorfes Mulla-Suleiman in zwei Gebirgswege gabelt. Der ſüdliche, identiſch mit dem herkömmlichen, uralten Karawanenweg Erzerum-Bajazid-Tabris zieht über Daghar durch das wildromantiſche Felſenthor von Kara-Derbend, ein Defilé von gewaltigen Baſaltwänden und Klippen gebildet, dann weiter über graſige Lehnen der ſüdlichen Araxes-Thalſeite nach Köprüköj, dem oben genannten Vereinigungs - punkte mit der Karſer Straße. Der zweite Paßweg ſetzt nur drei Stunden nördlich von Kara-Derbend über das Köſch-Gebirge und iſt weitaus be - ſchwerlicher. Auf ſeiner kahlen Scheitelhöhe, zu der man durch unwegſame Geröllſchluchten gelangt, liegt noch bis Ende Juni der Schnee und ſelbſt auf den jenſeitigen Lehnen ſaftige Weiden mit ſpärlicher Baum-Vege - tation beginnt erſt im Juni das Frühjahr und knospen erſt in dieſem Monat die Weiden und Platanen, welche bei dem Dorfe Deli-Baba ange - troffen werden. Im Allgemeinen ſind beide Paßpaſſagen nur elende Saumwege, der ſüdliche, durch das Felſenthor Kara-Derbend, aber immer - hin für Laſtthiere gangbar, nicht aber für Fuhrwerke und ſei es auch der elendeſte Karren. (Vgl. J. Brant, Journey etc., dann auch bei Eli Smith, Miss. res.), und ſchon einmal haben ſich hier die ruſſiſchen Colonnen (1828), welche auf ihren concentriſchen Angriffslinien ins Herz Armeniens, Erzerum, ein - drangen, vereinigt, um die letzte Schranke deſſelben, das relativ nur 800 Fuß hohe Dewe-Bojun-Gebirge im Weſten zu über - ſchreiten.

Wir gelangen dahin, wenn wir die Wanderung thalaufwärts des Araxes verfolgen. Unmittelbar hinter Köprüköj taucht der Blick ſüdwärts in die raſch anſteigende felſige Thalſchlucht, in die der eigentliche Quellarm des Fluſſes niederbrauſt. Die rie - ſigen Gipfel-Höhen des Tauſend-Seen-Gebirges , das noch kein Europäer erklommen, bergen ſeine Quellen. Nach dieſer Richtung erblickt man auch einen ſchwach markirten Paßeinſchnitt in der, nahezu 21 Meilen langen, ungegliederten Gebirgsmauer, die einzig mögliche Paſſage zwiſchen dem Araxes - und Van-Becken. Es ſoll dies jener Paß ſein, den Xenophon und ſeine 10,00047Von Kars nach Erzerum.Griechen überſchritten, wodurch ſie, aus dem Kharduchenlande kommend, in jenes der Phaſianen (heute Paſin, ſüdlich vom Araxes) gelangten1J. Renell, Illustrations of the hist. of the exped. of Cyrus etc., 213.. Hat man einmal dies Gebiet hinter ſich, ſo geht es über graſige Ebenen weiter, an einzelnen armſeligen Dörfern einſt armeniſch, zuletzt kurdiſch zwiſchen Roſen - hecken vorüber, bis die altersgraue Silhouette einer Fortification in Sicht gelangt. Es iſt das Caſtell von Haſſan-Kaleh, dem einſtigen Schlüſſel von Erzerum.

Außer Zwergweiden unterbricht kein Baum und kein Ge - ſträuch die weiten graſigen Ebenen um die alte Genueſen-Veſte , als welche die Burg Haſſans angeſehen wird. Solcher Dſchiniwiz - Khaleſſilar, Burgen der Genueſen, gibt es Hunderte an der Pontusküſte, im Innern Anatoliens und Armeniens, wenngleich in Wirklichkeit nur die wenigſten von dem einſtigen weitberühmten Handelsvolke Liguriens herrühren, aber die osmaniſche Tradition will es nun einmal ſo, trotz der innern ſchwachen Logik in der Annahme, daß die ſeefahrenden Genueſen im Innern Vorder - Aſiens mauerumgürtete Colonialſtätten beſeſſen haben ſollen2Hamilton, der ſich zwar nicht unmittelbar dagegen ausſpricht, kann dennoch nicht umhin, andere, als Genueſen-Bauten geltende Denkmale für ſaraceniſche zu halten, wie zu Baiburt, Ispir u. a. O. (Vgl. deſſen Asia minor I, 185.). Einſt war Haſſan-Kaleh der Sitz der Begler-Begs von Anatolien3J. Brant, Not., 341., ein Beweis, daß die Stadt, die heute vollends bedeutungslos iſt, noch zur Zeit der Türkenherrſchaft mindeſtens gleichen Rang mit Erzerum hatte. Das alte Caſtell liegt auf einem Sporn eines, vom Hauptzuge des Karatſchli iſolirten Gebirgsriegels 1600 Fuß hoch über der Ebene und der, von verfallenen Wallmauern umzogenen Stadt. Dieſe ſelbſt ſtößt mit ihren beiden Enden an die Felsſtirne, auf deren Höhe die Burg Haſſans thront. Dieſe ſelbſt bildet, im Norden von grünen Weidehöhen umgeben, ein Rechteck mit Seiten zu 150 und 50 Metern, doppelter Um - mauerung und Thürmen, denen die kleine, amphitheatraliſch ge - legene Stadt, aus Stein oder Backſtein erbaut, mit Holzbalkons, gegen Süden vorliegt. Die Feſte wird mit ihren ſenkrechten Abſtürzen durch hohe Bergrücken gedeckt, aber leider auch durch48Hoch-Armenien.dieſe dominirt, wodurch ihre, die Stadt beherrſchende Lage einiger - maßen paralyſirt wird Im ruſſiſch-türkiſchen Kriege 1828 bis 1829 hatten die Türken Haſſan-Kaleh ganz unbeſetzt gelaſſen, und ſo ging der Platz am 23. Juni 1829 ohne Schwertſtreich in den Beſitz der Ruſſen über, die ſich ſogleich in dieſem wichtigſten Punkte der Erzerum-Bajazider Straße feſtſetzten und Anſtalten trafen, ſeine Widerſtandskraft zu erhöhen1ſ. R. Chesney, Die ruſſiſch-türkiſchen Feldzüge 1828 1829 , 191.. Als ſpäter dann die Ruſſen bei ihrem Abzuge aus Armenien die Befeſtigungen ſprengten und zum großen Theile zerſtörten, ſcheint man tür - kiſcherſeits keine Anſtalten mehr getroffen zu haben, ſie wieder in einen beſſeren Zuſtand zu verſetzen, denn allenthalben wurde Haſſan-Kaleh von den jüngſten Reiſenden nur ſeiner maleriſchen Verwahrloſung halber geprieſen, welche wohl den ſymmetrie - und ordnungsfeindlichen Touriſten, keineswegs aber den Militär zu entzücken vermag. Die armeniſchen Bewohner des Paſin emi - grirten nach den letzten Kriegen allenthalben auf ruſſiſches Gebiet, da ſie, in Folge der zeitweiligen Occupation der Ruſſen, die Revanche von Seite ihrer Bedrücker zu fürchten begannen, und und ſo wurde nahezu die Hälfte der Dörfer um Haſſan-Kaleh derart entvölkert, daß ſeitdem nur Ruinen die weitläufige Ebene bedeckten und die Productionskraft des ertragsreichen Landes vollends erlahmte.

Nur etwas über zwei Meilen weiter weſtlich zieht in nord - ſüdlicher Richtung der Dewe-Bojun (Kameelhals) die Waſſer - ſcheide zwiſchen Eufrat und Aras, und von ſeiner baumloſen Höhe, die, wie ſchon oben erwähnt, das 5700 Fuß hoch liegende Erzerum nur um 800 Fuß überragt, öffnet ſich der Ausblick in das jen - ſeitige weitläufige Becken der armeniſchen Hauptſtadt Das heutige Erzerum iſt eine armſelige, ſehr heruntergekommene Stadt von höchſtens 30,000 Einwohnern. Sie hat einſt Hunderttauſende gehabt und war noch unter osmaniſcher Herrſchaft ein berühmtes Grenzemporium gegen das perſiſche Nachbarreich2Hammer-Purgſtall, Geſch. d. Osmanen , III, 530.. Die platt - dachigen Häuſer, welche äußerſt ſchmale und ſchmutzige Gaſſen bilden, gruppiren ſich auf einer nahezu elliptiſchen Fläche, in deren Mitte auf mäßig hohem Hügel das Caſtell liegt. Nur ein Gebäude,49Erzerum, die armeniſche Capitale.eine uralte Medreſſe aus des Seldſchukiden Melik Schahs Zeit, blieb bis in die jüngſte Zeit bemerkenswerth1Im Jahre 1843 in Folge eines Erdbebens leider zum großen Theile eingeſtürzt. Sie iſt im Jahre 935 n. Chr. erbaut; auf einem Minaret befindet ſich eine Inſchrift, die folgendermaßen lautet: Der Gottesdiener-Sitz iſt hier zu ſchauen; in der Zeit des Khalifats Sultan Malek-Khans, deſſen Geburt Gott ewig dauernd mache, war es, während ich aus Chorasmien einen Zug nach der Stadt Rum (daher Arzrum oder Erzerum) machte, daß in der Zeit, als ich dieſe Gegend erreichte, ich den allergenehmſten Ruheort hatte, daraus kam mir die Luſt, irgend ein Ge - bäude zu errichten ꝛc. .. (Karl Koch, Wanderungen im Orient , II, 283.), alle übrigen nehmen ſich verödet, ruinenhaft aus, mit niederen Thüren und Fenſtern, die Gewehrſchießſcharten nicht unähnlich ſind. Liegt nun vollends der Schnee des Winters, der in dieſer etwas zweifelhaft paradieſiſchen Gegend volle ſechs Monate dauert, auf der Stadt, ſo iſt alles Leben erſtorben und ſelbſt die unmittel - baren Nachbaren ſehen ſich nur nach vielen Wochen wieder ein - mal. Dies gilt namentlich von den Dorfbewohnern, die ſich wie die übrigen Land-Armenier, mitunter auch die Türken und Kurden nicht ausgenommen, in die Erde eingraben und ihre reiz - loſe Exiſtenz in familiärer Gemeinſchaft mit den Hausthieren verbringen. Da auf dreißig Stunden im Umkreiſe kein Wald zu finden iſt und getrockneter Miſt ſomit ausſchließlich als Brenn - material dienen muß, ſo findet man dieſe über alle demokratiſchen Begriffe gehende Gemeinſchaft und Gleichheit immerhin begreiflich, aber es wird auch dem Reiſenden zugemuthet, ſobald er nur ſeinen Fuß in eines dieſer Troglodytenneſter geſetzt hat, denſelben Raum mit ſeinem Gaſtwirthe zu theilen. Dagegen ſich zu wehren, wäre wohl eine ſehr grobe Verletzung der Gaſtfreundſchaft. Die Wohnung des biederen Erzerumer Landmannes iſt eigentlich nichts anderes als ein Stall, und dazu noch ein unterirdiſcher. Licht und Luft ſind hier unbekannte Elemente, Alles athmet den warmen Dunſt, welchen das Vieh transpirirt, und die kleineren Geſchöpfe, wie Schweinchen und Lämmer, genießen überdies eine Art Haus - recht, denn ſie machen ſich in jedem Winkel der Behauſung zu ſchaffen und beſchnüffeln gelegentlich wohl auch den armen Gaſt, dem ſein Wirth Audienz ertheilt hat. Der Raum, in dem derlei ceremoniöſen Zwiſchenfälle ſtattzufinden pflegen, iſt von der eigent -Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 450Hoch-Armenien.lichen Stallung durch einen fadenſcheinigen Kurdenteppich ge - ſchieden. Mobiliar iſt keines vorhanden; die Sitzung findet auf einer Art Minde (Matratze) ſtatt, kaum eine Spanne über dem Boden erhöht, über welchem an der Wand des Hausherren Stolz, ſeine Sättel, Waffen und Geräthe aller Art Parade machen1Curzon, Reiſe von Trapezunt nach Erzerum , a. a. O. (Ueberſ.).

Daß bei ſo trauriger phyſiſcher Exiſtenz auch der moraliſche und intellectuelle Werth der Bewohner nicht all zu hoch anzu - ſchlagen iſt, bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung; die tür - kiſche Wirthſchaft hat aber auch hier Alles noch weit ſchlimmer geſtaltet, als es von Haus aus ohnedies war. Das Loos der Armenier war niemals ein beſſeres, als das der übrigen chriſt - lichen Völker in der Türkei2Als der Hatti Humajun (1856) auch in Armenien publicirt werden ſollte, berief der Paſcha von Erzerum die armeniſchen Erzbiſchöfe zu ſich, um ihnen das Actenſtück mit der Bemerkung zu überreichen, daß ſie im Falle einer Publicirung deſſelben für ihre Köpfe beſorgt ſein müßten. (Vgl. Tſchichatſcheff, Lettres sur la Turquie , 63.) Dafür be - hob derſelbe Paſcha allein an ungeſetzlichen Steuergebühren die enorme Summe von 800,000 Franken jährlich. (A. a. O., 55.). Neueſter Zeit haben es indeß die ruſſiſch-türkiſchen Kriege mit ſich gebracht, daß ein großer Theil der Armenier nach den ruſſiſchen Territorien emigrirte und ſo Armenien ſelbſt allerdings empfindlich entvölkert wurde. Im Grunde war auch das Verbleiben der Armenier in dem bisherigen türkiſchen Theile ihres Stammlandes kaum mehr möglich, erwägt man, wie beiſpiellos raſch der einſt blühende Wohlſtand des Landes unter der ſchrankenloſen Gewaltherrſchaft des Türkenthums zu Grunde ging.

Im Allgemeinen hatten die Armenier ein ähnliches Schickſal wie die Hebräer, und die Zeit hat ſie zum mindeſten über einen großen Theil der alten Welt hin zerſtreut3Vgl. Neumann, Vahrams Chronicle, l. c. p. 25.. Als ſpäterhin das blühende Ani in die Gewalt des Seldſchukiden Alp Arzlan fiel, wurde der noch vorhandene Reſt der Bewohner, die des ganzen umliegenden Landes mit einbegriffen, nach dem nördlichen Perſien abgeführt, um dort coloniſirt zu werden. Damals hatte eine allgemeine Emigration nach den51Erzerum, die armeniſche Capitale.Pontusgeſtaden, in die byzantiniſchen Provinzen und ſogar nach der Krim ſtattgefunden, während gleichzeitig unter dem Schutze der ruſſiſchen Regierung am Don und an der Wolga armeniſche Colonien erſtanden, die bei dem thätigen, umſichtigen Weſen dieſes Volkes noch heute prosperiren. In Folge der Tartaren - Invaſion fand eine noch intenſivere Emigration, hauptſächlich nach Trapezunt und Aſtrachan ſtatt. Aus dieſen Gründen kann es heute nicht mehr befremden, in den Donau-Gegenden, in Süd - Rußland, ja ſelbſt in Polen und Galizien ſo zahlreiche armeniſche Elemente zu treffen. In den folgenden Jahrhunderten hat dieſe Emigration conſtant angehalten1Bekannter iſt die zwangsweiſe Coloniſirung von Neu-Dſchulfa bei Ispahan durch Schah Abbas den Großen, der 1605 die geſammte Bewohnerſchaft von Dſchulfa am Araxes fortſchleppen ließ. Viele gingen zu Grunde, andere ſind reich geworden, verloren aber ihre Habe, als der Afghanenfürſt Mahmud (1721) Ispahan eroberte. Am Caspi-Meer gingen aber noch unter Abbas Regierung von 7000 Coloniſten bis auf 300 Elende, die Bewilligung zur Rückkehr in ihre Heimat erhalten hatten, alle zu Grunde. (Braun, Gemälde , 239.), ihren Höhepunkt aber erreichte ſie mit dem Erſcheinen der Ruſſen jenſeits des Kaukaſus, zumal nach den erſten perſiſchen Kriegen. Nur durch die ausgiebige Unterſtützung der perſiſchen Armenier gelang es den damaligen ruſſiſchen Generalen ſo beiſpiellos raſche Erfolge zu erzielen, und wie bekannt, war es armeniſche Hilfe, welche Eriwan ſo ſchnell in die Hände der Ruſſen brachte. Man hat des öftern den Vorwurf gegen Rußland erhoben, daß es bei der ſpäteren Auswanderung einen gewiſſen Zwang ausgeübt hätte, was ſchon aus dem einfachen Grunde nicht einleuchten will, als viele der Emigranten, welche ihre etwas weitgehenden Hoffnungen nicht erfüllt ſahen, ihre Stammſitze wieder aufſuchten, was ſie in den Augen der ruſſiſchen Regierung begreiflicher Weiſe als Landes - verräther erſcheinen laſſen mußte. Dieſe Emigration erſtreckte ſich weiter auch nur auf die nichtunirten, alſo eigentlich nationalen Armenier, nicht aber auf die katholiſchen, von denen wir heute eine ſo bedeutende Colonie in Conſtantinopel und in anderen levantiniſchen Häfen finden. Die Pforte hatte hiebei die große Unklugheit begangen, mit dem orthodoxen armeniſchen Patriarchat durch Dick und Dünn zu gehen und die katholiſchen Armenier4*52Hoch-Armenien.über Gebühr zu verfolgen. Der uralte Antagonismus zwiſchen Katholiken und Griechen war hiemit vollends entfeſſelt und als nun gar auch amerikaniſche Miſſionäre unter den Gregorianern Propaganda zu machen begannen, fanden die Leiden der Schisma - tiker kein Ende. Sir Stratford Canning bewies der Pforte, daß es ja in ihrem Intereſſe liegen müſſe, wenn die armeniſche Be - völkerung durch derlei rituelle Fragen geſpalten und ſomit ohn - mächtig gemacht werde1Augsb. Allg. Ztg. , Nr. 47 (Beilage) 1877.; aber mit dieſer Wahrheit hatte der engliſche Staatsmann eine ſo ziemlich entgegengeſetzte Wirkung erzielt und wie nie zuvor wurde es den Armeniern klar, daß nur die Betonung ihrer Nationalität, nicht aber jene ihrer rituellen Divergenzen, ſie einer beſſern Zukunft entgegenführen könnte

Wenn je eine Stadt unverdienter Weiſe den Rang einer Provinzial-Hauptſtadt, ja eines ganzen, weit ausgedehnten und an hiſtoriſchen Erinnerungen überreichen Landes erhalten hat, ſo iſt dies mit der armeniſchen Capitale der Fall. Im eigentlichen Groß - oder Hoch-Armenien (Arm.: Partsr Haik) gibt es über - haupt nur zwei größere Plätze von einer bedeutenderen Ver - gangenheit, das öſtliche Erzerum und das weſtliche Erzingian. Von dieſen beiden Emporien, die in nur geringer Entfernung von einander an den Ufern des heiligen, befruchtenden Stromes , des Ewfrat oder Eprat der älteſten Geſchichtstradition, erſtanden und blühten, iſt Erzingian im armeniſchen Sinne die weitaus nationalere, der Urſitz des älteſten armeniſchen Göttercultes und ſpäterhin der Ausgangspunkt jenes chriſtlichen Miſſionswerkes, das zu ſeinem Träger den, geradezu göttlich verehrten armeniſchen National-Patron Gregorios Illuminator hatte. Dieſer ſchon an ſich maßgebenden Thatſache gegenüber erſcheint die ältere wie jüngere Stadtchronik Erzerums dürre und inhaltslos, als wären keine zwei Jahrtauſende an der einſamen Plateauſtadt, ſondern nur wenige Decennien vorübergegangen. Zur Zeit der Blüthe des bagratidiſchen Königthums und vorher noch ſcheint Garin, wie das damalige Erzerum bis zum Ausgang des 5. Jahr - hunderts (u. Z.) hieß, nicht die geringſte Rolle geſpielt zu haben; es geſchieht zum mindeſten von dieſer Capitale unweit der53Zur Geſchichte Erzerums.Eufratquelle in den vergilbteſten armeniſchen Traditionen keinerlei Erwähnung, bis die römiſchen Geſchichtsſchreiber, zumal Dio Caſſius1Hist. Rom. Lib. LXVIII., Trajanus 19. , von ihr die erſte Kunde brachten. Es war indeß eine Nachricht, die für das damalige Emporium mit einer Kataſtrophe gleichbedeutend war. Schon unter Kaiſer Nero wurde der Parther-Prinz Dertad (Tiridates) von Rom aus zum Könige von Armenien, oder richtiger zum Vaſallen Roms ausgerufen, was in der Folge unter den Parthern viel böſes Blut machte, und ſchließlich unter Trajans Regierung zu einer Art Auf - forderung von Seiten des regierenden parthiſchen Großkönigs an den Beherrſcher Armeniens führte, ſeine Truppen außer Land zu bringen und dieſes ihm zu überlaſſen. Das aber konnte Trajan nicht dulden und ſo kam es zum Kriege, der unter den Mauern von Garin (Erzerum) ſein Ende fand. Schon während des Herannahens der Römer entſendete Khosroes, der allen Grund hatte, Trajans Legionen zu fürchten, Boten dem römiſchen Kaiſer entgegen, von denen indeß dieſer ſich nicht beſchwatzen ließ, trotz der überbrachten Verſicherung, Prinz Parthamaſiris werde als treuer Anhänger Roms Armenien im Sinne und nach Wunſch des mächtigen Schutzherrn regieren.

Trajans Legionen erſchienen im Quellbereiche des Eufrat innerhalb der Jahre 114 117 (n. Chr.). Auf ihrem Zuge von Antiochia längs des Eufrat herauf ergaben ſich ſämmtliche feſte Plätze, ohne vorhergegangene Belagerung, wie Dio Caſſius ver - ſichert, und unverſehens tauchte der glückliche Eroberer nördlich der, als unpaſſirbar gehaltenen Eufratpäſſe zwiſchen Melitene (Malatia) und Erzingian auf, die noch heute das weitaus Groß - artigſte ſind, was Hoch-Armenien an Naturwundern beſitzt. Der Ort, wo Trajan ſein Lager aufſchlug, hat ſich ſogar dem Namen nach bis auf den Tag erhalten. Es war Elegia, heute Ilidja2Mannert ( Geogr. d. Gr. und Röm. , V, 240) hält den gleich - namigen Ort bei Melitene für die fragliche Localität dieſes Zwiſchenfalles, was ſchon Ritter (Erdkunde, 10) beſtritten hatte. (auch Eleja), drei Stunden weſtlich vom heutigen Erzerum in ſumpfiger Niederung und an einer antiken Bogenbrücke gelegen, die daſelbſt den Eufrat überſetzt Alsbald hatte Trajan54Hoch-Armenien.den, von den Parthern eingeſetzten König von Armenien, Partha - maſiris, vor ſich geladen, oder beſſer: befohlen. Der König er - ſchien und wie einſt Tiridates vor Nero, ſo legte auch er ſeine Tiara auf die Stufe des Trajaniſchen Thrones, in der Hoffnung, dieſelbe aus des Siegers Hand wieder zurückzuerhalten. Es kam indeß anders. Vielleicht wäre Trajan geneigt geweſen, Gnade und Großmuth zu üben, als aber Parthamaſiris ſeine Huldigung, oder eigentlich ſeine Demüthigung begangen hatte, brach das verſammelte Römerheer in einen frenetiſchen Freuden - jubel aus, worauf der Entkrönte entſetzt die Flucht ergriff. Ein - gebracht und vor Trajan geführt, beſchwerte er ſich, daß man ihn, der ſich freiwillig dem Sieger geſtellt, um aus deſſen Händen die Krone Armeniens zu empfangen, als Gefangenen behandle, worauf Trajan zur Antwort gab, daß er keineswegs die Abſicht habe, dieſe Krone irgend Jemandem zu verleihen, ſondern ſich be - ſtimmt fühle, Armenien in eine Provinz des römiſchen Reiches zu verwandeln. Der argenttäuſchte Parthamaſiris, empört über dieſen Entſchluß, ergriff die Waffen, ward jedoch ſchon im erſten Gefechte erſchlagen.

Dieſer Act iſt zweifellos der intereſſanteſte aus der Geſchichte Erzerums, beziehungsweiſe Garins, der Stadt und dem Emporium, das vorher an der Stelle des nachmaligen Arzen-er-Rum der Araber (daher der heutige Name) geſtanden. Als die Araber in Hoch-Armenien erſchienen, gab es freilich keine Römer mehr, aber es iſt ja allgemein bekannt, daß die Bezeichnung Rum auch auf das byzantiniſche Reich überging, und die Stadt Arzen ſomit eine byzantiniſche Gründung war. Es gab übrigens zwei Städte dieſes Namens, eine weſtliche, deren Lage heute nicht mehr genau bekannt iſt (Erzingian?) und eine öſtliche, das römiſche Grenzemporium, von den Arabern zum Unterſchiede das Arzen der Römer genannt, das unter byzantiniſcher Herrſchaft bis um die Mitte des 11. Jahrhunderts blühte.

Mit dem Einbruche der Seldſchuken unter Alp-Arzlan kam das erſte Unwetter über das Theodoſiopolis der Byzantiner1Hammer-Purgſtall, Geſchichte der Osmanen , I. . Manches Stück der altehrwürdigen Wallmauern, welche zum Theile heute noch in nahezu elliptiſcher Form die Stadt umziehen55Zur Geſchichte Erzerums.und von plumpen Thürmen flankirt werden, waren ſchon damals der Schutz der noch immer blühenden gewerbs - und handels - thätigen Capitale Armeniens. Sie haben den Seldſchukenhorden nicht widerſtanden. Ueber 150,000 Einwohner wurden theils niedergemacht, theils verſprengt, oder zwangsweiſe in Nordperſien und am Araxes coloniſirt, und die Stadt ſelbſt fiel in Ruinen. Bald hierauf (1247) rückten die Mongolen vor die Stadt und verlangten bedingungsloſe Unterwerfung; als aber dieſelbe ver - weigert wurde, erfolgte zum zweitenmale innerhalb zwei Jahr - hunderten deren Erſtürmung und totale Zerſtörung, verbunden mit den furchtbarſten Gräuelthaten gegen die Bewohnerſchaft, gleichviel ob Chriſt oder Mohammedaner Bei dieſer Ge - legenheit ſollen Tauſende der werthvollſten Manuſcripte zu Grunde gegangen ſein, um ſo bedauerlicher, als die armeniſchen Geſchichts - und Cultur-Traditionen bekanntlich an arger Lückenhaftigkeit leiden. Da indeß die Mongolen, wie ſchon einmal bemerkt, dem Chriſtenthume im Allgemeinen minder feindlich entgegentraten, als ſonſtige aſiatiſche Horden, ſo erfolgte kurz nach der Er - ſtürmung Erzerums die Einſetzung eines Biſchofs und der Wiederaufbau der Stadt, die damals zu einer kurzen Blüthe - epoche ſich aufſchwang, bis die Roßſchweife in ihr Einzug hielten und der unhemmbare Niedergang begann. Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts (1735) verheerte ſie noch einmal ein Welt - ſtürmer, Nadir Schah1Unter dieſem Turkmenen-Fürſten wurde ſelbſt eine ſo verkommene Race, wie die damaligen Perſer, unwiderſtehlich. Bezeichnend für ſeine Denkungsart iſt folgender, als hiſtoriſch verbürgter Zwiſchenfall. Als er den perſiſchen Thron beſtiegen hatte, berief er ſofort die Geiſtlichkeit (die ſchiitiſche natürlich), von der er (als Sunite) nichts Gutes erwartete, und befrug ſie, was mit den reichen Landeseinkünften geſchehe. Die Antwort war: zum Unterhalte der Prieſter, der Collegien und Moſcheen, in welch letzteren unausgeſetzt für das Wohl der iraniſchen Herrſcher gebetet werde. Hierauf erwiederte Nadir Schah: Euere Gebete ſind offenbar dem All - mächtigen nicht angenehm, denn das Reich befand ſich ſtets im größten Verfall, wenn euer Stand am meiſten begünſtigt wurde. Es iſt vom Untergange durch meine tapferen Krieger errettet worden und von nun an ſoll nur zu deren Unterhalt euer Reichthum verwendet werden. (Vgl. Malcolm, Geſchichte von Perſien , II, 16; bei Braun, a. a. O., 248.) Nadir war bis tief nach Indien vorgedrungen und hatte aus Delhi den, und vor 49 Jahren zogen die Ruſſen56Hoch-Armenien.unter Paskiewitſch-Eriwanski in Erzerum, dem alten Zankapfel zwiſchen den Tigris - und Araxes-Ländern, ein.

Und die heutige Capitale, beſitzt ſie mehr, als ein hiſtoriſches Intereſſe? Wohl wird ſie der Schlüſſel zu Anatolien genannt und ihre geographiſche Lage iſt in der That derart, daß mit ihrem Beſitze eine gewiſſe politiſche Machtſtellung, zwiſchen Transkaukaſien, Pontus, Kurdiſtan und Anatolien, von nicht blos akademiſchen Werthe zu ſein vermag, doch ſind die räumlichen Verhältniſſe zwiſchen Erzerum und den Nachbar-Provinzen, zumal den weſtlichen und ſüdlichen derart, daß dieſe geographiſch-politiſche Präponderanz immerhin ſtark zu palaryſiren wäre, ſobald den fraglichen Provinzen eigene Kraft und fremder (osmaniſcher) Schutz innewohnten Als Stadt iſt Erzerum niemals früher ſo jämmerlich herabgekommen, als wie unter den Osmanen. Abgeſehen von der allgemeinen Verwahrloſung des Platzes, ward durch ein ungerechtes Gewaltregiment auch das gewerbliche1Beſonders geſchätzt waren früher die Erzerumer Kupfergeſchirre, welche im ganzen Oriente Abſatz und ihren Weg ſelbſt nach Perſien und Indien fanden. Noch vor hundert Jahren widerhallte die ganze Stadt von dem Gehämmer der Keſſelſchmiede, eine Muſik, von der ſich das os - maniſche Ohr längſt entwöhnt hat. und ſocial freiere Leben im Laufe der Zeit vollends abgetödtet. Würde nicht einer der älteſten und noch heute, ob Mangels an jeder anderen Communication, ſtark frequentirter Handelsweg, von der pontiſchen Küſtenſtadt Trapezunt durch die Capitale Armeniens nach Perſien u. ſ. w., gezogen ſein, ſo würde man heute dieſelbe kaum mehr dem Namen nach kennen, wie ſo viele andere einſtigen Emporien im Innern Anatoliens, die man bei uns heute nicht mehr kennt.

Erzerum hat auch ein altes Caſtell, das die Türken Itſch - Kaleh (das innere Schloß ) nennen, in welchem einſt die Beglerbegs von Anatolien im Namen des Padiſchah Goldmünzen prägen ließen und die Tſchorbaſchis von 15,000 Janitſcharen, die jahrein und jahraus in Erzerum lagen, ein - und ausgingen,1berühmten Pfauenthron (jetzt in der Schatzkammer des Sultans zu Stambul) mit ſich fortgeſchleppt. Er wurde ſchließlich von einem ſeiner Offiziere in ſeinem eigenen Zelte (in Sedjeſtan) ermordet, als man erfuhr, er wolle alle Perſer in ſeinem Heere umbringen laſſen.57Erzerums alte Baureſte. Hoch-Armenien. ihren Tribut abzuliefern. Das klingt wunderlich genug, iſt aber eine Thatſache. Jedermann, der Janitſchar werden wollte, hatte eine gewiſſe, vorher vom Beglerbeg normirte Summe dem Stellvertreter des Padiſchah abzuliefern, wonach es ihm unbe - nommen blieb, ſich ſeine Einkünfte auf immer welche Art, durch Erpreſſung, willkürlichen Steuerzwang, oder ganz gemeinen Raub zu verſchaffen1Vgl. A. Jaubert, Voy. 117. Neueſtens hatte das in Erzerum er - ſchienene Vilajets-Amtsblatt Emwarie-Scharkie (Licht des Oſtens) ver - ſprochen, die Namen aller derjenigen mit goldenen Lettern zu veröffent - lichen, welche ſich beeilen würden (kurz vor dem letzten Kriege) in die Reihen der Vaterlandsvertheidiger zu eilen. Als auf Grund dieſer ſpon - tanen Kundgebung bald hierauf das Stambuler Kriegsminiſterium den Ankauf von Pferden telegraphiſch anordnete, beeilte ſich der Gouverneur (Ismail Paſcha) auf eigene Fauſt nach Conſtantinopel zurückzumelden, daß die Einwohner ſeines Vilajets kein Geld annehmen, ſondern aus Patriotismus alle ihre Pferde der Regierung zur Verfügung ſtellen In der That confiscirte (!) Ismail Paſcha die entſprechende Anzahl von Pferden, ohne einen Para hierfür auszugeben. Dafür heimſte er Beglück - wünſchungen und Auszeichnungen von Stambul in reichlichem Maße ein. ( Allg. Ztg. , Nr. 61, 1877.) Das war eben wieder eine ganz eigene Art von Vergewaltigung, ändert aber am Weſen der Sache nichts. Das Caſtell ſcheint indeß gleichfalls römiſchen Urſprungs zu ſein, ſowie das Zeughaus zunächſt des Tabriſer Thores, an dem noch vor fünfzig Jahren römiſche Wappen zu ſehen waren2Southgate, bei Ritter, a. a. O.. Dafür ſind die chriſtlichen Kirchen meiſt aus Holz3Ueber die Erzerumer Kirchenbauten Näheres bei W. Hamilton, Asia minor , I, 178., die Moſcheen verwahrloſt und äußerlich voll Unrath, ſowie die zahlreichen Gaſſen, in denen die Jauche in Folge des geringen Gefälles derſelben, bis auf die, Miasmen ausathmenden Rückſtände, erſt nach vielen Tagen verdunſtet. Daß es an Tauſenden der ſchakalartigen herrenloſer Straßenköter allezeit nicht fehlte, iſt für eine türkiſche Stadt ſelbſtverſtändlich.

Wir wollen nun einen Blick auf das Geſammtbild Hoch - Armeniens werfen. Der ausgeſprochene Charakter eines Plateau - Landes, den Oſt-Armenien zwiſchen Erzerum und Eriwan trotz der Thaleinſchnitte des Aras und Kur beſitzt, fällt in Weſt - Armenien ziemlich außer Betracht. Dort gibt es überall lange58Hoch-Armenien.Kettenzüge, welche die Tafelländer von Tſchildir, Schuragel (Kars) und Tſchaldiran (Kagisman) durchſetzen, nackt und öde, wie veritable Mondgebirge, hier compacte Maſſen, reich gegliedert von den zahlloſen Waſſeradern, die dem Mutterſtrom des Eufrat zuſtrömen; dort weitläufige Hochſteppen mit halb in der Erde vergrabenen Ortſchaften, hier luftige Terraſſenſtädte, welche die Steillehnen der wohlbebauten Thäler hinanklettern, oft in ent - zückender Gartenpracht begraben. Vegetationsreich iſt auch Hoch - Armenien kaum zu nennen, dafür ſprechen die vielartigen vul - kaniſchen Gebilde und die breitrückigen Erhebungsmaſſen zu beiden Seiten des Eufrat, auf denen es wohl ab und zu empfindlich an Waſſer mangelt. Die Kurden, das einzige Nomadenvolk Armeniens, das der graſigen Ebenen und Sommerweiden gar ſehr bedarf, meiden in Folge deſſen die weſt-armeniſche Alpen - welt und ziehen die weitläufigen Becken des Araxes und Murad den ſchluchtartigen Thaleinſchnitten, in denen ackerbauende Ar - menier und Türken den Boden urbar gemacht haben, allenthalben vor. Nur die Duſchik-Kurden im gleichnamigen Gebirge von Erzingian haben von Anbeginn her ihre hochgelegenen Wohnſitze nicht verlaſſen1J. Brant, Journey through a part of Armenia , a. a. O., und es hat demnach den Anſchein, daß ſie dort - ſelbſt der Weiden - und Lagerplätze nicht entbehren, eine Ver - muthung, die noch von keinem Reiſenden irgend einer Nation erhärtet wurde, denn ihr Land iſt bisher, wie ſo manches zwiſchen den Oberläufen der Zwillingsſtröme, unbeſucht geblieben. Auch räumlich hält Oſt-Armenien mit Weſt-Armenien keinen Vergleich aus. Die Erhebungsmaſſe zwiſchen dem Frat und Murad iſt allein ſo groß, wie das ganze Araxesgebiet bis Eriwan und an die Quellen des Kur.

Von Erzerum führen verſchiedene Communicationslinien radialartig in weſtlicher, nordweſtlicher und ſüdweſtlicher Richtung. Die letztere iſt eine Gebirgsſtraße beſchwerlicher Art. Sie über - ſetzt anfänglich den Palantüken-Dagh ſüdlich der armeniſchen Capitale, lenkt in das Thal des Kara-Su ein, um hierauf das Duſchik-Gebirge ſeiner ganzen Breite nach zu überqueren (16 Meilen) und in Palu den Murad zu erreichen. Karawanen legten ſie bisher nur ſehr ungern zurück, da von den kurdiſchen59Hoch-Armenien. Erzingian.Horden, die ſie umlauern, begreiflicherweiſe nichts Gutes zu erwarten iſt. Von Palu führt die Straße weiter durch einen romantiſchen Theil von Kurdiſtan, um ſchließlich Djarbekr zu erreichen. Die mittlere Hauptcommunication iſt die große Han - dels - und Karawanenſtraße nach Conſtantinopel, mit den Zwiſchen - ſtationen Siwas, Amaſia, Yüzgat, Angora und Ismit. Sie iſt 150 deutſche Meilen lang und identiſch mit der Richtung aller Kriegs - und Eroberungszüge der Vergangenheit. Bei Karakulak, der Paßſperre am Eufrat, 16 Meilen weſtlich von Erzerum, dürfte, meiner Anſicht nach, die Stelle zu ſuchen ſein, wo Su - leiman, der Turk-Fürſt ertrank, worauf Ertogrul, der Vater Osmans, ſeine Wanderung weiter nach Inner-Anatolien antrat1Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , I, 41 u. ff.. Auch die Seldſchuken und ſpäter die Mongolen und Tartaren haben dieſen Weg zurückgelegt, niemals aber die Ruſſen, welche im Jahre 1829 auf der, weiter nördlich gegen Trapezunt einer - ſeits und Tripoli anderſeits ziehenden Karawanenſtraße bis Bai - burt und in die Nähe von Gümüſch-Chana vorrückten2F. R. Chesney, Die ruſſiſch-türkiſchen Feldzüge 1828 1829 . a. a. O..

Von Erzerum ſind 25 Meilen nach Erzingian, welche auf einer viel frequentirten Karawanenſtraße zurückgelegt werden. Sie führt von der armeniſchen Capitale anfänglich durch die ſumpfige Niederung von Ilidja, weiter durch das romantiſche Flußdefilé von Moſch und ſchließlich durch die Ebene Terdjan, wo hinter Erzingian das fünf Stunden lange Gebirgsthor der Duſchik-Kette ſich erſtreckt, zu beiden Seiten begleitet von coloſſalen Felswänden und natürlichen Couliſſen, zwiſchen denen der Eufrat nach Egin vorwärts brauſt Iſt Erzerum das politiſche und hiſtoriſche Centrum Armeniens, ſo iſt Erzingian der Urſitz armeniſchen Religions-Cultes, in heidniſchem und chriſtlichem Gewande. Im Allgemeinen hat die Stadt in politiſcher Be - ziehung ſo ziemlich das Schickſal der Hauptſtadt getheilt. Zur Zeit Temurs befand ſich die Stadt unter der Herrſchaft eines Mongolenfürſten aus der Dynaſtie vom Schwarzen Hammel (Kara-Kujunli), Namens Juſſuf, der ſich nach Einbruch der Tar - taren in Armenien zu Sultan Bajazid geflüchtet hatte. Die60Hoch-Armenien.Folge dieſer Flucht war die totale Zerſtörung Erzingians durch den brutalen Weltſtürmer, eine Zerſtörung, die wahrſcheinlich auch im anderen Falle erfolgt wäre. Die Stadt dürfte das zweite Arzen der arabiſchen Chroniſten (zum Unterſchiede von Erzerum Arzen-er-Rum) ſein. Aus ihr ging der armeniſche Prophet, Gregor der Erleuchtete , hervor, der Bekehrer Dertads, des erſten chriſtlichen Königs der Armenier und Schützling Roms. Die Natur ſcheint hier wie geſchaffen, um Männer von großem Fluge und ſtarker Willenskraft bei idealen Strebungen hervorzurufen. Wie an keinem andern Orte Armeniens haben in dieſen wild - ſchauerlichen Eufratpäſſen Erdbeben gewüthet1Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , VI, 32.. Die ganze Berg - maſſe des Sepuh, der ſich aus der Thalebene von Erzingian am rechten Frat-Ufer aufbaut, ward wiederholt in ſeinen innerſten Grundfeſten erſchüttert, Kämme brachen wie Glas entzwei und Schlünde thaten ſich auf, an denen nun die Wege nach den armeniſchen Sanctuarien ziehen. Keine Vegetation mildert hier oben das furchtbar verzerrte und ſtarre Bild übereinander ge - thürmter Steinmaſſen. Nur einzelne Zwergfichten hängen an abgeſtürzten Blöcken und über todbringenden Abgründen kreiſen die Adler2Boré, bei Ritter, a. a. O., X. . So geht es einen vollen Tagmarſch in die Dante’ſche Wildniß hinein, die ſelbſt die räuberiſchen Duſchik-Kurden meiden. Hier wäre aber auch in der That nichts zu holen. Drei einſame Klöſter, vertheidigungsfähigen Burgen gleich, liegen in den ver - borgenen Schlupfwinkeln, in die weder der Arm der Barbarei, noch der Strahl der Civiliſation dringt. Die Mönche, welche in den Klöſtern hauſen und die Erinnerung an Gregorios in ſtumpfem Asketismus bewahren, ſind roh und unwiſſend, des Leſens und Schreibens unkundig. Sie vernehmen ihr ganzes Leben nichts, als das Rauſchen der Bergwäſſer, Adlerrufe und zu Zeiten das unterirdiſche Donnergepolter, das über die Höhen Dertads bis zum Eufratgeſtade hin dumpf ausgrollt. Einſt ſtanden hier die Altäre der armeniſchen Artemis (Anahid)3Strabo, XI. und das Götzenbild des chaldäiſchen Barſchamin4Boré, correspondance et mémoires etc.., a. a. O. (Bar Schemſche61Zur älteren Literatur der Armenier. Sohn der Sonne, noch zuletzt bei den Sabiern in Haran hoch in Ehren gehalten)1Dieſes Haran iſt höchſt bedeutſam als der Ort, an welchem ſich das chaldäiſche Heidenthum bis tief in mohammedaniſche Zeit erhalten hat nicht unbewußt, wie bei armen Gebirgsbewohnern, ſondern geſtützt auf alle wirkliche und vermeintliche Wiſſenſchaft des Alterthums. Als der Chalif Mamun (im Jahre 830) nach Haran kam und die Bewohner ihm entgegenzogen, fiel ihm an einigen derſelben eine fremdartige Tracht und das lange Haar auf. Auf ſeine Frage, ob ſie Chriſten, Juden, Mager, oder irgend welche Schriftbeſitzer ſeien, erfolgte keine genügende Antwort. Ihr ſeid alſo Götzendiener, fuhr er fort, euer Blut zu vergießen iſt erlaubt und euch gebührt kein Schutz. Wir wollen Schutzgeld zahlen. Schutzgeld , erwiederte er, wird nur von denjenigen nicht islamitiſchen Religionsverwandten angenommen, deren Gott, der Erhabene, in ſeiner heiligen Schrift gedenkt, die ſelbſt eine heilige Schrift beſitzen und mit denen die Moslime darauf hin einen Friedensvertrag geſchloſſen. Da Mamun indeß noch vor der zur Bekehrung gegebenen Bedenkzeit zu Tharſus ſtarb, ſo blieb es mit den Haraniern beim Alten. Ihr letzter Tempel auf dem Burghügel von Haran (inmitten von Mauerſpuren, Caſtellruinen und Schuttbergen) wurde erſt von den Tartaren zerſtört. (Braun, Gemälde , 172.), die Gregor zertrümmerte und zu Cultusſtätten des alleinigen Gottes einweihte2Moſ. v. Chor., II, a. a. O.. In den Berg - grotten finden ſich auch natürliche Galerien, die Grüfte arme - niſcher Könige3Von dieſen Grüften wären zu erwähnen jene St. Gregors, St. Verthanes, St. Huscon, dann der Königin Ashſchem, der Chosrewi-tucht, d. i. die Schweſter Tiridates und des Königs Tiridat ſelbſt. (Vgl. In - dſchidſchean, nach Kiepert a. a. O.), deren erlauchte Cadaver die Stürme der Zeit (wie jene der helleno-pontiſchen Dynaſtie zu Amaſia)4Siehe unter Amaſia . in alle Winde gefegt hatten.

Mit Abſchluß unſeres Ueberblickes auf Hoch-Armenien er - ſcheint es wohl auch geboten, der älteren literariſchen Bewegung unter den erſten chriſtlichen Armeniern zu gedenken, in welcher ſich deren geſammtes geiſtiges Leben und ihre bedeutſamſten Cul - tur-Anläufe wiederſpiegeln. Die Berührung dieſes culturgeſchicht - lichen Momentes drängt ſich um ſo gebieteriſcher auf, als das Wiederbekanntwerden deſſelben nur wenige Jahrzehnte alt iſt, trotz des bereits mehr als anderthalb Jahrhunderte alten Auf - tauchen Mechitars, des Neubegründers armeniſcher Literar - und62Hoch-Armenien.Geſchichtsforſchung. Im Allgemeinen blühte das armeniſche Geiſtesleben nur kurze Zeit, wenige Jahrhunderte, was wohl zunächſt auf die kurze politiſche Selbſtſtändigkeit des Landes zurückzuführen ſein dürfte; die andersgläubigen Nachbarreiche, welche meiſt zu unumſchränkter Macht gelangt waren, hatten eben keinerlei Intereſſe an einer Culturarbeit, die vorherrſchend aus dem religiöſen Leben der Armenier emanirte, wodurch beſonders die blinde Verfolgungswuth der Saſſaniden in verderblichem Grade herausgefordert wurde. Mit dem Bekehrerwerk Gregors nahm auch die geiſtige Thätigkeit im Lande ihren Anfang. König Tiridates (286 342), deſſen römiſche Antecedentien einen ge - wiſſen Grad von Bildungsdrang vorausſetzen laſſen mußten, war auch thatſächlich der Ausgangspunkt geiſtigen Lebens, indem er zunächſt dem an ſeinen Hof berufenen Griechen Agathangelus den Auftrag gab, jene Annalen der armeniſchen Geſchichte zu ſchreiben, welche den Zeitraum vom erſten Einfalle Ardeſchir Babakhans, des Saſſaniden, bis zum Uebertritte des armeniſchen Volkes, alſo bis zum Höhepunkte der Herrſchaft Tiridates um - faßte1Manuſcripte in griechiſcher und armeniſcher Sprache in Paris.. Dieſes Werk blieb geraume Zeit die Quelle aller fol - genden Anläufe zu neuen derartigen hiſtoriſchen Arbeiten. Da erſt etwa hundert Jahre ſpäter Mesrop das armeniſche Alphabet conſtruirte2Vgl. Neumann, Verſuch einer armeniſchen Literatur , 8. ſo ward Agathangelus Werk offenbar zuerſt in griechiſcher Sprache, und erſt ſpäter in armeniſcher Sprache abge - faßt, mit Benutzung der damals in Armenien üblichen perſiſchen Schriftzeichen. Mit der Begründung einer eigenen Schrift war der nationalen Literatur aber erſt ſo recht Bahn gebrochen. Schon ein Schüler Mesrops, Gorioun, verfaßte eine armeniſche Geſchichte, während jener dem bisherigen Uebelſtande, daß ſämmt - liche Gebete und Kirchenſchriften nicht nur in einer, dem Volke unleſerlichen Schrift, ſondern häufig ſogar in fremden Sprachen (meiſt dem Syriſchen) abgefaßt waren, durch Verfaſſung von Original-Arbeiten vorbeugte. Es war ein hohes Glück, für die literariſchen Denkmäler Armeniens, ja für ſein ganzes origi - nelles Geiſtesleben, daß Mesrop in dieſer Richtung bahnbrechend auftrat, denn im andern Falle wäre jeder Beleg für die geiſtige63Zur älteren Literatur der Armenier.Individualität, ja ſelbſt für die ethniſche, wie bei ſo manchem Volke Aſiens ſpurlos verwiſcht und die armeniſche Sprache, zu - mal das Claſſiſch-haikaniſche der Forſchung auf immerdar ent - zogen worden. Dieſe Thatſache allein würde aber nicht genügt haben, wenn dieſe jungen Triebe nicht in einer anderen, bedeu - tenden Perſönlichkeit Wurzeln gefaßt hätten, in jener des weit - aus begabteſten und gebildetſten aller alt-armeniſchen Literaten Moſes, nach ſeinem Geburtsorte Chorene im Gaue Daron am Muradfluſſe ſo genannt. Moſes fand bei Beginn ſeiner Thätig - keit, die ein volles Jahrhundert umfaßte (er lebte 120 Jahre, 370 490 n. Ch.), nur alte Volks - und Heldengeſänge1Eines dieſer wildpoetiſchen Fragmente hiſtoriſcher Lieder, jenes die Geburt Wahagn’s betreffend, lautet etwa wie folgt: In Geburtsſchmerzen lag der Himmel, in Geburtsſchmerzen die Erde; in Geburtsſchmerzen lag das purpurne Meer und lag das röthliche Schilfrohr im Meere. Aus des Rohres Munde kam Rauch empor, aus des Rohres Munde kam Flamme empor, und aus der Flamme entſtieg eilends der blonde Jüng - ling. Feuer hatte er an den Haaren und Flammen hatte er im Barte, und die Augen und die Ohren waren Sonnen. (Vgl. Neumann, a. a. O.) Derlei Heldengeſänge wurden in Armenien an gewiſſen Feſttagen geſungen und man bringt ſie, augenſcheinlich nicht ohne einige Berechtigung, mit den alt-perſiſchen Zohak-Todtenfeiern am Demavend (bei Teheran) in Ver - bindung. Von Zohak, dem böſen Principe (aber nicht in ſeiner vollſten Bedeutung), abzuſtammen, rühmten ſich bekanntlich nicht nur mythiſche Dynaſtien, ſondern auch der Meder Dejokes und häufiger noch die Herrſcherfamilien Kabuls, dieſer Stadt, in welche der Satan bei ſeinem Sturze mitten hineingefallen. (Vgl. Braun, Naturgeſchichte d. Sage , I, 132.) vor, die er zum Theile ſelbſt noch augenſcheinlich von herumziehenden Rhapſoden, zum Klange primitiver Inſtrumente executiren hörte und die ihrem Inhalte nach, wohl noch Anklänge an die irani - ſchen Heldenſagen, wie ſie ſpäter Firduſi niederſchrieb und poetiſch erweiterte, geweſen ſein mochten und ſomit ſich in heidniſch - heroiſchen Vorſtellungen der Vorzeit bewegten. Wir haben ſchon oben darauf hingewieſen, daß dieſe geiſtige Verwandtſchaft des armeniſchen Volkes mit den Iraniern nicht vollends bedeutungslos in Bezug auf die tiefere ethniſche Verwandtſchaft zu ſein vermag, da am Ende die gleichen uralten Sagenbilder, bei der räumlich geringen Entfernung der beiden Völker, in einer gemeinſamen ethnologiſchen Vergangenheit und Abſtammung wurzeln müſſen. 64Hoch-Armenien.Alle dieſe Geſänge und ſelbſt die ſpäteren Lieder noch1Im armeniſchen Geſangbuche Scharagnoz . (Bei Neumann, a. a. O.), waren der metriſchen Form nach immer noch ſehr unvollkommen, und es bedurfte erſt der Vermittlung der Araber, um hierin zu größerer Entwickelung und Vollendung zu gelangen. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts zeichnete ſich beſonders der Parther - Prinz Gregor Magiſtros durch eine in Verſen abgefaßte Ueber - ſetzung des neuen Teſtaments aus, welches Werk er in nur drei Tagen (mit 1000 Zeilen Umfang) verfaßt haben ſoll2St. Martin Mémoire sur l’Arménie , I, 9.. Es war das Signal zu einer Art dichteriſchen Wettkampfes, obgleich Gregors Stärke nicht die Poeſie, ſondern die Wiſſenſchaft, zumal die Mathematik war, in der er ſich durch Ueberſetzung griechiſcher Fachwerke den Culturträgern ſeines Volkes hochgradig nützlich erwies. Die ſchöne Literatur blieb gleichwohl der beliebteſte Tummelplatz, auf dem ein Salum, Aharan und der bedeutendere Narſes, genannt der Clajenſer (aus Rum-Kaleh in Nord-Syrien), nach einander auftraten. Letzterer hat den Untergang, beziehungs - weiſe den Verluſt Edeſſas (1144) in einem prächtigen Poëm be - trauert, das die Kloſterbrüder von Etſchmiadſin noch heute ſorg - fältig hüten3Ritter, a. a. O..

Productiv waren indeß die erſten armeniſchen Schriftſteller gleichwohl nur in ſehr beſcheidenem Grade. Es fehlte dem Volke, wie ja leicht erklärlich, an der nothwendigen intellectuellen Durch - bildung und von der Barbarei bis zum vollpulſenden Cultur - leben iſt’s eben mehr, als blos ein Schritt. So begnügte man ſich anfänglich mit der Uebertragung der verſchiedenartigſten Werke aus den Literaturen der meiſten Völker und erſcheinen in dieſer Richtung namentlich die Leiſtungen Moſes von Chorene von hervorragender Bedeutung. Seine umfaſſenden Reiſen, ſein Aufenthalt in Conſtantinopel, Athen und Rom, ſeine Sprach -, Länder - und Völkerkenntniſſe berechtigten ihn vollends in Arme - nien eine Ueberſetzungs-Literatur zu ſchaffen, deren Verbreitung und deren Eingreifen in das religiös-politiſche und ſociale Leben gerade in einer Zeit platzgriff, wo ſich Europa in tiefſter Bar - barei befand, und der Glanz der römiſchen Weltherrſchaft durch65Zur älteren Literatur der Armenier.die Völkerwanderung eben vom Erdboden hinweggefegt wurde. Nebſt verſchiedenen Original-Gedichten, dann der Ueberſetzung der Chronik des Euſebius, iſt Moſes bedeutendſtes Werk wohl ſeine auf Geheiß des Bagratiden Iſaak verfaßte Geſchichte Armeniens . Von den Uranfängen der armeniſchen Traditionen, der Wanderung Haiks1Intereſſant erſcheint hiebei ein Paſſus, der ſich auf die Sprache der Armenier bezieht Als die Menſchen jenes himmelſtürmende Bau - werk (von Babel) zu errichten ſtrebten, wurden dem am Frevel mit - betheiligten Stammvater der Armenier, Haik, zur Strafe unerhörte Laute in ſeine Sprache geworfen. Da das Armeniſche noch heute an ſolchen Lauten keinen Mangel hat (ſchon Mesrop mühte ſich mit verſchiedenen Lautzeichen ſeines Alphabetes ab), ſo ſteht es feſt, daß das Armeniſche gleichaltrig mit dem babyloniſchen Thurmbaue ſei. (Nach Schröder bei Lagarde, Armeniſche Studien , 191.) und ſeiner Enkel, geht der Annaliſt auf die hiſtoriſchen Epochen, zumal auf die, mit Armenien ſo eng verflochtene Arſa - ciden-Herrſchaft über, wobei er bereits die Aufzeichnungen Aga - thangelus, die Zeitgeſchichte Tiridates und Gregors erweiterte, und die reichen hiſtoriſchen Schätze der Bibliothek zu Edeſſa aus - beutet2Vgl. Neumann, a. a. O., 3.. Ohne dies Compendium, das im Laufe der Zeit freilich in Copien mancherlei Verſtümmelungen und Lücken erfahren mußte, wäre es unſerer Forſchung, zumal aber den armeniſchen Conſervatoren ihrer Literatur ſelbſt vollends unmöglich geweſen, auch nur den kleinſten Einblick in die geiſtige Vergangenheit des Volkes zu gewinnen. Eine armeniſche Specialgeſchichte von voll - kommen nationalem Gepräge gibt und gab es nun freilich nie - mals, die fraglichen Werke mögen aber immerhin koſtbar genug erſcheinen, um gewiſſe Lücken im Zuſammenhange der Ereigniſſe im nordöſtlichen Vorder-Aſien leidlich auszufüllen.

Von geringerer Bedeutung iſt Moſes armeniſche Geographie, die übrigens ihn nicht in ihrem vollen Umfange zum Verfaſſer hat. Hatte nämlich ſchon deſſen armeniſche Geſchichte mancherlei Verſtümmelungen erfahren, ſo gilt dies in Bezug auf das zweite fragliche Werk inſoferne in noch höherem Maße, als es in dem - ſelben Abſchnitte gibt, die wohl nur Ueberſetzungen der allge - meinen Geographie des Papus von Alexandria ſein dürften und nur durch weitläufige Zuſätze, die engere armeniſche HeimatSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 566Hoch-Armenien.betreffend, von Moſes ergänzt wurden. Hin und wieder ward gar Moſes Verfaſſerſchaft geleugnet1St. Martin, II, 301 u. ff., und Thatſache iſt es auch, daß ſich in dem fraglichen Werke Andeutungen und Ausſprüche fanden, die gegenüber dem angeblichen Verfaſſer in einem ausgeſprochenen anachroniſtiſchen Verhältniſſe ſtehen2An ſonſtigen bedeutenden Uebertragungen wären hervorzuheben: Euklids Geometrie von Gregor Mag. ; Abhandlungen Platos von dem - ſelben; dann Ueberſetzungen der hiſtoriſchen Bibliothek des Diodor von Sicilien, die Werke von Kallimachos, Adronicus, Olympiodor, wahrſchein - lich auch die Schriften Hyppokrates und die Homeriſchen Epopöen..

Repräſentiren Salum, Aharon und zum Theile auch Gregor Magiſtros die ſchöne, Moſes, Agathangelus die hiſtoriſch-wiſſen - ſchaftliche Literatur, ſo iſt David der bedeutſamſte Vertreter auf dem Gebiete der Philoſophie. Auch dieſer Claſſiker der arme - niſchen Ueberſetzerperiode hat ſeine Vorbildung meiſt außerhalb ſeiner Heimat, zumal in Alexandria und Conſtantinopel erhalten und anfänglich nur durch Uebertragungen auf die geiſtige Ent - wickelung ſeines Volkes eingewirkt. Die berühmteſte dieſer Ueber - tragungen iſt jene der Ariſtoteliſchen Schriften. Dies claſſiſche Bildungsferment ſcheint nun freilich im Mutterlande Davids nicht jenen intenſiven Erfolg gehabt zu haben, der ſeinen Aus - druck in einer vollkommenen Durchgeiſtigung der geſammten nach - maligen literariſchen und wiſſenſchaftlichen Thätigkeit gefunden haben würde. Der Ariſtoteliſche Geiſt hatte keineswegs das armeniſche Volk, ja nicht einmal den gebildeteren Theil deſſelben durchtränkt. Verkörpert in einer einzigen Perſon, eben in jener des Ueberſetzers, erſcheint das armeniſche Werk des griechiſchen Philoſophen als geiſtiger Denkſtein im Geiſtesleben der Armenier, weiter nichts. Viel größeres Aufſehen machten und mehr dem Ideenkreiſe der damaligen Zeit ſich anſchmiegend waren Davids Original-Arbeiten, zumal deſſen Schrift über das Kreuz der Neſtorianer 3Bei Ritter, X. , in der er mehr theologiſche Fragen behandelte und durch ſeine ſtrenge Orthodoxie dem allgemeinen Verſtändniſſe, in Folge des damals noch unmittelbarer wirkenden Abfalles des Patriarchen Neſtorius4Neſtorius, Patriarch von Conſtantinopel, wurde auf der Räuber -, näher ſtand, als durch ſeine Meiſterüber -67Zur älteren Literatur der Armenier.tragung des Ariſtoteles. Aller Einfluß aber, der ſich im Bildungs - gange des armeniſchen Volkes fühlbar machte, ging indeß nicht nur von den Griechen, ſondern auch von andern Nachbar-Völkern aus, denn wie es an dem armeniſchen Volke charakteriſtiſch war, ſich fremde ethniſche Elemente zu aſſimiliren, ſo war auch in geiſtiger Beziehung dieſe Fähigkeit, oder wenn man es haben will, Fehler, ziemlich groß. Der Einfluß ſyriſcher Literatur erſcheint vollends feſtgeſtellt. Die Biſchöfe im Gebiete zwiſchen Eufrat und Tigris, das an Hoch-Meſopotamien grenzte, waren eben Syrer, die Kirchenſprache in Folge deſſen das Syriſche und die Rückwirkung dieſes Zuſtandes auf Groß-Armenien ſo bedeu - tend, daß eine Zeit hindurch ſyriſche Episkopen ſogar nach dem armeniſchen Patriarchate ſtrebten. Noch viel bedeutender war die Ingerenz des neu-perſiſchen Zoroaſter-Cultes. Schahpur II., ſchon oben mehrmals genannt, war bemüht mit Feuer und Schwert die alte Lehre in Armenien zu verbreiten und das pro - bate Mittel, Apoſtaten durch Verſprechungen zu gewinnen, brachte viele der armeniſchen Fürſtengeſchlechter zum Abfalle1St. Martin, Histoire des révolutions etc. a. a. O.. War es nun auch völlig undenkbar, daß eine derartige Gewaltherrſchaft die Geiſtesrichtung und die hiemit verbundene Production in ein anderes Fahrwaſſer drängte, ſo war ſie dennoch im negativen Sinne ſchon deshalb entſcheidend, als es ſich nicht blos um die Knebelung der Geiſter und um die Ausrottung eines verhaßten Religionsbekenntniſſes allein handelte. Auch die ſchriftlichen Denkmäler, die Bibliotheken und jedes Buch, deſſen man habhaft werden konnte, wurden der Vernichtung geweiht2Neumann, Verſuch ꝛc. , 7.. Daß ähn - liche Stürme auch ſpäter über die ſorgſam gehüteten geiſtigen Schätze hereinbrachen, hängt mit den hiſtoriſchen Drangſalen des4ſynode zu Epheſus 431 vom heiligen Cyrill von Alexandrien angeklagt, daß er die zwei Naturen in Chriſto zu ſcharf trenne, das Wort nur Wohnung nehmen laſſe im Menſchen Jeſus, nichts von einer Gottes - gebärerin , von einem Leiden des Logos wiſſen wolle. Unter thätlicher Mitwirkung jenes Heiligen (mittelſt Fußtritten ꝛc. ) wurde Neſtorius ver - dammt und abgeſetzt. Sein Anhang erhielt ſich aber, zumal durch die Schule von Edeſſa und hatte durch den älteren Islam nichts zu leiden. (Note bei Braun, a. a. O., 183.)5*68Hoch-Armenien.Landes und ſeines Volkes eng zuſammen. Aber ſelbſt das Gerettete würde uns kaum je bekannt geworden ſein, hätte es nicht der gelehrte und patriotiſche Mechitar und nach ihm die von demſelben geſtiftete und nach ihm benannte Congregation wieder an das Tageslicht gebracht.

Das ſegensreiche Wirken dieſes katholiſch-armeniſchen Ordens iſt allenthalben bekannt. Im Heimatlande durch das orthodoxe Armenierthum in ſeiner Exiſtenz bedroht, oder doch gehemmt, ſich frei dem Studium der alt-armeniſchen Literatur hinzugeben, geſtört, überſiedelte die Congregation, nachdem ſie 1712 durch Papſt Clemens XI., ihre, dem Benedictiner-Orden abgelauſchten Statuten beſtätigt erhielten, nach Morea und als dieſes den Türken zufiel nach Venedig, wo ihr die Republik die maleriſch und einſam gelegene Inſel S. Lazaro als buen retiro anwies. Mechitar ſelbſt hatte nur ein Lexikon des Haikaniſchen und der armeniſchen Vulgärſprache verfaßt, bald hierauf aber begann die reiche Ausbeute, Drucklegung und Verbreitung der claſſiſchen Schriften und die Publication zahlreicher anderer ſpecifiſch orien - taliſcher Sprachſtudien, hiſtoriſcher und wiſſenſchaftlicher Werke, die alle wieder durch deutſche1Zuerſt durch Dr. Neumann und Dr. Petermann. Das neueſte Werk philologiſchen Inhalts ſind die 1877 erſchienenen Armeniſchen Studien von P. de Lagarde (Göttingen), ein Verzeichniß derjenigen armeniſchen Vocabeln, welche man durch Vergleichung mit Wörtern anderer Sprachen wirklich erklärt oder zu erklären verſucht hat (2413 an der Zahl), nebſt abhandelndem Texte. und franzöſiſche, ſowie durch andere europäiſche Philologen dem Fachpublicum des Abend - landes vermittelt wurden. Vollends zu einem großen hiſtoriſch - geographiſchen Sammelwerke, jedoch nur in den heimiſchen Quellen wurzelnd, hat neueſtens der Mechitariſt Paul Lucas Indſchidſchean das reichhaltige literariſche Material copilirt (neben einer Erd - beſchreibung in 12 Bänden, von der übrigens im Manuſcripte Einiges verloren ging) und ſo das Studium des Quellenſchatzes weſentlich erleichtert 2Manuſcript-Ueberſetzung v. H. Kiepert.

