PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Wally, die Zweiflerin.
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Wally, die Zweiflerin.
Roman
Des Friedens Wund 'iſt Sicherheit, Sorgloſe Sicherheit; doch weiſer Zweifel Wird Leuchte der Vernunft, des Arztes Sonde, Der Wunde Grund zu prüfen.
(Shakſpeare.)
Mannheim. C. Löwenthals Verlagshandlung.1835.
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Erſtes Buch.

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1.

Auf weißem Zelter ſprengte im ſonnengold¬ durchwirkten Walde, Wally, ein Bild, das die Schönheit Aphroditens übertraf, da ſich bei ihm zu jedem klaſſiſchen Reize, der nur aus dem cy¬ priſchen Meerſchaume gefloſſen ſein konnte, noch alle romantiſchen Zauber geſellten: ja ſelbſt die Drapperie der modernſten Zeit fehlte nicht, ein Vorzug, der ſich weniger in der Schönheit ſelbſt, als in ihrer Atmoſphäre kund zu geben pflegt. Welche natürliche und ihr doch ſo vollkommen gegenwärtige Koketterie auf einem Thiere, von dem ſie wahrſcheinlich ſelbſt nicht wußte, daß es blind war! Wally gab ſich das Anſehen, als wäre ſie mit ihrer Situation verſchwi¬8 ſtert; aber nichts iſt ſo reizend, als wenn durch irgend eine faſt gelungene Affektation, durch die ganze Haltung eines innerlich mehr reflektirten wie angebornen Weſens einige kleine Lichtritzen ſchimmern und für den Mann, wel¬ cher ſie ſehen kann, die verſteckten Erleichte¬ rungen einer ſich einbohrenden Neigung wer¬ den. Aber von den zahlreichen Cavalieren, welche Wally umgaben, ſahe dieſe kleinen Lük¬ ken der Furcht edler Weiblichkeit Niemand. Jene, die Lücken der Furcht, kannte vielleicht der Jokey, der auch wußte, daß die weiße Stute blind war. Aber die Uebrigen hingen nur wie der Eiſenfeilſtaub am Magnet, wie die Nachahmung am Genie, wie das Ordinäre am Wunderbaren.

Am Wege ſchritt, wie es beim Tempera¬ mente ſich von ſelbſt verſteht, im Zweiviertel¬ takte Cäſar, ein Mann, der im Stande war, eine ſolche Gruppe, wie die vorbeiſprengende,9 im Nu zu überſehen und jede darin waltende Figur ſo zu iſoliren, daß er ſie Alle verarbei¬ tete und an ſeiner eigenen Individualität zerrieb. Kennt ihr dieſe genialen Charaktere, welche durch ihr Schweigen immer mehr ausdrücken, als wenn ſie reden, die nur ihr rollendes, ſiegen¬ des Auge in die Geſellſchaft bringen dürfen, und jede Perſönlichkeit darin abſorbiren in eine Huldigung, die ihnen wird ohne ihr Verlangen? Cäſar ſtand im zweiten Drittel der zwanziger Jahre. Um Naſe und Mund ſchlängelten Furchen, in welche die frühe Saat der Erkenntniß gefallen war, jene Linien, die ſich von dem lieblichſten Eindrucke bis zu dä¬ moniſcher Unheimlichkeit ſteigern können. Cä¬ ſars Bildung war fertig. Was er noch in ſich aufnahm, konnte nur dazu dienen, das ſchon Vorhandene zu befeſtigen, nicht zu verändern. Cäſar hatte die erſte Stufenleiter idealiſcher Schwärmerei, welche unſre Zeit auf junge Ge¬10 müther eindringen läßt, erſtiegen. Er hatte einen ganzen Friedhof todter Gedanken, herr¬ licher Ideen, an die er einſt glaubte, hinter ſich: er fiel nicht mehr vor ſich ſelbſt nieder und ließ ſeine Vergangenheit die Knie ſeiner Zukunft umſchlingen und ſie beten: heilige Zu¬ kunft, glühender Moloch, wann hör 'ich auf, mich mir ſelbſt zu opfern? Cäſar begrub keine Todten mehr: die ſtillen Ideen lagen ſo weit von ihm, daß ſeine Bewegungen ſie nicht mehr erdrücken konnten. Er war reif, nur noch formell, nur noch Skeptiker: er rechnete mit Begriffsſchatten, mit geweſenem Enthuſiasmus. Er war durch die Schule hindurch und hätte nur noch handeln können; denn wozu ihn ſeine tod¬ ten Ideen machten, er war ein ſtarker Cha¬ rakter. Unglückliche Jugend! Das Feld der Thätig¬ keit iſt dir verſchloſſen, im Strome der Bege¬ benheiten kann deine wiſſensmatte Seele nicht wieder neu geboren werden; du kannſt nur11 lächeln, ſeufzen, ſpotten, und die Frauen, wenn du liebſt, unglücklich machen!

Cäſar, wie er einſam wandelte, fühlte, daß er weinen ſollte, und lachte, um die Thränen zu vertreiben.

Da flog Wally mit ihren Begleitern an ihm vorüber. Sie ſchlug mit ihrer Gerte in die Seiten des ſchönen, aber blinden Gaules (ſie wußte es wahrhaftig nicht!) ein ſonderbarer Glanz klang durch die Luft, und zu Cäſars Füßen lagen fünf koſtbare Ringe.

Sie mußten an der Reitgerte geſteckt haben.

Wally ſah, was der Unbekannte am Wege aufnahm; ſie machte Miene anzuhalten; aber als der Fremde mit der Zurückgabe zögerte, blickte ſie bös und trieb ihren Schimmel wei¬ ter. Die Cavaliere hatten nichts geſehen.

Cäſar aber, da er die Reiterin ſogleich aus den Augen verlor, mußte ſich auf Alles beſin¬ nen. Er gefiel ſich darin, an eine alte Sage12 zu glauben, an die Prinzeſſin im Walde und ſich ſelbſt mit irgend einem Zauber in Verbin¬ dung zu bringen.

Er ſteckte die Ringe zu ſich und hatte ſie wieder vergeſſen, wie er innerhalb der Stadt war.

13

2.

Ein gewiſſer Regierungs-Präſident gab einen beinahe ländlichen Ball. Wally und Cäſar ſa¬ hen ſich hier. Cäſar hatte in einem Anfalle guter Laune die fünf Ringe über ſeine Hand¬ ſchuhe gezogen. Wally frug ihn, wie er dar¬ auf käme?

Weil meine rechte Hand, antwortete er, beim Tanzen immer ungeſchickt iſt. Die Ringe verhindern ſie, von dem glatten Rücken der Tänzerinnen abzugleiten.

Wally ließ ihn ſtehen: dieſer junge Mann mißfiel ihr. Aber ſie fühlte, daß ſie ſich zer¬ ſtreuen müſſe, und tanzte mit Vorliebe. Sie wurde erhitzt, verfolgte Cäſar und ſahe, daß er die Ringe wieder fortgenommen hatte.

Sie wollte ſie wieder haben und rief einem14 ihrer Employés, einem blondharigen Referen¬ där, der eine[kleine] Schrift über das Unzeit¬ gemäße politiſcher Garantien geſchrieben hatte. Sie ſetzte ihm die Lage der Dinge auseinander.

Ich bin gewohnt, ſagte ſie, für jeden Monat im Jahre einen andern Anbeter zu ha¬ ben, und ich nehme Niemanden an, der ſich nicht durch einen Ring in meine Gunſt einkauft. An meinem Finger will ich die Ringe nicht: ich trage ſie an meiner Reitgerte, und mache mir ein Vergnügen daraus, wenn ich von Juli zu Juli ins Bad reiſe und armen preßhaften Leuten ſie alle zwölf nach einander in die heißen Sprudelbecher werfe.

Darauf erklärte ſie ihm, wie ſie fünf davon verloren hätte, und verlangte, daß ſie ihr wie¬ der zu Handen, das heißt zur Reitgerte, kämen.

Der junge Mann, welcher über das Unzeit¬ gemäße politiſcher Garantien geſchrieben hatte, verſprach ſein Möglichſtes und redete Cäſar an.

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Cäſar betrachtete ihn und beſann ſich auf den Verfaſſer der kleinen Brochüre. Sie ver¬ ſtehen ſich darauf, ſagte er dann, als St. Georg gegen die Ungethüme der Zeit zu kämpfen. Die Ringe der Dame paſſen zu meinem Schup¬ penleibe: ich ſtehe als Lindwurm zu Ihren Dienſten!

Wie verſteh 'ich das? fragte der junge Mann, welcher über das Unzeitgemäße politi¬ ſcher Garantien geſchrieben hatte.

Cäſar ließ ihn ſtehen. Der Bote wagte nicht unverrichteter Sache zu Wally zurückzu¬ gehen; eben tanzte ſie, ſie hatte ſeine Abwei¬ ſung glücklicherweiſe nicht bemerkt.

Der junge Mann half ſich: er wußte, von wem die fünf Ringe kamen: vier von ſeinen Freunden, die mit ihm theils auf dem Stadt¬ amte fungirten, theils auf das nächſte militä¬ riſche Avancement warteten; einer gehörte ihm, denn Wally's Sonne ſtand zufällig während16 dieſes Monats in ſeinem Zeichen. Die Sache wurde unvermeidlich ein Ehrenhandel; aber er war perfid genug, dem Gegner das Spiel fünf¬ fach zu erſchweren. Cäſar bekam noch an dem¬ ſelben Abend fünf Ausforderungen ins Ohr geflüſtert.

Er nickte lächelnd zu jeder; für den fol¬ genden Morgen war Alles anberaumt, aber er entfernte ſich früh.

Wally tanzte bis in die Nacht. O welch ein Glück, ſich mit dem faden Mittelgut in ewig gleichen Kreiſen herumzudrehen!

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3.

Es war ſchon um die eilfte Vormittagsſtunde des folgenden Tages, als Wally unter den Hän¬ den ihres Kammermädchens ſaß und ihr Haar flechten ließ. Sie hatte einen kleinen Tiſch vor ſich gerückt, worauf die Erzeugniſſe der neueſten Literatur lagen. Natürlich kamen ſie friſch aus dem Buchladen; anſtändige Leute leſen nicht aus Leihbibliotheken.

Sie blätterte in dem jüngſten Muſenalma¬ nach von Schwab und Chamiſſo. Dieſe guten Waldſänger, ſprach ſie vor ſich hin, nehmen ſich die Freiheit, ſehr ennüyant zu ſein. Wenn uns die Reime nicht in einer Art von melodi¬ ſcher Spannung hielten, die Monotonie der Ge¬Gutzkow's Wally. 218fühle und Anſchauungen wäre tödtlich. Ich ziehe Proſa vor. Heine's Proſa iſt mir lieber, als Uhland und ſein ganzer Bardenhain.

Sie griff nach Heine's Salon, zweiter Band. Willſt du Philoſophie ſtudieren, Aurora? fragte ſie ihr Kammermädchen: hier ſind all die gelehrten, bemoosten Karpfen der deutſchen Philoſophie mit Frühlingspeterſilie und Vanille zubereitet. Man ſollte die Bonbons in Apho¬ rismen aus Heine's Salon einſchlagen. Welch geſunkenes Volk müſſen die Franzoſen ſein, daß ſie gerad 'auf der Stufe in den Wiſſenſchaf¬ ten ſtehen, wo in Deutſchland die Mädchen.

Einige Schriften vom jungen Deutſchland lagen zur Hand, von Wienbarg, Laube, Mundt. Wienbarg iſt zu demokratiſch: ich habe nie ge¬ wußt, daß ich vom Adel bin, ſagte ſie; aber mit Schrecken denk 'ich daran, ſeit ich dieſen Autor leſe. Laube ſcheint den Adel nicht abſchaffen, ſon¬ dern überflügeln zu wollen. Doch bleibt es arg: er19 iſt zudringlich. Er gibt ſich in ſeinen Schrif¬ ten das Anſehen, als kenne er jede ſeiner Le¬ ſerinnen und verlange von ihr eine Hingebung, um die er nicht ein Mal bittet. Mundt goutir' ich nur halb: denn er wird, je mehr er ſich ſelbſt klar zu werden ſcheint, für Andere im¬ mer unverſtändlicher. Verſtehſt du, Aurora?

Aurora hatte etwas in den Mund bekom¬ men und mußte abſcheulich huſten. Wally lachte.

Unter den Büchern lag zuletzt die neueſte Lieferung der Carlsruher Bilderbibel, auf welche Wally abonnirt hatte.

Wie ſonderbar doch das Chriſtenthum auf Velinpapier ausſieht! ſagte ſie zu ſich ſelbſt. Dienen dieſe Kupfer zu etwas anderem, als die Aufmerkſamkeit noch mehr von dem heili¬ gen Buche abzulenken! Siehe, da ſteht ein Druckfehler! Ein umgekehrter Buchſtabe! Es iſt hübſch, in der Bibel Irrthümer zu ent¬ decken.

2 *20

Wally ſahe nur auf das Aeußre, auf den Einband, dann las ſie etwas. Sie las einige Verſe, ein halbes Kapitel und fragte ihr Mäd¬ chen, wann ſie zuletzt in der Kirche geweſen wäre?

Aurora war nicht frivol: ſie war vor vier Wochen da geweſen.

Wally las, ohne zu hören. Dann fragte ſie: warum biſt du ſo ſtill?

Aurora war nicht mehr im Zimmer: Wally blickte ſich ſcheu um, und las weiter. Ihr Auge haftete ſtier auf den Buchſtaben: ſie ſchlug eine Seite nach der andern um: dann lehnte ſie ſich zurück, eine Thräne ſtand in ihrem Auge. Sie ſah mit einem flehenden, ver¬ zweifelnden Blick auf den kleinen Tiſch, der ſo viel Widerſprechendes friedlich umſchloß. Sie ſtützte den Kopf auf die Lehne ihres Seſſels; es war Sonntag. Die Glocken läuteten, aus der nahen Kirche brauſten die Töne der Orgel21 herüber. Wally war in Thränen aufgelöſt. Kann man dem Himmel ein ſchöneres Opfer bringen? Dieſe Thränen floſſen aus dem Weihe¬ becken einer unſichtbaren Kirche. Die Gottheit iſt nirgends näher, als wo ein Herz an ihr verzweifelt.

Aurora kam zurück. Es war Beſuch im Geſellſchaftszimmer. Wally hätte abſagen müſ¬ ſen; aber ſie war willenlos. Sie fand die Ritter von den fünf Ringen, einige von ihnen leicht verwundet.

Wally erſchrak, als ſie von dem Vorfalle hörte. Cäſar war am Arme bleſſirt. Aber ſchon die Nachricht, daß keine Gefahr vorhan¬ den ſei, richtete ſie auf; und wie in der menſch¬ lichen Seele Schmerz und Freude ſich ergän¬ zen, und das Linderungsmittel des einen Uebels auch alle übrigen Sorgen heilt, die mit ihm in keiner Verbindung ſtanden, ſo wandte ſie ſich22 theilnehmend dem Geſpräche zu. Es war fade, wie immer; aber verzeihlich der Tageszeit we¬ gen. Man ſoll vor Tiſche von keinem Men¬ ſchen verlangen, daß er geiſtreich ſei.

Wally konnte lachen und lachte übermäßig.

23

4.

Beide ſahen ſich eine Woche ſpäter. Wally hatte nicht das Herz, von dem Vorfalle zu ſprechen. Aber es währte nicht lange, ſo ſpra¬ chen ſie über den Muth.

Sie wollte wiſſen, ob der Muthige die Ge¬ fahr abſichtlich verkleinere oder geringer achte, ob der Muth noch während der Gefahr daure oder nur das Vorſpiel der Gefahr ſei. Cäſar ſagte, er habe nie über den Muth nachgedacht, beſäße ihn auch nicht hinreichend dafür. Wally brannte der Vorfall auf den Lippen; aber ſie hielt an ſich und lächelte blos.

Ich glaube, ſagte Cäſar, daß es Men¬ ſchen gibt, deren Muth darin beſteht, daß ſie die Gefahr gar nicht ſehen. Das ſind diejeni¬ gen, welche als die vorzugsweiſe Muthigen über¬24 all gefürchtet werden: auf den Univerſitäten jene unverſchämten Knaben, die gegen Jeder¬ mann die Hand in die Seite ſtemmen und von Verachtung und Malice überſprudeln; unterm Militär diejenigen, welche ihren Säbel gern ſo hängen, daß ſie ihn hinter ſich klirren hö¬ ren. Man kann aber ſagen, daß wenn dieſe Men¬ ſchen Einbildungskraft genug hätten, die Ge¬ fahr zu ſehen, ſie die verzagteſten ſein würden. Der Beſonnene iſt von Natur niemals muthig. Er folgt nur den Rückſichten, und iſt uner¬ ſchrocken, weil die Sache einmal nicht zu ändern iſt.

Wally fand dieſe Aeußerungen durchaus nicht ſo liebenswürdig, wie ſie gewohnt war, der¬ gleichen von ihren männlichen Umgebungen zu hören. Es war in ihrem innerlichen Urtheile etwas, was einen guten Schein hatte. Sie vermißte an Cäſar den Reiz der Natürlichkeit. Seine Reflexion zog an, befriedigte aber das25 Temperament nicht. Nichts deſto weniger traf ſie ſehr gut die Gedankenreihe Cäſars, indem ſie fortfuhr: Ich glaube faſt, Sie halten die Tugend für eine Berechnung?

Die Tugend nicht, entgegnete Cäſar; aber Alles, was man gern für Inſtinkt an¬ zuſehen gewohnt iſt. Unſre Handlungen ſollen berechnet ſein, unſre Empfindungen ſind es. Ich erinnere Sie nur an das Unbequeme man¬ cher Empfindung, mit der wir gern kokettiren, die uns aber in gewiſſen Zeiten recht zur Un¬ zeit kömmt.

Sie ſind ohne Natur; ſagte Wally.

Ich bin ohne Verſtellung; fiel Cäſar ein.

Ohne Verſtellung? Jeder Satz in Ihren Theorien ſcheint von Ihren zufälligen Zwek¬ ken abhängig zu ſein.

Cäſar mußte lächeln; er hatte etwas ge¬ ſagt, was er nicht meinte.

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Glauben Sie, fragte er, daß es in der Liebe eine Höflichkeit gibt?

Das verſteh 'ich nicht.

Cäſar blickte finſter und wollte abbrechen.

Was iſt Ihnen? fragte Wally.

Ich denke, Sie vermeiden über einen Zu¬ ſtand zu ſprechen, den Sie vielleicht nicht zu kennen vorgeben.

Halten Sie mich für eine Närrin? fragte Wally, erſt bös, dann aber hellte ſich ihr Antlitz zu einer Liebenswürdigkeit auf, die Cäſarn faſt einen Augenblick zu verwirren ſchien.

Nehmen Sie nur an, ſagte er, wie unzeitig und unbequem man werden kann, wenn man ſeinen Leidenſchaften immer den natürlichen Raum läßt. Ich verſpreche zum Beiſpiel einer Dame, ſie einen Tag um den andern zu beſuchen. Was heißt das? Sie iſt einen Tag um den an¬ dern in der Spannung, wo ſie glaubt beglücken zu können. Ihre Gedankenreihen werden im¬27 mer einen Tag überſchlagen, einen Tag, wo ſie nicht untreu aber ohne Rapport und Illu¬ ſion iſt. Man kann nicht unhöflicher ſein, als an dieſem Tage, der überſchlagen werden ſollte, der für die Liebe gar nicht da iſt, ſeine Braut zu überraſchen.

Wally lachte laut auf. Jetzt hielt ſie Cä¬ ſarn für einen Narren und fragte ihn, welche Frau ihm dieſe Geſtändniſſe gemacht habe.

Cäſar war kein Pedant, er lachte mit, fuhr aber fort: Ich verſichre Sie, es iſt nichts abſcheulicher, als das Ungeſchickte und Unbe¬ queme. Der Inſtinkt mag hier manche üble Empfindung hintertreiben; aber ſicher geht allein die Combination der Pſychologie. Ich möchte um alles in der Welt zu einer gewiſſen Zeit, unter gewiſſen Umſtänden von der Freund¬ ſchaft kein Opfer, von der Liebe keine Zärt¬ lichkeit verlangen. Mit unſrer rohen Natür¬ lichkeit ſind wir immer gewohnt zu übertreiben;28 in nichts ſind wir aber übertriebener, als in unſern Forderungen. Iſt es erhört, was der Enthuſiasmus nicht alles in den gefühlvollen Beziehungen der Geſchlechter oder in der Freund¬ ſchaft zu entdecken glaubte! Wer kann das alles leiſten! Wer kann ſo unhöflich ſein, alle dieſe Leiſtungen in Anſpruch nehmen? Sa¬ gen Sie!

Ich habe vergeſſen, Rumohr zu leſen; antwortete Wally.

Rumohr! ſprach Cäſar; Rumohr hatte vielleicht Anſtand, aber nicht Geiſt und Muth genug, eine Schule der Höflichkeit zu ſchreiben. Rumohr glaubt an ſeine Vorſchriften und ſcheut ſich doch, die meiſten davon anders, als in einem gewiſſen Helldunkel zu geben. Rumohr glaubte, er müſſe ſich immer noch eine Hinter¬ thür offen laſſen, um nicht für einen Fant zu gelten. Auch iſt dieſer Mann ſo ſehr in die Claſſicität verrannt, daß er alle Tugenden und29 Untugenden des Alterthums aufzählt, aber ein wichtiges, modernes Laſter ganz mit Stillſchwei¬ gen übergeht, ein Laſter, wofür die Alten gar keinen Ausdruck hatten. Rumohr konnte davon nicht ſprechen, weil er ſelbſt darin ganz ver¬ ſtrickt iſt. Dies iſt die Langeweile. Aber was Rumohr? Es gibt eine weit tiefere Höflich¬ keitstheorie, welche auf äſthetiſchen und mora¬ liſchen Prinzipien zu gleicher Zeit beruht. Soll ich ihren Grundſatz nennen? Laſſen Sie aus einem chriſtlichen Gebote nur einen Buchſtaben weg. Rathen Sie!

Wally wurde roth: nicht des Räthſels we¬ gen, ſondern des Chriſtenthums.

Cäſar ergänzte ſich ſelbſt und ſagte: Lebe deinen Nächſten, wie dich ſelbſt! Sei Egoiſt, ohne deinen Nachbar zu verwunden! Wenn ich mich in die innerſten Falten Ihrer Seele (Fal¬ ten! Ihre junge Seele! Aber die Seele iſt immer alt, der Theil der jahrtauſendjährigen30 Urſeele und Weltſeele, der in uns wohnt), wenn ich mich in ſie verſetze, ſo bin ich ge¬ wiß, immer die Wirkungen zu veranlaſſen, die ich eine Minute vorher ſchon beſtimmen kann. Sie hören mich nicht mehr. Es iſt wahr, ich habe zu laut geſprochen.

Der gute Cäſar mit ſeinen langweiligen Theorien! Er mochte Wunder glauben, wie zart er die Fibern des menſchlichen Herzens anatomire; und hatte ſchon längſt ſeine Wider¬ ſacherin innerlichſt verletzt. Er wußte dies nicht und ſchämte ſich, ſo theoretiſch debattirt zu haben. Um die Sache war es ihm gar nicht zu thun. Er hatte überhaupt nur zwei Steckenpferde, auf denen er ſich heiß reiten konnte, die Verachtung der Muſik und die Strenge der Erziehung. Dieſe beiden Fragen intereſſirten ihn, weil ſie das Nächſte berühr¬ ten, das Zimmer des Nachbars gleichſam, weil die Muſik ſich gern in der Geſellſchaft31 breit macht und über Erziehung ſo viel Em¬ pfindſames gefaſelt wird. Er pointirte die Verachtung der Muſik, um die jungen Damen (welche, wenn man von ihnen Gedanken ver¬ langt, mit Muſik antworten) ihre Leere fühlen zu machen: in der Erziehung aber den Stock, um ſich das Geſchwätz über Kinder, das Prä¬ ſentiren der lieben Kleinen, die Koketterie mit ſeiner einzigen oder ſeinem jüngſten Balge vom Leibe zu halten. Auf alles Uebrige ließ es Cäſar ankommen. Für Himmel, Hölle, Erde und was drin, drauf und drunter iſt, nahm er nur Intereſſe, um ſich zu unterhalten, oder eine hübſche Wendung darüber zu haben.

Warum iſt Cäſar kein Schriftſteller gewor¬ den? Er würde ein vortrefflicher Dialektiker ſein, immer gute Gedanken haben, und jeden¬ falls einen glänzenden Styl ſchreiben.

32

5.

Wir ſind noch in derſelben Geſellſchaft, wo über Herrn von Rumohr ſo abfällig geurtheilt wurde. Wally iſt nur hingebender und Cäſar erſchöpfter geworden. Er war im Zuge, links und rechts ſeine zuſammenhangloſen Einfälle auszuſtreuen und grade im Gegenſatz zu ſeiner Höflichkeitstheorie alle Welt zu verwunden. Die Hauptunterhaltung hatte der lange blonde Mann an ſich geriſſen, welcher über das Un¬ zeitgemäße politiſcher Garantien geſchrieben hatte. Mit ihm correſpondirte ein Juſtizrath, welcher anonymer Verfechter von verſchiedenen Lehr¬ büchern zur Kenntniß des allgemeinen Land¬ rechts war oder doch ſein ſollte. Beide citir¬ ten ſich wechſelſeitig als Autoritäten, der Junge den Alten, der Carrière wegen: der Alte den33 Jungen, weil er wußte, daß der Nachruhm in den Händen derer liegt, die nach uns leben. Cäſar war auf der Folter: er ahnte, daß ſie ausſchweifen wollten, daß ſie auf dem Wege wa¬ ren, zur ſchönen Literatur überzugehen.

Wirklich? zitterte er für ſich hinein. Warlich! Ja ſie müſſen O . Cäſar war aufgeſprungen.

Er wollte fort. Wally frug ihn, was er hätte?

Der Juſtizrath, Mitglied einer Liederta¬ fel, das heißt eines Vereins, wo man über Tafel die ſchlechten Compoſitionen eines Zelter und Anderer zu ſingen pflegte, rief: Iſt es nicht auffallend, daß auch nicht ein Einziger aus der neuen Schule in Deutſch¬ land ſich auf Muſik verſteht. Wie ſchön hat Tieck die italieniſche Muſik in ſeinen Sonet¬ ten charakteriſirt! Wie treffend drückt er in ſeinem Vorſpiel zum geſtiefelten Kater oderGutzkow's Wally. 334zur verkehrten Welt, ich weiß nicht, das We¬ ſen der verſchiedenen Inſtrumente aus! Wie hat die ganze romantiſche Schule in der Mu¬ ſik gelebt!

Und Hoffmann, rief eine ältliche Dame, die ihrem Teint nach mit Napoleon verwandt ſein konnte.

Und Hoffmann!‘, fielen Alle ein.

Ja, rief der Juſtizrath, Hoffmann, der mein College war!

Cäſar ſagte ruhig: Ich weiß nicht, worin der Zuſammenhang der Literatur und der In¬ ſtrumentation liegen ſollte. Göthe ſcheint mir auch ohne den Contrapunkt verſtändlich zu ſein.

Aber der Juſtizrath hatte das Wort: Man hat noch immer gefunden, daß irgend eine Be¬ ſchäftigung, welche dem Dichter ſonſt noch theuer und lieb war, recht hübſch das Weſen ſeiner eigenen Poeſie ausdrückte. Ich rede von Ho¬ mer und Oſſian nicht, Männern, die mehr Mu¬35 ſiker als Dichter waren; aber Göthe arbeitete in Pappe, wenn ich nicht irre. Schiller war Compagnie-Chirurgus. Nun ſehen Sie, das iſt proſaiſch genug; ſagen Sie mir von allen neuen Autoren einen, der ein gutes Urtheil über Muſik hätte? Es iſt Mangel einer ge¬ wiſſen Saite in der Seele, daß es ganz un¬ möglich iſt, die Namen Menzel, Börne, Heine u. ſ. w. mit irgend einer muſikaliſchen Ver¬ richtung zuſammenzubringen.

Die Lärmtrommel! hieß es irgendwo. Man beklatſchte den Einfall und nannte ihn witzig. Aber Recht hatte der Juſtizrath; auch Cäſar, wenn er ſagte: Was kann empfehlens¬ werther für die Richtung ſein, welche unſre erſten Geiſter nehmen? Alle frühere Literatur bildete ſich im Intereſſe irgend einer vereinzel¬ ten Kunſt oder Tendenz: die Leſſing-Göthiſche Zeit im Intereſſe der Antike: die Romantik im Intereſſe der Malerei: die Phantaſtik im3 *36Intereſſe der Muſik. Erſt in unſern Ta¬ gen ſammelt die Literatur ihre Vorpoſten, die ſich in die fremden Feldlager ganz verloren hatten, und zieht ſie in den Kern ihrer Kräfte zurück, um auf's Neue zu beſtimmen, welches ihr Zweck iſt. Ich glaube, daß ſich die Lite¬ ratur ausdehnen wird auf andre Felder, um ſie zu befruchten; aber warlich, mein Herr, auf die Muſik nicht!

Bis hierher ſprach Cäſar ſo richtig, daß es unnütz geweſen wäre, Unterſchriften darauf zu ſammeln. Das Folgende ſchien zweifelhaf¬ ter: Was ſoll überhaupt die Muſik? Dieſe klingende Mathematik? In der Erziehung ſind die geometriſchen Köpfe meiſt die dickſten und härteſten, und in den großen Muſikern habe ich immer Leute gefunden, die, obſchon ſie immer mit Schlüſſeln umgehen, doch über nichts Auf¬ ſchluß geben können. Die Muſik iſt eine ganz ſinnliche Kunſt. Wenn Sie dem Otaheiter37 einen Trauermarſch von Spontini vorſpielen, mein Herr, glauben Sie, daß er weinen wird? Er wird ſpringen und ſeine Kokosſchale vor Lebensluſt bis auf die Hefe leeren. Muſik iſt abſolut nichts: die Bildung legt erſt das hinein, was wir darin zu finden glauben. Wenn ich bei irgend einem Muſikſtück ein ſolcher Narr bin, an die Unſterblichkeit der Seele zu glau¬ ben, ſo verbinden zu gleicher Zeit Sie damit einen Begriff, welcher vielleicht der entgegen¬ geſetzte iſt. Wenn Sie bei einer Symfonie von Beethoven an einen gothiſchen Dom den¬ ken, ſo dachte der Componiſt an das Giebeldach einer Bauerhütte. Nein, mein Herr, die Muſik wird aufhören zu den Künſten gerechnet zu werden. Nähert ſich die Muſik in der Oper nicht ſchon immer mehr der rhetoriſchen Deklamation? Iſt die Sprache, das volle, tönende, menſchliche Wort nicht unendlich höher, als der unnatür¬ liche Gebrauch einer ganz im tiefſten Schlunde38 verſteckten zufälligen Fertigkeit? Ich bitte Sie, überlegen Sie das, mein Herr!

Hier war keine Verſtändigung mehr mög¬ lich. Was ſind Hunderttauſende in der Welt ohne das bischen Fortepiano, was ſie ſpielen können! Es war, als hätte einer geſagt, die Frauen ſollten keine Gigotärmel mehr tragen. Was wären dieſe ſchmalen Brüſte, dieſe gedan¬ kenloſen Köpfe ohne Gigots, ohne Pianoforte! Und doch ſtrafte man Cäsarn nicht durch Still¬ ſchweigen, ging nicht wie wegen eines Tollen zur Tagesordnung über, ſondern ſchrie auf und rief das Gefühl, den Himmel, die Moralität zu Hülfe, um einen Ketzer zu bekehren. Der blonde Unzeitgemäße war ſo glücklich, die Frage in das Gebiet der Politik hinüberzuſpielen und aus der Muſik eine Sache des Staates zu machen. Hierüber ſchwieg Cäſar.

Ihn verdroß nichts mehr, als das Warm¬ werden. Er wußte zu gut, daß die Adler nie¬39 mals in der Fläche horſten. Warum Niagara¬ donner, wo Knallerbſen genügen? Er gab ſich willig dem Spotte Wally's hin, die viel zu leichtſinnig war, auf dergleichen Debatten et¬ was zu geben, zu eitel, um eine allgemeine Unterhaltung intereſſant zu finden, und die überdies weder ſang noch ſpielte. Wally hatte Ideen, aber nur momentan; ſie ver¬ ſchmähte es, die Geiſtreiche zu ſcheinen, weil ſie wußte, daß ſie ſchön war. Flüchtig waren ihre Bewegungen, liebenswürdig, ohne Pedan¬ terei ihre Capricen. Cäſar fühlte das, und badete ſich in dem oberflächlichen Schaume, den Wally von den Ideen nur gelten ließ. Cä¬ ſar hatte Recht, ſie für unfähig zur Spekula¬ tion zu halten. Er nahm ſie wie ein humori¬ ſtiſches Capriccio der animaliſchen Natur.

Beide ſpotteten im Vertrauen über ſich, über Alle. Was ſie ſprachen als Sprechens¬ werthes, waren Raketen, die ſie ſich einander40 zuwarfen. Warum brechen Sie über Po¬ litik ab?

In Athen durfte kein Volksredner auf¬ treten, der nicht verheirathet war.

Was Sie gelehrt ſind! Ich bin es auch: in Kreta durfte niemand Geſetze geben, der nicht einen Strick um den Hals hatte.

Das iſt daſſelbe Geſetz: Die Athener wollten eigentlich auch ſagen, der keinen ſolchen Strick am Halſe habe.

Wie unanſtändig!

Wally!

Wally lachte: es war ein hübſcher, vertrau¬ licher Ton, in dem ihr Cäſar drohte. Was machen Sie mit Leuten, die Ihnen gefallen? fragte ſie ihn, ohne zu wiſſen, was ſie fragte.

Alles, nur nicht ihre Bekanntſchaft.

Das iſt auffallend! Doch können Sie Recht haben.

41

Wonach beurtheilen Sie die Menſchen, Wally?

Nach ihren Werken! O Gott, nein; dies wäre ja albern geantwortet, wie im Ka¬ techismus. Sagen Sie?

Nach dem, was ſie ſind?

Nein, nach dem, was ſie im Stande wären.

O Wally, Sie ſind liebenswürdig! Woran würden Sie denken, wenn Sie Jemanden prü¬ fen wollten, der zu lieben wäre?

An die auſſerordentlichen Fälle.

Cäſar ſchwieg. Dieſe Antwort war zu ernſt. Er betrachtete die fünf Ringe, die er über ſei¬ nen Handſchuhen trug, und fragte dann: Sie reiſen in's Bad?

In acht Tagen.

Sie werden den Rhein ſehen?

Von Mainz bis Cölln.

Von Mainz bis Düſſeldorf. Sie dürfen einen Beſuch bei den Malern und bei Immer¬42 mann nicht unterlaſſen. Läge Düſſeldorf in Thüringen, es würde ein zweites Weimar werden.

Sind die Ufer in der That ſo reizend?

Gefällig ſind ſie und da ſchön, wo Sie etwas von Rührung einfließen laſſen in Ihre Betrachtung.

Das verſteh 'ich nicht.

Das Schöne, Wally, iſt immer das Ueber¬ raſchende. Ich bin urſprünglich kalt gegen Alles, was in Deutſchland für ſchön ausgege¬ ben wird. Am Lurleyfelſen, wo der Rhein ſich wie ein See verengt, wo Flinten abgeſchoſſen und Waldhörner geblaſen werden, um die Echo's, von denen die Handbücher ſprechen, zu bewei¬ ſen: da werden Sie durch dieſe Zurüſtungen zur Wehmuth übermannt werden. Ihr blon¬ des, beſcheidenes Deutſchland, dem Sie nichts zutrauten, nicht einmal das Echo des Lurley, wird Sie rühren und bei einer fließenden Thräne43 werden Sie ſich geſtehen müſſen, daß der Rhein in der That ein ſchöner Strom iſt.

Sie wollen ſagen, die Natur ſpräche nur zu uns, je nachdem unſer Auge und Herz ſie anſieht.

Ich ſtand in dem Cöllner Dome. Sie kennen das zerriſſene Prinzip unſerer Zeit, nichts anzunehmen, was vielleicht richtig iſt, aber von Leuten proklamirt wurde, die uns widerſtehen. Der Enthuſiasmus der Einen er¬ kältet immer die Andern. Ich wollte den Cöll¬ ner Dom ironiſch betrachten, und mußte wei¬ nen, da ich ihn ſahe, über das Unvollendete der Idee, über die dünnen Hammerſchläge der Ausbauer, welche durch die mächtigen Räume picken, über mich ſelbſt, der ſein Herz künſtlich verhärtet und zu einer gemachten Empfindungs¬ loſigkeit herabgeſtimmt hatte.

Die Dampfſchiffe fahren zu ſchnell.

Sie fahren zu langſam und ſind für das44 Auge ermüdend. Der Gedanke einer feurigen über das Waſſer kriechenden Schildkröte ſteht vor unſrer Einbildungskraft, und wir ſind ein¬ mal daran gewöhnt, das Kriechen für langſam zu halten.

Ein ſonderbares Bild! Worüber nur meine Tante ſo lacht?

Ihre Tante iſt eine Spinne, die über den Ozean kriecht.

Wie ſo?

Sie ſpekulirt in Papieren.

Sie ſpricht über Politik: ich verſtehe nichts davon.

Verſtünden Sie davon, ſo glichen Sie einem Schmetterling, der ſich in die gaserleuchtete Verwirrung eines Salons verflogen hat.

Schmetterlinge ſind zu Gleichniſſen ver¬ braucht.

Wie die Unſterblichkeit ſelbſt.

Wally erröthete. Sie blickte auf Cäſars45 frivoles Lächeln und nahm dies Lächeln für eine Gewißheit, die ſie erſchrecken machte.

Wir ſähen uns nicht wieder? fragte ſie beklommen.

