PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Die Allmacht der Naturzüchtung.
Eine Erwiderung an Herbert Spencer.
Jena,Verlag von Gustav Fischer. 1893.
[II][III]
Die Allmacht der Naturzüchtung.
Eine Erwiderung an Herbert Spencer.
Jena,Verlag von Gustav Fischer. 1893.
[IV][V]

Vorwort.

Vorliegender Aufsatz ist in der Hauptsache eine Ant - wort auf zwei Artikel von Herbert Spencer, deren erster The inadequacy of natural selection im Februar und März dieses Jahres in der Contemporary Review er - schienen und hauptsächlich gegen meine Ansichten über Ver - erbung und Naturzüchtung gerichtet ist, deren zweiter im Mai gedruckt wurde, betitelt Professor Weismann’s Theo - ries , ein Postscript zu dem ersteren. Wenn ich auch ungern in Polemik eintrete, falls sie weiter nichts bezweckt, als zu zeigen, dass der Andere Unrecht und man selbst un - zweifelhaft Recht habe, so thue ich es doch gern, wenn da - durch die Sache selbst gefördert wird. In diesem Falle bietet sich mir dadurch die Gelegenheit, Einiges über Natur - züchtung zu sagen, was ich schon längst gern einmal öffent - lich ausgesprochen und wozu ich sonst vielleicht nicht so bald Anlass gefunden hätte. Die Ansichten über diesen Factor der Entwickelungslehre gehen heute so weit aus - einander, dass es vielleicht an der Zeit ist, diesem Problem etwas schärfer als bisher auf den Leib zu rücken. Viele verwerfen Selection als Umwandelungsfactor ganz, Andere gestehen ihm nur eine untergeordnete Wirksamkeit zu, indem sie sagen, Selection könne nichts schaffen, sondern nurIV negiren; erst müsse etwas da sein, ehe es verworfen werden könne, und was im Kampf ums Dasein übrig bleibe, sei des - halb doch nicht von diesem hervorgebracht. Aber auch Die - jenigen, welche Selection als positiv schaffendes Princip theo - retisch anerkennen, zweifeln doch häufig an seiner Tragweite und nicht selten auch an seiner Wirklichkeit; sie meinen, es sei ja denkbar, dass alle Anpassungen auf Selection beruhen, aber dass wirklich die Variationen durch den Kampf ums Dasein in bestimmter Weise gerichtet würden und so das Zweckmässige hervorbrächten, sei zwar eine schöne und be - strickende Hypothese, aber eben doch nur eine Hypothese, für die der Beweis nicht zu erbringen sei.

Ich bin nun, je länger ich über diese Dinge nachdenke, um so mehr durchdrungen davon, wie wenig wir an Daten für den einzelnen Fall beibringen können, und wie weit wir auf diesem Gebiete vom Beweise entfernt sind. Vielen werde ich vielleicht in dieser Hinsicht zu weit zu gehen scheinen und zu absprechend sein. Allein trotzdem glaube ich, dass das Princip der Selection sich über den Werth einer blossen Hypothese erheben und als thatsächlich wirkend nach - weisen lässt, und den Versuch, dies zu thun, habe ich hier eingeflochten.

In der etwas früher gedruckten englischen Ausgabe dieser Schrift ist ausser auf Spencer’s gegen mich gerichtete Aufsätze nur noch auf eine Arbeit von Buckman einge - gangen worden. Hier habe ich noch zwei andere Schriften der neuesten Zeit mit hereingezogen, die eine am Anfang, die andere am Ende.

Lindau am Bodensee, den 8. September 1893.

[1]

Wer die Entwickelung des Vererbungsproblems, wie sie sich in diesem letzten Jahrzehnt ge - staltet hat, im Genaueren verfolgte, dem ist es bekannt, dass meine Ansicht von der Nichtvererbung er - worbener Eigenschaften zwar wohl manche bedeutende Zu - stimmung, aber auch zahlreichen Widerspruch gefunden hat, dass sie sich jedenfalls heute, noch nicht der allgemeinen Anerkennung in der Wissenschaft erfreut. Manche glauben eine derartige Vererbung für ihre theoretischen Ansichten in Bezug auf die Entwickelungslehre unentbehrlich und fol - gern daraus, dass sie existiren müsse, Andere meinen dieselbe sogar durch Thatsachen nachweisen zu können. Die meisten solcher vermeintlichen Beweise beruhen freilich auf unvollkommenem Verständniss des ganzen Problems, um welches es sich handelt, vor allem auf Unklarheit dar - über, was mit der Bezeichnung einer erworbenen Eigen - schaft eigentlich gemeint ist. Man dürfte sich billig ver - wundern, wie schwer es hält, diesen einfachen Begriff zum allgemeinen Bewusstsein zu bringen, nachdem doch schon während nahezu zehn Jahren derselbe scharf begrenzt, durch Beispiele erläutert und so oft durchgesprochen worden ist. Weismann, Allmacht der Naturzüchtung. 12Aber dennoch vergeht kein Jahr, ohne dass ein oder meh - rere Schriftsteller in diese für die Entwickelungslehre funda - mentale Frage einzugreifen suchen, während sie doch über den Grundbegriff derselben sich noch im Unklaren befinden.

So hat erst kürzlich wieder ein verdienter Thier - physiologe entschiedene Einsprache gegen meine Ansicht erhoben vom Standpunkte der landwirthschaftlichen Thier - zucht aus. M. Wilckens1)Wilckens, Die Vererbung erworbener Eigenschaften vom Standpunkte der landwirthschaftlichen Thierzucht in Be - zug auf Weismann’s Theorie der Vererbung. Biologisches Centralblatt vom 15. Juli 1893, p. 420. in Wien meint, ich hätte die Erfahrungen und Thatsachen auf dem Gebiet der Thier - zucht viel zu wenig beachtet , und daraus erkläre sich der schroffe Gegensatz zwischen den thierzüchterischen Ver - erbungsthatsachen und meiner Vererbungstheorie. Die Zoologen sollten sich daran gewöhnen, die landwirthschaft - liche Thierzucht als den experimentellen Theil der Zoologie zu betrachten. Nun ich glaubte, ich hätte zu verschiedenen Malen und recht eingehend diese Thatsachen berücksichigt und verwerthet; ich habe nicht nur Hauptwerke der land - wirthschaftlichen Züchtung, wie das von Settegast, stu - dirt, sondern mir auch durch persönliche Besprechung mit erfahrenen Züchtern das auf dieser Seite der Wissenschaft gewonnene Material an Thatsachen zugänglich zu machen gesucht. Meine Beweise gegen die Annahme einer Ver - erbung von Verstümmelungen sind zum Theil daher ge - nommen2)Vergleiche z. B. meinen Aufsatz Ueber die Hypothese einer Vererbung von Verletzungen , Jena 1889, und in den Aufsätzen über Vererbung und verwandte biologische Fragen , Jena 1892, Aufsatz VIII.. Wenn ich dieses Material nicht noch öfter3 und vor allem nicht in feineren Fragen benutzt habe, so liegt dies einfach daran, dass die auf dem Gebiete land - wirthschaftlicher Thierzucht heute bereit liegenden That - sachen nicht bis in die feineren Probleme hineinreichen, und sie thun dies deshalb nicht, weil die Thierzüchter diese Probleme noch nicht ergriffen haben. Es ist ein Irrthum, wenn Wilckens meint, dass die thierzüchterischen That - sachen mit meiner Theorie im Gegensatz stünden; sobald man nur erst das Problem, um welches es sich handelt, richtig erkannt hat, stehen sie im schönsten Einklang mit ihr. Wenn mein Kritiker freilich unter somatogenen oder erworbenen Eigenschaften jede Abänderung einer Function begreift, dann giebt es allerdings zahlreiche vererbbare er - worbene Eigenschaften ; ich habe aber von functioneller Abänderung immer nur im Sinne einer Abänderung durch die Functionirung, also durch Gebrauch oder Nicht - gebrauch geredet; allein in diesem Sinne ist das Wort somatogene Abänderung überhaupt gemeint. Theile eines Organismus können in doppelter Weise verändert werden: durch Aenderung der Keimesanlagen, wo dann die sicht - bare Variation erst in einer folgenden Generation auftritt, und durch gesteigerten oder geminderten Gebrauch des be - treffenden Theils; die ersteren Abänderungen sind die blastogenen, die zweiten die somatogenen, und von letzteren allein bestreite ich ihre Vererbbarkeit. Auch kli - matische Einflüsse, soweit sie nur das Soma treffen, würden sich in die letztere Kategorie vielleicht einfügen lassen, inso - fern auch durch sie gewisse Theile des Thiers oder der Pflanze (Zellen oder Zellentheile) zu stärkerer, andere zu geringerer Thätigkeit veranlasst und dadurch verändert werden mögen, wenn sich das auch nicht im einzelnen Fall nachweisen lässt.

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Wilckens meint, die Thatsachen der Vererbung er - worbener Eigenschaften seien auf dem Gebiet der land - wirthschaftlichen Thierzucht allgemein bekannt , und führt als bestes Beispiel dafür die Entstehung des englischen Vollblutpferdes an. Durch fortdauernde Uebung auf der Rennbahn und Weiterzüchtung der schnellsten Pferde sind die Nachkommen der Begründer der Rasse, dreier orientalischer Hengste, in ihrer Körperform ganz verändert worden. Der Kopf ist kleiner, der Hals länger, das Gestell höher geworden ...... Auch ich habe diese Entstehungsgeschichte berührt1) Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung , Jena 1892, p. 382., aber ich sehe nicht, in - wiefern durch dieselbe irgend etwas für die Vererbung somatogener Eigenschaften bewiesen wird. Mein Kritiker sagt freilich: durch fortdauernde Uebung auf der Renn - bahn seien diese Veränderungen eingetreten, aber ist das nicht einfach eine Petitio principii? Das ist es ja eben, was zu beweisen wäre. Er, wie die meisten Thierzüchter, scheinen in dieser Vorstellung so befangen zu sein, dass sie es gar nicht bemerken, wie sie hier etwas voraussetzen, was weit davon entfernt ist, bewiesen zu sein. Grade dies ist es, was ich bestreite. Nicht das Rennen hat die Pferde in 200 Jahren zu Rennpferden gemacht, sondern die Auswahl der für das Rennen vor - theilhaftesten Variationen unter den Nach - kommen ausgezeichneter Schnellläufer.

Darwin sagt einmal, als er von den Erfolgen der Züchter und den Preisausschreiben für neue Varietäten spricht: Die Preisrichter ordneten Bärte an für die Hühner,5 und nach 6 Jahren hatten 57 Gruppen von den im Krystall - palast ausgestellten Hühnern Bärte. Sollte Jemand ge - neigt sein, zu glauben, dass diese Bärte durch Ziehen an den Federn, oder durch was immer für eine Manipulation oder Uebung entstanden seien? Oder der Schwanz der Pfauentaube durch häufiges Spreizen des Schwanzes? Ich werde meinem Kritiker eine solche Thorheit nicht zumuthen, allein hundert von Fällen könnten angeführt werden, welche dasselbe beweisen, dass nämlich die mannigfaltigsten Ab - änderungen an allen möglichen Theilen von Thieren durch blosse Auswahl der sich darbietenden Variationen zur Nach - zucht fixirt und gesteigert werden können, bei völligem Ausschluss irgend einer Uebung. Und nun denke man noch weiter an die unzähligen Rassen der Blumen und Früchte, an die Riesenstachelbeeren u. s. w., bei welchen allen Uebung nicht in Betracht kommen kann. Keimes - variationen sind es, welche in allen diesen Fällen aus - gewählt und gezüchtet wurden, und diese boten sich dar, unabhängig von jeder Beeinflussung durch die Art der Functionirung.

Was berechtigt uns also, grade beim Rennpferd anzu - nehmen, dass die Uebungsresultate des Einzellebens bei den eingetretenen Veränderungen der Nachkommen eine Rolle spielen? Doch wohl nichts Anderes, als das Vorurtheil, es müsse so sein.

Niemand wird es mit grösserer Freude begrüssen, als ich, wenn die landwirthschaftliche Thierzucht sich in den Dienst rein theoretischer Probleme stellt; dazu wäre aber vor allem nöthig, dass sie sich dazu verstünde, diese Pro - bleme kennen zu lernen, anstatt bloss über sie abzusprechen. Wie wenig aber mein Kritiker in das Wesen der von ihm6 verworfenen Ansichten eingedrungen ist, beweist am besten seine Schlussbemerkung: Aber auch mit den Thatsachen der Physiologie befindet sich der Zoologe Weismann im Widerspruch, sonst würde er nicht auf den Gedanken ge - kommen sein, dass sich irgendwo in einer verborgenen Ecke des lebenden Organismus ein kleiner Theil (das Keim - plasma) organisirter Substanz unabhängig halten könnte von den Einflüssen der Ernährung und des Stoffwechsels.

Ganz so primitiv, wie mein Kritiker annimmt, sind denn doch wohl meine physiologischen Vorstellungen nicht. Wenn er das Capitel über Variationen in meinem oben schon angeführten, von ihm gekannten Buche1) Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung , p. 538 583. nachsehen wollte, würde er finden, dass ich die individuelle Variation auf ungleiche Ernährungseinflüsse innerhalb des Keimplasmas zurückführe, in einem anderen Capitel aber würde er finden2)Ebendaselbst, p. 515 524; derselbe Gedanke ist übri - gens schon in meiner ersten Schrift über Vererbung 1883 dargelegt und zieht sich durch alle meine Schriften hin, in denen dieser Punkt berührt wird., dass Ernährungseinflüsse nicht genügen, um die Vererbung einer erworbenen (somatogenen) Eigen - schaft zu bewirken, weil das Keimplasma zu diesem Behuf nicht nur schlechthin irgendwie verändert, sondern in einer ganz bestimmten Weise verändert werden müsste, nämlich adäquat der Veränderung des betreffenden Somatheils.

Wilckens gibt mir aber Recht, wenn ich die Ver - erbung von Verstümmelungen in Abrede stelle; er meint, diejenigen, die behauptet haben, dass Verletzungen als er - worbene Eigenschaften vererbbar seien, haben es den Geg -7 nern sehr leicht gemacht, sie zu widerlegen . Mir scheint, so ganz leicht ist es doch nicht gelungen, die Ueberzeugung zum Durchbruch zu bringen, dass Verstümmelungen nicht vererbbar sind; der Kampf darüber hat sich zum mindesten durch sechs Jahre hingezogen. Es werden aber auch heute noch immer wieder neue Fälle vorgebracht, welche eine solche Vererbung beweisen sollen. Auf einen derselben will ich kurz eingehen, weil er auf den ersten Blick wirk - lich beweisend zu sein scheint.

Es sind das Beobachtungen und Versuche, welche ein englischer Geologe, Buckman, in vorigem Jahre mit - getheilt hat1)S. S. Buckman, Some Laws of Heredity and their Application to Man in Proceed. Cotteswold Naturalist’s Field Club , Vol. 10, Part 3, p. 258, 1892.. Es ist bekannt, dass die kleine Zehe an unseren Füssen mehr oder weniger verkümmert ist; sie ist nicht nur kleiner, sondern auch verkrümmt, und man schreibt dies gewöhnlich dem Druck des Schuhes zu, dem sie während des grössten Theils des Lebens ausgesetzt ist. Bei Neugeborenen zeigt sich die Zehe noch grade, und man könnte also glauben, die Verkrümmung entstehe in jedem Einzelleben von Neuem und unabhängig von Ver - erbung.

Buckman hat nun aber an seinen eigenen Kindern beobachtet, dass die Zehe krumm wird, auch wenn die Kinder keine Schuhe tragen, sondern barfuss gehen, und zwar schon 6 Monate nach der Geburt. Er schliesst dar - aus ganz richtig, dass die Verkrümmung der kleinen Zehe eine ererbte Eigenschaft ist, glaubt nun aber damit die Vererbung erworbener Eigenschaften bewiesen zu haben,8 indem er keinen Zweifel hegt, dass die Verbildung der Zehe durch den Schuhdruck entstanden und allmälig erblich geworden ist.

Diese Annahme ist nun aber irrig. Wir besitzen eine genaue anatomisch-statistische Untersuchung der kleinen Zehe von W. Pfitzner1)W. Pfitzner, Die kleine Zehe , Archiv f. Anatomie und Physiologie, 1890, p. 12., aus welcher hervorgeht, dass dieselbe in einem langsamen Rückbildungs - process begriffen ist, der nicht auf den Schuh - druck bezogen werden kann2)Die Gründe, warum dies nicht statthaft ist, möge man im Original nachlesen, sie liegen hauptsächlich in der Natur der Abänderung, die derart ist, dass sie durch Seitendruck nicht entstanden sein kann.; sie ist im Begriff, sich aus einer dreigliedrigen in eine zweigliedrige Zehe zu verwandeln. Unter 47 Füssen der Strassburger Ana - tomie fand sich 13mal Synostose der zweiten und dritten Phalanx der kleinen Zehe vor, und Pfitzner konnte diese Verschmelzung der Gelenke schon bei Kindern unter 7 Jahren, ja in einzelnen Fällen schon bei Embryonen nachweisen. Seine Untersuchungen sind nicht etwa zur Lösung der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften und deshalb mit Voreingenommenheit angestellt, sondern ganz objectiv. Er berührt diese Frage gar nicht, ja nimmt sogar eine solche Vererbung als möglich an, indem er zuerst unter - sucht, ob nicht die Verkrüppelung eine Folge der vererbten Wirkung des Seitendrucks, und dann, ob nicht vielleicht die accumulirende Wirkung der Vererbung die durch das Schuhwerk im einzelnen Falle erzeugte sehr schwache Atro - phie dieser Zehe gesteigert haben könnte. Er verneint9 aber auch diese Frage, weil die barfussgehenden Japaner und Neger dieselbe Verschmelzung der Phalangen auf - weisen.

Auf meine Veranlassung hatte Professor Wieders - heim die Güte, die kleinen Zehen einiger ägyptischer Mu - mien zu untersuchen, und es ergab sich, dass auch bei diesen die Verwachsung der Phalangen häufig vorkommt und zwar nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Kin - dern1)Wiedersheim, Der Bau des Menschen als Zeug - niss für seine Vergangenheit , 2. Auflage, Freiburg i. Br. u. Leipzig 1893, p. 77..

So verhält sich also die Sache ähnlich, wie bei der Rückbildung des Schwanzes bei Hund und Katze, die auch den Anlass zu der irrigen Vorstellung gegeben hat, als be - ruhe sie auf der Vererbung künstlicher Verstümmelung. Beiderlei Organe befinden sich in einer sehr langsam vor - schreitenden Rückbildung, deren Erklärung bei der kleinen Zehe noch weniger Schwierigkeiten begegnen dürfte, als bei dem Schwanz des domesticirten Hundes, denn die Physio - logie hat längst nachgewiesen, dass die kleine Zehe beim Gehen keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt, dass sie also wenigstens in ihrer vollen ursprünglichen Ausbildung, wie sie heute noch bei den höchsten Affen ent - wickelt ist überflüssig ist. Ueberflüssige Theile aber stehen nicht mehr unter Controlle der Naturzüchtung, wer - den nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhalten, sondern sinken langsam durch Panmixie von ihr herab. Die erbliche Verkümmerung der kleinen Zehe erklärt sich also von meinem Standpunkt aus ganz einfach.

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Ich will mich aber nicht damit aufhalten, noch andere der scheinbaren Beweise für eine Vererbung erworbener Eigenschaften zu widerlegen; hätte ich auch alle wiederlegt, die bisher vorgebracht wurden, es tauchten doch immer wieder neue auf, und auf diesem Wege kämen wir nie zu einem Abschluss. Auch habe ich ja von jeher hervor - gehoben, dass die Annahme eines Erklärungsprincips auch dadurch sich rechtfertigt, dass ohne sie gewisse Erschei - nungen unerklärlich bleiben. Ich habe es deshalb von vorn - herein als meine Aufgabe betrachtet, zu zeigen, dass die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zur Erklärung der bekannten Erscheinungen nicht nothwendig ist, und habe damit begonnen, eine ganze Reihe von Er - scheinungen, die man bisher nur mit Hülfe dieser Annahme zu erklären gewohnt war, ohne sie verständlich zu machen, so das Verkümmern überflüssig gewordener Theile, die Ent - wickelung der Instincte, das Dasein künstlerischer Talente beim Menschen. Es war mir auch keinen Augenblick zweifelhaft, dass damit noch nicht Alles geleistet sei, dass es noch andere Vorgänge gebe, welche nur durch diese An - nahme Erklärung finden zu können scheinen, und unter diesen stand obenan das, was Herbert Spencer1)Herbert Spencer, The inadequacy of natural Se - lection , Contemporary Review for February and March 1893. jetzt wieder in einem längeren Aufsatz in den Vordergrund ge - stellt und als zwingenden Grund für die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften geltend gemacht hat: die harmonische Abänderung der verschie - denen zu einer physiologischen Leistung zu - sammenwirkenden Theile (Coadaptation).

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Es ist nicht zum ersten Male, dass der berühmte Philo - soph gerade diese Erscheinung gegen meine Ansichten ins Feld führt, er hat schon vor 7 Jahren einen Aufsatz1) Die Faktoren der organischen Entwickelung , in Kos - mos 1886, p. 241. er - scheinen lassen, der im Wesentlichen dieselben Argumente geltend macht, und ich hätte gern schon damals darauf ge - antwortet, wäre ich nicht durch die Verfolgung anderer Probleme daran gehindert gewesen.