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III. Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.

Trapezunt (Tarabozan), die Türkenſtadt. Hiſtoriſche Reminiscenzen. Das Gartenland Dſchanik . Zur kaukaſiſchen Emigration. Griechiſche Küſtengaue. Laziſtan und das Volk der Lazen.

Als die Xenophontiſchen Krieger auf ihrem Marſche aus dem Innern Armeniens von der Höhe des Küſtengebirges zum erſtenmale die Spiegelfläche des Pontus erblickten, da brachen ſie in den begeiſterten Jubelruf: Thalatta, Thalatta! aus1Anabaſis, IV. . Der Anblick des pontiſchen Küſtenſtriches mit dem modernen Trebiſonde iſt wol auch heute noch entzückend, ein wahres Paradieſeslabſal für das, von den ſterilen Hochlandſchaften Armeniens ermüdete Auge. Die eigenthümliche Configuration der aufſteigenden Küſten - ſtufen mit den uralten Stadttheilen zu oberſt, knapp am Gebirge, ge - bannt in einen Kranz verwitterter Mauern mit verfallenen Thürmen und zwiſchen maleriſch verwilderten Felsſchluchten gelegen; die weitläufige Hafenſtufe mit der, im Gartengrün be - grabenen heutigen Uferſtadt, der ſchimmernde Küſtenſtreif und dahinter das hellblaue Meer, das Alles ſind Detailbilder, die den Geſammtanblick zu einem wunderbar harmoniſchen geſtalten und ſo manche bewährte Feder von Orientpilgern zu mehr oder minder gelungenen Schilderungen verleitet haben2Vgl. Fallmerayer, Fragmente aus dem Oriente ; Jaubert, Voyage en Arménie ; P. v. Tſchichatſcheff, Asie Mineure ; Koch, Wanderungen im Orient ꝛc. Anſichten: Le Tour du Monde , 1875.. In der70Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.Nähe ändert ſich freilich ſo Manches zu Ungunſten des hiſtoriſch ſo bedeutſamen und geographiſch nicht minder wichtigen Punktes am armeniſch-pontiſchen Geſtade. Mit dem Einzuge durch die alten Thore, über hochſpannende Brücken, bis zu deren Rand die aus den Felsgräben heraufwuchernde Vegetation reicht, werden enge, winkelige Gaſſen, durch fenſterloſe Lehmmauern markirt, betreten und nur hin und wieder öffnen ſich durch die Haus - pforten ſeitliche Einblicke in die gartenähnlichen Höfe, mit ihren Lauſchplätzchen, Brunnenbaſſins und dem Wein - und Epheugeranke an den Wänden Trapezunts Lage auf einem natürlichen, in Terraſſen anſteigenden Felsſchemel an der Pontusküſte war immerdar eine berühmte. Daß der Ort trotzdem eine nur wenig bewegte und keineswegs ſtürmiſche Vergangenheit hat, mag wohl aus der vom großen Weltgetriebe abſeits gedrängten localen Entwickelung in ſtaatlicher und hin und wieder in cultureller Beziehung entſpringen. Im Rahmen unſerer Abhandlung erſcheint uns Trapezunt indeß nur von jenem Zeitpunkte ab beachtenswerth, wo das Schickſal dieſer Stadt durch die Invaſion der Osmanen auf viele Jahrhunderte hinaus entſchieden wurde, ein Schickſal, das mit dem gänzlichen Verfalle der einſt ſo blühenden und glänzenden Comnenen-Reſidenz gleichbedeutend iſt1Hammer-Purgſtall, Geſchichte des osmaniſchen Reiches , II, 57 u. ff..

Die Gründung des Trapezuntiſchen Kaiſerthums durch den Comnenen Alexis I. iſt zur Genüge bekannt2J. Ph. Fallmerayer, Geſch. d. Kaiſerth. Trapezunt , 63, 81.. In Folge der in Byzanz ausgebrochenen Palaſtrevolutionen und des hiebei ſtattgehabten Einſchreitens der Kreuzfahrerheere, als vierjähriger Thronerbe flüchtig, verblieb Alexis bis zu ſeiner Volljährigkeit unter dem Schutze der letzten Comnenen-Sprößlinge in Colchis, worauf die Gründung des neuen Kaiſerthums, (in der beiläufigen räumlichen Ausdehnung der bisherigen türkiſchen Statthalterſchaft) erfolgte, vom colchiſchen Geſtade bis Sinope einerſeits und bis zu dem pontiſch-armeniſchen Küſtengebirge anderſeits, alſo eine Gebiets - Ausdehnung, die mit dem Begriffe eines Kaiſerthums wohl kaum in Einklang zu bringen war, zumal in der offenſiven Machtfrage. Auch ſonſt waren mit dem byzantiniſchen Sprößling alle Ge - brechen des eigentlichen Mutterſtaates auf das neugegründete71Trapezunt. Hiſtoriſche Reminiscenzen.Reich übergegangen und wie zu Conſtantinopel, ſo war auch zu Trapezunt nach dem Erſtarken des Osmanenthums an eine längere Behauptung der Herrſchaft nicht zu denken. Dieſelbe hohle Aeußerlichkeit, auf falſchem Glanze fußend, dieſelbe innere Corruption, Weichlichkeit und Sittenloſigkeit, die das ohnedies zerbröckelte byzantiniſche Reich zerfraß1Der Verſuch einer Rechtfertigung in dieſer Richtung, bei A. D. Mordtmann, Belag. und Erob. Conſtantinopels , p. 106 u. ff., fanden ihre ſchädlichen Ableger auch am Hofe der Comnenen und ſo mochte das Trape - zuntiſche Kaiſerthum ſein Verderben wol unabwendbar ſchon vom Anbeginne her in ſich getragen haben. Thatſächlich ver - dankte es auch nur ſeinen verſchiedenartigen, guten Beziehungen mit den entfernteren Reichen, die einen unleugbaren Machteinfluß ausübten, wie mit den benachbarten Grenzvölkern, darunter den Armeniern und Perſern, ſeine Exiſtenz, ſowie der komneniſche Kaiſerhof nicht verabſäumte, ſeine als Schönheiten erſten Ranges geltenden Prinzeſſinnen2Hammer-Purgſtall, a. a. O., II, 57. an Fürſten des verſchiedenartigſten Calibers zu verehelichen. Selbſt ein Turkmenen-Fürſt Uzun Haſſan, der lange Haſſan führte eine ſolche Trapezuntiſche Schönheit heim und bei dem wenig kriegeriſchen Charakter der Bewohner drehte ſich auch der höfiſche Zeitvertreib, namentlich der der fremdländiſchen Gäſte, hauptſächlich um romantiſches Minnewerben und Liebeslegenden aller Art3Fallmerayer, Geſch. d. Kaiſ. Trap. , 314. . Das konnten nun keineswegs die inneren Bedingungen zu einer erſprießlichen Fort - exiſtenz ſein. Zwar der Trapezuntiſche Handel beherrſchte den geſammten materiellen Austauſch zwiſchen den nördlichen Ufer - ſtaaten und Armenien, Perſien, ja ſelbſt nach entlegeneren Ländern4Fallmerayer, a. a. O., 308. und dieſelbe Handelsſtraße, welche noch heute die armeniſchen Plateaus und das nördliche Iran durchzieht, war bereits damals die ungleich frequentirteſte in der ganzen nördlichen Länderzone von Weſt-Aſien. Aber das belebende Element dieſer Handelsbewe - gung waren keine Griechen, keine Trapezuntier, ſondern Venetianer und Genueſen, namentlich aber letztere, die zu den armeniſchen Königen ſogar in ein ſchutzherrliches Verhältniß traten, um auf72Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.ihrem Handelswege durch das fremde Land nicht bar aller Ga - rantien operiren zu müſſen1Ueber die hiebei aufgeführten Schutzcaſtelle, die ſich zum Theile noch bis auf den Tag erhalten haben ſollen (Beiburt, Haſſankaleh ꝛc. ), bei W. Hamilton, Asia minor , I, 185; J. Brant, Journey etc. bei Ritter, 18, ꝛc.. Sie waren es auch, die Luxus und Reichthum ins Land brachten und im Verein mit dem üppigen Hofe den Kaiſerſitz mit ſeiner romantiſchen Umgebung in ein wahrhaftiges Paradies verwandelten. Dort, wo ſich heute öde Plätze mit Ruinen dehnen, zu Häupten der eigentlichen Caſtellſtadt, ſtand der eigentliche Kaiſerhof. Von ſeinen Marmor - terraſſen und Balconen aus war die Herrlichkeit der Comnenen nach allen Richtungen hin zu überblicken. Durch die Marmorſäle ſtrich die aromatiſche Luft der zahlloſen Blüthengärten und an dem ſpiegelglatten Wandgetäfel der Gallerien ſpielte das Sonnen - licht über blendende Farbenpracht. Und zunächſt zu Füßen, welch impoſanter Bau waren dieſe maſſiven, gewaltigen Mauern, dieſe Thürme und verborgenen Treppenfluchten von Doppelthoren verdeckt, und die felſigen Abgründe im Oſten und Weſten der oberen Caſtellſtadt! Sie ſchienen für die Ewigkeit gebaut, aber es war eine feige Bewohnerſchaft, die ſie eventuell zu vertheidigen hatte und als das osmaniſche Unwetter über das Eldorado neu-griechiſchen Glanzes dahin fuhr, war’s mit dem erſten Wetter - ſtrahle vorüber. Wie die Stätte in Uhlands Ballade muthet heute der verödete Ort einſtiger Pracht an. Zwar die Blüthen - gärten ſtehen noch und tauſendfältige Frucht entſproßt dieſem Boden, den ſelbſt die Hufe der Türkenroſſe nicht zu vernichten vermochten, aber was aus dem urwaldähnlichen Geranke hervorlugt iſt altersgraues löcheriges Gemäuer und was ſich hoch in den Lüften im Sonnengolde badet und über die dunkelgrünen Kronen in die Felsabgründe blickt, ſind morſche krenellirte Mauern in denkbarſter Verwahrloſung2Koch, Wanderungen , I, 427 u. ff.. In der Tiefe liegen noch ruinen - ähnliche Bauten, wie fern im Weſten die einſtige Hagia Sofia (jetzt zum Theil in eine Moſchee umgewandelt), und die hohe Uferſtufe iſt nach wie vor mit den luftigen Riegel - und Balken - häuſern beſäumet, in denen einſt Perſer, Indier, Armenier und73Trapezunt.Turkmenen ihre Producte und Reichthümer aufſpeicherten, um ſie durch die genueſiſchen Handelshäuſer nach Weſten und Norden hin befördern zu laſſen. An dieſem lieblichen Ufer dehnen ſich auch noch die Weingärten und Obſthaine, von denen die älteren Chroniſten ſchwärmten1Ewlia Effendi, bei v. Hammer-Purgſtall; Hadſchi Chalfa in Nor - bergs Dſchihan Numa , ꝛc., Myrthen und Lorbeer ſind geblieben und im Frühjahre duften die Citronenblüthen und klagen die Nachtigallen im Roſengebüſch.

Wie zu Conſtantinopel, ſo hatte auch in Trapezunt der Eroberer Mohammed II. ein furchtbares Blutgericht gehalten. Der letzte Comnene David und ſeine ganze Familie wurden nach dem Bosporus geſchleppt und dort in den Kerkern hinge - richtet. Dann ward mit der ſyſtematiſchen Ausrottung des grie - chiſchen Elementes begonnen, zuerſt in den oberen Sphären, dann bis in die unterſten Schichten hinab, unerbittlich und bar - bariſch, wie dies ſchon in der Art der Enkel Murad II. und Bajazid I. lag2Vgl. Ueber die Chriſtenſchlächtereien Murad II. zu Saloniki, bei Zinkeiſen, Geſch. d. osmaniſchen Reiches in Europa , I. . Selbſt die einfachen, wenn reichen, Landbeſitzer wurden von Haus und Hof gejagt und irgend ein lohnbedürf - tiger Osmane, zumal wenn er einen militäriſchen Grad einnahm, in deſſen Beſitz eingeſetzt3Hammer-Purgſtall, a. a. O., II. . Dabei ſcheint derſelbe Barbar, Mohammed II., der gelegentlich der wildbeſtialiſchen Orgien, die die rohe osmaniſche Soldateska in der Hagia Sofia zu Conſtan - tinopel beging, noch immer Kunſtſinn genug an den Tag legte, daß er den Zerſtörer des Bodenmoſaiks mit ſeiner Axt nieder - hieb, auch in Trapezunt durch den natürlichen Zauber des Land - ſchaftsbildes gefangen genommen worden zu ſein. Wenigſtens heißt es, daß er den ganzen Winter, der auf die Eroberung und Einverleibung von Stadt und Land ins osmaniſche Geſammtreich folgte, in der pontiſchen Küſtenſtadt verblieb und ſie ſpäterhin dem erſtgeborenen Prinzen als Regierungsſitz anwies, eine Ein - richtung, die auch ſpäter geraume Zeit in Uebung verblieb. Wichtiger iſt, daß die nachmaligen Sultane von Trapezunt aus ihre Eroberungen über die kaukaſiſchen Länder ausdehnten und74Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.den perſiſch-armeniſchen Handelsverkehr unterbanden. Mit dem Beſitze von Conſtantinopel im Weſten und Trapezunt im Oſten ward Mohammed II. ſo recht zum erſten großen Beherrſcher jenes Reichscomplexes, der bis in die neueſte Zeit hinein identiſch mit der Machtgrenze des Osmanenthums in Europa und Aſien blieb. Erſt mit dem Vorrücken der Ruſſen über den Kaukaſus zu Beginn unſeres Jahrhunderts begann das ſtückweiſe Abbröckeln jenes Territorial-Beſitzes, durch den die Sultane zu unum - ſchränkten Herrſchern an der Schwelle zwiſchen Iran, Kaukaſus und Vorder-Aſien wurden.

Daß Trapezunt im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu Grunde ging, kann bei der bekannten Art gouvernementalen Verfahrens in allen Regierungs - und Verwaltungsfragen kaum befremden. Selbſt die ſeit 1836 auf dem Schwarzen Meere ins Leben gerufene Dampfſchifffahrt hat dem allgemeinen Niedergange nicht zu ſteuern vermocht, denn die verſchiedenartigſten Vexationen und die denkbar unvernünftigſte Zolladminiſtration hemmen jeden geſunden Handelsverkehr1Conſularbericht im Manuſc. (Vgl. Oeſterr. Monatsſchr. für den Orient , II, 29.). Zudem hat die Pforte in den be - nachbarten Gebieten in Laziſtan und im Dſchanik ſo un - glaublich dies klingen mag, thatſächlich erſt in den letzten Jahr - zehnten, ſeit Mahmud II. energiſchem Regimente, autoritativ Fuß gefaßt. Inwieweit dies von der weſtpontiſchen Küſtenprovinz, dem Gartenlande Oſchanik (dem Lande der Tzanen)2Hammer-Purgſtall, a. a. O., I, 227., gilt, mag um ſo mittheilenswerther ſein, als die dortigen Verhältniſſe damals innig mit dem Schickſale der beklagenswerthen armeniſchen Provinz verknüpft waren. Vor noch kaum vierzig Jahren lag das Dſchanik noch vollkommen außer der Machtſphäre der Pforte. Die Unwegſamkeit des Gebietes, der geringe Verkehr und die urwaldähnliche Vegetation, welche ſich über die meiſt ſteilen Küſtenberge (mit romantiſchen, verſteckten Schluchten) breitete, ſowie die geringe Productivität des Bodens (trotz des natürlichen Reichthums an Baumfrüchten) machten die benachbarten Gouver - neure keineswegs lüſtern. Gleichwohl tauchte um dieſe Zeit in der pontiſchen Küſtenprovinz ein einheimiſcher Feudalherr (Dere -75Das Gartenland Dſchanik .Bey, d. i.: Thalfürſt) auf, der als Repräſentant der Regierung zwar Steuer einheben konnte und mußte, um den regelmäßigen Provinz-Tribut an die Hohe Pforte abführen zu können, im übrigen aber mit wahrhaft patriarchaliſcher Urwüchſigkeit ſein Territorium verwaltete. Es war der mehr und mehr wachſende Machteinfluß dieſes Feudalherrn und Gouverneurs, Tahir Paſcha, der den viel mächtigeren, aber ungleich grauſameren Gouverneur Armeniens, Juſſuff Paſcha, reizte, und einen unbegrenzten Neid in ihm erwachen ließ. Da die Pforte Willens war, Tahirs Regiment bis zu den laziſchen Bergen auszudehnen, um die ge - fährliche Nachbarſchaft dieſes öſtlichen Grenzvolkes, auf das wir weiter unten noch zurückkommen werden, unſchädlich zu machen, beeilte ſich der Erzerumer Gouverneur ſeinen Bruder Osman, gleich Juſſuff ein Vampyr der verächtlichſten Sorte, in Trapezunt einzuſetzen und ſo, ganz den Intentionen der Regierung zuwider, die Autorität Tahirs zu beſchränken. Was konnten für den ſelbſtſüchtigen Gouverneur Armeniens die Verfügungen der Pforte bedeuten, ihm, der wie ein Halb-Souverän in den verarmten und ausgepreßten Gauen zwiſchen Pontus und Kurdiſtan hauſte? Juſſuff wußte die Sache aber noch viel klüger anzufaſſen und ehe er zu directen Eigenmächtigkeiten und Gewaltacten ſchritt, denuncirte er ſeinen Nachbar Tahir in Conſtantinopel als einen offenen Rebellen und daraufhin erhielt jener die entſprechenden Voll - machten einzuſchreiten. Zwar war der Strauß kein leichter und die flinken unnahbaren Bergjäger des Dſchanik trotzten ſelbſt den 20,000 Mann, die gleich einer plündernden und mordenden Horde von den armeniſchen Tafelländern ins Geſtadeland einge - brochen waren, am Ende aber blieb dennoch der größte Theil der Provinz den Juſſuff’ſchen Mordgeſellen zugänglich und die unerhörteſten Grauſamkeiten wurden auf Rechnung der officiellen Regierung in einer ihrer ruhigſten Provinzen begangen1Roſen, Geſchichte der Türkei , a. a. O..

Juſſuff, der Armenien zu Grunde gerichtet hatte durch offenen Raub, nichtswürdige Erpreſſung und andere unerhörte despotiſche Acte, ward ſomit auch zum Vernichter der Erwerbs - quellen eines ganzen Volkes, das ſich nur des einen Verbrechens ſchuldig gemacht hatte, ſeinem Gouverneur und Feudalherrn treu76Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.geblieben zu ſein. Daß bald hierauf Osman Paſcha, der die vernichtete Provinz übernahm, ein Winkel-Despot noch ſchlimmerer Sorte wurde, als ſein ehrenwerther Mentor, kann nimmer be - fremden. Da aber all dieſes Gelichter auch die Pforte betrog und nur verſchwindende Bruchtheile jener Summen als Tribut einſandte, die ſie dem rechtloſen Volke abgenommen hatten, ſo muß man in der That ſtaunen, daß all dieſe geſegneten Länder - ſtriche nicht vollends in Verwilderung und Barbarei ſanken. Man glaube indeß ja nicht, daß die Chriſten allein in dieſer Hölle auf Erden ſchmachteten; es traf auch die Moslims und erſtere waren nur inſofern noch ſchlimmer daran, als ſie neben dem Drucke von oben auch noch der Verachtung ihrer anders - gläubigen Mitbürger, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, ausgeſetzt waren1In Colchis und im Innern Klein-Aſiens iſt es wahrhaft eine In - famie Chriſt zu ſein. Das Chriſtenthum iſt hier ſo vollſtändig beſiegt und geknickt, daß an ein Wiederaufleben von innen heraus unter keinerlei Umſtänden zu denken iſt. Es iſt die Religion der Vorſtädte und ſchmutzigen ſchlechten Winkel, während alles Volk in der Citadelle (von Trapezunt) in den höher und zierlich gelegenen Stadttheilen und auf den Landſitzen türkiſch redet und den Islam bekennt. Zu dieſen Privilegien der Ehren - haftigkeit, des Reichthums und der Macht geſellt ſich in Anatolien auch noch das numeriſche Uebergewicht der Mohammedaner, ſo daß den Chriſten ſelbſt die Hoffnung zur Freiheit entſchwunden und die Rache allein im Herzen geblieben iſt. Wer die Rache am Geſchlechte Osman vollzieht, iſt der legitime, von Gott ſelbſt auserwählte Herr dieſes Himmelsſtriches. Einer Zeit, wie der unſrigen (1840) muß die Staatsklugheit, mit welcher das aller Verbeſſerung feindſelige Volk der Türken ſeiner Herrſchaft eine ſo dauerhafte Grundlage zu geben vermochte, als ein höchlich zu beachten - des und beſonders reſpectables Phänomen erſcheinen. (Fallmerayer, Fragmente aus dem Orient , 168.) Aber dieſe Herrſchaft muß denn doch nur ein Schein geweſen ſein, wenn der Fragmentiſt an anderer Stelle (S. 216) den türkiſchen Großen die Worte in den Mund legt: Wären die Chriſten nicht eine hündiſche, weinberauſchte Rotte erbärmlicher Wichte, ſie hätten uns ſchon lange aus Europa hinausgepeitſcht. . Es iſt im Uebrigen ein Irrthum, wenn hin und wieder Stimmen laut werden, welche die Aufhebung der früheren Feudal - herrſchaft, als die dem Lande entſprechendſte, beklagen. Als Sultan Mahmud II. dies that, da war es nur ſeine Abſicht, die ungebundene Machtſtellung der autochthonen Provinz-Gou - verneure zu brechen und ſich eine gefügigere Büreaukratie zu77Die kaukaſiſche Emigration.ſchaffen. Er befreite aber auch die Provinz-Bevölkerung, ohne es direct beabſichtigt zu haben, von dem Jammer ewiger Fehden zwiſchen den einzelnen Gouverneuren ſelbſt, unter welchen die Länder und Völker ebenſo wenig gedeihen konnten, als wie unter der ſpäteren bis auf unſere Tage ſich erhaltenen Paſcha-Wirtſchaft, die unter officiellem Deckmantel ihre Schandthaten großzieht.

Mit Trapezunt iſt noch ein anderes beſonderes Capitel der orientaliſchen Völkerſchickſale verknüpft: die kaukaſiſche Emi - gration Die Völker des Oſtens erfreuen ſich bei uns un - leugbarer Popularität. An den Boden, den ſie einnehmen, knüpfen wir in der Regel Vorſtellungen von urwüchſiger Romantik, die angeblich in unſeren von der Natur beleckten Heimatländern nicht ihres Gleichen findet; die einſamen Niederlaſſungen laſſen an patriarchaliſcher Idyllität nichts zu wünſchen übrig, und die Söhne dieſer Länder und Städte ſind die typiſcheſten Repräſen - tanten zahlreicher, von anheimelnder Naivetät beherrſchten Familien - Gemeinſchaften. Von der zweifelhaft edlen Beduinen-Romantik, die durch erfindungsreiche optimiſtiſche Reiſebriefſteller im abend - ländiſchen Publicum durch Jahrzehnte eine nie verdiente Beachtung und Sympathie zu erlangen wußte, ſei hier gar nicht die Rede. Selbſt der gelehrte Layard hat hierin mancherlei verbrochen und ſo wahr und getreu und farbenprächtig ſeine Schilderungen des ninivitiſchen Frühlings ſind1Layard, Niniveh and its Remains , a. a. O., ſo romanhaft und unwahr nehmen ſich in Wirklichkeit ſeine in die köſtlichen Bilder hinein - gewobenen Staffagen aus. Daß die richtigen und ächten Beduinen das denkbar bettelhafteſte und treuloſeſte Geſindel von der Welt ſind, hat man mit der Zeit zu erfahren vollauf Gelegenheit gehabt; Chateaubriands Nachtreter ſind allmälig außer Cours gebracht worden und heute glaubt Niemand mehr an den Liebes - zauber in chaldäiſchen Oaſennächten, oder an die ſentimentalen Scheikstöchter, die gleich überirdiſchen Weſen in der Blüthen - und Gartenwildniß dem Weltgetriebe entlegenen Santonscapellen wandeln ſollen2Eine rühmliche Ausnahme macht in dieſer Richtung der farben - prächtige Cultur-Roman C. v. Vincentis, Die Tempelſtürmer Hocharabiens , der jene religiös-reformatoriſche Bewegung zum hiſtoriſchen Grundthema Viel hartnäckiger hat man in dem mit78Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.der nackten, einfachen Thatſache nimmer zufriedenen deutſchen Leſepublicum an der Romantik des Völkerlebens im Kaukaſus feſtgehalten. Neben der räumlichen Entfernung, welche, wie be - kannt, gleich großen Zeitabſtänden am beſten geeignet iſt, Länder, Völker und Ereigniſſe in milderem Lichte, mitunter auch poetiſch verklärt erſcheinen zu laſſen, ſcheint uns an der optimiſtiſchen Auffaſſung der kaukaſiſchen Völker Niemand geringerer die Schuld zu tragen, als Rußlands größter Dichter Alexander Puſchkin. Jeder halbwegs Beleſene kennt bei uns die prächtigen, von einer unvergleichlichen Schwermuth getragenen Bilder, die er in ſeinem epiſchen Gedichte Der Gefangene im Kaukaſus uns vorführt. Abgeſehen von der energiſchen Malerei, die ſich in der Localität dieſes herrlichen Poëms entfaltet, gibt es wenige Dichter, die mit dem Aufwande aller Seelenqualen den Kampf im Empfin - dungsleben ſo ſchmerzhaft zerfaſernd dargethan haben, als Puſchkin in den Schilderungen der Erlebniſſe des gefangenen Ruſſen im Kaukaſus. Und um die Gefühlsſeligkeit zwiſchen dem geächteten Fremden und dem cirkaſſiſchen Mädchen ſchlingt eine romantiſche herrliche Welt, die Firnkette des Kaukaſus, der blaßblaue Zahn des Elbrus mit der blinkenden Eiskrone, den ſchützenden Gürtel, damit das Lied des Leides nicht darüber hinausfliege, die Luft glücklicherer Zonen zu durchſchauern1Nicht dich umarm ich, eine Andre, Um ſie nur wein ich in dein Haar, Sie wandert mit, wohin ich wandre, Und macht mich elend immerdar! Drum laß mir, Mädchen, meine Ketten, Die Träume und die Einſamkeit. Kannſt du mich vor Erinn’rung retten, Kannſt theilen du mein bittres Leid? .

Das iſt Alles Dunſt und Täuſchung geworden, ſeitdem die für ſubjective Empfindungen weit weniger empfänglichen Forſchungs - reiſenden die einſamen Thäler des kaukaſiſchen Iſthmus durch -2hat, welche um die Mitte des vorigen Jahrhunderts unter Abdul Wahab vom arabiſchen Hochlande ausging und von ihren puritaniſchen Leitern den greifbarſten Ausdruck durch die fanatiſche Wuth in der Zerſtörung aller Prachtbauten des ſunitiſchen und ſchiitiſchen Islams fand. Die auf - fallend herrlichen Detailbilder in dieſem Culturgemälde ſollen hier offenbar nur den Ereigniſſen ſelbſt das nöthige Relief geben.79Die kaukaſiſche Emigration.wandert haben, und uns klar und überzeugend vordemonſtrirten, daß alle poetiſchen Emanationen früherer Reiſender eitel Humbug ſeien. Es iſt nicht zu leugnen, daß einzelnen Bergvölkern des Kaukaſus Mancherlei anhaftet, ſei’s nun in rein ethniſcher Be - ziehung, oder in religiös-ſozialer, was unſer Intereſſe für ſie wärmer zu geſtalten vermag; aber ſogenannte intereſſante Völker gibt es ja nach dem bekannten diplomatiſchen Schlag - worte auch in der europäiſchen Türkei, in Anatolien und im Taurus, abgeſehen von der Legion culturbedürftiger Völker, welche über die ganze Erdkugel verbreitet ſind. Die Erfahrungen, welche zunächſt Rußland mit den kaukaſiſchen Bergvölkern gemacht hat, ſind hier viel maßgebender. Bis ins Jahr 1864 hinein haben ſie mit den unbotmäßigen Stämmen der Höhen und der Thäler einen Kampf geführt, der es nicht auf die Vernichtung der Exiſtenz des Gegners abgeſehen hatte, ſondern auf die Schaffung normaler, geordneter Zuſtände1Die Regierung verfolgte ihre rein praktiſchen Ziele mit eiſerner Conſequenz. Anſtatt die Eingeborenen mit Civiliſations-Experimenten zu quälen, was dem Aſiaten ebenſo unerträglich wäre, als wenn man ihn zwingen wollte, ſeine kleidſame Tracht abzulegen und ſich in europäiſche Kleider zu ſtecken, ſchonte man ſorgfältig die Landesſitten und Gebräuche. Anſtatt unklaren Schlagworten des Tages zu huldigen und ſich etwa damit befaſſen zu wollen, die Civiliſation nach Oſten zu tragen, beſchränkte ſich die Landesregierung darauf, Zucht und Ordnung zu halten. Den ein - zelnen Stämmen blieben ihre alten Gewohnheiten und Lebensformen ge - wahrt und die Adminiſtration lag allezeit zumeiſt in den Händen der Eingeborenen. Zugleich aber, und das iſt das Wichtigſte, verfolgte die Regierung den religiöſen Ueberzeugungen gegenüber ſtrengſte Neutralität und läßt Jedermann nach ſeiner Art ſelig werden. Es iſt alſo durchaus falſch, daß der ruſſiſche Gewinn in Kaukaſien nur eine beiſpielloſe Ver - wüſtung nationalen Lebens ſei. (F. von Hellwald, Die Erde und ihre Völker , II, 401.). Die Freiheit, welche die Tſcher - keſſen, Tſchetſchenzen und Abchaſen meinten, war immerdar die1Du hörteſt meines Herzens Beichte, Nun reich zum Abſchied mir die Hand. Leb wohl! Des Weibes Lieb iſt ſeichte; Kurz trauert ſie, zerriß ein Band. Die Liebe weicht der langen Weile. Dann ſchärft ſie neue Liebespfeile! (Ueberſ. v. A. Seubert, a. a. O., 30.) 80Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.Freiheit in jeder Art von Zügelloſigkeit. Daß derjenige der Freieſte ſei, welcher dem Geſetze ſich zu unterordnen verſtehe, konnte für die Helden Dagheſtans und der Kabarda wohl nur ein unverſtändliches Theorem bleiben, abgeſehen davon, daß ſelbſt die einzelnen Autonomien nichts von dem beſaßen, was man gemeinhin unter bürgerlicher Freiheit verſteht. Thatſächlich kämpften die kaukaſiſchen Bergvölker durch Jahrzehnte um eine Unabhängigkeit, die ſie ihrer innerſten Organiſation nach niemals beſaßen. Wo es in der Bergwildniß noch einen Clan gab, der von ruſſiſchen Soldaten nicht bezwungen war, da herrſchte der Pſech , der Fürſt, unumſchränkt und despotiſch wie kein Winkel - tyrann in den centralaſiatiſchen Khanaten. Die Leibeigenſchaft der untern Claſſe war eine ſo drückende1v. Berg, Türkiſche Tſcherkeſſen , in d. Wien. Abendpoſt , 1876., wie niemals zuvor in dem benachbarten Rußland, und wenn dennoch die Bergvölker gegen den fremden Eindringling ihren Boden mit ſeltenem Helden - muthe vertheidigten, ſo war’s einerſeits wilder Trotz, anderſeits der Hang zu geſetzloſen Zuſtänden und drittens die leidenſchaft - liche Neigung zum Kampfe. Wie wenig Rußland ſelbſt willens war, ſich der beiſpiellos verwilderten Bergſtämme anzunehmen, beweiſt ſchon nachfolgende Thatſache in hinlänglichem Maße. Als im Jahre 1864 Großfürſt Michael die letzten Tſcherkeſſen - ſtämme im weſtlichen Kaukaſus niedergeworfen hatte, ſtellte es die Regierung denſelben frei, ſich entweder den ruſſiſchen Geſetzen zu fügen oder das Land und das Geſammtreich zu ver - laſſen. Damals leiſteten nahezu 300,000 Tſcherkeſſen, Abchaſen und Kabardiner der letzteren Aufforderung Folge, indem gleich - zeitig die türkiſche Regierung ſich bereit erklärte, die Emigranten gaſtfreundlich aufzunehmen. Daß das ruſſiſche Geſetz noch immer beſſer war, als die Hospitalität der rechtgläubigen Brüder in der Türkei, ſollten die damaligen Emigranten nur zu bald er - fahren. Die zahlloſen Dampfer, welche wunderlicher Weiſe die ruſſiſche Regierung ſelbſt beigeſtellt hatte, ſetzten binnen wenigen Wochen die Emigranten an der türkiſchen Pontusküſte ab, und zwar zuerſt in Trapezunt. Hier ward ihr Erſcheinen bald zu einer furchtbaren Invaſion. Gleich rieſigen Heuſchreckenſchwärmen occupirten ſie proviſoriſch alles Land umher, nur nothdürftig81Die kaukaſiſche Emigration.bekleidet und ohne alle Proviantvorräthe, Anfangs vom Bettel, ſpäter von Diebſtahl und Raub lebend. Hunderttauſend Flüchtlinge hatten bereits die Blüthengeſtade von Dſchanik zertreten und immer noch hielten die plumpen ruſſiſchen Transportſchiffe an den Küſtenpunkten, um neue zahlloſe Candidaten des Hungers ans Land zu ſetzen. Da ſie ihre eigenen Kinder nicht verzehren konnten, ſo ward bald die Stadt Trapezunt ſelbſt, ſowie auch das benachbarte Samſun und Kheraſunt vor den gefährlichen, in jeder Richtung elend herabgekommenen Maſſen nicht ſicher.

Das war der erſte Gruß der von der Pforte pomphaft an - gekündigten Gaſtfreundſchaft. Der ehrenwerthe Gouverneur von Trapezunt ſchloß ſich im ſogenannten Caſtell ein und ließ zu ſeiner perſönlichen Sicherheit ein altes roſtiges Kanonenrohr, das ſeit Paskiewitſchs Zeiten im Schloßhofe lag, aus dem Sande hervorſcharren und in eine zur Breſche gewordene Schießſcharte einſtellen, um eventuellenfalls Feuer auf ſeine Schutzbefohlenen zu geben. Im Grunde war es dem Manne auch ganz und gar nicht zu verargen, daß er ſo handelte. Es war die Pflicht der Pforte, ſofort Anſtalten für die erſte Verpflegung der Emigranten zu treffen und deren Weiterbeförderung ſo ſchleunig wie möglich anzuordnen, um Maſſenanhäufungen vorzubeugen. Aber die ruſſiſchen Dampfer waren ſchneller als die Dispoſitionen der Stambuler Regierung Jawasch dostler jardümüziz Allahdan gelur 1 Langſam, Freunde; Eure Hilfe kommt von Gott! , riefen die Sykophanten am goldenen Horn. Aber auch Allah ſcheint ſich mit ſeiner Hilfe nicht zu ſehr beeilt zu haben, denn eines ſchönen Tages begann der Hungertyphus ſeine erſten Opfer zu holen und in wenigen Tagen nahm derſelbe derartige Dimenſionen an, daß an einzelnen Tagen oft 400 500 der bedauernswerthen Emigranten demſelben erlagen. Die Emi - gration hatte im Frühjahre begonnen, im Herbſte deſſelben Jahres war ein Drittel, ſage ein Drittel, oder in Ziffern: 100,000 Perſonen derſelben in den ſchattigen Thälern des Dſchanik zur ewigen Ruhe beſtattet. Mit Hunderttauſend buchſtäblich Ver - hungerten hatte die Pforte das Freundſchaftsbündniß mit den Heimatloſen beſiegelt. Es war eine bittere Erfahrung für die rechtgläubigen Brüder, aber ſie verzweifelten nicht. Waren ſieSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 682Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.doch den Klauen der Moskowiter entronnen, und ſollten ſie ja nunmehr, nachdem ein Drittel von ihnen ausgerungen hatte, in die europäiſche Türkei, nach Frengiſtan, wo Alles eitel Gold iſt und Honig und Milch in den Bächen fließt, überführt werden. War das eine bittere Enttäuſchung, als die Donaudampfer der damals eben im Entſtehen begriffenen ottomaniſchen Flußſchifffahrt die freien Söhne des Kaukaſus an den nackten, mageren Geſtaden Bulgariens abſetzten! Keine Schluchten, keine Gebirgswildniß, nicht einmal Schlupfwinkel zur Bergung geraubten Gutes nichts als plattes Land und eine feige Bewohnerſchaft, die nicht einmal geſonnen ſchien, mit den fremden Männern die Klingen zu kreuzen1Dort wurde nach dem Grundſatze, daß alles Land des Sultans ſei , den Bulgaren einfach ein Theil ihrer Grundſtücke weggenommen und die Anſiedlung der Tſcherkeſſen noch dadurch erleichtert, daß man die Bul - garen zwang, ihnen beim Aufbauen der Hütten behilflich zu ſein. Theil - weiſe hatte man die Bulgaren ſogar aus ihren eigenen Häuſern an die Luft geſetzt, um den angekommenen Tſcherkeſſen während der Zeit des Hüttenbaues ein Aſyl zu geben, während man ſich um die einſtweilen obdachloſen Bul - garen wenig beunruhigte. So fand man ſpäterhin die Colonien jener kaukaſiſchen Einwanderer, von der ſerbiſchen Grenze angefangen bis nach Schumla und Adrianopel, theils unter den ſtolzen Namen glorreicher Sultane, als Medſchidieh, Osmanieh, Mahmudieh, Orchanjeh u. ſ. w., theils unter der einfachen Benennung Tſcherkeßköj Tſcherkeſſendorf. (v. Berg, a. a. O.). Gleichwohl ſtießen aber die zerlumpten und ver - hungerten Edlen , die ihren Schutzbefohlenen gegenüber in puncto der Bedrückung den Ruſſen nicht im Mindeſten nachſtanden, die roſtig gewordenen Schwerter in den Boden, mit welcher Ceremonie ſich die Tſcherkeſſen nach altem Brauche als Herren des neuen Landes erklärten. Damit war der Anfang zu der alten Wirthſchaft ge - macht und wo eine Colonie entſtand die ſich übrigens nur durch Schmutz und Armſeligkeit hervorthun konnte2F. Kanitz, Donaubulgarien , II, 71. da gab es auch wieder, wie vorher in den cirkaſſiſchen Bergen, Herren und Leibeigene, und da keiner von beiden arbeitete, kamen die weiteren Tſcherkeſſen-Tugenden, das Rauben und Plündern ſofort in Uebung. Nur mit dem Mädchenhandel ging es nunmehr raſch herab, da es an tauglichem Nachwuchs gebrach und der mittlerweile in Schwung gekommene bulgariſche Mädchenraub83Die kaukaſiſche Emigration.ſich als wenig lucrativ erwies. Wenn man einen georgiſchen Dolch liebt, ſo kauft man kein tartariſches Krautmeſſer, dachten die Agenten und wieſen die tſcherkeſſiſchen Biedermänner mit ihrer weinenden und zappelnden Waare ab.

In jüngſter Zeit haben ſich um Trapezunt abermals Scenen aus dem kaukaſiſchen Emigranten-Elend abgeſpielt, die nur inſo - fern von ihrer traurigen Härte verloren, als der Jammer eines ohnedies genug barbariſchen Krieges dieſe Scenen überſehen ließ. Nach der verunglückten Fazly’ſchen Expedition über Suchum - Kale hinaus, haben bei 36,000 Kaukaſier, meiſt Abchaſen ihre Heimat freiwillig verlaſſen, um unter dem Schirm und Schutz des Padiſchah auf fremder Erde eine neue Exiſtenz zu finden. Daß dieſe Erde, die Türkei, im Großen und Ganzen genommen, diesmal ſo wenig gaſtlich war, wie vor zwölf und dreizehn Jahren, ging aus mancher Nachricht von der Pontusküſte hervor. Hauptſächlich aber war es wieder Trapezunt, wo die Emigranten in hellen Haufen anlangten, aber die Männer fanden diesmal wenigſtens ſofort ihr Brod, indem ſie in den Kampf zogen, der für ſie immerdar ein Raubkrieg war und iſt. Die Pforte, welche ihren braven Nizams ſeit Jahr und Tag den Sold ſchuldig blieb, dafür aber dickbäuchigen Inhabern von Sinecuren in Stambul Gehalte bis zu 60,000 Piaſtern oder 6000 Gulden pro Monat (!) auszahlte, hatte für die Abchaſen ſelbſtverſtändlich kein Geld. Sie war daher indirecte gezwungen, gegenüber den tſcherkeſſiſchen Brandſchatzungen einfach ein Auge zuzudrücken, indeß ſie ſich officiell in den Harniſch warf und angab, daß ſie dieſer Räuber - romantik zu jeder Zeit energiſch zu ſteuern bemüht war. Den Weibern und Kindern war aber nicht einmal mit dem Kriege gedient und ſie waren es, die, halb nackt und hilflos, ohne Heim und Beſitz, in den Blüthengärten von Dſchanik ein ähnliches Loos fanden, wie es vor einem Dutzend Jahren ihre zuerſt emi - grirten Landsleute gefunden hatten1Ganz wunderlich nahm ſich hiebei eine Nachricht aus, daß der Vicekönig von Egypten diesmal eine große Zahl von Emigranten zur Coloniſirung des Nilthales herbeigezogen habe und daß eine oder zwei Schiffsladungen dieſelben auch thatſächlich am Geſtade des Pharaonenlandes abgeſetzt hätten. Es iſt nicht bekannt geworden, was an dieſer Nachricht Wahres ſei; ein Glück für die armen Fellahs, die ohnedies den ungeheuer -.

6*84Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.

Nach dieſem Intermezzo wollen wir uns nun wieder dem pontiſchen Küſtenlande zuwenden. Um den richtigen Ueberblick über die politiſchen und ſocialen Zuſtände der öſtlich liegenden Gebirgswelt und deren geographiſche Bedingungen kennen zu lernen, bedarf es zunächſt einer knappen Situationsſkizze von Trapezunt ab bis über Batum hinaus, wo die impoſanten und urwüchſigen Gebirgsformen mälig zuſammenſchrumpfen, um durch die Sumpf - und Dünenſtriche des cholchiſchen Küſtengebietes und ſpäter durch die urwaldartige Vegetationszone im mingreliſchen Tieflande erſetzt zu werden. Das fragliche Küſtengebirge von den Thoren Trapezunts bis zu ſeiner natürlichen öſtlichen Ab - grenzung am Tſchoruk-Fluſſe, iſt von den allgemeinen Zeitläufen, von den politiſchen oder civiliſatoriſchen Umwandlungen oder Entwicklungsſtufen der Nachbargebiete in einer Weiſe iſolirt ge - blieben, wie kein zweites Territorium in Vorder-Aſien. Schon die Lage deſſelben abſeits irgend einer hervorragenden Völker - ſtraße, an der Peripherie mächtiger Weltreiche, deren Grenz - marke ſie unter den bunteſten Wandlungen der politiſchen Machtver - hältniſſe in Vorder-Aſien ſeit zwei Jahrtauſenden geblieben, mußte genügen, um den Bewohnern dieſer abgelegenen Gebirgs - gaue eine gewiſſe Selbſtſtändigkeit, ja Unabhängigkeit zu ver - ſchaffen. So war es, als Xenophon mit ſeinen Zehntauſend über die Päſſe des pontiſchen Küſtengebirges nach Trapezunt herabzog, und das gleiche Verhältniß blieb, als ſpäter Trajan ſeine Ca - ſtelle an dieſem Geſtade errichtete, und Juſtinian Anſtrengungen machte, Herr der Gebirgsvölker zu werden. Bekannter als jeder andere Zwiſchenfall ſind die blutigen Reibereien in den laziſchen Hochbergen aus der Zeit Mithridates d. Gr., und dieſer unbän - dige Unabhängigkeitsdrang iſt den Völkern bis in unſere Tage hinein geblieben. Zahlreiche Rebellionen füllen die moderne Ge - ſchichte dieſer Küſtengaue aus und ſelbſt die culturvermittelnde1lichſten Vexationen unterliegen, wären die kaukaſiſchen Biedermänner mit ihrer zügelloſen Barbarei wohl kaum geweſen. Daß der kaukaſiſche Aelpler überdies in den Marſchen des Nildeltas eine ziemlich wunderliche Staffage abgegeben hätte, wollen wir nur nebenher bemerken; viel draſtiſcher würde ſich die Thatſache ausgenommen haben, dieſe, jeder Civiliſation unzugäng - lichen Gurgelabſchneider im Schatten der Memnonsſtatuen und unter den Sycomoren von Fayum auf uraltem Culturmoder wandeln zu ſehen.85Die oſt-pontiſchen Küſtengaue.Dampfſchifffahrt hat in den Zuſtänden derſelben nichts geändert. Es würde in der That auch ſchwer fallen, an den ſtürmiſchen Klippen-Ufern des Geſtadelandes auch nur die allerbeſcheidenſten localen Bedingungen zu einem Contacte mit der Außenwelt aus - findig zu machen; die mächtigen Gebirgscouliſſen, welche ſich ſüd - wärts immer großartiger entwickeln, fallen mit ihren Felsſtirnen mitunter ſteil, von der See ganz und gar unnahbar, zum Geſtade ab und nur die Mündungsſtellen der zahlreichen aber torrenten - artigen Küſtenflüßchen laſſen in der natürlichen ſteinernen Schranke Einfallsthore offen. Daß dieſen nicht die Bedingung innewohnen kann, den Verkehr zwiſchen dem Landes-Innern und der Außen - welt durch eventuelle Schifffahrtslinien zu vermitteln, erſcheint mehr als klar.

Von dem geſammten Küſtengebiete zwiſchen dem Dendermen - Su bei Trapezunt und Tſchoruk-Tſchai dürfte nur ein Bruch - theil, der nicht ganz die Hälfte repräſentirt, zum eigentlichen Laziſtan zu ſchlagen ſein, bewohnt von jenem oben genannten wilden, räuberiſchen, der Blutrache wie der Fehde gleich leiden - ſchaftlich ergebenen Volke der Lazen. Ihre Gaue liegen ganz im Oſten des Küſtengebirges, wo es ſeinen eigentlichen alpinen Charakter annimmt und zwiſchen gewaltigen Bergwipfeln, die die Schneegrenze erreichen, wunderbar üppige Waldlandſchaften und unnahbare Hochtriften entfaltet. Dort liegen die Gehöfte der Bergbewohner, ſtarke Riegelbauten mit Spitzdächern, hin und wieder die Schindel-Eindachung auch mit ſchweren Steinen be - ſchwert, ganz wie im Berner Oberland, oder in anderen Alpen - ſtrichen des Weſtens. Bevor wir in dieſe ſelten betretenen Ge - birgsgaue eintreten, bedarf es wohl der topographiſchen Ver - mittlung von Weſten her, wo das Küſtengebiet mälig in jenes Geſtadeland übergeht, und das im Laufe der Jahrhunderte un - gleich mehr mit der Außenwelt in Verbindung geſtanden hat. Es iſt der Strich von Trapezunt über Tripoli, Kheraſunt und Sam - ſun nach Sinope. Die griechiſche Herrſchaft der Comnenen iſt, wie wir geſehen haben, keineswegs ohne Einfluß auf die nach - barlichen Gaue Laziſtans geblieben, und noch heute reicht das griechiſche Bevölkerungselement weit gegen Oſten hin. Dieſe Griechen haben ſeinerzeit den osmaniſchen Eroberern zäheſten Widerſtand geleiſtet, aber auf die Dauer gelang es den fremden86Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.Machthabern dennoch allenthalben der weſtlichen Gaue Herr zu werden, und im 17. Jahrhunderte begannen die hartbedrängten Chriſten zum Islam überzutreten, um der intoleranten Verfol - gung einerſeits und dem unerhörten Steuerdruck anderſeits zu entgehen1Indſchidſchean bei Ritter, XVIII, 915..

Das Merkwürdige hiebei iſt nun die Thatſache, daß ein eigentlicher Glaubenswechſel keineswegs ſtattgefunden hat, ſon - dern daß dieſe pontiſchen Griechen nur äußerlich der Form der moslemiſchen Rechtgläubigkeit ſich unterwarfen, und ihren Islamismus einzig nur auf den Schein beſchränkten. Sie kennen weder den Koran noch haben ſie die Beſchneidung, ja es wird behauptet, daß ſie ganz und gar ein Doppel-Leben führen ein griechiſches und ein türkiſches. Oeffentlich ſprächen ſie das Idiom ihrer nominellen Herren, insgeheim aber griechiſch. Jeder habe zwei Namen, derſelbe, der am Morgen im weißen oder grünen Kopfbund ſich Ahmed oder Selim nenne, vereine ſich Abends mit ſeinen Glaubensgenoſſen in einer verborgenen Hütte oder Grotte unter Leitung eines Papas, um die Bräuche der chriſtlichen Kirche zu feiern deſſelben Papas, der einige Stun - den früher ſeinen Dienſt als Mollah that dann hießen ſie Georg, Simeon, Peter u. ſ. w.2Tſchichatſcheff, Lettres sur la Turquie , 18, bei Braun, a. a. O.. Es wird ſich mit den Gebirgs - bewohnern wahrſcheinlich ähnlich verhalten, wie mit den arg - bedrängten kurdiſchen Secten im nördlichen Meſopotamien und Thei - len von Süd-Kurdiſtan, die gleichfalls häufig nur äußerlich Moslems ſind, ſonſt aber in allen Stücken ihren Glaubensregeln und Ge - bräuchen nachgehen. Weſtwärts von Trapezunt gibt es fünf Gaue mit Krypto-Chriſten: Jomura, Sürmeneh, Of, Rizeh und Hemſchin3Vgl. Eli Smith, Researches, und bei Koch, Wanderungen im Orient , I, dann Flandin, Voyage en Perse , I. . Alle ſind von der Küſte her nur ſchwer zugänglich; aber auch im Innern ſind die Straßen höchſt mangelhaft und geſchloſſene Ortſchaften gehören zu den Seltenheiten. Die Holz - hütten mit ihren beſchwerten Schindeldächern liegen zerſtreut, meiſt auf Felsklippen4Eli Smith, a. a. O. und werden nur im Winter bewohnt; im87Die oſt-pontiſchen Küſtengaue.Sommer zieht Alles auf die Alpen und nur am Karawanenwege finden ſich Leute ein, um den vorüberziehenden Händlern ihre Erzeugniſſe, meiſt aber nur Rohproducte, darunter vorzügliche Butter und Käſearten, anzubieten. Am einſamſten ſind die Gaue von Of und Rizeh, mit dunklen Waldgebirgen im Innern und verſteckten Dörfern, welche unter den mächtigſten Kronen von Eſchen, Buchen, Buxbaum, Nußbäumen und Caſtanien wie be - graben liegen. Beſonders maleriſch und zugleich intereſſant iſt das Städtchen Of, deſſen geiſtig regſame Bevölkerung den Ruf genießt, die gelehrteſten Ulemas und Rechtskundigen in Conſtan - tinopel ihre Landsleute nennen zu können1Ritter, Erdkunde , XVIII, 919.. Der freie, unab - hängige Sinn dieſes Volkes, verbunden mit Rohheit, aber auch ſtrengen Sitten, Mäßigkeit und Klugheit, machte es bisher ſtets zu den hartnäckigſten Gegnern ihrer nominellen Beherrſcher, an denen ſie ſich durch Raubzüge und Ueberfälle rächen für die Ver - ſuche gewaltſamer Unterwerfung, die nur einmal in früheren Jahrzehnten (unter Abdullah Paſcha von Trapezunt) einiger - maßen gelungen iſt. Zur Verhinderung einer dauernden tür - kiſchen Occupation hat bisher wohl auch in hohem Grade die Natur des Berglandes beigetragen und die Türken ſelbſt nennen es nie anders als Tſchengelistan, d. i.: Das Land der Widerhaken .

Nicht minder maleriſch und in Bezug auf ſeine Vergangen - heit intereſſant iſt die Hauptſtadt des nächſten Gaues, Rizeh. Zu beiden Seiten des ausmündenden kryſtallhellen Bergflüßchens zieht ſich, von der ſchmalen Küſtenfläche in halbmondförmigen Etagen die buſchigen Hänge hinan, das anmuthige Städtchen, die einſtige römiſche Grenzfeſtung gegen die Lazen. Die Natur entfaltet ſich von hier ab bereits mit weit größerer Ueppigkeit, auch die Gebirge ſteigen immer ſteiler hinan und in die wald - dunklen Schluchten, welche ſich gegen den öſtlichen Nachbar-Gau von Hemſchin ſenken, blicken bereits die Schneehauben des Katſchghar-Gebirges. Allenthalben ſind die natürlichen Porphyr - hügel, welche aus dem friſchen Gartengrün des Geſtadelandes hervortauchen, mit Burgruinen geſchmückt2Koch, Wanderungen im Orient , II. , wie die türkiſche Tra - dition ſagt, jene genuäſiſche Schlöſſer (Dſchiniwiz-Hiſſarlar). 88Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.In der Nähe Rizehs liegt auch das Stammſchloß der einſt be - rüchtigten und mächtigen Gauherren Tuzdſchi-Oghlu, d. i.: Salzhändler-Söhne , deren letzter vor einigen Jahrzehnten von der Pforte beſiegt und ſein Beſitz unter türkiſche Verwaltung geſtellt wurde. Im Nachbar-Gau Hemſchin iſt die griechiſche Population bereits von Lazen durchſetzt. Wir betreten mit ihm die eigentliche pontiſch-laziſche Alpenwelt mit ihrer grandioſen Einförmigkeit und Unwegſamkeit. Ueberall Schneehauben und Eisfelder, rieſige Bergkegel und dräuende Felswände neben Ab - gründen, an denen vorüber die Saumſteige nach den hohen Alpen - triften des Hinterlandes führen.

An der Küſte beginnt das eigentliche Laziſtan bei dem ge - waltigen Vorgebirge Kemer-Burun, vier Meilen öſtlich von Rizeh. Von hier bis zum Cap Jaroz-Burun thürmt ſich eine einzige ſtarre Felsmauer aus den Fluthen empor und ihr öſtliches Ende iſt abermals von einer maleriſch-düſteren Ruine eines ehemaligen Gauherrn überragt. Die Lazen ſelbſt, welche meiſt in den wil - deſten und undurchdringlichſten Fels - und Gebirgsſchluchten woh - nen, laſſen ſich auch mit Vorliebe an der Küſte nieder, und haben ihre trefflichen Eigenſchaften im Seedienſte die Pforte beſonders neueſter Zeit vielfach veranlaßt, ihr Matroſenmaterial für die Kriegsmarine dem laziſchen Küſtenſtriche bis Batum zu ent - nehmen. Ueberdies ſind die Lazen vorzügliche Eclaireurs und wie alle mohammedaniſchen Bergbewohner bis zur äußerſten Verwegenheit tapfer. Die Ruhe iſt ihnen verhaßt, dafür aber der Kampf ihre Sehnſucht und nichts reizt ſie mehr, als die Gefahr, in die ſie ſich mit echt orientaliſcher Todesverachtung bei jeder Gelegenheit ſtürzen. Dieſe Raufluſt iſt nun allerdings der nächſte Anlaß zu ewigen Stammes -, ja Familien-Reibereien und in ihrem Gefolge graſſirt die Blutrache in einem Grade, der nur ſchädigend auf ihre eigene innere Kraft reagiren muß. Nur wenige Lazen ſind Ackerbauer; die Viehzucht ziehen ſie vor, ebenſo die Fiſchzucht und die Jagd, die am pontiſchen Geſtade, beziehungsweiſe auf den Alpentriften des Hinterlandes beiderſeits äußerſt ergiebig ſein ſoll. Im Uebrigen haben die Lazen neben ihren ſchätzenswerthen Eigenſchaften auch noch ſolche, welche ihnen keineswegs abſonderliche Sympathie einzutragen vermögen. Sie ſind nämlich ein hochgradig diebiſches, treuloſes und in Folge89Die Lazen. Batum.deſſen unverläßliches Geſindel1Rottiers, Itinéraire de Tiflis à Constantinopel , 181 (bei Ritter, a. a. O.)., und zu jeder Schandthat bereit, wenn ſie entſprechend bezahlt werden, Eigenſchaften, die ſie mit ihren ariſchen Brüdern , den Kurden, ſo ziemlich in eine Kate - gorie ſtellen laſſen2Wie bei den Bosniern, Pomaken (bulgariſchen Mohammedanern), Arnauten, mohammedaniſchen Kretenſern u. a. ehemals chriſtlichen Völkern, die zum Islam übertraten, ſind auch die Lazen die erbittertſten Feinde ihrer früheren Glaubensgenoſſen, und dieſer fanatiſche Haß trägt weſent - lich dazu bei, daß Europäer auf das bedenkliche Vergnügen einer Durch - forſchung Laziſtans verzichten, ſo intereſſant es wäre, endlich umfaſſendere Aufklärungen über daſſelbe zu erhalten. Die Sprache der Lazen iſt nach Dr. Roſen, der den erſten Andeutungen Klaproths (Asia polyglotta) gefolgt iſt, ein Dialekt des georgiſchen Sprachſtammes, alſo das Kartli , welches die ſogenannten cartaliniſchen Völker des transkaukaſiſchen Tieflandes und einzelne Bergvölker (wie die Swanen) ſprechen..

Wenden wir uns nun dem Mündungsgebiete des Tſchoruk - Su und der laziſchen Hauptſtadt Batum zu. Nur zwei Meilen ſüdlich des Forts St. Nikolaj ſchleicht ein unanſehnliches Flüß - chen dem ſchwarzen Meere zu. Sein Name iſt Tſcholoch-Su, d. i.: Faulfluß , und wie ſein trübes, ſtinkendes Waſſer, ſo iſt auch die Gegend ringsum ein troſtloſes Fieberland, das die Be - wohner meiden, zumal im Sommer, wo die naheliegenden Berge eine willkommene Zufluchtsſtätte abgeben. Das kann unmöglich immer ſo geweſen ſein, da es uns bekannt iſt, wie ſehr das kleine Gurien unter ſeinen einheimiſchen Königen, die langjährige Feudalswirthſchaft abgerechnet, prosperirte3K. Koch, Die kaukaſiſchen Länder , 81.. Die gegenwärtige klimatiſche Calamität erhält indeß gegen den cholchiſchen Küſten - ſtrich hin noch weit prägnanteren Ausdruck. Mitten aus tödt - lichem Sumpfe ragen die Palliſſaden des Forts St. Nicolaj, und was in dieſer leibhaften Gruft Jahr und Tag waltet, trägt den Stempel der Verweſung, des langſamen Dahinſiechens nach - gerade auf der Stirne. Nur die in Rußland mit beiſpielloſer Strenge gehandhabte Grenzbewachung konnte die Militärleitung beſtimmt haben, auch in dieſem traurigen Exile einen Militär - poſten zu unterhalten; der lesghiſchen und adjariſchen Mädchen - händler halber mußte eine ausdauernde und opferwillige Gar -90Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.niſon auf dieſer Jammerſtätte ihrem Verderben geweiht werden Der Wanderer, welcher die Sumpf - und Dünenküſte des alten Kolchis von dem heutigen Poti ab durchwandert hat, ſtieß ſomit an dem alten Grenzſtriche vorerſt nur auf Gräber, von denen einige Hügel ſtets friſch aufgeworfen ſind; erſt ſpäter begegnete er den bleichen, fieberäugigen Wachleuten und er ward ſie nicht los, auch wenn er bereits den pfützenhaften Tſcholoch überſchritten hatte, dort, wo ſich das frühere türkiſche Fort Kindriſchi erhob, in gleich troſtloſer Gegend. Auf niederem Hügel liegt da eine verfallene guriſche Burg, die Brutſtätte giftigen Gewürms und auf den feuchten Blöcken ſonnen ſich Salamander und Molche. Die Gebirgslehnen hinan wird es allerdings beſſer. Auch dort liegt hin und wieder das Fragment einer Burg, aber die dunkle Silhouette derſelben erſcheint hier von dem ungetrübten Sonnen - blicke heiter verklärt und aus dem uralten Gefüge wuchern Stechpalmen, während die Höhen blühender Rhododendron ſchmückt1K. Koch, a. a. O.. Da hinauf geht es immer tiefer ins Gebirge, bis ſich nach Paſſirung eines niedern Sattels zwiſchen dem Kolowa und Perenga-Gebirge der Blick in die jenſeitigen Keſſellandſchaften ſenkt, dem Stammlande der kriegeriſchen Adjaren. Sie waren früher die berüchtigtſten Mädchenhändler, namentlich zu jener Zeit da Achalzich noch in türkiſchen Händen ſich befand und keine Autorität dem entwürdigenden Schacher Schranken ſetzte. Weidlich unterſtützt wurde dieſes wilde Bergvolk von den weit hinten im Kaukaſus wohnenden Lesghiern, welche trotz der Anweſenheit der Ruſſen in Georgien noch immer ihre Schleichwege den Koſaken unentdeckt zu halten wußten. Man nannte dies weitläufige Netz von Schmugglerwegen die Lesghiſchen Straßen und ſie zogen mitunter mitten durch ruſſiſches Territorium hindurch2A. a. O.. Heute hat ſich das freilich geändert, aber ſelbſt in jüngſter Zeit gab es noch immer Waare genug, da weder die Georgierinnen noch die andern Mädchen der kaukaſiſchen Berge in ihrer Exportation nach Stambul ein ſo namenloſes Unglück erblickten, als man im Abendlande gemeinhin annimmt3v. Berg, Türkiſche Tſcherkeſſen , a. a. O.. Es iſt allgemein bekannt, daß ſogar die georgiſchen Mütter ihren Töchtern Tag für Tag die91Die Umgebung Batums. Batum.glänzendſten Ausſichten auf dieſem Lebenswege einſchwatzen, und thatſächlich waren dieſe Schönen auch ſtets die größten Intri - guantinnen in den ſultaniſchen Harems am Bospor.

Wir wollen indeß nicht in das Land der Adjaren eindringen, ſondern ſetzen unſeren Weg ſüdwärts von Kindriſchi fort. Die Landſchaft wird bald coupirter, hin und wieder ſetzt auch einige Vegetation an, die ſich freilich kaum über ſtachliges Strauchwerk erhebt, aber für den, der die Todesſtätten am Tſcholoch und um St. Nicolaj geſehen, bildet ſie immerhin eine angenehme Unter - brechung in der unheimlichen Oede. So geht es fünf bis ſechs Stunden fort, bis nach Paſſirung der muthmaßlichen Stelle. des alten Petra plötzlich eine weitläufige Ebene den Wanderer auf - nimmt. Das iſt die Ebene von Kahaber, zum Theile ſpärliches Culturland, anderntheils graſige Niederung, weit im Hinter - grunde von abſtürzenden Gebirgszinnen des früher durch - wanderten Lazenlandes begrenzt, deren höchſte Häupter bereits in das wildromantiſche Wald - und Felſenthal des großen Tſchu - rukfluſſes hinabſehen Am Küſtenrande dieſer Ebene liegt an geräumiger, tiefer Bucht das vielgenannte Batum.

