Ein Stamm, aus dem der Erlöſer, die Madonna, die Apoſtel hervorgegangen, der nach tauſendjähriger Ver - folgung dem Glauben und den Sitten ſeiner Väter treu geblieben, nach tauſendjährigem Drucke noch hervorra - gende Größe für Wiſſenſchaft und Kunſt erzeugt, muß jedem andern ebenbürtig ſein. Die Verhältniſſe der Juden in Preuſſen von v. Rönne und Simon.
In Berghoff, dem prächtigen, am Meere gelegenen Landhauſe des Kaufmanns Meier, finden wir Jenny wieder. Neben ihr Clara Horn, die zu Jenny hinausgefahren war und nun mit bangem Herzklopfen der Ankunft Eduard's harrte. Sie hatte ihn noch nicht wie - dergeſehen, und war lange mit ſich zu Rathe gegangen, wie und wann dies erſte Begegnen vor ſich gehen könne. Eduard war allerdings in ſeinem Berufe bei ihrer Mutter geweſen, und hatte lange dort verweilt, in der Hoffnung, Clara werde endlich wieder für ihn ſichtbar werden; aber ſie war nicht erſchienen. So re - ſignirt ſie ſich fühlte, war ſie doch ihrer FaſſungII. 12nicht gewiß genug, um im Beiſein ihrer Mutter Eduard zum erſten Male ſprechen zu wollen, und endlich, als die Sehnſucht nach ihm immer reger wurde, benutzte ſie ihr Verſprechen, Jenny in Berghoff zu beſuchen, in der Vorausſetzung, daß Eduard den Abend dort zubringen und die Anweſenheit der ganzen Familie ihr eine ruhige Haltung möglich machen werde.
Clara's Eintritt erregte große Freude bei den Damen, aber zugleich ein allgemeines Fra - gen nach ihrem Ergehen, denn man fand ſie ſehr bleich und leidend. Sie verſicherte indeſſen, ſich vollkommen wohl zu fühlen, und ging gleich zu einer allgemeinen Unterhaltung über, wozu Herr Meier, der ebenfalls anweſend war und Clara mit ungewöhnlicher Aufmerkſamkeit be - handelte, ihr hülfreich die Hand bot. Jenny aber täuſchte das nicht, und ſie benutzte die erſte Gelegenheit, ſich mit Clara zu entfernen, um wo möglich von ihr ſelbſt zu erfahren, was3 ſeit der Scene im Garten zwiſchen Eduard und ihrer Freundin vorgegangen ſei, und ob ſie den beiden, ihr ſo theuern Perſonen irgend Beiſtand oder Troſt gewähren könne.
Wie wir früher berichtet, hatten die jun - gen Mädchen eine innige Freundſchaft für ein - ander gefaßt, und ſich faſt über Alles auſge - ſprochen, was ſie berührte. Jenny kannte Wil - liam's Neigung für ihre Freundin, ſeine Wer - bung und die Scheu, mit der Clara an die Zeit ſeiner Rückkehr dachte, ohne daß eines der beiden Mädchen aus leicht begreiflicher Rückſicht jemals den Grund berührt hatte, der Clara dieſer Verbindung abgeneigt machte. So lange Jenny ihre Freundin heiter und Eduard unver - ändert ruhig geſehen, hatte ſie es für indiscret gehalten, ſich in ein Verhältniß zu drängen, das man ihr verheimlichen wollte; nun ſie aber in Clara's bleichem Antlitz, in Eduard's düſte - rer Stimmung das Leiden ihrer Seelen las,1*4konnte ſie ſich nicht länger überwinden, und mit aller ihr eigenthümlichen Lebhaftigkeit kniete ſie vor Clara nieder, und bat, indem ſie ſie mit beiden Armen umſchlang: „ Sage mir, Clara, was iſt geſchehen? Warum haſt Du ſo viel ge - litten, daß Du bleich und traurig ausſiehſt? Was fehlt Eduard? Sage es mir, wenn ich nicht das Aergſte fürchten ſoll, wenn Du mich genug liebſt, mich mit Dir leiden zu laſſen. “
„ Du weißt es “, antwortete Clara, „ aber gerade darum laß mich davon ſchweigen. Helfen kannſt Du mir nicht, Niemand kann es, und das Einzige, was Du für mich thun ſollſt, iſt, mich mit Eduard ein paar Minuten allein zu laſſen, wenn er heute herauskommt. Willſt Du das? “
Jenny verſprach es, und traurig ſaßen ſie lange beiſammen, bis der Hufſchlag eines Pfer - des die Ankunft eines Reiters verkündete und nach einer Pauſe banger Erwartung Herr Meier5 mit Eduard zu ihnen kam. So gewaltig dieſer nach Faſſung rang, ſo deutlich ſah man ihm die innere Aufregung an, als er, Clara be - grüßend, ihre Hand ergriff und küßte. In Clara's Augen ſchwammen große Thränen, welche nur die Anweſenheit des Vaters zurück - hielt, der anſcheinend es nicht bemerkte. Er hielt einen Brief in der Hand und fragte ſeine Tochter, ob ſie etwas von Erlau's Abreiſe ge - wußt hätte, die er Eduard in dieſem Briefe melde, mit welchem er zugleich von allen ſeinen Freunden Abſchied nehme. Jenny verneinte es, und Herr Meier ſagte: „ Dieſes Schreiben iſt nun wieder Erlau's treueſtes Abbild; hört nur, wie es lautet: „ An Eduard Meier, mit dem Befehl, es als Currende an das übrige Volk zu ſenden, das ſich nach 24 Stunden Abweſenheit noch eines Entfernten erinnern ſollte. “
„ Lieber Doctor! ziehe Dein Taſchentuch her - vor und trockne Deine verwunderten und hof -6 fentlich weinenden Augen, da Du erfährſt, daß ich längſt zum Thore hinaus bin, wenn ich Dir dies Lebewohl ſage. Du kannſt nicht behaup - ten, daß ich treulos deſertire — die lange und langweilige Campagne eines norddeutſchen, nebel - grauen Winters habe ich voll rührender Geduld und lobenswerther Theilnahme mit Euch durch - gemacht; ich habe Eure ſteifgeſchnürten, gebilde - ten Schönen tanzen geſehen, mich in hundert Geſellſchaften gelangweilt und ruhig Eurem ſo - genannten vernünftigen Treiben und Wirken, Eurer Aeſthetik und Politik, Euren Diners und Zweckeſſen, Euren Vereinen und all den tau - ſend Narrheiten zugeſchaut und, was noch mehr iſt, ich habe meine rechte Hand im Zaume ge - halten, die täglich ſich in hundert Karikaturen zu zeigen verlangte. Die Karikatur aber iſt ein Baſtard der Kunſt, ein unwürdiger Sohn, den die Mutter verleugnen muß, und zu deſſen Vater ich mich und meinen ehrlichen Namen7 nicht hergeben mag. Wehe Euch! wenn Eure unverbeſſerliche Geſchmackloſigkeit mich endlich dazu verleitet hätte, und Ihr waret nahe daran, mich auf dieſen Irrweg zu führen. Darum fliehe ich Euch und wende meine Schritte nach jenen Gegenden, über denen ein blauer Himmel lacht, in denen man das Regieren den Fürſten und das Denken den Pfaffen überläßt, die da - für bezahlt werden und es doch nicht thun, und wo man keinen Gewerbſchein zu löſen braucht, wenn man nichts verlangt, als ruhig in der Sonne zu liegen und ſich der paradieſi - ſchen Wonne des dolce far niente zu befleißi - gen. — Von Euch und Eurem geprieſenen civiliſirten Leben verlange ich gar nicht zu hö - ren. Ihr ſollt und könnt mir nicht ſchreiben, weil ich nicht weiß, wo ich ſein werde, und, wenn ich es irgend vermeiden kann, meine ſchreibkundige Hand zu nichts brauchen will, als die Blüthen und Freuden zu pflücken, die8 mir am Wege winken. Erſt wenn dieſer Win - ter lange hinter mir liegen wird, ſoll der Pinſel die einzelnen Lichtſtrahlen wiedergeben, die durch Eis und Schnee unvergeßlich in meine Seele drangen. Denn jede Nacht hat ihre Sterne; auch im nordiſchen Eiſe blitzen ſonnenhelle Bril - lanten funkelnd hervor, das Auge zu erfreuen — aber zu beleben, zu erwärmen, das verſchmäh - ten ſie leider. Und ſomit lebet wohl! Du lieber Eduard, die Deinen alle und Ihr übri - gen Freunde; genießet des ſpärlichen Sonnen - lichtes, das Euch geworden, wachſet und gedei - het, Jeder auf ſeine Art, und wenn Ihr in Berghoff die Sonne untergehen und den Mond am Horizonte emporſteigen ſehet, ſo betet mit mir, daß der Götter reichſter Segen dies Fleckchen Erde, dieſe Oaſe in der Wüſte, dies Thal be - glücken möge, wo unter dem Schutze ſorglicher Liebe die ſchöne Roſe von Saron erblühte. Möge Apoll ihr und ihren Pflegern den ſüßen9 Duft lohnen, den ſie in die Seele eines ſeiner Söhne gehaucht, ſie, die allein ihn vor dem gänzlichen Erſtarren in der traurigen Farbloſig - keit Eures Landes beſchützte. Nochmals lebet wohl! “
„ Da haſt Du noch ein Abſchiedscompliment, mein Kind! “ſagte der Vater, „ und zum Danke für daſſelbe magſt Du ſorgen, daß der Brief nach Erlau's Wunſch den näheren Freunden des Hauſes mitgetheilt werde. Uebrigens freut es mich um des jungen Mannes willen, daß er noch ſolch raſcher Entſchlüſſe fähig iſt; denn Italien wird ohne Frage ihm die Vollendung geben, für die er berufen iſt. Gib mir jetzt den Brief, ich will ihn der Mutter und The - reſen zeigen und ihnen die Abreiſe des liebens - würdigen Wildfangs erzählen. “
„ Ich komme mit Dir “, rief Jenny, als ihr Vater, nachdem er ſeinem Wunſche gemäß Eduard über die Pein des erſten Wiederſehens1**10fortgeholfen, ſich entfernen wollte. Clara ſelbſt hielt ſie aber zurück, und ſprach: „ Nein, liebe Jenny! bleibe nur, es iſt beſſer ſo. Was Dein Bruder und ich uns zu ſagen haben, braucht für Niemanden, am wenigſten für Dich ein Ge - heimniß zu ſein. “
„ Clara! “rief Eduard, „ um Gottes willen nicht dieſe Ruhe, die Sie und mich tödtet, von der in dieſem Augenblick meine Seele weit ent - fernt iſt. O! das Glück, Sie endlich, endlich wiederzuſehen, iſt doch nicht im Stande, mich das Leid vergeſſen zu machen, das uns trifft. “
„ Auch ich leide, “erwiderte Clara mit be - bender Stimme, „ aber wir müſſen als Freunde mit einander zu tragen verſuchen, was wir nicht zu ändern vermögen. Sie bleiben mir ja “, ſagte ſie, und faßte Eduard's und Jenny's Hände, die ſie vereint an ihr Herz drückte, „ und auch meine kleine Jenny bleibt uns, und ſo vieles Gute, und die Achtung vor uns ſelbſt, “11und — die Liebe. Das muß uns genügen und erheben “, ſchloß ſie, und verbarg weinend ihr Geſicht an Jenny's Bruſt, die ſich zärtlich und mit ihr weinend an ſie ſchmiegte.
Eduard bog ſich zu den Mädchen nieder, machte ſeine Hand von Clara los und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. „ Möge uns Friede werden! “ſeufzte er, und ſtumm ſaßen ſie lange beiſammen. Endlich verſuchte Eduard mit der Frage, ob Clara noch am Abende nach der Stadt zurückkehre, das Geſpräch anzu - knüpfen.
„ Ja! “antwortete ſie, „ und ich zweifle, daß wir uns in den erſten Tagen ſprechen werden, wenigſtens hier in Berghoff nicht, da meine Mutter die Ankunft meines Vetters erwartet und “— ſie ſtockte; aber Eduard und Jenny erriethen das Fehlende.
„ Da ſtehen Dir ſchwere Tage bevor “, ſagte Jenny, und blickte ängſtlich Eduard an, der12 todtenbleich geworden war und unwillkürlich ausrief: „ Auch das noch und ſchon jetzt! “
„ Mein Onkel iſt hergeſtellt “, fuhr Clara fort, „ und ich wußte ſchon, als wir uns zuletzt ſahen, daß William zurückkehren werde. Ich wollte es Ihnen ſagen, als ich herkam, aber es war mir ſpäter wieder entfallen. “
Und wieder entſtand eine lange, drückende Pauſe, in der Niemand ſprach, weil Jeder ſich ſcheute, von dem Gegenſtande zu reden, der ihn allein beſchäftigte. Eduard wollte irgend einen beſtimmten Entſchluß faſſen; er wollte Clara beſchwören, dieſe ſtumme Reſignation aufzuge - ben, oder lieber ein Beiſammenſein zu vermei - den, das für ihn bitterer, als jede Trennung ſein mußte. Dazuſtehen vor der Geliebten, der man entſagen ſoll, und ſein Herz zu bezwingen, das in einen Schrei des Schmerzes, in die glü - hendſten Worte der Leidenſchaft ausbrechen wollte, das fand Eduard unerträglich. So ſüß es ſei -13 ner entſtehenden Neigung geſchienen, ohne Worte jede zarte Regung in dem geliebten Herzen zu verſtehen, ehe das entſcheidende Geſtändniß den Lippen entfloh, ſo qualvoll dünkte ihn jetzt ein Zwang, der ihn zu leidender Unthätigkeit, zu peinlichem Erwarten des Kommenden verur - theilte, ihn, der bis jetzt allen Begegniſſen ſei - nes Lebens raſch handelnd entgegengetreten war. Deshalb erſchien ihm Reinhard, der, eben in Berghoff angelangt, ſeine Braut ſuchte, wie ein Erlöſer aus drückenden Banden. Erſt nach - dem die ganze Familie beiſammen und eine Stunde in Mittheilungen mancher Art vergan - gen war, konnten ſich Eduard und Clara all - mälig von den ſchmerzlichen Empfindungen be - freien, die ſie erduldet hatten, und zu des Va - ters großer Genugthuung ſich, wenn auch ohne alle Theilnahme, in die Unterhaltung der Uebri - gen miſchen, bis endlich, von Eduard heiß er - ſehnt, die Trennungsſtunde ſchlug. Und wieder14 geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem letzten Abende, den ſie in der Stadt zuſammen verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den Beide jetzt empfanden, mußte ihnen der Schmerz jener Stunde wie ein Glück erſcheinen. Denn in jenem Schmerze lag noch Bewegung und Leben; heute aber fühlten ſie die Entſagung wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet und ſchieden wortlos und vernichtet.
Wie man verabredet hatte und wir berich - tet, ſollte Jenny's Taufe nun in wenig Tagen vollzogen werden, und die Abfaſſung des nö - thigen Glaubensbekenntniſſes führte ſie zu ernſt - lichem, erneuertem Nachdenken über dieſen Punkt. Menſchen von beſonders lebhafter Phantaſie iſt es möglich und eigen, ſich allmälig in einen beſtimmten Ideenkreis hineinzudenken, ihn nach15 allen Richtungen hin mit Gründen auszuſtat - ten, und ſich ſo ein Gebäude zu errichten, das den Schein der Feſtigkeit und Vollendung an ſich trägt, ohne irgend eine wirkliche Baſis in der Ueberzeugung Desjenigen zu haben, der es aufgeführt. Wie der Dichter, namentlich in ſeiner Jugend, die Geſchöpfe ſeines Geiſtes kaum von den um ihn her lebenden Menſchen zu un - terſcheiden vermag; wie Kinder ſich ſpielend ſo feſt in die erfundenen Verhältniſſe ihrer Pup - pen hineindenken, daß ſie unwillkürlich Erfun - denes und Wirkliches vermiſchen und nicht mehr trennen können, ſo ging es in gewiſſer Art Jenny mit ihrer religiöſen Erkenntniß. Nach - dem ſie vergebens verſucht, die Symbole des Chriſtenthums mit dem Verſtande zu erfaſſen, bemächtigte ſich einſt plötzlich ihre Einbildungs - kraft derſelben, und ſie wurde mit Ueberraſchung gewahr, daß ſie Vieles ſich denken und in ſei - nen Folgen und Veranlaſſung ausmalen, ja es16 bis zu einer deutlichen Vorſtellung in ſich aus - bilden könne, woran ihr der Glaube fehlte. Chriſtus, der eingeborne, gekreuzigte und wieder auferſtandene Sohn Gottes, wurde für ſie zu einer ſo feſten Geſtalt in ſeinen Wundern, wie es ihr früher irgend ein Gott des Olymps ge - weſen, wie es ihr noch jetzt Goethe's göttlicher Mahadö war, der die ſich opfernde Geliebte mit ſich verklärt aus den Flammen emporhebt. Sowie ſie, trotz der hiſtoriſchen Kenntniß des mittelaltrigen Johannes Fauſt, dieſen gänzlich in der unſterblichen Geſtalt des Goethe'ſchen Fauſt verloren hatte, weil der Letztere allein ihr durch die poetiſche Schönheit des Gedankens als wirk - lich erſchien: ſo bildete ſie aus dem Menſchen Jeſus, den die Apoſtel beſchrieben, jenen myſti - ſchen Chriſtus in ſich aus, wie ihn die ſpätern chriſtlichen Philoſophen als Theil der Dreieinig - keit dachten. Nur wähnte ſie, als dieſe Erſchei - nung in einer beſtimmten Form in ihr lebte,17 endlich an Chriſtus und ſeine Wunder zu glau - ben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte ſodaß ſie mit vollem Vertrauen von ſich zu behaupten wagte, jetzt ſei ihr nicht blos die chriſtliche Moral, ſondern die Menſchwerdung Chriſti zu einer vollkommenen Wahrheit gewor - den. Wie bei allen Trugſchlüſſen ſtimmte nun Alles zu ihren Ideen, nachdem ſie willkür - lich einen Anfangspunkt für ihr Syſtem gefun - den hatte, den ſie als richtig annahm, obgleich er es in der That nicht war. Die ſichere Ruhe, mit der ſie ſich hinterging, täuſchte auch Rein - hard und den ſie unterrichtenden Paſtor, ob - gleich der Letztere über eine ſo unerwartete Ver - änderung der Anſichten bei ſeiner Schülerin ſehr überraſcht zu ſein ſchien.
Dazu kam, daß ſeit einigen Wochen Cla - ra's und Eduard's Lage ſie beunruhigte und ihre Theilnahme in Anſpruch nahm, während zugleich die Entdeckung von Thereſens Liebe für18 Reinhard und Erlau's unerwartetes Geſtändniß ſie vielfach beſchäftigt und ihre Gedanken von den Forſchungen über das Chriſtenthum abge - zogen hatten, bis der für die Taufe feſtgeſetzte Termin herannahte und ſie wieder darauf hin - lenkte. Als ſie nun jenes Glaubensbekenntniß niederſchreiben wollte, das ſich eigentlich ſtreng an die im Glauben enthaltenen Dogmen binden mußte; als ſie ihr Nachdenken feſt auf den Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künſt - lichen Ueberzeugung zu ſchwanken an, und die Schöpfung einer regen Phantaſie zerfloß vor dem hellen Strahl des Geiſtes. Das bemerkte Jenny mit Entſetzen. Sie hatte Ruhe und Heiterkeit gewonnen durch die Täuſchung, der ſie ſich unbewußt hingegeben: was frommte ihr eine Einſicht, die ihr Beides ſchonungslos raubte, ſie in das alte Chaos des Zweifels ſtürzte und, wenn ſie wahr ſein wollte, ſie von Reinhard trennte, weil ihr Uebertritt zum Chriſtenthum19 bei dieſen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver - gebens wollte ſie die Vorſtellungen in ſich zu - rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar geweſen waren; es gelang ihr nicht ebenſo wenig, als es dem Erwachſenen gelingt, jene Empfindung in ſich hervorzuzaubern, die wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume und Häuſer an uns vorüberfliegen zu ſehen, während wir ſtille ſtänden. Nachdem uns ein - mal das Gegentheil unumſtößlich bewieſen wor - den, kann ſelbſt unſer feſter Wille das Trug - bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang mag man hoffen, ſich gegen die Wahrheit ver - blenden, eine liebgewordene Täuſchung in ſich feſthalten zu können — die Wahrheit ſiegt im - mer. Es iſt ihr Prüfſtein, daß ſie ſiegen muß, und auch Jenny ſträubte ſich jetzt vergebens gegen ihre Gewalt.
Die Ueberzeugung, daß der Geiſt des Chri -20 ſtenthums die Hauptſache in demſelben ſei, war es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Be - ſorgniſſe zeigte, vor dem ſich jedoch Anfangs ihre Redlichkeit ſcheute. Was aber ſollte ſie thun? Jetzt, nachdem ſie unaufhörlich ihren Glauben an die chriſtlichen Dogmen behauptet hatte, plötzlich erklären, ſie habe ſich getäuſcht und ſie könne nichts davon glauben? Das hätte ſie eigentlich am liebſten gethan; aber würde man nicht an der Unfreiwilligkeit dieſer Täuſchung zweifeln, und annehmen, ſie habe bis jetzt gegen ihre Anſicht etwas behauptet, um ihren Zweck zu erreichen, was zu beſchwö - ren ihr der Muth fehle? Vor Reinhard und ihrem Vater, vor Eduard in dieſem Lichte zu erſcheinen, brachte ſie zur Verzweiflung, ab - geſehen ſelbſt von der Trennung von dem Ge - liebten, die unvermeidlich wurde, wenn ſie ſich weigerte, Chriſtin zu werden. Sie ſchauderte, zwiſchen der Wahrheit und Reinhard wählen21 zu ſollen; ſie fühlte, daß Alle ſie bedauern müß - ten wegen dieſer unglückſeligen Alternative, und daß wol Alle mit ihr leiden würden, falls ſie ſich wirklich entſchließen müßte, den Geliebten ihrer Ueberzeugung zu opfern. Alle würden es beklagen, ſelbſt Joſeph, der ſie ungern Chriſtin werden ſah, und Erlau, der ſie liebte — Alle, nur Thereſe nicht. Ja, Thereſe würde ſich freuen darüber, denn für ſie konnte nur daraus eine Hoffnung erblühen, und, wie ſie dieſelbe jetzt kannte, würde Thereſe eigenſüchtig genug ſein, auf den Trümmern von Jenny's Glück - und Liebestempel ſich eifrig ein bürgerliches Wohnhaus zu gründen. Das ſollte und durfte aber nicht geſchehen; Thereſe ſollte nicht ern - ten, wo Jenny mit ihrem Herzblute geſäet hatte, und wieder und immer wieder ging ſie daran, Alles durchzudenken, was ihr je von re - ligiöſen Anſichten bekannt geworden war, bis ſie entſchieden zu der Ueberzeugung gelangte, die22 Dogmen als eine Nebenſache zu betrachten, und, um Reinhard's Meinung zu ſchonen, endlich ein Glaubensbekenntniß zu Stande brachte, das in Spitzfindigkeit dem älteſten Jeſuiten Ehre gemacht hätte. Mit großem Geſchick hatte ſie vermie - den, jener Lehren von der Kindſchaft Chriſti, der Erlöſung durch ſeinen Tod und der damit gegebenen Genugthuung zu erwähnen, ohne irgend Zweifel an ihrem Glauben bei Rein - hard dadurch zu veranlaſſen, der ſich ganz ein - verſtanden mit dem Glaubensbekenntniſſe erklärte, als Jenny es ihm mit innerſter Beſchämung vorlegte. Des Geliebten Beifall, ſeine Freude über ihre Erkenntniß waren Dolchſtöße für ihr Gefühl. Er liebte ſie, er freute ſich über ſie, während ſie ihn in Dem betrog, was ihm das Heiligſte war. Sie ſagte ſich, daß ſie Rein - hard's Vertrauen unwürdig hintergehe; ſie hätte ihm gern die Wahrheit geſtanden, wenn er nur gleich ihr dem Gedanken Raum gegeben hätte,23 daß man an Chriſtus auf verſchiedene Weiſe glauben, und doch ſich unausſprechlich lieben und glücklich mit einander ſein könne. Sie be - griff es nicht, wie der ſonſt ſo freiſinnige Mann nur in dieſem Einen Punkte von ſo unerbitt - licher Strenge ſein konnte. Was that es ihrer Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny Jeſus für den Erſten unter den Menſchen, ſtatt Chriſtus für Gott hielt, ſo lange ſie nur ſeine Lehren befolgte? Indeſſen führten alle dieſe Gedanken ſie doch nur immer auf den einen Punkt zurück, daß Reinhard es nimmer zugeben würde, ſie Chriſtin werden zu laſſen, wenn ſie ihm die Wahrheit bekenne: daß ſie ihn verliere, wenn ſie es nicht werde. Das machte ſie ver - zagt, und dieſe Kämpfe ermüdeten ſie ſo ſehr, daß ſie aus Schwäche Muth zu einer Trennung von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu Selbſtmördern werden würden, wenn im Mo -24 ment der Entſcheidung nicht eben ihre Feigheit ſie von der That zurückhielte.
Wir ſind ſo ſehr gewohnt, in den Erzählun - gen unſerer Dichter nur auf Edelmuth und er - habene Motive bei den Helden derſelben zu ſtoßen, ſodaß die nackte Proſa des Lebens uns fremd und widerwärtig erſcheint. Deshalb wird viel - leicht Jenny in den Augen manches Leſers und in ſeiner Gunſt ſinken, wenn wir behaupten, daß es zuletzt nur Schwäche und Furcht wa - ren, welche ſie abhielten, das Aeußerſte zu wa - gen und ihr Glück zu opfern, um vor ſich ſelbſt gerechtfertigt zu ſein. Von Natur offen und mittheilend, ſah ſie ſich theils durch Verhält - niſſe, theils durch ihre eigne Schuld in ein Gewebe von Heimlichkeiten und Täuſchungen25 verwickelt, das ſie in ihren eignen Augen ernie - drigte. Clara's ruhige ergebene Entſagung leuchtete ihr als Beiſpiel vor; ſie wollte nicht kleiner ſein als ihre Freundin, denn auch ſie war ſich bewußt, das Unvermeidliche würdig tragen und eher das Glück, als Achtung vor ſich ſelbſt entbehren zu können. Wie würde es ſein, fragte ſie ſich, wenn ich vor Reinhard hinträte und ihm erklärte: „ Ich liebe Dich mehr, als Du ahnen kannſt, ich hatte meine ganze Zukunft an Dein Daſein geknüpft; aber Chriſtin nach Deinem Sinne kann ich nie wer - den, darum müſſen wir der Wonne entſagen, auf die wir gehofft. Thereſe liebt Dich, ſie glaubt wie Du an Chriſtus, möge ſie Dir ein Glück gewähren, das Du aus den Händen einer Jüdin nicht annehmen darfſt. “ Bei dieſer in - nerlich gehaltenen Rede zerfloß Jenny in Thrä - nen. Der Schmerz, den ſie empfinden würde, wenn der Moment dieſer traurigen EntſcheidungII. 226gekommen, ſie fühlte ihn jetzt ſchon lebhaft, ob - gleich eine Art von Beruhigung für ſie in dem Akte der Großmuth lag, den ſie gegen ihre Nebenbuhlerin ausüben wollte. Sie ſtellte ſich den Kummer vor, in dem ſie die ſchönſten Jahre ihres Lebens fern von Reinhard vertrauern würde, der ihrer an Thereſens Seite vielleicht bald vergeſſen könnte, und noch heißer und bit - terer floſſen ihre Thränen. Was würden ihre Eltern ſagen? Was würde man in den Kreiſen ihrer Bekannten denken? Welch 'widerſprechende, tadelnde und nachtheilige Gerüchte könnten ſich über ſie verbreiten! Während ſie ihr höchſtes Glück einer religiöſen Überzeugung mit bluten - dem Herzen opferte, würden Neid und böſer Wille ſich in die innerſten Verhältniſſe ihres Lebens drängen und Motive zu dieſer Hand - lung ſuchen, von denen keine Spur in ihrer Seele war. Könnte nicht ſelbſt Thereſe bereit ſein, Reinhard zu beweiſen, daß Mangel an27 Liebe zu ihm oder die Furcht vor ſeinen be - ſchränkten Verhältniſſen und dem Leben in länd - licher Zurückgezogenheit ſie zur Löſung dieſes Bündniſſes veranlaſſe, und daß ſie die Religion nur zum Deckmantel gebrauche? Jenny ſah Reinhard vor ſich, ſie ſah, wie er mit Verach - tung auf ſie blickte, wie er ſie von ſich ſtieß, er, der ſie einſt geliebt, an dem ſie ſtets mit warmer Neigung gehangen, und trotz aller in - nern Kämpfe, trotz der warnenden Stimme ihres Gewiſſens ließ Jenny die Taufe für eine beſtimmte Stunde anſetzen, und beſchloß, durch jenes gekünſtelte Glaubensbekenntniß, das ſie beſchwören konnte, ohne gerade einen Meineid zu begehen, ſich unauflöslich mit Reinhard zu verbinden, weil ſie ſich vor den Leiden fürchtete, die eine Trennung von ihrem Geliebten noth - wendig zur Folge haben mußte.
Reinhard, ſeine Mutter und Clara ſollten die Zeugen bei Jenny's Taufe ſein, und die2*28Pfarrerin war zu dieſem Zwecke nach Berghoff gekommen, wo ſie ein paar Wochen zu bleiben verſprochen hatte. Auch Reinhard machte ſich frei von ſeinen Geſchäften in der Stadt, um dieſe Zeit ganz mit ſeiner Braut zu verleben, da er, wie ſchon geſagt, gleich nach der Taufe mit ſeiner Mutter zu ſeinem alten Onkel fah - ren und dort verweilen wollte, bis die Entſchei - dung über ſeine Anſtellung definitiv erfolgt ſein würde. Obgleich nur ein paar Monate ſeit der Abreiſe der Pfarrerin verfloſſen waren, fand ſie das Verhältniß ihres Sohnes zu Jenny weſentlich verändert und faſt umgekehrt. Rein - hard's Eiferſucht hatte ſich gelegt, da Erlau dieſelbe nicht mehr erregte; mit den äußern Verhältniſſen ſeiner Zukunft, mit dem Reich - thum ſeiner Braut hatte er ſich ausgeſöhnt, je mehr er ſich überzeugte, daß die ganze Familie denſelben zwar in ſeinem Werthe begriff, aber doch nicht überſchätzte oder damit abſichtlich29 prunkte; und da nun auch Jenny's religiöſe Erkenntniſſe ſich ſeinen Anſichten angeſchloſſen hatten, war er vollkommen glücklich, und zu jener innern Zufriedenheit gelangt, die ihn ſeit ſeiner Verlobung geflohen hatte. Dieſe innere Ruhe machte ihn heiter, nachgebender und mit - theilender, als er es jemals geweſen. Er hatte tauſend Aufmerkſamkeiten für Jenny's Eltern, behandelte Eduard mit der zarteſten, ängſtlichſten Sorgfalt, da er ihn über einen Verluſt tröſten wollte, deſſen Größe Reinhard mit ihm empfand, ohne daß Jener irgend über ſeine Liebe oder ſeinen Gram mit ihm geſprochen hatte. Mit Jenny unabläßlich beſchäftigt, war er es jetzt, der ſich an jeder Kleinigkeit erfreuen und bei jedem Begebniß eine fröhliche, ſcherzhafte Seite hervorheben konnte. Selbſt Thereſens Neigung für ihn diente, ſo ſehr er es auch verheimlichen wollte, nur dazu, ſein Glück zu erhöhen, indem ſie ſeiner Eitelkeit, deren er ſich kaum bewußt30 war, ſchmeichelte und ihm in Jenny's Eiferſucht einen ihm wohlthuenden Beweis ihrer Liebe ge - geben hatte. Er fühlte ſich in gewiſſer Weiſe Thereſen dafür verpflichtet, behandelte ſie mit freundlicher Zuvorkommenheit, und in dem täg - lichen Beiſammenſein mit ihr ſtellte ſich ein zu - traulich bequemes Verhältniß zwiſchen ihnen her, das aber von Thereſens Seite an Unbe - fangenheit verlor, je ruhiger Reinhard ſich dem - ſelben überließ.
Mit Freuden hatte die Pfarrerin die Ver - wandlung bemerkt, welche die Stimmung ihres Sohnes erlitten hatte, aber um ſo räthſelhafter erſchien ihr Jenny. Ein düſtrer Ernſt, eine krankhafte Reizbarkeit hatten ſich ihrer bemäch - tigt, und beſonders hatte Thereſe von der Letz - tern zu dulden, ſodaß ſie der alten Dame Be - dauern deshalb erregte. Jenny's Liebe zu ihrem Bräutigam ſchien grenzenlos; ſie konnte ſich keinen Augenblick von ihm trennen; ſie war31 unruhig, wenn ſie ihn nicht ſah, und doch ver - mißte das ſcharfe Auge der Pfarrerin, trotz der Heftigkeit und Leidenſchaft, die Jenny's Liebe verrieth, jene innige Hingebung, welche ſie frü - her für Reinhard gezeigt hatte. Es lag ein Etwas in dem Betragen, in der ganzen Art Jenny's, das ihr unheimlich, ja faſt dämoniſch vorkam, und wovon ſie ſich doch keine beſtimmte Rechenſchaft geben konnte, um ſo weniger, als Jenny von einem unerſättlichen Hang zu im - mer neuen Zerſtreuungen erfüllt ſchien, der Niemanden in ihrer Umgebung zur Ruhe kommen ließ. Fahrten zu Waſſer und zu Lande, Be - ſuche in der Nachbarſchaft und ſtundenlange Spazierritte wechſelten ſchnell mit einander ab, ohne daß Jenny, die eifrig darnach verlangte, Genuß darin zu finden ſchien. Reinhard liebte die Natur und jede Art von Bewegung im Freien, deshalb ließ er ſich gern bereitwillig finden zu jedem Vorſchlag der Art, welchen32 Jenny machte, bis auch ihm endlich ihre fieber - hafte Unruhe auffiel, die nicht eher nachließ, bis ſie körperlich ganz erſchöpft zuſammenbrach und dann ſtundenlang in vollkommener Abſpannung und weichſter Stimmung verharrte. Bat er ſie, von dieſer anſtrengenden Lebensweiſe abzu - ſtehen, ſich Ruhe und Erholung zu gönnen, ſo riß ſie ſich gewaltſam aus der Apathie empor, verſicherte, weder krank noch ermüdet zu ſein, und beſtand darauf, dieſen letzten Sommer in Berghoff mit Reinhard, wie ſie es nannte, noch recht in Eile zu genießen.
Gegen dies wilde Treiben, das zuletzt Jen - ny's Mutter ebenſo beunruhigte, als die Pfar - rerin, erſchien Thereſens ſtille, häusliche Thä - tigkeit um ſo wohlthuender. Sie hatte allmä - lig ſich faſt des ganzen häuslichen Regimentes bemächtigt und wußte für Jeden mit Sicherheit das Bequeme und Angenehme zu verſchaffen, ohne daß man es von ihr verlangt hatte. Da -33 durch machte ſie ſich namentlich den ältern Da - men unentbehrlich, und auch Reinhard konnte nicht umhin, ihr lobend zu geſtehen, daß ſie ein ſeltenes Talent beſitze, die materiellen Wünſche ihrer Umgebung zu errathen und zu befriedigen. Je mehr durch Gewöhnung auch für ihn der Comfort des Lebens an Reiz gewann, um ſo angenehmer erſchien ihm die Weiſe, mit der Thereſe denſelben zu bereiten verſtand. Jenny's Aeußerung, daß Thereſe ſich Liebe erkoche und erwirthſchafte, begegnete daher allgemeinem Ta - del, wie überhaupt ihr Verhältniß zu ihrer Freundin der Pfarrerin immer mehr mißfiel und Allen ein Räthſel war, Reinhard ausge - nommen, der dieſe Schattenſeite an Jenny's Charakter nur zu leicht und zu gern entſchuldigte.