Geſetzt, nur die Guten ſähen ſich, ant¬ wortete Cäſar, ſo läßt die Tugend ſo viel Nüancen übrig, daß nichts deſto weniger im Jenſeits eine Mannichfaltigkeit entſtünde, die in ſeiner nächſten Nähe zu haben Gott kein Vergnügen machen würde. Ja wir ſelbſt wür¬ den uns weigern, alle die zu lieben, welche im Leben ehrliche, aber oft die langweiligſten Menſchen waren. Ich weiß aber nicht, wie aus einem langweiligen Menſchen plötzlich ein intereſſanter Engel werden könnte.

Sie ſind kein Chriſt?

Glauben Sie, daß Chriſtus von den Todten auferſtanden iſt?

O Gott, laſſen Sie, ich kann darüber nicht nachdenken. Ich

46

Sie ſtockte. In ihrem Auge ſprach ſich ein zerreißender Schmerz aus. So hatte ſie Cäſar noch nicht geſehen. Sie erhob ſich un¬ ruhig und war für dieſen Abend verſchwunden. Cäſar begriff hievon nichts. Er war ſo leicht¬ ſinnig, an Alles zu denken, nur nicht an die Religion. Aber Wally hatte ihn entzückt. So weit Menſchen dieſer Art noch lieben können, war Cäſar außer ſich. Er folgte Wally ohne Aufenthalt.

47

6.

Wally's Tante litt an nervöſen Reizungen und Abſpannungen, an Herzklopfen, Uebeln, für welche die Aerzte unter den naſſauiſchen Bädern das triſteſte, Schwalbach, empfehlen. Wally konnte in Wiesbaden und Ems tanzen, aber in Schwalbach mußte ſie der alten Dame die Zeitungen und Courszettel vorleſen (die Frau ſpekulirte wahrhaftig in Papieren!); in Schwalbach mußte ſie ſo manchen häuslichen Dienſt übernehmen, den man bald von ſich ab¬ wälzen würde, wenn man nicht das Vergnü¬ gen hätte, in einem Bade zu leben.

Sie hatte dies wunderbare Naſſau erreicht, dieſe unterirdiſche Küche Hygiea's, mit ihren Gebirgskeſſeln, in denen die heilſamen Quel¬ len ſieden und dampfen. Von üppiger Natur48 kann bei einem Lande nicht die Rede ſein, das von Alaun und Schwefel unterminirt iſt und in der Ernte immer einen Monat zu ſpät kömmt. Zwerghaft ſind die Bäume auf den Hügeln: aber reizende Perſpektiven öffnen ſich zahlreich in die weiten Thäler. Nichts iſt hier ſchöner, als die mannichfachen Schattirungen des grünen Kleides der Natur. Man ſteht an der morſch zerbröckelnden Mauer einer hohen Straße, und ſieht kleines Geſträuch zunächſt zu ſeinen Füßen; dann tiefer einen Wald, der ſich mit den ſchwär¬ zeſten Tinten in die tiefſte Spalte des Thales verliert, und in einem dumpfen Murmeln, in dem Rieſeln eines Waldbaches zu enden ſcheint; dort aber erhebt ſich wieder der Blick, die grüne Alpenmatte entlang, welche am andern Ende des Thales aufwärts ſteigt. Auf dem friſchen, üppigen Teppich weidet das Auge bis ſich die Sehkraft in jenen dunkeln Kranz von Fichten verliert, welcher den äußerſten Horizont49 umſäumt. Iſt das nicht viel für ein Land, wo die Natur ſich an gekochtem Waſſer erfri¬ ſchen muß? Das Land ähnelt der ſchwäbiſchen Alp. Auch ſprechen die Leute mit ſchwäbi¬ ſchem Accent.

Wally hat für ſolche Bemerkungen keinen Sinn: ich führe ſie auch nur an, um durch Wally's Mängel ihre Beſitzthümer anzudeuten. Sie iſt ohne Schwärmerei für die Natur, ohne Sinn für Blumen, welche ſie zerkaut, wenn ſie ihr in die Hand kommen. Sonne, Mond und Sterne gehen ihre Bahnen, ohne von Wally bemerkt zu werden. Jedermann wird bereit ſein, ſie gefühllos zu nennen, und ihr dennoch Unrecht thun. Wally's unausſprech¬ licher Reiz iſt ihre Natürlichkeit. Sie gibt ſich, wie ſie iſt, und hat die Tugend, alles beim rechten Namen zu nennen. Sie war ſehr un¬ glücklich, in Schwalbach leben zu müſſen.

Doch traf ſich Alles beſſer, als man er¬Gutzkow's Wally. 450wartet hatte. Das allmälige Herunterkommen der Romantik erſchlafft die bisher angeſpann¬ ten Nerven der Nationen. Es waren Deutſche genug da, die an Hoffmanns Tode litten, Fran¬ zoſen genug, welche die üblen Folgen von Victor Hugo's ruhendem Federkiel ſpürten. Sie alle wollten Reiz. Die ſpaniſche Kriſis war vielen in den Unterleib geſchlagen und hatte Hypo¬ chondrie erzeugt. Stahlbäder ſind ſehr anzu¬ rathen. Es war gedrängt in all den Höfen, goldnen Ketten, Gaſthöfen zu den beiden Indien. Wally wohnte im Kaiſerſaal.

Eines Tages ſtand ſie an einem Orte, den ſie vorzüglich liebte, am grünen Tiſche. Sie hazardirte im Pharo. Sie gewann; ſie gewann immer; vielleicht weil Dreiſtigkeit auch das ein¬ zige Geheimniß im Spiele iſt. Noch iſt es mir unerklärlich, wie die ſchüchternſten Weiber ſich an Dinge wagen, an welche die muthigſten Männer immer mit einer Art von Zaghaftig¬51 keit herangehen. Sie ſind die Erſten, wo es gilt, einen Thurm zu beſteigen, auf einem ſchwindelnden Wege zu gehen, Piſtolen abzu¬ ſchießen, mit einem Eskamoteur in Correſpon¬ denz zu treten, auf Vexierſtühle und an die Elektriſirmaſchine ſich zu ſtellen. Namentlich wird ſich auf dieſe letzten Dinge oft der mu¬ thigſte Mann nicht einlaſſen. Warum die Frauen? Weil ſie gewohnt ſind, zu herrſchen? Weil man ihnen genug ſagt, daß ihrer Schön¬ heit nichts widerſtehen könne? Wally ſpielte in der That, weil es ihr ſchon zur andern Natur geworden war, in jeder Lage zu gewinnen.

Plötzlich wird ſie unruhig. Sie verliert. Ihr Glück ſtürzt zuſammen. Sie fühlt, daß ihr ein Dämon entgegentritt, und rathet auf Cäſar. Sie wußte, daß ihr alles Widerwär¬ tige nur von einem Manne kommen konnte, der ſie beunruhigte und der ſie vielleicht zu lieben anfing. Wally blickte um ſich; Cä¬4 *52ſar ſtand in einer Ecke, grüßte ſtumm, bot ihr den Arm und führte ſie in die Zimmer ihrer Tante zurück, einer Dame, welche er einſt mit einer Spinne verglichen hatte, die über das Weltmeer kreucht.

53

7.

Ein Gewitter in Schwalbach iſt immer eine Kataſtrophe; aber ſie geht vorüber. Noch ge¬ fährlicher iſt es, wenn der Himmel jene wei¬ nerliche Laune hat, daß er von der grauen Wolkendecke unaufhörlich einen naſſen Staub tröpfeln läßt. Dann kann man in Schwalbach am beſten alle jene Uebel bekommen, für welche ſein Stahlwaſſer ſo gut ſein ſoll. Iſt man nicht melancholiſch, ſo wird man es erſt. Wally weinte den ganzen Tag vor Ungeduld. Sie wollte nach Wiesbaden; aber ihre Tante be¬ ſtand darauf, daß ihr die ſpaniſche Kriſis im Unterleibe ſäße. Der Geheimerath Fenner von Fenneberg, der Arzt der Saiſon, warf ſich gegen jede Unbeſonnenheit in's Mittel. Wally wollte ſterben vor Langerweile. Ihr werdet54 ſagen, ſie muß ſchlecht erzogen worden ſein. Gewiß, das war ſie.

Cäſar bot Alles auf, ihr die trübe Zeit zu verkürzen. Er erzählte ihr Beobachtungen aus Schwalbach, die gar nicht verdienen übergan¬ gen zu werden, z. B. folgende: Haben Sie noch nichts vom tollen Bärbel gehört? Das tolle Bärbel ſteht den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die ſpäte Nacht an der Hin¬ terpforte des Gaſthofes zu den beiden Indien, die auf die Landſtraße nach Ems hinausführt und ſpäht in die Extrapoſten, welche den Berg herunterkommen. Sie iſt von einem etwas ge¬ drückten Wuchſe, und hat matte Augen; aber ihre Geſichtsbildung iſt im höchſten Grade ein¬ nehmend, die Haut von der ganzen Feine und Weiße, welche zu blondem Haare gehört, um blonde Mädchen erträglich zu machen. Der Reiz Bärbels würde noch weit mehr hervortre¬ ten, wenn die fixe Idee, welche ſie beherrſchen55 ſoll, ihr nicht den an Wahnwitzigen ſo unheim¬ lichen Ausdruck und die eigenthümliche Verrük¬ kung aller Bewegungen gäbe. Und woran lei¬ det ſie? An zwei verunglückten Saiſons. In der erſten ſoll ſie der Gegenſtand irgend einer eleganten Herablaſſung geweſen ſein, die glück¬ licherweiſe ohne Folgen blieb. Sie fiel einem jungen Manne in die Augen, der ſie dann drei Monate lang nicht aus ſeinen Händen ließ und vielleicht gar mit ihr über Vorurtheile der privilegirten Stände, über die allgemeine Stimmberechtigung der Liebe und morganatiſche Ehen philoſophirt hat. Er verſprach im nächſten Jahre wiederzukommen. Einen langen Herbſt und Winter, einen ganzen Frühling hindurch war Bärbel glücklich und das frommſte Mäd¬ chen in Schwalbach. Sie war die erſte und letzte in der Kirche, die freundlichſte zu aller Welt. Die Mäßigung in einem Glücke, das ihre Kräfte überſtieg (nämlich das Wiederſehen war56 für ſie ſchon ein gränzenloſes Glück: wie leicht wird es Gott, ſeine Geſchöpfe ſelig zu machen!) Dieſe Mäßigung ſtand ihr ungemein ſchön, wie die Leute ſagen, die aus ihrer jetzigen Verwir¬ rung das Vorangegangene herausgelockt haben. Da kam die zweite Saiſon. Bärbel ſtand an der Gartenthür der beiden Indien. Ein großer Reiſewagen, thurmhoch bepackt, mit ſechs Pfer¬ den beſpannt, glitt am Hemmſchuh bedächtig die Höhe herab. Vorn und rückwärts Bediente, Kammerzofen, Bologneſer Hunde, ein Papa¬ gay, ein Geſchwätz und Gekrächz, das eine ganz neue Welt in das alte Schwalbach zu bringen ſchien. Bärbel ſtand auf den Zehen, blickte in den offenen Schlag und ſtieß einen entſetz¬ lichen Schrei aus. Sie hatte die untreue Herab¬ laſſung geſehen, wie ſie die Hand eines jungen reizenden Weibes küßte. Es war des jungen Paares erſte Badereiſe, gleich nach der Hoch¬ zeit. Das ſahe auch Bärbel ſogleich ein, nach¬57 dem ſie wieder zur Beſinnung gekommen war, denn noch war ſie nicht närriſch; aber ſie wurde es; ſchon durch die Ungewißheit, das Herumlaufen, Fragen, Erkundigen, Abgewieſen¬ werden, durch impertinente Bedienten, durch die Schaam, den Mann am Brunnen und auf der Promenade zu ſehen, und ihm nicht zu Füßen fallen zu dürfen. Sie war den Winter über ganz ſtill. Mit dem Frühjahr wurde ſie unruhig, holte immer tiefere Seufzer, ſchüttelte viel den Kopf, und nun ſteht ſie ſeit dem erſten Mai zu jeder Stunde des Tages hinter den beiden Indien und muß immer mehr erkranken, ſchon am Son¬ nenſtich. Sie ſieht in jede Kutſche und ſchämt ſich, wenn man ihr Geld zuwirft. Sie iſt für alle Schwalbacher Bettler der Lockvogel, oder der mit Honig ausgefüllte Stock, um die wilden Almoſen-Bienen zu fangen. Sie iſt die unſchul¬ dige Heilige, die ſtumm für ſie Alle bittet, und nichts davon hat, als immer tiefern Wahnſinn.

58

O ich bitte Sie, erzählen Sie Geſchich¬ ten, die ſich runden und einen Schluß haben! fiel Wally ein mit der ganzen Fühlloſigkeit, die ſie allein ſchon charakteriſiren würde, wenn ſie dieſelbe nicht mit allen Frauen gemein hätte, wo es ſich um die Herzensleiden ir¬ gend einer ihrer Schweſtern handelt. Sie ſind dabei alle kalt, eine gegen die Andere.

Den Schluß müſſen wir abwarten; ſagte Cäſar, erſchrocken über Wally's Phlegma. Er hätte ſie aufgegeben, wenn ſie als Phänomen nicht ſeine Neugier reizte. Auch würde er ſich Vorwürfe gemacht haben, Wally nachgereiſt zu ſein, wäre dieſe Mühe vergebens geweſen. Er dachte in der That daran, bei ihr zu irgend einem Ziele zu gelangen.

59

8.

Nach einiger Zeit theilten ſich die Wolken über dem Thale. Es war möglich ins Freie zu treten. Cäſar und Wally ſtiegen die Straße nach Ems hinauf. An der Thüre der beiden Indien ſtand das ſtille Bärbel und betrachtete ſie beide mit einem wehmüthig-rührenden Blicke. Wally blieb kalt dabei; er konnte das nicht begreifen.

Ich will Ihnen, Wally, ſagte er, eine andre Geſchichte erzählen, die ſich in unſrer Nähe begibt, und in der That ſchon eine Art Schluß hat. Glauben Sie nicht, daß ich die Demokratie ſo weit treibe, und auf Entdeckun¬ gen in den Hütten ausgehe. Die Schwalbacher bilden ſich ein, ihre Gäſte unterhalten zu müſ¬ ſen, und ſo erfuhr ich etwas, was würdig ge¬60 weſen wäre, von Hoffmann bearbeitet zu wer¬ den. Sie kennen die naſſauiſchen Soldaten, Wally! Sie haben über Bruſt und Schulter gelbe Bandeliere, was für ein preußiſches Auge kurios läßt. Die Artillerie iſt ſchöner, aber hören Sie von einem Tambour bei jener In¬ fanterie. Der junge Menſch ſtand in Wiesba¬ den, und ſoll ein Meiſter auf ſeinem Inſtru¬ mente geweſen ſein. Niemand in der naſſauiſchen Armee ſchlug wie er die Reveille mit ſolcher Fertigkeit. Seine Wirbel ſollen den Turbillons geglichen haben, welche bei Feuerwerken auf¬ ſteigen, nur daß er im Stande war, eine Vier¬ telſtunde lang die Schlägel in dieſer tremulan¬ ten Bewegung zu erhalten. Namentlich aber gelang ihm jenes hübſche Stakkato auf der Trommel, das mit Wirbeln untermiſcht die Er¬ ſchütterung des Kalbfells plötzlich hemmt und einen ganz abbrechenden Ton, einen Ton ohne alles Echo hervorbringen muß. Sie ſehen, welch61 einen Schatz das Haus Naſſau an dieſem Tam¬ bour hatte. Unglücklicherweiſe verliebte ſich aber der militäriſche Künſtler, und in ein Mädchen, das zwar den Werth der Armee zu ſchätzen wußte, auch den der Muſik, aber einem Trompeter von der Artillerie ſchon den Vor¬ zug gegeben hatte. Hier mußte eine Rivali¬ tät eintreten, welche der Liebe eben ſo ſehr galt, wie der Kunſt. Der Tambour verzweifelte nicht; indeſſen war er zu beſcheiden. Er fühlte, wie ſein Inſtrument, dieſe monotone Rhyth¬ mik, hinter der Trompete zurückſtand. Sein Gegenſtand war die Tochter eines Wiesbader Bürgers, eines Mannes, den man durch Aus¬ zeichnungen ehren konnte. Und wie zeichnete ihn der Trompeter aus! Wenn er des Abends in des gehofften Schwiegervaters Gärtchen ſaß, ſiehe, dann ſetzte er das ſilberne Mundſtück an die glänzende Trompete und blies den Parade¬ marſch, Friſch auf Kameraden! alle Walzer,62 von denen des Kurſaals an bis zu dem Zweitritt der Kirchweih. Das erfreute die Herzen die¬ ſer Menſchen. Die Nachbarn ſammelten ſich: ſie lauſchten, ſie klopften an die Gartenthür, ſie kamen herein und tanzten auf dem grünen Raſen. Der Schwiegervater hatte den gan¬ zen Abend die Nachtkappe zu lüften, und war unbeſchreiblich geehrt. Und wenn der Trom¬ peter mit ſeinen luſtigen Stücken Feierabend machte und ſie alle aus dem Gärtchen mußten, um in der Finſterniß die Beete nicht zu ver¬ derben, dann blieb er mit der Tochter noch al¬ lein und blies ihr Arien der Schwärmerei vor, Schöne Minka; Mich fliehen alle Freuden, mit ſterbenden, gedämpften und wie durch Zug¬ wind gehauchten Tönen, bis Alles ſtill wurde. Der Tambour hörte dieſe Scenen täglich und ver¬ ging vor Wehmuth. Er war eine ſanfte, ächt deutſche Heimwehnatur, voller Empfindung und Ehrgefühl. Jede Nacht badete er ſich in Thrä¬63 nen und ſchlug die Morgenreveille mit matten Händen. Das Feuer ſeiner Augen erloſch. Er fluchte ſeinem Inſtrumente, fluchte der Artil¬ lerie und ihren Trompeten. Was hatte er an ſeiner Trommel! dieſem dummen Lärmkaſten, bei deſſen Tönen ſich die Gebildeten der Na¬ tion das Ohr zuhalten, dieſer Klangma¬ ſchine, die, wie man mich in meiner Kindheit überredete, nur dazu da iſt, auf dem Schlacht¬ felde das Geſchrei der Verwundeten zu über¬ täuben! Zum Unglück gab es Augenblicke, wo der Tambour nichtsdeſtoweniger auf ſein In¬ ſtrument eiferſüchtig wurde. Iſt es nicht das wohlthätigſte Inſtrument, ſchlußfolgerte er, wenn es den Menſchen anzeigt, wo Feuer ausgebro¬ chen iſt, um welche Zeit das Thor geſchloſſen wird; kann es rührendere Töne geben, als die dumpfen Wirbel beim Begräbniſſe eines mei¬ ner Kameraden! Bei der Erinnerung an den Tod ſtürzten ihm die Thränen aus den Augen,64 von jenſeits drang die Trompete ſeines glück¬ lichen Nebenbuhlers herüber, ach! dieſe freudi¬ gen Töne durchſchnitten grauſam ſeine zitternde Seele. So ſchwand er hin und wurde immer mehr das blaſſe Bild der Reſignation. Er dachte nur an den Tod und ſagte oft, wenn er nicht käme, ſo müſſe er ſelbſt ſich ihn geben. Damit ging er lange um und weinte viel, ſo oft er beim Abendmahl und in der Kirche war. Aber es half nichts: die Liebe zermalmte ſein Herz, die Eiferſucht vernichtete ſeinen Stolz, ſtatt ihn zu erheben. Noch einmal richtete er ſich eines Abends auf, wo Alles ſtill war, am Tage vor der Hochzeit der Trompeterbraut, und ſetzte ſich dicht unter ihr Fenſter auf einen Stein. Zwiſchen den Füßen hielt er die Trommel ein¬ geſpannt, und begann ſie in der Stille der Nacht, wo Alles ſchlief, ſo ſchwermuthsvoll und ſanft zu rühren, daß es lange währte, bis mehr darauf achteten, wie das Mädchen oben in der65 Kammer. Sie hörte dieſe Serenade, ſie wußte Alles, denn ſie hatte den Tambour gekannt, ihn bevorzugt, ehe die Trompete kam. Sie zitterte unter der Bettdecke, denn es klang, wie zum Grab ſo hohl unterm Fenſter. Aber die Töne hoben ſich, die Schlägel wurden dringender, die abgeſtoßenen Punkte folgten Schlag auf Schlag: ſie mußte aufſpringen vor Entſetzen; die ganze Straße ſchien zu grollen und die Steine dumpf an einander zu ſchlagen. Man rief: Feuer! Sie riß das Fenſter auf. Draußen war alles ſtill; der Tambour war nirgends zu ſehen; auch beim Appell nicht. Man ſchiffte ſeine Trommel bei Mainz an der Rheinbrücke auf: ihn ſelber einen Tag ſpäter auf der nämlichen Stelle.

Wally hatte von dieſer Erzählung erwartet, daß ſie in einer Beziehung mit Schwalbach ſtünde und allem, was auf dieſe Erwartung keine Rückſicht nahm, nur eine oberflächliche Aufmerkſamkeit geſchenkt. Sie blickte Cäſar mitGutzkow's Wally. 566ruhigem Auge an, und fragte kalt, was in die¬ ſer Geſchichte mit Schwalbach zuſammenhinge? Cäſar fand dieſe Frage natürlich und legte ſie ſich nicht ſo empörend aus, als ſie urſprüng¬ lich war.

Dieſe Hiſtorie, fuhr er fort, iſt mehre Jahre alt. Der Trompeter heirathete die Tochter des Wiesbader Bürgers, nahm ſeinen Abſchied und zog nach Schwalbach, wo er die Direktion der Muſiken für die Saiſon zu über¬ nehmen pflegt. Aber ſeine Frau leidet ſeit jener traurigen Kataſtrophe ihres verſchmähten Liebhabers an einem unheilbaren Uebel. Hät¬ ten die Aerzte nicht ſchon zuweilen ähnliche Beobachtungen gemacht, ſo würde man ver¬ ſucht ſein, hier an einen Spuk, an eine Rache des geſpenſtiſchen Tambours zu glauben. Die Frau des Trompeters hört Tag und Nacht ein dumpfes Murmeln an ihrem Ohr, das ſich zu verſchiedenen Zeiten ſteigert und ihr wie der67 Ton einer Trommel vorkommen muß. Nachts ſchreckt ſie aus dem Schlaf auf, zeigt mit ſtie¬ rem Blick auf die Thür, wo ſie den blaſſen, kleinen Mann mit ſeinem Inſtrumente zu er¬ blicken glaubt; ſie hat nicht Ruhe, wie tief ſie ſich auch in die Kiſſen des Bettes hineinwühlt. Die Aerzte nennen dies eine unnatürlich prä¬ ponderirende Kraft des Gehörſinnes und kön¬ nen ſich auf die gleichzeitige Thatſache berufen, daß alle übrigen Sinne der Frau allmählich ſchwinden, und der übermäßig hervorbrechenden Gehörskraft zu weichen ſcheinen. Dabei iſt ſie abgefallen und bleich, ihr äußerer Körper ver¬ ringert ſich immer mehr: ich ſahe ſie, es iſt eine ganz abſorbirte Erſcheinung, die Grauſen erregt. Sie ſelbſt hat den feſten Glauben an die Rache des Tambours, oder wie es dieſe Leute nennen, daß er im Grabe keine Ruhe habe. Sie verſicherte mich, daß das Geſpenſt ihr überallhin folge, in Küche, Boden und Kel¬5 *68ler; ja auf dem Wege, ſelbſt im Walde ſähe ſie ihn oft, den Todten, wie er leibhaftig vor ihr ſtehe, die kleine, bleiche Figur, mit der Trommel auf dem weißen Schurzfell und dieſelben gelble¬ dernen Bandeliere um die Schultern gehängt, welche uns Preußen ſo fatal ſind. Die Aerzte wiſſen, daß die Frau bald ſterben muß an to¬ taler Nervenentkräftung. Ich glaub 'es. Gott, da ſteht ſie!

Wo? ſchrie Wally auf.

Cäſar lachte. Es war ein Scherz; aber ſie hatte ihn übel aufgenommen und ließ ſich mit der bitterſten Laune über ſeine Späße und abentheuerlichen Erzählungen aus.

Gehen Sie mit Ihren Trommeln und Trompeten! Womit Sie ſich doch alles ab¬ geben! ſagte ſie mürriſch, empfahl ſich, und wandte ſich allein dem Kaiſerſaal zu, wo ſie wohnte.

69

9.

Dieſe Scene war bald vergeſſen. Auf die regneriſchen Tage folgten mit dem Sonnenſcheine tauſend Aufforderungen der Natur, ihre Reize zu genießen. Bis in die entfernteſte Umgegend trugen Eſel und kleine Gefährte den weiblichen Theil der Geſellſchaft, welche als die Crème der Saiſon ſich zuſammengefunden hatten. Wally war eine ſprühende Girandole von Freude und Ausgelaſſenheit. Sie bildete den wahren Mit¬ telpunkt der Geſellſchaft, ſo aber, wie es Waſ¬ ſerkünſte gibt, wo man nur hier zu drücken braucht, um auf der entgegengeſetzten Seite überall luſtige Fontänen ſpringen zu laſſen. Cäſar war verſchloſſen und reflektirte viel. Dem Beobachter konnte es nicht entgehen, wie tief ſich Wally in ſeine Neigungen eindrückte. Wenn70 es nicht Liebe war, die ihn trieb, ſo war es die Aufgabe, die ſich ſeine Eitelkeit geſtellt hatte, Wally, dieſe Ungezähmte und Un¬ bändige überwunden zu haben. Hütet euch, ihr Frauen! die Liebe der meiſten Männer iſt nichts, als eine Huldigung, welche ſie ſich ſelbſt bringen.

Der Rhein ſollte das Ziel einer Spazier¬ fahrt ſein, der ſich eine große Anzahl von Bad¬ gäſten angeſchloſſen hatte. Wally war noch vor dieſem Ziele zu ſehr ermüdet, als daß ſie weiter konnte. Sie blieb bei einem der Bedien¬ ten zurück, um die nachkommenden Wagen ab¬ zuwarten. So trennte ſie ſich unbemerkt von der Geſellſchaft, ſo daß Cäſar, der auf Ab¬ wegen dem Zuge nachgeritten war, erſtaunte ſie allein zu finden. Er ſprang vom Pferde und gab es dem Bedienten. Wally und Cäſar gingen voran.

Der Verführung eines grünen Raſenplatzes71 mitten im Walde widerſtanden ſie nicht. Wäh¬ rend der Wagen und Cäſars Pferd auf der Straße hielten, giengen ſie dem einladenden Ruheorte entgegen und ſetzten ſich auf abgeſägte Baumrümpfe nieder. Es lag etwas Mecha¬ niſches in dieſen Bewegungen, als wenn eine Verabredung ſtatt gefunden hätte und doch ſchwiegen beide. Sie ſprachen noch immer nichts, auch als ſie beide mit geſtüztem Haupte ſich gegenüber ſaßen.

Seit einiger Zeit ſind Sie auf mich er¬ zürnt, Cäſar! ſagte dann Wally.

Ein Lächeln, das man kennen muß, um zu wiſſen, daß es nur die Maske eines tieferen Schmerzes iſt, flog über ihre Mienen. Das Lächeln Cäſars konnte Beiſtimmung oder Ver¬ wunderung ſein. Er war klug genug, ſie dar¬ über im Unklaren zu laſſen.

Ihre Geſchichten haben mich kalt gelaſſen; fuhr ſie fort.

72

Daran dachte Cäſar nicht mehr; aber er ſagte: hab 'Ich ſie denn verfaßt?

Nach einer Pauſe ſeufzte Wally tief auf, ſchlug ihren Blick zu Boden und begann eine Perſpektive in ihr Inneres zu geben, die Cä¬ ſar neu war, an ihr zumal, und die ihn ent¬ zückte. Ich muß mich, ich muß die Frauen haſſen; ſagte ſie ſtill; von Natur ſind wir grauſam und zu den Gefühlen, welche wir zu äußern wohl unter Umſtänden fähig wären, haben wir urſprünglich nur die bloßen Anlagen. Glau¬ ben Sie es, Cäſar, die Frauen gedeihen nur durch die Männer. Sie ſelber wären im Stande, ſich unter einander zu zerfleiſchen. Niemand kann bei dem Elende der Menſchen, bei Krieg, Erdbeben, öffentlichem und Privatunglück em¬ pfindungsloſer ſein, als die Frauen. Verſtehen Sie mich recht, ſo lange wir allein ſtehen. Was wir von Gefühl urſprünglich haben, das iſt mehr Schauer, als Bewußtſein, mehr thie¬73 riſche Furcht, als Reflexion einer edlen Seele. Ach, ich zittre oft vor einer Empfindungsloſig¬ keit, die ich nicht zu heilen weiß!

Aber woher die ſpätere Metamorphoſe der Frauen? fragte Cäſar, erſtaunt über die Wahrheit, welche ſich in Wally's Antlitze ausdrückte.

Sie ſtockte: ſie blickte ihn an. Er errieth und ſank zu ihren Füßen.

So lange dieſe Situation ſtumm war, konnte ſie zwiſchen beiden wohl empfunden ſein; als aber Wally nach einem Worte ſuchte, wies ſie ihn zurück.

Ihm war es recht; denn die Reflexion ſchlug ihn in den Nacken, und hatte ihn unwillkür¬ lich aufgeriſſen, da er auf nichts in ſeinem Herzen Vorbereitetes ſtieß und ihm jede Si¬ tuation fatal war, in der er ſich ſelbſt nicht hätte beobachten können.

74

Sie ſaßen beide wieder auf ihren Baum¬ ſtämmen. Doch war es eine warme Stim¬ mung, die ſich ihrer bemächtigt hatte, in der ſie wenn auch über nichts entſcheiden, dennoch über Alles unterhandeln konnten.

Wally verhehlte nicht, daß die Zauberruthe, welche die im Herzen des Weibes ſchlummernden Gefühle erſt wecke, die Liebe ſei. Cäſar er¬ griff ihre Hand und ſagte: Wir ſind für die Illuſion beide nicht gemacht. Eine Mücke würde uns ſtören, wollten wir zu den Ster¬ nen beten. Jede Aufwallung, bei der wir nur einen Augenblick unſre Manieren nicht in der Hand hätten, würde uns lächerlich ſcheinen. Helfen wir uns beide! Eine kurze Ueberein¬ kunft kann uns auf die Stufe verſetzen, welche uns alle jene Glückſeligkeit gewährt, die wir durch Zurückhaltung, Schaam, natürliches oder kokettes Weſen niemals erreichen. Wally! Wally!

75

Jetzt lag Cäſar zu Wally's Füßen, wahr¬ haftig, ohne Bewußtſein, von einem ungeheuchel¬ ten Gefühle übermannt. Aber was warf ihn nieder? Nicht die Liebe, ſondern der Gedanke an eine Humanitätsfrage, die niemanden von euch fremd iſt: der Gedanke an jene Augen¬ blicke, wo wir, überdrüſſig der conventionellen Formen des Lebens, zu aller Welt herantreten möchten und ihr zurufen: O warum dies Gehäuſe von Manieren, in welches du Spröde dich zurückziehſt? Warum dieſe Verhüllung des Menſchen in und an dir? Warum Zurückhal¬ tung, du, mein Bruder, du, meine Schweſter, da du doch gleichen Weſens mit mir biſt, eine Hand wie ich zum Drucke, einen Mund wie ich zum Kuſſe haſt? Ach, wie ſeh 'ich rings um mich her eine ſo reife Ernte von Liebe und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre, daß ich ſie breche? Warum nicht das Ent¬ zücken, daß wir alle Menſchen ſind, ſchwach und76 ſtark, ſterblich und unſterblich! Dieſe unſicht¬ baren Barrieren, welche die Menſchen trennen, welche auch den Jüngling vom Mädchen tren¬ nen, müſſen fallen; denn ich kenne dich, dein Alles, dein Gehen und Stehen, deine Schwä¬ chen und Tugenden: ſiehe! hier iſt meine offne Bruſt, hier ſchlägt mein Herz, ich bin nichts, was noch etwas anderes wäre, als es iſt, nichts, was du für etwas anderes halten dürfteſt. Weib, in deinen Augen, in den Formen deines Kör¬ pers biſt du überreif zur Liebe; und wenn ich dich heut zum erſtenmale ſähe, ſo pflückt' ich dich, denn wir ſind die Kinder eines und deſ¬ ſelben Planeten, ich Menſch, wie du, beide al¬ ternd, beide den Tod fürchtend, beide elend. Was weichſt du mir aus?

Wally zerfloß in Thränen. So faſt hatte Cäſar zu ihr geſprochen, und ſie fühlte das Entzücken, ſtatt eines Weibes Menſch zu ſein. 77Sie zitterte bei dieſer ächt philanthropiſchen Vorſtellung, welche, wenn ſie allgemein würde, die Welt durchaus umgeſtalten und ihre ſchwie¬ rigen Fragen im Nu löſen müßte. Sie ließ die Umarmung Cäſars zu: nicht, weil ſie ihn liebte, oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann überwunden zu haben, ſondern weil ſie ſich als das ſchwache Glied der großen Weſenkette fühlte, die Gott erſchaffen hat, weil ſie wußte, daß ſie ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt und bloß und mitleidswürdig war, weil ſie zu¬ letzt glaubte, daß dieſe heißen Küſſe, welche Cäſar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen gälte unterm Sternenzelt.

Sehet da eine Scene, wie ſie in alten Zeiten nicht vorkam! Hier iſt Raffinirtes, Gemachtes, aus der Zerriſſenheit unſrer Zeit Gebornes: und was iſt die Wahrheit Romeo's und Juliettens gegen dieſe Lüge! Was iſt die78 egoiſtiſche Geſchlechtsliebe gegen dieſen Enthu¬ ſiasmus der Ideen, der zwei Seelen in die unglücklichſten Verwechſelungen werfen kann! Ich zittre vor einem Jahrhundert, das in ſeinen Irrthümern ſo tragiſch, in ſeinem Fluche ſo anbetungswürdig iſt.

79

10.

Die Uebereinkunft der Liebe zwiſchen Wally und Cäſar mußte ihren Verhältniſſen ein neues Colorit geben. Wir fürchten, daß die Farben allmählig erbleichen werden. Aber noch ſind ſie hell und friſch; noch liegt auf Wally's An¬ tlitz der melancholiſche Schatten jener entzük¬ tenden Verirrung, in Cäſars Mienen die Re¬ ſignation und Selbſtzufriedenheit, welche ſelbſt blaſirte Charaktere und verwitternde Natürlich¬ keiten ergreifen kann, wenn der immer durſtige Becher ihrer Wünſche einmal voll iſt bis an den Rand der Erfüllung. Das Wiederfinden eines Jugendfreundes unterſtützte Cäſars re¬ flektirende Perſönlichkeit ſich in einer Welt zu halten, in welcher er ſich ſeit einiger Zeit gefiel.

Waldemar hieß der neue Ankömmling, ein80 Mann, der einſt blühend und ſchön war, in der Reſidenz zu Wally's Anbetern gehörte, dann heirathete und trotz der glänzendſten Verhält¬ niſſe zu keiner Freude kam, da ſeine Gattin an unheilbaren Uebeln ſiechte. Die Stim¬ mung dieſes Mannes theilte ſich ſeinen Umge¬ bungen mit, erſt auch Cäſar, verlor ſich aber an dieſem in dem Augenblick, als ſie für ihn durch folgende gemiſchte Anekdote einen Grund bekam.

Seit Waldemars Ankunft im Bade hatte ſich nämlich das ſtille Bärbel von den beiden Indien zurückgezogen. Ihr Betragen gegen ihn ließ keinen Zweifel, daß dieſer Mann die Ur¬ ſache ihrer Geiſtesverwirrung geweſen war. Sie verfolgte Waldemar, wo er ſich nur blicken ließ, und weinte oft auf dem Wege, wenn er in zahlreicher Geſellſchaft vorüber ging. Jeder mann kannte den Zuſammenhang dieſer tragi¬ ſchen Comödie, doch wollten nicht Alle glauben,81 was Waldemar verſicherte, daß er ſich dieſes Mädchens durchaus nicht entſinne, nie mit ihr ein Wort gewechſelt, und auch im vorigen Jahre zum erſtenmale Schwalbach beſucht habe. Cä¬ ſar aber glaubte dieſen Verſicherungen; denn Waldemar war eine treue Seele, die Nieman¬ den betrüben konnte, noch weniger aber wäre eine Unwahrheit über ſeine Zunge gekommen. Er nahm den Wahnſinn Bärbels von der lächer¬ lichen Seite und ſuchte Waldemar zu tröſten. Ja, dieſem melancholiſchen Manne fehlte nur noch eine neue Urſache ſeiner Schwermuth!

Wally befand ſich in einer Stimmung, die ihr den Verkehr mit beiden Männern, der immer gewiſſe Gränzen und Nüancen hatte, recht zum Genuß machte. Einſt wollte ſie in einem Garten zu ihnen unbemerkt herantreten, während beide Freunde unter einem Bosket von verwelkenden Roſen ſich unterhielten; da ſie aber hörte, daß ihr Geſpräch religiöſe Saiten aufgezogen hatte, ſoGutzkow's Wally. 682fürchtete ſie, etwas zu verſtimmen, und blieb unwillkürlich in einer Weite ſtehen, daß ihr von dem Geſprochenen nichts entgieng und ſie dabei doch ungeſehen blieb. Sie fühlte das Mißliche dieſer Situation in einem Augenblicke nicht, wo alle ihre Seelenfäden Geſpinnſte zu ſchießen begannen, in die ſie ſich immer tiefer verſtrickte, wo es einer Unterſuchung über die Religion galt.

Hätt 'ich einen größeren Wirkungskreis, ſagte Waldemar, vielleicht gelänge es mir dann, den Unmuth meiner Seele zu zerſtreuen, wie auch jene Berge, auf welchen viel Wald¬ leben herrſcht, Tannen rauſchen und die Natur in einer ſteten Bewegung iſt, die Nebel ſich leichter zerſtreuen. Ich bin ein kahler Hügel, jedem Windzuge offen, und von jeder Wolke gleich bis tief unter die Augen bedeckt. Nach ideellen Schutzwehren ſuch' ich eben ſo verge¬ bens. Die Politik iſt nur im Stande, meine83 Schwermuth zu vermehren, und die Religion hat man mir durch meine Erziehung verleidet.