Begehrenswerth iſt der Punkt von maritimen Geſichtspunkten allerdings im hohen Grade, aber ſonſt trifft man hier auch nicht das Geringſte, was dem Orte in irgend einer Richtung zu gute geſchrieben werden könnte. In den elenden Baracken wohnen keine tauſend Menſchen, will man die flottante Bevölkerung ab - rechnen, die allerdings nicht unbedeutend iſt, denn Batum iſt der Abzugscanal all jener, wenn auch nicht ſehr gewichtigen Handels - Intereſſen, welche die dahinter liegenden Bergvölker vertreten. Batum hat weitaus den beſten Hafen auf der ganzen Küſten - ausdehnung von Sinope über Trapezunt und Poti bis zur Krim hinauf. Der Ort ſelbſt beſitzt etwa 200 Holzhäuſer, meiſt Kauf - buden, die bisher nahezu während des ganzen Jahres geſchloſſen und von ihren Beſitzern verlaſſen waren, da es nur an den all - jährlichen Bazartagen etwas umzuſetzen gab. Dann wurde es allerdings lebendig in dem kleinen ſchmutzigen Orte und das Völkergemiſch von Tſcherkeſſen, Lesghiern, Georgiern, Armeniern, Lazen, Kurden und Türken mag nicht ohne orientaliſch feſſelnden Anſtrich geweſen ſein. Dafür aber ſah es die übrige Zeit troſt - los im Deltalande des Tſchuruk aus. Wenn im Frühjahre der92Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.Schnee im armeniſchen Hochlande ſchmilzt, wird das genannte Gewäſſer zur wilden Torrente und die Fluthen ſtürzen ſich über die, weit über eine Quadratmeile große Ebene, wo dann nur hin und wieder laziſche Hütten aus dem Dickichte tauchen. Wilde Eber und Büffelheerden tummeln ſich in den Sümpfen und die Fieberluft brütet monatelang über dem ausgeſtorbenen Gefilde Beſſer ſteht es im Allgemeinen mit dem unmittel - bar am Tſchuruk gelegenen Städtchen Günieh mit ſeiner altehr - würdigen Burg1K. Koch, Kaukaſiſche Länder , a. a. O.. Die Laziſchen Berge ſind von hier nur mehr eine Meile entfernt, und auf den Höhen, wo der lichtgrüne Bux - baum ſchattet, mag die Exiſtenz wohl noch in beſcheidenem Grade erträglich ſein. Gegen Süden nimmt überdies die Ebene ſehr raſch ab und vier Meilen von Batum entfernt ſchließen die adjariſchen und laziſchen Berge hart aneinander, ſo daß nur Raum für den dahintoſenden Gebirgsſtrom bleibt. Wer ſeinen Fuß nach dieſer Richtung ſetzt, um etwa Erzerum zu erreichen, oder überhaupt nach Süden vorzudringen, dem wird die Route fürwahr nicht leicht gemacht. Sechzehn volle Reiſeſtunden geht es durch ein unwirthliches, großartiges Defilé, an zerſtörten Burgen und laziſchen Felſenneſtern vorüber, um nur bis Artwin, dem Hauptorte dieſes Gebietes zu gelangen. Hier aber entfaltet ſich ein eigenthümliches Bild inmitten der morgenländiſchen Welt. Ueber eine halbe Stunde dem Gebirgshange entlang liegen die blockhausartigen Hütten mit ihren Schindeldächern, wie in den Alpenländern mit großen Steinen beſchwert. Ueberall Gärten, Buchen, Eichen, europäiſche Obſtbäume und chriſtliche Kirchen, ein wahres Aſyl in der laziſch-adjariſchen Bergwildniß. Südlich hievon wird es freilich raſch wieder anders; die laziſchen Schmutz - buden begleiten noch geraume Zeit den Fluß, um ſpäter durch kurdiſche erſetzt zu werden, denn wir nähern uns auf dieſem Wege mälig der armeniſchen Capitale. Von der Höhe der Eufrat - quelle, welche bei dem armeniſchen Kloſter Kizil-Kiliſſe 6000 Fuß hoch dem Boden entquillt, blickt man plötzlich auf die weitläufige Hochebene von Erzerum hinab, mit ihren Troglodyten-Dörfern, den weidenden Heerden inmitten der graſigen Ebene und den düſteren, ruinenhaften Quartieren der Capitale

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IV. Van und die Kurden.

Im armeniſchen Kaſchmir. Die Stadt Van und ihre Denkmäler. Hakkiari, der Neſtorianer-Diſtrict. Die Kurden und ihre geo - graphiſche Verbreitung.

Von Erzerum, dem großen Handelscentrum Armeniens laufen die Hauptverkehrsadern radienartig nach allen Richtungen. Im Ganzen ſind es vier, wovon zwei bedeutende Sattelhöhen des oberen Eufratbeckens überſchreiten, andere zwei den Flußläufen des Eufrat und Araxes folgen. Von Trapezunt herüber zieht die neue pontiſch-armeniſche Handelsſtraße, neu in ihrer techniſchen Anlage1Sie hat es indeß, trotzdem ſie ſeit dem Jahre 1847 im Baue begriffen iſt, und trotz der verausgabten Millionen, nie weiter, als bis zur Länge eines Flintenſchuſſes gebracht. (Der anonyme Autor in Stambul und das mod. Türkenthum , I, 37.), aber uralt ihrer Richtung nach, und ſie ſchneidet wenige Meilen vor Erzerum den hohen Gebirgsring des Kop - und Gök-Daghs (10,000 Fuß). In ihrer Fortſetzung als Kara - wanenweg zieht ſie oſtwärts durch das von uns bereits berührte obere Araxes-Becken (Paſin), um ſpäter durch den Paß von Kara-Derbent in das Muradthal einzutreten und über Bajazid perſiſches Gebiet zu erreichen. Der zweite große Handelsweg zieht in gerader Linie weſtwärts, Anfangs dem Eufrat entlang, ſpäter über mehr oder weniger hohe Waſſerſcheiden auf die Plateaux-Landſchaften des öſtlichen Anatolien, um Sivas als94Van und die Kurden.erſten größeren Stapelplatz zu gewinnen. Die letzte Communi - cation endlich, jene nach Süd-Oſten, nach dem großen Van - Becken, bringt uns vorerſt über den inneren Gebirgsring Erze - rums (Palantüken - und Schoghalar-Dagh) in den Thalkeſſel Thekman und dann über das höchſte innerarmeniſche Kettengegirge, nach deſſen Paſſirung oſtwärts des Tauſend-Seen-Gebirges 1Ueber den Paß von Ak-Dagh. Die Ausſicht von ſeiner Höhe über das ganze Van-Becken, den oberen Murad-Lauf, die Erzerumer Land - ſchaften und ſelbſt bis zur Ebene von Diarbekr hinab, ſoll nach den Verſicherungen einzelner Reiſender an Großartigkeit jedes Panorama in den Alpen, Apenninen, Pyrenäen und im Balkan weitaus überbieten. (Vgl. J. M. Kinneier, Journey through Asia minor und bei Jaubert, Voy. en Arménie .. a. a. O.), unſer Fuß bereits die Quellregion des öſtlichen Eufrat (Murad) betritt. Wir erreichen dieſes Thalgebiet nach einem langen und beſchwerlichen Marſche längs jähen und tiefen Schluchten. Die Thäler ſind wenig bevölkert, die Berglehnen nur ſpärlich bewaldet und eiſige Winde von den rieſigen Schneewipfeln ringsum über - ſtreichen die öden Landſchaften einſt das claſſiſche Daron oft ſechs und ſieben Monate im Jahre. Die Bevölkerung iſt eine kurdiſch-armeniſche, wobei das armeniſche Element überwiegen dürfte, aber die Armenier haben ſich durch langjährige Verge - waltigung und durch die unnatürliche Präponderanz ihrer kur - diſchen Mitbewohner ihre ethniſche Individualität vollends ver - wiſchen laſſen und heute würde man in den kurdiſch gekleideten und kurdiſch ſprechenden Armeniern kaum mehr Chriſten erblicken. Sie haben im ganzen fraglichen Gau keine Kirchen, wohl aber Prieſter, die, unwiſſend und roh, auf gleich niederer Culturſtufe mit ihren Schutzbefohlenen ſtehen. Und doch iſt gerade dieſer Theil von Armenien ein Boden, von dem einſt die alte armeniſche Cultur ausging, die Colonialſtätte der aus Aſſyrien nach Sanheribs Ermordung emigrirten Anhänger Sarezers und Adramelechs und ſpäter der Regierungsſitz der den Armeniern ergebenen mami - goniſchen Palladine. In der völlig verſchollenen Stadt Chorene, die muthmaßlich unweit des heutigen Melasgerd einer kleinen Stadt öſtlich des Murad gelegen mit Mauern und dominirender Citadelle ſich befunden haben mochte, ward Moſes, der größte und für die Forſchung wichtigſte Annaliſt Armeniens geboren. 95Das armeniſche Kaſchmir (Daron). Muſch.Heute iſt, wie ſchon erwähnt, jede Spur dieſer claſſiſchen Er - innerungen im Volke verwiſcht und die kurdiſche Räuberromantik mit ihren legendaren Kundgebungen hat die Heldengeſchichten des iraniſchen Königsbuches, die ſich ſeinerzeit auch ins Armeniſche eingeſchmuggelt hatten, verdrängt.

Nach dem Ueberſchreiten des Tſchakhma-Dagh öffnet ſich plötzlich das Bild nach dem wärmeren Süden, in deſſen ſcheinbar unendlicher Ferne die phantaſtiſch geformten Kammrücken und Schneewipfel des kurdiſchen Taurus in Sicht gelangen. Saftige Weiden breiten ſich ringsum mit den zahlloſen Heerden und den ſchwarzen Kegelzelten der kurdiſchen Nomaden1Cap. Wilbraham, Trav. in Transcaucasia etc. . Um aber in das unmittelbare Eufratbecken zu gelangen, bedarf es noch eines verwegenen Rittes mitten durch Diſtricte räuberiſcher Berg - bewohner und auch jenes unvergleichliche Panorama entzieht ſich unſeren Blicken, um erſt ſpäter wieder genoſſen zu werden, wenn unſer Weg uns durch die wilde Eufratſchlucht am Schereftin - Gebirge in die große Ebene von Muſch verſetzt. Abermals ſchließt der ſchneebedeckte Tauruszug das lachende Bild im Süden ab. Licht und Luft weben über den unüberſehbaren Plan farb - matte Schleier und durch dieſelben ſchimmern die zahlloſen Dörfer der Armenier aus ihrem Gartengrün oder aus den weiten Matten und Feldern. Es iſt das armeniſche Kaſchmir, in das wir hinab - blicken. Rings hat ſich die Gebirgsnatur in großartiger Mannig - faltigkeit entwickelt und die Rieſenhäupter des Thalbeckens blicken hier ebenſo in die Obſt - und Blüthengärten nieder, wie jene ge - waltigeren Schneewipfel des Himalaya in die Ebene des Tſchelem (Thalum) und des Wollar-Sees. In Muſch ſelbſt erleidet dies Bild nun allerdings einigen Abbruch. Die Stadt liegt zum Theil auf einem Hügel, unmittelbar am Nordfuße des kurdiſchen Taurus, zum Theil in einer engen Schlucht, und ſo lachend die Ebene ringsum iſt, ſo elend nehmen ſich die ſchmutzigen, winkeligen Gaſſen und die baufälligen Häuſer des Ortes aus, der im Uebrigen nicht ganz ohne Gewerbfleiß iſt. Der Weinſtock, der hier gedeiht, iſt derſelbe, welcher Xenophons Lob geerntet hat, als er nach dem beſchwerlichen Rückzuge durch das Karduchengebirge ſeinen96Van und die Kurden.Kriegern in dieſem kleinen Paradieſe einige Raſttage geſtattete1Wilbraham, Trav. in Transcaucasia. . Nach neueren Reiſenden ſoll indeß der hieſige Wein unſchmackhaft ſein. Geſchätzter iſt heute noch die Tabakpflanze, die an den feuchten Ufern des Kara-Su, einem Nebenfluſſe des Eufrat, gedeiht und deren Blätter ſogar bis Conſtantinopel verſendet werden ſollen. Maleriſcher, als die Stadt ſelbſt liegen einzelne alte Kurdenburgen, früher die Wohnſitze einheimiſcher Feudalherren, heute von den Unter-Statthaltern der Pforte als Amtsſitze benutzt 2Die Armenier haben in Muſch mehrere Kirchen, von denen die der Vierzig Stufen Keuch Vedavend dreizehn Jahrhunderte alt ſein ſoll. In ihrem Beſitze befindet ſich auch ein uraltes Pergament, das neue Teſtament enthaltend, in allerlei Lumpen gehüllt, ohne aber augenſchein - lich je geleſen zu werden, nicht einmal von den Prieſtern. (Southgate, bei Ritter, Erdkunde , X, 677.) Die Kurden bewohnen nicht ſelbſt die Stadt, drängen ſich aber mit Vorliebe, nachdem ſie die warme Jahreszeit hindurch die Landſchaften ringsum heimgeſucht haben, in dieſelbe, um gegen eine Taxe, Kiſchlak Para , zum Leidweſen der Bewohner Winter - quartiere zu beziehen. Immer bewaffnet, mit Speer, Flinte und rundem Schild, ſind ſie ſehr unwillkommene Gäſte.

Wenn wir unſeren Weg gerade nach Oſten verfolgen würden, ſo träfen wir das Ende der Ebene dort, wo ſich der gewaltige Nimrod-Dagh (10,000 Fuß) quer vorlegt. Von ſeinen Schnee - wipfeln fallen die Oſtlehnen unmittelbar zum Van-See ab, deſſen dunkelblaue Fläche nach allen Richtungen hin die Bergrieſen ſeiner Ufer-Umrahmung widerſpiegelt. Wir folgen indeß dem herkömmlichen Karawanenwege, der uns, nach Ueberſetzung einer ziemlich hohen Waſſerſcheide in die Gebirgsſchlucht bringt, in welcher die Kurdenſtadt Bitlis liegt. Sie iſt winkelig, wie die meiſten ihrer Art, doch gibt es hier meiſtens ſolide ſteinerne Häuſer und die Straßen ſind gepflaſtert. Auch eine alte Burg3Nach Southgate ein ſaraceniſcher mit arabiſchen Inſchriften ver - ſehener Bau. Bitlis war während der großen Kurden-Rebellionen der politiſche Mittelpunkt der Bewegung, bis Hafiz Paſcha von Diarbekr in jenen Gebirgsgauen gründlich aufgeräumt hatte. Die Stadt ſteht überdies auch in hohem Anſehen bei den Osmanen, welche deren Alter bis auf Isfendiar oder Dulkarmenien zurückführen, eine Annahme, die wir auch anderwärts in Türkiſch-Aſien, ſo zu Amaſia, wiederkehren ſehen. (Siehe Anhang unter Amaſia .97Bitlis. Karawanenſtraße am See-Ufer. Alter der Stadt Van.erhebt ſich auf der ſteilen Thalwand, wie überhaupt die ganze Niederlaſſung das vollkommene Bild einer kurdiſchen Bergſtadt abgibt. Von hier iſt der Van-See nur wenige Meilen entfernt und man gelangt dorthin, wenn man nordwärts die niedere, von Moorboden gebildete Waſſerſcheide Bitlis liegt bereits im Tigris-Gebiet überſchreitet, wo dann, im äußerſten Weſt - winkel des Binnenſees, das Städtchen Tadman mit ſeiner impo - ſanten Burgruine in Sicht tritt. Von hier führt der gewöhnliche Karawanenweg längs des Südgeſtades, zum Theile an felſigen Ufern oder ſanfteren, mit Zwergeichen und Haſelſträuchern be - wachſenen Lehnen, oder durch reizende Ebenen, von den nieder - ſtrömenden Gebirgsbächen durchädert. Auf dieſem Wege gewahrt man auch von der ehemaligen Kurdenfeſte Paghwanz das eigen - thümlich gelegene Kloſter Agthamar, das ſich auf felſigem Eilande unmittelbar aus den dunkelgrünen Fluthen des Sees erhebt. Ebenſo merkwürdig iſt die Ruinenmaſſe von Vaſtan, die auf ſandiges Geſtade hinabblickt, einſt der Sitz mächtiger armeniſcher Könige1Unweit hievon befindet ſich ein mit Keilſchriften überdeckter Fels - block von 14 Fuß Höhe, Kiziltaſch genannt, den die Kurden als den Ver - ſchlußſtein einer unterirdiſchen Schatzhöhle betrachten. Den räthſelhaften Schatz ſelbſt benennen ſie nach der Semiramis (Mali Schemiram), wie ja dieſe fabelhafte aſſyriſche Herrſcherin neben Nimrud allenthalben im heutigen Kurdiſtan und ſüdlichen Armenien in Legenden und Traditionen fortlebt. (Vgl. Schulz, Mémoire sur le lac de Van etc. , a. a. O.) Ueber Vaſtan bei J. Brant, Notes of a journey through a part of Koordistan. . Von hier tritt der Karawanenweg auf das Oſtufer des Sees über und nach mehrſtündigem Ritte durch die frucht - bare Geſtade-Ebene tritt plötzlich die Stadt Van, ganz im Hinter - grunde einer lieblichen Bucht, mit ihren üppigen Gärten und dem ſtattlichen Caſtell in Sicht.

Das Alter der Stadt Van ſoll ein ſehr reſpectables ſein und ſpricht eine armeniſche Tradition von einer Gründung durch die Königin Semiramis, wodurch auch der alt-armeniſche Name Schemiram-Gerd, Stadt der Semiramis , ſeine Erklärung findet. Iſt nun Van, das dieſen Namen erſt von einem armeniſchen Könige erhalten hat, wirklich eine Gründung der Semiramis? Nach den Reſultaten der letzten Forſchungen und Unterſuchungen2Rawlinſon, Smith u. A.Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 798Van und die Kurden.iſt es zunächſt feſtgeſtellt, daß in der aſſyriſchen Geſchichte in zwei ziemlich weit von einander abſtehenden Epochen der Name einer Königin Semiramis auftaucht. Moſes von Chorene erzählt nämlich nach und mit verſchiedenen Schriftſtellern, Ninos ſei nicht, wie Kteſias es darſtellt, ruhig im Genuſſe der Herrſchaft geſtorben, ſondern von ſeinem Weibe (Semiramis) geſtürzt und vertrieben worden. Die neueren Orientaliſten haben nun con - ſtatirt, daß dies einfach eine Verwechslung des großen Ninos mit dem elenden Ninos II., mit dem die Dynaſtie Kavus aus - ſtarb, ſowie der großen Semiramis des Kteſias mit der ſpäteren Herrſcherin gleichen Namens, von der Herodot berichtet, ſei. Die Regierungszeit der beiden genannten aſſyriſchen Könige und ihrer Gattinnen liegt aber mindeſtens tauſend Jahre auseinander1J. Kruger, Geſchichte der Aſſyrier und Iranier , 127. Nach Euſe - bius regierte die jüngere Semiramis 17 Jahre (bis 768 v. Chr.), was auch aus einem monumentalen Zeugniſſe im brittiſchen Muſeum, auf das ſich Rawlinſon (im Athenaeum , Nr. 1381) beruft, unzweifelhaft hervor - geht. Das fragliche Monument iſt eine gut erhaltene Statue des Gottes Nebo aus Chala (Ninive) mit einer Inſchrift, nach der der Künſtler ſie ſeinem Könige Phallukha (Ninos II. ), und deſſen Gattin Samnuramit widmet., was für das Alter der Stadt Van, die durch ihren armeniſchen Namen auf die Gründerin hindeutet, einen ſehr erheblichen Aus - fall gibt. Von dem muthmaßlich ſehr hohen Alter der Stadt ſpricht auch der Umſtand, daß ſie ſchon zur Zeit Alexanders vollends dem Verfalle preisgegeben war. Damals wurde ſie von dem armeniſchen Könige Van wieder erbaut, eine Nengründung, die auch noch unter den Arſaciden platzgriff, ſo unter dem Könige Valarſaces, dem zweiten Beherrſcher Armeniens aus dieſem Ge - ſchlechte. Trotz ihrer ſtillen Abgelegenheit in der großen Plateau - ſenkung zwiſchen dem Taurusſyſtem und dem armeniſchen Hoch - lande ſind dieſer hochintereſſanten Stadt ſchwere Prüfungen keineswegs erſpart geblieben. Die Seldſchuken traten bald in ihren Beſitz, ohne ihr etwas anzuthun, was von den Tartaren nicht behauptet werden kann, die unter dem berüchtigten Völker - mörder Temur Lenk nach hergebrachter Gewohnheit in die Stadt eindrangen, ſie plünderten und vernichteten. Beſſer ſind im Ganzen die Perſer und Turkmenen mit Van verfahren. Im Jahre 1533, alſo beinahe hundert Jahre nach der Eroberung99Das heutige Van. Culturdenkmale.Conſtantinopels durch Mohammed II., ging ſie in den Beſitz der Osmanen über, freilich im Laufe der Zeit häufig nur nominell, denn nirgends in Türkiſch-Aſien haben die kurdiſchen Unabhängigkeits - gelüſte ſo reiche Blüthen getrieben, als wie auf dieſer Terra in - cognita. Sehr unbotmäßige Stämme ſind es auch heute noch, deren Territorien einen gefürchteten Cordon um die einſame Hoch - landsſtadt ziehen. Wir haben da die Heideranly-Kurden, welche nordwärts des Sees, vom 12,000 Fuß hohen Sipan-Dagh, dem impoſanteſten Schneewipfel des Landes gegen die Murad-Quelle hin ihre Weideplätze einnehmen, dann die Schamseddinly, öſtlich des Sees, und die Hertoſchi (im Lande der alten Karduchen, das Xenophon durchzog) im Südoſten, bereits in der alpinen Quell - region des öſtlichen Tigris und des Zarbſtromes.

Die heutige Stadt Van, eine ſchmutzige, regelloſe, den Cha - rakter der Aermlichkeit und Verwahrloſung tragende Häuſer - anhäufung, liegt drei viertel Stunden vom Oſtufer des Sees entfernt. Sie iſt mit einer doppelten Mauer mit Zinnen und flankirenden Thürmen umzogen und lehnt ſich im Oſten an einen vollkommen iſolirt aus der Ebene herausragenden länglichen Fels - rücken, dem Träger jener altberühmten aſſyriſchen Ruinen, deren Er - forſchung vor nun bald fünfzig Jahren dem deutſchen Gelehrten Schulz das Leben gekoſtet hat1Das Schloß führt den Namen Ghurab oder Van-Kaleſſi. Mit vieler Mühe hat man ins Geſtein Treppen gehauen. Die Gemächer ſind ſämmtlich in die Felsmaſſe eingehauen, enthalten aber im Inneren keiner - lei Ornamente, wohl aber bemerkt man deren außerhalb. Von den drei Terraſſen des Felsſockels führt die unterſte den Namen Khorkhor und hat fünf größere oder kleinere Grotten-Gemächer. Den oberſten Theil nimmt das eigentliche Schloß (Itſch-Kaleh, d. i. die innere Burg ) ein und zeichnet ſich beſonders durch ein Gemach von coloſſalen Dimenſionen aus. Außerhalb der Mauern gelangt man durch eine Galerie auf ein künſtlich der Felsmaſſe abgerungenes Plateau von 64 Fuß Länge und 18 Fuß Breite. Nebenan geſtattet ein gewaltiges Portal Eintritt in einen, eben - falls in den Felſen gehauenen Raum mit Wand -, Decken - und Boden - Polituren von unnachahmlich vollendeter Arbeit, wahrſcheinlich eine Todten - kammer. Namentlich hier ſind die nackten, äußeren Felswände mit zahl - reichen Inſchriften bedeckt. (Schulz, Mémoire sur le lac de Van etc. .. a. a. O. K. Koch, Die kaukaſiſchen Länder , 175.). Von der Höhe dieſer aſſyriſchen Akropolis aus dürfte indeß der Beſchauer des weitläufigen Bildes der Stadtanlage von Van immerhin noch einigen Reiz abzugewinnen7*100Van und die Kurden.vermögen. So elend winkelig und im hohen Grade unwohnlich die Niederlaſſung ſelbſt iſt, ſo anmuthig nimmt ſich die unmittel - bare Umgebung derſelben aus.

Van liegt mitten im Gartengrün und ſo präſentirt es ſich auch jenem Reiſenden, der von Weſten alſo dem gewöhnlichen Reiſewege der Europäer längs des See-Ufers der Stadt ſich nähert. Jede ordentliche Haushaltung iſt im Beſitze eines Hauſes in der Stadt und eines Landhauſes mit den entſprechenden Gärten im Weichbilde derſelben. Dieſen unbefeſtigten Theil ihres Wohnſitzes nennen ſie Baglar , d. i.: die Gärten und unterſcheiden ihn ſcharf von der eigentlichen Stadt, Van Schehri . In dieſe Gärten ziehen alle Einwohner zur Sommerszeit, alle Hauptwege darin ſind mit ſchmucken Häuſern beſetzt, aber auch jedes derar - tige Tusculum von hohen Lehmmauern umzogen, ſo daß man in der Nähe nur dieſe, aus der Ferne, ſobald man in der Ebene verbleibt, nur die Baumkronen, namentlich ſchöne und zahlreiche Silberpappeln gewahrt. Im Ganzen zieht ſich dieſe grüne Inſel bis zum Seegeſtade, an dem, Kähne ausgenommen, von Reiſenden aus den verſchiedenen Decennien auch nicht ein Schiff, dem man ſich zu einer längeren Fahrt anvertrauen könnte, angetroffen wurde. Der See, der einen bedeutenden Salzgehalt hat, iſt tief - blau, an den Rändern, namentlich im Norden und Weſten, durch Abſpiegelung gewaltiger Schneehäupter etwas nüancirter in der Grundfarbe, ſonſt aber ziemlich reizlos, da er keine eigentlichen Uferortſchaften beſitzt1Vgl. J. Brant, Notes of a journey etc. .., 397.. Im Süden des Van-Beckens liegen die früheren Schlupfwinkel des einſt weit berühmten Kurdenfürſten Mahmud Khan. Wir haben gelegentlich unſerer Beſchreibung von Bajazid des Winkeldespoten Belul-Kurd gedacht2Siehe oben, S. 5.. Sein Rivale jenſeits des Ala-Gebirges war nun dieſer Mahmud Khan. Wie kein Zweiter in dieſen verrufenen Gauen hat er dazu bei - getragen, Wohlſtand, Sitte und Ordnung zu untergraben und die ſpärliche Cultur auf Jahrzehnte hinaus zu erſticken. Im Laufe ſeiner Herrſchaft hatte er bei hundert, meiſt armeniſche Ortſchaften unter ſeine Botmäßigkeit gebracht, und ſeine ange - maßten Souveränitätsrechte auszunützen gewußt, wie kaum der101Zuſtände im Territorium von Van. Die Neſtorianer.allmächtige Padiſchah in Rum , wie die Bergvölker dort zu ſagen pflegen. Aber auch Mahmuds Macht wurde von den Türken gebrochen, freilich ohne jedwede gute Conſequenz für die Bewohner, die mit dem gleich gewaltthätigen Befreier vor - lieb nehmen mußten. Ja, die Bergvölker ſelbſt haben durch die Berührung mit dem officiellen Osmanenthum ſittlich nur verloren und an ihren meiſt naiven Charaktereigenſchaften allent - halben dann Schaden genommen, wenn ſie mit der bekanntlich ziemlich nichtsnutzigen Provinz-Bureaukratie in längeren Verkehr geriethen. Eine Verwaltung, die ihre illegalen Maßnahmen in tauſend Kleinigkeiten documentirte, konnte das Selbſtgefühl der Berg - völker, unbeſchadet ihrer eigenen mangelhaften Vorſtellung von den Begriffen Mein und Dein, nur beleidigen, und wo ſie ſich den Nach - ſtellungen und Bedrückungen der Behörden nicht entziehen konnten, wurden ſie Heuchler, Meineidige, raffinirte Diebe und Wegelagerer.

Am ſchlimmſten haben ſich dieſe Verhältniſſe im Neſtorianer - Diſtricte von Hakkari (oder Hakhiari), in der Quellregion des großen Zarb geſtaltet. Das Gebiet wird durch den Gebirgsſtock des Djebel Djudi, der ſich zwiſchen dem genannten Strom und den Tigris aufbaut, weſtwärts begrenzt und reicht gegen Oſten bis zur perſiſchen Grenze. Dies iſt die locale Abgrenzung auf türkiſchem Gebiete, Neſtorianer wohnen aber auch im nordweſtlichen Perſien, namentlich um Urumiah und verſprengte Gemeinden findet man ſelbſt im nördlichen Meſopotamien (bei Feyſchhabur und am Südhange des Tſchaspi-Gebirges), ihrem einſtigen Haupt - ſitze, aus welchem ſie die Völkerſtürme des Mittelalters bald verdrängt hatten1J. Braun, Gemälde d. moh. Welt , 183. Vgl. Badgar, The Nestorians . Es iſt bisher nur wenigen Reiſenden gelungen, ihre heutige Heimat zu durchforſchen, wozu der Grund ebenſo ſehr in der Unzugänglichkeit der meiſten entlegenen Gebiete des Alpen - landes zu ſuchen iſt, wie in der Wildheit der Bewohner, an welchem Renommé die chriſtlichen Neſtorianer und mohamme - daniſchen Kurden ziemlich gleichen Antheil haben mögen. Die einzige Paſſage iſt überdies nur das Thal des Zarb, das die Hauptmaſſe des Alpenlandes gliedert. Zu beiden Seiten des - ſelben liegen die gefährlichen Schlupfwinkel der Leihun-Kurden und dieſer wilde Stamm war es, der einen Bedr-Khan hervor -102Van und die Kurden.bringen konnte, den berüchtigtſten Chriſtenſchlächter aus den Vierziger Jahren. Als damals das ganze Gebiet vom furcht - baren Religionskriege widerhallte, glaubte die Pforte einſchreiten zu müſſen, aber ſie gab im Ganzen genommen nur den müßigen Zuſchauer ab und mochte ihr ſtilles Gefallen daran finden, die wilden Bergſtämme, ob nun dieſes oder jenes Glaubens, ſich gegenſeitig vernichten zu ſehen. Daß ihre Sympathie, namentlich die der türkiſchen Truppen-Commandanten, mehr auf Seite der Kurden ſtand, liegt in der Natur der Sache und ſo fanden dieſe freie Hand, ihrem uralten Haſſe die Zügel ſchießen zu laſſen und unter den Neſtorianern aufzuräumen1Von Bedr Khan wird folgende ſchöne That berichtet. Einige Dörfer vertheidigten tapfer ihre Päſſe. Zu Dſchumba am Zarbſtrome (der ſich tief durch dieſe ganze Alpenmaſſe durchwindet, nur überſpannt von einigen Brücken aus ſchwankem Flechtwerk) wurde der Bürgermeiſter (Malek) Ismael mit zerſchoſſenem Schenkelbein vor den Wütherich geführt und als er zuſammenbrach, rief der Kurde: Warum ſetzt ſich der Ungläubige vor mir nieder und wer iſt dieſer Hund, der es gewagt hat, das Blut wahrer Gläubigen zu vergießen? O mir! erwiderte Malek Ismael, dieſer Arm hat nahezu zwanzig Kurden das Leben genommen und hätte Gott mir das meine erhalten, wären noch ebenſoviel durch ihn gefallen! Auf einen Wink Bedr-Khans ſchleppte man den Gefangenen an den Strom und ſchnitt ihm den Kopf über dem Waſſer ab. Auch um einen Wort - bruch mehr oder weniger kam es dieſem Rechtgläubigen und ſeinen Dienern nicht an. Auf einer faſt unzugänglichen Bergplatte hatte der Kurde Zeiner Beg einer daſelbſt zuſammengetriebenen Volksmenge auf den Koran ge - ſchworen, ſie ſchonen zu wollen, wenn man die Waffen ausliefere. Kaum aber war dies geſchehen, als die Metzelei begann. (Ganz wie im nörd - lichen Thrakien im Bulgaren-Aufſtande 1876.) Zuletzt des Mordens müde, zwangen die Kurden, tief im Blute ſtehend und mit dem Dolche in der Hand, Alles was noch übrig war in den Abgrund zu ſpringen. (Layard, Niniveh and ist Remains, I, 188, 209; bei J. Braun, Gemälde ꝛc. ). Das Verhältniß zwiſchen den beiden Bergvölkern war indeß nicht immer ein aus - geſprochen feindliches, ja hin und wieder, namentlich zur Zeit der Aufhebung des Feudalweſens unter Sultan Mahmud II., mit welcher Reform-Action bekanntlich die Macht der Dere - Beys (Thalfürſten) gebrochen werden ſollte, ſchwand jeder Anta - gonismus unter ihnen und ſie wehrten mit vereinter Kraft die Invaſionsbeſtrebungen der Pforte ab. An dieſe einſtige Brüder - lichkeit mochte ſich aber Bedr-Khan nicht mehr erinnert haben. 103Chriſtenmaſſacre. Bedr-Kahn und Nur-Allah. Allgemeine Armuth.Die Fehden ſind indeß auch heute noch häufig, namentlich im Gebiete von Tijari, wo zwiſchen Schneewipfeln in waſſerreichen Thälern die Steinhütten der Neſtorianer unter gewaltigen Nuß - bäumen liegen1J. Braun, Gemälde d. moh. Welt , 185.. Weiter nordwärts, im Gebiete von Djulamerk, hatte Nur-Allah die Maſſacres arrangirt, er wurde aber ſpäter, als er ſich auch den intervenirenden Truppen widerſetzte, gefangen und ins Exil nach Kandia geſchickt2Ebend. S. 186.. Daß heute die Dinge in dieſem ſo entlegenen Winkel von Türkiſch-Aſien anders, d. h. für die Chriſten beſſer ſtehen, wird wohl Niemand vorauszuſetzen wagen, der das ungebundene Schalten der öſtlichen Bergvölker kennt3Neueſtens wurde dem armeniſchen Journal Lrakir gemeldet, daß der armeniſche Biſchof von Muſch dem Patriarchen darüber Bericht er - ſtattete, daß einige ſchlechte Individuen in die armeniſche Kirche dortſelbſt eingedrungen ſeien und, einen Hund dem Prieſter in die Arme legend, gefordert hätten, er ſolle ihn taufen. (Aug. Allg. Ztg. , Nr. 73, 1877.). Welch ſchöne Aufgabe für jene ferne Zukunft, der es vorbehalten iſt, auch unter dieſe Völker einſt Cultur und Geſittung zu tragen4Im Bezirke von Hakkiari wohnen ungefähr 100,000 Neſtorianer, und zwar am compacteſten im Diſtricte von Djulamerk. Die Gemeinden Dez, Baz, Dſchelo, Zeon, Tyari, Beitul-Schebab, Tſchall und Tohub zählen zuſammen an 14,000 Häuſer, von denen drei Viertheile den Chriſten an - gehören. (v. Zwiedinet, Hiſtoriſch-geographiſche Notizen über den Neſtorianer - Diſtrict Hakkiari ; Mitth. d. kk. geogr. Geſellſchaft, Wien, 1876. S. 82 u. ff.)!

Aber ſelbſt im tiefſten Frieden kann Van und ſein Terri - torium bei all ſeiner Fruchtbarkeit und Lieblichkeit die ohnedies dünn genug geſäete Bevölkerung nicht ernähren. Jeder Beſucher Conſtantinopels wird ſich der ſtämmigen, ſchwarzäugigen Geſtalten erinnern, die allerorts daſelbſt an den Straßenecken lungern und zum Laſtentragen ſich verdingen. Es ſind die bekannten Hamals , die bei einer fabelhaften Genügſamkeit (Mokka, Brod und Hülſen - früchten) einzeln Laſten befördern, die bei uns mindeſtens nur durch drei ſtarke Träger von der Stelle geſchafft werden könnten. Dieſer Leute Heimat iſt meiſt im Becken von Van zu ſuchen. Es ſollen ihrer oft 30 bis 50,000 in der Fremde ihr Brod ſuchen und der zehnte Theil derſelben kehrt jährlich mit ſeinen kleinen Erſparniſſen zu ſeiner Familie zurück. Ob ſie die letzteren ſo finden, wie ſie dieſelben verließen, iſt immerhin zu bezweifeln;104Van und die Kurden.ſehr freudvoll iſt aber auch die Rückkehr den aus Arbeitsnoth Emi - grirten nicht gemacht, denn es braucht nur irgend ein verlotterter Beamte davon Wind zu bekommen und den armen Teufeln wird das Erſparniß ſchonungslos confiscirt oder ſonſtwie erpreßt, die Mittel hiezu kennt man ja.

Es iſt eine eigenthümliche Erſcheinung, daß gerade die Türken, die für den allgemeinen Fortſchritt und die culturelle Entwickelung der von ihnen beherrſchten Völker doch wahrlich nichts gethan, ja derſelben noch immerdar feindlich entgegengetreten ſind, nicht wenig ſtolz auf ihre heutige Lehmhüttenſtadt Van ſind. Sie ſind ſtolz, eine Localität inne zu haben, deren Geſchichte ſo tief in das altersgraue Sagenthum hineinreicht, ohne zu bedenken, daß ſie mit derſelben ganz und gar nichts zu ſchaffen haben. Daß dieſes Bewußtſein einen möglichſt verkehrten und unpaſſen - den Ausdruck erhält, leuchtet ſchon daraus ein, daß von Seite der Türken eigentlich nur myſtiſche Traditionen in Curs geblieben ſind, gemengt mit blödſinnigem Aberglauben, in deſſen Kund - gebungen der eigentliche antike Zauber des Platzes vollends ver - loren geht. Für ſie ſind all die ſtummen Zeugen eines glanz - vollen Vorlebens, die gewaltigen Felsbauten, Tempel, Grotten und baulichen Reſte nur der Ort, unter dem in des Bodens Tiefe fabelhafte Schätze ſchlummern, die ſie früher oder ſpäter heben werden. Daß unter der Erde nichts, oder nur ſehr wenig, an den Bauten ſelbſt aber ſehr viel zu ſuchen, oder doch zu ſehen und zu lernen iſt, hat den moslemiſchen Geiſterſehern bisher freilich nicht einleuchten wollen, und ſo haben ſie in den alten aſſyriſchen Ruinen weidlich umhergewühlt, zerſchlagen, zer - hackt und überhaupt, wo es nur einigermaßen möglich war, das Unterſte zu oberſt gekehrt. Nur auf den Gipfeln der Monu - mente, an den unzugänglichen Felswänden und Platten haben ſich die Keil-Inſchriften zu erhalten gewußt, auf deren Löſung die autochthonen Cultur-Fanatiker umſomehr bedacht waren, als ſie darin den Schlüſſel zu den Lagerorten der vermeintlichen Schätze zu erlangen wähnten. Wenn es demnach hin und wieder in der Fachwelt Wunder nahm, daß in Van den Beſtrebungen der Forſcher, deren Zahl übrigens eine ſehr geringe iſt, ſo wenig Hinderniſſe bereitet wurden, ſo mag dies dahin erklärt werden, daß die mächtigen, aber etwas querköpfigen Honoratioren der105Die Türken in Van. Aberglaube. Keil-Inſchriften.Stadt der Semiramis durch fremde Hilfe in den Beſitz der ver - grabenen Reichthümer zu gelangen hofften1Dies gilt namentlich von zwei Felsgrotten unweit des Tabriſer Thores, alſo im Oſten der Stadt. Der Volkswahn verlegt dahin Gold - ſchätze, die unter einem Khazane Kapuſſi (Thor zum Schatzhauſe) liegen ſollen, deſſen eiſernes Gitter den Eingang zum Theſauros hindere. Zwei Männer mit Flammenſchwertern bewachen den Eingang; jede Nacht lagere ſich eine große Schlange vor dem Talisman (der Inſcription), ziehe ſich aber bei Sonnenaufgang durch ein Loch zur Rechten in das Innere der Grotte zurück Weiters ſoll unter dem, nur eine Stunde im Oſten der Stadt ſich erhebenden Hügel Zemzen-Tepe eine Stadt der Divs (Geſpenſter) vergraben liegen. Nur zwei Mittel ſoll es geben, ſie zu er - reichen: wenn man den Talisman entziffert, oder den ſiebenten Tag nach Oſtern, oder das Johannisfeſt abwartet, weil ſich die Felspforten an dieſen Tagen auf kurze Zeit von ſelbſt öffnen. Im Innern des Berges läßt der verzauberte Hahn ſein Geſchrei ertönen. (Vgl. Schulz, Mémoire etc. .. a. a. O.) Das iſt Alles. Ihren blödſinnigen Aberglauben nennen ſie Pietät für das ein - ſtige Emporium, ihre Gewaltthätigkeit ein gutes Regiment, ihre armſeligen Gärten ein Paradies. Oft hauſt die nichtsnutzige Provinz-Bureaukratie in den Dörfern des flachen Landes, und iſt ſie abgezogen, ſo kommen die Kurden von ihren Weiden herab und halten Nachleſe bei jammernden Weibern und zerknirſchten Männern. Und alle dieſe Zeichen geſchehen im Angeſichte eines großartigen Culturdenkmales, auf deſſen ſteinernen Stirnen eine geheimnißvolle Schrift von verſchollenem Glanze Kunde gibt. Wie auf dem Bagiſtan bei Ekbatana Darius auf 2000 Fuß hoher Felswand in den drei Sprachen ſeines Reiches (ariſch, turaniſch, ſemitiſch) die Geſchichte aller Empörungen, die er nieder - ſchlug, einmeißeln ließ2Es ſind mehr als 1000 Zeilen Keilſchrift, Dank ihrer ſorgſamen Politur, noch vollkommen lesbar. Mitten zwiſchen den Inſchriftencolonnen ſieht man den König ſelbſt, wie er den Fuß auf den Leib eines am Boden liegenden Rebellen ſetzt, und neun andere, von Hals zu Hals gefeſſelt, ſtehen gebeugt, mit zurückgebundenen Händen, vor ihm. Darüber ſchwebt,, ſo hat zu Van Xerxes, ſein großer Sohn, den Ruhm ſeiner Herrſchaft zu verewigen getrachtet. Und die heutigen Volksbeglücker blicken ſtumpfſinnig da hinauf und wähnen Kunde zu erhalten von verborgenen Schätzen, indeß in unver - wüſtlichen Schriftzeichen eine hiſtoriſche Kundgebung, von deren Bedeutung ſie keine blaſſe Ahnung haben, ihnen entgegenleuchtet

An den Grenzen Kurdiſtans angelangt, ergibt ſich nunmehr106Van und die Kurden.wohl die Nothwendigkeit einer Ueberſicht von dem Kurdenvolke, deſſen Schickſale allenthalben mit jenen der Armenier im Laufe der Jahrhunderte verflochten waren. Die Ethnologie nennt die Kurden ein autochthones Volk des Zagros-Syſtemes, alſo jener unwirthlichen, großartigen Gebirgs-Territorien zwiſchen dem weſt - lichen Eufrat und dem iraniſchen Hochlande, die ſie heute noch innehaben. Ob jene wilden, unbezwingbaren Bergvölker, mit denen bereits die erſten aſſyriſchen Dynaſtien vollauf zu thun hatten, Kurden geweſen ſind, oder nur deren Vorläufer, muß ſo lange eine offene Frage bleiben, bis eine andere Quelle, als die des Herodot ausfindig gemacht wird, der allerdings für die erſtere Nachricht einzutreten ſich geneigt zeigt. Es dürfte indeß für unſeren Zweck genügen, die Kurdengeſchichte von jenem Zeit - punkte ab näher zu betrachten, wo ſie in die erſten Beziehungen zu den türkiſchen Völkern trat Um das Jahr 1000 er - ſtürmte der Kurdenfürſt Merwan die finſtere Baſaltſtadt Djar - bekr am oberen Tigris, die bis dahin arabiſches Beſitzthum ge - weſen1Hammer-Purgſtall, Geſchichte d. osm. Reiches , II, 439.. Es war zu einer Zeit, in welcher das Chalifat bereits arg an innerer Zerrüttung litt und die an deſſen Peripherie ge - legenen Provinzen ſich mälig vom Stammlande abzubröckeln begannen. Merwan war der Begründer einer ihrerzeit berühm - ten Kurdendynaſtie, der Merwaniden, die hundert Jahre lang in den Hochlandſchaften des Eufrat und Tigris herrſchte und mit ihren Schaaren weit und breit Schrecken verbreitete. Aber das angeſtammte Gebrechen des geſammten Kurdenvolkes, ſeine Zerſplitterung in zahlreiche Winkeldespotien und ſeine unglückliche, arge Uneinigkeit, ward bereits damals, in der Zeit des Glanzes, dem Bergvolke zum Verderben, und ſo konnte es den damals noch ſehr kriegeriſchen Turkmenen Vorder-Aſiens unter Ortok nicht ſchwer fallen, ſich der Kurden-Metropole Diarbekr zu be - mächtigen2Deguignes, Geſchichte der Humen ꝛc. , bei Ritter, XI, 35.. Der Verluſt dieſer Stadt allein genügte, um das geſammte damalige Kurdenthum unrettbar zu discreditiren. Um das altersgraue Kara-Amid wie die Türken heute noch Diar -2wie in den Façaden der Königsgräber, das Symbol der höchſten Gott - heit. Das Ganze mag wohl das großartigſte hiſtoriſche Denkmal der Welt ſein. (J. Braun, Hiſtoriſche Landſchaften , 269.)107Zur älteren Kurdengeſchichte. Diarbekr. Selim I. bekr nennen woben nämlich Tradition und Legende Wunder - bares und Geheimnißvolles in Hülle und Fülle, und obgleich kurz vorher Merwan die feſte Stadt den Arabern weggenommen hatte, ſo galt ſie dennoch als die widerſtandskräftigſte des ganzen mohammedaniſchen Orients, wenn nicht gar als uneinnehmbar. Man ſchrieb ihr ein Alter von 4000 Jahren zu und die confuſe orientaliſche Geſchichtsſchreibung hat es glücklich dahin gebracht, daß wir heute völlig unorientirt über die Zeit der Gründung ſind, da ſeitdem beharrlich an der gänzlich unverbürgten Sage feſtgehalten wurde, wie ſie die Perſer colportiren, nämlich an der Gründung durch die Fürſtentochter Amid1Otter, Voy. II, 273.. Den Namen Diar - bekr (Land des Bekr) hat ſie erſt von den Arabern bekommen2Die Araber theilten urſprünglich Meſopotamien nach drei Stamm - vätern in ebenſoviele Theile oder Landſchaften (Diar). Dieſe drei waren die beiden Söhne Neſars, die Rebia und Maſar hießen, und Bekr, dem Sohne Wails. Bekr ließ ſich im nördlichſten Theile Meſopotamiens nieder, dem Gebirgslande, das nach ihm den Namen erhielt. (Vgl. Hammer - Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , II, 455 u. ff.). Noch heute iſt der Anblick der Stadt impoſant, wenngleich nicht ohne düſteren Eindruck. Die gewaltigen Baſaltmauern der Feſtung und ihre viereckigen Thürme thronen muthmaßlich ſeit ihrer erſten Anlage noch immer unzerſtört auf hoher Uferſtufe, an der der pfeilſchnelle Tigris vorüberſtrömt. Die Mauern ſind aus rieſigen Quaderblöcken aufgeführt3Ueber die heutige Stadt Ausführliches in unſerer Schrift: Die Gebiete des Eufrat und Tigris ꝛc. , Petermanns Mittheilungen, Ergänzhft. Nr. 45, S. 20, 21.. Temur, der auf ſeinem Zuge kurz vorher die Wälle von Bagdad in Trümmer gelegt hatte und dem die Thore Moſuls freiwillig ſich öffneten, nahm auch Diarbekr mit Sturm, indem er die oberſte Quaderlage ein - reißen ließ, was kaum für eine energiſche Vertheidigung der Stadt ſpricht, die damals noch die Turkmenen-Dynaſtie der Orto - kiden in Händen hatte. Der häufige Beſitzwechſel der Stadt kann uns indeß nicht weiter beſchäftigen, für uns genügt, daß die Stadt bereits ſeit dem Jahre 1085 nicht mehr kurdiſch war, daß ſie aber 1515 den Perſern durch den Eroberer Syriens und Egyptens, Selim I., den die Geſchichte berechtigterweiſe den108Van und die Kurden. Grauſamen 1Dieſer Sultan kann als Beiſpiel dienen, wie mit Gottvertrauen und religiöſer Zerknirſchungswuth die brutalſte Gemüthsverhärtung gegen die Mitmenſchen ſich vereinigen kann. Er, der in Klein-Aſien 40,000 Schiiten umbringen oder ins Gefängniß werfen ließ, wagte nicht einen der in der Moſchee zu Damaskus lagernden Heiligen Scheichs zuerſt anzureden (Vgl. Jouannin, Turquie , 114); er, der zu Cairo alle Mameluken (viele Hunderte) köpfen ließ, die auf ſein Amneſtie-Verſprechen ſich geſtellt hatten, ließ in der Asharmoſchee die Teppiche aus Demuth wegnehmen, ſchlug die Platten mit ſeiner Stirne und netzte ſie mit Thränen. Am Libanonfelſen, auf der Küſte bei Beirut, wo Ramſes-Seſoſtris und Sanherib ſich einge - ſchrieben, durfte auch Selim ſeine Denktafel hinterlaſſen. (Bei Braun, Gem. d. m. Welt , 389). nennt, entriſſen ward, wodurch die Kurden dauernd mit den Türken in Contact geriethen. Das Jahr 1515 bezeichnet den vollkommenen Wendepunkt in der Geſchichte der Kurden2Vgl. Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , II, 416.. Edris, Hiſtoriograph am Hofe Selims, ſelbſt Kurde von Geburt, erzählt ſehr umſtändlich, wie und mit welchen Mitteln an die Neugeſtaltung Kurdiſtans geſchritten ward, eine politiſche Neugeſtaltung, die, ſoweit ſie die Territorial-Eintheilung betrifft, nahezu unverändert bis in unſere Tage hinein gedauert hat, wie ja die ottomaniſche Regierung wunderlicherweiſe noch heute an der politiſchen Diſtricts - und Provinzeintheilung Syriens feſthält, die Selim vor mehr als dreihundert Jahren geſchaffen. Die Türken fanden im damaligen Kurdiſtan nahezu ebenſoviele Herren als Schlöſſer, deren Beſitzthum zum Theile erobert, zum Theile abgelöſt wurde, während verſchiedene Gaue mit Erfolg der Invaſion trotzten. In Folge deſſen griff eine Art Dreitheilung im Verhältniſſe der Kurden zu der Pforte Platz, indem die be - zwungenen Gaue dem Geſammtreiche mit türkiſcher Verwaltung einverleibt wurden, die abgelöſten unter kurdiſchen Chefs gewiſſe Privilegien behielten, während die unbezwungenen Territorien die Unabhängigkeit in Form eines erblichen Beſitzrechtes in der betreffenden Fürſtenfamilie zugeſichert erhielten3Unter dieſen privilegirten Sandſchaks befand ſich auch jenes von Höſſn Keif (das Schloß der guten Laune), deſſen Erbherr Chalil, der Ejubide und Schwager Schah Ismails, der letzte Sproſſe jenes Kurden - geſchlechtes war, aus dem Sultan Saladin hervorgegangen war. (Hammer - Purgſtall, a. a. O., II, 459.). Das Gebiet der letzteren umfaßte die impoſante Hochlandsmaſſe zwiſchen den109Kurden-Rebellionen.beiden Tigris-Quellarmen im Hauptzuge des kurdiſchen Taurus, wodurch das eigentliche independente Kurdenthum ſeit Selims Zeit mehr gegen Oſten abgedrängt wurde, wo es noch heute ſo ziemlich auf eigene Fauſt ſchaltet.

Die heutige typiſche Kurdencapitale iſt die Stadt Bitlis am öſtlichen Tigris, wie ſchon oben erwähnt, während der letzten großen Kurden-Rebellionen deren politiſcher Mittelpunkt. Wenn wir hiebei von den letzten Kurdenkriegen ſprechen, ſo bezieht ſich dies blos auf das diesbezügliche hiſtoriſche Quellenmaterial1v. Moltke, Briefe über Zuſtände und Begebenheiten in der Türkei ꝛc. , 255 266, 271 287., denn Kurden-Rebellionen, ſowie blutige Fehden zwiſchen den Bergbewohnern und ihren andersgläubigen Nachbarvölkern, wie Armenier, Neſtorianer, Chaldäer und Jacobiten, haben ſich immer wiederholt, ſozuſagen von Jahr zu Jahr, doch verhielt ſich die türkiſche Berichterſtattung bei ſolch unwillkommenen inneren Zwiſchenfällen gegenüber der Außenwelt, zumal der europäiſchen, begreiflicherweiſe ſehr reſervirt. Wenn auch Hafiz Paſcha von Diarbekr ſich rühmen konnte, in der urwüchſigen Landſchaft Bohtan ſämmtliche kurdiſche Raubneſter dem Erd -, oder beſſer dem Felsboden gleichgemacht zu haben, ſo bleibt es für die eigentlichen Erfolge der Türken bezeichnend genug, daß die zwangs - weiſe aſſentirten Kurdenbataillone im türkiſchen Lager durch die regulären Truppen ſchärfer bewacht werden mußten, als der Feind in den Bergen. Bei der erſten Gelegenheit riſſen ſie zu Tauſenden aus und Nachts waren die Lagerwachen gezwungen, ſtatt Front gegen den Feind, Front gegen ihre kurdiſchen Kampf - genoſſen zu machen, um ſie ſelbſt im Lager ſcharf im Auge zu behalten. Die Regierung war ſeitdem, da ſie in dieſer Frage nun einmal völlig impotent iſt, klug genug, die Kurden-Con - ſcription, wo es nur immer anging, fallen zu laſſen, und die Steuern werden unſere ariſchen Brüder , ſoweit es ſich um die Bergdiſtricte handelt, ſchwerlich ſtark drücken. Mit den Thal - kurden verhält ſich dies etwas anders. Sie ſind, wie jedes andere Volk des osmaniſchen Reiches, ſeit jeher den brutalen Erpreſſungen der Provinz-Bureaukratie ausgeſetzt geweſen, die ſich überall dort die fetteſten Biſſen nahm (und nimmt), wo der Kurde zum Spaten griff und dem productiven Boden die koſtbare Ernte110Van und die Kurden.abrang. Was dann noch erübrigte, das zerſtampften die Araber der nord-meſopotamiſchen Wanderſtämme, die, gleich der Meerfluth, ſoweit nordwärts vordringen, als ebenes Land ſich ihnen dar - bietet. So ſind die kurdiſchen Thal-Coloniſten wieder in ihre Berge getrieben worden und wo die rentable Arbeit nicht ge - deihen will, da erſetzt das Raubhandwerk die mangelnden Exiſtenz - mittel So liegen beiſpielsweiſe an der Südgrenze Kurdi - ſtans die letzten Kurdendörfer noch immer auf ſteilen Berghängen. Da hinauf wagt ſich der Beduine nicht, während in der Ebene der Kurde des Nomaden flinkes Roß fürchtet.

Die geographiſche Ausbreitung der Kurden iſt wiederholt eingehend unterſucht worden, doch iſt man zur Ueberzeugung gekommen, daß die Kurden und Kurdiſtan geographiſch nicht einen und denſelben Begriff decken, indem man unter dem letzteren das Gebirgsterritorium zwiſchen den Quell-Läufen des Eufrat und Tigris, des Aras, der beiden Zarb-Flüſſe und des perſiſchen Kyzil-Uzen verſteht, während Kurdenſtämme ſehr weitläufige Länderſtriche innehaben, die außerhalb obiger Umgrenzung liegen. Im Allgemeinen werden ſie in öſtliche und weſtliche Kurden ein - getheilt; das Gebiet der erſteren, zu beiden Seiten der türkiſch - perſiſchen Grenze gilt als die Urheimat der Kurden überhaupt1Von Rawlinſon Koordistan proper genannt. (Bei Ritter, Erd - kunde , XI, 141.). und thatſächlich hat das Volk dortſelbſt nicht nur ſeine typiſchen, ſondern auch ſeine ſocialen Eigenthümlichkeiten conſervirt, von denen die Clan-Organiſation und das Kaſtenweſen die intereſſan - teſten ſind. Die nationale Sprache iſt freilich auch hier vollends in ein türkiſch-kurdiſch-perſiſches Kauderwelſch aufgegangen. Das hohe, rauhe Ardelan wird gemeinhin als der eigentliche Urſitz der Kurden angeſehen. In Senna, der Hauptſtadt der genannten perſiſchen Grenzprovinz, iſt der Sitz der Guran oder Bauernkaſte, in dem türkiſchen Suleimanjeh jener der Kermani , oder der herrſchenden Kriegerkaſte (des Adels). Nur dieſe nennen ſich Kurd oder Karduch; der Bauer, ſei er nun ſeßhaft oder Nomade, hat kein Anrecht auf dieſe Benennung, die ſomit ein Titel iſt. Man trifft deshalb auch häufig, daß türkiſche Würden - träger, welche geborene Kurden ſind, dem officiellen Titel ihren nationalen vorſetzen, wie beiſpielsweiſe Ismael Kurd Paſcha,111Gurani und Kermani.dem bekannten General der kurdiſchen Irregulären während des letzten Krieges. Was die räumliche Ausdehnung der Kurden gegen Weſten anbelangt, ſo reichen ſie tief nach Klein-Aſien und Klein-Armenien hinein, hierſelbſt etwa bis Siwas, ja bis in die Pontusgegenden, dort thalab des Kyzil-Yrmak (Halys) bis über Kaiſarieh hinaus, ja bis zu den großen Salzſeen Centro-Ana - toliens. Die Nordgrenze der Kurdenverbreitung dürften die Thäler des weſtlichen Eufrat und des Araxes ſein; oſtwärts greifen ſie ſtark über die perſiſche Grenze hinaus und ſind be - ſonders dicht in Ardelan und Tſchaldiran. Im äußerſten Süden dürften ſie bis zum oberen Diala, der unterhalb Bagdad in den Tigris mündet, reichen. Der auf dieſe Art begrenzte Länder - complex umfaßt mindeſtens 4000 Quadrat-Meilen, doch ſind die Kurden nur in Central-Kurdiſtan das dominirende Element, ſowie in Theilen Oſt-Kurdiſtans, in allen übrigen Strichen durchſetzen ſie nur die dortige Population, welche entweder die armeniſche, türkiſche, turkmeniſche oder perſiſche iſt. Die Populationsziffer der Kurden iſt bei den gegebenen Umſtänden ſelbſtverſtändlich gänzlich unbeſtimmbar, doch werden die türkiſchen Kurden, welche die Haupt - maſſe bilden, auf rund eine Million geſchätzt1C. Sax, Wiener Ausſtellungsbericht (Türkei, S. 8). Details über die Kurdenpopulation innerhalb der türkiſchen Reichsgrenzen finden ſich in dem Stambuler officiellen Staats-Kalender (Salnamé), die jedoch keineswegs verläßlich ſind. Der engliſche Conſul Taylor beziffert die in Armenien wohnenden Kurden auf 544,000, von denen 357,000 Moham - medaner, der Reſt Sectirer ſind; im Vilajete Diarbekr belaufen ſich, nach demſelben Berichterſtatter, die Kurden auf 540,000, wodurch beide Länder zuſammen allein für ſich ſchon die Million überſchreiten würden, die übrigen Kurdenſtämme aus den Provinzen Sivas, Angora, Konja, Adana, Aleppo und Bagdad ungerechnet. (Vgl. Helle, Die Völker des osmaniſchen Reiches , 97 u. 99.). Mit den perſiſchen und ruſſiſchen Kurden dürfte ihre Zahl bei 1 ½ Millionen erreichen.

So weit wäre das Hauptſächlichſte über die Kurden in geographiſcher Hinſicht erſchöpft. Nicht minder intereſſant dünken uns aber die religiös-politiſchen Beziehungen und Divergenzen zwiſchen einzelnen größeren Stämmen oder Glaubensgemein - ſchaften, denn die Kurden ſind beileibe nicht ſammt und ſonders Mohammedaner. Zunächſt gehört ein ganz reſpectabler Procent - ſatz derſelben der im Oriente weit und breit als Teufelsanbeter 112Van und die Kurden.verrufenen Secte der Jeziden1Von Azed , einem alten Gottesnamen. (Layard, Niniveh and Babylon , 94; bei Braun ꝛc.) an, deren Hauptſitz einſt das ein - ſame Wüſtengebirge von Sindjar2Dieſes inſelartige Land, inmitten der ungeheueren Niederung und einer anderen Bevölkerungsmaſſe (der arabiſchen) war zweifellos der erſte Zufluchtsort der Jeziden, und ſo ward es mit der Zeit kurdiſch, obgleich nicht nur jezidiſche Kurden allein daſelbſt eine Heimſtätte fanden. Von den fünf Hauptſtämmen der Kabarieh, Schehanieh, Dſchenudſcheh, Cham - kieh und Denädi ſind die erſten zwei moslemiſch, die übrigen jezidiſch. Die Jeziden-Stämme aber waren es, welche viele Jahrzehnte hindurch die Karawanenwege zwiſchen Moſul und Niſibin, denen zur Seite das Sindjar - Gebirge liegt, hochgradig unſicher machten, und ſo entſchloß ſich 1837 Reſchid Paſcha zu ihrer Züchtigung auszuziehen. Die Strafe war eine beiſpiellos harte, aber zum Theil eine wohlverdiente. Die Jeziden hatten ihre weißen Steinhütten (von prachtvollen Feigengärten umgeben) verlaſſen und waren in die Höhlen des Gebirges geflüchtet, wo ſie den Türken einen blutigen Empfang bereiteten. Nach ihrer Bezwingung flüchtete ein großer Theil nach der Oaſe el Hadr (die antike Hatra) im Südoſten zu den ihnen befreundeten Schamar-Beduinen., weſtlich von Moſul, war, wo ſie in ihren unzugänglichen Höhlen das letztemal in den dreißiger Jahren durch Reſchid Paſcha à la Peliſſier ausgeräuchert wurden. Die Jeziden glauben wie alle Ultra-Schiiten an die Incarnation der Gottheit in einem Propheten und in dieſem Sinne iſt ihr hochgehaltener Nationalpatron Scheich Adi ebenſo ſehr ein Werk - zeug Gottes als Gott ſelbſt. Der Glaube an die Rehabilitirung des gefallenen Engels ſpielt bei ihnen nur eine untergeordnete Rolle, doch hat ihnen gerade dies die Bezeichnung von Teufels - anbetern und damit auch den Haß und die Verfolgungswuth der Nachbarvölker, vor Allem der Mohammedaner, zugezogen. Dies verſchlägt aber keineswegs, daß die Jeziden die Sind - jarlis ausgenommen von allen Kurden die weitaus zugäng - lichſten, toleranteſten, fleißigſten und friedlichſten ſind. Bekannt ſind ihre Feſte zu Ehren Scheich Adi’s in dem quellen - und baumreichen Thal gleichen Namens unweit von Amadia. In weißen fliegenden Gewändern und ſchwarzem Kopfbund zum melodiſchen Tone der Rohrflöten führen ſie dortſelbſt unter den uralten Nußbäumen und Platanen bei nächtlichem Fackelſchein und dem Jubelgeſchrei der Weiber: Tahlil! Tahlil! ihre reli - giöſen Tänze auf3J. Braun, a. a. O. Die ihnen hiebei nachgeſagten geſchlecht -113Jezidenſchlächtereien im Sindjargebirge. Ali Ilahi.lichen Orgien ſollen Verleumdung ſein1Layard, Niniveh and Babylon . (Die gegentheilige Behauptung bei Petermann, Reiſen , II, 331.). Von den libaneſiſchen Secten (Druſen, Naſarier, Ismaelier) iſt dergleichen bekannt, unter den Kurden ſoll aber dieſer Vorwurf nicht die Jeziden, ſondern die ſogenannten Kyzilbaſchs oder Rothköpfe, die räube - riſchſten des ganzen Kurdiſtans, treffen. Ihre Wohnſitze ſind die Hochzinnen des Tauſend Seen-Gebirges (Bingöl-Dagh) ſüdlich von Erzerum. Daß dieſe Secten ſpeciell die Jeziden von den Moslems mit grimmigem Haſſe verfolgt werden, rührt daher, daß ſie keine geſchriebenen, religiöſen Ueberlieferungen beſitzen, alſo, wie Mohammed ſich im Koran ausdrückt, keine Schrift - beſitzer ſind. Es würde zu weit führen, all jene Jeziden - Schlächtereien, welche die Pforte am Gewiſſen hat, hier einge - hender zu behandeln, bedauerlich bleibt es aber auf alle Fälle, daß gerade der brauchbarſte Theil der kurdiſchen Bevölkerung auf Schritt und Tritt verfolgt und ausgerottet wird. Eine Zeit lang wurde namentlich von Seite der Türken unter officiellem Schutze der Raub jezidiſcher Frauen ſchwunghaft betrieben; da aber am Stambuler Markt für die Teufelsanbeterinnen nur ſchwache Nachfrage war, ging der ſaubere Geſchäftsbetrieb wieder ein.