Nach Jenny's früher geäußertem Wunſche ſollte auch Thereſe unter ihren Taufzeugen ſein, doch ſchien ſie dieſen oft beſprochenen Vorſatz ganz aufgegeben zu haben, und erklärte, als die2**34Pfarrerin ſie deshalb zur Rede ſtellte und ihr bemerklich machte, wie dieſe Zurückſetzung für Thereſe höchſt empfindlich ſein müſſe: „ Es thäte ihr leid, aber ſie könne ſich nicht entſchließen, es wäre ihr unmöglich, ſie dazu aufzufordern. “ Dieſe entſchiedene Aeußerung veranlaßte die Pfar - rerin, weiter in Jenny zu dringen, ohne daß ſie eine nähere Erklärung von ihr erlangen konnte. Sie behauptete, ſich in Thereſe geirrt zu haben, und eine Abneigung gegen ſie zu füh - len, die faſt an Haß grenze und die ſie nicht überwinden könne. Als zufällig gerade in die - ſem Augenblick Thereſe mit einer gleichgültigen Frage im Auftrag von Jenny's Mutter hinzu - kam und mit einer heftigen, kurzen Antwort von Jenny abgefertigt wurde, die gleich darauf das Zimmer verließ, benutzte die Pfarrerin die Gelegenheit, mit Thereſen einmal darüber zu ſprechen, ob ſie vielleicht den Grund zu Jenny's gereizter, launenhafter Stimmung kenne?
35„ Nein “, ſagte ſie, „ ich weiß auch nichts Beſtimmtes darüber; nur Das fühle ich, ihr Betragen gegen mich habe ich nicht verdient, und würde es nicht dulden, wenn mich das Andenken an unſer früheres Verhältniß nicht nachſichtig gegen ſie machte. “
„ Und wiſſen Sie denn nicht, liebes Kind, ſeit wann dieſe Verſtimmung ſich Jenny's be - mächtigt hat? Man könnte vielleicht irgend Etwas zu ihrer Beruhigung thun, wenn man nur im Entfernteſten die Veranlaſſung dazu ahnen würde. “
„ Sowie Sie Jenny jetzt ſehen, liebe Frau Pfarrerin, iſt ſie ſeit wir in Berghoff ſind “, antwortete Thereſe, „ und allerdings habe ich eine Vermuthung darüber, die ich Ihnen mit - theilen möchte, wenn Sie mir heilig verſprechen wollen, gegen Jeden, beſonders aber gegen Ih - ren Sohn darüber zu ſchweigen. “
36Die Pfarrerin zauderte einen Augenblick, dann bat ſie Thereſe, dieſe Mittheilung lieber zu unterlaſſen, wenn ſie nicht wirklich nöthig zu Jenny's Glück, zu ihrer Herſtellung ſei.
„ Ich bin in einer ſonderbaren Lage “, ant - wortete Thereſe, „ und weiß ſelbſt nicht, ob es nicht meine Pflicht iſt, ein Geheimniß zu ver - rathen, zu deſſen Kenntniß ich nur zufällig ge - langte; denn noch dürfte es Zeit ſein, ein Unheil zu vermeiden, das meinen theuerſten Freunden droht. “
Die Pfarrerin wurde unruhig, und Thereſe fuhr fort: „ Den Abend, ehe wir nach Berg - hoff zogen, zeichnete Jenny mit Erlau auf dem Balkon vor dem Treibhauſe eine Anſicht der Gegend, welche ſie für ihren Bräutigam be - ſtimmte. Sie war Anfangs ganz heiter; Stein - heim war auch mit ihnen und Jenny rief mich ebenfalls herbei, um mir ihre Arbeit zu zeigen und mich an der Unterhaltung Theil nehmen37 zu laſſen. Dieſe nahm, wie gewöhnlich, wenn jene Drei ohne Reinhard beiſammen waren, eine ziemlich fade Wendung. Das Geſpräch lang - weilte mich, ſodaß ich Jenny aufmerkſam machte, wie wenig dieſe Converſation ihrem Bräutigam zuſagen würde. Darüber wurde ſie verdrießlich und heftig, und ſo iſt es ſeit jenem Tage geblieben. “
„ Aber, liebe Thereſe “, ſagte die Pfarrerin im Tone des Vorwurfs, „ Sie können doch kaum annehmen, daß ein ſo geringer Tadel Jenny's ganzes Weſen, ihr ganzes Verhältniß zu Ihnen ſo vollkommen verändern könne, beſon - ders da ſie ſonſt Tadel von Jedermann mit großer Freundlichkeit zu ertragen pflegte, was mir ſtets angenehm aufgefallen iſt. “
„ O, Gott bewahre! das glaube ich auch nicht “, erwiderte Thereſe, „ ich halte es nur für begreiflich, daß ihre üble Laune ſich gerade38 gegen mich richtet, weil wir zufällig jenen klei - nen Streit in einer Stunde hatten, die außer - dem von entſchieden traurigen Folgen für Jenny war. “
„ Thereſe “, unterbrach die Pfarrerin ſie ſehr ernſthaft, „ Ihre halben Reden ſcheinen mir ein Geheimniß mittheilen zu wollen, das Sie viel - leicht verſchweigen ſollten. Sie ſind aber be - reits zu weit gegangen, und ich muß Sie bit - ten, mir nun die volle Wahrheit zu enthüllen, damit ich ſelbſt entſcheide, was wir für Jenny, die ich als meine Tochter liebe, thun können und müſſen. “
Thereſe ſchien zu ſchwanken, dann aber ſagte ſie raſch und mit großer Beſtimmtheit: „ Nun denn, Frau Pfarrerin! Ich glaube, Erlau's Abreiſe iſt die Veranlaſſung zu der vollkomme - nen Veränderung, welche mit Jenny vorgegan - gen iſt. “
39„ Das wäre ein großes Unglück “, rief die alte Dame erſchreckt. „ Aber was bringt Sie auf dieſe Vermuthung, Thereſe? “
„ Eine bloße Vermuthung hätte ich Ihnen nicht mitgetheilt “, antwortete Thereſe, „ ich habe die feſte Überzeugung, daß es ſo iſt. Nachdem Steinheim den Balkon verlaſſen hatte, hörte ich, denn ich war im Treibhauſe beſchäftigt, Erlau lebhaft mit Jenny ſprechen, und obgleich ich weder Alles verſtehen konnte noch wollte, vernahm ich, daß Erlau ihr ſeine Liebe geſtand und ihr zugleich Lebewohl ſagte, weil er ohne Hoffnung in ihrer Nähe nicht leben könne. Den nächſten Tag war er abgereiſt, und als ſein Abſchiedsbrief uns gebracht wurde, behaup - tete Jenny, die man darum fragte, von ſeiner Reiſe ebenſo wenig gewußt zu haben, als wir. Trotzdem hat ſie ihm wahrſcheinlich das für Reinhard beſtimmte Bildchen zum Andenken geſchenkt, denn ich habe es ſeit dem Abend nicht40 mehr geſehen und es iſt auch nie wieder die Rede davon geweſen. Am nächſten Tage zogen wir hieher und ſeitdem iſt Jenny's traurige Stimmung, wie Sie ſelbſt wiſſen, im Zuneh - men begriffen. “
Die Pfarrerin ſchwieg lange Zeit und ſchien mit ſich ſelbſt zu Rathe zu gehen, dann ſprach ſie: „ Gott verhüte, daß Ihre Behauptung wahr ſei! Ich kann nicht glauben, daß Jenny ſich ſo vollkommen über ihre Gefühle getäuſcht haben könne, und bin ebenſo feſt von ihrer Liebe zu Reinhard überzeugt, als von der ſei - nen für ſie. Indeß iſt leider unſer Herz tau - ſend befremdlichen Eindrücken zugänglich, und es wäre nicht unmöglich, daß ſich irgend ein Widerſtreit von Gefühlen in der Seele meiner armen Jenny erhoben hat, den ſie mit ihrer leidenſchaftlichen Weiſe gewaltſam bekämpfen will und hoffentlich bekämpfen wird. Daher mag ihre Unruhe entſtehen, und ich danke Ih -41 nen, liebe Thereſe, für das Geſtändniß, das Sie mir gemacht, ebenſo für die Geduld, mit der Sie die Unfreundlichkeit des geliebten Kindes ertragen. Nur Eins muß ich Ihnen wie die heiligſte Pflicht ans Herz legen: Laſſen Sie weder Jenny, noch meinen Sohn es ahnen, daß Sie irgend eine Vermuthung der Art hegen. “
„ Wie können Sie das nur glauben? “fragte Thereſe. „ Rechnen Sie feſt auf meine Verſchwiegenheit, um ſo mehr, als auch Ihres Sohnes Glück davon abhängt, dem ich lebens - lang für ſo Großes verpflichtet bin und für den kein Opfer mir zu ſchwer fallen ſollte. “
Die Pfarrerin umarmte ſie gerührt und konnte nicht umhin, ihr zu verſichern, wie ſie ihre Achtung in hohem Grade gewonnen habe, und wie ſehr ſie ihr die Schonung Dank wiſſe, mit der ſie Jenny behandle. „ Laſſen Sie uns vereint “, ſprach ſie, „ dahin wirken, Jenny mit42 ſich ſelbſt wieder auſzuſöhnen und ihr das Glück zu erhalten, das Sie und mein Sohn von der Zukunft erwarten. Unſere innigſte Anerkennung wird es Ihnen danken, und wenn Sie ſich wirklich meinem Sohne verpflichtet fühlen, tra - gen Sie ihm Ihren Dank jetzt in einer Weiſe ab, welche ihn für immer zu Ihrem Schuld - ner macht. “
Thereſe verſprach Alles und die Damen ſchieden mit einer wiederholten Umarmung und den herzlichſten gegenſeitigen Verſicherungen.
Wie weit Thereſe bei dieſer Unterredung ſich ſelbſt über die Beweggründe ihrer Hand - lungen getäuſcht hatte, wie weit ſie abſichtlich dabei zu Werke gegangen, möchte ſchwer zu ent - ſcheiden ſein. Ob ſie wirklich an Jenny's Liebe für Reinhard zweifelte, an eine Neigung für Erlau glaubte, ob nur der Wunſch, Reinhard und Jenny vor Reue zu bewahren, allein ſie antrieb, der Pfarrerin jenen Bericht zu erſtat -43 ten, das laſſen wir dahingeſtellt ſein. Jeden - falls aber war ſie ſich der eigenſüchtigen Mo - tive, die zweifelsohne in ihrer Seele ſich regten, nicht deutlich bewußt, ſodaß ſie die Lobſprüche der Pfarrerin mit ruhigem Gewiſſen annahm und ſich Jenny gegenüber in einer ſtillen Größe erſchien, welche es ihr leichter machte, ſich füg - ſam und nachgebend gegen ſie zu betragen.
Ihrem Vorſatz getreu, ſchwieg die Pfarrerin gänzlich über die Entdeckung, welche Thereſe ihr gemacht hatte. Jenny that ihr leid und doch zürnte ſie ihr, weil ſie nicht daran zweifelte, daß Erlau wirklich einen Eindruck auf Jenny's bewegliche Phantaſie gemacht und ſie verleitet haben könnte, Reinhard untreu zu werden, wäre Erlau ſelbſt ihr nicht zu rechter Zeit zu Hülfe gekommen. So lieb ſie ihre künftige Schwie - gertochter hatte, konnte ſie ſich doch nicht ver - bergen, was ſie ſtets gedacht und früher auch gegen ihren Sohn geäußert hatte, daß eine44 Frau mit ſo unruhigem Geiſte, mit ſolch 'hef - tigen Leidenſchaften viel weniger zu Hoffnungen auf ein ruhiges eheliches Glück berechtigte, als z. B. ein Mädchen von Thereſens ſoliden, wenn auch weniger glänzenden Eigenſchaften. Sie zitterte bei dem Gedanken, ihr Sohn könne durch irgend einen Zufall von der Neigung ſeiner Braut für Erlau unterrichtet werden, und fühlte ſich ſehr beruhigt, als endlich der für die Taufe be - ſtimmte Tag gekommen war und ſie die Aus - ſicht hatte, nun mit ihrem Sohne Berghoff auf einige Monate zu verlaſſen. In dieſer Zeit, ſo hoffte ſie, würde Jenny zur Ruhe kommen, ohne daß Reinhard etwas von dem Kampfe in ihrem Herzen zu erfahren brauchte.
Herr und Madame Meier, Eduard, Joſeph, die Pfarrerin, Thereſe und Clara waren in45 ernſter Haltung in einem Zimmer beiſammen, in das freundlich die Strahlen der untergehen - den Sonne hineinfielen. Ein runder, mit koſt - barem Teppich behangener Tiſch, auf dem ein ſilberner Becken in ſilberner Schale ſtand, nahm die Mitte deſſelben ein. Neben dieſem impro - viſirten Hausaltar ſtand Jenny's Lehrer, der würdige Paſtor, und erwartete, gleich den Übri - gen, den Eintritt ſeiner Schülerin. Sie hatte gewünſcht, die letzten Stunden vor ihrer Taufe ganz allein zu bleiben, und ihren Bräutigam erſucht, ſie erſt rufen zu kommen, wenn Alles zu der feierlichen Handlung bereit ſein würde.
Nun trat ſie an Reinhard's Arm in das Zimmer und Allen fiel die Todtenbläſſe ihrer ſchönen Züge auf, als ſie ſich in die Nähe des Paſtors ſtellte und Reinhard zurücktrat. Nach einer kurzen Anrede des Geiſtlichen ſprach Jenny ihr Glaubensbekenntniß und empfing die Taufe. Sie ſchien furchtbar ergriffen zu ſein und bebte46 ſichtlich zuſammen, als das Taufwaſſer ihre bleiche Stirn berührte. Aber keine Thräne war in ihr Auge gekommen, kein Muskel ihres Geſichtes hatte gezuckt, und nur der bebende Ton der Stimme hatte, während ſie das Glau - bensbekenntniß ablegte, der Herrſchaft ihres feſten Willens Trotz geboten.
Jetzt war die kurze Ceremonie vorüber; Jenny war Chriſtin geworden. Mit unbe - ſchreiblicher Innigkeit zog Reinhard die Geliebte an ſein Herz und Thränen der reinſten Freude, des zärtlichſten Dankes glänzten in ſeinen Au - gen. Doch nur einen kurzen Moment ruhte ſie, wie um ſich zu erholen und Kraft zu ge - winnen, an ſeinem Herzen; dann flog ſie, von einem innern Impuls getrieben, zu ihrer Mutter ſank, bitterlich weinend, ihr in die Arme.
Es wäre vielleicht für den ruhigen Zuſchauer ein intereſſantes Schauſpiel geweſen, hätte er wäh - rend der Taufe in den Seelen der anweſenden47 Perſonen zu leſen vermocht, die alle von den verſchiedenſten Gefühlen dabei bewegt waren. Madame Meier zerfloß in Thränen, weil es ihr vorkam, als trete durch die Taufe ein frem - des Element zwiſchen ſie und ihre Tochter. Eduard und Clara, welche ſich gegenüber ſtan - den, waren in ſchmerzliche Gedanken vertieft, und wenn ihre Blicke ſich zufällig trafen, wand - ten ſie dieſelben ſchnell von einander ab, als fürchteten ſie, die ernſte Feier durch die beredte Sprache ihrer Augen zu entweihen. Die Pfar - rerin dankte Gott, daß es endlich ſo weit ge - diehen ſei, und betete inbrünſtig, der Herr möge nun auch ferner dies Paar beſchützen und alles Störende, das ihnen noch in der nächſten Zukunft drohen könne, gnädig an ihnen vor - überführen. Dieſes innere Gebet verhinderte ſie, Thereſens Unruhe zu bemerken, die keinen Blick von Reinhard und ſeiner Braut abwen - dete und, faſt ebenſo bleich als dieſe, mit Ge -48 walt in Jenny's Seele leſen zu wollen ſchien. Joſeph aber entging dies ängſtliche Spähen Thereſens nicht, das ihn ebenſo wenig, als Jenny's qualvolle Aufregung befremdete. Er ſah finſter auf die Scene vor ſeinen Augen als auf etwas, das er lange erwartet hatte; nur als Reinhard nach der Taufe die Braut in ſeine Arme ſchloß, fuhr Jener mit der Hand nach dem Herzen, als ob er dort einen flüchti - gen Schmerz empfinde.
Der Vater allein war vollkommen ruhig und heiter geblieben, er freute ſich Reinhard's, der ſich der glücklichſte Menſch unter der Sonne zu ſein dünkte, und dies mit ſo ſtolzer, voller Freude äußerte, daß es auf alle Übrige, Thereſe vielleicht auſgenommen, einen wohlthuenden, beſänftigenden Eindruck hervorbrachte und end - lich auch über Jenny's Thränen und ihren nicht zu verbergenden Schmerz zu ſiegen begann.
Eine Weile ließ Herr Meier den erregten49 Empfindungen Raum, ſich zu beruhigen, dann war er es, der die Thüren des Zimmers öff - nete, in den Garten hinaustrat und die Uebri - gen aufforderte, ihn zu begleiten. Es war drückend warm im Zimmer geworden, denn die Sonne brannte auf die Scheiben der geſchloſſe - nen Fenſter. Um ſo erquickender erſchien Jedem die friſche Abendluft, welche, von dem Duft der prächtigſten Orangenblüthen balſamiſch durch - zogen, ihnen entgegenſtrömte. Reinhard war einer der Erſten, die der Aufforderung des Va - ters folgten. Er verlangte ſehnlichſt, mit ſeiner Braut allein zu ſein, und wandte ſich mit ihr, ſobald es thunlich war, einem entlegenern Theile des Parkes zu. Dort angekommen, ſetzten ſie ſich nieder unter den Schatten einer mächtigen, von Epheu grün umrankten Kaſtanie und ſchweigend ſah Reinhard lange mit der innig - ſten Liebe auf Jenny, die, noch ſehr bleich und ermattet, ſich mit geſchloſſenen Augen an ihnII. 350lehnte und dringend Ruhe zu bedürfen ſchien. Die Spannung der letzten Zeit hatte, nun die That vollbracht war, nachgelaſſen und wie na - türlich einer großen Erſchöpfung Platz gemacht. Als Reinhard das zarte Mädchen ſo in ſeinen Armen hielt, das mit den geſchloſſenen Augen, den ruhigen, regungsloſen Zügen und der weißen Kleidung wirklich einer ſchönen Leiche glich, fuhr ihm ſchmerzlich der Gedanke durch die Seele, ſie könne ſterben, während er ſich von ihr trenne, und er werde ſie niemals wieder - ſehe. Er ſchrak zuſammen. Wäre es eine Ah - nung? fragte er ſich, und eine faſt kindiſche Furcht ließ ihn die Möglichkeit wähnen, die Geliebte könne gerade jetzt in ſeinen Armen ge - ſtorben ſein. Behutſam küßte er plötzlich Jen - ny's lange Wimpern, indem er ſie mit den zärtlichſten Worten bat, nur einen Laut zu ſprechen, ihm nur zu ſagen, daß ſie lebe, daß ſie ſein Glück mit ihm fühle.
51„ Ja, ich lebe, mein Guſtav! “antwortete ſie auf ſeine Frage und ſchlug lächelnd die Au - gen zu ihm empor. „ Ich lebe! Und ob ich Dich liebe? O! Gott weiß es, wie ich davon in dieſer Stunde Zeugniß gegeben habe. Ich liebe Dich wie mein Leben, wie meine Seele — nein, mehr als meine Seele. Iſt es ſo recht? “fragte ſie und lehnte ſich wieder an ihn, nachdem ſie ſich während des Sprechens aufgerichtet und die Hände feſt ineinander ge - faltet hatte. „ Aber warum fragſt Du mich, Guſtav, ob ich Dich liebe? “fuhr ſie nach einer kleinen Pauſe fort.
„ Weil ich den Ton Deiner Stimme hören wollte, mein ſüßes Leben. Du ſahſt ſo heilig, ſo verklärt aus, daß ich fürchtete, Du könnteſt die Erde verlaſſen und aus meinen Armen in Deine Heimat, in den Himmel, zurückkehren, von dem Dein Antlitz ein ſo treues Bild war. “
„ Ach! hätte ich ſo hinüberſchlummern kön -3*52nen “, ſeufzte Jenny, „ ſo im vollen Beſitz Dei - ner Liebe. “
„ Als ob dieſe Liebe Dir jemals fehlen könnte “, rief Reinhard faſt entrüſtet aus. „ Siehe, Jenny, einſt gab es eine Zeit, in der ich an Dir, an Deiner Liebe zweifelte, Dich fliehen und vergeſſen wollte. Das iſt Alles nicht mehr möglich, und ſeit Du durch Deine Liebe mich zum Herrſcher über Dein Schickſal geſetzt, haſt Du mich ja zu Deinem treueſten Sklaven gemacht. Du weißt es “, ſagte er, immer wärmer werdend, „ ich würde vor keinem Könige knien, kein Weib hat mich jemals zu ſeinen Füßen geſehen, ich glaubte, nur vor Gott mich beugen zu können — und nun knie ich vor Dir, und bekenne Dir, daß ich Dich fußfällig bitten könnte, mich zu lieben, mir treu zu bleiben, wenn ich daran zweifeln könnte, weil in Dir allein das ganze Glück meines Le - bens beruht. “
53Er war wirklich vor ihr niedergeſunken und hielt ſie mit ſeinen Armen umfaßt, während ſeine Augen an den ihren hingen. Jenny glaubte vor Wonne zu vergehen und gab ſich ganz dem Glück der Gegenwart hin, bis drohend der Zweifel vor ihr aufſtieg, ob Reinhard ſie mit dieſer Innigkeit lieben, ob ſeine Neigung nicht wanken würde, wenn er einſt erfahren ſollte, wie ſie ihn getäuſcht, um ſich ſeine Liebe zu bewahren, um die Seine zu werden.
„ Guſtav “, ſagte ſie, „ vergiß dieſe Stunde nie, wie ich dies Glück nie vergeſſen werde, und wenn einſt ein Tag käme, an dem Du irre an mir würdeſt, an dem ich Deiner Liebe weniger werth ſchiene — dann Guſtav, aus Barmherzigkeit, dann denke an dieſe Stunde, dann laß mich Dich daran erinnern und eine Stütze in dieſer Erinnerung bei Dir finden! “
„ Was bedeutet das? “fragte Reinhard ver - wundert, „ wie kannſt Du glauben, jemals eines54 andern Fürſprechers bei mir zu bedürfen, als meiner Liebe zu Dir? “
„ Das gebe Gott! “rief Jenny. „ Guſtav, wenn Du mich einſt ſchwach und tadelnswerth finden, wenn Du mich deshalb weniger lieben, mich von Dir weiſen ſollteſt, dann möge Deine Neigung mein treuer Schutz ſein; ſie möge Dir deutlich machen, daß ich aus Liebe kein Opfer ſcheute, daß ich Alles erdulden wollte, Alles! Nur Dir entſagen — das konnte ich nicht, das werde ich niemals können, dazu fehlt mir die Kraft. “
„ Ich verſtehe Dich nicht, mein Herz “, ſagte Reinhard, vergebens einen Sinn in dieſen Re - den ſuchend, der in irgend einem Zuſammen - hang mit ihren Verhältniſſen ſtehen konnte, „ aber das ſchwöre ich Dir, ich werde nie an der Lauterkeit Deiner Seele, an der Reinheit Deines Herzens zweifeln; Du ſollſt in mir alle Liebe finden, die Dir gebührt, und auch Nach -55 ſicht, wenn es möglich wäre, daß Du ſie jemals brauchteſt; denn wie ſollte ich Dir nicht Alles verzeihen, ſo lange Deine Liebe mir bleibt! “
„ Schwöre mir das, mein Geliebter “, flehte Jenny mit einer Angſt, als ob ſie fürchtete, er könne ſeine Neigung ändern.
„ Ich ſchwöre es Dir “, antwortete Rein - hard und reichte Jenny ſeine rechte Hand, welche ſie lange feſt hielt, dann leidenſchaftlich an ihre Lippen drückte und mit den Worten: „ Nun bin ich ruhig Guſtav, nun iſt es gut “, endlich wie - der losließ.
Eine Stunde vollkommenen Glückes verging den Liebenden, die ihnen doppelt kurz erſchien gegen die lange Trennung, welche ihnen bevor - ſtand, wenn Reinhard am nächſten Morgen ſeine Reiſe antrat. Auch hatten ſie der übri - gen Familie ſo vollkommen vergeſſen, daß die Pfarrerin ſelbſt ſie zu ſuchen kam, weil der56 alte Paſtor ihnen Lebewohl ſagen und zur Stadt zurückkehren wollte.
Wenige Tage nach Clara's erſtem Beſuch in Berghoff war William zurückgekehrt. Da er den Tag ſeiner Ankunft nicht beſtimmt an - gegeben, fand er zufällig weder ſeine Tante, noch Clara zu Hauſe, und wurde von dem Diener zu Herrn Horn in das Comptoir ge - wieſen, mit dem Bemerken, Frau Commerzien - räthin würde ſehr überraſcht ſein, ihn ſchon zu finden, da man ſeine Ankunft heute noch nicht erwartet hätte.
Nicht erwartet zu werden von Perſonen, nach denen man ſich geſehnt, gehört zu den peinlichſten Gefühlen, die uns nach längerer Trennung von denſelben berühren können. Tau -57 ſendmal hatte er es ſich vorgeſtellt, während er in ſeinem Wagen einſam und raſch dahinflog, wie die Tante und Clara ihm entgegeneilen und er mit dem Willkomm zugleich den Braut - kuß von den Lippen ſeiner Couſine küſſen werde. Statt deſſen empfing ihn ſein Onkel zwar freundlich, aber zerſtreut durch Geſchäfte, in denen er ihn unterbrochen hatte, und mit ſo eiligen Fragen nach dem Befinden ſeines Va - ters, nach ſeiner Reiſe und den Ausſichten für das nächſte Handelsjahr in London, daß der junge Mann wohl bemerken konnte, wie gern ſein Onkel ihn abzufertigen wünſche. Deshalb zog er ſich bald zurück und begab ſich in die Zimmer der Damen, um dort die Heimkehr derſelben zu erwarten.
Eine eigenthümliche Empfindung beſchlich ihn, als er ſich wieder in den Räumen befand, aus denen er, von Furcht und Hoffnung be - wegt, geſchieden war. Gleich nach ſeiner An -3**58kunft in London hatte er der Commerzienräthin geſchrieben und einen kurzen, herzlichen Brief für Clara beigelegt, dem ſie ihm beantwortete, ohne eigentlich ſeiner Werbung zu gedenken, indem ſie ihm hauptſächlich ihre Theilnahme an der Krankheit ſeines Vaters ausdrückte, ihr Bedauern über ſeine plötzliche Abreiſe unter ſo traurigen Umſtänden und die Hoffnung, daß dennoch Alles ſich zum Beſten und nach ihren Wünſchen fügen werde. William ſelbſt gehörte nicht zu den Menſchen, welche es lieben, ſich mündlich oder gar ſchriftlich über ſeine Gefühle auszuſprechen; deshalb überraſchte ihn Clara's Zurückhaltung nicht. Sie wußte, daß er ſie liebe; die Tante hatte ihm die Hand ihrer Toch - ter zugeſagt, ihm ſelbſt die Verſicherung gege - ben, daß Clara ſeine Neigung erwidere, und da dieſe ſich nicht dagegen erklärt hatte, las er mit fröhlichem Vertrauen aus den wenigen und flüchtigen Briefen, welche er von Clara59 erhielt, Alles, was ſein Herz begehrte. Jetzt, wo er jeden Augenblick den leichten Tritt der Geliebten zu hören hoffte, wo er ihrer mit leb - hafter Ungeduld entgegen harrte, fiel es ihm auf, wie wenig Clara bis jetzt dazu gethan, ihn ihrer Liebe oder nur der Zuſtimmung zu ſeinen Anſprüchen zu verſichern. Er ſetzte ſich ſinnend auf den Platz nieder, den er ſo häufig Clara gegenüber an ihrem Arbeitstiſche einge - nommen hatte. Ein Nähkäſtchen, welches Eduard in einer Verloſung gewonnen und in William's Beiſein Clara geſchenkt hatte, er - kannte er wieder. Es war ſchon ein wenig abgenutzt und mußte eben gebraucht ſein, denn es enthielt außer verſchiedenen Apparaten für weibliche Arbeit eine Viſitenkarte des Doctor Meier, auf welche mit Bleiſtift das Datum eines der letzten Tage und die Worte geſchrie - ben ſtanden: Bedauert, die Einladung der Frau Commerzienräthin Horn für heute nicht annehmen60 zu können. Eine politiſche Broſchüre lag aufge - ſchlagen neben dem Käſtchen; ſie gehörte eben - falls dem Doctor Meier, wie die von ſeiner Hand geſchriebenen Anmerkungen in derſelben verriethen. Von all' jenen eleganten Kleinig - keiten, die William ſeiner Couſine geſchenkt, ſchien ſie keinen Gebrauch zu machen, denn ſie ſtanden in kalter Ordnung mit andern Nippes auf einer Etagère aufgerichtet, wo ſie nur die Hand des Hausmädchens geſäubert und Clara's Auge vielleicht niemals getroffen haben mochte. Das that William wehe und machte ihn un - muthig und nachdenkend, ſo daß er faſt erſchrak, als er endlich die Stimme ſeiner Tante hörte.
Eilig ſtand er auf und ging den Damen entgegen. Mit einem: „ Willkommen, mein Sohn! “umarmte ihn die Commerzienräthin und fügte, gegen Clara gewendet, hinzu: „ Nun, da iſt er! Ich will wie eine ächte Romanmutter, die ich Euch immer war, den zärtlichen Erguß61 Eurer Herzen nicht ſtören und erwarte Euch erſt in einer halben Stunde in meinem Zim - mer “, worauf ſie ſich raſch entfernte.
Es ging der ſonſt ſo klugen Frau, wie allen ſehr förmlichen, abgemeſſenen Leuten, die, wenn ſie einmal unbefangen und herzlich erſcheinen wollen, gleich gänzlich aus der Rolle fallen und nur zu leicht die ungeſchickteſten Verſtöße begehen. Clara und William ſtanden ſich ver - legen gegenüber, was beſonders den Letztern peinigen mußte, da er fühlte, wie unvortheil - haft ein Mann in ſolchem Falle erſcheint. In - deſſen wäre es faſt Jedem an ſeiner Stelle ebenſo ergangen, wenn er ſtatt einer zärtlichen Braut, die ihn liebend begrüße, ſehnſüchtig nach ihm verlange, ein Mädchen gefunden hätte, das ihn mit ſcheuer Zurückhaltung behandelte und offenbar eher erſchreckt, als erfreut durch ſeine Anweſenheit war. Er fand Clara verändert, und theils um das peinliche Schweigen zu62 brechen, theils um ſich wirklich über ihr leiden - des Ausſehen zu beruhigen, fragte er freundlich: „ Warſt Du krank, mein Clärchen? Ich finde die ſchöne Röthe Deiner Wangen ganz ver - blichen. Und freut es Dich nicht, daß wir bei - ſammen ſind? “
„ O gewiß “, lieber Couſin! “antwortete ſie, „ es freut mich von Herzen, daß Dein Vater hergeſtellt iſt und Du zu uns zurückkehren konnteſt. “
„ Lieber Couſin? “rief William ſcherzend. „ Nein, mein Clärchen, das klingt doch gar zu couſinenmäßig für eine Braut, und ſelbſt eine Couſine hätte mir längſt ihren Mund ſtatt der Hand zum Willkomm reichen müſſen. “ Bei dieſen Worten ſchloß er ſie in ſeine Arme und drückte ſie, trotz ihres Widerſtrebens ſie herzlich küſſend, an ſeine Bruſt. „ Ah, nun lebe ich erſt! “ſagte er dann, „ nun weiß ich erſt recht, daß ich meine Braut wiederſehe und daß ich63 glücklich bin. Clara, wie freuen ſich meine Eltern, Dich als meine Frau zu begrüßen! Mein Vater will, wenn ſeine Kräfte es erlauben, ſelbſt bei unſerer Hochzeit gegenwärtig ſein, und ich habe ihm verſprochen, daß wir auf ihn warten, wenn er ſich ein wenig mit der Erholung beei - len will. “
„ Und wie weit iſt dieſe vorgeſchritten? “fragte Clara, froh, das Geſpräch von der bis - herigen Richtung ablenken zu können. William aber deutete dieſe Frage nach ſeinem Sinne und antwortete tändelnd: „ So weit, mein Fräulein, daß Sie Ihr Hochzeitskleid beſtellen und Ihr Reiſekoſtüm anordnen müſſen; denn ſo lieb mir Deutſchland und ſeine Sitten ge - worden, nach der Trauung biſt Du meine Eng - länderin und wir ſteigen gleich in den Wagen, um unſern Honigmonat in Hugheshall zu ver - leben. “
In der Freude ſeines Herzens bemerkte Wil -64 liam nicht, daß er faſt ausſchließlich die Koſten der Unterhaltung trug, während Clara mit ſchlecht verhehlter Spannung ſeinen Worten zuhörte und nur dann und wann eine gleich - gültige Frage dazwiſchen warf.
„ Kommt mein Bruder nicht bald zurück? “unterbrach ſie den Erzählenden.
„ Das iſt eine üble Sache, er hat ſich — erſchrick nur darüber nicht — er hat ſich dort ziemlich leichtſinnig in ein Verhältniß einge - laſſen, welches leicht bindend werden könnte und — aber das iſt nichts für Dein Ohr, lie - bes Bräutchen, und ich werde noch Zeit haben, mit Deiner Mutter darüber zu ſprechen. “
„ So komme gleich “, bat Clara, beſorgt über William's Mittheilung hinſichtlich Ferdi - nand's, und doch froh, dem tête à tête zu ent - gehen, da außerdem, wie William ſelbſt be - merkte, die Mutter ſie wol ſchon erwarten dürfte.
65Natürlich war eine der erſten Fragen, welche die Commerzienräthin an ihren Neffen richtete, nach dem Ergehen ihres Sohnes. Dieſer hatte die Zeit ſeiner Abweſenheit von Monat zu Mo - nat ausgedehnt, obgleich Herr Horn ſchon lange ſeine Heimkehr gewünſcht. Ferdinand hatte ſich nämlich in London einer unbegrenzten Ver - ſchwendung hingegeben und Mr. Hughes, wenn er Anzeige von den Summen machte, welche der junge Horn von ihm entnommen, ſchon mehrmals darauf hingedeutet, es möchte vielleicht gerathen ſein, den jungen Mann nach Deutſch - land zurückzuberufen.
„ Ferdinand iſt geſund “, berichtete William; fügte aber mit einer gewiſſen Zurückhaltung hinzu, „ ich zweifle jedoch, ob er freiwillig ſo - bald zurückkehrt, als Sie wünſchen, liebe Tante. “
„ Und was, glaubſt Du, iſt es, was ihm davon abhält? Was feſſelt ihn ſo ſehr? “
„ Eine Schwäche, falls man eine Leiden -66 ſchaft ſo nennen darf, mit der man Nachſicht haben müßte, wenn ſie einem würdigern Gegen - ſtande zugewendet wäre. “
Die Commerzienräthin wechſelte die Farbe und befahl ihrer Tochter unter dem Vorwande irgend eines Auftrages das Zimmer zu ver - laſſen. Dann nöthigte ſie William, ſich zu ihr zu ſetzen, und beſchwor ihn, indem ſie ſeine Hand ergriff, ihr raſch und unumwunden das Aergſte zu ſagen. Die qualvolle Angſt der Mutter bewog William, in den ſchonendſten Aeußerungen ihr mitzutheilen, wie Ferdinand gleich bei ſeiner Ankunft in England die Be - kanntſchaft einer Frau von hoher Schönheit, aber von den verworfenſten Sitten gemacht habe, welche ſeine erklärte Geliebte geworden ſei und ihn in ſeinem Hange zur Verſchwen - dung beſtärke, nachdem ſie ihren frühern Ge - liebten, Lord D., einen jungen Mann vom Stande, ruinirt und verlaſſen hatte. “
67„ Sie hat Ferdinand vorgeſpiegelt “, erzählte William, „ um ſeinetwillen und nur aus Liebe für ihn mit ihrem erſten Verehrer gebrochen zu haben, der, wie ſie behauptet, ihr die Ehe verſprochen hatte, und Ferdinand iſt in einer unglücklichen Stunde ſo thöricht geweſen, ihr ſchriftlich eine eben ſolche Zuſicherung zu geben, die er ſpäter in Gegenwart ihrer und ſeiner Bekannten wiederholte und auf deren Erfüllung ſie jetzt dringt, ohne von irgend einem Ver - gleich oder einer Abfindung hören zu wollen. “
William hielt inne, weil die zitternde, eis - kalte Hand ſeiner Tante, welche noch immer angſtvoll die ſeine hielt, ihm deutlich verkündete, wie entſetzlich dieſe Nachricht ihr Herz verwunde.
