PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts mit Vergleichung der Literatur und Geſetzgebung von Frankreich, England und Deutſchland.
Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.1870.
[II]

Buchdruckerei der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung in Stuttgart.

[III]

Vorwort.

Ich übergebe mit dem vorliegenden Werke dem Publikum einen wenigſtens formalen Abſchluß des Verſuches, die Verwaltungslehre zu einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft zu erheben. Der nächſte Grund, der mich dazu bewog, war das Bedürfniß, den Vorleſungen über Verwaltungslehre eine ausreichende Baſis zu geben. Das größere Werk, welches ich vor zehn Jahren begonnen habe, iſt ſo um - fangreich, daß es für das allgemeine Studium der Verwaltungs - lehre ſich kaum eignet. Ich habe außerdem ſchon früher erklären müſſen, daß es kaum in Eines Menſchen Kraft liegt, es in dem - ſelben Umfange zu vollenden, in welchem es begonnen wurde. Ich habe dennoch nie geglaubt, daß es, auch in dieſem Umfange, wirklich ausreiche. Ich habe nur den Beweis zu liefern geſucht, daß die poſitiven und praktiſchen Fragen der Verwaltung einer höheren wiſſenſchaftlichen Behandlung fähig und werth ſind, und ich würde mich glücklich ſchätzen, wenn ich dieſe Ueberzeugung auch für andere gewonnen hätte. Jetzt kam es darauf an, in dem - ſelben Geiſte die Umriſſe des Ganzen feſtzuſtellen. Es war die Aufgabe des vorliegenden Werkes, dieſen Verſuch zu machen. Ich übergebe ihn, obwohl ich ſeine Mängel und Unfertigkeiten ſehr wohl erkenne, der Oeffentlichkeit. Ich wage das aber, weil ich einen andern, weiter gehenden Gedanken ſchon hier vertreten zu müſſen glaube. Und ſo vieler und tiefer Widerſpruch mir dabei auch entgegen treten wird, ich ſtehe keinen Augenblick an, ihn auszuſprechen.

Unſere ganze juriſtiſche Bildung an den deutſchen Hochſchulen iſt ohne allen Zweifel durchaus hinter unſrer großen Gegenwart zurück. Es gibt, ſo weit das geiſtige Auge reicht, keinen einzigenIV Theil der Wiſſenſchaft, der ſeit fünfzig, ja eigentlich ſeit dreihundert Jahren ſo ſtabil geweſen wäre, ja ſo wenig Fortſchritte gemacht hätte, als die Rechtswiſſenſchaft. Im Großen und Ganzen gibt es nur Einen Punkt, auf dem wir weiter gekommen ſind, und das iſt die Rechtsgeſchichte der alten Zeit. Im Uebrigen ſtehen wir da, wo im vorigen Jahrhundert Selchow und Runde, in unſerem Makeldey und Wennig-Ingenheim ſtanden. Der große Impuls, den der geniale Thibaut gegeben, iſt erfolglos geblieben. Doch das iſt nicht die Hauptſache, weil es nur die Conſequenz der Hauptſache iſt. Die aber beſteht in der ſehr ernſten Thatſache, daß wir, mitten in einem Leben, das nach allen Seiten hin ſeine Blüthen einer neuen Zukunft entgegen treibt, mit unſerem ganzen juriſtiſchen Bewußtſein weſentlich noch im Corpus Juris und den Pandekten ſtecken. Es iſt faſt unglaublich, daß faſt an allen deutſchen Univerſitäten das Maß der Kenntniß des römiſchen Rechts als das Maß der juriſtiſchen Bildung gilt; daß die Pan - dekten die Hauptſache des Studiums ſind, daß das römiſche Recht die Literatur beherrſcht, und daß man alles, was ihm nicht ange - hört, als Sache zweiter Ordnung betrachtet. Und wenn man für das römiſche Recht noch irgend eine Vorſtellung von der Grenz - beſtimmung deſſen hätte, was aus ihm gilt und nicht gilt, oder eine Vorſtellung von ſeinem Verhältniß zum deutſchen Privatrecht, oder eine Vorſtellung von der Geſchichte eben dieſes römiſchen Rechts ſeit den letzten zwei Jahrhunderten! Iſt es nicht wunder - bar, daß unſre jungen Männer mehr wiſſen von Atilius und Plautius, von Ulpian und Hermogenian, als von Leyſer, Stryk, Pothier, Merlin, Blackſtone und andern Männern, auf deren Schultern unſere Rechtsbildung ſteht? Iſt es nicht wunderbar, daß es die erſte Aufgabe jedes deutſchen Juriſten iſt, ſich mit Servius Tullius und den zwölf Tafeln auf möglichſt guten Fuß zu ſetzen, daß man die Weisthümer, Bannrechte und Regalien, die eben ſo wenig jetzt noch exiſtiren wie das Edictum perpetuum, genau kennen muß, daß aber in ganz Deutſchland keine einzige Univerſität und keine einzige Vorleſung exiſtiren, wo der junge Mann auch nur die gegen - wärtige Civilgeſetzgebung eben dieſes ganzen Deutſch - lands kennen lernen könnte. Deutſchlands gegenwärtigesV Recht exiſtirt auf den deutſchen Rechtsfakultäten nicht; an der Stelle des deutſchen Rechts ſteht das Pandektenweſen, an der Stelle der organiſchen Auffaſſung deſſelben die Caſuiſtik, und das was die deutſchen Juriſten zu einem Ganzen macht die Quelle des deutſchen Rechtsbewußtſeins, der deutſchen einheitlichen Rechts - bildung iſt das Recht der Römer, von dem drei Viertel abſolut unbrauchbar für uns ſind, und wo man bei dem letzten Viertel nicht mehr weiß, was noch für uns einen Werth haben kann, was nicht. Daß dabei von einem Verſtändniß der franzöſiſchen und engliſchen Rechtsbildung keine Rede iſt, iſt in einem Volke natür - lich leicht klar, wo der Preuße nicht lernt, was in Sachſen, der Sachſe nicht was in Bayern, der Bayer nicht was in Württem - berg und keiner von ihnen was in Oeſterreich gilt. Und während dieſe Leute ſitzen und ihre Antiquitäten tradiren, geht das gewal - tige Leben unſrer Zeit über ſie hinweg, verbindet die Völker und Länder, läßt nirgends eine Abſonderung und Abgeſchloſſenheit zu; jeder junge Geſchäftsmann ſucht Frankreich und England, jeder Techniker weiß Beſcheid von der Oſtſee bis zum Mittelmeer, aber der Juriſt, an ſeine Pandekten gekettet, ward erzogen und gegängelt von der Vorſtellung, daß er neben dieſen Pandekten nicht einmal die Kenntniß der in ſeinem Vaterlande geltenden Geſetzbücher, geſchweige denn der Rechtsbildung und der Literatur unſeres Jahr - hunderts bedürfe, um ein tüchtiger Juriſt zu ſein. Während in dieſem ſich ſelbſt in hundert Commiſſionen prüfenden und teſti - renden Volke hundertmal an Einem Tage die Frage nach der lex Aquilia oder Rhodia vorkommt wir fragen, ob auch nur ein einzigesmal ſeit hundert Jahren in Preußen bei einem Examen eine Frage nach dem bayriſchen oder öſterreichiſchen Landrecht vorge - kommen, oder nach irgend einem nichtpreußiſchen Recht dieſſeits oder jenſeits der Mainlinie oder umgekehrt? Und dann fragt man noch, weßhalb die Franzoſen uns in der Weiſe achten und behandeln, wie man etwas Unverſtändliches behandelt?

Und dennoch iſt das nur Eine Seite der Sache. Die zweite nicht weniger ernſte iſt die, welche ſich dem öffentlichen Leben und ſeinem Recht zuwendet. Und hier wieder wollen wir nicht vom eigentlichen Staatsrecht reden. Es iſt ein eigenes Ding mit dem Staatsrecht unſerer Zeit, vor allem mit dem deutſchen Staatsrecht,VI und viele Gründe erklären, weßhalb man daſſelbe in ſeinen einzelnen poſitiven Beſtimmungen für unwichtig erklären muß; denn das poſitive Recht wechſelt und die Principien ſtehen nicht feſt. Allein ein anderes iſt gewiß. Das, was ſich namentlich in Deutſchland am ſtärkſten entwickelt, iſt das Syſtem und der Organismus der Selbſtverwaltung, mit ihr der beſtändige Drang, die Aufgaben der Verwaltung der alten Bureaukratie zu entziehen. Um das zu können, muß man Eins, man muß nicht bloß das Recht, man muß auch die Fähigkeit haben zu verwalten. Dieſe Fähigkeit hat aber ihre Vorausſetzungen, wie jede andere. Sie fordert Arbeit und Kenntniſſe. Und eben deßhalb, wo immer die Selbſtverwaltung auftritt, wendet ſie ſich zunächſt an die, denen man in öffentlichen Dingen die meiſten Kenntniſſe zutraut. Das aber ſind die Rechts - kundigen aller Art. Und was haben die Rechtskundigen gelernt? Von welchen Geſichtspunkten gehen ſie aus? Was iſt die Baſis ihrer Kenntniſſe? Wir bedauern, ſagen zu müſſen, daß die Bil - dung für das öffentliche Leben in Deutſchland für die meiſten Fach - juriſten mitten in der gewaltigen Zeit, in der wir ſtehen, ſich nach wie vor weſentlich auf jenes römiſche Recht, auf Inſtitutionen und Pandekten beſchränkt, von denen nicht einmal das Verhältniß zum übrigen poſitiven bürgerlichen Recht klar iſt. Mit dem römiſchen Recht ausgerüſtet, tritt der Fachjuriſt in die Gemeindevertretung, in den Kreis und Landtag, in den Reichs - und Bundestag. Hier aber handelt es ſich um etwas anderes als um Titus und Sem - pronius; hier treten die praktiſchen Fragen des öffentlichen Lebens auf; hier iſt es das Gemeindeweſen, das Gewerbe, das Vereins - weſen, die Wege, Brücken, die Grundbücher, das Geſundheits - weſen und hundert andere Dinge, welche eine verſtändige Erledigung fordern, eine Erledigung, von der nicht etwa ein Beweisinterlocut oder ein Endurtheil im Proceß zwiſchen jenem Titus und Sem - pronius, ſondern das Wohl und Wehe vieler Menſchen, ja ganzer Körper und Staaten abhängen. Und was hilft ihm hier der Geiſt des römiſchen Rechts, den er anruft, wo das Wort ihn im Stiche läßt, und den er nicht zu beherrſchen weiß, wenn er erſcheint? Was nützen ihm Inſtitutionen und Pandekten, die ja nicht einmal ein lateiniſches Wort für die Hauptbegriffe haben, um die es ſich handelt? Kann jemand die Gemeinde, das Gewerbe, die Geſundheits -VII pflege, das Heimathsweſen, das Grundbuchsweſen, das Wegeweſen, die Poſt und hundert andere Dinge auch nur ins Lateiniſche über - ſetzen? Kann ihm daher eine Disciplin, welche für die Haupt - verhältniſſe unſrer Zeit gar keinen Namen hat, helfen, wenn ihn das Volk wählt, weil es meint, er müſſe verſtändliche Sachen verſtehen, da er ja unverſtändliche verſtehe. Kann er ſelbſt das Gefühl haben, im öffentlichen Leben etwas zu leiſten, wenn er nie gelernt hat, ſich mit demſelben geiſtig zu beſchäftigen? Kann er zufrieden ſein mit einer Fachbildung, deren Schwerpunkt in hiſto - riſcher und caſuiſtiſcher Doktrin beſteht, und die in Geſchichte und Syſtem da aufhört, wo unſere Zeit anfängt, mit dem weſtphäli - ſchen Frieden? Und was iſt die Folge davon, daß er das nicht kann, und daß er an ſeinen Univerſitäten alles lernt, nur nicht das, was er am nöthigſten braucht, das wirkliche Leben der menſch - lichen Gemeinſchaft und ſeine Anſtalten und Bedürfniſſe? Die erſte Folge davon iſt die, unter der wir alle leiden, die Phraſe. Deutſchland, das Land der tiefen Denker und der exakten Gram - matiker, iſt das Land der politiſchen Phraſe wie kein anderes der Welt; das Land, in welchem die Phraſe um der Phraſe willen geſagt wird; das Land, in welchem die eine Hälfte der öffentlichen Stimmen die andere ermüdet durch ewig neues Suchen nach Worten, die zu vieles bedeuten, um etwas zu gelten; das Land, in dem man redet, weil man wenig zu ſagen hat. Die zweite Folge aber iſt die, daß in allen Volks - und Reichsvertretungen die gebildeten Fachjuriſten allmählig ganz verſchwinden, daß die glatte Journa - liſtik ſtatt ihrer in der Tagespreſſe, der Geſchäftsmann und der Bürger ſtatt ihrer in den Vertretungen das Wort nimmt. Die wichtigſte Thatſache unſerer Gegenwart und auch unſerer nächſten Zukunft iſt die, daß unſere heutige Jurisprudenz vollkommen un - fähig iſt, Männer des öffentlichen Lebens, deutſche Staatsmänner zu erzeugen; der Grund davon iſt, daß auf den Hochſchulen die Pandekten Hauptſache und die Staatswiſſenſchaften Nebenſache ſind; und nicht weil wir gelehrt ſind, ſondern weil wir auf einem verkehrten Punkte gelehrt ſind, ſtehen wir zurück hinter den Engländern und Franzoſen, denen wir überlegen ſind in allem, was alle anderen angeht, die uns aber überragen in allem, was das Verſtändniß der eigenen praktiſchen Intereſſen betrifft. SoVIII lange unſere juriſtiſchen Fakultäten ihre gegenwärtige Geſtalt und Ordnung behalten, werden wir mit allen Reichs -, Landes - und Gemeindeverfaſſungen ewig regiert werden, ſtatt zu regieren; ſo lange die Pandekten zu viel bedeuten an den deutſchen Univerſitäten, werden die Deutſchen zu wenig bedeuten in Europa.

Darum nun, um der kommenden Zeit mit ihrem ſtaats - männiſchen Inhalt vorzuarbeiten, ſo weit die geringen Kräfte eines Einzelnen gehen, habe ich verſucht, das Handbuch der Inſtitutionen des Verwaltungsrechts auszuarbeiten, der Zeit in Treue harrend, wo das öffentliche Recht dieſelbe Stelle an den Univerſitäten ein - nehmen wird, welche das öffentliche Leben allmählig im deutſchen Volke einnimmt, und wo man ſeine Studien nicht eher für abſol - virt halten wird, bis man neben den Pandekten Tribonians auch die der Verwaltung, ihres Organismus, ihrer Geſchichte und ihrer großen Aufgaben ſich eigen gemacht hat. Es iſt eine andere Frage, wie ſich das in der Oekonomie der Studienzeit dann geſtalten wird; wir behandeln ſie ſeiner Zeit an einem andern Ort. Wir wären aber ſtolz darauf, wenn dieſe Erſtlingsarbeit auf dieſem Gebiete den Anſtoß zur ernſteren Erwägung über die Einrichtung der Fachbildung für das öffentliche Rechtsleben geben würde.

Wien, Juni 1870.

Dr. Lorenz von Stein.

[IX]

Inhalt. Die Innere Verwaltung. Einleitung. Der organiſche Staatsbegriff.

  • Seite
  • I. Der Staat und ſeine organiſchen Grundbegriffe4
  • II. Der organiſche Begriff und Inhalt der Verwaltung7
  • III. Begriff, Geſchichte und Vergleichung des Verwaltungsrechts10
  • Die vollziehende Gewalt. Begriff und Weſen. Allgemeiner Theil. I. Die Vollzugsgewalten und die Staatsgewalt14
  • II. Die organiſchen Grundformen der vollziehenden Gewalt15
  • III. Das Recht der Vollzugsgewalt und ſeine Entwicklung zum verfaſſungs - mäßigen Verwaltungsrecht16
  • Beſonderer Theil. A. Die Regierung und das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht19
  • I. Begriff und Organismus der Regierung. Das Staatsoberhaupt und die Regierung im eigentlichen Sinne19
  • II. Die Funktion der Regierung21
  • III. Das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht22
  • B. Die Selbſtverwaltung25
  • I. Begriff und Organismus25
  • II. Die Funktion der Selbſtverwaltung28
  • III. Das Rechtsſyſtem der Verwaltung29
  • C. Das Vereinsweſen32
  • I. Begriff und Syſtem32
  • II. Die Vereinsarten als Funktionen des Vereins34
  • III. Das Syſtem des Vereinsrechts37
X

Die Innere Verwaltung. Allgemeiner Theil.

  • Seite
  • Begriff und Idee derſelben43
  • Das Princip der inneren Verwaltung44
  • Das innere Verwaltungsrecht45
  • Elemente der Geſchichte der Verwaltung und ihres Rechts46
  • Die nationale Geſtalt des inneren Verwaltungsrechts und die vergleichende Rechtswiſſenſchaft51
  • Das Syſtem der inneren Verwaltung. Erſter Theil. Die innere Verwaltung und das perſönliche Leben. A. Die Verwaltung und das phyſiſche Leben56
  • I. Das Bevölkerungsweſen57
  • Begriff und Syſtem57
  • A. Die Statiſtik und das Zählungsweſen58
  • I. Der Begriff der adminiſtrativen Statiſtik. (Die Lehre von der Wiſſenſchaft der Thatſachen) 58
  • II. Das Zählungsweſen60
  • B. Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung63
  • Begriff und Weſen63
  • I. Die öffentlich-rechtliche Bevölkerungsordnung64
  • Begriff64
  • a) Die adminiſtrative Competenz und Zuſtändigkeit65
  • b) Competenz und Zuſtändigkeit in der Selbſtverwaltung. Ge - meindeangehörigkeit und Heimathsrecht66
  • II. Die Standesregiſter68
  • III. Das Paß - und Fremdenweſen70
  • C. Die Bevölkerungspolitik73
  • I. Das öffentliche Eherecht73
  • II. Das Einwanderungsweſen76
  • III. Das Auswanderungsweſen78
  • II. Das öffentliche Geſundheitsweſen81
  • Begriff81
  • Entwicklung der Geſetzgebung und der Organiſation des Geſundheits - weſens bis zur Gegenwart83
  • A. Das Sanitätsweſen85
  • Begriff85
  • I. Die Sanitätspolizei85
  • a) Die Seuchenpolizei86
  • b) Die Geſundheitspolizei87
  • XI
  • Seite
  • II. Die Geſundheitspflege88
  • B. Das Heilweſen (Medicinalweſen) 90
  • I. Der Heilungsberuf90
  • a) Die Aerzte und ihr Berufsrecht90
  • b) Das Apothekerweſen92
  • c) Hebammenweſen92
  • d) Heildiener93
  • II. Die Heilanſtalten93
  • a) Hoſpitäler und Armenärzte93
  • b) Das Irrenweſen94
  • c) Gebär - und Ammenanſtalten94
  • d) Geſundbäder95
  • III. Das Polizeiweſen95
  • Hiſtoriſche Grundlage95
  • Begriff und Elemente des Syſtems97
  • A. Die Sicherheitspolizei99
  • Begriff und Rechtsprincip99
  • I. Die höhere Sicherheitspolizei100
  • II. Die Einzelpolizei102
  • B. Die Verwaltungspolizei103
  • I. Begriff und Syſtem103
  • II. Rechtsprincip. Die Polizeiſtrafgeſetze104
  • IV. Das Pflegſchaftsweſen106
  • B. Die Verwaltung und das geiſtige Leben. (Das Bildungsweſen) 107
  • Begriff und Bildung des Bildungsweſens107
  • Geſchichtliche Epochen des Bildungsweſens109
  • Das neunzehnte Jahrhundert und ſein Bildungsweſen112
  • 1) Das Syſtem des Bildungsweſens112
  • 2) Das Recht und die Geſetzgebung des Bildungsweſens113
  • 3) Principien des Organismus des Bildungsweſens114
  • Charakter des Bildungsweſens in England, Frankreich und Deutſchland116
  • A. Das Elementar - oder Volksſchulweſen117
  • Begriff und Elemente der Geſchichte117
  • Syſtem des Volksſchulweſens119
  • I. Die Schulordnung119
  • II. Das Lehrerweſen121
  • III. Die Schulverwaltung121
  • a) Organismus der Volksſchulverwaltung122
  • b) Die Gemeinde und die Schullaſt123
  • c) Das Privatſchulweſen124
  • B. Das Berufsbildungsweſen125
  • Begriff und Princip125
  • Elemente der Geſchichte126
  • XII
  • Seite
  • Das Syſtem des Berufsbildungsweſens129
  • a) Die gelehrte Berufsbildung129
  • b) Die wirthſchaftliche Berufsbildung130
  • c) Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen130
  • Das Berufsbildungsrecht131
  • a) Die Lehrordnung132
  • b) Das Prüfungsſyſtem133
  • C. Die allgemeine Bildung134
  • Weſen und Syſtem derſelben134
  • I. Die Sittenpolizei135
  • II. Die Bildungsanſtalten136
  • III. Die Preſſe136
  • Zweiter Theil. Die Verwaltung und das wirthſchaftliche Leben. Begriff und Weſen140
  • Die geſchichtliche Entwicklung derſelben141
  • Die Elemente des Syſtems und des Organismus derſelben142
  • Allgemeiner Theil. Elemente des Syſtems144
  • Erſtes Gebiet. Die Entwährung144
  • Weſen und Syſtem144
  • I. Die Entlaſtungen145
  • II. Die Enteignung148
  • III. Das Staatsnothrecht150
  • Zweites Gebiet. Die Verwaltung und die Elemente150
  • Begriff und Weſen150
  • I. Die Feuerpolizei151
  • Weſen. Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung151
  • Syſtem der Feuerpolizei152
  • II. Das Waſſerrecht153
  • Begriff und Syſtem153
  • Elemente der Geſchichte des Waſſerrechts154
  • A. Das Privatwaſſerrecht157
  • B. Das öffentliche Waſſerrecht159
  • Begriff und Weſen159
  • a) Der Waſſerſchutz und Waſſerbau160
  • b) Die Waſſerverſorgung161
  • c) Die Waſſertriebkraft161
  • d) Die Waſſerverkehrswege162
  • e) Das Waſſerrecht der Landwirthſchaft163
  • III. Das Schadenverſicherungsweſen165
  • Begriff und hiſtoriſche Entwicklung165
  • A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt169
  • XIII
  • Seite
  • B. Grundlagen des öffentlichen Rechts des Verſicherungsweſens170
  • I. Der Verſicherungsvertrag171
  • II. Die Verſicherungsverwaltung171
  • Drittes Gebiet. Das Verkehrsweſen173
  • Begriff173
  • I. Die Elemente des Syſtems174
  • II. Das Princip des Verkehrsweſens und ſeine hiſtoriſche Entwick - lung aus der Regalität175
  • III. Das öffentliche und das bürgerliche Verwaltungsrecht des Ver - kehrsweſens177
  • Erſter Theil. Die Verkehrsmittel und die Verwaltung178
  • I. Das Wege - und Bauweſen178
  • Begriff und Syſtem178
  • A. Das Landwegeweſen179
  • Elemente ſeiner Rechtsgeſchichte179
  • Das Syſtem des Wege - und Bauweſens und ſeines Rechts182
  • a) Das öffentliche Bauweſen182
  • b) Das eigentliche Wegeweſen184
  • 1) Die Organiſation184
  • 2) Die Wegeordnung184
  • 3) Die Wegelaſt185
  • B. Waſſerwege186
  • II. Das Schifffahrtsweſen188
  • Begriff und Elemente der Geſchichte188
  • A. Seerecht. Weſen und Gebiete191
  • B. Die Schifffahrtsverwaltung in Schutz und Förderung192
  • Zweiter Theil. Die Verkehrsanſtalten. Begriff und Weſen der drei Grundformen194
  • I. Das Poſtweſen197
  • Natur ſeiner Funktion und Elemente ſeiner Geſchichte197
  • A. Die Poſtverwaltung200
  • 1) Organismus der Poſtverwaltung200
  • 2) Organiſation des Betriebes202
  • 3) Das Portoſyſtem203
  • B. Das Poſtrecht205
  • Begriff205
  • Syſtem des Poſtrechts. Zwangsrecht, Poſtpflicht, Poſtſtrafrecht, Poſtnothrecht206
  • II. Das Eiſenbahnweſen208
  • Natur ſeiner Funktion208
  • Die rechtsbildenden Elemente des Eiſenbahnweſens209
  • Die Elemente der Geſchichte des Bahnweſens210
  • Syſtem211
  • XIV
  • Seite
  • 1) Organiſation des Bahnweſens214
  • 2) Conceſſionsrecht der Eiſenbahnen215
  • 3) Betriebsrecht217
  • 4) Verkehrsrecht219
  • III. Oeffentliche Dampfſchifffahrt221
  • IV. Das Telegraphenweſen222
  • Dritter Theil. Das Umlaufsweſen. Begriff und Inhalt224
  • A. Der Güterumlauf. Maß - und Gewichtsweſen225
  • B. Der Werthumlauf. Das Geldweſen229
  • Begriff und Inhalt229
  • I. Das Münzweſen231
  • II. Das Währungsweſen236
  • III. Das Papiergeldweſen239
  • IV. Das Inhaberpapier242
  • Vierter Theil. Das Creditweſen. Begriff und Weſen des Credits244
  • Das wirthſchaftliche und das öffentliche Creditweſen246
  • a) Der Organismus des wirthſchaftlichen Creditweſens246
  • b) Princip und Organe des öffentlichen Creditweſens247
  • c) Elemente der Geſchichte der Organiſation des Credits250
  • A. Perſonal-Creditweſen252
  • a) Der Darlehenscredit und die Zins - und Wuchergeſetze253
  • b) Der Pfandcredit, die Pfand - und Leihhäuſer257
  • B. Das Real-Creditweſen259
  • Begriff259
  • I. Das Grundbuchsweſen260
  • Unterſchied vom Pfandrecht260
  • Princip und Begriff des Grundbuchsweſens261
  • Elemente der Geſchichte des Grundbuchsweſens262
  • Syſtem266
  • 1) Organismus der Grundbuchsverwaltung266
  • 2) Grundbuchs-Ordnung267
  • 3) Die Grundbuchsführung269
  • 4) Das Grundbuchsrecht272
  • a) Die Priorität273
  • b) Die Specialität274
  • c) Die Legalität274
  • d) Publicität276
  • II. Die Realcredit-Anſtalten277
  • Begriff und Weſen277
  • Der Realcredit-Verein279
  • a) Princip und Syſtem deſſelben279
  • b) Die Arten der Realcredit-Vereine281
  • c) Oeffentliches Recht der Realcredit-Vereine283
  • XV
  • Seite
  • C. Der Geſchäftscredit284
  • Wirthſchaftlicher Begriff284
  • Das Princip des Verwaltungsrechts des Geſchäftscredits285
  • Die drei Grundformen des Geſchäftscredits: der Zahlungs -, Unter - nehmungs und Vorſchußcredit286
  • I. Der Zahlungscredit und ſeine öffentlich-rechtliche Ordnung288
  • 1) Der kaufmänniſche Credit und die Handelsbücher288
  • 2) Das Zahlungsweſen der Bankhäuſer und das Wechſelrecht288
  • 3) Das Vereinsweſen des Zahlungscredits. Das Bankweſen290
  • Begriff und Rechtsprincip290
  • a) Das Bankweſen als Organismus des reinen Zahlungs - credits. Volkswirthſchaftliche Funktion der Notenbank291
  • b) Das öffentliche Recht des Bankweſens294
  • II. Der Unternehmungscredit und ſein öffentliches Recht300
  • Wirthſchaftliche Funktion300
  • 1) Das Geſellſchaftsweſen des Unternehmungscredits und die Handelsgeſetzbücher301
  • 2) Der organiſche Unternehmungscredit und die Creditanſtalten303
  • III. Der Vorſchußcredit und die geſellſchaftlichen Creditvereine309
  • Wirthſchaftliche und geſellſchaftliche Funktion309
  • Beſonderer Theil der Volkswirthſchaftspflege311
  • Begriff deſſelben und Princip ſeiner Verwaltung311
  • Elemente der Rechtsgeſchichte des beſondern Theils der volkswirthſchaft - lichen Verwaltung312
  • I. Das Bergweſen und ſein öffentliches Recht314
  • Begriff und Princip314
  • Elemente der Geſchichte des Bergweſens315
  • Syſtem des Bergrechts317
  • II. Das Forſtweſen319
  • Begriff und Princip319
  • Elemente der Geſchichte des Forſtweſens321
  • Syſtem des Forſtrechts322
  • Jagdrecht325
  • Fiſchereiordnung327
  • III. Die Landwirthſchaftspflege327
  • Princip derſelben327
  • Elemente der Geſchichte330
  • Syſtem der Landwirthſchaftspflege332
  • 1) Die Organiſation332
  • 2) Eigentliche Landwirthſchaftspflege333
  • a) Allgemeiner Theil333
  • b) Beſonderer Theil338
  • IV. Das Gewerbeweſen339
  • Begriff und Princip339
  • XVI
  • Seite
  • Elemente der Geſchichte des Gewerberechts341
  • Syſtem des Gewerberechts344
  • a) Organiſation des Gewerbeweſens344
  • b) Allgemeine Gewerbspflege346
  • c) Gewerberecht347
  • I. Die Gewerbeordnung347
  • II. Die Gewerbegerichte348
  • III. Die Gewerbepolizei349
  • IV. Einzelne Gewerbeordnungen und ihre Polizei350
  • V. Die Induſtrie und die Verwaltung351
  • Begriff und Princip351
  • Elemente der Geſchichte352
  • Syſtem des Induſtrieweſens354
  • 1) Organiſation355
  • 2) Allgemeine Verwaltung356
  • 3) Beſonderer Theil357
  • I. Erwerbsgeſellſchaften357
  • II. Die Arbeiterordnung358
  • VI. Der Handel und die Verwaltung363
  • Begriff363
  • Elemente der Geſchichte364
  • Syſtem der Handelsverwaltung368
  • 1) Eigentliche Handelspflege369
  • A. Organismus des Handels369
  • B. Handelsverträge370
  • C. Das Zollweſen371
  • 2) Das Handelsrecht376
  • Begriff, Princip und Inhalt376
  • Handelsrecht und Gericht377
  • 3) Einzelne Handelszweige379
  • VII. Der geiſtige Erwerb382
  • Begriff und Princip. Das Werthrecht der geiſtigen Produkte382
  • 1) Das literariſche Eigenthum und das Nachdrucksrecht384
  • 2) Das Recht der Erfindungen. Begriff und Princip388
  • a) Das Patentrecht389
  • b) Muſter - und Markenſchutz391
  • Dritter Theil. Die Verwaltung und das geſellſchaftliche Leben. Das geſellſchaftliche Leben393
  • Elemente der Geſellſchaftslehre393
  • Begriff der Geſellſchaft393
  • Das Geſellſchaftsrecht396
  • XVII
  • Seite
  • Die beiden Principien in der Geſchichte der Geſellſchaft398
  • Die geſellſchaftliche Verwaltung400
  • Die Principien derſelben400
  • Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung401
  • Erſter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Freiheit402
  • Begriff und Princip402
  • A. Die Familie und das Geſindeweſen403
  • B. Das Geſchlechterrecht405
  • Begriff und Inhalt405
  • Das Geſchlechtererbrecht und die Majorate408
  • C. Das Berufsrecht410
  • Zweiter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Noth411
  • Begriff und Princip411
  • Syſtem und Elemente der Geſchäfte413
  • I. Geſellſchaftliche Polizei der Noth414
  • a) Die Theurungspolizei414
  • b) Bettelpolizei und Arbeitshäuſer417
  • II. Das Armenweſen419
  • Armuth und Armenweſen419
  • Elemente der Geſchichte des Armenweſens421
  • A. Armenverwaltung425
  • Organiſation derſelben425
  • B. Das Armenrecht430
  • C. Das Syſtem der Armenpflege432
  • 1) Die Armenkinderpflege432
  • a) Waiſenpflege432
  • b) Findelkinder433
  • c) Krippen und Warteſchulen434
  • d) Armenſchul - und Armenerziehungsweſen435
  • 2) Das Armenkrankenweſen436
  • a) Hoſpitäler, Taubſtummen -, Blinden - und Irrenan - ſtalten436
  • b) Armenkrankenpflege437
  • 3) Die eigentliche Armenunterſtützung437
  • a) Die Armenbetheilung438
  • b) Verſorgungshäuſer439
  • Dritter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Entwicklung439
  • Begriff der ſocialen Frage439
  • Elemente der Geſchichte der ſocialen Verwaltung442
  • Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung444
  • I. Das Hülfskaſſenweſen. Funktion derſelben446
  • a) Pfand - und Leihanſtalten446
  • b) Die Sparkaſſen447
  • XVIII
  • Seite
  • II. Das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen (Prévoyance mutuelle, Friendly societies) 449
  • III. Die Selbſthülfe und ihr Vereinsweſen453
  • Princip453
  • Syſtem454
  • a) Arbeitervereine454
  • b) Arbeiterverbindungen456
[1]

Einleitung. Begriff der Inneren Verwaltung und der Vollziehenden Gewalt.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 1[2][3]

Die Innere Verwaltung.

Einleitung.

Je weiter die Geſittung unſerer Zeit fortſchreitet, um ſo klarer wird die Bedeutung des Satzes, daß wir im Weſentlichen die Epoche der Verfaſſungsbildung überwunden haben, und daß der Schwerpunkt der weiteren Entwicklung in der Verwaltung liegt. Nicht als ob die Verfaſſung dadurch ihre Bedeutung verlöre, ſondern weil wir durch die Verfaſſung zur Verwaltung gelangen.

Es ſcheint daher eine der großen Aufgaben der nächſten Zukunft zu ſein, dieſe Verwaltung nicht bloß auszubilden, ſondern ſie mit ihren Principien und ihren Gebieten zu einem inwohnenden, ſtets lebendigen Theile des öffentlichen Lebens zu machen. Während man bisher ge - fordert hat, daß jeder Staatsbürger ein Bewußtſein von der Verfaſſung ſeines Staats haben müſſe, werden wir in Zukunft ſagen, daß die wahre Berechtigung zur Theilnahme am öffentlichen Leben mindeſtens eben ſo ſehr in einem klaren Bewußtſein von der Verwaltung, ihren Grundſätzen, ihren Aufgaben und ihrem Recht liegt. Das wird zwar nur langſam ein Theil der öffentlichen Meinung werden, aber unſere Zeit lebt raſch und arbeitet unaufhaltſam vorwärts.

So behaupten wir denn, daß es keine fertige ſtaatliche Bildung gibt, wenn ſie nicht die Lehre von der Verwaltung mit gleichem Recht neben die der Verfaſſung ſtellt. Ja wir behaupten, daß die Verwal - tungslehre die Pandekten der Staatswiſſenſchaft ſind, und für dieſe Pandekten ſoll das vorliegende Syſtem die Stelle der Inſtitutionen vertreten.

Allein ſoll das erreicht werden, ſo muß man für die Verwaltung anerkennen, was für alle Theile der menſchlichen Erkenntniß gilt. Der Theil empfängt ſein Weſen und ſein Verſtändniß durch das Ganze. Dieß Ganze iſt der lebendige Staat, wie er ſich mit ſeinen abſolut organiſchen Elementen durch die großen Faktoren von Land und Volk,4 Wirthſchaft und Geſellſchaft zu ſeinen hundertfach verſchiedenen indivi - duellen Geſtaltungen hiſtoriſch ausgebildet hat. Die künftige Verwal - tungslehre wird dieſe Grundlage vorausſetzen können, wenn man ſich darüber einig geworden ſein wird; wir können es bis jetzt noch nicht. Die Inſtitutionen des Verwaltungsrechts werden daher nothwendig die erſten Elemente der Lehre vom Staat mit in ſich aufnehmen müſſen, um die erſte Bedingung richtigen Verſtändniſſes, den organiſchen Zu - ſammenhang mit dem Ganzen des Staatslebens auf jedem Punkte in lebendigem Bewußtſein auf ſich zu nehmen. So wird ſie die Wahrheit auch des Satzes beweiſen, daß zuletzt ſtets der Beweis für die Richtig - keit des Einzelnen nicht in ihm, ſondern in ſeinem Zuſammenhange mit dem Ganzen beſteht.

Das große Verbindungsglied zwiſchen der Idee des Staats und der Verwaltung überhaupt, im beſondern der innern Verwaltung, iſt nun der Begriff und der Inhalt der vollziehenden Gewalt. Sie iſt der große ſelbſtändige Organismus, durch welchen die Grundſätze der Verfaſſung in die Verwaltung übergehen. Denn in jedem Punkte der Verwaltung erzeugt die Verfaſſung das Geſetz derſelben, die vollziehende Gewalt aber ihre Ausführung. So tritt uns in Verfaſſung, Vollziehung und Verwaltung der lebendige Staat entgegen. Und dieß darzulegen, iſt die Aufgabe dieſer Inſtitutionen des Verwaltungsrechts.

Wir dürfen eine Bemerkung vorauf ſenden. Nachdem in der zweiten Auflage der vollziehenden Gewalt (3. Bd.) der Stoff mit ziemlicher Reichhaltig - keit gegeben iſt und die erſten Gebiete der inneren Verwaltung (Bd. 2 bis 7) ausführlich behandelt ſind, ſo haben wir die vollziehende Gewalt nur in ganz kurzer Ueberſicht hier mit aufgenommen, und die erſten Gebiete der Verwaltung gleichfalls in möglichſter Gedrängtheit dargeſtellt. Das Mißverhältniß zwiſchen den ſpätern noch nicht ausführlich behandelten und jenen erſten Theilen dürfte dadurch erklärt und motivirt erſcheinen.

Der organiſche Staatsbegriff.

I. Der Staat und ſeine organiſchen Grundbegriffe.

Die Gemeinſchaft der Einzelnen iſt ein durch das Weſen der ein - zelnen Perſönlichkeit ſelbſt gegebenes Moment derſelben. Als ſolches, nicht durch den Willen und die Willkür, ſondern durch den Begriff der Einzelnen ſelbſt geſetztes Leben wird ſie ſelbſt zur Perſönlichkeit. Und dieſe zur ſelbſtändigen, ſelbſtbewußten und ſelbſtthätigen Perſön - lichkeit erhobene Gemeinſchaft iſt der Staat.

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Als Perſönlichkeit beſitzt er die Elemente alles perſönlichen Daſeins. Er iſt zuerſt ein thatſächliches Daſein; als ſolches beſteht er aus Körper und Seele. Er iſt aber zweitens ein ſelbſtbeſtimmtes Weſen. Seine Selbſtbeſtimmung beruht daher auf den drei Elementen, welche den Inhalt derſelben überhaupt bilden. Er hat ſein Ich, ſeinen bewußten Willen und ſeine That. Er iſt aber darum die höhere Form der Per - ſönlichkeit, weil in ihm dieſe drei Elemente zu ſelbſtändigen, von ein - ander geſchieden erkennbaren und wirkenden Organismen werden.

Auf der Scheidung dieſer Organismen beruht ihre ſelbſtändige Funktion. Jeder derſelben hat ſeine Aufgabe. Das Zuſammenwirken derſelben bildet das, was wir das Staatsleben nennen. Ein geord - netes Staatsleben iſt dasjenige, in welchem jedes Organ nur ſeine Funktionen vollzieht. Unorganiſch wird daſſelbe, wenn ein Organ die Funktion des andern übernimmt. Der Staat hat daher ſeine Geſund - heit und ſeine Krankheit. Verſtändlich werden beide erſt durch den organiſchen Staatsbegriff. Dieſer aber iſt nichts anderes, als die Auf - löſung des Begriffs der Perſönlichkeit und ſeines Inhalts. Klar wird dieſe Auflöſung, ſo wie wir jene Elemente mit dem Namen bezeichnen, den ſie im Staate haben.

Der Körper des Staats iſt das Land. Die Verſchiedenheit des Landes iſt eben ſo wichtig für den Staat, wie die Verſchiedenheit des Körpers für den Menſchen. Die Beſchreibung des Landes iſt die Geo - graphie; die höhere Auffaſſung des Landes würde die Phyſiologie des Staatslebens ergeben.

Die Seele des Staates iſt ſein Volk. Die Beſchreibung des Volkes iſt die Ethnographie. Die Völkerlehre faßt die Beſonderheit des Volkes vom höheren Standpunkt als ſtaatbildenden Faktor auf. Sie kann nur mit dem geiſtigen Auge erſchaut werden.

In Land und Volk hat der Staat ſeine Individualität. Beide wirken beſtändig, aber gegenſeitig auf einander ein. Das Verſtändniß dieſer gegenſeitigen Einwirkung bildet den Beginn und die Grundlage alles Verſtändniſſes der Entwicklung und Geſtalt des Staats. Aus ihrer nie ruhenden Wechſelwirkung entſteht das, was wir das natür - liche Leben des Staats nennen. Eine ſolche individuelle Geſtalt ſeines natürlichen Lebens hat jeder Staat. Man kann durch daſſelbe nicht alles, aber ohne daſſelbe im wirklichen Staat nichts vollſtändig erklären und verſtehen.

Dieſem natürlichen ſteht das perſönliche Leben des Staats gegenüber.

Sein erſtes Organ iſt das Staatsoberhaupt. Seine Funktion iſt es, die perſönliche Einheit aller Momente des Staats darzuſtellen6 und in einem perſönlichen Daſein und Willen zu vertreten. Es iſt das Ich des Staats. Es kann kein Staat ohne ein ſolches ſelbſtändiges Oberhaupt ſein; denn in ihm iſt der Punkt gegeben, in welchem das Leben des Staats, ſich über alle Beſonderheit und alle Intereſſen er - hebend, ſeine höchſte perſönliche Einheit fühlt und zur Geltung bringt.

Das zweite Organ iſt das des Staatswillens.

Wie der Staat an ſich zuerſt die Einheit einzelner Perſönlichkeiten iſt, ſo kann der Staatswille auch zuerſt der rein perſönliche Wille des Staatsoberhaupts ſein. Allein da jede einzelne Perſönlichkeit zugleich ihrem Weſen nach ſelbſtbeſtimmt iſt, ſo iſt der Wille des Staats ſo lange ein unorganiſcher, als dieß Moment der individuellen Selbſt - beſtimmung nicht in den Staatswillen aufgenommen iſt. Die Aner - kennung dieſer Selbſtbeſtimmung des Einzelnen innerhalb der Einheit des Staats nennen wir die Freiheit. Der Staatswille iſt daher erſt dann ein organiſcher, wenn er ein freier iſt. Die Aufnahme der indi - viduellen Selbſtbeſtimmung in den perſönlichen Willen des Staats fordert einen Organismus, und die Bildung des einheitlichen Willens aus der Selbſtbeſtimmung aller Einzelnen iſt nothwendig ein Proceß. Jenen Organismus demnach, der vermöge dieſes Proceſſes den freien Staatswillen bildet, nennen wir die Verfaſſung. Einen Staats - willen hat jeder Staat; aber zum freien Staatswillen gelangt er erſt nach einer langen, unter den härteſten Entwicklungskämpfen vor ſich gehenden Arbeit der Geſchichte. Dieſer Entwicklungskampf iſt die Ge - ſchichte der Freiheit; die Erkenntniß, daß auch hier große Geſetze walten, und das Verſtändniß dieſer Geſetze bildet die Wiſſenſchaft dieſer Geſchichte.

Das dritte Organ iſt das der That des Staats.

Die That des Staats entſteht, indem der in der Verfaſſung organiſch gebildete Wille deſſelben ſich in den thatſächlichen Lebensver - hältniſſen verwirklicht. Dieſe nun ſind in Land und Volk, Wirthſchaft und Geſellſchaft verſchieden und ewig wechſelnd. Der Wille des Staats dagegen iſt wie jeder Wille, eine Einheit. Zwiſchen dieſen beiden großen Faktoren, der Beſonderheit des thatſächlichen Daſeins, das den Staat erfüllt, und der Einheit ſeines Willens, welche jene beherrſcht, beſteht daher ein beſtändiger, nie ruhender Kampf, in welchem ſich gegenſeitig beide Elemente im Dienſte der höchſten Idee der perſönlichen Entwicklung mit oder ohne Bewußtſein gegenſeitig erfüllen, erſetzen und der Zukunft entgegendrängen. Und dieſer wunderbare Proceß des Werdens, dieſe [ch]ſte Form des Kampfes zwiſchen Natur und Perſön - lichkeit, iſt das Leben des Staats. Sein Verſtändniß aber, auf das organiſche Verſtändniß der einzelnen ihn beſtimmenden Faktoren zurück -7 geführt, iſt die Geſchichte. Nur die Menſchheit hat in ihrem Staate eine Geſchichte, denn nur für das perſönliche, nicht für das natürliche Daſein gibt es eine Zeit, wie es nur für ſie ein Maß gibt. Das alles nun aber gilt nicht bloß für den Staat im Ganzen, ſondern zugleich und das iſt der Reichthum des menſchlichen Lebens für jeden einzelnen Theil deſſelben. Der Theil, von dem hier die Rede iſt, iſt die Verwaltung.

II. Der organiſche Begriff und Inhalt der Verwaltung.

Die Verwaltung iſt daher, ihrem allgemeinen Begriffe nach, das - jenige Gebiet des organiſchen Staatslebens, in welchem der Wille des perſönlichen Staats durch die That der dazu beſtimmten Organe in den natürlichen und perſönlichen Lebenselementen des Staats verwirk - licht wird. Wie die Geſetzgebung der wollende, ſo iſt die Verwal - tung der thätige Staat.

In dieſem Sinne entwickelt der Begriff der Verwaltung ſeine beiden Seiten. Er iſt, wie jede That, zuerſt ein formaler, ſyſte - matiſch darzulegender Organismus, und dann das, was wir einen organiſchen Faktor des Lebens der Staaten nennen.

A. Das formale Syſtem der Verwaltung. Es iſt das höhere Weſen des Staats, daß in ihm die, ungeſchieden in der Einzel - perſönlichkeit liegenden Elemente als ſelbſtändige Organe zur Erſcheinung gelangen. So ſcheidet ſich denn in der Verwaltung die That an ſich von der wirklichen Thätigkeit, das iſt die Vollziehung und die eigentliche Verwaltung.

1) Die vollziehende Gewalt. Alle Verwaltung iſt nämlich zuerſt die ſelbſtändig gedachte Funktion der Verwirklichung oder Aus - führung an ſich, noch ohne Rückſicht auf alle die Modifikationen, welche durch die ſpezielle Aufgabe der Ausführung in der wirklichen praktiſchen Thätigkeit entſtehen. Dieſe Funktion erſcheint äußerlich als ein zur Ausführung beſtimmter Organismus; innerlich enthält ſie die Bedin - gungen der Ausführung, d. h. das Recht auf alles, ohne welches die Ausführung nicht möglich iſt. Dieſe ſelbſtändig geſetzte, mit eigenem Organ und eigenem Recht verſehene Funktion der Ausführung des Staatswillens iſt die Vollziehende Gewalt.

2) Die wirkliche Verwaltung im weiteſten Sinne. Der Inhalt der wirklichen Verwaltung entſteht, indem wir zweitens die großen, gleichfalls ſelbſtändig gedachten Lebensgebiete des Staats, welche wir als ſelbſtändige Aufgaben ſowohl für die Geſetzgebung als für die Vollziehung, die Verwaltungsgebiete (und nach ihren8 Verwaltungsorganen des verfaſſungsmäßigen Staates die Miniſterien) nennen, für ſich betrachten.

Aus dem Weſen des Staats ergibt es ſich, daß ſich dieſe Ver - waltungsgebiete in zwei Gruppen theilen. Die erſte bezieht ſich auf die Verhältniſſe des einzelnen Staats zu andern Staaten; die zweite auf ſeine innern Lebensverhältniſſe.

Aus dem Verhältniß zu andern Staaten geht zunächſt die Auf - gabe hervor, den friedlichen Verkehr mit denſelben zu regeln. Dieſer Verkehr iſt entweder ein Verkehr der Staaten als einheitlicher Perſön - lichkeiten, oder ein Verkehr der einzelnen Staatsangehörigen unter - einander. Die Verwaltung der erſteren nennen wir die Verwaltung (Miniſterium) der auswärtigen Angelegenheiten, die der zweiten iſt das Conſulatweſen.

Die Selbſtändigkeit, Ehre und Macht des einzelnen Staates gegen - über dem andern iſt der Gegenſtand der Verwaltung der bewaffneten Macht (des Kriegsminiſteriums).

Das Recht beider Verwaltungsgebiete iſt das Völkerrecht; die Wiſſenſchaft des erſteren iſt die Staatskunſt (Politik), die des zweiten die Kriegswiſſenſchaft.

In den innern Lebensverhältniſſen iſt der erſte Gegenſtand der Verwaltung das wirthſchaftliche Leben des Staats, das wir nach ſeinem Haupttheile die Finanzen, und ihre Verwaltung die Finanzverwal - tung (Finanzminiſterium) nennen. Die Geſammtheit der dafür geltenden Beſtimmungen bildet das Finanzrecht; die Grundſätze, nach welchen dieſe Verwaltung vorzugehen hat, lehrt die Finanzwiſſenſchaft.

Der zweite Gegenſtand iſt die Erhaltung der Unverletzlichkeit der einzelnen Perſönlichkeit im Verkehr mit der andern, oder die Verwirk - lichung des Privatrechts. Die Geſammtheit der dafür geltenden Be - ſtimmungen enthalten das bürgerliche und das Strafrecht. Die Geſammtheit der Regeln, nach welchen die Verwaltung beider Rechts - gebiete vollzogen wird, bildet das Recht des (bürgerlichen und Straf -) Proceſſes; die Wiſſenſchaft deſſelben iſt die Rechtswiſſenſchaft; die wirkliche Verwaltung iſt die Rechtspflege (Juſtizminiſterium).

Das dritte Gebiet des inneren Lebens beruht nun darauf, daß der wirkliche Staat eben in der Geſammtheit ſeiner Angehörigen beſteht, und daß daher der Grad der ganzen perſönlichen Entwicklung jedes Einzelnen zugleich zum Grad und Inhalt der Entwicklung des Staates ſelber wird. Damit wird dann dieſer Fortſchritt jedes Einzelnen zu einer weſentlichen Aufgabe des Ganzen; die darauf bezügliche Thätig - keit des Staats nennen wir die innere Verwaltung, das für dieſelbe geltende Recht das innere Verwaltungsrecht, die Grundſätze,9 nach denen ſie vorzugehen hat, ſind die Verwaltungslehre, und der Organismus heißt im Allgemeinen die Verwaltung des Innern.

3) Auf dieſe Weiſe ergibt ſich nun, daß wie die That an ſich allen einzelnen Thätigkeiten mit ihren organiſchen Grundverhältniſſen zum Grunde liegt, ſo auch die vollziehende Gewalt allen Gebieten der Verwaltung in ihren Principien gleichmäßig angehört, weßhalb wir auch ſagen, daß die vollziehende Gewalt durch alle Miniſterien ge - bildet wird. Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt daher nicht etwa der allgemeine Theil der inneren Verwaltung, ſondern der allge - meine Theil der Verwaltung überhaupt. Wir ſenden ſie aber ſpeziell der inneren Verwaltung voraus, theils weil überhaupt noch eine Darſtellung derſelben mangelt, theils aber weil ſie allerdings erſt in der inneren Verwaltung ihre volle Entwicklung enthält, und auf dieſen Elementen beruht der formale Inhalt des Folgenden.

B. Das organiſche Weſen der Verwaltung. Das nun, was wir das organiſche Weſen der Verwaltung nennen, iſt das Ver - hältniß der letzteren zu dem perſönlichen Willen des Staats, dem Geſetze, den ſie zu verwirklichen beſtimmt iſt. Kein perſönliches Leben vermag mit ſeinem einzelnen beſtimmten Willen ſein ganzes Weſen zum Ausdruck zu bringen. In der wirklichen That erſt geſtaltet ſich der ganze Inhalt ſeines Lebens. Wo ſich daher dieſe That von dem Willen ſelbſtändig ſcheidet, wie in der Verwaltung die That des Staats, da ſcheidet ſich auch das Leben ſelbſt in zwei große Funk - tionen, die ſelbſtthätig neben einander ſtehen. Es kann nicht ge - nügen, daß die Verwaltung bloß den beſtimmten einzelnen Willen des Staats einſeitig ausführe; ſie muß vielmehr, indem ſie das wirkliche Daſein auf allen Punkten in ſich aufnimmt, die Geſetzgebung erfüllen und zum Theil erſetzen. Sie iſt daher nicht ein bloß der Geſetzgebung untergeordnetes Gebiet, ſondern ſie hat vielmehr mit der Geſetzgebung zugleich das allgemeine Weſen des Staats zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Das iſt ihre höhere in keinem einzelnen Punkte erſchöpfte Bedeutung und dieſe kehrt uns in jedem Gebiete ſowohl der vollziehenden Gewalt und ihres Organismus, als der Verwaltung und ihrer einzelnen Aufgaben, am meiſten gerade in der inneren Verwaltung, wieder. In dieſem Geiſte muß die Verwal - tungslehre arbeiten; dadurch iſt ſie jeder höheren Entwicklung unfähig, ſo lange ſie ſich nicht eben dieſes Weſen des Staats zur klaren An - ſchauung bringt, und jeden ihrer Theile damit durchdringt; und erſt in dieſem Sinne iſt ſie das wichtigſte und mächtigſte Gebiet nicht etwa der poſitiven Kenntniß der beſtehenden Ordnungen, ſondern ſie iſt die praktiſche Vollendung der Staatswiſſenſchaft.

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III. Begriff, Geſchichte und Vergleichung des Verwaltungsrechts.

Während nun ſomit der organiſche Begriff des Staats ſich aus dem Weſen deſſelben entwickelt, enthält das Recht die zweite Grund - form des Daſeins der letzteren. Es iſt deßhalb nothwendig, zu wiſſen, was eigentlich das Recht des Staats überhaupt, und das Recht der Verwaltung im Beſondern bedeuten.

A. Begriff und Elemente des öffentlichen Rechts, wie des Verwaltungsrechts im Beſondern. Das Recht iſt formell die unverletzliche Gränze eines perſönlichen Daſeins gegenüber dem an - dern. Es beruht darauf, daß die Perſönlichkeit ihr eigenes Weſen zur äußeren Erſcheinung bringt; die Selbſtbeſtimmung der Perſönlich - keit an ſich wird damit zur Unverletzlichkeit ihrer Erſcheinung für an - dere. Will ich daher erkennen, was durch das Recht geſchützt iſt, ſo muß ich fragen, was durch die Perſönlichkeit geworden iſt. Das Recht alſo, indem es für jeden Theil und jede Bethätigung dieſes werdenden Lebens der Perſönlichkeit gilt, enthält die concrete Geſtalt dieſes Le - bens der letzteren, und zwar nicht mehr als einen philoſophiſchen Ge - danken, ſondern als eine objektive Thatſache für den Andern. Erſt in dem Rechte iſt die eine Perſönlichkeit für die andere als Ganzes und in ihren einzelnen Lebensverhältniſſen als ſolche vorhanden.

Daraus folgt, daß jedes Recht nur für die wirkliche Perſönlichkeit, nicht für die Natur und auch nicht für den Geiſt da iſt. Es folgt ferner, daß der Inhalt je des beſtimmten Rechts ſtets ein dem Weſen der Perſönlichkeit entſpringendes Verhältniß ſein muß; denn nur das Perſönliche kann die einzelne Perſönlichkeit begränzen. Es folgt mit - hin endlich, daß, wenn ich das Recht begreifen will, ich daſſelbe in ſeiner Quelle, dem perſönlichen Leben begreifen muß. Bleibt das Recht bei der Kenntniß ſeiner einzelnen Sätze ſtehen, ſo entſteht die Rechts - kunde. Erhebt es ſich dazu, dieſe einzelnen Rechtsſätze als organiſche Folgen des Weſens der Perſönlichkeit zu erkennen, ſo entſteht die Rechtswiſſenſchaft.

Der Staat nun iſt die perſönliche Einheit aller einzelnen Perſön - lichkeiten. Als ſolche muß er die Selbſtändigkeit der letzteren beſtim - men. Dadurch entſteht eine Gränze für beide, aus dem Weſen beider entſpringend, welche das ganze Staatsleben durchdringt, weil es eben aus der Einheit und Selbſtändigkeit aller in ihm entſpringt. Und die Geſammtheit aller daraus folgenden Rechtsſätze nennen wir das öffent - liche Recht, im Gegenſatze zum Privatrecht, das aus den Berüh - rungen des Einzelnen mit dem Einzelnen entſpringt. Das öffentliche11 Recht enthält daher die Geſammtheit der Begränzungen der Einzelnen durch ihre Einheit mit der Perſönlichkeit des Staats.

Da nun der Staat ein organiſches Weſen iſt, ſo folgt, daß jedes ſeiner organiſchen Elemente wieder ſein eigenes Recht hat.

So entſteht der Begriff des Syſtems des öffentlichen Rechts, das wir das Staatsrecht nennen, indem es das Recht der Perſön - lichkeit des Staats iſt. Das Staatsrecht enthält daher das Recht des Staatsoberhaupts, das Recht der Verfaſſung und das Recht der Ver - waltung, und innerhalb des letzteren das Recht der vollziehenden Ge - walt und der eigentlichen Verwaltung. Und auch hier wieder iſt es klar, daß die Rechtskunde die Kenntniß der poſitiv beſtehenden Rechts - normen iſt, während die Rechtswiſſenſchaft dieſelben aus dem Weſen des Staats entwickelt. Die Wiſſenſchaft des Verwaltungs - rechts zeigt daher das Recht der Verwaltung im weiteſten Sinne als Conſequenz und Bedingung der Funktionen, welche wir die Verwaltung nennen; die Wiſſenſchaft des Verwaltungsrechts iſt daher keine ſelb - ſtändige Wiſſenſchaft, ſondern das Correlat der Verwaltungslehre die Verwaltung als rechtlich anerkannte Thatſache neben der Verwaltung als organiſche Funktion. Dieß ſind die formalen Grundbegriffe des Rechtsſyſtems; und es ergibt ſich ſomit, daß es kein eigenes Rechts - ſyſtem der Verwaltung geben kann, ſondern daß das Rechtsſyſtem der - ſelben mit ihrem organiſchen Syſtem identiſch iſt und ſein muß.

B. Die Elemente der Rechtsgeſchichte. Das Eine, was bei dieſer Auffaſſung ungelöst bleibt, iſt nun die Frage nach dem Wechſel des Rechts. Der allgemeine Begriff des Werdens aller Perſönlichkeit, alſo auch des Staats, erklärt zwar die Verſchiedenheit, nicht aber den Inhalt deſſelben. Von allen Gebieten des Rechts wechſelt aber das Verwaltungsrecht am meiſten. Hier am wenigſten reichen daher Rechts - kunde und Rechtswiſſenſchaft aus. Erſt die zur Wiſſenſchaft erhobene Geſchichte des Rechts gibt das Verſtändniß dieſes zum Theil höchſt intereſſanten Wechſels von Erſcheinungen, welche das ganze Leben der Rechtsbildung in der Verwaltung durchdringen.

Die Grundlage dieſer Wiſſenſchaft, die hier vorausgeſetzt werden muß, iſt nun die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft.

Die Geſellſchaft hat drei große Grundformen, die ſich in der ganzen Welt wiederholen, oft in der wechſelndſten Weiſe verbunden und ver - mengt ſind, oft in den ſtärkſten Kämpfen einander entgegentreten. Die erſte dieſer Formen iſt die Geſchlechterordnung, deren Lebens - princip die Einheit der Menſchen unter einander auf Grundlage der gemeinſamen Abſtammung iſt; die zweite iſt die ſtändiſche Ordnung, in welcher die Gemeinſchaft des Berufes die Grundlage und der Zweck12 der Einheit iſt. Die dritte iſt die ſtaatsbürgerliche Ordnung, deren Princip die Gleichheit und Freiheit des Einzelnen innerhalb der Einheit iſt.

Jede dieſer Geſellſchaftsordnungen erzeugt nun eine ihr angehörige Geſtalt des Lebens aller Menſchen; mit dieſer Geſtalt auch das ihr entſprechende Recht; jede Geſellſchaftsordnung hat daher das ihrem Weſen entſprechende Staatsrecht, das iſt ihr Recht des Oberhaupts, ihre Verfaſſung und ihre Verwaltung, wie es andererſeits nicht minder feſtſteht, daß jede Geſellſchaftsordnung auch ihr Privatrecht erzeugt. Die Geſchichte der Geſellſchaft wird damit zur Grundlage auch der Ge - ſchichte der Verwaltung und ihres Rechts, und der leitende Grundſatz für die Entwicklung der Rechtsgeſchichte der Verwaltung iſt daher der, daß alles poſitive Recht der letzteren auf die herrſchende Geſellſchafts - ordnung, aller Wechſel und alles Werden des Rechts auf den Kampf und die Entwicklung derſelben zurückgeführt werden muß. Dieſer Kampf oder dieſer Lebensproceß der Geſellſchaft aber, oder das Werden der einen Ordnung aus der andern, beruht wieder auf dem Zuſammen - wirken dreier großer Faktoren.

Der erſte dieſer drei Faktoren iſt der arbeitende Geiſt ſelbſt, deſſen Ergebniſſe uns als die Rechtsphiloſophie erſcheinen. Der zweite iſt die Natur des gewerblichen Beſitzes. Der dritte iſt die zum Bewußtſein ihres Weſens gelangende Idee des Staats; die Perſön - lichkeit des Staats, die erkennt, daß das Maß und die Kraft ihrer Entwicklung in dem Maß und der Kraft der Entwicklung aller der Einzelnen gegeben iſt, welche eben die Gemeinſchaft bilden. So ent - ſteht in jedem Rechtsgebiet im Staate im Allgemeinen, aber zugleich in jedem Verwaltungsgebiet im Beſondern ein Leben, in welchem die Idee des Rechts das Gerechte, το δικαιον mit dem poſitiven, durch die beſtehende Geſellſchaftsordnung geſetzen Rechte kämpft, und ſich gegenüber den geſellſchaftlichen Ordnungen ihre Anerkennung und Geltung zu erzwingen ſucht. Dieſe Bewegung iſt der größte organiſche Proceß, den die Welt kennt. Es iſt der Entwick - lungsproceß, in welchem der Geiſt ſich durch ſeine eigene Arbeit zur Herrſchaft über das thatſächliche Daſein erhebt. Das iſt das wahre und ewige Leben der Erde, und die Geſchichte dieſes gewaltigen, alle vergangenen Jahrtauſende umfaſſenden und alle kommenden erfüllenden Proceſſes iſt die Weltgeſchichte. Und indem die Verwaltungslehre dieſe höchſten Geſichtspunkte in ſich verarbeitet, wird ſie das, was ſie ſein ſoll, nicht ein beſchränktes Gebiet der praktiſchen Bildung, ſondern eine beſtimmte Geſtalt der höchſten Wiſſenſchaft des menſchlichen Lebens überhaupt. Und erſt darin wird ſie ihre Vollendung finden.

13

C. Dem vergleichenden Verwaltungsrecht liegt nun die Thatſache zu Grunde, daß jedes Volk und Land jene großen Elemente der poſitiven Rechtsbildung in ſeiner Weiſe beſitzt und entwickelt, und dadurch der Verwaltung im Ganzen und den einzelnen Gebieten der - ſelben ihre nationale und ſtaatliche Individualität gibt. Erſt in dieſer individuellen Verſchiedenheit des an ſich Gleichen erſcheint der wahre, unerſchöpfliche Reichthum des Lebens der Welt, und wir können unbe - dingt ſagen, daß derſelbe nirgends größer iſt, als gerade auf dem Ge - biete der Verwaltung und ihres Rechts. Das vergleichende Verwal - tungsrecht enthält nun zuerſt die formale Vergleichung, als ver - gleichende Rechtskunde, in dem bloßen Nebeneinanderſtellen der geltenden Verſchiedenheiten, das ſeinerſeits nur den Werth hat, das Material für die wahre Vergleichung zu bieten. Dieſe oder die organiſche Vergleichung iſt die Darſtellung der poſitiven Verſchiedenheiten des gel - tenden Rechts der Verwaltung als Ausdruck und Conſequenz des Charakters und Lebens des Volkes, für welche es gilt und durch welche es gebildet iſt. Ihre Grundlage iſt das Studium der wirth - ſchaftlichen, geſellſchaftlichen und politiſchen Zuſtände des Landes einer - ſeits und des Volkscharakters andererſeits; ihre Vollendung iſt das organiſche und lebendige Bild des innern Staatslebens Europas. Die Hauptformen deſſelben ſind und bleiben die drei großen Culturvölker unſeres Welttheils, England, Frankreich und Deutſchland mit ihrer tiefen Gleichartigkeit in den Elementen und ihrer oft ſchlagen - den Verſchiedenheit in der wirklichen Geſtalt ihres Rechts Englands, wo das rechtlich freie und gleiche Individuum die Gewalt der Regie - rung zu wenig; Frankreichs, wo der Glanz der centralen Staatsent - wicklung der Regierung zu viel Gewalt gegeben hat, und Deutſchlands, das, mit ſeinen ſelbſtändigen Staaten und Stämmen eine Welt für ſich, in der Wiſſenſchaft die Harmonie zwiſchen beiden Grundformen geſucht und in der Geſetzgebung ſie zum Theil auch gefunden hat. Die übrigen Völker reihen ſich mehr oder weniger klar an dieſe Grund - formen an; es mag daher im Beginne der Wiſſenſchaft genügen, die Vergleichung bei jenen drei Hauptvölkern ſtehen zu laſſen. Und damit ſind dann die Elemente des Folgenden angedeutet, welches auf Grund - lage des wiſſenſchaftlichen Syſtems die Geſchichte und das poſitive Recht der Verwaltung darlegen und vergleichen wird, zuerſt für die voll - ziehende Gewalt und dann für das Syſtem der inneren Ver - waltung.

[14]

Die vollziehende Gewalt.

Begriff und Weſen.

Die vollziehende Gewalt iſt demnach die, vermöge der höher ent wickelten Perſönlichkeit des Staats ſelbſtändig erſcheinende, mit eigenem Organismus und eigenem Recht verſehene That des Staats, deren Inhalt eben die Verwaltung iſt. Sie iſt als ſolche die große, den ganzen Staat durchziehende, auf jedem Punkte thätige Vermittlung zwiſchen dem Willen des Staats und ſeinen wirklichen, natürlichen und perſönlichen Zuſtänden. Sie kommt in allen Gebieten des Staatslebens beſtändig zur Erſcheinung; allerdings aber tritt ſie in der inneren Ver - waltung bei weitem am deutlichſten hervor, ſo daß die letztere ohne ſie nie ganz erkannt werden kann. Von ihr als von einem ſelbſtän - digen Theile der Staatswiſſenſchaft iſt daher auszugehen.

Die Lehre von der vollziehenden Gewalt zerfällt in den allgemeinen Theil mit der Darſtellung der Vollzugsgewalten, der Organiſa - tion und dem Recht derſelben, und den beſondern mit der Anwen - dung dieſer Grundbegriffe auf die drei Grundformen der Regierung, der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens.

Allgemeiner Theil.

I. Die Vollzugsgewalten und die Staatsgewalt.

Die Grundlage der Lehre von der vollziehenden Gewalt ſind einzelne Momente derſelben, welche wir die Vollzugsgewalten nennen. Dieſe Momente ſind nichts, als die Auflöſung des abſtrakten Begriffes der That in die einzelnen Momente, deren Vorhandenſein die Bedingung jeder Thätigkeit iſt, und die nur im Staate ſelbſtändig zur Erſcheinung gelangen. Das erſte iſt der auf die Thätigkeit ſelbſt ge - richtete ſelbſtändige Wille, den wir als Willen der vollziehenden Gewalt die Verordnung nennen, von der ſich wieder die Verfügung ſcheidet als der Vollzugswille der niederen Organe. Das zweite iſt die15 Herſtellung der für dieſe Thätigkeit nothwendigen Organe der voll - ziehenden Gewalt. Das dritte iſt die Anwendung der äußeren wirk - lichen Macht, um die Ausführung ſowohl gegen die Natur als gegen den Willen der Einzelnen zu verwirklichen, der Zwang. Alle Voll - ziehung enthält daher die drei Momente der Verordnung und Ver - fügung mit ihren Unterarten, der Organiſation und des Zwanges. Als Inhalt der vollziehenden Gewalt nennen wir ſie die Verordnungs -, Organiſations - und Zwangsgewalt; als dem Staate immanente Ge - walten bilden ſie wieder ein Ganzes, und heißen in dieſem Sinne die Staatsgewalt. Sie ſtehen alle jedem Vollziehungsorgane des Staates bis zu einem gewiſſen Grade zu; ihre Vertheilung und Geſtaltung aber beruht zunächſt auf dem Organismus der vollziehenden Gewalt.

II. Die organiſchen Grundformen der vollziehenden Gewalt.

Wie der Begriff der vollziehenden Gewalt, ſo gehen auch die Grundformen derſelben aus dem Weſen des Staats hervor; denn ſie haben eben dieſes Weſen ſelbſt im thätigen Leben deſſelben zur Ver - wirklichung zu bringen.

Die vollziehende Gewalt iſt demgemäß wie der Staat ſelbſt, eine perſönliche und einheitliche; und dieſe perſönliche und einheitliche Geſtalt der Vollziehung iſt die Regierung. Sie iſt aber zugleich eine Ein - heit von ſelbſtändigen Perſönlichkeiten; und indem die Thätigkeit der letzteren mitwirkend in die Vollziehung aufgenommen wird, entſteht die freie Verwaltung. Die freie Verwaltung hat wieder zwei Grund - formen, die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen, beide mit eigener Grundlage und eigenem Wirkungskreis. Aus Regierung, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen beſteht daher der Organismus der vollziehenden Gewalt in allen Staaten und zu allen Zeiten.

Allerdings aber iſt ſowohl jedes dieſer Organe für ſich, als ihr Verhältniß zu einander in den verſchiedenen Zeiten ſehr verſchieden, und damit auch das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht, das ſie alle zugleich umfaßt. Die nähere Betrachtung dieſer Verhältniſſe ergibt, daß gerade in dieſer Verſchiedenheit ein weſentliches Element der In - dividualität der Staaten und Völker liegt; der große Zug der Geſammtentwicklung bildet dann das, was wir die Geſchichte des innern Staatrechts nennen. Je weiter aber die organiſche Entwicklung geht, um ſo klarer tritt jedes Gebiet für ſich hervor; und durch die ſelbſtän - dige Behandlung aller dieſer Theile für ſich, in dem gemeinſamen Grundbegriffe des Staats zuſammengefaßt, entſteht das, was wir das Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts nennen.

16

III. Das Recht der Vollzugsgewalt und ſeine Entwicklung zum verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrecht.

Für dieſen Begriff und Organismus der vollziehenden Gewalt erſcheint nun das Recht überhaupt dadurch, daß die Vollziehung faktiſch das ganze Leben des Staats mit ihren Organen durchdringt, ihrem Weſen nach aber dennoch nur ein Theil des Staatslebens iſt. Das Recht der Vollzugsgewalt iſt daher die durch die organiſche Natur des Staats geſetzte Gränze für die erſtere: das allgemeinſte Princip dieſes Rechts beruht darauf, daß die That dem Willen untergeordnet ſein ſoll. Der Wille des Staats aber iſt das Geſetz. Wir ſagen daher, daß das Princip des Rechts der vollziehenden Gewalt die Unterordnung deſſelben in Verordnung, Organiſation und Zwang unter das Geſetz iſt, ſo weit eben ein Geſetz vorhanden iſt; daß aber die vollziehende Gewalt das Geſetz da zu erſetzen hat, wo es nothwendig iſt und dennoch fehlt. Dieß ſind die Grundlagen des Rechts der vollziehenden Gewalt.

Die hohe Bedeutung dieſes Rechtsprincips beruht nun darauf, daß ohne daſſelbe der Wille von der That, und das Ganze des Staats von ſeinen einzelnen Organen beherrſcht und damit unfrei wird. Die Grundlage der wahren Freiheit eines Staates iſt daher das richtige, auf ſtrenger rechtlicher Baſis hergeſtellte Verhältniß zwi - ſchen Geſetzgebung und Vollziehung. Nun iſt die Vollziehung zu allen Zeiten beſtimmt und lebendig vorhanden geweſen. Allein es hat Jahr - tauſende gedauert, bis man Begriff und Recht des Geſetzes von der - ſelben zu ſcheiden und dieſen Unterſchied als den Unterſchied der beiden großen rechtlichen Kategorien des Geſetzes und der Verordnung beſtimmt hat. Dieſer Unterſchied liegt im ganzen Staatsleben der Verfaſſungs - mäßigkeit zum Grunde; durch ihn erſt iſt auch der Begriff des ver - faſſungsmäßigen Verwaltungsrechts möglich. Die Geſchichte des letzteren iſt daher die Geſchichte des ſich zur klaren und bewußten Geltung er - hebenden Begriffes und Rechts des Geſetzes. Dieſe nun, und mit ihr das Rechtsprincip der Verwaltung, hat drei große Stadien oder Grundformen.

Urſprünglich fallen Geſetz und Verordnung in dem perſönlichen Willen des Staatsoberhaupts zuſammen; das iſt, jede Verordnung iſt Geſetz. Die Folge iſt, da der Geſetzgeber unverantwortlich und das Geſetz abſolut iſt, daß die vollziehende Gewalt als geſetzgebende auf jedem Punkte das ganze Staatsleben beherrſcht. Und da nun die - ſelbe nothwendig eine perſönliche iſt, ſo iſt damit der ganze Staat dem perſönlichen Willen des Staatsoberhaupts unterworfen, das iſt, unfrei. Dieſen Zuſtand nennen wir die abſolute Monarchie; iſt der Wille17 des Staatsoberhaupts ein willkürlicher, ſo reden wir vom Deſpotis - mus; iſt ſeine Abſicht eine auf die Entwicklung des Volks gerichtete, ſo entſteht der aufgeklärte Deſpotismus will er nur die Herrſchaft als ſolche, ſo entſteht die Tyrannis; nie aber iſt dieſer Zuſtand ein freier. Seine Heimath iſt der Orient. Durch ihn gehen mit der Frei - heit der Einzelnen die Völker und Staaten als Ganzes zu Grunde.

Den Gegenſatz dazu bildet dasjenige ſtaatliche Princip, nach wel - chem wieder die vollziehende Gewalt unſelbſtändig iſt, und die Geſetz - gebung, durch die Geſammtheit des Volkes gebildet, ſelbſt die Voll - ziehung übernimmt. Hier wird jedes Geſetz zugleich Verordnung. Die Folge iſt, daß die Vollziehung zu nichts berechtigt iſt, als was das Geſetz ausdrücklich vorgeſchrieben hat, und daß daher zwar die Freiheit gewahrt iſt, aber die Entwicklung des wirklichen Lebens ſtill ſteht. Die weitere Folge aber beſteht dann in der Herrſchaft der In - tereſſen über die Geſetzgebung; es entſteht die Verwaltung der Majorität der Intereſſen und damit die Hemmung der freien geſellſchaftlichen Bewegung. Dieſen Zuſtand nennen wir die Republik; die Herrſchaft der Mächtigen über die Unmächtigen im Namen ihrer Intereſſen die Claſſenherrſchaft; der Kampf der unterworfenen Claſſe gegen die herrſchende iſt der Bürgerkrieg; die Folge iſt die Auf - löſung der Freiheit durch denſelben. Ihr Typus iſt die alte Welt der Griechen und Römer; durch ſie iſt der Begriff und das Recht des Ge - ſetzes entſtanden, aber das der freien Vollziehung untergegangen; auch ſie vermag nicht, ein Verwaltungsrecht zu bilden.

Erſt die germaniſche Welt ſcheidet nun feſt und beſtimmt im Princip, wenn auch langſam und unter den härteſten Kämpfen, die Geſetzgebung von der Vollziehung. Sie trägt das Princip der Bildung des Staatslebens durch die organiſirte Geſammtheit der Staatsbürger von Anfang an in ſich; aber ſie ſtellt das der ſelbſtändigen Staats - gewalt im Königthum daneben hin. So liegt in ihr von Anfang an der Keim des Begriffes vom Geſetz als Wille des Volkes im Unterſchiede vom Begriff der Verordnung als Wille des Königs. Jahrhunderte hindurch vermag nun auch dieſe Welt wieder in ihrem Königthum den Begriff und das Recht des Staatsoberhaupts von dem der auch ihm gegenüber ſelbſtändigen Gewalt nicht zu ſcheiden; der öffentlich rechtliche Charakter der Geſchlechter - und der Ständeordnung iſt eben dieſe Vermiſchung des Staatsoberhaupts und ſeiner Vollziehung; und dieſe Vermengung hat zur Folge, daß das Princip der Unverant - wortlichkeit, das im unabweisbaren Weſen des Staatsoberhaupts liegt, die Bildung eines eigentlichen, freien Verwaltungsrechts und die Klärung über das Verhältniß zwiſchen Geſetz und Verordnung nicht zuläßt. ErſtStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 218in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt dieſe Scheidung ein. Erſt hier entſteht die Selbſtändigkeit der geſetzgebenden Gewalt in den Kammern, und die der vollziehenden Gewalt in den Miniſterien, wäh - rend das Staatsoberhaupt über beiden ſteht, und jetzt iſt daher auch ein Verwaltungsrecht als das Recht dieſer drei Faktoren in Beziehung auf Wille und That des Staats möglich und nothwendig. Allerdings muß ſich zu dem Ende zuerſt die Selbſtändigkeit und das Recht des Geſetzes ausbilden; der rechtliche Begriff des Geſetzes iſt das große Kriterium des Beginnens dieſer Epoche, oder des durch die Volksver - tretung unter Zuſtimmung des Staatsoberhaupts zu Stande gekommenen Staatswillens. So wie aber dieſer feſtſteht, ſchließt ſich daran die Bildung des Verwaltungsrechts als des Rechts der ſelbſtändigen Verordnung gegenüber dem Geſetze; und dieſes Recht iſt es, welches wir das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht nennen. Natürlich beſteht auch dieſes zuerſt nur im Princip. Seine Entwicklung empfängt es, indem es klar wird, daß für die vollziehende Gewalt die bloße Ausführung der beſtehenden Geſetze nicht genügen kann, ſondern daß ſie eine, faſt auf allen Punkten über daſſelbe hinausgehende, das Geſetz erfüllende und zum Theil erſetzende Funktion hat. Mit dieſer Erkenntniß iſt dann die zweite gegeben, daß die Vollzugsgewalt auch in dieſer ihrer ſelbſtändigen Funktion in Harmonie mit dem Geſetze ſtehen muß. Daraus entſteht ein Proceß, der dieſe Harmonie auf jedem Punkte des Staatslebens erhält und wieder herſtellt, wenn ſie geſtört iſt. So wie dieſer Proceß nun ſeinerſeits wieder in feſte rechtliche Form gebracht wird, entſteht daraus das Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts. Dieſes Syſtem aber ſchließt ſich naturgemäß an die einzelnen Vollzugsgewalten der Vollziehung an, und ſo entſtehen die elementaren Principien deſſelben, nach dem Weſen und dem Begriff der Verordnung, der Organiſation und des Zwanges geordnet.

Das oberſte Princip dieſes verfaſſungsmäßigen Verwaltungs - rechts iſt demnach, daß die Verordnung nie mit dem Geſetze im Widerſpruche ſtehen darf, ſo weit ein ſolches da iſt. Wo ſie es dennoch thut, wird dieſe Unterordnung hergeſtellt durch die Klage gegen die ungeſetzliche Verordnung; ſteht aber die Verfügung mit der Verordnung im Widerſpruch, ſo entſteht die Beſchwerde. Beide ſind abſolute verfaſſungsmäßige Rechte der Staatsbürger. Wo aber die Verordnung über das Geſetz hinausgeht, weil es mangelt, da tritt die Verantwortlichkeit der Vollzugsgewalt ein, durch welche die Har - monie des Willens und der That deſſelben nicht mehr mit dem Wort - laut, ſondern mit dem Geiſte der Geſetzgebung hergeſtellt wird. Das iſt das verfaſſungsmäßige Verordnungsrecht.

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Das zweite Princip iſt das Recht der Organiſation, nach welchem jede Funktion nur zu demjenigen berechtigt iſt, wozu es durch die Organiſation beſtimmt war. Das Recht nennen wir die Competenz. Die Aufrechthaltung der Competenz wird gleichfalls durch Klage und Beſchwerde geſichert; ſie ſelbſt bildet das zweite Element der verfaſſungs - mäßigen Ordnung.

Das dritte Princip iſt dasjenige, nach welchem der Zwang ſeine rechtliche Grenze findet. Die Herſtellung dieſer rechtlichen Grenze ge - ſchieht durch das Princip der individuellen Haftung der vollziehenden Organe, die durch Klage zur Geltung gelangt. Die Entwicklung des - ſelben bildet das verfaſſungsmäßige Zwangsrecht.

Die Geſammtheit dieſer Grundſätze des öffentlichen Rechts bildet nun das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht. Die Entwick - lung deſſelben zu einem ausgebildeten Syſteme iſt aber nur dann möglich, wenn man daſſelbe wieder auf die drei Grundformen der voll - ziehenden Gewalt, die Regierung, die Selbſtverwaltung und das Ver - einsweſen anwendet, indem die beſondere Natur jeder derſelben dieſem verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrecht wieder ſeine Geſtalt gibt. Damit entſteht der Inhalt der letzteren, von welchem allerdings jeder Theil wieder ſein Recht, ſeine Ordnung und ſeine Geſchichte hat. Das nun bildet ſomit den beſondern Theil des verfaſſungsmäßigen Ver - waltungsrechts.

Beſonderer Theil.

A. Die Regierung und das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht.

I. Begriff und Organismus der Regierung. Das Staatsoberhaupt und die Regierung im eigentlichen Sinne.

Die Regierung iſt die perſönliche Geſtalt der vollziehenden Gewalt, und damit die Vertreterin der Perſönlichkeit des Staats in ſeiner That.

Die Regierung beſteht daher aus zwei Elementen, dem Staats - oberhaupt, das zugleich das Haupt der geſetzgebenden Gewalt iſt, und der eigentlichen Regierung, die den perſönlichen Organis - mus der vollziehenden Gewalt enthält. Auf dem Unterſchied ihrer Funktionen beruht zunächſt der Unterſchied ihrer Organiſation, dann der Unterſchied ihres Rechts; auf der Verbindung und Einheit beider die formale Natur und das Weſen der Vollziehung.

I. Das Staatsoberhaupt, an ſich das perſönliche Haupt der20 Vollziehung, urſprünglich nur in der allein herrſchenden Perſon des Königs beſtehend, entwickelt in den höher gebildeten Staaten einen ſelbſtändigen, ihm angehörigen Organismus, deſſen einzelne Theile ſpecifiſche Funktionen und Rechte auch für die Vollziehung haben.

Das Cabinet und der Hof ſind für den perſönlichen Dienſt des Staatsoberhaupts beſtimmt, jenes für die perſönlichen Thätigkeiten, dieſer für die perſönlichen Bedürfniſſe deſſelben.

Die Staatswürden ſind die organiſirte Vertretung der Würde und Ehre des Staats; das Königthum als Haupt der Staatswürden iſt die Krone.

Das Heer iſt die organiſirte phyſiſche Macht des Staats. Es iſt daher unfähig, einem andern als dem einheitlichen perſönlichen Willen des Staatsoberhaupts zu dienen.

Der Staatsrath iſt ſeinem Weſen nach, in ſeiner Scheidung vom Miniſterrath, das berathende Organ für die Funktion des Königs in Geſetzgebung und Vollziehung; in der Wirklichkeit iſt er in den ver - ſchiedenen Ländern ſehr verſchieden organiſirt und berechtigt, ſo daß ſehr verſchiedene Dinge unter dieſem Namen zuſammengefaßt werden.

II. Während das Staatsoberhaupt die Vollziehung als individuellen Willen enthält, enthält die Regierung im eigentlichen Sinne dieſelbe als ein Syſtem von Thätigkeiten, in welchem jede große Aufgabe des Staats ſich durch die Mannichfaltigkeit ihrer Objekte zu einem ſyſtema - tiſchen Organismus entfaltet.

Der Grundbegriff iſt der des Amts; das Amt iſt das einzelne, mit ſelbſtändiger Competenz zur Vollziehung einer beſtimmten Aufgabe vom Staatsoberhaupt oder in ſeinem Namen eingeſetzte, und im Namen des Staats thätige Organ.

Das Syſtem der Aemter zerfällt in die beiden Grundformen des Miniſterial - und des Behördenſyſtems.

Das Miniſterialſyſtem iſt die perſönliche Organiſirung der (fünf) großen Verwaltungsgebiete. Der Miniſter iſt die perſönliche Spitze; die Geſammtheit der Miniſter bildet das Geſammtminiſterium, das im Miniſterrath als Ganzes thätig iſt. Erſt im Syſtem der Mi - niſterien ſcheidet ſich formell die vollziehende Gewalt von der geſetz - gebenden; und erſt dadurch wird das Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts zur Wirklichkeit.

Das Behördenſyſtem entſteht theils durch die beſondere Natur der Verwaltungsaufgaben an ſich, theils durch die Anforderungen der örtlichen Verhältniſſe. In erſterer Beziehung ſchließt es ſich an die allgemeine Entwicklung des ſtaatlichen Lebens an, und ſchreitet mit ihr vor und zurück; in zweiter Beziehung ſchließt es ſich an die Beſonder -21 heiten von Land und Volk, und iſt ein anderes in Gebirgsländern, in Ebenen, in Küſtenländern, in den Städten und auf dem Lande. Hier erſcheint die Individualität der Staaten wieder in ihrer vollen Bedeutung, die im Miniſterialſyſtem mehr und mehr durch die Gleich - artigkeit der ſtaatlichen Entwicklung verwiſcht wird.

Mit allen dieſen Organen wirkt nun die Regierung gleichzeitig, das Gleiche in den verſchiedenſten Formen und Verhältniſſen wollend und vollziehend, Wir müſſen daher die Funktion dieſes Organismus ſelbſtändig betrachten, da ſie dem Rechte deſſelben zum Grunde liegt.

II. Die Funktion der Regierung.

Die Funktion der Regierung iſt ihrem Begriff nach einfach die Vollziehung des Staatswillens. Allein dieſe Funktion ſelbſt iſt an das Syſtem der Organe derſelben nach der Natur derſelben vertheilt.

Das Staatsoberhaupt macht durch ſeine perſönliche Zuſtim - mung den Willen der Regierung zum Staatswillen. Die Voll - ziehungsrechte, welche es unabhängig von der Regierung ausübt, bilden die Prärogative der Krone. Das Rechtsprincip in ſeinem Ver - hältniß zur Regierung iſt, daß ohne ſeine Zuſtimmung kein Wille der letzteren gültig iſt, und daß deßhalb vermöge dieſer Zuſtimmung jeder Vollzugsakt in jedem Gebiete der Verwaltung in ſeinem Namen aus - geübt wird.

Für die Regierung ſelbſt theilt ſich dann die vollziehende Funktion nach dem Miniſterial - und dem Behördenſyſtem.

Die Miniſterien haben die eigentliche Verordnungs - und Or - ganiſationsgewalt. Aus ihrem Verhältniß zum Staatswillen gehen die drei Arten der Verordnungen hervor, welche der Anwendung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts zum Grunde liegen.

Die Beſtimmung für die Vollziehung der beſtimmt vorliegenden Geſetze bildet die Vollzugsverordnung.

Wo ein Geſetz mangelt, aber das Bedürfniß nach einer höchſten Beſtimmung vorliegt, entſteht die Verwaltungsverordnung.

Wo eine wahre Gefahr die Ausübung eines Geſetzes unausführbar oder gefährlich macht, kann die Nothverordnung das Geſetz ſus - pendiren, und den Willen der vollziehenden Gewalt zeitweilig an ſeine Stelle ſetzen.

Die Behörden dagegen haben nur die Verfügungs - und Zwangsgewalt.

Die Verfügung kann nur den ausführenden Willen einer Ver - ordnung enthalten. Es gibt daher Vollzugsverfügungen, Verwaltungs -22 Verfügungen, welche den Mangel einer beſtimmten Verordnung er - ſetzen und Nothverfügungen, welche im Falle der Gefahr die Verord - nung ſuſpendiren. Ein Geſetz kann durch keine Verfügung ſuſpendirt, wohl aber kann in der Noth eine mangelnde geſetzliche Beſtimmung durch eine Verfügung erſetzt werden.

Der Zwang iſt die Anwendung phyſiſcher Mittel gegen den Widerſtand des Einzelnen. Dieſe Mittel ſind dreifacher Natur.

Sie ſind zuerſt Ordnungsſtrafen, welche von der Behörde gegen den Ungehorſam auferlegt und nach den Regeln der gerichtlichen Exekution eingetrieben werden.

Zweitens beſtehen ſie in der Drohung, daß die Verfügung im Falle des Ungehorſams auf Gefahr und Koſten des Betreffenden aus - geführt werde.

Drittens ſind ſie wirklicher Zwang. Für den Vollzug des Zwangs beſtehen eigene Organe, theils in den eigenen Dienern der Behörde, theils in dem ſelbſtändigen Organismus der Gendarmerie. Die letztere beſitzt ihre eigene Organiſation und eigene Vollzugsvorſchriften (In - ſtruktionen ꝛc.). Das Verhältniß derſelben zu den Behörden iſt weſentlich verſchieden, je nachdem ſie eine ſelbſtändige Thätigkeit als Organe der Sicherheitspolizei entfalten, oder nur die Vollziehungsorgane der Be - hörden ſind.

Die Geſammtheit aller, die Ordnung des Zwanges betreffenden Beſtimmungen und Organe nennt man auch wohl die Polizei. Name und Stellung der Polizei ſind weſentlich hiſtoriſch. Es wäre beſſer, dieſelbe ſtrenge auf die Sicherheitspolizei zu beſchränken.

Dieß ſind die elementaren Funktionen der Regierung; an ſie ſchließt ſich das Recht derſelben.

III. Das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht.

Das Regierungsrecht überhaupt iſt ſeinem Begriffe nach das Recht, welches aus der obigen Funktion der Regierung in ihrem Verhältniß theils zu den übrigen Elementen des Staats, theils zum Rechte des Staats - bürgerthums entſteht. Das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht iſt dieß Recht, in ſofern es aus der in der Volksvertretung gegebenen Scheidung der geſetzgebenden Gewalt von der vollziehenden hervorgeht. Es iſt klar, daß das erſtere allerdings ſeinem Weſen und Begriff nach immer beſteht, daß aber erſt die Selbſtändigkeit der Geſetzgebung das - ſelbe im letzteren zu einem klaren und praktiſchen Rechtsſyſtem ent - wickeln kann.

Alles Regierungsrecht beruht darauf, daß der Wille und die23 That deſſelben, da ſie ſelbſtändig neben der Geſetzgebung daſtehen, auch mit dem Inhalt der letzteren in Widerſpruch gerathen können. Da nun das Geſetz der höchſte Wille des Staats iſt, ſo folgt, daß das Princip jenes Rechts die Herſtellung der Harmonie zwiſchen Geſetz - gebung und Vollziehung ſein muß. Die Verwirklichung dieſes Princips hat nun nach der Organiſation der Funktionen der Regierung drei Grundformen.

Das Staatsoberhaupt iſt unverantwortlich. Denn die Be - dingung der Geltung ſeines Willens iſt die Zuſtimmung der Miniſter; dieſe Zuſtimmung macht dann die letzteren für den Willen des Ober - haupts verantwortlich. Wo ſie in beſtimmten Fällen nicht nöthig iſt, da hat jener Wille dadurch an und für ſich d[as]Recht des höchſten Staats - willens. Das iſt das Rechtsprincip des verfaſſungsmäßigen König - thums.

Für die Regierung dagegen gelten die beiden Grundrechte der Verantwortlichkeit und der Haftung, ſowohl für das Mini - ſterial - als für das Behördenſyſtem. Nur erſcheinen beide für jedes derſelben in verſchiedener Form.

Das Weſen der Verantwortlichkeit beruht darauf, daß die Geſetze neben ihrem Wortlaut auch einen Geiſt haben, und daß die höhere Natur des Staats eine geiſtige iſt. Die Regierung iſt ver - pflichtet, ſich dieſen Geiſt des Staats, ſowie den der beſondern Geſetze anzueignen, und in ihrer Thätigkeit denſelben in der geſammten Ver - waltung zur Geltung zu bringen. Die Grundlage der Haftung beſteht darin, daß die einzelnen Handlungen der einzelnen Organe der voll - ziehenden Gewalt nicht dem Wortlaut der Geſetze widerſprechen dürfen.

Die Verantwortlichkeit des Miniſterium erſcheint in dem, durch die Abſtimmungen der Volksvertretung gegebenen Urtheil derſelben über die Harmonie zwiſchen dem Geiſt der Verwaltung und dem der Geſetze. Die Verantwortlichkeit der Behörde dagegen erſcheint als die Verpflichtung derſelben, in ihren Verfügungen den Geiſt der Verord - nungen zum Ausdruck zu bringen, und wird verwirklicht durch die Be - ſchwerde gegen jedes Organ in ſeiner Thätigkeit, gerichtet an die höhere Behörde. Das Recht der Beſchwerde iſt daher ein eben ſo ab - ſolutes ſtaatsbürgerliches Recht, als das der Abſtimmung in der Volks - vertretung. Es iſt eine der weſentlichen Bedingungen eines verfaſſungs - mäßigen Regierungsrechts, daß das Beſchwerdeverfahren geſetzlich und gerecht geordnet, und mit dem Disciplinarverfahren im Amts - ſtrafrecht in engſte Verbindung gebracht ſei. Beides fehlt in allen Staaten Europas.

Bei der Haftung des Miniſteriums muß man unterſcheiden. 24Die miniſterielle Haftung tritt da ein, wo eine in der Competenz liegende Vollziehung durch die Verordnung der Miniſter entweder das beſtimmte Geſetz verletzt oder daſſelbe nicht vollzogen hat. Die perſönliche Haftung derſelben tritt bei allen denjenigen einzelnen Thätigkeiten derſelben ein, welche nicht zur Competenz der Miniſter ge - hören. Daſſelbe gilt von der Haftung der Behörden. Nur haben die - ſelben zugleich der höheren Behörde und dem Einzelnen dafür zu haften, daß ihre Verfügungen und Zwangshandlungen einerſeits mit dem Wortlaute der Geſetze, andererſeits mit dem der Verordnungen übereinſtimmen, während perſönliche Haftung nur mit ſolchen Hand - lungen der Behörde zu thun hat, welche ſich nicht auf die amt - liche Competenz beziehen. Die Verwirklichung der Haftung geſchieht durch die Klage. Es ſteht daher der Volksvertretung gegen die Mini - ſterien, und jedem Einzelnen gegen jede Behörde das Klagerecht in jedem Falle zu, wo dieſelben ein geſetzliches Recht durch Verordnung, Verfügung und Zwang verletzen. Das Organ, welches über die Klage entſcheidet, iſt dem Principe nach das Gericht; bei der Klage gegen die Miniſter das Staatsgericht, bei der Klage gegen die Behörde das ordentliche Gericht. Das Verfahren iſt im erſten Falle beſon - ders normirt, im zweiten Falle gilt das gewöhnliche Gerichtsverfahren wie in jedem andern Proceß.

So einfach nun dieſe Grundſätze an ſich ſind, ſo langdauernd und ernſt iſt der Kampf, der ſie zur Geltung bringt. Die hiſtoriſche Ent - wicklung des Staatenlebens hat es mit ſich gebracht, daß von einer Miniſterverantwortlichkeit und Haftung bis zu unſerem Jahrhundert nur in England die Rede ſein konnte, während der Gedanke einer ge - richtlichen Haftung der Behörde auch bis zur Gegenwart nirgends mit Ausnahme Englands zur Geltung gelangt iſt. Der Charakter des jetzt beſtehenden rechtlichen Zuſtandes iſt daher die Verſchmelzung der Verantwortlichkeit und des Klagerechts, welche bei den Miniſtern in Unklarheit über den Begriff der Miniſterverantwortlichkeit, die zugleich die unklar gedachte Haftung derſelben enthält, bei den Behörden in dem Princip der Ausſchließung des Klagerechts durch das Beſchwerde - recht beſteht, ſo weit es ſich um amtliche Funktionen handelt. Die erſten, noch unfertigen Vermittlungsverſuche für beide Auffaſſungen iſt die Einſetzung von Verwaltungsgerichten nach dem Muſter der Conseils de Préfecture; allein man hat gewiß Recht, ſie nur als ein Uebergangsſtadium zu betrachten. Das Weſen und die Würde des Gerichts fordern eben ſo gut als das Recht, daß das Gericht als ſolches entſcheide. Doch gehört ein hoher Grad der Entwicklung des ſtaats - bürgerlichen Lebens dazu, um dieſen Gedanken zur Geltung zu bringen.

25

Dieſen Rechten und Pflichten der Regierung entſpricht nun von Seiten des Einzelnen der Gehorſam, der, in ſofern ſeine Gränzen durch das Geſetz gegeben ſind, der verfaſſungsmäßige Gehorſam iſt. Der Widerſtand iſt an und für ſich ein Unrecht; dagegen iſt das Recht des paſſiven Widerſtandes ein organiſches Recht, und der Ein - zelne haftet dabei ſeinerſeits dafür, daß er zu demſelben berechtigt war oder nicht.

B. Die Selbſtverwaltung.

I. Begriff und Organismus.

Die Selbſtverwaltung iſt die erſte Form, in welcher die Idee der freien Verwaltung als der organiſirten und berechtigten Theilnahme der Staatsbürger an der Funktion der Vollziehung im Allgemeinen, in der Verwaltung im Beſondern zur Verwirklichung gelangt. Sie entſteht dadurch, daß nicht ſo ſehr der freie und ſelbſtthätige Wille des Einzelnen, als vielmehr die Natur gegebener Verhältniſſe jene Theil - nahme erzeugt und nothwendig macht.

Es folgt daraus, daß das Syſtem dieſer Selbſtverwaltung auf dem Syſtem eben dieſer natürlichen Faktoren beruht, welche ſie ſelbſt erzeu - gen. Man muß deßhalb davon ausgehen, daß die Selbſtverwaltung kein einfacher Begriff iſt, und daher auch keine einfache Funktion hat und haben kann; zugleich aber auch, daß ſie wie ihre natürlichen Grund - lagen den ganzen Staat umſchließt, und ſomit ein zweites organiſches Syſtem der Vollziehung neben dem der Regierung bildet, aus deren gegenſeitigen Berührung dann das Recht beider hervorgeht.

Zwei große Gebiete des wirklichen Lebens ſind es nun, mit denen die Vollziehung zu thun hat; und die Selbſtverwaltung hat da - her auch im allgemeinſten Sinne zwei Grundformen. Das erſte Gebiet iſt das der Intereſſen, das zweite iſt das des feſten, begränzten Grundbeſitzes. Die Organiſation der Betheiligung des Staats - bürgerthums an der Vollziehung in Beziehung auf die Intereſſen nen - nen wir die Vertretungen, in Beziehung auf den örtlich begränzten Grundbeſitz die eigentliche Selbſtverwaltung. Jede dieſer Organi - ſationen bildet dann, für ein beſtimmtes Gebiet thätig, das was wir den Selbſtverwaltungskörper nennen.

Die Organiſation aller dieſer Selbſtverwaltungskörper beruht ge - meinſchaftlich auf dem Princip, die Thätigkeit des Einzelnen an den Funktion der Vollziehung zuzulaſſen, während ſie im Ganzen des Staates als ſelbſtändige Organe, in ihren höheren Stufen als ſelbſtändige Perſönlichkeit daſtehen. Die Verwirklichung dieſes Princips geſchieht26 dadurch, daß die Organe dieſer Selbſtverwaltungskörper aus der Wahl ihrer Angehörigen hervorgehen, und daß die ſo gewählten Vertreter das Recht haben, den Willen der Körper zu beſtimmen, und das Recht, dieſen Willen auszuführen. Die Ordnung des erſteren bildet demgemäß ihre Verfaſſung, die Ordnung des zweiten ihre Verwaltung. Ihre perſönliche Einheit aber wird nach außen durch ihr Oberhaupt vertreten, das gleichfalls aus der Wahl derſelben hervorgehen ſoll. Es iſt aber natürlich, daß dieſe allgemeinen Grundſätze je nach der Natur der Selbſtverwaltungskörper eine vielfach verſchiedene Geſtalt annehmen.

Die Vertretungen zunächſt heißen da, wo ſie von dem freien Willen und den Intereſſen der Einzelnen ausgehen, um über die Aufgabe der Vollziehung Wünſche und Forderungen auszuſprechen, Geſuche und Petitionen; da wo die Anſichten einzelner Fachmänner von der Regierung veranlaßt werden, Gutachten; wo ſich alle Betheilig - ten auf Veranlaſſung der Regierung ausſprechen, Vernehmungen (Enquêtes). Wo dagegen dauernde Körper auf Grundlage der Wahl zu dieſem Zweck gebildet werden, entſtehen die Räthe für die Aufgaben der Verwaltung überhaupt, die Kammern für beſtimmte Aufgaben der Volkswirthſchaftspflege. In den höheren Stadien der Selbſtver - waltung gehen die erſteren in amtliche Stellungen, letztere in die freien Vereine über. Die ſtrenge adminiſtrative Organiſirung herrſcht im Syſtem der Conseils in Frankreich, die freiere in den Associations in England; in Deutſchland wirken noch beide neben einander.

Die Selbſtverwaltung im eigentlichen Sinne hat drei, in ſich und ihren Funktionen und Rechten ſehr verſchiedene Körper.

Die Landſchaft iſt die, auf der hiſtoriſchen Staatenbildung be - ruhende, Land und Stamm in ihrer Beſonderheit umfaſſende Selbſt - verwaltung. Ihre weſentliche Bedeutung beruht darauf, daß ſie die Selbſtverwaltung da am kräftigſten vertritt, wo ſie am meiſten gefährdet wird, in ſtreng adminiſtrativ centraliſirten Staaten. Sie hat daher in den verſchiedenen Zeiten und Ländern ein ſehr verſchiedenes Schickſal in Europa gehabt. Ihre dauernde Heimath ſcheint Mitteleuropa zu ſein. Ihre Organiſation iſt unter allen Organen der freien Verwal - tung faſt allein fähig, die Elemente der Geſchlechter - und ſtändiſchen Ordnung dauernd zu erhalten. Eben deßhalb wird ihre Competenz ſich mit der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft faſt von ſelbſt beſchränken.

Die Gemeinde iſt die ausgebildete Organiſation der örtlichen Selbſtverwaltung. Sie iſt daher beſtimmt und fähig, die Grundformen und Organe des Staats für ihr begränztes Gebiet in begränzter Weiſe27 herzuſtellen, und dadurch die großen Principien des verfaſſungsmäßigen Regierungsrechts bei ſich zur Anwendung zu bringen. In dieſem Sinne iſt die Gemeinde die Erzieherin des Einzelnen zum ſtaatsbürger - lichen Leben. Die Gemeinde hat daher ihr Oberhaupt, ihre Verfaſſung und ihre Verwaltung; ſie ſoll wenigſtens die Organe dieſer Funktionen in Bürgermeiſter, Gemeinderath (Magiſtrat) und Gemeindevertretung; ſie ſollte in den Magiſtratsräthen das Analogon der Miniſter haben, um das Syſtem der Verantwortlichkeit und Haftung ausbilden zu können. Eben darum iſt das Gemeindeweſen der Kern aller Selbſtver - waltung, die Gemeinde die Heimath der freien Verwaltung, und ein Volk ohne freie Gemeinde trotz aller freien Verfaſſung ein nicht freies, ſondern adminiſtrativ unfreies Volk. Deßhalb ſagen wir, daß die Ver - faſſung nur der erſte, die freie Verwaltung in der Gemeinde aber der zweite Schritt zur Freiheit des Volkes ſei. Und die Geſchichte des Ge - meindeweſens beweist zu allen Zeiten und in allen Völkern, daß in ihm der Maßſtab der inneren Freiheit gegeben iſt.

So lange nun das Gemeindeweſen allein auf hiſtoriſch entſtandenen Ortsgemeinden beruht, iſt eine organiſch entwickelte Selbſtverwal - tung nicht möglich, weil die Ortsgemeinden bei gleichen Aufgaben und gleichen Rechten ſo verſchieden in Umfang und Kraft ſind, daß der bei weitem größte Theil derſelben unfähig erſcheint, die Organe der Verfaſſung und Verwaltung bei ſich auszubilden. Die Zukunft des Gemeindeweſens liegt daher in der Bildung von Verwaltungsgemein - den, für deren Beſchlüſſe die Ortsgemeinde das vollziehende Organ iſt. Die bisherigen Verſuche der Kreis - und Bezirksgemeinden ſind nur noch der erſte Beginn dieſer höheren Organiſation, da ſie meiſt entweder bloß Rathskörper an der Seite der Beamteten, wie namentlich in Frankreich (Arrondissements und Souspréfets) oder Verbände mit einer einzelnen Aufgabe ſind, wie in England. Deutſchland wird die Arbeit und die Ehre haben, die Verwaltungsgemeinde aus der Orts - gemeinde zu erſchaffen, und damit das wahre Syſtem der Selbſtver - waltung zu verwirklichen.

Die Corporationen endlich ſind Selbſtverwaltungskörper für einen beſtimmten einzelnen Zweck auf Grundlage eines eigenen Ver - mögens. Sie ſind wieder entweder Körperſchaften, welche die ein - heitliche, öffentliche Organiſation einer Berufsthätigkeit enthalten, oder Stiftungen, deren Mittel für einen ſocialen Zweck verwaltet werden. Die Organiſation der erſteren beruht daher meiſtens auf ſtändiſchen Prin - cipien, die des zweiten auf den individuellen Vorſchriften der Stifter. Beide gehen in Staatsanſtalten über, wenn der Staat ihnen für die wachſende Bedeutung ihrer Aufgabe die Mittel aus ſeiner Verwaltung28 geben muß. Daher haben nur wenige unter dieſen Körpern die Fähig - keit, ſich dauernd zu erhalten.

II. Die Funktion der Selbſtverwaltung.

Die Funktion der Selbſtverwaltung iſt ihrem Begriff nach die Uebernahme der Funktion der Regierung, ſoweit die letztere durch be - gränzte Intereſſen und örtliche Verhältniſſe modificirt werden kann. Sie kann daher niemals eine geſetzgebende, und nur ausnahms - weiſe eine verordnende Gewalt beſitzen; ihre Funktion iſt ſtets die der verfügenden Behörde. Und auch dieſe Funktion iſt nach der Ver - ſchiedenheit der Selbſtverwaltungskörper eine weſentlich verſchiedene.

Die Vertretungen kennen, da ſie den Sonderintereſſen innerhalb der Vollzugsthätigkeit der Regierung Ausdruck geben, auch keine ver - fügende, ſondern nur eine berathende Funktion. Nur die eigentlichen Selbſtverwaltungskörper können verfügen, und haben damit auch die Zwangsgewalt (Polizei). Da ſie aber zugleich ſelbſtändig und auch Organe der Einheit des Staats ſind, ſo hat ihre Verfügungs - und Zwangsgewalt einen doppelten Charakter, der dem doppelten Recht derſelben zum Grunde liegt.

Die Geſammtheit der Funktionen nämlich, welche aus der Selb - ſtändigkeit der Selbſtverwaltungskörper hervorgehen, nennen wir den natürlichen oder freien, die Geſammtheit derjenigen, welche aus ihrem organiſchen Verhalten zur Einheit des Staats hervorgehen, den amt - lichen, ſtaatlichen oder übertragenen Wirkungskreis der Selbſtverwaltung. Es iſt klar, daß die Geſetzgebung den letzteren verengern oder erweitern kann; die Beſtimmung deſſelben bildet einen weſentlichen Theil des ge - ſetzlichen Gemeinderechts (Gemeindeordnung oder Gemeindeverfaſſung) und iſt wieder ſehr verſchieden in den verſchiedenen Staaten.

Der Umfang und Inhalt beider Arten der Funktionen iſt nun wieder ein anderer, je nachdem es ſich um Landſchaften, Gemeinden oder Corporationen handelt. Gemeinſchaftlich aber ſind für alle die folgenden Grundſätze.

Die Funktionen der Rechtsverwaltung müſſen ſtets und unbedingt, ſoweit ſie überhaupt der Selbſtverwaltung übergeben werden können, als amtliche angeſehen werden; eben ſo diejenigen, welche dem Heer - weſen angehören.

Die ſtaatswirthſchaftlichen Funktionen ſind amtlich, ſofern ſie die Finanzen betreffen; freie, ſo weit ſie auf die Mittel der eigenen Ver - waltung Bezug haben.

Die Aufgaben der inneren Verwaltung ſind grundſätzlich freie29 Funktionen, ſo weit ſie eine örtliche Begränzung zulaſſen; wo dieſe aufhört, beginnt die ſtaatliche Natur derſelben.

Dieſes Weſen der Funktionen bildet nun die Grundlage des Rechts - ſyſtemes der Selbſtverwaltung.

III. Das Rechtsſyſtem der Verwaltung.

Das Rechtsſyſtem der Selbſtverwaltung beruht darauf, daß dieſe Körper dem Obigen gemäß einerſeits ſelbſtändige Organe der vollziehen - den Gewalt des Staats, andererſeits zugleich organiſche Einheiten ihrer Angehörigen ſind. Die Geſammtheit der Rechtsſätze, welche aus dem erſteren Momente hervorgeht, iſt das öffentliche (ſtaatliche), die - jenige, welche aus dem zweiten Momente folgt, das innere Rechts - ſyſtem der Selbſtverwaltung.

Das öffentliche Rechtsſyſtem der Selbſtverwaltung entſcheidet die Gränze, bis zu welcher die letztere als Glied des ſtaatlichen Organis - mus in Verfügung und Zwang ſelbſtändig iſt.

Das Princip für dieſes Rechtsſyſtem iſt die einfache Conſequenz des Weſens der Verfügung, angewendet auf den Unterſchied zwiſchen freiem und amtlichem Wirkungskreis. Für den erſten geht das Recht auf die freie Verfügung ſo weit, als kein Geſetz und keine Verordnung entgegenſteht; keine Selbſtverwaltung kann zu einer Verfügung ge - zwungen werden, ſondern hat das Recht auf den paſſiven Widerſtand; keine Behörde hat ein Recht zur Verfügung in dem anerkannten Wir - kungskreis der Selbſtverwaltung; gegen die Verordnung hat die letztere das Recht der Klage und Beſchwerde wie jeder Einzelne. Wo dagegen der Wirkungskreis ein amtlicher iſt, haben die Organe der Selbſtver - waltungskörper die Stellung der Behörde, und damit ihre Rechte, nicht aber auch ihre Pflichten, ſpeziell in Beziehung auf den Erlaß von Ver - fügungen und ihrer zwangsweiſen Ausführung. Darum iſt es von praktiſcher Wichtigkeit, den erſteren möglichſt genau zu beſtimmen, weil im Zweifel die Mittelbehörde als berechtigt angeſehen werden muß, ohne Suſpenſiveffekt der Selbſtverwaltung als unterer Vollzugsbehörde Befehle zu geben.

Die drei Grundbegriffe, an denen ſich dieß öffentliche Recht der Selbſtverwaltung verwirklicht, ſind die der juriſtiſchen Perſönlichkeit, der Autonomie und der Oberaufſicht.

1) Die juriſtiſche Perſönlichkeit entſteht, wenn die Gemeinſchaft Einzelner zu einheitlichem Wollen und Handeln vom Staate als Per - ſönlichkeit anerkannt wird. Bis zu dieſer Anerkennung bleibt ſie eine vertragsmäßige Perſönlichkeit. Das Rechtsprincip der juriſtiſchen30 Perſönlichkeit beſteht darin, daß der Inhalt des Rechts der Organe derſelben, die Mitglieder zu verpflichten, bei ihr nicht mehr auf dem Vertrage, ſondern auf dem Weſen der Einheit beruht, welche jene Perſönlichkeit bildet. Je nach dem Inhalt dieſer Einheit unterſcheiden wir nun drei Arten der juriſtiſchen Perſönlichkeit. Die wirthſchaft - liche Perſönlichkeit iſt die für wirthſchaftliche Zwecke gebildete perſön - liche Einheit, die verwaltungsrechtliche diejenige, welche neben dem wirthſchaftlichen Zweck auch Funktionen der vollziehenden Gewalt enthält, für welche ihre materiellen Mittel die Bedingungen enthalten; die ſtaatsrechtliche endlich erſcheint da, wo zu der Theilnahme an der Vollziehung auch eine Theilnahme an der Geſetzgebung in Wahl - recht oder Virilſtimme hinzukommt. Die Selbſtverwaltungskörper ſind ſtets und nothwendig verwaltungsrechtliche, zuweilen auch (Virilſtimmen von Corporationen ꝛc. ) ſtaatsrechtliche Perſönlichkeiten. Das ſpecifiſche Recht ihrer Perſönlichkeit als ſelbſtthätiger Einheit iſt ſtets durch ihr Oberhaupt ausgeübt. Grundſatz: daß wie im Staate nur das als perſönlicher Wille des Selbſtverwaltungskörpers gilt, was die Zuſtim - mung (Unterſchrift) des Hauptes beſitzt.

2) Die Autonomie iſt das Recht der juriſtiſchen Perſönlichkeit, durch ihre Organe Beſchlüſſe zu faſſen und Thätigkeiten mit dem Rechte der vollziehenden Gewalt gegenüber ihrer Angehörigen auszuführen. Auch hier iſt der freie von dem amtlichen Wirkungskreis zu ſcheiden. Aus der Autonomie des erſteren folgt, daß die Beſchlüſſe der Organe das Recht der Verordnung, die Vollzugsthätigkeiten das Recht des öffentlichen Zwanges (der Polizei) haben. Es folgt zweitens, daß die Objekte dieſer Autonomie das Gebiet der autonomen Ver - waltung bilden. Princip der letzteren iſt, daß ſie, wie die Voll - ziehungsgewalt ſelbſt, zunächſt die geſetzlich verſchiedenen Verwaltungs - aufgaben erfüllen muß. Die Geſammtheit der der Autonomie der Selbſtverwaltung überwieſenen Aufgaben bildet ihre Competenz. Das Recht derſelben iſt die Ausſchließung der Verfügungsgewalt der Behörde für das, wozu die Selbſtverwaltung competent iſt; zweitens das Recht, die Mittel dafür durch eigene Beſchlüſſe aufzubringen und zu verwalten; drittens das Recht, über die Verwendung der nach Er - füllung des beſtimmten Zweckes übrig bleibenden Mittel ſelbſtändig zu verfügen. Die Autonomie für den ſtaatlichen Wirkungskreis beſteht jedoch nur darin, die Organe durch eigenen Beſchluß zu beſtimmen, welche die Vorſchriften der Vollzugsorgane auszuführen haben, und die Mittel dafür aufzubringen. Im Uebrigen tritt ganz das Verhältniß einer Behörde ein.

3) Die Oberaufſicht beruht nicht darauf, daß die Autonomie31 etwa das Recht des Einzelnen verletzen könnte; hierfür tritt vielmehr das innere Selbſtverwaltungsrecht ein. Sie iſt die rechtliche Conſe - quenz des Satzes, daß jede Selbſtverwaltung ſtets ein organiſches Glied des Ganzen bleibt; der Inhalt ihres Rechts beſteht demnach darin, die Harmonie zwiſchen der Autonomie in Verfaſſung und Ver - waltung der Selbſtverwaltungskörper mit den Geſetzen der Verwaltung des Staats herzuſtellen. Sie hat daher zuerſt zu ſorgen, daß die Competenz nicht überſchritten werde; ſie hat zu dem Ende das Recht der Kenntnißnahme von den Beſchlüſſen und Vollziehungen der Selbſt - verwaltung; ſie hat das Recht der Siſtirung und der Nichtigkeits - erklärung der Beſchlüſſe und der Auflöſung der Organe, ſtets unter der Haftung der verordnenden Gewalt, und zwar nach den Regeln der Haftung bei den Verordnungen. Hier ſind nun Begriffe und Recht noch ſehr im Werden und ſehr verſchieden in den einzelnen Ländern; es iſt ein weites Gebiet und nur durch eingehende Studien an der Hand feſter Begriffe zu bewältigen.

B. Das innere Rechtsſyſtem der Selbſtverwaltung iſt an ſich ſehr einfach, in der Wirklichkeit aber höchſt unausgebildet. Denn faſt allenthalben fehlt ſeine Grundlage, die klare und bewußte Scheidung der drei Organismen, namentlich der vollziehenden von der beſchließen - den Gewalt in den Gemeinden.

Das Princip dieſes ganzen Rechtsſyſtems iſt kein anderes, als die Anwendung der Grundſätze von Verantwortlichkeit der Vollzugsorgane gegenüber den beſchließenden (Magiſtrat gegenüber der Gemeindever - tretung) und der Haftung derſelben für jeden einzelnen Akt, mit dem ſie das[beſtehe]nde Recht von Geſetz oder Verordnung verletzen. Es gibt daher ein[Beschw]erderecht gegen die ganze Gemeinde ſo wie gegen die einzelnen[O]rgane eben ſo können Gemeinde und Gemeindeorgane vor dem ordentlichen Gerichte gellagt werden. Um das zur vollen Ent - wicklung zu bringen, bedarf es allerdings ſtatt der Ortsgemeinde der Verwaltungsgemeinde, denn nur dieſe iſt fähig, die einzelnen Organe bei ſich zu entwickeln und ihr beſonderes Recht feſtzuſtellen. Hier liegt der Fortſchritt auf dieſem hochwichtigen Gebiete.

Natürlich nun ſind alle dieſe Grundſätze je nach den beſtehenden Geſetzen über Landſchaft, Gemeinde und Corporationen ſehr verſchieden mehr oder weniger im Geiſte einer freieren Bewegung durchgeführt, und mehr oder weniger je nach den einzelnen Ländern noch mit den hiſtoriſchen Grundſätzen des Geſchlechter - und ſtändiſchen Rechts durch - flochten. Die Erklärung des Beſtehenden aus dieſen Grundlagen iſt die Geſchichte der Selbſtverwaltung.

32

C. Das Vereinsweſen.

I. Begriff und Syſtem.

Der Begriff des Vereinsweſens im weiteſten Sinne umfaßt alle Formen, in denen ſich Einzelne zu einem beſtimmten Zweck freiwillig verbinden. Das Vereinsweſen als Theil der vollziehenden Gewalt da - gegen betrifft nur diejenigen Vereinigungen, deren Zweck die Vollziehung irgend einer Aufgabe der Verwaltung durch freie Verbindung von Mitteln und Kräften iſt. Dadurch tritt dieſer Theil des Vereins - weſens nothwendig in den Organismus und das Recht der Verwaltungs - lehre überhaupt und der vollziehenden Gewalt insbeſondere hinein, ſo daß in der That die letztere ohne ſie unvollſtändig erſcheint. Der bis - herige Entwicklungsgang in Geſetzgebung und Literatur macht es aber nothwendig, das ganze Syſtem des Vereinsweſens zu überſehen, um einen feſten Boden für das Vereinsrecht zu finden.

Die unterſten Formen der menſchlichen Vereinigungen entſtehen theils durch das natürliche Element des Geſchlechts in Ehe und Familie, theils durch die einzelnen und vorübergehenden Akte des Verkehrslebens in der Communio und den Verträgen aller Art. Sie gehören beide dem eigentlichen Vereinsweſen nicht an.

Das eigentliche Vereinsweſen beginnt, wenn man in dem Verein die Elemente eines ſelbſtändigen perſönlichen Lebens erkennt, alſo nebſt dem Körper und der Seele das Oberhaupt, den Willen und die That. Erſt auf dieſer Grundlage iſt ein Syſtem des Vereinsweſens möglich. Innerhalb dieſes Syſtems entſtehen dann die Arten der Vereinigungen und Vereine durch den Zweck oder das Objekt, welches ſie ſich ſetzen.

Gemeinſchaften nennen wir diejenigen Formen der Vereini - gung, welche nur durch das materielle Element, den Beſitz, entſtehen, und daher weſentlich einen hiſtoriſchen Charakter haben. Eben dadurch bilden ſie den Uebergang zu den Corporationen.

Verſammlungen ſind diejenigen Vereinigungen, welche nur dazu dienen, eine gemeinſame Anſicht auszuſprechen; ihr Inhalt iſt rein geiſtiger Natur; ſie bilden den Uebergang zu den Vertretungen.

Die Geſellſchaften ſind diejenigen Vereinigungen, die um des Erwerbes ihrer Mitglieder willen entſtanden ſind, und bei denen daher die Vereinigung nur das Mittel für dieſe wirthſchaftlichen Erwerbs - zwecke der Einzelnen ſind. Das ſind die ſtille, die offene und die Commandit-Geſellſchaft.

Die Aktiengeſellſchaften bilden den Uebergang zu den eigent - lichen Vereinen, indem der Zweck ſtets der Erwerb der Geſellſchafter33 iſt, während das Mittel, die Aktie, durch ihr Verhältniß zum Werth und Creditumlauf ſich weit über die Grenzen der urſprünglichen Geſell - ſchafter hinaus erſtreckt. Dadurch wird der Organismus und die Thätigkeit der Geſellſchaft nothwendig Gegenſtand des Verwaltungs - rechts, während der Zweck derſelben ein rein wirthſchaftlicher ſein kann. Iſt aber der Zweck der, vermöge der Ausübung irgend einer Verwaltungsaufgabe einen Erwerb zu erzielen, ſo nehmen ſie als Ver - waltungsvereine den Charakter und damit auch das Recht derſelben an; das Verhältniß der Aktie iſt dann ein Gebiet des wirthſchaftlichen Geſellſchaftsrechts, das Verhältniß der Thätigkeit der Geſellſchaft als Ganzes gehört dem Vereinsweſen.

Die eigentlichen Vereine ſind dann endlich diejenigen Ver - einigungen, deren Zweck die dauernde Ausübung einer Verwaltungs - aufgabe iſt. Die hiſtoriſche Form der Vereine auf Grundlage der Ver - waltung der unbeweglichen wirthſchaftlichen Güter und ihrer Intereſſen iſt dann der Verband (Waſſerverbände, Schulverbände, Wegever - bände ꝛc. ); auf Grundlage der Arbeit und ihrer ſpeziellen Intereſſen erſcheinen die hiſtoriſchen Genoſſenſchaften (Zunft, Innung ꝛc.). Beide werden nun von dem Vereinsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaft ſo weit überragt, daß ſie nur noch in Ausnahmen vorkommen.

Das Princip für das eigentliche ſtaatsbürgerliche Vereins - weſen iſt, daß jedes Gebiet des öffentlichen Lebens Gegenſtand einer dafür beſtimmten dauernden und organiſirten Vereinigung ſein kann. In dem Vereine iſt daher die volle freie Bethätigung der Einzelnen im öffentlichen Leben gegeben, da ſich in ihm die Einzelnen Mittel, Zweck und Organismus ſelbſt ſetzen. Die Bedeutung dieſes Auftretens der Vereine für das Geſammtleben beſteht darin, daß in ihnen ſich die Individualitäten für das öffentliche Leben geltend machen können, die ſonſt mit ihrer Bedeutung keinen Raum gewinnen. In einem freien Staate erfüllt ſich daher das ganze Leben deſſelben mit dem Vereinsweſen; und indem es auf dieſe Weiſe ein Faktor des Geſammt - lebens wird, entſteht die Nothwendigkeit, das in allen Vereinen ge - meinſame Element zu finden und in dieſem das Verhältniß zur Voll - ziehung feſtzuſtellen. Dieſes gemeinſame Element iſt nun das, was wir die organiſchen Grundbegriffe des Vereins nennen, und ohne welche ein Vereinsrecht nicht entwickelt werden kann.

Jeder Verein iſt zuerſt ſeinem Begriffe nach eine juriſtiſche Perſönlichkeit. Es bedarf dazu keiner beſonderen Verleihung des Rechts der letzteren, ſondern nur des durch die Regierung nicht wider - ſprochenen Akts der öffentlichen Conſtituirung deſſelben.

Jeder Verein hat das Element der Geſellſchaft dadurch in ſich,Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 334daß er ein wirthſchaftlicher Körper iſt, der ein Vermögen haben kann, aber eine Einnahme haben muß. Nach der Art wie dieſe Einnahme zuſammenkommt, unterſcheiden wir Beitrags -, Gegenſeitigkeits - und Aktienvereine.

Jeder Verein hat einen einzelnen beſtimmten Zweck; dieſer Zweck iſt zugleich Ausdruck der Thätigkeit des Vereins als Ganzem und Grundlage der Competenz ſeines Vorſtandes nach Innen und Außen.

Jeder Verein hat endlich einen perſönlichen Organismus, das iſt, ein Oberhaupt (Präſidium), einen Organismus der beſchließenden Ge - walt (Generalverſammlung) und der vollziehenden Gewalt (Verwaltungs - rath); das Analogon des Behördenſyſtems ſind ſeine Angeſtellten und Diener. Je klarer dieſe Grundorgane entwickelt ſind, deſto höher ſteht der Verein; jede unklare Verſchmelzung derſelben iſt ein Nachtheil und oft eine Gefahr für den Verein; ohne beſtimmte und bewußte Schei - dung derſelben iſt ein inneres Vereinsrecht nicht möglich.

Alle dieſe Momente ſind allen Vereinen gemein. Die durch den Willen der Mitglieder für jeden einzelnen Verein beſtimmte Ordnung derſelben nennen wir, indem ſie der öffentlichen Conſtituirung zum Grunde gelegt wird, die Statuten. Die Statuten bilden daher das Grundrecht jedes Vereins; ſie enthalten die Baſis für die Anwendung des Vereinsrechts auf jeden einzelnen Verein.

In der weiteren Entwicklung des Vereinslebens ergibt es ſich dann, daß das geſellſchaftliche Princip des Erwerbes der Mitglieder mit dem Vereinsprincip der Förderung der Geſammtentwicklung vielfach ver - bunden wird (Vereine auf Aktien). Damit wird dann aber weder das Weſen noch das Recht des Vereins geändert.

II. Die Vereinsarten als Funktionen des Vereins.

Die Funktionen des Vereinsweſens erſcheinen nun in den Vereins - arten. Die Art des Vereins entſteht durch den Zweck, den ſich der Verein im öffentlichen Leben ſetzt. Mithin iſt das Syſtem der Vereins - arten nichts anderes, als das Syſtem des Geſammtlebens der Menſchen im Staate.

Demnach unterſcheiden wir zunächſt die politiſchen Vereine und die Verwaltungsvereine.

Die politiſchen Vereine oder Verbindungen ſind ſolche, deren Zweck die Entwicklung des Verfaſſungslebens und ſeiner Geſetze iſt. Ihre Vorausſetzung iſt entweder ein tiefer Widerſpruch zwiſchen der beſtehenden Verfaſſung und den Anforderungen des Volkes, oder eine lebendige Entwicklung des inneren Staatsrechts. Im erſten Falle35 erſcheinen ſie allerdings als eine Gefahr für das Beſtehende, und werden daher meiſtens verboten und verfolgt; im zweiten ſind ſie der Ausdruck ihrer Zeit und ein organiſches Element des Fortſchrittes.

Die Verwaltungsvereine, gleichviel ob Aktien -, Beitrags - oder Gegenſeitigkeitsvereine, umfaſſen ihrem Begriffe nach die ganze Ver - waltung, und treten daher in allen denjenigen Gebieten derſelben auf, wo die Natur der Verwaltungsthätigkeit die Hülfe der Einzelnen zuläßt. Während es daher Gebiete gibt, in denen das Vereinsweſen ausge - ſchloſſen iſt, gibt es andere, in denen es neben der Regierung und Selbſtverwaltung auftritt, und wieder andere, in denen nur das Ver - einsweſen die Aufgabe des Geſammtlebens zu erfüllen vermag. So wird in der That erſt durch das Vereinsweſen für die Vollziehung ein wahrhaft vollſtändiges Bild gewonnen.

Die Vereine für das perſönliche Leben theilen ſich in ſolche für die phyſiſche und geiſtige Entwicklung.

Die Vereine für die phyſiſchen Lebensverhältniſſe erſcheinen zum Theil im Bevölkerungsweſen (Einwanderungs - und Auswanderungs - Vereine), zum Theil in der Geſundheitspflege, wo ſie vielfach mit den Hülfs - und Unterſtützungs-Vereinen zuſammenfallen (Kranken-Vereine).

Die Vereine für das geiſtige Leben haben zu ihrem Gegenſtand theils den Bildungsberuf (Leſevereine und ähnliche), theils die Fach - bildung ihrer Mitglieder (Vereine für Fachbildungsanſtalten, Handels - akademien ꝛc., wiſſenſchaftliche Vereine aller Art), theils die Volks - bildung, theils endlich die allgemeine Bildung. Dahin gehören im weiteſten Sinne die geſelligen Vereine, die faſt immer mit einem geiſti - gen Bildungselemente verbunden ſind, dann die Kunſtvereine, Volks - ſchriftenvereine und andere. Schon hier kann ſich das Element der Geſellſchaft, der Zweck eines Einzelerwerbes, mit dem des Vereins ver - ſchmelzen, wo eine Bildungsanſtalt (z. B. Theater, Muſeum, Bibliothek) auf Aktien errichtet wird; oft iſt ſogar eine ſolche Verſchmelzung der Sache ſehr förderlich, indem ſie die Strenge der Geſellſchaftsverwaltung in die Vereinsverwaltung hineinbringt.

Die Vereine für das wirthſchaftliche Leben theilen ſich in zwei Hauptgruppen.

Die erſte Gruppe bilden die Unternehmungsvereine, in denen die Vereinigung das Mittel iſt, das kleine Capital der Herrſchaft des Größengeſetzes der Capitalien zu entziehen und an den Vortheilen des großen Capitals Theil zu nehmen. Dieß geſchieht theils durch die organiſche Verbindung der kleinen Ueberſchüſſe zu einem Geſammtcapital in der Form der Aktie, theils durch die Verbindung des Einzelcredits mit dem der andern als Gegenſeitigkeit, theils durch die Verſchmelzung36 beider, indem ſowohl Capital als Credit von den Mitgliedern herge - geben wird. Im erſten Falle entſtehen die Aktienvereine, im zweiten die wechſelſeitigen Vereine, im dritten entweder die Gewerbe - banken, wo das Capital von der einen Gruppe der Mitglieder als Aktionäre, der Credit als wechſelſeitige Haftung von der andern, den Theilnehmern, hergegeben wird, oder die Vorſchußkaſſen, bei denen ſowohl das Capital als der Credit von allen Mitgliedern zu - ſammengebracht und einheitlich verwaltet wird. Es iſt klar, daß in dem Unternehmungsverein mit dem Intereſſe der Mitglieder auch das Weſen und Recht der Geſellſchaften vorwaltet, obgleich die Wirkung für die geſammte Entwicklung unabweisbar in allen zugleich lebendig iſt. Dieſe Doppelnatur dieſer großen Vereinsgruppe kommt dadurch zur Erſcheinung, daß man ſie eben ſo oft und mit gleichem Recht Geſellſchaften und Vereine nennt.

Die zweite Gruppe bilden die Intereſſenvereine, deren Objekt und Ziel nicht der Erwerb der Mitglieder, ſondern die Entwicklung und Herſtellung der Bedingungen für die einzelnen Zweige der Volkswirthſchaft, und zwar ſowohl der geiſtigen als der materiellen iſt. Dahin gehören alle Gewerbevereine und Landwirthſchaftsvereine nebſt ihren Neben - und Unterarten. Durch ihre innige Beziehung zur Volks - wirthſchaftspflege nehmen ſie zum Theil den Charakter von Anſtalten an, und werden fähig, direkte Hülfe vom Staate zu empfangen.

Die Vereine für das geſellſchaftliche Leben ſind diejenigen, welche ſich zur Aufgabe ſtellen, die aufſteigende Claſſenbewegung durch ihre Mittel und Thätigkeiten zu fördern. Sie theilen ſich in drei Gruppen.

Die Unterſtützungsvereine werden durch die Beiträge der höheren Claſſen gebildet und auch von ihnen verwaltet. Ihr Gebiet iſt das der Noth der niederen Claſſe; ihre Aufgabe die Bekämpfung derſelben (Armenvereine, Krankenvereine, Krippenvereine u. a.).

Die Hülfsvereine ſind diejenigen, in denen die höhere Claſſe die Mittel der Selbſthülfe von der niederen ſammelt und ſie zum Vor - theile derſelben verwaltet. Dahin gehören namentlich Sparkaſſen und zum Theil die unterſten Formen der Vorſchußkaſſen, ſo lange der Vor - ſchuß nicht zur Produktion, ſondern zur Conſumtion gegeben wird.

Das Vereinsweſen der Selbſthülfe iſt nun ohne Zweifel das wichtigſte und zukunftreichſte Gebiet der geſellſchaftlichen Vereine. Es umfaßt alle Vereine, in denen die niedere Claſſe durch eigne Kraft ihren Mitgliedern die Bedingungen der aufſteigenden Bewegung darzu - bieten ſtrebt. Sie theilen ſich in zwei Gruppen.

Die Arbeitervereine wollen den Mitgliedern theils die Bedin -37 gungen des Erwerbes durch Gemeinſchaft der Elemente aller Pro - duktion, des Stoffes oder Kapitals und der Arbeit, für beſtimmte Arten der Produktion bieten, und dieſe Art nennen wir die Arbeiter - genoſſenſchaft; oder ſie wollen den Reinertrag im Verdienſte ſichern und heben durch Gemeinſchaft der Conſumtion, gemeinſchaftlichen Kauf und Verkauf der Lebensbedürfniſſe, und das ſind die Wirthſchafts - genoſſenſchaften. Beide Arten können nun ſo viel Erwerb machen, daß ſie, wenn ſie denſelben nicht vertheilen, zu der Claſſe der Vorſchuß - kaſſen übergehen; daher denn die Verwechslung der letztern mit den Genoſſenſchaften überhaupt, die viel Unklarheit in dieß Gebiet gebracht hat, deſſen hohe Bedeutung nicht zu verkennen iſt.

Die Arbeiterverbindungen dagegen wollen durch die Vereini - gung der Arbeiter Preisſteigerungen des Lohnes von den Arbeit - gebern erzwingen. Es iſt ein wirthſchaftlicher Krieg durch Organiſirung der beiden Elemente aller Produktion, oft eben ſo unvermeidlich, immer aber ſo unheilſam als der wirkliche Krieg.

Dieß nun ſind die großen Grundformen des Vereinsweſens. Die Funktion des letzteren beſteht demnach darin, daß alle dieſe Arten gleichzeitig wirkſam ſind, auf allen Punkten die Kraft der Intereſſen und die der Individualitäten zur Geltung bringen, und ſo das Leben jedes Einzelnen in das der Gemeinſchaft hineinziehen. Die Gewalt dieſer Erſcheinungen iſt eine große; wir ſtehen erſt am Beginne ihrer Entwicklung; der nächſte und allgemeinſte Erfolg aber iſt die Thatſache, daß nur eine tüchtige, ihrer großen Aufgabe bewußte Volksvertretung fähig iſt, in jener Vielgeſtaltigkeit die Einheit des ſtaatlichen Lebens aufrecht zu halten.

Die Baſis dafür iſt das Vereinsrecht.

III. Das Syſtem des Vereinsrechts.

Das Vereinsrecht iſt wie das der freien Verwaltung überhaupt theils ein öffentliches, theils ein inneres. Es iſt indeß klar, daß bei der Verſchiedenheit aller einzelnen Vereine das öffentliche wie das innere Vereinsrecht nur diejenigen Grundſätze enthalten kann, welche für alle Arten des Vereinsweſens gleichmäßig gelten. Und obwohl es dafür keine irgendwie ausreichende Geſetzgebung gibt, ſo ſind dieſelben den - noch ſehr einfach.

Das öffentliche Vereinsrecht der polizeilichen Epoche beruhte darauf, die Vereine vorzugsweiſe als eine Macht anzuſehen, und ſtrebte daher vor allem der Gefahr zu begegnen, die in dieſen Erſcheinungen zu liegen ſchien. Daher denn die ſtrenge Oberaufſicht, auf Grundlage38 der Erlaubniß des Verbotes und der ſcharfen Ueberwachung. Die ver - faſſungsmäßige Epoche, nach Ueberwindung des erſten Eindruckes, daß die Vereine abſolut frei ſein ſollten, erkennt jetzt in ihnen Organe des lebendigen, ſelbſtthätigen Staatsbürgerthums und der Vollziehung, und aus dieſem Geſichtspunkte entſteht das neue öffentliche Vereins - recht unſerer Zeit.

Dieß öffentliche Vereinsrecht iſt nun nichts anderes, als die An - wendung der Principien der juriſtiſchen Perſönlichkeit, der Autonomie und der Oberaufſicht auf das Vereinsweſen.

Demnach iſt jeder Verein vermöge ſeiner der Regierung anzuzei - genden Conſtituirung eine juriſtiſche Perſönlichkeit. Der Genehmigung bedürfen nur die Vereine, welche ein beſonderes Recht der vollziehenden Gewalt oder eine Unterſtützung des Staats nöthig haben (Eiſenbahnen, Banken mit Notenausgabe).

Die Regierung hat das Recht, die Thätigkeit der Vereine zu beob - achten, dieſelben zu ſiſtiren und die Vereine zu ſuſpendiren. Auflöſungen ſollen nur vom Gericht ausgeſprochen werden.

Jeder Verein, als Organ des öffentlichen Lebens, muß als juri - ſtiſche Perſönlichkeit dem Gerichte, in ſeiner Thätigkeit dem Publikum bekannt ſein. Daher ſind geheime Vereine an und für ſich ver - boten. Aus dem erſten Satze folgt, daß jeder Verein ſich und ſeine Organe dem Gerichte anzuzeigen hat; aus dem zweiten folgt, daß jeder Verein ſeine Rechenſchaftsberichte veröffentlichen muß. Ge - nehmigung der Beſchlüſſe, ſelbſt bei Statutenänderungen, tritt nur da ein, wo die Genehmigung der Conſtituirung aus den obigen Grün - den nothwendig ward.

Das innere Vereinsrecht entſteht ſeinerſeits durch die in der bisherigen Geſetzgebung höchſt mangelhafte Scheidung der drei Or - gane und ihrer Funktion. Dabei iſt feſtzuhalten, daß es die große Aufgabe der Aktiengeſellſchaften war und bleiben wird, vermöge des wirthſchaftlichen Intereſſes der einzelnen Mitglieder, das nur bei ihnen recht lebendig iſt, eine ſtrenge und klare Formulirung des inneren Vereinsrechtes zu erzeugen.

Das Präſidium vertritt die Einheit. Zunächſt nach außen, indem ſeine Zuſtimmung zu jedem Akte des Vereins erforderlich iſt, um als Vereinsakt zu gelten. Nach innen hat das Präſidium die Statuten und das ſtaatliche Recht gegenüber den Organen des Vereins zur Geltung zu bringen und kann daher die Beſchlüſſe ſiſtiren. Dafür iſt es aber nicht bloß verantwortlich, ſondern auch haftbar.

Die Generalverſammlung iſt der beſchließende Körper. Sie iſt nothwendig. Ihre Beſchlüſſe ſind gegenüber den übrigen Organen39 des Vereins Geſetze. Es gibt keinen Theil des Vereinsweſens, über welchen ſie nicht berechtigt wäre Beſchlüſſe zu faſſen. Wenn die Sta - tuten ihr beſtimmte Aufgaben ausdrücklich reſerviren, ſo bedeutet das, daß dieſe Gebiete ohne ihre Zuſtimmung gar nicht beſtimmt werden dürfen. Jedes Mitglied iſt berechtigt Theil zu nehmen; es iſt dafür gleichgültig, daß die Mitgliedſchaft in ſehr verſchiedener Weiſe erworben werden kann. Jedes Mitglied ſollte eine beſchließende Stimme haben. Jedes Mitglied ſollte Anfragen ſtellen können.

Der Verwaltungsrath iſt die vollziehende Gewalt. Er hat daher das Analogon der Verordnungsgewalt, die Vollzugsverordnung, die eigentliche Verordnung und ſelbſt die Nothverordnung gegenüber den Beſchlüſſen der Generalverſammlung. Dafür iſt er verantwortlich im Allgemeinen und haftbar im Beſondern. Nur müſſen dieſe Grund - ſätze, da die Generalverſammlungen nur wenig thätig ſein können, in erhöhtem Maße Anwendung finden.

Die Controle ſollte durch ein eigenes Organ, den Reviſions - ausſchuß, mit eigenem Berichte und eigener Stellung ſtattfinden. Die Generalverſammlung ſollte das Abſolutorium immer erſt auf Grund - lage dieſes Berichts machen. Gerade hier ſind die Geſetze wie die Statuten am mangelhafteſten.

Die Direktion iſt das Analogon des Behördenſyſtems, jedoch weſentlich modificirt. Sie iſt nur dem Verwaltungsrath verantwort - lich, aber dem Vereine haftbar. Die Haftbarkeit bezieht ſich bei ihr auch auf den Mangel an Fachkenntniß, nicht bloß auf ſonſtiges Ver - ſchulden. Die Angeſtellten ſtehen im einfachen Dienſtverhältniß, das aber allerdings ein Analogon des Amts iſt, und daher beſtändige und wohlbegründete Neigung hat, auch die Grundſätze und Rechte des Staatsdienſtes auf ſich anzuwenden. Ob und wie weit das thunlich iſt, hängt dann weſentlich von Art und Umfang des Vereins ab.

Bisher mangelt in der Geſetzgebung aller europäiſchen Staaten eine einheitliche Auffaſſung des Vereinsweſens; nur einzelne Arten haben eine eingehende Behandlung gefunden. Um ſo wichtiger iſt die Natur der Sache, deren Studium als eine weſentliche Aufgabe der Verwaltung angeſehen werden muß.

Wir dürfen hier, nachdem wir jede Einzelheit und jedes Citat ſtrenge vermieden haben, wohl auf unſere Lehre von der vollziehenden Ge - walt, 2. Auflage in 3 Bänden (Regierungsrecht, Selbſtverwaltungsrecht und Vereinsrecht), 1869 70, verweiſen, in welcher man eine eingehende Erörterung aller betreffenden Punkte finden wird.

[40][41]

Die Innere Verwaltung. Begriff und allgemeiner Theil.

[42][43]

Die Innere Verwaltung.

Allgemeiner Theil.

Begriff und Idee derſelben.

Die innere Verwaltung iſt nun ihrem formalen Begriffe nach die Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten des Staates, welche dem Einzelnen die von ihm ſelber durch eigne Kraft und Anſtrengung nicht erreichbaren Bedingungen ſeiner individuellen Entwicklung darbietet.

Die Idee der inneren Verwaltung beruht darauf, daß das Ideal der menſchlichen Entwicklung der vollendete Menſch iſt. Die Vollendung des Einzelnen aber iſt durch ihn allein nicht möglich. Nur die Gemein - ſchaft der Menſchen iſt fähig, die Mängel der individuellen Kraft zu erſetzen, indem in ihr und durch ſie Alle für jeden Einzelnen thätig ſind. Jeder Einzelne aber iſt ſelbſt wieder ein Theil dieſer Gemein - ſchaft. Der Fortſchritt des Einzelnen durch die Hülfe der Gemeinſchaft erhebt und vermehrt daher die Kraft der letzteren, für jeden zu ſorgen. Dadurch wird die Entwicklung jedes Einzelnen durch die thätige Hülfe Aller wieder zur organiſchen Bedingung dafür, daß die Gemeinſchaft ſelbſt kräftiger und fähiger werde, jedem Mitgliede förderlich zu ſeyn; in der Thätigkeit für jeden Einzelnen ſorgt daher die Geſammtheit für ſich ſelber, und durch ſie wieder der Einzelne für den andern, und ſo ſagen wir, daß erſt in der inneren Verwaltung das höchſte Princip alles menſchlichen Geſammtlebens, nach welchem die Entwicklung aller Einzelnen ſich gegenſeitig bedingt und erzeugt, zur That wird.

Die Perſönlichkeit, welche dieſe Idee der inneren Verwaltung will und vollzieht, iſt der Staat. Aus ſeinem auf dieſelbe gerichteten Willen entſpringt die Verwaltungsgeſetzgebung; die Verwirk - lichung derſelben iſt der Organismus der vollziehenden Gewalt, und zwar in der Weiſe, daß hier Regierung, Selbſtverwaltung und Vereins - weſen gemeinſchaftlich arbeiten. Erſt in der inneren Verwaltung er - ſcheinen alle drei Organismen der vollziehenden Gewalt gleichmäßig44 berechtigt und beſtimmt, thätig zu ſein, jeder nach ſeiner Natur und ſeiner Stellung. Die Geſammtheit aller dieſer Thätigkeiten aber faſſen wir nun zuſammen, indem wir die innere Verwaltung als den für die höchſte Entwicklung jedes Einzelnen arbeitenden organiſchen Staat bezeichnen.

Die Gränze dieſer Arbeit des Staates ergibt nun das Princip der inneren Verwaltung, das im inneren Verwaltungsrecht ſeine feſte Geſtalt empfängt, in der Geſchichte der Elemente ſeine Entwicklung zeigt, in der Vergleichung das Leben Europa’s umfaßt, und im Syſteme ſich zu einem organiſchen Ganzen entwickelt.

Das Princip der inneren Verwaltung.

Das Princip der inneren Verwaltung beruht darauf, daß auch in der Gemeinſchaft jeder Einzelne eine ſelbſtändige Perſönlichkeit bleibt. Es folgt, daß nur dasjenige für ſie eine wahre Entwicklung enthält, was ſie ſich ſelbſt durch eigene Thätigkeit gewannen. Die Gränze für die Aufgabe des Staates in ſeiner inneren Verwaltung iſt mithin dadurch gegeben, daß die Gemeinſchaft dem Einzelnen nie darbieten darf, was er durch eigene Kraft ſich erwerben kann; nicht die perſönliche Ent - wickelung, geiſtige, phyſiſche, wirthſchaftliche oder ſociale, ſondern nur die Bedingungen derſelben ſoll die Verwaltung geben. Jede Ver - waltung, die mehr gibt, verdirbt den Fortſchritt des Volks; jede, die weniger gibt, hindert denſelben. Das höchſte Verſtändniß aller inneren Verwaltung beſteht darin, das richtige Maß zunächſt an ſich, dann in der Wirklichkeit den gegebenen und wechſelnden Verhältniſſen entſprechend, zu finden und feſtzuhalten. Und das iſt keineswegs eine leichte Aufgabe.

Thut ſie das aber, ſo erzeugt ſie das höchſte Gut, die wirkliche Freiheit. Die Freiheit der Verfaſſung beſteht in dem Recht der Ange - hörigen des Staates, an ſeinem Willen Theil zu nehmen; die Freiheit der Vollziehung in ihrem Rechte, in Selbſtverwaltung und Verein an der vollziehenden Gewalt mitzuarbeiten; die wirkliche Freiheit aber be - ſteht in dem Beſitz der Bedingungen der individuellen Selbſtändigkeit. Für dieſe aber ſorgt die innere Verwaltung; ſie iſt das wahre Lebens - princip derſelben. Und ſo wird die innere Verwaltung die Arbeit des Staats für die höchſten Bedingungen der perſönlichen Freiheit. Es iſt ein hoher Grad von Verſtändniß des Geſammtlebens erforderlich, um dieß zu bethätigen. Die Geſchichte hat Jahrtauſende gebraucht, um jenes abſolute Geſetz zum Ausdruck zu bringen. Wir ſind in dem Beginn der Epoche, wo die Staaten dieß erkennen; wir ſind im Ueber - gange von der Zeit der verfaſſungsmäßigen zur perſönlichen Freiheit,45 und damit im Uebergange von der Zeit, wo die Vollendung des Staats - begriffes und der Staatsthätigkeit in der Verfaſſung gefunden wurde, zu derjenigen, wo der Werth einer Verfaſſung nach demjenigen gemeſſen wird, was ſie für dieſe Verwaltung erzeugt und leiſtet.

Das Gefühl dieſer Wahrheit iſt nicht neu. Allein das was wir für die letztere in kommender Zeit zu thun haben, beſteht in der prak - tiſchen Durchführung dieſes Gedankens in allen einzelnen Gebieten des Staatslebens. Aus dem Principe der Verwaltung muß eine ſyſtema - tiſche und zugleich praktiſche Wiſſenſchaft derſelben werden. Die Baſis der letzteren aber iſt zuerſt das Syſtem der Verwaltungsaufgaben, dann das Verſtändniß ihrer bisherigen geiſtigen und materiellen Geſchichte.

Das innere Verwaltungsrecht.

Das innere Verwaltungsrecht iſt es nun, welches dieſer großen Funktion des Staatslebens ſeine feſte Geſtalt gibt. Es iſt daher formell die Geſammtheit der auf die Verwaltungsthätigkeit gerichteten Willens - beſtimmungen des Staats. Allein ſeinem inneren Weſen nach bringt es, gleichviel ob mit oder ohne Bewußtſein, durch die Geſammt - auffaſſung des Staats von ſeiner eigentlichen Aufgabe in ſeiner eigenen inneren Welt zum Ausdrucke. Das nun nennen wir den Geiſt des innern Verwaltungsrechts. Seine endliche Erſcheinung iſt allerdings ſtets das einzelne Geſetz; allein faßbar wird es in der Verbindung der einzelnen Geſetze untereinander, und in ihnen erſcheint erſt das innere Verwaltungsrecht jeder Zeit und jedes Staats als ein Ganzes. Nach der Anſchauung dieſes Ganzen aber muß die wahre Lehre vom inneren Verwaltungsrecht vor allem ſtreben.

Das ganze Gebiet deſſelben zerfällt nun in zwei Kategorien.

Wir nennen den allgemeinen Theil des inneren Verwaltungs - rechts die Geſammtheit derjenigen rechtlichen Beſtimmungen, nach welchen die vollziehende Gewalt mit ihren Organen, ihren Principien und ihren Rechten auf die innere Verwaltung Anwendung findet. Und es iſt kein Zweifel, daß gerade in der inneren Verwaltung das eigenliche Weſen der Regierung, Staatsverwaltung und Verein zur rechten Gel - tung gelangt. Jedes einzelne Gebiet der inneren Verwaltung hat daher wieder gleichſam ſeinen allgemeinen Theil, deſſen genaue Beachtung eben ſo wichtig als ſchwierig iſt.

Der beſondere Theil oder das eigentliche Verwaltungsrecht enthält nur die Beſtimmungen oder das geltende Recht für die einzelnen ſelbſtändig geſetzten Gebiete als Aufgaben der Verwaltung. Die formale46 Einheit aller dieſer bei allen Völkern unendlich reichhaltigen und in ſtetem Wechſel und Werden begriffenen Rechtsbildung iſt nun das Syſtem der Verwaltung. Die höhere Einheit iſt der Geiſt, aus dem die einzelnen Beſtimmungen hervorgehen. Bisher nun ſind dieſelben in höchſt zerfahrener Weiſe erlaſſen, und es iſt ſchwer, ſich von ihnen ein weſentliches Bild zu machen. Allein dennoch fallen ſie alle unter gewiſſe gemeinſame Geſichtspunkte für die in ihnen enthaltene Rechtsbildung.

Alles Verwaltungsrecht unterſcheidet ſich nämlich formell in das geſetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht. Das erſtere hat zu ſeinem Inhalt ſtets, vermöge der Natur des Geſetzes, die allgemeinen Verhältniſſe und Principien; das letztere enthält weſentlich die beſonderen Anwendungen des Geſetzes auf beſtimmte Fragen und Zuſtände. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht entſteht daher durch die Dinge ſelbſt, das geſetzmäßige dagegen ſetzt nicht bloß einen ſelbſtändigen Organismus der geſetzgebenden Gewalt, ſondern auch ein höheres Verſtändniß des ganzen menſchlichen Lebens in ſeinen Grund - lagen und Principien voraus. Das geſetzmäßige Verwaltungsrecht gehört daher ſtets der höheren geiſtigen Entwicklung eines Volkes; das verordnungsmäßige dagegen wird mehr durch die wirkliche Thätigkeit des letzteren erzeugt. Das erſtere dauert mit ſeinen Beſtimmungen länger, das zweite wechſelt raſcher. So erſetzen ſich beide und erfüllen das Leben; immer aber iſt ihre Wirkung eine wechſelſeitige. Indem die Beſtimmungen der Verordnung allmälig zu feſten und organiſchen Ge - ſetzen werden, müſſen ſich aus den Geſetzen wieder die Verordnungen entwickeln, und ſo zuſammen ein eben ſo großes als lebendiges Ganze bilden.

Dennoch iſt für die innere Verwaltung das nicht erreichbar, was für die übrigen Theile der Verwaltung als das höchſte Ziel erſcheint, eine Codification des beſtehenden Verwaltungsrechts; ſondern die höhere Einheit des letzteren wird ſtets durch die Wiſſenſchaft gegeben werden müſſen. Daher iſt die Verwaltungslehre die natürliche und nothwendige Grundlage des Syſtems des Verwaltungsrechts. In dem - ſelben aber bildet jeder Theil wieder ein ſelbſtändiges Ganzes; und jeder dieſer Theile hat daher auch ſeine Geſchichte, die jedoch wieder von den allgemeinen Faktoren beherrſcht wird.

Elemente der Geſchichte der Verwaltung und ihres Rechts.

Offenbar nun hat die Verwaltung in ihrem weiteſten Sinne, als Thätigkeit der Gemeinſchaft für ſich ſelber, zu allen Zeiten ihre Ge - ſchichte gehabt; ſie iſt wie die Einheit der Menſchen ſo alt wie die Welt. 47Allein im eigentlichen Sinne des Wortes reden wir doch erſt da von einer Geſchichte, wo dieſe Verwaltung zum ſelbſtändigen und be - wußten Gegenſtand des Staatswillens wird. Auch hier empfängt die - ſelbe erſt ihren feſten Inhalt durch das Recht. Und die Geſchichte der inneren Verwaltung erſcheint daher zunächſt als die Geſchichte des Verwaltungsrechts.

Allerdings aber hat eine ſolche Rechtsbildung einen ſelbſtändigen und ſelbſtthätigen Staat zur Vorausſetzung. Der Träger und Aus - druck dieſes Staates iſt das Königthum. Und dadurch ergibt ſich die bedeutſame Thatſache, daß die eigentliche Geſchichte der inneren Ver - waltung erſt mit dem ſelbſtändigen Königthum, das iſt ungefähr ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert, beginnt, und daß die großen Epochen, welche ſie ſeit dieſer Zeit durchlaufen hat, ſich auf allen Punkten an das Königthum und die von ihm ausgehende Regierung anſchließen.

Man wird daher ſagen müſſen, daß bis zur Entwicklung dieſes ſelbſtändigen Königthums das innere Verwaltungsrecht ſtatt auf der Idee des Staats, vielmehr auf dem Weſen und der Geſtalt der Ge - ſellſchaftsordnung beruht. Dieſe rein geſellſchaftliche Geſtalt derſelben bildet daher den erſten großen Abſchnitt in der Geſchichte des Ver - waltungsrechts. Der zweite entſteht dadurch, daß das Königthum die Verwaltung in ſeine Hand nimmt. Der dritte endlich, in deſſen Be - ginne wir ſtehen, beruht darauf, daß die Selbſtthätigkeit des Volkes neben der der Regierung auftritt, und Selbſtverwaltung und Vereins - weſen auf allen Punkten zur Geltung gelangen.

Nach dieſen entſcheidenden Elementen geſtaltet ſich nun die Geſchichte der inneren Verwaltung in folgender Weiſe.

Die beiden Grundformen der noch ohne Königthum und Regierung ſich bildenden Anfänge der inneren Verwaltung bezeichnen wir als die der Grundherrlichkeit und als die corporative Verwaltung. Sie greifen ſo tief und in Deutſchland namentlich ſo weit bis in die neueſte Zeit hinein, daß es nothwendig iſt, wenigſtens ihren Charakter feſtzuſtellen.

Wie die Grundherrlichkeit ſich aus der freien Geſchlechterverfaſſung des alten Bauerndorfes ſeit dem zehnten Jahrhundert entwickelt hat, das darf hier als bekannt vorausgeſetzt werden. Einmal entſtanden aber, bildet ſie alsbald für alle Verhältniſſe, und ſo auch für die erſten Anfänge der inneren Verwaltung ihren ſpecifiſchen Charakter aus. Ihr großes Princip iſt das Eigenthumsrecht an allen öffentlichen Rechten vermöge des Eigenthumsrechts an Grund und Boden. Jede Grund - herrlichkeit iſt daher zwar in der Verfaſſung dem Ganzen, rechtlich ver - treten durch die Idee der Lehnshoheit, faktiſch durch den höchſten48 Lehnsherrn, unterworfen; allein in allen Verhältniſſen der Ver - waltung iſt die Grundherrlichkeit ſouverain wie ihre Grund - lage, das Eigenthumsrecht. Jede Grundherrlichkeit bildet daher einen ſouverainen, von dem perſönlichen Willen des Herrn abhängenden Ver - waltungskörper und zwar zugleich für Steuer, Rechtspflege und innere Verwaltung (Schulen, Wege, Polizei, Grundbuchsweſen u. ſ. w.). Damit iſt dieſe Verwaltung im Princip auf die individuelle Willkür, in ihren Mitteln auf das äußerſte Minimum, in ihrem Inhalte aber ſo ſehr auf der Herrſchaft des Beſitzenden über den Nichtbeſitz baſirt, daß ſie zuletzt kaum noch den Namen derſelben verdient. Die Beſeiti - gung derſelben durch die königliche Regierung war daher eine der großen Bedingungen alles Fortſchrittes, und in der That fängt der Kampf deſſelben auch faſt mit dem Auftreten der wahren königlichen Gewalt an. Die Form, in der ſich dieſe königliche Verwaltung neben und über der grundherrlichen verwirklicht, iſt nun die Regalität. Das Regal iſt ſeinem wahren Weſen nach das allerdings auch urſprünglich auf dem Eigenthumsrecht der Krone beruhende königliche Verwaltungs - recht. Es gibt daher hiſtoriſch ſo viele Regale, als es Gebiete der Verwaltung gibt; ſie erklären ihrerſeits die Geſchichte der inneren Ver - waltung; nur muß man ſie als hiſtoriſche Erſcheinungen und nicht als Begriffe behandeln wollen. Der Kampf zwiſchen Grundherrlichkeit und Regalität dauert nun bis zum ſiebenzehnten Jahrhundert in England, bis zur Revolution in Frankreich und bis auf die Gegenwart in Deutſch - land, wo ſich die erſtere noch immer in nicht unbedeutenden Reſten als Patrimonialgerichtsbarkeit erhält, welche neben der Rechts - pflege auch einen nicht unbedeutenden Theil der eigentlichen Verwal - tung, namentlich Armenweſen, Wegweſen und Polizeiweſen ſelbſtändig behält. Nur in Oeſterreich exiſtirt auch keine Spur mehr von dieſer hiſtoriſchen Geſtalt, während für das Folgende gerade das Umgekehrte der Fall iſt.

Auch das Ständeweſen und die Körperſchaften ſetzen wir als be - kannt voraus. Immerhin ſind die Körperſchaften freiere und höhere Formen der Verwaltung als die Grundherrſchaften. So iſt das An - gehören an die einzelne Körperſchaft ein Lebensberuf, und die letztere hat daher die Aufgabe und das Recht, die Erfüllung deſſelben, die wirkliche Thätigkeit des Einzelnen zu überwachen und zu leiten. Allein ſie ſind ihrem eigenſten Princip nach vereinzelt. Sie vertreten daher in ihrer Rechtsbildung kein allgemeines, ſondern immer nur ein beſon - deres Intereſſe, werden naturgemäß feindlich gegen jedes andere, ge - ſtalten ihre beſondere Aufgabe zur rechtlichen Ausſchließlichkeit und werden ſo allmählig zu Feinden des allgemeinen Fortſchrittes. Auch49 mit ihnen beginnt daher die entſtehende Regierung ihren Kampf, um ſie der Idee und der Rechtsbildung der Verwaltung zu unterwerfen. Die Form, in der dieſer Kampf aufgenommen und geführt wird, iſt das Eingreifen der Krone in ihre Verwaltung durch das Princip der Beſtätigung der Statuten und der daraus ſich ergebenden Ober - aufſicht, von denen die Entwicklung mit dem neunzehnten Jahrhun - dert zu dem Princip der Aufhebung aller Vorrechte gelangt und die alten ſtändiſchen Körperſchaften daher nur noch ſo weit beſtehen läßt, als ſie vermöge ihres Beſitzes oder ihrer Funktion als Selbſtverwal - tungskörper erhalten werden können.

Während nun dieſer große Proceß vor ſich geht, ſtellt ſich die Regierung des neuen Königthums mit dem ſechzehnten Jahrhundert grundſätzlich an die Spitze aller Verwaltung, und damit beginnt nun eigentlich erſt das, was wir die Geſchichte der inneren Verwaltung nennen. Wir ſcheiden hier drei große Grundformen, welche ihrerſeits drei Stadien in der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bedeuten. Das Verhältniß derſelben zu einander iſt aber nicht das der Ausſchließung des einen durch das andere, ſondern vielmehr die Aufnahme des vorhergehenden in die folgenden. So entwickelt ſich gleichzeitig mit der Freiheit des Princips der Reichthum ſeines Inhalts.

Das erſte Stadium iſt das der reinen, durch die Regierung her - geſtellten Sicherheitspolizei. In ihm winden ſich die Zuſtände der Völker aus dem Zuſtande des Fauſt - und Fehderechts heraus, und die äußere Rechtsordnung als Bedingung alles Fortſchrittes wird gewonnen. Das iſt die Zeit des ſechzehnten Jahrhunderts. Eine eigentliche Literatur gibt es in dieſer Epoche noch nicht. Die Geſetze ſind vorwiegend Polizei - geſetze, und ſelbſt da, wo ſie es dem Inhalte nach nicht ſind, wie etwa die Armengeſetzgebung Englands oder die Arbeitergeſetze der deutſchen Reichsabſchiede, ſind ſie es doch in Veranlaſſung und Zweck. Der Unterſchied von Geſetz und Verordnung geht aber in dieſer Nothwendig - keit für die Regierung, praktiſch durchzugreifen, verloren; der Wille des Souverains wird alleinherrſchend, und damit iſt der Uebergang des ſiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zum aufgeklärten Deſpo - tismus begründet.

Das zweite Stadium dieſer Geſchichte charakteriſirt ſich theoretiſch als die rechtsphiloſophiſche Geſtalt der Verwaltungslehre, praktiſch als die Hauptepoche der Volkswirthſchaftspflege. Das erſte entſteht dadurch, daß die Rechtsphiloſophie, welche überhaupt das Weſen und Princip des öffentlichen Rechts zum Bewußtſein bringen ſollte, natur - gemäß zugleich das Princip für die Verwaltung ſucht, obgleich ſie den formalen Begriff derſelben nicht hatte. Sie formulirt mit der MitteStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 450des ſiebenzehnten Jahrhunderts dieſes Princip als den Eudämonis - mus, die Pflicht und das Recht der Staatsgewalt, nicht etwa im Namen eines Geſetzes, ſondern im Namen des Jus naturae das Wohl - ſein aller durch die Gewalt der Polizei herzuſtellen. Sie lernt daher mit dem achtzehnten Jahrhundert zwar zu unterſcheiden zwiſchen der Wohlfahrts - und der Sicherheitspolizei, aber die Begriffe von Freiheit und Unfreiheit ſind ihr gänzlich unbekannt. Die Regierung ſoll alles für alle thun; aber ſie ſoll nur ſich ſelber verantwortlich ſein. Dieſe Grundauffaſſung, welche weſentlich den Deutſchen angehört, und aus der die Werke von Pufendorf und Wolf hervorgingen, empfängt nun ihren poſitiven Inhalt durch die großen Schulen der Nationalökonomie. Durch ſie entſteht der Grundzug in der Anſchauungsweiſe Europa’s, daß der wirthſchaftliche Reichthum das höchſte Ziel der Saatsaufgabe ſei; jede einzelne dieſer Schulen iſt ihrerſeits daher eben ſo ſehr ein Verwaltungs - als ein volkswirthſchaftliches Syſtem; das Merkantilſyſtem ſucht die Aufgabe der Regierung für die Volkswirthſchaft in Schutz und direkter Staatshülfe, das phyſiokratiſche Syſtem in der Beſeitigung der Privilegien und Hebung der Landwirthſchaft, das induſtrielle Syſtem in der Förderung der gewerblichen Produktion. So liegt der Schwer - punkt der Verwaltung dieſer Zeit in den Principien der National - ökonomie; allein daneben entwickeln ſich auch ſchon in bedeutſamer Weiſe die übrigen Gebiete. Zunächſt wird die praktiſche Polizei Gegen - ſtand einer eigenen Wiſſenſchaft (bei Heumann Jus politiae und Delamare De la police); dann entſtehen ſelbſtändige Geſetzgebungen, wie über Geſundheitsweſen, Schulweſen, Wegeweſen, Waſſerrecht, Grundbuchsweſen und andere; ſchon wird das Verſtändniß aller dieſer Dinge als eine Bedingung der Verwaltung angeſehen, und das Ende des vorigen Jahrhunderts ſieht dieſelben bereits zu einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft erhoben, nur daß man ſich, über den Begriff nicht klar, auch über den Namen nicht einigen kann, indem man ſie bald Cameral - wiſſenſchaft, bald Polizeiwiſſenſchaft, bald Polizeirecht, bald alles zu - gleich nennt. Aber das bleibt doch das Geſammtreſultat, daß die innere Verwaltung allmählig als ein großes Ganze ihre Selbſtändigkeit neben der Rechtspflege und der Staatswirthſchaft gewinnt, jedoch noch von beiden als Nebenwiſſenſchaft zurückgedrängt erſcheint. Denn die alte Rechtsphiloſophie hat die Fähigkeit verloren, den neuen Staat auch als Thätigkeit zu begreifen; ſie weiß auch ſeit Kant in ihm nichts zu ſehen als eine Rechtsordnung, und ihr höchſtes und letztes Ziel iſt die Verfaſſung. Die Wiſſenſchaft, die allein berufen iſt, die Einheit zum Ausdruck zu bringen, gelangt daher zwar zu ſehr tief gehenden Unterſuchungen einzelner Gebiete der Staatsaufgaben, aber ſie bleiben51 unzuſammenhängend und zerſtreuen ihre Wirkung; ja das neunzehnte Jahrhundert vermag nicht einmal die Höhe feſtzuhalten, die politiſch in den Werken von H. Berg und juriſtiſch in denen von Fiſcher ſchon gewonnen war. Die Codifikation iſt der Idee der Verwaltung gegenüber unmächtig; es iſt klar, daß das neunzehnte Jahrhundert einen andern Inhalt zur Geltung zu bringen hat. Und dieſer nun iſt der ſociale Standpunkt der inneren Verwaltung.

Dieſer ſociale Standpunkt beginnt ſeinerſeits mit der Behandlung des Armenweſens, und lange glaubte man, daß hierin das ſociale Element ausſchließlich liege. Allein mit der Mitte unſeres Jahrhun - derts tritt an ſeine Stelle das Bewußtſein von dem Gegenſatz der Claſſen, und es wird klar, daß zuletzt alle innere Verwaltung ihren Schlußpunkt in der Frage habe, was denn der Staat für dieſe Claſſenbewegung zu thun habe und thun könne? Je weiter wir kommen, je beſtimmter wird es uns, daß dieſe Frage nicht etwa ein für ſich beſtehendes, in einem einzelnen Gebiete erſchöpftes Gebiet enthält, ſondern daß ſie vielmehr die ganze innere Verwaltung durchdringt. Das iſt der Standpunkt, auf dem wir ſtehen. Seine Vorausſetzungen ſind einerſeits die freie Entwicklung der Selbſtverwal - tung und des Vereinsweſens, andererſeits ein einheitliches, organiſches Syſtem der inneren Verwaltung. Daß wir beider Dinge bedürfen, iſt nicht mehr zu bezweifeln. Für beides arbeiten wir. Das erſtere kann uns die Kraft geben, die ſociale Frage zu löſen, das zweite die Kate - gorien, durch welche wir ihren Inhalt verſtehen. Aber die Löſung ſelbſt gehört der Zukunft; denn nirgends mehr als hier ſoll man die Gegenwart mit ihren Zweifeln, Kämpfen und ſelbſt mit ihren Erfolgen als einen Durchgangspunkt für eine höhere, beſſere Zukunft zu erkennen wiſſen.

Die nationale Geſtalt des inneren Verwaltungsrechts und die vergleichende Rechtswiſſenſchaft.

Ohne Zweifel nun hat dieſe innere Verwaltung neben ihrer all - gemeinen europäiſchen Entwicklung, wie wir ſie ſo eben charakteriſirt, zugleich in jedem Staat eine individuelle Geſtalt, welche in vielfacher Beziehung von der jedes andern weſentlich verſchieden iſt und daher auch zuerſt als ein ſelbſtändiges Ganze betrachtet werden muß.

Andererſeits aber ſind die großen Grundlagen des Lebens wieder in allen Staaten gleichartig und durch die Gemeinſamkeit der Geſittung, der Wiſſenſchaft und der Erfahrung in gleichmäßiger Weiſe ausgebildet. Es iſt bei genauerer Betrachtung nicht fraglich, daß gerade im Gebiete52 der inneren Verwaltung der Unterſchied des Rechts wie der Entwick - lung deſſelben ein viel geringerer iſt, als es auf den erſten Blick erſcheinen dürfte.

Es wird daher für dieſe Wiſſenſchaft, welche geiſtig umfaſſen ſoll, was das Leben Europa’s faktiſch umfaßt, nothwendig, die Elemente zu beſtimmen, welche die Beſonderheit erzeugen, und ſich die Aufgabe zu vergegenwärtigen, welche die wahre Vergleichung dieſer Beſonder - heiten zu löſen hat.

In der That kann es kaum zweifelhaft ſein, daß die nationale Beſonderheit der inneren Verwaltung unſerer Zeit nicht mehr ſo ſehr in den Principien und letzten Zielen beſteht, welche dieſelbe verfolgt, als in der Natur der Organe, welche ſie zur Vollziehung bringt. In den erſteren ſind die Staaten Europa’s gegenwärtig faſt alle gleich, in den letzteren ſind ſie faſt alle von einander verſchieden. Daſ - ſelbe Princip und Recht aber, je nachdem es von der Regierung, von der Selbſtverwaltung oder vom Vereinsweſen zur Verwirklichung ge - bracht wird, erſcheint in ſeiner öffentlichen Geltung und Wirkung ſo verſchieden, daß man es zuweilen kaum wieder erkennt. Während daher der quantitative Unterſchied der inneren Verwaltung in der Ent - wicklung der einzelnen theoretiſchen und praktiſchen Conſequenzen eines angenommenen Grundſatzes beſteht, liegt er qualitativ in dem Verhält - niß der drei Grundformen der vollziehenden Gewalt zur Ausführung deſſelben. Dieſes Verhältniß aber, als Corollar des Verfaſſungsrechts, geht wieder mit Nothwendigkeit aus demjenigen Verhältniß hervor, in welchem die drei geſellſchaftlichen Ordnungen zur Staatsgewalt ſtehen. Auf dieſe Weiſe bringt das innere Verwaltungsrecht eines jeden Staats in der That den ganzen Charakter eines Staats zum Ausdruck; eine Vergleichung wird wieder nicht thunlich, ohne die ganze Individualität des Staats vor Augen zu haben; und ſo entſteht der Begriff und Inhalt der vergleichenden Verwaltungslehre. Dieſelbe hat auf Grundlage der großen, ewig gleichen organiſchen Kategorien des Syſtems die Unterſchiede des poſitiven Verwaltungsrechts aus dem lebendigen Zuſammenwirken der geſellſchaftlichen Elemente mit den Faktoren des geiſtigen, des wirthſchaftlichen und des ſtaatlichen Lebens zu erklären. Ihr Princip muß ſein, daß jedes poſitive Recht eine hiſtoriſche Conſe - quenz iſt; ihre Aufgabe, daſſelbe in dieſem ſeinem cauſalen Verhältniß nachzuweiſen.

Geht man nun davon aus, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß es drei Grundgeſtaltungen der inneren Verwaltung in Europa gibt, welche durch die drei großen Culturvölker unſeres Welttheiles repräſentirt werden, und deren Betrachtung uns eigentlich erſt die53 unendliche Einfachheit des Lebens der Menſchheit in ſeinen letzten Ele - menten, aber auch ſeinen unendlichen Reichthum in ſeinen einzelnen Erſcheinungen erſchließt. Die erſte iſt die des engliſchen Volkes, in welchem die Vollziehung und damit die innere Verwaltung grund - ſätzlich auf der Thätigkeit der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens beruhen, während die Regierung an beiden nur wenig in vielen Dingen viel zu wenig Antheil hat. Die zweite bietet das fran - zöſiſche Volk, in welchem die ganze innere Verwaltung faſt ausſchließ - lich in den Händen der Regierung ruht, während Selbſtverwaltung und Vereinsweſen faſt macht - und rechtlos ſind. Die dritte iſt das deutſche Volk, welches in mannigfach verſchiedener Weiſe dennoch ſtets denſelben Gedanken zum Ausdruck zu bringen trachtet, der per - ſönlichen und der freien Verwaltung je ihren natürlichen und organiſchen Antheil an dem Leben des Staats zu geben. England und Frankreich ſind daher mit ihrem Charakter im Ganzen vorläufig fertig und arbeiten am Einzelnen in der inneren Verwaltung; Deutſchland iſt noch mitten in der Arbeit für ſeinen Charakter, hat dagegen im Einzelnen bereits Außerordentliches geleiſtet, während es in andern einzelnen Gebieten oft noch ſehr weit zurück iſt. Das durch alle Gebiete des innern Lebens Europa’s durchzuführen, iſt die größte Aufgabe, welche der menſchlichen Wiſſenſchaft geſtellt werden kann. Sie überſteigt jede einzelne Kraft, und darum iſt ſie Aufgabe unſeres Jahrhunderts.

Die erſte Vorausſetzung dafür iſt nun wohl die, daß man ſich einig werde über die organiſchen Grundbegriffe und das Syſtem deſſen, was wir nun als die Verwaltungslehre vorzulegen haben.

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Das Syſtem der inneren Verwaltung.

Aus den obigen allgemeinen Begriffen entſteht nun das Syſtem der inneren Verwaltung, nicht etwa indem der Begriff und das Weſen der letzteren weiter unterſucht werden, ſondern indem das Objekt der - ſelben, das Leben der Perſönlichkeit in der menſchlichen Gemeinſchaft, ſich ſelbſt als eine organiſche, aus ſehr verſchiedenen Gebieten ein Ganzes bildende Einheit zeigt. Während die Idee der Verwaltung nun dieß Ganze im Auge hat, fordert natürlich die Verſchiedenheit der einzelnen Gebiete wieder eine verſchiedene, zu Geſchichte und Recht ſich ſelbſtändig entwickelnde Thätigkeit der Gemeinſchaft. Das heißt, jeder Theil des menſchlichen Lebens hat ſeine Verwaltung. Damit entſteht ein Reichthum und eine Vielgeſtaltigkeit des thätigen Daſeins der Menſchheit, die jedes andere Leben unendlich übertrifft. Aber in dieſer faſt unabſehbaren Mannigfaltigkeit, dem beſtändigen Wechſel des Ein - zelnen und der nationalen Geſtaltung des Ganzen muß doch die orga - niſche Einheit das letztere beherrſchen. Dieſe nun iſt, wiſſenſchaftlich zum Bewußtſein gebracht, das Syſtem. Das Syſtem der inneren Verwaltung erfüllt daher die allgemeine Idee derſelben mit ſeinem mächtigen Leben voll concreter Kämpfe, voll feſt beſtimmter, juriſtiſch zum Ausdruck gebrachter Thatſachen. Und deßhalb iſt es ſelbſt nicht ein Hülfsmittel und nicht eine Sache der Zweckmäßigkeit, ſondern eine abſolute Vorausſetzung der geiſtigen Beherrſchung dieſes ſo hochwichtigen Lebensgebietes.

Die Elemente dieſes Syſtemes erſcheinen daher ihrerſeits als die elementaren Grundverhältniſſe des perſönlichen Lebens ſelbſt. Aus dem rein für ſich geſetzten Leben der Perſon geht der erſte Haupttheil, aus dem wirthſchaftlichen Leben derſelben der zweite, und aus dem geſell - ſchaftlichen Leben der dritte hervor. Jedes dieſer Gebiete iſt nun wieder nicht eine einfache Thatſache, ſondern zeigt ſich alsbald ſelbſt wieder als ein großes Syſtem in einander greifender und doch ſelbſtändiger Lebensverhältniſſe, ſo daß damit die Verwaltungslehre gleichſam in Einem großen, das ganze Geſammtleben umfaſſenden und ordnenden55 Bilde die fundamentalen Lebensverhältniſſe der Menſchheit über - haupt darſtellt. Das iſt die wahre Aufgabe und der Werth eines ſolchen Syſtems. Es handelt ſich bei ihm nicht um Formeln und De - finitionen, ſondern um eine Weltanſchauung; wer einmal mit der Ver - waltung ſich ernſtlich beſchäftigt hat, der wird bald erkennen, daß es keine Wiſſenſchaft gibt, die ihr an Reichthum und Bedeutung gleich käme. Die Verwaltungslehre iſt die Erfüllung der Selbſterkenntniß der menſchlichen Gemeinſchaft, mit der ganzen Fülle ihrer organiſchen Thatſachen, wie das Verwaltungsrecht die Fixirung der letzteren in einem beſtimmten gegebenen Momente iſt.

Allerdings aber hat dieſe Auffaſſung ihre Grenze. Denn nicht alles, was zum menſchlichen Leben gehört, gehört auch der Verwaltung. Ihr Gebiet umfaßt nur das, worin das Leben des Einzelnen und das der Gemeinſchaft ſich gegenſeitig beſtimmen und bedingen. Da wo der Einzelne ganz auf ſich angewieſen iſt, ſo wie da wo der Staat nur als individuelle Perſönlichkeit auftritt, gehört der Verwal - tung überhaupt nicht, alſo auch nicht der inneren Verwaltung. Daher erſcheint denn auch der Inhalt des Syſtems der letzteren ſo weſent - lich verſchieden von dem des perſönlichen Einzellebens; es kommen Kategorien in jener vor, die in dieſem nothwendig wegfallen, und um - gekehrt. Nur die obigen drei größten Gebiete bleiben; ſie ſind die Kategorien, in denen eben die Gemeinſchaft und der Einzelne ihr Leben gegenſeitig austauſchen; und wie nun dieſe große, die ganze Welt um - faſſende Gegenſeitigkeit ihre feſte Geſtalt gewinnt, das zeigt uns das poſitive Verwaltungsrecht jedes ſeiner einzelnen Theile.

Es iſt endlich klar, daß jene drei großen Gebiete nicht nach ein - ander da ſind, wie in der wiſſenſchaftlichen Darſtellung, ſondern gleich - zeitig und ſich gegenſeitig durchdringend fortleben. Aber die Theorie muß bei dem Einfachen beginnen. Das aber iſt die rein perſönliche Exiſtenz, welche mithin den erſten Theil bildet.

Erſter Theil. Die innere Verwaltung und das perſönliche Leben.

Das perſönliche Leben enthält nun für die innere Verwaltung den Menſchen, inſofern er als Einzelner, noch ohne alle die Entwicklungs - momente, die durch Güterleben und geſellſchaftliche Ordnung für ihn entſtehen, Glied der Gemeinſchaft iſt. Das heißt nun, inſofern er mit56 dieſem rein perſönlichen Daſein einerſeits die Gemeinſchaft beſtimmt, andererſeits von ihr beſtimmt wird. Das perſönliche Leben hat daher wie immer zwei Gebiete. Das eine iſt ſeine phyſiſche Perſönlich - keit, oder ſeine Perſon, das andere iſt das geiſtige Leben der - ſelben. In beiden ſchreitet der Menſch fort und entwickelt ſich, und mit ſich die Gemeinſchaft. In beiden aber finden Daſein und Fort - ſchritt des Einzelnen eine Reihe von Bedingungen, die ſich der Einzelne nicht ſelbſt zu geben vermag. Dieſe ihm ſo weit darzubieten, daß ſeine eigene perſönliche Selbſtändigkeit nicht beſchränkt wird, iſt die erſte Aufgabe der innern Verwaltung. Dieſelbe zerfällt daher in die obigen zwei Theile; in jedem dieſer Theile erſcheint aber nur das, was eben Gegenſtand der Gemeinſchaft und ihrer Aufgabe iſt, nicht was der Einzelne für ſich und durch ſich allein ſein ſoll. Und ſo entſteht das Syſtem dieſes erſten Theiles, deſſen Elemente die folgenden ſind.

Da wir dieſen erſten Theil in der inneren Verwaltungslehre (Verwaltungs - lehre, Bd. 1 6) bereits ausführlich behandelt haben, ſo werden wir kaum etwas anders liefern können, als einen kurzen Auszug. Die Aenderungen im Syſtem ſehen wir als eine Verbeſſerung an und hoffen, daß wir darin Recht haben werden.

A. Die Verwaltung und das phyſiſche Leben.

Das phyſiſche Leben des Einzelnen iſt ohne Zweifel zunächſt ſeine eigenſte Thatſache. Aber dennoch iſt es ein Theil des phyſiſchen Lebens und Daſeins der Gemeinſchaft. Die Beziehungen, in welchen es zu dem letztern ſteht, erſcheinen in vier Kategorien. Zuerſt iſt der Einzelne eine individuelle Thatſache, das iſt eine, der Gemeinſchaft angehörige Perſon; und das Verhalten der erſteren zu der letzteren bildet das Bevölkerungsweſen. Dann hat der Einzelne in ſeiner individuellen phyſiſchen Kraft und Geſundheit einen Theil und ein Moment der Geſammtkraft und Geſundheit, und daraus entſteht das Geſundheits - weſen. Ferner hat der Einzelne in ſeiner individuellen Unverletzlich - keit die erſte äußere, rein materielle Bedingung ſeines Daſeins und ſeines Fortſchritts, und dieſe gibt ihm die Gemeinſchaft durch das Polizeiweſen. Und endlich bedarf der Einzelne unter Umſtänden einer öffentlich anerkannten Verbreitung ſeiner Perſönlichkeit überhaupt, und dieſe wird ihm im Pflegſchaftsweſen geboten. Dieſe Gebiete zuſammengefaßt bilden das, was wir die innere Verwaltung des phy - ſiſchen Lebens der Perſönlichkeit nennen. Das Verwaltungsrecht for - mulirt dann Maß und Inhalt deſſen, was die Gemeinſchaft durch57 Regierung, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen für dieſe drei Gebiete gethan hat in der Rechtsgeſchichte und wirklich thut im poſitiven Verwaltungsrecht.

I. Das Bevölkerungsweſen. Begriff und Syſtem.

Die Bevölkerung in allen ihren verſchiedenen Beziehungen bildet die Grundlage des Staatslebens. Sie iſt daher die erſte und natür - lichſte Aufgabe der auf die eigenen Verhältniſſe gerichteten Thätigkeit des Staats. Und die Geſammtheit aller dieſer Thätigkeiten, ſowie der Grundſätze, nach denen ſie verfährt und zu verfahren hat, bildet das Bevölkerungsweſen.

In dieſem Bevölkerungsweſen bildet wieder die Darſtellung der natürlichen Geſetze, nach denen die Bevölkerung entſteht, ſich vermehrt und vermindert, die Bevölkerungslehre; die Darſtellung des Zu - ſtandes der Bevölkerung als einer auf durchſchnittliche Verhältniſſe zu - rückgeführten Thatſache, die Bevölkerungsſtatiſtik; beide zuſammen - gefaßt nennt man auch wohl Populationiſtik.

Die Populationiſtik iſt ſomit allerdings an ſich kein Theil der Ver - waltung der Bevölkerung, ſondern diejenige Vorausſetzung der - ſelben, welche die Geſetze zeigt, die ihrerſeits Ordnung und Maß der Verwaltungsthätigkeit in Beziehung auf die Bevölkerung bedingen.

Aber auch dieſe werden Gegenſtand der Verwaltungsthätigkeit durch die Statiſtik, welche wieder auf dem Zählungsweſen beruht. Mit dieſem beginnt die innere Verwaltung ihre ſyſtematiſche Ord - nung. Von ihr aus entſtehen die folgenden beiden Kategorien.

Die Bevölkerungsordnung entſteht durch die Nothwendigkeit, den Wechſel in der Zahl und in der Angehörigkeit der Einzelnen feſt - zuſtellen, da die individuellen Angehörigkeitsverhältniſſe von entſchei - dender Bedeutung für den Verkehr und ſein Recht ſind, ohne daß es dem Einzelnen möglich wäre, ſich die ihm nothwendige Gewißheit dar - über durch eigene Mittel zu verſchaffen. Die Bevölkerungsordnung enthält daher die Geſammtheit von Verwaltungsmaßregeln und Rechts - ſätzen, welche auf die Standesregiſter, das Paß - und Fremden - weſen und das Heimathsweſen Bezug haben. Jedes dieſer Ge - biete hat gleichfalls ſein eigenes Rechtsſyſtem.

Die Bevölkerungspolitik beruht auf der Bedeutung, welche die Zahl der Bevölkerung für den Staat hat. Sie geht davon aus, daß die Thätigkeit des Staats auf die Vermehrung und Verminderung58 dieſer Zahl Einfluß haben könne und ſolle, und enthält daher die Grundſätze und Regeln, nach denen dieſer Einfluß ausgeübt wird. Dieſe ſind wieder nach den Gebieten der Bevölkerungspolitik ſowohl grundſätzlich als hiſtoriſch verſchieden. Dieſe Gebiete ſind die Ehe, die Einwanderung und die Auswanderung, von denen jede ſein eigenes Rechtsſyſtem und ſeine Geſchichte hat.

Geſetzgebung. Unthunlichkeit der Codifikation über das ganze Bevölke - rungsweſen; dagegen zum Theil ſehr weitläuftige und detaillirte Rechtsbeſtim - mungen über die einzelnen Gebiete.