Der Gedankengang Herbert Spencer’s ist, kurz zusammengefasst, der folgende. Wenn eine Vererbung er - worbener Abänderungen nicht bestünde, so müsste alle dauernde Veränderung auf Naturzüchtung beruhen. Nun müssen aber die meisten nützlichen Veränderungen eines Theils mit Veränderungen anderer Theile verbunden sein, wenn sie überhaupt wirksam werden sollen, und dieser co - operativen Veränderungen sind häufig eine so grosse Zahl, dass man nicht einsieht, wie sie alle zu gleicher Zeit und unabhängig von einander durch spontane Variation und Naturzüchtung sollten entstehen können. Man kann nicht annehmen, dass sie alle stets in gleichem Sinne variiren, so dass z. B. die Vergrösserung des Geweihes beim Hirsch immer schon von selbst mit einer Verdickung der Schädel - wand, einer Verstärkung des Nackenbandes und der Hals - und Rückenmuskeln verbunden sein müsse, denn wir kennen zahlreiche Beispiele, welche beweisen, dass cooperirende Theile ganz verschieden, ja entgegengesetzt variirt haben. Wie könnten sonst die enormen Unterschiede zwischen den Hinter - und Vorderfüssen des Känguruhs, oder wie könnten die mächtigen Scheeren des Hummers an denselben Bein - paaren entstanden sein, welche bei der Languste eine ein -12 fache kleine Klaue tragen u. s. w.? Man muss also, so meint Spencer, annehmen, dass die zusammenwirkenden Theile unabhängig von einander variiren. Nimmt man dies aber an, so wird der Process der Umwandlung nicht nur ein unendlich langwieriger und complicirter, sondern ein fast unmöglicher, denn wie sollten alle die zusammenwirken - den Theile zu gleicher Zeit der Naturzüchtung die geeig - neten Variationen darbieten, und doch verlangt z. B. die Ver - grösserung des Geweihes, dass zugleich auch das den Kopf tragende Ligament stärker werde und die Muskeln, welche den stärker belasteten Kopf tragen. Ja, auch die Dorn - fortsätze der Rückenwirbel müssen in der Richtung des Grösserwerdens variiren, und die Knochen, Muskeln und Bänder, die Nerven und Gefässe aller dieser Theile und der ganzen vorderen Extremität. Und alle diese Hun - derte von einzelnen Theilen sollten unabhängig von ein - ander gleichzeitig durch Naturzüchtung im richtigen Maasse verändert werden können? Wenn sie aber nicht gleich - zeitig sich verändern, so nützt die Abänderung des ein - zelnen Theils nichts, denn eine Verstärkung der Nacken - muskeln und - Bänder ohne Vergrösserung des Geweihes hat keinen Nutzen, und eine Vergrösserung des Geweihes ohne gleichzeitige Verstärkung der Bänder, Muskeln u. s. w. würde sogar gefährlich und höchst nachtheilig für das Thier sein.

Es bleibt also, so scheint es, nichts übrig, als mit Spencer anzunehmen, dass functionelle Abänderungen vererbt werden, und dass auf diese Weise alle zusammen - wirkenden Theile in Harmonie bleiben, d. h. dass die Ver - änderung des einen von ihnen, hier z. B. des Geweihes, stets genau von dem Maass von Veränderung der anderen Theile begleitet wird, welches für die Gesammtwirkung der13 Theile erforderlich ist; die Vererbung erworbener Abände - rungen wäre demnach so scheint es eine unvermeid - liche Annahme, und Herbert Spencer ist so sehr von der Kraft seiner Argumente überzeugt, dass er gradezu erklärt: either there has been inheritance of acquired characters, or there has been no evolution .

Ich kann auch heute nicht dieser Meinung sein. Seitdem ich vor 10 Jahren die Ansicht ausgesprochen habe, dass functionelle Abänderungen (erworbene Charaktere) nicht vererbt werden könnten, habe ich nicht aufgehört, diese Meinung auf ihre Richtigkeit zu prüfen, und überall, wo ich im Stande war, tiefer in die Erscheinungen einzudringen, habe ich dieselbe bestätigt gefunden. Ich gebe aber zu, dass der Einwurf Spencer’s ein bestechender ist, und ich würde mich nicht wundern, wenn Viele, die seinen Aufsatz gelesen und sich mit den enormen Schwierigkeiten bekannt gemacht haben, welche nach seiner Ansicht einer Erklärung der betreffenden Erscheinungen durch Naturzüchtung ent - gegenstehen, sich von der Macht seiner Darstellungskunst hingerissen fühlen und die leichtere Erklärung dieser Erscheinungen, diejenige durch Vererbung erworbener Eigen - schaften, auch für die richtige halten.

Ich hoffe aber zu zeigen, dass sie nicht die richtige sein kann, und dass wir hier, wie bei dem Verkümmern nicht gebrauchter Theile, die scheinbar einfachste und bei - nahe selbstverständliche Erklärung verwerfen und nach einer anderen suchen müssen.

Was ist einfacher und scheinbar selbstverständlicher, als dass Organe, die nicht benutzt werden, verkümmern eben durch ihre Unthätigkeit? Wir wissen ja, dass Thätig - keit die Muskeln und viele andere Theile kräftigt, Un -14 thätigkeit sie schlaff und dünn macht, und wie nahe liegt die Annahme, dass sich dieses Verkümmern von Generation auf Generation vererbte! Aber diese Annahme ist nicht richtig und kann einfach dadurch widerlegt werden, dass auch solche Theile verkümmern, wenn sie nutzlos werden, welche nur passiv functionirten, d. h. welche durch ihre blosse Anwesenheit nützlich sind, wie der harte Hautpanzer der Krebse und Insecten oder die schützende Färbung eines Insectes.

Wenn es gelänge, nachzuweisen, dass Abänderungen eines Körpertheiles von complicirterem Bau, dessen Leistungen mit vielen anderen Theilen zusammenhängen, vor sich gegangen sind, ohne dass Vererbung erworbener Abänderungen dabei im Spiel gewesen sein kann, so wäre der Beweis erbracht, dass auch dieses letzte Bollwerk des Lamarck’schen Princips unhaltbar ist. Solche Fälle aber lassen sich aufzeigen, wie ich glaube.

Es gibt glücklicherweise Thierformen, welche sich nicht fortpflanzen, sondern immer wieder von neuem von Eltern hervorgebracht werden, die ihnen nicht gleichen, und diese Thiere, die also nichts vererben können, haben sich trotzdem im Laufe der Erdgeschichte verändert, haben über - flüssige Theile eingebüsst, andere vergrössert und umge - staltet, und diese Umgestaltungen sind zuweilen sehr be - deutende und verlangen die Veränderung vieler Theile des Körpers, weil viele Theile sich nach ihnen richten, mit ihnen in Harmonie stehen müssen.

Ich rede von den Neutra der staatenbildenden In - secten, vor allem von denjenigen der Ameisen und Termiten. Bei letzteren giebt es deren meist zweierlei: Soldaten und Arbeiter, bei den Ameisen sind es meist nur15 sog. Arbeiter. Die Fortpflanzungsorgane dieser Neutra bleiben klein und sind in vielen Fällen gradezu verküm - mert zu nennen. Aber obgleich diese Thiere sich nicht oder doch nur ausnahmsweise fortpflanzen, weichen sie doch von ihren Eltern, den Männchen und Weibchen, mehr oder weniger stark ab, und zwar auch in anderen Theilen des Körpers, und diese Abweichungen haben sich im Laufe der Zeiten vermehrt und gesteigert.

Schon Charles Darwin war diese Thatsache nicht entgangen, wenn er sie auch nicht in Bezug auf die Frage ins Auge gefasst hat, die uns hier beschäftigt. In seiner Entstehung der Arten ist bereits eine längere Besprechung der Entstehung der Ameisen - Neutra enthalten, und damals schon gab er diejenige Erklärung für dieselbe, die wir auch heute noch als die einzig mögliche ansehen müssen, näm - lich die durch Selection der Eltern dieser Neutra. Damals handelte es sich noch darum, die Entwickelungs - und Selec - tionstheorie gegen alle möglichen Einwürfe zu vertheidigen und die ihnen im Wege stehenden Schwierigkeiten zu be - seitigen. Als eine solche anscheinend unüberwindliche Schwierigkeit besprach damals Darwin die Existenz der Neutra in den Insectenstaaten und führte ihre Entstehung darauf zurück, dass eine Selection der fruchtbaren Weibchen in dem Sinne stattgefunden haben müsste, dass Weibchen, welche neben fruchtbaren auch sterile Nachkommen hervor - brachten, für den Staat von grösserem Vortheil waren, weil die Existenz blos arbeitender Mitglieder denselben förderte und kräftigte, und ihm eine Ueberlegenheit sicherte gegenüber arbeiterlosen Kolonien. So siegten im Laufe der Zeiten die mit Arbeitern versehenen Staaten über die arbeiterlosen und verdrängten sie zuletzt vollständig, und16 auf dieselbe Weise entstanden alle die Veränderungen an den Arbeitern, welche sie mehr und mehr geschickt machten, dem Staate nützlich zu sein.

Es mag schwer sein, sich eine so langsam und auf Umwegen arbeitende Selection vorzustellen, aber wir müssen diese Erklärung dennoch für die richtige halten, weil sie die einzig mögliche ist, es sei denn, man nehme eine innere Entwickelungskraft an, welche die Umwandlungen der Orga - nismen hervorrufe, wie dies von Nägeli und Anderen be - kanntlich geschehen ist. Ich habe aber schon vor langer Zeit den ausführlichen Beweis angetreten1) Studien zur Descendenztheorie , Leipzig 1876, p. 295 u. 322; englisch: Studies in the Theory of Descent , trans - lated by R. Meldola, Part III, London 1882, p. 664 u. 706., dass eine solche phyletische Entwicklungskraft in Widerspruch mit un - zähligen Thatsachen steht. Sie würde nur dann mit der Thatsache der genauesten Anpassung sämmtlicher Organismen an ihre Lebensbedingungen vereinbar sein, wenn man zu - gleich die Annahme einer prästabilirten Harmonie zwischen den Art-Umwandlungen und den Lebensbedingungen machen wollte, so dass jede einzelne kleinste Veränderung der letz - teren nach Zeit und Ort auf das genaueste vorher bestimmt wäre und mit den nach Zeit und Ort ebenso genau be - stimmten Abänderungen aufs Haar zusammenträfe. Leib - niz dachte sich bekanntlich das Verhältniss von Körper und Seele in dieser Weise und verglich sie zwei Uhren, die so genau gearbeitet sind, dass sie unabhängig von ein - ander immer vollständig gleich gehen.

Eine solche Annahme liegt dem Verfasser der Prin - ciples of Biology fern, und da er ja überdies das Selections - princip als wirkend anerkennt, so wird auch er keine andere Erklärung für die Bildung der Neutra zu geben haben, als17 die Darwin’sche, er müsste denn versuchen wollen, die Thatsachen selbst zu bestreiten, worauf ich zurückkommen werde. Sobald er aber diese Erklärung als die richtige annimmt, hat er zugleich zugegeben, dass nicht nur die Verkümmerung überflüssig gewordener Theile, nicht nur die höhere Entwickelung anderer Theile, sondern auch die harmonische, zweckentsprechende Umge - staltung vieler zusammenwirkender Theile (cooperative parts) ohne jegliche Mitwirkung der Vererbung erworbener Eigenschaften vor sich gehen kann.

Ich schreite zum Beweise. Die Ameisen gehören zu denjenigen Thieren, welche in Bezug auf ihr Leben und Treiben, wie auf ihre Organisation am allergenauesten unter - sucht worden sind. Eine lange Reihe ausgezeichneter Be - obachter haben sie anhaltender Forschung werth gehalten, und manche von diesen haben ihnen sogar ihre Forschungs - kraft ganz ausschliesslich gewidmet, wie P. Huber, A. Forel und der Jesuitenpater Wasmann. Es liegt ein grosses und vorzügliches Material an Beobachtungen vor, so dass theoretische Schlüsse hier auf eine feste Grundlage gestellt werden können. Ich sehe deshalb auch ganz von den Termiten ab, über die wir viel weniger sicher und genau unterrichtet sind.

Dass die Arbeiterinnen der Ameisen durch phyletische Umgestaltung fruchtbarer Weibchen entstanden sind, wird wohl auch ohne ausführlichen Beweis zugegeben werden. Woher sollten sie auch sonst gekommen sein? Dies ist auch die Ansicht sämmtlicher Ameisen-Forscher der neueren Zeit, von Forel bis zu Wasmann. Heute noch leben einige Arten, wie Leptothorax acervorum, beiWeismann, Allmacht der Naturzüchtung. 218denen die Arbeiter den Weibchen sehr ähnlich sind, auch sind Uebergangsformen zwischen Weibchen und Arbeitern gerade bei diesen Arten nicht selten aufgefunden worden, und der letztgenannte Schriftsteller hat nicht weniger als sechs verschiedene Kategorien solcher Uebergangsformen aufgestellt1)E. Wasmann, Ueber die verschiedenen Zwischen - formen von Weibchen und Arbeitern bei Ameisen , Stettiner entomolog. Zeitung, 1890, p. 300..

Was nun die Natur der Abänderungen betrifft, durch welche die Arbeiter und Weibchen sich unterscheiden, so sind sie theils Rückbildungen, theils Vorwärts - bildungen, d. h. stärkere Entfaltung und Umbildung gewisser Theile.

Rückgebildet ist bei den Arbeiterinnen aller bisher darauf untersuchten Ameisen der Eierstock und das Recep - taculum seminis. Den Untersuchungen eines schwedischen Forschers, Adlerz, verdanken wir genauere Angaben darüber, aus welchen hervorgeht, dass das Receptaculum bei allen untersuchten Arten vollständig geschwunden ist, während die Eierstöcke in verschiedenem Grade rückgebildet sind; bei einer Art sind noch Eiröhren in jedem Ovarium vorhanden, bei einer anderen nur 1 5, bei einer dritten nur 3, bei anderen nur 1 2, bei Tapinoma und fast allen Myrmeciden nur noch eine, und bei Tetramorium gar keine Eiröhre mehr.

Rückgebildet sind bei vielen Arten die Augen der Arbeiter; die drei Ocellen fehlen oft vollständig, und bei den Netzaugen ist die Zahl der Facetten und damit die Leistungsfähigkeit des Auges mehr oder weniger stark herab - gesetzt gegenüber der der Weibchen und Männchen der -19 selben Art. Wir verdanken Forel eine ganze Liste genauer Angaben über diese Verhältnisse. So besitzt z. B. das Männchen von Formica pratensis ungefähr 1200 Facetten an jedem Auge, das Weibchen derselben Art nur 830, die Arbeiterin aber deren nur nahezu 600; bei der gewöhn - lichen Rasenameise Solenopsis fugax hat das Männchen mehr als 400 Facetten, das Weibchen etwa 200 und die Arbeiterin nur 6 9.

Dass die Männchen die am höchsten entwickelten Augen besitzen, kann den nicht überraschen, der weiss, dass das - selbe bei sehr vielen Insecten der Fall ist; gibt es doch unter den Ephemeriden Arten (Potamanthus), bei welchen das Männchen ausser den gewöhnlichen Netzaugen noch ganz besondere grosse, turbanförmige Augen oben auf dem Kopfe trägt, die ihm ein ganz sonderbares Aussehen geben. Es sind aber die Männchen, welche die Weibchen aufsuchen, und denen deshalb bessere Sehwerkzeuge beim Flug hoch in der Luft von Vortheil sind. Aber auch die Weibchen der Ameisen bedürfen der Augen beim Hochzeitsflug, und nur die Arbeiter, die stets am Boden und viel sogar im Dunkeln leben und arbeiten, können nur einen beschränkten Gebrauch von ihrem Gesichtsorgan machen.

Aber man wird vielleicht zweifeln, ob hier in der That eine Rückbildung bei den Arbeiterinnen, und nicht vielleicht einfach nur eine Steigerung in der Entwickelung der Netz - augen bei den Weibchen und Männchen vorliege. Ich halte es auch sehr wohl für möglich, dass in manchen Fällen die Netzaugen der Weibchen und Männchen sich seit der Feststellung eines Arbeitertypus noch vergrössert haben, allein nicht nur der Schwund der Punktaugen (Ocellen) bei vielen Arten beweist, dass dennoch zugleich eine Re -2*20duction der Arbeiteraugen stattgefunden hat, sondern auch solche Fälle wie Solenopsis fugax; denn so kleine, nur aus 6 9 Facetten bestehende Netzaugen wie bei dieser Art haben die auf den Hochzeitsflug ausschwärmenden Weibchen bei keiner heute lebenden Art, und die Vorfahren der Ameisen müssen, wie alle noch nicht zu Staaten vereinigten räuberischen Hymenopteren, grosse Netzaugen besessen haben.

Rückgebildet sind ferner bei den Arbeitern die Flügel und zwar vollständig, so dass an dem vollendeten Insect nichts mehr von ihnen zu sehen ist. In diesem Fall lässt sich auch der Beweis führen, dass die Stammformen schon Flügel besassen, denn Dewitz hat die Imaginalscheiben der Flügel in der Larve nachgewiesen; dieselben entwickeln sich aber in der Puppe nicht mehr weiter.

Neben den Flügeln sind bei den Arbeitern auch die beiden Abschnitte des Thorax rückgebildet, an welchem die Flügel sitzen, sowie die Muskeln des Thorax, welche die Flügel bewegen. Letzterer Punkt ist direct fest - gestellt worden1)Von Adlerz für die Arbeiterinnen von Camponotus und Formica., lässt sich aber schon aus der bedeutenden Verkleinerung der beiden hinteren Thoracalsegmente bei den Arbeitern erschliessen. Diese beiden Segmente sind zugleich viel einfacher gestaltet, die Leisten, welche kleine, schildförmige Abschnitte des Mesothorax umgrenzen, das sog. Scutellum und Proscutellum, fehlen ganz und ebenso das Postscutellum, auch verschmelzen die unterhalb der sonstigen Ansatzstelle der Hinterflügel gelegenen zwei kleinen Seitenstücke. Die Veränderungen am Thorax sind also ganz21 solche, wie sie durch Vererbung der anhaltenden Wirkung des Nichtgebrauches entstehen müssten, falls es eine solche Vererbung gebe. Aber die Arbeiterinnen sind un - fruchtbar und vererben gar nichts.

Rudimentär sind ferner bei den Arbeiterinnen alle die - jenigen Instincte, welche sich auf Fortpflanzung beziehen.

Schon früher habe ich zu zeigen versucht, dass sich alle diese Rückbildungen bei den sterilen Individuen der staatenbildenden Insecten nur durch Panmixie erklären lassen, denn wo keine Nachkommen sind, da kann auch die Wirkung des Nichtgebrauchs nicht auf sie übertragen werden. Uebrigens würde eine Verkümmerung der Flügel auch dann nicht durch Vererbung der Folgen des Nichtgebrauchs erklärt werden können, wenn die Arbeiterinnen Nachkommen hervorbrächten, denn die Flügel sind passive Organe bei den Insecten, deren Vollkommenheit durchaus nicht von ihrem Gebrauch abhängt; sie sind fertig, ehe sie gebraucht werden, und nützen sich durch den Gebrauch höchstens ab, anstatt dadurch stärker zu werden. Auf ähnliche Fälle (Hautpanzer der Einsiedlerkrebse u. s. w.) habe ich schon vor langer Zeit hingewiesen1) Aufsätze über Vererbung u. s. w., p. 571 u. f., engl. Ausgabe Vol. II, p. 20., und ich kann mir das Igno - riren solcher zwingender Fälle von Seiten Herbert Spen - cer’s nur dadurch erklären, dass ihm als Philosophen diese Thatsachen nicht durch eigene Anschauung bekannt sind und ihm deshalb minder schwerwiegend erscheinen, als dem Naturforscher; denn ich möchte durchaus nicht annehmen, dass er den Schwierigkeiten, welche sich seiner Ansicht ent - gegenstellen, absichtlich aus dem Wege geht, wie es die22 Art der Volksredner und Advocaten leider auch mancher Naturforscher ist.

Grade die Ameisen geben uns aber noch einen in - teressanten Fall an die Hand, der beweist, dass Verküm - merung eines Organs nicht auf Vererbung functioneller Atrophie beruht, dass es vielmehr verkümmern kann, auch wenn es fortfährt, zu functioniren. Die Verminderung der Facettenzahl an den Augen der Arbeiterinnen nämlich würde auch dann nicht auf Ver - erbung functioneller Atrophie bezogen werden können, wenn die Arbeiterinnen sich fortpflanzten, denn ihre Augen werden heute noch ebenso gut vom Licht getroffen, wie in früheren Zeiten, wo sie noch fruchtbare Weibchen waren! Wir haben es ja nicht mit Thieren zu thun, die in absoluter Finster - niss leben, sondern abwechselnd im Licht und im Dunkeln, genau so wie die fruchtbaren Weibchen, bei denen nur der Hochzeitsflug noch hinzukommt. Die Augen der Arbeiterinnen werden also thatsächlich nicht ausser Function gesetzt! Sie werden vom Licht getroffen, so gut wie bei den Weibchen, sie können also nicht aus Mangel an Function verkümmern, sondern sie verkümmern, weil und soweit sie über - flüssig sind zur vollkommenen Ausführung der Lebensaufgaben einer Arbeiterin. Also auch auf diesem Wege werden wir zur Panmixie geführt.

Die zweite Gruppe von Veränderungen, welche an den Arbeiterinnen eingetreten sind, ist die Vorwärtsent - wickelung mancher Theile, und hier ist vor allem die bedeutend stärkere Ausbildung des Gehirns zu nennen, die in Zusammenhang steht mit der grösseren Intelligenz und den vielseitigeren Instincten der Arbeiterinnen, deren Functionen bekanntlich sehr mannigfacher Art sind,23 und zum Theil derartige, wie sie erst durch die Staaten - bildung und die Existenz von Arbeitern möglich geworden sind. Aber auch äusserlich sind die Arbeiterinnen nicht selten durch Eigenthümlichkeiten ausgezeichnet, welche mit ihrer Thätigkeit aufs genaueste zusammenhängen und des - halb nicht schon von den Geschlechtsthieren her auf sie vererbt sein und diesen selbst dann verloren gegangen sein können. Dahin gehören z. B. die langen Dornen, welche die Arbeiterinnen mancher Arten (z. B. von Atta) auf dem Kopf und dem Rücken tragen.

Grade bei der Gattung Atta unterscheiden sich aber die Arbeiterinnen von den Weibchen noch durch viel tiefer greifende Merkmale. Bei manchen Arten kommen zwei Formen von Arbeiterinnen vor, deren eine als Sol - daten bezeichnet zu werden pflegt, weil sie die Vertheidigung der Kolonie übernehmen. Diese nun zeigen sich oft sehr verschieden von den anderen Arbeitern und noch mehr von den fruchtbaren Weibchen. So ist bei Pheidole megacephala der Kopf der Soldaten viel grösser und mit viel mächtigeren Kiefern ausgerüstet, und die Grösse des Kopfes gestattet den Muskeln, welche die Kiefern bewegen, ganz ungewöhn - liche Dimensionen , wie Lubbock1)Sir John Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen , Leipzig 1883, p. 16. berichtet, der diese südeuropäische Art im Leben beobachtet hat. Bei der mitteleuropäischen Colobopsis truncata hat Carlo Eméry auch zwei Arbeiterformen entdeckt, von denen die Sol - daten so verschieden sind von der gewöhnlichen Arbeiter - form, dass man sie bisher für eine andere Art gehalten hatte (C. fuscipes), als man sie im Nest der Colobopsis24 fand. Auch hier besitzen die Soldaten einen sehr grossen und dicken Kopf, den sie in recht sonderbarer Weise be - nutzen. Derselbe ist nämlich so gross, dass er grade eine der vielen kleinen Eingangspforten zum Neste verschliesst, und so bewachen sie das Nest, indem jede von ihnen eine Pforte besetzt hält.