Wer wird auch, entgegnete Cäſar, bei üblen Stimmungen Hülfe von der Religion erwarten! Religion iſt das Produkt der Ver¬ zweiflung: wie kann ſie die Verzweiflung heilen?

Sie ſollte es wohl; jede Religion ſoll es, welche die Miene der Offenbarung an¬ nimmt, ſagte Waldemar. Aechte Religion iſt poſitive Heilkraft; aber gleicht das Chriſten¬ thum nicht einer Latwerge, die aus hundert Ingredienzien zuſammengekocht iſt? Meine Ver¬ nunft ſagt mir, auch ohne Hahnemanns Or¬ ganon, daß die Krankheiten immer einfache und nur die Symptome zuſammengeſetzt ſind, daß die Natur für jede ihrer Abnormitäten eine mediziniſche Rektifikation im ſimpeln Zuſtande hat und daß in einer Mixtur von Heilkräften eine Kraft die andere aufhebt. Die unerhörte Ueberladenheit des Chriſtenthums aus traditio¬6 *84nellen, hiſtoriſchen und bibliſchen Urſachen macht aber, daß es für den Schmerz der Seele ganz ohne Wirkung iſt. Eines ſeiner Dogmen ſtört das andre.

Ein Krampf ſchnürte Wally's Bruſt zuſam¬ men. Sie wankte ohnmächtig fort, bis jener Referendar, der über das Unzeitgemäße der politiſchen Garantien geſchrieben hatte, ihren Arm ergriff und ſie zu Waldemar und Cäſar führte, von denen er den erſten geſucht hatte.

Waldemar! rief er: was Sie glück¬ lich ſind! Ein Ehegatte, und noch bringen ſich Ihretwegen die Frauen um.

Was wollen Sie damit? fragte Wal¬ demar.

Sie müſſen nicht erſchrecken, ſagte je¬ ner; aber Ihr verlaſſenes Bärbel iſt todt. Sie ging geſtern den ganzen Tag um Schwal¬ bach herum, ſich ein Grab zu ſuchen, blieb dann noch lange bei den beiden Indien, wankte85 darauf mechaniſch fort bis an das Schloß Naſ¬ ſau, wo ſie ſich von der eiſernen Hängebrücke hinabgeſtürzt hat. An der linken Seite von hier, da wo der Brunnen auf der Brücke ſteht, ſoll ſie noch mehre Stunden geſeſſen haben, wie die Leute verſichern, die ſie dort ſahen. Die Gerichte von dort ſchicken dieſen Ring mit, der an dem Finger des Mädchens ſich befand. Ich hab 'ihn hier.

Waldemar erblaßte. Mein Gott! ſchrie er. Dieſer Ring

Cäſar ſprühte auf: Wie? rief er; Waldemar, du hätteſt dennoch

Ja, bemerkte der Dritte: ich kenn 'ihn. Sie trugen dieſen Ring vor mehren Jah¬ ren, Waldemar.

Wally trat hinzu und nahm den Ring. Sie betrachtete ihn und gab mit unpaſſender Hei¬ terkeit die Erklärung: Waldemar, Sie gaben86 mir vor drei Sommern dieſen Ring. Iſt eine Verheirathung dem Gedächtniſſe ſo ſchädlich?

Aber wie kam die Unglückliche zu dem Ringe, den alle Welt als ein Pfand meiner treuloſen Verſicherungen auslegen wird? fragte Waldemar mit bleichen Lippen, die doch wie¬ der ſprechen konnten, nachdem er ſich auf die Huldigungen beſann, die er einſt Wally ge¬ bracht hatte.

Ich hatte die Gewohnheit, ſagte Wally, die Ringe meiner Verehrer jährlich im Bade zurückzulaſſen, indem ich ſie in die Becher, die am Sprudel ſtehen, warf, und dieſe dann ar¬ men Leuten oder Kindern zu trinken gab. So iſt die Närrin wohl zu dem Geſchenke ge¬ kommen.

Gut erfunden! flüſterte der Referendär, dem im Augenblick auch ſein Ehrenhandel mit Cäſar einfiel. Wally blickte etwas ſtolz: man87 kann durchaus nicht ſagen, warum? und reichte dem Menſchen ihren Arm.

Waldemar ſaß in tiefes Nachſinnen verſun¬ ken. Wie wunderbar war der Zuſammenhang dieſes unglücklichen Ereigniſſes! Man konnte verſucht werden, an eine magnetiſche Einwir¬ kung zu glauben. Wer erklärte ihm, wie ein Ring eine Neigung veranlaſſen konnte zu einem Manne, den man nie geſehen! Wie kam es, daß die Arme, gleich als ſie ihn zum erſten¬ male ſahe, ihn als den Eigenthümer des Rin¬ ges erkannte, den ſie liebte und mit einer wirklichen Perſon verwechſelte! Er ging tief bekümmert in ſeine Wohnung und überredete ſeine kranke Gattin, mit ihm ſogleich den Schau¬ platz ſo unheimlicher Begebenheiten zu verlaſſen.

Was aber empfand Cäſar bei dem Ereig¬ niſſe? Nicht das Ereigniß ſelbſt, nicht den Schmerz ſeines Freundes, ſondern nur Eines, was ihn ſchon oft bei Vergleichung des Todes88 mit dem Leben intereſſirt hatte. Das arme Bärbel war vor ihrem Ende unruhig in dem Flecken herumgewankt und hatte den Tod ge¬ ſucht, der ihr nothwendig ſchien. Sie war bis nach der eiſernen Brücke gelaufen, um den Trö¬ ſter ihrer Leiden zu finden. Iſt es beim Selbſt¬ morde eine unſichtbare Hand, die die Kehle zuſchnürt? Geht man wahnſinnig, ohne Be¬ wußtſein in den Tod, wie die Mücke in das brennende Licht ſtürzt? Oder iſt man bei et¬ wa vorhandener Kraft, ſich noch als nachden¬ kend zu fühlen, ſchon ſo mit dem Tode ver¬ ſchwiſtert, daß jener weitere[Act] des Selbſt¬ mordes nur die Publikation eines Befehles wird, der ſchon abgemacht und im Stillen ausgeführt iſt? Darüber ſann Cäſar nach, und konnte ſich vor Schmerz nicht faſſen, als er bei dem Ver¬ folgen von Bärbels Benehmen nur darauf zu¬ rückkam, daß die Furcht vor dem Tode doch immer das Urſprüngliche und bis zum ſchwin¬89 denden Bewußtſein das Letzte ſei. Die Unzu¬ länglichkeiten der Erhabenheit, ſagte er, die Furcht vor dem Tode, der Schmerz, nicht wie Brutus, der alte und der junge tödten, nicht wie Cato ſterben zu können, die Bitte des Prinzen von Homburg, ihn leben zu laſſen: das iſt das Tragiſche unſrer Zeit und ein Gefühl, welches die Anſchauungen unſrer Welt von dem Zeitalter der Schickſalsidee ſo ſchmerzlich ver¬ ſchieden macht. Sie wollte ſterben, und lief einen ganzen Tag, einen Weg von ſechs Stunden, um den Tod zu finden, den ſie herzlich ſuchte und den ſie fürchtete!

So war Cäſar.

90

11.

Jenes feſte und präciſe Benehmen, das Wally bei der Aufklärung über den Ring ge¬ zeigt hatte, war nur durch die Situation her¬ vorgerufen worden. Auch wird ſich niemals ein Weib bei der Leidenſchaftlichkeit einer An¬ dern enthalten können, ſich aufzuſchnellen und mißachtend auf die fremde Verirrung herabzu¬ ſehen. Dieſe Stimmung war aber nur eine vorübergehende.

Die Erklärung, welche Waldemar über das Chriſtenthum abgab, hatte auf ihre Seele wie die Berührung eines kranken Zahnes gewirkt. Glaubt ihr, Wally habe nach einem Mittel¬ punkte ihres Lebens geſucht? Warlich nicht. Nirgends lagen etwa zerſtreute Bruchſtücke von Gedanken, die ſie gern verbunden hätte. Un¬91 mittelbar und zufällig war ihr ganzes Leben: nur im Religiöſen ſtand ſie oft, wie ein Wan¬ derer auf der Landſtraße, der den Weg verfehlt zu haben glaubt, ſich in der Gegend umblickt und mit ſeinem Ortsſinne ſich zu orientiren ſucht. Es war ein ganz bewußtloſes Sinnen, ein träumeriſches Fühlen, dem ſie ſich taſtend und anpochend hingab. Von einer Reflexion, einer zuſammenhängenden Unterſuchung konnte bei Wally nicht die Rede ſein. Sie litt an einem religiöſen Tik, an einer Krankheit, die ſich mehr in haſtiger Neugier, als in langem Schmerze äußerte. Sie war wie in einem Zimmer, das ſich plötzlich mit Rauch füllt und wo man ſich nicht anders helfen kann, als an das Fenſter zu ſpringen, es aufzureißen und mit einem unmäßigen Geſtus nach friſcher Luft zu haſchen.

Wally wußte ſelbſt nicht, was Alles zuſam¬ mentraf, ſie nachdenklicher als je zu machen. 92Sie hatte zum erſtenmale einige Beobachtun¬ gen über ihren Zuſtand in eine zuſammenhän¬ gende Kette aufgereiht. Sie war vor ihren Gedanken nicht ſcheu zurückgeſchreckt, ſondern hatte ſie diesmal ſcharf ins Auge gefaßt. In einem Brief an eine Freundin ſuchte ſie ihrer Angſt Luft zu machen.

Der Brief war vielleicht vollendet. Sie wagte nicht, was ſie hatte, wieder durchzule¬ ſen. Auch verzweifelte ſie während des Schrei¬ bens ihn abzuſenden. Sie zerriß ihn.

Einige Minuten blickte ſie die Reſte an; dann ordnete ſie mechaniſch, was davon noch vor ihr lag. Die Linien und Buchſtaben pa߬ ten zuſammen. Jetzt erſt las ſie ihn, wo ſie gleichſam wußte, daß er ihr nichts mehr ſcha¬ den könne.

Meine theure Antonie, hatte ſie geſchrie¬ ben; deine geſchmackvollen Muſter, das ſehr hübſche Diadem, was aber wohl zu meinem93 Haare nicht ſtehen wird, auch die engliſchen Nadeln und die neuen Touren zum Cotillon hab 'ich bekommen. Ich danke dir, An¬ tonie! Verzeih mir nur, daß ich nicht jetzt auch mit all dem Entzücken davon ſpreche, das ich wirklich über deine Gefälligkeit und die Ge¬ genſtände derſelben empfunden habe. Du glaubſt nicht, in welcher wunderlichen Stimmung ich heute bin. Und heute mußte ich doch ſchrei¬ ben Morgen würd' es ſchon beſſer ſein. Nur eins ſage mir, Antonie, haſt du wohl in dei¬ nem Leben einen frohen, recht frohen Augen¬ blick gehabt? Ich beſinne mich vergebens auf einen; denn es iſt doch immer eine peinliche Unruhe und Haſt, von der wir getrieben wer¬ den, eine Aengſtlichkeit, von welcher die Män¬ ner keine Vorſtellung haben. Zuweilen erſchreck 'ich vor dieſer pflanzenartigen Bewußtloſigkeit, in welcher die Frauen vegetiren, vor dieſer Zu¬ fälligkeit in allen ihren Begriffen, in ihrem94 Meinen und Fürwahrhalten. Der Augenblick iſt der Urheber unſrer Handlungen und die Ver¬ geßlichkeit die Richterin derſelben. Ach, An¬ tonie, ich beſchwöre dich! Nimm dieſe Klagen nicht als die Frucht eines regneriſchen Tages; o ich leide an einem Schmerze, der unheil¬ bar iſt, da ich ihn gar nicht zu nennen weiß. Das rennt, läuft, ſpringt, lacht, ſingt, weint, zankt, nun ſage mir um des Himmels Wil¬ len, was ſteckt dahinter? Was iſt der Kern dieſer ſpiralförmig fortkreiſelnden Unruhe? Die Männer ſind glücklich, weil man an ſie Anfor¬ derungen macht. Das Maaß ihrer Handlun¬ gen iſt der Beifall oder der Nutzen, den ſie damit gewinnen. Auch dies ſage, warum wir den Fauſt nicht leſen ſollen? Die Schilderung jener Zweifel, die eines Menſchen Bruſt durch¬ wühlen können, macht uns vertraut mit ihnen und die Wirkung derſelben für uns weniger gefährlich. Aber ich fühl' es, daß ſich in je¬95 des Menſchen Herzen innere Gedichte ent¬ wickeln, eine ganze Hiſtorie von Wundern, die wir zu erklären verzweifeln, Gedichte, in denen wir ſelbſt der von den Göttern verfolgte, ge¬ neckte, ſcheiternde, irrende Ulyſſes ſind. Das iſt alles halb, ſiehſt du. Es iſt noch immer nicht das, was ich ſagen möchte und nicht ſa¬ gen kann. Liebe Antonie, das iſt der Fluch: man verlangt nichts von uns, man will gar nichts, es kömmt gar nichts drauf an. Auch dies noch: wir haben einen Ideenkreis, in wel¬ chen uns die Erziehung hineinſchleuderte. Dar¬ aus dürfen wir nun nicht heraus und ſollen uns nur mit Grazie, wie ein gefangenes Thier, an dem Eiſengitter dieſes Rondels herumwin¬ den. Dieſe Gefangenſchaft unſerer Meinungen ach, war Spreu für den Wind! Rechte will ich in Anſpruch nehmen, für wen? für was? O Antonie, ich habe nichts, was werth wäre, gedacht: ich will gar nicht ſagen, ge¬96 meint oder geſprochen zu werden. Ich drücke an den Begriffen, die mir zu Gebote ſtehen; aber ſie ſind elaſtiſch und geben immer nach und gehen immer wieder zurück. So glaub 'ich, kommen auch die Revolutionen, wenn die Men¬ ſchen ſo viel Mühe haben, an ihrer Stirn hin - und herfahren und ihre welke Begriffstyrannei gern ſtürzen möchten mit etwas, was ſie ſuchen, aber nicht finden können. Dann ſchaffen ſie ſogar Gott ab, nämlich, weil ſie ihn wahrhaf¬ tig nicht verſtehen. Es iſt auch ſchwer, An¬ tonie! Die Schöpfung ſchon gut; aber wo¬ her? womit? warum? Der Menſch, der Affe, der Polyp, die Sinnpflanze, das Moos, der Stein, der Cryſtall, das Waſſer, die Luft, der Wind, Nichts: wo iſt Gott? Oder wollt ihr nicht den Weg des Waſſers gehen: ſo geht den des Feuers! Der Vulkan, das Licht, die Wärme, die Elektricität, der Magnetismus: wie kann Gott in der Volta'ſchen Säule ſtecken?

97

Hier mußte Wally laut auflachen, bei all ihrem Schmerz und Unglück. Der komiſche Conflikt der Schulweisheit mit ihrer Melan¬ cholie, die Vergleichung Gottes und jenes klei¬ nen Profeſſors der Phyſik, der ſie mit papi¬ nianiſchen Töpfen, Herobrunnen und Luftpum¬ pen ſo tief in die Natur hatte ſehen laſſen wollen, ob er gleich ſelbſt nur ein Auge hatte, das waren zu drollige Erinnerungen. Sie zuckte mitleidig mit ſich ſelbſt, über ſich ſelbſt die Achſel, und gieng Cäſar entgegen, der viel ungereimtes Zeug mit ihr zu ſprechen hatte.

Gutzkow's Wally. 798

12.

Ein Begegniß, das Wally kurze Zeit dar¬ auf erlebte, machte den erſten Abſchnitt in ihrem Leben. Es ſchien, als könnte ſie in ihrem jetzigen Aufenthalte die Heiterkeit nicht wieder gewinnen, welche ihrem Charakter entſprach. Ein Umſtand aber veranlaßte bald die Abreiſe von Schwalbach.

Wally war eines Abends ſpät und unmu¬ thig zu Bett gegangen. Die Lampe brannte noch auf ihrem Tiſche; aber ſie konnte nicht ſchlafen. Ihr Blut war in fieberhafter Auf¬ regung. Sie warf ſich unruhig hin und her, aber ihre Sinne wollten ſich nicht löſen.

Da ſprang ſie auf, ſetzte ſich an den Tiſch und fing all die Mittel zu prüfen an, welche die Leute anrathen, um in gleichmäßige Bewe¬99 gung des Bluts zu kommen. Sie zählte die zwölf Glockenſchläge an der Kirchthurmuhr, ſie zählte das Einmaleins her, von vorn und hin¬ ten, deklamirte das einzige Gedicht, welches ſie bei ihrem ſchlechten Gedächtniß auswendig wußte: Eine kleine Biene flog emſig hin und her, und ſog. Nichts half. Da erblickte ſie auf dem Tiſch die Anordnungen, welche ſie neulich ge¬ macht hatte, um an ihre Freundin zu ſchreiben. Sie ergriff die Feder und ſchrieb:

Meine theure Antonie, deine geſchmack¬ vollen Muſter, das ſehr hübſche Diadem, was aber wohl zu meinem Haare nicht ſtehen wird, auch die engliſchen Nadeln und die neuen Tou¬ ren zum Cottillon hab 'ich erhalten. Ich danke dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur

Abſcheulich! rief ſie aus, und trat an das Fenſter. Der Mond beleuchtete hier und dort einen Theil des engen Thales und ſeiner Um¬ gebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die7 *100aber nicht eilten, ſondern ſchwer auf ihm haf¬ teten. Es wehte kein Wind. In ſanfter, nächt¬ licher Stille ruhte die maleriſche Natur. Ein tannenſchwarzer Bergrücken begränzte auf der einen Seite die ovale Rundung des ſchlum¬ mernden Thales. Nirgends die Ahnung eines menſchlichen Weſens.

Wally hüllte ſich in einen leichten Nacht¬ überwurf. Ihr Zimmer lag zur ebnen Erde. Mit einem Tritte war ſie draußen im Freien. Ohne mehr zu wollen, als die Hitze ihres Blu¬ tes abkühlen, ſtieg ſie zur linken Hand die Straße hinauf, dann wieder hinunter zum Allee¬ ſaal hin. Sie wird nur einige Schritte unter den Bäumen auf und abgehen.

Als ſie ein weniges weiter gekommen war, vernahm ſie ein ſonderbares Geräuſch, welches man für das Seufzen einer ſchwankenden Pap¬ pel hätte halten können, wäre ein ſtarker Wind gegangen. Sie erſchrak, wie dieſe Laute ſich101 immer deutlicher als Geſtöhn und ſchmerzliche Klage zu erkennen gaben. Es war wie das Jammern eines Verwundeten, der ſich fürchtet, durch übergroßen Schmerzausdruck des Mundes vielleicht die brennenden Leiden ſeines Scha¬ dens deſto ſtärker zu machen.

Wally blieb betroffen ſtehen. Ihr ſiedendes Blut gerann und die Fieberhitze wich einer kal¬ ten Erſtarrung, in die der Schreck ihre Glie¬ der verſetzte.

Sie ſahe, daß ſich im Hintergrunde der Allee Etwas bewegte, das auf ſie heranzukom¬ men ſchien. Die Angſt hatte ſich ihrer Seele ſo ſehr bemächtigt, daß ſie nicht einmal wagte, zu entfliehen. Wie angewurzelt blieb ſie ſtehen, und wankte nur, als eine menſchliche Figur immer näher trat, mechaniſch hinter einen Baum, von dem ſie glaubte, daß er ihr Schutz gewähren könne.

Ein Weib kam mit händeringenden Geber¬102 den. Sie wandte ſich oft geſpenſtiſch um und ſuchte etwas, was man nicht ſehen konnte, von ſich abzuwehren. Dann fuhr ſie mit einer grauenerregenden Vehemenz und ſie begleiten¬ dem Geheul in die Gegend ihres Kopfes, als wolle ſie etwas bedecken oder irgend einen über¬ großen Schmerz ſtillen. Wally zitterte.

Jetzt ſtand die Unglückliche, welche nicht im Fieber zu ſein, ſondern das volle Bewußt¬ ſein zu haben ſchien, dicht vor ihr. Wally ſahe, wie ſie ſchwankte und zu Boden ſtürzte. Mit einem fürchterlichen Geſchrei wühlte das entſetzliche Weib ihren Kopf in den loſen Sand und rang, ihre Hände gleichſam zu vervielfäl¬ tigen, um den Kopf von allen Seiten bedecken zu können. Dabei ſtöhnte ſie wieder, und ſahe ſich, wie tief ſie auch den Kopf in den Sand hineingewühlt hatte, um, und fuhr mit einem gräßlichen Schrei auf, als hätte ſie einen Geiſt103 erblickt, bis ſie ohnmächtig und beſinnungslos in dieſer gräßlichen Lage verſtummte.

Wally wagte nicht, einen Laut von ſich zu geben. Als das Weſen ſich beruhigte, verſuchte ſie aufzutreten, ob man ſie auch nicht hören könne, wagte dreiſtre Schritte, und floh, als ſie eine Strecke weit von der Scene entfernt war, der ſie hatte beiwohnen müſſen. Sie fror an allen Gliedern, als ſie auf ihrem Lager ſich gebettet hatte und ſchlief ein aus Furcht.

Am folgenden Morgen betrieb ſie die Ab¬ reiſe. Die Tante zögerte. Unter keiner Be¬ dingung! rief Wally; ich bin eines Ortes müde, der mich umbringen muß. Das war ein fürchterlicher Ausdruck; die Tante war dieſe Wendungen nicht gewohnt. Sie entſetzte ſich und reiſte ab.

Als Cäſar ſie beide an den Wagen beglei¬ tete, erzählte er ihnen noch, daß die Frau des Trompeters an der geſpenſtiſchen Trommelmuſik104 ihres Ohres dieſe Nacht geſtorben ſei. Sie ſei vor Unruhe aus dem Hauſe gerannt, habe Nachts die ganze Stadt durchirrt, um den grauenhaften Tönen zu entfliehen, und ſei in der Allee gefunden worden, wie ſie mit dem Kopf in den Sand gewühlt dagelegen.

Wally winkte mit der Hand, daß er ſchwei¬ gen ſolle.

Cäſar aber glaubte, daß ſie ihn zum Ab¬ ſchied grüße; die Pferde zogen an und, den Spruch des großen Römers parodirend, ſagte er zu dem Fahrzeuge: du trägſt Cäſar und ſein Glück!

[105]

Zweites Buch.

[106][107]

1.

Der Sommer reifte zur Ernte. Aus ſeinen letzten Fäden ſpann ſich ein Herbſt voll Kel¬ terluſt. Die Aſtern ſammelten noch einmal alle Farben der ſchönen Vergangenheit, dann ſtarb die Natur und was zurückblieb, legte den Froſtreif und Nebelflor der Trauer an. Die Ströme gerannen, die Wolken zerrieben ſich zu Schneeflocken. Der Winter kam in ſeinen Pelz¬ ſchuhen angeſchlichen, und klopfte mit Weih¬ nachtsfreuden an die Reifblumen der Fenſter an.

Wally wirbelte ſich in einer Luſt, die ſie ſo zauberhaft zu regeln verſtand. Was Religion! Was Weltſchöpfung! Was Unſterblichkeit! Roth oder blau zum Kleide, das iſt die Frage. Ob's108 beſſer iſt, die Haare zu tragen à la Madelaine oder ſie zuſammen zu kämmen zu chineſiſchem Schopfe? Tanzen vielleicht auch Sprüch¬ wörter aufführen o nur gering iſt die Zahl der Vergnügungen, welche im Verhältniß zur zunehmenden Civiliſation nicht mehr lächerlich ſind: ſo ſehr gering! falls man ſich ſelbſt ſo viel liebt, nicht Karten zu ſpielen, jene melan¬ choliſchen Spiele Albions und der nordameri¬ kaniſchen Yankees, wenn man noch wie Mendel¬ ſohn philoſophiſch und kantiſch genug iſt, für den Scherz keinen Ernſt und für den Ernſt keinen Scherz aufzuwenden!

Aber eine Unterhaltung iſt unerſchöpflich; ein Spiel unermüdlich. Das iſt die Koketterie. Wally hatte damit alle Hände und alle Mie¬ nen voll zu thun. Künſtliche und natürliche Launen waren die Zahlen, mit welchen ſie ihre Umgangsexempel zuſammenſetzte. Wally ließ die ganze Welt wie elaſtiſche Figuren auf dem109 Reſonanzboden ihrer Einfälle ſpringen. Sie ſpielte die capriciöſen Melodien zu allen dieſen Bewegungen, welche ſie lachen machten. Was wollte ſie auch mehr? Sie wollte nicht einmal den Ruf davon, die Neigungen ihrer Umgebungen ſo unübertrefflich eskamotiren zu können. Sie that alles ohne Stolz, ohne Abſicht, ohne Bewußtſein. Sie war bezaubernd!

Cäſar war die Balancirſtange dieſer Equi¬ libres. Er rektificirte wie irgend ein chemi¬ ſches Natron alle die barokken Confuſionen, welche Wally anrichtete. Cäſar fiel dabei bald hier, bald dorthin, in jenem erſten Bilde. In dieſem letzten nahm Wally bald größere, bald kleinere Portionen von ihm. Er fehlte aber nie, und dieſe perſpektiviſche Verſchiebung bald zu einer Gunſt von einer Linie, bald zu einer von zwei Zollen, oder drei, hielt ihn in der Spannung, welche Männer allein zu feſſeln im Stande iſt. Es iſt möglich, daß Cäſar110 Wally liebte, wenigſtens war ſie ihm eine Ver¬ traute geworden. Er hätte ſie vielleicht einem andern abtreten können; aber von ihr ſich trennen, das konnte er nicht. Und doch! Viel¬ leicht! Wir ſind Charlatane, wir können alles!

Es war auf einem glänzenden Balle, der am Hofe gegeben wurde. Cäſar, der nicht tanzte, weil die Prinzeſſinnen zugegen waren und es ihn beleidigt haben würde, wenn ſie ihm durch ihre Kammerherrn die herkömmlichen Aufforderungen geſchickt hätten, zog ſich zurück. Wally beachtete ihn nicht. Er nahm das leicht. Er wußte, daß Wally weit entfernt war von der gewöhnlichen Anſicht deutſcher Mädchen, dem Tanze eine ſinnliche Bedeutung oder die Bedeutung irgend einer Gunſt unterzulegen; er wußte, daß ſie diejenigen liebte, mit denen ſie nicht tanzte. Und doch war ſie heute auf¬ geregter, als jemals. Das nahm ihn Wunder und verſtimmte ihn. Als Wally zu ihm trat,111 ſprach ſie: Ich habe Sie ſuchen müſſen. Wo ſtecken Sie? Ich muß Ihnen etwas ſagen.

Sie ſtanden in einem der entlegeneren Zim¬ mer. Und was?

Ich werde den ſardiniſchen Geſandten hei¬ rathen; aber wir ſprechen uns noch!

Damit war ſie verſchwunden.

Cäſar eilte nach Hauſe. Er hatte durch¬ aus nichts, was ihn drückte, und doch entſchloß er ſich, eine kleine Reiſe zu machen. Er war ſehr unruhig den ganzen Tag, mehre Tage. Er machte die Reiſe. Er notirte, zeichnete, ſchrieb viel Briefe. Er würde ſich vortrefflich zerſtreut haben, wenn ihm nicht aus jedem Baum, aus jedem Echo zugeklungen wäre: aber wir ſprechen uns noch! Dies Aber! machte ihn verwirrt; denn es klang wie eine ſo ſchwärmeriſche, träumende Liebe, daß er ge¬ glaubt hatte, den letzten lechzenden Seufzer,112 das kaum gelispelte felicissima notte einer Italienerin zu hören. Sind das ſchon die Wirkungen der ſardiniſchen Geſandtſchaft? ſagte er lächelnd und kehrte hübſch beruhigt in die Reſidenz zurück.

Er hatte bald darauf von Wally die Ein¬ ladung zu einem vertrauten Geſpräch.

113

2.

Am Tage, wo die Unterredung mit Wally ſtattfand, hätte man bei Cäſar nicht ahnen können, mit welcher Kataſtrophe er ſchließen würde. Cäſar ſchien die ganze Beruhigung zu beſitzen, welche man von ſeinem Charakter er¬ warten durfte. Höchſtens ließen ſich jene for¬ cirten Scherze, mit welchen er um ſich warf, vermuthen, daß irgend ein Gefühl wie ein Er¬ eigniß bei ihm im Anzuge war, dem er zu ent¬ gehen wünſchte. Dieſe Scherze ſind immer die über'm Meere kreiſenden Möven, welche den Sturm ankündigen.

Wenn er einem Freunde begegnete, der auf dem Stadtgericht arbeitete, ſo frug ihn Cäſar: Was haſt du jetzt unter Händen?

Eheſcheidungen hieß es.

Gutzkow's Wally. 8114

Alſo noch immer ſchlechte Ehen?

Schlechte Wahlen vor der Hochzeit, Leicht¬ ſinn

Ganz richtig; erklärte dann Cäſar. Es iſt ein Unglück, wenn man ſieht, mit welchem Leichtſinn die Ehen geſchloſſen werden. Der Beſitz einer kleinen Ausſteuer lockt den Hand¬ werker, ein Frauenzimmer zu heirathen, welches er gar nicht liebt. Der Staat ſollte niemals die Ehe bürgerlich vollziehen laſſen, bis nicht ein Kind vorhanden iſt, welches das Daſein der Liebe vorher ausweiſen muß.

Der junge Mann vom Stadtgerichte lä¬ chelte zu dieſem Vorſchlage. Cäſar ging und begegnete einem andern Freunde.

Du biſt verliebt, ſagte er ihm; aber Antonie iſt arm.

Es war dieſelbe Antonie, an welche Wally einſt ſchreiben wollte.

115

Antonie iſt arm! hieß die weinerliche Be¬ ſtätigung.

Siehe, was zu thun wäre! ſchlug Cäſar vor. Das Heirathen durch die Zeitungen greift um ſich. Aber man iſt erſt einen Schritt weit ge¬ kommen, wenn die Frauen durch Zeitungen nur Männer bekommen. Der zweite Schritt wäre, daß ſie durch die Zeitungen auch zu Vermögen kämen. Die Mädchen ſollten ſich durch ein Lotto ausſpielen. Sie ſollten die Männer auf¬ fordern, Aktien auf ihren Beſitz zu nehmen, Aktien, meinetwegen eine jede zu fünfhundert Thalern. Hundert Looſe dieſer Art geben eine Summe von 50,000 Thalern. Die Wahrſchein¬ lichkeit, daß unter hundert ich du er ge¬ winnen, iſt ſehr groß: man gewinnt ein Weib, ein reiches Weib, ein ſchönes Weib. Denn um eine Schöne muß es ſich handeln, der Neben¬ gewinne wegen, welche in Zugeſtändniſſen man¬ cher Art an diejenigen beſtehen müſſen, welche8 *116ſich mit Aufopferung von fünfhundert Thalern der ſeligen Chance ausſetzten, Mann einer ſchö¬ nen Frau und Beſitzer zufälliger 50,000 Tha¬ ler zu werden. Mein Lieber, das heißt, die Geſellſchaft revolutioniren.

Jener hatte nur an Antoine gedacht; Cä¬ ſar an Nichts, als ſie ſcheiden.

Der Abend kam heran. Die Thür zu Wally's Gemächern öffnete ſich. Beide ſaßen ſich ſtumm gegenüber. Cäſar, der von Wally nicht er¬ wartet hatte, daß ſie ſich in ein ſchwärmeriſches ſchwarzes Kleid werfen würde: Wally, welche nach einem Blicke in Cäſar's Mienen geizte, der verzeihend, warm und ſiegend auf ſie wirkte.

Liebenswürdig war es von dieſem gränzen¬ loſen Leichtſinn, daß er Thränen am Auge hän¬ gen hatte. Cäſar ſchwamm in Entzücken. Er war auf eine Komödie gefaßt, und fand eine tragiſche Scene, die ihn erſchütterte. Alles,117 was ſie ſprachen, war nur, um den Erklärun¬ gen, die ſie ſich machen wollten, zu entgehen. Cäſar mochte in ſeiner Eitelkeit übertreiben; Wally's Beſcheidenheit lag wohl nur darin, daß ſie glaubte, Cäſar um Verzeihung bitten zu müſſen. Alles Uebrige aber dichtete ſeine Phan¬ taſie hinzu.

Sie hielten ihre Hände in einander und ſpra¬ chen recht eifrig über Dinge, auf welche gar nichts ankam in ihrer Lage. Sie ſprachen von der Erfindung des Schießpulvers, vom Geſetz der Schwere, vom Compaß und der Magnet¬ nadel, worüber ſie ſchnell abbrachen, um nur immer wieder auf Neues zu kommen. So ver¬ rann die Zeit, aber das Entzücken Cäſar's ſtieg. Wally's Hand nahm er, und legte ſie ſanft auf die Lehne des Sopha's, um ſie als Kopfkiſſen zu brauchen. Sie lächelte dazu und warf ihm das ganze Polſter ihres elaſtiſchen Körpers, ſich ſelbſt in aller ihrer Anmuth nach. Sie hielt118 ihn umſchlungen, während ſie unwillig glaubte, daß er es thäte. Ihre nur leiſ 'aufgeſteckten Locken[neſtelten] ſich los und küßten Cäſar's brennende Wangen. Die langen Augenwimpern ſenkten ſich majeſtätiſch ſanft auf die bläulichen Ultramarinringel, welche unter dem Auge ſo viel Leidenſchaft verrathen. Dieſes Herablaſ¬ ſen des Vorhangs, dieſer Fenſterladenſchluß der Weiblichkeit, dieſe Verhüllung iſt das reizende Gegentheil deſſen, was ſie ſcheint, weil ſie nur allmälige Entwaffnung iſt. Es iſt das Sinken des Tages, der aufſteigende Stern, deſſen feuchte Strahlen die Kronen der Blumen auflockern und die Kelche erſchließen, während die Kelche zu ſchlafen ſcheinen. Cäſar umarmte Wally mit glühendem Entzücken und rief aus: O Wally, ich will nicht grauſam ſein! Ich eile Allem zuvorzukommen, was ſich auf deiner Lippe zu Tode ängſtigt und gern ſprechen möchte. Ich dringe nicht auf den Beſitz dieſes göttlichen119 Leibes, deſſen Seele mich ſtets umhauchen wird. Aber o Gott!

Was iſt? Cäſar! ſprich! fordre! Alles, Alles!

Cäſar ſann und war wie von einem unbe¬ kannten Gefühle ergriffen. Er ſtrich mit der Hand über ſeine Stirne und ſagte dann leiſe mit ſanften und zärtlichen Worten zu Wally: Sie werden reiſen: ich auch. Wir werden uns in vielen Jahren nicht wieder ſehen. Da gibt es ein reizendes Gedicht des deutſchen Mittel¬ alters, der Titurel, in welchem eine bezaubernde Sage erzählt wird. Tſchionatulander und Si¬ gune beten ſich an. Sie ſind faſt noch Kinder: ihre Liebe beſitzt die ganze Naivetät ihrer ju¬ gendlichen Thorheit. Ich ſpreche nicht von Tſchionatulander's Tod, weder vom treuen Hun¬ de, der aus der Schlacht die tragiſche Botſchaft bringt, nicht von Sigunens Klage, wie ſie den Leichnam des Geliebten im Arme haltend un¬ ter'm Baume ſitzt, wo Parzifal an ihr vorüber¬120 kömmt im Walde, nicht von dem Edelſtein un¬ ſerer deutſchen mittelalterlichen Dichtkunſt. Nur jener Zug iſt ſo meiſterhaft ſchön, wo Tſchio¬ natulander, als er in die Welt hinaus muß und ſein treues Windſpiel klug zu den beiden Lie¬ benden hinaufſieht, Sigunen anfleht, um eine Gunſt

Cäſar ſtockte und ſprach dann leiſe, mit faſt verhaltenem Athem: daß Sigune, um durch ihre Schönheit ihn gleichſam feſt zu machen, wie der magiſche Ausdruck der alten Zeit iſt, um ihm einen Anblick zu hinterlaſſen, der Wun¬ der wirkte in ſeiner Tapferkeit und Ausdauer, daß Sigune in vollkommener Nacktheit zum vielleicht ewigen Abſchiede ſich ihm zei¬ gen möge.

Wally betrachtete Cäſar einen Augenblick. Dann erhob ſie ſich ſtolz und verließ, ohne ein Wort zu ſprechen, das Zimmer. An ihre Rück¬ kehr war nicht zu denken.

121

Cäſar's Antlitz zeigte einen ſchmerzhaften Ausdruck. Er hatte das Höchſte bewieſen, deſſen ſeine Seele fähig war, die kindlichſte Naivetät, eine rührende Unſchuld in einer Forderung, die empörend war; aber die Schaam, die erſt in ihm aufglühte, verſchwand vor ſeinem Stolze, ſo edel und rein erſchien er ſich.

Sie iſt ohne Poeſie, ſie iſt albern, ich haſſe ſie! ſtieß er heftig heraus, trat zornig mit dem Fuße auf, lauſchte und verließ, da er nichts als den Schlag der Pendeluhr im Nebenſaale vernahm, mit unwillkürlichem Geräuſch das Zimmer und das Hotel. Er ſchwur, es nie¬ mals wieder zu betreten.

Sie hat nicht mich, ſie hat die Poeſie be¬ leidigt. Sie ekelt mich an! rief er und malte ſich Wally mit den gräßlichſten Farben, daß es ihm keine Freude machen mußte, noch an ſie zu den¬ ken. Wenn ſie ihm noch einfiel, ſo geſchah es nicht, ohne daß er mit dem Fuße etwas von ſich ſtieß.

122

3.