Literatur. Entſtehen der Berückſichtigung der Bevölkerungsfragen aus rein volkswirthſchaftlichem Geſichtspunkt. England, Verbindung mit ſocialen Fragen. Montesquieu L. XXIII. Entſtehen der eigentlich populationi - ſtiſchen Literatur. Grundlage: die Geſetze der Bewegung der Bevölkerung in Zunahme und Abnahme, auf Baſis von Zählungen und Beobachtungen: Süßmilch: Göttliche Ordnung in den Verminderungen des menſchlichen Ge - ſchlechts, 2 Bände, 1761. Erſter Vertreter einer ſelbſtändigen rationellen Thätigkeit der Verwaltung für die Vermehrung der Bevölkerung: Juſti ( Grundreguln der Bevölkerung in deſſen Grundſätzen der Polizeiwiſſenſchaft, I. 2 B.). Auftreten der Idee der Uebervölkerung: Malthus, Essays on population 1791. Kampf dagegen. Uebergang zur phyſiologiſchen Auf - faſſung und Bearbeitung der ganzen Frage, theils auf Grundlage der Phyſio - logie (Burdach, Phyſiologie), theils auf Grundlage der eigentlichen Bevölke - rungsſtatiſtik: Caſpar, Bernoulli, Quetelet, de l’homme 1841. Aufnahme der gewonnenen Reſultate in die Staatswiſſenſchaft (Pölitz, Staatswiſſenſchaft, II. B.), theils in die Statiſtik, welche faſt ganz populationiſtiſch wird, theils in die Nationalökonomie. Rau, §. 111, Roſcher, §. 11, als Erörterung der Uebervölkerungsfrage. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft, §. 33, beſ. Gerſtner, Staats - verwaltung, II. Bd. 1. Abth., mit Hinneigung zur phyſiologiſchen Behandlung. Die ganze Bevölkerungsordnung und ihr Recht in dieſen Auffaſſungen ohne alle Berückſichtigung; dagegen Behandlung der einzelnen Gebiete, aber ohne Bewußtſein des Zuſammengehörens. Stein, Verwaltungslehre, II. Bd. S. 114 ff. Carey, Lehrbuch der Volkswirthſchaft von Adler, 1870, Cap. 38.

A. Die Statiſtik und das Zahlungsweſen.
I. Der Begriff der adminiſtrativen Statiſtik. (Die Lehre von der Wiſſenſchaft der Thatſachen.)

Allerdings geht der Begriff der Statiſtik weit über die innere Ver - waltung hinaus; aber auch er findet hier ſeine wichtigſte Anwendung. Es iſt daher durchaus nothwendig, denſelben für ſich, und aus ihm den Begriff der adminiſtrativen Statiſtik zu beſtimmen.

Die Statiſtik iſt ihrem Begriffe nach die Wiſſenſchaft der Thatſachen überhaupt. Sie enthält in dieſem Sinne die Methode,59 für das richtige Verſtändniß jeder Thatſache, alſo auch der des Staats - lebens. Sie hat damit ihr eigenes Syſtem; es iſt die Logik und Dia - lektik der Erſcheinungen neben der des Gedankens. Ihre Elemente ſind folgende.

Der Akt, durch welchen ich das Daſein einer Thatſache mir zum Bewußtſein bringe, indem ich denſelben meſſe, iſt die Beobachtung. Der Werth der Beobachtung wird daher beſtimmt von der Genauigkeit und Zweckmäßigkeit des Maßes, und ſteigt in umgekehrtem Verhält - niß zu der Kleinheit der Differenzen, welche ſie ergibt. Dieſe Diffe - renzen verſchwinden nie ganz, möge der Grund nun liegen wo er will. Ich kann daher mit gar keiner einzelnen Beobachtung eine Thatſache genau meſſen, ſondern ich muß einen Durchſchnitt bilden, deſſen Werth oder Wahrheit um ſo größer iſt, je größer die Zahl der Beobachtungen und je geringer der Grad ihrer Differenz. So gelange ich zu der Thatſache, deren Begriff daher die durch die Beobachtung gemeſſene einheitliche Erſcheinung iſt. Jedes gewiſſe, als eine ſelb - ſtändige Einheit erkannte Daſein iſt demnach eine Thatſache.

Dieſe Thatſache wechſelt. Der Wechſel enthält zwei Momente, welche ich Grund und Folge nenne. Wenn ich nun Grund und Folge ſelbſt wieder als ſelbſtändige Thatſache beobachte und mithin meſſe, ſo entſtehen die Begriffe von Urſache und Wirkung. Die Urſache iſt der beobachtete Grund, die Wirkung iſt die beobachtete Folge. Allein die Urſache iſt mit ihrer einmaligen Wirkung nicht erſchöpft; denn die letztere iſt nicht bloß Erſcheinung des Grundes, ſondern auch Erſcheinung der auf denſelben einwirkenden unendlichen Mannichfaltig - keit anderer Kräfte. Das wahre Maß des Grundes liegt daher nicht in ihm ſelbſt, ſondern in ſeiner Kraft dritte Erſcheinungen durch ſich zu beſtimmen. An dieſem erſcheint jene Kraft. Ich meſſe daher den Grund, indem ich die möglichen Wirkungen nach den vorhandenen und beobachteten berechne; und das ſo entſtandene Maß der Kraft, die ich in Beziehung auf ihre einmalige Erſcheinung die Wirkung nannte, iſt dann die Wahrſcheinlichkeit. Die Wahrſcheinlichkeit alſo iſt das durch die Wirkung dritter Kräfte geſetzte Maß der beob - achteten Grundkraft. Indem ich durch dieſes Maß zur Gewißheit der ſelbſtwirkend vorhandenen Kraft gelange, entſteht der Begriff des Ge - ſetzes. Jede Beobachtung ſtrebt daher zum Geſetze zu gelangen; jede Thatſache iſt nur die Erſcheinung eines Geſetzes; die Geſammtheit aller Thatſachen löst ſich durch die Geſetze in eine große harmoniſche Ord - nung aller Dinge auf; und ſo iſt die Wiſſenſchaft der Thatſachen die - jenige Weltanſchauung, welche vom Einzelnen zum Ganzen gelangt. Für ſie gibt es keinen Zufall und keinen Unterſchied des Werthes60 oder der Wichtigkeit der Thatſachen, ſondern dieſe liegen wie der Be - griff des Maßes ſelbſt, nur im Menſchen, nicht in den Dingen. Für ſie gibt es aber auch kein Gebiet, das ſie nicht bewältigen könnte; ihr gehört alles, und daher gehört ihr auch das Leben des Staats.

Dieſe Wiſſenſchaft der Thatſachen, indem ſie nur auf den Staat und ſein Leben angewendet wird, iſt die Statiſtik. Die Theorie der Statiſtik, im Unterſchied von der Wiſſenſchaft der Thatſachen, iſt demnach wiſſenſchaftlich definirt, die Lehre von der Art und Weiſe, wie der Staat ſeine Beobachtungen macht, ſeine Durchſchnitte und That - ſachen feſtſtellt, und durch Unterſuchung der in ſeinem Leben wirkſamen Urſachen und Wirkungen zum Verſtändniß der Geſetze gelangt, welche daſſelbe beherrſchen. Das Ergebniß der Statiſtik ſind dann dieſe nach der Theorie derſelben aufgeſtellten Thatſachen und Geſetze des Staatslebens. Das iſt ſehr einfach.

Sobald man nun, wie das meiſtens geſchieht, dieſe Ergebniſſe ſelbſt als die eigentliche Statiſtik betrachtet, ſo entſteht nicht bloß Ver - wirrung in den Begriffen, ſondern man gelangt überhaupt nicht zu einer Theorie der Statiſtik, und noch viel weniger zu einer Lehre von den Thatſachen. Der Gang der Geſchichte hat nun dieſen letzten Weg eingeſchlagen, und als Statiſtik gilt nur das Sammeln von Beobach - tungen und die Darſtellung derſelben, auf gewiſſe mehr oder weniger ſtichhaltige Einheiten reducirt. Noch iſt der Verſuch nicht anerkannt, die Statiſtik aus dieſem modernen und rein praktiſchen Stadium der bloßen Kenntnißnahme zu einer bewußten Wiſſenſchaft zu erheben. Nur auf Einem Punkte liegt ein ſolcher Verſuch vor, und der iſt das Zählungsweſen.

Wir glauben die Geſchichte der adminiſtrativen Statiſtik, die eigentlich wohl theoretiſch mit Seckendorf, Teutſcher Fürſtenſtaat 1635 (ſpeciell II. c. 5), beginnt, eben ſo wenig als die Geſchichte der Lehre von den Thatſachen, die Pascal zuerſt mathematiſch formulirte, verfolgen zu ſollen, als das gründ - liche Mißverſtändniß unſres Verſuches einer Lehre von den Thatſachen (Syſtem der Staatswiſſenſchaft I.) bei Mohl. Wir würden zugeben, im letzten Punkte vollkommen unrecht zu haben, wenn in der ganzen Statiſtik nur Einmal die Frage unterſucht wäre, was denn eigentlich eine Thatſache iſt. Mohl hat deßhalb auch die Bedeutung Quetelets und ſeiner Lettres sur la Pro - babilité nicht hervorgehoben. Seine übrigen Angaben (Literatur der Staats - wiſſenſchaft III. XIX. ) ſind übrigens eben ſo reich als zuverläſſig.

II. Das Zählungsweſen.

Das Zählungsweſen enthält die Geſammtheit von Vorſchriften und Maßregeln der Verwaltung, vermöge welcher dieſelbe ſich ein auf61 Zahl und Vertheilung der Bevölkerung beruhendes Bild derſelben und ihrer perſönlichen, wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Zuſtände für ihre Zwecke ſchafft. Daſſelbe entſteht daher erſt mit dem Bewußtſein von dieſen Zwecken, und bildet ſich in gleichem Schritte mit demſelben aus. Die Geſchlechter - und ſtändiſche Ordnung haben daher keine Zählungen. Sie beginnen ſtets mit der polizeilichen Verwaltung, ſind anfangs auf militäriſche und finanzielle Zwecke beſchränkt, und behalten auch ſpäter vorwiegend dieſen Charakter. Mit der Entſtehung der Be - völkerungslehre und der inneren Verwaltung entwickelt jedoch das Zählungsweſen ein rationelles Syſtem, ſowohl für die Momente des Zuſtandes der Bevölkerung als für den Vorgang der Zählungen ſelbſt, das ſeinerſeits auf dem bereits im vorigen Jahrhundert entſchieden ausgebildeten Zuſtand der Wiſſenſchaft beruht, und, obwohl in den verſchiedenen Staaten noch ſehr verſchieden, dennoch bereits einer gleichartigen, und das ganze Leben der Bevölkerung umfaſſenden Dar - ſtellung entgegen geht, deren Wichtigkeit von Jahr zu Jahr mehr an - erkannt wird. Die Grundlagen, die ſich dabei herausbilden, beſtehen in dem Uebergang von der Schätzung zur Kopfzählung, und von dieſer zum eigentlichen Zählungsweſen, das zuerſt bei der tabella - riſchen Conſtatirung der perſönlichen Verhältniſſe (Alter, Geſchlecht, Familie, Confeſſion) beginnt, dann zu den wirthſchaftlichen Ver - hältniſſen übergeht (Erwerbsverhältniſſe, Beſitzſtand, Viehſtand, Häuſer, Anlagskapitalien, Unternehmungen) und endlich die geſellſchaft - lichen Verhältniſſe aufnimmt (Stand, Beruf, Bildung). Das or - ganiſche Verhältniß der ſo gewonnenen Reſultate zu den Aufgaben und den Erfolgen der inneren Verwaltung iſt nur noch in ſehr einzelnen Gebieten (Steuern, Schulbeſuch, zum Theil Geſundheitspflege, Land - wirthſchaft) unterſucht, und fordert allerdings, daß die künftigen Zäh - lungen mit der geſammten Verwaltungsthätigkeit als in einem beſtän - digen und cauſalen Wechſelverhältniß ſtehend erkannt werden. Darin liegt die Zukunft des Zählungsweſens, das ſtets der Mittelpunkt der Verwaltungsſtatiſtik bleiben wird.

Eben wegen dieſer Unfertigkeit des Verhältniſſes zwiſchen Verwal - tung und Statiſtik hat ſich bisher das Zählungsweſen nicht gleichmäßig in den einzelnen Staaten ausbilden können. Zählungsprincip, Recht und Ordnung ſind noch ſehr verſchieden, obwohl die Anerkennung der Wichtigkeit, ja der Nothwendigkeit deſſelben in ganz Europa als ent - ſchieden angeſehen werden dürfen.

Literatur und Statiſtik. Erſte Verſuche: allgemeine Erkenntniß der Wichtigkeit, ohne Syſtem; einzelne örtliche Beobachtungen. Montesquieu, L. 23. Mohl, Literatur der Staatswiſſenſchaft I. S. 424 ff. Süßmilch,62 erſte Verbindung der Bevölkerungsphyſiologie mit der Zählung. Juſti, II. 1. 2, erſte Theorie der rationellen Zählung. Kopetz, I. 39. Schätzungen und Zählungen geſchieden. Necker in Frankreich. Scheidung des Zählungs - weſens von der Staatswiſſenſchaft in unſrem Jahrhundert; Betrachtung des - ſelben als ſelbſtändiges Gebiet der Adminiſtration, damit Verſchwinden der bloßen Schätzungen; ſtrenge Zählung, aber meiſt reine Kopfzählung als Grundlage. Dann Wiederaufnahme des phyſiologiſchen Standpunkts durch Quetelet, und daraus ſelbſtändige Theorie der Zählungen, bei denen die Adminiſtra - tion und Geſetzgebung der Theorie ſich unterordnet. Czörnig (Oeſterreich), Legoyt (Frankreich), Farr (England), Engels (Sachſen und Preußen), Herrmann (Bayern). Die Zollvereinszählungen, ihr Grund und ihr Inhalt.

Geſetzgebung. England. Einführung der regelmäßigen Zählungen durch Anſchluß an die Standesregiſter und ihre geſetzliche Ordnung. Grund - lage: Regulations for Registrars 1838. Mohl I. S. 241.

Frankreich. Anſchluß an die innere Verwaltung als Grundlage der Bemeſſung öffentlicher Berechtigungen und Laſten der Selbſtverwaltungskörper. Anfang: Geſetz vom 22. Juli 1791. Begründung jener Verbindung: Arr. 17 Germ. an XI. und folgende Geſetze; Verbindung mit der Beſteuerung: Geſetz vom 21. April 1832 und 1844; mit der Gemeindeverwaltung: Geſetz vom 5. Mai 1855. Juglar, de la population en France depuis 1772. (Journ. d. Ec. XXX XXXII.); Fayet de l’accroissem. de la population en France. Journ. d. Ec. XII.

Oeſterreich. Im Anfang: Anſchluß an die Militärſtellung; Einrichtung des ganzen Zählungsweſens darnach; ſeit Hofdecret vom 19. Jan. und 16. Febr. 1754; beſtimmte Ordnung: Patent vom 18. Sept. 1777; ſ. Kopetz, Polizei - geſetzkunde I. 165. Neueſtes, nach den Grundſätzen der Theorie bearbeitetes Volkszählungsgeſetz vom 23. März 1856 (Czörnig); ſ. Stubenrauch, öſterr. Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 164 und 167. Das Geſetz vom 29. März 1869 hält die Hauptgrundſätze des alten aufrecht.

Deutſche Staaten. Grundlage: zuerſt die Bundesmatrikel, dann die Zählungen für den Zollverein, welche dann je nach der Höhe der Wiſſen - ſchaft in einzelnen Staaten ſehr weit ausgebildet, in andern weniger entwickelt ſind. Zolleinigungsverträge ſeit 1833; Zählungen grundſätzlich nur nach der Kopfzahl. Daher in allen übrigen Momenten Willkür. Vgl. Zuſammen - ſtellung der in Bezug auf die Volkszählungen in verſchiedenen deutſchen Staaten getroffenen Anordnungen, vom 8. Juli 1864 und Nachtrag 1865; nach welchem demnach zwiſchen den Zählungsvorſchriften der einzelnen deutſchen Staaten noch immer ſo erhebliche Verſchiedenheiten beſtehen, daß hiedurch die Vergleichbarkeit weſentlich beeinträchtigt wird. Engels Thätigkeit in Sachſen und Preußen. Die Darſtellung der geltenden (faſt ausſchließlich verordnungsmäßigen) Vorſchriften mangelt in allen deutſchen Verwaltungs - geſetzkunden. L. Stein, innere Verwaltungslehre, S. 213 226. Preußens Volkszählungen werden angenommen auf Grund der Erläſſe vom 6. Juli 1846,63 20. Okt. 1858 und 16. Okt. 1861. (Auſtria 1864, Nr. 49.) Königreich Sachſen, Verordnung vom 1. Okt. 1864. (Liſten von den Behörden, Zählung durch die Gemeinden.)

B. Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung. Begriff und Weſen.

Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung beruht darauf, daß die Conſtatirung einerſeits der Angehörigkeit des Einzelnen an ſeinen Staat und die Organe ſeiner Verwaltung, andererſeits der Identität der Perſönlichkeit überhaupt in dem Grade mehr eine Bedingung für die Entwicklung des Geſammtlebens wird, je mehr der Verkehr die Einzelnen durcheinander wirft. Es iſt klar, daß beide Bedingungen von dem Einzelnen als ſolchem nicht erfüllt werden können. So wie daher die Staatsthätigkeit und zugleich die Bewegung der Bevölkerung wechſeln, wird es nothwendig, dafür objektive gültige Beſtimmungen zu treffen. Und die Geſammtheit dieſer Beſtimmungen für die Staats - angehörigkeit im weiteſten Sinne, ſo wie für die öffentlich rechtliche Conſtatirung der Identität des Einzelnen bilden die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung.

Es leuchtet ein, daß es gar keinen Zuſtand eines Volkes geben kann, in welchem nicht wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade die Elemente dieſer Ordnung vorhanden wären. Allein eine ſyſtematiſche Entwicklung kann erſt dann eintreten, wenn einerſeits der Staat ſich in Geſetzgebung und Verwaltung zu einem durchgearbeiteten Organis - mus geſtaltet, und andererſeits die Schranken zwiſchen den Völkern im Ganzen, und den einzelnen Orten innerhalb der Staaten gebrochen werden. Alsdann aber muß dieſe Angehörigkeit auch als eine große, auf jedes Lebensverhältniß ſich beziehende Ordnung aufgefaßt werden. Dabei nun iſt es der naturgemäße Gang der Entwicklung, daß im Anfange deſſelben dieſe Ordnung eine unfreie iſt, das heißt, daß der Staat die Aenderung der gegebenen Verhältniſſe nicht von dem Ein - zelnen, ſondern von ſeiner Erlaubniß abhängig macht. Erſt mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt auch hier die ſtaatsbürgerliche Freiheit ein, und das Rechtsprincip derſelben wird der Satz, daß der Staat dieſe Ordnung nur in ſo weit fordert, als ſie im Geſammtintereſſe nothwendig iſt, während da, wo es ſich bloß um Einzelintereſſen han - delt, der Einzelne ſich ſelbſt überlaſſen bleibt. Von dieſem Geſichts - punkte aus hat ſich das folgende Syſtem praktiſch gebildet und iſt zum öffentlichen Recht geworden.

64
I. Die öffentlich-rechtliche Bevölkerungsordnung. Begriff.

Die öffentlich rechtliche Ordnung der Bevölkerung beruht zunächſt darauf, daß die Conſtatirung der Staatsangehörigkeit für den Einzelnen die erſte und materielle Bedingung für die Vollziehung jeder Staatsthätigkeit iſt, ſo weit dieſelbe auf den Einzelnen Bezug hat. Dieſe Staatsangehörigkeit iſt eine doppelte, eine äußere, gegenüber dritten Staaten, und eine innere. Dieſe innere zerfällt wieder ver - möge des Weſens der Staaten in zwei Grundformen. Sie iſt ein An - gehören an die Verfaſſung des Staats, deren Inhalt das Recht auf den Antheil iſt, den der Einzelne an der Geſetzgebung hat. Hat er gar keinen Antheil, ſo iſt er Staatsunterthan; hat er einen Antheil, ſo iſt er Staatsbürger. Die genauere Entwicklung dieſer Begriffe gehört dem Verfaſſungsrecht.

Zweitens aber gehört der Einzelne auch der Verwaltung an. Dasjenige Recht, vermöge deſſen die Verwaltung überhaupt befugt iſt, ihre Funktion gegen den Einzelnen geltend zu machen, iſt die Com - petenz. Das Recht, vermöge deſſen der Einzelne der Ausübung be - ſtimmter Funktionen der Verwaltung unterworfen iſt, iſt die Zuſtän - digkeit. Jeder Competenz entſpricht daher eine Zuſtändigkeit. Die organiſche Auflöſung des Begriffes der Verwaltung erſchließt daher einen großen Organismus von Competenzen der Staatsgewalt und Zuſtändigkeiten des Einzelnen in allen fünf Gebieten der Verwaltung. Es gibt Competenzen und Zuſtändigkeiten im Aeußern, im Heerweſen, in den Finanzen, in der Rechtspflege, und im Innern. Während nun die übrigen je ihre Ordnung haben, iſt es die Ordnung der Compe - tenz und Zuſtändigkeit in der inneren Verwaltung, die wir im eigentlichen Sinne die adminiſtrative Ordnung der Be - völkerung nennen.

Dieſe nun hat nach dem Weſen der vollziehenden Gewalt zwei Grundformen. Die erſte iſt die eigentliche amtliche Competenz und Zuſtändigkeit, als das Verhältniß, vermöge deſſen der Ein - zelne einem beſtimmten Organ der inneren Verwaltung mit ſeinen ſtaatsbürgerlichen Geſetzen unterworfen iſt. Die zweite iſt die Ange - hörigkeit an die Selbſtverwaltungskörper, die ihren am meiſten bekannten Ausdruck im Heimathsweſen findet. Eine Zuſtändigkeit an das Vereinsweſen gibt es in obigem Sinne nicht, da die Mit - gliedſchaft, welche ihr entſpricht und ſie begründet, auf dem freien Willen des Einzelnen beruht, und daher nicht die Geltung eines öffent - lichen Rechts hat.

65
a) Die adminiſtrative Competenz und Zuſtändigkeit.

Die adminiſtrative Competenz und Zuſtändigkeit iſt nun zwar ihrem Begriffe nach ſehr einfach, in der Wirklichkeit aber nicht bloß vielfach verworren, ſondern auch in beſtändiger Entwicklung begriffen. Das leitende Princip für dieſelbe iſt, daß jede beſtimmte Funktion ihre beſtimmte Competenz und Zuſtändigkeit hat, die ihrerſeits nach der Zweckmäßigkeit feſtgeſtellt werden. Es gibt daher Competenzen und Zuſtändigkeiten für Zählungs -, Geſundheits -, Sicherheits -, Wege -, Poſt -, Eiſenbahnweſen u. ſ. w. Dieſe Competenzen und Zuſtändig - keiten ſind Beſtimmungen der Organiſationsgewalt. Die Darſtellung der Competenzen iſt die Aufgabe der Staatshandbücher, die der Zuſtändigkeiten bildet, ſoweit ſie auf Grund und Boden beruht, den Inhalt der politiſchen Geographie. Der Charakter dieſer Ord - nung iſt in Deutſchland und England die hiſtoriſche Staatenbildung, in Frankreich, Italien, Belgien das adminiſtrative Bedürfniß. Das Recht deſſelben beruht auf dem Grundſatz, daß die competente Behörde die Zuſtändigkeit des Einzelnen für ſich gültig ausſpricht, und daß der Beweis des Gegentheils von dem Einzelnen geleiſtet werden muß, wenn er die Competenz in Frage ſtellt. Die Entwicklung geht im Großen und Ganzen dahin, die Competenzen und Zuſtändigkeiten ſo viel als möglich zu vereinfachen; doch müſſen bei ihr ſtatiſtiſche Darſtellungen die theoretiſche Behandlung vertreten, da eine einmal feſtgeſtellte Competenz nie ohne Schwierigkeit zu ändern iſt. Es iſt demnach klar, daß in Competenz und Zuſtändigkeit der Körper der einzelnen Verwaltungszweige gegeben iſt; erſt die Ausbildung des ſyſtematiſchen Klage - und Beſchwerderechts wird für die Lehre von beiden Begriffen in der Wiſſenſchaft einen nicht unwichtigen Platz finden.

Literatur. Aelteres Recht in den Rechtsgeſchichten. Neuere Literatur mit neunzehntem Jahrhundert, getheilt zwiſchen der Frage nach dem Syſtem der amtlichen Competenzen, dem Gemeindeweſen und der politiſchen Geographie. Malchus, Politik der innern Staatsverwaltung 1833, 3. Bd. Ebenſo iſt die Politik dieſer Verwaltungsfragen immer nur für die einzelnen Gebiete auf - gefaßt; namentlich zeigen z. B. die Staatshandbücher hier eine große Be - ſchränkung auf das Amtsweſen. Die neueſte Staatenkunde ſteht ſtatiſtiſch weit höher, indem ſie die geſammte adminiſtrative Bevölkerungsordnung und ihr Recht aufnimmt und ſtatiſtiſch verarbeitet. Vortrefflich iſt in dieſer Beziehung Brachelli, die Staaten Europa’s 1865; für Deutſchland deſſen Staaten - kunde. Stein, Innere Verwaltungslehre (Organismus der vollziehenden Gewalt, S. 232 ff.).

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 566
b) Competenz und Zuſtändigkeit in der Selbſtverwaltung. Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht.

Die Geſchichte der Competenz und Zuſtändigkeit der Selbſtverwal - tungskörper bildet einen ſo weſentlichen Theil der ganzen Rechts - geſchichte, daß ſie von derſelben gar nicht ſtrenge zu trennen iſt. Denn urſprünglich iſt die Gemeinde im weiteren Sinne das eigentliche Organ der inneren Verwaltung überhaupt, und ihre Competenz umfaßt alle Competenzen. Als ſich dann Stadt und Land ſcheiden, erſcheint die Angehörigkeit an die Stadt als das Gemeindebürgerthum mit ſeinen untergeordneten Begriffen und Rechten der Pfahl - und Schutz - bürger, während auf dem unfrei gewordenen Grundbeſitz die Guts - herrlichkeit eintritt, und die urſprüngliche Geſchlechterangehörigkeit zur Leibeigenſchaft und Hörigkeit wird. Daneben entſteht dann die zweite große Form der Competenz und Zuſtändigkeit, die ſtändiſche, in der die ſtändiſchen Corporationen, namentlich Geiſtlichkeit und Uni - verſitäten, ihre ganze innere Verwaltung ausüben, ſo weit der Einzelne wieder ihnen angehört. Erſt mit dem ſtaatlichen Amt greift die admi - niſtrative Zuſtändigkeit und Competenz in die der Selbſtverwaltungs - körper auf allen Punkten hinein, und jetzt ſcheidet ſich allmählig, namentlich aber erſt ſeit dem neunzehnten Jahrhundert, auch in dieſer Beziehung die Regierung von der Selbſtverwaltung. Die Form, in der dieſe Scheidung ihre feſte Geſtalt gewinnt, iſt vor allem die neue Gemeindegeſetzgebung. Sie ſchafft der Selbſtverwaltung ein be - ſtimmtes Gebiet ihrer Thätigkeit und ihres Rechts gegenüber der Re - gierung, und zuletzt entſteht auch für ſie die doppelte Geſtalt der Competenz und Zuſtändigkeit, die wir als Gemeindebürgerthum und Heimathsweſen begrüßen.

Das Gemeindebürgerthum bezeichnet demnach das Angehören des Einzelnen an die Akte der Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinde überhaupt, ſpeciell das Recht auf Theilnahme an der Gemeindever - faſſung. Das allgemeine Princip derſelben iſt, daß jeder Staats - bürger einer Gemeinde angehören muß; die Ausführung deſſelben oder der Inhalt dieſer Angehörigkeit iſt dann eben die Lehre vom Ge - meindeweſen in der Selbſtverwaltung.

Während auf dieſe Weiſe die Gemeindeangehörigkeit weſentlich die Rechte der Gemeindeglieder enthält und beſtimmt, entwickelt ſich im Heimathsweſen ein ganz anderes Verhältniß.

Das Heimathsweſen enthält nämlich denjenigen Theil der Ver - waltungsordnung der Bevölkerung, nach welcher die einzelne Gemeinde die Angehörigkeit der Einzelnen in Beziehung auf ihre Verpflich -67 tungen gegen denſelben, ſpeciell ihre Verpflichtung zur Armen - unterſtützung anzuerkennen hat. Die Grundſätze für das Heimaths - recht ſind an ſich einfach. Das Heimathsrecht wird in der ganzen Welt unbedingt erworben durch Geburt und Erwerb von Grundbeſitz (natürliches Heimathsrecht); es kann erworben werden durch gewerb - lichen, längeren Aufenthalt (gewerbliches Heimathsrecht). Da nun das gewerbliche Heimathsrecht das Recht auf die Armenunterſtützung und mithin eine Verpflichtung für die Gemeinde enthält, ſo iſt von jeher die Frage entſtanden, unter welchen Bedingungen der gewerb - liche Aufenthalt das Armenheimathsrecht erzeugen ſoll. Das Intereſſe der Gemeinden hat dabei ſtets gefordert, daß dieſer Erwerb des Hei - mathsrechts von der Zuſtimmung der Gemeinde abhängig ſein, und daher der letzteren das Recht der Ausweiſung bei drohender Ver - armung zuſtehen ſolle; das Intereſſe des freien Verkehrs dagegen fordert, daß der Einzelne in der Wahl und Dauer ſeines dauernden Aufenthalts nicht beſchränkt werde. Alle poſitiven Heimathsrechte laufen darauf hinaus, zwiſchen dieſen Forderungen eine den gerechten Grund - lagen beider entſprechende Gränze zu finden. Je ſtrenger nun die Armenpflicht der Gemeinde iſt, deſto ſtrenger wird dieſelbe ihrerſeits auf dem Recht der Ausweiſung bei drohender Verarmung beſtehen; je raſcher die örtliche Bewegung der Bevölkerung erſcheint, deſto mehr wird das Intereſſe der freien Arbeit mit dem Rechte der Ausweiſung in Kampf gerathen. Daher denn eine große Verſchiedenheit der Geſetz - gebung, aber doch zugleich eine entſchiedene Hinneigung zur Beſchrän - kung des Ausweiſungsrechts, oder zur Erleichterung des Erwerbes des Heimathsrechts für die capitalloſe Arbeit. Die Löſung der Frage liegt ohne Zweifel in der Aufſtellung von großen Verwal - tungsgemeinden für das Armenweſen an der Stelle der ausſchließlich armenpflichtigen Ortsgemeinden, ſo wie in der Aufſtellung einer ein - heitlichen Verwaltung für den ganzen Staat. Bis dahin reduciren ſich naturgemäß die Grundſätze für den Erwerb des gewerblichen Heimaths - rechts zwiſchen den armenpflichtigen Ortsgemeinden auf folgende drei mehr oder weniger durchgreifend angenommene Grundſätze: 1) Be - ſtimmung der Zeit, innerhalb deren das Heimathsrecht erworben wird; 2) Recht der Ausweiſung, wenn innerhalb dieſer Zeit die Unter - ſtützung faktiſch eintritt, unter Aufhebung des Rechts auf die Ehebe - willigungen der Gemeinden; 3) Recht auf unbedingten Aufenthalt gegen Heimathsſcheine.

Literatur und Geſetzgebung. England: Kries, Engliſches Armenweſen (1856). Die Settlements Act von 1672. 14. Ch. II. 12. Einführung der Heimathſcheine (35 G. III. 101). Die Irremoveable Paupers68 Act 1846 (9. 10. Vict. 66). Die Bodkins Act 1847 (10. 11. Vict. 110). Ueber das Heimathsrecht der Engländer im Ausland und der Ausländer in England betreffs des Erbrechts, neueſtes Geſetz 24. 25. Vict. 121. Auſtria 1864. S. 326. Frankreich: Ohne eigentliches Heimathsrecht; allgemeine Armenpflege. Deutſchland. Hier iſt das Heimathsweſen ohne alle Einheit, weil die Gemeindeordnungen ohne Klarheit und Princip in Beziehung auf die Angehörigkeit ſind (ſ. Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 422 ff). Gothaer Convention vom 15. Juli 1851. Reviſion von 1854. Beitritt Oeſterreichs am 15. November 1860. Darauf 1861 Commiſſion des Bundestages ohne Erfolg (Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 477). Oeſterreich, Swieceny: öſterr. Heimathsrecht 1861. Neueſtes Geſetz vom 3. Dec. 1863. Preußen: Döhl, Preuß. Armenrecht. Bitzer, Freizügigkeit S. 182 192. Rönne II. 339. Armenpflege, Geſetz vom 31. December 1842. Geſetz vom 21. Mai 1855. Bayern: Pötzl, Verfaſſungsrecht 93. Geſetz vom 11. September 1825. Württemberg: Geſetz vom 17. September 1853. Bitzer S. 230. Sachſen: Geſetz vom 26. November 1834. Funke II. S. 284. Hannover: Geſetz vom 6. Juli 1827. Baden: Regulativ vom 31. October 1863. Ausführlich: Stein, Innere Verwaltungslehre S. 306 ff.

II. Die Standesregiſter.

Die Standesregiſter entſtehen aus dem Bedürfniß, die Thatſachen von Ehe, Geburt und Tod des Einzelnen theils für die adminiſtra - tiven Funktionen, theils für die volkswirthſchaftlichen Rechts - und Ver - kehrsverhältniſſe mit objektiver Gültigkeit feſtſtellen zu können. Die darauf bezüglichen Anſtalten und Vorſchriften bilden das Recht der Standesregiſter.

Dieſelben haben ſich, wie es in der Natur der Sache liegt, mit dem Bedürfniß des Verkehrs erſt allmählig zu ihrer heutigen, ſyſtema - tiſchen und allgemein gültigen Form entwickelt. Sie beginnen mit den Gemeindekirchenbüchern (Cons. Trident. I. 24. 1. 2. ) Daraus entſtehen die Geburts - und Todtenregiſter als allgemeine Ein - richtung, letztere bereits im vorigen Jahrhundert in den größten deut - ſchen Staaten von der Confeſſion abhängig gemacht, allgemein vor - geſchrieben und organiſirt, und mit juriſtiſcher Beweiskraft verſehen. In unſerem Jahrhundert werden ſie neben dieſer juriſtiſchen Bedeutung für die Rechte der Einzelnen zunächſt zu Mitteln der Volkszählung, indem durch ſie die (populationiſtiſche) Bewegung der Bevölkerung (Abnahme und Zunahme) regelmäßig verfolgt wird. Von Frankreich aus tritt dann der Grundſatz ins Leben, daß ſie zugleich als öffent - liche Dokumente für die Eingehung der Civilehe gelten. Die große praktiſche Wichtigkeit derſelben erzeugt damit eine genaue zum Theil ſehr ausführliche Geſetzgebung, die ſchon im vorigen Jahrhundert,69 namentlich in Oeſterreich und Preußen ſehr genau ausgebildet iſt. Die Grundlagen dieſer Geſetzgebung beziehen ſich 1) auf die Form der Führung dieſer Regiſter, welche ſo eingerichtet ſein muß, daß ſie die Elemente des juriſtiſchen Beweiſes in ihrem Inhalt geben, alſo die amtliche (kirchliche oder behördliche) Conſtatirung der Identität der Per - ſonen, und die Zuziehung von Zeugen; 2) auf die adminiſtrative Oberaufſicht und Benützung derſelben für allgemeine Reſultate durch Reviſion und durch Sammlung und Publicirung ihrer Reſultate; 3) auf die Anerkennung ihres Rechts als Beweismittel, verbunden mit der Beſtimmung über ihre Benützung durch den Einzelnen. Die Frage, ob und welche andere Geſichtspunkte und Thatſachen bei dieſer Führung noch in die Standesregiſter aufgenommen werden kön - nen und ſollen, namentlich in populationiſtiſcher Hinſicht (Alter, Er - werbsfähigkeit, Todesart, eheliche und uneheliche Kinder) iſt nicht gleichmäßig entſchieden. Die Theorie hat ſich faſt ausſchließlich mit dem Geſichtspunkte der Volkszählung bei demſelben beſchäftigt, und nur die Geſetzgebung den nicht weniger bedeutſamen des Beweisrechts conſequent feſtgehalten.

Literatur. Faſt nur im vorigen Jahrhundert von Bedeutung. Süß - milch erkennt zuerſt die hohe Wichtigkeit der Geburts - und Todtenregiſter; erſte Verbindung mit dem Verſicherungsweſen. Juſti II. 6. 1 erſter eigentlicher Syſtematiker für dieſelben, jedoch noch ohne Beziehung auf das juriſtiſche Element. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. 16. Gerſtner, Bevölkerungs - lehre S. 73. In den übrigen Lehren der Staatswiſſenſchaft fehlend.

Geſetzgebung. Die deutſche Geſetzgebung iſt der engliſchen und fran - zöſiſchen weit voraus und als Gründerin des ganzen Syſtems anzuſehen. Oeſterreich: Beginn der Geſetzgebung (Dekret vom 10. Mai 1774); Haupt - geſetz, noch gegenwärtig auf der Höhe der Zeit (Patent vom 20. Februar 1784); Einführung für alle Confeſſionen in gleichartiger Form; Reviſion; for - melle Scheidung von Ehe, Geburt und Tod; jährliche Summarien über die Bevölkerungsbewegung (Kopetz, Polizeigeſetzkunde II. S. 74 86; Stuben - rauch 167 176). Das Geſetz hat ſpäter nur geringer Zuſätze bedurft. Preußen, doppeltes Recht: im Oſten Einführung (allgemeines Landrecht II. 11. 27); juriſtiſche Beweiskraft nur für anerkannte Religionsgeſellſchaften (Religionsedikt vom 9. Juli 1788); dieß iſt erſt geändert durch Patent vom 30. März 1847; Juden-Verordnung vom 23. Juli 1847. Im Weſten das franzöſiſche Recht (Rönne, Staatsrecht I. §. 97. II. 318). Im übrigen Deutſchland zum Theil Unklarheit und Verſchiedenheit der Beſtimmungen, weil man nach franzöſiſchem Vorgange die Eintragung der Ehe in die Standes - regiſter nicht als amtliche Conſtatirung, ſondern als Eingehung der Ehe ſelbſt anſehen wollte. Daher keine Einigung (Reichsverfaſſung von 1849. §. 150). Anerkennung: preußiſche Verfaſſungsurkunde von 1850, §. 19 (Hinweiſung auf ein beſonderes Geſetz). Anhalt-Bernburg, Verfaſſungsurkunde von 1850. 70§. 33. Waldeck 1832. §. 40. Dagegen Führung der Standesregiſter durch bürgerliche Behörden zwar in der Reichsverfaſſung von 1849 §. 151, aber nur in die Verfaſſung von Schwarzburg-Sondershauſen von 1849, §. 24 eingeführt und 1852 aufgehoben. Iſt im Ganzen als locales Recht wohl allgemein den Geiſtlichen vorbehalten, und wird es bleiben, bis eine Civilehe eingeführt wird (Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 293). In Bayern Strafe für Unterlaſſung der Anzeige von Geburten und Todes - fällen (Polizeiſtrafgeſetz von 1861, Art. 53). Die ſpecielle deutſche Geſetzgebung war uns unzugänglich. Bei Pötzl, Mohl, Funke, Moy, Weiß keine Angaben.

Frankreich. Anfänge ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert. Organiſation der Führung durch die Maires, jedoch erſt ſeit dem Geſetz vom 20. September 1791; vollſtändige Ordnung durch Geſetz vom 28. Pluv. an VIII. Die Ein - tragung wird durch Code civ. I und II des actes de l’État civil aus einem Akt der juriſtiſchen Conſtatirung zu einem Akt der gerichtlichen Entſcheidung durch den Gemeindevorſtand (Code civ. art. 353 357) was entſchieden falſch iſt; eben ſo iſt die Strafe der Unterlaſſung (16 300 Franken Buße oder Ge - fängniß von ſechs Tagen bis ſechs Monaten) zwar an ſich richtig, weil es ſich um ein öffentliches Intereſſe handelt, aber zu hart. Benützung für die Statiſtik der Bewegung der Bevölkerung, offenbar nach deutſchem Muſter ſchon im Geſetz vom 20. September 1791; dann feſte Ordnung derſelben durch Decret vom 20. Juli 1807 (mit tables decennales), ſpäter im Einzelnen ge - nauer geordnet durch Verordnung vom 9. Januar 1815, Decret vom 24. Sep - tember 1833 und 18. Oktober 1855. Das rechtliche Verhältniß der Maires hat dabei eine vollſtändige Literatur, jedoch faſt ausſchließlich für den Dienſt, ohne wiſſenſchaftliche Zuthat, hervorgerufen (ſ. Legoyt in Block, Dictionn. de l’administration, v. État civil). Dem franzöſiſchen Syſtem iſt das neueſte italieniſche Recht durch Geſetz vom 20. März 1865 vollkommen nachgebildet.

England. Früher Zuſtand: ganz der Selbſtverwaltung überlaſſen; daher große Verwirrung und Uebelſtände. Dann Unterſuchung der Frage durch einen Parlamentsausſchuß (1833); in Folge deſſen Uebertragung der geſammten Führung der Bücher (register) an das Amt der Registrars, mit dem (faſt unverſtändlichen) formellen Recht der Ehebewilligung für den letzten, und Gültigkeit der Ehe erſt nach Eintragung in die Geburts - und Todtenregiſter (6. 7. Will. IV. 86); Eheregiſter (6. 7. Will. 85.) (1836). Allgemeine Organiſation: I. Vict. 22. (1837). Regiſtrirung der Be - gräbniſſe: 27. 28. Vict. 97. Einführung in Schottland 1854. Hauptquelle: Daniels Civilſtandsgeſetzgebung für England und Wales (1851). Gneiſt, Engliſches Verfaſſungs - und Verwaltungsrecht I. §. 78. Mohl, Literatur der Staatswiſſenſchaft III. 428. Stein, Innere Verwaltungslehre S. 229 242.

III. Das Paß - und Fremdenweſen.

Die örtliche Bewegung der Einzelnen in der Bevölkerung (der ſo - genannte Wechſel derſelben) iſt eine Thatſache, welche theils in die71 öffentlichen Zuſtände, theils in das Recht der Einzelnen, theils auch in Recht und Intereſſen Dritter ſehr tief hineingreifen kann. Die Ver - haltniſſe, welche auf dieſe Weiſe aus dem Wechſel des Aufenthalts für das Ganze wie für die Einzelnen entſtehen, ſind daher ſtets Gegen - ſtand öffentlich rechtlicher Beſtimmungen geweſen, und die Geſammtheit dieſer Beſtimmungen bildet das Paß - und Fremdenweſen. Die Geſchichte deſſelben iſt ein nicht unwichtiger Theil der Rechtsgeſchichte überhaupt, und bezeichnend für die Geſammtentwicklung des inneren Lebens des Volkes.

Das Rechtsprincip für das älteſte Fremdenrecht (Geſchlechterord - nung) war die Rechtloſigkeit der Fremden, die nur durch das Gaſt - recht, und ſpäter das Geleitsrecht des Mittelalters für Einzelne aufgehoben ward. Mit dem Entſtehen des Verkehrs wird es dann noth - wendig, den Grundſatz des Mittelalters aufzuheben, und die recht - liche Freiheit der Bewegung auszuſprechen, indem man zunächſt dem Einzelnen überließ, ſich vorkommenden Falles zu legitimiren. Die poli - zeiliche Epoche kommt dann zur Erkenntniß der Gefährdung der Staaten einerſeits, und der individuellen Sicherheit andererſeits bei der ſchranken - loſen Ausübung dieſes Rechts in den zerwühlten Zuſtänden der unter - gehenden ſtändiſchen Epoche, und ſtellt dagegen theils im Intereſſe des Staats, theils in dem der Bevölkerung und der Gemeinden zuerſt den Grundſatz auf, daß überhaupt jede örtliche Bewegung von einer obrigkeitlichen Erlaubniß für den Einzelnen abhängig ſein und daß der Mangel derſelben ſtrafbar ſein ſolle. So entſteht für die Reiſe aus einem Staatsgebiet in das andere das Paßweſen, aus einer Gemeinde in die andere das Meldungsweſen, als äußeres und inneres Fremdenrecht. Dieß Syſtem des polizeilichen Frem - denrechts, mit dem vorigen Jahrhundert beginnend und zum Theil gültig bis auf die neueſte Zeit, hatte nun neben ſeinem unfreien Ele - mente der obrigkeitlichen Erlaubniß für die ihrem Weſen nach freie Be - wegung des Einzelnen zugleich das zweite organiſche und wichtige Ele - ment in ſich, daß es die öffentliche Legitimation als Feſtſtellung der Identität der Perſönlichkeit, Staats - und Gemeindeangehörigkeit enthielt, welche für jeden von Wichtigkeit werden konnte. Die neueſte Zeit daher, indem ſie durch die gewaltigen Bewegungen in den Bevöl - kerungen das Syſtem der Erlaubniſſe unmöglich machte, ſuchte dagegen naturgemäß das Syſtem der Legitimationen feſtzuhalten, und zwar zu - erſt als ein obligates, was aber wieder nur bei größeren Reiſen, namentlich in fremde Länder, ausführbar erſchien; dann aber als fa - cultatives, indem dem Einzelnen im eigenen Intereſſe freigeſtellt ward, einen Paß als öffentliches Legitimationsdokument zu erwerben,72 oder nicht. Dabei wurde jedoch in den meiſten Staaten die obligate Legitimation mit ſpecieller Beziehung auf das Heimathsrecht, das eigentliche Meldungsweſen, in den Gemeinden beibehalten, obwohl ſein Werth in der Praxis höchſt zweifelhaft iſt. Das facultative Legi - timationsweſen durch obrigkeitliche Päſſe ward dagegen im Intereſſe des immer lebendiger ſich geſtaltenden perſönlichen Verkehrs in immer einfachere Formen gebracht; entſcheidend war dafür der Grundſatz, daß man nicht mehr für die einzelne Reiſe einen einzelnen Paß, ſon - dern überhaupt nur eine individuelle Legitimation brauche, oder das Eintreten der Paßkarten für alle Ueberſchreitungen der äußeren Gränze, der Legitimationskarten für jeden Aufenthalt im In - nern. Daß ſich dabei jeder Staat das Recht vorbehält, nöthigenfalls das ſtrenge Erlaubnißſyſtem wieder herzuſtellen, bleibt ſelbſtverſtändlich. Daneben wurden die Fremdenbücher der Gaſthäuſer für nächtlichen Aufenthalt neu geordnet, während wieder in einzelnen Staaten die Erlaubniß zum längeren Aufenthalte durch eine Aufenthaltskarte gegeben werden muß, und die Wanderbücher und Hauſirpäſſe für ihre ſpeciellen Zwecke noch beſtehen bleiben. Man erkennt leicht daraus, daß der Uebergang zum freien Legitimationsſyſtem bis jetzt weder vollſtändig noch gleichmäßig in Europa vollzogen iſt, während es wiederum nicht als zweckmäßig erſcheint, das ganze Paß - und Legitimationsweſen mit der bezeichneten facultativen Benützung wie in England und Nordamerika aufzuheben.

Literatur. Das Syſtem des alten Gaſtrechts bei Grimm Rechts - alterth. 396; Oſenbrüggen, Gaſtgerichte der Deutſchen im Mittelalter. Das Syſtem des Geleitsrechts nach dem Landfrieden 1548 und dem weſtphäli - ſchen Frieden (Art. IX und Art. V.) bei Moſer, Nachbarliches Staatsrecht, S. 676 ff. Die Literatur des vorigen Jahrhunderts iſt faſt durchgehend gegen das polizeiliche Paßweſen, das damals eigentlich erſt entſtand. Berg, Polizei - recht II. 59. IV. 26. Niemann, Blätter für Politik und Cultur 1861. Daneben Anerkennung der Nothwendigkeit des inneren Legitimationsweſens und detaillirte Ausbildung ſchon am Ende des vorigen Jahrhunderts (Polizei - vorſchriften bei Berg, I. 20. IV. 13. 610). Syſtem des gegenwärtigen Jahr - hunderts nach dem Vorbilde von Frankreich auf Grundlage des Bundesbe - ſchluſſes vom 5. Juli 1832 bei Zachariä, Deutſches Staats - und Bundes - recht II. 164. Die ſtaatswiſſenſchaftliche Literatur hat ſich um das Ganze wenig gekümmert; Mohl (Präventivjuſtiz S. 116) ſehr einſeitig.

Geſetzgebung. Frankreich. Aufhebung des Paßweſens. Geſetz vom 14. September 1791; Herſtellung (Decret vom 6. Februar 1793, 10. Vend. an IV und 17. November 1797). Definitive Ordnung (Decret vom 18. Sep - tember 1807); Erlaubniß zu inneren Reiſen; Recht zur Ausweiſung der Fremden (Geſetz vom 19. October 1797); Verpflichtung der Conſtatirung der73 Identität durch zwei Zeugen vor dem Maire (Code Pén. art. 155 und Geſetz vom 5. Mai 1855) das unfreieſte Paßweſen Europas! Ueber die feuilles de route ſ. Schubweſen; Livrets (Laferrière, Droit administr. I. Ch. II.); Batbie, Droit publ. et administr. II. p. 347 ff.

Deutſchland. Charakter: durchgreifender Unterſchied des Paßweſens und Fremdenweſens; jenes fällt dann ins Völkerrecht. Juſti 11. Buch 43. Mohl, Präventivjuſtiz §. 11, nebſt Literatur und Beziehung auf das ältere Recht. Preußen; erſte freiere Bewegung durch Paßedikt vom 22. Juni 1817 (Rönne und Simon, Polizeiweſen der preußiſchen Monarchie I. S. 291; Rönne, Staatsrecht II. S. 333); nach innen zum Theil Freiheit, nach außen Strenge. Darnach die übrigen deutſchen Staaten: Bayern (Verordnung vom 17. Januar 1837; Pözl, §. 80. 81). Strafe bei Unterlaſſung der ortspolizei - lichen Fremdenanzeigen, bei Mangel an Wanderpäſſen ꝛc. (Polizeiſtrafgeſetzbuch von 1861 Art. 78 86). Württemberg (Generalverordnung vom 11. September 1807; Mohl, württembergiſches Verwaltungsrecht §. 185). Sachſen. (Regulativ vom 27. Januar 1818; Funke, Polizeigeſetz II. Bd. III. Abſchn. ) Oeſterreich (Verordnung vom 9. Februar 1857 und Frei - heit (Verordnung vom 9. November 1865). Stubenrauch, Verwaltungs - geſetzkunde I. S. 177. Mecklenburg (Verordnung vom 9. November und 22. December 1863). Lübeck: Aufhebung des Paßzwanges (Verordnung vom 11. April 1864).

Entwicklung des gemeinſamen Paßweſens für die deutſchen Staaten. Anfänge ſeit 1841. Entſtehung des Paßkartenſyſtems (Vertrag vom 21. Oktober 1850). Nachträge vom 7. Juli 1853. Sehr verſtändige Paßconvention zwiſchen Hannover und faſt allen deutſchen Staaten vom Jahre 1865. Ver - träge ſeit dem 7. Februar 1865 mit geringen Einführungsmodalitäten in den einzelnen Staaten.

Das Meldungsweſen hat einen ganz localen Charakter behalten, und iſt ſo verſchieden, daß eine allgemeine Darſtellung nicht thunlich ſcheint. Im Ganzen Stein, Innere Verwaltungslehre S. 245 272.

C. Die Bevölkerungspolitik.
I. Das öffentliche Eherecht.

Das Verhältniß der Verwaltung zu der an ſich freien Ehe beruht darauf, daß die Ehe in geſellſchaftlicher, volkswirthſchaftlicher und end - lich rein populationiſtiſcher Hinſicht auf die Bevölkerung im Allgemeinen und die Rechte und Pflichten Einzelner von entſcheidendem Einfluſſe wird. Die Verwaltung, um dieſen Einfluß nach den Bedürfniſſen des allgemeinen Wohles zu geſtalten, hat daher in den verſchiedenen Zeiten gewiſſe Beſtimmungen über Eingehung und Folgen der Ehen getroffen, welche das öffentliche Eherecht bilden. Die Principien dieſes öffentlichen Eherechts erſcheinen durch die ſocialen Zuſtände der Zeit beſtimmt, für die ſie aufgeſtellt werden.

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Das öffentliche Eherecht der Geſchlechterordnung beruht auf dem Recht des väterlichen Conſenſes zur Eingehung der Ehe, und auf der Pflicht der Geſchlechter, Ehen einzugehen, deren Erfüllung all - mählig mit Strafen für die Hageſtolzen und dann mit Belohnungen für die Heirathen erzwungen werden ſoll.

Das öffentliche Eherecht der ſtändiſchen Ordnung beginnt bei dem Conſensrecht des Herrn zur Ehe des Unfreien, und des Lehns - herrn zur Ehe des Vaſallen, entwickelt ſich zum ſtändiſchen Berufs - recht der Ehe (Cölibat, Eheconſens für Militärs und Beamtete) und geht damit zum Theil über in die folgende Epoche, während das Hage - ſtolzenrecht und die Beförderungen der Ehe verſchwinden.

In der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beginnt die polizeiliche Epoche, die Eherechtsbildung der Verwaltung zu gleicher Zeit auf der entgegen - geſetzten Grundlage der Beförderung der Ehen, um durch ſie die Bevölkerung zu vermehren, und der Verhinderung derſelben, um die Armuth zu bekämpfen. Daher gilt als allgemeine Tendenz der Regierung und ihrer dadurch oft einander direkt entgegengeſetzten Be - ſtimmungen und Maßregeln, die Ehen Erwerbsfähiger zu erleichtern, die Ehen Erwerbsunfähiger zu erſchweren. Indeſſen ſind dieſe all - gemeinen Vorſchriften der Regierung noch von geringem Einfluß und nehmen mehr einen theoretiſchen als einen praktiſchen Standpunkt an. Die wahre Heimath des öffentlichen Eherechts dieſer Zeit für das ent - ſtehende Bürgerthum iſt vielmehr das Gemeinderecht, indem der Grundſatz, daß die Geburt das Heimathsrecht und mithin die Unter - ſtützungspflicht der Gemeinden erzeugt, zu der Berechtigung der letzteren führt, ihren Conſens zu der Ehe namentlich bei neuen Niederlaſſungen zu geben, was dann mit dem Zunftrecht in engſte Verbindung tretend, die Abhängigkeit der Ehen von dem Gemeindeconſens zu einem faſt allgemeinen Rechtsſatz macht, neben dem die rein polizei - lichen Ehevorſchriften nur noch wenig bedeuten.

Erſt in unſerem Jahrhundert, namentlich aber mit der Gewerbe - freiheit einerſeits und mit der Anerkennung der ſtatiſtiſchen Thatſache andererſeits, daß die Eheverbote nur die Zahl der unehelichen Kinder und der wilden Ehen vermehren, tritt die völlige Freiheit der Ehe, die Beſeitigung aller öffentlich rechtlichen Eheconſenſe und Ehebeförde - rungen als allgemein gültiger Grundſatz auf, der in England und Frankreich unbeſtritten beſteht, in Deutſchland aber freilich noch immer gegenüber den Rechten und Intereſſen der Gemeinden nicht zur völli - gen Geltung hat gelangen können. Die Regierungen haben dabei faſt ohne Ausnahme ſich direkter Anwendung polizeilicher Ehevorſchriften mehr und mehr enthalten. Es iſt daher vorausſichtlich das öffentliche75 Eherecht der Zukunft nur auf das Recht der Zuſtimmung der Familie und die Reſte des ſtändiſchen Eherechts mit zweifelhaftem, jedenfalls ſehr beſchränktem Werthe zu begründen, während das populationiſtiſche Element der Ehebeförderung gänzlich verſchwunden iſt.

Altes germaniſches Eherecht der Conſenſe in der deutſchen Rechtsgeſchichte. Die Literatur des Hageſtolzenrechts bei Fiſcher, Polizeirecht I. S. 569. Stein, Inneres Verwaltungsrecht S. 129 132.

Das ſtändiſche Eherecht des Lehnsweſens in den Rechtsgeſchichten, aber meiſt unvollſtändig. Die Literatur des Cölibats (Carové, über Cölibats - geſetze 2 Bde. 1835). Die Religionsverſchiedenheit als bürgerliches Ehehinderniß förmlich aufgehoben in Schwarzburg-Sondershauſen (Verfaſſungsurkunde von 1849. §. 36). Anhalt-Bernburg (Verfaſſungsurkunde 1850 §. 23). Oldenburg (Verfaſſungsurkunde 1852 §. 33). Coburg 1852 §. 30. Das amtliche und militäriſche Conſensrecht in einzelnen Verordnungen faſt in allen Staaten Deutſchlands. Oeſterreich: Verordnung vom 12. Ja - nuar 1815. (Beamte.) Verordnung vom 25. November 1826. (Militärehen.) Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde §. 340. Preußen: Conſens für Be - amte. Allgemeines Landrecht II. 1. S. 70 und Rönne, Preußiſches Staatsrecht §. 295. Bayern: dienſtliche Ehebewilligung (Verordnung vom 2. Februar 1845). Pözl, Verfaſſungsrecht §. 29. Württemberg: Dienſtpragmatik §. 9. Mohl, württembergiſches Verwaltungsrecht §. 162.

Eheconſensrecht der Gemeinden in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Voriges Jahrhundert: Zunftbewilligungen. Fiſcher, Polizeirecht I. §. 1051. Berg, Polizeirecht III. 2. S. 29. Alte Geſetze in Oeſterreich: Kopetz, Polizeigeſetzkunde I. S. 124. Ehegeſetz vom 25. Mai 1868. Stubenrauch §. 339. Sachſen: Funke, Polizeirecht II. S. 991. Mandat vom 10. Oktober 1826; Zeugniß der Obrigkeit. Württemberg: Hartmann, Ehegeſetze des Herzogthums Württemberg. Neues Recht: das Conſensrecht der Gemeinden formell anerkannt (revidirtes Bürgerrechtsgeſetz, Geſetz vom 4. Decem - ber 1833, Art. 42. 43); erhalten im Eherechtsgeſetze vom 5. Mai 1852! Bitzer, Freizügigkeit. Bayern: gleichfalls Gemeindeconſens; Geſetz über Anſäßigmachung und Verehelichung vom 11. September 1825. Revi - dirt am 1. Juli 1834. Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 29. Strafe für Eingehung einer Ehe mit Ausländern (?) ohne Bewilligung der zuſtändigen Behörde bis 100 fl. (bayeriſches Polizeiſtrafgeſetzbuch von 1861. Art. 52). Baden: hier das Recht zur Ehe mit dem Indigenat zwar gegeben (Conſtitutionsgeſetz von 1808, §. 7); aber bei wirklicher Ehe dagegen Abhängigkeit vom Vermögens - nachweis bei den Gemeinden (Geſetz vom 13. Februar 1851). Fröhlich, badi - ſche Gemeindegeſetze. 1861. Großherzogthum Heſſen: daſſelbe. (Geſetz vom 30. Juni 1821 und Geſetz vom 19. Mai 1852.) Hannover: daſſelbe. Eckhardt, Geſetze, Verordnungen und Ausſchreibungen für das Königreich Han - nover. 1840. Bitzer, Freizügigkeit S. 223 225. Sachſen-Altenburg: Eheordnung vom 12. Mai 1837. Das Verbot der Ehe für Handwerksgeſellen (§. 47) aufgehoben durch Verordnung vom 6. Juli 1863. Stein, Inneres76 Verwaltungsrecht S. 132 160. Eine Art von internationalem Ehe - recht zwiſchen den deutſchen Staaten durch die Gothaer Convention vom 15. Juli 1851; Princip: keine Ehe der Angehörigen eines Staates mit dem eines andern geſtattet ohne Conſens der Heimathbehörde. (!) Zu dem Vertrage ſind 1853 1854 die übrigen deutſchen Staaten hinzugetreten, 1860 am 15. November auch Oeſterreich; über die von demſelben vorgeſchlagenen Modalitäten eine Bundestagscommiſſion vom 25. Juli 1862 ohne Erfolg. Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 477. Specielle Darſtellung der unzu - läſſigen Beſchränkungen des Rechts der Verehelichung von Fr. Thudichum, 1866. Ausführlich über das ſüddeutſche Gemeindeconſensrecht, nebſt Literatur.

II. Das Einwanderungsweſen.

Während der bloß zeitliche Aufenthalt einer Perſon außerhalb ihrer Heimath den Begriff des Fremdenweſens, der dauernde, aber bloß zum Zwecke des Erwerbes, alſo jeden Augenblick zu ändernde Aufent - halt das Niederlaſſungsweſen erzeugt, iſt die Einwanderung vielmehr der Akt, durch welchen der Fremde mit ſeinem ganzen ſtaats - bürgerlichen Leben in einen neuen Staat eintritt. Sie ſteht daher in unmittelbarer Beziehung zur Bevölkerung, und die Geſammtheit der daraus hervorgehenden Maßregeln und Rechtsſätze für die Einwande - rung bilden das Einwanderungsweſen.

Das Einwanderungsweſen enthält daher zuerſt die rechtlichen Be - ſtimmungen, welche durch den Eintritt eines fremden Mitgliedes in die bisherige geſellſchaftliche Ordnung hervorgerufen werden. Dann aber erſcheint daſſelbe als eine poſitive Maßregel der Verwaltung für die Vermehrung der Bevölkerung.

Bis zum Eintritt der polizeilichen Verwaltung ſind nun die erſteren Beſtimmungen allein maßgebend geweſen. In der Geſchlechterordnung erſcheint alle Einwanderung nur als förmliche Aufnahme in den be - ſtehenden Geſchlechterverband und ſeine öffentlichen Rechte. In der ſtändiſchen Ordnung wird die Einwanderung zunächſt durch Erwerb von Grundbeſitz, dann durch Berufung als Aufnahme in den berufsmäßigen ſtändiſchen Körper (Geiſtlichkeit, Hochſchulen, dann Beamtete) vollzogen. In den ſtädtiſchen Gemeinden endlich iſt urſprünglich die Niederlaſſung auf dem Weichbild identiſch mit der Einwanderung (Schutz - und Pfahl - bürger); ſpäter vollzieht ſie ſich erſt durch Erwerb von Grundbeſitz oder durch Aufnahme in die Zünfte. Mit dem Streben nach Vermehrung der Bevölkerung haben alle dieſe Rechtsfolgen noch nichts zu thun.

Die polizeiliche Verwaltung, ausgehend von der Vermehrung der Bevölkerung als Grundlage der Entwicklung des Staats, macht nun aus der Einwanderung eine förmliche Aufgabe der Verwaltung, und ſo entſteht das auf die Vermehrung der Einwanderung berechnete77 populationiſtiſche Einwanderungsweſen. Grundſatz deſſelben iſt die möglichſte Beförderung der Einwanderung, und zwar theils durch direkte Unterſtützung, theils durch Einräumung von großen Rechten der Selbſtverwaltung; es kommt jedoch überhaupt nur in einzelnen Staaten Deutſchlands vor und verſchwindet mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Der Grundſatz des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt das Aufgeben aller Art ſolcher Unterſtützungen, dagegen auch die Be - ſeitigung aller ſtändiſch rechtlichen Hemmniſſe der Niederlaſſung, alſo die freie Bewegung der Einwanderung, jedoch in der Weiſe, daß bei völlig (England, Frankreich) oder beinahe völlig (deutſche Staaten) freier Niederlaſſung (Freizügigkeit) der Erwerb der Gemeindeangehörig - keit und des Heimathrechts von den Grundſätzen der Gemeindeordnung, der Erwerb des Staatsbürgerthums oder Indigenats dagegen von denen des Staatsrechts abhängig wird, ſo daß das Einwanderungsrecht jetzt ſich in drei ſelbſtändigen Theilen oder Momenten auflöst: 1) Nie - derlaſſungsrecht oder Freizügigkeit; 2) Heimathsrecht, oben dar - geſtellt, und 3) Indigenat, das als Erwerb des Staatsbürgerthums dem Verfaſſungsrecht angehört. Das Einwanderungsweſen des vorigen Jahrhunderts iſt ſomit als verſchwunden anzuſehen, und im Grunde beſteht das Einwanderungsrecht gegenwärtig nur noch im freien Nieder - laſſungsrecht oder der Freizügigkeit, die wiederum als Theil des Heimath - weſens anzuſehen iſt.

Literatur. Durch Mangel an Unterſcheidung zwiſchen Einwanderung und Auswanderung ohne bedeutenden Einfluß. Colonienfrage. Roſcher, Colonien. Rau, II. 1. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. 113. Gerſtner II. 195. 196. Gegenſtand ſpecieller Unterſuchung noch für Oeſterreich: Czörnig, Ethnographie der öſterreichiſchen Monarchie Bd. II. Höfken, Coloniſation von Ungarn 1858. Frühere Literatur: populationiſtiſcher Standpunkt, jedoch mit Zweifel über den unbedingten Werth der Einwanderung. Süßmilch II. 14. Juſti, II. 8. Hauptſt. Anerkennung der Freiheit der Bewegung als beſtes und allein leitendes Princip mit Anfang dieſes Jahrhunderts. Berg, II. 38. Möſer, Phantaſien Bd. II. Jacobs, Polizeigeſetzgebung §. 100. Hervorheben des ethiſchen Elements: Soden, nach Heerens Ideen. Natio - nalökonomie 1807.

Geſetzgebung. Deutſchland. Abſtrakte Anerkennung der Einwan - derungsfreiheit durch Erwerb von Grundbeſitz (Bundesakte Art. 18); in der Wirklichkeit nicht geltend. Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 288. Selb - ſtändig nur im vorigen Jahrhundert, ſpeciell in Preußen für die (franzöſiſche) Einwanderung: Fiſcher, Polizeigeſetze Bd. I. §. 527 47. 571. Berg, Polizei - recht II. 39. Oeſterreich: Kopetz, Polizeigeſetzkunde I. 108. Gegen - wärtig als ſelbſtändiges Gebiet verſchwunden, und nur noch als Theil des Heimathsrechts zu betrachten. Stein, Innere Verwaltungslehre S. 168 182.

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III. Das Auswanderungsweſen.

Die Auswanderung iſt das Aufgeben des Staatsbürgerthums unter Verlaſſung der Heimath. Der Grund der Auswanderung iſt, ſofern ſie nicht als vereinzelter Fall auftritt, ſtets ein tieferer geſellſchaftlicher Gegenſatz. Die nächſte rechtliche Folge derſelben dagegen iſt das Auf - geben aller theils örtlichen, theils wirthſchaftlichen, theils rechtlichen Beziehungen des Auswandernden mit ſeiner bisherigen Heimath. Die Auswanderung iſt daher in ihren Gründen und in ihren äußern Folgen eine große geſellſchaftliche und dadurch welthiſtoriſche Thatſache, durch ihre inneren Folgen dagegen ein Gegenſtand der Verwaltung. Und die dadurch entſtehenden öffentlichen Rechte und Thätigkeiten der letz - teren bilden das Auswanderungsweſen.

Das Auswanderungsweſen erſcheint daher unter den verſchiedenen Geſellſchaftsformen als ein ſehr verſchiedenes, und wenig von dem früheren iſt in der gegenwärtigen Zeit zu gebrauchen, obwohl es allen Zeiten gemein iſt, daß die Auswanderung ſtets nur entweder von den rechtlich oder von den wirthſchaftlich unterdrückten Claſſen ausgeht, und ſtets ſich ſolchen Ländern und Zuſtänden zuwendet, in denen der Auswanderer die ihm in der Heimath mangelnde Freiheit wieder zu finden hofft.

In der Geſchlechterordnung erſcheint die Auswanderung regelmäßig als Eroberungszug; aus ihm gehen Niederlaſſungen, Colonien hervor, welche bei gleicher Grundlage mit dem öffentlichen Recht der Heimath meiſtens den Erwerb von Grundbeſitz (ſog. Militär-Colonien im Großen die ganze germaniſche Völkerwanderung) oder den, der heimath - lichen Concurrenz entfliehenden gewerblichen Beſitz zum Zweck haben (Handelscolonien). Es iſt falſch, Handelscomptoire als Auswande - rungen zu betrachten; ſie können ſie höchſtens veranlaſſen (Geſchichte der Hanſe; des transatlantiſchen Handels). Rechtlicher Grundſatz iſt dabei der Verluſt aller Rechte in der bisherigen Heimath.

In der ſtändiſchen Ordnung iſt die Auswanderung entweder eine confeſſionelle, deren Grund die confeſſionelle Verfolgung iſt, oder die grundherrliche. Das Recht der letzteren beginnt mit dem Verbot und der Beſtrafung der Auswanderung, da die Perſon des Auswan - dernden dem Grundherrn eigen iſt, und geht dann über zum wirth - ſchaftlichen Recht des Detracts (census oder gabella emigrationis, Nachſchoßrecht), welches bei perſönlicher Freiheit der Auswanderung das aus dem Gerichtsbereich gezogene Vermögen, ſogar bei Erbſchaften, be - ſteuert. Dieß Recht verſchwindet erſt in unſerem Jahrhundert mit der Aufhebung der Grundherrlichkeit.

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Den Uebergang zum freien Recht der Auswanderung bildet dann das polizeiliche Auswanderungsrecht auf populationiſtiſcher Grund - lage. Daſſelbe entſteht mit dem Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts und enthält das Princip der amtlichen Erlaubniß für die Aus - wanderung aus dem Staate, dem die Beſtrafung der unerlaubten Auswanderung zur Seite ſteht. Dieſe polizeiliche Erlaubniß bezieht ſich aber dann nur auf den Staat und läßt daher das Retractrecht für die Grundherrlichkeit als Gemeindeauswanderungsrecht noch fortbeſtehen. Durch das Zuſammenwirken beider wird nun die freie Bewegung der Bevölkerung in hohem Grade gehemmt und das neue Recht der Aus - wanderung vorbereitet.

Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erkennt auch für die Auswande - rung die individuelle Freiheit an und hebt die Auswanderungsverbote auf. Das Retractrecht und die Erbſchaftsſteuer bleiben nur noch als Retorſionsmaßregeln beſtehen. Doch erhält ſich der Gedanke, daß der Staat die Erfüllung bereits eingegangener Verpflichtungen der Aus - wandernden gegen ſich und gegen Einzelne ſo weit thunlich zu ſichern habe; daher die zweckmäßige Verpflichtung der Auswandernden zur öffentlichen Anzeige und Grundſatz, daß das zurückgelaſſene Ver - mögen des Auswandernden, bez. Berechtigungen deſſelben im Inlande dafür zur Haftung gehalten werde. Grundſätzlich iſt zweitens die Er - füllung der Wehrpflicht als Bedingung der freien Auswanderung; drittens das Aufhören des Heimathsrechts mit der Uebergabe des Auswanderungspaſſes. Auf dieſen Grundſätzen beruht das Auswan - derungsrecht der Gegenwart.

Die hohe Bedeutung jedoch, welche die Auswanderung als That - ſache für das wirthſchaftliche und ſociale Leben der Völker hat, hat nun das unmittelbare Eingreifen der inneren Verwaltung in die wirk - liche Auswanderung zu einer Aufgabe der letzteren gemacht, und ſo die Auswanderungspolitik erzeugt. Dieſe Auswanderungspolitik hat drei Hauptgebiete, welche freilich ſehr verſchieden entwickelt ſind.

Die Beförderung der Auswanderung, theils durch direkte Auf - forderung, theils durch Gemeinde - oder Staatsunterſtützung kann ihrer Natur nach nur örtlich und zeitlich vorkommen und ſich nur auf ört - liche Anhäufung der nichtbeſitzenden Claſſe beziehen. Auch da bleibt ſie von zweifelhaftem Werthe, da ſie viel koſtet und keine Sicherheit des Erwerbes für die Auswandernden darbieten könne.

Der Schutz der Auswanderungen enthält die Vorſichtsmaßregeln der Regierung gegen Ausbeutung der Auswanderungsluſtigen durch Geſellſchaften und ihre Agenten. Derſelbe wird theils durch das Princip der Genehmigung zu Auswanderungsagenturen, theils durch Aufklärungen80 über die Ausſichten der Auswanderungen von Seiten der Behörden erzielt. Es iſt nothwendig, dieſen Schutz ſyſtematiſch zur Anwendung zu bringen.

Die zweite Form dieſes Schutzes bezieht ſich dann auf den Aus - wanderertransport und findet ſeine Anwendung faſt nur bei den Vorſchriften für Auswandererſchiffe und ihrer Einrichtung und Ver - pflegung. Es iſt aber zugleich nothwendig, daß auch die Landſtaaten dieſe Vorſchriften kennen und ſie ſelbſt, ſo wie ihre faktiſche Befolgung ihren Angehörigen zur Kunde bringen, da das das beſte Mittel iſt, den Transport zu einem wohleingerichteten zu machen.

Die Hülfe für die Auswanderer muß, wo ein Staat keine eigenen Colonien hat, dem freien Vereinsweſen überlaſſen bleiben und iſt auch bereits von demſelben übernommen.

Im Ganzen ſteht dieſes freie Auswanderungsweſen noch in Be - ziehung auf Princip, Geſetzgebung und Verwaltung auf einer niederen Stufe, und wird erſt beſſer werden, wenn das Conſulatweſen zur Dienſtleiſtung regelmäßig und organiſch herbeigezogen werden wird. Für Deutſchland iſt ohne eine Bundesverwaltung auch in dieſer Be - ziehung an keine Beſſerung zu denken.

Literatur. Selbſtändige Betrachtung des Auswanderungsweſens erſt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts im Sinne des freien Auswanderungs - rechts. Bis dahin Geſchichte der Auswanderung der Geſchlechterordnung in den Werken über alte Geſchichte. Das grundherrliche Auswanderungs - und Detractsrecht ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert in den Werken über deutſches Privatrecht, ſ. bei Fiſcher l. c. §. 622. Heineccius, Ludolf, Mevius u. A. Geſtalt im achtzehnten Jahrhundert: Fiſcher §. 611. 612. Neuere Aufhebung zwiſchen den Bundesſtaaten (deutſche Bundesakte Art. 18 und ſpeciell durch Bundesbeſchluß vom 23. Juli 1817). In den einzelnen Ländern theils unbe - dingt; Preußen (Geſetz vom 21. Juni 1816). Württemberg (Geſetz vom 19. November 1833). Darauf bezügliche Staatsverträge bei Mohl, Württembergiſches Verwaltungsrecht §. 75, theils bedingt. Sachſen-Alten - burg (Verfaſſungsurkunde von 1831 §. 69. 70). Literatur vom Stand - punkt der populationiſtiſchen Verbote: Juſti, II. IX. 2. Süßmilch I. 14. Freiere Anſchauung: Berg, Polizeirecht I. 51 ff. Roſcher, Colonien. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 17. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 21. Gerſtner, Verwaltungslehre S. 217. Specielle Abhandlung: Mohl, Zeitſchrift für Geſetze der Staatswirthſchaft 1847. S. 320. Geßler, ebd. Bd. 18, S. 375. Vogt, Armenweſen 1. 2. 233. Brater, Staatswörterbuch Art. Auswanderung. Stein, Innere Verwaltungslehre S. 206 ff. Carup, Anſicht über Volksver - waltungslehre 1860 Cap. 40.

Geſetzgebung. England: Verbote aus dem vorigen Jahrhundert 1744; Verbote für Maſchinenbauer aus dieſem Jahrhundert; gegenwärtig frei. Frankreich (Decret vom 15. Januar 1855). Oeſterreich: Kopetz,81 Polizeigeſetzkunde 1. 87. Auswanderungspatent vom 10. Auguſt 1784 (Verbot und Erlaubniß). Neues Auswanderungspatent vom 24. März 1832; gleiche Strenge. Preußen: Freiheit: Allgemeines Landrecht II. 17. 127 141. Andere Geſetze für Bayern, Sachſen, Heſſen-Darmſtadt aus dem vorigen Jahrhundert. (Stein, Innere Verwaltungslehre S. 193 ff.) Im Allgemeinen iſt jedoch die Auswanderungsfreiheit anerkannt. Bis 1848 meiſt nur in Beziehung auf andere Bundesſtaaten auf Grundlage der deutſchen Bundesakte Art. 18. Nach 1848 verſchiedene Rechtsbildungen in folgenden Gruppen: a) Völlige Frei - heit Württemberg: Verfaſſungsurkunde §. 32. Schwarzburg-Sonders - hauſen: Verfaſſungsurkunde von 1849 §. 47. b) Nur durch die Militär - pflicht beſchränkt (Unionsparlament in Erfurt) vor 1848. Bayern: Ver - faſſungsurkunde 1818. IV. 14. Miniſterialerlaß vom 13. Auguſt 1846. (Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 31.) Sachſen: 1831 §. 29. Mandat vom 6. Februar 1830. (Funke, Polizeigeſetz VIII. 4.) Sachſen-Altenburg: 1831. 69. Braun - ſchweig: neue Landesordnung 1832. 35. Am genaueſten Preußen: Geſetz vom 31. December 1842. Dann nach 1848 Preußen: Verordnung vom 4. Januar 1849. (Verfaſſungsurkunde 1850. 11. Rönne, Staatsrecht. ) Mecklenburg: Verordnung vom 15. April 1857 (Auswanderung nach außer - europäiſchen Ländern) Verordnung vom 4. Februar 1864. Ausdehnung der - ſelben auf die europäiſchen Staaten. Auswanderungs-Agenturen: früheres Geſetz vom 8. Juli 1852. Neues Geſetz vom 4. Februar 1864 (Strafe für Verleitung zur Auswanderung, genauere Beſtimmung der Verpflichtungen der Agenten). Anhalt-Bernburg: Verfaſſung von 1850. 15. Olden - burg: Verfaſſungsurkunde von 1852. §. 55. Reuß: Verfaſſungsurkunde von 1852. Waldeck: Verfaſſungsurkunde von 1852. §. 32. Die Beſtim - mungen über die Rechtswirkungen der Auswanderung als Verluſt der Staatsangehörigkeit, zum Theil mit Bezug auf die Familienglieder ſ. Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. S. 300.

Auswanderer-Transport. Geſetze. Englands erſte Passengers Act 9. G. IV. 21. (1825); dann Pass. Act von 1855 und Pass. Amendm. Act 1864. Belgien: 1843. Bremen: 1832. Geſetz vom 14. Juli 1854. Hamburg: Verordnung vom 20. Februar 1865. Strafe für Betreibung von Auswanderungsgeſchäften (Agenturen) ohne polizeiliche Erlaubniß. Bayern: Polizeiſtrafgeſetzbuch 1861. §. 51. (Stein, Innere Verwaltungs - lehre S. 190 209.) Das neueſte Geſetz iſt die obrigk. Verordnung die Beför - derung von Schiffspaſſagieren nach außereuropäiſchen Ländern betreffend, vom 9. Juli 1866 von Bremen, ſehr umſichtig und eingehend.

II. Das öffentliche Geſundheitsweſen.

Begriff.

Das Geſundheitsweſen bildet das zweite Gebiet der Verwaltung des perſönlichen Lebens. Ihr Objekt iſt die Geſammtheit der BedingungenStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 682der individuellen Geſundheit, ſo weit dieſelben durch das Leben des Ein - zelnen in der Gemeinſchaft gegeben ſind.

Die Geſundheit iſt an ſich eine Sache des Einzelnen. Sie iſt als ſolche die erſte Vorausſetzung des Wohlſeins und zugleich der geiſtigen und wirthſchaftlichen Entwicklung. Ohne ſie kann es für jeden tauſend Güter geben, aber keinen Werth derſelben. Sie ſelbſt aber iſt das Reſultat einer Menge von Urſachen, die auf den Einzelnen einwirken, ohne daß er im Stande wäre, ſie immer zu beherrſchen. Was ſo für den Einzelnen gilt, gilt auch für Alle. Und nun nennen wir den - jenigen Zuſtand der Geſundheit, der durch die Verhältniſſe des Zu - ſammenlebens der Einzelnen erzeugt und beherrſcht wird, die öffent - liche Geſundheit.

Der hohe Werth derſelben und die Unmöglichkeit für den Einzel - nen, ſich durch eigene Kraft zu ſchaffen, was ſie bedingt, macht ſie zu einem weſentlichen Gegenſtand der inneren Verwaltung. Und die Ge - ſammtheit der Rechtsbeſtimmungen, Anſtalten und Thätigkeiten, vermöge deren die Verwaltung für die dem Einzelnen unerreichbaren Bedingungen dieſer öffentlichen Geſundheit ſorgt, bildet das Geſundheitsweſen.

Weſentlich davon verſchieden iſt die gerichtliche Medicin, welche die Regeln feſtſtellt, nach denen die Grundſätze der Heilkunde als Beweismittel im gerichtlichen Verfahren gelten. Allerdings iſt das Geſundheitsweſen aus ihr hervorgegangen und lange mit ihr verwechſelt worden. Jetzt aber iſt kein Zweifel mehr, daß es durchaus verſchiedene Gebiete ſind, die mit einander künftig wenig mehr zu thun haben.

Das Geſundheitsweſen zerfällt demnach in die Darſtellung des Organismus, der für daſſelbe thätig iſt, in das Sanitätsweſen, mit ſeinen beiden Aufgaben, in denen es die Geſundheit ſchützt (Ge - ſundheitspolizei) und ſie fördert (Geſundheitspflege), und das Medi - cinalweſen oder Heilweſen, welches die wirklich vorhandenen Störungen der Geſundheit zu bekämpfen beſtimmt iſt.

Andeutung des Unterſchiedes von Geſundheitsweſen und gerichtlicher Me - dicin ſchon im ſiebzehnten Jahrhundert. Starke Entwicklung der letztern in der Theorie des Strafproceſſes. Trotz der weitläuftigen Geſetzgebungen des ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts kein feſter Begriff des erſteren. Erſte große Grundlage: P. Frank, Syſtem der mediciniſchen Polizei ſeit 1779. Darauf eine reiche und gelehrte, aber ſyſtemloſe Literatur; die Scheidung wird faſt nur in Sammelwerken feſtgehalten. Frankreich: Trébuchet, Juris - prudence de la médicine 1834. Preußen: Horn, preußiſches Medicinal - weſen. Mangel an ſelbſtändiger wiſſenſchaftlicher Behandlung. Stein, Ver - waltungslehre Bd. III. S. 4 17. England: Sander, die engliſche Sanitätsgeſetzgebung. 1869.

83
Entwicklung der Geſetzgebung und der Organiſation des Geſundheitsweſens bis zur Gegenwart.

Es gehört ein hochgebildetes Volk dazu, um die Bedeutung des Geſundheitsweſens zu erkennen und die Forderungen deſſelben zur Gel - tung zu bringen. Denn es bedarf eines lebendigen Gemeinweſens, um den Werth, den die Geſundheit eines jeden Einzelnen für Alle und umgekehrt hat, zu verſtehen, und tiefgehender Wiſſenſchaft, um die allgemeinen Gründe allgemeiner Geſundheit und Krankheit zu erkennen. Daher iſt das Geſundheitsweſen bei all ſeiner unendlichen Wichtigkeit vielleicht der unentwickeltſte Theil der ganzen inneren Verwaltung Europa’s.

Die Geſchlechterordnung kennt nicht einmal die Heilkunde, geſchweige denn ein Geſundheitsweſen. Die ſtändiſche Ordnung erzeugt die Wiſſenſchaft der Medicin, doch vermag ſie keine Geſundheitspflege hervorzubringen, indeß wird die Medicin, die ſie (an den Univerſitäten) erzeugt, die Mutter des Geſundheitsweſens. Denn ſo wie die neue Staatenbildung auftritt, nimmt ſie das letztere in ihre Verwaltung auf. Anfangs freilich nur örtlich und bloß als Seuchenpolizei, dann aber mit dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in großen umfaſſenden Geſetz - gebungen und mit Errichtung eigener, den ganzen Staat umfaſſender Sanitäts-Organiſationen.

In dieſer Beziehung ſcheiden ſich nun zwei große Epochen. Die erſte reicht vom Anfange des vorigen Jahrhunderts bis zu den dreißiger Jahren unſerer Zeit. Ihr Charakter beſteht darin, daß ſie weſentlich durch Regierungsorgane die Geſundheit in ihrem Sinne verwalten will und ſich daher zur eigentlichen bis auf das Leben des Individuums herab erſtreckenden Geſundheitspolizei geſtaltet. Ihr Inhalt iſt vor allem Schutz der Geſundheit gegen unmittelbar und äußerlich drohende Gefahren und eine möglichſt allgemeine Organiſation des Heilweſens, die ſie durch Verbindung der amtlichen Thätigkeit mit den mediciniſchen Fakultäten zu erzielen ſucht. Erſt gegen Ende des vorigen Jahrhun - derts wird der Gedanke lebendig, daß die Baſis der Geſundheit in den elementaren Verhältniſſen liegt und daß der Schwerpunkt des Geſund - heitsweſens ſtatt in der Polizei und der Heilung der bereits vorhan - denen Krankheiten vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die Erhaltung der Geſundheit liege. Dieſer Gedanke kommt zum Durchbruche durch die Cholera, die in dieſer Beziehung ein Segen für Europa geworden iſt. Die neueſte Zeit hat dieſe Richtung zur ſocialen Geſundheitspflege entwickelt; ſie beginnt, wenn auch langſam, den großen Kampf mit den ewigen elementaren Feinden der Geſundheit bei84 der nichtbeſitzenden Klaſſe; und ſo gehen wir allmählig aus dem Sta - dium des negativen Geſundheitsweſens in das poſitive hinüber, das ſchon bei der Schule beginnend unſer ganzes öffentliches Leben durch - dringen wird.

Allein noch immer zu ſehr gewöhnt, von der Regierung zu viel zu erwarten, haben ſich die Völker bisher zu wenig mit dieſem Gebiete beſchäftigt, dem keine Regierung allein genügen kann. Der allgemeine Standpunkt iſt faſt allenthalben noch vorwiegend der, ſtatt des Werthes und der Bedingungen friſcher und kräftiger Geſundheit ausſchließlich die Gefahren, Urſachen und Hebungen der Krankheiten ins Auge zu faſſen. Für das letztere kann die Regierung viel, für das erſtere nur wenig thun. Hier kann nur die freie Verwaltung helfen. Damit beginnt ſich das Geſundheitsweſen definitiv zu organiſiren. Der Regie - rung bleibt die allgemeine Oberaufſicht und Leitung aller derjenigen Elemente, welche über jede örtliche Gränze hinaus allgemein wirken. Die örtliche Geſundheitspflege dagegen wird Sache der Selbſtverwal - tungskörper, vor allem der Gemeinde. Erſt wenn die Gemeinden erkennen, daß die Krankheiten ihrer Angehörigen ſie das Zehnfache von dem koſten, was die Geſundheit derſelben koſten würde, wird es beſſer werden. Es iſt die weſentlichſte Aufgabe des ärztlichen Vereins - weſens, dieſe Wahrheit zur Geltung zu bringen und in dieſem Sinne für die Anſtrengungen zu wirken, die das herrliche Gut der öffentlichen Geſundheit fordert. Durch das kräftige Zuſammenwirken dieſer Faktoren wird es dahin kommen, daß die Wiſſenſchaft die Principien, der Staat die Geſetzgebung und die freie Verwaltung in Gemeinde und Vereins - weſen die örtliche Verwirklichung des Geſundheitsweſens übernehmen. Dieſer Zukunft gehen wir entgegen, und es iſt kein Zweifel, daß wir gerade in unſerer Zeit mitten in einem höchſt erfreulichen Uebergange zur größeren Auffaſſung dieſes ſo hochwichtigen Gebietes begriffen ſind.

Literatur. Beginn des Verſtändniſſes der Aufgabe eigentlich erſt ſeit P. Frank. Aber er und ſeine Nachfolger, Stoll, Eberhardt, Haller, Horn, Trébuchet, Tardieu und andere ſehen noch immer den Schwerpunkt des Ge - ſundheitsweſens in dem Kampfe gegen Krankheiten, nicht in der Herſtellung der Faktoren der Geſundheit. Das Geſundheitsweſen geht erſt jetzt aus ſeiner negativen in ſeine poſitive Epoche über. Ideen der hygiène populaire, mit ſpecieller Beziehung auf die Fabrikarbeit zuerſt Gerando, Bienfais. publ. III. p. 345 (1839). Denſelben Charakter haben die Organiſationen des Sanitäts - weſens und die Medicinalgeſetzgebungen.

Beginn der eigentlichen Verwaltung und Geſetzgebung für das Geſund - heitsweſen in Europa: Preußens Medicinalordnung von 1725; Medicinal - collegium ſeit 1684. Zweite große Geſetzgebung: Oeſterreichs Sanitäts - normativ 1770. Beide umfaſſen das geſammte Geſundheitsweſen. Darauf85 folgen im achtzehnten Jahrhundert alle deutſchen Staaten; mit Weiterbildung im Einzelnen in reicher Fülle, aber ohne einen zweiten Verſuch, das geſammte Medicinalweſen zu codificiren. Neueſtes umfaſſendes Geſetz von Baden vom 20. September 1864. Frankreich hat einen ſolchen Verſuch überhaupt nie gemacht, ſondern nur einzelne, zum Theil treffliche Geſetze gegeben. England: früher ohne Geſetz; dann die General Health Act mit Einrichtung der Officiers of Health or Inspectors of Nuisances, der auch die Polizei der Nahrungsmittel hat (nach 26. 27. Vict. 217) und die Nuisances Removal Act. 11. 12. Vict. 63 und 123 (1855); endlich die Medical Act 1858, weſentlich Geſundheitspolizei und ihre Organiſation. Der Organismus des Geſundheitsweſens beruht in allen deutſchen Ländern auf einem Centralorgan beim Miniſterium des Innern, auf Landes - oder Bezirksorganen und Ortsorganen; Competenz weſentlich nur Oberaufſicht und Seuchenpolizei. In Frankreich treten ſtatt der amtlichen Organe die Conseils auf, gleichfalls in drei Inſtanzen; von ihrer praktiſchen Thätigkeit verlautet gar wenig. (Commissions de santé. Organiſi - rung, Geſetz vom 15. April 1850. Vergrößert 1864.) England hat erſt in letzter Zeit dieſelbe Grundlage in dem Gen. Board of Health, dem Inspector und den Local Boards. So iſt die Regierung organiſirt; aber für die Selbſt - verwaltungskörper und ihre entſcheidende Thätigkeit iſt bisher ſo gut als nichts geſchehen, höchſtens die niedere Geſundheitspolizei iſt organiſirt, und auch das nur in den größeren Städten. Das Vereinsweſen iſt hier zerfahren, zerſtreut, vereinzelt. Eine Fachbildung für das Geſundheitsweſen exiſtirt nicht. Hier iſt für die Wiſſenſchaft viel, für die Praxis noch faſt alles zu ſchaffen, ſo wie es ſich um das höhere Stadium der Geſundheitspflege, und namentlich der ärmeren Claſſen handelt. Doch hat die Cholera den An - ſtoß zu einer Bewegung in dieſer Richtung gegeben, die nicht mehr unter - gehen kann!

A. Das Sanitätsweſen. Begriff.

Das Sanitätsweſen umfaßt daher die Geſammtheit derjenigen rechtlichen Beſtimmungen und Verwaltungsmaßregeln, welche die öffent - liche Geſundheit erhalten und fördern ſollen. Es zerfällt ſeinem Begriffe nach in die Geſundheitspolizei und die Geſundheitspflege.

I. Die Sanitätspolizei.

Die Geſundheitspolizei iſt ihrem Begriffe nach die Geſammtheit von Maßregeln und Einrichtungen, durch welche die öffentliche Geſund - heit vor denjenigen Gefahren geſchützt wird, die der Einzelne durch eigene Kraft nicht von ſich abwenden kann.

Es liegt nun im Ganze der Geſchichte, daß die Aufgabe beginnt bei der unmittelbaren allgemeinen Gefährdung der öffentlichen Geſund -86 heit durch die Seuchen, dann ſich nach und nach im Einzelnen ent - wickelt zum Schutze gegen einzelne Gefährdungen, und ſich erſt zuletzt und langſam zur organiſchen Arbeit der menſchlichen Gemeinſchaft für Herſtellung der öffentlichen Bedingungen allgemeiner Geſundheit erhebt. Aus dem erſten Element entſpringt die Seuchenpolizei, aus dem zweiten die Geſundheitspolizei, aus dem dritten die Geſundheitspflege.

a) Die Seuchenpolizei.

Die Seuchenpolizei, der alten Geſchichte unbekannt, ſchließt ſich an das Eindringen anſteckender Krankheiten aus dem Orient in Europa und erſcheint daher als das im Princip einfache, in der Ausführung vielfach verſchiedene Syſtem der örtlichen Abſperrung des Verkehrs, welche durch ihre für den Seeverkehr (aus dem Orient) geltenden Regeln die Quarantaine heißt. Princip und Syſtem der Quarantaine gelten noch, hauptſächlich für das Mittelmeer, erſcheinen jedoch als Ausnah - men; das Syſtem der Abſperrung zu Lande (des Landcordons) iſt wohl ziemlich aufgegeben. Erſt durch die Entdeckung der Schutzblattern ent - ſteht bei der Blatternſeuche das Syſtem der Impfung als organiſirter, poſitiver Kampf mit einer Epidemie; die Impfung ward in Deutſchland faſt gleich bei ihrer Entdeckung zwangsweiſe eingeführt; in Frankreich begnügen ſich Geſetzgebung und Verwaltung mit den Maßregeln zur Beförderung der Impfung; England hat das Zwangsſyſtem erſt in neueſter Zeit angenommen; für die übrigen Staaten beſteht noch immer die Impffreiheit. In Beziehung auf die übrigen Epidemien zeigten Erfahrung und Wiſſenſchaft bald, daß weder die Abſperrung, wie bei der Peſt, noch ein einzelnes Heilmittel, wie bei den Blattern, das wahre Mittel zur Bekämpfung der Seuche ſei, ſondern daß die wahre Aufgabe des Seuchenweſens vielmehr theils in der Organiſirung des Heilweſens, theils aber und vorzüglich in der Entwicklung der Geſund - heitspflege liege. Die Cholera namentlich hat ſchließlich die Ueber - zeugung feſtgeſtellt, daß man die Seuchen viel beſſer in ihren Urſachen, den geſundheitsverderblichen öffentlichen Verhältniſſen, namentlich von Wohnung und Nahrung, als in ihren Erſcheinungen, der wirklichen Seuche, bekämpft werden. Das Auftreten der Cholera bezeichnet daher den Wendepunkt in der ganzen Geſchichte des Seuchenweſens, wo das - ſelbe von ſeiner negativen, polizeilichen Aufgabe zur poſitiven der Ge - ſundheitspflege übergeht, auf deſſen Anerkennung die geſammte Zukunft des Geſundheitsweſens beruht.

Jeder Theil dieſes Seuchenweſens hat nun ſeine Geſetzgebung, ſeine Lite - ratur und ſo auch ſeine Geſchichte; das Mangelnde iſt die Auffaſſung des87 Ganzen als Einheit. Quarantaine. Frankreich: Verordnung vom 3. März 1822 und Geſetz vom 24. December 1850. (Tardieu: Dict. d’hyg. publique. II. 381 415). England: Aufgabe der Verordnungsgewalt als Ordre in Council; Hauptgeſetz 6. G. IV. 78. (Gneiſt, Engliſches Verwal - tungsrecht II. §. 113). Oeſterreich: erſte Peſtpolizeiordnung von 1728, neueſte von 1837; nähere Beſtimmungen für das Seeſanitätsweſen (Verord - nung vom 13. December 1851). Preußen: nach engliſchem Vorbild dem Miniſterium des Aeußern untergeordnet (Reglement vom 3. Juli 1863). Rönne, §. 362. Blatternweſen. England: Einführung des Impfzwangs erſt durch 16. 17. Vict. 100. Frankreich: noch ohne eigentlichen Zwang bloß Beförderungsſyſtem. (Tardieu a. a. O. III. 256 ff. ) Oeſterreich: ſeit 1790; Grundlage der Impfpflicht (Verordnung vom 30. Juni 1806); Orga - niſirung ſeit 1836. Preußen: Regulativ vom 28. October 1835; beſondere Impfordnungen für die Regierungsbezirke. (Stein, Geſundheitsweſen S. 46 48.) Für die übrigen Seuchen zum Theil ſehr genaue Vorſchriften in Preußen: Horn, preußiſches Medicinalweſen I. Grundlage das Regulativ von 1835; darnach die Seucheninſtruktion vom 15. Auguſt 1838 für Oeſterreich. In den übrigen Staaten meiſt nur einzelne temporäre Vorſchriften. Stein a. a. O. S. 50.

b) Die Geſundheitspolizei.

Die Geſundheitspolizei umfaßt ihrem Begriffe nach alle Vorſchriften und Maßregeln, durch welche die Geſundheit des Einzelnen gegen die einzelnen Gefährdungen geſchützt wird, die aus dem Verkehre erwachſen. Sie entſteht daher naturgemäß in den Städten, und findet auch jetzt nur verhältnißmäßig wenig Anwendung auf dem Lande. Ihr erſtes Gebiet ſind die äußeren, ſichtbaren Gefährdungen der Ge - ſundheit; daher beginnt ſie bei der Polizei der Nahrungsmittel (Markt - polizei) und bei der Straßen - und Wegepolizei; mit der Entſtehung der wiſſenſchaftlichen Medicin geht ſie über zur Polizei der Gifte und der Quackſalberei; das vorige Jahrhundert ſchließt daran die ärzt - liche Todten - und Begräbnißpolizei, die ſich aus der juriſtiſchen entwickelt, mit Todtenbeſchau und Begräbnißordnungen, die ſich in un - ſerem Jahrhundert weiter entwickelt und die Unmäßigkeitspolizei, von der nur noch das Element der Sittenpolizei und der Schenkenpolizei übrig bleibt, während die Polizei der Syphilis ſpeciell der neueſten Zeit angehört, ohne noch zum Abſchluß in Princip und Ausführung gediehen zu ſein. In der Gewerbepolizei geht ſie dann in die Geſund - heitspflege über.

Eine Reihe einzelner örtlicher Vorſchriften über Marktpolizei (Fleiſcher - ſchau, Mühlordnungen, Bäckerordnungen, Bier - und Weinpolizei) ſehr alt. Erſt Peter Frank erhebt dieß Gebiet zur wiſſenſchaftlichen Betrachtung. Von da an Uebergang in die Polizeiwiſſenſchaft; die Geſetzgebungen für alle88 Punkte erſcheinen theils in den großen Sanitätsordnungen des vorigen Jahr - hunderts, theils in ganz einzelnen Vorſchriften. In unſerem Jahrhundert bilden ſich auf Grundlage der Wiſſenſchaft namentlich nur die Giftpolizei, die in Giftſorten und Geheimmittelpolizei ſehr genaue und zweckmäßige Beſtimmungen enthält, und andererſeits die Begräbniß - und Todten - polizei mit genauen Vorſchriften über Leichenkammern. Daneben hat die Strafgeſetzgebung in der Beſtrafung culpoſer Gefährdungen der Geſund - heit ein zweites Schutzſyſtem entwickelt, das namentlich durch Art. 471 des Code Pénal begründet, die Sicherheitspolizei in die Geſundheitspolizei hinüber - führt. Uebrigens liegt es in der Natur der Sache, daß das Wichtigſte dabei nur von der Thätigkeit der Selbſtverwaltung ausgehen kann, die bisher faſt nur in den großen Städten gehörig entwickelt iſt, aber hier die eben ſo ſchwierige als wichtige Aufgabe hat, die Gefährdung der Geſundheit der ärmeren Claſſen durch billige, aber gefährliche Nahrungsmittel zu begreifen und zu hindern (ſ. über das ganze Gebiet Stein, Geſundheitsweſen S. 51 ff.).

II. Die Geſundheitspflege.

Die Aufgabe und das Weſen der Geſundheitspflege, der Geſund - heitspolizei gegenüber ſelbſtändig aufgefaßt, beſteht darin, einerſeits diejenigen Verhältniſſe des Verkehrs im weiteſten Sinne zu beſeitigen, welche langſam aber ſicher die Geſundheit gefährden und untergraben, andererſeits ſolche Anſtalten und Einrichtungen des öffentlichen Lebens herzuſtellen, welche als allgemeine Bedingungen der Sicherung und Entwicklung der öffentlichen Geſundheit betrachtet werden müſſen. Hier liegt das Gebiet, wo das höhere Verſtändniß des öffentlichen Werthes der Geſundheit aller Einzelnen beginnt und wo die Wiſſenſchaft dieſem Verſtändniß zu Hülfe kommen und Mittel und Wege für das große Ziel angeben muß. Es liegt daher in der Natur der Sache, daß das Gebiet das jüngſte und unentwickeltſte des ganzen Geſundheitsweſens iſt; ſeine Anerkennung liegt noch mehr im Gefühle als in dem Syſtem der Geſetze und dem der Maßregeln der Verwaltung; es iſt klar, daß gerade hier die Wiſſenſchaft (weſentlich durch ärztliche Vereine) die ge - fährlichen oder nützlichen Thatſachen und die Principien des Fortſchrittes aufſtellen, die Geſetzgebung die leitenden Grundſätze geben und die Selbſtverwaltung ſie ausführen ſoll. Hier iſt noch unendlich viel zu thun; doch ſind die Grundlagen des Gebietes bereits angedeutet.

Man kann dieſelbe eintheilen in die Geſundheitspflege für die Erziehung, für das Bau - und Wohnungsweſen und für die Ge - werbe. Die Geſundheitspflege der Erziehung iſt zugleich ein Theil der geſellſchaftlichen Verwaltung; ſie erſcheint in den Krippen und Warteſchulen, dann in der Sorge für die Schulräume, dann in der phyſiſchen Erziehung des Turnweſens, endlich aber in den,89 namentlich von Frankreich ausgehenden Beſtimmungen über Kinder - arbeit. Jeder dieſer Theile hat ſeine eigene Geſetzgebung und Ge - ſchichte. Die Geſundheitspflege im Bau - und Wohnungsweſen beginnt ihrerſeits mit den Vorſchriften der Feuer - und Sicherheits - polizei bereits im vorigen Jahrhundert; erſt in unſerem Jahrhundert, und zwar namentlich ſeit der Cholera, erſcheinen die Maßregeln, welche ſich zuerſt auf geſunde und lichte Raumverhältniſſe der Wohnungen und Straßen beziehen und damit wieder zugleich den Charakter ſocialer, polizeilicher und ſanitärer Beſtrebungen verbinden; dann erkennt man den großen Werth des Waſſers und ſorgt für daſſelbe; endlich An - lagen der Städte, freie Plätze, Straßen, Pflanzungen u. a. Die Geſundheitspflege des Gewerbeweſens endlich ſteht faſt allenthalben noch auf dem vorwiegend polizeilichen Standpunkt, vor den direkt ſchäd - lichen Einflüſſen des Gewerbes zu ſchützen; die Geſundheitspolizei der Anlagen bezieht ſich vorzugsweiſe auf das Verhalten des Gewerbes zu der Geſundheit Dritter, während die des Betriebes in Verbin - dung mit den Arbeitern ſelbſt ſteht. Es iſt natürlich, daß jedes Ge - werbe ſeine Geſundheitspolizei hat (Conceſſion, Polizei der Maſchinen, Zündhölzer, Gifte, Schifffahrt u. ſ. w.) Allein bisher hat ſich dieſe Polizei nur noch auf die größeren Unternehmungen beſchränkt. Sie wird ihre wahre Idee erſt dann erhalten, wenn ſie jede Werkſtatt ihrer Unterſuchung unterzieht und die Forderungen der Geſundheits - pflege von der größten Fabrik bis zum kleinſten Arbeitslokale hinab mit unerbittlicher Strenge zur Geltung bringt. Das kann und ſoll nun zwar das Vereinsweſen anregen, aber zuletzt kann und ſoll es nur die Selbſtverwaltung ausführen. Hier beginnt ein weites und hoch - wichtiges Gebiet dieſes Theiles der inneren Verwaltung, das bis jetzt noch der Zukunft gehört.

Jeder Theil dieſer Geſundheitspflege hat ſeine Geſetzgebung und zum Theil ſeine Literatur. Kinderarbeit. Frankreich: Geſetz vom 22. März 1841 als Grundlage der ganzen Bewegung (Villermé); ſpätere Entwicklung. England: ſpecielle Geſetze von 1842 1864. Oeſterreich: Gewerbeordnung von 1859 §. 86 88. Preußen ſeit Geſetz vom 9. März 1839; erweitert durch Geſetz vom 16. Mai 1863. Stein a. a. O. S. 74 76. Gewerbe - weſen. Frankreich: ſtrenge Ordnung bei der Conceſſion ſeit dem Geſetz vom 12. Februar 1806; dann die drei Claſſen der Gewerbe mit Decret von 1810. (Pappenheim, Sanitätspolizei; Tardien, Dictionnaire. ) Deutſchland: Aufnahme des Princips in die Gewerbeordnungen (Preußen 1845. Oeſter - reich 1859). Ohne eine eingehende Beachtung von Seiten der bisherigen Lite - ratur; faſt durchgehend überlaſſen an die Gemeinden, und von dieſen wenig verſtanden und ausgeübt. Auch in den Gewerbsgenoſſenſchaften noch ohne Heimath; hier ſteht noch faſt alles auf dem Standpunkt, für die Heilung der90 Krankheit, ſtatt für die Verhinderung des Krankwerdens zu ſorgen. Ueber die Geſundheitspflege im Betriebe der Gewerbe (Werkſtattspolizei) außerhalb der Fabriken noch gar keine Geſetzgebung. Möchte doch das ärztliche Vereins - weſen dieſe Frage bald ernſtlich in die Hand nehmen!

B. Das Heilweſen (Medicinalweſen).

Das Heilweſen umfaßt den Inbegriff derjenigen Beſtimmungen und Anſtalten, welche von der Verwaltung für die Heilung bereits ausgebrochener Krankheiten getroffen werden.

Die Heilung der Krankheit iſt zunächſt Sache des Einzelnen. Allein je höher die Geſittung in einem Volke ſteht, um ſo mehr wird es klar, daß die Bedingungen der Heilung in den meiſten Fällen außerhalb der Kräfte des Einzelnen liegen. Denn dieſe Bedingungen beſtehen einerſeits in einer hohen Ausbildung der wiſſenſchaftlichen Heilkunde, andererſeits in Anſtalten, welche die Vorausſetzungen der Heilung nach wiſſenſchaftlichen Principien vereinen. Beides kann nur die Gemeinſchaft der Einzelnen darbieten. Und ſo entſtehen die beiden großen Gebiete des Heilweſens, die Bildung des Heilperſonals und die Herſtellung der Heilanſtalten.

I. Der Heilungsberuf.

Das Heilperſonal iſt die Geſammtheit der Perſonen, welche die Heilung von Krankheiten zum Lebensberuf gemacht haben. Der ſelb - ſtändige Heilungsberuf entſteht eben deßhalb erſt mit der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung, ſchließt ſich an die Corporation der ſtändiſchen Wiſſenſchaft, die Univerſität und ihre Facultät, und wird erſt mit dem ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhundert Gegenſtand der Geſetzgebung und Verwaltung des Staats. Das Princip dieſer Geſetzgebung und Verwaltung iſt, daß nur die regelmäßige wiſſenſchaftliche Bildung die rechtliche Bedingung für die Ausübung des Heilberufes ſein ſoll; daß für jeden Theil eine beſondere Fachbildung erfordert wird, und daß mit dem Eintreten in deſſen Bereich auch beſtimmte Rechte der Be - treffenden verbunden ſein ſollen. Auf dieſer Grundlage hat ſich das gegenwärtige Recht des Heilberufs entwickelt, das in dem Recht der Aerzte, der Apotheker, der Hebammen und der Heildiener ſeinen Aus - druck empfängt.

a) Die Aerzte und ihr Berufsrecht.

Obgleich es zu allen Zeiten Perſonen gegeben hat, welche die Heilung von Krankheiten zu ihrem Lebensberuf gemacht haben, ſo ent -91 ſtehen die eigentlichen Aerzte doch erſt mit der ſtändiſchen Geſellſchaft und ihre Fachbildung an den Univerſitäten. Doch bleibt ihre Stellung und ihr Recht noch ein bloßes Standesrecht, bis mit der Entſtehung des ſtaatlichen Geſundheitsweſens auch die Aerzte und ihre Verhältniſſe Gegenſtand der Verwaltung wurden. Seit dieſer Zeit bildet ſich das Berufsrecht der Aerzte heraus. Die Grundlage deſſelben iſt die Forderung einer wiſſenſchaftlichen Fachbildung, durch die öffentlich recht - liche Prüfung conſtatirt. Der Inhalt iſt das Recht auf die Praxis, geſchützt durch Maßregeln gegen Kurpfuſcherei und Quackſalberei und geordnet durch die ärztliche Taxe und Vorrecht des Honorars. Bis ins achtzehnte Jahrhundert beſtehen nun die alten gewerbsmäßig be - triebenen Heilgewerbe (Bader, Feldſcheerer u. ſ. w.) neben dem Berufs - arzte fort, wenn auch in untergeordneter Stellung; mit dem achtzehn - ten Jahrhundert aber wird die Forderung wiſſenſchaftlicher Bildung allgemein, und jene Gewerbe gehen in das Gewerberecht über, wäh - rend die Berufsärzte ihrerſeits ſich noch in die zwei Hauptklaſſen der Chirurgen und Mediciner mit verſchiedener Bildung und verſchiedenem Recht ſcheiden. Erſt in unſerem Jahrhundert entſteht aus der Erkennt - niß, daß die Wiſſenſchaft für alle Theile der Medicin die gleiche ſei, der rechtliche Grundſatz der gleichen Bildung für alle und das Ver - ſchwinden auch jenes Unterſchiedes, wogegen allerdings wieder Special - fächer (Augen -, Zahnärzte ꝛc. ) ſich ausbilden. Zugleich beginnt die Verwaltung gegenüber jenen Rechten auch die öffentlichen Pflichten der Aerzte zu formuliren und ſtellt ſie unter die Oberaufſicht der Ge - ſundheitsorgane, während die ärztlichen Intereſſen neben der Wiſſen - ſchaft durch das ärztliche Vereinsweſen auf allen Punkten gefördert wird. So iſt das ärztliche Berufsweſen im Großen und Ganzen in lebendi - gem Aufſchwunge begriffen.

Behandlung faſt nur in der ärztlichen Literatur; hauptſächlich ſeit Frank a. a. O. Bd. VII. Die Geſetzgebung beginnt mit dem ſtändiſchen Berufs - recht (Facultät von Salerno), Eid der Aerzte. Beginn des ſtaatlichen Berufs - rechts bei den Phyſikaten in den größeren Städten ſeit dem ſechzehnten Jahr - hundert und ſtädtiſche Reglements für dieſelben (Stein a. a. O. S. 98 ff.) Mit den großen Medicinalgeſetzgebungen des achtzehnten Jahrhunderts Ein - führung eines allgemeinen öffentlichen Berufsrechts, das wieder in den einzel - nen Staaten ein beſonderes iſt. Preußen: Allgemeines Landrecht II. §. 505. (Aerzte als Beamte betrachtet) ſpätere Geſetzgebung bei Horn II. S. 1 ff. Oeſterreich: Kopetz, Polizeigeſetzkunde I. S. 389. Frank Bd. VII. S. 321. Das Fachbildungs - und Prüfungsweſen fällt unter das Univerſitätsweſen. In Frankreich geringe Ausbildung des Berufsrechts; doch Grundlage die Fach - bildung und Prüfung (Doctorat); Hauptgeſetz vom 19. Vend. an XI. Amette, Code médical 1855. In England noch größerer Mangel; nicht einmal Fach -92 bildung nothwendig, und bis zur letzten Zeit auch keine Art von Oberaufſicht. Einziges Geſetz bisher St. 21. 22. Vict. 96. (Medical Act.) Andere Geſetz - gebung bei Stein a. a. O. S. 105.

b) Das Apothekerweſen.

Das Apothekerweſen hält in allen Hauptſachen gleichen Schritt mit dem ärztlichen Recht. Seine Selbſtändigkeit beginnt mit der Facul - tätsfachbildung (Salernum). Von da an werden die beiden Grundſätze feſtgehalten: erſtens, daß die Apotheken öffentliche Anſtalten ſind, und zweitens, daß zu ihrer Betreibung Fachbildung nothwendig iſt. Aus dem erſten Grundſatz geht die Organiſation der öffentlichen Oberaufſicht über die Apotheken hervor, die durch die Aerzte ausgeübt wird; aus dem zweiten die öffentlich rechtliche Ordnung der Fachbildung der Apo - theker, die faſt nur in Deutſchland ſyſtematiſch ausgebildet iſt. Die gemeinſame Conſequenz beider ſind das Princip der Genehmigung der Anlage von Apotheken, das Princip der Prüfung für die Apo - theker, endlich die Aufſtellung der Pharmacopöen mit den officiellen Heilmitteln und die damit eng verbundene Apothekertaxe und das ausſchließliche Diſpenſationsrecht, während andererſeits das rein gewerbliche Element im Apothekerweſen gleichfalls in der Lehrzeit mit ihren Pflichten und zum Theil in den alten Apothekergenoſſenſchaften (Gremien) ſeinen Ausdruck findet. Doch iſt das ganze Apothekerweſen faſt nur in Deutſchland rationell organiſirt.

Literatur ſchließt ſich an die Entſtehung des Medicinalweſens; Frank Bd. VII. Pappenheim, Handbuch der Sanitätslehre III. S. 34. Geſetzgebung mit der Entſtehung der großen Medicinalordnungen; Preußen ſeit 1725; Oeſter - reich ſeit 1770. Locale Apothekerordnungen ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert; Stoll Bd. I. Anhang. Frankreich (Ordnung durch Geſetz vom 21. Germ. an XI. ) England: St. 35. G. III. 194; gewerbliche Ordnung (Gneiſt §. 114. Stein S. 111 ff).

c) Hebammenweſen.

Das Hebammenweſen ward erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert Gegenſtand des öffentlichen Geſundheitsweſens; mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt der Grundſatz in Kraft, daß eine Fachbildung recht - liche Bedingung zur Ausübung dieſes Berufes ſei. Daher Errichtung von Hebammenſchulen, Prüfungen, formelle Verpflichtung derſelben, und Oberaufſicht.

Einzelne Ordnungen in allen Staaten, mit Ausnahme Englands; ſpecielle Vorſchriften ſeit Beginn dieſes Jahrhunderts (vergl. Stein S. 118. 119). Hannover: Reglement für Hebammen vom Februar 1864.

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d) Heildiener.

Bisher noch ganz unentwickelt, und faſt ausſchließlich der Privat - thätigkeit überlaſſen, trotz der hohen Wichtigkeit des Inſtituts. Hier kann in der That nur die Selbſtverwaltung den feſten organiſchen Kern eigener Stellung abgeben; das Vereinsweſen iſt dann berufen, daſſelbe nach den einzelnen Richtungen auszubilden.

Geringe Beachtung bis jetzt, auch noch von Seiten der ärztlichen Vereine! Vergl. Stein S. 119 121.

II. Die Heilanſtalten.

Die Heilanſtalten beginnen faſt ausſchließlich als milde Stiftungen, bei denen das ſociale Element vorherrſcht, und das ärztliche und recht - liche in den Hintergrund tritt. Sie werden in die Verwaltung des Geſundheitsweſens erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert hineingezogen, theils als Lehrmittel für die Fachbildung der Univerſitäten, theils in - dem ſie unter ärztliche und verwaltungsrechtliche Oberaufſicht und Lei - tung kommen. Sie beſtehen daher auch jetzt noch theils als Stiftungen, theils als Gemeinde -, theils als Vereinsanſtalten; aus ihrer verſchie - denen Aufgabe iſt aber ein ſehr verſchiedenes, zum Theil ſehr entwickeltes Recht derſelben geworden. Ihre Hauptformen ſind die Hoſpitäler und die Irrenanſtalten; von geringerer Bedeutung ſind die Gebär - und Ammenanſtalten und die Geſundbäder.

a) Hoſpitäler und Armenärzte.

Die Hoſpitäler ſind urſprünglich Stiftungen, mehr für die Noth der armen Kranken als für die Heilung derſelben beſtimmt. Ihre ra - tionelle Behandlung beginnt mit der Zeit, wo ſie mit der Fachbildung verbunden worden; von den für die Kliniken beſtimmten Hoſpitälern geht die Organiſation auf die Gemeinde - und Stiftungsſpitäler über. Grundlage iſt: Trennung der Verwaltung von dem Heilweſen, und Unterordnung der erſteren unter das letztere. In neueſter Zeit Entſtehung von Vereinsſpitälern der Gewerbsgenoſſen; dafür mangelt die allgemeine Geſetzgebung für das Hoſpitalweſen. Dagegen vertreten ihre Stelle die Beſtimmungen über das Armenarztweſen, das der Selbſtverwaltung angehört, und bisher nur höchſt einſeitig für Heilung der Krankheiten beſtimmt war, während es unendlich mehr wirken könnte und ſollte, wenn das Gebiet der Geſundheits - pflege der niederen Claſſe als ſeine Hauptaufgabe betrachtet und öffentlich anerkannt würde.

94

Das Verhältniß der Hoſpitäler iſt in den verſchiedenen Staaten ſehr ver - ſchieden, und ermangelt einer Behandlung im Ganzen. England hat gar keine allgemeine Geſetzgebung. Frankreich: Hoſpitäler ſind Staatsanſtalten, werden zum Theil durch eigene Steuern erhalten, nur auf Genehmigung errichtet, und ſtreng adminiſtrativ verwaltet; daher mangelt gänzlich das Inſtitut der Armen - ärzte. Grundlage iſt das Geſetz vom 16. Vend. an V (1796); ſpäter den Behörden unterworfen, wie alle Selbſtverwaltung in Frankreich; es vertritt das Heimathsrecht des Armen. In Deutſchland Grundlage: Armenhoſpitäler, Univerſitätskliniken und Armenärzte; in Oeſterreich wenig, in Preußen gut geordnet (vergl. Stein S. 124 ff).

b) Das Irrenweſen.

Das Irrenweſen iſt überhaupt erſt mit dem öffentlichen Geſund - heitsweſen entſtanden, und daher gleich von Anfang an als Gegen - ſtand der Verwaltung behandelt. Seine Aufgabe iſt eine doppelte. Zuerſt das Irrenheilweſen, dem der große Gedanke der phyſiſchen Heilbarkeit geiſtiger Krankheiten zum Grunde liegt. Dann das Irren - recht, weil die Geiſteskrankheit das Aufhören der Rechtsfähigkeit mit ſich bringt. Das Irrenweſen, nach beiden Richtungen hin erſt mit unſerem Jahrhundert ausgebildet, iſt in jeder Beziehung als ein Triumph der neueren Civiliſation anzuerkennen; die ärztliche Behand - lung hat hier niemals das Bewußtſein der Wichtigkeit des öffentlich rechtlichen Elementes verloren, und namentlich verdient das, was in dieſer Beziehung von den Deutſchen geleiſtet wird, die höchſte Achtung, da Deutſchland hier wenigſtens auf dem Gebiet der Wiſſenſchaft Allen voranſteht.

Statt der Literatur im Einzelnen, die in den verſchiedenen Staats - und Verwaltungsrechten enthalten iſt, verweiſen wir auf die treffliche Sammlung aller europäiſchen Geſetzgebungen in der Allgemeinen Zeitſchrift für Pſychiatrie Bd. XIX. Suppl. von 1862; mit Scheidung in Civil -, Straf - und Polizei - recht. S. ſchon Gerando, Bienf. publ. IV. 394 ff. (1839). England: Lunacy-Regul. Act. 25. 26. Vict. 86 (1862). Vergl. dazu Naſſe, Vorſchläge zur Irrengeſetzgebung (1850). Stein S. 128 130.

c) Gebär - und Ammenanſtalten.

Erſte Andeutung in Paris ſeit 1715; ſpätere Ausbildung nur in den Kliniken; namentlich geringe Beachtung des Ammenweſens; auch das iſt eine der künftigen wichtigen Aufgaben der Selbſtverwaltung.

Literatur ſeit Frank gering; in Frankreich Geſetz vom 10. Januar 1849. Ordnung in Deutſchland meiſt örtlich. Stein S. 131.

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d) Geſundbäder.

Nothwendige Scheidung zwiſchen Heilbädern (Geſundbrunnen) und öffentlichen Bädern. Erſtere ſind ihrer Natur nach Privat - unternehmungen, deren Benützung die ärztliche Praxis regelt; letztere ſind ein wichtiges Element der Geſundheitspflege, hängen aufs engſte mit der Waſſerverſorgung zuſammen, und werden eine weſent - liche Aufgabe der künftigen rationellen Selbſtverwaltung bilden.

Verwaltungsrechtliche Literatur mangelt, bei großer Fülle der hygie - niſchen. Die franzöſiſche Geſetzgebung des vorigen Jahrhunderts ſeit 1772 iſt durch Decret vom 24. Mai 1790 für Frankreich als dauernd anerkannt, mit ſtrenger polizeilicher Ueberwachung: Block, Eaux minérales. In Deutſchland ſtehen die Heilbäder meiſt unter der Gewerbeordnung; mit den öffentlichen Bädern hat England im Vereinswege begonnen. Wann werden die deutſchen Selbſt - verwaltungskörper die Sache in ihre Hand nehmen? Vergl. Stein S. 123 133.

III. Das Polizeiweſen.

Hiſtoriſche Grundlage.

Bei keinem Theil der Verwaltungslehre iſt eine möglichſt klare Begriffsbeſtimmung ſo nothwendig als beim Polizeiweſen, weil aus hiſtoriſchen Gründen bei keinem Theile eine ſo große Verwirrung der Auffaſſung geherrſcht hat. Es iſt daher auch keine einfach formale Definition hier möglich, ſondern der gegenwärtige Begriff muß hiſto - riſch entwickelt werden, wie er hiſtoriſch entſtanden iſt.

Bis auf unſere Zeit nämlich bedeuten Polizei und Polizeiweſen eigentlich alle Formen, in denen überhaupt ein Eingreifen der Regierung in die Verwaltung ſtattfindet. Erſt mit unſern letzten Jahrzehnten gewinnt das Wort einen anderen, beſtimmten Sinn; es ward zu einem beſtimmten einzelnen Verhältniß zwiſchen Regierung und Verwaltung, und erſcheint ſomit als ein Theil der Verwaltungs - lehre. Der Proceß, durch den das entſtanden iſt, iſt eben die Entwick - lung des Begriffes des Polizeiweſens.

Die Polizei entſteht nämlich in Wort und Inhalt erſt mit der Entſtehung der Regierung, und umfaßt als innere Staatskunſt (πολι - τεία) im Gegenſatz zur Politik alle Thätigkeiten derſelben. Im ſiebzehnten Jahrhundert ward nun aus dieſer Polizei eine Wiſſenſchaft; die junge Rechtsphiloſophie verſucht, ihr Princip und Syſtem im Jus naturae zu geben; dieß Princip für die Geſammtheit aller Aufgaben der immer mächtiger werdenden Regierung ausgedehnt, iſt der Eudämo - nismus; mit ihm aber tritt zugleich die erſte Scheidung in dem Begriff96 der Polizei als Wohlfahrts - und als Sicherheitspolizei auf; aber da gerade durch dieſe Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der Regierung zum Volke umfaßt, ſo entſteht die Vorſtellung, daß die Polizeiwiſſenſchaft eigentlich identiſch mit der Staatswiſſenſchaft ſei, während man ſich andererſeits nicht läugnen kann, daß ſie dieſes Ge - biet nicht erſchöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwiſſenſchaften, bald auch Auffaſſung derſelben als das von Finanzen und Volkswirth - ſchaft geſchiedene ſelbſtändige, aber alle Verhältniſſe umfaſſende ge - ſammte Gebiet der inneren Verwaltung überhaupt, deren Be - griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieſer Standpunkt, von Heumann und Delamare begründet, von Juſti und Sonnenfels durch - geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie bis auf die neueſte Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne unſeres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieſer nun iſt es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen Begriff der Polizei begründet hat.

Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert iſt nämlich die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung, und damit Allgewalt des Staats. Mit unſerem Jahrhundert ſcheiden ſich beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Geſetz iſt, welches alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen ſoll. Damit entſteht der ſelbſtändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erſte und ver - ſtändlichſte Form iſt die der Regierung. Offenbar nun iſt die Re - gierung ſelbſt keine bloße Polizei, ſondern die Polizei erſcheint vielmehr als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieſer Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutſchen, wenn auch noch unter dem Geſichtspunkt der Polizeihoheit aus. Damit denn entſteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all - gemeine Begriff, ſowohl der vollziehenden Gewalt, als der ſyſtematiſche Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und ſo gab es hier zwar das Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Geſtaltung des Neuen.

In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe machten es hauptſächlich ſchwierig. Erſtlich erſchien die Polizei faktiſch zugleich als ein Organ der namentlich ſtrafrechtlichen Verwaltung, und die Gränze zwiſchen Polizei und Gericht war ſchon hier ſchwer zu ziehen. Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrſchaft des Ge - ſetzes der Polizei doch eine gewiſſe Befugniß zur Erlaſſung von gül - tigen Vorſchriften auch außerhalb des Geſetzes zugeſprochen werden müſſe, wenn ſie ihre Thätigkeit vollziehen ſolle. Und drittens war es97 nicht zu verkennen, daß dieſe Polizei ſchließlich in allen Gebieten der Verwaltung auftrete, ob dieſelben durch Specialgeſetze geordnet waren oder nicht, während ſie wieder doch nur einen Theil dieſer Gebiete umfaßte. Es war daher ſehr ſchwer, Begriff und Gränze dieſer Polizei und ihres Rechts aufzuſtellen. Daher die Unſicherheit über alle dahin gehörigen Fragen, und die Unbeſtimmtheit ſowohl in Geſetzgebung als in Theorie, ſo daß es in der That faſt erſcheint, als wäre erſt mit der definitiven Bewältigung dieſes Begriffes die innere Staatswiſſenſchaft ein Fertiges.

Dieſe elementaren Grundzüge deſſelben ſind nun wohl folgende.

Wir ſtehen keinen Augenblick an, zu erklären, daß auch unſere Arbeit (Polizeirecht, als vierter Band der Verwaltungslehre) uns nicht hat genügen können, obwohl wir auf dem richtigen Wege waren. Jedoch ſind wir in Fol - gendem wohl zum Abſchluß gelangt; das Material unſeres Polizeirechts dürfte ſich darnach von ſelber ordnen.

Begriff und Elemente des Syſtems.

Geht man nämlich von dem Begriffe der inneren Verwaltung aus, ſo ergibt ſich zuerſt, daß die Sicherheit der äußeren Exiſtenz eine der erſten Bedingungen der Entwicklung iſt, die ſich der Einzelne nicht immer ſelbſt ſchaffen kann. Es iſt daher Aufgabe der inneren Ver - waltung, dieſe Sicherung vor Gefahren herzuſtellen, ſo weit ſie vermag, und die Geſammtheit von Ordnungen und Beſtimmungen, durch welche das geſchieht, bildet das Polizeiweſen.

Das Polizeiweſen als ſelbſtändiger Organismus gedacht, hat nun wieder die Fähigkeit, einerſeits für die ganze innere Verwaltung als Organismus der Zwangsgewalt zu dienen, andererſeits iſt es durch - aus geeignet, in vielen Fällen die Vollziehung für die Rechtspflege zu bieten. Beide Aufgaben der Polizei gehören aber offenbar eben nicht dem Polizeiweſen, ſondern ſind nur (cumulative) Verwendungen der Polizeiorgane für die Verwirklichung der Verwaltung in Finanz, Recht und Innerem. Hier handelt die Polizei nicht vermöge ihres Weſens, ſondern auf Anordnung eines andern Organes, dem ſie zu gehorchen verpflichtet ſein kann und gewöhnlich auch iſt. Sie hat ſich hier daher auch nicht an ihre eigene Anſicht oder ihren Willen, ſondern an die ihr gegebenen amtlichen Aufträge zu halten und hat deßhalb auch weder Verantwortlichkeit noch Haftung für das, was ſie hier thut. Das Recht, welches für dieſe ihre Funktion (z. B. bei Exekution, gerichtlicher Verhaftung ꝛc. ) gilt, iſt deßhalb auch kein Polizeirecht, ſondern das Zwangsrecht, und gehört in die Lehre von der vollziehenden Gewalt.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 798

Das eigentliche Polizeiweſen beginnt daher erſt da, wo die Auf - gabe der inneren Verwaltung, die Geſammtheit vor Gefahren zu ſichern, als ſelbſtändige Funktion mit eigenem Organismus und eigenem Recht auftritt.

Offenbar werden nun Syſtem und Recht dieſes Polizeiweſens ſich nach der Natur eben dieſer ſpecifiſchen Aufgabe geſtalten, welche dem - gemäß daſſelbe in der inneren Verwaltung übernimmt, und in der Entwicklung der erſteren aus der zweiten beſteht demnach das, was wir jetzt die Wiſſenſchaft des Polizeirechts zu nennen haben.

Das Weſen dieſer Aufgabe beſteht nun darin, daß die Polizei es mit der Abwendung von Gefahren zu thun hat, welche die Sicher - heit bedrohen. Ihr Objekt iſt alſo nicht eine bereits geſchehene That, die ſtets der Rechtspflege angehört und bei deren Verfolgung die Polizei dienen, die ſie aber nicht ſelbſt übernehmen kann, ſondern eine mögliche und wahrſcheinliche. Sie wendet ſich daher nicht der geſchehenen Verletzung der Sicherheit zu, ſondern vielmehr der Kraft, welche dieſe Verletzung hervorzubringen droht. Ihr Objekt iſt daher, ſtets etwas ſeinem Weſen nach Unbeſtimmtes, und es folgt daher, daß auch ihr Recht dieſen Charakter des Unbeſtimmten an ſich tragen muß. Sie muß daher rechtlich befugt ſein, je nach Natur, Größe und Gefahr dieſer Kraft ihre Verfügungen nach eigenem Ermeſſen zu erlaſſen. So entſteht der Begriff und das Princip der Polizei - Verfügungen. Aber in dieſem Princip liegt auch wieder die Mög - lichkeit, je nach dieſem Ermeſſen der Polizei die perſönliche Freiheit zu beſchränken und ſomit die Polizeiverfügung über das Recht zu ſtellen. So lange nun Geſetz und Verordnung identiſch waren, war das nur eine mit dem ganzen Rechtszuſtande harmonirende Conſequenz. Als aber mit dem neunzehnten Jahrhundert der Grundſatz Geltung gewinnt, daß jede Funktion der Verwaltung unter dem Geſetze ſtehen ſolle, alſo auch die der Polizei, mußte der Verſuch entſtehen, auch der Polizei für ihre Funktion gegenüber den gefährlichen Kräften eine ge - ſetzliche Gränze zu geben. Auf dieſe Weiſe entſtand das Bedürfniß nach einem geſetzlichen Polizeirecht. Nun aber ſind Gefahren auf jedem Punkte vorhanden; das ganze Leben der Gemeinſchaft iſt be - ſtändig von menſchlichen und natürlichen Kräften durchdrungen und umgeben, welche ſeine Sicherheit bedrohen. Ein ſyſtematiſches Polizei - recht hatte daher zur Vorausſetzung eine ſtreng ſyſtematiſche Auffaſſung eben dieſes Geſammtlebens, um genügen zu können, und das iſt eben ein Syſtem der Verwaltung. Dieſes nun fehlte. Und ſo bildete ſich zwar ein Polizeirecht, aber ſtückweiſe und ohne Zuſammenhang. Die Sache iſt da, aber das Syſtem fehlt. Daher denn die natürliche Erſcheinung,99 daß bisher nur wenig Geſetzgebungen es zu einer ſelbſtändigen Polizei - geſetzgebung gebracht haben und daß es zwar treffliche Commentare der letzteren, aber keine Wiſſenſchaft des Polizeirechts an ſich gibt.

Um nun zu dieſer zu gelangen, muß man ſcheiden zwiſchen dem, was wir die Sicherheits - und die Verwaltungspolizei nennen.

Die Natur der Gefahren, mit denen die innere Verwaltung im Polizeiweſen zu kämpfen hat, iſt nämlich eine doppelte. Inſofern ſie nämlich in der losgelaſſenen, an ſich maßloſen Kraft des Menſchen beſteht, iſt ſie ihrem Weſen nach unbeſtimmt und umfaßt ohne Gränze alle Lebensverhältniſſe der Gemeinſchaft. Sie kann aber auch nicht mehr in der Perſönlichkeit überhaupt, ſondern in einer beſtimmten Handlung derſelben beſtehen, und in dieſem Falle bezieht ſie ſich auch nur auf beſtimmte Verhältniſſe der Einzelnen oder der Geſammtheit. In dieſem Falle gibt es ſo viele Arten der gefährlichen Handlungen, als es einzelne Gebiete der Verwaltung gibt, während im erſten Falle die Gefahr ſich auf alle gleichmäßig bezieht. Demnach ſagen wir, daß die Abwendung der in der ſchrankenloſen Kraft der Perſönlichkeit überhaupt liegenden Gefahr die Sicherheitspolizei bildet, wäh - rend die gegen einzelne und beſtimmte gefährliche Handlungen gerichtete Polizei die Verwaltungspolizei iſt. Jene erſcheint deß - halb als ein durchaus ſelbſtändiges Gebiet, während dieſe vielmehr einen immanenten Theil jedes einzelnen Theiles der Verwaltung bildet und daher eine ſelbſtändige Darſtellung bezw. Geſetzgebung nur in ſofern fordert, als ſie durch den Organismus der Sicherheitspolizei allgemein vollzogen wird.

Dieſe Unterſcheidung nun iſt um ſo wichtiger, als jeder dieſer Theile der Polizei wieder vermöge ſeiner beſondern Aufgabe auch ſein eigenes Recht und meiſt auch ſeine eigene Geſetzgebung hat. Daraus dann ergibt ſich folgendes Syſtem des Polizeiweſens und ſeines Rechts.

In dem Mangel dieſer Unterſcheidung der Sicherheits - und Verwaltungs - polizei liegt der weſentliche Fehler ſowohl von Mohls Präventivjuſtiz, der übrigens auch die gerichtliche Funktion der Polizei nicht hinreichend ſcheidet, als Maiers Polizeirecht. Die Geſtalt des ganzen Gebiets wird erſt durch dieſe Scheidung klar und verſtändlich.

A. Die Sicherheitspolizei. Begriff und Rechtsprincip.

Die Sicherheitspolizei iſt demnach die Aufgabe und das Recht der inneren Verwaltung, die perſönliche Freiheit im Allgemeinen durch ihre Verbote und Maßregeln da zu beſchränken, wo vermöge derſelben dem100 Zuſtande der allgemeinen Sicherheit Gefahr droht. Das Element der Willkür, das darin liegt, empfängt erſt mit der franzöſiſchen Revolution ſeine Gränze durch das Princip, daß ein ſolches Eingreifen nur im Namen des Geſetzes ſtattfinden dürfe. Die Nothwendigkeit aber, der Verwaltung das obige Recht zu laſſen, erzeugte die zweite, nicht bei einem allgemeinen Princip ſtehen zu bleiben, ſondern die einzelnen Fälle und Gränzen geſetzlich zu beſtimmen, in denen und bis zu denen die Polizei in die perſönliche Freiheit wirklich eingreifen dürfe. So entſtanden die beiden Elemente, aus denen das Recht der Sicherheits - polizei ſich bildet. Einerſeits die verfaſſungsmäßige Anerkennung eben der perſönlichen Freiheit in ihren Grundformen, und anderer - ſeits die Geſetze, nach denen die innere Verwaltung durch die Polizei dieſelbe zu beſchränken berechtigt iſt, und die im Gegenſatz zur Ver - faſſung auch wohl die Ausnahmsgeſetze genannt werden. Dieſe nun bilden ſomit ein Syſtem, deſſen beide Theile, die höhere und die Einzelpolizei, jede wieder ihr ſelbſtändiges Rechtsgebiet beſitzen.

I. Die höhere Sicherheitspolizei.

Die höhere Sicherheitspolizei entſteht da, wo durch irgend eine Vereinigung von Menſchen eine öffentliche Gefahr droht. Es iſt ihre Aufgabe, dieſe Gefahr zu beſeitigen; ſo wie aber die Vereinigung bereits eine Ungeſetzlichkeit wirklich begangen hat, ſoll ſie nur noch als gerichtliche Polizei die Maßregeln zur Verfolgung des Unrechts ſichern. Ihr Recht beſteht demnach in der ſtrengen Ausübung der geſetzlichen Vorſchriften, nach welchen ſie durch ihr Einſchreiten die an ſich freien Vereinigungen hindern oder beſchränken kann, und dafür beſtehen ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts faſt in allen Staaten genaue geſetzliche Beſtimmungen. Ihr Syſtem entſteht an der Verſchiedenheit dieſer gefahrbringenden Vereinigungen. Ihr Inhalt iſt folgender.

Ihr erſtes Gebiet iſt das des Vereinsweſens im weiteſten Sinne. Ihr Recht geht hier nur auf Kenntnißnahme derſelben; das aber iſt ein principielles Recht, und daher, ganz abgeſehen von dem Zwecke, der an und für ſich ſchon ſtrafbar ſein kann, der Grundſatz, daß geheime Verbindungen an und für ſich verboten und von der Sicherheitspolizei zu verfolgen ſind. Ihr zweites Gebiet ſind die öffentlichen Verſammlungen. Es iſt ihre Aufgabe und damit ihr Recht, bei denſelben gegenwärtig zu ſein, und wenn ihrem Ermeſſen nach durch die Thätigkeit oder die Bewegung derſelben eine öffentliche Gefährdung entſteht, ſie aufzulöſen; jedoch kann ſie dieſelben wegen Vergehen und Verbrechen, welche von einzelnen Mitgliedern in ihr101 geſchehen, nur dann auflöſen, wenn die Verſammlung als Ganzes das Mitglied gegen die Anordnung der Polizei thätlich in Schutz nimmt. Eben deßhalb hat ſie das Recht auf Anzeige und Verbot der Verſamm - lung. Ihr drittes Gebiet bildet die Geſammtheit von Erſcheinungen, welche wir als Volksbewegungen bezeichnen, Auflauf, Tumult u. dergl. Ihre Aufgabe iſt, dieſelben auf dem Punkte zu hindern, wo ſie durch erregte Leidenſchaften zu einer öffentlichen Gefahr werden. Es muß ihrem Ermeſſen überlaſſen bleiben, zu beſtimmen, wann dieſer Zeitpunkt eingetreten iſt; iſt er eingetreten, ſo hat ſie die Mittel zu beſtimmen, welche dieſelben bändigt; doch ſind die Bedingungen der Anwendung von Waffengewalt geſetzlich vorgeſchrieben und ſie haftet für die Innehaltung dieſer Bedingungen (Aufruhrsakte). Das vierte Gebiet endlich tritt da ein, wo entweder ein äußerer Feind das Land angreift, oder die Volksbewegung zur thätlichen Bedrohung des ge - ſammten Rechtszuſtandes übergeht; im erſten Falle tritt das Kriegs - recht ein, im zweiten das Standrecht als Einführung der militä - riſchen Gerichtsbarkeit ſtatt der bürgerlichen, meiſt nur für einzelne beſtimmte Verbrechen, oder bei allgemeiner Auflöſung des Rechtszuſtandes der Belagerungszuſtand, deſſen Recht das des militäriſchen Gehor - ſams und ſeiner Pflichten und Folgen ſtatt des ſtaatsbürgerlichen iſt. Dieſes Recht hat nun da, wo die einzelnen ſtaatsbürgerlichen Rechte durch ſpecielle Geſetze formulirt ſind, ſeine geſetzliche Ordnung nach Vorbild der Aufhebung der Habeas Corpus-Akte in den Ausnahme - geſetzen gefunden, welche das Recht der Regierung auf Suſpenſion der ſtaatsbürgerlichen Rechte genau beſchränken und ordnen. Gegen alle dieſe Maßregeln als ſolche gibt es kein Klagerecht, ſondern nur Beſchwerderecht. Dagegen tritt das Klagerecht für die einzelnen Akte der Polizeigewalt ein, wenn ſie ein beſtimmtes, für die Sicherheits - polizei gegebenes Recht verletzt.

Dieſe höhere Sicherheitspolizei kann, weil ſie allgemeine Verhält - niſſe betrifft, nur von der Regierung ausgeübt werden. Anders die folgende.

Die Geſetzgebung für dieſe Polizei tritt erſt ins Leben mit den Verfaſ - ſungen; ſie iſt kein Syſtem, ſondern beſteht aus einzelnen Geſetzen für die ein - zelnen Aufgaben der Polizei.

Das Verbindungs - und Verſammlungsrecht iſt meiſt mit dem Ver - einsrecht bis auf die neueſte Zeit verſchmolzen; die Unfreiheit des Vereins - weſens beſtand weſentlich darin, daß man ſie als Verbindungen behandelte. Da - her Erlaubniß - und Verbotsrecht für beide; doch unbedingtes Verbot geheimer Verbindungen ſchon in Frankreich (Decret vom 29. Sept. 1791); das Princip der Erlaubniß fortgeſetzt (Code Pén. Art. 291). Auf gleichem Stand -102 punkt das frühere deutſche Recht; ſo in allen Verfaſſungen (Bundesbeſchluß von 1854). Dann freies Vereins - und Verſammlungsrecht. Preußen: Rönne, Staatsrecht I. 100. Oeſterreich: Früheres polizeiliches Vereinsrecht (Geſetz von 1852); neues freies Recht (Geſetz vom 25. Dec. 1867). Bayern: Geſetz vom 26. Febr. 1850. Vergl. Stein, Polizeirecht S. 112 115.

Die Volksbewegungen im vorigen Jahrhundert noch rechtlos; dann Entſtehung der franzöſiſchen Geſetzgebung über Attroupements ſeit Geſetz vom 21. Okt. 1789, und Subſummirung unter das Strafgeſetz (Code Pén. I. 4). Darnach das deutſche Recht gebildet: Preußen (Verordnung von 1798 und 17. Aug. 1835); wichtig das Princip der Solidarität der Theilnahme und Haftung der Gemeinden (Geſetz vom 11. März 1850). Rönne, Staatsrecht II. 346. Bayern: Geſetz vom 12. März 1850 (über Haftung der Gemeinden) und Geſetz vom 4. Mai 1851 über Anwendung von Waffen. Sachſen (Geſetz vom 11. Mai 1851). Uebrigens iſt das Ganze nicht ſehr ausgebildet.

Belagerungszuſtand: Grundlage die franzöſiſche Geſetzgebung vom 10. Frim. an V und Hauptgeſetz vom 24. Dec. 1810. In Deutſchland wenig klar; meiſt unbeſtimmt unter das Weſen der Nothverordnungen (Ausnahms - geſetze) ſubſumirt, ohne genaue Beſtimmungen. (Vergl. Mittermaier, Archiv des Criminalrechts 1849. Stein, Polizeirecht S. 124 132.) Das beſte Geſetz über den Ausnahmszuſtand iſt unzweifelhaft das öſterreichiſche Geſetz vom 5. Mai 1869 über Suſpenſion der Art. 8. 9. 10. 12. 13 des Staatsgrund - geſetzes vom 31. Dec. 1867 bei hochverrätheriſchen oder ſonſt die Verfaſſung bedrohenden oder die perſönliche Freiheit gefährdenden Umtrieben mit genauer Bezeichnung des ganzen von der Regierung einzuhaltenden Verfahrens.

II. Die Einzelpolizei.

Die Einzelpolizei tritt nun da ein, wo eine einzelne Perſönlichkeit als ſolche eine gefährliche iſt. Gerade nun das, daß dieſer Begriff ſich nicht formell definiren und daß ſich andererſeits das Recht der Polizei, gegen den wirklich Gefährlichen einzuſchreiten, nicht beſtreiten läßt, hat bis zur Entſtehung der Verfaſſung die ganze perſönliche Freiheit in das Ermeſſen der Polizei geſtellt. Es kam daher dem neunzehnten Jahrhundert, da es das Polizeirecht an ſich weder gänzlich negiren wollte noch konnte, darauf an, gerade dieß Recht der Polizei mit den möglichſt genau beſtimmten geſetzlichen Schranken zu umgeben. Das ſind die Geſetze über die perſönliche Freiheit der Staatsbürger, ent - weder in der Verfaſſungsurkunde enthalten wie in den meiſten deutſchen Verfaſſungen, oder als ſelbſtändige Geſetze erlaſſen, wie die Habeas Corpus-Akte oder die vortrefflichen öſterreichiſchen Geſetze vom 27. Okt. 1862 zum Schutze der perſönlichen Freiheit und des Hausrechts und Briefgeheimniß (Staatsgrundgeſetz vom 21. Dec. 1867, Art. 10). Die Entwicklung dieſer Geſetze enthält die Beſtimmung über Recht und Ver - fahren der Polizei bei Verhaftung, Hausdurchſuchung und Beſchlagnahme. 103Leitender nicht immer klar feſtgehaltener Grundſatz: die Polizei ſoll ſtets ſtreben, die perſönliche Freiheit nur auf gerichtlichen Befehl zu be - ſchränken; thut ſie es ohne denſelben, ſo ſoll ſie ſofort das Gerichtsver - fahren eintreten laſſen, haftet aber perſönlich für das, was ſie ohne Gerichtsbefehl thut. Was zu geſchehen hat, wenn die Aktion der Rechts - pflege beginnt, iſt nicht mehr Sache der Sicherheitspolizei und ihres Rechts, ſondern der Strafrechtspflege. An dieſe Grundſätze hat ſich eine ganze Theorie angeſchloſſen, welche namentlich in Deutſchland noch vielfach Strafproceß und Polizei vermengt, zugleich aber in den ver - ſchiedenen Staaten ſehr verſchieden iſt, vorzugsweiſe im Gebiete der Verhaftung und ihres Rechts. Einen ganz ſpeciellen Theil dieſer Polizei bildet endlich die Waffenpolizei, die ſelbſt wieder zum Theil mit der Jagdpolizei zuſammenhängt.

Ueber das vielbeſprochene und ſelten ganz vorurtheilsfrei betrachtete Gebiet der Einzelpolizei iſt viel von Criminaliſten und wenig von der Staatswiſſen - ſchaft gearbeitet. Das engliſche Syſtem und die einſeitigen Vorſtellungen darüber: Glaſer, Engliſch-ſchottiſches Strafverfahren 1860; Bertrand, de la détention prévent. en France 1862. Das franzöſiſche ſeit 1790 im Code de l’Instr. Crim. V. 50. Die deutſche Rechtsbildung auf Grundlage des eng - liſchen Princips des Rechts der polizeilichen Verhaftung mit der Pflicht der Uebergabe an das Gericht binnen vierundzwanzig Stunden; nebſt den Beſtim - mungen über polizeiliches Haus - und Beſchlagsrecht: in zu enger Verbindung mit dem Strafverfahren: Sundelin, die Habeas-Corpus-Akte 1862. Zöpfl, Staatsrecht II. 290 ff. Stein, Polizeirecht S. 133 ff. nebſt den geſetzlichen Beſtimmungen; die öſterreichiſchen Geſetze vom 27. Okt. 1862 und 1867 (ſ. oben) ſind noch das Beſte hierüber; die meiſten Beſtimmungen finden ſich ſonſt leider ausſchließlich in den Strafgeſetzbüchern, die von der Polizei keine Vorſtellung haben. Das Verhältniß der Gemeinde zur niederen Sicherheitspolizei noch ſehr unklar; Grundlage meiſt wie in Preußen: nur die Feldpolizei derſelben überlaſſen. Eintreten des Vereinsweſens für Bettler und Sträflinge, nebſt (mangelhaften) geſetzlichen Beſtimmungen. (Stein, Polizeirecht S. 166 ff.)

B. Die Verwaltungspolizei.
I. Begriff und Syſtem.

Die Verwaltungspolizei im Unterſchiede von der Sicherheitspolizei entſteht nun da, wo es ſich nicht mehr um die in einer Perſönlichkeit überhaupt liegende, ſondern um eine, ein beſtimmtes Lebensver - hältniß der Gemeinſchaft oder Einzelner bedrohende Thätigkeit eines Einzelnen handelt. Ihre Aufgabe iſt daher der Schutz eines ganz beſtimmten Gebietes des öffentlichen Lebens, und da das letztere der Verwaltung überhaupt unterliegt, ſo ergibt ſich, daß die Verwaltungs -104 polizei der geſammten Verwaltung inwohnend, das iſt, nicht mehr eine beſondere Funktion, ſondern vielmehr der polizeiliche Theil der Funktion in jedem Gebiete der Verwaltung iſt. Es hat dieſe Polizei daher auch kein ſelbſtändiges Syſtem, ſondern ſie erſcheint in dem geſammten Syſtem der Verwaltung als der für den Schutz der letzteren beſtimmte Theil der öffentlichen Thätigkeit. Es gibt daher eine Bevölkerungs -, Geſundheits -, Wege -, Poſt -, Kredit -, Landes -, Forſt -, Bergbaupolizei u. ſ. w. Das bedarf mithin keiner Erklärung. Es muß nur hinzugefügt werden, daß die Bettel - und Vagabunden - polizei der geſellſchaftliche Theil der Verwaltungspolizei iſt und daher noch im dritten Abſchnitt der Verwaltungslehre wieder ſelbſtändig auftritt. Daß einzelne Gebiete der letzteren, wie z. B. die Forſtver - waltung, noch im Allgemeinen als (Forſt -) Polizei bezeichnet werden, wird als hiſtoriſche Erſcheinung wohl niemand mehr irre machen.

Dagegen bedarf das Rechtsprincip und die Rechtsbildung dieſer Polizei einer ſpeciellen Darſtellung.

II. Rechtsprincip. Die Polizeiſtrafgeſetze.

Während nämlich die Sicherheitspolizei es nur mit der Möglichkeit einer That zu thun hat, muß die Verwaltungspolizei ſtets eine be - ſtimmte Handlung als gefährlich bezeichnen und daher dieſelbe aus - drücklich verbieten. Thut ſie das, ſo wird damit die Begehung einer ſolchen polizeilich verbotenen Handlung eine Verletzung des öffentlichen Willens und iſt damit an und für ſich ſtrafbar. So lange nun die Strafgeſetzgebung ſich mit dieſen Uebertretungen verwaltungspolizeilicher Verbote nicht beſchäftigte, mußte das Verbot, die Strafe und das Verfahren bei ſolchen Uebertretungen ganz der Polizei ſelbſt überlaſſen werden; ſie war damit Geſetz, Verordnung und Gericht zugleich. Aus dem Widerſpruch, der darin mit dem Principe des Staatsbürger - thums lag, ging nun der erſte große Verſuch hervor, das ganze Gebiet dieſer Uebertretungen aus der Verwaltungspolizei herauszunehmen und es zu einem integrirenden Theile der Strafgeſetzgebung zu machen, um ſtatt polizeilicher Willkür wenigſtens irgend ein Geſetz dafür zu haben. Das geſchah zuerſt durch den Code Pénal, der den Begriff der Contravention zu einem ſtrafrechtlichen machte und die erſten Verſuche eines ſtrafrechtlichen Syſtems dieſer Contravention im Art. 471 aufſtellte. Die deutſchen Strafgeſetzgebungen folgten mit mehr oder weniger Be - wußtſein, und ſo entſtand das Strafrecht der Uebertretungen, die nichts anderes ſind, als Vergehen gegen die Verwaltungspolizei. Allein trotz dem blieb theils die Natur der Uebertretung, da ſie keine Perſön -105 lichkeit verletzt, ſelbſt von der des Vergehens weſentlich verſchieden; theils konnte man daher auch die Folgen der Uebertretung keine rechte Strafe nennen; theils endlich genügten die kurzen Andeutungen des eigentlichen Strafgeſetzbuches für das zweite Gebiet derſelben nicht. So blieb der Polizei das Recht, durch ihre einſeitigen Vorſchriften Befehle zu geben: das war das Gebiet der Polizeiverfügungen neben den Straf - und Polizeigeſetzen; ſie behielt conſequent das Recht, die Ueber - tretung ſolcher Polizeiverfügungen mit eigenen Strafen zu belegen und ſo entſtanden die Ordnungsſtrafen neben den peinlichen Strafen; und endlich ergab es ſich als zweckmäßig, für dieſe Uebertretungen ein eigenes Verfahren vor der Polizei beizubehalten, das Polizeiver - fahren neben dem Strafproceß, dem gleichfalls aus Gründen der Zweckmäßigkeit für jene Ordnungsſtrafen das Polizeigericht neben dem Strafgericht entſpricht. Alle dieſe Rechtsverhältniſſe bildeten ſich nur durch ihre eigene Natur aus und zwar meiſtens neben der Strafgeſetzgebung, alſo eigentlich im Widerſpruche mit dem Princip, daß keine Strafe ohne ordentliches Gericht und Verfahren ſein ſoll. Erſt in der neueſten Zeit löst ſich das ganze Gebiet als ein ſelbſtän - diges von dem übrigen Verwaltungs - wie von dem Strafrecht los, und ſo entſtehen die Polizei-Strafgeſetzbücher der letzten Decennien, welche in ihrem allgemeinen Theil das Verfügungsrecht, die Com - petenz und das Verfahren der Polizei überhaupt, in dem beſondern Theil das Syſtem der Uebertretungen nach dem Elemente der Verwal - tung enthalten. Es iſt demnach kein Zweifel über den Standpunkt, auf dem wir jetzt ſtehen. Wir faſſen denſelben in folgender Weiſe. 1) Die Polizeiſtrafgeſetzbücher ſind ein nothwendiges Element des inneren Verwaltungsrechts; 2) ein eigenes dem ſummariſchen Verfahren ent - ſprechendes polizeigerichtliches Verfahren iſt bei Ordnungsſtrafen zweck - mäßig; und 3) da trotz der Polizei-Strafgeſetzbücher dennoch nicht alle Fälle von demſelben vorhergeſehen werden können, ſo muß der Ver - waltungspolizei das Recht zum Erlaß von Verfügungen mit Ordnungs - ſtrafen bleiben, jedoch ſoll dieſe Geſetzgebung für Ordnungsſtrafen ſtets unter Zuziehung der Gemeinde und nur innerhalb einer beſtimmten Gränze ausgeübt werden; allerdings kann ſie dann ſich auch auf alle Gebiete der inneren Verwaltung beziehen. Es wird die Aufgabe der Zukunft ſein, auf Grundlage dieſer Unterſcheidung von peinlicher und Ordnungsſtrafe einerſeits und der Sicherheits - und Verwaltungspolizei andererſeits hier zu einer genügenden Geſetzgebung und Praxis zu gelangen.

Seit Berg, Allgemeines Teutſches Polizeirecht (1799) iſt allerdings die Verwaltungspolizei in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen, aber theils mit106 dieſer, theils mit der Sicherheitspolizei ſo vollſtändig identificirt, daß der ſelb - ſtändige Begriff damit verloren ging; Mohl hat wieder in der Präventivjuſtiz den erſten, aber nicht zum klaren Bewußtſein gelangten Verſuch gemacht, eine ſelbſtändige Sicherheitspolizei aufzuſtellen. Mein Polizeirecht (Verwaltungs - lehre Bd. 4) iſt durch den Mangel der obigen Unterſcheidungen gleichfalls nicht klar geworden, und hat daher auch die Stellung der verſchiedenen Polizeiſtraf - geſetzbücher und ihre Aufgabe nicht verſtanden. Hier iſt alſo noch faſt alles zu thun. Der Charakter des Verwaltungspolizeirechts in England beruht darauf, daß die Polizei nur im Namen eines beſtimmten Geſetzes vorgehen darf; daher gibt im Grunde nur das Parlament Polizeiverfügungen und Ordnungsſtrafen (Bußen = fees). In Frankreich dagegen beginnt die Polizei mit ſelbſtändigem Ordnungsſtrafrecht, was auch in Preußen und Oeſter - reich gilt. Dagegen haben die ſüddeutſchen Staaten eigene Polizeiſtrafgeſetz - bücher: Württemberg 1837; Baden 1863; Bayern 1866. Ueber die - ſelben gibt es vortreffliche Commentare, aber noch keine wiſſenſchaftliche Be - handlung.

IV. Das Pflegſchaftsweſen.

Die letzte Aufgabe der inneren Verwaltung des perſönlichen Lebens tritt nun da ein, wo eines der beiden Momente der Perſönlichkeit, das phyſiſche Daſein einer Perſon oder die freie Selbſtbeſtimmung fehlt, und die Perſönlichkeit daher, obwohl vorhanden, nicht fähig iſt zu funktioniren. Da nun aber dieſe Thätigkeit der einzelnen Perſönlichkeit ein Theil und Element des Geſammtlebens iſt, ſo muß derſelben die Fähigkeit zur Funktion wiedergegeben werden, indem das ihr fehlende Element erſetzt, und ſie dadurch wieder als verkehrsberechtigte Perſön - lichkeit hergeſtellt wird. Dieß nun kann nicht durch den Einzelnen, ſondern nur mit allgemeiner Gültigkeit durch die Verwaltung geſchehen; und die dafür geltenden Grundſätze bilden das Pflegſchaftsweſen.

Die Arten des Pflegſchaftsweſens beruhen demgemäß auf den - jenigen Elementen der Perſönlichkeit, welches eben erſetzt werden müſſen. Das Vormundſchaftsweſen hat die Aufgabe den mangelnden ſelb - ſtändigen Willen ſowohl des Mündels als der Frau zu erſetzen; im Verlaſſenſchaftsweſen fehlt der wirthſchaftlichen Perſönlichkeit die phyſiſche und die Verwaltung leitet daher den Proceß des Ueberganges der Güter an die Erben; in der Maſſenverwaltung (dem Concurs - weſen) iſt dagegen die rechtliche Scheidung der wirthſchaftlichen und phyſiſchen Perſönlichkeit eins; der Concurs iſt der wirthſchaftliche Tod der letzteren und die Verwaltung leitet den Auflöſungsproceß des Ver - mögens. Das Recht aller drei Arten des Pflegſchaftsweſens iſt daher zugleich ein öffentliches und ein bürgerliches. Das öffentliche Recht107 enthält die Grundſätze, nach denen der Einzelne berufen und berechtigt wird, die mangelnde Perſönlichkeit zu erſetzen; das bürgerliche Recht die einzelnen Folgen, welche dieſe Vertretung ſowohl im Verkehr mit Dritten als im Verhältniß zu dem Vertreter erzeugt. Die hiſtoriſche Entwicklung der Rechtswiſſenſchaft hat es mit ſich gebracht, daß die wiſſenſchaftliche Behandlung aller drei Gebiete nie als ein Ganzes auf - gefaßt worden iſt, und daß man den Inhalt derſelben ſtets ausſchließlich als einen Theil des Privatrechts angeſehen hat; trotzdem daß ander - ſeits die Geſetzgebung über Verlaſſenſchaft und Concursweſen ihren ganz ſelbſtändigen Weg gegangen ſind. Erſt das Verſtändniß der inneren Verwaltung wird dieſem großen Gebiete als dem Schlußpunkt der Sorge für das perſönliche Leben des Einzelnen ſeinen richtigen Platz und damit ſeine Behandlung anweiſen. Vor der Hand muß man den Inhalt dieſes Rechts theils im Privatrecht, theils im ſogenannten außergerichtlichen Verfahren ſuchen, auf die wir hier verweiſen dürfen.

B. Die Verwaltung und das geiſtige Leben.

(Das Bildungsweſen.)

Begriff der Bildung und des Bildungsweſens.

Das zweite große Gebiet der Verwaltung des perſönlichen Lebens iſt gegeben durch das zweite Element aller Perſönlichkeit, den Geiſt und ſeine Entwicklung.

Den beſtimmten Zuſtand der geiſtigen Entwicklung des Einzelnen als die Geſammtſumme der von ihm erworbenen geiſtigen Güter nennen wir die Bildung. Es iſt kein Zweifel, daß die Bildung den höchſten Werth für jeden Einzelnen hat; ſie iſt zugleich die Bedingung und die Conſequenz alles Fortſchrittes; ihr Maß und ihre Tiefe ſind das Maß und der Werth des Einzelnen überhaupt. Sie hat daher ihre eigenen Geſetze und ihre eigenen Gebiete, und erfüllt das ganze menſchliche Da - ſein mit ihrem geiſtigen Inhalt. Allein auch in dieſer Bildung iſt der Menſch kein alleinſtehendes Weſen. Es hängt auch hier von allen andern ab, und wirkt mit ihr auf alle andern ein. Dieſe Gemeinſchaft der〈…〉〈…〉 ldung nennen wir die Geſittung; die Geſittung iſt die Bildung aller Einzelnen als die wichtigſte Thatſache des öffentlichen Lebens. Damit aber ergibt ſich, daß der Einzelne weder dazu beſtimmt noch auch dazu fähig iſt, ſeine Bildung für ſich allein zu erwerben oder zu behal〈…〉〈…〉 n. Wie die wichtigſten Bedingungen derſelben, ſo liegen auch108 ihre bedeutendſten Folgen außerhalb der Sphäre des Einzellebens. Sind aber Bildung und Geſittung auf dieſe Weiſe Elemente und Faktoren des Geſammtlebens, ſo werden ſie damit auch Gegenſtand der für ihre eigene Entwicklung thätigen Gemeinſchaft, die auch hier im Staate und ſeiner Verwaltung ihren perſönlichen Ausdruck findet. In dieſem Sinne erſcheint der Bildungszuſtand der Bildung aller Einzelnen als die öffentliche Bildung, und demgemäß nennen wir die organiſche Geſammtheit der Thätigkeit in Staat und Verwaltung für die Bildung und Geſittung des Volkes als öffentliche Bildung das Bildungsweſen.

Das Bildungsweſen iſt daher die Verwaltung der geiſtigen Welt; es iſt die Arbeit des Geiſtes für den Geiſt. Es iſt ein mächtiges und unendlich wichtiges Gebiet des Staatslebens, aber es hat große Vor - ausſetzungen, um zu ſeiner vollen Bedeutung zu gelangen. Dieſe Vorausſetzungen liegen theils in der Erkenntniß der Geſetze, nach denen ſich der Geiſt bildet, der Pädagogik und Methodologie, theils in dem Verſtändniß ihrer richtigen Anwendung durch die für die Bil - dung beſtimmten Organe, das durch das Unterrichtsweſen geboten wird, theils endlich in der Unterſcheidung der organiſchen Stufen und Gebiete der Bildung, dem Bildungsſyſtem. Das Verhältniß dieſer Begriffe zu einander iſt, daß in dem Bildungsſyſteme die praktiſche Verwendung der Pädagogik und Methode als Unterricht zu Geltung gelangt. Ein Bildungsweſen iſt daher ſo lange unorganiſch und zum Theil ſogar unverſtändlich, bis es zu den feſten Kategorien dieſes Sy - ſtems gelangt iſt.

Natürlich hat es nun Jahrtauſende gedauert, bis dieſer allgemeine Grundgedanke der öffentlichen Bildung eine feſte Geſtalt, ein klares Syſtem und ein beſtimmtes öffentliches Recht angenommen hat, und bis die Erkenntniß auch wiſſenſchaftlich feſtſtand, daß alle Gebiete des Bildungsweſens eine Einheit ſind. Das gegenwärtige Syſtem deſſelben in Europa muß daher als das große Reſultat der ganzen Geſchichte des menſchlichen Geiſtes erkannt, und daher von dem Standpunkt dieſer Geſchichte aus behandelt werden.

Bei großem Reichthum der Literatur über die einzelnen Gebiete und da - hinein ſchlagenden Fragen nur geringe Berückſichtigung der Einheit derſelben. Sie wurden erſt im vorigen Jahrhundert in das Syſtem der Staatswiſſenſchaft aufgenommen. (Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 10. Bd. S. 38. Sonnenfels, I. 80. Berg, Polizeirecht II. Hauptſtück V.) Mit unſerem Jahrhundert ſcheidet ſich die Frage in die zwei Gebiete des öffentlichen Rechts des Unterrichtsweſens und der Syſtematik deſſelben. Das erſte ſ. unten. Die ſyſtematiſche Behand - lung zieht ſich durch die Polizei oder Staatswiſſenſchaft ziemlich gleichförmig hindurch (Jacob I. 146. Pölitz, ſtaatswiſſenſchaftliche Erziehungspolizei II. 〈…〉〈…〉[19]109Lotz, Polizei S. 379. Soden, Staatsnationalbildung (Nationalökonomie Bd. 8) letztere das bedeutendſte; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. II. 2. Bezeichnend, daß die ganze Lehre von der Preſſe gar nicht als Theil des Bildungsweſens be - handelt war, ſondern nur als Polizeirecht erſcheint. Stein, Bildungsweſen (Verwaltungslehre Bd. V) S. 17 ff. Die Geſchichte und Theorie der Päda - gogik meiſt auf die Elementarſchulen bezogen, während die Methodologie für die Berufsbildung gilt; Literatur erſt ſeit dem vorigen Jahrhundert; in unſerem Jahrhundert gründlich und ſyſtematiſch, aber immer nur für den Volksunter - richt behandelt. (Vergl. Stein S. 87 f.)

Geſchichtliche Epochen des Bildungsweſens.

Die Geſchichte des Bildungsweſens in Europa bietet einen ſolchen Reichthum an Erſcheinungen und Einzelheiten, daß man ſie nur von dem höchſten Standpunkt aus als ein Ganzes zu betrachten vermag.

Thut man das aber, ſo erkennt man, daß bei aller noch ſo tief greifenden Verſchiedenheit dennoch Eine große Thatſache dieß ganze Leben beherrſcht, die zuletzt auch die Individualität der Culturſtaaten allein ganz verſtändlich macht.

Kein Erwerb der Bildung iſt denkbar, ohne Selbſtthätigkeit des Einzelnen; keine erworbene Bildung iſt denkbar ohne Gleichheit des Ge - bildeten. Jedes Werden der Bildung iſt daher die durch die geiſtigen Faktoren ſich vollziehende Entwicklung der Völker zur freien Geſittung. Die großen Geſtaltungen der Geſittung aber ſind die Geſellſchaftsord - nungen. Jede Geſellſchaftsordnung hat daher ihr Bildungsweſen; jedes beſtimmte Bildungsweſen iſt der Ausdruck einer beſtimmten Geſellſchafts - ordnung. Und dieß nun gilt nicht bloß für jedes der drei Gebiete, ſondern auch für das Verhältniß derſelben zu einander und den Organismus des Bildungsweſens.

Die Geſchlechterordnung zuerſt hat kein ſtaatliches Bildungsweſen; die Bildung iſt und bleibt Sache der Familie und des Einzelnen; es kann unter ihr eine große (Griechenland) und eine geringe (das alte Deutſchland) Arbeit des geiſtigen Lebens, aber nie eine Verwaltung deſſelben geben. Daher mangelt gänzlich und unbedingt die Scheidung der drei Gebiete, und der Hauptgegenſtand der Bildung bleibt ſtets die phyſiſche Bildung in Kraft, Waffen und Schönheit. Die ſtändiſche Ordnung dagegen, durch das höhere Weſen des Berufes organiſirt, er - zeugt nothwendig die Berufsbildung, während ſie gegen die Volks - bildung gleichgültig bleibt, und der allgemeinen Bildung ſogar feindlich iſt. Dadurch wird ſie die Mutter der Wiſſenſchaft; denn die Wiſſen - ſchaft iſt ihr die zu einem ſelbſtändigen Ganzen zuſammengefaßte Berufs - bildung. Aus demſelben Grunde hat jeder Stand ſeine Bildung und110 Wiſſenſchaft, von der er die andern Stände ausſchließt, und ſie inner - halb ſeiner Körperſchaft organiſirt in Lehre und Recht. Jeder Stand wird dadurch zu einem ſelbſtändigen Lehr - und Prüfungskörper, und vermag es, innerhalb ſeiner Gränzen Großes zu leiſten. Allein das Princip der Ausſchließlichkeit zieht ſeine ſcharfen Gränzen; damit wird dem geiſtigen Leben ſeine höchſte Natur, die Entwicklung jedes Einzelnen zur gleichen geiſtigen Beſtimmung, genommen; die unterworfenen Klaſſen werden alsbald zur Bildung gar nicht zugelaſſen, und das Leben des Geiſtes erſtarrt in Tradition und Formel.

Hier ſind es nun die großen Faktoren aller Entwicklung, welche die neue Epoche des Bildungsweſens der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gründen. Der arbeitende Geiſt beginnt die Wiſſenſchaften als Ein großes Ganze zu begreifen und derjenige Theil der ſtändiſchen Berufs - bildung, welcher als der große Träger dieſer Idee der Einheit Jahr - hunderte lang dageſtanden und gearbeitet hat und noch arbeitet, ohne bisher in dieſem Sinne eine Geſchichte gefunden zu haben, iſt die Philoſophie und ihre philoſophiſche Facultät. Der gewerbliche Beſitz macht die Volksbildung zu einer weſentlichen Bedingung jedes wirth - ſchaftlichen Fortſchrittes, und die entſtehende organiſche Staatsidee er - kennt, daß es ihr Intereſſe das Intereſſe des Reichthums und der Macht des Staats und mithin auch ihre Aufgabe ſei, die Allgemein - heit und Einheit der Bildung herzuſtellen. So entſteht das, was das Bildungsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft charakteriſirt, die ſtaat - liche Verwaltung und ein öffentliches Recht deſſelben. Doch iſt dieſe Entwicklung eine langſame, obgleich von Anfang an alle Elemente der - ſelben vorhanden ſind. Man kann im Großen und Ganzen drei Epochen mit ſelbſtändigem Charakter unterſcheiden.

In der erſten Epoche, die mit der Buchdruckerei beginnt, beſchränkt ſich der Staat darauf, in den Gymnaſien und Univerſitäten eine ge - lehrte Vor - und Fachbildung theils herzuſtellen, theils zu ordnen; wäh - rend die Volksbildung noch dem Selbſtverwaltungskörper des gewerb - lichen Beſitzes, den Städten überlaſſen bleibt, und die allgemeine Bildung durch die bereits in ihren Grundformen entſtehende Preſſe (Flugſchriften und Bücher) vertreten wird. Aber ſchon in dieſer Epoche zeigt ſich die große organiſche Thatſache, daß mit dem Fortſchreiten der Volksbildung die Macht der Preſſe immer ſteigt; daher die erſten Anfänge des Kampfes der Regierung mit der Preſſe, während die gelehrte Bil - dung raſch fortſchreitet. Dieſe Elemente entwickeln ſich weiter bis zum Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts und bilden die neue Epoche, während die wirthſchaftliche Bildung ſich von allen am meiſten auf dem ſtändiſchen Standpunkt der gewerblichen Zunftlehrlings-Wirthſchaft erhält.

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Das achtzehnte Jahrhundert iſt nun die Epoche, in welcher die Regierungen beginnen, die Elementarbildung als Volksſchulweſen in die Staatsverwaltung aufzunehmen, und die Leitung der gelehrten Vor - und Fachbildung gleichfalls derſelben unterzuordnen. Dadurch entſteht zuerſt der Gedanke einer Einheit des ganzen Bildungsweſens, indem daſſelbe jetzt auch die Elemente der künſtleriſchen Bildung ent - wickelt, und Staatsanſtalten für die allgemeine Bildung, Bibliotheken, Muſeen u. ſ. w. herzuſtellen beginnt. Allein die wirthſchaftliche Bil - dung bleibt noch unfrei und zufällig, und die Preſſe wird unter ſcharfe Ueberwachung geſtellt. Der Charakter dieſer Epoche iſt der Ausſchluß der freien einzelnen Arbeit für das Ganze und die Herrſchaft der polizeilichen Bevormundung, die im Volksſchulweſen viel Gutes wirkt, dagegen das Berufsbildungsweſen vielfach beſchränkt und der freien allgemeinen Bildung geradezu feindlich iſt.

Die dritte Epoche, das neunzehnte Jahrhundert, iſt nun die Zeit des entſcheidenden Kampfes der freien Bildung, ſowohl mit den Reſten der ſtändiſchen Wiſſenſchaft, als mit der polizeilichen Bevormundung. Hier treten an die Stelle der Regierung das wirthſchaftliche Leben und die Preſſe in erſte Reihe. Der Erwerb wird ſeinerſeits zu einem Beruf und die Arbeit der Preſſe zu einem allgemeinen Bedürfniß und Recht. Die Elementarbildung empfängt allmälig ihre gleichartige Organiſation; ſie wird Sache der Selbſtverwaltung unter Aufſicht der Regierung; die Berufsbildung erzeugt neben dem gelehrten das wirthſchaftliche Bildungs - weſen in all ſeinen verſchiedenen Formen, und nach langem und hartem Kampfe wird die Preſſe frei. In dem Kampfe dieſer Elemente wird nun die große Thatſache klar, daß die Bildung nicht bloß die Grund - lage der individuellen Entwicklung, ſondern auch alles Werthes der Formen des öffentlichen Rechts und des Fortſchrittes in Ver - faſſung und Verwaltung ſei; und damit verſchwinden die letzten Gränzen der ſtändiſchen Epoche zwiſchen den Gebieten des menſchlichen Wiſſens, das geiſtige Leben erſcheint in ſeiner großen, machtvollen Ein - heit, die Verwaltung des Bildungsweſens wird ein äußerliches und innerliches Ganzes, und jetzt erſt beginnt das Bildungsweſen der Na - tionen das zu werden, was es ſeinem höhern Weſen nach iſt, das zur ſelbſtändigen und thätigen Organiſation gewordene Bewußtſein der Völker, daß in ihm der Geiſt ſich zum Gegenſtande und Ziel ſeiner eigenen Arbeit erhoben hat.

Allein in dieſer organiſchen Einheit und Anſchauung des Bildungs - weſens bleiben nun die drei großen Grundformen. Sie behalten nach wie vor ihr ſelbſtändiges Recht, ihre ſelbſtändige Aufgabe und ihre ſelbſtändige Geſchichte. Während in dem Obigen die Idee des Bildungs -112 weſens gegeben iſt, iſt in ihnen der Inhalt deſſelben geſetzt; und nach wie vor muß das Syſtem des Bildungsweſen zu ihnen zurückkehren.

Zugleich aber entwickelt ſich auf Grundlage der beſondern geſell - ſchaftlichen Verhältniſſe der einzelnen Völker Europas das, was wir die nationale Individualität derſelben nennen, welche wiederum als ein weſentliches Element des Verſtändniſſes für jedes einzelne Volk be - trachtet werden muß.

Die Geſchichte des Bildungsweſens iſt im Ganzen viel zu wenig behandelt. (Raumer, Geſchichte der Pädagogik; vergl. dazu Niemeyer, Grundſätze der Erziehung II. Bd. S. 453.) Ueber die alte Welt: Graßberger, Erziehung und Unterricht im klaſſiſchen Alterthum II. Bd. 1866. Charakteriſtiſch iſt auch hier die gänzliche Vernachläſſigung des allgemeinen Bildungsweſens. Dagegen iſt die Geſchichte der einzelnen Gebiete zum Theil ſehr gründlich behandelt; namentlich das Volksſchulweſen, obgleich ſtets mehr Rückſicht auf die Pädagogik und Theorie gelegt wird. Hier iſt für das Ganze noch faſt alles zu thun. (Vergl. Stein, Bildungsweſen S. 16 ff. und 88 f.)

Das neunzehnte Jahrhundert und ſein Bildungsweſen.

Das neunzehnte Jahrhundert hat nun das geſammte Bildungs - weſen in die Aufgabe der ſtaatlichen Gemeinſchaft aufgenommen, und daſſelbe theils zum Gegenſtande großer und umfaſſender Geſetzgebung, theils zur Aufgabe ſeiner das ganze geiſtige Leben umfaſſenden Bildungsanſtalten, theils zum Objekt eingehender wiſſenſchaftlicher Unter - ſuchungen gemacht. Es iſt daher jetzt die Aufgabe der Verwaltungs - lehre, in dieſem großen und ſo unendlich reichen Gebiete die Einheit in Auffaſſung und Behandlung zu ſchaffen, indem die für alle Theile deſſelben gültigen Grundbegriffe zuerſt feſtgeſtellt werden. Dieſe ſind die Elemente des Syſtems, die leitenden Principien für das öffent - liche Recht, die Fundamente für den Organismus, und die natio - nale Geſtalt des Bildungsweſens überhaupt, wobei dann jeder Theil ſchon hier wieder ſeine elementaren Grundverhältniſſe zeigt, die den Inhalt des Syſtems des Verwaltungsrechts der Bildung abgeben.

1) Das Syſtem des Bildungsweſens.

Indem nun das neunzehnte Jahrhundert die ganze öffentliche Bil - dung gleichmäßig als Aufgabe der Gemeinſchaft umfaßt, erſcheinen drei große Grundgebiete derſelben, die allerdings in Bedeutung, Inhalt und Recht ſo verſchieden ſind, daß man ſie nur vom höchſten Stand - punkt des geiſtigen Lebens als eine organiſche Einheit verſtehen kann.

Das erſte Gebiet iſt das der elementaren Bildung, das wir113 deßhalb auch wohl das Unterrichts - oder Volksbildungsweſen nennen. Das zweite iſt das der Berufsbildung oder Fachbildung, das dritte iſt das der allgemeinen Bildung. In jedem dieſer Ge - biete arbeitet der Geiſt für ſeine eigne Geſammtentwicklung in hundert - facher Weiſe; aber nicht das was hier auf geiſtigem Gebiete überhaupt geſchieht, ſondern ſpeciell nur das, was der thätige Staat für jedes dieſer Gebiete thut, iſt dasjenige, was wir das öffentliche Bildungs - weſen nennen. Das Syſtem des letzteren iſt daher die objektive Rechtsordnung für die Bewegung der geſammten öffentlichen Bil - dung. Und daraus entſteht dann das Rechtsſyſtem derſelben, deſſen Princip wie deſſen Inhalt für jeden Theil des Ganzen ein natur - gemäß verſchiedenes iſt.

2) Das Recht und die Geſetzgebung des Bildungsweſens.

Das Recht des Bildungsweſens umfaßt demnach formell die Ge - ſammtheit von öffentlichen Beſtimmungen für die Thätigkeit der Verwaltung in Beziehung auf die Erhaltung und Ent - wicklung der Geſittung des Volkes.

An ſich iſt die Bildung des Einzelnen abſolut frei. Allein einer - ſeits ſind ihre Bedingungen dem Einzelnen unerreichbar, andrerſeits iſt die Bildung des Einzelnen eine Bedingung der Entwicklung der Geſammtheit. Die Aufgabe der Verwaltung in Beziehung auf das Bildungsweſen iſt demgemäß eine doppelte. Sie hat einerſeits die dem Einzelnen unerreichbaren Bedingungen der Bildung herzuſtellen, und andrerſeits das ganze Maß derſelben zu ſichern, welches für die thätige Betheiligung des Einzelnen am Geſammtleben theils im Allgemeinen, theils für die einzelnen Berufe und ihre Ausübung gefordert wird. Damit greift die Verwaltung tief in das geiſtige Leben des Einzelnen hinein; und die daraus entſtehenden Beſchränkungen der Freiheit des Einzelnen bilden den Inhalt des öffentlichen Bildungsrechts.

Indem ſich nun dieß Rechtsprincip an das Syſtem des Bildungs - weſens anſchließt, entſteht das, was wir das Rechtsſyſtem der öffent - lichen Bildung nennen.

Das Rechtsprincip des Volksunterrichts iſt der Schulzwang mit ſeinen Vorausſetzungen, die ſtaatsbürgerliche Verpflichtung zur Erwer - bung der Elementarkenntniſſe, auf Grundlage der confeſſionellen Frei - heit und der Unentgeldlichkeit des Volksunterrichts.

Das Rechtsprincip der Berufsbildung iſt, daß die Fachbildung und Prüfung die rechtliche Bedingung für die Ausübung öffentlicher Funktionen ſei, woraus die Ordnung der Studien und das Recht des Geprüften folgen.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 8114

Das Rechtsprincip der allgemeinen Bildung iſt die Freiheit, welche die Beſchränkung der Verwaltungsthätigkeit auf die Verhinde - rung und Beſtrafung der Rechtsverletzungen fordert, die das geiſtige Leben erzeugen kann.

Es iſt demnach nicht möglich, von einem einfachen und gleichen Rechtsprincip, und demgemäß von einer einheitlichen Geſetz - gebung für das ganze Gebiet zu reden. Denn es iſt nicht die Auf - gabe der Verwaltung, ihre Thätigkeit oder ihr Recht an die Stelle der freien Thätigkeit des Einzelnen zu ſetzen, ſondern nur das Maß und diejenige Ordnung derſelben zu beſtimmen, welche als Bedingung der Geſammtentwicklung angeſehen werden müſſen. Selbſt der größte Verſuch, der je den Bildungsproceß des geſammten Volkslebens der Verwaltung ausſchließlich unterordnen wollte, die franzöſiſche Geſetzgebung Napo - leons I., hat das nicht vermocht. Das Bildungsweſen fordert daher für jedes ſeiner drei Gebiete mit dem ſelbſtändigen Syſtem derſelben auch ein eignes Bildungsrecht; die drei Gebiete ſind aber ein Ganzes in der gemeinſamen Idee der Verwaltung des geiſtigen Lebens der Geſammtheit.

Den erſten Ausdruck dieſer Auffaſſung der Einheit des Ganzen und der Selbſtändigkeit der Theile auf Grundlage der Idee der (polizeilichen) Staats - verwaltung mit der Polizeiwiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts, fortgeſetzt in der heutigen. Die poſitiven Beſtimmungen in den Lehrbüchern des Staatsrechts jedoch höchſt ungleichmäßig behandelt, und nicht als Einheit aufgefaßt, ſondern jeder Theil für ſich dargeſtellt. Das beſte Material in Schmid, Encyclopädie.

3) Principien des Organismus des Bildungsweſens.

Der Organismus des Bildungsweſens enthält formell die Organe und ihre Competenz, durch welche die Gemeinſchaft ihre Thätigkeit für das Bildungsweſen ausübt.

Es liegt in der Natur der Geſchichte des letzteren, daß dieſer Or - ganismus in den verſchiedenen Zeiten ein ſehr verſchiedener war, und daß jedes Land ſich ſeine Geſtalt deſſelben ſelbſtändig herausbildete. Dennoch iſt in ganz Europa ein durchgreifender Grundzug unverkenn - bar; und dieſer beruht wieder auf dem Weſen der drei Gebiete der Bildung, ihrem beſonderen Inhalt und ihrer ſchließlichen organiſchen Einheit. Man muß denſelben aber kennen, um unſre Gegenwart zu beurtheilen.

Während in der Geſchlechterordnung noch gar kein Organ für das Bildungsweſen exiſtirt, und in der Ständeordnung die Körperſchaften allein die Verwaltung deſſelben haben, tritt mit dem polizeilichen Staat des achtzehnten Jahrhunderts zuerſt der Gedanke einer einheitlichen Leitung der geſammten Bildung auf, die dann im neunzehnten Jahr -115 hundert im Miniſterium (für Cultus und Unterricht) zum verfaſſungs - mäßigen Verwaltungsorganismus wird. Anfänglich beherrſcht dann die Regierung in dieſer Form das ganze Bildungsweſen faſt ausſchließ - lich, bis mit der freieren Entwicklung auch hier die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen thätig auftreten, und ſich neben dem öffent - lichen Bildungsweſen auch das private entwickelt, das in der Form von Unternehmungen aller Art auftritt. Damit entſteht die Frage nach dem Verhältniß dieſer Organe und der Einzelthätigkeit gegenüber dem Organismus der Einheit, die man gewöhnlich als die Frage der Frei - heit des Bildungsweſens bezeichnet.

Das Princip dieſer Freiheit iſt nun im Allgemeinen das Recht der Selbſtverwaltung, der Vereine und des Einzelnen, die Bildung nach eigner Anſicht und Methode zu erzeugen. Die Idee der geiſtigen Ein - heit des Bildungsweſens erſcheint dem gegenüber in der Oberaufſicht der Regierung. Dieſe Oberaufſicht iſt dann wieder je nach den drei Gebieten, in denſelben je nach ihren einzelnen Theilen ſehr verſchieden; ihr gemeinſamer Grundſatz iſt aber der, daß die Regierung auf Grund - lage der Geſetze einerſeits die geiſtigen Gefährdungen der Geſittung zu hindern (Bildungspolizei in allen Gebieten) und andrerſeits das Minimum der Bildung feſtzuſtellen und zu conſtatiren hat, das die Gemeinſchaft von dem Einzelnen überhaupt oder von dem Manne eines beſtimmten Berufes zu fordern berechtigt iſt. Die große und namentlich praktiſche Frage nach dem rechtlichen Verhältniß, in welchem dem gemäß die Organe der Regierung als Vertreter der Einheit zu denen der Selbſt - verwaltung, der Vereine und dem Einzelnen ſtehen, iſt in Form und Inhalt eine ſo vielfache, daß ſich nichts weiter im Allgemeinen darüber ſagen läßt, als daß der Natur der Sache nach die Fachbildungsanſtalten Sache der Regierung, die Volks - und Vorbildungsanſtalten Sache der Selbſtverwaltung, Fortbildungsanſtalten für ganz ſpecielle Gebiete Sache der Vereine, die Preſſe Sache des Einzelnen iſt, ohne daß objektiv eine ſcharfe Gränze gezogen werden könnte. In der Art und Weiſe aber, wie ſich dieſe Thätigkeiten faktiſch in einem Lande vertheilen, ſpiegelt ſich theils die Geſchichte des Volkes, theils ſeine Nationalität in bedeutſamer Weiſe ab.

Alle dieſe Ordnungen haben nun in jedem Volke wieder ihre indi - viduelle Geſtalt. Der Charakter derſelben in den drei Haupt-Cultur - völkern Europas iſt der folgende.

Der amtliche Organismus des Bildungsweſens im Anfange dieſes Jahr - hunderts: Malchus, Politik Bd. I. Neueſte Zeit: Brachelli, Staatenkunde Europas S. 533 ff. Für Preußen ſpeciell: Rönne, Unterrichtsweſen der preußiſchen Monarchie. Oeſterreich: Brachelli, das Kaiſerthum Oeſter - reich 1868.

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Charakter des Bildungsweſens in England, Frankreich und Deutſchland.

England entbehrt in ſeinem Bildungsweſen von allen Staaten Europas am meiſten der Verwaltung. Es hat kein Miniſterium des Unterrichts, ſondern nur das Committee for Education im Privy Council, das nur mit einem Theile des Volksſchulweſens zu thun hat. Die Universities ſind ganz ſtändiſche Anſtalten, eben ſo die Colleges; der übrige Unterricht beruht auf Privatanſtalten. Dagegen ſind für Bil - dung und Geſittung die beiden andern Faktoren, der gewerbliche Beſitz und die Preſſe, freier und thätiger als in irgend einem Lande Europas. Die Folge iſt der ſtark ausgeprägte Charakter der Individualität in der Bildung, bei großem Mangel der Bildung in den untern Claſſen.

Frankreich dagegen hat ſich, nach faſt gänzlicher Bewältigung der ſtändiſchen Elemente, ſein Bildungsweſen unter Napoleon I. durch Geſetz vom 17. März 1808 büreaukratiſch als ein adminiſtratives, auf jedem Punkte unter der amtlichen Verwaltung ſtehendes Ganze organiſirt, indem es daſſelbe als Instruction publique, als reine Verwaltungsaufgabe anſah, und dem geſammten Bildungsorganismus von dem höchſten Lehrkörper bis zur mindeſten Volksſchule herab als Université hin - ſtellt, welche die Instruction primaire (Elementarbildung), secondaire (Vorbildung) und supérieure (Fachbildung) umfaßt. Dadurch iſt der freien Bewegung des Geiſtes eine enge Schranke gezogen, welche durch die Rechtloſigkeit der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens noch enger und härter, und durch eine allgemeine thätige und freie Preſſe nicht ganz gut gemacht werden kann.