„ Nur weiter, weiter! “bat ſie, als ſie das Zaudern ihres Neffen bemerkte. „ Hältſt Du es für möglich, daß mein Sohn ehrlos genug ſein könnte, wirklich an eine Heirath mit einer Ver - worfenen zu denken? daß er mir, ſeiner Mut -68 ter, ein ſolches Weib zur Tochter aufdringen könnte? “
„ Ich hoffe “, antwortete William, „ daß es Ihren Ermahnungen gelingt, ihn davon zurück - zubringen, was bis jetzt freilich weder meinem Vater, noch mir möglich war. “
„ Er muß zurück, noch heute werde ich es ihm befehlen “, rief die Commerzienräthin wie außer ſich, „ er ſoll und muß gehorchen. “
„ Das wird er nicht, liebſte Tante “, bemerkte William, „ und Sie würden ſich, falls er Ihnen ſogar gehorchte, nur der Unannehmlichkeit aus - ſetzen, dieſe läſtigen Verhältniſſe in Ihre Nähe zu ziehen; denn ich zweifle keinen Augenblick, daß jene Frau ihm auch gegen ſeine Erlaubniß hieherfolgen und hier auf die Erfüllung ſeines Wortes dringen würde. Darum haben Sie Geduld, ſchreiben Sie ihm, daß Sie um das Verhältniß wiſſen, daß Sie es mißbilligen; aber vermeiden Sie eine Strenge, welche ihn leicht69 zu offenem Widerſtand, zu unüberlegten Schrit - ten treiben könnte, da er ſie von Ihnen nicht gewohnt iſt. Vielleicht wäre es ſogar beſſer, Sie überließen es Ihrem Manne, obgleich mein Vater mir rieth, es Ihnen zuerſt mitzutheilen. “
„ Das lohne ihm Gott! “ſagte die alte Dame. „ Denn ſieh, mein Sohn, Du biſt ja auch mein Sohn, und Dir darf ich es beken - nen, Du weißt es vielleicht ſelbſt, daß niemals ein gutes Vernehmen zwiſchen Ferdinand und ſeinem Vater ſtattfand. Männer vergeſſen es leicht, daß ſie einſt ſelbſt jung und der Nach - ſicht bedürftig geweſen ſind. Der Commerzien - rath wenigſtens ſcheint ſich deſſen, Ferdinand gegenüber, nicht mehr zu erinnern und “— fuhr ſie fort, plötzlich umgeſtimmt durch den Gedan - ken, ihr Liebling Ferdinand könne irgendwie den Tadel ſeines Vaters auf ſich ziehen — „ viel - leicht iſt es mit Ferdinand ſo ſchlimm nicht, als wir glauben. Deshalb verſprich mir, ſei -70 nem Vater davon nichts zu ſagen, bis ich ſelbſt eine Antwort von meinem Sohne erhalten habe und Dich dazu ermächtigen werde. “
William ſagte das zu und ſeine Tante er - ſuchte ihn, ſie allein zu laſſen, da ſeine Mit - theilung ſie unangenehm berührt habe und ſie ſich ſammeln wolle, um bei der Mittagstafel ihrem Manne keine Beſorgniß zu geben. Aber die Kränkung, die ihr Stolz erlitten hatte, der Schreck und die Unruhe, die ſie empfunden, waren ſo lebhaft geweſen, daß ihre gewohnte Selbſtbeherrſchung ſie verließ und ſie von ner - vöſen Zufällen ergriffen wurde, welche ſie nö - thigten, ein paar Tage ihr Zimmer zu hüten und ihr Clara's Pflege und Wartung unent - behrlich machten.
Dadurch bekam William ſeine Braut — denn als ſolche betrachtete er Clara — nur wenig zu ſehen. Trotzdem mußte ihm ihr Betragen auffallen, das offenbar zurückhaltender und be -71 fangener war, als ſie ſich ihm jemals gezeigt hatte. Er konnte nicht begreifen, warum ſein Onkel kein Wort mit ihm über dies Verhältniß ſpreche; er ſah, daß man es wie ein Geheimniß behandelt haben müſſe, und obgleich dieſes ge - wiſſermaßen durch die Umſtände entſchuldigt werden oder ſelbſt geboten ſein konnte, fand er die ſtrenge Beobachtung der Etiquette unter ſo nahen Verwandten, die alle einig und glücklich über dieſe Verbindung waren, übertrieben. Er nahm ſich vor, ſobald die Commerzienräthin wieder wohl und ſichtbar ſein würde, auf die Bekanntmachung ſeiner Verlobung mit Clara zu dringen, weil ihm die jetzige Stellung höchſt unbequem war und er hoffte, die ungewöhnliche Schüchternheit ſeiner Braut werde ſich von ſelbſt geben, wenn ihr beiderſeitiges Verhältniß zu einander kein Geheimniß mehr ſei.
Am zweiten Abende hatte ſich der Zuſtand von Madame Horn ſo weit gebeſſert, daß Clara72 ſie auf ihren ausdrücklichen Befehl verlaſſen mußte, um ſich ihrem Bräutigam nicht unnö - thig zu entziehen, der, innig erfreut, ſie wieder zu haben, ihr den Vorſchlag machte, mit ihm nach Berghoff zu fahren. Er wünſchte, Clara möge ſich nach den in der Krankenſtube ihrer Mutter verlebten Tagen in freier Luft erholen und zugleich mit ihm die Meier'ſche Familie beſuchen, von der er noch Niemand geſehen hatte. Clara lehnte aber Beides ab und bat William, ihr in ihr Zimmer zu folgen, da ſie ihn allein und gleich ſprechen müſſe.
Als ſie ſich dort niedergelaſſen hatte, be - gann Clara: „ Ich weiß wirklich nicht, lieber William, wie ich es machen ſoll, Dir zu ſagen, was Du doch erfahren mußt. Du biſt mir mit ſo herzlichem Vertrauen entgegengekom - men, ſo gut, ſo unbeſchreiblich freundlich gegen mich geweſen, daß ich Dir nie genug danken kann. “ Sie ſtockte; William ſah ſie verwundert73 an und ſagte: „ Iſt denn das Verſprechen, die Meine zu werden, nicht der ſchönſte Dank, den meine Liebe von Dir begehrt? “
„ Das iſt es eben “, fiel Clara ein, „ was mich beunruhigt. Glaube mir, William, ich erkenne Deine treue Anhänglichkeit mit tiefer Beſchämung, ich achte Dich von Herzen. “
„ Aber Du liebſt mich nicht “, rief William, „ ſage es kurz, Clara. Du ſchlägſt meine Hand aus, weil ich Dir gleichgültig, oder wol gar zuwider bin. “
„ Nein, das nicht; gewiß, das nicht. Ich habe Dich lieb, William, von Herzen lieb, ich bin überzeugt, daß einer Frau ein ſchönes Loos an Deiner Seite werden muß — aber ich kann Deine Frau nicht werden. “
„ So liebſt Du einen Andern? “fragte William heftig und ſtand auf.
Ein leiſes, kaum hörbares Ja von Clara's Lippen gab ihm die Antwort, die ihn tief zuII. 474betrüben ſchien; denn er blieb lange ſchweigend vor Clara ſtehen und fragte endlich, mühſam ſeinen Schmerz bekämpfend: „ Und weiß der Glückliche, daß Du ihn liebſt? Verdient er ein Glück, das er mir raubte? “
„ Er weiß es, William “, antwortete Clara, „ aber glücklich iſt er nicht, ſo wenig als ich; denn es iſt keine Vereinigung für uns möglich. “
Dieſe Aeußerung enthüllte dem Erſtaunten plötzlich ein Geheimniß, von deſſen Daſein er nicht die leiſeſte Ahnung gehabt hatte. Nur Eduard konnte es ſein, den ſeine Couſine liebte, durch den er ſeine Braut verlieren ſollte. Das ſchmerzte ihn um ſo tiefer, und im Tone des Vorwurfs fragte er: „ Und das erfahre ich erſt jetzt, nachdem ich ſeit lange an Deine Liebe geglaubt, auf Deine Hand gerechnet hatte? Wie durfteſt Du ſo an mir handeln? Wie konnte Deine Mutter mir ſo zuverſichtlich ihr Wort für Dich geben? “
75„ Vergib mir, William “, bat Clara, „ wenn ich Dir verſchwieg, was wir erſt vor wenigen Wochen uns ſelbſt geſtanden, um es für ewig vergeſſen zu müſſen. Niemand weiß davon, und von Dir, von Deiner Großmuth erflehe ich es als die höchſte Gunſt, daß Du ſelbſt dem Anſpruche an meine Hand entſagſt und mir beiſtehſt, die Verzeihung meiner Mutter zu er - langen. Sie wird unerbittlich darauf dringen, daß ich ihr Wort löſe und Dir meine Hand gebe, die doch ohne Werth für Dich ſein muß, nun Du Alles weißt. “
William hatte ſich ruhig wieder niedergeſetzt und ſah düſter ſinnend vor ſich nieder. Die widerſprechendſten Gefühle wogten in ſeiner Bruſt. Ein paarmal war es, als ob er ſeinen Gedanken Worte geben wolle, dann aber unter - drückte er ſie wieder, wie wenn er das rechte noch nicht gefunden hätte, bis er endlich auf - ſtand, Clara die Hand reichte, und ſagte: „ Du4*76ſiehſt wohl, daß ich darauf nicht vorbereitet war, mich nicht darein finden kann; denn es fällt ſchwer, ſo plötzlich von ſeinen liebſten Hoff - nungen zu ſcheiden. Darum fordere heute kei - nen Entſchluß, kein Verſprechen von mir; nur darauf nimm mein Wort, Niemand, auch Deine Mutter nicht, ſoll Dich zu einem Schritte zwin - gen, der mich nicht glücklich machen kann, wenn Du ihn nicht freiwillig thuſt. “
„ Guter, edler Mann! “rief Clara dem Enteilenden nach, der ſie nach ſeinen letzten Worten verlaſſen hatte, um Eduard aufzuſuchen und ſich mit dieſem zu erklären, wonach ihn lebhaft verlangte.
Er traf den Doctor glücklicherweiſe in der Stadt und zu Hauſe, wo er in den jetzt ein - ſamen Gängen des Gartens umherging und ſchnell William entgegeneilte. Beide junge Männer reichten ſich die Hände zum gewohnten Gruß, aber plötzlich zog Hughes ſeine Hand77 zurück und Eduard, die Abſichtlichkeit dieſer Handlung bemerkend, fragte, während eine glü - hende Röthe ſein Geſicht überflog: „ Sie kom - men von Clara? “
„ Ich komme von ihr und weiß Alles “, ant - wortete der Andere. „ Was haben Sie mir darauf zu ſagen? “
Einen Augenblick bedurfte Eduard, um ſich zu ſammeln, dann ſprach er mit ſicherer Stimme: „ Wir Beide, denke ich, können auch in dieſer Angelegenheit, die uns gleich nahe berührt, offen zu Werke gehen, weil ſie dem Einen ſo heilig iſt, wie dem Andern. Es wäre unwahr, wenn ich mich einer Großmuth rühmen wollte, die ich nicht in mir fühlte. Ich liebe Clara, das wiſſen Sie, und würde mein Leben daran ge - ſetzt haben, ſie zu beſitzen, wäre es möglich für mich geweſen, ohne meine Ehre zu opfern. Nur nachdem ich alles Mögliche verſucht, ver -78 geblich verſucht habe, fügte ich mich widerſtre - bend in den Gedanken, Clara zu entſagen. “
„ Und das erzählen Sie mir? mir, deſſen Anſprüche an Clara Sie kannten, mir, der Sie für ſeinen Freund hielt? “
„ William, mir ahnte, daß Clara Ihnen beſtimmt und theuer ſei, ich wußte faſt gewiß, daß meine Hoffnung ſich nur von meinen Wün - ſchen täuſchen ließ, aber dennoch ſträubte ich vergebens gegen eine Neigung, die Clara errieth und theilte, ſo ſehr ich ſie ihr zu verbergen ſtrebte. Der Kampf um Liebe, um ein Weib iſt ein unerbittlicher Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod. Es gibt kein Drittes. Und wenn zwei Unglückliche auf dem Meere ſchiff - brüchig umhergetrieben werden, wenn ein letztes Bret Beide von ſicherm Verderben trennt, wenn Einer untergehen muß, werden ſie Den verdammen, der, um ſich zu retten, den Andern im unwillkürlichen Trieb der Selbſterhaltung79 hinunterſtößt, auf die Gefahr hin, ihn ſinken zu ſehen? “
„ Ihr Gleichniß mag recht ſchön ſein “, ſagte William höhniſch; „ ich bin nur leider nicht in der Stimmung, Ihre poetiſchen Produktionen zu bewundern, und muß Sie deshalb bitten, mir unumwunden zu erklären, wie Sie in Be - treff meiner Couſine jetzt zu handeln gedenken. “ Eduard aber bezwang ſeine leicht aufbrauſende Heftigkeit und antwortete ruhig: „ Ich handle, wie Clara es von mir gefordert, wie ich es vor mir ſelbſt verantworten kann, und bitte Sie, zu bemerken, daß nur die Rückſicht auf Ihr gekränktes Gefühl und auf die Anſprüche, welche Sie an Clara zu haben glauben, mich zu irgend einer Erklärung veranlaßt, die Sie in dieſem Tone von mir zu fordern nicht be - rechtigt ſind. Hören Sie mich ruhig an. Ich wollte, nachdem ich jede Hoffnung verloren, mir Clara zu gewinnen, und ihr im erſten80 Schmerz darüber meine Liebe geſtanden hatte, von ihr ſcheiden; ich ſagte ihr das ſchriftlich. Sie ſelbſt befahl mir zu bleiben, obgleich auch ſie von der Hoffnungsloſigkeit unſerer Liebe vollkommen überzeugt war. Ich blieb, weil ſie es wünſchte, weil ſie das Unglück, das uns ge - troffen, leichter zu tragen hoffte, wenn wir uns nicht plötzlich und gewaltſam trennten. Seit - dem habe ich ſie nur ſelten und niemals allein geſprochen; ich habe mir keine Annäherung er - laubt, ich wage auch nicht, den kleinſten An - ſpruch an Clara zu machen, weil ich leider ihr nichts bieten, nichts ſein darf, was mich dazu ermächtigte. Ich weiß, man wird darauf drin - gen, daß Clara ſich verheirathe. Schwer wird mir der Gedanke “, ſagte er, und ſeine Feſtig - keit wankte ſo ſehr, daß ſeine Stimme zitterte, „ ſchwer wird es mir, die Geliebte als das Weib eines Andern mir vorzuſtellen, ſehr ſchwer! “ Dann ſammelte er ſich wieder, reichte William die81 Hand und ſagte: „ Aber meine Hand darauf, ich werde ſie ruhiger und lieber in Ihren Ar - men, als in denen jedes andern Mannes ſehen, denn auch Sie ſind mir werth und Sie verdie - nen ein Mädchen wie Clara, weil Sie ſie achten. “
William war von Eduard's ſichtbarem Schmerz und ſeiner Offenheit überwunden. Er ſchlug in die dargebotene Rechte und ſagte: „ Auch ich liebe Clara, aber gerade darum möchte ich nicht, daß ſie mir mit Widerſtreben folgt, ich will nicht, daß der Gedanke, ſie hätte doch vielleicht die Ihre und mit Ihnen glücklicher werden können, wenn ich nicht dazwiſchen ge - treten wäre, jemals von meiner Frau gedacht werden ſoll. Darum überlegen Sie ſelbſt: Gibt es eine Möglichkeit, ein Mittel, durch das Sie Clara's Hand erlangen, ſo trete ich zurück und Sie iſt die Ihre. “
„ Ich habe keine Ausſicht, keine “, antwor -4**82tete Eduard ſchmerzlich, aber beſtimmt, „ als die Emancipation unſers Volkes, die noch in wei - ter Ferne liegt, und auch dann ſtehen mir die Anſichten von Clara's Eltern entgegen. Clara ſelbſt hat mir jede Hoffnung genommen und glaubt an keine. “
„ Dann iſt ſie mein! “rief William mit einer Freude, welche deutlich hervorbrach, obgleich er ſie aus Zartgefühl vor dem Freunde zu ver - bergen trachtete.
Eduard ſaß in ſich gekehrt und wortlos, und ſein Freund ehrte, ebenfalls ſchweigend, dieſe Todtenfeier eines innigen Gefühls. So verging eine lange Zeit, bis William ſich erhob und, indem er ſich zum Fortgehen anſchickte, Eduard Lebewohl ſagte.
„ Sie gehen ſchon? “fragte dieſer, wie aus ſchwerem Traume erwachend, und ſah, nach - dem ſie ſich mit einem Händedruck getrennt, dem raſch Dahineilenden lange nach. Dann,83 als er ihn aus dem Geſichte verloren hatte, rief er: „ Er geht zu ſeiner Braut. “ Wie ein Todesſtoß zuckte die Gewißheit durch ſein Herz und ein paar ſchwere Tropfen fielen aus ſeinen Augen. Sie galten der verlornen Geliebten. „ Seit wie lange netzen ſolche Thränen die Erde “, ſagte er, ſchmerzlich über ſich ſelbſt lä - chelnd, „ und noch immer will der Keim der Freiheit nicht Wurzel faſſen, der doch zum Baume erwachſen wird, unter dem auch wir einſt Schatten finden müſſen. “
Nachdem die Commerzienräthin ſich einiger - maßen erholt hatte, war es nur der Gedanke an Ferdinand, der ſie unabläſſig beſchäftigte. Sie ſchrieb ihm, daß ſie durch ihren Schwager und durch William von dem Grunde unterrich - tet ſei, der ihn abhalte, nach Deutſchland zurück -84 zukehren. Sie beſchwor ihn, ſich loszureißen, kein Opfer an Geld zu achten, um ſich von einem Weibe zu befreien, deſſen einzige Abſicht ihm nicht verborgen ſein könne, und war un - vorſichtig genug, ihn zu dieſem Zweck eine be - deutende Summe aus ihrem Privatvermögen zu übergeben, damit ſein Vater gar nichts von dieſem Verhältniß zu erfahren brauche. Was die aufrichtige Beſorgniß einer Mutter, die Furcht vor öffentlicher Beſchimpfung einer ſo ſtolzen Frau nur einzugeben vermochten, das ſtellte ſie ihm in den beredteſten Worten vor und harrte angſtvoll und ungeduldig ſeiner Antwort. Doch der erſte Termin, der ſie bringen konnte, verging und kein Brief von Ferdinand erſchien. In dieſer tödtlichen Ungewißheit traten alle übrigen Angelegenheiten in ihren Augen zurück und ſelbſt von Clara's Verlobung war gar nicht die Rede. Die Commerzienräthin nahm dies Verhältniß als längſt entſchieden an; ſie85 ſah William und Clara oft und freundlich bei - ſammen, das genügte ihr, und jetzt an irgend eine geſellſchaftliche Rückſicht wie die Bekannt - machung dieſer Verbindung zu denken, konnte ſie nicht geſtimmt ſein.
William aber war es gerade ſo genehm. Er hätte Clara dem Freunde abzutreten ver - mocht, wenn ſie dadurch glücklich geworden wäre. Da dies nicht möglich war, dachte er nur daran, ſie dauernd und feſt an ſich zu bin - den. Deshalb wollte er Clara durch keine raſchen Schritte beunruhigen; er ſprach nicht von ſeiner Liebe, aber ſein ſchonendes Betragen, ſeine zarten Rückſichten thaten das um ſo deut - licher. Unbefangen brauchte er das Recht, wel - ches ſein doppeltes Verhältniß zu ihr ihm gab, faſt unausgeſetzt in ihrer Nähe zu ſein. Er las mit ihr, begleitete ſie auf ihren Spazier - gängen, und ſie konnte es ſich nicht verhehlen, daß William's Unterhaltung in ihrer jetzigen86 Lage eine Zerſtreuung für ſie ſei und ſie ab - halte, gänzlich in den Gram über Eduard's Verluſt zu verſinken. Eduard hatte ſie faſt täglich, aber nur flüchtig in dem Zimmer ihrer Mutter geſehen, deren Zuſtand ſeine Behand - lung nöthig machte. Außerdem hatte er es ver - mieden, ſie zu beſuchen, und der Aufenthalt ſeiner Familie in Berghoff bot ihm eine Ent - ſchuldigung bei der Commerzienräthin, welche wußte, daß er die Abende faſt ausſchließlich dort verbringe, während zugleich das oft wiederkeh - rende Unwohlſein ihrer Mutter Clara abhielt, nach Berghoff zu fahren, und ſie auf die klei - nern Promenaden in William's Begleitung be - ſchränkte.
So waren einige Wochen vergangen, als William, der Clara in ziemlich heiterer Stim - mung ſah, ſich entſchloß, endlich mit ihr über ſeine Unterredung mit Eduard zu ſprechen. „ Ich bin Dir noch Aufklärung über mein Verhältniß87 zu Dir und zu Eduard ſchuldig, liebe Clara “, ſagte er. „ Daß man ſich nicht ohne Kampf entſchließt, ein Glück, wie Deine Liebe, hinzuge - ben, oder auf Deinen Beſitz zu verzichten, das glaubſt Du mir, denn jetzt am wenigſten würde ich Dir ſchmeicheln. Doch hätte ich zu entſagen vermocht, um Dich glücklich mit Eduard zu wiſſen, den Du liebſt, und ich habe das Eduard geſagt. “
Clara reichte ihm bewegt die Hand und ſagte: „ Du kannſt mir doch nicht helfen, ſo edel Du auch biſt. “
„ Aber lindern kann ich, tröſten “, fiel er ihr ins Wort, „ und das vergönne mir. Eduard fühlt wie ich, daß Deine Mutter nicht darein willigen würde, Dich unvermählt zu laſſen, auch wenn ich ganz auf Deine Hand verzichtet hätte. Und glaube mir, kein Mann, den man für Dich wählen könnte, wird Dich mehr lie - ben, als ich, Niemand mit größerm Vertrauen88 die Zeit abwarten, bis Dein gerechter Schmerz ſich gemildert hat und Du im Stande ſein wirſt, wieder an ein Glück zu glauben, das Dir jetzt unmöglich ſcheint. “
Clara ſchüttelte ſchweigend den Kopf, aber William that, als ob er es nicht bemerke, und fuhr nur noch freundlicher fort: „ Ich komme Dir vielleicht kalt vor und Du fürchteſt Dich vor dieſer Ruhe; aber ſie kommt aus der Zu - verſicht, daß Du Dich in die unabwendbare Trennung von Eduard fügen und daß es mei - ner treuen Liebe gelingen müſſe, Dich wieder zu erheitern, Dich froh zu ſehen in dem Be - wußtſein, das höchſte Gut eines Mannes, mein größtes Glück zu ſein. “ Dann ſchilderte er Clara, wie ſehnſüchtig ſeine Mutter in ihr die Tochter erwarte, die der Himmel ihr ſelbſt ver - weigert habe; wie man ſie lieben und mit off - nen Armen im Hauſe ſeiner Eltern empfangen werde, und endete ſcherzend mit der Bemerkung:89 „ Du kannſt nicht wollen, daß ich jetzt, nachdem ich den Eltern die Verſicherung gegeben habe, in Dir den größten Schatz des Continents mit nach Hauſe zu bringen, allein zurückkehren ſoll und ſagen: Ich war ein eitler Thor, als ich von ihrer Liebe ſprach, ſie hat mich nicht gemocht. “
Unwillkürlich lächelte Clara; da konnte Wil - liam ſich nicht länger halten, mit aller Fröh - lichkeit eines Liebenden ſprang er auf, nahm ſie in ſeine Arme, küßte ſie und rief: „ Mag nun daraus entſtehen, was da will, das ertrage ein Anderer, wenn man ſich Monate lang für den glücklichſten Bräutigam gehalten hat, mit einem - mal wieder zum Couſin zu werden. Einen Kuß habe ich glücklich geſtohlen, nun will ich wieder geduldig warten und ruhig Deinen Zorn ertragen. “
Und zornig war Clara wirklich über einen Ausbruch, der in ſo grellem Widerſpruch zu ſeinen Worten ſtand, daß ſie ihn verließ, ohne90 ein Wort darüber zu ſprechen. Indeſſen blieb dieſe Unterredung nicht ohne Wirkung. Ver - ſtändig und ruhig, wie Clara es war, konnte ſie ſich nicht leugnen, daß William recht hatte, als er behauptete, ihre Mutter werde auf eine andere Heirath beſtehen, wenn es ihr ſelbſt ge - länge, ſich jetzt von der Verbindung mit ihrem Couſin zu befreien, deſſen Betragen ihren auf - richtigen Dank verdiente. Sie ſah ein, daß ſie und Eduard der Wahrheit gemäß keine Ausſicht oder Hoffnung hätten; aber daß Eduard es William zugeſtanden, verletzte ſie, ohne daß ſie wußte weshalb. Sie konnte an Eduard's Treue, an ſeinen Schmerz über ihre Trennung nicht zweifeln; ſie begriff, es ſei ehrenwerth, daß er ſie jetzt vermeide — und doch war ſie unzufrieden mit ihm, mit William und mit ſich, obgleich ſie fühlte, daß Keiner von Allen anders han - deln konnte, als er es that. Der Gedanke, von Eduard getrennt zu ſein, faßte tief Wurzel in91 ihr, ohne daß dadurch William ihr näher rückte, der ſich in liebender Hingebung gleich blieb und ſein Ziel keinen Augenblick aus dem Geſichte verlor. Er ſtrebte, die Neigung der Geliebten zu gewinnen, und hatte zugleich die ſchwere Pflicht, ſeine Tante über ſein eigenthümliches Verhältniß zu Clara zu täuſchen, was um ſo nöthiger war, als die Commerzienräthin noch immer vergebens auf Antwort von Ferdinand harrte und deshalb in der gereizteſten Stim - mung von der Welt war.
Sie hatte ihrem Sohne zu wiederholten Malen geſchrieben, ſich endlich an ihren Schwa - ger gewendet und von ihm erfahren, wie Fer - dinand gleich nach Empfang ihres Briefes mit ſeiner Geliebten verreiſt ſei, ohne irgend eine Nachricht zu hinterlaſſen, wohin er gehe oder wohin man ihm die Briefe von Hauſe nach - ſenden ſolle. Es ſcheint, bemerkte ihr Schwa - ger ſchließlich, als ob er aufs Neue in den92 Beſitz einer größern Summe gekommen ſei, welche ihm dieſe Reiſe möglich macht. Die Commerzienräthin war in der tödtlichſten Un - ruhe, ſie entſchloß ſich, ihrem Manne das Ge - heimniß zu enthüllen, und die unangenehme Scene, welche die Heftigkeit beider Theile her - vorrief, warf die Mutter aufs Neue nieder. Da langte endlich ein Brief von Ferdinand an, aber er war nicht an die Eltern, ſondern an William gerichtet und lautete wie folgt:
„ Du haſt Dich der Mühe unterzogen, ohne daß ich darum bat, meiner Mutter eine Mit - theilung zu machen, die ich noch geheim zu hal - ten wünſchte. Es ſcheint, daß dergleichen Com - miſſionen Dir Vergnügen machen, und Du wirſt es deshalb entſchuldigen, wenn ich Dich erſuche, jetzt meine Eltern davon zu unterrich - ten, daß ich mich in der vorigen Woche verhei - rathet habe und mit meiner Frau nach Paris gegangen bin. Ich werde dort bleiben, ſo lange93 die Summe, welche meine Mutter mir geſchenkt, ausreicht, in Paris in der Weiſe zu leben, an welche meine Frau gewöhnt iſt. Danke meiner Mutter, daß ſie, wie immer meine Wünſche er - rathend, auch jetzt meiner Bitte zuvorkam und mir die Mittel gab, ſchneller zur Ausführung eines Entſchluſſes zu ſchreiten, der unwiderruflich war, weil er mein Glück ſichert und zugleich die Erfüllung einer Pflicht iſt gegen eine Frau, die aus Liebe für mich eine glänzende Zukunft aufgegeben. Jeder Verſuch, dieſe Verbindung zu löſen, würde vergebens ſein, da ſie durchaus nach allen Geſetzen gültig vollzogen iſt, und würde nur die Folge haben, daß ich mit mei - ner Frau früher nach Hauſe käme, um die nö - thigen Schritte dagegen zu thun, obgleich, wie meine Mutter in ihrem Vorurtheil ſchreibt, die Anweſenheit meiner Frau, welche Lord D. zu ſeiner Gemahlin erkoren hatte, ein Schimpf für unſere Familie ſein würde. Darüber will ich94 nicht ſtreiten und erſuche Dich nochmals, meinen Auftrag auszurichten. Meinen nähern Freun - den habe ich es ſelbſt gemeldet. Meine Frau und ich wünſchen Dir und Clara bald ein Glück, wie wir es genießen. “
William war erſchrocken, obgleich der thö - richte Entſchluß ihm nicht unerwartet kam. Er wußte, welchen Eindruck dieſe Neuigkeit auf ſeine Tante hervorbringen mußte, aber es war nicht möglich, ſie ihr zu verheimlichen, da Fer - dinand zugleich an ſeine Freunde geſchrieben und damit dies Verhältniß zum Stadtgeſpräch gemacht hatte.
Die Familie war in der höchſten Aufregung. Der Commerzienrath wüthete und tobte gegen ſeine Frau, deren unglückliche Verblendung den Sohn verzogen und, wie dieſer jetzt ſelbſt ge - ſtand, ihm die Mittel zur Ausführung dieſer wahnſinnigen Heirath gegeben hatte. Clara weinte über das Loos, das ihr Bruder ſich be -95 reitete, und mußte doch ihre ganze Aufmerkſam - keit auf ihre Mutter richten, die dieſer Brief vollkommen vernichtet hatte. Die Commerzien - räthin verſicherte, dieſen Schimpf nicht überleben zu können; ſie gab ſich einer ſo ungemeſſenen Verzweiflung hin, daß Eduard ſelbſt unruhig über ihren Zuſtand wurde. Er bat deshalb William und Clara, die Mutter auf irgend eine Weiſe zu beſänftigen, da bei einer Frau ihres Alters und ihrer Conſtitution die Nerven - zufälle, welche ſich ſeit einiger Zeit immer wie - derholten und jetzt bedeutend zugenommen hat - ten, leicht einen traurigen Ausgang nehmen könnten. Anfänglich war jede Vorſtellung, jeder Einwand verloren, und erſt nach einigen Tagen gelang es William, der leidenſchaftlichen Frau einen Troſt zu geben, mit der Hindeutung, wie Clara's Liebe und Sorgfalt, die ſich jetzt im ſchönſten Lichte zeige, wol ein Glück ſei, das die Mutter nicht verkennen dürfe. Dadurch96 bekamen die Ideen der Commerzienräthin plötz - lich eine andere Wendung.
„ Ja, Du haſt recht, mein Sohn “, ſagte ſie, „ an Clara habe ich mich ſchwer verſündigt, das Kind habe ich nicht genug geliebt. Aber jetzt werde ich vergelten; ſie ſoll jetzt mein Stolz, mein Alles ſein, und jetzt gleich ſoll Eure Verlobung gefeiert werden, damit die Leute nicht glauben, die Schande, die mein Sohn über mich bringt, habe mich ganz nieder - gebeugt. Sie ſollen ſehen, daß mir in Clara und Dir noch große Freude geblieben iſt, und daß ich weder ſo ſchwach, noch ſo alt bin, mich von irgend einem Unglück beugen zu laſſen. Hole mir Clara, ich will gleich mit ihr Rück - ſprache nehmen. “
Das hatte William nicht beabſichtigt und es ſetzte ihn in Verlegenheit, um ſo mehr, als Clara es leicht für ein planmäßiges Werk von ſeiner Seite halten konnte. Er verſuchte alſo,97 der Tante zu beweiſen, wie ein zu gleichgülti - ges Verhalten bei der Nachricht von Ferdinand's unerwarteter Vermählung mißdeutet werden könne, und beredete ſie, nicht jetzt, während ſie noch leidend und Clara ſo betrübt über ihren Bruder ſei, ein Feſt zu feiern, das mit voller Freudigkeit begangen werden müſſe. Dadurch erlangte er einen kurzen Aufſchub. Offenbar hatte aber die Ausſicht, welche ihr William in Clara's Glück eröffnete, eine faſt wunderbare Wirkung auf ſeine Tante gehabt. Sie erklärte, ſich wohler zu fühlen, erſtand von ihrem Lager und ſöhnte ſich mit ihrem Manne aus, um ſich mit ihm über Clara's Dotirung auszuſprechen, die ſie jetzt ebenſo ſehr zu erhöhen wünſchte, als ſie früher auf Beſchränkung derſelben zu Ferdinand's Gunſten gedrungen hatte. Dies Alles entging Clara nicht, und in ängſtlicher Erwartung ſah ſie der Stunde entgegen, in der dieſer Gegenſtand endlich zwiſchen ihr und ihrerII. 598Mutter zur Sprache kommen mußte, und auch dieſe blieb nicht aus.
Eines Morgens ließ die Commerzienräthin Clara früher als gewöhnlich rufen. Sie hatte ihre Krankenſtube verlaſſen und ſaß in einer gewiſſen feierlichen Toilette auf einem Sopha. Freundlich reichte ſie der Tochter die Hand, nöthigte ſie, ſich zu ihr zu ſetzen, und ſagte, nachdem ſie einen Augenblick über den Anfang der Un - terhaltung nachgedacht hatte: „ Mein Kind, es iſt zwiſchen uns nicht immer ſo geweſen, wie es ſein ſollte; ich habe Dich verkannt, Deine Sanftmuth für Schwäche gehalten und Dir auch ſonſt in meinem Herzen Unrecht gethan, weil ich alle Plane für das Anſehen unſers Hauſes nur auf Ferdinand baſirte. Er hat meine Hoffnungen betrogen — ich habe keinen Sohn mehr. “
Ein nervöſes Zittern fuhr trotz der Mühe, mit der ſie es verbergen wollte, ſichtbar durch99 ihre Glieder. Clara bat ſie, ſich zu ſchonen; ſie verſuchte ein Wort zu Gunſten ihres Bru - ders einzulegen und der Mutter vorzuſtellen, wie ſeine unbeſonnene Handlung vielleicht we - niger traurig in ihren Folgen ſein würde, als man glaube.
Die Commerzienräthin ließ ſie aber nicht enden. „ Das verſtehſt Du nicht “, ſagte ſie hef - tig; „ oder kann irgend Etwas die Schmach ver - tilgen, daß ein Weib wie jenes den Namen un - ſerer Familie, meinen Namen trägt? Fürchte nicht, daß Ferdinand Mangel leiden, daß Dein Vater ihn enterben könne, wie er neulich ge - droht. Er ſoll mehr haben, als er bedarf, mehr, als Lord D. dem Weibe geboten hätte, unter der einzigen Bedingung, daß er unſern Namen ablegt, daß er nie nach Deutſchland kommt, daß ich nie von ihm und ſeinem Weibe höre. Für mich iſt Ferdinand todt, ich habe keinen Sohn mehr “, wiederholte ſie nochmals.