Es lässt sich nun wohl nicht leugnen, dass wir hier Veränderungen vor uns haben, welchen in verkleinertem Maassstabe ähnliche Vorgänge zu Grunde liegen müssen, wie sie Herbert Spencer mit Recht bei der Beschwerung des Kopfes eines Hirsches mit einem immer grösser und schwerer werdenden Geweih (Torfhirsch) annahm; das heisst: es müssen viele Theile gleichzeitig und in Harmonie mit einander verändert worden sein. Wenn die Kiefer stärker und grösser wurden, konnten sie nur dann brauchbar bleiben, wenn auch die sie bewegende Musculatur stärker und wenn die Chitinkapsel des Kopfes, an der sie eingelenkt sind, dicker wurde. Der Kopf musste also zugleich grösser und sein Hautpanzer dicker werden. Auch die Nerven, welche die Kaumuskeln versorgen, mussten reicher an Nervenfasern werden, um die viel zahlreicheren Muskelfasern alle versorgen zu können, und dementsprechend werden auch die entsprechenden Bewegungscentren des Ge - hirns eine Verstärkung ihrer Elemente haben erfahren müssen u. s. w. Aber damit sind wir noch nicht zu Ende, denn wie beim Hirsch das schwerere Geweih eine Verstär - kung der Bänder, Knochen und Muskeln mindestens des Halses und der ganzen vorderen Extremitäten erfordert, so konnte auch der grössere und schwerere Kopf der zum Soldaten umgewandelten Ameise nicht mehr von dem Thorax und den Beinen getragen und bewegt werden, wenn diese25 Theile nicht auch in der Festigkeit ihres Skelettes, den Ge - lenkhäuten, Muskeln und Nerven u. s. w. verstärkt wurden.

Alle diese Veränderungen können nicht auf der Ver - erbung functioneller Abänderungen beruhen, da die Arbei - terinnen sich nicht oder doch nur ganz ausnahmsweise fort - pflanzen, sie können also nur durch Selection der Ameiseneltern entstanden sein, d. h. dadurch, dass immer diejenigen Eltern am meisten Aussicht auf Erhaltung ihrer Kolonie hatten, welche die besten Arbeiterinnen her - vorbrachten; keine andere Erklärung ist denkbar. Darauf aber grade, dass keine andere Erklärung denkbar ist, beruht überhaupt die Nothwen - digkeit für uns, das Princip der Naturzüchtung anzunehmen. Sie allein vermag die Zweckmässigkeiten der Organismen zu erklären, ohne ein zweckthätiges Prin - cip zu Hülfe zu nehmen. Herbert Spencer tadelt es scharf, dass in meinen Aufsätzen öfters der Ausdruck ge - braucht sei it is easy to imagine , und meint, viele meiner Argumente seien auf Dinge gegründet it is easy to ima - gine . Vielleicht ist der Ausdruck tadelnswerth, insofern er auf eine allzu leichte Beweisführung zu schliessen ge - stattet. Ich freue mich, dass ich ihn auch wirklich nicht gebraucht habe, wenigstens nicht in der von Spencer ge - rügten Weise. Mein Gegner hat übersehen, dass die eng - lische Ausgabe meiner Aufsätze nicht das Original, sondern eine Uebersetzung ist. Das it is easy to imagine stammt gar nicht von mir her, sondern ist eine etwas allzu freie Uebersetzung verschiedener Wendungen des deutschen Ori - ginals. Die von Spencer speciell angeführte Stelle lautet z. B. im Deutschen: so könnte man immerhin daran denken, dass .... . An einer anderen Stelle (Aufsatz VIII, p. 524)26 beruht das it is easy to imagine auf den Worten: es ist also an und für sich durchaus nicht unzulässig , an einer dritten (Aufsatz IV, p. 225) heisst es: allein es wäre ja ganz wohl denkbar .... Unter den acht Stellen, in welchen der Ausdruck in der englischen Ausgabe vor - kommt1)Einer meiner Freunde hat sich die Mühe genommen, meine Aufsätze in englischer Ausgabe auf den Ausdruck it is easy to imagine hin durchzusehen. Er fand ihn gar nicht in Aufsatz I, V, VI, VII, IX, X, XI u. XII, 2mal in II, 1mal in III u. in IV das Wort imagine 3mal in etwas anderer Ver - bindung, 2mal in VIII., finden sich nur zwei, bei welchen er auch in der deutschen Ausgabe steht, und in diesen wird wohl auch mein gestrenger Kritiker nichts gegen denselben einzu - wenden haben. Auf p. 185 heisst es: in allen diesen Fällen ist es leicht, sich die Selectionsprocesse vorzustellen, durch welche .... , und auf p. 520; wir können uns leicht davon eine Vorstellung machen, wenn wir erfahren, dass in Japan .... Ich glaube, ein Naturforscher darf wohl danach streben, sich Vorgänge, welche er erschlossen hat, auch concret vorzustellen, es liegt im Gegentheil ein gewisser Grad von Bestätigung des blos Erschlossenen darin, wenn man im Stande ist, sich eine ins Einzelne gehende Vorstellung davon zu machen. Die Wahrheit des erschlossenen Vorgangs hängt freilich nicht davon ab, dass uns dies gelingt, sondern von der zwingenden Kraft des Schlusses; hierin stimmen also wohl Naturforscher und Philosoph theoretisch wenigstens überein.

Praktisch scheint es mir allerdings, als ob mein Gegner fast mehr geneigt sei, von der leichten oder schwe - reren Vorstellbarkeit einer Vorgangs auf dessen Wirklich -27 keit zu schliessen als ich selbst. Er verwirft die Möglich - keit, complicirte harmonische Umgestaltungen des Körpers (Coadaptation) durch Naturzüchtung zu erklären, weil so vielfache und verwickelte gleichzeitige Züchtungsprocesse nicht vorgestellt werden können, nimmt aber andererseits die sonderbare Höhe des Vorderkörpers der Giraffe als Product der Naturzüchtung, weil hier der Vorgang schein - bar leicht sich vorstellen lässt. Freilich ist er in dem zweiten Fall zu dieser Annahme genöthigt, weil das La - marck’sche Princip der Vererbung functioneller Abände - rung ihn hier im Stiche lässt, da, wie er sagt, eine Ver - längerung der Beine und des Halses durch das Recken nach hohen Zweigen nicht hervorgebracht werden könne.

Ich muss sagen, dass mir grade in Bezug auf die Berech - tigung, den Vorgang der Naturzüchtung in einem bestimmten Falle anzunehmen, wenig darauf anzukommen scheint, ob wir ihn uns leichter oder schwerer, oder selbst sehr schwer nur vorzustellen vermögen, und zwar deshalb, weil ich nicht glaube, dass wir in irgend einem Falle überhaupt im Stande sind, uns die morpho - logische Umwandlung dabei wirklich und im Einzelnen vorzustellen. Auch ich beziehe die Länge des Halses und der Vorderbeine der Giraffe auf Selections - processe, aber ich bestreite, dass wir uns dieselben irgend - wie anders als ganz allgemein und sehr unbestimmt vorzu - stellen vermögen. Es fehlen uns dazu die Daten. Wir wissen weder, wie gross die Variationen sein müssen, welche über Leben oder Untergang entscheiden können, noch wissen wir, wie häufig die durch Selection häufbaren Variationen vorkommen, noch auch wie oft, in welchen Zeit - zwischenräumen sie zur Selection führen. Wir kennen also28 in der That gar nichts, als die principielle Grundlage des Processes, und deshalb kann Jeder, der den logischen Zwang der Theorie nicht begreifen oder nicht anerkennen will, mit Leichtigkeit den einzelnen Fall als unannehmbar hinstellen. Herbert Spencer scheint es unbekannt zu sein, dass Nägeli in seinem Buch1) Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungs - lehre , München u. Leipzig 1884., welches vor einem Jahrzehnt viel Aufsehen in der Wissenschaft machte, grade diesen Fall von der Giraffe analysirte und zu zeigen suchte, dass Selectionsprocesse durchaus nicht im Stande seien, die Höhe der Giraffe zu erklären.

Mein Gegner meint ferner, die ausserordentliche Fein - heit der Tastempfindung an der Zungenspitze lasse sich nicht durch Selectionsprocesse erklären, denn ich würde doch nicht behaupten wollen, dass ein Individuum mit weni - ger feinfühliger Zungenspitze als ein anderes jemals da - durch im Kampf ums Dasein unterlegen sei. Eine solche Wirkung scheint ihm offenbar schwer vorzustellen. Sie ist es auch, weil wir in den Lebenskampf der Thiere nur sehr unvollkommen hineinsehen, und noch mehr, weil wir leicht vergessen, dass es sich bei so hochentwickelten Organen, wie es die Zunge des Menschen ist, um das Endresultat eines unendlich langen, durch Tausende und Tausende von Arten sich fortziehenden Vervollkommnungsprocesses han - delt, den wir wiederum völlig ausser Stande sind uns einigermaassen entsprechend vorzustellen. Unsere Vor - stellungskraft reicht nicht bis zu so ungeheuren Zeitfolgen und so langgedehnten Entwickelungsreihen; wir sprechen von ihnen, ohne recht zu wissen, was wir sagen, etwa so,29 wie wenn wir von einer Billion oder Trillion von Dingen reden; wir müssen den ungeheuren Haufen in eine Einheit verwandeln, um damit operiren zu können, da die Vielheit allzu weit über unsere Erfahrung hinausgeht. Das wird leicht vergessen. Uebrigens ist die Zunge bei vielen Thieren, und zwar grade noch bei den nächsten Verwandten des Menschen, den Affen wie Romanes1) Mr. Herbert Spencer on natural Selection in Contemp. Review, No. 328, April 1893, p. 499. sehr richtig be - reits gegen Spencer bemerkt hat ein Tastorgan, wel - ches nicht blos im Munde zu functioniren hat, indem es beim Kauen den Bissen zurechtschiebt, sondern welches zugleich als Hand zum Betasten äusserer Gegenstände dient. Warum sollte also nicht ein entscheidender Vortheil im Kampf ums Dasein darin liegen können, wenn es feiner ausgebildet ist, als bei anderen Individuen der gleichen Art? Hängt doch das Leben der Thiere wesentlich von der Schärfe ihrer Sinnesorgane ab.

Aber freilich in diesem Falle steht dem Anhänger La - marck’s der Ausweg mittelst der Vererbung functioneller Abänderungen frei, insofern man annehmen kann, die Tast - papillen der Zungenspitze hätten sich durch den intensiven Gebrauch immer zahlreicher vermehrt. Aber es gibt Bei - spiele genug, in welchen man diesen hypothetischen Factor ausschliessen kann, und eins davon möchte ich hier an - führen, weil er mir schon seit langer Zeit ein guter Beweis dafür zu sein scheint, wie wenig bei der Annahme von Selectionsprocessen darauf ankommt, ob wir sie uns leicht oder schwer vorstellen können.

Sehr viele Insecten, besonders schön aber die Bienen30 und Wespen, haben an dem unteren Ende der Tibia ihrer Vorderbeine einen spornartigen, etwas beweglichen Fortsatz, dem gegenüber der Metatarsus einen kleinen, fast halbkreis - förmigen, mit einem Kamm kleiner Zähnchen besetzten Ausschnitt trägt. Diese Putzscharten dienen zum Reinigen der Fühler, indem der zu reinigende Theil zwischen den zwei Armen einer Scheere durchgezogen wird. Be - sonders F. Dahl1)F. Dahl, Beiträge zur Kenntniss des Baues und der Functionen der Insectenbeine , Berlin 1884. hat diese interessanten und sehr zier - lichen Einrichtungen bei vielen Insecten untersucht und abgebildet, und etwas früher schon Canestrini und Berlese2)Canestrini u. Berlese, La streggia degli Ime - notteri , Padova 1880.. Diese Scharten nun bilden eine plötzliche und recht auffällige Unterbrechung der Fläche des Beins; bei einer kleinen Biene, Nomada, hat es ganz den Anschein, als habe man mit dem Locheisen ein halbkreisförmiges Stück aus dem Glied herausgeschlagen, so plötzlich und regel - mässig ist die Scharte. Man könnte sich vorstellen, das Insect habe durch das immer wieder von Neuem geübte Durchziehen des Fühlers zwischen Sporn und Tarsus all - mälig diese halbkreisförmige Scharte hineingewetzt. Das würde aber die Vererbung erworbener Eigenschaften vor - aussetzen, und diese ist hier dadurch ausgeschlossen, dass die Functionirung des Hautskelettes eine rein passive ist. Die Insecten bringen ihre Beine fertig aus der Puppe mit, machen später keine Häutung mehr durch, und von einer functionellen Abänderung des Chitin - skelettes kann keine Rede sein. Dasselbe ist nicht mehr ein lebendiger Theil des Thieres, sondern eine Ab -31 sonderung der darunter liegenden Schicht lebender Zellen. Wenn auch das Reinigen der Fühler wie eine Feile wirkte, so würde eben nur todte Substanz weggefeilt, so etwa, wie wenn wir uns die Nägel an den Fingern abfeilen. Es wird wohl auch der hartnäckigste Anhänger der Vererbung er - worbener Eigenschaften nicht behaupten wollen, dass sich ein solcher Defect vererben könne.

Da diese Erklärung somit nicht möglich ist, so bleibt nur diejenige durch Naturzüchtung, und es ist auch leicht sich vorzustellen , dass es für das Insect von Nutzen sein muss, so wichtige Sinnesorgane, wie es die Fühler sind, von Staub und Schmutz befreien zu können. Aber sobald man nun versucht, sich den Selectionsprocess im Einzelnen auszudenken, erkennt man, dass wir auch hier im Grunde nichts wissen, und dass es jemand, der Selectionsprocesse überhaupt in das Gebiet der Phantasie verweisen wollte, ungemein leicht sein würde, seiner Ansicht Nachdruck zu verleihen; denn es ist sehr schwer, sich diesen Selectionsprocess wirklich im Einzelnen vor - zustellen, und heute noch nicht möglich, ihn zu erweisen in irgend einem Theile. Da eine plötzliche Entstehung der Putzscharte ausgeschlossen ist, so würden wir also anzu - nehmen haben, dass die Scharte damit begonnen habe, dass Individuen der betreffenden Bienen-Art vorkamen, welche an Stelle der späteren Scharte eine kleine Ab - flachung der stark convex gewölbten Oberfläche des Meta - tarsus besassen, und dass diese den gewöhnlichen Individuen der Art im Kampf ums Dasein dadurch überlegen waren. Wie leicht wäre es aber dem Gegner, diese Ueberlegenheit anzuzweifeln. Er würde vielleicht bereit sein, zu glauben, dass ein Insect, welches gar keine Mittel habe seine Fühler32 zu reinigen, im Nachtheil sei gegenüber einem anderen, welches solche Mittel besässe, aber er würde es für absurd erklären, zu glauben, dass so geringfügige Verbesserungen an dem Putzapparat, wie sie eine kleine Abflachung des Tarsus darstelle, darüber entscheiden könne, wer untergehen und wer überleben solle.

Dutzendweise sind ja auch thatsächlich solche Einwen - dungen gegen die Existenz einer Naturzüchtung erhoben worden, und nicht blos von Unwissenden und oberfläch - lichen Denkern, sondern von sehr kenntniss - und gedanken - reichen Männern der Wissenschaft; ich erinnere nur wieder an Nägeli. Wir können auch einen solchen Wider - strebenden nicht zu unserer Meinung zwingen, wenigstens nicht in dem einzelnen Fall, weil wir nicht nachweisen können, was er bezweifelt; wir sind unfähig, direct zu be - weisen, dass ein so kleiner Vortheil den Ausschlag über Leben und Tod geben kann, und noch viel weniger, dass er ihn in vielen Fällen geben muss und in jeder Gene - ration immer wieder von neuem gibt, so dass schliesslich die Variation mit einer seichten Abflachung des Tarsus die herrschende wird. Alles, was wir thun können, ist, dass wir die Nützlichkeit der vervollkommneten Einrichtungen nachweisen, indem wir, wie Forel es gethan hat, einem solchen Insect die Vordertibien sammt ihrem Putzapparat abschneiden und dann feststellen, dass es sehr bald an seinen Fühlern schmutzig wird und nicht mehr im Stande ist, sich zu reinigen.

Damit aber, dass gegenüber dem Sporn eine kleine Abplattung sich bildet, ist der Züchtungsprocess, den wir fordern müssen, erst begonnen, aber noch lange nicht zu Ende. Wie kommt es so wird unser Gegner sagen 33 dass nun die allmälige Vertiefung der Abplattung so regel - mässig weiter schreitet, dass zuletzt ein ganz tiefes halbkugel - förmiges Loch entsteht? Waren etwa nur solche Variationen vortheilhaft und entschieden über Leben und Tod, welche ganz regelmässige Fortschritte von der anfänglichen Abplattung bis zur endlichen glatt herausgeschnittenen Halbkugelfläche dar - stellten? Und wie kann man glauben, dass etwas weniger regelmässige Vertiefungen, die doch neben den regelmässigen vorkommen mussten, stets wieder zum Untergang ihrer Träger führten?

Und schliesslich ist die Höhlung der Scharte auch noch mit mikroskopischen Kammzähnchen besetzt, von denen wohl auch jedes, wenn es durch zufällige Variation ent - standen war, den Auschlag gab über Leben und Tod und so befestigter Besitz der Art wurde?!

Auf den ersten Einwurf könnten wir etwa antworten, dass diese Selectionsprocesse ungemein lange anhalten, und deshalb die anfangs vielleicht noch unregelmässige Scharte im Laufe ungezählter Generationen dadurch immer regel - mässiger wurde, dass die Putzscharte ihrem Zweck um so besser diente, je vollkommener sie sich der Gestalt des zu reinigenden Fühlers anpasste. Wir würden uns darauf be - ziehen dürfen, dass der Putzapparat in sehr verschiedenen Graden der Ausbildung heute noch bei verschiedenen Arten vorkommt, dass er überhaupt eine weite Verbreitung bei den Insecten hat, somit also schon seit den frühesten Zeiten des Insectenlebens auf unserer Erde in fortwährender lang - samer Verbesserung begriffen war. Aber auch dies wird vielleicht keinen Eindruck auf den Gegner machen, der ruhig dabei bleibt, zu behaupten, dass so winzige Ver - besserungen den Ausschlag über Leben und Tod nicht gebenWeismann, Allmacht der Naturzüchtung. 334könnten. Und dasselbe wiederholt sich in Bezug auf den letzten Einwand, auf den man etwa antworten könnte, dass die Kammzähne, welche die Putzscharte auskleiden, nicht einzeln, sondern alle auf einmal entstanden seien, zuerst als geringe Rauhigkeit der Chitinfläche, dann als immer stärker vorspringende und immer regelmässiger sich ge - staltende Spitzchen.

Ganz so, wie in diesem Falle, steht es in jedem ein - zelnen Falle von Naturzüchtung. Wir sind ausser Stande, ihn zu erweisen, und brauchen, um ihn unerweisbar er - scheinen zu lassen, noch gar nicht zu der von Spencer in den Vordergrund gestellten coadaptation zu greifen. Uebrigens glaube ich, dass es kaum irgendwelche Umwan - delungen gibt, bei denen nicht mehrere Theile harmonisch mit einander abändern müssen, damit eine nützliche Bildung entstehe. Auch in dem Fall der Putzscharte verhält es sich so, denn der Sporn der Tibia, welcher dem Ausschnitt in dem Metatarsus gegenübersteht, bildet den anderen Arm der Scheere, durch welche die Fühler zum Reinigen durch - gezogen werden, und auch dieser ist durch freie Einlenkung und durch eigenthümliche Krümmungen an seine Function genau angepasst. Es müssen also auch an ihm Selections - processe gewirkt haben, denn auch hier ist Abänderung durch die Function ausgeschlossen, da der Sporn nur passiv functionirt. Gewiss haben wir die Erfolge der künstlichen Züchtung für uns, aber wie Herbert Spencer richtig einwirft, künstliche und natürliche Züchtung sind wohl analoge Vorgänge, aber durchaus nicht die gleichen. Die Rolle des auswählenden Züchters spielt bei der natür - lichen Züchtung der Kampf ums Dasein, und grade die Wir - kung dieses Factors können wir in keinem einzigen Falle35 genau beurtheilen. Wer wollte heute von irgend einer kleinen Formabänderung an einer Art sagen, dass sie ihren Besitzer befähige, im Kampf ums Dasein zu siegen und so zum Ausgangspunkt einer vortheilhaften Umgestaltung dieses Theils zu werden? Selbst in den allereinfachsten Fällen ist dies nicht möglich; Niemand könnte z. B. auch nur darüber entscheiden, wie stark die Variation der Farbe eines grünen Insectes sein müsse, um als Ausgangspunkt eines Selectionsprocesses etwa bei Anpassung an eine neue und etwas anders gefärbte Futterpflanze zu dienen. Wir haben kein Urtheil über das, was Romanes kürzlich sehr gut den Selectionswerth einer Variation genannt hat1)Bei physiologischen Abänderungen scheint es etwas anders zu sein, aber auch hier können Zahlenwerthe nicht gegeben werden. Wenn z. B. einige Pflanzen einer südlichen Art dem Winterfrost widerstehen, während die meisten ihm erliegen, so ist damit der Selectionswerth dieser Variation er - wiesen, aber hier kennen wir eben die Structurabänderung selbst gar nicht, sondern nur ihren Effect und Nutzen für die nach Norden vordringende Kolonie der Art. Ob die Art da - durch schon befähigt wird, sich weiter nördlich auszubreiten, ist damit natürlich auch noch nicht gesagt, sondern hängt von vielen anderen Factoren zugleich ab., was Lloyd-Morgan schon früher als Eliminations-Value bezeichnet hatte; wir können nur im Allgemeinen mit Dar - win sagen, dass Selection durch Häufung kleinster Varia - tionen arbeitet, und daraus schliessen, dass diese kleinsten Variationen Selectionswerth be - sitzen müssen. Die Höhe aber dieses Selectionswerthes im einzelnen Fall genauer zu bestimmen, ist uns bis jetzt nicht möglich gewesen.

Wenn man deshalb mit Herbert Spencer fragt: Glauben Sie, dass ein geringes Plus von Feinfühligkeit der3*36Zungenspitze jemals den Ausschlag darüber gegeben hat, wer untergehen und wer überleben soll, so kann der Eine mit demselben Recht darauf bejahend, wie der Andere ver - neinend antworten. Der Eine findet es leicht vorzustellen, der Andere schwer, und keines von beiden Urtheilen kann die Entscheidung in der Sache geben.