Die Jeziden wohnen am dichteſten im Berglande von Ama - dia, halbwegs zwiſchen Moſul und dem Alpenlande der Ne - ſtorianer, wo ſich in der Nachbarſchaft der Schneewipfel des Djulamerk-Stockes Dutzende kurdiſcher Raubburgen, der Beſitz moslemiſcher Kurdenbeys, erheben Ueber die Zuſtände da - ſelbſt Hakkiari haben wir bereits berichtet. Von dort iſt die perſiſche Grenze nur wenige Tagreiſen entfernt und mit ihrem Ueberſchreiten gelangen wir in das Gebiet der wildeſten und unbändigſten aller Kurdenſtämme, oder beſſer: mit den Kur - den eng verwandter Bergvölker, in jenes der Luren und Buch - thiaren. Sie hauſen in ihren Gebirgsſchlupfwinkeln halb nackt wie Troglodyten und verwehren Jedermann den Zutritt. Unter ſolchen Umſtänden iſt es mit unſerer Kenntniß über dieſe kur - diſchen Zweigfamilien ſelbſtverſtändlich ſehr ſchlecht beſtellt. Ueber die angrenzenden Ardelan-Kurden hinaus treffen wir bei Kir - manſchah auf die Secte der Ali Ilahi . Ihr Hauptſitz iſtSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 8114Van und die Kurden.Kerind, jenſeits der berühmten Zagrospforten , durch die einſt Alexander hindurchzog. Dort wird Gott in täglichen Gebeten und Fluchen aufgefordert, alle Moslems mit Hilfe Benjamins, des Sohnes Jacobs, zu vertilgen. Der Teufelscult erſcheint bei ihnen viel ſchärfer ausgeprägt als bei den Jeziden, denn ſie halten den Satan als Weltſchöpfer. Dieſe Secte wird ſogar noch bei Suſa, alſo unweit des perſiſchen Golfes, mitten unter Arabern getroffen. An dieſer Völkerſcheide aber findet unſere Abhandlung naturgemäß ihren Abſchluß1Was die Haltung der Kurden während des letzten Krieges betrifft, ſo hat vorerſt Rußland ſeine alte Politik neuerdings befolgt, wie voraus - zuſetzen war, zu ſeinem abermaligen Schaden. (Vgl. Oben, S. 6.) Scheich Huſſein Bey, ein Abkömmling der perſiſchen Sofi-Dynaſtie, deſſen Vor - fahren vor 200 Jahren aus Perſien ausgewandert waren und ſich in der Nähe von Erzingian niederließen, um ſeitdem als Häuptlinge eine völlig unabhängige Stellung zu behaupten, kam drei Monate vor der ruſſiſchen Kriegserklärung nach Erzerum und verſprach dem damaligen Gouverneur, Samih Paſcha, 10,000 Mann kurdiſcher Cavallerie. Unter dieſem Vor - wande rüſtete er ſeine Truppen aus, kaum aber war die Nachricht vom Fall Ardaghans bekannt, als er ſich an der Spitze ſeiner 10,000 Kurden für völlig unabhängig erklärte. Nun machte man ruſſiſcherſeits ſo hieß es in eingeweihten Kreiſen alle erdenklichen Anſtrengungen, um neben anderen Stämmen auch die des Scheich Huſſein für die Sache der Ruſſen zu gewinnen, und thatſächlich beſetzte auch der Kurden-Häuptling Gheko den Engpaß von Dſchibidſchi-Boghas weſtwärts von Erzerum. Aber auf General Heymanns Rath ſo hieß es weiter wurden den neuen Waffenbrüdern die nöthigen Subſidien vorbehalten, und ſo fielen ſie wieder ab. Im Monat Juli (1877) ließ General Loris-Melikoff ein Urtheil des Kriegsgerichtes vollſtrecken, wodurch Ejub-Aga, der Sohn des Chefs der Kurden, welche unter ruſſiſcher Herrſchaft ſtehen, und 21 Mitglieder der angeſehenſten kurdiſchen Familien kurzweg gehenkt wurden. Man ſagte, daß Ejubs Treuloſigkeit hauptſächlich Schuld an der damaligen rückgängigen Bewegung der Ruſſen ſeit der Schlacht von Zewin war Andererſeits ſcheint auch die Pforte wenig Glück mit den Kurden gehabt zu haben. Scheich Ubeidullah hatte zwar geſchworen, 50,000 Reiter ins Feld zu ſtellen, aber er brachte keine 3000 zuſammen. Desgleichen verließen Mitte Auguſt (d. J.) 5000 Kurden das Corps Ismail Paſchas, um die bei Van gelegenen, vom perſiſchen Kurden-Chef Ali Khan angegriffenen heimat - lichen Ortſchaften zu vertheidigen. Auch die Berg-Kurden von Buhtan revoltirten um dieſe Zeit, wurden aber bald zu Paaren getrieben. Die Oſt-Kurden hingegen verhielten ſich zu allen Ereigniſſen völlig theilnahmlos..

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V. Ueberblick auf Geſammt-Armenien.

Klein-Armenien. Das Halysplateau mit Siwas. Das plaſtiſche Total - Bild Armeniens. Die Hochſteppen. Die Eufrat-Katarakte. Armeniens culturhiſtoriſche Stellung zu Aſien. Das armeniſche Volk der Gegenwart und ſein bisheriges Verhältniß zur herrſchenden Race.

Von Erzingian ſtrömt der Eufrat noch nahezu zwanzig Meilen in ausgeſprochen weſtlicher Richtung, bis Egin, von wo er dann, die großen Krümmungen innerhalb der Kataraktenſtrecke ab - gerechnet, bis tief in die weſt-meſopotamiſche Grenzmark hinein ſeine ſüdliche Direction beibehält, um ſchließlich ſüdoſtwärts dem Perſermeere zuzuſtrömen. Das Land nördlich jener Theilſtrecke zwiſchen Erzingian und Egin iſt wol geographiſch, wie ethnographiſch noch zu Armenien zu rechnen. Wir wollen den hiſtoriſchen Factor gar nicht in Betracht ziehen, daß ſeit dem Kriegsſturme, der die erſten Seldſchukiden in die Gaue des öſtlichen Armenien getragen, zumal nach Vaspurakan (am Van-See), wo das Königsgeſchlecht der Orpelier den erſten Anprall auszuhalten hatte, ein großer Theil der dortigen armeniſchen Bewohnerſchaft Schutz bei den Byzantinern ſuchte und ihn auch in ihren Grenzterritorien am oberen Halys fand1St. Martin, Mém. s. l’Arm. , I, 373.. Für uns genügt, die geographiſche Situation im Auge zu behalten und die hieraus entſpringende Zuſammen -8*116Ueberblick auf Geſammt-Armenien.gehörigkeit klar zu machen Wir haben oben (im zweiten Abſchnitte) der großen Communicationen aus dem Centrum Ar - meniens (Erzerum) nach Weſten und der Paß-Paſſage von Kara - kulak (bei der ſogenannten Teufelsſchlucht ) gedacht, die den allgemeinen Verkehr zwiſchen der Ebene Terdjan und den weſt - wärts ſich dehnenden Gebirgslandſchaften vermittelt. Dieſe ſelbſt ſind nur eine Fortſetzung des mächtigen Kop-Dagh (10,000 Fuß), der ſich zwiſchen dem obern Eufratthal und dem Quellfluſſe des Tſchoruk quer vorlegt und von einem uralten Handelswege, dem pontiſch-armeniſch-perſiſchen überſetzt wird. Im Anſchluß hieran über Karakulak nach der vulkaniſchen Erhebungsmaſſe des Sepuh oder heiligen Berges bei Erzingian einerſeits, ſowie anderſeits um die Quellregion des Kelkit-Tſchai, der weſtwärts über Nikſar dem Meere zuſtrömt, indem er ſich vorher noch mit dem Iris vereinigt, breiten ſich noch immer Gebirgszüge, kleinere Zwiſchen - plateaux, ſowie Längenthäler, deren orographiſcher Zuſammenhang mit den öſtlichen armeniſchen Gebirgszügen ſich unverkennbar dar - thut. Erſt in der Meridianrichtung von Egin, im Plateaulande Gerdſchanis treten oſtwärts relativ niedere Randgebirge heran, die bereits einen anderen orographiſchen Typus aufweiſen. Es ſind jene ringartig aneinander gruppirten Gebirgseinfaſſungen welche den oberſten Lauf des Halys im Norden, Oſten und Süden umklammern und gleichzeitig das weitläufige Plateau be - grenzen, in deſſen beiläufiger Mitte die Hochlandsſtadt Siwas gelegen iſt.

Dieſes Territorium iſt ſo recht die Grenzmark zwiſchen Armenien und Anatolien und bevor wir das Totalgemälde des erſteren vorführen, mag es immerhin am Platze ſein, einige Zeit bei der letzten größeren Stadt der Armenier zu verweilen, die ihnen ein Hort in der Zeit ſeldſchukidiſcher Bedrängniß war. Von Dauer konnte dieſe Zwiſchenzeit freilich nicht ſein, angeſichts der rapiden Sturmfluth, die, in Geſtalt der Reiterſchaaren Alp Arzlans nach ihrem Zerſtörungswerk im Oſten, unbehindert ſich nach Weſten wälzte. Zudem bot das Land, wie auch heute noch, nur geringe Hilfsquellen und die weiten baumloſen Steppenland - ſchaften ſchienen ſo ganz geſchaffen, barbariſchen Horden zum Tummelplatze zu dienen. Wer demnach heute jene graſigen Ebenen betritt, begegnet überall nur troſtloſer Oede und Abgeſtorbenheit,117Klein-Armenien.die ſich unabſehbar die Halys-Ufer entlang breitet. Zwar die nordweſtlich vorliegenden Randgebirge beſitzen auch heute noch ihren ſporadiſchen Baumſchmuck und zu Siwas ſelbſt unterbrechen herrliche Baumgruppen (gewaltige Platanen und Pappeln) das platte Land, ſonſt aber gibts hier nur fette Weiden, Lieblings - plätze der wandernden Turkmenen und Kurden oder die Felder - gürtel, welche die Stadtbewohner ſelbſt cultiviren1Ainsworth, Trav. and. Res. ; von Moltke; Boré, Correſp. ; J. Brant, Jvurney l. c. ꝛc. bei Ritter, a. a. O.. Vollends aber erſtirbt im Südweſten, wo das zackige Karabel-Gebirge das Plateauland begrenzt, die organiſche Natur. Eine einzige Paß - ſcharte führt dort hinauf, ein prächtiges Ausfallsthor der räube - riſchen Kurden, für die es blos der Witterung den Halys entlang ziehender Karawanen bedarf, um gleich Hornißſchwärmen aus dem Schlupfwinkel auf die ohnedies immerdar beſorgten Reiſen - den hervorzubrechen. Dafür aber iſt das Land auch ſo dicht bewohnt, daß man auf der dreißig deutſche Meilen langen Strecke zwiſchen Tokat und Haſſan-Tſchelebi nur ſechs Dörfer zählt.

Eine beſonders glanzvolle Vergangenheit hat Siwas wohl nicht gehabt. Aber ſelbſt die kurze Zeit eines verhältnißmäßig annehmbaren Wohlſtandes fand ein definitives Ende, als der Weltſtürmer Temur Lenk auch hier ſeine brutale Vernichtungswuth zu bethätigen für nöthig fand. Noch ſtehen die Mauertrümmer jener Wälle, welche nur wenige Tage den Sturmböcken des Feindes widerſtehen konnten, trotz ihrer angeblich ſo formidablen Stärke, die orientaliſche Chroniſten mit Vorliebe ins Detail ausmalen2Scherifeddin, Histoire de Temur , par La Croix, III, 266. Nach dieſem hatten die Mauern eine Höhe von 20 Ellen, bei einer Dicke von 10 Ellen, die gegen die Zinnen bis auf 6 Ellen abnahm. Jeder einzelne Quader war ein coloſſaler Block; die ſieben Thore waren durch ſtarke eiſerne Thüren verſperrt, u. ſ. w.. Um ſo gräßlicher aber mußte die Bewohnerſchaft ihren kurzathmigen Widerſtand ſühnen. Die moslemiſchen Be - wohner fanden zwar Gnade vor dem gottgeliebten Menſchen - vernichter, dafür aber ließ er ſämmtliche armeniſche Chriſten zuſammenhauen und viele Tauſende von ihnen in tiefe Brun - nen werfen und dieſe ſodann verſchütten. Ein einſamer118Ueberblick auf Geſammt-Armenien.Friedhof wird noch immer als die Stelle bezeichnet, wo ganze Schaaren von Kindern durch Temurs Reiterei in den Boden geſtampft wurden1Auch in Damascus ließ der heuchleriſche Schiite auf dieſe Art 10,000 Kinder aus der Welt ſchaffen. Die große Moſchee, welche dem Kadi als Zufluchtsort angewieſen wurde, füllte ſich nach und nach mit 30,000 Flüchtlingen. Sie wurde, als Niemand mehr darin Aufnahme finden konnte, von den Tartaren mit Holz zugebaut und den Flammen übergeben. (Braun, a. a. O., 127.). Welch ungeheueren Rückſchlag all dieſe ungeheuerlichen Schandthaten auf Land und Volk ausüben mußten, iſt um ſo leichter zu begreifen, wenn man erwägt, daß gerade der rührigſte, intelligenteſte Theil der Bewohnerſchaft, die Ar - menier, nahezu ausgerottet wurden, indeß die Moslims, unein - gedenk der mit knapper Noth erlangten Schonung, das Werk der Verfolgung und Bedrückung des elenden chriſtlichen Reſtes mit viel Behagen fortgeſetzt zu haben ſcheinen. Es wäre ja im Gegenfalle nimmer zu begreifen, weshalb Siwas, das ja durch ſeine geographiſche Lage und am Kreuzungspunkte zweier großer Handelswege alle Bedingungen zur Prosperität hatte, aus ſeiner Verſumpfung und Armuth ſich niemals aufzurütteln wußte. Das einzige ältere Bauwerk, das ſich in der Stadt erhalten hat, iſt die ſteinerne Bogenbrücke aus der Zeit des armeniſchen Königs Senekherim, dem Orpelier, datirt alſo aus der Zeit der Emi - gration dieſes Geſchlechtes aus Vaspurakhan nach Klein-Armenien oder dem oberen Halys-Plateau. Alles Uebrige iſt entweder Ruine oder unanſehnlicher Holzbau, will man die viel älteren Ornamentplatten und ſonſtigen architektoniſchen Schmuck, der in einzelnen Moſcheen und Kirchen verbaut iſt, nicht gelten laſſen2Sandreczki, Reiſe nach Moſſul , I, 110.. Wenn nun vollends der hier in der Regel äußerſt ſtrenge Winter die einſame Plateauſtadt heimſucht, ſo liegt ſie während vieler Monate hindurch in mannshohen Schnee vergraben, und der Nachbar muß ſich zum Nachbar mühſam den Weg durch die Niederſchlagsmaſſe bahnen3v. Moltke, Briefe über die Türkei , 208.. Hiezu kommt noch, daß die Re - gierung in dieſem Lande, in Nachbarſchaft des unwirthlichen Anti-Taurus, niemals eine entſcheidende Autorität beſaß. Wer auch in aller Welt würde Luſt verſpüren, ſich mit den Afſcharen,119Siwas. Das plaſtiſche Totalbild Armeniens.die alljährlich zur Sommerszeit nordwärts ausſchwärmen1Bei Ritter, Erdkunde , XVIII. , nach - dem ſie während des Winters die immergrünen Haine Ciliciens durch ſtreift haben, ſich anders abzufinden, als hin und wieder ihr Wohlwollen zu erkaufen? Der Staat hat freilich keine Gelder für derlei bedenkliche Subſidien-Bewerber, und der Gouverneur ganz ſicher auch nicht, aber es bedarf nur mehrerer blutiger Anläſſe, um den zumeiſt bedrängten Bewohnern des Flachlandes plauſibel zu machen, daß es nur einer momentanen Steuer - erhöhung bedürfe, um das Uebel in Form einer Loskaufsſumme zu bannen. Gleichwol iſt das Mittel kein radicales und die ganze obere Halysgegend iſt heute, wie vordem, in der Gewalt der kriegeriſchen Afſcharen. Sie ſchwärmen weſtwärts ſogar bis zum Rieſenkegel Argäus, dort, wo ſich das weitläufige Kaiſarie (das altberühmte Cäſarea) mit ſeinen Kuppeln und weißen Minarets wie ein großartiges Oaſenbild von der dunklen Waldtapete da - hinter, die ſich den erloſchenen Vulkan hinanzieht, abhebt2Texier, Asie mineure , II, 51..

Nachdem wir mit Klein-Armenien und Siwas unſere Wan - derungen durch die einzelnen Gaue des Geſammt-Gebietes beendet finden, drängt ſich die Nothwendigkeit in den Vordergrund, neben den vielartigen Detailbildern, welche meiſt in culturgeſchichtlicher und hiſtoriſcher und wohl nicht zuletzt in allgemein touriſtiſcher Richtung ausgeſponnen wurden, von der totalen, ſo hochintereſſanten Ländermaſſe ein anſchauliches Gemälde zu gewinnen. Wir denken uns zu dieſem Ende in den nordweſtlichſten Winkel des iraniſchen Hochlandes verſetzt, eröffnen unſeren vorerſt rein orographiſchen Rundblick auf das bisherige ruſſiſche Armenien, d. i.: die mittlere Araxes-Ebene mit der doppelten Maſſen-Erhebung des Ararat und der Gruppe vom Goktſcha-See und ſchließen hieran das centrale Plateau Hoch-Armeniens mit den nördlichen, ſüdlichen und weſtlichen Vorlagen, Abfällen, Randgebirgen und den zahl - reichen Uebergangsformen. Vom Tafellande Azerbeidſchan baut ſich die Hochlandsmaſſe nordweſtwärts, ſozuſagen von den beiden rieſigen Kegelbergen Sawalan (12,200 Fuß) und Sahand (8000 Fuß), nach einer weitläufigen Unterbrechung im unteren Araxes - Thale, jenſeits dieſes Stromes noch einmal zu impoſanter Höhe120Ueberblick auf Geſammt-Armenien.empor. Es iſt das eompacte Karabagh-Gebirge, das gleichſam mit rieſigen Armen in nordweſtlicher Fortſetzung den 6340 Fuß hohen Goktſchai-See (Sawanga) auf zwei Seiten umklammert. Der zwiſchen Eriwan und dem See ſtreichende Arm, der Akman - gan, erſcheint nur als eine einzige Reihe erloſchener Vulkane, deren nordöſtliche Baſis, wie die aller übrigen Ringgebirge dieſer Seeregion, mit ſchroffen Couliſſen zum dunklen, ſchäumenden Sawanga abfällt. Alle dieſe Höhen ſind kahl und der vulka - niſche Urſprung ihr ganz beſonderes Merkmal1Dieſer Vulkanismus wirkte nach den Unterſuchungen Abichs in allen vier Hauptrichtungen, welche er bei den im ganzen Kaukaſus, Ar - menien und Nordperſien geodätiſch orientirten Gebirgserhebungen ermittelte. Im großen Kaukaſus betheiligten ſich vornehmlich nur zwei dieſer Er - hebungsrichtungen, die O. -W. und die SO. -NW., deren Schneidungswinkel im Mittel zu 25° ſich erweiſt. Dieſe beiden vorwaltenden Richtungen der Hebungen bedingten zunächſt die mächtig in die Länge gezogene Geſammt - form des großen Kaukaſus. In Armenien und Nordperſien macht ſich gleichzeitig mit dem Wachſen des Schneidungswinkels der erwähnten Rich - tungen bis auf 32° der Eingriff vulkaniſcher Axen S. -N. und SW. -NO. geltend, welche, wie jene bei den erſteren, gekrönt ſind durch die in gereihter Anordnung aufgeſetzten Eruptionskegel. (Radde, Vier Vorträge über den Kaukaſus in Petermanns geographiſchen Mittheilungen, Ergänzungs - heft Nr. 36, 12.) Am Ararat gelangt die vulkaniſche Thätigkeit ganz eigenthümlich zum Ausdrucke. Zunächſt ſtauten ſich die Lavawellen gegen die Tertiärbank im flachen Araxesthale und erſtarrten zu einem faſt ſchwarzen Klippen - meere. Von dieſer ſeiner Baſis baute ſich aber der regelmäßige Kegelcoloß zum Himmelsgewölbe auf.. In noch weiterer nordweſtlicher Fortſetzung geht dieſe orographiſche Gruppe immer mehr und mehr in das eigentliche armeniſche Randgebirge über und fällt ſchließlich in geſtreckten Stufen zur transkaukaſiſchen Tiefebene einerſeits, und zum gruſiniſchen Iſthmus anderſeits ab.

Getrennt von dieſer Erhebungsmaſſe durch die große Araxes - Ebene von Eriwan, wohl aber mit dem Tafellande von Azer - beidſchan durch einen längs des rechten Araxes-Ufers ſtreichenden Gebirgszug, der allerdings vielfache Unterbrechungen erfährt, ver - bunden, nimmt in mehr weſtlicher Richtung eine zweite Erhebungs - maſſe ihre Ausdehnung, jene des Van-Beckens, in deſſen tiefſter Depreſſion der gleichnamige mächtige Salzſee (5000 Fuß hoch) 121Das plaſtiſche Totalbild Armeniens.liegt. Zwar beſitzt dieſer orographiſche Abſchnitt mehr den all - gemeinen Plateau-Charakter und die eigentlichen Culminations - punkte liegen allenthalben in jenen Randketten, welche den Quell - arm des öſtlichen Eufrat von der Seeregion abtrennen, jener geht aber ſpäter, dort, wo ſich der Murad-Fluß nach einem ſehr trägen Laufe und nach Aufnahme zahlreicher Quellbäche durch den ſüdlich quer vorliegenden Damm ſeinen Weg bahnt, in jenes Gebirgs - maſſiv über, das, zwiſchen den beiden Eufrat-Armen ſtreichend, im Süden von Erzerum die größte Culmination erreicht. Bevor wir noch dahin gelangen, liegt auf unſerem Wege eine dritte, von dieſen beiden Abſchnitten völlig abgetrennte, räumlich zwar unbedeutende Gruppe, jene des Ararat mit ihrem ſchnee - und eisbedeckten Doppelhaupte und ſeiner Gletſchermaſſe1v. Thielmann, Streifzüge im Kaukaſus ꝛc. 156.. Wir haben ſchon im erſten Abſchnitte auf ſeiner Scheitelhöhe verweilt und haben zu dem dort Angeführten wenig hinzuzuſetzen. Als der eigentliche centrale Kern von Geſammt-Armenien, geſtattet ein Rundblick von ſeiner Höhe ſowohl ein volles Umfaſſen der Goktſchai-Gruppe, wie jener anderen, die mit ihren zahlreichen Kegelbergen den oberſten Lauf des Murad begleitet und über deren Schultern hinweg wohl noch in dämmeriger Ferne ein anderer rieſiger Kegelberg zu erblicken ſein dürfte, der am Nord - rande des Van-Sees gelegene Sipan-Dagh. Die weſtwärts ziehenden Anſchlußketten vom Pambuſch ab können kaum zu einer eigenen Gruppe qualificirt werden. Sie legen ſich mit ſehr ſteilen und kantigen Rücken und durch nur wenige Paßſcharten gegliedert zwiſchen die Flußläufe des Araxes und Murad und gehen ſpäter, nachdem die hauptſächlichſten Karawanenwege ſie allenthalben nord - und weſtwärts überquert haben, in der gemeinſamen Quell - region der beiden Eufrat und Araxes, in den weſtlichen Hauptſtock jener ſüdlichen Erhebungsmaſſe über. Es ſind die bereits oben erwähnten Höhen des Tauſend-Seen-Gebirges (Bingöl-Dagh), durch ſüdwärts, gegen Palu und Charput ſtreichende Quer - thäler, von dem nahezu zwanzig Meilen langen, völlig un - gegliederten Gebirgsmaſſiv des Muſſur-Dagh (bei 8000 Fuß hoch) abgetrennt.

122Ueberblick auf Geſammt-Armenien.

Das Charakteriſtiſche an allen dieſen Gebirgen iſt die Wald - armuth. Nur geringfügige Beſtände erhalten ſich in einer Höhe von 5 8000 Fuß über dem Meere1Radde, a. a. O., 12.. Dafür ſind aber die Thäler fruchtbar und allenthalben mit Baum-Culturen geſchmückt, wo es der Boden zuläßt2Mit einer Anzahl ſchlanker Pappelbäume bezahlt der Mohammedaner den Kalim dem Vater ſeiner Braut und der reiche Armenier am Araxes zählt nach Tauſenden die Pappelſtämme, welche den Canälen entlang in mehreren Reihen nebeneinander gepflanzt werden und die bei raſchem Wuchſe ſchon im achten Jahre einzeln den Werth von drei bis vier Rubeln repräſentiren (Ebd.). Die Waldbäume, welche dennoch vor - kommen, ſind die Buche und die Eiche, ſeltener Ahorn, Birke und Fichte. Der Weinſtock gedeiht in manchen Gegenden, be - ſonders in der mittleren Araxes-Ebene (bei Nachitſchewan), am Van-See bei Muſch, bei Erzingian u. ſ. w. Das Obſt iſt ein Hauptproduct des Landes, doch kommen eigentliche Südfrüchte nicht vor. Von den Feldfrüchten werden Weizen, Korn, Mais, Hirſe, Sorgo, Bohnen und etwas Reis gebaut, beſonders die erſteren Sorten in der Ebene am oberen Eufrat. Ebendort, ſowie in einigen anderen Gegenden dieſes Gebietes, wird der Maulbeerbaum gepflegt, im Süden die Baumwollſtaude und bei Muſch und Bitlis auch der Tabak gebaut3Sax, Türkei , 46..

Wir begeben uns nun von dieſer orographiſchen Zone auf das linke Ufer des Araxes, wo wir zunächſt das Karſer Plateau, ſpäter jenes von Tſchaldyr und Ardaghan betreten. Die Rand - und Kettengebirge ſind hier nirgends mehr maſſig und ſelbſt die orographiſche Begrenzungslinie, die, um das Quellgebiet des Kur herum, in großem weſtlichen Bogen in das Achalzicho-Imere - tiniſche Scheidegebirge übergeht, dürfte kaum Anſpruch auf Be - deutung erheben. Im Weſten iſt dieſe Zone, welche gleich jener ſüdlichen bis Erzerum reicht, durch die große Thalſenkung des Tſchuruk-Fluſſes begrenzt und jenſeits nehmen die Kettenzüge des pontiſchen Hinterlandes, ein, nur einmal in ſeiner Längen - mitte unterbrochener (bei Gümüſch-Chana durch den Charſchut-Fluß) mächtiger Gebirgswall mit einer Total-Entwickelung von nahezu 50 deutſchen Meilen ihren Anfang. Freilich ſind hiebei auch die123Das plaſtiſche Totalbild Armeniens. Die Hoch-Steppen.anatoliſchen Randketten Tſchamly-Bol -, Iyldiz - und Köſch-Dagh inbegriffen, jene ſtufenförmige Erhebung, die ſo glücklich mit einem dreifachen Feſtungsglacis verglichen worden iſt1v. Moltke bei Ritter, XVIII, 261.. Der Waldreichthum dieſer Gebirge iſt namentlich in den öſtlichen Gliedern groß und beſteht beſonders in Buchen, Fichten und Ulmen. Ganz unvergleichlich anders entfaltet ſich aber die Natur am Nordhange der pontiſch-armeniſchen Küſten - und Randgebirge, deren gewaltige Gipfel ſtellenweiſe noch immer eine impoſante Höhe erreichen. Wir haben der geographiſchen Situation hier - ſelbſt in unſerem Abſchnitte über Laziſtan gedacht und haben nun nur noch hinzuzuſetzen, daß der Waldreichthum ein ſehr be - deutender, von Forſtcultur aber keine Rede iſt. Ja viele Wälder ſind mit der Zeit vollends vernichtet worden2Sax, a. a. O., 39.. Neben den vor - herrſchenden Eichen und Fichten gibt es hier auch Bux - und Lorbeerbäume, Nuß -, Feigen - und überhaupt Obſtbäume; Citronen, Granaten gedeihen allenthalben, beſonders aber Pfirſiche, Kirſchen und Haſelnüſſe, ſowie die pontiſche Rebe, welche baumartig empor - wächſt, oder als Rieſen-Liane die höchſten Stämme ſich hinan - windet, um hoch in den Lüften zu zeitigen3K. Koch, Wanderungen im Orient , II. (Auch bei Radde, a. a. O., 20.) Bei Trapezunt iſt die Rebe zwar noch klein und durch das Meſſer gezähmt, auf den Höhen aber entwächſt ſie aller Zucht. Mit kleinbeerigen Trauben kriecht ſie über Felſen, ſchwingt ſich über den Erdſpalt und wuchert unbändigen Triebes noch mitten im Dornbuſch. Aber ſie buhlt umſonſt; Niemand ſtreckt bei dem Ueberfluß die Hand nach ihren ſüßen Früchten aus. (Fallmerayer, Fragmente aus d. Orient , 94.). Aber ſchon mit dem Eintritte und Verfolge des Tſchuruk-Thales iſts mit dieſer Pracht jählings vorüber und nur wenige Meilen von der Küſte, ſüdlich der Gebirgs-Scheidewand, liegen die erſten waldarmen Hochlandſchaften, nur in den Thalmulden oaſenartig durch be - ſcheidene Gartencultur belebt.

Einer ganz beſonderen Erwähnung bedürfen die armeniſchen Hoch-Steppen, die auf den Plateauxflächen begreiflicherweiſe mit - unter ſehr bedeutende Strecken einnehmen. Der Begriff der Steppe war lange ein undefinirter, d. h., man konnte weder in124Ueberblick auf Geſammt-Armenien.Bezug auf die Niveau-Verhältniſſe eines von allem Baumwuchſe entblößten Landes, noch auf Grund pflanzengeographiſcher Mo - mente mit der eigentlichen Fixirung des fraglichen Begriffswortes fertig werden. Daß die Steppe, ja ſelbſt die Wüſte, nur ein ökonomiſcher und kein geographiſcher Begriff ſei, mußte ſich gar bald aus verſchiedenen experimentellen Thatſachen herausſtellen, wie es ja auch erwieſen iſt, daß die öden Steppenſtrecken des heutigen Meſopotamien doch erſt eine Errungenſchaft der letzten Jahrhunderte ſeien, indem wilde Verwahrloſung dort überhand nahm, wo vorher unter dem Einfluſſe des belebenden feuchten Elementes die üppigſten Culturoaſen beſtanden hatten1Wenn im ninivitiſchen Frühling die Jagdhunde in die Wildniß rennen, kommen ſie vom Blumenſtaub gelb gefärbt zurück. (Layard, Niniveh and its Rem., I, 78 .) Da die Canäle aber aufgehört haben ihren Dienſt zu thun, wird im Sommer eine brennende Wüſte daraus und ſtatt der Millionen, die einſt hier lebten, trifft man hin und wieder ein Dorf mit einigen hundert diebiſchen Arabern, Türken und Kurden. (Bei Braun, Gemälde ꝛc. , 187.). Auch iſt mit der Steppe ſowenig, wie mit der Wüſte, ein plattes Stück Land gemeint, in welchem es keinerlei Niveau-Unterſchiede gibt. Im Weſentlichen ſind die Steppen des Tieflandes wohl mehr oder weniger eben, häufig aber breitet ſich die ſchwarzerdige Steppen - decke mit ihrer ganz eigenthümlichen organiſchen Welt über weite, undulirte Strecken, wobei freilich jene eigenthümliche, ſcheinbar unbegrenzte Scenerie verloren geht, jene der unendlichen Ein - förmigkeit, voll ergreifender poetiſcher Effecte2Am originellſten und großartigſten im Herbſte, wenn, vom Sturme gepeitſcht, die ſpirigen abgebrochenen Pflanzenleichen dahinjagen. Dann rollen ſie ſich zu mächtigen Kugelformen zuſammen, hüpfen und ſpringen in kurzen und großen Abſätzen über die ſchwarze Erde, welche durch die Sonnenhitze in unzählige Riſſe barſt. Es iſt ein wahrer Hexentanz. Nicht im unheimlichen Dunkel der Waldeinſamkeit, am Unkenteiche, nicht im Felſenreiche des Brockens ſpielt das großartige Naturballet. Das iſt Alles viel zu eng. Die unendliche Steppe lieh den Boden und der uner - meßliche Himmel wurde zur beweglichen Couliſſe. (Radde, a. a. O., 29,). Die armeniſchen Steppen haben zudem eine ſehr bedeutende Elevation, und ſo wird es häufig ſchwer, die Grenze zu beſtimmen, wo die eigent - liche Grasſteppe aufhört und die Alpentrift beginnt. Die bedeu - tendſten jener Gattung ſind die ausgedehnten Grasplateaux zu125Die Hoch-Steppen. Der hohe Taurus.beiden Seiten des oberen Muradlaufes, die Steppe Torly im Süden des erſten Murad-Durchbruches; die Steppe Karajazy zur Seite des Paſſin-Fluſſes, namentlich aber die weiten, von No - maden-Tribus wimmelnden Hochflächen öſtlich des Van-Sees. Hoch-Armenien iſt arm an Steppenſtrecken. Der Eufrat hat dort ein tiefes Rinnſal in die Erhebungsmaſſe eingeſchnitten und da - durch der regelmäßigen Thalbildung Vorſchub geleiſtet, wodurch auch Vegetation und Klima ganz anders geartet ſind, als auf der Scheitelhöhe Oſt-Armeniens. Wohl ſind auch hier die flachen Hoch-Terraſſen (bis 7000 Fuß) nicht ohne graſige Strecken, aber ſie tragen allenthalben den Typus der Alpentriften des Abendlandes und die Nomaden legen dieſen ihren Lieblingsplätzen während der heißen Sommer, den Namen Jaila bei.

Die orographiſche Grenze Armeniens im Süden iſt der große Tauruszug, der in ſeiner Fortſetzung von Cilicien her vorerſt eine gewaltige Plateaumaſſe zwiſchen den Anti-Taurus (der eigentlich nur ein Glied des Taurus iſt) und dem oberen Eufrat einſchiebt, um nach dem zwanzig Meilen langen Strom-Durch - bruche zwiſchen Malatia und Samoſat im großen Bogen gegen Oſten fortzuſtreichen. In dieſem Sinne iſt er das eigentliche Randgebirge des untern Murad und auf ſeiner Scheitelhöhe liegen die beiden Tigrisquellen, die eine im Weſten, die zweite im Oſten. Dieſer Tauruszug, der Grenzwall zwiſchen Armenien und Kurdiſtan iſt in ſeiner Totalität zwar wenig gegliedert, ohne eigentliche große Querthäler, um ſo reicher aber entfaltet er wahre Naturwunder in zahlloſen Detailbildern, in ſeinem Wechſel von Fels und Wald, von weichgeformten Thalmulden und düſter - wilden Hochzinnen, voll ſchauerlicher Abgründe und unzugäng - licher Schlupfwinkel. Ein ſolcher Detail-Abſchnitt iſt der be - rüchtigte Charſan-Dagh, der Schauplatz wiederholter blutiger Kurden-Rebellionen. Aber auch in den übrigen Gebirgsſtrichen mangelt es nicht an natürlichen Schutzwällen, hinter denen einſt die freien Clane Schutz ſuchten, als die osmaniſchen Eroberer den Sonderſtrebungen der Bergſtämme entgegentraten und denſelben überraſchend ſchnell ein Ende bereiteten. Dabei liegen die üppigſten Weiden, wahre Paradieſe für die Nomaden-Tribus unter den Felsſtirnen des Hauptkammes und von Thal zu Thal ziehen ſich die fruchtbaren Culturſtreifen der friedlicheren Ackerbauer. Be -126Ueberblick auf Geſammt-Armenien.ſonders reich aber iſt dieſes Gebiet an Mineralſchätzen, namentlich an Kupfer, wovon das Bergwerk von Arghana jährlich über 1,000,000 Okka (à Pfd.) liefern ſoll1Conſularbericht im Manuſcript., dann an Silber, Blei und Eiſen und wahrſcheinlich auch an Steinkohlen. Die Berge ſind häufig mit dichten Eichenwaldungen bedeckt, und in der Ebene zählt die Pyramidenpappel zu dem gewöhnlichſten Nutzholze. Tiefer hinab herrſcht der Oelbaum, daneben der Maulbeer -, der Granat - und der Feigenbaum, endlich die Dattel - palme2Sax, Türkei , 47.. Mit dieſen Repräſentanten haben wir aber die natür - liche Grenzſcheide bereits weit überſchritten und hiebei viel raſcher die eigentliche vorder-aſiatiſche Culturzone erreicht, als wir es vom weſtlichſten Ende Armeniens aus vermöchten. Hier ſchließen zu beiden Seiten des Halys noch ungeheuere Strecken mit vor - herrſchendem Steppencharakter an die Grenzmark von Siwas an und ſelbſt im Stromgebiete des Sangarius (Sakaria), alſo in der centralen Plateau-Senkung Anatoliens, würden wir noch keinen Unterſchied im Typus der Vegetation, des Landes und der Men - ſchen finden. Anders an der kurdiſchen Land - und Völkerſcheide. Aus dem oberen Murad-Becken hebt ſich das Land unmittelbar zum Hochwalle des Taurus empor, dann fällt es faſt ſtufenförmig zum meſopotamiſchen Tieflande hinab, alſo zur ſubtropiſchen Culturzone, wie anderſeits von den Schneehöhen des pontiſchen Küſtengebirges zum trapezuntiſch-colchiſchen Gartenland und ſeinen Waldthälern. Hier herrſcht die kaspiſche Rieſenrebe, der gewaltige Waldbaum und das mörderiſche Schlinggewächs, dort der Baum Arabiens, die Palme, welche ihren Fuß in Feuchtigkeit, ihr Haupt in Sonnenglut badet 3Deſor, Die Sahara , 26..

Großartiger als alles Uebrige iſt im kurdiſch-armeniſchen Taurus jener gewaltige Eufratdurchbruch, den man gemeinhin die Kataraktenſtrecke nennt. Sie iſt in ihrem wildeſten Theile zwanzig Meilen lang und wird die Zahl ihrer Stromſchnellen innerhalb dieſer verhältnißmäßig kurzen Strecke mit nicht weniger als Dreihundert angegeben. Schon oberhalb Malatia, dort, wo der Murad nach einem langwierigen Laufe durch gleichfalls127Die Eufrat-Katarakte.mächtige Waſſerthore in den Eufrat ſich ergießt, windet ſich dieſer zwiſchen ſchroff emporragenden Uferbergen. Aber die Communi - cation iſt hier zwiſchen beiden Uferlandſchaften noch immer möglich und über Kheban-Maden, in der Mitte der Stromenge gelegen, führt in die Erzgebirge von Charput ſogar ein leidlicher Weg. Ganz anders unterhalb Malatia, von wo ab eine Strompartie ſich entfaltet, die wol ihres Gleichen ſucht. Die ſchwarzen Baſalt - wände reichen viele hundert Fuß in ſenkrechtem Anſtiege über das ziſchende Gewäſſer, das entweder donnernd über die Fels - barren ſtürzt oder als ſchäumende Wirbel die Klippenblöcke umtoſt. Die ſeitlichen Einblicke in einzelne Bergſchluchten ſind nicht von Belang. Erwähnenswerther mag ſein, daß es gerade dieſe Schluchten ſind, welche während der Regenzeit die Felſenbarren zum Strome befördern und jene gefährlichen Hinderniſſe erzeugen. Hiebei bildet der Eufrat unzählige, ſcharfe Curven und nach jeder Wendung, nach jedem kaum vorübergegangenen Waſſerſturze, ſchlägt bereits das ferne Gebrauſe eines anderen Kataraktes ans betäubte Ohr. Hiebei werden die ſenkrechten Felswände immer höher und dunkler Baſalt wechſelt mit den phantaſtiſchen Formen des Sandſteines, oder es dräuen zerriſſene Kalkböſchungen in die Tiefe. Aber ſelbſt dieſe wilde Waſſerwildniß, die kein Kahn durch - zieht und in der jeder Verkehr erſtirbt, iſt nicht ohne romantiſche Belebung. Hoch in den Lüften, dort, wo die Uferfelſen kantig ins Hinterland zurücktreten, kleben die Niederlaſſungen einzelner Kurdentribus, inmitten ſpärlicher Vegetation, wahre Schwalben - neſter, von Menſchenhand auf den gefährlichen Auslug gepflanzt. Hier mögen die freiheitsluſtigen Hochländer wol ſicher vor den Nachſtellungen der Türken ſein. Anderſeits ſind die Bewohner dieſer Wildniß freilich mehr, als irgend einer ihrer Bruderſtämme auf der Hände Fleiß angewieſen, denn der Boden mag hier mit ſeinen Gaben wol kargen und die abgelegene Localität bietet wenig Gelegenheit zu Tauſch und Handel.

Die Kataraktenſtrecke reicht eigentlich nur bis Gerger, einer uralten Bergpoſition, wo der eingeengte Strom mehr und mehr ſeiner Feſſeln ledig wird und im breiteren Rinnſal die ſyriſch - meſopotamiſche Hochſtufe durchſtrömt. Am wildeſten und roman - tiſchſten iſt die Strompartie in der Längenmitte des Defilés, bei Telek, dort wo der Strom nach hartem Kampfe mit dem ehernen128Ueberblick auf Geſammt-Armenien.Gefüge des Maſſengebirges nach und nach eine nahezu nord - öſtliche Direction angenommen hat, die freilich bald wieder in eine ſüdweſtliche ändert. Erwähnenswerth iſt dieſer Punkt auch deshalb noch, weil von hier nur wenige Stunden landeinwärts und zwar gegen Nordoſten der kleine Hochlandsſee liegt, aus dem der weſtliche Tigris entſtrömt. Der Eufrat hat bis hierher, an der Geburtsſtelle ſeines Zwillingsbruders, bereits eine Ent - wickelung (von Erzerum ab) von mehr als achtzig Meilen erreicht. Während aber dieſer ſüdweſtwärts abfließt, zieht jener in nahezu öſtlicher Richtung, und die wenigen Stunden Landes, das Tigris und Eufrat im Defilé der Katarakte von einander trennt, ver - hindern es nicht, daß beide Ströme erſt dann, nachdem ſie ganz Kurdiſtan und Meſopotamien umſtrömt haben, erſt zehn Meilen oberhalb des Perſiſchen Golfes ihre Vereinigung bewirken.

Die Kataraktenſtrecke des Eufrat iſt, wie ſelbſtverſtändlich, unſchiffbar. Während der letzten großen Kurdenkriege zu Ende der dreißiger Jahre, mit denen auch Hafis Paſchas Feldzüge gegen Ibrahim von Egypten verbunden waren, wurde im türki - ſchen Hauptquartier zu Malatia die Beſchiffung der Strecke an - geregt, und zwar zunächſt auf Grund der dringenden Noth - wendigkeit, die Bedürfniſſe der Operationsarmee raſcher als auf dem langwierigen Landwege zu befördern. Niemand wollte ſich zu der gefährlichen Probefahrt finden und ſo entſchloß ſich der damalige preußiſche Hauptmann v. Moltke, der, wie ſchon oben erwähnt, dem Hauptquartier zugetheilt war, zu dieſem Wagniß und ihm erſt verdanken wir die genauere Kenntniß der groß - artigen Strompartie1v. Moltke, Briefe ꝛc. , 293 u. ff.. Die Fahrt, welche das erſte Mal bei Niederwaſſer durchgeführt wurde, ging nur ſchlecht von Statten. Mancher Katarakt konnte nicht anders paſſirt werden, als durch den Landtransport des zerlegten Schlauchfloſſes. Nicht viel beſſer ging es das zweite Mal, als der Strom in Folge ſtarker Regen - güſſe hoch angeſchwollen war. Die Annahme, daß bei hohem Waſſerſtande die Felsbarren leichter zu paſſiren ſein würden, ſollte ſich nicht realiſiren, denn nun waren die Katarakte wahre Waſſerfälle und mehr als einmal verſank das unſichere Floß in den Sturzwellen oder unter den kreiſenden Wogen der verderb -129Urumijah. Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.lichen Wirbel. Es war ein Act ſeltener Kühnheit, einem wilden Strom-Ungethüme durch eine wiederholte derartige Fahrt ſeine Geheimniſſe und Schrecken abzulauſchen, würdig der Jugend eines Mannes, dem ſpäterhin die Lorbern höchſten Ruhmes zu Theil werden ſollten.

Auch der Tigris beſitzt, und zwar unterhalb der Vereinigung ſeiner beiden Quellflüſſe ein derartiges Stromdefilé. Es iſt aber minder großartig, ohne eigentliche Katarakte und von geringerer Längenausdehnung. Auch iſt es, obgleich Xenophon es auf ſeinem Rückzuge nicht zu forciren wagte, von türkiſchen Expeditions - colonnen wiederholt zurückgelegt worden. Von dieſem Defilé oſtwärts gewinnt auch das Taurusſyſtem an Maſſigkeit, indem es zwiſchen dem Van-See und dem raſch ſüdoſtwärts abfallenden Tigris weitläufige, wilde Alpenländer breitet, jenes von Hakiari und Rowandiz. An der türkiſch-perſiſchen Grenze tritt dieſe orographiſche Gruppe mit dem Hochlande von Azerbedjan, von wo aus wir unſeren Rundblick auf die armeniſchen Hochländer eröffnet hatten, in Verbindung1Urumijah, mit ſeinem großen Salzſee, liegt der Grenze zunächſt. Die Stadt iſt einer der Hauptſitze der neſtorianiſchen Chriſten, doch haben verſchiedene Miſſionsanſtalten mit der Zeit erhebliche Fortſchritte in ihrem vermeintlichen Bekehrerwerke gemacht. Am meiſten geeignet zu dieſem Berufe ſollen die amerikaniſchen Miſſionäre ſein; ſie ſind in der Regel nicht nur kenntnißreich, ſondern beſitzen auch eine auffallend geſunde Leibes - conſtitution, zwei durchaus nothwendige Eigenſchaften, um unter Aſiaten zu leben. Einen Hauptvortheil haben ſie dadurch voraus, daß ſie bei der Bekehrung nicht gleich mit der Bibel und mit den Glaubensſätzen beginnen, ſondern den Leuten, die an ihrem Unterrichte theilnehmen, erſt ſoviel Bildung und Kenntniſſe beizubringen juchen, daß ſie im Stande ſind, die chriſtliche Religion ihrem ganzen Weſen nach zu erfaſſen. (Wilbraham, bei Koch, Kaukaſ. Länd. , 185.).

So hätten wir die geographiſche Situation in großen Zügen erſchöpft und einen plaſtiſchen Ueberblick über jene Ländermaſſe gewonnen, deſſen hiſtoriſche und culturgeſchichtliche Bedeutung erſt recht zum Ausdrucke gelangt, wenn wir ſie in ihrem natür - lichen Zuſammenhange mit dem aſiatiſchen Continente, zumal mit dem iraniſchen Hochlande, und weiter in ihrer Fortſetzung zur anatoliſchen Halbinſel betrachten. Es iſt eine, von Geographen vielfach hervorgehobene Eigenthümlichkeit, daß gewiſſe Haupt -Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 9130Ueberblick auf Geſammt-Armenien.formen der Bodenplaſtik auf der größeren Weſthälfte des aſiati - ſchen Continents eine mehrfache Wiederholung finden. Es ſind in ihrer Continuität von ſtets kleiner werdender räumlicher Ausdehnung die großen Erhebungsmaſſen von Central-Aſien, Oſt-Iran und Armenien, an welche weitläufige Plateauländer anſchließen, im Oſten die turkeſtaniſchen, in der Mitte das ira - niſche Hochland im engeren Sinne, oder Perſien, im Weſten endlich Klein-Aſien. Wie die betreffenden Gebirgsmaſſen, ſo ſind auch die dazu gehörigen Tafelländer von conſtant abnehmender räum - licher Ausdehnung. Während nämlich Central-Aſien, ohne die geographiſche Abgrenzung hiebei näher zu bezeichnen, nahezu einen Flächenraum von Hunderttauſend Quadratmeilen einnimmt, ſchrumpft das iraniſche Hochland bereits auf die Hälfte dieſes Raumes zuſammen und repräſentirt das, von maritimen Rand - gebirgen geſtützte anatoliſche Plateauland nur mehr einen Bruchtheil deſſelben. In Central-Aſien die höchſten Culmina - tionspunkte der Welt, in Iran noch immer die bis 18,000 Fuß und darüber culminirenden Punkte des Hindu-Kuh1Lange ehe Alexander d. Gr. ſeine Heere hier hinüberführte, waren Völker aus dem rauhen Norden über den Paropamiſus (Hindu-Kuh) ge - ſtiegen, um ſich verheerend über die Fluren Indiens zu wälzen, für eine Zeit zu den Trägern der Cultur emporzuſchwingen und ſpäter von anderen nachdrängenden Völkern erdrückt zu werden. Durch Jahrhunderte ver - mittelten die Straßenzüge über den Hindu-Kuh faſt ausſchließlich den oſt-weſtlichen Handelsverkehr zwiſchen den Völkern am Ganges und Indus und jenen am Eufrat und Tigris, und ſelbſt in der neueſten Geſchichte ſind die Bamian - und Cheuber-Päſſe zwiſchen Balch, Khabul und Peſchawer vielgenannte Schauplätze der kriegeriſchen Ereigniſſe zwiſchen den Englän - dern und den wilden, tapferen Bergvölkern Afghaniſtans. (v. Hochſtetter, Aſien ꝛc. , 9 u. ff. und Su - leiman-Kuh; im Weſten endlich die armeniſchen Hochberge mit ihren impoſanteſten Repräſentanten, dem Ararat und den übrigen großen Kegeln längſt erloſchener Vulkane. Dieſe unverkennbaren äußeren Merkmale der geographiſchen Zuſammengehörigkeit eines großen Theiles von Aſien finden aber einige Modificationen, wenn man den Blick von ſeiner localen Bedeutung abwendet und andere Momente in Betracht zieht. Der Grundſatz, daß große Ströme die wahren Culturvermittler ſeien, während Gebirge, je131Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.nach dem Grade ihrer Mächtigkeit als die eigentlichen Völker - ſcheiden und Grenzmarken ureigener Culturtypen zu betrachten wären, dieſer Grundſatz liefert die intereſſanteſten Beweispunkte zu der mehr oder minder eigenartigen Entwickelung der fraglichen Ländergruppen. Das continentale Central-Aſien mit ſeinen zahl - reichen trennenden Gebirgsſchranken konnte die geringſten natür - lichen Culturbedingungen darbieten. Einerſeits von der tropiſchen Welt Indiens durch die Schnee - und Eiskette des Himalaya, und die grandioſe Plateaumaſſe der Pamir nahezu unüber - windlich getrennt, desgleichen im Oſten, trotz ganzer Länder, die in ein partielles Depreſſionsgebiet fallen, noch immer räumlich von Oſt-Aſien abſtehend, fand es im Norden dort eine natürliche Begrenzung, wo das Culturland in die Steppen - und Wüſten - gebiete der aralo-kaspiſchen Niederung überging. Nur die beiden Lebensadern Turans im engeren Sinne, der Oxus und Jaxartes, verhalfen den Ländern an der Nordabdachung dieſer Erhebungs - maſſe eine vorübergehende Cultur, die, eigenartig wie ſie von Anbeginn her war, auch heute noch ihr typiſches Gepräge in ſeinen modernen moslemiſchen Repräſentanten beibehalten hat. Selbſt der Islam iſt hier nur loſe mit den Ländern - und Völ - kern Weſt - und Vorder-Aſiens im Contacte, wobei freilich neben den plaſtiſchen Verhältniſſen auch der viel entſcheidendere Umſtand ſeinen Ausſchlag geben mag, daß das ſchiitiſche Perſien ſich trennend zwiſchen beide großen Hälften der ſunnitiſchen Mo - hammedaner im Oſten und im Weſten legt. In dieſer Abge - trenntheit konnte die moslemiſche Weltbeglückungstheorie länger, als irgendwo auf aſiatiſchem Boden, ihre finſteren Fanatiker finden1Ganz beſonders zu Bochara, dieſer Pflanzſtätte hohler Gottesge - lahrtheit. In den zahlreichen Medreſſen dieſer Stadt wuchert die zweifel - haft werthvolle religiöſe Gelehrſamkeit wild und mancher der Gottbe - gnadeten hat es ſo weit gebracht, daß er ſelbſt während des Schnarchens nur an Gott und die Unſterblichkeit der Seele denkt . Religiöſe Stimmung herrſcht auch an den Erholungsplätzen, z. B. an einem großen mit Stufen umgebenen Teichſpiegel, der auf drei Seiten Ulmen und Theebuden (auch Einladung zu unnatürlichem Laſter), auf der vierten eine Moſchee hat. (Vámbéry, Reiſe in Mittelaſien ; v. Hellwald Centralaſien , 374.).

In ganz anderer Art präſentirt ſich das geographiſch-oro -9*132Ueberblick auf Geſammt-Armenien.graphiſche Mittelglied Iran. Der ausgeſprochene Plateau-Cha - rakter mit ſeinen mehr oder minder gewaltigen Randgebirgen und den, im Innern regellos aneinanderſchließenden Gebirgsgliedern, geſtattete keine ausgedehnten Thalbildungen und ſomit fehlen hier große Flußläufe. Nur gegen Oſten, in Afghaniſtan, öffnet ſich ein kurzer aber impoſanter Thalweg, jener von Kabul, der die Verbindung mit Indien vermittelt. Er iſt aber von mehr localer Bedeutung und der eigentliche Lebensnerv als Verkehrsader war immerdar die große Ueberlandroute, die Königsſtraße, welche vom Industhale aus das ganze iraniſche Tafelland nach Weſten hin durchzog. Trotz dem Mangel culturvermittelnder Ströme war aber dem Lande eine andere Bedingung zur Vermeidung abſoluter Excluſivität gegeben, ſeine maritime Begrenzung im Süden Zwar die Sandwüſten Gedroſiens und das felſige Litorale von Mekran waren nicht darnach, dieſem natürlichen Vortheile auch wirklichen praktiſchen Werth zu verleihen, aber der vermittelnde Küſtenſtrich lag mehr im Weſten, am Perſermeer, zu dem hinab auch einzelne Binnenſtröme, ſo der zum Theile ſchiffbare Kharun, ihren Lauf ſuchen1Auch dieſer Küſtenſtrich dürfte kaum je ein Paradies geweſen ſein. Das Land fällt ſtufenförmig ab, jede Stufenfläche von einer gewaltigen Gebirgskette getragen. Nur ſteile Zickzackpfade an himmelhohen Felſen und über entſprechend tiefen Abgründen führen hindurch und hinüber auf eine erſte Stufe, wo immer noch Palmen ſtehen (bei den Ruinen aus der Saſſanidenzeit zu Kazerun, Schahpur ꝛc.). Abermals folgen Gebirgs - pfeiler mit einem Paß, wo man hinter ſeinem Maulthiere klettern muß, und ein zweiter noch höherer, bevor die Thalſtufe von Schiras ſich auf - thut. Noch eine Stufe höher liegt Perſepolis; höher hinauf hört auch der Anbau auf und findet nur noch Heerdentrieb ſtatt. (Vgl. Braun, Hi - ſtoriſche Landſchaften , 263.). Nahezu an derſelben Stelle, und zwar zuletzt zu einer großen Waſſerader vereint, ergießen ſich aber die beiden großen Ströme Vorder-Aſiens, der Eufrat und Tigris, die eigent - lichen und wahren Vermittler zwiſchen der ſonnigen, tropiſchen, arabiſch-meſopotamiſchen Culturwelt und den rauheren Hochlän - dern des Nordens (Armenien). Daß Meſopotamien und Iran auch ſonſt ganz andere Exiſtenzbedingungen beſaßen, daß ferner die von der Natur nur unvollkommenen von einander getrennten Völkerſchaften, durch das Bedürfniß gegenſeitigen Erſetzens, oder Tauſches ihrer materiellen Mittel, häufiger in Contact geriethen133Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.und dadurch zumeiſt auch politiſch von einander in Abhängigkeit waren, beweiſt nur, daß gerade die Vielartigkeit aller natürlichen Lebens-Aeußerungen, gemeinſame Bedürfniſſe bei Verſchiedenheit der Landes-Erzeugniſſe und Bodenproducte, die wahren und eigentlichen Ebner und Beſeitiger ethnologiſcher Grenzen waren, ſo lange noch Ruhmesdurſt und Sucht nach Glanz und Reich - thum die großen Herrſcher der älteſten Vorzeit zu ihren Er - oberungen trieb. Das tropiſche Meſopotamien mit ſeinen Palmen - hainen, ſeinen perſiſchen Perlenfiſchern und den Gewürzen Ara - biens, neben dem rauhen Iran, wo mehr der Hände Fleiß Schätze ſchaffen mußte, ſowie neben dem metallreichen Armenien und ſeinem Ueberfluſſe an Vieh und nordiſchen Sclaven; waren, trotz ihres verſchiedenartigen Naturtypus, immerdar auf einander angewieſen. Sogar das entlegenere Kleinaſien, mit ſeinen mehr europäiſchen Producten und ſeinen, durch eine andere Klimatik bedingten Bedürfniſſen, ward bald nur ein Glied der großen weſtaſiatiſchen Völker-Heimſtätten. Von Babel herauf zog Aſſur und gründete am oberen Tigris, hart am Fuße der kurdiſchen Alpenwelt und am Eingange jener nach Norden zu immer im - poſanter ſich aufbauenden armeniſchen Erhebungsmaſſe, das glanz - volle Niniveh, die Beherrſcherin von ganz Vorder-Aſien. Nur eine Stadt, an einem großen verbindenden Strome gelegen, anderſeits von allen Seiten auf großen Verkehrswegen zugänglich, konnte in dieſen ſo verſchiedenartig geſtalteten Ländern einen verläßlichen und brauchbaren Herrſcherſitz abgeben. Auch das turaniſche Bactra und das iraniſche Rhages beſaßen ähnliche Vorbedingungen. Da aber die große Verbindungslinie vom weſt - lichſten Geſtade, von Sardes und Gordium bis zum Industhal hinab, mehrere derartige Machtcentren berührte, ſo war eine Weltherrſchaft in dieſem weitläufigen Ländergebiete nur vorüber - gehend denkbar. Sie hat gleichwol viermal beſtanden: unter Ninos und Semiramis, unter Kyrus, dann im Anfang des ſiebenten Jahrhundertes unſerer Zeitrechnung unter Chosru Parwis1Er war indeß nur der Erbe und Vervollſtändiger einer Macht, die eigentlich von ſeinem viel bedeutenderen Großvater Nuſchirwan angebahnt wurde. Mohammed ſelber ſoll ſich glücklich geſchätzt haben, daß er ge - boren wurde, als ein ſo großer König auf dem Throne ſaß. In der134Ueberblick auf Geſammt-Armenien.und ſchließlich ein Jahrhundert ſpäter unter den abbaſſidiſchen Chalifen. Alle dieſe Reiche mit einziger Ausnahme des erſten perſiſchen hatten ihren Hauptſitz in der herrlichen Stromebene, welche das Herz Weſt-Aſiens mit ſeinen Schlagadern ausmacht. Dort lag die Urahnin aller Städte, Babylon, und in ſeiner Nähe erhob ſich ſpäter das parthiſche und ſaſſanidiſche Kteſiphon1In dieſer Reſidenz, die nachmals verlaſſen wurde, fanden die ara - biſchen Eroberer (Saad Ibn Abu Wakkaß) angeblich Schätze von ganz unglaub - lichem Werthe. Neben dem berühmten Throne war es namentlich ein coloſſaler Teppich mit buntſchimmerndem Saum, das Paradies vorſtellend, mit Blumen von Edelſteinen und goldenem Laubwerk. Man hatte das koſtbare Beuteſtück für Omar, den Chalifen, beſtimmt, dieſer aber, im Glauben, nicht Alles für ſich allein behalten zu ſollen, zerſchnitt den Teppich eigenhändig um die einzelnen Stücke zu Medina unter die Parti - ſanen des Islams zu vertheilen. Alis Theil ſoll hiebei noch immer 10,000 Silberſtücke werth geweſen ſein (Vgl. Weil, Geſchichte der Chalifen , I, a. a. O.) und das arabiſch-moslemiſche Bagdad.

Die geſchichtliche und culturhiſtoriſche Stellung Armeniens ergibt ſich unmittelbar aus dieſen geographiſchen Verhältniſſen; alle Einwirkungen und aller Einfluß kam entweder von Süden, oder von Oſten, als letztes Glied der Erhebungsmaſſe Mittel - aſiens. Die Aſſyrier hatten gar bald durch die großen Fluß - thäler den Weg ins rauhere armeniſche Hochland gefunden, vor - erſt ins Becken von Van, ſpäter darüber hinaus, wodurch dies Territorium eheſtens in das Verhältniß eines Vaſallenſtaates zum großen Weltreiche trat. Die Plaſtik des Landes, ſowie ſeine verhältnißmäßig geringeren Hilfsquellen waren gleichwohl Anlaß, daß die Machtbeſtrebungen Aſſyriens ſich weniger gegen Norden hin bethätigten, als vielmehr gegen Nordweſten, in der Richtung über Nordſyrien zum großen Tauruszuge, hinter deſſen Päſſen das weitläufige anatoliſche Binnenland mit ſeinen ſelbſtſtändigen Reichen und ſeiner größeren Zugänglichkeit, in Folge der ſüd - lichen und weſtlichen maritimen Begrenzung, die ninivitiſchen1That liefert dieſer Ormuzddiener Nuſchirwan den Beweis, daß ein Reich blühen und gedeihen kann, auch ohne chriſtlich oder mohammedaniſch zu ſein. Als Nuſchirwan einſt krank war, heißt es, und eine Arznei aus zerſtampften Ziegelſteinen eines zerſtörten Dorfes ſeines Reiches ihm ver - ordnet wurde, kamen die ausgeſandten Boten unverrichteter Sache wieder, denn es gab kein zerſtörtes Dorf im damaligen Saſſanidenreiche.135Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.Eroberer anlockte1Vgl. Movers, Die Phönikier , II, a. a. O.. So fiel alles anatoliſche Land bis zum Halys dem Weltreiche zu, Armenien mit einbegriffen, doch ver - hältnißmäßig weniger durch die folgenden Ereigniſſe berührt. Die Lostrennung Mediens von Aſſyrien berührte ſelbſtverſtändlich auch das armeniſche Hochland und verſchaffte ihm eine neue politiſche Bedeutung, die freilich nicht von beſonderer Dauer ſein konnte, wenn man berückſichtigt, wie raſch aus den Trümmern des aſſyriſchen Weltreiches das perſiſche emporgewachſen war, und mit ihm der abermalige Machteinfluß von Oſten her. Ar - menien wurde dadurch wieder auf lange Zeit den unmittelbarſten aſiatiſchen Einflüſſen ausgeſetzt, ſowie ſpäter den neuperſiſchen und arabiſchen, alſo ſtets in einer Richtung, die entweder von Süden, aus den meſopotamiſchen Tiefländern, oder von Oſten, von den herrſchenden Völkern Mittel-Aſiens kam.