5*100Während dieſer Rede war ſie immer hefti - ger geworden und brach zuletzt in krampfhaftes Weinen aus, das ſie zu erleichtern ſchien, ſodaß ſie bald darauf fortfuhr. „ Auf Dich allein iſt nun meine Zukunft angewieſen. Deine Söhne ſollen die Erben dieſes Hauſes werden und Wil - liam hat mir verſprechen müſſen, daß ſie un - ſern Namen neben dem Euren führen ſollen. Morgen muß der Ehecontrakt aufgenommen werden und ſehr bald Eure Hochzeit ſein. Ich würde nicht Ruhe haben, ehe ich die einzige Angelegenheit beendet, die mir auf Erden noch Freude machen kann, und daß Du mir dieſe letzte Freude machſt, das wird Dir Segen brin - gen. Gott gebe, Du würdeſt eine glücklichere Mutter, als ich. “
Ganz erſchöpft fiel ſie in die Kiſſen des Sophas zurück und ſprachlos ſtand Clara an ihrer Seite, bemüht, ſie durch den Geruch ſtärkender Eſſenzen zu beleben. Sie hatte ſich vorgenom -101 men, ihrer Mutter zu ſagen, daß ſie William nicht liebe und ihn nicht heirathen könne, und hatte ſich gefaßt gemacht, den heftigen Zorn derſelben mit Ergebung zu tragen. Jetzt aber, als die Mutter vor ihr lag, in der gewohnten prächtigen Kleidung, die ſtolzen Züge ganz ge - brochen von der Macht des Leidens, fehlte ihr der Muth, ſie durch eine entſchiedene Weigerung noch mehr zu betrüben. Nur um Aufſchub wollte ſie fürs Erſte bitten und that es, indem ſie der Commerzienräthin vorſtellte, wie ihr lei - dender Zuſtand keine Aufregung geſtatte und wie William gern bereit ſein würde, zu war - ten, bis die Mutter wieder ganz wohl und kräftig ſei. Aber auch davon wollte dieſe nichts hören, und als in dieſem Moment Eduard in das Zimmer trat, um ſeinen täglichen Morgen - beſuch zu machen, richtete die Commerzienräthin ſich lebhaft mit der Frage empor: „ Sagen Sie,102 lieber Doctor, glauben Sie, daß Freude meinen Nerven ſchaden könne? “
„ Im Geringſten nicht “, antwortete er un - befangen; „ ich glaube vielmehr, daß Erheiterung Ihres Gemüths mehr zu Ihrer Geneſung bei - tragen würde, als irgend eine Arzenei. “
„ Alſo haben Sie nichts dagegen, wenn wir morgen die Verlobung meiner Tochter feiern? “
Eduard erbleichte und ſchwieg. Clara ſah ihn mit flehenden Blicken an, ihr Athem ſtockte; denn von dieſer Antwort hing ihre Zukunft ab. Die Commerzienräthin ſchien aber zu glauben, ihr Arzt überlege, ob ihre Anweſenheit in größe - rer Geſellſchaft zuläſſig ſei und ſagte: „ Ich ſpreche ja von keiner großen Fete, nur im eng - ſten Kreiſe wollen wir die Verlobung vor ſich gehen laſſen. An ſolche Feſte, wie Ihre Eltern bei Jenny's Verlobung veranſtalteten, darf ich jetzt freilich nicht denken, auch wird Clara zur103 Entſchädigung in dem Hauſe ihrer Schwieger - eltern Glanz und Feſte in Ueberfluß finden — deshalb ſoll Alles morgen in Stille vor ſich gehen und dagegen dürfen Sie keine Einwen - dungen machen. “
„ Nein, ich darf keine Einwendungen machen “, antwortete er mit einem Seufzer und blickte auf Clara, die wie erſtarrt ſich an einen Stuhl lehnte, um nicht ihrer Bewegung zu unterliegen.
Kaum aber hatte die Commerzienräthin Eduard's Erlaubniß erhalten, als ſie die Klin - gel zog und dem Diener befahl, Herrn Hughes zu ihr zu bitten, der auch bald auf ihren Wunſch erſchien, als Eduard die Hand der alten Dame noch in der ſeinen hielt und einige Fragen über ihren Zuſtand an ſie richtete.
„ Gleich, gleich, Doctor! “unterbrach ſie ihn, „ ſeien Sie nicht böſe. Aber Sie ſelbſt geſtan - den mir, Freude ſei meine beſte Arzenei, darum muß ich William ſagen, daß Sie mir die Er -104 laubniß gegeben haben, morgen die Verlobung feiern zu dürfen. “
„ Eduard! “rief William. Doch ehe er noch ein Wort hinzufügen konnte, ſprang Eduard auf und wollte Clara zu Hülfe eilen, die tod - tenbleich der Thüre zuwankte. Plötzlich blieb er ſtehen und ſagte raſch, aber mit einer Selbſt - beherrſchung, die Jeden täuſchen mußte, der die Verhältniſſe nicht kannte: „ Ihre Braut iſt un - wohl, William, begleiten Sie ſie. “
In demſelben Augenblick war William an Clara's Seite, ihre letzte Kraft verließ ſie, ſie ſank halb ohnmächtig in die Arme ihres Bräu - tigams und an ſeine Bruſt; in Eduard's und in ihrer Mutter Gegenwart weinte ſie heiße Thränen über ihr ſchweres Loos.
Noch am Abende fuhr Eduard nach Berg - hoff. „ Clara Horn iſt Braut mit William “, ſagte er, nachdem er ſich mit den Seinen be - grüßt hatte.
105„ Das freut mich ſehr “, antwortete ſein Va - ter und drückte Eduard die Hand, während die Damen ihn um eine nähere Mittheilung baten. Mehr wurde zwiſchen Vater und Sohn nie wieder über eine Angelegenheit geſprochen, welche früher der Gegenſtand lebhafter Erörterungen, banger Beſorgniß und ſchweren Kampfes gewe - ſen war. Nach wie vor fuhr Eduard jeden Morgen in das Haus der Commerzienräthin, ſo lange ihre Geſundheit ſeine Pflege erforderte; nur Zeuge von Clara's Verlobung zu ſein, hatte er unter einem Vorwande verweigert, wofür William und Clara ihm Dank wußten. Die erſten Tage, an denen er das neue Brautpaar ſah, bedurfte es ſeiner ganzen Kraft, um äu - ßerlich eine Faſſung zu erzwingen, die ihm in ſeinem Geiſte noch fehlte. Aber William ſtand ihm auf die edelſte Weiſe bei. Er ſelbſt be - gleitete bald darauf Clara nach Berghoff und5**106mit einer Gewandtheit, die aus dem feinſten Schicklichkeitsgefühl und einem wohlwollenden Herzen entſprungen war, wußte er Eduard und Clara vor jeder zu ſchmerzlichen Berüh - rung zu bewahren. Während die Damen ſich mit einer Unterhaltung über die in beiden Häu - ſern nöthig gewordenen Ausſtattungen für die Bräute beſchäftigten, zog William ſeinen Freund mit ſich und ſagte: „ Lieber Eduard! Clara hat gegen mich das Verlangen geäußert, Sie noch einmal allein zu ſprechen, und ich hatte ihr zu - geſagt, ihr dazu Gelegenheit zu geben. Später bin ich anderer Meinung geworden, ich habe Clara gebeten, der Erfüllung dieſes Wunſches zu entſagen. Sie werden mir zugeben müſſen, daß es für uns Alle beſſer iſt, wenn wir uns ſo ſchnell als möglich über eine Zeit fortzu - helfen verſuchen, die überreich an ſchmerzlichen Eindrücken ſein muß. Deshalb habe ich meine107 Tante überredet, unſere Hochzeit zu beſchleu - nigen, und dieſe ſoll in vierzehn Tagen ſpä - teſtens vollzogen werden. “
„ Ich billige Ihre Anſicht vollkommen und danke Ihnen für Alles, was Sie thun, Clara's Gefühle zu ſchonen “, antwortete Eduard.
„ Und nun Eduard! “ſagte William, „ noch eine Bitte. Ich habe Sie ſeit unſerm erſten Begegnen für einen ſeltenen Menſchen gehal - ten; weil Sie der ſind, laſſen Sie es mich nicht entgelten, daß ich glücklicher als Sie bin. Ich werde bald eine Frau haben, die ich liebe — ſoll ich deshalb den Freund verlieren, den ich gewonnen zu haben glaubte? “
„ Nein, bei Gott! das ſollſt Du nicht! “rief Eduard, hingeriſſen von William's Wor - ten. „ Glaube mir, William! daß ich Dich aus Grund der Seele achte; aber wundre Dich nicht, wenn mir jetzt, wo ich von den Hoff -108 nungen meiner Vergangenheit ſo plötzlich ſcheide, Gegenwart und Zukunft noch umwölkt erſchei - nen; wenn ich keinen andern Gedanken habe, als wie groß das Glück war, auf das ich ge - hofft. Dir vertraue ich dies Glück an und könnte mich Etwas tröſten, ſo wäre es das Be - wußtſein, Clara an den Würdigſten verloren zu haben, der mein Freund bleiben ſoll für das Leben. “
Arm in Arm kehrten ſie zu den Uebrigen zurück, bei denen ſie Steinheim fanden, welcher eben angelangt war. „ Ich ſchwöre Ihnen “, ſagte er, „ ich wäre längſt einmal hieher ge - kommen, wenn die fatale Hitze mir nicht eine vollkommene Nervenabſpannung zu Wege brächte; beſonders da die Stadt ſo ſtill und einſam iſt, wie Pompeji vor der Ausgrabung. “
„ So bringen Sie uns keine Neuigkeiten mit, und wir Landleute wiſſen mehr als Sie. 109Denken Sie nur, der ſtolze Engländer entführt mir meine Clara ſchon in der nächſtfolgenden Woche! “bemerkte Jenny.
„ Ja! dann hat er ein Recht, ſtolz zu ſein, weil wir dann das Einzige an ihn verlieren, um das England uns beneiden mußte “, rief Steinheim, Poſa's Worte parodirend, indem er ſich galant gegen Clara verneigte.
„ Die Hitze bekommt Ihnen wirklich ſchlecht! “ſagte Jenny lächelnd, „ und Sie vergeſſen, daß Mr. Hughes mich nicht ebenfalls mitnimmt, ſondern daß ich hier bleibe, um mich fürchter - lich an Ihnen für Ihren Mangel an Galanterie zu rächen. “
„ Gehört die Rache auch zu den chriſtlichen Tugenden einer Frau Pfarrerin? “fragte Steinheim und, da Jenny, gegen ſein Er - warten, nichts darauf erwiderte, ſondern die Frage fallen ließ, wendete ſich zu den Her - ren, die ſeitwärts lebhaft converſirten. Bald110 aber kehrte er wieder zu den Damen zurück, weil, wie er behauptete, da, wo die Männer ſäßen, ein furchtbarer Zugwind wehe, von dem man in dieſer Witterung den Tod haben könnte. Man lachte ihn aus, und doch war er heute Clara willkommen. Seine Anweſenheit, ſeine Unterhaltung, die freilich nur ſein geliebtes „ Ich “betraf, zog die Aufmerkſamkeit von ihr ab; und je größer der Zirkel wurde, um ſo ungeſtörter konnte ſie ſich in die Erinnerung alles Deſſen verſenken, was ſie in dieſem Kreiſe erlebt hatte, und was ſich heute unwillkürlich ihrem Geiſte aufdrängte.
„ Sehen wir Sie vor Ihrer Hochzeit noch? “fragte Madame Meier, als ſie ſpäter ſchieden.
„ O, gewiß! “antwortete Clara, „ ich komme noch Abſchied von Ihnen Allen zu nehmen, da wir gleich nach der Trauung abreiſen. Denken Sie unſer, wenn wir nicht mehr hier ſein wer - den “, bat ſie mit kaum unterdrücktem Weinen111 und ein langer, tiefer Blick traf Eduard, der ihn nur zu wohl verſtand. William aber machte der ſtummen Scene ſchnell ein Ende, und führte ſeine Braut mit ſich fort.
Die Trauung des neuen Ehepaares war vorüber; die junge Frau in Reiſekleidern war des Augenblickes gewärtig, in dem die Diener melden würden, daß Alles zur Abreiſe bereit ſei. Die Gäſte hatten ſich entfernt, nur Jenny und Eduard waren noch geblieben. In ſich gekehrt ſah dieſer kaum, was um ihn vorging, und wünſchte ſehnlich, der letzte, ſchwere Kampf wäre an Clara und ihm ſchon vorüber. Die Commerzienräthin ſprach mit ihrem Schwieger - ſohne und empfahl ihm die dringendſte Vor - ſicht für die junge Frau, welche Hand in Hand112 mit ihrem Vater da ſaß, der in ihr ſeine ein - zige Freude verlor.
Da trat ein Diener herein und wie ein elektriſcher Schlag durchzuckten Jeden die ein - fachen Worte: „ Der Poſtillon hat ange - ſchirrt! “
Weinend ſchieden die Eltern von der ein - zigen, ſchönen Tochter; weinend ſank ſie Jenny in die Arme und wollte, ſich gewaltſam los - reißend, an Eduard vorüber, ihrem Manne folgen. Dieſer aber hielt ſie zurück, ſagte leiſe: „ Und Eduard? “— und führte ſie ſelbſt zu dem Freunde. Jetzt in der Stunde der Tren - nung bedurfte es keines Geheimniſſes, gab es keine Entweihung für dieſe reine Liebe; über - raſcht, aber mit ehrendem Schweigen, ſahen Clara's Eltern, wie Eduard die junge Frau tief erſchüttert an ſein Herz zog und einen langen Kuß auf ihre Stirne drückte. „ Gott ſegne Euch! “rief er, und ſchloß nochmals113 Clara und William in ſeine Arme. „ Ihnen, Eduard! vermache ich meine Eltern “, ſagte Clara kaum hörbar, „ ſtehen Sie ihnen bei! “— Und nun erſt nahm William ihren Arm und trug ſie mehr, als ſie ging, in den Wagen, der ſie bald den Augen der nachſehenden Freunde entzog.
Nach Clara's Abreiſe ſchien Eduard ſich plötzlich zu ermannen. Er war ernſter gewor - den, aber die tiefe Trauer war von ihm ge - wichen. Ein Leben, das ihm keine Freude bot, wollte er für Andere nützen, ſo ſehr er ver - mochte; und nicht umſonſt hatte er ſeine Hoff - nungen geopfert und der Geliebten entſagt. Er fing an wieder vorwärts in das Leben zu blicken, und nahm mit neuem Eifer ſeine me -114 diziniſchen Studien und die Beſtrebungen vor, die er im Verein mit gleichgeſtimmten Män - nern ſchon früher für die Befreiung ſeiner Glaubensgenoſſen gemacht hatte. So hatte Herr Meier ihn zu finden erwartet, und das erhabenſte Verhältniß bildete ſich immer ſchöner zwiſchen Vater und Sohn aus, auf deſſen raſche Thätigkeit die Ruhe und Weisheit des Vaters den ſegensreichſten Einfluß übten. Seit Eduard ganz von der Leidenſchaft für Clara beherrſcht, nur dieſer und dadurch ſich ſelbſt gelebt, war er auch mit Joſeph und Steinheim weniger zuſammengekommen, die den Rück - kehrenden mit Freuden wieder aufnahmen. Jetzt erſt erfuhren ſie, welche Forderung Eduard an die Regierung geſtellt, und die abſchlägige Antwort, die ihm geworden, und Beide errie - then leicht, was ihn bewogen hatte, jene An - gelegenheit ſo heimlich zu betreiben.
„ Wir müſſen mit unerſchütterlicher Con -115 ſequenz, aber ruhig den Weg gehen “, ſagte Eduard, „ den wir für den rechten halten. Es kommt nur darauf an, daß wir nicht ermüden, nicht verzagen und immer wieder kommen, ſo oft man uns auch abweiſt. “
„ Das werden ſie jüdiſche Unverſchämtheit nennen! “bemerkte Joſeph.
„ Mögen ſie es immerhin. Nur in der Beharrlichkeit liegt Hoffnung, nur wenn wir unabläſſig dagegen ſtürmen, können die Ver - ſchanzungen fallen, hinter denen ſie die Wahr - heit und unſer Recht verſtecken möchten; und fallen müſſen ſie. Unſer Recht muß uns werden. “
„ Und wär 'es mit Ketten an den Himmel geſchloſſen! “unterbrach ihn Steinheim, der ſelbſt in einer ernſten Unterredung, die ihm ſehr am Herzen lag, ſeine üble Angewohnheit nicht überwinden konnte. Glücklicherweiſe war man ſo ſehr daran gewöhnt, daß Niemand es116 weiter beachtete. Auch Joſeph und Eduard hörten nicht darauf, ſondern überlegten lange, ob man jetzt, nachdem Eduard's perſönlicher Wunſch abſchlägig beſchieden worden, dieſelbe Bitte für die Juden im Allgemeinen bei der Regierung wagen ſolle. Sie ſtritten hin und her und kamen endlich überein, daß Eduard ſich nach Jenny's Hochzeit, die nicht allzu fern mehr war, ſelbſt nach der Reſidenz begeben und verſuchen möchte, was dort zu erreichen ſein würde. Nach dieſem Beſchluſſe verließ Steinheim die Andern und Eduard, der erſt jetzt wieder auf ſeine Umgebung aufmerkſam zu werden anfing, ſagte zu Joſeph: „ Da wir Jenny's Hochzeit erwähnen, ſage mir, Du, der Du das Mädchen nie aus den Augen ver - loren haſt, was quält Jenny? liebt ſie Rein - hard nicht? ſcheut ſie ſich vor dem Leben auf dem Lande? oder was geht ſonſt mit ihr vor? Ich finde ſie geiſtig in einer Weiſe verändert,117 die mich um ſo mehr überraſcht, als ſie mir bis jetzt gänzlich entgangen war. “
„ Du haſt recht! “ſagte Joſeph, „ aber wir können ihr nicht helfen, ſie quält ſich ſelbſt, und ich weiß nicht, wie das enden wird. “
„ Wie meinſt Du das? “fragte Eduard beſtürzt.
„ Ich bin überzeugt, Jenny iſt ohne allen Glauben an die chriſtlichen Dogmen Chriſtin geworden, und der Gedanke, einen Meineid geſchworen zu haben, peinigt und verfolgt ſie in einer Gewiſſensangſt, vor der ſie ſich nicht zu ſchützen weiß. “
„ Wär's möglich? — ſollte es Das ſein? Was bringt Dich auf die Vermuthung? “
„ Jenny's ganzes Weſen und vor Allem eine Unterhaltung, die ich vor einigen Tagen mit ihr hatte. Sie brachte abſichtlich das Ge - ſpräch auf Religionsverſchiedenheit und geſtand mir, jetzt, da ſie Chriſtin geworden wäre, käme118 ſie ſich manchmal wie ausgeſchloſſen oder ver - ſtoßen von den Ihren vor. Es ſei ihr, als wenn ſie nicht mehr ſo ganz zu den Eltern gehöre, obgleich ſie ſich doch Reinhard durch die Taufe nicht näher gebracht fühle. Sie fragte mich, was ich von dem Eide denke? ob ich überhaupt glaube, daß alle ſogenannten Sünden auch Sünden vor Gott ſeien? und äußerte ſich überhaupt in einer Art, die mir bei ihrem Geiſte lächerlich und kindiſch erſchie - nen wäre, wenn ich nicht darin eine vollkom - mene, innere Verwirrung, einen Zwieſpalt ge - funden hätte, der mir herzlich leid that. Zu - letzt ſagte ſie mir, ſie könne den Gedanken nicht faſſen, nicht mit ihren Eltern auf dem - ſelben Kirchhofe zu ruhen. Ich ſtellte ihr vor, das ſei eine Thorheit; auch wir, obgleich noch Juden, könnten leicht fern von allen Freunden eine Ruheſtatt finden, und es ſei gewiß höchſt gleichgültig, wo ſie uns begraben würden. Sie119 aber blieb dabei, es wäre ihr ſchrecklich, und war überhaupt in einer Stimmung, in der jeder Vernunftgrund fruchtlos bleiben mußte. “
„ Das arme Kind! “rief Eduard, „ was kann man für ſie thun? “
„ Wir müſſen ſie ſich ſelbſt überlaſſen. Ich bin überzeugt, daß ſie den Ausweg finden wird. Das muß man abwarten und ich hoffe, ſie findet ihn bald, beſonders, wenn irgend ein äußerer Anlaß ihrer Unentſchloſſenheit zu Hülfe käme und ſie veranlaßte, ſich offen darüber zu erklären, wo eigentlich die Quelle ihres Lei - dens iſt. “
„ So laß uns gemeinſchaftlich über ſie wa - chen “, bat Eduard, „ damit wir den rechten Augenblick nicht verfehlen, wenigſtens Jenny glücklich zu machen, da wir es nicht gewor - den ſind. “
„ Leidensgefährte! “— ſagte Joſeph mit einer Miene und einem Tone, die ein eigenthümliches120 Gemiſch von Spott und Schmerz ausdrückten. „ Wir wollen ſie behüten, ſo gut es geht, aber ich fürchte, auch ſie wird nicht glücklich! “
Und leider war Joſeph's Vermuthung nur zu richtig. Je glücklicher ſich Jenny in Rein - hard's anbetender Liebe fühlte, um ſo mehr de - müthigte ſie der Gedanke, unwahr gegen ihn zu ſein. Von frühſter Kindheit an hatte man ihr die Lüge als etwas ſo Unedles, ſo Verächt - liches dargeſtellt, daß ſie ſich nur mit Entſetzen zu geſtehen vermochte, wie tief ſie ſich in die - ſelbe verwickelt habe. Der Zuſtand ihrer Seele möchte für Den, der ihn nicht von ſelbſt ver - ſteht, ſchwer zu beſchreiben ſein. Sie fühlte ſich dem Elemente, in dem ſie geboren, der Atmoſphäre, in der allein ſie athmen konnte, entriſſen. Man hatte ſie gelehrt, wahr gegen ſich ſelbſt, gegen jeden Andern zu ſein, und Recht und Wahrheit waren die Sterne gewe - ſen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt. 121Gott iſt die Wahrheit, das Recht, das Gute und das Schöne, hatte ihr Vater ihr ſtets ge - ſagt, und ſo lange Du das Recht thuſt, ſo lange Du wahr bleibſt, biſt Du Gottes Kind und mein liebes Kind! Stundenlang konnte die Erinnerung an dieſe freundlichen Worte, bei denen ſie ſich ſonſt ſo glücklich gefühlt, ſie jetzt quälen. Nachdem ſie damit angefangen hatte, unwahr gegen ſich ſelbſt zu ſein, hatte ſie, durch eine damals unfreiwillige Selbſttäu - ſchung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt, zum Chriſtenthume überzutreten, an das ſie zu glauben wähnte. Als aber tauſend Zweifel in ihr erwachten; als ſie mit aller Anſtrengung und dem Aufwande von tauſend Scheingrün - den in ſich die Lehren Reinhard's und des Paſtors zu motiviren ſtrebte; da, ſagte ſie ſich jetzt, da habe ſie gewußt, daß ſie niemals werde glauben können, was ſich gegen ihre Vernunft ſträube; und daß ſie dennoch, trotz dieſer in -II. 6122nern Gewißheit, Chriſtin geworden; daß ſie ihren Vater, Reinhard und ſich ſelbſt habe hin - tergehen wollen, das war ein Verbrechen, um deſſentwillen ſie ſich verächtlich vorkam, eine Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Aber was iſt Sünde? fragte ſie ſich. Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich ſelbſt ohne ſie elend werden mußte, kann Gott ein Unrecht ſtrafen, das aus heißer Liebe begangen wurde? Einen Augenblick fühlte ſie ſich frei und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den Kampf, den es ſie gekoſtet, aus Liebe gegen ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus Liebe ein Opfer gebracht, das ihr ſchwer ge - worden war, ſie hatte ſich ſelbſt überwunden — das war es ja gerade, was Gott von uns ver - langt — und dieſe Idee gab ihr Ruhe, bis ſie ſich geſtand, daß auch dies eine neue Unwahr - heit ſei. Nicht nur, um glücklich zu machen,123 ſondern um es zu werden, war ſie Chriſtin ge - worden; es lag Selbſtſucht auch in dieſer Handlung, und die Bemerkung, daß es ihr faſt zur Gewohnheit geworden, ſich nach ihrem Be - dürfniß ſelbſt zu täuſchen, vermehrte ihre See - lenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige Urtheil raubte. Eine Furcht vor der Strafe Gottes bemächtigte ſich ihrer Seele und ſie, die nicht an die myſtiſchen Lehren des Chri - ſtenthums zu glauben vermochte, überließ ſich faſt willenlos dem Aberglauben des alten Te - ſtaments, das in Gott einen Rächer zeigt das Böſe ſtrafend bis in das fernſte Glied. Auch Reinhard, ſagte ſie ſich, ziehe ich mit in mein Verderben; auch ihn wird der Strudel erfaſſen, wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, daß ich nicht glaube. Was ſoll er dann beginnen? Er wird mich lieben und mir doch nicht ver - zeihen können! Auch er wird in den heilloſen Kampf zwiſchen ſeiner Liebe und ſeinem Glau -6*124ben gerathen; auch auf ſein theures Haupt werde ich das Elend herabbeſchwören, das mich nicht ruhen läßt, und das wird die erſte Strafe ſein, mit der Gott meine Sünden rächt. “
In dieſer Verfaſſung ihrer Seele vermehr - ten die Briefe Reinhard's ihr Leiden. Sie ſprachen die heißeſte Liebe und ein volles un - bedingtes Vertrauen aus. Er ſchilderte ihr das Glück einer Ehe, wie er ſie an ihrer Seite erwarte, die, auf gleichen Anſichten, gleicher Ueberzeugung gegründet, in gemeinſamen Stre - ben nach Vollkommenheit, den Himmel auf Erden bieten müſſe; und meldete ihr endlich mit Entzücken, daß der Tag zu ſeiner Ordi - nation beſtimmt ſei und er, ſobald ihm dieſe Weihe geworden, zurückkehren werde, um ſie heimzuführen. Seine Mutter, die ſeiner Or - dination beizuwohnen wünſche, ſei bereits bei ihm und werde mit ihm zur Hochzeit nach Berghoff kommen. Dann wünſche er vor der -125 ſelben mit Mutter und Braut das Abendmahl zu nehmen, was Jenny bisher noch nicht em - pfangen hatte, und bald nach der Hochzeit ab - zureiſen, während ſeine Mutter in der Stadt bleiben würde, um ſie die Wonne des erſten Beiſammenſeins ganz ungeſtört und allein ge - nießen zu laſſen.
Jenny's Herz ſchlug freudig der langerſehn - ten Nachricht entgegen. Selig drückte ſie das Blatt an ihre Lippen. Vor der ſichern Hoff - nung auf die nahe Vereinigung mit dem Ge - liebten war für einen Augenblick jeder andere Gedanke aus ihrer Seele geſchwunden; und ſie begann den Brief nochmals zu leſen, um nur keines der Worte zu verlieren, welche ſie ſo glücklich machten. Da fiel ihr Blick auf die Stelle: „ Ich wünſche noch vor unſerer Hoch - zeit mit Dir das Abendmahl zu nehmen und auch auf dieſe Weiſe in die heiligſte, innigſte Gemeinſchaft mit Dir zu treten, die bald als126 mein geliebtes Weib, unauſlöslich, untrennbar mit mir verbunden, mein ſein wird. “
Ihrer Hand entſank das Blatt, ſie war vernichtet. Zum zweiten Mal, wie bei der Taufe, ein freventliches Spiel zu treiben mit Dem, was Reinhard das Heiligſte auf der Welt war, das vermochte ſie nicht. Jetzt, das fühlte ſie, war der entſcheidende Moment gekommen, in wel - chem ſie entweder ſich durch einen gewaltſamen Entſchluß in ihrer eigenen Achtung wieder her - ſtellen und ihr Gewiſſen in Bezug auf Rein - hard beruhigen, oder ſich mit geſchloſſenen Augen in ein Labyrinth ſtürzen mußte, in dem ſie und der Geliebte untergehen konnten.
Der Kampf war furchtbar. Endlich ſiegte die Wahrheit, und aufgelöſt in Schmerz ſchrieb ſie nach durchwachter Nacht, als ſchon das helle Tageslicht in ihre Fenſtern ſchien, folgenden Brief an Reinhard:
„ Einzig Geliebter! Wie unausſprechlich127 glücklich wären wir Beide, wenn ſtatt dieſes Briefes die Nachricht in Deine Hände käme, Deine Jenny ſei geſtorben. Du würdeſt weinen, mein Guſtav! Du würdeſt um mich trauern, mein Andenken lieben, wie Du mich liebſt, und ich wäre, glücklich in dieſem Ge - danken, geſchieden und hätte Ruhe. Warum konnte ich nicht ſterben, als ich das letzte Mal in Deinen Armen lag, als Deine volle, ganze Liebe mich beglückte? Denkſt Du dar - an, wie ich es wünſchte, weil ich ſo glücklich war; weil ich ſchon damals ahnte, daß ein Augenblick, wie der jetzige, mir bevorſtehen könnte? “
„ Bei der Erinnerung an jene Stunde be - ſchwöre ich Dich, bei der Liebe und Nach - ſicht, die Du mir damals gelobt, ſtoße mich jetzt nicht von Dir, Du, Geliebter! Du, der mich faſt ſeit meiner Kindheit kennt, den ich anbetete, ſeit ich ihn zuerſt ſah. Guſtav! 128Du biſt mein Lehrer geweſen und kennſt meine Seele; Du weißt, daß mein Geiſt ebenſo glühend nach Wahrheit dürſtet, als mein Herz Liebe verlangt. Darum kannſt Du mich verſtehen, darum mußt Du Mit - leid mit mir haben, wenn ich Dir ſage, daß ich Dich mehr als die Wahrheit liebe, daß ich meine Ueberzeugung zwingen wollte, ſich meiner Liebe zu fügen. Ich vermag es nicht länger. “
„ Von Augenblick zu Augenblick zögere ich, Dir ein Bekenntniß zu machen, von dem ich fürchte, daß es Dich tief betrüben, mich in Deinen Augen herunterſetzen könne. Ich möchte Dich mit Feuerzungen an die heiligen Bande erinnern, die uns vereinen; an die Wonne, welche wir einander verdanken, da - mit ſie und nur ſie Dir vorſchweben, wenn ich Dir Alles geſagt. “
„ Ich glaube nicht, daß Chriſtus der Sohn129 Gottes; daß er auferſtanden iſt, nachdem er geſtorben. Ich glaube nicht, daß es ſeines Todes bedurfte, um uns Gottes Vergebung und Nachſicht zu erwerben. Die Dreieinig - keit, die er lehrte, iſt mir ein ewig unver - ſtändlicher Gedanke, der keinen Boden in meiner Seele findet. Ich glaube nicht, daß es ein Wunder gibt, daß Eines geſchehen kann, außer den Wundern, die Gott, der Eine, einzig Wahre, täglich vor unſern Au - gen thut. Und ſelbſt zu Chriſtus, des er - habenen, göttlichen Menſchen Erinnerung kann ich das Abendmahl nicht nehmen, mich nicht zu einer Ceremonie entſchließen, die mir wie eine unheimliche Form erſcheint, während Du die innigſte Verbindung mit Gott darin findeſt. “
„ Ich kann nicht anders! Dieſe Ueberzeu - gung iſt ſtärker als meine Liebe, als ich! Nach furchtbarem Kampfe wurde ich Chriſtin;6**130denn ſchon vor der Taufe war die Wahr - heit in mir Herr geworden über eine Täu - ſchung, die ich mit der Angſt der Ver - zweiflung in mir zu erhalten ſtrebte, um Deinetwillen! Lügen kann ich nicht länger, aber auch glauben kann ich nicht — kein Ausweg iſt möglich; und mit dem Gefühl der unausſprechlichſten Liebe, die ewig wahr und unverändert in mir iſt, werfe ich mich an Deine Bruſt. Du ſollſt mir ſagen, wie ich Friede mache zwiſchen Liebe und Glau - ben, wie ich mich wiederfinde in dem Gewühl des Kampfes. “
„ Wenn Du mich liebſt, habe Mitleid mit mir, komme bald, komme gleich und laß mich aus Deinem Munde die Worte hören, die meiner Seele allein Ruhe geben können; ſage mir, daß Du mich lieben kannſt, wenn ich auch nicht an Chriſtus glaube, wie Ihr es verlangt. Ihr ſagt, er ſei die Liebe — nun,131 dann iſt er mit mir, denn ich liebe Dich, wie je ein Menſch zu lieben vermochte; ich kenne kein Glück als Deine Liebe. Schreibe mir nicht! Das dauert zu lange, komme ſelbſt, damit ich Dich ſehe und in Dir eine Antwort finde, die langſam aus todten Lettern zu leſen, eine Qual wäre, die Du mir erſparen wirſt, weil Du mich liebſt. Ja! ich weiß, daß Du mich liebſt: mit dem Glauben, ſage ich Dir, auf Wie - derſehen! — Adieu! Guſtav! Geliebter, Leh - rer, Freund, Gatte, mein Alles auf der Welt! Laß mich nicht lange auf Deine An - kunft warten, jetzt, wo jede Minute mir zu Jahrtauſenden wird, bis ich Dich ſehe! “
Nachdem Jenny dieſen Brief gefaltet und der Diener ihn beſorgt hatte, ſchien es ihr, als hätte ſie nichts von Dem geſagt, was ſie eigent - lich gedacht. Sie wollte ihn zurück haben, es anders ſagen, nochmals überlegen. Sie warf132 ſich vor, zu raſch gehandelt zu haben, und be - ſchwor den Diener, ſich zu beeilen und Alles aufzubieten, um ihr dieſen Brief zurückzubrin - gen. Aber vergebens. Die Poſt war abge - gangen, kein Widerruf war möglich. „ Nun, ſo mag Gott ſich meiner erbarmen! “rief Jenny und ſtürzte weinend zu ihren Eltern, die jetzt durch ſie das Unabänderliche erfuhren und, mit ihr leidend, Alles aufboten, ihr Ruhe und Troſt zu geben. Zärtlich, nur für den Augenblick be - ſorgt, verſicherte ihre Mutter, Jenny könne doch unmöglich daran zweifeln, daß Reinhard ſie liebe, und ſie hege das Vertrauen, ein ſo auf - geklärter Mann werde an ſeiner Braut wegen einer Meinungsverſchiedenheit nicht irre werden. Sie erinnerte ſie, wie duldſam ſich Reinhard und die Pfarrerin gezeigt, noch ehe von irgend einem Verhältniß zu Jenny die Rede geweſen, und ſprach die feſte Ueberzeugung aus, Reinhard in wenigen Tagen hier und Jenny glücklich zu133 ſehen. Und doch weinte ſie mit der Tochter, denn ihr Herz war fern von den Hoffnungen, mit denen ſie dieſe zu beruhigen ſtrebte.
„ Täuſche Jenny nicht mit Erwartungen, die ſich nicht erfüllen werden, oder ich müßte Reinhard nicht kennen “, ſagte der Vater. „ Ich fürchte, er kommt nicht. “
„ Gott im Himmel, was habe ich gethan! “rief Jenny.
„ Was ich Dir ſelbſt gerathen hätte “, ant - wortete ihr Vater, „ wenn ich Deinen Zuſtand früher gekannt. Du durfteſt nicht daran den - ken, in eine Ehe zu treten, der nach Reinhard's Anſicht das innere Bindungsmittel fehlte. Du durfteſt namentlich ihn nicht täuſchen über Deine Geſinnung. Jetzt haſt Du Deine Pflicht erfüllt und Du wirſt in dem Bewußtſein, das Rechte gethan zu haben, Kraft finden, auch das Schwerſte zu tragen. “
Jenny war troſtlos. Sie wollte einen zwei -134 ten Brief ſchreiben. „ Kannſt Du etwas von Dem widerrufen, was Du in dem erſten ge - ſagt? “fragte der Vater. Jenny mußte zuge - ben, das ſei ihr nicht möglich. „ So ſchreibe auch nicht “, ſagte er.
Dann verlangte ſie, gleich jetzt zu Reinhard zu reiſen; ſie wollte ihn ſprechen, alle ſeine Ein - wendungen beſiegen, aber auch Das erklärte ihr Vater für unthunlich. „ Sieh, mein geliebtes Kind, “ſagte er, „ Du biſt nun leider einmal in einen Kreis von Widerſprüchen gerathen, aus denen nur ein gewaltſamer Ausweg möglich ſein wird. Reinhard iſt duldſam gegen den Andersgläubigen, aber ſeine Frau will er nicht nur dulden, er will ſie lieben, ſie ſoll ein Theil ſeines Ichs werden. Das kannſt Du nicht, wenn Du in Dem, was einmal der Mittelpunkt ſei - ner Seele iſt, ſo vollkommen von ihm abweichſt. Selbſt wenn er ſich überwinden und ſchweigen wollte, würde ſchon die Nothwendigkeit, gegen135 ſeine Frau auf ſeiner Hut zu ſein, mit ihr nicht über ſeine heiligſten Intereſſen ſprechen zu können, eine Störung Eures Glückes werden, abgeſehen davon, daß Deine Geſinnung gerade zu ſeinem Verhältniß als Geiſtlicher in noch ſchrofferem Widerſpruche ſteht. “
Innig zog er ſein leidendes Kind in ſeine Arme, aber er verſuchte nicht, ſie zu tröſten. „ Blicke feſt in Dein Inneres “, ſagte er, „ dort wirſt Du Quellen des Troſtes finden, die uns nie fehlen, wenn ein Schmerz uns trifft, ein Unglück uns droht, das wir nicht ſelbſt verſchul - det haben. Wir alle leiden mit Dir und Gott wird Dir beiſtehen. “
Eine tiefe Trauer ſchien über dem Hauſe zu liegen. Jeder fürchtete, Jenny auf irgend eine Weiſe zu verletzen, ihr wehe zu thun. Man wollte ſie ſchonen, ſie die ganze Größe der Liebe fühlen laſſen, die man für ſie empfand, und ſelbſt Thereſe, der die obwaltenden Verhält -136 niſſe kein Geheimniß bleiben konnten, hatte wahres Mitleid mit Jenny, die ſich in ſtiller Ergebung zu faſſen verſuchte, was bei ihrem heftigen Charakter um ſo rührender erſchien.