Das Bildungsweſen Deutſchlands hat den einzig richtigen Weg eingeſchlagen, indem es zunächſt jedes Gebiet für ſich gründlich nach allen Richtungen bearbeitet hat. Es hat dadurch die Fähigkeit behal - ten, jeden Theil des Ganzen ſich in ſeiner Eigenthümlichkeit nach ſeinen Bedürfniſſen und Forderungen entwickeln zu laſſen, ohne doch die Lei - tung des Ganzen aufzugeben. Allerdings wird es dadurch ſchwer, die Einheit in Anſchauung und Darſtellung, in Geſetz und Thätigkeit feſt - zuhalten; dafür aber wirken namentlich in neueſter Zeit ſeit Befreiung der Preſſe alle drei Elemente gleichmäßig und in großer Kraft, und es iſt durch dieß Zuſammenwirken kein Zweifel, daß Deutſchland in jeder Beziehung den erſten Rang im Bildungsweſen Europas einnimmt, indem es die innere und äußere Einheit Frankreichs mit der freien individuellen Bildung Englands verbindet.

Die übrigen Völker Europas haben ſich nun meiſtens formell dem franzöſiſchen, dem Inhalte nach dem deutſchen angeſchloſſen; und ſo117 hat bei aller Verſchiedenheit des Charakters der einzelnen Staaten das Bildungsweſen Europas eine Gleichartigkeit der Geſtaltung und des öffentlichen Rechts gewonnen, durch welche ſich unſer Erdtheil an die Spitze der Geſittung der Welt erhoben hat.

Das Beſte über das engliſche Bildungsweſen haben die Deutſchen geſagt. Hiſtoriſche Notizen bei Buckle, Geſchichte der Civiliſation I. S. 202. Ueber den gegenwärtigen Zuſtand namentlich Wieſe, Briefe über engliſche Erziehung (1852), welcher vorzugsweiſe den Charakter, und Guglers Ueberſetzung von Taylors Industry and schools 1865, welche die Inſtitutionen, jedoch vorzugs - weiſe des Volksſchulweſens beſpricht. Das öffentliche Recht bei Gneiſt I. S. 326. Frankreich hat ſelbſt wenig Literatur über ſein Bildungsweſen; da das - ſelbe vorzugsweiſe unter die Verwaltung fällt, ſo muß man die franzöſiſchen Bearbeitungen in den Werken über das droit administratif ſuchen. Die Ge - ſchichte der Université ſeit 1808 ſehr kurz und klar bei Laferrière, Droit publ. et admin. II. p. 265 ff. Deutſchlands Literatur iſt unendlich reich im Einzelnen; doch fehlt im Ganzen genommen die eingehende Behandlung des Berufsbildungsweſens, namentlich der Univerſitäten. Vortreffliches Material in Schmids Encyclopädie des Unterrichtsweſens ziemlich über alle Staaten Europas; dazu das Werk von Hochſtetter und Beer, die Fortſchritte des Unterrichtsweſens in den Culturſtaaten Europas Bd. I. 1867. Bd. II. 1868. (Vergl. über die übrigen Länder ſo wie die übrigen Staaten die kurze Dar - ſtellung bei Stein, Bildungsweſen S. 39 65.)

A. Das Elementar - oder Volksſchulweſen.
Begriff und Elemente der Geſchichte.

Die Elementarbildung umfaßt ihrem formalen Begriffe nach die Geſammtheit von Kenntniſſen und Fähigkeiten, welche an und für ſich keinen Werth haben, ſondern nur als die Bedingung jeder Bildung und Geſittung erſcheinen. Das Volksſchulweſen iſt die Geſammtheit von Anſtalten und Thätigkeiten, durch welche dieſe Elementarbildung als Aufgabe der Verwaltung erzeugt wird.

So lange nun die Geſchlechterordnung herrſcht, beruht dieſe ele - mentare Bildung allein auf der Familie; daher hat es in der Ge - ſchlechterordnung wohl einzelne Schulen, wie bei den Griechen und Römern, aber nie ein Volksſchulweſen gegeben. In der ſtändiſchen Ordnung entſteht allerdings der Gedanke der Volksſchule, aber er gehört in Auffaſſung und Durchführung ganz der Geiſtlichkeit. Erſt im achtzehnten Jahrhundert beginnt mit der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaft der Gedanke, daß die Volksbildung ein nothwendiges Element der Geſammtentwicklung des Staats ſei. Die erſte Erſcheinung dieſes Gedankens iſt die Gründung der Gemeindeſchulen, die urſprünglich nur in den Städten, dann aber ſich auch aufs Land verpflanzen; dann118 tritt der polizeiliche Standpunkt namentlich ſeit der Mitte des achtzehn - ten Jahrhunderts in den Vordergrund, und zwar am kräftigſten in Preußen, welches das ganze Volksſchulweſen zur Sache der Selbſtver - waltung macht, theils eine höchſte Behörde dafür einſetzt, theils die Ge - meinden zur Herſtellung der Schulen verpflichtet, theils endlich durch ſyſtematiſche Geſetzgebung das innere Schulweſen ordnet. Das was die norddeutſchen Staaten ſomit als Theil der Verwaltung lange an - erkannt und durchgeführt, ward dann durch die franzöſiſche Revolution zu einem Princip der Verfaſſung und durch Napoleon 1808 zu einem ſtreng adminiſtrativen Syſtem, während in Deutſchland ſich ſchon die höheren Fragen der Pädagogik an den elementaren Unterricht anſchließen, und die Geſetzgebung neben der Schulverwaltung immer tiefer in die Schulordnung und das Lehrerweſen eingreift, die Aufgabe und die Er - füllung derſelben immer mehr erhebend und veredelnd. England da - gegen hat es bis jetzt weder zu einem Volksſchulgeſetz noch zu einem Volksſchulweſen, ſondern nur zu einer Unterſtützung des Privatſchul - weſens gebracht. Die Verſchiedenheit des Volksſchulweſens zwiſchen dieſen drei Ländern iſt eine große und tiefgehende; aber auch in Deutſchland iſt ſie keineswegs ganz verſchwunden. Die Baſis der Beurtheilung des Ganzen iſt daher ein durchgreifendes Syſtem, deſſen Elemente folgende ſind.

Charakter des öffentlichen Rechts des Elementarunterrichts. England hat auch jetzt noch den ganzen Elementarunterricht weſentlich der individuellen Fürſorge überlaſſen. Seine Geſetzgebung iſt bis zum Revised Code nur ein Schulweſen für arme und verwahrloste Kinder: Peels Kinderarbeitsbill (42. Georg. III. 73); Einführung der District pauper schools; Zwangsſchulen für Armenkinder (11. 12. Vict. 82); die Adderley Act 20. 21. Vict. 40): Zwangsſchulen für verwahrloste Kinder; Einführung der Zwangsſchulen; Kinder der Fabrikarbeiter: Industrial school Act (24. 25. Vict. 113. 1861); dann tritt das Syſtem der Unterſtützung von Seiten der Regierung auf, die durch das Education Committee gegeben, durch Inſpektoren überwacht, und an die Bedingung der Benützung ſtaatlich anerkannter Lehrer und Innehaltung des vorgeſchriebenen höchſt beſchränkten Lehrplanes gebunden iſt. Grundlage das Revised Code ſeit 1863, jährlich mit den einzelnen neuen Beſtim - mungen. Jede Schule, die keine Unterſtützung braucht, iſt abſolut ohne alle Oberaufſicht (vergl. Wagner, das Volksſchulweſen Englands in ſeiner neueſten Entwicklung 1865. Schmid, Encyclopädie, Art. Großbritannien und bei Stein, Bildungsweſen S. 93 100). Gegenwärtig geht bekanntlich das ganze Volksſchulweſen einer gründlichen Reform entgegen, in welcher England end - lich die deutſchen Grundſätze über das Schulweſen bei ſich einzuführen be - abſichtigt. Die Sache wird gut, wenn ſich die Gemeinden derſelben ernſtlich annehmen. Frankreich hat das Volksſchulweſen erſt 1791 in ſeine Ver - faſſung (Tit. 1) aufgenommen mit dem Satze der Droits de l’homme: II sera crée et organisée une instruction publique. Die Université119 Napoleons nahm dann die durch die verſchiedenen Verfaſſungen bereits aus - gebildeten Kategorien der Instruction primaire, secondaire et supérieure als amtlichen Organismus auf, aber erſt das Geſetz vom 28. Juni 1833 iſt das eigentliche Volksſchulgeſetz, das auch durch das Geſetz von 1850 nicht geändert, aber praktiſch viel zu wenig durchgeführt iſt, während die Abhängigkeit der Gemeinde einerſeits, und das Enseignement libre der Privatſchulen ohne alle Aufſicht des Staats andererſeits auch die Weiterentwicklung ernſtlich in Frage ſtellen. In Deutſchland hat die Theorie das Volksſchulweſen ſchon ſeit Mitte des vorigen Jahrhunderts in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen (Juſti, Bd. 10. S. 58); das preußiſche Generallandſchulreglement vom 12. Aug. 1763 iſt die erſte große ſyſtematiſche Schulordnung für das eigentliche Unterrichtsweſen. Schulrecht im Allgemeinen Landrecht II. T. 12. Vergl. Rönne, Staatsrecht I. §. 200. Die übrigen Staaten ſind dann gefolgt; Oeſterreich erſt 1808 mit ſeiner Verfaſſung der teutſchen Schulen, die mit vielen Aenderungen bis jetzt galt, und erſt durch das Volksſchulgeſetz vom 14. Mai 1869 umgeſtaltet iſt. Seit 1848 iſt nun das Princip des Volksunter - richts auch vielfach in die Verfaſſungen aufgenommen, eigentlich nutzlos. Aretin (Conſtitutionelles Staatsrecht II. S. 265) führt es in die Verfaſſungslehre (als Garantie der Verfaſſung ) ein; Mohl in das Verwaltungsrecht (württem - bergiſches Verwaltungsrecht II. S. 393 ff.); Zöpfl ins deutſche Staatsrecht §. 480. Die Auffaſſung vom Standpunkt der Pädagogik ſeit Peſtalozzi, Niemeyer und Düntzer; neueſte zugleich lehrreiche publiciſtiſche Behandlung von Hohenegger und Beer. Verſuch der Syſtematik mit Material bei Stein, Bildungsweſen S. 72 ff. ; encyclopädiſche Darſtellung bei Schmid; ſtatiſtiſche Zuſammenſtellung bei Brachelli, Staaten Europas S. 533 ff.

Syſtem des Volksſchulweſens.

Das Syſtem des Volksſchulweſens enthält in der Schulordnung das Recht derſelben gegenüber den Einzelnen, in dem Lehrerweſen das Recht für die Lehrer, und in der Schulverwaltung die Grund - ſätze für das Verhältniß der Schule zur inneren Verwaltung überhaupt.

I. Die[Schulordnung].

a) Die Schulordnung enthält zuerſt in der Schulpflicht die ge - ſetzliche Anerkennung der ſtaatsbürgerlichen Pflicht des Einzelnen, die Kinder zum Erlernen der elementaren Bildung anzuhalten. Das Geſetz ſpricht dieſe Pflicht aus; die Gemeinde ſoll ihre Vollziehung bewirken; die Regierung durch ihre Organe dieſe Vollziehung überwachen. Die Vorausſetzung der letzteren bleibt daher ein tüchtiges Gemeindeweſen; die elementare Bildung ſoll dem Zufall und der Willkür nicht über - laſſen bleiben. Demnach gehört ſchon ein gebildetes Volk dazu, um ſie einzuführen; aber ein noch gebildeteres, um ſie überflüſſig zu machen.

120

England kennt keine Schulpflicht, nicht zu ſeinem Heil. Frankreich bleibt bei der allgemeinen Vorſchrift ſtehen. Nur Deutſchland hat die Schul - pflicht principiell durchgeführt, und zwar meiſtens zwiſchen dem ſiebenten bis vierzehnten Jahre (vergl. Brachelli, Staaten Europas S. 534; Stein S. 121 ff). Entſchiedene, gewiß berechtigte Tendenz des preußiſchen Schul - weſens, die Kinder in die öffentliche Schule zu bringen (Rönne I. §. 200) ſchon ſeit dem Generallandſchulreglement von 1763. Bayern: Schulzwang bis zum ſechzehnten Jahre (Verordnung vom 31. Dec. 1864). Das neue öſter - reichiſche Schulgeſetz von 1869 ſetzt acht Jahre Schulpflicht ſtatt der früheren ſechsjährigen und der Wiederholungsſchule, mit Strafen für Nichtbeſuch, und gibt den Inſpektoren das Recht, ſich von dem wirklichen Schulbeſuch der Schulpflichtigen zu vergewiſſern.

b) Der Schulplan enthält zwei Theile. Zuerſt das Claſſenſyſtem, und dann den Lehrplan deſſelben. Beide ſind das Ergebniß einer langen und tiefgehenden Arbeit der Geſchichte. Der urſprüngliche Lehr - plan beruht auf der Vorſtellung, daß die Volksſchule nur für die unterſte Volksclaſſe exiſtire; daher nichts als die drei Species und der Religionsunterricht, und keine Schulclaſſen. Mit dem neunzehnten Jahrhundert fällt die Scheidewand zwiſchen der gelehrten und der Volks - bildung. Jetzt beginnen die Vorbildungsanſtalten auch den höheren Elementarunterricht, und die Volksſchule ihrerſeits nimmt die Aufnahme der Elemente der allgemeinen Bildung, namentlich im Anſchauungs - unterricht, in Geographie und Geſchichte in ſich auf; die Bürgerſchule und Mittelſchule wird die Vorbildung für das allgemeine Leben, und ſcheidet ſich von der Elementarſchule; jede von ihnen empfängt ihren Lehrplan; die Mädchen werden von den Knaben getrennt; an die Knabenſchulen ſchließen ſich die Fortbildungs - und Sonntags - ſchulen; aus der einfachen Volksſchule iſt ein Syſtem geworden, und dieſes Syſtem, ſeiner ethiſchen Aufgabe immer klarer bewußt, nimmt mit unſerer Zeit auch die ſociale Idee mehr und mehr in ſich auf; nirgends iſt die tiefe ſchaffende Kraft der Geſittung lebendiger, als in dieſem Gebiete!

Kein Volk kann ſich mit Deutſchland vergleichen. England hat bis jetzt gar keinen öffentlichen Lehrplan gehabt; laute Klagen bei Senior, Report. Frankreichs Claſſenſyſtem (Instruction primaire, élémentaire et supérieure) durch das Geſetz vom 28. Juni 1833 aufgeſtellt, aber wenig inne gehalten. In Preußen erſetzen örtliche Ordnungen und die Forderung des Volkes den Mangel der neuen, bis jetzt nur verſprochenen Volksſchulgeſetzgebung (Rönne a. a. O.; vieles auch in Wieſe, höheres Schulweſen in Preußen). Oeſter - reich: Gründliche Neugeſtaltung des Volksſchulweſens (Geſetz vom 14. Mai 1869); Volksſchulgeſetz: Errichtung von 8claſſigen Bürgerſchulen ſtatt der alten 4claſſigen; Schulpflicht vom 6 14. Jahre. Lehrerbildungsweſen: §. 43 ff. ;121 Schullaſt §. 62 ff. (Geſetz vom 25. Mai 1868); Verhältniß der Schule zur Kirche; amtliche Oberaufſicht ſtatt der kirchlichen hergeſtellt (Geſetz vom 26. März 1869); Errichtung von amtlichen Landes - und Bezirksſchulräthen, mit Inſtruk - tionen vom 18. Mai und 11. Juni, und Organiſation des Bildungsweſens für Lehrer und Lehrerinnen (Verordnung vom 12. Juli 1869). Speciellere An - gaben bei Schmid unter den einzelnen Staaten. Poſitive Literatur fehlt.

II. Das Lehrerweſen.

a) Die Vorausſetzung für alles, was die Schulordnung vorſchreibt und beabſichtigt, iſt die Lehrerbildung. Sie iſt Jahrhunderte hin - durch mit der Lehre ſelbſt nicht viel anders als ein Gewerbe geweſen. Der gebildete Lehrer war allein der Geiſtliche. Daher die natur - gemäße Abhängigkeit der Schule von der Kirche. Es war zugleich falſch und nutzlos, dieſe zu bekämpfen, bevor die Verwaltung in den Seminarien ein eigenes Lehrerbildungsweſen gründete. Durch ſie iſt aus dem Lehrerweſen ein Lehrerberuf entſtanden; und erſt an dieſen, der ſeine große ethiſche Auffaſſung ſeit Peſtalozzi geiſtig erzeugt hat, ſchließt ſich die höhere Entwicklung des ganzen Volksſchulweſens.

b) Unmittelbar daran ſchließt ſich die geſellſchaftliche Stellung der Lehrer als Beamteter der Gemeinde und des Staats, die wirth - ſchaftliche Stellung derſelben in Beziehung auf Gehalt und Ruhe - gehalt, und endlich die Selbſtverwaltung des Lehrerberufs in den Lehrer conferenzen und den Lehrer vereinen. Sie ſind berufen, die Entwicklung des Lehrerweſens vor allem zu fördern.

England hat gar kein eigentliches Lehrerweſen; ſeine Lehrer haben höch - ſtens einen individuellen Beruf, aber keine Stellung. Erſt in jüngſter Zeit die Normal school und das Trinity College mit ihrer misdirected in - struction (Senior, Report S. 21). Vergl. Literatur bei Stein S. 131. Frankreich hat zuerſt das Princip des Enseignement libre aufgeſtellt, das mit der Lehrfreiheit gar nichts zu thun hat, ſondern die rein negative Abtrennung von der Kirche in dem Satze enthält: daß jeder Franzoſe mit acht - zehn Jahren auf Grundlage eines brevet de capacité, ausgeſtellt durch einen andern Lehrer, ſich als Lehrer niederlaſſen kann (Geſetz vom 28. Juni 1833, T. II. §. 4). Die Stellung der Lehrer iſt jedoch bei den öffentlichen Schulen eine ſo abhängige von den amtlichen Behörden, daß ſchon darum die tüchtigen Lehrer Privatſchulen gründen müſſen. Errichtung einer Art von Seminarien in den Ecoles normales (Geſetz von 1850. Stein S. 133). In Deutſchland Seminarien ſchon im vorigen Jahrhundert; das Seminarienweſen in den Auf - ſätzen bei Schmid; Auszug bei Stein S. 133 ff. Neuere Bewegung in Preußen: Zur Vorlage des Unterrichts - und Dotationsgeſetzes, von einem deutſchen Pädagogen 1868; Erhöhung der Lehrergehalte in Baden (Geſetz vom 27. Nov. 1864). Oeſterreich: Lehrerbildung (Geſetz von 1869, §. 26 ff.).

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III. Die[Schulverwaltung].

Die Schulverwaltung entſteht nun, indem der Staat die Ver - wirklichung jener im Weſen der Schule liegenden Forderungen durch ſeinen Organismus verwirklicht. Sie iſt zuerſt allerdings eine rein örtliche, und gehört der Gemeinde. Erſt mit dem achtzehnten Jahr - hundert, wo der Volksunterricht als Aufgabe der Geſammtheit aner - kannt wird, unterzieht der einheitliche Staat denſelben ſeiner Gewalt, und jetzt wird die Schulverwaltung zu einem Syſteme, indem ſie das Rechtsverhältniß der Schule zum Staate, zur Gemeinde und zum Einzelnen feſtſtellt. Aus dem erſten entſteht das, was wir den Organismus der Schulverwaltung nennen; aus dem zweiten die öffentliche Ordnung der Schullaſt; aus dem dritten das Verhältniß der Privatſchulen.

a) Organismus der Volksſchulverwaltung.

Die Organiſation des Schulweſens beginnt allenthalben in den Stadtgemeinden. Ihre Grundlage iſt anfänglich eine doppelte: die Schule iſt entweder eine rein kirchliche Inſtitution, oder eine ſtädtiſche. Von den Städten geht die Bildung von Schulen auf das Land über, und das grundherrliche Schulweſen entſteht neben dem ſtädtiſchen. Mit dieſem Reſultat tritt daſſelbe in das achtzehnte Jahrhundert. Das dauernde Ergebniß der erſten Epoche iſt der Grundſatz, daß die Schule eine Gemeindeangelegenheit ſei. Das achtzehnte Jahrhundert erzeugt nun auch hier das Princip, daß die neuentſtehende Regierungs - gewalt nicht bloß die Oberaufſicht, ſondern auch die eigentliche Ver - waltung der Schule habe, für welche die Gemeinde nunmehr nur die Mittel bieten ſolle. So entſteht aus dem Gemeindeſchulweſen das Landesſchulweſen mit dem Syſtem der Schulbehörden. Oertlich ſteht an der Spitze der letzteren die Geiſtlichkeit; für das ganze Land gewöhnlich ein eigenes höchſtes Schulorgan. Dem Princip nach herrſcht der Staat, der Wirklichkeit nach die Kirche. Dieſer Zuſtand wird nun mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zuerſt ernſtlich angegriffen durch die Entſtehung der Pädagogik, welche die Lehre aus einer bloßen Uebung zu einer Wiſſenſchaft, und aus der Lehre einen der Kirche und ihrem Gebiete gleichſtehenden Stand macht. Dann kommt mit dem Beginne unſeres Jahrhunderts die Bildung des freien Gemeinde - weſens hinzu, und damit entſtehen die Grundlagen der neuen Organi - ſation des Volksſchulweſens. Die Baſis dieſer Verwaltung iſt die Oberaufſicht der Regierung, welche die Einheit in das Schulweſen zu bringen hat, und unter dem Miniſterium für Unterricht durch Schulinſpektoren geübt wird, andererſeits die örtliche Verwaltung der Schule durch die Gemeinde, welche principiell die Herrſchaft der123 Kirche über die Schule ausſchließt, und die erſtere nur noch für das Gebiet der Religion zuläßt. Zwiſchen Miniſterium und Gemeinde ſtehen dann die höchſten Landesbehörden, und die Schulangelegenheiten ſind mit Recht als Angelegenheiten des Landes der Landesvertretung überwieſen. Bei großen Verſchiedenheiten im Einzelnen iſt das wenigſtens auf dem Continent die Grundlage für den Organismus der Schulverwaltung.

Feſtzuhalten, daß bei aller Gleichheit der Form die Verſchiedenheit der Organiſation und ihr Charakter in der Stellung liegt, welche die Vertretung der Gemeinde namentlich in Beziehung auf den Schulplan und das Lehrer - weſen beſitzt. Der Charakter Englands beſteht darin, daß der Einfluß der Regierung überhaupt erſt dann entſteht, wenn die Schule eine Unterſtützung fordert, alſo ein facultativer iſt. Der Charakter Frankreichs beſteht darin, daß bei ſcharf ausgeprägtem Syſtem der Einfluß der Gemeinde durch Mangel an Selbſtverwaltung ein ſtets geringer iſt, und das Schulweſen daher nur eine formale Freiheit hat. Der Charakter der deutſchen Schulverwaltung iſt der Kampf der Gemeinde mit dem noch immer in vielen Theilen herrſchen - den Elemente der Grundherrlichkeit und der Kirche. In den Städten iſt der Sieg meiſtens entſchieden, auf dem Lande nicht. Ihren Abſchluß kann dieſe ganze Bewegung erſt erhalten, wenn die ſyſtematiſche Lehrerbildung durchgeführt iſt. (Vergl. das Syſtem bei Stein, Bildungsweſen S. 114 121.) Intereſſant iſt die Vergleichung zwiſchen Preußen, in welchem auf dem Lande noch Patrone und Geiſtliche die leitenden Faktoren ſind, und Oeſterreich mit ſeinem neuen Geſetze von 1869, das den Schwerpunkt in die Gemeinde legt, durch Landes - und Bezirksinſpektoren das Schulweſen überwacht, und den Landesvertretungen die höchſte Selbſtverwaltung einräumt; Trennung von der Kirche (Geſetz vom 25. Mai 1868); Inſtruktion für die Bezirksſchulinſpektoren (Verordnung vom 18. Mai 1869); für die Landesſchulinſpektoren (Verordnung vom 11. Juli 1869). Neueſte bedeutende Bewegung in Preußen: Gneiſt, die confeſſionelle Schule 1869, und beſonders: Gneiſt, die Selbſtverwaltung der Volksſchule 1869; das öſterreichiſche Geſetz vom 25. Mai 1868 hat unſeres Wiſſens das Princip der confeſſionsloſen Volksſchule am klarſten formulirt und daſſelbe auf die beiden einfachen Grundſätze zurückgeführt: 1) jede mit öffentlicher Unterſtützung arbeitende Schule muß Kinder ohne Unterſchied der Confeſſion aufnehmen und 2) die Con - feſſion iſt weder Bedingung noch Hinderniß für die Lehrerſtellung an der Volksſchule.

b) Die Gemeinde und die Schullaſt.

Die hiſtoriſche Anknüpfung an die Gemeinde hat zuerſt den Grundſatz erzeugt, daß jede Gemeinde geſetzlich zur Aufſtellung von Volksſchulen verpflichtet ſei. Aus dieſer Verpflichtung iſt durch die Armuth vieler Gemeinden der zweite Grundſatz entſtanden, daß bei Unvermögen der Gemeinde der Staat verpflichtet ſein müſſe, die Gemeinde zu unterſtützen. Dieſe letztere Verpflichtung iſt meiſtens dahin formulirt, daß die Gemeinde Haus, Holz, Lehrmittel ganz, der Staat höchſtens die Lehrerbeſoldung124 zu geben habe. Daran ſchließt die Frage nach dem Schulgeld. Es iſt naturgemäß entſtanden, allein mit unſerem Jahrhundert durch den Grundſatz beherrſcht, daß die Fähigkeit das Schulgeld zu zahlen nicht die Bedingung des Rechts auf Schulbeſuch ſein dürfe (Freiſchüler Armenſchüler). Aus dieſem Grundſatz hat ſich dann der höhere Geſichts - punkt entwickelt, daß das Schulgeld überhaupt aufzuheben und der Volksunterricht ganz unentgeldlich ſein ſolle, was an ſich richtig, durch das Privatſchulweſen wieder ſehr bedenklich wird, da ſich gerade dadurch der Unterſchied zwiſchen der beſitzenden und nicht beſitzenden Claſſe wieder herſtellt.

Die obigen Grundſätze gelten wohl jetzt im Weſentlichen in ganz Europa (ſ. die einzelnen Aufſätze bei Schmid a. a. O. und kurz bei Stein S. 123 ff.). Gegen alles Schulgeld: Gneiſt, Vortrag in Berlin 1869; beſonders Fr. Hof - mann, die öffentliche Schule und das Schulgeld 1869. Oeſterreich: Geſetz von 1869, §. 62 ff.

c) Das Privatſchulweſen.

Das Privatſchulweſen iſt das Recht jedes Einzelnen, neben der öffentlichen Schule eine Schule als Privatunternehmen zu gründen. Das Recht darauf iſt die Freiheit des Unterrichtsweſens, in Deutſchland und England von jeher anerkannt, in Frankreich als enseignement libre erſt mit der Revolution ausgeſprochen. Das Recht iſt an ſich unzweifelhaft; allein auch die Privatſchule bleibt ein öffentliches Inſtitut als organiſcher Theil des Unterrichtsweſens und ſoll daher der Ober - aufſicht der Regierung unterworfen ſein. Die beiden Formen, in denen dieſelbe zu Tage tritt, iſt zuerſt die Forderung einer öffentlichen Lehramtsprüfung für die Privatlehrer, zweitens die Gleichſtellung der Privatſchule mit der öffentlichen Schule in der Unterordnung unter die Schulorgane der Behörde und der Gemeinde. Dieſe Grundſätze ſind an ſich ſehr einfach; ſie werden erſt Gegenſtand des heftigſten Kampfes da, wo ſich kirchliche Körperſchaften des Privatſchul - weſens bemächtigen und das enseignement libre als Ausſchließung der Oberaufſicht verſtehen. Hier iſt der Punkt, wo ſich das katholiſche und evangeliſche Schulweſen ſo tief ſcheiden, daß eine äußerliche Ver - mittlung unthunlich erſcheint.

Gänzliche Freiheit in England. In Frankreich hat ſich dieſelbe erſt nach der Revolution als enseignement libre ausgebildet; das Geſetz von 1833 be - zieht ſich noch weſentlich auf Privatſchulen. Das Geſetz von 1850 macht auch die kirchlichen Schulen jeder Oberaufſicht baar. In Deutſchland hat die Tüchtigkeit der Volksſchule das Privatſchulweſen auf die höheren Bildungsſtufen beſchränkt, und den Grundſatz der Prüfung der Lehrer und Oberaufſicht im Weſentlichen durchgeführt (ſ. Stein S. 145 147). Oeſterreich: Geſetz von 1869, §. 68 ff.

125
B. Das Berufsbildungsweſen.
Begriff und Princip.

Unter dem Berufe an ſich verſtehen wir die zum Bewußtſein gekommene beſondere Lebensaufgabe des Einzelnen. Der Beruf empfängt ſeine öffentliche Erſcheinung durch die Erklärung des Einzelnen, ſeine Thätigkeit auch praktiſch der Ausübung dieſes Berufes widmen zu wollen. Dadurch entſteht der Begriff des Standes im weiteren Sinne, als der Geſammtheit derer, welche einen gemeinſamen Beruf haben. Im engeren Sinne aber bedeutet der Stand dieſe Geſammtheit, inſo - fern ſie in irgend einer Weiſe vom Staate als ſolche anerkannt iſt.

Beruf und Stand ſind nun zunächſt Sache des Einzelnen und Sache des Einzelnen iſt es auch, ſich an den für den Beruf gebildeten und vorkommenden Fall zu wenden oder nicht. Allein die Natur des Berufes bringt es mit ſich, daß die Einzelnen ſich der Berufsgenoſſen ſtets in dem Falle bedienen werden, wo es ſich um Thätigkeiten han - delt, die der Ausübung des Berufes angehören. So wie das der Fall wird, ſo wird auch die Fähigkeit der Berufsgenoſſen für ſeinen Beruf die Bedingung dafür, daß dem Einzelnen geholfen werde. Je weiter ſich nun die Berufe entwickeln, je weniger wird der Einzelne fähig, darüber zu urtheilen, ob jene Fähigkeit vorhanden iſt, und je ſchwie - riger wird es, die Höhe der Berufsbildung ſich durch vereinzelte Kraft anzueignen. Demnach wird eben dadurch die Tüchtigkeit des Einzelnen im Berufe eine der großen Vorausſetzungen für die Entwicklung des Geſammtlebens. Und hier iſt daher der Punkt, wo die Verwaltung eingreift und zugleich das Princip derſelben entſteht.

So wie nämlich mit der ſteigenden Geſittung die Theilung der geiſtigen Arbeit der Menſchen in den Berufen gleichfalls ſteigt, ſo wird einerſeits die Bildung für den Beruf und zweitens die Gewißheit, daß dieſe Bildung für die einzelnen Standesgenoſſen auch wirklich vor - handen ſei, eine der großen Bedingungen der Entwicklung des Ge - ſammtlebens. Damit entſteht die Aufgabe der Verwaltung des geiſtigen Lebens, für die Bildungsmittel der Berufe und für das nothwendige Maß derſelben ihrerſeits zu ſorgen; und die Geſammtheit der dafür beſtimmten Grundſätze und Einrichtungen der Verwaltung iſt das öffentliche Berufsbildungsweſen.

Ueber die Begriffsbeſtimmungen von Beruf und Stand ſ. Stein, Bildungs - weſen S. 149 ff. Die Begriffe ſelbſt ſind wenig unterſucht; die Thatſachen bekannt, aber wenig geordnet.

126
Elemente der Geſchichte.

Das große Syſtem des Berufsbildungsweſens, wie es ſich im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet hat, iſt das Ergebniß einer der machtvollſten Arbeiten der Geſchichte; das Verſtändniß deſſelben hat in unſerer Gegenwart einen neuen Inhalt gewonnen.

Jeder Beruf enthält ſtets eine höhere geiſtige Entwicklung des Individuums. Es iſt daher natürlich, daß die Berufsbildung ſtets die entſchiedene Neigung hat, eine Bildungsform der höheren Klaſſen der Geſellſchaft und eine der Grundlagen ihrer Herrſchaft über die niederen zu werden. Die Entwicklung der Freiheit greift nun dieſe Thatſache an; ihr großes Ziel iſt es, den Beruf mit ſeinem ethiſchen Inhalt und ſeinem geiſtigen Beſitzthum allen Klaſſen der Geſellſchaft gemeinſam zu machen nicht etwa die Berufsbildung an ſich auf - zuheben oder zu beſchränken. Das iſt das große Princip in der Ge - ſchichte des Berufsbildungsweſens und der Standpunkt für die Beur - theilung des Charakters deſſelben in jeder beſtimmten Zeit und in jedem Lande. Und aus ihm ergeben ſich die leitenden Grundſätze, welche die Entwicklung des Berufsbildungsweſens als Aufgabe der über jedes Sonderrecht und jedes Sonderintereſſe erhabenen Staatsidee und ihrer Verwirklichung in der inneren Verwaltung erfordern.

Der erſte dieſer leitenden Grundſätze in der Geſchichte iſt dem - nach der, durch das Eingreifen der Verwaltung jeden Beruf für jeden zugänglich zu machen; der zweite iſt der, jeder Lebensaufgabe eine ſelbſtändige Berufsbildung zu geben; der dritte iſt der, jede ſelbſtän - dige Berufsbildung mit den Elementen der allgemeinen Bildung und darin die höhere Einheit des geiſtigen Lebens für alle mit der vollſten Entwicklung in jedem Theile zu verbinden. Das erſte iſt das ſociale, das zweite iſt das wiſſenſchaftliche, das dritte iſt das ethiſche Princip des Berufsbildungsweſens. Und die Geſchichte deſſelben im höheren Sinne iſt daher die allmählige Verwirklichung nicht bloß dieſer oder jener vollkommenen Berufsbildungsform, ſondern der langſame, aber ſichere Sieg dieſer drei großen Principien im Bildungsweſen Europa’s, ſo daß erſt durch ſie das Syſtem des Berufsbildungsweſens in ſeiner ganzen, nicht mehr bloß formalen Bedeutung eben ſo ver - ſtändlich wird, wie die Elemente der poſitiven Geſchichte deſſelben.

Dieſe nun ſind an ſich einfach.

Die Geſchlechterordnung kennt nur die Herrſchaft der Geſchlechter über die Geſchlechterloſen. Das Mittel dafür iſt die Waffe und das Gericht. Die Bildung iſt daher in dieſer Ordnung zuerſt nur auf die Glieder der herrſchenden Geſchlechter beſchränkt, dann enthält ſie127 nichts als Waffenbildung und die Bildung für die Rechtspflege im Volksrechte, neben völliger Bildungsloſigkeit der beherrſchten Claſſe.

Die Ständeordnung ihrerſeits iſt eben nichts anderes, als die Ordnung der ganzen Gemeinſchaft nach den zu herrſchenden Stän - den erhobenen Berufen. Naturgemäß ſtellt ſie daher den rein geiſtigen Beruf in der Geiſtlichkeit an die Spitze, neben ſich durch die Aufnahme der Geſchlechterordnung den Waffenberuf und unter ſich den gewerb - lichen Beruf in Zunft - und Innungsweſen. Sie iſt ein unendlicher Fortſchritt gegenüber der Geſchlechterordnung; mit ihr erwacht das geiſtige Leben, und im Grundſatz iſt wenigſtens in Kirche und Zunft auch das Mitglied der beherrſchten Claſſe nicht ausgeſchloſſen. Allein das körperſchaftliche Element, das dieſe ganze ſtändiſche Welt durch - dringt, ſchließt faktiſch dieſe Körperſchaften in geiſtiger wie zuletzt auch in geſellſchaftlicher Beziehung von einander ab, und ſo entſteht der Charakter des ſtändiſchen Bildungsweſens, dem bei wenn auch großer, ſo doch einſeitiger wiſſenſchaftlicher Bildung ſowohl das ſociale als das höhere ethiſche Element verloren zu gehen droht.

Das iſt nun der Punkt, auf welchem ſich die welthiſtoriſche Er - ſcheinung der Univerſitäten entfaltet. Das große Princip der Uni - verſitäten iſt geiſtig die Idee der Einheit aller Wiſſenſchaft, die wieder in den Fakultäten als Berufsbildungsanſtalten erſcheinen, während es die große nie genug gewürdigte Aufgabe der philoſophiſchen Fakultät war und iſt, eben die Einheit der Fakultäten zum wiſſenſchaftlichen Ausdruck zu bringen; geſellſchaftlich das Princip der freien Zulaſſung jedes Einzelnen zur Univerſität, die Negation des ſtändiſchen Unter - ſchiedes in dem akademiſchen Bürgerthum. An dieſe Macht der Uni - verſitäten ſchließt ſich ihr zweiter Einfluß. Durch ſie ſcheidet ſich die Vorbildung von der Fachbildung. Das Gymnaſium und die Schola werden Vorbildungsanſtalten und die wiſſenſchaftliche Bildung empfängt ihre erſte Organiſation. Das iſt der Anfang des eigent - lichen Berufsbildungsweſens Europa’s.

Allein auch die Univerſitäten und ſelbſt die Gymnaſien und hohen Schulen behalten doch den ſtändiſchen Charakter. Nicht allein daß ſie ſtändiſche Körperſchaften bilden, ſondern ihr Grundcharakter bleibt der Satz, daß es doch zuletzt keine höhere Bildung außer der Univerſitäts - bildung und daß es keinen wahren Beruf außer dem auf der claſſiſchen Gelehrſamkeit beruhenden gebe. Ein großer Fortſchritt bleibt daher zu machen; es iſt der, die Idee, die Aufgabe und die öffentliche An - erkennung des Berufes auch außerhalb der Univerſität, im Geſammt - leben des Volkes, zu finden. Und dieſen Schritt thut das achtzehnte Jahrhundert.

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Das achtzehnte Jahrhundert iſt der Wendepunkt in der Geſchichte des Berufsbildungsweſens von Europa. Sein Inhalt iſt das Auftreten des wirthſchaftlichen Berufes und ſeine Berufsbildung. Und gleich die erſte Grundlage dieſer neuen Berufsbildung zeigt ihre Eben - bürtigkeit. Sie beginnt einerſeits mit der völligen Negation des Werthes der gelehrten Bildung, die von Frankreich ausgehend ihren geiſtreichen Vertreter in Rouſſeau und ſeinem Emile findet, gleichzeitig aber mit der poſitiven Geſtaltung der Realſchule in Deutſchland. Sie findet ſogar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Platz an den Univerſitäten in der[Cameralwiſſſenſchaft], dieſer Mutter der Staatswiſſenſchaft. Allein zu einer ſtaatlichen Anerkennung bringt es die Idee des wirthſchaftlichen Berufes in dieſem Jahrhundert doch nicht, während die erſten Anfänge des künſtleriſchen Berufes mit ſeiner Bildung bereits ſich an die Galerien und Theater anſchließen. Erſt das neunzehnte Jahrhundert bringt die Vollendung deſſen, was das acht - zehnte begonnen hat. Seine allgemeine Bildung ſteht viel zu hoch, um den Werth der claſſiſchen Bildung zu verkennen; allein das große Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat geſiegt: es gibt auch im Begriffe wie im öffentlichen Rechte des Berufes kein Vorrecht mehr; jeder Beruf iſt dem andern gleich; jeder Beruf hat ſeine Berufsbildung zu fordern; der Staat hat in gleicher Arbeit alle Gebiete des menſchlichen Lebens mit ſeiner höchſten Bildungsaufgabe zu umfaſſen, und ſo entſteht das, was das neunzehnte Jahrhundert auch hier zur entſcheidenden Epoche im geiſtigen Leben der Völker macht; das iſt das Berufsbildungsweſen unſerer Zeit. Das was das Berufsbildungsweſen umfaßt, gibt nun ein ſo reiches und mannigfaltiges Bild, daß nur eine ſtrenge ſyſtema - tiſche Auffaſſung im Stande iſt, die Summe ſeiner Erſcheinungen zu beherrſchen. Dieſe Elemente aber, die der Betrachtung alles Einzelnen zum Grunde liegen müſſen, ſind einfach. Das ganze Gebiet theilt ſich in das Syſtem und das öffentliche Recht des Berufsbildungs - weſens, und die Darlegung der höchſten Principien beider wird zeigen, daß trotz des Mangels aller Codifikation und ſelbſt aller ſyſtematiſchen wiſſenſchaftlichen Behandlung, und trotz der tiefen Verſchiedenheit der Berufsbildung bei den großen Culturvölkern dennoch Ein Geiſt das Geſammtleben Europa’s auch hier beherrſcht.

Der Charakter der Literatur über die Geſchichte des Berufsbildungs - weſens iſt einfach in ganz Europa die noch immer herrſchende Trennung derſelben von der Geſchichte des Volksſchulweſens einerſeits, und das zum Theil gründliche Eingehen auf die Geſchichte einzelner Erſcheinungen, ohne die Einheit aufzufaſſen. Der Charakter der Geſetzgebung iſt weſentlich ver - ſchieden in England, Frankreich und Deutſchland. In England fehlt jede129 Geſetzgebung über das Vorbildungsweſen, und die Fachbildungsanſtalten (Uni - versities und Colleges) ſind rein ſtändiſche Körperſchaften. In Frankreich dagegen, das bis zur Revolution ganz den Charakter der deutſchen Berufs - bildung, jedoch ohne Realſchulen und Cameralwiſſenſchaften hat, der erſte große Verſuch einer Codifikation des ganzen Berufsbildungsweſens als der Université ſeit 1808, unverändert bis jetzt geltend. In Deutſchland dagegen neben der körperſchaftlichen Selbſtverwaltung der Univerſitäten die allgemeine Geſetzgebung über das Vorbildungsweſen in Gymnaſien und höhern Schulen, und vielfache einzelne Geſetze auch über das Univerſitätsweſen, jedoch bisher ohne formale Einheit in der Legislatur und ohne Syſtem in der Theorie.

Das Syſtem des Berufsbildungsweſens.

Das Syſtem des Berufsbildungsweſens nun, wie es ſich mit dem neunzehnten Jahrhundert ziemlich definitiv geſtaltet hat, beruht auf zwei allgemeinen Grundlagen. Die erſte iſt die grundſätzliche Unter - ſcheidung zwiſchen Vorbildung und Fachbildung, die zweite iſt die Aufſtellung und Durchführung der drei großen Kategorien des Berufs - bildungsweſens, der gelehrten, der wirthſchaftlichen und der künſtleriſchen Berufsbildung. Das Element der allgemeinen Ent - wicklung dieſes Syſtems beruht dann auf denjenigen Inſtitutionen, welche das Uebergehen von einem Gebiete in das andere enthalten. Die beſondere Entwicklung dagegen wird feſtgehalten durch den Grund - ſatz, daß jeder Beruf zugleich ſein eigenes Vorbildungsweſen beſitzen ſoll und beſitzt. Darnach ſind die formalen Elemente des Syſtems einfach. An ſie muß jede Vergleichung ſich anſchließen.

a) Die gelehrte Berufsbildung beruht nach wie vor auf der claſſiſchen Bildung oder der Vorbildung für jede gelehrte Fach - bildung. Die Vorbildungsanſtalten ſind die hohen Schulen oder Gym - naſien. Die großen Fachbildungskörper ſind die Univerſitäten; die Fachbildungskörper für die einzelnen Berufe ſind die Fakultäten, in denen die philoſophiſche Fakultät wieder die doppelte Aufgabe hat, theils der Fachbildungskörper für das Lehrerweſen der Vorbildungsanſtalten, theils aber auch die Vertreterin der höchſten wiſſenſchaftlichen Einheit aller ſpeciellen Fachbildung zu ſein, während die Naturwiſſenſchaften wieder die höchſte wiſſenſchaftliche Form der wirthſchaftlich-techniſchen Bildung, die Staatswiſſenſchaften aber endlich die höchſte wiſſen - ſchaftliche Form der allgemeinen Bildung enthalten. Das iſt das organiſche Weſen der Univerſitäten. In ihrer formalen Ordnung und Eintheilung herrſcht ſelbſt in Deutſchland noch ſo viel Unklarheit, daß es formell unthunlich iſt, dieſe Kategorien durchzuführen. Der Sache nach iſt jedoch kein Zweifel vorhanden. Ein weſentlicherStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 9130Mangel iſt und bleibt dagegen die Unfertigkeit des Verhältniſſes der Univerſitäten zu den höchſten wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten. Ver - ſtändniß und Ordnung dieſes Gebiets wird die Aufgabe der nächſten Zukunft ſein.

b) Die wirthſchaftliche Berufsbildung geht zunächſt in den Gewerbeſchulen aller Art aus der Volksbildung hervor, erhebt ſich aber im Realſchulſyſtem zum Vorbildungsweſen für die Fachbildung, und dieſe nun hat hier zwei Grundformen. Die erſte iſt diejenige, welche wir die techniſche nennen müſſen und deren Organ die poly - techniſchen Inſtitute ſind; die zweite beſteht in einer Reihe von wirthſchaftlichen Specialſchulen, wie Landwirthſchafts -, Handels -, Bergbau - und anderen höheren Lehranſtalten. In dieſem Organismus iſt kein feſter Abſchluß und die Verhältniſſe des wirthſchaftlichen Lebens verbieten einen ſolchen. Die große Frage dieſes Fachbildungsweſens iſt ohne Zweifel das Verhältniß zu den Univerſitäten. Sie kann nicht gelöst werden ohne eine gründliche Organiſation der Staatswiſſenſchaft und der Naturwiſſenſchaft. Wir ſtehen hier noch auf dem Standpunkt, daß England das wirthſchaftliche Berufsbildungsweſen gar nicht kennt, Frankreich es in ſeinem viel beſprochenen Bifurcationsſyſtem in der Vorbildung zu viel, in der Fachbildung zu wenig mit der wiſſenſchaft - lichen Bildung in Verbindung gebracht hat, während Deutſchland beide Gebiete formell von oben bis unten ſondert und ſie nur in der Sache ſelbſt, zu ſehr nur geiſtig, verbindet. Dennoch iſt mit Recht Deutſch - land das Vorbild, und wird es bleiben.

c) Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen hat ſeine Vorbildung in doppelter, die Fachbildung in vielfacher Form gefunden. Die Vor - bildung beſteht nämlich theils in der Aufnahme des Zeichnens in die Gewerbeſchulen, theils in ſelbſtändigen Vorbildungen der Akademien. Dieſe ſelbſt ſind dann nur für die bildende Kunſt, während Muſik und Tanzfachbildung für ſich beſtehen. Das Ganze iſt für das Ganze der Berufsbildung noch zu wenig beachtet.

Dieſes nun ſind die feſten Elemente des Syſtems. Sie geſtalten ſich allerdings weſentlich anders bei den verſchiedenen Völkern und die künftige vergleichende Staatswiſſenſchaft hat hier eine eben ſo große als ſchöne Aufgabe.

Bei ungemein reicher Literatur über einzelne Erſcheinungen und Fragen mangelt die einheitliche Auffaſſung des Berufsbildungsweſens ſowohl in Be - ziehung auf Geſchichte als auf Syſteme. Nachrichten über die alten scholae bei Vitriar. T. III. V. 35. Erſte ſyſtematiſche Anſchauung bei Seckendorf, Teutſcher Fürſtenſtaat 1666. II. 4. Mit dem Ende des achtzehnten Jahrhun - derts nur noch vom Standpunkte des öffentlichen Rechts behandelt. Streit131 des Realismus mit dem Humanismus; Entſtehung der wirthſchaftlichen Vor - bildung ſeit Mitte des vorigen Jahrhunderts: Realſchulen ſind die Lyccen des Bürgerſtandes Rottenhauer 1795. Gewerbeſchulen erſt im neunzehnten Jahr - hundert, in gleichem Schritt mit der Gewerbefreiheit. Die Gymnaſialfrage hauptſächlich ſeit den zwanziger Jahren in Anregung: Thierſch, Ueber ge - lehrte Schulen. Die Literatur wie die Geſetzgebung hat hier durchgehend den Charakter der Oertlichkeit, trotz der großen Gleichartigkeit der Grundlage. Statiſtik: Brachelli, Staaten Europas S. 535 ff. Humanismus und Realis - mus Schmid, Encyclopädie. Geſchichte der Univerſitäten noch immer nur Meiners tüchtige, aber ſehr unvollſtändige Arbeit; Kink, Geſchichte der Wiener Univerſität. Cameraliſtiſche Fachbildung ſeit Mitte vorigen Jahr - hunderts Stein S. 267; theoretiſche Literatur der techniſchen Bildung ſeit Dingler: Nothwendigkeit der Gründung einer polytechniſchen Akademie 1821. Vorbild dafür war und blieb Frankreich, obwohl man es nur wenig kannte. Das Material für Studien bei Stein, Bildungsweſen S. 191 282. Ueber künſtleriſches Bildungsweſen exiſtiren gar keine Arbeiten. Stein S. 282 286. Der Charakter der Berufsbildung in Frankreich iſt ein weſentlich von dem deutſchen verſchiedener. Der Ausdruck Université bedeutet nicht die Uni - verſität, ſondern die Geſammtheit des ganzen ſtaatlichen Bildungsweſens, ein - getheilt in die Instruction primaire (Volksſchule), secondaire (Vorbildungs - weſen, lycées und gymnases) und supérieure (facultés der einzelnen Fach - wiſſenſchaften). Eine Univerſität im deutſchen Sinne gibt es in Frankreich überhaupt nicht. Die wirthſchaftliche Vorbildung als section des sciences mit der gelehrten als section des lettres in den Lyceen verbunden; die Spitze der erſteren in der Ecole polytechnique (untergeordnet) und dem Conservatoire des arts et métiers (höchſte Bildungsanſtalt die gewerbliche Univerſität. Dar - ſtellung bei Stein, nebſt den Specialſchulen S. 286 318). Ueber Eng - lands Berufsbildungsweſen, das in ſeinen Universities und Colleges ganz den ſtändiſchen Charakter hat, und kein öffentliches Syſtem zu entwickeln ver - mochte, vergl. V. Huber, Engl. Univerſitäten; Wieſe, Briefe über engliſche Erziehung 1852; Gneiſt (Verfaſſung der Univerſitäten) Verwaltungsrecht I. S. 142. Stein S. 319. 331. Gerando, Bienf. publ. über die Origine des écoles d’industrie in den verſchiedenen Staaten Europas II. S. 524; über den Plan Pitts zur Organiſirung derſelben und den Zuſtand zwiſchen 1830 und 1840 ebend. S. 552.

Das Berufsbildungsrecht.

Das öffentliche Recht der Berufsbildung entſteht nun da, wo der Staat durch ſeine Anſtalten die Berufsbildung in Fach - und Vorbildung einerſeits möglich macht, andererſeits im höchſten Geſammt - intereſſe die wirklich gewonnene Berufsbildung zur rechtlichen Bedin - gung für die Ausübung des Berufes erhebt. Aus dem erſten Punkte entſteht die Lehrordnung mit der Lern - und Lehrfreiheit, und die Studienordnung; aus dem zweiten das Prüfungsweſen. Beide ſind132 jedoch ſehr verſchieden, ſowohl für die Vorbildung, als für die einzel - nen Berufe andererſeits. Für die erſteren ſind ſie beide nothwendig und allgemein; für die zweite ſind ſie nur für die gelehrte Fachbildung ganz durchzuführen, während für die wirthſchaftliche Fachbildung die Prüfung nur theilweiſe nothwendig, theilweiſe frei, für die künſtleriſche Bildung dagegen unthunlich iſt. Daher haben einerſeits die Vorbil - dungsanſtalten, andererſeits die Fachbildungskörper jede ihr eigenes Rechtsſyſtem, deſſen Elemente ſehr einfach, deſſen Einzelheiten ſehr mannichfaltig, und deſſen Codifikation in Einem Geſetze weder thunlich noch auch wünſchenswerth iſt. Die geſetzlichen Beſtimmungen beziehen ſich daher faſt nur mit Ausnahme Frankreichs und ſeiner Univer - sité, die wieder das ganze wirthſchaftliche und künſtleriſche Bildungs - weſen nicht kennt auf die einzelnen Anſtalten. Die Einheit in dieſem großen Ganzen liegt daher in der Aufgabe der Regierung; die wahre Bedeutung des Miniſteriums des Unterrichts erſcheint erſt dann, wenn man neben dem Princip der Selbſtändigkeit jedes Lehr - körpers zugleich die Idee des einheitlichen Berufsbildungsweſens feſthält. Denn dieſe in jedem Theile feſtzuhalten, iſt eben die wahre Aufgabe der höchſten Verwaltung des Bildungsweſens.

Der weſentliche Inhalt jener beiden großen Gebiete des öffentlichen Rechts der Berufsbildung iſt nun folgender.

a) Die Lehrordnung. Das erſte Princip der Lehrordnung des neunzehnten Jahrhunderts iſt das der Lern - und Lehrfreiheit. Sie iſt in der That weſentlich negativ. Sie iſt der Grundſatz, daß nachdem die großen Grundlagen aller Berufsbildung feſtſtehen, die in - dividuelle Lehrthätigkeit und die individuelle Selbſtbeſtimmung für die Bildung entſcheidend ſein ſollen. Sie hebt die formelle Ordnung auf, und ſetzt an ihre Stelle die freie Thätigkeit. Ihre Voraus - ſetzung aber iſt der Gewinn des feſten wiſſenſchaftlichen Minimums jeder Berufsbildung; ohne ſie wird ſie zur Ungründlichkeit. Ihre bei - den praktiſchen Hauptanwendungen ſind einerſeits die freie Zulaſ - ſung von Vorbildungsanſtalten als Privatunternehmungen, andererſeits die Freiheit im Uebergang von einem Berufe zum andern. Auf dieſem Gebiete ſind freilich ſowohl die Grundſätze als ihre organiſche Ausfüh - rung noch ſehr unklar und im Werden begriffen.

Die Studienordnungen enthalten die gleichmäßigen Vorſchriften für den Plan und die Disciplin der Studien durch die Schüler, als Gränzen der Lernfreiheit. Sie ſind naturgemäß für jeden Zweig der Berufsbildung verſchieden, haben für die Vorbildungsanſtalten den Charakter von Vorſchriften, für die Fachbildungsanſtalten den Charakter eines fachmänniſchen Rathes; ihre Handhabung iſt dem Lehrkörper133 überlaſſen, während die wirthſchaftliche Verwaltung faſt ganz dem - ſelben entzogen, und der Regierung übergeben iſt.

b) Das Prüfungsſyſtem wird in dem Maße wichtiger, in welchem die Lernfreiheit die Strenge der Studienordnung durchbricht. Es iſt kein Zweifel, daß hier die ſchwierigſte Frage der nächſten Zu - kunft liegt. Durch die frühere ſtändiſche Geſtalt des gelehrten Unter - richts hat namentlich Deutſchland große Neigung, auf dieſem Gebiete überhaupt zu viel zu thun und zu fordern, während England entſchieden zu wenig thut, und Frankreich die Sache vorwiegend formell und ziemlich ſyſtemlos behandelt. Nur Deutſchland hat daher ein aus - gebildetes Prüfungsſyſtem und Prüfungsrecht, das übrigens hoffentlich einer Neugeſtaltung entgegen gehen wird. Die Grundlage iſt die Unterſcheidung der drei Kategorien des Prüfungsweſens der Claſſenprüfung als Bedingung für die Benützung einer beſtimmten Abtheilung der Berufsbildung, die Berufsprüfung als Beweis der für den Beruf erforderlichen Minimalbildung, und die Dienſtprüfung als Bedingung für die Ausübung beſtimmter öffentlicher Berufe. Die Theorie mangelt faſt ganz; das poſitive Recht iſt ſich über das Claſſen - prüfungsweſen ziemlich einig, dagegen wenig über Inhalt, Form und Verhältniß der Berufs - und Dienſtprüfung; die neuere Zeit erkennt jedoch mehr und mehr, daß es dabei vor allem auf die Organiſirung der Prüfungsſtellen ankommt. Hier nun waltet noch eine große Ver - ſchiedenheit in Auffaſſung und Einrichtungen ob; dennoch ſteht es ſchon jetzt feſt, daß die beiden Bedingungen einer guten Prüfung einerſeits die Oeffentlichkeit derſelben, andererſeits das Herbeiziehen von Fachmännern als Examinatoren ſind. Auf dieſen Grundlagen wird das Prüfungsweſen der Zukunft beruhen.

Auch hier die Erſcheinung, daß die Literatur der einheitlichen Auffaſſung ermangelt, während ſie über einzelne Punkte in hohem Grade reich, jedoch un - gleichmäßig entwickelt iſt. Es gibt bisher keinen andern Verſuch als Stein, Bildungsweſen S. 149 bis Ende. In Deutſchland hat jedes Gebiet ſeine eigene Geſetzgebung, und dieſe iſt wieder in den einzelnen Ländern ver - ſchieden. Ziemlich gleichmäßig geordnet iſt das Gymnaſialweſen. Schmid, Encyclopädie unter den einzelnen Ländern; Stein S. 212 ff. Realſchul - weſen ſeit 1817 zuerſt in Preußen als Gewerbeſchulweſen organiſirt, von da an allmählige Ausbildung bis zur Gegenwart, Stein S. 256 ff. Wirth - ſchaftliche Fachbildungsordnungen Stein S. 277 ff. Prüfungsweſen: Zuſammenſtellung Stein S. 170 176. Statiſtik bei Brachelli S. 542. Die Geſetzgebung Frankreichs; allgemeiner Charakter ebend. 45 52; ſpeciell S. 295 ff. ; Block, Dictionn. v. Instruction. Schmid, Encyclopädie Art. Frankreich (Bücheler). Beer und Hochſtetter, Fortſchritte des Unterrichts - weſens. 1867. 1. Bd. Speciell das ſog. Bifurkationsſyſtem. Bücheler a. a. O.134 Stein S. 299. Specialanſtalten ebend. S. 307. In England mangelt alles allgemeine Recht; jede Berufsbildungsanſtalt beruht theils auf dem alten rein ſtändiſchen Recht, ſogar mit eigener wirthſchaftlicher Verwaltung, wie die Universities und die meiſten alten Colleges, theils ſind ſie Vereinsanſtalten oder Unternehmungen. Recht: Gneiſt I. S. 141. Huber, Engl. Univerſi - täten II. Bd. Stein S. 328 ff.

C. Die allgemeine Bildung. Weſen und Syſtem derſelben.

Die allgemeine Bildung iſt nun diejenige geiſtige Entwicklung aller Einzelnen, welche nicht mehr einen beſtimmten Zweck, ſondern die ge - ſammte geiſtige Entwicklung des Einzelnen zum Inhalt hat. Sie iſt daher das geiſtige Leben der Gemeinſchaft als ſolches; ſie iſt zugleich Ergebniß und Grundlage jeder beſonderen Bildung; ſie iſt die geiſtige Geſittung der Menſchheit, und in ihrer nationalen Geſtalt die höchſte Individualität jedes Volkes. Aber ihr Lebenselement iſt die Idee der gleichen und gemeinſamen Beſtimmung aller Menſchen. Es ent - ſteht daher auch eine allgemeine Bildung in den beiden Geſellſchafts - ordnungen, welche auf der rechtlichen und ſocialen Ungleichheit der Menſchen beruhen; allein in der Geſchlechter - und Ständeordnung iſt ſie nur das natürliche Reſultat der geiſtigen Einzelarbeiten. Das höchſte Kennzeichen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft iſt dagegen, daß hier das Weſen und der Werth der allgemeinen Bildung zuerſt zum Be - wußtſein kommt, und dann in den höheren Stadien Gegenſtand der ſelbſtändigen Arbeit der Gemeinſchaft wird. Auch dieſe Arbeit bleibt nicht bei allgemeinen Thatſachen ſtehen, ſondern nimmt allmählig bekannte Formen an, die ihrerſeits ſich wieder mit beſtimmten Rechten umgeben; auf dem Verſtändniß dieſer Formen beruht dann die Wiſſen - ſchaft der allgemeinen Bildung, als organiſcher Theil des Bildungs - weſens; und ſo entſteht das, was wir das Syſtem des allgemeinen Bildungsweſens nennen.

Das Syſtem wird nun von dem Princip beherrſcht, daß jede all - gemeine Bildung eine freie iſt. Freiheit heißt hier, daß jeder ſich die allgemeine Bildung ſelbſtthätig aneigne, und daß jeder dafür in ſeiner Weiſe arbeite. Dieſe Thätigkeit für die allgemeine Bildung, dieſe Thätigkeit für dieſelbe vertheilt ſich daher an den Organismus des Lebens, und ſo entſtehen die Grundformen derſelben.

Die Aufgabe des Staates iſt dabei die, die öffentlichen Gefähr - dungen der Geſittung zu bekämpfen; die Aufgabe der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens iſt es, die Mittel für dieſelbe herzuſtellen und135 zu verwalten; die Aufgabe des Einzelnen, mit ſeiner individuellen Ar - beit für das Ganze beizutragen. Aus dem erſten Element entſteht die Sittenpolizei, aus dem zweiten die öffentlichen Bildungsan - ſtalten, aus dem dritten die Preſſe. Jedes von ihnen hat ſeine reiche Geſchichte, ſein Recht und ſeine nationale Geſtalt; aber keines wird von dem andern erſetzt, ſie wirken gemeinſchaftlich und es iſt viel gewonnen, wenn man ſich dieß lebendige Zuſammenwirken zum Bewußtſein bringt.

Frühere Auffaſſung als Culturpolizei, der das polizeiliche Element zum Grunde lag, ohne viel auf die andern Gebiete Rückſicht zu nehmen. Eine ſyſtematiſche Auffaſſung erſt in Mohls Polizeiwiſſenſchaft. Dagegen fehlt faſt allenthalben, namentlich im öffentlichen Recht, das Verſtändniß der Preſſe als Bildungselement (vergl. Stein, Allgemeine Bildung und Preſſe S. 1 15).

I. Die Sittenpolizei.

Der Begriff der Unſitte iſt ſo alt wie die Geſchichte, aber ihr Recht iſt ſehr verſchieden. In der Geſchlechterordnung gibt es faſt nur die geſchlechtliche Unſittlichkeit, die aber ſehr hart beſtraft wird; in der ſtändiſchen Ordnung entwickelt jede Körperſchaft die eigene Sittenord - nung und wacht darüber mit Strafen; erſt im Polizeiſtaat entſtehen Be - griff und Recht der öffentlichen Vergehen gegen die Sittlichkeit, die zuerſt als Sittenzwang (Unmäßigkeitsſtrafen aller Art) auftreten, und in der neueſten Zeit durch den Grundſatz beherrſcht werden, daß nicht das Unſittliche an ſich, ſondern nur die öffentliche Verletzung der Sitte verboten und ſtrafbar iſt. Das geſetzliche Strafrecht der Un - ſitte zuerſt im Code Pénal art. 471; von da geht es in die neueren deutſchen Strafgeſetzgebungen über, bis es ſich in den Polizeiſtraf - geſetzbüchern wieder ſelbſtändig hinſtellt. Sie ſind daher die Quelle des Rechts der Sittenpolizei; daneben gelten eine Reihe von Einzel - beſtimmungen, namentlich über die Fälle der Unzucht, der öffentlichen Unmäßigkeit (Trunkenheit ꝛc. ), der Glücksſpiele, der Feiertage und endlich der Thierquälerei. Die bisherige Polizeigeſetzgebung hat dieſe Hauptgebiete nur zum Theil zu verarbeiten vermocht. Die Verwaltung der Sittenpolizei iſt meiſt Sache der Selbſtverwaltungs - körper.

Das geltende Recht der Sittenpolizei ward zuerſt in den Polizeirechten der vorigen Jahrhunderte (Juſti, Berg u. a.) verarbeitet, verflacht ſich in den Polizeiwiſſenſchaften unſeres Jahrhunderts zu allgemeinen Sätzen, er - ſcheint dagegen in den Bearbeitungen des Verwaltungsrechts der einzelnen Staaten (Mohl, Pözl, Stubenrauch, Roller, Jolly u. a.) und wartet wie oben geſagt, auf eine ſyſtematiſch und von einem höhern Standpunkte aufgefaßte136 Polizeigeſetzgebung (vergl. das Syſtem und Material Stein a. a. O. S. 11 27). Ueber die Sonn - und Feiertagsordnung in Oeſterreich Leonhardt, Verhandl. des niederöſterr. Gewerbevereins 1867.

II. Die Bildungsanſtalten.

Weſen und Bedeutung der Bildungsanſtalten ſind bisher weder in der Wiſſenſchaft noch in der Praxis zu ihrer wahren Entwicklung ge - diehen. Allerdings gehören ſie der ſtaatsbürgerlichen Epoche, und ihr Princip iſt das der freien und unentgeldlichen Benützung zum Zweck der allgemeinen Bildung. Allein bisher ſind ſie faſt nur noch vom Staate gegründet und verwaltet; das Verſtändniß ihrer hohen Bedeutung und ihrer Nothwendigkeit iſt im Volke noch ſehr wenig all - gemein. Erhebt man ſich zu der Vorſtellung, daß ſie Aufgaben der Geſammtheit für ſie ſelber enthalten, ſo entſtehen drei große Kategorien von wirklichen Anſtalten, deren Benutzung eine der wichtigſten Auf - gaben der Zukunft bilden. Die erſte ſind die Staatsanſtalten (Muſeen, Sammlungen, große Bibliotheken). Die zweite Kategorie hat von der Selbſtverwaltung und den Vereinen auszugehen. Es muß die Zeit kommen, wo jede Gemeinde ihre Volksbibliothek und ihr Syſtem von populär wiſſenſchaftlichen Vorträgen organiſirt; und daneben kann drittens das Gebiet ſpecieller Anſtalten, auch Theater, Leſezimmer u. ſ. w. von einzelnen Unternehmungen ausgehen. Was bisher in dieſer Beziehung geſchehen iſt, iſt noch ganz unorganiſch und zufällig. Doch ſcheint die Zeit nicht fern, wo auch dieß Gebiet als ein integrirender Theil in den Organismus des thätigen Bildungs - weſens aufgenommen werden wird.

Sowohl in Literatur als Geſetzgebung fehlt jede einheitliche Auffaſſung. Für die Theater gibt es nur noch Polizei, für Sammlungen und Bibliotheken nur noch einzelne Ordnungen, für die Errichtung eines zweckmäßigen Syſtems des Gemeindebibliothekweſens und der öffentlichen Vorträge nur noch Wünſche, Hoffnungen und zerfahrene einzelne Anfänge. Ueber die Einzelheiten vergl. Stein a. a. O. S. 27 44.

III. Die Preſſe.

Die Preſſe iſt vermöge der Natur des Buchdruckes die Form, in welcher der Einzelne für Alle arbeitet. Sie vermag es daher, je - dem Einzelnen auf jedem einzelnen Gebiet die Bildung Aller zu geben. Sie iſt daher ihrer Natur nach weder in Beziehung auf die Gegen - ſtände, noch auf die Auffaſſung, noch auf die Perſonen begränzt. Sie iſt die Verkörperung und thätige Verwirklichung des Geſammtlebens137 des Geiſtes. Sie iſt daher eine gewaltige Macht; denn ſie iſt die Macht des Werdenden und Zukünftigen über das Gegenwärtige.

Eben darum entwickelt ſie ſich mit der höheren Geſittung, und nimmt alle Formen an, in denen die geiſtige Arbeit zu dem geiſtig Arbeitenden redet. Dieſe Formen entſtehen mit ihr, daſſelbe und doch verſchieden. Sie ſind das Buch, die Zeitſchrift, die Flugſchrift und die Tagespreſſe, an welche ſich die Zeichnung anſchließt. Jede dieſer Formen wirkt in ihrer Weiſe; keine vermag die andere ganz zu erſetzen. Aber eben deßhalb haben ſie auch auf Grundlage des ge - meinſam für ſie geltenden Princips ein beſonderes Recht, das jedoch erſt mit der Entwicklung der Tagespreſſe ſeine feſte Geſtalt empfängt.

Das Recht nun geht einerſeits aus dem Weſen der Preſſe an ſich hervor, andererſeits aus der Natur der geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Zuſtände, in denen ſie thätig iſt.

Die Preſſe nämlich erſcheint ſtets zuerſt als eine große und zu - gleich unbeſtimmte Gewalt eines Einzelnen über Alle, und damit als eine öffentliche Gefahr. Dieſe Gefahr verſchwindet, wo die Ueber - zeugungen Aller über Staat und Geſellſchaft in der Hauptſache feſt - ſtehen; ſie wächst in dem Grade, in welchem die Elemente beider in Gegenſatz treten. Die Preſſe aber iſt zweitens ein Mittel, um durch ſie Verbrechen zu verſuchen, oder geradezu zu begehen. Aus dem erſten Verhältniß geht die Preßpolizei hervor, aus dem zweiten das Preß - ſtrafrecht.

Es hat nun Jahrhunderte gedauert, bis man ſich über das Ver - halten beider zu einander klar geworden iſt, wie man erſt nach Jahr - hunderten über Polizei und Strafrecht überhaupt klar ward. Denn das Preßrecht hat bis auf die neueſte Zeit den Standpunkt feſtgehalten, daß das Gefährliche ſtrafbar ſei. Dieſer Gedanke beruhte aller - dings auf der Thatſache, daß die Preſſe der mächtigſte Hebel für jede neue Geſellſchafts - und Rechtsbildung und damit an und für ſich ein Gegner des Beſtehenden wird. Aus dieſer Auffaſſung ſind die großen Grundformen des Preßrechts hervorgegangen.

Die erſte nennen wir das Prohibitivſyſtem. Sein Princip iſt, die Gefahren der Preſſe durch die Erlaubniß der Veröffent - lichung zu beſeitigen. Seine beiden Conſequenzen ſind, daß jede nicht erlaubte Veröffentlichung an und für ſich ein Vergehen enthalte, während die erlaubte gegen kein Recht verſtoßen konnte. Der Name dieſes Syſtems iſt die Cenſur. Ihr Organ iſt in der ſtändiſchen Epoche die Corporation, in der polizeilichen die Cenſurbehörde. Ihr Erfolg war von jeher, den Umfang der Wirkſamkeit der Preſſe aller - dings zu vermindern, die Intenſivität derſelben aber zu erhöhen. Als die138 größere Bewegung der Geiſter jene die Beſchränkung des Umfangs durch die Polizei vernichtet, verſchwindet die Prohibition ganzer Werke, wie die Cenſur der einzelnen Stellen; ſie ward lächerlich durch ihre Wirkungsloſigkeit.

Ihr folgt das Repreſſivſyſtem. Das Repreſſivſyſtem beruht darauf, den Schriftſteller und Verleger zu ihren eigenen Cen - ſoren zu machen. Die Vorausſetzung für dieſen Zweck iſt, daß jede Veröffentlichung zugleich als ein wirthſchaftliches Unternehmen erſcheint. Das Mittel ſeiner Verwirklichung iſt das Recht des Verbotes in den Händen der Polizei, welches durch den verhinderten Abſatz das Unternehmen ruinirt. Die Bedingung dafür war die gewerbliche Ge - nehmigung, ſowohl für Drucker wie für Verleger, und die Stellung der Caution für die Tagespreſſe. Die Formen waren die Verwar - nung, die Suſpenſion und das Verbot der Publikation. Der Natur der Sache nach traf das am meiſten die Tagespreſſe; daher erſcheint von jetzt an das ganze Preßrecht weſentlich als das Recht der Tages - preſſe. Allein alle jene Mittel ſind dennoch nicht fähig, weder den Kampf einer Idee mit dem alten Recht, noch ein Verbrechen durch die Preſſe zu hindern. Es muß daher neben der Preßpolizei, die im Obigen liegt, noch ein Preßſtrafrecht geſchaffen werden. So ſcheiden ſich beide. Jetzt iſt das Objekt der Preßpolizei die gefährliche Macht der Preſſe, das des Preßſtrafrechts ein durch dieſelbe wirklich unbegan - genes Verbrechen. Das war einfach. Allein im Kampfe der Rechts - bildungen in Staat und Geſellſchaft gingen die herrſchenden Elemente ſo weit, nicht mehr den Inhalt der Druckſache, ſondern die Folge - rungen, die aus demſelben gezogen werden konnten, für ein Preß - vergehen zu erklären. Der Ausdruck dieſes Gedankens war der aus England nach Frankreich, aus Frankreich nach Deutſchland wandernde Satz, daß jede Verleitung zu Haß und Verachtung gegen die be - ſtehende Rechtsordnung ſtrafbar ſei. Damit ward thatſächlich der Unterſchied zwiſchen Polizei und Strafe wieder aufgehoben, und das geſammte Preßrecht ein Polizeirecht, und ſo formulirte ſich der Wider - ſpruch, der den eigentlichen Grundgedanken des Repreſſivſyſtems bildet, und alle Preßfreiheit untergrub, daß nicht mehr der formelle Inhalt, ſondern daß die Tendenz als Geiſt der Preſſe, das Objekt von Strafrecht und Polizei zugleich ſein ſolle.

Erſt in der neueſten Zeit bricht ſich nun das wahre Recht der freien Preſſe Bahn. Seine Grundſätze ſind folgende.

Die Freiheit der Preſſe bedeutet einerſeits die volle gewerbliche Freiheit des wirthſchaftlichen Unternehmens der Preſſe, andererſeits den Rechtsgrundſatz, daß die durch geiſtige Arbeit erſt zu gewinnenden139 Folgerungen aus dem Wortlaut einer Druckſchrift nie Gegen - ſtand des Rechts ſind, alſo auch keine Verbrechen enthalten können, ſondern nur der Wortlaut ſelber. Es gibt daher keine Preßvergehen mehr, ſondern nur Verbrechen und Vergehen, die auch durch das Mittel der Preſſe begangen werden können (Verbrechen und Beleidi - gungen gegen Staat, Kirche, Einzelne).

Die Polizei der Preſſe beſteht neben der Preßfreiheit; ſie hat aber jetzt nur noch ein doppeltes Gebiet. Einerſeits hat ſie ein Recht auf diejenigen Maßregeln und Vorſchriften, welche als Bedin - gung der Entdeckung und Beſtrafung eines durch die Preſſe begangenen Verbrechens erſcheinen (Angabe des Druckes, Druckortes und Pflicht - exemplar), andererſeits hat ſie bei drohender Gefahr das Recht der Beſchlagnahme der Verhaftung des Gedankens, die ſie, wie die perſönliche Verhaftung, unter eigener Verantwortlichkeit vor dem Gericht zu vertreten hat.

Das Recht des Nachdruckes dagegen gehört anerkannt nur dem Rechte des geiſtigen Eigenthums an.

Kampf gegen die Cenſur ſchon im vorigen Jahrhundert (Juſti, Polizei - weſen IX. 110; Hoffmann, Geſchichte der Cenſur 1819; Phillips, Kirchen - recht VI. 324; Stein S. 100 103). Im neunzehnten Jahrhundert beginnt derſelbe mit Gentz, Sendſchreiben an Friedrich Wilhelm III. 1797; Fortſetzung ſeit 1816. R (ühle v.) L (ilienſtern), Studien zur Orientirung 1820. Dagegen Ancillon und Gentz (bei Rühle v. L.), einzelne Arbeiten bis 1830; Stein S. 85. Kampf des deutſchen Bundes gegen die Preßfreiheit und für die Cenſur; Forderung nach Aufhebung Welker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit 1830: Juriſtiſche Verſchmelzung von Preßpolizei und Strafrecht: Löffler, Ge - ſetzgebung der Preſſe 1837; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft III. 126. Erſter Verſuch der Preßfreiheit: 1848. Erlaß der einzelnen Preßgeſetze: Aufhebung der Cenſur, aber faſt allenthalben ſyſtematiſche Durchführung des Repreſſiv - ſyſtems: Preußen (Geſetz vom 12. Mai 1851). Oeſterreich (Geſetz vom 13. März 1849) und Repreſſivgeſetz vom 27. Mai 1852. Bayern (Geſetz vom 17. März 1850). Sachſen (Geſetz vom 14. März 1851). Württemberg (Geſetz vom 26. Aug. 1849). Baden (Geſetz vom 16. Febr. 1851). Dann der Bundesbeſchluß von 1854, als Formulirung des Repreſſivſyſtems. Gegenwärtiges Recht: unfertige Entwicklung. Oeſterreichs freie Geſetz - gebung von 1862. In den übrigen Staaten keine neue Geſetzgebung; daher hier Mangel an Einheit.

England. Ueber die falſchen Vorſtellungen von Englands Preßfreiheit Stein S. 124 ff. ; das Repreſſivſyſtem gilt ſtrenge bis 1848 (vergl. Lorbeer, Engl. Preßgeſetzgebung). Die Fox-Libel Bill. 32. Georg. III. 60)! Polizei und Strafrecht noch verſchmolzen, die Tendenz wird als ſtrafbar an - erkannt! Quelle des deutſchen Bundesbeſchluſſes von 1854. Campbells Libel Bill 7. Vict. 96. (1843) erſter Verſuch, das Preßſtrafrecht (diffam〈…〉〈…〉140 tory words) von der Preßgeſetzgebung zu ſcheiden. Gneiſt I. 195. Erſt durch 11. Vict. 12 (1848) wird das Recht die Tendenz zu verfolgen, aufgehoben; die Preßpolizei bleibt im Weſentlichen beſtehen; ſo iſt die engliſche Preſſe jetzt auch formell eine freie.

Frankreich dagegen führt ſchon durch Conſtitution von 1791 das Re - preſſivſyſtem mit ſtrenger Polizei durch; die Tendenz l’esprit d’un journal résultant d’une succession d’articles ſelbſtändig als ſtrafbar anerkannt (Loi des tendances 17. März 1822); aufgehoben 1828; definitive Aufhebung der Cenſur: Charte 1830; darauf Repreſſivgeſetz vom 6. Febr. 1834. Nach der Freiheit unter der Revolution wieder noch ſtrengere Herſtellung deſſelben ſeit dem Geſetz vom 18. Juli 1850, hauptſächlich durch Decret organique vom 17. Febr. 1852; Verwarnung, Suſpenſion und Unterdrückung bloß als mésure de sureté (Batbie, Droit publique I. 45. Mousset, N. Code annoté de la Presse). Literatur: Mohl, Literatur deutſcher Staatswiſſenſchaft III. S. 177. Stein S. 133 139. Ebendaſ. über Holland, Belgien, Italien und Schweden.

Zweiter Theil. Die Verwaltung und das wirthſchaftliche Leben.

Begriff und Weſen.

Das zweite große Gebiet des Lebens iſt die wirthſchaftliche Welt, die Erfüllung des natürlichen Daſeins mit der Arbeit und den Zwecken der Perſönlichkeit und die organiſche Herrſchaft der Menſchen über die Natur. Die Grundbegriffe, welche hier erſcheinen, und die Geſetze, nach denen dieß geſchieht, bilden die Volkswirthſchaftslehre. Die Volkswirthſchaftslehre aber zeigt uns, daß auch hier der Einzelne durch ſeine eigne Kraft ſeine Beſtimmung nicht zu erfüllen vermag. Auf allen Punkten bedarf er der Herſtellung der Bedingungen, welche die Vor - ausſetzung ſeiner individuellen wirthſchaftlichen Entwicklung ſind. Um dieſe zu erreichen, muß er zuerſt dem Staate in der Form von Steuern die wirthſchaftlichen Mittel dazu bieten. Der Staat wird dadurch wieder zunächſt ein wirthſchaftlicher Körper, und ſo entſteht der Begriff und Inhalt der Staatswirthſchaft, in welcher der Staat für ſich als wirthſchaftende Perſönlichkeit auftritt mit Einnahmen, Ausgaben und Reproduktion, wie der Einzelne. Indem nun der Staat die ihm auf dieſe Weiſe hauptſächlich durch die Steuern zur Verfügung geſtellten Mittel wirklich verwendet, um jene Bedingungen der wirthſchaftlichen Entwicklung jedes Einzelnen herzuſtellen, ohne welche die letztere nicht141 möglich iſt, entſteht die Volkswirthſchaftspflege als dasjenige große Gebiet der inneren Verwaltung, deſſen Aufgabe die Entwicklung und Vollendung der Volkswirthſchaft durch die organiſirte Thätigkeit der Gemeinſchaft für diejenigen materiellen Vorausſetzungen iſt, ohne welche der Einzelne ſeine wirthſchaftliche Beſtimmung nicht erreichen kann. Wir nennen ſie deßhalb die wirthſchaftliche Verwaltung.

Die hohe Bedeutung dieſer wirthſchaftlichen Verwaltung liegt zu - nächſt in der Gewalt, welche Beſitz und Arbeit über das perſönliche Leben haben, und deren Ausdruck der Satz iſt, daß die wirthſchaft - liche Unabhängigkeit den Körper der Freiheit und die Grundlage alles Fortſchrittes bildet. Die organiſche Lehre der Nationalökonomie zeigt aber anderſeits, daß die Bedingung des Erwerbes des Einen ſtets die Fähigkeit des Andern iſt gleichfalls zu erwerben; indem die Verwaltung daher für jeden Einzelnen ſorgt, ſorgt ſie zugleich für alle; ſo wird dieſe wirthſchaftliche Verwaltung die orga - niſche Verwirklichung der Idee der Harmonie der Intereſſen, und mit ihr erſcheint daher die Verkörperung der großen, die Zukunft beherrſchenden Wahrheit, daß die Harmonie das Intereſſe, die Verwirklichung alles Fortſchrittes und aller Freiheit ent - hält. Erſt von dieſem höchſten Standpunkte entfaltet ſich die Volks - wirthſchaftspflege zu ihrer ganzen Bedeutung für das Leben der Menſch - heit, und ihr Inhalt wird auch in ſeinen einzelnſten, materiellſten Theilen zu einer der großartigſten Aufgaben der Wiſſenſchaft.

Die geſchichtliche Entwicklung derſelben.

Eben deßhalb iſt die Grundlage der geſchichtlichen Entwicklung der wirthſchaftlichen Verwaltung das allmälige Entſtehen des Verſtändniſſes dieſer Idee derſelben, der freien und gleichen Beſtimmung aller wirth - ſchaftlichen Bewegung. Die Geſchlechterordnung entbehrt darum der - ſelben ganz. Die ſtändiſche Ordnung löst ihr wirthſchaftliches Leben in die Sonderintereſſen der einzelnen Stände und ihrer Körperſchaften und in den auch wirthſchaftlichen Kampf derſelben untereinander auf. Erſt mit dem Siege der Staatsidee entſteht der Gedanke und der Ver - ſuch einer wirthſchaftlichen Verwaltung.

Dieſe ſelbſt entfaltet ſich nun aus ihrer urſprünglichen Einfachheit nur allmälig zu einer, das geſammte Leben mit vollem Bewußtſein ihrer Aufgabe umfaſſenden Thätigkeit. Den Ausdruck der Standpunkte, welche die Verwaltung nach einander ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert einnimmt, bilden zunächſt die drei ſogenannten Schulen der National - ökonomie, die in der That weſentlich Principien und Syſteme der142 wirthſchaftlichen Verwaltung enthalten. Das Merkantilſyſtem ſucht die Zukunft und Vollendung aller Volkswirthſchaft in dem Erwerb durch den internationalen Verkehr, und erſchöpft ſich damit in den Principien des Schutzſyſtems für den Handel nach Außen und der Staatsunter - ſtützung nach Innen. Das phyſiokratiſche Syſtem erkennt die Aufgabe der Verwaltung in der Hebung der Urproduktion, und fordert daher die großen Elemente desjenigen, was wir die Landwirth - ſchaftspflege nennen. Das ſogenannte Induſtrieſyſtem endlich er - kennt in der Arbeit die Quelle alles Wohlſtandes, und fordert von der Verwaltung im Namen derſelben die Freiheit des Handels und der Gewerbe. So entſtehen die großen Principien der wirthſchaft - lichen Verwaltung, aber zu einem Syſteme wird ſie nicht, weil ſie nur Eine Seite des Ganzen umfaßt. Unterdeſſen entwickelt ſich in Deutſch - land theoretiſch das Syſtem des Eudämonismus, deſſen Princip die allgemeine Förderung des Volkswohlſtandes iſt, praktiſch die Ver - waltung der Regalien, aus der die Cameralwiſſenſchaft entſteht. Beide unterſcheiden ſich von dem obigen Syſteme dadurch, daß ſie das geſammte Gebiet der Volkswirthſchaftspflege umfaſſen; ſie ſind aber mit ihnen darin wieder gleich, daß auch ſie die Volkswirthſchaftslehre von der Volkswirthſchaftspflege nicht zu ſcheiden, und daher keinen feſten Begriff der letzteren zu finden vermögen. Dieſe Unklarheit ſetzt ſich bis zu unſrer Zeit fort, indem theils Staats - und Volkswirthſchaftspflege in der Staatswirthſchaftslehre verſchmolzen bleiben (Lotz), theils die Verſchmelzung mit der reinen Nationalökonomie fortgeſetzt wird (Roſcher), während in der Polizeiwiſſenſchaft (Mohl) der Eudämonismus eine inhaltsleere Exiſtenz fortſetzt. Die volle Scheidung der Volkswirthſchafts - pflege von der Nationalökonomie (Rau) iſt dem gegenüber ein großer Fortſchritt, hat aber den Begriff der Verwaltung wieder feſtgehalten. So iſt es die Aufgabe unſerer Zeit, die wirthſchaftliche Verwaltung als organiſchen Theil des Ganzen, und zugleich als einen ſelbſtändigen Organismus aufzufaſſen und zu entwickeln.

Es gibt noch keine Geſchichte der inneren Berwaltung. Mohl, Literatur der Staatswiſſenſchaft hat ſich hier ausſchließlich auf das Recht der vollziehen - den Gewalt beſchränkt; die Geſchichte der Nationalökonomie von Kantz u. A. halten die Verſchmelzung feſt. Die in der Polizeiwiſſenſchaft (Mohl, Pötzl) gegebenen Anfänge ſind unentwickelt geblieben (vergl. Stein, wirthſchaftliche Verwaltung S. 1 61).

Die Elemente des Syſtems und des Organismus derſelben.

Das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung beruht nun darauf, daß die Verwaltung daſſelbe von ihrem Gegenſtand empfängt. Das143 Syſtem derſelben iſt daher die organiſche Einheit derjenigen Lebens - verhältniſſe, in denen die Bedingungen der wirthſchaftlichen Entwicklung nicht mehr durch Kraft und Thätigkeit der Einzelnen erreichbar ſind, ſondern durch die Geſetzgebung und Vollziehung des Staats gegeben werden müſſen. Die Elemente dieſes Syſtems ſind der Allgemeine Theil, der die für alle einzelnen Zweige des wirthſchaftlichen Lebens gleichmäßig nothwendigen Bedingungen enthält, und der beſondere Theil, der ſich auf die Arten der Unternehmungen bezieht. Jeder dieſer Theile hat wieder ſein eigenes reiches Syſtem und bildet ein Ganzes für ſich, das mit dem Geſammtgebiet nur ſeine innere wirthſchaftliche Ver - bindung gemein hat.

Das Gebiet ſelbſt iſt nun ſo reich in Umfang und Inhalt, daß der für die Volkswirthſchaftspflege thätige Organismus nicht etwa bloß die Regierung umfaßt, wo dieſelbe theils dem Miniſterium des Innern, theils dem des Handels und des Ackerbaues, theils dem der öffentlichen Arbeiten unterſteht; im Gegentheil ſind faſt auf jedem Punkte deſſelben alle drei Organismen, Regierung, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen gleichmäßig thätig. Während nun im vorigen Jahrhunderte die ganze Volkswirthſchaftspflege grundſätzlich und beinahe auch faktiſch nur in den Händen der Regierung lag (Volkswirthſchaftspflege als Theil der Polizeiwiſſenſchaft ) iſt es der Charakter unſerer Zeit, mehr und mehr die freie Verwaltung für dieſelbe eintreten zu laſſen. Namentlich breitet ſich das Vereinsweſen mit jedem Jahre mehr aus, nicht ſo ſehr da - durch, daß es die Thätigkeit der Regierung übernimmt, ſondern dadurch, daß es für die Volkswirthſchaftspflege ganz neue Bahnen bricht, und damit Aufgaben der Thätigkeiten der Geſammtheit für die volkswirth - ſchaftliche Entwicklung eröffnet, von denen die frühere Zeit eben deßhalb gar keine Ahnung hatte, weil eben die Regierung ihrem Weſen nach außer Stand war, für dieſelben zu ſorgen. In der That iſt es das lebendige Vereinsweſen, durch welches die Volkswirthſchaftspflege unſrer Zeit eine ſo weſentlich andere Geſtalt empfängt, als die der frühern. Und zwar nicht bloß dem Umfang nach. Sondern das Vereinsweſen bedeutet vielmehr die Entwicklung der freien Volkswirthſchaftspflege, in der vermöge der Vereine das in ihnen lebendige Geſammt - intereſſe für das Einzelintereſſe thätig wird, und umgekehrt; es iſt daher die Verwirklichung des großen Princips der Harmonie der wirthſchaftlichen Intereſſen durch das freie Verſtändniß des Einzelnen ſelbſtthätig geworden. Wir ſtehen noch in der Kindheit dieſer Bewe - gungen. Es fehlt uns ſogar das erſte poſitive Element der Beurthei - lung, die rationelle Statiſtik des wirthſchaftlichen Vereinsweſens vom Standpunkt der freien wirthſchaftlichen Verwaltung. Wir müſſen uns144 hier daher noch mit Andeutungen begnügen. Erſt wenn man Regie - rung und Verein als Organ derſelben Idee erkennen wird, wird man in beiden und ihrer Wechſelwirkung das Bild der für ſich ſelbſt thätigen Gemeinſchaft der Intereſſen gewinnen.

Allgemeiner Theil. Elemente des Syſtems.

Der allgemeine Theil der wirthſchaftlichen Verwaltung enthält ſeinem formalen Begriffe nach die Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten, welche ſich auf die allen Arten von Unternehmungen gemeinſamen Be - dingungen beziehen. Seinem Inhalte nach iſt er der bei weitem rich - tigſte, da gerade hier die Kraft des Einzelnen am wenigſten ausreicht. In ſeinen Elementen iſt er daher von jeher dageweſen; ſo wenig es einen Staat ganz ohne Verfaſſung gibt, ſo wenig gibt es einen ſolchen ganz ohne allgemeine wirthſchaftliche Verwaltung. Seine Entwicklung beginnt mit dem Königthum und ſeinem Sieg über die ſtändiſche Ge - ſellſchaft; ſeine Vollendung aber kann erſt durch die freie Entwicklung des Vereinsweſens gegeben werden. Sein Syſtem endlich beruht auf den großen Elementen alles Lebens, dem perſönlichen, dem natürlichen und dem wirthſchaftlichen Element. Auf das erſte bezieht ſich die Entwährung, auf das zweite die Verwaltung der Elemente, auf das dritte die Verwaltung des Verkehrsweſens unter den Einzelnen. Der Reichthum dieſer Gebiete, deren jedes wieder ſein Syſtem und ſeine Geſchichte hat, iſt ſo groß, daß derſelbe wohl nie von einem Einzelnen ganz erfaßt, geſchweige denn in Geſchichte und Geſetzgebung vollſtändig bewältigt werden wird.

Erſtes Gebiet. Die Entwährung. Weſen und Syſtem.

Die Entwährung entſteht da, wo die Aufhebung eines beſtimmten einzelnen Rechts als unabweisbare Bedingung der allgemeinen Ent - wicklung der Geſammtheit erſcheint, und als ſolche vom Staate aner - kannt iſt. Bedürfniß und Inhalt einer ſolchen allgemeinen Entwicklung aber entſtehen ihrerſeits aus der Bewegung der Geſellſchaftsordnungen. Jede Entwährung iſt daher eine Forderung des geſellſchaftlichen Fort - ſchrittes an den Einzelnen; der Staat erzeugt keine Entwährung, ſon - dern ordnet und vollzieht ſie nur; jede Entwährung iſt daher ihrem Weſen nach ein geſellſchaftlicher Proceß und ihr Recht ein geſell - ſchaftliches Recht, beide durch die Verwaltung des Staats geordnet. 145Und dadurch, daß der Staat dieß thut, entſteht das Rechtsſyſtem der Entwährung.

Denn das Weſen der Unverletzlichkeit der Perſönlichkeit erſcheint darin, daß nie das ganze Recht Gegenſtand der Entwährung ſein kann; ſondern nur dasjenige, welches ſich die Gemeinſchaft ohne die Entwäh - rung überhaupt nicht zu verſchaffen im Stande iſt. Das nun iſt immer nur das natürliche Element, die Sache, nie das perſönliche, der Werth. Das Rechtsprincip aller Entwährung iſt daher die Rückſtellung des Werthes der Sache an den Entwährten, das iſt die Entſchädi - gung. Eine geſellſchaftliche Gewaltthat iſt eben nichts anderes, als eine Entwährung ohne Entſchädigung. Dieſe nun erſcheint in der ganzen Weltgeſchichte ſtets da, wo ſich ausſchließlich die geſellſchaftlichen Claſſen gegenüber ſtehen. Erſt wo der Staat im Königthum erſcheint, erſcheint auch das Princip der Entſchädigung und damit ein Recht der Entwährung. Das Syſtem dieſes Rechts wird dann gebildet durch die Grundſätze, nach denen die Verwaltung des Staats bei der Ent - währung zu verfahren hat. Erſt mit dieſem Rechtsſyſtem tritt das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht an die Stelle der geſellſchaftlichen Gewaltthaten, welche die ganze alte Geſchichte des Volkslebens erfüllen.

Der geſellſchaftliche Lebensproceß Europas iſt nun zuerſt die Ent - faltung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung mit ihren Principien der Freiheit und Gleichheit, auch des wirthſchaftlichen Lebens aus der Geſchlechter - und Ständeordnung; dann die Entwicklung der Thatſache und der Gewalt der Geſammtintereſſen gegenüber dem Einzelrecht. Aus dem erſten Theile entſtehen die Entlaſtungen, welche mit dem völ - ligen Siege der freien Geſellſchaft abſchließen, und daher als hiſtoriſche Erſcheinung gelten müſſen; aus dem zweiten die Enteignung, welche der freien Geſellſchaftsbildung angehören, daher erſt in unſerm Jahr - hundert auftreten, und den dauernden Inhalt des Entwährungsrechts bilden. Deßhalb hat man auch bisher in der Wiſſenſchaft nur die letzteren beachtet. Die größte Frage der wirthſchaftlichen und damit der geſellſchaftlichen Zukunft Europas liegt aber in dem Ende dieſes Pro - ceſſes, deſſen eigentliche Bedeutung uns erſt durch die ſociale Auf - faſſung des Enteignungsrechts erſchloſſen wird. Das Staatsnoth - recht endlich iſt nur die zeitweilige Enteignung des Gebrauches einer Sache und hat daher keine ſociale, ſondern nur eine adminiſtrative Berechtigung.

I. Die Entlaſtungen.

Die Entlaſtungen gehen aus der Thatſache hervor, daß ſowohl das Geſchlechter - als das Ständeweſen die unfreie Ordnung des Grund -Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 10146beſitzes erzeugen, welche vermöge der geſellſchaftlichen Rechtsbildung den Charakter eines Privatrechts annehmen. Ihre Aufgabe iſt es, durch die Entwährung dieſes Privatrechts die Freiheit des Grundbeſitzes herzuſtellen, und damit die Principien der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaft für ländliche Selbſtverwaltung und Landwirthſchaft zur Geltung zu bringen.

Sie theilen ſich daher in zwei große Gebiete. Das erſte iſt das der Grundentlaſtungen, das auf der Grundherrlichkeit beruht; das zweite das der Gemeinheitstheilungen, das mit dem Eigenthums - verhältniß der alten Geſchlechterdörfer zu thun hat. Die Aufhebung der unfreien Arbeit gehört allerdings demſelben hiſtoriſchen Proceß, aber nicht der Entwährung und zwar deßhalb nicht, weil bei ihnen keine Entſchädigung vorkommt, da kein wirthſchaftlicher Werth des auf - gehobenen Vorrechts nachgewieſen werden kann. Die Aufhebung der Bann - und Realrechte bildet daher den Uebergang von der Befreiung der gewerblichen Arbeit durch die Gewerbefreiheit zu den Grundentlaſtungen.

1) Die Grundentlaſtungen umfaſſen daher eine mehr als zwei - hundertjährige Arbeit der Geſchichte theils auf dem Gebiete der Wiſſen - ſchaft, theils auf dem der Geſetzgebung, theils auf dem der Verwaltung. In der erſten Epoche derſelben handelt es ſich um die Aufhebung der Leibeigenſchaft, in der zweiten um die Regulirung der Frohnden und Zehnten, in der dritten, der eigentlichen Periode der Grundentlaſtung, um die volle Entwährung derſelben. Die Wiſſenſchaft hat in dieſem Proceſſe das Princip der Freiheit, ihre höhere Nothwendigkeit und ihren wirthſchaftlichen Werth, die Geſetzgebung die rechtliche Ordnung der Entwährung und die Verwaltung die Umgeſtaltung der Grund - herrlichkeit in amtliche und Selbſtverwaltung der Gemeinde zu vertreten. Natürlich gehen dieſe Verhältniſſe vielfach durcheinander. Doch kann man im Allgemeinen ſagen, daß das achtzehnte Jahrhundert die Noth - wendigkeit der Befreiung des Bauernſtandes zu erkennen beginnt, die erſte Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit derſelben anfängt und erſt die zweite Hälfte ſie auf Grundlage der Entwährung zum Princip des öffentlichen Rechts gemacht hat. Die Epoche derſelben iſt daher im Großen und Ganzen als abgeſchloſſen zu betrachten.

2) Die Gemeinheitstheilungen und Ablöſungen haben dagegen einen ganz andern Charakter. Sie erſcheinen von Anfang an nicht als ein ſocialer Proceß, ſondern als eine volkswirthſchaftliche Maßregel, da das Gemeindegut (Almend, Hutweide ꝛc. ) ſo wenig als die Weide - und Holzſervituten den Ausdruck der Herrſchaft einer Claſſe über die andere enthalten. Daher iſt auch ihre Geſchichte eine ganz andere. Während ſie im achtzehnten Jahrhundert im Namen der Volks -147 wirthſchaft zum Theil polizeilich erzwungen wurden, werden ſie mit dem Beginne des neunzehnten ſchon großentheils der freien Wahl der Be - theiligten überlaſſen, und in neueſter Zeit hat ſich der Charakter des Verhältniſſes ganz umgeſtaltet, indem die Gemeinweide zum Gemeinde - eigenthum erklärt wird, während ſie früher nur Eigenthum der Bauern in der Gemeinde war und ihre Benützung faſt ausſchließlich von dem Viehſtande abhing. Hier erſcheint die Entwährung der Alt - berechtigten daher als Uebergang aus dem Geſchlechter-Eigenthum in die Gemeindeverwaltung und damit eröffnet ſich eine ganz neue Geſtalt dieſer Verhältniſſe. Die Ablöſung der Grunddienſtbarkeiten dagegen behielt, obwohl auch die letzteren faſt ausnahmslos aus dem Gemein - gut der Geſchlechterordnung herſtammen, ihren ſtreng volkswirthſchaft - lichen Charakter und iſt natürlich in Schätzung und Entſchädigung je nach der Natur der Dienſtbarkeiten in Feld und Wald principiell und örtlich ſehr verſchieden. Auch hier iſt daher ein Abſchluß theils ſchon gemacht, theils bevorſtehend, ſo weit überhaupt das Princip der Ent - währung Platz greift.

Die Geſchichte der Entlaſtungen als Theil der neueren Geſchichte der euro - päiſchen Völker und Staaten bis auf die neueſte Zeit durchgeführt bei Stein, Entwährung (Verwaltungslehre Bd. VII.). Vergl. dazu vorzüglich Sugen - heim, Geſchichte der Aufhebung der Leibeigenſchaft. Nachweiſung, daß bei großer Verſchiedenheit im Einzelnen die Haupterſcheinungen und Epochen des Entlaſtungsweſens in allen Staaten Europas dieſelben ſind.

Englands früheres feodal system und die feudale Gutsherrlichkeit. Herſtellung des bürgerlichen Eigenthums aller Grundbeſitzer durch Stat. 12. Ch. II. 24. Dann Beginn der eigentlichen Entlaſtungen mit 6. 7. Will. IV. 71; Durchführung mit 4. 5. Vict. 35 (1844) und 9. 10. Vict. 73 (1849). Stein S. 108 140. Die engliſchen Gemeinheitstheilungen, das alte manor oder waste of the Lord (Gemeingründe); feſte Verkoppelungen ſeit dem vori - gen Jahrhundert; die Enclosures (Thaer, Engl. Landwirthſch. III. S. 333 ff. ); die Enclosure Act 8. 9. Vict. 118 (1848) und ihre Erfolge: Stein S. 269 f.

Frankreich. Frühere Zuſtände (Stein, Franz. Rechtsgeſchichte Bd. III.). Das entſcheidende und erſte Geſetz über die Grundentlaſtung Decret vom 4. Auguſt 1789, mit Anerkennung des Princips der Entſchädigung; Durch - führungsgeſetz vom 25. Auguſt 1792 und 17. Juli 1793; gänzliche Störung des Entlaſtungsproceſſes durch die Emigration und die Kriege; die Milliarde der Emigrirten als nachträgliche Grundentlaſtung: Stein, Entwährung S. 146 150. Die Gemeinheitstheilung Frankreichs; ſchon ſeit der früheren Zeit Gemeindeeigenthum an der Gemeinweide; ſeit der Revolution Durchführung dieſes Princips durch das Syſtem der Parcellarverpachtung der - ſelben, der Allottements; die alten Weide - und Walddienſtbarkeiten in ihrer gegenwärtigen Geſtalt: Hauptgeſetz das Code Rural vom 28. Sept. 1791. Stein S. 272 ff.

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Deutſchlands Entlaſtungsgeſchichte; der theoretiſche Kampf um das dominium eminens, das Recht der Grundherren, der Bauern, ihrer Hörigkeit und ihrer Frohnden und Zehnten mit dem achtzehnten Jahrhundert. (Stein S. 150 178.) Die wirkliche Entlaſtung des neunzehnten Jahrhunderts, ihr Sieg ſeit 1848 und ihre Geſtalt in Preußen: zwar Aufhebung der Patrimo - nialjurisdiktion (Verordnung vom 2. Jan. 1849) und Zuläſſigkeit der Ab - löſungen und definitiven Entlaſtungen; aber zur grundſätzlichen Befreiung des Bauernſtandes hat ſich Preußen nicht erheben können (Rönne, Staats - recht I. 53; Laſſalle, Erworbene Rechte I. 133: Judeich, Grundentlaſtung S. 48, 49. In den übrigen deutſchen Staaten ſehr verſchieden; in den meiſten bis 1848 wenig geſchehen; Geſetzgebung und Regierung überließen die Sache ſich ſelbſt; erſt mit dem Jahr 1848 durchgreifende Entlaſtung, indem faſt allenthalben die bisherige freiwillige Ablöſung zur Pflicht gemacht, von den Behörden durchgeführt und durch Rentenbanken die Entſchädigung ermöglicht wird; jedoch ſteht Deutſchland vermöge vieler Ausnahmen noch immer weſent - lich hinter Frankreich zurück; daher ein großer Theil der geiſtigen Suprematie des franzöſiſchen Volkes. Nur in Oeſterreich iſt das Princip der Entlaſtung gründlich und vollſtändig durchgeführt: Patent vom 7. Sept. 1848; Ausführung durch Patent von 1850 und 1851. Vergl. über die einzelnen Geſetze beſonders Judeich, Grundentlaſtung; Stein S. 192 234) Die Gemeinheitstheilungen der polizeilichen Epoche (Stein S. 280 285). Die preußiſche Theilungsordnung von 1821; der neuere Standpunkt des Gemeinde - eigenthums (ebend. S. 285 292); Ablöſungen und ihr Syſtem nebſt der großen Verſchiedenheit in den einzelnen Territorien (Stein S. 234 253).

II. Die Enteignung.

Während nun die Entlaſtungen den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gegenüber der Geſchlechter - und Ständeordnungen begleiten und vollziehen, erſcheint die Enteignung innerhalb der erſteren als Er - füllung ihres Princips gegenüber dem einzelnen Privatrecht. Sie tritt da auf, wo ein Einzelrecht die Lebensbedingung der freien Geſellſchaft, die allgemeine Freiheit in Erwerb und Verkehr aufhebt oder hemmt. Das allgemeine Princip derſelben iſt daher ſchon im ſiebenzehnten Jahr - hundert anerkannt; im achtzehnten Jahrhundert wird es im polizeilichen Verordnungswege für einzelne beſtimmte Betriebe Waſſer -, Berg -, Waldinduſtrie in Anwendung gebracht; im neunzehnten Jahrhundert wird es als ein Theil des öffentlichen Rechts anerkannt, und damit entſteht das verfaſſungsmäßige Enteignungsrecht ( Expropriation nach dem erſten ſyſtematiſchen Enteignungsgeſetz von Frankreich 1841). Von da an wird es ein organiſcher Theil der Wiſſenſchaft und empfängt ſein Syſtem und ſeine Jurisprudenz.

Das Enteignungsrecht zerfällt daher in zwei Theile.

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Zuerſt muß die Aufhebung des Eigenthums als nothwendige Bedingung der öffentlichen Verkehrs - und Betriebsfreiheit von der Re - gierung anerkannt werden. Die Formen, in denen dieß geſchieht, bilden das eigentliche Enteignungsverfahren. Daſſelbe beginnt mit der Genehmigung des Enteignungsplanes, als deren Vorausſetzung je nach Umſtänden die Genehmigung der Unternehmung ſelbſt voraufgehen muß, wie bei Eiſenbahnen, und enthält die genaue Bezeichnung der Objekte der Enteignung auf Grundlage der Erklärung, daß die Ent - eignung ſelbſt ein öffentliches Bedürfniß (cause d’utilité publique) ſei. Das Entſchädigungsverfahren hat dann die Aufgabe, dem Ent - eigneten den Werth des enteigneten Gutes zu beſtimmen und zurück - zugeben. Daſſelbe beginnt mit der Schätzung, welche gleich nach der Genehmigung eintreten kann; wenn auf dieſe Weiſe die letztere das Objekt und die erſtere den Werth der Enteignung feſtgeſtellt hat, ſo tritt der Enteignungsſpruch ein, der auf Grundlage beider den rechtlichen Uebergang des Eigenthums und die Zahlungspflicht ausſpricht und den immer das Gericht erlaſſen ſollte; hier herrſcht namentlich in der deutſchen Geſetzgebung noch viel Unklarheit. Den Schluß bildet dann die Einweiſung in den Beſitz, bedingt durch die wirkliche Aus - zahlung, für welche nicht das privatrechtliche Zahlungsrecht, ſondern das behördliche Auszahlungsverfahren eintritt und haftet.

Ueber die Anklänge im Röm. Recht ſehr gut G. Meyer, Recht der Ex - propriation 1868. Früheres deutſches Recht: Stein S. 301 303. (Verhält - niß zum Dominium und Jus eminens.) Zuſammenfaſſung dieſer Anfänge in der franzöſiſchen Decl. des droits art. 17. Von da übergegangen in der Form eines allgemeinen Grundſatzes in die neueſten deutſchen Verfaſſungen (Stein S. 314). Die eigentliche Entwicklung aber findet die Enteignung erſt durch das Eiſenbahnweſen; daraus geht zunächſt das franzöſiſche Expro - priationsgeſetz von 1841 hervor, das der übrigen europäiſchen Geſetzgebung zum Grunde liegt (Stein S. 312, 313). Deutſchland gelangt zu einer eigenen und ſelbſtändigen Geſetzgebung nicht; bis auf die letzte Zeit vielfache Verwechslung mit dem Nothverordnungs - und Staatsnothrecht (Biſchof in Linde’s Archiv III. 3). Die Anwendung auf Eiſenbahnweſen am beſten bei Koch, Deutſchlands Eiſenbahnen I. S. 8 133. Eigene Literatur im Grunde ganz neu: Thiel, das Expropriationsrecht und Expropriationsverfahren 1866 und G. Meyer (ſ. oben). Einzelne Andeutungen ohne Entwicklung in den Ver - waltungsrechten Stein S. 318, ſo wie einzelne Abhandlungen ebend. S. 317. Wendt, Expropriationscodex (Nürnberg nur bis 1837). Das engliſche Recht hat die Expropriation gleichfalls erſt bei Gelegenheit der Bahnbauten geſetzlich, und zwar in allem Weſentlichen nach den franzöſiſchen Principien geordnet in der Lands Clauses Act Vict. 18. (1845); Stein S. 309 312.

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III. Das Staatsnothrecht.

Das Staatsnothrecht wohl zu unterſcheiden von der Noth - verordnung tritt da ein, wo aus irgend einem plötzlich eintretenden und vorübergehenden Grunde der Staat den vorübergehenden Gebrauch eines Beſitzes in Anſpruch nimmt, oder den Einzelnen zu einer nicht dauernden Leiſtung zwingen muß. Es unterſcheidet ſich von der Ent - eignung dadurch, daß es ſich dabei zuerſt nur um das Eigenthum handelt, und daß zweitens die einfache Verfügung der Behörde daſ - ſelbe eintreten laſſen kann, während das Entſchädigungsverfahren erſt ſpäter folgt, wenn es nicht von kurzer Hand abgemacht wird. Die Hauptanwendung iſt das militäriſche Nothrecht des Krieges; für den friedlichen Dienſt ſollte es geſetzlich geordnet ſein; es kann auch in andern Fällen (Waſſer -, Feuersnoth ꝛc. ) eintreten und iſt daher weſent - lich anderer Natur als die Entlaſtungen und Enteignungen. So wie aber eine dauernde Entziehung des Gebrauches erforderlich wird, ſoll ſtatt deſſelben die Enteignung mit ihren Grundſätzen eintreten.

Ueber die unklare Stellung deſſelben, Verhältniß zum alten Jus eminens und Verwechslung mit dem Nothverordnungsrecht Stein, Entwährung S. 342 344.

Zweites Gebiet. Die Verwaltung und die Elemente. Begriff und Weſen.

Das ganze phyſiſche und wirthſchaftliche Leben des Menſchen iſt ein beſtändiger Kampf mit den elementaren Kräften. Allerdings ge - horchen ſie dem Verſtändigen und Thätigen; allein theils werden ſie eine übermächtige Gefahr, wenn ſie ihre wirthſchaftlichen Gränzen durch - brechen, theils ſind ſie in Kraft und Macht zu umfaſſend, als daß der Einzelne ſie ganz dienſtbar machen könnte, theils endlich kann auch die größte Vorſicht ſie nicht ganz bändigen; ſie greifen vernichtend in das Einzelleben hinein und der Schaden, den ſie bringen, wird zu einer regelmäßigen Erſcheinung im wirthſchaftlichen Leben. Hier muß daher die Kraft der menſchlichen Gemeinſchaft der Kraft der Natur entgegen - geſtellt werden. Dieſelbe erſcheint zunächſt als Polizei derſelben, ſpeciell in der Feuerpolizei; dann als rechtliche Ordnung ihrer Benutzung im Waſſerrecht und endlich als Organiſirung des Erſatzes für den Elementarſchaden in der Schadenverſicherung. Die Geſammtheit dieſer Thätigkeiten der Verwaltung gegenüber den Elementen nennen wir die Elementar-Verwaltung; ſie iſt die Verwaltung im Kampfe mit dem natürlichen Daſein, ſeinen Kräften und ſeinen Bewegungen.

Es liegt nun in der Natur der Sache, daß der Organismus dieſer Verwaltung ſtets zuerſt ein rein örtlicher iſt und daher anfangs151 ganz unter die Selbſtverwaltung fällt. Erſt mit der Entwicklung des Verkehrs tritt die Erkenntniß ein, daß die techniſchen Bedingungen jener Verwaltung allenthalben weſentlich eben ſo gleichartige ſind, wie das Intereſſe an der Thätigkeit der letzteren. Aus dem erſten dieſer Momente geht dann eine für jeden Theil der Verwaltung geltende allgemeine Geſetzgebung, aus dem zweiten das Auftreten des Ver - einsweſens hervor, welches in mehr als Einer Geſtalt helfend ein - greift. Und ſo entſteht ein Syſtem der Elementar-Verwaltung, das freilich zu einer formellen Einheit unfähig iſt, wohl aber in ſeinen drei Grundformen denſelben Gedanken verwirklicht und damit ein weſent - liches Gebiet der wirthſchaftlichen Verwaltung bildet.

Das Waſſer - und Feuerweſen ſchon ſeit dem vorigen Jahrhundert in jedes Polizeirecht aufgenommen, jedoch nur vom Standpunkt der Polizei. Der Be - griff einer Verwaltung fehlt. Vergl. etwa Berg, Polizeirecht Theil III. Haupt - ſtück 8. I. (ſehr reich an Angaben aus der Feuerpolizei des vorigen Jahrhunderts). Jacoby, Polizeiwiſſenſchaft §. 137; Lotz, Staatswirthſchaft II. §. 102, Mohl (Polizeiwiſſenſchaft Buch III. Cap. 2) iſt der erſte, der nach Bergs Vorgange das Verſicherungsweſen auch mit dem Waſſerſchaden in Verbindung bringt.

I. Die Feuerpolizei.
Weſen. Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung.

Die Feuerpolizei umfaßt die Geſammtheit von Thätigkeiten der Gemeinſchaft, um den Ausbruch von Feuer zu verhüten und das aus - gebrochene zu löſchen. Der Gedanke, daß die Gemeinſchaft dieſe Pflicht habe, entſteht erſt da, wo das Feuer für Dritte gefährlich wird. Er tritt daher ſtets erſt in den Städten auf, entwickelt ſich mit der Dichtigkeit der Bevölkerung und wird erſt im ſiebenzehnten Jahr - hundert ein ſelbſtändiger Gegenſtand der Geſetzgebung und Verwaltung und der daraus entſtehenden allgemeinen Feuerordnungen. Der erſte und natürliche Inhalt derſelben iſt dann die Sorge gegen den Aus - bruch des Feuers, namentlich auch die Bauordnung und die Ordnung der Löſchung; erſt im achtzehnten Jahrhundert tritt die Rettung der bedrohten Güter hinzu; im neunzehnten, bei wachſender Höhe und Dichtigkeit der Wohnungen auch das Rettungsſyſtem für Menſchen. Während nun alle dieſe Vorſchriften noch den Schutz in die Hände der Verwaltung legen, fügt das jetzt entſtehende Syſtem der Verſicherungen das ſubjektive Moment des Einzelintereſſes hinzu, indem es einerſeits die Niedrigkeit der Prämie von der Sicherheit des Baues abhängig, andererſeits die Agenten der Verſicherungsgeſellſchaften zu den natür - lichen Vertretern der Löſch - und Rettungsanſtalten macht oder doch machen ſollte. So iſt allmählig ein Syſtem des öffentlichen Feuer -152 weſens entſtanden, deſſen Grundlage zunächſt ein allgemeines (Landes -) Geſetz, deſſen Vollziehung vorzugsweiſe der Selbſtverwaltungskörper der Landſchaft und Gemeinde iſt, dem das Vereinsweſen theils im Löſchweſen, theils im Verſicherungsweſen zur Seite tritt. Dabei bleibt ihm aber ſein vorzugsweiſe lokaler Charakter, indem ſeine örtliche Aus - bildung ſtets in geradem Verhältniß zur Dichtigkeit der Bevölkerung, zum Theil auch zur Ausbildung feuergefährlicher Gewerbe ſteht.

Das Beſte über das Feuerweſen und die alten Feuerpolizeiordnungen ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert: Juſti, Polizeiweſen I. §. 247 ff. Anſtalten wider die Feuersbrünſte Sonnenfels, Handlung V. 229. Berg, Polizei - recht Theil III. S. 21 ff. Die Literatur des vorigen Jahrhunderts war ziemlich reich, aber faſt ausſchließlich techniſch; das neunzehnte Jahrhundert hat wenig in dieſer Beziehung hervorgebracht. Vergl. Berg a. a. O. und dazu Mohl III. 2. Die Geſetzgebung der neueſten Zeit hat ziemlich allenthalben den Standpunkt feſtgehalten, den Landſchaften die Geſetze und die Oberauſſicht, den Gemeinden die Vollziehung zu überlaſſen (vergl. ſchon in dieſem Sinne Berg S. 20; Rönne, Preuß. Staatsrecht II. §. 365; Preuß. Allgem. Land - recht II. 7. 13. §. 37. Württemb. Löſchordnung von 1808. §. 57 f.). Der Mangel einer guten Organiſirung liegt daher nicht im Princip, ſondern in der Selbſtthätigkeit der Gemeinde. Grundſatz ſollte ſein: Löſchanſtalten von der Gemeinde herzuſtellen, mit Pflicht zur Stellung von Pferden; häusliche Löſchanſtalten: Pflicht des Eigenthümers; dann Bildung von freien Löſchcorps mit ſelbſtgewähltem Vorſtand, unter Verbindung mit den Turnvereinen; da - gegen Oberaufſicht über die Löſchanſtalten durch die Landſchaft, ſowie Vor - ſchriften über die gegenſeitige Gemeindehülfe. Dagegen muß in großen Städten das Feuerweſen ein ſelbſtändiger Verwaltungszweig unter dem Magiſtrate ſein.

Syſtem der Feuerpolizei.

Die Polizei des Feuers hat zwei Hauptgebiete. Das erſte iſt das der Verhütung der Feuersbrunſt. Sie beginnt mit der Polizei feuer - gefährlicher Gegenſtände, geht dann über zur Feuerpolizei in den Bauordnungen, ſo weit dieſelben die Feuerſtellen und Rauchfänge ꝛc. betreffen, und wird bei der Entwicklung der Gewerbe zugleich zur Feuer - polizei des Betriebes derſelben. Die Vorſchriften darüber ſind all - gemein; die Ueberwachung iſt Sache der Gemeinde; das Recht dieſer Polizei iſt dann ein, meiſt freilich nicht allenthalben geſetzlich beſtimmtes Bußrecht.

Der zweite Theil iſt das Löſchweſen. Das Löſchweſen enthält zwei Theile. Der erſte betrifft die Löſchanſtalten. Dieſe ſcheiden ſich in die öffentlichen Löſchanſtalten (Spritzen ꝛc. ) und in die privaten (Eimer, Waſſervorrath ꝛc.). Das Minimum derſelben iſt geſetzlich vor - geſchrieben oder ſollte es ſein; die Oberaufſicht über dieſelben iſt amtlich153 oder ſollte es ſein. Der zweite iſt die Löſchordnung. Dieſe iſt nun ſtets in zwei Theile getrennt. Der erſte iſt die eigentliche Löſchordnung, die Ordnung der Thätigkeit beim Löſchen. Dieſe ent - hält wieder die öffentliche Feuerwache, mit der Organiſation der Löſchmannſchaft, die wiederum in großen Städten ein eigenes Corps bildet, während in kleinen Orten an ihre Stelle die bürgerliche Feuer - wehr tritt, welche in neueſter Zeit höchſt zweckmäßig durch die Turner - vereine erſetzt wird; und die Löſchpolizei, welche die öffentliche (Straßen -) Ordnung beim Löſchen enthält. Den zweiten Theil bildet das Rettungsweſen, das durch die große Entwicklung der Städte zu einer ſelbſtändigen Technik ausgebildet worden iſt und Großes leiſtet. Hätten wir eine tüchtige adminiſtrative Statiſtik, ſo würde es möglich ſein, die Ergebniſſe dieſer Ordnungen im Verhältniß zur Dichtigkeit der Bevölkerung zu conſtatiren und dadurch ein Maß für ihren Werth zu bekommen.

Urſprung aller Feuerordnungen in den alten Stadtrechten, ſchon im dreizehnten Jahrhundert, wenn auch nur noch in Beziehung auf die Elemente der Feuerpolizei. Das Löſchweſen gehört hauptſächlich dem achtzehnten Jahr - hundert an. Feuerordnung für Berlin von 1727 bei Juſti I. 247 ff. ſchon als Muſter aufgeſtellt. Die Feuerordnungen des vorigen Jahrhunderts ent - halten daher ſchon alle weſentlichen Punkte dieſes Syſtems: vergl. Berg a. a. O. und Mohl ebend. Preußen: Landesfeuerordnungen ſeit 1720 bei Rönne, Staatsrecht II. 365. Oeſterreich: Landesfeuerlöſchordnungen ſeit 1782 (Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 257). Württemberg: die Stuttgarter Feuerordnung von 1703 wird zur allgemeinen Landesfeuerordnung im achtzehnten Jahrhundert (Mohl, Württemb. Verwaltungsrecht I. §. 253). Neueſte ausführliche Feuerlöſchordnung vom 20. Mai 1808 und Feuerpolizei - ordnung vom April 1808. Genau bei Roller, Württemb. Polizeirecht §. 352 405. Uebrigens iſt die Feuerordnung von Breslau 1630 (ſelbſt ſchon Reviſion) wieder das Muſter der Berliner. Bayern: Pötzl, Verwaltungsrecht §. 125. (Locale Entwicklung).

Die Literatur des vorigen Jahrhunderts ſchon bei Berg; dann bei Mohl; ſie iſt ihrer Natur nach faſt ausſchließlich techniſch. Ueber Frankreich: Geſetz vom 24. Aug. 1790, welches die ganze Feuerordnung unter den amt - lichen Maire ſtellt; ſpecielle Entwicklung in den großen Städten (vergl. Block, Dict. v. Incendie und Sappeurs-Pompiers.

England: Neueſte Feuerpolizei: 24. 25. Vict. 130 (1861) Auſtria 1864 p. 41.

II. Das Waſſerrecht.
Begriff und Syſtem.

Das Waſſerrecht beruht in Begriff und Inhalt darauf, daß das Waſſer für das Geſammtleben eine doppelte Natur hat. Es iſt erſtlich154 fähig, Gegenſtand des Privateigenthums zu ſein. Es hat aber zweitens vermöge ſeiner Natur die Beſtimmung, als ein allgemeines Element des geſammten perſönlichen und wirthſchaftlichen Lebens zu dienen. Daraus entſtehen die beiden naturgemäßen großen Theile der Bildung des Waſſerrechts, die wir demnach das Privatrecht und das öffent - liche Recht des Waſſers nennen. Das letztere beruht darauf, daß das Waſſer in allen Formen als Bedingung der perſönlichen und wirth - ſchaftlichen Entwicklung Gegenſtand der Verwaltung und daß ſein öffentliches Recht daher unbedingt ein Theil des Verwaltungsrechts iſt. Und die Geſammtheit derjenigen Beſtimmungen, Anſtalten und Thätig - keiten, vermöge deren die Verhältniſſe des Waſſers in der Weiſe im allgemeinen Intereſſe geordnet werden, daß daſſelbe alle Bedin - gungen der Entwicklung des phyſiſchen und wirthſchaft - lichen Lebens eines Volkes erfüllt, welche zu erfüllen es fähig iſt, nennen wir das Waſſerweſen.

So einfach nun auch dieſe Begriffe an ſich ſind, ſo iſt es dennoch die Aufgabe von Jahrhunderten geweſen, die erſte Vorausſetzung alles Waſſerverwaltungsrechts, die Gränze zwiſchen dem Privat - und öffent - lichen Recht des Waſſers feſtzuſtellen. Der Kampf zwiſchen beiden bildet die Geſchichte des Waſſerrechts. Erſt nachdem derſelbe nach den heftig - ſten Bewegungen beendet iſt, iſt das heutige Syſtem in ſeinen Grund - lagen, wenn auch noch nicht in ſeiner Form, dafür anerkannt worden.

Elemente der Geſchichte des Waſſerrechts.

Die Geſchichte des Waſſerrechts muß demnach vom höheren Stand - punkt aufgefaßt werden als derjenige Proceß, durch welchen die Idee des volkswirthſchaftlichen Waſſerweſens ſich gegenüber dem (bürgerlichen), privaten und ſtändiſchen Waſſerrecht und ſeinen Waſſerordnungen Gel - tung verſchafft.

Ein Waſſerweſen kann überhaupt erſt da entſtehen, wo das wirth - ſchaftliche Leben des Volkes Zuſtände und Unternehmungen entwickelt, für welche Gebrauch und Verwendung des Waſſers zu unabweisbaren Bedingungen werden, ſo weit es ſich nicht um örtlichen Waſſerſchutz handelt. So lange das nicht der Fall iſt, erſcheint das Waſſer im Rechtsleben eines Volkes überhaupt nicht. Es entwickelt ſich deßhalb ſtets erſt da, wo das Privateigenthum an Waſſer mit dem öffentlichen Gebrauch deſſelben in Gegenſatz tritt. Sein erſter und naturgemäßer Inhalt iſt deßhalb ſtets die Beſtimmung der Gränze zwiſchen dem Privat - und öffentlichen Waſſer, ſeine erſte Aufgabe, den Gebrauch des als öffentlich anerkannten Waſſers vor den Eingriffen der Einzelnen zu ſchützen (Waſſerrecht und Waſſerpolizei). Dieß iſt der Standpunkt155 des römiſchen Rechts. Der leitende Gedanke deſſelben iſt dabei, daß das Waſſer, wenn es nicht ausdrücklich als öffentlich anerkannt iſt, Acceſſorium des Grundes und Bodens ſei. Mit dieſem Princip tritt es in die germaniſche Rechtsbildung. Hier traf es zuſammen mit dem Princip der Grundherrlichkeit einerſeits und der Lehenshoheit anderer - ſeits. Aus dem erſten entwickelt ſich der Gedanke, daß auch das fließende Waſſer Eigenthum des Grundherrn ſei, ſo weit ſein Grund - beſitz reicht; aus dem zweiten der Grundſatz, daß auch dieſes Recht unter der Hoheit des oberſten Lehnsherrn ſtehe, dem vermöge ſeiner Lehnshoheit daher alles fließende Waſſer, auch die Flüſſe, Ströme, ja die Meere unterſtehen. Das erſte erzeugt dann das grundherr - liche (germaniſche) Waſſerrecht, deſſen Princip es iſt, den an ſich öffent - lichen Gebrauch des fließenden Waſſers zum Privateigenthum der herr - ſchaftlichen Grundbeſitzer des Ufers zu machen. Das zweite erzeugt dagegen den Gedanken des Waſſer-Regals, der hier wie immer zuerſt das bloße Obereigenthum bedeutet, aber mit dem ſechzehnten und ſiebenzehnten Jahrhundert ſich zu der Idee erhebt, daß der König oder die Krone vermöge dieſes Regals nicht bloß den Rechtstitel, ſondern auch die Pflicht habe, das Waſſerweſen im öffentlichen Intereſſe durch ſeine Beſtimmungen zu ordnen. So entſtehen jetzt drei Richtungen; die erſte behandelt das Waſſer als Eigenthum (römiſches Recht), die zweite als grundherrliches Recht (deutſches Privatrecht), die dritte als öffentliches Recht (Waſſerregal als Hoheit im jus publicum), die ſich gegenſeitig kreuzen und verwirren. Daraus ergibt ſich denn ſchon im ſiebenzehnten Jahrhundert das Bedürfniß, dieſen Zuſtand durch ein einheitliches Waſſergeſetz zu ordnen. Den erſten Verſuch macht Frankreich, dem im achtzehnten Jahrhundert mehrere deutſche Staaten folgen. Allein eine feſte Ordnung entſteht nicht, und zwar deßhalb nicht, weil dieſe Waſſergeſetzgebungen das Princip des grundherrlichen Waſſerrechts beſtehen laſſen und dadurch ihr Hauptobjekt, gerade die kleinen fließenden Gewäſſer, verlieren, die nach wie vor mit ihrem an ſich öffentlichen Gebrauch Gegenſtand des Privateigenthums und Privat - rechts bleiben. Auch in unſerem Jahrhundert bleibt man lange Zeit in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft bei dieſem Standpunkt und all ſeiner Ver - wirrung ſtehen, welche er in Auffaſſung und Folgerung mit ſich bringt. Erſt in dem letzten Jahrzehent tritt das wahre Verſtändniß ein, welches als Grundlage des Waſſerweſens der Zukunft anerkannt werden muß und deſſen Inhalt ſich in drei Punkten zuſammenfaſſen läßt.

Es gibt nicht bloß ein Privateigenthum am Waſſer, ſondern es kann auch ein hiſtoriſch erworbenes Privatrecht an dem öffentlichen Gebrauch deſſelben geben. Das iſt das Waſſerrecht.

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Die Verwaltung hat dagegen die Aufgabe, das Waſſerweſen in jeder Rückſicht ſo zu ordnen, daß das Waſſer alle Bedingungen der allgemeinen Entwicklung erfüllt, zu denen es vermöge ſeiner Natur fähig iſt. Das iſt die Waſſerverwaltung.

Tritt zwiſchen dieſem Princip der Verwaltung und dem obigen des Privatrechts ein Widerſpruch ein, ſo hat die Verwaltung das letz - tere wie jedes andere Privateigenthum zu entwähren. Das iſt die Enteignung des Waſſerrechts.

Die Anwendung dieſer Grundſätze auf das Waſſerweſen ergibt nun das folgende Syſtem.

Den Ausgangspunkt für Wiſſenſchaft und Geſetzgebung des Waſſerweſens bildet die Ordonnance des Eaux et forêts von 1699, welche zuerſt die Grenze zwiſchen dem hiſtoriſchen Waſſerrecht der Grundherrlichkeit und dem neuen Recht der Verwaltung des Waſſers zum ſyſtematiſchen Ausdruck bringt, und bereits alle Punkte enthält, welche das ganze Waſſerweſen des ſiebzehnten und acht - zehnten Jahrhunderts bilden. Sie formulirte den die Geſchichte des letztern beherrſchenden Gegenſatz zwiſchen dem grundherrlichen und öffentlichen Waſſer - recht in der Beſtimmung desjenigen, was zum domaine de la Couronne und was zur justice seigneuriale gehört, und bildet dafür die dauernde Grundlage bis zur Revolution. In Deutſchland kam es zu keiner ſelbſtändigen Geſetzgebung, da es keine einheitliche Staatsgewalt gab, welche der Idee der Waſſerverwaltung gegenüber dem hiſtoriſchen Rechte ihren Ausdruck zu geben vermochte. Die Literatur beſchränkte ſich daher darauf, das beſtehende Recht in drei Formen zu verfolgen die reinen Grundbegriffe des Waſſerrechts in der Interpretation der betreffenden Titel der Digeſten, die örtlichen Gerechtſame der Grundherrlichkeit in den verſchiedenen Bearbeitungen des deutſchen Privat - rechts, und endlich das ſtaatliche Verwaltungsrecht und ſeinen Inhalt in der Lehre vom Waſſerregal. Erſte Hauptbearbeitung: A. Fritſch, Jus fluviati - cum, 1672; letzte und gründlichſte Cancrin, Abhandlungen vom Waſſerrecht 1789 1800. 4. Bde. Vom Regal zur Idee des Verwaltungsrechts gelangt man jedoch noch nicht, vergl. Berg, Polizeirecht III. S. 76 ff. Quellen und Ueber - ſicht der Geſchichte des Waſſerregals nebſt Literatur ſ. Mittermaier, deutſches Privatrecht I. 222. Auch die Geſetzgebung kommt nicht weiter. Die öſterreichi - ſche Strompolizeiordnung von 1770 iſt eigentlich eine Schifffahrtsord - nung für die Donau; an dieſelbe ſchließen ſich bis auf die jüngſte Zeit eine Reihe von Strompolizeiordnungen für die einzelnen Ströme (bei Stubenrauch I. §. 224), erſt in den neueſten Beſtrebungen für eine einheitliche Waſſergeſetz - gebung. Ueberdieß beginnt namentlich die preußiſche Geſetzgebung ſchon neben dem Deichrecht auch die eigentliche Waſſerverwaltung, Ent - und Bewäſſerung zu ordnen. Erſtes Edict 1704; folgende bei Nieberding, Waſſerrecht und Waſſerpolizei im preuß. Staate 1866. S. 10 ff. Doch bleibeu dieſe Beſtim - mungen localer Natur. Erſt in unſerem Jahrhundert beginnt ein allgemeines Verſtändniß. Beginn: die franzöſiſche Verbindung des Waſſerrechts mit der157 Landwirthſchaftspflege: Decret vom 28. Sept. 1791 (Code Rurale): Laferrière, Droit adm. I. 1. 5; das Verwaltungsrecht iſt hier ſchon entſchieden dem Privat - recht untergeordnet. Preuß. Allgem. Landrecht, Theil I. 8; folgende Ver - ordnung dieſes Jahrhunderts bei Nieberding, Anhang. Unterdeſſen aber halten ſowohl das römiſche Recht als das deutſche Privatrecht an dem Privat - eigenthum feſt, und jetzt beginnen ſich die Begriffe zu verwirren, da ſie nun - mehr durch die neue Bewegung der Geſetzgebung in engſte Berührung geſetzt werden. Die Nothwendigkeit einer neuen Auffaſſung des ganzen Gebietes wird klar, und die geſetzlichen Beſtimmungen treten in raſcher Folge in allen deut - ſchen Staaten auf und ſo entſtehen die Elemente des Syſtems des Waſſerrechts unſerer Gegenwart, in denen Deutſchland entſchieden ſowohl England als Frank - reich voraus iſt.

A. Das Privatwaſſerrecht.

Um zu einem durchgreifenden Begriff des Privatwaſſerrechts zu kommen, muß man die Unterſcheidung des Waſſers als begränzte Subſtanz und des Waſſers als bewegende Kraft oder des fließen - den Waſſers zum Grunde legen. Alles Waſſer kann in beiden Be - ziehungen Gegenſtand des Privateigenthums ſein; nur hat das letztere in beiden Fällen einen weſentlich verſchiedenen Inhalt.

Die Bedingung dafür, daß das Waſſer ſeiner Subſtanz nach Privateigenthum ſei, iſt die, daß es ein begränztes und damit be - ſtimmtes Quantum bilde. Daher ſind von dieſem Eigenthum aus - geſchloſſen nicht bloß die Meere und Seen, ſondern auch das fließende Waſſer. Iſt aber eine beſtimmte Waſſermenge eine Sache und damit ein Eigenthum, ſo folgt, daß auf daſſelbe ganz einfach alle Grundſätze des Eigenthums angewendet werden. Es gibt für daſſelbe Erwerb und Verluſt, Beſitz und Tradition, Servituten, Pfandrecht, Verjährung und die Grundſätze der Culpa, des Schadens und Schadenerſatzes ganz nach der lex Aquilia. Das Syſtem dieſer Anwendung des Privat - rechts auf das Waſſer bildet dann das Syſtem des Waſſereigen - thumsrechts. Und hier wie im ganzen Eigenthumsrecht iſt es das römiſche Recht, welches die Quelle dieſes Rechtsſyſtems zu bilden hat.

Wo aber ein fließendes Waſſer vorhanden iſt, da iſt durch die Natur deſſelben das Eigenthum an der Subſtanz ausgeſchloſſen. Das Objekt des Rechts iſt bei fließendem Waſſer nur der Gebrauch deſſelben. Dieſer Gebrauch iſt ferner naturgemäß nicht ein Recht eines Einzelnen, ſondern das Recht kann ſich immer nur auf einen beſtimm - ten und begränzten Gebrauch beziehen. Es iſt kein Zweifel, daß ein ſolcher Gebrauch auch von einem Einzelnen erworben werden und als Eigenthum deſſelben angeſehen werden kann. Iſt das der Fall, ſo ge - hört ein ſolcher Gebrauch zu den unbeweglichen Gütern, und es iſt158 durchaus rationell, denſelben mit dem Grundſtück, dem er angehört, auch in die Grundbücher eintragen zu laſſen und ihm damit das Recht des Grundbuchs in Beziehung auf Eigenthum und Beſitz zu geben. Die Natur dieſes Gebrauches bringt es dann mit ſich, daß er ſelbſt den bereits von einem Andern erworbenen Gebrauch an demſelben Waſſer nicht ſtöre und ausſchließe. Iſt er aber erworben, ſo gilt für ihn wie für jedes erworbene Recht der Grundſatz, daß wenn das öffent - liche Intereſſe eine Aufhebung jenes Rechts fordert, dafür die Enteig - nung nach den allgemeinen Grundſätzen einzutreten hat. An das Eigenthum und das Grundbuch des fließenden Waſſers ſchließt ſich daher das Princip der Waſſerenteignung. Alle dieſe Sätze ſcheinen klar zu ſein.

Fraglich wird das Syſtem des Privatwaſſerrechts nur da, wo das fließende Waſſer der Art iſt, um neben dem Einzelgebrauch auch einen öffentlichen Gebrauch zuzulaſſen. Offenbar iſt ein jedes Waſſer, welches für alle einen Gebrauch zuläßt, ſeiner Natur nach unfähig, ein Privateigenthum zu werden. Das iſt der Begriff des flumen publi - cum des römiſchen Rechts, den die germaniſche Rechtsbildung dahin beſtimmte, daß die ſchiff - und flößbaren Waſſer öffentliches Eigen - thum ſeien und als ſolche dem öffentlichen Waſſerrecht unterſtehen. Dieſer an ſich einfache Satz wird nun durch das Princip der Grund - herrlichkeit gebrochen, indem dieſelbe aus dem Obereigenthum an dem ganzen Ufer das Eigenthumsrecht auch an dem öffentlichen Gebrauche des Waſſers ableitete. Das iſt das Rechtsprincip des grundherr - lichen Waſſerrechts, deſſen Inhalt und Entwicklung dann das deutſche Privatrecht gegeben hat.

Die Geſchichte des Waſſerrechts zeigt nun den Kampf und Sieg der Idee des öffentlichen Intereſſes mit dieſem grundherrlichen Waſſer - recht zuerſt in der Idee des Waſſerregals, und dann in der ſeit dem ſiebenzehnten Jahrhundert entſtehenden Waſſergeſetzgebung. Der ſchließliche Inhalt dieſer Bewegung iſt der Uebergang aller eigent - lich grundherrlichen Waſſerrechte an die Verwaltung. Auf dieſe Weiſe haben ſich mit dem neunzehnten Jahrhundert die beiden Kategorien des Privat - und des öffentlichen Waſſerrechts der Sache nach feſtgeſtellt, wenn auch in der theoretiſchen Form namentlich dadurch viel Unſicher - heit hineingekommen iſt, daß entweder das römiſche Recht mit ſeinen Begriffen, die es höchſtens bis zur Waſſerpolizei bringen, für die ganze Lehre vom Waſſerrecht zum Grunde gelegt, oder das deutſche Privat - recht, das nur hiſtoriſche Rechtsbildungen kennt, als einfacher und unerkannter Gegenſatz des römiſchen Rechts angenommen wurde. So wie aber die Verwaltungslehre ihren Platz findet, ſo ergibt ſich ſofort,159 daß weder das eine noch das andere dieſer Rechte fähig und beſtimmt iſt, das ganze Waſſerrecht zu beherrſchen, ſondern daß man ſie, will man nicht alle Begriffe verwirren, auf die beiden Fragen nach dem Eigenthum an Subſtanz und begränztem Gebrauch des Waſſers be - ſchränken muß, während das zweite große Gebiet, das öffentliche Waſſer - recht, einzig und allein der Verwaltungslehre angehört.

Die Geſchichte der Literatur des Waſſerrechts von dieſem Standpunkt dem Verſuche ſich von der ungenügenden privatrechtlichen Theorie des römiſchen und deutſchen Rechts loszumachen, ohne daß man doch zu einem feſten Reſultate gelangt wäre, ſind ſehr intereſſant und einer eigenen Darſtellung werth. Vergl. darüber Mittermaier, deutſches Privatrecht I. §. 222 nebſt Literatur; in neuer Zeit namentlich die ſchöne Arbeit von Ubbelohde a. a. O. Schenk, die Waſſerrechtsfrage 1860 und Stein, die Waſſerrechtslehre, in Haimerls Magazin Bd. XVIII. H. 2. In der Literatur Frankreichs iſt der Streit dem deutſchen ganz gleich: ſchon Pothier (Traité de la propriété 1784; Proudhon, Domaine public III. 947; Championnière, Eaux courants; Laferrière, Droit administr. L. I. P. I. T. VI. p. 703) ſagt ſchon ſehr gut: l’usage est un démembrement de la propriété et par conséquent il suppose la propriété. Die Polizeiwiſſenſchaft läßt die Frage ganz beiſeite. Da - gegen die Enteignung ſtets richtig behandelt im Sachſen-Altenb. Geſetz I. III.

B. Das öffentliche Waſſerrecht. Begriff und Weſen.

Das öffentliche Waſſerrecht beginnt demnach da, wo der Gebrauch eines Waſſers vermöge ſeiner Natur nicht mehr durch die Subſtanz begränzt, ſondern ein allgemeiner iſt. Hier tritt die höhere Natur des Waſſers ein; es wird aus einem Gegenſtand des Privatrechts ein Ge - genſtand der inneren Verwaltung, und das leitende Princip dieſes Rechts iſt, diejenigen Ordnungen zu treffen, vermöge deren das Waſſer der Geſammtheit alle die Dienſte leiſtet, welche zu leiſten es fähig und beſtimmt iſt.

Das öffentliche Waſſerrecht empfängt nun ſein Syſtem dadurch, daß eben jedes der Grundverhältniſſe, in denen es dem allgemeinen Bedürfniſſe entgegenkommt, ſelbſtändiger Gegenſtand einer eigenen Ver - waltungsthätigkeit und damit Rechtsbildung wird. Daſſelbe iſt daher nicht ein abſtraktes Syſtem der Theorie, ſondern ein praktiſches des wirklichen Lebens. Seine Gebiete ſind der Waſſerſchutz, und die recht - liche Ordnung des Waſſerweſens für die Geſundheit, die Verkehrs -, die gewerblichen und die landwirthſchaftlichen Zwecke. Die Waſſer - polizei iſt der Schutz gegen die Störungen dieſer Ordnungen auf jedem Punkte und daher kein eigenthümliches Gebiet. Der Geſichts -160 punkt für die Behandlung dieſer Fragen darf aber nicht der des Privat - rechts, ſondern muß der des öffentlichen Intereſſes ſein. Erſt das neunzehnte Jahrhundert hat nun dieſen Grundſatz durchgehend aner - kannt, und ſo ſind die Ausführungen deſſelben, die Waſſergeſetz - gebungen entſtanden, die mit mehr oder weniger Klarheit und Ein - heit die Codifikationen des Waſſerrechts unſerer Gegenwart bilden, und deren Inhalt ſich demgemäß in die folgenden Gebiete auflöst.

England hat keine vollſtändige Waſſergeſetzgebung, ſondern von jeher einzelne Parlamentsbeſchlüſſe, die dann in der erſten Waterworks-Clauses Act von 1847 und dann in der neuen Waterworks-Clauses Act 26. 27. Vict. 93 zuſammengefaßt ſind, ſich aber weſentlich auf die Baulichkeiten für das Waſſer bezieht. Vergl. Gneiſt, Verwaltungsrecht II. 737 ff. Daneben ſpecielle Akte; ſ. unten. Frankreich hat in ſeiner großen Ordonnance de la marine vom Auguſt 1681 die allgemein gültigen Beſtimmungen für das öffentliche Waſſer - recht des Meeresufers aufgeſtellt; eine einheitliche Waſſergeſetzgebung entbehrt es (vergl. Laferrière, Dr. publ.). P. 1. Tit. 4. Die Grundlage des eigentlichen Waſſerrechts iſt dagegen die große Ordonnance des eaux et forêts vom Aug. 1669. Deutſchland zeichnet ſich durch reiche und zum Theil ausgezeichnete Ge - ſetzgebungen aus, zum Theil in den allgemein bürgerlichen Geſetzbüchern, wie im Allgem. Landrecht II. 15. 62; dann in eigenen Geſetzen bis 1856 geſammelt von Glaß: die waſſerrechtliche Geſetzgebung. Die Literatur darüber bei Ubbe - lohde und Nieberding S. 23, 24. Das bayeriſche Waſſerrecht von 1852 erläutert von Pözl, bei Dollmann. Heſſen-Darmſtadt: Waſſer - rechtsgeſetz von 1853 und 1858. Lübeck: Waſſerlöſungsordnung vom 2. Dec. 1865. Das rationellſte Geſetz iſt das Sachſen-Altenb. Waſſerrecht, Geſetz vom 18. Okt. 1865. Ueber das preußiſche Waſſerrecht außer Nieberding a. a. O. Rönne und Lette, Landw. Culturgeſetzgebung Bd. III. Das neueſte öſterreichiſche, kaum genügende Geſetz vom 30. Mai 1869.

a) Der Waſſerſchutz und Waſſerbau.

Der Waſſerſchutz iſt diejenige Ordnung der Verwaltung, welche der elementaren phyſiſchen Gewalt des Waſſers und ihren zerſtörenden Wirkungen entgegentritt. Der Waſſerſchutz iſt urſprünglich wie die Waſſergefahr örtlich. Es iſt zuerſt dem Einzelnen überlaſſen; dann wird es Gegenſtand der Selbſtverwaltung, und daraus bildet ſich das Deich - und Dammweſen und ſeine Organiſation; erſt mit dem achtzehn - ten Jahrhundert tritt die Staatsverwaltung thätig hinzu, und ſo ent - ſteht die große techniſche Organiſation, welche wir das Waſſerbau - weſen nennen. Grundlage deſſelben iſt, daß die allgemeinen techniſchen Vorſchriften von der Regierung, die rechtlichen Beſtimmungen nament - lich über die Waſſer laſt oder die Vertheilung der Koſten von der Geſetz - gebung, der wirkliche Waſſer bau dagegen von den Deichverbänden161 unter techniſcher Leitung und Oberaufſicht ausgehen. Bei hoher ört - licher Wichtigkeit der Sache fehlt natürlich die allgemeine Bedeutung der Sache. Daher auch die ſehr ungleichmäßige Behandlung derſelben.

Ueber das alte Deichrecht und die Deichverbände in jedem deutſchen Privatrecht vergl. für die neuere Zeit Gierke, Genoſſenſchaftsrecht §. 587. Mittermaier, deutſches Privatrecht I. §. 223 226. Beſeler, deutſches Privatrecht §. 198. Entſtehung der verwaltungsrechtlichen Behandlung im vorigen Jahrhundert vergl. Berg, Polizeirecht III. 2. 8. Neue Zeit: Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 124. Specielle Geſetzgebung vergl. Nieberding a. a. O. S. 208 243. Ubbelohde S. 4 6. Roller, württembergiſches Polizeirecht S. 103. 206. Hannover: Deichordnung vom 2. März 1864. Oeſterreich: örtliche Vorſchriften, die aber analog angewendet werden bei Stubenrauch I. §. 258. Bayern: Hauptgeſetz für den Uferſchutz vom 28. Mai 1852. Mayer, Verwaltungsrecht S. 172. Pözl, Verwaltungs - recht. Das engliſche Recht iſt nicht ausgebildet. Das franzöſiſche Deich - recht iſt geordnet durch Geſetz vom 14. Flor. XI. und Geſetz vom 16. Sept. 1807. Hier ſind die erſten Associations syndicales in Frankreich entſtanden. Vergl. Block, Art. Endiguement. Neueſtes Geſetz über die Associations syndicales bei Waſſerbauten vom 21. Juli 1865.

b) Die Waſſerverſorgung.

Die Waſſerverſorgung das Waſſerrecht der Geſundheitspflege bei den Alten hoch ausgebildet, gehört für unſere Epoche erſt der neueſten Zeit. Sie hat aus naheliegenden Gründen einen weſentlich localen Charakter, und iſt bisher mehr auf das Bedürfniß als auf die Geſundheitspflege berechnet. Eigentliche Geſetzgebungen gibt es dafür nicht; es wird ſolche erſt dann geben, wenn die öffentliche Geſundheits - pflege dieſe erſte Bedingung aller Geſundheit nicht mehr dem zufälligen Verſtändniß der einzelnen Gemeinden überläßt. Die bisherigen Waſſer - verſorgungen haben mehr den Charakter von Unternehmungen als den von öffentlichen Anſtalten. Das wird in der Zukunft anders werden.

Mangel der Berückſichtigung in den Geſetzgebungen. In England jedoch ſchon in der Waterworks Clauses Act ausführlich berückſichtigt. Sonſt nur ein - zelne theils ſicherheitspolizeiliche und hygieniſche Beſtimmungen in den Strom - und Waſſerpolizeiordnungen. Das Ganze iſt grundſätzlich, aber nicht rationell, Sache der Gemeindeverwaltungen.

c) Die Waſſertriebkraft.

Die Triebkraft des Waſſers bildet den Punkt, wo ſich das Privat - und das öffentliche Waſſerrecht in der germaniſchen Welt, vorzugweiſe aber in dem bergigen Deutſchland am engſten berühren, während dasStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 11162Gebiet in dem flachen England und ſelbſt in Frankreich nahezu fehlt. Das Recht deſſelben hat zwei Epochen. Die erſte iſt die grundherr - liche, in der der Grundherr als Eigenthümer auch des fließenden Waſſers auftritt; daher Recht auf Anlage von Mühlen ꝛc. als Perti - nenz der Grundherrſchaft. Die zweite beginnt mit dem achtzehnten Jahrhundert ſich klarer zu bilden, erſcheint jedoch noch weſentlich als Recht der beſtehenden Waſſergewerke, namentlich der Mühlen; daher erſchöpft ſich das Recht in den Mühlwaſſerordnungen, die dem römi - ſchen Recht ganz unbekannt ſind, mit Vorfluths -, Staurecht, Wehrrecht und anderen Punkten. Dadurch Verbindung mit gewiſſen Servituten, und daran ſich knüpfend eine große Jurisprudenz, welche noch immer alle Fragen aus dem einſeitigen privatrechtlichen Geſichtspunkt be - handelt.

Vergl. das betreffende Recht für Preußen bei Nieberding a. a. O. Letzte preußiſche Mühlordnung vom 15. Nov. 1811. Oeſterreich: Stand - punkt der Verleihung von Waſſergefällen (niederöſterreichiſche Verordnung vom 28. Febr. 1858; Stubenrauch I. S. 258).

d) Die Waſſerverkehrswege.

Die zweite große Form des Gebrauchs des Waſſers iſt die der Waſſerverkehrswege. Der einfache Grundſatz, daß ein Gewäſſer welches die Fähigkeit hat, als Verkehrsweg benützt zu werden, auch der Geſammtheit gehöre, entſteht mit dem Verkehr ſelbſt, und iſt daher dem römiſchen Recht wie dem älteſten deutſchen Recht ein unbezweifeltes Princip. Die Entſtehung der Grundherrlichkeit hat nun dieſen Grund - ſatz ſeit dem Mittelalter wieder in Zweifel geſtellt, die Benützung der Waſſerſtraßen als ein Recht der erſteren, und vermöge derſelben Zoll - und Wegegeld von der Flußſchifffahrt gefordert. Der Kampf gegen dieſen verderblichen Grundſatz erſcheint dann in der Regalität des Waſſers. Dieſelbe wird in verſchiedener Weiſe ausgedrückt, enthält aber zunächſt und urſprünglich nur den negativen Gedanken, daß alle ſchiffbaren Ströme und Flüſſe, als Eigenthum der Krone, nicht der Grundherrlichkeit angehören. In dem theils theoretiſchen, theils prak - tiſchen Kampf um das Princip erſchöpft ſich dann das achtzehnte Jahr - hundert; doch gelangt daſſelbe ſchon zu den allgemeinen Strom - und Flußpolizeiordnungen, welche zugleich Schifffahrtsordnungen ſind, während für die kleineren fließenden Gewäſſer wieder die Leinpfade - ordnungen und das Flößerrecht, obwohl meiſt örtlich entſtanden, dennoch gleichfalls den Gedanken des allgemeinen Rechts an jedem ſchiffbaren Gewäſſer in ihrem Gebiete durchführen. Aber erſt das neunzehnte Jahrhundert gelangt zu einer größeren Auffaſſung. Während163 in dem achtzehnten Jahrhundert die ſchiffbaren Gewäſſer noch immer den Charakter örtlicher Verkehrswege haben, erſcheinen dieſelben im neunzehnten Jahrhundert ſchon als Verkehrswege der allgemeinen Handelsbewegung. Die Verwaltung fängt daher jetzt an, unmittelbar für dieſelben thätig zu ſein. So entſtehen zuerſt die Canalbauten einerſeits, und die Strom - und Flußregulirungen andererſeits. Aber auch ſie ſind zunächſt nur als Aufgaben der angränzenden Länder aufgefaßt; den Ausdruck dieſes Princips bilden theils die Privilegien für beſtimmte Schifffahrtsgeſellſchaften, theils die Belegung fremder Schiffe mit beſonderen Abgaben. Erſt die Mitte unſeres Jahrhunderts ſtellt ſich auf den Standpunkt, die großen ſchiffbaren Ströme als Theil des Meeres zu betrachten; und ſo bricht ſich der Gedanke der vollen Verkehrsfreiheit Bahn, der theils in der Aufhebung der noch be - ſtehenden Stromzölle, wie auf Rhein und Elbe, theils in der unbe - ſchränkten Zulaſſung fremder Dampfſchifffahrtslinien, wie auf der Donau, theils in großen internationalen Stromarbeiten wie an der Sulinamündung, theils in nicht minder bedeutenden Weltcanalbauten, wie der Suezeanal ſeinen großartigen Ausdruck findet. Hier reicht das Waſſerrecht dem Schifffahrtsweſen die Hand, und das Princip der Ge - meinſchaft des Verkehrslebens von ganz Europa erringt einen neuen, hochbedeutenden Sieg über Grundherrlichkeit und Partikularismus der früheren Epochen.

Zuerſt und am klarſten iſt das Princip der Unterordnung aller ſchiffbaren Flüſſe geſetzlich ausgeſprochen in der Ord. des eaux et forêts 1669: toutes les eaux portants bateaux de leur fonds sont domaine de la Couronne. Stein bei Haimerl a. a. O. Laferrière, Droit publ. I. 1. Tit. 4. (Geſchichte.) Ueber die Entwicklung des deutſchen Rechts Mittermaier, deutſches Privat - recht I. §. 221. 222 nebſt Literatur. Oeſterreichs Strompolizeiordnung von 1770. (ſ. oben). Preuß. Allgem. Landrecht I. 8 und 22 und das Geſetz über die Benützung der Privatflüſſe vom 28. Febr. 1843. Vergl. Nieberding a. a. O. und Glaß. Alte Rhein - und Elbzölle Klüber, Oeffentliches Recht §. 568 ff. mit all den früheren Beſtimmungen auch über Main, Neckar, Moſel, Maas und Schelde als internationale Verträge. Elbzölle ſpeciell: Aktenſtücke und Nachweiſe 1860. Freiheit der Donau 1859. Befreiung von den Elbzöllen in Ausſicht geſtellt (Norddeutſche Bundesverfaſſung Art. 54). Convention über internationale Schifffahrt auf dem Pruth von 1869.

e) Das Waſſerrecht der Landwirthſchaft.

Das was wir das Waſſerrecht der Landwirthſchaft nennen, ent - ſteht endlich da, wo die Fähigkeit des Waſſers der Produktion, na - mentlich in der Landwirthſchaft zu dienen, nicht mehr der Einzelthätig - keit überlaſſen, ſondern Gegenſtand der Verwaltung wird. Nach dem164 Weſen der letzteren kann dieß nur da der Fall ſein, wo der Einzelne nicht mehr im Stande iſt, auf Grundlage einzelner Kräfte und Rechte dieſe Fähigkeit des Waſſers auszunutzen. Die Vorausſetzung dafür iſt ein höheres Verſtändniß der produktiven Qualitäten des Waſſers. Der Zweck iſt die möglichſt allgemeine Verwerthung dieſer Qualitäten. Der Organismus dafür iſt vermöge der örtlichen Natur des Waſſers, weſent - lich das Vereinsweſen in der Geſtalt der Waſſerverbände. Das Recht derſelben enthält einerſeits die Aufſtellung der Principien für die Ordnung dieſer Waſſerkörperſchaften und ihrer Verwaltungsthätig - keiten, andererſeits die Durchführung der Enteignung für die Zwecke derſelben. Die beiden Hauptgebiete ſind die Entwäſſerung, zu einem ſpeciellen Rechtsverhältniß ausgebildet durch das Drainirungs - ſyſtem, und die Bewäſſerung in ihren verſchiedenen Formen. Die Grundſätze, nach denen beide anzulegen und zu betreiben ſind, gehören der Landwirthſchaftslehre; die Waſſerverwaltung hat nur die rechtlichen Bedingungen herzuſtellen, welche die Vorausſetzung für beide bilden. Hier tritt daher die Thätigkeit des Staats hinter die des Einzelnen zurück, und Verſtändniß und Energie der Vereine und der Individuen übernehmen die Aufgabe, das Waſſer zu einem integrirenden Elemente des produktiven Lebens der Volkswirthſchaft zu machen.

Das nun ſind die drei Hauptgebiete der Waſſerverwaltung. Ge - ſchichtlich ſucceſſiv entſtanden, und örtlich ſehr verſchieden ausgebildet, ſind ſie dennoch ſtets alle zugleich in jeder Verwaltung gegenwärtig und thätig; ſie ſind ein Ganzes, und müſſen als ſolches aufgefaßt und erkannt werden.

Die Epoche der Strompolizei und des Waſſerordnungsrechts kennt geſetz - lich noch das Gebiet nicht. Doch iſt bei Juſti I. §. 37. 80 die Entwäſſerungs - lehre techniſch ſchon verarbeitet. Die Ent - und Bewäſſerungsgeſetzgebung hat ihre örtliche Heimath aus phyſiſchen Gründen in der Lombardei und Holland (Waterſtaat). Anfang für Deutſchland im achtzehnten Jahrhundert in Preußen mit Edikt von 1704; die folgenden Verordnungen bei Nieberding S. 10 ff. In unſerem Jahrhundert ward ſie ein integrirender Beſtandtheil aller Waſſer - geſetzgebung; Geſetze bei Glaß, Waſſerverordnungen. Geſetzgebung; Preußen: bei Nieberding S. 91 116 und 122 170. Lette und Rönne Landeskultur - geſetz Bd. III. Hannover bei Ubbelohde S. 27 ff. Neueſte Deich - und Abwäſſerungsordnung vom 22. Jan. 1864. Waſſergenoſſenſchaften: vergl. Gierke a. a. O. Allgemeine Bemerkungen bei Stein a. a. O. Fort - ſchreitende Bildung von Ent - und Bewäſſerungsverbänden mit eigener Verwaltung und Enteignungsrecht; Statuten derſelben nach den Grundſätzen des Vereinsweſens beſtätigt; vergl. preuß. Geſetzſamml. 1865 69. Grundlage iſt dabei ſtets das Geſetz vom 11. März und 14. Nov. 1853 für die Entwäſſe - rungsverbände. In Frankreich haben ſich Irrigation (servitude165 légale d’irrigation L. 29. Avr. 1845) und Desséchement (Code de des - séchement v. Poterlet) zu ſelbſtändigen Geſetzgebungen entwickelt, (Loi sur le drainage vom 10. Juni 1854), und ſind für beide die Verbände als Asso - ciations syndicales eingeführt. Geſetz über die Associations syndicales für Entwäſſerungen vom 24. Juli 1865. Auſtria 1866 S. 364. Vergl. Lafer - rière, Droit. admin. I. P. 1. Tit. IV. Ch. 1 2. In Belgien gleiche Grundſätze: de Fooz, Droit admin. belge 1861. III. S. 241. Neben dem holländiſchen Waterſtaat ſ. de Boſch Kemper, Nederl. Staatsregt §. 201 ff. In England gilt für den Waſſerbau die Waterworks Clauses Act von 1863. 26. 27. Vict. 93. Früheres Recht Gneiſt II. S. 737. Waterworks Clauses Act von 1847. Für das Drainage-Recht 24. 25. Vict. 133 mit Drai - nage boords und districts und die Drainage Act 26. 27. Vict. 58. Auſtria 1865. N. 8. Die frühere Drainage Act 9. 10. Vict. 101 hatte 1 Million Vorſchuß gewährt. Roſcher II. 36 39.

III. Das Schadenverſicherungsweſen. Begriff und hiſtoriſche Entwicklung.

Im Waſſerweſen und Feuerweſen ſchützt nun der Einzelne unter Hülfe der Gemeinſchaft ſeine Güter vor den Elementen. Da aber, wo dieſer Kampf für das Gut aufhört, beginnt ein zweiter. Es iſt der Verſuch, auch bei wirklichem elementarem Untergang des Gutes das - jenige zu erhalten, um deſſentwillen er das Gut eigentlich beſitzt, den Werth deſſelben.

Dieſe Erhaltung des Werthes bei Untergang des Gutes iſt nun dem Einzelnen für ſich geradezu unmöglich. Sie iſt nur denkbar, in - dem er mit Anderen in eine Gemeinſchaft tritt, welche auf Grundlage gegenſeitiger Leiſtungen ihm den Erſatz für den wirklich eingetretenen Elementarſchaden darbietet. Eine ſolche Gemeinſchaft bedarf der Ord - nung ſowohl für die Beſtimmung der Leiſtungen und Gegenleiſtungen, als für die daraus entſtehenden Rechtsverhältniſſe; und dieſe Ordnung iſt, als öffentlich anerkannte Organiſation des gegenſeitigen Erſatzes für Elementarſchäden, das Schadenverſicherungsweſen.

Es iſt klar, daß ein ſolcher Erſatz anfänglich nur auf dem guten Willen des Einzelnen beruht. Zu einer öffentlichen Organiſation ge - langt die Sache erſt dann, wenn ſich aus den Einzelwirthſchaften größere Unternehmungen entwickeln, die nur vermöge der Sicherung eines Erſatzes in Schadensfällen ihre Verpflichtungen aufrecht halten können. Sie werden damit die Baſis des Credits, und ſchreiten in dem Grade vor, in welchem der Unternehmungscredit ſeinen privaten Charakter verliert und die Gefährdung der Zahlungsfähigkeit des einen Unternehmens zu einer Gefahr für die des andern wird. Alle Orga -166 niſation des Verſicherungsweſens geht daher von gleichartigen Unter - nehmungen aus, und entſteht zunächſt in der Form des Vereinsweſens. Aus dem letzteren Grunde kennt die alte Welt kein Verſicherungsweſen, aus dem erſteren das Mittelalter nicht. Daſſelbe entſteht erſt mit dem Welthandel im fünfzehnten Jahrhundert und zwar für die Schifffahrt als Seeverſicherung durch freie Verſicherungsvereine; von da geht es über auf die Städte als örtliche (ſtädtiſche) Feuer-Aſſecuranzen; im ſiebzehnten Jahrhundert greifen dann die Regierungen hinein, und errichten öffentliche Brandſchadenverſicherungen auch für das flache Land mit Verpflichtung zur Theilnahme und unter amtlicher Verwal - tung. Frankreich und England halten ſich allerdings davon frei, da - für aber entſteht die erſte große Seeverſicherungsgeſetzgebung in der Ordonnance de la marine von 1667, während mit dem engliſchen Handel das Vereinsweſen aufblüht. Im achtzehnten Jahrhundert geht das Verſicherungsweſen dann auf die Theorie über; das Verſicherungs - recht wird Gegenſtand hiſtoriſcher und juriſtiſcher Forſchung, und die großen Verſicherungsgeſellſchaften, namentlich Englands, beginnen zu internationalen Inſtituten zu werden. Im neunzehnten Jahrhundert löst ſich dann auch das Feuerverſicherungsweſen in den übrigen euro - päiſchen Staaten von der Vormundſchaft der Regierung ab, mit Aus - nahme Preußens und einiger andern deutſchen Staaten, welche an den Beſchränkungen des vorigen Jahrhunderts auch jetzt noch feſthalten. Das Verſicherungsweſen entwickelt ſich nunmehr in gleichem Schritte mit Verkehr und Credit zu einem integrirenden Element des geſammten volkswirthſchaftlichen Lebens; es bildet ſich einerſeits das Schadenver - ſicherungsweſen in ſeinen Hauptzweigen, der See - und der Feuer - verſicherung, daneben in Hagel - und Viehverſicherung zu einem großartigen Syſteme aus, an das ſich die Lebensverſicherung als neue und eigenthümliche Form der Capitalbildung anſchließt; die große Ge - meinſamkeit des Verkehrs verbindet die Geſellſchaften in der Form der Rückverſicherungen wieder unter einander, und erzeugt in den Rück - verſicherungsgeſellſchaften ſelbſtändige Organe dieſer Gegen - ſeitigkeit, ſo daß jetzt das Verſicherungsweſen, von kleinen Anfängen ausgehend, zu einem alle Welttheile in Credit und Verkehr gleichmäßig umfaſſenden, gewaltigen Organismus geworden iſt, eine der großartig - ſten Erſcheinungen, welche die Weltgeſchichte kennt, und die nunmehr auf allen Punkten der Erde jeden Einzelnen zwar nicht vor dem ele - mentaren Verluſt ſeiner Güter, wohl aber ihres Werthes ſchützt.

Auf dieſem hohen Standpunkte nun verlieren offenbar die Verei - nigungen für die Verſicherung ihren urſprünglichen Charakter. Sie können gegenüber einer ſolchen, die ganze Welt umfaſſenden und den167 ganzen Völkerverkehr durchdringenden Funktion weder bloß örtliche Staatsanſtalten, noch bloße Erwerbsgeſellſchaften bleiben. Sie ſind ihrem Weſen nach freie Organismen der Verwaltung; das iſt, ſie ſind Vereine, und ihr Recht, urſprünglich nichts als Vertrags - und ad - miniſtratives Recht, wird ein Theil des Verwaltungsrechts im höchſten Sinne des Wortes. Sie ſind Organe des öffentlichen Lebens geworden; ſie verwalten uns die wichtigſten öffentlichen Intereſſen und Recht und Theorie ihrer Funktion ſollte daher jetzt nicht mehr als bloßes Privatrecht und Geſchäftslehre, ſondern als ein weſentlicher Theil der Verwaltungslehre erkannt werden.

Allerdings nun ſtehen wir in dieſer Beziehung vor dem entſchei - denden Uebergange von der früheren Auffaſſung. Die Zukunft des Schadenverſicherungsweſens im Beſonderen (wie des Verſicherungsweſens im Allgemeinen) beruht darauf, daß man die Principien, das Recht und die Verwaltung der Vereine als Elemente des Verwaltungsrechts erkennt, und daher das Sonderintereſſe derſelben den großen Forderun - gen des Geſammtintereſſes ſich organiſch unterordnet. Dazu hat nun die neuere Zeit noch das große Element des internationalen Ver - ſicherungsweſens hinzugefügt, indem die Zulaſſung fremder Geſell - ſchaften, die nicht einmal dem einheimiſchen Vereinsrecht unterliegen, und die daher in ihrer unbegränzten Freiheit das Verſicherungsweſen ganz als ein Geſchäft und freie unbeſchränkte internationale Zulaſſung als eine einfache Conſequenz der leeren Handelsfreiheit erſcheinen laſſen. Offenbar genügt hier das formale Element des Rechts nicht mehr; es muß vielmehr das Weſen der Sache für die Verwaltung zur Geltung kommen. Um das darzulegen, muß man das Princip und die Ent - wicklung der Rechtsbildung des Verſicherungsweſens ins Auge faſſen.

See-Aſſecuranz als Grundlage des organiſchen Verſicherungsweſens, nur durch Vereine möglich. Erſte Aſſecuranz wahrſcheinlich im vierzehnten Jahrhundert in Flandern; im fünfzehnten Jahrhundert Ausbreitung derſelben namentlich von Holland aus. Hauptwerk noch immer Beneke, Syſtem des Aſſecuranz - und Bodmereiweſens 1805. 4. Bde. Geſchichtliche Einleitung Bd. I. S. 1 ff. Literatur: Mittermaier, deutſches Privatrecht III. Bd. §. 303. Uebergang zur Feuerverſicherung im ſiebzehnten Jahrhundert. Beginn als ſtädtiſche Verſicherungen; Angaben von Hellwig in Zeitſchrift des ſtat. Bur. 1868. Im achtzehnten Jahrhundert in Deutſchland geſetzliche Aus - dehnung auf das ganze Land im Verordnungswege: die Staatspolizei iſt zur Einführung ſolcher Anſtalten nicht nur berechtigt, ſondern auch verpflichtet Berg, Polizeirecht III. S. 68. Dieß Princip erhält ſich noch immer in mehreren deutſchen Staaten. Preußen ſcheint mit der obrigkeitlichen Orga - niſation der Feuerſocietäten voranzugehen (Feuerkaſſenreglement von 1705 und 1706); Beibehaltung dieſes Standpunktes in neueſter Zeit (Geſetz von 1841168 und 1845); Literatur bei Rönne, Staatsrecht II. 439; ſehr excluſiv gegen die freie Bewegung der Verſicherungsvereine, dagegen ohne Geſetz für die See - verſicherung u. ſ. w. Aehnlich in Bayern; neueſtes Geſetz vom 28. Mai 1852. Pözl, Verwaltungsrecht §. 130 und bei Dollmann. In Württemberg ſchon ſeit 1773 Umwandlung der ſeit 1753 beſtehenden Geſellſchaft in eine Staatsanſtalt mit Zwang durch Brandverſicherungsordnung vom 16. Jan.; darauf die Brandſchadenordnung von 1807. Mohl, württembergiſches Ver - waltungsrecht II. §. 255. Oeſterreich: Im vorigen Jahrhundert Stand - punkt der öffentlichen Unterſtützungen ohne Verſicherungsanſtalt (Kopetz, Polizeigeſetzkunde II. 118 Art.; Entſchluß vom Sept. 1819 wodurch die Er - richtung von Feuerverſicherungen bloß dem Privatunternehmen anheimgeſtellt werden ſoll vergl. Dorninger, Feuerverſicherungsanſtalten 1822 S. 14 17; daher jetzt bloß Vereinsweſen. In Frankreich ohne alle geſetzliche Rege - lung. Grundſatz nur, daß die Beſtimmungen über Seeverſicherungen (ſ. unten) analog auf Feuerverſicherung angewendet werden. Literatur bei Block, Dict. de l’adm. ; dagegen das Seeverſicherungsweſen früh geregelt; Aſſecuranz - ordnung ſchon 1435 (Barcelona), dann 1523 (Florenz) u. a. Beneke a. a. O. S. 10 ff. Erſtes vollſtändiges Aſſecuranzrecht in der Ord. de la marine 1681; dieß Geſetz liegt noch jetzt dem franzöſiſchen Recht zum Grunde; der Code de Com. T. 10. 1. 2 iſt nur Redaction der Ordonnanz und des Geſetzes von 1779; Zuſammenſtellung bei Beneke in Bd. IV. England beſitzt keine Geſetz - gebung; Deutſchland auch nicht. Dabei gilt, daß das Feuerverſicherungsrecht materiell als Interpretationsmittel für das Schadenverſicherungsrecht angeſehen wird (Block, Assecurances. ) Während deſſen ſtarke Entwicklung der Theorie, für Brandſchaden jedoch weſentlich vom polizeilichen Standpunkt; Gäng, Verſicherungsanſtalten wider Feuerſchaden 1792. Frank, landwirthſchaftliche Polizei II. 313. Dorninger, Feuerverſicherungsanſtalten 1822. Krünitz, Encyclopädie XIII. 214. Brüggemann, Mobiliarverſicherung in Preußen 1838. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 127 ff. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 23 ff. Bayern: Feuerverſicherungsweſen unter öffentliche Controle geſtellt (Geſetz vom 10. Febr. 1865). Was ſpeciell die Seeverſicherung betrifft, ſo hat ſie ihrer Natur nach von jeher einen Theil des Seerechts gebildet, und eine eigene ſehr eingehende Jurisprudenz erzeugt, die ſich an die Geſetzgebung an - ſchließt. Wie lange werden wir warten müſſen, bis das Feuerverſicherungs - weſen Bearbeitungen wie die von Pöhls aufzuweiſen haben wird? (ſ. unter Seerecht). Ueber Weſen und Recht der internationalen Verſicherungen mangelt noch alles, bis auf den einfachen, wir möchten ſagen rohen Satz, daß die Zulaſſung fremder Geſellſchaften von Verträgen oder im einzelnen Falle von Genehmigungen abhängt. Es wird aber die Zeit kommen, wo man auch für die Verſicherungsgeſellſchaften internationale Rechtsſätze als völkerrechtliche Bedingung ihrer Zulaſſung aufſtellen wird! Vorläufig haben faſt alle Zulaſ - ſungsverträge fremder Aktiengeſellſchaften die Verſicherungsgeſellſchaften aus - geſchloſſen, in dem richtigen Gefühl, daß es bei denſelben noch auf mehr an - komme, als auf die bloße Sicherheit des Capitals (ſ. Stein, im Compaß 1869).

169
A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt.

Die Rechtsbildung des ganzen Verſicherungsweſens beruht nämlich darauf, daß in jeder Verſicherung zwei Elemente zuſammenwirken. Das erſte dieſer Elemente iſt der privatrechtliche Verſicherungsvertrag, das zweite iſt die öffentliche Funktion des Verſicherungsweſens als Theil der organiſchen Verwaltung der Volkswirthſchaft. In dem erſten ſteckt das Sonderintereſſe der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung des öffentlichen Intereſſes, die auch hier in ſcharfen Gegenſatz kommen können. Der gegebene Rechtszuſtand des Verſicherungsweſens beſteht deßhalb weſentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander; die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erſtere. Der Gang derſelben aber bis zum gegenwärtigen Zuſtand iſt in ſeinen Hauptpunkten folgender.

Die Verſicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den Seeverſicherungen; allein faſt gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na - mentlich im Anſchluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen - heit anerkannt, und dadurch Gegenſtand der Geſetzgebung in den alten Aſſecuranzordnungen. Das iſt die erſte Epoche der Rechtsbildung. Sie bleibt jedoch dabei ſtehen, daß ſich die Geſetzgebung nur auf die Be - ſtimmung des rechtlichen Inhalts dieſes Verſicherungsvertrages be - ſchränkt, und ſich um die Verwaltung der Verſicherungsanſtalten noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entſteht da, wo der Staat die polizeilichen Brandſchadenanſtalten einführt; in dieſen ver - ſchwindet wieder das Vertragsrecht und an ſeine Stelle tritt das Ver - ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Verſicherungsweſen durch ſeine Beamtete, entweder ausſchließlich, oder unter Zuziehung der Betheiligten (Deutſchland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die Seeverſicherung davon ausgeſchloſſen bleibt, ſo geſchieht es, daß für das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entſteht, während ſie für das Feuerverſicherungsweſen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz dem erzeugt dieſe polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite - ratur, theils durch ſpecielle Geſetze das Verſtändniß für die wichtige öffentliche Funktion alles Verſicherungsweſens. Die Regierungen er - kennen die Nothwendigkeit, daſſelbe im öffentlichen Intereſſe ihrer Oberaufſicht zu unterwerfen. Das iſt der Grund, weßhalb ſich der unfreie Zuſtand der geſetzlichen Zwangsverſicherungsanſtalten noch theil - weiſe erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und das Verſicherungsweſen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung Erfahrung und Theorie, um daſſelbe einer ausreichenden Controle zu unterziehen, und ſie muß ſich deßhalb genügen laſſen, jene Oberauf -170 ſicht durch einfache Anwendung der Grundſätze des Vereins - rechts auf die Geſellſchaften auszuüben, während ſtatt feſter Prin - cipien die Concurrenz der letzteren für das ganze Verſicherungs - weſen maßgebend wird. Das deutſche Handelsgeſetzbuch hat dieß ſo wenig geändert wie der Code de Com. und ſeine Nachbildungen in den übrigen Staaten. Dieß iſt der gegenwärtige Zuſtand. Sein Charakter iſt der Mangel einer, auf einer feſten Theorie beruhenden Oberaufſicht trotz richtigem Verſtändniß der öffentlichen Bedeutung der Sache. Die Aufgabe der Zukunft iſt demnach, die erſtere zu formu - liren, wie der zweiten ihren wahren Inhalt zu geben. Dafür aber ſind die leitenden Grundſätze folgende.

Die Stellung der Theorie des Verſicherungsweſens in der Staatswiſſen - ſchaft (Juſti I. 718) iſt falſch; Berg, Sonnenfels, Handbuch VII. 256 nehmen es noch allgemein a. a. O.; ähnlich Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 127 ff. Rau dagegen hat es in die Landwirthſchaft verwieſen (Volkswirthſchaftspflege I. 105), dem Roſcher (Volkswirthſchaft II. C. 13) gefolgt iſt. Wie gering iſt aber das verſicherte landwirthſchaftliche Capital gegenüber dem übrigen! Ein Verſtändniß des Verwaltungsrechts für dieſes Gebiet mangelt gänzlich. Gierke (Genoſſenſchaft S. 1049 ff. ) hat wieder nichts darin geſehen, als eine Form der Genoſſenſchaft, und behandelt nur ihre formalen Elemente. Döhl, Verſicherungsweſen des preuß. Staates 1865 iſt eine ſehr fleißige Zuſammen - ſtellung der preußiſchen Geſetzgebung. Die eigentliche Verſicherungslehre iſt neben der Verſicherungsjurisprudenz höchſt unentwickelt; ihr Vater bleibt noch immer Maſius (ſyſtematiſche Darſtellung des geſammten Verſicherungs - weſens 1846, rein geſchäftlich). Die neuere Zeit arbeitet dagegen kräftig; viel Inhalt in Elsners Aſſecuranzalmanach 1867 f. Freilich alles nur vom Standpunkt des Verſicherungs geſchäfts, ſogar ohne alle Rückſicht auf die innere Verwaltung des Geſellſchafts - geſchweige denn des öffentlichen Intereſſes.

B. Grundſagen des öffentlichen Rechts des Verſicherungsweſens.

Es iſt kein Zweifel, daß jede Verſicherungsgeſellſchaft zunächſt ein Unternehmen iſt, und daher berechtigt, frei nach eigenem Intereſſe zu handeln. Es iſt aber auch kein Zweifel, daß das Intereſſe des Ver - ſicherten zugleich ein öffentliches iſt, das ſie trotz alles allgemeinen Vereinsrechts nicht vertreten können. Wenn daher die Geſellſchaften den Einzelnen gegen Elementarſchaden ſchützen, ſo hat die Verwaltung die Aufgabe, die Anſprüche der letzteren gegen die Geſellſchaft und ihre Intereſſen zu ſichern. Die Kenntniß der Elemente des Verſiche - rungsweſens, das jetzt tauſende von Millionen umfaßt, iſt daher ein weſentlicher Theil der Verwaltungslehre, nicht in Beziehung auf die einzelnen Geſchäfte, ſondern auf ihre prineipiellen Grundlagen; nur ſie zeigt die wahre Stelle für die Oberaufſicht des Staats in allen171 Verſicherungsgebieten. Ihren Inhalt bildet das öffentliche Recht der Verſicherungen.

Das letztere zerfällt in zwei Haupttheile; das Recht des Ver - ſicherungsvertrages, und das Recht der Verſicherungsver - waltung.

I. Der Verſicherungsvertrag enthält diejenigen Modifikationen des allgemeinen Vertragsrechts, welche durch das Weſen der Verſicherung gefordert werden. Der Verſicherungsvertrag entbehrt noch jeder Ge - ſetzgebung, nur das Seeverſicherungsweſen hat ihn ausgebildet. Die Folge iſt, daß ſich die Verſicherungsanſtalten ihr Vertragsrecht ſelber bilden theils in ihren Statuten, theils in den Policen. Das iſt ein weſentlicher Mangel unſeres Rechtslebens.

II. Die Verſicherungsverwaltung umfaßt die Geſammtheit der Thätigkeiten der Verſicherungsanſtalten, durch welche ſie jene Verträge einerſeits abſchließen, andererſeits erfüllen. Dem erſten liegt die Tariflehre zum Grunde, dem zweiten die Lehre von den Reſerven. Die eigentliche Geſchäftsführung hat die in beiden enthaltenen Grundſätze nur zur Ausführung zu bringen.

a) Die Elemente der Tariflehre ſind folgende:

Der durch den Verſicherungsvertrag (Police) dem Verſicherten von der Geſellſchaft zugeſicherte Betrag im Falle des vertragsmäßig be - ſtimmten Schadens iſt das Riſico. Die Geſellſchaft kann nur dann ihre Verpflichtungen erfüllen, wenn jeder Verſicherte ſucceſſive einen Betrag bezahlt, der dem Riſico und den Koſten der Geſellſchaftsver - waltung gleichkommt. Dieſer von dem Verſicherten zu zahlende Be - trag iſt die Prämie, ihre regelmäßige Zahlung die Bedingung des Rechts auf die verſicherte Summe. Die erſte Aufgabe der Geſellſchaft iſt es daher, die Höhe der Prämien zu beſtimmen. Die theoretiſche Grundlage iſt dafür die Diviſion des Riſicos mit der wahrſcheinlichen Zahl der Prämienzahlungen, mit Berückſichtigung der Zinſen der ein - gezahlten Prämien; das Facit iſt die geſuchte Höhe der Prämie. Die Schwierigkeit beſteht demnach allein in der Beſtimmung dieſer wahr - ſcheinlichen Zahl. Dieſe nun iſt natürlich für die einzelnen Zweige der Verſicherung (Leben, Feuer, Waſſer, Hagel, Vieh, Transport u. ſ. w.) ſehr verſchieden und die Entwicklung dieſer Verſchiedenheit bildet den Inhalt der Lehre von den Arten der Verſicherung. Allein die allen gemeinſame Grundlage dafür iſt die Eintheilung der Riſiken in Claſſen. Statiſtiſche Erfahrung und richtige Beurtheilung der ein - zelnen Fälle innerhalb dieſer Claſſen beſtimmen dann das Syſtem der Claſſenprämien, und dieſe Höhe ergibt den Prämientarif, den die Geſellſchaft ihrem Geſchäfte zum Grunde legt.

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Es folgt, daß die Bedingung einer ſoliden Verſicherungsverwaltung eine gute Claſſeneintheilung und eine richtige Claſſificirung der einzelnen Fälle in dieſe Claſſen iſt. Beides iſt Sache der Direk - tion. Eine gute Controle ſollte daher mit der Unterſuchung und Motivirung dieſer Claſſen beginnen, und Stichproben der Claſſi - ficirung machen. Ohne dieß Verfahren iſt jede Controle werthlos.

b) Das zweite Element aller Verſicherung iſt die Reſerve. Es iſt klar, daß die eingezahlten Prämien geſammelt vorhanden ſein müſſen, um das Riſico zahlen zu können, wenn der Schaden eintritt. Die geſammelte Prämie iſt die Reſerve. Jede Verſicherung muß daher durch ihre Prämie zunächſt ihre eigene Reſerve bilden; die letztere muß aber ſo hoch ſein, daß ſie, wenn der Verſicherte ſeine Prämie regel - mäßig zahlt, am wahrſcheinlichen Ende der Verſicherung die ganze ver - ſicherte Summe deckt. Addirt man nun die ganze Summe aller nach dieſem Grundſatze von dem Einzelnen wirklich bereits gezahlten und von der Geſellſchaft geſammelten Reſerven, ſo entſteht der Reſerve - fond. Das was dieſen Reſervefond ſteigen läßt, ſind daher die Einnahmen durch die Prämien; das was ihn vermindert, iſt die Auszahlung des Riſicos im Schadenfalle. Die Höhe des Reſerve - fondes muß daher ſtets gleich ſein der addirten Summe der bereits gebildeten Einzelreſerven. Iſt ſie das nicht, ſo iſt die Sicherheit jeder einzelnen Verſicherung gefährdet. Die Aufgabe beſteht deßhalb zunächſt darin, die richtige Höhe des Reſervefonds zu beurtheilen, und die Er - haltung und Verfügbarkeit deſſelben zur rechtlichen Bedingung der Thätigkeit der Geſellſchaft zu machen. Daher iſt es zu - nächſt Sache des Verwaltungsrathes, dieſen Reſervefond gegen jede andere Verwendung als die Auszahlung der Schadenfälle zu ſchützen. Die Controle des Staats hat dieſe Funktion des Verwaltungsrathes zu bewachen. Sie muß zu dem Ende ſelbſt die Reſerve nachrechnen. Das nun iſt wieder nur thunlich durch die auf den Claſſen beruhende Syſtemiſirung der Reſerven. Es iſt klar, daß jede Claſſe ihre Reſerve haben muß, und daß daher der Reſervefond als Addition der Claſſenreſerven erſcheint. Die Controle ſoll daher die Höhe der Claſſenreſerve mit den Erfahrungen über die Dauer der Verſiche - rungen nach den Claſſen vergleichen; das Reſultat wird die Beantwor - tung der Frage ſein, ob die Reſerven ausreichen, um den Verſicherten volle Sicherheit für ihre Forderung zu gewähren, wenn ſie ihre Prä - mien richtig einzahlen. Es iſt falſch, dieß den Geſellſchaften allein zu überlaſſen. Denn wenn die Reſerven nicht ausreichend oder nicht flüſſig ſind, muß ſtets das eine Riſico aus den Reſerven des andern bezahlt werden, ſo daß, da dieß letztere ja doch auch zur Erhebung173 gelangt, die Exiſtenz der Geſellſchaft allein noch auf Erwerb von neuen Riſiken beruht, und der Untergang von dem Augenblick an be - ginnt, wo die Zunahme der Einnahme aufhört. Dieſe Grundſätze zur Geltung zu bringen, iſt Sache der künftigen Verſicherungsgeſetz - gebung; ſie für jede Verſicherungsgeſellſchaft anzuwenden, wäre Sache der inneren Verwaltung. Freilich gehört dazu, daß das Verſiche - rungsweſen als ein hochwichtiger Theil der Verwaltungslehre in Theorie und Praxis nicht bloß der Unternehmungen, ſondern auch des Staats - lebens ſeinen gebührenden Platz finde.

Drittes Gebiet. Das Verkehrsweſen. Begriff.

Während nun die Entwährung die Bedingungen der allgemeinen Entwicklung herſtellt, ſo weit ſie im perſönlichen Recht, und die Ele - mentarverwaltung, ſo weit ſie in den natürlichen Kräften liegen, hat das Verkehrsweſen es mit denjenigen zu thun, welche im Güterleben liegen.

Es ſcheint nun durchaus nothwendig, den Begriff des Verkehrs - weſens als einen ſelbſtändigen und organiſchen in der geſammten Volks - wirthſchaftspflege zu entwickeln, um dieſes große Gebiet klar überſehen zu können.

Keine Einzelwirthſchaft kann durch ſich allein fortſchreiten. Die Quelle aller Entwicklung beruht darauf, daß das, was die eine beſitzt, für die zweite einen höheren Werth hat, als für die erſte. Die Fähigkeit, ſolche Güter zu erzeugen, nennen wir die Produktivität. Die Produktivität iſt daher die lebendige Seele aller Produktion. Aber wenn ſolche Güter wirklich erzeugt ſind, ſo entſteht ſofort ein Proceß, der dieſelben derjenigen Wirthſchaft zuführt, für welche ſie den geſuchten höheren Werth beſitzen, der die Produktivität verwirklicht. Dieſen Proceß nennen wir den Verkehr. So wird der Verkehr die Bedingung aller wirklichen Produktivität und vermöge derſelben aller Produktion, das iſt, die Bedingung aller Entwicklung der Volkswirth - ſchaft überhaupt; und es ergibt ſich, daß wiederum die Bedingungen des Verkehrs die Vorausſetzung des Fortſchrittes in der Volks - wirthſchaft werden.