So könnte man auch fragen: Glauben Sie, dass eine leichte Schattirung ins Graue, wenn sie bei den Eiern eines Vogels mit grauer Umgebung des Nestes auftritt, den Sieg davon tragen wird über die ursprüngliche weisse Farbe? Darauf würden wohl Viele heute mit Ja , Einige aber sicherlich auch mit Nein antworten, und meiner Meinung nach würden Beide im Unrecht sein, denn woher sollten wir den Selectionswerth dieser Variation kennen?

Fahren wir aber fort, zu fragen: Glauben Sie, dass eine Raubfliegenvariation mit einer Facette mehr an den Netzaugen, als die übrigen Artgenossen, daraus einen so grossen Vortheil zieht, dass sie mehr Nachkommen hinter - lassen wird, als ihre anderen Artgenossen? Oder müssten es zwei Facetten mehr sein, oder würde der Selections - werth erst bei einer Differenz von zehn Facetten erreicht? Wer kann behaupten, dass er darüber etwas sagen könnte? Und dennoch haben wir keine andere Erklärung für die auffallende genaue Anpassung der Netzaugen bei allen In - secten an ihre Lebensbedingungen, als Naturzüchtung.

So könnte man ins Unendliche weiter fragen, ohne jemals eine sichere Antwort zu bekommen. Noch eine Frage sei mir gestattet, die uns wieder zu unserem Thema, den Ameisen, zurückführen wird: Glauben Sie, dass die feinen Bürstchen an den verbreiterten Metatarsen der Honig - biene dadurch entstanden sind, dass kleine Variationen der37 Hintertarsen der Weibchen nach dieser Richtung von so starkem Vortheil waren für die Erhaltung des Bienenstockes, dass er anderen Stöcken gegenüber der überlebende wurde? Die Antwort Vieler wird lauten, dass dies nicht nur schwer vorzustellen sei, sondern dass man es überhaupt nicht glauben könne, denn die Arbeiterin selbst habe ja keinen Vortheil davon, sie lebe deshalb nicht länger oder besser, sie sei dadurch nur befähigt, etwas mehr Pollen auf ein Mal in den Stock zu tragen und die Bienenlarven also etwas reichlicher oder rascher zu ernähren; das könne aber unmöglich von entscheidender Bedeutung für den Untergang oder das Ueberleben dieser Bienenfamilie in der Concurrenz mit an - deren Familien sein. Bedenke man vollends, dass die Arbeite - rinnen steril seien, und dass somit nicht sie selbst, sondern ihre Eltern, die Geschlechtsthiere, der Selection unterworfen werden müssten, je nachdem sie bessere oder schlechtere Arbeiterinnen hervorbrächten, so sei es vollends ganz un - denkbar, dass so winzige Variationen, wie eine kleine Ver - breiterung der Metatarsen oder eine dichtere Beborstung derselben, jemals den Ausschlag über Untergang oder Fort - dauer der Eltern gegeben haben könnten.

Ich bin natürlich nicht dieser Ansicht, sondern glaube, dass es sich hier, wie bei den Ameisen verhält, und dass in der That jede kleine Verbesserung an den Arbeiterinnen aus einer Variation einer Determinante des Keimplasmas hervorgeht, welches in den Keimzellen der Eltern enthalten war. Zu näherer Erläuterung möchte ich mich, in Ermange - lung einer besseren, auf meine Vererbungstheorie stützen dürfen. Nach dieser1) Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung , Jena 1882, p. 460. ist der Di - oder Polymorphismus38 einer Art im Keimplasma derart enthalten, dass gewisse Determinanten doppelt oder mehrfach vorhanden sind, und dass es von gewissen, uns meist noch unbekannten Be - dingungen abhängt, welche von den stellvertretenden Deter - minanten oder Determinantengruppen activ wird und welche passiv bleibt. Unter Determinanten verstehe ich Ein - heiten des Keimplasmas, welche die Anlage bestimmter Zellen oder Zellengruppen des Körpers sind. Wenn nun der entsprechende Körpertheil bei einer Art in zweifacher Gestalt auftritt, wenn z. B. bei den Weibchen einer Schmetterlingsart die Schuppen einer bestimmten Stelle des Flügels braun, bei den Männchen aber blau sind, so ist dies nach meiner Vorstellung im Keimplasma dadurch vor - gesehen, dass die Determinanten jener Flügelschuppen doppelt vorhanden sind, die einen stellen die Anlage brauner Schuppen, die anderen die Anlage blauer Schuppen vor. Beide zugleich können nicht in demselben Individuum activ werden, d. h. können nicht zur Bildung von Schuppen führen, sondern die eine bleibt inactiv, während die andere zur Activität bestimmt wird.

Wenn der Dimorphismus zum Polymorphismus wird, und z. B. die Weibchen einer Art selbst wieder doppel - gestaltig werden, so kommt dies nach meiner Vorstellung dadurch zu Stande, dass jene Doppeldeterminanten zu drei - fachen sich vermehren. Gäbe es Schmetterlinge mit Ar - beiterinnen und hätten diese rothe Färbung an jener Stelle des Flügels, welche bei den Männchen blau, bei den Weib - chen braun ist, so würden an einer bestimmten Stelle des überaus kunstvollen und höchst verwickelten Gebäudes des Keimplasmas immer je drei vicariirende Determinanten39 liegen, von denen bei der Entwickelung des betreffenden Eies oder der betreffenden Samenzelle immer nur eine activ würde und somit jene Stelle des Flügels entweder mit braunen, blauen oder rothen Schuppen bedeckte.

Uebertragen wir nun diese theoretische Vorstellung auf die Bienen oder Ameisen, so wird ein jeder Theil des Ameisen - körpers, der bei Männchen, Weibchen und Arbeiterin ver - schieden gebaut ist, durch dreifache vicariirende Determi - nanten im Keimplasma vertreten sein, von denen immer nur eine bei der Entwickelung eines Eies zur Geltung, d. h. zur Ausbildung des betreffenden Körpertheils gelangt, die anderen aber inactiv bleiben.

Die Umbildung der Körpertheile der Arbeiterinnen bei Ameisen und Bienen wird also so zu denken sein, dass ein Geschlechtsthier (Weibchen oder Männchen), dessen Keim - plasma günstige Variationen der Arbeiterinnen-Determi - nanten enthält, bessere Aussicht für die Erhaltung ihrer Nachkommenschaft hat, als andere, die nur weniger günstige Variationen solcher Determinanten darbieten. Der Selec - tionsprocess selbst ist der gleiche, wie wenn es sich um die Erzielung günstiger Einrichtungen am Körper des Ge - schlechtsthieres selbst handeln würde, denn in beiden Fällen ist es wie ich früher einmal sagte nicht eigentlich der Körper des Thieres, der selectirt wird, sondern das Keimplasma, aus welchem dieser Körper sich entwickelt. Der Unterschied zwischen beiden Fällen liegt nur darin, dass die Ueberlegenheit im Kampf ums Dasein in dem einen Fall durch Charaktere oder Variationen des eignen Körpers gesetzt wird, im anderen Falle erst durch Charaktere einer bestimmten Art von Nachkommen, der Arbeiterinnen. Be -40 stände der Ameisenstaat aus zusammenhängenden Individuen, ähnlich einem Polypenstock oder einer Siphonophoren - Kolonie, so würde ein Selectionsprocess, durch welchen nur die Arbeiterinnen abgeändert werden, unserer Vorstellung leichter zugänglich sein, indem diese dann, physiologisch betrachtet, nur Organe des Stockes wären, so wie die Fangfäden, die Schwimmglocken, die Magenschläuche der Siphonophoren. Wie diese sich nicht fortpflanzen und somit nur durch Selection des Eies oder Keimplasmas, aus welchem der ganze Stock abstammt, abändern können, so können auch beim Ameisenstock oder vielmehr Staat die unfruchtbaren Individuen oder Organe des Stockes nur durch Selection des Keimplasmas abgeändert werden, aus dem der ganze Stock hervorgegangen ist. In Bezug auf Selection verhält sich der ganze Stock wie ein einziges Individuum; der Stock wird selectirt, nicht die einzelnen Individuen, und seine Individuen-Arten verhalten sich dabei ganz wie die Theile eines einzelnen Individuums bei der gewöhnlichen Selection.

Unter diesem Gesichtspunkt wird auch ein Umstand verständlich, der sonst ganz widersinnig erscheinen müsste, nämlich die Beschränkung der fruchtbaren Weibchen eines Stockes auf eine einzige, wie dies bei der Honigbiene eingetreten ist. Wären in einem Stock zu gleicher Zeit viele Weibchen mit Eierlegen be - schäftigt, so würde eine Naturauslese derselben nach der Güte der von ihnen hervorgebrachten Arbeiterbrut viel schwieriger und langsamer stattfinden, weil dann das Ge - deihen des Stockes von vielen verschieden beanlagten Arbeiterinnen abhinge, so dass also gewissermaassen nur die Resultirende aus den Producten aller dieser Weibchen selectirt würde. Eine Königin würde deshalb, weil sie41 schlechtere Arbeiterinnen hervorbringt, durchaus noch nicht zum Aussterben veranlasst werden, denn ihr Stock würde zugleich durch andere Königinnen mit Arbeiterbrut ver - sehen, und wenn unter diesen die Mehrzahl bessere Arbeite - rinnen hervorbrächte, so würde der Stock sich im Kampf ums Dasein mit anderen Stöcken noch lange halten können, so lange, bis die schlechtere Arbeiterbrut einmal das ent - schiedene Uebergewicht in dem Stock bekäme. Offenbar müssen die Arbeiterinnen rascher verbessert werden, wenn sie in einem Stock alle von einer Königin herstammen, d. h. wenn sie alle gleich oder doch nahezu gleich sind. Nun überlebte der Stock im Kampf ums Dasein, wenn diese eine Königin bessere Arbeiterinnen hervorbrachte, wenn dadurch rascher und besser die Brut versorgt wurde, wenn mehr Vorräthe für den Winter gesammelt wurden, und in Folge dessen eine geringere Sterblichkeit im Stock herrschte. Ich möchte deshalb vermuthen, dass die merkwürdige Be - schränkung der fruchtbaren Weibchen auf wenige (Termiten) oder gar nur auf eine (Bienen) darin ihren Grund hat, dass dadurch die allmälige Verbesserung der Geschlechtslosen durch Naturzüchtung einigermaassen leichter und schneller erfolgen konnte; oder besser: darin, dass die Stöcke mit wenig Königinnen im Vortheil waren, weil sie sich relativ rascher verbessern konnten. Mir scheint, dass sich die Selection der Arbeiter unter diesen Umständen leichter vorstellen lässt, wenn freilich auch nur im Princip und nicht im Einzelnen. Sobald man den Selectionsprocess, durch welchen etwa das Bürstchen oder das Körbchen der Arbeiterinnen der Bienen entstanden ist, im Einzelnen aus - denken will, erkennt man, dass dazu noch alle und jede Einzeldata fehlen.

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Es ist auch meiner Ansicht nach nicht zu hoffen, dass wir diese jemals gewinnen werden, weder hier noch auch in irgend einem viel einfacheren Process der Natur - züchtung. Dazu würde nämlich nicht nur eine Werth - schätzung der kleinsten Variationen gehören in Bezug darauf, ob und wie oft unter 1000, 100000 oder Millionen Indi - viduen eine Variation den Ausschlag über Leben und Tod gibt, sondern auch noch vieles Andere, was wir niemals fest - stellen können, z. B. die Zahl der gleichzeitig lebenden Individuen der Art, der Grad ihrer Vermischung unter - einander auf ihrem Wohngebiet und das procentuale Vor - kommen der fraglichen Variation. Alles das ist nach meiner Ueberzeugung nicht in Erfahrung zu bringen, und so werden wir auch durch Erfahrung niemals den Vorgang der Natur - züchtung feststellen können.

Was ist es denn aber, was uns diesen Vorgang dennoch mit so grosser Sicherheit als wirklich annehmen, und ihm eine so ausserordentlich hohe Bedeutung zuschreiben lässt? Nichts Anderes als die Macht der Logik; wir müssen Natur - züchtung als das Erklärungsprincip der Umwandlungen an - nehmen, weil uns alle anderen scheinbaren Erklärungs - principien im Stich lassen, und weil es nicht denkbar ist, dass es noch ein anderes Princip geben könne, welches die Zweckmässigkeiten der Organismen erklärt, ohne ein zweckthätiges Princip zu Hülfe zu nehmen. Es ist mit anderen Worten die einzig denkbare natür - liche Erklärung der Organismen, als Anpass - ungen an die Bedingungen aufgefasst.

Gewiss konnte man a priori nicht vorauswissen, ob nicht noch andere Factoren bei der Umwandlung der Arten eine wichtige Rolle spielen, und ich selbst war vor 25 Jahren43 noch der Ansicht, dass ausser der primären Variation und deren Häufung und Ordnung durch Naturzüchtung auch noch die vererbten Wirkungen von Gebrauch und Nicht - gebrauch eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Es sieht ja auch ganz so aus, als ob es so wäre, wie die Spencer - schen Beispiele von der dem Gebrauch parallel gehenden harmonischen Umgestaltung vieler und verschiedenartiger zusammenwirkender Theile sehr gut anschaulich machen. Aber sieht es nicht auch ganz so aus, als ob nichtgebrauchte Theile direct durch den Nichtgebrauch verkümmerten, und doch ist dem nicht so, wie ich früher schon erwiesen zu haben glaube und jetzt von neuem mit Thatsachen belegte? Wenn sich die Augen der Arbeiterinnen bei vielen Ameisen zurückbilden, obgleich diese Thiere sich nicht fortpflanzen, und obgleich ihre Augen kaum weniger vom Licht getroffen werden, als diejenigen der Geschlechtsthiere, von welchen sie erzeugt werden, so kann das ganz unmöglich auf der Vererbung von Nichtgebrauch beruhen. Und wenn harmonische Umgestaltung des Kopfes mit allen seinen und des Thorax zusammenwirkenden Theilen bei den sterilen Arbeiterinnen gewisser Ameisen-Arten eingetreten ist, so muss dies geschehen sein ohne jede Mitwirkung einer hypo - thetischen Vererbung functioneller Abänderung. Gegen diese Schlussfolgerung hilft nichts mehr, keine Ausflucht ist mehr möglich, sobald die Thatsachen feststehen.

Sind nun diese Thatsachen unangreifbar? Das ist die Frage, die jetzt genau geprüft werden muss.

Die Anhänger des Lamarck’schen Princips könnten geltend machen, dass die Unfruchtbarkeit der Arbeiterinnen bei den Ameisen keine absolute sei, dass Eiablage in seltene - ren Fällen constatirt sei, dass zwar aus diesen Eiern, die44 natürlich unbefruchtet bleiben, zwar stets nur Männchen hervorgehen, dass dies aber genüge, um die Eigenschaften der mütterlichen Arbeiterin fortzupflanzen. Darauf wäre Folgendes zu erwidern: Es ist richtig, dass bei mehreren Arten die Arbeiterinnen zuweilen Eier legen (Forel, Lubbock, Wasmann), vor allem in Gefangenschaft unter künstlich hergestellten Verhältnissen, besonders bei hoher Temperatur, aber es geschieht dies, soweit bekannt ist, nur ausnahmsweise. Wenn nun auch ein kleiner Procent - satz der Männchen solchen Eiern entstammte, so würde dadurch doch niemals eine Verbreitung der Arbeitereigen - schaften im ganzen Stock stattfinden können, weil die wenigen Männchen, welche von Arbeiterinnen abstammen, einer viel grösseren Zahl von Männchen gegenüberständen, welche von Königinnen stammen. Wenn freilich sämmtliche Männ - chen der Kolonie aus Eiern von Arbeiterinnen hervorgingen, und die Königinnen nur weibliche Nachkommen hervor - brächten, dann wäre der Einwurf berechtigt, dann könnten die Ameisen nicht mehr als ein Beispiel für die Umge - staltung der Lebensformen unter Ausschluss einer Vererbung functioneller Abänderung geltend gemacht werden, aber, so - viel wir wissen, verhält sich die Sache nicht so. Allerdings ist mir keine Beobachtung bekannt, welche direct erwiese, dass die Königinnen Männchen und Weibchen hervorbringen, wie dies für die Bienen längst feststeht, aber noch viel weniger ist das Umgekehrte erwiesen, dass nämlich die Königinnen keine Männchen hervorbringen. Wenn man nun noch hinzunimmt, dass ja auch bei den Bienen die Arbeiterinnen unter Umständen Eier legen, aus denen wie bei den Ameisen immer nur Männchen kommen, und weiter erwägt, dass der Zustand der Rückbildung, in welchem sich der Eierstock befindet, bei den verschiedenen Arten ver -45 schieden weit vorgeschritten ist, bei Solenopsis fugax aber bis zum Verschwinden sämmtlicher Eiröhren, also bis zu vollkommner Unfruchtbarkeit, so wird man es für äusserst unwahrscheinlich halten müssen, dass auch nur bei irgend einer Art die Hervorbringung der Männchen ausschliesslich den Arbeiterinnen übertragen sein sollte. Man wird vielmehr sich die Sache so vorzustellen haben, dass bei der Phylogenese der Arbeiterinnen zuerst die Fruchtbarkeit sich minderte und zugleich das Recepta - culum schwand, so dass nur noch unbefruchtete Eier hervor - gebracht werden konnten, dass aber dann auch diese Fort - pflanzung seltener und seltener wurde, Hand in Hand mit der immer mehr abnehmenden Zahl der Eiröhren, bis zu - letzt mit dem Schwund der letzten Eiröhre bei Solenopsis fugax auch jeder Grad von Fortpflanzung in Wegfall kam. Dieses stimmt auch ganz mit den Ansichten unserer besten Ameisenforscher, wie denn Forel schon in seinem grossen Werk über die Ameisen der Schweiz eben grade die Un - fruchtbarkeit der Arbeiterinnen für einen wesent - lichen Charakter derselben erklärte, durch den sie erst ge - schickter wurden für die vielen, ihnen heute obliegenden Arbeiten, als die fruchtbaren, mit zahlreichen Eiern be - lasteten Königinnen.

Wenn aber für die Lamarckianer noch irgend eine Hoff - nung ist, das erdrückende Gewicht der Ameisen-Thatsachen von sich abzuwälzen, so ist hier der Punkt, wo sie ein - setzen müssten, und deshalb möchte ich noch einem Ein - wurf im voraus begegnen. Forel hat öfters beobachtet, dass alte Ameisenstöcke nur noch Männchen enthielten, und man könnte versuchen, dies dahin zu deuten, dass hier nur Arbeiterinnen noch im Stocke gewesen seien und dass46 diese eben die Männchen hervorbringen. Die Thatsache ist aber einer viel natürlicheren Deutung fähig, sobald man sich erinnert, dass es ja auch bei den Bienen Stöcke gibt, in welchen keine Arbeiterinnen oder Königinnen mehr aus den Eiern entstehen, sondern nur noch Männchen (Drohnen). Hier wissen wir, dass diese Männchen von einer sog. drohnenbrütigen Königin hervorgebracht wurden, d. h. von einer alten Königin, deren Samenvorrath erschöpft war, und die deshalb die Eier, welche sie legte, nicht mehr be - fruchten konnte. Bei den Ameisen wird es genau ebenso sein; wissen wir doch durch Lubbock, dass Ameisen - Königinnen bis zu 15 Jahren alt werden, Zeit genug, ihren Vorrath an Samen zu erschöpfen.

Man könnte nun etwa versuchen anzunehmen, dass die Arbeiterinnen im Laufe der Phylogenese ihre Fruchtbarkeit erst ganz zuletzt eingebüsst hätten, nachdem sie bereits ihre übrigen Umwandlungen eingegangen hatten. Allein diese Annahme ist nicht stichhaltig, weil der Körperbau und die Thätigkeit der Arbeiterinnen mit ihrer Unfrucht - barkeit in genauem Zusammenhang steht. Forel hält ent - schieden die Entstehung der Unfruchtbarkeit für das zeit - lich Primäre bei der Arbeiter-Entstehung; nach seiner Ansicht wurden zuerst die Arbeitskräfte eines Ameisenstaates da - durch verbessert, dass bei einer grossen Zahl der Weibchen die Eiproduction in Wegfall kam, während zugleich Kraft, Intelligenz, Arbeitstrieb mehr und mehr sich steigerten, und die überflüssig gewordenen Theile nach und nach schwanden: die Flügel, da die Thiere einen Hochzeitsflug nicht mehr unternahmen, die Ocellen und ein Theil der Facettenaugen aus demselben Anlass.

Man könnte aber das Gewicht dieser Gründe bestreiten47 und trotzdem annehmen, die Unfruchtbarkeit sei erst nach den übrigen Abänderungen eingetreten. Dann würde doch mindestens die eine Frage für die Anhänger Lamarck’s unlösbar bleiben: wie ist die Unfruchtbarkeit selbst als erbliche Einrichtung entstanden? Gewiss nicht durch Vererbung functioneller Abänderung, denn diese Abänderung, die Unfruchtbarkeit, schliesst hier die Vererbung an und für sich schon aus.

Uebrigens gibt es noch einen anderen Weg, um zu zeigen, dass auch nach Entstehung steriler Arbeiterinnen noch immer Abänderungen möglich waren, und zwar auch solche vieler harmonisch zusammengestimmter Theile gleich - zeitig. Dieser liegt darin, dass es manche Arten mit zweierlei Arbeiterinnen gibt, von denen die eine erst durch allmälige Umwandlung aus der anderen hervor - gegangen sein muss. Ich habe schon oben der Soldaten von Pheidole megacephala und von Colobopsis truncata erwähnt, deren colossale Kiefer und Köpfe aus den ent - sprechenden Theilen der Arbeiterinnen nur durch harmo - nische Umwandlung vieler verschiedenartiger Theile ent - stehen konnten.

Aber man wird zweifeln, ob überhaupt diese Soldaten durch allmälige Umwandlung von Arbeiterinnen entstanden sind, man wird vielleicht sagen, sie könnten ja auch direct aus fruchtbaren Weibchen hervorgegangen sein und ihre Fruchtbarkeit erst verloren haben, als ihre sonstige Um - wandlung schon vollendet war. Allein dem steht die That - sache entgegen, dass die Entstehung von zweierlei Arbeiter - formen uns heute noch in vielen ihrer Etappen erhalten geblieben ist, und dass wir daraus ihre Entstehungsgeschichte erschliessen können. Viele Arten zeigen kleine Unterschiede48 der Körpergrösse bei den Arbeiterinnen, bei anderen sind diese Unterschiede bedeutend gesteigert, aber die grossen Arbeiterinnen sind durch viele Uebergänge noch mit den kleinen verbunden. Dann gibt es Arten, bei welchen diese Verbindungsglieder weggefallen sind, und diese leiten end - lich zu denen hinüber, in welchen mit der Körpergrösse zugleich weitere Form - und Instincts-Abänderungen ver - bunden sind. Die Soldaten sind also nicht unabhängig von den Arbeitern und gleichzeitig mit ihnen entstanden, sondern haben sich im Anschluss an die schon vorhandenen Arbeiter durch weitere Differenzirung nach dem Princip der Arbeitstheilung später gebildet, also zu einer Zeit, in welcher längst der heute noch vorhandene scharfe Unterschied zwischen Weibchen und Arbeiterinnen vorhanden, und die regelmässige Fortpflanzung der letzteren längst aufgegeben war.