Gegenüber dieſen hiſtoriſchen Thatſachen iſt es intereſſant genug, daß Armenien von den Pontusgeſtaden, von welchen es nur durch eine hohe wilde Gebirgsſchranke getrennt war, auch ſonſt völlig abgeſchieden blieb. Man ſollte glauben, daß die Nähe des Meeres, welches bereits in den älteſten Zeiten von griechiſchen Schiffern befahren wurde, und auf Grund des ſich hieraus ergebenden Contactes mit den pontiſch-ſkythiſchen und pontiſch-oſteuropäiſchen Uferländern, am eheſten geeignet geweſen wäre, von hoher bedeutender Einwirkung auf die Entwickelung des Hochlandes zu werden. Dieſe Einwirkungen waren aber geraume Zeit nicht im Geringſten vorhanden. Während die anatoliſche Halbinſel durch ihre dreifache Waſſergrenze mit den oſteuropäiſchen Völkern im Norden, mit den Hellenen im Weſten und ſchließlich mit der phönikiſch-egyptiſchen Culturwelt im Süden in unmittelbaren Verkehr ſchon in älteſten Zeiten gerieth und dadurch die geſammte künftige Entwickelung des Halbinſellandes ihr eigenthümliches Gepräge, ihren Culturtypus erhielt, blieb Armenien unberührt von dieſem befruchtenden Einfluß. Die helleniſchen Seefahrer waren wohl wiederholt bis zu den chol - chiſchen Küſten vorgedrungen, die eigentlichen großen Handels - colonien lagen aber viel weiter im Weſten, wie zu Heraklea, Sinope, Amiſus und zuletzt wohl auch zu Trapezus, dem eigent -136Ueberblick auf Geſammt-Armenien.lichen vermittelnden Küſtenpunkte zwiſchen dem Hochlande und den entlegeneren Geſtadeländern. Der Grund dieſer ſtarren, weder durch Handels-Intenſität noch durch andere Momente zu brechenden Excluſivität iſt abermals auf den Abgang aller Thalwege und Ströme zurückzuführen. Die ungegliederte Gebirgs - wand zwiſchen Pontus und Armenien war zu einem lebhafteren Verkehre nicht geſchaffen. Selbſt die großen aſiatiſchen Eroberer zogen, wenn ſie verheerend ins Hochland einbrachen, an jener Schranke vorüber, um auf bequemeren Pfaden ins anatoliſche Binnenland einzubrechen und von dort die glänzenden Cultur - ſtätten am joniſchen, bithyniſchen, lyciſchen und cilyciſchen Geſtade zu erreichen. Auch ſchalteten in jenen Bergwildniſſen rohe, barbariſche Völker, die ihren Unabhängigkeitsdrang und ihre Unzugänglichkeit bis auf den Tag zu erhalten wußten, und deren magere, wohl auch von urwaldähnlicher Vegetation geſchützten Gaue weniger als irgend ein anderer Strich in Vorder-Aſien den Ruhmesdurſt oder die Begier nach Beſitz lockten. Ja ſelbſt an der Küſte blieb der Verkehr ein ſo ſchwieriger und ſo unlohnender, daß nur die außergewöhnlich günſtige Lage des trapezuntiſchen Küſten - ſchemels und die durch dieſe Lage gewiſſermaßen bedingte Herr - ſchaft über den öſtlichen Pontus, die Mileſier Sinopes beſtimmt haben mochten, eine Tochter-Colonie an jener Stelle zu gründen, wo nachmals ein byzantiniſches Schattenreich erſtehen ſollte. Noch in unſeren Tagen iſt dieſer öſtliche Theil der Pontusküſte, wie wir bereits geſehen haben (S. den dritten Abſchnitt), durch ſeine Vernachläſſigung ein getreues Abbild jener Zuſtände, wie ſie in älteſter Zeit freilich in noch höherem Grade geherrſcht haben mochten. Die ſteile, wildromantiſche Küſtenwand iſt ſo viel wie gar nicht gegliedert. Die kurzen, torrentenartigen Berg - ſtröme, welche zum Meere ſich ergießen, verhindern allenthalben den transverſalen Verkehr, der nach dem Hinterlande bislang nur von jenen Seepunkten aus vermittelt wurde, die in der Mündungs-Nähe der großen Flüſſe (Halys und Iris), wie Sinope und Amiſus (Samſun) lagen. Den größten Theil des Jahres herrſchen die Nord - und Oſtwinde am Pontus vor. Coloſſale Wolkenmaſſen, die über das düſtere Meer einen unheim - lichen Schatten werfen, treiben über die ſturmgepeitſchte Fläche bis zur hohen pontiſch-anatoliſchen Gebirgsſchranke, wo ſie ſich137Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.ſtauen und als ergiebigſter Niederſchlag zur Erde fallen. Daher die reiche Pflanzenfülle, die dichten Wälder und die herrlichen Gärten des Dſchanik und der trapezuntiſchen Landſchaft; daher aber auch die verheerenden Bergſtröme, die in Folge ihres kurzen Laufes mit um ſo größerer Wucht zur See abſtürzen, Brücken und Wege vernichtend. Bei der oftmaligen, ja conſtanten Wieder - holung von derlei Elementar-Ereigniſſen, kann ſelbſtverſtändlich auch der allerlocalſte Verkehr ſtets nur ein problematiſcher ſein. Aber auch die Küſte bietet und bot niemals Schutz und zur Zeit, als die kühnen griechiſchen Segler den öſtlichen Pontus kreuzten, konnte die Schiffer wohl das abenteuerliche ſolcher Fahrten reizen, nimmer aber irgend ein materieller Gewinn, oder prak - tiſcher Nutzen, der am Ende dem Verkehre Leben verliehen hätte. Daher die Abgeſchloſſenheit Armeniens durch viele Jahrtauſende von der pontiſchen Geſtadewelt. Erſt mit der Gründung Tra - pezunts belebte ſich jener beſchwerliche Handelsweg, der von dieſer Stadt zur armeniſchen Capitale Erzerum heraufzog und deſſen Zuſtand heute noch derſelbe iſt, wie vor Jahrhunderten. Die einzigen Einwirkungen, die von Weſten her Armenien treffen ſollten, waren die byzantiniſchen. Sie blieben aber belanglos und nach kurzer Unterbrechung waren es wieder eine Reihe öſt - licher Völker, zuletzt die Türken, welche ihren Machteinfluß im Hochlande geltend machten, und wie die Dinge heute ſtehen, iſt der Beſitz dieſes Landes abermals einem öſtlichen Eroberer geſichert, der im Laufe unſeres Jahrhunderts Stück für Stück von demſelben losgeriſſen und nunmehr ſeine Grenzpfähle bereits bis zu den Eufratquellen vorgeſchoben hat. In allen dieſen Stürmen aber hat das armeniſche Volk ſeine Individualität ge - wahrt und ſeine culturgeſchichtliche Bedeutung als ariſcher Stamm inmitten der Sturmfluth zumeiſt fremder Racen unverkennbar zum Ausdruck gebracht.

Zuletzt hat ſich dieſes ethniſche Moment allerdings dadurch modificiren müſſen, daß der osmaniſche Einfluß in ſocialer Be - ziehung beim armeniſchen Volke mit der Zeit derartige Fortſchritte zu machen wußte, um hier etwaige Gegenſätze vollends zu ebnen. Wie nirgends auf türkiſchem Reichsboden, haben ſich die chriſtlichen Armenier ihren Bedrückern zu unterordnen verſtanden und dadurch mit dieſen ein leidliches Auskommen gefunden. Hiebei iſt dieſes Ver -138Ueberblick auf Geſammt-Armenien.hältniß der Unterwürfigkeit freilich nur ein äußeres und im Innern verachtet der Armenier, wie irgend ein anderer chriſtlicher Unter - than der Pforte die Herren des Landes, ohne auch nur im Entfernteſten daran zu denken, dieſe Stimmung laut hervorzukehren. Dazu fehlt ihm der kriegeriſche Muth, der gerade bei dieſem Volke niemals zum Ausdruck gekommen iſt. Wir haben im Verlaufe unſerer Unterſuchungen und Schilderungen geſehen, wie wenig inneres, politiſches Bewußtſein dem durch die natürliche Be - ſchaffenheit ſeiner Heimat zu einer gewiſſen Unabhängigkeit prä - deſtinirten Bergvolke von Anbeginn her eigen war und wie ſelten die nationale Kraft aufgewendet wurde, um ſelbſt die ſchmählichſte Sklaverei zu brechen. Die erſten aſiatiſchen Gewalthaber haben es ſpielend unter ihre Herrſchaft gebracht, ſpäter zerſtampften barbariſche Horden ſeine Fluren, ſie zerſtörten ſeine Städte und ſchlugen die Bewohner ſelbſt in Ketten. Wozu die früheren Ar - menier noch einige Energie aufzubieten für nöthig fanden, das war ihr junger Glaube zu Anfang der erſten Jahrhunderte; aber dieſer Opfermuth dürfte kaum auf Rechnung des Volkes ſelbſt, denn vielmehr auf den fanatiſchen Zug des chriſtlichen Martyriums zu ſetzen ſein, zudem die Religion des Nazareners in der Perſon ſchwärmeriſcher Leidensapoſtel hinneigte. Dieſer Umſtand iſt gleichwohl von Bedeutung, denn er hat ſpäterhin die compacte Maſſe des armeniſchen Volkes jener Religion erhalten, der die abendländiſchen Völker ihre jetzige hohe Geſittung und Cultur zu verdanken haben. Als chriſtliche Etappe zwiſchen Orient und Occident wird Armenien zunächſt demjenigen Eroberer zugute kommen, an den es durch die Bande des gleichen Glaubensbekennt - niſſes naturgemäß gebunden iſt, das iſt: Rußland.

Durch die ſociale Präponderanz der osmaniſchen Race hat in Armenien namentlich die Stellung der Frau arg gelitten1Der Türke betrachtet den Armenier als eine Art Bindeglied zwiſchen ihm und den übrigen Fremden, eine Verkehrsart, die ſich um ſo leichter geſtaltet, als die Armenier (namentlich in den übrigen Provinzen) die türkiſche Sprache bis zum Vergeſſen ihrer eigenen angenommen haben. Aber auch mehrere andere Idiome noch werden von der Mehrzahl der Armenier erlernt, da ſich mit ihrer Mutterſprache faſt nie Jemand beſchäftigt. (v. Scherzer, Smyrna ꝛc. , 50.). Das innerſte Familienleben ruht zwar auf einer unvergleichlich139Das armeniſche Volk der Gegenwart.ſittlich höheren Baſis, als beim Türken, dafür aber dürfte die ſociale Lebensſtellung der Armenierin ſich nur unweſentlich von jener der in früherer Zeit im Abendlande von der zarteren Hälfte der Menſchheit ſo ſehr beneideten Haremsſchönen unterſcheiden. Sie dürfen nämlich, gleich dieſen, niemals an den öffentlichen Angelegenheiten ihrer Gatten ſich betheiligen, ja es iſt ihnen nicht einmal geſtattet, bei den Mahlzeiten des Lebensgefährten an dem - ſelben Tiſche Platz zu nehmen.

Vollends nicht vorhanden iſt die Armenierin für den Fremden. Sind Gäſte im Hauſe, ſo ziehen ſich die weiblichen Familien - glieder in eine Art Haremsloge (gleich dieſen mit vergitterten Fenſtern) zurück, von wo aus ſie das muntere Treiben derſelben ungeſtört beobachten können, ohne ſelbſt geſehen zu werden. Daß die Armenierin ihre Zurückſetzung kaum fühlt, läßt ſich bei dem geringen Bildungsgrade der orientaliſchen Chriſtinnen unſchwer begreifen. Da aber der reiche Armenier nur Sinn und Intereſſe für den Beſitz und deſſen Vergrößerung hat, und die Ehen über - dies Familiengeſchäfte ſind, ſo iſt auch ſonſt nur in den ſeltenſten Fällen von einer beſonderen Neigung der Gatten zu einander die Rede. In dieſer Richtung ſteht der einfache, biedere Land - türke, dem die Geldſpeculation und der Dämon der Gewinnſucht zumeiſt fremd ſind, und deſſen Mittel ihm nicht den Luxus mehrerer Frauen geſtatten, unzweifelhaft um eine Stufe höher, als ſein chriſtlicher Mitbewohner. Wenn ſich bei jenem das eheliche Band auch nicht zu einem höheren, idealeren Leben knüpft, ſo zieht anderſeits die mehr ſinnliche Natur des Türken die Nothwendigkeit, oder beſſer die Conſequenz, einer größeren Zuneigung, oder gar Unterordnung gegenüber der Gattin nach ſich, von der der berechnende, kaltnüchterne Armenier keine Ahnung hat. Nur durch dieſen Beſitz hat er aber eine gewiſſe Verſtän - digung mit dem Bedrücker erzielt, denn armeniſches Geld war zu Zeiten ſelbſt den osmaniſchen Sultanen niemals verabſcheuungs - werth1Daß es in früheren Zeiten eben nicht immer ein Glück war, unter den Augen der türkiſchen Gewalthaber als reich zu gelten, beweiſen zahl - reiche barbariſche Acte gegenüber den Beſitzenden. Wenn irgend einem Sultane nach dem Gelde dieſes oder jenes reichen Armeniers gelüſtete, ſo. Anderſeits iſt nicht zu leugnen, daß es nicht immer die140Ueberblick auf Geſammt-Armenien.gemeine Uebervortheilung, oder gar der offene Betrug waren, welche den Armeniern zu ihren Reichthümern verhalfen. Rührigkeit mit einer, nicht ſelten in abſcheulichſten Geiz übergehenden Spar - ſamkeit hoben ſie von Stufe zu Stufe, zumal außerhalb des Mutterlandes, wo der armeniſche Geſchäftsgeiſt gegenüber anderen Völkern beſſer zur Geltung kommen mußte1Dies gilt namentlich von der Colonie Neu-Dſchulfa bei Ispahan, wo die Afghanen, nach Uebergabe der Stadt durch den feigen Schah Huſſein, eine ſehr bedeutende Beute an koſtbaren Schätzen machten, die für die Betroffenen freilich leichter zu verſchmerzen geweſen wären, als die 60 ſchönſten Jungfrauen, die ſie dem brutalen Sieger ausliefern mußten. (Ver - gleiche Malcolm, Geſch. v. Perſien, I, 437.).

Der Dämon des Goldes füllt freilich auch alle Träume der Armenierin aus, und es iſt in türkiſchen Ländern eine bekannte Thatſache, wie weit ſich in dieſer Richtung ehrloſe Mütter ver - irren und mehr noch als die griechiſchen Matronen die Reize ihrer Töchter zu einer abſcheulichen Privatſpeculation mißbrauchen. Das macht Alles, wie geſagt, die mangelhafte Erziehung, die geringe Werthſchätzung des Weibes im Allgemeinen, und der fühlbare Bildungsmangel unter dem männlichen Theile der Bevölkerung2Eine erfreuliche Ausnahme hievon machen beiſpielsweiſe die Beſtre - bungen der armeniſchen Colonie zu Smyrna und die geiſtige Bewegung welche ſich neuerdings unter den Armeniern Conſtantinopels geltend macht. Dort hat der Gedanke, das nationale Element der Erziehung zu heben und zu fördern, beſonders in der jüngeren Generation, kräftige Anregung.

1waren die Tage des Letzteren in der Regel gezählt. Auf den Grabſteinen dieſer Opfer der Habſucht lieſt man aber zu Stambul heute noch die er - baulichſten Dinge, wie: Hier ruhen die ſterblichen Ueberreſte von Erganyan Aretin, Banquier der hohen Pforte. Seine Tugenden waren ſtrahlend wie Gold; ſeine Mildthätigkeit fand keine Grenzen und ſein Wort war unverletzlich. Er verabſchiedete ſich von ſeinen Getreuen und Lieben am 7. Juli 1795, vertrauend auf Gottes Gnade und die Hand ſegnend, die ihm das Paradies erſchloß. Da darüber das Bild eines Enthaupteten dargeſtellt iſt, ſo wird man begreifen, wie wenig dieſe Beförderung in die Herrlichkeiten des Jenſeits im Geſchmacke des Juſtificirten geweſen ſein mag. Auf der Ruheſtätte eines gewiſſen Azmavorian (im Friedhofe zu Pera) iſt das Bild eines Gehängten angebracht, mit der ſchönen Unterſchrift: Engel ſtreckten nach ihm ihre Hände, als der kaiſerliche Wille ſeine Func - tionen (als Director der Münze) für beendet erklärte. (White, Three years in Constantinople , I, 104 u. ff.)

141Kirchen-Angelegenheiten.

Ein nicht viel beſſeres Bild liefern die armeniſchen Kirchen - Angelegenheiten. Die ſeit dem Conzil von Khalcedon (491) ein - getretene Spaltung zwiſchen den mit Rom unirten Armeniern und der eigentlichen armeniſchen Nationalkirche iſt eigentlich nur in ihrer hauptſächlichen antagoniſtiſchen Kundgebungen bekannt geworden, weniger aber kennt man die zahlreichen inneren Motive, welche durch Jahrhunderte dem ſtillen Kampf Nahrung ver - ſchafften und namentlich zur Zeit totaler Ohnmacht auf Seite des Katholikos von Etſchmiadſin die armeniſchen hierarchiſchen Zuſtände in vollends troſtloſe verwandelt hatten. Zwar der Patriarch, welcher jeweilig in Etſchmiadſin reſidirte, war ſich in der Regel ſeiner imaginären Herrſchaft über die große gläubige Heerde von den Ufern des Ganges bis zu den nordweſtlichen Pontusküſten nur zu bewußt, aber die Würde und die Macht eines derartigen Großhirten muß denn doch ſehr fadenſcheinig geweſen ſein, wenn es hin und wieder ehrgeizigen Episcopen gelang, ſich ohne beſondere Kraftanſtrengung zu ähnlich ſublimer Höhe der indirecten Herrſchaft emporzuſchwingen. So entſtand zunächſt eine Art Gegen - Patriarchat auf der Inſel Aghthamar im Van-See, ſpäter ein ähnliches zu Sis, zu Jeruſalem und Conſtantinopel, lauter Uſurpationen im Kleinen, die unmöglich zur Kräftigung der Nationalkirche bei - tragen konnten1Wirklichen Einfluß hatte indeß ſtets nur dasjenige Patriarchat, in deſſen Beſitze ſich die beneidetſte Reliquie, die rechte Hand St. Gregors befand. Sie hat in der erſten Zeit die wunderbarſten Wanderungen ge - macht: von Etſchmiadſin nach Aghthamar, von da nach Rumkaleh und Sis, dann mit den Kriegszerſtörungen in Cilicien nach Egypten, endlich im 15. Jahrhundert abermals nach Etſchmiadſin und Aghthamar, ſchließlich durch Schah Abbas nach Neu-Dſchulfa (bei Ispahan), bis ſie zuletzt wieder dauernd nach Etſchmiadſin kam. Daß ſich die Streitigkeiten der armeniſchen Patriarchate durch Jahrhunderte um dieſe vermeintliche rechte Hand Gregors drehen konnten, iſt bezeichnend genug für die Ignoranz und un - chriſtliche Abgötterei der armeniſchen Hierarchie…. Zur Zeit der furchtbarſten inneren kirchlichen Spaltungen im 17. und 18. Jahrhundert ſchien demnach für die Jeſuiten-Miſſionen, die ſich im perſiſchen Armenien nieder -2gefunden. Daß es an Bildungstrieb und Lerneifer auch ſonſt nicht fehlt, iſt gewiß ein erfreuliches Zeichen, wie ſehr man den entwickelten und gehobenen Schulunterricht zu würdigen weiß. (Vergl. C. v. Scherzer, Smyrna , 68.)142Ueberblick auf Geſammt-Armenien.gelaſſen hatten, um die Schismatiker in den Schooß der römiſchen Kirche zu führen, das Terrain beſtens geebnet. Ja es fand ſich ſogar hin und wieder ein toleranter Katholikos, der ſich den Propagandiſten gegenüber äußerſt entgegenkommend verhielt; doch waren dies nur vorübergehende Erſcheinungen und der Hauptſache nach blieb der Miſſionszweck, trotz der ausgiebigen Unterſtützung von Seite der perſiſchen Machthaber, unrealiſirt. In neuerer Zeit ſollte ſich aber die Situation weſentlich ver - ſchlimmern. Abgeſehen von der Verfolgungswuth, welche ſelbſt die für die armeniſche Literatur ſo hochverdienten Mechitariſten traf, wurden es im Verlaufe der Zeit namentlich die Hetzereien und Gehäſſigkeiten der Conſtantinopler Patriarchen, welche die katholiſchen Armenier nur zu bald der brutalſten türkiſchen Gewalt ausſetzen ſollten. Daß die Mittel und Wege hiezu noch abſcheu - licher und unwürdiger waren, als das gewöhnliche Treiben der national-armeniſchen Hierarchie, läßt ſich leicht denken. Entgegen dem ſegensreichen Wirken der Mechitariſten-Congregation verblieben die Prieſter und Mönche der nicht-unirten Kirche in ihrer ange - ſtammten Rohheit verſunken, in ihrem ſtumpfſinnigen Zelotismus, an dem gleichwol ſelbſt noch Kundgebungen vorchriſtlicher Ante - cedentien anhaften konnten, ohne die orthodoxe Rechtgläubigkeit zu beleidigen oder in ihrer Glaubensſeligkeit zu beirren. Bei ſolchen Vorbedingungen konnte man füglich auch von den Patriarchen keine beſonderen Thaten erwarten, und die Acte der Vergewalti - gung mit Hilfe der ottomaniſchen Regierung wurden immer zahlreicher. So konnte es kommen, daß im Jahre 1828 der Patriarch von Conſtantinopel durch Beſtechung der Behörde die Ausweiſung von nicht weniger als 12,000 katholiſchen Armeniern durchſetzte, welche, aus der Umgebung von Angora ſtammend, mitten im ſtrengſten Winter (Januar) mit Greiſen, Kranken, Wöchnerinnen und Kindern dahin zurückkehren mußten. Welches Elend eine ſolche unbefugte drakoniſche Maßregel im Gefolge haben mußte, braucht nicht beſonders angeführt zu werden; vollends dem Bildungsgrade und dem chriſtlichen Humanitäts - gefühle dieſes Wütherichs entſprechend waren aber die Motive zu dieſem brutalen Acte, der nebenher auch einen Anhaltspunkt liefert, wie ſehr die orientaliſche Chriſtenheit bemüht iſt, die letzte Regung von Achtung unter den Mohammedanern zu143Verfolgung der katholiſchen Armenier.erſticken1Der Patriarch glaubte dem ottomaniſchen Staatsmann Petrew Effendi klarlegen zu müſſen, daß die Erleichterungen des Papſtes (dieſes Schweines ) gegenüber dem armeniſchen Ritus zunächſt eine für das ottomaniſche Reich ſtaatsgefährliche Conſequenz nach ſich ziehen müßten, da die katholiſchen Regierungen des Abendlandes, durch die Vergrößerung und Vermehrung katholiſcher Unterthanen der Pforte, bei geeigneten An - läſſen auch deren Intervention leichter herbeiführen könnten. Gleichwol ſollte der Patriarch eine arge Enttäuſchung erleben, als er aus der Aus - weiſung der katholiſchen Armenier Gewinn ziehen wollte. Chosrew Paſcha ließ ihn nämlich zu ſich beſcheiden, um ihm zu bedeuten, daß, wenn der Pforte an der Bekehrung der Katholiken gelegen wäre, ſie ſelbe zum Is - lam übertreten ließe, nicht aber von einer ſchlechten Religion zu einer ebenſo ſchlechten . (Vgl. Roſen, Geſch. d. Türkei I, 59 u. ff.). Ein ähnliches Feld ultramontaner Thätigkeit erſchloß ſich neueſtens durch die Spaltung der papiſtiſchen Armenier auf Grund des römiſchen Unfehlbarkeits-Dogmas (Haſſuniſten und Anti-Haſſuniſten), doch blieben die betreffenden inneren kirch - lichen Reibereien zu belanglos, um Licht oder Schatten auf das eben entrollte Bild in ausgiebiger Weiſe zu werfen.

[144][145]

Anhang. Anatoliſche Fragmente.

Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 10[146][147]

Die Stammheimat der Osmanen. Hellespont und Ilion. Smyrna. Zwiſchen Taurus und Halys. Die Gartenſtadt Amaſia. Sinope, ein Culturbild. Allgemeines über Anatolien.

Es ſind keine fünfzig Jahre her, daß die Wiege des Os - manenthums im weſtlichen Centrum Kleinaſiens von europäiſchen Reiſenden zuerſt durchforſcht wurde1Aucher Eloy (1835); W. Hamilton (1836); v. Vincke (1838)., und dennoch erſcheint nun - mehr ein Ausflug in jenes ſelten betretene Gebiet nichts weniger als ein kühnes Wagniß. Schon heute pflegen die Beſucher Stambuls, die es nicht blos bei einem Spaziergange durch und um die Chalifenſtadt bewenden laſſen wollen, die ottomaniſche Staatsbahn Scutari-Ismid, welche ſeinerzeit Edhem Paſcha auf ziemlich krummem Wege zu Stande gebracht hatte, zu benützen, um ſich an Bithyniens Landſchaften zu ergötzen. Von Ismid ab befindet man ſich aber innerhalb weniger Reittage, nach Paſſirung einiger romantiſcher Thalpartien des Sakaria (Sangarius) auf den erſten baumloſen Steppen zwiſchen Bruſſa und Angora. Und ſo wollen wir hier gleich verbleiben und einen Blick auf das fragliche Territorium werfen Der Weideboden, der ſich unabſehbar zu beiden Seiten des dahinſchleichenden Sakaria dehnt, iſt für Nomaden einladend genug. Leider vermag hier der Winter ſehr ſtrenge zu ſein, und wie die abgelaufenen Jahre bewieſen haben, erwachſen aus einem ſolchen mitunter ſehr be - denkliche Conſequenzen für das Wohl und Wehe der im Allge - meinen ziemlich armen Bewohner2Vgl. des Verfaſſers Unter dem Halbmonde , 159 u. ff.. Für die turkmeniſchen Nomaden bleibt indeß das Sakariathal nur eine Art Winter -10*148Anhang. Anatoliſche Fragmente.Territorium. Im Sommer ziehen ſie ſüdwärts, d. h. die flachen, weitläufigen Terraſſen hinan, die gegen das Quellgebiet des ge - nannten Fluſſes anſteigen. Dort liegen die ſpärlichen Ortſchaften bereits über tauſend Meter hoch, der Boden iſt wellig, hin und wieder ragt ein runder Hügel über die Grasſteppe, meiſtentheils aber iſt die Ebene von Felsrippen oder ganzen Felsmauern unterbrochen, während dazwiſchen Baum-Oaſen von Fichten und Föhren ſich breiten1Culturen finden ſich nur in der Nähe der größeren Ortſchaften, wie Eskiſchehr, Siwrihiſſar, Sögüd, Beibazar u. A., Niederlaſſungen, die dem Reiſenden ſchon dadurch eine Erquickung bieten, daß ſie wie unver - hofft aus ihrem Gartengrün hervortauchen.. Meilenweit gibt es hier keine eigentlichen Niederlaſſungen und die Ruhe des Grabes wird durch nichts unterbrochen, als durch das Gekreiſch der Raubvögel, welche in den Felslöchern niſten. Dieſe ſind indeß keine natürlichen; der erſte Blick würde ſelbſt den in archäologiſchen Dingen ſich als Laie fühlenden die Ueberzeugung aufdrängen, daß hier einſt ein Volk gehauſt haben müſſe, ſeßhaft und vom Segen des Landes befriedigt und gewiß ganz anders in ſeinen Bedürfniſſen und Lebensbeziehungen organiſirt, wie die heutigen türkiſchen Nomaden. In der That, dieſer Boden iſt uralt in hiſtoriſcher Hinſicht. Kein geringeres Volk als die Phrygier, welches die griechiſchen Schrift - ſteller Barbaren 2Strabo, XII. nannten, haben hier ihrer Cultur, ihrer ſtaatlichen Ordnung und ihren hochentwickelten bürgerlichen Ein - richtungen gelebt und jene Felshöhlen gehören den Sepulcral - kammern ihrer Nekropolen an. Was nun dem Lande in unſern Tagen ſeinen unbeſtreitbaren Reiz aufprägt, liegt darin, daß der an griechiſchen Monumenten ſo reiche Boden Kleinaſiens viel ältere, geradezu aus fabelhafter Zeit ſtammende Denkmäler auf - weiſt, und unter dieſen nehmen die phrygiſchen Königsgräber zwiſchen den heutigen elenden Turkmenen-Dörfern Sidi Ghazi und Daghanly, im Weſten des altberühmten Kjutachia vielleicht die erſte Stelle ein. Das ausgebreitete Territorium am mittleren Sangarius, über das heute der Blick ſchweift, weiſt dem entgegen nichts von einer längſtverſchollenen Cultur auf; ringsum Alles todt und ausgeſtorben, auf den Grasflächen die hellen Flecken149Phrygiſche Landſchaften. Sidi Ghazi.immenſer Heerden, in der Ferne die kahlen Gebirgsrücken oder ſpärliche Wälder, die über unbewohnte Lehen ſchatten. In dieſer Ebene lag einſt das berühmte Gordium und wohnte das reich - begabte Volk der Phrygier, von deren Geſchichte, Sprache und Schrift noch kein Gelehrter der Welt den Schleier der Ver - gangenheit weggezogen hat1Selbſt die topographiſche Poſition dieſer denkwürdigen Capitale, mit ihren orgiaſtiſchen Cultusſitten zur Ehre der Göttermutter Kybele, iſt uns gänzlich unbekannt geblieben. Auf der Burg von Gordium ſtand der bekannte alterthümlich rohe Wagen der phrygiſchen Urkönige, Joch und Deichſel ſo kunſtvoll durch ein Band aus Baumbaſt miteinander ver - bunden, daß Alexander der Große, wie die Mythe geht, keine andere Löſung fand, als den Knoten mit dem Schwerte entzwei zu hauen. (J. Braun, Hiſtoriſche Landſchaften , 197.).

Die, verwahrloſten turkmeniſchen Hirten als Wohnung dienenden Felslöcher auf dem Plateau gewinnen erſt bei dem genannten Dorfe Sidi Ghazi an archäologiſchem Intereſſe. Ob - gleich der Seldſchukide Alaeddin dem Nomadenhäuptling Ertho - grul den Bezirk von Sögud (etwas nördlicher gelegen) als Lehen angewieſen hatte, um ſeinen ſtarken Arm gegen das benachbarte byzantiniſche Reich zu gebrauchen, ſo iſt doch nur das Terri - torium zwiſchen Kjutachia und Angora (Engurieh) als die zweite Heimat des fraglichen Stammes und als die Wiege der Osma - niden zu betrachten. In der Mitte dieſer Zone liegt das Plateau von Sidi Ghazi. Dieſer Ort ſteht heute noch, nicht der Midas’ſchen Nekropole2Ein iſolirter, gewaltiger Fels, mit mäandriſch ſich windenden Orna - menten und einer coloſſalen Niſche, in der ganz unten die Oeffnungen zu den Grabkammern liegen. Dieſer Eingang war vermuthlich einſt durch einen Felsblock geſchloſſen, iſt aber heute nicht mehr vorhanden. Die In - ſchriften im Innern, welche mitunter ganz eigenthümliche, ungekannte Charaktere enthalten, ſind durch Verwitterung des Geſteins unleſerlich geworden (ſtellenweiſe von turkmeniſchen Hirten auch übertüncht), Pilaſter, Voluten und andere architektoniſche Details aber noch allenthalben er - halten. (Vgl. Texier, Asie Mineure , pl. 56, ꝛc.) halber, ſondern als Ruheſtätte eines moslemiſchen Nationalheiligen, bei den Türken in hohem Anſehen. Schmuckloſe Santonsgräber bedecken den weitläufigen Raum und in einer uralten baufälligen Moſchee ſuchen kranke Gläubige Troſt und Geneſung. Der große Todte, dem ſo bedeutender Einfluß auf körperliche Gebreſte zugemuthet wird, war eigentlich150Anhang. Anatoliſche Fragmente.ein arabiſcher Held, Seid el Bathal el Ghazi (d. h.: Held Bathal der Sieger), der hier in einer Schlacht als Vorkämpfer des Propheten zur Zeit Harun-er-Reſchids für ſeinen Glauben fiel1Hammer-Purgſtall, Geſchichte d. osm. Reiches I, 572.. Kein rechtgläubiger Reiſender, welcher dieſe Plateauhöhe, etwa auf ſeinem Wege von Eskiſchehr nach Afium-Karahiſſar kreuzt, verabſäumt, in dem kühlen Raume vorzuſprechen, und iſt er gar ein Leidender, ſo hängt er das Kleidungsſtück, das gerade den kranken Körpertheil deckt, an die Grabſtakete oder auf die Zweige der benachbarten Bäume, denn hier iſt ſelbſt die Luft von unſichtbaren Heilkräften durchweht. Im Winter gibts aber hier oben böſe Tage. Die turkmeniſchen Hirten ſind längſt nach den Uferbezirken des Sakaria abgezogen und Tagreiſen lang ſtößt man in den weiten Steppen auf kein Dorf, kein Obdach. Furchtbare Stürme hauſen in der Einöde und der lockere Schnee thürmt ſich klafterhoch zu verderblichen Wehen. Von der Plateau - höhe Sidi Ghazis ſteigen wir nach Karahiſſar, dem alten Synada, hinab, indem wir, nach Paſſirung der einſamen Mauſoleen der Könige Gordius und Midas, bei Bejad abermals auf Reſte uralter Niederlaſſungen ſtoßen. Diesmal ſind es Troglodyten - Wohnungen2Wie bei Kaiſarjeh; S. unten p. 184. (Nach Ainsworth, Texier u. A.), roh in den Felſen gehauene Höhlen, wo die Ur - einwohner Phrygiens in einer Art adamitiſchem Zuſtande gehauſt, was aber nicht verſchlägt, daß die armſeligen Nomaden dieſer Gegend dieſe Löcher als wahre Paläſte anſehen. Soweit konnte der Glanz eines Reiches verſchollen gehen, daß die heutigen Bewohner deſſelben in Einrichtungen eine Befriedigung erblicken, die bereits vor fünfundzwanzig Jahrhunderten die Phrygier des Gordius und Midas als Ueberreſte einer barbariſchen Zeit an - geſehen haben mochten. Wir werden indeß weiter unten ſehen, daß es ſelbſt unter osmaniſcher Herrſchaft in dieſem Gebiete, ihrer Wiege, glanzvollere Tage gegeben hat, ein Grund mehr, deren Niedergang zu documentiren.

Mit dem Betreten Afium-Karahiſſars befinden wir uns in einem jener großen Becken, welche die inneranatoliſchen, über ſiebenhundert Quadratmeilen großen Plateaulandſchaften aus - zeichnen. Die Stadt war unter den Seldſchuken ein glanzvoller151Ueber Karahiſſar nach Kjutachia.Ort, und zwar zur ſelben Zeit, als es einem Melikſchah möglich war, den Fährmann am Oxus in Central-Aſien mit einer An - weiſung auf den Schatz von Antiochien, alſo einer Stadt, die 400 Meilen entfernt lag, bezahlt zu machen, ohne daß es dem Schiffer zum Nachtheile gereicht hätte1Braun, Gemälde der moh. Welt , 224. Es war unſtreitig der Höhepunkt und die Blütheepoche der Türkenherrſchaft in Aſien. Der Wezier Nizam Almulk war die Seele all jener ſtaatlichen Einrichtungen und bürgerlichen Schöpfungen, wie ſie der mohammedaniſche Orient höchſtens noch unter den Chalifen gekannt. Im Uebrigen gab es zwei ſeldſchukidiſche Herrſcherfamilien, von denen die öſtliche, das iſt jene, welche das Bagdader Chalifat inne hatte, bereits 1258 durch die Mongolen unter Hulagu Khan, Dſchengiskhans Enkel, ihr Ende fand. Ueber den Gründer dieſer Dynaſtie gehen die Meinungen ein wenig auseinander, indem die Einen denſelben (Seldjuk) als einen Statthalter des Fürſten von Khoraſſan, die Andern ihn als das mächtige, allvermögende Haupt eines ſelbſtſtändigen Tribus bezeichnen (Vgl. J. David Syrie Moderne , p. 216), vor dem ſelbſt die Herrſcher am Oxus und Indus gelinden Reſpect hatten. Bereits Alp-Arzlan begann ſeine Herrſchaft damit, daß er an ſeinem Hofe Poeten. Philoſophen und alle Männer von Geiſt und Wiſſen verſammelte, ohne deshalb von ſeinem Kriegsruhme und ſeinen Feldherrngaben etwas einzu - büßen. Derlei war immerdar möglich, wo ehrliche und kräftige Beſtre - bungen über die Corruption den Sieg davon trugen, und auch die Os - maniden haben dies bewieſen, freilich durch nur ſehr kurze Zeit.. Wie merkwürdig das klingt, wenn man ſich die heutige ungeheuerliche Corruption und Nichtswürdigkeit der türkiſchen Beamten vor Augen hält! Nach Karahiſſar ſind indeß die Osmanen ziemlich ſpät gekommen. Die Stadt lag ſo nahezu an der Peripherie des engeren Terri - toriums von Iconium, deſſen ausgedehnte, mit gewaltigen Quader - mauern und zahlreichen Thürmen verſehene Hauptſtadt das heutige Konja war2Vgl. unten S. 182.. Die Ebene, welche ſich heute um Karahiſſar breitet, iſt öde und ſumpfig, rieſige Trachytkegel durchbrechen ſie und auf einem ſolchen erhebt ſich auch ein uralter, aus den ſchwarzen Trachytblöcken hergeſtellter Bau. Auch die Stadt iſt ganz aus dieſem ſchwarzen Material aufgeführt, obgleich ſich in dem naheliegenden Synada von altersher berühmte Marmor - brüche befinden. Aber es wäre für türkiſche und turkmeniſche Baumeiſter und Maurer zuviel verlangt, wollte man ihnen zu - muthen, anderes Material zu verwenden, als jenes, über das152Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſie gerade ſtolpern So kehren wir dieſem unheimlichen Orte den Rücken und wandern mitten zwiſchen blühenden Mohn - feldern, welche das geſchätzteſte Opium Kleinaſiens liefern1C. v. Scherzer, Smyrna ꝛc. , 139., hin - durch gegen Norden zurück, um in Kjutachia, dem einſtigen Sitze des Beglerbegs von Anatolien und ſomit die Hauptſtadt des Landes, zu raſten. Die Stadt iſt das uralte phrygiſche Cotyaïum, die Heimat des Fabuliſten Aeſop. In osmaniſchen Beſitz iſt ſie trotz ihrer Lage inmitten des Nomaden-Territoriums ziemlich ſpät, nämlich erſt unter Bajazid I. getreten, der unverſehens vor derſelben erſchien und den ſeldſchukidiſchen Statthalter abſetzte. Noch zu Niebuhrs Zeit (1766) zählte Kjutachia über 11,000 Häuſer2Niebuhr, Reiſebeſchreibung ꝛc. , III, 135.; in den dreißiger Jahren unſeres Jahrhunderts war die Zahl derſelben bereits auf ein Dritttheil zuſammengeſchmolzen und die altberühmte Burg nahezu verfallen. Heute iſt dieſe einſt vielgenannte Stadt, in der es noch unter türkiſcher Herrſchaft Paläſte, Springbrunnen, Gärten und Heilquellen gab, ein elendes Neſt mit einer ſehr fanatiſchen moslemiſchen Bevölkerung und die elende Paſchawirthſchaft trägt weſentlich dazu bei, Alles in die größte Verwahrloſung übergehen zu laſſen. Als Ibrahim Paſcha von Egypten, der Eroberer Syriens über die kilikiſchen Päſſe gedrungen war, um mit ſeinen Truppen Kleinaſien zu überſchwemmen, ſchlug er nach der Schlacht von Konja (weiter im Süden), wo er Sieger blieb, ſein Hauptquartier in Kjutuchia auf. Reiſende, die kurz vorher hier geweſen waren, konnten noch Augenzeugen ſein, wie wenig Geſchmack im Allgemeinen die Rechtgläubigen den Kriegen der hohen Pforte entgegenzubringen vermochten. Nachdem die Aſſentcommiſſionen ſich anfänglich an den Wortlaut des Recrutirungsgeſetzes hielten und nur bart - loſe Leute, d. h.: die jungen, zwiſchen dem 14. und 20. Lebens - jahre abſtellten, gingen ſie ſpäter in ihren Maßnahmen auch auf die Sakali , d. i. die Bärtigen , über. Da dies nun nicht ſo leicht anging, wurde die Aushebung gewaltſam durchgeführt und Trupps von mehreren Hundert Mann zuſammengetrieben, aneinander gefeſſelt und mit Halseiſen abgeführt3Bei Ritter, Erdkunde Bd. XVIII., 619. Ueber die neueſter Zeit hier und in der Provinz ausgehobenen Recruten wird ganz Aehnliches. So geſchah153Kjutachia.es nach dem Berichte eines Augenzeugen in einer Zeit, wo es der Türkei benommmen war, in Anbetracht des moslemiſchen Feindes Ibrahim und ſeiner Egypter, den religiöſen Fanatismus zu ſchüren. Es bleibt der eigentliche und wahre Maßſtab zur Beurtheilung des türkiſchen Patriotismus, denn mit dem ewigen Schlagworte, der Glaube ſei bedroht, läßt man im Oriente ganz andere Inſtincte erwachen, als jene warmer Vaterlandsliebe und Anhänglichkeit an die herrſchende Dynaſtie.

Vom alten Caſtellberge Kjutachias wollen wir noch einmal die eigenthümliche Landſchaft Central-Phrygiens überblicken und dann nordwärts in das Territorium des erſten osmaniſchen Sultanats niederſteigen. Die Stadt mit ihren winkeligen Gaſſen und elenden Holzhäuſern liegt in einer ziemlich weitläufigen Ebene, die der antike Tymbres, der heutige Purſak durchſtrömt. Das Thal iſt ſtellenweiſe ſumpfig, gegen Süden wird es enger und nach dieſer Seite führt der uralte Verkehrsweg, den auch die Kreuzfahrer mehrfach eingeſchlagen, durch Geröllſchluchten nach Afium-Karahiſſar. Gegen Oſten ſteigen mäßig die endloſen Plateaux-Landſchaften von Sidi Ghazi an, im Sommer der Tummelplatz zahlloſer Heerden der Turkmenen; weſtwärts um - rahmen kahle, niedere Höhenrücken mit ſpärlichen Ortſchaften das Bild und im Südweſten die impoſante Gebirgsmauer des Murad-Dagh1Ausführliche Topographie bei Tſchichatſcheff, Asie Mineure I, a. a. O.. Es iſt der eigentliche Knotenpunkt der vorder - anatoliſchen Gebirgsſyſteme und ſomit die Quellregion aller großen Flußläufe dieſes Gebietes, die meiſt Namen von gut hiſtoriſchem Klange führen, wie: Mäander, Hermos, Rhindacus und Tymbres, heute freilich erſetzt durch die weniger gekannten türkiſchen Benennungen: Menderez, Gedis, Adirnas und Pur - ſak Nach dieſem, im Ganzen wenig lohnenden Rundblick folgen wir dem Laufe des Kjutachia-Fluſſes zum Ruinenfelde Dorylaïums, von dem heute, einige niedere Erdwälle ausgenommen,3berichtet. Um überdies das Heimweh zu verſcheuchen und ſeine bittere Exiſtenz vergeſſen zu machen, genießt der aſiatiſche Soldat nach Kräften das verderbliche Haſchiſch oder Opium. Beinahe jeder der Soldaten, die in den letzten Krieg zogen und von Anatolien kamen, führte eine ziemliche Quantität dieſer Betäubungsmittel mit ſich. ( Allgemeine Zeitung 1877, Nr. 61).154Anhang. Anatoliſche Fragmente.nichts mehr zu ſehen iſt. Die Stadt an ihrer Stelle, Eskiſchehr, welche ſehr bald osmaniſches Beſitzthum geworden ſein dürfte, mag zweifellos ſchönere Tage geſehen haben, auf die ſchon die Brückenruinen und andere Fragmente hinweiſen. Die Gegend iſt aber ziemlich öde, im Weſten kahle baſaltiſche Berge mit ſpärlichen Baumgruppen, tiefer im Sakaria-Thale weite Sumpf - flächen mit zahlreichem Vogelwild, oſtwärts die bereits oben er - wähnten endloſen Grasflächen, das Schlachtfeld, auf dem Gottfried von Bouillon ſeinen erſten Sieg über die Seldſchuken errang1Wilken, Geſchichte der Kreuzzüge , I, 154 u. ff.. Anderthalb Jahrhunderte ſpäter ſollte es Conrad allerdings anders ergehen und ſein Heer wurde hier vernichtet, (vermuthlich im Defilé von Lefkeh), wie ja ſo manches andere der Kreuz - fahrer im Innern Kleinaſiens ſpurlos verſchwand2Braun, Gemld. d. moh. Welt , 367..

Bei Eskiſchehr betreten wir die eigentliche Wiege der Os - maniden. Alaeddin belehnte Erthogrul mit der Grenzmark, nahezu zur ſelben Zeit, als die europäiſche Oſtmark in den Be - ſitz der Habsburger überging. Der Ort, welcher dieſem Grenz - ſultanat den Namen gab, iſt Inöngü3Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches I, a. a. O., ein elendes Dorf, nicht ganz fünf Meilen weſtlich von Eskiſchehr in einer kleinen Ebene gelegen. Nackte Felsklippen mit Sepulcralkammern verſehen, umziehen die armſelige Niederlaſſung. In den Felslöchern niſten Adler und die verfallenen Thürme und Baſtionen einer einſtigen Befeſtigung dienen den Schakalen zum Schlupfwinkel. Von dieſen Ruinen aus vermag man bereits ziemlich deutlich die Schneewipfel des bithyniſchen Olymp wahrzunehmen und den hohen Kammzug des Keſchiſch-Gebirges, das, gegen Oſten mälig abfallend, auch ſeinen Pflanzenſchmuck, ſeine Waldbäume und quellenreichen Thäler verliert. Ja zwiſchen Inöngü und Sögud, ein Weg, den wir auf unſerer weiteren Wanderung nunmehr betreten, iſt der Boden bereits durchweg vulkaniſch, von Baſalt - gängen und Lavazügen durchſetzt und aus den bunten Schlacken der letzteren ſind auch die meiſten Häuſer des Städtchens Sögud erbaut. Die Landſchaft iſt im Ganzen unintereſſant, ausge - nommen die Felſenhöhen und Marmorklippen der Nachbarſchaft,155Osmans Grabſtätte.zumal im Thälchen von Biledſchik1Der Ort iſt inſoferne von hiſtoriſcher Bedeutung, als von hier aus die erſten energiſchen Feindſeligkeiten der Osmanen gegen das byzantiniſche Reich begannen (1298). Vgl. W. Ainsworth, Trav. and Res. II, 54., in dem wir auf unſerer Wanderung unverſehens auf das Grab Osmans, des Gründers der gleichnamigen Dynaſtie ſtoßen. Es liegt am Ende des Thales und wird ſchon aus der Ferne erblickt, wenn man von Lefkeh herüberkömmt. Dem Styl und Ausſehen nach erinnert das Denkmal an die gewöhnlichen Sultansgräber in Conſtantinopel2Das impoſanteſte dieſer Mauſoleen iſt jenes Suleiman des Präch - tigen , ein herrliches Bauwerk ſaraceniſchen Styles. Stolz, wie ſein Leben und Wirken, mahnt auch dies Monument an den verſchollenen Glanz des ruhmreichſten aller Sultane. Neben dieſer Grabſtätte iſt zu - nächſt jene Mohammeds II. hervorzuheben, eigentlich ein ganzes Gebäude, von den größten Dimenſionen. Nicht weit hievon mahnen uns allerlei Attribute und zierliche Embleme an ein erlauchtes Frauengrab. Hier ruht Ailima, eine jener ſeltenen Zauber-Erſcheinungen des Oſtens; ſie war die Gattin Murads II. Die in zahlreichen nationalen Poeſien fortlebende Sultanin ſoll ein Wunder an Schönheit und Gelehrſamkeit geweſen ſein, da aber der zierliche Käfig, der das weibliche Kleinod einſchließt, ſtumm iſt, ſo mag man den unterſchiedlichen Panegyrikern nach Gutdünken Glauben ſchenken. Neben der Moſchee Bajazids II. liegt eine zweite, in den Tra - ditionen der Türken hochgeehrte und vielgefeierte Frau, die Mutter des genannten Sultans, Gül-Bahar, d. i.: Frühlingsroſe . Selim I., der Eroberer Syriens und Egyptens, der die Janitſcharen zuerſt über den Taurus nach den geſegneten Gebieten Meſopotamiens geführt und nach einem unvergleichlichen Eroberungszuge bis an die Marken des ſchwarzen Continentes gelangte, dieſer grauſame, aber tapfere Beherrſcher der Os - manen fand ſeine Ruheſtätte neben der Moſchee, der er als ihr Gründer ſeinen Namen gegeben. Unter dem geſchweiften Dache, über das ſich Platanenkronen beugen, ruht er allein wie er im Leben allein ohne Freunde geſtanden Im maſſiven und geräumigen Mauſoleum der Moſchee Achmed I. finden wir eine ganze Reihe prächtiger Marmor - Sarkophage. Hier ruht Osman II., der von den Janitſcharen erdroſſelt wurde, und Murad IV., der 1640 eines natürlichen Todes ſtarb; ferner. Auch die Cypreſſen und immergrünes Buſchwerk fehlt dem ſtillen Todtenaſyle nicht, in welchem die Gebeine Osmans und ſeines Vaters Erthogrul nebeneinander ruhen. Neueſter Zeit wollte man auch von einem Grabe Osmans zu Bruſſa wiſſen, that - ſächlich wird aber dieſes von den Türken ſelbſt nur als ein Denkmal angeſehen.

156Anhang. Anatoliſche Fragmente.

Indem wir durch die Schlucht des Kara-Su, der bei Bi - ledſchik vorbeiſtrömt, unſere Route nach Wezierhan fortſetzen, gelangen wir bald thalabwärts des Sakariah nach Lefkeh und von dort in die Ebene des einſt weitberühmten Nicäa.

Wie nicht bald an einem Orte Kleinaſiens manifeſtirt ſich hier die beiſpiellos raſch Entartung des osmaniſchen Volkes. Unweit der Stelle der einſt ſo glanzreichen Stadt des Antigonus liegt heute ein elendes Dorf von etlichen Dutzend ineinandergehäuften Holzhäuſern, während das Ruinenfeld mit ſeinen gewaltigen Mauern, Thoren und Thürmen etwas abſeits ſituirt iſt Isnik iſt der türkiſche Name dieſes traurigen Denkmales an eine große Vergangenheit. Wer zwiſchen dem Immergrün, den Platanen und Cypreſſen des bithyniſchen Geſtadelandes wandelt und ſich beim Anblicke der Trümmer vielleicht in die Zeit der Kirchenverſammlungen verſetzt denkt, wo ein Conſtantin, den man ungerechterweiſe den Großen nennt, den erſten Impuls zum chriſtlichen Zelotismus gab, dem werden hier noch ganz andere Dinge in den Sinn kommen. Nicäa, oder eigentlich Isnik , iſt keine byzantiniſche Ruinenſtadt allein; im Innern derſelben gewahrt man allenthalben die Fragmente weitläufiger Bazars und Moſcheen, ein Beweis, daß einſt auch das osmaniſche2die Prinzen Mohammed und Bajazid, von welchen der eine von ſeinem älteren Bruder (Osman II. ), der andere von ſeinem jüngeren Bruder Muſtafa umgebracht wurde. Auch in der Aja-Sofia wuchern nur düſtere Erinnerungen. Dort haben ſich mit der Zeit zum ewigen Schlafe die erbittertſten Feinde zuſammengefunden. Selim II. ruht neben Nur-Banu der Frau ſeines Sohnes Murad. Nebenan ſchlummern ſiebenzehn Brüder, die Mahommed III., in der ſteten Furcht von ihnen verdrängt und ſeines Thrones beraubt zu werden, grauſam hinwürgen ließ. Nicht weit von dieſem unheimlichen Denkmale morgenländiſcher Deſpotenwirthſchaf, liegt das Marmor-Mauſoleum Muſtafa I. Unter ſeinem Kuppeldache ruhen Vater und Sohn, die beide eines gewaltſamen Todes ſtarben. Nicht weit von der Ruheſtätte des unglücklichen Selim III., ſtoßen wir auf jene Mahmuds II., der jüngſten von allen. Es iſt ganz aus weißem Marmor und das Innere erhält Licht durch ſieben große, mit vergoldeten Gittern geſchloſſene Fenſter. Das Innere iſt mit Sophas, Armſeſſeln, ſeidenen Draperien, ja ſogar mit Uhren ausgeſchmückt, ſo daß man glaubt, ſich in einem Salon, nicht aber in einer Gruft zu befinden. Auf dem gewaltigen Sarkophage ruht das mit einer Feder geſchmückte Fez des Sultans.157Die Ruinenſtätte von Nicäa.Nicäa unter dem Scepter ſeines Eroberers Orchan geblüht und der Stolz des Landes war1Buſch, Türkei , 151. Man übertünchte zwar die Moſaikgemälde und Bibelverſe an den Wänden der Kirchen, um darauf zu ſchreiben, daß es nur einen Gott und ſeinen Propheten Mohammed gebe, im Uebrigen aber war Orchan großmüthig gegen die Beſiegten, überaus wohlthätig gegen die Armen und gründete eben hier außer einer Studienanſtalt auch ein Armenhaus, worin er zur Eröffnung ſelber die Lampen anzündete und die Speiſen vertheilte (Nach Jouannin, Turquie , bei Braun, a. a. O. 373). Vgl. J. David, Syrie moderne , 355 u. ff.. Die Geſchichte, namentlich die osmaniſche Culturgeſchichte, welche einen Sinan kennt, hat längſt dargethan, daß die osmaniſche Race von Anbeginn her nicht dazu verdammt war, die Kunſtſchöpfungen anderer Völker der Zerſtörung preiszugeben, ja, daß dieſer Zerſtörungstrieb ganz und gar nicht im Weſen der türkiſchen Race begründet war, wie die bauluſtige und kunſtliebende Zeit der Seldſchukiden zur Genüge beweiſt2Siehe unten, S. 182. Wenn nun die heutigen Osmanen dennoch ihre einſtigen Emporien, und zwar gerade diejenigen, die beſtimmt waren, ein Denkmal ihrer früheren Macht abzugeben, dem gänz - lichen Verfalle preisgeben, ſo iſt der Beweis ſo ziemlich erbracht, daß dieſem ſo raſch entarteten Volke keine moraliſche Kraft mehr innewohnt, vergangenen Ruhm ſich zu vergegenwärtigen und mit der Erinnerung an denſelben den fühlbaren Niedergang ſeiner Herrſchaft aufzuhalten. Wenn unter unſeren Politikern noch eine Meinungsverſchiedenheit über die Exiſtenzberechtigung der Osmanen-Dynaſtie herrſcht, ſo findet dies ſeine folgerichtige Erklärung in den Kämpfen der Parteileidenſchaften und in den kühlen diplomatiſchen Doctrinen, in denen maßgebende Nationen ihren ſpeciellen Standpunkt vertreten. Gegen ein derartiges poli - tiſches Farbenſpiel haben wir nichts einzuwenden, denn es wird von einer mehr oder minder mächtigen Intereſſenpolitik beſtimmt; aber das ändert ſich ganz gewaltig, wenn wir uns auf rein hiſto - riſchen, oder civiliſatoriſchen Standpunkt ſtellen. Unſer Urtheil wird hiebei weder von engliſchen Panzercoloſſen, noch von ruſſiſchen Koſaken-Regimentern getrübt, wir vermögen zu ahnen, was einſt war und nicht mehr iſt, unſer Fuß betritt auf jeder Meile Ruinenſtätten einſtigen osmaniſchen Glanzes und es iſt keine158Anhang. Anatoliſche Fragmente.bloße akademiſche Jeremiade, wenn wir der zerſtörten griechiſchen Kunſtſchöpfungen gedenken, ſondern eine verzweifelte Logik, da neben den byzantiniſchen und alt-helleniſchen Trümmern eben auch jene der Osmanen früherer Jahrhunderte liegen. Auf dieſem Volke laſtet ſomit nur mehr der Fluch, nicht nur fremde Culturdenkmale von den Territorien, die es ſeit ſechs Jahrhun - derten inne hat, ſpurlos verſchwinden gemacht, ſondern ſeine eigenen Werke dem Verfalle überliefert zu haben, um kommenden Geſchlechtern jede Erinnerung an das Einſt zu benehmen. Gegen derartige Thatſachen, die ſich dem ernſten Forſcher und dem vorurtheilsfreien Reiſenden in der Türkei, namentlich in der aſiatiſchen, allerorts aufdrängen, nützt aber am Ende weder ein Con - ferenz-Protokoll, noch eine geiſtreichthuende politiſche Doctrin, die ſich nur darin gefällt, ſich in ihren eigenen Phraſen zu ſpiegeln

Auch weiterhin auf unſerer Wanderung längs der bithy - niſchen Küſte würden wir überall nur auf die Spuren craſſeſter Barbarei und Verwahrloſung der eigenen hiſtoriſchen Denkmale ſtoßen, ſo zu Bruſſa, der Moſcheen-geſchmückten Stadt, am Nordhange des Olymp, begraben im Grün der Kaſtanien und Cypreſſen. Hier ſind ſelbſt die Prachtdome der erſten glorreichen Sultane dem Einſturz nahe, während viele Dutzende von Moſcheen heute vollends nur mehr Schutthaufen repräſentiren. Dafür aber gewahrt das Auge auch hier hin und wieder ſeld - ſchukidiſchem Architekturſchmuck, wie an der Moſchee Mohammed I., mit der prächtigen Marmorterraſſe und dem bunten Getäfel an der Außenſeite1Texier, Asie mineure , a. a. O. p. 66., ein wahres Meiſterwerk orientaliſcher Kunſt2Braun, a. a. O.. Aber auch Bruſſa iſt nur eine Oaſe. Weiterhin am Mamara - Geſtade ſtoßen wir auf den Hafenort Mudania, mit ſeinen mo - dernen Eiſenbahnbauten weiter Muhalitſch, einſt ein vielgenannter Verbannungsort der katholiſchen Albaneſen, wo ſich ſchon vor dreißig Jahren ähnliche Jammerbilder abſpielten3Ed. Michelſen, Die Reformperiode d. Türkei , (1835 1855)., gleich jenen, an welchen die letztjährigen Orientereigniſſe ſo reich waren. Das Meer erlöſt uns vor weiteren ähnlichen Eindrücken und weſt -159Hellespont und Ilion.wärts ſegelnd nähern wir uns einer anderen, claſſiſch berühmten Landſchaft, dem Hellespont, mit ſeinen hochintereſſanten Ufer - Oertlichkeiten

Seitdem der mythiſche Dardanos, der Vater Ilos, des Städtegründers, an der aſiatiſchen Küſte des raſchfluthenden Hellespont ſeine feſte Burg angeblich gegründet hat, ſind an den Ufern dieſer Waſſerſtraße zwiſchen den beiden Schauplätzen alter und moderner Cultur unzählige Heere vorübergezogen. Es iſt der Eindruck des ewigen Krieges, der Rivalität zwiſchen der öſtlichen und weſtlichen Erdhälfte, der ſich ſelbſt dem friedlichſten Wanderer aufdrängt, wenn er zwiſchen den grünen Ufern hinab - fährt, der ägäiſchen See zu, dem älteſten Tummelplatze des claſſiſchen Hellenismus. Jeder verwitterte Fels, jeder Küſten - vorſprung, eine uralte Ruine hier, eine andere dort, Alles mahnt an den tauſendjährigen Wechſel in der Völkerbewegung, an das Auffluthen und Niederrauſchen weltzerſchmetternder Mächte, an das Erblühen und Verſinken einzelner Cultur-Epochen. Vor Dardanos noch, der ſich auf Grund der modernen Forſchung keineswegs als Urtypus eines claſſiſchen Heros ausnimmt, ſon - dern ſich in eine ſimple Titulatur verwandelt1Layard, Ninive and Babylon , 148: Tartan, which we now find from the Inscriptions, was merely the common title of the commander of the Assyrian armies. , mögen die Aſſyrier an dieſen Geſtaden erſchienen ſein, um ihren Statt - halter, oder Tartan der äußerſten Weſtprovinz ihres Welt - reiches einzuſetzen2Nach ſeinem Siege im Kampfſpiele gab Tantalos dem Ilos eine Kuh mit der Weiſung, wo ſich dieſelbe niederlege, eine Stadt zu gründen. Ilos befolgte dies. Die Kuh ging vor ihm her und legte ſich endlich in Troas nieder. An dieſer Stelle nun legte er eine Stadt an, welche er nach ſich, d. h. nach dem aſſyriſchen Gotte Il, Ilion benannte. Wir haben alſo hier eine ausdrückliche Ueberlieferung in der griechiſchen Sage ſelbſt von aſſyriſcher Gründung. (J. Kruger, Geſch. der Aſſyrier und Ira - nier , 210.) Von dem Punkte, wo der ſogenannte Dardanos ſeine Uferwarte errichtet haben ſoll und der heute nur mehr durch einen unförmigen Ruinenhügel bezeichnet wird, iſts nur wenige Tauſend Fuß bis zur modernen Türkenfeſte Sultanie , oder Tſchanak-Kaleſſi (das Töpferſchloß), auf die, mehr noch als Alt-Englands Forſcher, ſeine Staatsmänner eifer -160Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſüchtige Blicke werfen, um den an Claſſicität Nichts zu wünſchen übrig laſſenden Schlüſſel zur Weltſtadt Conſtantinopel ja nicht in unberufene Hände gerathen zu laſſen.

Die Erinnerung braucht indeß nicht blos an dieſem Objecte zu zehren; ſie findet eine ganze Reihe anderer, die jeden Gebil - deten, ſei er nun Staatsmann oder Hiſtoriker, Dichter oder Cultur-Apoſtel, ja ſelbſt nur einfacher Touriſt, in ungewöhnlichem Grade feſſeln müſſen. Am Hellespont wurde die Geſchichte von vier Jahrtauſenden geknüpft. Ein Compendium derſelben liegt vor den Blicken des denkenden Beobachters in ehernen Zeichen aufgeſchlagen und die Phantaſie lieſt ja ſo wunderbar raſch; ſie erſchöpft das ganze Material in wenigen Stunden herrlicher Meerfahrt Beim Herannähern durch die Marmara-See treten die ſüdlichen Uferlandſchaften des räumlich unbedeutenden Binnenmeeres mehr und mehr in den Geſichtskreis, ein letzter Blick noch auf den bithyniſchen Olymp, der zwiſchen den Marmara-Inſeln herüberlugt, dann taucht linker Hand eine bunte Häuſermaſſe aus den Goldnebeln, das weitläufige Gallipoli, der erſte Markſtein des Osmanenthums in Europa. Das Städtchen liegt auf einer ſchmalen Landzunge, die mit dem Feſtlande zwei kleine Buchten bildet, in der Regel der Sammel - punkt der zahlreichen kleineren Segler, welche zu vielen Tauſenden jahrein und jahraus die Meeresſtraße paſſiren. Ein uralter Thurm, das Werk Bajazids1Dieſer Sultan hatte mit ſeltenem Scharfblicke in der Lage Galli - polis eine höchſt wichtige militäriſche Etappe auf dem Wege von der früheren Reſidenz nach Adrianopel erblickt. Um ſo blinder verhielt ſich dem Verluſte dieſes Hafen - und Sperrpunktes gegenüber Joannes Paläo - logos, welcher der Meinung war, einen Schweineſtall verloren zu haben, an deſſen Beſitz nichts gelegen ſei. Thatſächlich aber ſtand dem damaligen Osman mit der Eroberung des von Seite der Byzantiner mit ſo großer Geringſchätzung behandelten Platzes ganz Thrakien offen und wie die Ge - ſchichte lehrt, fand Murad I. auf ſeinem Zuge nach Adrianopel kein Hin - derniß mehr, das ſeiner Eroberung hätte Schranken ſetzen können., und einige verfallene Erdſchanzen aus der Zeit des Krimkrieges waren noch kurz vor Ausbruch der letzten Orientwirren die einzigen fortificatoriſchen Objecte. Die Stelle, wo Orchans Sohn, Suleiman, in dem neuen Welt - theil zuerſt Fuß faßte, liegt übrigens nicht bei Gallipoli ſelbſt,161Hellespont und Ilion.ſondern etwas ſüdlicher. Bevor man noch dahin gelangt, grüßen von der aſiatiſchen Uferſeite die Häuſergruppen des einſt be - rühmten Lapſaki herüber, hinter deſſen Uferhöhen der Granikus in einſamem Thale nordwärts abfließt. Dicht bei Gallipoli mündet noch ein zweites claſſiſches Flüßchen, der Aegospotamos, an deſſen Mündungsſtelle einſt der Spartaner Lyſander durch ſeinen Seeſieg dem peloponneſiſchen Kriege ein Ende machte. Die aſiatiſche Uferſeite wird im Verlaufe der weiteren Fahrt immer maleriſcher. Wohl hält die Seeſtraße der Dardanellen nicht im Entfernteſten einen Vergleich mit dem Bosporus aus, die ſtumme Sprache der Geſchichte iſt aber am Ende ein Genuß, den auf die Dauer ſelbſt die reizendſte Landſchaft nicht zu bieten vermag. So taucht denn auch bald die düſtergraue Silhouette jenes Thurm-Baſamentes auf, der die Stätte bezeichnet, wo die erſte osmaniſche Schaar vom aſiatiſchen Feſtlande herüber - gekommen war, und auf den Zinnen des damaligen Choridokaſtron die Osmanen-Standarte aufgepflanzt hatte. Wir befinden uns hier dicht vor dem eigentlichen Seepaſſe, den öde Steilküſten mit Geröllbarren und ſandigen Uferſtrichen bezeichnen. Auf einer Anhöhe droht eine türkiſche Strandbatterie Nagara Burun und einzelne Pinien ſchatten auf Stein - und Fels - trümmer herab, an deren Stelle wohl einſt das liebliche Abydos geſtanden haben mag, verklärt von Schillers Liebesballade von Hero und Leander und ein Object der intenſivſten britiſchen Neugierde, denn es iſt hier jene Stelle des Hellespont, wo Lord Byron ſeine bedenkliche Schwimmtour zum Beſten gab. Wer in der Geſchichte ein wenig zurückblättert, dem drängen ſich beim Anblicke der ziemlich reizloſen Meeres-Ufer noch zwei andere, viel bedeutſamere und zwar hiſtoriſche Ereigniſſe auf. Auf der Höhe, wo ſich heute die genannte türkiſche Strandbatterie be - findet, dürfte Xerxes Prachtzelt geſtanden haben, als ſeine Brückenſchläger vergeblich das Rieſenwerk zu vollbringen trach - teten. Trotz der dem Meere hiebei gewordenen Züchtigung durch peitſchen mittelſt Ketten iſt das Element in dritthalb Jahrtauſenden nicht zahmer geworden, und mächtig ſtrömt es um das ſteile Vorgebirge durch die ſcharf nach Süden abſchwen - kende Enge. In dieſem Bereiche dürfte auch die Uebergangs - ſtelle von Alexanders Heer unter Parmenions Führung zu ſuchenSchweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 11162Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſein, während der jugendliche Eroberer mittelſt Kahn die ſüdlichen Geſtade aufſuchte, um auf Ilions geweihtem Boden den zu be - zwingenden Welttheil zu betreten.