Nun liegen die Bedingungen des Verkehrs nur ſo weit in der Einzelperſönlichkeit, als ſie in der Berechnung jener Differenz des Werthes für Art und Umfang der Produktion einerſeits und für die Eingehung des Vertrages andererſeits beſtehen. Da wo die wirkliche Bewegung des Ueberganges der Güter und Leiſtungen von einer Wirth -174 ſchaft zur andern beginnt, hängen die Bedingungen der Verwirklichung des Verkehrsaktes nicht mehr von den Einzelnen ab.

Hier beginnt alſo die dritte große Aufgabe der wirthſchaftlichen Verwaltung. Dieſelbe beſteht darin, diejenigen Bedingungen des wirk - lichen Verkehrs herzuſtellen, welche der Einzelne ſich nicht mehr ſchaffen kann, und die Geſammtheit der dafür beſtimmten Rechtsſätze, Thätig - keiten und Anſtalten der Verwaltung bilden das Verkehrsweſen.

I. Die Elemente des Syſtems.

Das Verkehrsweſen bildet daher ſeiner Natur nach ein inneres Ganzes. Seine großen Gebiete entwickeln ſich aber an der Natur jener Bedingungen, die es herzuſtellen hat. Dieſe nun theilen ſich vermöge des Weſens der Güter in zwei große Gruppen. Die erſte hat es mit dem Gute an ſich zu thun, die zweite mit der Grundlage aller Produktivität, dem Werthe des Gutes. Die Bedingungen der Be - wegung der Güter bilden daher den erſten Theil jenes Syſtems, die der Bewegung der Werthe den zweiten Theil.

Der erſte Theil umfaßt daher die Herſtellung der außerhalb der Macht der Einzelnen liegenden Bedingungen der räumlichen und örtlichen Bewegung des Verkehrs. Dieſe erſcheinen wieder als ſolche, deren Benutzung noch durch individuelle Thätigkeit möglich iſt, die Verkehrsmittel im Wegeweſen und Schifffahrtsweſen, und in ſolche, welche der Staat ſelber im Geſammtintereſſe in Bewegung ſetzt, die Verkehrsanſtalten in Poſt, Bahnen, öffentlichen Dampfſchiff - fahrtslinien und Telegraphen. Man kann dieſe Anſtalten als das Verkehrsweſen im engeren Sinne zuſammenfaſſen.

Der zweite Theil zerfällt gleichfalls in zwei Theile. Zuerſt kommt es darauf an, durch eine öffentlich geltende Ordnung des Maßes und des Rechts des Werthes demſelben die Fähigkeit zu geben, Gegen - ſtand des ſelbſtändig auf ihn gerichteten Verkehrs zu werden; und dieſen Theil nennen wir die Werthordnung, auf welcher der Werth - umlauf beruht. Dann aber muß der an ſich mit dem Gute ver - bundene Werth die Fähigkeit gewinnen, ſich von den Gütern zu tren - nen und ſelbſtändig in den Verkehr zu treten und die Bedingungen dafür, auf das Innigſte mit dem Leben der Einzelwirthſchaft verbunden, bilden das, was wir das Creditweſen nennen, durch welches der Werth der Güter und Leiſtungen der Einzelwirthſchaft zum Objekt und Inhalt des geſammten Güterlebens wird. Hier muß die Verwaltungs - lehre die Grundbegriffe der Nationalökonomie im Allgemeinen, ſpeciell aber die elementare Scheidung von Gut und Werth als bekannt vor -175 ausſetzen; dafür aber hat ſie die Fähigkeit, durch ihren Inhalt die Richtigkeit dieſer organiſchen Auffaſſung der Güterlehre endgültig zu beweiſen.

II. Das Princip des Verkehrsweſens und ſeine hiſtoriſche Entwicklung aus der Regalität.

Es iſt nun kein Zweifel, daß das ganze Verkehrsweſen der Aus - druck eines und deſſelben Gedankens iſt. Allein es hat lange gedauert, bis man es als eine formale Einheit zuſammenſtellte und es als eine organiſche anerkannte. Der geſchichtliche Entwicklungsproceß dieſes Ge - dankens iſt aber vom höchſten Intereſſe, weil derſelbe zugleich die an Einzelheiten faſt unüberſehbare reiche Geſchichte jedes einzelnen Theiles allein beherrſcht und klar macht.

Auch das Verkehrsweſen als Aufgabe der Verwaltung entſteht erſt da, wo durch die Loslöſung der perſönlichen Staatsidee von der Ge - ſchlechter - und Ständeherrſchaft der Gedanke klar wird, daß überhaupt die erſte Bedingung der Entwicklung des Staats der wirthſchaftliche Fortſchritt des Einzelnen und die erſte Bedingung des letzteren wieder die freie Bewegung deſſelben iſt. Dieſer Gedanke knüpft ſich nun an das alte Syſtem der öffentlichen Staatsrechte, der Regalien. Zwar fehlt urſprünglich dem Regal gänzlich der Gedanke der Verwaltung; es iſt nur ein Recht des Staats gegenüber dem Rechte der Grundherr - lichkeit; es wird nur ausgeübt, um Einnahmen zu verſchaffen; aber die alten Regalien ſind ihrem Inhalte nach faſt ausnahmslos die öffentlichen, einzeln hingeſtellten Rechte des Staats in Beziehung auf das Verkehrsweſen. Der Inhalt der juriſti - ſchen Lehre von den Regalien iſt daher die erſte juriſtiſche Geſtalt der Lehre vom Verkehrsweſen. Als nun mit dem ſiebenzehnten Jahrhundert das Merkantilſyſtem die hohe Bedeutung der Volkswirthſchaft und der Eudämonismus die hohe Aufgabe der Staatsidee zu entwickeln be - ginnen, werden aus den Regalrechten (Wegeregal, Poſtregal, Münz - regal ꝛc.) Aufgaben der noch jungen und unfreien, aber gegen die Beſchränkungen des ſtändiſchen Rechts rückſichtsloſe Staatsaufgaben, was wohl niemand klarer fühlte, als Juſti, der ſchon 1766 in ſeinem Finanzweſen S. 423 ſagt, daß dem Staate die Direktion vermöge des Regals zuſtehe. Mit dem achtzehnten Jahrhundert entſteht daher eine neue Epoche. Die Staatsgewalt übernimmt es, auf Grundlage ihrer Regalien die Verkehrsverhältniſſe theils durch ihre Geſetze, theils durch ihre Organe zu ordnen; die Staatswiſſenſchaft in der Geſtalt der Polizeiwiſſenſchaft lehrt den Zuſammenhang mit dem Geſammt - leben; die Technik in der Geſtalt der Cameralwiſſenſchaft lehrt die176 Ausführung, und ſo bildet ſich allmählig eine erſte, freilich noch un - zuſammenhängende Verwaltung des Verkehrsweſens. Allein dieſe Epoche kennt noch weder die Einheit deſſelben, noch die Freiheit, noch das Princip der Betheiligung des Einzelnen an ihrer Ausführung. Das nun wird anders in der zweiten Epoche. Mit dem Siege der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft wird das Verkehrsweſen in ſeiner ganzen Be - deutung erkannt, als die höchſte Bedingung des wirthſchaftlichen Fort - ſchrittes des Einzelnen; die neue Wiſſenſchaft der freien Nationalökonomie mit ihrem größten Vertreter, Adam Smith, zeigt die unabweisbare Nothwendigkeit eines großen und freien Verkehrsweſens; die neue Ge - ſetzgebung der Volksvertretung ſchafft ein neues Recht für alle Zweige deſſelben und hebt die rechtlichen Hemmniſſe und Willkürlichkeiten, die noch aus der ſtändiſchen Epoche übrig blieben, auf; die neue Organi - ſation der Verwaltung in der Regierung erzeugt die Einheit und Gleich - artigkeit in jedem Gebiete, die Selbſtverwaltung gibt den örtlichen Verhältniſſen ihre Berechtigung und das Vereinsweſen lernt, die Be - dürfniſſe des Verkehrs zum Gegenſtande ſeiner freien Unternehmungen zu machen. So wird jetzt das Verkehrsweſen ein mächtiges, das ge - ſammte volkswirthſchaftliche Leben umfaſſendes Ganze; die alten Be - griffe des Regals und der Regalsrechte führen nur noch ein Schein - leben in der deutſchen Rechtslehre fort und an ihre Stelle treten tief - einſchneidende Behandlungen der einzelnen Theile in Princip und Ausführung; in unſerer Zeit iſt es kein Zweifel mehr, daß es unter allen dasjenige Gebiet der Verwaltung iſt, auf welchem in unſerem Jahrhundert das Größte geleiſtet wird, was je in der geſammten Ge - ſchichte der Verwaltung der Welt geſchehen iſt, und das Bewußtſein iſt gewonnen, daß, während bisher der Schwerpunkt der Volkswirth - ſchaftspflege in der Sorge für die einzelnen Produktionsarten lag, von jetzt an derſelbe in der Verwaltung des Verkehrsweſens gefunden werden muß. Das iſt der Charakter der gegenwärtigen Epoche, die in der Frage nach dem Creditweſen bereits den Keim zum Uebergange in die folgende, zukünftige enthält. Und jetzt bleibt nur das Eine übrig, die Erkenntniß, daß alle einzelnen Theile deſſelben ein Ganzes bilden und daß ſie daher auch alle von denſelben Principien beherrſcht werden, die wiederum ihrerſeits nur der Ausfluß der großen Elemente der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſind, und daß jeder der - ſelben wie das Ganze ſich auf Grundlage der letzteren organiſch ent - wickelt und ſeine gegenwärtige Geſtalt gebildet hat. Jene Principien aber ſind einfach. Die Idee der organiſchen Einheit des Staatslebens erzeugt das Princip der Einheit für das Syſtem der Verkehrsbedin - gungen; das Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit erzeugt das177 Princip der Allgemeinheit derſelben, welche ihre Benützung jedem zugänglich macht; und das Princip der volkswirthſchaftlichen Entwick - lung erzeugt den Grundſatz der vollen Gleichheit und Freiheit in der Benützung derſelben für jeden Einzelnen. Dieſe leitenden oberſten Grundſätze erſcheinen nun in jedem Theile wieder und das höhere Weſen jedes dieſer Theile iſt eben die gleichmäßigere Geltendmachung jener Grundſätze für jeden der großen Zweige des Verkehrsweſens, deren organiſche Einheit das Syſtem des letzteren bildet.

Charakter der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur: Zerſplitterung in einzelne Gebiete, theils in die Finanzwiſſenſchaft, theils in die Volkswirthſchaftspflege, wo ſie meiſt, wie bei Rau und Roſcher, nur in ihrer Verbindung mit der Landwirthſchaft dargeſtellt werden. Nur die Polizeiwiſſenſchaft (Mohl) hält die Idee der Selbſtändigkeit feſt, ohne jedoch zu einem Syſtem zu gelangen. Da - neben ausgezeichnete Einzelarbeiten, die jedoch entweder nur den volkswirth - ſchaftlichen oder den techniſchen Standpunkt durchführen. Aufgabe: die einheitliche Idee der Verwaltung für das Ganze zur Geltung zu bringen.

III. Das öffentliche und das bürgerliche Verwaltungsrecht des Verkehrsweſens.

Die Verwirklichung dieſer großen Principien, die als eines der wichtigſten Reſultate der neueren Staatengeſchichte betrachtet werden müſſen, hat nun zwei Grundformen.

Die erſte entſteht dadurch, daß der Staat ſelbſt die Bedingungen des Verkehrs durch ſeine Thätigkeit herſtellt und dann die Benützung dieſer Bedingungen durch die Einzelnen im Geſammtintereſſe rechtlich ordnet. Das nun wird vollzogen durch alle drei Organe der voll - ziehenden Gewalt zugleich, und zwar im Großen und Ganzen der Natur derſelben entſprechend in der Weiſe, daß die Geſetzgebung die leiten - den Principien gibt, die Regierung die Einheit und Gleichheit in dem vielfältigen Organismus des Verkehrsweſens aufrecht hält, die Selbſtverwaltung die örtlich begränzte Ausführung übernimmt und das Vereinsweſen da eintritt, wo es ſich um einzelne beſtimmte Aufgaben und Zwecke handelt. Die öffentlich rechtlichen Beſtimmungen, nach denen jedes dieſer Organe das Verkehrsweſen innerhalb ſeines Gebietes ordnet, bildet dann das öffentliche Verkehrsrecht. Jeder Theil deſſelben hat daher erſtlich ſein Syſtem, dann ſeinen Organismus und endlich wieder ſeine Geſchichte, und es iſt Sache der Wiſſenſchaft, den unendlich reichen Inhalt all dieſer Theile in Eins zuſammenzufaſſen, während eine Codifikation ſchon für die einzelnen Gebiete ſchwierig, für das Ganze aber unmöglich erſcheint. Dieß nun hat das Folgende zu zeigen.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 12178

Die zweite Grundform entſteht dadurch, daß die Verwirk - lichung der Idee des Verkehrsweſens die an ſich abſolut freie Willens - beſtimmung des Einzelnen im Einzelverkehr in ſo weit beſchränkt und beſtimmt, als dieß im Intereſſe des Verkehrsweſens gefordert wird. Dieſe durch das letztere gegebene Beſchränkung des Vertragsrechts iſt nun dasjenige, was wir das bürgerliche Verwaltungsrecht des Verkehrs nennen, und das, obgleich es einen formellen Theil des bürgerlichen Vertragsrechts bildet, dennoch dem Weſen nach dem öffentlichen Rechte angehört. Die Verwaltungslehre muß ſich begnügen, auf das Gebiet aufmerkſam zu machen; die vollendete Rechtswiſſenſchaft hat es im Ein - zelnen durchzuführen.

Von dieſem Standpunkte aus muß das folgende Syſtem im Gan - zen wie im Einzelnen betrachtet werden.

Erſter Theil. Die Verkehrsmittel und die Verwaltung.
I. Das Wege - und Bauweſen. Begriff und Syſtem.

Der Weg im weiteſten Sinne des Wortes iſt die erſte materielle, unbedingte Vorausſetzung alles Verkehrs und damit aller Produktivität, ja des gemeinſamen Lebens überhaupt. Es gibt aber keinen Weg an ſich, ſondern der Begriff des Weges iſt ein rein verwaltungsrecht - licher. Ein Weg iſt dasjenige örtliche Verkehrsmittel zwiſchen beſtimm - ten Orten, deſſen Benützung jedem Einzelnen zum Zwecke ſeines Verkehrs rechtlich zuſteht. Aus dieſem einfachen Begriffe des Wege - rechts entſteht nun der Begriff und Inhalt der Wegeverwaltung und ihres Rechts, indem der auf dieſe Weiſe dem öffentlichen Leben angehörende Weg eine Reihe von techniſchen Bedingungen und admini - ſtrativen Ordnungen fordert, um ſeine Beſtimmung ganz erfüllen zu können. Das nun iſt die Aufgabe der Verwaltung, die ihr Objekt aus den Händen des Rechts empfängt. Die wirklichen Wege theilen ſich dann in Land - und Waſſerwege; die Anwendung der obigen Begriffe auf beide Arten iſt eine ſehr verſchiedene theils nach der Natur der Sache, theils auch örtlich und hiſtoriſch beſtimmt. Immer aber bleiben die obigen Principien die einheitliche und gemeinſame Grundlage, und die Geſammtheit aller Rechte, Anſtalten und Anordnungen, durch welche die Wege vermöge der Geſetzgebung und Verwaltung in den Stand geſetzt werden, ihren Zweck zu erfüllen, bilden das Wegeweſen.

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Beginn der Behandlung des Gegenſtandes erſt mit der Regalität. Die hiſtoriſch rechtliche Auffaſſung ſetzt ſich fort in der deutſchen Rechtsgeſchichte und dem deutſchen Privatrecht, ohne ſtaatswiſſenſchaftliches Verſtändniß. Auf - nahme in die Polizeiwiſſenſchaft im achtzehnten Jahrhundert (Juſti und Sonnen - fels) und Beibehaltung in derſelben (Mohl) jedoch mit vorwiegend techniſcher Auffaſſung. Uebergang in die Verwaltungsgeſetzkunde (Mohl, Württemb. Ver - waltungsrecht), von da an als Excerpt aus den einzelnen geſetzlichen Anord - nungen. In der Praxis weſentlich örtliche Auffaſſung.

A. Das Landwegeweſen.

Elemente ſeiner Rechtsgeſchichte.

Das gegenwärtige Princip des Landwegerechts iſt das Ergebniß einer vielhundertjährigen Geſchichte, die innig mit der Entwicklung von Staat und Volkswirthſchaft zuſammenhängt und welche den langſamen Sieg der Idee der Verwaltung über das hiſtoriſche Wegerecht in ziem - lich klaren Stadien darlegt. Man kann daher die geſchichtliche Ent - wicklung des Wegeweſens in die zwei großen Epochen des Wege - rechts und der Wegeverwaltung theilen. Die erſte reicht bis zum achtzehnten Jahrhundert, die zweite empfängt erſt mit dem neunzehnten ihren wahren Inhalt.

Anfänglich ſind alle Wege Theile der Grundbeſitze, welche ſie ver - binden. Nur die Heerſtraßen gehören dem Ganzen. Das öffentliche Recht iſt nur noch das des Wegefriedens. Als aus der bäuerlichen Geſchlechterordnung ſich die ſtändiſche der Grundherrlichkeit entwickelt, erzeugt jenes Princip das des grundherrlichen Wegerechts; aus dem Eigenthum am Wege gehen die Zölle und das Mauthrecht hervor (telonium und passagium), ſo wie die öffentliche Dienſtbarkeit des Straßenzwanges. Das Wegeweſen wird unfrei. Ueber das grund - herrliche Wegerecht erhebt ſich mit dem ſechzehnten Jahrhundert das Princip des Wegeregals, das anfänglich rein negativ nur noch das Recht des Staats enthält, gegen die Bedrückungen des Grundherren als Eigenthümer der Wege einzuſchreiten, freilich aber auch das Recht der Zölle auf den Heerſtraßen erzeugt. Das Wegeregal bildet den Uebergang vom bloßen Wegerecht des Mittelalters zur Wegeverwaltung der neueren Zeit. Es bildet den rechtlichen Boden für die Verwirklichung der For - derungen, welche das entſtehende Verſtändniß der Volkswirthſchaft an die neue Auffaſſung des öffentlichen Wegeweſens ſtellt. Man beginnt mit dem achtzehnten Jahrhundert den wirthſchaftlichen Werth der Wege zu begreifen; die Staatswiſſenſchaft gibt der Regalität ihren erſten poſitiven Inhalt in der Forderung nach guten Wegen; ſchon beginnt die Technik des eigentlichen Wegebaues ſich an das allgemeine180 Princip anzulehnen, und die Geſetzgebung entwickelt, wenn auch noch weſentlich auf dem Wege örtlicher Verordnungen, die Wegepolizei und Wegeordnung. Allein noch fehlt die ſyſtematiſche Auffaſſung derſelben als einer allgemeinen Anſtalt; noch immer bleibt der Grundherr die vollziehende Gewalt für die Gemeindewege und die Oberaufſicht faſt immer eine nominelle, während an Anlage neuer Wege gar nicht ge - dacht wird. Dieß nun geſtaltet ſich erſt mit dem Anfang unſeres Jahrhunderts um. Der Beginn der Volksvertretung läßt organiſche Wegegeſetze entſtehen; die Aufhebung der Grundherrlichkeit übergibt die Gemeindewege der freien Selbſtverwaltung; die Regierung fängt an, aus den Elementen des alten Rechts ein Syſtem des Wegeweſens zu bilden, und die Belebung der Volkswirthſchaft, die ſich vor allen Dingen in der vermehrten Benützung aller Wege äußert, vermehrt damit auch den Werth und folgeweiſe die Nothwendigkeit der guten Wege. So entſteht jetzt der Grundſatz, daß das geſammte Wegeweſen Ein rechtliches Ganzes und daß die Verwaltung deſſelben mithin be - rechtigt und verpflichtet ſei, demſelben diejenige Geſtalt und Ordnung zu geben, welche als die Bedingungen des allgemeinen Verkehrs von der Volkswirthſchaft gefordert werden. Damit bildet ſich der Inhalt der zweiten Epoche, die Wegeverwaltung mit ihren Rechten und Syſtemen als Geſtalt des Wegeweſens unſerer Gegenwart, bei aller ört - lichen Verſchiedenheit im Princip allenthalben gleich und gleichmäßig thätig.

Das alte Recht der Heerſtraßen (vergl. Eichhorn, Rechtsgeſchichte IV. §. 312 und Deutſches Privatrecht §. 214; Mittermaier, deutſches Privat - recht §. 534). Im deutſchen Reich wird allerdings ſchon durch R-A. von 1668 (Gerſtlacher, Handbuch IX. 1382) den Reichsſtänden die Wegepflicht auf - erlegt, aber nur die Reichskreiſe hatten die Oberaufſicht und thaten nichts. Vergeblich blieb das Kreisrecht von 1764; doch ſtand theoretiſch das Recht der Kreisſtände feſt, Vernachläſſigung zu ahnden (Möſer, Teutſche Kreisverfaſ - ſung S. 738); Anlage von gemeinſchaftlichen Straßen konnte nur auf gemeinſamen Beſchluß ſtattfinden (Berg, Polizeirecht III. S. 546 f.); die Hauptſache blieb daher den großen Territorialherren. Hier geſchah von Einzelnen ſchon im acht - zehnten Jahrhundert vieles; muſtergültig war die preußiſche Verordnung vom 28. März 1738 (vergl. Fiſcher, Cameral - und Polizeirecht III. 409). Indeß entſtand keine gleichartige Wegeverwaltung, obgleich die Regalität ſchon als Recht der landesherrlichen Straßen - und Wegepolizei anerkannt wird (Berg a. a. O. 548; Fiſcher edend. 513; Moſer, Landeshoheit in Anſehung Erde und Waſſers S. 9). Die Theorie forderte indeß laut eine gute Wegverwaltung. Juſti, Finanzwiſſenſchaft §. 287; Polizei Bd. IV. Hauptſt. 15. §. 434: Laſſet nur erſt unſere Hufner von dem großen Nutzen ſolcher Straßen überzeugt ſein, ſo werden ſich die Koſten dazu bald finden. Sonnenfels ſtellt ſchon das181 leitende Princip auf: der Vortheil gut angelegter Wege beſteht in der Er - ſparung der Zeit und des Zuges, Handlung V. 229. Dennoch Feſthalten des grundherrlichen Wegerechts: namentlich im Preuß. Allgem. Landrecht II. 15. §. 15 unter der Formel, daß die Provinzialgeſetze oder beſonderen Wegeordnungen gegenüber dem Allgem. Landrecht in Kraft zu verbleiben haben. Dadurch Entkräftung aller ſtaatlichen Inſtitutionen, trotz vielfacher einzelner polizeilicher Vorſchriften (Rönne, Preuß. Staatsrecht II. 415). Erſt das Ent - ſtehen der Kunſtſtraßen gibt Veranlaſſung zu neuer Thätigkeit. Die Theorie bleibt jedoch dabei faſt ausſchließlich techniſch; die Geſetzgebungen beſchränken ſich auf Ordnung der Wegelaſt und des Wegebaues und auch dieß nur in faſt durchgehend localer Weiſe. Eine ſyſtematiſche Wegegeſetzgebung und eine orga - niſche Wegeverwaltung iſt aus dem vielfachen Material noch nirgends hinaus - gewachſen. Der Theorie fehlt der Mittelpunkt der Behandlung; das ganze Wegeweſen erſcheint namentlich ſeit Berg als Theil der Handelspolizei, oder nach Frank, landwirthſch. Polizei II. 256 als Theil der Landwirthſchafts - polizei (vergl. Lotz, Staatswiſſenſchaft I. §. 67; Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 256; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 168; Wirth, Nationalökonomie S. 192. Das alte Princip der Regalität zuletzt noch formell vertreten von Klüber, öffentliches Recht §. 409. 410. Von da an verſchwindet es aus dem allge - meinen Strafrecht, und die territorialen Staatsrechte führen es nach Mohls Vorgange (württemb. Staatsrecht II. S. 30. 604) im Verwaltungsrecht fort. Mecklenburg: Landſtraße und Communikationsweg (Ductus viae) vom 12. Mai 1829. Der Grund des Mangels iſt weſentlich der Mangel der Einheit Deutſchlands, obgleich Rönne mit Recht klagt, daß Preußen es auch noch zu keinem allgemeinen Wegegeſetz gebracht hat (Staatsrecht II. 415). Staats - baudienſt-Ordnung nebſt Organiſation des Bildungsweſens für Bautechnik. Baden: Bekanntmachung vom 14. Mai und 14. Aug. 1864. Bayern: Baupolizeiordnung vom 30. Juni 1864. In Frankreich nimmt die Sache einen andern Verlauf. Vor der Revolution gab es zwar einen Grand Voyer, ſchon ſeit 1607; aber er hatte mit dem Wegeweſen gar nichts zu thun, wie Robert bei Block (Dict.) meint, ſondern nur die Einnahme von den Wegen (Gujot, Repert. de jurisprudence, Vol. 17, v. Voirie). Die wegepolizei - lichen Vorſchriften ſtanden unter den Gerichten. Erſt das Decret vom 26. Juli 1790 hob alle Grundherrlichkeit der Wege auf; dann wurden die alten Ordnungen proviſoriſch anerkannt (Decret vom 19. Juli 1791), bis das Grundgeſetz des ganzen franzöſiſchen Wegeweſens (Decret vom 10. Dec. 1811) daſſelbe voll - ſtändig ordnete; es gilt in allem Weſentlichen bis auf den heutigen Tag. Die Literatur, die ſich daran geſchloſſen, bei Block, Dict. v. Voirie; die techniſche bei Mohl, Polizeiwiſſenſchaft a. a. O. Unterſchied der Routes nationales (Staat), départementales (Departement); Chemin de grande vicinalité (zwi - ſchen mehreren Gemeinden), de petite vicinalité (innerhalb der Gemeinde): Geſetz vom 21. Mai 1836. Laferrière, Droit publ. et adm. I. 1. T. IV. Englands Wegeweſen unterſcheidet ſich weſentlich dadurch, daß es nie ein grundherrliches Wegerecht hatte, ſondern die Wege von jeher Gemeinde - angelegenheit waren; das Parlament erließ viele einzelne Verordnungen als182 Statutes, und dieſe wurden in der üblichen Form in allgemeinen Wegeord - nungen geſammelt. Ihr Hauptinhalt war Strafpolizei. Die jetzt geltende eigentliche Wegeordnung iſt 5. 6. Will. IV. 50 (vergl. über das engliſche Wege - recht Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht II. §. 42). Die Wegeverwaltung dagegen entwickelt ſich erſt mit den Chauſſeen und nimmt faſt ganz den fran - zöſiſchen Charakter an (ſ. unten).

Das Syſtem des Wege - und Bauweſens und ſeines Rechts.

Während nun auf dieſe Weiſe mit dem achtzehnten Jahrhundert das Princip durchgreift, daß das Wegeweſen als Ganzes eine Aufgabe der Geſammtheit ſei, der ſich jedes einzelne Wegerecht unterzuordnen habe, bildet das neunzehnte Jahrhundert, durch den immer allgemeine - ren Verkehr gezwungen, die Principien aus, nach denen die Benütz - barkeit der Wege für alle Arten und Theile derſelben gleichmäßig hergeſtellt wird.

Die Grundlage dieſes Syſtems iſt nun eine doppelte, das Bau - weſen und das eigentliche Wegeweſen. Das erſte enthält die techniſchen, das zweite die rechtlichen Verhältniſſe und Bedingun - gen des Wegeweſens und ſeiner Entwicklung.

a) Das öffentliche Bauweſen.

Das Bauen iſt an ſich ein freies Gewerbe, wie jedes andere. Der Begriff und das Recht des öffentlichen Bauweſens entſteht jedoch da, wo überhaupt für öffentliche Zwecke ein Bau geführt wird. Das leitende Princip für das öffentliche Bauweſen iſt daher, daß daſſelbe ohne Rückſicht auf Privatintereſſen dem öffentlichen Bedürfniß diene, und daher, da dieſes ſelbſt beſtändig dauernd und ſtets lebendig iſt, auch allen Forderungen der ſoliden und zweckmäßigen Technik entſpreche. Daraus entſteht der Grundſatz, daß das öffentliche Bauweſen ſelbſt wieder eine vollendete Fachbildung einerſeits, und eine öffentliche Oberaufſicht über die geführten Bauten andererſeits enthalte. Und die Geſammtheit der für beide Theile geltenden Beſtimmungen bilden das Recht des öffentlichen Bauweſens. Das Princip dieſes Rechts iſt, daß zu öffentlichen Bau - ten nur diejenigen zugelaſſen werden ſollen, welche die vorgeſchriebene Fachbildung an den Bau - oder techniſchen Bildungsanſtalten gewonnen und die Prüfung dafür beſtanden haben; die Ausführung ruht in der Hand des dafür eingeſetzten amtlichen Körpers, der theils Inſtruk - tionen zu erlaſſen, theils die Oberaufſicht über die Ausführung zu leiten hat.

Natürlich umfaßt nun das öffentliche Bauweſen alle öffentlichen Bauten, alſo auch diejenigen, welche mit dem Wegeweſen nichts zu183 thun haben. Allein es iſt keine Frage, daß das Wegeweſen die Haupt - anwendung der Grundſätze bildet, welche dafür gelten. Man ſcheidet daher mit Recht Hochbauten, Brückenbauten, Waſſerbauten und Wege - bauten. Jede derſelben hat ihre Technik und daher ihre techniſche Fach - bildung, welche die Verwaltungslehre als bekannt vorauszuſetzen hat. Dagegen iſt für die Beurtheilung dieſes Gebietes in erſter Linie das Verhältniß maßgebend, in welchem die Regierung zur Selbſtverwaltung ſteht; je weniger dieſe letzterer überhaupt überlaſſen iſt, deſto ſtärker iſt gegenüber dem Privatbau die Entwicklung des amtlichen Baukörpers und ſeiner Thätigkeit; und umgekehrt entſteht daraus der große Unter - ſchied zwiſchen England, Frankreich und Deutſchland in dieſer Beziehung. Aus demſelben Grunde erklärt ſich auch die ſehr verſchiedene Entwick - lung der Sache in den einzelnen Staaten Deutſchlands, ſowie anderer - ſeits das Hineingreifen in das Privatbauweſen wieder ein eigentlich wiſſenſchaftliches Syſtem nicht thunlich macht.

In England gibt es gar kein öffentliches Bauweſen, wie es keine öffent - liche Fachbildung für die Technik gibt. Hier iſt alles der Privatthätigkeit und Induſtrie überlaſſen. Dagegen iſt mit unſerem Jahrhundert das Wegeweſen ſtark amtlich entwickelt, theils auch durch die Geſellſchaftsunternehmungen der Turnpike Roads weſentlich gefördert (ſ. Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 119). Das gerade Gegentheil davon iſt Frankreich. Hier ward ſchon 1722 der Plan gefaßt, das ganze Reich mit 12000 lieues Wegen vom Staat aus zu verſehen: 1750 ward das Corps der Ponts et Chaussées errichtet, das 1791 erhalten, mit mannichfachen Organiſationen verſehen, und zuletzt durch Decret vom 13. Okt. 1851 neu organiſirt wurde. Grundlage iſt die Eintheilung in den Conseil général des Ponts et Chaussées und die Inspecteurs erſter und zweiter Claſſe. Unter ihnen ſteht das ganze öffentliche Bauweſen Frankreichs, ſpe - ciell das Wege - und Brückenweſen. Strenge und ſehr detaillirte Vorſchriften über das Verfahren (ſ. beſonders Laferrière, Droit publ. T. I. p. 620 sq.). Kurze Darſtellung der Organiſation mit der ſich daran ſchließenden Literatur bei Block, v. Ponts et Chaussées; Errichtung der Ecole des Ponts et Chaus - sées ſchon 1750. Stellung des ganzen Körpers unter den Miniſter des Innern durch Decret vom 25. Aug. 1804; unter das Ministère des travaux publics (Decret vom 25. Juli 1833). Ueber das Verfahren bei Ueberlaſſung der Arbeiten an Private, die Cahiers, die licitation etc. ſ. Laferrière a. a. O. §. 2. 3. Das Conseil des bâtiments civils ib. §. 3. In Preußen beſteht nach franzöſiſchem Vorbilde die durch Verordnung vom 22. Dec. 1849 neu organiſirte techniſche Baudeputation als Oberaufſichtsbehörde; daneben die königliche Bauakademie in Berlin (errichtet durch Verordnung vom 20. April 1799); von da an mehrfach reorganiſirt dem Miniſterium für Handel und öffentliche Arbeiten untergeordnet (Verordnung vom 18. März 1855); ſ. Rönne, Baupolizei 2. Ausgabe S. 44 ff. ; Rönne, Staatsrecht II. §. 228 (Kurz.) In Oeſterreich iſt das öffentliche Bauweſen noch nicht organiſirt;184 die Fachbildung auf dem polytechniſchen Inſtitute. Aehnlich in den meiſten deutſchen Staaten, wo ſich die Verwaltung auf die Herſtellung der techniſchen Fachbildungsanſtalten beſchränkt. Allerdings auch hier mit ſteter Berückſichti - gung des Wegeweſens.

b) Das eigentliche Wegeweſen.

Das eigentliche Wegeweſen enthält nun die Grundſätze, Beſtim - mungen und Organe, durch welche die Anforderungen des öffentlichen Wegebauweſens an die Wege eines Reiches in Vollzug geſetzt werden. Die Aufgabe dieſes Wegeweſens iſt nun eine zweifache. Zuerſt bilden alle Wege eines Reiches gegenüber dem Geſammtverkehr deſſelben ein Ganzes, und die für das geſammte Wegeweſen beſtehenden gleich - artigen geſetzlichen Beſtimmungen bilden die Wegeordnung, welche durch die Behörden für das Wegeweſen örtlich in Ausübung gebracht werden. Zweitens aber kommt es darauf an, die Bedingungen der Herſtellung der Wege durch die geſetzliche Ordnung der Wegelaſt feſt - zuſtellen.

1) Die Organiſation des Wegeweſens hat faſt allenthalben, wo eine ſolche exiſtirt, denſelben Charakter; das Wegeweſen ſteht im Cen - trum unter den Organen des öffentlichen Bauweſens. Oertlich beſteht das Inſtitut der Wegeinſpektoren, das allerdings mit mehr oder weniger Nachdruck thätig iſt. Speciell gehören dieſem Organismus die Brücken aus naheliegenden Urſachen. Das Wegeweſen einer Land - ſchaft ſoll allerdings Sache dieſes Selbſtverwaltungskörpers ſein, je - doch ſoll feſtgehalten werden, daß die ausführenden Techniker wie die Landesbehörden der öffentlichen Fachbildung bedürfen.

2) Die Wegeordnung iſt in den meiſten continentalen Staaten Gegenſtand eigener Geſetzgebung, die jedoch vorzugsweiſe die Wegelaſt betreffen (ſ. unten). Die Wegepolizei iſt der Schutz der Wege gegen die verderbliche Benützung derſelben durch Einzelne, und zwar theils als eigentliche Wegepolizei, welche den Wegekörper gegen den Verderb durch Bäume ſchützt, Gräben offen hält u. ſ. w. Dann aber die Fuhrwerkspolizei, die früher, namentlich ſeit dem Ent - ſtehen der Wegebautechnik nach der Methode Mac Adams als Chauſſee ſehr genau ausgebildet und gehandhabt ward (Räderbreite, Zahl der Pferde, Gewicht der Fuhr), jetzt aber durch ein adäquates Syſtem von Wegeabgaben rationell überflüſſig gemacht iſt. Einen ſpeciellen Theil der Wegeordnung bildet die Straßenordnung und die Straßen - und Straßenfuhrpolizei der Städte, an die ſich die zwar lokale, aber höchſt wichtige Fuhrpolizei der Lohnfuhrwerksordnung anſchließt, die der Selbſtverwaltung überlaſſen bleiben ſoll.

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3) Die Wegelaſt als Summe der Leiſtungen für die Herſtellung der Wege hat ſich dadurch organiſirt, daß eben durch ſie aus dem ur - ſprünglich rein rechtlichen Syſtem der Reichs - (Heer) ſtraßen, Land - ſtraßen und Gemeindewege ein Syſtem der Wegeverwaltung mit dem Princip der Verpflichtung zur Herſtellung brauchbarer Wege geworden iſt. Die Verwirklichung dieſes Princips hatte nun die Claſſi - fikation der Wege für dieſen Zweck zur Vorausſetzung und zwar in der Weiſe, daß Wegelaſten und Wegeeinnahmen je nach der Claſſe des Weges dem Staate, dem Lande, der Gemeinde, oder gemeinſchaftlich beiden zufallen und in dieſer Beziehung iſt Frankreich mit ſeiner for - malen Eintheilung das Muſter geworden. In Deutſchland hat ſich dagegen noch vielfach leider das aus dem grundherrlichen Wegeweſen entſtandene Recht der Wegefrohnden erhalten. Daran hat ſich dann das Syſtem der Unterſtützung der Gemeinden aus Staatsmitteln für den Wegebau gebildet, mit Unrecht von Adam Smith (V. B.) gänzlich verurtheilt, und ebenſo mit Unrecht von Say unbedingt ver - treten, dem in oft unklarer Weiſe die deutſche Literatur zu ſehr gefolgt iſt. Das Richtige liegt offenbar darin, daß bei guter Claſſifika - tion die Unterſtützung nur Ausnahme ſein kann, dann aber ein - treten ſoll.

Der Wegelaſt gegenüber ſteht dann das Syſtem der Wegeab - gaben oder der Mauth als ein Theil des Gebührenſyſtems. Die Wegeabgaben ſind gerechtfertigt, wenn ſie zur Herſtellung der Wege wirklich benützt werden. Bei Brücken ſind ſie an ſich immer richtig, wenn ſie auch nicht immer durchführbar ſind. Das Recht auf Wege - abgaben für die Benützung von Wegen und Brücken, welche Private erbauen, iſt begründet, bedarf aber der Zuſtimmung der Behörde. Die Form der Erhebung iſt am beſten die Verpachtung; die Straßenmauthen gehören in Princip und Ausführung der Selbſt - verwaltung.

Die einzige ſyſtematiſche Sammlung für Preußen: Rönne, Wegepolizei vergl. deſſen Staatsrecht §. 415 418. Das Preuß. Allgem. Landrecht II. 15 iſt mit all ſeinen Mängeln und Unklarheiten noch immer die Grundlage des Wegerechts und hat zuerſt das Princip ausgeſprochen, daß alle Orte mit öffentlichen Wegen verbunden ſein ſollen. Die Claſſifikation als Grundlage der einheitlichen Verwaltung fehlt. Zerſtreute Angaben bei Mayer, Verwal - tungsrecht (bayeriſche Verordnung vom 18. Febr. 1835); Kunſtſtraßenordnung (kurheſſiſche Verordnung von 1858, S. 171 174); Pözl, bayeriſches Ver - waltungsrecht §. 166. 167 ; Mohl, württembergiſches Verwaltungsrecht II. §. 116 (Straßenbauinſpektion) und §. 246 (Verwaltung); Römer, kurſächſiſches Staats - recht II. 807; Weiß, ſächſiſches Staatsrecht II. 191. Ueber die frühere Literatur ſ. Klüber, Literatur S. 426. Neuere für Frankreich: Mohl, Literatur186 der Staatswiſſenſchaft III. 273; Königreich Sachſen ebend. II. 366. Das frühere, örtlich behandelte Wegeweſen Oeſterreichs bei Stubenrauch, Ver - waltungsgeſetzkunde II. 527. Die neue Ordnung der Verwaltung auf der fach - gemäßen Grundlage der Competenz der Landtage und Gemeindeverwaltung mit Oberaufſicht und entſcheidender Stimme der erſteren ſeit 1861. Nach dem Patent vom Febr. 1861 iſt die Geſetzgebung über das Wegeweſen der Landes - ſtraßen den Landtagen überlaſſen; beſtätigt im Grundgeſetz vom 21. Juni 1867 §. 17. Das Grundgeſetz vom 16. April 1864 gibt die Gemeindeſtraßen den Gemeinden, die Bezirksſtraßen durch Geſetz vom 25. Juli 1864 den Bezirks - vertretungen. Die Wegelaſt iſt ſpeciell als Straßenconcurrenzgeſetz durch Geſetz vom 12. Auguſt 1864 regulirt. Den techniſchen einfachen Grund - gedanken ſpricht ſchon Juſti aus (1760) I. §. 427: Man muß den Schluß machen, daß alle Landſtraßen ſehr wenig taugen, wenn man nicht durch die Kunſt einen feſten Grund gelegt hat. Das Syſtem Mac Adams (Remarks on the present systeme of road making 1819 6. Auflage 1822) hat dieſen Grundſatz dem zweiten hinzugefügt, auf der feſten Grundlage eine gleich feſte Decke zu bilden. So ſind die eigentlichen Kunſtſtraßen entſtanden (vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſch. II. §. 168; deutſche techniſche Literatur bei Lotz I. S. 354; Mohl a. a. O.; Rau 256). Der Streit über die Anſicht von Adam Smith, die weſentlich auf engliſche Verhältniſſe berechnet war, gut in Block, Dict. de l’Econ. pol. v. Alignement und Voirie. Das franzöſiſche Recht iſt namentlich klar über das Wegerecht; der Wegebau iſt dagegen ganz dem amt - lichen Körper der Ponts et Chaussées übergeben; die Ecole des Ponts et Chaussées gegründet 1750; letzte Organiſation des Corps: Decret vom 13. Okt. 1851 (vergl. Annales des Ponts et Chaussées ſeit 1831; Literatur bei Mohl und Block; vergl. Rau §. 256); die beſte Darſtellung bei Lafer - rière, Droit adm. L. I. 1. T. 4) nebſt der Geſchichte. Das Recht und die Geſchichte des engliſchen Wege - und Brückenweſens gewinnt erſt mit der Wegeordnung von 5. 6. Will. IV. eine allgemeine und feſte Geſtalt; das Syſtem der Surveyors of highways und der beſoldeten Beamteten iſt unzweifelhaft dem franzöſiſchen Recht nachgebildet. Die Justices of the Peace haben die Wegepolizei; mit den Chauſſeen (Turnpike Roads) tritt dann das neue Syſtem der Chauſſeeverwaltung ein; das durch die General Turnpike Act 3. G. IV. 126 ins Leben, das durch mehrere neue Geſetze weiter entwickelt wird (ſ. Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht II. §. 117 122).

B. Waſſerwege.

Die Waſſerwege haben zunächſt denſelben Charakter wie die Land - wege, ſoweit die Natur des Waſſers ſie nicht ändert, und im weſent - lichen daher auch dieſelbe Geſchichte. Allein daneben ſind ſie zugleich die großen volkverbindenden Verkehrslinien; ſie berühren damit das Gebiet des internationalen Verwaltungsrechts, und müſſen daher von dieſem Geſichtspunkt betrachtet werden, während andererſeits der Unterſchied von Fluß - und Seeweg auf die einzelnen Beſtimmungen187 entſcheidenden Einfluß hat. Endlich ſind ſie ihrer Natur nach örtlich, und Recht und Verwaltung derſelben haben daher ſtets einen vor - wiegend örtlichen, je nach den Verhältniſſen des betreffenden Landes ſehr verſchieden entwickelten Inhalt. Doch bleiben die beiden Gedanken gemeinſam.

1) Das Recht der Waſſerwege wird wie das der Landwege ur - ſprünglich von dem Grundbeſitze beherrſcht. Die Geſchichte dieſes Rechts iſt die langſame Befreiung jedes Waſſerweges von dieſer Herrſchaft des Grundbeſitzes, und die Verwirklichung der Idee der vollen Frei - heit des Verkehrs auf demſelben. Den Ausgangspunkt gibt auch hier der Begriff des Waſſeregals. Die erſte Frage des öffentlichen Waſſerrechts war daher die nach der rechtlichen Gränze zwiſchen dem Recht des Grundherrn am fließenden Waſſer, und dem der Gemein - ſchaft, welche der Staat vertrat. Sie ward nach römiſchem Vorgang dahin entſchieden, daß die Fähigkeit des Waſſers, zum Verkehr benützt zu werden, demſelben das Recht des öffentlichen Weges gebe (flumen navigabile, Schiffbarkeit). Daſſelbe galt von den Häfen, ſowohl den Fluß - als den Seehäfen. Allein eben dieſe Regalität erzeugt in ihrer erſten Epoche für die Flüſſe und Meerwege das Recht der Zölle in internationalem Verkehr, für die Häfen vielfach das Stapelrecht und die Differentialabgaben der Schiffe fremder Flaggen. Erſt das neun - zehnte Jahrhundert wendet das innere Rechtsprincip der Freiheit der Benützung auch auf den internationalen Verkehr an; Zölle und Diffe - rentialabgaben verſchwinden mehr und mehr, und Schiffbarkeit und Verkehrsfreiheit werden zum Heile des Volkes gleichbedeutend.

2) Einen ähnlichen Entwicklungsgang nimmt die Verwaltung der Waſſerwege. Dieſelbe hat die Aufgabe für den öffentlichen Waſſerweg einerſeits die Sicherheit, andererſeits die Leichtigkeit der Benützung herzuſtellen. Das erſte geſchieht durch die Strompolizei, die ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert für die Flußwege zu umfaſſen - den Geſetzen geordnet und lokal entwickelt wird, und durch die Hafen - polizei, welche ſich ihrer Natur nach vorzugsweiſe lokal entwickelt. Das zweite erzeugt die öffentlichen Anſtalten und Unternehmungen, welche theils in den Canälen eigene neue Waſſerwege bauen, theils in den Baggerungen und Regulirungen die Schiffbarkeit gegen die natürlichen Verſandungen ſchützen, theils endlich in Damm - und Hafenbauten die örtliche Benützung ſichern und fördern. Bis zum neunzehnten Jahrhundert bleiben auch dieſe Anſtalten auf die ein - zelnen Staaten beſchränkt; erſt in der neueſten Zeit beginnt ein großes internationales Leben, und auf all den Punkten, wo europäiſche Ver - kehrslinien zu Waſſer vorhanden ſind, entſtehen Völkerverträge und188 Unternehmungen, welche den rechtlichen und volkswirthſchaftlichen Aus - druck der großen Gemeinſchaft der Intereſſen unſeres Erdtheils bilden.

Es iſt die große Schwierigkeit, hier theoretiſch aus einander zu halten, was im wirklichen Leben beſtändig in einander übergeht, Waſſerordnung, Waſſer - wege und Schifffahrtsweſen. Doch hat die Theorie ſeit Juſti I. §. 459 462 und Sonnenfels, Handlung VI. (Waſſerfracht) dieſe Scheidung mit Recht feſtgehalten (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 172). Ueber das alte Recht des Waſſerweſens ſ. die deutſchen Privatrechte; der Kampf über das Mare clausum (Hugo Grotius: Mare liberum, im 17. Jahrh.); Beginn des Strebens nach Frei - heit für Fluß - und Seewege Mitte des vorigen Jahrhunderts; ſchon Juſti klagt über die erſchrecklich hohen und ſo vielfältigen Zölle namentlich auf dem Rhein, der Elbe und der Weſer. Das Princip des öffentlichen Eigen - thums vermöge der Schiffbarkeit formell zuerſt in der Ordonnance de la Marine von 1681. Darnach das Preuß. Allgem. Landrecht II. 14. 21. Die öſterreichiſche Geſetzgebung ſcheidet zuerſt ſtrenge zwiſchen der Strompolizei (1770) und dem Schifffahrtsweſen (Editto von 1782); die franzöſiſche Verwal - tung hat die Binnenwaſſer mit der Waldverwaltung in den Eaux et forêts verbunden. Specielle Geſetzgebung für Preußen: Rönne, Staatsrecht II. 418 und Literatur. Aufhebung aller Binnenzölle II. 350. Oeſterreich: Stuben - rauch, Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 224. 258 und II. 527. Neuere Literatur faſt nur techniſch; bei Mohl a. a. O. Bayern: Schifferordnung vom 4. Juni 1865. Die neueſte Zeit hat gerade hier mächtigen Anlauf genom - men auf internationalem Gebiet; Aufhebung des Sundzolls 1857; Freigebung der Donau 1856, nach langem Hadern und Klagen die Ausführung der Wiener Congreß-Akte §. 109 117 über die Rhein -, Elb - und Weſerſchifffahrt eine Reihe von Verträgen, welche zugleich die Verpflichtung zur Regulirung enthalten (Rönne, Staatsrecht II. §. 531). Europäiſche Donauregulirungs - commiſſion ſeit 1856; Suezcanal; inniger Zuſammenhang mit dem internatio - nalen Schifffahrtsrechte (ſ. unten).

II. Das Schifffahrtsweſen. Begriff und Elemente der Geſchichte.

In ganz anderer Weiſe wie das Wegeweſen bildet nun das Schiff - fahrtsweſen einen Theil der Verwaltung des Verkehrs. Denn während bei jenem der Weg allgemeines Eigenthum, und in jedem Augenblicke und auf jedem Punkte bewachbar iſt, iſt das Objekt des Schiff - fahrtsweſens, das Schiff, immer ein Privatgut; der Dienſt, den es dem Verkehr leiſtet, beruht zunächſt auf einem Vertrage, das Ver - kehrsrecht iſt und bleibt hier ſtets vorwiegend ein Vertragsrecht, und das Schiff entfernt ſich ſo weit von ſeiner Heimath, daß es durch die gewöhnliche Thätigkeit der Verwaltung gar nicht zu erreichen iſt. Soll daher hier dennoch ein Verwaltungsrecht entſtehen, ſo muß es durch189 die Natur des Schiffes und der Schifffahrt ſelbſt ſowohl in ſeinem Princip als in ſeinem Syſtem beſtimmt und ſo verſtändlich ſein, daß das erſtere, richtig aufgefaßt, das letztere ſeinen Inhalt faſt von ſelbſt ergibt.

Das Schiff, obgleich Privatgut, iſt dennoch eine unabweisbare Be - dingung für den Verkehr, und namentlich für denjenigen, der nicht ſo ſehr die Einzel - als vielmehr die Volkswirthſchaften verbindet. Dennoch hat der, der es benützt, vermöge der Natur der Schifffahrt weder Sicherheit für die Leiſtungen von Schiff und Schiffer, noch für die Haltung der mit dem letzteren geſchloſſenen Verträge. Da nun aber beides eine für den Einzelnen unerreichbare Bedingung des See - verkehrs iſt, ſo iſt von jeher das auf die Schifffahrt bezügliche Ver - tragsrecht ſeinem Charakter als reines Privatrecht zum Theil verloren, und iſt zu einem öffentlichen Recht geworden; wir nennen das das See - recht; und dieß Seerecht iſt eben daher das erſte ſyſtematiſch entwickelte Verkehrsrecht in der Rechtsgeſchichte. Allein während dieß Seerecht noch immer nur das Recht des Vertragsverhältniſſes zwiſchen den Einzelnen enthält, die an der Schifffahrt betheiligt ſind, entſteht mit der Ent - wicklung des transatlantiſchen Verkehrs und den glänzenden Erfolgen, welche die Theilnahme an der Weltſchifffahrt den Nationen bereitet, die Erkenntniß, daß die Schifffahrt als Ganzes ein weſentlicher Zweig der Ent - wicklung des materiellen und geiſtigen Lebens der Völker ſei, und die Regierungen fangen an, durch die Maßregeln ihrer Verwaltung das Aufblühen der Schifffahrt unmittelbar zu fördern. So entſteht neben dem Seerecht der zweite Theil des Schifffahrtsweſens, die Verwal - tung deſſelben; und dieſe, zunächſt auf die internationale Schifffahrt beſchränkt, wird in den Grundſätzen des Merkantilſyſtems zum theore - tiſchen Ausdruck gebracht, und breitet ſich dann auch über die Binnen - ſchifffahrt aus. Der Beginn dieſer zweiten Epoche iſt die Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts mit der Navigationsakte in England und der Ordonnance de la Marine in Frankreich; während aber mit der freie - ren Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts die daraus entſtandenen Beſchränkungen des Verkehrs im Sinne des Schutzſyſtems allmählig verſchwinden, entſteht dafür eine Reihe von poſitiven, mehr und mehr geordneten Maßregeln für Ordnung und Hebung der Schifffahrt; und ſo entwickelt ſich in Seerecht und Schifffahrtsverwaltung ein großes und hochbedeutendes Syſtem der Verwaltung, das aber freilich direkt nur von Werth für die Küſtenländer iſt, und daher nur bei dieſen volles Verſtändniß und eingehende Würdigung findet. Doch muß man die elementaren Grundſätze des Schifffahrtsweſens als einen integriren - den Theil der Verwaltung des Verkehrsweſens betrachten.

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Das Schifffahrtsweſen hat eine beſchränkte, aber zum Theil ausgezeichnete Literatur und Geſetzgebung. Man muß im Allgemeinen ſagen, daß ſich die letztere in zwei große Epochen theilt. Die erſte geht vom Anfange der Handels - ſchifffahrt (12. Jahrh. ?) mit dem Seerecht von Oleron bis zur Mitte des ſieb - zehnten Jahrhunderts; ihr gehören neben der Roole des jugemens d’Oleron der Guidon de la mer, das berühmte Consolato del mare (13. Jahrh. ), das Wisby’ſche Seerecht, das hanſeatiſche Seerecht und mehrere andere. Voll - ſtändige Sammlung von Pardeſſus, Collection des lois maritimes jusqu’au 18. siècle 1828; vgl. Pöhls Seerecht Bd. I. S. 11 ff. ; Beneke, See-Aſſecuranz - recht I. S. 6 f.; reiche Literatur bei Berg, Polizeirecht III. 563; Mitter - maier, Deutſches Privatrecht, §. 541; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. S. 270 (Schifffahrtspolitik und Verträge). Die zweite Epoche beginnt mit der Navigationsakte (Büſch, Geſchichte der engliſchen Navigationsakte) und der Ordonnance de la Marine von 1681, welche letztere als ein Muſter der Geſetzgebung nicht bloß die unvollkommene Nachbildung des preußiſchen See - rechts von 1727 und der unvollſtändigen des öſterreichiſchen im Editto poli - tico di navigazion mercantile von 1774 erzeugte, ſondern auch die maßgebende Grundlage des Code de commerce und aller aus demſelben hervorgehenden Handelsgeſetzbücher im ganzen Weſten von Europa geworden iſt, während Deutſchlands Handelsgeſetzbuch das Seerecht faſt ganz übergeht. Der Charakter der öffentlichen Rechtsbildung der erſten Epoche iſt die Entwicklung des See - rechts im eigentlichen Sinne, der Charakter der zweiten iſt die Aufnahme der Elemente der Schifffahrtsverwaltung und ihre ſyſtematiſche Ver - arbeitung neben dem erſteren, und zwar in der Weiſe, daß Englands Rechtsbildung durch die Navigationsakte ſich faſt ausſchließlich auf den Schutz der eigenen Flagge im großen Seeverkehr beſchränkt, Frankreichs Geſetz - gebung dagegen zugleich das Seerecht höchſt ſyſtematiſch und praktiſch ausbildet und die Schifffahrtsverwaltung zur Staatsangelegenheit macht, Deutſchland dagegen in den Hanſeſtädten (Hamburg) das Seerecht ohne Verwaltung, und in Preußen und Oeſterreich die Verwaltung ohne Seerecht (mit Aus - nahme des Editto) entwickelt. Daraus ergibt ſich, daß Seerecht und Ver - waltung nicht bloß die beiden ſyſtematiſchen Gebiete des Schifffahrtsweſens find, ſondern auch jedes für ſich ihre ſelbſtändige Geſchichte haben. Die Literatur iſt bisher faſt nur für das Seerecht von Werth; in England als Sammlung von Urtheilen; in Frankreich als Commentar der Ordonnance (Valin) und des Code de commerce; in Deutſchland als wiſſenſchaftliche Be - handlung. Hier ſteht ohne Zweifel Pöhls in ſeinem Seerecht (als 3. Theil ſeines Handelsrechts) und See-Aſſecuranzrechts 1832 oben an (1830, 2 Bde.). Hartes Urtheil deſſelben (p. VI. ) über Beneke, Syſtem des Aſſecuranz - und Bodmereiweſens (4 Bde. 1810); nicht unbegründet. Das Seekriegsrecht in den verſchiedenen Völkerrechtslehren; das Conſulatweſen in dem reich - haltigen Handbuch des Conſulatweſens von L. Neumann 1854, nebſt An - hang der öſterreichiſchen Schifffahrtsgeſetze. Die deutſchen Privatrechte haben viel zerſtreutes hiſtoriſches Material, bei weitem am beſten Mittermaier a. a. O. Die Angaben bei Mohl, Polizeiwiſſenſchaft Bd. II. §. 169 ff.191 nicht von Bedeutung. Von den Territorialrechten haben nur Rönne, Staats - recht II. §. 396 und Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. S. 531 dar - auf Rückſicht genommen; der erſtere faßt das Ganze leider nur als Gewerbe auf, der letztere gibt einen Auszug aus dem Editto, ohne Eingehen auf die Sache. Die Beſtimmungen über Verhüten des Zuſammenſtoßens der Schiffe auf offener See: Gegenſtand der Geſetzgebung und internationale Ver - träge (ſ. Preußen, Geſetz vom 22. Febr. 1864); Zuſtimmung der übrigen Seeſtaaten; Organiſirung des Schifffahrtsweſens und eigene Schifffahrtsord - nung (Geſetz vom 26. März 1864).

A. Seerecht. Weſen und Gebiete.

Das Seerecht umfaßt daher die Geſammtheit derjenigen Modiſi - kationen des bürgerlichen Sachen -, Perſonen - und Vertragsrechts, welche durch die Natur des Schiffes und der Schifffahrt gefordert werden, und die mithin als rechtliche Bedingungen des Seeverkehrs zum gelten - den öffentlichen Recht erhoben ſind. Das Gebiet des Seerechts iſt demnach ſtrenge begränzt auf die Rechtsverhältniſſe zwiſchen den einzelnen bei der Schifffahrt betheiligten Perſonen; daß in die See - geſetze auch Gegenſtände des Seeverwaltungsrechts aufgenommen ſind, ändert natürlich an der Sache nichts. Die Gebiete deſſelben ſind folgende.

a) Das ſpecifiſche ſeerechtliche Sachenrecht erſcheint für das Schiff in den Beſtimmungen über den Bielbrief (Eigenthumsrecht), der Bodmerei (Seepfandrecht) und dem Abandon (Recht des Caſus). Für die Ladung in dem Recht des Seewurfs (lex Rhodia), dem Strandrecht und dem Bergerecht.

b) Das ſeerechtliche Perſonenrecht iſt in dem Rechte des Ca - pitäns über die Mannſchaft gegeben, ſpeciell in dem Disciplinar - Strafrecht deſſelben, in dem Strafrecht für Deſertion, und der ſtrengen Organiſation des Rechts auf Befehl und Gehorſam.

c) Das ſeerechtliche Vertragsrecht enthält zwei große Theile. Der erſte iſt einerſeits das Recht der Fahrt zwiſchen Capitän und Eigenthümer, und andererſeits das Recht der Verfrachtung zwiſchen Schiffer und Rheder. Der zweite iſt das wichtige Gebiet der See - verſicherung, die hier vermöge der beſondern Verhältniſſe des Scha - dens zur See (der Havarie), eine eigenthümliche, höchſt entwickelte Geſtalt des Schadenverſicherungsweſens, und mit ihr eine ausgebildete Geſetzgebung und Jurisprudenz erzeugt.

d) Die Elemente dieſes Rechts ſind nun ſchon in den alten See - rechten vorhanden; die große Entwicklung der transatlantiſchen Schiff - fahrt hat dazu das letzte Element als organiſches Mittel der Sicherung192 der Anſprüche und als Analogon der Handelsbücher in den Schiffs - büchern, die Pflicht zu ihrer Führung und dem Rechte ihrer Beweis - kraft hinzugefügt; ſie ſollten in allen Landen einen weſentlichen Be - ſtandtheil des Seerechts bilden.

Die Ausbildung dieſes Seerechts iſt noch ungleichmäßig. England: In privatrechtlicher Hinſicht ſind die engliſchen Geſetze ſehr mangelhaft. Pöhls I. 33. Frankreichs Ordonnance de la Marine iſt ein Muſter für alle Theile, mit Ausnahme der Schiffsbücher, die erſt im Code de commerce (Livre II. du commerce maritime) ihre volle Entwicklung findet; die Aſſe - curanz iſt jedoch in allem Weſentlichen trefflich organiſirt. Das öſterreichiſche Editto hat das Perſonen - und Vertragsrecht nach franzöſiſchem Muſter vor - trefflich; Aſſecuranz fehlt; die Literatur ſowie die genaue Zuſammenſtellung aller Geſetzgebungen über jeden Punkt bei Pöhls, Bodmerei und Aſſecuranz in den deutſchen Privatrechten; namentlich bei Mittermaier mit kurzer Gründ - lichkeit als Theil des Rechts der Forderungen II. §. 303 ff. Rönne hat zwar das Seerecht weggelaſſen, dagegen das Flußſchifffahrtsrecht aufgenommen II. 399, während die Frage, ob die Grundſätze des Seerechts auch auf Flußſchifffahrt Anwendung finden, bei keinem Geſetz oder Schriftſteller zur Erwägung gelangt. Es iſt klar, daß dieß nicht ganz der Fall ſein kann; wie weit das aber thunlich? Das deutſche Handelsgeſetzbuch iſt arm, ſeine Exegeten hier nicht reich.

B. Die Schifffahrtsverwaltung in Schutz und Förderung.

Die Schifffahrtsverwaltung entſteht nun neben dem Seerecht durch die Erkenntniß, daß die Schifffahrt als weſentliches Element der all - gemeinen volkswirthſchaftlichen Entwicklung durch die Thätigkeit des Staats diejenigen Bedingungen fordern müſſe, welche die Schiffer ſo wenig als die Rheder ſich ſelbſt verſchaffen können. Sie löst ſich erſt im ſieb - zehnten Jahrhundert von dem Seerecht ab; ihr erſtes Gebiet iſt das der Navigationsgeſetze zum Schutz der eigenen Flagge in der internationalen Concurrenz auf dem Gebiete des Welthandels; ihr zweites, zwar gleichzeitig in den Anfängen entſtehendes, aber mit dem neunzehnten Jahrhundert entwickeltes Gebiet iſt das der Maßregeln zur Hebung der Schifffahrt auf Grundlage des freigewordenen Welthandels. Jeder dieſer Theile hat ſeine Geſchichte und ſein Syſtem. Die Elemente der - ſelben ſind folgende.

A. Der Schutz der Schifffahrt im internationalen Verkehr ent - ſteht mit der Navigationsakte von 1651 als geſetzliches Princip der völligen Ausſchließung jeder Schifffahrtsconcurrenz im eigenen Handel; ſein zweites, gemildertes Stadium, weſentlich von Frankreich ausgehend, iſt das der Differentialabgaben von fremden Flaggen in den eigenen Häfen; beide bilden den Grundſatz der Nationalität193 einerſeits des Schiffes und andererſeits der Mannſchaft zu einem ganzen Syſtem von Beſtimmungen aus, die dann bis auf die neueſte Zeit beibehalten werden. Beide Syſteme der direkten und indirekten Prohi - bition werden dann ſeit dem achtzehnten Jahrhundert ſchrittweiſe ge - mildert und abgeſchwächt durch die Handels - und Schifffahrts - verträge, deren Baſis faſt immer die Gegenſeitigkeit in dem Erlaß der Differentialabgaben ( Gleichſtellung mit den meiſt begünſtigten Nationen ) iſt; nur in dem Syſtem der Küſtenſchifffahrt (Cabotage) bleibt die Ausſchließung des Fremden beſtehen, und auch das nur für einzelne Länder. So geht die Entwicklung auf dieſem Gebiete der Frei - heit des Verkehrs entgegen, und der Schwerpunkt der Verwaltung fällt mit unſerem Jahrhundert in das Gebiet des zweiten folgenden Theiles.

B. Die Förderung der Schifffahrt beginnt allerdings auch hier mit dem Verſuch, durch Belohnungen aufzumuntern, der jedoch bald verſchwindet und in vielen Ländern gar nicht Platz greift. Anſtatt derſelben entwickelt ſich allmählig aber ſicher ein Syſtem von Anſtalten, deren Grundlage mehr und mehr der einzig richtige Gedanke iſt, daß die Verwaltung nie die Sache ſelbſt, ſondern nur die Bedingungen ihrer Entwicklung zu geben hat. Jeder der Theile dieſes Syſtems hat nun wieder ſeine Geſchichte und ſeine Ordnung: die weſentlichen ſind folgende.

Zuerſt haben die Verwaltungen des Continents in den Navi - gationsſchulen ein Fachbildungsſyſtem hergeſtellt, und zugleich die letzteren in der Form von Zeugniſſen (Patenten) zur rechtlichen Bedin - gung der Schiffsführung gemacht (Steuermannsexamen; Patente für kurze und lange Fahrt ꝛc. ) Zweitens beziehen ſich die öffent - lichen Einrichtungen auf Hülfsanſtalten für die Fahrt der Schiffe, je mit eigener Ordnung; Lootſenweſen, Leuchtfeuer und Thürme; Baken - weſen. Drittens entſtehen Hülfsanſtalten und Ordnungen theils für die elementaren Seegefahren, Rettungsanſtalten u. ſ. w.; theils für erwerbsunfähig gewordene Seeleute in den Marinehoſpitälern. Viertens endlich iſt die eigentliche Schifffahrtspolizei ſyſte - matiſch entwickelt, und zwar wieder theils für die Fahrten in den ge - ſetzlich ſanktionirten Signalordnungen, theils für die Häfen in den Hafenordnungen, theils für die Dampfſchifffahrt in der Polizei der Dampfmaſchine, theils endlich für Mannſchaft und Paſſagiere in der Ueberwachung der Proviantvorräthe und der Pflicht zur Auf - ſtellung von Schiffsärzten. Für die Vollziehung dieſer Anordnungen, ſowie überhaupt für thätige Ausführung der Schifffahrtsverwaltung ſind eigene Organe geſchaffen; die Vertretung der Intereſſen der Schifffahrt in fremden Häfen iſt einem ſehr ausgebildeten Conſulat -Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 13194ſyſtem übergeben, und ſo iſt das Schifffahrtsweſen der neuſten Zeit auf ſeine wahren Elemente, die Kraft und Tüchtigkeit des Einzelnen unter der Hülfe des Staats zurückgeführt.

Charakteriſtiſcher Unterſchied namentlich Englands von Frankreich und den meiſten nach Frankreichs Muſter arbeitenden Völkern, daß England bis zur neueſten Zeit die Aufgabe der Schifffahrtsverwaltung von jeher mit Ausnahme der Navigationsakte ganz der privaten Thätigkeit überließ; nur die registry act für die Eintragung der Schiffe in die öffentlichen Schiffscatafler (26. G. III. 1786) hat für Europa die letzteren ins Leben gerufen; dafür mangeln ſogar Vorſchriften über die nöthigen Schiffspapiere (Pöhls I. 33). Dann er - ſcheint die große Merchant Shipping Act von 1854 (17. 18. Vict. 104), welche allerdings ein vollſtändig ausgebildetes Seerecht enthält, und zugleich die Schiff - fahrtsordnung beſtimmt. Dazu die Merchant Shipping Amendement Act 18. 19. Vict. 91. Organiſation unter dem Board of Trade; über Lootſen ꝛc. örtliche Statutes. Rettungsanſtalten durch Vereine. Frankreichs Ecole de navigation, ſtrenge Hafenordnungen unter den Hafencapitänen ſchon nach der Ordnung von 1681. Das Hafenweſen in England wird für jeden einzelnen Hafen, beſonders für die Landungsplätze, nebſt den Hafenabgaben beſonders geordnet; daher die beſtändig wiederholten Pier and Harbour Acts in den engliſchen Parlamentsakten. Allgemeine Hafenordnung 24. 25. Vict. 45. (Unternehmungen unter Oberaufſicht der Admiralty); dem nach - folgend das öſterreichiſche Editto von 1774; lokales Recht in den Hanſeſtädten. Organiſation unter dem Marineminiſterium nach franzöſiſchem Vorbild; in Oeſterreich das höchſt nützliche Organ der Centralſeebehörde in Trieſt ſeit 1851 (vergl. Stubenrauch I. §. 19. 50). In Preußen und Oeſterreich Navi - gationsſchulen; Einrichtung und Rechte der Prüfungen (Rönne II. 454; Regulativ vom 24. April 1863; Stellung des Navigationsdirektors ebend. und II. §. 228). Lootſen - Barken - und Leuchtthurmweſen in einzelnen örtlichen Verordnungen und Regulativen (Stubenrauch I. 515; Lootſen - corps von Trieſt 1850). Preußen: Rönne II. §. 398. Hülfe im Auslande durch die Conſuln: Rönne ebend. (Verordnung vom 4. Okt. 1832). Sardi - nien: neueſte Schifffahrtsgeſetzgebung für die Handelsmarine (Codice marit - timo vom 26. Juni 1865). Die Behandlungen des Seerechts haben alle dieſe Gegenſtände nicht aufgenommen; eine ſelbſtändige Bearbeitung der Schiff - fahrtsverwaltung im Sinn einer Geſammtauffaſſung mangelt.

Zweiter Theil. Die Verkehrsanſtalten. Begriff und Weſen der drei Grundformen.

Die Verkehrsanſtalten eröffnen nun ein anderes Gebiet.

So wie die Geſittung eines Volkes höher ſteigt, genügt das Ver - kehrsmittel, zu deſſen Benützung die individuelle Thätigkeit nothwendig iſt, die nicht immer alle Bedingungen beſitzt, der Idee des Verkehrs nicht mehr. Je klarer es wird, daß der Fortſchritt aller Einzelnen195 auf der möglichſt lebendigen Berührung derſelben untereinander ſowohl in geiſtiger als in wirthſchaftlicher Beziehung beruht, wird es zur Auf - gabe der Verwaltung, dieſe Berührung durch eigene Anſtalten herzu - ſtellen und durch die Thätigkeit derſelben jene Gegenſeitigkeit der Ein - zelnen und jene Gemeinſchaft des Ganzen ſelbſtthätig ins Leben zu rufen, welche die abſolute Vorausſetzung aller Civiliſation iſt. Aller - dings entſtehen dieſe Anſtalten langſam und breiten ſich auch langſam über alle Verhältniſſe aus; allein dennoch iſt dieſe Ausbreitung eine unwiderſtehliche, und ſo bildet ſich allmählig ein ſelbſtwirkendes Syſtem, welches den Geſammtverkehr in ſich aufnimmt, organiſirt und weiter führt. Die Geſammtheit dieſer Anſtalten nennen wir die Verkehrs - anſtalten.

Dieſe Verkehrsanſtalten haben nun drei Grundformen. Sie ſind die Poſt, die Eiſenbahnen mit der dazu gehörenden öffentlichen Dampfſchifffahrt und die Telegraphen. Scheinbar durch äußer - liche Anläſſe und Erfindungen entſtanden, bilden ſie dennoch ein inneres Syſtem, und zwar indem jede derſelben eine beſtimmte Funktion erfüllt, ſo daß ſie obwohl geſchieden und verſchieden, dennoch in Wahr - heit ein Ganzes ſind, das zuletzt den Ausdruck Eines Gedankens bildet und daher auch von Einem Princip beherrſcht wird. Die Poſt iſt das - jenige Organ, welches den individuellen Verkehr vermittelt, die Eiſenbahn iſt der Verkehrsorganismus für die Bewegung des Geſammt - verkehrs der Maſſen in Perſonen und Gütern, der Telegraph beſtimmt ſich von ſelbſt für den Verkehr des Augenblicks. Techniſch und mechaniſch laſſen ſich dieſe Anſtalten ſehr viel weiter entwickeln; orga - niſch aber ſcheint mit ihnen die Baſis des geſammten ſelbſtthätigen Verkehrs gegeben zu ſein. Sie ſind daher alle drei in jedem civiliſirten Volke vorhanden und thätig; an ihrer Weiterbildung wird auf allen Punkten der Erde mächtig gearbeitet; ſie wirken unwiderſtehlich dem - ſelben Ziele auf allen Punkten entgegen; ſie verwiſchen die Gränzen aller hiſtoriſchen und nationalen Beſonderheit; beginnend bei dem inneren Leben eines Staates, ſchreiten ſie, ſelbſt durch Unglück und Krieg nicht aufgehalten, beſtändig fort, und indem ſie die Länder und Völker in unermüdeter Arbeit verbinden, erzeugen ſie ein Geſammt - leben der Welt, das ohne ſie nicht möglich wäre, für das die frühere Geſchichte kein Beiſpiel hat und das als die lebendige Grundlage alles Fortſchrittes angeſehen werden muß. Und ſo groß iſt die Gewalt dieſer vielleicht mächtigſten Thatſache unſeres Jahrhunderts, daß ſie ſogar die Selbſtändigkeit der einzelnen Staaten in Geſetzgebung und Ver - waltung ſich zu unterwerfen gewußt hat. Ihre Funktionen und ihre Bedürfniſſe ſind Weltthatſachen, und die einzelnen Staaten, indem ſie196 ſich den letzteren willig fügen, werden damit gleichſam zu Vollzugs - organen dieſes allgemeinen Lebens; die geltende Ordnung für jene An - ſtalten iſt vorwiegend eine internationale, und die ſtaatlichen Geſetz - gebungen ſind gezwungen, ſich dem anzuſchließen, was in dieſen internationalen Ordnungen gemeinſchaftlich feſtgeſtellt wird, weil der Weltverkehr es fordert. Wege und Brücken baut der Staat für ſich und ordnet und verwaltet ſie wie er will; allein der Zug des Poſtwagens, der Lokomotive und des elektriſchen Funkens, der über beide hinaus - geht, gehört nicht mehr ihm. Es iſt ein großes und gewaltiges Bild, das ſich uns hier entwickelt.

Das ſtatiſtiſche Bild nun wird zum Gegenſtande der Wiſſenſchaft, indem für daſſelbe die beiden allgemeinen Kategorien gelten, die wir dem ganzen Gebiete zum Grunde gelegt haben. Die Verwaltung dieſer Theile beſtimmt das, was der Staat für jede Grundform der Verkehrsanſtalt zu thun hat; das Recht formulirt die Verhältniſſe, welche aus der Thätigkeit derſelben in Beziehung zu den Einzelnen hervorgeht. Wir haben daher von einer Poſtverwaltung und einem Poſtrecht, von Eiſenbahnverwaltung und - recht und von Telegraphen - verwaltung und - recht zu reden. Das ſind die Elemente aller ſyſte - matiſchen Behandlung dieſer Gebiete.

So verſchieden nun auch dabei die letzteren im Einzelnen ſind, ſo gleichartig und einfach iſt die Grundlage, auf der ſie ſich entwickeln. Dieſe Grundlage iſt der Sieg der Idee der Verwaltung über das hiſtoriſche Rechtsprincip, ein Proceß, der ſich in verſchiedener Weiſe in jedem Theile gleichartig wiederholt.

Alle Verkehrsanſtalten ſind nämlich in erſter Reihe als unzweifel - haft allgemeine Angelegenheiten Sache des Staats. Dieß Recht des Staats auf die Verkehrsanſtalten heißt das Regal. Alle Ver - kehrsanſtalten ſind daher grundſätzlich Regalien. Als Regalien ſind ſie urſprünglich nur Einnahmsquellen; ihre große Verkehrsfunktion wird dieſem Princip unbedenklich untergeordnet. Das bleibt ſogar, als man ſchon mit dem achtzehnten Jahrhundert den allgemein volkswirthſchaft - lichen Werth derſelben zu verſtehen beginnt, und erhält das ausſchließ - liche Recht des Staats gegenüber jeder Privatthätigkeit auf dieſem Gebiet. Erſt mit dem neunzehnten Jahrhundert und dem Auftreten der Eiſenbahnen wird es anders. Der Staat gibt auch hier zum Theil ſeine Regalität auf; die Verkehrsanſtalten werden Gegenſtand von Privatunternehmungen, und jetzt entſteht die entſcheidende Frage über das Verhältniß der Verwaltung zum Rechtsbegriffe und ſein Inhalt. Hier nun ſiegt die höhere Idee des Verkehrsweſens auf jedem Punkte und die alle jene Gebiete beherrſchenden Grundſätze ſind von jetzt an,197 daß die Benützung aller dieſer Verkehrsanſtalten für alle ohne Unter - ſchied gleich, frei und gemeinſam ſein ſollen, daß ſie als Quelle von Einnahmen nur ſo weit gelten dürfen, als dadurch ihre große volks - wirthſchaftliche Funktion nicht geſtört wird, und endlich daß auch alle Privatunternehmungen für den Verkehr als öffentliche An - ſtalten gelten und daher ſich dem öffentlichen Recht zu unterwerfen haben. Aus der ſyſtematiſchen Anwendung dieſer leitenden Grundſätze auf die drei erwähnten Gebiete entſteht dann das Syſtem des Rechts der Verkehrsanſtalten, das allerdings in den verſchiedenen Ländern in ſeinen Principien zwar weſentlich gleich, in ſeiner Ausführung dagegen vielfach tiefgehend modificirt iſt.

Eine gemeinſchaftliche Literatur über das ganze Gebiet der Verkehrsan - ſtalten fehlt; die Polizeiwiſſenſchaft hat nur die allgemeinſten Geſichtspunkte feſtgehalten. Auch die einzelnen Theile ſind noch ſehr ſporadiſch und unſyſte - matiſch behandelt; das techniſche Element bildet neben der einfachen Statiſtik faſt den ausſchließlichen Inhalt. Erſt in neueſter Zeit iſt das juriſtiſche Element hinzugekommen. Im Allgemeinen aber ſehen wir auch hier den Charakter der drei großen Staaten wieder ausgeprägt. Frankreich iſt klar, einfach, aber im höchſten Grade adminiſtrativ; England hat der Selbſtverwaltung und dem Ver - einsweſen viel, oft zu viel überlaſſen; in Deutſchland ſucht man nach der Ver - einigung beider Principien. Dieß iſt nun wieder ſehr verſchieden, je nachdem es ſich um Poſt, Bahnweſen oder Telegraphen handelt, ſo daß die Einheit der Auffaſſung beſtändig zu verſchwinden droht. Dennoch ſind ſie ein Ganzes, und von denſelben Principien beherrſcht und in ihrer Entwicklung beſtimmt. Es iſt die Aufgabe der Verwaltungslehre, eben dieß feſtzuhalten.

I. Das Poſtweſen. Natur ſeiner Funktion und Elemente ſeiner Geſchichte.

Das Poſtweſen beruht darauf, daß der beſtändige, tägliche, regel - mäßige Verkehr der Einzelnen eine der großen Bedingungen aller Entwicklung iſt, welche ſich der Einzelne nicht ſchaffen kann. Die An - ſtalt, durch welche der Staat dieſe Bedingung herſtellt, iſt das Poſt - weſen. Die wiſſenſchaftliche Behandlung des Poſtweſens enthält daher die Lehre von den Bedingungen und Ordnungen, durch welche das Poſtweſen dieſe organiſche Funktion zu erfüllen im Stande iſt und welche wieder in die beiden Kategorien der Poſtverwaltung und des Poſtrechts zerfällt.

Bevor jedoch das Poſtweſen in dieſem höheren Sinne aufgefaßt und verwaltet worden iſt, ſind Jahrhunderte unter ſehr verſchiedenen Verſuchen hingegangen. Regelmäßige Verbindungen zum Zwecke der Regierung haben wohl in allen Staaten der Welt Platz gefunden. 198Das, was wir das Poſtweſen nennen, beginnt jedoch erſt da, wo dieſe Regierungsanſtalten auch den Verkehr der Einzelnen in ſich auf - nehmen. Dadurch entſteht die erſte Epoche des Poſtweſens, in welcher die Regierungspoſt noch die Hauptſache iſt und die Briefe der Einzel - nen nur noch mitgenommen werden. Sie geht ungefähr bis zum achtzehnten Jahrhundert. Die zweite Epoche ſteht bereits auf dem Standpunkt, die Beförderung des Einzelverkehrs als ſolche zur Auf - gabe der Poſt zu machen, und daher ſich, wenn auch nur langſam und unvollkommen, nach den Bedürfniſſen des Verkehrs ſtatt wie früher nach denen der Regierung zu richten. Es entſtehen daher in dieſer zweiten Epoche bereits die drei formalen Kriterien einer jeden wirklichen Poſtverwaltung, die centrale Organiſation, die örtliche Aus - dehnung und Ordnung der Poſtlinien und Poſtſtationen und der Unter - ſchied von Brief - und Fahrpoſt, nebſt dem dazu gehörigen Syſtem der Poſtgebühren. Allein noch iſt das ganze Poſtweſen vorzugsweiſe eine Einkommensquelle und die Forderung eines von derſelben zu er - zielenden Reinertrags wird noch immer für alle Theile des Poſtweſens ausſchließlich maßgebend. Erſt im neunzehnten Jahrhundert entſteht unter heftigen Kämpfen der Gedanke, daß die Poſt nicht ſo ſehr ein finanzielles Inſtitut, als vielmehr eine Verwaltungsanſtalt ſein ſolle; und jetzt entwickelt ſich auf Grundlage dieſer Idee das Poſtweſen der Gegenwart, das in Princip, Syſtem und Ausführung eine der großartigſten Erſcheinungen aller Zeiten iſt. Die Elemente deſſelben ſind folgende.

Die Geſchichte des Poſtweſens in Deutſchland, wo man zuerſt über das - ſelbe nachgedacht hat und zuletzt zu einer tüchtigen Verwaltung der Poſt ge - langt iſt, beruht von Anfang an auf dem Gegenſatz zwiſchen dem Kaiſer und den Reichsſtänden mit ihrem Territorialrecht. Erſte regelmäßige Poſt 1516 zwiſchen Wien und Brüſſel, beſorgt durch die Familie Taxis, erſte Anerkennung als Reichspoſt (Reichsabſchd. 1522); darauf Entſtehung einzelner Linien; Reichs - poſt als Regal des Kaiſers; Verleihung an Taxis 1615; zugleich territoriale Poſtlinien; der Kampf zwiſchen beiden bricht aus; Ausbreitung des Verkehrs durch die einzelnen Reichsſtände; vergebliche Verſuche des Kaiſers, hier zu helfen: J. P. Osn. Art. 9. §. 1 ut immoderata postarum onera et impedi - menta tollantur. Das Haus Taxis erwirbt indeſſen durch Verträge die Poſt in vielen Kleinſtaaten; dagegen führt Oeſterreich ſein eigenes Poſtweſen ein (1624 Verleihung an das Haus Paar); die meiſten norddeutſchen Staaten be - halten ihr Territorialpoſtweſen. Unter dem Streit über die Gränze der Reichs - regalität geht faſt das Poſtweſen zu Grunde; vergebliches Bemühen der kaiſer - lichen Regierung Gleichheit und Ordnung herzuſtellen (Wahlcapitulation 1. 8 ; Moſer, Reichstagsgeſchäfte S. 1370; weitläuftige Literatur über die Regalität Klüber, öffentliches Recht §. 434 ff.) Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 4. Buch,199 16. Hauptſt. §. 436 ff. Häberlin, Handbuch des deutſchen Staatsrechts III. 65; Pütter, Reichspoſtweſen (Erörterungen, Heft I.). So entſteht in der ganzen Literatur die Klage über das Poſtweſen, und der, nur aus den damaligen Ver - hältniſſen erklärliche Wunſch, daß das Reichspoſtweſen dem Hauſe Taxis aus - ſchließlich übergeben werden möge (Berg, Polizeirecht III. S. 553 ff. ; Bergius, Polizei - und Cameral-Magazin Bd. VII. 149 ff.). Die Folge war allerdings die höhere Auffaſſung des Poſtweſens überhaupt; die Poſten ſind nichts anderes als eine Polizeianſtalt zur Bequemlichkeit des gemeinen Weſens und Beför - derung der Commerzien und Gewerbe (Bergius a. a. O. S. 151); das Hauptwerk in dieſer Richtung iſt Klübers Schrift: das Poſtweſen in Teutſch - land 1811 ( Weder als Gewerbewucher der Unternehmer, noch als unmittel - bare Quelle der Staatsfinanzen iſt die Poſt zu behandeln S. 144 ff.). Damit ward die Frage angeregt, ob denn überhaupt die Regalität der Poſt richtig ſei, oder die volle Freigebung; für die letztere beſonders Lotz, Staats - wirthſchaftslehre III. S. 152 ff. ; für die Regalität beſonders Malchus, Finanz - wiſſenſchaft I. S. 132 ff. Unterdeſſen ſchreitet allerdings die Territorialgeſetz - gebung vorwärts; eine Reihe von Poſtgeſetzgebungen am Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in den verſchiedenen Staaten bei Berg und Klüber a. a. O.; die preußiſche von 1782 und die Beſtimmungen des Allgem. Landrechts II. 15. 4 bei Rönne, Staatsrecht II. §. 424 nebſt der preußiſchen Poſtliteratur. Das deutſche Poſtweſen und ſein Recht während des Rheinbundes und unter dem deutſchen Bunde: (Klüber, öffentliches Recht §. 434 und ein wenig in den Staatsrechten. Entwicklung der Poſtverwaltung und ihrer ſtrengern Organiſation in den erſten Jahrzehnten; Poſtgeſetzgebung in den dreißiger Jahren; namentlich Oeſterreich (Poſtgeſetz von 1837, Stuben - rauch II. §. 528). Von da an beginnt die gegenwärtige Epoche; allmählige Einführung des Briefmarkenſyſtems und daran Anſchluß der Poſtverträge und der Poſtvereine ſeit 1850. Die Gedanken des Anfangs dieſes Jahrhunderts tragen den vollſtändigen Sieg über die finanzielle Behandlung davon; das Poſt - weſen ſpaltet ſich gleichſam in zwei Theile: die internationale Poſtverwaltung auf Grundlage des deutſch-öſterreichiſchen Poſtvereins (vom 6. April 1850) und des deutſch-öſterreichiſchen Poſtvereinsvertrags vom 5. Dec. 1851, deſſen definitive Geſtaltung der neue Poſtvereinsvertrag vom 18. Aug. 1860 bildet. Von da an empfängt die ganze Poſtverwaltung der deutſchen Staaten einen andern Charakter: die territoriale Poſtverwaltung wird die Executive für die Beſtimmung des internationalen Poſtrechts. Die territorialen Geſetze ſchließen ſich unmittelbar an jenen Vertrag an; nament - lich Oeſterreich (Organiſation von 1851 bis 1854; Stubenrauch I. §. 19 namentlich aber Deſſory, die öſterreichiſche Poſtverfaſſung 1848). Preußen: Poſtgeſetz vom 3. Juni 1852 und freiere Reform (Geſetz vom 21. Mai 1860. Rönne II. §. 424). Die Behandlung in der Literatur gewinnt gleichfalls einen neuen Charakter, und beginnt ſich wiſſenſchaftlich zu geſtalten; vorzüglich Hersfeld (Reform des Poſt - und Transportweſens 1841), deſſen bedeutender Nachfolger Hüttner (Beiträge zur Kenntniß des Poſtweſens 1847, 1848; beſonders das Poſtweſen unſerer Zeit 1854); Einfluß der engliſchen Reform;200 neue Ordnung des Portoſyſtems, jedoch noch immer Mangel an adminiſtra - tiver Einheit und ſyſtematiſcher Wiſſenſchaft. Allgemeiner Standpunkt ungefähr der von Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 173 ff.

In Frankreich hört das Princip der Verleihung der Poſten mit der Revolution auf; dagegen das Princip der ſtrengen Regalität feſtgeſtellt durch Geſetz vom 29. Aug. 1790 und folgende Geſetze; die Geſetze von 1793 und 1798 namentlich die Fahr - und Briefpoſtordnungen; dann nach der Reſtau - ration namentlich Entwicklung der Poſthaltereien im zweiten Jahrzehnt; neue Organiſation ſeit 1839 (Geſetz vom 11. und 21. Okt.). Charakter des franzöſiſchen Poſtweſens; feſte ſtrenge Centraliſation; Benützung der Meſſagerien, nach Englands Vorbild. Das frühere Poſtweſen Englands vom adminiſtra - tiven Geſichtspunkt am beſten bei Mac Culloch, Dict. of Commerce Bd. II, S. 517 527; das neuere vom finanziellen bei Bocke, Steuern des brittiſchen Reiches 1866 S. 265 ff. Die Literatur iſt ſeit einem Jahrzehnt faſt ganz ſtatiſtiſch; der einzige ernſthaft vertretene Geſichtspunkt iſt der der Billigkeit des Portos und die, faſt ſchon übertriebene Beſeitigung jedes finanziellen Ge - ſichtspunktes (ſ. unten). Daneben große und höchſt anerkennenswerthe Entwick - lung des Details, und andererſeits wachſende Ausbreitung des internationalen Poſtweſens durch Verträge.

A. Die Poſtverwaltung.

Nach der Ueberwindung des früheren finanziellen Standpunktes iſt das Princip der Poſtverwaltung, der Geſammtheit der Bevölke - rung einen allgemeinen, einheitlichen, leicht zugänglichen und billigen Organismus zur beſtändigen und regelmäßigen Vermittlung des Einzel - verkehres darzubieten.

Die Entwicklung dieſes Princips zu ſeinen Hauptaufgaben und Organen enthält das Syſtem der Poſtverwaltung.

Das Syſtem der Poſtverwaltung hat drei Gebiete: die Organi - ſation der Poſt, die Grundſätze des Poſtbetriebes und das Princip des Portos.

1) Organismus der Poſtverwaltung.

Die Organiſation der Poſtverwaltung ſoll die Einheit und Ver - theilung der Organe enthalten, durch welche jene Idee der Poſtverwal - tung im Ganzen wie im Einzelnen verwirklicht werden kann. Zu dem Ende zerfällt ſie in zwei Hauptkategorien.

1) An der Spitze der geſammten Verwaltung der Poſt ſteht die Generalpoſtdirektion mit den ihr untergeordneten Landespoſtdirek - tionen (unter verſchiedenen Namen), welche die Einheit und Gleich - mäßigkeit der Funktionen der Verwaltung aufrecht hält. Obwohl ſie formell bald dem Miniſterium der Finanzen, bald dem des Handels201 zugetheilt, bald ſelbſtändig iſt, iſt ſie ihrem Weſen nach ſtets dieſelbe; ſie hat ſelbſtändig die verordnende und oberaufſehende Gewalt und iſt ein Theil des Miniſteriums.

2) Die örtliche Funktion des Poſtweſens übernimmt das ört - liche Poſtorgan, die Poſtſtation. Die Beſonderheit der Aufgaben, welche dieß örtliche Organ zu vollziehen hat, löst daſſelbe wieder in verſchiedene Organe auf, deren Verbindung oder Scheidung, Rechte und Funktionen eben die Poſtgeſetze beſtimmen.

Die Grundlage für dieſe Organiſation iſt die Verſendung der Briefe; in ihr beſteht die weſentliche Funktion jeder Poſtſtation, der ſich alle anderen unter - und nebenordnen. Das Organ, welches dieſe Verſendung zu beſorgen hat, iſt die Poſtmeiſterei. Jene Verſendung ſelbſt beſteht in zwei Theilen: der Beſorgung der Briefbewegung im Ganzen (Briefpakete), welche durch den Poſtmeiſter geſchieht, und der Beſorgung der einzelnen Briefe an ihre Adreſſen (Austragung), wel - ches dem Briefbotenweſen unter dem Poſtmeiſter übergeben wird. An die Briefpoſt ſchließt ſich dann einerſeits die Perſonen - und anderſeits die Frachtpoſt an, zuſammengefaßt unter dem Ausdrucke der Fahrpoſt. Grundſatz iſt, daß Perſonen und Güter mit den Briefen in ſo weit ſogleich befördert werden ſollen, als dieß vermöge der Einrichtung der Briefpoſt thunlich iſt. Die Nothwendigkeit des freien Verkehrs fordert aber auch die Möglichkeit der außerordent - lichen Beförderung ſowohl von Briefen als von Perſonen und Gütern. Daraus entſteht die Verpflichtung der Poſtſtation, auch für dieſen Fall vorbereitet zu ſein (das Extrapoſt - und Expreſſenweſen). Das dafür beſtimmte Organ iſt die Poſthalterei. Der Poſtmeiſter kann zugleich Poſthalter ſein; ſie können aber auch getrennt ſein; feſt ſteht nur, daß jede Poſtſtation eine Poſthalterei haben muß mit Briefboten - und Extrapoſtweſen. Allgemeiner Grundſatz iſt, daß auf den Haupt - verkehrslinien der Schwerpunkt in der guten Organiſirung des Brief - botenweſens, auf den Nebenlinien dagegen in der der Poſtmeiſterei liegt.

Das entſcheidende Moment in der Entwicklung dieſes Organismus iſt die Beſeitigung der rein gewerblichen Stellung der Poſtmeiſterei, ſowie des letzten Reſtes der erblichen und Lehensrechte, und die Erhebung derſelben zu einem amtlichen Organismus, womit die eigentliche Verwaltung der Poſt beginnt. In Deutſchland geſchieht dieß definitiv erſt durch die Poſtgeſetze unſeres Jahrhunderts. Poſtweſen zur Zeit des deutſchen Bundes: Klüber §. 426; gut bei Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 303; Denkſchrift an die deutſche Nationalverſammlung vom 31. Mai 1848 von Hüttner (ſ. deſſen Beiträge II. S. 313 ff.). Geſchichte dieſer Entwicklung für Oeſterreich: Linden, Abhandlungen über Cameralgegenſtände 1842, S. 55 101; letztes202 Geſetz der alten Zeit (Poſtgeſetz vom 5. Nov. 1837) ebendaſelbſt; definitive amtliche Organiſation durch Entſchließung vom 7 15. Nov. 1851; von da an nur Ausbildung auf Grundlage der Poſtdirektion, Poſtämter und Poſtſtationen. Für Preußen: Geſchichte der preußiſchen Poſt von H. Stephan 1859. Auch hier hat erſt das Geſetz vom 5. Juni 1852 den richtigen Standpunkt durchgeführt (Rönne, Staatsrecht II. §. 424). Poſtweſen unter der Polizei (Publ. vom 16. Dec. 1808); dann unter dem Miniſterium des Innern (Ver - ordnung vom 27. Okt. 1810); dann 1848 unter dem Handelsminiſterium. Bayern: Berordnung vom 14. Nov. 1851; Pözl, bayeriſches Verwaltungs - recht §. 34 und 173 ff. Württemberg: Roller, württemb. Polizeirecht 1841; Scholl, das württemb. Poſtweſen 1838. Sachſen: Poſtverfaſſung des K. Sachſen 1849.

In Frankreich ward das ganze alte Rechtsverhältniß ſchon durch die Revolution aufgehoben und das amtliche Poſtweſen ſtrenge durchgeführt; ver - gleiche die reiche, jedoch vorzugsweiſe praktiſch-techniſche Literatur bei Block, Dict. v. Postes und Mohl, Polizeiwiſſenſchaft a. a. O. Englands früheres Recht bei Blackſtone I. 322. Hauptgeſetz, zum Theil als Codifi - kation des älteren Rechts, zum Theil als neue Organiſation auf Grundlage amtlicher Verwaltung und des neuen Poſtrechts (1. Vict. 32 36; vgl. Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. Bd. II. S. 814).

2) Organiſation des Betriebes.

Der Betrieb der Poſt iſt die Geſammtthätigkeit der obigen Organe der Poſtverwaltung. Aus der Bewegung der früheren Zeit hat ſich nun das gegenwärtige Princip des Poſtbetriebes entwickelt, wonach die Poſt in allen ihren Funktionen weder als Finanzquelle noch als Privatunternehmen, ſondern als Verwaltungsorgan für den perſön - lichen Verkehr dienen ſoll. Das Syſtem des Poſtbetriebes, das ſich daraus ergibt, beruht im Weſentlichen auf folgenden Elementen.

Erſter Grundſatz iſt, daß jeder Punkt des Staates in irgend eine möglichſt regelmäßige Briefverbindung mit dem Geſammtverkehr geſetzt werde, ſo wie daß die Extrapoſten gleichfalls nach jedem Punkt die Möglichkeit perſönlichen Verkehrs eröffnen.

Zu dem Ende iſt zweitens ein möglichſt einfaches Syſtem der Verbindungslinien herzuſtellen und nach Bedarf zu entwickeln. Das Organ dafür iſt das centrale Poſt-Coursbureau.

Die dritte Aufgabe iſt die Aufnahme und Ordnung einerſeits der verſchiedenen Briefſendungen (Briefe, Zeitungen, Kreuzband, Muſterſendungen und damit verbunden die Ordnung und Erleichterung der Geldſendungen (Regeln für Poſtvorſchüſſe und Poſtnachnahmen) andererſeits die möglichſte Verbindung der Perſonen - und Fracht - gutſendungen mit den Briefſendungen, um den erſteren die Schnellig -203 keit und Regelmäßigkeit der letzteren zu geben Syſtem der Malle - poſten.

Um dieſe Aufgaben nun auf die möglichſt billige und ſchnelle Weiſe zu erfüllen, tritt der Poſtbetrieb viertens in immer engere Verbindung mit allen auf regelmäßigen Perſonen - und Güterverkehr berechneten Unternehmungen, und hier entſteht ein neues Gebiet der Poſtverwaltung, das ſich nach zwei Richtungen entwickelt hat.

Die erſte beruht auf der theils conceſſionsmäßigen, theils ver - tragsmäßig formulirten Verbindung der Poſt mit den Eiſenbahnen und der Dampfſchifffahrt: Grundlage iſt die Verpflichtung der - ſelben, Briefe, Geldſendungen und die Poſtgüter (ſ. unten) entweder unentgeldlich (Poſtwaggons der Bahnen) oder gegen jährliche Abfindung oder Staatsſubvention (ſubventionirte Dampferlinien) mitzunehmen. Die einzelnen Fragen über Umfang dieſer Verpflichtung und Haftung bei derſelben ſind oft ſehr verwickelter Natur.

Die zweite dieſer Richtungen umfaßt das Verhältniß der Poſt zum Lohnfuhrweſen und hat das öffentliche Recht der Lohnfuhr erzeugt, das einen weſentlichen Theil des Poſtrechts bildet. Die volle Entwicklung dieſer Grundſätze tritt hiſtoriſch erſt da ein, wo die Staaten einerſeits die freie Bewegung des Perſonenverkehrs nicht mehr hemmen können und wollen (Beſeitigung des polizeilichen Paßſyſtems für Poſtreiſende), und andererſeits die wachſende Maſſe der Briefe die Aufmerkſamkeit auf den einzelnen Brief unmöglich macht (Beſeitigung des Kartirungſyſtems für Briefe). Das erſte verdanken wir den Bahnen, das zweite den Briefmarken. Erſt durch ſie iſt ein rationeller Poſt - betrieb zugleich unabweisbar und möglich geworden.

Der Poſtbetrieb iſt das Gebiet des Poſtreglements einerſeits, und der techniſchen Poſtliteratur andererſeits. In den meiſten Ländern eigene Poſt - verordnungsblätter (Verordnungsblätter für Verkehrsanſtalten u. ſ. w.). Die wiſſenſchaftliche Behandlung des Poſtbetriebes iſt faſt ganz verſchwunden, ſeit das Poſtweſen hier den Anforderungen der Zeit zu entſprechen verſteht (vgl. oben und Mohl, Polizeiwiſſenſchaft §. 133; Block, Dict. v. Postes). Das Syſtem der franzöſiſchen Messageries, die als Messageries impériales zu Perſonenpoſten und als Messageries publiques zu Lohnfuhrunternehmungen, aber der Poſt zum Dienſt verpflichtet ſind (gegenwärtig faſt 4000 ſolcher Unter - nehmungen) gut dargeſtellt ebend. v. Messageries.

3) Das Portoſyſtem.

Das Portoſyſtem iſt das Ergebniß eines langen Kampfes der Bedürfniſſe des Verkehrs und der Idee des Poſtweſens mit der Fähigkeit der letzteren eine finanzielle Einnahmsquelle zu bilden. Eine Geſchichte204 deſſelben fehlt noch trotz ihres großen Intereſſes. Man kann drei Grundformen unterſcheiden.

Die erſte hiſtoriſche Form entſteht daraus, daß die Poſt im Ganzen verliehen und verpachtet und die Poſtſtationen verkauft werden. Von einem ſtaatlichen Princip für die Höhe und das Syſtem des Portos iſt keine Rede, der ganze Poſtbetrieb iſt ein finanzielles Regal, jede einzelne Poſtſtation erſcheint als ein Unternehmen und der Poſt - meiſter beſtimmt die Taxe.

In der zweiten Epoche tritt bereits die Verwaltung ein. Sie ent - wickelt zwei Momente. Zuerſt regelt ſie geſetzlich die Taxe, anfäng - lich nach ziemlich rohem Ermeſſen, dann nach dem Syſtem der Ent - fernungen. Zweitens aber zieht ſie aus jeder Taxe eine finanzielle Einnahme und ſteigert daher die letztere ſo hoch als möglich. Dadurch entſteht ein zwar höchſt einſeitiges, aber doch geregeltes Syſtem ſowohl des Portos der Briefe als der Meilen und Fahrtaxen für die Fahr - poſt. Natürlich wird die Poſt jetzt einträglicher für den Staat, aber die Verhaltungskoſten, namentlich das Porto wachſen, während durch die Höhe des Portos bei ſteigender Entfernung der perſönliche Verkehr weſentlich auf örtlich enge Gränzen beſchränkt bleibt.

Dieß iſt erträglich, ſo lange Handel und Verkehr der einzelnen Unternehmungen nur ausnahmsweiſe weitere Kreiſe ſuchen. Es wird unerträglich, ſo wie das Geſammtleben durch die Eiſenbahnen und die Dampfſchifffahrt ſeine gewaltigen Dimenſionen auf jede einzelne Perſon zur Geltung bringt. Die bloße ſyſtematiſche Ordnung und Genauigkeit in der Beförderung, wie ſie die Geſetze der dreißiger Jahre erzeugen, reichen nicht aus. So entſteht ein ganz neues Princip, deſſen Grund - lagen die beiden Sätze ſind, daß bei einem feſten Minimalgewicht die Geſtehungskoſten des Poſtbetriebes nicht in dem Transport, ſondern in der Aufnahme und Abgabe der Briefe beſtehen, und daß das Baarzahlen bei der Frankirung theurer zu ſtehen komme als das Porto ſelbſt. Dieſe beiden Sätze in Verbindung mit dem oberſten Princip, daß das Porto nicht mehr principiell eine Einkommensquelle für die Finanzen bilden ſolle, bilden zuſammengenommen das gegenwärtige Portoſyſtem Europa’s, deſſen Gründer Rowland Hill iſt (1839 41) und deſſen Grundlagen das gleiche, niedrige und in Marken zu zahlende Porto ſind. Seine weitere Entwicklung empfängt dann daſſelbe theils durch Syſtemiſirung nach den Verſendungen (Briefe, Muſter, Zeitungen u. ſ. w.), theils durch das Syſtem der Rayons, die wieder in neueſter Zeit verſchwinden und an deren Stelle die Einheit der Länder tritt, während die Poſtverträge das Syſtem bereits durch gegenſeitige Zugeſtändniſſe über die ganze Welt ausgedehnt haben. 205Die Fahrpoſtentaxen bleiben dagegen naturgemäß territorial; das inter - nationale Syſtem derſelben hat man in den Conventionen der Eiſen - bahnen zu ſuchen.

Eine Geſchichte des Portoweſens mangelt; ſehr viele Klagen und ſehr viel einzelnes Material bei Klüber, Herrfeld, Müller, Reform des Poſt - weſens 1843. Die beſte Geſchichte des Entſtehens und der Kämpfe des Hill - ſchen Syſtems in Hüttner, Beiträge zur Kenntniß des Poſtweſens, 2. Jahrg. 1848. Den Kampf in Deutſchland bei Herrfeld und Müller. Die wich - tige Frage, ob dann das Herabgehen des Portoſatzes unter die Geſtehungs - koſten des Poſtbetriebes, wenn auch mit Ausſicht auf Ausgleichung durch ſpätere Zunahme, gerechtfertigt ſei, iſt wenig unterſucht. Ueber England vgl. Vocke a. a. O.; Morton Peto, On taxation 1863.

B. Das Poſtrecht.

Begriff.

Das Poſtrecht im weiteſten Sinne enthält nun die Geſammtheit von Rechtsverhäliniſſen, welche durch die Thätigkeit dieſer Poſtverwal - tung zwiſchen ihr und den Einzelnen entſtehen. Das Princip für das - ſelbe iſt die Modifikation des an ſich privatrechtlichen Beförderungs - unternehmens und Beförderungsvertrages durch das höhere adminiſtrative Weſen der Poſt. Das letztere iſt ausgedrückt im Begriff der Regalität. Das Poſtrecht erſcheint daher als das rechtliche Syſtem der Regalität der Poſt.

Dieſe Regalität aber hat zwei hiſtoriſche Grundformen. Sie iſt hier wie immer zuerſt eine reine finanzielle, welche die Poſt als Einnahmsquelle behandelt; dann wird ſie mit dem neunzehnten Jahr - hundert ein wirthſchaftliches Hoheitsrecht, in welchem das aus - ſchließliche Recht des Regals nur deßhalb und nur ſo weit aufrecht erhalten wird, als die ſtaatliche Funktion der Poſt es fordert.

Jeder Theil des Poſtrechts hat daher beide Epochen durchgemacht, und vermöge derſelben eine doppelte Geſtalt. Die Grundlage der Ent - wicklung aber iſt die Bewegung zur größeren Freiheit im ganzen Poſtweſen, welche zwar nicht das Poſtregal aufhebt, wohl aber es gegenüber der Einzelthätigkeit auf die möglichſt engen Gränzen zurück - führt. Es iſt keine Frage, daß wir in dieſer Beziehung noch vielfach im Uebergange, namentlich in den einzelnen Beſtimmungen der Regalität begriffen ſind. Um ſo nothwendiger iſt es, die feſten ſyſtematiſchen Grundlagen für das ganze Gebiet aufzuſtellen, um daran die weitere Entwicklung meſſen zu können.

Die Begriffe von der Regalität ſind überhaupt nur dadurch unklar, daß man regelmäßig bei dem hiſtoriſch begründeten finanziellen Regal ſtehen206 bleibt, ohne das Weſen des volkswirthſchaftlichen Hoheitsrechts als die zweite, freie Geſtalt deſſelben aufzunehmen. Daher kommt es, daß man in England und Frankreich, wo man das letztere gerade ſo gut als in Deutſchland beſitzt, weder Wort noch Bedeutung des deutſchen Regals kennt, während die deutſche Literatur daſſelbe bald als rein hiſtoriſch, bald ſtaatswiſſenſchaftlich behandelt (vgl. Stein, Finanzwiſſenſchaft, S. 138 ff. ); das neueſte bedeutende Werk: Gab, das deutſche Poſtrecht 1865. Einen weſentlichen Theil der Frei - heit in der Verkehrsbewegung iſt die des periodiſchen Perſonentrans - ports; vollkommene Freigebung in Oeſterreich (Geſetz vom 11. März 1865); jedoch unter Aufſicht.

Syſtem des Poſtrechts. Zwangsrecht, Poſtpflicht, Poſtſtrafrecht, Poſtnothrecht.

Die einzelnen Gebiete des Poſtrechts ſind nun das Poſtzwangs - recht, die Poſtpflicht, das Poſtſtrafrecht und das Poſtnothrecht.

1) Das Poſtzwangsrecht erſcheint als das Poſtregal im engeren Sinne, und enthält die ausſchließliche Befugniß der Poſt auf Beför - derung von Briefen, Perſonen und Gütern innerhalb gewiſſer geſetz - licher Gränzen.

Das Briefregal iſt der weſentliche Theil dieſes Poſtregals, der ſich noch erhalten hat. Es erſcheint als das geſetzliche Verbot, ſowohl durch eigene Unternehmungen als durch einzelne Perſonen Briefe zu befördern. Das Frachtenregal der Poſt iſt dagegen auf Güter von gewiſſem Gewicht beſchränkt. Das Perſonenregal endlich erſcheint nur noch in dem Grundſatz, daß Unternehmungen, welche die regel - mäßige Beförderung von Perſonen zum Zweck haben, nur unter Er - laubniß der Regierung beſtehen dürfen. Dieſe Erlaubniß (Conceſſion) iſt dann regelmäßig mit geſetzlicher Oberaufſicht, meiſt auch mit geſetz - lich beſtimmten Taxen verbunden, in vielen Fällen zugleich mit der Verpflichtung, die der Poſt ſelbſt zukommenden Perſonen, Güter und ſelbſt Briefe unentgeldlich oder gegen Entgelo mit zu befördern. Das daraus entſtehende Syſtem der Beförderung ſcheidet ſich dann wieder in das Lohnfuhrweſen mit ſeinen öffentlichen Rechtsverhältniſſen, das in allen Ländern Europas in ſeinen Grundlagen gleich iſt (die Meſſagerien Frankreichs haben bei dem letzteren meiſt das Muſter ge - geben) und die Verpflichtungen der Eiſenbahnen und Dampf - ſchiffe zu Mitnahme der Briefe und Güter, wogegen die Perſonen - beförderung ihnen freigegeben iſt (Poſtwagen der Bahnen, Poſtcabinet der Dampfſchiffe.) Das Recht derſelben hat ſich in neuerer Zeit zu einer großen Reihe von einzelnen Beſtimmungen entwickelt, welche jedoch territorial mannigfach verſchieden ſind.

2) Die Poſtpflicht enthält die Geſammtheit von Rechten, welche207 den Einzelnen aus der Verpflichtung entſtehen, das Poſtregal ſich für ihre Anforderungen zu unterwerfen. Die Hauptmomente dieſer Poſt - pflicht ſind die Pflicht zur Aufnahme und wirklichen Beförderung der Objekte des Poſtregals, die Innehaltung der Lieferzeit, und endlich das Poſtgarantieſyſtem als Haftungsrecht der Poſt für die ihr übergebenen Briefe und Güter. Dieſes Garantieſyſtem hat zur Aufgabe, erſtlich die Haftung für den einfachen Brief, dann für die ihm gleichſtehenden Sendungen (Zeitungen, Muſter ꝛc. ), dann diejenige für rekommandirte und Werthbriefe zu beſtimmen. Das einfachſte iſt freilich, wenn die Poſtgeſetzgebung die erſte überhaupt abweist, die zweite nur nach einſeitig von ihr beſtimmten Tarifen anerkennt, während ſie für Lieferungszeit ꝛc. gar keine Haftung übernimmt. So hat ſich das gegenwärtige Syſtem gebildet, daß ſie unbedingt für ihren Poſtbetrieb das Verordnungs - und Verfügungsrecht hat, ohne daß aber mit dem Inhalt einmal erlaſſener gültiger Verordnungen auch das Klagerecht der Einzelnen gegen die Poſt verbunden wäre, was aber um ſo mehr eintreten ſollte, als eben jenes Verordnungsrecht der Poſt die Möglichkeit gibt, ſich ſelber die Bedingungen ihrer Haf - tung vorzuſchreiben. Auch hier iſt daher eine Poſtgeſetzgebung als Grundlage der Poſtverordnungen im höchſten Grade wünſchenswerth und nothwendig.

3) Das Poſtſtrafrecht enthält ſeinerſeits die Strafbeſtimmungen für die Verletzung des Poſtregals; auch dieſe können und ſollen nur als Geſetze erlaſſen werden. Es iſt natürlich, daß das Poſtſtrafrecht in dem Maße verſchwindet, in welcher die freie Concurrenz der Privat - unternehmungen neben dem ſtaatlichen Poſtbetrieb zugelaſſen wird.

4) Das Poſtnothrecht endlich iſt das Recht des Poſtbetriebes im Falle elementarer Gefährdung des Poſtbetriebes die Einzelnen zu zwingen, der Poſt Hülfe zu leiſten, oder ihren Betrieb auch auf eigenem Grund und Boden zuzulaſſen. Die Entſchädigung bleibt hier wie bei dem Staatsnothrecht überhaupt vorbehalten. Die Befreiung von Wegeabgaben u. ſ. w. iſt jedoch eigentlich durch die admini - ſtrative Natur der Poſt begründet.

Eine ſyſtematiſche Behandlung des Poſtregals vom Standpunkt der obigen einzelnen Punkte mangelt. In der That haben ſich namentlich die Begriffe der Poſthaftung erſt in unſerem Jahrhundert entwickelt und bilden jetzt zum Theil ein völliges und eingreifendes Syſtem von Rechtsſätzen. Die Frage nach dem Poſtzwang erſcheint erſt im vorigen Jahrhundert als Gegenſtand der Geſetzgebung, indem der Zweifel Platz greift, ob überhaupt das Poſtregal ver - nünftig und berechtigt ſei. (Vergl. über den Standpunkt der Mitte des vorigen Jahrhunderts in dieſer Beziehung Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 4. Bd. 16. Hauptſt. 208§. 436 ff. ; für unſer Jahrhundert ſ. Lotz, Staatswirthſchaftslehre III. S. 153; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft §. 173; Herfeld, Reform des Poſt - und Trans - portweſens in Deutſchland 1841. S. 49.) Die geſetzliche Anerkennung des Poſtzwanges wird jedoch ſtreng aufrecht gehalten; daneben harte Strafen für die Umgehung (vergl. Preuß. Allgem. Landrecht II. 15. 141). In Frankreich gab das Decret vom 16. Okt. 1794 völlige Freiheit der Beförderung bis 1 Kilo - gramm, und forderte nur Poſtzwang für Briefe und Extrapoſt. Dann ent - ſtand die Beſteuerung der Unternehmungen 1804; die Beförderung von Reiſen - den wieder verboten 1805; dann Entwicklung des Syſtems der Meſſagerien, deren jetzt gegen 4000 als Privatunternehmungen beſtehen. Das deutſche Poſt - recht als Haftungsrecht und in ſyſtematiſcher Behandlung eigentlich erſt ſeit dem Poſtvertrag von 1850; dieſer Poſtvertrag wird die Baſis der Bildung des deutſchen Poſtrechts; ihm folgt das preußiſche Poſtgeſetz vom 5. Juni 1852; dem Vertrage von 1860 folgt das preußiſche Geſetz vom 21. Mai 1860 (vergl. Rönne, Staatsrecht II. §. 424; Pötzl, bayeriſches Verwaltungsrecht §. 173 bis 176). Badiſches Poſtgeſetz vom 1. Juli 1864. Braunſchweig: Poſtgeſetz vom 1. Juli 1864. Sehr klar iſt das franzöſiſche Poſtrecht behandelt von Lavallée bei Block, Dict. v. Postes. Die deutſche Literatur über das Poſtrecht iſt ſeit den letzten zwanzig Jahren ſehr einſeitig entwickelt; das Ge - ſchichtliche ſchließt ſich faſt ausſchließlich an die Thurn - und Taxis’ſche Poſt - frage (Zöpfl, Staatsrecht II. §. 303). Die bedeutendſte Arbeit iſt in neueſter Zeit der adminiſtrative, meiſt einfache Auszug aus den Geſetzen wie bei Rönne, Mayer, Verwaltungsrecht (unklar an mehreren Orten); die caſuiſtiſche Behand - lung der Haftpflicht der Poſt geht vom reinen privatrechtlichen Standpunkt aus, ohne es zu einer geſammten wiſſenſchaftlichen Auffaſſung zu bringen (Linde, Haftverbindlichkeit der Poſtanſtalt 1859; Schellmann, Rechtliche Natur des Poſtbeförderungsvertrages von 1861; Kompe, Poſttransportvertrag (Zeitſchrift für deutſches Recht XVIII.)

II. Das Eiſenbahnweſen.
Natur ſeiner Funktion.

Während nun die Poſt den Verkehr der Einzelnen zum Gegenſtand der Staatsthätigkeit macht, bilden die Eiſenbahnen den Organismus, der den Geſammtverkehr der Maſſen, ſowohl der Perſonen als der Güter einerſeits in ſich aufnimmt, andererſeits erzeugt. Die Eiſen - bahnen ſind daher das Mittel und der Ausdruck des Zuſammen - lebens der Theile des Staates und der Staaten unter einander. Ihre Bedeutung iſt daher eben ſo groß, als es ihr Erfolg iſt. Und es iſt deßhalb natürlich, daß Geſetzgebung und Literatur im Anfang dieſer Erſcheinung die verſchiedenen Geſichtspunkte, die für daſſelbe gelten, zuſammenwerfen. Die erſte Aufgabe iſt daher für die Verwal - tungslehre die, ihr eigenes Gebiet von dem verwandten zu ſondern,209 und daſſelbe auf der Grundlage einer feſten Deſinition und eines klaren Principes feſtzuſtellen.

Die Fragen über Werth, Einfluß, wirthſchaftliche Bedingungen und geiſtige Bedeutung der Eiſenbahnen gehören der Nationalökonomie und Geſellſchaftslehre.

Die Frage über Ausdehnung, Linien, Bewegung und Capitals - verwendung gehören der Statiſtik.

Die Fragen über die Zweckmäßigkeit in Bau und Betrieb im weiteſten Sinne gehören der Technik.

Der Verwaltungslehre dagegen gehört das Eiſenbahnweſen, inſofern daſſelbe als eine jener großen organiſchen Bedingungen be - trachtet wird, welche der Einzelne nicht mehr entbehren, die er aber auch als Einzelner nicht ſchaffen kann, und die daher durch die Ge - meinſchaft hergeſtellt werden muß. Die Verwaltungslehre hat es daher nur mit demjenigen zu thun, was der Staat für das Eiſenbahn - weſen zu leiſten und von demſelben zu fordern hat. Dieſe Leiſtungen und Forderungen des Staats bilden die Eiſenbahnverwaltung; die Beſtimmungen über Eiſenbahnverwaltung, zum geltenden Recht formulirt, bilden das Eiſenbahnrecht; und die Geſammtheit aller auf die Eiſenbahnen bezüglichen öffentlich rechtlichen Erſcheinungen und Thatſachen, in Verbindung mit der ſtatiſtiſchen und techniſchen Ent - wicklung deſſelben nennen wir das Eiſenbahnweſen.

Dieſe formalen Begriffe ſind einfach. Aber die poſitive Geſtal - tung derſelben hat einen ganz ſpeciellen Charakter, der ſeinerſeits auf den dem ganzen Bahnweſen eigenthümlichen Elementen deſſelben beruht.

Die rechtsbildenden Elemente des Eiſenbahnweſens.

Es iſt kein Zweifel mehr, daß die Auffaſſung des ganzen Bahn - weſens ſich weſentlich in dem letzten Jahrzehnt umgeſtaltet hat. Als die Bahnen entſtanden, erſchienen ſie vielen als ein Vortheil, manchen als eine Annehmlichkeit, den meiſten aber wohl als eine Anſtalt von örtlichem Werth und örtlicher Bedeutung. Dieſer Standpunkt iſt überwunden. Die Eiſenbahnen ſind als eine volkswirthſchaftliche Noth - wendigkeit, als die unabweisbare Bedingung für die wirthſchaftliche und ſelbſt geiſtige Entwicklung der ganzen Gemeinſchaft anerkannt. Das iſt der Grundgedanke unſerer Zeit, der mit jedem Tage ſich feſter einprägt, und zur allgemeinen Ueberzeugung aller Völker wird.

Iſt das der Fall, ſo ſind an ſich betrachtet die Eiſenbahnen eine Aufgabe der Verwaltung in Herſtellung und Betrieb, wie Wege und Poſtweſen. Dem Princip nach ſoll der Staat ſich ſelber ſeine Bahnen bauen und ſie ſelbſt verwalten.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 14210

Allein er kann es nicht; theils weil die Bahnen ein zu großes Capital fordern, theils aber weil ſie den Charakter von Unternehmungen haben, die der Staat nie gut verwaltet, ſo lange ein Reingewinn ihre Vorausſetzung und ihr Zweck iſt. Weder Regierung noch Selbſtver - waltung genügen hier. Um die Bahnen herzuſtellen, muß daher der dritte große Organismus der vollziehenden Gewalt eintreten, das Ver - einsweſen. Und zwar iſt diejenige Form deſſelben, in der es das Bahnweſen in ſich aufnimmt, die Aktiengeſellſchaft. Das Bahn - weſen faſt der ganzen Welt beruht daher auf der Bildung von Aktien - geſellſchaften.

Nun aber vertritt jede Erwerbsgeſellſchaft oder ſelbſtändiges Unter - nehmen das Lebensprincip des letzteren, das Erwerbsintereſſe der Unternehmer (Aktionäre). Dies Intereſſe geht dahin, den möglichſt großen Erwerb vermöge des Unternehmens in Anlage und Betrieb zu machen. Dieſer Erwerb beruht auf der möglichſt hohen Zahlung der Einzelnen für die Benützung der Bahn. Der Staat aber, das allgemeine Intereſſe vertretend, muß im Namen deſſelben vor allem den möglichſt niedrigen Betrag für dieſe Benutzung fordern. Die Unternehmer fordern daher eine Verwaltung und ein Recht, welches dem möglichſten Ertrage ihres Capitals dienen, der Staat eine Ver - waltung und ein Recht, welche ſich dem Geſammtintereſſe unterordnen. Jedes von beiden Elementen macht daher die volle Herrſchaft des andern unmöglich. Dennoch iſt es kein Zweifel, daß ſie beide gleich berechtigt ſind. So wie daher die Bahnen entſtehen, treten beide Faktoren, jeder mit ſeinen Anſprüchen, mit einander in Gegenſatz; es entſteht ein im Ganzen wie auf jedem einzelnen Punkte wiederholter Kampf des Geſellſchafts - mit dem öffentlichen Intereſſe, ein beſtändig wieder - holter Verſuch, beide in Harmonie zu bringen; und dieſer Gegenſatz iſt es, welcher als das eigentlich rechtsbildende Element des Bahnweſens, und als die Grundlage für die Geſchichte und das Syſtem deſſelben angeſehen werden muß. Er durchdringt das Ganze, und bildet den Charakter des öffentlichen Bahnweſens in jedem Lande und das Ver - hältniß, in welchem beide Elemente zu einander ſtehen, die Stadien der Entwicklung in dem Kampfe beider mit einander, und gibt dem formalen Syſtem ſeinen concreten Inhalt. Von ihm aus iſt erſt das wiſſenſchaftliche Verſtändniß des Ganzen möglich.

Die Elemente der Geſchichte des Bahnweſens.

Geht man nun von dem obigen Standpunkt aus, ſo erſcheint die hiſtoriſche Entwicklung des Bahnweſens in drei Hauptſtadien, die von der ſtatiſtiſchen, techniſchen und volkswirthſchaftlichen Frage ganz211 unabhängig ſind, ſondern vielmehr die wahre Grundlage der Geſchichte des Eiſenbahnrechts und der Eiſenbahnverwaltung bilden.

Die erſte Zeit, der Beginn des Bahnweſens, geht noch von dem einfachen Gedanken aus, daß alle Bahnen nur durch Geſellſchaften entſtehen können, erkennt aber zugleich, daß ſie eine öffentlich rechtliche Function haben. Noch ſind die wichtigen Fragen, die ſich an den eigentlichen Betrieb knüpfen, nicht bekannt. Die Rechtsbildung dieſer Zeit, etwa von 1830 bis zur Mitte der vierziger Jahre, beſchränkt ſich daher auf die Ausbildung des Conceſſionsrechts und die Elemente der Bau - und Betriebspolizei. Aber mit dem Ende der vier - ziger Jahre wird ſchon der Gedanke lebendig, daß die Eiſenbahnen in der That Verwaltungsanſtalten ſind. Die Staaten beginnen daher unmittelbar in das Bahnweſen einzugreifen, und ſo bildet ſich das Unterſtützungsſyſtem einerſeits, und der Verſuch andererſeits, die Bahnen als Staatsbahnen zu bauen. Der letztere Verſuch wird aber aufgegeben; die Staaten ſind nicht reich genug, um mit den Steuern die Anlagecapitalien aufzubringen; ſie treten zurück, und die geſellſchaftlichen Bahnen werden die Hauptform der Bahnunternehmung. So wie das mit der Mitte der fünfziger Jahre feſtſteht, entwickelt ſich nunmehr das eigentliche Syſtem des Bahnrechts, in welchem in Princip und Ausführung die Vermittlung zwiſchen den Forderungen des öffent - lichen Intereſſes und der einzelnen Bahnunternehmung auf allen Punk - ten zugleich geſucht wird. In dieſer Epoche ſteht noch die Gegenwart. Ihr Charakter iſt demgemäß die möglichſte Förderung der Anlage von Bahnen durch die Aufnahme des Princips der Unterſtützung in das Conceſſionsweſen, aber zugleich die Erhaltung des Princips der Verwaltung in dem Grundſatz des Heimfallsrechts im Allge - meinen und der Ausübung der Oberaufſicht in Adminiſtration und Betrieb in den einzelnen Punkten. Das ſind im Weſentlichen die Grundzüge des Bahnverwaltungsrechts. Sie bilden die Baſis der Ver - gleichung des Bahnweſens bei den einzelnen Völkern, der Beurthei - lung des Werthes der einzelnen Beſtimmungen des Bahnrechts, und endlich den Ausgangspunkt der Wiſſenſchaft des Verwaltungsrechts, indem das Verhältniß beider Elemente zu einander für jede Betrachtung des Bahnweſens zum Grunde gelegt wird.

Syſtem.

Daraus nun ergibt ſich auch Weſen und Werth des Syſtems für dieſe wiſſenſchaftliche Behandlung. Das Syſtem hat die Grund - verhältniſſe des Bahnweſens zum Grunde zu legen, und in jedem derſelben das Verhalten jener beiden Faktoren nachzuweiſen. Als ſolche212 erſcheinen die Organiſation, die Anlage, der Betrieb und der Verkehr der Bahnen. Allerdings ſind nun hier die oberſten Prin - cipien ziemlich gleichartig in ganz Europa; allein der ſpecifiſche Cha - rakter der drei großen Culturvölker wiederholt ſich auch in ſeinem Eiſenbahnweſen. Während in England das Bahnweſen als Sache der Geſellſchaften angeſehen wird, und der Staat ſich zu keiner Unter - ſtützung herbeiläßt, dafür aber auch kein Heimfallsrecht beanſprucht, ſondern die Bahn wie ein Privatunternehmen unter öffentlicher Ober - aufſicht behandelt, ſind in Frankreich und Deutſchland die meiſten Bahnen mit Unterſtützung entſtanden, heimfallsverpflichtet, und unter Mitwirkung der Regierung in Bau und Betrieb. Nur iſt das Syſtem viel weiter ausgebildet in Frankreich als in Deutſchland, wo die Bahnen nie ihrer Selbſtändigkeit beraubt worden ſind, ſo daß man ſagen kann, daß die Bahnen in Frankreich durch die Intervention der Regierung nur noch als Erwerbsgeſellſchaften erſcheinen, während ſie in Deutſch - land als Verwaltungsvereine auftreten. Auf dieſem Charakter beruht der Unterſchied im Syſteme des Bahnweſens und ſeinen einzelnen Theilen.

England. Der Gang der Eiſenbahngeſetzgebung Englands iſt unzweifel - haft der belehrendſte von allen. Die erſte Railway Act für Pferdebahnen (Wandsworth-Crowden) iſt von 1801, erſte Conceſſion für die Locomotivbahn von Darlington nach Stockton 1823; Liverpool-Mancheſter-Conceſſion 1825; 1836 waren 490 miles in England und 50 in Schottland. Koſten: 13,300,000 Pfund Sterling; 1840 (3. 4. Vict. 97); Uebertragung des Conceſſionsrechts an den Board of Trade (organiſche Geſetzgebung 1844); die Companies Clauses Act (8. Vict. 16); Aufbringung des Anlagecapitals, die Lands Clauses Act (8. Vict. 18. Expropriation) und die Railways Clauses Act (8. Vict. 20. Bauordnung mit sect. 76 über Vicinalbahnen). Die genaueren Beſtimmungen bei jeder Bahn in den einzelnen Conceſſionen jeder Bahn, die Private Acts, aus denen die franzöſiſchen Cahiers de Charge entſtanden ſind (ſ. unten). 1846 Einſetzung der Board of Commissioners of Railways, dem die Compe - tenz des Board of Trade übertragen wird, ſpeciell in Beziehung auf Conceſ - ſionen; Einſetzung des Clearing House 1847; die Traffic Act, (1853) verbietet die Bevorzugung einzelner Parteien. Die Verſchiedenheit des Inhaltes der Conceſſionen erzeugte dann die Nothwendigkeit geſetzlich für alle Bahnen gül - tige Betriebsordnungen aufzuſtellen (die Railw. Comp. Powers Act) und die Bauordnung gleichförmig zu machen (die Railw. Construction Facilities Act) 1858, 27. 28. Vict. 120 und 121. Die Railw. Comp. Securities Act 1866 ſchreibt die halbjährliche Angabe über die Anlehen und Schulden der Bahnen bei der Regiſtratur der Joint Stock Companies vor; die neueſte Betriebsordnung iſt dann die Bill von 1868 (31. 32. Vict. 119). S. Report der Royal Com - mission on Railways 1867. p. I CXXVI und die Minutes of evidence (Ver - nehmungen) vom März 1865 bis Mai 1866 S. 1 889.

213

Frankreichs Syſtem iſt weſentlich anders. Grundlage iſt nach wie vor das Geſetz vom 11. Juni 1842, dem nur einzelne polizeiliche Verordnungen vorhergehen. Grundgedanke: Die Eiſenbahnen bilden Ein Ganzes; ſie ſind als ſolche öffentliche Anſtalten; der Staat nimmt direkt an ihrer Herſtellung Theil; er gibt den Unterbau (die Theilnahme des Departements und der Com - mune ſeit 1845 zurückgenommen), die Geſellſchaft die Schienen, den Ober - bau und Betrieb. Der Staat beſtimmt daher das Syſtem der zu bauenden Linien (le réseau), die Geſellſchaft führt ſie aus. Daher kurzes Heimfallsrecht (40 Jahre urſprünglich ſ. unten). Der Staat ſchreibt daher die Tarife vor, ſo wie den ganzen Bau und Betrieb für die Compagnie; die Beſtimmungen über Bau und Betrieb werden als Vertrag zwiſchen Staat und Compagnie feſtgeſtellt, und dieſer Vertrag heißt das Cahier des Charges. Die natürliche Folge iſt ein ſtrenges Oberaufſichtsrecht des Staats mit ausgebildetem Syſtem der Inſpektion; die Bahnpolizei umfaßt den ganzen Betrieb (erſtes Geſetz vom 15. Juli 1845 mit erläuternder Conceſſion und Verordnung vom 15. Nov. 1846). An dieſem Standpunkt iſt bis zur neueſten Zeit nichts geändert; nur iſt das Syſtem der réseaux auf neue Grundlagen geſtellt (1859 ſ. unten) und die Bahnaufſicht ſehr genau durch Conceſſion und Verordnung ausgeführt, wo - durch das Unterſtützungsweſen ſich dem deutſchen ſehr genähert hat. Die Lite - ratur iſt weſentlich noch exegetiſch; das an Material reichſte, aber ungeordnete Werk iſt der Code annoté des Chemins de fer von Fleury, 2 Bde. 1861; Bibliographie S. XI (vergl. Block, Dict. v. Chemin de fer, mit Literatur).

In Deutſchland konnte nur in den beiden größeren Staaten ſich das Bahnweſen zu einem ſyſtematiſchen Ganzen entwickeln, da die kleineren Staaten mit einigen wenigen und kurzen Linien es zu keinem ſelbſtändigen Bahnrecht brachten; geſetzliche Beſtimmungen faſt nur als Inhalt der Conceſſionen und Statuten. Selbſtändig nur in Preußen und Oeſterreich. Preußen: Erſte Epoche: Auffaſſung der Bahnen als Privatunternehmungen unter öffentlicher Aufſicht; Grundlage: Geſetz vom 3. Nov. 1838. Zweite Epoche: Verſuch des Staats, die Herſtellung der Bahnen ganz in eigene Hand zu nehmen. (Be - ſteuerungsperiode). Dritte Epoche: Subvention, Garantie und Heimfall ohne beſondere Entwicklung der Geſetzgebung (vergl. Rönne, Staatsrecht II. S. 419 ff. Derſ. Wegepolizei II. Literatur über das preußiſche Bahnweſen ebend. §. 419. Fürſtemann, das preußiſche Eiſenbahnrecht 1869 (ſtatiſtiſch). Oeſterreich: derſelbe Gang; erſte Epoche bis 1848 (Nordbahn, Wien-Gloggnitz) zweite bis 1854; Staatsbahnen; Hauptgeſetz: Eiſenbahn-Betriebsordnung vom 16. Nov. 1851 (vergl. Michel, öſterreichiſches Eiſenbahnrecht 1860; dritte ſeit 1854; Subvention, Garantie, Heimfall; Eiſenbahn-Conceſſionsgeſetz vom 14. Sept. 1854; Michel S. 202). Daneben Entwicklung des gemeinſchaft - lichen deutſchen Eiſenbahnrechts einerſeits durch die Literatur; Hauptwerke: Beſchorner, das deutſche Eiſenbahnrecht 1858, mit vielem Material, jedoch vorzugsweiſe über Aktien - und Enteignungsgeſetzgebung; bedeutender W. Koch, Deutſchlands Eiſenbahnen 2 Bde. 1860; ſehr reich an Literatur, erſte Aufnahme des eigentlichen Verkehrsrechts. Zugleich gemeinſchaftliche Geſetzgebung theils im Handelsgeſetzbuch über Aktien - und Frachtgeſchäft, der erſte als Theil des214 Vereinsrechts (Bd. I. Tit. 3), der zweite als Theil des eigentlichen Handels - rechts (Bd. IV. Tit. 4 und 5) mit der Literatur des Handelsrechts; theils aber durch die Bildung und Thätigkeit des Vereins deutſcher Eiſenbahnen (Vereinsreglement vom 1. Dec. 1856, im weſentlichen unverändert, bei Beſchorner und Koch). Doch mangelt bei großer techniſcher Bildung noch durch - aus die adminiſtrative für das Eiſenbahnweſen, und es iſt falſch, zu glauben, daß hier Nationalökonomie und Statiſtik genügen.

Für das Verſtändniß der erſteren wäre feſtzuhalten, daß das geſammte Bahnrecht ſich aus dem Zuſammenwirken von Regierung und Vereins - weſen bildet. Das Folgende gibt nur die das Einzelne beherrſchenden Ge - ſichtspunkte.

1) Organiſation des Bahnweſens.

Jenes doppelte Element des ganzen Bahnweſens erſcheint nun zu - nächſt in der Organiſation deſſelben.

Jede Bahn iſt zuerſt ein ſelbſtändiger Vereinsorganismus, der durch das Weſen des Aktienvereins und durch die Bedürfniſſe des Unternehmens gegeben iſt. Aus dem erſten gehen die bekannten Kate - gorien der Generalverſammlung, des Präſidenten und des Verwaltungs - rathes, aus dem zweiten die der Direktion, der Angeſtellten und der Bedienſteten hervor. Der Unterſchied in dieſer Beziehung iſt im Bahn - weſen des geſammten Europas ein ſehr geringer.

Jede Bahn iſt aber zugleich ein öffentlicher Verwaltungskörper. Alle Bahnen unterſtehen daher in Conceſſion, Bau und Betrieb dem (Handels) Miniſterium, das meiſtens für das Bahnweſen eine eigene Sektion hat. Die Vertretung der Regierung bei den Thätigkeiten der Geſellſchaft in Generalverſammlung und Verwaltungsrath hat der Regierungscommiſſär, bei dem Betriebe die Inſpektion. Recht und Competenz beider großen Faktoren ſind an ſich und ihrem gegen - ſeitigen Verhältniß noch unbeſtimmt, haben ſich aber allmählig zu einem feſten Syſtem durch die ſelbſtändige Entwicklung des Baues und Be - triebes ausgebildet.

England. Das Board of Trade ſchon ſeit 1840 als höchſte Behörde (Abtheilung des Privy Council); genehmigendes Organ; die Einführung der Inspectors ſchon 3. 4. Vict. 97; ſpäter genauer definirt. Recht auf bye laws ausdrücklich in die Railway Regul. Act unter Genehmigung des Board of Trade anerkannt. Vergl. Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht II. §. 106. In Frankreich Unterordnung unter das Ministère des travaux publics; ſo gut als gar keine Verfügungsgewalt. In Preußen bis 1851 mit dem öffentlichen Bauweſen vereinigt; ſeit 1851 Abth. II. des Handelsminiſteriums; Eiſenbahnconceſſion ſchon durch das Geſetz von 1838. In Oeſterreich unter dem Handelsminiſterium mit Generalinſpektion. Das Vereinsweſen der Bahnen in England zu dem ſelbſtändigen, aber nur mit der Verrechnung215 beſchäftigten Railway Clearing House erhoben; geſetzlich geordnet durch 13. 14. Vict. 33 (1850) und mit beſonderen Rechten verſehen; in Frankreich durch das Syſtem der réseaux unthunlich; in Deutſchland großartige Entwicklung durch den Verein der Eiſenbahnen begonnen 1847, für ganz Deutſchland orga - niſirt 1850; daneben die einzelnen Eiſenbahnverbände für gewiſſe Trans - portkreiſe und - Fragen, mit dem Princip bindender Majorität, jedoch ohne ſelbſtberechtigte Executive. Organiſation des Bahnbetriebes ſehr gut bei Koch, a. a. O. Anlage S. 1 46. Die Verhältniſſe des deutſchen Eiſenbahn - vereins ſo wie der Verbände Derſ. Bd. II. T. III. §. 126 und §. 129 ff. Ueber das Syſtem der Nebenbahnen, ſeit 1861 in Frankreich begonnen, und den ſchottiſchen und iriſchen Betrieb ſolcher Bahnen ſ. Revue des deux Mondes, Janvier 1866.

2) Conceſſionsrecht der Eiſenbahnen.

Das erſte große Gebiet nun, wo ſich jene beiden Faktoren begegnen und ein keinesweges einfaches Syſtem bilden, iſt das Conceſſions - weſen.

Jede Conceſſion als ſolche hat einen doppelten Inhalt, weil ſie eine doppelte Aufgabe hat. Sie hat einerſeits den Capitalien, welche die Geſellſchaft bietet, die Bedingungen zu geben, unter denen die letztere das Unternehmen überhaupt beginnen kann, und an - drerſeits dieſe Bedingungen ſo zu formuliren, daß ſchon in der erſten Anlage das Geſammtintereſſe gegenüber dem Erwerbsintereſſe der Geſellſchaft gewahrt wird. Aus dem Zuſammenwirken beider Ge - ſichtspunkte hat ſich allmählig ein Syſtem gebildet, das in jedem ſeiner Theile beide Principien vertritt, und das Conceſſionsweſen ſchon an und für ſich zu einem reichhaltigen Gebiete des Verwaltungsrechts macht.

Seine leitenden Geſichtspunkte ſind folgende.

a) Die Vorconceſſion iſt die Verleihung des Rechts die Vor - arbeiten zu unternehmen. Ihr poſitiver Inhalt iſt die Verleihung des Enteignungsrechts in Beziehung auf diejenige Benützung des Grundes und Bodens, welche zu den Vorarbeiten (Tracirung und Vermeſſung) nothwendig ſind. England kennt ein ſolches Recht noch nicht; in Deutſchland iſt das Princip deſſelben klar, aber über den Inhalt exiſtirt noch keine beſondere Beſtimmung.

b) Die eigentliche Conceſſion iſt nun der Akt, durch welchen die Geſellſchaft von der Regierung zur Anlage der Bahn berechtigt wird. Der nothwendige Inhalt dieſer Conceſſion iſt ſtets ein doppelter. Einerſeits enthält ſie die Verbürgung des Enteignungs - rechts der Geſellſchaft für die beſtimmte und zwiſchen zwei Punkten meiſtens ausſchließlich berechtigte Linie; daneben zweitens das Recht216 auf Aktien - und Prioritätenemiſſion. Andererſeits ſichert die Re - gierung das öffentliche Intereſſe durch die Verhandlungen, welche der Conceſſionsertheilung vorauf gehen. Principien und Vorlage der Tracen mit allen dazu gehörigen Arbeiten; Beſtimmung theils der Linie ſelbſt, theils auch der Hauptſtationen als Bedingung der Geneh - migung; Sicherſtellung des wirklichen Baues durch Friſten und ſelbſt durch Cautionen; endlich Genehmigung der Statuten der Geſellſchaft als Theil der Conceſſion. An dieſe an ſich einfachen Grundſätze ſchließt ſich nun aber ein weiteres Gebiet, das ſehr oft in neueſter Zeit zum letzteren Theil immer in den Conceſſionen ſelbſt enthalten iſt. Daſſelbe bezieht ſich auf die Unterſtützungen und das Heim - fallsrecht.

c) Die Staatshülfe, welche der Staat den Geſellſchaften ge - währt, hat die Aufgabe, durch die Sicherung der Ertragsfähigkeit das Einzelcapital zur Betheiligung an den Bahnen herbeizuziehen. Hier iſt es das Einzelintereſſe, welchem der Staat entgegenkommt. Die Grundformen ſind dreifach. Die erſte iſt die direkte Betheiligung am Bau durch den Staat, das urſprüngliche franzöſiſche Syſtem, in welchem der Staat den Grund und Boden hergab, die Geſellſchaft das Uebrige. Die zweite iſt die deutſche Form der Zinsgarantie, die ſtets mit einem Amortiſationsſyſtem verbunden iſt. Die dritte iſt die neue Form der Unterſtützung durch Befreiung von Steuern und Gebühren für die Anlage und ſelbſt für Betrieb und Dividende. Jede dieſer Arten hat ihre Vorzüge, Mängel und Folgen, ſpeciell für das Verhältniß der Regierung zum Betriebsrecht. Ihr Werth wird meiſt von der wahrſcheinlichen Ertragsfähigkeit der Bahnen, wie von den finanziellen Zuſtänden des Staates bedingt.

d) Dem Princip der Unterſtützung gegenüber hat nun die Ver - waltung das zweite des Heimfallsrechts als Dauer der Conceſſion formulirt. Objekt derſelben nach franzöſiſchem Muſter iſt der Unter - und Oberbau, nicht das Betriebscapital. Princip für die Dauer iſt die Annahme einer Periode, in welcher der wahrſcheinliche Ueberſchuß das Anlagecapital amortiſirt hat. Daher gar kein Rückfall in Eng - land, urſprünglich ſehr kurzer in Frankreich, verlängert mit der Aus - dehnung in dem Riſiko der Unternehmung, in Deutſchland urſprünglich bei manchen Bahnen gar keiner, ſeit 1848 bei allen Bahnen meiſt 90 Jahre. Grundlage für das Heimfallsrecht daher in Maß und Art der Unterſtützung.

Alle dieſe Punkte ſind in England in den Eiſenbahngeſetzen, in Frankreich theils in den Conceſſionen und Statuten, theils in den Cahiers de Charge, in Deutſchland weſentlich in den Conceſſions -217 urkunden feſtgeſtellt. Ein allmähliges Ausgleichen der Unterſchiede iſt dabei unverkennbar, ſoweit überhaupt mit dem Princip der Unter - ſtützung das des Heimfallsrechts zur Geltung gelangt.

Die Conceſſion in England iſt die gewöhnliche Incorporation der Geſell - ſchaft durch Private bill, jedoch nach vorhergegangenem Gutachten der Railway Commission im Board of Trade über die Pläne, und ſelbſt über die Tarife. Subvention und Garantie exiſtiren nicht. In Frankreich erſtes Syſtem der Subvention nach dem Geſetz von 1842; Dauer nach der Wahrſcheinlichkeit der Erträgniſſe auf vierzig Jahre; bei der Erweiterung im nouveau réseau durch Convention von 1859, ſchon Garantie von 4,65 Procent und Dauer auf neunundneunzig Jahre; zugleich geſetzlich fixirtes Baucapital; das troisième réseau von 1862 garantirt mit einem größeren Baukapital, das um 160 Mil - liarden Franken erhöht ward, 12,664 Kilometer umfaßt und 1871 fertig ſein ſoll. In Deutſchland reine Staatsbahnen, ungarantirte mit abſolutem Eigenthum, garantirte mit 5 Procent, ſolche bei denen eine feſte und ſolche bei denen die nachgewieſene Bauſumme garantirt iſt; neuere Zeit ſtatt der Garantie Befreiung von Steuern (öſterreich. Geſetz vom 20. Mai 1869).

Ueber Verpflichtungen und Heimfallsrecht, ſo wie über Conceſſionsweſen im beſondern vergl. in England die verſchiedenen Railway Regulations Acts oben, namentlich die Railway Clauses Act von 1845, Pflicht die Poſt zu be - fördern ſchon 1. Vict. 36 und öfter; für Deutſchland in Preußen das Eiſen - bahngeſetz von 1838, welches zuerſt die Betriebsverpflichtungen gegen die Regierung (Poſt, Militärtransporte ꝛc. ) beſtimmt formulirte; Oeſterreichs beide Geſetze von 1851 und 1854; über die Vorconceſſion und Bildung des Aktien - geſetzes das Vereinsgeſetz von 1852. Das franzöſiſche Syſtem der Cahiers de Charge iſt ſehr beachtenswerth, indem es die öffentlich-rechtlichen Ver - pflichtungen der Bahngeſellſchaft in Form eines privatrechtlichen Ver - trages zuſammenfaßt; allgemein angenommene Formel für jede Conceſſion bei Fleury a. a. O. I. S. 99 ff. Die Entwicklung des Conceſſionsweſens in Frankreich beruht auf der Ausbreitung des réseaux. Es gibt daher in Frank - reich gar keine Conceſſion für eine einzelne Bahn, ſondern jede wird als Theil des ganzen Syſtems (réseau) conceſſionirt und nimmt mit allen gleich - mäßig an allen Rechten und Pflichten Theil. England kennt nur einzelne Bahnen; in Deutſchland bilden große Linien ſelbſtändige Syſteme, oft mit ganz verſchiedenen Conceſſionsbedingungen. Statiſtik darüber fehlt aus meh - reren Gründen. Die Unterſtützung für die Bahnen als Steuerbefreiung (Einkommen -, Coupon -, Stempelſteuer bei Verträgen und erſte Aktienmiſſion öſterreich. Geſetz vom 20. Mai 1802).

3) Betriebsrecht.

Aus denſelben beiden Faktoren geht nun in ihrem Zuſammen - wirken auch das Betriebsrecht hervor. Der Betrieb ſelbſt iſt mit ſeiner Ordnung durch die Natur des Bahnweſens überhaupt gegeben; ſeine218 nächſte Quelle iſt das Intereſſe der Unternehmung, ſein nächſter In - halt die techniſchen Erforderniſſe für die Güterbewegung. Allein auch hier arbeitet der Betrieb der Geſellſchaft zugleich im Intereſſe des Ganzen. Daſſelbe macht ſich auf jedem Punkte geltend und ſo entſteht das Betriebsrecht als die Geſammtheit von Beſtimmungen über den Betrieb, in welchen das geſchäftliche Intereſſe des Unternehmens nach dem allgemeinen Intereſſe des Verkehrs geregelt wird. Das Verhältniß der eigenen Verwaltung der Bahn zur Regierung in dem Gebiete des Betriebsrechts beruht nun darauf, daß die Bahnverwal - tung ihrerſeits den Betrieb unter eigener Verantwortlichkeit ſelbſt zu führen hat, daß aber die Regierung nicht bloß im Allgemeinen, ſon - dern vielmehr auf jedem einzelnen Punkte ſich vermöge ihrer Oberauf - ſicht die Vertretung des allgemeinen Intereſſes und ſeiner Anforderun - gen vorbehält. So greifen hier beide Elemente ſo eng in einander, daß das Betriebsrecht formell ein Ganzes wird. Seine Abtheilungen ſind folgende.

a) Die Bahnordnung und Bahnpolizei hat zur Aufgabe, Fahrbarkeit und Sicherheit der Bahn herzuſtellen. Grundlage: Eröff - nung der Bahn erſt nach geſchehener Inſpektion auf Genehmigung der Bahnbehörden. Erhaltung der Bahn und der Objekte durch die Bahnverwaltung unter Aufſicht der Inſpektoren, ebenſo Fahrbar - keit durch beſtändige Ueberwachung der Bahnſtrecke durch die Bahn - inſpektoren, Ingenieure, Stationschefs, Bahnwärter.

b) Betriebsmittel; Maſchinen, unter dem Gewerbepolizei - recht der Maſchinen, Wagen und Laſtwagen: Zahl, Einrichtung und Sicherheit; Grundſatz: Aufgabe der Bahnen im eigenen Intereſſe in allen dieſen Beziehungen dem Bedürfniß des Verkehrs zu genügen; Recht der Regierung, ſie dazu zu veranlaſſen.

c) Die Betriebsordnung enthält erſtlich die Fahrordnung; Verpflichtung der Bahnen im öffentlichen Intereſſe, erſtlich auf gehörige Veröffentlichung, dann auf regelmäßige Innehaltung, endlich auf paſ - ſenden Anſchluß der Züge. Recht der Regierung, auf dieſe Punkte zu achten, ausgedrückt in dem Recht der Genehmigung der Fahr - ordnungen. Zweitens die Zugsordnung mit den Beſtimmungen über Paſſagier - und Frachtenpolizei, Wagenordnung und das wichtige Signalweſen. Hier ſind die Inſtruktionen der Bahndirektionen maßgebend.

d) Der Bahntelegraphendienſt mit ſeiner ſelbſtändigen Orga - niſation und Aufgabe, als weſentlicher Faktor der Sicherheit und Ord - nung des Betriebes.

Vergl. die früher angeführten Geſetze, welche meiſtens die Beſtimmungen über Betrieb oder Betriebsperſonal enthalten; der Unterſchied liegt weſentlich219 in dem größeren oder geringeren Fleiß, den die Behörden darauf nehmen. Natürlich iſt die Maſſe von einzelnen Geſetzen und Verordnungen gerade hier am größten; namentlich in England und Frankreich, ſo daß viele die Eiſen - bahngeſetzgebung faſt ganz auf dieſem Gebiete ſuchen. In Frankreich iſt das Meiſte in dem Cahier des Charges beſtimmt; daneben ſehr genaue Inſtruktionen an das Bahnperſonal; das polizeiliche Betriebsreglement iſt das Geſetz vom 13. Nov. 1846. In England ſehr ausführliche Beſtimmungen in den Regulations. Neueſtes Geſetz: Locomotive Act 1865, 28. 29. Vict. 83 mit Oberaufſicht der Board of Trade; Bahntelegraphen (26. 27. Vict. 112). In Deutſchland Verbindung von Geſetz und Inſtruktionen in den größeren Staaten; in den kleineren nur letztere. Preußen: Eiſenbahnbetriebs-Regle - ment der unter Staatsverwaltung ſtehenden Bahnen (Verordnung vom 3. Sept. 1865). Oeſterreich: Betriebsordnung von 1851 (Michel, Eiſenbahnrecht, S. 4 ff.). Pollanctz und Wittek Sammlung 1869.

4) Verkehrsrecht.

Das Verkehrsrecht der Bahnen entſteht nun da, wo die Thätig - keit des Betriebes nunmehr mit dem Einzelnen in Berührung kommt. Dieſe Berührung iſt dem Princip nach eine privatrechtliche und das Recht derſelben ein gewöhnliches Vertragsrecht. Allein auch hier wird das an ſich einfache Rechtsſyſtem modificirt durch die öffentliche Natur der Funktionen der Bahnen, und auch hier entſteht daher aus dem Zuſammenwirken beider Faktoren das, was wir als das Verkehrsrecht der Bahnen kennen.

Das Verſtändniß der doppelten Natur deſſelben bildet ſich erſt da aus, wo die Idee der Regalität in den Hintergrund tritt, und die Bahn Dritten gegenüber als ein reines Privatunternehmen erſcheint. Die Funktion des öffentlichen Rechts iſt dabei die, das freie Privat - recht der Bahnen in ſo weit zu beſchränken, als das öffentliche In - tereſſe es fordert. Die drei, wiſſenſchaftlich zwar im Einzelnen, nicht aber im Ganzen bisher bearbeiteten Gebiete dieſes Rechts ſind:

a) Das Tarifrecht. Der Tarif iſt der Preis für die Trans - portleiſtung der Bahnen. An ſich haben die Bahnen ein unbegränztes Tarifrecht. Die öffentliche Natur des Betriebs aber erſcheint darin, daß die Conceſſion den Bahnen erſtlich überhaupt ein Maximum des Tarifs vorſchreibt, und zweitens jeder Tarif der Regierung zur Ge - nehmigung vorgelegt werden muß. Pflicht der Bahnen zu möglichſt großer Veröffentlichung des Tarifs. Beſtandtheile des Tarifs (Aſſe - kuranz, Speſen ꝛc.). Die Frage nach der Höhe des Tarifs iſt aller - dings von der größten volkswirthſchaftlichen Wichtigkeit, aber an ſich keine Sache der Verwaltung. Innerhalb des Maximums muß die Bahn unbedingt freie Bewegung haben. Dagegen hat unzweifelhaft220 die Regierung das Recht, ein Herabgehen unter das conceſſionsmäßige Maximum zu fordern, aber ſie muß dafür nach den Grundſätzen der Enteignung ein Verfahren einleiten und Entſchädigung leiſten. Das natürliche Correktiv dieſes Rechts iſt nicht das Eingreifen der Regierung, ſondern die Concurrenz der Bahnen, die mit jedem Tage bedeutender wirkt.

b) Das Transportrecht iſt gleichfalls zunächſt das reine Privat - recht für den Transport von Perſonen und Gütern; das öffentliche Recht erzeugt den Grundſatz der Pflicht zur Aufnahme beider gegen Zahlung des Tarifs und zur Beförderung derſelben nach Maßgabe der Fahrpläne. Die Entwicklung des Transportrechts beginnt da, wo der Transport zugleich eine Spedition und eine Lieferung wird; daſſelbe fällt damit unter das Frachtgeſchäft; dabei muß den Bahnen die Be - rechtigung gelaſſen werden, den Transport auf Grundlage der geneh - migten Fahrpläne nach ihrem Ermeſſen zu ordnen. Die betreffenden Fragen können erſt durch ihre Scheidung von dem Haftungsrecht richtig beurtheilt werden.

c) Das Haftungsrecht der Bahnen, das ſeinerſeits erſt durch die Anerkennung ihrer privatrechtlichen Natur zur Entwicklung gediehen iſt, enthält drei Grundformen. Es iſt zuerſt das rein bürgerliche Haftungsrecht, mit den gewöhnlichen Grundſätzen über dolus und culpa ohne Rückſicht auf das Objekt oder die Art der Beſchädigungen, die Dritten durch den Betrieb entſtehen; es iſt zweitens die han - delsrechtliche Haftungspflicht nach den Grundſätzen des Handels - geſetzbuches, und für die dem Handelsrecht angehörigen Leiſtungen; es iſt drittens das öffentliche Haftrecht, das wieder theils die Haf - tung der Geſellſchaft als Ganzes gegenüber der Regierung für die Er - haltung ihrer Betriebsfunktion iſt, theils aber die, durch die Natur des Betriebes bedingte vielbeſtrittene oneroſe Haftung der Bahnen gegenüber den einzelnen Beſchädigten, deren Grundprincip darin be - ſteht, daß nicht wie bei bürgerlicher Haftung dem Beſchädigten der Beweis der Verſchuldung durch die Bahn, ſondern umgekehrt der Bahn der Entlaſtungsbeweis der unabwendbaren Gewalt obliegt, um ſich von der Erſatzpflicht zu befreien. Die Höhe des Erſatzes iſt immer Sache des Gerichts.

Das Princip der Genehmigung der Tarife iſt faſt ſo alt wie die Bahn - geſetzgebung ſelbſt; formell im preuß. Geſetz von 1838 anerkannt §. 29. 30; ebenſo in den engliſchen Regulations. Das Princip der Cheap trains bereits ein - geführt mit 7. 8. Vict. 85, und genauer regulirt 21. 22. Vict. 75 (1858). Das franzöſiſche Recht betrachtet überhaupt den Tarif nur von dem Standpunkt der Erlaubniß der Regierung le Gouvernement accorde à la société l’au -221 torisation de percevoir les droits de péage et les prix de transport suivants (Cahier des Charges art. 42; Fleury l. c. II. p. 120). In Deutſchland hängt das Maximum des Tarifs ſtets eng mit der Garantie, und dieſe wieder mit den Bau - und Betriebsſchwierigkeiten zuſammen, und erſcheint daher meiſt in den einzelnen Conceſſionen. Das Transportrecht tritt faſt nur als Transportpolizei auf; daneben als Bahnverfügungsrecht über die Paſſagier - ordnung, Güteraufnahme, Verpackung u. ſ. w. Seine eigentliche Entwicklung hat es natürlich erſt an dem handelsrechtlichen Haftungsrecht gefunden. Hier ſtehen ſich, weder durch Geſetzgebung noch durch Wiſſenſchaft ganz vermittelt, das deutſche Handelsgeſetzbuch und das Vereinsreglement gegenüber, und eine ſelbſtändige Jurisprudenz iſt im Begriffe ſich zu bilden; ſiehe namentlich Koch a. a. O. mit reichhaltiger Sammlung; vgl. auch Michel, öſterreich. Eiſen - bahnrecht, S. 156 199; Haftpflicht der Eiſenbahnen in England von H. A. Simon, deutſch von M. Frhr. v. Weber 1868. Das polizeiliche und adminiſtrative Haftrecht wird mehr ſelbſtverſtändlich angenommen als ſpeciell entwickelt; das oneroſe namentlich in neueſter Zeit ausdrücklich anerkannt für Oeſterreich durch Geſetz vom 5. März 1869.

III. Oeffentliche Dampfſchifffahrt.

Die Dampfſchifffahrt gehört ihrem allgemeinen Weſen nach unter die Schifffahrt; vermöge ihrer Maſchinen ſteht ſie unter der Maſchinen - polizei; ihre Bedeutung für das volkswirthſchaftliche Leben iſt groß, fehlt aber der Nationalökonomie und Statiſtik. Begriff und Recht der öffentlichen Dampfſchifffahrt entſtehen erſt da, wo die Linien der - ſelben als Fortſetzung der Eiſenbahnlinien auftreten. Hier beginnt das Intereſſe des Verkehrs, ſeine Forderung an einen regelmäßigen An - ſchluß und Beförderung aufzuſtellen; um dieß zu bewirken, muß der Staat entweder ſelbſt Dampferlinien errichten, oder den errichteten durch Subventionen ſolche Verpflichtungen auferlegen, und die ſich daraus ergebenden geſetzlichen, beziehungsweiſe vertragsmäßigen Be - ſtimmungen bilden dann das Recht der öffentlichen Dampfſchifffahrt.

Dem Principe nach iſt dieſes Recht ganz dem der Eiſenbahnen gleich; bezeichnend iſt nur, daß die oneroſe Haftpflicht gerade hier am wenigſten ausgebildet iſt. Natürlich iſt, daß die Unterſtützung der Dampfſchifffahrt je nach den Linien eine ſehr verſchieden geartete ſein muß, ſo weit nicht der Staat ſelbſt die Dampfſchiffe herſtellt (Poſt - dampfer). Es ſind daher die betreffenden Fragen ſtets von Fall zu Fall zu erwägen.

Der öſterreichiſche Lloyd und ſeine Verhältniſſe und Subventionsverträge; die Donau-Dampfſchifffahrtsgeſetze; Ablöſung ihres ausſchließlichen Privilegiums ſeit 1856 gegen Garantie von 7 Procent; die Meſſagerien von Marſeille für222 den Orient; italieniſche und griechiſche Dampferlinien; engliſche Linien über den Ocean. England: neueſtes Geſetz 25. 26. Vict. 63 (namentlich polizei - licher Natur, Ordnung und Zahl der Engineers u. a.).

IV. Das Telegraphenweſen.

Das Telegraphenweſen vermittelt den momentanen Verkehr. Es dient daher dem öffentlichen Intereſſe, wie Poſt und Bahnen. Es hat aber zugleich den Charakter und das Recht eines Privatunternehmens; die Bedingung des letzteren iſt aber wieder aus naheliegenden Gründen entweder die Ertragsfähigkeit, oder die Subvention. Und da nun bis - her der weſentlichſte Theil der Telegramme aus Staatsdepeſchen beſteht, ſo beſteht demgemäß mit wenig Ausnahmen das ganze Telegraphen - weſen noch in Staatstelegraphen.

Das Telegraphen recht iſt daher faſt nur noch von der Seite der reinen Verwaltung ausgebildet und hängt enge mit der Geſchichte der Telegraphen zuſammen. Die urſprünglichen optiſchen Telegraphen waren reine Staatsanſtalt, ausſchließlich im Dienſt der höheren Ver - waltung, wie der Anfang der Poſt. Die Einführung der Telegraphen beim Bahndienſte war der entſcheidende Schritt zur Bildung neuer Verhältniſſe. Zunächſt benützte man die Bahntelegraphen auch für Verwaltungszwecke; dann geſtatteten die Bahnen ausnahmsweiſe auch Privatdepeſchen; dann fingen die Verwaltungen an, ſelbſtändige Linien anzulegen und die Privatdepeſchen neben den öffentlichen zuzulaſſen; daraus entſtand die Nothwendigkeit, das Telegraphenweſen in Gemein - ſchaft mit den Nachbarſtaaten zu ordnen; ſo wurden die Verträge die Faktoren der Rechtsbildung für das Telegraphenweſen und ſind es für Deutſchland geblieben, während Englands Telegraphen als Privat - unternehmungen auftreten und Frankreich ſein Telegraphenweſen durch eigene Geſetze geordnet hat.

Das Telegraphenrecht iſt dadurch ſehr einfach. Es theilt ſich in das Betriebsrecht und das Verkehrsrecht, zu welchen bei den Telegraphengeſellſchaften noch das Conceſſionsrecht hinzukommt, das aber nichts als ein Analogon des Bahn-Conceſſionsrechts iſt.

Das Betriebsrecht iſt weſentlich techniſcher Natur; die Betriebs - ordnung muß auch bei Privattelegraphen der Aufſicht des Staates unterworfen bleiben. Die Grundlage iſt das Betriebsreglement mit den Inſtruktionen. Der Organismus iſt ausſchließlich techniſcher Natur mit Inſpektion und Stationen. Weſentlich iſt dabei die ſtrenge Polizei der Telegraphenlinien mit eigenem Strafrecht.

Das Verkehrsrecht hat dieſelben Momente wie das der Bahnen, mit den durch die Natur der Telegraphen gebotenen Modifikationen. 223Die Tarife ſetzt die Verwaltung ſelbſt; das Beförderungsrecht beſteht in der Verpflichtung, die Aufnahme und Abgabe nach dem ſtets zu veröffentlichenden Reglement vorzunehmen. Dagegen iſt das Haftungsrecht noch unausgebildet. Feſt ſteht nur, daß die Anſtalt für falſche Telegramme haftet; die Haftung für Mißbrauch des Telegraphen - geheimniſſes iſt bisher nur als eine perſönliche für den betreffenden Beamteten betrachtet; der Grundſatz, daß auch dafür die Haftung der Anſtalt auf dem Punkte eintreten ſollte, wo dieſer Mißbrauch durch die Aufſicht der oberen Organe hätte verhütet werden können, iſt noch nicht zur Geltung gelangt; der Grundſatz, daß bei Beſchädigungen der Anſtalt der Beweis der vis major auferliegt, iſt nicht anerkannt; wie weit dieſe Haftung in Beziehung auf die Zuſtellung geht, iſt nicht unterſucht, namentlich nicht die Frage der Zeit der Zuſtellung. Hier muß ſich daher erſt eine Jurisprudenz bilden, wie beim Eiſenbahnweſen.

England: Recht auf Anlage von Privattelegraphen an den Bahnlinien in der Regul. Act 7. 8. Vict. 85. art. 13; art. 14 Verpflichtung zur Beför - derung von Privattelegrammen für jede Telegraphenlinie; genauer in 26. 27. Vict. 112; Telegraphenpolizei (24. 23. Vict. 97). Die Regierung ſchließt mit den Telegraphengeſellſchaften für ihre Depeſchen eigene Verträge (25. 26. Vict. 39); das neueſte, ziemlich vollſtändige Geſetz (26. 27. Vict. 112; the Telegraf Act). Auſtria 1866, Nr. 15. Frankreich: durch erſtes Geſetz vom 29. Nov. 1850 der elektriſche Telegraph dem Privatdienſt eröffnet; weitere Entwicklung dieſer Geſetzgebung namentlich durch Dekret vom 17. Juni 1852 und Geſetz vom 28. Mai 1853 und 24. Juni 1854. Preußen: Telegraphendirektion dem Poſtamt untergeordnet (Organiſation durch Erlaß vom 12. Febr. 1856) und Telegraphen-Reglement vom 10. Dec. 1858. Rönne II. §. 429. Oeſterreich: Organiſations-Erlaß vom 24. Auguſt 1856; mit dem Poſt - weſen vereinigt ſeit 1851 (Regulativ für den Betrieb vom 6. Febr. 1850; Stubenrauch II. §. 532). Der erſte Vertrag für das deutſche Tele - graphenweſen vom 16. Mai 1850; deutſch-öſterreich. Telegraphenverein vom 25. Juli 1850 (Vertrag vom 14. Oct. 1851); daraus das gegenwärtige Betriebsreglement von 1863, das jetzt an die Stelle aller örtlichen Betriebs - reglements getreten iſt; Vertrag in Rohrſcheidt, Staatsverträge S. 245; ein Vertrag vom 21. Juni 1868 mit Erweiterungen und Modifikationen. Bayern: Grundlage Geſetz vom 6. Juni 1850 und Schutzgeſetz vom 24. Dec. 1849; Pözl, Verwaltungsrecht §. 176. Vom Standpunkte der Volkswirth - ſchaft in ihrer Entwicklung Knies, der Telegraph als Verkehrsmittel 1857. Sardiniſche Geſetzgebung vom 18. Sept. 1865. Die große Idee des euro - päiſchen internationalen Telegraphenweſens hat in jüngſter Zeit ihren Ausdruck gefunden in dem Centralbureau für das internationale Telegraphenweſen in Zürich, ſeit 1868 thätig, mit ſeinem Centralblatt für das europäiſche Tele - graphenweſen ſeit 1870.

224
Dritter Theil. Das Umlaufsweſen. Begriff und Inhalt.

Der Umlauf ſchließt ſich nun unmittelbar an den Verkehr, aber als ſelbſtändiger Theil der wirthſchaftlichen Bewegung. Der Umlauf iſt ſeinem Begriffe nach derjenige Akt, durch welchen die im Verkehr örtlich bewegten Perſonen - und Güterverhältniſſe aus dem wirthſchaft - lichen Leben des Einen in das des Andern übertragen werden. Der Umlauf als rechtlicher Akt iſt der Vertrag; ſein wirthſchaftlicher Inhalt iſt die Verwirklichung des Gewinnes, den der Verkehr beabſichtigt. Der Umlauf iſt daher zunächſt ein rein nationalökonomiſcher Proceß und ein Verhalten, das an und für ſich rein dem Einzelnen gehört.

Dennoch hat er Eine Bedingung, welche der Einzelne nicht her - ſtellen kann, wenigſtens nicht ohne eine mit dem Gewinne in keinem Verhältniß ſtehende Anſtrengung. Das iſt die Sicherheit für das rich - tige Maß in Gut und Werth bei den Leiſtungen. Dieſe Sicherheit kann nur gegeben werden, indem das Maß objektiv feſtſteht und der ſubjektiven Willkür entgegen iſt. Dieſe zur objektiven Geltung gelangende Beſtimmung des feſten Maßes kann nun weder die Selbſtverwaltung noch der Verein geben, weil ſie für alle Umlaufsverhältniſſe in gleicher Weiſe gelten ſoll. Sie muß durch das Geſetz des Staats aufgeſtellt und durch die Verwaltung deſſelben durchgeführt werden, und die Geſammtheit der darauf bezüglichen Beſtimmungen und Maßregeln bilden nun das, was wir im Sinne der Verwaltung das Umlaufs - weſen nennen.

Dieſes Umlaufsweſen hat nun, nach dem Weſen des Gutes, einen doppelten Inhalt. Es bezieht ſich zuerſt auf das Gut für ſich und erſcheint hier als Gütermaß im Maß - und Gewichtsſyſtem; dann bezieht es ſich auf den Werth im Syſtem der Münze und des Papier - geldes. Mit dem letzteren geht es in das Creditweſen über, dem auch die Frage nach den Werthpapieren angehört.

Das Umlaufsweſen iſt nun an ſich ſo nothwendig und natürlich, daß es als öffentliches Recht faſt mit dem Entſtehen der menſchlichen Einigung überhaupt entſteht. Dennoch iſt es weder praktiſch noch theo - retiſch zum Abſchluß gebracht. Das beruht darauf, daß dieſer Abſchluß nicht etwa in dem Finden dieſes oder jenes Syſtems, ſondern in der einheitlichen Gültigkeit derſelben Größenmaße und Grundſätze für den ganzen Weltverkehr liegt. Die Geſchichte des Umlaufs - weſens iſt aber nichts anderes, als der allerdings höchſt langſame und zugleich bei dem Maß - und Geldweſen ſehr verſchieden verlaufende225 Proceß, der dieſe Einheit des Umlaufsweſens im Weltverkehr herbei - führt und der gerade in gegenwärtiger Zeit in eine hochbedeutſame Epoche für beide getreten iſt.

A. Der Güterumlauf. Maß - und Gewichtsweſen.

Es gibt kein Maß und Gewicht an ſich. Alles Maß und Gewicht geht von Menſchen aus; jedes einzelne Maß und Gewicht ſo wie das Syſtem derſelben iſt zunächſt nur die Anwendung körperlicher Verhält - niſſe auf die natürliche Erſcheinung. Das Maß und Gewicht entſteht daher auch durch die Thätigkeit der Perſon, ſei es die phyſiſche, ſei es die geiſtige. So bildet ſich ein natürliches Maß - und Gewichts - ſyſtem, das in den Elementen bei allen Völkern gleichartig iſt.

Innerhalb der damit geſetzten Größenverhältniſſe aber haben Zufall und Willkür ihren Raum. So wie dagegen der Verkehr ent - ſteht, fordert er die allgemeine Geltung des Maßes. So lange nun der Verkehr bloß vom Einzelnen zum Einzelnen geht, können die Ein - zelnen ſich untereinander darüber individuell einigen. Sobald aber der Umlauf allgemein wird, muß die Geltung des feſtſtehenden Maßes zu einer objektiv rechtlichen werden. Alsdann wird ein beſtimmtes Maß durch die geſetzgebende Gewalt anerkannt und durch die vollziehende durchgeführt. Damit entſtehen die drei Momente, welche zuſammen das Maß - und Gewichtsweſen im öffentlichen Recht bilden.

Das erſte dieſer Momente iſt die Aufſtellung eines geltenden Syſtemes von Maßen und Gewichten, das meiſt hiſtoriſch entſtanden und nach einem gegebenen Grundmaß ausgebildet wird. Es gehört ein ſehr hoher Grad von Bildung dazu, um die verſchiedenen Maße und Gewichte als eine organiſche Einheit aufzufaſſen, namentlich das Längen - maß als Grundlage des Raummaßes zu beſtimmen; ja es iſt ſogar ſchon ſehr ſchwierig, auch nur die vorhandenen Maße, die oft nur einen ganz örtlichen Werth haben, ſtatiſtiſch genau feſtzuſtellen und auf gleiche Einheiten zu reduciren. Hier liegt daher der Kern der Geſchichte des Maß - und Gewichtsweſens, die in den beiden folgenden Punkten ſich im Weſentlichen faſt zu allen Zeiten gleich geblieben iſt.

Das zweite Moment iſt das Recht des Maßes und Gewichts. Das Recht beſteht einfach in der Verpflichtung, allenthalben wo der geſetzlich anerkannte Ausdruck im Verkehr gebraucht wird, auch das dafür geſetzlich beſtimmte Quantum zu leiſten, ſo daß jede ſubjektive Interpretation des erſteren damit ausgeſchloſſen iſt. Das Recht iſt die Grundlage des wirthſchaftlichen Werthes eines jeden geſetzlichen Maß - ſyſtems.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 15226

Das dritte Moment iſt die Maß - und Gewichtspolizei. Das Objekt dieſer Polizei ſind die Maße und Gewichte des Kleinverkehrs; die Ausübung derſelben iſt theils der polizeiliche Grundſatz, daß nur geſtempelte Maße und Gewichte gebraucht werden dürfen, theils die polizeiliche Ueberwachung der wirklich in Gebrauch befindlichen Maße; die Sicherung gegen falſches Maß und Gewicht beſteht dann in den Ordnungsſtrafen für den Gebrauch derſelben.

Es liegt nun in der Natur der Sache, daß die geſetzliche Ordnung und das Recht von Maß und Gewicht von der Regierung ausgehen, während die örtliche Ueberwachung Sache der Selbſtverwaltung iſt. Das Bedeutſame dabei iſt eben der Gang der Entwicklung im Ganzen, der zugleich von der volkswirthſchaftlichen Bewegung, von der Staaten - bildung und der Wiſſenſchaft bedingt erſcheint. Man kann dabei drei Grundformen unterſcheiden.

Die erſte Geſtalt alles öffentlichen Rechts von Maß und Gewicht geht immer von den Städten aus und ihr Objekt ſind ſtets zuerſt gewerbliche Produkte, die durch Pfund und Elle gemeſſen werden können, während die Bodenprodukte des Landmannes meiſt ganz örtliche, jedoch auch hier ſtets an die Produktionsverhältniſſe ſich anſchließende Maße zeigen. Die Ausbreitung des einzelnen Maßſyſtems ſchließt ſich dann an die des einzelnen ſtädtiſchen Handelsgebietes; die großen Städte werden für den Weltverkehr maßgebend, wogegen die kleinen meiſt ihre eigenen Maße und Gewichte für den Verkehr zwiſchen Land und Stadt beibehalten. Die Maß - und Gewichtspolizei iſt dabei vorwiegend eine Markt - und Kleinhandelpolizei; doch beſtehen öffentliche Maß - und Gewichtstypen (unſere Ellen an den Kirchen und Rathhäuſern, Raths - wagen u. ſ. w.).

Mit dem Eintreten der Staatenbildung tritt auch die Erkenntniß ein, daß ein einheitliches Maß - und Gewichtsſyſtem einen volkswirth - ſchaftlichen Werth habe. Das iſt die große Epoche des Merkantilſyſtems. Sie iſt charakteriſirt durch die erſten Verſuche, ein gemeingültiges Maß und Gewicht zunächſt innerhalb des eigenen Staats geſetzlich feſtzuſtellen. Der geringe Erfolg beruht in den meiſten Fällen darauf, daß das Ver - hältniß der letzteren zu den ortsüblichen Maßen und Gewichten nicht genau angegeben iſt. Daher treten in dieſer Zeit die geſetzlichen Maße und Gewichte faſt nur für den Großhandel ein, während der ganze Kleinhandel noch an den ortsüblichen Maßen feſthält.

So wie dagegen der eigentliche Weltverkehr beginnt, ergreift der - ſelbe auch die verſchiedenen beſtehenden Maß - und Gewichtsſyſteme. Die Berührung der Nationen fordert eine klare, allgemein anerkannte Form, um die mehr oder weniger ſelbſtändigen Maß - und Gewichts -227 ſyſteme der einzelnen Völker und Staaten auf eine gemeinſchaftliche Einheit reduciren zu können. So beginnt mit unſerem Jahrhundert eine doppelte Arbeit. Die eine geht weſentlich von Frankreich aus und fordert, daß mittelſt der Annahme ſeines großen metriſchen Syſtems auf dem Wege der Geſetzgebung jene Einheit für die ganze Welt hergeſtellt werde. Die zweite iſt vorzugsweiſe deutſch; ſie iſt wiſſenſchaftlicher Natur und ſtrebt durch wiſſenſchaftliche Reducirung aller verſchiedenen Maße und Gewichte auf eine gemeinſchaftliche Größe das Bedürfniß des internationalen Verkehrs zu befriedigen. Daraus nun viel Streit, deſſen Endergebniß als Grundlage der künftigen Geſtaltung folgendes iſt.

Es iſt falſch zu behaupten, daß ein Syſtem als ſolches einen größeren Werth habe als ein anderes; ſondern was den größten Werth hat, iſt die Einheit des Syſtems. Es iſt falſch, ein ſolches Syſtem durch Zwang für alle Theile des wirthſchaftlichen Lebens durchführen zu wollen; richtig iſt es dagegen, ſeine Einführung für diejenigen Güterverhältniſſe zu fordern, welche den Gegenſtand des internatio - nalen Verkehrs bilden. Das Gebiet des einheitlichen Maßes und Gewichtes wird daher ſtets nur ein verhältnißmäßig enges ſein, und ſich mit Ausnahme des Gebietes wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen naturgemäß auf diejenigen Produkte beſchränken, welche durch die Eiſen - bahnen und Dampfſchifffahrt Artikel des Weltverkehrs werden, während es ziemlich werthlos und auch erfolglos iſt, den örtlichen (Markt) Ver - kehr mit ſeinem, meiſt der örtlichen Produktion angepaßten Syſtem einem ſolchen allgemeinen Syſtem unterwerfen zu wollen. In der That folgen auch die Bewegungen der neueſten Zeit auf dieſem Gebiete faſt unwillkürlich den obigen Grundſätzen. Daneben genaue und leicht zugängliche Ordnung des inneren Maß - und Gewichtsſyſtems theils durch Aufſtellung feſter Typen, theils durch gut eingerichtete öffent - liche Wag - und Meßanſtalten, theils durch ſtrenge Stempelungs - und Aichungspolizei des Kleinverkehrs. Da, wohin dieſe praktiſchen Maßregeln nicht reichen, beginnt die Aufgabe der Wiſſenſchaft mit ihren Sammlungen und Reducirungen der verſchiedenen Syſteme in den einzelnen Staaten.

England. Gegenüber dem alten geſetzlichen Maß - und Gewichtsſyſtem geordnet in 5. G. IV. 74 (1824) und 4. 5. Will. 49 (1834) als Conceſſion an die Beſtrebungen zur Annahme des metriſchen Syſtems die Metric Weights and Mesures Act 27. 28. Vict. 167 (1864), daß kein Vertrag ungültig ſein ſoll, der nach metriſchem Maß und Gewichtsſyſtem geſchloſſen iſt. Oertliche Maß - und Gewichtspolizei (justice of peace) 5. 6. Will. IV. 68. Gneiſt II. 104. Frankreich: Zuſtand vor der Revolution wie in Deutſchland; jede Provinz228 und jeder Ort hatte ſein Maß - und Gewichtsſyſtem. Darauf Begründung des metriſchen Syſtems durch Decret vom 26. März 1791. Auffaſſung des Meters als zehnmillionſten Theil des Viertelmeridians, und Annahme des Decimal - ſyſtems; Ausführung mit Geſetz vom 18. Germ. III. (1795); das Maß - und Gewichtsſyſtem mit ſeinen Namen (Geſetz vom 12. Frim. VIII.); Vollendung: die Geſetzgebung erklärt das metriſche Syſtem für ein Syſtem für alle Zeiten und Völker (Decret vom 12. Febr. 1812); geordnete Beſtimmung zu den alten Gewichten. Dieß Decret wird endlich durch Geſetz vom 4. Juli 1837 auf - gehoben und die unbedingte Gültigkeit des Syſtems durchgeführt, welches einerſeits die Anwendung jedes andern Maßes und Gewichtes in allen öffentlichen Ankündigungen unter Ordnungsſtrafe verbietet, das Syſtem der Vérificateurs (mindeſtens einen in jedem Arrondiſſement) einführt, welche die Gewichte und Maße für den Verkehr ſtempeln (la vérification première), eine Liſte verfaſſen, und den Gebrauch überwachen (vérification périodique) unter Beihülfe der Maires. Jede Abweichung wird mit Ordnungsſtrafen belegt (Ord. vom 17. April 1839), vergl. Système légal des poids et mesures par Lamotte 14. Aufl. Weitere Literatur bei Block, Dict. In Deutſchland war das Maß - und Gewichtsweſen ein Theil des Commerzienregals der Terri - torialhoheit; die Zerfahrenheit blieb auch unter dem deutſchen Bunde. Schon Juſti, Polizeiwiſſenſchaft II. Bd. Hauptſt. 42. §. 215: Es würde nicht wenig zur Beförderung der Commerzien beitragen, wenn alle europäiſchen Völker Ein Maß und Gewicht hätten. Beziehung auf Deutſchland mit dem neun - zehnten Jahrhundert; Klüber, öffentliches Recht §. 414: zu wünſchen wäre ein allgemeines Maßſyſtem für alle Bundesſtaaten; frühere Literatur ebend. In Preußen: Maßweſen als Majeſtätsrecht unklar (Allgem. Landrecht II. 13. 12). Erſte Maß - und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816, mit erſter Organiſation (Probemaße beim Miniſterium für Handel; Provinzial-Eichungs - commiſſion, Eichungsämter mit Stempelung und Prüfungsrecht, und Pflicht zur Anwendung von geſtempelten Maßen und Gewichten); dann erſter Schritt zur Einheit in der Einführung des preußiſchen Pfundes als Zollpfund für den ganzen Zollverein durch Verordnung vom 31. Okt. 1839. Weiter iſt die Sache nicht gediehen. Aehnlich in den kleinern deutſchen Staaten. Würt - temberg: Geſetz vom 1. Dec. 1806. Mohl, Verwaltungsrecht II. 626. Bayern: Geſetz vom 28. Februar 1809; Pözl, §. 178. Baden: Geſetz vom 10. Nov. 1810; Gewichts - und Maßordnung vom 2. Juni 1829. Oeſterreich: erſter Verſuch bereits im vorigen Jahrhundert 1764. 1787 ein öſterreichiſches Maß - und Gewichtsſyſtem, fortgeſetzt durch eine Reihe von Ver - ordnungen von 1770 bis auf unſere Zeit. Die Eichungsämter ſeit 1784 ein - geführt; die Gemeindeordnung von 1849 überträgt die Polizei definitiv den Gemeinden (§. 137); zeitweiſe (alle drei Jahre) Unterſuchung ſeit 1790 vor - geſchrieben; Errichtung von öffentlichen Wäge - und Meßanſtalten (Geſetz vom 19. Juli 1865). Neueſtes ſehr rationelles Geſetz vom 19. Juni 1866; Einfüh - rung öffentlicher Wäge - und Meßanſtalten; auch ſie haben die Gemeindever - waltung und Polizei. Ueber den Kampf mit dem metriſchen Syſtem vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 176 und Literatur. Seit 1848 nun viele229 Beſtrebungen zur Einführung des metriſchen Syſtems, namentlich auch in Deutſch - land. Dieſe Beſtrebungen (namentlich Erklärung des deutſchen Handelstages in Heidelberg 1861) leiden daran, daß ſie die unbeſchränkte Einführung fordern, während dieſelbe nur innerhalb des obigen Kreiſes von wirklichem Werth iſt (vgl. Rau, Verwaltungspflege II. §. 230 ff). Einſetzung der Bundes - Commiſſion für die Einführung der deutſchen Maß - und Gewichtsordnung; Schlußprotocoll vom 9. Aug. 1865.

B. Der Werthumlauf. Das Geldweſen. Begriff und Inhalt.

Das Geld iſt ein national-ökonomiſcher Begriff. Derſelbe kann nicht verſtanden werden ohne die ſtrenge Scheidung von Gut und Werth. Denn das Geld iſt eben der vom Gute geſchiedene, ſelbſtändig erſchei - nende und daher auch ſelbſtändig funktionirende Werth. Auf dieſem Gedanken beruht das ganze Syſtem des Geldweſens.

Es iſt nun klar, daß dieſe Selbſtändigkeit des Werthes im Gelde die erſte Vorausſetzung jedes Umlaufes iſt. Jeder Kauf iſt in der That nichts anderes, als die Hingabe des Werthes für das Gut. Mit dem Gelde iſt daher das gemeinſame Werthmaß für alle Güter, und damit die erſte Vorausſetzung aller wirthſchaftlichen Gegenſeitigkeit gegeben.

Eben darum entſteht Geld ſtets unmittelbar mit der Produktion des Einen für den Andern. Aber eben deßhalb kann auch das Geld nicht der Willkür des Einzelnen unterworfen ſein. Es muß die Grund - ſätze, welche für Maß und Gewicht gelten, auf den ſelbſtändigen Werth anwenden; das iſt, es muß ſelbſt ein Syſtem von öffentlich anerkanntem Maß und Gewicht ſein. Damit iſt es der Thätigkeit ſo - wohl der Selbſtverwaltung als der Vereine entzogen; es iſt in ſeiner Herſtellung nothwendig eine ausſchließliche Aufgabe der Regierung; dieſes ausſchließliche Recht nennen wir die Regalität; das Geldweſen iſt daher ein Regal, und die Geſammtheit von Anſtalten und Be - ſtimmungen der Regierung über Ordnung und Recht des Geldes als Grundlage des ſelbſtändigen Werthumlaufes nennen wir das Geld - weſen.

Ein Geldweſen iſt daher zu allen Zeiten mit der Staatsordnung zugleich entſtanden, mit ihm ſeine ſyſtematiſchen Hauptgebiete, welche in ſeiner Natur ſelbſt liegen. Dieſe ſind das Münzweſen, welches die Ordnung, das Wahrungsweſen, welches das Recht, und das Papiergeldweſen, welches die Quantität des Geldes zum Objekt hat. Dieſe drei Theile bilden daher die Verwaltung des Geld - weſens.

230

Dieſe Verwaltung des Geldweſens iſt nun an ſich eine ſehr ein - fache. Ihre Entwicklung beginnt erſt da, wo die unabänderliche wirth - ſchaftliche Natur des Geldweſens von den Regierungen erkannt wird, und der Verſuch entſteht, dieſe Natur und ihre organiſche Funktion den Verwaltungsmaßregeln zu unterwerfen. An den Verwirrungen und wirthſchaftlichen Krankheitszuſtänden, die daraus entſtehen, bildet ſich dann langſam aber ſicher das Bewußtſein vom wahren Weſen des Geldes und von der Aufgabe der Verwaltung aus, und die letztere empfängt auf dieſe Weiſe ihre rationellen Grundſätze durch die Er - kenntniß der Fehler, welche dieſelben verletzt haben.