Ebenſo traurig ſah es bei Reinhard und ſeiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief wie ein Blitzſtrahl aus heiterm Himmel getroffen und er war Anfangs keiner Empfindung, kei - nes Gedankens mächtig geweſen. Nur das Be - wußtſein, daß ihn ein großes unerſetzliches Un - glück getroffen habe, ſtand klar vor ſeiner Seele. „ Wie war das möglich, wie hatte das geſche - hen können? “fragte er ſich und ſaß in ſtarrer Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu - kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte. Sie fragte, was ihm geſchehen ſei, und ſtatt aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's Brief hin, der auch auf die Matrone den ſchmerz - lichſten Eindruck zu machen nicht verfehlte.
137„ Das alſo iſt das Ende aller meiner Hoff - nungen “, rief er endlich und verſank wieder in ſein früheres Brüten. „ Ach, und Jenny “, ſagte er dann, „ was wird aus Dir mit Deinem heißen Herzen? “
„ Für das wird ſich Troſt finden “, meinte die Pfarrerin mit Bitterkeit. Denn kaum hatte ſie ſich von dem erſten Schrecken erholt, als ihr mit erneuerter Deutlichkeit Thereſens Be - hauptung einfiel, Jenny liebe Erlau und habe ſich ſchon lange nicht glücklich in Reinhard's Liebe gefühlt. Die Pfarrerin war eine verſtän - dige, welterfahrne Frau, ſie war aber auch Chriſtin und Mutter und tief verletzt in ihrem Glauben und in ihrem Sohne. Unzählige ver - ſchiedene Verhältniſſe hatte ſie im Leben kennen gelernt. Selbſt in dem Kreiſe ihrer Bekannten gab es viele Juden, die zum Chriſtenthum über - getreten waren und glücklich und ruhig in dem - ſelben lebten. Warum ſollte Jenny allein, die138 ihr ſelbſt ſo oft mit wahrer Erbauung von Jeſu und ſeinen Lehren geſprochen, kein Heil zu finden im Stande ſein an der Quelle, aus der Segen für die ganze Menſchheit geſtrömt war? Jenny, die obenein Reinhard zum Lehrer gehabt, deſſen innige fromme Ueberzeugung Je - den gewinnen mußte? An dieſen Grund von Jenny's Zerriſſenheit konnte ſie nicht glauben, und that ſie es, dann ſchauderte ſie vor dem Leichtſinne, mit dem das Mädchen einen Mein - eid begangen hatte. Wer mit den heiligſten Dingen ſpielen konnte, bot auch dem Gatten keine Sicherheit. Ebenſo wie gegen Gott würde ſie ſich gegen ihren Ehemann verſündigen, be - ſonders da nur Erlau's würdiges Betragen ſie abgehalten hatte, ſchon ihrem Bräutigam un - treu zu werden. Der Schmerz über die Leiden ihres Sohnes machte ſie ungerecht, und ihre gekränkte Muttereitelkeit gewann ſo ſehr über ihre Vernunft den Sieg, daß ſie dem Sohne139 ihre Zweifel an Jenny's Aufrichtigkeit und ihre ganze Unterredung mit Thereſe mittheilte.
Kaum aber hatte ſie es gethan, als ſie das Unheil zu bereuen anfing, das ſie angerichtet. Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, kann keine zerſtörendere Wirkung hervorbringen, als die Worte ſeiner Mutter auf Reinhard. Mit tiefer Wehmuth hatte er Jenny's bis jetzt ge - dacht. Sein Leiden und das ihre fühlte er gleichmäßig und vereint, und hätte ſich alle Be - redſamkeit der Welt gewünſcht, um Jenny eine Ueberzeugung zu geben, welche es möglich machte, ihre Trennung zu verhindern, die für ſie in den jetzigen Verhältniſſen unvermeidlich wurde. Nun, bei der Erzählung der Mutter, erwachte ſeine Eiferſucht aufs Neue. Sein altes Miß - trauen fing ſich zu regen an und wie eine Furie verfolgte ihn unabläſſig der Gedanke, das Spiel - zeug in den Händen eines Mädchens geweſen zu ſein, das ihn verwarf, ſobald ein neuer Wunſch140 es gleichgültig gegen den frühern machte. Er hatte ſie ſo grenzenlos geliebt, er war bereit geweſen, ihr Alles, ſelbſt ſeinen Stolz, ſein Ehrgefühl zu opfern; zu Allmoſen von der Hand ihres Vaters hatte er ſich um ihretwillen erniedrigen gewollt, und nun er ſich am Ziele wähnte, in ihre Hand ſeine Hoffnungen, ſeine geheimſten Wünſche legte — nun beſaß ein An - derer ihr Herz und ſie entzog ihm ihre Hand unter einem Vorwande, der ſie in ſeinen Augen verächtlich machte. Jenny zu verlieren ſchien ihm ein Glück gegen die Pein, ſie nicht mehr achten zu können; ſie, in deren junge Seele er ſelbſt den Keim alles Großen und Schönen ge - pflanzt, die er als das ſchönſte Werk des Schöpfers angebetet hatte.
Würde nur Jemand ihm warnend, beruhi - gend zur Seite geſtanden haben, er hätte ſich aus der Verwirrung der Leidenſchaften leicht und ſchnell zurecht gefunden; denn nur zu deut -141 lich verrieth ihm, ſo lange er ſelbſtändig ur - theilte, Jenny's Brief den Zuſtand ihres Her - zens, und kein Zweifel an der Wahrheit ihrer Worte kam in ihm auf, bis die Mutter ſeinen Argwohn rege machte. In ihrer Entrüſtung achtete dieſe nicht auf die heißen, flehenden Bit - ten Jenny's, mit denen ſie nichts ſehnlicher verlangte, als Reinhard's Eigenthum zu blei - ben; der Gedanke allein, Jenny weigere ſich, Reinhard's Frau zu werden, ſie ſchlage die Hand ihres Sohnes aus, ihr Guſtav ſei von ſeiner Braut abgewieſen, war ihr gegenwärtig und erbitterte ſie um ſo mehr, als ſie Grund hatte, auf ihren Sohn ſtolz zu ſein, der dieſe Ver - bindung wie ſein höchſtes Glück erſtrebt hatte. Geſchäftig, ihn zu tröſten, hielt ſie ihm das Unrecht vor, das man an ihm begehe, und ſtei - gerte dadurch ſein eigenes Leiden ſo ſehr, daß er, von Eiferſucht und gekränktem Stolze ge -142 trieben, in der erſten Aufregung ſeines leiden - ſchaftlichen Schmerzes dieſe Antwort ſchrieb:
„ Ein Mädchen, das Seelenſtärke genug be - ſitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen - der Liebe jeden Zweifel an ſie für eine Tod - ſünde gehalten, mit dem heiligſten Eide zu täu - ſchen, wird die Kraft finden, eine Trennung zu ertragen, der mein Männermuth zu unter - liegen droht. Wohl ihr, wenn dieſe Kraft ſie auch vor Reue bewahrt. “
Anfänglich ſollte das Alles ſein, was er ihr ſagen wollte, und ſeine Mutter, welche dies Blatt geleſen, beeilte ſich, es abzuſenden, weil es gerade ſo ihrer Geſinnung entſprach. Aber ein anderer Geiſt, eine unſägliche Traurigkeit kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den Händen ſeiner Mutter, öffnete es nochmals und fuhr fort:
„ Jenny, warum haſt Du mir das gethan? “ 143Gab es kein anderes Spiel, als das mit mei - nem Herzen? Ich weiß jetzt Alles, weiß, daß mich mein Argwohn nicht betrog. Du kannſt mich nicht mehr täuſchen. Alle Bande zwiſchen uns ſind gelöſt, mein Gewiſſen verlangt, daß ich ſie zerreiße, aber mein Herz blutet. Ich fühle, daß ich kein Weib die Meine nennen darf, dem der heilige Glaube, welchen zu ver - künden ich berufen bin, ein Spott iſt. Und doch könnte ich Dich lieben, könnte Dich ſeg - nen, wenn Du mir nur die Möglichkeit gelaſſen hätteſt, Dich zu achten. Warum ſagteſt Du mir nicht, daß Du Erlau liebteſt, daß nur er Dich beglücken könne? Für Dich wäre mir das Opfer nicht zu ſchwer geweſen. Aber Du lieb - teſt ihn und gelobteſt mir Treue, Du verlachſt meinen Glauben und ſchwörſt, daß auch Dich Chriſtus durch ſeinen alleinſeligmachenden Tod mit dem Vater im Himmel vereint. Jenny, wie durfteſt Du ſo grauſam das Ideal zerſtö -144 ren, das ich in Dir anbetete? Wie konnteſt Du Deine Seele, dies heilige, Dir von Gott ver - traute Pfand, bis zu dieſer That verſinken laſſen? Sage mir nicht, daß Du Dich getäuſcht, das iſt unmöglich, wenn Du es nicht wollteſt. Selbſt Liebe entſchuldigt die Lüge nicht, und dieſe Lüge iſt es, die uns für ewig trennt, denn ich habe unwiederbringlich den Glauben an Dich verloren, in der ich alles Heilige und Wahre anbetete. Lebe denn wohl, Du, die ich nimmer vergeſſen kann, die mir das größte Glück und das tiefſte Leid meines Lebens gegeben. Lebe wohl, Jenny, ich klage Dich nicht an, denn Du biſt unglücklicher, als ich, der im Glauben eine Stütze finden wird. O, wollte Gott, daß ich Dir den Glauben geben könnte zum Dank für die Seligkeit, die ich in Deiner Liebe gefunden? “
So kam der Brief in Jenny's Hände. Sie ſelbſt vermochte ihn nicht zu leſen, ihre Hände zitterten, die Buchſtaben ſchwammen vor ihren145 Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade bei ihr war, den Brief und fragte bebend: „ Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann nicht leſen. “ Verneinend ſchüttelte der Vater das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und gab ihn der Tochter wieder, die ſich gewaltſam zuſammennahm und ihn mit Todesangſt durch - flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück, das ihr in dieſer Stunde werden konnte, ſenkte ſich auf ſie nieder.
Als ſie erwachte, las ſie wieder und immer wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein - hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was der Gedanke bedeute, daß ſie Reinhard um Erlau's willen aufopfere. Sie hatte ſich ge - ſagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge - ſinnung denkbar ſei, aber für möglich hatte ſie es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres Vaters. „ Von dem Geliebten verachtet, ohneII. 7146Glauben, ohne Hoffnung, mir ſelbſt eine Laſt, was bleibt mir im Leben? “rief ſie aus.
„ Jenny! “ſagte der Vater verweiſend und doch mit unausſprechlicher Liebe, zog ſeine Toch - ter in ſeine Arme und rief auch die Mutter herbei, daß ſie Beide mit ihrer Liebe das Kind beſchatten möchten vor dem verſengenden Strahl des Schmerzes, der ſie getroffen.
In tiefem Kummer ſchwanden Stunden und Tage für Jenny hin; immer erwartete ſie, Rein - hard werde zur Erkenntniß kommen, er werde bereuen, und wenn auch eine Wiedervereinigung unmöglich ſei, werde er dennoch kommen, um ſie noch einmal zu ſehen, um in Frieden von ihr zu ſcheiden. Aber vergebens. Und wieder verlangte Jenny, dem Geliebten zu ſchreiben, ſie wollte ihm nur ſagen, wie ſie Niemanden liebe, als ihn, wie ihr der Argwohn in Bezug auf Erlau unbegreiflich und ſchmerzlich ſei. Sie147 bat, man möge ihr die Beruhigung gönnen. Aber auch ihr Vater und die Ihren fühlten ſich ſchwer gekränkt durch Reinhard's Betragen gegen Jenny, und der Vater fragte: „ Erlaubt es Dein Stolz, Dich einem Mann zu nähern, der Dich ſo verkennt? “
„ Ich fühle keinen Stolz “, antwortete Jenny, „ nur das Bedürfniß nach ſeiner Liebe, die mein höchſter Stolz geweſen. Nur ſeine Achtung will ich mir erhalten, er ſoll nicht wie einer Unwürdigen meiner denken, er ſoll mir glauben, daß ich ihn allein geliebt. “
„ Nein “, ſagte der Vater, „ wenn Reinhard nur das leiſeſte Verlangen nach einer Erklärung ausſpräche, würde ich jedem Deiner Wünſche in dieſer Rückſicht meine Billigung geben. Vor einem Manne aber, der ſeiner Braut die un - würdigſte Wortbrüchigkeit zutraut und weder an ihre Liebe, noch an ihre Schwüre glaubt, vor dem ſoll meine Tochter ſich mit keiner Bitte7*148um Vertrauen erniedrigen. Mit Reinhard's krankhaftem Ehrgefühl, mit all' ſeinen Forde - rungen hatte ich Nachſicht, denn er ſelbſt ver - diente Achtung und Du liebteſt ihn — jetzt in - deſſen ſcheint es mir faſt eine Wohlthat, wenn ein Verhältniß ſich löſt, in dem Du nimmer glücklich werden konnteſt, ſei es, daß Reinhard ſo gering von Dir dachte, als er es augenblick - lich thut, oder auch, daß Heftigkeit ſein Urtheil ſo ganz verblenden, ihn ſo ungerecht ſelbſt gegen ſeine Braut zu machen vermag. Ich fordere es als einen Beweis Deiner Liebe zu mir, daß Du keinen Verſuch machſt, Dich mit Reinhard zu verſtändigen, eine friedliche Löſung Eurer Bande herbeizuführen, wenn er es nicht aus - drücklich von Dir verlangt. Du warſt Rein - hard's Braut, aber Du biſt auch meine Toch - ter, auch die Ehre Deines Vaters muß Dir heilig ſein, auch ihr mußt Du ein Opfer brin - gen können, ja, ich fordere, daß Du es bringſt. “
149Und ſo geſchah es. Reinhard und Jenny ſahen ſich nicht wieder, niemals fand irgend eine Erklärung zwiſchen ihnen ſtatt und ein Brautpaar, das mit glühender Sehnſucht nach innigſter Vereinigung geſtrebt hatte, war plötz - lich und auf die ſchmerzhafteſte Weiſe für im - mer getrennt.
Still und einſam verlebte man den Som - mer in Berghoff, da auch Thereſe einige Zeit nach dieſen Ereigniſſen zu ihrer Mutter zurück - kehrte. Sie behauptete, zu Hauſe nöthig zu ſein, und Madame Meier ſah es gern, als Thereſe ſelbſt den Wunſch ausſprach, ſie zu ver - laſſen, weil ihre Anweſenheit Jenny nicht an - genehm zu ſein ſchien.
Erſt ſpät im Jahre kehrte man in die Stadt zurück und Jenny mußte ſich allmälig wieder in Verhältniſſe hineinleben, die ihr fremd ge - worden, da ihnen die Beziehung auf Reinhard genommen war.
150Und als diesmal der Sylveſterabend erſchien, der im vorigen Jahre ſo glückliche Menſchen im Meierſchen Hauſe vereinte, war die Familie allein und nahm ſelbſt Steinheim's Beſuch nicht an, um Jenny's ſchmerzliche Erinnerungen zu ſchonen, obgleich man mit Dank ſein Beſtreben erkannte, den Freunden, mit denen er ſo viel frohe Stunden verlebt, auch am böſen Tage ein treuer Gefährte zu ſein.
Wer Baden-Baden kennt, erinnert ſich wol der einzeln liegenden Häuſer auf der Kloſter - wieſe und der ſchönen Eichen vor einem der - ſelben. Im Schatten dieſer Bäume ſaß an ei - nem Junimorgen des Jahres 1841 eine Dame und zeichnete. Es war eine kleine, feine Figur. Lange rabenſchwarze Locken fielen auf das Pa -151 pier nieder und verbargen das Geſicht der Ar - beitenden; aber man war berechtigt, ſchöne Züge zu erwarten, wenn man von ihrer ſchma - len Hand und dem graziöſen Fuß auf ihr Geſicht ſchließen ſollte. Ein ſechsjähriger, hell - blonder Knabe ſpielte in einiger Entfernung und verſuchte vergebens, die Aufmerkſamkeit der Dame auf ſich zu ziehen. Er kam endlich näher und rief: „ Look my dearest aunt, there comes papa and Lord Walter. “— Dann, als die Dame ſich erhob, um die Kommenden zu begrüßen, ſprang er fröhlich fort und bot den Herren in fremdklingendem Deutſch ſeinen Willkomm und guten Morgen.
„ Iſt Deine Mutter noch in ihrem Zimmer, Richard? “fragte der Vater des Knaben.
„ Nein! “antwortete für ihn Jenny Meier — denn ſie war die Zeichnerin — „ nein, lie - ber Hughes; Clara iſt Ihnen mit der Wär - terin und Luch entgegengegangen, um Ihnen152 von den neueſten Fortſchritten zu erzählen, welche die Kleine gemacht hat. Ich wundre mich, daß Sie ihr nicht begegnet ſind. Sie wollte am Goldbrünnlein auf Sie warten. “
„ O, Schade! “rief Hughes, „ daß wir durch die Stadt gingen und ſie verfehlten. Ich will ſogleich zurückkehren, ſie zu holen, und ich denke, Sie bleiben hier bei Fräulein Meier, lieber Walter, und erwarten unſere Rückkehr. “
„ Mit dem größten Vergnügen! “antwortete der Angeredete, „ wenn ich das Fräulein nicht in der Arbeit ſtöre! “
„ Ach! die kann ich ſpäter beenden “, ſagte Jenny freundlich. „ Kommen Sie, Herr Graf, und beichten Sie, warum man Sie in den letz - ten Tagen gar nicht geſehen hat? “
Walter that, wie ſie von ihm begehrte und Hughes ging mit ſeinem Knaben davon, die Mutter und das kleine Schweſterchen zu holen.
Während nun der Graf von ſeinen Aus -153 flügen und Streifereien in der Umgegend er - zählt, ſei es uns vergönnt, mit flüchtigen Um - riſſen den Zeitraum von acht Jahren auszu - füllen, der zwiſchen der erſten und zweiten Hälfte unſerer Erzählung liegt.
Der Schmerz über die Trennung von Rein - hard hatte Jenny's Seele in ihren innerſten Tiefen erſchüttert und ſie prüfend in ihr eige - nes Herz blicken laſſen, um dort einen Grund für Reinhard's ihr unerklärliches Betragen zu finden. Es ſchien ihr leichter, Unrecht zu ha - ben, ſich ſelbſt eines Fehlers zu zeihen, als Reinhard eine Schuld beizumeſſen: denn wahre Frauenliebe klagt lieber ſich, als den Geliebten an. Nun iſt das menſchliche Herz recht eigent -7**154lich der Acker, den man nur zu durchwühlen braucht, um die köſtlichſten Schätze zu ent - decken. Auch Jenny fand in ſich, ſtatt des Unrechts, das ſie in ihrem Herzen ſuchte, die Kraft, das Leben zu ertragen, es trotz ſeiner Schmerzen zu lieben. Sie gewann es über ſich, fremdes Glück und Leid zu dem ihren zu machen und im Wohlwollen gegen die Menſch - heit Troſt für einen Verluſt zu finden, der ihr unerſetzlich ſchien.
Als Herr Meier ſie ſo weit beruhigt und fähig ſah, ſich durch den Wechſel äußerer Ge - genſtände zerſtreuen zu laſſen, machte er den Vorſchlag zu einer Reiſe, die im Beginn des Frühjahrs angetreten wurde. Man ging nach dem ſüdlichen Frankreich, verlebte einen Winter in Paris und beſuchte Italien im folgenden Jahre. Hier war es, wo Jenny den Maler Erlau wiederfand, deſſen Name aus der Ferne155 ruhmvoll erklungen war, und deſſen Meiſter - werke ſie in Paris zu bewundern Gelegenheit gehabt.
Das Wiederſehen war ein Moment tiefer Bewegung für Beide. Erlau, ſeinem Vorſatz getreu, hatte außer aller Verbindung mit ſei - nen Freunden gelebt; er wähnte Jenny längſt mit Reinhard verheirathet und die Entdeckung des Gegentheils erfüllte ihn mit den freudigſten Hoffnungen. Von der Stunde an wurde er Jenny's Führer in der Wunderwelt, die ſich in Italien vor ihren Augen erſchloß und die ihren vollen Zauber auf zwei ſo lebhaft füh - lende Menſchen auszuüben nicht verfehlte. Aber nicht lange ſollte Jenny dieſe Wonne unge - trübt genießen. Sie gewahrte mit Schmerz, daß Erlau's Leidenſchaft für ſie nicht erloſchen ſei, daß ſie jetzt in dem täglichen Beiſammen - ſein wieder heftig entbrannte und ſich von156 Hoffnungen nährte, die Jenny nicht zu erfül - len vermochte. Dies veranlaßte Herrn Meier, auf Jenny's Wunſch, Italien zu verlaſſen und rief Erlau's Erklärung hervor, daß auch er entſchloſſen ſei, der Meierſchen Familie zu fol - gen und bald in ſeine Heimat zurückzukehren. Je weniger Jenny dieſes erwartet hatte, um ſo mehr hielt ſie es für Pflicht, alle jungfräu - liche Schüchternheit zu überwinden und ſich frei gegen Erlau über ihr gegenwärtiges Ver - hältniß zu erklären. Sie geſtand ihm, wie jetzt, kaum geneſen von unſäglichem Leiden, ihr der Gedanke an eine neue Liebe unmöglich ſei. Sie beſchwor ihn, um ſeiner und ihrer Ruhe willen, ihr nicht zu folgen. Sie ſagte ihm, wie werth er ihr ſei, wie ſie hoffe, ſtatt ſeiner Liebe einſt ſeine Freundſchaft zu erwer - ben, und erlangte endlich von ihm das Ver - ſprechen, daß er nach England gehen und dort157 in William's und Clara's Nähe leben wollte, da er verſicherte, ohne Jenny jetzt in Italien nicht ausdauern zu können.
So trennten ſie ſich zum zweiten Male und Jenny kehrte nach einer Abweſenheit von an - derthalb Jahren in ihre Heimat zurück. Hier fand ſie in den äußern Verhältniſſen nur we - nig verändert. Eduard ging ruhig und ernſt die Bahn, welche er ſich vorgezeichnet hatte. Berühmt und unermüdlich in ſeinem ärztlichen Beruf, hatte er zugleich unverwandt das Wohl und den Fortſchritt ſeines Volkes im Auge, deſſen freie Entwickelung aber nur dann mög - lich war, wenn überhaupt eine freie, zeitgemäße Verfaſſung in ſeinem Vaterlande Raum fand. Sein eifriges Beſtreben zur Erreichung dieſes Zieles beizutragen und, der Geſammtheit nützend, zugleich ſein Volk zu erlöſen, verband ihn mit vielen Gleichgeſinnten aus allen Stän - den. Die Beſten des Landes erkannten ſeine158 Fähigkeit und die hohe Uneigennützigkeit ſeines Charakters; denn die Hoffnung, nach erlangter Emancipation, für ſich ſelbſt Würden und Eh - renſtellen zu erwerben, hatte ebenſo wenig Einfluß auf ihn, als die Furcht vor jenen Verantwortungen, denen ſein kühnes Wort und ſeine freiſinnigen Schriften ihn bereits häufig unterworfen hatten. Ihm genügte ſein Bewußtſein und die achtende Anerkennung ſei - ner Mitſtrebenden. — Noch immer lebte er in ſeinem väterlichen Hauſe. Sei es, daß ſeine Thätigkeit ihn ſo ganz abſorbirte und ihn ſein Alleinſtehen nicht fühlen ließ, oder daß er kein Mädchen gefunden hatte, das ſeine Neigung erregte, er war bis jetzt unverheirathet ge - blieben.
Den Eltern Clara's, welche ſie ſcheidend ſeiner Sorgfalt empfohlen, war er ein treuer und geſchätzter Freund geworden. Ihm, das wußten ſie jetzt, verdankten ſie das Glück ihrer159 Tochter, das in einer vollkommen übereinſtim - menden Ehe mit William immer ſchöner er - blühte. In Eduard's Bruſt ſchüttete die Com - merzienräthin ihren Kummer über das Schickſal ihres Sohnes aus, der unſtät Deutſchland und Frankreich durchſtreifte und, von ſeiner Frau beherrſcht, ein unwürdiges Leben führte. Ferdi - nand fühlte bereits das Elend und die Schande, in die er ſich geſtürzt, aber er war zu ſchwach, die Sklavenketten zu brechen, die ihn entehrten. Auf den ausdrücklichen Wunſch der Hornſchen Familie, war Eduard mit ihm in Verbindung getreten, und da es ihm gelungen, Ferdinand's Vertrauen zu gewinnen, gab er die Hoffnung nicht auf, es werde ihm einſt möglich ſein, den Verlornen ſeiner Familie wiederzugeben.
Mit herzlicher Freude empfingen Eduard und der treue Joſeph die heimkehrenden Lieben. Der Anblick jener Räume, in denen ſie ſo glücklich geweſen und ſo unendlich gelitten hatte,160 erweckte in Jenny's Bruſt die wehmüthigſten Erinnerungen, und ſobald ſie ſich mit Eduard allein ſah, wagte ſie nach Reinhard zu fragen, was ſie in ihren Briefen nie gethan. Sie wußte, daß er ſein Amt angetreten und die ungetheilte Liebe und Achtung ſeiner Gemeinde erworben hatte. Das hatte ihr Thereſe mit - getheilt, deren Mutter bald nach der Abreiſe der Meierſchen Familie geſtorben war. Seit aber Thereſe eine Gouvernantenſtelle auf dem Lande angenommen, hatte Jenny auf einige Briefe, die ſie ihr ſchrieb und in denen ſie ihr die freundſchaftlichſten Anerbietungen machte, keine Antwort erhalten. Um ſo unerwarteter traf ſie die Nachricht, Thereſe habe durch Ver - mittelung der Pfarrerin jene Stelle, ganz in der Nähe von Reinhard's Wohnort, erhal - ten und ſich vor wenigen Wochen mit ihm verlobt.
Als Jenny dies erfuhr, zog ein trübes161 Lächeln um ihren Mund, und Eduard drückte ihr ſchweigend die Hand. Er und Joſeph ſchienen ſich jetzt Jenny's Zufriedenheit gleich - ſam zum Zweck ihres Lebens gemacht zu haben; und in beglückender Eintracht, in friedlicher Ruhe ſchwanden der Meierſchen Familie einige Jahre nach ihrer Rückkehr dahin. Treffliche Männer hatten ſich um Jenny werbend ihr genaht, die Wünſche von Jenny's Eltern hat - ten ſie unterſtützt, aber kein Erfolg ihre Be - mühungen gekrönt. Wagte die beſorgte Liebe ihrer Mutter, ihr je zuweilen Vorſtellungen des - halb zu machen, ſo bat Jenny, man möge Nachſicht mit ihr haben, denn es ſei ihr un - möglich, die Wünſche zu erfüllen, die man für ſie hege. „ Ich bin ja zufrieden und glücklich, liebe Mutter! “ſagte ſie dann; „ ich habe Dich, Vater, Eduard, Joſeph und Alles, was nur irgend mein Herz begehrt, an Liebe und Scho - nung. Würde ich das in dem Hauſe eines162 Mannes finden, den ich nicht liebte? “ Und da alle Zumuthungen und Geſpräche dieſer Art Jenny ſichtlich für längere Zeit verſtimm - ten, war es Herr Meier ſelbſt, der ſeiner Frau anrieth, nicht in Jenny zu dringen, ſondern ruhig eine Zukunft zu erwarten, in der die Er - innerung an Reinhard ihren Einfluß auf Jenny verloren haben und die Vorſchläge ihrer Freunde leichter Gehör bei ihr finden würden.
Aber dieſen Zeitpunkt ſollte Madame Meier nicht erleben; ein plötzlicher, ſchmerzloſer Tod entriß ſie ihrer Familie. Wie tief der Verluſt empfunden wurde, wie er die Engverbundenen nur noch feſter aneinander ſchloß, wie Jeder die Lücke auszufüllen ſtrebte, die dadurch in den Herzen der Andern entſtanden war, bedarf kaum einer Erwähnung. Nun ſtand Jenny allein an der Spitze ihres Hauſes, auf ſie war ihr Vater gewieſen. Dies Bewußtſein erhob ſie in ihren eigenen Augen und tilgte jeden163 andern Wunſch aus ihrem Herzen, als den für ihren Vater zu leben und ſein Alter zu ver - ſchönen. Jene religiöſen Zweifel, welche einſt das Glück ihrer erſten Jugend untergraben, waren längſt und glücklich beſiegt. Eigenes Nachdenken und der Beiſtand ihres Vaters hat - ten ſie zu dem Standpunkt einer Gottesver - ehrung geführt, zu dem ihre ganze Erziehung ſie hingeleitet hatte. Geiſtig frei und mit klar - ſtem Bewußtſein, die zärtlichſte Tochter, der Troſt aller Leidenden und doch wieder die ele - gante, geiſtreiche Wirthin ihres gaſtfreien, vä terlichen Hauſes, ſo erſchien Jenny, nachdem der Schmerz über den Tod ihrer Mutter ſich gemildert hatte. So finden wir ſie auch einige Wochen nach ihrer Vereinigung mit Clara in Baden wieder. Der Wunſch, ſich zu ſehen, war bei beiden Freundinnen gleich mächtig ge - worden, doch hatten Umſtände mancher Art die Erfüllung deſſelben bis jetzt unmöglich gemacht164 und mit inniger Freude trafen ſie nach acht - jähriger Trennung in Baden-Baden zuſammen. Dort hatte man ſich rendez-vous gegeben und wollte ſpäter gemeinſchaftlich in die Heimat der Damen zurückkehren, um Clara's beide Kinder den Großeltern vorzuſtellen. Anfäng - lich ſollte auch Erlau, der ſich ganz in Eng - land angeſiedelt und dort eine ehrenvolle Stel - lung erworben hatte, William nach Deutſchland begleiten. Die unruhige, raſche Lebhaftigkeit des Jünglings war aber in dem Manne nicht erloſchen und er hatte den Wunſch, ſein Va - terland und ſeine Freunde zu ſehen, aufgegeben, um ſich einer engliſchen Geſandtſchaft nach dem Orient anzuſchließen, bei der ſein Hang für das Ungewöhnliche volle Befriedigung zu finden hoffen durfte.
Die beiden befreundeten Familien hatten nun, ſobald ſie in Baden angelangt waren, ab - ſichtlich ihre Wohnung außerhalb der eigent -165 lichen Stadt genommen, um allein in dem Beſitz des gemietheten Hauſes und in der freien, ländlichen Natur zu ſein. Man wollte ſich ſelbſt leben und Jenny war gar nicht damit zufrieden, als William ihr gleich nach ihrer Ankunft erzählte, wie er in einigen Tagen ei - nen Freund, den Grafen Walter, erwarte, den er ihr als einen Genoſſen für die Zeit ihres Aufenthalts in Baden ankündigte.
Graf Walter gehörte einer der älteſten Fa - milien Deutſchlands an. Wie die meiſten Jüng - linge ſeines Standes früh in das Militair ge - treten, war er mit ſeinem Regiment in die Vaterſtadt Clara's gekommen und in ihrem elterlichen Hauſe faſt mit allen Perſonen un - ſerer Erzählung bekannt, mit Hughes befreun - det geworden. Später hatte er den Dienſt verlaſſen, bedeutende Reiſen gemacht und war, um ſich zur Uebernahme ſeiner Güter in land - wirthſchaftlicher Beziehung vorzubereiten, auch166 nach England gegangen, wo er aufs Neue mit William und Clara zuſammentraf. Auf ihre Bitten war er ihr Gaſt geworden, ſo lange er in England verweilte, und noch jetzt rechnete er die Zeit, welche er mit ihnen, theils in Lon - don, theils in dem reizenden Hugheshall verlebt hatte, zu den anmuthigſten Erinnerungen ſeines genußreichen Lebens. Nichts konnte ihm alſo willkommener ſein, als die die zufällige Begegnung mit jenen Freunden an den Ufern des Rheines; und unabhängig, wie er es in jeder Beziehung war, ließ er ſich bereitwillig finden, den Som - mer mit ihnen in Baden zuzubringen.
Jenny hatte er früher nur flüchtig geſehen, aber obgleich er ſie nicht näher kannte, erin - nerte er ſich dunkel, von einer Liebe Jenny's zu einem jungen Theologen gehört zu haben. Jetzt hatte er von Clara, auf ſein Anfragen, einige Details über Jenny und die Löſung je - nes Verhältniſſes erfahren und war, durch167 Clara's und William's Erzählungen, geſpannt auf die Bekanntſchaft eines Mädchens gewor - den, von dem beide Gatten mit Intereſſe ſpra - chen. Trotz der günſtigen Vorurtheile aber, fand er doch in Jenny bald noch mehr, als er erwartet hatte; und auch Herr Meier und Jenny wußten es William Dank, den Grafen für ihren kleinen Kreis gewonnen zu haben, da auch ihnen der Umgang des hochgebildeten Man - nes große Freude gewährte.
Nachdem Walter an jenem Morgen Jenny den verlangten Bericht abgelegt, bat er um die Erlaubniß, die Arbeit zu beſehen, mit der ſie ſich beſchäftigt hatte, als er ankam. Bereit - willig nahm ſie ihr Skizzenbuch wieder vor und zeigte ihm eine Gruppe von Bäumen, die ſie168 am Tage vorher in der Nähe des kleinen Waſſerfalls entworfen hatte.
„ Ich kann es nicht ausdrücken “, ſagte Jenny, „ wie ich dieſe ſchönen, großen Bäume liebe. Sie geben mir immer ein Bild unſers Lebens, das feſt in der Erde gewurzelt, doch ſehnſüchtig himmelan ſtrebt, und in dem Spiel der ſonnenbeſchienenen Blätter liegt außerdem für mich ein hoher Genuß. Die ſchönſten Träume meiner Kindheit, die roſigſten Mär - chen gaukeln an mir vorüber und alle Wun - der der Feenwelt ſcheinen mir möglich, wenn ich das flüſternde Koſen der Blätter höre. “
„ Das iſt eine ächt deutſche Empfindung “, bemerkte Walter, „ die ich vollkommen begreife und mit Ihnen theile. Ich bin ſo glücklich, in meinem Park die herrlichſten Eichen zu beſitzen und weiß meinen Voreltern Dank, die mir jene Bäume gepflanzt. Auch für mich ſind ſie eine Quelle immer neuen Genuſſes, wie die ganze169 Natur, die uns umgibt. Sie ſchreitet mit uns fort, ſie lebt mit uns, ſie hat Antwort für unſere Fragen, und es iſt für mich das Zeichen eines wahren Dichters, wenn er die Sprache verſteht, welche die Natur in ſeinen Tagen zu den Menſchen ſpricht. “
„ Glauben Sie denn “, fragte Jenny, „ daß die Einwirkung der Natur auf das Gemüth des Menſchen nicht zu allen Zeiten dieſelbe blieb? “
„ In ſofern gewiß “, antwortete der Graf, „ als ſie immer die höchſten, heiligſten Empfin - dungen ſeiner Seele anregt. Aber je nachdem dieſe Gefühle ſich im Laufe der Zeiten ändern, wechſelt auch der Eindruck, den ſie auf uns macht. Der heitre Grieche ſah in den ſchön - ſten Bäumen ſeines Waldes liebliche Dryaden, die ihn mit Liebe umfingen. Dem deutſchen Mittelalter predigten ſie den Ernſt, der auch in den düſtern Domen gelehrt wurde, ſie ſpra -II. 8170chen ihm von dem Kreuz, das aus ihrem Holze gezimmert worden .. “
„ Uns uns “fragte Jenny lebhaft.