Gleich unterhalb Nagara-Burun beginnen die eigentlichen Befeſtigungen der Dardanellen, auf aſiatiſcher Uferſeite die Batterie Köſch-Burun Tabia; dieſſeits weiter Tſcham-Burun Tabia und Kilid Bahr, jenſeits das größte der Dardanellenforts, Sultanie, das mit ſeinen plumpen Rundthürmen und weißen Terraſſen - mauern wie aus dem Meere emporzutauchen ſcheint. Impoſant nehmen ſich dieſe Befeſtigungen keineswegs aus, die ſeit ihrer Erbauung durch Mohammed IV. bis in die neueſte Zeit hinein kaum eine gründliche Reſtauration erfahren haben mögen und in denen ſich noch vor Kurzem die älteſten und wunderlichſten Geſchützmonſtren und ganze Magazine mit Steinprojectilen, wie ſie bei der Belagerung von Conſtantinopel, alſo vor mehr als vierhundert Jahren, in Verwendung waren, befanden.

Von Tſchanak-Kaleſſi ab erweitert ſich der Hellespont ſehr bedeutend, auch werden die Uferpartien allenthalben reizlos, und ſo benützt, wer nur einige Zeit hiezu disponibel hat, von dem mehrgenannten Dardanellenſchloſſe, den Landweg bis zur tro - janiſchen Landſchaft hinab. Schon der Beſuch von Mſtr. Cal - vert, dem amerikaniſchen Conſul und Eigenthümer der weitaus werthvollſten ilienſiſchen Antiquitäten-Sammlung, iſt belehrend genug, und mit der nothwendigen Bereicherung ausgeſtattet, ver - läßt der Wanderer auf ſeinem Grauthiere oder auf bedenklich abſtrapazirten Klepper die Dampfſchiffſtation, um nach Süden aufzubrechen. Nur der ferne Ida lugt in die Vor-Landſchaft herein und unmittelbar vor uns liegt die compacte Maſſe eines auf ſteilem Grat dem Skäiſchen Vorgebirge aufgeführten Dorfes. Der Führer ſagt uns, daß von der vorliegenden Höhe der Ausblick ein umfaſſender ſei, und ſo erſcheint es begreiflich, wenn man den Gang ſeines Reitthieres beflügelt, denn jener um - faſſende Ausblick kann füglich nichts anderes in ſich begreifen, als die trojaniſche Ebene ſelbſt. Und ſo iſt es. Noch ein letztes Emporklettern zu dem Dorfe Renkiöj mit ſeinen niederen, flach - dachigen Steinhäuſern und zu unſeren Füßen liegt die durch die Poeſie geheiligte Stätte, deren erſter Eindruck für Jedermann unvergeßlich bleiben wird. An ſich iſt die weitläufige Niederung163Hellespont und Ilion.ziemlich reizlos, d. h. ſie enthält nichts, was ſonſt der verwöhnte Erdenwaller von einem Landſchaftsbilde verlangt, aber ſchon der Blick auf den aufblitzenden Skamander, der wie ein heller Silber - faden durch die hellgrüne Ebene zieht, mag den ureigenen Zauber dieſes Gefildes zum Bewußtſein bringen, an der Küſte aber, unweit des Dardanellenforts Kum-Kaleh, iſt der Boden vollends dürre, ſandig und ohne geringſten Pflanzenſchmuck. Dieſer Strich iſt, nebenher bemerkt, nicht einmal claſſiſches Terrain, denn die Wiſſenſchaft iſt nun einmal in ähnlichen Dingen ſehr unerbittlich und diesbezügliche Unterſuchungen haben ungemein überzeugend feſtgeſtellt, daß es einerſeits den Anſchwemmungen des Skaman - ders1Gelzer, Eine Wanderung nach Troja , 8., anderſeits dem ſäculären Emporſteigen der Küſte ſein Daſein verdankt, und ſomit von Danaern und Ilienſern niemals betreten werden konnte. Dieſe Thatſache macht es auch erklär - lich, weshalb Homer ſein Troja ſo nahe dem Meere gelegen ſein läßt, ein topographiſcher Wink, der ohne jene Aufklärung nimmer einleuchten würde.

Steigen wir nun von jener Warte hinab, um das Gefilde ſelbſt zu durchwandern. Schon von der Höhe aus ſind uns in ſüdweſtlicher Richtung zwei gewaltige, vollkommen iſolirt aus den grünenden Feldern emportauchende Hügel aufgefallen. Wir er - reichen ſie nach kurzem Ritte zwiſchen den weidenden Büffel - heerden hindurch und ſtehen ſo unverwandt vor den zwei älteſten Denkmälern ilienſiſcher Geſchichte, vor den Gräbern Achilleus und Patroklus. Einſam iſt’s ringsum und nur beſcheidene Blümchen ſprießen auf der Trift, die ſeinerzeit Alexander d. Gr. mit ſilberſtrahlender Rüſtung betreten, um die Ruheſtätte ſeines gefeierten Vorbildes zu ſchmücken2Arrian, Anab. Alex. I, 11, 7. Auch hielt Alexander einen feſtlichen Umzug, aber, wie die Sitte erforderte, ohne Waffen, und erklärte laut, wie er dieſen Achilleus um ſeinen Freund im Leben und den Herold (Homer) beneide, den er im Tod gefunden. Alexander aber mußte ſich mit einem Chörilos begnügen, dem er Goldſtücke für gute Verſe, Ohrfeigen für ſchlechte gab und den er verſicherte, er möchte lieber der Therſites Homers, als der Achill des Chörilos ſein. (J. Braun, Hiſtoriſche Land - ſchaften , 184.). Seit jener Zeit haben zahl - loſe Völkerſchaaren das Skamanderthal durchzogen und ſie11*164Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſchenkten auch den verſchollenen Heldengräbern ihre Aufmerkſam - keit, allerdings in anderem Sinne, denn ihre Habſucht ließ ſie hier Schätze vermuthen, und ſo verwüſteten ſie die Grabkammern und zerſtörten zum Theile die kegelartigen Hügel Einförmig rauſcht hier der Skamander und die Ruhe des Grabes wird nur durch den Ton der Hirtenflöte unterbrochen. Hohe Pappeln und Tamarisken werfen ihre Schatten über Melonengärten und wohlgepflegte Felder, aus denen das Blumen-Stiefkind, die Kornblume, hervorlugt. In der Höhe lockt der Thurmfalke und über die altehrwürdigen Scheitel der Grabhügel huſcht die flug - ſchnelle Schwalbe oder flattert der kosmopolitiſche Spatz Mit dieſem anheimelnden Bilde verlaſſen wir die blumenge - ſchmückten Ufer und wenden uns über welligen Weideboden in ſüd - licher Richtung, von wo bald ein weithin ſchimmerndes Minaret ſichtbar wird. Es iſt jenes von Bunarbaſchi, dem elenden tür - kiſchen Lehmhüttendorfe, dem bislang die, gewiß nicht hoch genug anzuſchlagende Ehre zu Theil ward, die Stelle des einſtigen Troja eingenommen zu haben. Indeß mag man das Dorf ge - troſt bei Seite liegen laſſen, denn nirgends bietet das trojiſche Gefilde ſo reichen Vegetationsſchmuck, wie in und um Bunar - baſchi, dem feuchten, kühlen Quellenorte. An allen Ecken und Enden plätſcherts und gurgelts; üppiges Schlinggewächs ſpannt ſich gleich hängenden Gärten über kryſtallhelle Bäche und hoch im Gezweige der Platanen girren die Turteltauben. Wo man früher (vor Schliemann) das Grab des Aeſyetes1Ilias, II, 793. vermuthete, breiten ſich lichtgrüne Olivenbüſche. Von der hohen Lauerwarte, daſelbſt aber ſpähten die Trojer ins ferne Blachfeld, um jede Bewegung der Griechen zu überwachen und ſie nach dem Burg - felſen von Pergamos, Priamos Feſte, zu rapportiren. Das ſoll nun heute freilich nur eine Illuſion, eine poetiſche Täuſchung ſein, da Schliemann bekanntlich Bunarbaſchi gar nicht als die Stätte des alten Troja anerkennt, ſomit auch Priamos Feſte nicht auf dem Bali-Dagh, der eine halbe Stunde ſüdöſtlich des Dorfes ſtreicht, gelegen ſein konnte. Und wie wunderbar iſt doch die Poſition auf dieſem Bergeshaupte mit ſeinen, nach drei Seiten hin abfallenden Steilhängen, den rauſchenden Skamnader zu165Hellespont und Ilion.Füßen und im Süden die Thalebene des Ida, der ſich dorthin in großen, üppig bewachſenen Stufen hinabſenkt! Und da ſind auch die Schluchten und Abgründe, das Buſchwerk und die Schlinggewächſe, von denen der Dichter gelegentlich des Wett - laufes zwiſchen Achill und Hector ſpricht und weſtwärts erblickt man den Höhenrücken von Tenedos, hinter welcher Inſel die Griechen mit ihren Schiffen verborgen lagen. Schwer wird es, ſich von dieſem Bilde loszureißen, und noch ſchwerer, Localitäten, mit denen wir die Iliade innig verwoben wähnten, durch den Machtſpruch der Forſchung dieſes Zaubers ſchonungslos ent - kleidet zu ſehen1Der Zweifel iſt gleichwohl noch nicht gelöſt. Berühmte Alterthums - forſcher, wie Welcker, Curtius u. A. halten noch immer zur alten Anſicht. (Vgl. Gelzer, Eine Wanderung nach Troja , 19. Hertel, Troja und Ithaka , a. a. O. Wiener Abendpoſt Nr. 65, 1877.) Ueber die Iden - tität der Oertlichkeit von Ilion und Neu-Ilion, bei J. Braun, Geſchichte der Kunſt , II, 206..

Drüben, jenſeit des Skamanders, und zwar in nördlicher Richtung, befindet ſich auf flacher Höhe die Stätte von Hiſſarlik Schliemanns Ilion. Um dahin zu gelangen, muß der Rück - weg nach Bunarbaſchi genommen werden und ſo vermag das trunkene Auge ſich noch einmal in die erhebenden landſchaftlichen Reize zu verſenken. Rauſchend durchſtrömt der Skamander das Gefilde, ſeine Ufer beſchattet von einzelnen Kronen; weit im Südoſten das Waldesdunkel des Götterberges, von deſſen Scheitel der himmelentſproſſene Fluß in Silbercascaden niederſtürzt. Hiezu ein Blick auf den tiefblauen Spiegel des Aegäiſchen Meeres, unterbrochen von den dunklen Inſelrücken Imbros und Samo - thrake, bis er zuletzt auf dem goldſtrahlenden Athos haftet, der, von der Gloriole der Abenddämmerung umwoben, gleich einem feenhaften Luftgebilde in den Purpurtönen der Ferne ver - ſchwimmt

Welcher Gegenſatz nun auf der Stätte von Hiſſarlik! Tiefſte Stille, eine wahrhaftige Kirchhofsruhe gegenüber jenem vollpul - ſenden Leben der Natur zu Bunarbaſchi. Allenthalben ſtößt der Fuß des Wanderers auf die ruinenhaften Reſte türkiſcher Dörfer und auf verwahrloſte mohammedaniſche Friedhöfe mit ihren ver -166Anhang. Anatoliſche Fragmente.fallenen Einfriedungen und den überwucherten Grabmonumenten. Unter dieſer, ſo vielfach mit baulichen Fragmenten überſäeten Erddecke vermuthete Schliemann die Reſte Ilions und nach lang - wieriger aufreibender Arbeit legte er gewaltige Subſtructions - mauern bloß, die er der Feſte Priamos zuſchrieb und ſomit jene weitreichende Umwälzung in der trojaniſchen Topographie hervor - rief, die noch immer unſere Helleniſten vollauf beſchäftigt. Mag es damit nun wie immer beſtellt ſein, zweifellos bleibt es, daß die Funde aus dem Innern dieſes Bodens, das höchſte cultur - geſchichtliche Intereſſe beanſpruchen und für die ilienſiſche und alt-helleniſche Kunſt - und Religionsgeſchichte von unberechenbarem Werthe ſind1Curtius, Archäologiſche Zeitung , (1869), 110. Neben der Abgeſtorbenheit und Oede auf Hiſſarlik iſt auch der Ausblick von hier keineswegs ein lohnender. Das Meer iſt verdeckt durch die vorliegenden niederen Uferhöhen und die waldigen Bergſtufen im obern Skamanderthal nicht zu überblicken. Vollends abgeſchloſſen iſt das Bild gegen Süd - weſten, über die Minaretſpitze von Bunarbaſchi hinweg, wo der Bali-Dagh die Inſel Tenedos und die vor ihr liegenden Küſten - Einfaſſungen der hiſtoriſch gewordenen Beſika-Bai maskirt. In der Mittagshitze eines morgenländiſchen Sommertages kann ein längerer Aufenthalt auf der Plateauhöhe von Hiſſarlik ſomit ſehr unbehaglich werden, trotz der Nähe des Skamanders, der zwiſchen Pappeln und Tamarisken dem nahen Meere zuſchlängelt. Man ſollte indeß kaum glauben, daß dieſe friedliche Landſchaft irgendwie geeignet ſein könnte, ein anderes, als blos hiſtoriſches oder cultur - geſchichtliches Intereſſe zu beanſpruchen. Und dennoch iſt es ſo, wie wir ſchon oben zu bemerken Gelegenheit fanden. Auch vom trojaniſchen Gefilde weſtwärts iſt es nicht ſehr weit bis zu den nächſten greifbaren Zeichen der Zeit, bis zu den ſüdlichſten Dar - danellenforts nämlich, von denen das einſam liegende Sand - ſchloß (Kum-Kaleh) die aſiatiſche Küſte, das Fort Sedil-Bahr aber die europäiſche Seite ſchützt. Der Reiſende, der ſich zu Schiff vom Aegäiſchen Meere her der vielbegehrten und neueſtens wieder vielgenannten Meeresſtraße nähert, ſieht Anfangs nichts, als unförmliche Erhöhungen und hin und wieder graues Mauer - werk. Er würde kaum ahnen, daß nach mehrſtündiger über -167Hellespont und Ilion. Smyrna.ſtandener Fahrt durch dieſen Sund, Hundert und mehr Feuer - ſchlünde aus den verſchiedenen Werken auf ihn herabgeblickt hatten Es iſt eben die Schwelle, wo ſich nach des Dichters Wort Aſien von Europa riß

Auf unſerem Wege längs des ägäiſchen Geſtades nach Smyrna, der gleich altberühmten Localität, gäbe es wohl manche Station für die in claſſiſchen Erinnerungen ſchwelgende Phan - taſie, aber ſie alle zu befriedigen würde zu weit führen. So blicken wir auch nur von Weitem auf die Waldberge von Lesbos, der Heimat Alcäus und der Sappho, Arions und Phanias; auf die großartigen Trümmer von Pergamos mit den Ruinen eines Palaſtes (muthmaßlich aus der Zeit der unabhängigen Attaliden) und den türkiſchen Schmutzhütten inmitten der Marmorpracht1Buſch, Türkei , 133.. Dann öffnet ſich ein weitläufiger Golf, zum Theile von Bergen, anderntheils von Ebenen umzogen, in deſſen Hintergrund Smyrna, die natürliche moderne Hauptſtadt Anatoliens und drittgrößte des türkiſchen Reiches liegt.

Unter den levantiniſchen Küſtenſtätten hat Smyrna, einſt die Perle Joniens , noch lange nicht die Würdigung gefunden, die das öſtliche Neapel zweifellos verdient. So kennt und liebt man das neue Athen des Namens und der Localität halber, obgleich die neu-helleniſche Capitale mit dem einſtigen attiſchen Emporium nichts zu ſchaffen hat; man bewundert unterwegs die aufklimmenden Häuſer-Terraſſen Syras, wenn der Poſtdampfer einige Stunden im geräumigen Hafenbecken vor Anker liegt; man ſchwärmt vom ſchimmernden Beirut, in deſſen Tropengärten die Schneewipfel des Libanon niederblicken, aber man weiß in der Regel wenig Feſſelndes über Smyrna zu berichten. Und dennoch hat dieſe Stadt ihre landſchaftlichen Reize, die im unge - trübten Vollgenuſſe weſentlich dadurch gehoben werden, daß mit denſelben hiſtoriſche Erinnerungen verwoben ſind, die in die dunkelſte Vorzeit hineinreichen2Die Stadt liegt auf derſelben Stelle, welche Alexander d. Gr. in Folge eines Traumgeſichtes, am Fuße des Berges Pagos für deren Wiederaufbau erwählte, nachdem die urſprünglich auf der nordöſtlichen Seite der Bucht gelegene und der Sage nach von einer Amazone ge - gründete, durch Alyattes, dem Könige der Lydier, aber zerſtört worden. Schon im homeriſchen Alter -168Anhang. Anatoliſche Fragmente.thume blühte an der Bucht, deſſen liebliches Südgeſtade heute ein Chaos mehr oder weniger wüſter Niederlaſſungen umſäumt, ein griechiſches Cultur-Emporium, und jener Ahn der Rhapſoden verherrlichte in unmittelbarer Nähe der Stadt die Helden der Iliade, an der ſich alle Geſchlechter ſeit nun ſchon drei Jahr - tauſenden laben1J. Braun, Hiſtoriſche Landſchaften , 190.). So heißt es wenigſtens in der Tradition und die Localität, wo der halb mythiſche Homer unter den Sterb - lichen gewandelt, ſoll das liebliche Thälchen ſein, das der Meles von Süd nach Norden durchfließt. Der Anblick deſſelben, zumal im Dämmerlichte des Abends, wenn Alles ringsum wie von mattblauen Schleiern umwoben erſcheint, mag wohl geeignet ſein, uns unbewußt einem verſchollenen Völkertraume näher zu rücken

Dieſer Anblick kann von keiner Seite Smyrnas beſſer ge - noſſen werden, als von der Höhe oder den üppigen Hängen des Berges Pagos, der ſich im Süden der Stadt wie eine Couliſſe vorlegt. Auch ſein Gipfel trägt die Spuren uralter Anſiedlung, cyklopenartige Fundamente und altes Gemäuer, das in ſeinem heutigen baufälligen Zuſtande eine Moſcheeruine umſchließt. Wer daher Smyrnas magiſchen Total-Anblick ungeſchmälert genießen und ſich den unleugbaren Zauber einer orientaliſchen Landſchaft nicht durch die ſchmutzigen, abſtoßenden Details des täglichen Lebens und Webens ſchmälern laſſen will, der trachte bei Zeiten dem dunſtigen Gaſſengewirre zu entrinnen, um jene Bergeshöhe zu gewinnen. Der erſte Ausblick wird genügen, um ſofort in uns das Bewußtſein zu erhärten, daß, Conſtantinopel ausge - nommen, keine Küſtenſtadt der Levante ſich rühmen kann, auch nur annähernd ein ſo prächtiges Bild zu präſentiren, wie die heutige Metropole Klein-Aſiens Weit nach Süden hin zieht ſich die Thalſpalte des Meles, hin und wieder beſäumt von ſchwärzlichen Cypreſſen und Olivengebüſch. Man könnte die ſtille Landſchaft mit ihren unvergleichlichen Tinten und ſpärlichen2war und ihre Bewohner nahezu 400 Jahre in offenen Dörfern zerſtreut gelebt hatten. Gräber, dem alten Smyrna (türkiſch: Ismir) angehörend, darunter das ſogenannte Grab des Tantalus, finden ſich noch am Süd - abhange der Vorberge des Ismanlar-Dagh. Die Ausführung von Alexanders Plan wurde erſt von Antigonus begonnen und durch Lyſimachos voll - endet. (J. Seiff, Reiſen i. d. aſiat. Türkei , 350.)169Smyrna.Wohnſtätten ein Aſyl nennen, ſo wunderbar friedlich muthet ſie an, aber neben dem Silberbande des Flüßchens erblicken wir die ſchwarze Spur eines modernen Schienenweges und das Pol - tern der Locomotive rüttelt uns nun auch hier unbarmherzig aus unſeren claſſiſchen Träumereien auf, wie auf der athenien - ſiſchen Akropole oder auf dem Kairenſer Mokhattam. Es iſt die Bahn, die von Smyrna nach Aidin, ins Thal des Mäander führt, die älteſte auf vorder-aſiatiſchem Boden, denn ſie wurde bereits 1857 dem Verkehr übergeben, alſo kurz nachher, als die Eiſenbahn-Aera in Indien inaugurirt ward1Dieſe Bahn durchſchneidet ſpäter das Thal des Kaystros und ſetzt bei Epheſos über die Waſſerſcheide, um den Mäander hinauf bis Aidin weiter zu gehen. Dieſelbe hat eine Länge von 82¼ engliſche Meilen und wurde von Engländern mit engliſchem Geld, und zwar dermaßen koſt - ſpielig gebaut, daß das Unternehmen, trotz des beträchtlichen Verkehrs bisher nicht einmal noch die Zinſen zu decken vermochte. Die türkiſche Regierung, welche eine jährliche Minimal-Einnahme von 120,000 Pfd. Sterl. (6 % des Anlage-Capitals) garantirte, iſt daher genöthigt, jährlich einen ſehr bedeutenden Zuſchuß, nämlich mehr als 92,000 Pfd. Sterl. zu leiſten. (C. v. Scherzer, Smyrna ꝛc. , 85.). Ein ſchriller Pfiff verſcheucht uns den Schatten Homers, und wir ſehen wieder den ſilbernen Meles, die Cypreſſen und Olivenkronen, das ſchmucke Dörfchen Budſcha und rechter Hand, alſo gegen Weſten hin, die eigenthümlich geformten Doppel-Kuppen des Berges due fratelli .

Weſentlich anderer Natur iſt das Bild im Norden und Weſten. Man braucht ſich ſozuſagen nur um ſeine eigene Achſe zu drehen, um eine totale Veränderung des Geſichtskreiſes herbei - zuführen. Es iſt der breite Golf, der ſich zu unſeren Füßen dehnt, nicht ſo großartig, wie jener Neapels, zumal wegen ſeines allenthalben öden Nordufers, aber immerhin mit ihm vergleich - bar, zumal nach der Nordoſt-Seite hin, wo der höchſte Berg des Smyrnaer Rayons, der Sipylos mit ſeinen Dörfern und Villen, Waldparcellen und üppigen Gärten eine äußerſt belebte Geſtade - zone im Hintergrunde abſchließt. Wie alſo gegen Oſten der tiefblaue Golf mit ſeiner geradezu permanent vor Anker liegenden Handels - und Kriegsflotte aller abendländiſchen Seemächte wohl - thuend die abwechslungsreichen landſchaftlichen Linien unterbricht,170Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſo anziehend erſcheint für das nimmerſatte Auge das niedere Ge - ſtade jenſeit des Hafens. Es ſind die Ruinen eines Kloſters, die zuerſt in die Perſpective treten, dann einzelne Bauten für den Schiffsverkehr, dahinter, in großem Bogen um den Sipylos vor - beiziehend, ein zweiter Schienenweg, jener von Smyrna nach Maniſſa (Magneſia) und Sart (Sardes), und an den Berg - abhängen, gleich leuchtenden Blüthen in einen bunten Teppich gewoben, die Villen und Landhäuschen, einzelne Ortſchaften und Ruinen zwiſchen Gärten, in denen alle ſubtropiſchen Pflanzen ihre Repräſentanten haben. Beſonders reizend liegt die Partie hinter Burnabat, dann das kleine Delta-Gebiet des Meles zwiſchen Kalkar-Bunar und der bekannten von Malern vielfach dargeſtellten Karawanen-Brücke . Wir dürfen aber über dieſe nebenſächlichen Detailbilder der weiten Umgebung nicht auf die Hauptſache, nämlich auf die Stadt ſelbſt, einzugehen vergeſſen. Sie liegt unmittelbar zu unſeren Füßen, ja die Häuſer des Türkenviertels ſcheinen zu uns heraufklettern zu wollen, ſo ſehr ballen ſie ſich zu engen, dunſtigen und beiſpiellos ſchmutzigen Quartieren in der nächſten Nähe unſeres Standpunktes zuſammen. Schon ein Blick von hier oben vermag uns über die großen Bevölkerungsgruppen der Stadt und ihre Stadtviertel eine ziemlich genaue Orientirung zu verſchaffen.

Das bunte Chaos von baufälligen Holzhäuſern, mit den weitausladenden Altanen in unſerer Nachbarſchaft, die gegen den Meles zu liegenden Friedhöfe mit den dunklen Cypreſſen, und die ſtille Geſchäftsloſigkeit in allen zu überblickenden Gaſſen, das kann nur das Türkenquartier ſein. Und ſo iſt es. Ueber die zahlreichen Moſcheen-Minarets hinweg trifft unſer Blick den nächſten größern, marcanter hervortretenden Stadt-Complex, in welchem ſchon mehr Leben pulſirt, Frauen nicht mehr ſcheu und ängſtlich hinter mit Holzgeflecht verſponnenen Fenſtern in die ſtille Landſchaft hinausbrüten und Kinder weniger aufſichtslos in den Straßen und Höfen herumlungern. Es ſind die Quar - tiere der Griechen, Armenier und Juden Die eigentliche Pulsader Smyrnas iſt aber das Frankenquartier . Eine einzige, ſcheinbar endloſe Gaſſe ſchneidet es der Länge nach. Mit ihr parallel zieht der Quai, zum Theile wohlgepflaſtert, anderntheils entweder bloßer Schuttweg oder martervolle Pflaſterſtraße von171Smyrna.kopfgroßen Klaubſteinen und dazwiſchen ebenſo großen Löchern. An und auf dieſem Quai nun entfaltet ſich das eigentliche Leben Smyrnas, das Leben nach unſeren modernen Culturbegriffen nämlich, das wir nach der Menge faſhionabler Genüſſe, oder wenigſtens nach dem Vorhandenſein ihrer Repräſentanten, taxiren. Das typiſche Weſen der autochthonen Bevölkerung und die Kund - gebungen ihrer originellen Lebensbeziehungen vermag man auch in Smyrna, wie in allen orientaliſchen Städten, nur in den Wohnungen und Quartieren derſelben erſprießlich zu belauſchen. Ob dies Studium ſpeciell hier für denjenigen beſonderen Nutzen zu haben vermag, der beiſpielsweiſe Conſtantinopel ge - ſehen und durchlebt hat, will ich dahin geſtellt ſein laſſen; immer - hin aber finden ſich auch hier intereſſante Momente aus dem Volksleben. Im Uebrigen aber iſt das türkiſche Volk, da haupt - ſächlich nur die Griechen mit dem Handel ſich beſchäftigen, arm und ſollen Fälle nicht ſelten ſein, daß Leute auf offener Straße vor Hunger ſterben1O. Fraas, Drei Monate am Labanon , 51..

Wir wenden uns vorerſt nach der neuen Quai-Straße. Wer auf der großen Stambuler Brücke geſtanden und die Re - präſentanten ſo vieler Völker der alten Welt in mehr oder minder geſchäftlicher Eile an ſich vorüberwandeln geſehen hat, den wird das Smyrnaer Quai-Bild ziemlich kühl laſſen. Auf der Waſſer - ſeite ſelbſt ſtehen die Häuſer noch ſtellenweiſe dicht zuſammen - gedrängt, ja viele ſchweben, auf Piloten erbaut, über den Waſſern des Hafens, und während unter den Füßen ehrſamer Moslims die ſchwachen Wellen des Meeres plätſchern, ſtreift durch den luftigen Holzbau der kühle Weſtwind, ein wahres Labſal für die ſchlafmüden Korangelehrten, die hier mit Vorliebe in ein weſen - loſes Nichts hinausbrüten Eine Gedankenloſigkeit bei wachem Geiſte erſcheint uns nachgerade als ein Problem; für den Orien - talen und ſpeciell wieder für den Türken iſt ſie ein vielbegehrtes Glück, dem er nahezu die ganze Tageszeit über obliegt, während er die Arbeit den übrigen zweibeinigen Geſchöpfen, das Regieren dem lieben Herrgott überläßt. Welche Ausſicht eine Wieder - geburt des osmaniſchen Reiches im Sinne einer abendländiſchen politiſchen Freiheit unter dieſem Geſichtspunkte von vornher172Anhang. Anatoliſche Fragmente.hatte, iſt unſchwer zu begreifen. Die Theoremen eines modernen Staatslebens würden weniger an der Unehrlichkeit der Bureau - kratie, an der Unfähigkeit der Reichsvertreter und am Fanatismus der Prieſterkaſte ſcheitern, als vielmehr an der beiſpielloſen Träg - heit der Individuen und der daraus entſpringenden Gleichgiltig - keit gegen Alles, was den Kreis ihrer angeerbten täglichen Be - dürfniſſe überſchreitet1Wenn heute der Geiſt einer der Koryphäen islamitiſcher Macht und Literaturblüthe herniederſteigen möchte, er würde ſein Antlitz vor tief innerlichem Schmerze verhüllen, ob des verkommenen intellectuellen Zu - ſtandes, in welchem ſich jetzt die Nachfolger des Propheten zum großen Theile befinden. Das, was den Blutumlauf des ſtaatlichen und geſell - ſchaftlichen Organismus friſch, geſund und unverdorben erhält, ein ratio - nelles Unterrichts - und Erziehungsſyſtem, iſt da kaum dem Namen nach bekannt. Wohl fehlt es nicht an geſetzlichen, das öffentliche Schulweſen regelnden Anordnungen, auch nicht an vereinzelten Verſuchen, dem auf - leuchtenden Bildungsbedürfniſſe beſonders in den höheren Volksſchichten entgegenzukommen; aber bei den eigenthümlichen Geſichtspunkten in Vorausſetzungen, auf welchen alles Denken und Empfinden der Moslims beruht, bei der Abweſenheit alles deſſen, was zur ſittlichen Aufrichtung und innern Feſtigung des Familienlebens unabweislich erſcheint, muß jeder noch ſo wohlgemeinte Anlauf auf dem Unterrichtsfelde jede reale Be - deutung verlieren. (C. v. Scherzer, Smyrna ꝛc. , 62 u. ff.). Als einſt dieſe Koſtgänger Allahs in einer ſolchen pilotirten Kaffeebude Licht, Luft und Meer genoſſen, brach das Gebälke unter ihren Füßen und ſie fanden hart am Ufer ihren Tod in den Wellen und unter den Holztrümmern. Der Fall machte einige Zeit von ſich reden, dann ward er ver - geſſen und heute ſitzen andere derartige Koſtgänger in einer anderen ähnlichen baufälligen Bude, an ſie gefeſſelt durch die ſtarke Regel der Gewohnheit, gegen die ſie in ihrem eiſernen Conſervatismus nicht anzukämpfen vermögen. Aus dieſer Apathie der ſmyrniotiſchen Moslims erwächſt indeß ein Vortheil, nämlich der ihrer verhältnißmäßig großen Toleranz2C. v. Scherzer, a. a. O., 53.. Während alle größeren Städte des Reiches, Erzerum, Trapezunt, Bruſſa, Aleppo, Damascus und ſelbſt das ferne Bagdad, wiederholt Schauplätze furchtbarer Exceſſe waren, erinnert man ſich an derlei in Smyrna ſeit Menſchengedenken nicht mehr. Auch die neueſtens gemeldeten Tumulte, welche die anatoliſchen Baſchi-Bozuks wohl die173Smyrna.wildeſten des ganzen Reiches1Es ſind die übelberüchtigten Zeibeks. Sie kommen aus den ent - legenſten Schlupfwinkeln des Baba - und Khonas-Dagh, welche Gebirge mit ihren gigantiſchen Felszacken, Wänden und gewaltigen Terraſſen, ein - ſame Thäler ohne alle Wohnſtätten oder Cultur umklammern. Dorthin flüchten ſich die Geächteten des Tieflandes (um Aidin), wenn ſie die Steuerexecutoren erſchlagen oder den officiellen Vertretern gründlich den Text geleſen haben. Die Hochpäſſe, welche ſie umlauern, wie den Kazik - Belli-Paß im Khonasgebirge, wo jedes Ausweichen, jeder Fluchtverſuch eine abſolute Unmöglichkeit iſt, werden nur ſelten von größeren Kara - wanen gekreuzt. Um ſo ſicherer aber geht irgend ein officieller Reiſender, ein Paſcha, oder Kaimakam, oder Muteſacif ſeinem Verderben entgegen, wenn er die durch die Zeibeks verlegten Gebirgswege einſchlägt. Auch in die impoſanten, meiſt auf hohen Plateaux gelegenen antiken Ruinenſtätten, wie in jenen von Laodicea (Denislü), Hierapolis (Pambuk-Baba) und Gair, haben ſie ſich eingeniſtet und mancher Europäer, den die pittoresken Felsterraſſen mit ihrer vielfarbigen und vielformigen Geſteinsgeſtaltung zum näheren Beſuche einluden, hat die wüſten Geſellen, noch ehe er die eigentlichen Ruinen-Territorien betrat, angetroffen Während des letzten Krieges vernahm man das erſtemal wieder Umſtändliches von den Zeibeks. Sie präſentirten ſich als hochgewachſene, äußerſt muskulöſe Ge - ſtalten, die Geſichter hart und wettergebräunt, der Blick herausfordernd und Unheil verkündend. Den Kopf umgibt ein rieſiger Bund, bizarr überwuchert von jedem erdenklichen Tand, flatternden Franzen, Blech - guirlanden, Amulettenkram u. dgl. m.; die Bruſt eingeengt in ein hartes Lederwams, über das ein breiter Shawlgürtel gewickelt iſt. Das Bein - kleid iſt weniger faltig, als es in der Regel bei den Osmanlis zu ſein pflegt, die Unterſchenkel nackt, an den Füßen einfache Sandalen. Denkt man ſich hiezu ein ganzes Arſenal von Waffen, die in dem hochaufge - bauſchten Gürtel Platz finden, ſo hat man das vollendete Bild eines Zeibeks, der indeß, ſeinem ganzen Habitus nach, ebenſoſehr einen tune - ſiſchen Feuerfreſſer oder einen Schlangenvertilger aus dem Pundſchab dar - ſtellen könnte. Wild und unſchön iſt der Tanz der Zeibeks, mit den ge - zückten Jatagans, und ihr Geſang, rauhe Kehllaute, die dumpf hervor - gekeucht werden und ſchließlich in ein raubthierartiges Gebrülle ausarten. Wild und phantaſtiſch iſt jede Attitude, das eigenthümliche Schaukeln des Kopfes, um den ganzen flatternden Plunder am Turban in wirre Be - wegung zu verſetzen. dortſelbſt angerichtet haben, ſollen nachträglich auf ein ſehr beſcheidenes Maß herabgedrückt worden ſein2Sie beſchränkten ſich darauf, die eiſernen Gitterfenſter der Häuſer im Chriſtenquartier mit ihren Jatagans zu attakiren. Elf Verwundungen ſind vorgekommen, doch waren die meiſten ganz leicht. Wenn es der Inter - vention der Conſuln auch gelang, ſie erſt entwaffnet und dann, raſcher. Dieſe Toleranz iſt gewiſſermaßen hiſtoriſch. Wie174Anhang. Anatoliſche Fragmente.die osmaniſchen Chroniken erzählen, gab es in den erſten Jahr - hunderten der türkiſchen Herrſchaft ein ziemlich freiſinniges Element unter den Rechtgläubigen, und zwar waren dies, wie man am allerwenigſten erwarten ſollte, die Derwiſche. Klein - Aſien war der Schauplatz ihres erſten Aufſtandes noch vor dem Falle Conſtantinopels. Ihre Dogmen waren: religiöſe Gemein - ſchaft, alſo Anſchluß an die Chriſten, bürgerliche und politiſche Frei - heit, Ausmerzung gewiſſer Faſtengebote aus dem Koran, u. dgl. m. Die bewaffnete Macht intervenirte und der Anführer der Empörer wurde gefangen nach Smyrna gebracht, auf ein Brett genagelt und durch die Straßen der Stadt geſchleppt. Während das Volk dies ſchreckliche Schauſpiel bejohlte, ſtürzten ſich die Schüler Muſtafas in ihre Dolche, mit dem Rufe: O, Prophet, nimm uns auf in dein Reich1Jouannin, Turquie , 52.!

Der Lieblingsaufenthalt der mohammedaniſchen Smyrnioten ſind indeß weniger der Quai, als vielmehr die Gärten längs des Meles. Kaffeebuden erheben ſich dort unter mächtigen Pla - tanen, der Mandel - und Citronenbaum fächelt den Sinnen Wohl - gerüche zu und das Auge weilt gerne an den fernen Hängen von Bunarbaſchi, dem Ideal eines orientaliſchen Lauſch - und Ruheplätzchens. In Bunarbaſchi, deſſen Name ſchon auf Quellen und erquickende Bachcascaden hinweiſt, wird füglich den ganzen Tag über nichts Anderes gethan, als gefaulenzt. Die mächtigen Platanen und Cypreſſen, die ſich dort erheben, ſind buchſtäblich von rieſelnden Gewäſſern eingeſchloſſen, von allen Seiten her gurgelt und rauſcht es und unter den weithin ſchattenden Rieſen - kronen ſitzen in patriarchaliſcher Genügſamkeit die ſilberbärtigen Rechtgläubigen, eher Marmorbildern, als wie Menſchen gleich. Nichts vermag dieſe zweifelhaft Glücklichen in ihrer Behaglichkeit zu ſtören. Der Ganz der Weltgeſchichte iſt ihnen entrückt, ſie wiſſen nichts von Culturarbeit und geiſtigem Ringen, nur die2als beabſichtigt war, fortgeſchickt zu ſehen, ſo iſt doch zu glauben, daß der grimmige alte Churſchid Paſcha, der das Chriſtenmaſſacre nächſt Beirut be - fehligt haben ſoll, nur die Achſeln gezuckt und bedauert hat, daß man dem armen Kanonenfutter ſo bald ſein kleines Vergnügen nahm. Hatte man doch im Konak eine Mitrailleuſe vor jeder Thüre und war daher ſicher. ( Allg. Ztg. , 1877, Nr. 11.)175Smyrna.Sonne leuchtet ihrem Lebenspfade, und wenn die Abenddämme - rung durch die blutrothen Granatbaumblüthen bricht, oder die dichten Oleanderkronen in duftigem Blaßroth erglühen macht, erzählt Einer oder der Andere von vergangenen Tagen, oder von Hedjas glühendem Boden, wo das Heiligthum ihres Glau - bens, die Kaaba, von Tauſenden von Engeln bewacht wird. Ja, beim Gemurmel der zahlreichen Quellen ringsum, vermiſſen ſie nicht einmal den Wunderbrunnen Zemzem1Umſoweniger, als ſie daheim das Getränk Gottes nicht zu bezahlen brauchen, wie die pflichteifrigen Pilger im Moſcheehofe zu Mekka, denen oft, ob zu großer Armuth, ſelbſt ein Labetrunk aus dem Wunderquell ein unerſchwinglicher Luxus bleibt. (Vgl. v. Maltzan, Meine Wallfahrt nach Mekka , II, 28, 101.).

Da wir nun ſchon einmal bei Bunarbaſchi ſind, ſo wollen wir auch einen Blick auf das näher zu Smyrna liegende Bur - nabat werfen. Wie jenes ſo ganz das Gepräge eines ächten morgenländiſchen Aſyls trägt, iſt dieſes nichts anderes, als eine verzweifelt ſymmetriſche Aneinanderreihung moderner Bauten, in - mitten der weiten, ſonnigen aber reizloſen Ebene. Hier liegen die Sommerfriſchen der Europäer. Wohl gibt es Matten ringsum, auf denen vereinzelte Baumgruppen die ermüdende Einförmigkeit unterbrechen, ja, ſogar Gärtchen hinter den ſchmuck - loſen, europäiſch nüchternen Gebäudefaçaden, aber dies Alles hat einen nur zweifelhaften Werth. Zudem liegt Burnabat an der Karawanenſtraße nach Maniſſa und der aufgewirbelte Staub von Tauſenden von Tragthieren, darunter namentlich viel Ka - meelen, kann unmöglich zur Annehmlichkeit des Ortes beitragen. Auch die Ebene ringsum iſt eigentlich nur ein Tummelplatz zahl - loſer Pferde -, Büffel - und Kameelheerden An derſelben Stelle, wo einſt die blühenden joniſchen Niederlaſſungen ſtanden, findet man heute meiſt nur einſchichtige Häuſer. Und dennoch iſt dieſe Ebene nicht ohne Eindruck. Mit ihrer maleriſchen Um - rahmung von kahlen Bergeshäuptern und dem tiefblauen Golf im Weſten, iſt ſie großartiger, als irgend ein Territorium um Conſtantinopel. Der Geiſt vermag hier nicht müßig zu ver - bleiben, wo ihn ſo zahlreiche Reminiscenzen in die Vergangen - heit zurückführen. Aſſyrier, Jonier, Lydier, Macedonier, Römer, Byzantiner, Osmanen und Tartaren haben dieſe Stätte bewohnt176Anhang. Anatoliſche Fragmente.oder doch heimgeſucht. Vom uralten, ſogenannten Seſoſtris - Bilde1Das Monument wird wohl eher einen kleinaſiatiſchen, oder einen anderen, nicht egyptiſchen Herrſcher vorſtellen. (Buſch, Türkei , 131.) Es iſt eine in Relief ausgeführte Kriegergeſtalt, die von einem Rahmen umgeben iſt. Herodot, der dieſelbe zuerſt für einen Seſoſtris ausgab, ſagt, es ſei ein Mann, fünf Spannen hoch, den Speer in der Rechten, den Bogen in der Linken, in egyptiſcher Rüſtung, eine Beſchreibung, die inſoferne unrichtig iſt, als die Figur den Bogen in der Rechten und den Speer in der Linken hält. (A. a. O. Abbildung bei Ritter, Erdkunde , 18, Tafel III.) auf der Felswand bei Nimfi, bis zum Kegelzelte des heutigen Juruken, vermag man mehr oder weniger, all die viel tauſendjährigen Geſchichtsepochen hier zu verfolgen, eine Fülle von hiſtoriſchen Reminiscenzen, deren ſich ſelbſt die Weltſtadt am Bospor nicht rühmen kann.

Indem wir wieder zu den Ufern des Meles zurückkehren, wollen wir noch einen Blick in das Frankenquartier werfen. Wir überſchreiten das kleine Flüßchen auf der vielgenannten Karawanenbrücke, zu deren beiden Seiten wir das regſte orien - taliſche Treiben beobachten können, und lenken in die Rue franque ein. Der Unterſchied zwiſchen ihren Bauten und den des übrigen Smyrna iſt ein ganz gewaltiger. Sie ſind zwar keineswegs impoſant, ja in der Front eigentlich unanſehnlich und von kahler Architektur, aber die allerorts herrſchende Sauberkeit, der friſche, blendend weiße Kalkanwurf und die zierlichen Bal - cons, von ſchlanken Eiſenſäulen getragen, laſſen unverzüglich erkennen, daß hier ein ganz anderer, vorwärtsſtrebender Geiſt waltet. Eine Merkwürdigkeit der Smyrnaer Franken - und Griechenhäuſer ſind die tiefen Hausfluren vom Hauptportale aus, wodurch die meiſten Wohnräume nicht gegen die Straße, ſondern zu beiden Seiten der Flur nach den Gärten, die zu den Häuſern gehören, zu liegen kommen. Dieſe Fluren an ſich ſind aber nicht öde, oder unbenützt, ſie dienen vielmehr zum zeitweiligen Aufenthalt der Familien während der heißen Tagesſtunden, und um dieſen Aufenthalt zu verangenehmern, ſind die Wände mit Blumen und Schlinggewächſen geſchmückt und an ihnen ſtehen elegante Möbel, Ruhebänke, ja ſelbſt Leſe - und Arbeitstiſchen umher2Wer vollends das muntere Treiben der jüngeren Familienglieder beobachten will, der vermag dies unbehindert von der Straße aus zu thun..

177Smyrna.

Nach dieſer allgemeinen Schilderung erübrigt uns noch, auch einige geographiſche Daten mitzutheilen. An der Weſtküſte Klein - Aſiens, ſo reich gegliedert ſie iſt, erſcheint gerade Smyrna mit ſeiner centralen Lage zu derſelben und ſeinem geräumigen Golfe von Natur aus zum bedeutendſten Punkte nicht nur des ana - toliſchen Küſtenlandes, ſondern der ganzen Levante gewiſſer - maßen prädeſtinirt. Heute geht der größte Theil des vorder - aſiatiſchen Exportes1Die erſchöpfenden Daten bei C. v. Scherzer, Smyrna ꝛc. c. XXII. nach dieſem bedeutenden Hafenplatz, der nach den neueſten Angaben bei 150,000 Einwohner zählt2C. v. Scherzer, a. a. O., 46. Nach J. Seiff ( Reiſen i. d. aſiat. Türkei , 351) bei 170,000, nach Buſch ( Türkei , 129) gar 180,000 Seelen.. Die langen Kameel-Karawanen, welche im öſtlichen Weichbilde der Stadt und am Meles zu halten pflegen, kommen in ebenſo be - deutender Zahl aus der ſüdlichen und nördlichen Provinz, wie aus den Steppen-Territorien Centro-Anatoliens. Hier ſind das2Nur ein Stacket trennt den Beobachter von der meiſt zahlreichen Haus - geſellſchaft. Die Mädchen und die jungen Frauen aber, denen es daran gelegen iſt, einen möglichſt anheimelnden, beſtrickenden Anblick ihren männ - lichen Bekannten zu bereiten, nehmen nicht ſelten zwiſchen groß doldigen Blumen, Mandelblüthen und Oleanderzweigen an den Fenſtern der Gaſſen - front ihren Standpunkt ein, an denen in der Regel auch jene erotiſchen Kleinigkeiten abgekartet zu werden pflegen, die nun einmal jedem Pflaſter - treter oder modernen Troubadour ein Lebensbedürfniß ſind. Bedenkt man nun, daß beiſpielsweiſe die griechiſchen Smyrniotinnen ſchön ſind, ja, daß ſie im Rufe ganz außergewöhnlicher Anmuth ſtehen welch letzteres man von Griechinnen in der Regel gerade nicht behaupten kann ſo wird es halbwegs begreiflich, wie der nüchternſte Touriſt, ja ſelbſt der junge Ge - lehrte, dem Smyrna nur eine Etappe iſt und den ſein Trachten und Sinnen mehr nach Epheſus, Milet, Halikarnaß, Magneſia und Sardes zieht, momentan von der Macht irdiſchen Zaubers ergriffen zu werden vermag. Aber wie die Perotin, Syriotin und Athenienſerin, iſt auch die Griechin Smyrnas nur eine Lilie auf dem Felde, die weder ſpinnt noch ſonſt arbeitet, und doch vom Herrn mit allem Schönen bedacht worden iſt. Indeß haben ſie hier mit der griechiſch-orientaliſchen Sitte des Spazieren - ſitzens bereits halb und halb gebrochen, und was ſich durch körperliche Schönheit oder Toilettenreichthum vortheilhaft hervorzuthun vermag, be - wegt ſich zur Promenadeſtunde, gleich den Damen der vornehmen euro - päiſchen Coloniſten, auf dem Quai, wo es an ſchönen Abenden auf - und niederfluthet, wie vor dem königlichen Schloſſe oder in der Hermes-Straße zu Athen, oder der grande rue de Pera in Conſtantinopel Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 12178Anhang. Anatoliſche Fragmente.altberühmte ſeldſchukidiſche Konja, Karahiſſar und Kutahia die Sammelpunkte für die großen Karawanen. Ganze Zeltſtädte bevölkern die Treiber, Kaufleute und Escorte-Soldaten bei den genannten Städten, bis der Tag des Aufbruches hereinbricht und die ausgedehnten Züge in wochenlangen Märſchen das Handels-Emporium im Weſten erreichen. In der Regel iſt ein williges Grauthier der eigentliche Führer der ganzen Karawane und die Kameele ſchreiten gravitätiſch mit ihren ſchweren Laſten (oft ſechs Centner), eines hinter dem andern, durch Stricke an - einander gekoppelt, die beſchwerlichen Pfade entlang. Dieſe Pfade ſpotten mitunter freilich jeder Beſchreibung und machen den Verkehr ungemein ſchwierig1Vgl. Globus , VI, 345 u. ff. Dieſes Uebelſtandes ſcheint man ſich letzterer Zeit auch in osmaniſchen Kreiſen bewußt geworden zu ſein, denn er kam in der erſten ottomaniſchen Parlaments-Seſſion zur Sprache. Der Deputirte für Aleppo, Manuk Effendi erklärte nämlich, daß die vielgerühmte Ergiebigkeit und Fruchtbarkeit des aſiatiſchen Bodens ſo lange nutzlos bleiben müßten, bis man dem Lande beſſere Wege ver - ſchaffen würde. In Anatolien gäbe es Strecken, wo zwiſchen den größten Städten nicht einmal eine Chauſſee exiſtirt, ſo daß die Producenten ihre Producte nicht auf Fuhrwerken, oder mit Pferden transportiren können; die Producte verfaulen in den Scheunen und die Eigenthümer geriethen in Schulden. Auf dieſe Verhältniſſe habe man (höheren Orts) meinte der Redner weiter gar kein Augenmerk gehabt, ſo daß der Ackerbau und der Handel zu Grunde gingen und der erwartete Wohlſtand in Ar - muth und Dürftigkeit umſchlug. In derſelben Sitzung wurde eine Reſo - lution eingebracht, behufs Ergreifung von Maßregeln zur Beſeitigung dieſer Uebelſtände, bis aber dies Alles Früchte tragen wird, dürften ſich noch viele Kameele auf den alten Wegen die Beine brechen. (Vgl. Allg. Ztg , 1877, Nr. 112.). Päſſe, die ſeit Jahrtauſenden dem allgemeinen Verkehr dienen, die ganze Völkerſchaften paſſirt und durch die ſich noch heute jährlich die Pilgerſchaaren drängen, welche Syrien und ſpäter das gelobte Mekka erreichen wollen, werden hiebei oft mit großen Mühſalen überſchritten, bis ſich die lieblichen Thäler des Hermos und Mäander dem Reiſenden öffnen. Da gibt es dann gute Raſt unter uralten Platanen, Nußbäumen oder im Schatten gewaltiger Feigenbäume, deren erquickende Früchte die Müden erlaben. Prächtiger Weideboden bedeckt dieſe Thäler, die auf Schritt und Tritt an eine große Vergangenheit mahnen. Die Vegetation iſt die üppigſte in ganz179Smyrna.Klein-Aſien: Feigen, Myrthen, Lorbeer, Orangen, Brodfrucht - bäume, ganze Olivenwälder, Baumwollſtauden, dazu ein tro - piſcher Blüthenflor in den Gärten, Eichen - und Buchenwälder an den Bergesabdachungen. Nur gegen die Küſte hin werden die Berge kahler und ſchon in der hyrkaniſchen Ebene bei Ma - gneſia, dem heutigen Maniſſa, hören ſie ganz auf1Vorher noch ſtößt man auf Sart, die Stätte des alten Sardes, in gleichfalls öder, menſchenleerer Gegend. Die alte Burg, welche ſeinerzeit Alexander d. Gr. ohne Schwertſtreich den Perſern abnahm, wird theilweis nur noch durch altes Gemäuer zuſammengehalten und iſt ſchwer zu er - klettern. Von oben ſieht man nordwärts über das öde, verſumpfte und verpeſtete Feld, das einſt die goldene Sardes trug, und in der Ferne noch den Spiegel des gygäiſchen Sees mit der Reihe der lydiſchen Königs - gräber, jener ganz ungeheueren Grabhügel an ſeinem Rande. Im Rücken haben wir das gewaltige Tmolus-Gebirge mit ſeinen Schneekuppen. Zu - nächſt unten zur Linken windet ſich der einſt goldführende Paktolus und erheben ſich an ſeinem Ufer noch zwei gewaltige Säulen aus dem Trümmer - ſturz des Cybele-Tempels. (J. Braun, Hiſtoriſche Landſchaften , 187 u. ff. Vgl. auch Strauß, Länder und Stätten d. hl. Schrift , 406 u. ff.). Auch die unmittelbare Umgebung Smyrnas leidet, wie ſchon erwähnt, an dieſer Baumloſigkeit2Sperling, Zeitſchrift f. allg. Erdkunde , XVI. . Was in Zukunft für dieſe bedeutende Handelsſtadt in hohem Grade bedenklich werden könnte, iſt, daß unmittelbar an der Hafeneinfahrt der Gedisfluß (Hermos) ins Meer mündet und durch ſeine gewaltigen Schlammbildungen den eigentlichen Schiffahrt-Canal mehr und mehr einengt3C. v. Scherzer, a. a. O., 4, 10, 249.. Die Schiffe ſind in Folge deſſen gezwungen, von der Rhede von Vurla ab, welche noch dem eigentlichen Golfe angehört, möglichſt knapp an der Südküſte des Hafens, bei der ſogenannten Quaran - täne-Bucht vorüber zu ſteuern, um nicht auf den Grund zu ge - rathen. Im Sommer liegt das ziemlich weitläufige Delta-Land des Hermos vollends trocken und der Fluß ſelbſt gleicht dann nur mehr einem kleinen Bächlein, das dem Golfe zuſtrömt. Man ſcheint neueſter Zeit Anſtalten getroffen zu haben, um der bedenklichen Eventualität einer bald möglichen gänzlichen Unnah - barkeit des Smyrnaer Hafens mit aller Energie zu begegnen. Freilich wird hiezu wieder ausländiſches Capital vonnöthen ſein, denn nach der jüngſten Erſchöpfung wird ſich die Türkei zu derlei Koſten kaum bereit finden

12*180Anhang. Anatoliſche Fragmente.

Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver - himmlung des Menſchen geleiſtet. Während das Chriſtenthum in der Perſon ſeiner oberſten Schutzherren unbeſchadet ver - ſchiedener ritueller Opponenten der römiſchen Päpſte, Gläu - bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canoniſirte, konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver - meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von der größten politiſchen Tragweite werden. Es erſcheint dies er - klärlich, wenn man berückſichtigt, wie ſehr ſich bei den mos - lemiſchen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus iſt im türkiſchen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die angebliche Vaterlandsliebe iſt eigentlich nichts anderes, als eine religiöſe Glaubenstreue. Darum hatte dieſes Volk auch ſeit jeher keinerlei Sinn für ſeine großen hiſtoriſchen Perſönlichkeiten, für ſeine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an ſie würde mit der Zeit geſchwunden ſein, hätte es nicht jederzeit wohlbeſtallte kaiſerlich ottomaniſche Reichshiſtoriographen, wie Lufti, Eſſad u. A. gegeben, die gegen ein anſtändiges Jahres - ſalair für die Unſterblichkeit der großen Patrioten der Türkei Sorge trugen. Um ſo größere Aufmerkſamkeit widmen die Os - manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendſten mit dem Namen Nationalheilige belegen könnte und deren Verdienſt um die Machtentfaltung der Türkenherrſchaft von den Rechtgläubigen dankbarſt anerkannt wird. Von dieſen ſind ihnen namentlich zwei unvergeßlich: Dſchelaleddin Rumi1Dieſer Asket, Dichter und Philoſoph zugleich, war eine der erſten Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge - nannten Sufismus ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne. Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol - gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So und Hadſchi Begtaſch, Zeitgenoſſen der erſten Osmanen-Sultane und ſomit gewiſſermaßen Mitbegründer der Dynaſtie, der ſie durch ihre Gottähnlichkeit auf ihrem erſten Lebenswege leuchteten.

181Konja, die Seldſchukidenreſidenz.

Die Grabſtätten beider heiligen Männer haben bei den Osmanen ihre alte Anziehungskraft bis auf den Tag behalten. Sie ſind hochgehaltene Wallfahrtsorte und es bleibt in den Augen der ſtrenggläubigen Türken immer noch ein verdienſt - liches Werk, dahin zu pilgern. In der Regel benützen die, min - der mit Glückesgütern bedachten Gläubigen ihre Mekka-Wallfahrt durch einen Theil Klein-Aſiens, um wenigſtens in der Grab - moſchee Dſchelaleddins in Konja vorzuſprechen, was freilich nur von jenen Pilgern gilt, denen die Stadt überhaupt am Wege liegt Und dieſer Weg führt über Ismid oder Bruſſa am Marmara-Meer, durch jene Landſchaften, die wir oben geſchildert, bis Karahiſſar. Von hier geht es längs der Oſthänge wald - loſer Höhen und am Saume der großen inner-anatoliſchen Salz - ſteppe mehrere Tagreiſen landeinwärts, bis, bereits ganz in der baumloſen Plateau-Ebene gelegen, die Stadt Konja auftaucht. Nur türkiſchen Pilgern vermag dieſe elende Anhäufung von baufälligen Wohnſtätten einen beſonderen Eindruck zu machen, einem Europäer kann ſie nur die ärgſte Enttäuſchung bereiten. Bei ihrem Anblicke aber werden die Pilger lebhafter, eine freudige Bewegung geht durch ihre Reihen und wer Dſchelaleddins Hymnen nicht kennt, recitirt wenigſtens Koranſuren, während die mit - ziehenden Drehderwiſche ſich leichtbegreiflicher Weiſe dem tollſten Taumel hingeben. So geht es fort durch das Weichbild der Stadt und dann durch die engen, winkeligen, von Holz - und Lehmhäuſern gebildeten Gaſſen zur Grabmoſchee des Heiligen, ein Werk Selim I. Trotz aller Sublimität des Ortes dürfte indeß die unmittelbar hier anſtoßende große Herberge des Der - wiſch-Ordens von nicht geringerer Anziehungskraft ſein, wenn -1wanderte Schems Tabriſi, den man lebendig geſchunden, mit ſeiner Haut in den Händen, unter ſeinen Genoſſen weiter. (Malcolm, Geſchichte von Perſien , II.) Unter den türkiſchen Völkern blieb der Sufismus indeß von völlig untergeordneter Bedeutung; um ſo feſtern Fuß faßte er aber unter den Schiiten und Arabern, unter welch letzteren ein gewiſſer Sohra - vady den bedeutendſten Anhang gewann, ſchließlich aber durch Inter - vention der orthodoxen Geiſtlichkeit, auf Befehl des freiſinnigen Saladin zu Aleppo hingerichtet wurde. (Vgl. v. Kremer, Geſch. d. herrſchenden Ideen d. Islam ; dann über die verwandte Secte der Babis, bei Vám - béry, Wanderungen in Perſien ; Polak, Perſien I, u. ſ. w.)182Anhang. Anatoliſche Fragmente.gleich die Gaſtfreundſchaft ſich hier gerne gut bezahlt macht und dem heiligen Zwecke des Beſuches nicht ganz das erwünſchte Verſtändniß entgegenbringt1Wie zu Mekka, wo nach Schluß der Pilger-Feierlichkeiten die Mekkaner ihr Profitchen nachrechnen und bei geſchloſſenen Kaufläden ihren häuslichen Unterhaltungen nachgehen, wobei die verſchiedenartigſten Er - zählungen, wie man die dummen Pilger geprellt hat, das Hauptthema des Geſprächsſtoffes bilden (Vgl. Braun, Gemälde ꝛc. , 453.). Das Innere der Grabmoſchee wird derartig heilig gehalten, daß ſich kein Ungläubiger nur in deſſen Nähe wagen, geſchweige in daſſelbe eintreten darf2Sperling, Ztſchrft. für allg. Erdkunde a. a. O.. Unter acht - eckiger Pyramidal-Bedachung des Grabraumes ſteht der reich - geſchmückte Sarkophag, umgeben von einem ſilbernen Gitter und mäßig erhellt durch ſilberne Ampeln. Die Beſchränktheit des Raumes ruft alsbald unter den Pilgern ein wüſtes Lärmen und Drängen hervor, es regnet Flüche und Scheltworte, denen wohl auch mitunter veritable Prügel nachfolgen, alles in getreueſter Copie zu jenen berüchtigten Auftritten in Mekka, denen übrigens, wenn wir aufrichtig ſein wollen, auch die Balgereien in der Jeruſalemer Grabkirche würdig an die Seite geſtellt werden können3Man denke nur an den frechen Betrug der armeniſchen und grie - chiſchen Geiſtlichkeit, welche immer noch alljährlich aus einem Loch der Grabescapelle zu beſtimmter Stunde die von ihrer gläubigen Heerde er - ſehnte Wunderflamme hervorbrechen läßt, worauf in der Regel jene Schlägerei ſtattfindet, die erſt durch das Dazwiſchenfahren der türkiſchen Ge - wehrkolben ihr Ende findet.. Der Zelotismus treibt eben überall die gleichen ſchönen Blüthen, doch erſcheint er im Oriente ſelbſtverſtändlich bedeut - ſamer, da er ja die Maſſen beherrſcht und durch die, nur ſpärlich platzgreifende Aufklärung nicht jenen wohlthuenden Regulator findet, wie im Abendlande.

Dſchelaleddins Heim hat heute für uns leider nur mehr einen hiſtoriſchen Werth. Einſt war es anders, denn Konja war ja die Reſidenz der kunſtliebenden Seldſchuken-Sultane, von denen namentlich ihr letzter, Alaeddin Keikobad, ſein Andenken in allerhand, nun freilich in Ruinen liegenden Bauten erhalten hat. Der ganze Platz um Konja iſt heute ein ausgedehntes Ruinen - Territorium. Allenthalben noch ſieht man die alten Stadt - umwallungen, welche annähernd einen Maßſtab für die einſtige183Zwiſchen Taurus und Halys.Ausdehnung der Reſidenz abgeben, Werke aus gewaltigen Blöcken und Quadern, mit vorſpringenden Thürmen in kurzen Zwiſchen - räumen. Selbſt die Schulräume, wie beiſpielsweiſe die ſoge - nannte blaue Medreſſe 1Anſicht bei Texier, Asie Mineure , II. , ſind noch zum Theile erhalten und zeigen in ihrem Innern durch eine geradezu frappirende Mannig - faltigkeit in der Ornamentalkunſt den früheren guten Geſchmack der Türken, von dem ſpeciell auf die Osmanen ziemlich wenig übergegangen iſt. Ja ein ſteifleinerner Stambuler Bureaukrat hat es vielmehr für zweckmäßig befunden, den alten Seldſchuken - palaſt innerhalb der Stadt als Steinbruch zu behandeln und ihn aller ſeiner Metallbeſchläge zu berauben2Braun, a. a. O., 371.. (Aehnliche. Wirth - ſchaft konnte man noch vor Kurzem in den Ruinenräumen des alten Sultanpalaſtes zu Adrianopel beobachten.) Auch mit der Hofmoſchee Alaeddins iſt man neueſter Zeit ſehr übel verfahren und man hat aus ihr, für den türkiſchen Zelotismus jedenfalls arg genug, ein Montour-Depot für die Garniſon gemacht. Aber ſelbſt an dieſer halben Ruine iſt alles feſſelnd, die bunt geſchmückte Façade ſowohl, wie die vielfarbigen Fayencen an den Minaret - reſten. Das Fayence-Moſaik ſcheint unter den Seldſchukiden überhaupt eine große Rolle geſpielt zu haben, und iſt auch ſpäter - hin von den Osmanen mit vieler Vorliebe angewendet worden (wie im Adrianopler Palaſt), denn zu Konja zeigen die halb - wegs erhaltenen Räumlichkeiten allenthalben die reichſte kunſt - vollſte Verſchwendung in demſelben. Ganze Wände ſchimmern in Blau und Grün von weißen Koranſprüchen ohne Zahl durch - ädert, im Ganzen von der harmoniſcheſten Wirkung3Texier, Asie Mineure , II. . Dieſe koſtbaren Reſte ſchwinden aber, wie ſchon angedeutet, unter der türkiſchen Wirthſchaft mehr und mehr, und über kurz oder lang wird ſie auch hier jedes Andenken an die früheren, glanzvolleren Tage ſpurlos verwiſchen und nur Ruinen und Lehmhütten zurück - laſſen. Die Stadt iſt ja ohnedies bereits zu einem großen Dorfe herabgeſunken und ſtünde hier nicht jener mächtige national - religiöſe Magnet, Dſchelaleddins Mauſoleum, ſie wäre heute kaum mehr denn eine Steppenſtation auf dem Wege über den ciliciſchen Taurus.

184Anhang. Anatoliſche Fragmente.