Dieſes nun tritt naturgemäß da ein, wo die organiſche Funktion des Geldes ſich von dem unmittelbaren Umlauf der Güter losläßt, und als ſelbſtändiger wirthſchaftlicher Proceß erſcheint. Dieſe organiſche Funktion iſt die Zahlung (des Preiſes.) Auf den niederen Stufen des wirthſchaftlichen Lebens iſt die Zahlung ſtets mit dem einzelnen Vertrage verbunden, und das Geld erſcheint daher ſtets als Theil des Vertrages. So wie aber der Weltverkehr entſteht, wird die Zahlung für die einzelne Leiſtung unmöglich, die Zahlung der Rechnung tritt an die Stelle der Zahlung der Waare, und damit entwickelt ſich ein ſelbſtändiger Geldumlauf, allerdings als Bedingung und Ausdruck des Güterumlaufs, aber äußerlich doch von demſelben unabhängig. Das beginnt mit dem überſeeiſchen Handel, entwickelt ſich durch die Ma - ſchinenproduktion, und durchdringt zuletzt das ganze Volksleben im Creditweſen. Jetzt erſcheint das Geldleben als ein vom Güterleben vollſtändig geſchiedenes und ſelbſtändiges, und jetzt beginnt daher auch die Frage, ob und wie weit daſſelbe ſeine wirthſchaftliche Natur dem Willen der Geſetzgebung und Verwaltung unterwerfen kann. Dieſe Frage hat drei Grundformen und in ihnen zugleich aus naheliegenden Gründen die drei Stadien ſeiner Geſchichte. Die erſte Frage iſt die, ob es die Prägung iſt, die der Münze den Werth gibt; aus dieſer Frage entſteht das Münzweſen und Recht; die zweite Frage iſt die nach dem Verhältniß von Gold und Silber, aus welcher die Währung und ihr Recht entſteht; die dritte Frage iſt die nach der für den Ver - kehr nothwendigen Summe Geldes, welche das Papiergeldweſen erzeugt. Jede dieſer Fragen hat ihre Geſchichte, ihre Geſetzgebung, ihre Literatur; dennoch bilden ſie innerlich ein Ganzes mit ſeiner reichen Geſetzgebung und Literatur.

Bei der Verſchmelzung der volkswirthſchaftlichen und verwaltungsrechtlichen Geſichtspunkte im Geldweſen iſt es ſchwer, den Gang der Literatur, welche hier am meiſten die allmählige Entwicklung des Bewußtſeins bedeutet, in feſte Geſtalt zu bringen. Doch ſind die Hauptſtadien folgende. Die Literatur231 beginnt mit dem Verſtändniß des eigentlichen Münzweſens italieniſche Epoche; die zweite Epoche fängt an mit der Frage nach dem Papiergeld durch J. Laws Considérations sur la Monnaie, die mit Riccardo’s Schrift On the high price of bullion (1808) eine ſtreng wiſſenſchaftliche Geſtalt empfängt; von da an beginnen die deutſchen Arbeiten mit Büſch, an das Bankweſen anlehnend, Hoffmanns Lehre vom Gelde 1838 und Soetbeers Unterſuchungen über Gold und Silber, letztere namentlich angeregt durch den Kampf gegen die Silberwährung, der in England praktiſch, in Frankreich bis auf die neueſte Zeit theoretiſch geführt wird (M. Chevalier und Wolowski) während die deutſche Nationalökonomie alles durch einander wirft, und faſt nur Rau den Stand - punkt der Verwaltung in ſeiner Volkswirthſchaftspflege feſthält. Es iſt aber kein Zweifel, daß wir gegenwärtig einer definitiven Klärung in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft entgegen gehen.

I. Das Münzweſen.

Die Münze iſt das Geld, inſofern daſſelbe an der Subſtanz der edlen Metalle Maß und Gewicht empfängt. Das Syſtem der Münzen wird daher das Maßſyſtem des Werthes für ſich betrachtet. Die Her - ſtellung dieſes Maßſyſtems in den Münzen iſt, als Aufgabe der Ver - waltung, das Münzweſen.

Die allgemeinen Grundlagen des Münzweſens ſind folgende.

Die Münze bedarf eines Grundgewichts; die Eintheilung des Grundgewichts iſt die Stückelung; das Syſtem der Stückelung iſt der Münzfuß; die Münze des Münzfußes iſt die Hauptmünze. Die Prägung iſt die durch die Münzſtempelung vollzogene ſtaatliche An - erkennung, daß die geprägte Münze wirklich ſo viel Edelmetall enthält, als der Münzfuß fordert. Die techniſchen Elemente der Prägung for - dern die Legirung (Schrot zum Korn) und laſſen ein Minimum der Abweichung vom Münzfuß, das Remedium zu. Der Umlauf der Münze erzeugt mit der Abreibung einen Werthverluſt, der durch be - ſtändige, aber geregelte Umprägung aufgehoben wird. Die Ge - ſtehungskoſten der Prägung können als Schlagſchatz von jeder Münze abgezogen werden. Die Münzen aus unedlem Metalle ſind die Scheide - münzen, mit eigenem Münzfuß. Dieß ſind die formalen Grundbegriffe des Münzweſens.

Das rechtliche Princip iſt das der Regalität. Auch die Nach - ahmung vollkommen richtiger Münze iſt ein volkswirthſchaftliches Ver - brechen.

Das Verwaltungsprincip beſteht nun offenbar einfach darin, in jeder einzelnen Münze die höchſte Genauigkeit des Maßes herzuſtellen, da auch die geringſte Abweichung durch den unendlich wiederholten Gebrauch derſelben im Zahlungsproceß eine große und allgemeine232 Störung des Werthes hervorruft. Grundgewicht und Münzfuß ſowie die Stückelung ſind an ſich gleichgültig, und gewinnen erſt Bedeutung, wo der Weltverkehr die Münzſyſteme der Völker in allgemeine Berüh - rung bringt. Die Scheidemünze behält unter allen Umſtänden den Charakter einer örtlichen Münze.

Mit dieſen an ſich höchſt einfachen Begriffen wäre nun das ganze Münzweſen rein der ausführenden Technik der Münzämter überwieſen, wenn ſich nicht im Laufe der Geſchichte zwei Fragen ergeben hätten, durch welche eigentlich die Welt erſt zum Bewußtſein der hohen Be - deutung des Münzweſens gekommen iſt.

1) Offenbar iſt die Vorausſetzung jeder Geltung der Münze die Prägung. Daraus iſt auf den unteren Stufen der wirthſchaftlichen Bildung die Meinung entſtanden, daß es auch die Prägung ſei, welche der Münze den Werth gebe. Die Conſequenz davon war der Verſuch der Regierungen, bei eintretendem Geldmangel den Münzfuß zu ändern, und theils zwar offen, indem man das Grundgewicht in mehr Theile theilte, aber der ſo entſtandenen leichteren Hauptmünze den Werth der ſchwereren geſetzlich beilegte, obwohl ſie ihn faktiſch nicht hatte; theils heimlich, indem man ohne Geſetz mehr Münzen aus dem Grundgewicht ſchlug, als der Münzfuß zuließ. Damit begann jener merkwürdige Kampf der Regierungen mit der höheren Natur des Geldes. Die letztere ließ ſich aber nicht bewältigen. Der Verkehr, der ohne einen feſten Maßſtab des Werthes nicht beſtehen kann, ließ die geſetzlichen Werthbeſtimmungen der Münze fallen, und berechnete ſie ſofort durch Reducirung ihres wirklichen Feingehalts auf das Grundgewicht nur nach dem letzteren, während da, wo einmal ein leichter Münzfuß ge - ſetzlich eingeführt war, und der alte Name der Hauptmünze daher auch für die neue leichtere Münze blieb, der Nominalpreis der Güter ſtieg, während ihr Werth der gleiche blieb. So gewannen die Regierungen nichts, da ſie immer mindeſtens daſſelbe Quantum edler Metalle, wenn auch in anderer Form, zahlen mußten; der Verkehr aber verlor die Sicherheit ſeines Werthmaßſtabes, und der Nachtheil dieſes Ver - luſtes war für das Geſammtleben ein ſo großer, daß endlich mit unſerem Jahrhundert die abſolute Unverletzlichkeit der höchſtmöglichen Genauigkeit der Ausbringung für alle europäiſchen Staaten feſtſteht. Die Geſchichte des Münzweſens iſt bis auf die neueſte Zeit faſt nur die Geſchichte dieſes merkwürdigen Kampfes zwiſchen Staat und National - ökonomie, in welchem die letztere den entſchiedenen Sieg davon trägt.

Aus demſelben Princip iſt mit dem neunzehnten Jahrhundert der Schlagſchatz aufgehoben; die Geſtehungskoſten der Münze ſind jetzt Verwaltungskoſten, da der Werth der abſolut genauen Ausbringung233 größer iſt als der eines Erſatzes der Prägungskoſten durch Abzug am Münzgehalt.

2) So lange nun die volkswirthſchaftliche Bewegung mit ihren Zahlungen eine innere iſt, bewegt ſich das ganze Münzweſen noch faſt ausſchließlich auf dem Gebiet jener erſten Frage. So wie aber, wie namentlich in unſerem Jahrhundert, der Völkerverkehr mächtiger wird, entſteht das Bedürfniß, mit der Münze des einen Landes eine Forde - rung des andern möglichſt leicht zahlen zu können. Die erſte techniſche Bedingung dafür iſt nun natürlich die möglichſte Gleichheit erſtlich an Grundgewicht, dann im Münzfuß, endlich in der Legirung. Der erſte und zweite Punkt ſchließen ſich an die werdende Einheit des Maß - und Gewichtsſyſtems, der dritte an das Währungsweſen und ſeine Geſchichte. Als erſter Schritt dazu muß daher die Identificirung des Grundgewichts und der Stückelung mit dem geſammten Maß - und Gewichtsſyſtem, als zweiter der Verſuch des internationalen Währungs - weſens erſcheinen. Das nun wieder ſteht im engſten Zuſammenhang mit dem Verhältniß zwiſchen Gold und Silber. Je weiter aber der einheit - liche Verkehr der Völker unter einander fortſchreitet, je nothwendiger wird ein ſolches internationales Münzweſen. Nur muß man auch hier die Grundſätze feſthalten, die für Maß und Gewicht gelten. Das künftige internationale Münzweſen braucht nicht das ganze Münzweſen der Völker zu umfaſſen, ſondern nur denjenigen Theil, der eben für den internationalen Verkehr beſtimmt iſt. Nun ergibt ſich, daß dieſer Theil naturgemäß in den Goldmünzen beſteht. Es folgt daraus die Grund - lage für das ganze internationale Münzweſen der Zukunft; das Syſtem der Goldmünzen muß auf internationalen Prägungsordnungen beruhen; die Silbermünzen fordern nur eine Landesmünzordnung; die Scheidemünzen ſind ihrem Weſen nach dem örtlichen Münzweſen zu überweiſen.

In der That nun entſpricht der Gang der Geſchichte in Europa im Großen und Ganzen dieſen in der Sache ſelbſt liegenden Elementen, und die große Münzliteratur, welche dieſelbe begleitet, hat dabei nur die Aufgabe, jene Geſetze und Verhältniſſe zum Bewußtſein zu bringen. Die Epoche des örtlichen Münzregals, die bis zum ſiebenzehnten Jahrhundert dauert, iſt die Zeit der völligſten Verwirrung im Münz - weſen Europas; das achtzehnte Jahrhundert iſt die Zeit, in welcher der Werth und die Nothwendigkeit eines feſten, ſelbſt für die höchſte Staatsgewalt unantaſtbaren Münzſyſtems klar und geſetzlich anerkannt wird; das gegenwärtige Jahrhundert hat dann den großen Verſuch begonnen, ein internationales Münzweſen durch Verträge zu erzeugen, was dann wieder, wie die Natur der Sache es fordert, faſt nur noch234 für das Goldmünzenſyſtem der Staaten in Geltung gelangt iſt. So ſind wir auch hier noch in erſter Entwicklung begriffen, und die Münz - literatur behält die Aufgabe, durch theoretiſche Reducirung der ver - ſchiedenen Syſteme auf das gleiche Gewicht die Ausgleichung der Werthe der Münzen im Verkehre möglich zu machen. Dieſe ganze hiſtoriſche Bewegung des Münzweſens hat nun in den verſchiedenen Staaten wieder eine verſchiedene Geſtalt. Das Princip der örtlichen Entwick - lung iſt dabei, daß die Münzordnung in dem Grade ſich beſtimmter und feſter entwickelt, in welchem die königliche Gewalt die feudale Selbſtändigkeit der Territorien überwältigt, während die europäiſche Einheit des Syſtems ihrerſeits ſich der Ausbildung des Eiſenbahnſyſtems und Eiſenbahnverkehrs der Länder unter einander anſchließt.

Der Grund, weßhalb es ſo ſchwierig iſt, ſich über den Gang der Geld - und Münzfrage in Europa klar zu werden, beſteht theils in der beſtändigen Verſchmelzung der Frage nach Werth und Geld, theils in der Verſchmelzung des Münzweſens mit der Währung und dem Papiergelde; dabei gehört die Literatur über dieſe Gegenſtände ganz Europa, während die Geſetzgebung in jedem Lande eine verſchiedene iſt. Wir ſcheiden ſie.

Die italieniſche Literatur beginnt eigentlich mit der reinen Münzfrage (Blanqui, Hist. de l’Econ. pol.). Die ſyſtematiſche Auffaſſung fängt erſt mit dem Merkantilſyſtem an. Der Charakter dieſer ganzen Richtung iſt der bei allem noch unfertige Verſuch, den Werth vom Gelde zu ſcheiden, ohne daß man zu einem definitiven Reſultat gelangt. Beginn: Locke, Considerations of the cons. of raising the interest and of raising the value of money 1691. Law, Considérations sur le numéraire (Coll. d’Econ. ſ. unten bei Papiergeld). So entſteht die Geſtalt, welche wir die Lehre vom Werthe des Geldes nennen wollen, und die namentlich Ad. Smith I. 4 entwickelt. Erſt in der Mitte des vorigen Jahrhunderts trennt ſich das Münzweſen vom Geldweſen und zwar namentlich in Deutſchland; während die deutſche National - ökonomie, vollſtändig von Ad. Smith beherrſcht, die obige Unklarheit beibehält, entſteht die ſelbſtändige Lehre vom Münzweſen theils in der ſelbſtändigen Theorie der Münztechnik (Buſſe, Krünitz), theils in dem erſten Entſtehen einer ratio - nellen Münzpolitik. Juſti (Polizeiwiſſenſchaft 6. Bd. 24. Hauptſt. ) ſieht ſchon, daß 1760 der Umlauf des Geldes von dem Umfang des Waarenverkehrs be - dingt wird. Ja, wenn die Völker Europas wahrhaftig weiſe wären, ſo ſollten ſie ſich in einem Friedensſchluß über ein gemeinſames Markgewicht von einerlei Schwere und Eintheilung vergleichen, das in allen Staaten Europas auf das Genaueſte übereinſtimmt. Vom engeren praktiſchen Geſichtspunkte Büſch, Grundſätze über Münzpolitik 1779, theils im Anſchluſſe daran, in der Frage nach dem Münzregal, ſeinem Zuſtand, ſeinen Folgen und ſeinem rechtlichen Inhalt (Klüber, das Münzweſen in Deutſchland 1828 erſte wiſſenſchaftliche Behandlung der Geſchichte des Münzrechts), theils indem die Polizeiwiſſenſchaft das Münzweſen ſelbſtändig behandelt (Jacob, Polizeiwiſſenſchaft 611 ff. Lotz,235 Staatswirthſchaftslehre II. §. 113); ſelbſtändig, aber mit ſpecieller Beziehung auf das preußiſche Münzweſen Hoffmann (Lehre vom Gelde 1838 und kleinere Arbeiten), Rau nimmt dann das Gebiet in die Volkswirthſchaftspflege auf II. 232 ff., während Roſcher I. 117 127 wieder alles durch einander wirft. Ueber Begriff und Recht des Geldes: Goldſchmid, Handbuch des Handelsrechts I. Abth. VI. S. 1060 ff., reiches Material, viel Recht, wenig Volkswirthſchaft. Die neueſte Zeit hat dann die Münzfrage der Währungsfrage und zwar theils in Beziehung auf Gold und Silber, theils auf Papiergeld theoretiſch unter - geordnet (Enquête sur la Monnaie fiduciaire 6 Bde. 1869) mit reichem aber durchaus ungeordnetem Material und vielen ſelbſtändigen Aufſätzen; daneben aber ſchreitet die Einheit des Münzweſens, und zwar noch geſchieden vom Währungsweſen, durch internationale Verträge fort: Vertrag vom 19. Febr. 1857 für Deutſchland; der große Goldmünzungsvertrag zwiſchen Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz vom 23. Dec. 1865, aus welchem die inter - nationale Münzconferenz zu Paris 1867 zwiſchen Frankreich, Oeſterreich, Preußen, Belgien, Holland, Dänemark, Ver. Staaten, Großbritannien, Griechen - land, Italien, Rußland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Türkei und den deutſchen Staaten hervorging, deren Zweck allerdings neben der Goldmünz - einheit die Herſtellung der einheitlichen Goldwährung war; daneben eine reiche Literatur über die Nothwendigkeit und den Werth der Münzeinheit für Europa. Grundlage: Forderung nach völliger Gleichheit in Grund - gewicht, Stückelung, Ausbringung und Umprägung zunächſt der Goldmünze als Völkerverkehrsmünze; erſt wenn dieß geſchehen, kann die Währungseinheit (für Geld) ſich entwickeln. Sehr gut: Gſchwendner, zur allgemeinen Münz - einheit 1869 (vergl. beſonders zur Orientirung Beil. I. S. 172). Dazu Ein - führung des Decimalſyſtems im Münzweſen von Spanien (Geſetz vom 26. Juni 1864); jedoch auch hier die Währungs - nicht von der Münzfrage gehörig ge - ſchieden; die Papiergeldfrage iſt nicht in Betracht gekommen.

Was nun die Geſetzgebung betrifft, ſo iſt ſie in England von jeher ſehr einfach und klar geweſen, in Frankreich iſt ſie es ſeit der Revolution geworden, in Deutſchland dagegen arbeitet ſie noch jetzt nach Einheit und Syſtem. Das definitive Münzſyſtem Englands durch 14. G. III. 92 und 56. G. III. normirt. Münzrecht Gneiſt, Verwaltungsrecht §. 67. MacCulloch, Dict. ſ. Münzen. Rau §. 214. Das Münzweſen Frankreichs im innigſten Anſchluß an das Maß - und Gewichtsſyſtem; der Frank als Hauptmünze ſeit Geſetz vom 18. Germ. III; die Goldmünzung ſeit 1848 und 1854 erweitert (Stücke zu 5 und 100 Fr.) das Prägungsweſen durch eine Reihe von Geſetzen und Verordnungen beſtimmt. Material und Literatur bei Block, v. Monnaies. Das deutſche Münzrecht: Klüber, öffentliches Recht §. 416 ff. Preußen: erſte allgemeine Ordnung von 1750; dann Geſetz über die Münzverfaſſung des preußiſchen Staates von 1821; erſte Münzconvention von 1838; Münzvertrag vom 19. Febr. 1853. Rönne, Staatsrecht II. §. 430. Oeſterreich: das gegenwärtige Münz - ſyſtem auf Grundlage des Vertrags von 1857 neu geregelt als öſterreichiſche Währung durch Patent vom 19. Sept. 1857.

236
II. Das Währungsweſen.

Offenbar nun genügt auch das beſte Münzweſen nicht allein. Der Verkehr fordert mit Recht, mit einer beſtimmten Münze in der Weiſe ſeine Zahlungen machen zu können, daß derſelben ein beſtimmtes, ge - ſetzlich anerkanntes Zahlungsrecht und ein geſetzlicher Zahlungswerth beigelegt werde, da ohne beide jede Zahlung von der Willkür des Gläubigers abhängen würde. Dies Recht und dieſer Zahlungswerth, oder die geſetzliche Zahlungsfähigkeit iſt nun die Währung, und die darauf bezüglichen Beſtimmungen bilden das Währungsweſen.

Die Währung iſt nun an ſich gegen die Prägung gleichgültig; allein es iſt naturgemäß, daß zunächſt die Landesmünze und ihr Syſtem die Währung beſitzen. Das Mittelalter, das Geld und Werth nicht zu ſcheiden vermochte, kam dadurch zu der Meinung, daß die ge - ſetzliche Währung auch die Fähigkeit beſitze, der Münze einen beliebigen wirthſchaftlichen Werth zu geben, woraus die Münzverſchlechterungen hervorgingen. Erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert erkannte man, daß der geſetzlich ausgeſprochene Zahlungswerth der Münze nur dann im Verkehr Gültigkeit behalte, wenn er mit dem wirthſchaftlichen Werth möglichſt genau übereinſtimme. Von da an verſchwinden daher aus dem geſetzlichen Währungsweſen die Verſuche, über den Werth der Münzen Beſtimmungen zu treffen, und daſſelbe, auf das Zahlungs - recht ſich ſtrenge beſchränkend, entwickelt nunmehr ein neues und ſelb - ſtändiges Syſtem.

Dieſes Syſtem ſchließt ſich nun zuerſt an den Unterſchied der bei - den edlen Metalle und ſo entſteht die Frage nach der Gold - und Silberwährung, mit der die Frage nach der Währung der Scheide - münze unmittelbar zuſammenhängt. Der große Weltverkehr erzeugt dann die Frage nach der internationalen Währung, deren Baſis allerdings die Annahme eines internationalen Münzweſens iſt. Das entſtehende Papiergeld endlich erzeugt dann den Unterſchied zwiſchen Staatswährung und Verkehrswährung, in welchem die erſtere das Recht auf Zahlung bei den Staatskaſſen, die letztere das Recht auf Zahlung im Verkehr bedeutet; die erſtere nennen wir deßhalb die halbe, die zweite, die ohne die erſtere nicht denkbar iſt, die volle Währung. Dieſe Papierwährung iſt aber ihrerſeits nur als Theil des Papiergeld - weſens überhaupt zu verſtehen, und ſo bildet die Metallwährung das eigentlich ſelbſtändige Syſtem des Währungsweſens.

Dieſes gegenwärtige Metallwährungsweſen muß nun als ein hiſto - riſcher Uebergangspunkt zu dem definitiven Währungsweſen angeſehen werden, dem wir unzweifelhaft entgegen gehen.

237

Urſprünglich war alle Währung Silberwährung ohne eine beſonders geſchiedene Scheidemünzwährung. Die Goldmünze war Waare, ohne Zahlungsrecht und Zahlungswerth. Mit dem wachſenden Völkerverkehr wird vermöge ſeiner Natur die Goldmünze mehr und mehr zuerſt ein internationales Zahlungsmittel. Als einerſeits die induſtrielle Pro - duktion und Conſumtion ſich entwickeln, und andererſeits der oſtindiſche Handel die Zahlungen nach dem Orient in einem ſteigenden Maße hebt, vermag die Maſſe des Silbers allmälig auch dem Zahlungsbedürfniß des inneren Verkehrs nicht mehr zu genügen, und das Gold wird da - her neben dem Silber zur umlaufenden Münze, die in dem Grade unentbehrlicher wird, in welchem der überſeeiſche Verkehr das Silber abſorbirt, und die fortſchreitende Geſittung den Geldbetrag auf den Kopf der Bevölkerung ſteigert. Damit wird nun auch für die Gold - münze nicht bloß eine genaue und ſtrenge Münzung, ſondern auch die Währung nothwendig, und ſo entſtehen jetzt drei Währungsſyſteme: die Goldwährung, welche die Silberwährung nur noch als Scheide - münze mit kleiner Verkehrswährung neben ſich aufnimmt, die Doppel - währung, welche die Gold - und Silberwährung zugleich anerkennt, und daher ſtets gezwungen iſt, einen geſetzlichen Zahlungswerth neben dem Zahlungsrecht für das Werthverhältniß beider Metalle aufzuſtellen, und die Silberwährung, in der die Goldmünze noch Waare ohne Zahlungsrecht, und mit bloßem Verkehrswerth iſt. Es iſt nun kein Zweifel, daß dieſelben Gründe, welche die Goldwährung erzeugt haben, ſie auch allmälig bei allen Völkern des Weltverkehrs einführen werden, da die Maſſe des Silbers anerkannt ſich vermindert, und für den Münzbedarf nicht mehr ausreicht. Die Goldwährung erſcheint daher als natürliche Währung des Völkerverkehrs, die Silberwährung als die des inneren Verkehrs, ſo zwar, daß dem entſprechend die Münzung des Goldes Sache der Völkerverträge, die Münzung des Silbers Sache der einheimiſchen Geſetzgebung bleibt. Die einzige Frage iſt dabei die über die Modalitäten der Einführung der Goldwährung. Die lei - tenden Grundſätze dafür ſind: 1) das Gold muß bereits als Verkehrs - zahlungsmittel bekannt ſein, ehe man ihm die Währung gibt; 2) man muß ihm zuerſt nur die halbe, und dann die volle Währung geben; 3) die Einlöſungen des Papiergeldes und die Verzinſung der Staats - ſchulden in Gold gleichfalls der Verkehrswährung voraufgehen; 4) mit Uebergehung jeder Doppelwährung dem Silber als Scheidemünze ſeinen eigenen leichteren Münzfuß und ſeine eigene Scheidemünzwährung bei - legen.

Man wird den großen theoretiſchen Streit zwiſchen Gold und Silber nur dann richtig beurtheilen, wenn man ſich dem Obigen gemäß darüber einig iſt,238 daß die Frage überhaupt keine rein wiſſenſchaftliche, ſondern ausſchließlich eine Frage der Statiſtik des Goldes und Silbers, und der ſich daraus regelnden Zweckmäßigkeit der Einführung der Geldwährung iſt. Die Frage ſelbſt ſtammt aus der neueren Zeit; die bisherige Nationalökonomie hat ſie ſo gut als gar nicht berückſichtigt. Die Heimath des Streits iſt Frankreich wegen ſeiner Doppelwährung. (M. Chevalier, De l’Or 1866; Wolowsky, Question monétaire 1867); beide machen viel zu ſehr einen theoretiſchen Streit daraus. Dagegen hat Soetbeer die Goldfrage und deren Einfluß auf die Handel treibenden Länder (Zeitſchrift für Staatswiſſenſchaft, Bd. 18), den einzig richtigen Standpunkt der ſtatiſtiſchen Behandlung durchgeführt, und die entſcheidende Thatſache feſtgeſtellt, daß die Silberausfuhr ſeit den letzten Jahr - zehnten die Silberproduktion und Einfuhr in Europa übertroffen hat; daß demgemäß, unter Mitwirkung der neuen Goldentdeckungen, das Silber im Verhältniß zum Golde gegen Procent theurer geworden, und daher mehr und mehr aus dem Verkehr verſchwunden iſt, und daß der Uebergang zur Goldwährung dadurch unabweisbar wird. Speciell für Gold: H. Contzen, Geſchichte des Goldes und der Goldwährung 1868. Die Frage ſelbſt ſchon in der Münzconferenz in Wien 1855 und 1856 in Hamburg unterſucht; die Handelstage von 1862 und 1865 haben ſie einſeitig vom Standpunkt der deutſchen Münzeinheit betrachtet. Das gegenwärtige Metallwährungsſyſtem der Hauptſtaaten iſt folgendes:

Vereinigte Staaten: Doppelwährung eingeführt durch Congreßakte vom 18. Jan. 1837 und 21. Febr. 1853; Siſtirung der Ausprägung des Silberdollars; ½ Dollar als Scheidemünze; Goldwährung mit 5 Dollar als Hauptmünze.

Frankreich: Doppelwährung durch Bericht von Mirabeau angenommen, 12. Dec. 1790; definitives Währungsgeſetz vom 28. März 1803, mit feſtem Werth zwiſchen Gold und Silber; Streit über die Goldwährung ſeit 1849; Commiſſion von 1854 ohne definitives Ergebniß (vgl. Soetbeer a. a. O. 32 ff.).

Italien: Einführung der franzöſiſchen Währung und Münzſyſtems ſeit Geſetz vom 26. Okt. 1826.

Schweiz: Vor 1848 rein lokales Münz - und Währungsſyſtem; die Bundesverfaſſung von 1848 hebt die Münzhoheit der Cantone auf (Geſetz vom 7. Mai 1850); Einheit des Syſtems und Silberwährung. Seit 1858 Frage der Goldwährung. Darauf Geſetz vom 31. Jan. 1860; Einführung der Gold - währung mit Silberwährung bis 20 Franken.

Belgien: Streit über die von Holland überkommene Silberwährung ſeit 1837; Verſuche der Erhaltung der letzteren (Geſetz vom 11. Auguſt 1854); Seltenheit der Silbermünzen, Bericht von 1859, und Einführung der Gold - währung (Geſetz vom 4. Juni 1861).

Portugal: Bis 1854 Doppelwährung, durch Münzgeſetz vom 1. Auguſt 1854 Goldwährung eingeführt.

Holland: Altes Münzgeſetz vom 28. Sept. 1816. Nach vielem Kampf darüber die Silberwährung 1850 definitiv angenommen. Ebenſo für239 Britt. Oſtindien die Silberwährung durch Geſetz vom 1. Auguſt 1855 aus - ſchließlich angenommen.

Die deutſchen Staaten durch die Münzverträge von 1857 Silberwährung; Bremen Goldwährung. Erſter weſentlicher Schritt zur Goldwährung die internationale Commiſſion von 1867 in Paris (Gſchwendner, Münzeinheit I. II. ; Contzen a. a. O. S. 18 ff.).

III. Das Papiergeldweſen.

Das ganze Gebiet des Papiergeldweſens iſt theils durch die hiſto - riſche Entwicklung, theils durch die Verſchmelzung mit Credit - und Bankweſen, und theils durch den Mangel des ſelbſtändigen Geſichts - punktes für die Verwaltung und ihre Aufgabe ſo verwirrt, daß die volkswirthſchaftliche Definition des letzteren unabweisbar vorauf gehen muß, um zu einem beſtimmten Reſultate zu gelangen.

Die Grundlage des letzteren iſt die ſcharfe Scheidung zwiſchen Kreditpapier und Papiergeld.

Der Mangel an Geld, die Koſten und Schwierigkeiten der Zah - lung in Münze und das natürliche Princip der Compenſation erzeugen ohne alles Zuthun der Verwaltung als naturgemäßen Erſatz der Münze Werthſcheine, Anweiſungen aller Art, als ein die Münzzahlung ver - tretendes Zahlungsmittel. Da nun dieſes Zahlungsmittel aus dem Verkehr der gegenſeitig Verpflichteten in den Verkehr Dritter übergeht, welche ſich deſſelben in der Ueberzeugung der Zahlungsfähigkeit der Verpflichteten als gegenſeitiges Zahlungsmittel bedienen, entſteht das Syſtem der Noten, welche an ſich weder Münze noch Geld, ſondern Creditpapiere ſind. Allerdings ſtehen auch ſie unter der Verwal - tung des Creditweſens, ſie haben aber mit dem Geldweſen gar nichts zu thun. Ihre Bedeutung für das letztere beruht nur darauf, daß ſie die Form des eigentlichen Papiergeldes abgeben.

Denn ſo wie einmal die Noten in den Verkehr treten, gewinnt mit ihnen der Staat die Möglichkeit, entweder ſolche Noten, obwohl ſie nicht von ihm ausgegeben werden, als Geld anzuerkennen, indem er ihnen die Währung verleiht, oder ſelbſt Noten mit geſetzlicher Währung auszugeben: Banknoten, Staatsnoten. Solche, mit einer geſetzlichen Währung verſehene Noten heißen Papiergeld, und die Grundſätze, nach welchen die Verwaltung für die Ausgabe ſolchen Papiergeldes ſich zu richten hat, bilden das Papiergeldweſen.

Kein Werthzeichen iſt daher Papiergeld, welches nicht geſetzliche Währung hat; jedes Werthzeichen wird zum Papiergeld durch die Währung; die bloße Fähigkeit, die Funktion der Metallmenge als Zahlungsmittel im Verkehr, ganz gleich ob gut oder ſchlecht, zu240 übernehmen, macht aus dem Creditpapier kein Papiergeld, eben ſo wenig wie die Oberaufſicht über das Notenweſen, und wie die faktiſche Annahme der Noten bei den Staatskaſſen, oder gar die bloße Con - ceſſion von Banken mit Notenausgabe. Sondern zum Papiergelde gehört die ausdrückliche geſetzliche Verleihung mindeſtens der halben Währung. Und jetzt erſt iſt es klar, daß die Papiergeld - frage nichts anderes iſt, als die Frage, unter welchen Bedingun - gen der Staat einer Note dieſe Währung verleihen ſoll.

Dieſe Bedingungen liegen nun nicht etwa in dem Begriff des Geldes an ſich oder des Werthes, wo man ſie zu ſuchen pflegt, ſondern vielmehr in der durch den Preis der Münze ausgedrückten Höhe des Münzbedarfs im Verkehr.

Der Grundſatz für die Bemeſſung dieſer Höhe muß folgender ſein. Das Steigen des Münzbedarfs zeigt ſich in dem Preiſe, der für den Gebrauch der Münze zur Zahlung gezahlt werden muß. Steigt dieſer Preis für das Zahlungsmittel im Verkehr, ſo ſchafft ſich der Verkehr ſelbſt ein ſeinem Bedarf entſprechendes Verkehrszahlungs - mittel in den Noten. Steigt er aber auch für die nothwendig in der Währung zu leiſtenden Zahlungen, wie bei Steuern, Kündigungen, Hypotheken, bis zu dem Grade, daß bei voller Sicherheit für das Geld zu ſolchen Zwecken mehr als 6 Procent (5 Procent Zins, 1 Pro - cent Proviſion) regelmäßig gezahlt werden muß, ſo iſt zu wenig Geld vorhanden, und das Fehlende kann für dieſe Zwecke nicht mehr durch die Thätigkeit der Einzelnen geſchaffen werden. Hier muß daher die Verwaltung eintreten, und das Papiergeld ſchaffen, indem ſie der Note die Währung gibt, und ſo entſteht das Papiergeldweſen als Ver - mehrung nicht der Zahlungsmittel überhaupt, welche der Selbſthülfe des Creditweſens zu überlaſſen iſt, ſondern als Vermehrung der mit Währung verſehenen Geldmaſſe des Staats für diejenigen Zahlungen, welche der Währung bedürfen.

Steht dieß Princip nun feſt, ſo entſteht die zweite Frage nach der Quantität des auf dieſe Weiſe nothwendig gewordenen Papiergeldes. Denn das richtige Maß des letzteren iſt zwar nicht mehr die Bedingung ſeiner rechtlichen, wohl aber ſeiner wirthſchaftlichen Fähigkeit, ſeines Werthes, als Münze zu functioniren. Gibt der Staat zu wenig aus, ſo nützt er nicht, gibt er zu viel aus, ſo ſinkt der Werth der Note, und tritt mit dem Rechte derſelben, mit ſeinem Nominalbetrag als Zahlung gebraucht zu werden, in Widerſpruch, und Werthordnung und Zahlungsweſen ſind gleichmäßig geſtört. So wie daher der Verkehr ſeine Abneigung gegen Papiergeld, der durch den Mißbrauch deſſelben entſteht, überwunden hat, tritt die Frage nach der richtigen Quantität241 in den Vordergrund. Die Schwierigkeit ſie zu beantworten, liegt als - dann im Anfange ſtets in der Vermiſchung mit der Frage nach der richtigen Fundation der Banknoten, die man vom Papiergeld nicht zu unterſcheiden vermag, und das iſt noch gegenwärtig der allgemeine Standpunkt in der Behandlung der Sache. Scheidet man ſie aber, ſo erſcheinen folgende allgemeine Grundſätze.

Da der Staat nie die Geldmaſſe als ſolche, ſondern nur das Währungsgeld vermehren ſoll, ſo muß er die Quantität des Papier - geldes nach den beiden Punkten bemeſſen, wo eben das Währungsgeld erſcheint. Das ſind die Steuern und die Hypotheken.

So lange noch die Steuern zur Hälfte mit Metall gezahlt werden, iſt die Summe des ausgegebenen Papiergeldes nicht zu groß; ebenfalls iſt ſie nicht zu groß, ſo lange bei voller Sicherheit nicht mehr als 5 Procent Zins gezahlt werden. Sinkt die Metallzahlung bei den Steuern unter ein Drittel, oder ſteigt der Zinsfuß über 6 Procent, ſo iſt die Quantität des Papiergeldes ſo groß, daß ſein wirthſchaftlicher Werth gefährdet iſt. Und zwar beruht das darauf, daß dieſer Werth des Papiergeldes von der Möglichkeit abhängt, anſtatt der Metallwährung verwendet zu werden; es iſt klar, daß dieſe Möglichkeit im umgekehrten Verhältniß zu ihrer Quantität ſteht. Damit dieß Verhältniß nicht geſtört werde, ſoll der Staat nie den bloßen Noten die Steuerwährung geben. Iſt aber einmal das Metall durch Emiſſion von Papiergeld aus dem Verkehr verdrängt, ſo hilft nur noch die Einführung einer neuen Währung, und die ſtrenge Feſthaltung des Grundſatzes, nur noch für Gold - und unter keiner Bedingung für Silbermünze Papiergeld aus - zugeben. Die Geſammtheit dieſer Grundſätze bilden das Syſtem der Steuerfundation, die alſo ganz andere Grundſätze hat wie die Bankfundation, und nur dann mit der letzteren verbunden werden ſollte, wenn die niedrigſte Staatsnote ſo hoch iſt, daß ſie bei der überwiegenden Mehrzahl der Steuern nicht in Anwendung kommt.

Es iſt nicht thunlich, von einer ſelbſtändigen Literatur des Staatspapier - geldes zu ſprechen, da dieſelbe bisher durchſtehend die Creditpapiere und das Papiergeld vermengt. Der Grund liegt darin, daß England und Frankreich, als die Heimath des Creditpapiers, gar kein reines Staatspapiergeld haben, und daß Deutſchland, welches allein das letztere beſitzt, auch hier in ſeiner Theorie gänzlich von der engliſchen und franzöſiſchen Literatur abhängig iſt. Der von mir dargeſtellte Unterſchied von Steuerfundation und Bank - fundation, ſo klar er iſt, iſt eben deßhalb unbeachtet geblieben. Stein, Volkswirthſchaftslehre, S. 57 ff. Am meiſten Verſtändniß noch in Wagners Schriften: die Geld - und Credittheorie der Peel’ſchen Bankakte 1862 und Her - ſtellung der öſterreich. Nationalbank 1862. Hier können nur die GrundſätzeStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 16242der Verwaltungslehre Klarheit bringen. Die beiden Beiſpiele des eigentlichen Staatspapiergeldes: die preußiſchen Kaſſenſcheine, bloß mit halber Währung und reiner Steuerfundation, die öſterr. Banknoten, welche die Steuer - fundation mit der Bankfundation verbinden, und die Staatsnoten, welche nur Steuerfundation haben; letztere beide Arten haben dagegen die volle Staats - und Verkehrswährung. Daneben iſt durch Erlaß vom 4. März 1866 auch den Coupons der Staatsobligationen die Staatswährung gegeben (Steuerzahlungsmittel an allen Kaſſen). Damit iſt der Unterſchied zwiſchen halber und voller Währung eine der praktiſchen Finanzwelt vollkommen bekannte Thatſache; der Theorie iſt ſie noch immer unbekannt geblieben.

Allerdings geſtaltet ſich auf dieſer Baſis nun auch das ganze Creditpapier - weſen als Theil der Verwaltung ganz anders, als in der gewöhnlichen Theorie.

IV. Das Inhaberpapier.

Während nun das Geld in ſeinen verſchiedenen Formen den Werth an ſich darſtellt und im Umlauf erhält, erſcheint das Inhaber - papier da, wo der Werth eines beſtimmten Gutes oder einer beſtimmten Leiſtung Gegenſtand des allgemeinen Verkehrs wird. Die Form, in der dieß geſchieht, iſt das Werthpapier als Beweismittel des Eigen - thums an dem vom Gute getrennten Werth. So wie man überhaupt den Werth als von jedem Gute trennbar und ſomit als ſelbſtändigen Verkehrsgegenſtand erkennt, hat das Verſtändniß der Sache keine Schwierigkeit. Im Beginne des Verkehrs indeß erſcheint der Umlauf des Werthes durch das Werthpapier im obigen Sinne ſtets als Ueber - tragung deſſelben an eine beſtimmte Perſon, und ſetzt daher einen Ver - trag und ſomit den Beweis des geſchloſſenen Vertrags voraus, der durch den Beweis des auf Annahme des betreffenden Werthpapieres be - ſtimmten Aktes zu führen iſt. In den höhern Stadien der wirthſchaft - lichen Entwicklung dagegen löst ſich der Werth der Güter, Leiſtungen und Unternehmungen vollſtändig von demſelben los, und wird dann ſelbſtändig Gegenſtand des Verkehrs. Es iſt kein Zweifel, daß darin eines der mäch - tigſten und wichtigſten Elemente des wirthſchaftlichen Fortſchrittes beſteht; allein die erſte Bedingung dafür iſt, daß dieſer Werth die Natur und damit auch das Recht des Geldes empfange, ſo weit dieſes durch die Natur des Werthpapieres möglich iſt. Nun enthält des Werthpapier zwei recht - liche Hauptmomente: zuerſt das Recht auf den Werth eines beſtimmten Gutes, und dann die Berechtigung ſeines Beſitzers auf dieſen Werth. In der erſten Beziehung kann das Werthpapier, ohne ſein Weſen zu verlieren, überhaupt nie die Natur des Geldes annehmen, das princi - piell nur den Werth an ſich enthält; in der zweiten Beziehung da - gegen iſt die Identificirung mit dem Gelde möglich; und dieſe geſchieht,243 indem der Uebergang des Eigenthumsrechts nicht mehr von dem Be - weiſe eines beſtimmten Erwerbsvertrages, ſondern wie beim Gelde von der bloßen Tradition abhängig gemacht, und der Beſitz daher mit dem Eigenthum identificirt wird. Damit entſtehen nun zwei Grundformen des Werthpapiers: das eigentliche Werthpapier, bei welchem der Erwerb des Rechts auf den Werth durch einen beſtimm - ten Akt bewieſen werden muß, der im Intereſſe des Verkehrs ſehr vereinfacht werden kann, aber ſtets und unbedingt vorhanden ſein muß (Wechſel und Giros in blanco, Papiere auf Inhaber) und das Inhaberpapier, bei welchem wie beim Gelde der Beſitz das Recht des Eigenthums gibt, bis von Dritten ein Beſitzerwerb vi, clam, pre - cario bewieſen wird. Die natürliche und für den Verkehr durchaus nothwendige Conſequenz iſt, daß auch der unrechte Beſitzer dem Dritten volles Eigenthum überträgt, da das letztere eben durch den Beſitz ſelbſt gegeben iſt. Ohne dieſe ſtrenge Unterſcheidung iſt es unmöglich, zum Princip und Syſtem des Rechts beider Arten zu gelangen.

Denn wie es jedem Nationalökonomen klar iſt, daß im wirth - ſchaftlichen Leben die Funktion beider Arten weſentlich verſchieden iſt, ſo iſt auch das Recht derſelben ein durchaus anderes.

Das Recht der eigentlichen Werthpapiere gehört ohne Zweifel in das Obligationenrecht, und iſt eine ganz beſtimmte Form des Ver - tragsrechts, das zwar im Intereſſe des Verkehrs Modifikationen an - nimmt wie beim Wechſel, aber im Princip unbedingt Privatrecht bleibt. Das Recht der Inhaberpapiere iſt dagegen ſchon in ſeinem Princip ein öffentliches Recht, da nur die Verwaltung den Beſitz mit dem Eigenthum im Geſammtintereſſe modificiren kann, und das Privatrecht derſelben beſchränkt ſich daher auf das Erwerbsrecht des Beſitzes, ohne ſich um den Unterſchied von Beſitz und Eigenthum zu kümmern. Daraus folgt das Rechtsſyſtem beider Arten, deſſen Unterſchied zugleich den tiefgehenden des bürgerlichen und des öffentlichen Rechtsweſens zeigt. Seine Hauptmomente ſind folgende.

1) Die Ausſtellung von eigentlichen Werthpapieren ſteht jeder - mann frei, da ſie nur dem Einzelverkehr angehören. Die Ausſtellung von Inhaberpapieren dagegen, durch welche der Werth auf den ſie lauten, Inhalt des Geſammtverkehrs wird, kann nur unter Zuſtim - mung der Verwaltung geſchehen, da der obige Rechtsſatz dem Ein - zelnen die Möglichkeit nimmt, ſich auf privatrechtlichem Wege gegen den Verluſt des Werthes dieſer Papiere zu ſchützen. Daher der Grundſatz der Conceſſion und der Oberaufſicht bei Verſicherungsanſtalten und Sparkaſſen, deren Policen und Bücher jedem Ueberbringer ausge - zahlt werden. Eine Ausnahme davon bilden diejenigen Inhaberpapiere,244 die auf eine ganz beſtimmte einzelne Leiſtung einer Unternehmung lauten (Fahrbillets, Entréekarten ꝛc.)

2) Bei eigentlichen Werthpapieren gilt daher auch die Haftung des Cedenten, wenn nichts anderes ausgemacht iſt; bei Inhaberpapieren fällt wie bei dem Gelde dieſe Haftung naturgemäß hinweg.

3) Die Mortifikation (Amortiſation) der eigentlichen Werth - papiere erzeugt nicht an und für ſich das Recht auf Reproduktion derſelben Papiere von Seiten des Gläubigers, bei den Inhaber - papieren dagegen iſt dieſelbe eine nothwendige Forderung des Verkehrs.

Es iſt wohl kühn, mit ſo wenig Worten einer ſo reichen Literatur und ſpeciell ſo ausgezeichneten Werken wie Contze’s Inhaberpapieren gegenüber zu treten. Dennoch können wir nicht umhin, zu wiederholen, daß der Haupt - irrthum aller bisherigen Bearbeitung des Gegenſtandes darin lag, das Weſen und den Inhalt eines öffentlich rechtlichen Inſtituts durch die Begriffe des Privatrechts verſtehen zu wollen; der zweite nicht minder große Irrthum iſt der, Werthpapiere und Inhaberpapiere beſtändig zu confundiren. Daß man die Natur der letzteren ohne Anſchluß an das Weſen des Geldes und ſpeciell des ſelbſtändigen Werthes hat erklären wollen, zeigt auch hier die Folgen davon, daß die beiden Gebiete der Güterlehre und der Rechtswiſſenſchaft ſich gegenſeitig beinahe gänzlich unbekannt ſind.

Vierter Theil. Das Creditweſen. Begriff und Weſen des Credits.

Mit dem Creditweſen betreten wir nun einen ganz anderen Boden. Um ſo wichtiger iſt es, ſich über die Grundlagen des Folgenden voll - kommen klar und einig zu ſein.

Während nämlich Verkehrs - und Umlaufsweſen ſich auf diejenigen Bedingungen der wirthſchaftlichen Entwicklung beziehen, welche außer - halb der Einzelwirthſchaft liegen, gehört der Credit ſowohl wie das, was die Verwaltung für denſelben thun kann, dem inneren wirth - ſchaftlichen Leben an.

Der Credit iſt nämlich die Fähigkeit der einen Wirthſchaft, das Capital der andern zur Benutzung und zum Erwerb herbeizuziehen. Das Vertrauen auf die Zahlungsfähigkeit des Schuldners (objektives Moment) und die wirkliche Zahlungsfähigkeit (ſubjektives Moment) ſind nur die zwei ſelbſtändig gedachten Elemente des wirklichen Credits.

Der Credit iſt daher zunächſt Sache des Einzelnen. Er muß ihn ſelbſt begründen und ſich ihn ſelbſt ſchaffen. Er iſt daher an ſich ein durchaus volkswirthſchaftlicher Begriff. Eben deßhalb iſt es von entſcheidender Bedeutung, den Punkt zu beſtimmen, auf welchem der Credit ſeine öffentliche Natur entwickelt.

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Es iſt kein Zweifel, daß die Vertheilung der Fähigkeit, die Capi - talien zu benützen, eine andere iſt, als die Vertheilung der Capitalien ſelbſt. Es iſt kein Zweifel, daß das Capital in den Händen des Fähigen ſowohl für dieſen, als für den weniger fähigen Beſitzer, als endlich durch beides für die Gemeinſchaft am meiſten leiſtet. Eine der erſten Bedingungen der höchſten wirthſchaftlichen Entwicklung iſt daher dasjenige Element, welches beſtändig dahin arbeitet, die Verwerthung des vorhandenen Capitals den Erwerbfähigſten zuzuführen. Dieſes Element iſt der Credit. Es iſt daher zunächſt kein Zweifel, daß der Beginn der Entwicklung des Credits zugleich der Beginn alles volks - wirthſchaftlichen Aufſchwunges iſt. Allein der Credit iſt eben ſo ſehr ein gewaltiger geſellſchaftlicher Faktor. Der tiefſte Widerſpruch aller geſellſchaftlichen Zuſtände beruht nicht darauf, daß die perſönliche Fähigkeit kein Capital beſitzt, ſondern daß ſie nicht im Stande iſt, zur Benützung des ihr entſprechenden Capitals zum Zwecke des Er - werbs zu gelangen. Der Credit iſt es, der dieſen Widerſpruch löst. Der Credit gleicht nicht das Eigenthum aus, ſondern den Beſitz. Er gibt nicht die Gleichheit im Capital, wohl aber die Gleichheit im Er - werb; er iſt es, der, indem er das Recht beſtehen läßt, zugleich die gleiche Berechtigung der wirthſchaftlichen Kraft gegenüber der Ungleich - heit des Vermögens verwirklicht. Er iſt damit die Quelle des Erwerbs und der Capitalbildung durch ſeine Vertheilung der Capitalsbenützung nach der Tüchtigkeit und Thätigkeit der Perſönlichkeit; durch ihn ge - langt jede Perſönlichkeit zu ſo viel Capital, als ſie zu beſitzen wirklich werth iſt; in ihm lebt daher an letzter Stelle etwas viel Höheres, als ein bloß wirthſchaftliches Verkehrsverhältniß; er iſt in der That die höchſte Harmonie zwiſchen der unantaſtbaren Härte des Eigenthums - rechts und den unabweisbaren Forderungen der freien perſönlichen Entwicklung; denn während das Capital zeigt, was jemand werth ge - weſen iſt, gibt der Credit, was jemand werth iſt. Der Credit iſt daher beſtimmt, durch ſeine wirthſchaftlichen Geſetze die große ſociale Frage des Gegenſatzes zwiſchen Beſitz und Arbeit zu löſen; in ihm lebt die Zukunft der Volkswirthſchaft und die der Geſellſchaft, und in dieſem Sinne hat unſere Zeit vollkommen Recht, wenn ſie in ihm den Schwer - punkt ihrer höchſten theoretiſchen und praktiſchen Aufgaben anerkennt.

Iſt dem nun ſo, ſo iſt endlich auch kein Zweifel, daß Weſen und Organiſation dieſes Faktors nicht bloß mehr Sache der Einzelnen, des Creditgebers und Nehmers, ſondern zugleich eine hochwichtige An - gelegenheit der Verwaltung iſt. Das kann daher nicht mehr die Frage ſein, ob das Creditweſen als ein organiſcher Theil des Ge - ſammtlebens zu betrachten ſei; die Frage, um welche es ſich handelt,246 iſt vielmehr die, auf welchem Punkte, in welchen Formen, und mit welchem Inhalt es der Verwaltung als Angelegenheit der Gemein - ſchaft angehört.

Das wirthſchaftliche und das öffentliche Creditweſen.
a) Der Organismus des wirthſchaftlichen Creditweſens.

Um nun zum Begriff des öffentlichen Creditweſens zu gelangen, muß man bei der Natur des wirthſchaftlichen Credits beginnen.

Jeder wirkliche Credit iſt zunächſt ein rein wirthſchaftlicher Ver - kehrsakt, in welchem der Gläubiger ein Capital zur Benutzung hergibt, während der Schuldner nebſt dem Capital den Werth dieſer Benutzung als Zins erſtattet. Die Differenz zwiſchen dieſem Werth und dem da - für als Zins gezahlten Preis iſt der Erwerb des Schuldners; der (arbeitsloſe) Zins iſt der Ertrag des Capitals für den Gläubiger. Der Verkehrsakt, in welchem dieß feſtgeſtellt wird, heißt Darlehen.

Das Darlehen empfängt ſeine drei Formen nach demjenigen Mo - ment, in welchem die Zahlungsfähigkeit des Schuldners, das iſt alſo ſeine wirthſchaftliche Fähigkeit lag, das Capital als Darlehen zu ver - mehren. Das erſte dieſer Momente iſt die rein perſönliche Fähig - keit der Rückzahlung; ſie begründet das perſönliche Darlehen. Das zweite iſt die ſachliche, durch den Beſitz beſtimmter Güter gegebene Fähigkeit; ſie begründet das Darlehen auf Pfand. Das dritte iſt die in dem Unternehmen des Schuldners liegende Fähigkeit der Rückzahlung, und erzeugt das geſchäftliche Darlehen. Der Grund - gedanke des Darlehens iſt aber noch immer ein Verkehrs - und Rechts - verhältniß zwiſchen den zwei beſtimmten Individuen des Gläubigers und Schuldners. So wie dagegen in der Auffaſſung beider die Zah - lungsfähigkeit des Schuldners von der eines Dritten abhängt, der die Produkte aus dem gedachten Capital von dem Schuldner ge - liehen hat, und daher dem Schuldner zahlen muß, damit dieſer dem erſten Gläubiger zahlen kann, ändert das einfache Darlehen ſeinen Charakter, und wird zum Credit im eigentlichen Sinne. Bei jedem Darlehen gibt es daher nur Einen Gläubiger, bei jedem Credit da - gegen mindeſtens zwei, von denen der eine ſtets Gläubiger und Schuld - ner zugleich iſt; bei höherer Entwicklung des Geſchäftslebens ſteigt die Zahl der bei jedem Credit betheiligten Perſonen; der Credit des Einen wird zur Bedingung des Credits des Andern, und die Zahlung des Einen zur Bedingung der Zahlung des Andern; der Credit fängt an, die Grundlage aller gegenſeitigen Leiſtungen und Zahlungen zu werden; er durchdringt die ganze Volkswirthſchaft; jeder Unternehmer247 bedarf deſſelben; jeder findet ihn auch: er wird ein ſelbſtthätig wir - kender Faktor des wirthſchaftlichen Lebens und das Darlehen in ihm beginnt ſeine Natur zu ändern. Der Credit wird ein integrirender Beſtandtheil jedes Unternehmens; er beherrſcht das Unternehmenscapital, ja er kann es ganz erſetzen; das Creditgeben wird daher aus einem einzelnen und zufälligen Geſchäft wie beim Darlehen zu einem ſelb - ſtändigen Unternehmen (Bankhäuſer, Wechſelhäuſer); damit verſchwindet für die Volkswirthſchaft der Begriff des Darlehens, und an ſeine Stelle treten Name und Begriff des Credits als perſönlicher Credit, Realcredit, Geſchäfts credit; jeder derſelben empfängt ſeine eigenen Regeln und wirthſchaftlichen Geſetze; aus der Privatwirthſchaft iſt das Darlehen in die Volkswirthſchaft hineingetreten.

Allein damit beginnt auch im Creditweſen ſein eigenthümlicher Widerſpruch hervorzutreten. Es iſt ſeinem Weſen nach ein Theil des Geſammtlebens; in der Wirklichkeit aber iſt es nach wie vor ein Ein - zelgeſchäft. Alle hängen von dem Credit ab, aber jeder Einzelne ent - ſcheidet über ihn. Jeder Credit iſt formell von der Willkür oder der Fähigkeit des Einzelnen in Darlehen und Rückzahlung bedingt, mate - riell dagegen iſt keiner mehr im Stande, ſeinem Capitalsbedürfniß ohne Creditgeben und Nehmen allein zu genügen. Auf dem Organis - mus und der lebendigen Thätigkeit des Credits beruht die Bewegung der ganzen Volkswirthſchaft; aber der wirkliche Credit beruht noch auf der zufälligen Unternehmung oder der Willkür des Einzelnen. Das iſt ein Widerſpruch; und hier iſt der Punkt, wo aus dem rein wirth - ſchaftlichen Leben des Credits das öffentliche Creditweſen wird.

b) Princip und Organe des öffentlichen Creditweſens.

So wie nämlich der Credit das Stadium ſeiner Entwicklung er - reicht, in welchem der Credit eines Unternehmens die unabweisbare Bedingung für das Beſtehen und die Entwicklung Anderer wird, ohne daß man die Gränze dieſes gegenſeitigen Bedingtſeins beſtimmen kann, ſo iſt der Credit eines von denjenigen Gebieten, deren Herſtellung und Verwaltung Sache der Gemeinſchaft werden, wie das Verkehrs - und Umlaufsweſen.

Das perſönliche Haupt des Gemeinweſens iſt nun der Staat. Die erſte unfertige Vorſtellung iſt daher die, daß der Staat die Ver - waltung des Creditweſens durch die Staatsverwaltung zu beſor - gen, und durch die Geſetzgebung zu organiſiren habe.

Allein der Credit verliert dabei ſeine wirthſchaftliche Natur nicht. Es gibt im wirthſchaftlichen Leben keinen allgemeinen Credit, ſondern248 nur einen Credit des Einzelnen. Es iſt überflüſſig, das hier zu begründen. Jedem Creditgeben muß daher das wirthſchaftliche Urtheil des Einzelnen über die Creditfähigkeit des Einzelnen voraufgehen; denn im höheren Sinne iſt nicht der Creditbedarf, ſondern die Credit fähig - keit die ſowohl wirthſchaftliche als geſellſchaftliche Berechtigung zum Credit. Der Staat als Perſönlichkeit hat nun dieſes Urtheil faktiſch nicht, weil es ſeiner Natur widerſpricht, es zu beſitzen. Denn vor dem Staate ſind alle Angehörigen gleich; ein gleicher Credit für Alle iſt ein Unſinn. Soll daher dennoch der Staat in das Creditweſen eingreifen, ſo kann er das organiſch nur in der Form, in welcher er in ſeiner ganzen Verwaltung, alſo auch im Creditweſen, dasjenige Element zur Geltung und zur Theilnahme an ſeiner Thätigkeit bringt, ohne welches kein Creditweſen beſtehen kann. Das Element iſt das der Individualität und ihrer individuellen Auffaſſung und Thätigkeit im öffentlichen Leben. Die große Form, in welcher der Staat das Element der individuellen Perſönlichkeit für ſeine Verwaltung verwendet, iſt nun das Vereinsweſen. Das Vereinsweſen allein hat die Fähigkeit, in ſeiner allgemeinen Thätigkeit auch das individuelle Leben, die individuelle Wirthſchaft und Tüchtigkeit wie das individuelle Be - dürfniß zur Geltung zu bringen. Das Vereinsweſen iſt daher auch allein fähig, das öffentliche Element in dem Creditweſen zum Ver - ſtändniß und zur Verwirklichung zu bringen, während es ohne das - ſelbe ein ewig unfertiger Widerſpruch bleibt. Es bedarf nicht einmal des Bewußtſeins davon, daß es dieſe Funktion hat; es vollzieht dieſelbe ſeiner Natur nach von ſelbſt. Und wir ſagen daher, daß aus der wirthſchaftlichen Organiſation des Creditweſens die öffentliche auf dem Punkte wird, wo das Vereinsweſen durch ſeine Creditvereine im weiteſten Sinne des Wortes die Creditverwaltung der Volkswirthſchaft in die Hand nimmt.

Natürlich nun übernimmt das Vereinsweſen das Creditweſen weder in ſeinem ganzen Umfang, noch ohne Unterſchied, noch wird es geſetzlich oder durch die Regierung dazu berufen, noch arbeitet es, einmal in Bewegung geſetzt, von jenem höchſten Standpunkt eines allgemeinen Intereſſes. Im Gegentheil tritt es langſam, ſtückweiſe, vorſichtig an die Stelle des Einzelcredits; es bildet ſich von ſelbſt, und tritt nur inſofern auf, als es aus dem Creditgeben einen Erwerb macht; es will eben nur dieſen Erwerb, und überläßt mit vollem Recht die wirth - ſchaftlichen und geſellſchaftlichen Folgen jener Thätigkeit der Natur der Dinge. Die Creditvereine ſind daher zuerſt Erwerbgeſellſchaften. Als ſolche haben ſie ihre hiſtoriſche Entwicklung, die von Geſetzgebung und Theorie unabhängig, ſich weſentlich nach dem Geſetze der Produk -249 tivität wie bei jedem andern Unternehmen richtet. Allein ihre höhere Natur behalten ſie darum nicht weniger. Und dieſe nun erſcheint da - rin, daß ihnen Geſetzgebung und Regierung theils mit ihrer Macht zu Hülfe kommen, theils ſie unter ihre Oberaufſicht ſtellen, wie jeden an - dern Theil der freien Verwaltung, indem und weil ſie den Credit mit ſeiner ganzen Bedeutung in ſich aufnehmen und verwalten. So wer - den ſie aus bloßen Erwerbsgeſellſchaften langſam, aber unwiderſtehlich das, was wir im Vereinsweſen als Verwaltungsvereine be - zeichnet Vereine, die den Erwerb ihrer Mitglieder in der Voll - ziehung einer öffentlichen Aufgabe ſuchen. Sie gehen daher jetzt mit Geſetzgebung und Regierung Hand in Hand, und in dieſem damit im Creditvereinsweſen ſich ſelbſtändig ordnenden Creditweſen gewinnt das letztere erſt feſte Geſtalt und klare Aufgabe; die Theile und Ge - biete ſcheiden ſich und ordnen ſich; es wird ein Stück des Geſammt - lebens, deſſen Weſen und Werth ſich nun auch rechtlich beſtimmen läßt; und die Geſammtheit von Organen, Thätigkeiten, Geſetzen und Rechten, die daraus hervorgehen, nennen wir die öffentliche Organi - ſation des Creditweſens.

Dieſe Organiſation des Credits durch das Creditvereinsweſen und ihre Natur als Verwaltungsverein muß ſich nun natürlich an die wirthſchaftlichen Grundformen des Credits anſchließen. Es gibt daher Vereine für den perſönlichen, für den Real - und für den Geſchäfts - eredit; jede dieſer Gruppen hat ihre Geſchichte, ihre wirthſchaftlichen Regeln und ihre Funktion und Rechte. Allein daneben haben ſie zu - gleich eine gemeinſame hiſtoriſche Entwicklung, welche auf ihrer gemein - ſamen organiſchen und rechtlichen Natur beruht. Dieſe Entwicklung bildet die Geſchichte der Organiſation des Credits. Sie hat noch nicht einmal Verſuche ihrer Bearbeitung gefunden. Ihre letzten Elemente indeß ſind folgende.

Jeder, der die Literatur der Nationalökonomie kennt, wird aus dem Obigen begreifen, weßhalb wir ſie weder auf andere Autoren noch auf Geſetz - gebungen verweiſen können. Trotz der ungeheuren Maſſe von Schriften über die einzelnen Fragen und Verhältniſſe des Credits gibt es unſres Wiſſens keinen Verſuch, die Bedeutung und den Inhalt der vielbeſprochenen Organi - ſation des Credits wiſſenſchaftlich zu beſtimmen, oder auch nur alle dahin gehörigen Verhältniſſe und Thatſachen als ein Ganzes zu betrachten, weder in der Nationalökonomie noch in den der Verwaltung angehörigen Arbeiten. Die ganze Literatur erſchöpft ſich im Geſchäftscredit, und auch hier ohne feſte Sondirung der wirthſchaftlichen und verwaltungsrechtlichen Principien, trotz - dem daß das Vereinsweſen mit ſeiner entſcheidenden Bedeutung ſo nahe lag. Uebrigens iſt die ſociale Bedeutung des Credits bekanntlich erſt durch die St. Simoniſten erkannt, und durch die ſocialiſtiſchen Arbeiten der 40ger und250 50ger Jahre in Frankreich zu dem Syſtem des ſocialen Creditweſens ausge - bildet worden, auf Grundlage deſſen Hildebrand, Nationalökonomie der Zukunft I. 276 geiſtreich den Charakter der kommenden Volkswirthſchaft als Creditwirthſchaft gegenüber der gegenwärtigen Geldwirthſchaft bezeichnet. Roſcher I. 90.

c) Elemente der Geſchichte der Organiſation des Credits.

Auch die Geſchichte des Credits zeigt uns, wie die übrigen Ge - biete der Verwaltung, daß es nicht das wirthſchaftliche, ſondern das geſellſchaftliche Element iſt, welche dieſelbe beſtimmt.

Im Darlehen wie im Credit iſt es das gewerbliche, und daher freie, aus der perſönlichen Thätigkeit erzeugte Capital, welches in Be - wegung iſt. Die Selbſtthätigkeit und Freiheit des Einzelnen aber, wirthſchaftlich ausgedrückt in ſeinem Capital, iſt das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung gegenüber der Geſchlechter - und Ständeordnung, die auf erblichem Grundbeſitz und Vorrecht beruhen. Der Credit wie das Darlehen ſind daher zwar immer vorhanden, allein da alle Verfaſſung und Verwaltung und mithin auch das, was ſie für den Credit leiſten, von der herrſchenden Geſellſchaftsordnung beſtimmt werden, ſo ergibt ſich als allgemeinſte Grundlage für die Ge - ſchichte des Creditweſens, daß die Organiſation des Credits überhaupt erſt mit dem Siege über ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung auf - treten kann, dafür aber den weſentlichen Charakter derſelben im Ge - biete der volkswirthſchaftlichen Verwaltung bildet.

Die Geſchichte des Creditweſens hat daher zwei große Epochen oder Grundformen.

Das Princip ihrer erſten Epoche, der Zeit der Geſchlechter - und Ständeordnung beſteht darin, das Recht des Darlehens ſo zu beſtim - men, daß es den Beſitz und das Vorrecht nicht angreifen kann. Den Inhalt des Creditweſens dieſer Zeit bilden daher weſentlich Beſchrän - kungen des Rechts der Gläubiger theils in Beziehung auf die Zinſen, theils in Beziehung auf die Exekution der Forderungen. Soweit bei beiden nicht die Unterwerfung des Grundbeſitzes oder der ſtändiſchen Rechte in Frage kommt, erſcheint die Sorge des Staats für den Creditumlauf in der einfachen Herſtellung des zur Einbringung der Forderungen geeigneten gerichtlichen Verfahrens. Das iſt der Stand - punkt des römiſchen und gemeinen deutſchen Rechts und Proceſſes, und es iſt daher charakteriſtiſch, daß beide den Credit weder als Begriff noch als Rechtsgebiet kennen, ſondern ihn einfach als Obligatio und Darlehen behandeln. Sie haben ſich auch in neueſter Zeit unfähig ge - zeigt, jenen Begriff aufzunehmen. Um das Recht deſſelben zu ſchaffen,251 hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung neben ihnen ganz neue Rechtsgebiete erzeugen müſſen.

Die zweite Epoche beginnt da, wo mit den entſtehenden gewerb - lichen und Handelsunternehmungen Natur und Umfang des Darlehens nicht mehr ausreichen, und nicht mehr augenblickliche Bedürfniſſe durch Anlehen gedeckt, ſondern die Capitalien durch den Credit erzeugt und in Thätigkeit erhalten werden. In der erſten Zeit dieſer Epoche küm - mert ſich der Staat um dieſe neue Erſcheinung noch ſehr wenig; erſt mit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts zwingt ihn das Be - dürfniß nach eigenem Credit, das Creditweſen überhaupt in Geſetz - gebung und Verwaltung zu berückſichtigen. Er thut es deßhalb auch anfangs nur da, wo er ſelbſt Credit braucht. So entſteht das Bank - und Notenweſen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt dann mit dem regelmäßig gewordenen Creditbedürfniß der Grundherren der erſte Verſuch, theils das Grundbuchsweſen zu ordnen, theils den Realcredit zu organiſiren; daran ſchließen ſich die Geſetzgebungen für das Handels - und Wechſelrecht, die ihrem Lebensprincip nach das Privatrecht des Credits gegenüber dem des Darlehens bilden. Aber noch herrſcht die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung, und das Creditrecht ſelbſt erſcheint noch als ein beſchränktes Recht des Handelsſtandes wie ſich der Realcredit nur noch auf die Grundherren bezieht. Erſt mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung im neun - zehnten Jahrhundert tritt eine neue Bewegung ein. Dieſelbe beginnt mit der immer lauter werdenden Forderung nach der Freiheit des Credit - verkehrs bei der beſitzenden, und mit der Forderung nach Capital bei der nichtbeſitzenden Claſſe; beide, durchdrungen von der Bedeutung des Capitals als Grundlage der perſönlichen Stellung und Entwicklung erzeugen zunächſt die negative Bewegung der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts, die bei der erſten als Kampf gegen die Zinsgeſetzgebung, bei der zweiten als Socialismus und Communismus erſcheint. Gegen beide verhält ſich der Staat noch ablehnend; noch halten und tragen ihn ſtändiſche Elemente, und andererſeits das Bewußtſein, daß er nicht berufen ſei, weder Capital noch Credit zu gewähren. Die zweite Hälfte erſt findet den richtigen Weg, die Vermittlung zwiſchen Beſitz und Nichtbeſitz in dem, wenn auch nicht klar begriffenen Worte der Organiſation des Credits, und den einzig dafür geeigneten Organismus im Creditvereinsweſen. Das Vereinsweſen bricht ſich mit einer faſt unglaublichen Gewalt Bahn, ohne auf eine ſyſtematiſche oder auch nur richtige Theorie der Geſetze zu warten; und ſo wie das ge - ſchieht, wird nun dieß Creditvereinsweſen Gegenſtand einer ſelbſtändigen Verwaltung, die naturgemäß, wenn auch keineswegs immer mit vollem252 Bewußtſein oder mit ſyſtematiſcher Ergründung, ganz richtig das Credit - weſen und ſein Recht in dem Creditvereinsweſen und ſeinem Rechts - leben ſucht. Auf dieſem Punkte ſteht unſere Gegenwart. Wenn auch vielfach beirrt durch Streit der Theorie und Mißbrauch der Privilegien und Statuten im Einzelnen, ſind dennoch die Grundzüge des öffent - lichen Creditweſens unzweifelhaft klar erkennbar; wir reduciren dieſelben als Baſis des Folgenden zunächſt auf zwei allgemeine Kategorien.

Die Organiſation des Credits bedeutet nämlich nicht etwa eine von der Regierung ausgehende Einrichtung zur Creditirung auf Grund - lage eines vom Staate dazu beſtimmten Capitals, ſondern diejenige durch die wirthſchaftlichen Geſetze erzeugte Geſtalt des Creditvereins - weſens, nach welchem für jede Art des Credits ſich wenn auch lang - ſam ſo doch ſicher eine beſtimmte, den wirthſchaftlichen und geſell - ſchaftlichen Funktionen deſſelben entſprechende Vereinsgruppe bildet.

Das Creditrecht iſt daneben diejenige Modifikation, theils des bürgerlichen, theils des Vereinsrechts, welche durch das Weſen und die wirthſchaftliche und geſellſchaftliche Funktion des Credits gefordert und von Geſetzgebung und Verwaltung geſetzt wird.

Durch die allmählige Entwicklung des Credits aus dem Darlehen einerſeits und des Creditvereinsweſens andererſeits entſteht die Ge - ſchichte und durch den Anſchluß des Creditrechts an die Organi - ſation des Credits das Syſtem des Creditweſens, deſſen Elemente folgende ſind.

Die Geſchichte des Credits beſchränkt ſich bis jetzt faſt nur noch auf die Geſchichte des Wechſels und ſeines Rechts und auf die des Notenweſens (ſ. unten). Die Polizeiwiſſenſchaft unſres Jahrhunderts hat dieſen Gegenſtand nur etwas weitläuftiger behandelt, als die des vorigen. Dabei beſtehen ſehr eingehende Arbeiten über die einzelnen Theile; ein großer Mangel iſt die Nichtberückſichtigung des Vereinsweſens, welches der Creditorganiſation zum Grunde liegt. Eine einheitliche und ſyſtematiſche Behandlung des Ganzen mangelt vollſtändig.

A. Perſonal-Creditweſen.

Das Perſonal-Creditweſen beginnt da, wo in dem gewöhnlichen bürgerlichen Darlehen ſich die erſten Momente der öffentlichen rechtlichen Bedeutung des eigentlichen Credits zeigen. Während daher das Dar - lehen noch ganz dem Privatrecht angehört, ſchließt ſich an jene Momente die Verwaltung an, die auf ihren höchſten Stufen ſchon hier das Ver - einsweſen und ſeine Funktion zur Geltung bringt.

Wir haben dabei den Darlehens - und den Pfand credit zu unter - ſcheiden. Das Recht jedes derſelben hat ſeine eigene Geſchichte.

253
a) Der Darlehenscredit und die Zins - und Wuchergeſetze.

Das Darlehen iſt zunächſt ein rein privatrechtlicher Vertrag. Allein der Keim ſeiner höheren Bedeutung liegt darin, daß in ihm der Beſitz des Werthes als Geld in ſeiner Herrſchaft über den Beſitz des Gutes zur Geltung kommt. Werth und Geld ſind unendlich und unbedingt durch perſönliche Fähigkeit erwerbbar, das erworbene Geld wird zum Geldcapital und beginnt nun ſich den Güterbeſitz zu unterwerfen, indem es die Bedingungen vorſchreibt, unter denen es dem letztern dient, ohne Rückſicht darauf, ob der Güterbeſitz und der Güterbeſitzer durch die Erfüllung dieſer Bedingungen zu Grunde geht. Dieſe Bedingungen faſſen wir zuſammen als den Zins. Der Zins kann daher größer ſein als der Ertrag, den das Darlehen (durch den in ihm enthaltenen produktiven Gebrauch des Geldcapitals) überhaupt geben kann. Wo dieß der Fall iſt, ändert das Darlehen ſeine Natur und wird aus einem Faktor der Produktion für die Empfänger zu einem Element der Verzehrung ihrer Wirthſchaft, da der Zins ſtatt aus dem Ertrage des Capitals aus dem Vermögen des Schuldners bezahlt werden muß. Das Geben ſolcher Darlehen kann nun zu einem ſelbſtändigen im Sonderintereſſe der Einzelnen auf jenen Erfolg berechneten Geſchäft gemacht werden; es iſt kein Zweifel, daß ſolche Unternehmungen auf die Ausbeutung des Einen durch den Andern berechnet ſind; und ein ſolches, durch ſeinen Zins das Vermögen verzehrende Darlehens - geſchäft iſt der Begriff des wirthſchaftlichen Wuchers.

Der wirthſchaftliche Wucher gehört nun unzweifelhaft dem Güter - lehen an und ſteht zunächſt unter den Geſetzen deſſelben. Nach dieſen Geſetzen ſtehen Sicherheit des Capitals und Höhe des Zinsfußes im umgekehrten Verhältniß; wenn jene ſinkt, muß dieſer ſteigen, und zwar ſteigt derſelbe alsdann ſo hoch, daß er, obwohl nationalökonomiſch vollkommen gerechtfertigt, dieſelbe Höhe und mithin auch dieſelbe Folge haben kann und muß, wie der wirkliche Wucher. Es ergibt ſich daraus, daß auch die größte Höhe des Zinsfußes nicht an ſich einen Wucher enthält, ſondern daß dieſe Höhe immer nur die Höhe der Sicherheit für Capital und Zins ausdrückt. Die Zahlung eines ſolchen Zinſes aber, der auf dieſe Weiſe eine Rückzahlungsprämie für die Schuld enthält, wird daher zur abſoluten Bedingung des Darlehens, ohne Rückſicht darauf, ob jener Zins das Vermögen des Schuldners aufzehrt. Dieß Geſetz der Volkswirthſchaft kann nun in ſeiner Wirkung durch kein Geſetz des Staats aufgehoben werden. Wenn daher die ſtaatliche Geſetzgebung, um die Vernichtung des Vermögens durch die Zinsforderung aufzuhalten, den Zinsfuß beſchränkt, ſo iſt die unab -254 weisbare Folge, daß entweder auch in der größten Noth kein Darlehen gegeben oder der geſetzliche Zinsfuß umgangen wird. Es gibt kein Mittel der Geſetzgebung oder Verwaltung, dieſe Folgen zu hindern. Das erſtere aber iſt für den Schuldner noch verderblicher wie der hohe Zins, das zweite untergräbt das Rechtsgefühl im Namen der National - ökonomie und hindert die wirthſchaftlichen Folgen des Wuchers dennoch nicht. Es ergibt ſich daraus, daß der volkswirthſchaftliche Wucher durch ſtaatliche Maßregeln darum nicht zu bekämpfen iſt, weil man ihn nie - mals von dem wirthſchaftlich berechtigten Zinsfuß ſcheiden kann. Alle dahinzielenden Verſuche enden mit der völligen Erfolgloſigkeit derſelben. Es kann als ein durch Jahrhunderte lange Kämpfe definitiv gewonnenes Ergebniß angeſehen werden, daß jeder geſetzliche Zinsfuß geradezu falſch und jede andere Beſchränkung des Darlehens nutzlos iſt.

Dennoch iſt der zu hohe Zinsfuß ein Uebel, der Wucher ein un - ſittliches und gefährliches Element und das Streben, beide zu beſeitigen, ein natürliches und berechtigtes. Es iſt aber klar, daß der nothleidende Einzelne ſich nicht ſelbſt gegen jene Gefahr ſchützen kann, eben ſo wenig vermag es die Regierung. Hier zuerſt tritt daher im Credit das Ver - einsweſen auf. Es beſitzt allein die Fähigkeit, ohne Ausbeutung der Noth den Zins nach ſeiner wirthſchaftlich gerechtfertigten Höhe zu beſtimmen und das Darlehen zu geben. Die Hülfe gegen Wucher und zu hohen Zins liegt daher im Creditvereinsweſen, und wir ſtellen daher feſt, daß dieſes Creditvereinsweſen alle Wucher - und Zinsgeſetze überflüſſig macht; wo der Creditverein nicht mehr helfen kann, iſt jede Hülfe überhaupt vergebens; das Vereinsweſen allein iſt fähig und beſtimmt, das geſammte Wucherrecht zu beſeitigen und auch hier der Capitalsbewegung im Darlehen ſeine volle Freiheit wieder - zugeben.

Wenn aber trotzdem die Wuchergeſetze bis auf die neueſte Zeit beſtanden haben, ſo muß der Grund dafür, wie die Gewalt welche ſie bewältigt hat, nicht in Nationalökonomie und Verwaltung, ſondern wieder in der Geſellſchaft geſucht werden.

Die Geſchlechterordnung nämlich ſowohl als die Ständeordnung beruhen auf dem Grundbeſitze; jene ganz, dieſe in allem Weſentlichen. In beiden iſt die Stellung, die Ehre, ja das Recht jedes Einzelnen durch ſeinen Grundbeſitz bedingt. Nun aber bietet der Grundbeſitz zwar große Sicherheit des Capitals, aber er hat geringe Fähigkeit zur Rückzahlung und zum Zinserträgniß; je höher der Zinsfuß, je ſchwerer die Rückzahlung. Der Darleiher hat daher vermöge ſeines Rechts auf Exekution gegen den Grundbeſitz, namentlich aber bei hohem Zins, die ganze geſellſchaftliche und rechtliche Stellung des Debitors in der255 Hand. In der erſten Zeit der Geſchlechterordnung nun, wo die großen Grundbeſitzer die Darleiher für die kleinen waren, wie in Rom und Deutſchland, ward jenes Recht zur Sicherung und Ausdehnung der Claſſenherrſchaft der beſitzenden über die mittlere und niedere Claſſe gebraucht; es ſtimmte mit ihrem Intereſſe, und daher die furchtbare Härte aller älteſten Schuldgeſetze. Als aber das Capital ſich neben dem Grundbeſitze ſelbſtändig hinſtellt, und auch die herrſchende Claſſe Dar - lehen gegen Zins empfängt, fühlt dieſelbe wiederum ſich in der Hand der Geldbeſitzer, und die rechtliche Auffaſſung kehrt ſich um. So ent - ſteht die Anſicht, daß gar kein Zins gegeben werden ſolle; als ſich nun das Capital weigert, Darlehen ohne Zins zu geben, entſtehen die geſetzlichen Zinsfüße einerſeits und andererſeits die Vorſtellung, daß jedes Darlehen gegen einen hohen Zins ein (geſellſchaftliches) Unrecht ſei (usuraria pravitas). Beide Elemente gewinnen nun die feſte Geſtalt der Zins - und Wucher geſetzgebung mit dem Auftreten der ſelbſtändigen Regierungsgewalt in den verſchiedenen Staaten Euro - pas, namentlich mit dem ſechzehnten und ſiebenzehnten Jahrhundert, weil eben die Regierungen allenthalben noch auf ſtändiſchen Grundlagen ruhen und von ihnen umgeben ſind. An dieſe Geſetzgebungen ſchließt ſich eine weitläuftige Wucherjurisprudenz, die bis auf die neueſte Zeit dauert. Unterdeſſen entwickeln ſich Handel und Gewerbe. In dem jungen Unternehmen wird die Möglichkeit des Verdienſtes mit dem ge - liehenen Capital ſo groß, die Zahlung ſo wichtig, und die Sicherheit der Darlehen oft ſo unbeſtimmbar, daß ein geſetzlicher Zinsfuß zu einer wirthſchaftlichen Unmöglichkeit wird. Somit beginnt der Kampf gegen den geſetzlichen Zinsfuß, der ſich aber noch auf das Gebiet der wirthſchaftlichen Unternehmungen beſchränkt, während derſelbe ſich im Realcredit noch unangegriffen erhält. Dieſe Epoche dauert bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts. Jetzt aber iſt die ſtändiſche Geſellſchaft im Weſentlichen bewältigt, die öffentliche Stellung beruht nicht mehr auf dem Grundbeſitz, das ganze volkswirthſchaftliche Leben iſt bereits von der Nothwendigkeit des Credits durchdrungen, und der geſetzliche Zinsfuß, mehr noch aber die eigentliche Wuchergeſetzgebung treten in ſcharfen Gegenſatz zu dem erſten Bedürfniß der ſich neuentwickelnden Geſellſchaftsordnung, der freien Bewegung von Credit und Capital, die durch die beſtändig ſteigende Creditbenützung der Grundbeſitzer den Grundbeſitz auch wirthſchaftlich allen andern Gebieten gleichſtellt. Jetzt wird die Zinsgeſetzgebung in ihrem Fundamente angegriffen; der volks - wirthſchaftliche Widerſpruch, der in ihr liegt, wird der Ausgangs - punkt des Kampfes; aber noch ſteht der völligen Freiheit der Capitals - bewegung die Furcht vor ihren Folgen, namentlich in den Fällen256 wirthſchaftlicher Noth entgegen. Da nun beginnt namentlich ſeit der Mitte unſeres Jahrhunderts, die neue Bewegung auf dem Gebiete des Vereinslebens; der Credit wird eine der Hauptgegenſtände der Vereins - unternehmungen; mit ihnen verſchwindet nun auch der letzte Halt für Zins - und Wuchergeſetz, und auf allen Punkten in Europa wird die Capitalsbewegung vollſtändig freigegeben, ſo daß die letzten Reſte des früheren Standpunktes mit dem vollſtändigen Siege der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaft nach einander beſeitigt werden. Es iſt einer der größten Siege, den die letztere durch ihr Vereinsweſen in der Geſchichte errungen hat; mit ihm gibt es kein öffentliches Recht des Dar - lehens mehr, ſondern nur noch ein Privatrecht deſſelben.

Die Literatur und Geſetzgebung über Zins und Wucher iſt ſo reich, daß man ſie nur dann beherrſcht, wenn man ſie von dem obigen Standpunkt aus als einen in ſich weſentlichen Entwicklungsproceß betrachtet (ſ. Stein in Haimerls Magazin Bd. XIV. Heft 3, als erſter Verſuch, die Wuchergeſetz - gebung auf die geſellſchaftlichen Beſitzverhältniſſe zurückzuführen). Sehr gute, aber vom Standpunkt der Vertheidigung des Wuchers aufgefaßte Geſchichte der Geſetzgebung bei Th. Rizy, über Zins - und Wuchergeſetze 1859. S. 35 ff. Die großen Epochen der legislativen Entwicklung ſind folgende. Aelteſte Zeit: äußerſte Strenge der Schuldgeſetze: der Schuldner ward Knecht zu Hand und Halfter (Sachſenſpiegel III. 39; Grimm, Reichsalterthümer S. 612 ff.). Zweite Epoche. Standpunkt der Kirche: Verdammung nicht bloß des Wuchers, ſondern der Zinszahlung überhaupt (C. 2. X. de pignoribus, Buckle, Hist. of Civ. I. 215); daneben große Unſicherheit in den Beſtimmungen der Landes - herrn über die Berechtigung Zins zu nehmen; Auffaſſung und Verleihung der letzteren als Privilegium, namentlich an die Juden (ſ. Rizy a. a. O. S. 69 ff.). Dritte Epoche: ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert mit der Ent - wicklung des Verkehrs die Nothwendigkeit, allgemein gültige Beſtimmungen dafür aufzuſtellen. Geſetzlicher Zinsfuß in Frankreich von Proc. (1567) bis auf 5 Proc. (Ord. Dec. 1655 auf 5 Proc.). In England durch 37. Henry III. 9. das verzinsliche Darlehen mit 10 Proc. beſtätigt durch 13. Elis. 9; bis das Stat. 12. Ann. 16 einerſeits den geſetzlichen Zins auf 5 Procent feſt - ſtellt, andererſeits aber ſtrenge Wucherſtrafen ausſpricht (völlige Ungültigkeit der Verträge und dreifacher Betrag des Darlehens). Stephens, New Com - mentaries 182. v. II. 141. In Deutſchland nach manchen örtlichen Bewegungen (Oeſterreich bei Rizy S. 76 ff. ) die allgemeine Feſtſtellung des 5proc. Zinsfußes im Reichsabſchd. von 1654. Die vierte Epoche ward ein - geleitet durch die neue nationalökonomiſche Anſchauung der Engländer, von Culpepper (A treaty against the high rate of usery 1623); Chill (ſ. Roſcher, Geſchichte der engliſchen Nationalökonomie 1851) und namentlich Locke, fortgeſetzt durch die Phyſiokraten, vorzüglich Turgot, Mém. sur les prêts d’argent à interêt 1769 (Econ. fr. Daire V. 278) und durch Adam Smith eigentlich definitiv begründet, der den Zins als Preis des Capital -257 gebrauches den wirthſchaftlichen Geſetzen unterordnet (vergl. Roſcher a. a. O.). Benthams Defense of usery 1787 formulirte die Sache dialektiſch. Daraus ging der erſte Verſuch hervor, die Wuchergeſetze ganz aufzuheben; zuerſt in Oeſterreich durch Joſeph II. und (Patent vom 29. Jan. 1787; vergl. nament - lich Rizy S. 98 ff. ); dann die faktiſche, wenn auch nicht formelle (Rizy S. 124 und 145 ff.) Beſeitigung des Wuchergeſetzes durch die verſchiedenen Geſetze von 1791 bis 1796. (Rizy S. 136). England bleibt bei bloßen Erleichterungen des Zinsweſens ſtehen (5. 8. G. III. 93); doch wird die Auf - hebung alles geſetzlichen Zinsfußes für Wechſel bis auf zwölf Monate durch 1. Vict. 80. (1837) anerkannt; Aufhebung der Wuchergeſetze erſt 17. 18. Vict. 90. Allein dieſer noch rein negative Kampf hat keinen dauernden Erfolg; in Oeſter - reich neues Wucherpatent vom 2. Dec. 1803; in Frankreich nach harten Kämpfen das Wuchergeſetz Napoleons I. vom 3. Sept. 1807; in Italien eingeführt durch Decret vom 31. Okt. 1807. Dem entſprechend halten im Anfange unſeres Jahrhunderts die deutſchen Geſetzgebungen nicht bloß den Grundſatz der Zinsgeſetzgebung feſt, ſondern führen auch die peinliche Beſtrafung des Wuchers in den neuen Strafgeſetzbüchern durch. Preußen: Allgem. Land - recht §. 1273 und Strafgeſetzbuch Art. 263; ähnlich in Württemberg und Baden, jedoch vorſichtiger; Hannover und Oeſterreich: Strafgeſetzbuch 1852; vergl. Lotz, Staatswiſſenſchaftslehre II. 283; Rau II. 319. 320 ; Braun und Wirth, die Zinswuchergeſetze 1856 S. 174 ff. Unterdeß bereitet ſich die Umgeſtaltung des Verkehrs auf allen Punkten vor, und ſeit dem Jahre 1848 erſcheint das Vereinsweſen als die neue Creditorganiſation der ſiegenden freien Geſellſchaft. Jetzt iſt der poſitive Boden für die Freiheit des Credits gefunden, und nunmehr hebt ein Staat nach dem andern ſowohl den geſetzlichen Zinsfuß als die Wucherſtrafe auf. England ging voran mit 2. 3. Vict. 37. (1839); dem die definitive und durchgreifende Aufhebung des Wuchergeſetzes der Königin Anna durch 17. 18. Vict. 90. (1854) folgte. Während nun Frankreich bei ſeinem Geſetze von 1807 einfach ſtehen blieb, haben Preußen und Oeſter - reich unter gleichzeitiger energiſcher Entwicklung des wirthſchaftlichen Vereins - weſens ihre Wuchergeſetzgebungen beſeitigt; Aufhebung der Lex Anast. (Geſetz vom 1. Febr. 1864); in Preußen und Hannover: Geſetz vom 2. Juni 1864. Dann Aufhebung aller Zinsbeſchränkungen für Darlehen ohne Immobilienſicherheit (Verordnung vom 12. Mai 1866).

b) Der Pfandcredit, die Pfand - und Leihhäuſer.

Der Pfandcredit entſteht, im Gegenſatz zum Darlehenscredit da, wo das Suchen nach einem Darlehen auf perſönlicher Noth beruht, und demnach die perſönlichen Verhältniſſe des Schuldners keine Sicher - heit für Zins und Capital bieten. Hier macht daher die Noth die Gefahr der Ausbeutung viel größer als bei dem Darlehen, die Aus - beutung ſelbſt aber, da in dem Pfande doch die Sicherheit für Capital und Zins geboten iſt, erſcheint um ſo härter, indem der ganze Pfandcredit der Regel nach nur in den niederen, nichtbeſitzendenStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 17258Claſſen der großen Städte vorkommt. Der Gewinn, den derſelbe bietet, erzeugt das Pfandleihgewerbe; die Gefahr, die mit ihm verbun - den iſt, hat dieſes Gewerbe theils unter ſtrenge gewerbliche Oberauf - ſicht geſtellt (Conceſſionsſyſteme), theils aber nach dem Muſter der Monts de Piété die Stadtgemeinden veranlaßt, ſelbſt ſtädtiſche Pfand - häuſer mit eigener öffentlicher Einrichtung aufzuſtellen, was der Regel nach mit ſtrengem Verbot gegen private Pfandleihanſtalten verbunden wird, bis endlich in neueſter Zeit auch hier das Vereinsweſen aufge - treten iſt, und ſich als die beſte Form der Hülfe bewährt.

Das öffentliche Recht dieſer Anſtalten beruht nun darauf, daß der möglichſt niedrige Zins für das Darlehen erzielt werde; daraus folgt, daß die Verwaltung den Anſtalten diejenige Sicherheit für ihre Dar - lehen geben muß, welche ſie durch die eigene Verwaltung nicht erzielen können. Das nun geſchieht durch die Grundſätze, auf denen das ganze öffentliche Pfandleihhausweſen beruht; erſtens bekommen ſie an den Pfandobjekten durch die Uebergabe das Recht auf ihre conceſſions - mäßige Veräußerung ohne Rückſicht auf den Urſprung des Be - ſitzes von Seiten des Verpfänders; zweitens übernehmen ſie dafür die Pflicht der öffentlichen Verſteigerung; ihr Zinsfuß iſt geſetzlich normirt, und ihre Papiere (Verſatzſcheine) ſind Inhaberpapiere. Es iſt klar, daß dieſe Rechte den conceſſionirten Privatleihhäuſern nicht gegeben werden können, und daß andererſeits bei der örtlichen Bedeutung dieſer Anſtalten dieſelben ſtets unter der Oberaufſicht der Städte ſtehen ſollen.

Entſehen der öffentlichen Ordnung mit der Noth in den großen Städten; Anfang bereits im vierzehnten Jahrhundert; Entwicklung namentlich in Ita - lien; zur ſyſtematiſchen Ausbildung jedoch erſt in Frankreich und Deutſchland; vergl. Laferrière, Droit publ. et admin. I. 1. 2 ; Wanderung von Italien 1491, nach Flandern; Statut Ludwigs XIV. in Frankreich; 1771 zuerſt in Paris; 1707 in Wien, neue Organiſation 1765 daſelbſt. Im vorigen Jahrhundert noch rein als polizeiliche Inſtitute gegen den Wucher betrachtet (vergl. Mar - perger, Mons pietatis oder Leihaſſiſtenz oder Hülfshäuſer, 2. Aufl. 1760. In Paris unter Ludwig XIV. mit 15 Proc. Zins; ſpäter 10 Proc.; gegen - wärtig 9 Proc.; der Ueberſchuß erfällt an die Hospices (Laferrière a. a. O.) Berg, Polizeirecht I. 379 und vorzüglich Bergius, Magazin IV. 188. Mit dem Entſtehen des Claſſengegenſatzes in den großen Städten Verbindung mit der neuen Lehre von der Armuth (Gerando, Bienf. publ. III. 13); eine ziemlich reiche ſelbſtändige Literatur; namentlich Blaize, des Monts-de-piété et des banques de prête sur gage 1843 und 1856. Recht: Laferrière, Droit publ. et admin. I. 1. 2 (Geſetz vom 24. Juni 1851), als cause d’utilité publique anerkannt. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 332. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 58. Oeſterreich (Stubenrauch II. 214); neueſte Ordnung von 1864; Preußen (Rönne II. §. 402, Conceſſionsweſen) Pözl, Verwaltungsrecht §. 123.

259
B. Das Real-Creditweſen.
Begriff.

Bei dem Realcredit betritt die Verwaltung nun einen ganz anderen Boden.

Der Realcredit iſt undenkbar ohne das Verſtändniß des national - ökonomiſchen Satzes, daß der Werth auch von dem einzelnen beſtimm - ten Gute geſchieden, und in dieſer ſeiner Selbſtändigkeit umlaufen und benutzt werden kann. Da wo das geſchieht, iſt nun das einzelne beſtimmte Gut, deſſen Werth von ihm geſchieden und ſelbſtändig ein Eigenthum und Beſitz eines andern iſt, das Pfand; der Erwerb des Werthes durch die Hingabe des Darlehens geſchieht, indem das Dar - lehen als Kaufpreis des Werthes und die Uebertragung des letzteren an den Käufer als die Pfandbeſtellung erſcheint; das ſo entſtandene Eigenthum am Werthe iſt als Schuld (oder Forderung) die Pfand - ſchuld, die wir lieber gleich die Hypothek nennen; und die rechtliche Beſtimmung des Verhältniſſes zwiſchen beiden iſt das Pfand - recht, oder in ſpecieller Beziehung auf die Immobilien das Hypo - thekenrecht.

Dieſe Möglichkeit nun, den Werth von dem Gute durch das Pfandrecht zu ſcheiden, und dem erſteren einen andern Eigenthümer zu geben als dem letzteren, iſt nun für die Volkswirthſchaft von höch - ſter Wichtigkeit. Denn während das Gut für ſich ſeine Produktivität behält, gewinnt der ſelbſtändige Werth eine zweite neben jenem; es verdoppelt ſich der Stoff für die menſchliche Arbeit, und damit der Fortſchritt des wirthſchaftlichen Lebens. Allerdings nun iſt es kein Zweifel, daß dieſer Proceß der Scheidung von Gut und Werth in der Hypothek zuerſt von dem Einzelnen ausgeht und ſein Bedürfniß befrie - digt; allein daß jeder dieſen Proceß je nach ſeiner perſönlichen und wirthſchaftlichen Individualität vornehmen könne, iſt eine der großen Forderungen des allgemeinen wirthſchaftlichen Intereſſes. Das nun aber hat gewiſſe Bedingungen, welche weder allein von dem Gläubiger noch von dem Schuldner erfüllt werden können. Es iſt daher eine weſentliche Aufgabe der Verwaltung, dieſe Bedingungen herzuſtellen, und die Geſammtheit derjenigen Geſetze, Maßregeln und Anſtalten, durch welche jene Bedingungen wirklich hergeſtellt werden, bilden das Realcreditweſen.

Dieſe Bedingungen theilen ſich nun in zwei große Gruppen. Die erſte dieſer Gruppen umfaßt die Geſammtheit aller Vorausſetzungen für die Sicherheit der Hypothek, die zweite dagegen bezieht ſich auf die Herſtellung eines, für die Anlage in Hypotheken beſtimmten260 Capitales. Aus dem erſten geht dasjenige hervor, was wir das Grund - buchsweſen nennen, aus dem zweiten das Vereinsweſen des Realcredits, der die Organiſirung des Realcredits enthält und daher auch wohl das Realcreditweſen im eigentlichen Sinne heißt.

Vor allem mangelt auch hier die einheitliche Auffaſſung in der bisherigen Literatur; aus naheliegenden Gründen haben Nationalökonomie und Volks - wirthſchaftspflege ſich faſt nur mit dem eigentlichen Realcredit beſchäftigt, und das Grundbuchsweſen der ſtrengen Jurisprudenz überlaſſen. Es iſt klar, daß dieß falſch iſt; das Grundbuchsweſen beruht in allen Punkten auf öffentlichem Intereſſe und nicht auf Privatrecht; mit Recht interpretirt die Jurisprudenz ſeine geſetzlichen Beſtimmungen, aber verſtehen kann es nur die Verwaltungs - lehre durch Verſtändniß der Gründe, welche es ſelbſt erzeugt haben. Bericht des volkswirthſchaftlichen Congreſſes zu Cöln über die Zuſtände des Real - credits (Sachſen und Oeſterreich) 1866.

I. Das Grundbuchsweſen.

Unterſchied vom Pfandrecht.

Es iſt allerdings kein Zweifel, daß jedes Darlehen auf Hypothek als Kauf des Werthes eines unbeweglichen Gutes zunächſt ein bürger - licher Vertrag iſt, der alle Vorausſetzungen und Rechte eines ſolchen enthält. An ſich iſt es daher Sache jedes Einzelnen, ſich aller juriſti - ſchen und wirthſchaftlichen Bedingungen des Eigenthumserwerbes an dem Werthe des Immobile zu vergewiſſern, nicht anders wie bei jedem andern Kaufvertrage. Es iſt ſeine Sache, die Bedingungen für ſein Darlehen ſowohl in juriſtiſcher als wirthſchaftlicher Beziehung ſo zu ſtellen, wie er es für nöthig hält; die Verwaltung hat ihn in dieſem ſeinem Rechte nur ſo weit zu ſchützen, wie in jedem andern; ſie hat zunächſt für das Kaufrecht des Werthes kein anderes Recht aufzuſtellen, als für jedes andere; das Darlehen iſt ein gewöhnliches Geſchäft, das Gericht wahrt daſſelbe, ſo weit es erworben iſt, aber Sicherheit, Gewinn und Verluſt und wirthſchaftliche Folgen gehen die Verwaltung auf dieſem Punkte gar nichts an. Die Geſammtheit aller Rechtsverhältniſſe, die ſich daraus ergeben, bilden das, was die Juris - prudenz das Pfandrecht nennt.

So wie aber mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft der ſelbſtändig werdende Werth ſeine Funktion beginnt, beginnen auch die Bedingungen, unter denen der Einzelne ein Darlehen auf Immobilien gibt, eine öffentliche Bedeutung zu gewinnen. Und jetzt entſteht daher die Frage, zuerſt welches dieſe Bedingungen ſind, und zweitens ob und was die Geſetzgebung und Verwaltung dafür thun kann, um ſie in ſo weit herzuſtellen, als der Einzelne ſelbſt es nicht vermag.

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Nun ſind dieſe Bedingungen zwar im Allgemeinen leicht klar, allein es iſt keineswegs einfach, ſie im Einzelnen in der Art auszu - führen, daß ſie ihren öffentlichen Zweck erreichen, ohne die Freiheit des individuellen Verkehrs zu beſchränken. Es kommt deßhalb darauf an, ſie zuerſt in Princip und Begriff zu bezeichnen, und dann ſie zu ihrem elementaren Syſteme zu entwickeln.

Wenn dereinſt das römiſche Recht im deutſchen Rechtsbewußtſein ſeine rich - tige Stellung eingenommen haben wird, wird es eine unabweisbare Aufgabe für das römiſche Pfandrecht werden, ſich und Andern zum Bewußtſein zu bringen, daß es ſelbſt im Realcredit nur eine höchſt beſchränkte, weſentlich hiſtoriſch intereſſante Stellung einnimmt, und jeder Rechtslehrer wird damit beginnen oder damit ſchließen, daß erſt im Grundbuchsweſen, welches er weder im Corpus Juris finden noch ins Römiſche überſetzen kann, das höhere Recht des Realcredits liegt; bis dahin muß das Verwaltungsrecht allein ausreichen.

Princip und Begriff des Grundbuchsweſens.

Die Geſammtheit aller einzelnen Forderungen, welche der Dar - lehengeber aufſtellen muß, um auf ein Immobile ein Darlehen zu geben, laſſen ſich zuſammenfaſſen in dem Begriffe der Sicherheit für Capital und Zins. Dieſe Sicherheit liegt nun zwar zuerſt in dem guten Willen des Schuldners und der Gültigkeit des Vertrages, und für beide haben die Contrahenten zu ſorgen. Allein die beiden Haupt - vorausſetzungen der Sicherheit liegen nicht innerhalb des Vertragsrechts. Dieſe nun ſind die objektive Gewißheit einerſeits dafür, daß der Schuldner auch wirklich Eigenthümer des Pfandes und ſeines Werthes ſei, und andererſeits dafür, daß durch das Darlehen als Kauf des Werthes auch dieſer Werth wirklich als Eigenthum zu voller Dispoſitionsfreiheit dem Gläubiger erworben werde.

Bei genauerer Betrachtung nun löſen ſich dieſe Forderungen wie - der in ganz beſtimmte einzelne Fragen auf. Die Frage nach dem Eigenthumsrecht des Schuldners enthält zuerſt die Frage, wer über - haupt das Eigenthumsrecht an dem betreffenden Immobile hat; dann die zweite Frage, welche einzelne Güter dieſem Eigenthümer ange - hören, da das Pfandrecht ſtets als Eigenthumsrecht nur an einem be - ſtimmten Gute beſtehen kann, und drittens die Frage, ob überhaupt auch der Werth vorhanden iſt, der durch die Pfandbeſtellung Eigen - thum des Gläubigers wird. Die letztere Frage ſcheidet ſich wieder in die, wie viel von dem überhaupt vorhandenen Werth bereits in das Eigenthum Dritter übergegangen iſt, ſei es als Steuern, ſei es als Laſten und Servituten, ſei es als Hypothek; und die, wie groß der Werth des Immobile an ſich ſei. Die Forderung der Sicherheit des262 durch die Pfandbeſtellung erworbenen Eigenthums am beſtimmten Werth enthält wieder die Frage, wie dieſes Eigenthumsrecht gegen Dritte unbedingt, wie jedes Eigenthum an einem Gute, geſchützt wer - den könne, ſo daß einerſeits das Recht auf den Werth als ſolchen, andererſeits das Recht auf den Zins (Gebrauchswerth des Darlehens) ſowohl gegenüber dem Eigenthümer als den dritten Gläubigern objektiv feſtſtehe. Es iſt klar, daß alle dieſe Forderungen durch den bloßen Willen der beiden Contrahenten zwar zwiſchen ihnen, nicht aber gegen - über Dritten mit objektiver Gültigkeit erfüllt werden können, und den - noch die Bedingung eines billigen Darlehens ſind; denn werden ſie nicht erfüllt, ſo wird nach den wirthſchaftlichen Geſetzen über die Zinshöhe die mangelnde Sicherheit durch hohen Zins erſetzt werden müſſen. Die Verwaltung muß daher Anſtalt treffen, um denſelben durch ihre Maßregeln nachzukommen. Und diejenige Einrichtung nun, welche die obigen Forderungen erfüllt, nennen wir das Grundbuchs - weſen.

Von dieſem ſpecifiſchen Begriffe des Grundbuchsweſens bildet der Verſuch, Pfandſcheine einzelner Beſitzer auf Inhaber auszuſtellen, einen unvollkom - menen Uebergang zu den eigentlichen Realcreditanſtalten, und iſt nur durch den Mangel derſelben zu erklären und zu vertheidigen (vergl. darüber Maſcher a. a. O. S. 750 ff.).

Elemente der Geſchichte des Grundbuchsweſens.

Die Geſchichte des Grundbuchsweſens, ſehr reich an Einzelnheiten, iſt im Großen und Ganzen ſehr einfach.

Das Entſtehen des Grundbuchsweſens beruht darauf, daß erſtlich der Werth als ein ſelbſtändiges Element neben dem Gute als fähig erkannt werde, auch ein ſelbſtändiges Objekt des Eigenthums und des Verkehrs zu ſein; zweitens darauf, daß es eine Verwaltung gebe, welche die Entwicklung des Verkehrs für ihre Aufgabe hält. So lange beides nicht da iſt, gibt es zwar eine Pfandſchuld, aber kein Grund - buchsweſen.

Beides nun war weder im römiſchen noch im alten germaniſchen Recht der Fall. Beide haben die Pfandſchuld überhaupt nur als ein Vertragsverhältniß der Contrahenten aufgefaßt, und daher auch es ganz den Betheiligten überlaſſen, für die Sicherheit zu ſorgen. Das Immobiliarpfandrecht iſt ein reines Privatrecht.

Das Grundbuchsweſen beginnt vielmehr erſt da, wo vermöge des ſtändiſchen Rechts die landtaflichen Grundſtücke durch Execution für den bürgerlichen Erwerber nicht erſtanden werden können, und daher das Darlehen nur gegeben wird, wenn es ein ſelbſtändiges Recht263 neben dem Grundſtück ſelbſt empfängt. Dieß geſchieht durch öffentliche Anerkennung der Schuld vermöge der Landtafel. Das iſt die erſte Epoche des Grundbuchsweſens. Sie hat nur noch mit der Pfandſchuld zu thun; das Eigenthumsrecht liegt außerhalb ihrer Sphäre. Daran ſchließt ſich die erſte wiſſenſchaftliche Behandlung in dem (germaniſchen) Privatrechte in England, Frankreich und Deutſchland.

Die zweite Epoche beginnt im achtzehnten Jahrhundert mit dem allgemeineren Bedürfniß der Landwirthſchaft nach Geldkapital. Die Nothwendigkeit des letzteren für die erſtere, namentlich durch die Kriege hervorgebracht, wird ſo groß, daß die Verwaltungen beginnen, die Bedingungen der öffentlichen Sicherheit des Darlehens ihrerſeits her - zuſtellen, und die Grundſätze der Pfandſchuld auch auf das Eigenthums - recht auszudehnen. So entſteht aus der Landtafel das Grundbuch.

Noch aber iſt der Verkehr überhaupt, alſo auch der Verkehr im Werth, kein allgemeiner. Das Bedürfniß iſt ein örtliches; daher behält auch das Grundbuch ſeine durchaus örtliche Geſtalt. Ja in England und Frankreich kommt es überhaupt noch zu keinem Grundbuchsweſen; nur in den deutſchen Staaten entwickelt ſich daſſelbe. Aber auch hier iſt es ganz auf die Intelligenz der Regierungen angewieſen, und tritt daher in ſelbſtändiger und rationeller Form als eigene Hypotheken - geſetzgebung nur in Preußen und Oeſterreich auf (preußiſches Hy - potheken-Geſetz von 1783 auf Grundlage der erſten Verſuche ſeit 1722; in Oeſterreich Hypothekengeſetze für die einzelnen Kronländer, Grundbuchs-Ordnung in der Manz’ſchen Geſetzausgabe), während die übrigen deutſchen Staaten ſich begnügen, daſſelbe bloß in ihren Landes - rechten aufzunehmen (vgl. Mittermaier, deutſches Privatrecht I. §. 261). Die Folge davon iſt, daß das entſtehende Grundbuch ſich mit wenigen Ausnahmen auf die öffentlichen Bedingungen der Sicherheit des Einzel - darlehens beſchränkt, ohne noch einen höheren Standpunkt anzu - nehmen.

Erſt mit dem völligen Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in unſerem Jahrhundert, die in ihrer wirthſchaftlichen Grundlage auf dem ſelbſtändigen Werth und Credit beruht, ſiegt die Anſicht, daß das Grundbuchsweſen den Bedürfniſſen des Credits überhaupt zu entſprechen habe, und daher ein allgemeines, alle Punkte umfaſſendes und gleichartiges ſein müſſe. Dieſe Erkenntniß iſt jetzt allgemein. Frankreich und zuletzt ſogar England erkennen es, und haben daher jedes in ſeiner Weiſe das Grundbuchsweſen geſetzlich eingeführt. Allein zwei Gründe haben bisher die volle Entwicklung dieſer Verwaltungs - anſtalt gehindert. Erſtlich iſt es ſehr ſchwierig, ein einmal eingeführ - tes Grundbuchsſyſtem zu ändern; zweitens aber hatte der hiſtoriſche264 Gang der Dinge die ganze Grundbuchsfrage vorwiegend zu einer juriſtiſchen gemacht, ſo daß es ſich in der Grundbuchsliteratur ſeit fünfzig Jahren mehr um die Interpretation des beſtehenden Rechts als um die wirthſchaftlichen Grundſätze deſſelben handelte. Daher finden wir bei großer Uebereinſtimmung in den Principien eben ſo große Unterſchiede in ihrer Durchführung. Doch führt die Vergleichung zu folgenden allgemeinen Ergebniſſen.

Deutſchlands Grundbuchsweſen ſcheidet ſich in zwei große Gruppen, von denen die erſte, an deren Spitze Preußen und Oeſterreich ſtehen, ſowohl das volle Syſtem des Grundbuchs als das der Legalität wenigſtens principiell ausgebildet haben, obgleich in den einzelnen Provinzen wieder unvollkommene Syſteme herrſchen. An beide ſchließen ſich namentlich Sachſen und Bayern, während andere wie Hannover und Naſſau Beſonderheiten mannigfacher Art darbieten. Die zweite Gruppe iſt die vorwiegend ſächſiſche, welche zwar das Hypo - theken -, nicht aber das Grundbuchsweſen und ſeine Legalität ausgebildet hat. Die neueſte Zeit hat viele Beſtrebungen nach Einheit gezeigt, ohne doch zu einem Reſultate zu gelangen.

Frankreich hat ein Grundbuchsweſen, das in der Mitte zwiſchen beiden ſtehend, die volle Legalität nur für die Hypothek anerkennt, und die Priorität durch die geſetzlichen Pfandrechte zur Hälfte vernichtet; dem franzöſiſchen Pfandrecht ſchließen ſich das badiſche und rheiniſche an.

Englands Grundbuchsweſen hat weder die volle Legalität, noch die volle Priorität, noch auch die Publicität, ſondern iſt bloß auf Sicherheit der einzelnen dinglichen Rechte berechnet.

Auf dieſe Kategorien laſſen ſich nun die übrigen geltenden Ord - nungen leicht zurückführen; jedoch muß die Grundlage dafür das Syſtem der Grundbuchsordnung und des Grundbuchsrechts ſein, deſſen Elemente folgende ſind.

Deutſchland. Die Literatur über das Grundbuchsweſen theilt ſich in drei Gruppen. Die erſte beſteht aus den Interpretatoren der betreffenden bürgerlichen Geſetzbücher, die zweite in der hiſtoriſchen Behandlung namentlich im deutſchen Privatrecht, die dritte ſparſame aus den Verſuchen einer volks - wirthſchaftlichen Behandlung derſelben. Munde, Patriotiſche Phantaſien S. 225; Meck, das deutſche Credit - und Hypothekenweſen 1831. 2 Theile. Dünkel - berg, Landwirthſchaft und Capital 1860. Reiches Material bei Mitter - maier, deutſches Privatrecht §. 201 ff. Preußen: Erſte allgem. Hypotheken - ordnung vom 4. Febr. 1722. Neue Ordnung beſchloſſen 1751; daraus die von Suarez entworfene Hypothekenordnung vom 20. Dec. 1783, die noch gegen - wärtig gilt, und Allgem. Landrecht I. 10; Führung der Grundbücher (In - ſtruktion vom 2. Jan. 1849). Rönne, Staatsrecht II. §. 321. Neues Geſetz ſpeciell das Grundbuchsverfahren betreffend vom 24. März 1853. Ausführlich265 bei Maſcher, das deutſche Grundbuch - und Hypothekenweſen 1869. Cap. 7). Daneben die verſchiedenen Syſteme, die im preußiſchen Staate gelten, und weit hinter der Hypothekenordnung von 1783 zurückſtehen. Oeſterreich; Geſchichte: L. Haan, Studien über das Landtafelweſen 1866, höchſt gründlich; Chlumetzky, die Landtafel von Mähren 1856. Die allgemeinen Principien für das Grundbuchsrecht im Allgem. bürgerl. Geſetzbuch §. 331 446, die aber nur die Rechtsprincipien der Einverleibung betreffen, daneben Commentare von Winiwarter und Protabevera; jedes Kronland hat dann ſeit dem vorigen Jahr - hundert ſeine ſpecielle Grundbuchsordnung (ſ. Stubenrauch II. §. 411). Geiſtreich und gründlich, wenn auch etwas kurz, namentlich Franz Neumann, der landwirthſchaftliche Credit in Oeſterreich 1864 (aus der öſterr. Revue 1864). Die übrigen Staaten haben theils mit unſerem Jahrhundert ſelbſtändige Hypo - thekenordnungen: Bayern (Hypothekenordnung vom 1. Juni 1822); Württem - berg (Geſetz vom 15. April 1825); theils beſtehen die alten höchſt unfertigen Hypo - thekenordnungen des vorigen Jahrhunderts noch fort. Mittermaier a. a. O. §. 262. 363. K. Sachſen: Ordnung des Grundbuchsweſens (Verordnung vom 9. Jan. 1865). In der rationellen Vergleichung iſt die deutſche Literatur noch hinter der franzöſiſchen und engliſchen zurück. Ausführliche, aber principloſe Zuſammenſtellung aller deutſchen Hypothekenordnungen bei Maſcher a. a. O. Cap. 7 28. Hannover: Hypothekengeſetz vom 14. Dec. 1864 (Vollzugs - verordnung vom 22. März 1865).

Frankreich. Recht bis zur Revolution: Loiſel, Institut. coutumières II. 51. Basnage, Traité des hypothèques 1788. Das gegenwärtige Recht beruht theils auf dem Code Civil L. II. T. XVIII., der auf der Hypotheken - ordnung vom 5. Sept. 1804 beruht. Commentare der erſten von Troplong und Guichard. Sehr charakteriſtiſche Kritik des franzöſiſchen Hypotheken - weſens von Foelix: Gebrechen des franzöſiſchen Hypothekenweſens, Zeitſchrift für Rechtswiſſenſchaft des Auslandes Bd. II. 1836. Vergleichende Darſtellungen nebſt Text von St. Joſeph, kritiſche Zeitſchrift für Rechtswiſſenſchaft des Auslandes Bd. XX. S. 101 und Pierre Odier, des systèmes hypothé - caires 1840. Verhandlungen über die Hypothekarreform in der Assemblée nationale 1848; Anſchütz in der citirten Zeitſchrift Bd. XXIII. Neueſte Be - wegung namentlich durch den Crédit foncier angeregt; vorzüglich Wolowsky in der Revue de lég. et jurispr. 1852.

England. Früheres Recht in Blackſtone II. C. 10. Beginn der Studien und Unterſuchungen ſchon im vorigen Jahrhundert; vergebliche Ver - ſuche, Grundbücher geſetzlich einzuführen ſchon ſeit 1652; neue Bewegung in dieſem Jahrhundert: Humphrey, Actual state of the English laws of real property 1825; Hayes, A Popular view of the law of real property 1831. Niederſetzung eines Committees des Parlaments, und deſſen zwei Reports mit genauer Vergleichung der beſtehenden Hypothekenordnungen in den verſchie - denen Staaten Europas 1830 (vergl. über den Inhalt Mittermaier in der kritiſchen Zeitſchrift Bd. IV. 1832). Nach vielen Kämpfen dann die neuen Hypothekengeſetze 25. 26. Vict. 53 und 67; jedoch ſtreng auf dem Stand - punkt des Einzelcredits (vergl. Auſtria 1864. Nr. 45). Weitere Entwicklung266 dieſes erſten Beginns in der Mortgage debenture Act 1865 28. 29. Vict. 78. Die neueſte Bewegung in Deutſchland arbeitet nun kräftig dahin, in die höchſt unfertigen und ungleichartigen Syſteme der deutſchen Geſetze vor allen Dingen Einheit zu bringen. In Oeſterreich bereits Berathungen in dieſem Sinne ſeit 1851 (Stubenrauch II. 411). In Preußen Entwurf von Forkenbeck und Henning 1852 (Maſcher S. 159 nebſt Literatur) und Regierungsentwurf von 1864. Die Schwierigkeit liegt aber in der That in den einfachen Grundbegriffen. Dieſe nun ſind die folgenden.

Syſtem.

1) Organismus der Grundbuchsverwaltung.

Die Organiſation der Grundbuchsverwaltung beſtimmt die Organe, welche das Grundbuch zu führen haben. Dieſe Beſtimmung hängt ihrerſeits von dem Standpunkte ab, den die Geſetzgebung für das ganze Grundbuch einnimmt. Urſprünglich wird die Landtafel von den Landtagen ſelbſt, das erſte Grundbuch von den Magiſtraten geführt. So wie der Gedanke der rechtlichen Sicherheit des Einzelcredits maß - gebend wird, geht die Führung des Grundbuchs auf die Gerichte über; die Berückſichtigung des Werthes erzeugt dann die Frage, ob nicht eine eigene Hypothekenbehörde errichtet werden ſolle. Es kann, in Gemäßheit der richtigen Principien über das Verfahren kaum zweifel - haft ſein, daß die Verbindung mit dem Gerichte das Richtige iſt, ſo daß man die eigenen Hypothekenbehörden des franzöſiſchen Rechts jetzt wohl ziemlich allgemein als mit der eigentlichen Aufgabe des Grund - buchsweſens fallen läßt, und die Organiſation des letzteren ſomit mit der Gerichtsorganiſation identiſch wird.

In Deutſchland iſt meiſtens das Gericht zugleich Grundbuchsbehörde. Die Frage hat eine neue Geſtalt bekommen durch die Aufhebung der Patri - monialgerichte, wodurch das Grundbuchsweſen derſelben an die ordent - lichen Gerichte übergegangen iſt, während es eben deßhalb da, wo ſolche nicht beſtand, zum Theil den Gemeinden überlaſſen blieb. Preußen: durch Ver - ordnung vom 2. Januar 1849 den Gerichten übertragen. Rönne I. §. 321. Oeſterreich: Grundbuchsämter und Verbindung mit dem Gericht je nach den Kronländern; Prüfung für das Grundbuchsweſen (Verordnung vom 10. Juni 1855). Bayern: Regul.; Führung durch das Untergericht (Pötzl, Ver - waltungsrecht §. 59). Württemberg, Baden, Naſſau: Führung durch die Gemeindevorſtände (vergl. Archiv für civiliſt. Praxis Bd. XVIII). Frank - reich: Conservateurs des hypothèques ſchon im Code Civil als ſelbſtändige Behörde. England: Einſetzung einer höchſten Behörde: Office of Land Registry mit den Grundbuchsführern (Registrars) Geſetz von 1862 Art. 108 ff. Neuere Bewegung in dieſer Frage mit dem ziemlich allgemeinen Reſultat, die Grundbuchsführung den Gerichten zu übergeben bei Maſcher a. a. O. Cap. X; ausführlich und gut.

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2) Grundbuchs-Ordnung.

Die Grundbuchsordnung iſt nun die Geſammtheit der geſetzlichen Beſtimmungen, welche über die Form entſcheiden, nach der das Grundbuch die Verhältniſſe angibt, welche die Sicherheit des Darlehens auf Hypothek bedingen. Es ergibt ſich daraus, daß die Ordnung der Grundbücher ſehr verſchieden iſt, je nach dem Umfang und der Klarheit der geſetzlichen Auffaſſung über den oben angegebenen Inhalt des Princips des Grundbuchsweſens. Es bleibt daher nichts übrig, als diejenigen Kategorien aufzuſtellen, welche als die abſoluten angeſehen werden müſſen, und auf welche daher die einzelnen poſitiven Beſtim - mungen vergleichend zurückzuführen ſind.

A. Das Folium bedeutet die wirthſchaftliche Einheit, deren Ver - hältniſſe im Stand - und Hypothekenbuch einzeln aufgeführt werden. Das Perſonal-Folium, bei welchem die Perſon des Eigenthümers als wirthſchaftliche Einheit angenommen wird, iſt eigentlich nur da denkbar, wo die Beſitzer wenig oder gar nicht wechſeln; bei ihm be - ginnt daher das Grundbuchsweſen in den Landtafeln. Das Real - Folium ſetzt die wirthſchaftliche Einheit des Grundbeſitzes, bei welcher der Beſitzer ſelbſt nur als Moment erſcheint, und iſt um ſo praktiſcher, ja nothwendiger, je ſyſtematiſcher ſich das Grundſteuerſyſtem ausbildet. Namentlich in den Städten iſt faſt nur das letztere möglich.

B. Die Eintheilung des Foliums in die Rubriken iſt das eigentliche Syſtem des Grundbuches. Dieſe Rubriken beziehen ſich nun mit ihren Unterabtheilungen auf die drei elementaren Verhältniſſe des Credits, und bilden ſomit den ſyſtematiſchen Inhalt des Fo - liums. Sie ſind Eigenthum, Werth und Schuld.

a) Das Eigenthums - oder Beſitzfolium (oder Rubrik) enthält zu - erſt die Angabe über den gegenwärtigen Eigenthümer (Namen, Wohn - ort ꝛc. ), dann über ſein Eigenthumsrecht (titulus possessionis) und drittens über die Objekte dieſes Eigenthums. Bei unentwickelten Zuſtänden des Grundbuchsweſens begnügt ſich daſſelbe mit einer all - gemeinen, meiſt ortsüblichen Bezeichnung des Grundſtücks oder der Hausnummer. Ein vollſtändiges Grundbuch fordert dagegen die genaue Angabe der Größe des Grundſtücks. Dieſe nun iſt ohne einen Par - cellenkataſter und eine Flurmappe nicht möglich. Letztere müſſen daher als erſte Vorausſetzung eines guten Eigenthumsfoliums angeſehen werden. Leider fehlt dieß Element noch faſt in allen Grundbuchs - ordnungen.

b) Das Werthfolium oder Laſtenbuch ſoll enthalten alle dauernden Rechte an Werth und Gebrauch des Grundſtücks, welche268 den Werth deſſelben unabhängig von Privatverträgen vermindern. Zuerſt die auf dem Grundſtück haftenden dinglichen Rechte, dann die Summe der direkten Steuern, und endlich die geſetzlichen Pfandrechte. Es iſt klar und man iſt ſich vollkommen darüber einig, daß geſetzliche Pfandrechte, wenn ſie ohne Einverleibung beſtehen dürfen, durch die Unſicherheit des Werthes, die ſie erzeugen, den Werth des Grundbuches ſelber in Frage ſtellen, jedenfalls ihn weſentlich vermin - dern. Endlich muß gefordert werden, daß auch der Kaufpreis als Verkehrswerth ſo weit ſelbſtändig aufgenommen werde, als er aus den Akten erſichtlich iſt; ein Zwang zur Angabe deſſelben iſt weder durch - führbar noch räthlich.

c) Das Schuldfolium oder das eigentliche Hypotheken - buch enthält nun die Geſammtheit von Rubriken, welche den Erwerb und das Aufgeben des Eigenthums am Werthe für den Gläubiger feſtſtellen und zwar als perſönliche Momente Namen des Gläubigers, als wirthſchaftliche die Höhe der Summe und des Zinſes, und als juriſtiſche das Datum der Urkunde, ihrer Einreihung, ihre etwaige Ceſſion, die Kündigungsfriſt und die wirkliche Löſchung. Dieß ſind abſolut nothwendige Elemente. Bei ſehr entwickeltem Grundbuchs - weſen kommen dazu noch die Proteſtationen und Pränotationen, die gleichfalls eigener Rubriken bedürfen.

C. Die volle Erfüllung der Aufgabe des Grundbuches in allen Theilen ſetzt nun neben demſelben noch zwei Bücher voraus. Zuerſt das Tagebuch oder Einlaufsregiſter mit Rubriken für Objekt, Tag und Stunde der Präſentation, und zweitens das Urkundenbuch, in welchem die Dokumente bewahrt werden, die als Beweis für den In - halt der drei Folien (oder Bücher) dienen. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß Bücher, Journal und Urkunden mit correſpondirenden Nummern verſehen ſein müſſen.

Das ſind nun die Beſtandtheile und Ordnung eines vollkommenen Grundbuches. Die wirklichen Grundbücher ſind dagegen von ein - ander in allen dieſen Beziehungen ſehr verſchieden. Die Vergleichung dieſer Verſchiedenheit iſt ein weſentliches Element des Verſtändniſſes der eigentlichen Aufgabe des Grundbuchsweſens überhaupt.

Am letztern Orte beruht nämlich jene Verſchiedenheit darauf, ob das Grundbuch die Sicherheit des Einzelcredits zur Hauptſache macht, und dadurch nur indirekt das allgemeine Realcreditweſen för - dern will, oder ob es grundſätzlich eine Anſtalt des öffentlichen, allgemeinen Realcreditweſens iſt, und den Einzelcredit nur in ſich auf - nimmt. Dieſer doppelte Charakter durchzieht das geſammte Grund - buchsweſen und erſcheint, wenn man darnach die Grundbücher überhaupt269 in zwei große Claſſen theilt, für die Grundbuchsordnung in folgenden Punkten.

Die erſte Claſſe, Grundbücher des Einzelcredits, fordern nur un - bedingt das einfache Schuldfolium; die Aufnahme des Beſitzfoliums als ſelbſtändiges Folium iſt ein allerdings unabweisbarer Fortſchritt. Das letztere kann dann die höchſte Ausbildung erfahren, ohne daß das Grundbuch noch ſeinen Charakter ändert.

Die zweite Claſſe dagegen, Grundbücher des eigentlichen Realcredits, ſollen ein vollſtändiges Bild des Gutes als Grundlage des Credits feſtſtellen. Sie müſſen daher ein genaues Laſten - oder Werthfolium enthalten, namentlich alle dergleichen Rechte, Steuern und Laſten, ge - ſetzliche Pfandrechte, Angabe der Kaufpreiſe, und Pränotationsrubrik. Sehr häufig nun ſind, namentlich in den deutſchen Grund - und Hypo - thekenbüchern, allerlei Verbindungen der Elemente beider Claſſen; im Allgemeinen iſt eine Entwicklung der erſten Claſſe zur zweiten, und damit die Anerkennung der Nothwendigkeit eines vollſtändigen Grundbuches unverkennbar; die Herſtellung deſſelben muß, wie das Folgende zeigt, die erſte Aufgabe der neuen Geſetzgebung ſein.

Es verwirrt das richtige Urtheil, wenn man die Claſſifikation der Grund - bücher bloß auf die beiden Principien der Legalität zurückführt, wie es bisher üblich war (vergl. Mittermaier, deutſches Privatrecht §. 263). Englands Grundbuchsweſen gehört durchaus der erſten Claſſe, wie denn auch in England überhaupt keine Realcreditanſtalten beſtehen. Frankreich fällt durch ſeine geſetzlichen, der Einverleibung nicht unterworfenen Hypotheken in die erſte Claſſe; auch hat es keine Steuern, jedoch die Aufnahme der dinglichen Rechte; for - mell iſt es dabei höchſt unvollkommen. In Deutſchland iſt die preußi - ſche Hypothekenordnung das große Muſter der zweiten Claſſe, jedoch noch der Vervollkommnung fähig. Oeſterreichs Grundbuchsordnungen haben größten - theils die meiſten Elemente der zweiten Claſſe aufgenommen, ohne gleichmäßig oder formell durchgebildet zu ſein; namentlich Tirol iſt ſelbſt in der erſten Claſſe weit zurück. Aehnliches gilt von Bayern und Württemberg, wäh - rend Baden und der Rhein den franzöſiſchen Standpunkt vertreten, und Sachſen der erſten Claſſe gehört. Doch ſind die geſetzlichen Pfandrechte allent - halben, bis auf gewiſſe ärariſche Forderungen, ohne Einverleibung ungültig. Das im Einzelnen durchzuführen, iſt eine ſchwierige, aber wichtige Arbeit. Das Material dafür in reichem Maße gehäuft bei Maſcher a. a. O. S. 94; die Vielgeſtaltigkeit der deutſchen Grundbücher macht allerdings eine erſchöpfende und klare Ueberſicht ſehr ſchwer (vergl. Foliografie bei Maſcher a. a. O. Cap. 8; Fr. Neumann a. a. O. S. 138 ff.

3) Die Grundbuchsführung.

Die Grundbuchsführung enthält nun die Thätigkeiten des Grund - buchsorgans, durch welche den Betheiligten das Recht des Grundbuches270 erworben wird, und deren formale Richtigkeit daher die Vorausſetzung des Credits bildet. Dadurch werden die einzelnen Momente dieſes Verfahrens von entſcheidender Bedeutung, und fordern eine eingehende Erwägung.

Natürlich ſind dieſelben verſchieden, je nachdem bloß ein Schuld - oder auch ein Beſitz - und Laſtenbuch vorliegt. Die für alle Momente gemeinſamen Grundlagen ſind das Princip, die Führung, die Haftung und die Koſten.

A. Das leitende Princip aller Grundbuchsführung muß ein ſolches ſein, das dem ganzen Verfahren ſelbſt objektive Gewißheit und Sicherheit gibt; die Grundbuchsakten dürfen demnach nicht einfach von dem Willen und der Angabe der Parteien abhängen, ſondern müſſen durch ein öffentliches Organ anerkannt werden. Dieß aber iſt bei allen Verkehrsakten das Gericht. Das leitende Princip alles Grundbuchs - verfahrens iſt demnach, daß die Gültigkeit jedes Akts einen gericht - lichen Beſcheid als Grundlage fordert. Die Uebelſtände dabei durch mögliche Verzögerung ſind groß, der Werth einer objektiven Gültigkeit der Erklärungen iſt aber für den Credit weit größer, und die erſten werden durch das Princip der Führung (ſ. unten) im Weſentlichen wieder aufgehoben.

Dagegen hat das Gericht nicht über die Natur und Gültigkeit des den Grundbuchsakten zum Grunde liegenden Geſchäfts, ſondern nur über die Diſpoſitionsfähigkeit der Perſonen und die formale Gültigkeit des Vertrages zu entſcheiden und die Ein - und Austragung nur aus ſolchen Gründen zurückzuweiſen. Denn die erſte macht das Geſchäft ſelbſt ungültig, die zweite dagegen läßt das Recht auf die Priorität beſtehen, wenn die Ungültigkeit zu ändern iſt.

B. Die Führung umfaßt im weitern Sinne auch das Verfahren von Seiten der Betheiligten, im engern nur das des eigentlichen Grund - buchsorgans. Sie beginnt mit der Einreichung, für welche Tag und Stunde als Grundlage der Priorität angemerkt werden, darauf folgt die Eingabe an das Gericht, der Beſcheid deſſelben, und dann die Eintragung oder Löſchung. Die letzteren, als zweite weſent - liche Aufgabe der Führung, ſollen ſich auf das Geſchäft nicht beziehen, ſo wenig wie auf das Recht deſſelben, ſondern nur die Thatſache des geſchehenen Aktes (unter Angabe des erworbenen Rechts) und ſeinen Zeitpunkt conſtatiren, natürlich mit Bezug auf die zum Grunde liegen - den Akten. Es iſt von Wichtigkeit, daß dafür beſtimmte Formeln be - ſtehen; jede Grundbuchsordnung ſollte dieſelben genau vorſchreiben. Jeder hat das Recht, eine Beſtätigung der geſchehenen Akte für ſich zu fordern, ohne Rückſicht auf das Princip der Publicität (Recognitions -271 ſchein). Wollen die Betheiligten mehr, ſo haben ſie eben ſo unzweifel - haft das Recht auf einen Grundbuchsauszug, als auf eine vollſtändige Abſchrift. Gegen die Führung geht der Recurs an das Gericht; gegen das letztere iſt offenbar nur die Appellation berechtigt. Die Gültigkeit der Entſcheidungen des Gerichts gehen dagegen unbedingt auf den Tag der Einreichung zurück.

C. Mit dieſen Grundſätzen iſt auch die Haftung eine einfache. Für das Gericht gibt es keine Haftung; die Haftung der Führung bezieht ſich weſentlich auf die Genauigkeit des Einreichungsprotokolls; gegen alle andern Akte der Führung genügt der Gegenbeweis. Die Haftungsfrage wird nur dann ſchwierig, wenn die Grundbuchsbehörde vom Gericht getrennt iſt.

D. Von großer Bedeutung ſind endlich die Koſten des Grund - buchsverfahrens, nicht bloß für den Betreffenden, ſondern für die Ent - wicklung des Creditweſens überhaupt. Ueber die Nothwendigkeit mög - lichſt niedriger Anſätze iſt man ſich einig; nicht ſo über das folgende. Das Syſtem dieſer Koſten enthält erſtlich die Gebühr für Eintragung und Löſchung, und zweitens die (meiſt in Stempelform erhobene) Ver - kehrsſteuer auf das Darlehen (Schuldſcheinſtempelung). Das Princip, welches dafür gilt, iſt bisher das der Gleichheit, und zwar der Gleichheit des Betrages bei der Gebühr, und des Steuerfußes bei dem Schuldſtempel. So natürlich dieß Princip erſcheint, ſo iſt es den - noch falſch, denn gerade dieſe formale Gleichheit wird zur Ungleich - heit im wirklichen Creditverkehr. Die Natur gerade des kleinen land - wirthſchaftlichen Credits und ſeiner ſteigenden Nothwendigkeit fordert, daß man vermöge eines nach der Höhe des Darlehens ſteigenden Gebühren - und Steuerfußes für den kleinen Realcredit die Benutzung des Grundbuches ſo billig als möglich, und den kleinſten Credit ganz koſtenfrei mache; die höhere Belaſtung, die der große Credit leicht trägt, ſoll dazu beſtimmt ſein, den Ausfall zu decken. Die genauere Begründung dieſer Forderung iſt wohl eine ſehr einfache, wenn ihr auch bisher keine Grundbuchsordnung nachgekommen iſt.

In Beziehung auf das Princip des Verfahrens ſcheiden ſich zwei große Syſteme, welche formell von der Organiſation des Grundbuchsamts abhängen. Das eine iſt das franzöſiſch-engliſche, nach welchem die Intervention eines gerichtlichen Beſcheides grundſätzlich ausgeſchloſſen iſt, und das Gericht nur im Falle der Streitigkeit aufgerufen wird. In dem deutſchen Hypothekenweſen ſteht durchgehends der Grundſatz feſt, daß der gerichtliche Beſcheid die Voraus - ſetzung jedes Aktes ſein ſoll. Der Urſprung dieſes Princips iſt allerdings ein hiſtoriſcher, da die Grundbuchsämter der Patrimonialgerichte zugleich Ver - waltungsbehörden waren, und daher ihr Recht auf Führung von keinem272 Standpunkt in Zweifel gezogen werden konnte. Bei der theilweiſen und gänz - lichen Auflöſung hielt jedoch die deutſche Grundbuchsordnung um ſo entſchie - dener an dem Grundſatz der gerichtlichen Beſcheide feſt, als dieſelbe mit wenig Ausnahmen die Legalität auch für das Eigenthum forderte. Streit darüber bei Maſcher S. 690 ff. Vergl. Mittermaier a. a. O. §. 263. Haftung der Hypothekbehörden (Mittermaier §. 267; Code Civ. Art. 2197 ff.). Die formelle Frage nach Inſcription und Transſcription Maſcher S. 699; erſtere nur in Frankreich und England nothwendig, nach deutſchem Syſtem mehr als überflüſſig. Ueber die großen Koſten des Grundbuchverfahrens f. Ran, Volks - wirthſchaftspflege a. a. O. In Frankreich ſchon Hauteville (de la revision du Syst. hypothécaire 1843); dann Enquête von 1846 ohne Erfolg; dann neuer Kampf (Wolowsky, Revue de législat. et jurisprud. 1852; vergl. Dünkelberg, Landwirthſchaft und Capital, 1860; zu kurz Maſcher S. 803). Wichtig iſt die Geſetzgebung über grundbücherliches Verfahren bei Zerthei - lung von Liegenſchaften: öſterreich. Geſetz vom 6. Febr. 1869.

4) Das Grundbuchsrecht.

Das Grundbuchsrecht iſt nun ſeinem formellen Begriffe nach die Geſammtheit von Rechten, welche mit den einzelnen Akten des eben bezeichneten Grundbuchsverfahrens verbunden ſind.

Seinem Weſen nach iſt das Grundbuchsrecht, als Theil des Ver - waltungsrechts, die Geſammtheit derjenigen Modifikationen des bürgerlichen Pfand - und in zweiter Reihe Erwerbs - und Beſitz - rechtes unbeweglicher Güter, welche durch die Natur des öffentlichen oder allgemeinen Realcredits im Gegenſatze zum Einzeldarlehen gefor - dert ſind.

Es gibt daher im römiſchen Recht überhaupt kein Grundbuchsrecht. Die bürgerlichen Geſetzbücher der germaniſchen Welt aber haben das Grundbuchsrecht meiſtens ganz oder doch zum Theil in ſich aufgenom - men, und dadurch das Verſtändniß des öffentlichen Charakters deſſelben und ſeiner Begründung im Creditweſen ſehr erſchwert, ſo daß die ganze Behandlung des Grundbuchsrechts ſich in bei weitem überwiegendem Grade als Interpretation der bürgerlichen Geſetze herausſtellt. Daher der Mangel an ſelbſtändiger wiſſenſchaftlicher Behandlung, den nur die Lehre vom Credit in der Verwaltungslehre zu heben vermag.

Dennoch iſt man über die ſelbſtändigen Elemente des Grund - buchsrechts im weſentlichen einig, wenn man daſſelbe auch noch nicht immer von dem Grundbuchsverfahren zu unterſcheiden vermag. Jene Elemente ſtehen in einem hiſtoriſchen Verhältniß zu einander, und müſſen daher auch nicht als einfaches Nebeneinander, ſondern als inner - lich bedingtes Ganze aufgefaßt werden. Sie ſind die Priorität, die Specialität, die Legalität und die Publicität, welche gemeinſam nur273 als Conſequenzen des Weſens des öffentlichen Credits und nicht bloß als Inhalt der bürgerlichen oder ſelbſt öffentlichen Geſetzgebung an - erkannt werden müſſen.

Unterſcheidung der doppelten Richtung in der deutſchen und der ihr fol - genden franzöſiſchen Literatur: die Interpretatoren der Geſetzbücher, an welche ſich die ſelbſtändigen Darſtellungen und Sammlungen der poſitiven Grundbuchsbeſtimmungen, und ſelbſt die kurzen Angaben in den Staatsrechten (wie bei Rönne, Pötzl, Stubenrauch) anſchließen und die Literatur über den landwirthſchaftlichen Credit, der mit unſerem Jahrhundert entſteht, und theils das Creditweſen vom vorwiegend rechtlichen, theils aber vom volkswirthſchaft - lichen Standpunkt betrachtet, letzteres jedoch meiſt ohne Eingehen auf die Sache, wie bei Rau und Roſcher, während es bei den meiſten andern gänzlich fehlt. Maſcher, Abſchn. II. verwechſelt geradezu die Hypothekenpolitik mit dem Hypothekenrecht.

a) Die Priorität.

Die Priorität iſt der erſte Schritt vom römiſchen Recht zum Grundbuchsweſen. Sie beſteht in dem Grundſatz, daß unter den nach bürgerlichem Recht gültigen Pfandbeſtellungen diejenige den Vorzug hat, welche eingetragen iſt, und zwar nach Maßgabe des Datums der Einverleibung. Sie enthält zweitens die nähere Beſtimmung über den Umfang, in welchem in Beziehung auf Zinſen und Früchte das eingetragene Pfandrecht zur Gültigkeit kommt. Sie wird gerechnet vom Tage der Anmeldung, auf welchen der gerichtliche Beſcheid zu - rückwirkt. Sie enthält an ſich noch weder die Specialität noch die Le - galität, aber ſie führt unmittelbar auf beide hinüber. Ihr gegenüber ſteht das Princip der geſetzlichen Pfandrechte (geſetzliche im eigent - lichen Sinne und richterliche), deren Weſen die Priorität ohne Ein - tragung, und zwar vor jeder eingetragenen Poſt iſt. Juriſtiſch durch - aus richtig, ſind die geſetzlichen Pfandrechte vermöge der Natur des Credits mit dem Grundbuchsweſen unvereinbar, daher obwohl anfäng - lich anerkannt, doch in allen deutſchen und engliſchen neueren Geſetzen abgeſchafft, und nur das franzöſiſche Recht hat ſie in einem Umfange beibehalten, der trotz der von ihm anerkannten Legalität den Werth des franzöſiſchen Hypothekenweſens für den Credit in hohem Grade beein - trächtigt.

Völlige Einſtimmigkeit der deutſchen und ſelbſt der franzöſiſchen Literatur über die Verkehrtheit der geſetzlichen Hypothek: Mittermaier, deutſches Privat - recht §. 203; Maſcher S. 94 125; Foelix a. a. O.; Geſchichte der Priorität aus der Ingroſſation (Mittermaier §. 260. 261 nebſt Literatur; Maſcher S. 63 ff. faſt ohne Literatur).

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 18274

b) Die Specialität.

Aus der Priorität ergibt ſich von ſelbſt der Grundſatz, daß jedes eingetragene Pfandrecht, um ein Eigenthum am Werthe conſtatiren zu können, ſich auf ein beſtimmt angegebenes Gut mit einem beſtimmt angegebenen Betrage beziehen müſſe. Der römiſche Grundſatz der Hypotheca omnium bonorum iſt mit dem Weſen des Realcredits un - vereinbar, und wird daher in allen deutſchen Grundbuchsgeſetzen aus - drücklich, theils indirekt wie in der engliſchen, welche nur eine beſtimmte Schuld eintragen läßt, beſeitigt. Die weitere Conſequenz iſt die Auf - hebung der geſetzlichen Hypotheken ſchon darum, weil die meiſten nur auf unbeſtimmte Summen lauten.

Priorität und Specialität ſind nur noch ſpecifiſche Grundſätze des Hypothekenrechts; von dem Eigenthumsrecht iſt bei ihnen noch keine Rede. Sie beziehen ſich daher auch nur noch auf den Einzelcredit, und bilden damit das Element und die Aufgabe des erſten Theiles der Ge - ſchichte des Grundbuchsrechts. Der zweite Theil beginnt da, wo die Verwaltung auch die Vorausſetzung des Werthes der Forderung in den Eigenthums - und Beſitzverhältniſſen erkennt, und daher auch dieſe in das Grundbuchsweſen als Legalität und Publicität ſyſtematiſch auf - nimmt, ohne natürlich das Recht der Priorität und Specialität für die Pfandſchulden damit anzugreifen.

Geſchichte der Beſeitigung der Generalhypothek (Mittermaier §. 265). Unbeſtimmtheit der Hypothekenordnung für den Fall, wo die Hypothek mit ungetheilter Summe auf mehrere Güter eingetragen iſt. In einigen Hypo - thekenordnungen noch Fortbeſtand der Generalhypothek, jedoch unter Beſchrän - kungen. Oldenburg: §. 51. Braunſchweig (Geſetz von 1823) §. 1. Das franzöſiſche Recht hat ſie einfach erhalten (vergl. Maſcher S. 636 ff. ; Götz, Gutachtliche Vorſchläge S. 28; Matern, volkswirthſchaftliche Aufgaben der landwirthſchaftlichen Hypothekeninſtitute).

c) Die Legalität.

Die Legalität des Grundbuchs iſt nun das für alle Theile deſſelben geltende Princip, daß gegenüber dem bürgerlichen Rechte und ſeinen Grundſätzen jeder Erwerb von dinglichen Rechten wirk - lich nur durch das Grundbuch und nach den Regeln des Grund - buchsverfahrens ſtattfindet, während jeder auf das unbewegliche Eigenthum bezügliche Vertrag ohne Eintragung nur ein perſönliches Recht gegen die Verpflichteten begründet.

Es gehört nun ſchon ein hoher Grad von Entwicklung des Credit - lebens einerſeits und des Verſtändniſſes deſſelben andererſeits dazu, um dieſe Legalität in ihrem vollen Umfange zur Geltung kommen zu laſſen. 275Sie hat daher auch ihre Geſchichte, deren Stadien ſtrenge zu ſcheiden ſind; verwiſcht man ſie, ſo iſt auch die rechte Vergleichung unmöglich. Grundlage iſt die Unterſcheidung zwiſchen der Legalität der Hypothek, und der Legalität des Eigenthums. Die Legalität der Hypothek iſt der Grundſatz, daß ohne Eintragung in das Hypothekenbuch über - haupt kein Pfand an Immobilien beſtellt werden kann, ſo daß jede bürgerliche Pfandbeſtellung nur das Recht auf eine Hypothekbeſtellung, nicht die letztere ſelber gibt. Mit dieſem Grundſatz beginnt eigentlich erſt das Grundbuchsweſen, und die folgenden Begriffe und Rechte ſind nur die Conſequenzen deſſelben; denn erſt mit ihm ſcheidet ſich das Grundbuchsrecht von der römiſchen hypotheca. Die Entſtehung der Legalität der Hypothek bildet daher das erſte Stadium des Grund - buchsweſens, und findet ihre volle Formulirung in dem Rechte der Priorität und Specialität. Erſt langſam entwickelt ſich daraus, durch den höheren Standpunkt des allgemeinen Credits, der zweite Grundſatz, daß auch kein Eigenthum und kein Beſitz ohne Eintragung in das Grundbuch erworben werden könne, die Legalität des Eigenthums. Mit ihr tritt das ein, was wir die volle Legalität des Grundbuchs - weſens nennen. Sie iſt es, welche einerſeits die möglichſt klare Ord - nung des Grundbuchs, und andererſeits die möglichſte Genauigkeit des Grundbuchsverfahrens erzeugt; erſt mit ihr iſt daher das ganze Grund - buchsweſen zu ſeiner vollen Entwicklung und die folgenden Begriffe zu ihrer ganzen Bedeutung gelangt. Man wird ſie mit Recht das deutſche Princip des Grundbuchsweſens nennen.

Ihr gegenüber ſteht das proceſſuale Princip deſſelben, nach welchem die Eintragung in das Grundbuch nicht das Recht ſelber, ſondern nur den unanfechtbaren Beweis deſſelben bildet. Man hat es auch wohl das römiſche Syſtem genannt.

Vergleicht man demnach die beſtehenden Syſteme, ſo ſteht das eng - liſche Grundbuchsweſen auf dem rein proceſſualen Standpunkt; das franzöſiſche Syſtem hat die halbe Legalität, indem es nur die Lega - lität der Hypothek im obigen Sinne, nicht aber die des Eigenthums anerkennt; das preußiſche und öſterreichiſche haben die volle Legalität, alſo die des Eigenthums und Beſitzes durchgeführt; viele deutſche Staaten ſind ihnen gefolgt, andere dagegen ſtehen noch auf dem rein proceſſualen, andere auf dem Standpunkt der halben Legalität. Das nun hängt natürlich ſo eng mit der Grundbuchsordnung zuſammen, daß man als leitendes Princip für die Entwicklung des ganzen Grund - buchsweſens, und namentlich als Baſis für die neue Geſetzgebung den Grundſatz aufſtellen muß, daß die volle Legalität ohne eine ſyſte - matiſche Grundbuchsordnung gar nicht möglich iſt, während die276 ſyſtematiſche Grundbuchsordnung ſie ſelbſt, und mit ihr die Vollendung des Grundbuchsweſens von ſelber erzeugt. Die klare Scheidung dieſer Faktoren iſt daher die erſte Bedingung des Fortſchrittes im Grundbuchsweſen.

Durchſtehend bei allen Beſprechungen des Grundbuchsweſens iſt die Un - klarheit über Grundbuchsordnung und Grundbuchsrecht, ihre Selbſtändigkeit und ihr gegenſeitiges Bedingtſein. Namentlich bei dem reichen Werke von Maſcher (vergl. namentlich S. 552 und 586). Von dieſem Standpunkt müſſen auch die einzelnen Grundbuchsordnungen und Rechte verglichen werden. Englands Grundbuchsweſen beruht nicht auf dem Bedürfniß nach Credit, ſondern auf der Vielgeſtaltigkeit und zum Theil Unklarheit der Eigenthums - verhältniſſe, und der Schwierigkeit der Proceſſe. Daher will es vor allen Dingen eine indefensible Title für alle dinglichen Rechte herſtellen (vergl. Auſtria a. a. O). Früheres Recht, falſch als noch beſtehend angenommen bei Maſcher S. 555. 556. Es iſt daher eine regiſtrirte Sammlung von Beweis - urkunden. In Frankreich vermengen ſich die Syſteme; die Hypothek exiſtirt allerdings nur durch die Eintragung bei dem Conservateur; von andern dinglichen Rechten iſt dagegen keine Rede, und das Recht der Transſcription für das Eigenthum iſt Grund von hundert Streitigkeiten (ſ. Foelix a. a. O. und Maſcher 94 125, S. 556; Mittermaier, deutſches Privatrecht §. 262). Preußen und Oeſterreich haben die volle Legalität grundſätzlich aus - geſprochen; in beiden aber haben die Kronländer und Provinzen wieder ihre eigenen Grundbuchsordnungen, ſo daß die Durchführung des Princips vielfache Schwierigkeiten findet, daher auch die Modifikation in Preußen ſeit 1864, daß Grundeigenthum nur durch Tradition erworben wird (Maſcher S. 552 ff.). Die von Maſcher S. 225 ff. ſog. Länder des ſächſiſchen Rechts (nur nicht das Königreich Sachſen ſelbſt) unterſcheiden ſich von denen des öſterreichiſch - preußiſchen Rechts dadurch, daß ſie nur die Legalität des Pfandrechts an - erkennen, und auch das zum Theil nur unvollkommen. Das wäre die Auf - gabe der Vergleichung geweſen. Die leitenden Grundſätze über Legalität bei Maſcher unter der Rubrik Publicität.

d) Publicität.

Der letzte Grundſatz zur vollen Geltung des Grundbuchsweſens als Baſis des Realcredits iſt nun der, daß jeder das Recht der Einſicht in das Grundbuch haben ſoll. Dieſer Grundſatz iſt ſo - wohl im Princip als in der Ausführung beſtritten. So lange das Grundbuch ein reines Hypothekenbuch iſt, iſt die allgemeine Einſicht in daſſelbe nicht motivirt, und die Erlaubniß des Schuldners erforderlich; mit der vollen Legalität wird ſie nothwendig. Die natürliche Form iſt das Recht auf einen Grundbuchsauszug gegen Gebühr. Daneben ſteht das Recht jedes Beſitzers, eine Beſcheinigung der Eintragung von277 der Führung zu verlangen. Die Bedeutung der Sache für den Werth - umlauf bedarf keiner Motivirung.

Verwechslung der Publicität mit der Legalität ſchon bei Mittermaier §. 262; Maſcher a. a. O. Streit über die Publicität ſchon ſeit Gönner (vergl. Mittermaier §. 262. Nr. 2). Anerkennung im franzöſiſchen Recht (Code Civ. Art. 2196).

II. Die Realcredit-Anſtalten.

Begriff und Weſen.

So wichtig nun auch das Grundbuchsweſen iſt, ſo iſt es dennoch unfähig, das höhere Bedürfniß des Realcredits zu erfüllen. Der Hypothekencredit wird ſtets von einem einzelnen Capitale gegeben und entſpricht daher auch nur einem einzelnen Bedürfniß. Er macht zwar den Verkehr mit dem Pfandrecht nicht unmöglich, aber ſchwerfällig. Die Schuld ſelbſt iſt zwar ſicher, aber wird ſchwer zurückgezahlt; ſelbſt die Zinſen finden oft Schwierigkeiten, regelmäßig einzukommen. So wie daher das Capital überhaupt in raſcherem Kreislauf raſcheren und gleich verwerthbaren Gewinn findet, ſucht es trotz der Sicherheit im Grundbuch doch den Realcredit nicht mehr auf, und wo es das thut, wird es theurer, als es die Produktivität der landwirthſchaftlichen und der ihr analogen Produktion zuläßt.

Zu gleicher Zeit ſteigt aber der Bedarf am Capital für die Ur - produktion; ſie wird eine rationelle, indem ſie Capital auf die Pro - duktivkräfte ſelbſt verwendet. Dieſer Bedarf iſt allgemein für die ge - ſammte Urproduktion. Dadurch entſteht ein Mißverhältniß, dem auch das beſte Grundbuchsweſen nicht abzuhelfen vermag. Es ſtellt ſich mehr und mehr heraus, daß der Credit des Grundbuchs nur in den Fällen einzelner Noth zu helfen fähig iſt, während für die allgemeine Herbeiziehung von eigentlichen Anlagecapitalien für die Urproduktion ein eigener Proceß entſtehen muß.

Dieſer nun hat offenbar zur Vorausſetzung, daß den als Anlage - capital für die Urproduktion verwendeten Creditcapitalien zu der durch das Grundbuchsweſen gegebenen Sicherheit auch noch die Fähigkeit hin - zukomme, in den Werthumlauf einzutreten. Dieſe Fähigkeit aber können weder Schuldner noch Gläubiger allein ſolchen Capitalien geben. Sie kann nur durch Theilnahme der Staatsgewalt geſchehen. Es iſt daher natürlich, daß im Beginn dieſer Entwicklung die Regie - rung daran denkt, der Urproduktion direkte Hülfe durch öffentlichen Credit zu verſchaffen. Allein das Weſen des Credits macht ein Eingreifen durch die Regierung auch hier wirthſchaftlich undurchgreifbar (ſ. oben). Die Form, in der das Geſammtleben ſich daher jene große Bedingung278 der Entwicklung der Urproduktion verſchafft, iſt das Vereinsweſen. So tritt das Vereinsweſen in das Syſtem des Realcredits hinein, und der daraus entſtehende, nicht durch Geſetze und Verwaltungsmaßregeln gebildete, ſondern auf der freien Thätigkeit des Einzelnen und den wirthſchaftlichen Geſetzen des Credits beruhende Organismus des Real - credits nennen wir die Realcreditvereine. Jede Realcreditanſtalt iſt daher ein Realcreditverein.

Das Princip der Realcreditanſtalten iſt daher, daß ſie ein eigens für die Anlage im Realcredit beſtimmtes Capital ſchaffen, und daſſelbe durch ihre Thätigkeit ſo verwalten, daß es mit der vollen Sicherheit des Realcredits die volle Beweglichkeit des Geſchäfts - credits verbindet. Erſt damit werden Begriff und Funktion des Credits für die unbeweglichen Güter vollſtändig gültig, und im Real - creditweſen beginnt eine neue, hochwichtige Epoche.

Natürlich hat das Eintreten dieſer Epoche nicht bloß das Ein - treten wirthſchaftlicher Verhältniſſe des Credits zum Inhalt. Es be - deutet und enthält vielmehr die Zeit, wo das gewerbliche Capital der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft die ſpecifiſche Form des Beſitzes der ſtän - diſchen Geſellſchaft, den Grundbeſitz, ſich unterwirft und wirthſchaftlich mit ihren Bedingungen und Folgen beherrſcht. Das Auftreten der Realcreditanſtalten iſt daher nicht bloß eine große wirthſchaftliche und rechtliche, ſondern auch eine mächtige geſellſchaftliche Thatſache, und greift damit auf das tiefſte, langſam aber gewaltig wirkend, in das ganze innere Leben Europas ein.

Es iſt daher leicht verſtändlich, daß die Realcreditanſtalten ſich weder plötzlich noch gleichförmig entwickelt haben. Ihre Grundformen ſind zugleich ihre Geſchichte. Ihre Darſtellung aber zerfällt in ihr wirthſchaftliches und ihr öffentlich rechtliches Element, von denen bei den zwei Grundformen, den gegenſeitigen und den Aktivcreditvereinen das erſte ſehr verſchieden, das zweite aber ſehr gleichartig iſt.

Erſt in neueſter Zeit in der Literatur die Grundlage richtiger Behandlung in dem Verſtändniß dafür, daß Grundbuchsweſen und Realcreditanſtalten bei tiefſter Verſchiedenheit dennoch zwei Seiten des allgemeinen Begriffes des Real - creditweſens ſind. Vergl. namentlich die Auffaſſung bei Rau, Volkswirth - ſchaftspflege II. §. 110 ff. ; Roſcher II. §. 133 ff. Uebrigens hat der Gang der Dinge es mit ſich gebracht, daß auch die geſammten Realcreditanſtalten ausſchließlich auf die Landwirthſchaft bezogen werden; bei den Bedürfniſſen der letzteren beginnend, iſt die Theorie auch bei ihnen ſtehen geblieben, und in der That iſt auch die Hauptanwendung die Landwirthſchaft. Man kann übrigens in der ziemlich reichen Literatur, die mit den Aufſätzen über die ſchleſiſchen Vereine in Bergius Magazin, und ſyſtematiſch in Berg, Polizei -279 wiſſenſchaft Bd. V. 494 f. beginnt, zwei Hauptformen ſcheiden; die erſte, die ſich auf die Intereſſen der Landwirthſchaft überhaupt bezieht, und die zweite, an deren Spitze Rau ſteht, die mit tiefer gehendem Verſtändniß das Vereins - weſen als Quelle des Realcredits anſieht, und daher mit Recht den Schwer - punkt in die Charakteriſtik der Statuten der betreffenden Vereine legt. Roſcher hat dann das hiſtoriſche Element betont. Jetzt iſt die Auffaſſung des Ganzen als Theil der Verwaltungslehre zu vollziehen.

Der Realcredit-Verein.

Die Bedeutung des Vereinsweſens als Grundlage der Realcredit - anſtalten beſteht nun zuerſt darin, daß durch ſie die Möglichkeit und zweitens das eigentliche Gebiet des Realcreditweſens zum Bewußtſein gekommen, und in die Creditverwaltung aufgenommen iſt. Sie haben die Aufgabe gelöst, das Geſammtintereſſe der Volkswirthſchaft an der Entwicklung des Immobiliarcredits, mit der erſten Vorausſetzung alles Credits, den Forderungen des beweglichen Capitals, in Harmonie zu bringen. In der Art und Weiſe, wie ſie das gethan, beſteht ihr Princip; in den Formen, in denen es geſchieht, beſtehen ihre Arten. Das Princip iſt allen Arten gemein; die Formen ſind, und zwar auf hiſtoriſcher Baſis, verſchieden.

a) Princip und Syſtem deſſelben.

Das Princip der Realcreditvereine beſteht darin, für den Immo - biliarcredit ein ſeiner Natur entſprechendes und mithin ſelbſtändig wir - kendes Capital zu ſchaffen und ihm ſeine gehörige Sicherheit zu geben. Beides kann nur dann geſchehen, wenn die Vorausſetzungen beider Elemente ſtatt wie im Hypothekarcredit zum Gegenſtand der in - dividuellen Thätigkeit, hier vielmehr zur Aufgabe der Vereinsthätigkeit auf Grundlage der Vereinshaftung werden. Aller Realcredit kann daher nur als Gegenſtand einer Vereinsverwaltung gedacht wer - den, welche in ihm das allgemeine Intereſſe mit dem Einzelintereſſe in Harmonie bringt.

a) Um das zu erzielen, muß zuerſt der Realcredit, ſtatt ein bloßes Eigenthum am Werth zu ſein, eine Waare für den Markt wer - den, und damit den Charakter und das Recht eines jeden anderen Verkehrsgegenſtandes annehmen. Dieß geſchieht, indem der Verein nicht mehr den Werth eines einzelnen beſtimmten Gutes, wie beim Grundbuchscredit, ſondern die durch ſolidariſche Haft vereinigte Werth - maſſe vieler Güter als ein Ganzes in den Verkehr bringt, und dabei jedem Einzelnen es möglich macht, von dieſem Werth ſo viel zu er - werben, als er braucht. Die Form dafür iſt der Pfandbrief, der280 als Inhaberpapier dem Schuldner für die Ueberlaſſung des Wer - thes ſeiner Güter an den Verein übergeben wird. Durch den Pfand - brief iſt die Möglichkeit für den Schuldner gegeben, ſo lange und ſo weit Eigenthümer ſeines eigenen Werthes zu ſein, als er will; dem Gläubiger die, den durch den Kauf dieſes Werthes erworbenen Werth jeden Augenblick zu verkaufen; dem Werthe endlich die, zur Waare zu werden, und dadurch das zu finden, deſſen der Werth der Immobilien ſo gut bedarf wie ein jedes andere Gut, ſeinen Markt (Börſe) und ſeinen Preis (der Curs der Pfandbriefe). Und damit iſt das Mittel gefunden, für jedes Immobile Credit zu erhalten, da gerade die durch den Markt - (Börſen) - Verkehr mit dem Werthe im Pfandbriefe her - geſtellte Möglichkeit, denſelben gleichgültig gegen den Nominalbetrag des Pfandbriefes mit ſeinem Preiſe durch den Curs in Harmonie zu bringen, das Capital für jeden Grundwerth in jedem Augenblick finden läßt.

b) Zugleich aber muß der Pfandbrief die Gewißheit geben, daß, möge ſein Preis (Curs) ſein welcher er wolle, der Werth deſſelben wirklich vorhanden iſt. Es iſt die weſentlichſte Aufgabe des Vereins, vermöge der Grundſätze ſeiner Verwaltung eben dieſe Sicherheit als integrirenden Theil dem Pfandbriefe mitzugeben, und zwar ſowohl für das Capital als für ſeinen Ertrag, den Zins. Dieſe Aufgabe iſt ſo noth - wendig, daß die Grundſätze für ihre Erfüllung mit dem Realcreditweſen gleichzeitig entſtanden, und ſtets anerkannt ſind. Dieſelben ſind folgende.

Erſtlich genaue Schätzung jedes Gutes, und Feſtſtellung meiſt Auszahlung ſeiner bisherigen Hypothekenſchulden, als Grund - lage für die richtige Berechnung der Höhe des in den Pfandbriefen zu gebenden Darlehens.

Zweitens die Verwaltung der Zinſen und Rückzahlung durch den Verein, ausgedrückt in den Coupons und ihren von der Zahlung der Vereinsſchuldner ganz unabhängigen Zahlungsverpflichtung durch den Verein ſelbſt.

Drittens aber in dem Grundſatze, welche dem Verein die Inne - haltung dieſer ſeiner Verpflichtung möglich machen, und die mithin als die Grundlage der ganzen Vereinsverwaltung angeſehen werden. Dieſe nun ſind; erſtlich die ſolidariſche Haftung aller Schuldner mit ihrem ganzen Vermögen für jeden Pfandbrief; zweitens die Verbin - dung der Rückzahlung mit der Zinszahlung des Schuldners, das Amor - tiſations-Procent; drittens endlich die Bildung eines ſelbſtändigen Capitals, das für den Fall des Ausbleibens der Einzelzahlung dem Verein die Zahlung von Zins und Schuld dennoch möglich macht (Garantie und Reſervefond).

281

Auf dieſen gemeinſamen Grundlagen haben ſich nun die Arten der Realcreditvereine ausgebildet.

Das praktiſche Verſtändniß und die wiſſenſchaftliche Formulirung dieſer Grundſätze ſind eines der größten Verdienſte, das Deutſchland um die Volkswirthſchaft Europas ſich errungen hat. England hat zwar ſein Grund - buch, aber gar keinen Realcreditverein; Frankreichs Crédit foncier iſt ein ſehr unfertiges Gebäude; die deutſchen Realcreditvereine ſind fähig und beſtimmt, das Muſter der Welt zu werden. Für den methodiſch gebildeten deutſchen Geiſt hat die Sache nie ernſtliche Schwierigkeit gehabt, und iſt zu einem integriren - den Beſtandtheil der Wiſſenſchaft geworden (vergl. vor allem Rau, Volks - wirthſchaftspflege II. §. 211 und Roſcher, Syſtem II. §. 133). Preußen: Hypothek-Aktiengeſetzkunde (Geſetz vom 18. März 1865).

b) Die Arten der Realcredit-Vereine.

Die Arten der Realcreditvereine entſtehen nun, indem die Sicher - heit entweder auf den Werth der Immobilien, oder auf ein eigenes Capital, zurückgeführt wird.

A. Die gegenſeitigen Realcreditvereine beruhen darauf, daß die Sicherheit jedes einzelnen Pfandbriefes durch die ſolidariſche Haft aller Mitglieder begründet wird, während in allen übrigen Punkten die Verwaltung mit der folgenden Art gleich iſt. Die Folge dieſes Princips aber iſt, daß, namentlich bei der Verſchiedenheit des Grund - buchsrechts, ſolche Vereine nur von Beſitzern gebildet werden können, die in Art und Umfang ihres Beſitzes weſentlich gleichartig ſind. Sie gehören daher der Epoche der rechtlichen Verſchiedenheit des Grund - beſitzes an, und ſchließen ſich naturgemäß an die ſtändiſche Ordnung des Grundbeſitzes. Sie entſtehen deßhalb meiſtens aus der Noth, und haben zur Aufgabe, den Widerwillen des Capitals gegen Hingabe an bevorrechtete Claſſen zu überwinden. Sie haben den Vortheil, keinen Gewinn zu beabſichtigen, aber den Nachtheil, gerade den kleinen Beſitz creditlos zu machen. Sie verfügen über große Werthe, aber ihre Einzelſchätzung iſt leicht von Standesintereſſen beeinflußt. Sie haben kein bewegliches freies Capital zur Verfügung, und müſſen daſſelbe daher theils durch Garantie der Landſchaften, theils durch Bildung eines Reſervefonds erſetzen, während ſie als ſtändiſcher Verein erſt in unſerem Jahrhundert die Principien der Oeffentlichkeit und Rechen - ſchaftsablage angenommen haben. Sie ſind daher als die erſte und hochwichtige, aber hiſtoriſche Form der Realcreditvereine zu betrachten.

B. Die Bodencreditvereine (Hypothekenbanken) ſind dagegen Unternehmungen, welche mit eigenem Aktiencapital und unter Haf - tung deſſelben gegenüber den Inhabern der Pfandbriefe den Realcredit282 fördern. Bei ihnen iſt die Verwaltung ein Geſchäft. Sie wollen Gewinne, aber ſie laſſen auch jeden Realbeſitz zu. Ihre Schätzung iſt geſchäftlich, ihre Berechnung kaufmänniſch, aber ſie geſtatten volle und freie Concurrenz, und erkennen alle Grundſätze des Vereinsweſens für ſich als maßgebend. Sie ſind daher die ſtaatsbürgerliche Form des Vereins für Realcredit, und allein der größeren Entwicklung fähig. Eben deßwegen gehören ſie auch der neuen Zeit, und bilden ſich raſch und ſyſtematiſch aus, indem ſie das Creditgeben zum Geſchäft machen, ohne doch den Beſitzer zu gefährden. Nur in ihnen liegt die Zukunft des Realcredits. An dieſe Erſcheinung ſchließt ſich die zweite, daß in vielen Staaten auch die eigentlichen (Geſchäfts -) Credit - anſtalten Darlehen auf Grundſtücke geben. Hier iſt aber in der That nur ein Einzelcreditverhältniß vorhanden, das auf unentwickelte Zu - ſtände des Geſchäftslebens hinweist. Ueber die Landescreditkaſſen ſ. unten.

C. Die Hypotheken-Verſicherungsvereine beruhen ihrerſeits nur darauf, daß die Bodencreditanſtalten noch nicht zur vollen Ent - wicklung gediehen ſind, und das Grundbuchsrecht und Verfahren dem Einzelcredit kaum volle Sicherheit gewähren. Ihre ſehr beſchränkte Be - deutung verſchwindet mit der Ausbildung der Bodencreditvereine faſt von ſelbſt.

Im Allgemeinen gehören die wechſelſeitigen (ſtändiſchen) Creditvereine natur - gemäß dem vorigen Jahrhundert, die Bodencreditanſtalten dem gegenwärtigen und die Literatur, welche ſich an die erſten anſchloß (Bergius, Berg, Struen - ſee u. A.; vergl. Rau §. 114) hat das Verdienſt, den letzteren den Weg ge - bahnt zu haben, die dann ſelbſt wieder eine reiche Literatur erzeugten, deren Geſammtreſultate die Volkswirthſchaft dann (Rau, Roſcher) als ein Ganzes verarbeitet hat. Was nun das poſitive Recht betrifft, ſo muß man für Deutſch - land drei Gruppen unterſcheiden. Die erſte iſt die öſterreichiſche, ſie be - ſteht aus der galiziſchen ſtändiſchen Creditanſtalt, welche 1841 errichtet der ſtändiſchen Form angehört; zweitens aus der Hypothekenabtheilung der Nationalbank, welche für den Grundbeſitz des ganzen Reiches 1856 als Theil der Nationalbank errichtet ward; und drittens aus den Bodencredit - anſtalten, die für die einzelnen Kronländer ſucceſſive errichtet, für alle Theile wirken und ganz auf dem Standpunkt der Aktienunternehmungen ſtehen; ſ. be - ſonders Franz Neumann a. a. O. S. 115 ff. Die zweite Gruppe bildet Preußen mit ſeinen ſeit 1770 ins Leben gerufenen ſtändiſchen Creditver - bänden, die unter der Landſchaft ſtehen und dadurch mehr Inſtitute als Ver - eine ſind (ſ. Rönne, Staatsrecht II. §. 79 nebſt Literatur). Erſt in neueſter Zeit ſind auch einige Bodencreditanſtalten entſtanden, jedoch neben den ſtändi - ſchen Anſtalten nicht von Bedeutung. Die dritte Gruppe wird von den Anſtalten der kleineren deutſchen Staaten gebildet, in denen die Geſchäftscreditanſtalten283 zugleich für den Realcredit beſtimmt oder eigene öffentliche Anſtalten errichtet wurden. Bayern: Hypotheken - und Wechſelbank, mit der Verpflichtung ihres Fonds zu Anlagen auf Grund und Boden zu verwenden (Geſetz vom 1. Juli 1834). Hannover: Creditanſtalt von 1848 (Bening im Archiv ꝛc. neue Folge IX. 272). Naſſau: Landesbank von 1849, an der Stelle der Landescreditkaſſe von 1840 (Inſtruktion vom 14. April 1849; Rau §. 113). Gotha: Landescreditanſtalt vom 25. Dec. 1833. K. Sachſen: Erb - licher Creditverein von 1844 (vergl. Rau und Roſcher a. a. O.). Eine all - gemein ſyſtematiſche Darſtellung für Deutſchland fehlt. England hat der - artige Inſtitute überhaupt ſchon wegen des Mangels an einem Grundbuch nicht ausbilden können. Frankreich dagegen hat durch Decret vom 28. Febr. 1852 die Creditvereine ins Leben gerufen, die durchaus nach deutſchem Muſter, aber ſtrenge als Aktiengeſellſchaften, organiſirt und conceſſionirt ſind; bisher vier (vergl. Block, Dict. v. Crédit foncier).

c) Oeffentliches Recht der Realcredit-Vereine.

Das öffentliche Recht der Realcreditvereine beſteht nun in den - jenigen geſetzlichen Beſtimmungen, welche ſolchen Vereinen diejenigen rechtlichen Bedingungen der Sicherheit ihrer Forderungen geben, für welche das Grundbuchsweſen nicht mehr ausreicht. Dieſe nun ſcheiden ſich in zwei Gruppen.

Die erſte iſt nichts anderes, als die Anwendung der geltenden Beſtimmungen des Vereinsrechts auf dieſe Vereine, die jedoch nur in der zweiten Claſſe ganz zur Geltung gelangen, da die erſte Claſſe ſeit ihrem Entſtehen den Charakter von Corporationen nie ganz hat beſeitigen, und deßhalb auch nicht mit vollem Erfolg hat wirken können.

Die zweite Gruppe jedoch enthält das eigentliche öffentliche, nur auf die Bedürfniſſe der Creditoren bezügliche Recht derſelben. Hier nun ſcheiden ſich die beiden Arten.

Die ſtändiſchen Creditvereine ſind meiſtens auf Grundlage direkter Staatshülfe gegründet, unterſtehen daher der unmittelbaren Oberauf - ſicht der Regierung, und genießen (Preußen) die Garantie der (ſtändi - ſchen) Landſchaft, wofür die letztere auch die Sequeſtration bietet.

Erſt bei dem eigentlichen Creditverein kommt daher die reine Natur des Verwaltungsrechts zur Geltung. Der Staat gibt demſelben gar keine direkte Unterſtützung, ſondern nur Rechte. Dieſe ſind principiell doppelter Natur: erſtlich enthalten ſie die Berechtigung, die Zinſen mit dem Rechte der Steuern einzutreiben, und zweitens Vorrechte bei der Execution der Schuldſumme. Wo noch Zinsbeſchränkungen beſtehen, werden auch dieſe aufgehoben; Stempel - und andere Befreiun - gen können nur durch beſondere Gründe motivirt erſcheinen. Dieſe284 Rechte ſind meiſt auch den Banken verliehen, wo dieſelben das Recht oder gar die Pflicht haben, auf Immobilien Credit zu geben.

In Deutſchland beſtehen über dieſe Rechte keine allgemeinen Geſetze, ſon - dern dieſelben ſind in den Statuten der einzelnen Anſtalten enthalten (ſ. Buſch, Einfluß des Handelsgeſetzbuches auf das Grund - und Hypothekenrecht; Archiv des allgem. deutſchen Hypothekenrechts IV. 1. 2). In Preußen hat jede Landesbank ihre eigene geſetzliche Geſchichte; kurz bei Rönne II. 379. Der landſchaftliche Charakter derſelben hat meiſt die Verwaltung unter Abgeordnete der Landtage (Deputirte) geſtellt; Oeſterreich iſt viel weiter, indem die Ver - waltungen ganz als Vereinsverwaltungen behandelt werden. Das Hauptvor - recht der Vereine geht dahin, daß ſich ihre Exekution auch auf bewegliche Güter erſtreckt, daß ſie die ihr vorgehenden Prioritäten ablöſen kann. Als geſetzliche Grundlage der Schätzung gilt die hundertfache der Grundſteuer. Für die all - gemeine Boden-Creditanſtalt: Erlaß vom 1. Juni 1864, namentlich in Bezug auf Eintreibung der Gelder und Geltung der Dokumente (Stat. Art. 83). Neueſtes allgemeines Geſetz vom 28. Okt. 1864 über die den Anſtalten, welche Creditgeſchäfte betreiben, zukommenden Ausnahmen von den allgemeinen Juſtiz - geſetzen; namentlich Recht auf Exekution für ihre Fauſtpfänder nach Art. 310, 311 des Handelsgeſetzbuches; 2) auf den Zahlungsauftrag für Hypotheken nach dem bloßen Auszug ihrer Bücher; 3) und auf Verpachtung wenn die Hypothek zugeſprochen iſt. In Frankreich ſtehen die Creditvereine direkt unter dem Miniſter, der die Direktion ernennt, und ihre Abrechnungen werden den Finanzbehörden zur Verifikation vorgelegt, wobei die Com - missaires jeden Akt der Société überwachen. Natürlich konnte unter dieſen Umſtänden ein ſolches ſtreng bureaukratiſches Vereinsweſen keinen bedeutenden Erfolg haben. Die kurze Exekutionsfriſt (ſechs Wochen) hilft dagegen nicht, eben ſo wenig das Recht, die andern Hypotheken einſeitig zu löſchen, und die Beſtimmung, daß die Hypothek nie die Hälfte des Schätzungswerthes über - ſteigen darf, hindert mehr die natürliche Entwicklung als ſie dieſelbe fördert.

C. Der Geſchäftscredit. Wirthſchaftlicher Begriff.

Während nun der Perſonalcredit ſich auf die wirthſchaftliche Per - ſönlichkeit bezieht, der Realcredit den Werth der einzelnen Güter zum Gegenſtand des Verkehrs macht, iſt der Geſchäftscredit der Credit der Unternehmung, und eben deßhalb der eigentliche Credit. Für ihn erſt gelten daher in ihrem vollen Umfange die Grundſätze einer - ſeits und die Forderungen andererſeits, welche über den Credit über - haupt aufgeſtellt ſind. Erſt mit dem Geſchäftscredit beginnt die höhere wirthſchaftliche Entwicklung der Völker. Denn erſt beim Geſchäftscredit wird das Darlehen gegeben, regelmäßig mit der Abſicht, immer aber mit dem Bewußtſein, daß es durch Produktion und Verkehr verwerthet285 werden ſoll, und daß daher Rückzahlung und Zins von dieſer ſeiner Verwerthung im weiteſten Sinne durch das Unternehmen abhängt. Der Geſchäftscredit hat daher zu ſeiner Grundlage weder das Vermögen noch den guten Willen des Debitors, ſondern den Werth der Unter - nehmung deſſelben; die beiden erſten Momente ſind für ihn unter - geordnet. Eben darin liegt ſeine große Gewalt; denn dieſer Werth der Unternehmung beruht eben ſo ſehr auf der perſönlichen Tüchtigkeit als auf dem Capital; der Geſchäftscredit iſt daher auch ohne Capital möglich; einmal gegeben aber, gibt er dem Schuldner das Capital, das ein dritter ihm für die Leiſtungen ſeiner Unternehmung ſchuldig iſt, noch vor der wirklichen Fälligkeit deſſelben, und während daher die capitalloſe perſönliche Tüchtigkeit durch ihn Capital findet, empfängt der capitalbeſitzende Unternehmer die Möglichkeit, mit doppeltem und dreifachem Capital zu arbeiten. Erſt mit dem Geſchäftscredit iſt daher der Aufſchwung, den das Capital überhaupt geben kann, nicht mehr an den zufälligen Beſitz des Capitals gebunden. Nicht der perſönliche und auch nicht der Realcredit, ſondern der Geſchäftscredit iſt es, der jedem gibt, was er für ſein Geſchäft braucht; er iſt die abſolut freie Bewegung des Capitals, und daher der Beginn und die Grundlage der wirthſchaftlichen Freiheit für die wirthſchaftlich tüchtige Perſönlichkeit. Seine Entwicklung iſt daher die Bedingung des allgemeinen volks - wirthſchaftlichen Fortſchrittes; und es iſt daher nothwendig, daß er wieder mit demjenigen, was für ihn Bedingung iſt, Gegenſtand der Frage werde, was die Verwaltung dafür thun könne und dürfe.

Die Natur des Geſchäftscredits aber macht die Antwort hierauf nicht einfach.

Wenn die obige Begriffsbeſtimmung des Geſchäftscredits als des Credits der Unternehmung neu erſcheint, ſo wird hier nur darauf verwieſen werden können, daß das Kriterium ſeiner Richtigkeit nicht in der Definition, ſondern in der Auffaſſung des geſammten Creditweſens als eines organiſchen Ganzen geſucht werden muß!

Das Princip des Verwaltungsrechts des Geſchäftscredits.

Iſt es nämlich zuerſt wahr, daß der Geſchäftscredit auf dieſe Weiſe die Grundlage der ganzen freien ſtaatsbürgerlichen Volkswirthſchaft wird, und daß die letztere, ſo wie ſie ſich aus der ſtändiſchen Geſtalt der letzteren erhebt, ohne ihn nicht mehr ſein kann, ſo folgt, daß ſich dieſe ſtaatsbürgerliche Volkswirthſchaft die Organiſation dieſes Credits ſelbſt ſchaffen muß. Der Staat kann den Geſchäftscredit nicht geben, und ſoll es nicht. Er kann und ſoll es darum nicht, weil die Vorausſetzung des Geſchäftscredits die individuelle Geſtalt und286 Tüchtigkeit des Unternehmens und ſeiner Unternehmung iſt. Es gibt keinen allgemeinen Geſchäftscredit, ſondern nur der Credit eines ein - zelnen, beſtimmten Unternehmens, bemeſſen nach dem in ſeinem Capital und ſeinem Unternehmen. Das was wir die Organiſirung des Geſchäftscredits nennen, der durch ſelbſtändige Organe verliehene Geſchäftscredit, kann daher nur auf ſolchen Organen beruhen, welche eben fähig ſind, ihrem Credite ein ſolches, für den Staat unmögliches individuelles Urtheil zum Grunde zu legen. Nicht alſo eine Reihe von Gründen der Zweckmäßigkeit, ſondern die unabänderliche Natur der Individualität des Geſchäftscredits macht eine direkte Credit - verleihung durch den Staat an die Geſchäftswelt unmöglich.

Wenn es daher dennoch ein Verwaltungsrecht des Geſchäftscredits überhaupt geben ſoll, ſo muß daſſelbe aus dem allgemeinſten Princip der Verwaltung überhaupt hervorgehen, nach welchem die letztere dem perſönlichen Leben nur diejenigen Bedingungen ſeiner Entwicklung im Ganzen wie im Einzelnen zu geben hat, die ſich der Einzelne ſelbſt vermöge ihrer Natur nicht verſchaffen kann. Dieſe nun liegen für den Geſchäftscredit nicht im Gebiete des Güter -, ſondern des Rechtslebens. Die geſchäftliche Tüchtigkeit, welche den Credit verdient, und die Be - rechnung der Sicherheit und des Ertrages, welche ihn gibt, ſind Sache des Einzelnen; aber die Rückzahlung darf nicht Sache der Willkür deſſelben in Form und Zeit ſein, weil der Creditgebende ſeinerſeits mit derſelben rechnet und rechnen ſoll. Dasjenige demnach, was der Staat für den Geſchäftscredit thun kann, beſteht in der Herſtellung derjenigen rechtlichen Grundſätze, durch welche dem gegebenen Credit dasjenige verliehen wird, das ſeine einzige formale Sicherheit bietet, ſeine recht - liche Gültigkeit und Zahlungspflicht; und die Geſammtheit der hierauf bezüglichen geltenden Beſtimmungen bilden das Verwaltungs - recht des Geſchäftscredits.

Dieſes nun hat drei Grundformen, nach den Grundformen, in denen das wirthſchaftliche Leben die Organiſation des Geſchäftscredits herſtellt. Dieſe aber ſchließen ſich eng an die drei Grundformen des Geſchäftscredits ſelbſt, die wir daher zuvörderſt ſelbſtändig ins Auge faſſen müſſen.

Die drei Grundformen des Geſchäftscredits: der Zahlungs -, Unternehmungs - und Vorſchußcredit.

An ſich iſt nun der Credit ſtets gleich. Seine Arten aber ent - ſtehen dadurch, daß er ſelbſt zu einem verſchiedenen Zwecke gegeben werden kann und gegeben wird. Dieſer Zweck ändert mit der Beſtimmung des als Credit gegebenen Capitals auch die Forderungen des Darleihers287 an Sicherheit und Rückzahlung, und damit treten dann diejenigen Modifikationen des Geſchäftscreditrechts ein, welche das Syſtem des - ſelben bilden. Dem Syſteme des Creditrechts liegen daher eben ſo wohl als dem der Creditorganiſation die Arten der Grundformen des Ge - ſchäftscredits zum Grunde. Sie ſind folgende.

Der Zahlungscredit entſteht da, wo die Zahlungspflicht früher eintritt, als die Fälligkeit der Schuld, mit der die betreffende Zahlung gedeckt werden ſoll. Die Beſtimmung des im Zahlungscredit dargeliehenen Capitals iſt daher nicht die, für die Produktion verwendet zu werden, ſondern einzig und allein die, als Zahlungsmittel für eine fällige Ge - ſchäftsſchuld ſo lange zu dienen, bis die Zahlung des zweiten Schuldners an den erſten erfolgt. Der Zahlungscredit iſt daher ganz gleichgültig gegen den Reinertrag; er hat nothwendig kurze Termine; er muß aber, da das rückgezahlte Capital wieder als Credit begeben werden ſoll, gegen den Schuldner rückſichtslos ſein. Darauf beruht ſein Recht.

Der Unternehmungscredit dagegen enthält ein Darlehen, welches zum geſchäftlichen Betriebe beſtimmt iſt, und ſich daher in Anlage - oder Geſchäftscapital verwandelt. Die Sicherheit beruht hier nicht auf der Zahlungsfähigkeit eines Dritten, ſondern auf der Produktivität des Unternehmens; die Rückzahlung kann nicht kurz, und braucht nicht rückſichtslos zu ſein; dafür aber wird ſie Sicherheit in Unterpfändern ſuchen, und daher iſt der Unternehmungscredit ſo eng mit dem perſön - lichen und Realcredit verwandt, daß er äußerlich erſt ſelbſtändig er - ſcheint, indem ſelbſtändige Organe für ihn entſtehen.

Der Vorſchußcredit iſt ſeinerſeits nichts als der Unternehmungs - credit ohne geſchäftliche oder reale Sicherheit, und daher ſtets ein Credit für die entſtehende Unternehmung der nicht beſitzenden Claſſe. Es iſt daher an ſich eine ſelbſtändige Form nicht durch die Güter -, ſondern durch die Geſellſchaftslehre, und erſcheint als ſolche für die Verwaltung erſt durch die eigenen Organe, die für ihn beſtimmt ſind.

An dieſe drei Funktionen des Geſchäftscredits ſchließen ſich nun die Organe der Volkswirthſchaft, die für ihn wirken; und für dieſe Organe entſteht das Syſtem des Geſchäftscreditrechts, das ſich darnach in drei Theile theilt, das kaufmänniſche, das Banquiers - und das Vereinscreditrecht.

Die Unterſcheidung zwiſchen Zahlungs - und Unternehmungscredit aufgeſtellt bei Stein das Bankweſen Europas und die Geſetzgebung in Jahrb. für Geſetzkunde und Statiſtik 1. Jahrg. 1861. Ueber den Vorſchußcredit ebend. und Stein, Vereinsweſen S. 166 ff. Bei den übrigen Autoren fehlt auch die Anknüpfung an dieſe Unterſcheidung. Die Folge zeigt, daß ohne ſie eine Behandlung des öffentlichen Creditrechts unthunlich iſt.

288

I. Der Zahlungscredit und ſeine öffentlich-rechtliche Ordnung.

1) Der kaufmänniſche Credit und die Handelsbücher.

Der kaufmänniſche Credit iſt derjenige Geſchäftscredit, der in gegenſeitiger Leiſtung und Abrechnung durch die Natur des Handels ſelbſt erzeugt wird. Der kaufmänniſche Verkehr macht die formale Ab - ſchließung des einzelnen Vertrages für die einzelne Leiſtung eben ſo wie die jedesmalige Zahlung für dieſelbe thatſächlich unthunlich. Er ſelbſt wird daher unmöglich, und mit ihm alle ſeine die ganze Volkswirth - ſchaft umfaſſenden Folgen, wenn die Gültigkeit des Vertrags und des daraus entſpringenden Creditverhältniſſes von dem formalen Vertrags - abſchluſſe abhängig wären. Der kaufmänniſche Verkehr hat daher die ſeiner Natur entſprechende Vertragsform für Lieferungen, Vertrag und Schuld ſich ſelbſt erzeugt; und dieſe Form nennen wir das Handels - buch. Das Handelsbuch iſt daher zugleich die kaufmänniſche Form der Schuld - und Zahlungsurkunden für den im kaufmänniſchen Verkehr erſcheinenden Geſchäftscredit; und die Aufgabe des Staats beſteht nun einfach darin, dieſen Handelsbüchern dasjenige Recht beizulegen, durch welches ſie die Fähigkeit empfangen, jenem kaufmänniſchen Verkehre als Stellvertreter formeller Verträge zu dienen. Dieß Moment iſt die Beweiskraft der Handelsbücher, die wieder die Beobachtung der formalen Beſtimmungen über ihre Führung zur Vorausſetzung hat. Die Beweiskraft der Handelsbücher für den kaufmänniſchen Credit iſt daher das erſte und ſehr wichtige Gebiet des Geſchäftscreditrechts, und die Geſetzgebung, welche über daſſelbe beſtimmt, iſt die des Handels - rechts in den Handelsgeſetzbüchern.