Wer aber immer noch daran zweifeln sollte, dass alle die verschiedenen Umgestaltungen der Weibchen zu Arbeite - rinnen unabhängig von directer Vererbung, und deshalb auch von dem Lamarck’schen Princip entstanden sind, den verweise ich auf das Studium gewisser Instincte der Ameisen und deren Folgen für die Organisation der Arbeiter. Durch die Gewohnheit oder vielmehr den Instinct Sklaven zu machen und zu halten, sind an den Herren selbst höchst merkwürdige Veränderungen eingetreten, und diese können alle nur durch Naturzüchtung erklärt werden, da der Trieb Sklaven zu halten erst entstanden sein kann, als bereits Arbeiter vorhanden waren. Die meisten Ameisen-Arten machen überhaupt keine Sklaven, aber es gibt Arten, welche es manchmal thun, manchmal auch nicht; so die viel be -49 sprochene1)Vergleiche: Forel a. a. O. u. Wasmann, Die zu - sammengesetzten Nester u. gemischten Kolonien der Ameisen, ein Beitrag zur Biologie, Physiologie und Entwickelungs - geschichte der Ameisengesellschaften , Münster i. W. 1891. und sehr genau in vielen Ländern beobachtete Formica sanguinea. Bei dieser gehen die Arbeiterinnen oft auf Raub aus, brechen in die Kolonien anderer Arten (z. B. Formica fusca) ein und schleppen deren Puppen in ihr eignes Nest; aber dieser Instinct ist bei ihnen noch nicht festes Besitzthum der Art geworden, denn man findet auch Kolo - nien ohne Sklaven. Dementsprechend zeigt auch Formica sanguinea noch keine Abänderungen in Bau und Trieben, wie sie bei Polyergus rufescens eingetreten sind, bei welcher alle Kolonien Sklaven enthalten, somit der Sklavenhaltungs - trieb ein fester Artcharakter geworden ist.

Diese beiden Arten, Formica sanguinea und Polyergus rufescens, repräsentiren uns also zwei Stadien in der Ent - wickelung des Sklavenhaltungstriebs. Zwischen diesen beiden Stadien nun muss der Ursprung der Veränderungen liegen, welche bei Polyergus durch das Sklavenhalten entstanden sind, ich meine: die Umwandlung der Kiefer aus Arbeitswerkzeugen in tödtliche Waffen und geschickte Transportwerkzeuge, und die Ver - kümmerung der gewöhnlichen Instincte der Arbeiter. Alle diese Abänderungen müssen also unwiderleglich ohne jede Mitwirkung von Vererbung functioneller Veränderungen er - folgt sein. Die Kiefer von Polyergus rufescens haben den sog. Kaurand verloren. Ameisen kauen zwar nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie lecken, aberWeismann, Allmacht der Naturzüchtung. 450sie bedienen sich häufig doch auch der Kiefer, um ihre Nahrung in Stücke zu reissen; hauptsächlich aber gebrauchen sie ihre Kiefer zu allen möglichen häuslichen Verrichtungen, zum Hin - und Hertransportiren der Eier, Larven und Puppen, zum Herbeischleppen des Baumaterials, zum Auf - bauen der Gänge, Zellen und Höhlen des Nestes und zum Miniren in Erde oder Holz u. s. w. Bei Polyergus haben nun die Arbeiterinnen alle diese häuslichen Triebe verlernt, sie kümmern sich nicht mehr um ihre Brut und überlassen die Sorge dafür vollständig ihren Sklaven, sie schleppen weder Nahrung herbei, noch Material zum Nestbau, indem auch dies ihre Sklaven schon ausreichend besorgen, und thun nichts, als kämpfen und Puppen anderer Arten rauben und in ihr Nest schleppen. Dementsprechend sind ihre Kiefer zu säbelförmigen, spitzen und starken Zangen umge - wandelt worden, die zugleich eine mörderische Waffe sind, wenn sie damit ihrem Feind den Kopf durchbohren, wie es ihre Gewohnheit ist, und zugleich ein ungemein geschicktes Werkzeug zum Transport der geraubten Puppen, weil die beiden Kieferzangen den Puppenkörper umfassen können, ohne ihn zu verletzen. Diese genaue Anpassung der Kiefer an den Puppenraub kann also nur durch Selectionsprocesse erklärt werden, welchen das Keimplasma der Eltern der Arbeiterinnen unterworfen wurde, und ebenso die starke Entwickelung des Kampftriebes, des Muthes und des Triebes, fremde Puppen zu rauben und ins Nest zu schleppen. Hier also haben wir positive Selection.

Negative Selection oder Panmixie aber haben wir in der Verkümmerung der gewöhnlichen Triebe der Ar - beiterinnen: Sorge für die Brut, den Nestbau, die Nahrungs - vorräthe und die höchst ungewöhnliche und höchst51 lehrreiche Verkümmerung des Triebes der Nahrungssuche.

Herbert Spencer richtet in seinem Aufsatz seine Angriffe auch gegen Panmixie und sucht zu beweisen, dass ich unter diesem Namen die Selection des minder Schädlichen verstehe, und dass damit nichts zu erklären sei. Er bezieht sich auf mein Beispiel der blinden Höhlenthiere, z. B. des Proteus, und meint, es sei nicht möglich, dass das Princip der Sparsamkeit (economy of growth) hier den Aus - schlag über Leben und Tod gegeben haben könne, da die Unterschiede der individuellen Variation in Bezug auf die Grösse des Auges viel zu minimal seien. Er mag darin Recht haben, allein Panmixie ist auch nach meiner Dar - stellung etwas ganz Anderes, als das Ueberleben des min - dest Unpassenden, es ist das Herabsinken eines überflüssigen Organs von der Höhe seiner Ausbildung durch den Nichtuntergang derjenigen Individuen, welche es in weniger vollkommener Ausführung be - sitzen. Nach meiner Ansicht wird jedes Organ nur durch unausgesetzte Selection auf der Höhe seiner Ausbildung gehalten und sinkt unaufhaltsam, wenn auch überaus lang - sam von dieser Höhe herab, sobald es keinen Werth mehr für die Erhaltung der Art besitzt. Das ist es, was ich als Panmixie bezeichnet habe, wie Romanes sehr richtig kürzlich gegen Spencer ausgeführt hat1) The Spencer-Weismann Controversy in The Contemporary Review, Nr. 331, July 1893.. Das Princip der Sparsamkeit habe ich nur als eine mögliche Nebenhülfe des Verkümmerns angeführt. Es heisst auf p. 568 der Aufsätze grade in Bezug auf den Proteus: Mög -4*52licherweise hilft dabei noch der Umstand mit, dass kleinere und verkümmerte Augen jetzt nachdem der Rückschritt des Organs einmal in Gang ist sogar ein Vortheil sein können, insofern dadurch andere, für das Thier jetzt wich - tigere Organe, wie die Spur - und Geruchsorgane, sich um so kräftiger entwickeln können. Aber auch ohne dies wird das Auge, sobald es nicht mehr durch Naturzüchtung auf der Höhe seiner Organisation erhalten wird, nothwendig von ihr herabsinken müssen, langsam, sehr langsam sogar, besonders im Beginn des Processes, aber unaufhalt - sam. Auf diese Weise erklären sich in einfacher Weise alle Fälle von Rückbildung, mögen sie Organe oder Arten betreffen, welche sie wollen.

Wie weit etwa das Princip der Sparsamkeit bei manchen der Verkümmerungsvorgänge mit eingreift, lässt sich schwer und natürlich immer nur für den einzelnen Fall bestimmen; dass aber meine damalige Meinung richtig war, nach welcher Panmixie allein ausreicht, um einen Charakter zu völligem Schwund zu bringen, das beweist unter Anderem auch die eben erwähnte Verkümmerung des Triebes zur Nahrungssuche bei der kriegerischen Amazonen-Ameise Polyergus rufescens. Diese Ameise, und zwar nicht nur Weib - chen und Männchen, sondern grade auch die Arbeiterinnen haben es gänzlich verlernt, ihre Nahrung zu erkennen; Forel, Lubbock und Wasmann haben sich alle überzeugt, dass die älteren Angaben Huber’s darüber vollkommen richtig sind, und auch ich selbst habe seine und Forel’s Versuche mit demselben Erfolg wiederholt. Eingesperrte Thiere ver - hungern, wenn sie keinen ihrer Sklaven bei sich haben, der sie füttert; sie erkennen den Honigtropfen nicht als etwas, was ihren Hunger stillen könnte und wenn Was -53 mann ihnen die Kiefer in eine todte Puppe hineinsteckte, so fingen sie nicht an zu fressen, leckten höchstens ver - suchsweise daran und entfernten sich dann wieder. Sobald man ihnen aber einen Sklaven, also eine Arbeiterin z. B. von Formica fusca beigibt, so kommen sie zu dieser und betteln sie um Nahrung an, und die Sklavin läuft zum Honigtropfen, füllt ihren Kropf mit Honig und füttert dann die Herrin.

Nicht der Nahrungstrieb ist also hier verloren gegangen, wie man oft gesagt hat, sondern vielmehr die Fähigkeit, die Nahrung als solche zu suchen und zu erkennen. Ge - nauer ausgedrückt: der Trieb der Nahrungsaufnahme wird hier nicht durch den Gesichtseindruck der Nahrung selbst, sondern durch den der Sklavin ausgelöst. Es sieht so aus, als ob diese Amazonen durch die Anwesen - heit der zum Füttern stets bereiten Sklavinnen die Ge - wohnheit der Nahrungssuche nach und nach eingebüsst hätten, indem sie sich gewöhnten, die Sklavin als Nahrungs - spenderin zu betrachten, scheinbar ein vortreffliches Bei - spiel für die directe Wirkung des Nichtgebrauchs und für die Vererbung functioneller Verkümmerung wenn nur diese Amazonen nicht steril wären!

Die einzig mögliche Erklärung ist die durch Panmixie; da keine Amazone Noth litt bei der steten Anwesenheit fütternder Sklavinnen, so konnte die Vollkommenheit des Instinctes der Nahrungssuche nicht mehr dabei mit ent - scheiden, wer überleben und wer untergehen sollte; Indi - viduen mit schlechter entwickeltem Nahrungssuchtrieb waren ceteris paribus ebenso gut als andere, und Kolonien mit solchen blieben deshalb ebensowohl erhalten als andere. So musste langsam dieser Trieb von seiner ursprünglichen54 Vollkommenheit einbüssen und ist nach gewiss ungeheuer langen Generationsfolgen schliesslich ganz geschwunden. Ich gebe vollkommen zu, dass sich das sehr schwer vor - stellen lässt, aber es muss so gewesen sein, da jede andere Erklärung durch die Unfruchtbarkeit der Amazonen aus - geschlossen ist.

Wir kennen nun die materielle Grundlage eines Triebes nicht im Einzelnen, wir wissen nicht, wie viele Zellen oder Fasern des Gehirns der Sitz dieses Triebes sind, aber sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls ist das, was hier von mate - rieller Substanz durch den Schwund dieses Triebs etwa in Wegfall gekommen ist, so minimal in Bezug auf Masse, dass man wohl kaum daran denken kann, das Princip der Sparsamkeit sei hier nebenbei noch mit im Spiel gewesen. Wir hätten also hier einen Fall von völligem Schwund eines Charakters, für dessen Erklärung wir gänzlich auf das Princip der Panmixie ange - wiesen sind.

Es ist hier nicht der Ort, auf dieses Erklärungsprincip im Genaueren einzugehen; dasselbe ist nichts Anderes als eine Consequenz aus der allgemeinen Annahme des Selec - tionsprincips, als bewirkendem Factor sämmtlicher An - passungen. Sobald man zugibt, dass die Zweckmässigkeit eines Theils stets durch Selection bewirkt worden ist, dann muss sie auch durch Selection erhalten werden, und zwar vermöge des einen Hauptfactors der Selection: der Variation. Denn wenn auch ein nützlicher Charakter um so constanter werden muss, je längere Zeit hindurch er schon durch stete Wiederholung der Selection befestigt wurde, so zeigt doch die Beobachtung, dass eine völlige Constanz bei keinem noch so alten Charakter erreicht worden ist, dass überall55 kleine Schwankungen vorkommen. Sobald also dann Se - lection aufhört auf den Charakter einzuwirken, muss das langsame Herabsinken desselben von der vorher erreichten Organisationshöhe beginnen.

Diese Consequenz aus der Selection ist auch nicht zum ersten Male von mir gezogen worden, sondern, wie man vor einiger Zeit erfahren hat, zehn Jahre vorher schon von Romanes1)Nature, Vol. IX, Natural Selection and Dysteleology in der Nummer vom 12. März 1874; in der Nummer vom 9. April 1874 ein zweiter Artikel Rudimentary Organs und in der Nummer vom 2. Juli 1874 ein dritter: Disuse as a reducing cause in species .. Wenn es diesem scharfsinnigen Forscher nicht gelang, diese richtige Folgerung in der Wissenschaft zur Geltung zu bringen, so lag dies daran, dass er nicht mit der Vererbung erworbener Eigenschaften vollständig brach, wie er denn auch heute noch daran festhält und grade in Bezug auf harmonische Umgestaltung zusammen - wirkender Theile (coadaptation) das Princip der Vererbung functioneller Abänderungen mit Spencer nicht entbehren zu können glaubt; erklärt er mich doch heute noch für einen Ultra-Darwinian . Romanes nun machte in jenem Auf - satz von 1874 das Aufhören der Selection nur als ein Hülfs - princip geltend, welches andere Factoren der Entartung nichtgebrauchter Theile unterstützen sollte, besonders eco - nomy of growth und disuse , Nichtgebrauch. Er sagt: The cessation of selection should therefore be regarded as a reducing cause, which co-operates with other reducing causes in all cases, and which is of special importance as an accelerating agent when the influence of the latter be - comes feeble . Wenn nun aber, wie Romanes glaubte,56 neben diesem Einfluss der cessation of selection noch die directe Wirkung des Nichtgebrauchs als Vererbung func - tioneller Atrophie, economy of growth u. s. w. mit an dem Verkümmern eines Organs arbeiteten, dann war es unmög - lich, dessen Thätigkeit überhaupt als existirend zu erweisen, weil seine Wirkung stets mit der der anderen Factoren vermischt sein musste. Nur wenn er die Arbeiterinnen der koloniebildenden Insecten herbeigezogen hätte, würde Ro - manes erkannt haben, dass der Factor, welchen er richtig erschlossen hatte, allein im Stande ist, Rückbildung zu veranlassen, dass er also der Haupt - Factor dabei ist; dies hätte aber zugleich seine Ueberzeugung von der Vererbung functioneller Abänderungen umstürzen müssen, und er würde dann seinen Artikel nicht mit den Worten geschlossen haben: However, as before remarked, the question thus raised is of no practical importance; since whether or not disuse is the principal cause of atrophy in species, there is no doubt, that atrophy accompanies disuse. So kam es, dass ein völlig berechtigter Gedanke nicht zur Geltung kommen konnte und so gut wie gänzlich wieder in Vergessenheit gerieth. Romanes meinte, dass Nichtgebrauch doch nur einen Theil des Verkümmerns erkläre, und dass dann ces - sation of selection einsetze. So erkläre es sich, warum die Reduction der Flügel bei Ente und Gans so verschieden sei, da der Nichtgebrauch doch gleich stark sei. Aber die Arten variirten eben verschieden stark. Dies ist nun nach meiner Meinung ganz richtig, insofern Panmixie in der That von der Variabilität der betreffenden Art abhängt in Bezug auf das Tempo ihrer Wirkung; deshalb deuten solche Fälle wie Ente und Gans darauf hin, dass Nichtgebrauch nicht die wahre und directe Ursache des Rudi -57 mentärwerdens sein kann. Romanes war der Wahrheit sehr nahe, aber er fand sie nicht, sondern fuhr fort: I deem it in the last degree improbable, that disuse should not have assisted in reducing the unused organs of our do - mestic animals and the effect of this remark is to show that the cessation of selection is not able to ac - complish so much reduction as I antecedently expected. On the other hand it seems to me no less improbable, that the cessation of selection should not have here operated to some extent; but in what degree the ob - servable effects are to be attributed to this cause and in what degree to disuse I shall not pretend to suggest.

Ich selbst bin zu der Auffindung des Princips der Pan - mixie durch schwere Zweifel an der Vererbung erworbener Eigenschaften geleitet worden. Wenn eine solche nicht existirte, so musste eine andere Ursache des Schwindens überflüssiger Theile auffindbar sein; so kam ich auf Pan - mixie. Da ich sowohl die Vererbung functioneller Atrophie als auch die Vererbung der Wirkungen des Sparsamkeits - princips in der einzelnen Ontogenese leugnen musste, so war das neue Princip mit seiner Aufstellung auch schon als wirkend nachgewiesen; es gab für mich eben nur die eine Erklärung des Rudimentärwerdens, diejenige durch Selection, mochte man dasselbe allein auf ne - gative Selection (Panmixie) beziehen oder sich vorstellen, dass daneben auch noch positive Selection thätig sei, als Bevorzugung und Ueberleben des minder Schädlichen. Nur in diesem letzteren Sinne kann ich natürlich vom Princip der Sparsamkeit sprechen, wie dies übrigens auch von Her - bert Spencer so verstanden worden ist, nicht in dem Sinne einer Vererbung der Wirkungen des Kampfes der58 Theile in der Ontogenese. Uebrigens möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich jetzt nach voller Würdigung der Ver - hältnisse bei den Ameisen, noch mehr als vor zehn Jahren geneigt bin, das Princip der Sparsamkeit für einen sehr unbedeutenden Factor des Rudimentärwerdens zu halten, der bei den meisten dieser Processe wahrscheinlich gar nicht mitspielt.

Wenn es nun feststeht, dass die Vererbung functioneller Abänderungen bei der harmonischen Abänderung vieler cooperirenden Theile der Ameisen-Arbeiterinnen nicht mit - gewirkt hat, so fragt es sich, mit welchem Recht wir Natur - züchtung als den bewirkenden Factor derselben ansehen dürfen.

Die Antwort darauf ist sehr einfach, sie lautet: mit demselben Recht, mit welchem wir sie irgend - wo in der Natur annehmen. Wie oben schon kurz angedeutet wurde, nehmen wir sie an, nicht weil wir den Vorgang im Einzelnen nachweisen könnten, auch nicht, weil wir ihn je nach Wissen und Vorstellungskraft leichter oder schwerer vorstellen können, sondern einfach, weil wir müssen, weil es die einzig mögliche Erklärung ist, die wir denkbarerweise geben können. Denn für An - passungen sind überhaupt für den Naturforscher nur zwei Möglichkeiten a priori vorhanden, nämlich die Ver - erbung functioneller Anpassung und Naturzüchtung. Da nun die erstere hier ausgeschlossen werden konnte, so bleibt nur die zweite übrig. Man hat oft gesagt, dass der Beweis für das thatsächliche Eingreifen einer Natur - züchtung in die Gestaltung der Organismen-Entwickelung noch niemals erbracht worden sei, man könne sich die Sache wohl so vorstellen, aber ein zwingender Grund zu59 dieser Annahme liege nicht vor. Dies ist wohl richtig, allein ich glaube, dass man den Beweis erbringen kann, fussend grade auf den Verhältnissen bei den Ameisen.

Zunächst lässt sich auch ohne Hülfe dieser ausnahms - weise günstigen Fälle ein Wahrscheinlichkeitsbeweis führen. Dass Naturzüchtung ein thatsächlich wirkender Factor ist, dass Variation, Vererbung und Kampf ums Dasein, d. h. Decimirung der Nachkommen, wirklich die Anpassungen der Organismen an ihre Lebensbedingungen bewirken, das wird nicht nur dadurch höchst wahrscheinlich, dass alle Organisation als Anpassung sich entpuppt, sobald man sie nur recht versteht, und dass die drei genannten Factoren als wir - kend nachgewiesen sind, sondern diese Wahrscheinlichkeit wird noch bedeutend erhöht durch die Kenntniss der künst - lichen Züchtung, welche der Mensch ausübt. Bei diesem analogen Process sind zwei Factoren, Variation und Vererbung, die gleichen, wie bei der angenommenen Natur - züchtung, und nur der dritte Factor ist verschieden. Der hohe theoretische Werth der künstlichen Züchtung scheint mir nun darin zu liegen, dass er die steigernde und um - wandelnde Wirkung der beiden ersten Factoren sicher - stellt. Hätten wir diese erschliessen müssen, so stünde es schlecht um den Beweis der Naturzüchtung, denn unsere Kenntnisse der fundamentalen Vorgänge von Variation und Vererbung sind viel zu gering, als dass wir den Erfolg der Combination gleicher oder ungleicher Elterneigenschaften auf das Kind hätten vorhersagen können. Künstliche Züch - tung aber hat uns mit einem reichen Erfahrungsschatz ver - sehen, und wir dürfen jetzt sicher auf der That - sache fussen, dass Steigerung, überhaupt Ver - änderung der Eigenschaften in bestimmter60 Richtung wirklich durch Auswahl bestimmt qualificirter Eltern zur Nachzucht zu Stande kommen kann.