Wir verlaſſen die Pilgerkarawane, welche mit Lobhymnen auf Allah und Dſchelaleddin ſich gegen die ciliciſche Pforte wendet, um ihre langwierige Reiſe fortzuſetzen. Vielleicht finden ſich einige Gläubige, welche zu Nigde (bereits ganz im Gebirge gelegen) dem Mauſoleum1Anſicht bei Texier, a. a. O. II, pl. 94 und 108 (mit den menſchen - köpfigen Vogelgeſtalten.) einer Tochter Achmed I., die hier auf ihrer Reiſe nach Mekka ſtarb und beigeſetzt wurde, einen flüchtigen Beſuch abſtatten. Wir aber verbleiben im Innern Klein-Aſiens und wandern oſtwärts der Grabſtätte Hadſchi Begtaſch’s jenſeits des Halys zu. Wenn das Steppengebiet gerade nicht von raubſüchtigen Kurden durchſtreift wird, ſo mag die Reiſe dahin noch angehen, trotz der glühenden Hitze während des Sommers, oder der Gefahren der winterlichen Schneeſtürme. Im andern Falle aber mag ſich die Karawane glücklich ſchätzen, wenn ſie unbeläſtigt in dem kleinen Städtchen Akſerai, am Nordfuße des erloſchenen Vulkans Haſſan Dagh und unweit des großen Salzſees eintrifft. Von hier geht es dann weiter durch ein freundliches Thal voll Obſtgärten, ſpäter aber wieder durch öde Diſtricte mit Lava - und Baſaltgängen, Tuff - und Bim - ſteinbildungen aller Art2W Hamilton, Asia minor , II. , bis das Plateau von Newſchehr erreicht iſt. Wer dieſes, ſowohl geologiſch wie hiſtoriſch ſo räthſelhafte Gebiet zum erſtenmale überblickt, der kann ſich des Gefühles ſchwer erwehren, als hätten hier - monen einen phantaſtiſchen, nun zu Stein gewordenen Spuk getrieben; ſo weit das Auge reicht erheben ſich Tauſende von kirchthurmhohen Felskegeln über die vollkommen platte, mit Bimsſteinſand und Trachytblöcken überſäete Ebene. Wenig Reiſende unſerer Zeit haben ſich mit dieſem Naturwunder des Nähern beſchäftigt. Es iſt eine ganze Troglodytenſtadt, nicht nach jener armſeligen Vorſtellung, wie ſie uns bereits geſchildert, ſondern geradezu großartig in ihrer Geſammtanlage und intereſſant in jedem Detail. Sämmtliche Felskegel ſind innen ausgehöhlt, was bei der weichen Bimsſteinmaſſe wohl nicht ſchwer ausführbar war, ja, es liegt ſogar die Vermuthung nahe, daß gerade dieſer Umſtand die hieſigen Urſaſſen zur Errichtung ſolcher Behauſungen185Troglodyten-Landſchaften.beſtimmte. Sie alle zeigen große Wohnräume mit Kammern und Niſchen, manche beſitzen mehrere Etagen, Treppen und Ga - lerien und an den Portalen allerlei Säulenſchmuck, der fern an den doriſchen Styl erinnert1Bei Mondſchein zeigt ſich hier ein Land wie voll weißer hochauf - ſteigender Kathedralen mit unzähligen Thurmſpitzen; die Schattenkegel er - ſcheinen hinter einander wie lange Proceſſionen rieſiger Mönche durch ein unabſehbares Labyrinth, in dem kein Baum, kein Buſch, kein Grashalm wahrzunehmen iſt. Der Boden kracht unter dem Tritt der Pferde im Bimsſtein, wie im Schnee; und doch herrſcht hier ein heller reiner Himmel vor und die blendenden Reflexe verurſachen dem Auge des Beobachters empfindlichen Schmerz. Die Grotten zeigen aber überdies, namentlich dort, wo ſie an der großen Landſtraße gelegen ſind, vielfache Zerſtörungen durch barbariſche Ueberfälle. An der Decke einer der zahlreichen Capellen ſieht man noch eine coloſſale Chriſtusgeſtalt auf dem Thron ſitzend, in einer zweiten die Coloſſal-Büſte des Heilandes, an der Wand die Jung - frau mit dem Chriſtuskinde und andere bildliche Darſtellungen, meiſt ſehr primitiv und bizarr ausgeführt. (Nach Texier, a. a. O. bei Ritter, XVIII.) Es hat demnach den Anſchein, daß die cappadociſchen Chriſten, bei denen wie wir oben geſehen haben, auch Gregorios Illuminator Schutz fand und ſeine religiöſe Erziehung erhielt, die zweiten Bewohner dieſer hoch - intereſſanten Troglodyten-Landſchaften waren, während über die eigent - lichen Schöpfer dieſer ſubterranen Stadt nach wie vor das tiefſte Dunkel herrſcht. (Ueber die benachbarten Grottendörfer ſiehe auch Hamilton, II, 254 u. ff.). Das können keine primitiven Höhlenbewohner geweſen ſein, es war vielmehr ein Volk von Baumeiſtern, die in ihren Werken der Nachwelt ein monumentales Andenken hinterlaſſen haben, deſſen Enträthſelung bisher noch nicht gelingen wollte. Wer würde ſich aber auch ſo leicht be - ſtimmen laſſen, nach dieſem weltentlegenen Winkel zu pilgern, rings umrahmt von ſalziger Steppe oder gypſigen Hügeln oder den geſtockten großartigen Lava - und Baſaltmaſſen, welche Tag - reiſen weit die Baſis-Region des Argäus2Nahe dem Dorfe Endirlük, an ſeinem Fuße befindet ſich das Grab des amerikaniſchen Arztes und Miſſionärs Nathan Gridley, welcher am 28. September 1827 durch eine forcirte Erſteigung des Rieſenberges ſich den Tod zuzog. Auf ſeine rieſige Körperkraft vertrauend, entſchloß er ſich, direct zu Fuße, wie er ſtets ſich zu bewegen pflegte, als erſter Pionnier der Neuzeit die Höhe des Vulkankegels zu erklimmen. Er war Anfangs von vier Griechen begleitet, die bald aus Erſchöpfung liegen blieben; ihres warnenden Zurufes ungeachtet, ſetzte er die Erſteigung fort, bis auch er, des gewaltigſten aller186Anhang. Anatoliſche Fragmente.erloſchenen Vulkane Kleinaſiens, bedecken. Dieſer Bergrieſe erhebt ſich mit ſeiner Schneehaube als einziger, regelmäßiger Kegel in die klare Bläue des anatoliſchen Himmels empor.

Von Newſchehr iſts übrigens nur ein Katzenſprung zum hochgehaltenen Wallfahrtsorte Hadſchi-Begtaſch. Keine Cultur, kein Leben regt ſich in dieſer traurigen Wüſte. Der wellenförmige Weideboden nimmt eine ſcheinbar endloſe Ausdehnung gegen Oſten, nur hin und wieder unterbrochen von den ſchwarzen Kegelzelten der Kurden, welche in der Nähe des Wallfahrtsortes gute Beute wittern. Um ſo großartiger iſt der Rundblick nach Süden hin. In ſtiller Majeſtät treten da vorerſt aus der weiten Plateau-Landſchaft die Kegelberge Argäus und Haſſan Dagh in den Blick, hin und wieder umkränzt von üppigen Gärten; dahinter wieder ſtreckenweiſe baumloſe Ebene, die im äußerſten Hintergrunde durch den verſchwimmenden Gebirgswall des Taurus und Anti - Taurus ihren Abſchluß findet. Ein gut bewaffnetes Auge würde auch in gerade ſüdlicher Richtung eine gewaltige Unterbrechung der Gebirgsmaſſe, eine großartige Kluft in ihr erblicken. Es iſt der einzige wegſamen Paß im ſüdöſtlichen Taurus, die ſoge - nannte eiliciſche Pforte , ein ſtummer Zeuge der welterſchütterndſten Völkerzüge aller Jahrtauſende. Durch ihn zogen bereits die Aſſyrier hinauf, als ſie jenſeits am mittelländiſchen Geſtade Thar - ſus gegründet hatten; Alexanders Heer ſtieg dort zum Cydnus und Iſſus hinab, die Schaaren der Saracenen und Seldſchuken in entgegengeſetzter Richtung, nach jenem Gebiete herauf, das wir ſoeben durchwandert haben. Auch die Mongolen und Tar - taren, ſowie die Kreuzfahrer haben immer nur dieſen Paß benützt. Zuletzt war es das Heer Ibrahim Paſchas, das hier ſeinen Weg nach Konja und Kjutachia fand. Es iſt derſelbe Weg, den2ermattet zu Boden ſank und erſt am folgenden Morgen im Stande war, ſich mühſam nach Ewerek zurückzuſchleppen, worauf man ihn in ſein Haus zu Endirlük begleitete, wo er ſchon nach 3 Tagen den Folgen der An - ſtrengung erlag Am Nord - und Oſtfuße des Argäus liegen allent - halben die ſchönen Häuſer und Gärten der armeniſchen Bewohner aus der Umgebung von Kaiſarie. Die Turkmenen ſind friedlich; gleichwohl plündern die kriegeriſchen Afſcharen von den öſtlichen Bergen aus häufig alle Dörfer bis zu den Thoren der Stadt. (Vgl. P. v. Tſchichatſcheff, Routen in Klein-Aſien , Pet. Ergänzghft. Nr. 20, S. 12 u. 38.)187Hadſchi-Begtaſch.die Geſchichte des Türkenthums genommen1J. Braun, Gemälde ꝛc. , c. XIX, 366.. Bei dieſem erhe - benden, tauſend Gedanken über die vielartigen Völkerſchickſale hervorrufenden Anblicke ſchrumpft jener des nordwärts gelegenen Diſtrictes von Begtaſch in ſeine ganze moderne türkiſche Jämmer - lichkeit zuſammen.

In einer Mulde des weiten Hochfeldes liegt das Dorf, welches den größten Nationalheiligen der Türken hervorgebracht hat, und in welchem er unter baufälligem Kuppeldache ſchlummert2Dieſer für heilig gehaltene Ort gibt durch ſeinen Schmutz, die Armuth ſeiner Bewohner und ſeinen gänzlichen Verfall zu der Bemerkung Gelegen - heit, daß nicht der gewöhnliche gouvernementale Druck und die Steuer - Vexationen einzig und allein die Haupturſache an dem grenzenloſen Zer - falle alles Beſtehenden im Osmanenreiche ſein können. Dem Heiligthume verdanken die Bewohner von Begtaſch, daß ſie keine Taxen an die Regie - rung abzugeben brauchen und daß ein großer Theil des Erlöſes aus den Salzgruben von Tuzköj ihnen zufällt. Ungeachtet dieſer Einkünfte zerfällt das Grabmal des Patrons mehr und mehr, da ſeine Anbeter, ſtolz au den Glanz deſſelben, lieber im Schatten der Bäume lagern und ihren Tabak in Unthätigkeit ſchmauchen, anſtatt ſich einer einträglichen Arbeit hinzugeben. (Vgl. Ritter, a. a. O. Otter, Voy. II, etc. ). Der fromme Begtaſch hatte bekanntlich unter Orchans Regierung, dem zweiten Osmaniden, den Impuls zur Gründung der Jani - tſcharen gegeben, wozu geraubte Chriſtenknaben das Material liefern mußten. Er war aber gleichzeitig der Begründer des gleichnamigen Derwiſch-Ordens, der ſpäterhin, wie die Jani - tſcharen ſelbſt, eine ungeheuer Präponderanz im Reiche gewann und deſſen Macht gleichzeitig mit der Vernichtung der türkiſchen Prätorianer unter Sultan Mahmud II. (1826) auf immer ge - brochen wurde. So glaubte man wenigſtens zu Stambul, aber während die Janitſcharen bis auf Wenige thatſächlich vernichtet wurden, beſtanden und beſtehen die Begtaſchis im Geheimen fort, denn wie früher, ſo iſt auch heute noch jeder Türke, dem es beliebt, Begtaſchi, wie bei uns Jedermann Freimaurer ſein kann. Es mag als bezeichnend gelten, daß der Großvezier Seida, dem Sultan Mahmud den Auftrag zur Verfolgung der Begtaſchis und Schließung ihrer Ordenshäuſer gegeben, ſelbſt ein Mit - glied des Ordens war. Gleichwohl wurden die Angehörigen des -188Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſelben ziemlich energiſch verfolgt, aber weniger um dem Befehle des Sultans nachzukommen, ſondern vielmehr zur Befriedigung perſönlicher Rachegelüſte. Wer ſich irgend einer unliebſamen Perſönlichkeit entledigen wollte, denuncirte ſie entſprechenden Orts als Mitglied des aufgehobenen Ordens, worauf ſofort die Ver - bannung des Denuncirten oder gar ſeine Hinrichtung ſtattfand, ohne viel nachzuforſchen, ob er auch der Anklage ſchuldig ſei. Derartige nichtswürdige Mittel wurden bekanntlich ſogar noch unter Mahmud Neddims erſter Großvezierats-Epoche in Anwen - dung gebracht, alſo vor wenigen Jahren erſt

Mit dieſen wenig erbaulichen Erinnerungen an den hochge - haltenen aber vollkommen verwahrloſten Wallfahrtsort Hadſchi Begtaſch lenken wir unſere Schritte nordwärts über das nahe Plateau von Bozuk. Es iſt ein öder, weitläufiger Tummelplatz kurdiſcher Nomaden. Alle jene Stämme, welche das kurdiſche Mutterland ausgeſtoßen1Wie das arabiſche Mutterland Nedſchd, deſſen nordwärts abgedrängte und ausgeſchiedenen unedlen Stämme heute zu den berüchtigtſten Wege - lagerern und Wüſtenräubern zwiſchen Syrien und Eufrat zählen. Aus der Einfachheit und Magerkeit ihres Lebens auf Reinheit der Sitten zu ſchließen, wäre ein unverzeihlicher Irrthum. Sie leben ſtatt in Vielweiberei, ſo ziemlich in Weibergemeinſchaft, und geſtehen ſelbſt: Hunde ſind beſſer, als wir. Auch wäre es eine große Täuſchung, die Eigenſchaften, welche ſie an ihren Wüſtenidealen (Antar, der Tapfere, Hatim, der Gaſtfreund - liche und Laila, die Liebreizende) preiſen, bei ihnen ſelbſt vorauszuſetzen. Der Gaſt, gegen welchen man im eigenen Zelt für die Nacht alle Pflichten der Gaſtfreundſchaft erfüllt hat, kann am Morgen, einige Stunden weiter - hin, von ſeinem Wirth geplündert werden. Beduiniſche Tapferkeit iſt ſo zweifelhaft, wie die eines Raubthieres. (Nach Palgrave, A years jour - ney thr. Central - and Eastern-Arabia , und Burton, Pilgrimage etc. , bei Braun, a. a. O., 190.) Epiſoden, wie das Auftauchen der Kurden - Amazone Fatma im letzten Kriege, zählen auch in Kurdiſtan heute wohl nur mehr zu den Seltenheiten. Im Uebrigen ſind die kurdiſchen Strauch - ritter nur nach dem Maße ihrer arabiſchen Doppelgänger zu meſſen., die eigentlichen zielloſen Wanderhorden, ſuchen es jahrein und jahraus heim und von ihren wilden In - ſtincten, die ſich namentlich in der Mißachtung fremden Eigen - thums ausprägen, haben die Bewohner, ob nun Chriſt oder Moslim, in gleichem Maße zu leiden. Auch hier war es in früheren Zeiten anders, als noch die einheimiſchen Feudalherren das Land verwalteten und unter dem milden Regimente eines189Antike Denkmäler zu Boghasköj.Tſchapan Oghlu Gewerbe und Production in niegeahntem Grade aufblühten1Dieſer Tſchapan Oghlu war ein großer Bewunderer von Napoleon I., deſſen Conſuln und Emiſſäre bei ihm ſtets die freundlichſte Aufnahme fanden. Daß er die unter ſeinem Regimente ſo blühende Stadt Jüsgat (mit vielen armeniſchen Coloniſten) eigentlich erſt von einem elenden Dorfe zu einer ſolchen erhob, wollen wir nur nebenher bemerken. Biel bedeut - ſamer erſcheint die Thatſache, daß Tſchapan Oghlus Gerechtigkeitsgefühl, Hospitalität und große Toleranz das Wunder bewirkten, daß viele der ſeinerzeit hier internirten ruſſiſchen Gefangenen ihren Glauben abſchworen und ſich im Orte coloniſirten. (Vgl. W. M. Leake, Journal of a Tour in Asia Minor , bei Ritter a. a. O., 18.). Selbſt unter den erſten Nachfolgern der Regierung war es noch anders, damals, als der energiſche Izzet Paſcha auf allen Wegen die Symbole ſeiner Macht, den Pfahl, errichten hatte laſſen, vor dem ſich ſelbſt das ungebundene Geſindel des Anti-Taurus, die Kurden und Afſcharen, ſcheu in ihre Schlupf - winkel verkrochen2Perrot in Rev. de deux Mondes (1863), 338.. Die Sitten waren damals ſo patriarchaliſch, daß ſelbſt europäiſche Reiſende nur angenehme Erfahrungen machten, und zwar in demſelben Lande, das heute nur mehr mit Lebensgefahr betreten werden könnte. Es iſt ein Theil des alten Kappadokien, mit ſeinen geheimnißvollen Ruinenreſten zu Boghasköi und den abenteuerlichen Felsſculpturen daſelbſt, die in der Zeit der neuen Zuſtände keine europäiſchen Forſcher mehr angelockt haben3Es ſind die Reſte eines aus coloſſalen Quadern erbauten Tempels mit theilweiſe erhaltenen Gemächern und von Mauern und Thürmen um - geben. (Grundplan bei W. Hamilton, Asia Minor , Nr. 11.) Noch viel bedeutſamer ſind die Felsſculpturen des ſogenannten Jazili-Kaia oder be - ſchriebenen Steins , die einen Blick in eine ferne, räthſelhafte Vorzeit ge - ſtatten, die weit über die Epoche der Griechen und Römer hinausreicht. Die Relief-Darſtellungen haben auch nichts mit ähnlichen Werken der Aſſyrier gemein, obgleich ihr Alter, wenn nicht noch höher hinauf, min - deſtens in die Zeit der zweiten aſſyriſchen Weltherrſchaft reichen dürfte. (Vgl. Texier, Asie Mineure , I, 214 u. ff.). Beſſer im Allgemeinen iſt es mit der benachbarten Pontusprovinz beſtellt, wo ſich zwiſchen mäßig bewaldeten Höhen weite Thäler, jene des Irſchil Irmak und ſeiner Zuflüſſe, dehnen mit Ortſchaften, wie Nikſar, Tokat, Merſiwan und vor Allem Amaſia, prächtige Oaſen in der üppigen Vegetationsfülle ihrer natürlichen Gartenlandſchaften wie begraben. Die Segnungen190Anhang. Anatoliſche Fragmente.der heutigen Verwaltung dürften es indeß kaum ſein, die dieſes Gebiet nach vielfacher Verwüſtung wieder einiger Cultur und Blüthe zuführten. Ja zum Theile iſt es das Volk ſelbſt, welches nach den letzten Erfahrungen in Betreff der europäiſchen Neue - rungen für dieſe begreiflicherweiſe nur wenig erbaut ſein konnte, das ſich gegenüber fremden Bemühungen, Cultur und Ge - ſittung in dieſe Länder zu tragen verwahrte, wie beiſpielsweiſe die Bewohner der Stadt Amaſia, der wir uns nun auf unſerem Wege bis zur uralten Culturſtätte am Pontus, Sinope, zuwenden.

Bislang war Amaſia nur dadurch berühmt, die Geburtsſtadt Strabos zu ſein1Strabo XII. . Die uralte helleno-pontiſche Binnenſtadt iſt freilich, bis auf den Namen, den wunderſamer Weiſe die vielen Völkerſtürme nicht verwiſchen konnten, nahezu ſpurlos vom Erd - boden verſchwunden, ausgenommen eine als antik geltende Quader - Brücke, welche heute die zu beiden Seiten des Fluſſes gelegenen Stadttheile mit einander verbindet, und dann die alte Königs - nekropole zu Häupten des abenteuerlich geformten Caſtells, gleich - falls ein Bau, der in ferne ſagenhafte Zeit fällt. Wie viele gibt es aber unter uns Abendländern, die dieſen jahrhundert - jährigen Tummelplatz der Völker auch nur dem Namen nach kennen, trotzdem ſie der Schauplatz eines vermeintlich türkiſchen National-Epos iſt? Erſt neueſter Zeit wurde Amaſia des öftern genannt und wie ſo oft, hat auch diesmal ein ziemlich obſcurer Ort dadurch einigen Glanz bekommen, daß er der Ge - burtsſtadt eines Tageshelden galt; diesfalls des Vertheidigers von Plewna, Osman Paſcha. Gleichwohl wäre es eine arge Illuſion, ſich durch dieſe Thatſache irgendwie enthuſiasmiren zu laſſen, denn ſoviel uns heute bekannt iſt, genießt Amaſia, welches noch die orientaliſchen Schriftſteller des Mittelalters die Stadt der Philoſophen nennen, gleich Kutachia, den Ruf, eine der gefähr - lichſten Brutſtätten moslemiſchen Fanatismus zu ſein. Als ſich vor mehreren Jahren eine ſchweizeriſche Firma in der Stadt etablirte, um die altberühmte Seideninduſtrie, die ſeinerzeit in Kleinaſien unerreicht daſtand, wiederzubeleben, betrieb man ſelbſtver - ſtändlich auch die Tödtung der Cocons rationeller, als es bisher191Amaſia, die Gartenſtadt.in dem ehrwürdigen Neſte üblich war, nämlich mittelſt Dampf. Da erhob ſich denn ein gewaltiger Sturm der Ulemas in Stam - bul, welche von den Geſinnungstüchtigen Amaſias aufgereizt wurden, gegen ſolche Eingriffe in die Ordnung Gottes , und wollte das fremdländiſche Unternehmen nicht ſogleich zu Beginn Schiffbruch leiden, ſo war man gezwungen, ſich der einheimiſchen Weisheit zu fügen. Es erfolgte nach wie vor die Tödtung der Cocons in der Sonnenhitze, alſo durch mehrtägige Qual, anſtatt binnen wenigen Minuten durch heißen Dampf1Perrot, Note bei Braun, a. a. O., 382. Am meiſten verdient um Amaſias Seideninduſtrie hat ſich der Baſeler Kaufmann Krug gemacht, (Vgl. P. v. Tſchichatſcheff, Routen, ꝛc. , 12.).

Trotz ſolcher Intoleranz und fabelhafter Beſchränktheit ſind die guten Pfahlbürger Amaſias nicht wenig ſtolz auf die ge - ſchichtliche Vergangenheit ihrer Stadt, die freilich, wie ſo häufig im Oriente, mit den islamitiſchen Uranfängen verflochten wird2Vgl. oben, Die Ruinendenkmäler von Van , dann einzelne dies - fällige Bemerkungen bei Braun, Hiſtoriſche Landſchaften , a. a. O., ohne daß ſie mit denſelben thatſächlich etwas zu ſchaffen hätte. Selbſt ohne jedwede Cultur und nur fictiven, meiſt fabelhaften Glanzepochen früherer Tage lebend, haben verſchiedene moslemiſche Schriftſteller und darunter oft die beſten, verläßlichſten, nicht er - mangelt, die ehrwürdigen Königsdenkmäler des einſtigen pontiſchen Reiches mit nationalen Sagen zu umranken, geſchichtliche That - ſachen zu verfälſchen und ſo hiſtoriſche Momente ins Osmanenthum hinein zu ſpintiſiren, die mit demſelben ſo wenig zu ſchaffen haben, wie etwa die babyloniſch-ninivitiſchen Denkmäler mit dem ſpäteren abbaſſidiſchen Khalifate. Aber ſelbſt in Bezug auf die ſagenhafte Vorgeſchichte Amaſias irrten die ehrenwerthen Herren von der Damascener und Bagdader Facultät gar ſehr. Sie laſſen, dem perſiſchen Heldenbuche ganz zuwider, Isfendiar, den Heros von Iran und ſpeciell von Biſutun ohne beſondere Scrupeln ſeine Heldenthaten im Thale des Iris ausführen, und ſind nur in dem einen Punkte im Unklaren geblieben, ob die alten Burgtrümmer von dieſem oder von dem iraniſchen Ferhad herrühren3Vergl. Ewliya Effendis Reiſen , in Hammer-Purgſtalls engliſcher Ueberſetzung, II. . Daß an den Coloſſal-Niſchen der pontiſchen192Anhang. Anatoliſche Fragmente.Königsgräber, welche die alte Burg dominiren, griechiſche In - ſchriften angebracht ſind, welche ſtärkere Philologen, als Türken in der Regel ſind, auf die richtige und einzige Provenienz der antiken Bauten führen hätte können, ſei nur ſo nebenher bemerkt. Im türkiſchen Oriente weiß man indeß nichts von derlei Ante - cedentien der einſtigen pontiſchen Metropolis, und jeder Kameel - junge des anatoliſchen Tafellandes labt ſich an den phantaſtiſchen Geſchehniſſen, mit denen Ferhads Name verknüpft iſt Heute ſtrömt der grüne Fluß unmittelbar nördlich von Amaſia durch ein wildromantiſches Felſen-Defilé1Beſchreibung deſſelben bei Ker Porter, Travets etc. II, 706 u. ff., in das man, für türkiſche Zuſtände überraſchend genug, einen Felſenſteig hauen ließ, um Zutritt zu der Stadt zu erlangen. Dieſes großartige Defilé iſt aber kein Werk der Eroſion des Iris, wie bei uns jeder Schul - junge erkennen würde, ſondern ein Werk Ferhads, der die Berge um Amaſia wie Wachs auseinander ſchnitt und die Gewäſſer nach den Gartenanlagen ſeiner geliebten Schirin leitete. Dort wandelte die halb überirdiſche Schönheit, wie ſie kaum das ver - klärte Auge des Seligen im vierten Himmel, dem Aufenthalts - orte der ſchönſten Weiber, zu ſchauen gewohnt iſt, unter ihren dienſtbaren Rieſen, die auf den Befehl ihres Gebieters in groß - artigen Kunſtbauten, Aquäducten, Milchſtröme nach den Meiereien der Geliebten fließen ließen. Dieſe Kunſtbauten ſind in im - poſanten Fragmenten auch heute noch zu ſehen, aber ſie mochten wohl einem praktiſcheren Verdienſte gedient haben, als jenes iſt, von dem die moslemiſche Fabel berichtet. Für die Nomaden - natur der Osmanen, die ſelbſt heute noch ihre Behauſungen zu möglichſt luftigen, paſſageren geſtalten, und ſo eine rieſige Holz - barackenſtadt zuſammengebracht haben, welche man Stambul nennt, mag es allerdings unfaßlich erſcheinen, daß ſo gewaltige Bauten, wie die Waſſerleitungen von Amaſia, von den Händen gewöhn - licher Menſchen herrühren.

Werfen wir nun einen Blick auf die Geburtsſtätte Strabos, und Osman Paſchas. Zwiſchen engen Felswänden gebettet, breiten ſich die weitläufigen Häuſergruppen des Iris-Stromes, zum Theile an den hohen Ufern deſſelben, anderntheils terraſſen -193Amaſia.artig an den felſigen Abſatzformen des natürlichen Gebirgskeſſels. Im Frühjahre oder Sommer, wenn die Gärten im Blüthen - oder Blätterſchmucke ſtehen und ſo die wüſten Häuſeranhäufungen wohlthuend unterbrechen, iſt das Bild dieſer intereſſanten Stadt noch ein allenthalben erquickendes1v. Moltke, Briefe über die Türkei , 359. Nach ihm ſind Amaſia und Egin (in Hoch-Armenien bei Erzingian) die beiden ſchönſten Städte in Bezug auf ihre Lage, die er in Vorder-Aſien geſehen. Amaſia ſei hiebei ſeltſamer und merkwürdiger, Egin aber gewaltiger, in Folge ſeiner Felſenumrahmung und des Eufratſtromes.. Anders aber zur Winterszeit, wenn die platten Lehmdächer aufgeweicht werden und die ganze Häuſermaſſe nur mehr einer Kothlache gleicht. Einſt ſtanden an denſelben Stellen weitläufige Paläſte griechiſcher Großen, präch - tige Kirchen, alle Bauten unterbrochen von weitläufigen Plätzen. Einzelne Reſte von Prachtbauten, die aus moslemiſcher Zeit datiren, ſind hier wohl auch zu treffen, aber im Grunde wurde nur das vorhandene Baumaterial verwendet und aus den antiken, ſtylvollen Architekturen wurden wunderlich verquickte Zwitter - geſchöpfe, an denen Kunſt und Barbarei in gleichem Maße zum Ausdrucke kamen. Aber ſelbſt dieſe Bauten einer jüngeren Zeit, darunter Paläſte verſchiedener Sultane2Vgl. Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , III, a. a. O., ſind ſoviel wie zerſtört und nur der Kizlar-Serai , oder Frauenpalaſt, zu erkennen, ſo - genannt, weil ſeinerzeit die Einkünfte der Stadt und ihres Terri - toriums für die Privatſchatulle der erſten Sultanin beſtimmt waren. Ueber alles erhaben präſentiren ſich aber die Fragmente des uralten Caſtells, der einſtigen Reſidenz Isfendiars und ſpäter jene Ferhads3Nach Hadſchi Chalfa von dem Seldſchukiden Alaeddin Keikobad reſtaurirt.. Daß der perſiſche Nationalheros früher als der osmaniſche in Amaſia geherrſcht, gäbe übrigens den beſten Anlaß, der Logik der morgenländiſchen Schriftſteller einen kleinen Stoß zu verſetzen, da in unſerem Falle der ältere Isfendiar nicht in einer Burg reſidirt haben konnte, die der jüngere Ferhad erbaut haben ſollte. Gerne glauben wollen wir aber, daß Bajazid Ilderim, die erſte hiſtoriſche Perſönlichkeit, die nach osmaniſchen Geſchichts - ſchreibern mit Amaſia in Verbindung gebracht wird, mit Vorliebe in der Irisſtadt ſich aufhielt, während es anderſeits erwieſen iſt,Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 13194Anhang. Anatoliſche Fragmente.daß weder die große Steinbrücke, noch die vielgerühmte Moſchee ſeine Schöpfungen, ſondern nur Reſtaurirungen der vorhanden geweſenen Antiken ſind. Ueber dieſelben Bogen, die ſich heute wie vor zwei Jahrtauſenden von einem Ufer zum andern ſpannen, wanderte ſchon Strabo1Ker Porter, Travels etc. , II, 708 u. ff., freilich im zarteſten Alter, wo ihn die Stoa noch nicht den Ihrigen nannte, und wandelte ſpäter ein anderer Stoiker Osman, der neue Ferhad von Plewna. Auf der Felſenhöhe aber, die auf das Häuſergewirre niederdräut, ſaß vor Zeiten, wann, iſt uns die moslemiſche Literaturgeſchichte ſchuldig geblieben, Mihri, die osmaniſche Sappho, in heißer aber unglücklicher Liebe zu einem Treuloſen entbrannt. Wie die fabel - hafte Schirin, ſo war auch die, augenſcheinlich hiſtoriſche, Mihri eine unvergleichliche Schönheit. Den Beleg hiezu mag übrigens die Thatſache liefern, daß Amaſia noch heute als die Stadt der ſchönſten anatoliſchen Frauen gilt, und eine türkiſche Redensart in dieſem Sinne im heutigen bürgerlichen Leben allerorts im Gebrauch iſt. Amaſia beſitzt aber noch einen andern Schatz, das beſte und ſchönſte Obſt in allen Gauen und Provinzen dies - ſeits des Taurus. Allein an vierzig Arten Birnen gedeihen in dem ſonnigen Thale, das eines der mildeſten Kleinaſiens iſt, und die Aepfel ſind die berühmteſten des ganzen osmaniſchen Reiches und ſo finden ſie ihren Weg bis auf die Tafel des Padiſchah zu Stambul.

Von den eigentlichen osmaniſchen Geſchichtstraditionen dürften diejenigen die traurigſten ſein, welche Bajazid und ſeinen Be - zwinger Temur Lenk betreffen. Bajazid hatte ſich mit Vorliebe in Amaſia aufgehalten und wäre er in ihrer feſten Burg ver - blieben, als der Völkermörder Temur mit ſeinen Tartaren über die Taurus-Päſſe aus dem bezwungenen Meſopotamien hervor - brach, ſo wäre ſein Schickſal ein anderes geworden, als jenes, das ihm die Entſcheidungsſchlacht bei Angora brachte. Er war von Amaſia bis Angora hinter den Halys geeilt, um ſein Heer zu ſammeln und in Schlachtordnung zu bringen. Temur mar - ſchirte an Amaſia vorüber, um ſich mit ganzer Kraft auf ſeinen Gegner zu werfen, den er bekanntlich in mörderiſcher Schlacht195Amaſia.bezwang und zu ſeinem Gefangenen machte1Zwar nahm der Sieger den ſtaub - und blutbedeckten Gefangenen mit Ehrerbietung auf, konnte aber doch nicht umhin zu lachen. Warum? fragte Bajazid. Weil Gott die Herrſchaft der Welt einem Lahmen, wie ich, und einem Gichtbrüchigen, wie du, anvertraut hat; es ſcheint, daß er nicht viel Werth auf dieſe ſeine Welt ſetzt. Nach Jouannin, Turquie , bei Braun, a. a. O. 376.) Gleichwohl ſahen die Hoftheologen dieſen Lahmen ſtets von überirdiſcher Gloriole umfloſſen, die ſich in Form eines Regen - bogens vom Prophetengrabe zu Medina bis zum Haupte des Weltbe - zwingers ſpannte. (Nach d’Ohſſon, I, 204, bei Braun, ebd.). In einem großen Käfig verwahrt mußte es der ſtolze Beherrſcher aller Gläubigen und Sieger über die vereinigten fränkiſchen Heere bei Nikopoli erleben, wie man ihn vor Amaſia brachte und unter ſeinen Augen die ungeheuerlichſten Grauſamkeiten beging. Als ſich Amaſia nämlich durch mehrere Monate hielt, ließ er alles Landvolk, ob Chriſt oder Türke, zuſammenfangen und es in die Ciſternen des Ferhadberges werfen; in dem nahen Siwas aber, wo die ge - ängſtete Bevölkerung dem Weltſtürmer einige Tauſend Kinder mit aufgeſchlagenen Koran-Exemplaren auf den unſchuldigen Köpfen entgegenſendete, ließ Temur die heiligen Bücher in aller Ehrfurcht von den entblößten Häuptern der Kleinen entfernen, dieſe ſelbſt aber, als angebliche Frucht der Sünde, des Ehebruchs und der Blutſchande, von ſeiner Cavallerie in den Boden ſtampfen2Braun, Gemälde , 376. Dem gefangenen Sultan aber brach ob ſolcher Gräuel das Herz und er verſchied, anſtatt auf dem Throne Osmans, in ſeinem eiſernen Käfig In der Umgebung von Amaſia ſiedelten aber damals auch zahlreiche Mongolenſtämme, es heißt bei fünfzig unabhängige Horden, die ſeit Hulagus Zeiten zurückgeblieben waren. Sie ließ Temur, aus Rache für die Unbezwingbarkeit der Stadt in die Gefangenſchaft fortſchleppen, um ſie ſpäter öſtlich des Caspi-Meeres anzuſiedeln3Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reiches , I, 229 u. ff..

Alle dieſe Ereigniſſe haben dem uralten Trutzbau von Amaſia nichts anzuhaben vermocht. Wer heute die Felſenhöhe des Ferhad - berges im Süden der Stadt erklettert, der gewahrt die coloſſalen Grabkammern der pontiſchen Könige unverletzt, als ſeien ſie vor etlichen Monaten und nicht vor zwei Jahrtauſenden und darüber13*196Anhang. Anatoliſche Fragmente.aus dem natürlichen Felsgeſtein gemeißelt worden1Anſicht bei Hamilton, Researches in Asia minor I, (Titelblatt); auch bei W. Ouſeley, Trav., III , und bei v. Moltke, Briefe ꝛc. 202 205 ( Die Felſenkammern in Amaſia ).. Aber nicht die gigantiſchen Niſchen allein, fünf oder ſechs an der Zahl, der Ruheplatz einer ganzen Dynaſtie, wurden dem lebendigen Fels abgerungen; in jeder dieſer durch den Meißel entſtandenen Grotten ward über deren Sohle noch ein gewaltiger Felswürfel belaſſen, kunſtvoll behauen und innen ausgehölt, behufs Aufnahme eines Sarkophages. Dieſe letzteren ſind zu unbekannter Zeit ver - ſchwunden; im Volksmunde aber gelten, trotz der griechiſchen Inſchriften, welche das Geheimniß der Grotten entſiegeln, dieſe als einſtige Grabkammern der Rieſen Ferhads.

Es war ein Oeſterreicher, der zuerſt Kunde von Amaſia, der Gartenſtadt brachte. Unter der Regierung Ferdinand I. gab es in Bezug auf Siebenbürgen allerlei Streitigkeiten mit den Paſchas Suleiman I. Dieſe zu ſchlichten, entſendete der Kaiſer den Geſandten Busbek nach Conſtantinopel, wo er jedoch den Sultan nicht antraf, da dieſer kurz vorher mit ſeinem ganzen Hofſtaate nach Amaſia überſiedelt war, um den Friedensſchluß mit dem Schah von Perſien feſtlich und mit allem Pomp zu begehen. Busbeck war demnach gezwungen, ſich von Conſtanti - nopel aus über Land, und zwar mit der Zwiſchenſtation Angora, nach dem augenblicklichen Hoflager Suleimans zu begeben, und er war ſomit einer der erſten Europäer, der Klein-Aſien nahezu ſeiner ganzen Länge nach gekreuzt hatte. (Im Jahre 1515.) Die Aufzeichnungen des Diplomaten, deren Originale in irgend einem Staatsarchive modern mögen, ſind intereſſant genug, im Ganzen aber erſtreckt ſich ſeine Bewunderung weniger auf die Alterthümer Amaſias, als vielmehr auf den feenhaften Pomp, die rauſchenden Feierlichkeiten und die glänzenden Coſtüme am großherrlichen Hoflager ſelbſt. Drei Monate verweilte Busbeck am Hoflager Suleimans zu Amaſia, dann kehrte er, anſtatt des erwünſchten Friedens, blos die Einwilligung zu einem ſechsmonatlichen Waffen - ſtillſtand mitbringend in ſeine Heimat zurück, Wunderdinge be - richtend von ſeiner großen Reiſe ins Herz Anatoliens. Seitdem haben ſich die Zeiten freilich geändert und Anfang der ſiebziger197Sinope, ein Culturbild.Jahre wurde von der pontiſchen Küſtenſtadt Samſun her, im Thale des Yeſchil-Irmak, von europäiſchen Ingenieuren fleißig nivellirt und Amaſia zur Hauptſtation eines, vorläufig allerdings erſt im Projecte gediehenen Schienenweges auserwählt

Wir müſſen, um unſere anatoliſchen Schilderungen ent - ſprechend abzuſchließen, noch einmal zur pontiſchen Küſte hinab - ſteigen, von deren mehr öſtlichen Strichen bereits umſtändlich die Rede war1S. den III. Abſchnitt.. Thalab des Iris und Halys würden wir hiebei nur wenig intereſſante Landſchaften berühren: Dort ein ziemlich ödes Defilé bis zur weitläufigen Delta-Landſchaft bei Perſchembe; hier zwar vorerſt ein breites Thal mit Waldanſätzen an den Lehnen, ſpäter aber einen ſumpfigen Geſtadebezirk mit der herab - gekommenen Stadt Bafra, unweit der Halys-Mündung und ſeinen brakiſchen Strandſeen. Anders, wenn man längs der anatoliſchen Pontusküſte gegen Oſten ſteuert, und ſo in ihrer beiläufigen Längenmitte auf den nördlichſten Punkt der klein - aſiatiſchen Halbinſel, auf das Vorgebirge Indſche-Burun, d. i.: das Feigen-Cap , ſtößt. Wie alle paphlagoniſchen Uferland - ſchaften ſtürzt es ſteil und jäh in die tieffarbene Meerfluth, die weithin das öde Geſtade beſpült. Aber nur wenig Tauſend Meter oſtwärts tritt die Küſte wieder ſüdwärts zurück, indem die große Einbuchtung vor dem Halys-Delta nochmals eine Unterbrechung findet, durch eine langgeſtreckte Halbinſel mit aufſtarrendem, maſſigem Vorgebirge und niederem, ſandigen Iſthmus. Auf dem letzteren, im Norden und Süden vom Meere beſpült, liegt heute eine unbedeutende Küſtenſtadt, Sinub, das einſtige glanzreiche Sinope, die Heimat des Cynikers Diogenes und die Reſidenz des gewaltigſten Herrſchers vor der politiſchen Neugeſtaltung Vorder-Aſiens durch die Machterweiterung Roms, jene Mithri - dates Eupator VI., den die Geſchichte den Großen nennt. Es heißt, daß dieſer bedeutende, am Ausgange des Jahrtauſendes n. Chr. ſtehende Beherrſcher des pontiſchen Reiches in Sinope ſeine letzte Ruheſtätte gefunden habe und eine Wiederauffindung derſelben wohl noch denkbar ſei. Ob damit der Geſchichts - forſchung ein beſonderer Nutzen erwachſen könnte, vermögen wir nicht zu beurtheilen, intereſſant aber bliebe es auf alle Fälle,198Anhang. Anatoliſche Fragmente.noch einmal den claſſiſchen Schutt dieſer älteſten mileſiſchen Pflanzſtätte am rauhen Pontusgeſtade durchzuwühlen, um jenes Culturgemälde zu vervollſtändigen, das uns, im Hinblicke auf den heutigen troſtloſen Zuſtand der türkiſchen Hafenſtadt, ſo eigen - thümlich erhebend anmuthet. Bis zu den eigentlichen Uran - fängen der Exiſtenz Sinopes, das bereits vor dritthalb Jahr - tauſenden den Umſatz und den Austauſch der Producte menſch - lichen Fleißes zwiſchen den ägäiſchen und pontiſchen Uferſtaaten einerſeits und den aſſyriſch-indiſchen Reichen anderſeits vermittelte, vorzudringen, wäre an der Hand topographiſcher Thatſachen allerdings nicht mehr denkbar. Der Küſtenplatz hat derart gründ - liche Umgeſtaltungen und Zerſtörungen erfahren, daß ſelbſt von einer Belebung mileſiſcher oder zum mindeſten ſpät-griechiſcher Reminiscenzen allenthalben ſelbſt die dürftigſten archäologiſchen und ſonſtigen Anhaltspunkte mangeln; daß einzelne Baureſte aus mithridatiſcher Zeit herrühren, erſcheint unzweifelhaft, das meiſte aber iſt byzantiniſchen oder genueſiſchen Urſprunges. Unter ſolchen Umſtänden könnten ſich Unterſuchungen in Bezug auf die älteſte Geſchichte der aſſyriſchen Colonie-Stadt am Pontns nur in jene Sagenbilder verflüchtigen, die in Firduſis Schah - Nahmeh den Grundton zu jenem großartigen Culturgemälde liefern, das identiſch iſt mit den erſten großen, zum Theile hiſto - riſchen, anderntheils mythiſchen Völkerbewegungen Weſt-Aſiens.

Daß die Geſchichte der Pontus-Länder mit dem zweiten großen aſſyriſchen Weltreiche im unmittelbaren Contacte ſtehe, iſt ſo ziemlich erwieſen1Movers, Die Phönikier , I, 375, II, 287 ꝛc.. Feridun hatte das letztere begründet und ſeinen weitläufigen Länderbeſitz, der von den Schneezinnen des Himalaya bis in die lybiſche Wüſte und vom Kaukaſus bis tief nach Hoch-Arabien hineinreichte, unter ſeine drei Söhne Selm, Tur und Iredſch getheilt. Das Brüdererbe ſollte ſchlechte Früchte tragen. Selm, der Beherrſcher am weſtlichen Gewäſſer (Klein-Aſien, Syrien und Aegypten unter dem Collectiv Chawer) und Tur, der Fürſt des nach ihm ſo benannten Turan , nährten gegenüber ihrem vermeintlich bevorzugten dritten Bruder, Iredſch, dem Gebieter in Iran, den Bruderzwiſt, der, kurz berichtet, mit der Ermordung des ſanftmüthigen Iredſch endete. Für199Sinope, ein Culturbild.Feriduns Rachegelüſte gab es nur ſchmale Hoffnungen. Eine ſeiner Sclavinnen bot Ausſicht auf einen Erben, aber dieſe gebar eine Tochter, und erſt dieſe, mittlerweile zur Vollreife ge - langt und mit einem Verwandten Feriduns Peſchenk ver - mählt, beſchenkte den betrübten Vater mit einem Enkel, Minotſcher (Chala, Ninos), der, zum Jünglinge erwachſen, das Rächeramt übernahm. Er conſolidirte wieder die aſſyriſche Weltherrſchaft, indem er Tur und Selm bekriegte, ihre Länder mit Iran ver - einigte, und ſo der eigentliche Begründer des zweiten weſt-aſia - tiſchen Weltreiches wurde1Kruger, Geſchichte d. Aſſyr. u. Iran. , a. a. O..

Das wären ſo in großen knappen Zügen die mythiſchen Vorfallenheiten, deren Erwähnung zum unmittelbaren Verſtänd - niſſe des Folgenden nothwendig erſcheint. Minotſcher vertheilte nämlich nach Selms Tode Klein-Aſien unter deſſen Söhne, d. h.: unter eingeborene kleinaſiatiſche Fürſten, denen erwieſener - maßen ebenſoſehr die Gründung Ilions, wie jene Sinopes zufällt. Von Sanopa einer Amazone, nach Anderen von der Nymphe Sinope, ſoll ſie ihren Namen erhalten haben und ſie iſt ſomit neben dem iraniſchen Balch oder Bactra eine der älteſten Pflanz - ſtätten weſtaſiatiſcher Cultur, wie dieſes ein Mittelpunkt des uralten Lichtcultes2Vgl. Laſſen, Indiſche Alterthumskunde , I, und Niebuhr, Kleine Schriften , I; gegentheilige Behauptungen über das hohe Alter der Licht - religion Zarathuſtras (Zoroaſters) bei Dunker, Geſchichte d. Alterth. , II, 315, und Kleuker, Leben Zoroaſters , III ꝛc. und ein großes Handels-Emporium durch alle Jahrtauſende, d. h.: bis zum Eintreffen türkiſch-tartariſcher Völker, die eine glanzvolle Vergangenheit mit einem Schlage er - löſchen machten. Es erſcheint erſprießlich, auf dieſe Thatſache hinzuweiſen, zumal heute, wo über die Culturfähigkeit der Os - manen ſo viel gefaſelt wird und hervorragende Gelehrte ſich bemüßigt finden, für dieſelbe eine Lanze zu brechen. Es wäre überflüſſig, diesfalls allein nur auf Sinope hinzuweiſen, wo es zahlloſe Objecte der Geſchichte auf vorderaſiatiſchem Gebiete gibt, die dem unerbittlichen Schickſale des Verderbens und Verkommens entgegeneilten, ſeitdem jene Race über die uralten Culturländer hereingefluthet iſt, deren Geſchäft die Zerſtörung des Beſtehenden200Anhang. Anatoliſche Fragmente.war, ohne hiefür etwas Anderes zu bieten, als den vorüber - gehenden Glanz der Waffenherrſchaft. Zwar die natürlichen Bedingungen der Exiſtenz vermochte ſelbſt ein ſo rohes Volk wie die Osmanen nicht vollends zu verwiſchen, und wenn auch heute Sinope nur mehr ein elendes Fiſcherſtädtchen, ohne Handel und Gewerbfleiß iſt, ſo hat dennoch der uralte Handelsweg von dieſem Geſtade nach dem näheren und ferneren Oriente ſozuſagen bis in unſere Tage hinein ſeine ſichtbaren Spuren hinterlaſſen. Der jetzige troſtloſe Zuſtand des Platzes datirt erſt aus jener Zeit, wo die fataliſtiſche Beſchaulichkeit der Osmanen an Stelle ihrer früheren Thatkraft trat und ſelbſt die Initiative einzelner rühriger Bevölkerungselemente in dem Sumpfe von Vergewaltigung, Rechtloſigkeit und allgemeiner Corruption unterging.

Und wie bietet ſich dies vielgefeierte Bild dem heutigen Beobachter? Vom anatoliſchen Feſtlande dehnt ſich oſtwärts einige Stunden lang eine ſchmale, nur an ihrem Meeresende maſſig emporſteigende Halbinſel, die an ihrer ſchmalſten Stelle nur etwa 1200 Fuß breit iſt. Die Stadt ſelbſt liegt an dieſem räumlich ſo beengten Iſthmus, wodurch er durch die Ortsanlage gänzlich verbaut erſcheint, von Meer zu Meer durch älteres und neueres Mauerwerk1Anſicht im Magasin pittoresque , Nr. 9 (1877); dann bei v. Tſchichatſcheff, Asie Mineure , (Tafel 22 des Atlas). abgegrenzt iſt und dem Seeplatze zwei Häfen, den einen im Norden der Halbinſel, den anderen im Süden von ihr, darbietet. Manches Mauerſtück ruht noch auf ſeinen ſubterranen Traggalerien, welche die Römer des lockeren Dünenſandes halber anzulegen für nöthig fanden, andere, mo - derne Schutzbauten, darunter die polygonalen genueſiſchen Thürme, welche vom Anbeginne her des ſoliden Fundamentes entbehrten, haben ſich mit der Zeit zur Seite geneigt und drohen ſeit Jahr - hunderten mit dem Einſturze ohne zu ſtürzen2In der aſiatiſchen Türkei ſind derlei bedenkliche Bauten nicht ſelten und die biedere Rechtgläubigkeit iſt beſtmöglichſt beſtrebt, wo es nur immer angeht, ihre Faulheit durch traditionelle Fabeln wettzumachen. Nicht das mangelhafte Fundament bringt Thürme und Minarets zum Wanken, ſondern ganz andere, göttliche Umſtände. So hat beiſpielsweiſe Moſul am Tigris ſein ſchiefgeneigtes Minaret und um es nicht abtragen zu müſſen, geht ſeit Jahrhunderten die Mär, es habe ſich ſeinerzeit geneigt,. In Sinope gibt201Sinope, ein Culturbild.es aber noch Schlimmeres, als die ſchiefen Thürme. Bekanntlich haben die Ruſſen am 30. November 1853 mit überlegenen, meiſt aus großen Linienſchiffen beſtehendem Flottenmaterial das hier ankernde türkiſche Geſchwader angegriffen und gänzlich ver - nichtet. Noch ragen hin und wieder die Maſtſpitzen der geſunkenen Wracks aus der Meerfluth. Bei dieſem Seekampfe kam aber auch die Stadt ſelbſt übel weg und die weſtlichere Hälfte ſank nahezu ganz in Trümmer1Ueber dieſes Ereigniß iſt alles Mögliche geſagt worden, nur nicht die Wahrheit, und zwar mit gutem Grunde; denn das Unglück der tür - ktſchen Flotte iſt von Niemandem mehr verſchuldet worden, als von den angeblichen Buſenfreunden der Pforte, und während man in den ruſſiſchen Kirchen das Tedeum anſtimmte, hatte Niemand mehr Urſache ſich zu freuen, als eben Rußlands Gegner, die darüber ſcheinbar jammerten. In der That lag es ganz im Geiſte Palmerſton’ſcher Alliancepolitik, ſich von Ruß - land den Dienſt erweiſen zu laſſen, die brauchbarſten Schiffe der Türken und deren beſte Seeleute in die Luft zu ſprengen, wobei man wohl nur bedauerte, daß die ruſſiſche Flotte nicht auch Löcher in den Leib bekommen hatte. (Vgl. J. Heller, Memoiren des Baron Bruck , 139.). Man hat an dieſen Ruinen, wie es in der Türkei ja üblich iſt, bisher nicht gerührt, wahrſcheinlich in der Erwartung, daß auf Zauberwort irgend eines anderen Ferhad aus ihnen neue Paläſte erſtehen würden, eine Hoffnung, die allerdings einen problematiſcheren Werth hat, als ihn etwa ſelbſt die ſchlechteſte türkiſche Bau-Commiſſion bieten würde. Ja, noch mehr, der Hafen von Sinope iſt nach jenem von Balaclava in der Krim der beſte des Schwarzen Meeres; gleichwohl hat man die ſeit Jahrhunderten eingeſtürzten Moli im Süden der Stadt, deren Linie nur wenige Meter unter dem Waſſerſpiegel noch zu verfolgen iſt, bis auf den Tag nicht entfernt, ſo daß Schiffe von größerem Tiefgange ſich der Stadt gar nicht nähern können. Es war ſomit begreiflich, daß der Handel, der bei allen gege - benen natürlichen Bedingungen gegen derlei Thatſachen nicht anzukämpfen vermochte, am Ende gezwungen war, andere Linien zu nehmen, und ſo blühte ſeit dem Beſtehen der Dampfſchiffahrt auf dem Pontus das benachbarte Samſun2Samſun, mit ſeinem maleriſch ſituirten armeniſchen Stadtviertel oberhalb des winkeligen Türkenquartiers, mit ſeinem alten Caſtell und raſch und ſichtlich2als der Prophet erſchien, und richte ſich ſeitdem aus Ehrfurcht nicht wieder auf. Daß Mohammed niemals in Moſul geweſen, braucht wohl nicht be - ſonders bemerkt zu werden.202Anhang. Anatoliſche Fragmente.auf, und von hier nahm der Binnenverkehr jene Richtung, nach welcher er durch zwei Jahrtauſende durch Sinope vermittelt worden iſt. Seitdem ſpielte der Hafenplatz nur mehr eine Rolle im Küſtenhandel und weiters als Schiffswerfte, wozu es durch den bedeutenden Waldreichthum des Hinterlandes prädeſtinirt war. Anderſeits hat freilich auch hier die türkiſche Admini - ſtration genug der Ungeheuerlichkeiten begangen1Als im Jahre 1873 die Regierung im ganzen Reiche die Tabak - Regie einführte und ein aus mehr als hundert Paragraphen beſtehendes Reglement über den Tabaksbau mit Bedrohung ſchwerer Strafen gegen Contravenienten erließ, fand der Steuerbeamte von Sinope es für ange - zeigt, dieſes Reglement einfach zu verheimlichen, wodurch er nachher bei den Tabakbauern eine ganz erkleckliche Summe von Strafgeldern einzu - treiben vermochte, deren Ablieferung ihn zu einem Manne nach dem Herzen der Regierung machte. Aber die Folgen zeigten ſich auch ſogleich; der Diſtrict, der bis dahin über Mill. Kilo Tabak erzeugte, producirte im folgenden Jahre nur mehr 40,000 Kilo, veranlaßte alſo einen coloſſalen Ausfall in den Staatseinkünften des Diſtrictes und ſo mußte der heim - tückiſche Steuerbeamte abgeſetzt werden. Seine Nachfolger ſollen die Lage wieder gebeſſert haben. ( Allg. Zeitg. , 1877.).

Der Gewohnheit gemäß, daß nur türkiſche Bewohner inner - halb von Stadtbefeſtigungen ſich anzuſiedeln berechtigt ſeien, hat auch in Sinope Geltung gefunden, und ſo umſchließen die innerſten Caſtellmauern nur türkiſche Wohnſtätten. Ein Vortheil mag dies heute, wo eine Bedrohung durch äußere Feinde nahezu aus - geſchloſſen iſt, freilich nicht mehr ſein, denn iſt ſchon an ſich die Stadt eine der winkeligſten und ſchmutzigſten der ganzen Pontus - küſte, ſo treten dieſe Uebelſtände in erhöhtem Maße bei einem winzigen Stadtviertel hervor, das zwiſchen hohen Wallmauern2einem Kranz von Lorbeerhainen ringsum, liegt unweit der Ruinen der mileſiſchen Colonieſtadt Amiſos. Noch ſtößt man im Nordweſten allent - halben auf Mauertrümmer und verbaute Terraſſen, alles von urwald - artigem Dickicht, Dornen und Schlinggewächſen umrankt. Hier ſoll die Reſidenz Eupatoria des Königs Mithridates geſtanden haben, doch iſt die Lage keineswegs ſicher geſtellt. Der alte Hafen von Amiſos liegt heute trocken und iſt mit Feldfrüchten bewachſen (wie jener von Milet, vgl. Braun, Hiſtoriſche Landſchaften , 190); ſichtbar aber iſt noch der ins Meer geſunkene große Hafendamm, den man, wie jenen von Sinope, unter dem Waſſerſpiegel verfolgen kann. Amiſos hat weder den Glanz, noch die Unglücksfälle von Sinope erlebt.203Sinope, ein Culturbild.wie eingezwängt erſcheint1Hamilton, Asia minor , a. a. O.. Frei, luftiger iſt das öſtlich liegende Griechen - und überhaupt Chriſten-Quartier. Von dort geht es auch auf leidlichem Felspfade zu einer friſchen Quelle und weiter hinauf zur Höhenplatte des öſtlichen Endes der Sinopiſchen Halbinſel, wo ſich noch fortificatoriſche Ueberreſte aus früherer Zeit vorfinden. Der Blick von hier auf die tief unten den ganzen ſchmalen Iſthmus einnehmende Stadt mit ihren Ruinen - plätzen und der chaotiſchen Anhäufung von Holzhäuſern, Thürmen und Thurmruinen, ſowie mehr oder minder verwahrloſten Wall - zügen iſt maleriſch genug; gleichwohl mag es aber nicht im Entfernteſten darnach ſein, unſere Phantaſie zu entſchädigen, die ſich das Bild vergangener Jahrhunderte vorzaubert. Damals, noch zur Zeit der Römer, hatte Sinope ſeine Plätze und Paläſte, ſeine Agora, Gymnaſien, Märkte und Säulenhallen, wie es gleichfalls noch unter den Comnenen anſehnliche Bauten und eine, wenn gerade nicht üppige, ſo doch anmuthige Umgebung beſaß. Die mithridatiſchen Kriege brachten aber der Stadt den erſten Vernichtungsſtoß bei. Der große König war längſt entflohen, als Sinope in die Hände der Römer fiel, und als ſieben Jahre ſpäter deſſen Sohn Pharnakes II. vollends auf Seite Pompejus trat, nahm ſich der pontiſche Löwe das Leben. Als Römerſtadt, und zwar ſpeciell als Colonia Julia felix hat Sinope, wie leicht begreiflich, noch einige Zeit hindurch geblüht, ebenſo unter den Byzantinern, und reicht das Ende allen Glanzes bis in die Zeit des Trapezuntiſchen Kaiſerthums hinein, wo Sinope endlich, nach bereits dreihundertjähriger Anweſenheit der Seldſchukiden in Klein-Aſien, dieſen zufiel. Von nun ab ward die Stadt zum wahren Vorpoſten des Piratenſtaates Kaſtamuni2Vgl. Hammer-Purgſtall, Geſchichte d. osm. Reiches , I, a. a. O. Auch dieſe Stadt, nach ihrer Bezwingung durch Sultan Bajazid noch einige Zeit vorübergehend die Reſidenz des Vaſallen Suleiman, iſt nun vollends heruntergekommen. In enger Thalſchlucht gelegen (mit domi - nirender Caſtellruine zu oberſt), ſind die Bewohner nicht nur ſehr un - günſtigen klimatiſchen Einflüſſen ausgeſetzt, ſondern ſie thun ein Uebriges, daß ſie den kleinen Bach, der die Stadt durchfließt, mit ſtinkendem Unrath und Thiercadavern Tag für Tag anfüllen, und dadurch die Inclination des Ortes zu Epidemien nach Kräften befördern. Und wie leicht wären. Daß letzterer immer -204Anhang. Anatoliſche Fragmente.hin einige Zeit beſtehen konnte, beweiſt, wie es ja auch durch Chroniken1Bei Ibn Batuta ꝛc. erwieſen iſt, wie lebhaft ſelbſt in dieſer Zeit des Niederganges die Handelsbewegung, zumal die Schiffahrt von und zu dem Seeſtapelplatze geweſen ſein mußte, um den Piraten - Emiren zu ihrer Wohlhabenheit zu verhelfen. Selbſt Temurs Hof-Hiſtoriographen konnten noch die öſtliche Halbinſel, jenes Vorgebirge, auf deſſen Grashöhen heute Kameele und Pferde weiden bei den Türken Boz-Tepe eine Inſel der Seligen nennen, und ihre Federn in üppigen Beſchreibungen von Garten - pracht und Wildreichthum ſchwelgen laſſen2Bei Fallmerayer, Geſch. d. Kaiſ. Trap. , 304. Es gab alſo zur Zeit der Timuriden, ſowie auch vor dem Falle Con - ſtantinopels, an Stelle der heutigen Oede noch immer einen prächtigen Park, der bis auf den letzten Cypreſſenzweig verſchwunden iſt. Nur in der Nähe der Stadtmauern ragen noch einige altehrwürdige Exemplare in die Höhe. Für den Charakter des unter der Osmanenherrſchaft ſtatt - gefundenen Wechſels iſt es übrigens bezeichnend, wenn der Wander-Ge - lehrte Ewlia Effendi (Hammer-Purgſtall’ſche engliſche Ueberſetzung, II, a. a. O.) gelegentlich ſeines Beſuches der Stadt (1648) an ihr hauptſächlich nur zu rühmen weiß, daß ſie an zwei Tauſend Mädchen und Knaben beſäße, die den Koran auswendig herzuſagen vermögen. Das Schwer - gewicht ſcheint bei dieſem frommen Manne, der ſich auf ſeiner Tour durch das türkiſche Reich hauptſächlich mit der Conſtatirung der jugendlichen Gedächtnißkräfte in Sachen teologiſch-literarifcher Reception beſchäftigt zu haben ſcheint, weit mehr in Koran-Exegeſis und dogmatiſcher Grübelei gelegen zu ſein, als in der Nachahmung früherer Gelehrſamkeit, als deren eine Pflanzſtätte am Pontus Sinope war. Das Herplappern der mehr oder minder an innerer Logik krankenden Suren des heiligen Buches bildete aber gewiß einen nur ſchwachen Erſatz für die einſtigen Beziehungen der ſyriſchen und mileſiſchen Sinoper zu den großen Culturſtätten des Oſtens..