Inzwiſchen rückte Wally's Vermählung her¬ an. Sie geſtand ſich oft und ſelbſt ihren Um¬ gebungen, daß es ihr wäre, als würde ein un¬ ſichtbares Netz, das ſie aber fühle, immer enger angezogen, und daß es ihr bald zum Erſticken ſein müßte. Alles, was man nur brachte, um die Atmoſphäre recht duftend und verführeriſch zu machen, drückte ihren Athem noch mehr zuſammen; ſie ging wie Gretchen im Fauſt und lüftete Fenſter und Thüren, da Mephiſtopheles im Zimmer es ſo ſchwül gemacht hatte.

Noch größer war aber die Unruhe in ihrem Innern. Sie brauchte gern phyſikaliſche Gleich¬ niſſe und verglich ſich mit dem Gefühl eines lebenden Weſens, das man in die Glocke einer Luftpumpe ſetzt; mit dem Vogel, dem es von123 innen und außen bei entzogener Luft weh wird. Ach, ſie konnte Cäſar nicht vergeſſen: ſie konnte jene begeiſterte Miene des Freundes nicht ver¬ geſſen, jene unſchuldige Seligkeit, die ſie an ihm noch nie gekannt hatte, und die er damals zeigte, als ſie einige aus ſeinen zuckenden Lippen ſchleichende Worte mit ſo pedantiſcher, altkluger Entrüſtung aufnahm. Schon im nächſten Au¬ genblicke, als ſie gegangen war, war ſie ſich mit ihrer Tugend recht abgeſchmackt vorgekommen.

Wally fühlte bald, daß Cäſar an das Unſittliche ſeines Antrags im Momente nicht gedacht hatte. Sie machte ſich den Vorwurf, dieſe Ueberlegung an dem Manne nicht abge¬ wartet zu haben. Auch mußte ſie ſich geſte¬ hen, daß Cäſar ihr vielleicht nie das Pre¬ käre der Situation eingeräumt haben würde. Jetzt wußte ſie, worin der ganze Zauber liegt. Sie fühlte, daß das wahrhaft Poetiſche unwiderſtehlich iſt, daß das Poetiſche höher ſteht,124 als alle Geſetze der Moral und des Herkom¬ mens. Sie fühlte auch wie klein man iſt, wenn man der Poeſie ſich widerſetzt. Ach, das quälte ſie, untergeordnet zu ſein und weniger unſchuldig im Grunde, als die Poeſie, die Menſchen braucht und ſchildert!

Wally ſchlug die rührende Geſchichte nach, die ihr Cäſar erzählt hatte. Sie weinte mit Sigunen, ſie koſtete die Unſchuld, die in dem Verlöbniß der beiden Liebenden des Gedichtes lag, allmälig immer tiefer. Es liegt in der Schönheit der Natur eine göttliche Gewalt, die bezaubert. Wally beugte und wand ſich mit all ihren ſchönen Grundſätzen und den Leh¬ ren, die ſie ihrer Erziehung, ja ſelbſt ihrer ver¬ nünftigen Ueberlegung verdankte, vor dem Ideale des Naturſchönen. Sie ging noch weiter. Sie gab die Natur auf, ſie hielt ſich an die Kunſt, an das Gebilde der Phantaſie, das in ſich ab¬125 gerundet und hier ſo richtig gezeichnet war, wie je¬ der logiſche Cirkel ihrer tugendhaften Entſchlüſſe. Sie kam ſich verächtlich vor, ſeitdem ſie fühlte, daß ſie für die höhere Poeſie kein Gegenſtand war. So konnte es nicht mehr fehlen, daß ſie ſich bald ſelbſt dazu machte.

Wie oft war ſie Cäſarn begegnet! Er blickte ſtolz! Er hatte eine Moral, die über der ihren war! Er konnte das Auge erheben, das Ideale hub es in ihm! Wally konnte nicht ſtolz ſein, An ihr ſchien die Reihe der Schaam zu ſein. Sie fürchtete ſich vor Cäſar. Ihre ganze Tu¬ gend war armſelig, ſeitdem ſie ihm gleichſam geſagt hatte, die Tugend könne nur in Verhül¬ lungen beſtehen, die Tugend könne nicht nackt ſein. Cäſar hatte an ihr den poetiſchen Reiz verloren. Er überſah ſie.

Ob es wohl Menſchen gibt, dachte Cäſar126 eines Tages bei ſich ſelbſt, welche die Literatur und das, was dem Leben durch ſie an ſchönen Elementen und Staffagen gegeben wird, für eine Tyrannei und eine despotiſche Willkür der Dich¬ ter und Künſtler halten? Wär 'ich ſelbſt Autor, ſo würde mich dieſer Gedanke erſchrecken. Ich würde die Gleichgültigkeit, die Dummheit der Maſſe immer mit einer Strafe verwechſeln, welche ich als Autor für die Zudringlichkeit meiner Schöpfungen mit Recht einernte. Ich würde zittern, wenn von Büchern die Rede kömmt, und würde immer gewärtig ſein, daß Jemand aufträte, und die Literatur in die Kategorie von Waarenartikeln ſtellte, von El¬ len - oder Kolonialwaaren, die man nimmt oder ſtehen läßt, je nach Bedürfniß. Ich brauche die Schönheit nicht! Fürchterlich, wenn von Homer und Oſſian die Rede wäre! Ich brauche nicht einmal die Beſtrebungen um das Schöne, wenn von einem Erſtlingsverſuche die Rede wäre! 127Ja, es gibt Menſchen dieſer Art, welche die Poeſie für eine Zumuthung halten, Geldmenſchen, Ariſtokraten, manche Könige, auch Frauen, be¬ ſonders wenn ſie ſchön ſind und ſie deßhalb glauben, der Bildung überhoben zu ſein!

Cäſar dachte dabei gewiß nicht an Wally; denn welch 'ein Unterſchied iſt es, für das Außeror¬ dentliche ſich intereſſiren, und dem Außeror¬ dentlichen ſich als Staffage unterlegen! Er hatte aber in dem Augenblick einen Brief von Wally in der Hand.

Ich habe Sie beleidigt, ſchrieb ſie ihm; Sie wiſſen es ja, Cäſar, daß der Muthloſe immer der Ausfallendſte iſt. Wiſſen Sie noch, wie wir über Muth ſtritten? Welch 'eine Zeit, wo Sie ſich um fünf Ringe, die Sie mir noch immer nicht wiedergegeben haben, mit fünf Men¬ ſchen ſchießen konnten! Morgen um zehn Uhr128 Abends beſuchen Sie das Hotel des ſardiniſchen Geſandten. Sie werden von Auroren, die Sie dort erwartet, an einen Ort geführt werden, den Sie nicht verlaſſen dürfen. Schwören Sie mir, hinter dem Vorhang, den Sie zehn Mi¬ nuten nach Zehn gütigſt zurückziehen wollen, nicht hervorzutreten! Cäſar, ſchwören Sie mir! Ich ſchäme mich vor Ihnen, daß ich Schaam hatte. Verantworten Sie es einſt! Vor Gott! Vor Gott! Aber ich liebe heiß, ewig, unausſprech¬ lich! Wally.

Und an Wally's Hochzeitstage zeichneten die Unſichtbaren ein reizendes Gemälde, ein Gemälde in altem Styl, zart, lieblich, wie die ſaubern Farbengruppen, welche ſich auf dem ſammet¬ weichen Pergamente goldener Gebetbücher des Mittelalters finden.

Rings, wie Rahmen und noch hineinrankend129 in die Scene Epheu und Weinlaub. Auf den Aeſten ſitzen Paradiesvögel in wunderbarem Far¬ benſpiel, auf den breiten Blättern der Arabes¬ ken ſchlummern Schmetterlinge, in den Kelchen der Blumen ſaugen Bienen. Oben ſchwebt der Vogel Phönix, der fußloſe Erzeuger ſeiner ſelbſt; unten blicken die ſpitzſchnäbligen Greifen und hüten das Gold der Fabel. Bezaubernd und märchenhaft iſt die Verſchlingung aller die¬ ſer Figuren. Es iſt wie ein Traum in den tauſend Nächten und der einen. Zur Rechten des Bilds aber im Schatten ſteht Tſchionatu¬ lander im goldenen, an der Sonne funkelnden Harniſch, Helm, Schild und Bogen ruhen auf der Erde. Der Mantel gleitet von des jungen Helden Schulter, ſeine Locken wallen üp¬ pig wie von einem Weſthauche gehoben. Das Auge ſtaunt; ein Entzücken lähmt die Zunge. Zur Linken aber ſchwillt aus den SonnennebelnGutzkow's Wally. 9130heraus ein Bild von bezaubernder Schönheit: Sigune, die ſchamhafter ihren nackten Leib ent¬ hüllt, als ihn die Venus der Medicis zu bedecken ſucht. Sie ſteht da, hülflos, geblendet von der Thorheit der Liebe, die ſie um dies Geſchenk bat, nicht mehr Willen, ſondern zerfloſſen in Schaam, Unſchuld und Hingebung. Sie ſteht ganz nackt, die hehre Geſtalt mit jungfräulich ſchwellenden Hüften, mit allen zarten Beugun¬ gen und Linien, welche von der Bruſt bis zur Zehe hinuntergleiten. Und zum Zeichen, daß eine fromme Weihe die ganze Ueppigkeit dieſe Situation heilige, blühen nirgends Roſen, ſon¬ dern eine hohe Lilie ſproßt dicht an dem Leibe Sigunens hervor und deckt ſymboliſch, als Blume der Keuſchheit an ihr die noch verſchloſſene Knoſpe ihrer Weiblichkeit. Alles iſt ein Hauch an dem Auge, ein ſtummer Moment, ſelbſt in dem klugen Auge des Hundes, der die Bewe¬ gungen verfolgt, welche der Blick ſeines Herrn131 macht. Das Ganze iſt ein Frevel; aber ein frevel der Unſchuld.

So ſtand Sigune einen zitternden Augen¬ blick; da umſchlang ſie rücklings der ſardini¬ ſche Geſandte, der ſeine junge Frau ſuchte. Es war ein Tropfen, der in den Dampf einer Phantasmagorie fällt und ſie in Nichts auf¬ löſt. Die Vorhänge fielen zurück und Tſchio¬ natulander wankte nach Hauſe. Der Geſandte ahnte Nichts. Tiefes Geheimniß.

9 *132

4.

Als Wally mit ihrem Manne nach Paris gekommen war, athmete ſie auf. Sie war froh, ſich von einer ganz verfehlten Stellung befreit zu ſehen. Sie wußte, daß ſie in Paris noch immer den ſtürmiſchen Bewegungen irgend einer Neigung ausgeſetzt ſein konnte, daß ihre ehe¬ liche Treue mit weit gefährlicheren Lockungen, wie in der Heimath, würde herausgefordert werden; allein ſicher war ſie jetzt vor den Zu¬ muthungen der Genialität, vor dem verwirren¬ den Benehmen Cäſars, vor Männern, welche zu poetiſch ſind, um ganz nach der Mode, und zu modiſch, um ganz nach der Poeſie zu leben. In Paris ſiegte ſie, wenn ſie wollte, noch im¬ mer durch die ſehr einfachen Künſte der Koket¬ terie. Nur die Situationen ſind es, welche133 dem Leben der pariſer Frauen eine beſondere[Originalität] geben.

Die Zeit, in welcher Wally mit ihrem Manne nach Paris kam, war bei Anfang des April¬ prozeſſes.

Wenn man glauben wollte, daß die Juli¬ revolution in den Sitten der höhern pariſer Welt eine Aenderung veranlaßt hätte, welche gleichſam dem Ernſte der Zeit hätte entſprechen ſollen, ſo verkennt man den Charakter der Fran¬ zoſen. Die alte Revolution, welche eine Strafe der Frivolität zu ſein ſchien, rottete die Frivo¬ lität doch ſelbſt nicht aus. Die alte politiſche und geſellſchaftliche Verfaſſung wurde geſtürzt, aber die Manieren erhielten ſich. An dem Be¬ ſitzthume klebte etwas, was ſich nicht von ihm trennen ließ; in den Reichthümern, welche kaum den Tod der Einen veranlaßt hatten, lag ein Zauber, der auch die wieder verwirrte, welche134 die neuen Herren derſelben wurden. Den Leicht¬ ſinn tilgte die Guillotine nicht.

Die neueſte Revolution hatte zu den alten Elementen des pariſer Lebens neue, zu zwei Ariſtokratien, der bourboniſchen und bonapartiſti¬ ſchen, noch eine dritte geſellt, die Ariſtokratie der Banquiers. Mehr als je wurde das Geld der Hebel des geſellſchaftlichen Mechanismus, ſeitdem eine Klaſſe in den Vorgrund trat, mit der es in dieſer Rückſicht ſchwer war, zu wett¬ eifern. Weil die Pariſer das Geld nicht an¬ häufen, ſondern es als Mahlſchatz immer wieder aufſchütten und von dem Winde umtreiben laſ¬ ſen, ſo wird jede Lebensäußerung dort in den metalliſchen Strom mit hineingeriſſen. Dieſer Strom iſt es, welcher die entſetzlichſten Ver¬ heerungen in der Moralität und Freundſchaft anrichtet. Sein Ebben und Fluthen macht Leben und Tod. Er ergießt ſich frei, offen, vor allen Augen, nicht einmal unterirdiſch. Er135 wälzt ſeine goldſchäumenden Wogen durch die Säle und kleinſten Gemächer. Man iſt in Paris immer in der Nähe des Geldes, weniger deſſen, was man beſitzt, als deſſen, wovon man nicht genug haben kann und das man unter allen Umſtänden ſich zu verſchaffen ſucht. Daraus entſtehen die meiſten tragiſchen und komiſchen Conflikte der Pariſer Geſellſchaft.

Wally hatte keine Meditationen nöthig, um über dieſe Dinge in's Reine zu kommen. Sie verſtand ſie bald, da die Begegniſſe ſelbſt zu deutlich ſprachen und dichteriſche Erfindungen, Schriften, wie die von Balzac, ſie hinreichend beſtätigten. Wally philoſophirt nicht, das wiſ¬ ſen wir längſt. Sie wird Paris nicht wie ein Phänomen nehmen, ſondern wie eine Erfah¬ rung, über die man erſt reflektirt, nachdem ſie erlebt iſt. Sie wird ſich in den dichteſten Stru¬ del der Vergnügungen werfen. Sie wird den Becher der Luſt und der Gedankenloſigkeit bis136 tief auf die Neige leeren. Sie wird jede Mi¬ nute Leben benutzen, die ſie nur verwenden kann, und käme ſie einſt zurück von Paris, wird ſie von Paris nichts zu erzählen wiſſen. Wally gehörte bald zu den glänzendſten Erſcheinungen auf dem Theater des Tages und der Nachrede. Wenn wir im Folgenden mehr ein Verhält¬ niß ſchildern wollen, das in Wally's Hauſe und in ihrer Verwandtſchaft ſich entwickelte, ſo iſt es deßhalb, um einestheils über ihren Mann eine Anſicht zu haben, anderntheils, um nichts zu unterlaſſen, was zuletzt doch berichtet werden müßte, weil es eine entſcheidende Folge hatte. Wally beherrſchte andere Kreiſe mit derſelben ſiegreichen Gewandtheit. Sie hatte ein großes Stück an dem Netz zu weben übernommen, welches über Paris ausgebreitet iſt und ſo viel Ehrgeiz, Eiferſucht, Tragödie und Idylle in ſeinen Maſchen feſthält. Sie war eine fleißige Bundesgenoſſin des großen Feldzuges gegen Na¬137 tur, Wahrheit, Tugend und Völkerfreiheit, wel¬ cher mit dem Leben der Großen faſt immer zu¬ ſammenfällt; ein Feldzug, deſſen Gefahr von den Freuden ſeiner kleinen Siege im Ernſt doch überboten wird.

Je weniger dieſe Kataſtrophe zunächſt mit der Seelenrichtung in Wally zuſammenhängt, die uns veranlaßte, ſie zum Gegenſtand einer poetiſchen Darſtellung zu machen, deſto mehr trägt ſie bei, die Drapperien zu beſtimmen, auf deren Grunde ſich die wahrhafte Origina¬ lität Wally's ſprechender zeichnete. Indem Wally Scenen erlebt, welche mit ihrer Krank¬ heit nicht in der entfernteſten Berührung liegen, indem ſie von einem Gedankenreiche losgetrennt iſt, das ſie ſelbſt in ſich aufgeregt hatte; muß auch der Contraſt deſſelben ſpäter nur deſto tiefer in ihr Herz ſchlagen. Wally wandelt ſorglos am Rande eines Abgrundes.

138

5.

Eines Morgens hatte Wally ſo eben die Beſuche einiger ihrer Verehrer entlaſſen und lachte noch über die Eitelkeit der jungen Män¬ ner, welche geſtorben wären vor Aerger, wenn ſie ihrer neuen Gilets, ihrer Reitpeitſche und Lorgnette keine Erwähnung gethan hätte, als ſie im Nebenzimmer ein lautes Sprechen hörte, das immer näher kam, und dann plötzlich mit Gewalt unterdrückt wurde, gleichſam, als würde Jemand, der ſich ihrem Zimmer nahen wollte, mit Heftigkeit zurückgehalten. Nachdem die hierauf eintretende Stille anzudeuten ſchien, daß eine Verſtändigung dem Beſuche hatte vor¬ angehen müſſen, öffnete ſich ſtürmiſch die Thür und ein junger Mann trat an der Hand ihres Gatten herein, der ihr in dem Ankömmling139 ſeinen längſt aus dem Piemonteſiſchen erwar¬ teten Bruder Jeronimo vorſtellte.

Wahrhaftig, ich habe mich nicht getäuſcht, rief der junge Italiener. Ihren Anblick, Madame, ſog ich geſtern in der Oper drei volle Stunden lang ein. Ich war kaum in Paris angelangt, als mich der Zufall in die Vorſtellung der Cenerentola führt und in die rei¬ zendſte Perſpektive, welche ich je gehabt habe. Madame, Sie ſaßen in einer Loge, von der ich nicht wußte, daß ſie die meines Bruders war. Sie trugen blaue Seide, weiße Tüll¬ ſtreifen, einen rothen Shwal und Marabouts in dem Haar?

Ihr Gedächtniß muß weite Taſchen ha¬ ben, ſagte Wally, wenn ſie am Morgen noch die Toilette der Damen angeben können, die Sie am Abend vorher bei den Italienern bezaubert haben, wie der in dieſer Rückſicht bei den jungen Enthuſiaſten übliche Ausdruck iſt.

140

Madame, es ſollen viele eine gute Toi¬ lette gemacht haben, ſagt man. Ich ſahe nur Sie. Viele werden ſie machen, ich werde nur Sie ſehen. Wenn ich die Sprache eines Dich¬ ters führen könnte, dann würd 'ich erſt die Ausdrücke haben, welche Ihrer würdig ſind. Ja, ich muß dies elende Wort: bezaubern adop¬ tiren und meine Gefühle hinter der armſeligen Wendung verſtecken, daß ich Sie verſichre, Ihre Schönheit kann niemals vom Künſtler getroffen werden; denn müßte er nicht erblin¬ den in der Anſchauung ſolcher Reize, Madame?

Ich ſchäme mich, mein Herr, ſagte Wally, Ihnen ein Wort empfohlen zu haben, das ſie lernen ſollten, um bald in die Geſell¬ ſchaft der jungen Enthuſiaſten einzutreten; denn ich ſehe, daß Sie ſchon Meiſter ſind in dieſen allerliebſten Uebertreibungen, die man um ſo lieber hört, je weniger Grund ſie haben!

Sie weichen mir aus, Madame; Sie ver¬141 geſſen, wenn Sie glauben, meine Liebe käme Ihnen ungelegen, daß Wiederſtand die Liebe verdoppelt. Sie haben die Wahl. Es iſt wie mit den Sibylliniſchen Büchern; aber umgekehrt: immer mehr Liebe, aber doch immer nur die gleiche Summe.

Hier machte der Geſandte, der das Zim¬ mer ſchon verlaſſen hatte, ein Geräuſch neben¬ an, und zwang beide jungen Leute, einen Mo¬ ment darauf hinzuhören. Wally mußte über die etwas ſteifen Anträge ihres Schwagers lachen. Sein Feuer hatte mehr von dem ruſ¬ ſiſchen Spiritus. Für einen Italiener ſchien er ihr zu viel Worte zu machen.

Sehen wir uns aber, ſagte ſie freund¬ lich, mein lieber Jeronimo. Wir wollen verſuchen, wie wir uns arrangiren. Es gilt nur, daß man ſich verſtändigt. Wollen Sie meine Farbe tragen? Wollen Sie ins Waſſer ſpringen, wenn ich behaupte, es ſei nicht tief? 142Wollen Sie ſich mit halb Paris ſchlagen, wenn ich die Caprice habe, Ihnen Dinge in den Mund zu legen, die Sie über die Herzogin von Bre¬ teuil, die Gräfin Allan, die Vikomteſſe von Hericourt geäußert hätten? Sie ſehen, welche Arbeiten ſich Ihnen auferlegen laſſen, wenn Sie Herkules genug wären, ſich in Dejanira zu verlieben.

Bezaubernd, Madame, entzückend! Wie liebenswürdig!

Und wenn wir auf dem Fuße hinken, wo¬ mit der Liebhaber geht: ſo nehmen Sie den andern, den Fuß der Verwandtſchaft, auf dem wir ſtehen. Ich glaube in der Art wohl, daß Sie ermüden können, Jeronimo, aber niemals, daß Sie fallen.

Die Thür öffnete ſich. Die Vikomteſſe von Hericourt trat ein. Sie war eine jener niedli¬ chen Schwätzerinnen, an denen nichts hübſcher iſt, als eine perennirende Begleitung ihrer Stimme143 mit einer luftpumpenden Bewegung aus der Bruſt heraus. Sie ſeufzte bei jeder Periode aus der innerſten Tiefe her, und da ſie es lä¬ chelnd that und mit glänzendem Auge, bekam dadurch ihr Ausdruck eine hinreißende Gewalt, daß man ſich die Triumphe dieſer Frau er¬ klären konnte.

Jeronimo blieb aber bei aller dieſer Gra¬ zie kalt. Er ſprang nicht, wie junge Narren von faſhionablem Tone mit Recht thun, wo es ſich darum handelt, zwiſchen zwei ſchö¬ nen Frauen das Gleichgewicht zu erhalten, von einer zur andern über, ſondern biß in ſeine Handſchuhe, verlegen und nur Wally fixirend, die ſein Benehmen nur als Affekta¬ tion eines übertriebenen Eindrucks auslegen konnte.

Die Vikomteſſa hatte ſo viel mitzutheilen, zu klagen, zu weinen, zu lachen, daß Jeronimo ſich mit ihr zu gleicher Zeit entfernte. Er144 war ſtumm bis auf den letzten Augenblick ge¬ blieben. Die ganze Geläufigkeit, mit der er begann, war gehemmt. Sie wußte nicht, wie ſie dieſen Charakter nehmen ſollte. Er iſt ein Ruſſe, dachte ſie unwillkührlich. Aber ſie be¬ ſann ſich auf die Ruſſen ihrer Bekanntſchaft, auf welche dennoch keines der Merkmale Jeroni¬ mo's paſſen wollte; denn die Ruſſen, immer begierig, ſich elegant und civiliſirt zu zeigen, und den Juchtengeruch durch Biſam, eine Un¬ anſtändigkeit alſo durch die andere, zu verdecken, affektiren überall gegen Damen eine ekelhafte Liebenswürdigkeit, ſpringen von einer zur an¬ dern und üben ſich in ſüßen Grimaſſen. Jero¬ nimo mußte alſo doch ein Italiener ſein.

Am Abend kam Jeronimo in die Loge des ſardiniſchen Geſandten. Wally hörte ihm gern zu; er hatte Anſichten über Muſik und viel biographiſche Notizen über die italieniſchen Com¬ poniſten. Doch Alles war flüchtig; denn eine145 Dame kömmt im Theater nicht zur Ruhe. Keine Meinung, die unter den Liebhabern ver¬ breitet iſt, iſt ſo falſch, als die von der Gunſt, welche das Theater der Neigung gewähre. Man wird ſein Idol neben ſich haben, man wird Stunden lang mit ihm flüſtern können; das iſt gewiß; aber das Idol wird auch immer zer¬ ſtreut ſein und hinter jeder aufgehobenen Lorg¬ nette einen Mann vermuthen, der mit dem Seufzenden neben ihr die Vergleichung aushält, oder ihn wohl übertrifft in der Huldigung, die er ihr ſchenkt. Jener Satz gilt nur bei der Sentimentalität, welche nicht hört und nicht ſieht, oder bei jenen kleinen Geſchöpfen, die über ein geſchenktes Freibillet glücklich ſind und alles, was das Theater an Illuſionen bietet, für die Schöpfung und die Bekanntſchaft ihres Anbeters halten.

Als Wally nach Hauſe begleitet war von ihrem Schwager und ihn noch einige Zeit beiGutzkow's Wally. 10146ſich geſehen hatte, zog ſie ſich in ihre Gemächer zurück. Es klopfte. Der ſardiniſche Geſandte trat mit einem Armleuchter in ihr Schlafka¬ binet. Sie erſtaunte; denn ſolche Beſuche waren ganz gegen die Verabredung.

Was iſt? fragte ſie gedehnt.

Liebes Kind, ſagte ihr Gatte; mein Bruder

Ihr Bruder iſt ſehr langweilig.

Er liebt dich; aber höre nicht auf ihn. Was ich ihm auch vorſtellen mag, es iſt, wie wenn man Feuer plötzlich ins Waſſer wirft; aber höre nicht auf ihn. Ich war in meinen Briefen unvorſichtig. Er liebt dich wie eine Nebelgeſtalt, die man ſich aus Täuſchungen zuſammenſetzt und die man ſonderbarer Weiſe jede Nacht wieder vor ſein Bett zaubern kann. Er ſchwännte mit der Luft, er

147

Was will ich das?

Höre nicht auf ihn! Eh 'er dich ſahe und Nizza nicht verlaſſen durfte, irrte er in den Wäldern und warf Blumen in die Flüſſe. Seine Neigung iſt ſo ſtark, daß er jede Le¬ bensfunktion ſeines Körpers mit dem Deinigen verwechſelt, daß er

Laſſen Sie!

Höre nicht auf ihn! Warum iſt Cupido nur blind? Er iſt auch taub, ſag 'ich oft zu Jeronimo, weil er nicht hört. Sollten ſeine Sinne verzaubert ſein?

O Sie werden zum Schwätzer: ich glaube gar, Sie machen Verſe.

Wie ich dich liebe, Wally! Kind, dieſe Scheere auf dem Tiſch nehm 'ich als eigne Parze meines eignen Geſchickes und ſchneide eine deiner himmliſchen Locken, um ſie mit148 verſtohlenen Küſſen zu bedecken, wenn ich dich ſelbſt nicht habe. Gute Nacht, Wally: ver¬ giß ihn, höre nicht auf ihn!

Was ſollte Wally denken? Der Geſandte hatte ihr eine Locke genommen. Welche Zärt¬ lichkeit! Zu dieſer Stunde, wo ſie ihn nie ſah. Sie erbleichte, denn jetzt war ihr dieſer Mann erſt im Lichte eines Gatten erſchienen. Welch ein Bild! Ein Narr! Eine ſchwerfällige Geſtalt! Ein Ungethüm, das einen falſchen Bart trug! Ein Geizhals, der ſelbſt an Wor¬ ten ſparte und nie umſonſt redſelig war! Eine hülfloſe Phantasmagorie, die ein Licht in der Hand hielt und vor ihr ſtand, leibhaftig, als hätte ſie einen Mann in den Vierzigen vor ſich geſehen! Sie wiſchte an ihrem Antlitz, das er berührt hatte. Sie lüftete das Bett, um es von den unkeuſchen Worten zu reinigen, die hineingefallen waren, denn es ſtand offen. Sie begriff jetzt erſt die Lage, in der ſie ſich149 befand, daß ſie ſeit vier Monaten an einen Mann verheirathet war, den ſie nicht kannte. Sie müſſe fliehen! ſchrie es unhörbar in ihr auf und erſt als ſie über die Mittel, dieſe Thorheit zu begehen, nachdachte, ſchlief ſie ein.

150

6.

Am folgenden Morgen bot ſich Wally ſo¬ gleich eine Urſache zur Verſtimmung an, als wenn ſie die Erinnerung des geſtrigen Abends nicht gehabt hätte. Sie hörte im Nebenzim¬ mer das zufällige Geſpräch zweier Leute ihrer Bedienung, die ſich über den Geiz und die Geld¬ ſpekulationen der Herrſchaft beklagten. Sie ſtaunte über das ökonomiſche Talent ihres Man¬ nes, der mit Milch gehandelt und Bier gebraut haben würde, wenn er in Paris zufällig die Anſtalten dazu gehabt hätte. Nach jedem Di¬ ner ließ der Geſandte die Weinreſte zuſammen¬ gießen und führte ſeine Bedienten ſelbſt an, wie ſie von den Leuchtern die Kerzen nehmen und ſie zum Lichtgießer tragen mußten, der ſie gegen brauchbares Wachs eintauſchte. Wally151 verſtand viel zu wenig von ſolchen Dingen, als daß ſie ihnen eine rechte Würdigung hätte geben können. Sie fühlte ein allgemeines Mi߬ behagen ihrer Seele, das ſie verhinderte, dies¬ mal das Lächerliche an dem Geize ihres Man¬ nes zu entdecken. Es war eine gefährliche Stimmung, in der ſie an Cäſar ſchrieb.

Als ſie den Brief beendet hatte und ſah, wie nur Kleinigkeiten der Pariſer Converſa¬ tion, ſatyriſche Bagatellen und viel Albernhei¬ ten aus ihrer Feder gefloſſen waren, da hatte ſie beſſre Laune bekommen. Sie freute ſich, in Cäſar einen Mann gefunden zu haben, bei dem der Ernſt ſich hinter ſo vielem Scherz ver¬ ſtecken durfte, der nicht pedantiſch war und vom Gefühl keine Ueberſtuthungen verlangte. Das Gefühl war einmal da, nicht in Geſtalt einer das Herz betreffenden Empfindung, ſon¬ dern in Geſtalt einer Thatſache, der ſich keine andere Auslegung, als die einer Neigung geben152 ließ. Wally liebte jetzt Cäſar wahrhaftig, ohne ſich darüber ein Geſtändniß zu machen. Sie hatte ſich ihm auf ewig durch jene myſtiſche Scene verpflichtet. Und doch war es weder Schaam, was ſie an ihn feſſelte, noch der Ge¬ danke, ihn beſitzen zu wollen. So viel Unſchuld bei ſo vieler Freiheit!

Als Jeronimo zu ihr eintrat, konnte ſie mit Lachen ſeinen heißen Liebesbewerbungen zuhören, ſo heiter war ſie. Jeronimo machte eine Miene, als wäre ihm ein großes Glück widerfahren, als hätte er ein Unterpfand, das ihn gegen Wally's Scherze ſicherte. Sie ſagte ihm: Wie tief ſind wir doch ſchon in den Wahnſinn der Liebe verſunken! Bart, Kleidung, Alles ſeh 'ich heute an Ihnen ver¬ nachläſſigt! Sie gleichen jenen Shakſpear'ſchen Liebenden in ſeinen Luſtſpielen, die ſo jämmer¬ lich von dem Schmerz ihrer Bruſt verzehrt ſind, und je verliebter ſie werden, deſto länger ihre153 ſchwarze Wäſche tragen. Und vor acht Tagen ſahen wir uns zum erſtenmale.

Vor ſechs Monaten, entgegnete Jeronimo.

Wie, Sie kennen mich länger?

Länger, als Sie leben, Madame! Ich kannte Sie ſchon, als Sie nur noch ein Ge¬ danke waren, der im Schooße Gottes ſchlum¬ merte. Meine Liebe zu Ihnen iſt nur die Er¬ innerung eines alten Glückes. Dieſe ſchwel¬ lenden Lippen, dieſe jetzt ſo ſpröde Bruſt: ich weiß es, ich habe ſie ſchon einmal geküßt, ich habe ſie ſchon einmal umarmt.

Fabelhafte Dinge muß ich hören, Jero¬ nimo. Was würde die Vikomteſſe von Heri¬ court denken, wenn Alfred Jardinier, dieſer bürgerliche aber liebenswürdige Anbeter, ihr ſolche Dinge ſagte.

Laſen Sie Plato, Madame?

Nein!

Die Seelen meiner Perſon und der Ihri¬154 gen, Wally, ſollen einem Schooß entſproſſen ſein. Die Bilder und Urtypen unſrer Perſön¬ lichkeit kannte ſchon die Ewigkeit, und was wir Liebe nennen, iſt nur ein Tribut, den wir un¬ ſrer Vergangenheit, unſerm Gedächtniſſe und unſern früher eingegangenen Verpflichtungen ſchuldig ſind.

Sie werden mich überreden wollen, daß Sie urweltliche Rechte auf mich haben; daß Sie dieſe Hand, welche Sie mir für eine Zärt¬ lichkeit viel zu heftig drücken, ſchon vor der Sündfluth beſeſſen haben. Sie thun Unrecht, eine ſo kleine Frau, wie ich bin, in die großen Hallen der Philoſophie einführen zu wollen.

Was Philoſophie, Wally! Im Schooße Gottes trugen Sie einſt dieſelben gelben Pan¬ toffeln, mit welchen Ihr Fuß noch jetzt ſo rei¬ zend kokettirt.

Mit all Ihrer Philoſophie ſind Sie doch im Irrthum über die gelben Pantoffeln. Es155 ſind Schuhe, mein Herr; ich erwarte nun von Ihnen, daß Sie ſie zu binden verſuchen. Ma¬ chen Sie es ordentlich, und vernachläſſigen Sie mir künftig lieber den Plato, als Ihre Toi¬ lette, die ganz geſchmacklos iſt.

Während die Situation, die jetzt folgte, noch nicht beendigt war, trat ein Diener ein und zeigte an, das Cabriolet Jeronimo's ſei vorgefahren. Sie nahm ihren Shwal, klagte viel darüber, daß er mit nichts umzugehen wiſſe, und ſtieg, ſich auf ihn ſtützend, die Treppe hin¬ unter. Jeronimo faßte ſelbſt die Zügel des Pferdes und lenkte das gebrechliche Fahrzeug mit einer Ungeſchicklichkeit, die Wally nicht er¬ ſchreckte, da ſie davon nichts verſtand. Sie fuhren durch die Boulevards. Jeronimo wollte fahrend ſprechen. Er hörte nicht auf, den Schooß Gottes im Mund zu haben. Wally hielt ihm dieſen wahnſinnigen Mund zu; er überſah ſein Pferd und rannte bei der Porte156 St. Martin ſo heftig in die Kutſchen der Schauſpielerinnen hinein, die vor der Thür des Theaters, wo eben Probe war, hielten, daß ſeine Bemühungen, ſich herauszuwickeln, vergeblich wurden. Die Peitſche brauchte er nur zu ſeinem Mißgeſchick. Das Pferd bäumte ſich und hob die Gabel des kleinen Wagens ſo hoch, daß die beiden darinnen rücklings überfie¬ len und Gefahr liefen, aus ihrem Sitze her¬ ausgeſchleudert zu werden. Hier mußte ein Unglück geſchehen.

Wally verlor einen Augenblick lang die Be¬ ſinnung. Als ſie wieder im Zuſammenhang der ſchrecklichen Scene war, ſahe ſie den Wagen aus jener Verwirrung herausgeführt und das Pferd von einem Manne beſchwichtigt, in wel¬ chem ſie zu neuem Schreck Cäſar erkannte. Gott, jetzt fiel es ihr ein, ſie hatte ihn ſchon zwei -, dreimal heute an dem Rande der Bou¬ levards geſehen. War er es geweſen, ſo konnte157 die Rettung kein Wunder ſein. Er mußte ſie verfolgt und den Augenblick der nöthigen Hülfe wahrgenommen haben.

Jeronimo ſtaunte, wie er bei der weiten Fahrt ſtatt Vorwürfe von Wally nur Scherz und Lachen vernahm. Er ſtotterte Bitten her¬ aus, die ſie nicht verſtand. Sie war außer ſich vor Entzücken. Jeronimo wußte ſich nichts zu erklären und eilte, ihrem Wunſche nachzu¬ kommen. Sie wollte nach ihrer Wohnung zurück.

Wally ſtand den ganzen Vormittag wie auf Kohlen. Sie kam nicht vom Fenſter, weil ſie jede Minute hoffte, Cäſar an dem Thorwege zu ſehen. Sie nahm mechaniſch an der Mit¬ tagstafel Theil, gieng nicht in's Theater; aber Cäſar kam nicht. Jetzt erſt fiel es ihr ein, daß ſie ſich getäuſcht haben konnte, und rief einem ihrer Leute, den ſie unverzüglich zu Herrn von Werther, dem preußiſchen Geſandten,158 ſchickte, um über ihren Anblick Gewißheit zu haben.

Der Bote brachte die vernichtende Nach¬ richt, Cäſar hätte ſich ſeit länger als vier Wochen in Paris aufgehalten und habe ſeinen Paß zur Abreiſe bereits zurückgenommen.

Wally blieb ſtumm vor Schmerz. Sie hielt das erblaßte Haupt auf der krampfhaften Hand geſtützt und gerann in Eis, ſtatt in Thränen. Womit hatte ſie dieſe Demüthigung verdient! Sie kannte Cäſar genug, um zu wiſſen, wie dieſes Betragen mit ſeinem Weſen zuſammenhieng. Ach! auch dies nicht ganz ſo wunderbare, wozu Cäſar es machen wird, Be¬ gegnen an der Porte St. Martin, ſagte ſie vor ſich hin, wird er wie eine Romanenepiſode nehmen, um ſein ewiges Selbſtennui, ſeine hy¬ pochondriſche Quälerei damit zu würzen und aufzuſtutzen.

Wally ſeufzte tief auf und durchmaß mit159 Verzweiflungsſchritten ihr Zimmer. Es ſchien ihr der herbſte Schlag, der ſie treffen konnte. Das Gehen machte ſie ruhiger. Sie ſetzte ſich und jetzt erſt konnte ſie weinen.