„ Uns weiſen ſie hinauf in die Region der Klarheit, uns predigen ſie Freiheit und Licht mit ihren himmelan ſtrebenden Zweigen “, ſagte Walter mit ſchöner Erhebung. Dann, als er ſah, daß Jenny ihm erfreut zuhörte, fuhr er nach einer Weile fort: „ Wie Heine das Meer, ſo hat Carl Beck die Baumwelt begriffen. Er verſteht, was jetzt in den Aeſten rauſchet und aus dem Geliſpel der Zweige tönt, und ich halte ihn für einen Dichter, weil ihm die Na - tur nicht jene alten längſt vergeſſenen Ammen - märchen, ſondern die großen Gedanken unſerer Tage vertraut. Das ſcheint überhaupt bei ei - nigen der jüngern Talente der Fall zu ſein. Es iſt, als wolle ein neues, kräftiges Leben in der Poeſie ſich entfalten, und ich hoffe, wir werden nun endlich eine Menge veralteter, ſte -171 reotyp gewordener Bilder los, von denen viele für die jetzige Zeit noch obenein ganz ungenü - gend und verkehrt ſind. “
„ Verkehrt? “wiederholte Jenny und fragte mit ſteigendem Intereſſe: „ und welche rechnen Sie dazu? “
Walter ſann einen Augenblick nach, dann ſagte er:
„ Um gleich eines der gewöhnlichſten zu nennen: Das Bild des Baumes und des Schlingkrautes für die Ehe. Sie glauben nicht, Fräulein! wie müde ich dieſer ewigen Eichen bin, an die ſich zärtlich Epheu ſchmiegt; der Ulmen, an denen die Rebe ſich vertrauend em - porrankt. Leider ſind viele Ehen ſo wie dieſe! Wie mancher Baum, der in angebornem Na - turtrieb hoch und kühn emporſtrebt und ſich von einer kümmerlichen Pflanze umrankt findet, die weder ihn zurückzuhalten noch ſich aufzu - ſchwingen und zu gedeihen vermag in einer8*172Höhe, für die ſie nicht geſchaffen iſt! Aber ſchlimm genug, daß es ſo iſt, und kein Dichter dürfte dies Bild brauchen, wenn er das Ideal ſchildern will, das von dieſer innigſten Verei - nigung in uns lebt. Das Gleichniß iſt falſch! “ſchloß er und ſah verwundert auf Jenny, die während er geſprochen, den Stift aufgenommen hatte und mit dem größten Eifer zeichnete. Nach einigen Minuten reichte ſie dem Grafen, der über ihre ſcheinbare Zerſtreutheit ein wenig verletzt und ſchweigend neben ihr ſaß, ihre Zeichnung hin und fragte: „ Und ſo Graf Walter? befriedigt dies Gleichniß Sie mehr? “
Sie hatte mit kunſtgeübter Hand eine vor - treffliche Skizze entworfen. Zwei kräftige, üp - pige Bäume ſtanden dicht nebeneinander, friſch und fröhlich emporſtrebend, mit eng verſchlun - genen Aeſten. Darunter las man die Worte: „ Aus gleicher Tiefe, frei und vereint zum Aether empor! “
173Walter betrachtete das kleine Bild mit Freude; ſah dann mit einem Ausdruck hoher Bewunderung in Jenny's glühendes Geſicht und ſagte: „ So vermag man nur das wieder - zugeben, was tief empfunden in uns ſelbſt lebt. Schenken Sie mir dies Blatt, als Zeichen, wie unſere Geſinnung in dieſer Beziehung überein - ſtimmt. Ich bitte, laſſen Sie es mir! “
„ Nein! “antwortete Jenny, „ wenn Ihnen die kleine Zeichnung gefällt, wenn ſie Ihnen richtig ſcheint, werden Sie es natürlich finden, daß ich ſie meinen ſchönen Vorbildern dedicire; daß ich ſie Clara gebe, welche eben mit ihrem Manne und den Kindern über die Brücke kommt. Auch mein Vater iſt mit Ihnen! Laſſen Sie uns ihnen entgegengehen. “
Es war ein gar erfreulicher Anblick, die Familie zu ſehen, als ſie über die Wieſe dahin - ſchritt. William nun gegen das Ende der dreißiger Jahre, war ein Bild ſelbſtbewußter,174 kräftiger Männlichkeit, wie man es in England häufig findet. Er und die blühend ſchöne Mut - ter führten die kleine Lucy in ihrer Mitte, die ſeit einigen Tagen die erſten Verſuche machte, auf den eigenen Füßchen fortzukommen und mit aller Gewalt dem Bruder nachlaufen wollte, der fröhlich jubelnd voranſprang. Man konnte kein anmuthigeres Bild ehelichen Glückes finden und Walter's Augen ſuchten Jenny, die aber bereits plaudernd am Arme ihres Vaters hing und nur allein mit ihm beſchäftigt war.
Nachdem man ſich niedergelaſſen und eine lange Zeit mit den lieblichen Kindern vertändelt hatte, ſagte William zu Walter: „ Ich habe gewünſcht, daß wir alle beiſammen wären, ehe ich Ihnen einen Plan enthülle, den ich ſchon ſeit einigen Tagen in mir ausgebildet habe. Ich wollte Ihnen vorſchlagen, jetzt, wie einſt in England, unſer Hausgenoſſe zu werden, um die flüchtige Zeit unſers Beiſammenſeins recht175 zu genießen. Sie finden Raum genug bei uns und ſollen durchaus nicht genirt ſein. Auch für Ihre Dienerſchaft, Ihre Equipage iſt hin - reichend Platz, und wie ſehr es mich erfreuen würde, Sie wieder einmal als meinen Gaſt zu ſehen, bedarf keiner Verſicherung. “
Herr Meier vereinte ſeine Bitte mit Wil - liam's, und ohne lange zu überlegen, nahm Walter den Vorſchlag unbedingt und mit ſicht - lichem Vergnügen an. Man machte Entwürfe, wie man ſich einrichten wolle, um ſo viel als möglich mit einander zu ſein und doch Jedem die nöthige Ruhe und Freiheit zu gönnen, ohne welche auf die Länge keine behagliche Exiſtenz denkbar iſt; und man trennte ſich erſt, nach - dem man übereingekommen war, Walter ſolle noch im Laufe des Tages ſein Hotel verlaſſen, um ſich gleich heute bei ſeinen Freunden zu etabliren.
Als er fortgegangen war, bemerkte Jenny:176 „ Mir hat die Art ſehr gefallen, mit der Walter William's Erbieten annahm. Ein Anderer hätte vielleicht Einwendungen gemacht, das Bedenken geäußert, er könne beſchwerlich ſein und zuletzt ſich in Dankſagungen erſchöpft, wenn er die Einladung angenommen hätte. Von dem Al - len that Walter nichts. Er dachte offenbar im erſten Augenblick nur daran, ob es ihm ſelbſt zuſagend ſei; dann, als er ſich davon überzeugt, ſagte er, ohne weitere Umſtände: „ Ich komme mit großer Freude, wenn Sie mich haben wollen! “und doch lag gerade in dieſer Einfachheit für mich etwas beſonders An - genehmes. “
„ Das iſt es auch! “beſtätigte Herr Meier. „ Es ſpricht ſich darin ein feſtes Zutrauen zu dem Freunde und zu ſich ſelbſt aus; die Ueber - zeugung, er wiſſe, wie willkommen er ſeinen künftigen Wirthen ſei, und die Verſicherung, er ſei ihnen gern verpflichtet. Ueberhaupt177 charakteriſirt ſich ein edles Gemüth, ein freier, durchgebildeter Sinn am meiſten in der Art, mit welcher man Dienſte empfängt und Gefäl - ligkeiten annimmt. Sie auf eine ſchickliche Weiſe zu leiſten, erlernt Mancher. “
„ Ach! auch das iſt nicht jedes Menſchen Sache! “wandte William ein. „ Wie oft er - drückt man uns mit der Art, in der man ſich uns dienſtwillig und gefällig zeigt! “
„ Eben weil man es nicht iſt! “erwiderte Herr Meier. „ Weil man ſich das für eine Tugend, für eine Pflichterfüllung, oder gar für ein Opfer auslegt, was dem wohlwollenden Charakter ganz einfach und natürlich erſcheint. Wer bereit iſt, Andern zu dienen und gefällig zu ſein, wer empfunden hat, wie viel Freude darin liegt, der gönnt dieſen Genuß auch den Uebrigen und nimmt Hülfsleiſtungen und Ge - fälligkeiten ſo gern und unbefangen an, als er ſie erzeigt. Er weiß, daß Geben ſeliger ſei als8**178Nehmen, und daß die Befriedigung des Ge - währenden gewiß ebenſo groß iſt, als die des Empfangens. Darum habe ich Vertrauen zu Perſonen, die mit guter Art „ anzunehmen “verſtehen, ohne innerlichen Vorbehalt, durch ei - nen Gegendienſt bald möglichſt quitt zu wer - den oder zu vergelten. Dies Vertrauen hat mich faſt niemals betrogen und findet in Wal - ter aufs Neue ſeine Bewährung. Damit aber auch er ſich nicht getäuſcht finde, wollen wir doch ſelbſt einmal zuſehen, daß Alles für ihn bereit ſei, wenn er kommt. “ Mit dieſen Wor - ten erhob ſich Herr Meier und entfernte ſich mit William, um die nöthigen Anordnungen treffen zu laſſen.
179So ſehr Jenny und Clara über dies Wie - derſehen in Baden erfreut geweſen, ſo lieb ſie einander waren, ſo konnte es Beiden doch nicht verborgen bleiben, daß es ihnen eigentlich an jenen gemeinſamen Berührungspunkten fehle, welche die Baſis der Freundſchaft machen. Sie hatten im Ganzen nur wenig Monate zuſam - men verlebt und eine Reihe von Jahren war ſeitdem verfloſſen, ſodaß trotz eines fleißigen Briefwechſels die Damen ſich ziemlich fremd geworden waren und ſich nicht recht ineinander zu finden wußten. Wie Clara's ganze Er - ſcheinung Glück und Zufriedenheit ausdrückte, wie jeder Zug die Wonne ausſprach, welche ſie als Gattin und Mutter empfand, ſo zeigte ſich auch in ihrer geiſtigen Richtung eine gewiſſe Ruhe, ein abgeſchloſſenes Begnügen. Sie hatte die höchſten Schätze des Lebens erreicht und, obgleich ſie für die Außenwelt nicht ab - geſtorben war, intereſſirte ſie dieſelbe doch ei -180 gentlich nur in ſo weit, als ſie William be - rührte und mit ſeinen Wünſchen und Anſichten zuſammenhing; denn nach ſchöner Frauen Art lebte ſie nur in ihrem Manne und in ihren Kindern. Jenny hingegen wollte, durch Eduard daran gewöhnt, Theil nehmen an allem Großen und Wichtigen. Mit weiblicher Schwärmerei hing ſie an den Planen und Hoffnungen Eduard's, nicht um ſeinetwillen allein, ſondern weil ſie auch die ihren geworden waren. Gei - ſtige und künſtleriſche Beſchäftigungen füllten die größte Zeit ihres Tages aus und mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit ſtrebte ſie nach neuen Kenntniſſen, nach höherer, vielſeitiger Ausbil - dung der Anlagen, die ſie ungenützt in ſich fühlte.
Mit ſchmerzlichem Lächeln ſah Clara auf dieſes Treiben Jenny's hin. Sie glaubte in ſich die Erfahrung gemacht zu haben, daß bei Frauen die lebhafte Theilnahme an den Er -181 ſcheinungen der Außenwelt ein Zeichen innern Unbehagens ſei, ein Surrogat, mit dem ſie ſich für ein Glück entſchädigen, das ihnen nicht ge - worden. Jenny hingegen erſchien Clara's Weſen als eine Reſignation, die ſie bewunderte, ohne zu glauben, daß ſie ſelbſt im Stande wäre, Glück oder Zufriedenheit darin zu finden.
Bei ſo verſchiedenen Anſichten ward eine gegenſeitige Schonung derſelben zur Pflicht, und da die erſten Verſuche ſich zu verſtändigen, ohne Erfolg geblieben waren, vermied man jede Unterhaltung der Art und Jenny war nahe daran, ihr Beiſammenſein mit Clara etwas einförmig zu finden, als durch Walter's tägliche Anweſenheit eine erwünſchte Abwechſelung in ihr Leben kam.
Bald war dieſer ihr ſteter Begleiter bei den Promenaden, zu denen die Umgegend Badens ſo unwiderſtehlich lockt. Vor ihm ließ ſie ſich ſorglos in ihrer eigenthümlichen Denkweiſe ge -182 hen und Walter, der dadurch Jenny's hohen Werth täglich mehr erkennen und ſchätzen lernte, äußerte nach einiger Zeit gegen William und Clara, daß Jenny ihm vor allen Frauen intereſſant und bedeutend erſcheine.
„ Und nicht auch ſchön? “fragte Clara.
„ Sehr ſchön! “antwortete der Graf “, und um ſo anziehender, als man ihren Augen an - zuſehen glaubt, daß ſie ſchon geweint, ihrem Munde, daß er einſt vor Schmerz gebebt. Solch feucht verklärten Augen gegenüber fühlt man den Beruf zu tröſten, zu vergüten, und ſo ruhig heiter Jenny auch erſcheint, iſt mir doch immer, als hätte die Zukunft bei ihr noch Vieles gut zu machen, als müſſe ſie durch Glück für früheres Leid entſchädigt und belohnt werden. “
„ Das klingt ſehr warm, lieber Graf! “ſagte William ſcherzend, „ und faſt, als ob Sie nicht abgeneigt wären, die Entſchädigung zu183 übernehmen. Hüten Sie ſich vor den feucht verklärten Augen. “
„ Sie thun mir Unrecht “, entgegnete Walter, „ wenn Sie meinen Worten irgend einen an - dern Sinn unterlegen. Daß ich Jenny Meier ſo innig bewundre, ohne ſie zu lieben, das gerade macht mir ihren Umgang ſo anziehend und erhöht den Reiz, den ihr ſcharf ausge - prägter Charakter, ihr ſelbſtändiges Weſen für mich haben. “
In dem Augenblick kam der kleine Richard herbei und rief: „ O kommt doch Tante Jenny ſehen, kommt doch an das Fenſter! “
Man folgte ihm dorthin und erblickte Jenny, die eine junge leichenblaſſe Frau niedern Stan - des unterſtützte, während ſie das Kind der - ſelben auf dem Arme trug. Walter flog die Treppe hinab, um ihr beizuſtehen; denn es war Mittag, die Sonne brannte glühend heiß und184 Jenny ſchien erſchöpft von der ungewohnten Anſtrengung.
„ Führen Sie die Frau ins Haus “, ſagte Jenny, als Walter dazu kam, „ aber behutſam. Das Kind behalte ich. “
Walter erfüllte ihren Wunſch, und nachdem man für die arme Kranke geſorgt hatte, er - zählte Jenny, wie ſie dieſelbe ohnmächtig am Wege gefunden, ſie durch ihre Bemühungen ins Leben gerufen und mit unſäglicher An - ſtrengung bis hieher gebracht, da jetzt in der Mittagsſtunde Niemand die Straße gekommen ſei, den ſie um Hülfe hätte bitten können.
„ Nicht Ein Menſch war zu ſehen “, ſagte ſie. „ Ich blickte nach allen Seiten, ich rief ſo laut ich konnte und der unerträglichſte Stutzer wäre mir ein hülfreicher Götterbote geweſen, wenn er in dem Augenblicke erſchienen wäre. “
„ Es iſt beſſer ſo! “meinte Clara. „ Du185 haſt die arme Frau glücklich hieher gebracht und biſt allen Bemerkungen entgangen, die man darüber leicht gemacht hätte. “
„ Zu dieſen bot wol eine ſo einfache Hand - lung keinen Anlaß “, ſagte Jenny unbefangen. „ Ich konnte doch unmöglich die Frau allein und hülflos liegen laſſen, bis ich von hier oder aus der Stadt Beiſtand geholt hätte. Zudem hätte ich das ſchreiende Kind doch mit mir nehmen müſſen und endlich weißt Du, liebes Clärchen, daß mir die Urtheile der Menge ſehr gleichgültig ſind, wenn ich Das, was ich thue, vor mir und meinem Vater verantwor - ten kann. “
In Jenny's Worten, in ihrem ganzen We - ſen lag in dieſem Moment ſoviel Natürlichkeit und doch ein ſo edler Stolz, daß Walter ſie mit Entzücken betrachtete, obgleich auch ihm der Gedanke unangenehm geweſen, man hätte Jenny186 in jener Situation beobachten und ſie falſch beurtheilen können.
„ Wie wir doch nach allen Seiten hin auf Widerſprüche in den Sitten unſerer ſo - genannten civiliſirten Welt ſtoßen! “ſagte Wal - ter zu Herrn Meier, der indeß dazu gekommen war. „ Wäre eine der Dienerinnen des Hau - ſes der Unglücklichen begegnet, und hätte ſich ihrer angenommen, ſo würden wir das ſchön und lobenswerth gefunden haben; und nun ta - delt man Fräulein Jenny, daß ſie nicht un - barmherziger zu ſein vermochte, als Jene, ob - gleich der Dienſt, den ſie leiſtete, größer war, denn er mußte ihr beſchwerlicher ſcheinen. “
„ Sie billigen alſo die Handlung meiner Tochter unbedingt? “fragte Herr Meier.
Walter ſtockte einen Augenblick und meinte dann: „ Wenigſtens hätte ich ſelbſt nicht anders zu handeln vermocht. “
„ Aber Sie würden wünſchen “, ſagte der187 alte Herr, „ daß Jenny auf keine zweite Probe der Art geſtellt würde, denn wir wollen einmal kein Mädchen von der gewohnten Sitte ihres Standes abweichen ſehen. Dennoch ehre ich ein Gefühl, das in ſolchen Augenblicken rück - ſichtslos zu handeln vermag, ohne an das qu'on dira l'on? zu denken; und ich bin vielleicht ſelbſt Schuld daran, wenn Jenny das Urtheil der Leute nicht zu hoch anſchlägt. In meinen Ver - hältniſſen war es mir Pflicht, meine Kinder bis zu einem gewiſſen Grade gleichgültig gegen die öffentliche Meinung zu machen, die wir ein für allemal gegen uns hatten und deren Ein - fluß auf uns und auf Jeden doch viel größer iſt, als wir glauben wollen. “
Clara, die gleich Anfangs ihre Aeußerung bereut hatte und es nun doppelt that, da ſie Herrn Meier zu einer Erklärung bewogen, welche er ebenſo gern vermied, als Eduard ſie ſuchte — Clara ſagte: „ Verſteht mich nicht falſch! 188Ich tadle Jenny nicht. Nur vor der Verderbt - heit Derjenigen war mir bange, welche ihr ir - gend ein unlauteres Motiv, ein Schauſtellen dabei zur Laſt legen könnten. Wir Frauen ſind ſo ſehr gewöhnt, uns nur innerhalb un - ſeres ſchützenden Hauſes zu denken, daß wir erſchrecken, wenn wir uns außerhalb deſſelben handelnd erblicken. “
„ Entſchuldige Dich nicht und mich nicht, Clärchen! “ſagte Jenny, die bis dahin ſchwei - gend einer Unterhaltung zugehört hatte, bei der ſie ſo nahe betheiligt war. „ Du kennſt mei - nen alten Wahlſpruch: „ Thue, was Du ſollſt, komme, was mag. “ Kann ich dafür, wenn ich den Muth dazu von früher Jugend an fühlte? “ Mit dieſen Worten entfernte ſie ſich ſchnell, um nach ihrem Schützling zu ſehen, und ließ Walter in großer Bewegung zurück. Es war das erſte Mal, daß er mit einer jüdiſchen Fa - milie in nähere Berührung kam und Jenny's189 Geiſt und Schönheit, des Vaters Weisheit zo - gen ihn um ſo mehr an, als ſie etwas ihm Fremdes und Eigenthümliches beſaßen. Er hatte von jeher gewußt, daß Jenny eine Jüdin ſei; aber ſo fern hatte er dieſen Verhältniſſen geſtanden, daß er faſt nie daran gedacht, es könne ein edles Unglück darin liegen, Jude zu ſein. Jetzt aus des alten Herrn ſchlichter Aeußerung tönte ihm, dem Glücklichen, der Schmerzensſchrei eines ganzen Volkes entgegen und ſein Mitleid mit demſelben knüpfte, ihm unbewußt, ein neues Band, das ihn an Jenny feſſelte. Er widmete ſich ihr bald ausſchließlich und hatte eine wahre Freude daran, ſie, die er ſo lebhaft bewunderte, ſelbſt unter der großen Zahl ſchöner und liebenswürdiger Frauen, die Baden in ſich vereinte, als eine der ſchönſten und liebenswürdigſten zu erblicken.
Er wenigſtens wollte durch ſein Verhältniß zu Jenny und ihrem Vater zeigen, daß er frei190 von den Vorurtheilen ſei, durch die, wie er allmälig von Jenny erfuhr, auch ſie und die Ihrigen ſo empfindlich gelitten hatten. Er ſchien eine Ehre darin zu finden, Jenny's un - ausgeſetzter Begleiter zu ſein, und erklärte offen, wie er die Geſellſchaft des alten Herrn Meier und ſeiner Tochter faſt jeder andern vorzöge.
Dabei ging Walter's Selbſttäuſchung ſo weit, daß er jenes Gefühl, welches ihn zu han - deln antrieb, nur für eine Gerechtigkeit, für eine Genugthuung des freien Glücklichen gegen den Unterdrückten hielt. Er glaubte, nur ſei - ner politiſchen Ueberzeugung, ſeiner Achtung vor Menſchenrechten zu folgen, die ritterliche Pflicht eines Edelmannes zu erfüllen, indem er durch ſein Beiſpiel gegen ungerechte Vorurtheile kämpfte.
Einem Onkel, der durch Bekannte von Wal - ter's Verhältniß zur Meierſchen Familie unter -191 richtet war und mit einiger Unruhe deſſelben gegen ihn erwähnte, ſchrieb er in dieſer Zeit folgenden Brief:
„ Sie haben mich gewöhnt, mein theurer Onkel! die Beſorgniſſe und Vorwürfe zu verſtehen, die Ihre ſchonende Liebe für mich zwiſchen die Linien ſchreibt, um mir jede un - angenehme Empfindung zu erſparen. So leſe ich hinter dem wohlwollenden Rath, in die Heimat zurückzukehren und nicht wieder ſo gar lange von meinen Beſitzungen fern zu bleiben, die Beſorgniß, ich könnte nicht allein in dieſe Heimat einziehen, ſondern eine Gattin mit mir bringen, die Ihnen, dem ehemaligen Vormund, dem väterlichen Freunde, nicht willkommen wäre, ſo gern Sie mich übrigens verheirathet und unſer altes Geſchlecht fortgepflanzt wüßten. “
„ Fürchten Sie nichts! Meine liaison mit dem Kaufmann Meier und ſeiner Tochter iſt192 allerdings eine ſehr innige und, wie ich denke, dauernd; indeß iſt mir der Gedanke, Fräu - lein Meier zu heirathen, vollkommen fremd. Sie wiſſen, und ich glaube das fürchten Sie gerade, daß kein Vorurtheil irgend einer Art mich abhalten könnte, ein Mädchen zur Gräfin Walter zu machen, das ich liebte: doch ich liebe Jenny Meier nicht, ſo ſehr ich ſie bewundre und mich ihrer Freundſchaft, ihres Umganges erfreue. Es iſt wahr, ſie iſt ſchön und liebenſwürdig in hohem Grade, aber eine gewiſſe Jugendlichkeit, das weiblich Weiche fehlt ihr, das man an Mädchen un - gern vermißt. Sie weiß mit Sicherheit, daß ſie gefällt; es iſt ihr lieb, ohne daß ſie An - ſpruch darauf macht, und ſie würde, wie mich dünkt, nicht das Geringſte dazu thun, die Meinung oder Gunſt eines Mannes zu erwerben. Gefällt ſie, iſt's ihr recht, wenn nicht, ſo gilt's ihr gleich. Geſtehen Sie,193 das iſt eigentlich nicht die Art, die wir lie - ben. Es liegt etwas Männliches darin, das intereſſant iſt, den Umgang ſehr erleichtert, unſer Vertrauen, unſere Freundſchaft erweckt, aber nicht Liebe. “
„ Ich traf mit dieſer Familie Meier zu - fällig durch die Vermittlung eines gemein - ſamen Freundes zuſammen und nahm mit Dank das Erbieten deſſelben an, ſeine und ihre Wohnung zu theilen. Dies veranlaßte vermuthlich jenes Gerücht meiner Verlobung mit einer Jüdin, das Sie erſchreckt hat. Für diesmal, das ſehen Sie, ſind Sie der Sorge ledig, mich eine Heirath ſchließen zu ſehen, die ſo ſtark gegen Ihre ariſtokratiſchen Anſichten verſtoßen würde. Was die Zukunft bringt, dafür kann ich nicht einſtehen. Doch ohne Scherz! Sie wiſſen, wie ich darüber urtheile, und habe ich je den Beruf gefühlt, mit allen Waffen kämpfend gegen VorurtheileII. 9194aufzutreten, ſo war es nach manchen Mit - theilungen, die mir Fräulein Meier über ihre Jugend und die Verhältniſſe ihres Bruders machte, der auch Ihnen dem Namen nach bekannt ſein muß. Jene Vorurtheile, das ſind die Drachen unſerer Tage, die zu ver - tilgen, Ritterpflicht wäre, weil ſie zerſtörender wüthen, als jene Ungeheuer es vermocht; und ſo viel an mir iſt, will ich beweiſen, daß ich noch ein Ritter bin, wie jener St. Georg, der den Lindwurm tödtete. Es würde Sie ſelbſt ergreifen, wenn Sie Jenny mit Stolz von dem Unglück ſprechen hörten, das ſie mit Tauſenden theilt und für Alle empfindet; denn obgleich ſie lange zum Chriſtenthum übergetreten, iſt ſie von Grund der Seele Jüdin geblieben. Sie geſteht das frei und es macht ſie mir um ſo intereſſanter, wie denn ihr ganzes Weſen mir eine neue Er - ſcheinung, ein Räthſel iſt, das mich anmuthig195 beſchäftigt. In ihr vereinen ſich der Geiſt und der Muth eines Mannes mit unend - licher Güte, und es überraſcht mich oft, daß doch zuletzt, trotz aller männlichen Klarheit, irgend eine liebenswürdige weibliche Schwäche oder ein lebhaftes Gefühl den Sieg über den Verſtand davon tragen. “
„ Sie ſehen aus der Weiſe, in der ich ruhig den Charakter des Fräuleins zergliedere, daß mein Herz frei iſt. Selbſt der geübteſte Anatom vermöchte das nicht, wenn das Klopfen des Herzens ihm die Hand unſicher macht, wie viel weniger ich. Alſo unbeſorgt, mein Freund! finden Sie mir in unſern Kreiſen eine liebens - würdige Gattin und ich will mich nicht länger ſträuben, mir Ketten anlegen zu laſſen, die ſehr beglückend ſein können, wie ich an mei - nem Freunde William und ſeiner ſchönen Frau bemerke. “
9*196Tage und Wochen ſchwanden auf die an - muthigſte Weiſe dahin. Walter überließ ſich immer mehr dem ſteigenden Intereſſe, das ihn an Jenny feſſelte und ihm ihren Umgang zu einem Bedürfniß machte, das er nicht mehr entbehren konnte, und auch ihr war Walter be - reits ſeit lange ein werther Freund geworden. Da entzog die Ankunft einer Freundin, der Geheimräthin von Meining, Jenny auf[e]inige Tage der Geſellſchaft ihrer Hausgenoſſen. Frau von Meining, nur wenige Jahre älter als Jenny, war an einen bejahrten Mann verheirathe, der in Berlin als Arzt eine bedeutende Stellung einnahm. Dort hatte Jenny ſie kennen gelernt und ein unbedingtes Vertrauen zu ihr gefaßt, das durch den hohen ſittlichen Werth jener Dame vollkommen gerechtfertigt wurde. Faſt jeden Sommer pflegte die Geheimräthin in Ba - den zu leben, wo ſie eine Beſitzung hatte, wäh - rend ihr Mann ſeinem fürſtlichen Herrn auf197 deſſen Reiſen folgte, und die Ausſicht, Jenny zu treffen, hatte ſie um ſo mehr beſtimmt, auch in dieſem Jahre ihren Lieblingsort wieder zu beſuchen. Leider aber war ſie diesmal unpaß in Baden angelangt, und eine große Reizbar - keit der Nerven nöthigte ſie, ſich fürs Erſte der Geſellſchaft fern zu halten und ſich allein auf Jenny zu beſchränken, die mit Freude ihre Zeit zwiſchen der Geheimräthin und den Ihrigen theilte.
Willig ließ man ſie darin gewähren; nur Graf Walter konnte ſein Mißvergnügen über Jenny's häufige Abweſenheit nicht verbergen und äußerte eines Abends gegen Herrn Meier, wie er ſich die Abweſenheit einer ſo liebenswür - digen Tochter nicht gefallen laſſen würde. Clara lachte darüber und Herr Meier bemerkte: „ Sie werden auch uneigennützig werden, mein Freund, wenn Sie das Glück kennen werden, das man in der Zufriedenheit ſeiner Kinder empfindet. 198Uebrigens muß man auch der armen Leidenden die kleine Zerſtreuung gönnen, die Jenny's Ge - ſellſchaft ihr gewährt. “
„ Aber heute bleibt Fräulein Jenny doch ungewöhnlich lange dort “, ſagte Walter, als man Anſtalten machte, ſich für den Abend zu trennen, ohne Jenny's Rückkehr zu erwarten.
„ Meine Tochter hat den Wagen erſt nach elf Uhr beſtellt. Die Geheimräthin leidet an Schlafloſigkeit und Jenny wollte verſuchen, ob es ihr nicht gelänge, ſie durch leiſes, gleichmäßi - ges Vorleſen oder auf irgend eine andere Weiſe in Schlaf zu wiegen. Ich wünſche der liebens - würdigen Frau und Euch eine gute Nacht. “
Mit den Worten entfernte ſich Herr Meier; auch Clara und William zogen ſich zurück und ließen Walter allein. Es war ihm zu früh, ſich zur Ruhe zu begeben. Er ging hinab ins Freie, um noch eine Stunde der Kühlung zu genießen, denn er fühlte ſich verdrießlich, un -199 ruhig und in großer Spannung. Ihm war, als ſtehe er am Vorabende einer neuen Epoche ſeines Lebens, als erwarte er etwas, oder als müſſe ihm heute irgend ein beſonderes Ereigniß begegnen. Und wenn er ſich fragte, was ihn ſo bewege, worauf er ſo ſehnſüchtig harre: dann mußte er ſich bekennen, daß er es ſelbſt nicht wiſſe. Vergebens verſuchte er dieſen Zuſtand zu bekämpfen, und um endlich, wie er glaubte, eine körperliche Erregtheit durch Ermüdung ab - zuſtumpfen, ging er raſtlos und ſchnell vor - wärts. So befand er ſich nach kurzer Zeit am Ausgange der Lichtenthaler Allee, in der Nähe des Hauſes, in dem Frau von Meining wohnte. Die Meierſche Equipage hielt noch vor der Thüre. Die Fenſter der Geheimräthin waren matt beleuchtet. Zerſtreut blieb Walter eine Weile ſtehen, ſah zu den Fenſtern empor und ſchickte ſich dann plötzlich zur Rückkehr an. Kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte200 gemacht, als er ſich auf eine der Bänke warf, die ſich in der Allee befinden, und in ein tiefes Hinträumen verſank, aus dem ihn dennoch der Fußtritt jedes Vorübergehenden emporſchreckte. Allmälig wurde die Allee einſamer. Die Uhr des Nonnenkloſters in der Stadt ſchlug zwölf. Bald darauf hörte er das Rollen von Rädern, er fuhr auf und blickte nach der Gegend, woher der Ton zu kommen ſchien. Aber täuſchte er ſich nicht? Ein weißes Kleid ſchimmerte glän - zend aus der Dunkelheit empor, er eilte der Geſtalt entgegen, ſein Herz ſchlug hörbar — Jenny ſtand vor ihm.
„ Sie hier, Graf Walter? “ſagte ſie über - raſcht, doch freundlich, und legte ihren Arm in den des Grafen, der ihn ihr ſchweigend bot.
Wer es nicht empfunden, wie viel Vertrauen in der Art liegen kann, mit dem eine Frau ſich auf den Arm eines Mannes lehnt, der wird nicht begreifen, wie Walter ſich ſo glücklich201 fühlte, als Jenny's Arm jetzt in dem ſeinen ruhte. Denn es gibt gewiß nichts Gleichgül - tigeres, als die Sitte, einer fremden Dame den Arm zu bieten, und doch faſt nichts Süßeres, als wenn dieſe gleichgültige Sitte unter Per - ſonen zur traulichen Gewohnheit wird, die es noch ſelbſt nicht wiſſen, wie nahe ſie ſchon zu einander gehören.
Was unverſtanden wie eine dunkle Ahnung in Walter geſchlummert hatte, das fühlte er plötzlich als unwiderſtehliche Wahrheit. Er hatte Jenny immer ſchon geliebt und jetzt, da ſie freundlich und doch ſorglos, als müſſe es ſo ſein, ſeinen Schutz und ſeine Stütze annahm, jetzt ging die Sonne der Liebe glorreich in ſei - nem Bewußtſein auf und er fragte ſie inner - lichſtſelig: „ Warum erſt jetzt? “
Schweigend legten ſie eine Strecke des We - ges zurück, denn Walter vermochte nicht zu ſprechen vor innerer Wonne, und Jenny fühlte9**202ſich ſo geborgen unter dem Schutze dieſes Man - nes, ſo zufrieden in dem Gedanken an die Er - leichterung, die ſie ihrer Freundin verſchafft hatte, daß ſie ſich willig jener weichen Ruhe überließ, zu der die ſchöne Sommernacht ver - führeriſch einlud. Allmälig aber wurde ihr Walter's Schweigen peinlich. Es war, als ob ſeine Stimmung ſich ihr mittheilte, ſie fühlte ſich beklommen, geängſtigt, und um nur eine Veränderung in dieſe Situation zu bringen, ſagte ſie: „ Es war ſo ſchwül in den Zimmern der Frau von Meining, daß ich dringend die Nothwendigkeit fühlte, mich abzukühlen und deshalb mit unſerm alten Diener den Fußweg einſchlug. Die Nacht iſt wunderſchön. “
„ O, unausſprechlich ſchön! “wiederholte Wal - ter und die frühere Stille trat wieder ein. Jenny's Unruhe ſtieg dadurch von Minute zu Minute. Sie bildete ſich endlich ein, um ihre Unruhe zu motiviren, ihrem Vater ſei irgend ein203 Unglück begegnet und man habe ihr Walter entgegengeſchickt, ſie davon in Kenntniß zu ſetzen. „ Wie ging es meinem Vater, als ſie ihn ver - ließen? “fragte ſie bebend.
„ Er war wohl und munter, und hatte ſich zur Ruhe begeben, ehe ich fortging “, antwor - tete der Graf, und Jenny, als ſie in dieſem Augenblick ihre Wohnung erreichten, machte ihren Arm aus dem des Grafen los und ſank tief aufathmend auf den Sitz vor ihrer Thüre nieder. Sie hätte weinen mögen, ſo bewegt war ihr Herz; ſie wollte aufſtehen und noch in das Zimmer ihres Vaters ge - hen, um ſich zu überzeugen, daß er wohl ſei, und war doch ſo erſchöpft von der Beängſti - gung auf dem Wege, daß ſie kein Glied zu rühren vermochte. Schweigend ſaß Walter ne - ben ihr.
Die tiefſte Stille herrſchte ringsum; nur das Rauſchen der Blätter, das leiſe Rieſeln des204 Oelbaches tönte an ihr Ohr. Balſamiſch drang der Duft des friſch gemähten Graſes von den Wieſen empor und Jenny's Seele fand Ruhe und Friede in dieſer feierlichen Stille, der ſie ſich mit Wonne hingab. Da tauchte plötzlich ein lichter Schein am nördlichen Horizonte auf, hell und immer heller, ſodaß der ganze Him - mel davon durchleuchtet und verklärt ſchien, während ein Lichtmeer den Urſprung der herr - lichen Erſcheinung bezeichnete. Einzelne Strah - len ſchoſſen blitzſchnell gegen den Zenith empor, im wechſelnden Farbenſpiel und mit ganz überirdi - ſcher Pracht; dann verſchwammen ſie wieder in dem Lichtmeer und neue, ebenſo glänzende Flammenſtreifen tauchten daraus hervor. Es war das ſchönſte Nordlicht, das man ſeit lange geſehen hatte und bewundernd hingen Jenny's Blicke an dem erhabenen Anblick. Ihre Hände falteten ſich unwillkürlich und mit bebender Stimme ſagte ſie: „ Und ſie ſprechen von Offen -205 barung! Als ob es eine göttlichere, unwider - ſtehlichere geben könnte, als dieſe. Wer ſollte nicht glauben an Den, der ſo zu uns ſpricht? Das iſt Gott! Das iſt der Gott, den ich anbete, und der keines Mittlers, keiner ſinnverwirren - den Lehren von Kreuz und Blut und Tod be - darf, um uns fühlen zu laſſen, daß ſein die Macht und Er die Liebe iſt. “
Thränen der ſeligſten Begeiſterung floſſen aus Jenny's Augen. Kein Gedanke, als die anbetende Verehrung, die tiefſte Demuth vor Gott war in ihrer Seele, als Walter mit einem Ausruf von Entzücken ſich vor Jenny nieder - warf und ihre gefalteten Hände an ſeine glü - henden Lippen preßte. Erſchreckt und unan - genehm durch dieſe leidenſchaftliche Berührung in ihrer Andacht geſtört, ſtand Jenny auf und ſagte mit einem Tone des Vorwurfs: „ Ent - weihen Sie die Stunde nicht. Knien Sie nicht vor dem Geſchöpf, wenn der Schöpfer ſelbſt206 Sie einer ſolchen Offenbarung würdigt. “ Und ſchritt raſch in das Haus, an deſſen Thüre ihr Diener ihres Eintritts wartete.