Dies aber ist die Grundlage des Processes der Natur - züchtung; wir wissen, Umwandlung in bestimmter Richtung kann durch Auswahl zur Nachzucht hervorgerufen werden, und nun handelt es sich nur noch um den dritten Factor des Processes, denjenigen, der die Auswahl besorgt. Nun ist aber dieser, der Kampf ums Dasein, grade ein solcher, der einen Zweifel über seine Wirkung in allgemeiner Beziehung gar nicht zulässt; dass es Variationen gibt, welche im Kampf ums Dasein zum Siege führen müssen, ist nicht zweifelhaft, nur können wir sie nicht schon im voraus als solche erkennen. Das Ueberleben des Passend - sten ist sicher, aber wir wissen im einzelnen Fall nicht, was das Passendste ist und wie oft es in jeder Generation überlebt und überleben muss, um zum Siege zu gelangen. Wir können also den Beweis, dass eine bestimmte An - passung durch Naturzüchtung entstanden ist, für gewöhn - lich nicht leisten. Wenn nun aber, wie im Falle der Ameisen, die andere Erklärungsmöglichkeit, die durch func - tionelle vererbte Anpassung, ausgeschlossen werden kann, so ist damit, zum mindesten für diesen Fall, die Wirklichkeit der Naturzüchtung erwiesen. Und nun sind wir berechtigt, weiter zu schliessen: wenn in diesem einen bestimmten aber sehr vielseitigen Falle der Kampf ums Dasein so wirkt, wie Naturzüchtung es annimmt, d. h. so wie der wählende Züchter bei der künstlichen Züchtung, dann müssen auch die kleinen Varia - tionen, welche wir überall und bei allen Kör - pertheilen vorfinden, Selectionswerth besitzen61 können, und wenn sie diesen besitzen in diesem Falle, so liegt kein Grund vor, dass sie ihn in unzähligen anderen analogen Fällen nicht auch besitzen sollten mit anderen Worten: Naturzüchtung bewirkt alle Art-Anpassungen.

Wir können also den Beweis für die Wirklich - keit der Naturzüchtung durch Ausschliessung führen, und sobald das einmal geschehen ist, schrumpfen die all - gemeinen Einwürfe, welche sich auf unsere Unfähigkeit stützen, den Selectionswerth im einzelnen Fall zu erweisen, zu einem gewichtslosen Einwurf zusammen.

Deshalb werde ich auch hier nicht versuchen, eine ein - gehende Erklärung der harmonischen Abänderung zu geben. Es kommt nichts darauf an, ob ich im Stande bin, dies zu thun, oder nicht, ob ich es besser oder schlechter thun kann; sobald feststeht, dass Naturzüchtung das einzige Princip ist, welches in Betracht kommt, so muss es eine richtige Erklärung dieser Vorgänge durch Naturzüchtung geben. Die Erklärung mag sehr schwierig sein, es mag noch Vieles an Daten fehlen, um sie mit Sicherheit geben zu können, das widerlegt den Vorgang selbst so wenig, als die Ansicht der modernen Physiologie, es gäbe keine be - sondere Lebenskraft, dadurch widerlegt wird, dass wir heute noch nicht im Stande sind, auch nur einen einzigen Lebens - process rein aus physikalischen Kräften heraus zu erklären. Ich glaube übrigens, dass sich auch heute schon eine un - gefähre und allgemeine Erklärung der harmonischen Ab - änderung (Coadaptation) wohl geben lässt, und werde eine solche an einem anderen Orte versuchen.

Sollte sie aber auch noch so unvollkommen ausfallen, man wird daraus nicht einen Beweis für die Vererbung62 functioneller Abänderungen herleiten können, vielmehr betrachte ich dieselbe jetzt für definitiv wider - legt, nachdem sie auch aus ihrem letzten Schlupfwinkel, der harmonischen Abänderung cooperirender Theile, ver - trieben ist. Wenn man sich erinnert, dass directe Beweise für diese Form der Vererbung fehlen, dass somit die Be - rechtigung, sie anzunehmen, sich nur darauf stützte, dass sie zur Erklärung gewisser Erscheinungen unentbehrlich schien, so wird man zugeben müssen, dass jetzt, nachdem gezeigt wurde, dass diese Erscheinungen auch da vorkommen, wo die Vererbung functioneller Abänderungen ausgeschlossen ist, kein Grund mehr vorliegt, dies Erklärungsprincip anderswo als wirkend anzunehmen. Wenn die Arbeiterin einer Ameisenart sich zum Soldaten umwandelt, wenn eine Menge cooperirender Theile derselben harmonisch abändern können, ohne Hülfe der angenommenen Vererbung functio - neller Abänderungen, dann liegt kein Grund vor, dieselbe Fähigkeit dem Hirsch oder der Giraffe abzusprechen. Es wäre unlogisch, hier eine neue unerwiesene Kraft anzu - nehmen, nachdem einmal erwiesen ist, dass analoge Um - wandlungen bei den Ameisen ohne eine solche Kraft er - folgen. Damit wird auch Spencer übereinstimmen müssen, denn er sagt: a recognised principle of reasoning the law of parsimony forbids the assumption of more causes than are needful for explanation of phenomena (p. 750).

Somit halte ich es jetzt für erwiesen, dass alle erbliche Anpassung auf Naturzüchtung beruht, dass Naturzüchtung das einzige grosse Princip ist, welches die Organismen befähigt, ihren wechselnden Lebensbedingungen bis zu einem gewissen hohen Grade zu folgen, indem es auf den alten Anpassungen neue aufbaut; es ist nicht ein Hülfsprincip,63 welches da einsetzt, wo die vermeintliche Vererbung func - tioneller Abänderungen im Stiche lässt, sondern es ist das Hauptprincip der Abänderung der Organismen, neben wel - chem die primäre Variation, wie sie durch directe Ein - wirkung äusserer Einflüsse auf das Keimplasma entsteht, direct nur in sehr untergeordneter Weise in Betracht kommt. Denn der Organismus besteht, wie ich schon früher sagte, aus Anpassungen, neuen, älteren und uralten, und was an primären Variationen in der Physiognomie der Arten etwa mitspielt, ist wenig und von untergeordneter Bedeutung. Ich halte deshalb die Entdeckung der Naturzüchtung für eine der fundamentalsten, die auf dem Gebiete des Lebens jemals gemacht worden ist, eine Entdeckung, die allein ge - nügt, den Namen Charles Darwin und Alfred Wal - lace die Unsterblichkeit zu sichern, und wenn meine Gegner mich als Ultra-Darwinisten hinstellen, der das Princip des grossen Forschers ins Einseitige übertreibt, so macht das vielleicht auf manche ängstliche Gemüther Eindruck, welche das juste-milieu überall schon im voraus für das Richtige halten, allein mir scheint, dass man niemals schon a priori sagen kann, wie weit ein Erklärungsprincip reicht, es muss erst versucht werden, und diesen Versuch gemacht zu haben, das ist mein Verbrechen oder mein Ver - dienst. Erst sehr allmälig habe ich die ganze Tragweite des Selectionsprincips erkennen gelernt und bin allerdings dadurch über die Darwin’schen Vorstellungen hinaus - geführt worden. Der Fortschritt in der Wissenschaft geht meist einher mit dem Kampf gegen festgewurzelte Vor - urtheile; ein solches war die Annahme einer Vererbung erworbener Abänderungen. Jetzt, nachdem dasselbe glücklich überwunden ist, lässt sich erst die ganze Tragweite der64 Naturzüchtung übersehen, erst jetzt ist ihre volle Durch - führung möglich geworden. Nicht Uebertreibung, sondern völlige Durchführung des Princips ist es, was damit erreicht worden ist.

Zum Postscript Spencer’s.

In einem zweiten Aufsatz1)Contemporary Review, No. 329, May 1893., betitelt Professor Weis - mann’s Theories , wendet sich Herbert Spencer gegen einige andere meiner fundamental theories , deren weit - verbreitete Annahme ihn noch mehr überrasche, als die - jenige der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften. Es sind dies meine Ansichten über den Gegensatz von somatischen und propagatorischen Zellen bei den Metazoen und über die Unsterblichkeit letz - terer und der Einzelligen. Ich will auch auf diese Einwürfe eingehen, obwohl ich Grund hätte, mir einen Gegner zu wünschen, der sich vollständiger mit den An - sichten bekannt gemacht hätte, die er bekämpft, als dies bei Spencer der Fall ist. Seine Angriffe treffen nicht immer den Kernpunkt meiner Ansichten, und er kennt vor allem ihre Begründung nur zum Theil. Ich bedaure dies besonders deshalb, weil ich dadurch genötigt bin, Manches zu wiederholen, was vielen Lesern schon bekannt sein wird, und weil mir ein derartiger Kampf fast als eine für die Wissenschaft nutzlose Kraftvergeudung erscheint und zwar in Bezug auf beide Theile, den Angreifer und den Vertheidiger. Spencer bezieht sich fast allein auf die65 beiden ersten meiner Aufsätze1) Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen , Jena 1892., ein einziges Mal auch auf den fünften; die späteren scheint er nicht zu kennen, be - sonders nicht den zusammenfassenden und grade für die von ihm bekämpften Punkte abschliessenden zwölften und letzten des Buches. Da nun diese Aufsätze, wie im Vor - wort gesagt ist, innerhalb eines Jahrzehntes entstanden und nacheinander veröffentlicht, nachher aber unverändert zu einem Buche zusammengefasst sind, so stellen sie ge - wissermaassen die verschiedenen Etappen einer fortlaufenden Untersuchung dar, und derjenige, der sich blos an die ältesten Aufsätze der Jahre 1881 und 1883 hält, bekämpft nur die erste und naturgemäss unvollkommenste Begründung meiner Ansichten. Mein Gegner würde sich wohl manchen Ein - wurf erspart haben, hätte er die späteren Aufsätze gelesen.

Auch die Form der Spencer’schen Polemik hätte mich käme sie nicht eben grade von Herbert Spen - cer abhalten können, zu antworten, insofern sie nichts weniger als rein sachlich gehalten ist. Die Redewendung it is easy to imagine , welche mein Kritiker, wie oben gezeigt wurde, ganz mit Unrecht mir zur Last legt, wird hier wieder und wieder gegen mich ins Feld geführt, grade als ob man aus dieser vielleicht unzweckmässigen Wendung auf leichtfertige Arbeit zu schliessen berechtigt wäre.

Doch ich komme zur Sache. Spencer’s wissen - schaftliche Angriffe richten sich zunächst gegen meine An - sicht von der Zusammensetzung des Metazoen - körpers aus zweierlei Zellen, somatischen und propagatorischen, welche sich nach dem Princip derWeismann, Allmacht der Naturzüchtung. 566Arbeitstheilung in die Functionen zur Erhaltung der Species getheilt haben; die somatischen übernehmen die Ernährung im weitesten Sinne des Wortes, die propagatorischen die Fortpflanzung. Er beginnt damit, schon die Beziehung der beiden Zellenarten auf Arbeitstheilung als eine falsche Auf - fassung (fallacious interpretation) zu bezeichnen. Arbeits - theilung beruhe auf einem Austausch von Diensten, hier aber finde kein Austausch statt. Nach meiner Ansicht besagt der Ausdruck Arbeitstheilung, dass die Leistungen, welche früher von jedem Mitglied einer Gemeinde geleistet wurden, jetzt einzeln auf verschiedene Mitglieder derselben vertheilt sind, und in diesem Sinne ist die Differenzirung einer früher gleichartigen Zellenkolonie in eine aus soma - tischen und propagatorischen Zellen zusammengesetzte un - bestreitbar nach dem Princip der Arbeitstheilung erfolgt, ganz abgesehen davon, ob die somatischen Zellen einen Vortheil von den propagatorischen haben oder nicht. Der Vortheil kommt dem Ganzen zu gut, und in diesem Sinne ist der Ausdruck seit vierzig Jahren in der Biologie üblich, seitdem Rudolph Leuckart die Siphonophoren - stöcke als Kolonien aufzufassen lehrte, deren Personen nach dem Princip der Arbeitstheilung differenzirt sind. Gewiss ist der Ausdruck zuerst von den Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft hergenommen, und dort kann man sagen, dass er zugleich einen Austausch von Diensten ein - schliesst, aber wenn man ihn auf den Organismus über - trägt, so tritt dieser Theil des Begriffes zurück gegenüber dem der Differenzirung der Theile zu höherer Gesammtleistung des Ganzen. Es ist irrig, dass hier stets ein Austausch von Diensten stattfinde, und es ist auch irrig, dass in diesem Austausch the essential nature of this67 division of labour liege. Spencer fragt: where is the exchange of services between somatic cells and reproductive cells ? und antwortet: there is none . Ganz richtig, die Fortpflanzungszellen leisten den somatischen Zellen, soviel wir wissen, nichts, und deshalb soll also eine Zellenkolonie, welche nur aus Körper - und Fortpflanzungszellen besteht, nicht nach dem Princip der Arbeitstheilung differenzirt sein. Aber billigt es nicht Spencer selbst, wenn die Biologen den Begriff der Arbeitstheilung auf die Differenzirung der Zellenmasse eines Organismus anwenden, auf die Trennung der Zellen in solche der Haut, der digestion, respiration, circulation, excretion, etc. ? Und warum hat er hier die Fortpflanzungszellen ausgelassen, die doch dem Organismus auch zukommen, und die es mit seinen eignen Worten widerlegt haben würden, dass ein Austausch von Diensten das Wesen der Arbeitstheilung ausmacht? Oder, um bei einem der ältesten Beispiele der Arbeitstheilung zu bleiben, welche Dienste leisten die weiblichen und männlichen Ge - schlechtspersonen des Siphonophorenstocks einer Fangperson oder einer Schwimmglockenperson oder einem Polypen des Stockes? Wo ist der Austausch von Diensten? There is none. Folglich ist mindestens in der Biologie nicht der Austausch von Diensten das Wesentliche der Arbeitstheilung, sondern die Vertheilung der Functionen der Ge - meinschaft auf verschiedene Individuen, und die damit verknüpfte Steigerung dieser Func - tionen zu Gunsten höherer Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft. Die Arbeitstheilung ist das Mittel, deren Natur sich bedient, um die Leistungsfähigkeit der Organismen zu steigern; ohne die Differenzirung nach dem Princip der Arbeitstheilung gäbe es keine höheren Organismen.

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Doch lassen wir den Streit um Worte und wenden uns zu wichtigeren Punkten! Mein Gegner hält es für unrichtig, dass die erste Arbeitstheilung diejenige in somatische und propagatorische Zellen gewesen sei, und schliesst dies daraus, dass nach meiner eignen Angabe diese Scheidung heute noch nicht überall eine absolute ist, und dass in der Onto - genese der Vertebraten die Geschlechtszellen erst spät auf - treten, bei Hydroiden sogar erst in späteren Generationen. Er nennt diese Thatsachen einen Riss (crack) durch meine Theorie, ja gradezu einen Abgrund (chasm); ja, er hält sie für so vernichtend für meine Ansicht, dass er mich jenem Franzosen vergleicht, der die widersprechenden Thatsachen durch das Wort beseitigt: tant pis pour les faits.

Ich muss gestehen, dass ich einigermaassen erstaunt bin über die ausserordentliche Leichtigkeit, mit der Her - bert Spencer mit den Ansichten Anderer fertig wird. Sollte denn der Verfasser der Principien der Biologie nicht wissen, wie tausendfach in der Entwickelungsgeschichte zeit - liche und örtliche Verschiebungen vorkommen, ja, dass es kaum eine Ontogenese gibt, bei welcher solche Verschie - bungen nicht mitspielen? Wenn er es nicht wusste, so hätte er nur meinen Aufsatz IV zu lesen brauchen, in welchem dies grade in Bezug auf die Keimzellen-Genese ausführlich erörtert wird (Deutsche Ausgabe, p. 247).

Sollen wir die primären Verhältnisse bei den Verte - braten suchen, derjenigen Thiergruppe, die zuletzt von allen entstanden ist? Oder bei den Hydroiden, deren Fort - pflanzungsweise der Generationswechsel ist, ebenfalls eine durchaus secundäre und spät erworbene Form der Fort - pflanzung? Besteht nicht die Kunst, den phylogenetischen Zusammenhang der Arten zu erschliessen, grossentheils69 grade darin, diese unzähligen Verschiebungen in der Onto - genese herauszufinden und auf die primären Verhältnisse zurückzuführen? Inwiefern beweist also das späte Auf - treten der Keimzellen bei diesen Thiergruppen und vielen anderen noch, dass die primäre Differenzirung nicht die - jenige in somatische und propagatorische war?

Gewiss liegt darin, dass die Keimzellen bei Verte - braten und anderen Thieren sich erst spät differenziren, auch noch kein Beweis dafür, dass sie sich ursprünglich zu Anfang der Ontogenese differenzirten, aber in Aufsatz IV ist ein Beweis dafür gegeben (p. 243 d. D. A.), insofern gezeigt wird, dass heute noch bei gewissen niederen Or - ganismen dieser Zustand der ersten Differenzirung eines mehrzelligen Wesens erhalten geblieben ist; zum Ueber - fluss ist sogar eine Abbildung der Algen Pandorina und Volvox beigegeben. Bei der erstgenannten Art ist noch keine Arbeitstheilung eingetreten, alle Zellen der Kolonie stehen noch gleichzeitig der Ernährung und der Fort - pflanzung vor, während bei dem naheverwandten Volvox die Zellen in somatische Zellen für Ernährung, Bewegung u. s. w. und in Fortpflanzungszellen getrennt sind. Wir haben also hier dicht nebeneinander noch die zwei von der Theorie geforderten, aufeinander folgenden Stufen phy - letischer Entwickelung bis auf unsere Tage erhalten vor uns. Wer freilich diese Thatsachen nicht kennt, für den stellen sie auch keinen Beweis dar, und ich gestehe, dass mich die Kritik Herbert Spencer’s ein wenig an jenen Mann erinnert, der sagte: ich kenne zwar Ihre Gründe nicht, aber ich missbillige sie . Und nicht nur ignorirt Spencer den grössten Theil meiner Aufsätze, sondern auch solche Argumente, die im Aufsatz II enthalten sind, den er ge -70 lesen hat; unmittelbar auf den Satz von p. 74, den er citirt, wird Bezug genommen auf meine früheren Untersuchungen über die Entstehung der Sexualzellen bei den Hydromedusen, aus welchen hervorgeht, dass grade bei den Sexualzellen zeitliche Verschiebungen ihres Auftretens in bedeutendem Maasse thatsächlich stattfinden, und in Aufsatz IV werden dieselben im Genaueren mitgetheilt und auf ihren be - weisenden Werth für die Continuität des Keimplasmas ge - prüft. Aber auch den Aufsatz über diese Hypothese scheint Spencer nicht zu kennen.

Der folgende Angriff richtet sich gegen die den Ein - zelligen und den Keimzellen von mir zugesprochene Un - sterblichkeit im Gegensatz zu der Sterblichkeit der Individuen bei den Metazoen. Es wird zunächst geltend gemacht, dass ich ein allgemeines Entwickelungsgesetz über - sehen hätte, welches die Nothwendigkeit des Todes ein - schliesst. The changes of every aggregate, no matter of what kind, inevitably end in a state of equilibrium. Suns and planets die, as well as organisms. The process of inte - gration, which constitutes the fundamental trait of all evo - lution, continues until it has brought about a state which negatives further alterations, molar or molecular .... Vielleicht wird man mir glauben, wenn ich versichere, dass auch mir diese Vorstellungen bekannt sind, ich glaube aber, dass sie nichts zu thun haben mit dem Unterschied, der in Bezug auf Tod und Fortdauer zwischen Einzelligen und Vielzelligen besteht, und nur darum handelt es sich in meinen biologischen Abhandlungen. Uebrigens sehe ich, dass ich am Schlusse des ersten Aufsatzes, den Spencer gelesen hat, vorsichtig genug war, einem Missverstehen im Sinne Spencer’s vorzubeugen, indem ich dort (p. 4071 d. D. A., p. 34 d. E. A.) ausdrücklich sagte: Ich habe wieder - holt von einer ewigen Dauer gesprochen, einerseits der ein - zelligen Organismen, anderseits der Propagationszellen. Ich habe damit zunächst nur eine unserem menschlichen Auge unendlich erscheinende Dauer bezeichnen wollen.

Aber nun zur eigentlichen Frage. Nach meiner Ansicht sind die Protozoen und Keimzellen in dem eben bezeich - neten Sinn unsterblich, d. h. wie mein Gegner richtig er - läutert, sie können sich theilen und wieder theilen, so - lange als die äusseren Bedingungen dafür vorhanden sind. Spencer bestreitet die Richtigkeit dieses Satzes und zwar zuerst deshalb, weil für viele Einzelligen Conjugation noth - wendig scheint, welche bekanntlich von meinen Gegnern als Verjüngung des Lebens aufgefasst wird. Er meint: if the immortality of a series is shown if its members divide and subdivide perpetually, then the opposite of im - mortality is shown when, instead of division, there is union. Each series ends, and there is initiated a new series, differing more or less from both. Thus the assertion that the reproductive cells are immortal, can be defended only by changing the conception of immortality otherwise implied.

Herbert Spencer hätte mich nicht daran zu er - innern brauchen, dass mit der Conjugation und der Be - fruchtung die Vermischung zweier Individualitäten einhergeht, da es ja eben gerade meine Ansicht ist, nach welcher die beiden Vorgänge nichts Anderes bedeuten, als eben dieses; deshalb habe ich sie als Amphimixis bezeichnet. Beweist das aber, dass sie auch eine Verjüngung des Lebens be - deutet? Eben dieses habe ich wiederholt bestritten, und wenn Herbert Spencer meinen Aufsatz XII lesen wollte, so würde er die Gründe dafür kennen lernen, welche mich72 dazu bestimmen. Ich würde sie ihm gern hier wiederholen, aber sie erfordern eine längere Auseinandersetzung, für welche ich den Platz hier nicht beanspruchen kann. Mir scheint, dass die Fähigkeit unbegrenzter Fortpflanzung, d. h. der Unsterblichkeit im biologischen Sinn durch den Act der Amphimixis so wenig berührt wird, als durch irgend einen anderen Lebensact, z. B. den der Nahrungsaufnahme. Auch die letztere ist zur Fortsetzung der Theilungen nöthig, für viele Einzellige auch die erstere. Ob für alle, wissen wir nicht, wohl aber wissen wir, dass Amphimixis für die Unsterblichkeit der Geschlechtszellen nicht überall Bedin - gung ist. Spencer selbst setzt ja in seinem Artikel des Weiteren auseinander, dass die Blattläuse unter günstigen Bedingungen sich endlos auf parthenogenetischem Wege vermehren können. Aber wäre selbst Amphimixis uner - lässliche Bedingung der Unsterblichkeit, würde diese dann dadurch aufgehoben? Sind die conju - girten Zellen etwa todt?