Womit verdient 'ich das? war ein er¬ ſtickter Ton ihrer Stimme. Woran dachte ſie jetzt! Was hatte ſie alles gethan, um ihm eine Liebe zu zeigen, an die er, an die ſie nicht glaubte, und die ſich doch ſo unvertilgbar in ihre Herzen eingeniſtet hatte! Womit ver¬ dient' ich das? Unglückliche Wally! Was hat¬ teſt du nicht dem Egoismus eines Mannes ge¬ opfert? Du gabſt ihm deine Seele, deine Gedanken, deine Schaam, Alles, was du außer dem armſeligen Stand der Verheira¬ thung hatteſt; und dies Alles dem Egois¬ mus, dem Lächeln, vielleicht dem Verrath? O, das wäre entſetzlich, ſchrie ſie auf; dem Ver¬ rath? Das nicht, Wally! Aber ſein Herz iſt kalt, er lebt nur von Gefühlen, die er raffini¬160 ren und filtriren kann, er trotzt gegen ſich ſelbſt; du biſt die Leiche, die er mit Füßen tritt. Wally! Wally! Ihr Blick fiel auf den noch offenen Brief, den ſie an ihn geſchrieben hatte. Welches Vertrauen, welche Harmloſig¬ keit! Wie treue, kindiſche Worte! Wie Alles ſo ſelig, ſo unbewußt verbrecheriſch, ſo ſüß in Etwas, was zuletzt immer eine Uebertretung ihrer Pflicht war! Sie hatte ihm Alles gege¬ ben! Sie weinte; ihre Gedanken ſchwammen fort auf ihren naſſen Augen, ihr Bewußtſein ſank hin in eine allgemeine Erſchöpfung, in eine Ohnmacht, die von einem hitzigen Fieber abgelöſt wurde. Sie ſollte erſt nach langer Zeit von dieſem Schmerze erwachen.

161

7.

Drei Wochen hindurch war der Wächter: Bewußtſein vom Thore der Vernunft verſchwun¬ den. Die Gedanken Wally's waren frei gege¬ ben, das Dach ſtand offen, jedes Auge konnte in das glühende Hirn hineinſehen und die Ver¬ wirrung der Ideen mit ſeinen Blicken verfol¬ gen. Da lagen ſie alle, die wie ein Kapital angelegten Eindrücke der Vergangenheit, ohne dir lachenden, fröhlichen Zinſen des Umgangs und des Bewußtſeins zu tragen; nackte Leiber, die des bunten Gewandes der Rede ermangel¬ ten, Ideenembryone, ſo gräulich anzuſehen, wie die Infuſorien, die man durch Vergrößerungs¬ gläſer in einem Waſſerglaſe unterſcheidet. Die Erinnerungen, Ideen und Ideenſchatten jagten ſich untereinander und giengen wahnwitzig lä¬Gutzkow's Wally. 11162cherliche Bundsgenoſſenſchaften ein und fraſen ſich unter einander auf wie Ungethüme, denen die Geſtalt, die Schönheit, die Freiheit des Willens und das Wort fehlt. So lag Wally drei Wochen.

Als ſie zum erſtenmale die Augen mit Be¬ wußtſein aufſchlug, erblickte ſie Auroren und fragte nach allem, was ſeither geſchehen wäre. Dieſe junge berliniſche Schwätzerin ſchlug die Hände zuſammen, ſetzte ſich die Mütze der Verwunderung auf, und hatte viel von Wally's fieberhaften Phantaſieſtücken zu erzählen. Wally fühlte ſich ſtark, zu hören, auch ſtark, ſich zu erinnern. Sie wußte deutlich, wer die Schuld ihres Uebels trug; ſie gieng auch bald wieder bei dieſem Gedanken in die Nebel zurück und ſprach von einem Manne, der ſie gerettet, aber nicht beſucht hatte.

Aurora ſprach von Jeronimo. Sie ſchil¬ derte ſeine Verzweiflung. Er hielte ſich für163 den Urheber von Wally's Leiden, er verließe das Haus nicht, und würde durch nichts auf¬ gehalten, Augenblicke, wo Wally ſchliefe, zu benutzen und in ihr Zimmer zu dringen.

Wer? fragte Wally.

Jeronimo!

Es gehörte noch Anſtrengung dazu, daß Wally wieder wußte, warum ſie nach Jero¬ nimo gefragt hatte. Sie vergaß es, und räumte Aurorens Schwatzhaftigkeit das Feld. Dieſe tummelte ſich weidlich darauf. Sie kam immer wieder auf den Italiener zurück, bis er ſelbſt kam und an Wally's Bett niederkniete. Wally ſahe ihn, aber ſie erkannte ihn nicht.

Jeronimo ſtand bleich und hager da. Seine Wangen waren eingefallen und abgezehrt. Die Augen blickten ſtarr und mit einem unheim¬ lichen Feuer. Sein Aeußeres war gänzlich ver¬ nachläſſigt. Hätte man nicht annehmen müſ¬ ſen, daß ihn die Trauer verhinderte, Sorgfalt11 *164auf ſich zu verwenden, ſo würde man zu dem Glauben gezwungen geweſen ſein, ſeine Er¬ ſcheinung ſei die Folge der Armuth. Er ſprach italiäniſch; Aurora verſtand nichts davon, zu ſeinem Glücke; denn hätte ſie es verſtanden, wie würde es ihr entgangen ſein, daß Jeroni¬ mo's Reden einen bedenklichen Geiſteszuſtand verriethen?

Wally verſtand wohl die wahnwitzigen Worte an ihrem Bett, aber ſie wußte nicht, von wem ſie kamen. Und hätte ſie es gewußt, ſo würde ſie ſogleich aus den Zuſtand reflektirt haben, den ſie ſo eben von ſich ſelbſt erfahren hatte. In der That, ſie verwechſelte auch den Wahn¬ ſinn, den ſie hörte, mit dem, welcher ſie ſelbſt beherrſchte und flehte unhörbar, ihr nichts zu¬ zurechnen von der Verwirrung, die aus ihrem bewußtloſen Haupte entſprang. Jeronimo küßte ihre Hand. Sie erkannte ihn nicht, als er wie ein Geſpenſt von ihrem Lager fortſchlich.

165

Benutzen wir den Augenblick, wo der Fa¬ den unſrer Erzählung gehemmt iſt durch das Schickſal ihrer Heldin, die ſonderbare Erſchei¬ nung Jeronimo's und das Verhältniß zu ſei¬ nem Bruder näher zu erklären. Jeronimo iſt eine widerliche Störung dieſes Berichts. Wal¬ ly's unübertreffliche Originalität, das bunte Farbenſpiel ihrer Laune verdiente warlich nicht, von ſo fratzenhaften Verrückungen menſch¬ licher Gefühle und Verhältniſſen, wie wir ſie kennen lernen werden, paralyſirt zu werden.

Luigi und Jeronimo hießen die beiden Brü¬ der, welche uns bis jetzt nur in ſo nebelhaften Umriſſen erſchienen ſind. Jener war der äl¬ tere, dieſer der jüngre; beide an Jahren ſo verſchieden, wie an Geſtalt und Gemüthsrich¬ tung. Luigi, ein praktiſcher Egoiſt, Jeronimo, ein excentriſcher Schwärmer, dort das dro¬ hende Extrem der Bosheit, hier des Wahnſinns. Beide Brüder hatten zu gleichen Theilen ein166 großes Vermögen geerbt; aber verſchiedenartig war der Gebrauch, den ſie davon machten; Luigi geizte, Jeronimo verſchwendete. Luigi traf in Jeronimo's ſanfter Gemüthsſtimmung keinen Widerſtand, als er ihm bei den Ver¬ ſchleuderungen ſeinen Rath anbot und ſich für bereit erklärte, die Verwaltung ſeines Vermö¬ gens zu übernehmen. Die Verantwortlichkeit machte Luigi ſchlecht. Immer im Harniſch gegen Jeronimo's Unbeſonnenheiten, längſt ge¬ wohnt, ihn wie ein Zuchtmeiſter ſeinen Gefan¬ genen zu behandeln, immer in der Illuſion, daß er das Gute, Noble und Ehrliche thäte, während er doch nur das Kluge und Nützliche that, nahm er ſeine eigne Verfahrungsweiſe wie etwas Nothwendiges, und gewöhnte ſich daran, Dinge als ſein[Eigenthum] zu betrachten, für welche er zuletzt wirklich einſtehen mußte. Dieſe Verwechſelung war leicht gemacht und artete in decidirte Schlechtigkeit aus. Es galt167 nicht mehr, daß Luigi für all die Thorheiten, die Jeronimo begieng, und unſchädlich machen mußte, ſich ſchadlos halten wollte, daß er durch die Verwendungen, die er überall verſuchte, als Jeronimo ins Gefängniß geworfen wurde wegen Carbonarismus, ein Recht über des jün¬ gern Bruders Leib und Leben zu haben ſich überredete, ſondern bald wurde es Ziel und Plan bei ihm, einen Menſchen, dem nicht zu helfen war, gänzlich zu unterdrücken, und das Vermögen an ſich zu ziehen, welches Jero¬ nimo noch beſaß und möglicherweiſe auf irgend eine ſeiner flüchtigen Neigungen vererben konnte.

Von einer neuen Thorheit, die Jeronimo begieng, wußte Luigi erſt kaum, wie er ſie be¬ handeln ſollte. Er hatte ihm von Wally ge¬ ſchrieben, von ihrer Jugend und Schönheit. Jeronimo bat ihn, nichts von ihren Reizen zu übergehen. Luigi fährt in ſeinen Entzückungen fort und Jeronimo ſchwört ihm in einem Briefe,168 daß Wally nur für ihn beſtimmt wäre. Lä¬ cherlicher Einfall! ſagte Luigi, als er am Tage ſeiner Hochzeit dieſen Brief empfieng. Aber Jeronimo hörte in ſeinen Grillen nicht auf. Er drohte, noch in Haft befindlich, die er ſich durch eine unbeſonnene Tödtung zugezogen hatte, mit dem Aeußerſten. Die Idee ſchien fix bei ihm geworden zu ſein. Es iſt nicht unmög¬ lich, daß man in ein Bild ſich verlieben kann. Arme Wally! Mußte deine glatte, ſtille, lieb¬ liche Seele, dein nüchternes, von allem Ex¬ centriſchen abſeites Leben in ſolche Strudel geriſſen werden?

Luigi wußte, daß ſein Bruder nach Paris kommen würde. Er hatte ein Mittel gegen ihn, und ſcheute ſich nicht, da er ſahe, welchen Eindruck Wally auf Jeronimo machte, es in Anwendung zu bringen. Was war ihm Wally? Welche Genüſſe gewährte ſie ihm? Und doch war er nicht ſo niedrig, ſie an ſeinen Bru¬169 der gleichſam verkaufen zu wollen; er war mehr bös, als gemein, mehr europäiſch ſchlecht, als italiäniſch ordinär. Er wollte Jeronimo's Neigung im Schach erhalten und davon Ge¬ winſte ziehen. Sein Geiz ſahe mit Schrecken, wie des Bruders Vermögen in den durſtigen Sand der Pariſer Vergnügungen und Aus¬ ſchweifungen verrinnen würde. Er ſahe ſchon tauſend Arme geöffnet, tauſend Zärtlichkeiten als Falle gelegt, er zitterte vor dem weiten Meere, deſſen Abgrund bald Jeronimo's Erbe verſchlingen mußte. Er wollte es retten. Er wollte es abſorbiren, erſt, wie er glaubte, um es zu bewahren, dann, um es nie wieder herauszugeben. Wally mußte zu dieſem Zwecke dienen. Ihre Koketterie mußte Jeronimo feſ¬ ſeln und unglücklich machen. Luigi arbeitete planmäßig, um das Hirn des Bruders zu ver¬ rücken. Er brachte Grüße, Zärtlichkeiten, Locken, und zwang den Glücklichen, von Wally170 ſich immer wieder enttäuſchen zu laſſen. Jero¬ nimo war ſchwach, ein Kind, eine todte Hand ſeines Vermögens. Luigi eignete ſich Alles zu. Wer kann zweifeln, daß Wally im Stande war, durch ihre unzähligen kleinen Charakter¬ loſigkeiten einen Mann zu vernichten? Sie that es ohne darum zu wiſſen. Sie wurde unbewußt das Werkzeug einer nichtswürdigen Intrigue.

171

8.

Jeronimo hatte früher eine glänzende Woh¬ nung beſeſſen, jetzt mußte er ſich einſchränken. Er trat in Paris mit all dem Glanze auf, der der Wiederſchein ſeines Vermögens war; jetzt hatte ihn eine unglückliche Leidenſchaft ſo gebeugt, daß er nicht einmal das Schmerzliche ſeiner gegenwärtigen Lage empfand. Er däm¬ merte in ſeiner Idee hin. Er gab Alles ſeinem Bruder, ſeitdem er keine Bedürfniſſe mehr kannte. Sein ganzes Vermögen wurde Luigi verſchrie¬ ben. Zuweilen, am frühſten Morgen, wenn noch keine Seele auf der Straße war, beſuchte ihn dieſer und ſtieg die vier Treppen hinauf, über denen Jeronimo wohnte. Denn er wollte nicht, daß ſein Bruder irgend einen Groll ge¬ gen ihn faßte. Er gab ſich immer das Anſehen,172 als ſorgte er väterlich für den Verlaſſenen, als bewahre er ihm ſeine Glücksgüter, die in ſeiner trüben Seelenſtimmung ihm doch eine Laſt ſein würden. So hatte er auch eines Morgens be¬ dächtig an die Thür der kleinen Kammer ge¬ pocht, welche Jeronimo bewohnte. Er trat hinein und fand ſeinen Bruder lang ausgeſtreckt auf einem ſchlechten Bett, deſſen er ſich als eines Sopha bediente. An den kahlen Wänden hiengen einige ſchlecht gemalte Heiligenbilder. Auf den Kiſſen rings lagen die zerſtreuten Be¬ ſtandtheile einer ganz mangelhaften Toilette; auf dem Tiſche einige Bücher, die mit Staub bedeckt waren und deßhalb ahnen ließen, daß Jeronimo noch aus ſich ſelbſt Troſt und Un¬ terhaltung ſchöpfen konnte.

Als Luigi eintrat, ſprang ſein verlaſſener Bruder auf, grüßte mit einer mechaniſchen Höflichkeit, für welche er ſelbſt keinen Grund wußte, räumte ſchnell einen Stuhl ab und173 ſchob ihn zurück, um ſeinem Beſuche Platz zu machen.

Iſt ſie wohl? war ſeine erſte Frage. Lui¬ gi bejahte ſie mit dem Lächeln eines Mannes, der hier gleichſam ſagen wollte: Es hängt Alles von dir ab! oder: Du kannſt Vortheil davon ziehen!

Aber Jeronimo war nicht ſo ſtarken Glau¬ bens. Sie liebt mich nicht! rief er aus, ſie iſt grauſam und kalt! Man ſieht, daß ein ſolches Herz nur im Norden geboren werden konnte.

Was hängſt du auch, mein Sohn! ent¬ gegnete Luigi, dieſer Grille nach? Warum ſich einer Leidenſchaft hingeben, welche ohne alle innere Begründung iſt und die nur dazu dient, dein ganzes Leben zu verwirren?

Sie läßt mich nicht mehr vor!

Du zwingſt ſie dazu; denn ſie liebt mich von Herzen. Was richteſt du an! du biſt in174 der glänzendſten Lage, biſt reich, jung, haſt eine ausgeſuchte Bildung; warum entziehſt du dich der Geſellſchaft? Warum dieſe ſchlechte Wohnung, die dich um deine Annehmlichkeiten und mich um meinen Credit bringt? Warum dieſer vernachläßigte Aufzug, welcher eher dem eines Induſtrieritters und Bankeruttiers gleicht, als dem Range und dem Geiſte, den du beſitzeſt?

Du biſt ſehr boshaft, Bruder! ſagte Jeronimo, den ein Vernunftfunke durchleuch¬ tete. Wenn ich mich vernachläßige, ſo biſt du Schuld daran, meine Liebe wahrlich nicht, welche nur dazu dient, das Unglückliche meiner Lage mich weniger herb fühlen zu laſſen. Wer ſpiegelt mir die ungeheuern Verluſte vor, die mein Vermögen ſoll erlitten haben?

Ungerechte Beſchuldigung!

O ſieh ', Jeronimo! ich blicke tief in dein Inneres. Dein Geiz iſt die Triebfeder deiner Schlechtigkeit. Du haſt dir immer das Anſehen175 gegeben, mein Beſchützer zu ſein, und wahrlich du machteſt dich vortrefflich dafür bezahlt. Ich würde wahrhaftig keine deiner ehrloſen Intri¬ guen zugeben, Mann; wenn ich mir Beſon¬ nenheit und Feſtigkeit des Willens in meiner jetzigen Lage erhalten hätte.

So ungerecht ſprichſt du zu einem Bruder, der für dich ſorgt, Jeronimo? der niemals in in dieſes verfluchte Schmutzneſt tritt, ohne von den Geldrollen in ſeiner Taſche einen ſchweren Tritt zu haben. Wann komm 'ich leer? Ich biete dir Alles an: ich beſchwöre dich, anzu¬ nehmen. Auch jetzt: ſiehe! nimm! aber wache über deine Ausdrücke, die mein Herz verwunden und der Welt Veranlaſſung zu einem falſchen Urtheil geben können.

O damit ſchläferſt du dein Gewiſſen ein, mit dieſen Geldrollen, welche hier liegen und von mir nicht geachtet werden, weil ich keine Bedürfniſſe mehr habe! Man hat gut von Reich¬176 thümern zu einem Manne reden, der das Ge¬ lübde der Armuth ablegte. Was fürchteſt du wohl mehr, Prahler, als meine erwachende Lebensluſt? Sie kann niemals kommen, Glück¬ licher! Du ſiehſt mich dem Tode entgegenrei¬ fen und hoffeſt, bald der Sorge um einen Menſchen enthoben zu ſein, von dem ich ſelbſt geſtehe, daß er für menſchliche Berührungen und das im Daſein Gewöhnliche kein Kettenglied mehr iſt. Du aber warſt es, der mich um Wally betrogen hat.

Lenk 'ich die Neigungen dieſer ſchwer zu zügelnden Frau?

O Menſch, Bruder, du warſt auch als Gatte ſchlecht genug, mir Hoffnungen zu machen.

Verächtlicher! rief Luigi und ſprang vom Sitze auf.

O ſetze ſie vor dein kahlgewaſchenes Antlitz, die Maske der Entrüſtung! Dein Weib mußte der Blitzableiter meiner gewitterdrohenden Nei¬177 gungen und der Hagelwetter werden, welche mein Vermögen ruiniren konnten. Dein Geiz ſah alles vorher. Ein teufliſches Spiel haſt du mit mir getrieben. Zu den Beleidigungen füg¬ teſt du noch meine Entnervung, meine Unfähig¬ keit, mich für ſie zu rächen, hinzu!

Und das ſagte Jeronimo mit Recht. Denn wie richtig er auch das Benehmen ſeines Bru¬ ders, dieſe Manier, ihn zu beobachten und in der Hand zu haben, durchſchaute, ſo war er doch in ſeiner Willenskraft wie gelähmt. Eine unerwiederte Neigung hatte ihn zu Boden gewor¬ fen. Er war keines Entſchluſſes fähig, wenn ſein Bruder ſo ſchlecht handelte, ihm wieder eine neue Hoffnung zu machen. So lächelte Luigi auch hier, nahm die Geldrollen und ließ, indem er ſie einſteckte, wie zufällig die Schleife eines blauen Damenkleides aus ihr herausfallen. Jeronimo fieng ſie auf und preßte ſie an ſeine Lippen. Sie war von Wally, ein Raub inGutzkow's Wally. 12178derſelben Art, wie ihn ihr Gatte oft mit ver¬ ſtellten Zärtlichkeiten beging. Während Jero¬ nimo im Entzücken dieſes Beſitzes ſchwelgte, fand Luigi Muße, ſich ohne Geräuſch zu ent¬ fernen.

Als er dicht bei ſeinem Hotel war, öffnete ſich die Thür deſſelben und einer ſeiner Bedien¬ ten trat heraus, ohne ihn zu bemerken. Ein junger Mann ſprang auf den flüchtigen Bur¬ ſchen zu, hielt ihn an und fragte ihn dringend, indem er etwas durch Geld belohnte, was noch kommen ſollte: Iſt die Gräfin zu Hauſe.

Ich glaube nicht.

Sei aufrichtig: ich muß es wiſſen!

Sie iſt bei der Vicomteſſe von Hericourt.

Dort kann ich ſie nicht ſprechen. Sie war krank?

Wer? Die Gräfin? freilich; ſie iſt vor einer Woche vom hitzigen Fieber geneſen.

179

Gerechter Gott! Wie lebt ſie denn im Hauſe? hat ſie viel Vergnügungen?

Sie wiſſen wohl, hierin läßt ſie ſich nichts entgehen. Sie glauben, Herr Baron, ich kenne Sie nicht? Wie oft waren Sie bei der Grä¬ fin, als ich noch mit ihr Manêge ritt.

Du kennſt mich? Sage ihr nicht, daß du mich geſehen haſt: morgen aber hilfſt du mir, ſie ohne Ceremoniel und weitläufige Anmeldung ſprechen zu können!

Der Geſandte ſah dem forteilenden Frem¬ den nach. Er erkannte ihn als einen Deut¬ ſchen, dem er früher begegnet ſein mußte. Der Bediente gab ihm den Namen an; doch hatte er nie gewußt, daß dieſer mit Wally in einer Verbindung geſtanden hätte. Er trat in ſein Hotel.

12 *180

9.

Am folgenden Morgen, als Wally ſich noch in den erſten Umriſſen ihrer Toilette befand und im neuſten Hefte der Revue de Paris blätterte, wo ſie durch die Schwärme¬ reien eines franzöſiſchen Gelehrten über deut¬ ſche Zuſtände, die er aber falſch verſtanden hatte, ſehr beluſtigt wurde, riß eine unangemeldete Hand die Thür ihres Zimmers auf und ſtürzte mit einem freudigen Gruße zu Wally's Füßen.

Sie war bleich vor Schrecken, als ſie es dulden mußte, daß Cäſar ſie ſtürmiſch in ſeine Arme ſchloß und ihre Hand mit ſeinen Küſſen bedeckte. Meine Wally! war der einzige Ausruf, der über ſeine bewegten Lippen drin¬ gen konnte. Wally zitterte vor Schrecken und Freude. Auch ſie konnte keinen Ausdruck finden.

So ſaßen ſie ſich eine Weile ſtumm gegen¬181 über; aber ihre Blicke ſprachen mit feurigen Zungen und hatten tauſend Dinge zu gleicher Zeit zu fragen und mitzutheilen. Dein Tſchio¬ natulander! ſprach dann Cäſar mit holdſeliger Ironie. Wally erröthete und barg ihr glühen¬ des Antlitz vor Schaam an ſeine Bruſt.

Sie müſſen mir dieſen ſtürmiſchen Angriff verzeihen! fuhr dann Cäſar fort. Ich habe viel bei Ihnen gut zu machen und will es durch Dinge, welche für Sie von Werth ſind.

Sie haben vor zwei Monaten mir das Leben nur gerettet, um es mir zu nehmen! ſagte Wally.

Ich wollte Sie nicht beſuchen. Ich ver¬ mied Sie. Warum? fragen Sie mich! Ich weiß es nicht. War ich ſtolz, beleidigt? Nein: es war lächerlich; aber Sie kennen mich, Wally, wie ſchwierig ich zu behandeln bin. Ich laſſe immer auf eine Liebenswürdigkeit zehn uner¬ trägliche Thorheiten kommen.

182

Liebenswürdigkeiten! Unerträglich! Thor¬ heiten! O, Alles, wie ſonſt mein Cäſar!

Meine Wally! Aber Sie ſchweben in einer unvermeidlichen Gefahr, aus der ich Sie retten muß. Ihr guter Ruf iſt bedroht. Sie ver¬ danken das Ihrem Manne. Welche Leute kom¬ men in Ihr Haus?

Wally hatte nicht viel Gehör für dieſe Worte, für den Inhalt nicht, nur für den Schall, den ſie an Cäſar's Munde verfolgte. Wenn die Wörterbücher es erlauben, ſich ſo auszudrücken, ſo wollte ſie ihn nur ſprechen, nicht reden hören.

Nein, in der That, Wally! Wer iſt dieſer Jeronimo? Alle Welt ſpricht davon. Es iſt unmöglich, daß Sie Antheil an dieſer Intrigue haben. Sie kömmt allein auf Rechnung Ihres Mannes.

Wally lächelte nur und weidete ſich an dem Anblick.

Nein, bezaubernd ſind Sie, Wally! grollte183 Cäſar mit komiſch-weinerlicher Stimme; aber ſo hören Sie doch und gehen Sie auf etwas ein, das Sie intereſſirt.

Cäſar mußte ſie wecken, mit Küſſen wecken aus ihrem Rauſche. Er mußte Auge an Auge, Stirn an Stirn legen, jeden Zug in Wally's Antlitz bannen, um ſie in ſeiner Gewalt zu haben und ſeinen Worten Eingang zu verſchaf¬ fen. Wally that noch immer nichts, als in einer gewiſſen gemachten Abweſenheit von unten herauf mit einer halben Wendung ihres Kopfes, mit klugen und verdächtigen Augen an ihn ſich hinaufſchmiegen und das küſſen, was ſie grade traf, Auge, Mund, Naſenflügel. Man muß lieben, um dieſen maleriſchen Geſtus der Zärt¬ lichkeit zu verſtehen.

Wally!

Cäſar!

Wer iſt Jeronimo?

Ein Narr.

184

Der Bruder Ihres Mannes?

Der Bruder meines Mannes.

Er liebt Sie.

Er liebt mich.

Er iſt wahnwitzig.

Er iſt wahnwitzig.

O, Wally! Wally!

Was ſoll ich nur? Warum inquiriren Sie mich?

Man behauptet, Jeronimo würde mit Vor¬ ſpiegelungen von Ihnen hingehalten, während Ihr Mann die Zeit benutzt, ſeinen eigenen Bruder auszuziehen.

Aus der Comödie! Ein Roman von Eugene Sue, Balzac, Victor Hugo; was ſoll ich leſen? Rathen Sie mir: ich verwildre ganz, Cäſar.

Keine Fabel, nein! im Hotel des ſardini¬ ſchen Geſandten plündert man die unglücklichen Liebhaber.

Und die glücklichen, Cäſar, ſind langweilig.

185

Und die glücklichen Liebhaber, Wally, wollen nicht, daß ihr Idol ein Gegenſtand der allgemeinen Beſchimpfung iſt.

Wer beſchimpft mich?

Ihr Mann!

Nun, ſo müſſen Sie mich wieder rein waſchen.

Das will ich; aber

Aber

Geben Sie mir Aufſchlüſſe, Data, Erklä¬ rungen. Wer iſt Jeronimo? Was will er? Was hat er? Ahnten Sie nichts? Theilen Sie die Schuld Ihres Mannes?

Gott, ſo hören Sie auf, Cäſar. An die¬ ſen Sachen nehm 'ich keinen Theil. Ich habe ja an Ihnen genug, Cäſar; ich laſſe Sie nicht. Reden Sie von der Vergangenheit, von Ihren Lebensſchickſalen, von unſern Freunden. Kein andres Wort, oder ich verlaſſe Sie im Au¬ genblick.

186

Cäſar begriff dieſe Grillen nicht. Verdiente er, ſo geliebt zu werden!

Nun dann! ſagte er lachend und ärger¬ lich zugleich, und begann auf die Themata ein¬ zugehen, welche Wally entzückten. Bis zur Mittagszeit konnten ſie über dieſe Dinge ſpre¬ chen, ja noch in der Loge des Theaters, und nach dem Theater bis tief in die Nacht hinein.

187

10.

Endlich hatte Wally den Zuſammenhang ihrer häuslichen Verhältniſſe erfahren. Cäſar war unermüdlich, den Ruf ſeiner Freundin wieder herzuſtellen und die öffentliche Meinung über ſie zu berichtigen. Sie dankte ihm dafür nicht einmal; denn ſie lebte gar nicht in Be¬ zug auf dieſe unwürdigen Dinge, weil ſie weder von ihnen eine Vorſtellung hatte, noch ſie für werth einer Aufmerkſamkeit hielt, die größer geweſen wäre, als die vollſtändige Erſchöpfung ihres Verhältniſſes zu Cäſar.

So verfloſſen einige für ſie unerſetzliche Tage. Wally duldete nicht, daß irgend etwas ſie im Genuſſe derſelben ſtörte. Sie gab ſich wenigen Beſuchen preis. Die meiſten wies ſie ab, vor allen die Anmeldungen Jeronimo's, den ſie in188 ſeinen Leiden mit einer entſetzlichen Grauſam¬ keit behandelte. Sie trat Alles mit Füßen, was nicht in unmittelbarer Beziehung auf Cä¬ ſar ſtand.

Sie müſſen mich über dieſen Unglücklichen anhören; ſprach Cäſar einſt zu ihr. Er glaubt Rechte auf Sie zu haben und behaup¬ tet, daß Sie um den Preis ſeines Vermö¬ gens die ſeine wären.

Wally lachte hierüber, dann aber ſagte ſie ärgerlich: Was ſoll ich aber thun? Ich bin dieſer Verhandlungen müde, daß mir meine Lage unerträglich wird. Es kömmt ſo weit, daß ich jedes Mittel ergreife, Paris zu verlaſſen.

Was thut Ihr Mann? Was ſagt er Ihnen? Will er denn Alles geſchehen laſſen?

Was geſchieht denn? Gütiger Himmel, ſo ſchenken Sie den Narrheiten der Welt nicht fortwährend Ihr Ohr. Ich bin für Sie ohne Tadel und bedarf nicht mehr, weil ich189 nur Ihnen gefallen will. O Gott! iſt je zu einem Manne ſo geſprochen worden?

Sie verwirren meinen Kopf, Wally!

Gewiß: denn der meinige iſt unfähig, noch im Zuſammenhange zu denken. Wollen Sie etwas Entſcheidendes thun? Nun?

Befreien Sie mich aus dieſer Lage! Ich gehe mit Ihnen aus Paris und kehre niemals zurück. In der Einſamkeit will ich wohnen; ſelbſt, wenn Sie mich verbergen müßten. Hier iſt die Luft verpeſtet. Sagen Sie Alles mei¬ nem Manne. Er iſt ein Pinſel, der gar keine Rechte auf mich hat. Fort! Gehen Sie noch jetzt hinüber zu ihm.

Als Cäſar mit dem Geſandten allein war, ſagte er zu ihm: Mein Herr, Sie vernach¬ läßigen den Ruf und die Ruhe Ihrer Frau.

In welcher Eigenſchaft ſagen Sie mir dies? fragte der Geſandte.

190

Als Bevollmächtigter und Beauftragter Ih¬ rer Frau, als Freund des Hauſes, dem ſie ange¬ hört, als Theilnehmer an Wally's Lebensſchick¬ ſalen, die ſie betreffen, als beträfen ſie mich ſelbſt, zuletzt wenn auch nur als Beſchützer eines Weſens, das unſchuldig iſt und nicht die Kraft hat, ſich von einer Intrigue loszuſagen, in welche ſie wider ihren Willen verwickelt wurde.

Sie ſcheinen von den Verhältniſſen meiner Frau mehr zu wiſſen, als ich ſelbſt. Doch will ich ihre Mittheilungen abwarten, um mich zu irgend etwas beſtimmen zu laſſen.

Dann werden Sie freies Spiel haben, mein Herr! Wally lebt nicht mit dem, was um ſie vorgeht.

Dann ſcheint es, als bauten Sie ihr eine neue Welt.

Ja, Sie können ſo ſagen, wenn Sie darun¬ ter verſtehen, daß ich die alte einreißen werde. 191Was[können] Sie thun, um Ihrem Bruder ſei¬ nen Verſtand wieder zu geben und die Reich¬ thümer deſſelben, welche Sie ſich das Anſehen geben, mit Ihrer Gattin zu theilen? Sie wagten es, eine himmliſch reine Seele zu be¬ ſchmutzen. Sie wagten es, das Leben eines Bruders methodiſch zu untergraben. Gegen das Letzte werden die Geſetze auftreten, gegen das Erſte aber Geſinnungen, die ſich weder wider¬ legen noch beſtechen laſſen.

Aber auch gegen dieſe tugendhaften Geſin¬ nungen wird es Geſetze geben; denn Sie wiſ¬ ſen, daß dieſe Art Tugend nicht überall am Orte iſt.

Die Geſetze werden zu ſpät kommen.

Wie ſollten ſie von Ihnen vereitelt werden?

Durch die Entführung Ihrer Frau, die Brandmarkung Ihres Namens, durch die Auf¬ hebung jeder ehrlichen Gemeinſchaft mit Ihnen, durch tauſend Vorſprünge, welche die Ehrlichkeit192 vor einem Manne voraus hat, der mir dem guten Namen ſeiner Frau das Vermögen eines Bruders kauft, der zur einen Seite die Men¬ ſchen übel berüchtigt, zur andern wahnſinnig macht. Wahrhaftig, ich ſchwöre Ihnen

Der Geſandte trat ſcharf auf Cäſar zu, und hintertrieb hiedurch das, was dieſer ſagen wollte, er ſtieß einige Drohungen aus, und verließ dann mit einem gemachten Stolze das Zimmer. Cä¬ ſar wollte ihm nach, aber die Thür war in's Schloß gefallen.

Als er in die Zimmer Wally's zurückkam und er hörte, daß ſie im Bade ſei, verließ er unmuthig über die verlorne Mühe das Hotel. Seine Ausdauer war erſchöpft. Er war nahe daran, jetzt Alles ſo kommen und ſo gehen zu laſſen, wie es ging. Aber noch an demſelben Abende ſollte eine Schlußkataſtrophe den Kno¬ ten durchhauen.

Jeronimo's Seelenzuſtand war unheilbar zer¬193 rüttet. Es war ihm nur noch eine Kraft ge¬ blieben, die gefährlichſte für ſeinen unzurech¬ nungsfähigen Zuſtand, die Kraft, Entſchlüſſe zu faſſen und ſie um ſo eher in's Werk zu ſetzen, weil ihn nichts in ſeinen Combinationen ſtörte. Jeronimo war faſt ein Bild des Todes. Das dunkle Feuer ſeines Auges hatte ſich ſelbſt verzehrt, ein Büſchel dünner Haare deckte den kahlen Scheitel. In Regen und Froſt ſtand er vor den Fenſtern ſeiner unglücklichen Nei¬ gung, die ihn von ſich wies und den ganzen Herbſt und Winter mit ihm nicht geſprochen hatte. Dabei verſagte er ſich das Nothwen¬ digſte. Er ſchien, verhungern zu wollen. Da ihn aber die Langſamkeit dieſer Todesart pei¬ nigte, ſo wählte er eine ſchnellere. Nur dar¬ um handelte er ſich noch bei ihm, wie er vor den Augen Wally's ſterben ſollte.

Es war an demſelben Tage, wo Cäſar mit dem Geſandten geſprochen hatte, als ſich inGutzkow's Wally. 13194der Nachtdämmerung eine blaſſe Geſtalt von ihrem Lager erhob, nach einem Piſtol griff und ſich an den erleuchteten Häuſern der Pariſer Straßen dicht unter den erſten Stock¬ werken entlang ſchlich. Es war ein wenig Schnee gefallen. Die Straßen waren leer, oder doch hatte Alles, was auf ihnen war, Eile, ſie wieder zu verlaſſen. Nirgends brannten Later¬ nen. Der Kalender hatte Mondſchein.

Jeronimo ſtand endlich vor dem Hotel ſei¬ nes Bruders. Man ſah es, daß dieſes Haus kein Sitz der Freude war. Nur hie und da war ein Fenſter erleuchtet. Jeronimo ſpähte nach dem, welches zu Wally's Schlafkabinet gehörte. Er ſah es, doch war es noch finſter. Wally mußte aus dem Theater ſchon zurück ſein. Einige falſche Accorde auf dem Clavier dran¬ gen zu dem Ohr des Unglücklichen. Jeden An¬ dern, deſſen Geiſt nicht ſchon in wahnſinnige Erſtarrung übergegangen war, hätten dieſe195 Töne dem Leben wieder gegeben. Jeronimo hatte keine Empfindung, als für das, welches mit ſeinem Tode und einer Art von Rache zu¬ ſammenhieng. Er that nichts, als den Hahn ſeines Piſtols zurücklegen.

Jetzt ſchwiegen die Töne, welche nur in einem Anfalle von Zerſtreuung und zufälliger Leere des Bewußtſeins angeſchlagen ſchienen. Das Schlafkabinet Wally's erhellte ſich. Jeronimo zitterte, denn nah erkannte er zwei Geſtalten, welche an den Gardinen des Fenſters zuweilen wegrauſchten. Bald war es nur noch dieſelbe, die zuweilen wiederkehrte. Es mußte Wally ſein.

Jeronimo wollte nicht anders, als ſie im Auge haben. Der Zufall war grauſam genug, hier Alles zu erleichtern. Vom Vorſprung des Parterrefenſters war er bald auf das eiſerne Gerüſt einer Laterne. Die Einſchnitte an der13 *196Wand des Hauſes unterſtützten ihn. Er ſchwang ſich auf, griff mit zuckender Hand an das Fen¬ ſter und faßte ſoviel vom Holze, daß er bequem aufgerichtet einige Minuten lang ſtehen konnte; er ſtand noch länger; denn in ſo fürchterlichen Augenblicken ermüdet der Körper nicht und kann das Unglaubliche leiſten.