Beſtürzt ſah Walter ihr nach. Sein Herz hatte voll grenzenloſer Liebe verlangt, ſich in dieſer feierlichen Stunde der Geliebten für im - mer zu eigen zu geben, und im Uebermaß des Gefühls war er vor ſie niedergeſunken. Er be - tete ſie an, wie ſie den Schöpfer, und kalt und tadelnd hatte ſie ihn von ſich geſtoßen. Er warf es ſich vor, wie ein blöder Träumer vor Jenny geſtanden zu haben, ſtatt wie ein Mann von ihr die Seligkeit zu fordern, die er be - gehrte, die ſie allein ihm zu gewähren vermochte. „ Jetzt “, ſagte er ſich, „ jetzt könnte ſie mein ſein. Ich könnte meine brennenden Lippen auf die ihren drücken, den Schlag ihres Herzens an dem meinen fühlen, wiſſen, daß ſie mein iſt für immer — daß ſie mich liebt. ... “
Walter hielt inne. Daß ſie ihn liebte, da -207 für hatte er keinen Beweis und doch glaubte er daran. Eine Liebe wie ſeine konnte nicht unerwidert bleiben, ſie mußte Gegenliebe finden. Dieſe Hoffnung gab ihm Muth und voll Ver - trauen auf einen glücklichen Ausgang wollte er am nächſten Morgen Jenny ſeine Liebe geſtehen und von ihrem Vater die Hand ſeiner Tochter fordern.
Doch nur zu oft vernichtet der Morgen die Hoffnungen des vorigen Tages. Als Walter das Zimmer betrat, in dem man ſich zu ver - ſammeln pflegte, ſah er an den verſtörten Zü - gen der beiden Damen, daß ihre Ruhe erſchüt - tert, ein unangenehmes Ereigniß hereingebrochen ſein müſſe. Clara ſchien geweint zu haben und ſchüttelte traurig das Haupt, als Herr Meier tröſtend ſagte: „ Sie ſollten froh ſein, mein208 Kind, daß dies Verhältniß nun endlich zu einer Entſcheidung gekommen iſt. An den augenblick - lichen Schmerz darf man nicht denken, wo eine lange und ſo Gott will beſſere Zukunft gewon - nen werden ſoll. “
Um nicht zu ſtören, verließ der Graf das Zimmer und ging zu William, den er ſchreibend fand. Von ihm erfuhr er, wie vor einer Stunde ein Brief Eduard's angekommen ſei, der dieſe allgemeine Aufregung verurſacht hatte. Er war an William gerichtet und lautete:
„ Mein Freund. Mache Dich gefaßt, eine Mittheilung zu hören, die, obgleich erwünſcht in ihren Folgen, doch für den Augenblick ihr tief Betrübendes hat. Ferdinand iſt bei mir, aber er iſt krank und ſehr zu beklagen. “
„ Vorgeſtern in der Nacht ſchellte man an meiner Thüre. Man öffnete und kam, mich zu wecken, weil ein Kranker nach mir begehre. Gleich darauf trat der Fremde bei mir ein und ich209 fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt ſei? „ Ich ſelbſt bin krank zum Sterben und ich wollte, ich wäre ſchon todt “, antwortete der Unbekannte. Ich ſah ihn prüfend an. Eine verfallene Geſtalt, üſirte Züge und wenig, faſt ergrautes Haar — obgleich der Mann ſo alt nicht ſchien, um dieſen gänzlichen Verfall zu rechtfertigen. „ Sie kennen mich nicht mehr, oder wollen Sie mich nicht kennen? “fragte er höh - niſch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz der faſt unglaublichen Veränderung in ſeinem Aeußern. Es war Ferdinand. “
„ Ich nöthigte ihn, ſich niederzuſetzen. Ich fragte nach ſeiner Frau. „ Nennen Sie das Weib nicht! “rief er und ſein Geſicht zuckte krampfhaft. „ Mit dem Wenigen, das man mir als Almoſen hinwarf, vermochte ſie ſich nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An - ſprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich war krank, ein Fieber nahm mir die Beſinnung210 und dieſen Zeitpunkt benutzte ſie, mir Alles zu rauben, was ich noch beſaß, und mich zu ver - laſſen. Ich hatte ja nichts mehr zu verſchenken, zu verſchwenden “So ſchloß er und wieder flog das convulſiviſche Zittern durch ſeine Züge. “
„ Ich ſah, daß ſeine körperliche Erſchöpfung aufs Höchſte geſtiegen war, und redete ihm zu, die Nacht bei mir zu bleiben, zu ruhen; wir könn - ten das Nöthige dann am Morgen überlegen. Er betrachtete mich mit einem Mißtrauen, das mich befremdete, da er gerade mich auſgeſucht hatte, und ſagte: „ Wollen Sie erſt von der Familie Horn Verhaltungsbefehle holen? “ Nun wußte ich, wie ihm beizukommen war. Es ge - lang mir, ihn zu beruhigen. Ich ließ eine Mahl - zeit auftragen, denn er bedurfte dringend einer Erquickung. Mit gieriger Haſt griff er nach den Speiſen und brach dann, als er ſich geſät - tigt hatte, in lautes Weinen aus. „ So komme ich in meine Heimat zurück! “rief er und fing211 dann an, mir zu erzählen, wie er ſeit geſtern faſt keine Nahrung zu ſich genommen, den Poſt - wagen nicht verlaſſen hätte, aus Scheu, hier in der Nähe ſeiner Vaterſtadt Bekannten zu begegnen. „ Auch hatte ich kaum, wovon eine Mahlzeit zu bezahlen “, ſagte er. Sie hat mir Alles genommen, ehe ſie mich verließ. Als ich zum Bewußtſein erwachte, war ich allein, ein Bettler. Seit Monden war unſer Credit er - ſchöpft, Niemand wollte uns mehr borgen. Ich erfuhr, daß ſie einem Ruſſen gefolgt war, der ihr lange nachgeſtellt hatte und ihr glänzendere Ausſichten verſprach, als ſie bei mir erwarten konnte. Ein Ring, den ich nie abgelegt und den ich jetzt verkaufte, bot mir die Mittel, ſie zu verfolgen — doch bald ſah ich die Thor - heit dieſes Unternehmens ein. Ich mag ſie nicht wiederſehen. Eine unbezwingliche Sehnſucht trieb mich hieher. Ich will hier ſterben, wo ich einſt glücklich war. “
212„ Erſchöpft fiel er in den Sopha zurück, und da ich abſichtlich ſchwieg, ſchlief er bald ein, obgleich er heftig fieberte. Seitdem hat ſich unverkennbar ein nervöſes Fieber deklarirt und die Krankheit iſt im Steigen. Er hat nur we - nige klare Augenblicke, in ſeinen Phantaſien aber ſpricht er mit dem tiefſten Haß von ſeiner Mut - ter, der er ſein Unglück zuzuſchreiben ſcheint. Wenn nicht beſondere Zufälle dazwiſchen treten, iſt ſein Zuſtand nicht gefährlich, und ich hoffe, ihn herzuſtellen. Indeſſen halte ich es für rath - ſam, den Eltern die Anweſenheit Ferdinand's zu verbergen, bis er körperlich und geiſtig im Stande iſt, ein Wiederſehen zu ertragen. Jetzt, da die Trennung von ſeiner Frau erfolgt iſt, wird es uns ein Leichtes ſein, ihn allmälig ſei - nen Eltern und ſeinen frühern bürgerlichen Ver - hältniſſen wieder zu geben. “
„ Beruhige Deine Frau deshalb und ſage ihr, daß es ihm an der Pflege und Sorgfalt, die213 ſein Zuſtand erfordert, nicht fehlen ſoll. Ich bürge dafür und hoffe, Dir bald tröſtlichere Nachrichten geben zu können. “
Mit der Entſchloſſenheit, die William's gan - zes Weſen charakteriſirte, erklärte er gleich nach Leſung dieſes Briefes ſich bereit, nach Clara's Vaterſtadt zu reiſen, um nicht Eduard allein die Sorge für den Unglücklichen aufzubürden, und unter ſtrömenden Thränen beſchwor ihn Clara, ſie mit ſich zu nehmen, es ihr zu ver - gönnen, daß ſie ſelbſt die Pflege des Bruders übernehmen und ſeine Rückkehr in das väter - liche Haus einleiten könne. Auch dazu war William geneigt, nur die Unmöglichkeit, mit den Kindern eine ſo ſchleunige Reiſe zu machen, wie ſie hier erforderlich war, ſchien Clara's Wünſchen ein Hinderniß in den Weg zu legen, bis Jenny mit ihres Vaters Zuſtimmung ſich erbot, die Kinder unter ihre Obhut zu nehmen und mit ſich nach Hauſe zu bringen. So ward214 es beſchloſſen, noch an demſelben Nachmittage abzureiſen, und in trauriger Stimmung ſah Clara der Stunde entgegen, in der ſie zum erſten Mal ſich von den Lieblingen ihres Herzens trennen ſollte, während William und Jenny ihr Muth zuſprachen und das Nöthige beſorgten.
Natürlich mußten Walter's perſönliche Wünſche vor dieſen Ereigniſſen in den Hinter - grund treten. Jenny ſchien des vorigen Abends vergeſſen zu haben. Sie war eifrig um Clara bemüht und gönnte ſich nicht eher Ruhe, bis ſie die Freundin wohlverſorgt auf dem Wege in die Heimat wußte. Dann ließ ſie die Kin - der in ihr Zimmer bringen, richtete ſie dort ge - hörig ein und traf endlich zur Theeſtunde mit dem Grafen und ihrem Vater zuſammen.
Jetzt erſt fühlte ſie, wie ſich ſeit geſtern ihr Verhältniß zu Walter geändert hatte. Sie wußte nun, daß er ſie liebte, und obgleich er ihr ſehr werth war, war ihr ſeine Liebe nicht215 willkommen. Sie konnte den rechten Ton für die Unterhaltung nicht finden, wurde zerſtreut, dann verdrießlich, daß ſie ſich ſo wenig zu be - herrſchen wiſſe, und entfernte ſich unter dem Vorwande, Frau von Meining ihren Beſuch zugeſagt zu haben.
Walter, dem Jenny's befangenes Weſen, ihre Zurückhaltung nicht entgangen war, glaubte ſie durch ſein leidenſchaftliches Betragen verletzt und benutzte ihre Abweſenheit dazu, ihrem Va - ter ſeine Bitte um Jenny's Hand auszuſprechen, um ſich dann auch gegen ſie zu erklären und in ſeiner Liebe eine Entſchuldigung für den Un - geſtüm zu finden, mit dem er ſie geſtern erſchreckt hatte.
So oft Herr Meier auch in gleicher Lage geweſen war, ſo ſehr überraſchte ihn Walter's Antrag. Er fragte, ob der Graf die Liebe ſei - ner Tochter beſitze?
„ Ich glaube mit Zuverſicht, daß mir ihre216 Freundſchaft und Achtung gewiß iſt, ich hoffe, ihre Liebe zu erwerben “, antwortete Walter.
„ Und iſt Ihre Familie von dem Schritte unterrichtet, den Sie thun wollen, lieber Walter? “
„ Nein, aber Sie wiſſen, daß ich unabhän - gig und Herr meiner Handlungen bin. “
„ Indem Sie mir dieſe Erklärung geben “, ſagte Herr Meier, „ geſtehen Sie mir zu, daß Sie die Meinung der Ihrigen gegen ſich haben würden. Das fürchte ich ſelbſt, und wünſchte, ich könnte Ihre Werbung ungeſchehen ma - chen. Ich weiß nicht, ob Jenny Sie liebt, noch wenigſtens iſt ſie, wie ich hoffe, frei genug, eine Trennung von Ihnen zu ertragen; darum fol - gen Sie meinem Rathe, Walter, benutzen Sie William's Abreiſe, uns gleichfalls zu verlaſſen, und geben Sie einen Wunſch auf, deſſen Er - füllung Ihnen und uns Kummer machen könnte. “
„ So verweigern Sie mir Jenny's Hand? “fragte Walter erbleichend und ſetzte mit einem217 Ton, dem man den tief gekränkten Stolz an - hörte, hinzu: „ Darauf war ich nicht vorbereitet. “
Ruhig nahm Herr Meier Walter's Hand und zog ihm zu dem Sitze nieder, von dem er aufgeſtanden war.
„ Verſtehen Sie mich nicht falſch “, ſagte er. „ Ich glaube, Ihnen durch mein Betragen gegen Sie gezeigt zu haben, daß ich Sie achte, Sie für einen edlen Menſchen halte. Sie ſelbſt wiſſen, daß Ihre Stellung in der Welt den Anſprüchen des ehrgeizigſten Vaters genügen müßte. Aber Sie würden Jenny zu einem Range erheben, deſſen die gräflich Walterſche Familie die Tochter eines Juden nicht würdig achten könnte. Davor möchte ich Jenny be - wahren und Sie vor der ſchweren Pflicht, Ihre Frau gegen die Vorurtheile Ihrer Familie und Ihrer Standesgenoſſen zu ſchützen. “
„ Und glauben Sie, daß mir dazu der Wille oder die Kraft fehlte? “fragte Walter. „ Glau -II. 10218ben Sie, daß Jenny's perſönlicher Werth nicht die Einwendungen beſiegen würde, die mein Onkel gegen dieſe Verbindung machen könnte? Er iſt der Einzige, deſſen Meinung mir Werth hat, deſſen Anſichten ich ſchonen möchte, und er wird den Schritt billigen, wenn er Jenny kennt und meine Liebe für ſie. Ich war glück - lich, ſeit ich denken kann — ich habe Alles, was das Leben ſchön macht, nur eine Gattin fehlt mir, mein Glück zu theilen. Da führt ein günſtiges Geſchick mir Jenny zu. Ich liebe ſie, ich möchte ihrer Hand mein höchſtes Gut verdanken, und Sie verweigern es mir, weil Sie mich von Vorurtheilen nicht frei glauben, die man in unſrer Zeit kaum noch der Rohheit des Niedrigſten verzeiht. “
„ Wollte Gott, es wäre ſo! “ſagte Herr Meier ernſt, „ dann ſollte mir kein Gatte will - kommner für Jenny ſein, als Sie; Keinem würde ich meine Tochter mit größerer Zuver -219 ſicht vertrauen, als Ihnen. Die Erklärung muß Ihnen für meine volle Achtung bürgen. “ Bei den Worten reichte er Walter ſeine Hand, der ſie herzlich drückte. „ Was aber nun Ihren Antrag und Ihr Verhältniß zu Jenny betrifft, darin folgen Sie mir. Es gilt das Glück meiner Tochter und Ihres, Walter. Trauen Sie mir, der ich die Welt und die Menſchen länger kenne, als Sie. Ich betrachte Sie für frei von jeder Verpflichtung gegen uns. Ueber - eilen Sie nichts. Laſſen Sie ſich Zeit, die An - ſicht Ihres Onkels zu hören, prüfen Sie ſelbſt die Meinung des Kreiſes, dem Sie angehören, und wenn Sie dann ihren Wunſch noch hegen, wenn Jenny damit einverſtanden iſt, will ich von Herzen einen Bund ſegnen, der in Bezug auf Sie ſchon jetzt meine vollkommenſte Zuſtim - mung hat. Sind Sie damit zufrieden, Walter? “fragte er.
„ Muß ich nicht? “antwortete der Graf,10*220der ſich nur ungern in den Gedanken fand, ſein Ziel ſo weit hinausgeſchoben zu ſehen, obgleich er fühlte, daß Herr Meier ſeiner Denkart nach nicht anders handeln konnte und ihn deshalb nur um ſo höher ſchätzte. Mit Widerſtreben verſtand er ſich dazu, ſich gegen Jenny nicht zu erklären, bis er ſeinen Onkel von ſeiner Ab - ſicht in Kenntniß geſetzt und deſſen Antwort erhalten hätte, und verließ den Greis, um dem Onkel zu ſchreiben. Auch Herr Meier zog ſich zurück, um Eduard ſeinerſeits von dem Geſche - henen zu benachrichtigen. Er machte ihn auf die glänzenden Verhältniſſe, auf den trefflichen Charakter Walter's aufmerkſam und ſagte: „ Dennoch widerſtrebt meine innere Ueberzeugung dieſer Verbindung faſt ebenſo ſehr, als der mit Reinhard, mit dem Unterſchiede, daß jetzt meine Beſorgniß den Verhältniſſen gilt, während ſie bei Reinhard den Charakter des Mannes betraf. Niemand iſt ſo gleichgültig gegen das Urtheil221 der Menſchen, daß Lob oder Tadel ſeiner Um - gebung ihn kalt ließe, und es könnte für Jen - ny's Glück eine harte Probe werden, wenn ſie es erleben müßte, Walter's Entſchluß von ſei - nen Standesgenoſſen getadelt und ihn dadurch verletzt zu ſehen. Ihre erſte Verlobung brachte ſie in geiſtiger Beziehung in einen traurigen Conflikt, dieſe könnte ſie in ein ſchwer zu über - windendes Mißverhältniß zu den äußern Um - ſtänden verſetzen und ſie leicht ebenſo unglücklich machen, als jene. Wie ich Jenny beurtheile, fühlt ſie das ſelbſt und hat Scheu vor Walter's unverkennbarer Neigung, weil ſie ſich nicht den Muth zutraut, ſeiner Liebe und ſeiner Werbung zu widerſtehen. Bei Walter's perſönlichen Eigen - ſchaften und ſeiner Stellung in der Welt würde es vielleicht jedem Mädchen ſchwer, da keines von Eitelkeit frei und Walter ganz der Mann iſt, Liebe und Zutrauen zu erwecken. Doch bin ich überzeugt, daß dieſe Heirath früher oder222 ſpäter zu Stande kommt, und theile Dir dieſe Nachricht mit als Etwas, das ich nicht gerne ſehe, aber nicht zu hindern vermag. Deinen Anſichten dürfte das Verhältniß willkommen ſein. Gott gebe, daß meine Beſorgniß mich trüge und Jenny ſo glücklich werde, als ſie es verdient. “
In ſeiner Anſicht von Jenny's Scheu vor der Bewerbung Walter's und ihrem Mißtrauen gegen ſich ſelbſt hatte ihr Vater ſich wirklich nicht getäuſcht. Jenny war zu ſehr an Huldi - gungen gewöhnt und nicht mehr jung genug, um in jeder Annäherung eines Mannes Liebe zu erblicken. Gerade deshalb hatte ſie ſich in ihrem Verhältniß zu Walter, in ſeiner Geſell - ſchaft um ſo behaglicher und freier gefühlt, als ſie mit Sicherheit glaubte, hier keinen andern Anſprüchen zu begegnen, als denen, welche man einem geachteten Freunde willig zugeſteht. Jetzt war ihr plötzlich die Ueberzeugung des Gegen -223 theils geworden und mit ihr das Bewußtſein, daß ſie durch Walter's Liebe manchem neuen Kampfe ausgeſetzt werden könnte: ſei es, daß er ihre Hand verlange, oder aus Rückſicht auf ſeine weltliche Stellung darauf verzichte. Ver - ſtimmt gemacht durch dieſe Gedanken, langte ſie, während Walter die Unterredung mit ihrem Vater hatte, bei Frau von Meining an, die in Jenny's beweglichem Geſicht die Spuren einer innern Unruhe leicht bemerkte. Sie fragte um die Urſache derſelben, obgleich Jenny anfangs die Thatſache läugnete, und erſt nach freund - lichem Bitten und Dringen von Seiten der Geheimräthin ſagte Jene:
„ Ich habe die Entdeckung gemacht, die Liebe eines Mannes zu beſitzen, an die ich nie ge - dacht, und das iſt mir unangenehm. “
Die Geheimräthin ſah ſie verwundert an, lächelte dann und meinte: „ Das heißt, Du be - mitleideſt ihn, weil Du dieſe Liebe nicht erwi -224 derſt und er Dir nicht gefällt. Das kommt wohl vor im Leben und ſollte Dir nicht ſo neu ſein, Dich ſo ſehr zu verſtimmen. “
„ Im Gegentheil “, antwortete Jenny, „ er iſt mir lieb und werth, und gerade darum thut es mir ſo wehe. “
„ Jenny “, ſagte die Geheimräthin, plötzlich ernſthaft geworden, „ ich will kein Vertrauen erzwingen, wenn Du nicht geneigt biſt, es mir zu gewähren. Nur das Eine ſage mir, mich zu beruhigen: Iſt der Mann, der Dich liebt, verheirathet, oder ſonſt in einer Weiſe gebun - den, die Deine Unruhe erregt? Nur die Eine Frage beantworte mir. “
„ Nein, nein, mein guter, lieber Engel! “rief Jenny, über den feierlichen Ernſt ihrer Freundin lächelnd. „ Er iſt frei und unumſchränkter Herr ſeines Willens; ich zweifle nicht, daß er mir ſeine Hand anträgt, aber das iſt es, was ich fürchte und was mein Vater ungern ſehen wird. “
225„ So iſt er arm und ſeine Stellung der Deinen zu ungleich? “fragte Frau von Meining.
„ Kennſt Du meinen Vater und mich ſo wenig “, entgegnete Jenny im Tone des Vor - wurfs, „ zu glauben, daß dergleichen uns irren könnte? Nein, im Gegentheile, Walter iſt es, der mich liebt, und deſſen Liebe ich fürchte. “
„ Walter! “rief die Geheimräthin erfreut und ſetzte dann hinzu: „ Du biſt unwahr gegen Dich oder mich. Walter's Liebe kann Dir nicht un - willkommen ſein, denn gleichgültig iſt er Dir nicht. “
„ Auch habe ich das nicht behauptet, “ant - wortete Jenny. „ Aber ich habe durch meine Verlobung mit Reinhard ſo viel gelitten, mich ſo an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere, neuen Stürmen ausgeſetzt zu ſein. Ich habe in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder — denn auch Joſeph iſt mir ein Bruder — in der Kunſt mir eine Welt geſchaffen, in der10**226ich Freude finde und ſie den Andern bereite. Nenne es Feigheit oder Egoismus, wie Du willſt, ich mag aus dieſem ſichern Hafen mich nicht in das Meer des Lebens wagen. Ich will nicht heirathen. “
„ Und wenn Dein Vater ſtirbt? “
„ Dann leben mir die Brüder .... “
„ Die wahrſcheinlich Deinen Entſchluß nicht theilen “, fiel ihr die Geheimräthin ins Wort, „ ſich verheirathen würden, wenn Du Dich ihnen durch einen vernünftigen Entſchluß entzögeſt und ſo ihr und Dein Beſtes förderteſt. Wie viel hundert Mal haſt Du mir über die hohe Anſicht geſprochen, die Du von der Ehe hegſt! Wie erhaben haſt Du mir Walter's Idee davon geſchildert, als Du mir neulich von der Unter - haltung erzählteſt, die Du über dieſen Gegen - ſtand mit ihm gehabt. Alſo Gleichniſſe zeich - nen kannſt Du, aber im Leben ſie durch Dich zu realiſiren, ſtehſt Du an! “
227Sie war ganz erhitzt durch den Eifer, mit dem ſie geſprochen hatte, lehnte ſich in ihrem Fauteuil zurück und ſagte lächelnd, da Jenny nachdenkend ſchwieg: „ Wie ſich doch Alles im Leben wiederholt. Meine Tante würde eine Freude haben, könnte ſie ſehen, wie ich jetzt an Dir die Ermahnungen probire, die ſie mir ge - macht, ehe ich mich verheirathete. Ich denke aber, ſie finden bei Dir ein ſo williges Ohr, als bei mir, und nehmen auch ein ſo glückliches Ende. “
„ Das ſagſt Du, Clementine “, rief Jenny, „ Du, die mir ſelbſt erzählt, welchen Kampf Du noch nach Deiner Hochzeit zwiſchen Pflicht und Liebe beſtanden haſt? “
Clementine ſtrich mit der Hand über die hohe, zarte Stirn und ſagte mit unbeſchreib - licher Weichheit und Demuth: „ Ich halte Dich nicht für ſchwächer als mich. Was ich ver - mochte, mußt Du auch vermögen. Du ſollſt228 ſie auch kennen lernen, die Wonne, ſeine Nei - gung dem Glücke eines Andern zu opfern, und darin ein neues, beſſeres Glück zu finden. “ Dann nach einer Pauſe fuhr ſie fort: „ Uebri - gens, was will ich denn? Von dem Opfer einer Neigung iſt ja hier die Rede nicht! Du liebſt keinen Andern; Du biſt frei und Walter iſt Dir werth. Was drückt und ängſtigt Dich denn? “
„ Der Gedanke, man könne mir ehrgeizige Motive unterlegen “, ſagte Jenny lebhaft, „ wenn ich Walter's Hand annehme; und — daß ich es Dir geſtehe — die Möglichkeit, er könne es einſt bereuen, eine Bürgerliche, eine Jüdin, ge - heirathet zu haben, wenn mir der Zutritt zu den Cirkeln des Hofes verſagt bleibt, oder wenn irgend ein anderes Ereigniß ihn unangenehm daran erinnert. Ich mag nicht, wie Walter es in jenem Gleichniß nannte, die kümmerliche Pflanze ſein, die ſich zu einer Höhe emporrankt,229 für die ſie nicht geboren iſt. Liebte ich Walter, vielleicht wäre ich ſchwach genug, meine Ver - nunft zu verleugnen; jetzt nimmermehr! Mag Walter ſich eine Gefährtin wählen, die ihm gleich iſt an Vorzügen des Ranges und der Geburt, die mit ihm auf gleicher Höhe erwuchs. Ich will keinem Menſchen Etwas verdanken, das er jemals bereuen könnte, mir gegeben zu haben. “
„ Aus der Hand eines geachteten Gatten entehrt keine Gabe und er bereuet ſie nicht, wenn er ſie, wie Walter Dir, mit ruhiger Ueberzeugung gibt “, ſagte Clementine, die wol fühlte, daß hier der Punkt läge, von dem Jen - ny's Weigerung gegen Walter's Wünſche aus - ging. Auch ſie kannte Walter und, erfreut durch den Gedanken, ihn und Jenny verbunden zu ſehen, wünſchte ſie womöglich dazu beizu - tragen. Darum vermied ſie es für diesmal,230 Jenny auf dieſer für ſie empfindlichſten Seite anzugreifen und bemerkte ablenkend: „ Und das iſt doch der einzige Grund, der Dich beſorgt machen kann! “
„ Nein! “antwortete Jenny, „ auch in mir ſind Gründe dagegen. Mir fehlt die Fähigkeit, mich in dem Leben eines Andern aufgehen zu laſſen. Meine Exiſtenz iſt eine feſt beſtimmte, in ſich abgeſchloſſene. Ich habe mich an eine gewiſſe Freiheit gewöhnt, die ich nicht mehr entbehren kann und die ich in der Ehe doch aufgeben müßte. Vor Allem aber, wie ich Reinhard liebte, kann ich nicht wieder lieben. Mir fehlt die Jugendlichkeit, die Friſche des Herzens, das fühle ich tief. Ich kann ſo nie wieder lieben! “
„ So liebe Walter anders! “wandte Frau von Meining ein. „ Auch Du biſt ſicher nicht das erſte Mädchen, das ihn die Liebe kennen231 lehrt. Er iſt ein Mann, der in der Schule des Lebens und des Hofes ſeine Prüfungen be - ſtand. Den ruhigen Mann reißt keine Leiden - ſchaft blindlings hin; was er thut, hat er über - legt, was er verſpricht, will und wird er hal - ten. Und was die Friſche des Herzens betrifft, ſo iſt es mit der Liebe wie mit dem Menſchen überhaupt. Die Geſchlechter gehen und kom - men, jedes hat die Erfahrungen des vorigen für ſich, ſie gleichen ſich faſt alle und doch — hat jedes neue Geſchlecht ſeine Thorheit und ſeine Weisheit, ſeine Jugend, ſeine Blüthe, nach ſeiner Individualität; eine Blüthe, die rein und ſchön iſt, obgleich ſie erſt auf der Aſche der geſchiedenen Generation erwuchs. Darum Muth, mein Herz! Den falſchen Stolz beſiege und im Uebrigen vertraue der Liebes - fähigkeit und der Liebebedürftigkeit des Frauen - herzens. “
232Eine innige Umarmung beendete dieſe Un - terhaltung, die in Frau von Meining den Entſchluß hervorgerufen hatte, ſich ſobald als es ihr möglich ſein würde, der Geſellſchaft an - zuſchließen, um Jenny und Walter ſchnell an ein Ziel zu bringen, das ihr für Beide ſo glückverſprechend ſchien. Dieſe freudige Hoff - nung that für die Anregung ihrer Nerven mehr, als irgend eine Arzenei vermochte und ſchon am nächſten Tage nahm ſie zum erſten Male Walter's Beſuch an, der faſt täglich in ihrer Wohnung geweſen war, um ſich nach ih - rem Ergehen zu erkundigen.
233Zwei Gefühle waren es beſonders, die Jenny beunruhigten und ſie bewogen, ſich von Walter zu entfernen. Die Furcht, welche ſie Frau von Meining geſtand, vor einer Verbindung, die man gerade in den Kreiſen eine mesalliance nennen würde, in denen ſie als Walter's Frau zu leben beſtimmt war, und was ſie nur ſich ſelbſt bekannte, Scham vor ſich ſelbſt, daß ſie einer zweiten Neigung fähig ſei, die ſich ent - ſchieden zu Walter's Gunſten in ihr geltend machte. Trotz ihres klaren Verſtandes beſaß Jenny die Schwärmerei eines tieffühlenden Her - zens und hatte mit Treue das Andenken des Geliebten ihrer Jugend in ſich gepflegt, bis ſich nach Reinhard's Verheirathung der Gedanke in ihr ausgebildet, ſie habe nunmehr keinen Anſpruch an Liebesglück zu machen, ihr Leben ſei in der Beziehung beendet.
So hatte ſie ſich ſeit Jahren mit der Idee: „ entſagt zu haben “wie mit einem Wittwen -234 ſchleier geſchmückt, den ſie jetzt abzulegen ſich nicht entſchließen konnte. Sie fühlte ihre wach - ſende Neigung für den Grafen, aber ſie kämpfte dagegen, wie gegen ein Unrecht, weil ſie ſich ſcheute, den Ihrigen zu ſagen: „ Ich liebe wie - der! “und doch zu wahrhaft war, um eine Verbindung mit Walter, die ſie trotz aller Be - denken wünſchte, für eine bloße Convenienz auszugeben, was außerdem kränkend für ihn geweſen wäre.
Nach Jahren innern Friedens mit ſich ſelbſt machte dieſer Zwieſpalt ihrer Seele ihr doppelte Unruhe und gab ihr einen Anſtrich von Kälte, die Walter irre an ihr zu machen drohte; da ohnehin die Sorge für Clara's ihr anvertraute Kinder und für die kranke Frau, welche ſie am Wege gefunden, ihr einen Grund gab, den Grafen weniger zu ſehen, als es früher der Fall geweſen war. Dadurch trat eine Art von Spannung zwiſchen Walter und Jenny ein,235 von der Beide gleichviel zu leiden ſchienen, bis es Frau von Meining gelang, Walter's Ver - trauen zu gewinnen. Sie bat ihn, Geduld zu haben, Jenny Zeit zu laſſen, bis ſie ſich ſelbſt klar geworden ſei: „ Glauben Sie, lieber Graf! “ſagte ſie, „ je deutlicher in uns Frauen das Be - wußtſein von der Heiligkeit der Ehe wird, je langſamer entſchließt man ſich, den Schritt zu thun. Jenny ſteht jetzt bang und zögernd auf der Schwelle des Tempels, die ſie vor zehn Jahren hüpfend und ſorglos überſchritten hätte. Laſſen Sie ſich dadurch nicht irren! Ich bin wirklich nicht intrigant und halte es für un - recht, Leute zu einem Entſchluſſe zu überreden, zu dem ſie keine Neigung haben oder dem ihre Eigenthümlichkeit widerſtrebt. Wenn aber, wie bei Jenny, nur ein mißverſtandenes Gefühl ſie davon abhält, ihr Glück und das Glück eines Mannes zu gründen, den ſie lieb hat, wie Sie, lieber Walter! da muß man aus Freundſchaft236 ein Uebriges thun und das Mädchen zwingen, glücklich zu ſein. “
„ Das iſt ein hartes Wort! “bemerkte Walter, „ und ſelbſt Jenny's Hand möchte ich weder der Ueberredung, noch dem Zwange ver - danken. “
„ Aber Sie ſind damit zufrieden, wenn Jenny ſich und Ihnen geſtehen lernt, daß ihre eigene Neigung ſie zwingt, die Ihre zu wer - den? “fragte Frau von Meining freundlich.
„ Wenn Sie Jenny davon überzeugen könn - ten “, erwiderte Walter, „ würde ich es Ihnen ewig danken! “
„ Laſſen Sie das, mein Freund! “wandte die Geheimräthin ein. „ Ich bleibe Ihnen ver - pflichtet und mein Mann wird es Ihnen Dank wiſſen, daß Sie mich aus meiner Abſpannung befreiten, indem Sie mir Gelegenheit gaben, an Ihnen und meiner Freundin ein gutes Werk zu üben. In wenig Tagen denke ich Jenny in237 ihrer Wohnung ſelbſt aufzuſuchen und rechne dann auf Ihre Begleitung. “
„ Heute iſt ein wahrer Glückstag “, ſagte Jenny zu Frau von Meining, als dieſelbe an einem heitern Morgen in Walter's Begleitung zum erſten Male Jenny beſuchte und mit ihr unter dem Schatten der Bäume ſaß. „ Du ſcheinſt den letzten Reſt von Schwäche von Dir geworfen zu haben und auch meine arme Kranke iſt heute ſo wohl, daß ich es wagen konnte, ſie gehörig um ihre Verhältniſſe zu fragen. “
„ Und was haben Sie erfahren? “fragte Walter, den die Frau intereſſirte, weil Jenny Theil an ihr nahm.
„ Eigentlich nicht viel mehr, als Vater ſchon durch die Behörde wußte. Es iſt eine238 von den traurigen Geſchichten, die ſich leider täglich wiederholen. Sie iſt die Tochter eines Handwerkers aus Gernsbach und kam gewöhn - lich während des Sommers nach Baden, um in einem Hauſe auszuhelfen, in dem man Woh - nungen vermiethet. Hier hat ſie einen armen Jägerburſchen kennen gelernt und ihn gegen den Willen ihres Vaters geheirathet, der ſie einem wohlhabenden, aber ſehr alten Bürger in Gerns - bach beſtimmt hatte. Ein unglücklicher Fall auf der Jagd, in Folge deſſen das Gewehr losging, raubte ihrem Mann im Herbſt das Leben, lange ehe ihr Kind geboren wurde. Im Win - ter gab es kein Verdienſt für ſie und in die bitterſte Armuth verſunken, aus Mangel er - krankt, iſt ſie nun ſchwach und elend nach Gernsbach gegangen, um dort das Mitleid ihres Vaters anzuflehen. Der aber hat ihr Kind mit Verwünſchungen von ſich geſtoßen und ſie hat hieher zurückkommen und Arbeit239 ſuchen wollen, als ſie auf dem Wege zuſam - menbrach, wo ich ſie fand. Sie ſagte mir, daß ihr Vater kein anderes Kind hätte als ſie, und wol die Mittel, für ſie zu ſorgen. Aber er hätte gehofft, mit dem Gelde des reichen Schwiegerſohnes ſein Gewerbe zu vergrößern und ſelbſt ein reicher Mann zu werden, und daß ſie ihn um dieſe Hoffnung betrogen, werde er ihr nicht vergeſſen und verzeihen. “
„ So muß man hier für ſie ſorgen! “meinte Frau von Meining.