Der kaufmänniſche Credit enthält nun noch ganz ungeſchieden alle drei Arten des Credits. Er ſelbſt entſteht langſam namentlich aus dem internationalen Verkehr; ſeine Grundlage iſt die Scheidung des ſelb - ſtändigen Handels von der auf denſelben berechneten Produktion, und ſein Recht iſt Jahrhunderte lang ein bloßes Gewohnheitsrecht der kauf - männiſchen Welt. Daſſelbe wird erſt klar, wenn ſich der Zahlungs - credit ſelbſtändig durch den Handelsverkehr ausbildet.

2) Das Zahlungsweſen der Bankhäuſer und das Wechſelrecht.

Je weiter ſich nun das Verkehrsleben ausbildet, um ſo klarer wird es, daß der geſammte Proceß des wirthſchaftlichen Lebens in Produktion und Conſumtion und ihrer beſtändigen, durch den Handel vermittelten Wechſelwirkung auf der regelmäßigen Innehaltung der gegenſeitigen Verbindlichkeiten in der Form der Zahlung beruht. Nach dem Weſen des Handels aber ſetzt die Zahlung des Einen ſtets die des Andern289 voraus; ja ſie wird zur Bedingung der ganzen gewerblichen Leiſtung und Stellung jedes Unternehmers. Das Ausbleiben der Zahlung eines Einzelnen wird daher zu einer Gefahr für den ganzen Verkehr; der organiſche Proceß des Güter - und Werthumlaufs iſt geſtört; und an dieſe Gefahr und Störung ſchließt ſich nun, als Hilfe und Heilmittel, die weitere Entwicklung des Creditweſens.

Dieſe nun beginnt damit, daß zunächſt die Creditirung der zur Zahlung beſtimmten Summe durch den hohen Werth, den die prompte Zahlung für jedes Geſchäft hat, ſelbſt zu einem Unternehmen wird. Ein ſolches Unternehmen heißt ein Bankhaus (Banquier). Das Entſtehen der Bankhäuſer daher, ſowohl als die Funktion derſelben im wirthſchaftlichen Leben iſt ein volkswirthſchaftlicher Proceß, der zunächſt rein volkswirthſchaftlichen Geſetzen folgt. Je weiter aber die wirth - ſchaftliche Bewegung fortſchreitet, und je nothwendiger daher das Da - ſein und die Funktion dieſer Bankhäuſer erſcheint, um ſo klarer wird es, daß die erſte Bedingung dieſer Funktion die Sicherheit und Genauig - keit der Rückzahlung des zum Zwecke der Zahlung eingeräumten Credits iſt, da dieſe Rückzahlung allein es iſt, welche das Bankhaus in dem nie ruhenden Proceß des gegenſeitigen Zahlungsweſens in den Stand ſetzt, durch beſtändig wiederholte Creditirung die Störung des Verkehrs in Handel und Produktion zu beſeitigen. Damit wird dieſer Credit der Bankhäuſer aus einem urſprünglich rein privatrechtlichen Vertrage eine Funktion im allgemeinen Intereſſe, eine öffentliche Funktion; ſie wird ein integrirendes, für kein Geſchäft mehr entbehrliches Element des Zahlungsweſens der geſammten Volkswirthſchaft, und jetzt wird es daher auch Aufgabe der Geſetzgebung und Verwaltung, dieſer für das Ganze nothwendigen Funktion diejenige Bedingung zu geben, ohne welche ſie ſelbſt eben dieſen allgemeinen Charakter verlieren würde. Dieſe Bedingung aber iſt die unbedingte und unmittelbare Pflicht zur Rückzahlung eines ſolchen Zahlungscredits. Die Vor - ausſetzung dafür iſt, daß ein Credit als Zahlungscredit von den Be - theiligten anerkannt ſei; dazu bedarf es einer klaren, zu dieſem Zweck genau beſtimmten Form; dieſe Form iſt der Wechſel; und die geſetz - lich ausgeſprochene unbedingte Zahlungspflicht des Wechſels iſt das Wechſelrecht.

Der Wechſel unterſcheidet ſich daher von der Anweiſung, die ihm hiſtoriſch voraufgeht und ihn natürlich auch ferner begleitet, formell durch ſeine Zahlungsverpflichtung; der Sache nach aber entſteht der Wechſel erſt da, wo ſich der reine Zahlungscredit von dem kaufmänni - ſchen Credit ſcheidet, und in den Bankhäuſern ſeine eigenen Organe ſucht. Die Geſchichte der kaufmänniſchen Anweiſungen als einfachesStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 19290Zahlungsmandat darf daher nicht mit der des Wechſels verſchmolzen werden, wie es gewöhnlich geſchieht; denn der Anweiſung liegt ein kaufmänniſcher Credit und ein Handelsbuch zum Grunde, dem Wechſel nicht. Der Wechſel beginnt, wo ſeine Form die geſetzliche Be - dingung ſeines Rechts wird, und das darum, weil eben dieſe Form den reinen Zahlungscredit ohne alle Beziehung auf vorhergegangene Geſchäfte bedeutet. Die zweite Epoche des Wechſelrechts iſt die, wo vermöge der Entwicklung des geſchäftlichen Lebens der Creditumlauf ſich über alle wirthſchaftlichen Verhältniſſe erſtreckt, und enthält daher die Ausdehnung der Wechſelfähigkeit über alle wirthſchaftlichen Perſönlichkeiten. Das Syſtem des Wechſelrechts endlich entſteht da - durch, daß dieſe Form des Wechſels eine Reihe von Modifikationen der Zahlungspflicht zuläßt, die aber das Princip nicht ändern können. Das Wechſelrecht ſelbſt aber iſt demgemäß ein ſelbſtändiges Gebiet des Rechtslebens, deſſen wiſſenſchaftliche Grundlage nicht der Vertrag, ſon - dern die Lehre vom Credit iſt. Sie iſt es, welche uns das Wechſel - recht als das erkennen läßt, was es wirklich iſt, nämlich das Ver - waltungsrecht des Zahlungscredits der einzelnen Unter - nehmung. Und darin liegt auch der Uebergang zur folgenden Geſtaltung des Creditweſens.

Es liegt wohl in dem Mangel eines feſten Begriffes von der inneren Verwaltung, daß einerſeits auch das Wechſelrecht keine beſtimmte ſyſtematiſche Stellung in der Wiſſenſchaft hat, und daß ihm weder die Nationalökonomie, noch die Polizeiwiſſenſchaft, noch die Volkswirthſchaftspflege eine ſolche hat geben können. Das Obige wird wohl feſtſtellen, daß ohne den entſcheidenden Unter - ſchied zwiſchen Zahlungs - und Unternehmungscredit zwar die Exegeſe des Wechſel - rechts, nicht aber das organiſche Verſtändniß deſſelben zum Abſchluſſe gedeihen kann. Im Uebrigen muß es hier genügen, ſowohl in Beziehung auf Geſchichte als Theorie und Geſetzgebung auf die ausgezeichneten Werke von Thöl, Contze u. A. zu verweiſen, bei denen wir einzig den klaren Unterſchied zwiſchen An - weiſung und Wechſel vermiſſen, der freilich von der obigen Unterſcheidung ab - hängig iſt. Jedenfalls gehört hierher auch das Geſetz über die Cheques, ſo weit es ein ſolches gibt (franzöſiſches Geſetz vom 28. Mai 1865; ſ. Auſtria 1865, Nr. 65).

3) Das Vereinsweſen des Zahlungscredits. Das Bankweſen. Begriff und Rechtsprincip.

Mit kaufmänniſchem und Bankhauscredit, mit Handelsbuch und Wechſelrecht ſind nun zwar die Elemente des Creditweſens und Rechts gegeben, allein der Credit ſelbſt erſcheint noch immer als Sache der Einzelnen, welche ihn brauchen und geben. So wie aber das Credit - weſen ſich weiter entwickelt, und jede Wirthſchaft ſtreben muß, durch291 Credit den Werth ihrer ausſtehenden Forderungen in ein unmittelbar benutzbares Capital zu verwandeln, erhebt es ſich über das zufällige und willkürliche Verhältniß des Einzelcredits, und erzeugt mit dem allgemeinen Geſchäftscredit einen ſelbſtändigen Organismus für den - ſelben. Dieſer Organismus entſteht durch das Eintreten des Vereins - weſens in den Geſchäftscredit.

Die Vereine für den Geſchäftscredit beruhen nun zunächſt darauf, daß der Credit fähig iſt, Gegenſtand einer Unternehmung zu ſein. Jeder Creditverein iſt daher zuerſt eine Geſellſchaft. Allein die All - gemeinheit ihrer Funktion läßt das Stehenbleiben bei Einer Art des Credits nicht zu. Sie breitet ſich daher aus über den geſammten Credit, und ſo entſteht das Syſtem der Creditgeſellſchaften durch die Theilung der Arbeit im Creditgeben in den Geſellſchaften für Zahlungs -, Unter - nehmungs - und Vorſchußcredit. Mit dieſem Syſtem iſt nun das ge - geben, was wir die Organiſation des Credits nennen. In dieſer Organiſation nun wird nicht bloß mehr das Einzelintereſſe der Mit - glieder, ſondern auch das Geſammtintereſſe des Creditweſens vertreten; die Geſellſchaften werden damit Vereine; und ſomit empfangen ſie auch den doppelten Inhalt ihres Rechts. Daſſelbe iſt zuerſt das reine Geſellſchaftsrecht, und dann das Vereinsrecht, von denen das erſte das Einzelintereſſe der Mitglieder, das zweite das öffentliche Intereſſe ver - tritt. So bildet ſich die Organiſation des Credits zu einem Syſtem von Verwaltungsvereinen des Credits, deren Recht nun wieder je nach der Art ihrer Funktion ein verſchiedenes iſt und ſo zum Sy - ſteme des öffentlichen Creditrechts wird, deſſen einzelne Gebiete nun folgende ſind.

Unmöglichkeit, den Gegenſtand gründlich zu behandeln, ſo lange man nicht ein ſelbſtändiges Bild vom Vereinsweſen hatte. Darum auch die Unmöglich - keit, die rein nationalökonomiſche Auffaſſung von der verwaltungsrechtlichen zu ſcheiden. Demnach iſt ohne dieſe Scheidung ein genügendes Reſultat nicht zu finden.

a) Das Bankweſen als Organismus des reinen Zahlungscredits. Volkswirthſchaftliche Funktion der Notenbank.

Das Bankweſen in ſeiner öffentlichen Stellung und Bedeutung muß nun zuerſt in ſeinem Verhältniß zur Entwicklung des Zahlungs - credits aufgefaßt werden.

I. Sobald nämlich durch die Bankhäuſer und das Wechſelrecht der Zahlungscredit ſelbſtändig funktionirt, wird die erſte Bedingung dafür, daß dieſe Bankhäuſer ſelbſt einen höheren und regelmäßigen Zahlungscredit finden, um den übrigen Geſchäften regelmäßig Credit292 geben zu können. Dieſe Bedingung ſelbſt kann wieder nur erfüllt werden, indem ſich die Bankhäuſer ſelbſt eine Geſellſchaft bilden, deren Aufgabe es iſt, ihnen den für ihre Creditgeſchäfte nöthigen Credit unter möglichſt billigen und gleichartigen Bedingungen zu geben, da in der That ihr Credit die Bedingung für den Einzelcredit iſt, den ſie den einzelnen Geſchäften geben. Die Bildung einer ſolchen Geſellſchaft iſt daher ſchon an und für ſich die Bedingung der vollen Ordnung und der Entwicklung des Creditweſens überhaupt. Sie hat mithin von vorn herein den Charakter eines Organes des öffentlichen Intereſſes, und erſcheint daher, obwohl zunächſt auf den Erwerb ihrer Mitglieder berechnet, als ein Verwaltungsverein des öffentlichen Credit - weſens, und iſt von jeher als ſolcher behandelt. Eine ſolche Geſellſchaft als Verwaltungsverein anerkannt, iſt eine Bank. Die Bank iſt da - her die Vollendung und Spitze des öffentlichen Creditweſens im obigen Sinne. Das iſt ihre wahre Bedeutung. Nur hat ſich dieß erſt ſtufen - weiſe ausgebildet, und die ſogenannten Arten der Banken ſind nichts als die Stadien, welche das öffentliche Creditweſen in dieſer ſeiner höchſten Spitze durchmacht. Denn die Grundlage derſelben ſind nur die Formen, in welchen der Zahlungscredit je nach der Entwicklung der Volkswirthſchaft gefordert und gegeben wird.

II. Die erſte Art iſt die Depoſitenbank, in welcher die Sicherheit der Zahlungen auch ohne Credit durch das von der Geſell - ſchaft übernommene einfache Depoſitum erzielt wird. Sie iſt die noch gänzlich unentwickelte Form des Bankweſens.

Erſt in der Girobank wird durch das Depoſitum nicht mehr bloß die Zahlung geſichert, ſondern ſie wird auch durch das Giro vollzogen. Das Rechtsprincip derſelben iſt, daß die Umſchreibung als wirkliche Zahlung gilt. Die nothwendige Vorausſetzung dafür aber iſt die Reduktion der Depoſiten auf eine gemeinſame Rechnungs - münze, das Bankgeld. Auch in der Girobank iſt daher noch von Credit keine Rede; wohl aber entſteht hier zuerſt ein Geld, das keiner Münze entſpricht. Die Gründe, weßhalb das geſchah, ſind bekannt. Aber mit dem Bankgelde iſt die Form für die Note gegeben, die nun - mehr zur Geltung gelangt.

III. So wie nämlich, namentlich durch die Entwicklung des trans - atlantiſchen Handels, der Credit in ſeiner Quantität nicht wie das Geld an ein beſtimmtes Quantum gebunden iſt, ſondern ſich nach Be - dürfniß vermehren und vermindern wird, entſteht die Note. Mit ihr kann die Bank in jedem Augenblick über das ganze Capital verfügen, deſſen der Credit bedarf, da die Grundlage des Notenwerthes in der That die gegenſeitige Zahlungsfähigkeit der Noteninhaber ſelbſt bildet. Und293 aus dieſer Natur der Notenbank folgen nun die wirthſchaftlichen Grund - ſätze ihrer Verwaltung, welche zugleich die Verwaltung des Zah - lungscredits in der Volkswirthſchaft enthalten.

Die Form nämlich, in welcher die Bank ihren Credit in Noten gibt, iſt die des eigentlichen Zahlungscredits im Gegenſatz zum Unter - nehmungscredit. Die Bank darf kein Darlehen geben, anders als gegen Inhaberpapiere, ſondern ſie discontirt die Wechſel, und zwar weſentlich die Wechſel der Bankhäuſer, die den gegen ihr Accept von der Bank entnommenen Notenbetrag den einzelnen Unternehmungen creditiren. Für das Urtheil über die Zahlungs - (nicht bloß Credit -) Fähigkeit der Ausſteller iſt das Organ der Cenſoren beſtimmt. Die Summe des in der Form der discontirten Wechſel dem allgemeinen Credit zugeführten Notenmaſſe iſt das Portefeuille der Bank; die Summe der gegen Inhaberpapiere dargeliehenen Noten iſt der Lom - bard. Die Zeit, für welche der Zahlungscredit bewilligt wird, iſt die Sicht. Es darf, wie geſagt, keine lange Sicht des Bankaccepts geben. Wenn jedoch das Creditbedürfniß der einzelnen Unterneh - mungen größer wird als das Capital der Bankhäuſer, das ſie ſelbſt oder die Bank beſitzen, muß der Credit ſtatt mit wirklichem Gelde, mit Zahlungsanweiſungen gegeben werden, welche die Bank auf ſich ſelber ausſtellt. Die Bedingung dafür, daß dieſe Anweiſungen die Funktion des Geldes übernehmen, und daher dem Credit dienen können, beſteht in der Fähigkeit der Bank, dieſelben einzulöſen. Die Grund - ſätze und Errichtungen, welche dieſe Fähigkeit ſichern, bilden die Fun - dation der Bank; die Summe, welche dafür zunächſt beſtimmt iſt, iſt der Bankfonds. Die auf die unmittelbare Zahlung durch den Bankfonds lautenden Anweiſungen der Bank ſind die Noten, und die für die Ausgabe von ſolchen Noten beſtimmte Bank iſt die Notenbank. Erſt mit der Note wird die Bank ein Creditverein. Denn die Vor - ſtellung, daß irgend eine Bank ihre Noten wirklich gegen Münze ein - löſen könne und ſolle, iſt bekanntlich durchaus falſch und gehört der niederen Entwicklung der Volkswirthſchaft. Die Fähigkeit der Note, als Zahlungsmittel zu dienen, beruht vielmehr darauf, daß der erſte Empfänger der Note Forderungen an Dritte hat, durch deren Zahlung er ſeine Verpflichtung gegen die Bank deckt, während ſein Schuldner wieder Gläubiger von Dritten iſt, und ſo fort. Die wahre Sicherheit der Note iſt daher die gegenſeitige Zahlungsfähigkeit aller Unterneh - mungen, welche die Noten brauchen. Die Fähigkeit der Noten aber, dem Credit zu dienen, beſteht darin, daß ſie für die Anlage in der Unternehmung beſtimmt ſind. Der Lombard muß ſtets auf kurze Kündigung gelten. Der Preis, den die Bank für ihren Credit in Noten294 fordert, iſt der Discont. Seine Höhe richtet ſich nach den Geſetzen des Preiſes überhaupt; allein da die Bank ihrem Weſen nach mit den Bankhäuſern verkehrt, und daher die größte Sicherheit für ihren Credit hat, ſo iſt der Bankdiscont ſtets der niedrigſte Zahlungszinsfuß, wäh - rend ſein Steigen und Fallen das Steigen und Fallen der in den Zahlungspflichtigkeiten ausgedrückten Bewegung der Unternehmungen bedeutet. So iſt die (eigentliche) Bank das Haupt des Creditumlaufs, aber in ihrer Thätigkeit zunächſt geregelt durch das Intereſſe ihrer Mitglieder; denn dieß Intereſſe fordert, was das volkswirthſchaft - liche Leben ſelbſt von der Bank fordern muß: möglichſte Thätigkeit für den Credit, um des Gewinns willen, der damit verbunden iſt, und möglichſte Sicherheit für die Note, welche die Sicherheit des Geſell - ſchaftscapitals bedeutet, und nur durch Beſchränkung der Notenausgabe auf das Nothwendige, ſtrenge Innehaltung der Discontregeln, und ſcharfe Cenſur erzielt werden kann. Es würde daher gar kein Grund vorhanden ſein, die Bank anders als jeden andern Verein zu be - handeln, wenn nicht ein ganz ſpecifiſches Element hinzukäme, welches die Quelle eines ihm entſprechenden oder des eigentlichen Bank - rechts wird.

Der Grund weßhalb es für unſer Gebiet ganz werthlos iſt, einfach die Arbeiten über das Nationalbankweſen von Laws Considerations und Adam Smith bis hinab auf Fullarton, Mac Leod und Wagner zu citiren, liegt wohl klar vor. So lange man nicht einerſeits Zahlungs - und Unternehmungscredit ſcheidet, und damit beſtändig Banken und Creditinſtitute verſchmilzt, und ſo lange man nicht andererſeits die von allen öffentlich-rechtlichen Beſtimmungen unabhängigen rein wirthſchaftlichen Geſetze des Bankweſens von dem öffentlichen Recht derſelben trennt, kann nur eine ins Einzelne gehende kritiſche Bearbei - tung das große Material, in dem jedoch ſehr ſelten etwas wirklich Neues geſagt wird, behandeln. Wir ſetzen nun hier alles was die reine Nationalöko - nomie betrifft, hier als bekannt voraus. Unſere Aufgabe liegt im Folgenden. Sie iſt im Grunde ſehr einfach.

b) Das öffentliche Recht des Bankweſens.

Sobald nämlich das Creditleben der Völker ſich entwickelt, dringen mit dem Credit, den die Bank gibt, die Noten in das geſammte Völkerleben hinein und werden allgemeines Zahlungsmittel, indem der Credit der Bank ſich auf jede einzelne Note erſtreckt. Dadurch ſtellt ſich in der Notencirculation zunächſt faktiſch ein zweites Geldweſen, das Papiergeldweſen, neben das Münzgeldweſen. Die Gründe, aus dem das erſtere zunächſt an den großen Handelsplätzen, dann aber auch im ganzen Verkehr allmälig das letztere verdrängt, ſind bekannt. Sie liegen theils295 in der Bewegung namentlich des Silbers nach Oſten, theils in dem wachſenden Bedarf des Verkehrs nach Umlaufsmitteln, denen die Stei - gerung der Zunahme der Edelmetalle nicht zu entſprechen vermag. So wie dieß der Fall iſt, wird die Frage nach dem Verhältniß beider Geldſyſteme zu einander eine entſcheidende für Europa; ſie iſt natürlich zugleich die Frage nach dem Verhältniß der Bank als Organ des Papiergeldweſens zu der Regierung als Organ des Metallgeld - weſens; und die Entſcheidung dieſer Frage iſt die Geſchichte und der Inhalt des öffentlichen Rechts der Banken ſeit dem Ende des acht - zehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Natürlich nun iſt es, daß die gegenwärtige zum geltenden Recht gewordene Auffaſſung ſich nur langſam gebildet hat. Es iſt durchaus nothwendig, die Sache in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung aufzufaſſen. Denn die großen Grundſätze dieſes Rechts ſind in der That nichts anderes, als ſchwer erkaufte Ueberzeugungen über die Elemente des öffentlichen Bankrechts.

Man kann hier drei Epochen ſcheiden.

I. Die erſte beginnt mit der Anſicht der Regierungen, daß die Banken geeignet und auch verpflichtet ſeien, ihren Credit in der Form von Notenemiſſionen gegen bloße Schuldverſchreibungen oder Haftungs - erklärungen von Seiten des Staates demſelben zur Verfügung zu ſtellen. Die wirthſchaftliche Folge iſt natürlich eine Vermehrung der Noten über das Credit - und Zahlungsbedürfniß der Volkswirth - ſchaft; damit Entwerthung der ihrer wahren Funktion entzogenen Noten; damit die heftigſten Störungen und Krämpfe des volkswirth - ſchaftlichen Lebens, die namentlich mit den Napoleoniſchen Kriegen be - ginnen, und bekannt genug ſind. Die rechtliche Folge aber iſt die, daß die Banken, obwohl bloße Erwerbsgeſellſchaften, jetzt im Princip als Verwaltungsorgane angeſehen werden, ſo daß einige Staaten das Notenweſen ganz der Regierung übergeben, andere es dem Willen der Regierung anbedingt unterordnen; dieſes letztere Verhältniß bleibt als Princip; die Banknoten ſind allgemeines Zahlungsmittel, ſie müſſen von den Staaten, die ihre Emiſſion veranlaßt, als geſetzlich anerkannt werden; ihre Emiſſion iſt daher jetzt das Analogon des Münzregals, und es ergibt ſich daher, daß die Verwaltung der Banken dauernd aus einem Gegenſtande der Vereinsverwaltung zu einem Objekt der Geſetzgebungen und Regierungen wird, die zwar in verſchiedener Weiſe, immer aber grundſätzlich über die Banken ent - ſcheiden. Dabei ſtellten ſich nun ſchon damals als Inhalt dieſer Ge - ſetzgebung zwei Grundſätze heraus, welche ſeit dieſer Zeit auf Grund - lage der Erfahrungen der Notencurſe als Baſis dieſes öffentlichen Rechts296 der Banken angeſehen werden müſſen: zuerſt die Beſchränkung der Notenemiſſion durch eine beſtimmte, geſetzliche Fundation, und zweitens die Beſchränkung des Bankcredits auf den Zahlungscredit, theils durch Verbot des Ankaufs von Immobilien, theils durch die geſetzliche Vorſchrift der kurzen Sicht bei Bankdiscont. Die Regierungs - organe haben dabei die Aufgabe, dieſe beiden Punkte zu überwachen; die Creditverwaltung bleibt in den Händen der Vereinsorgane. Das iſt das dauernde Reſultat dieſer erſten Epoche, welche bis zum zweiten Jahrzehnt geht.

II. Mit der Herſtellung des Friedens tritt nun eine gewaltige, ganz Europa umfaſſende Entwicklung des Credits ein. Das edle Metall reicht als Zahlungsmittel nirgends mehr aus; die neu entſtehenden Unternehmungen beginnen daher, ſich auf Umwegen aus dem Zahlungs - credit Unternehmungscredit zu machen. Noch iſt der weſentliche Unter - ſchied beider nicht klar. Die Banken, an ihrer Spitze die Bank von England, geben nach, und discontiren Wechſel, deren Baſis nicht mehr eine Zahlungspflicht Dritter, ſondern nur ein rentables Unternehmen iſt, das zwar den hohen Discont trägt, nicht aber zur Rückzahlung des Capitals fähig iſt. Die Folge iſt mit der eintretenden Wechſel - zahlungspflicht der Concurs der auf dem Bankcredit beruhenden Unter - nehmungen; durch die allgemeine Gegenſeitigkeit des Credits wird er ſelbſt allgemein, und ſo entſtehen die Handelskriſen (1820). Die Handelskriſen zeigen, daß die Stellung der Banken auch jetzt noch keine klare iſt. Theorie und Geſetzgebung geben ſich gleichzeitig alle Mühe, Grund und Beſeitigung des Uebels zu entdecken; theoretiſcher Streit und praktiſche Verſuche ziehen ſich hin bis zu den fünfziger Jahren, und da erſt wird es verſtanden, daß die Bank ihre Funktion erſt dann ungeſtört vollziehen könne, wenn der Zahlungscredit zur aus - ſchließlichen Aufgabe der Banken, und der Unternehmungs - credit, von ihnen definitiv getrennt, Gegenſtand ſelbſtändiger Creditvereine wird. Das iſt das Reſultat der Epoche, welche von der Peels-Akte bis auf unſere Zeit geht. Sie hat in dem Rechte der Banken nicht viel geändert, ſondern daſſelbe nur klarer gemacht; wohl aber hat ſie den alten Gedanken Laws aufs neue geboren und zu einem Syſteme gemacht, dem die Zukunft gehört. Das iſt der Grund - ſatz, überhaupt an die Stelle des Metallgeldes das Papiergeld - ſyſtem zu ſetzen. Mit ihm wird eine ganz neue Verwaltung und ein neues Recht des Bankweſens eintreten. Die leitenden Grundſätze dieſes Rechts, vielbeſtritten aber ſiegreich vordringend, ſind erſtlich, daß es nur Eine Note und nur Eine Notenbank geben dürfe, zweitens, daß die Note die volle Währung habe, und drittens,297 daß die Bank an die Stelle der finanziellen Caſſenverwaltung trete. Dieſe Grundſätze beginnen bereits ſich Bahn zu brechen. Unterdeſſen ſchließt die bisherige Epoche mit dem großen Reſultate, das als Vor - ausſetzung der nächſten Epoche betrachtet werden muß: der Scheidung der Notenbanken von den Creditbanken. Dieſe iſt daher bis jetzt der herrſchende Charakter des öffentlichen Bankrechts unſerer Zeit und hat das gegenwärtige Bankrecht definitiv geſtaltet.

III. Die leitenden Grundſätze dieſes öffentlichen Bankrechts, als Ergebniß dieſer hiſtoriſchen Entwicklung, ſind nun folgende:

  • 1) Das Bankrecht iſt kein reines Vereins - ſondern ein Verwal - tungsrecht, in welchem die Geſetzgebung (durch Geſetz oder Bank - ſtatut) die Principien der Funktion der Bank beſtimmt, und der Bank - verein unter amtlicher Oberaufſicht die Vollziehung hat.
  • 2) Es darf nur Eine Notenbank geben.
  • 3) Die Fundation und Emiſſion der Noten werden vom Geſetze beſtimmt.
  • 4) Die geſetzliche Aufgabe der Creditverwaltung der Bank iſt der Zahlungscredit mit ſtrengem Ausſchluß des Unternehmungscredits. Da - her kein Erwerb von Immobilien, keine Betheiligung an Unterneh - mungen, kein Handel in Werthpapieren, kein Disconto auf lange Sicht. Conſequent iſt dafür, daß den Noten der Bank die volle Währung, Staatswährung ſowohl als Verkehrswährung gegeben werde.
  • 5) Die Erfüllung dieſer Aufgabe ſetzt ein Syſtem von Filialen voraus, und dieſe wieder machen es möglich und werden es hervor - bringen, daß das ganze Zahlungsweſen des Staats in Ein - und Aus - gabe durch die Bank verwaltet werde.

Dieſe Grundſätze des Bankrechts ſowohl als der hiſtoriſche Ent - wicklungsgang des Bankweſens iſt in jedem Staate Europas wieder verſchieden. Die Banken haben eben ſo wohl ihre ſtaatliche Indi - vidualität wie die übrigen Theile der Verwaltung. Bei dieſer natio - nalen Darſtellung des Bankweſens beginnt daher das beſondere Gebiet der Banklehre, das ſelbſtändige und weitläufige Bearbeitung bedarf.

Die bisherige Literatur über das Bankweſen iſt aus zwei Gründen nur als Material für die Beurtheilung zu gebrauchen. Erſtlich mangelt ihr die Beachtung des öffentlichen Rechts der Banken, zweitens aber und vor allem jede Vergleichung der verſchiedenen Bankſyſteme. Wagner iſt zu einſeitig im engliſchen Bankweſen, Hübner zu einſeitig compilirend. Die Engländer wiſſen wenig von Frankreich und gar nichts von Deutſchland; die Franzoſen kennen nur Frankreich; die Deutſchen kennen beide, aber ſind eben nur Natio - nalökonomen, die von Buſch und Adam Smith bis zu Wagner faſt nur über298 die Gefahren und Geſetze der Emiſſion reden, ohne auf das öffentliche Recht einzugehen, ſo weit daß Neuere wie Roſcher und die Zahl von Handbüchern gar nicht mehr vom Bankweſen reden. Das Verſtändniß beginnt hier bei der Vergleichung. Der erſte Verſuch einer ſolchen organiſchen Vergleichung: Stein, das Bankweſen Europas und die Geſetzgebung (Jahrb. für Geſetzkunde und Statiſtik 1862. S. 113 165). Vortrefflich ausgeführt in dem ſchönen Werke von Wolowsky (la question des Banques 1864); nur kennt er Deutſchland nicht. Die Elemente ſind folgende.

England. Bis zu unſerem Jahrhundert Auffaſſung der Banken als reine Erwerbsgeſellſchaften; daher die Note als reiner Wechſel derſelben auf Sicht; daher volle Freiheit der Errichtung und der Notenausgabe. Ein - treten der Regierungsthätigkeit 1796 mit der erſten Suſpenſion der Baarzahlung. Von da an Gegenſatz der Bank von England mit den Privats Banks (örtliches Bankſyſtem); die Bank von England wird allmählig zur eigentlichen Bank, und die örtlichen Banken zu Creditinſtituten. Erſter Schritt: Akte vom 26. Mai 1826; Bank von England ausſchließlich zur Notenausgabe für London und den Umkreis von 65 Meilen berechtigt, Abhängigkeit der andern Banken von ihr. Akte von 1836: Errichtung von Creditinſtituten (ſ. unten). Darauf Akte von 1844: Bank Charter vom 19. Juli; Organiſation der Fundation und Emiſſion (Banking Department) und Creditverwaltung (Issuing Department): Verbot neuer, Einziehung alter örtlicher Banken: Joint Stock Banks Act vom 19. Sept. 1844: Organiſation der Creditinſtitute ohne Noten. Das iſt die Baſis des gegenwärtigen Rechts. Daran ſchließt ſich in neuerer Zeit die eigentliche Papiergeldfrage (Fullarton, Mac Leod, die Currency-theorie und die Mancheſterſchule, ſehr gut bei Wagner. Beiträge zur Lehre von den Banken 1857; beſonders die Geld - und Credittheorie der Peelſchen Bankakte 1862. Stein a. a. O. 128 144. Wolowsky, Question des banques S. 307 381.

Frankreichs Bankweſen iſt einfach. Die banque de France iſt ſeit ihrer Entſtehung beherrſcht von der Furcht vor dem Aſſignatenweſen. Entſteht als société anonyme 1800; Unſicherheit ihrer Noten; dann geſetzliche Errichtung der eigentlichen banque de France (L. 24. Germ. an XI.) Statuten beſtätigt am 10. Jan. 1808. Entſtehung des Princips der Fundation und das Auf - treten und die Nothwendigkeit örtlicher Banken als Filiale derſelben: Mollien und Napoleon; vortrefflich bei Wolowsky S. 37 und ff. Streng bureau - kratiſches Syſtem; aber bei Mangel an Vorſchriften ſehr gute Leitung: Ce que la loi impose à la banque d’Angleterre, la bonne et sage direction donnée à la banque de France permet de le réaliser en grande partie (Wolowsky S. 376). Die Provinzialbanken und ihr Kampf mit der banque de France bis 1848; dann 1848 Kampf um die Einheit hervorgerufen durch die Creditſtörungen der örtlichen Banken (Wolowsky S. 131 ff). Sieg 1848. Alle örtlichen Banken werden der banque de France incorporirt (Decret vom 27. April und 2. Mai 1848) ebend. S. 235 ff. Die örtlichen Banken ſind jetzt Creditinſtitute, welche mit den Noten der banque de France operiren. Ihr gegenwärtiger Beſtand und die Vorſchriften über die formale Verwaltung der Bank bei Block, Dict. v. Banque de France.

299

Von beſonderem Intereſſe iſt das Princip des Bankweſens von Nord - amerika, das nach langen Kämpfen zu folgenden einfachen Grundſätzen gelangt iſt durch das Geſetz vom 30. Juni 1864: Jede Notenbank hat den Betrag ihrer zu emittirenden Noten in Staatspapieren zu deponiren, und erhält dafür 90 Proc. in United States Notes. Damit hat ſie zu operiren. Der Geſammtbetrag iſt auf 300 Mill. Doll. feſtgeſtellt; Pflicht: 25 Proc. der Staats - ſchuldverſchreibungen im Depot zu haben und vierteljährliche Reviſion (vergl. das treffliche Werk von K. v. Hock, Finanzen und Finanzgeſchichte der Ver - einigten Staaten (S. 731 743).

Deutſchland. In keinem Lande der Welt iſt das Bankweſen ſo un - organiſch als in Deutſchland; es fehlt nicht bloß alle Einheit, ſondern auch die formale Anerkennung gleichartiger Principien, und es iſt klar, daß das Bankweſen Deutſchlands erſt durch die Einheit ſeiner Verwaltung überhaupt entſtehen kann. Die Literatur hat ſich viel mit den theoretiſchen Grund - fragen, aber wenig mit den faktiſchen Zuſtänden des Bank - und Notenweſens Deutſchlands beſchäftigt. Der Gedanke des deutſchen Bankweſens ſchon an - geregt Juſti, Polizeiweſen 6. Buch, Hauptſt. 24. und Buch 7. Hauptſt. 36. Hübner, Banken. Dennoch iſt gerade das Bankweſen Deutſchlands höchſt belehrend, denn es trägt auch hier durchaus den Charakter der ſtattlichen Entwicklung.

Preußens Bankweſen hat eine kurze und klare Geſchichte. Sie ward als reine Regierungsanſtalt königl. Giro - und Lehnbank am 17. Juni 1765 errichtet, ohne Noten, alſo als ein Creditinſtitut für Unternehmungscredit. Dieſen ſtreng amtlichen Charakter behielt ſie; 1808 dem Finanzminiſterium untergeordnet, bloß mit Staatsmitteln fundirt; dann 1817 neue Organiſation, jedoch unter ausſchließlicher Leitung des königl. Commiſſarius. Aber erſt durch Kabinetsordre vom 3. Okt. 1846 Errichtung einer eigentlichen Bank, fundirt auf Aktien neben dem Staatscapital, mit Notenausgabe und grund - ſätzlicher Beſchränkung auf den Zahlungscredit und Feſtſtellung der Drittel - deckung. Jedoch ward das Issuing Department in der königl. Immediatcom - miſſion zur Controlirung der Banknoten durch Kabinetsordre vom 11. Jan. 1846 wiedergegeben; die Leitung hat nach wie vor ein amtlicher Chef, unter ihm ein gewählter Bankausſchuß; Comptoire und Filiale in den Provinzen; neuere Beſtimmungen durch Geſetz vom 7. Mai 1856. Neben dieſer eigent - lichen Bank die örtlichen Banken mit beſchränkter Zettelausgabe (7 Mill.), deren Zweck neben den Filialen der preuß. Bank nicht einzuſehen iſt, und un - klare Scheidung des Unternehmungscredits (Caſſenverein, ſ. unten) während die Banknoten dennoch keine Währung haben. Ohne eigene Literatur. Vergl. Rönne, Staatsrecht II. §. 235. Stein a. a. O. S. 150 ff. Oeſter - reichs Bankweſen datirt eigentlich von dem Entſtehen der Nationalbank (Patent vom 1. Juli 1816). Sie war beſtimmt, vor allem Ordnung in das zerrüttete Papiergeldweſen Oeſterreichs zu bringen. Ihr Princip war und iſt daher von Anfang an allerdings das einer eigentlichen Bank für den Zah - lungscredit, aber dadurch daß ſie ihre fundirten Noten an die Stelle der durch ſie einzuziehenden Währungsſcheine ſetzen mußte, entſtand das Verhältniß, das300 eigentlich ihre Geſchichte bildet; ihre weſentliche Fundation war die dadurch entſtandene Schuld des Staates an die Bank, durch welche ſie ſo innig mit der Finanzverwaltung zuſammenhängt. (Vergl. J. v. Hauer, Beiträge zur Geſchichte der öſterr. Finanzen und Bidermann, die Wiener Stadtbank. 1859.) Die Errichtung der Creditanſtalt ſchied dann definitiv den Unternehmungs - credit vom Zahlungscredit. Die übrigen deutſchen Banken bilden nur eine Anzahl von Inſtituten, von denen die meiſten zugleich Unternehmungscredit gewähren, und einige ſogar direkt durch ihre Statuten dazu verpflichtet ſind, während über die Notenemiſſion und Fundation durchaus kein gemeinſames Princip exiſtirt, vielmehr die widerſprechendſten Grundſätze zur Geltung gelangt ſind. Das iſt nur erklärlich durch den Mangel einheitlicher Geſetzgebung in Deutſchland, und wird ohne dieſelbe auch nicht beſſer werden. Von einem deutſchen Bankrecht oder Bankweſen kann dabei keine Rede ſein (ſ. das Material bei Hübner; die Zuſammenſtellung bei Stein S. 155 ff.).

II. Der Unternehmungscredit und ſein öffentliches Recht. Wirthſchaftliche Funktion.

Urſprünglich nun erſcheint in der Volkswirthſchaft das Creditweſen mit dem Darlehen einerſeits und dem Zahlungscredit andererſeits er - ſchöpft. Allein das Darlehen beruht auf einem beſtehenden Vermögen, und der Zahlungscredit auf einem abgeſchloſſenen Geſchäft. Wo daher eine künftige Unternehmung für Anlage und Betrieb Credit ſucht, genügen beide nicht. Die neue Unternehmung ſucht eine andere Art des Credits. Das Weſen dieſes Credits beſteht darin, daß derſelbe ſeine Sicherheit in dem Werthe der Unternehmung an ſich, und ſeine Verzinſung in dem Ertrage derſelben ſucht, während er die Rückzahlung nur als gewöhnliche induſtrielle Amortiſation der Anlage betrachtet. Er erſcheint daher nicht als ein Darlehen eines Gläubigers an einen Schuldner, ſondern als eine Betheiligung eines Capitals an einem Unternehmen. Er kann daher zu ſeiner Entwicklung weder durch die Anſtalten für Darlehen, noch durch Realcredit, noch durch Zahlungs - credit gelangen, ſondern fordert und erzeugt ſich ſeinen eigenen Kreis von Organen, deren Lebensprincip nach dem Obigen nicht bloß das Hingeben eines Capitals, ſondern die Theilnahme der Creditoren an der Unternehmung ſelbſt iſt; das iſt, der Unternehmungscredit wird, unentwickelt in vielen Darlehen liegend und meiſt nur durch die Höhe des Zinsfußes angedeutet (foenus nauticum) erſt durch das Geſell - ſchaftsweſen zu einer ſelbſtändigen Creditform, die alsbald neben Zahlungs - und Vorſchußcredit eine mächtige und wichtige Stelle in der ganzen Volkswirthſchaft einnimmt. Das Entſtehen und die Organiſirung des Unternehmungscredits muß daher zunächſt als ein naturgemäßer Proceß des volkswirthſchaftlichen Lebens betrachtet werden.

301

Allein ſo wie nun mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſich der Unternehmungsgeiſt, die Bethätigung der freien wirthſchaftlichen Per - ſönlichkeit, entwickelt, treten dieſe Organe, die Geſellſchaften aus der Sphäre des Privatrechts (societas) hinaus; ſie umfaſſen nicht mehr bloß das Verhalten zu einander, ſondern ſie werden Organe des Ge - ſammtlebens und ſeines Verkehrs; damit wird ihr Recht ein öffentliches, wie es ihre Stellung iſt, und ſo entſteht das Verwaltungsrecht des Unternehmungscredits als das öffentliche Recht der Unterneh - mungsgeſellſchaften.

Dieſes Recht hat nun, wie das was wir die Funktion dieſer Ge - ſellſchaften nennen, zwei große Grundformen, welche ſelbſt wieder die zwei geſchichtlichen Epochen der öffentlichen Geſtaltung des Unter - nehmungscredits bezeichnen.

1) Das Geſellſchaftsweſen des Unternehmungscredits und die Handelsgeſetzbücher.

Es iſt tief im Weſen der geſellſchaftlichen Geſchichte begründet, daß der Unternehmungscredit überhaupt erſt dann zur ſelbſtändigen Geltung und Organiſirung in den Geſellſchaften und Vereinen gelangt, wenn die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſich von der ſtändiſchen trennt. Das römiſche Recht kennt die letztere daher ſo wenig, als das alte deutſche Privatrecht. Sie entſtehen von ſelbſt, aber ſie werden erſt Gegenſtand des öffentlichen Rechts mit dem vorigen Jahrhundert, und entwickeln dann drei Formen, von denen die erſten beiden die erſte, die letztere wieder die zweite Epoche des Unternehmungscredits bilden, und die ſich wieder durch das leitende Princip für die Berechtigung der Theilnehmer als Mitglieder weſentlich unterſcheiden.

Die erſte Form iſt die der ſtillen Geſellſchaft, in welcher der Creditor ſich noch mit dem bloßen Antheil am Unternehmungsgewinn begnügt, ohne die Leitung der Unternehmung zu übernehmen.

Die zweite Form iſt die der offenen Geſellſchaft, in welcher neben der gleichen Berechtigung jedes Theilnehmers am Unternehmungs - gewinn auch die gleiche Berechtigung derſelben an der Leitung des Unternehmens gilt.

In dieſen beiden Formen herrſcht nun noch das privatrechtliche Element, weil beide ſich auf beſtimmte einzelne Mitglieder beziehen, obwohl das öffentliche Recht bereits in der Geltung der Einheit nach Außen und zwar als das Recht der Firma zur beſtimmten Er - ſcheinung gelangt. Erſt in der zweiten Epoche, die im achtzehnten Jahrhundert mit den Handelscompagnien beginnt, wird auch das gegenſeitige Verhältniß der Mitglieder Gegenſtand des öffentlichen302 Rechts, und der Unternehmungscredit empfängt damit eine neue Geſtalt.

Die dritte Form iſt nämlich die Unternehmung auf Aktien. Die Zeichnung und Einzahlung der Aktien iſt wirthſchaftlich nichts als ein Creditverein des betreffenden Betrages an die Unternehmung; das Recht der Aktien auf Dividende iſt nur der Ausdruck des Weſens alles Unter - nehmungscredits; der weſentliche Unterſchied von den beiden andern Geſellſchaften aber beſteht darin, daß die leitenden Organe von den Creditoren (Aktionären) gewählt werden, ihrem Beſchluſſe unter - worfen, und für die Leitung der Unternehmung ihnen verantwortlich ſind. Erſt in der Aktiengeſellſchaft beginnt daher das, was wir die eigentliche Organiſation des Unternehmungscredits nennen. Aber die Aktienunternehmung bildet doch zunächſt nur Credit und Capital für die beſtimmte einzelne Unternehmung, für welche ſie ſelbſt ge - gründet iſt. Sie iſt daher im Einzelgeſchäft wie jede andere Unter - nehmung. Das Princip aber, das in ihr lebendig iſt, erzeugt nun vorübergehend die Form, welche fähig iſt, den Unternehmungscredit als ſolchen zu organiſiren.

Alle dieſe Formen des Unternehmungscredits entſtehen nun nicht durch die Verwaltung und ihre Thätigkeit, eben ſo wenig wie der kauf - männiſche Credit und die Bankhäuſer. Sie ſind zunächſt rein volks - wirthſchaftliche Geſtaltungen, und für ſie gelten in allen Epochen daher in erſter Reihe die Geſetze der Nationalökonomie und des Privatrechts. Allein mit der Entwicklung des volkswirthſchaftlichen Lebens treten ſie in den allgemeinen Verkehr, und nehmen in ihm ſelbſt eine bedeutendere Stellung ein, wie die Einzelunternehmungen. So wie das geſchieht, treten diejenigen Momente bei ihnen in den Vordergrund, die die for - male Bedingung ihrer Wirkſamkeit ſind, die rechtliche Gültigkeit ihrer Einheit gegenüber Dritten, und die rechtliche Ordnung der Betheiligung ihrer Mitglieder an der Unternehmung als Ganzem. Dieſe nun müſſen, damit das Capital willig ſeinen Credit gebe, über individuelle Willkür und Streitigkeiten erhaben ſein. Das aber kann nur geſchehen, indem das Recht der Mitglieder gegen einander und das Recht des Ganzen gegen Dritte als objektives Recht feſtgeſtellt wird. Der Inhalt dieſes Rechts iſt dann wieder nicht eine Entwicklung des Rechts des Dar - lehens oder des Mandats, ſondern iſt die Conſequenz des Weſens des Unternehmungscredits, gleichviel ob man denſelben kennt oder nicht. Die volle und rechtlich abgeſchloſſene Entwicklung dieſer Grundſätze tritt nun bei den Aktiengeſellſchaften ein; zunächſt empfangen nun dieſe Ge - ſellſchaften ihr Recht in der Form der Statuten, die ihrem Begriff nach ſtets auf die Einzelgeſellſchaften berechnet ſind. Mit ihrer Aus -303 dehnung aber entſteht ein allgemeines öffentliches Recht des Geſellſchafts - weſens, und das Recht ſcheidet ſich um ſo beſtimmter von dem übri - gen Privatrecht, je klarer der Unternehmungscredit ſeine ſelbſtändige Function einnimmt. Die daraus entſtehende Geſetzgebung bilden die Handelsgeſetzbücher. Die Handelsgeſetzbücher ſind daher das ſyſte - matiſche Recht der Organiſation des Unternehmungscredits, wie die Wechſelrechtsordnungen das des Zahlungscredits.

Es iſt klar, daß das ganze Gebiet zu ſeiner erſten Vorausſetzung das Vereinsweſen und ſeine ſyſtematiſche Organiſation hat, da das ganze Ge - ſellſchaftsweſen einen Theil deſſelben bildet. Wir müſſen hiefür auf unſer Syſtem des Vereinsweſens und Vereinsrechts (1869, vollz. Gewalt 3. Thl.) verweiſen. Die Fragen ferner, welche die obige Auffaſſung ſowohl an die geſchichtliche Behandlung des Handelsrechts als an die Interpretation der Handelsgeſetzbücher vom Standpunkte der Creditlehre ſtellen muß, namentlich die Entſtehung und das Recht der Firma und den Zeitpunkt ihrer Scheidung von der societas, ſind ſehr einſchneidender Natur, und ſcheinen uns eben ſo wenig genügend behandelt, als die nach der Geſchichte der Aktiengeſetzgebung. Ueber die letztere und die Mängel der Handelsgeſetzbücher ſ. unſer Vereins - weſen S. 63 u. a. Erſte Anregung in Deutſchland von Friedrich Har - kort (über Volksbanken 1851).

2) Der organiſche Unternehmungscredit und die Creditanſtalten.

Während nun das ganze Geſellſchaftsweſen nur noch den einem einzelnen beſtimmten Unternehmen zum Grunde liegenden Credit enthält, wächst das Bedürfniß nach dem Unternehmungscredit zu einem allgemeinen, und die Möglichkeit, für jedes Unternehmen Credit zu gewinnen, wird namentlich in der internationalen Concurrenz eine Be - dingung aller Entwicklung der Volkswirthſchaft. Der Unternehmungs - credit wird daher als ſolcher Gegenſtand von Unternehmungen, ohne ſich auf eine beſtimmte Unternehmung zu beſchränken; der all - gemeine Unternehmungscredit fordert und erzeugt ſeine Organe ſo gut wie der beſondere, und die auf dieſe Weiſe für den Unternehmungs - credit überhaupt gebildeten Geſellſchaften ſind die (eigentlichen) Credit - anſtalten.

Aus dieſer Natur der Funktion der Creditanſtalten folgen nun zunächſt die wirthſchaftlichen Grundſätze, welche für ihre Thätigkeit gelten, und welche als nothwendige Bedingungen der Erfüllung ihrer Aufgabe ſie ſowohl von den Zahlungs - als von den Vorſchußanſtalten ſcheiden.

Zuerſt kann ſie Darlehen geben; allein nur als Discont oder Lombard, um nicht dauernd das Capital zu binden. Dafür aber ſind304 ſie in der Sicht der Wechſel und der Prolongation der Lombards naturgemäß unbeſchränkt, ſo daß ſie nicht bloß eben ſo kurze, ſondern auch lange Wechſel escomptiren; und gerade das letztere iſt das Gebiet, auf welchem das Discontogeſchäft der Creditanſtalten das der Banken erſetzt und erhält, in der Form gleich, im Weſen tief verſchieden.

Zweitens können ſie Immobilien werden, aber nicht als dauern - der Beſitz.

Drittens können ſie ſich an einem Unternehmen in jeder Form, als ſtille und offene Geſellſchafter, oder als Gründer oder Aktionäre betheiligen.

Viertens können ſie ſowohl Güter - als Werthgeſchäfte (Effekten - handel) betreiben.

Das ſind nun die an ſich einfachen Grundſätze für das Recht und die Funktion der Creditanſtalten. Allein gerade durch die letzteren wird ihre Aufgabe ſo umfaſſend, daß ſie, da ſie im Grunde mit den geſammten Unternehmungen zu thun haben, mit keinem eigenen Capi - tale mehr ausreichen. Sie müſſen daher ihrerſeits Credit nehmen. Das geſchieht nun zunächſt in der gewöhnlichen Form des Wechſel - credits. An dieſe aber ſchließt ſich eine zweite. Sie ziehen die für den Augenblick müßigen Capitale der Einzelnen an ſich, theils als Depoſitoren ohne Zins, aber gegen augenblickliche Kündigung theils als Leiher mit Verzinſung, oder gegen Kündigungsfriſt. Mit dieſen Capitalien arbeiten ſie jetzt, in der Mitte des ganzen Geſchäfts - credits ſtehend; und hier nun beginnt die Frage, welche als Lebens - frage für das ganze Creditweſen und die Werthordnung der Volks - wirthſchaft anzuſehen iſt, und namentlich das Verhältniß der Credit - anſtalten zu den Banken ſcheidet.

II. So wie die erſteren nämlich die obige Stellung eingenommen haben, ſo erſcheint ihre Funktion eben ſo groß und wichtig als die der Banken, und die nächſte Folge iſt, daß ſie nun auch daſſelbe Recht für ſich in Anſpruch nehmen, welches das eigentliche Weſen der Bank ausmacht; das iſt das Recht der Notenausgabe.

So lange man nun nicht vollkommen klar iſt über das Weſen der Noten, kann es fraglich ſein, ob dieſe Forderung eine berechtigte iſt oder nicht. Die ſchweren Folgen aber, welche ſich an das wirkliche Notenrecht der Creditanſtalten anſchließen, rufen ernſte Zweifel daran hervor. So entſtehen die zwei Syſteme, welche jedes Volk durch - machen muß, um zu einer definitiven Ordnung ſeines Geld - und Bank - weſens zu gelangen, deren Bewegung die Geſchichte des öffentlichen Creditweſens, und deren Abſchluß die definitive Geſtaltung deſſelben iſt.

Das erſte Syſtem iſt das der freien Banken. Princip deſſelben:305 Recht auf Notenausgabe für jede Creditanſtalt, unter irgend einer Beſtimmung über die Fundation derſelben. Dieſe Noten ſind dann im Unterſchiede von den Banknoten die Creditnoten. Begrün - dung: erſt durch die Note der Creditanſtalt wird die Möglichkeit des Credits auch für die Unternehmung gewährt, die bei dem ſtrengen Banknotenſyſtem nur auf bereits fertige Unternehmungen und ihre wirklich ſchon fälligen Zahlungen beſchränkt wird. Daher iſt ohne das Recht der Creditnoten ein Aufſchwung des Geſammtlebens in einer Zeit nicht möglich, in der daſſelbe ganz auf dem Credit ruht. Da die Creditnote keine Währung hat, ſo iſt es ja Sache jedes Einzelnen, ſie anzunehmen oder nicht anzunehmen. Der Freiheit in dieſer An - nahme muß die Freiheit in der Ausgabe entſprechen. Das und nichts anderes iſt die wahre free trade in banking.

Das zweite Syſtem iſt das einheitliche Bankſyſtem. Das Syſtem erklärt, daß das freie Recht der Notenemiſſion für die Credit - anſtalten unabweisbar verderblich wirken müſſe, indem trotz aller Freiheit in der Annahme die Creditnote wenn auch nicht das Recht, ſo doch die Funktion der Banknote übernehme, und unaufhaltſam als Geld circulire. Auf dieſe Weiſe werde ein Theil des umlaufen - den Geldes ſtets von dem Credit der Banken abhängig; wichtiger aber ſei es, daß damit die Vermehrung und Verminderung der Geldmaſſe von der Emiſſion an Creditnoten abhänge, und daß, da der Preis ſtets von der Geldmaſſe bedingt iſt, das Recht zur Emiſſion der Creditnote die geſammte Preisordnung der Volkswirthſchaft in Gefahr bringe. Die Creditanſtalten ſollen daher unter keiner Bedingung das Recht auf ſelbſtändige Emiſſion haben, ſondern ſollen ſich bei den Banken einen Credit eröffnen, groß genug, um dem ſoliden Unternehmungscredit den ſie vertreten, zu genügen, und den ſie dann mit Banknoten be - friedigen. Trete ein Bedürfniß ein, ſo könne man die Emiſſion der Banknoten vermehren, nie aber die Creditnote als Zahlungsmittel zulaſſen.

Dem theoretiſchen Kampfe dieſer Syſteme ging die praktiſche Er - fahrung zur Seite; da wo die Creditanſtalten das Recht der Emiſſion von Creditnoten bekamen, entſtand allerdings ein plötzlicher gewalt - ſamer Aufſchwung des Unternehmungsgeiſtes; allein die glänzendſten Erfolge des letztern konnten die Natur der Note nicht ändern. Die Creditnote hatte keine Fundation im Capital, ſondern nur im Er - trage deſſelben; ihr Werth hing daher von dem letztern ab, und wo dieſer Ertrag fehlte, trat unfehlbar Werthloſigkeit der Credit - note ein. Die Folge war diejenige Störung des geſammten, auf dieſe Note wenigſtens zum Theil angewieſenen Zahlungsproceſſes inStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 20306der Volkswirthſchaft, welche wir die Handelskriſen nennen. Es war damit kein Zweifel, daß die Nachtheile der Handelskriſen viel größer waren, als die Vortheile der Creditnote. Darüber wurde man ſich allmählig, wenn auch nach heftigen Kämpfen einig, und die Folge war das nunmehr ziemlich feſtſtehende Reſultat, die Zulaſſung der Emiſſion der Creditnoten aufzuheben. Dagegen aber mußte man andererſeits den Creditanſtalten das Recht laſſen, die auf kurze Zeit unbeſchäftigten Capitale an ſich zu ziehen, ohne ihnen doch die Fähig - keit des Umlaufs zu nehmen. Das Mittel dafür war nun der Cre - ditcaſſenſchein, deſſen Weſen es iſt, auf eine beſtimmte Summe (nicht unter 100) zu lauten, feſte Zinſen zu tragen und feſte Kün - digungsfriſt zu enthalten. Zu der Emiſſion ſolcher verzinslichen Kaſſenſcheine ſoll jede Creditanſtalt berechtigt ſein, zu weiteren nicht.

Auf dieſe Weiſe hat ſich nun das Syſtem des Rechts dieſer Credit - anſtalten gerade durch ihr Verhältniß zum Recht des Bankweſens feſt - geſtellt. Seine fundamentalen Grundſätze ſind: Eine Bank, aber ſo viele Creditanſtalten als möglich; Eine Note, oder freie Zulaſſung von Kaſſenſcheinen, ſo daß die Summe der Banknoten das na - türliche Correctiv der Summe der Kaſſenſcheine iſt und blei - ben kann. Das muß die Grundlage der Geſetzgebung im Allgemeinen, und der Statuten der Creditanſtalten im Einzelnen ſein.

III. Die wirkliche Geltung dieſer einfachen Grundſätze iſt nun natürlich auch hier ein Werk der Zeit und der Erfahrung. Wir ſind weder in der Form noch in der Sache damit fertig. Es iſt aber feſt - zuhalten, daß die Schwierigkeit hiefür namentlich auf Einem Punkte liegt. Das iſt das Wort Bank . Da urſprünglich in England alle Creditanſtalten das Recht der Notenausgabe hatten, ſo war es aller - dings natürlich, daß man ſie alle, wie die engliſche Bank ſelbſt, auch Banken nannte, ihre Creditnoten mithin als Banknoten bezeichnete, und dadurch die größte Verwirrung in das poſitive Recht, wie in die Theorie ſelbſt hineinbrachte. Die ſcharfe Unterſcheidung beider hat da - her bis jetzt nicht ſtattgefunden. Dennoch iſt ohne ſie zu keinem defi - nitiven Reſultat zu gelangen. Es ſollte in Theorie und Praxis feſte Uebung werden, das Wort Bank und Note nur von der eigent - lichen Bank, Creditanſtalt oder Verein und Kaſſenſchein nur von den Unternehmungscreditinſtituten zu gebrauchen. Aus dem Obi - gen aber ergibt ſich zunächſt, daß die Grundlage einer richtigen Beur - theilung der thatſächlichen und rechtlichen Zuſtände und namentlich ihre wahre Vergleichung bei den verſchiedenen Völkern nur das Ver - hältniß ſein ſoll, in welchem das eigentliche Bankweſen zur Stel - lung und zum Rechte der Creditanſtalten ſteht.

307

Von dem obigen Standpunkt aus iſt nicht mehr ſchwierig, weder den Charakter der Literatur noch den der poſitiven Geſetzgebung feſtzuſtellen. Was die erſtere betrifft, ſo leidet ſie an der Unklarheit über den Unterſchied zwiſchen Banken und Creditanſtalten, während über die Folgen des Rechts der freien Notenemiſſion durch die letzteren kein Zweifel iſt. Die Sache bei Rau, Volks - wirthſchaftspflege §. 312; dagegen Unklarheit über das Notenweſen §. 247 ff. Hübner nennt alles Banken. Leider ebenſo Röpel, Borgung der deutſchen Banken. Gegen das Notenrecht der Creditanſtalten (auch hier Banken ge - nannt) Hertz, zu Büſch; Moritz Mohl, Bankmanöver, Bankfrage und Kriſis 1858. Der engliſche und nordamerikaniſche Streit über free trade in banking bei Wagner, Beiträge zur Lehre von den Banken 1857, jedoch auch ohne Unterſcheidung; doch in der Sache klar und auf die Bullion theory zurück - kommend: Fullarton: Papiergeld wird in Zahlungen, Noten (er meint Creditnoten) als Darlehen ausgegeben; Wagner S. 64 68. Der Grund der engliſchen Unklarheit in der Bedeutung des Wortes bank und in der falſchen Vorſtellung die Torrens ausſpricht daß Geld in allem beſtehe, was als Umlaufsmittel dient (die ſog. banking discipline); die Sache: Botſchaft des Präſidenten der Vereinigten Staaten von 1858: Es iſt offenbar, daß unſer Mißgeſchick lediglich aus unſerem extravaganten und fehlerhaften Syſtem des Papiergeldes und Bankcredits hervorging namentlich aus dem Recht der 1460 Creditanſtalten in Nordamerika, welche ſich alle Banken nannten und Zettel emittirten. So lange man nicht die obige Unterſcheidung macht, iſt die Diskuſſion endlos.

Führt man nun die Vergleichung des poſitiven Rechts der einzelnen Völker auf die obigen Grundbegriffe zurück, ſo iſt das Reſultat ein einfaches.

England hat dieſelben drei Syſteme ausgebildet, welche in anderer Weiſe in Deutſchland beſtehen. Die engliſche Bank iſt für den reinen Zahlungscredit, neben ihr beſtehen die örtlichen Banken, die in der That nur Creditanſtalten mit Notenrecht ſind, die aber in den meiſten Fällen darauf beruhen, daß ſie die unbeſchäftigten Capitalien als Depoſiten empfangen, ſo daß ihre Depo - ſita ihre Fundation ſind. Eine geſetzliche Vorſchrift über die Fundation beſteht nicht. Die Folge iſt, daß die Gefahr dieſer ſog. Banken in der plötzlichen Kündigung dieſer Depoſita beſteht, welche, wenn ſie mit der Prä - ſentation der Noten zur Einzahlung zuſammentrifft, die Bank ſtürzt. Früher half dann die engliſche Bank, nach der Bank Charter Act nicht mehr, weil die örtliche Bank ihr Privilegium an die engliſche Bank verliert, wenn ſie ſich auflöst. Der Sieg der engliſchen Bank ſeit 1844 iſt daher eine Beſeitigung der Creditinſtitute mit Notenausgabe; dafür aber hat gleichzeitig die Akte von 1833 die geſetzliche Organiſation der neuen engliſchen Creditinſtitute ohne Notenausg〈…〉〈…〉 be begründet; ſie erlaubte allenthalben (auch innerhalb des Bankrayons) [d]urch Geſellſchaften von mehr als ſechs Perſonen Banken zu errichten, aber ohne Noten auf Sicht oder zahlbar in weniger als ſechs Monaten auszugeben (vergl. Schwebemayer Aktengeſchichte Englands, der die Sache erkennt. Stein S. 136). Die Joint Stock Comp. Act von 1844 hat dann dieſe Banken als Aktieninſtitute organiſirt. Das Unorganiſche,308 die zweite Claſſe der Banken mit Noten verſchwindet daher mehr und mehr, und England nähert ſich daher langſam aber ſicher dem franzöſiſch-öſterreichi - ſchen Syſtem.

Frankreich nämlich hatte bis 1848 in ſeiner Banque de France ſeine eigentliche Bank, und in den Provinzbanken ſeine Creditinſtitute. Mit der Einverleibung der letzteren in die Banque de France gingen eigent - lich die Creditanſtalten als ſolche unter; die Umwandlung in Filiale machte ſie aus Anſtalten für den Unternehmungscredit zu Anſtalten für den Zahlungs - credit. Es war daher ganz natürlich, daß der erſtere wieder eines eigenen Inſtitutes bedurfte, und dieß fand er in dem Crédit mobilier (Stat. vom 12. Okt. 1852). Der Crédit mobilier iſt die erſte vollkommen klare Schei - dung des Unternehmungscredits vom Zahlungscredit; er hat Europa eigentlich erſt zum Bewußtſein darüber gebracht, daß der erſtere der Notenemiſſion über - haupt nicht bedarf, die er nicht haben ſoll. Mißverſtanden von Tooke, Hist. of Prices VI. 104. Von ihm aus gehen die großen Capitalunternehmungen, namentlich in Eiſenbahnen; ſeine Gefahr war nicht die Ueberſpekulation, ſondern das verkehrte Urtheil über den Werth der von ihm ausgehenden Aktienunter - nehmungen. In Oeſterreich begriff der geniale Bruck zuerſt die ganze Bedeutung der Sache. Errichtung der Creditanſtalt (1855) als rein für den Unternehmungscredit beſtimmt; neben ihr die nicht minder bedeutſame niederöſterreichiſche Escomptegeſellſchaft, die ſich zwar auf Wechſelcredit, aber nicht mit kurzer Sicht beſchränkte und dadurch innerhalb dieſes Gebiets, ohne ſich bei Aktienunternehmungen zu betheiligen, Unternehmungscredit gibt. In neueſter Zeit Entſtehung einer ganzen Anzahl von Banken alle ohne Notenemiſſion; in der That nur Creditanſtalten. Gemeinſchaftlich iſt dieſen An - ſtalten das Recht der Emiſſion von zinstragenden Kaſſenſcheinen mit feſter Kündigung. So iſt in Oeſterreich das Syſtem der Creditanſtalten am klarſten wohl in der ganzen Welt ausgebildet. Vollſtändige Aufzählung im Compaß, Jahrb. für Handel und Induſtrie 1869; Verordnung vom 28. Okt. 1865 über die den Anſtalten, welche Creditgeſchäfte betreiben, zukommenden Ausnahmen von den allgemeinen Juſtizgeſetzen. Dagegen im übrigen Deutſchland in dieſer Beziehung vollſtändige Verwirrung. Grundlage iſt die Scheidung der Banken vor und nach Brucks Schöpfung. Vor 1854 ſind die verſchiedenen Darlehenskaſſen, Leihanſtalten u. ſ. w. Banken mit Notenausgabe, die aber zugleich Creditanſtalten, ja ſogar Realcreditanſtalten ſind (bayeriſche Hypotheken - und Wechſelbank). Ihr Schutz lag darin, daß überhaupt wenig Geſchäfte von Bedeutung gemacht wurden, und der Grundſatz feſtgehalten ward, daß die Summe ihrer Noten an eine Fundation in Metall gebunden war. Nur Preußen hat ſeine Reichsbank, während ſeine ſieben örtlichen Banken in der That Creditanſtalten, die Noten derſelben Creditnoten mit Bankfundation, die Sicht aber eine Unternehmungs - und keine Zahlungsſicht war. Nach 1854 Entſtehung einer Maſſe von ſog. Banken, die alle, obgleich ſie reine Credit - inſtitute waren, doch Notenausgabe mit den verſchiedenſten Fundationen be - ſaßen (Leipziger, Darmſtädter, Meininger, Deſſauer, Coburger Bank u. ſ. w.; ſ. bei Hübner, Banken). Da ſich nirgends das deutſche Geſchäftsleben con -309 centrirt hat, ſo hat ſich auch keine Kriſis dadurch ergeben. Es iſt eben nur ein unfertiger Zuſtand, den nur die Einheit Deutſchlands auf dieſem wie auf andern Gebieten beſſern kann (vergl. Stein a. a. O. S. 154 ff.).

II. Der Vorſchutzcredit und die geſellſchaftlichen Creditvereine. Wirthſchaftliche und geſellſchaftliche Funktion.

Der Vorſchußcredit entſteht nun, zunächſt nach ſeinem formalen Weſen betrachtet da, wo es ſich um Unternehmungs - und Zahlungs - credit für einen ganz beſtimmten einzelnen Act handelt. Es iſt for - mell die Verbindung beider Arten in demſelben Credit. Denn er wird gegeben, um die Produktion möglich zu machen und rechnet darauf, daß er bei dem Verkauf des ſpeciellen, durch ihn er - worbenen Produkts wieder gezahlt werde. Er iſt daher der Punkt, wo der Geſchäftscredit in den perſönlichen Credit einerſeits und in das Hülfsweſen andererſeits übergeht. Das iſt es, was ſeine eigent - liche Bedeutung und damit auch ſein Recht ausmacht.

Denn vermöge jener Funktion iſt dieß die ſociale Form des Ge - ſchäftscredits, das iſt, diejenige Form, in welcher vermöge des Credits die Erhebung der niederen Claſſe in die höhere durch ſelbſtthätiges Streben des Einzelnen möglich wird. Der Vorſchußcredit hat daher zwei Grundformen, die zugleich ſeine hiſtoriſchen Stadien ausmachen. Die erſte beruht darauf, daß die Regierung die Nothwendigkeit eines Vorſchußcredits erkennt, und denſelben daher als Regierungsmaßregel aus öffentlichen Mitteln anordnet. Es iſt natürlich, daß dieſe Form alsbald in das öffentliche Hülfsweſen fällt, und faktiſch den Charakter der Armenunterſtützung annimmt. Die zweite Epoche dagegen entſteht erſt aus dem Gegenſatz der beſitzenden und nichtbeſitzenden Claſſe. Seine Aufgabe wird hier nicht damit erſchöpft, daß er dem Einzelnen einen helfenden Credit gebe, ſondern beſteht vielmehr darin, die Ver - leihung des zur Produktion nöthigen Credits zu einer allgemeinen An - gelegenheit zu machen. Die Form, in der dieß geſchieht, iſt der Ver - ein. Und ſo verwirklicht ſich der geſellſchaftliche Vorſchußcredit in einem Vorſchußvereinsweſen.

Das Vorſchußvereinsweſen nimmt nun die Elemente alles Credit - vereinweſens in ſich auf, verarbeitet ſich aber vermöge ſeines eigenthüm - lichen Lebensprincips in ſeiner Weiſe. Dieſes Lebensprincip iſt die Gegenſeitigkeit. Sie iſt auf allen Punkten das bildende Element im Vorſchußverein. Zuerſt bringt ſie das nöthige Capital durch Beiträge der Einzelnen auf und wirkt ſo über den Credit hinaus capitalbildend für jeden einzelnen Theilnehmer. Dann erzeugt ſie,310 da das auf dieſe Weiſe gebildete Capital nicht zureicht, den Credit durch das große Princip der gegenſeitigen Haftung für den Credit eines jeden Theilnehmers; dieſe gegenſeitige Haftung aber erzeugt wieder die möglichſt große Theilnahme an der Thätigkeit des Creditvereins ſelbſt; die Mitglieder verwalten ihre Angelegenheiten ſelber, ſtatt die Verwaltung einem Vorſtand zu übertragen. Durch dieſe Theilnahme entſteht weiter der Grundſatz, daß überhaupt die Vorausſetzung der - ſelben ein gewiſſes Maß der gegenſeitigen Achtung enthalte; damit greifen ſie über das rein wirthſchaftliche Gebiet hinaus und werden ein allgemeines Bildungselement für die vorwärtsſtrebende Claſſe. Und ſo müſſen ſie in jeder Weiſe als ein höchſt bedeutſames und heilſames Element angeſehen werden.

Ihr öffentliches Recht aber liegt dem Obigen gemäß zunächſt ein - fach im Vereinsrecht, in welchem ſie ihre beſondere Stelle einnehmen. Dann aber hatte zweitens das Handelsgeſetzbuch die Aufgabe, ihre Creditfähigkeit, welche weſentlich auf der Gegenſeitigkeit beruht, durch genaue Entwicklung der ſolidariſchen Haft und ihres Rechts fort - zubilden, was erſt in neueſter Zeit theilweiſe geſchehen iſt. So wie dieſe feſtſteht, wird ſich daran als Schlußpunkt der weitere Grundſatz ſchließen, daß auch dieſe Vereine Vorſchußſcheine auf Grundlage ihres feſten Capitals ausgeben dürfen; mit dieſen Vorſchußſcheinen wird dann die Nothwendigkeit einer Gemeinſamkeit des ganzen Vorſchuß - vereinsweſens, die bisher nur theoretiſch exiſtirt, praktiſch werden, und dann erſt wird das Vorſchußvereinsweſen ſeine ganze wirthſchaftliche ſowohl als geſellſchaftliche Bedeutung empfangen.

Die Literatur für das Vorſchußvereinsweſen iſt ſehr gering, aber ſelb - ſtändig. In der alten Polizeiwiſſenſchaft erſcheinen ſie gar nicht. In der neueren Volkswirthſchaftspflege werden ſie, wie bei Rau, mit dem Syſtem der Leihbanken verſchmolzen. Den Anſtoß zur ſelbſtändigen Bildung und Beſprechung gab, auf Grundlage der Proudhonſchen Idee der Banque du Peuple, aber praktiſch und ausführbar, Schulze-Delitzſch, (Vorſchuß - und Creditvereine als Volks - banken. 1. Aufl. 1855). Die daraus entſtehende Bewegung hat nun die Geſetz - gebung hervorgerufen, die übrigens faſt nur noch die privatrechtliche Seite im Auge hat. Das engliſche Geſetz Act relating to Industrial and Pro - vident Societies (1862) ſtellt (als Fortſchritt gegenüber der Akte von 1852) die Begünſtigungen ſolcher Vereine auf: Steuerbefreiung, Schiedsgericht und Verpflichtung jedes Mitgliedes durch Geſellſchaftsbeſchluß. Das franzö - ſiſche Geſetz vom 24. Juli 1867 sur les sociétés bezieht ſich eigentlich nur auf das Recht der Einlagen (T. III. Soc. à Capital variable). Die deutſche Geſetzgebung gewinnt erſt eine feſte Geſtalt durch das Geſetz vom 4. Juli 1868 (privatliche Stellung der Erwerbs - und Wirthſchaftsgenoſſenſchaften; dazu das ſächſiſche Geſetz vom 15. Juni 1868, die juriſtiſchen Perſönlichkeiten betreffend)311 haben das Creditweſen nur indirekt berührt. Schultze-Delitzſch, Geſetz - gebung über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs - und Wirthſchafts - genoſſenſchaften 1869; Parrhiſius, Commentar zum Geſetz vom 4. Juli. Als Theil des geſammten Vereinsweſens aufgefaßt; hiſtoriſch und rechtlich, nebſt Material: Gierke, Genoſſenſchaftsweſen 1869. Syſtematiſch Stein, Syſtem des Vereinsweſens und Vereinsrechts 1869, S. 166 ff.

Beſonderer Theil der Volkswirthſchaftspflege.

Begriff deſſelben und Princip ſeiner Verwaltung.

Während nun der allgemeine Theil der Volkswirthſchaftspflege es mit denjenigen Verhältniſſen zu thun hat, welche die Bedingung für jeden Theil der Volkswirthſchaft ohne Rückſicht auf ſein Capital bilden, entſteht der beſondere Theil, indem die einzelnen Arten der Unterneh - mungen theils durch die beſondere Natur ihres Capitals, theils durch die ihrer Arbeit, beſondere Bedingungen ihrer Entwicklung fordern, die ſich der Einzelne nicht ſelbſt ſchaffen kann.

Das Syſtem dieſes beſondern Theiles liegt daher nicht, wie das des allgemeinen, in einem organiſchen Begriffe, ſondern in der that - ſächlichen Verſchiedenheit der Capitals - und Arbeitsverhältniſſe. Dar - nach ſcheiden wir die Urproduktion, Forſtwirthſchaft, Jagd, Fiſcherei, Landwirthſchaft, Gewerbe, Induſtrie, Handel und geiſtige Produktion. Jedes dieſer Gebiete iſt ein ſelbſtändiger Theil der beſonderen Volks - wirthſchaftspflege; jeder hat ſein eigenes Recht, ſeine eigenen Aufgaben und ſeine eigenen Geſchäfte, und in ihnen iſt der zweite Theil der Verwaltung vollſtändig.

Daneben aber haben ſie trotz ihrer Verſchiedenheit die großen allgemeinen Grundlagen ihrer Entwicklung gemein. Dieſe Grund - lage iſt die Auffaſſung des Staats von demjenigen, was er in Bezie - hung auf die Volkswirthſchaft ſeinerſeits zu thun habe. Dieſe Auf - faſſung wieder beſtimmt ſich hiſtoriſch nicht nach dem wirthſchaftlichen Weſen jener einzelnen Gebiete, ſondern vielmehr auch hier durch das große Element aller ſtaatlichen Entwicklung, die geſellſchaftliche Ord - nung und ihre Kämpfe und Grundſätze. Sie ſind es, welche das Princip der Volkswirthſchaftspflege für jene einzelnen Gebiete abgeben, an das ſich dann das ſpecielle Recht derſelben als Ausführung der ge - gebenen Verhältniſſe anſchließt. Es iſt daher nothwendig, dieſe Ele - mente als die allgemeine Grundlage für jeden beſonderen Theil feſt - zuſtellen.

Das ganze Gebiet der hierher gehörigen Literatur hat zwei Hauptrichtungen, die ſich ſchon im vorigen Jahrhundert trennen. Die erſte iſt die volkswirth -312 ſchaftliche, welche jedoch vermöge ihres Gegenſtandes vorzüglich das tech - niſche Element vertritt, und ſo das ganze Gebiet erzeugt, das wir die Cameral - wiſſenſchaft nennen, deren letzter bedeutender Vertreter Baumſtark iſt. Die zweite iſt die juriſtiſche, welche ihrerſeits an den Begriff der Regalität und vermöge deſſelben theils im deutſchen Privatrecht auftritt, theils zu ſelb - ſtändigen Arbeiten wird. Daneben hat die Polizeiwiſſenſchaft ſchon ſeit dem vorigen Jahrhundert verſucht, ein Syſtem in dieſe Gebiete hineinzubringen, und ſie vom Standpunkte der Verwaltung aufzufaſſen, wobei Berg an der Spitze ſteht; Mohl hat den Gedanken formeller ausgeführt, Rau dagegen bleibt bei dem vorwiegend nationalökonomiſchen Standpunkt.

Elemente der Rechtsgeſchichte des beſondern Theils der volkswirthſchaftlichen Verwaltung.

Es iſt klar, daß die Epoche der Geſchlechterordnung, die überhaupt neben ihrer ſpecifiſchen Rechtspflege und Polizei noch keine innere Ver - waltung kennt, auch noch kein Recht der einzelnen Arten der volks - wirthſchaftlichen Verwaltung beſitzen kann. Die großen wirthſchaftlichen Erwerbsformen ſind noch weder ausgebildet, noch zum Bewußtſein ge - bracht; ſie ſind weder frei noch unfrei; ſie ſind eben Sache des Ein - zelnen, und eben deßhalb ohne öffentliches Recht.

Dieß öffentliche Recht kann daher erſt da entſtehen, wo jene Er - werbsformen zu ſelbſtthätigen Faktoren des Geſammtlebens werden, indem ſie in die geſellſchaftliche Ordnung als mitwirkende Potenzen eintreten. Damit erſt empfangen ſie Geſtalt und Recht; und dafür unterſcheiden wir drei Epochen, deren öffentliche Principien dem ge - ſammten wirthſchaftlichen Leben gemeinſam ſind.

Die erſte Epoche iſt die der ſtändiſchen Geſellſchaft. In ihr verliert jede Art der Unternehmung den individuellen Charakter der Geſchlechterzeit; ſie nimmt, als Trägerin der neuen Geſtalt des Beſitzes und Erwerbes die große Form der neuen geſellſchaftlichen Ordnung an, und verbindet die ihr angehörigen Wirthſchaften zu ſelbſtändigen Corporationen. Das iſt die Epoche, in welche die corporative Ge - ſtalt der Selbſtverwaltung das öffentliche Recht des beſonderen Theiles der Volkswirthſchaft bildet. Ihr Charakter iſt die mit dem Weſen der Corporation verbundene ſtrenge Ordnung, aber auch die ſtändiſche Unfreiheit. Sie kann den Erwerb entſtehen laſſen und erhalten, aber ſie kann ihn nicht fortbilden.

Die zweite Epoche iſt die, wo die im Königthum und ſeiner Re - gierung vertretene perſönliche Staatsidee ſich die ſtändiſche Selbſtändig - keit unterwirft. Wir nennen ſie in Beziehung auf die Verwaltung die polizeiliche Epoche. Die polizeiliche Epoche bricht nun auch das313 corporative Recht der Erwerbsarten. Sie ſetzt an ſeine Stelle theils das Gefühl und das Beſtreben, durch poſitive Maßregeln alle dieſe Gebiete der Volkswirthſchaft zu fördern, theils aber glaubt ſie auch, die wahren Bedürfniſſe derſelben am beſten zu kennen, und erſchöpft ſich daher in bevormundenden Vorſchriften. Um dieſe zur Geltung zu bringen, muß ſie ihre Berechtigung an die Stelle des corporativen Rechts ſetzen; die Form daher iſt das Privilegium; und ſo iſt dieſe Epoche vor allem die des privilegirten Erwerbsrechts. Der Charakter deſſelben iſt die Herſtellung der Freiheit des Erwerbs im Einzelnen, dafür aber auch die Beſeitigung des Princips der Selbſt - verwaltung. Es iſt die Epoche, wo die großen Erwerbsgeſetz - gebungen aller Art beginnen, wo aber mehr das Streben nach eudä - moniſtiſcher Fürſorge durch die Regierung als die perſönliche Tüchtig - keit und als die Grundlage der ganzen Entwicklung angeſehen wird. So bildet auch hier dieſe Epoche, die bis in unſer Jahrhundert hinein - reicht, den Uebergang zu der folgenden Epoche.

Die dritte Epoche iſt die ſtaatsbürgerliche, welche eine neue Geſtalt auch in dieſes Gebiet der Verwaltung bringt. Ihr erſtes großes Princip iſt das der individuellen Freiheit, im Erwerbe wie auf andern Gebieten. Sie ſetzt daher zuerſt an die Stelle der Cor - porationsrechte und der Privilegien die freie Beſtimmung und Aus - übung jedes Gewerbes. Allein in ihr iſt der Staat mit ſeiner Re - gierung zugleich der Träger des höchſten allgemeinen Intereſſes. In dieſem Sinne erkennt er den Werth der möglichſten Entwicklung aller Erwerbsarten. Daraus entſteht das zweite Princip ſeiner Thätig - keit, das Streben, jedem einzelnen Zweige des Erwerbs die beſondern Bedingungen ſeiner Entwicklung ſo weit zu geben, als derſelbe ſie ſich nicht ſelbſt zu ſchaffen vermag. Eben daraus folgt nun das, was den Charakter der äußeren Form der volkswirthſchaftlichen Verwaltung in dieſer Epoche unſerer Gegenwart bildet. Geſetzgebung und Voll - ziehung theilen ſich in die Aufgabe. Die Intereſſen der Erwerbs - formen werden der polizeilichen Verordnungsgewalt entzogen und zum Gegenſtand ſelbſtändiger Geſetze auf Grundlage ſelbſtändiger Freiheit des Einzelnen. Grundlage iſt dabei das Streben, an die Stelle der früheren Vorſchriften über die Produktion ein Syſtem von Special - bildungsanſtalten zu ſetzen, und die erſten auf die innere Sicher - heitspolizei zu beſchränken. Die eigentliche Regierung ihrerſeits bildet ſich für die Vollziehung dieſer Aufgabe des Staats jetzt eigene nach den Haupterwerbsformen organiſirte ſelbſtändige Miniſterien mit eigenen Sektionen; die Selbſtändigkeit jener Erwerbsformen aber empfängt ihren frei arbeitenden Organismus in dem von der corporativen314 Beſchränkung befreiten Vereinsweſen für alle Arten der Unter - nehmungen, und hier iſt das Gebiet, wo ſich eigentlich die Unter - nehmungs - und die Intereſſenvereine am deutlichſten in Be - griff und Funktion ſcheiden, eine Wirkſamkeit enthaltend, die allmählig nicht bloß eine großartige und heilſame wird, ſondern auch im richti - gen Verſtändniß der wahren Bedürfniſſe in das ſociale Gebiet hinein - reicht. Zugleich bildet ſich die rationelle Güterlehre einerſeits, und die Betriebstechnik andererſeits immer weiter aus, und ihr weſent - liches Ergebniß iſt, daß ſie die Gränze feſtſtellen, wo ſtatt der öffent - lichen Rechtsbeſtimmungen und Maßregeln die organiſchen und die techniſchen Geſetze der Produktion allein zu herrſchen beſtimmt ſind. Und ſo beginnt mit der Mitte unſeres Jahrhunderts in Wahrheit die Epoche der wirklichen Verwaltung des Erwerbes, deren einzelne Theile viel zu reich ſind, um hier erſchöpft werden zu können, deren Haupt - gebiete aber folgende ſind.

I. Das Bergweſen und ſein öffentliches Recht.
Begriff und Princip.

Die Urproduktion iſt im wirthſchaftlichen Sinne diejenige Produk - tion, welche durch ihre Arbeit den natürlichen Stoff von der Erde trennt, und ihn dadurch zu einem Erzeugniß und einem Gute macht. Die darauf gerichtete Unternehmung iſt der Bergbau.

Der Bergbau iſt zunächſt eine Unternehmung wie jede andere, und ſteht daher unter den allgemeinen Geſetzen der Produktion und der Produktivität. Seine Technik iſt die Lehre vom Bergbau. Er iſt daher zunächſt Sache des Einzelnen. Allein er bildet mit Stoff und Arbeit einen ſo weſentlichen Faktor des geſammten wirthſchaftlichen Lebens, daß er, ſowie die allgemeine Produktion ſich entwickelt, ſofort eine ſelbſtändige öffentliche Bedeutung empfängt, die ſich als ein eigenes Rechtsgebiet zur Geltung bringt. Das letztere beruht nun auf den Punkten, mit denen derſelbe über die Gränze der Einzelwirthſchaft hinausgreift.

Zuerſt iſt bei allem Reichthum die Maſſe des Urprodukts eine begränzte, und dennoch für das Ganze abſolut nothwendig. Aus dem erſten Moment folgt das allgemeine Intereſſe daran, daß die Produk - tion eine rationelle ſei; aus dem zweiten die Forderung, daß ſie nicht durch Einzelrechte an Grund und Boden unmöglich gemacht werde. Zweitens iſt das Anlage - und Betriebscapital ſo groß, daß ihm nur das Princip der Erwerbsgeſellſchaft genügen kann, das ein genügendes Vereinsrecht vorausſetzt. Drittens endlich iſt der Betrieb ſeiner Natur315 nach mit eigenthümlichen Gefahren für die Arbeit verbunden, welche im Sonderintereſſe der Unternehmer nur zu leicht unberückſichtigt bleiben. Das Geſammtintereſſe fordert daher eine öffentlich rechtliche Ordnung und Verwaltung dieſer Punkte, und die Geſammtheit der darauf be - züglichen Beſtimmungen bildet das Bergweſen.

Das Bergweſen iſt daher die öffentlich rechtliche Ordnung des Bergbaus, durch welche das Sonderintereſſe und Recht der einzelnen Betheiligten dem allgemeinen Intereſſe untergeordnet wird. Er hat daher dieſelben hiſtoriſchen Bildungsepochen durchgemacht, wie die übri - gen Gebiete, bis es mit unſerer Zeit hier wie immer ſeine feſte Ge - ſtaltung im Bergrecht empfangen hat.

Die reiche Literatur über das Bergweſen hat drei Richtungen, die tech - niſche, die wirthſchaftliche und die juriſtiſche, von denen die letztere bei weitem die entwickeltſte iſt, da ſich in ihr in der That die ganze Lehre vom Bergweſen in rechtlicher Form zuſammenfaßt. Dieſelbe begleitet daher auch die Rechts - bildung, die gerade hier von großem Intereſſe iſt.

Elemente der Geſchichte des Bergweſens.

Die Geſchlechteordnung kennt noch kein vom Grundbeſitz geſchie - denes eigenes Bergrecht. Daſſelbe entſteht erſt da, wo der Bergbau zu einer ſelbſtändigen Unternehmung wird, und daher die Frage auftritt, ob das Privateigenthum berechtigt ſein ſolle, ein ſolches Unternehmen vom eigenen Grund und Boden auszuſchließen. Ein Aufheben dieſer Berechtigung war offenbar für die ganze Volkswirthſchaft unabweisbar nothwendig, aber ſie konnte nur vom Oberhaupt verliehen werden. Dieſe Verleihung iſt die Freierklärung des Bergbaues, welche als Beginn des öffentlichen Rechts deſſelben angeſehen werden muß (drei - zehntes Jahrhundert). Aus dieſem Entwährungsrecht der Krone fol - gerte nun die öffentliche Jurisprudenz die Regalität, und zwar mit ihrem doppelten, bis zu unſerem Jahrhundert nicht zum klaren Be - wußtſein gelangenden Inhalt, das Princip eines Obereigenthums an den Urprodukten, und dem Princip der Oberaufſicht über den wirklichen Betrieb. Aus dem erſten ging der Gedanke hervor, daß das Recht auf den Beginn des Bergbaues einer förmlichen Belehnung bedürfe, wobei es fraglich war, wer ſie zu geben habe, der Kaiſer oder der Landesherr. Aus dem zweiten entſteht der Grundſatz der Beſtä - tigung der rechtlichen Ordnungen, welche ſich durch die Natur des Bergbaues von ſelbſt gebildet hatten und alle Verhältniſſe deſſelben umfaßten und ordneten. Das iſt der Inhalt der ſtändiſchen Epoche des Bergweſens, in welcher jede ſolche Unternehmung noch als ſelb - ſtändige Corporation mit eigener corporativer Rechtsbildung auftritt. 316Im achtzehnten Jahrhundert beginnt dann das Bewußtſein zur Gel - tung zu kommen, daß der Bergbau ein Element des geſammten volks - wirthſchaftlichen Lebens ſei, und daß daher der Regierung die Aufſicht zuſtehe, daß ſolches Regal geſetzmäßig und zum Nutzen des Publici verwaltet werde (Magdeburger Bergordnung von 1772. C. 1. §. 5), daher denn Errichtung eigener Verwaltungsbehörden, principielle Durch - führung der Polizei, Auftreten des Kampfes gegen den Raubbau u. a. Aus dieſer Epoche gehen nun die neuen Bergordnungen des ſieben - zehnten und achtzehnten Jahrhunderts hervor, an die ſich die neue Wiſſenſchaft des Bergrechts anſchließt, die jedoch noch immer auf der Verſchmelzung der beiden Elemente der Regalität beruht. Sie erſcheint theils in eigenen größeren Werken, theils als Theil des deut - ſchen Privatrechts und ſelbſt des Staatsrechts. Erſt mit unſerem Jahr - hundert beginnt nun die Epoche, in welcher die Freiheit des Bergbaues mit den volkswirthſchaftlichen Anforderungen verbunden, und das Ganze zugleich als ein Theil der Verwaltung anerkannt wird. So entſteht das Syſtem der Verwaltung des Bergweſens, das künftig einen organiſchen Theil des Verwaltungsrechts bilden wird.

In Deutſchland, der Heimath des europäiſchen Bergweſens, eben ſo reiche Literatur als Geſetzgebung. Einerſeits als Theil der Rechtslehre: öffentliches Recht; alte Staatsrechtslehrer; vergl. Klüber, öffentliches Recht §. 446 ff. Dann als Theil des deutſchen Privatrechts, gleichfalls ſeit dem vorigen Jahrhundert Runde §. 161 163; ſehr reichhaltig Mittermaier I. 241 ff. ; dann in der Cameralwiſſenſchaft namentlich Fiſcher, Cameral - und Polizeirecht II. 813 ff. 1255 ff. ; juriſtiſch: Baumſtark, Encyclopädie §. 83 und 431. 402; techniſch, in der Polizeiwiſſenſchaft beſonders Berg, Deutſches Polizeirecht Bd. III. S. 384 ff. (rationeller Standpunkt). Dann in ſelbſtändigen Sammlungen: Hauptwerk Wagner, Corpus jur. metallici 1791; dann eine Menge juriſtiſcher Unterſuchungen (vergl. bei Berg und Mitter - maier); ſelbſtändige Arbeiten Cancrin, teutſches Berg - und Salzrecht; Beyer, Bergrechtslehre. Literatur: Pütter, Liter. III. 621; Klüber, Liter. §. 1382 ff. beſonders Karſten, Grundriß der deutſchen Bergrechtslehre. Geſetzgebung: Bergordnungen ſeit dem zwölften Jahrhundert; Bergrecht des Königs Wenzel von 1295; Wagner, Corpus jur. met. p. XX. (Mittermaier §. 241); Kampf über die Belehnungen, Meyer, Geſchichte des teutſchen Bergrechts. Sachſen - ſpiegel I. 35. Aeltere Bergordnungen, als corporatives Recht, bereits ſeit dem elften Jahrhundert. Gmelin, Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Bergweſens 1783. (Iglauer Bergordnung 1086 93; Klotz, Geſchichte §. XII). Dann die eigentlichen Bergordnungen der Regierung ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert, reichlicher im ſiebzehnten. Muſter: die Joachimsthaler Berg - ordnung von 1584; darnach die folgenden: Mittermaier §. 242; Fiſcher II. 814. Daraus ergibt ſich der formale Charakter der ganzen Bergrechts - geſetzgebung: örtliche Entſtehung auf Grundlage gemeinſamer Prin -317 cipien. Preußiſches Bergrecht, bisheriges Syſtem deſſelben: das Berg - recht hier als Theil des allgem. preuß. Landrechts II. 14; daneben die ört - lichen, provinziellen Bergrechte; weſentlicher Unterſchied der früheren von den Geſetzen unſeres Jahrhunderts; größere Freiheit der Unternehmung gegen - über dem ſtreng entwickelten Behördenſyſtem und genaue Aufzeichnung des Eigenthumsrechts. (Geſetz vom 12. Mai 1831 und vom 21. Mai 1860.) Rönne, preuß. Staatsrecht II. 384 nebſt der reichen preuß. Literatur. Dieſes Syſtem iſt nun durch das neue Berggeſetz vom 24. Juni 1865 aufgehoben, ein einheitliches Bergrecht, weſentlich wie das öſterreichiſche, an ſeine Stelle geſetzt, und das Provinzialrecht nur noch in einzelnen Punkten zugelaſſen. Naſſauiſche Bergordnung von 1857. Bayern: vier verſchiedene Berg - ordnungen (Pötzl, Verwaltungsrecht S. 209); die eigentlich kurbayeriſche Berg - ordnung von 1784. Oeſterreich dagegen unter Aufhebung aller örtlichen Rechte Einführung des großen Berggeſetzes vom 23. Mai 1854 nebſt den ſehr wichtigen Vollzugsverordnungen. Manzſche Geſetzausgabe Bd. V. Das franzöſiſche Bergrecht beruht auf dem Principe der Regalität bis zur Revolu - tion. Kurze Geſchichte: Laferrière, Droit publ. et adm. I. Liv. I. P. I. T. VII. Beſchluß der Assemblée nationale von 1791: Recht der Nation auf alle Urprodukte. Darauf Hauptgeſetz vom 21. April 1810 (Grundlage der Gedanke des Code Civ. art. 552); Organiſation der Oberaufſicht (Geſetz vom 27. April 1838); Ausdehnung auf Salz, Mineralquellen und Salzbrunnen (Geſetz vom 17. Juni 1840); die ganze Geſetzgebung iſt (trotz Rönne §. 385) doch nichts als eine Formulirung der deutſchen Grundſätze, die weder Villefort du Heron (de la richesse minérale 1810 19 und Etat actuel de la legislat. sur les mines 1816) noch Dunoyer, Liberté du travail 1840 gehörig kannten. Mittermaier a. a. O. mit Literatur; Rau I. §. 38. Oeſterreich: Exegeſen des Bergrechts von Hingenau, Handbuch von 1856 und Wenzel, Hand - buch 1855.

Syſtem des Bergrechts.

Das Syſtem des Bergrechts enthält nun die Geſammtheit der Be - ſtimmungen des öffentlichen Rechts über das Bergweſen, welche das Geſammtintereſſe in dieſem Zweige der Produktion zur Geltung bringen. Seine weſentlichen Punkte ſind folgende.

I. Der Organismus des Bergweſens ſcheidet ſich in zwei Ge - biete. Das erſte iſt die Organiſation der Bergbehörden, welche die Oberaufſicht des Staats ausüben, und die erſt mit unſerem Jahrhundert ſich von den Finanzbehörden getrennt haben. Das zweite iſt das des Vereinsweſens. Das Bergrecht entſteht überhaupt erſt in Deutſch - land mit den Gewerkſchaften, der ſtändiſchen Form der Erwerbs - geſellſchaften, von deren Rechte ſich in dem Kuxenweſen noch ganz un - motivirte Ueberreſte erhalten haben. An ihre Stelle treten jetzt die Aktiengeſellſchaften, und mit ihnen das Recht des Vereinsweſens, welches318 bis auf einen Punkt (Zahl der Kuxe und Beſchränkung der Ueberlaſſung der Antheile) ganz das Gewerkſchaftsrecht enthält.

Die höchſte Leitung unter dem Finanzminiſterium mit örtlichen Berg - behörden (Berghauptmannſchaften ꝛc.) Preußen: Rönne II. 227. Neue Or - ganiſirung im Berggeſetz von 1865. T. VIII. Oeſterreich: Grundlage der Unterſchied von Bergämtern und Berggerichten (Einführungspatent vom 25. Mai 1854 und Organ. Patent Art. VII. und Organ. Patent vom 13. Sept. 1858). Frankreich: Conseil des mines als oberſte Behörde und Ingenieurs des mines. Block, Dict. v. Mines.

II. Das Erwerbs - und Eigenthumsrecht beruht auf dem Gedanken, daß das Eigenthum an unterirdiſchen Gütern ein von dem der Oberfläche unabhängiges ſei, und daher ein eigenes Syſtem des Erwerbes und Beſitzes habe. Das iſt eigentlich das Princip der Re - galität. Daher das Syſtem dieſes Erwerbes und Beſitzes ein Haupt - theil der Berggeſetzgebung. Es beruht auf dem Recht eines Jeden, auch auf fremdem Grund und Boden Minerale zu ſuchen, wozu die Bewilligung (als Form der Enteignung) ertheilt wird, der Schür - fung, welche das Beſitzrecht gibt, den Freiſchurf, aus welchem durch die Belehnung das Eigenthum wird, für welche ein Grund - buch eingerichtet wird. Dieſe Rechtsverhältniſſe bilden dann das Berg - recht im eigentlichen Sinne.

Ueber das Vereinsrecht in ſeiner Anwendung auf den Bergbau ſ. ſyſte - matiſch Stein, Vereinsrecht S. 74; hiſtoriſch Gierke, Genoſſenſchaften S. 965 ff. Das übrige Recht in den Bergordnungen. Der franzöſiſche Grundgedanke, daß jedes Eigenthum des Grundes das Schürfrecht habe, daſſelbe aber durch Con - ceſſion auch für andere erworben werden könne, iſt nichts als eine andere Form des deutſchen Gedankens. Es wäre am beſten, die Regalität ganz aus der Terminologie wegzulaſſen; die Beſtimmung der Metalle und Erden, für welche das Schürfrecht gegeben werden kann, bedeutet in der That nicht Re - galität, ſondern kann nur die Bezeichnung der Objekte ſein, für welche das Enteignungsverfahren der Schürfbewilligung eintritt. Die Ablieferungspflicht der edlen Metalle mit Recht in Oeſterreich aufgehoben 1856. Sehr nachahmens - werth die franzöſiſche Ertheilung des Geſetzes von 1810 in Minières, Carrières und Tourbières, welche viele Unklarheiten des deutſchen Rechts beſeitigen würde.

III. Das beſondere Recht der Arbeiterverhältniſſe beim Bergbau beruht nun theils auf dem alten ſtändiſchen Rechte der Knapp - ſchaften, theils auf der Natur des Bergbaues. Die erſteren ſind faſt verſchwunden. Nur iſt polizeilich eine gewiſſe Organiſation des Arbeiterweſens vorgeſchrieben (Steiger, Oberſteiger, Schichtmeiſter u. ſ. w.) und die Verpflichtung zu gegenſeitigen Hülfsvereinen in den Bundes - landen zum Geſetz geworden; jedoch nur im deutſchen Bergrecht.

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Oeſterreichiſches Berggeſetz §. 210 214. Preußiſches Geſetz vom 10. April 1854 (Bruderlade und Knappſchafts-Kaſſen und - Vereine; in Preußen aus - gedehnt auf die Metallproduktion. Wiederholt im Berggeſetz von 1865 T. VII. Die Entwicklung des Verſicherungsweſens macht das mehr und mehr überflüſſig.

IV. Die Theilnahme der Staatsverwaltung an dem wirk - lichen Betrieb als Ausübung der Oberaufſicht, im vorigen Jahrhundert ſtark ausgebildet, iſt mit unſerem Jahrhundert auf die feſte Gränze der Ausführung der beſtehenden Vorſchriften über die Betriebspolizei zurückgeführt, die ſich wieder in die Sicherheitspolizei und die Vorſchriften über Raubbau beſchränkt. Die Thätigkeit der Behörden iſt jetzt vorwiegend eine richterliche; die direkte Unterſtützung der früheren Zeit (Holzlieferung, Darlehenscaſſen, Vorrechte) iſt ver - ſchwunden.

Vergl. für frühere Zeit Berg, Polizeirecht III. S. 384 ff. Preußen: Beſeitigung des Direktionsprincips der alten Bergordnung durch Geſetz vom 21. Mai 1860; Freiheit des Betriebes und Freizügigkeit der Bergleute (vergl. Rönne VI. §. 384). Dagegen Aufhebung der alten Berggerichtsbarkeit, der Oberbergämter und Uebergang an die ordentlichen Gerichte (Verordnung vom 26. Dec. 1808. Rönne §. 259). Neues Berggeſetz von 1865 T. VIII. Berg - behörden und T. XI Bergpolizei. In Oeſterreich iſt ein ſolches Princip nie vorhanden geweſen. Organiſation der Berggerichte (mit ſachkundigen Bei - ſitzern). Einf. Patent Art. VII. Manzſche Geſetze S. 13 ff. Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 17. In Frankreich iſt das Recht der Ingenieurs ſehr allgemein gehalten und gering (vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 38).

V. Der wichtigſte Theil der Sorge des Staats für den Bergbau ſind nun die unſerem Jahrhundert angehörigen Fachſchulen. Das deutſche Princip iſt, daß die darin gebotene Bildung die öffentlich recht - liche Bedingung für die Leitung des Betriebes ſein ſoll; die fran - zöſiſche Fachbildung iſt nur für die Behörde geltend.

Ueber das deutſche Berufsbildungsweſen vergl. Stein, Bildungsweſen S. 261 ff., über die Ecole des mines ebend. S. 316. Preußen: Organiſation des Bildungs - und Prüſungsweſens (Reglement vom 31. Dec. 1863). Rönne II. 293. Oeſterreich: Organiſation der montaniſtiſchen Lehranſtalten (Ver - ordnung vom 25. März 1851; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 412).

II. Das Forſtweſen.
Begriff und Princip.

Das Forſtweſen hat einen anderen Charakter als das Bergweſen. Es wird daher vor allem nöthig, hier die Grundbegriffe feſtzuſtellen.

Jede Waldung iſt zuerſt ein Capital wie ein anderes, und unter - liegt daher den allgemeinen Geſetzen und Rechten der Privatwirthſchaft. 320Aber es liegt im Weſen der Forſte, daß ſie mit ihrem Beſtand als Bedingung der allgemeinen Produktion, alſo als Gegenſtand des all - gemeinen Intereſſes anerkannt werden. Die Nachweiſung dieſes im Allgemeinen unbezweifelten Satzes hat die Volkswirthſchaftslehre ge - liefert. Dieſes allgemeine Intereſſe faßt ſich nun zuſammen in dem Grundſatz der dauernden Erhaltung und Produktion des Waldcapitals. Und nun nennen wir diejenigen Grundſätze, nach denen die Bewirth - ſchaftung der Forſte in jenem öffentlichen Intereſſe auf die dauernde Erhaltung des Capitals und ſeiner regelmäßigen Produktion berechnet iſt, im eigentlichen Sinne die Forſtwirthſchaft.

Die Geltung der wirthſchaftlichen Grundſätze einer ſolchen eigent - lichen Forſtwirthſchaft für jede Bewirthſchaftung von Waldungen er - ſcheint daher als eine Forderung des Geſammtintereſſes der Volks - wirthſchaft an jeden einzelnen Beſitzer, gleichviel ob es der Staat oder ein Einzelner iſt. Inhalt und Unabweisbarkeit dieſer Forderung kommt nun dem Geſammtleben mit der ſteigenden Geſittung zum Be - wußtſein, und aus dieſem Bewußtſein geht dann der Grundſatz hervor, daß es Aufgabe des Staats und ſeiner Verwaltung ſei, jene Forde - rung zur geſetzlichen Geltung und Durchführung zu bringen. Und die Geſammtheit der Geſetze, Vorſchriften und Anſtalten, welche auf dieſe Weiſe die Grundſätze der Forſtwirthſchaft im obigen Sinne für alle Bewirthſchaftungen von Forſten zur Geltung bringen, nennen wir das Forſtweſen.

Auch das Forſtweſen hat nun ſeine Geſchichte und ſein Syſtem, deren Elemente in Folgendem enthalten ſind.

Die ſehr reiche Literatur über Forſtwirthſchaft und Forſtweſen muß in ihre Hauptrichtungen geſchieden werden, um den Ueberblick zu gewinnen. Die erſte iſt die rein juriſtiſche, welche ſich an die Frage nach dem rechtlichen Inhalt des Forſtregals anknüpft, und bereits im ſiebzehnten Jahrhundert beginnt (Pütter, Literatur III. 639; Klüber, Literatur §. 1399). Sie theilt ſich im achtzehnten Jahrhundert in die Behandlung im deutſchen Privatrecht (bei Runde §. 140. Danz II. 11, zuletzt und am reichſten Mittermaier I. §. 304 ff. ) und in die Behandlung als Theil des Staatsrechts (Moſer, Landeshoheit in Anſehung Erde und Waſſers; dann die Staatsrechtslehrer herab bis Klüber, öffentliches Recht §. 451). Die zweite iſt die Auffaſſung der Forſtwirthſchaft als Gegenſtand der Polizei, welche in der That bereits das ganze Forſtweſen in ſeinen Grundſätzen enthält, aber von der techniſchen Lehre ſich noch fern hält; voriges Jahrhundert vorzüglich Berg, Polizeirecht III. 344 ff., während Fiſcher (Cameral - und Polizeirecht II. 868 ff. ) mehr für die poſitiven Beſtimmungen ein reiches Material bietet, bis in unſerem Jahr - hundert die abſtrakt allgemeine Behandlung in der Polizeiwiſſenſchaft Boden gewinnt (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 142). Damit ſcheidet ſich die rein321 techniſche Forſtwirthſchaftslehre als Gebiet der eigentlichen Cameralwiſſenſchaft; namentlich Baumſtark, Encyclopädie §. 262 u. a. O. Während nun die eigentliche Nationalökonomie bei Allgemeinheiten ſtehen bleibt, tritt mit unſerem Jahrhundert die Frage auf, ob die Freiheit der Privatwirthſchaft auch für die Forſtwirthſchaft gelten ſolle. Der Anfang des Jahrhunderts neigt ſich in ſeiner Literatur dem Princip der Freiheit zu (vergl. Literatur bei Mohl a. a. O. §. 142); mit den zwanziger Jahren dagegen ſiegt der Grundſatz der Nothwendigkeit eines geſetzlichen Forſtweſens, dem vor allem in Verbindung mit gründlicher Forſtwirthſchaftslehre Hundeshagen in dem Hauptwerk Lehrbuch der Forſt - polizei ſeit 1835 zum Siege hilft. Dieſer Grundſatz iſt jetzt der gemein - gültige, und liegt den neueren Arbeiten von Mohl a. a. O., Rau, Volks - wirthſchaftspflege II. §. 168 ff. zum Grunde, während er durch die neuen Forſtlehranſtalten immer größere Geltung empfängt und in den Forſtgeſetz - gebungen entſchiedene Anerkennung findet. Die Verwaltungslehre nun muß feſthalten, daß ſie alle techniſchen und volkswirthſchaftlichen Grundſätze voraus - zuſetzen und nur die Momente darzuſtellen hat, in denen das Geſammtintereſſe gegenüber dem Recht und Intereſſe der Einzelwirthſchaft zur Geltung gelangt.

Elemente der Geſchichte des Forſtweſens.

Die Geſchichte des Forſtweſens iſt nun die allmälige Entwicklung des Sieges der Ideen des öffentlichen Rechts über das Princip der freien Einzelverwaltung. Ihre Stadien zeichnen ſich deßhalb bei großer Thätigkeit der einzelnen Geſetzgebung im Ganzen klar ab. Wir nennen ſie die Epoche des Forſtregals, die der Forſthoheit, und die des Forſt - weſens.

In der Epoche des Forſtregals ſchließt ſich der Gedanke der Herrſchaft des Staats über die Forſtwirthſchaft an die allerdings falſche Vorſtellung von einem Recht des Obereigenthums der Krone an allen Waldungen; der Streit über die Gränze des öffentlichen und Privatrechts erzeugt damit das Syſtem und die Lehre vom Forſtrecht mit ſeinen Forſtgerichten, Bann - und Jagdrechten, Servituten und Gemeinheitsrechten.

In der Epoche der Forſthoheit, die mit der Polizeiwiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts ihre feſte Geſtalt gewinnt, ſiegt die Erkennt - niß, daß die Regierung vermöge des öffentlichen Intereſſes die Berechtigung zu geſetzlicher und polizeilicher Ordnung des Forſtweſens habe. Daraus entſtehen ſeit dem ſiebenzehnten Jahrhundert die Forſt - ordnungen und Forſtgeſetze nebſt der Organiſation eigener Forſt - ämter; zugleich aber ſcheidet ſich die Bewirthſchaftung der Staats - forſte als eigentlicher Gegenſtand der Cameralwiſſenſchaft aus, und das Forſtweſen findet in ihr ſeinen Schwerpunkt, während das Forſt - recht ziemlich in ſeiner Entwicklung ſtillſteht.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 21322

Das gegenwärtige Jahrhundert, das weder des Begriffes des Regals noch des Princips einer beſondern Hoheit bedarf, faßt da - gegen die Forſtwirthſchaft des Volkes als ein Ganzes auf, und be - gründet das eigentliche Forſtweſen als einen ſelbſtändigen Theil der inneren Verwaltung und ihres Rechts, indem es alle Gebiete des Forſt - weſens in Eine Geſetzgebung und Verwaltung ſyſtematiſch zuſammenfaßt.

Die Elemente dieſes Syſtems ſind folgende.

Literatur der Geſchichte Mittermaier §. 204 ff. Etwas über das Forſt - regal ebend. §. 206. Erſte Forſtordnungen bereits aus dem fünfzehnten Jahrhundert (Rheingau 1487; Naſſau 1465 u. a). Beginn der eigentlichen Forſtgeſetzgebung im ſiebzehnten Jahrhundert: Fiſcher, Cameral - und Polizei - recht II. 787; Fritſch, Corp. Jur. venator. forest. 1705; bayeriſche Forſt - ordnung 1616. Württembergiſche Jagd - und Forſtordnung. Braun - ſchweig 1768 (vergl. Mittermaier a. a. O.; Pfeil, Forſtpolizeigeſetze. Berg, Polizeirecht III. 363). Neuere Epoche. Preußen: Allgemeine Grund - ſätze im Allgem. Landrecht I. T. 8. 83 89; völlige Freiheit im Landescultur - edikt vom 14. Sept. 1811, und vielfache örtliche Geſetzgebungen (Rönne II. §. 380 ff). Oeſterreich: Syſtematiſche Geſetzgebung (Geſetz vom 3. Dec. 1852 nebſt einzelnen Geſetzen in der Manzſchen Ausg. Bd. 8). Bayern: Forſtgeſetz vom 2. April 1852; Pözl, Verwaltungsrecht §. 150. Frank - reich: das Geſetz vom 21. Mai 1827 (Code Forestier); Block, Diction. v. Forêts nebſt Literatur. Italien: neueſte Forſtgeſetzgebung (Geſetz vom 1. Juni 1865 mit Vollzugsverordnung; Auſtria 1865. Nr. 36).

Syſtem des Forſtrechts.

A. Princip deſſelben.

Das Syſtem des Forſtweſens entſteht nun, indem der allgemeine Grundgedanke deſſelben, die Erhaltung von Beſtand und Produktion der Forſte wegen ihrer allgemeinen Bedeutung für die Volkswirthſchaft, auf alle wirkliche Bewirthſchaftung von Waldungen nach ihren ein - zelnen Theilen hin geſetzlich und adminiſtrativ durchgeführt wird.

Hier nun iſt es, wo die rechtliche Thatſache, daß die Waldungen theils Eigenthum des Staats, theils der Selbſtverwaltungskörper in Landſchaften, Gemeinden und Corporationen, theils Einzelner ſind, Unſicherheit und Unklarheit in die Syſteme des Forſtweſens bringt, ſo lange man nicht zu einem ſelbſtändigen, allgemein gültigen Princip deſſelben gelangt.

Dies Princip beruht nun darauf, daß vom höheren Standpunkte der Volkswirthſchaft alle Waldungen des Staats als ein Ganzes betrachtet, mithin ohne Rückſicht auf das Eigenthum Einer großen Geſammtwirthſchaft unterworfen werden müſſen, die ausſchließlich im323 Intereſſe der Volkswirthſchaft die Grundſätze der Forſtwirthſchaft voll - zieht; daß zweitens die Waldbeſtände in jedem Reich ſtatiſtiſch auf - genommen werden müſſen, um diejenigen auszuſcheiden, welche nicht fähig ſind, eine dauernde Wirthſchaft zuzulaſſen, und dieſe der Privat - wirthſchaft mit unbeſchränkter Freiheit zu überlaſſen; endlich aber diejenigen, welche dadurch ihr Eigenthumsrecht verlieren, in derſelben Weiſe zu entſchädigen, wie bei der Grundentlaſtung und der Ab - löſung.

So lange dieſer Grundſatz nicht durchgeführt, und die geſammte Forſtwirthſchaft nicht als Ein großes, einheitlich behandeltes Verwal - tungsgebiet behandelt wird, bleibt die Idee des Forſtweſens unfertig, ſo weit auch die Theorie und Praxis der Forſtwirthſchaft ſonſt fort - geſchritten ſein mag. In der That iſt noch die Geſchichte des Forſt - weſens die langſame, aber ſichere Entwicklung dieſes Gedankens, der bis jetzt ſeinen Hauptausdruck in zwei Grundſätzen hat: erſtlich darin, daß die Staatsforſte die Muſterwirthſchaft für die Privatforſtwirthſchaft ſei, und zweitens daß die letztere ohne ſie gezwungen iſt, bei der Rodung die Zuſtimmung der Forſtverwaltung zu ſuchen. Geht man aber von dem obigen Geſichtspunkt aus, ſo iſt das eigentliche Syſtem des Forſt - weſens ſehr einfach.

Die vielfache Unklarheit ſowohl in Geſetz als Theorie über die Geltung gewiſſer öffentlich-rechtlicher Beſtimmungen (z. B. Forſtpolizei, Forſtabtrag) auch für die Privatwirthſchaft zeigt in der That, daß wir dem obigen Gedanken näher ſtehen als wir glauben. Die jährlich ſteigenden Holzpreiſe werden ihn nur zu bald praktiſch machen. Sehr bedeutſam iſt daher die klare Be - ſtimmung des Code forestier, welche zuerſt alle Forſte in Reichs -, Communal - und Privatforſte getheilt und den Grundſatz ausgeſprochen hat, daß die erſteren unbedingt dem régime forestier unterworfen ſein ſollen (T. I. 1). Darnach das öſterreichiſche Forſtgeſetz von 1852 I. 1.

B. Die Entwicklung dieſes Princips zum eigentlichen Syſtem zer - fällt nun in drei Theile.

I. Die Forſtbehörden und ihr Organismus ſind bisher nur für die Staatsforſten da geweſen. Sie ſollen demnach das Forſtweſen des ganzen Reiches verwalten.

Aeltere Ordnungen: Berg a. a. O. Neuere: Oeſterreich: Organiſirung 1850; Stubenrauch I. §. 18. Forſtgeſetz 5. Abſchn. Ausführliche Inſtruk - tionen: Manzſche Ausg. S. 43 f. Preußen: Zutheilung der Inſpektionen zu den Regierungen (Rönne II. 255 und 240). Frankreich: Code forest. Art. 1 und Decret vom 6. Mai 1854 (drei Adminiſtratoren unter dem Finanz - miniſter, und örtliche Inſpektionsbezirke). So wie das obige Princip des Forſt - weſens angenommen wird, werden dann zwei Dinge nothwendig: erſtlich324 ein ganz genauer öffentlicher Waldkataſter, und zweitens das Recht der Landſchaften, die Anlegung und Aenderung derſelben zu verwalten, und bei der Forſtverwaltung mitzuwirken. Darin liegt die Zukunft der Organi - ſation des Forſtweſens.

II. Das Forſtbildungsweſen, das erſt unſerem Jahrhundert als öffentliche Berufs - und Fachbildung angehört, ſoll mit ſeinem Recht der Prüfung und Anſtellung für alle Forſte gelten.

Früher bloß als Theil der Cameralwiſſenſchaft. Selbſtändige Bildungs - anſtalten. Oeſterreich: Grundzüge für das Fortbildungsweſen (Miniſterial - erlaß vom 9. Juni 1849; Errichtung der Forſtlehranſtalt zu Mariabrunn nebſt Inſtruktion und Prüfungsordnung (Miniſterialerlaß vom 30. April 1852). Preußen: Errichtung der Forſtlandsanſtalt zu Neu-Eberswalde (Kabinets - ordre vom 27. März 1830); Organiſirung: Erlaß vom 7. Febr. 1864; Rönne II. S. 227 und 456. Frankreich: Ecole forestière zu Nancy (Decret vom 1. Dec. 1824. Block, Dict. art. Ec. forest.).

III. Eigentliche Forſtverwaltung (Service forestier). Das Princip der eigentlichen Forſtverwaltung als der im Geſammtintereſſe geordneten Forſtwirthſchaft für alle Forſte muß demnach ſein, die als öffentliche Forſte erklärten Waldungen mit Ausſchluß jedes augenblicklichen Gewinns als ein dauerndes Capital zu verwalten, wofür die Forſtwirthſchaftslehre die Grundſätze gibt und der Forſt - organismus die Verantwortlichkeit hat. Die praktiſche Anwendung er - gibt zwei Kategorien, deren Ausfüllung dann Aufgabe der Forſtwiſſen - ſchaft bildet.

a) Der Forſtſchutz. Der Forſtſchutz zerfällt wieder 1) in die Forſtpolizei, welche den Beſtand der Waldungen gegen Menſchen und Elemente ſchützt: Polizei α) der Waldbenutzung (Waldſtreu, Wald - weide) und β) der Waldgefährdung (Feuer, Waſſer); 2) das Rodungs - recht, Grundſatz, daß kein Boden dem Wald ohne Beſchluß entzogen werden darf; 3) das Bannrecht; Grundſatz, daß gewiſſe Waldungen auch der wirthſchaftlichen Benutzung zu entziehen ſind aus elementaren Gründen; 4) genaue Beſtimmungen über den Erſatz des Waldſcha - dens, und Strafen für den Waldfrevel und Diebſtahl; zum Theil peinliches, zum Theil Ordnungsſtrafrecht.

b) Die Forſtpflege. Die allgemeinen Grundſätze der Forſt - pflege ſind Sache der Forſtwirthſchaftslehre, welche die Verwaltungs - lehre als bekannt vorauszuſetzen hat. Die Anwendung derſelben auf das öffentliche Recht ergibt folgende Kategorien:

1) Die Freiheit der Forſtwirthſchaft fordert die Ablöſung der meiſten Servituten, die meiſt auf hiſtoriſcher Baſis aus der Zeit der Werthloſigkeit des Holzes ſtammen. Entſtehung, Inhalt und Princip325 der Ablöſung ſolcher Dienſtbarkeit (Holzlieferung, Streuſammeln, Maſtung, Weide). Keine Ablöſung durch Abtheilung.

2) Pflanzungsordnungen: 1) bei geſchlagenen Waldflächen; 2) bei unbeſtandenem abſolutem Waldboden; 3) Baumpflanzen (bei Wegen ꝛc.); Nutzbäume (Fruchtbäume, Maulbeerbäume ꝛc. ) gehören nicht der Forſtwirthſchaft.

3) Schlagordnung, mit dem Grundſatz, daß keine Rodung ohne Erlaubniß der höheren Stelle, und genaue Vorſchrift über das Verfahren ſowohl beim Schlagen als beim Verkaufe der Waldprodukte.

4) Holzbringung, theils durch eigene Straßen, theils mit ſog. Rieſen, theils zu Waſſer mit Trift - und Schwemmrecht, nebſt dem Recht der Holzwehren. Princip der eventuellen Expropriation für die Nachbargrundſtücke.

Für die einzelnen Fragen Verweiſung auf die Forſtwirthſchaftslehre (Forſt - polizei). Dieſelben ſind in den meiſten Fällen nur dadurch verwickelt, daß das bisherige Recht den Unterſchied zwiſchen den Staatsforſten und den Privat - forſten aufrecht hält, und daher ſtets die Frage zu entſcheiden bleibt, wie weit das öffentliche Recht des Forſtweſens in das Privatrecht im öffentlichen In - tereſſe hineingreifen dürfe und ſolle. Daher hier Schwanken der Geſetzgebung. Faſt allgemein iſt jedoch ſchon jetzt der Grundſatz, daß keine Rodung ohne Genehmigung der Forſtbehörde, wobei merkwürdiger Weiſe das Princip der Entſchädigung fehlt. Frankreich: Code forest. Art. 147. Neues und ſehr ausführliches Decret über Bergbewaldung vom 10. Nov. 1864. Oeſter - reich: Forſtgeſetz Art. 2. 3. Badens neues Forſtgeſetz von 1854 hat die durch das Forſtgeſetz von 1833 eingeführte volle Freiheit der Einzelwirthſchaft wieder aufgehoben (Rau §. 156). Preußen ſtellte früher die ganze Privat - wirthſchaft unter behördliche Oberaufſicht; als das zu Widerſprüchen führte, ſchlug die Geſetzgebung in das Gegentheil um, und gab durch das Landes - kulturedikt vom 14. Sept. 1811 die volle Freiheit, die jedoch durch die vielen lokalen Forſtordnungen (bei Rönne §. 382) im Einzelnen weſentlich beſchränkt iſt. Aus dieſem Zuſtand der Geſetzgebung der Uebelſtand, daß es mit Aus - nahme des Rodungsverbotes und zum Theil der Servitutenablöſung (Frank - reich: Code For. 130; Oeſterreich: Geſetz vom 5. Juli 1853 bei Manz, nebſt Verwaltungsverordnung; Preußen: Rönne §. 381) und einer Reihe von An - pflanzungsvorſchriften, ſtets zweifelhaft iſt, ob die geſetzlichen Beſtimmungen auf Privatwirthſchaft Anwendung finden, während doch die Waldungen der Selbſtverwaltung den ſtaatlichen Vorſchriften unterworfen ſind (vergl. öſterreich. Staatsforſtgeſetz Art. 1. 2). Rönne über Preußen §. 381. Baden: Forſtſtrafrecht (Verordnung vom 25. Jan. 1865). Code forest. Art. 90. 128.

Jagdrecht.

Die Jagd iſt zunächſt wirthſchaftlich eine Form der Benützung des Grundes und Bodens. Allein ſie iſt zugleich die einzige Art, wie326 gewiſſe Grundſtücke, namentlich der Wald, ihre volle Benützung erzielen. Aus dem erſten geht die volle Freiheit der Jagd hervor, aus dem zweiten die Beſchränkung derſelben im allgemeinen Intereſſe. Die öffentlich rechtliche Ordnung, die daraus entſteht, bildet das Jagd - weſen.

Auch das Jagdweſen hat bekanntlich ſeine Geſchichte, und zwar hängt dieſelbe innig mit der allgemeinen Geſchichte der Geſellſchaft zu - ſammen. Darin liegen Intereſſe und Bedeutung derſelben. Die Ge - ſchlechterordnung erkennt das Jagdrecht als ſelbſtverſtändlich mit dem Grund und Boden verbunden. Mit der Trennung der herrſchenden Claſſe derſelben von der beherrſchten, des Adels vom Bauern, trennt ſich auch die Jagd vom Grundbeſitz; der Bauer verliert ſie und die Grundherrlichkeit gewinnt ſie. Die Idee, daß alle Grundherrlichkeit als Lehn vom Souverain abſtamme, erzeugt die Vorſtellung vom Jagdregal; die wachſende Unfreiheit der niederen bäuerlichen Claſſe die Jagdſervituten, Jagddienſte und Frohnden; aus der entſtehen - den landesherrlichen Gewalt geht dagegen der Gedanke der Jagdhoheit als des Rechts derſelben auf Geſetzgebung und Verwaltung der Jagd hervor, die dann aber erſt zur wahren Bedeutung und Thätigkeit ge - langt, als die Grundentlaſtung die Freiheit alles Grundes, alſo auch principiell die der Benützung derſelben durch die Jagd herſtellt. Jetzt erſt gibt es eine eigentliche Jagdgeſetzgebung. Das Princip der - ſelben iſt die Herſtellung der Bedingungen, unter denen auch bei dem Jagdrecht auf eigenem Grund und Boden die Jagd als ein Pro - duktionszweig des allgemeinen Intereſſes erhalten werden kann. Als dieſe drei Bedingungen erſcheinen die Hegezeit, die Herſtellung angemeſſener Jagdreviere, und der Grundſatz der Ausübung des Jagdrechts für die letzteren durch Verpachtung, namentlich bei den Gemeinden, während die Jagd auf Raubthiere der Polizei der Landwirthſchaft angehört. Die Annahme des obigen Syſtems des Forſtweſens würde dieſe Fragen in hohem Grade vereinfachen. Die Grundſätze der Jagdverwaltung ſind dabei ein Theil der Forſtwiſſenſchaft.

Literatur der Geſchichte des Jagdrechts: Fiſcher, Cameral - und Polizei - recht II. 847 ff. ſehr reich; Mittermaier deutſches Privatrecht I. §. 213 218; Berg, Polizeirecht III. S. 376 (rationeller Standpunkt). Neuerer rechtlicher Standpunkt: Klüber, öffentliches Recht §. 455 ff. nebſt reicher Literatur. Volkswirthſchaftlich: Rau, Volkswirthſchaftspflege I. §. 174; Roſcher II. §. 173. Techniſch: Baumſtark §. 246 ff. Sehr gut und gründlich mit Angabe der neueſten Geſetzgebung: Brünneck, das heutige deutſche Jagdrecht und das Eigenthumsrecht am Wild (ſ. Archiv für Civilpraxis Bd. 48 Heft 1. S. 80 ff. Neue Geſetze: Oeſterreich: Jagdfreiheit (Patent vom 7. März 1849). Jagdpolizei:327 Erlaß vom 15. Dec. 1852. Preußen: Jagdfreiheit (Geſetz vom 31. Okt. 1848); Jagdpolizei (Geſetz vom 7. März 1850). K. Sachſen: Jagdgeſetz vom 1. Dec. 1864. Frankreich: Begriff und Syſtem des Régime forestier und Inbegriff der niederen Jagd in daſſelbe (Geſetz vom 3. März 1844). Lite - ratur: Block, Dict. v. Chasse. England: Jagdgeſetz gegen Wilddieberei 25. 26. Vict. 64.

Fiſchereiordnung.

Die Fiſcherei hat für ihre Geſchichte und ihre Principien in der Hauptſache dieſelben Grundlagen wie die Jagd; doch iſt weſentlich zu unterſcheiden zwiſchen der Fiſcherei zur See und der Fiſcherei im Süßwaſſer. Die Seefiſcherei iſt von jeher als eine Schule der See - fahrt betrachtet, und bei ihr daher die Sache um der erwerbenden Thätigkeit willen eben ſo ſehr geſchützt als wegen des Produkts ſelbſt. Die Süßwaſſerfiſcherei iſt zunächſt ein Ausfluß des Eigenthums am Waſſer, dann aber eine Sache des allgemeinen Intereſſes, die aller - dings einer beſtimmten Sorge von Seiten der Verwaltung werth iſt. Das Recht auf Eingreifen der letzteren entwickelt ſich auch hier aus der vollen Freiheit zum Regal, aus dieſem zur Fiſchereigeſetzgebung, zunächſt mit den Beſtimmungen über Hegezeit und Fangart. Die neueſte Zeit hat dem Fiſchereiweſen die künſtliche Fiſchzucht hinzu - gefügt, die noch als Privatunternehmung auftritt, wohl aber werth wäre, Gegenſtand ſpecieller Sorge der Verwaltung zu werden.

Die Literatur über das Fiſchereiweſen iſt faſt immer mit der über das Jagdweſen verbunden; daher vergl. die im vor. Abſchn. citirten Schriftſteller und Angaben. Frankreich hat eine ſehr entwickelte Geſetzgebung nament - lich für die Seefiſcherei, mit Vorſchriften und Prämienſyſtem als Concurrenz - mittel gegen England und Holland; Süßwaſſerfiſcherei (Geſetz vom 15. April 1829). Oeſterreich dagegen ſehr unvollſtändig; es gilt noch die Verordnung vom 24. März 1771 ohne rationelle Geſetzgebung. Stubenrauch II. §. 470. Preußen: gleichfalls noch auf dem einfachen Standpunkt der Regalität und der Polizei. (Allgem. Landrecht II. 16; Rönne II. §. 378.)

III. Die Landwirthſchaftspflege.
Princip derſelben.

In der Landwirthſchaft tritt uns nun zuerſt das Gebiet entgegen, in welchem nicht mehr, wie bei Berg - und Forſtwirthſchaft, die Wirth - ſchaft durch die Natur ihres Stoffes Gegenſtand des Geſammtintereſſes und damit des Verwaltungsrechts iſt. Sie iſt vielmehr die urſprüng - liche, und damit auch ſyſtematiſch erſte Geſtalt der freien Wirthſchaft. Und hier beginnt daher auch die Frage, was die Verwaltung für das an ſich freie wirthſchaftliche Leben überhaupt thun könne und ſolle. 328Namentlich iſt das und zuerſt für die Landwirthſchaft der Fall, und viele denken ſich unter der Landwirthſchaftspflege ein förmliches be - ſtändig thätiges Syſtem von Verwaltungsmaßregeln, denen die Land - wirthſchaft ihre weſentliche Blüthe verdanken ſolle. Es iſt daher noth - wendig, dieſe Vorſtellung auf ihr feſtes Maß zurückzuführen.

1) Begriff und Natur der freien Wirthſchaften ſchließen nämlich zuerſt eine unmittelbare Theilnahme der Verwaltung an derſelben aus. In ihnen ſoll ſich die einzelne Perſönlichkeit durch ſich ſelber entwickeln, ſie ſollen ſich ſelber helfen. Sie werden werthlos für die Menſch - heit, wenn die Verwaltung die Aufgabe übernimmt, ihre innere Ent - wicklung direkt zu fördern, oder gar ihre Ordnung zu beſtimmen. Da - gegen gibt es ein zweites Gebiet, bis zu welchem das große Princip der freien Selbſtthätigkeit nicht reicht. Das iſt die Geſammtheit der außerhalb der Einzelwirthſchaft liegenden allgemeinen Bedingungen des wirthſchaftlichen Fortſchrittes. Mit dem Auftreten der freien Einzelwirthſchaft ſcheiden ſie ſich von der letzteren; von da an ſind ſie ſelbſtändige Gebiete der Verwaltung; und ſo entſteht der allgemeine Satz, der ſeine erſte Anwendung in der Landwirthſchaft findet, daß mit ihnen der Schwerpunkt der ganzen wirthſchaftlichen Verwaltung in den allgemeinen Theil der Volkswirthſchaftspflege fällt, und der beſondere Theil eben nur aus denjenigen beſonderen und ein - zelnen Beſtimmungen und Thätigkeiten der Verwaltung beſteht, welche durch die beſondere Natur der einzelnen Wirthſchaftsart gefordert werden. Die freie Wirthſchaft fordert demnach vor allem die tüchtige Verwaltung des Communikations - und des Creditweſens; das Uebrige die beſondere Volkswirthſchaftspflege hat von da an nur einen ſuppletoriſchen Charakter.

2) Aber freilich hat die volle Gültigkeit dieſes Standpunkts Eine große Vorausſetzung. Das iſt, daß eben die einzelnen Wirthſchaften frei ſeien. Und nun hat der Gang der hiſtoriſchen Entwicklung es mit ſich gebracht, daß alle Arten der Einzelwirthſchaft, von der Ge - ſchlechter - und Ständeordnung beherrſcht, erſt durch einen Jahrhunderte dauernden Kampf wirklich zu freien Unternehmungen geworden ſind. In der That verwirklicht ſich eigentlich erſt mit dieſer Freiheit der Einzelwirthſchaft die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft unſeres Jahrhunderts. Die werdende Geſchichte ihres öffentlichen Rechts iſt auf allen Punkten zuerſt die Geſchichte der freien Geſellſchaftsordnung und damit der für ſie geltenden freien Verwaltung. Bis das geſchehen iſt, kann weder eine hinreichende Lehre von der wirthſchaftlichen Technik, noch ein rechter Werth der beſonderen, auf die Eigenthümlichkeit der Wirth - ſchaftsarten berechneten Verwaltungsmaßregeln entſtehen, ſo klar auch329 das Princip an ſich ſein mag. Und von dieſem Standpunkt aus muß daher die folgende Darſtellung ihre Ordnung empfangen.

3) Dieſe nun wird, ſo wie man über die Idee der Freiheit der Einzelwirthſchaft als erſte Grundlage der wahren Entwicklung einig iſt, durch Einen großen Gedanken beherrſcht. Allerdings vermögen Staat und Verwaltung, welche jene Befreiung vollzogen, auch nach derſelben noch viel für die Entwicklung der freien Wirthſchaft überhaupt, und ſpeciell der Landwirthſchaft zu leiſten. Allein das, was die Verwaltung für die Landwirthſchaft poſitiv thun und die Punkte, auf denen ſie in den Landwirthſchaftsbetrieb eingreifen kann, ſind ſehr unweſentlich, und weit unbedeutender als bei irgend einem andern Theile der Volks - wirthſchaftspflege. In der That war es zuerſt die große Miſſion der Verwaltung, die Landwirthſchaft frei zu machen. So wie ſie dieſe erfüllt hat, iſt auch das Gebiet ihrer poſitiven Thätigkeit im weſentlichen erſchöpft. Von dieſem Punkte aus muß ſich dieß Gebiet der Volkswirthſchaft, von den Feſſeln der früheren Zuſtände befreit, ſelbſt helfen. Das Bewußtſein der Wichtigkeit ſeiner großen volks - wirthſchaftlichen Funktion und der Geſetze, nach welchen durch eigene Thätigkeit ſein Beſitz ihm Selbſtändigkeit und Einkommen gibt, muß an die Stelle der poſitiven Fürſorge der Regierung treten; in ihm liegt die Hülfe gegen die Gefahren der Landwirthſchaft, in ihm auch die wahre und beſte Entſcheidung über die Zweifel, die über den Werth und Erfolg der Geſetze und Regierungsmaßregeln ſtets entſtehen wer - den. Die Freiheit der Landwirthſchaft iſt zuletzt nur die Negation der hiſtoriſchen Beſchränkungen derſelben; die dann noch nöthigen ſpeciellen Beſtimmungen für das öffentliche Recht derſelben ſind Ausnahmen; die wahre Baſis des Fortſchrittes der Landwirthſchaft iſt der tüchtige, durch die möglichſte Entwicklung der allgemeinen Volkswirthſchaftspflege unter - ſtützte und getragene Landwirth ſelber; das Organ, durch welches er thätig iſt, das landwirthſchaftliche Vereinsweſen neben der Regie - rung, wird nur noch die höhere Ordnerin für die Einheit und Gleich - artigkeit deſſen ſein, was die Landwirthe für ſich ſelber thun.

Die Literatur der Landwirthſchaft iſt ſehr groß, aber ſie iſt keine Einheit. Faßt man ſie als Ganzes, ſo erſcheinen folgende Grundzüge. Sie beginnt in der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der Anerkennung der Wichtigkeit der Landwirthſchaft überhaupt. Daraus entſtehen die erſten Bearbeitungen, die ſich zunächſt an die Polizeiwiſſenſchaft anſchließen, und zwar theils als ſelbſtändige Werke, namentlich Frank, landwirthſchaftliche Polizei 2 Bde. und Benekendorf, Oeconomia forensis 2 Bde. 1776, theils als unmittelbarer Theil der eigentlichen Polizeiwiſſenſchaft, zuerſt bei Heumann, Jus politiae Cap. 27; dann Juſti, Grundſätze 1. Buch, 1. Theil; beſonders bei Berg,330 Teutſches Polizeirecht III. S. 243 ff. ; theils auch in den Encyclopädien wie in Krünitz Bd. XV. Daneben geht das ſog. Landwirthſchaftsrecht als die rechtliche Darſtellung der bäuerlichen Laſten und Beſchränkungen einher; ſ. beſ. Fiſcher, Cameral - und Polizeirecht S. 692 ff. und Literatur; Stein, Ent - währung von S. 150 ff. Erſt mit dem Anfang unſeres Jahrhunderts ſcheidet ſich die Landwirthſchaftslehre als ſelbſtändige Wiſſenſchaft von Polizei und Recht; der Vater dieſer ganzen Richtung iſt Thaer in ſeinen Werken: die engliſche Landwirthſchaft und die rationelle Landwirthſchaft ſeit 1808. Dieſe Richtung entwickelt ſich zunächſt zur höheren, chemiſchen Bodenkunde (namentlich Hundes - hagen, Bodenkunde in land - und forſtwirthſchaftlicher Hinſicht 1830). Dann zur Phyſiologie der Landwirthſchaft und Düngerlehre durch Liebigs Arbeiten. Dieſe Richtungen werden nun in der Cameralwiſſenſchaft (Baumſtark, Ency - clopädie §. 133 ff. ) vom techniſchen Standpunkt bearbeitet, während die Natio - nalökonomie, namentlich Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 121 ff. mit großem Reichthum des Materials, und vorwaltend vom wirthſchaftlichen, Roſcher da - gegen (Nationalökonomie Bd. II. ) mehr vom rechtshiſtoriſch geſchichtlichen Stand - punkt die wirthſchaftlichen und Verwaltungsfragen verſchmelzen, und dabei ſehr viel leiſten, aber auch viel verwirren. Neben ihnen hält ſich die Verwaltungs - geſetzkunde, wie Rönne, Pötzl, Stubenrauch, auf der Gränze des gegebenen Rechts, und ſtellt damit die Scheidung zwiſchen Wirthſchaft und Verwaltung wieder her. Es iſt feſtzuhalten, daß erſt das Verwaltungslehre und Recht der Landwirthſchaft iſt, was übrig bleibt, wenn die Rechtsgeſchichte der Be - freiung abgezogen wird.

Elemente der Geſchichte.

Das Princip und das Ziel der Geſchichte des Landwirthſchaftsrechts ſind ſehr einfach; die Bewegungen derſelben dagegen außerordentlich reich an Einzelheiten, und gehören im Großen und Ganzen der Ent - währungslehre an. Sie beginnt da, wo die Regierungen zum Be - wußtſein nicht etwa von dem Recht des Bauernſtandes auf Freiheit des Grundbeſitzes, ſondern von der Wichtigkeit der landwirthſchaftlichen Produktion für die Finanzen und für die Volkswirthſchaft gelangen. Das iſt mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts der Fall; in Deutſch - land ſchon bei Juſti; aber erſt die Phyſiokraten erhoben dieſe Wahr - heit zu einem allgemein anerkannten Satze. Die Folge, die erſte Epoche der Landwirthſchaftspflege iſt dann einerſeits der deutſche Ver - ſuch, für die letztere ein eigenes Behördenſyſtem (Landwirthſchafts - oder landwirthſchaftliche Oekonomiecollegien) zu ſchaffen, neue Dorfordnungen mit ſpecieller Beziehung auf die Feldpolizei einzuführen, und nament - lich in der Aufhebung der Leibeigenſchaft. Erſt mit der franzöſiſchen Revolution jedoch, welche die völlige Aufhebung aller Beſchränkungen des Bauernſtandes am 4. Auguſt 1789 decretirt und dann im Ein - zelnen durchführt, beginnt die zweite große Epoche, deren Inhalt die331 langſam aber ſyſtematiſch fortſchreitende rechtliche Befreiung der Land - wirthſchaft von der Grundherrlichkeit enthält, und die wir als Grund - entlaſtungs - und Ablöſungsweſen bezeichnen. Beides ſind nicht Maßregeln für die Entwicklung der eigentlichen Landwirthſchaft, ſondern nur die rechtlichen Vorausſetzungen derſelben. Erſt da, wo beide wenig - ſtens principiell zur Geltung gelangt ſind, entſtehen die beiden großen, die Landwirthſchaft beſonders betreffenden Fragen und ihr Recht, das Recht der Theilbarkeit und das Recht des Schutzes durch den Kornzoll. Die erſte beginnt bei der Frage nach den Gemein - heitstheilungen bereits im vorigen Jahrhundert und geht allmählig von dem Princip der abſoluten Theilungspflicht über zu dem Gedanken, die Gemeindeweide als Grundlage der Gemeindefinanzen zu betrachten; die Kornzollfrage, urſprünglich das Gebiet ſtrengen Schutzes, wird mit unſerem Jahrhundert die eigentliche Heimath des Freihandels. Die erſte ſchließt ſich daher mehr an die ſocialen Gegenſätze, die zweite an die Entwicklung der Induſtrie an. Je beſtimmter nun alle dieſe Ge - biete im Sinne der freien Bewegung des Beſitzes, wie der Produktion ſich entſcheiden, um ſo enger wird das Gebiet der eigentlichen Land - wirthſchaftspflege, und es bildet ſich mehr und mehr die Ueberzeugung heraus, daß die wahre Sorge des Staats für den Landbau zwar innerhalb der Aufgaben der allgemeinen wirthſchaftlichen Verwal - tung liege, daß dieſelbe aber allerdings die Fähigkeit habe, ſpeciell die Intereſſen der Landwirthſchaft in ihren Anwendungen zur Geltung zu bringen. Die Verwaltung der Landwirthſchaft muß daher jetzt von einem allgemeinen und von einem beſonderen Theile reden, welche wieder beide durch ihr gemeinſames Princip zuſammengehalten, das gegenwärtige Syſtem der Landwirthſchaftspflege bilden.

Wir glauben in Beziehung auf die Befreiung des Grundes und Bodens und die auf Entlaſtung und Ablöſung bezüglichen Geſetze und ihre Geſchichte auf unſere Darſtellung in der Entwährungslehre (Innere Verwaltungs - lehre Bd. 7) verweiſen zu können. In ihrer Anwendung auf die obigen Prin - cipien erſcheinen folgende Sätze. England kennt eigentlich keine ſelbſtändige Landwirthſchaftspflege, da durch das Syſtem der Verpachtung jede Landwirth - ſchaft den Charakter eines freien Unternehmens hat. Auch Frankreich beſitzt dafür mit Ausnahme der Flurpolizei keine Theorie und keine ſyſtematiſchen Geſetze. In Deutſchland iſt der Charakter der preußiſchen Geſetzgebung von dem der öſterreichiſchen weſentlich dadurch verſchieden, daß Preußen allerdings viel früher und ſyſtematiſcher die Befreiung des Grundes und Bodens von den ſtändiſchen Laſten herſtellte (Aufhebung der Unterthänigkeit ſchon im Edikt vom 9. Okt. 1807: Fortan ſoll es nur freie Leute in Preußen geben ) was durch das Landesculturedikt vom 15. Sept. 1811 und durch die Ablöſung der Reallaſten (Geſetz vom 7. Jan. 1831) weiter ausgeführt ward; das Geſetz332 vom 2. Nov. 1830 hat dieſe Beſtimmungen, die an weſentlichen Mängeln litten, aufgehoben, und das gegenwärtige Ablöſungs - und Entlaſtungsverfahren ge - ordnet. Allein die politiſche Freiheit iſt dem Grundbeſitz doch nicht gegeben, indem die Patrimonialjurisdiktion zum Theil beſtehen blieb. Oeſterreich da - gegen hat zugleich nebſt der vollen Freiheit auch die volle Freiheit der Selbſt - verwaltung gegeben. Dagegen hat Preußen für die Entlaſtung eine eigene Rentenbank (Geſetz vom 27. Jan. 1860) wogegen Oeſterreich das Syſtem der Grundentlaſtungsobligationen eingeführt hat. Für das Uebrige vergl. Rau und Roſcher a. a. O. Es iſt nur ein nicht unweſentlicher Fehler, noch immer das Ablöſungs - und Entlaſtungsweſen als Theil der gegenwärtigen Land - wirthſchaftspflege aufzuführen, was nur Verwirrung bringen kann.

Syſtem der Landwirthſchaftspflege.

Das Syſtem der Landwirthſchaftspflege entſteht nun, indem die Verwaltung mit ihren Organen und Beſtimmungen auf denjenigen Punkten eintritt, wo nach dem Erwerbe der Freiheit der Landwirth - ſchaft beſtimmte Bedingungen ihrer Entwicklung eintreten, welche ſich die Einzelnen nicht mehr ſelber verſchaffen können.

Das Princip dafür iſt, durch dieſe Maßregeln nicht mehr direkt in die Landwirthſchaft einzugreifen, ſondern durch Schutz und Hülfe im Einzelnen den Landmann in den Stand zu ſetzen, ſeine wirthſchaft - liche Freiheit mit vollem Bewußtſein für die wirthſchaftliche Entwicklung zu gebrauchen. Daraus ergeben ſich folgende Hauptgebiete.

1) Die Organiſation.

Die Organiſation der landwirthſchaftlichen Verwaltung mit dem vorigen Jahrhundert beginnend, legt bis auf die neueſte Zeit den Schwerpunkt in die amtlichen Stellen, deren Aufgabe eben in der rechtlichen Durchführung der Befreiungsmaßregeln beſteht. Zugleich beginnt neben der Regierung auch die freie Verwaltung als Vereins - weſen thätig einzugreifen, jedoch hauptſächlich auf dem Gebiete der landwirthſchaftlichen Bildung; je weiter die Befreiung und Selbſtändig - keit der Landwirthſchaft geht, je unbedeutender wird die Funktion der Regierungsorgane und je wichtiger das Vereinsweſen. Die Zukunft des letzteren liegt in der Verbindung der landwirthſchaftlichen Creditvereine mit den landwirthſchaftlichen Bildungs - vereinen, für welche noch die Formel nicht gefunden iſt.

Eine Geſchichte dieſer Organiſation wäre von nicht geringem Intereſſe. Für das vorige Jahrhundert über die Landesökonomiecollegien der verſchie - denen Staaten Deutſchlands Berg a. a. O. Eben ſo über die verſchiedenen Landwirthſchaftsgeſellſchaften Berg ebend. Thüring. Civilgeſetzgebung333 von 1762. Leipziger Ackerbaugeſetz von 1764. Geſellſchaft zu Celle 1764. Vergl. auch Stubenrauch, Vereinsweſen in Oeſterreich 1857. S. 183. Auf - forderung von Maria Thereſia an gelehrte und praktiſche Landwirthe in den einzelnen Provinzen, dann Geſellſchaftsplan für Oeſterreich 1769, und Sta - tuten von 1773. Mit unſerem Jahrhundert ſtehen amtliche Organe und Land - wirthſchaftsvereine faſt in allen Staaten neben einander, die erſteren meiſt für die Durchführung der rechtlichen Ordnung thätig, die letzteren theils als Bil - dungs - und theils als Intereſſenvereine. Den Anſtoß zur neueſten Ent - wicklung des Vereinsweſens P. Jordan, Vorleſung über rationelle Land - wirthſchaft 1796, darauf Bildung vieler, zum Theil ſehr gut organiſirter Vereine (vergl. auch Rau I. 146). Oeſterreich. Niederöſterreichiſche Landwirthſchaftsgeſellſchaft ſeit 1806; neue Statuten 1850. Steiermärkiſche Landwirthſchaftsgeſetze ſeit 1848; Forſtverein 1852; andere Vereine theils für den Landbau im Allgemeinen, theils für die einzelnen Zweige deſſelben ſ. bei Stubenrauch nebſt kurzer Geſchichte und Regiſter a. a. O. S. 192. Darauf Errichtung des Ackerbauminiſteriums 1868. In Preußen: Generalcommiſſion und landwirthſchaftliche Regierungsabtheilungen; Geſchichte und (meiſt rechtliche) Aufgaben ſeit 1848 bei Rönne, Staatsrecht II. §. 262. Landesökonomiecollegium, als Haupt der eigentlichen Landwirthſchafts - pflege, auf Grundlage des Landesculturedikts von 1811 durch Kabinetsordre vom 16. Jan. 1842 errichtet; neue Organiſation durch Regulativ vom 24. Juni 1859; zugleich Mittelpunkt des landwirthſchaftlichen Vereinsweſens. Dieſes ins Leben gerufen durch Landesculturedikt von 1811, Anzahl und Stellung der - ſelben Rönne II. §. 378. In Bayern liegt der Schwerpunkt in dem landwirthſchaftlichen Verein ſeit 1809, der ein förmliches Verwaltungsorgan geworden iſt (Pötzl, Verwaltungsrecht §. 147). Für Frankreich exiſtiren die Conseils d’Agriculture, die aber, da ſie nur durch den Préfet ernannt werden, faſt gar keine Bedeutung haben. Sie haben eine ſtreng begränzte, conſultative Funktion. Daneben die Comices agricoles, Vereinsform, wieder unter behördlicher Leitung, jedoch in Ausdehnung begriffen (1865 über 500) Block, Dict. v. Com. agric. Eine Geſammtdarſtellung dieſes wichtigen Gebietes für Deutſchland fehlt; auch bei Rau und Roſcher. Dagegen vom Standpunkt der neueren Zeit G. Schönberg, die Landwirthſchaft der Gegen - wart und das Genoſſenſchaftsprincip 1869.

2) Eigentliche Landwirthſchaftspflege.

Die eigentliche Landwirthſchaftspflege entſteht nun da, wo aus dem allgemeinen Princip die einzelnen Maßregeln für die Hebung der Landwirthſchaft hervorgehen; und dieſe theilen ſich wieder in zwei Ge - biete, die wir als den allgemeinen und den beſonderen Theil zu be - zeichnen haben.

a) Allgemeiner Theil.

Das, was wir die allgemeine Landwirthſchaftspflege nennen, iſt nun die beſondere Geſtalt, welche die allgemeinen Grundſätze der334 Volkswirthſchaftspflege in ihrer Anwendung auf die Landwirthſchaft empfangen. Dieſelben ſind an ſich ſehr einfach, ihre Verwirklichung aber fordert große Fachkenntniß, und in ihr beſteht jetzt eigent - lich der Inhalt der Volkswirthſchaftspflege unſerer Epoche. Die betreffenden Gebiete ſind die Verkehrsfreiheit des Grundes und Bodens, der Schutz der Produktion, das Communikationsweſen für die erzeugten Produkte, und das Creditweſen für die landwirthſchaftlichen Unter - nehmungen, welche ſie erzeugen.

a) Die rechtliche Verkehrsfreiheit des Grundes und Bodens iſt die freie Theilbarkeit. Das Recht der Theilbarkeit hat zwei Epochen. In der erſten erſcheint es als einfacher Ausdruck der wirthſchaftlichen Befreiung des Grundbeſitzes von der ſtändiſchen Herrſchaft, und iſt eben deßhalb der freieren Richtung überhaupt nicht zweifelhaft. In der zweiten tritt die Frage nach der Zweckmäßigkeit derſelben auf, welcher die Vorſtellung von der einerſeits wirthſchaftlichen und anderer - ſeits geſellſchaftlichen Gefahr zum Grunde liegt, die mit der Zerſtücke - lung in zu kleine Theile und der Anhäufung zu großer Grundbeſitze verbunden iſt. Der Streit darüber kommt weder auf Grundlage ſtati - ſtiſcher Thatſachen noch theoretiſcher Erwägungen zu einem feſten Re - ſultat, obwohl er ſeit einem halben Jahrhundert auf das lebhafteſte geführt wird, da immer neue Thatſachen bisher anerkannte wiſſenſchaft - liche Principien wieder zweifelhaft machen. Es wird daher klar, daß ein definitives Reſultat innerhalb der Gränze der bloßen Zweckmäßig - keit oder Gefahr überhaupt nicht gefunden werden kann. Der einzig richtige Standpunkt iſt der, der über beiden ſteht. Zerſtückelung und Zuſammenlegung ſind an und für ſich weder gut noch ſchlecht; Verbote der Theilung des Gutes können die Theilung des Werthes durch Hy - potheken doch nicht aufhalten, ſo wenig wie man geſetzlich die Bildung von Latifundien hindern kann; und was man nicht thun kann, ſoll man nicht thun wollen. In der That iſt jeder Rechtsſatz, der den freien Verkehr hindert, nicht ein Ausdruck nationalökonomiſcher Auf - faſſungen, ſondern der Reſt der Geſchlechterordnung im Recht des Grundbeſitzes, und die freie Theilbarkeit die rechtliche Geltung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und ihrer Principien auch auf dieſem Gebiet. Und darum iſt ihr Sieg unvermeidlich, und der Kampf da - gegen nutzlos. Denn jede freie Bewegung iſt heilſam, ſo lange die perſönliche wirthſchaftliche Tüchtigkeit nicht darunter leidet. Beſchrän - kungen derſelben ſind nicht bloß immer volkswirthſchaftlich bedenklich, ſondern ſtets die Unmündigkeitserklärung des Standes der Landwirthe, und die iſt an und für ſich ſchlimmer, als alle Folgen der Zerſtücke - lung. Die Latifundienbildung aber iſt nie bedenklich, ſo lange die335 gebildeten großen Beſitze nicht durch Fideicommiſſe dem freien Verkehr entzogen werden. Im richtigen Verſtändniß dieſer Wahrheit, daß die Uebelſtände, welche der freie Verkehr bringt, allein durch denſelben freien Verkehr wieder geheilt werden, iſt daher jetzt die freie Theilbar - keit des Bodens in allen civiliſirten Staaten als eine der weſentlichſten Grundlagen der tüchtigen Landwirthſchaft anerkannt, und der Streit über ihren Werth als ein hiſtoriſcher anzuſehen.

Die ganze Literatur über die Theilbarkeit mit ihrer Reſultatloſigkeit reſul - tatlos zuſammengeſtellt namentlich bei Roſcher, Nationalökonomie II. (vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 170 und Rau, Volkswirthſchaftspflege I. §. 76. 77). Allmählige Entwicklung der Freiheit des Verkehrs aus den früheren Verboten theils der Niederlegung von Bauerngütern, theils Gebundenheit derſelben, theils der Größe derſelben. Ausführliche und gründliche Zuſammenſtellungen von Bernhardi, Kritik der Gründe für großes und kleines Grundeigenthum 1849. Der theoretiſche Streit iſt naturgemäß endlos. Frankreich hat die volle Freiheit des Verkehrs; Preußen hat ſie bereits durch das Landes - culturedikt von 1811 eingeführt; Oeſterreich durch das neue Geſetz vom 25. Mai 1868. Bayern hat noch das Geſetz über gewerbsmäßige Guts - zertrümmerung vom 28. Mai 1852. Sachſen-Weimar: Verordnung vom 4. Jan. 1864 (Ordnung der Theilbarkeit). Noch haben keine ſtatiſtiſchen Thatſachen die Verkehrsfreiheit als nachtheilig bewieſen (ſ. gründliche ſtatiſtiſche Bearbeitung von Engels Zeitſchrift des ſtat. Bureaus 1865; Ergebniſſe der Theilbarkeit von 1816 1859).

b. Der Schutz der Landwirthſchaft iſt ein doppelter.

1) Der Schutz der Produktion beſteht in der Anwendung des Schutzollprincips auf den Handel mit der Produktion der Landwirthſchaft, gewöhnlich als Kornzoll bezeichnet. Jeder Kornzoll iſt an und für ſich falſch, weil er überhaupt nicht die Fähigkeit hat, die Produktion zu ſteigern, da die jährliche Produktion von der Ernte, die allgemeine aber von der Entwicklung der Gewerbe und Induſtrie abhängt. Er iſt aber auch als Ausgleichung der Grundſteuer falſch, weil er zu einer ſolchen gleichfalls nicht fähig iſt. Er iſt endlich für das ganze Volk um ſo ſchädlicher, als er durch Vertheuerung der Nahrungs - mittel um ſo nachtheiliger wirkt, je mehr er einträgt. Es gibt gar keinen rationellen Geſichtspunkt, von dem aus man ihn vertheidigen könnte.

Natürlich auch hierüber großer Streit; Bewußtſein über den Nachtheil der Kornzölle zuerſt in der phyſiokratiſchen Schule. Bedeutung der Kornzölle im geraden Verhältniß zu den Communikationsmitteln. Lotz, Staatswirthſchafts - lehre II. §. 110 ff. gründlich und ausführlich für Freiheit des Getreidehandels. Reiche und umfaſſende Darſtellung der Zollgeſetzgebungen bei Rau, Volks - wirthſchaftspflege §. 131. Es iſt durchaus nicht abzuſehen, welcher vernünftige336 Zweck noch mit den Einfuhrzöllen auf landwirthſchaftliche Produkte in unſerer Zeit noch erreicht werden ſoll.

2) Der Schutz des Betriebes und der Produktion. Ge - wöhnliche Auffaſſung als bloße Anwendung der Sicherheitspolizei auf die Landwirthſchaft. Im höheren Sinne iſt ſie dagegen ein ſyſtemati - ſcher Kampf gegen alle Gefährdungen und Hemmniſſe der landwirth - ſchaftlichen Produktion durch die Elemente zuerſt, und dann durch die Menſchen. Daher erſtlich: Elementarpolizei der Landwirth - ſchaft, und zwar: a) landwirthſchaftliche Flurpolizei; b) die landwirth - ſchaftliche Waſſerordnung, ſpeciell die Entwäſſerungs - und Be - wäſſerungsordnungen, die eben deßhalb vielfach als rein landwirth - ſchaftliche Maßregel und Rechtsverhältniſſe behandelt werden; c) land - wirthſchaftliches Verſicherungsweſen, ſpeciell die Hagel - und Viehverſicherungen. Es iſt ſchon früher dargeſtellt, daß dieſe drei Aufgaben weſentlich dem Vereinsweſen angehören; die Landwirth - ſchaftsvereine ſollen, was ſie bisher nicht oder zu wenig gethan haben, das Vereinsweſen für dieſe Zwecke theils ins Leben rufen, theils ordnen, indem ſie hierfür ſo viel als thunlich das Princip der Gegenſeitig - keit zur Geltung bringen. Daran ſchließt ſich als ſelbſtändiges wich - tiges Gebiet das Viehſeuchenweſen und ſein Polizeirecht mit dem bisher nur in Deutſchland ausgebildeten Syſtem der unbedingten Ver - nichtung des ganzen angeſteckten Viehſtandes, ſtrengſter Polizei des Viehverkehrs bei Seuchen, Abſchließung, amtlicher Unterſuchung, aber zugleich öffentlicher Entſchädigung, wo Vieh bloß wegen der Gefahr der Anſteckung vernichtet wird.

Das zweite Gebiet iſt die eigentliche Flurpolizei, Aufgabe der Selbſtverwaltung; die Geſetze ſollen die Grundſätze geben, die Land - ſchaften die Verordnungen, und die Ortsgemeinde die Ausführung.

Die Grundſätze über Elementarpolizei ſ. oben. Das landwirthſchaftliche Verſicherungsweſen nebſt Literatur: Rau, Volkswirthſchaftspflege I. §. 105 ff. Ueber Entwäſſerung und Urbarmachung Rau ebend. §. 103. Die Flur - oder Feldpolizeigeſetzgebung Gegenſtand eigener Geſetze, weil ſie ein ſelbſtändiges Ordnungsſtrafrecht enthält, deſſen Ausübung den Gemeinden übergeben wird. Preußen: örtliche Feldpolizeiordnungen der früheren Zeit (Rönne II. §. 377; neueſte Feldpolizeiordnung vom 1. Nov. 1847; Lette und Rönne, Landeskulturgeſetzgebung II. 2). Oeſterreich: Geſetz über Waldſchutz und Waldfrevel vom 30. Jan. 1860. Hauptſache in beiden das Verfahren von Seiten der Feldhüter gegen Perſonen, welche die Ordnung verletzen. Die Vieh - ſeuchenpolizei namentlich in Preußen und Oeſterreich zu einem höchſt ratio - nellen Syſtem ausgebildet, und zwar auf Grundlage eigener Thierarznei - ſchulen und eigener Geſetzgebung. Preußen: Patent vom 2. April 1803. 337Regulativ vom 28. Okt. 1835 und Geſetz vom 11. März 1850. Einzelne Be - ſtimmungen Rönne und Simon, Medicinalweſen I. 613; Rönne, Staats - recht II. 367. Oeſterreich: erſte Inſtruktion ſchon vom 6. Okt. 1803; neueſte Ordnung durch Geſetz vom 4. April 1864.

c. Das landwirthſchaftliche Communikationsweſen wird erſt ein ſelbſtändiges innerhalb des geſammten Wegeweſens, wo die großen Handelswege mit Eiſenbahnen verſehen ſind. Grundſatz daher, daß die Zufahrtswege zu den Eiſenbahnen als das eigentlich landwirthſchaftliche Communikationsweſen angeſehen und als ſolches behandelt werden müſſen.

Außerordentliche Wichtigkeit gerade dieſer Linien für die Landwirthſchaft. Aufgabe der Landtage und Verwaltungsgemeinden. Eigentliche Bedeutung der Vicinalbahnen als Landwirthſchaftsbahnweſen.

d. Das landwirthſchaftliche Creditweſen beſteht in der Verbindung des Perſonal - und Realcredits für den landwirthſchaft - lichen Credit. Der Realcredit wird ſogar faſt allgemein nur als land - wirthſchaftlicher Credit aufgefaßt, obgleich der letztere nur die Hauptart des erſteren iſt, der vielmehr jedem Unternehmen angehört. Der landwirthſchaftliche Perſonalcredit wird dadurch Gegenſtand beſonderer Fürſorge, daß auf dem Lande das Geld ſeltener und theuerer iſt, und die Rückzahlung in größeren Terminen vor ſich geht, als bei den Ge - werben in den Städten. Daher Errichtung eigener Anſtalten für die - ſelben: theils die Beſtimmung der Waiſen - und Depoſitenkaſſen, theils eigene Darlehens - oder Leihkaſſen. Der Erfolg iſt ſtets zweifelhaft.

Vergl. Rau I. §. 120 ausführlich und reich. Roſcher II. §. 133 ff. ; die Waiſen - und Depoſitenkaſſenordnung in Oeſterreich (Verordnung vom 16. Nov. 1850 und 14. Juli 1851, nebſt Inſtruktion vom 17. Mai 1853); Ausdehnung des wichtigen Inſtituts auf die einzelnen Provinzen. Die preußiſchen Dar - lehenskaſſen (Rönne II. §. 379) ſind offenbar nur für den größeren Credit beſtimmt und daher nicht ausreichend. Bayern: Kreishülfskaſſen, ge - gründet 1828 (Pötzl, Verwaltungsrecht §. 90 und 148. K. Sachſen: Organiſation eines landwirthſchaftlichen Creditvereins (Verordnung vom 27. April 1866). Nur fehlt allenthalben die ſtatiſtiſche Veröffentlichung ihrer Thätigkeit. Gut: E. Richter, die landwirthſchaftlichen Creditvereine Preußens und die Hypothekenbanken Frankreichs und Belgiens; Lette, das landwirthſchaftliche Credit - und Hypothekenweſen 2. Aufl. 1868; Faucher, Vierteljahrsſchrift 1864. 2. Bd. S. 40 ff. ; Ernſt Jäger, das landwirthſchaftliche Betriebscapital, Weſen und Entwicklung der Bodencreditinſtitute 1868. (Württemberg.)

e. Das Fachbildungsweſen für die Landwirthſchaft beginnt im vorigen Jahrhundert mit Aufnahme des Gegenſtandes in die Uni - verſitätslehre, theils als Landwirthſchaftspolizei, theils als Theil derStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 22338Cameralwiſſenſchaft, bis ſich in unſerem Jahrhundert eigene Muſter - wirthſchaften und dann ſelbſtändige Lehranſtalten entwickeln. Doch fehlt noch immer die Hauptſache, die vernünftige Verbindung der Ele - mente der Landwirthſchaftslehre mit dem höheren Volksſchulweſen auf dem Lande. Die allgemeine landwirthſchaftliche Fortbildung hat in den Ausſtellungen jetzt ihr öffentliches Hauptorgan, die durch die Vereine veranſtaltet und geleitet werden, während die Lehranſtalten dem Staate gehören, eben ſo wie die Muſterwirthſchaften.

Aeltere Zuſtände: Berg, Polizeirecht III. S. 251. Erſte eigentliche Land - wirthſchaftsſchule von Thaer gegründet in Mögelin 1804; dann Anſtalten in Eldena 1825 und Poppelsdorf 1847 (Preußen) nebſt mehreren andern; Oeſterreich: Altenburg in Ungarn 1849; Sachſen: Tharand; Württemberg: Hohenheim 1818; Bayern: Weihenſtephan (vergl. Rau §. 145; Rönne II. §. 229; Pözl §. 148; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 412; Roſcher §. 172). Landwirthſchaftliche Lehranſtalten in Deutſchland (Allgemeine Zeitung, März 1865).

b) Beſonderer Theil.

Der beſondere Theil der Landwirthſchaftspflege entſteht nun durch die Anwendung der Grundſätze und Einrichtungen des allgemeinen Theils auf die einzelnen Zweige der Landwirthſchaft. Es iſt klar, daß dazu eine ganze Reihe von Fachkenntniſſen gehört, und daß eben deßhalb die Regierung nur ſehr wenig dafür thun kann. Hier iſt das eigentliche Gebiet des Vereinsweſens, das theils durch ſeine Fach - verſammlungen, theils durch periodiſche Organe, theils aber und nament - lich in der neueſten Zeit durch Ausſtellungen mit Prämien und ſonſtigen Anregungen thätig iſt, und hier hat das letztere bisher auch bei weitem am meiſten geleiſtet, da ſich hier je nach Verhältniſſen Wünſche und Bedürfniſſe der Menſchen und Dinge geltend machen. Die Hauptgebiete ſind: 1) Der Gartenbau mit ſeinen Vereinen für Nutzgewächſe und Blumen; 2) Viehzucht, in der namentlich die Pferdezucht eine weſentliche Stelle einnimmt, die unter allen Zweigen der Landwirth - ſchaft die meiſte direkte Unterſtützung von der Regierung empfängt (Geſtüte, Beſchälweſen, Pferderennen); 3) Handelsgewächſe, nament - lich in Verbindung mit dem Seidenbau; 4) Obſtbaumzucht; 5) Bienenzucht. Es wäre ſehr weſentlich, alle dieſe verſchiedenen Vereine um die allgemeinen landwirthſchaftlichen Vereine zu centrali - ſiren. Die Einheit fehlt in allen dieſen Dingen.

Specielle Berückſichtigung namentlich der Viehzucht ſchon im vorigen Jahrhundert. Berg a. a. O. Außer den Fachſchriften ſ. Rau, Volkswirth - ſchaftspflege 1. Buch, Hauptſt. 2 und Roſcher, Nationalökonomie Buch 3. 339Abth. 2 (unvollſtändig). Natürlich iſt hier das techniſche Element das wichtigſte. Nur bei der Pferdezucht tritt in dem Landesbeſchälweſen außerdem das militäriſche Element ſpecifiſch hervor, das zu beſondern Anſtalten und Geſetz - gebungen Anlaß gibt.

IV. Das Gewerbeweſen.
Begriff und Princip.

Das Verſtändniß des Gewerbeweſens als eines ſelbſtändigen Ge - bietes der Verwaltung entſteht erſt da, wo man in Begriff und Princip das Gewerbe von Handel und Induſtrie ſcheidet.

Das Gewerbe iſt ſeinem formalen Begriffe nach diejenige Erwerbs - form, bei welcher das perſönliche Capital die Hauptſache, und die auf einen beſtimmten und dauernden Erwerb berechnet iſt. Von der Induſtrie ſcheidet es ſich formell im Weſentlichen dadurch, daß es mit dem Werkzeug ſtatt mit der Maſchine arbeitet; die neue Entwick - lung des gewerblichen Lebens überhaupt hat es aber unmöglich gemacht, künftig noch eine formelle Gränze des Gewerbes feſtzuhalten. Seine eigentliche Bedeutung muß daher jetzt von einem allgemeinen Stand - punkt aus erfaßt werden.

Seinem höheren Weſen nach iſt nämlich das Gewerbe die Pro - duktion des Individuums für das individuelle Bedürfniß. Es ſchließt ſich daher an das individuelle Leben ſowohl der Producenten als der Conſumenten; es ſetzt individuelle Zwecke und Mittel für den Conſumenten, individuelle Erfahrung und Fähigkeit bei den Producenten voraus. Es kann daher keine Entwicklung finden, ohne tüchtige Ent - wicklung der Individualität; iſt es aber ausgebildet, ſo iſt es wieder der Körper der individuellen ſelbſtändigen Perſönlichkeit. Daher iſt ein Gewerbe unmöglich ohne ſtaatsbürgerliche Freiheit und Selbſtändig - keit; daher hat die alte Welt kein rechtes Gewerbe; daher löst ſich mit dem Gewerbe die freie Geſellſchaftsordnung von der Geſchlechter - und Ständeordnung ab; daher iſt es unfähig, auf den Maßregeln der Verwaltung zu beruhen, ſondern muß in allen ſeinen Theilen auf ſich ſelber ſtehen; daher ſind alle rechtlichen und polizeilichen Beſtimmungen, welche in den Betrieb der Gewerbe hineingreifen, nur Uebergangsmaß - regeln; und alle dieſe Sätze faſſen wir in den einen zuſammen: das höchſte Princip des Verwaltungsrechts der Gewerbe iſt die höchſte ge - werbliche Freiheit.

Dennoch hat auch das Gewerbe gewiſſe Bedingungen, welche durch dieſes Princip des Gewerbes nicht allein erfüllt werden können. Dieſe Bedingungen beſtehen einerſeits in dem Schutze gegen die Gefahren, welche theils in dem Gewerbe ſelbſt, theils durch das Gewerbe entſtehen,340 und die Verhinderung derſelben iſt Sache der Regierung; andererſeits aber in gewiſſen Vorausſetzungen für die Entwicklung des Einzelgewerbes, welche nach dem Weſen der gewerblichen Freiheit nur theilweiſe durch die perſönliche Regierung, theilweiſe aber nur durch das freie Vereins - weſen geboten werden können. So wie nun das Gewerbe ſich ſelb - ſtändig theils aus den früheren Beſchränkungen, theils aus der Ver - ſchmelzung mit der Induſtrie herauslöst, beſtimmen ſich jene Maßregeln nach der beſondern Natur der gewerblichen Erwerbsarten, und ſo ent - ſteht als Geſammtheit der ſpeciell auf das Gewerbe berechneten öffent - lichen Ordnungen und Beſtimmungen das Gewerbeweſen, das man auch wohl, aber unklar, als Organiſation der Gewerbe bezeichnet hat.

Jedoch hat es manche Jahrhunderte gedauert, bis wir zu dem gegenwärtigen Standpunkte gelangt ſind.

Es iſt wohl nicht zweifelhaft, daß die wiſſenſchaftliche Behandlung des Gewerbeweſens einer ganz neuen Geſtalt entgegengeht, die von einem höheren als dem bisherigen Standpunkte ausgehen wird. Die bisherige Auffaſſung des Gewerbes namentlich in Deutſchland beruht im Grunde noch auf der formellen Scheidung der einzelnen Gewerbe, wie ſie ſich hiſtoriſch gebildet haben, während unſere Zeit auch hier die feſte Gränze aufhebt, und an ihre Stelle den des gewerblichen Betriebes überhaupt ſetzt, auf dem, gegenüber dem alten Recht, der Begriff und das Recht der Gewerbefreiheit beruht. Die Literatur der eigentlichen Gewerbe ſchließt ſich zunächſt an die Gewerbeordnungen theils der Reichs -, theils der Landesgeſetze, ihre erſte Geſtalt iſt die der Polizei - wiſſenſchaft, welche allerdings noch Handel, Induſtrie und Gewerbe ver - mengt, im Allgemeinen jedoch das Princip der Freiheit und die Erkenntniß des hohen Werthes derſelben vertritt. So Sonnenfels II. 210 ff; Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 1. Th. 2. Buch; Berg, Teutſches Polizeirecht III. (Manufaktur -, Fabrik, - Gewerke - und Handelspolizei, als beſonderer Theil der Stadtwirth - ſchaftspolizei ). Mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts jedoch bereits eine eigene Literatur des Gewerbes, anſchließend an die Frage nach Aufhebung der Zünfte. Chriſtiani, Grundlage eines Planes zur Veredlung des Hand - werkerſtandes in Dänemark 1801; Höck und Roth, Materialien für das Hand - werksrecht und die Handwerksprivilegien 1808; Meerbach, Theorie des Zunft - princips 1806. Der Kampf über das Zunftweſen beginnt eigentlich erſt mit Ad. Smith eine feſte Geſtalt anzunehmen (vergl. die Literatur bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 178) und zieht ſich bis in unſer Jahrhundert hinein. Die bedeutendſte Vertretung der früheren Principien von Hofmann, die Befugniß zum Gewerbebetriebe, zur Berichtigung der Meinungen über Gewerbefreiheit und Gewerbezwang 1840. Die Nationalökonomie iſt, vom Standpunkte Smiths, durchſtehend, wenn auch meiſt beſchränkt, für Gewerbe - freiheit (vergl. Bülau, der Staat und die Induſtrie, jedoch auch ohne Scheidung von Induſtrie und Gewerbe; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 9465; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II; Baumſtark, Encyclopädie §. 467). Daneben ſteht die341 juriſtiſche Literatur, die ſchon ſeit Runde den Stoff in das deutſche Privat - recht aufnimmt; vergl. hier Mittermaier, deutſches Privatrecht. So hat ſich ein gewaltiger Stoff angeſammelt, der weſentlich nur hiſtoriſchen Werth hat. Den richtigen Standpunkt bezeichnet zuerſt Geßler, zur Gewerbeord - nung (Zeitſchrift für Staatswiſſenſchaft Bd. 18) mit der Frage, ob es noch eine eigentliche Gewerborganiſation durch die Geſetzgebung bei voller Gewerbe - freiheit geben könne? Nur will er doch noch zu viel organiſiren (Bezirks - eintheilung mit Bezirksausſchuß S. 458; Mangel des Verſtändniſſes des Vereins - weſens). Statiſtiſch hat dem eigentlichen Gewerbeverein, Kleingewerbe, in ſeiner Scheidung von der Induſtrie ſeine Selbſtändigkeit gegeben G. Schmoller, Geſchichte der deutſchen Kleingewerbe im neunzehnten Jahrhundert 1869.

Elemente der Geſchichte des Gewerberechts.

Auch die Geſchichte des Gewerberechts iſt außerordentlich reich an Einzelnheiten, und zugleich höchſt einfach in ihren Grundzügen. Es iſt im Großen und Ganzen kein Zweifel, daß wir gegenwärtig am Anfang einer neuen Epoche ſtehen, deren Grundcharakter nach dem Siege der gewerblichen Freiheit über die ſtändiſche Unfreiheit der Kampf ſeiner höheren Natur, der individuellen durch das Gewerbe gegebenen Selbſtändigkeit, mit der Gewalt des Capitals iſt, das auch die gewerbliche Arbeit ſich dienſtbar machen will. Daran ſchließt ſich das Princip des Gewerbeweſens unſerer Gegenwart, das erſt auf Grund - lage dieſer hiſtoriſchen Auffaſſung ſeine wahre Bedeutung empfängt.

Das Gewerbe beginnt mit der Ablöſung der freien Arbeit von der Grundherrlichkeit, und bildet ſich ſeine Heimath und Ordnung in den Städten. Aber die Gewalt der ſtändiſchen Elemente iſt ſo groß, daß ſich die corporative Unfreiheit auch der Gewerbe bemächtigt. Die Zünfte und Innungen (urſprünglich Gilden) des freien Vereinsweſens der gewerblichen Arbeit, werden ſchon im dreizehnten Jahrhundert zu ſtändiſchen Corporationen mit ausſchließlichen Rechten, und eigener ſtändiſcher Geſetzgebung und Verwaltung. Die Folge des tiefen Wider - ſtreites der freien Natur des Gewerbes mit der ſtändiſchen Gebundenheit und der Herrſchaft der Sonderintereſſen iſt der Verfall der Gewerbe, der gleichen Schritt hält mit dem Zurückgehen des freien Bauernſtandes, namentlich ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert. Dem entgegen tritt nun die neue Staatenbildung dieſer Zeit mit ihrem beginnenden volkswirth - ſchaftlichen Bewußtſein und ihrer Negation jeder außerhalb ihres Rechts ſtehenden Selbſtändigkeit, und der Kampf für die Gewerbefreiheit beginnt. Seine erſte Geſtalt iſt das Auftreten der Polizei gegen die ſchreiendſten Mißbräuche; ſeine zweite iſt das Conceſſionsweſen der Regierungen, welche neben den ſcharf begränzten Zünften und Innungen neue Zweige der gewerblichen Arbeit einzeln genehmigen;342 ſeine dritte iſt das Auftreten der Manufaktur, in der ſich mit dem vorigen Jahrhundert die Induſtrie (noch ohne Maſchinen, aber ſchon im Großbetrieb) vom Gewerbe ablöſt; ſeine vierte ſind die Beſtätigun - gen der Privilegien, welche die hiſtoriſche Selbſtändigkeit der aus - ſchließlichen Berechtigungen allmälig auflöſen; zugleich beginnt mit dem achtzehnten Jahrhundert die phyſiokratiſche und die Smith’ſche Schule theoretiſch den Gedanken der Arbeitsfreiheit zu vertreten, bis die fran - zöſiſche Revolution den Anſtoß zu der dritten Epoche der eigentlichen Gewerbefreiheit gibt.

Dieſe dritte Epoche beruht nun in ihrer Rechtsbildung einerſeits allerdings auf der Gleichheit des ſtaatsbürgerlichen Rechts für alle, andererſeits aber auch auf der wirthſchaftlichen Unmöglichkeit, die hiſtoriſch feſte Gränze der einzelnen Gewerbe faktiſch oder rechtlich feſt - zuhalten. Die Beſchränkung des Gewerbes wird damit ein immer härterer Widerſpruch mit dem neuen Leben der Volkswirthſchaft, dem nur noch Begriff und Recht der Gewerbefreiheit genügen. Die - ſelbe hat nun neben ihrer unbedingten franzöſiſchen und engliſchen Anerkennung in Deutſchland wieder ihre eigene Geſchichte. Sie beginnt mit der preußiſchen Gewerbefreiheit, deren Grundgedanke wir als die polizeiliche bezeichnen. Ihr Princip iſt die völlige Unabhängig - keit des Gewerbes von den bisherigen Zunftbeſchränkungen, dagegen die polizeiliche, faſt alle Gewerbe umfaſſende Genehmigung, die in der Form von Prüfungen, reſp. Verboten durch die Behörde auftritt. Das war ein großer Fortſchritt vor dem übrigen Deutſch - land, das bis auf unſere Zeit noch immer ſeine Zünfte und ihre Privilegien, die Realgewerbe und Bannrechte des Mittelalters nicht los werden konnte. Die Bewegung von 1848 erſchütterte freilich auch hier das bisherige Syſtem, aber den entſcheidenden Schritt that doch erſt Oeſterreich in ſeiner Gewerbeordnung von 1859, welche die volle Freiheit des Gewerbebetriebes zuerſt durchführte. An das Bei - ſpiel Oeſterreichs ſchloßen ſich alsbald die meiſten übrigen Staaten an, und es iſt zu hoffen, daß auch Preußen dieſer allein berechtigten Rich - tung Raum geben werde.

Erſt dadurch iſt nun die Frage praktiſch geworden, ob es neben dem poſitiven Gewerberecht in den geſetzlichen Gewerbeordnungen noch eine Verwaltung des Gewerbeweſens geben könne. Und dieſe nun enthält folgende weſentlichen Grundlagen, die in ihren Hauptformen dem Landwirthſchaftsweſen analog ſind.

In Deutſchland beginnt der Kampf des Staats mit der Zunftordnung bereits mit dem Reichsabſchied von 1558; Gerſtlacher, Handbuch IX. (1722) und X. (1996) (Reichsgeſetze mit Anmerkungen). Das Hauptgeſetz iſt der Reichs -343 abſchied von 1731, das auf das Entſchiedenſte gegen die Zunft - und Handwerks - mißbräuche auftritt, ohne jedoch auch nur im Entfernteſten die Idee einer gewerblichen Freiheit anzuregen. Sein Inhalt bildet die Baſis der polizei - lichen Literatur bis zum neunzehnten Jahrhundert (vergl. Berg, Teutſches Polizeirecht III. 473 ff; von allen die freieſte und umfaſſendſte Behandlung ſchon bei Juſti, Polizeiweſen II. §. 480 ff.). Daneben erhält ſich dann die ſtreng juriſtiſche Behandlung des hiſtoriſchen Gewerberechts theils für das Zunftrecht überhaupt, theils für die einzelnen Gewerbe, wie Mühlen, Braue - reien, Bäckereien u. a. ſowohl in ſelbſtändigen Werken wie Fricke, Grundſätze des Rechts der Handwerker 1771 1778, theils in den Staatsrechten jener Zeit, wie bei Moſer, Kretſchmann u. a., theils im deutſchen Privatrecht wie bei Runde, theils im Cameralrecht wie bei Fiſcher (vergl. Literatur bei Pütter III. 644; Mittermaier, deutſches Privatrecht II. §. 507 ff.). Die neuere Staatslehre faßt das Recht von der Vorſtellung eines Induſtrieconceſſions - regals auf (Klüber, öffentliches Recht §. 461 ff. ), bis mit unſerem Jahr - hundert der Kampf der Geſetzgebung beginnt. Preußen: Edikt vom 2. Nov. 1810; Princip: bloße Anmeldung; Normirung (Geſetz vom 7. Sept. 1811); dabei Fortbeſtehen der Zünfte; dieſelben Grundſätze weſentlich in der neuen Gewerbeordnung vom 17. Jan. 1845 beibehalten; Erhaltung der Zünfte, aber ohne Ausſchließlichkeit; dagegen weitläuftiges Syſtem der behördlichen Meiſter - prüfung (vergl. Rönne, Staatsrecht II. §. 401 ff.). Bayern: Recht der Conceſſionirung an der Stelle der Zünfte (Geſetz vom 11. Sept. 1825); jedoch Aufrechthaltung der Realgewerberechte und Prüfungsſyſtem (Verordnung vom 17. Dec. 1853; Pözl, Verwaltungsrecht §. 155). Hannover: Zunftweſen aufgehoben 1807; Wiedereinführung 1817. Naſſau: Aufhebung der Zünfte 1819 (Edikt vom 15. März). Sachſen: Gewerbeordnung von 1842. Württemberg: Gewerbeordnung von 1837 auf Grundlage der Zünftigkeit einer beſtimmten Anzahl von Gewerben; Durchführung der polizeilichen Auf - ſicht (Mohl, württemb. Verwaltungsrecht §. 240). Dieß ſind die Grundzüge der preußiſchen Epoche in der Gewerbeordnung. Die zweite bedeutſamere iſt die öſterreichiſche, die mit dem Gewerbegeſetz vom 20. Dcc. 1859 beginnt. Das Geſetz ſchließt die Conceſſionsepoche ab; Grundſatz das Handwerkerpatent von 1731: die Errichtung neuer Zünfte und die Beſtätigung der alten nur vom Landesherrn. Die Generalzunftartikel von 1739. Dann Zulaſſung unzünftiger Gewerbe mit den Schutzdecreten ſeit 1725. Lombardei mit der franzöſiſchen Gewerbefreiheit ſeit 1806. Dann in unſerem Jahrhundert das neue Gewerbe - geſetz von 1859; dann das naſſauiſche von 1860; Bremen (Geſetz von 1861); Oldenburg (Geſetz vom 11. Juli 1861); Sachſen (Geſetz vom 15. Okt. 1861); Württemberg (Geſetz vom 12. Febr. 1862); Baden (Geſetz vom 20. Sept. 1862); vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 192 ff. Ueber das Gewerberecht Badens ſpeciell Dietz, die Gewerbe in Baden 1863 vor der Gewerbefreiheit S. 231 256 (Gewerbegeſetz von 1862 S. 256 ff.). Braun - ſchweig: Gewerbegeſetz vom 3. Aug. 1864 (nach der öſterreich. Gewerbeord - nung). Heſſen: Einführung der Gewerbefreiheit (Geſetz vom 16. Febr. 1866). Charakter iſt die volle Freiheit in der Errichtung eines Gewerbebetriebes, ohne344 Prüfung, und nur mit Genehmigung in einzelnen Fällen. Frankreich: älteſte Ordnung Livre des metiers von Boileau 1260 (1. Thl. Statut von hundert Gewerben; 2. Thl. Ordnung der Wegeabgaben und Zölle; 3. Thl. die gewerbliche Gerichtsbarkeit in Paris); 1467 L. XI. : militäriſche Errichtung der Zünfte (61 bannières). Erſter Verſuch einer Gewerbeordnung (Edikt von 1581 in ganz Frankreich); dann Einführung des Conceſſionsweſens als Syſtem der Offices gegen Abgaben; der tiers Etat von 1714 bittet ſchon um größere Freiheit, jedoch vergeblich. Dann erſte Gewerbefreiheit: Edikt Turgots von 1776 (droit au travail), Zurücknahme deſſelben, bis die Ass. constit. 1791 die volle Gewerbefreiheit unter völliger Beſeitigung aller Zünfte einführt. Dar - nach noch eine Reihe von Geſetzen über das innere und das polizeiliche Recht der Gewerbe (ſ. unten). England hatte gar kein Zunftweſen in ſeinen Städten, wohl aber eine Fortſetzung der alten Gilden und eine Reihe meiſt unwichtiger polizeilicher Beſtimmungen (Kleinſchrod, Engl. Gewerbegeſetz - gebung; Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht I. §. 38; Princip des Rechts: Syſtem von Popularklagen, ſ. unten).

Syſtem des Gewerberechts.

Geht man nun davon aus, daß die Gewerbefreiheit das allein richtige Princip für das öffentliche Recht der Gewerbe iſt, ſo erſcheint das Syſtem des Gewerberechts als die Geſammtheit von denjenigen öffentlich rechtlichen Grundſätzen, welche die öffentlichen Intereſſen gegen - über dieſer Freiheit zur Geltung bringen, während das Gewerberecht, inſofern es nur noch dieſe Freiheit herſtellt, faſt allenthalben als eine bloß hiſtoriſche Thatſache angeſehen werden muß.

Dieſes Syſtem hat auch hier die drei Gebiete der Organiſation des allgemeinen und des beſonderen Theiles der Gewerbever - waltung.