Mein Gegner scheint die Schwäche seines Sophismus auch zu fühlen, denn er macht noch zwei andere Versuche, die Thatsache der unbegrenzten Zweitheilung der Infusorien hinwegzuerklären. Zunächst bezweifelt er die Thatsache selbst, indem er fragt: what observer has watched for forty years to see whether the fissiparous multiplication of Protozoa does not cease? What observer has watched for one year, or one month, or one week? Hätte er meinen Aufsatz über Amphimixis gelesen, so würde er erfahren haben, dass ein französischer Forscher Maupas in der That die staunenswerthe Beharrlichkeit gehabt hat, die Fort - pflanzung der Infusorien durch Monate hindurch auf dem Objectträger zu verfolgen. Wäre dies aber auch nicht ge -73 schehen, so wissen wir doch von vielen Infusorienarten, dass sie schon zu Ehrenberg’s und O. F. Müller’s Zeiten vorhanden waren, und dies beweist, wenn man nicht die absurde Annahme einer Generatio aequivoca so hoch differenzirter Thiere machen will, dass sie sich doch immer - hin seit einem Jahrhundert durch stete Theilung vermehrt haben. Es gibt aber lebende Foraminiferen, die schon im Tertiär gefunden werden, deren Zweitheilungen sich also durch ganze geologische Perioden fortgesetzt haben.

Der zweite Versuch aber, die Unsterblichkeit zu wider - legen, ist der, dass gesagt wird, die zwei in der Conjugation miteinander verschmelzenden Infusorien seien nicht mehr dieselbe Individualität, wie vor ihrer Ver - schmelzung, es entstehe dadurch ein neues Individuum. Das ist nun zwar insoweit richtig, als in der That zwei Indi - vidualitäten hier sich vermischen, wie ich gezeigt habe (Aufsatz XII), allein widerlegt dies meine Behauptung, dass der natürliche Tod den Einzelligen fehlt? Ist etwa Con - jugation gleich Tod? Findet sich nicht dieselbe Conjugation oder Amphimixis bei der Befruchtung der Metazoen, und ist diese der natürliche Tod derselben? Nun, wenn dies nicht so ist, dann haben eben die Metazoen diesen natürlichen Tod noch ausserdem, sie unterscheiden sich dadurch von den Protozoen q. e. d., denn das ist Alles, was ich behauptet habe. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass hier eine wesent - liche Verschiedenheit zwischen Protozoen und Metazoen be - steht, dass bei den Metazoen die Differenzirung von Körper und Keimzellen auftritt, und dass dieser Körper allein dem natürlichen Tod unterworfen ist. So ist es wirklich, und dies wird durch alle Sophismen Herbert Spencer’s74 nicht aus der Welt geschafft. Was soll es heissen, wenn er auseinandersetzt, dass die Somazellen eines gesunden Weibes noch lange fortfahren sich durch Theilung zu ver - mehren, nachdem die Keimzellen ihres Ovariums längst ab - gestorben sind? Wann hätte ich je behauptet, dass Keim - zellen nicht sterben könnten? Ich habe im Gegentheil meinen früheren Gegnern den Unterschied zwischen acciden - tellem und natürlichem Tod mehrfach klar zu machen ge - sucht, so in Aufsatz III gegen Götte. Das Absterben aber derjenigen Eizellen, welche nicht zur Befruchtung ge - langen, ist in demselben Sinne als accidenteller Tod zu be - trachten, als der Tod eines Wolfs durch Hunger: die Be - dingungen des Weiterlebens sind nicht erfüllt.

Spencer greift die Sache aber noch von der anderen Seite an, indem er die Sterblichkeit des Körpers leugnet, oder vielmehr nicht des Körpers als Ganzes, sondern die Fähigkeit unbegrenzter Theilung der Körperzellen. Ich be - zog den natürlichen Tod und damit die natürliche Lebens - dauer auf eine bestimmte Regulirung der Fortpflanzuungs - kraft der somatischen Zellen; Spencer ist der Ansicht, dass ihr Absterben durch die äusseren Bedingungen veran - lasst wird, dass sie also unter günstigen Bedingungen ebenso gut fähig wären zu unbegrenzter Vermehrung, als die Propagationszellen. Er gibt sich viele Mühe, Fälle darzulegen, in welchen Arten sich unbegrenzte Zeit hin - durch mittelst Knospung fortgepflanzt haben, wie das ja von zahlreichen Pflanzen wohl bekannt ist.

Hätte er meine Aufsätze alle gelesen, oder in mein neues Buch1) Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung , Jena 1892, Capitel VI u. VII. mehr als blos hereingeblickt, so würde er75 sich einen solchen Windmühlenkampf erspart haben. Denn ich habe ausdrücklich anerkannt, dass viele somatische Zellen die Fähigkeit unbegrenzter Fortpflanzung besitzen, nämlich alle diejenigen, welche zu Keimzellen oder zu Knospenzellen hinführen, also die Zellen der Keim - bahnen und diejenigen, von welchen die Entstehung neuer Personen durch Knospung ausgeht. In dem ersten Aufsatz, auf welchen sich Spencer bezieht, ist davon noch nicht die Rede, weil es damals vor allem darauf ankam, die neue Erkenntniss möglichst scharf und klar hinzustellen, ich meine den Gegensatz der Wesen ohne und mit natür - lichem Tod. So habe ich damals nur die einfacheren Fälle ins Auge gefasst und die Erklärung dafür zu geben gesucht, warum die Somazellen ihre unbegrenzte Vermehrungskraft verloren, ohne noch danach zu fragen, ob es bei den höheren Metazoen mit verlegter Keimzellenstätte und bei den Cormen nicht auch somatische Zellen gebe mit unbe - grenzter Vermehrungskraft.

Schon vor mehreren Jahren hat mir de Vries ent - gegengehalten, dass bei den Pflanzen der Unterschied zwischen Somazellen und Keimzellen kein so scharfer sei, als bei den Metazoen, und ich habe ihm dies vollauf zu - gegeben und hinzugefügt, dass es bei den stockbildenden Metazoen ebenso sei. In beiden Fällen spielt eben die Knospung mit und bedingt die Anwesenheit von Zellen, welche sich die unbegrenzte Vermehrungsfähigkeit erhalten haben. Nach meiner Ansicht müssen Zellen, von welchen Knospung ausgehen soll, die Elemente enthalten, welche zum Aufbau einer neuen Person erforderlich sind, d. h. Keimplasma, oder falls mehrere Zellen zur Knospe zu - sammenwirken, eine bestimmte Combination von Deter -76 minanten. Diese Keimplasma in gebundenem Zustand füh - renden Zellen habe ich ausdrücklich als Somazellen be - zeichnet und ebenso diejenigen Zellen, welche die Keim - bahnen darstellen, d. h. welche auf dem Wege vom Ei zu den Keimzellen des aus dem Ei sich entwickelnden Meta - zoons liegen. Auch diese Zellen enthalten Keimplasma in inactivem Zustand, und so sind es also vor allem solche Somazellen, welche inactives Keimplasma führen, die die Fähigkeit unbegrenzter Vermehrung sich erhalten, oder vielleicht besser, die sie sich wiedergewonnen haben. Ich habe mehrfach hervorgehoben1) Keimplasma , 1892, p. 259 u. f., dass diese Zellen nicht einmal immer jngendliche zu sein brauchen, dass sie vielmehr auch histologisch differenzirt sein können, wie z. B. die Epi - dermiszellen des Begonia-Blattes, aus welchen neue Pflänz - chen hervorknospen (vergl. Das Keimplasma etc. p. 244 und 259). Es gibt also unsterbliche Somazellen auch nach meiner Ansicht, und in meinem neuen Buch hätte Spencer ein ganzes Capitel über Knospung finden können, in welchem unter Anderem auch der Versuch gemacht wird, die Gründe aufzudecken, warum solche Zellen bei den Pflanzen in so grosser Menge vorhanden sind.

Ein Gegensatz der Meinung aber besteht allerdings zwischen Spencer und mir in Bezug auf die Ursachen, welche die Sterblichkeit der meisten Somazellen bei den Metazoen ohne Knospung bedingen. Spencer macht äussere, ich innere Ursachen dafür verantwortlich. Mein Gegner zählt neun verschiedene Factoren auf, welche fördernd oder hemmend auf die Zellvermehrung einwirken und welche nach seiner Vorstellung allein genügen, um die beobachteten77 Verschiedenheiten in der Dauer der Zellvermehrung zu er - klären. Da ist zuerst der von den Eltern überkommene Nahrungsstoff, dann die Qualität der Nahrung, der Grad von visceral development , der für die Herbeischaffung der Nahrung nöthige Aufwand von Kraft, die Kosten für die Aufrechterhaltung der Körperwärme, und schliesslich das Verhältniss der Masse des Körpers zur Oberfläche in seinen verschiedenen Aeusserungen. Es ist nun gewiss ganz richtig, dass alle diese Factoren einen Einfluss auf die Zellvermehrung ausüben, aber wenn Spencer meint, ehe man noch andere Ursachen für die Normirung der Zell - vermehrung annehme, müsse man gezeigt haben, dass die von ihm aufgeführten nicht ausreichten zur Erklärung, so halte ich dies für einen logischen Fehlschluss. Diese Argu - mentirung würde nur dann richtig sein, wenn eine unbe - kannte Kraft zur Erklärung angenommen werden sollte, so wie z. B. Spencer eine Vererbung erworbener Eigen - schaften annimmt, um die coadaptation zu erklären. Hier steht die Sache aber anders; ich nehme zur Erklärung der verschiedenen Lebensdauer der Zellen nicht eine unbekannte Kraft an, sondern denjenigen Factor, den Herbert Spencer vergessen hat, aufzuführen, und der der wich - tigste von allen ist, nämlich die Beschaffenheit der lebenden Zellen selbst. Oder wollte mein Gegner etwa leugnen, dass die Qualität der lebenden Substanz der Zelle selbst einen Einfluss auf ihre Vermehrungsfähigkeit ausübt? Vermehren sich alle Zellen gleich stark und gleich lang, wenn sie unter denselben äusseren Einflüssen stehen, ist nicht vielmehr das Erste und Wichtigste von allem, was die Zelle bestimmt, eben ihre eigne Constitution? Es ist also wohl nicht zu bestreiten, dass diese als die zehnte78 Ursache den neun Spencer’schen hinzugefügt werden muss; meiner Meinung nach aber ist sie die Hauptursache. Die Function der Zelle hängt in erster Linie von ihrer Constitution ab, und alles Andere kommt in zweiter. In meinem XII. Aufsatz ist es aus - führlich dargestellt, wie weibliche sowohl als männliche Keimzellen des Pferdespulwurms sich ganz gesetzmässig durch eine bestimmte Zahl von Theilungen vermehren und dann unfähig werden, sich noch weiter zu theilen. Erst be - ginnen die Urkeimzellen mit mehreren Theilungen, dann kommt eine lange Unterbrechung der Vermehrung, die Ur - keimzellen wachsen und werden zu Mutterzellen. Nun erst folgt wieder eine Periode der Vermehrung, indem sich jede Zelle rasch hintereinander zweimal theilt, und dann hört die Fähigkeit zu weiterer Vermehrung auf, sowohl bei der reifen Samenzelle, als bei der Eizelle. Welche der neun Spencer’schen Ursachen mag an diesem gesetzmässigen Rythmus wohl die Schuld tragen? Die Qualität der Er - nährung vielleicht? Allein diese bleibt sich gleich während der ganzen Zeit, der Keimstock des Thieres schwimmt im Blut, und während die erstgebildeten Keimzellen schon die Reife erlangt haben, bilden sich andere erst zu Mutterzellen aus u. s. w. Oder ist das Verhältniss der Masse der Zelle zu ihrer Oberfläche daran Schuld? Aber die reife Eizelle vermag sich nicht zu vervielfältigen und dennoch, sobald die win - zige Masse der Samenzelle hinzugekommen ist, fängt sie an, sich fort und fort zu theilen, und in einem ganz anderen und neuen Sinn, der auch nirgends anders, als in ihrer eigenen lebendigen Substanz seinen Grund haben kann. Oder muss ich auch noch daran erinnern, dass es Eier gibt, bei denen79 diese lange Episode ontogenetischer Theilungen auch ohne Amphimixis eintritt, die parthenogenetischen Eier? Dass bei manchen Schmetterlingen (Bombyx mori z. B.) die meisten Eier nur auf Befruchtung hin in diese Episode eintreten, ein - zelne aber auch ohne diese? Und das sollte nicht wesent - lich und in erster Linie von der Constitution des Eies selbst, d. h. von der Qualität und Menge seiner Lebens - theilchen abhängen? Und diese Episode selbst, die mit der Befruchtung anhebt und mit dem Tode schliesst, sie sollte nicht nur nach ihrer Qualität, sondern auch nach ihrer Dauer von etwas Anderem bestimmt werden?

Spencer findet einen Widerspruch darin, wenn ich einerseits die Normirung der Lebensdauer der Arten von den äusseren Lebensbedingungen abhängig sein lasse und andererseits die Dauer des Lebens auf innere Qualitäten der Zellen beziehe. Wenn der König befiehlt, die Flotte soll auslaufen, ist dann er es, der die Schiffe mit Kohlen ver - sieht, mit Mannschaft, mit Vorräthen, der die richtigen Leute aussucht und an den richtigen Platz stellt, der die Schiffe auswählt, den Curs bestimmt oder der die Maschinen macht und zusammensetzt u. s. w.? Nun, der König entspricht hier den äusseren Lebensbedingungen; sie sind es, welche be - fehlen: diese Art soll eine Lebensdauer von zwei, von zehn, von hundert Jahren haben; die Mittel aber, durch welche dieser Befehl ausgeführt wird, liegen nach meiner Auffassung in erster Linie in der Normirung des Zellenlebens. Es ist leicht, misszuverstehen, wenn man misszuverstehen wünscht (vergl. Spencer’s Appendix p. 748). Die Arbeitstheilung im Metazoenkörper hat es mit sich gebracht, dass viele Drüsen - und Epithelzellen sich durch ihre eigenen Functionen aufreiben, und dass sie fortwährend neu ersetzt werden80 müssen. Wir wissen es noch nicht ganz genau, in welchem Grade andere hoch differenzirte Zellen, wie Muskel - und Nervenzellen, demselben Schicksal unterworfen sind, aber dass sie durch die Function abgenutzt werden, ist sehr wahrscheinlich. Meine Hypothese besteht nun darin, dass ich annehme, es sei der Wiederersatz der durch die Function zu Grunde gehenden Somazellen bei jeder Art regulirt, und zwar durch Modificationen in ihrer Constitution. Da Fort - pflanzung so gut eine Function ist als Ernährung, so wird auch sie von der Constitution der Zelle regulirt werden müssen, d. h. bei gleicher Ernährung u. s. w. wird die eine Zellenart sich rascher, die andere langsamer fortpflanzen, der Process der Fortpflanzung wird bei der einen früher, bei der anderen später sein Ende finden.

Die somatischen Zellen haben durch einseitige Ausbildung für eine bestimmte Function die unbegrenzte Fortpflanzungs - fähigkeit verloren; sie konnten einen hohen Grad der Dif - ferenzirung annehmen, weil ihre unbegrenzte Fortpflanzungs - fähigkeit für die Erhaltung der Art nicht mehr nöthig war. Im Aufsatz XI heisst es p. 645: Ich glaube, gezeigt zu haben, dass Organe, welche nicht mehr gebraucht werden, schon allein durch Panmixie rudimentär werden und schliess - lich ganz schwinden müssen, nicht durch die directe Wirkung des Nichtgebrauchs, sondern dadurch, dass Naturzüchtung sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhält. Was für Organe gilt, gilt ebenso auch für Functionen, denn Func - tionen sind nur der Ausdruck einer bestimmten Beschaffen - heit materieller Theile, mögen wir nun dieselben wahrnehmen oder nicht. Wenn nun also die Unsterblichkeit der Ein - zelligen darauf beruhen muss, dass ihre Substanz so zu - sammengesetzt ist, dass der Stoffwechsel genau wieder in81 sich zurückkehrt , warum sollte und wie könnte diese die Unsterblichkeit bedingende Beschaf - fenheit der Lebenssubstanz auch dann noch beibehalten worden sein, als sie nicht mehr nöthig war? Und es liegt doch auf der Hand, dass sie nicht mehr nöthig war bei den somatischen Zellen der Viel - zelligen. Ich fahre heute fort: Da aber, wo sie nöthig war, wie bei den die Knospung bedingenden Zellen, musste sie erhalten bleiben und blieb erhalten. Ich füge weiter hinzu, dass nicht blos bei hoher histologischer Differenzirung der Zellen die unbegrenzte Theilbarkeit derselben verloren ging, sondern überall, wo sie nicht mehr nöthig oder vortheilhaft war, wie dies dem Princip der Panmixie entspricht. So er - klärt sich z. B. die im Aufsatz XI, p. 646 mitgetheilte Be - obachtung des Botanikers Klein, aus welcher hervorgeht, dass schon bei einem der niedersten Heteroplastiden, dem Volvox, die Körperzellen sterben, wenn die Fortpflanzungs - zellen entleert sind, obwohl doch hier die somatischen Zellen sich selbständig ernähren und die äusseren Bedingungen nach wie vor dieselben sind. Dennoch sterben die Somazellen und vermehren sich nicht weiter, und es dürfte Herbert Spencer schwer werden, eine seiner neun Ursachen der Zellregulirung dafür verantwortlich zu machen, während meine Annahme, dass diese Somazellen durch ihre eigne Beschaffen - heit auf eine bestimmte Anzahl von Zellgenerationen normirt sind, auf begründeten Widerspruch kaum treffen dürfte.

Mein berühmter Gegner kommt zum Schluss und ge - wissermaassen als Krönung seines ganzen Gebäudes von Be - weisen wieder auf die Vererbung erworbener Eigen - schaften zurück und führt für sie jene zweifelhaften Fälle an, in welchen das Kind nicht dem Vater, sondern einemWeismann, Allmacht der Naturzüchtung. 682früheren Gatten seiner Mutter gleichen soll. Wenn er in mein neues Buch etwas genauer hineingesehen hätte, so würde er gefunden haben, dass auch mir diese Fälle nicht entgangen sind, und dass ich sie da eine brauchbare Be - zeichnung noch nicht vorhanden war1) Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung , Jena 1892, p. 505. als Telegonie oder Fernzeugung in einem besonderen Capitel besprochen habe. Sie waren bisher meist als Infection des Keims , oder auch als Superfötation bezeichnet worden. Auch mir sind viele solche Fälle erzählt worden, unter Anderem habe ich schon vor vielen Jahren in Bezug auf die Ver - mischung von Negern und Weissen von einem Arzt aus New - Orleans dasselbe versichern hören, was Spencer jetzt von einem distinguished correspondent aus den Vereinigten Staaten erfahren hat. Solange man aber keine besseren Daten, als solche on dit hat, wird man die Telegonie noch nicht als eine Thatsache betrachten dürfen; es können hier so viele Täuschungen mit unterlaufen, dass man ohne be - weisende Versuche die Sache nicht für sicher halten und wissenschaftliche Schlüsse darauf bauen kann. Darum habe ich in meinem Buch zu solchen Versuchen aufgefordert1) Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung , Jena 1892, p. 505. und zwar speciell die zoologischen Gärten, in denen die nöthige Sorgfalt und Ueberwachung der Thiere längere Zeit - räume hindurch leichter möglich ist, als in kleinen zoo - logischen Instituten, wie z. B. in meinem eigenen.

Spencer nimmt heute schon die Telegonie als erwiesen an und sieht in ihr an absolute disproof of Professor Weismann’s doctrine that the reproductive cells are inde - pendent of, and uninfluenced by, the somatic cells und83 glaubt durch sie jedes Hinderniss überwunden, welches der transmission of acquired characters im Wege stand.

Sehen wir zu, wie Spencer die Telegonie zu einem Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften des Körpers stempelt. Nach seiner Ansicht zeigen diese Fälle that while the reproductive cells multiply and arrange themselves during the evolution of the embryo, some of their germ-plasm passes into the mass of somatic cells constituting the parental body and becomes a permanent component of it. Further they necessitate the inference, that this intro - duced germ-plasm, everywhere diffused, is some of it in - cluded in the reproductive cells subsequently formed . Ich verstehe nicht, auf welche Thatsachen Spencer sich berufen könnte, wenn er Keimplasma aus den Zellen des Embryo in die der Mutter übergehen lässt. Der Embryo der Säuge - thiere steht nur durch die Placenta mit mütterlichem Gewebe in engem Contact, sollten die Zellen der Placenta Keimplasma enthalten? Aber ich vergesse, dass Spencer auf der Vor - stellung völlig gleichartiger physiological units steht, von der freilich erst gezeigt werden müsste, wie sie im Stande ist, die Differenzirungen beim Aufbau des Körpers zu erklären. Da würde mir die Vorstellung noch eher annehmbar scheinen, dass einige der Spermazellen sich in Körperzellen der mütter - lichen Gewebe einbohren, damit wäre doch wenigstens die Anwesenheit von väterlichem Keimplasma gesichert. Allein auch diese Vermuthung stimmt nicht mit den Thatsachen, da wir wissen, dass die Samenzellen zwar sehr stark von den Eizellen angezogen werden, nicht aber von anderen be - liebigen Zellen. Die Vorstellung Spencer’s vollends, dass das vom Embryo in Zellen der Mutter, also doch wohl der mütterlichen Placenta eingedrungene väterliche Keimplasma6*84sich der ganzen Masse der somatic cells des mütterlichen Körpers mittheile, ist eine so phantastische, dass ich wohl mit Spencer sagen darf: let us not be content with words, but look at the facts ! Die Thatsachen aber, auf welche er sich dabei beruft, sind wohl in diesem Sinne durchaus un - verwerthbar. Allerdings hat Sedgwick beobachtet, dass die Zellen des Peripatus-Embryo ein sog. Syncytium bilden, d. h. dass ihre Zellkörper sichtbarlich nicht voneinander geschieden sind, auch ist es bekannt, dass bei Pflanzen und bei Thieren die Zellen mancher oder vieler Gewebe durch protoplasmatische Ausläufer in Verbindung stehen, aber be - weist das, dass Keimplasma auf diesem Wege von Zelle zu Zelle transportirt wird? Der Nachweis, dass eine Land - strasse von London nach Oxford führt, genügt nicht, um zu beweisen, dass Peter sie gegangen ist.