Seitdem die ſeldſchukidiſchen Nomaden das anatoliſche Land occupirt hatten, wurde Sinopes Pulsſchlag matter3Vgl. Hammer-Purgſtall, Geſch. d. osm. Reich. , IV, 470.. Die ver - einzelten Kunſt-Anläufe einiger Seldſchukiden genügten nicht, um ihnen allgemeine Bedeutung zu geben. Als nun gar an Stelle der alten Marmorpaläſte das luftige Zelt des osmaniſchen2dieſe Zuſtände zu verbeſſern im Hinblick auf die Nähe des ſchönen Gjök - Thales mit ſeinen netten Dörfern und zahlreichen Gartenanlagen. (Vgl. W. Ainsworth, Trav. and Res. , I, 48.205Sinope, ein Culturbild.Hirtenhauſes trat und die ſeidenhaarigen Ziegenrudel mit dem wandernden Turkſtamme aus Oxiana nach Kappadokien und Paphlagonien eingebrochen waren1Ebd., I, 41 u. ff. Die Zucht dieſer Ziege, welche bei uns unter dem Namen Angora - Ziege bekannt iſt, bildet auch heute noch eine Haupt-Erwerbsquelle der Steppen-Bevölkerung am oberen Sakaria. Letztere iſt der urwüchſige ar - cadiſche Hirtenſtamm geblieben, von den alten Zeiten Galatiens an bis auf den Tag. Die Kleidung des Hirten beſchränkt ſich zumeiſt nur auf ein doppeltes Ziegenfell, das, an den Seiten zuſammengenäht, ein Loch zum Durchſtecken des Kopfes frei läßt. Auch der gekrümmte Hirtenſtab (pedum) iſt noch in Gebrauch, ſowie die Lederſandale, wie überhaupt die Ziege, je nach der Art ihrer Ausnützung, alle Bedürfniſſe des central - anatoliſchen Hirten deckt. Die Zucht, früher von ganz beſonderer Wich - tigkeit (vgl. v. Tſchichatſcheff, Asie Mineure , II, 689 u. ff. ) iſt ſchon ſeit einer Reihe von Jahren bedenklich zurückgegangen. Vollends hat ſie ihr Ruin in den Hungerjahren 1875 und 1876 betroffen, zumal durch die geringe Fürſorge der ottomaniſchen Regierung in dieſer Zeit furchtbaren Elends. (Vgl. den anonymen Autor von Stambul und das moderne Türken - thum , II, a. a. O.) und die weiten Steppen am Halys abzuweiden begannen, da war freilich keine Rede mehr von Indiens Schätzen und Perſiens prächtigen Erzeugniſſen, und ſtatt der tauſend Kiele der früheren pontiſchen Handelsflotte harrten die ſchweren Raubſchiffe der Piraten-Emire von Kaſta - muni auf die Fahrzeuge der Bosporanen und Genueſen, die noch den Verkehr zwiſchen den Pontus - und Mittelmeer-Ländern in Athem erhielten. Die Bergwerke im Nachbardiſtricte Dſchanik, dem einſtigen Lande der Chalyber, geriethen in Verfall, und keine rührigen Hände ſchmiedeten mehr den einſt weitberühmten ſinopiſchen Stahl Die letzte Nachleſe in Sinope haben unter der Regierung Murad IV. (1614) die Saporogiſchen Ko - ſaken gehalten, deren kühne Seezüge mittelſt ganz unbedeutender Boote in der Geſchichte der Pontusländer ganz vereinzelt daſtehen. Daß es ihnen möglich war, die ſtarkbefeſtigte Stadt, nachdem ſie von der Krim aus den Pontus überquert hatten, anzugreifen, in Brand zu ſtecken und mit reicher Beute die azow’ſchen Geſtade wieder zu erreichen, ſtellt ſelbſt jene anderen Raubzüge bis zu den Bospor-Ufern vollends in den Schatten. Gewöhnlich nahmen dieſe Koſakenzüge, von denen die anatoliſchen Pontusgeſtade viel206Anhang. Anatoliſche Fragmente.zu leiden hatten, folgenden Verlauf: Den Dnjeper hinab ſchwammen die leichten Boote aus Flechtwerk vorerſt bis in die Nähe der Schilfwälder an der Liman-Mündung bei Kinburun. Hier hielten die Türken, die damaligen Herren der tauriſch-beſſarabiſchen Küſten die Wacht, indem ſie nebenbei auch den Strom durch eine Kette geſperrt hatten. Zu nächtlicher Zeit ließen nun die Koſaken abſichtlich große Baumſtämme gegen die Sperre treiben, um die Poſten zu allarmiren und ihr Feuer auf die vermeint - lichen Angriffskähne zu lenken, während die Boote ſelbſt nach abgelaufenem Spectakel geräuſchlos das Hinderniß zu überſetzen trachteten, was ihnen auch zumeiſt gelang, worauf ſie auf das offene Meer trieben. Ihr nächſtes Invaſionsgebiet bildeten zu - meiſt die Küſten der Krim, längs der ſie das Azowſche Meer zu gewinnen trachteten, um aufwärts des Don und durch deſſen rechten Nebenflüſſe ſich ihrer Heimat wieder zu nähern, die ſie zuletzt nur durch kurze Landrouten die Boote gleichfalls mit - ſchleppend erreichen konnten1K. Koch, Die Krim und Odeſſa , 5.. Zu den kühnſten Leiſtungen gehörten aber, wie ſchon erwähnt, die gefährlichen Boot-Aus - flüge bis zu den anatoliſchen Küſten, angelockt durch die Reich - thümer der alten Emporien, in denen es auch zur Zeit osma - niſchen Glanzes immerhin noch Einiges zu holen gab2Seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts erloſch nach und nach die Bedeutung ſowohl der Saporoger, als auch der ukrainiſchen Koſaken. Mazeppa, den zu verherrlichen, es der Dichtkunſt und Malerei der Neuzeit in ſo unverdienter Weiſe gefallen hat, trug weſentlich zu dem Untergang bei. Die durch ihn heraufbeſchworenen Unruhen und Empörungen be - wirkten, daß Peter d. Gr. auf die Saporoger im höchſten Grade erbittert und auch gegen die ukrainiſchen Koſaken mißtrauiſch wurde. Verfolgt von unnachſichtlicher Strenge, gründeten diejenigen Saporoger, welche ſich noch retten konnten, ganz am untern Dnjeper (am Bache Kamenka) eine neue Setſch. Als im Jahre 1710 gelegentlich des Türkenkrieges auch dieſe Niederlaſſung von den Ruſſen zerſtört wurde, wies ihnen der Khan in der Nähe von Aleſchki (in gleicher Höhe von Perekop) abermals eine neue Setſch an; ſie mußten von nun an unfreiwillige Unterthanen der Tar - taren und Türken abgeben, bis ſie letzteren durch die Capitulation am Pruth vollends überlaſſen wurden. (Vgl. A. Springer, Die Koſaken , 11 u. ff.). Heute iſt dies freilich anders, und das türkiſche Sinope zu beſuchen,207Die culturgeſchichtliche Bedeutung Weſt-Klein-Aſiens.fanden bisher nicht einmal die biederen Tſcherkeſſen, welche ehe - dem namentlich im Vilayete Kaſtamuni zahlreich coloniſirt wurden, für rentabel ....

Nach unſerer Umſchau am paphlagoniſchen Geſtade hätten wir ſo ziemlich die intereſſanteſten Localitäten und Landſtriche Anatoliens erſchöpft, allerdings nur im Rahmen unſerer allge - mein gehaltenen Schilderungen, von denen tiefer reichende hiſto - riſche Mittheilungen, oder die Ausführungen anderer wiſſen - ſchaftlicher Momente, von vornher ausgeſchloſſen ſein mußten. Der Boden aber, auf welchem wir unſere verſchiedenen Kreuz - und Querzüge vollführten, tritt heute mehr denn je in den Vorder - grund, denn ſeit der Umgeſtaltung der politiſchen Verhältniſſe in dem europäiſchen Theile des ottomaniſchen Reiches richtet ſich naturgemäß unſere Aufmerkſamkeit auf jenes Ländergebiet, aus dem das Osmanenthum hervorgegangen iſt, von dem aus es mächtig emporwuchs und eine Reihe von Eroberern hervorbrachte, die durch viele Jahrhunderte dem geſammten abendländiſchen civiliſatoriſchen Entwicklungsdrange einen ſtarken Damm entgegen - geſetzt hatten. Bedeutſamer noch, als der bloßen Thatſache wegen, daß Anatolien neuerdings die Geburtsſtätte eines Macht - factors geworden war, erſcheint uns dies Land durch ſeine geo - graphiſche Lage zum europäiſchen Welttheile, und ſeine ununter - brochenen viel tauſendjährigen Beziehungen zu demſelben. Während das ſyriſche Geſtadeland, gleichfalls von hoher hiſtoriſcher und culturgeſchichtlicher Bedeutung für die abendländiſchen Ent - wickelungsſtadien aller Zeiten, räumlich durch die öſtliche Hälfte des Mittelmeeres noch immer erheblich von den continentalen Berührungspunkten Europas, von ſeinen ſüdlichen Halbinſel - Reichen nämlich, abliegt, ſpringt Klein-Aſien weit gegen die griechiſchen Geſtade aus. Und hiebei iſt das Geſtade dieſes Landes keine ungegliedert ſtarre Küſtenwand, wie im Süden, wo es nicht nur in ſeinem Naturtypus hohe Ufergebirge, ſtellen - weiſe im Schnee vergraben und ohne große Querthäler dem ſyriſchen Küſtenlande ähnelt, ſondern auch in klimatiſcher und cultureller Beziehung, zumal in Bezug auf ſeine Vegetations - verhältniſſe. Das ägäiſche Geſtade Klein-Aſiens iſt ein reich gegliedertes, voll geſicherter Ankerplätze, tief ins Land einſchnei - dender Golfe, einſt von einem Kranze üppig beſtandener Ufer -208Anhang. Anatoliſche Fragmente.berge eingerahmt, und was mehr als alles Uebrige bedeutet im unmittelbaren Contacte mit zahlreichen Inſeln und Eilanden, die wahren geiſtigen und materiellen Etappen von Griechenland nach Anatolien und umgekehrt. Welche Vergangenheit, voll er - hebender Züge in civiliſatoriſcher Beziehung, iſt mit dieſem ge - ſegneten Geſtade verknüpft, und welch ſtarrer Stillſtand ſeit jenen Jahrhunderten, da der bleiche Glanz des Halbmondes nur mehr Ruinen und ſpärliche Reſte einſtiger Cultur umflimmerte! Was iſt aus all jenen Emporien, Pergamos, Smyrna, Epheſus, Milet und Halikarnaß geworden, aus den Paradieſen Lydiens, dem Reichthume Kariens und dem Handel Myſiens? Und gerade deshalb, weil der Contact zwiſchen dem ſüdöſtlichſten Europa und dem weſtlichſten Klein-Aſien, dieſer natürlichen Brücke zwiſchen Europa und Aſien, immer beſtanden hat, und mit der Zeit beide Erdtheile (mit der dazwiſchen liegenden, reichbedachten Inſelwelt) ein unleugbares gemeinſames typiſches Gepräge erhalten hatten und daſſelbe durch Jahrtauſende conſervirten, eben deshalb iſt gerade Klein-Aſien, und zwar an ſeinem weſtlichſten Ende, das nächſte Object, an dem ſich die civiliſatoriſchen Aufgaben des Abendlandes in Bälde erproben werden müſſen. Man nennt zwar Anatolien die eigentliche Heimat der Osmanen, aber dies iſt nur eine relative Wahrheit, denn von dieſem Boden aus ſind die Osmanen allerdings als herrſchendes Volk hervorgegangen, aber ihre Heimat iſt er ebenſo wenig, wie irgend eines der übrigen vorder-aſiatiſchen Territorien, über die einſt die Fluth der ural-altaiſchen Volksſtämme hereingebrochen war. Aelter, als die wenig erfreulichen turko-tartariſchen Reminiscenzen, ſind die helleniſchen und die bedeutſamen Beziehungen der älteren autochthonen Volksſtämme, die ſeinerzeit zwiſchen ſemitiſcher und helleniſcher Cultur ein Mittelglied, eine Art Brücke gebildet hatten. Das iſt nun freilich lange her, aber die Wiedergeburt von der Natur ſo reich bedachter Länder kann nur eine Frage der Zeit, oder beſſer, die eines anderen Regimentes ſein. Die Osmanen mögen immerhin Anatolien als ihre eigentliche Heimat betrachten, jene Geſtadegebiete, die dem europäiſchen Welttheile zugekehrt ſind, werden aber ſicherlich in nicht zu ferner Zeit der abendländiſchen Cultur wieder gewonnen werden, ſei’s nun unter Mithilfe der Osmanen oder ohne dieſelbe. Das rauhere, tiefer209Die Bodenplaſtik Anatoliens.im Innern liegende Plateauland mit ſeinen unermeßlichen Weiden, das iſt die eigentliche Wiege der Osmaniden. Dort mögen ſie ſchalten, wie ſie es bisher gewöhnt waren, oder ſich dem allge - meinen Fortſchritte anſchließen, um einen Antheil an der Wieder - geburt der alten Culturſtriche am ägäiſchen Geſtade zu nehmen, ſoweit es in ihrer Macht ſteht und in ihrem Willen liegt

Nach dieſen allgemeinen Vorbemerkungen wollen wir uns nun ein wenig mit der Geographie des Landes beſchäftigen, indem wir vorerſt mit den Details der plaſtiſchen Gliederung Anatoliens beginnen.

Südlich des Germejli-Tſchai, einem Nebenfluſſe des Jeſchil - Irmak (Iris), ſchließen der 7500 Fuß hohe Köſch-Dagh, der Jildiz - und Tſchamlibel-Dagh die öſtliche pontiſch-armeniſche Küſtenregion ab und von Siwas über Angora hinaus nimmt ein nahezu ganz baumloſes, im Mittel 3000 Fuß hohes Plateau ſeine Ausdehnung, vom Kyzil-Irmak (Halys) und deſſen Neben - flüſſen durchſchnitten. Es iſt dies das nördliche anatoliſche Binnenland von Bozuk, das an ſeinem ſüdweſtlichen Rande in die Salzſteppe von Konja übergeht und bei Angora in die durch - ſchnittlich kaum 2500 Fuß hohen Flußlandſchaften des Sakaria abfällt. Das Tafelland von Bozuk nimmt ſüdwärts ſeine Aus - dehnung noch über den Kyzil-Irmak hinaus, bis an den Anti - Taurus, wo bei Kaiſarieh der erloſchene Vulkan Erdſchiſch-Dagh (Argäus, bei 13,000 Fuß hoch) als vollkommen iſolirter Berg - rieſe aus der baumloſen Ebene emporſteigt. Es umfaßt circa 500 Quadrat-Meilen und iſt faſt ausſchließlich gypſiger Steppen - boden, ſporadiſch mit Wachholdergeſtrüpp bewachſen. Im Süd - weſten Kaiſariehs ſchließt das nördliche anatoliſche Binnenland an das Plateau von Karamanien (3000 Fuß) an, eine gleichfalls vegetationsarme Ebene mit keſſelartigen Einſenkungen, in welchen die Seen von Beiſchehr, Ilgun, Akſchehr und Eber liegen, nicht zu vergeſſen den großen Salzſee Tüz-Tſchölü (2500 Fuß) bei Akſerai. Begrenzt wird das ſüdliche anatoliſche Binnenland vom ciliciſchen Taurus, dann vom Erdſchiſch-Dagh, Kodſcha -, Karadja - und Sultan-Dagh. In der Baſaltregion von Karahiſſar erhebt ſich der Emir-Dagh mit den Quellen des Sakaria, Said und Purſak, Flüſſe, die insgeſammt mit ihren ſehr gewundenen Läufen die nördliche Senkung durchſtrömen. Die Region des Sakaria,Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 14210Anhang. Anatoliſche Fragmente.ſtrenggenommen noch zum anatoliſchen Binnenlande gehörend, beſitzt größtentheils noch Steppen-Charakter (Haimane), ſie geht aber nord - und weſtwärts in ein niederes Kettengebirgsland über mit weiten, waldigen Strecken, während die übrigen, ſtufenförmig abfallenden Landſtriche jenen Weideboden beſitzen, auf dem die ſeidenhaarige Angora-Ziege und das fettſchwänzige Schaf ge - züchtet wird. Inner-Anatolien ſchließt weſtwärts am Dumandſchy - Dagh und am Fluſſe Gök-Su ab, im Norden am Iſchik - und Ala-Dagh (7500 Fuß), im Südweſten am Murad - und Emir - Dagh. Von den jenſeitigen Lehnen des nördlichen Randgebirges, das ſich in die Ketten von Karmaly, Tſchyla, Kuſch und Ilkas (6700 Fuß) gliedert, entwickelt ſich das weſtliche pontiſche Küſten - land zwiſchen den Mündungen der Flüſſe Sakaria und Kyzil - Irmak. Weiter wird dieſe Region noch vom Filias-Tſchai, dann vom Gök-Irmak und Deverek-Tſchai, zwei Nebenflüſſen des Kyzil-Irmak, durchſchnitten und bildet der Hauptſache nach ein vielartig configurirtes Gebirgsland, durchſchnittlich 4500 Fuß hoch, mit reichen Waldungen, zumal am Tſchyla -, Ilkas - und Arud-Dagh. Die Waldcomplexe (officiell 200 an der Zahl) nehmen allein in den Bezirken von Safranboly und Eradſch ein Territorium von 560 Quadrat-Meilen ein1Sax, Türkei , 38.. Die Küſtengebirge von Erekli enthalten großartige Kohlenflötze2Die Minen ſind gegenwärtig Krongut. Die Production iſt eine äußerſt geringe und es wird überdies der unverantwortlichſte Raubbau betrieben. Auf Grund eines Teskere, den man ſich bisher beim Marine - Departement leicht verſchaffen konnte (mit Nachhilfe des Baſchiks) erhielt und erhält man das Recht, Kohle zu ſuchen und beim eventuellen Fund die Ausbeute auf Rechnung der Regierung zu bewerkſtelligen. (v. Hoch - ſtetter, Aſien ꝛc. , 153. Ausführliches bei v. Schwegel, Volkswirthſch. Studien über Conſtantinopel ꝛc. , 337.), wie überhaupt dieſer Landſtrich (Vilayet Kaſtamuni) einer der reichſten Klein - Aſiens iſt.

Als Marmara-Gebiet, mit dem der nordweſtlichſte Theil Klein-Aſiens erreicht iſt, ſollten ſtreng genommen nur jene Küſten - landſchaften bezeichnet werden, welche ihre Ausdehnung von Scutari über Ismid, Gemlik, Mudania und Panormo gegen den Hellespont hin nehmen, doch möchten wir diesfalls den bithy -211Die Bodenplaſtik Anatoliens.niſchen Gebirgsſtock bei Bruſſa mit dem Hinterlande Huda - wendkjar und die bei den Halbinſeln Kodja-Ili und Bigha ge - meint wiſſen. Demgemäß iſt dieſe Region ein Bergland mit kleinen Küſtenebenen, durchzogen vom Suſurlu und ſeinem Neben - fluſſe Adyrnas, vom Gök-Su im Oſten, Kodja-Tſchai (Granikus) und Menderez (Skamander) im Weſten. Der Keſchiſch-Dagh (Olymp)1Die Höhen des Olympos-Gebirges waren bekanntlich einſt der Schauplatz jener intereſſanten Kämpfe, die zwiſchen den in Klein-Aſien eingebrochenen Gallierſtämmen und den Römern unter Conſul Manlius ausgefochten wurden. (Vgl. Livius XXXVIII.) Es war der Stamm der Toliſtobojer, der die rauhen Höhen beſetzt hielt und ihre Gipfel durch roh - aufgeführtes Mauerwerk und Felsblöcke zu ſchützen trachtete. Die Gallier waren der Meinung, daß ihre Feinde es nimmer wagen würden, dieſe Stellungen anzugreifen, aber nach vorangegangener Recognoscirung der Felsburg ſchritten die Leichtbewaffneten zu ihrer Erſtürmung, voran die kretenſiſchen Bogenſchützen und die thrakiſchen Schleuderer. Die wilden Gallier warfen ſich zwar (mit nackten Leibern, da ſie im Kampfe die Oberkleider weglegten) den Angreifern entgegen, aber die kampfgeübten römiſchen Truppen brachten ihnen gleichwohl eine Niederlage bei, die mit ihrer totalen Niederwerfung gleichbedeutend war. Dieſer blutige Ent - ſcheidungskampf iſt im Uebrigen das einzige kriegeriſche Ereigniß von Be - lang, das ſich an das Olympos-Gebirge knüpft. erreicht nicht ganz 6300 Fuß, weiter ſüdlich ſteigen jedoch die Gebirge terraſſenartig an, bedeckt mit Urwäldern (Aha-Dagh); ſüdweſtlich von Kutahija findet dieſes Gebiet am 7200 Fuß hohen Ak-Dagh ſeine natürliche Begrenzung. Hier, ſowie am benachbarten Demirdſchi (2800 Fuß) befinden ſich die Quellen des Suſurlu-Tſchai. Ueber die Ketten des Uzun Jaila - Dagh und Madara-Dagh (3800 und? Fuß) fällt das Gebirgs - land von Chodawendkjar in die Halbinſel Bigha mit ihren be - waldeten Mittelgebirgsketten Abdal-Dagh, Tſchatal - und Kara - Dagh ab. Der Kas-Dagh (Ida)2Unweit des alten Götterberges erhebt ſich der Gargarus, von deſſen Höhe man wohl eine der großartigſten Fernſichten auf orientaliſchem Boden genießt. Der Anſtieg erfolgt durch bebautes Land, dann durch Wald, zuletzt (im Winter und Frühling) über Schnee und Eis. In der Waldregion gibt es noch Schwarzwild, höher hinauf aber wird es ſtille und öde. Der Berg hat vier Gipfel, von denen immer einer etwas höher als der andere iſt. Von dem höchſten aber (7000 Fuß) überblickt man einen großen Theil von Rumelien und Anatolien, das ganze Marmara - Meer bis nach Conſtantinopel hin und eine Menge von den Sporaden, beſitzt einen Nadelwald von14*212Anhang. Anatoliſche Fragmente.60 Quadrat-Meilen Flächeninhalt und ſein ſüdweſtlicher Aus - läufer, der bei Baba-Kaleſſi als ein kleines Vorgebirge ins Aegäiſche Meer ausſpringt, markirt den weſtlichſten Punkt des aſiatiſchen Welttheiles.

Wenn man der orographiſchen Configuration Vorder-Klein - Aſiens, anſtatt gegen das Marmara-Geſtade hin, von Kara - manien und der inner-anatoliſchen Salzſteppe aus, unmittelbar weſtwärts folgt, ſo trifft man jenſeits von Karahiſſar auf mehrere große Parallel-Thäler, die gegen das Aegäiſche Meer hin ausmünden. Dieſe Thäler ſind durchſtrömt von den Flüſſen Sarabat-Tſchai, Kutſchuk-Menderez, Bujuk-Menderez, und die zwiſchen dieſe Waſſeradern ſich ſchiebenden Gebirge fallen ſtufen - förmig zur Weſtküſte Klein-Aſiens ab. Die wenigſten dieſer Terraſſenketten überſchreiten die durchſchnittliche Meereshöhe von 4500 Fuß. Im Südoſten aber, wo das ägäiſche Küſtengebiet in den piſidiſchen Taurus übergeht, baut ſich ein anſehnliches Bergland mit verworrenen Keſſelthälern auf, und zwar von den Quellen des Menderez bis zu den Hochlandsbergen der lyciſchen Küſte. Hier aber beginnt der eigentliche Tauruszug mit ſeinen großartigen Keſſelthal-Formen bei Elmaly und ſeinen, bei 10,000 Fuß hohen Schneeſpitzen, rings im Kreiſe um den ein - ſamen Alpenlandſchaften. Auch die Küſte von Adalia und Itſch - Ili, letztere bereits dem ciliciſchen Taurus angehörend, iſt durch - wegs ſteil, nur durch die Rinnſale kleiner Küſtenbäche gegliedert, bis zum Gök-Su (Calycadnus), von wo ab zuerſt ein ſchmales und bei Adana ein ziemlich breites, ebenes Küſtenland ſeine Aus - dehnung nimmt. Der ciliciſche Taurus culminirt in der Met - deſis-Spitze des Bulgar-Dagh (10,500 Fuß) und im Ala-Dagh bei Nigde (über 9000 Fuß); die ſüdliche Begrenzungskette Kara - maniens, als Vorſtufe des ciliciſchen Taurus, erhebt ſich im Kara-Dagh bis zu 7200 Fuß, im Karadſcha-Dagh bis zu 6000 Fuß. Im Allgemeinen gibt es in Klein-Aſien, einzelne Strecken des Anti-Taurus und das Hochland von Malatia etwa2die Berge von Bruſſa, die Inſel Euböa, die Bucht von Smyrna, faſt ganz Myſien und Bithynien und den größten Theil des ſüdlichen Thrakien und Makedonien in der That ein Panorama, das ſeines Gleichen ſucht! (Buſch, Türkei , 139.)213Die Bodenplaſtik Anatoliens.ausgenommen, kein Gebiet, das ſo wenig bekannt und in neueſter Zeit ſo wenig durchforſcht wäre, wie die mediterraneiſchen Taurus - Ketten. Zumal die lyciſche Gruppe mit ihren impoſanten Rand - ketten, verworrenen Thälern und unwirthlichen Alpenlandſchaften iſt ſeit geraumer Zeit keiner Beachtung mehr gewürdigt worden, und da dieſelbe, ſowie einzelne Gebiete von Itſch-Ili und Adalia auch heute noch abſeits des Weltverkehrs liegen, kann wohl an - genommen werden, daß in nächſter Zukunft ſchwerlich irgend - welche Intereſſen ſo intenſiv nach dieſer Region gravitiren würden, um ſie uns wirthſchaftlich und wiſſenſchaftlich näher zu rücken. In den waldigen Schluchten bis zu 3000 Fuß Höhe hat ſich hier ſogar noch der Leopard erhalten1Vgl. Simony, Höhentableau des ciliciſchen Taurus (nach Kotſchy). und mancher Pfad ver - liert ſich in tiefſter, urwaldartiger Wildniß.

Im Anſchluſſe an den ciliciſchen Taurus erhebt ſich zwiſchen dem oberen Eufrat, dem Karabel-Dagh (6400 Fuß) und Anti - Taurus ein anſehnliches Hochland das tauriſche begrenzt von den größeren Ketten Binbogas-Dagh (das Gebirge der tauſend Thore ), Aſchyr und Kanly-Dagh, über das uns ebenſo wenig neuere Daten vorliegen, wie über die vorerwähnten Gruppen2Ganz im Innern dieſer Gebirge liegt Hadſchin, die Hauptſtadt des Afſcharen-Gebietes. Dieſes Volk zeichnet ſich ebenſoſehr durch einen unver - kennbaren Ausdruck von Stolz und Härte in den Geſichtszügen aus, wie durch körperliche Schönheit, beſonders das ſtets unverſchleiert gehende und durchaus keine Scheu verrathende weibliche Geſchlecht. (Vgl. v. Tſchichatſcheff, Routen in Klein-Aſien , 33.). Auf dieſem Tafellande ragen noch einzelne Gebirgs - züge, wie der Kermes-Dagh (9700 Fuß) und der Tſchorſch-Dagh (7300 Fuß) weit über das Durchſchnitts-Niveau der geſammten Erhebungsmaſſe, aber zwiſchen den Flüſſen Samantia, Saran und Dſchechan mit ſeinen Quellflüſſen Ak - und Chorna-Su fallen die Gebirgsglieder ſehr raſch ſtufenförmig ab, zumal gegen Meraſch und nach den oberen Eufratgegenden, wo ſie die oben beſchriebene3S. den V. Abſchnitt. Kataraktenſtrecke des Stromes begleiten.

Entſprechend der vielartigen orographiſchen Configuration des Landes iſt auch deſſen Klima, oder ſind vielmehr deſſen klimatiſche Zonen, denn nur dieſe ſind hier maßgebend in Bezug214Anhang. Anatoliſche Fragmente.auf die Entwickelung der organiſchen Welt und die Exiſtenz - bedingungen der Bewohner. Im Ganzen erſcheint eine Ein - theilung Anatoliens in vier klimatologiſche und pflanzengeo - graphiſche Zonen am paſſendſten und zwar: in das anatoliſche Binnen - oder Steppengebiet, in das pontiſche Waldgebiet, ägäiſche und tauriſche Küſtengebiet. Während auf den Steppenflächen des inneren Hochlandes das Klima ſeine größten Extreme erreicht und auf lange, ſtrenge Winter mit reichlichem Schneefalle drückend heiße Sommer ohne alle Niederſchläge folgen, herrſcht in den weſtlichen Geſtadegebieten ein, durchſchnittlich dem gegenüber - liegenden griechiſchen Feſtlande entſprechendes Verhältniß zwiſchen den einzelnen Jahreszeiten. Schnee fällt hier äußerſt ſelten1v. Scherzer, a. a. O., 15., deſto häufiger und ausgiebiger aber in den öſtlichen Gebirgen, auf denen er bis tief ins Frühjahr hinein liegen bleibt. In Folge der ausgiebigen Winterregen (December bis März) ent - wickelt ſich an den Geſtaden und in den großen Längenthälern eine äußerſt mannigfache Pflanzenwelt, in der ſelbſt die Palme nicht fehlt. Vorherrſchend ſind der Feigen - und Olivenbaum, dann Orangen, Citronen und Mandeln, in herrlichſter Ent - wickelung in den zahlreichen Gärten, ferner ganze Haine von Quitten, Aprikoſen und Pflaumen, und an den Berghängen Buchen - und Eichenbeſtände neben der ernſten Cypreſſe und den wildwachſenden Nuß - und Kaſtanien-Bäumen. Welch fühlbarer Unterſchied liegt zwiſchen dem milden Klima Smyrnas und der demſelben entſprechenden Vegetation, gegenüber dem räumlich nur wenig entfernteren anatoliſchen Binnenlande! Noch in den oberen Thälern des Hermus und Mäander die prächtigſten Gärten, Baumwollſtauden und herrliche Gruppen von Platanen; darüber hinaus, längs der inneren Lehnen der Randketten, das mälige Schwinden der Beſtände, üppig wuchernde Strauchvegetation, die ſich alsbald auf den ſaftigen Weiden der erſten Plateauſtufen nurmehr zu inſelartigen Gebüſchgruppen zuſammendrängt, und noch weiter draußen, im ebenen Lande, kümmerliche Stauden und Steppenpflanzen. Dieſſeits der Gebirge die aromatiſchen Düfte der Mandel und Citrone, jenſeits der trockene Steppenwind, im Winter die mächtige Schneedecke umwühlend, im Sommer ge -215Klima. Vegetationsverhältniſſe.ſchwängert von den unzähligen Staubatomen, die er den Wüſten - ſtrecken um den großen Salzſee Tuz-Tſchölü entführt. Aber auch in anderer Hinſicht prägt ſich dieſer große Contraſt aus; ſo in dem Bilde der einzelnen Städte: dort ſind es im Garten - grün begrabene Aſyle, beſtehend aus luftigen, buntbemalten Holz - häuſern, die hohen Steinbauten mit weit ausladenden Altanen, von Schlinggewächſen umrankt und in den Höfen plätſchernde Fontainen; hier unfreundliche, lehmgebaute, mit Ruinen unter - mengte Behauſungen, einſt glanzreiche Emporien, jetzt verkommene Provinzſtädte ohne alle Bedeutung. Während im Geſtadeland die Locomotive die fruchtreichen Ebenen durchfurcht, ziehen auf den Tafelländern noch immer die, an Tauſend und mehr Laſt - thiere zählenden Karawanen, auf denſelben breit ausgetretenen Pfaden, wie vor Jahrtauſenden. Dort ſchimmern aus dem Gartengrün die weißen Minarets der Ortſchaften oder die Silber - fäden zahlreicher befruchtender Bäche; hier iſt die weite dunſtige Ebene nur von den Heerden turkmeniſcher Hirten unterbrochen und, wo eine Quelle rieſelt, erheben ſich die Kegelzelte der noma - diſirenden Juruken. Das Geſtadegebiet beſitzt aber neben ſeinen Naturreichthümern auch eine zum großen Theile rege, thätige Bevölkerung; Induſtrie-Zweige entwickeln ſich ſo gut es unter der ottomaniſchen Mißwirthſchaft möglich iſt und der europäiſche Handel pulſt bis in die entlegenſte Hütte des weſt-anatoliſchen Teppichwebers hinein1An dieſen einheimiſchen Strebungen iſt die Regierung freilich ganz unſchuldig und wenn jemals ein europäiſches Angebot erfolgte, z. B. die Entſumpfung der myſiſchen Ebene, etwa gegen das Recht zehnjähriger Benutzung, dann ward es einfach unter den Divan gelegt. (Zeitſchr. für allg. Erdk. XV.) Lieber hat man die Juruken, welche ſich bemühen, alle Wälder niederzubrennen, damit aus der Aſche Futter für ihre Heerden wachſe. (Bei Braun, a. a. O., 381.) Hiebei iſt freilich zu bemerken, daß auch der einheimiſche Unternehmungsgeiſt nicht beſſer wegkommt und ſchon die erſten Sitzungen der Stambuler Deputirten-Kammer brachten eine Menge von Thatſachen ans Tageslicht, die eclatant bewieſen, daß man im Schooße der Miniſterien und des hochweiſen Staatsrathes niemals ernſtlich Willens war, die betreffenden Conceſſionäre und Petenten trotz der von dieſen aufgewandten Summen zu Beſtechungen ꝛc. an ihr Ziel gelangen zu laſſen.. Solche Cultur-Kundgebungen ſind dem Binnenlande fremd, denn bis wohin das kurdiſche Raubweſen216Anhang. Anatoliſche Fragmente.dringt und wo die ottomaniſche Provinz-Bureaukratie, uncon - trolirt von den wachſamen Augen europäiſcher Conſuln, die elenden Bewohner für ihre, der Herren, Taſchen arbeiten läßt und ein Uebriges dazu erpreßt, iſt ein Aufſchwung in irgend einer Richtung ganz und gar undenkbar.

Nicht minder ſchroff ſind die Contraſte zwiſchen dem ana - toliſchen Binnenlande und den nördlichen Pontusgeſtaden einer - ſeits und zwiſchen jenem und der tauriſchen Mittelmeerküſte anderſeits. Dort ausgedehnte Waldſtrecken, üppige Gärten und auf den Uferhöhen Cypreſſen und Pinien; hier ein mehr kahler, heißer Küſtenſtrich, mit ſeinem immergrünen Olivenkranze, ſeinen Myrthen - und Lorbeerhainen, nicht zu vergeſſen die Palme, deren Krone in mehr oder minder dichten Gruppen am heißen Geſtade ſchattet. Zwar iſt auch der Taurus waldreich, zumal in den höher gelegenen Thalſchluchten und ihren ausgedehnten Lehnen1Vgl. Simony, Höhentableau des ciliciſchen Taurus ., jene inneren Gebirgswinkel liegen aber bereits in der nächſt höheren Region im Sinne der verticalen Gliederung und Ver - breitung. Im Allgemeinen gleichen Klimatik und Vegetations - verhältniſſe in der weſtlichen Hälfte der anatoliſchen Pontusküſte mehr jenen des ſüdöſtlichen Europa, während der Naturtypus am tauriſchen Geſtade auffallend demjenigen des benachbarten Syrien ſich nähert, mit dem es auch den gleichen maritimen Einflüſſen ausgeſetzt iſt. Als Bindeglied zwiſchen beiden figurirt die Inſel Cypern, die trotz ihrer ſüdlichen Lage und trotz ihres milden Seeklimas auf der Scheitelhöhe ihrer größten Boden - Anſchwellung dem Olymp oder Troodos den Schmuck der Schneekrone bis tief ins Frühjahr hinein behält. Dafür ſind die Strecken des Tieflandes und die zumeiſt felſigen Geſtade, wie die meiſten levantiniſchen Landſchaften baumlos, und dürre, ſoweit es an dem belebenden Elemente, dem Waſſer, gebricht, während an den, von den Höhen niederrieſelnden Bächen ſchmucke Dörfer förmlich verborgen in üppigſter Gartenwildniß liegen. So namentlich am Südhange des nördlichen Küſtengebirges, das nordwärts von Levkoſia, der Hauptſtadt der Inſel, ſtreicht. Zur Seite dieſes Gebirges ſtrömt der Pedias, Anfangs durch Culturen, ſpäter durch Steppenland und zuletzt zwiſchen Sumpf -217Cypern. Die Völker Anatoliens. Griechen.ſtrecken der Oſtküſte zu, die er zwiſchen den Ruinen der alten Stadt Salamis und Famagoſta erreicht1Im Uebrigen iſt unter osmaniſcher Herrſchaft dies einſtmalige Inſel-Juwel des öſtlichen Mittelmeeres ſeinem completen Ruin nicht ent - gangen. Die Ebene des Pedias, welche im Alterthum ein einziger Wald war, beſitzt heute kaum einige Sträucher und wegen barbariſcher Ent - holzung der Olympus-Hänge verſiegen nunmehr auch die wenigen Bäche, denen die jetzige Vegetation ihr Daſein verdankt. Dabei kommt hin und wieder ein genialer Gouverneur auf den Einfall, im Flachlande arteſiſche Brunnen zu graben, oder etwa die drakoniſche Maßregel zu ergreifen, jeder erwachſene männliche Bewohner der Inſel habe binnen Jahresfriſt einen Baum zu pflanzen. (Vgl. Seiff, Reiſen ꝛc. 83.) Vollends ein Bild der Verwahrloſung liefern die einzelnen Städte, einſt die prächtigen Heimſtätten der Könige aus dem Hauſe Luſignan, ſo im Norden das mauernumgürtete Lewkoſia mit ſeinen altehrwürdigen gothiſchen Domen, auf deren Thürmen ſeit drei Jahrhunderten das moslemiſche Glaubens - ſymbol blinkt. Nur die zahlreichen Palmenkronen beleben hier das ſtarre Städtebild. Sie beſchatten die alten, venetianiſchen Feſtungswerke und ſtehen auch noch vor den dunklen Thorwarten, an denen zahlloſe Krüppel und Ausſätzige, denen der Eintritt in die Stadt verwehrt iſt, herum - lungern. (Seiff, a. a. O., 90.) Beſonders düſtere Erinnerungen knüpfen ſich an die öſtliche Küſtenſtadt Famagoſta, dem letzten Platze, der von Selim II. den Venetianern entriſſen wurde. Als man dem heldenmüthigen Vertheidiger Nobile Bagradino, trotz der ihm zugeſagten ehrenhaften Capitulationsbedingungen, gefangen und verſtümmelt hatte, rief ihm Mu - ſtafa zu, er ſolle doch nun ſeinen Chriſtus anrufen, damit er ihm zu Hilfe komme. Dann ward der Unerſchrockene lebendig geſchunden und die aus - geſtopfte Haut in Stambul öffentlich ausgeſtellt In die alten, ver - fallenen Paläſte ſind ſpäter die Türken untergekrochen und darin ver - blieben, ohne einen Stein zu verrücken. (Vgl. Petermann, Reiſen im Orient , I, 360.) Leben und natürliche Friſche herrſcht nur dort (auf den Olympus-Höhen), wohin der Fuß der officiellen Landesbeglücker ſeltener gelangt (Unger und Kotſchy, Die Inſel Cypern , 1865.) ꝛc ....

Zum Schluſſe unſerer Schilderungen erſcheint es am Platze auch Einiges über die allgemeine Lage der Bewohner und ihre nationalen Beſtrebungen vorzubringen, und zwar hauptſächlich mit Berückſichtigung des Verhältniſſes zwiſchen der herrſchenden Race, den Türken, und der chriſtlichen Raja. Dieſe iſt hier wohl vorherrſchend das griechiſche Element. Zwar bei Ismid am innerſten Golfende der Marmara-See und um Angora finden ſich noch immer zahlreiche armeniſche Colonien, das ganze nörd - liche Geſtade aber, namentlich aber das weſtliche, jenem ureigenen218Anhang. Anatoliſche Fragmente.Boden des Hellenenthums, vom Hellespont bis zur Feſtlands - küſte der Inſel Rhodos1Auch dieſe Inſel iſt, wie nicht anders zu erwarten, mit der Zeit in die troſtloſeſten Verhältniſſe gerathen. Was ſich nothdürftig durch manches Jahrhundert erhalten, die alterthümlichen, bürgerlichen Häuſer der Ritterſtraße , der ſchöne gothiſche Thorbogen und andere Bauten ſind in Folge einer furchtbaren Pulverexploſion im Jahre 1857 nahezu in Ruinen verwandelt worden. Das Innere der Stadt kann unter ſolchen Umſtänden ſelbſtverſtändlich nur den Eindruck der Verödung und Ver - armung machen. Dafür herrſcht im alten Palaſte des Großmeiſters ein habſüchtiger Paſcha, der nach ſeinem Gutdünken wirthſchaftet und die letzten Culturſtrecken dem Anbaue entzieht. Selbſt der Handel dieſer zum levantiniſchen Seeverkehr ſo günſtig ſituirten Inſel iſt nunmehr ein völlig belangloſer. nehmen die Griechen in mehr oder minder compacten Maſſen ein2Die auf Kieperts Ethnographiſcher Karte des Europäiſchen Orients (1869) als griechiſche Territorien bezeichneten Landſtriche (im Vilayete Aidin Smyrna nur etwa 40 Quadrat-Meilen gegenüber 940 Qua - drat-Meilen des Geſammt-Territoriums) ſind nicht zutreffend, da die griechiſche Population an Zahl noch immer halb ſo mächtig iſt, als die mohammedaniſche, nämlich 300,000 gegen 600,000 Seelen. (Vgl. v. Scherzer, Smyrna 47, und Helle, Die Völker d. osm. Reiches , 73.). Sie ſind, obgleich nur halb ſo zahlreich als ihre mohammedaniſchen Mitbewohner, dennoch der - jenige Theil der Bevölkerung, durch den alles geſchäftliche Leben vermittelt wird, in deſſen Händen hauptſächlich der Handel liegt, dem aber auch das Gewerbe nicht fremd iſt, obwohl der nationale Zug der Griechen nicht eigentlich die ſtille, emſige, wo es noth - wendig wird, anſtrengende Arbeit iſt, denn vielmehr die, auf raſchen und leichten Gewinn abzielende Geſchäftsſpeculation. In dieſem Punkte gleichen ſich die Griechen und Armenier weſentlich; aber es iſt doch ein Anderes, wenn der armeniſche Krämer die ihm zugeſchmuggelte ſchlechte Waare um hohe Preiſe veräußert und ſo den Betrug mit Betrug vergilt, während der griechiſche Tauſchhändler und Detailiſt ſeinen Calcul nach der jeweilig beſten Conjunctur ſtellt. Hiebei iſt der allgemeine Bildungsdrang bei den Griechen ein unvergleichlich höherer, als bei den Armeniern. Das regere, ja, durch die letzten Unabhängigkeitskriege zum Lebens - nerv gewordene nationale Bewußtſein, mag als beſſerer Anſporn zu fortſchrittlicher Entwickelung gelten und thatſächlich hat ſich der Bildungsdrang, der geraume Zeit nur die Träger des219Griechen.gelehrten Hellenismus beſeelte, neuerdings in rapideſter Art auch den unteren Claſſen mitgetheilt. In den Küſtenſtädten, wo der Contact mit der Außenwelt, zumal mit Europa ein jederzeit leb - hafter war, ſind die einzelnen Humanitäts - und Bildungsanſtalten eheſtens gediehen; anders aber im Innern Anatoliens, wo das althergebrachte ottomaniſche Bedrückungsſyſtem auf der griechiſchen Raja allezeit furchtbar gelaſtet hat1So in der Gebirgswildniß des Anti-Taurus (zu Faraſch), wo die Griechen mit der Zeit vollends verwilderten und immer bis an die Zähne bewaffnet ſind. Sie zahlen keine Abgaben und erkennen blos die Ober - herrlichkeit des Afſcharen-Häuptlings an, den ſie in ſeinen Unternehmungen gegen die türkiſchen Bauern gegen Antheil an der Beute unterſtützen. Selbſt ihre Prieſter, mit dem Kreuze auf der Bruſt, nehmen an dieſen Raubzügen Theil. (v. Tſchichatſcheff, Routen ꝛc. , 14.). Es bedarf aber hier gleich - wohl nur eines Aufrufes von Seite einer griechiſchen Nota - bilität, um die Bewohnerſchaft zu freiwilligen Opfern für irgend ein gemeinnütziges Unternehmen zu gewinnen. Bedauerlich iſt nur eines, die, bei orientaliſchen Völkern viel beobachtete That - ſache und je höher ihre intellectuellen Anlagen, deſto ſchärfer tritt ſie hervor daß die abendländiſchen Civiliſationsbe - ſtrebungen meiſt falſch aufgefaßt werden und der Geiſt einer höheren Cultur von nichtsſagenden, hohlen Aeußerlichkeiten er - tödtet wird. Dies gilt, mehr noch als von den eigentlichen, nationalen Griechen, von jener europäiſch-griechiſchen Miſchlings - race, deren Strebungen vollends nur in einem leeren Formen - weſen zum Ausdrucke gelangen2Vgl. Gräfin Noſtitz, Helfers Reiſen ꝛc. , I, 30 u. ff.. Dann hat der Grieche auch wenig Anlage zur Unterordnung, zu jener unerläßlichen Disciplin, auf deren innerſtem Weſen das ſtaatliche Gemeinweſen baſirt. Daß ſich im Gefolge des regen Speculationsgeiſtes auch all die unvermeidlichen häßlichen Eigenſchaften von Egoismus, Gewiſſen - loſigkeit und Corruption überhaupt befinden, muß wohl einleuchten, erwägt man, wie die angeborene Schlauheit und Findigkeit der anatoliſchen Griechen durch das ſchlechte türkiſche Verwaltungs - und Regierungsſyſtem geradezu auf eine Bahn gelenkt wurden, auf der dieſe Eigenſchaften nur in unerſprießlicher Weiſe zum Ausdrucke gelangen müſſen. Die Türken ſind hiemit freilich wenig einverſtanden und wo ſie mit den Griechen in ununter -220Anhang. Anatoliſche Fragmente.brochenem Verkehre ſtehen, da werden ſie eheſtens von allen Unternehmungen verdrängt, zumal auf den Inſeln, wo heute das türkiſche Element kaum mehr erwähnenswerth iſt1F. v. Löher, Griechiſche Küſtenfahrten , 252..

Das griechiſche Uebergewicht herrſcht aber ſelbſtverſtändlich nur an den Küſtenſtrecken und in einzelnen Strichen des Inneren, die von der Küſte nicht zu ſehr entlegen ſind. Südlich und öſtlich von der Provinz Smyrna hören, bis auf einzelne Colonien, die Griechen auf2v. Scherzer, a. a. O., 49. und an ihre Stelle treten die compacten Maſſen der Türken, die in Anatolien den Stock der Bevölkerung bilden. Auf ſie vermag ſich bis auf weiteres noch die Osmaniden-Herr - ſchaft zu ſtützen, denn wenn auch das dynaſtiſche Gefühl bei den moslemiſchen Binnenländlern nicht ſo ausgeprägt iſt, als man im Abendlande gemeinhin annimmt, ſo ſind ihre bürgerlichen und militäriſchen Tugenden immerhin darnach, daß man die ana - toliſchen Türken als ein ſchätzenswerthes Material betrachten kann. Die windigen Stambuler Effendis denken hiebei freilich anders, und wenn ſie der kernigen Geſtalten auch ſehr bedürfen, um deren Knochen für die verfahrene Serailpolitik zu Markte zu tragen, ſo ſpötteln ſie dennoch daheim über die rauhen und rohen Naturſöhne3Murad Effendi, Türkiſche Skizzen , I, 236.. Dafür aber haben dieſe ſelben Spötter, die nicht einmal ihr Blut zu achten und zu ſchätzen verſtehen, auch dieſes, ihr eigenes Volk ſo gut zu Grunde gerichtet, wie irgend wo im Reiche die verachtete chriſtliche Raja, und daß dem ſo iſt, das hat ſich in mancher öffentlichen Kundgebung in den untern Schichten des türkiſchen Volkes während der letzten bewegten Jahre klar und überzeugend dargethan.

Auch in anderer Hinſicht laſtet nur auf den Regierungs - organen die Schuld an all den jämmerlichen Zuſtänden, wie ſie in Anatolien zum Ausdrucke gelangen. So iſt beiſpielsweiſe im ganzen Lande nirgends von einem rationellen Volksſchulweſen die Rede, begreiflicherweiſe, da die betreffenden Schulbehörden wenn ſie überhaupt amtiren in Stambul etwas anderes zu thun haben, als ſich mit der Organiſation des, für die Er - ziehung des Volkes ſo nothwendigen Primär-Unterrichts zu221Die anatoliſchen Türken.befaſſen. Daß nebenher auch das türkiſch-moslemiſche Familien - leben, und die in demſelben zu Tage tretende Unnatur ſeinen erheblichen Antheil an dieſem Mißſtande haben muß, leuchtet ſo ziemlich ein1Beſonders arg iſt es hier mit der erſten Erziehung des Kindes beſtellt. Von einer Bändigung des Eigenwillens iſt nie die Rede, im Gegentheile, der Wille des Kindes iſt unter allen Umſtänden Geſetz für ſeine Eltern und Diener, und wenn ein Europäer als Zeuge der täglich vorkommenden Auftritte dem Vater hierüber ſeine Bemerkungen macht, ſo heißt es: Ne japaim? Tschodschuk istijor; jazykdyr Was ſoll ich machen? Das Kind will es ſo haben, es wäre doch ſchade. (Der anonyme Autor von Stambul u. d. mod. Türkenthum , I, 131.). Hiebei dürfte aber nicht blos der mangelhafte Wille auf Seite der leitenden Perſönlichkeiten, derlei Uebelſtänden abzuhelfen, ſtörend dazwiſchen treten, ſondern auch der Dünkel und die Ignoranz der zur geiſtigen Befruchtung ſich berufen fühlenden Effendi-Literaten, die bei ihrem maßloſen Selbſtbe - wußtſein gleichwohl nur Carricaturen auf dem Gebiete der geiſtigen Production abgeben2So hat neueſtens ein Stambuler Hiſtoriograph, ein gewiſſer Schakir Schefket Effendi, eine Geſchichte Trapezunts (Tarabozan Tarihi) publicirt, in der folgender Blödſinn zu leſen iſt. Der Verfaſſer kennt nämlich die Ableitung des Namens Trapezunt von der Geſtalt der älteſten Stadt, behauptet aber, dieſe Ableitung ſei irrig; der Name rühre vielmehr davon her, daß am Strande runde Steine in Tiſchform vorkämen, was eben den Namen veranlaßt habe. Andere, fährt er fort, behaupten, es habe dort einſt ein Mann geherrſcht, der in ſeinen Händen eine ſolche Stärke hatte, daß er die Tugra (Namenszug des Sultans) auf den türkiſchen Münzen mit den Fingern zerſtören konnte, weshalb man ihn Tugra-Bozan (den Tugra-Zerſtörer) nannte, woraus Tarabozan ward, welchen Namen man ſpäter auf die Stadt übertrug. (A. D. Mordtmann in der Allg. Ztg. , Nr. 5 (Beil. ), 1878.) Solche Gelehrſamkeit iſt bezeichnend für das Ka - liber der türkiſchen Ritter vom Geiſte und ihren Culturberuf nach unten.. Es iſt ſonach nicht blos die all - gemeine Volksbildung, die ſo ſehr im Argen liegt, ſondern auch die höhere, wiſſenſchaftliche Erziehung in jenen Kreiſen, die durch Einfluß und Stellung zunächſt in dieſe Frage thätigſt einzugreifen vermöchten. Daß das Volk den Abgang dieſes Einfluſſes fühlt und zu gelegener Zeit auch nicht verabſäumte, ſeinen Tadel laut werden zu laſſen, haben wir in jüngſter Zeit wiederholt erlebt, zumal durch die unerwartet ſchroffe oppoſitionelle Haltung einer großen Zahl der türkiſchen und arabiſchen Volksvertreter im222Anhang. Anatoliſche Fragmente.Stambuler Parlament1So äußerte ſich der Deputirte von Smyrna, Jeniſcheherlüzade Achmed, in einer Sitzung: Wollte man in unſerer Provinz eine Gemeinde bilden, ſo würde man keine Leute finden, welche leſen und ſchreiben können; höchſtens der Imam könne ſchreiben, wenn aber ſeine Tinte getrocknet iſt, ſo ſei ſie nicht mehr zu leſen. Salim Effendi (Kaſtamuni): In der Ge - meinde fänden ſich wohl Leute, welche leſen und ſchreiben können, aber man müſſe ſie zu ihren Functionen beſolden; Daniel Effendi (Erzerum): Bis jetzt iſt in jedem Dorfe ein Rath der Alten, da aber Niemand be - ſoldet iſt, ſo verſammeln ſie ſich nie und laſſen die Geſchäfte liegen. Der erſte Redner geſteht auch, daß es in ſeiner Provinz Dorfſchulzen (Mukh - tars) gebe, die nicht leſen und ſchreiben könnten und in Folge deſſen von den Caſſenbeamten betrogen würden; u. dgl. erbauliche Dinge mehr. (Vgl. Allg. Ztg. , Nr. 98, 1877.). Was thut aber die Regierung? Sie hat einfach taube Ohren gegenüber derlei Kundgebungen und betrachtet die Deputirten-Verſammlung als einen Zeitvertreib ganz äußerlicher Natur, den man geeigneten Momentes gewaltſam zum Abſchluß bringt, die Bude ſperrt und die oratoriſchen Kampfhähne zwangsweiſe in die Heimat abſchiebt.

Neben den Türken bilden in Anatolien auch einzelne Turk - menen-Stämme, wie die Yuruken (Nomaden) und die wilden, kriegeriſchen Afſcharen im Anti-Taurus einen Theil der mos - lemiſchen Bevölkerung. Beider iſt bereits in den vorangegangenen Capiteln gedacht worden, und dürfte über dieſe Stämme kaum noch Erhebliches nachzutragen ſein. Zu unterſcheiden iſt wohl, daß die Yuruken im Allgemeinen dem Lande ſehr von Nutzen ſind, durch die ausgebreitete und rationelle Viehzucht, die ſie be - treiben, was von den Afſcharen, einer großartigen Räubergeſell - ſchaft, eben nicht behauptet werden kann. Jene nehmen die hohen weitläufigen und graſigen Tafelebenen ein, wo ſie in patriarchaliſchen Verhältniſſen leben und nur äußerlich ihr mos - lemiſches Glaubensbekenntniß bethätigen, während ſie im Grunde nahezu religionslos ſind. Die Afſcharen hingegen ſind fanatiſche Mohammedaner, was ſie aber keineswegs verhindert, die tür - kiſchen Bauern und Behörden, wo ſich nur immer Gelegenheit ergibt, zu verfolgen und zu brandſchatzen, wie ſie überhaupt die osmaniſche Autorität und Alles, was drum und dran hängt, grimmig haſſen. Hiebei erſcheint ihre Beuteluſt mehr ein Kampf ums Daſein, während die Yuruken durch ihre Heerden und durch223Yuruken. Afſcharen. Kurden.das aus denſelben erwachſende Erträgniß oft wohlhabender als der ſeßhafte türkiſche Bauer ſind. Selbſt Fremde, die in ihr Gebiet eindringen, betrachten die Afſcharen als ihre Feinde und überwindet einmal ein Reiſender die unleugbaren Gefahren eines ſolchen Beſuches und vermag ſich derſelbe mit einem der mäch - tigen Stammhäuptlinge in freundſchaftlicher Weiſe auseinander - zuſetzen, dann wird dieſer gleichwohl darauf beſtehen, daß der tür - kiſche Zaptie (Gensdarm) ſich ſofort außer Land begebe, da hier der türkiſche Sultan doch nur Dreck iſt (bok dyr)1v. Tſchichatſcheff, Routen ꝛc. 57.. Während nun dieſe Gebirgsſtämme, in ihrem unleugbaren Frei - heitsdrange, der Pforte und ihren Unterthanen zwar allenthalben bis zum Ueberdruſſe läſtig werden, ſo beſchränken ſich deren Gewaltthätigkeiten dennoch mehr auf die Grenzſtriche ihres eigenen Gebietes Ganz anders aber verhält es ſich mit den kur - diſchen Nomaden Anatoliens. Es ſind jene Stämme, welche zum Theile aus eigenem Wandertrieb, zum Theile in Folge der wachſenden politiſchen und militäriſchen Machtentfaltung der Pforte und ſchließlich in Folge eines conſtanten Druckes der an - wohnenden turkmeniſchen Bevölkerung, ihre Stammheimat zwiſchen den Zwillingsſtrömen dauernd verlaſſen haben und in die ana - toliſchen Nachbarprovinzen als eine Art Völker-Geißel eingebrochen ſind. Zahlreich dürften nun gerade dieſe Stämme nicht ſein, aber ſie ſind zweifellos die entartetſten, ſelbſt in ihren hervor - ragenden Tribus-Scheichs in nichts an die ſtolze, ſelbſtbewußte Art der heimatlichen Hochlandsclane erinnernd. Ihr angeborenes, mit großer Virtuoſität betriebenes Handwerk iſt der Raub, der meiſt noch durch Mord und Todtſchlag befleckt zu ſein pflegt. Obgleich Mohammedaner, ſind ſie dennoch den türkiſchen Glau - bensbrüdern ſpinnefeind, und zwar nicht ſo ſehr aus religiöſen oder nationalen Gründen, denn vielmehr aus ſocialen. Der feſte Beſitz, die Frucht mühevoller Arbeit, fremdes Eigenthum, ja ſelbſt das Korn im Felde und die Frucht am Baume reizen ihre Inſtincte, die eine communiſtiſche Färbung der bedenklichſten Art haben. Dieſe Stämme, die weder ein nationales Bewußt - ſein wie die Oſt-Kurden, noch ein politiſches wie die Weſt-Kurden beſitzen, ſind die wahren Auswürflinge des Kurdenthums, vom224Anhang. Anatoliſche Fragmente.Erwerbe Anderer lebend, den ſie ſich durch Straßenraub und Raubmord allenthalben zu verſchaffen wiſſen1Ein weiteres Bevölkerungs-Element bilden noch im öſtlichen Ana - tolien die ſogenannten Rothköpfe , eine Secte, der wir ſchon in den oberen Eufratgegenden begegnet ſind. Ihre religiöſe Zuſammengehörigkeit mit den Jeziden, Naſariern, Ismaeliern und Anderen karmathiſchen Secten iſt erwieſen, desgleichen ihre ethniſche Stellung (ſie ſind allenthalben Kurden). Im oben erwähnten Gebietstheile Anatoliens wohnen ſie be - ſonders dicht zwiſchen Amaſia und Tokat und weiterhin im Oſten in den Ebenen Kaz-Owa und Ard-Owa. (Vgl. v. Lennep, Travels etc. in Asia minor (1870), a. a. O.).

Am Schluſſe unſerer allgemeinen Schilderung Anatoliens angelangt, möchten wir noch jener Stimmung gedenken, die ſich ſeit den letzten ſchweren Ereigniſſen der Regierung und des Volkes bemächtigt hat. Die hiebei ſtattgehabten Wandlungen gehören wohl mehr der Special - und Zeitgeſchichte an und ent - behren eines eigentlichen Intereſſes, umſomehr als die Stam - buler Hof - und Serail-Clique ihr geradezu ekelerregendes Treiben auch dann nicht einſtellte, als die Sache der Pforte durch die Vernichtung ihrer ganzen Armee im Balkankriege bereits eine verlorene war. In der Zeit der größten Bedrängniß zeigte ſich indeß das Türkenthum in ſeinem ureigenen Lichte. Bewährt haben ſich nur die braven Nizam-Regimenter, jenes ausgezeichnete Soldatenmaterial, das gewiſſermaßen den geſundeſten Kern des Volkes repräſentirt und neben ſeine allgemeinen guten Eigen - ſchaften noch die der wahren Soldaten-Tugenden geſellte. Um ſo unfähiger erwieſen ſich die verſchiedenen Generale, die gleichwohl zu Zeiten im Geruche beſonderer Genialität ſtanden, oder gar wie Mukhtar, dieſem Schlachten-Erfinder und Berichterſtatter von Actionen, die nie vorgefallen waren, vom Sultan durch den pompöſen Titel eines Ghazi oder Siegreichen ausgezeichnet wurden. In Stambul herrſchte indeß die Effendi-Wirthſchaft ungebrochen fort, und was ſlchimmer iſt, die verſchiedenen Hiobs - poſten von den Schlachtfeldern machten auf die unpatriotiſchen Sykophanten augenſcheinlich nicht den geringſten Eindruck. Während die ottomaniſchen Kerntruppen verbluteten oder vor Schnee, Kälte und Hunger bataillonsweiſe zu Grunde gingen, beluſtigten ſich jene in ihren Reſidenz-Konaks und gaben ſelbſt225Zur Lage ſeit dem Kriege.ſpäter noch müßige, herzloſe Zuſchauer ab, als bereits Schaaren moslemiſcher Emigranten, die die Colonnen des Eroberers vor ſich hergetrieben, die einzelnen Viertel Conſtantinopels überfüllten. Aber auch die Behörden ſollten ſich in dieſen ſchweren Tagen in ihrer Art erproben, als zum Elende des Krieges auch noch die verheerender Epidemien hinzukamen. Der Geſundheitsrath und die Tagespreſſe drangen mit allem Nachdrucke darauf, daß zur Verhütung des Schlimmſten die Behörden die entſprechenden Maßregeln ergreifen möchten; aber die Municipalität der Reſi - denz ließ ſich in ihrer olympiſchen Ruhe nicht ſtören und die Polizei hatte wichtigere Dinge zu thun. Durch eine zwei Spalten lange Verordnung ſchärfte ſie den Gläubigen ein, das Gebet in den Moſcheen zu den kanoniſchen fünf Zeiten nicht zu verſäumen und nicht in den Kaffeehäuſern ſich während der Gebetszeit mit Trictrac und Kartenſpiel zu amüſiren; den Weibern ward es unterſagt, Schleier von ſehr feinem und durchſichtigem Stoffe zu tragen; ſie ſollten künftighin ihre Schleier aus dem Stoffe von Nr. 20 bis 26 anfertigen, und bei ihren Feredſches (Ueberwürfen) ſich keiner koſtbaren Stoffe bedienen; ebenſo ward es ihnen unterſagt, in die Verkaufsläden einzutreten und ſich dort zu ſetzen oder mit Männern zu unterhalten: und das Alles in einer Zeit, als der Feind einen Erfolg nach dem anderen errang1Daß im Uebrigen Volk und Regierung den Gefahren der Seuchen gegenüber apathiſch verblieben, entſprach ganz der Tradition. Noch vor wenigen Decennien erklärte das Corps der Ulema gelegentlich des Aus - bruches der Peſt, dieſes Zorngericht Gottes , jede Vorſichtsmaßregel gegen dieſelbe für ſündhaft und verwerflich, indem nur aufrichtige Buße wegen der Neuerungen (!) und Rückkehr zu den früheren Zuſtänden dem Volke der Osmanen die Gnade des Allmächtigen wieder gewinnen könne. Dem - gemäß erließ der Sultan die Bekanntmachung: Daß der in der Peſt ſich kundgebende göttliche Unwillen nur in der Unterlaſſung des fünfmaligen täglichen Gebetes ſeinen Grund habe, und daß hinfort Jeder, der zur Gebetzeit, anſtatt in der Moſchee zu erſcheinen, auf der Straße betroffen wird, durch die Baſtonade an ſeine Glaubenspflichten erinnert werden ſolle. Der damals gefürchtete Polizeiminiſter Chosrew Paſcha verab - ſäumte denn auch nicht, in einer eigenen Verordnung hinzuzuſetzen, daß ſelbſt ein unziemendes Verhalten in der Moſchee (plaudern, herumſchlen - dern oder mit dem Roſenkranze tändeln) den Uebertretenden Baſtonaden - Tractaments eintragen ſoll, daß ihnen die Nägel von den Zehen ſpringen würden. (Vgl. Roſen, Geſchichte der Türkei I, 237, 253 ꝛc.).

Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 15226Anhang. Anatoliſche Fragmente.

Aber die Erkenntniß der wahren Sachlage ſollte nicht lange auf ſich warten laſſen und als zu San-Stefano der verhängniß - volle Friede unterzeichnet war, erging ſich ein gut conſervatives Stambuler Zeitungsblatt (Das Baſſiret ) in nachfolgenden Aus - einanderſetzungen und Bekenntniſſen: Die Geſchichte beweiſt, daß die vom Kriegsglück nicht begünſtigten Nationen durch ihr Unglück zur Selbſterkenntniß und zum Nachdenken gelangten. Sprechen wir unſere Gedanken offen aus: Wir ſind beſiegt. Was aber die wahre Urſache des Krieges war, und warum wir beſiegt wurden, und weshalb die Niederlagen auf die osmaniſche Na - tion einen ſo tiefen Eindruck machten: alles dies wußten wir nicht und gaben uns auch keine Mühe, es zu ergründen, bevor wir beſiegt waren. Jetzt ſehen wir es, und dies Erwachen müſſen wir als einen großen Erfolg anſehen und daraus Nutzen ziehen. Es wurde viel in den Zeitungen über die Orient - Frage und die damit in Verbindung ſtehende Verbeſſerung des Looſes der Chriſten geſchrieben, aber unſere Nation hielt die - ſelben für alte Weibermärchen. Die Artikel, welche die Noth - wendigkeit der Reformen betrafen, wurden wie Romane im Genre von Leila und Medjun behandelt und man hielt es nicht der Mühe werth ſie zu leſen. Die Urſache, welche unſere Augen gegenüber dieſen Thatſachen blind machte, war aber die Un - wiſſenheit, und dieſe iſt auch jetzt, nach den Ereigniſſen noch nicht vollends aus unſerer Mitte verbannt. Unſere Lage gleicht nun - mehr der eines Menſchen, der in einem langen Schlafe gelegen, und auf die Theilnahmsloſigkeit folgte Verwirrung. Daß die Unkenntniß aller Verhältniſſe an unſerem Unglücke die Haupt - ſchuld trägt, läßt ſich leicht beweiſen, denn ihre Spuren ſind es, die den Weg vom Gipfelpunkte unſeres Glücks bis zum Rande des Verderbens bezeichnen. Hiezu kommt noch Aemterjagd, Be - ſtechung, Egoismus, unzeitige Härte oder Milde, zweckloſe Gut - müthigkeit, Verachtung jedweden anderen Erwerbes, der nicht direct auf den Staatsſchatz abzielte, Abneigung gegen Handel, Ackerbau und ähnliche Erwerbsthätigkeit. Seit den zweihundert Jahren des Verfalls ſind durch unſere Unwiſſenheit Erſcheinungen zu Tage getreten, wie ſie kein vernünftiger Menſch erwarten würde. Da haben wir beiſpielsweiſe einen Kaufmann, der Kaffee nach Jemen ſchickt; einen Bevollmächtigten, welcher nicht227Ein osmaniſcher Mahnruf.Hunderttauſende von Millionen unterſcheiden kann; einen Bureau - chef, welcher die Grenzen von Bosnien im Hypothekenregiſter nachſucht; einen Corpscommandanten, der den Rath gibt, Truppen nach Kreta zu Lande zu ſchicken: kurz alle Komödien, welche die Unwiſſenheit überhaupt hervorbringt. Aber durch dieſe ſelbſt ſind wir in der Welt Gegenſtand des Spottes und Gelächters geworden und es erſcheint an der Zeit mit dem Syſtem der Fahrläſſigkeit zu brechen, ſoll unſer Blick überhaupt noch von einem Hoffnungsſtrahle für die Zukunft aufleuchten.

Eine ſolche Sprache von Seite türkiſcher Tagesſchriftſteller wäre noch vor Jahr und Tag eine undenkbare geweſen. Es iſt nur zu bedauern, daß Völker, wie Individuen, zumeiſt viel zu ſpät des Irrpfades gewahr werden, auf dem ſie zeitlebens gewandelt ....

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TextArmenien
Author Amand von Schweiger-Lerchenfeld
Extent263 images; 79255 tokens; 17334 types; 595805 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationArmenien Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner Amand von Schweiger-Lerchenfeld. . XXVIII, 227 S. CostenobleJena1878.

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