Wally blieb drinnen an einen Pfeiler ihres Bettes gelehnt. Sie war noch nicht ganz[ent¬ kleidet]; nur was an Schnüren und Bändern ihre Kleider zuſammenhielt, das war gelöſt und machte, daß ſie in einer maleriſchen, die Sinne verlockenden Situation daſtand. Sie war ſehr indifferent in ihrem Gemüthe, wie es ſchien, und griff nach einem Buche, nach einem deutſchen Buche, um ſich in Paris einzuſchlä¬ fern. Da ſtörte ſie ein Geräuſch am Fenſter. Sie ſieht auf und erblickte durch die angelau¬ fenen Scheiben die ganz undeutlichen Umriſſe197 einer menſchlichen Geſtalt. Sie eilt hinzu, wiſcht ſo viel von dem Thau des Fenſters ab, um ein gräßlich verzerrtes Antlitz wahrzunehmen, das im Nu beim Knall eines Piſtols zerſchmettert iſt. Sie ſtößt einen entſetzlichen Schrei aus: der Schuß machte das Haus lebendig. Man eilt von allen Seiten herbei, dringt in Wally's Zimmer; denn hier hatte man den Schuß ge¬ hört. Man tritt in das Kabinet, und findet Wally bewußtlos am Boden liegen. Die Schei¬ ben ſind zerſchmettert und blutige Theile eines zerſprungenen Schädels liegen auf dem Fu߬ boden.

Wally hatte ſich bald erholt. Sie beſann ſich auf Alles; ſie hatte Jeronimo in dem Au¬ genblicke, als das Piſtol blitzte, erkannt; Nie¬ mand zögerte, ihre Vermuthung zu beſtätigen, als man den hinuntergeſtürzten Leichnam be¬ ſichtigte und dem Bruder des Geſandten in ein198 Antlitz leuchtete, das nicht mehr da war. Aber welch 'ein tiefer Abgrund iſt das weibliche Herz! Wally tobte wie eine Bacchantin. Sie lief, ſie ſchrie, ſie riß die Zimmer ihres Gatten auf, der nirgends zu finden war. Sie verbot unter jeder Bedingung, den entſetzlichen Leichnam in das Haus zu tragen. Wäre Jeronimo nicht todt geweſen, jetzt hätte ſie ihn umbrin¬ gen können. Sie rief nach Cäſar. Bedienten eilten fort; man traf ihn nicht. Sie ſchickte zwei -, dreimal. Zuletzt ließ ſie ihm ſagen, daß er am folgenden Morgen um ſechs Uhr reiſe¬ fertig in ihrem Hotel eintreffen ſollte.

Hier war kein Beſinnen, kein Abrathen mehr möglich. Alles mußte Hand anlegen, um ihre Sachen zu ordnen und das Nöthigſte auf den Reiſewagen zu packen, der unter den Thor¬ weg gezogen wurde. Die Poſt wurde zur Mi¬ nute beſtellt. Wally war wie verzaubert. Sie199 befahl, majeſtätiſch, kalt, nordiſch, wie eine Allein¬ herrſcherin Moskovien's. Bis tief in die Nacht war ſie mit dieſen Zurüſtungen beſchäftigt.

Sie hatte in halbem Schlummer gelegen, als ſie in der Frühe aufwachte. Das blutige Ereigniß hatte ſie vergeſſen; nur ihr Entſchluß beſchäftigte ſie. Cäſar erſchien, ganz verſtört. Sie blickte ihn forſchend an, ſie befahl. Er begriff nichts, er frug nicht, er folgte willen¬ los. Unten im Thorweg war Alles noch um den Wagen beſchäftigt, ſie zitterte vor Aerger, daß hier noch nicht Alles beendigt war. Sie dachte gar nicht daran, bei Menſchen, welche ſie nie wieder ſehen wollte, einen angenehmen Eindruck zu hinterlaſſen. Cäſar's Blick fiel auf eine Blutſpur, die von Außen ſich in den Thor¬ weg und wieder hinaus zog. Er wagte nicht zu fragen, ſo erſchreckte ihn dies. Wally ſchien Alles zu wiſſen, und wie leichtſinnig trat ſie200 über das kaum getrocknete Blut, das hie und da mit zerſplitterten Knochen vermiſcht war!

Erſt als ſie beide im Wagen ſaßen und die Barrièren von Paris im Rücken hatten, theilte ihm Wally das Geſchehene mit. Cäſar ſchauderte.

[201]

Drittes Buch.

[202][203]

Wally's Tagebuch.

Es iſt zu ſpät, das Leben ihres Bluts Iſt tödtlich angeſteckt, und ihr Gehirn, Der Seele zartes Wohnhaus, wie ſie lehren, Sagt uns durch ſeine eitlen Grübeleien, Das Ende ihrer Sterblichkeit vorher.
Shakſpeare.

Die Einſamkeit meiner jetzigen Lebensweiſe zwingt mich, den Kreis, in welchem ich mich bewege, nun doch auch in allen ſeinen Theilen auszufüllen. Wie beglückt mich Cäſars Liebe! Ich will aber nicht ungerecht ſein gegen die Außenwelt, und mich[wenigſtens] ſchriftlich mit ihr beſchäftigen, ſo weit ſie ein Recht dazu hat. Viele verdienen es, daß ich auf ſie achte: nicht204 alle. Cäſar ſagt mir, ich wäre egoiſtiſch ge¬ gen die Welt, er nennt mich ſogar grauſam. Er meint es gewiß damit aufrichtig. Ich will mich auch mit den Andern beſchäftigen; aber ſchriftlich: täglich will ich drei Vormittags¬ ſtunden darauf verwenden. Täglich

205

Ob ich das Vorige ausſtreiche? Fünfmal hab 'ich gegen meinen Vorſatz geſündigt, und multiplizire ich die drei vergeſſenen Stunden mit den fünf vergeſſenen Tagen, ſo that ich's fünfzehnmal. Ich ſchreibe ungern, denn ich denke viel ſchneller, als mein bleierner Styl folgen kann. Cäſar ſagte mir, man müſſe die Menſchen in ihrem ganzen Weſen anatomiren. Dadurch lerne man und vergnüge ſich. Cäſar hat immer Recht.

Ich will einige meiner alten Freundinnen zu ſchildern ſuchen. Ich vernachläſſige alle; wenn ich ſie ſehe, zeig 'ich ihnen, was ich von ihnen ſchrieb und daß ich ſie doch liebe. Ich will Delphinen charakteriſiren, ſie iſt ſo verſchieden von mir.

Delphine gefällt, ohne ſchön zu ſein. Man kann ihr nicht einmal einen ausgezeichneten Wuchs zugeſtehen, nur ihre Haltung, ihr ſchwe¬ bender Gang kann den Mann veranlaſſen, auf206 ſie zu achten. Sie trägt ſich mit erſtaunens¬ werther Einfachheit. Ihr Haar iſt geſcheitelt; ein weißer Kantenſtrich, wie man ihn unter Hüten trägt, hebt dieſe Einfachheit zu dem lieblichſten Eindruck. Weiß und hellblau ſtehen ihr gut; eine rothe Schleife auf der Bruſt giebt dieſer Monotonie der Toilette eine la¬ chende Auffriſchung. Delphine hat einen klei¬ nen Fuß. Sie geht ſehr ſchön. Das will viel ſagen! Das Blaue in Delphinens Auge iſt nicht rein, es iſt mit zu viel Weiß gemiſcht. Für die Augenbrauen iſt eine ſchöne Wölbung da; aber ſie iſt nicht ſtark aufgetragen; dieſer Reiz verſchwindet. Sie hat einige hübſche Ge¬ wohnheiten. So faßt ſie z. B. oft mit der linken Hand in die Gegend der Stirn, öffnet ſie, ſchließt mit dem Daumen und dem Zeige¬ finger einen Kreis und beginnt dieſen Kreis allmälig zu öffnen, indem ſie aus der Thrä¬ nendrüſe des linken Auges zurückfährt, das207 ganze Auge umkreiſt und die Oeffnung der beiden Finger wieder ſchließt am Ende des Auges. Dieſe ſonderbare Bewegung erfolgt mit Blitzes¬ ſchnelle, und iſt deßhalb ſo hinreißend, weil ſie immer mit einer Erregung ihrer Seele zuſam¬ menhängt. Der größte Zauber in Delphinens Erſcheinung kommt aber von ihrer eigenthüm¬ lichen Seelenſtimmung her. Dieſe muß man, um kurz zu ſein, ſentimental nennen; obſchon der Ausdruck ſie nicht ganz erſchöpft. Beſſer würde man ſagen, ſie iſt muſikaliſch geſtimmt. Denn Muſik drückt ihr ganzes Weſen aus: und zwar nach jener einſeitigen Richtung hin, wo die Muſik nur Wolluſt der Empfindung iſt. Für plaſtiſche Geſtaltenſchöpfung in der Muſik, ſo weit die Muſik dieſe erreichen kann, für Opern im franzöſiſchen Geſchmack, kurz für das Dramatiſche in der Muſik iſt ſie nicht. Die Richtung ihrer Seele iſt lyriſch. Alles, was ſie mit einem wunderlieblichen Organe208 ſpricht, nimmt den Ausdruck des Zarten, Scho¬ nenden und Bittenden an. Bittend ſind die meiſten Töne ihres Lautregiſters. Nichts kann hinreißender ſein, als dies flehende, mit einer gewiſſen lächelnden und doch ſchmerzlichen Selbſt¬ ironie hervorgebrachte: O Gott! womit ſie ſo vieles begleitet, was ſie ſpricht. O Gott! Dieſer Ausdruck ſoll ihr ewiges Ueberwunden¬ ſein, ihre Hingebung an die Menſchheit, an die ſie glaubt, ausdrücken. Wer könnte widerſte¬ hen, wo ſolche Töne anſchlagen! Delphine iſt ſo willenlos, daß ſie die Beute jeder pronon¬ cirten Abſicht wird. Mit liebenswürdiger Nai¬ vetät geſtand ſie mir einſt: Sie würde Jeden lieben, der ſie liebt. O wie nöthig iſt es, bei einer ſolchen Willensſchwäche, daß ſie in die Hut eines Mannes kömmt, der ſo viel geiſti¬ ges Leben beſitzt, um ſie ganz durchſtrömen zu können mit ſeiner eignen Willenskraft! Del¬ phine liebte unglücklich, mehrmals; aber ſie iſt209 ſo unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten ſind ſo wenig ſichtbar in ihrem Benehmen, daß ſie dem Manne immer noch als kaum erſchloſſene Knospe erſcheinen muß. Delphine beſitzt äußer¬ lich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge zu feſſeln, aber wer ſie einmal, ſei es aus Liebe oder Illuſion eroberte, der wird ſie nie ver¬ laſſen können, weil ihre Hülfloſigkeit, ihre Hin¬ gebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet ſie noch mehr an ihrem Geiſte. Sie hält einige Mi¬ nuten lang die Dialektik eines bloß verſtän¬ digen logiſchen Geſprächs aus; aber dann kann ſie es nur fortſetzen, wenn es entweder auf einen gemüthlichen und Gefühlston übergeht oder auf einen beſtimmten vorliegenden Fall, den ſie erlebt hat. Ueber einen Fall, den man ihr blos erzählt, kann ſie nicht urtheilen, weil ſie alle Menſchen für gut hält, und alle nach ſich ſelbſt richtet. Delphine ſollte viel leſen. Sie liest, aber fragmentariſch. Sie iſt reich,Gutzkow's Wally. 14210ſie ſollte ſich durch vielfache Lektüre darin zu bilden ſuchen, was über die Muſik und das bloße Gefühl hinausliegt. Ihr Organ macht, daß ſie ſchön, ihre keuſche Seele, daß ſie faſt Alles richtig liest. Ich hörte ſie Gretchen im Fauſt leſen, ſo wahr und hold, wie es der Peche in Wien und Höffert in Braunſchweig kaum ge¬ lingen möchte. Cäſar muß ihr Bücher geben. Was er wohl über ſie urtheilt! Er iſt ihr diametral entgegengeſetzt, und ſagte mir doch einmal: er müſſe Jede lieben, die ihn liebe und würde auch Jeder treu ſein in ſeiner Art. Bei ihm iſt das Egoismus, bei Delphinen Schwäche. Sie können ſich aber nicht begegnen. Delphine iſt eine Jüdin.

211

Ich habe das geſtern nur ſo hingeworfen, daß Delphine eine Jüdin iſt. Aber welche eigenthümliche Richtung mußte dies ihrem We¬ ſen geben! Sie wurde unter ſehr glänzenden Verhältniſſen erzogen. Das Judenthum in ſei¬ nem Schmutz, mit ſeinen Ceremonien und Prie¬ ſtern nahte ſich ihr niemals. Sie findet keine Reue darin, irgend eines der jüdiſchen Gebote zu übertreten, von welchen ſie den größten Theil gar nicht kannte. Wie originell iſt doch ein Mädchen, das den ganzen Bildungsgang chriſt¬ licher Ideen nicht durchmachte, und doch auf einer Stufe ſteht, welche ganz Gefühl iſt, und das ſo viel Liebenswürdigkeit entwickelt! Del¬ phine kann von der Religion nur wenige Nach¬ richten haben, einen weiblichen Gottesdienſt giebt es in ihrem Glauben nicht, eine häus¬ liche Verehrung kömmt in Form von Ceremo¬ nien, Geſang oder ſonſt einer Weiſe nicht vor, die Confirmation iſt unter uns den Juden nicht14 *212erlaubt wie auffallend iſt dies Alles, und doch hat man es dicht neben ſich!

Glücklich iſt Delphine zu nennen, denn nie¬ mals wird ihr die Religion irgend eine Aengſt¬ lichkeit verurſachen. Ein gewiſſes unbeſtimm¬ tes Dämmern des Gefühls muß für ſie ſchon hinreichend ſein, die Nähe des Himmels zu ſpüren. Sie braucht jene Stufenleiter von po¬ ſitiven Lehren und hiſtoriſchen Thatſachen nicht, die die Chriſtin erſt erklimmen muß, um eine Einſicht in das Weſen der Religion zu bekom¬ men. Wir ſind weit ſchwieriger in dieſem Be¬ tracht geſtellt und ſollten im Grunde, wenn die Religion die Tugend befördert, weit weni¬ ger tugendhaft, als die Juden ſein; denn un¬ ſere Religion iſt ein ſo hoher Münſter, daß man ihn zwar erſteigen, aber nicht zu jedem Sims, zu jedem Vorſprunge, zu jedem Sei¬ tenthurme gelangen kann. Eins aber bemerk 'ich, was charakteriſtiſch iſt. Niemals könnt'213 ich als Chriſtin über meine Religion zu Del¬ phinen ſprechen und ſie eine Verzweiflung über meinen Glauben blicken laſſen. Es iſt dies eine Schaam und ein Stolz, welcher unver¬ tilgbar in uns niedergelegt iſt, und die uns nicht verlaſſen würde, ſelbſt wenn vom Chri¬ ſtenthum Alles in uns morſch geworden iſt.

Für chriſtliche Männer, welche widerſpän¬ ſtig gegen den Katechismus ſind, muß die Liebe einer Jüdin von beſonderm Reize ſein. Sie nehmen hier weder Bigottismus, noch eine Zer¬ riſſenheit, wie die meinige, in den Kauf, ſon¬ dern weiden ſich an der reinen, ungetrübten, natürlichen Weiblichkeit, an einem ſinnlichen Schmelz der Liebe, welcher die der Chriſtinnen bei Weitem übertreffen ſoll. Bei einer Jüdin reduzirt ſich Alles einſeitig auf ihre Liebe, Rückſichten tauchen nirgends auf: ihre Liebe iſt ganz pflanzenartiger Natur, orientaliſch, wie eingeſchloſſen in das Treibhaus eines Ha¬214 rems, der Alles erlaubt, jedes Spiel, jede weibliche (aber wollüſtig-ergreifende) Gedan¬ kenloſigkeit, Alles, Alles: darum ſchwillt Del¬ phine von Liebe. Das Segel ihres Herzens iſt niemals ſchlaff, ſondern immer aufgebläht, rund und voll, immer auf rauſchender Fahrt.

Cäſar entdeckt, glaub 'ich, in der Liebe zu Jüdinnen noch einen andern Reiz. Er hat eine ganz heilloſe Anſicht von der Ehe, und will die letztere durchaus nicht als ein Inſti¬ tut der Kirche gelten laſſen. Das Sakrament der Ehe iſt nach ſeiner Theorie die Liebe, nicht des Prieſters Segen. Wie glücklich würde Cä¬ ſar ſein, wenn er je heirathete, es ohne kirch¬ liche Ceremonie thun zu dürfen!

Eine Ehe zwiſchen einer Jüdin und einem Chriſten kann zwar nicht bei uns, aber in andern Ländern geſchloſſen werden; natürlich iſt dies eine Ehe ohne den chriſtlichen oder jü¬ diſchen Prieſter; es iſt eine rein civile Ehe215 vor den Gerichten, ein Akt der geſelligen Ueber¬ einkunft. Ich glaube faſt, Cäſar könnte de߬ halb ſeine Neigung zu Delphinen ins Aeußerſte treiben. Schon bemerk 'ich, wie eifrig er ſie ſucht.

216

Wie leichtſinnig bin ich geſtern über die Abgründe meines Denkens hingewandelt! Ohne weiteres konnt 'ich mich damit beruhigen, dieſe Zweifel an meinem Glauben hinzunehmen als etwas, das ich mir längſt ſelbſt geſtanden habe, und doch weiß ich aus meinem frühern Leben, wie unglücklich ich war, daß ich über dieſe Dinge nichts zu denken wagte. O wie mäch¬ tig iſt der Liebe Zauber! Ein männliches Herz, das uns liebt, iſt der Wächter aller unſrer Gedanken und muß die ſtille Verantwortung deſſen tragen, was in der Seele des Weibes Sünde und Empörung iſt. Wie ſicher fühl' ich mich, ſelbſt im Entſetzlichſten, wenn ich nur die warme Hand meines Freundes drücken darf! Er nimmt Alles auf ſich: er iſt heiter und lächelt und fürchtet nichts.

217

Wenn ich jetzt ſchon nicht ohne Zagen ſehe, wie Cäſar ſich Delphinen immer mehr nähert, wenn ich mir die grauſame Wirkung denke, die ein Verhältniß zwiſchen beiden in mir Unglück¬ ſeligen hervorbrächte: was muß dann kommen, wenn ich die Trümmer ſehe, welche ſich in meiner Seele aufgehäuft haben! Die Unruhe, über die Religion eine Anſicht zu haben, pei¬ nigt mich mehr als ſonſt. Sie hat eine ſolche, jetzt zur Noth gedämmte Gewalt über mich, daß ich glauben muß, die Wegnahme dieſes Dammes der Liebe bringt eine Ueberfluthung in mir hervor, welche ſelbſt den Schmerz über Cä¬ ſars Verluſt mit fortſchwemmt. Ich lebe und ſterbe mit Cäſar. Leben kann ich nur mit Cäſars Liebe. Sterben muß ich, nicht weil Cäſar im Stande war, eine andre mir, ein Mädchen einer Frau (ob er es wohl weiß, eine Unberührte einer Unberührten) vorzuzie¬218 hen, ſondern weil dann Alles in mir zuſam¬ menſinkt. Gott, ich glaube, faſt brauch 'ich Cäſar nur, um mich zu beſchäftigen und mei¬ nen Gedanken eine unſchädliche Richtung zu geben. Er kömmt.

219

Nur die Erkenntniß iſt das Schwere. Das Daſein Gottes ſelbſt bezweifeln, hieße den ge¬ genwärtigen Zuſtand meines Innern fortläug¬ nen. Würd 'ich dieſe Mühe haben, wenn es nicht in Wahrheit einen Gott gäbe! Das Re¬ ſultat des Atheismus war auch nie ein andres, als daß er in ein Syſtem übergieng und zuletzt ſelbſt eine Religion wurde. Konnt' es aber¬ gläubigere und bigottere Atheiſten geben, als Chaumette, Anacharſis Cloots und Momoro waren!

220

Der Atheismus eine Religion! Eine Iro¬ nie, die man ſataniſch nennen möchte! In einer Reiſebeſchreibung las ich, daß einer der erſten Gottesläugner der Revolution, Billaud - Varennes, nachdem er auf ſeiner Flucht erſt von der Dreſſur azoriſcher Papageien gelebt hatte, dann in Amerika Prieſter wurde, unter Indianer kam und zuletzt von ihnen als gött¬ liches Weſen verehrt wurde, er, der Gott ge¬ läugnet hatte!

221

Dieſe ſataniſchen Ironien reizen mich. Sollte es möglich ſein, daß es noch einſt im Himmel einen Gottesdienſt giebt! Das Chriſtenthum (man leſe nur die Offenbarung Johannis) ge¬ fällt ſich in dieſem lächerlichen Widerſpruch, als wenn Gott vor ſich ſelber Weihrauch ſtreuen müſſe. Er etablirt im Himmel eine vollendete Kirche mit Chören der Seligen und Altären, auf welchen die Cherubim thronen. Göthe be¬ nutzte dieſe Maſchinerie für die Canoniſirung ſeines Fauſt.

Aber was jag 'ich nach ſolchen Bemerkun¬ gen! Sie haben freilich lindernde Kraft, aber ich ſchäme mich, aus meinem Schmerze That¬ ſachen heraufzuwühlen und mich ſelbſt als einen Gegenſtand meiner Leiden zu betrachten.

222

Wir ſollen Gott fürchten und lieben! Dies eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich kann es weder befolgen, noch mich anklagen deßhalb, weil ich es nicht thue. Wir ſollen Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Welt¬ anſicht, welche eine unglückliche iſt und freilich ſich nicht damit zufrieden giebt, daß jährlich vier Jahreszeiten kommen und man im Früh¬ jahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch ein ſo vortreffliches Surrogat der Vanille ſind. Es iſt im Grunde nicht viel, was wir beſitzen auf Erden. Wir werden geboren oft in den elendeſten Verhältniſſen. Wir kriechen thieriſch auf dem Boden und werden nur allmälig auf¬ gerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier der Bildung. Noth, Mühſal verfolgt uns über¬ all; ſelten ein Genuß, der nicht durch eine Anſtrengung erkauft iſt. Wir haben ſo viel mit der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen Stein wie Siſyphus den Berg hinauf; warum223 müſſen wir es thun? Der Fluch, nicht der Segen der Götter begleitet uns. Warum ſind wir? O könnt 'ich mir irgend einen er¬ weislichen Grund vorſtellen, warum dieſe Pla¬ neten im Weltſyſteme irren, warum wir auf unſerm Planeten ſo armſelig und hülflos krie¬ chen müſſen? Was bezweckte Gott damit? War dies eine Grille von ihm? Was kömmt darauf an, ob das Gute oder Böſe in der Weltordnung produzirt wird? Ich bin ſo un¬ glücklich. Ich weiß hierauf keine Antwort.

Die Fähigkeit, Fragen aufzuwerfen, ließ Gott bei der Schöpfung oder bei der ewigen Schöpfung, bei unſrer Geburt, ohne die ent¬ ſprechende Fähigkeit, auch Antwort darauf zu geben. Dieſe Halbheit einer Gabe iſt ſo feind¬ ſelig. Gott duldete es, daß der Glaube an ihn die Tagesordnung der Geſchichte wurde; er duldete es, daß noch heute der Atheismus wie das größte Verbrechen von den Völkern224 behandelt wird. Nun, ich denke an Gott; aber warum gab er uns nicht die Fähigkeit, ihn be¬ greifen zu können? Verlangt er die Folgen, warum ließ er mich ohne die Vorausſetzungen? Alle Nationen kommen darin überein, daß man von Gott nichts wiſſen könne. Dann weiß ich auch nicht, warum ſie an ihn glauben. Oder es darf mich niemand tadeln, wenn ich denke, die Exiſtenz Gottes anzunehmen, war eine ganz äußerliche, politiſche und polizeiliche Ueberein¬ kunft der Völker. Denn warum haben wir halbe Vernunft, halbe Erkenntniß, halben Geiſt? Warum zu allem nur die Elemente? Und wir ſind ſo vermeſſen, und bauen auf dieſen trüben Boden Syſteme, welche den Schein der Vol¬ lendung tragen, und uns mit Verpflichtungen willkürlich belaſten!

Und zuletzt der Tod! Dieſer Schrecken des Tods! Die Krankheit mit ihrer unſäglichen Hülfloſigkeit! Das allmälige Verſchwinden des225 Bewußtſeins! Und dies Alles nicht einmal ſo entſetzlich, als das Zunehmen an Jahren. Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfin¬ dungen werd 'ich haben, wenn ich vierzig, fünf¬ zig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch fünf ſind die Wahrſcheinlichkeit! Dies iſt eine ſo folternde Grauſamkeit des Schickſals, ein ſolcher Fluch der menſchlichen Natur, daß ich mich nie entſchließen kann, das Gebot der Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Eini¬ ges und das Meiſte wurde uns verſagt. Das Einzige, was wir in ſeiner ganzen Vollkom¬ menheit zu beſitzen ſcheinen, iſt die Fähigkeit, unſern unglücklichen Zuſtand zu begreifen und alle die Dinge zu nennen, welche wir vermiſ¬ ſen ſollen.

Gutzkow's Wally. 15226

Ich habe mir ein merkwürdiges Buch ver¬ ſchafft, von dem ich einmal durch Cäſar hörte: die Fragmente der Wolffenbüttler Ungenannten, welche Leſſing herausgege¬ ben hat. Es liegt viel Puderſtaub auf dem Buche, viel altfränkiſches Weſen; aber das hab 'ich abgewiſcht und mir von meiner Lektüre eine ganz moderne Vorſtellung gemacht. Der Ver¬ faſſer ſoll ein ehemaliger Hamburger Arzt, Reimarus, geweſen ſein. Die vollſtändige Prüfung des Chriſtenthums ſteht in einem Glas¬ ſchranke auf der Hamburger Bibliothek. Sie wollen das Buch nicht herausgeben. Sie fürch¬ ten, daß aus dem vergilbten Papiere jener Kritik Motten fliegen, die das Chriſtenthum ſelbſt anfreſſen. Warum Leſſing nur ſagt, daß der Verfaſſer jener Fragmente Schmidt heiße!

227

Die Fragmente nehmen meine ganze Auf¬ merkſamkeit in Anſpruch. Ihr nüchterner, lei¬ denſchaftsloſer Ton erſchreckt das Gewiſſen nicht. Ich leſe in der beſten Laune. Wie der Autor die Bibel zerfleiſcht, wie er in den glatt geſchei¬ telten Mienen jener Fiſcher und Zöllner, welche das Chriſtenthum predigten, den Schalk ent¬ deckt, denſelben Schalk, den der gottſelige Pie¬ tismus ſo oft im Nacken führt! Und doch jammert mich's jener kindlichen, märchenhaften Sage, die der Autor mit ſo vieler Gelehrſamkeit ver¬ nichtet! Nur Eines beſtimmt mich, ihm bei¬ zupflichten, der Hinblick auf das, was uns umgiebt, auf unſre Prieſter, auf ach! wie hängt das Alles zuſammen! Aus jenem klei¬ nen chriſtlichen Senfkorn iſt ein ganzes Senf¬ pflaſter geworden, das der geſunden Vernunft die brennendſten Blaſen zieht!

Ganz männlich werden meine Ausdrücke!

15 *228

Und doch können die Fragmente nicht befriedigen. Sie deuten auf eine Naturreli¬ gion, mit deren Vorausſetzungen ſich die heu¬ tige wiſſenſchaftliche Bildung kaum noch begnü¬ gen würde. Die Frage muß höher liegen. Sie dringt dort nicht in das Innre der Chriſtus¬ lehre ein, ſie hält ſich nur an deren hiſtoriſche Offenbarung. Ich ſuche Troſt. Wo? Wo?

229

Ich war gefaßt auf dieſe Eiſeskälte, mit der mir Cäſar ſeinen Entſchluß anzeigt. Was ich vermuthete iſt eingetroffen. Delphinens Situation reizt ihn. Er wird um ihre Hand bitten. Die Eltern ſind ohne Vorurtheile und ich werde ihn verloren haben. Ich bin ruhig. Ich habe keine Thränen für dieſen Verluſt. Ich bin in einer fürchterlichen Seelenſtimmung. Iſt dies nicht ein neuer Fluch des Himmels? O jetzt ſind mir die Blitze des Schickſals will¬ kommen, denn die Donner welche ihnen nach¬ rollen, wecken mich immer mehr aus der dum¬ pfen Betäubung meiner Gedanken. Ich muß Licht haben, Aufſchluß, Einſicht! Ich denke an Cäſar nicht mehr. Ich will wiſſen, erken¬ nen. Warum? Wozu? O, das ſah 'ich Alles voraus.

230

Ich bin krank, ich fühl 'es. Sollte das auf ein Zunehmen deuten? Iſt auch im Geiſtigen wie im Körper Wachsthum eine Krankheit?

231

Glückliche Naivetät der vergangenen Zeiten! Ich komme von einer Ausſtellung alter Ge¬ mälde. Auf vielen, die Transfigurationen und Glorien der Heiligen vorſtellen, ſah 'ich Engel, welche die Geige ſpielten. Dies würde mir weniger auffallend geweſen ſein, wenn ſie es nicht nach Noten gethan hätten.

Und doch gleicht die Malerei ſelbſt, die Kunſt, dieſe Lächerlichkeit aus. Die Poeſie würde es nicht können. Die Poeſie hat dieſe Einfachheit nicht; ſie würde ſolche Anomalien immer nur als Traveſtie geben.

Und wie entwürdigt ſie ſich, wenn ſie es thut! Man ſollte den Spott über das Hei¬ lige, das Wühlen der Miſtkäfer in duftenden Blumen, bitter verfolgen, auch die Freigeiſter ſollten es; ſie, die alle Sorge tragen müſſen, nicht mit den Spöttern verwechſelt zu werden.

232

Es würde mir viel leichter werden, den göttlichen Begriffen mit Sicherheit nachzuhän¬ gen, wenn ich vom Nichts eine Vorſtellung feſthalten könnte. Aber dies iſt unmöglich. Ich habe ſchon früh an dieſer Verzweiflung gelit¬ ten. Ich wollte ſchon als Kind mir zuwei¬ len Alles wegdenken, was ich ſahe und denken konnte, Europa, Aſien, Afrika, die ganze Erde, den Himmel, alle Schöpfung, und dann war es immer, als ſtürzt 'ich von einer uner¬ meßlichen Höhe ins Leere hinunter und fiel ohne Aufenthalt. Faſt möcht' ich ſagen, ich bin ſeither mit Eindrücken beladener und es würde mir ſchwieriger ſein, als ehemals, eine ſolche Vorſtellung des Nichts zu fixiren. Ach das hohle, weite Chaos, dieſe dumpfe Leere, worin das Nichts unſichtbar ſchlummert! Und Gott, der dieſes Nichts ſelbſt iſt, nämlich daſſelbe Nichts, das ſpäter doch ein Etwas wurde! Gott, der in dem Nichts iſt, und233 doch wiederum auch in dem Etwas nicht ſein ſoll, weil dies die Welt ſelbſt vergöttern heißen würde! Der pantheiſtiſche Gedanke widerſtrebt mir, und ich glaube, Frauen werden ihn nie¬ mals hegen können, weil ſie durch ſich ſelbſt ſchon gewohnt ſind, alle Dinge in aktive und paſſive einzutheilen. Wir werden immer an¬ thropomorphiſche Ideen haben; das Chriſten¬ thum unterſtützt uns darin. Die Vorſtellung eines über uns thronenden Werkmeiſters iſt ein Bedürfniß, das unſere Phantaſie immer geltend machen wird. Jedes Andre, ach, Alles, Alles iſt uns verſchloſſen.

234

Cäſar wird in Ländern wohnen, wo das franzöſiſche Recht herrſcht. Er iſt glücklich, ſich ohne die Kirche verheirathen zu dürfen. Eine bürgerliche Verbindung wird zwiſchen ihm und Delphinen ſtattfinden. Wenn er nur mei¬ nen Zuſtand ſchonte! Aber er kennt ihn nicht. Wüßte er, wie mich ſeine leichte Manier über die Religion ſo tief verwundet! Das Pein¬ lichſte iſt dies, daß er ſich öfter das Anſehen giebt, als ließen ſich einige Wahrheiten ſogar im chriſtlichen Glauben unumſtößlich beweiſen. Dann thut er's und beginnt über die ſchwierig¬ ſten Punkte Entwickelungen, welche er mit ern¬ ſter Miene durchführt und wenn er zu Ende iſt, für phantaſtiſchen Witz erklärt. So be¬ gann er neulich folgende Auseinanderſetzung der chriſtlichen Lehre von der Dreieinigkeit, eines Begriffes, den ich noch gar nicht an¬ rührte, weil ich mit ſeinen Prämiſſen noch nicht im Reinen bin. Er ſagte: Die bloße Vater¬235 ſchaft Gottes iſt relativ, ſie iſt unerkennbar, oder, wie Jakob Böhme geſagt hat, ein dun¬ kles Thal. Licht und Erkenntniß kömmt erſt durch den Sohn. Beide dürfen nicht iſolirt gedacht werden, ihre Ergänzung, ihre Wech¬ ſelſeitigkeit iſt der heilige Geiſt. Gott als das bloße Alles oder das bloße Nichts iſt uner¬ kennbar. Gott muß ſich etwas gegenüber ſtel¬ len, einen Schatten ſeiner ſelbſt, er mußte ſich negiren aus ſeiner Ruhe heraus und ſchuf die Natur. Die Natur iſt nicht Gott, denn dann müßte die Natur ein Zuſtand ſein. Nein, die Natur iſt eine Thätigkeit Gottes und alles in Gott Thätige, auf die Außenwelt Bezügliche, iſt in ihm das Engliſche. Die Engel ſind die Herolde des göttlichen Willens, und ihre Zahl iſt ſo unendlich, wie, faſt möchte man ſagen, die Atome der Welt. Die Engel wohnten ur¬ ſprünglich in Gott; denn ſeine Thätigkeit iſt ſeinem Sein immanent. Darum mußten die236 Engel auch gut ſein urſprünglich. Luzifer aber empört ſich, Luzifer, der Lichtbringer, der die Finſterniß erhellt. Dies Empören iſt eine Thätigkeit Gottes, das heißt Gott wird das Gegentheil ſeiner ſelbſt, Gott wird Satan. Ja, die Natur iſt Teufel, dieſelbe Natur, welche für Gott durchaus nicht vorhanden iſt, da ſie nur ſein Athem iſt. Die Natur vor Gott iſt ſo, als wäre ſie nicht. Vor Gott giebt es auch einen Teufel, als gäb 'es ihn nicht. Je höher bei dem Einen oder Andern das phi¬ loſophiſche Bewußtſein iſt, deſto weniger exi¬ ſtirt für ihn auch der Teufel. Im Chriſten¬ thum iſt der Teufel ideell gänzlich ausgetrie¬ ben, denn Gott ſonderte die menſchliche Indi¬ vidualität von der Natur ab, und gab dieſer in ſeinem Sohne eine eigne Offenbarung. Gott wollte den Widerſpruch ſeiner ſelbſt durch ſich ſelbſt ſtrafen und an ſich ſeinen eigenen Pro¬ ceß büßen laſſen. Er wurde gekreuzigt und es237 herrſcht hinfort nicht mehr Gott, nicht mehr Satan, nicht mehr der Menſch, nicht mehr die Natur, ſondern das Reich des Geiſtes, der Freiheit und der Wahrheit.

Was hatt 'ich nun von dieſer Improviſa¬ tion! Mit einer Art von komiſchem Atheismus ſchloß Cäſar ſeine myſtiſche Deduktion, welche Menſchen von größerer Einbildungskraft, als ich beſitze, viel Beruhigung gewähren mag. Ich ſoll ſchon an den Sohn glauben, und bin noch mit dem Vater unbekannt.

238

Ich habe mich drei Wochen lang täglich in Vergnügungen berauſcht. Ich mußte der Welt zeigen, daß ich Cäſars Entfernung ertragen kann, ich mußte es mir ſelbſt zeigen. Aber es erquickt mich nichts mehr. Cäſars Liebe war die ſchönſte Zerſtreuung meiner unglücklichen Seelenſtimmung. Ich ſinke immer tiefer in Nacht und Verzweiflung. Man erkennt mich nicht wieder. Oft bin ich ſo von Wehmuth aufgelöſt, daß ich in die Kammer ſtürze, wo die Erinnerungen meiner erſten Kindheit auf¬ bewahrt liegen. Ich räumte auf in der Ver¬ wirrung, um mich zu zerſtreuen. Ein Stilet fiel mir in die Hand. Wie mag das hierher gekommen ſein?

239

Ich glaube, Cäſar müßte ſich ſchämen, noch zu leben, wenn er keine Auskunft geben kann. Seine Scherze verdecken nur eine Ueber¬ zeugung, die vielleicht folgerichtig iſt. Ich habe ihm geſchrieben, ſie auch mir zu geben. In Heidelberg muß ihn mein Brief treffen; er wird ſich ſogleich hinſetzen, um mir, ich hab 'ihm die Hand auf's Herz gelegt und ihn feierlichſt beſchworen, ſeine ernſthafte Meinung über Religion und Chriſtenthum zu ſagen. Ich zittre, wenn ſeine Darſtellung einläuft.

Das Stilet gehörte meinem Bruder, der in demſelben Alter geſtorben iſt, in welchem ich mich jetzt befinde.

240

Cäſar ſagte mir oft, als Kind hab 'er ſich fortwährend damit geängſtigt, daß er keines natürlichen Todes ſterben würde. Die Kata¬ ſtrophe des jungen Sand hätte zu ſeiner Zeit alle jungen Köpfe auf den Gedanken gebracht, daß ſie ihnen auch einſt abgeſchlagen würden. Keiner, ſagte er, glaubte ſo würdig zu ſein, wie Sand, und keiner glaubte deßhalb auch, auf einen milderen Tod rechnen zu dürfen, als Sand. Er geſtand mir mit eiſigem Grauen, daß er oft Stunden lang heimlich mit ent¬ blößtem Halſe geſeſſen und ſich in die Illu¬ ſion des Schaffots hineingedacht habe, daß ihm die Thränen gefloſſen ſeien, aus Verzweiflung, ſo ſterben zu müſſen. Es war immer ein wehmüthiges, liebes Lächeln, das bei ſolchen Geſtändniſſen auf ſeinen Lippen lag. O Gott! ich vergeſſ' ihn nicht. Für Alles brauch 'ich ihn. Er ſoll mir zu Allem Beweiſe geben!