Wenn Herbert Spencer auch nur einen Blick in meine Aufsätze V, VI und XII geworfen hätte, so wäre es unerklärlich, wie er die Forschungen des letzten Jahrzehnts über das mikroskopische Verhalten des Zellkerns bei seinen Hypothesen so gänzlich ausser Acht lassen konnte. Wir besitzen doch heute eine Fülle von Thatsachen, welche mit Sicherheit schliessen lassen, dass die Vererbungssubstanz im Kern der Keimzelle enthalten und dort derart eingeschlossen und sorgfältig aufbewahrt ist, dass sie niemals als Ganzes aus der Kernkapsel herauskommt. Soll sie einer anderen Zelle mitgetheilt werden, so geschieht dies auf dem Wege der Kern - und Zelltheilung. Ein besonderer Apparat von erstaunlicher Feinheit und Präcision ist dafür in der Zelle enthalten, dessen wunderbarer Mechanismus heute noch den Gegenstand eifriger Forschung unserer besten Mikroskopiker auf botanischem, wie auf zoologischem Gebiete bildet. Wozu85 wäre dieser ganze Theilungs-Apparat, wenn die Vererbungssubstanz ebenso gut durch den Zellkörper von Zelle zu Zelle versandt werden könnte? Die Forschungen haben ferner ergeben, dass die Vermischung der Vererbungssubstanz zweier fremder Zellen, d. h. solcher, die nicht Geschwisterzellen sind, durch einen besonderen verwickelten Vorgang zu Stande kommt, den ich als Amphimixis bezeichnete, und der, soweit wir wissen, regelmässig nur als Conjugation bei den Einzelligen und als Befruchtung bei den Vielzelligen vorkommt. Nur bei den höheren Pflanzen ist Amphimixis auch bei anderen Zellen beobachtet worden als regelmässige Erscheinung, nämlich bei gewissen zwei Kernen des sog. Embryosackes . Es ist durchaus nicht unmöglich, dass Amphimixis auch sonst noch vorkommt, wenn auch nur ausnahmsweise, d. h. unter ganz besonderen dafür günstigen Umständen, und ich habe den Versuch gemacht, die Entstehung der Propfbastarde , z. B. des berühmten Cytisus Adami, auf diese Weise zu erklären. Ich schloss aus den Thatsachen, dass Vererbungssubstanz (Idioplasma) allein in den Kernstäbchen seinen Sitz hat, eine feste Substanz ist und nur durch Zell - und Kern-Ver - schmelzung gemischt werden kann , dass der Entstehung eines Propfbastards die Amphimixis zweier Cambiumzellen der beiden Pflanzen-Species an der Propfstelle zu Grunde liegen muss, fügte aber hinzu, dass hier ein ungewöhnlicher Zufall bei der Bildung einer solchen Mischlingsknospe gewaltet haben muss , da alle Versuche, diesen Mischling (Cytisus Adami) zum zweiten Male hervorzubringen, bisher vergeblich gewesen sind 1) Keimplasma , deutsche A., p. 447..

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Wenn wir nun aber auch vermuthen dürfen, dass unter besonders günstigen Verhältnissen Amphimixis auch zwischen anderen, als Keimzellen stattfinden kann, so wäre es doch ganz unzulässig, anzunehmen, dass dies häufig und unter beliebigen somatischen Zellen vorkäme, oder gar bei allen Somazellen und fortwährend, wie dies angenommen werden müsste, wenn Spencer’s Voraussetzung der Versendung von Keimplasma vom Embryo aus durch den Körper der Mutter wirklich stattfinden sollte. Eine solche Verbreitung aber, wie er selbst sie sich vorstellt, also ohne Amphimixis, nur durch proto - plasmatische Zellausläufer von Zelle zu Zelle steht in un - lösbarem Widerspruch mit den eben angeführten Thatsachen. Das Keimplasma wird von der Natur sorgfältig in eine Kapsel eingeschlossen in jeder Keimzelle und nur unter höchst verwickelten Vorsichtsmaassregeln den Tochterzellen, nur unter der Form der Amphimixis fremden Zellen ausgeliefert. Dies nimmt uns das Recht, anzunehmen, Keimplasma könne auch, einem Schwarm von Vögeln gleich, sich von Zelle zu Zelle durch den ganzen Körper verbreiten, zumal wenn kein anderer Grund für diese Annahme vorhanden ist, als damit die Hypothese von der Vererbung erworbener Eigenschaften dadurch plausibel gemacht werden könne1)Vergleiche Keimplasma , p. 37..

Wenn deshalb Spencer als a sample of his (i. e. my) reasoning anführt, dass ich selbst auf der einen Seite zu - gebe, es könnten die Bakterien der Syphilis oder die von mir vermutheten Mikroorganismen der traumatischen Epi - lepsie aus einem von diesen Krankheiten durchseuchten Körper in die Keimzellen desselben einwandern, während ich auf der anderen Seite das parental protoplasm , d. h. die87 Vererbungssubstanz dort nicht zulasse1)a. a. O., p. 448., so vergisst er, dass die Infection des Keimes durch Syphilis eine erwiesene That - sache ist, während ein im Körper der Mutter vagabundirendes Keimplasma noch nie gesehen worden ist und aller Erfah - rung über die Uebertragung desselben von einer Zelle in eine andere geradezu Hohn spricht. Es leidet keinen Zweifel, dass ein Mörder von London nach Paris fahren kann, so gut wie ein anderer Mensch, wenn er aber im Zuchthaus eingesperrt ist, so geht das nicht so ohne weiteres, er muss erst seinen Kerker sprengen. Dazu scheint das Keimplasma nur unter ganz bestimmten Bedingungen im Stande zu sein, während die freie Mikrobe ungehindert mittelst der Blut - und Säfteströmung und wohl auch durch Wanderung von Zelle zu Zelle durch den ganzen Körper gelangt.

Die Spencer’sche Erklärung der Telegonie ist also durchaus unzulässig, und die Erscheinung selbst, weit ent - fernt, an absolute disproof of Professor Weismann’s doctrine zu sein, lässt sich vielmehr mit dessen Theorie jedenfalls sehr viel leichter in Einklang setzen, falls sie sich als wirk - lich existirend erweisen sollte. In meinem Keimplasma habe ich bereits eine Erklärung für sie versucht. Dieselbe ergibt sich so einfach und natürlich aus meinen Anschauungen über Keimplasma, Amphimixis u. s. w., dass Romanes, ohne noch mein Buch gesehen zu haben, in seinem schon erwähnten, gegen Spencer gerichteten Artikel sie sich der Hauptsache nach ganz conform mit mir gewissermaassen construirte als die Antwort, welche ich vermuthlich Herbert Spencer geben würde. Ich habe übrigens dieselbe Er - klärung für Telegonie schon im Jahre 1887 in der biologischen88 Section der britischen Naturforscher-Versammlung zu Man - chester gegeben, als ich gefragt wurde, wie ich solche Fälle mit meiner Theorie vereinigen könnte. Es gibt keine ein - fachere Annahme, als die, dass die Spermatozoen zuweilen bis ins Ovarium gelangen und dort in einzelne unreife Eier eindringen. Amphimixis kann nicht stattfinden, da das Keim - plasma des Eies noch nicht reif ist, aber der Kern der Samenzelle bleibt unter Umständen lebendig und erhält sich so bis zu der Zeit einer zweiten Begattung durch einen zweiten Gatten. Erfolgte dies einige Zeit nach Ablauf der ersten Geburt, so würde es leicht ungefähr mit der zweiten Begattung zusammentreffen, und so den Schein erwecken, als ob die Befruchtung von dieser herrührte. Mit dieser Andeutung einer Erklärung glaubte ich mich begnügen zu dürfen und fuhr deshalb fort (a. a. O. p. 507): Gesetzt, die Telegonie würde erwiesen, so müsste man eine solche nach - trägliche Befruchtung einer Eizelle für möglich halten; freilich dürfte man sich dann billig wundern, warum nicht gelegent - lich Stuten, Kühe oder Schafe trächtig werden, ohne zum zweiten Male belegt worden zu sein. Bis jetzt ist dies noch niemals beobachtet worden, und so möchte ich glauben, dass die Ansicht von Settegast die richtige ist, nach welcher es Telegonie überhaupt nicht gibt, und alle dafür angeführten, und von ihm kritisch erörterten Fälle auf Täuschung beruhen.

Ich muss sagen, dass ich auch heute noch, trotz der von Spencer und von Romanes neu beigebrachten Fälle, die Telegonie nicht für erwiesen halte, obgleich ich mich dadurch bei Herbert Spencer dem Verdacht aus - setze, dass ich nicht nur bereit bin, to base conclusions on things it is easy to imagine , sondern dass ich auch reluc -89 tant bin, to accept testimony which it is difficult to doubt . Ich bestreite nicht die Möglichkeit der Telegonie, ich ge - stehe sogar, dass von jeher die weite Verbreitung dieser Annahme mir Eindruck gemacht hat, dass ich mir sagte, sie könne möglicherweise eine berechtigte sein, und Thatsachen ihr zu Grunde liegen. Ist ja doch auch der Rost des Getreides (Puccinia graminis) seit Langem von den Bauern mit der Berberitze als Ursache desselben ganz richtig in Verbindung gebracht worden, ehe es de Bary gelang, diese populäre Sage zur wissenschaftlichen Thatsache zu erheben, indem er zeigte, dass der Pilz auf dem Getreide in Gene - rationswechsel stehe mit dem Aecidium Berberidis auf den Berberitzen-Blättern. Man soll also, so meine ich, solche Volkssagen nicht ohne weiteres als Fabeln verwerfen. Ich würde auch einen Fall wie denjenigen von Lord Morton’s Stute für einen genügenden Beweis halten, wenn er völlig sicher und unzweifelhaft wäre. Allein das ist keineswegs der Fall, wie schon Settegast eingehend gezeigt hat1)H. Settegast, Die Thierzucht , Breslau 1878, Bd. I, p. 225 u. f.. Er bezweifelt nicht, dass, nachdem die Stute mit einem Quaggahengst einen Bastard als Erstling gezeugt hatte, sie später von einem Pferdehengst Füllen brachte, die streifige Zeichnung am Halse, Widerrist und an den Beinen besassen , aber er bestreitet, dass irgend welche andere Merk - male des Quagga an dem Füllen zu sehen gewesen seien. An den Bildern von Agasse in Surgeon’s College zu London würde auch die lebhafteste Phantasie keine Aehnlichkeit mit den Formen des Quagga herauszufinden vermögen . Die Streifen allein aber genügen, wie er meint, zu einem Be -90 weise nicht, weil jeder erfahrene Pferdezüchter wisse, dass die Fälle gar nicht so selten sind, in denen Füllen mit strei - figen Zeichnungen, welche an Quagga - oder Zebrastreifen er - innern, geboren werden. Sie verschwinden regelmässig mit zunehmendem Alter des Füllens. Dazu bemerkt ein so er - fahrener Züchter wie Nathusius: Bei mir hatte eine einfarbige, hellbraune Stute von Dan Dawson zuerst hinter - einander fünf einfarbige Füllen von dem Vollbluthengst Belzoni, darauf zwei einfarbige Füllen von dem Traber - hengst Schulz; das achte Füllen, von einem Schimmelhengst Chiradam, war bei der Geburt von einer unklaren graufalben Farbe mit dunkelm Rückenstrich und hatte am Knie - und Sprunggelenk zebraähnliche dunkle Querstreifen und zwar viel deutlicher, als solche in dem Morton’schen Falle vorhanden waren; noch im ersten Jahre ver - schwanden diese Zeichnungen, und das Thier wurde Schimmel wie der Vater.

Auch Versuche mit der Absicht, die Telegonie zu er - weisen, sind bereits angestellt worden, wie ich aus einer Anmerkung bei Settegast p. 226 ersehe. Ein Herr Lang in Stuttgart hat zwanzig Jahre hindurch mit Hunden Ver - suche angestellt, die ihm aber auch nicht eine Thatsache lieferten, welche der Infections-Theorie Vorschub zu leisten geeignet gewesen wären . Natürlich beweisen hier negative Erfolge nichts, und die Entscheidung muss durch neue Ver - suche angestrebt werden, da aber positive Ergebnisse von Versuchen bis jetzt nicht vorliegen, und da grade die com - petentesten Beurtheiler, die wissenschaftlich gebildeten unter den Thierzüchtern, wie Settegast, Nathusius und der kürzlich verstorbene Leiter der preussischen landwirthschaft - lichen Versuchsstation zu Halle, Professor Kühn, trotz sehr91 ausgedehnter Erfahrung in Züchtung und Kreuzung niemals Erscheinungen der Telegonie beobachtet haben und dieselbe deshalb entschieden bezweifeln, so scheint mir, dass nach den in der Wissenschaft geltenden Principien erst die Bestätigung der Sage durch die metho - dische Untersuchung, in diesem Falle durch das Experiment im Stande sein würde, die Tele - gonie zum Rang einer Thatsache zu erheben.

Ich schliesse damit meine Erwiderung an Herbert Spencer, obgleich seine Angriffe noch manchen Punkt be - rühren, auf den näher einzugehen, nicht uninteressant wäre. Allein die Fragen, um welche es sich handelt, sind tief - greifende und können nicht mit einigen Worten abgemacht werden. Ich hoffe, später an anderer Stelle auf sie zurück - zukommen. Wenn es mir auch schwerlich gelungen sein wird, meinen Gegner zu überzeugen das gewöhnliche Schicksal polemischer Entgegnungen , so wird doch vielleicht der unbefangene Leser die gute Begründung meiner Ansichten zugestehen. Weitere Polemik halte ich für nutzlos. Ich überlasse es ruhig der Zukunft, zu unterscheiden, ob und inwieweit meine Ansichten zum unbestrittenen und festen Besitz der Wissenschaft werden können. Sie haben wohl jetzt schon manche gute Frucht getragen, indem sie der Forschung neue Gesichtspunkte eröffneten und dadurch neue Thatsachen ans Licht lockten, und ich hoffe, sie werden noch weiteren Fortschritt bringen.

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In demselben Heft des Biologischen Centralblattes, in welchem der Eingangs besprochene Aufsatz von Wilckens steht, befindet sich ein solcher von Carlo Eméry1) Biologisches Centralblatt vom 15. Juli 1893., Ge - danken zur Descendenz - und Vererbungstheorie , dem ich hier noch einige Worte widmen möchte. Nicht etwa, dass ich auf alle die Fragen eingehen wollte, welche in der an - regenden Arbeit berührt werden das würde nicht so kurzer Hand geschehen können wohl aber möchte ich das Verhältniss, in welchem der Verfasser zum Lamarckismus steht, ein wenig beleuchten, da es mir im Interesse des Fort - schreitens unserer Erkenntniss wünschenswerth erscheint, dass Diejenigen zusammenstehen, welche die gleiche Ueberzeugung haben, und dass diese Uebereinstimmung nicht durch blosse Wortdifferenzen maskirt bleibe.

Der gedankenreiche Verfasser erklärt sich in seinem Aufsatz in wesentlichen Punkten mit meinen Ansichten über Vererbung einverstanden, scheint aber grade in Bezug auf diejenige Frage, welche von allen am tiefsten in die Ent - wickelungslehre eingreift, ganz entgegengesetzter Ansicht zu sein, ich meine in Bezug auf die Nichtvererbung erworbener Eigenschaften, denn er sagt: dass erworbene Eigen - schaften der Organismen wirklich vererbt werden können, scheint mir heute zweifellos .

Man wird nun erwarten, Eméry würde die Ansicht der Lamarckianer zu der seinigen machen, nach welcher functio - nelle, d. h. durch die Function gesetzte Abände - rungen vererbt werden können, allein das ist durchaus nicht seine Meinung, er spricht nirgends davon, dass das Keim -93 plasma durch Abänderungen des Körpers in adäquater Weise umgewandelt werden könne, und steht offenbar dem La - marckismus gegenüber auf meiner Seite.

Die ganze Frage gipfelt ja darin, ob functionelle Hyper - trophie oder Atrophie vererbbar sind; an dieser Entschei - dung hängt es, ob wir das Hauptveränderungsprincip La - marck’s, Uebung oder Nichtgebrauch eines Organs , bei - behalten dürfen oder nicht.

Eméry’s Satz nun, dass erworbene Eigenschaften der Organismen vererbt werden könnten, bezieht sich gar nicht auf functionelle Abänderungen, sondern auf ganz andere Er - scheinungen, die mit dem Lamarck’schen Entwickelungs - princip nichts zu thun haben, nämlich auf die Vererb - barkeit allgemeiner Zustände des Körpers, wie des Alkoholismus, der Epilepsie und der erwor - benen Immunität für gewisse Krankheiten. Er stellt sich vor, es seien chemische Fermente , welche in flüssiger Form von den Keimzellen aufgenommen und so auf die folgende Generation übertragen würden, und die nun dort die entsprechenden Krankheiten oder Immunitäten er - zeugten. Ich will darüber nicht streiten, ob diese Vor - stellung haltbar oder gar heute schon beweisbar sei, aber ich möchte fragen, ob es zweckmässig ist, diese Uebertragung von Zuständen der Eltern auf die Kinder Vererbung zu nennen? Ich selbst habe einige davon als Infection des Keimes bezeichnet, soweit es mir nämlich nachgewiesen oder doch wahrscheinlich schien, dass sie auf der Ueber - tragung fremder parasitischer Organismen beruhen, wie dies für die Pebrine der Seidenraupe sicher, für die Syphilis mindestens wahrscheinlich, für die traumatische Epilepsie wenigstens denkbar ist. Warum sollen wir den scharf ge -94 fassten Begriff der Vererbung wieder unklar werden lassen, indem wir abnormale Vorgänge hineinrechnen, die mit der Architectur des Keimplasmas nichts zu thun haben? Nur von dieser und den sie zusammensetzenden chemischen Baustoffen kann die wirkliche Vererbung bedingt sein, d. h. die Wiederholung des elterlichen Baues im Kind, die Ver - mischung der elterlichen Eigenschaften und die Durchsetzung derselben mit solchen weiter zurückliegender Vorfahren. Die diese normale Vererbung bewirkende Substanz kann keine Flüssigkeit, sie muss eine feste Substanz sein, und zwar deshalb, weil die ungeheure Mannigfaltigkeit des Keim - plasmas nach Individuen und Arten, wie wir sie aus der Beschaffenheit der fertigen Organismen erschliessen können, undenkbar wäre, wenn die Vererbungssubstanz eine Flüssig - keit wäre. Das hat vor mir schon Nägeli in überzeugender Weise dargethan. Wie sollte diese unendliche Mannigfaltig - keit zu Stande kommen, wenn die Molecüle der Vererbungs - substanz als Lösung vorhanden wären, d. h. keine bestimmten Lagerungsverhältnisse gegen einander einhielten, wenn sie also rein nur auf der chemischen Verschiedenheit dieser Molecüle beruhen müsste? Ueberdies kann die lebende Sub - stanz nicht aus freien Molecülen zusammengesetzt sein, sondern sie muss aus fest zusammengeordneten Molecül - gruppen bestehen, aus dem, was de Vries Pangene, Wiesner Plasome, ich selbst Lebensträger oder Biophoren genannt habe.

Ich will nicht gradezu bestreiten, dass ausser para - sitischen Organismen auch noch gelöste chemische Fer - mente den Keimzellen beigemengt sein können, obgleich mir die Vorstellung solcher Fermente noch recht unbestimmt, und ihre Existenz noch nicht wirklich erwiesen zu sein95 scheint, aber dann, meine ich, sollte man sie nicht zur Ver - erbungssubstanz rechnen, sondern sie als eine Zuthat be - trachten, als eine Beimischung zur Keimzelle, als eine Intoxication oder Beladung derselben mit Giftstoffen oder Gegengiften. Gewiss sind die Erscheinungen, auf welche Eméry sich bezieht, von grossem Interesse, die sonderbaren Kachexien, welche nach der Exstirpation des Pancreas, der Nebennieren und der Thyreoidea bei höheren Wirbelthieren entstehen; vielleicht ist es auch ein glücklicher Gedanke, die - selben mit den nicht minder auffallenden Erscheinungen der Arrhenoidie oder Telyidie in Parallele zu setzen und beide auf das durch die Entfernung der betreffenden Organe, in letzterem Falle also der Geschlechtsdrüsen, hervorgerufene Fehlen eines wichtigen und geheimnissvollen Ausscheidungs - stoffes zu beziehen in jedem Falle aber haben derlei Vorgänge mit der Vererbung nichts zu thun, und ich möchte es für recht wünschenswerth halten, dass sie scharf von ihr gesondert würden. Schon vor langer Zeit habe ich den Satz verfochten, dass Ei - und Samenzelle in ihrer Vererbungs - wirkung homodynam seien; heute zweifelt wohl Niemand mehr daran, dass sie dies wirklich sind, dass sie beide gleiche Mengen einer im Allgemeinen gleichen Vererbungs - substanz enthalten. Dies schliesst aber nicht aus, dass sie nicht in Bezug auf ihre eigene Lebensthätigkeit verschieden seien, und wir wissen ja, dass sie dies wirklich sind, sie sind verschieden gebaut und verhalten sich verschieden. Sie scheiden auch aller Wahrscheinlichkeit nach verschieden - artige Stoffe aus, denn sie ziehen sich gegenseitig an, und die berühmte Entdeckung Pfeffer’s an niederen Algen deutet darauf, dass solche Anziehungen auf der Ausscheidung gewisser Stoffe beruhen, wie denn auch die Erfahrungen96 Auerbach’s mit der kyanophilen und erythrophilen Sub - stanz der beiderlei Geschlechtszellen vielleicht eine Deutung nach dieser Richtung zulassen. Aber Niemand wird behaupten dürfen, dass diese hypothetischen Anziehungssubstanzen etwas mit der Vererbungssubstanz zu thun hätten; diese bleibt viel - mehr ganz unberührt von dem Verhalten der Geschlechts - zellen und tritt erst in Function, wenn der neue Organismus gebildet werden soll. Die Keimzelle führt also Stoffe mit sich und bringt sie in diesem Falle sogar hervor, welche den Vererbungsvorgang zwar herbeiführen helfen durch Ermög - lichung der Amphimixis, selbst aber durchaus nicht etwa einen Theil der Vererbungssubstanz ausmachen. In ähnlicher Weise können nun die Keimzellen noch mit anderen festen oder wenn Eméry Recht hat auch gelösten Stoffen beladen sein, und wenn diese im Kind Aufnahme und Ver - mehrung erlangen, erzeugen sie ähnliche Zustände, krank - hafte oder Krankheit verhindernde, wie sie in den Eltern be - standen hatten, als die betreffenden Keimzellen sich in ihnen bildeten. Das ist nicht Vererbung, sondern entweder An - steckung des Keims oder Gifttransport durch den Keim.

So sind also auch Eméry’s interessante Gedanken nicht geeignet noch bestimmt, dem Princip Lamarck’s wieder zur Geltung zu verhelfen; sie betreffen diese Frage gar nicht, und es ist blos eine ungewöhnliche Ausdehnung des Begriffes der Vererbung, welche den Schein eines Ein - tretens für dieses Princip hervorruft.

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TextDie Allmacht der Naturzüchtung
Author August Weismann
Extent113 images; 24743 tokens; 5159 types; 176347 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Allmacht der Naturzüchtung Eine Erwiderung an Herbert Spencer. August Weismann. . IV, 96 S. FischerJena1893.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Li 13103http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=40532779X

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Biologie; Wissenschaft; Biologie; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:35:42Z
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Availability

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Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Li 13103
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