Bei der Behandlung dieſes Gegenſtandes muß man ſich vor allem hüten, die Gewerbeordnungen zum Grunde zu legen. Sie ſind ſelbſt mit ihrem ganzen Inhalt nur ein Theil und eine Conſequenz des Princips des Gewerbe - weſens. Eben ſo ſollte alles noch beſtehende Recht der Unfreiheit der Gewerbe aus dem Syſtem der Verwaltung des Gewerbeweſens beſeitigt, und in die Geſchichte verwieſen werden.

a) Organiſation des Gewerbeweſens.

Die Organiſation des Gewerbeweſens hat die drei Grundformen aller Verwaltung.

Die amtliche Organiſation enthält das Recht und die Competenz der Behörden, in die Gewerbepflege einzugreifen. Die Aufgaben ſind der Regel nach örtlicher Natur; ſo wie ſie weiter greifen, umfaſſen ſie Handel, Induſtrie und Landwirthſchaft zugleich. Je freier das Gewerbe,345 je geringer iſt die Thätigkeit der Behörde. Die Frage nach der Er - richtung beſonderer Gewerbegerichte muß durchaus verneint werden.

Die Selbſtverwaltung erſcheint in den Gewerbekammern, die meiſt mit den Handelskammern verbunden ſind, und die Vertretung der Gewerbe übernehmen.

Das Vereinsweſen entwickelt ſich in dem Grade, in welchem die Gewerbe freier werden, als der eigentliche Träger der Gewerbe - verwaltung. Es beginnt mit dem vergeblichen Verſuch der preußiſchen Gewerbeordnung, die alten Zünfte zu Gewerbevereinen umzugeſtalten; derſelbe Gedanke ſetzt ſich fort in den Genoſſenſchaften der öſter - reichiſchen Gewerbeordnung; aber erſt da, wo die Gewerbetreibenden ſelbſt aus freiem Antrieb Vereine bilden, entwickelt es ſeine Bedeutung. Die ſpeciell auf die Gewerbe berechneten Hülfs - und Bildungsvereine gehen in allgemeine Vereine auf; dagegen entſtehen die gewerblichen Unternehmungsvereine, meiſt als Verkaufsgeſellſchaften u. ſ. w. und von großer Bedeutung die gewerblichen Intereſſenvereine, die eigentlich ſog. Gewerbevereine, welche mit der Verbreitung höherer gewerblicher Bildung das Verſtändniß der wahren Intereſſen der Ge - werbe verbinden, und dadurch höchſt wohlthätig wirken.

England hat weder eigene Gewerbebehörden noch Gewerberäthe, noch Gewerbegerichte. Das Gericht iſt der Friedensrichter (Gneiſt, Engl. Ver - faſſung I. 312; Verwaltung I. §. 38). Frankreich hat die Gewerbe nicht ſpeciell in ſein Syſtem der Conseils aufgenommen (Stein, Selbſtverwaltung S. 118 f.), wohl aber ſind ſie in den Chambres de Commerce vertreten. Da - gegen iſt das Conseil des prudhommes (Geſetz vom 18. März 1806) als Ge - werbegericht der Urſprung der Gewerbegerichte namentlich in Deutſchland. (Meißner, Fabriksgerichte 1856); die Hauptaufgabe dieſer Conseils liegt je - doch nicht im Gebiete der Gewerbe, ſondern der Induſtrie. Preußen: Art. 91 der Verfaſſung (Verordnung vom 9. Febr. 1849; Rönne II. §. 294; vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 198); Gewerberäthe in Preußen als Gewerbekammern fakultativ (Geſetz vom 9. Febr. 1849); Bauräthe in Baden (Dietz, Gewerbe S. 229). Handelskammern ſeit 1808; Gewerbeſchulräthe ebend. S. 242 f. Bayern: Gewerbekammer (Verordnung vom 27. Jan. 1850; Pözl, Verwaltungsrecht S. 337). In Oeſterreich mit den Handelskammern als ſelbſtändige Sektion verbunden (Stubenrauch II. §. 514). Neue Handels - kammerordnung von 1868. Ueber die Genoſſenſchaften der öſterreich. Gewerbe - geſetze ſ. Stubenrauch II. §. 500. Preußen ſeit 1849 (Rönne II. §. 395). Oeſterreich: Stubenrauch, Vereinsweſen S. 216 ff. Das Gewerbe - geſetz hat die Gewerbegenoſſenſchaften fakultativ mit Gerichtsbarkeit über Streitig - keiten zwiſchen Meiſter und Hülfsperſonal ins Leben rufen wollen, Hauptſt. VII. und §. 102, ohne rechten Erfolg. Baden: zweiundzwanzig Vereine (Dietz a. a. O. Bayern: Pözl, Verwaltungsrecht §. 160).

346
b) Allgemeine Gewerbspflege.

Die allgemeine Gewerbspflege erſcheint als Anwendung der allge - meinen Volkswirthſchaftspflege auf das gewerbliche Leben, ſo weit das letztere eine beſondere Geſtalt des erſteren fordert. Das iſt der Fall im Bildungs - und Creditweſen. Das gewerbliche Bildungsweſen als Theil des wirthſchaftlichen Berufsbildungsweſens beruht in ſeinem Princip auf dem höheren Weſen des Gewerbes, und zwar im weſent - lichen Unterſchied von der Induſtrie darin, daß es das Moment der individuellen Produktionskraft zu entwickeln hat. Das nun kann nur durch Bildung des Geſchmackes geſchehen, welcher den Produkten den freien Werth gibt. Die ſpecielle Gewerbebildung beſteht daher weſentlich in Zeichnen - und Muſterſchulen für die Lehrlinge, wäh - rend für die Meiſter die Vorträge in den Gewerbevereinen und die Ausſtellungen eintreten. Dieſe Bildungsanſtalten ſind naturgemäß Sache der Vereine. Der gewerbliche Creditverein iſt vermöge der Natur der gewerblichen Produktion weder ein ſtrenger Zahlungs - noch ein Unternehmungscredit, ſondern diejenige Verbindung beider, die wir den Vorſchußcredit genannt haben, da er nur kleine Capi - talien fordert, ſeine Sicherheit zunächſt in der producirten Waare findet, und mit dem Erlös derſelben zurückgezahlt wird. Das gewerbliche Creditvereinsweſen beruht daher auf der Gegenſeitigkeit, dem zwar ein Aktiencapital als Grundlage zu Hülfe kommen kann, dem aber nothwendig die gewählte Creditverwaltung die Sicherheit für jeden einzelnen Credit, und die gegenſeitige ſolidariſche Haftung die Sicherheit und damit den billigen Zinsfuß für das Ganze geben muß. Dieſe Gruppe von gewerblichen Creditanſtalten bezeichnen wir als das Syſtem der Gewerbe - und Volksbanken, die ſich bisher nur noch theilweiſe von dem übrigen Creditweſen losgelöst haben. Neben ihnen ſtehen Anſtalten für den perſönlichen Credit, Leihanſtalten ꝛc., die in der Regel mehr auf die Noth als auf die gewerbliche Unternehmung be - rechnet ſind.

Ueber die eigentlichen gewerblichen Bildungsanſtalten war man ſchon im vorigen Jahrhundert im Weſentlichen einig. Benſen, Staatslehre, Abth. 3. §. 728; Vogt: durch welche Mittel können unſere Handwerker dazu gebracht werden, daß ſie Verbeſſerungen ihrer Gewerbe nützen ꝛc. 1799; Berg, Polizeirecht III. S. 444. Neuere Zeit: Grundſatz der organiſchen Einfügung des gewerblichen Bildungsweſens in den Volks - und Berufsunterricht, des erſteren in dem Syſtem der Realſchulen, des letzteren in dem der eigentlichen Gewerbeſchulen. Damit hat das gewerbliche Unterrichtsweſen ſeine organiſche Stellung empfangen. Falſch iſt nur die Verſchmelzung des Gewerbeunterrichts mit der Handels - und Kunſtbildung. Rau II. §. 204; Mohl, Polizeiwiſſen -347 ſchaft I. §. 77 ff. II. §. 160. Gewerbeſchulen in Oeſterreich: Stubenrauch II. §. 411. Die Provinzialgewerbeſchulen und das techniſche Gewerbeinſtitut: Rönne, Unterrichtsweſen des preuß. Staates I. 260; Staatsrecht II. §. 452. Gewerbeſchulen in Bayern ſeit 1833 (Geſetz vom 16. Febr.; Pözl, Ver - waltungsrecht §. 153). Baden: Dietz S. 64. Ueber die franzöſiſchen Ecoles de dessin vergl. Stein, Bildungsweſen S. 286 ff. England: Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. 63 ff. ; Stein, Bildungsweſen S. 319 f.; über Englands Mechanics Institutes, Vereine für gewerbliche und zugleich all - gemeine Fachbildung ſ. Fallati, Zeitſchrift für Staatswirthſchaft 1846.

Ueber die Gewerbebanken ſ. oben. Nothwendigkeit, ſie von den gewöhn - lichen Banken zu ſcheiden, und das Princip der Gegenſeitigkeit beſſer hervorzuheben.

c) Gewerberecht.

Das Gewerberecht entſteht nun, indem die Natur des Gewerbes das allgemeine bürgerliche Recht des Gewerbetreibenden theils in Be - ziehung auf ſein Verhältniß zum eigenen Unternehmen, theils in Be - ziehung auf Dritte modificirt. Aus dem erſten Faktor entſteht die eigentliche Gewerbeordnung, aus dem zweiten die Gewerbepolizei. Beide zuſammen bilden das Gewerberecht in der Gewerbefreiheit, und iſt daſſelbe wieder theils ein allgemeines, für alle Arten des Gewerbes gemeinſchaftliches, theils ein beſonderes.

I. Die Gewerbeordnung enthält zwei Gebiete; einerſeits das Recht auf den Gewerbebetrieb, andererſeits das Rechtsverhältniß zwi - ſchen Meiſter und Hülfsperſonal (Unternehmer und Arbeiter).

a) Das Princip der Gewerbefreiheit fordert das an ſich unbe - ſchränkte Recht auf das Unternehmen eines jeden Gewerbes durch jede Perſon, ſo weit ſie überhaupt nach bürgerlichem Recht dispoſitionsfähig iſt. Es iſt weder richtig, durch die Begriffe von Unbeſcholtenheit ꝛc., noch durch Mangel an Heimathsberechtigung den Beginn eines Ge - werbsunternehmens aufzuhalten. Die Anzeige muß als eine Steuer - pflicht beurtheilt werden.

Es iſt nicht richtig, den Standpunkt der preußiſchen und öſterreichiſchen Gewerbeordnung (Verbot des Gewerbebetriebes durch gerichtliches Urtheil, Un - fähigkeit wegen begangenen Verbrechens ꝛc. ) aufrecht zu halten, um ſo weniger als die Gränze für den Begriff des gewerblichen Unternehmens überhaupt nicht mehr feſtzuhalten iſt. Prüfungen ꝛc. gehören ſchon der Gewerbepolizei.

b) Meiſter, Geſellen, Lehrlinge ſind nach der vollen Ge - werbefreiheit im Grunde nur noch hiſtoriſche Begriffe und Rechtsverhält - niſſe; für alle dabei zur Sprache kommenden Beziehungen gilt nur das allgemeine bürgerliche Recht. Allein die Natur der meiſten, als dauernde und ſelbſtändige Unternehmungen auftretenden eigentlichen Gewerbe, hat einen großen Theil jener Verhältniſſe der früheren Gewerbeordnung348 erhalten, und wird ſie erhalten. Es muß daher als Grundſatz ange - nommen werden, daß für alle Verhältniſſe des Hülfsperſonals zu - nächſt der eingegangene Vertrag gilt, wenn ein ſolcher nachgewieſen werden kann; wo aber kein ſolcher beſteht, muß das Recht der Ge - werbeordnungen als ſubſidiäres Recht gelten. Das iſt der Standpunkt, von dem aus die Bedeutung dieſes Theiles der beſtehen - den Gewerbeordnungen zu betrachten iſt.

Obgleich die deutſchen Gewerbeordnungen ſich nicht klar darüber ausſprechen, iſt doch wohl über dieſen Satz kein Zweifel aus ihrem Inhalt herzuleiten. Am klarſten iſt derſelbe anerkannt in dem Lehrlingsgeſetz von Frankreich (22. Febr. 1851; vergl. Block, Dict. v. Apprentissage; Kleinſchrod a. a. O. 95; Rau §. 199).

II. Die Gewerbegerichte. Die hiſtoriſche Grundlage derſelben iſt ohne Zweifel das Recht der Selbſtverwaltung der alten Körper - ſchaften in Zunft und Innung. Das neue Princip der Gewerbefreiheit hat dieſelben jedoch zum Theil aufgenommen auf Grundlage des Ge - dankens, daß die Verhältniſſe zwiſchen Meiſter, Geſellen und Lehrling noch immer einen beſonderen Inhalt haben, und daß andererſeits ein eigentliches Gerichtsverfahren dafür nicht geeignet ſei. England hat in dieſer Beziehung jedoch dem Friedensrichter noch ſeine alte Gewalt gelaſſen; Frankreich, das die Gewerbe mit der Induſtrie im Grunde mehr principiell als wirklich ſcheidet, hat das Conseil des Prudhommes vielmehr als ein Arbeitergericht hergeſtellt; nur in Deutſchland hat man die eigentlichen, übrigens wohl für das Lehrlingsweſen kaum ſehr praktiſchen Gewerbegerichte beibehalten, reſpektive neu eingeführt.

In England ſtand die Jurisdiktion über Streitigkeiten zwiſchen Meiſter und Lehrlingen ſchon ſeit 5. Eliz. 4. den Friedensrichtern zu; 20. Georg. II. 19; ausgedehnt auf Strafrecht, bei Gericht von zwei Friedensrichtern. Das Zwangs - lehrlingsweſen als Theil der Armenkinderpflege gleichfalls ſchon durch 43. Eliz. 2. eingeführt und durch 56. Georg. III. 139. für die Kirchſpiele organiſirt; nach 7. 8. Vict. 101. ſtehen dieſe Lehrlingscontrakte unter den guardians of the poor; ſ. Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 47. Die Prudhommes Frankreichs unterſcheidet ſich weſentlich davon, theils durch die Zuſammenſetzung (Wahl und Bildung aus Miniſtern, Arbeitgebern und Arbeitern) theils durch ihre Competenz (neben louage d’ouvrage auch propriété industrielle). Erſte Bildung 1806; neue Organiſation ſeit 1850 (Geſetz vom 1. Juni 1853; mehrere Geſetze über einzelne Fragen; Literatur bei Block, Dict. v. Prudhomme; Meißner, Fabrikgerichte). Die öſterreichiſche Geſetzgebung hat den bereits in der Gewerbeordnung von 1859 liegenden Grundſatz zu einem eigenen Syſtem im Geſetz vom 14. Mai 1869 entwickelt; Competenz: Streit zwiſchen Herren und Arbeitern; Organiſation: Wahl von beiden Seiten; Recht: In - appellabel bis 30 fl. Grundlage des Verfahrens: Vergleichsverſuch. Preußens349 Gewerbegerichte auf Grund der Verfaſſungsurkunde ſchon durch Verordnung vom 2. Jan. 1849 eingerichtet, gleichfalls nach dem franzöſiſchen Muſter, weſentlich mit derſelben Verſchmelzung von Gewerbe und Induſtrie (vergl. Rönne, Staatsrecht II. §. 274).

III. Die Gewerbepolizei enthält die Geſammtheit derjenigen geſetzlichen Beſtimmungen und Maßregeln, welche den Zweck haben, die Einzelnen gegen die Nachtheile zu ſchützen, welche ihnen durch die Ausübung des Gewerbes entſtehen können. Die Auffaſſung derſelben iſt weſentlich verſchieden nach dem engliſchen, franzöſiſchen und deutſchen Recht. Nach dem engliſchen Princip gibt es überhaupt keine allge - meine, für alle Gewerbe gültige Gewerbepolizei, ſondern dieſelbe tritt nur bei einzelnen Gewerben ein, und zwar nicht auf Grundlage eines Einſchreitens der Behörde, ſondern durch Popularklagen der Be - theiligten beim Friedensrichter. Nach franzöſiſchem Recht iſt dagegen die Polizei der Etablissements dangereux ſelbſtändige Aufgabe der Behörde, während ſonſt keine eigenen Maßregeln beſtehen. Nach deut - ſchem Recht endlich iſt mit der Aufhebung der Gewerbefreiheit ein ausgebildetes Syſtem der polizeilichen Vorſorge geſchaffen. Dieſes beruht auf drei Punkten. Zuerſt wird für gewiſſe Gewerbe ein ge - wiſſes Maß von Fachbildung gefordert zur Sicherung des Publi - kums. Dann wird aus dem Geſichtspunkte der Elemente der Geſund - heitspolizei, ſo wie zum Schutze der Anwohner für gewiſſe Gewerbe die Anlage der behördlichen Genehmigung unterworfen, und für ge - wiſſe andere im Intereſſe der öffentlichen Sicherheit der Betrieb unter Conceſſion geſtellt; das Recht des Verbotes von Seiten der Behörde iſt das Correlat dieſes Rechts der Gewerbsbewilligung. Es iſt kein Zweifel, daß in gewiſſen Gränzen dieſes Princip das richtige iſt, da die Popularklagen daſſelbe für das praktiſche Leben nicht erſetzen.

Dieſe Gewerbepolizei bildet faſt allenthalben den Haupttheil der neuen Gewerbeordnungen; die darauf bezüglichen Beſtimmungen haben eigentlich die Aufgabe, die Gränze zwiſchen dem Recht des Einzelnen und dem des öffent - lichen Intereſſes im Gewerbe geſetzlich feſtzuſtellen. Ueber England vergl. Kleinſchrod, gewerbliche Geſetzgebung und Gneiſt, Engl. Verwaltungs - recht, Gewerbepolizei §. 38. Das franzöſiſche Geſetz über die Établisse - ments dangereux, das Decret vom 15. Okt. 1810 war eigentlich nur die Ab - hülfe gegen die große und höchſt unbeſtimmte polizeiliche Gewalt der Maires, die ihnen das Geſetz vom 13. Nov. 1792 gegeben hatte. Das Decret vom 15. Okt. 1810 ſtellt drei Claſſen auf (établissements dangereux, insalubres et incommodes); erſte Claſſe: Anlagen, welche wegen elementarer Gefahr von den Wohnungen entfernt ſein müſſen; zweite Claſſe: ſolche Anlagen, welche durch ihren Umfang in die Intereſſen der Nachbarn eingreifen (nament - lich Fabriksanlagen); dritte Claſſe: ſolche welche bloß Nachtheile bringen und350 dadurch die Nachbarn beeinträchtigen. Ueber die Begränzung und das Verfahren bei ſolchen Genehmigungen, das zuletzt durch das Decret vom 6. April 1852 geregelt ward, ein faſt endloſer Streit und eine Reihe von Verordnungen, welche beweiſen, daß das ganze Princip der Claſſeneintheilung falſch, und nur das deutſche Syſtem der ſpeciellen Bezeichnung der zu genehmigenden An - lagen richtig iſt. Doch halten die Franzoſen noch feſt daran. Trebuchet (Code administratif des établissements dangereuses, insalubres et incom - modes, Paris 1832) und Aviſſi (Etablissements industriels; industries dangereuses, insalubres et incommodes, Paris 1851). Ueber das Ver - fahren derſelben Decentralisation administrative, ses effets sur le régime administrative des établissements, Paris 1852; Block, Dict. v. Eta - blissements publ. Das deutſche Recht ſcheidet ſich in Beziehung auf den erſten Punkt in den preußiſchen Standpunkt, der die polizeiliche Prüfung für den Beginn des Gewerbes zur Regel, und den freien Beginn zur Ausnahme macht (Gewerbeordnung von 1845; ſehr kurz: Rönne, Staats - recht II. §. 402) und den öſterreichiſchen, der umgekehrt den freien Beginn zur Regel und die Prüfung zur Ausnahme macht. Das preußiſche Recht iſt, zum Nachtheil der freien Entwicklung, noch bedeutend verſchärft durch die Ver - ordnung vom 9. Febr. 1849 und Geſetz vom 15. Mai 1854; Rönne §. 403. Die öſterreichiſche Gewerbeordnung hat ferner den Unterſchied zwiſchen Geneh - migung der Anlage und des Betriebes klar durchgeführt in den richtigen Kate - gorien der freien (§. 13), der conceſſionirten §. 16 ff. ( geſetzlich vorge - ſchriebenen beſondern Befähigung zur Erlangung des conceſſionirten Ge - werbes wegen elementaren und Geſundheitsgefahren) und der genehmigten Gewerbe §. 31. ( Genehmigung der Betriebsanlage ) durchgeführt, das Ver - fahren dabei iſt mit gutem Recht den formellen Beſtimmungen des franzöſiſchen Rechts nachgebildet (Ediktalverfahren mit Rekurs §. 35 ff.).

IV. Einzelne Gewerbeordnungen und ihre Polizei. In dieſem Sinne des freien Gewerberechts löst ſich die Gewerbepolizei nun eigentlich auf in die polizeilichen Vorſchriften für die ein - zelnen Gewerbe, deren ordnungsmäßiger Betrieb entweder eine Be - dingung oder eine Gefahr für das Geſammtleben enthält. Das erſte iſt der Fall bei den für die tägliche Ernährung ſorgenden Ge - werben, namentlich Bäckerei, Schlächterei, Brauerei und Gaſtgeberei; das zweite bei den mit elementaren Stoffen und Kräften arbeitenden Betrieben, namentlich bei Maſchinen, Baugewerben, Schiffern, Rauch - fangskehrern u. A. Der Inhalt der polizeilichen Vorſchriften ergibt ſich als Conſequenz der Natur des Gewerbes ſelbſt, und es iſt daher erklärlich, daß hier zum Theil auch das frühere Recht vielfach eingreift, ſo daß hier jedes dieſer Gewerbe ſein eigenes Recht hat, das be - ſonderer Darſtellung bedarf.

Engliſche ſpecielle Gewerbepolizei für eine ganze Reihe von Einzelge - werben bei Gneiſt a. a. O. §. 38. Frankreich hat namentlich das Recht351 und die Ordnung der Schlächterei und Bäckerei ausgebildet, vergl. Block v. Boucherie und Boulangerie. Das preußiſche Recht bei Rönne a. a. O. und §. 404. Das öſterreichiſche: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 472 ff. Mühlordnungen ebend. I. II. §. 315. Schlachtviehordnung II. §. 271. Beachtenswerth der §. 56 der öſterreich. Gewerbeordnung über Verpflichtung zu Vorräthen und §. 57 Verpflichtung zur zweimonatlichen Fort - führung des Gewerbes bei Bäckern, Fleiſchern und Rauchfangkehrern.

V. Die Induſtrie und die Verwaltung.
Begriff und Princip.

Es muß wie geſagt, als eine weſentliche Forderung der Volks - wirthſchaftspflege angeſehen werden, daß man die Induſtrie von dem Gewerbe ſcheide, damit das Gebiet der Verwaltung der erſteren mit ihren ſpecifiſchen Aufgaben gegenüber der letzteren ſelbſtändig hervortrete. Denn es iſt zugleich ein weſentlich verſchiedenes Rechtsgebiet, welches wir hier betreten.

Die Induſtrie umfaßt ihrem formalen Begriffe nach die Geſammt - heit derjenigen wirthſchaftlichen Produktionen, welche auf der Verwen - dung der Maſchinen als Arbeitskraft beruhen. Es ändert auch hier das Weſen der Sache nicht, daß die äußere Gränze zwiſchen Gewerbe und Induſtrie vielfach in einander übergeht.

Aus dieſer formalen Grundlage ergibt ſich die höhere Natur der Induſtrie dahin, daß durch das Auftreten der Maſchinen das Güter - capital die Bedingung des Unternehmers wird, und das perſönliche Capital nicht mehr ausreicht, wie bei dem Gewerbe. Die Folge davon iſt, daß während bei dem Gewerbe Capital und Arbeit noch Hand in Hand gehen, bei der Induſtrie Capital und Arbeit ſich ſcheiden. So wie ſie geſchieden ſind, haben ſie nicht bloß jedes für ſich ſelbſtändige Intereſſe, ſondern ſie treten auch mit einander in Gegenſatz. Die Aufgabe der Verwaltung wird damit nicht bloß die, für jedes dieſer beiden Elemente die Bedingungen herzuſtellen, die ſie ſich nicht ſelber geben können, ſondern auch die dritte große Bedingung aller indu - ſtriellen Entwicklung, der ſociale Inhalt des Induſtrieweſens, die Harmonie, bei den großen Faktoren der Induſtrie da einzugreifen, wo die Störung derſelben eine Gefahr für die letztere wird, und in dieſem Sinne müſſen wir von einem ſelbſtändigen Syſtem der Verwal - tung der Induſtrie neben dem der Gewerbe reden.

Es iſt wohl als eine unabweisbare Forderung anzuerkennen, daß wir die Induſtrie von dem Gewerbe in Theorie und Geſetzgebung trennen, da das Recht der erſteren von dem des letzteren ſo weſentlich verſchieden iſt. So viel auch von Induſtrie die Rede iſt, ſo ſind wir doch in dieſer Beziehung nicht352 weiter als die Literatur des vorigen Jahrhunderts, indem man bald wie Rau die Induſtrie unter das Gewerbe fallen läßt, bald wie Bulau das Gewerbe in die Induſtrie zieht, bald wie Mohl die letzteren überhaupt nicht erwähnt. Die Nationalökonomie freilich müßte mit gutem Beiſpiel vorangehen.

Elemente der Geſchichte.

Die Geſchichte der Induſtrie im obigen Sinn und ihres Rechts hat daher auch einen ganz anderen Charakter als die des Gewerbes. Die Induſtrie iſt ihrem Weſen nach unfähig, wie das Gewerbe, das ſtändiſche Element überhaupt in ſich aufzunehmen. Sie gehört an und für ſich der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft; ihre Grundlage iſt das ſelbſtändige Capital; ihre Entwicklung iſt die der Dampfmaſchine; ihr Inhalt, der über beide weit hinausgeht, iſt die zu einer europäiſchen Thatſache ſich erhebende Bildung des Bewußtſeins von dem Verhältniß und Gegen - ſatz zwiſchen Capital und Arbeit. Wohl aber muß man auch hier drei Stadien unterſcheiden, die wieder ihrerſeits in der Verwaltung ihren entſprechenden Ausdruck finden.

Das erſte Stadium, meiſt der Maſchinenverwendung voraufgehend, iſt das der Hülfloſigkeit und inneren Unſicherheit des Capitals, das noch nicht wagt, ſich auf ſich ſelbſt zu verlaſſen. Dem entſpricht das Princip der direkten Unterſtützung der entſtehenden, aber nur noch in ver - einzelten Anfängen auftretenden Induſtrie, die zum Theil mit einzelnen Staatsunternehmungen begleitet iſt. Letztere erſcheinen allerdings weſentlich als Muſteranſtalten und Vorbilder; ſie verſchwinden aber mit der direkten Unterſtützung gleichzeitig ſo wie die Dampfmaſchine auftritt.

Mit der Dampfmaſchine beginnt nämlich die Epoche, in der nicht mehr ein einzelner Capitaliſt, ſondern das Geldcapital der Volks - wirthſchaft überhaupt in die Unternehmungen hineintritt, und ſeine volle Produktionskraft entfaltet. Der Einfluß dieſer Bewegung erſtreckt ſich alsbald auf jede Art der Unternehmung; jede Unter - nehmung ſtrebt von da, durch Verwendung von Capital eine höhere Produktivität zu gewinnen, und zwar nicht bloß durch Aufſtellung und Gebrauch von Maſchinen, ſondern überhaupt durch Entwicklung der Produktion zum eigentlichen Betriebe. So geſchieht es, daß der Be - griff der Induſtrie ſowohl als der Name derſelben ſich über Bergbau, Forſtwirthſchaft und Gewerbe ausdehnt, und in dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ſeine feſte Bedeutung verliert. Allein das Weſen der Sache bleibt in allen Formen; die Induſtrie iſt das Capital als producirende Kraft, und alles producirende Capital iſt In - duſtrie. Das iſt die große volkswirthſchaftliche Thatſache, welche dieſe Epoche ausſchließlich beherrſcht.

353

Das Bewußtſein von dieſer Thatſache und die Scheidung derſelben vom Gewerbe entſteht nun durch den internationalen Kampf der Capi - talien, und erſcheint für die Verwaltung als Princip und Syſtem des Schutzzolles. Der Schutzoll iſt das Verwaltungsrecht des produ - cirenden Capitals. Er hat noch kein Bewußtſein von dem Arbeiter, ſondern nur von der Arbeit; er kümmert ſich noch gar nicht um die geſellſchaftlichen, ſondern bloß um die wirthſchaftlichen Verhältniſſe; ſo hoch man auch bei ihm greifen mag, ſo wird er nie Frage des Princips, ſondern nur der Zweckmäßigkeit; ſo lange er allein herrſcht, iſt es ein Beweis, daß die Induſtrie noch nicht ihre volle Bedeutung ent - wickelt hat.

Das iſt nun erſt der Fall in dem dritten Stadium, wo das Ca - pital ſeine volle Kraft entfaltet, der capitalloſe Arbeiter überhaupt nicht mehr Unternehmer werden, und daher ſich aus der Abhängigkeit vom Capital nicht mehr losmachen kann. Damit entſteht das Bewußt - ſein von dem Gegenſatze zwiſchen Capital und Arbeit, und damit der Punkt, auf welchem die wirthſchaftliche Frage in das ſociale Gebiet hinübergreift. Die Verwaltung der Induſtrie aber behält dabei ihre beſtimmte Aufgabe. Sie hat die ſociale Frage nicht zu löſen; aber ſie hat zu verhindern, daß das organiſche Verhältniß von Arbeit und Capital nicht durch die Willkür der einzelnen Arbeiter und Unter - nehmer geſtört werde. Ihr Princip iſt nicht, die wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Geſetze ändern zu wollen, ſondern nur das, denſelben durch Aufrechthaltung der Ordnung freien Lauf zu laſſen. Während wir daher den Kampf um das Capital als die Arbeiterfrage bezeichnen, iſt die Aufgabe der Verwaltung gegenüber der Induſtrie die Arbeiter - ordnung. Und die Herſtellung dieſer Ordnung und ihrer Harmonie mit der ſocialen Entwicklung iſt der Inhalt der nächſten, gegenwärtigen Epoche, die übrigens die Anforderungen der übrigen Verhältniſſe keines - wegs ausſchließt. Und ſo können wir jetzt von einem ſelbſtändigen Syſtem dieſes Gebietes reden, das dann wieder dieſelben formalen Elemente, aber einen andern Inhalt hat, als das Syſtem des Gewerberechts.

Der Charakter der Geſetzgebung iſt für das Induſtrieweſen ganz dem der Literatur analog. Es gibt kein ſelbſtändiges Syſtem derſelben; die geltenden Beſtimmungen ſind theils in den Gewerbeordnungen enthalten, theils ſind es einzelne legislative Akte und Maßregeln, welche eben für einzelne Verhältniſſe der Induſtrie entſtanden ſind und gelten. In der That kann es auch keine einheitliche Codifikation dafür geben; die Wiſſenſchaft muß und wird die Ein - heit erſetzen, ſobald ſie beginnt Induſtrie und Gewerbe zu ſcheiden, und die ſociale Verwaltung ſelbſtändig zu betrachten. Ueber die engliſche Fabriks - ordnung und ihre Geſchichte ſ. Auſtria 1865. S. 294 ff.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 23354
Syſtem des Induſtrieweſens.

Wenn ſchon bei dem Gewerbe der leitende Gedanke für die Thätig - keit der Verwaltung und die öffentliche Rechtsbildung die Selbſtthätig - keit der kleinen Unternehmungen ſein muß, ſo iſt dieß natürlich bei der Induſtrie, in der jede Unternehmung zugleich ihr eigenes Capital beſitzt, in noch höherem Grade der Fall. Die Induſtrie ſoll ſich nicht bloß im Allgemeinen ſelber helfen, und die Hülfe von Seiten der Regierung ſoll nur eine ausnahmsweiſe ſein, ſondern ſie ſoll ſogar, ſo weit ſie vermag, ihre eigene Organiſation und ihr eigenes Recht bilden. Die größte Bedeutung der Induſtrie liegt für das Verwaltungsrecht deßhalb eben darin, daß ſie das mächtigſte Gebiet der freien Verwal - tung iſt. In dieſem Punkte beruht ihr wichtigſter Einfluß auf das Geſammtleben des öffentlichen Rechts; ſie iſt es in der That, welche man als die Erzieherin der wirthſchaftlichen Selbſtändigkeit in jedem Volke anzuſehen hat. Und daraus folgt nun, daß ſie zugleich das - jenige Organ am ſtärkſten entwickelt, das wir als die Baſis der freien Verwaltung anſehen müſſen, das wirthſchaftliche Vereinsweſen, an welches ſich hier das geſellſchaftliche anſchließt. Dieſes Princip durchdringt das ganze Gebiet des Induſtrieweſens und gibt ihm ſeine Selbſtändigkeit; man kann ſagen, daß während alle andern Theile uns zeigen, was die Regierung zu thun hat, die Induſtrie uns zeigt, was ohne ſie geſchehen kann und geſchehen ſoll. Im Induſtrieweſen hat die Thätigkeit der Regierung einen ſtreng ſuppletoriſchen Cha - rakter; und das im Einzelnen nachzuweiſen, iſt die Sache des Syſtems des Induſtrieweſens.

Von dieſem Standpunkt aus muß namentlich die Wirkung Adam Smiths auf dem Continent betrachtet werden. Adam Smith iſt es, der die alte Tra - dition von der Nothwendigkeit einer direkten Unterſtützung der Induſtrie durch die Regierungen, wie ſie das Merkantilſyſtem groß gezogen, zuerſt geradezu und unbedingt verneint: ſein Wort, es ſei eine impertinence and presump - tion to watch over the industry of private people iſt das Schlagwort ge - worden, das den Continent zunächſt von der Bevormundung im Gebiete der Volkswirthſchaft befreit, und die Geſetze der Nationalökonomie an die Stelle der Verordnungen der Behörden geſetzt hat. In ihm liegt ein unmeßbarer Fortſchritt, und dieſer Gedanke von Adam Smith iſt der erſte und eigent - liche Inhalt der Idee des Freihandels, von dem die Zollfrage nur eine ſpecielle Anwendung iſt. Aber auch dieſe Idee hatte noch ſo lange keinen Körper, als ihr das Vereinsweſen fehlte; denn nicht darauf kam es an, daß überhaupt nichts für die Induſtrie geſchehe, ſondern darauf, daß das Noth - wendige durch das freie Element des Vereins geſchehe. Und ſo ſtehen wir erſt mit dem letzteren vor der zweiten und größeren Epoche der freien wirthſchaftlichen Entwicklung der Induſtrie.

355
a) Organiſation.

Die Organiſation der Induſtrie iſt nun ihrem formalen Begriff nach die Geſammtheit der Organe, welche einerſeits die Intereſſen der Induſtrie vertreten, und andererſeits das Recht derſelben bilden. Das vorige Jahrhundert ſteht dabei noch auf dem Standpunkt, die Organe der Regierung zur Hauptſache zu machen; die Geſellſchaften treten jedoch ſchon damals neben der Regierung auf, wenn auch in ſehr un - beſtimmter Geſtalt und mit unklarem Recht. Erſt mit unſerem Jahr - hundert und ſeiner unwiderſtehlichen Selbſtthätigkeit des Capitals erſcheint das Vereinsweſen als Grundlage deſſen, was wir die Organiſation der Induſtrie nennen müſſen. Die Macht und Thätigkeit deſſelben, einmal zum Fluſſe gelangend, iſt nun ſo groß, daß die Stel - lung der Regierung dadurch eine ganz andere wird. Denn gerade in dieſem Vereine iſt neben, ja über dem großen Geſammtintereſſe zugleich das Sonderintereſſe der beſtimmten Unternehmungen und indu - ſtriellen Gebiete thätig und es wird daher jetzt neben der Aufgabe der Regierung, alles Wichtige und Förderliche ſelbſt zu thun, die zweite und nicht leichtere, dem durch die einzelnen Vereine vertretenen Sonder - intereſſe im Namen des Geſammtintereſſes ſeine Gränzen zu ſetzen. Und zwar gewinnt dieſe Wahrheit ihre ganze Bedeutung erſt dann, wenn man feſthält, daß die Entwicklung der Induſtrie eben zugleich ein Kampf von Capital und Arbeit iſt, der wie alles andere weſent - lich durch die Entwicklung des wirthſchaftlichen Vereinsweſens der Ca - pitalien zu den geſellſchaftlichen Vereinen der Arbeiter ſeinen Ausdruck findet. Während daher die Sorge für das Capital faſt ganz der Re - gierung durch die erſte Art von Vereinen genommen iſt, wird die Auf - gabe derſelben durch die letztere eine doppelt ſchwierige. Und ſo hat ſich hier ein ganz eigenthümlicher Organismus herausgebildet, deſſen Elemente im Handelsminiſterium als Haupt der Regierungsthätigkeit, in den Handels - und Gewerbekammern als Formen der Selbſtverwal - tung, und im Vereinsweſen für Capital und Arbeit beſtehen, und deſſen Funktion und Charakter gerade durch das letztere als ein noch weſentlich unfertiger, im Werden begriffener betrachtet werden muß. In der That iſt die wirkliche Verwaltung der Induſtrie das Gebiet, auf welchem dieſer Charakter zu ſtudiren iſt.

Vielleicht in keinem Theile der ganzen Verwaltung tritt ſo ſehr der Cha - rakter der einzelnen Staaten zu Tage, als in dem Gebiete der Induſtrie; nur muß das Einzelne einer genaueren Unterſuchung unterzogen werden. In Eng - land liegt der Schwerpunkt im Vereinsweſen und zwar nach allen Richtungen; in Frankreich ſtellt ſich dagegen die Regierung an die Spitze, und läßt der356 freien Verwaltung in Chambres de Commerce und Associations nur geringen Spielraum; in Deutſchland endlich arbeiten beide Elemente mit einander faſt durchſtehend in Harmonie, aber ohne Bewußtſein ihrer Gemeinſchaft. Allerdings ſieht man die ganze Bedeutung der Sache erſt in dem Folgenden. Ueber das Vereinsweſen ſ. Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht.

2) Allgemeine Verwaltung.

Die allgemeine Volkswirthſchaftspflege hat nun, in ihrer ſpeciellen Anwendung auf die Induſtrie, davon auszugehen, daß die allgemeinen Bedingungen der Entwicklung der letzteren nicht etwas Beſonderes for - dern, ſondern ihrem Weſen nach genau dieſelben ſind, welche für das Gewerbe gelten, ſo daß in dem, was von Seiten des Staats dafür geſchieht, gar keine feſte Gränze zwiſchen Gewerbe, Handel und Indu - ſtrie vorhanden iſt. Das gilt ſowohl für die Anſtalten der wirthſchaft - lichen Berufsbildung, dem geſammten Realſchulweſen, als für die all - gemeine induſtrielle Bildung durch öffentliche Sammlungen und Aus - ſtellungen, als endlich für das Verkehrsweſen in allen ſeinen Zweigen. Wohl aber fordert die Induſtrie dieſelben Leiſtungen in größerem Um - fange; und hier tritt zuerſt das ſpecifiſche Element der induſtriellen Verwaltung ein. In der That kann nicht der Staat den Umfang deſſen beſtimmen oder ausfüllen, was ſpeciell die Induſtrie fordert, da er für alle gleichmäßig thätig ſein muß, ſondern die Induſtrie muß in dieſer Beziehung ſelbſt helfen. Das nun geſchieht durch das Ver - einsweſen, und zwar nach den beiden großen Kategorien des Ver - einsweſens durch die Intereſſenvereine, welche die ſpeciellen Be - dürfniſſe der Induſtrie zum Ausdruck und zum Bewußtſein bringen, und andererſeits durch die Unternehmungsvereine, indem dieſe die Herſtellungen der allgemeinen Bedingungen für die Induſtrie und ihre maſſenhafte Güter - und Werthbewegung zum Gegenſtande ſelbſtän - diger Unternehmungen machen. Die Hauptformen der letzteren ſind die Eiſenbahngeſellſchaften für das Communikationsweſen, und die Banken und Creditanſtalten für das Creditweſen. So ergibt ſich der leitende Grundſatz für die Induſtrie und ihre Verwaltung, daß die letztere für die erſtere durch das Vereinsweſen verwirklicht wird, und daß ſomit die Thätigkeit der Regierung hier vorzugsweiſe in den Funktionen der Oberaufſicht für dieſe Vereine beſteht, deren Grundſätze und Inhalt bereits oben bezeichnet wurden. Je weiter die Induſtrie ſich entwickelt, deſto beſtimmter tritt dieſes Princip hervor, und deſto klarer wird es, daß der Staat ſelbſt durch unmittelbares Eingreifen weder der Natur der Induſtrie entſpricht, noch auch etwas poſitiv Förderliches zu leiſten im Stande iſt. Und derſelbe Charakter357 erſcheint nun auch für den beſonderen Theil, in welchem er eine vor - zügliche Wichtigkeit empfängt.

Es iſt klar, daß ohne organiſche Auffaſſung des Vereinsweſens das Gebiet nie richtig beurtheilt, und das ſpecifiſche Element der Sorge für die Induſtrie, die ſich damit nur ſelbſt helfen kann und ſoll, nicht feſtgeſtellt werden kann. Der Staat kann nur der Selbſthülfe helfen (vergl. Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht, S. 166 ff.).

3) Beſonderer Theil.

Derſelbe Gedanke ſetzt ſich nun in dem beſondern Theile fort; auch hier liegt das eigentlich fördernde und poſitive Element in den Ver - einen, und nur das ordnende und eventuell negative in den Funktionen der Regierung. Das nun erſcheint in den beiden ſpeciellen Gebieten der Induſtrie, zuerſt der einzelnen Unternehmungen, dann in dem Ver - hältniß von Capital und Arbeit.

I. Die einzelnen Arten der induſtriellen Unternehmungen bedürfen neben dem allgemeinen Zahlungs - und Unternehmungscredit und den allgemeinen Communikationsverhältniſſen, vor allem der ſpeciellen Fach - kenntniß und des ſpeciellen Capitals. Nachdem der Gedanke aufgegeben iſt, dieſes durch den Staat zu geben, gilt für unſere Zeit der Grund - ſatz, daß die Bildung von Aktiengeſellſchaften das einzige Mittel iſt, ſolche Unternehmungen ins Leben zu rufen und ihnen durch die Aktie den Charakter und das Recht öffentlicher Unternehmungen zu geben. Die Freiheit in der Bildung von Aktiengeſellſchaften iſt daher die einzige Regierungsmaßregel, durch welche eine poſitive Förderung der Juduſtrie erzielt werden kann. Daneben ſteht dann die indu - ſtrielle Polizei, welche namentlich in der Maſchinenpolizei gegen die elementaren Gefahren der Verwendung der Naturkraft für die Arbeit ſorgt, und die, im Principe der allgemeinen Gewerbeord - nung gehörend, in ihrer Ausführung ein techniſches Syſtem von Vorſichtsmaßregeln über die Sicherheit der Maſchinen enthält.

Zunächſt gewinnen die Aktiengeſellſchaften für einzelne Unternehmungen durch den obigen Standpunkt ein ganz anderes Licht; es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß der öffentliche Charakter von ſolchen Unternehmungen, den ſie durch das Weſen der Aktie annehmen, als der Beginn einer ganz neuen Geſtaltung dieſes Gebietes zu erkennen iſt, deren Tragweite noch kein menſchlicher Blick zu ermeſſen vermag. Die induſtrielle Polizei wird aber dadurch nie un - nöthig. Vorſchriften über Maſchinenpolizei weſentlich von Frankreich ausgehend ausgebildet, ſeit der erſten Ordonnanz vom 29. Okt. 1823 an, daß Grundlage ſtreng techniſcher Inſtruktion (Hauptgeſetz vom 22. Mai 1843; vergl. Fournel bei Block, Dict. v. Mach. à vapeur). Deutſchland: Princip358 der Genehmigung jeder Dampfkeſſelverwendung; Forderung der techniſchen Bildung für die Maſchinenführer, und ſyſtematiſche Keſſelprobe. Preußen: Rönne II. 402. Oeſterreich: Regulativ vom 11. Febr. 1854 (Stuben - rauch I. §. 221). Bayern: Verordnung vom 9. Sept. 1852 (Pözl, Verwaltungsrecht II. §. 113; vergl. Stein, Sicherheitspolizei S. 169 f.).

II. Die Arbeiterordnung. Während die oben berührte Frage die Verhältniſſe des in der Induſtrie thätigen Capitals betreffen, ent - ſteht nun das zweite Gebiet dadurch, daß vermöge der Induſtrie ſich die Arbeit ſelbſtändig vom Capital trennt, und daß dadurch inner - halb derſelben ihre beiden großen Faktoren als zwei ſelbſtändige Körper, und zwar mit entgegengeſetztem Intereſſe ſcheiden. Die Form, in der dieß geſchieht, und die Verhältniſſe, die dadurch entſtehen, be - zeichnen wir als die Arbeiterfrage.

Die Arbeiterfrage kann nun nur dann richtig gelöst werden, wenn man ihren doppelten Inhalt ſcheidet. Sie iſt zuerſt ein rein wirth - ſchaftliches Intereſſenverhältniß; ſie iſt aber zweitens auch eine geſellſchaftliche Erſcheinung. Es iſt klar, daß nur der erſte Ge - ſichtspunkt hierher gehört.

Für dieſen nun hat die Verwaltung davon auszugehen, daß es ſich dabei um einen Gegenſatz der Intereſſen handelt, deſſen Inhalt von Seiten der Unternehmung der möglichſt geringe Lohn bei möglichſt großer Arbeitszeit, von Seiten der Arbeiter dagegen umgekehrt der möglichſt hohe Lohn bei möglichſt geringer Arbeitszeit iſt. Nun können allerdings durch einzelne, mehr oder weniger begünſtigte Anſtrengungen hier zeitweilige außerordentliche Erfolge von der einen oder andern Seite gewonnen werden; allein die Wiſſenſchaft des Güterlebens iſt weit genug, um mit abſoluter Gewißheit behaupten zu können, daß das Verhältniß zwiſchen Arbeit und Lohn ſich durch keine menſchliche Willkür und kein Einzelintereſſe definitiv feſtſtellt, ſondern daß hier am letzten Orte ein unwandelbares Geſetz entſcheidet. Der Lohn der Arbeit kann nie größer ſein, als der im Preiſe des Pro - dukts ausgedrückte Werth derſelben; und nie geringer, als die Summe des durch die Art und das Maß der Arbeit geſetz - ten Bedürfniſſes.

Iſt das nun richtig, ſo folgt, daß es niemals Aufgabe der Ver - waltung ſein kann, in die Preisverhältniſſe der Arbeiter direkt einzu - greifen, ſondern daß ſie vielmehr die Regelung der wirthſchaftlichen Arbeiterfrage der zwar langſamen aber unwiderſtehlichen Wirkung jenes auch für ſie unabänderlichen Geſetzes zu überlaſſen hat. Sie kann und ſoll ferner eben ſo wenig die Erſcheinungen jener entgegengeſetzten Intereſſen des Capitals und der Arbeit beſeitigen oder359 unterdrücken, als ſie es vermag, dieſe Intereſſen und ihren Gegenſatz ſelbſt zu beſeitigen. Ihr erſtes Princip muß daher ſein, den Kampf jener Intereſſen ſich ſelber zu überlaſſen, ſoweit derſelbe nicht zu einer Störung der öffentlichen Ordnung oder des öffentlichen Rechts wird; ſie hat nur dafür zu ſorgen, daß das obige rein wirthſchaftliche Geſetz in ſeiner Wirkung nicht durch die Vornahmen der Betheiligten äußerlich geſtört werde. Die Verwaltung wird daher niemals ernſtlich daran denken, die Arbeiterfrage löſen zu wollen; ſie darf nie verſuchen, die natürliche Löſung derſelben hindern zu wollen; ſondern ſie ſoll eben nur die Polizei der Arbeiterfrage ſein und aufrecht erhalten. Und in dieſem Sinne ſagen wir, daß die Aufgabe der Verwaltung die Herſtellung der Arbeiterordnung in der In - duſtrie ſei.

Dieſe Ordnung nun hat zwei Gebiete. Das erſte umfaßt das Auftreten der beiden entgegengeſetzten Intereſſen als organiſirte Ge - meinſchaft durch das Vereinsweſen, das zweite die Verhältniſſe und das Recht des einzelnen Arbeiters und ſeines Lohnes. So enge auch beide zuſammen hangen, ſo müſſen beide Aufgaben dennoch ſcharf geſchieden werden, um zu einem klaren Reſultat zu gelangen.

a) Das Vereinsweſen in der Arbeiterfrage hat mit den In - tereſſen, welche es vertritt, zwei Hauptformen: die Verbindung der Unternehmer zur Einigung über den möglichſt niedrigen Lohn und die Verbindung der Arbeiter zur Einigung über die Mittel, um den möglichſt hohen Lohn zu erzielen. Es iſt in Beziehung auf die letztere nun vor allen Dingen wohl zu unterſcheiden zwiſchen den Aſſociationen und Conſumvereinen, welche der ſocialen Selbſthülfe angehören, und den Coalitionen, welche auf Erhöhung des Lohnes abzielen. Hier handelt es ſich um die letzteren.

Der frühere Standpunkt nun, nach welchem die Verwaltung in ſolchen Vereinen eine Gefährdung des öffentlichen Intereſſes und der Geſammtordnung erblickte, und den Gegenſatz und Kampf der beiden Intereſſen durch einfaches Verbot, namentlich der Coalitionen, be - ſeitigen zu können glaubte, muß gegenwärtig als ein überwundener angeſehen werden. Die Verwaltung iſt im Gegentheil zu der Erkenntniß gelangt, daß die Vereine, ſo lange ſie ſich in den Gränzen des Ver - einsrechts halten, vielmehr dazu dienen, um einerſeits die Intereſſen zum Bewußtſein von dem wirthſchaftlich Erreichbaren zu bringen, und ihre Anſtrengungen auf dieſe Weiſe auf das richtige Maß zurückzu - führen, andererſeits die Ausbeutung ſowohl der Arbeit durch das Capital, als die des Capitals durch die Arbeit zu hindern. Das Princip der neuen Zeit iſt daher die Freiheit des Vereinsrechts,360 aber neben demſelben auch die volle Strenge deſſelben verbunden mit der Strenge des Verſammlungsrechts. Das, was dazu gehört, iſt vor allen Dingen nicht ſo ſehr ein hartes Auftreten der Polizei, als viel - mehr ein ausgebildetes Recht und ſtrenges Rechtsbewußtſein von beiden Seiten. Dazu gehört eine bisher noch faſt ganz mangelnde Jurisprudenz des Vereinsrechts, und die regelmäßige Thätigkeit des öffentlichen Gerichtsverfahrens. Dagegen iſt es klar, daß die Arbeiterverbindung als ſolche ſtrafbar wird, und daher der Auf - löſung durch gerichtlichen Beſchluß ſo wie der Siſtirung durch die Polizei unterliegt, ſo wie ſie zum Zweck hat, die einzelnen Arbeiter zur Theilnahme, oder auch nur zur Befolgung der Beſchlüſſe der Verbindung direkt oder indirekt zu nöthigen. Es iſt dabei ſelbſt - verſtändlich, daß die Sicherheitspolizei gegenüber Verſammlungen und Coalitionen nach den für ſie geltenden Grundſätzen ihrer Berech - tigung und ihrer Haftung in jedem einzelnen Falle einzuſchreiten hat.

Der Standpunkt, den die verſchiedenen Geſetzgebungen in Beziehung auf dieß Gebiet einnehmen, hängt zwar einerſeits mit dem Princip derſelben wie das Vereinsrecht überhaupt, andererſeits aber auch mit der Entwicklung eines concentrirten Arbeiterſtandes zuſammen. Aus beiden Faktoren hat ſich dann das gegenwärtige Rechtsverhältniß gebildet. England muß bekanntlich die völlige Freiheit des Vereinsrechts für Unternehmer ſowohl als für Arbeiter anerkennen; hier iſt daher auch der Kampf der beiderſeitigen Intereſſen ſchon ſo weit im Vereinsweſen organiſirt, daß gerade dieſe Vereine jede Störung des wirthſchaftlichen Lebens durch Gewalt unmöglich gemacht haben. S. über Arbeits - und Lehrlings - (apprentices) Weſen Englands Gneiſt, Engl. Ver - waltungsrecht II. 308 ff. und oben (Gewerbegerichte). Frankreich hat ſeinen Standpunkt des Code Pénal Art. 414 420 noch immer ſtrenge beibe - halten; jede Verbindung von mehr als zwanzig Perſonen bleibt ohne Geneh - migung verboten, wenn auch das Geſetz von 1865 in Beziehung auf die Ver - ſammlungen einige Freiheit gewährt hat (vergl. Stein, Vereinsweſen S. 54. 55). Dabei eine ziemlich abſtrakt gehaltene Literatur, welche faſt allenthalben das Recht der Aſſociation mit dem der Coalition vermengt (vergl. Journ. d’Écon. Bd. XLII. und XLVII. S. 81. Batbie bei Block, Dict. d. Pol. v. Salaires. Ueber die alten Geſellenverbindungen (Compagnonnage) Em. Laurent, Assoc. de prévoyance L. II. Ch. 3. In Deutſchland waren die Coali - tionen bis zur neueſten Zeit polizeilich verboten. Oeſterreich: bisheriger Standpunkt: Verbot der Verabredung ſowohl von Seiten der Gewerbsleute als der Arbeiter (Strafgeſetzbuch §. 479, 480 mit Strafe). Neuer Standpunkt: Geſetz vom 4. Mai 1869, Errichtung von Gewerbegerichten und Entwurf für 1870 mit Beſtimmungen über Lehr - und Dienſtverhältniß, Verhältniß zwiſchen Unternehmern und Gehülfen, weſentlich aber die Errichtung von Fabriks - inſpektoren, ſehr rationell. Der zweite Entwurf: Freiheit des Coalitions - rechts; die Frage, wie ſich dieß Recht zu dem freien Vereinsrecht des Geſetzes361 von 1867 verhält, dahin nach dem neuen Entwurf über Arbeitercoalitionen entſchieden, daß ſolche Verabredungen keine rechtliche Gültigkeit haben ſollen. Preußen: noch immer Strafbarkeit nach der Gewerbeordnung von 1845 §. 181 184. Hier mangelt noch allenthalben die freie Auffaſſung (Stein, Vereinsrecht S. 194).

b) Neben dem Arbeitervereinsrecht hat die Arbeiterordnung die Aufgabe, die rechtlichen Bedingungen für die Verhältniſſe zwiſchen den einzelnen Arbeitern und der Unternehmung herzuſtellen. Dieſe Arbeiterordnung hat drei Hauptgebiete.

1) Die Arbeitsbücher ſollen zunächſt den rein polizeilichen Zweck haben, die Identität der Arbeiter und den Beſtand wie die Dauer des Arbeits - und Lohnvertrages zu conſtatiren. Die Geſetzgebung hat ſich daneben der Hoffnung hingegeben, daß ſie zugleich als Arbeits - zeugniß einen heilſamen Einfluß auf die Arbeiter haben werden, und daraus hauptſächlich iſt das Recht der Arbeitsbücher entſtanden. Die Principien dieſes Rechts ſind erſtlich die Verpflichtung zum Beſitz eines ſolchen Arbeits - oder Dienſtbuches und zum Eintragen des über - nommenen oder aufgegebenen Dienſtes mit Zeit und Ort; zweitens das Recht der Unternehmer oder Arbeitgeber überhaupt, ein direktes oder indirektes Zeugniß über den Arbeiter auszuſtellen. Die Praxis hat gezeigt, daß das erſtere nur dann zu erzielen iſt, wenn die Intereſſen der Arbeiter und der Arbeitgeber es ihnen ſelbſt wünſchenswerth machen, daß aber das zweite faſt ganz nutzlos iſt. Während daher geſetzlich die Arbeitsbücher fortbeſtehen, haben ſie praktiſch faſt alle Bedeutung für die Arbeiterfrage verloren, und erſcheinen nur noch als Heimathsausweiſe und perſönliche Legitimationsurkunde.

Das franzöſiſche Recht iſt die eigentliche Quelle der Jurisprudenz der Arbeitsbücher, während die Sache aus den deutſchen Wanderbüchern ſtammt. Die Aufhebung aller Zünfte und Innungen ſtellte in Frankreich die Geſellen und Arbeiter gleich, und ſchon das Decret vom 22. Germ. XI. ſtellte für alle Arbeiter die gleiche Verpflichtung zur Führung des livret d’ouvrier feſt, deren Rechtsverhältniſſe durch Geſetz vom 14. Mai 1851 und 22. Juni 1854 neu geordnet wurden; Ausführungsordnung: Decret vom 30. April 1855. Oeſterreich hat das Syſtem derſelben in der Gewerbeordnung von 1859 auf - genommen und die Arbeitsbücher vorzugsweiſe vom Standpunkt eines Arbeits - zeugnißbuches durchgeführt (Anhang zur Gewerbeordnung §. 1 8), dem die übrigen Gewerbeordnungen gefolgt ſind; praktiſche Erfolge hat das ganze Syſtem für dieſen Standpunkt ſo wenig erzielt, als die Geſindezeugniſſe. K. Sachſen: Arbeitsbücherordnung (Verordnung vom 20. Mai 1864). Braunſchweig: Einführung derſelben durch Verordnung vom 11. Nov. 1864.

2) Die Beſtimmung der Arbeitszeit durch die Geſetze kann nicht das freie Uebereinkommen über dieſelbe aufheben, ſondern hat nur den362 Sinn, die Arbeitsdauer da feſtzuſtellen, wo ſie nicht ausdrücklich be - dungen iſt, und zweitens ſie für Frauen und Kinder aus geſund - heitspolizeilichen oder geiſtigen Rückſichten auf ein beſtimmtes Maß zu reduciren. Die Beſtimmung der Arbeitszeit im erſten Fall ſoll daher eben ſo wenig Gegenſtand der Geſetzgebung ſein, als die des Arbeits - lohnes; im zweiten Falle iſt ſie durch höhere Rückſichten als die des Erwerbes geboten und mit Recht durch das Verwaltungsrecht beſtimmt.

Beginn der Geſetzgebung über die Arbeitszeit in Frankreich mit dem Geſetz vom 22. März 1841. Verſuch der Aufſtellung von öffentlichen Lohn - tagen ſchon im Reichsarchiv 1517; Berg, Polizeiordn. I. 352; Rau II. 317. Erſte allgemeine Auffaſſung der Kinderarbeit vom ſocialen Standpunkt nebſt Geſetzgebung: Gerando, Bienf. publ. VI. 540 ff. England: Haupt - geſetz 7. 8. Vict. 15. nebſt vielen einzelnen Beſtimmungen. Oeſterreich: Gewerbeordnung von 1859 Art. 87. Preußen: Geſetz vom 16. Mai 1853 (ſ. Stein, Geſundheitsweſen S. 74 76 und dazu Stein, Polizeirecht S. 170, 171; Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 202).

3) Die Aufſtellung eigener Arbeitergerichte für den Fall der Streitigkeit der einzelnen Arbeiter mit den Arbeitgebern beruht darauf, daß zur richtigen Entſcheidung in den meiſten Fällen eigene Fachkenntniß nothwendig, der gewöhnliche Gerichtsgang dagegen zu koſtſpielig und ſchleppend iſt. Offenbar nun iſt dieſe Inſtitution da von Bedeutung, wo es ſich um Streitigkeiten über den Stücklohn oder Arbeit auf Lieferung handelt, und über die Qualität Streit entſteht, während in allen andern Fällen das ſummariſche gerichtliche Verfahren vorzu - ziehen iſt. So lange es ferner noch Arbeitsbücher mit Zeugniſſen gibt, kann eine Thätigkeit derſelben auch hier gedacht werden. In jedem Falle erſcheint ihr moraliſcher Werth größer als ihr praktiſcher.

Urſprüngliche Idee der franzöſiſchen Geſetzgebung: Erſatz der alten Rechte des Meiſters in der Werkſtatt durch das gewählte Conseil des prudhommes: Tout délit tendant à troubler l’ordre et la discipline de l’atelier peut ètre puni par les prudhommes (Geſetz vom 3. Auguſt 1810 und Geſetz vom 18. März 1806); dann bloß Rechtsſtreitigkeiten: Geſetz vom 22. Febr. und 14. Mai 1831; Wahl und Organiſation (Geſetz vom 1. Juni 1853). Lite - ratur bei Block, Droit admin. Aufnahme des Gedankens in der öſterreich. Gewerbeordnung (§. 102); den Genoſſenſchaften iſt die Entſcheidung über Streitig - keiten zwiſchen Gewerbtreibenden und Geſellen und Lehrlingen übertragen; doch ohne rechte Anwendung überhaupt, am wenigſten auf die Induſtrie zu finden. In Preußen auf Grund der Verfaſſung Art. 91 allerdings durch Verordnung vom 2. Jan. 1849 eine Anzahl ſolcher Gerichte eingeſetzt; ſie haben aber den Erwartungen nicht entſprochen und ſind allmählig eingegangen. Rönne II. §. 274; Meißner, Fabrikgerichte. Auffaſſung der Arbeiterfrage vom rein polizeilichen Standpunkt bei Jacob, Grundſätze der National -363 ökonomie 3. Aufl. §. 457. Aehnlich bei Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 95. Ausführlich und umſichtig bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 203. Neues öſterreich. Geſetz vom 9. Mai 1869.

VI. Der Handel und die Verwaltung.
Begriff.

Von jeher war man ſich einig über die hohe Wichtigkeit des Handels; aber auch von jeher uneinig über das, was der Staat für denſelben zu thun habe. Um darüber klar zu werden, muß man den Begriff des Handels allerdings in der beſtimmteſten Weiſe feſtſtellen.

Während wir nämlich als Verkehr die Geſammtheit aller der - jenigen Bewegungen im Güterleben bezeichnen, durch welche ein Gut von einer Wirthſchaft zur andern übergeht, muß der Handel als der - jenige Theil des Verkehrs betrachtet werden, in welchem die Vermitt - lung dieſes Ueberganges als ein ſelbſtändiges Unternehmen erſcheint. Die wirthſchaftliche Aufgabe dieſes Unternehmens beſteht darin, für jedes Gut ſeinen höchſten Preis zu ſuchen, indem es aus der Differenz des Kaufs - und Verkaufspreiſes ſeinen Gewinn zieht. Allerdings iſt ſomit jede Handelsunternehmung zunächſt auf den eigenen Gewinn berechnet. Allein es iſt klar, daß die Funktion des Handels von entſcheidender Bedeutung für das Geſammtleben der Volkswirth - ſchaft iſt; denn der Preis, den er für jedes Gut ſucht und findet, wird natürlich zur Grundlage und Bedingung der Produktion und Conſum - tion jedes Produkts; er erſcheint daher als der große Lebensproceß, durch den ſich die beiden Grundgeſetze des ganzen Güterlebens verwirk - lichen, das Geſetz des Werthes und das der Produktivität. Erſt durch den Handel kann daher der regelmäßige Fortſchritt der Volkswirthſchaft erzeugt werden, und erſt in ihm ſeinen Ausdruck und ſein äußeres Maß finden. Es iſt daher leicht begreiflich, daß man nicht bloß ſtets für den Handel zu ſorgen geſucht hat, ſondern auch daß ſich Jahr - hunderte hindurch das ganze volkswirthſchaftliche Bewußtſein in der Hochachtung deſſelben und dem Streben nach ſeiner Entwicklung con - centrirt hat. Und zu allen Zeiten wird die Frage von entſcheidender Bedeutung ſein, was denn von Seiten der Geſammtheit und ihres Staates für dieſen Handel, der beiden ſo wichtig iſt, geſchehen könne und ſolle.

Auch dieſe Frage hat natürlich ihre Geſchichte. Allein die Ge - ſchichte bringt zuletzt doch nur das Weſen der Dinge zur Geltung.

Der Handel iſt nämlich unter allen Gebieten der Volkswirthſchaft dasjenige, welches am meiſten auf der individuellen Tüchtigkeit und364 Fähigkeit beruht, die Werth - und Preisdifferenzen der Güter an ver - ſchiedenen Orten zu berechnen. Der Handel beruht daher vor allem auf perſönlichem Capital, auf perſönlicher Thätigkeit und Bildung. Dasjenige, deſſen dieſe Elemente bedürfen, iſt vor allem die Möglichkeit ihrer vollen freien Bethätigung im wirthſchaftlichen Leben eines Volkes. Die wahren und letzten Bedingungen der Entwicklung des Handels ſind daher nicht einzelne, noch ſo großartige Maßregeln der Verwal - tung, ſondern Bildung und Freiheit. Mit ihnen entſteht er, und mit ihnen geht er unter. Sein wahres Lebensgebiet liegt daher in den Elementen der Verwaltung überhaupt, ſpeciell in denen der all - gemeinen Volkswirthſchaftspflege. Nur auf einzelnen, ganz beſtimmten Punkten fordert er beſondere Ordnungen und Anſtalten, die ihm eigen - thümlich gehören. Und von dieſem Princip aus wird ſowohl die Ge - ſchichte des Handels als das Syſtem des öffentlichen Rechts deſſelben auf jedem Punkte beherrſcht.

Der Begriff des Handels iſt in der Wiſſenſchaft eben ſo unbeſtimmt, wie die Vorſtellung von demſelben beſtimmt zu ſein ſcheint. Aufgabe, den Handel zuerſt von dem allgemeinen Begriff des Verkehrs zu ſcheiden, dann Handel und Induſtrie ſtreng getrennt zu behandeln. Das erſte iſt die abſolute Be - dingung für die richtige Auffaſſung des Verkehrs - und Vertragsrechts, welches rein bürgerliches Recht iſt, und des eigentlichen Handelsrechts, welches das durch das Weſen des Handels im Sinne des Geſammtintereſſes modificirte Vertragsrecht enthält. Das zweite iſt die Bedingung für eine ſelbſtändige Be - handlung des Handels in der Verwaltungslehre. Es iſt der Hauptmangel der Handelsgeſetzbücher ſeit dem Code de Com., Handel und Verkehr nicht ge - ſchieden zu haben; es gibt kaum eine unvollkommenere Definition des Handels als die des Handelsgeſchäfts im Handelsgeſetzbuch. Das Handelsgeſchäft iſt das Geſchäft (der einzelne Verkehrsakt) nicht eines Wiederverkäufers, ſondern einer Firma; ohne dieſen Begriff iſt hier nicht weiter zu kommen. Es iſt un - glücklich, wenn andere den allgemeinen Begriff des Gewerbes an die Spitze ſtellen; namentlich wenn man nicht klar feſthält, daß der Handel keine Güter, ſondern Werth producirt. Uebrigens gibt es wohl kaum einen Begriff in der ganzen Nationalökonomie, der ſo verſchieden behandelt wurde, wie der des Handels; man vergl. z. B. die Volkswirthſchaftslehren von Lotz und Kraus an bis auf Glaſer, Dietzel, Schulze, Maurus, Dühring und neben Roſcher Stein. Hier iſt offenbar völlige Unſicherheit in der Hauptſache. Rau hat den Handel in der Volkswirthſchaftspflege ausführlich behandelt, Mohl in der Polizeiwiſſenſchaft gar nicht.

Elemente der Geſchichte.

Der Verkehr unter den Menſchen iſt natürlich ſo alt wie die Welt. Der Handel aber beginnt innerhalb des Verkehrs da, wo die Völker ſich365 nähern; er gewinnt ſeine äußere Selbſtändigkeit zunächſt an der See, und erſcheint als die Organiſation des Völkerverkehrs; allein das öffent - liche Handelsweſen, in welchem derſelbe Gegenſtand ſelbſtändiger Thätig - keit der Verwaltung wird, entſteht doch erſt mit dem Auftreten des Welthandels durch die Entdeckung Amerikas, und erſcheint thatſächlich in dem Streben jedes Staats, an dieſem Handel Theil zu nehmen, theoretiſch in dem Grundſatz des Merkantilſyſtems, daß der Handel die Quelle des Reichthums ſei oder doch ſein ſolle. Von da an beginnt eine Reihe von Erſcheinungen, die wir in zwei große Epochen theilen. Die erſte dieſer Epochen nennen wir die der Handelspolitik, die zweite die der Handelsfreiheit. Jede von ihnen enthält dasjenige Syſtem von Grundſätzen und Maßregeln, deſſen Verwirklichung der Staat als Aufgabe ſeiner Verwaltung gegenüber dem ſelbſtändigen Handelsweſen anerkennt.

I. Die Handelspolitik beruht auf dem Princip, daß der Staat auch für den Handel unmittelbar thätig ſein ſolle, und auf der Anſicht, daß er die Baſis des Reichthums der Staaten ſei. Es iſt die polizei - liche Epoche des Handelsweſens. Sie will den Handel durch den Staat organiſiren und produktiv machen. Sie findet nun die ſtändiſche Organiſation des Gewerbes überhaupt auch auf den Handel ausgedehnt in den Handelsinnungen und Kaufläden der Städte des Mittelalters vor, zum Theil mit großen Capitalien, zum Theil mit großen Privi - legien verſehen, mächtig, aber doch nicht gewaltig genug, um den neu entſtehenden Welthandel zu bewältigen. Sie lehnt ſich daher an dieß Vorbild, und bildet die großen Geſellſchaften, welche wir als die Handelscompagnien des ſiebenzehnten Jahrhunderts bezeichnen, und in denen allen das Capital zu den großen transatlantiſchen Unter - nehmungen durch große öffentlich rechtliche Privilegien und wirthſchaft - liche Monopole herbeigezogen wird. Die nun gehen ihren eigenen Weg. Einmal conſtituirt, nimmt die Verwaltung wenig Einfluß mehr auf ſie, aber dennoch ſind ſie es, welche der Epoche der Handelspolitik ihren zweiten Inhalt geben. Ihre große welthiſtoriſche Funktion iſt es aller - dings zunächſt, Europa zum Mittelpunkt des Welthandels und damit des einheitlichen Weltlebens zu erheben; eben dadurch aber erzeugen ſie die Concurrenz der europäiſchen Staaten unter einander, und da - mit den Gedanken, daß auch in dieſer Concurrenz jede Regierung trachten müſſe, den europäiſchen Handel ihres Landes mit dem anderen ſo vortheilhaft als möglich zu machen. Damit entſteht die Grundlage der europäiſchen Handelspolitik neben der transatlantiſchen der Handelscompagnien, und den Ausdruck derſelben bildet die Idee der günſtigen oder ungünſtigen Handelsbilanz. Sie hat eine hoch -366 bedeutende Stelle in der Geſchichte Europas. Sie iſt es zuerſt, welche durch den innigen Zuſammenhang des Handels mit der geſammten Volkswirthſchaft die letztere mit ihren ſtatiſtiſchen Thatſachen und ihren organiſchen Geſetzen zum Gegenſtande des Nachdenkens gemacht, und das volkswirthſchaftliche Bewußtſein der europäiſchen Staaten erzeugt hat, das ihnen von da an geblieben iſt. Sie iſt es aber auch ferner, welche im Geſammtverkehr Europas die beiden großen Maß - regeln ins Leben rief, an die ſich die individuelle Geſtaltung des volkswirthſchaftlichen Lebens angeſchloſſen hat. Die erſte beſteht in dem Auftreten der Handelsverträge, die zweite in dem, in ihrem Sinne entwickelten ſyſtematiſchen Zollweſen, das, von dem Schutzzollſyſtem weſentlich verſchieden, in der Prohibition und den Ausfuhrprämien culminirt, und nicht die Induſtrie, ſondern das Geld der Unterthanen ſchützen will. In dieſer Richtung werden große Anſtrengungen gemacht; allein noch fehlt das Bewußtſein, daß die wahre Quelle der Entwick - lung des Handels nicht in den Maßregeln der Regierung für den Handel als ſolchen, ſondern in einem höheren Gebiete liege.

II. Dieſes höhere Gebiet betritt nun die zweite Epoche, die wir als die der Handelsfreiheit bezeichnen. Ihre Grundlage iſt die Erkenntniß, daß die erſte Vorausſetzung der Blüthe des Handels nach der Natur deſſelben die freie Bewegung der Handelsunternehmungen ſelbſt ſein müſſe. Sie beginnt mit dem vorigen Jahrhundert. Ihren erſten, noch negativen Ausdruck bildet die phyſiokratiſche Schule, ihren zweiten die Lehre von Adam Smith, deſſen Hauptverdienſt es iſt, zu - erſt den inneren Zuſammenhang der Induſtrie mit dem Handel und die Folgen des Prohibitiv - und Privilegienſyſtems für die Entwicklung der Volkswirthſchaft zum Bewußtſein gebracht zu haben. Von da an zeichnen ſich in dem Verhältniß der Verwaltung zum Handel drei Grund - richtungen ab, die zugleich in hiſtoriſchem Verhältniß zu einander ſtehen. Die erſte iſt das Auftreten des ſchon am Ende des vorigen Jahrhunderts zur Klarheit gelangenden Princips der Handelsfreiheit, welche nicht die Beſeitigung der Schutzzölle, ſondern die Freiheit der Handelsunter - nehmungen überhaupt, und die grundſätzliche Beſeitigung aller Monopole, Privilegien und örtlichen Gerechtſame bedeutet, welche die Bewegung des Handels hemmen. Die zweite iſt die neue Tendenz der Handels - verträge, welche ſeit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr dar - auf berechnet ſind, beſondere Vortheile für einzelne Nationen zu erzielen, ſondern vielmehr die Gleichheit aller Unternehmungen im Handelsverkehr zu verwirklichen. Die dritte endlich iſt der Kampf zwiſchen Schutzzoll und Freihandel, aus welchem das rationelle Zollſyſtem und die Erkenntniß der Geſetze hervorgeht, nach denen367 das induſtrielle Capital ſich entwickelt. Alle dieſe Richtungen zuſammen - wirkend mit der ſteigenden volkswirthſchaftlichen Bildung zugleich machen es nun mit jedem Jahre klarer, daß die wahre Vorausſetzung für die Hebung des Handels nicht mehr in den Maßregeln der Handelspolitik , ſondern in der möglichſten Entwicklung der Aufgaben der allgemeinen Volkswirthſchaftspflege, namentlich des Credit - und Verkehrsweſens liege; daß der Handel unter allen Zweigen der Volkswirthſchaft der - jenige ſei, der ſich ſelber am beſten helfen kann und ſoll, und daß die direkte Einwirkung der Regierung ſich weſentlich auf Einen Punkt zu beſchränken habe, nämlich auf die Herſtellung einer feſten Rechts - ordnung für die Handelsverhältniſſe und Geſchäfte. Das dauernde Reſultat der wechſelnden Beſtrebungen iſt daher die, nach Muſter des franzöſiſchen Code de Commerce ſich über ganz Europa ausbreitenden Bildung des Handelsrechts durch die Erlaſſung des Handels - geſetzbuches und die ſich daran knüpfende Jurisprudenz. Bisher nun ſind dieſe Handelsgeſetzbücher allerdings weſentlich juriſtiſch aufgefaßt worden; es wird die Aufgabe der nächſten Epoche ſein, ſie ſelbſt durch die Natur des Handels und des Geſchäfts zu verſtehen, und ſo aus dem Handelsrecht in die Handelswiſſenſchaft zurückzukehren.

Die Geſchichtſchreibung des Handels hat ſich bisher viel zu wenig mit dem Handelsrecht, und die Jurisprudenz des Handelsrechts zu wenig mit der wirth - ſchaftlichen Natur des Handels abgegeben. Die Handelswiſſenſchaft ſoll die Entwicklung des Rechts aus dem Weſen des Handels enthalten. Ablöſung der ſelbſtändigen Geſchichte des Handels von der allgemeinen Geſchichte vorzüglich ſeit Heeren (Geſchichte der Kreuzzüge und Sartorius, Geſchichte der Hanſeſtädte). Das ältere Handelsrecht: Literatur bei Mittermaier, deutſches Privatrecht §. 25. Stapelrechte: Rau, Verwaltungspflege II. §. 269; Lotz, Staatswirth - ſchaftslehre II. 220. Vertheidiger der Monopole als Hoheitsrecht (Ausfluß der merkantiliſtiſchen und eudämoniſtiſchen Auffaſſung nach Hugo Grotius Jus Belli et Pac. II. C. 12. §. 16; Pufendorf, Jus Nat. et Gent. V. C. 5. §. 7; Chr. Wolf, Inst. J. N. G. §. 1112: si commercio exercendo gens lucrum alterius gentis abrumpit. Die Handelscompagnien des ſiebzehnten Jahr - hunderts: holländiſch-oſtindiſche Compagnie beginnt 1595, Auflöſung am 16. Okt. 1795; holländiſch-weſtindiſche Compagnie begründet 1621, auf - gelöst 1795; brittiſch-oſtindiſche Compagnie errichtet 1559; definitiv auf - gelöst 21. 22. Vict. 106 (1858); brittiſch-afrikaniſche Geſellſchaft 1663 1710; franzöſiſch-oſtindiſche Compagnie und franzöſiſch-weſtindiſche Geſellſchaft, beide von 1664 in der Revolution untergegangen; verſchiedene andere unbedeu - tende Geſellſchaften bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 279. Die Doktrin der Handelsbilanz am eingehendſten bei Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 107 111. Hauptvertreter: Stewart, Grundſätze der Staatswirthſchaft II. 224; Aretin, Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie II. 289. Dagegen ſchon Büſch, Geldumlauf II. 247; Mac Culloch, Dictionary: Handelsbilanz. 368Say, Cours complet V. 19. Verbote der Abſperrung der Gränze durch die Reichsſtände (Reichsabſch. 1555. §. 14; vergl. Berg, Polizeirecht III. S. 493 ff.). Ausfuhrprämien ebend. §. 108; privilegirte Handelsgeſellſchaften S. 255. Beginn des Kampfes der Handelsfreiheit: ſchon Verbot der Monopole (Reichspolizei - ordnung 1577). Klare Formulirung des Begriffes und Weſens der Handels - freiheit ſchon bei Berg, Polizeirecht III. 490: Handelsleitung iſt Handels - unterdrückung und die freyeſte Thätigkeit des Handels ſicher zu ſtellen, iſt Handelspolizei. Das neunzehnte Jahrhundert bringt dann die Entwicklung des Syſtems der Handelspflege, von der jeder einzelne Theil wieder ſeine Ge - ſchichte und ſein Recht hat; ſ. das Folgende.

Syſtem der Handelsverwaltung.

Wenn nun auf dieſe Weiſe die Selbſtthätigkeit des Einzelnen, die Freiheit der Handelsunternehmung die Grundlage aller Entwicklung des Handels iſt, ſo empfängt dadurch die Aufgabe des Staats gegen - über dem Handel auch im Einzelnen ihren ſpeciellen Charakter. Der Staat hat für dieſelbe keine beſondere Anſtalten herzuſtellen, welche ihm in ſeinen einzelnen Zweigen die Bedingungen ſeiner Entwicklung bieten, ſondern er ſchafft ſich dieſe Anſtalten ſelber, und muß ſie auch ſelber verwalten. Daher der große hiſtoriſche Satz, daß der Handel die Völker frei macht; es gibt dem Volke in ſeiner Ver - waltung gleichſam die Freiheit zurück, die er in der Handelsfreiheit von ihnen empfängt. Daher die Thatſache, daß Handelsſtaaten einen tief republikaniſchen Charakter haben, und im Einzelnen das Polizei - regiment hartnäckig abweiſen. Von den großen Knotenpunkten des Handels in Europa iſt die ſtaatliche Freiheit ausgegangen, in ihnen die Selbſtverwaltung erhalten, und durch ſie das Vereinsweſen erzeugt worden. Und daher ſchließlich auch die Schwierigkeit für die Theorie, der Handelspolizei oder Handelspflege einen ſelbſtändigen ſyſtemati - ſchen Inhalt zu geben, ohne ſie mit Gewerbe und Induſtrie zu ver - ſchmelzen.

Damit nun ergibt ſich, daß die Summe deſſen, was die Verwal - tung für den Handel im Beſondern thun kann, ſich in der Herſtellung der äußern und der innern Bedingungen dieſer Freiheit zu - zuſammenfaßt. Die erſteren nun beziehen ſich auf den Handel nach Außen, die andern auf diejenigen innern Zuſtände und Verhältniſſe, die ſich der Handel für ſeine eigene Entwicklung ſelber geſchaffen hat. Jene enthalten die Freiheit des internationalen Verkehrs, dieſe die rechtliche Ordnung der Handelsbewegung im Ganzen und ihrer be - ſondern Formen. Beide aber werden vertreten und getragen durch den Organismus des Handels, der ſeinerſeits wieder die Aufgabe hat,369 die lebendige Verbindung deſſelben mit den übrigen Gebieten der Volks - wirthſchaft für das Ganze aufrecht zu halten, gegenüber dem einzelnen Handelsunternehmen, das ſtets nun ſein eigenes ſpecielles Intereſſe vertritt, gleichviel ob es eine Einzelfirma oder eine Geſellſchaft iſt.

1) Eigentliche Handelspflege.

A. Organismus des Handels. Der Charakter und die Stel - lung der Organe, welche die Handelspflege enthalten, iſt demnach ein doppelter. Sie ſind einerſeits dazu beſtimmt, den innern Zuſammen - hang des Handels mit den Vorausſetzungen aller Blüthe deſſelben, der Ordnung und Entwicklung der allgemeinen Volkswirthſchaftspflege, und den Forderungen und Fortſchritten der Gewerbe und der Induſtrie, welche ihm ſeine Subſtanz liefern, zum Bewußtſein und zur Geltung zu bringen, andererſeits die beſondern Aufgaben des Handels im Einzelnen zu vertreten. Es iſt demnach weſentlich, die Organe gerade hier nach ihren Funktionen mehr als nach ihrer Form zu beurtheilen.

Das Handelsminiſterium hat die Aufgabe, nicht etwa bloß für den Handel zu ſorgen, ſondern vielmehr die Bedingungen des Handels in der geſammten Volkswirthſchaft herzuſtellen. Indem es das Miniſterium der ganzen Volkswirthſchaftspflege iſt, iſt es das höchſte Organ für die harmoniſche Einheit der Intereſſen der Volks - wirthſchaft, inſofern dieſelben in dem Handel ihren Hauptausdruck finden.

Die Selbſtverwaltung des Handels iſt in den Handels - kammern gegeben, die aus demſelben Grunde nicht bloß vom Handel, ſondern zugleich von Induſtrie und Gewerbe gebildet werden.

Das Vereinsweſen entwickelt gerade im Handel ſeine drei Grundformen; die Geſellſchaften im engern Sinne, die ſtille, offene und die Commandite, ſind vor allem eben Handelsgeſellſchaften; ſie ſind daher auch im Gebiete des Handels viel häufiger, als die Unter - nehmungsvereine für denſelben, die meiſt der Induſtrie angehören; in den Intereſſenvereinen dagegen verſchmilzt ſich wieder das Handelsintereſſe ſo eng mit dem der Induſtrie, daß die äußere Schei - dung nicht mehr aufrecht zu halten iſt.

Alle dieſe Organe nun wirken gleichzeitig. Je weiter aber die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen gedeihen, um ſo beſtimmter empfängt das Handelsminiſterium ſeinen Charakter als dasjenige Organ, welches anſtatt poſitiv einzugreifen, vielmehr die ſtreitenden Intereſſen zu verſöhnen und die Einheit in der Bewegung des Handels herzu - ſtellen hat.

Handelsminiſterium in England als Board of Trade bloß auf den Handel beſchränkt (Gneiſt, Engliſche Verfaſſungskunde, §. 104 107). InStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 24370Frankreich zuerſt die verſchiedenen Funktionen geſchieden als Min. de l’agri - culture, du commerce et des travaux publ. In Preußen das Miniſterium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten; in Oeſterreich das Miniſterium für Handel und Volkswirthſchaft und das Miniſterium für Ackerbau. Ueber Handelskammern ſ. Stein, Selbſtverwaltung S. 117. (Freie Intereſſen - vereine in England als associations, in Frankreich als Conseils, in Deutſch - land organiſirte Vertretungen mit eigener Wahl.) Ueber die Geſellſchaften und Vereine ſ. Stein, Vereinsweſen.

B. Handelsverträge. Das erſte Gebiet der Handelspflege iſt nun die Aufgabe, den Handelsunternehmungen im Verkehr mit andern Staaten diejenigen Bedingungen ihrer freien Bewegung zu verſchaffen, die ſie als einzelne nicht erreichen können. Das nun ge - ſchieht durch Handelsverträge und Zollweſen.

Die Handelsverträge haben die Aufgabe, die eigenen Handels - unternehmungen im Verkehr mit andern Staaten in Beziehung auf Niederlaſſung, Betrieb und Verkehr der Unternehmungen mit den Angehörigen der letzteren gleichzuſtellen. Der Inhalt der ein - zelnen Handelsverträge richtet ſich natürlich je nach den beſondern Ver - hältniſſen und Bedürfniſſen des betreffenden Landes; die Geſchichte der Handelsverträge aber iſt die Erhebung des Grundſatzes der Gemeinſchaft und Gleichheit des wirthſchaftlichen Lebens Europas zum formalen internationalen Recht. Sie entſtehen daher als Theile und Zuſätze zu den Friedensverträgen; erſt mit der Mitte des achtzehnten Jahr - hunderts, wo der Staatenbildungsproceß im Weſentlichen zu Ende iſt, löſen ſie ſich ab von denſelben, und beginnen von da an ein ſelbſtän - diges Gebiet des internationalen Rechtsſyſtems zu bilden; im neun - zehnten Jahrhundert aber empfangen ſie einen andern Charakter. Mit der ſteigenden volkswirthſchaftlichen Bildung wird nämlich die Erkenntniß allgemein, daß die freie Bewegung der fremden Unternehmungen den Fortſchritt der einheimiſchen bedingt. Aus dieſer Erkenntniß geht die Gegenſeitigkeit im internationalen Recht der Unternehmungen her - vor, deren Ausdruck die Formel iſt, nach der die einzelnen Völker ſich gegenſeitig mit dem Recht der meiſt begünſtigten Nationen zulaſſen. Dieß allgemeine Princip der Handelsverträge erhält nun ſeine Ent - wicklung, indem die Hauptverhältniſſe des Verkehrs ſelbſtändige Handelsverträge erzeugen, und ſich ſo allmählig ein Syſtem derſelben ausbildet. Die Hauptgebiete deſſelben ſind die Niederlaſſungs - verträge, an welche ſich die Verträge über gegenſeitige Zulaſſung von Aktiengeſellſchaften anſchließen; die Verträge über die Com - munikationsmittel, namentlich über Schifffahrt und in der neue - ſten Zeit über Eiſenbahnen; die Verträge über die Verkehrsanſtalten371 der Poſt und die Verträge über das Münzweſen; das letzte Gebiet dieſer Verträge dagegen, das man als den Höhepunkt des internatio - nalen Vertragsweſens betrachten kann, die Verträge über die gegen - ſeitige Vollziehbarkeit der gegenſeitigen rechtskräftigen Urtheile iſt noch ſehr unentwickelt; dennoch iſt es bei der immer ſteigenden Ver - ſchmelzung von Intereſſen und Geſchäften als ein nothwendiger Schritt anzuſehen.

Die Handelsverträge ſind bis jetzt nur für die einzelnen Staaten Europas bearbeitet, und auch hier nur in dem Werke von Cuſſy vollſtändig für Frank - reich; ſchon im vorigen Jahrhundert gute Reflexionen bei Mably, droit publ. de l’Eur. Bd. II. bis 1740. Die einzelnen Verträge bei Martens; ſpe - ciell für Frankreich die Verträge dieſes Jahrhunderts aufgezählt bei Block, Dict. v. traités; für Oeſterreich: Neumann, Récueil des tr. de l’Autriche; Preußen: Rohrſcheidt, Preußens Staatsverträge 1852 (vergl. Rau VI. §. 303; Rönne II. 530). Allgemeine Betrachtungen vom Standpunkte der Handelsfreiheit bei Ad. Smith II. 308; Liſt, Nat. Syſtem ſ. unten.

C. Das Zollweſen. Um die hervorragende Bedeutung des Zollweſens in der Volkswirthſchaftspflege zu erkennen, kann es nicht genügen, ſeine formale Definition aufzuſtellen oder ihren Inhalt dar - zulegen. Man muß vielmehr daſſelbe in ſeiner allmähligen und orga - niſchen Entwicklung verfolgen.

Der Zoll iſt formell die Abgabe, welche der Staat bei dem Ein - gang, Ausgang oder Durchgang gewiſſer Waaren über gewiſſe Linien erhebt.

Ein ſolcher Zoll iſt ein Steuerzoll, wenn der Zweck deſſelben eine bloße Beſteuerung der betreffenden Waaren iſt; der Zoll ſelbſt iſt darum die Steuerhebungsform. Wenn derſelbe dagegen einen wirth - ſchaftlichen Zweck hat, ſo wird er ein Verwaltungs - oder Schutz - zoll. Die äußere Gränze zwiſchen beiden iſt eben ſo ſchwer zu ziehen, als die principielle leicht zu beſtimmen iſt; denn es können in einem und demſelben Zollſatze beide Arten vereinigt ſein. In dieſem Falle iſt derjenige Theil des betreffenden Zollſatzes Schutzzoll, der nicht mehr durch die Beſteuerung motivirt iſt. Der Steuerzoll gehört nun der Finanzwiſſenſchaft; die (Verwaltungs - oder) Schutzzollfrage dagegen gehört der Volkswirthſchaftspflege. Seine Aufgabe iſt formell die Ver - theuerung der Waare um den Betrag des Zolles, und damit ein weſentlicher Einfluß auf die Mitwerbung derſelben mit den einheimi - ſchen Waaren. Das Zollweſen iſt die Geſammtheit von Beſtimmungen und Maßregeln, durch welche dieſe Erhöhung des Preiſes der verzollten Waaren erzielt wird. An dieſe Fähigkeit deſſelben ſchließt ſich ſeine hiſtoriſche Entwicklung, die in den zwei großen Epochen des Prohi -372 bitiv - und des Schutzzollſyſtems zerfällt, und die bei gleicher äußerer Form einen weſentlich verſchiedenen Charakter haben.

a) Das Prohibitivſyſtem war der Ausdruck des Gedankens, den Abfluß des Geldes durch Zahlungen für eingeführte Waaren an das Ausland zu hindern. Das Prohibitivſyſtem war daher ganz gleich - gültig gegen die Einnahmen; es belaſtet nicht bloß den Preis der Waare bis zur Unverkäuflichkeit, ſondern verbietet ſie vielmehr allent - halben, wo es ſich um die einfache Conſumtion fremder Produkte handelt, während es die zur weitern Produktion beſtimmten Produkte frei zuläßt. Es hat daher noch keinen klaren Begriff von dem inneren Zuſammenhang aller Arten der Produktion; es iſt faſt ausſchließlich ein Syſtem der Pflege von Gewerbe und Induſtrie. Es kann nur ſo lange beſtehen, als die Produktionen der einzelnen Staaten weſentlich verſchieden, und namentlich einige Staaten hinter den andern weit zurück ſind. Es will der entſtehenden einheimiſchen Induſtrie ihren einheimiſchen Markt ſchaffen. Es hat noch keine Vorſtellung von Capital und Unternehmung, ſondern nur noch von Geld und Arbeitslohn.

b) Das Schutzzollſyſtem dagegen entſteht, wo durch Induſtrie und Handel die Capitalien und Unternehmungen entſtanden, aber noch nicht gleichmäßig entwickelt ſind. Die Ungleichheit der Capitalien der Amortiſation, der Erfahrung und des Credits macht nun auch bei größter Anſtrengung eine Concurrenz der einheimiſchen Unternehmung mit der auswärtigen nicht thunlich; es fehlen der jüngeren Induſtrie die Bedingungen für den niederen Marktpreis der älteren; ohne dieſe Bedingungen kann ſie nicht beſtehen; ſie kann ſich dieſelben nicht ver - ſchaffen; es erſcheint daher als Aufgabe der Verwaltung, ihr den Er - folg für dieſe Bedingungen zu bieten; das thut ſie durch adminiſtrative Erhöhung des Marktpreiſes der fremden Waare vermittelſt des Zolles. Ein ſolcher Zoll heißt der Schutzzoll, und das Syſtem, vermöge deſſen er zur Anwendung gelangt iſt, das Schutzzollſyſtem.

Das Schutzzollſyſtem betrifft daher zunächſt den Handel, aber es ſchützt in Wirklichkeit die Induſtrie als die Geſammtheit der für die Produktion thätigen Capitalien. Es iſt an ſich gleichgültig gegen Geld und Arbeitslohn, und ſcheidet ſich ſtrenge vom Steuerzoll. Allein es tritt ſofort in direkten Gegenſatz zum Intereſſe des Handels, der natürlich vermöge der Vertheuerung der fremden Waare in ſeinen Ge - ſchäften beſchränkt wird. Durch den lebhaften Gegenſatz dieſer Intereſſen des Handels mit dem der Induſtrie entſteht nun ein Kampf, deſſen nächſter und wichtigſter allgemeiner Erfolg die Erwirkung des öffent - lichen Bewußtſeins von dem inneren Zuſammenhange aller Zweige der Induſtrie unter einander iſt; dann aber die Nothwendigkeit, den373 Schutzzoll, der immer eine Belaſtung des einen Capitals zu Gunſten des andern iſt, aus einer einfachen Verwaltungsmaßregel zu einem Syſtem zu erheben. Erſt vermöge eines ſolchen Syſtemes kann der - ſelbe ſeiner Idee entſprechen. Die Elemente dieſes Syſtems ſind das Princip, die Ordnung und die Verwaltung des Schutzzolles.

1) Das Zollprincip iſt nichts als die Anwendung des allge - meinen Princips der Verwaltung auf das Zollweſen. Der Schutzzoll ſoll nur die Bedingungen für die einheimiſchen Capitalien geben, die ſich dieſelben nicht ſelbſt verſchaffen können. Das Verhältniß tritt nun überhaupt nur da ein, wo die eigene Induſtrie mit fremden Capitalien kämpft, welche bereits durch Amortiſation billigere Preiſe ſtellen, alſo mit geringerer Verzinſung des Capitals arbeiten können, als junge Unternehmungen, ohne doch zu verlieren. Die Bedingung der Entwicklung der letzteren iſt daher ein Preis, der ihnen die Amor - tiſation noch möglich macht. Iſt nun durch den Schutzzoll ein ſolcher Preis da, ſo iſt es Aufgabe der Unternehmung, die Amortiſation wirklich vorzunehmen. Und tritt nun dieſe ein, ſo iſt es klar, daß damit der Schutzzoll ſelbſt unnöthig wird. Das höchſte Princip des Schutzzolles iſt daher das, ſich ſelber überflüſſig zu machen. So lange man unter Freihandel nicht Zollloſigkeit ver - ſteht, iſt das die einfache Löſung des Streites zwiſchen beiden Principien.

Das richtige Zollprincip kann daher weder die Ausfuhr - noch die Durchgangszölle anerkennen. Der Schutzzoll hat ferner weder gleiche noch dauernde Zollſätze. Im Gegentheil wird der Zollſatz je nach den beſondern Verhältniſſen jedes Induſtriezweiges zu bemeſſen ſein, und ſomit jeder rationelle Schutzzoll zu einem ſyſtematiſchen, auf möglichſt genauer Statiſtik beruhenden Zolltarif führen. Die Auf - ſtellung eines ſolchen Zolltarifes muß ferner feſthalten, daß jeder Zoll - ſatz nur für eine beſtimmte Dauer gegeben werden ſoll. Grund - ſätzlich ſollte jeder Schutzzollſatz von vorn herein drei Epochen geſetzlich aufſtellen. In der erſten ſoll er volle Geltung haben; in der zwei - ten ſoll er (bis zur Hälfte) vermindert werden; in der dritten ſoll er aufhören. Der Tarifſatz für die Zolleinheit ſoll ferner je nach der Höhe des Capitals, das zu ſeiner Produktion nothwendig iſt, höher ſein. Gegenſtände, die zu ihrer Produktion kein ſelbſtändiges Capital erfor - dern, alſo der Induſtrie nicht angehören, ſollen keinen Schutzzoll zulaſſen, daher ſollen die Rohprodukte und die Gewerbsprodukte zoll - los ſein. Der Gedanke, durch den Zoll die Verſchiedenheit der Be - ſteuerung des Landes auszugleichen, iſt an ſich richtig, aber unpraktiſch. Die äußerſte Gränze des Zollſatzes aber iſt unter allen Verhältniſſen die Höhe der Schmuggelprämie; und ſchließlich darf nie vergeſſen werden,374 daß die Zollbehandlung bei den meiſten Waaren wichtiger iſt als der Zollſatz.

Der Streit zwiſchen Schutzzoll und Freihandel beruht einerſeits auf der Vermengung der Handelsfreiheit mit dem Freihandel, andererſeits auf der Un - klarheit über das Weſen der Zollloſigkeit. Endlich haben ſich bedeutſame poli - tiſche Motive hineingemiſcht, ſo daß eine objektive Behandlung ſehr ſchwierig iſt. Die faſt endloſe Literatur bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 205 ff. für und gegen die Handelsfreiheit; meiſt in allgemeinen Sätzen ſich bewegend. Fr. Liſt hat das unſterbliche Verdienſt, den organiſchen Begriff des Schutz - zollſyſtems in ſeinem nationalen Syſtem der polit. Oekon. 1841 zuerſt begründet zu haben, dem in der That die Zollgeſetzgebungen des Continents entſprechen. Vergl. Stein, Volkswirthſchaftslehre S. 350 ff. Die Aufhebung des Schutz - zolles wird trotz aller Theorie ſtets nur als die praktiſche Folge der Gleichheit der Capitalverhältniſſe zur Geltung gelangen.

2) Die Zollbegünſtigungen entſtehen da, wo einzelne theils örtliche, theils im Weſen des Handels liegende Verhältniſſe beſondere Ausnahmen von der allgemeinen Zollordnung als Bedingung der Handelsentwicklung erſcheinen laſſen. Dieſe ſind

Freihäfen, die man ſo lange für nothwendig hielt, als das Syſtem der Lagerhäuſer nicht zur vollen Geltung und Ausdehnung gelangt war.

Lagerhäuſer (Waarenhäuſer, Zolldepots, docks, entrepôts) ſind Anſtalten, in denen die Einfuhren unverzollt niedergelegt werden, ſo daß der Zoll erſt bezahlt wird, wenn der Handel die Waare für den inländiſchen Conſum aus denſelben bezieht. Sie ſind eine vollkommen logiſche Conſequenz des Schutzzollſyſtems, da ſie den Zwiſchenhandel zollfrei machen, ohne den Eigenhandel vom Zoll zu befreien. Principiell ſollten ſie bei jeder Zollſtelle ſein; praktiſch ſind ſie nur bei den größten. Sie fordern eine ſelbſtändige, aber möglichſt einfache, freie und koſten - loſe Verwaltung.

Zollcredite, Creditirung des Zollbetrages mit regelmäßiger Liquidirung, als große Erleichterung für bedeutende Importgeſchäfte.

Rückzölle bei Wiederausfuhr von Waaren ſind conſequente Fol - gerungen aus dem Zollprincip, aber nie ohne bedeutende Uebelſtände und Gefahren; daher nur als ſpecielle und genau erwogene Ausnahmen zuzulaſſen.

Steuervergütungen als Erſtattung der Produktionsbeſteue - rung bei der Ausfuhr ſind an ſich falſch, und nur unter beſonderen Umſtänden und bei durchaus einzelnen Artikeln anzuwenden.

Das Syſtem der Freihäfen bedeutet ſtets ein unentwickeltes Zollſyſtem, und ſie verſchwinden daher faſt gänzlich. Rau II. §. 308. Das Syſtem der375 Waarenhäuſer dagegen bildet ſich mehr und mehr aus, und wird mit der Zeit die Baſis des Großhandels gegenüber dem Kleinhandel werden. In England ſchon im vorigen Jahrhundert angedeutet, ſeit 1803 organiſirt; Friedländer, das brittiſche Zollſyſtem, Packhofsordnung 6. Georg. VI. 112. (1825), ſeit dem Zollſyſtem von 1862 nur noch Packhäuſer. Frankreich hat das Entrepotſyſtem ſchon ſeit Colbert (1664 und 1668) eingeführt (elf Städte); erſte Organiſirung durch Geſetz vom 8. Flor. XI., welche dieſelben jedoch nur in einzelnen Städten zuließ; dann allmählige Ausdehnung; das Geſetz vom 9. und 27. Febr. 1832 ließ die Errichtung auch in den inneren Städten zu; Unter - ſcheidung des entrepôt réel und fictif, welche letztere eigentlich nur ein Zoll - credit iſt; Zulaſſung im Zollverein durch Zollvereinsordnung von 1837. §. 59. 72 75; ſ. auch Rönne, Staatsrecht II. §. 256. Organiſirung des Syſtems der Waarenhäuſer und Freilager in Oeſterreich durch Geſetz vom 20. Sept. 1865 und Verordnung vom 19. Juni 1866. Rückzölle in Frankreich orga - niſirt durch Ordnung vom 23. Juli 1818. Verhältniſſe in Deutſchland: Leuchs, Gewerbe - und Handelsfreiheit S. 207. Beſchränkung im Zollverein auf Tabak und Rohzucker; vergl. Rau II. §. 307. Steuervergütung ſpeciell für Zucker und Spiritus.

3) Die Zollverwaltung hat die Zollordnung nach dem Tarif auszuführen. Sie gehört naturgemäß der Finanzverwaltung. Princip muß billige und raſche Beförderung ſein; Zollſtrafgeſetze mit Confis - kation; Formalitäten ſind Gegenſtand eigener Anordnungen. Schwierig - keiten entſtehen nur, wo die Zolleinheit auf dem Werthe beruht, oder wo die Qualitäten zu ſehr verſchiedenen Anſätzen im Tarif Anlaß geben. Daher Vermeidung der Werthzölle und möglichſte Einfachheit der Tarifſätze.

Aus dem Obigen ergeben ſich für die Beurtheilung des Zollweſens der einzelnen Länder Europas überhaupt drei Geſichtspunkte. Zuerſt hat jeder einzelne Tarifſatz ſeine Begründung und oft auch ſeine Geſchichte, die nicht ohne Bedeutung iſt. Zweitens hat die Zollgeſetzgebung jedes ein - zelnen Landes einen ganz beſtimmten Geſammtcharakter, der mit der ganzen Capitalsentwicklung deſſelben auf das Engſte zuſammenhängt, und deſſen Princip iſt, daß je nachdem die Unternehmungen alt und die Capitalien billig ſind, die Schutzzölle verſchwinden. Der Charakter Englands iſt daher die volle Zollfreiheit; die ſieben einzigen Tarifſätze, welche England noch hat, ſind in der That ausſchließlich Steuerzölle, und zwar ſpeciell Verzehrungsſteuerzölle. Die franzöſiſche Zollgeſetzgebung trägt noch immer den Charakter der Colbert - ſchen Epoche an ſich; ſie hat ihr Syſtem von Tarifſätzen zu einer Freiheit der Beſtimmungen und Unterſcheidungen ausgearbeitet, die nur theoretiſch zu be - gründen iſt, die aber praktiſch eher nachtheilig. Daneben ſind die Vorſchriften über die Zollverwaltung zwar ſtreng bureaukratiſch, aber ſehr genau ausgeführt; von großem Werth iſt dabei die Durchführung des Beſchwerdeverfahrens auf Grundlage des Contentieux. Der Zollvereinstarif iſt im Weſentlichen nach376 dem franzöſiſchen Vorbilde; aus dem ſogleich anzuführenden Grunde entbehrt er in Princip und Ausführung der rechten Selbſtändigkeit, was gleichfalls von dem öſterreichiſchen gilt. Es iſt nämlich drittens unzweifelhaft, daß ſeit 1848 ganz Europa demſelben Zuge folgt, der für Deutſchland ſeit 1824 für das ganze Zollweſen thätig geweſen iſt. Das Zollſyſtem iſt ein Mittel in der Hand der Politik geworden. An dem Zolle iſt zuerſt Deutſchlands Einheit groß geworden; die Geſchichte des Zollvereins iſt ein Theil der Geſchichte Deutſch - lands, und die Tarifſätze ſind in den meiſten Fällen Compromiſſe zwiſchen den Intereſſen der Theile des Ganzen, ſo daß der reine Charakter der Zölle dabei verloren geht. Seit 1848 iſt dagegen dieſe Verwendung des Zollweſens allgemein geworden. Seinen Hauptausdruck fand jenes Princip zuerſt in dem Februarvertrag von 1853 für das Verhältniß zwiſchen Oeſterreich und Preußen, dann aber in dem franzöſiſchen Handelsvertrag mit England vom 23. Jan. 1860 und im franzöſiſch-deutſchen Zollvertrag vom 2. Aug. 1862; die Verträge zwiſchen Frankreich und Belgien von 1854 gehören gleichfalls in dieſe Kategorie. Es dürfte jedoch kaum zweifelhaft ſein, daß dieſe Epoche als eine im Weſent - lichen überwundene zu gelten hat. Das Zollweſen Europas wird in nächſter Zeit wieder die Selbſtändigkeit der einzelnen Länder zum Grunde legen. Die Literatur iſt meiſt Parteiliteratur, die ſtreng wiſſenſchaftliche Be - handlung beſchränkt ſich auf den Streit über das Princip, das Eingehen auf ſyſtematiſche Behandlung fehlt. Die Nationalökonomie überläßt die Frage der Volkswirthſchaftspflege, und dieſe ſelbſt iſt noch unfertig. Vergl. Rau, Volks - wirthſchaftspflege II. §. 207 und 305 ff. Die bedeutendſte Arbeit bleibt der Bericht der volkswirthſchaftlichen Commiſſion der württembergiſchen Kammer über den preußiſch-franzöſiſchen Handelsvertrag (Moritz Mohl). J. G. Cotta’ſche Buchhandlung 1864.

2) Das Handelsrecht.

Begriff, Princip und Inhalt.

Während nun in Handelsverträgen und Zollweſen der Handel als internationaler Verkehr erſcheint, iſt das, was wir unter der Handels - ordnung verſtehen, der Inhalt desjenigen, was die Verwaltung für den inneren Handel zu leiſten hat.

So wie nämlich der Handel ſich in der Volkswirthſchaft zu ſelb - ſtändigem Leben entwickelt, erzeugt er zwei Dinge, die ſpeciell ihn und ſein Weſen enthalten und vertreten. Das erſte iſt eine neue Geſtalt und ein neues Gebiet des Verkehrs und ſeines Rechts, ein dem Handel als ſolchem angehöriges Vertragsrecht, das wir im engeren Sinne des Wortes das Handelsrecht nennen. Das zweite ſind ſpecielle, ſelbſtändige Anſtalten und Formen des Handels, die gleichfalls ihre eigene Ordnung fordern. Allerdings nun erzeugt ſich das im Handel raſtlos thätige und auf jedem Punkte lebendige Einzel - intereſſe der Unternehmungen beider mit eigener Thätigkeit; allein die377 raſche Bewegung des Umlaufs fordert für die Ordnung beider Elemente eine in jedem Punkte feſtſtehende objektive Gültigkeit. Dieſe nun kann ſich der Handel nicht ſelber geben. Der Staat muß ſie zum Gegenſtande eigener Geſetzgebung machen; allein gerade, weil ſie aus der Natur des Handels unmittelbar hervorgehen, fordert der letztere bei der Verwirklichung der auf dieſe Weiſe geſetzlich beſtimmten recht - lichen Ordnung des Handels eine ſelbſtthätige Mitwirkung, die aller - dings je nach dem ſpeciellen Gebiete eine ſpecielle Geſtalt hat. Und die Geſammtheit der dadurch bedingten Beſtimmungen und Einrich - tungen nennen wir die als öffentlich geltendes Recht formulirte Handelsordnung. Sie iſt das eigentliche Gebiet der Verwaltung des Handels; und die Entwicklung ihrer beiden Grundlagen ergibt ſo - mit das, was wir das Syſtem derſelben zu nennen haben.

Handelsrecht und Gericht.

Das allgemeine Handelsrecht iſt dasjenige, welches aus der Natur des Handels an ſich folgend, für alle Theile und Gebiete des Handelsverkehrs gleichmäßig gültig iſt. Es iſt nicht möglich, das all - gemeine Weſen und die Stellung des Handelsrechts in der Wiſſenſchaft zu beſtimmen, wenn man es nicht in ſein Verhältniß zum übrigen bürgerlichen Rechte ſtellt. Die tiefen Unterſchiede beider beruhen auf folgenden Punkten.

Während das bürgerliche Recht die einzelne Perſönlichkeit als Rechtsſubjekt anerkennt, erſcheint im Handelsrechte als das Rechtsſub - jekt das Unternehmen. Der Verkehr der einzelnen Perſönlichkeiten im bürgerlichen Recht erſcheint als Vertrag; der Vertrag, den die Unternehmungen ſchließen, iſt dagegen ein Geſchäft. Der Inhalt eines Vertrages wird grundſätzlich nur von dem wohlerwogenen Willen des Contrahenten beſtimmt; das Geſchäft iſt ſeinem Weſen nach und wird daher auch ſtets im Handelsverkehr aufgefaßt als bedingt von allen andern Geſchäften, die ihm voraufgehen oder nachfolgen. Wie daher das wirthſchaftliche Weſen des Geſchäfts ein anderes iſt als das des Vertrages, ſo iſt auch das Recht deſſelben ein beſonderes. Und in dieſem Sinne nennen wir das Recht der Unternehmungen und ihrer Geſchäfte im Unterſchiede von dem der Wirthſchaft und ihrer Verträge das allgemeine Handelsrecht.

Aus dieſer Natur des Handelsrechts folgt nun auch der Inhalt ſeines Syſtems. Daſſelbe zerfällt in drei Theile. Das Unternehmen als Perſönlichkeit iſt die Firma. Sie hat die Fähigkeit in ſich, wie das Unternehmen das ſie vertritt, nicht bloß in einzelner Perſon, ſon - dern als eine organiſirte Geſellſchaft, ja als ein Verein aufzutreten. 378Die handelsrechtliche Perſönlichkeit, rechtlich in der Firma anerkannt, hat daher drei Grundformen: die einzelne Perſon, die drei Formen der Geſellſchaft, ſtille, offene und Commandite, und Aktien - geſellſchaft. Die Rechtsverhältniſſe, die ſich daraus ergeben, bilden den erſten Theil des Handelsrechts. Der zweite enthält diejenigen Modifi - kationen des bürgerlichen Vertragsrechts, welche durch die Natur des Geſchäfts geſetzt werden, in Begriff, Abſchließung, Erfüllung und Be - weiskraft der Handelsbücher. Das iſt das natürliche Syſtem des all - gemeinen Theiles des Handelsrechts. Für den Handel ſelbſt aber iſt es eine erſte weſentliche Bedingung, daß dieſes Recht objektive Gültig - keit und Selbſtändigkeit gegenüber dem Privatrecht habe; die Herſtellung dieſer rechtlichen Selbſtändigkeit iſt daher eine weſentliche Aufgabe der Verwaltung; und ſo entſtehen die Handelsgeſetzbücher. Zweitens aber fordert der Handel, eben weil dieſes ſein Recht auf eigenen, vom Privatrecht weſentlich verſchiedenen Grundlagen beruht, daß auch die gerichtliche Organiſation, welche das Handelsrecht vollzieht, die Mit - wirkung des Handelsſtandes aufnehme; und aus der natürlichen und im Grunde nie beſtrittenen Anwendung dieſes Princips geht das Handelsgericht hervor. Das iſt der erſte Theil innerer Verwal - tung des Handels.

Das bisherige Handelsrecht theilt noch immer das Schickſal aller Rechts - gebiete; es bildet einen iſolirten Theil der Rechtswiſſenſchaft, und wird ſein Verſtändniß erſt empfangen, wenn es ſeine organiſche Verbindung mit Privat - recht und Verwaltungsrecht durchführt. Bekanntlich beſteht das Handelsrecht viel länger als die Handelsgeſetzbücher; eben ſo die Handelsgerichte (vergl. über die Handelsgerichte des vorigen Jahrhunderts: Fiſcher, Cameral - und Polizei - recht III. 220 f.; Berg, Teutſches Polizeirecht III. S. 491). Handelsgebrauch (Uſance) vergl. Mittermaier, deutſches Privatrecht II. §. 530. Neuere Zeit: Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. 205. Die Erkenntniß, daß die Hauptaufgabe der Verwaltung in der Bildung eines Handelsrechts liege, ſchon von Lotz am klarſten erkannt (Staatswirthſchaftslehre VI. 203 ff.). Die Geſchichte des Handels - rechts in allen Commentaren der deutſchen Handelsgeſetzbücher. Die Geſchichte der Handelsgerichte und ihres Rechts ſpeciell Craizenach, Weſen und Wirken der Handelsgerichte 1861. Langer Kampf namentlich in Preußen über Stel - lung und Errichtung derſelben auf Grundlage der Verſchiedenheit des deutſchen und rheiniſch-franzöſiſchen Rechtsgebietes; Badener Handelsbl. Nr. 696. Oeſterreich: Handelsgerichtsbeiſitzer aus dem Handelsſtand (Erlaß vom 2. Dec. 1864). Hannover: Errichtung von Handelsgerichten 1865 von Leonhardt. Die Rechtslehre von den einzelnen Orten der Handelsunternehmungen in den Lehrbüchern des Handelsrechts; vergeblicher Verſuch den Begriff des Geſchäfts zu beſtimmen. Ueber die Geſellſchaften und Vereine Stein, Vereinsweſen und Recht S. 63 ff.

379
3) Einzelne Handelszweige.

Der beſondere Theil des Handelsrechts entſteht nun, indem einer - ſeits innerhalb des Verkehrs der Unternehmungen einzelne Geſchäfts - gebiete ſich ſelbſtändig ausbilden, andererſeits gewiſſe ſelbſtändig für den Güterverkehr beſtimmte Anſtalten entſtehen, welche die Angelegen - heiten des Verkehrs vertreten oder enthalten. Auch dieſe letztere ſchafft ſich der Handel ſelbſt eben ſo gut wie die erſteren ſich von ſelbſt aus ihm herausbilden. Allein auch hier iſt für beide eine feſte, durch die Verwaltung beſtimmte rechtliche Ordnung derſelben nothwendig; und die Geſammtheit der hierfür geltenden Rechtsſätze bilden den beſon - deren Theil des Handelsrechts.

1) Die einzelnen Handelsgeſchäfte, um welche es ſich handelt, ent - halten eine Theilung der Arbeit innerhalb des Handels. Sie ſind einzelne Funktionen des Handelsverkehrs, welche zu ſelbſtändigen Unter - nehmungen geworden ſind. Darauf beruht das Princip ihres Rechts. Daſſelbe enthält diejenige Modifikation des bürgerlichen Rechts, welche durch die Funktion entſteht, die durch jene Unternehmungen für den Verkehr ſelbſtändig unternommen wird; die commerzielle Natur dieſer Funktion iſt es, welche als das rechtbildende Element derſelben ange - ſehen werden muß. Dieſe Arten der Handelsgeſchäfte ſind die Com - miſſions -, das Speditions - und das Frachtgeſchäft. Die Ab - hängigkeit der Güterbewegung von denſelben macht ihre rechtliche Ordnung zu einer Bedingung der regelmäßigen Bewegung des Handels; und in dieſem Sinne iſt das Recht derſelben ein wichtiger Theil der Handelspflege, und bildet daher auch einen Theil des Handelsgeſetz - buches.

Die Literatur über dieſelben gehört der Interpretation der Handelsgeſetz - bücher; ſie iſt bisher eine weſentlich juriſtiſche geweſen. Der höhere Stand - punkt iſt entſchieden der volkswirthſchaftliche. Bedeutſamer Kampf zwiſchen den Beſtimmungen der Handelsgeſetzbücher und den Eiſenbahnen über die Lieferungen und die Gefahr (Handelsgeſetzbuch IV. Buch - und Vereins-Reglement der Eiſen - bahnen, vergl. oben die Literatur des Eiſenbahnrechts).

2) Die ſpeciellen Handelsanſtalten gehen nun ihrerſeits aus dem Bedürfniß des Handels hervor; ſie erſcheinen als die Formen, in denen ſich der Handel ſeinen Markt ſelbſt ordnet. Die Natur des Verkehrs auf dieſen Märkten fordert nun ganz beſtimmte Ord - nungen, die objektive Gültigkeit haben müſſen, um den Gang des Handels nicht zu ſtören. Daraus nun entſtehen die Formen, deren Werth, Ordnung und Einfluß wieder bedingt erſcheinen von dem Um - fang des Handels und ſeiner Selbſtändigkeit.

380

a) Die Börſe bildet den Markt der Geſchäfte. Sie iſt zu - nächſt nur der Geſchäftsmarkt. Allein der Natur des Handels ent - ſprechend iſt nur ein Handelsunternehmen börſefähig. Das Börſen - geſchäft unterſcheidet ſich an ſich nicht von jedem andern Geſchäft; allein es iſt die Aufgabe der Börſe, zuerſt einen Marktpreis zu bilden, der eventuell den individuellen Vertragspreis erſetzt, und zweitens die Erfüllungspflicht zu normiren, wo keine ſolche vertragsmäßig beſtimmt war. Die Wichtigkeit beider Punkte bei der Fluth der Ge - ſchäfte iſt es, welche das Börſenrecht erzeugt hat. Nach demſelben wird zu einem gegebenen Zeitpunkt der Marktpreis als Cours oder Preis erklärt und eine Lieferzeit geſetzlich für die abgeſchloſſenen Börſen - geſchäfte beſtimmt. Die Vollziehung dieſer Ordnung unterliegt der Börſenkammer, der ein Regierungscommiſſär beigegeben zu ſein pflegt, und die auch in Streitigkeiten des Börſenrechts entſcheidet. Dieſe Börſeordnung iſt Gegenſtand der Geſetzgebung, und zwar ohne Unterſchied, ob es ſich um eine Geld - oder Waarenbörſe handelt, obwohl die Verſchiedenheit des Objekts einige Modifikationen für jede derſelben erzeugt, namentlich in Beziehung auf Zeit und Form der Erfüllung des Börſengeſchäfts.

Das Börſenrecht gehört entſchieden dem Handelsrecht, obgleich es nicht in demſelben behandelt und im deutſchen Handelsgeſetzbuch ſelbſt berührt wird. (Art. 331.) Erſte Form bereits in Italien; dann in Flandern (Hüllmann, Städteweſen I. 302). Weitere Entwicklung im 18. Jahrhundert; dann ſelb - ſtändige Börſenordnungen im Anſchluß an das Handelsgeſetzbuch; vergl. die Börſenordnung Preußens bei Rönne (Staatsrecht II. §. 436). Oeſter - reich: Geld-Börſenordnung vom 11. Juli 1854; Waaren-Börſenordnung vom 20. Febr. 1860). Frankreich: örtliche Börſenordnung vor der Revolution; allgemeine Börſenordnung (Geſetz vom 28. Vent. IX. nebſt ſpäteren Be - ſtimmungen; Foubert bei Block; Rau II. 283).

b) Die Makler ſind Handelsorgane, welche dazu beſtimmt ſind, durch ihre Intervention den Abſchluß des Geſchäfts in Beziehung auf Objekt, Preis und Lieferung ſicher zu ſtellen, und ſo durch die Beweis - kraft ihrer Aufzeichnungen die Unſicherheit der Geſchäfte zu beſeitigen. Das Bedürfniß nach einer ſolchen entſcheidenden Intervention liegt im Weſen des Geſchäftsverkehrs; Grundſatz daher, daß ſie als ſolche durch den Selbſtverwaltungskörper der Börſe, die Börſenkammer (oder Handels - kammer) oft unter Zuziehung der Regierung ernannt, unter beſtimmte geſetzliche Vorſchriften geſtellt und mit entſprechender Haftung belaſtet werden. Daher bilden die Maklerordnungen meiſt einen Theil der Börſeordnung, und ſollten ein Theil der Disciplin des Handelsrechts bilden. Die Bedingungen ihrer Anſtellung, ihre Cautionen, ihre Buch -381 führung, die Beweiskraft derſelben ſind geſetzlich normirt, jedoch mit Verſchiedenheiten je nach dem Gebiet der Geſchäfte, für welche ſie die Vermittler machen (Geld -, Wechſel -, Waarenmakler ꝛc. ); das freie Weſen des Handels hat aber auch für ſie die Selbſtverwaltung in den Maklergenoſſenſchaften erzeugt, deren Hauptaufgabe es iſt, die Ueber - wachung über die Führung des Geſchäfts der Genoſſen auszuüben.

Große Verſchiedenheit in der Ausbildung des Rechts und der Ordnung des Maklerweſens in Frankreich mit ſtrenger Organiſation und großer Haftung (Agents de change); bereits ſeit dem 16. Jahrhundert organiſirt als offices; Aufhebung derſelben 1791; neue Ordnung in Verbindung mit der Börſenordnung vom 28. Vent. IX. ; Aufnahme in den Code de Comm. I. 5; ſtrenge und ſyſtematiſche Cautionsgeſetzgebung, durch eine Reihe von geſetzlichen Beſtimmungen geordnet, Ernennung durch den Kaiſer; Eid derſelben; chambre syndicale (vergl. Lefort bei Block mit Literatur). Die Waarenmakler (Courtiers) ſtehen im Weſentlichen unter denſelben Principien, jedoch mit weniger Strenge; Geſetz über die Maklerordnung vom 28. Juni 1866. In Deutſchland war das Maklerrecht ein lokal entwickeltes bis zum Handelsgeſetzbuch; aber auch ſchon damals faſt immer mit den Börſenordnungen verbunden (Rau II. §. 282); namentlich die hiſtoriſchen Daten bei Mittermaier, deutſches Privat - recht II. §. 539. Dann Princip des Handelsgeſetzbuches: die Makler bedürfen ſtets der Anſtellung. Preußen: Anſtellung mit Beeidigung vor den Handels - gerichten, auf Antrag der Handelskammer und unter Beſtätigung der Regie - rung (Rönne II. §. 402 und 435). Oeſterreich: Prüfung und Anſtellung durch den Finanzminiſter auf Vorſchlag der Handelskammern, mit Beeidigung (Wiener Geld-Börſenordnung §. 17 ff. ), bei den Waarenmaklern nur Beſtätigung durch die Behörde (Waaren-Börſenordnung §. 18); dagegen keine Pflicht ſich derſelben zu bedienen; nur das Recht der Beweiskraft ihrer genau vor - gezeichneten Aufzeichnungen ausgeſprochen (ebend. §. 11); ſtrenge Disciplin auch hier (§. 54 ff. ) und Strafe gegen Winkelmakler §. 63; vergl. auch Rau, Volks - wirthſchaftspflege II. 282).

c) Meſſen und Märkte (Jahr - und Wochenmärkte) haben mit der höheren und allgemeineren Organiſirung des Handelsweſens ihre allgemeine Bedeutung mit wenigen Ausnahmen faſt ganz verloren. Sie ſind wie die Buchhändlermeſſe, entweder nur für ganz einzelne Zweige von Bedeutung oder wie die gewöhnlichen Wochenmärkte nur noch der Ortspolizei untergeordnet. Die Aufgabe der Regierung be - ſteht hier nur noch darin, die Zeit und Dauer derſelben zu ordnen; die Gemeinden haben die Ordnung und Polizei derſelben zu handhaben. Eine beſondere Fürſorge bedürfen ſie nicht.

Hiſtoriſche Elemente der Meſſen: Mittermaier, deutſches Privatrecht II. §. 570; alte Meßgerichte: Craizenach a. a. O. S. 13. Gegenwärtiges Princip: Genehmigung der Abhaltung durch die Regierung und Oberauf -382 ſicht durch die Gemeinde. Frankreich: Beibehaltung der alten Markttage nach dem Decret vom 7. Therm. VIII. ; das Geſetz vom 10. Mai 1838 gab den Conseils généraux das Recht, auf Ordnung derſelben anzutragen; der Maire iſt die leitende Behörde. Preußens Grundſatz ſchon im Allgem. Landrecht II. 8. 103 ff. mit näheren Beſtimmungen in der Gewerbeordnung von 1845; Rönne II. §. 433. Oeſterreich: Princip der Conceſſion nach Erlaß vom 4. Mai 1849 (Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde §. 522).

d) Markthallen, für den örtlichen Verkehr, Städte für Nah - rungsmittel ſind in dem Grade wichtiger, je größer die Städte. Sie ſind aber durchaus Gegenſtand der Selbſtverwaltung und auch als ſolche in beſtändiger ſeltſamer Entwicklung begriffen.

Alles was darüber geſagt werden kann, mit voller Kenntniß der Sache und der beſtehenden Ordnungen im Bericht über die Markthallen in Deutſchland, England, Frankreich, Belgien und Italien von Theodor Rieſen, Berlin 1867.

e) Der Hauſirhandel, im vorigen Jahrhundert noch mit vielem Bedenken angeſehen, und zum Theil mit Recht, iſt jetzt ein einfaches conceſſionirtes Gewerbe, das jedoch mit beſonderen polizeilichen Maß - regeln zum Schutze des Publikums umgeben iſt. Das Hauptorgan für die Bewachung ſollten die Gemeinden ſein.

Vergl. das Recht der früheren Zeit: Berg, Privatrecht I. 351; Rau II. §. 290 ff. England: Mac Culloch, Dict. I. 871; Licenzſyſtem 50. Georg. III. 41; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. 322. Preußen: pol. Controle-Regul. vom 4. Dec. 1836; Rönne II. §. 336 und 359. Oeſter - reich: Regelung durch Erlaß vom 4. Sept. 1852; Hauſirpäſſe: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 511.

VII. Der geiſtige Erwerb. Begriff und Princip. Das Werthrecht der geiſtigen Produkte.

Das geiſtige Leben erſcheint allerdings zunächſt als eine Welt für ſich, nach eigenen Geſetzen, nach eigenen Zielen ſtrebend, geſchieden von der wirklichen Welt, und ohne Zuſammenhang mit dem, was ſie fordert und leiſtet. Allein dieſe Scheidung iſt nur eine formale. Alles, und vor allem das wirthſchaftliche Leben iſt vom Geiſte und ſeiner Arbeit durchdrungen und beſeelt. Je höher die Geſittung ſteigt, je mehr erkennt man, daß die letztere geradezu der wichtigſte Faktor für die fortſchreitende Entwicklung der erſteren iſt. An dieſe Erkenntniß ſchließt ſich die zweite, daß die Förderung des geiſtigen Lebens mithin auch zu der Aufgabe der Volkswirthſchaftspflege gehöre. Und damit tritt die Frage auf, was dieſe Verwaltung der Volkswirthſchaft383 ihrerſeits nicht etwa für die geiſtige Entwicklung überhaupt, die dem Bildungsweſen angehört, ſondern dafür thun könne, daß dieſelbe zu - gleich ſich der wirthſchaftlichen Produktion zuwende und ſie bilde.

Um dieſe Frage beantworten zu können, muß man wieder zwiſchen dem allgemeinen und dem beſonderen Theile unterſcheiden.

Die Geſammtheit von Thätigkeiten, welche die Verwaltung für den geiſtigen Erwerb im Allgemeinen leiſtet, bezeichnen wir als die wirthſchaftliche Berufsbildung. Sie gehört zwar mit ihrem Zwecke der Volkswirthſchaft, mit ihrem Inhalt und ihren Mitteln aber dem Bildungsweſen an, und hat daher auch dort ihre Darſtellung ge - funden.

Der beſondere Theil dagegen umfaßt diejenigen Arten des geiſtigen Erwerbes, in denen eine beſtimmte und begränzte geiſtige Arbeit einen beſtimmten und begränzten wirthſchaftlichen Erwerb durch ihre Produk - tion erzielt. Die beiden Arten, um welche es ſich hier handelt, ſind die wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Werke, und die techniſchen Er - findungen. Ueber ihren hohen Werth für die Geſammtentwicklung kann kein Zweifel ſein; allein beide ſind freie Thaten des Geiſtes, und die Verwaltung kann ſie vor allem nie direkt, ſondern nur dadurch fördern, daß ſie ihnen diejenigen Bedingungen gibt, ohne welche ſie nicht fortſchreiten können. Dieſe Bedingungen nun ſind aber doppelter Natur. Zuerſt ſind ſie geiſtig; es iſt die ſchaffende Kraft des indivi - duellen Geiſtes, der was er leiſtet, in ſich ſelbſt finden muß. Hier kann keine Verwaltung helfend eingreifen. Allein ihre zweite Bedin - gung iſt wirthſchaftlicher Natur. Jene Arbeiten enthalten neben ihrem geiſtigen auch einen wirthſchaftlichen Werth, um deſſent - willen ſie ſtets wenigſtens zum Theil entſtehen. Ob dieſer Werth vor - handen und wie groß er iſt, iſt nicht Sache der Verwaltung. Allein ſo weit er da iſt, erſcheint die Sicherung des Rechts auf demſelben allerdings als eine weſentliche Bedingung dafür, daß ſich der tüchtige Einzelne dieſer Art der Arbeit überhaupt zuwende. Unzweifelhaft liegt nun dieſe Sicherung wie die eines jeden andern Rechts zunächſt in der allgemeinen bürgerlichen Rechtspflege. Allein das bürgerliche Recht hat bis jetzt den Werth überhaupt noch nicht als ſelbſtändigen Gegenſtand des Eigenthumsrechts erkannt; und ſelbſt wenn es das hätte, würde der Beweis in vielen Fällen ſo ſchwierig und koſtbar werden, daß das Recht auf den (wirthſchaftlichen) Werth ſelbſt werthlos werden würde. Hier tritt daher die Verwaltung im Namen des allgemeinen Intereſſes ein, und ſind die Principien derſelben wohl klar. Ihre erſte Aufgabe iſt es, den ſelbſtändigen wirthſchaftlichen Werth überhaupt in dieſen geiſtigen Arbeiten zur Anerkennung zu bringen; ihre zweite, ihn384 durch ihre Maßregeln zu einer beſtimmten und nachweisbaren Sache und dadurch ihn vor Gericht verfolgbar zu machen. Das Verwaltungs - recht des geiſtigen Erwerbes iſt daher gar nichts anderes, als die Auf - ſtellung und Organiſirung des Eigenthumsrechts am wirth - ſchaftlichen Werthe einer geiſtigen Produktion, wie das Pfandrecht das Eigenthumsrecht an dem Werthe eines wirthſchaftlichen Gutes enthält, oder die durch Verwaltungsmaßregeln geſicherte Aus - dehnung des Werthrechts oder die Gebiete des geiſtigen Lebens. Und dieſe Aufgabe hat nun eine doppelte Geſtalt: für die geiſtigen Werke, oder das ſogenannte literariſche Eigenthum, und für die Erfin - dungen mit dem Patentrecht, dem Muſterſchutz und dem Markenrecht.

Es iſt wohl ſehr ſchwierig, das Gebiet in überzeugender Weiſe zu behan - deln, ſo lange man in der Rechtswiſſenſchaft nicht als Grundlage das Eigen - thumsrecht beſitzt, Gebrauch und Werth als ſelbſtändige Momente des Eigen - thums anerkennt, die ihrerſeits wieder fähig ſind, ſelbſtändige Gegenſtände des Eigenthums werden zu können. Allein es gibt keinen andern Weg zu einem definitiven und klaren Reſultate zu gelangen. Die bisherige Literatur hat ſich dabei ſtets auf dem Standpunkt gehalten, jene Gebiete des literariſchen Eigen - thums und der Erfindungen getrennt, ohne Bewußtſein ihres Zuſammen - gehörens, zu bearbeiten. Es fehlt daher ſchon der allein richtige Ausgangs - punkt, eben ſo ſehr, wie die Stellung der ganzen Lehre im Syſtem der Staats - wiſſenſchaft. Das Folgende muß ſich daher auf die einfachſten Grundlagen beſchränken.

1) Das literariſche Eigenthum und das Nachdrucksrecht.

Es iſt wohl durchaus unmöglich, zum Begriff und Weſen des lite - rariſchen Rechts zu gelangen, wenn man nicht die des Sachenrechts zum Grunde legt.

Es iſt ganz richtig, daß die geiſtige Schöpfung an ſich kein Eigen - thum ſein kann, da ſie keine Sache iſt. Allein in ihrer Erſcheinung wird ſie Sache. Als ſolche iſt ſie das Manuſcript, die Zeichnung ꝛc. So wie ſie das iſt, empfängt ſie die Momente derſelben; ſie läßt einen Beſitz (das Manuſcript), ſie läßt einen Gebrauch (zum Setzen, Drucken, Leſen ꝛc. ), ſie läßt einen Werth (im Honorar), ſie läßt ein Erbrecht und eine Verjährung (ſchriftſtelleriſches Erbrecht), ja ſie läßt den Ver - kehr (im Verlagsvertrage) zu. So wird die geiſtige Produktion ein ſachliches Eigenthum.

Allein ſie iſt zugleich ein Gut. Sie wird nicht bloß erzeugt durch die Arbeit des Geiſtes aus geiſtigem Stoff und conſumirt, ſondern ſie hat auch einen wirthſchaftlichen Werth, und wird dadurch die Grundlage des wirthſchaftlichen Einkommens, da das Honorar als385 Preis für das Produkt den Produkten die Mittel zur Weiterarbeit gibt. Es läßt ſich das eben ſo wenig beſtreiten, als es ſich leicht weiter führen laßt.

Iſt dem nun aber ſo, ſo folgt, daß das Vorhandenſein jenes wirthſchaftlichen Werthes für die geiſtige Produktion eine eben ſo abſo - lute Bedingung ihres Entſtehens iſt, wie für jedes andere wirthſchaft - liche Gut. Es iſt ein eben ſo abſoluter Widerſpruch, das ganz Werth - loſe für Andere zu erzeugen, als es unmöglich iſt, das für alle Werth - volle zu erzeugen, ohne den Werth deſſelben ſelbſt zu erwerben. So wie aber die mechaniſche Vervielfältigung durch den Druck möglich wird, tritt ein anderes Verhältniß ein. Dieſe Vervielfältigung iſt nach dem Geſetze des Werthes fähig, den Werth des Produktes zu vernichten, indem ſie die Maſſe des Produkts um ſo viel vermehrt, daß der Werth bis auf den der mechaniſchen Herſtellungskoſten verſchwindet. Das unbeſchränkte Recht auf die mechaniſche Vervielfältigung eines ge - kauften geiſtigen Produkts iſt daher ein unlösbarer Widerſpruch mit dem Weſen der Güter, da es das geiſtig werthvolle Produkt zu einem wirthſchaftlich werthloſen machen, und ihm dadurch das Weſen des Gutes nehmen würde. Es iſt klar, daß damit die Produktion ſolcher Güter gleichfalls zu Ende wäre. Iſt daher die geiſtige Produktion ein nothwendiges Element des geſammten und ſpeciell des wirthſchaft - lichen Lebens, ſo iſt es die Aufgabe der Verwaltung, dieſen wirth - ſchaftlichen Werth des geiſtigen Produkts, und in ihm die materielle aber unerläßliche Bedingung der geiſtigen Produktion überhaupt zu ſchützen.

Dieſes nun iſt wiederum nur dadurch möglich, daß das rechtliche Verhältniß des Gebrauches zum Werthe objektiv feſtgeſtellt, das iſt, daß die Frage geſetzlich unzweifelhaft entſchieden werde, ob der Erwerb der Sache das unbeſchränkte Recht des Gebrauches der - ſelben, alſo namentlich auch des Gebrauches zur mechaniſchen Verviel - fältigung geben könne. Es iſt klar, daß dieß nach dem Obigen an ſich unmöglich iſt, ohne dem geiſtigen Gut das Weſen des wirthſchaft - lichen Gutes zu nehmen. Das Recht des Eigenthums des geiſtigen Produkts auf die Beſchränkung des Gebrauchsrechts derſelben wird daher zur nothwendigen Conſequenz des wirthſchaftlichen Weſens der geiſtigen Güter. Den juriſtiſchen Ausdruck dieſer Conſequenz bildet der Rechtsgrundſatz: das Recht auf die mechaniſche Vervielfältigung eines geiſtigen Produkts iſt ein ſelbſtändiges Recht, das mit dem Er - werb des letzteren nicht auf den Erwerber übergeht, ſondern als ein ſelbſtändiger Gegenſtand des Verkehrs und Vertrages anerkannt werden muß. Und dieſes ſelbſtändige Recht auf die mechaniſche Ver -Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 25386vielfältigung ſolcher geiſtigen Produkte nennen wir das literariſche Eigenthum.

Dieſes literariſche Eigenthum hat daher einen dreifachen Inhalt. Es beſteht zuerſt in der Anwendung des Erbrechts auf die Be - rechtigung zur mechaniſchen Vervielfältigung. Der Grundſatz derſelben iſt, daß der Tod des Verfaſſers die Möglichkeit einer Weiterbildung dieſes Produkts aufhebt, und damit das wirthſchaftliche Weſen des Werthes verſchwindet, ſo daß mit dem Werthe auch das Recht auf denſelben aufhört; daher Freiheit der mechaniſchen Produktion in einer gegebenen Zeit nach dem Tode des Verfaſſers. Zweitens erſcheint jenes Recht in dem Verlagsvertrage, bei welchem die Zahl der mecha - niſch producirten Exemplare oder Abzüge feſtgeſtellt werden kann; aus der Natur der Druckerei folgt der Satz, daß wenn dieſe Zahl nicht beſtimmt iſt, ſie auf die der erſten Auflage beſchränkt erſcheint. Die dritte Anwendung des literariſchen Eigenthums endlich iſt der jetzt an ſich einfache Rechtsſatz, daß der Nachdruck, als widerrechtliche Be - nützung des Eigenthums Dritter (des Verfaſſers oder Verlegers) nicht bloß unrechtmäßig, ſondern auch ſtrafbar iſt.

Das iſt das literariſche Eigenthum, das an ſich ſehr einfach iſt; freilich unter der Bedingung, daß man auch hier den Werth als ein ſelbſtändig im Verkehr begriffenes Gut anerkenne. So wie man das thut, erſcheint auch die Stellung der Lehre in ihrem einzig wahren Licht. Das literariſche Eigenthum iſt ein Theil des bürgerlichen Rechts und zwar im Erbrecht, im Eigenthumsrecht und im Verkehrs - recht; die Beſtrafung des Nachdrucks iſt ein Theil des Strafrechts; die Herſtellung von Maßregeln und Anſtalten zur leichteren Nach - weiſung des literariſchen Eigenthums dagegen, ſo wie die Verträge zur Gültigmachung deſſelben im internationalen Verkehr gehören dem Verwaltungsrechte, als Theil der Verwaltung des geiſtigen Er - werbes.

Anſtatt einer Kritik der höchſt reichen und zum Theil ſehr gründlichen Literatur über das literariſche Eigenthum, iſt es vor allem wichtig, die hiſto - riſche Entwicklung ſeines Begriffes zum Grunde zu legen. Daſſelbe liegt ſo tief im Weſen der Sache, daß keine Zeit es ganz überſehen hat; andererſeits erſcheint es dem gewöhnlichen Rechte ſo fremd mit ſeiner Anwendung des Eigenthumsbegriffes und - Rechts auf die Abſtraktion des Werthes, daß es erſt im Laufe der Jahrhunderte klar geworden iſt. Wir unterſcheiden drei Epochen ſeiner Entwicklung. Die erſte iſt die der Privilegien gegen den Nachdruck, in der noch das Erbrecht und Verkehrsrecht nicht zur ſelbſtändigen Erſcheinung gelangen. Aelteſtes Buchdruckerprivilegium vom 3. Juni 1491 (Venedig); 1495 Sforza in Mailand; 1501 Reichstag zu Nürnberg (Pütter, Beiträge I. 241; G. D. Hoffmann, von den älteſten Bücherprivilegien 1777). In Frank -387 reich erſtes Privilegium 1507; England 1518 Hofbuchdruckerei. Die zweite iſt die der Frage nach dem Nachdruck und ſeinem Recht. Von ihm aus be - ginnt das Verſtändniß des Weſens des literariſchen Eigenthums; ſchon Thurneiſen 1738 erklärt den Nachdruck für ein furtum usus; andere auch damals gegen den Eigenthumsbegriff, wie Reimarus und Hopfer; Aus - bildung der eigenen Literatur, und zwar einerſeits als juriſtiſche Deduktion, theils in eigenen Schriften (zuerſt Pütter, Abhandlungen vom Büchernach - druck 1774; Becker, Eigenthumsrecht an Geiſteswerken 1789; vergl. weitere Literatur: Pütter, Literatur III. 595; Klüber, Literatur §. 1358); theils als Gegenſtand des deutſchen Privatrechts: Runde §. 197; namentlich mit reicher Literatur: Mittermaier §. 296; andererſeits die rechtsphiloſophiſche Unterſuchung: zuerſt Fichte, Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (1793) und Kant, Rechtsphiloſophie 1797 S. 127; Thurneiſen ein Verbrechen der Entwendung des Vortheils, den der Verleger (Verfaſſer) aus dem Ge - brauch ſeines Rechts ziehen konnte und wollte, furtum usus; (Schmid, über den Büchernachdruck 1823). Daraus entwickelt ſich dann die erſte Geſetz - gebung über das literariſche Eigenthum als Verbot des Nachdrucks, die in Deutſchland naturgemäß zuerſt als Verträge unter den Staaten (von Preußen ausgehend ſeit 1827, Rönne, Staatsrecht II. §. 532, auf Grundlage der Zu - ſage der Bundesakte Art. 18) und einer Petition von zweiundachtzig Buchhänd - lern auftreten, dann zu ſelbſtändigen Bundesbeſchlüſſen (Bundesbeſchluß vom 6. Dec. 1832), daß jeder Autor ſich des Rechts der andern Bundesſtaaten be - dienen kann (Bundesbeſchluß vom 2. April 1835); daß der Nachdruck nach gleichen Grundſätzen von allen Staaten zu verbieten ſei (Bundesbeſchluß vom 4. Nov. 1837); Erblichkeit des Autorrechts (Bundesbeſchluß vom 22. April 1841); Ausdehnung auf dramatiſche Aufführung 1842 und 1843); Dauer des Rechts. Dadurch ging das Nachdrucksrecht zugleich in die Staatsrechtslehre über (Klüber, öffentliches Recht), namentlich §. 505; reiche Literatur: Mauren - brecher II. 557; Zöpfl II. 474; Zachariä, deutſches Staats - und Bundes - recht II. §. 165. Aus dieſer Behandlung entwickelt ſich die Frage nach dem Verlagsvertrage und ſeinem rechtlichen Inhalt, ſo wie die der Dauer deſſelben. Zuerſt preuß. Allgem. Landrecht (1794) I. II. 996 ff. ; Verlagsver - trag II. 20. 1294, Nachdruck. Literatur: Mittermaier, deutſches Privat - recht §. 296. Daran ſchloß ſich die Aufnahme des Verlagsvertrages auch in das Handelsrecht (Pöhls, Handelsrecht I. 242). Damit waren die Elemente der dritten Epoche gegeben, welche nun den Begriff und das Princip des literariſchen Eigenthums an die Spitze ſtellt und ausbildet, ohne ſich jedoch über Stellung und Inhalt einig zu werden. (Der Ausdruck propriété des auteurs zuerſt im Geſetz vom 7. Jan. 1791.) Daneben deutſche Ge - ſetze: Oeſterreich (Geſetz vom 19. Okt. 1846 zum Schutze literariſchen und artiſtiſchen Eigenthums). Bayeriſches Nachdrucksgeſetz vom 28. Juni 1865 (ſ. vollſtändige Angabe in Kloſtermann, das geiſtige Eigenthum an Schriften, Kunſtwerken und Erfindungen nach preuß. und internationalem Recht I. Bd. 1867); Dogmengeſchichte S. 119 ff. Geſetze (S. 86 ff. ): Ruſſiſches vom 20. Jan. 1830. Nordamerikaniſches vom 3. Febr. 1833. Holland:388 Geſetz vom 25. Jan. 1837; während für Deutſchland die Bundesbeſchlüſſe das örtliche Recht vertreten. Frankreich: Geſchichte des literariſchen Eigenthums mit Quellen, ſeit dem Regl. sur la Librairie et Imprimerie 1723; Laboulaye und Guiffrey, la propriété littéraire au XVIII. siècle 1859. Locré, legislat. civile IX. 1 27; Renouard, traité des droits d’auteur. Neue Geſetzgebung ſeit 1791; Grundlage für die Scheidung des Verlagsrechts vom Darſtellungs - recht, die in der deutſchen Geſetzgebung erſt ſpät erſcheint; Kampf über die Neugeſtaltung der Geſetzgebung ſeit 1835; Literatur bei Mittermaier §. 296 und Block, Dict. v. Propriété littéraire nebſt den Geſetzen bis 1854; dazu das ſardiniſche Geſetz vom 25. Juni 1865 nach franzöſiſchem Vorbild. England: Copyright Hauptgeſetz 5. 6. Vict. 45 (Erwerbung durch Ein - tragung); Dauer: ſieben Jahre nach dem Tode (25. 26. Vict. 68). Geſchichte: Maugham, Treatise on the law of literary propriety 1828; die Bill von 1837: Mittermaier §. 296. Gegenwärtiges Recht: 5. 6. Vict. c. 45. und Erlaß von Verordnungen in Angelegenheiten des internationalen Verlagsrechts (7. 8. Vict. 12. Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 55).

2) Das Recht der Erfindungen. Begriff und Princip.

Stehen nun auf dieſe Weiſe Weſen und Recht des literariſchen Eigenthums feſt, ſo iſt auch das Recht der Erfindungen in allen ſeinen Formen ſehr einfach.

Eine Erfindung iſt eben nichts anderes, als ein ſelbſtändig neu erzeugter und ſelbſtändig gedachter wirthſchaftlicher Ge - brauchswerth. Auch die Erfindung erſcheint als Sache erſt in dem Muſterſtück. Auch dieſes wird Gegenſtand des Verkehrs. Auch hier iſt die unabweisbere Bedingung für die Gutseigenſchaft der Erfindung, daß das Recht auf Vervielfältigung, das iſt auf unbeſchränkten Ge - brauch des erworbenen Muſterſtückes mit demſelben nicht erworben wird, ſondern ſtets Gegenſtand eines ſelbſtändigen Verkehrsaktes bleibt. Auch hier erſcheint dieſer Rechtsſatz, der der Erfindung allein ihren wirthſchaftlichen Werth gibt, als eine Bedingung der Arbeit in den Verwendungen auf das Erfinden. Und auch hier wird es daher Auf - gabe der Verwaltung, das mangelnde bürgerliche Eigenthumsrecht durch beſondere Vorſchriften und Maßregeln theils geradezu zu erſetzen, theils leicht durchführbar zu machen. Die darauf bezüglichen Grundſätze bilden das Recht der Erfindungen.

Hält man dieſen Standpunkt feſt, ſo iſt die Frage, ob ein ſolches Recht auch wirklich durch den Nutzen den es bringt, motivirt ſei, an ſich falſch, denn es iſt eben keine Maßregel der Zweckmäßigkeit, ſondern einfach eine beſtimmte Art des Eigenthumsrechts, und die Maßregeln der Verwaltung, ob ſie nun Monopol, Patent oder wie immer heißen, ſollen es nicht ſchaffen, ſondern nur ſo zweckmäßig389 ordnen, daß dieſe Ordnung der Verwaltung zur Bedingung für die auf Erfindungen gerichtete Thätigkeit werde. Nur in dieſem Sinne iſt das Erfindungsrecht eine Frage der Zweckmäßigkeit, und nur dieſer Theil gehört eigentlich der Verwaltungslehre an.

Steht nun dieſer Standpunkt feſt, ſo iſt die Aufgabe der Verwal - tung in Beziehung auf das Erfindungsrecht eine einfache. Sie ſoll nur den Beweis des Rechts auf die Erfindungen möglich machen, nicht dieß Recht ſelbſt erſt erzeugen. Zu dem Ende hat ſie drei Mittel: zuerſt muß ſie das Daſein der Erfindung conſtatiren; dann muß ſie die Beweismittel darbieten; und endlich muß ſie die Verfolgung des durch die Erfindung erzeugten Rechts erleichtern. Aus der Anwen - dung dieſer Grundſätze auf die drei Arten der Erfindung entſteht das Syſtem des Erfindungsrechts, das im Patent -, Muſter - und Marken - recht erſcheint, welches wieder in den Schutzverträgen für die Er - findungen ſeinen internationalen Ausdruck empfängt.

Das Verhältniß dieſer drei Arten des Erfindungsrechts iſt nun zugleich die Grundlage ſeiner hiſtoriſchen Entwicklung im Ganzen. An dem Patentrecht iſt nämlich überhaupt erſt die ganze Frage entſtanden, und durch das Weſen des Patents hat das Erfindungsrecht zugleich den Charakter einer beſonderen Begünſtigung von Seiten des Staats im Intereſſe der geſammten Volkswirthſchaft empfangen, während am Muſter - und Markenrecht der einfache Grundſatz eines unbeſtreit - baren Privatrechts gleich anfangs in den Vordergrund getreten iſt. Das, und der Mangel eines klaren Begriffes vom Verwaltungsrecht hat dann die Auffaſſung zu keinem rechten gemeinſamen Reſultate ge - langen laſſen. Es iſt kein Zweifel, daß das ganze Gebiet erſt dann ſeine definitive Geſtaltung finden wird, wenn das Privatrecht ſich auch hier grundſätzlich vom Verwaltungsrecht ſcheidet.

a) Das Patentrecht.

Das Patentrecht iſt ſeinem Begriffe nach die Geſammtheit von Rechtsgrundſätzen und Maßregeln, durch welche das Recht auf eine Erfindung feſtgeſtellt und verwirklicht wird.

Die erſte Bedingung für den Werth einer Erfindung iſt dabei offenbar die Feſtſtellung der Thatſache, daß dieſelbe wirklich einen neuerzeugten Gebrauchswerth enthalte. Es iſt unzweifelhaft zweck - mäßig, dieſe Feſtſtellung anſtatt durch einen regelmäßigen Beweis vor Gericht, vielmehr durch eine öffentliche Anſtalt vollziehen zu laſſen. Das geſchieht durch die Aufſtellung einer Patentcommiſſion mit eige - nem Verfahren. Es folgt, daß in dieſem Verfahren der erſte öffent - liche Schritt zugleich den Erwerb des Nechts auf die Erfindung enthalte. 390Es folgt, daß der Erfinder das Recht auf Geheimhaltung ſeiner Er - findung habe. Es folgt, daß die Commiſſion berechtigt ſein muß, zu erklären, daß die Erfindung nichts Neues enthalte. Es folgt aber nicht, daß das Recht auf eine Erfindung nur dann beſtehe, wenn die Commiſſion ſich darüber ausgeſprochen hat, ſondern conſequent muß es jedem freiſtehen, vor jedem Gericht den Beweis zu führen, daß er zuerſt die Erfindung gemacht, daß ſie etwas Neues enthalte, und daß derjenige, der ſie benützt, nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen zur Hinausgabe des Vortheils verbunden ſei, den er durch die Erfindung gewonnen. Allerdings aber kann die Geſetzgebung aus naheliegenden Gründen der Zweckmäßigkeit beſtimmen, daß wegen des öffentlichen Nutzens die Nachahmung einer ſolchen Erfindung, ſogar bei Strafe, verboten ſein ſoll. Nur wo das der Fall iſt, hat die Geſetzgebung aus denſelben Gründen der Zweckmäßigkeit das Recht, dieſem Verbote auch eine beſtimmte Zeitdauer vorzuſchreiben; das Recht auf die Er - findung an ſich iſt allerdings wie das des Eigenthums ein ewiges. Natürlich muß die Commiſſion ein Prüfungsrecht haben, und zweck - mäßig iſt entſchieden die Veröffentlichung. Allein es ſcheint kein Zweifel, daß das Patentrecht und Verfahren gegenüber dem reinen Erfindungs - recht nur einen ſubſidiären Charakter hat. Die wahre Schwierigkeit der Sache beſteht eigentlich darin, das Privatrecht von dem öffentlichen Recht zu ſcheiden, und dazu hat die franzöſiſche Auffaſſung, daß das Patent ſtets als cause d’utilité publique gegeben wird, das meiſte beigetragen. Die Geſetzgebungen der verſchiedenen Staaten ſind übri - gens im Weſentlichen übereinſtimmend, da es ſich hier eben um Maß - regeln der Zweckmäßigkeit und nicht des Rechts handelt.

Beginn des Patentrechts ſchon im 17. Jahrhundert, in England 1623. In Nordamerika: der Auftrag an den Congreß ein Geſetz zum Schutze der Erfindungen zu erlaſſen 1787; Erlaß des Geſetzes ſelbſt 1793. Frankreich: Anregung ſchon 1787; dann das erſte Hauptgeſetz vom 7. Jan. 1791. Bei dieſem Geſetz erſcheint zuerſt die Frage nach dem Eigenthum: Rap. von Boufflers: der Erfinder ſei Eigenthümer der Erfindung, und habe das Recht des propriété; dagegen heftige Oppoſition; gegenwärtiges Recht (Geſetz vom 3. Juli 1844) mit ſehr genauen und für den Erfinder ſehr günſtigen Beſtim - mungen (ſ. Kleinſchrod, internationale Patentgeſetzgebung 1855, S. 105 ff.). An dieſes Geſetz ſchloß ſich aufs neue der Streit über das Eigenthumsrecht, das zuerſt von Jobard in ſeinem Monautopol industriel, artistique, com - mercial et industriel 1844 im vollen Umfange vertreten wurde; vergl. auch Kleinſchrod S. 6; modificirt in Tillière, Traité théorique et pratique des brevêts d’invention 1854 (Commiſſion zum belgiſchen Patentgeſetz). Dagegen erhoben ſich andere, welche die völlige Freiheit der Nachahmung theils aus der praktiſchen Unmöglichkeit, die Erfindungen zu unterſcheiden, theils vermöge391 der Entwicklung neuer Erfindungen aus den früheren, theils um des allge - meinen Nutzens willen, theils auch wegen der angeblichen Werthloſigkeit der Patente forderten; vergl. Literatur bei Block, Brevêts d’invention; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 96; Rau II. §. 203; während die Geſetzgebung nicht bloß davon nicht berührt wurde, ſondern ſogar das Princip auch auf Muſter - und Markenſchutz ausdehnte. In England: Grundgeſetz 2. Jacob I. 3. (1623); viel zu ſtrenge für die Entwicklung der Induſtrie; das neue Geſetz 15. 16. Vict. 83 (1852), das die Jury als entſcheidendes Organ auf - ſtellt, und dem Erfinder ſelbſt die Möglichkeit der Verbeſſerung ohne Verluſt des Patents gibt (vergl. Kleinſchrod S. 79 ff.). Engl. Literatur vor 1852 bei Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 96. In Deutſchland fehlt durch - aus Einheit und Gleichartigkeit, ſo nothwendig und wichtig ſie auch wäre (ſ. Friedr. Bitzer, Vorſchläge für ein deutſches Patentgeſetz, beantragt durch die von der deutſchen Bundesverſammlung 1862 berufene Commiſſion von Fach - männern, 1866). In Oeſterreich früheres Recht: Geſetz von 1821; Re - viſion durch Geſetz vom 31. März 1832; Kraus, Geiſt der öſterreich. Geſetz - gebung zur Aufmunterung von Erfindungen 1838; vergl. Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 512. An die Stelle der früheren Privilegiengeſetze tritt das neueſte Geſetz vom 13. Aug. 1852, anerkannt vortrefflich; ſ. Klein - ſchrod S. 131 ff. ; Stubenrauch a. a. O. In Preußen das Recht der Privilegienertheilung als Regal anerkannt (preuß. Allgem. Landrecht II. 13. 7); das blieb der Standpunkt der deutſchen Theorie, welche auf Grundlage des Röm. Rechts Begriffe des Eigenthumsrechts definitiv läugnete, und das Patent - recht nur als Sache der Zweckmäßigkeit auffaßte (vergl. Mittermaier, deutſches Privatrecht a. a. O.; Rönne, Staatsrecht I. §. 50; Lotz a. a. O.; ebenſo Rau II. §. 203); preuß. Patentgeſetzgebung: Grundlage: Patent vom 14. Okt. 1815 nebſt Erläuterungen (Juli 1853) bei Kleinſchrod S. 162 172. Bayern: Gewerbegeſetz vom 11. Sept. 1823. Art. 9; Inſtruktion vom 21. April 1862; Pözl, Verwaltungsrecht §. 161. Württemberg: revidirte Gewerbe - ordnung von 1836 §. 141 ff. ; Mohl, Verwaltungsrecht II. §. 242. Baden: Dietz, die badiſchen Gewerbe S. 351. Verſuche zu einer gemeinſamen Patentgeſetzgebung der Zollvereinsſtaaten: Protokoll vom 21. Sept. 1841; Ueber - einkunft vom 21. Sept. 1842; Dietz a. a. O.; Kleinſchrod S. 181 196; vergebliche Verſuche des Bundestages ſeit 1860; Zöpfl, deutſches Staats - recht II. §. 479 c.

b) Muſter - und Markenſchutz.

Während bei der Erfindung das Recht derſelben ſich auf einen ganz beſtimmten Gebrauchswerth bezieht, erſcheint der letztere bei den Muſtern und Marken als ein auf die geſammte Produktion einer beſtimmten Unternehmung ausgedehnter und mit demſelben bezeichneter Werth der Produktion. Muſter und Marken ſind die Form, in der die Individualität der Produktion zum Ausdruck gelangt; ihr Werth iſt daher der Werth dieſer Individualität; er iſt an ſich aller -392 dings unfaßbar, aber im wirklichen Leben gelangt er dennoch theils im höheren Preiſe der einzelnen Artikel, theils aber in der Sicherung des Abſatzes (der Kunden) zur Geltung. Auch bei ihm gilt daher der Grundſatz, daß das Recht auf mechaniſche Vervielfältigung durch andere Unternehmungen mit dem einzelnen Patent nicht übertragen wird, wenn nicht der Verkäufer ein beſonderes Uebereinkommen darüber ſchließt. Und die geſetzlichen Beſtimmungen und Maßregeln, welche auch dieſes Recht nicht ſchaffen, ſondern ſchützen, bilden das Muſter - und Markenrecht. Daſſelbe gehört daher in ſeiner Ausführung dem Verwaltungsrecht, in ſeiner Grundlage dem Werthrecht. Sein Princip iſt nur, die Verfolgung des Rechts auf die Marken und Muſter ſo leicht und ſicher als möglich zu machen. Seine Verwirk - lichung geſchieht durch die amtliche Eintragung und durch die Be - ſtrafung der wiſſentlich unberechtigten Nachahmung beider, um durch dieſelbe dem Berechtigten ſeinen Abſatz zu nehmen.

Frankreich hat das Muſter - und Markenrecht gleich anfangs als einen Theil der propriété industrielle anerkannt; die Sache an ſich nie bezweifelt. Muſterrecht: ſchon von 1791 anerkannt; principiell aufgehoben durch die Gewerbefreiheit von 1791; dann aber durch Decret vom 16. März 1806 neu organiſirt und dem Conseil des prudhommes zur Entſcheidung übertragen, bis das Geſetz vom 29. Aug. 1825 die Depoſition der Muſter (dessins de fabrique) beim Handelsgericht einführte, und damit den Grund der übrigen europäiſchen Geſetzgebung legte. Die Marken (marques de fabrique) ſchon durch Geſetz vom 22. Germ. XI. und Decret vom 11. Juni 1809 ſo wie durch den Code Pénal Art. 142. 143 geſchützt, gleichfalls gegen Depot. Darnach zunächſt England: Errichtung der design office als Depot durch 5. 6. Vict. 100. (1842); Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 107. Strafrecht: 25. 26. Vict. 38. (Verfahrung als misdemeanor). Dann auch Rußland (Verordnung vom 11. Juni 1864). Oeſterreichs treffliches Geſetz vom 7. Dec. 1858 zum Schutze der gewerblichen Marken und das gleichzeitige vom 7. Dec. 1858 zum Schutze der Muſter und Modelle, mit polizeilicher Hülfe und Beſtrafung, und wohlgeordnetem Verfahren; ſ. Stubenrauch, das öſterreich. Marken - und Muſterſchutzgeſetz, Wien 1859. Zuſammenſtellung der in den übrigen deutſchen Staaten geltenden (zum Theil ſehr unfertigen) Beſtimmungen ſ. monatl. Bericht der Wiener Handelskammer (Sitzung vom 13. Juni 1866). Olden - burg: Markenſchutzgeſetz von 1864. Baden: Schutz der Waarenbezeichnung (Geſetz vom 23. Jan. 1864).

393

Dritter Theil. Die Verwaltung und das geſellſchaftliche Leben.

Das geſellſchaftliche Leben.

Das dritte große Gebiet des Geſammtlebens und damit der Ver - waltung iſt nun das, das wir die Geſellſchaft nennen.

Die Verwaltungslehre hat in dieſem Gebiete nicht den Vorzug wie in den beiden vorhergehenden, ſich auf bekannte und anerkannte Begriffe zu ſtützen. Sie muß daher bis zu einem gewiſſen Grade das Gebiet ſelbſt ſchaffen, das ſie bearbeiten ſoll. Das nun wäre unthun - lich in den engen Gränzen eines kurzen Syſtems, wenn nicht zwei Dinge aushülfen. Das erſte iſt, daß alle einzelnen Theile dieſes Gebietes bereits mehr oder weniger durchgearbeitet vorliegen; während ihnen nur der organiſche Zuſammenhang fehlt; das zweite iſt, daß das leitende Princip denn doch nicht hier zuerſt aufgeſtellt wird. Daher iſt es möglich, das geſellſchaftliche Leben als ſelbſtändigen Theil der Verwaltung aufzunehmen, und auch hier das einfache Princip derſelben zur Geltung zu bringen.

Elemente der Geſellſchaftslehre. Begriff der Geſellſchaft.

Die Grundlage der Geſellſchaft iſt der Begriff der menſchlichen Gemeinſchaft, welche die Geſammtheit aller Einzelnen als gleich - berechtigter und gleichbeſtimmter Perſönlichkeiten enthält.

Aus der menſchlichen Gemeinſchaft geht die menſchliche Geſellſchaft hervor, indem zunächſt die Vertheilung der perſönlichen, wirthſchaft - lichen und geiſtigen Momente und Güter unter den Einzelnen eine Verſchiedenheit hervorbringen. Dieſe Verſchiedenheit wird zu einer Verſchiedenheit des ganzen äußeren Lebens, indem ſie zunächſt die Kräfte, dann die Anſichten und Beſtrebungen, dann die Bedürfniſſe und damit endlich die ganze Perſönlichkeit verſchieden geſtalten. Den Ausdruck dieſer Verſchiedenheit bildet dann einerſeits die Anerkennung der höheren Stadien der perſönlichen Entwicklung durch die niederen, die höhere Achtung, aus der, in Verbindung mit dem Beſitze der Mittel andern zu helfen oder ihnen zu ſchaden, die Geltung hervor - geht. Die Formen, in denen beide im Geſammtleben zur allgemeinen anerkannten Erſcheinung gelangen, ſind die Ehre und die Macht. 394Es ergibt ſich daher zunächſt, daß mit der Verſchiedenheit der Men - ſchen eine das ganze Leben derſelben umfaſſende Verſchiedenheit der Ehre und Macht entſteht.

Dieſe Verſchiedenheit iſt nun nicht bloß eine Thatſache, ſondern ſie erſcheint vielmehr als das größte organiſche Princip des Lebens der Menſchheit. Denn aus ihr geht das Streben der Niederen nach der höheren Entwicklung der Anderen, und zugleich die höchſte Befriedigung der Höheren in der Hingabe des Eigenen an die Niederen hervor, welche erſt dem Daſein die Fülle des geiſtigen Lebens verleihen. Denn Leben iſt auch hier Wechſelwirkung, und die abſolute Gleichheit iſt der Tod. Es hat daher nie gleiche Menſchen gegeben und kann und darf ſie nicht geben.

Iſt dem nun ſo, ſo wird dieſe Verſchiedenheit alsbald den Cha - rakter des perſönlichen Daſeins annehmen, indem ſie daſſelbe ganz umfaßt. Sie wird ſich organiſiren; das iſt, ſie wird Bewußtſein, Willen und äußere Geſtalt annehmen. Dieſe Organiſirung kann aber, da ihr Inhalt ein im Weſen der Perſönlichkeit liegender iſt, und da Unterſchied und Bewegung in dieſer Verſchiedenheit abſolute Elemente der Entwicklung werden, nicht bloß auf dem Zufall oder der Will - kür beruhen, ſondern das Leben erſchafft ſie ſelber mit unwiderſteh - licher Gewalt. Das nun kann wieder nur geſchehen, indem ſich dieſelbe an die ſelbſtändigen Elemente des letzteren anſchließt. Dieſe nun ſind das perſönliche, das geiſtige und das wirthſchaftliche Element. Und ſo entſtehen die drei Grundformen, in denen ſich die Verſchieden - heit der Menſchen von jeher organiſirt hat und organiſiren wird. Die erſte dieſer Ordnungen iſt die, welche an das perſönliche Element des Geſchlechts anſchließt und aus der Familie hervorgehend, das ganze Leben der Menſchheit umfaßt. Wir nennen ſie daher die Geſchlechter - ordnung. Die zweite legt das an ſich rein geiſtige Element der geiſtigen Arbeit und That zum Grunde, die wir, indem ſie das ganze Leben erfüllen, den Beruf nennen; aus dem Berufe wird in ſeiner äußeren Organiſirung der Stand, und die auf dem Stande beruhende Ordnung der menſchlichen Geſammtheit iſt dann die Standesord - nung. Die dritte endlich legt der geſammten perſönlichen Entwicklung und ihren Verſchiedenheiten den freien, gewerblichen Beſitz zum Grunde, erzeugt und verlöſcht mit ihm die Verſchiedenheiten in Ehre und Macht, und heißt, indem hier die freie Arbeit die Ordnung für jeden Einzelnen bildet und erhält, die freie, oder nach dem aus ihr erzeugten Rechte die ſtaatsbürgerliche Ordnung. Das nun ſind die drei elementaren Ordnungen der Menſchen in ihrem Geſammtleben. Natürlich hat das letztere eine Menge von Uebergangszuſtänden und höchſt verſchiedene395 Verſchmelzungen jener drei elementaren Grundverhältniſſe; und eben ſo klar iſt es, daß, da jene Elemente ja nicht nur einzelnen Perſön - lichkeiten vermöge des Weſens der Menſchen allein angehören, die - ſelben ſtets gleichzeitig vorhanden und auch gleichzeitig wirkend ſind; ſo zwar, daß die Keime derſelben in jedem Zuſtande vorhanden erſcheinen. Es gibt Elemente der Stände - und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung in der Geſchlechterordnung, Elemente der erſteren in den beiden anderen und ſo fort; eine vollkommene reine Ordnung hat es nie gegeben und wird es nie geben. Das aber iſt keine bloß natür - liche Thatſache, ſondern iſt wieder der Ausdruck eines viel höheren Verhältniſſes; denn die tiefere Betrachtung zeigt, daß jede dieſer Ord - nungen zugleich eine ſehr ethiſche Funktion hat. Die Geſchlechter - ordnung erhebt die Ehre des Geſchlechts zu einem Faktor des Strebens nach Ehrenhaftigkeit aller ſeiner Angehörigen; die Berufsordnung er - zeugt die Veredlung und Erhebung der geiſtigen Arbeit; die ſtaats - bürgerliche Ordnung vertritt die Kraft und den Muth des individuellen Kampfes mit der Verſchiedenheit und ihrem Einfluß auf den Menſchen. So wirken ſie gemeinſam; es iſt ein großes organiſches Geſetz, daß keine Ordnung die andere ganz zu erſetzen, und daß auch keine die andere ganz zu verdrängen vermag. Erſt in der mächtigen und unerſchöpflich reichen Wechſelwirkung derſelben erfüllt ſich das Bild des menſchlichen Lebens; und dieſe Ordnungen nun, ihr Princip, ihr Be - wußtſein, ihre Geſtaltung und ihre Wechſelwirkung bilden die Geſell - ſchaft. Die Wiſſenſchaft aber von ihnen, die Erkenntniß der Herr - ſchaft von elementaren Begriffen und Geſetzen in dieſem Leben der Geſellſchaft iſt die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft, und die Dar - ſtellung derſelben die Geſellſchaftslehre.

Es iſt bekannt genug, daß kein Begriff ſo unbeſtimmt iſt, als der der Geſellſchaft. Der einfachſte Weg, zunächſt zur Nothwendigkeit eines feſten Be - griffes zu gelangen, iſt wohl die hiſtoriſche Entwicklung der Bedeutung des Wortes. Erſte Geſtalt iſt die Vorſtellung von der societas des Jus naturae und der franzöſiſchen société; die menſchliche Gemeinſchaft überhaupt, mit dem Gefühle, daß ſie Verſchiedenheiten enthalte, die von höchſter Bedeutung ſind. Die zweite feſtere Geſtalt beginnt da, wo der Socialismus und Communis - mus zeigen, daß ſich dieſe Unterſchiede zu den feſten Claſſen der Beſitzenden und Nichtbeſitzenden geſtalten, die wiederum in einem ſcharfen Gegenſatze ſtehen, den man weder durch die bloße Nationalökonomie noch durch das Staatsrecht erſchöpfen kann. Erſtes Verſtändniß des ethiſchen Weſens des Beſitzes (Stein, Socialismus und Communismus 1842). Die dritte Epoche beginnt mit der Erkenntniß, daß die Geſellſchaft mit dem einfachen Gegenſatz zwiſchen beſitzen - der und nicht beſitzender Claſſe nicht erſchöpft iſt, ſondern daß dieſe Erſcheinungen ſelbſt wieder nur Theile eines größeren Lebens ſind, welches die ganze396 Geſchichte der Menſchheit erfüllt; Entſtehung des organiſchen Begriffes der Geſell - ſchaft. Es iſt hier nicht der Ort zur Kritik. (Literatur: Stein, Geſchichte der ſocialen Bewegung und deſſen Syſtem der Staatswiſſenſchaft; Coſter, Syſtem der Geſellſchaftswiſſenſchaft 1855; Treitſchke, Geſellſchaftswiſſenſchaft 1859.)

Das Geſellſchaftsrecht.

So klar nun auch jene Elemente an ſich ſind, ſo wird dennoch das Ganze erſt da faßbar, wo daſſelbe zu einem Rechtsſyſteme wird.

Die Grundlage dieſes Rechts der Geſellſchaft beſteht darin, daß die Bedingungen, welche den Unterſchied erzeugen und damit der leben - digen Wechſelwirkung zum Grunde liegen, als geiſtige oder wirthſchaft - liche Güter Gegenſtand des Rechts ſind, und daß daher die Wirkungen, welche die Vertheilung hat, gleichfalls das rechtliche Element in ſich aufnehmen. Indem der Einzelne ein beſtimmtes Gut hat, empfängt er mit dem Recht auf daſſelbe auch das Recht auf die Wirkung deſſelben, ſeine geſellſchaftliche Stellung; in dem Recht auf das erſtere beſitzt und vertheidigt er das Recht auf die zweite; und da das zweite das höhere iſt, ſo ergibt ſich bald, daß er das erſtere um des zweiten willen vertheidigt. So entſteht das, was wir als die Grundlage aller Rechtsbildung anerkennen müſſen, daß nämlich in jedem Rechte auf jedes Gut zugleich ein, und zwar an ſich herrſchendes geſellſchaft - liches Element enthalten iſt, ſo daß in Wahrheit das geſammte Rechts - leben als eine durch die Ordnung der Geſellſchaft beherrſchte Rechtsordnung erſcheint; das reine Recht kommt dadurch nie zur allein gültigen Erſcheinung, ſondern jedes geltende Recht iſt ſtets und unbedingt das Ergebniß der Wechſelwirkung des reinen und gleichen Weſens aller Perſönlichkeit an ſich und der geſellſchaftlichen Perſönlich - keit. Demgemäß ſagen wir, daß die Rechtsphiloſophie das Recht lehrt, in ſo ferne es aus dem reinen Weſen der Perſönlichkeit folgt, während die Rechtswiſſenſchaft das lebendige Recht in ſeinem poſi - tiven Verhältniß zum wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Leben zur Erkenntniß bringt. Das nun führt hinüber auf ein anderes Gebiet.

Allein es iſt klar, daß hier das reine und das geſellſchaftliche Recht ſo innig verſchmolzen ſind, daß das letztere noch zu keiner ſelbſt - ſtändigen Darſtellung gelangen kann. Das nun geſchieht erſt da, wo die geſellſchaftlichen Elemente nicht mehr durch ihre ſelbſtwirkende Kraft das Recht bilden, ſondern wo die geſellſchaftlichen Ordnungen mit Bewußtſein und Willen in die Rechtsbildung hineingreifen. Das wiederum kann nur da geſchehen, wo dieſe geſellſchaftlichen Ordnungen ſich der rechtsbildenden Kraft des Staats bemächtigen. Das Intereſſe,397 welches ſie an ihrem Beſitz und der auf ihn beziehenden geſellſchaft - lichen Stellung haben, bringt ſie daher unmittelbar dazu, nach dem Beſitze dieſer rechtsbildenden Kraft des Staats zu ſtreben. Dieß nun gelingt aus naheliegenden Gründen ſtets der höheren Klaſſe. Es iſt daher ein organiſches Geſetz des Staatslebens, daß ſich dieſe höhere Claſſe jeder der drei Geſellſchaftsordnungen der Staatsgewalt bemächtigt, und dieſelbe benutzt, um das ihren Intereſſen entſprechende Recht zum geltenden Recht zu erheben. So wie ihr das erſtere gelingt, entſteht die geſellſchaftliche Geſetzgebung und Verwaltung. Dieſelbe beruht darauf, daß der wirkliche Staat zwar in ſeinen ab - ſtrakten Elementen aus dem Weſen der Perſönlichkeit folgt, daß aber ſeine wirkliche Individualität ſtets aus der in ihm herrſchenden geſellſchaftlichen Ordnung hervorgeht; daß dieſe ſtets das ihr entſprechende Recht durch Geſetz und Gericht zu geltendem Recht macht, und damit die ganze Geſellſchaftsordnung mit der be - ſtehenden Rechtsordnung identificirt. In dieſem Sinne ſagen wir, daß jede Verfaſſung und Verwaltung eine geſellſchaftliche iſt, und daß jedes poſitive Verfaſſungs - und Verwaltungsrecht nur aus den geſellſchaftlichen Elementen und Intereſſen verſtanden werden kann, welche daſſelbe gebildet haben. Aus demſelben Grunde ergibt ſich die große Thatſache, daß auch jede bürgerliche Geſetzgebung, das ganze geltende Privatrecht, nichts als die geſellſchaftliche Geſtalt des reinen Rechts iſt, und daß daher die großen Codifikationen des bürgerlichen Rechts ſtets die Folge großer geſellſchaftlicher Umgeſtaltungen ſind, denen ſie eben im bürgerlichen Recht ihren Ausdruck verleihen. Von dieſen Geſichtspunkten aus ergibt ſich daher eine neue Auffaſſung des Rechtslebens, die hier gleichfalls nicht weiter verfolgt werden kann. Zunächſt aber wird dieſe geſellſchaftliche Rechtsbildung ſich ſtets auf die Ordnung des Beſitzes und der Stellung der herrſchenden Claſſe und ihres Verhältniſſes zur beherrſchten beziehen, und die Unantaſt - barkeit der wirthſchaftlichen und geiſtigen Bedingungen der geſellſchaft - lichen Herrſchaft zum Princip des jedesmaligen geltenden Rechts er - heben; und dieß, auf dieſe Weiſe ſelbſtändig daſtehende Recht der Geſellſchaftsordnungen nennen wir nun im eigentlichen Sinne das Geſellſchaftsrecht.

Es iſt nun klar, daß damit auch das Gebiet bezeichnet iſt, auf welchem die eigentliche Thätigkeit der Verwaltung beginnt. Um dieſes aber beſtimmter formuliren zu können, muß zuerſt das Princip der Geſchichte der Geſellſchaft, namentlich in ihrem Verhältniß zum Staate, beſtimmt werden.

398

Der Hauptgrund, weßhalb die bisherigen Arbeiten über die Geſellſchafts - lehre ſo wenig Reſultate geliefert haben, beſteht darin, daß man den Zuſam - menhang der Geſellſchaft und ihrer Gegenſätze mit der Rechtsbildung nicht ſtrenger unterſucht hat (vergl. Stein, Geſchichte der ſocialen Bewegung, Ein - leitung). Die beiden Verſuche, den inneren Zuſammenhang nachzuweiſen in Stein, franzöſiſche Rechtsgeſchichte von Warnkönig und Stein Bd. III. und Gneiſt, Engl. Verfaſſungs - und Verwaltungsrecht. Es dürfte noch einige Zeit dauern, bis die deutſche Rechtsgeſchichte dieſe Auffaſſung zulaſſen wird.

Die beiden Principien in der Geſchichte der Geſellſchaft.

Von dem obigen Standpunkt erſcheint nun allerdings die Geſell - ſchaft mit ihrer Entwicklung und ihren Gegenſätzen als der wahre Inhalt deſſen, was wir die innere Geſchichte der Völker, ja der Welt nennen möchten. Um ſo nothwendiger iſt es, die beiden Principien feſtzuſtellen, welche ihrerſeits dieſe mächtige, die ganze Weltgeſchichte beherrſchende Bewegung ſelbſt wieder beherrſchen.

Das erſte dieſer Principien iſt der allmählige aber unabweisbare Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die Geſchlechter - und Ständeordnung. Denn nur ſie beruht ganz auf dem letzten Element alles Werdens, der durch eigene That ſich Ehre und Macht verſchaffen - den Perſönlichkeit. Allerdings vernichtet ſie niemals ganz die beiden letzten Ordnungen, ſondern ſie nimmt ſie vielmehr in ſich auf und geſtaltet ſie um; allein nur diejenigen Völker ſind wahrhaft lebensfähig, welche fähig ſind, dieſe freie Geſellſchaftsordnung bei ſich zu erzeugen und zur Geltung zu bringen. Alle anderen Völker gehen zu Grunde. Und da nun nur der gewerbliche Beſitz die Fähigkeit hat, dieſer Ge - ſellſchaftsordnung die ihr entſprechende freie materielle Baſis zu geben, die ihrerſeits die freie, ſelbſtändige Perſönlichkeit erzeugt und enthält, ſo ergibt ſich der vielgeſuchte Punkt, auf welchem die Nationalökonomie mit der Geſchichte der Geſellſchaft zuſammenhängt; der Kampf und die Geſchichte der gewerblichen Thätigkeit ſind der Kampf und die Geſchichte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Da aber endlich jede Geſellſchafts - ordnung ihre Verfaſſung, ihre Verwaltung und ihr bürgerliches Recht erzeugt, ſo folgt, daß der Schlußpunkt und zugleich der Keim aller Rechtsgeſchichte den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Rechtsordnung über die der Geſchlechter - und Ständeordnung enthält. So greifen hier die größten Faktoren lebendig wirkend in einander, in dem unendlichen Reichthum des Lebens ihre organiſche Einheit erzeugend.

Dem nun zur Seite ſteht das zweite große Princip dieſer Ent - wicklung; und dieſes Princip iſt die eigentliche Grundlage der Verwal - tung der Geſellſchaft und ihres Rechts.

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Jede Geſellſchaftsordnung hat ihre drei Claſſen, die höhere, die mittlere und die niedere. Der Unterſchied iſt ein organiſcher, und jedes Streben das die Claſſenunterſchiede aufheben will, iſt ein Widerſpruch mit dem Geſetze des Lebens, das ſich nur durch Verſchiedenheit ent - wickeln kann. In dieſem Unterſchiede der Claſſen erſcheint nun die unendliche Beſtimmung jeder Perſönlichkeit in dem Satze, daß jeder die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der niederen Claſſe in die höhere hinaufzuſteigen, während er anderer - ſeits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent - wicklung von der höheren auch zur niederen hinabſteigen kann. Dieſer Proceß vollzieht ſich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben. Wir nennen ihn die geſellſchaftliche Claſſenbewegung. In ihr wird weder die geſellſchaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört ſie an ſich bloß Einer dieſer Ordnungen an. Es gibt eine Claſſenbewegung der Geſchlechter -, der Stände - und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung. Sie iſt aber mehr als eine bloße Thatſache. In ihr verwirklicht ſich das Princip, daß das Leben der Perſon nicht durch die zufällig ihr gewor - dene geſellſchaftliche Stellung dauernd beſtimmt iſt, ſondern daß der Einzelne auch in der Geſellſchaft die höchſte Stufe durch ſeine That ſoll erringen können. Dieſes Princip iſt das der geſellſchaftlichen Freiheit. Die geſellſchaftliche Freiheit iſt daher nicht die geſellſchaft - liche Gleichheit, die nie geweſen iſt und nie ſein wird, ſondern die rechtliche und thatſächliche Möglichkeit der aufſteigenden Claſſen - bewegung für jedes Mitglied der niederen Claſſe. Da, wo dieſe Möglichkeit genommen iſt, ſteht das Leben der Geſellſchaft ſtill; da wo ſie durch das von den höheren Claſſen gegebene Recht aufgehoben iſt, wird ſie unfrei. Der Kampf in der Geſellſchaft iſt daher ſeinem wahren Weſen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, ſondern ſtets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den Gliedern der höheren Claſſe zu gelangen. Dieſer Kampf hat nun eine ſehr verſchiedene Geſtalt, je nachdem es ſich um die Geſchlechter -, die Stände - oder die ſtaatsbürgerliche Ordnung handelt; aber ſeinem inner - ſten Weſen nach iſt er ſtets derſelbe, und es zeigt ſich dabei bei tieferem Eingehen auf dieſe Erſcheinungen das Princip, daß die Geſellſchafts - ordnungen überhaupt, und die geſellſchaftlichen Zuſtände eines jeden Volkes um ſo beſſer und edler ſind, je leichter und freier die organiſche Claſſenbewegung vor ſich geht. In der That erſcheint aber nur aus dieſem Grunde die Ständeordnung höher ſtehend als die Geſchlechterordnung, und die ſtaatsbürgerliche Ordnung wieder höher ſtehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geiſtige oder400 wirthſchaftliche Reichthum als ſolcher, ſondern die lebendige und freie Bewegung, welche ihn für jedes Mitglied der Geſellſchaft erreichbar macht, iſt das Wohlſein des Volkes. Dieſem höchſten Lebensprincip der Geſellſchaft aber tritt nun das Intereſſe der höheren Claſſen ent - gegen; es arbeitet in ſeiner Weiſe; denn nicht das Viel oder Wenig was die Einzelnen beſitzen, ſondern der Unterſchied unter ihnen iſt die höchſte Befriedigung des Einzelnen; und dieſen aufrecht zu halten ſtrebt das Intereſſe, das ſomit zum unverſöhnlichen Feinde der Freiheit zu werden beſtimmt ſcheint. Hier liegt der tiefſte Widerſpruch im Leben der Menſchheit; und hier iſt daher auch der Punkt, wo der Staat als höchſte perſönliche Form derſelben in die Geſellſchaft hineingreift; und die daraus entſtehenden, mit dem obigen Weſen der letzteren auf das Innigſte zuſammenhängenden Aufgaben dieſes ſtaatlichen Lebens ſind es, welche die Principien und den Inhalt der Verwaltung der Geſellſchaft bilden.

Die geſellſchaftliche Verwaltung.

Die Principien derſelben.

Iſt dem nämlich ſo, ſo ergeben ſich in einfacher Weiſe die zwei Grundgedanken, welche das Verhalten des Staats zur Geſellſchaft und ihrer Bewegung enthalten.

Zuerſt ſteht feſt, daß der Staat weder die Geſellſchaft bilden, noch die gebildete Ordnung durch ſeine Macht leiten kann. Die geſell - ſchaftlichen Ordnungen und Erſcheinungen bilden ſich ſelbſt, wie die Ordnungen und Erſcheinungen der Volkswirthſchaft; ſie leben nach ihren eigenen Geſetzen, die unabänderlich ihren Weg gehen; es iſt nicht minder unverſtändig, auf die ſociale Geſtaltung einen unmittelbaren Einfluß nehmen zu wollen, als auf die Geſetze nach denen Werth und Preis ſich richten. Alsdann aber fragt es ſich, wozu denn der Staat auf dieſem Gebiete berufen iſt.

Das nun iſt einfach, ſowie man den Begriff der geſellſchaftlichen Entwicklung, wie ſie in dem Begriffe der aufſteigenden Claſſenbewegung liegt, feſthält. Der Staat kann und ſoll dieſe Entwicklung und Be - wegung nicht ſelbſt erzeugen, denn ſie ſoll durch und für das freie Individuum vor ſich gehen; aber er ſoll die Bedingungen herſtellen, welche der Einzelne in der gegebenen geſellſchaftlichen Ordnung ſich durch eigene Kraft nicht mehr ſchaffen kann, um aus der niederen in die höhere Claſſe hinaufzuſteigen. Das große Princip der perſönlichen Selbſtbeſtimmung fordert, daß der Staat mit ſeiner Thätig - keit immer erſt da beginne, wo die Kraft des Einzelnen ihrem Weſen401 nach unfähig iſt, jenes Ziel zu verwirklichen; allein auf dieſem Punkte ſoll er auch beginnen. Denn der Staat als perſönliche Einheit Aller iſt zugleich der Vertreter der höchſten Harmonie der Intereſſen Aller; ſeinem Weſen nach wird er daher im Geiſte dieſer Harmonie arbeiten, oder er wird an dem Mangel dieſer Fähigkeit ſelbſt untergehen. Denn wenn der Staat nicht ſeine höchſte ſociale Funktion, die nicht in der Unterwerfung eines Intereſſes unter das andere, ſondern in der har - moniſchen Löſung ihrer Gegenſätze beſteht, zu erfüllen vermag, ſo tritt die elementare Gewalt der phyſiſchen Kräfte an ſeine Stelle, und der bürgerliche Krieg vernichtet mit dem Wohlſein Aller auch den Staat ſelbſt, der es nicht zu verſtehen und zu ſchützen vermochte. Das iſt das allgemeine Princip der geſellſchaftlichen Verwaltung; um nun aber zu ſeinem poſitiven Inhalte zu gelangen, muß man es zum Syſtem entwickeln.

Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung.

Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung iſt daher nicht das Syſtem der Geſellſchaft, ſo wenig wie das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung das der Volkswirthſchaft iſt. Da ferner in der Geſellſchaft alle Elemente des Lebens ihre Geltung finden, ſo iſt es zweitens klar, daß im allgemeinſten Sinne auch die Sorge für die leibliche, geiſtige und wirthſchaftliche Entwicklung als Vorausſetzung der geſellſchaftlichen Aufgabe erſcheine, ohne welche dieſelbe nicht gelöst werden kann. Allein es iſt für Wiſſenſchaft wie für Praxis von Wichtigkeit, daß man zwar das ſociale Moment in allen dieſen Gebieten anerkenne, aber die eigentliche geſellſchaftliche Verwaltung in Gemäßheit der Grundbegriffe der Geſellſchaftslehre auf die Thätigkeit des Staats für die Be - dingungen der freien geſellſchaftlichen Bewegung beſchränke. Darnach ergeben ſich Syſtem und Organiſation der geſellſchaftlichen Verwaltung in folgender Weiſe.

Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung enthält drei Ge - biete. Das erſte iſt das der geſellſchaftlichen Freiheit, welches die rechtlichen Hinderniſſe jener Bewegung durch den Staat beſeitigt. Das zweite iſt die Sorge des Staats für die geſellſchaftliche Noth, welche dem Einzelnen die phyſiſchen Vorausſetzungen der perſönlichen Selb ſtändigkeit gibt. Das dritte endlich iſt das der geſellſchaftlichen Ent - wicklung, das ſich ſpeciell der aufſteigenden Claſſenbewegung zuwendet. Jedes dieſer Gebiete hat wieder ſein Syſtem und ſeine Aufgabe.

Dieſe nun aber werden beide erſt dann ganz klar, wenn man den Organismus der Verwaltung gerade für die geſellſchaftliche Welt be - trachtet. Denn für gar keinen Theil der Verwaltung iſt der CharakterStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 26402der drei Grundformen der vollziehenden Gewalt in der Verwaltung ſo prägnant, als gerade hier.

Es ergibt ſich nämlich, daß die Herſtellung der geſellſchaftlichen Freiheit die weſentliche Aufgabe der Geſetzgebung und Regierung, der Kampf mit der geſellſchaftlichen Noth die der Selbſtverwaltung, und die geſellſchaftliche Entwicklung die des Vereinsweſens iſt. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß das eine Organ das andere in ſeinem Gebiete nicht ausſchließt; aber der Charakter bleibt. Und die Elemente des Bildes, welche ſich daraus ergeben, ſind folgende.

Erſter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Freiheit. Begriff und Princip.

Die geſellſchaftliche Freiheit beruht darauf, daß in jeder geſell - ſchaftlichen Ordnung die höheren Elemente derſelben vermöge ihres Intereſſes nach den im Weſen der Geſellſchaft liegenden Geſetzen dahin ſtreben, ſich durch die Staatsgewalt ein ausſchließliches Recht auf die Bedingungen ihrer höheren Stellung zu gewinnen. Die Idee des Staats fordert, daß dieſe Ausſchließlichkeit aufgehoben und die recht - liche Erwerbbarkeit jedes wirthſchaftlichen und geiſtigen Gutes an die Stelle der Ausſchließlichkeit geſetzt werde. Es iſt nun eine der wich - tigſten Aufgaben der Weltgeſchichte, den allmähligen Sieg des freien Rechts über die geſellſchaftliche Ausſchließlichkeit der Geſchlechter - und Ständeordnung durch Geſetzgebung und Regierung zum Verſtändniß zu bringen. Das Ergebniß dieſer langen und ſchweren Arbeit iſt die definitive Geltung des Rechtsprincips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, nach welchem die negative Gleichheit alles Rechts in der Beſeitigung aller Privilegien und Vorrechte jener beiden Geſellſchaftsordnungen ausgeſprochen iſt. Aber die letzteren ſind dadurch an ſich nicht auf - gehoben, und ſollen es nicht ſein; denn ſie ſind in ihrer freien Form organiſche Elemente der Geſellſchaft an ſich. Indem ſie aber theils noch mit ihren mittelalterlichen Reſten in die ſtaatsbürgerliche Geſell - ſchaft hineinragen, theils auch die Tendenz behalten, dieſe natürliche Herrſchaft der höheren Claſſen zu einer rechtlichen zu machen, ſo bleibt die Aufgabe des Staats, die freie geſellſchaftliche Bewegung gegenüber dieſen Elementen feſtzuſtellen; und die Erfüllung dieſer Aufgabe iſt die Herſtellung der geſellſchaftlichen Freiheit. Wir unterſcheiden in derſelben die einzelnen Gebiete und das dieſelben gleichmäßig beherrſchende Princip für Geſetzgebung und Verwaltung.

403

Die Gebiete derſelben ſind die Familie mit dem Hausweſen, die Geſchlechterbildung und die Standesordnung. Das Princip, das ſie beherrſcht, iſt folgendes.

Die Bildung der Familien, der Geſchlechter und der Stände iſt ein naturgemäßer Proceß, den der Staat weder ſchaffen noch ſtören, noch hindern ſoll. Sie ſind ſelbſtändige und ſelbſtthätige Organe der Geſellſchaft, und wirken je in ihrer Weiſe für das Ganze. Sie ſollen daher in ihrer ſelbſtändigen Bildung frei ſein wie die Einzelnen, aus denen ſie hervorgehen. Allein ſie ſollen kein Recht ſchaffen, das auch nur innerhalb ihrer eigenen Sphäre die freie Bewegung ihrer Glieder mit objektiver Gültigkeit zu beſchränken im Stande wäre. Und die ſyſtematiſche Beſeitigung ſolcher Rechtsbildung vermöge der Durchführung des Princips der geſellſchaftlichen Freiheit iſt eben der Grundgedanke des erſten Theils der geſellſchaftlichen Verwaltung in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung.

A. Die Familie und das Geſindeweſen.

Die Familie iſt nicht bloß die erſte Form der einheitlichen Perſön - lichkeit, ſondern auch der erſte und noch rein natürliche geſellſchaftliche Körper. Seine Elemente ſind die Ehe, die eigentliche Familie, und das Geſinde. Es ſind das abſolute, d. i. organiſche Erſcheinungen des Lebens. Sie bilden ſich daher von ſelbſt, und erzeugen ſich ſelbſt ihre Ordnung, welche zuletzt nur wieder der Ausdruck ihrer natürlichen Grundverhältniſſe iſt. Dieſe Ordnung iſt eine ethiſche, ſo weit ſie auf dem freien geiſtigen Einfluß und ihrer höher ſtehenden Perſönlichkeit auf die niedere beruht. Allein das ethiſche Element geſtaltet ſich als - bald zu einem rechtlichen, das den individuellen Willen des Ober - haupts zum objektiv geltenden für jedes einzelne Glied macht. Dadurch wird die Familie unfrei. Die Entwicklung der Geſittung beginnt dann den Kampf mit dieſer Unfreiheit, und ihre Reſultate formulirt dann die Rechtsbildung, indem ſie die Herrſchaft des Oberhaupts ſo weit begränzt, als dieß durch die freie Entwicklung der Mitglieder der Familie gefordert wird. So entſteht die Geſchichte des Fami - lienrechts. Sie beginnt mit der Anerkennung der wirthſchaftlichen Selbſtändigkeit des Sohnes im peculium, mit derjenigen der Frau im Dotalſyſtem; ſie erſcheint im Erbrecht, im Teſtirrecht des Oberhaupts, die aber alsbald im Namen der Selbſtändigkeit der Glieder durch das Pflichttheilsrecht beſchränkt wird; ſie erhebt ſich endlich in der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft zur öffentlich rechtlichen Begränzung der natür - lichen Gewalt, und wird damit ein Theil der bürgerlichen Geſetzgebung,404 während andererſeits das Recht der freien Ehe und der Eheſcheidung der Stellung der Frau ihre Selbſtändigkeit zurückgibt. So liegt hier ein Proceß vor, der der Rechtsgeſchichte angehört, und der nur durch die Elemente der Geſellſchaft erklärt werden kann. Es iſt ein Theil desjenigen Gebietes, das wir das bürgerliche Verwaltungsrecht nennen, und das ſeiner ſelbſtändigen Behandlung harrt.

Den zweiten ſelbſtändigen Theil des Familienweſens bildet das Geſindeweſen. Daſſelbe umfaßt die zum häuslichen Dienſt be - ſtimmten Perſonen; ihre Stellung iſt daher naturgemäß die einer un - beſtimmten Abhängigkeit, ihr Rechtsverhältniß das des häuslichen Ge - horſams auf der einen, aber auch eines gewiſſen unbeſtimmten Ange - hörens an das Haus auf der andern Seite. Es beginnt deßhalb bei der Sklaverei, und geht dann über zum Dienſt der Unfreien, dem eigentlichen Geſinde, bis ſich allmählig die dritte Epoche des reinen Lohnverhältniſſes zwiſchen Familie und Geſinde herausbildet, in welchem Gehorſam und Verpflichtung auf den reinen Privatvertrag zurückgeführt werden. Es iſt nun kein Zweifel, daß das rein vertrags - mäßige dienſtliche Verhältniß allein der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts - ordnung entſpricht, nicht weil das Angehören an das Haus an ſich verkehrt wäre, ſondern weil die Gränze des Gehorſams und der Verpflichtung ſich von jedem anderen Standpunkte der genauen Be - ſtimmung entzieht, und die dann entſtehenden Fragen nur auf der Grundlage der Abhängigkeit gelöst werden können. Das ſtaatsbürger - liche Geſindeweſen beruht daher auf dem Grundſatze, daß die ethiſche Beziehung zwiſchen Herrſchaft und Geſinde rein auf den individuellen Verhältniſſen beruhen, und daß ihr Recht das freie Recht des einfachen Vertrages ſein ſoll. Allerdings iſt der Uebergang von dem früheren Standpunkt zu dieſem ſtaatsbürgerlichen mit einer Reihe von Uebelſtänden verbunden; allein es iſt vergeblich, den Proceß auf - halten zu wollen, der die Dienſtboten als einfache Lohnarbeiter der Herrſchaft ſelbſtändig gegenüber ſtellt. England und Frankreich haben denſelben vollzogen; dort gibt es keinen Begriff und kein Recht des Geſindes mehr. Es iſt falſch, daß die deutſchen Geſetzgebungen zum Theil noch den Geſichtspunkt des Angehörens an die Familie rechtlich feſthalten wollen; bildet ſich das letztere nicht von ſelbſt, ſo ſoll und kann das Geſetz ihn nicht weiter führen.

Das deutſche Geſinderecht beginnt mit dem Grundſatze der Angehörigkeit des Geſindes an das Haus, der Forderung des Gehorſams, der dann das (mäßige) Züchtigungsrecht und die Pflicht zur Pflege kranker Dienſtleute ent - ſpricht. Das blieb um ſo mehr unbezweifelt bis zum 18. Jahrhundert als die Dienſtboten ohnehin meiſtens aus den unfreien Familien herſtammten, und405 ihre häusliche Unfreiheit nur eine beſtimmte Modifikation der Geſchlechterunfrei - heit war. Mit dem 19. Jahrhundert beginnt dagegen der Gedanke der perſön - lichen Selbſtändigkeit auch für das Geſinde Platz zu greifen; die alten Verhältniſſe werden unklar, und jetzt fängt die Geſetzgebung an, die eigentlichen Geſinde - ordnungen zu entwerfen, die noch bis in die dreißiger Jahre unſeres Jahr - hunderts den Grundſatz der Abhängigkeit, der leichten häuslichen Züchtigung und des Anſpruches auf Hülfe von Seiten der Herrſchaft feſthalten, obwohl im Ganzen das rein privatrechtliche Rechtsverhältniß vorwiegt und die einzelnen Beſtimmungen beherrſcht. Bis zur völligen Gültigkeit des reinen Lohnver - trages iſt es noch nicht gediehen, obwohl das wirkliche Leben die Loslöſung des Geſindes vom Hausweſen und Hausrecht vollzogen hat, und jede neue Geſetz - gebung nur noch die franzöſiſchen Grundſätze anwenden konnte (vergl. über louage d’ouvrage in dieſer Beziehung namentlich Duvergier, Droit civil XIX. 322. 338). Geſindeordnungen des vorigen Jahrhunderts: Bayern: von 1781; Detmold: 1752. Mit dem Jahre 1809 (badiſche Geſindeordnung vom 15. April 1809) beginnt die deutſche Geſetzgebung der Uebergangsepoche; Wiener Geſindeordnung von 1810; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 433; neue öſterreich. Geſindeordnungen nach den einzelnen Provinzen von 1856 und 1857; preußiſche erſte Geſindeordnung vom 8. Nov. 1810; beſondere Geſindeordnung von 1844 1847; vergl. Rönne, Staatsrecht II. 349; nebſt einer nicht unbedeutenden Literatur (ſeit 1840); Bayern: Geſindeordnung von 1781 und die folgenden von 1804, 1815 und 1828; Pözl, Verwaltungs - recht §. 112. K. Sachſen: Dienſtbotenordnung von 1835. Württem - berg: Stuttgarter Geſindeordnung vom 27. Okt. 1819. Andere bei Mitter - maier, deutſches Privatrecht II. §. 294; Vorſtellung von einem Gemeinen deutſchen Geſinderecht.

B. Das Geſchlechterrecht.

Begriff und Inhalt.

Die zweite große geſellſchaftliche Erſcheinung iſt das Geſchlecht. Das was wir unter dem Geſchlechterweſen und Geſchlechterrecht ver - ſtehen, bildet eine der wichtigſten Thatſachen der Geſchichte. Das Gegenwärtige aber ſowohl als die daraus ſich ergebende Aufgabe der Verwaltung kann nur als Theil eines großen, noch keineswegs abge - ſchloſſenen Proceſſes erkannt werden. Man muß in dieſer Beziehung nothwendig das Weſen des Geſchlechts, den Adel und das Majorat unterſcheiden.

1) Das Geſchlecht iſt die durch mehrere Generationen erhaltene Familie, deren geiſtiges Element die Tradition beſtimmter öffentlicher Leiſtungen und die damit verbundene Ehre iſt. Das Daſein eines Ge - ſchlechts bedeutet daher eine Kraft in der Familie, welche ſtark genug iſt, der Auflöſung zu widerſtehen, und den Sporn für jedes Mitglied, die Ehre des ganzen Geſchlechts durch eigene Leiſtungen zu bewahren. 406Der Trieb, aus der Familie ein Geſchlecht zu bilden, iſt daher nicht bloß hoch achtbar an ſich, ſondern für das Geſammtleben höchſt werth - voll. Die Geſchlechterbildung ſelbſt vollzieht ſich demnach durch die Natur der Familie; ſie iſt kein Gegenſtand weder der Geſetzgebung noch der Verwaltung, ſondern ein freier Proceß in der geſellſchaftlichen Welt, der allen edleren Völkern und Zeiten gemeinſam iſt. Erſt da, wo der Adel beginnt, ändert er ſeinen Charakter und ſein Recht.

2) Der Adel entſteht, indem das Geſchlecht durch ſeine innere Kraft ſich dauernd derjenigen öffentlichen Stellung bemächtigt, deren Beſitz die Ehre und die Macht der Familie ausmacht. Der dauernde Beſitz derſelben erzeugt dann das Streben, das Recht auf eine ſolche Stellung erblich zu machen; die Geſammtheit derer, welche auf dieſe Weiſe den erblichen Beſitz der öffentlich leitenden Stellung für ſich ge - winnen, bilden dann eine Gemeinſchaft, welche wir dann die Ge - ſchlechter nennen; diejenige Ordnung, nach welcher die Herrſchaft auf dieſe Weiſe in den Beſitz der Geſchlechter kommt, nennen wir die Ge - ſchlechterherrſchaft, und die einzelnen dazu gehörigen Familien bilden den Adel im weitern Sinne des Wortes. Im engern und eigent - lichen Sinne nennen wir den Adel dagegen diejenigen Familien und Geſchlechter, die vermöge des grundherrlichen Beſitzes und ſeiner Rechte die Herrſchaft ausüben; die Bezeichnung von bedeutet eben den Beſitz der Grundherrſchaft als Baſis der herrſchenden Stellung. Es hat daher herrſchende Geſchlechter bei allen Völkern gegeben, Adel dagegen nur da, wo es eine Grundherrlichkeit mit ihren Rechten gab, alſo bei den germaniſchen Völkerſchaften.

Aus dieſem an ſich natürlichen, auf dem Weſen des Geſchlechts beruhenden Verhältniß entwickelt ſich nun vermöge des Sonderintereſſes diejenige Rechtsbildung, welche das Angehören an das Geſchlecht zur ausſchließlichen Bedingung für die Theilnahme an gewiſſen Zweigen der Staatsgewalt macht. So entſteht aus der Thatſache des Geſchlechts und des Adels das Vorrecht deſſelben. An dieſes Vorrecht des Adels ſchließt ſich, ſo wie es einmal beſteht, ein Syſtem von Rechtsbeſtimmungen über die Vorrechte, welche auch ohne Beſitz mit der bloßen Abſtammung von dem herrſchenden Geſchlecht verbun - den ſind, namentlich über das Gericht, das Adelsprädikat, das Wappen, die Siegel u. ſ. w. Dieſe Rechtsbildung nun iſt es, welche mit der freien Bewegung der Geſellſchaft und zugleich mit den höheren Bedürf - niſſen der fortſchreitenden Geſittung in Widerſpruch tritt, da ſie die Berechtigung zu beſtimmten öffentlichen Stellungen nicht mehr von der perſönlichen Fähigkeit, ſondern von dem Zufall der Geburt abhängig macht, und ſo eine Ungleichheit rechtlich normirt, welche die Kraft und407 der Werth des Einzelnen nicht mehr zu durchbrechen vermag. So wie daher das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zur Geltung ge - langt, ſo entſteht ein Proceß, der den Adel bekämpft; und in dieſem Proceß nimmt der Staat vermöge ſeiner Regierung eine hochwichtige Stellung ein. Derſelbe hat zwei Epochen. In der erſten wird dem Adel das Vorrecht genommen; in der zweiten wird der Adel als ſolcher angegriffen. Die erſte hat wieder zwei Hauptrichtungen. Einer - ſeits fordert die ſteigende Wichtigkeit der Regierungsaufgaben, daß die herrſchenden Stellungen ohne Rückſicht auf das Geſchlecht von den Fähigſten beſetzt werden; das thun die Regierungen, ſeitdem ſich mit dem ſiebzehnten Jahrhundert die Staatsidee von der Geſchlechter - und Ständeherrſchaft frei macht, und das Staatsoberhaupt ſich demſelben gegenüber einen durch eigene Tüchtigkeit dazu berufenen Amtsorga - nismus um ſich bilden muß. Mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt dieſer Proceß in ein neues Stadium, den Kampf gegen das Adels - recht in den Verfaſſungen. Hier entwickelt ſich eine Reihe von Er - ſcheinungen, welche der Verfaſſungsgeſchichte angehören, und die wir als den Unterſchied der ſtändiſchen von der ſtaatsbürger - lichen Vertretung, und die Frage nach dem Oberhauſe bezeichnen. Es iſt der Kampf der individuellen Berechtigung zur Vertretung des Volkes mit der auf Geburt und Beſitz beruhenden; das daraus ent - ſtehende Recht iſt das Verfaſſungsrecht, das hier nicht zu erörtern iſt. Die zweite Richtung iſt aber eine weſentlich andere. Sie enthält die Aufhebung aller perſönlichen Vorrechte des Adels, und die volle Gleichſtellung deſſelben mit den Nichtadelichen. In dieſem Kampf hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft bereits in England, Frankreich und Oeſterreich den vollen Sieg gewonnen; der Reſt des beſonderen Adelsrechts in den übrigen Staaten bildet in der That nur noch den Schein von beſonderen Rechten, und auch dieſer verſchwindet mit jedem Tage mehr. Als Schlußpunkt dieſer Epoche erſcheint ſomit der Satz, daß der Adel nur noch eine Thatſache und kein Recht iſt; aus dem urſprünglichen Adel ſind jetzt Geſchlechter geworden, und die Prädikate bedeuten nur noch Geſchlechter-Prädikate . Daraus folgt allerdings, daß dieſe Prädikate nicht willkürlich angenommen werden können, da eine Familie noch kein Geſchlecht iſt. Die weitere Folge iſt die Verleihung derſelben durch das Staatsoberhaupt, die als Beginn der Geſchlechterordnung betrachtet werden muß, indem ſie den Zufall der Geburt vertritt, und daher ſich von ſelbſt verliert, wenn die Familie nicht fähig iſt, ein Geſchlecht zu bilden. Es ſoll aber dem auf dieſe Weiſe zuerkannten Recht auf Führung des Prädi - kats kein Verbot zur Seite ſtehen; nur darf natürlich eine rechtliche408 Geltung der Führung des Prädikats (bei Taufen, Firmen, Beſtal - lungen u. ſ. w.) nicht anerkannt werden. Das Weſen der Freiheit des Adels als geſellſchaftliche Beziehung liegt daher, ſoweit ſeine Vorrechte beſeitigt ſind, nicht in ſeiner Vernichtung, ſondern in ſeiner Erwerb - barkeit für jedermann, aber in der Rückkehr des Adelsweſens zur Geſchlechterbildung.

Die deutſche Literatur hat ſich mit dem Adel faſt nur ſo weit beſchäftigt, als er vermöge ſeiner Vorrechte Gegenſtand des deutſchen Privatrechts und der Rechtsgeſchichte war. Die höhere Auffaſſung von Adel tritt in Europa erſt durch Montesquieu auf (Esprit des Lois L. V. Ch. 8); Ende vorigen Jahr - hunderts Suarez, Entwurf des Allgem. preuß. Landrechts, Adel als Stütze des Thrones; Kamptz, Jahrbücher XLI. S. 1681; Steins Princip der Aufhebung aller Vorrechte des Adels; Rönne I. §. 95. Das preuß. Land - recht bleibt jedoch mit ſeinem Syſtem des Adelsweſens beſtehen II. 472. Die neue Staatenbildung Deutſchlands bringt dann das Element der Standesherren hinzu, deren Rechte vertragsmäßig garantirt werden und auf die neueren Verfaſſungen übergehen. In Oeſterreich vollſtändige Aufhebung aller Vorrechte; dagegen noch immer Syſtem des Adelsrechts mit den Grundſätzen über Ver - leihung und Verluſt und Rechte auf Wappen ꝛc. : Rönne I. §. 95; Pözl, Verfaſſungsrecht §. 40 ff. ; Mohl, württemb. Verfaſſungsrecht I. 498 ff. Die neuere Auffaſſung, wie ſie namentlich Eiſenlohr über den Beruf des Adels 1852 vertritt, iſt allerdings eine viel höhere; allein ſie verwechſelt Adel und Geſchlecht, und das Wahre, das ſie unverkennbar enthält, gehört dem Weſen des letzteren und nicht dem des erſteren an.

Das Geſchlechter-Erbrecht und die Majbrate.

Wo nun einmal eine bevorrechtigte Stellung des Adels iſt, da iſt das Intereſſe an der Erhaltung derſelben für das ganze Geſchlecht die natürliche Conſequenz. Und da nun die materielle Baſis dieſer Stellung auch hier wie aller geſellſchaftlichen Ordnung der Beſitz iſt, ſo erzeugt jenes Intereſſe das Streben, den Beſitz ſelbſt dauernd in dem Geſchlechte zu erhalten. Das nun kann nur geſchehen, indem der Beſitz dem Verkehr entzogen und ein ungetheilter Gegenſtand der Erbfolge wird. Einen ſolchen Geſchlechterbeſitz nennen wir ein Ma - jorat oder Fideicommiß. Der Ausſchluß aus dem Verkehr kann nun in zwei Weiſen erfolgen. Zuerſt durch das Erbrecht, dann durch einen Akt des Landesherrn. Das Recht auf die Beſtimmung, nach welchem der Beſitz der Erbtheilung durch den Willen des Familien - hauptes dauernd entzogen, und die Ordnung der Erbfolge für die Nachkommen feſtgeſtellt wird, nennen wir die Autonomie, deren hiſto - riſches Princip die urſprüngliche Selbſtherrlichkeit der Grundherren war, und die in einzelnen Fällen noch ausnahmsweiſe erhalten iſt. Dem409 Nichtadeligen kann jenes Recht nur durch ein beſonderes Privilegium der Krone für den beſtimmten einzelnen Beſitz verliehen werden.

Die Majorate bilden daher das eigentliche Erbrecht der Geſchlechter - ordnung, und in der That iſt ihre Erſcheinung beim Adel nur der Reſt der alten Rechtsbildung der Geſchlechter. So wie die ſtaatsbür - gerliche Epoche entſteht, treten ſie in unlösbaren Widerſpruch mit dem freien Princip der auf - und abſteigenden Claſſenbewegung; ſie ſchließen die ganze ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft für ihr Gebiet aus, und erſchaffen einerſeits einen für jeden dritten, auch für den verkehrsrechtlichen Gläubiger unerwerbbaren Beſitz, während ſie andererſeits dem Beſitzer eine geſellſchaftliche Stellung geben, die ganz gleichgültig iſt gegen die perſönliche Tüchtigkeit. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft bekämpft ſie daher grundſätzlich, und das Recht der Majorate bildet damit einen von den Maßſtäben, nach denen das Verhältniß derſelben zu dem Reſte der Geſchlechterordnung gemeſſen werden. Daher der tiefe Unterſchied des beſtehenden Rechts derſelben in England, Frankreich und Deutſchland; und von dieſem Geſichtspunkt ergibt ſich das Princip, nach dem das allmählige Verſchwinden der Majorate die unzweifelhafte Folge der weiteren Entwicklung der Geſellſchaft ſein wird.

Wir unterſcheiden für das Geſchlechter-Erbrecht drei große Epochen. Die erſte iſt die der bäuerlichen Geſchlechterordnung, in welcher zuerſt der Grundſatz zur Geltung gelangt, der den Charakter des Geſchlechter-Erbrechts überhaupt bildet: der Grundbeſitz iſt nicht Eigenthum des Einzelnen, ſondern des ganzen Geſchlechts, ſteht aber unter der Verwaltung des Erſtgeborenen, und iſt dem Teſtirrecht entzogen. Das gilt dann von dem kleinſten Geſchlechter - hofe bis zur größten Grundherrlichkeit. Die zweite Epoche iſt die, welche wir die Epoche der Autonomie nennen würden, das iſt das Vorrecht der adeligen Geſchlechter, die Erbfolge in die Grundherrlichkeit zu beſtimmen. In dieſer Epoche tritt neben der Autonomie des adeligen Geſchlechts das Recht des Souverains auf, als Oberlehensherr die Beſchlüſſe der Autonomie zu beſtätigen, während ſich das alte bäuerliche Geſchlechter-Erbrecht der ungetheilten Höfe, aber auch nur für den bäuerlichen Beſitz, forterhält. Das 17. Jahr - hundert hebt nun dieß Lehensrecht des Landesherrn in England, die Revolution des 18. daſſelbe in Frankreich auf, und im 19. Jahrhundert zerbröckelt es langſam mit der Grundherrlichkeit; aber die Majorate bleiben. In der dritten Epoche greift nun das Princip derſelben auch in die ſiegreiche ſtaats - bürgerliche Geſellſchaft hinein, und zwar in der Form, daß das Majorat nicht mehr ein Vorrecht des Adels ſein, ſondern daß jeder das Recht haben ſolle, unter gewiſſen Bedingungen ein Majorat zu errichten, und ſomit die mate - rielle Geſchlechterbildung an die Stelle der geiſtigen zu ſetzen. Das iſt der Grundzug des gegenwärtig geltenden Rechts, das kaum unſer Jahrhundert überdauern wird, nachdem bereits das Geſchlechter-Erbrecht der Bauernhöfe durch das Princip der Theilbarkeit faſt allenthalben aufgehoben410 iſt. Dabei theilt ſich das europäiſche Majoratsrecht in drei große Syſteme. Das engliſche Recht iſt das des Entail. Das alte Princip: Jus descendit ad primogenitum iſt kein engliſcher, ſondern ein europäiſch-germaniſcher Grundſatz der Geſchlechterordnung. Die frühe Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in England hat nun hier zuerſt das Teſtament auch bei dem Grund - beſitz eingeführt (32. Henry VIII. c. 1). Das Stat. 24. Charl. II. 12. hat das Lehenseigenthum des Königs aufgehoben, aber an dem Erbrecht nichts ge - ändert. Der Grundſatz des engliſchen Teſtamenterbrechts iſt: daß der Erb - laſſer den Grundbeſitz vererben kann auf die Zeit von einem oder mehreren lebenden Erben oder für einundzwanzig Jahre nach dem Tode des über - lebenden Erben (vergl. Eiſenlohr a. a. O. S. 196 ff.). In Frank - reich bereits ſeit dem 16. Jahrhundert Verſuche die Errichtung von Majoraten zu beſchränken. Das Geſetz vom 14. Nov. 1792 hebt die Majorate abſolut auf; der Code Nap. (1804) behält die Aufhebung bei; aber das Decret vom 30. März 1806, das Geſetz vom 17. Mai 1806 erweiterte das Napoleoniſche Princip zum Rechte jedes Einzelnen, nach engliſchem Muſter die Subſtitution bis zur zweiten Linie teſtamentariſch auszudehnen. Ein Senatus-Conſult vom 30. Aug. ſtellte die Majorate jedoch nur als Gnadenakt des Kaiſers wieder her. Das Geſetz vom 12. Mai 1835 verbot dann definitiv die Errichtung neuer Fideicommiſſe; das Geſetz vom 7. Mai 1849 hob das Geſetz von 1806 auf, ſo daß jetzt der urſprüngliche Standpunkt des Code Nap. wieder gilt. So iſt das Geſchlechter-Erbrecht in Frankreich aufgehoben. In Deutſch - land dagegen beſteht es noch zum Theil als integrirender Beſtandtheil des öffentlichen und bürgerlichen Rechts fort. In Preußen anerkannt im Allgem. Landrecht II. 4. 72. 73, und jedem geſtattet (ebend. 47); darüber eine Reihe von einzelnen Beſtimmungen Rönne I. §. 95; das Recht auf Familien - beſchlüſſe allgemein (Geſetz vom 15. Febr. 1840). Bayern: Errichtung der Majorate (Edikt vom 28. Juli 1808 und 22. Dec. 1811); erhalten in der Verfaſſung von 1818, Beil. VII; vergl. Pözl, Verfaſſungsrecht §. 47. 48. Oeſterreich, Princip: Errichtung nur durch beſondere Bewilligung des Landes - herrn: Allgem. bürgerl. Geſetzbuch §. 627 nebſt genauer Ausführung im Decret vom 13. Juli 1832, und ausführlich im Patent vom 9. Aug. 1854 über Er - richtung von Familienfideicommiſſen.

C. Das Berufsrecht.

Während ſich nun die Geſchlechterordnung noch immer in einzelnen Erſcheinungen erhält, hat das Berufsrecht durch den Sieg der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft ganz ſeinen ſtändiſchen Charakter bereits ver - loren. So wie der Beruf noch durch Corporationen vertreten iſt, wie in Kirche und Wiſſenſchaft, gehört das Berufsrecht dem ſtändiſchen Corporationsrecht an. So weit aber der Beruf jetzt noch als ſelb - ſtändige Lebensaufgabe auftritt, iſt er kein ſtändiſches Ganze mehr, empfängt er ſein Sonderrecht aus dem Weſen des Berufes ſelbſt,411 und hat daher auch nur da ein ſolches, wo der Beruf es fordert. Das nun iſt nur da der Fall, wo der Beruf dem öffentlichen Dienſte gehört; nur noch in dieſem Sinne gibt es Stände mit eigenem Recht in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft (Militärſtand, Beamten - ſtand, Lehrſtand u. ſ. w.) und das Berufsrecht und ſeine Vorrechte ſind daher nichts als Theile und Gebiete des Staatsdienſtrechts, und fallen in dieſer Beziehung unter die Staatsdienſtgeſetzgebung. Hier hat alſo die Verwaltung gar kein Gebiet mehr, während das der Geſchichte ſtets ein reiches bleiben wird.

Zweiter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Noth.

Begriff und Princip.

Neben der rechtlichen Begränzung der Perſönlichkeit iſt nun das zweite Element, welches der freien geſellſchaftlichen Bewegung entgegen - ſteht, der Mangel an den materiellen Bedingungen des perſönlichen Daſeins. Den Zuſtand, der daraus hervorgeht, nennen wir die Noth. Die Beſeitigung der Noth iſt daher die zweite große Voraus - ſetzung der Entwicklung in der Geſellſchaft. Der Begriff der Noth ſetzt aber ſelbſt ſchon voraus, daß ſich der Einzelne durch eigene Kraft nicht helfen kann. Sie iſt daher eine Aufgabe der Verwaltung, und dieſe Aufgabe bildet dann den zweiten Theil der Verwaltung der Geſellſchaft.

Allerdings nun hat die Noth verſchiedene Formen und Grade. Allein allen iſt Eins gemein. Die Noth unterwirft die an ſich freie Perſönlichkeit der Gewalt derjenigen Dinge, welche ihr Bedürfniß be - friedigen. Die Noth iſt daher nicht bloß eine Gefahr, ſondern ſie iſt Unfreiheit für den, der ſie leidet. Eben deßhalb iſt ihre Beſeitigung nicht mehr bloß Sache des Einzelnen, ſondern der Gemeinſchaft. Es iſt daher das erſte Princip dieſes Theiles der Verwaltung, daß die Gemeinſchaft mit ihren Kräften der wirklichen Noth des Einzel - nen abhelfen müſſe.

Das mächtige ethiſche Element nun, das darin liegt, hat nun von jeher da wo eine ſolche wirkliche Noth vorhanden war, auch theils die Herzen, theils den Verſtand der Einzelnen beſtimmt, als Einzelne dem nothleidenden Einzelnen zu Hülfe zu kommen. Das was vom Einzelnen zum Einzelnen geſchieht, iſt aber nicht Sache der Verwaltung. Allein die Noth iſt in allen Verhältniſſen der Menſchheit ein ſtets vor - handener Zuſtand, der niemals bei dem Einzelnen ſtehen bleibt; das, was der Einzelne thut und thun kann, iſt daher auch nie ausreichend,412 um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi - nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der großen Aufgaben der Verwaltung. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat.

Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen; es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein - ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt, und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden Princips, es bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver - ſtehenden und behandelnden Syſtems, und es bedarf endlich eines eigenen und ſelbſtthätigen Organismus. Und die organiſche Dar - ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen - weſen nennen.

Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi - ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die Einheit der letzteren in dem gemeinſamen Princip für alle ihre Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen wie des Ganzen.

Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann. Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die Unmöglichkeit für den Einzelnen vorliegt, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll nur ſo weit gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig - keit zur Selbſthülfe aufhalten. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und wie weit ſie geht, das kann, wo es ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen - über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem413 ihrer Organe muß ein Syſtem der Fälle der Noth zur Seite ſtehen; die gemeinſam von dem übrigen Principe beherrſcht, das Syſtem der Verwaltung bilden. Die Elemente deſſelben ſind folgende.

Syſtem und Elemente der Geſchäfte.

Auch die Noth erſcheint im Anfang als ein einfaches Verhältniß. Wiſſenſchaft und Praxis zeigen aber bei ſteigender Geſittung, daß ſie aus weſentlich verſchiedenen Elementen beſteht, deren jedes ſeine Natur hat, und ſeine Behandlung fordert. Dieſe Elemente ſind zunächſt die Theurung mit ihren Folgen, als materieller Urſprung der Noth; dann der Hang zur Trägheit, der die Noth in der Perſönlichkeit er - zeugt, indem er zum Bettel führt; dann die Noth der Kinder, theils der Findelkinder, theils der Waiſen; und endlich die eigentliche Armuth mit dem eigentlichen Armenweſen. Dieſe Gebiete bilden das Syſtem der Verwaltung der geſellſchaftlichen Nothzuſtände.

An dieſes Syſtem der Sache ſchließt ſich nun das Syſtem der Organe für die Verwaltung. Auch dies Syſtem liegt im Weſen der Noth ſelbſt, und iſt keineswegs ein zufälliges. Die Noth hat unter allen Geſtalten gewiſſe gleichartige Elemente; dieſe bilden die Aufgabe der Geſetzgebung und Regierung, welche daher auch hier die Ein - heit herzuſtellen hat. Sie hat aber zweitens ſtets einen vorwiegend örtlichen Charakter, ſowohl in ihren Gründen, als in den Mitteln der Abhülfe; damit iſt der Selbſtverwaltung ihr Antheil an dem Ganzen gegeben. Endlich berührt ſie in Entſtehung und Intenſität das Individuum und hier beginnt das Gebiet des Vereinsweſens. So theilt ſich die große Aufgabe des Kampfes mit der geſellſchaftlichen Noth; jeder dieſer Theile hat nun wieder ſeine Geſchichte und ſeine ſpeciellen Principien und ſeinen Organismus. Aber mitten in dieſer Verſchiedenheit iſt der Gang der hiſtoriſchen Entwicklung nicht bloß ein gemeinſamer, ſondern er iſt zugleich ſo innig mit dem Weſen aller Theile verbunden, daß ſeine Elemente als die einfachſte gemeinſame Einleitung für jeden Abſchnitt gelten dürfen.

Die urſprüngliche Form aller Hülfe iſt die der Geſchlechterordnung. Die Noth iſt zunächſt eine Sache der Familie, in zweiter Reihe des Geſchlechts, wie der Beſitz ſelber; eine allgemeine Verwaltung gibt es hiefür ſo wenig, wie für die andern Gebiete. Aus der Geſchlechter - ordnung geht die Pflicht zur Hülfe an die Gemeinde über; aber die erſte Selbſtverwaltung der wirthſchaftlichen Noth in Dorf und Grund - herrſchaft iſt doch zuletzt nur eine Form des Geſchlechterrechts. Die zweite Epoche beginnt dagegen da, wo aus dem Berufe der Stand414 wird. Hier wird das ethiſche Element der Hülfe zum Grunde gelegt, und aus der natürlichen Verpflichtung, dem Verwandten zu helfen, eine chriſtliche, jedem zu helfen. Das iſt an ſich ſchön und trefflich; aber die Folgen ſind, daß die Hülfe im Namen der chriſtlichen Pflicht ausgeübt, nicht mehr nach Grund und Maß fragt, ſondern der per - ſönlichen Bitte ſtatt dem wirklichen Bedürfniß gibt. Damit empfängt die Trägheit ihre Prämien, und der Bettel entſteht. Gegen Bettelei und Vagabundenthum erhebt ſich dann die Polizei, und verfolgt die Arbeits - und Heimathsloſigkeit mit ihren Maßregeln und Strafen; allein das genügt doch nur im Einzelnen. Das Correlat iſt die Ueber - nahme der Unterſtützung bei wirklicher Noth von Seiten der Gemein - ſchaft; dieſelbe, indem ſie dieſe Verpflichtung anerkennt, fordert natürlich auch das Recht, die objektive Ordnung für ihre Thätigkeit aufzuſtellen. So entſteht als dritte große Epoche die ſyſtematiſche Verwaltung in Geſetzgebung und Verwaltung. Allein in dieſe Epoche ragt ſchon die folgende herein. Die Erkenntniß, daß die Arbeit die Baſis der wirth - ſchaftlichen Selbſtändigkeit ſei, zeigt, daß das was man bisher Noth genannt, einen zweifachen Inhalt habe. Es gibt einen wirklichen Zu - ſtand des Mangels; es gibt aber auch einen Zuſtand, in welchem nur das Gefühl des geſellſchaftlichen Gegenſatzes der Hülfloſigkeit der niederen Claſſe gegenüber der höheren das Analogon der Noth bildet. Die Claſſe der Armen ſcheidet ſich von der der Beſitzloſen; die Erkenntniß greift Platz, daß beides, bis dahin vermengt, zwei weſentlich verſchiedene Gebiete der geſellſchaftlichen Zuſtände enthalte, und daß demgemäß auch die Aufgabe für jedes derſelben eine weſentlich verſchiedene ſei. Das iſt der Charakter der Gegenwart; ſo wird jetzt das Gebiet der wirthſchaftlichen Noth zu einem durchaus ſelbſtändigen, gegenüber dem der aufſteigenden Bewegung der nichtbeſitzenden Claſſe, und jetzt unterſcheiden wir daher das Unterſtützungsweſen als Gegenſtand des Folgenden, von dem Hülfsweſen als dem dritten Theile der geſellſchaftlichen Verwaltung.

I. Geſellſchaftliche Polizei der Roth.
a) Die Theurungspolizei.

Der Begriff der Theurung iſt zunächſt ein nationalökonomiſcher und wird meiſt ausſchließlich als die Höhe der Preiſe der nothwendigen Lebensbedürfniſſe aufgefaßt. Das iſt richtig. Allein ſeine höhere Be - deutung iſt die geſellſchaftliche. Im Sinne der Geſellſchaftslehre iſt die Höhe der Preiſe für den Begriff der Theurung ganz gleichgültig; die Theurung iſt für ſie diejenige Höhe der Preiſe, welche gegen -415 über der regelmäßigen Einnahme aus der capitalloſen Arbeit die Ca - pitalbildung, und damit das Aufſteigen vom Nichtbeſitz zum Beſitze hindert oder unmöglich macht.

An ſich iſt nun weder die wirthſchaftliche noch die geſellſchaftliche Theurung ein Gegenſtand der Verwaltung. Sie weiß und muß wiſſen, daß ſie in die Preisordnung weder eingreifen kann noch ſoll. Eine Thätigkeit der Verwaltung daher, welche die capitalloſe Arbeit vor derſelben ſchützt, kann daher nur da denkbar ſein, wo ganz be - ſtimmte örtliche Gründe ganz beſtimmte Theurungszuſtände hervor - rufen. Dieſe ganz beſtimmten Gründe nun liegen in derjenigen Zu - nahme der örtlichen Conſumtion, welche ſtärker iſt, als das durch die damit entſtehende Nachfrage gegebene Zuſtrömen des Angebots. Das iſt der Fall bei raſch entſtehender örtlicher Dichtigkeit der Bevöl - kerung, alſo namentlich in den großen Städten. Hier kann die Ver - waltung helfen; ſo wie daher die großen Städte entſtehen, entſteht auch der Kampf mit der Theurung, oder das was wir die Theu - rungspolizei nennen.

Die Theurungspolizei hat zwei ganz beſtimmt geſchiedene Epochen, deren erſte jetzt im Weſentlichen als eine überwundene angeſehen wer - den darf.

Die erſte Epoche geht von der Vorſtellung aus, daß die Theu - rung theils durch das Intereſſe des Handels, theils durch dasjenige der für die Bedürfniſſe producirenden Gewerbe weſentlich erzeugt werde. Aus der erſten Vorſtellung entſtehen die Ausfuhrverbote für die Länder im Ganzen, und die polizeilichen Verbote und Verfolgungen der Vor - und Aufkäuferei für die einzelnen größeren Städte; aus dem zweiten Geſichtspunkt dagegen die Taxen, und zwar die Brod -, Fleiſch -, Wein - und Biertaxen, welche für ein beſtimmtes Maß einen beſtimmten Preis ſetzen. Beide Syſteme gehören weſentlich dem ſiebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert, und die Ortsgeſetze ſind voll von dahin zielenden Beſtimmungen.

Das ganze Syſtem wird nun zuerſt dem Princip nach ange - griffen durch die phyſiokratiſche Schule. Ihr großer Gedanke iſt der, daß die Freiheit in der Bewegung des Handels und des Gewerbes das einzige Heilmittel gegen die Theurung ſei. Die Schule von Ad. Smith führt denſelben dahin aus, daß die Geſetze, welche Werth und Preis beſtimmen, abſolut ſind, und daß das Erreichbare ſich von ſelbſt regelt, wenn man nicht polizeilich eingreift. Damit beginnt dann das allmählige Verſchwinden des ganzen Verbots - und Taxweſens mit unſerem Jahrhundert. Allein zugleich iſt die Zunahme der großen Städte ſo bedeutend, daß die örtliche Theurung in Verbindung mit416 dem Drucke, den das Capital auf die Arbeit übt, dennoch eine Ge - fahr der Verarmung erhält. Man beginnt zu erkennen, daß die Ver - kehrs - und Gewerbefreiheit doch nur negative Maßregeln ſind; und ſo entſteht der zweite, aber poſitive Gedanke dieſer Epoche, die Ver - ſorgung der großen Städte. Dieſelbe iſt als Princip anerkannt, als Ausführung noch ſehr im Werden. Die letztere hat ihrerſeits wieder zwei Stadien und Grundformen; die erſte beginnt, den Markt der Nahrungsmittel zum Gegenſtande der Verwaltung zu machen, indem ſie öffentliche Marktanſtalten, Markthallen, Fleiſchſchränke u. ſ. w. herſtellt; dieſe gehören ihrer Natur nach der Selbſtverwaltung und ſind ſtädtiſche Anſtalten. Die zweite iſt noch kaum begonnen. Ihr Inhalt iſt die Herſtellung der Verſorgung der Städte durch große Ver - ſorgungsunternehmungen als Aktiengeſellſchaften, die wieder erſt dann, wenn ſie ſich auf die einzelnen Zweige beſchränken, das Bedeu - tende leiſten. Die Schwierigkeit ſolcher Unternehmungen hat ſie bisher zurückgehalten; dagegen bricht ſich eine zweite Richtung immer be - ſtimmter Bahn. Das iſt die Herſtellung von Arbeiterwohnungen durch Aktienunternehmungen, die ihrer Natur nach örtlich, dennoch für die ganze geſellſchaftliche Bewegung die höchſte Bedeutung haben, und vielleicht unter allen derartigen Unternehmungen am deutlichſten be - weiſen, daß die Harmonie der Intereſſen auch zwiſchen Capital und Arbeit nur einer praktiſchen Löſung harrt, um zur vollen Geltung zu gelangen.

Es hat doch lange Zeit gedauert, bis die Culturvölker von dem Syſtem der polizeilichen Taxordnungen zu der Freiheit im Verkehr, und wieder von dieſer zur Herſtellung poſitiver Maßregeln geſchritten ſind. Immer aber iſt aller - dings die ganze Theurungs - und Taxpolizei als Aufgabe der ſtädtiſchen Selbſt - verwaltung angeſehen worden. Das Syſtem der Hauptvölker iſt dabei ein weſentlich verſchiedenes. England hat ſich einfach mit völliger Aufhebung ſowohl der Brodtaxen (ſeit 1815) als der Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel be - gnügt (mit Ausnahme von Malz, Spiritus und Zucker) und es dem freien Verkehr allein überlaſſen, die Preiſe zu regeln. Frankreich dagegen hat ein ſehr bedeutſames Syſtem von poſitiven Maßregeln aufgeſtellt, das nach Aufhebung der Brodtaxen durch Decret vom 21. Juli 1863 noch drei Theile hat, aber freilich hier wie immer faſt nur auf Paris berechnet iſt: die Fleiſch - kaſſe, die Bäckerkaſſe und die Markthallen (die kürzeſte und klarſte Dar - ſtellung der beiden erſten bei Block, Dict. v. Boucherie und Boulangerie; die Markthallen bei Th. Riſch, Bericht über Markthallen 1867. S. 48 und öfter). In Deutſchland iſt man formell über das Taxweſen noch nicht hinaus, obwohl es der Sache nach wohl ohne praktiſche Bedeutung iſt. Die theoretiſche Begründung ſchon im vorigen Jahrhundert: Juſti, Polizeiweſen I. 715, Berg VII. ; erſte ſyſtematiſche Behandlung der Theurungspolizei 417Hauptſt. IX. Abtheil. 3; vergl. Hauptſt. X. Abh. 3; dann Lotz, Staatswirth - ſchaft II. 278; ſyſtematiſch entwickelt bei Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 46 ff. nebſt reicher Literatur, namentlich über den Getreidehandel, Vorrathsmagazine (S. 306) u. ſ. w. Viel Material im Einzelnen bei Rau, Verwaltungspflege II. §. 313. Poſitives Recht Preußen: Princip der Aufhebung aller Taxen, Gewerbeordnung von 1845 §. 88, mit Ausnahme der örtlichen Brodtaxen (Rönne II. 345). Vor - und Aufkauf an ſich frei, jedoch Zulaſſung örtlicher Beſchränkungen (Gewerbeordnung ebend. und Rönne a. a. O.). Oeſter - reich: Freiheit des Brodhandels zum Theil eingeführt; Aufhebung der Fleiſch - taxe für Wien und Errichtung einer Fleiſchkaſſe ſeit 1850; örtliche weitere Be - ſtimmungen, Stubenrauch II. 316 317. Bayern: gleichfalls örtliche Taxen, namentlich Biertaxen (Rau a. a. O. und Pözl, Verwaltungsrecht §. 99 ff.). Württemberg: Brodtaxenordnung (Verfügung vom 24. Mai 1864; Mohl, württemb. Verwaltungsrecht); Theurungspolizei §. 209 ff. Das bedeutendſte Werk über dieß Gebiet Roſcher, Kornhandel und Theurungs - polizei (3. Aufl. 1852) im Sinne der Freiheit, jedoch noch ohne Rückſicht auf poſitive Anſtalten. Die Frage der Arbeiterwohnungen Gegenſtand viel - facher Unterſuchungen und Verſuche, bis jetzt noch vorwaltend techniſcher Natur (vergl. namentlich über Wohnungsgenoſſenſchaften Gierke, Genoſſenſchaften S. 1069 ff.). Das reichſte Material über die eigentliche Wohnungsfrage bei Em. Sax, die Wohnungszuſtände der arbeitenden Claſſen und ihre Reform, 1869.

b) Bettelpolizei und Arbeitshäuſer.

Der Bettel entſteht, wo die individuelle Armuth ſich an das in - dividuelle Gefühl wendet, um die individuelle Form der Unterſtützung, das Almoſen, zu empfangen. Seinem Weſen nach iſt derſelbe frei, ſo lange er in dieſer Gränze der ganz individuellen Beziehung bleibt. Allein ſo wie er öffentlich auftritt, entweder als Straßenbettelei oder als Sammlung, tritt er in Widerſpruch mit dem Grundſatz, daß die Unterſtützung der Armuth Gegenſtand der Verwaltung iſt. Dieſer Widerſpruch liegt darin, daß bei dem Bettel das Maß für den Geber und die Gewißheit der wirklichen Noth für den Empfänger fehlen, und der öffentliche Bettel daher aus der Arbeitsloſigkeit eine Einnahms - quelle macht. So wie daher das Armenweſen ſich organiſirt, beginnt der Bettel Gegenſtand der Polizei zu werden, die um ſo energiſcher iſt, je unſicherer überhaupt die öffentlichen Zuſtände erſcheinen. Jede Bettelpolizei iſt daher eine Verbindung von geſellſchaftlicher und Sicher - heitspolizei. Die Gefährdung, welche der Bettel mit ſich bringt, ver - bunden mit dem Gefühl des wirthſchaftlichen Widerſpruches, der bei geordnetem Armenweſen in ihm liegt, erzeugt dann den Satz, daß der Bettel und das mit ihm verbundene oder zu ihm führende Vagabundiren polizeilich ſtrafbar ſind. Dieſe Strafe erſcheint bei unſicheren Zuſtän - den vorwaltend als peinlich. Strafe; ſo wie die Zuſtände ſicher werden,Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 27418tritt an ihre Stelle der Arbeitszwang in den dazu errichteten Arbeitshäuſern. Nach vielen Verſuchen und Unterſuchungen iſt man ſich einig, daß die Produktivität der Arbeitshäuſer eine ſehr geringe iſt, und daß man den in ihnen zur Geltung gelangenden Arbeitszwang als wirthſchaftliche Ordnungsſtrafe betrachten und behandeln muß. Darnach bleibt auch dieſes Syſtem noch ein rein negatives der Repreſſion. Zu einem poſitiven, die Uebelſtände zugleich aufhebenden Syſtem wird es erſt durch zwei Momente, deren Keim unſere Gegenwart empfangen hat, und die ſich mit der Zeit vollſtändig und in heilſamer Weiſe ausbilden werden. Das erſte iſt die Einfüh - rung der, wenn auch nur elementaren geiſtigen Bildung in die Auf - gabe der Arbeitshäuſer; das zweite iſt die Errichtung von öffentlichen Lagerſtätten mit Bett, Bad und Wäſche für Unterſtandsloſe. Es iſt klar, daß das alles faſt nur für große Städte thunlich iſt, und daß es daher der Selbſtverwaltung angehört. Wir ſtehen in dieſer Beziehung in einer Uebergangsepoche; die Baſis der künftigen Geſtal - tung iſt die allmählig immer klarer werdende Erkenntniß, daß die Ver - ordnungen und Koſten für dieſe Anſtalten ſich durch die Verminderung der Quellen der Armuth, Mangel an Ordnung und Bildung, und damit durch Verminderung der Armenlaſt reichlich wieder erſetzen. Hier liegt noch eine große Aufgabe zu löſen.

Ueber Recht und Pflicht, Bettel und Vagabundiren polizeilich zu unter - drücken, hat niemals, auch in der Geſchlechterordnung nicht, ein Zweifel beſtanden. Die erſte Epoche der peinlichen Strafe für beides reicht bis in unſer Jahrhundert; für Deutſchland ſ. Berg, Polizeirecht III. 241; vom poli - tiſchen, Quiſtorp, Grundſätze des teutſchen peinlichen Rechts I. 437; vom ſtrafrechtlichen Standpunkt. Ueber das allerdings der Sicherheitspolizei ange - hörige Landſtreicher - und Gaunerweſen namentlich Mohl, Präventivjuſtiz §. 19 und 20, mit reicher Literatur; für England ſtrenge Geſetze ſchon ſeit Hein - rich VIII. ; Hauptgeſetz 17. G. II. 5 mit den noch heute beſtehenden drei Claſſen von Vagabonds bei Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 37 und Straf - ſyſtem für dieſelben. Für Frankreich ſtrenge Strafen ſchon 1351 und 1541 von Franz I. Andere Verordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts bei Block, Mendiants. Das 18. Jahrhundert gelangt von der einfachen Strafe zum Syſtem der Arbeitshäuſer und dem Correlat, der Ordnungsſtrafe. Das engliſche Syſtem bei Kries, Engliſche Armenpflege S. 17 ff. Vor - trefflich über die Workhouses und die Abneigung der Armen gegen dieſelben, die dieſelben als Gefängniſſe anſehen S. 19 f. Die Workhouses als in door relief gegenüber der eigentlichen Armenpflege als out door relief (vergl. Klein - ſchrod, Pauperismus in England S. 162). Charakter derſelben iſt die enge Verbindung mit dem eigentlichen Armenweſen, während die Bettelei für ſich ſtrafbar iſt. In Frankreich ſchon vor der Revolution Errichtung der Maisons de correction (Strafarbeitshäuſer ſeit 1764); damals, nach Einfüh -419 rung des neuen Armenweſens, Anerkennung des Bettels als Vergehen, und Umwandlung in die Maisons de correction. Das Syſtem des Code Pénal Art. 269 ff. macht dann den Bettel zu einer bloßen Uebertretung, und ſtraft ihn durch die Police correctionelle; daneben die Errichtung der dépots de mendicité mit Zwangspäſſen und mechaniſcher gezwungener Arbeit und Tagelohn; anbefohlen durch Decret vom 5. Juli 1808 für jedes Departement; es exiſtiren jedoch nur zwanzig. Ueber entlaſſene Sträflinge Gerando III. 441 ff. In Deutſchland wird die Frage nach der Errichtung rationeller Arbeitshäuſer in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Gegenſtand eifriger Unterſuchungen mit Literatur für und gegen dieſelben ſeit Rulffs, über die Preisfrage der vortheilhafteſten Errichtung der Arbeitshäuſer 1785; dagegen Naville, dafür Gerando III. 558. Rau fordert mit Recht die Unterſcheidung der freien Arbeitshäuſer von den Zwangsarbeitshäuſern; freilich erſcheinen die erſteren als gänzlich unpraktiſch. (Literatur bei Rau II. §. 345. 348.) Poſitives Recht der deutſchen Strafgeſetzgebung iſt im Allgemeinen auf dem Standpunkt der Beſtrafung des Bettelns geblieben, meiſt in Ver - bindung mit den Beſtimmungen über Heimathsrecht, Schulweſen und einem ſehr wenig entwickelten Syſtem von Arbeitshäuſern. Das klaſſiſche Werk über Vagabundenthum: Avé Lallemant, das deutſche Gaunerthum 4 Bde; der Proceß der Scheidung der Zucht - und Strafhäuſer von den Arbeitshäuſern: Wagnitz, die merkwürdigſten Zucht - und Arbeitshäuſer in Deutſchland. Preußen: Simon und Rönne, Polizeiweſen I. 522; die älteren Edikte ſeit 1669; ſ. Döhl, Armenweſen S. 5; dann das Allgem. Landrecht II. 19. 3 5 (Strafe der Arbeitsſcheu); dann Strafgeſetzbuch §. 117 119. Arbeitshäuſer ſind nur lokal (Rönne, Staatsrecht II. §. 338). Reglement über Verwaltung des Armen - und Corrigendenweſens vom 26. Sept. 1864 (durch eine vom Kreistag gewählte Commiſſion von vier Mitgliedern). Oeſterreich: die Bettelpäſſe aufgehoben 1785; Verſuche, das unordentliche Almoſengeben zu beſeitigen (in Verbindung mit dem Armeninſtitute, ſ. unten) ſeit 1783; Bettel - polizei den Magiſtraten übertragen (Gewerbeordnung von 1849, §. 120); Er - richtung von Zwangsarbeitshäuſern 1811 und 1817 (Strafgeſetzbuch §. 518 und 519); Ordnung der Arbeitshäuſer nach den Provinzen; ſ. Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde §. 338 und I. §. 198. Bayern: Vagantenweſen Mandat von 1816 (Pözl, Verwaltungsrecht §. 84). Württemberg: Mohl, Verwaltungsrecht §. 186. Verordnung von 1825. Waldburg: das Princip der Individualiſirung in der Strafrechtspflege 1869, Abth. VIII. Ein - zelne Geſetzgebungen ſ. Stein, Polizeirecht S. 161 ff. Ueber Lagerſtätten leider noch wenig Literatur; ſ. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 342.

II. Das Armenweſen.
Armuth und Armenweſen.

Vielleicht iſt es bei dem mächtigen Stoffe, der hohen Wichtigkeit der Sache und den tiefgreifenden Conſequenzen derſelben nirgend wich - tiger als hier, ſich über die formalen Grundlagen einig zu ſein.

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Zu dem Ende muß man in der Armuth ihren wirthſchaftlichen und ihren geſellſchaftlichen Begriff ſcheiden.

Die Armuth als wirthſchaftlicher Begriff enthält denjenigen Zuſtand, in welchem der Mangel an den nothwendigen Exiſtenzmitteln für das Daſein und Leben der Perſönlichkeit gefahrbringend wird.

Die Armuth als ſocialer Begriff bedeutet den Zuſtand des Einzelnen, in welchem ihm alle Mittel fehlen, um, auch bei voller Erwerbskraft, zu einer ſelbſtändigen geſellſchaftlichen Stellung zu ge - langen, und in die aufſteigende Claſſenbewegung einzutreten.

Aeußerlich decken ſich daher die beiden Begriffe der wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Armuth beinahe ganz. Allein ihrem Weſen nach ſind ſie tief verſchieden. Denn bei der wirthſchaftlichen Armuth liegt der Grund derſelben in dem Mangel der Perſönlichkeit, bei der geſell - ſchaftlichen Armuth in der Störung der Claſſenbewegung. Es iſt kein Zweifel, daß beide Zuſtände einen Widerſpruch mit den höchſten For - derungen des Geſammtlebens enthalten. Allein der weſentlich verſchie - dene Inhalt derſelben erzeugt daher auch eine weſentlich verſchiedene Aufgabe für die Geſammtheit gegenüber beiden Zuſtänden. Und bei der erſteren Gleichartigkeit beider gelangt jener weſentliche Unterſchied erſt dann zur Erſcheinung, wenn der Staat beginnt, ſeine Grundſätze und Organe der Verwaltung auf ſie anzuwenden. Erſt dann wird es klar, daß es falſch iſt, beides zugleich als Armenweſen zu bezeichnen und für beide von denſelben Geſichtspunkten aus daſſelbe zu fordern. Mit der Scheidung der wirthſchaftlichen von der geſellſchaftlichen Ar - muth erſt kann die wiſſenſchaftliche Bearbeitung und die praktiſche rationelle Behandlung beginnen, indem ſich Begriff und Inhalt der geſellſchaftlichen Armuth als das Gebiet der Verwaltung der geſell - ſchaftlichen Entwicklung von demjenigen loslöst, was wir die wirthſchaftliche Armuth nennen.

Dieſe rein wirthſchaftliche Armuth nun oder der für die Erhaltung der Perſönlichkeit ſelbſt gefahrbringende Mangel an Unterhaltsmitteln iſt nun in erſter Reihe im Widerſpruch mit der Perſönlichkeit ſelbſt. Daher muß das, was der Einzelne ſeinem Weſen nach für ſich thut, um nicht dem Mangel zu erliegen, von Seite Aller für den geſchehen, der dem Mangel zu unterliegen droht. Und die Organiſirung dieſer Hülfe gegen Mangel als regelmäßige Aufgabe der Verwaltung iſt das Armenweſen.

Das Armenweſen hat daher zu ſeinem Inhalt nicht die Herſtellung der Bedingungen für die aufſteigende Claſſenbewegung der niederſten Claſſe, ſondern nur die Hingabe der Mittel, um den Einzelnen gegen Mangel zu ſchützen. Sein allgemeinſtes Princip iſt daher, dem Ein -421 zelnen nichts darzureichen, als die allgemein menſchlichen Bedingungen der perſönlichen Erhaltung, und das nur dann und nur ſo weit, als der Einzelne ſich dieſelben nicht zu ſchaffen vermag. Es folgt, daß das Armenweſen daher vorzugsweiſe eine Thätigkeit der eigent - lichen Verwaltung iſt, während die geſellſchaftliche Entwicklung ohne die kräftige Mitbetheiligung der Einzelnen nicht denkbar iſt. Wir nennen deßhalb auch das Armenweſen die Organiſation des Unter - ſtützungsweſens, während wir die Förderung der geſellſchaftlichen Entwicklung als das Hülfsweſen bezeichnen.

Die Scheidung dieſer beiden Begriffe und Thätigkeiten nun, welche als die erſte Vorausſetzung aller rationellen Erfüllung beider Verwal - tungsaufgaben gelten muß, iſt langſam vor ſich gegangen und eine der wichtigſten Thatſachen der Geſchichte. Die Elemente der letzteren ſind in dieſer Beziehung folgende.

Elemente der Geſchichte des Armenweſens.

Die Nothwendigkeit der Hülfe bei wirklicher wirthſchaftlicher Noth liegt ſo tief im Weſen der Perſönlichkeit, daß es nie ganz an derſelben gefehlt hat. So lange ſie nun von dem Einzelnen allein ausgeht, nennen wir ſie das Almoſen. Das Almoſen aber genügt nicht, weder der principiellen Forderung der Noth, noch den allgemeinen Zuſtänden gegenüber. In den letzteren kann nur die Geſammtheit helfen. Ein Armenweſen entſteht daher da, wo ſich die Unterſtützung organiſirt. Die Grundlage dieſer Organiſation iſt auch hier die geſellſchaftliche Ordnung, und die Geſchichte des Armenweſens hat daher zu ihrer Grundlage die großen Epochen der Geſchichte und der Geſellſchaft.

Das Armenweſen der Geſchlechterordnung beruht darauf, daß auch der Arme der Familie und dem Geſchlecht angehört, und von ihm unterſtützt werden muß. Daher iſt die urſprüngliche Geſtalt des Ge - ſchlechterarmenweſens die Unterſtützung durch das Dorf; mit der Ent - wicklung der Grundherrlichkeit und ihrer polizeilichen Rechte geht dieſe Pflicht auf die Grundherren über, welche theils die Unterſtützung ſelbſt geben, theils ihre Leiſtung durch das unterthänig gewordene Dorf an - befehlen und mehr oder weniger gut leiten. Dieſe erſte Form iſt daher das Armenweſen der Grundherrſchaft. Es erhält ſich mit ſeinem Einfluß und ſeinen Reſten ſo lange, als es noch Grundherrlichkeit gibt; dauernd aber bleibt aus dieſer Epoche der Grundſatz, daß die Ge - meinde der eigentliche Armenkörper iſt.

In der ſtändiſchen Geſellſchaft empfängt das Armenweſen einen zweiten Inhalt und eine zweite Form. Das ethiſche Element der422 chriſtlichen Religion tritt auf, und macht die Armenunterſtützung zu einer Pflicht des geiſtigen Berufes. So wie daher die Kirche aus einem Berufe ein Stand mit organiſirter Thätigkeit und eigenem Be - ſitze wird, ſo übernimmt ſie neben der Gemeinde die Aufgabe, aus ihren Mitteln eine Armenunterſtützung zu geben. Das kirchliche Armenweſen ſtellt ſich neben das der Grundherrlichkeit. Ihr ethiſches Princip iſt, daß die Armuth im Namen der Religion die Unterſtützung des Beſitzes fordern kann; ihr praktiſches, daß dieſe Unterſtützung nicht wie die der Grundherrlichkeit an die Gemeinde gebunden, ſondern eine allgemeine menſchliche Pflicht ſein ſolle. Von ihr aus gehen daher die Inſtitute, welche die Mittel für die Armenhülfe im allgemein menſch - lichen Sinne darbieten, einerſeits die kirchlichen Sammlungen (Kling - beutel ꝛc. ), andererſeits auch die Stiftungen. Es war natürlich, daß ſie dafür die Verwaltung derſelben behielt. Dieſe Auffaſſung des all - gemein menſchlichen Elements in der Armenpflicht bleibt dauernd; eben ſo der Gedanke, daß die kirchlichen Organe der Armuth die geiſtige Erhebung und den religiöſen Troſt geben ſollen; endlich die Verſchmel - zung der Kirchengemeinde mit der Ortsgemeinde im Armenweſen. Allein eine objektive Pflicht zur Armenunterſtützung entſteht auch dadurch nicht.

Dieſe nun tritt erſt ein in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsord - nung; und hier gewinnt ſie auch den Charakter der Verſchmelzung mit dem geſellſchaftlichen Hülfsweſen, die erſt in unſerer Zeit behoben wird. Sie beginnt ſtets erſt da, wo die Kirche durch die Reformation ihre ſtändiſche Stellung verliert, und daher auch die Armenpflege nicht weiter führen kann. Da nun die Armuth natürlich dauert, und die Pflicht zur Unterſtützung gleichfalls dauernd anerkannt wird, ſo muß jetzt der Staat ſie ordnen. Aus dieſer Nothwendigkeit geht daher die neue, dritte Epoche des Armenweſens hervor, welche wir die der ge - ſetzlichen Armenordnungen nennen. Das Princip der geſetzlichen Armenordnung iſt, daß jeder Arme als ſolcher ein öffentliches Recht auf die Unterſtützung gegen die Noth habe; daß mithin die Pflicht zur Unterſtützung ein Theil des öffentlichen Rechts ſei; daß die Geſetzgebung daher einerſeits allerdings den Mißbrauch des Armenrechts durch Bettel und Vagabundenthum polizeilich bekämpfen müſſe, aber auch dafür zu ſorgen habe, daß die wirkliche Armenpflege durch die Gemeinde mit Hülfe der kirchlichen Inſtitute auch regelmäßig und genügend aus - geübt werde. Das Armenweſen wird daher ein Theil der Verwaltung, ausgeführt weſentlich durch den Selbſtverwaltungskörper der Gemeinden, nach den gleichartig geltenden Grundſätzen der Armengeſetzgebung, und unter der Oberaufſicht der Regierung, die freilich in ſehr verſchiedener Weiſe ausgeführt wird.

423

Aus dieſer dritten Epoche geht nun die vierte hervor, indem mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Gewerbe die Induſtrie und mit ihr die lokale Uebervölkerung entſteht, von denen die erſte durch Arbeitsmangel den Mangel an Unterhalt, die zweite durch Theue - rung den Mangel an hinreichendem Lohn erzeugt. Es iſt die Armuth der Erwerbsfähigen, die ſich neben die Armuth der Erwerbs - unfähigen hinſtellt, und die durch die Ausdehnung der Induſtrie zu einem allgemeinen Zuſtand innerhalb der nichtbeſitzenden Claſſe ent - wickelt, namentlich im Anfange des Auftretens der Maſchinen. Dieſer Zuſtand heißt die Maſſenarmuth oder der Pauperismus. Mit ihm ſcheiden ſich innerhalb des allgemeinen Begriffes der Armuth die zwei großen Elemente deſſelben, die eigentliche wirthſchaftliche Armuth mit Erwerbsunfähigkeit, und die Anfänge der geſellſchaftlichen Armuth mit Erwerbsfähigkeit. Jene iſt dauernd, dieſe iſt vorübergehend; jener kann nur durch Unterſtützung geholfen werden, dieſe fordert keine Unterſtützung, ſondern Arbeit und Erwerb. Im Anfange, faſt ein halbes Jahrhundert lang, gehen ſie nun in einander über, und es herrſcht die Vorſtellung, daß ſie beide mit gleichartigen Maßregeln zu bekämpfen ſind. Während durch das letztere die Geſetzgebung daher ihren alten Standpunkt für alle Formen beibehält, kommen in Theorie und wirklichem Leben doch endlich die tiefen Verſchiedenheiten beider zur Geltung, und das Armenweſen wird damit Gegenſtand einer ein - gehenden Behandlung. Es erzeugt daſſelbe zuerſt, und zwar ſchon ſeit dem Ende des vorigen Jahrhunderts eine ſehr reiche Literatur, und der Charakter derſelben iſt faſt in ganz Europa derſelbe. Sie leidet allerdings wegen des Mangels der geſellſchaftlichen Auffaſſung unter der fortgeſetzten Verſchmelzung beider Formen der Armuth, und bildet daher auch nur ſehr langſam und unſicher den Gedanken, daß die Hülfe der geſellſchaftlichen Armuth überhaupt nicht in der organiſchen, ſondern in der freien Verwaltung, dem Vereinsweſen liege; allein dafür hat ſie andererſeits, namentlich in unſerem Jahrhundert ſeit den dreißiger Jahren, ihren Blick erweitert, und, alle einzelnen Verhältniſſe und Erſcheinungen der Armuth ſelbſtändig betrachtend, ein Syſtem erzeugt, deſſen hoher Werth unverkennbar iſt. Der Charakter dieſes Syſtems beſteht darin, daß jeder einzelne Theil Gegenſtand einer ſelbſtän - digen Theorie und dem entſprechend auch nur ſelbſtändigen Verwaltung und Rechtsbildung geworden iſt; daß die eigentliche Armenpflege, früher das einzige Gebiet des Armenweſens, jetzt ſelbſt nur als ein Theil der - ſelben daſteht; und endlich daß die ganze Armenpflege auf jedem Punkte von der höheren ſocialen Idee der Entwicklung der geſellſchaftlichen Bewegung durchdrungen iſt, während die letztere wieder ſich zu einem424 eigenen Gebiete geſtaltet. So ſind wir hier in mächtigem Fortſchritte begriffen. Allein andererſeits ergibt ſich, wie überhaupt die Behand - lung des Armenweſens auf geſellſchaftlicher Baſis ruht, daß dieſelbe in den verſchiedenen Ländern auch ſehr verſchieden ſowohl in Princip als in Ausführung iſt. Und zwar wird es klar ſein, daß in dieſer Verſchiedenheit ſich weſentlich der geſellſchaftliche Zuſtand überhaupt, vor allem aber die Stellung der Kirche zur Gemeinſchaft abſpiegelt. Die höhere Wiſſenſchaft muß daher von dem Gedanken ausgehen, daß die Beſonderheiten der poſitiven Armenverwaltung nicht etwa zufällig ſind, ſondern daß dieſelben im Ganzen als Folgen des geſellſchaftlichen Organismus des betreffenden Volkes erkannt und verſtanden werden müſſen. Dieſe Beſonderheiten aber richten ſich weſentlich nach zwei Punkten: nach dem Grade, in welchem die Kirche in einem Lande noch eine Macht in weltlichen Dingen iſt, und nach dem Grade der Ent - wicklung der eigentlichen Regierung und ihres centralen Organismus, während das Princip der Vollziehung des Armenweſens durch die Selbſt - verwaltungskörper ein ganz Europa gemeinſames iſt.

Die Literatur über das Armenweſen iſt eine ungemein reiche; obwohl ſyſte - matiſche Werke ſelten ſind (vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 52: Rau II. §. 315 ff. ; de Gerando I. Einleitung). Der Charakter der Hauptvölker in Beziehung auf das Armenweſen in Geſetzgebung und Verwaltung iſt ein ſpecifiſcher, und wird ſelten verglichen. England iſt das erſte Volk, welches eine vollſtändige Armengeſetzgebung mit 13. Eliz. 2. (1539) beſitzt, deren Veranlaſſung die Aufhebung der Klöſter war. Geſchichte: Eden, State of the poor 1793 höchſt gründlich. Ihr bekanntes Princip iſt die geſetzliche, den Gemeinden zur Verwaltung übergebene Armenpflicht, deren Grund - lage die Selbſtbeſteuerung für die Armenlaſt in der poor rate iſt. Die All - gemeinheit dieſer Pflicht erzeugte ihre Gleichartigkeit; das Entſtehen der Induſtrie ſeit dem vorigen Jahrhundert das Wachſen der Laſt, und ſo entſtand die Noth - wendigkeit, dem Armenweſen eine einheitliche Organiſation zu geben, die mit dem Jahr 1834 eintrat. Dieß ſtreng adminiſtrative Armenweſen iſt daher auch faſt ausſchließlich auf die eigentliche Armenpflege beſchränkt, während die übrigen Gebiete wenig zur Entwicklung gelangen, hat aber für dieſe Armenpflege gerade durch ihre ſtreng geſetzliche Normirung zugleich einen durchgreifenden juriſti - ſchen Charakter, wie in keinem andern Lande, ohne Rückſicht auf die geſell - ſchaftliche Armuth, die hier zuerſt ſich ſelbſt helfen gelernt hat. In Frank - reich iſt mit der Revolution das Armenweſen der Kirche gleichfalls definitiv entzogen; doch beſtehen hier die Reſte der ſtändiſchen Ordnung in gewaltigen Stiftungen (Hoſpitäler ſ. unten), während andererſeits die örtliche Armenpflege durch den allgemeinen Mangel an freier Selbſtverwaltung wenig zur Entwick - lung gediehen iſt, und die Stiftungen daſſelbe zu viel erſetzen müſſen. In Deutſchland iſt große Verſchiedenheit, je nach der ſocialen Entwicklung. Oeſterreich hat es, vermöge der Stellung ſeiner Kirche, nie zu einer einheit -425 lichen Geſetzgebung oder vermöge der verſchiedenen Bildungsſtufen ſeiner Theile auch nur zu einer gleichartigen Verwaltung bringen können. Preußen hat, nachdem ſein Armenweſen bis auf die neueſte Zeit faſt ganz der Selbſtverwal - tung überlaſſen war, dieſelbe mit ſtrenger Beſchränkung auf die eigentliche Armenpflege durch das Geſetz vom 11. Dec. 1842 geordnet; in den übrigen Staaten beſtehen faſt nirgends Codifikationen; gemeinſchaftlicher Charakter aller deutſchen Armenpflege iſt der Mangel einer oberſten einheitlichen Leitung, der wieder durch die höchſt thätige und ausgezeichnete Literatur erſetzt wird. Zu - ſammenſtellungen der Geſetzgebungen in de Gerando, de la bienfaisance publique, 4 Bde. 1839, der bei jedem einzelnen Theile des ganzen Armen - weſens die Staaten Europas und ihr Recht vergleicht; allgemeiner Ueberblick über die europäiſchen Geſetzgaben Bd. IV. S. 540; und jetzt Emminghaus, das Armenweſen und die Armengeſetzgebung in europäiſchen Staaten 1870. Im Gange der Literatur muß man zwei große Epochen unterſcheiden. Die erſte iſt die, welche ſich ſpeciell auf die Armenpflege als Armenpolizei bezieht, noch ohne ſich um das ſociale Element zu kümmern; die zweite faßt die Armuth als einen innerlich organiſirten Zuſtand auf, und legt den Schwer - punkt der Unterſuchung theils in die Frage nach den Gründen und der Ver - hütung der Armuth, theils behandelt ſie die ſpeciellen Armuthsverhältniſſe als Theile des ganzen Gebietes. An der Spitze dieſer ganzen Richtung ſteht ohne Zweifel Gerando; ſein Werk iſt noch immer das Bedeutendſte über das ganze Armenweſen. Er bezeichnet zugleich den Punkt, wo die Frage nach dem ſocialen Inhalt der Armenfrage ſich von der der Armenpflege ablöst, ſelb - ſtändig wird, und ſich ſchon damals der Frage nach dem Eigenthum und dem Socialismus zuwendet. (Erſte Idee der Organisation du travail II. 281 ff.) Sein, ihm jedoch nicht gewachſener Nachfolger: Em. Laurent, le paupé - risme et les associations de prévoyance 1865. Dann ſelbſtändige Entwick - lung der ſocialen Frage ſeit L. Reybaud und L. Stein (ſ. unten). Das Verhältniß der Kirche zum Armenweſen: Chalmers, die kirchliche Armen - pflege; D. v. Gerlach 1847 und Georg Ratzinger, Geſchichte der kirch - lichen Armenpflege 1868; gründlich aber ſtreng auf ſein Gebiet beſchränkt (vergl. de Gerando II. 23 und Rau II. §. 337 a; Kries, Engl. Armenweſen §. 24). Seit der neuen Geſtaltung der Staatswiſſenſchaft iſt das Armenweſen theils ſelbſtändig dargeſtellt, wie Döhl, Armenpflege des preußiſchen Staats 1860 (Exegeſe des Geſetzes von 1842); Kries, Engl. Armenpflege; theils in alle Staatsrechte aufgenommen. Oeſterreich: Stubenrauch, Verwal - tungsgeſetzkunde II. 348. Preußen: Rönne, Staatsrecht II. §. 339. Bayern: Pözl, Verwaltungsrecht §. 87 ff. Württemberg: Mohl, Verwaltungsrecht §. 204 ff. Das Gebiet iſt auf keinem Punkte in ſich fertig.

A. Armenverwaſtung. Organiſation derſelben.

Die Organiſation des Armenweſens entſteht nun dadurch, daß das letztere als allgemeiner Zuſtand einerſeits Aufgabe der Verwaltung426 iſt, und andererſeits vermöge der Verſchiedenheit der Verhältniſſe, welche es umfaßt, durch verſchiedene Organe verwaltet werden muß. Sie iſt von hoher Wichtigkeit, aber bisher nur wenig ſelbſtändig behandelt. Ihr inniger Zuſammenhang mit dem ganzen Leben der Völker gibt ihr wieder in jedem Staate einen individuellen Charakter; jedoch ſind die Elemente derſelben ſtets die gleichen. Zu dem Ende iſt es allerdings nothwendig, dieſelbe auf die Grundformen aller Vollziehung zurückzu - führen, ſtatt bei allgemeinen Grundſätzen ſtehen zu bleiben. Darnach geſtaltet ſich dieſelbe in folgender Weiſe.

I. Die Armengeſetzgebung hat auch hier die Aufgabe, das Gleichartige in dem geſammten Armenweſen feſtzuſtellen; die Regie - rung ihrerſeits ſoll die von der Geſetzgebung aufgeſtellten allgemeinen Regeln zur gleichmäßigen Durchführung bringen. Beide entſtehen eben deßhalb erſt dann, wenn die Armuth nicht mehr örtlich auftritt, ſon - dern als allgemeiner Zuſtand erſcheint. Sie gehört daher der neueren Zeit an; es iſt aber eben deßhalb klar, daß die Geſetzgebung ſtets zu - gleich das Hülfsweſen direkt oder indirekt mit umfaßt, während die Regierung in ihrem Recht und ihrer Funktion weſentlich durch die Rechtsbildung und Thätigkeit der folgenden Organe beſtimmt wird. Demnach iſt es klar, daß die centrale Verwaltung, eine Oberbehörde für das Armenweſen, in dem Grade nothwendiger wird, je mehr die Elemente des Hülfsweſens in daſſelbe aufgenommen, und je mehr ſich das geſellſchaftliche Armenweſen aus dem rein wirthſchaftlichen entwickelt.

II. Den zweiten großen Organismus der Armenverwaltung bilden die Selbſtverwaltungskörper. Sie ſind die eigentlichen Träger des Armenweſens. Auch hier ſind Landſchaft, Gemeinde und Stiftungen zu ſcheiden, weil nicht bloß jedes derſelben ſeine eigene Organiſation, ſondern auch ſeinen eigenen Charakter hat. Die Landſchaften haben einerſeits diejenigen Aufgaben, welche für die Gemeinden und Stif - tungen zu groß ſind; andererſeits ſollen ſie die Oberaufſicht über die Armenverwaltung der beiden letzteren haben, und es ſollte in jeder Landſchaft dafür ein eigenes Organ beſtimmt ſein. Die Gemeinde hat das örtliche Armenweſen zu verwalten und zwar auf der Grund - lage, daß in jedem Gemeinderath eine eigene Sektion dafür beſtimmt ſein muß, während die wirkliche Ausübung der Armenpflege im Ein - zelnen wieder auf dem Organismus der Armenväter beruhen ſoll. Die Stiftungen endlich ſind für ihren ſpeciellen Zweck beſtimmt, und empfangen die Organiſation deßhalb theils durch die Stiftungs - urkunde, theils aber da, wo ſie wie die Hoſpitäler u. ſ. w. zum Theil von den Gemeinden mit erhalten werden, unter Mitwirkung der427 Gemeindebeſchlüſſe; und wo ſie weſentlich auf eine Gemeinde beſchränkt ſind, unter Oberaufſicht derſelben.

Die Entwicklung und freie Bewegung dieſes formalen Syſtems der Organiſation beruht nun auf drei Punkten.

Zuerſt auf der Bildung von Verwaltungsgemeinden aus den Ortsgemeinden für das Armenweſen, die ſtets da eintreten muß, wo die Armenanſtalten für eine Gemeinde zu groß werden. Es iſt eine weſentliche Aufgabe ſowohl der Regierung als der Landſchaft, dieſe Bildung auf jede Weiſe zu fördern und zu ordnen, namentlich da, wo die Armen arbeit in die Armenpflege ſyſtematiſch aufgenommen wird. In dieſer Beziehung iſt England das Muſter, dem bis jetzt nur Preußen ſeit 1842 nachgefolgt iſt.

Zweitens ſoll die innere Ausbildung des Armenweſens nicht mehr wie bisher bloß auf der Literatur und dem Zufalle der indivi - duellen Theilnahme an der Armenfrage beruhen, ſondern es ſoll jeder Armenkörper verpflichtet ſein, durch jährliche Berichte ſowohl ſtatiſtiſch als rationell auf die Natur der Armenhülfe im Allgemeinen und die Bedürfniſſe der örtlichen Verhältniſſe einzugehen. Die Landſchaftskörper ſollen darüber wachen, daß das regelmäßig geſchehe, und aus dem jährlichen Geſammtbericht eine regelmäßige Landſchaftsangelegenheit machen. Daran fehlt es bis jetzt am meiſten, und daher liegt bis jetzt der Schwerpunkt des Bewußtſeins über die Armenfrage mehr in der Literatur als in der Verwaltung ſelbſt.

Das dritte und wichtigſte Gebiet iſt nun das Syſtem, nach welchem dieſe Verwaltungskörper der Armuth ihre Mittel zur Unterſtützung gewinnen. Dieſes Syſtem zerfällt in drei Theile:

1) Die zufälligen Beihülfen. Dieſe beſtehen wieder zuerſt aus ſolchen, die von Individuen ausgehen und daher durchaus unregelmäßig ſind, wie Schenkungen und Vermächtniſſe. Zweitens aber erſcheinen ſie als Organiſation des Almoſenweſens, und zwar in den beiden Inſtituten des Klingbeutelweſens und der Sammlungen. Beide haben die Aufgabe, die Mängel, welche in dem rein zufälligen Almoſengeben, deſſen Nachtheile in dem Grade größer werden, in welchem die Armenpflege ſich ſyſtematiſch ausbildet, aufzuheben, ohne das freie individuelle Element der Unterſtützung zu beſeitigen. Daher werden beide geſetzlich geordnet; Princip: Ord - nung des Klingbeutelweſens durch die Kirchenvorſtände und Bewilli - gung der Sammlungen für einzelne Fälle von der Gemeinde. Es ſollte keine Sammlung geſtattet werden, ohne öffentliche Rechenſchafts - ablage.

2) Das eigene Vermögen der Armenanſtalten, das natürlich428 je nach der Art deſſelben verſchieden iſt, aber nie, auch da wo es ſpeciell unter den kirchlichen Organen ſteht, ohne regelmäßige öffentliche Rechenſchaftsablage verwaltet werden ſoll.

3) Die Armenſteuer. Die Frage nach der Armenſteuer entſteht, wo die Armuth als allgemeiner Zuſtand vom Staate anerkannt wird. Eine allgemeine Armenſteuer als Theil der allgemeinen Beſteuerung iſt nicht richtig, ſchon darum, weil ſie durch das Syſtem der Armen - ſteuer vollſtändig erſetzt wird. Dieſes nun beſteht aus drei Theilen.

Die eigentliche Armenſteuer iſt eine Gemeinde - und Landes - ſteuer. Es iſt nicht richtig, die Beſteuerung einfach in das Steuer - ſyſtem einzubeziehen, ſondern ſie muß ſpeciell berechnet und aus - geſchrieben werden, wie ſie ſpeciell zu verwalten iſt. Nur unter dieſer Vorausſetzung iſt die Selbſtbeſteuerung fähig, ihren Werth ſpeciell für das Armenweſen zu entwickeln.

Die geſetzlichen Armeneinnahmen als Beſteuerung gewiſſer Ein - kommenszweige (wie Steuer auf Theater, öffentliche Luſtbarkeiten, das öſterreichiſche Armendrittel u. ſ. w.) ſind nicht richtig, da ſie ihren höheren Zweck, die Theilnahme der Einzelnen an der Armenfrage nicht erreichen.

Die dritte Art entſteht da, wo eine beſtimmte Gemeinde nicht im Stande iſt, entweder vorübergehend oder dauernd ihrer Armenpflege zu genügen. Grundſatz: Unterſtützung durch die Landtage, als Gegenſtand der Berathung und Beſchlußfaſſung der Landesvertretung. Nur in außerordentlichen Fällen kann der Staat als Einheit eine ſolche Unterſtützung gewähren.

Das ſind die Elemente der Organiſation des Armenweſens inner - halb der Selbſtverwaltung. Es waltet nun nirgends eine größere Verſchiedenheit ob, als gerade in dieſem Gebiet. Dennoch iſt die Rechts - bildung auf demſelben in unſerer Zeit ſehr lebendig. Ihre Grundlage aber muß allerdings die engliſch-preußiſche ſein, daß auch in dieſer Organiſation das Armenweſen von dem Hülfsweſen für die ſociale Bewegung durchſtehend zu ſcheiden iſt, da beide ganz verſchiedene Principien und Aufgaben haben. Jede Vermengung ſtört den Erfolg. Daſſelbe gilt von dem Folgenden.

III. Der dritte große Organismus iſt das Vereinsweſen und zwar als das Gebiet der Hülfsvereine. Dieſelben bedürfen keiner beſonderen Organiſation, ſondern finden die letztere in den allgemeinen Grundſätzen über die Freiheit und über das Recht des Vereinsweſens überhaupt.

Die ſyſtematiſche Organiſation des Armenweſens als Ganzes iſt viel zu wenig behandelt (vergl. de Gerando IV. S. 584 ff. ; Mohl, Polizeiwiſſen -429 ſchaft I. §. 65 ff.). Der Charakter deſſelben iſt im Ganzen, mit Ausnahme des Vereinsweſens, ſehr verſchieden in den verſchiedenen Ländern. Englands Organiſation beruht auf dem ſtreng durchgeführten Gedanken, daß das Armen - weſen principiell eine Angelegenheit des Staats, in ſeiner einzelnen Durch - führung eine Aufgabe der Gemeinde ſei. Daher ſtrenge Scheidung zwiſchen den beiden Organen, von denen das letztere erſt ſeit dem Geſetz von 1834 hin - reichend entwickelt iſt. Armengemeinde gleich Kirchengemeinde mit voller Selbſtverwaltung und Selbſtbeſtimmung in der Poor rate, die faſt allen andern direkten Steuern zum Grunde liegt. Innerhalb der Armengemeinde die eigentliche Verwaltung durch die Guardians, welche die obere Leitung des Armenweſens und die Bewilligung der Unterſtützung haben (Armenpfleger); die Overseers, welche die letztere austheilen (Armenväter) und Auditors, welche die Rechnung führen. Daran ſchließen ſich die Unions, als die Armen - verwaltungsgemeinden mit den Arbeitshäuſern (Workhouses) und ihrer Orga - niſation, und die Centralleitung mit dem Poor Law Board. Daneben ſteht, ohne weiteren Zuſammenhang damit, die Ordnung der Armenkinderpflege und der einzelnen großen Armenanſtalten, während endlich das Vereinsweſen nament - lich für Errichtung von Krankenhäuſern eine Entwicklung empfangen hat wie nirgends in der Welt. Die Literatur iſt gerade über dieſe Organiſation außer - ordentlich reich. Vergl. außer den bei Rau und Mohl citirten alten Werken: Kries, Engl. Armenpflegweſen §. 9 ff. ; de Gerando III. 526; und bei jedem einzelnen Theile: Laurent P. III. Ch. 3; über die Armenſteuer S. 33; Vocke, Geſchichte der Steuern des brittiſchen Reiches 1866 S. 623; Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 116. In Frankreich dagegen liegt der Schwerpunkt des Armenweſens in den Hoſpitälern, während die Gemeinde - armenpflege durch die Bureaux de bienfaisance, die in jeder Gemeinde ſein ſollen, aber nicht immer ſind, verwaltet wird. Dieſelben ſind nach franzö - ſiſchem Muſter ernannte Gemeindeorgane. Gerando hat die Organiſation bei jedem Punkte des Syſtems aufgenommen; über das Ganze vergl. Gerando IV. am Ende; Laurent P. III. Ch. 2; Block, v. Bureaux de bienfaisance. Eine centrale Leitung angeſtrebt, aber nicht durchgeführt in dem Grand Conseil, das ſich jedoch wie es ſcheint, weſentlich auf die sociétés de pré - voyance bezieht (Laurent S. 280 ff.). Die deutſchen Organiſationen ſind principiell Gemeindeorgane, in Preußen bloß weltliche, in Oeſterreich zugleich kirchlich. Organiſation, Preußen durch Geſetz vom 31. Dec. 1842; Gemeinde - und Landarmenverbände (Döhl, Armenpflege des preuß. Staats 1860; Rönne, Staatsrecht II. §. 341). Das ſog. Bucquoi’ſche Armen - inſtitut in Oeſterreich nur für Armenpflege: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetz II. §. 348 ff. Ueber alle übrigen Staaten, ſo wie ſpeciell über die obgenannten gibt jetzt die umfaſſendſte Darſtellung das Sammelwerk von Emminghaus a. a. O. Ueber die Frage nach der in Deutſchland noch durchaus fehlenden centralen Organiſation ſ. ſchon Godefroy, Theorie der Armuth 2. Aufl. 55. und Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 67. Das Recht und das Syſtem der Unterſtützungsvereine bei Stein, Vereinsweſen S. 171 ff.

430
B. Das Armenrecht.

Während nun der Organismus des Armenweſens die Funktion des Staats in Beziehung auf den Zuſtand der Armuth organiſirt, enthält das Armenrecht die Geſammtheit der Beſtimmungen, nach welchen der Einzelne berechtigt iſt, an dieſer unterſtützenden Thätig - keit des Ganzen Theil zu nehmen. Dieß Armenrecht zerfällt in drei Gebiete.

I. Das Heimathsrecht enthält die Grundſätze, nach denen durch dauernde Niederlaſſung das Recht des Einzelnen auf Unterſtützung gegen eine Gemeinde als Armenverwaltungskörper gewonnen wird. Das Heimathsrecht iſt daher im Grunde nur die Anwendung der Grundſätze der Angehörigkeit an die Gemeinde für die Armen - pflege. Es unterſcheidet ſich jedoch weſentlich von den letzteren dadurch, daß es auch gegen den Willen der Gemeinde gewonnen werden kann, und daher ein objektives Rechtsverhältniß für dieſelbe bildet. Daher langer und faſt immer in derſelben Weiſe ſich bewegender Kampf um die Frage, auf welchem Punkt dieß Recht der Heimath gewonnen wird, und vielfaches Schwanken der Geſetzgebung. Die Grundzüge, auf denen daſſelbe beruht, ſind jedoch einfach, ſobald die Gebundenheit an die Scholle mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft aufhört. Grundlage iſt, daß ſo lange keine andere Heimath gewonnen iſt, der Geburtsort die natürliche Heimath bildet. Die freie Bewegung von einer Gemeinde zur andern iſt die Freizügigkeit, die als freies Niederlaſſungsrecht erſcheint. Wenn dieſe Niederlaſſung eine ge - ſetzlich beſtimmte Zeit gedauert hat, ſo erzeugt ſie ohne beſtimmten Akt das Heimaths - und damit das Armenrecht. Die eigentliche Frage bewegt ſich alſo nur darum, erſtlich, was als Niederlaſſung anzuſehen ſei (z. B. wann Dienſt und Arbeit die Niederlaſſung ent - halten) und zweitens, ob die Gemeinde, und unter welchen Bedingungen ſie das Recht hat, a) die Auswärtigen während der Zeit der Nieder - laſſung in ihre frühere Heimath zu befördern, und b) die etwa gemach - ten Auslagen für die während dieſer Zeit unterſtützten Armen der Heimathsgemeinde aufzurechnen. Die Geſetzgebungen ſind auf dieſem Punkte ſehr genau und oft ſehr hart, und an dieſen faßbaren Gegen - ſtand hat ſich daher eine förmliche Jurisprudenz des Armenrechts an - geſchloſſen, die dem folgenden Punkte fehlt.

II. Das Armenrecht im eigenen Sinne iſt nun das durch die Heimath für den einzelnen Armen erworbene Recht auf die Unterſtützung ſelbſt. Die Grundlage dafür iſt die Aufnahme in das Armenregiſter, der Inhalt iſt ein Privatrecht auf den Bezug der431 betreffenden Unterſtützung; die Folge iſt der ſchließliche, jedoch natürlich wenig praktiſche Grundſatz, daß dieſe Unterſtützung ſelbſt nur als Vorſchuß behandelt wird. Alle dieſe drei Punkte werden nun ge - wöhnlich nur vom Standpunkte der eigentlichen Armenpflege betrachtet, obwohl ſie bei allen Arten der letzteren vorkommen, allerdings aber bei jeder eine andere Geſtalt annehmen. Dieß Recht nun hat ſeine hiſtoriſchen Grundformen durchgemacht, und iſt auch jetzt noch im Wer - den begriffen. Urſprünglich iſt es nur ein ſittlicher Anſpruch, den der Einzelne hat, und ſeine Befriedigung iſt freie Gewährung. Dann treten an die Stelle der letzteren gewiſſe Regeln der betreffenden Anſtalten, die aber noch keinen Anſpruch des einzelnen Armen begrün - den. Dann wird die Armenpflicht eine öffentlich rechtliche Verpflich - tung der Armenorgane, zu deren Erfüllung dieſelben gezwungen werden können; damit entſteht zugleich der erſte Zweifel an einer ſolchen Verpflichtung und der feſte Begriff der charité légale, die übrigens nur ausnahmsweiſe als privatrechtlicher Anſpruch auf Unterſtützung anerkannt wird. Die Vorausſetzung des letzteren iſt allerdings die ſtrenge Unterſcheidung zwiſchen dem Armenweſen und dem Hülfsweſen des geſellſchaftlichen Fortſchrittes, und die Leiſtungen, auf welche der Arme ein Recht hat, ſind natürlich ſehr verſchieden je nach der Anſtalt, um die es ſich handelt. Wohl aber wäre es nothwendig, dieß ganze Rechtsverhältniß als geſetzliches Armenverfahren durch ein Geſetz feſt - zuſtellen, und für alle Anſtalten zu ordnen.

Das Heimathsweſen und - Recht hat eine lange und mit vielen Kämpfen durchwobene Geſchichte, ſ. Stein, Innere Verwaltung, 1. Theil (Bevölke - rungsweſen S. 272) engliſche, franzöſiſche und deutſche Rechtszuſtände (vergl. dazu Döhl, die Niederlaſſung des preußiſchen Staats oder das Geſetz vom 31. Dec. 1842 und deſſen Armenpflege des preuß. Staates von S. 131 bis 171. Engl. Heimathsweſen: Kries §. 22 ff. ; die Peels Settlements Act §. 26; Emminghaus a. a. O. S. 13). Das franzöſiſche Heimathsweſen Block bei Emminghaus S. 601 ff. Oeſterreich: Heimathsgeſetz vom 3. Dec. 1803 als Corollar zum Gemeindegeſetz vom 5. März 1862. Das Armenrecht im engeren Sinne iſt noch wenig ausgebildet. Direkte Negation des Rechts der Armen: Rau II. §. 339 und Literatur. In England iſt ein Privat - und Klagerecht auf die Unterſtützung anerkannt (Kries §. 27); Klagerecht in Schottland (Kries a. a. O. S. 168. 169). Frankreich verſagt ein ſolches Privat - recht ausdrücklich, und erkennt nur bei Irren und Findelkindern eine beſtimmte Verpflichtung (vergl. Emminghaus S. 12. 13). Die deutſchen Geſetze ſtehen auf dem Standpunkt der öffentlichen Verpflichtung und Erzwingung durch die Behörde, ohne privatrechtlichen Anſpruch; die meiſten übergehen die Frage ſtillſchweigend; vergl. das preuß. Recht, das ein verfolgbares Recht auf Alimen - tation nur ſehr beſchränkt einräumt (Rönne II. §. 340. 341).

432
C. Das Syſtem der Armenpflege.

Das Syſtem der Armenpflege entſteht nun, indem die Verſchieden - heit der Verhältniſſe der Armuth der unterſtützenden Thätigkeit eine verſchiedene Aufgabe und mithin auch verſchiedene Formen gibt. Das Syſtem bildet ſich eben deßhalb auch nicht einheitlich und als ein Ganzes aus, ſondern vielmehr geht jedes Gebiet mit eigener Grund - lage, eigenen Mitteln, eigener Verwaltung und meiſt ſogar mit eigener Geſetzgebung vor. Die Wiſſenſchaft erkennt es aber als ein Ganzes, das im Weſentlichen in drei Gebiete zerfällt; die Armenkinder - pflege, das Armenkrankenweſen und die eigentliche Armen - pflege.

1) Die Armenkinderpflege.

Die Pflege der Armenkinder gibt es urſprünglich nicht; ſie iſt mit der eigentlichen Armenpflege ungeſchieden verbunden. Es iſt das un - ſterbliche Verdienſt von Vincent de St. Paul, die Sorge für die Ar - menkinder von der allgemeinen Armenpflege getrennt, und die ſittliche Nothwendigkeit, der erſteren eine ſelbſtändige Grundlage zu geben, feſt - geſtellt zu haben. Das achtzehnte Jahrhundert hat daraus die recht - lichen Elemente eines eigenen Syſtems in der Waiſenpflege und den Findelhäuſern gebildet; das neunzehnte Jahrhundert hat das ganze Gebiet mit dem Bewußtſein einer ſocialen Aufgabe durchdrungen und die Sorge für den Unterhalt der Kinder zugleich zu einer Er - ziehungsaufgabe gemacht, indem ſie die Krippen und Warteſchulen hinzufügte. So iſt aus dem Ganzen ein hochwichtiges, zugleich prakti - ſches und wiſſenſchaftliches Syſtem geworden, das wiederum den Ueber - gang zur geſellſchaftlichen Bewegung und Entwicklung der niederen Claſſe bildet. Jeder einzelne Theil beſitzt jetzt ſeine Anſtalten, ſeine Literatur und zum Theil auch ſeine Geſetzgebung.

a) Waiſenpflege.

In der Waiſenpflege zuerſt löst ſich die Sorge für die Armen - kinder zuerſt von der allgemeinen Armenpflege los; ihre nächſte Auf - gabe beſteht allerdings darin, die Eltern für die Kinder in Beziehung auf das materielle Bedürfniß zu erſetzen; ihre höhere Entwicklung geht aber dahin, durch eine möglichſt gute Erziehung ſie für die Zu - kunft erwerbsfähig zu machen. Die erſten Waiſenhäuſer ſind daher Armenkinder-Anſtalten, die Waiſenhäuſer werden aber namentlich mit dem neunzehnten Jahrhundert Armen-Erziehungsanſtalten. Das iſt ihr gegenwärtiger Standpunkt. Sie ſind daher örtliche Armen - anſtalten. Sie ſind nur möglich, wo die Gemeinde ſo groß iſt,433 nicht daß eine bloße Ernährung, ſondern daß eine förmliche Erziehung mit Lehrmitteln gegeben werden kann. Iſt das nicht der Fall, ſo iſt es beſſer, die Waiſen bei Familien unterzubringen. Beſteht aber ein Waiſenhaus, ſo ſoll es nicht bloß für eigentliche Waiſen da ſein, ſondern es ſoll theils auch temporär Kinder, deren Eltern unfähig ſind, aufnehmen, theils ſoll die Waiſenſchule ſtets den Kern der Armenkinderſchule abgeben, und mithin niemals bloß Waiſen - ſchule ſein. Die Verwaltung iſt Gemeindeverwaltung unter der Land - ſchaft; ſie wird von dem Armenrathe der Gemeinde geleitet, mit Ober - aufſicht über Unterhalt und Unterricht. Die Dauer der Waiſenpflege ſoll bis zur Vollendung des erſten Grades gewerblicher Bildung gehen; niemand wird hier an confeſſionelle Unterſchiede denken. Die vollſte Oeffentlichkeit, namentlich die Verbindung der Waiſenſchule mit den Armenkinderſchulen iſt die Grundlage ihres Werthes für ihre geſell - ſchaftliche Stellung.

Die Waiſenpflege iſt in England wenig ausgebildet, ſie wird ſich erſt an den Armenſchulen entwickeln. Eigentliche Waiſenhäuſer gibt es wohl nur wenige. Gerando II. 85. In Frankreich wird die Waiſenpflege unter den weiten Begriff der Hospices (H. des enfants) zuſammengefaßt. Sie be - ſtehen ſchon ſeit dem 14. Jahrhundert; das Geſetz vom 28. Juni 1793 über - nahm alle Armenkinder auf den Staat, verſchmolz ſie aber mit den enfants abandonnés, bis die Waiſenpflege 1814 wieder ſelbſtändig und in den Hospices hergeſtellt ward. Geſchichte bei Gerando II. 88 ff. Preußen hat eben ſo ſelbſtändige örtliche Waiſenhäuſer (Rönne II. §. 13). Oeſterreich: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetz I. 45 (Waiſencommiſſion) Verordnung vom 16. Nov. 1850 und 14. Juli 1854 und II. 357. Ueber die übrigen Staaten ſ. Emminghaus; vergl. dazu Rau II. 355 mit Literatur, jedoch ohne be - ſondere Unterſcheidung des Verhältniſſes der Armenſchulen.

b) Findelkinder.

Die Anerkennung, daß verlaſſene Neugeborene der öffentlichen Sorge anheimfallen, iſt ſchon vom Concil von Nicäa im vierten Jahr - hundert ausgeſprochen und niemals beſtritten. Das Findelhaus - weſen beginnt jedoch erſt da, wo die Anſtalt getroffen wird, daß Neugeborene in einem eigens dazu errichteten Hauſe von den Müttern der öffentlichen Pflege ohne weitere Angabe der Eltern übergeben wer - den können. Damit erſt iſt die eigentliche Frage der Findelhäuſer entſtanden, bei denen jene Aufnahme weſentlich im Intereſſe des Schutzes der Ehre der Mutter und zum Theil auch als Abwehr gegen Kindesmorde und Fruchtabtreibung hergeſtellt wird, während der Unter - halt der Findlinge als durchaus identiſch mit dem Waiſenweſen erkanntStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 28434wird und deßhalb unter die Waiſenpflege fällt. Der Werth der ge - heimen Aufnahme der Neugeborenen (Drehladen) beruht daher am letzten Ende auf der Frage, ob dieſelbe jene Zwecke auch wirklich er - füllen; und mit Recht erſcheint daher das von der Waiſenpflege ge - trennte Findelweſen vielmehr als eine Anſtalt der Sicherheitspolizei als der Armenpflege. Die Statiſtik zeigt nun, daß die eigenen Findel - häuſer jene Zwecke eben nicht erfüllen, indem ſie weder Kindesmorde noch Abtreibungen vermindern. Es kommt daher darauf an, das Findel - weſen auf die Aufnahme in die erſte Abtheilung der Waiſenhäuſer (à bureau ouvert) zu reduciren, alle übrigen Beſtimmungen über Findlinge dagegen mit denen über die veredelte Waiſenpflege in ein Ganzes zu verſchmelzen.

In England Verſuche ſeit dem 18. Jahrhundert; das Londoner Findel - haus 1756 als Staatsanſtalt mit Beibehaltung der Kinder bis zum fünfzehnten Jahre; Literatur und Kampf über daſſelbe bei Gerando II. 196 276 und 348. In Frankreich ſeit dem 16. Jahrhundert; Recht der Findlinge in der Conſt. von 1791 anerkannt (I. 15). Später Organiſation der Hospices des enfants trouvés (Gerando II. 271 ff.). Decret vom 19. Jan. 1841 über en - fants abandonnés. Andere Länder ebend. 284 ff. In Deutſchland Ver - bindung mit den Gebäranſtalten; die Frage ſelbſt weſentlich vom polizeilichen Geſichtspunkt aufgefaßt (Rau II. 355), ſonſt mit der der Waiſenhäuſer iden - tificirt (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. 63). Eigene Geſetzgebungen mangeln. Vergl. Franz Hügel, das Findelweſen Europas, Jahrbuch für Geſetzkunde und Statiſtik 1862. S. 272; beſonders aber deſſen gründliches Werk: die Findelhäuſer und das Findelweſen Europas 1863. Findelaufſicht in Oeſter - reich: Stubenrauch II. 266.

c) Krippen und Warteſchulen.

Waiſenhäuſer und Findelhäuſer haben es nur mit der wirklichen Noth der Armenkinder zu thun; da aber, wo ſtatt der wirklichen Noth vermöge der Zuſtände der Familie, ſei es verſchuldet oder unverſchuldet, nur noch die Gefahr des Verſinkens der ungeſchützten Kinder ein phyſiſches und ſittliches Verkommen entſteht, treten die Krippen und die Warteſchulen ein. Ihre Aufgabe iſt es, die erſte Kinder - erziehung da zu erſetzen, wo die Lage oder die Beſchäftigung der Eltern es nicht möglich machen. Sie ſind natürlich in dem Grade noth - wendiger, in welchem die Eltern mehr vom Hauſe entfernt ſind, und in dem Grade wichtiger, in welchem die Dichtigkeit der Arbeiterbevöl - kerung zunimmt. Sie ſind bis jetzt nur noch durch das Vereinsweſen entſtanden und erhalten. Es wird und muß aber die Zeit kommen, wo die Krippen und Warteſchulen mit dem großen Segen, den ſie über435 die Bevölkerung zu bringen vermögen, als eine ganz unabweisbare Aufgabe jeder Gemeinde vom Geſetze eingeführt, von der Verwal - tung öffentlich geleitet, und von jedem verſtändigen Manne anerkannt werden. Sie ſind dazu beſtimmt, die erſte Grundlage für das ganze öffentliche Bildungsweſen der Armen zu werden, und damit den Uebergang zur Verwaltung der geſellſchaftlichen Entwicklung zu bilden.

In England ſcheint das Krippen - und Warteſchulweſen wenig ausge - bildet. In Frankreich vertreten die Hospices d’enfants die Warteſchulen; die eigentlichen Crêches in Paris gegründet, jedoch gegen Zahlung der Eltern (Block, v. Crêches). In Oeſterreich ſeit zwanzig Jahren als Aufgabe der Krippenvereine (vergl. namentlich die Krippenkalender für Wien 1870); Warteſchulen ſchon ſeit 1832 begonnen; Stubenrauch II. §. 364. Salles d’asile (Gerando II. 21) ſchon ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts.

d) Armenſchul - und Armenerziehungsweſen.

Das Armenſchul - und Erziehungsweſen ſoll nun da anfangen, wo die Armenkinder aus den Warteſchulen in die Volksſchule übergehen. Das Armenſchulweſen hat es bis zur Reife, das Erziehungsweſen nach derſelben mit den Kindern der Armen zu thun. Die Armenſchule be - ſteht aber nicht in dem bloßen Recht der Freiſchule für arme Kinder, ſondern es beruht vielmehr auf zwei ſelbſtändigen Principien. Zuerſt enthält es die ſtrenge Schulpolizei mit dem Recht derſelben, jedes herumvagirende Kind polizeilich in dieſe Schule zu ſenden; zweitens aber als nothwendiges Corollar der Grundſatz, daß in dieſen Schulen den Kindern Nahrung während der Schulzeit gegeben und Rein - lichkeit von ihnen erzwungen wird. Keine Gemeinde ſollte daran ſparen, den Lehrern dazu die Mittel zu geben; keine Schul - aufſicht ſollte einen Bericht erſtatten, ohne dieſe Frage zu berühren. Sind eigene Waiſenſchulen unvermeidlich, ſo ſind ſie die natürliche Armenſchule. Die Armenerziehung dagegen reicht ſchon bis in das reifere Alter hinein. Sie hat zur Aufgabe, namentlich verwahrloste Jünglinge und Mädchen, dann entlaſſene jugendliche Verbrecher aufzu - nehmen und ſie zu erziehen. Während das Armenſchulweſen in jeder Gemeinde möglich und nothwendig iſt, fordert das Armenerziehungs - weſen bereits größere Armenverwaltungsgemeinden, und ſollte direkt von der Landſchaft ausgehen. Hier iſt noch faſt alles zu ſchaffen.

England hat das Armenſchulweſen faſt ausſchließlich auf die Polizei ge - gründet; ſeine district ragged und pauper schools ſind Polizeiſchulen, ohne weiteren ſocialen Inhalt (vergl. Kries, Engl. Armenpflege 31; Gerando II. 23). Vereinsweſen in England für verwahrloste Kinder II. 420. Geſetz -436 gebung: 8. 9. Vict. 38 und 117, nebſt 10. 11. Vict. 33; dann 25. 26. Vict. 113 mit Warrants of removal gegen Eltern mit Strafen durch den Friedens - richter. Frankreich: Institutions préservatrices ebend. II. 399. 425. Ueber die einzelnen Anſtalten Ducpetiaux, Situation des Ecoles de réforme 1861; vgl. Literatur und Angaben: Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 353. 354. Geſetzgebung und Literatur über das Armenſchulweſen bei Stein, Innere Verwaltung (Bildungsweſen), namentlich S. 141 ff. über England, Frankreich und Deutſchland. Auch Angaben zerſtreut bei Emminghaus a. a. O.

2) Das Armenkrankenweſen.

Das Armenkrankenweſen entſteht allerdings faſt gleichzeitig mit dem Armenweſen, aber zu einem ſelbſtändigen Gebiete wird es erſt in unſerem Jahrhundert. Seine erſte Geſtalt iſt die der Hoſpitäler, die aber als Stiftungen beſchränkt und örtlich ſind; erſt mit unſerem Jahrhundert bildet ſich die Armenkrankenpflege als ſyſtematiſch aufge - faßter Theil der Armenpflege heraus; und auch jetzt ſteht daſſelbe im Grunde noch auf der niederen Stufe, ſich weſentlich nur mit der Hei - lung der Krankheiten, und wenig mit der Bekämpfung der Urſache der - ſelben zu beſchäftigen.

a) Hoſpitäler, Taubſtummen -, Blinden - und Irrenanſtalten.

Die Hoſpitäler ſind die erſte hiſtoriſche Form der Sorge für die Heilanſtalten; die Taubſtummen -, Blinden - und Irrenanſtalten folgen ihnen ſeit dem vorigen Jahrhundert. Sie ſind urſprünglich Stiftungen, und als ſolche ſelbſtändig mit ſelbſtändiger corporativer Verwaltung. Dann treten ſie ſeit dem vorigen Jahrhundert unter die Oberaufſicht der Geſundheitsverwaltung, zum Theil auch mit wiſſenſchaftlichen In - ſtituten verbunden, mit eigenem Recht, und nach eigenen Grundſätzen verwaltet. Je größer die Stadt, um ſo nothwendiger ſind ſie. Ihre beſondere Darſtellung gehört jedoch, da ſie nicht bloß auf die Armen beſchränkt ſein ſollen, vorwiegend in das Geſundheitsweſen.

In England beruht das Hoſpitalsweſen vorzugsweiſe auf dem Vereins - weſen; Armenkrankenhäuſer ſind geſetzlich nur mit den Workhouses verbunden. In Frankreich muß man die Hospices ſtreng von den Hospitaux ſcheiden; innere Einrichtung und Organiſation bei Block in Emminghaus a. a. O. Dazu Laurent a. a. O. S. 152. (1324 Hoſpitäler in Frankreich, allerdings die Hospices inbegriffen mit 85 Mill. Vermögen.) Gerando IV. 278. Ge - ſchichte und Geſetzgebung in den europäiſchen Staaten. Reform der letzteren in Frankreich ſeit 1750, S. 363. Im Uebrigen ſ. über das Recht dieſer An - ſtalten Stein, Geſundheitsweſen, Heilanſtalten S. 121 ff. Preußen: Rönne II. §. 341. Oeſterreich: Stubenrauch II. 231.

437

b) Armenkrankenpflege.

Die Armenkrankenpflege iſt nun das für die Krankheiten der Hausarmen organiſirte Heilweſen. Daſſelbe beruht bisher auf zwei Punkten: zuerſt der unentgeldlichen Benützung der Apotheken, dann die Herſtellung eigener Armenärzte. Die Nothwendigkeit dieſer In - ſtitution kann nicht, wie in England und Frankreich, wo beides fehlt, erſetzt werden durch die Hoſpitäler. Aber eben ſo wenig genügt wie in Deutſchland, das bloße Heilweſen durch die Armenärzte der Ge - meinde, um ſo weniger, als dieſelben doch nur in den großen Städten eingerichtet werden. Die höhere, künftige Aufgabe der Armenärzte iſt die Vertretung der Forderungen der Geſundheitspflege im Kreiſe der Armuth, namentlich in Beziehung auf Wohnungen und Arbeitslokale. Was ſie hier zu thun haben, zeigt die Lehre vom Sanitätsweſen. Wir ſind von einer ſolchen Thätigkeit noch weit ent - fernt; vielleicht daß die Erkenntniß, daß in der Hälfte aller Fälle der Geſunde durch den Kranken und der Wohlhabende durch den Armen krank wird, der Geſundheitspflege des Armenweſens ihre rechte Ent - wicklung geben wird.

Das Syſtem der Armenkrankenpflege im obigen Sinne iſt noch wenig be - handelt, und hat allerdings eine durchgreifende Anerkennung des Geſundheits - weſens als Theil der Verwaltungslehre zur Vorausſetzung (ſ. Stein, Geſund - heitsweſen S. 122 ff.).

3) Die eigentliche Armenunterſtützung.

Die eigentliche Armenunterſtützung umfaßt nun die Ge - ſammtheit an Unterſtützungen, die den erwachſenen Armen in ihrer Nothlage gegeben werden. Ihr Gebiet iſt jetzt ein feſt beſtimmtes; aber gerade in ihm zeigen ſich am deutlichſten die drei großen Stadien des Armenweſens, am deutlichſten das zufällige und unorganiſche Al - moſen, die Unterſtützung durch kirchliche Corporationen, und endlich die organiſirte Verwaltung des Unterſtützungsweſens, deren Baſis die geſetzlich ausgeſprochene Pflicht der Unterſtützung durch die Gemeinde, deren Syſtem aber die Auflöſung der Armuth in ihre ein - zelnen Zuſtände iſt. Wiſſenſchaft und Praxis haben an dem letzteren gleichmäßig gearbeitet; ſein Inhalt iſt ein dreifacher: die eigentliche Unterſtützung, die Verſorgungshäuſer, wieder mit Verſuchen zur Herſtellung von Armenarbeit verbunden. Alle dieſe Thätig - keiten können vom Verein übernommen werden; allein die Selbſtver - waltung iſt das eigentliche Organ dafür, und kein Vereinsweſen kann ſeine Pflicht und ſeine Funktion hier überflüſſig machen.

438

Es iſt nun ein weſentlicher Fortſchritt unſerer Zeit, daß wir ge - lernt haben, die Aufgabe der Armenunterſtützung von der ſocialen Frage zu ſcheiden. Die Nothwendigkeit dieſer Scheidung bedarf keines weiteren Nachweiſes. Aber es iſt feſtzuhalten, daß nur ſie es iſt, welche das ganze Armenunterſtützungsweſen zuletzt ſo einfach macht, wie es in Folgendem erſcheint.

a) Armenbetheilung.

Die Armenbetheilung als die direkte Armenunterſtützung, im Ein - zelnen unendlich vielgeſtaltig, iſt in ihren Grundzügen ſehr einfach. Wird dieſelbe von Gemeinden gegeben, ſo iſt es richtig dieſe Grundſätze durch Gemeindebeſchluß feſtzuſtellen; Unterſtützungsvereine ſollten die - ſelben principiell durchführen.

Die Armenkreiſe ſollen möglichſt klein ſein, um die Einzelbeur - theilung zuzulaſſen. Sie ſoll ſo wenig als möglich in baarem Gelde, ſondern ſo viel als thunlich in Naturalien beſtehen. Sie ſoll in mög - lichſt kurzen Terminen gegeben werden. Sie ſoll nie größer ſein, als zur Deckung des dringendſten Bedürfniſſes. Sie ſoll nie gegeben werden, ohne vorhergehende Conſtatirung der Noth, nicht bloß der Armuth. Sie ſoll ſtets darauf bedacht ſein, ſo bald als möglich zu enden. Sie ſoll geradezu verweigert werden, wenn der Noth - leidende nachweisbar einen Erwerb, wenn er auch noch ſo gering iſt, ausſchlägt. Sie ſoll daher ſtets verbunden ſein mit dem Verſuche, den Armen irgend eine Arbeit zu geben. Jede Unterſtützung, welche dem Erwerbfähigen, der Arbeit finden kann, gegeben wird, iſt ein Unrecht. Die Frage nach der Errichtung eigener Arbeitshäuſer iſt keine Frage des Princips, ſondern der Zweckmäßigkeit, ebenſo die ihrer Ein - richtung. Es iſt Pflicht der Gemeindeglieder, wo ſie können, den Unterſtützten irgend eine Arbeit zu geben. Das Uebrige muß den lokalen Verhältniſſen überlaſſen bleiben.

Es iſt eben ſo leicht, dieſe Grundſätze theoretiſch weiter auszubilden, als es ſchwer iſt, ſie praktiſch gut durchzuführen. Das engliſche Syſtem be - ruht auf der ſtrengen Unterſcheidung der Unterſtützung der Hausarmen (out door relief) und der Aufnahme in die Arbeitshäuſer (in door relief); das continentale Syſtem hat das Syſtem der Arbeitshäuſer mehr als ein Straf - mittel aufgefaßt. Die Literatur darüber war früher viel reicher als in neueſter Zeit, wo das ſociale Element in den Vordergrund getreten iſt (vergl. Rau §. 342 ff. ; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 62; Gerando IV. 193 ff. ); in Frank - reich werden die Hausarmen vielfach in Familien untergebracht, ebend. 211. Die engliſchen Workhouses: Kries, Engl. Armenweſen S. 19 ff. ; Gerando III. 520 mit Vergleichung analoger Einrichtungen in Frankreich, der Schweiz,439 Italien. Die Idee der Armencolonien iſt wohl abgeſchloſſen (vergl. Rau II. §. 349; Gerando, Colonisation de l’intérieur IV. 49 ff.). Ueber die öffentliche Ordnung der Unterſtützung das preußiſche Geſetz von 1842 von Döhl a. a. O. und Stubenrauch II. 231.

b) Verſorgungshäuſer.

Die Verſorgungshäuſer ſind wohl allenthalben Stiftungen, und ſollen es ſein; denn man wird wohl kaum die Errichtung ſolcher An - ſtalten als Aufgabe der Armenpflege empfehlen. Sie beruhen daher auf ihrem eigenen Stiftungsrecht und ſollen nach demſelben, ſtets aber unter Oberaufſicht der Gemeinde verwaltet werden. Das gegen - wärtige Jahrhundert erſetzt ſie auf allen Punkten durch das Syſtem der Selbſthülfe, das ſchon jetzt überhaupt das des Armenweſens zu überwiegen beginnt.

Angaben und Nachrichten bei Rau II. §. 356 und Einzelheiten bei Emminghaus. Die franzöſiſchen Hospices ſind die Verſorgungshäuſer Frankreichs, haben aber daneben manche andere Aufgabe, namentlich für die Waiſen - und Krankenpflege der Armen, und laſſen ſich daher auch ſchwer von den Hospitaux in der Praxis ſcheiden (vergl. Block, Dict. v. Hospices und Hospitaux). England kennt ſie faſt gar nicht, ſondern erſetzt ſie durch die Workhouses.

Dritter Cheil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Entwicklung.

Begriff der ſocialen Frage.

Je weiter die Geſittung vorwärts ſchreitet, um ſo beſtimmter löst ſich die ſociale Frage mit ihrem Inhalt von dem Armenweſen ab und überragt das letztere auf allen Punkten.

Ohne eine Zurückführung der ſocialen Frage auf ihren letzten ein - fach formulirten Inhalt iſt die Beherrſchung dieſes mit jedem Tage mächtigeren Gebietes nicht möglich.

Dieß Weſen der ſocialen Frage ergibt ſich aber faſt von ſelbſt aus der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft.

Die Geſellſchaft überhaupt, und in derſelben jede Ordnung ſcheidet ſich in Claſſen. Das Weſen der perſönlichen Freiheit erzeugt in dieſen Claſſen das, was wir die aufſteigende Bewegung genannt haben. Dieſe aufſteigende Bewegung iſt eine organiſche Forderung des geſellſchaft - lichen Lebens. Wo ſie aufhört, entſteht bei freien Völkern eine Gefahr für den Geſammtzuſtand; wo ſie ſtattfindet, iſt allgemeines Wohlſein. Ihre Vorausſetzung iſt allerdings die geſellſchaftliche Freiheit auf der440 einen, die Bekämpfung der geſellſchaftlichen Noth auf der andern Seite. Allein ihr Inhalt iſt die Fähigkeit für den Einzelnen, durch ſein per - ſönliches Capital zu einem wirthſchaftlichen zu gelangen; ihre Verwirk - lichung iſt der wirkliche Erwerb eines Capitals. Dieſer Verwirklichung gegenüber ſtehen nun nicht nur das Intereſſe des Capitals überhaupt, das die capitalloſe Erwerbsfähigkeit für ſich ausbeuten will, ſondern auch das Geſetz, nach welchem das große Capital das kleine in der Mitwerbung überwinden muß, das Größengeſetz der Capitalien. Aus dieſem Gegenſatz entſteht nun ein tiefer Widerſpruch in der Geſellſchaft, der die freie Entwicklung derſelben hemmt, und der zugleich als wirth - ſchaftliche und damit zuletzt auch perſönliche Unfreiheit von den Ein - zelnen gefühlt wird. Aus dem Widerſpruch entwickelt ſich eine Gefahr; aus der Gefahr die Frage, wie dieſelbe zu löſen iſt; und dieſe Frage, wie die capitalloſe Arbeit zur wirthſchaftlichen Selbſtän - digkeit durch den Erwerb des Capitals gelangen könne, iſt die ſociale Frage.

Es iſt daher klar, daß dieſe Frage etwas weſentlich verſchiedenes von der Armenfrage iſt. Es iſt aber auch klar, daß auch ſie einen hochwichtigen, und zwar ſelbſtändigen Theil der Verwaltung bildet. Und die Geſammtheit von Thätigkeiten und Anſtalten der Gemeinſchaft und des Staats zur Löſung dieſer Frage bildet die Verwaltung des geſellſchaftlichen Fortſchrittes.

Dieſelbe hat nun wie jedes andere ſelbſtändige Gebiet ihre eigene Geſchichte, ihren eigenen Organismus und ihr eigenes Syſtem, das ſich freilich erſt in unſerer Zeit organiſch zu entwickeln beginnt.

Allerdings aber knüpft ſich daran nun die Frage, ob der Staat, der doch auch die ſocialen Intereſſen der aufſteigenden Bewegung ver - tritt, dieſe letztere ſich ganz ſelbſt überlaſſen ſolle. Und hier iſt der Punkt, wo noch bisher die volle Klarheit nicht eingetreten iſt; die Frage der nächſten Zukunft iſt die Frage nach der Gränze der Staats - verwaltung in der ſocialen Bewegung. Eine ſolche Gränze iſt aber nur durch ein Princip möglich. Und je weiter wir kommen, je be - ſtimmter entwickelt ſich daſſelbe. Das Weſen der ſocialen Verwal - tung beſteht darin, daß nicht etwa ein einzelnes beſtimmtes Gebiet, ſondern daß die ganze Verwaltung auf allen Punkten von dem Princip durchdrungen und durchgeiſtigt ſei, den arbeitenden Claſſen alle diejenigen Bedingungen der Entwicklung zu bieten, welche ſie ſich durch den Mangel an Capital ſowohl für ihre phyſiſche wie für ihre geiſtige Erwerbsfähigkeit nicht ſelbſt ſchaffen können, dagegen den wirklichen Erwerb des Capitals derſelben ſelbſt zu überlaſſen. Es gibt daher kein ſpecielles Syſtem der ſocialen Verwaltung über die441 Selbſthülfe hinaus, ſondern einen ſocialen Geiſt der Verwaltung; und es iſt, wenn man die letztere überſchaut, kein Zweifel, daß wir der höheren und klareren Entwicklung dieſes Elementes mit jedem Tage mehr entgegen gehen. Daneben aber bildet die Selbſthülfe nun ein ſelbſtändiges Syſtem, deſſen Elemente die folgenden ſind.

Die wichtigſte Thatſache im Leben der Verwaltung unſeres Jahrhunderts, die Scheidung der ſocialen Idee der Verwaltung von dem Armenweſen und das Bewußtſein von dem weſentlich verſchiedenen Princip beider iſt das Dauernde, was wir dem Auftreten der communiſtiſchen und ſocialiſtiſchen Lehre zu ver - danken haben. Damit iſt die Armuth vom Nichtbeſitz geſchieden. Stein, der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, 1. Aufl. 1842. Von da an Beachtung der capitalloſen Arbeit; zuerſt A. Grün, die arbeiten - den Claſſen Englands 1845; die ſocialiſtiſch-communiſtiſche Literatur in Stein 2. Aufl. 1847. Die Idee der Selbſthülfe iſt in dieſer erſten Bewegung nur noch unklar in der Vorſtellung des Aſſociationsrechts vertreten. Mit dem Jahre 1848 beginnt die zweite Epoche. Allgemeines Stimmrecht und Republik in Frankreich; Kampf der Arbeiter in den Junitagen; Kampf um das Recht auf Arbeit; le droit au travail à l’Assemblée nationale (vollſtändiges Re - pertorium der Reden und Anſichten) von J. Garnier 1848; die Frage nach dem Eigenthum von Proudhon und Thiers; Geſchichte der Arbeit im ſocialiſti - ſchen Sinne von Riccord (1845); Histoire des ateliers nationaux par Emile Thomas 1848; Louis Blancs und Proudhons Arbeiten; ähnliche Bewegungen in Deutſchland. Entwicklung des Gedankens, daß jede geſellſchaftliche Bewe - gung ihre Verfaſſung und Verwaltung erzeuge, und Auffaſſung der damaligen Bewegungen als ſpecieller Theil der Geſchichte: Stein, Geſchichte der ſocialen Bewegung in Frankreich 1850, 3 Bde. ; Uebergang in deutſche Wiſſenſchaft; Auffaſſung der Claſſengegenſätze als Maſſenarmuth Mohl, Polizeiwiſſen - ſchaft I. §. 67 70 noch immer als Gegenſtand der Staatsverwaltung; Suchen nach dem Begriffe der Geſellſchaft; dann aber in den fünfziger Jahren all - mähliges Auftreten der Idee der Selbſthülfe, vorzüglich durch die Arbeiten von Schulze-Delitzſch, dem entgegen die Auffaſſung Laſſalles mit dem Principe der Staatshülfe; dem entſprechend Entwicklung der Associations de prévoyance und secours mutuels ſ. Em. Laurent a. a. O. 1865. Letzte Wendung: Organiſirung dieſer Bewegung durch das Hineintreten des Princips des Vereinsrechts, zuerſt in der Form der Erwerbsgenoſſenſchaft nach deutſchem Muſter, dann in der des Coalitionsrechts nach engliſchem Vorbild; Kampf dagegen; daneben aber ſyſtematiſche Entwicklung des Vereinsweſens in allen ſeinen ſocialen Formen und des unklaren Begriffes der Socialdemo - kratie. Hauptergebniß: die ſociale Frage iſt definitiv ein Theil des öffentlichen Lebens, und wird dauernd ein Gegenſtand der Verwaltung. Damit ſtehen wir am Beginne einer neuen Epoche, in der man vor allem den allgemein ſocia - len Geiſt der Verwaltung von den einzelnen Anſtalten für die Entwicklung der capitalloſen Arbeit ſcheiden muß. Die letzteren ſind folgende.

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Elemente der Geſchichte der ſocialen Verwaltung.

Es iſt kein Zweifel, daß es einen Claſſengegenſatz in allen Zeiten der Geſchichte und in allen Geſellſchaftsordnungen gegeben hat. Allein dieſe Gegenſätze haben in der Geſchlechter - wie in der Ständeordnung einen weſentlich von der Gegenwart verſchiedenen Charakter. Denn der aufſteigenden Bewegung ſtand in beiden nicht der Mangel des Capitals entgegen, ſondern der Mangel des Rechts, daſſelbe zu er - werben. Der Widerſpruch dagegen wird daher nicht zu einem Gegen - ſatz zwiſchen Capital und Arbeit, ſondern zu einem Gegenſatz der niederen Claſſe gegen das Recht der höheren, und der Kampf, der ſich daraus entwickelt, wird damit zu einem Kampfe gegen die ganze geſellſchaftliche Rechtsordnung. Erſt wo dieſe geſtürzt, und die Freiheit der Geſellſchaft hergeſtellt iſt, beginnt die große, poſitive Epoche der geſellſchaftlichen Bewegung unſerer Gegenwart und der Zukunft Europas. Denn wir ſtehen erſt im Beginne deſſen, was ſich hier entwickeln und bilden will.

In dieſer Bewegung laſſen ſich nun drei große Grundformen ſcheiden, deren feſte Beſtimmung als die Baſis des Urtheils auch über das Kommende angeſehen werden muß.

Die erſte dieſer Grundformen beginnt im vorigen Jahrhundert faſt gleichzeitig mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die Unfreiheit der Geſchlechter - und Ständeordnung. Ihre Grundlage iſt eine doppelte. Einerſeits beruht ſie auf dem großen Princip der Gleichheit in Recht und Beſtimmung aller Perſönlichkeit; andererſeits auf der nicht minder großen Thatſache des Entſtehens der capitalloſen Arbeitskraft, die ſich durch die Induſtrie über ganz Europa ausbreitet, und durch die Städte an einzelnen Orten zu der gewaltigen erwerb - und capitalloſen geſellſchaftlichen Geſtaltung des Pauperismus zuſammenballt. Die geiſtige Bewegung, die das obige Princip in dieſer Thatſache erzeugt, bringt die arbeitende Claſſe zunächſt zum Bewußtſein ihrer Selbſtändig - keit und zu der Forderung, an dem Capital Theil zu nehmen, das ſie durch ihre Arbeit zuerſt geſchaffen zu haben meint. Es entſteht das erſte Nachdenken über die geſellſchaftliche Bedeutung des Capitals neben der Erkenntniß ſeiner wirthſchaftlichen Funktion und Macht. Die Ergebniſſe dieſes Nachdenkens ſind die beiden großen Erſcheinungen, die wir den Communismus und den Socialismus nennen. Das Princip des erſten iſt die Negation des Capitals und mit ihm des Eigenthums überhaupt, das des zweiten eine noch unpraktiſch gedachte Unterordnung, das deſſelben unter die Arbeit. Es ſind die erſten Strahlen, welche die neue Zeit auf ein bisher noch nie durchforſchtes443 Gebiet wirft. Ein faßbares Reſultat liefern ſie dem Leben nicht; aber der Gedanke iſt erwacht und weiter arbeitend gelangt er zu ſeinem zweiten, weit ernſteren Ergebniß.

Das nämlich wird klar in dieſer Epoche, daß es unmöglich iſt, von dem Capital zu verlangen, es ſolle ſich ſelbſt freiwillig ſeiner herrſchenden Stellung in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entäußern, und zu dem Ende ſich ſelber aufgeben. Soll daher etwas für die auf - ſteigende Bewegung der niederen capitalloſen Claſſe geſchehen, ſo wird das nicht durch die rohe Gewalt des Communismus und nicht durch die ſchönen Theorien des Socialismus geſchehen, ſondern es kann nur vollzogen werden durch eine dritte Potenz, welche ihrerſeits über Ca - pital und Arbeit, aber doch nicht über der höchſten Idee der geſell - ſchaftlichen Entwicklung ſteht. Dieſe Potenz iſt der Staat. Und jetzt bereits in der Mitte der vierziger Jahre, beginnt jene Bewegung der arbeitenden Claſſen, welche die Macht und ſelbſt die Idee des Staats zu Dienern der aufſteigenden Claſſenbewegung, oder genauer der In - tereſſen der capitalloſen Arbeit machen wollen. Es iſt durchaus noth - wendig, die hier eintretenden Erſcheinungen zu ordnen, um nicht in Allgemeinheiten zu verfallen. Dieſer Staat, dem jenes geſellſchaftliche Intereſſe ſich unterwerfen wollte, war und blieb ein doppelter. Er hatte und hat eine Verfaſſung und eine Verwaltung. Man kann ſich daher nicht an den Staat im Allgemeinen, ſondern man muß ſich an ſeine Verfaſſung oder an ſeine Verwaltung wenden, wenn man will, daß er thätig ſein ſoll. So groß iſt die Macht dieſes organiſchen Ver - hältniſſes, daß dieß auch da geſchieht, wo man ſich jenes Unterſchiedes nicht klar bewußt wird. Auch die geſellſchaftliche Bewegung entwickelte dem entſprechend ſofort die zwei Richtungen, die in Namen und In - halt jedem bekannt ſind. Die eine Forderung derſelben richtete ſich auf die Verfaſſung; ihr Princip war die Vertretung der capitalloſen Arbeit in der Geſetzgebung, und damit die ſtaatsrechtliche Möglichkeit, den Willen des Staats den Intereſſen der niederen Claſſe dienſtbar zu machen; ihr Programm war daher die Wahlreform und zwar auf Grundlage des von jedem Capitalbeſitz unabhängigen, das iſt allgemeinen Stimmrechts. Die zweite Forderung, gleichzeitig ent - ſtehend, richtete ſich dagegen auf die Verwaltung; ihr Princip war das Eintreten des Staats für die capitalloſe Arbeit; ihr erſtes Pro - gramm war der Verſuch, das Recht auf Arbeit zu einem verfaſſungs - mäßigen Rechte der Arbeiter zu machen; ihr zweites dagegen die Her - ſtellung von ſolchen Staatsanſtalten, durch welche der Staat dem Arbeiter ein Capital zur Verfügung ſtellen ſolle; ihr Programm war das der Staatshülfe. In den verſchiedenſten Formen tritt dieſe444 Bewegung auf; zuerſt mit den Waffen in der Hand, dann als Re - publikanismus, dann als Demokratie, dann als Socialdemokratismus, aber mit derſelben Tendenz und immer mit demſelben Schickſal. Sie unterliegt. Und es iſt wichtig zu wiſſen, warum ſie unterliegt.

Denn der Staat iſt die perſönliche Einheit aller berechtigten Intereſſen. Ein berechtigtes Intereſſe iſt das, was eine Bedingung für die Geſammtentwicklung enthält. Gewiß iſt die Arbeit eine ſolche in erſter Reihe; aber das Capital iſt es nicht minder. Die Störung deſſelben in ſeiner natürlichen Entwicklung, und die Störung des ent - wickelten Capitals in ſeiner natürlichen Funktion im wirthſchaftlichen Leben iſt eine Gefährdung auch für den Erwerb der capitalloſen Arbeit. Der Staat kann und wird daher nie der letzteren die Herrſchaft über das erſtere durch ſeine Machtmittel geben; er wird im Gegentheil jede äußerliche Herrſchaft mit ſeiner letzten Kraft bekämpfen. Auch die ge - waltigſte Macht der Arbeit kann dieß höhere Weſen des Staats nicht ändern. Auf dieſem Wege iſt daher ein Sieg dieſer Richtung nicht zu erreichen. Damit beginnt eine neue Epoche.

Dieſe Epoche nun liegt dem Gedanken zum Grunde, daß jede perſönliche Entwicklung, alſo auch die der Arbeit, nur dann der höheren Idee des Lebens entſpricht, wenn jeder Einzelne durch ſich ſelbſt zu dem gelangt, was er ſein und beſitzen will. Die Werthloſigkeit des äußerlich Gegebenen für den wahren Fortſchritt ſoll auch für das Ge - ben des Capitals an die capitalloſe Arbeit gelten. Soll daher die letztere zum Capital und damit zu der wirthſchaftlichen und geſellſchaft - lichen Stellung gelangen, die ſie fordert, ſo muß ſie ſich ihr Capital ſelber bilden. Ihr Princip iſt daher die Bildung des Capitals aus eigenen Mitteln; ihre Forderung geht nur ſo weit, daß ihr in dieſem Streben kein Hinderniß in den Weg gelegt werde; ihr Programm iſt das der Selbſthülfe. Sie übernimmt damit eine große und ſchwere Arbeit; allein das Ziel dieſer Arbeit iſt kein geringeres als die Unab - hängigkeit der Arbeit vom Capital durch die eigene Capitalbil - dung. Und offenbar iſt nur dieſer Standpunkt einer weiteren Ent - wicklung fähig. Denn dieſe Selbſthülfe iſt kein einfacher Akt, ſondern, wo einmal ihr Princip anerkannt iſt, entfaltet ſie ſich allmählig zu einem Syſteme von Beſtrebungen; und in der That ſind es dieſe Anſtrengungen, welche zu beſtimmten und ſelbſtthätigen Organen ſich entwickelnd, die gegenwärtige Geſtalt der ſocialen Frage und die Or - ganiſation der Verwaltung des geſellſchaftlichen Fortſchrittes enthalten.

Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung.

Seinem allgemeinen Begriffe nach enthält nun das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung alles, was von der Gemeinſchaft für die445 freie Claſſenbewegung der nicht beſitzenden Claſſe geſchieht. Das nun theilt ſich in zwei große Gebiete. Zuerſt gehört dahin alles dasjenige, was innerhalb der einzelnen Gebiete der Verwaltung für dieſe Hebung der niederen Claſſe geſchieht, und was daher auch theoretiſch innerhalb dieſer Theile des Syſtems darzulegen iſt. Dahin gehört das ſociale Element im Geſundheits - und Unterrichtsweſen, im Credit - weſen, und namentlich die Arbeiterfrage in der Induſtrie; nicht aber, wie geſagt, die Hülfe in der geſellſchaftlichen Noth. Weſentlich in jenen Punkten erſcheint das, was wir den ſocialen Geiſt der Ver - waltung genannt haben, und was daher hier nicht wiederholt, aber ſtets im wachen Bewußtſein erhalten werden muß. Der zweite ſpecielle Theil, oder das eigentliche Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung beruht nun darauf, daß die geſellſchaftliche Bewegung eben ſo wenig durch ſtaatliche Geſetze geregelt werden könne, ſondern daß hier nur die geſellſchaftlichen Elemente ſelbſt helfen können. Das Organ der Selbſtthätigkeit iſt auch hier der Verein. Das Syſtem der geſell - ſchaftlichen Verwaltung wird daher, und das iſt ſeine große Bedeutung, identiſch mit den Syſtemen der geſellſchaftlichen Vereine, in denen jene Selbſtthätigkeit ſich organiſirt. Dieſe aber ſcheiden ſich in zwei große Gruppen. Die erſte Gruppe ſind die Hülfsvereine, aus denen das Hülfscaſſenweſen hervorgeht. Ihr Princip iſt, daß in ihnen die höhere Claſſe der niedern für ihre Capitalbildung ihre Hülfe als verwaltendes Organ anbietet; neben ihnen ſteht die Selbſt - hülfe, in der ſich die nichtbeſitzende Claſſe zu einem ſelbſtändigen Vereinsweſen erhebt, und die Intereſſen der Capitalbildung durch ihre eigenen Mitglieder vertritt. Hier wie allenthalben finden Uebergänge ſtatt; das Princip jedoch wird damit nicht geändert. Ebenſo haben dieſe Vereine eine weſentlich verſchiedene Geſtalt in den verſchiedenen Ländern Europas; aber immer bringen ſie dieſelben elementaren Ver - hältniſſe zum Ausdruck.

Es iſt hier der Punkt, ſich über die Unklarheit der Begriffe zu verſtändigen, welche die Behandlung dieſer Gebiete ſchwierig macht. Sie beruht auf dem Mangel der formalen Unterſcheidung des Hülfsweſens und ihrem Verein von der Selbſthülfe. Die ältere Literatur, namentlich ſeit Gerando ſtellt alles unter die Bienfaisance publique; die Deutſchen wie Rau und Mohl unter Verhütung der Armuth. Die neuere ſcheidet zwar faktiſch, aber nicht ſyſte - matiſch, wie Em. Laurent a. a. O. und Hobbard, le Paupérisme et les associations de prévoyance 1852. Zum Grunde liegt die Unbeſtimmtheit des engliſchen Begriffes der friendly societies, welche alle Vereine, ſowohl Ver - ſicherungen als Selbſthülfsvereine formell umfaſſen, und der franzöſiſche der prévoyance oder der association mutuelle, in der gleichfalls alle Vereine der Selbſthülfe mit denen des Hülfsweſens zuſammen fallen. Es iſt die Aufgabe446 der Wiſſenſchaft, dieſe Begriffe aufzulöſen, nicht etwa der Form wegen, ſondern weil jede einzelne Erſcheinung auf dieſem Gebiete eine weſentlich ſelbſtändige Funktion und damit einen ſelbſtändigen Organismus hat. Auch hier iſt das Verſtändniß der organiſchen Beſonderheiten die Grundlage der Beherr - ſchung deſſen, was wir die ſociale Frage nennen. Das formale Syſtem der Vereine bei Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht.

I. Das Hülfskaſſen-Weſen. Funktion derſelben.

Unter den Hülfskaſſen verſtehen wir diejenige Gruppe von Ver - einen, in denen die höhere Claſſe der niederen ihre Hülfe zur Bildung des Capitals ihrer Mitglieder anbietet. Die Hülfskaſſen ſetzen daher ſchon das Beſtehen des Claſſenunterſchiedes voraus. Ihre erſte Grundlage iſt ſtets die nationalökonomiſche der bloßen Sorge für die Erſparniß in der capitalloſen Wirthſchaft; ſie erſcheinen daher im An - fange ſtets als Verhinderungsmittel der Armuth, und werden als ſolche auch von der Theorie betrachtet. Erſt dann, wenn der Claſſengegenſatz ſich ausbildet und mit ihm die Selbſthülfe auftritt, tritt auch für jene das geſellſchaftliche Element hervor, und eben ſo natürlich iſt es, daß ſie ſich in dieſer zweiten Epoche dieſer Selbſthülfe unterordnen, indem ſie jetzt erſt ihren wahren Charakter entwickeln. Dieſer nun beſteht gegenüber der Selbſthülfe darin, daß ſie ſehr viel für den Ein - zelnen, aber ſehr wenig für das Ganze der ſocialen Frage zu leiſten vermögen, und daher einen großen Werth, aber eine geringe Macht haben. Ihre Grundformen ſind dreifach.

a) Pfand - und Leihanſtalten.

Die Creditanſtalten für den perſönlichen Credit der nicht beſitzenden Claſſe, oder die Pfand - und Leihanſtalten, gehören ihrem for - malen Begriffe nach der Organiſation des Credits, ihrem Inhalte nach aber dem geſellſchaftlichen Leben der nichtbeſitzenden Claſſe. Ihre Auf - gabe iſt weſentlich nicht ſo ſehr die Hülfe zur Bildung von Capitalien, ſondern die Hülfe in augenblicklicher Noth gegen die Ausbeutung der letzteren durch das Geldcapital. Sie erſcheinen daher als die geſellſchaftliche Creditpolizei für die nichtbeſitzende Claſſe, und bilden damit den Punkt, wo die Selbſtverwaltung als Gemeinde in die geſellſchaftliche Bewegung hinein greift. Sie ſind ſomit zwar das älteſte, aber auch das unterſte Stadium der geſellſchaftlichen Verwaltung.

S. oben unter Organiſation des Credits. Faſt von allen unter das Armenweſen geſtellt in dem weiteren Sinn, in welchem es noch die geſell - ſchaftliche Verwaltung enthält. So Gerando, Monts de piété III. 1. ff. 447Die betreffende Geſetzgebung der europäiſchen Staaten ebend. III. 469. Eben ſo Rau II. §. 332. Beide mit reicher Geſchichte und Literatur.

b) Die Sparkaſſen.

Das Weſen der Sparkaſſen iſt nun die Förderung der Capital - bildung für die capitalloſe Wirthſchaft, und zwar durch Sammlung und Verwaltung der in ihrer Zerſtreuung bei den Einzelnen zu jeder Produktivität unfähigen kleinen Beträge. Ihre Aufgabe iſt es daher, zuerſt dieſen kleinen Ueberſchüſſen die Möglichkeit der Anſammlung, und dann vermöge der letzteren ihnen wieder die Fähigkeit zum Zins - ertrage zu geben. Zugleich aber bilden ſie ein Hülfscapital für den Fall der Noth. Aus den erſten beiden Momenten geht die Noth - wendigkeit hervor, die Einzahlungen feſt und zinstragend anzulegen, aus den letzteren die den Betrag derſelben dennoch ſtets für den Ein - leger zur Rückzahlung verfügbar zu halten. Auf der Löſung beider Aufgaben beruht die Verwaltung der Sparkaſſen. Ihre formelle Grundlage iſt die des wirthſchaftlichen Vereinsweſens, indem jeder Ein - leger ſofort Mitglied des Vereins wird und ſtets wieder austreten kann durch Rückforderung ſeiner Einlage, während der Verwaltungsrath die vorhandenen Einlagen verwaltet; ihr geſellſchaftliches Princip dagegen beſteht darin, daß die wirkliche Verwaltung unentgeldlich von Mitgliedern der beſitzenden Claſſe vollzogen werden muß, und daß daher ſtatt der allgemeinen Wahl eine Selbſtergänzung der leiten - den Organe eintritt. Eben dadurch bilden die Sparkaſſen den Ueber - gang vom Vereinsweſen zur Selbſtverwaltung, indem die Elemente beider in denſelben vertreten ſind. Sie haben deßhalb den Charakter öffentlicher Anſtalten und ſtehen in ihrer ganzen Verwaltung unter öffentlicher Aufſicht. Die formelle Verwaltung hat drei Hauptaufgaben. Zuerſt die Aufnahme durch die Einlage mit dem Sparkaſſenbuch; die freie Bewegung des Capitals fordert für daſſelbe das Recht des Inhaberpapiers trotz der Ausſtellung auf den Namen, ſo wie die Amortiſation. Der geſellſchaftliche Geſichtspunkt, der in jeder Sparkaſſe liegt, tritt dabei in dem zuerſt in Frankreich ausgeführten Grundſatz hervor, daß nur Einlagen bis zu einer gewiſſen Höhe an - genommen, und die Capitalien bis zu einem beſchränkten Betrage in der Sparkaſſe belaſſen werden. Der wirthſchaftliche Grund dafür beſteht darin, daß Einlagen und Kündigungen über eine gewiſſe Summe hinaus einen zu ſtarken Umſatz erzeugen würden, um bei vollkommener Sicherheit der Geldverwaltung noch regelmäßige Zinſen geben zu können. Zweitens die Verwaltung der Einlagen. Um die Einlagen ver - zinſen zu können, ſind zwei Syſteme möglich. Das erſte iſt das ganz448 freie Syſtem, in welchem die Verwaltung die Capitalien nach ihrem Ermeſſen anlegt. Das zweite iſt das Syſtem der theilweiſen oder voll - ſtändigen geſetzlichen Anlage, in welchem die letztere als Uebergabe der geſammelten Capitalien an die Staatskaſſe, beziehungsweiſe als Ankauf von Staatspapieren vorgeſchrieben iſt. Die deutſchen Spar - kaſſen ſtehen mit Recht auf dem erſten, die franzöſiſchen und engliſchen auf dem zweiten Standpunkt. Doch iſt es vollkommen berechtigt, die Anlage eines weſentlichen Theiles des feſt gewordenen Capitals theils in Hypotheken, theils in guten Papieren zu fordern. Der dritte wenig unterſuchte Punkt beſteht in dem Recht für das durch Ueber - ſchüſſe entſtandene Vermögen der Sparkaſſe. Allerdings iſt kein individuelles Eigenthum deſſelben nachzuweiſen; wohl aber muß an - genommen werden, daß derſelbe ein öffentliches Gut iſt, und be - ſtimmt ſein ſoll, als Grundlage des kleinen gewerblichen Credits zu dienen. Aus jeder Sparkaſſe ſollte daher eine Gemeinde-Vor - ſchußkaſſe, jedoch unter ſolidariſcher Haftung der Debitoren und unter Selbſtverwaltung derſelben hervorgehen. Damit wäre der natur - gemäße Uebergang von der Sparkaſſe zur Organiſation der Selbſthülfe gegeben, und die höhere Bedeutung der erſteren gefunden. Das alles wird ſich entwickeln, wenn der Organismus der Selbſthülfe erſt ſein volles Verſtändniß empfängt.

Die hohe Wichtigkeit der Sache zugleich in volkswirthſchaftlicher und ge - ſellſchaftlicher Beziehung wird erſt in dieſem Jahrhundert anerkannt, und ſteigt natürlich mit der Entwicklung des geſellſchaftlichen Gegenſatzes. Die Geſetz - gebung hat daher feſte Syſteme gebildet. Die Grundlage der ſtaatlichen Syſteme iſt das engliſche Recht, das von dem franzöſiſchen nachgeahmt iſt; das deutſche iſt dagegen das Syſtem der freien Verwaltung. Die engliſche Geſetzgebung entſteht bereits 1818; Hauptgeſetz die Bill vom 28. Juli 1828. Princip: die Einlagen können den öffentlichen Kaſſen übergeben werden und werden von dieſen verzinst (4 Proc.), ſo daß die Verwaltung nur die Einlagen und Auszahlungen, nicht aber das Capital zu verwalten hat; daher Begränzung der Einlagen auf 30 Pfund Sterling jährlich, und 150 Pfund im Ganzen. Die Geſammtheit aller Einlagen gilt als Theil der National - ſchuld. Pflicht der Verwaltung: jährliche Rechnungsablage; Gründung meiſt durch Vorſchüſſe der Beſitzenden; Minimum der Einlagen 1 Schill. ; Capitali - ſirung alle Halbjahr. Hauptgeſetz 26. 27. Vict. 87. (1863); vergl. Mitter - maier, Zeitſchrift für das geſammte Handelsrecht VIII. S. 140. Vergl. auch Gierke, Genoſſenſchaft S. 1079. Spätere Entwicklung zu den Post saving banks, mit dem Grundſatz, daß es zur Einlage überhaupt keiner beſondern Sparkaſſe bedürfe, ſondern daß dieſelbe bei jeder Poſtſtation gegen Buch erfolgen kann (24. Vict. 14. und 26. Vict. 14). Dieſes Syſtem iſt von der franzöſiſchen Geſetzgebung nachgeahmt; Grundgeſetz vom 5. Juni 1835; eine Reihe von weiteren Geſetzen iſt bis 1852 gefolgt. Zuſammenſtellung bei Block, Dict.449 v. Caisses dépargnes. Grundgedanke: der Staat übernimmt und verwaltet ausſchließlich das Capital, jede verfügbare Summe muß in vierundzwanzig Stunden der Caisse des dépots übergeben werden. Dagegen ſoll jede Ge - meinde eine Sparkaſſe haben; Vorſtand iſt wieder der Maire; die Verwaltung wird auf drei Jahre gewählt; Inſpektion durch die Finanzbehörden; ſtrenge Ordnung der comptabilité; keine Succurſalen; Zurückzahlung, ſo viel mög - lich erſt gegen ſchriftliches Erſuchen; Einlagen, Minimum 1 Frank, Maxi - mum wöchentlich 300 Franken, abſolutes 1000 Franken; was darüber geht, wird in Renten angelegt. Jede Sparkaſſe hat ihr Statut, das ſpeciell ge - nehmigt wird. Juriſtiſche Literatur bei Block a. a. O. Das deutſche Syſtem iſt ein weſentlich anderes. Grundſatz: die Sparkaſſe geht von Gemeinde oder Verein aus, und iſt in ihrer Verwaltung frei; daher im Anfange gänzliche Ueber - laſſung an die Selbſtthätigkeit beider. Die wachſende Bedeutung derſelben ver - anlaßt dann den Staat, gewiſſe allgemein gültige Grundſätze geſetzlich feſtzu - ſtellen. Geſichtspunkt dafür: die Errichtung von Sparkaſſen ſind vorzüglich Vereinen von Menſchenfreunden überlaſſen; Gemeinden nur dann, wenn dieſelben durch Stimmeneinheit die Haftung übernehmen. Oeſterreich: Regu - lativ vom 26. Sept. 1846 (vergl. Stubenrauch II. 344). Ueberſchuß zu wohlthätigen Zwecken; die Verwendung der angelegten Summe iſt weſent - lich der Sparkaſſenverwaltung ſelbſt überlaſſen; hauptſächlich Anlage in Hypothek; daneben Vorſchüſſe auf Staatspapiere und dann erſt Geldgeſchäfte. Pflicht zur öffentlichen Rechnungsablage; natürlich Genehmigung der Sta - tuten. Auf ganz gleicher Grundlage das preußiſche Sparkaſſenweſen; Haupt - regulativ vom 12. Dec. 1838; Errichtung durch Vereine oder Gemeinden; Verwaltung nach den Grundſätzen des Vereins - und Gemeinderechts, und Verordnung vom 24. Aug. 1847 über Verwendung der Ueberſchüſſe. Daneben iſt es als Aufgabe der Regierung anerkannt, das Sparkaſſenweſen zu fördern (Erlaß vom 27. April 1850), namentlich auf dem Lande; zu dem Ende Errich - tung der Hülfskaſſen, wie ſie zum Theil auch in Süddeutſchland beſtehen, ohne recht klare Aufgabe; ſeit 1854 als eine Art von öffentlichen Vorſchuß - kaſſen ausgebreitet; älteſte in Weſtphalen ſeit 1851 (vergl. Rönne, Staats - recht VI. 339). Etwas Aehnliches ſind die Waiſenkaſſen Oeſterreichs mit ſehr eingehender Geſetzgebung in engſter Verbindung mit dem Depoſiten - und Grundbuchsweſen; Hauptgeſetz: Verordnung vom 16. Nov. 1850 und Erlaß vom 11. Dec. 1850. Eine ſehr unbeſtimmte Oberaufſicht durch die Regierung. Dieſen Grundlagen entſpricht das ganze Sparkaſſenweſen Deutſchlands; ſ. die Literatur deſſelben zuerſt bei Malchus, die Sparkaſſen in Europa 1838 (weſentlich ſtatiſtiſch; dann Gerando III. 171 ff. ; Statiſtik bis 222; Schmid, das Spar - kaſſenweſen I. Oeſterreich und Preußen 1863; Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 365.

II. Das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen.

(Prévoyance mutuelle, Friendly societies.)

Während das Weſen der Sparkaſſen darin beſteht, durch An - ſammlung ein kleines freies Capital zu bilden, beſteht das Weſen derStein, Handbuch der Verwaltungslehre. 29450Verſicherung darin, durch regelmäßige Beiträge für einen beſtimmten Fall wirthſchaftlicher Bedrängniß ein Capital zu ſchaffen. Das Ver - ſicherungsweſen gehört daher ſeinem allgemeinſten Begriffe nach der Volkswirthſchaftspflege überhaupt, da es an ſich keinen Stand und keine Größe des Capitals ausſchließt. Und eben ſo hat es für alle Claſſen dieſelbe geſellſchaftliche Aufgabe. Es ſoll durch das verſicherte Capital das Hinabſinken der Familie in die niedere geſellſchaftliche Stufe bei dem Eintritte namentlich des Todes des Familienhauptes hindern, gleichviel ob dieß bei Vermögenden oder Beſitzloſen gilt. Allerdings aber kommt dieſe große ſociale Funktion deſſelben vorzugs - weiſe bei der arbeitenden Claſſe zur Geltung. Wir nennen daher das für die letztere eintretende Verſicherungsweſen vorzugsweiſe das geſell - ſchaftliche, und mit Recht ſcheiden wir daſſelbe in dieſem Sinne als Lebensverſicherung von der Schadenverſicherung (ſ. oben). Wir ſagen daher, daß die Lebensverſicherung in allen ihren Formen vorzugs - weiſe eine geſellſchaftliche Inſtitution iſt.

Allein dieſe geſellſchaftliche Aufgabe ändert das Weſen derſelben nicht. Die Verſicherung iſt ein Unternehmen, welches auf beſtimm - ten, von jeder ſocialen Frage faſt gänzlich unabhängigen Regeln beruht. Soll ſie daher ihren Zweck auch für die nicht beſitzende Claſſe erfüllen, ſo muß ſie auch für dieſe nach ihren unabänderlichen Regeln geführt werden. Nun liegt es zwar ſcheinbar nahe, Verſicherungen ſpeciell für die nichtbeſitzende Claſſe zu errichten. Allein das große Princip aller Verſicherung iſt, daß die Sicherheit der Prämie wie die der rationellen Verwaltung ſteigt, und daß die Regiekoſten ſinken, je größer und ausgedehnter die Zahl der Verſicherungen iſt. Es iſt daher falſch, ein Verſicherungsweſen für die nichtbeſitzende Claſſe allein zu fordern, ſondern der einzig richtige Standpunkt des geſellſchaftlichen Verſicherungsweſens beſteht vielmehr darin, die Verſicherungen der nichtbeſitzenden Claſſe mit denen der beſitzenden in der Weiſe zu vereinigen, daß jede Verſicherungsgeſellſchaft Verſiche - rungen auch für die kleinſten noch zinstragenden Capitalien bis herab zu 100 fl. annehme und verwalte. Es muß ausdrücklich bemerkt werden, daß die Gegenſeitigkeit dabei keinen Unterſchied macht. Aber auch in Beziehung auf dieſes Princip nehmen die großen Culturvölker einen ſehr verſchiedenen Standpunkt ein.

Englands Verſicherungsweſen nämlich beruht auf dem ächt eng - liſchen Princip, daß ſich die eigentlichen Verſicherungen, die Assurances, auf eine kleine, für den Nichtbeſitzenden noch erſchwingbare Ver - ſicherungsſumme überhaupt nicht einlaſſen, ſo daß das Lebens - verſicherungsweſen der arbeitenden Claſſen von dem der beſitzenden451 thatſächlich vollſtändig getrennt, und ſich ſelbſt überlaſſen iſt. Um daher zu dem letzteren zu gelangen, haben die Capitalloſen ſich unter ein - ander Verſicherungen, die natürlich nur auf Gegenſeitigkeit beruhen können, ſelbſt gegründet und verwalten ſie ſelbſt; und dieſe eng - liſchen Verſicherungsvereine des Nichtbeſitzers ſind die friendly societies. Ihr Princip iſt eben deßhalb viel beſſer als ihre Verwaltung.

Frankreich hat auch hier die Idee des geſellſchaftlichen Verſiche - rungsweſens als Association mutuelle und Prévoyance lebhaft aufge - griffen, allein eben deßhalb dieſelbe nur auf die kleinen Capitalien und ihre Gegenſeitigkeit beſchränkt, ohne jedoch wie in England dem Vereinsweſen vollkommen freie Bahn zu laſſen. Die Folge von dieſem Widerſpruch zwiſchen abſtraktem Princip und formalem Recht iſt eine ſchöne Literatur, aber faſt völliger Mangel an wirklichen kleinen, ſelb - ſtändigen Verſicherungsgeſellſchaften, ſo daß auch hier die Regierung hat einſchreiten und das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen der nicht - beſitzenden Claſſe als Caisse des retrait hat organiſiren müſſen.

Nur in Deutſchland hat man von Anfang an richtig erkannt, daß das Verſicherungsweſen der Nichtbeſitzer nur in Verbindung mit dem des Capitals gedeihen könne. Deutſchland hat daher in ſeinem Verſicherungsweſen den Fehler Englands in der Ausſcheidung der kleinen Beträge, und den Fehler Frankreichs in der gouvernementalen Verſiche - rung vermieden. Es hat ferner in ſein Verſicherungsweſen neben den kleinſten Summen zugleich alle Eventualitäten der Nothfälle auf - genommen, und die geſchäftlich richtige Berechnung des Prämienſyſtemes ſo ſtreng durchgeführt, daß das deutſche Verſicherungsweſen als das beſte der Welt auch in ſeiner geſellſchaftlichen Beziehung unzweifel - haft anerkannt werden muß. Erſt durch dieß ausgezeichnete Syſtem iſt es endlich möglich, den Begriff und Inhalt der Selbſthülfe von dem des Hülfskaſſenweſens, der in England und Frankreich beſtändig damit verſchmolzen iſt, zu ſcheiden, und ſelbſtändig darzuſtellen. Das deutſche Verſicherungsweſen aber zeigt auf dieſe Weiſe in einem der wichtigſten Gebiete, wie die Harmonie der Intereſſen zwiſchen Beſitz und Nichtbeſitz ſich bei wohlverſtandener Entwicklung des geſell - ſchaftlichen Lebens von ſelbſt vollzieht.

Literatur: Zuerſt bei Gerando III. 57 mit Vergleichung (sociétés de prévoyance, jedoch ohne Verſtändniß des Verſicherungsweſens). Für England zuerſt Eden, State of the poor (1797) I. ch. 3.; vergl. Hobbard, de l’organisation des sociétés de prévoyance 1852, und Em. Laurent a. a. O. ch. IV; sociétés de secours mutuels (1865), beide die nichtbeſitzende Claſſe für ſich betrachtend. Dieſen Elementen entſpricht auch der Charakter der Geſetzgebung in dieſen Ländern.

452

Grundzug der Geſchichte: Loslöſung von dem Princip des Hülfsweſens der Innungen, Zünfte und Geſellenverbindungen (compagnonnage) mit der fran - zöſiſchen Revolution in England und Frankreich. Schwache Verſuche, das Princip in den Gewerbsgenoſſenſchaften Deutſchlands noch aufrecht zu halten (vergl. Gerando VII. 57; Laurent P. II. Ch. III. IV.). England: Erſte Lebensverſicherung ſchon 1706 in Frankreich (Gerando, Bienf. publ. III. 133); Entwicklung in England ſeit dieſer Zeit. Seit 1793, wo das erſte Geſetz über die friendly societies entſteht, bis jetzt 21 Akte über die Verhält - niſſe derſelben. Anerkennung ihres Werthes, und beſtändige Verſuche, den organiſchen Mangel durch allerlei Vorrechte und genaue Definirung der Rechte ihrer Vorſtände zu erſetzen. Große Enquête vor 1829; dann die Bill von 1829 (10. Georg. III. ) als Consolidation Act bis zum neueſten Hauptgeſetz 18. 19. Vict. 63. (1855); Regiſtration der Statuten; Beſchränkung der ver - ſicherten Summe auf 750 Franken jährlich oder ein Capital von 5000 Franken (!) Errichtung des Registrar of friendly societies mit Oberaufſicht, aber im Grunde ohne Rechtsmittel, ſie auszuüben. Vielfache Klagen; nur wenige dieſer societies ſind lebensfähig, und der Registrar (Tidd Pratt) außer Stande auch nur ihre Exiſtenz zu conſtatiren, geſchweige denn ihre Jahresrechnungen zu bekommen (vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 334 b und die einzelnen Geſetze bei Gierke, Genoſſenſchaft S. 1098). In Frankreich durch die ſtrenge Controle der Vereine bis zur neueſten Zeit faſt Unmöglichkeit der Bil - dung ſolcher Associations mutuelles. Vergebliche Verſuche vor 1848. Gerando III. 92.: Il est pénible, mais il est utile de signaler l’imperfection dont est empreinte la constitution de ces sociétés etc.; 1848 volle Freiheit, aber auch ohne Reſultat. Dann das erſte Hauptgeſetz vom 15. Juli 1850 mit dem Princip, daß die sociétés de secours mutuels als établissements d’utilité publique anerkannt werden können. Damit wird die Leitung wieder in die Hände der Adminiſtration gelegt; der amtliche Maire iſt geſetzlicher Vor - ſtand (96 c); dafür gibt die Gemeinde gratis Lokal und Schreibrequiſiten (!) Das Decret vom 26. März 1852 ging noch einen Schritt weiter: der Staat kann, wenn er die société anerkannt (reconnue ou approuvée) hat, subven - tions geben; dafür ernennt er den Vorſtand, verbietet die pensions im Falle der Chômage auszuzahlen, und überhaupt ohne hinreichende Zahl von Ehrenmitgliedern Penſionen zu verſichern ꝛc. Natürlich war unter dieſen Ver - hältniſſen keine Entwicklung möglich (vergl. Laurent a. a. O. P. III. Ch. 2; M. Block, franzöſiiſches Armenweſen in Emminghaus S. 627 ff. ); daher Aufſtellung der rein amtlichen Caisses des retraites neben den sociétés, die einen durchaus örtlichen Charakter haben (Decret vom 18. Dec. 1850 mit Reglement vom 18. Aug. 1853; vergl. Block v. Caisses des retraites als Staatsinſtitut). Daß hier im Grunde ein Verſicherungsweſen vorliegt, durch die Verwaltung degenerirt, wird nicht erkannt. In Deutſchland gar keine beſondere Geſetzgebung für dieſes Gebiet, als das allgemeine Recht der Verſicherungen, aus den obigen Gründen nothwendig. Dagegen allerdings Genehmigung der Statuten und Behandlung nach dem Vereinsrecht (Stein, Vereinsweſen nnd Vereinsrecht S. 180 ff.). Daneben viele einzelne Penſions -453 und Krankenvereine bei großen Gewerkſchaften, zum Theil auch bei gewiſſen Claſſen (vergl. Gierke, deutſche Genoſſenſchaften S. 1049; Rau, Volkswirth - ſchaftspflege II. 368 ff.). Gierke, Genoſſenſchaft S. 1049 ff. (ohne ſociale Beziehung, aber viel Material) ſ. oben Verſicherungsweſen.

III. Die Selbſthülfe und ihr Vereinsweſen.
Princip.

Die Selbſthülfe ihrem formalen Begriffe nach bildet endlich die Geſammtheit von Erſcheinungen, welche dem Gedanken angehören, daß die wahre aufſteigende Bewegung der nichtbeſitzenden Claſſe nur von ihr ſelbſt ausgehen dürfe und ſolle. Ihre Form iſt daher das ſelb - ſtändige Vereinsweſen der Nichtbeſitzenden. Ihre große Vor - ausſetzung iſt nicht bloß die äußere und thatſächliche, ſondern die innere und bewußte Scheidung der arbeitenden Claſſe vom Capital. Ihr In - halt iſt die Erkenntniß, daß ſie ein zunächſt weſentlich verſchiedenes Intereſſe von dem des Capitals habe. Ihr Princip iſt der Gedanke, daß die rechtliche Gleichheit ihrer Mitglieder zu einer geſellſchaftlichen durch eigene Anſtrengungen erhoben werden müſſe. Sie gehört daher der Zeit, in welcher der geſellſchaftliche Gegenſatz der Claſſen zu dem Bewußtſein der Gründe gelangt, welche den Unterſchied der Claſſen erzeugen und erhalten. Ihre erſte und natürliche Neigung, die politiſche, iſt die, durch das möglichſt allgemeine Stimmrecht das entſcheidende Gewicht in der Geſetzgebung zu erlangen; ihre zweite praktiſche Rich - tung entſteht dadurch, daß ſie die Capitalbildung für ihre Mit - glieder zum Gegenſtande ihrer Vereinsthätigkeit macht. Sie ent - ſteht daher erſt nach 1848 und bildet von da an den Kern der ſo - cialen Bewegung, das Organ der ſocialen Frage. Das Wort, welches ihr Auftreten mit ihrem ſpecifiſchen Inhalt bezeichnet, iſt die Aſſocia - tion. Daſſelbe geht naturgemäß aus dem Socialismus hervor; in der Aſſociation wendet ſich der letztere von der Theorie dem praktiſchen Leben zu; die Société wird zu einem wirthſchaftlichen, die Aſſociation zu einem geſellſchaftlichen Begriffe. An ihrer materiellen Baſis aber entwickelt ſich ihre ſyſtematiſche Geſtaltung. Der Erwerb des Beſitzers hat zwei Grundformen. Einerſeits entſteht er als Capitalbildung durch Herſtellung eines Capitalerwerbs; andererſeits richtet er ſich auf die Bedingung der Capitalbildung, den Arbeitslohn. So entſtehen die zwei großen Claſſen dieſer Vereine, die Aſſociations - oder die Arbeitervereine, und die Coalitions - oder die Arbeiterverbin - dungen. Naturgemäß gehen die erſteren den letzteren vorauf; allein die letzteren ſchließen die erſteren nicht aus. Ihr Recht iſt ein gleiches das Vereinsrecht; ihr Syſtem aber iſt die Auflöſung der abſtrakten454 und allgemeinen Forderung der aufſteigenden Bewegung in ihre ein - zelnen Gebiete und Aufgaben. Das iſt die große Bedeutung der ſyſtematiſchen Betrachtung dieſer Vereine und ihre Stellung in der ge - ſellſchaftlichen Verwaltung. Aber ſie ſelbſt ſind noch unfertig und ſporadiſch, ſo hochbedeutend ſie auch für die Zukunft erſcheinen. Sie ſtehen deßhalb in der Praxis noch unvermittelt neben einander, und werden in der Theorie als einzelne Erſcheinungen, die von mehr Intereſſe als Bedeutung ſind, behandelt. Dennoch ſind ſie Ausdruck derſelben großen Thatſache; ſie ſind die Formen der freien Verwaltung der ſocialen Frage, wie bei allen verſchiedenen Einzelheiten iſt es das, was ihnen in der Verwaltung ihre Stellung, zugleich aber ihren na - tionalen Charakter gibt. In England ſind ſie es, in denen bei völliger Freiheit des Vereinsrechts ſich der ganze ſociale Gegenſatz zwi - ſchen Capital und Arbeit zuſammenfaßt, und daher die natürliche Folge, daß in England der Schwerpunkt nicht in den Arbeitervereinen, ſondern in den Arbeiterverbindungen liegt. In Frankreich hält das ſtrenge Vereinsrecht die Vereine überhaupt zurück, und daher hier die beſtändige Neigung zu geheimen Verbindungen, die bereits mit der Julirevolution entſtehen, während die Vereine ohne allgemeine Bedeu - tung ſind. In Deutſchland beginnt die Bewegung ganz organiſch mit den Arbeitervereinen für Credit und Capital, und geht dann nach engliſchem Muſter auf die Arbeiterverbindungen und ihren Lohnkampf über, während die Polizei nach franzöſiſchem Vorgange gerne das Coa - litionsrecht ſtören möchte, das wieder von dem Princip der ſtaatsbür - gerlichen Freiheit als berechtigt anerkannt wird. So muß es bis jetzt genügen, die Elemente dieſer Erſcheinungen anzudeuten.

Syſtem.
a) Arbeitervereine.

Die Arbeitervereine ſind demnach Vereine der nichtbeſitzenden Claſſe, durch ſelbſtgewählte Mitglieder geleitet, deren Zweck es iſt, die aufſteigende Bewegung durch eine vermöge des Vereins ſelbſt unter - ſtützte Capitalbildung zu fördern. Sie ſind daher alle nothwendig auf Gegenſeitigkeit gegründet, deren Inhalt theils die Gleichheit der Beiträge, theils die Gemeinſchaft der Haftung gegenüber Dritten iſt. Die Natur dieſer Aufgabe fordert nun, daß dieſe Vereine ſich zu verſchiedenen ſelbſtändigen Arten entwickeln; ihre wahre Wirkſamkeit beruht eben auf dieſer ihrer ſyſtematiſchen Entfaltung. Dieſe Hauptarten aber ſind folgende.

I. Die geſellſchaftlichen Creditvereinsweſen oder die Vorſchuß - caſſen ſind diejenigen, welche durch Vereinigung der kleineren Capitalien455 und der vollen Haftung ihrer Mitglieder nicht ſo ſehr einen Capitals - erwerb, als vielmehr einen möglichſt hohen Credit für ihre Mitglieder wollen. Sie ſind daher ganz auf Grundlage der Creditvereine gebildet, und ſogar in den Gewerbebanken fähig, fremdes Capital in ſich auf - zunehmen. Zu ihrer Entwicklung gehört ruhige und dauernde Arbeit; ihre Heimath iſt Deutſchland.

II. Die Produktionsvereine oder eigentlichen Associations ſind diejenigen, welche nicht mehr Credit für ihre eigenen Mitglieder, ſondern ein Anlage - und Betriebscapital für ein gemeinſames Unternehmen bilden. Sie ſind unmöglich ohne eine ſtrenge Subordination der einzelnen Mit - glieder unter ein ſelbſtgewähltes Haupt, und hängen von der Hinge - bung des Einzelnen an das Ganze, dem devouement ab. Ihre Hei - math iſt Frankreich.

III. Die Conſumvereine endlich beruhen darauf, daß zunächſt durch Selbſtverwaltung des Abſatzes der täglichen Bedürfniſſe, dann durch Ankauf und Verkauf der Rohmaterialien für die kleine Produk - tion der Gewinn des Zwiſchenhandels an die Mitglieder des Vereins fällt. Ihre höhere Entwicklung beruht darauf, daß der ſo erzeugte Gewinn wieder als Anlage - und Betriebscapital für neue Unterneh - mungen verwendet, und ſo der Conſum ſelbſt zur Grundlage der Pro - duktion wird. Zu ihrer Entwicklung gehört vor allem kaufmänniſche Begabung; ihre Heimath iſt England.

Es iſt kein Zweifel, daß die deutſche Literatur den Ruhm hat, die Darſtellung der Selbſthülfe in allen ihren Zweigen zuerſt verſtanden und ſyſte - matiſch bearbeitet zu haben. Den Beginn macht Schultze-Delitzſch mit Vorſchuß - und Creditvereine als Volksbanken 1855, während V. Huber in ſeinen eng - liſchen Reiſebriefen zuerſt die Conſumvereine Englands, namentlich die merk - würdigen Pionnears von Rochdale bekannt macht. Die engliſchen Loansocieties geordnet 3. 4. Vict. 40. und ſpäter 26. 27. Vict. 56. Erſte Entſtehung der Vorſchuß - und Creditvereine 1848 in Berlin, 1850 in Delitzſch, Entwicklung derſelben Schultze-Delitzſch S. 152 ff. Ausdehnung des Princips auf die landwirthſchaftlichen Verhältniſſe: G. Schönberg, die Landwirthſchaft der Gegenwart und das Genoſſenſchaftsprincip 1869; Erlemeyer, die Vorſchuß - und Creditvereine in Anwendung auf die ländliche Bevölkerung 1863; Raiff - eiſen, Darlehenskaſſenvereine als Mittel zur Abhülfe der Noth der ländlichen Bevölkerung 1866. Huber im Staatswörterbuch, Genoſſenſchaft. Mehrere treffliche Aufſätze von Engel, Gierke a. a. O. S. 1078 ff. Uebergang auf die Conſumvereine; Richter, die Conſumvereine 1867 (vergl. Gierke, Ge - noſſenſchaft S. 1074 ff.). Die Arbeit von Laurent (ſ. oben) iſt daneben un - bedeutend. Die Aufgabe der Geſetzgebung war, dieſen neuen Erſcheinungen ihre rechtliche Individualität zu geben. In England kam es darauf an, erſt - lich alle dieſe Geſellſchaften formell den großen Aktiengeſellſchaften gleich zu456 ſtellen, und ſie dadurch an dem großen Credit derſelben Theil nehmen zu laſſen (Hauptgeſetz vom 7. Aug. 1862). Industrial and provident societies Act 25. 26. Vict. 87. (Auſtria 1865. Nr. 48); kein Mitglied darf mehr als 200 Pfund Antheil haben; Verleihung des Rechts der Companies Act; Prüfung der Rechnung durch den Board of trade; über die Akte von 1844 vergl. Schwebemayer, die engliſchen Aktiengeſellſchaften, Bank - und Verſicherungs - weſen 1857. In Frankreich erzeugte die Beſchränktheit des Code de Commerce, unter deſſen enge Formen das ganze Vereinsweſen nicht paßte, das neue Geſetz vom 24. Juli 1867; über die société à capital variable; Enquête über die sociétés cooperatives als Grundlage dieſes Geſetzes: Plener in der Tübinger Vierteljahrsſchrift Bd. 24. S. 550 ff. ; vergl. Schultze-Delitzſch, die Geſetzgebung über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs - und Wirth - ſchaftsgenoſſenſchaften 1869. S. 148. In Deutſchland lag durch das Ana - logon des Handelsgeſetzbuches derſelbe Fall vor; daher Nothwendigkeit einer eigenen Geſetzgebung. Dieſe Geſetzgebung iſt eigenthümlich durch die noch nicht überwundene Scheidung der zwei Momente, welche zwei Richtungen in den Geſetzen erzeugt haben. Das eine Princip derſelben enthält mit der Freiheit das Vereinsrecht überhaupt, ohne beſtimmte Beziehung auf die ſociale Frage, allerdings das erſte Element der Entwicklung der Selbſthülfe; das andere dagegen überträgt die alte Idee der Zunft und Innung auf die letztere, will die Vereine der Selbſthülfe an die Gewerbe binden, und ſo entſtand der ſpe - cifiſch deutſche Begriff der Genoſſenſchaft, zuerſt in der öſterreich. Gewerbe - ordnung, von da zum Theil übergehend in die andern Gewerbeordnungen, und endlich in allgemeiner Geſtalt organiſirt in dem bekannten Geſetz vom 4. Juli 1868; das ſächſiſche Geſetz vom 15. Juni 1868 (nebſt Verordnung gl. Dat.) hat ſich zwar davon freier erhalten, iſt aber dennoch bei dem Weſen der juriſtiſchen Perſon ſtehen geblieben. Es iſt kein Zweifel, daß der Kern der Entwicklung nicht in dieſen Geſetzen, ſondern im Vereinsweſen liegt (vergl. Schultze-Delitzſch und Parrhiſius über das Geſetz von 1868). Dazu die Angaben bei Gierke, Genoſſenſchaft S. 1106. Das Syſtem bei Stein, Vereinsweſen S. 185 ff.

b) Arbeiterverbindungen.

Die Arbeiterverbindungen haben nun alle Elemente mit dem Ar - beitervereine gemein bis auf ihren Zweck. Dieſer Zweck iſt, vermöge der Verbindung durch alle denſelben zu Gebote ſtehenden Mittel eine Erhöhung des Lohnes zu erzielen und zwar nicht durch Erhöhung des Werthes der Arbeit, ſondern das Mittel der gemeinſamen Arbeits - niederlegung. Ihre volkswirthſchaftliche Grundlage iſt der Gedanke, durch die damit erzwungene Lohnerhöhung indirekt an dem Unterneh - mungsgewinne Theil zu nehmen; ihr ſocialer Gedanke iſt, der nicht - beſitzenden, bloß arbeitenden Claſſe die Gleichſtellung mit dem Capital in der wirthſchaftlichen, und durch dieſelbe auch in der geſellſchaftlichen Welt zu geben. Die Mittel, wodurch ſie dieſen Zweck457 erreichen, ſind zweifacher Natur. Zuerſt bilden ſie durch regelmäßige Beiträge einen Unterſtützungsfonds für die Arbeiter, welche durch die ſyſtematiſch von der Verbindung ausgehende Niederlegung der Arbeit ihren Unterhalt verlieren. Dann aber ſtreben ſie das Bewußtſein des Arbeiterſtandes durch Preſſe und Vorträge zu heben, und ihnen geiſtig den Kampf mit dem Capitale möglich zu machen. Ihre Rechtsbaſis iſt der Satz, daß die Arbeit frei iſt. Ihr Verfahren iſt der Verſuch, nach geſchehener Niederlegung mit den Unternehmern in Verhandlung zu treten, und die Lohnerhöhung oft auch andere Wünſche da - durch vertragsmäßig zu erzielen. Die Verwaltung ihrerſeits kann einer - ſeits die durch dieſes Syſtem entſtehende Gefahr für die wirthſchaftliche Ordnung nicht verkennen, indem nicht bloß Noth und Armuth vieler Einzelnen, ſondern auch eine ſyſtematiſche Ausbeutung des Capitals durch die Arbeit dadurch entſteht. Es iſt daher erklärlich, daß ſie an - fangs das Entſtehen und die Wirkſamkeit ſolcher Vereine zu hindern ſucht. Allein ſie erkennt bald, daß ihre Beſtrebungen in dieſer Rich - tung einerſeits nichts nützen, und zweitens, daß ſie die freie Selbſtbe - ſtimmung der Arbeiter nicht hindern kann, ohne überhaupt die Frei - heit der Volkswirthſchaft aufzuheben. Die natürliche Entwicklung des öffentlichen Rechts hat daher den in den meiſten Geſetzgebungen auch ſchon formell anerkannten Grundſatz erzeugt, daß die Arbeiterverbin - dungen an ſich frei ſein, aber unter den allgemeinen Rechtsprincipien des Verſammlungs - und Vereinsrechts ſtehen ſollen. Dieſe aber ſind volle Oeffentlichkeit jedes Theiles ihrer Verhandlungen, und Aufhebung des Vereins nebſt Beſtrafung der Mitglieder, wenn er die Anwendung von direkten oder indirekten Zwangsmitteln gegen Mitglieder oder Dritte für ſeine Zwecke beſchließt oder durchführt. Ein feſtes Syſtem in dieſer Beziehung iſt noch nicht gewonnen. Es wird eine der großen Aufgaben der nächſten Zukunft ſein, ein allgemeines Rechtsbewußtſein über dieſe bedeutſame Frage zu bilden, und die Rechts - principien im Einzelnen mit Maß und Nachdruck zugleich durchzuführen. Die wahre Löſung derſelben aber liegt auch hier in der Idee der Harmonie der Intereſſen, welche nicht bloß örtlich, ſondern volkswirth - ſchaftlich nachweist, daß wenn die eine Bedingung des wirthſchaftlichen Fortſchrittes allerdings die Funktion des großen Capitals iſt, die zweite in der Fähigkeit der Arbeit liegt, durch ſich ſelbſt zur wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Unabhängigkeit zu gelangen. Hier aber, wie bei andern großen Fragen, beginnt das wahre Verſtändniß der gegebenen Zuſtände und Bewegungen damit, daß man alles Gegenwärtige als ein Entwicklungsſtadium der Zukunft erkennt, die uns das Falſche wie das Gute allein richtig meſſen lehrt.

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 30458

Die Geſchichte des Rechts der Arbeiterverbindungen hat wohl allenthalben die obigen zwei Epochen; das Stadium des mehr oder weniger ſtrengen poli - zeilichen Verbotes, und das der rechtlichen, oder durch das Vereinsrecht gegebenen Freiheit der Verbindungen. Das letztere Stadium tritt meiſt erſt ein, wo ſich die politiſchen Verbindungen von denſelben ſcheiden. England: Verbot aller Verbindungen mit Oberhaupt und Abſtufungen ſchon ſeit 1793, die Verabredung der Arbeiter um Erhöhung der Löhne als felony erklärt 39. 40. Georg. III. 106; dann aber, da die Arbeiterverbindungen dieß zu ver - meiden wiſſen, volle Freiheit dieſer trades unions. Bill von 1824 6. G. IV. 29. zuerſt die Freiheit der Arbeiterverbindungen, jedoch mit Strafe gegen Gewalt und Drohung gegen Mitarbeiter (vergl. Auſtria, Nr. 24. 1864). Die folgenden Beſtimmungen haben denſelben Charakter, Geſetzgebung bei Klein - ſchrod, großbritann. Geſetzgebung S. 93; vergl. auch Gierke a. a. O. 884. Frankreich hat dagegen noch lange den ſtrengen Standpunkt ſeines Code Pénal Art. 414 420 mit Verbot und Strafe beibehalten; freilich fordert der - ſelbe eine Verbindung mit Abſicht auf Zwang gegen Dritte; aber auch die nicht auf Zwang gerichteten Verbindungen ſind noch unter polizeilicher Ueber - wachung, und praktiſch entſcheiden vor der Hand die Behörden über die Frage, ob eine Aſſociation oder eine Coalition vorliegt (Code Pénal Art. 291; Geſetz vom 10. April 1834: Schärfung; Abſchaffung 1848; vollſtändige Reak - tivirung des Code Pénal durch Decret vom 25. März 1852). Eine Unter - ſcheidung zwiſchen Arbeiter - und andern Verbindungen fand ſich nicht. Bis jetzt die Art. 414 416 des Code Pénal aufgehoben und die Coalition frei - gegeben, mit Strafe für Drohung oder betrügeriſchen Umtrieben zu Abhal - tung von der Arbeit. Bei weitem am klarſten zeichnen ſich beide Epochen in Deutſchland ab. Die über Arbeiterverbindungen haben ſich hier ganz beſtimmt von den Verbindungen im Allgemeinen abgelöst, und eine ſelbſtändige Geſetz - gebung hervorgerufen. Dieſe beginnt mit dem Princip, daß jede Arbeiter - verbindung zum Zweck der Lohnerhöhung an und für ſich, und zwar ohne Rückſicht auf die angewendeten Mittel ſtrafbar ſei. Am klarſten das öſter - reichiſche Strafgeſetzbuch §. 479 ff. ; doch liegt dem Verbote mehr ein poli - zeilicher als ſocialer Gedanke zum Grunde. Den Uebergang zum Princip des freien Verbindungsrechts bildet dann die Anerkennung des freien Vereins - rechts, dem das freie Verſammlungsrecht zur Seite geht. Daß damit der Grundſatz des freien Coalitionsrechts anerkannt iſt, iſt ſelbſt noch nicht anerkannt. Die Aufhebung aller Beſchränkungen des Coalitionsrechts nach dem Antrage von Schultze-Delitzſch im norddeutſchen Reichsrath vom 14. Okt. 1867. Der Entwurf des Coalitionsgeſetzes an den öſterreichiſchen Reichs - rath 1870 erkennt gleichfalls das freie Coalitionsrecht an. Es iſt kein Zweifel, daß die übrigen deutſchen Geſetzgebungen dieſem Vorgange folgen, oder ihr freies Vereinsrecht werden aufgeben müſſen (vergl. übrigens Stein, Vereins - weſen und Vereinsrecht S. 194 und 210 ff.).

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TextHandbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts
Author Lorenz von Stein
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationHandbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland Lorenz von Stein. . XVIII, 458 S. CottaStuttgart1870.

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