241

Ich leſe das Buch: Rahel; aber nur in Bruchſtücken. Viel davon auf einmal ver¬ wirrt den Kopf; nicht deßhalb, weil das Buch abſolut ſchwer wäre, ſondern relativ ſchwer iſt es, in Beziehung auf Rahel, die ſich das Denken ſo ſchwer machte. Ich glaube, daß dieſe Frau unter Denken ver¬ ſtanden hat, die Dinge immer von der ver¬ kehrten Seite anfaſſen oder doch von der entgegengeſetzten, gegenüber dem gewöhnlichen Wege. Sie gräbt ſich wie ein Maulwurf in die Ideen ein, und bezeichnet dann und wann ihre Reſultate durch kleine aufgewor¬ fene Hügel, die nichts ſagen, nämlich nichts Poſitives, die nur Wahrzeichen ſind, daß hier etwas war, was wie ein Gedanke war und was ſo leicht wieder vergeſſen iſt! Wie reich iſt dieſe Frau an Philoſophie und objektiver Vergeßlichkeit! Man hat ſo wenig in ihremGutzkow's Wally. 16242Buche, und doch glaubt man, wenn man es zuſchlägt, Alles zu haben. Dann ſeh 'ich recht, wie nur die Männer im Stande ſind, zu produziren, auch Gedanken.

243

Bettina! Spielerei alte Gedanken; nur klaſſiſche, neue Formen. So ſprechen, gehen, laufen, eſſen, trinken, ſchlafen, handeln wie es Einem gerad 'einfällt? Ich konnt' es einmal; jetzt nicht mehr. Bettina hatte ſo lange freien Willen, ſich ein Geſetz zu ſchaf¬ fen; und nun ſo alt, und noch immer kein Geſetz! Ihr Buch iſt ungereimte Poeſie. Ein freies Weib iſt nur erträglich mit Speku¬ lation.

16 *244

Wieder wie Jakob einen Zug aus dem Rahelbrunnen gethan. Aber es iſt immer nur Lea, die man erhält, niemals Rahel. Ra¬ hel ſitzt hinter den zweimal ſieben Jahren und flicht ihren Freiern Körbe. Man glaubt eine Prieſterin mit Weiſſagung in ihr zu finden, und wird doch von ihr nur angeregt, oder vielmehr nur herausgeriſſen aus dem alten Kreiſe ſei¬ ner Vorſtellungen. Es iſt furchterregend, eine Frau die Gegenſtände ſo dämoniſch-linkiſch an¬ faſſen zu ſehen. Will ſie es nur anders ma¬ chen, als die Andern? Oder wurde ihr dieſe Originalität angeboren? Sie giebt nirgends nach, ſie iſt raſtlos in ihren Beſtrebungen, die verſchiedenen Seiten der Wahrheit zu entdecken und konnte nicht anders enden, als entweder in einem Wahnſinn, der ſich mit der Bewegung im Tretrade vergleichen läßt, oder als Anhän¬ gerin des Pietismus. Man iſt in keiner Si¬245 tuation übertäubter, als bei'm Untertauchen. Pietismus aber iſt die Fähigkeit, leben zu können, ſelbſt wenn man Waſſer im Ohre hat.

246

Dieſer ruhige, verſtändige Ton, in wel¬ chem ich mich oft Tage lang erhalten kann, wird mir oft ſo unheimlich, daß ich vor mir ſelbſt erſchrecke. Sollte es Menſchen geben können, die wie Vernünftige ſprechen, und doch wahnſinnig ſind? Cäſar erzählte mir einſt eine Geſchichte, die er wahrſcheinlich, wie Vieles dergleichen, nur ſeiner Einbildungs¬ kraft verdankt. Sie paßt auf meinen Zu¬ ſtand. Kann ich ſie noch?

Es war um die zwölfte Stunde, als Al¬ fred von ſeinem Lager auffuhr und über das matte Flackern der Lampe erſchrak, die er zu löſchen vergeſſen hatte. Eine Zeit lang ſaß er mit halbaufgerichtetem Körper

Wörtlich ſeine Worte wiederzugeben iſt ſchwer. Ich ſuche in meinen Papieren, viel¬247 leicht find 'ich die Geſchichte, die er mir einſt, von ſeiner eigenen Hand geſchrieben, ſchenkte.

248

Hier iſt ſie:

Es war um die zwölfte Stunde, als Al¬ fred von ſeinem Lager auffuhr. Noch flak¬ kerte die Lampe, welche er zu löſchen vergeſ¬ ſen hatte, und zog, wie ſie größer oder ſchwächer wurde, wolkige Kreiſe an den Wän¬ den ſeines Zimmers. Eine Zeit lang ſaß er mit halbaufgerichtetem Körper im Bette und verfolgte dies geſpenſtiſche Spiel an den ſtum¬ men Wänden. Er ſuchte nach einem Gegen¬ ſtand für dies Bild: er mußte an die Welt denken, welche draußen ſchlummerte, und dachte zuerſt an Julien.

Meine Julie! ſprach er ſtill vor ſich hin, und erhob ſich dann etwas feierlich und me¬ chaniſch von ſeinem Bette. Er hörte die Uhr picken, die auf dem Tiſche vor dem Spiegel249 ſtand. Er ſahe ſich ſelbſt im Spiegel mit bleichen, geiſterhaften Zügen und mit Augen, welche wie geſchloſſen ſchienen. Dann ſaß er auf dem Seſſel vor'm Bett, und hatte ſich, ohne es zu wollen, angekleidet.

Ich werde vor Juliens Fenſter gehen und den Vorhang wegheben! flüſterte er vor ſich hin, aber nur wie zum Scherz, denn Julie wohnte im dritten Stock. Doch gieng er.

Die Straßen waren ſtill und öde. Man ſieht auf ihnen Niemand, auch Alfreden nicht. Wo geht er nur? Aber es iſt dunkel, der Mond liegt hinter Wolken, man kann Alfred nicht ſehen.

Alfred ſtand vor dem Hauſe Juliens, ja er hätte ſchwören mögen, daß er vor ihrem Fenſter ſtand, das im dritten Stocke lag.

250

Es iſt nicht möglich, flüſterten ſeine Ge¬ danken; ſie wohnt im dritten Stock; obſchon ein kleines Vordach vor dem Fenſter liegt, das Moos und Hauslauf anzuſetzen pflegt. Die arme Julie! Ich werde fleißiger ſein, ſie muß künftig im zweiten Stock wohnen!

Jetzt war es Alfred, als drückte er an dem Fenſter; aber es widerſtand. Es war ihm, als klopfte er; aber hinter dem weißen Rou¬ leau brach ſich der Schall. Er mußte lächeln über ſeine lebhafte Einbildungskraft.

Wie! dachte er, wenn du ins Haus trittſt, die zwei Stiegen hinaufſchleichſt und an ihre Kammerthür pochteſt.

Aber dann mußte er durch des Nachbars Haus, das ihm offen zu ſtehen ſchien, mußte über den Garten - und Hofzaun klettern und von dort einzudringen ſuchen.

251

Und das Alles gelang vortrefflich. Er ſtand jetzt gleichſam höher als Juliens Woh¬ nung war, was er ſich nicht erklären konnte. Da blendete ihn ein Lichtſtrahl; ein ſchnur¬ render Laut ließ ſich hören. Julie hatte das Rouleau aufgezogen, ſie ſtand im Nachthäub¬ chen und mit bloßen Schultern am Fenſter, das ſie öffnete.

Alfred war nun dicht vor ihr. Was iſt ihr nur? dachte er; ſie erſchrickt, ſie öffnet den Mund, als wollte ſie um Hülfe rufen; was zitterſt du, mich zu erkennen, Julie?

Alfred! ſchrie es durch die ſtille Nachtluft. Alfred aber lag unten mit zerſchmettertem Körper auf dem Pflaſter der Straße. Alfred war ein Nachtwandler. Julie glaubte nichts geſehen zu haben, als Alfred todt war. Sie252 legte ſich wieder in ihr weißes, weiches Bett und träumte von ihm. Am Morgen erfuhr ſie Alles. Sie lebt noch, aber kümmerlich; die Thränen zehren ſie auf.

253

Cäſar hat noch immer nicht geſchrieben; doch wird ſein Brief deſto ausführlicher ſein. Einſtweilen hab 'ich etwas Beruhigung erhal¬ ten durch eine Maxime, die empfehlenswerth iſt. Das luftige Traumbild des Somnambu¬ lismus hat mich geſtern darauf gebracht. Näm¬ lich, man nehme einen recht hohen Standpunkt, einen kosmiſchen oder planetariſchen, wie ich ihn nennen möchte. Man thue und laſſe nichts, ohne ſich im Zuſammenhang der Weltordnung zu fühlen. Ich denke, wo ich gehe und ſtehe, an die Beziehungen der übrigen Himmelskör¬ per zur Erde und abſtrahire von Allem, was über dieſem kleinen Erdball geſchieht, auf das Univerſum, das Niemand läugnen kann. Und nicht blos im Allgemeinen, ſondern ganz im Detail, wie man ißt und ſchläft. Bei jedem Spaziergange richt' ich den Blick gen Him¬ mel und forſche in dem blauen Meere nach den verſunkenen Sternen, die die Nacht erſt254 ſichtbar macht. Ich fühle, wie die Erde un¬ ter meinen Füßen kreiſt und ich gleichſam nur auf ihr ſtationirt bin, ſonſt aber dem Allge¬ meinen angehöre. Wie vielen Stolz das giebt! Ich habe jetzt einen Begriff von der Ruhe des Weiſen. Ihn kann nichts erſchüttern, denn er hört die Planeten rauſchen und fühlt ſich als Glied einer großen Weſenkette. O, viel¬ leicht iſt noch Hülfe für mich! Ich fange an, mir die Möglichkeit einer zufriedenen Stimmung zu denken.

255

Jetzt weiß ich, wie in Indien die Bonzen ihre Büßungen möglich machen. Die Abſtrac¬ tion hebt ihren Stolz; aber ſie würden es nicht aushalten können, wenn nicht die Erde für ſie gleichſam verſchwände und ſie nichts übrig be¬ hielten, als den geſtirnten Himmel und das Gefühl der großen Weſenkette. Ich müßte in die Einſamkeit ziehen. Wenn mich nur Eines nicht verfolgte! Nämlich die Natur und das Grün. Das Sideriſche und Telluriſche im Menſchen bekämpfen ſich, und wer poetiſche Stimmungen hat, wird immer der Erde unter¬ liegen. Das Meer, Gebirge und Ströme wir¬ ken noch immer ſideriſch auf uns; denn ſie ſind das Rückgrat und die großen Zellgewebe der Erde, und veranſchaulichen die Kugel. Aber das Peinigende iſt die ſtille Nachbarſchaft der Blume, die Beſcheidenheit der Idylle, die kleine Exiſtenz mit ihren Kornährenkränzen und Abend¬ glocken und Alles, was ſo nahe zu unſerm Her¬256 zen ſpricht, die Offenbarung Gottes, die wir flüſtern zu hören glauben, dieſe große That¬ ſache, die entweder Täuſchung oder Wahrheit, und in beiden Fällen unenthüllbar iſt. Das Irdiſche faßt uns wie im Strudel und reißt uns hinunter in den bodenloſen Abgrund, von wo keine Wiederkunft.

257

Ich las nun Alles, was ich ſchrieb und zittre, daß ich kaum geſchrieben habe, was ich wollte. Eines iſt auch ganz unmöglich, ge¬ ſchrieben zu werden: die Verzweiflung und das Gräßliche. Nämlich jene grauſamen, blutſau¬ genden Träume, die mich wachendes Auges über¬ fallen und mich hinausſtoßen in eine hohnla¬ chende, von gräßlichen, unnennbaren Dingen drappirte Welt. Wie combinir 'ich! Was für Dinge kommen mir vor die Augen! Ich zittre, während mein Puls ganz richtig und mediziniſch ſchlägt. Muß ich ſterben, was verbrach ich, daß mir Raben erſcheinen müſ¬ ſen? Ich ſehe eine ſchwarze Halle und einen weiten Sarg. Ein Rumpf fällt von der Decke, wo eine Oeffnung, hinunter in denGutzkow's Wally. 17258Sarg und den nachſtürzenden Kopf greift un¬ ſer Arzt auf. Oben muß das Schaffot ſein. Der Mann drückt das blutige Haupt ſtürmiſch auf den rauchenden Körper, paßt Fuge auf Fuge, Ader auf Ader, und legt einen Silberreifen um die gierig zuſammenklaffenden Fleiſchrän¬ der beider Theile. Er dreht ſich um, und Leben, galvaniſches Leben regt ſich in dem Körper und der Leichnam erhebt ſich, ein blaſſer, ſchöner Jüngling und ſchleicht zur Pforte hinaus. Dort, dort eine grüne Flur ein Mädchen, das Roſen bricht und im Schatten der Allee ausruht. Ein bleiches, geſpenſtiſches Bild ſchleicht zu ihr heran, ſpricht nicht, ſondern lächelt. Sie umarmt ihn, ſie ſcherzt, ſie lacht; er hat auf ſich warten laſ¬ ſen, er ſei untreu, er gehe zu Doris, er gehe zu Galathee, du Lieber! Und ſie küßt ſei¬ nen blaſſen Mund O, röchelt er, drücke259 nicht! Doch ſie hört nicht, ſie drückt, der Reifen ſpringt Herr Jeſus, was geht mit mir vor!

17 *260

Hier brach Wallys Tagebuch auf längre Zeit ab. Sie bekam inzwiſchen das ihr von Cäſar verſprochene Glaubensbekenntniß. Es war in das Tagebuch eingeheftet und lautete folgendermaßen.

[261]

Geſtändniſſe über Religion und Chriſtenthum.

[262][263]

Ich will über den Glauben der Völker ſpre¬ chen. Aus dem melancholiſchen Schweigen des Heidelberger Schloſſes hol 'ich mir abendlich die Geheimniſſe jener frommen Naturreligion, für die ich glühe. Alles Hiſtoriſche aber, was ich zu fixiren habe, knüpf' ich an jene kleine Herberge jenſeits des Neckar an, wo Luther auf der Reiſe nach Worms ſein Frühſtück zu berichtigen vergeſſen haben ſoll, ein Frühſtück, das der Proteſtantismus dem Katholicismus ſo theuer hat bezahlen müſſen.

Religion iſt Verzweiflung am Weltzweck. Wü߬ te die Menſchheit, wohin ihre Leiden und Freu¬ den tendiren, wüßte ſie ein ſichtbares Ziel ihrer Anſtrengungen, einen Erklärungsgrund für dies226[264] wirre Durcheinander der Intereſſen, für die Tapezierung des Firmaments, für die wechſelnde Natur, für Froſt, Hitze, Regen, Hagel, Blitz und Donner; ſie würde an keinen Gott glau¬ ben. In progreſſiver Entwicklung folgt hier¬ aus dreierlei: Der natürliche Urſprung der Re¬ ligion, die Accomodation der göttlichen Begriffe an den jedesmaligen Bildungsgrad, und zuletzt die Unmöglichkeit hiſtoriſcher Religionen bei ſtei¬ gender Aufklärung.

Dem Begriffe Offenbarung läßt ſich viel¬ leicht eine philoſophiſche Unterlage geben, pan¬ theiſtiſcher Art; aber im herkömmlichen theo¬ logiſchen Sinne iſt die Offenbarung eine Ver¬ fälſchung der Natur und der Geſchichte. Eine ſaubre Inſinuation, ſich Gott als Prieſter zu denken, der im ſchwarzen Talare zu dem erſten Menſchenpaar hinzugetreten wäre, und ihm Un¬ terricht gegeben hätte in glaublichen und un¬267[265] glaublichen Dingen! Sie machen aus Gott einen Souverän, einen Patriarchen, einen Geiſt¬ lichen. Sie laſſen Gott in ſehr unvollkommnen Sprachen reden, zu Zeiten, wo es an ſtyliſti¬ ſcher Vollkommenheit noch überall fehlte. Nie¬ mand war in dieſen anthropomorphiſtiſchen Con¬ ſequenzen einer ſupernaturellen Offenbarung kek¬ ker, als die Apoſtel Jeſu; denn: alle Schrift von Gott eingegeben heißt: in der Lehre von der Inſpiration Gott zum Mitſchuldigen aller der Solöcismen und incorrekten Con¬ ſtruktionen machen, welche ſich im griechiſchen Texte des neuen Teſtamentes finden. Gewiſſe Kapitel gibt es in den dogmatiſchen Syſtemen unſrer Theologen, die ſich beſſer für Grimm's Kindermärchen oder Tauſend und eine Nacht ſchicken würden. Dazu gehören die criminaliſch ſtrafbaren Dogmen von der Offenbarung und Inſpiration.

Je naiver die Völker ſind, deſto ſinnlicher268[266] und äußerlicher ihre Begriffe vom Weltzwecke: je gebildeter jene, deſto geheimnißreicher dieſe. Die Verwechſelung endlicher und unendlicher Urſachen der Weltregierung lag nahe und ſo kam es, daß das Alterthum ſo viel Hiſtoriſches in Myſtiſches, Myſtiſches wieder in Himmliſches verwandelte. Der Naturmenſch verſteht die Welt nur ſo weit, wie ſein Auge reicht. Al¬ les, was über den Sehkreis ſeiner ſinnlichen Vorſtellungen hinausliegt, ſcheint ihm die er¬ klärende Veranlaſſung der Unerklärlichkeiten zu ſein, die ihn in nächſter Nähe umgeben. Da¬ her die zahlloſen Details im Glauben der alten Völker: daher die Uebertreibungen der Phan¬ taſie, das Ungeheure in Zahlen und Formbil¬ dungen. Die alten Religionen ſind ſo aus¬ ſchweifend, wie Alles, was man, ich ſage nicht, nicht kennt, ſondern wie Alles, das man noch nicht geſehen hat. In dieſen Unförmlichkeiten Entſtellungen alter Ueberlieferungen zu finden,269[267] einfache aber tiefſinnige Keime einer urweltlichen Offenbarung, oder auch nur eines heiligen, from¬ men und ſimpeln Zeitalters: das heißt von ei¬ ner kindiſchen Anſicht, die wir ſchon erwähnten, nur eine ernſthafte Anwendung machen.

Das klaſſiſche Alterthum hatte den ſchönſten Ausdruck für das religiöſe Prinzip der alten Welt: Religion iſt Alles, was man entweder ſelbſt nicht iſt, oder nicht kennt. Die Griechen, mit ihren öſtlichen Ahnen und deren architekto¬ niſchen Vorſtudien der vollendeten heidniſchen Idee, die Griechen ſetzten die Religion in die Kunſt, ſie ſetzten ſie in das, was im Ungewiſſen immer das Gewiſſe iſt, in das Maaß aller Dinge, in den Menſchen. Man konnte eine einſeitige Idee nicht ſchöner ausdrücken, und konnte doch zu gleicher Zeit nicht tiefer ſinken. Wenn die Menſchheit nach dem Ebenbilde Gottes geſchaf¬ fen iſt, ſo war ſie jetzt da wieder angekommen,270[268] von wo ſie ausging. Wir werden uns, ſo lange die Erde kreiſt, in Cirkeln bewegen. Hier war ein Cirkel, deſſen Anfang ſich in ſein Ende zurückbog.

Wäre das Heidenthum ohne Cultus gewe¬ ſen, warum hatte die Menſchheit nicht an ihm Genüge finden ſollen? Aber die Prieſter der Religionen pflegen immer diejenigen zu ſein, welche ihre Religionen ſelbſt untergraben. Könn¬ ten ſich die Religionen von Gebräuchen, Aeuſ¬ ſerlichkeiten, von der Zudringlichkeit ihrer be¬ rufenen und verordneten Diener frei erhalten, ſo würden ſie eine längere Dauer in Anſpruch nehmen dürfen. Das Heidenthum war Poeſie und bildende Kunſt, war Veredlung der Sinn¬ lichkeit, war Geſtaltung der rohen Materie; Julian, der Apoſtat, fühlte es wohl, daß die Götter Griechenlands einen Mann von Geſchmack befriedigen konnten. Das Heidenthum war to¬271[269] lerant. Es war die friedfertigſte Religion von der Welt, ſo lange ſie nicht nöthig hatte, um ihre Exiſtenz zu kämpfen. Das Heidenthum wurde blutig, verfolgungsſüchtig, ich möchte ſagen, chriſtlich erſt da, als ein ſonderbarer Aberglauben zur Aufwiegelung der Völker ge¬ predigt wurde, als ſich gleißneriſche Frömm¬ ler in die Gemächer der Fürſtinnen ſchlichen und eine Gottesherrſchaft, eine Religion, die nicht Friede, ſondern das Schwert brachte, eine politiſche Revolution zu verbreiten ſuchten. Der Urſprung dieſes Ereigniſſes kam aber auf Fol¬ gendes zurück.

In Judäa, einem ſehr barokken Lande, trat ein junger Mann, Namens Jeſus, auf, der durch eine bedenkliche Verwirrung ſeiner Ideen auf den Glauben kam, er ſei ſchon ſei¬ nen Vorfahren als Befreier der Nation, der er angehörte, verkündigt worden. Jeſus war aus272[270] Nazareth gebürtig, unehelichen Urſprungs, Stiefſohn eines braven Zimmermanns, Namens Joſeph. Jeſus beſchäftigte ſich viel mit den Schriften der jüdiſchen Literatur, reiſte, unter¬ richtete ſich, und ſtrebte mit edler Selbſtüber¬ windung nach einer ſtoiſchen Sittenreinheit. Je¬ ſus fühlte, daß eine Miſſion an ſein Herz pochte. Es war ihm, als müßte er einen Auftrag er¬ füllen, über den er Zeit ſeines Lebens nicht im Klaren war. Er adoptirte den Glauben an einen verheißenen König, der ſeine eitle Nation zur Herrſcherin der Welt machen würde: er erſchrack aber ſelbſt vor dieſer übermüthigen Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes gänzlich unwürdig war. Jeſus wußte ſelbſt da noch nicht, wohinaus, als er die erſten unbe¬ ſonnenen Schritte gethan, als er ſeinen Freund Johannes auf Kundſchaft und Prüfung der Menge vorausgeſandt hatte; er wurde Rabbi, ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu273[271] ſich, er predigte Buße und gottſeligen Wandel, predigte das reine, das Urjudenthum des Mo¬ ſes, er nannte ſich Meſſias und ſtritt nirgends gegen die falſche Auslegung ſeiner Abſicht, nir¬ gends gegen die Begriffe, welche man in Judäa mit dem Meſſias verband. Nicht einmal des Römiſchen Joches erwähnte Jeſus; er ſcheint gefühlt zu haben, daß der Meſſias nur eine theologiſche Bedeutung haben könne, und rich¬ tete doch ſeine Invektiven gegen die politiſche Verfaſſung in Jeruſalem, gegen den hohen Rath und gegen Prieſter, die er einer zu ihren From¬ men falſchen Auslegung der alten Bücher be¬ züchtigte. Inzwiſchen mehrte ſich die Unruhe, Jeſus zog mit Tauſenden durch das Land, hielt einen gewaltſamen Einzug in Jeruſalem, ver¬ griff ſich thätlich an dem Tempel, dem Natio¬ nalheiligthume der Juden, und fiel als ein Opfer ſeiner falſchen Berechnung und innerli¬ chen Unklarheit. Er hatte dem trägen Volke274[272] Energie zugetraut: es verließ ihn, wie Thomas Müntzern, als er keine Wunder thun konnte, wie zahlloſe Revolutionäre alter und neuer Zeit, da ſie die Hülfe nicht brachten, die ſie verſpra¬ chen. Jeſus wurde gekreuzigt. Mein Gott, warum haſt du mich verlaſſen? rief er und ſtarb. Jeſus war nicht der größte, aber der edelſte Menſch, deſſen Namen die Geſchichte auf¬ bewahrt hat.

Dies iſt der hiſtoriſche Kern eines Ereig¬ niſſes, aus welchem ſpätere Zeiten ein epiſches Gedicht machten mit Wundern und einer ganz fabelhaften Göttermaſchinerie. Eine kleine Anek¬ dote wurde welthiſtoriſch. Die franzöſiſche Re¬ volution hinterließ eine Menge von politiſchen Wahrheiten, welche im Anſehen geblieben ſind, ſelbſt wenn jene weniger glücklich von Statten gegangen wäre. So kam es auch, daß die verun¬ glückte Revolution des Schwärmers Jeſu etwas zurückließ, was zuletzt eine Religion wurde. 275[273]Sollte hier zum erſten Male ein kleines, zu¬ fälliges Faktum den Anſtoß zu einer großen Bewegung gegeben haben? Nein, die Folgen jener Hiſtorie mögen ſo umfaſſend geweſen ſein, wie ſie es waren, ſo kann davon nichts auf die Naivetät der Hiſtorie ſelbſt zurückfallen. Jeſus war in Rückſicht auf den jüdiſchen Meſ¬ ſiasglauben nicht der rechte Meſſias, ſondern ein falſcher, ſo gut wie Theudas, Judas Gali¬ läus und Bar Kochba. In Rückſicht auf die Weltgeſchichte war er desgleichen nicht mehr; nur daß ſeine Anhänger zufällig von der Zeit, von dem unſinnigen Heidenritus, von der Sucht des Geheimniſſes profitirten. Das Ereigniß, das allen den folgenden Begebenheiten und Re¬ volutionen zum Grunde lag, ſteht an und für ſich betrachtet auf keiner höhern Stufe, als die Lebensumſtände des Pythagoras, Zoroaſter oder Sokrates.

Jeſus war Jude. Er dachte nicht daran,Gutzkow's Wally. 18276[274]eine neue Religion zu ſtiften. Es war bei ihm weder von einer Aufhebung[noch] von einer Er¬ läuterung des Judenthums die Rede. Er ſagte ſelbſt, daß er nicht gekommen ſei, das Geſetz aufzulöſen, ſondern zu erfüllen; ein Ausdruck, der freilich im griechiſchen Texte mehr ſagt, als das bloße: Befolgen, aber nicht über den Begriff eines vollkommnen, in allen ſeinen Be¬ zügen verſtandenen Judenthums hinausgeht. Da war auch nicht eine einzige neue Lehre, welche Jeſus brachte. Enthüllte er tiefer die Geheim¬ niſſe Gottes? Nein, er kennt nur jenen päda¬ gogiſchen Gott des Judenthums. Waren ſeine Andeutungen über die Unſterblichkeit neu? Sie waren es, der dunkeln und zweifelhaften Lehre des Alten Teſtaments gegenüber: aber ſeit drei¬ hundert Jahren glaubten die Juden an die Fort¬ dauer nach dem Tode aus eignem Antriebe: die Phariſäer hatten daraus das Feldgeſchrei ihrer Partheimeinung gemacht. Was blieb demnach277[275] im Munde Jeſu übrig? Eine Moral, welche allerdings veredelnde Kraft hat, aber nie mehr giebt und geben will, als das lautre Judenthum. Die Moral Jeſu hält ſich immer dicht bei den Gebräuchen des Ceremonialgeſetzes, und iſt nur darin charakteriſtiſch, daß ſie für den äußern Ritus innerlich entſprechende Geſinnungen for¬ derte. Jeſus lehrte: Liebe deinen Nächſten, wie dich ſelbſt! So lehrte ſchon Moſes; aber der Stifter einer neuen Religion mußte ſagen: Liebe deinen Nächſten mehr, als dich ſelbſt! Daraus ſchließt man, daß Jeſus eine Perſon war, die einzig und allein der Geſchichte, kei neswegs aber der Religion oder Philoſophie angehörte.

Thörichter Glaube, das Neue Teſtament für die Grundlage einer Religion anzuſehen, für ein Buch, das geſchrieben worden wäre, um ſymboliſchen Werth zu haben! Der Kanon iſt nichts als die erſte Erſcheinung des Chriſten¬18 *278[276]thums. Das Chriſtenthum ſelbſt liegt darüber hinaus: das heißt, vage Begriffe über ein ge¬ ſcheitertes hiſtoriſches Ereigniß wurden von Män¬ nern herumgetragen, die dabei betheiligt gewe¬ ſen waren. Die Apoſtel hatten die Fähigkeit nicht gehabt, eine Begebenheit zu verſtehen, welche mit ſich ſelbſt in Widerſprüchen lag; ſie konnten ſich nur der Wirkſamkeit nicht ent¬ ſchlagen, welche eine ſo bedeutende Perſönlich¬ keit, wie die ihres Lehrers, auf ſie ausübte: ſie glaubten ſeinen dreiſten Behauptungen, daß er der Meſſias wäre und fanden bei der Ver¬ breitung dieſer Anſicht darin eine Unterſtützung, daß Jeſus ſeine baldige Wiederkunft verſpro¬ chen hatte. So entſpann ſich ein romantiſches Truggewebe von Wundern, ſubjektiven, die Jeſus verrichtet habe, objektiven, die an ihm ſelbſt geſchehen wären. Die Apoſtel überſahen, wie ſehr die Mehrzahl dieſer Wunder, welche eher auf einen Eskamoteur, als auf einen Pro¬279[277] pheten ſchließen laſſen, (ich erinnere nur an die Fabel von dem Stater im Leibe eines Fiſches) das göttliche Gepräge ihrer Erzählungen ver¬ wiſchte. Ja, ſie wußten nicht einmal, wieviel ſie moraliſch wagten, alle ihre Behauptungen wechſelſeitig ohne Prüfung anzunehmen. Denn das Alterthum war überall auf das Außerordent¬ liche hingerichtet und konnte ſich keine große Be¬ gebenheit ohne Abweichungen von dem natürli¬ chen Laufe der Dinge erklären. Auffallend bleibt es indeſſen, daß die Apoſtel ſelbſt im Neuen Teſtamente ſo wenig ſcharf und präcis als Ver¬ breiter der Lehre Jeſu auftraten, daß erſt An¬ dere meiſt ein Amt übernahmen, was ihnen vor Allen zukam. Hätten ſie wirklich den Leich¬ nam Jeſu geſtohlen? Dann klänge dies Still¬ ſchweigen faſt wie böſes Gewiſſen. Hierüber mag ich nichts entſcheiden: nur dies ſcheint feſt, daß die Apoſtel Menſchen von bornirtem Verſtande waren, daß ſie überhaupt viel Aehn¬280[278] lichkeit mit unſern Theologen hatten, und daß es zuletzt nicht ohne typiſche Vorbedeutung war, wenn neben der Krippe Jeſu gleich ein Ochs und ein Eſel ſtanden.

Diejenigen unter den Anhängern Jeſu, wel¬ che, ich ſage nicht, logiſche Schlüſſe machen, doch wenigſtens begreifen konnten, wie z. B. der von den Theologen gern zu einem tiefſin¬ nigen Philoſophen geſtempelte Paulus, befolg¬ ten in der Stiftung einer neuen Sekte den dreiſten Gang, daß ſie in Jeſu nur die Neue¬ rung anerkannten. Sie riſſen ſeine Erſcheinung als etwas Iſolirtes vom Geſetze los. Sie machten aus polizeilichen Differenzen ihres Leh¬ rers mit der Synagoge abſichtliche, dogmatiſche, religionsſtiftende. Eine übermüthige Exegeſe, welche die Stellen des Alten Teſtamentes in einem ſträflich verkehrten Sinne auf Jeſus be¬ zog, mußte ihre Abſichten unterſtützen. Jeſus wurde ein Wunderthäter und er machte als281[279] ſolcher unter den Heiden ein Glück, das Apol¬ lonius von Tyana auch gehabt hätte, wäre ihm der Jude Jeſus nicht in der Zeit zuvorge¬ kommen. Die geringe Philoſophie, die hinzu kam, alle dieſe Märchen zu erklären und in einen dogmatiſchen Zuſammenhalt zu bringen, waren die Unterſcheidungen zwiſchen phyſiſcher und pſychiſcher Natur, zwiſchen Fleiſch und Geiſt, zwiſchen dem Geſetz und der Freiheit. Wahrlich, eine Religion mußte dieſe Einfach¬ heit haben, um ſo um ſich zu greifen, wie es das Chriſtenthum that!

Das Chriſtenthum iſt eine Religion der Per¬ ſönlichkeit. Moſes war doch nur der Sendling Gottes, Muhamed Allahs Prophet, ſie ließen ſich keine göttliche Ehre erweiſen! Sehet hier eine Religion, deren unwillkürlicher Stifter von einigen verworrenen Köpfen mit Gott ſelbſt verwechſelt wurde, eine Religion, die nichts für ihren Gegenſtand, und Alles für282[280] ihren erſten Prieſter thut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgend einem Namen ſein, und im Chriſtenthum iſt man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jeſu gebührt. Welch ein Glaube! Wir ſind nicht ohne Poeſie, wir ſchwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich ſein, wenn wir nicht zuweilen auf unſern herben Lebenswein ein Roſenblatt der Illuſion legen dürften, ein Roſenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert, und das wir doch nicht miſſen möchten. Aber hier überſchreitet eine Zumuthung die Linie des Erträglichen. Das Chriſtenthum wurzele nicht in Jeſu Lehre, ſondern in ſeinem Leben: nicht die Liebe ſei es, ſagen ſie, die er im Abend¬ mahle eingeſetzt habe, ſondern ſein Fleiſch und Blut, ſeine eigne Perſönlichkeit, die nun im¬ merdar ſolle gegeſſen und getrunken werden. 283[281]Auf die individuellen Begegniſſe eines unglück¬ lichen Menſchen wird eine Religion gebaut, eine Dogmatik, die ſich nicht um die Worte ſeines Mundes kümmert, ſondern ſeine Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt, ſeine Nägelmaale als Kapiteleinſchnitte: kurz das Chriſtenthum iſt eine Religion, die auf eines Menſchen körper¬ lichen Verrichtungen und Leiden gegründet iſt, eine Religion, die das objektive Evangelium eines Menſchen predigt. Armer Rabbi von Nazareth! Statt, daß ſie weinen ſollten über dein wehmüthiges Schickſal, freuen ſie ſich dei¬ nes Todes und haben ihn lachendes Muthes im Munde! Die Kreuzigung Jeſu wird gar nicht mehr hiſtoriſch nachempfunden; ſondern da Al¬ les in des unglücklichen Mannes Leben typiſch und als Nothwendigkeit gedeutet wird, ſo geht die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig an dem Schmerze vorüber und ſieht am Char¬ freitage immer nur Oſtern, bei einem Sterben¬284[282] den eine grauſame Hand, die ihm das Kiſſen unter'm Kopfe wegzieht, damit er ſchneller ſterbe, damit er ſchneller auferſtünde! Das Crucifix iſt eine Zierrath geworden, die man im Ohre hängen hat.

Die große imponirende Gewalt des Chriſten¬ thums liegt in ſeiner welthiſtoriſchen Ausdeh¬ nung. Nicht, daß ich dieſer Lehre die Umge¬ ſtaltung Europa's zuſchriebe, nicht, daß ich ſo ungerecht gegen Gott wäre und behauptete, er habe ohne die verworrenen Ideen einiger paläſti¬ nenſiſcher Fiſcher und Teppichfabrikanten die Welt nicht auf dieſen Gipfel der Cultur brin¬ gen können: nein, ſchon dadurch wird die chriſt¬ liche Idee geſchwächt, daß ſich die germaniſchen Völker für ſie intereſſirten und ihre eigne welthi¬ ſtoriſche Prädeſtination in jene Lehre legten und das Chriſtuskind als Chriſtoffel durch das Welt¬ meer trugen. Das Einzige, was mich an das Chriſtenthum kettet, iſt ein magiſcher mit Blut285[283] beſchriebener Kreis; jene ſchreckhaften Ver¬ folgungen, denen der neue Glaube ausgeſetzt war, jene Hekatomben, die das Chriſtenthum dem Heidenthum opfern mußte, die Männer, Weiber, Kinder, die zu Tauſenden hingemordet wurden ah, das preßt an die Kammern des Gehirns: die Fibern des Nachdenkens ziehen ſich zitternd in ihren Verſteck: das brennt und ſchmerzt, wenn man Sinn für Hiſtorie, Sinn für die Leiden der Menſchheit hat. Nur jener Blutſtröme wegen bin ich gewiſſermaßen Chriſt, weil meine Religion die des Schmerzes und mein Cultus der Muth iſt. Ich würde nicht rathen, eher ein neues Bekenntniß abzulegen, ehe man nicht im Begriffe und in der Lage iſt, dafür daſſelbe auszuſtehen, was das alte Be¬ kenntniß gekoſtet hat.

Bis hieher konnte noch von einem Chriſten¬ thum die Rede ſein. Als der Begriff Kirche erfunden war, als Concilien und Würdenträger286[284] eingeſetzt wurden, da hatte ſich die Lehre Jeſu in eine neue Art von Heidenthum verwandelt, in Mythologie auf der einen, Ariſtotelismus auf der andern Seite. Zwiſchen beiden wucherte die Myſtik, keine urſprünglich chriſtliche Pflanze, ſondern arabiſch-jüdiſch-cabbaliſtiſches Ge¬ wächs, das in der Philoſophie als Platonis¬ mus wieder zum Vorſchein kam. Das Chriſten¬ thum, inſofern es von Prieſtern und Mönchen repräſentirt wurde, war auch nicht einmal eine Religion mehr, ſondern nur noch Vorwand ei¬ ner politiſchen Tendenz des Zeitalters. Die Hierarchie umgürtete ſich mit dem Schwerte und fluchte wie ein Landsknecht. Das Chriſten¬ thum war nun doch ein Reich von dieſer Welt geworden. Der todte Rabbi Jeſus drehte ſich im Grab um: er hatte ſich gerächt. Wann gab es eine Religion, die in tauſend Jahren mit ſo diſparaten Anomalien ſich äußern konnte? Der Islam iſt zwölfhundert Jahre alt und noch287[285] weht die grünſeidne Fahne des Propheten, wie damals, als er aus der Wüſte zog. Man hatte Jeſus zum Stifter einer Religion machen wol¬ len. Jeſus hatte ſich gerächt. Die falſche Aus¬ legung ſeiner Miſſion war geſcheitert.

Luther verſuchte noch einmal das lecke Schiff einer imaginären Möglichkeit zuſammen zu fü¬ gen. Ein Bergmannsſohn aus Thüringen ſtieg in das Bergwerk des Chriſtenthums hinab, durch¬ hämmerte die oberen Flötzſchichten der Tradi¬ tion und holte aus den tieferen Erzgängen her¬ vor, was er für reines, ſilbernes und goldenes Chriſtenthum hielt. Es war eine kühne Neue¬ rung, die ſich aus dem Wittenberger Flachlande, aus der Gegend von Kroppſtädt und Treuen¬ brietzen, die ganz ſo ausſieht, wie der geſunde Menſchenverſtand, entwickelte. Tauſende ſagten ſich von dem römiſchen Heidenthume los, das mit der Seelen Seligkeit einen Aktienhandel durch ganz Europa etablirt hatte. Die Wittenberger288[286] Reformation war ein großer Fortſchritt der Menſchheit, wenn es groß iſt, wie Herr Tho¬ luck gethan haben ſoll, in Rom von den anti¬ ken Götterſtatüen zu ſagen: Es ſind ſchöne Götzen! Darum handelte es ſich: die Menſch¬ heit von einem religiöſen Mechanismus zu be¬ freien, zu gleicher Zeit aber aber auch auf dreihundert Jahre die Kunſt, die Literatur die Schönheit aller vergangenen Zeiten und die Schönheit der Ewigkeit zu derogiren. Das iſt kein Unglück, wenn es von einem großen Glücke erſetzt worden wäre. Für das Chriſtenthum geſchah in der Reformation alles, für die Wahrheit und den geſunden Menſchenverſtand und die Naturreligion aber nichts.

An zwei Begriffen ſiechte gleich anfangs die Reformation: an einem, den ſie nicht abſchaffte, an der Kirche; und an einem, den ſie neu er¬ fand, am Evangelium.

Bibliſches Chriſtenthum! Was heißt das? 289[287]Ein Chriſtenthum erfinden, das ſich gründete auf falſcher Exegeſe, ſchlechten kritiſchen Hülfs¬ mitteln, auf Interpolationen und frommen Be¬ trügereien, auf einer ungeſtörten und ſorgloſen Verbindung des alten und neuen Teſtamentes, endlich aber auf jener heilloſen Verwechſelung zwiſchen dem Kanon. als einer Richtſchnur des Chriſtenthums, ſtatt daß der Kanon, wie wir zeigten, nur erſte Erſcheinung, die ganz prekäre und ſubjectiv überall beanſtandete Erſcheinung des Chriſtenthums war. Der Proteſtantismus bekam ſeine ſymboliſchen Bücher, welche die Leh¬ rer beſchwören mußten, ſeine Katechismen, den großen und den kleinen, nach welchen die Un¬ mündigen an einen Glauben geſchmiedet wur¬ den, dem ſie ſchon als Säuglinge durch die Taufe willenlos ſich hingeben mußten. Was muß ich glauben? Ich muß glauben, daß Gott, die Welt erſchaffen hat als wenn ein Gott, der ſich in ſo endlichen Werken, wie die Erde290[288] iſt, ausſpricht, ein Gott, der zugiebt, daß et¬ was außer ihm iſt, ohne er ſelbſt zu ſein, als wenn ein Gott, der Raum und Zeit erſchaffen hat, um aus Laune irgend einen kleinlichen Weltzweck zu erfüllen, um durch die Dauer zu thun, was ihm ja im Nu gelingen könnte, um unglückliche, von Zweifeln zerfleiſchte, halb thieriſche, halb menſchliche Menſchen auf einem gewiſſen Erdballe, in einem gewiſſen Deutſch¬ land, hier in dieſer ganzen Miſere herumkrie¬ chen zu laſſen, als wenn ein ſolcher Gott je¬ mals meinem philoſophiſchen Bewußtſein ent¬ ſprechen könnte! Aber was Philoſophie? Wir reden nicht von Philoſophie: ich vergaß, daß wir über einige Ammenmärchen und poetiſche Grillen ſprechen. Ich muß glauben, daß Chri¬ ſtus ſei ein eingeborner Sohn Gottes, von ei¬ ner Jungfrau geboren, niedergefahren zur Hölle und wieder auferſtanden Nein, auch dies iſt nicht der Kern des Chriſtenthums. Was ſoll291[289] ich glauben? daß Chriſtus iſt unſer Mittler, daß er im Abendmahl perſönlich aſſiſtirt als Fleiſch und Blut im Brod und Weine, daß er uns rechtfertigt durch die Gnade, daß die Erb¬ ſünde, an die ich als Pſycholog und Menſchen¬ kenner faktiſch glaube, theologiſch zu erklären ſei, zum großen Theile aber eine Dogmatik, welche auf jedes einzelne Glied im Körper des Rabbi Jeſus gegründet iſt. Der Katholicis¬ mus war ſinnlicher Götzendienſt mit polytheiſti¬ ſcher Färbung. Der Proteſtantismus wurde myſtiſcher Götzendienſt mit einer Beſchränkung auf einen Gott, der aber drei Hypoſtaſen hatte. Wittenberg und der Sand waren Schuld, daß dieſe Lehre immer flacher, äußerlicher und zän¬ kiſcher ſich ausbildete. Aus dem Evangelium, der Bibelmanie und den ſymboliſchen Büchern ſetzte ſich zuletzt das knöcherne Skelett der Or¬ thodoxie zuſammen, eine Geſtalt, die ſtatt des Herzens einen ledernen Beutel, ſtatt des GehirnsGutzkow's Wally. 19292[290]eine Anhäufung ſchwammartiger Stoffe zu tra¬ gen hat.

Das zweite Unglück des Proteſtantismus war die Beibehaltung des Begriffes der Kirche und die unterlaſſene Ausgleichung deſſelben mit dem Begriffe: Gemeine. Hier trat früh ein Schwanken ein, das auf der einen Seite das Extrem der engliſchen Hochkirche und auf der andern das quäkeriſche Extrem der allgemeinen Prieſterſchaft erzeugte. Das Lutherthum an und für ſich ſelbſt nahm früh eine ſervile Rich¬ tung. Es ſtritt für das göttliche Recht der Fürſten eben ſo ſehr, wie es ſeine eignen Satzun¬ gen in ein legitimes, unantaſtbares Gewand zu kleiden ſuchte. Thomas Müntzer ſchalt mit Recht auf Luther, den Papſt von Wittenberg. Das Territorialſyſtem war die Folge der Schmei¬ chelei. Die Kirche blieb etwas Ganzes, der Glaube wurde nicht an die ſtille Kammer des Herzens, als ſeinen Tempel verwieſen, ſondern293]291] die Kirche repräſentirte, wie ehemals. Die Geiſtlichen regieren unter einander. Sie ſchei¬ nen eine Monarchie für ſich zu bilden und ducken ſich außerdem unter der politiſchen Souveräni¬ tät, ſo daß es noch heutiges Tages nicht entſchie¬ den iſt, wie weit ſich die kirchliche Autorität, als Landeshoheit erſtreckt, wie weit man wa¬ gen darf, Agenden zu verfaſſen und ſie mit militäriſcher Gewalt, wie in den Schleſiſchen Dragonaden geſchehen iſt, in Wirkſamkeit zu ſetzen. Hier iſt Alles vag, hoffärtig, augen¬ dieneriſch, despotiſch, und erfüllt das Herz des Biedermannes mit den ſchmerzlichſten Gefühlen.

Die deiſtiſche Philoſophie des achtzehnten Jahrhunderts konnte deßhalb dem Chriſtenthum keinen merklichen Abbruch thun, weil ſie bald zu frivol, bald zu witzig war. Der unſitt¬ liche Reformator macht nirgends Glück. Der Witz iſt einer ſo großartigen Inſtitution, wie das Chriſtenthum, gänzlich unangemeſſen. 19 *294[292]Die naive Einfachheit kindlicher und glaubens¬ freudiger Seelen parirt alle Nadelſtiche Vol¬ taire's, eines Mannes, den man für einen Schneider halten möchte, ſo furchtſam und ei¬ tel war er. Das Chriſtenthum fordert andere Waffen heraus, überhaupt keine Waffen, die nur für den Krieg taugen, ſondern ſolche, welche ſich an einen Stiel ſtecken laſſen, poſitiv und ſchaffend werden, und die Erde zur neuen Saat auflockern. Das achtzehnte Jahrhundert, der mephiſtopheliſche Geiſt der abſtrakten Verneinung hauchte mit dem erſten Seufzer aus, der auf der Revolutionsguillotine ausgeſtoßen wurde. Die Negation der Revo¬ lution war ſchon eine ſchöpferiſche.

Die Flügel meiner Seele ſchlagen freudiger, weil ich die Morgenröthe (ach! die blutige Mor¬ genröthe) der neuen Schöpfung ſich am Him¬ mel malen ſehe. Aber noch halte mich zurück, du ſtürmiſcher Genius des Jahrhunderts; noch295[293] einmal wurde in Deutſchland der Verſuch ge¬ macht, zu einem troſtreichen Reſultate über die wunderbaren Begebenheiten in Paläſtina zu gelangen. Die Welt ſeufzt in ihrer Axe ob der ſtürmiſchen Bewegung. Wie glücklich wären wir Alle, wenn wir in den Träumen unſrer Ju¬ gend uns ewig wiegen dürften, und uns keine Unruhe der Seele von den Spielen der Un¬ ſchuld verſcheuchte!

Die Kantiſche Philoſophie ſchien unſern Vätern nach langem Schlafe ein wunderbares Erwachen. Noch nie iſt eine Entdeckung mit ſo reinem Enthuſiasmus empfunden worden. Die Kantiſche Philoſophie war Kriticismus: ſie war ohne Geheimniſſe; aber ſie ſchien den Schlüſſel der Geheimniſſe zu beſitzen. Früher wurde ſie auf die Offenbarung und das Chri¬ ſtenthum angewandt: aber die Conſequenzen, welche ſich hier durch ſie ergaben, waren von der entgegengeſetzteſten Art. Der Rationalis¬296[294] mus hielt ſich an die Unmöglichkeit, das Ding an ſich zu erkennen; der Supernaturalismus an die Vermuthungen, welche hinter dem Dinge an ſich liegen konnten. Das Ding an ſich war eben ſo ſehr negativ, wie myſtiſch poſitiv: das weite Chaos der Zweifel lag in ihm eben ſo gut, wie das Chaos der Gefühle. Dieſe bei¬ den Prinzipien über Chriſtenthum machten fünf¬ zehn Jahre in Deutſchland die Tagesordnung aus. Es war ein Streit um den Anfang ei¬ nes Cirkels. Der Rationalismus, der von Gott behauptete, daß man vieles von ſeinem Weſen wiſſe, manches aber noch unerörtert zu laſſen habe, begann mit dem Beſtimmten und hörte mit dem Unbeſtimmten auf. Der Supernatu¬ ralismus, der aus ſeinen Ahnungen ein Sy¬ ſtem, aus ſeinen Ungewißheiten eine Dogmatik ſchuf, fing mit dem Unbeſtimmten an und hörte mit dem Gegentheile auf. So war der Streit ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat297[295] aus dem Cirkel heraus. Sie walzten ihre De¬ batten herum und erſchöpften ſich in Conzeſſio¬ nen praktiſcher und theoretiſcher Art. Miſch¬ gattungen drängten ſich zwiſchen die Extreme: Damenprediger, welche das Chriſtenthum mit Gemälden verglichen, wo die Conturen dem Ra¬ tionalismus, die Farben dem Supernaturalis¬ mus angehören müßten: Profeſſoren der Theo¬ logie, die das Urchriſtenthum wollten; General¬ ſuperintendenten, welche die Perfektibilität des Chriſtenthums lehrten. Andre, wie Schleier¬ macher adoptirten die Dogmatik, wenn ihre Lehrſätze ſich gemüthlich als Seelenzuſtände be¬ thätigten. Mit einem Worte, ſie mochten ſo freidenkeriſch verfahren, wie immer; ſo riß doch Niemand den Vorhang der Lüge weg. Auf der Kanzel gaben ſie niemals jenen Glau¬ ben preis, den ſie auf dem Katheder anatomiſch zergliederten. Ueberall trifft man auf Diakone und Conſiſtorialräthe dieſer Art, welche ſich298[296] wie jeſuitiſche Aale theoretiſch winden und hin - und herſträuben, praktiſch aber ſich immer wieder in ihren homiletiſchen Schleim verſtecken.

Schelling und Hegel, jener von katholiſcher, dieſer von proteſtantiſcher Seite, ſtellten den letzten Verſuch an, die Philoſophie mit der Of¬ fenbarung in Einklang zu bringen. Schelling übertrug allerhand Analogien des Naturprozeſ¬ ſes auf die Geheimnißlehren des Chriſtenthums: er wußte Opfer, Menſchwerdung u. ſ. f. durch witzige Bilder von Seiten der Phantaſie an¬ nehmlich zu machen. Hegel ſtützte ſich auf den Geſchichtsprozeß, auf die innerlichen Ruhe¬ momente ſeiner metaphyſiſchen Logik, deren gan¬ zes Schema allein ſchon den Begriff der Trini¬ tät ausdrückte. Hegel's Philoſophie ſcheint mir auch wahrlich die einzige, die im Stande iſt, das Chriſtenthum zu beurtheilen. Ihr Standpunkt iſt der hiſtoriſche. Sie bringt ei¬ nen Schematismus in die Begebenheiten, wel¬299[297] cher den innern und äußern Sinnen wohlthut. Wodurch iſt auch das Chriſtenthum eine ſo im¬ poſante Erſcheinung? Durch ſeine hiſtoriſche Stellung. Hegel hat die Verſchiedenheit der Zeiten immer vortrefflich charakteriſirt und das Eigenthümliche des Chriſtenthums darin gefunden, daß ſich logiſche und hiſtoriſche Be¬ griffe daran akkommodiren laſſen. Aber mehr gelang ihm nicht. Seine Philoſophie des Chri¬ ſtenthums konnte nur da erſt anfangen als die Entwicklung der chriſtlichen Lehre zu Ende war. Hegel's Maaßſtab iſt überall die Vergangenheit. Seine Erklärungen ſind typiſcher Art, ſeine Philoſophie iſt eine Auslegung. Schelling und Hegel ſtehen an der Spitze jenes chriſtlichen Dilettantismus, der aus künſtleriſchen Intereſ¬ ſen ſich mit verſtopftem Ohre in eine grundloſe Fluth verſenkt. Das Chriſtenthum ſelbſt muß dabei ſeinen Credit verlieren, wenn nur noch Dichter, Grübler, Künſtler, verzweifelte und300[298] polizeilich beaufſichtigte Menſchen ſich für die Erklärung ſeiner Satzungen intereſſiren. Der geſunde Theil der Menſchheit wird in eine an¬ dere Strömung des ſtürmenden Weltgeiſtes ge¬ riſſen werden.

Unſer Zeitalter iſt politiſch, aber nicht gott¬ los. Wie gern verbände es die Freiheit der Völker mit dem Glauben an die Ewigkeit! Aber unchriſtlich iſt unſer Zeitalter, denn das Chriſtenthum ſcheint ſich überall der politiſchen Emancipation in den Weg zu ſtellen. Daher jene merkwürdigen Erſcheinungen, welche die neuere Zeit auf dem Gebiete, man weiß nicht, ſoll man ſagen, der Politik oder der Religion hervor¬ gebracht hat. Ueberall Sektengeiſt, Religions¬ ſtifter, Religionen auf Aktien, Religionen auf Subſcription, jede Religion, nur kein Chriſten¬ thum. Man ſpricht von Prieſtern, von einer Theokratie, von Gottesdienſt, nur nichts Chriſt¬ liches. Es iſt erſtaunenswerth, daß dieſe Dinge301[299] in Frankreich auftauchen, in einem Lande, das für Europa die Miſſion der Freiheit hat, in einem Lande, das in der neuern Geſchichte für alle Fragen der Cultur die Initiative über¬ nommen zu haben ſcheint. Wir reden hier vom St. Simonismus und den Worten eines Gläubigen.

In dieſe beiden Bekenntniſſe iſt zuerſt die Anerkennung der politiſchen Tendenz des Jahr¬ hunderts niedergelegt. Man hat hier die Unver¬ ſchämtheit vermieden, welche die hungernden Arbeiter auf das himmliſche Brod des ewigen Lebens anweiſt. Die Religion der Entſagung mag für Jahre paſſen, wo die Ernte nicht ge¬ rathen iſt; aber wo Fülle und Verſchwendung rings ihre Feſte feiern, da murrt die Menſch¬ heit über eine Religion, welche immerfort an das Sichſchicken, an die Demuth, an den Rath¬ ſchluß Gottes appellirt. Von dieſer Seite des Chriſtenthums überhaupt, die ſich dem Zeitgeiſte302[300] entgegenſtellt, kann nicht mehr die Rede ſein. Der Unterſchied zwiſchen den beiden Bekennt¬ niſſen iſt der, daß der St. Simonismus das Chriſtenthum antiquirt und durch einige materielle Philoſopheme, nebſt kirchlichen frei¬ lich dem alten Glauben entnommenen Inſtitu¬ tionen zu erſetzen ſucht, die Worte eines Gläu¬ bigen dagegen auf den demokratiſchen Urſprung des Chriſtenthums zurückgehen und unverho¬ len eine republikaniſche Tendenz deſſelben aus¬ ſprechen. Der St. Simonismus will den Staat von der Kirche, die Worte eines Gläubigen wol¬ len die Kirche vom Staate befreien. Jener weiſt auf die Zukunft, dieſe auf die Vergangenheit. Beide aber kränkeln an ähnlichen Gebrechen: der St. Simonismus an der Philoſophaſterei: La Mennais am Katholicismus. Wie ſoll man in der Kürze über beide Tendenzen urtheilen? Beide ſind keine Revolutionen, aber ſie ſind Symptome. Der St. Simonismus verräth ein303[301] Bedürfniß der Menſchheit: die Worte eines Gläubigen ſuchen es zu befriedigen, aber ſie befriedigen es nur zur Hälfte.

Ich habe die Thatſachen der Vergangenheit verfolgt und breche da ab, wo Alles, was nun kommen muß, nicht ſo von mir vorgezeichnet werden kann, ſondern in die Hand der Zeitge¬ noſſen gegeben iſt. Laſſet mich an einem Orte inne halten, den wir ſelber auszufüllen haben, bei jenen weißen Blättern der Geſchichte, die hinfort von uns beſchrieben werden ſollen!

Ich höre draußen ein ſimultanes Glocken¬ geläut: katholiſche und proteſtantiſche Töne. Es iſt Pfingſten, ein Feſt, wo man zwar nicht mehr plötzlich wie einſt in Jeruſalem, gut Eng¬ liſch, Spaniſch und Sanscrit lernt, was mir ſehr lieb wäre: wo aber der heilige Geiſt auf alle Welt ausgegoſſen wurde. Wir leben in der Zeit des heiligen Geiſtes, von dem Chriſtus ſelber ſagt, daß er uns in alle Wahr¬304[302] heit führen und freimachen würde. So ſcheint es ſogar jener Mann gewußt zu haben, daß die Geſchichte immerdar ihre eigne Autorität bleibt, daß der Weltgeiſt raſtlos wirkt und in uns ſchafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottes¬ dienſt im Tempel der Freiheit iſt. Wir wer¬ den keinen neuen Himmel und keine neue Erde haben; aber die Brücke zwiſchen beiden ſcheint es, muß von Neuem gebaut werden.

[303]

Es ſchlug Mitternacht, als Wally das ſauber geſchriebene Heft durchleſen hatte. Die Wachs¬ kerze war tief heruntergebrannt, ihre Augen glühten, ſie hatte Thränen nöthig, um den heißen Brand zu löſchen. Aber die Thränen kamen nicht. Sie ſaß da, verſteinert, wie Niobe, der man das Liebſte und Theuerſte wegſchießt. Rings war alles grauenhaft ſtill, nur der Uhrpendel ſchwang ſich unterm Glaſe hin und her und zählte die Minuten, die den Geiſtern auf Erden zu wandeln vergönnt wa¬ ren. Wally lebte nur in den Worten, die ſie geleſen hatte, und flüſterte ſich zu: Ich ſterb '306[304]auch mit ihnen. Dann ergriff ſie mechaniſch den kleinen Kerzenreſt, der noch brannte, und ſchritt in ihr Schlafgemach, einen finſtern, dä¬ moniſchen Schatten werfend.

305

Noch ſechs Monate hielt Wally ein Leben aus, deſſen Stütze weggenommen war. Sie, die Zweiflerin, die Ungewiſſe, die Feindin Got¬ tes, war ſie nicht frömmer, als die, welche ſich mit einem nicht verſtandenen Glauben be¬ ruhigen? Sie hatte die tiefe Ueberzeugung in ſich, daß ohne Religion das Leben des Menſchen elend iſt. Sie gieng nun damit um, dem ihri¬ gen ein Ende zu machen.

Je unerſchütterlicher ſich dieſer Gedanke bei ihr feſtgeſetzt hatte, deſto mehr ſuchte ſie ihn äußerlich zu verbergen. Sie zeigte ſogar, je gewiſſer ſie mit ſich ſelbſt wurde, eine heitre Unbefangenheit, die die Rückkehr ihre frühern Laune hoffen ließ.

Sie war viel auf ihrem Zimmer allein, weinte und rang; aber beten konnte ſie nicht. Sie warf ſich wohl oft verzweifelnd auf die Knie, aber wie eine eherne Mauer ſtand es vor ihr, wenn ſie flehend die Hand ausſtreckte. Gutzkow's Wally. 20306Sie ſchrieb noch einzelne, ihren Seelenzuſtand verrathende Aphorismen in ihr Tagebuch; die meiſten bewegten ſich um den Gedanken des Todes. An der Urſache deſſelben hatte ſie nichts mehr, was ſie in ſich ändern konnte. Eine Stelle, welche man ſpäter im Buche fand, war ganz mit Thränen durchnäßt. Man konnte das an der geronnenen Dinte und dem zerknit¬ terten Papiere ſehen. Sie hieß:

307

O Jeſus! Nie warſt du mir theurer, als thränenvergießend im Garten von Gethſemane! Jeſus! Du bateſt Gott, daß er den Kelch die¬ ſes herben Todes möchte an dir vorüber gehen laſſen, du, du, der die Welt verändert hat! Und die Jünger ſchliefen. Sie achteten dei¬ ner flehenden Stimme nicht, daß ſie mit dir wachten, daß ſie mit dir weinten auf dem Oelberge. Ach, um mich ſchlafen ſie Alle und Niemand kennt den Schmerz, der mich ver¬ zehrt, Niemand wacht mit mir, Niemand betet für mich!

20 *308

Es war an einem trüben und regneriſchen Herbſttage. Die Kaſtanien praſſelten von den Bäumen. Der Wind ſchlug die Regenſchauer an die naſſen Fenſter. Alles in der Natur ſchien zu Grabe zu gehen. Wally ſaß einſam in ihrem Zimmer. Eine Uhr lag neben ihr. Neben der Uhr ein rothes Tuch, das einen un¬ ſichtbaren Gegenſtand bedeckte.

Eine Stunde verrann nach der andern. Um die ſechſte dunkelte es. Man brachte ihr Licht. Sie winkte ſtumm mit der Hand, als man nach ihren Befehlen fragte.

Sie trat an's Klavier und ſchlug einige Accorde an. Es ſchlug ſieben Uhr.

Dann ſetzte ſie ſich und ſchrieb einige Zeilen;

309

Ich muß ſterben, denn haſſenswerth ſchien 'ich mir, wenn ich mich durch die Welt ſchliche und mir ſelbſt verbergen wollte, was ich leide. Wir erkennen Gott nicht. Nun und nimmer mehr. Das tragiſche und der Menſchheit wür¬ dige Schickſal unſers Planeten wäre, daß er ſich ſelbſt anzündete, und alle, die Leben ath¬ men, ſich auf den Scheiterhaufen der brennen¬ den Erde würfen. Alle müßten ſie ſich opfern aus Haß gegen den Himmel; opfern, wie man Rechnungen verdirbt, die ohne den Wirth gemacht werden. Alle! Alle! Dann wäre das Problem gelöſt und Gott müßte eilen, ſich neue Menſchen, neue Sklaven zu ſchaffen. Barba¬ riſcher Mord der Völker unter einander glaubt ihr, werde das Ende der Dinge ſein? Die wiedererwachende Rohheit der Natur? Hyänen, die ſich unter einander zerfleiſchen, ſind euch der Zweck der Geſchichte? Gräßlicher Gedanke! Prophezeihung, würdig eines Henkers! Sie310 werden ſterben, aber ſie werden Alle den Dolch in ihre eigene Bruſt ſenken, und eine große Kette der Freundſchaft ſchließen, die Menſchen! Sie wer¬ den ſich faſſen Alle an ihrer Hand, und mit der Rechten den Stoß vollbringen und noch im Tode ſich mit ihren Küſſen bedecken. Sie werden ſterben, weil ſie reif ſind, weil ſie das Höchſte erreichten in Wiſſenſchaft und Kunſt, weil ſie Alle ineinandergerechnet der Gottheit gleich¬ kommen. Aber die Gottheit ſitzt hinter einem Vorhange und verbirgt nach wie vor ihr ſprö¬ des Antlitz, und zögert zu kommen und ſich zu enthüllen. Was haben wir ihr gethan?

311

Es ſchlug acht Uhr. Sie war in eine Auf¬ regung gekommen, welche für ihren Entſchluß nicht paßte. Was iſt Sturm, Ungewitter, Herbſt, was ſelbſt der Schmerz der Seele und des Herzens, wenn der Geiſt ſeine Gedanken aufrüttelt und die Denkkraft ihre Fühlfäden ausſchießt? Das Denken erhält den Muth, den man am Wiſſen verliert. Wally war ſo nahe daran, ihre Verirrung zu fühlen. Aber ſie war ein weibliches Herz, das nicht ſo leicht vergißt, was es einmal wollte und in ſich ſelbſt kein großes Regiſter von Entſchließungen hat, wo ſie wählen könnte. Sie fiel in den alten Schmerz zurück.

Um neun Uhr griff ſie noch einmal nach der Feder und ſchrieb:

312

Lebet wohl! Alle! Alle! Armſelig war mein Leben; wie klein, wie nichtig alle die Beziehungen meiner Jugend! Und das war wohl des Todes werth; denn ich bin nichts, nur Staub, nur Vernichtung. Mein Leben iſt unnütz. Grüßet ſie Alle, grüßet den Frühling des kommenden Jahres, wo ich todt ſein werde und keines Vogels Ruf mich wieder wecken wird. Ich danke euch Allen, die mich liebten, und dir, dir, Cäſar; Allen! Allen!

313

Sie mußte noch viel geweint haben. Auch dieſe Zeilen waren verronnen in naſſe Punkte. Sie mußte dann den Stoß vollbracht haben mit jenem Dolche, der ihrem todten Bruder gehörte.

Man fand ſie auf dem Bette ausgeſtreckt. Das Licht ſtand zu ihren Häupten. Sie hatte mit beiden Händen den in das rothe Tuch ge¬ wickelten und darin auch von ihr während des Stoßes gelaſſenen Dolch in ihr Herz gedrückt, und lag da, nicht lächelnd und ruhig, wie wohl in andern Fällen hier getroffen iſt, ſondern mit krampfhafter Verzerrung ihres ſchönen Ant¬ litzes und einem Ausdrucke der Verzweiflung in den ſtarren Augen, der erſchrecken machte.

Sie wurde mit Gepränge beſtattet. Die, welche am Grabe ſtanden, beweinten nicht ſie ſelbſt, ſondern nur ihre Jugend.

[314][315]

Wahrheit und Wirklichkeit.

[316][317]

Man kann den Zufall verdammen, man kann ſelbſt überzeugt ſein, daß in Allem, was ge¬ ſchieht, eine konſequente Offenbarung der Gottesidee liegt; und doch würde Niemand zu behaupten wagen, daß Alles, was geſchieht, Alles, was wir als geſchehen beobachten kön¬ nen, etwas Andres ſei, als die zufälligen Aeußerlichkeiten jener offenbarten Gottesidee. Ich glaube, daß Alles gut iſt, was geſchieht; glaube aber nicht, daß eben nur das geſchehen kann, was geſchieht. Unendlich iſt das Reich der Möglichkeit, jenes Schattenreich, das hinter den am Lichte der Begebenheiten ſicht¬318 baren Erſcheinungen liegt. Es giebt eine Welt, die, wenn ſie auch nur in unſern Träumen lebte, ſich eben ſo zuſammenſetzen könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit ſelbſt, eine Welt, die wir durch Phantaſie und Vertrauen zu combiniren vermögen. Schaale Gemüther wiſſen nur das, was ge¬ ſchieht; Begabte ahnen, was ſein könnte; Freie bauen ſich ihre eigne Welt.

Zwei Garantien der unſichtbaren Welt ſind die Religion und die Poeſie. Jene ſchließt das Reich der Möglichkeit auf, um zu trö¬ ſten; dieſe, weil ſie die Wirklichkeit erklären will. Beide beruhen auf Täuſchungen, nur iſt die Poeſie glücklicher, weil ſie die Wahr¬ ſcheinlichkeit für ſich hat. Es iſt leichter, an ein Gedicht, als an den Himmel glauben. Die Ereigniſſe des Gedichtes ſind oft die heim¬[l]ichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die319 Schöpfungen des Autors haben die Analogie für ſich und die Erde; aber der Himmel ſchwebt in der Luft und iſt, trotz aller Phi¬ loſophie, ohne Maaßſtab, wie Gott ſelbſt.

Die Geſchichte der Poeſie zeigt, wie ſich in ihr von jeher Wahrheit und Wirklichkeit geſtritten haben. Jene Gemüther, welche wir die ſchaalen nannten, entſchieden ſich für die Wirklichkeit, die freien für die unſichtbare Wahrheit, die begabten, die empfänglichen, die ſogenannten Leute von Geſchmack, Bildung und Erziehung, für das Mittlere zwiſchen bei¬ den, für die Wahrſcheinlichkeit. Und ſo iſt es noch. Bei jeder neuen Dichtung fragen die Einen: Wo geſchah dies? die Andern: Sollte dies geſchehen können? nur die freien Gemü¬ ther entſcheiden, ohne zu fragen, weil ſie es fühlen, daß das, was nicht geſchieht, immer noch wahr iſt, ſelbſt wenn es nicht geſchehen kann.

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Alles, was die Wirklichkeit kopirt, iſt für die Maſſe. Dieſe Gattung der Poeſie erhebt ſich von der unterſten Stufe der Genremalerei bis zu den Romanen von Walter Scott und Bulwer, bis zu den Dramen Ifflands und Kotzebue's. Nur hell, blank und geſchliffen muß dieſe Literatur ſein, weil ſie der Wirk¬ lichkeit gegenüber ein Spiegel iſt, der ſie treu auffäßt und wiedergiebt. Für die ſchaa¬ len Gemüther iſt nichts genialer, als ſie ſelbſt zu zeichnen, wie ſie ſind: ihre Tante, ihre Katze, ihren Shwal, ihre kleinen Sympathien, ihre Schwachheiten. Was haben wir von euern Grillen? von euern Erfindungen, die in der Luft ſchweben? Gebt uns uns ſelbſt, dem Egois¬ mus den Egoismus! Es giebt Kritiker und Literatoren, die ſich nur für das Copiren der Wirklichkeit enthuſiasmiren können. Das Wahr¬ ſcheinliche iſt bei ihnen ſchon eine Conzeſſion. England hat von jeher dieſe Art der poetiſchen321 Darſtellung bevorzugt, Deutſchland iſt ſyſte¬ matiſch genug bearbeitet worden, hierin nach¬ folgen zu müſſen. Die alte Literatur ſteht bei uns verſteinert da in Tempeln und in Wall¬ hallen, die mittlere war keines Schuſſes Pul¬ ver werth, die neue hat nur noch ein ſchwan¬ kendes und kaltes, von Politik und ſpekulativer Trägheit ganz darnieder gehaltenes Publikum. Darauf kömmt alles zurück: Man will von der Literatur keine Anſtrengung haben; die Litera¬ tur ſoll Niemanden mehr eine unruhige Nacht machen, ſie ſchildert, ſie porträtirt, ſie ſtillt die Leſeluſt mit Hiſtorie und Bulwer. Die Poeſie iſt jetzt Selbſtbefruchtung. Die Wirk¬ lichkeit nährt ſich von ihrem eignen bürger¬ lichen, überquellenden Fette.

Menſchen, die ſchon eine Stufe höher ſte¬ hen, ſind mit der Wahrſcheinlichkeit zufrieden. Sie wollen nur einige Vorausſetzungen, dieGutzkow's Wally. 21322den Boden der Wirklichkeit berühren; das Uebrige überlaſſen ſie der Combination und Phantaſie. Dies ſind die gemüthlichen Leſer, die ſich durch poetiſche Schöpfungen in einen ſanften Halbſchlummer wiegen laſſen, die die Bücher nach der Elle conſumiren. Es muß ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne lie¬ gen. Schwebend zwiſchen Himmel und Erde, ganz willenlos hingegeben den Capricen des Dichters, freuen ſie ſich zuletzt, daß nun Alles, was ſie geleſen haben, doch entweder nicht wahr iſt, oder im entgegengeſetzten Falle im¬ mer ſehr wahrſcheinlich bleibe.

Die Wahrheit ſelbſt iſt unſichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich iſt. Die poe¬ tiſche Wahrheit iſt ſchöpferiſch. Sie baut mit den geheimſten Fäden der menſchlichen Seele, ſie combinirt nicht, wie der Staat, die Fa¬ milie, die Religion, die Sitten und das Her¬323 kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬ nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬ bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht, muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬ rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬ dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬ kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern. Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden nicht entſprechen; dieſe werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrſchein¬21 *324lichkeit ausgeſetzt ſein. Aber noch immer gieng das Genie ſeinem Jahrhunderte voraus.

Zwei Thatſachen möcht 'ich aus Obigem folgern: die beide weniger literariſch, als hi¬ ſtoriſch ſind.

Wenn man in Anſchlag bringt, daß ent¬ ſchieden ſchon in der franzöſiſchen Literatur, ohne alle Widerrede auch bei uns allmälig eine Poeſie der ideellen Wahrheit und reellen Un¬ wirklichkeit ſich zu entfalten beginnt, wenn man dieſe Frauengebilde betrachtet, welche die Phan¬ taſie der jetzigen begabteren Dichter erfindet, dieſe originellen Situationen und allem Her¬ kommen widerſprechenden Sitten; ſollte man dieſe Erſcheinung nicht für beziehungsreich hal¬ ten für unſer zukünftiges Leben, für die Exi¬ ſtenz in der Wirklichkeit, für die weite Unter¬ lage der Maſſe und des allgemeinen Glaubens? Es iſt wahr, die Dichter fangen an, auf im¬325 mer luftigeren Bahnen zu wandeln: ſie ſchaf¬ fen ſich ihre eignen Welten mit Thronen, die ihre Phantaſie erbaute, mit Richterſtühlen, die ihre eigne Geſetzgebung haben, mit einem Got¬ tesdienſt, deſſen Prieſter nur noch die kleine Gemeinde ſelbſt iſt. Es baut ſich eine Wahr¬ heit der Dichtung auf, der in den uns[umge¬ benden] Inſtitutionen nichts entſpricht, eine ideelle Oppoſition, ein dichteriſches Gegentheil unſrer Zeit, das einen zweifachen Kampf wird zu beſtehen haben, einmal einen gegen die Wirk¬ lichkeit ſelbſt als conſtituirte Macht mit phy¬ ſiſcher Autorität, ſodann einen gegen die Poeſie der Wirklichkeit, welche ſo viel Dichter und ſo viel Kritiker für ſich hat.

Dies iſt ein Symptom unſrer Zeit, aus dem wir bis jetzt noch keinen weitern Schluß ziehen wollen, als einen, der vielleicht außer¬ halb der Literatur liegt, den ich aber nicht326 verſchweigen will, weil Jedes, was die Menſch¬ heit ehrt, auf den Lippen des Enthuſiaſten brennt. Man verwirft mit Recht das Experimentiren mit der Menſchheit, aber man geht darin wei¬ ter, als man darf, ohne die Menſchheit zu be¬ leidigen. Wir fürchten uns, den Zeitgenoſſen etwas zu entziehen, wovon wir uns einbilden, daß es zu ihrem Leben nöthig iſt. Wir glau¬ ben an die Inſtitutionen in Sitte, Meinung und politiſcher Einrichtung, wie an die uner¬ läßlichen Lebensbedingungen der Jahrhunderte. Als wenn die Menſchheit keine innern Quellen hätte! Als wenn ſie untergienge, wenn ihr ſie aus dieſer ganzen Sündfluth ihrer Exiſtenz plötzlich nackt und noch triefend auf den Ara¬ rat verſetztet! Als wenn die Menſchheit nicht immer die erſte ſein wird, die ſich hilft und diejenige, welche für ſich den beſten Rath weiß! Sie zucken die Achſeln, wie unvorſichtige Aerzte, ſie fürchten für das Leben des Patienten und327 quackſalbern an den alten Schäden herum; aber nehmt der Menſchheit ein Bein ab: ſie wird ſich ein neues machen; nehmt ihr, um nur Eines, was unmöglich ſcheint, zu nennen, z. B. das Chriſtenthum: glaubt ihr, daß ſie untergehen wird? Nehmt ihr eure Geſetzbücher, eure Verfaſſungen; nehmt ihr zuletzt das, worauf gleichſam Alles ankommen ſoll, nehmt ihr euch ſelbſt! und die Menſchheit wird fortbeſtehen. Sie wird Alles ertragen, und durch Felſen vom ſtärkſten Granit noch immer einen Weg finden, der ſie zu ihrem Ziele führt.

About this transcription

TextWally, die Zweiflerin
Author Karl Gutzkow
Extent342 images; 36405 tokens; 8055 types; 252159 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationWally, die Zweiflerin Karl Gutzkow. . 327 S. LöwenthalMannheim1835.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yx 2691<a> (RARA)http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=618077103

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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ShelfmarkSBB-PK, Yx 2691<a> (RARA)
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