„ Sie ſelbſt verlangt nichts mehr, als die Mittel, ſich durch einige Pflege Kräfte zu er - werben, um wieder arbeiten zu können “, ſagte Jenny. „ Wie ſie mir erzählt, hätte ihr Vater ſie, ohne das Kind, wol zu ſich genommen, weil er hoffte, jener Bürger würde ſie auch jetzt noch heirathen, wenn ſie ſich von ihrem Kinde trenne. Das aber will und ſoll ſie na - türlich nicht und ſo meint mein Vater, man240 müſſe einen der nächſten Tage dazu benutzen, nach Gernsbach zu fahren und verſuchen, ob man nicht durch ein Jahrgeld, das man an das Leben des Kindes knüpft, den Vater vermögen könne, Tochter und Enkel bei ſich aufzuneh - men, wo ſie am Ende doch am beſten unter - gebracht ſind. “
Walter ſtimmte dieſer Anſicht bei und man verabredete eben einen Tag für dieſe Fahrt, als ein Herr von etwa 40 Jahren mit einer jun - gen Frau am Arme ſich dem Platze näherte, auf dem die Geſellſchaft vor dem Hauſe ſaß. Ein Diener trug ihnen, trotz des ſchönen Wet - ters, einen Männerüberrock und einen kleinen Teppich nach.
„ Steinheim! “rief Jenny, als ſie ihn er - kannte, und ſtand auf, ihn und ſeine Beglei - terin zu begrüßen: „ Vielmals willkommen! “
„ Erneute Huldigung geſtatte mir! “ſagte Steinheim, ihr mit ſteifer Galanterie die Hand241 küſſend, „ und vergönnen Sie mir zugleich, Ih - nen meine Frau vorzuſtellen und ſie Ihrer Freundſchaft zu empfehlen. “
Madame Steinheim war ein ſehr hübſches, ſiebzehnjähriges, höchſt ſchüchternes Weſen, das zu ihrem Manne wie zu einer Gottheit emporſah und ſich nicht der Ehre werth zu füh - len ſchien, ihm anzugehören. Steinheim hatte ein bedeutendes embonpoint gewonnen und pflegte ſein Aeußeres und ſeine Geſundheit noch mit der alten übertriebenen Vorſicht, worin ihm die junge Frau, welche dieſe Schwäche noch nicht zu kennen ſchien, mit ängſtlicher Sorgfalt beiſtand.
Nachdem Jenny die Angekommenen mit ih - ren Freunden bekannt gemacht hatte, fragte ſie Steinheim, was ihn, den abgeſagten Feind alles Reiſens, zu dem Entſchluß gebracht habe, ſich dennoch auf den Weg zu machen und eineII. 11242Häuslichkeit zu verlaſſen, die jetzt erſt wahren Reiz für ihn haben müſſe.
„ Ich bin mir ſelbſt ein Räthſel! “ant - wortete er, „ und mir ſcheint, daß mit dem Liebesfrühling, der ſo urplötzlich in meiner Bruſt erwachte, ein ganz neues, junges Leben für mich begonnen hat. Ein unbegreiflich holdes Sehnen trieb mich durch Wald und Wieſen hinzugehen. Ich wünſchte meiner Frau zu zeigen, wie ſchön die Welt ſei und konnte mich der Gefahr, die das Reiſen für meine Geſundheit hat, jetzt leichter ausſetzen, da Hannchen — ſo hieß Madame Steinheim — mit dankenswerther Sorgfalt über mich wacht. Aber findeſt Du nicht “, ſagte er, ſich unter - brechend, „ daß der Fußboden hier feucht iſt, liebes Hannchen? “
Hannchen bejahte es und nach einer Ent - ſchuldigung gegen die Damen, ließ Steinheim243 den Teppich unter ſeine Füße breiten und zog den Ueberrock an, wobei der Diener und ſeine Frau ihm behülflich waren. Dann fragte er nach William und Clara, von deren Anweſen - heit in Baden er durch Eduard gehört hatte, während ihre Abreiſe ihm fremd war, denn auch er war ſchon längere Zeit auf der Reiſe und vom Hauſe entfernt. Er erkundigte ſich, wem die Kinder gehörten, die ſeitwärts unter Obhut der Wärterinnen ſichtbar waren. Man rief Richard herbei, ließ Lucy bringen und auch das hübſche, nun ſauber gehaltene Kind der armen Frau, wobei die Verhältniſſe derſelben nochmals flüchtig beſprochen wurden.
„ Da ſieht man “, ſagte Steinheim, „ wie tief das Gefühl für Standesunterſchiede im Menſchen begründet iſt, das man einen leeren Wahn ſchilt. Doch dieſer Wahn iſt uns ins Herz gelegt, wer mag ſich gern davon be - freien, beſonders, wenn es darauf ankommt,11*244eine Ehe zu ſchließen, in der vollkommene Gleichheit der Verhältniſſe die erſte Bedingung zum Glücke iſt? “
Hätte Steinheim abſichtlich eine Aeußerung machen wollen, die für alle Anweſende gleich verletzend wäre, er hätte keine beſſere finden können. Seine Frau und Frau von Meining waren Beide wol um zwanzig Jahre jünger als ihre Männer und welch unangenehmen Ein - druck Jenny und Walter durch die Behauptung empfingen, bedarf keiner Erwähnung. Stein - heim fühlte aber davon nichts, da er die Ver - hältniſſe der einzelnen Perſonen nicht kannte und fuhr, immer nur mit ſich beſchäftigt, fort: „ Es hat eine Zeit gegeben, in der ich auch an ein Verſchmelzen der Stände, wo möglich gar an eine gleichmäßige Vertheilung der Güter dachte und, von Eduard's Ueberſpanntheit ange - ſteckt, nur von Reformen und Weltverbeſſerungen träumte. Der Traum war kindiſch, aber gött -245 lich ſchön; ich geſtehe es, obgleich ich mich freue, daraus erwacht zu ſein. “
„ Und was hat denn Ihre plötzliche Sinnes - änderung bewirkt, Herr Steinheim? “fragte Walter.
„ Herr Graf! die Zeit kommt auch heran, wo wir was Gut's in Ruhe ſchmauſen mö - gen “, antwortete der Gefragte, ſich ſelbſt Bei - fall lächelnd. „ Dies Reformiren, Politiſiren und dergleichen ſchickt ſich nur für die Jugend, die Nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen hat. Zudem der ewige Aerger, in dem ſolch ein Parteienkampf uns hält, trieb mir die Galle ins Blut, raubte mir den Schlaf und hätte mich zuletzt noch um Geſundheit und Leben ge - bracht, wenn mir nicht endlich die Erkenntniß gekommen wäre, daß es für mich Zeit ſei, den Liberalismus Andern zu überlaſſen und fortan nur mir, der Literatur, die Anſprüche an mich hat, und meiner Frau zu leben, die wol mit246 dieſem Arrangement zufrieden ſein wird. Ge - ſtehen Sie, Herr Graf! das iſt das Vernünf - tigſte, was man thun kann. Sie, ein Edel - mann aus altem Hauſe, werden es begreiflich finden, daß ich, ein nicht unbemittelter Bürger und als Haupt einer Familie, mich aus Grund - ſatz zur äußerſten Rechten halte und entſchieden gegen Alles eifre, was gegen das Beſtehende läuft. Der Unterſchied der Stände iſt ein hei - liger und muß aufrecht erhalten werden, wie der des Beſitzes und des Glaubens; und nur wenn das geſchieht, kehrt ſie wieder: Die goldne Zeit, womit der Dichter uns zu ſchmeicheln pflegt. “
Steinheim glaubte, als er das Schweigen der Geſellſchaft, das entzückt aufhorchende Ge - ſichtchen ſeiner Frau bemerkte, des allgemeinen Beifalls ſicher zu ſein und warf ſich mit der Bravour einer Sängerin, die eine große Arie glücklich beendet hat und nun der Bravo's247 harrt, in ſeinen Stuhl zurück. Umſonſt! Nie - mand rief ihm Beifall zu, die Damen ſprachen unter einander und nur Walter ſagte kurz: „ Ich theile Ihre Meinung nicht! “als ob er es nicht der Mühe werth halte, ſich in irgend eine Erörterung einzulaſſen. Dann ging er ſchnell zu andern Dingen über, fragte Stein - heim nach ſeinen Reiſen und bald war dieſer auf ein neues Steckenpferd gebracht. Er ſprach von den Theatern, die er beſucht, und von der Art, in der ein gewiſſer Schauſpieler, den Alle kannten, den Nathan dargeſtellt und die er für die vollendetſte Schöpfung der Schauſpielkunſt erklärte.
„ Der Kunſt “, bemerkte Walter, „ inſofern ſie der Natur entgegenſteht, denn dieſe fehlt ſeinen Schöpfungen, mehr oder weniger, faſt immer. “
„ Wo fehlts nicht irgendwo auf dieſer Welt? dem dies, dem das “, recitirte Steinheim, „ und248 Sie müſſen doch eingeſtehen, daß Leſſing's Na - than ein Meiſterwerk iſt und daß jener Schau - ſpieler die Abſicht des Dichters immer vollkom - men begreift und verſinnlicht. “
„ In dieſem Falle beſtimmt nicht! “ſagte der Graf. „ Mir ſcheint, was die Dichtung anbetrifft, Nathan der Weiſe überhaupt mehr eine großartige Allegorie, ein didaktiſches Ge - dicht, als ein darſtellbares Schauſpiel zu ſein. In dem Beſtreben, die poſitiven Religions - unterſchiede als unweſentlich darzuſtellen, ſobald die innre, wahre Religion vorhanden, hat Leſ - ſing den einzelnen Repräſentanten der verſchie - denen Confeſſionen ihren nationalen und durch den Glauben bedingten Typus genommen, ſo daß Saladin, der Templer und Nathan, drei ſo ganz abweichende Charaktere, eine Art von proteſtantiſcher Familienähnlichkeit bekommen. Das thut dem Intereſſe Abbruch, welches man an ihnen nehme, wenn die Gegenſätze ſchärfer249 gezeichnet wären. Dazu kommt nun, daß die Ruhe, mit der der Templer, der ſtrenggläubige Chriſt, ſich als den Abkömmling eines Muſel - mannes, den Bruder einer Jüdin erblickt, et - was Unwahres hat, wie der ganze Schluß, der nicht befriedigt — wenigſtens auf der Bühne nicht. Das Schauſpiel unterhält den Zuſchauer nicht, ſo herrlich das Gedicht iſt, und wird durch den Darſteller noch langweiliger. “
„ Mir hat es auch kein Vergnügen ge - währt “, ſagte Madame Steinheim ſchüchtern, die bis dahin faſt kein Wort geſprochen, ſon - dern ſich mit den Kindern beſchäftigt hatte. „ Die langen, feierlichen Reden Nathan's fand ich ſehr ermüdend. “
„ Brutus! auch Du? “rief ihr Mann, und drohte ihr mit dem Finger, in einer Weiſe, die er für ſchalkhaft zu halten ſchien.
„ Madame Steinheim hat recht! “bekräf -11**250tigte Walter. „ Gerade da liegt jenes Schau - ſpielers Fehler in dieſer Rolle. Er iſt nicht der ſchlichte, klare Mann, der aus eigener An - ſchauung Gott, die Welt und den Menſchen begriffen hat; nicht der anſpruchloſe Weiſe, der ſich ſeiner hohen Weisheit kaum bewußt iſt und ſie für die natürlichſte Erkenntniß hält — ſondern ein ſelbſtbewußter Gelehrter, der ſeine Sentenzen im Cathedertone vorträgt, weil er ihre wichtige Bedeutung fühlt. Deshalb ſtellt er ſich jedesmal in Poſition, ehe er eine ſeiner moraliſchen Behauptungen ſpricht und der Schein von Demuth, von Schlichtheit, mit dem er ſich umgibt, täuſcht uns keinen Augenblick. Leſ - ſing dachte ſich einen Abraham in heiliger, er - habener Einfalt und jener ſtellt uns einen Pro - feſſor des neunzehnten Jahrhunderts vor, der wohl fühlt, daß er tauſendmal geſchickter ſei als ſein Auditorium, ſich aber hütet, es zu zeigen,251 weil er weltklug genug iſt, Niemand beleidigen zu wollen. Er erſcheint feig und arrogant zugleich. “
Frau von Meining lächelte und ſtimmte dem Grafen bei, auch Jenny ſchien ſeine An - ſicht zu theilen.
„ Dergleichen Reden hören ſich gut an, doch hat es allerlei Bedenkliches damit! “ſagte Steinheim. „ Vor Allem vergeſſen Sie nicht, daß Nathan, der Unterdrückte, der verachtete Jude, zu ſeinem Herrn und Unterdrücke ſpricht. Das mag die beſcheidene, faſt furchtſame Weiſe ſeines Auftretens bei aller ſeiner Selbſtſchätzung entſchuldigen. “
„ Im Gegentheil! “rief Jenny. „ Wenn er es fühlt, daß er ein freier Menſch iſt vor den Augen des Schöpfers, wenn er die Qual em - pfindet, unterdrückt, verachtet zu ſein, ſo muß ihn das nur ſtolzer gegen ſeinen Unterdrücker machen. Was kann ein Mann wie Nathan252 fürchten? — Ketten und Gefängniß? Darüber erhebt ihn ſein Selbſtgefühl; — den Tod? Er hat ſein Weib und ſeine Söhne ſterben ſehen und Gott getraut, er kann den Tod für ſich nicht fürchten. Feigheit iſt nur die Schwäche kleiner Seelen; wer ſich wie Nathan frei em - pfindet, fürchtet Niemand und fühlt ſich, ſelbſt als verachteter Jude, den Beſten gleich! “
Sei es, daß Jenny durch Steinheim's frü - here Behauptung über die nothwendige Gleich - heit in der Ehe verſtimmt worden war, oder daß der Ausdruck „ verachteter Jude “, den er jetzt gebraucht, ihr in Walter's Anweſenheit unangenehm geweſen, genug, ſie fühlte einen Unmuth in ſich, der ihr faſt Thränen erpreſte. Mit ungewohnter Heftigkeit hatte ſie die letzten Worte geſprochen und ſtand dann ſchnell auf, um ihrem Vater entgegenzugehen. Sie fiel ihm um den Hals und küßte ſeine Hände: „ Du weiſer Mann, Du armer verachteter253 Jude! “ſagte ſie ſo leiſe, daß ſelbſt ihr Vater die Worte nicht vernahm, der ſich begrüßend zu Steinheim wandte, nach Nachrichten aus der Heimat fragte und Alle in die Unterhaltung verwickelte. Nur Jenny war in tiefes Nach - denken verſunken. Walter bemerkte es und ver - ſuchte vergebens, in ihrer Seele zu leſen, als ein leichter Windſtoß durch die Luft fuhr und Madame Steinheim unruhig auf ihren Gatten blickte. Er ſchlug den Kragen ſeines Ueber - ziehers in die Höhe und rief: „ Wie raſ't die Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlä - gen trifft ſie meinen Nacken! Weißt Du, Hann - chen! ich fühle ein Schnupfenfieber im Anzuge und wenn wir dies Baden - Baden nicht bald verlaſſen, ſtehe ich für Nichts. Indeß, wenn es Dir hier gefällt .... “
„ Um Gottes willen, nein! “ſagte die kleine Frau ängſtlich und dann zu den Damen ge -254 wandt: „ Es iſt ganz wunderprächtig in Baden und ich hatte gehofft, hier das Badeleben ken - nen zu lernen, von dem man mir immer er - zählt; aber mein Mann hat ſo erſtaunlich reiz - bare Nerven und meinte gleich, die Luft in dieſem engen Thale würde ihm nicht zuſagen. Darum wollte ich nur, wir wären ſchon her - aus und in Ems, wo mein lieber Steinheim eine Cur zu brauchen denkt. “
Während dieſer Rede war Steinheim auf - gebrochen, hatte ſich feſt in ſeinen Rock ge - knöpft, ſeine kleine Frau an den Arm genom - men und empfahl ſich, Goethe's Worte paro - dirend, alſo: „ Wir aber, die wir hier nur Fremde ſind und hier nur wenig Augenblicke weilten, wir kehren freudig und entzückt zurück, wenn wir Euch in der Vaterſtadt begrüßen. Ihr zählt uns zu den Euren und wir fühlen, welch einen Vorzug uns dies Loos gewährt. “
255Bald war das ungleiche Paar den Blicken entſchwunden. Der Diener mit dem zuſam - mengerollten Teppich folgte in kleiner Ent - fernung.
Eine größere Geſellſchaft hatte ſich am Abend bei Frau von Meining verſammelt. Es war das erſte Mal, ſeit ſie in Baden lebte, und ſie hatte es Herrn Meier und Jenny zur Pflicht gemacht, von der Partie zu ſein, da ſie dieſelben mit einigen Perſonen bekannt zu machen wünſchte, die ihnen fremd waren. Die Geſellſchaft war ziemlich belebt, man hatte ge - plaudert, muſicirt und die Geheimräthin for - derte Jenny auf, nun auch etwas zu ſingen. Bereitwillig ging dieſe aus dem Salon in das Wohnzimmer, in der Hoffnung, unter den dort256 befindlichen Noten mehrſtimmige Sachen zu finden, weil ſie glaubte, daß dergleichen unter - haltender ſein würde. Die Etagère, auf der die Noten lagen, ſtand hinter einer Thüre, de - ren geöffnete Flügel Jenny verbargen, ſodaß ſie von einigen Perſonen, die in der Thüre ſtanden, nicht geſehen werden konnte, obgleich kein Wort, das jene ſprachen, für Jenny ver - loren ging.
„ Was wird man jetzt ſingen? “fragte eine alte Dame, deren Bruſt ein Stiftskreuz zierte, einen jungen Attaché der ... Geſandtſchaft beim Bundestage.
„ Ich glaube das Fräulein Meier proponirte mehrſtimmige Piècen! “antwortete der junge Mann.
„ Sagen Sie mir, lieber Baron! die Meiers ſcheinen ja Juden zu ſein, wie kommt Frau von Meining zu denen und namentlich Graf Wal - ter? Man ſagt, er ſoll der unabläſſige Begleiter257 dieſer Familie ſein und man hält ihn für extra - vagant genug, die Vermuthungen, von denen ich eben in dieſer Rückſicht hörte, wahr zu machen “, ſagte die Stiftsdame.
„ Wie können Sie nur ſo etwas wieder - holen, meine Gnädigſte! Graf Walter gefällt ſich allerdings darin, der Rotüre gegenüber den Liberalen zu ſpielen, indeß von der Thorheit, die Sie ihm zutrauen, eine Jüdin zu heirathen, iſt er ſicher fern. Die Meier iſt hübſch und pikant. Die Galanterie eines Grafen wird ihrer Eitelkeit ſchmeicheln und Sie wiſſen, die Freiheit des ſogenannten Badelebens entſchuldigt Manches! “ſchloß lachend der Baron.
Athemlos und wie gelähmt ſtand Jenny da, den Kopf gegen eine Säule der Etagère ge - lehnt, als Frau von Meining zu ihr trat, der ihr langes Ausbleiben aufgefallen war. Er - ſchreckt fuhr ſie empor, faßte ſich aber gleich und ſagte anſcheinend ruhig: „ Ich finde die258 Noten nicht und möchte überhaupt nicht ſin - gen, wenn Du mich davon freiſprechen woll - teſt. “ Aber davon wollte Frau von Meining nichts hören; mit den freundlichſten Bitten nö - thigte ſie Jenny an dem Flügel Platz zu neh - men und wenigſtens irgend ein Lied zu ſingen, um damit der Geſellſchaft ihren Tribut zu zahlen. Einen Augenblick ſchien Jenny nach - zudenken, ſie mochte um die Wahl eines Liedes verlegen ſein, dann war es, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme, ſie griff mit ſicherer Hand ein paar Accorde und begann Byron's. „ Mäd - chen von Juda “zu ſingen, das von Kücken ſo meiſterhaft komponirt iſt. Ihre ſtarke, metall - reiche Stimme ſchien von dem Schmerz in ih - rer Bruſt einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefſte Trauer klang aus ihren Tönen und als ſie die zweite Strophe mit den Worten endete: „ O Vaterland ſüß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott ſein? “wagte259 Niemand zu athmen und Alle ſtanden wie feſt - gebannt und beherrſcht durch die Gewalt des Schmerzes, der in dieſen Tönen zu Gott rief und von ihm Rache erflehte. Dann ging der Geſang wieder zu wehmütiger Klage über, Jenny's Stimme wurde weicher, bis ſie noch - mals mächtig erklang in den Worten: „ in Knechtſchaft des Feindes der Jude verlacht “, und endlich matt in dem Wunſche erſtarb: „ O Vaterland ſüß, o Vaterland mein! könnt ich nur im Tode vereinet dir ſein. “
Die Röthe der Begeiſterung, die während des Singens Jenny's Wangen gefärbt hatte, war gegen das Ende des Liedes gewichen. Ru - hig aber angegriffen ſtand ſie vom Inſtrumente auf. Kein lautes Zeichen des Beifalls war zu hören, in Vieler Augen ſtanden Thränen; Andre ſahen ſich befremdet an. Sie ſchienen dunkel zu ahnen, daß ihnen hier, wo ſie flüch - tige Unterhaltung zu finden gehofft, eine Wahr -260 heit entgegengetreten war, vor der ſie erſchracken, wie vor einem Geſpenſte, das plötzlich am hellen Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbſt Walter und Frau von Meining waren über - raſcht. So hatte der Graf Jenny niemals ſingen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte vor ihr hinſinken und ſie beſchwören mögen, ihm die Urſache des Schmerzes zu vertrauen, der ſie erſchüttert hatte. Er wollte und mußte ſie ſprechen, aber ſie vermied ſeine Annäherung und verließ bald, nachdem ſie geſungen hatte, die Geſellſchaft. Walter begleitete ſie aus dem Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte, Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unter - redung geſtatten, an der ſein Glück und ſeine Hoffnung hänge. „ Ihr Glück, Herr Graf “, antwortete Jenny, „ liegt außerhalb meiner Sphäre und Sie täuſchen ſich, wenn Sie es261 in meiner Nähe ſuchen! Glauben Sie mir das, und dringen Sie nicht in mich! “ Sie reichte ihm bewegt die Hand zum Abſchied und ging am Arme ihres Vaters davon.
Jenny's Geſang und ihre ganze Perſönlichkeit waren, während dies in einem der Nebenzim - mer geſchah, im Saale der Gegenſtand der Unterhaltung geworden. Einige prieſen ihre Schönheit und Anmuth, andere fanden ihr Auftreten abſtoßend und ſtolz, zu ernſthaft und ſelbſtbewußt für ein Frauenzimmer; und ebenſo große Meinungsverſchiedenheit herrſchte über ih - ren Geſang.
„ Die Stimme iſt vortrefflich “, bemerkte die Stiftsdame, „ aber es zeigt immer von wenig Erziehung, ſich und ſeine Gefühle ſo preiszu - geben. Ich will geſtehen, es mag unangenehm genug ſein, dem jüdiſchen Volke anzugehören, indeß iſt es doch nicht unſere Schuld, daß Fräu -262 lein Meier eine Jüdin iſt und ſich deſſen ſchämt, und ich begreife nicht, mit welchem Rechte ſie ſich in der Geſellſchaft in einer Weiſe gehen läßt, die für meine Nerven zum Beiſpiel viel zu ſtark iſt. Elle m'a fait mal, je vous assure! “ “Viele ſtimmten ihr bei, ſchwiegen aber, als Frau von Meining ſich dem Kreiſe näherte, in dem bald leichte Unterhaltung den Eindruck verwiſchte, den Jenny's Lied auf die Geſellſchaft hervorgebracht. Nur Frau von Meining dachte mit ängſtlicher Beſorgniß an ſie, und ihr entging es nicht, daß auch der Graf bald nach Jenny's Entfernung das Haus verlaſſen hatte.
263Der Abend war ſchwül und dunkel, als Walter aus den glänzend erleuchteten Zimmern der Geheimräthin in die nächtliche Dämmerung hinausſchritt. Er hatte im Laufe des Tages die Antwort ſeines Onkels erhalten, der es ihm nicht verbarg, wie dieſe Verbindung mit Jenny entſchieden gegen ſeine Anſichten und ſeine Wünſche ſei. „ Was ich aber nicht hindern kann “, ſchrieb er, „ mag ich auch nicht tadeln. Du biſt unwiderruflich entſchloſſen und ſo wün - ſche ich von Herzen, daß Du in der Perſön - lichkeit Deiner künftigen Gattin, in ihrer Liebe Erſatz finden mögeſt, für die unerhört großen Opfer, die Du ihr bringen willſt. Sobald Deine Verlobung erklärt iſt und Du mit Deiner Braut in unſere Gegend kommſt, denke ich Dich zu treffen, um das Mädchen kennen zu lernen, das Dir würdig ſcheint, den Namen einer Gräfin Walter zu tragen; eine Ehre, um die manche hochgeborne Jungfrau ſie beneiden264 möchte. Fräulein Meier wagt viel, indem ſie ſich auf dieſe Höhe ſtellt, und Du wirſt Muth und Energie brauchen, um ſie dort zu halten. Aber das gerade zeigt Dich! Nun, ſo ge - ſchehe, was geſchehen ſoll und man muß ſehen, wie man der Angelegenheit die beſte Wendung gibt. “
Durch dieſen Brief von dem Verſprechen gegen Herrn Meier befreit, Jenny ſeine Liebe noch zu verſchweigen, hatte er mit freudiger Bewegung den ganzen Tag eine Gelegenheit geſucht, ſie allein zu ſprechen. Steinheim's Beſuch, ihre darauf folgende Verſtimmung hat - ten es ihm aber unmöglich gemacht, ſich ihr zu nähern und ihn genöthigt, ſie bei Frau von Meining um jene Unterredung zu bitten, die ſie ihm verweigert hatte. Niemand konnte weniger perſönliche Eitelkeit beſitzen als Walter; indeß war er ſich der Vorzüge bewußt, welche ihm ſeine Geburt und ſeine Verhältniſſe vor265 vielen Männern geben. Von Jugend auf hatte man ihm wiederholt, wie er jedes Mädchen durch ſeine Bewerbung ehre und überall waren die Frauen ihm in einer Weiſe entgegengekom - men, die ihm eine Beſtätigung für jene Be - hauptung geboten. Jetzt liebte er mit aller Hingebung ſeiner Seele. Jenny's früheres Be - tragen hatte in ihm die Hoffnung erweckt, daß ſie ſeine Gefühle theile; er war bereit, ſie ge - gen die Vorurtheile einer Welt zu ſchützen, de - ren Anſicht er gegen ſich hatte, und ſie verwei - gerte ſich ihm, obgleich ſie ſeine Liebe kannte.
Voll quälender Ungewißheit kehrte er endlich nach ſeiner Wohnung zurück; in Jenny's Zim - mer brannte Licht und ein Schatten bewegte ſich an den Vorhängen hin und her. Auch ſie mußte noch wach ſein. „ Das muß anders werden “, ſagte Walter zu ſich ſelbſt. „ Ich will, ſo theuer ſie mir iſt, weder um ihre Liebe betteln, wenn ſie mich ihrer unwerth hält, nochII. 12266ihren Frieden ſtören. Morgen iſt ſie mein, oder ich ſehe ſie nie wieder! “ Trotz des männlichen Entſchluſſes ſeufzte er tief auf und blickte nochmals nach Jenny's Fenſtern. Aber eine Thräne verdunkelte ſeinen Blick. War es der Gedanke, Jenny zu verlieren, oder das Ge - fühl gekränkten Stolzes, das ſie erpreßte? Walter zerdrückte ſie ſchnell, als ſchämte er ſich derſelben und ging in das Haus, um auf ſei - nem Lager, das der Schlummer floh, der Ge - liebten und des kommenden Tages zu denken.
Auch Jenny konnte keine Ruhe finden. In der erſten Empörung ihrer Seele hatte ſie, kaum heimgekehrt, ſich ihrem Vater in die Arme werfen, ihm das Erlebte mittheilen und ihn beſchwören wollen, am folgenden Tage Baden mit ihr zu verlaſſen. Aber der Ge - danke, wie tief die Ueberzeugung ihren Vater ſchmerzen würde, daß immer wieder der Fluch der Vorurtheile auf ſeinen Kindern ruhe, daß267 kein Alter und kein Verhältniß ſie davor ſchütze, nöthigte ſie zum Schweigen und ſcheuchte ſie in ihr Zimmer zurück, wo ſie ſich einſam der tiefſten Verzweiflung überließ. Sie konnte ſich es nicht verhehlen, ſie liebte Walter; nicht mit der ſtürmiſchen Glut der Leidenſchaft, die ſie für Reinhard gefühlt, ſondern mit jener ru - higen Zuverſicht, die an der Bruſt des Gelieb - ten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoff - nung, aber eine ſichere Zuflucht in allen Stür - men des Lebens erwartet. Sie wußte, wie theuer ſie ihm ſei, ſie konnte ſich in den lieb - lichſten Farben eine Zukunft an ſeiner Seite denken und hatte ihre Hoffnung, ohne es zu wiſſen, bereits an dieſe Zukunft geknüpft, das fühlte ſie an dem Schmerz, den die Idee, ſich von Walter trennen zu müſſen, in ihr hervor - rief. Aber dieſe Trennung ſtand jetzt als Nothwendigkeit vor ihr. Die Aeußerungen Steinheim's am Morgen und die Unterhaltung,12*268deren Zuhörerin ſie am Abend geweſen war, hatten ihr gezeigt, was ſie ohnehin fühlte, daß ſie Walter, indem ſie ſeine Hand annehme, in den Kampf verwickle, den ſie als Jüdin gegen die Meinung der Menge zu beſtehen hatte.
„ Ich war ſtark genug “, ſagte ſie, „ noch ein Kind, meiner Liebe zu entſagen, um Frieden mit mir ſelbſt zu haben, und ſollte nicht Kraft beſitzen, für Walter ein Gleiches zu thun, für ihn, der mir ein ſo großes Opfer bringen will? Nimmermehr! Den Leidenskelch, der mir vom Schickſal beſtimmt iſt, will ich allein lee - ren. Ich will Walter wiederſehen, ich will ihm morgen ſagen, daß ich nie die Seine werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigſtens den Troſt erhalten, ſein Leben nicht verbittert zu haben.
Man hatte verabredet, am nächſten Tage die Fahrt nach Gernsbach zu machen, um mit dem Vater Mariens, ſo hieß Jenny's Schütz -269 ling, zu unterhandeln und wollte in zwei leich - ten Wagen fahren, da die Ungleichheit des Weges einer großen Equipage manche Schwie - rigkeiten bot. Noch am Abend hatte Herr Meier Frau von Meining aufgefordert, einen Platz in ſeinem Coupé anzunehmen und Jenny wußte alſo, daß ſie mit Walter fahren würde. Dieſes Arrangement wollte ſie benutzen, ſich gegen ihn zu rechtfertigen, und ihm begreiflich zu machen, daß ſie ſcheiden müßten. Auch Walter hatte ſeine Hoffnungen auf dieſe Fahrt geſetzt und war unangenehm überraſcht, als am Morgen, nachdem die Equipage vorgefahren, der kleine Richard Jenny beſchwor, ihn mit ſich zu nehmen. Anfangs ſchlug Jenny es ihm ab, aber der kleine Schmeichler ſchlang ſeine Arme um ihren Hals und rief weinend: „ Jenny! Du haſt mir's ja geſtern verſprochen und haſt Mama verſprochen, daß Du mich immer mitnimmſt, und Du ſagſt, man muß Wort halten. Ich270 bitte Dich, Tante! nimm mich mit, ich werde ganz artig, ganz artig ſein. “ Wollte ſie die Abſicht, mit Walter allein zu ſein, nicht ver - rathen, ſo war es nicht möglich, dem Knaben die Bitte abzuſchlagen, da ſie ihm dieſelbe wirklich am vorigen Tage gewährt hatte. Ebenſo wenig konnte ſie daran denken, ihn in den Wagen ihres Vaters zu placiren, dem die Unruhe des lebhaften Kindes bei ſolchen Par - tien ſehr läſtig war. So mußte ſie ſich alſo, wenn auch nicht gern, dazu entſchließen, Ri - chard in Walter's Wagen mit ſich zu nehmen, der, eine ungemein leichte Briczka mit Wal - ter's muthigen Pferden beſpannt, ſchnell einen ſo bedeutenden Vorſprung gewann, daß ſie den Wagen ihres Vaterss bald nicht mehr er - blickten.
Der Morgen war prächtig und die ſchnelle Fahrt durch die wunderſchöne Gegend erheiterte Jenny's Seele. Zu jener Unterredung, zu der271 ſie ſich die Nacht hindurch mit Kraft und Muth gewaffnet hatte, ließ es die Anweſenheit Richard's nicht kommen, der bald Deutſch bald Engliſch ſein Entzücken ausſprach, nach dem Namen jedes Dorfes fragte, an dem man vor - über fuhr und im Wagen aufſpringend mit ſeiner Schmetterlingsſcheere nach den Schmet - terlingen haſchte, welche fröhlich gaukelnd durch die Lüfte flogen. Sagte man ihm, ſich ruhig zu halten, ſo fiel er Jenny um den Hals, fragte, ob er denn nicht artig ſei, verſprach, ſich gleich beſſer zu betragen und war einen Augenblick darauf zu der ausgelaſſenſten Fröh - lichkeit und Unruhe zurückgekehrt.
„ Wie dies fröhliche Kind mit der heitern Natur harmonirt, die uns umgibt “, ſagte Walter, der mit Vergnügen den ſchönen, kräf - tigen Knaben betrachtete. „ Wir ſind beſtimmt Alle erſchaffen, um ſo glücklich zu ſein; und wird einſt jenſeits eine Rechenſchaft von uns272 gefordert, ſo würde uns ſicher jede Stunde, die wir durch unſere Schuld an Glück verloren, als eine Sünde ausgelegt werden. “
„ Es kommt darauf an “, erwiderte Jenny, „ was Sie unſere Schuld nennen, und ob ... “
„ Jenny! wie heißt der Fluß? “fragte der Knabe, ſie unterbrechend, als man eben jetzt eine freie Stelle erreicht hatte und die Murg ſichtbar ward, an deren hohem Felſenufer der Weg nach Gernsbach hinführt. Je näher man dieſem Städtchen kommt, je ſteiler werden die Abhänge des Weges. Die ganze Gegend hat einen ernſtern Anſtrich, man kommt in die Hö - hen des Schwarzwaldes, die tiefer ins Land hinein bei Vorbach, wo jene bekannten Holz - ſchwellungen ſtatthaben, einen faſt ſchauerlichen Charakter gewinnen.
Jetzt fuhr man an dem linken Ufer der Murg dahin und Jenny konnte ſich eines leich - ten Schwindels nicht erwehren, wenn ſie von273 der Höhe, auf der die Straße gebahnt iſt, hinab ſah in das dunkle Waſſer des Berg - ſtromes, das hart an dem Fuße der ſteilen Felswand hinfließt. Das ununterbrochene Steigen und Fallen des Weges brachte na - türlich auch eine große Abwechslung in der Schnelle des Fahrens hervor, da die Pferde bald langſam eine Höhe hinaufſtiegen, bald ſie in Eile hinunterliefen, woran Richard eine un - ſägliche Freude zu finden ſchien. Endlich hatte man den höchſten Punkt der Straße erreicht, von wo ſie ſich zu einer Tiefe ſenkt, welche die Anlegung von Hemmſchuhen, auch für das leichteſte Fuhrwerk und ſelbſt bei den ſtärkſten Pferden nöthig macht. Der Kutſcher ſtieg ab, um dieſe Vorkehrung zu treffen und Richard erbat ſich die Erlaubniß, zwiſchen Jenny und Walter auf den Sitz zu ſteigen, um zuzuſehen, wie jener die Ketten losmachte, die Räder in die Gleiſe hob und dann zu den Pferden zu -12**274rückkehrend, dem Diener die Zügel abnahm und vorwärts fuhr.
„ Laß mich da ſtehen bleiben, Jenny! “ſagte der Knabe, „ und zuſehen, wie faul die Räder nun ſind! Ach! “rief er dann, indem er ſich mit der Schmetterlingsſcheere in der Hand hinüberbog, als ob er ſie antreiben wollte: „ Ich werde euch laufen lehren! “
In dem Augenblick hörte man ein leiſes Klirren und Richard rief fröhlich: „ Hei, wie die Dinger nun fortfliegen! “ Die Kette des einen Hemmſchuhes war geriſſen, das andere Rad, durch die plötzliche Bewegung des Wa - gens aus dem Gleiſe geſprungen und mit fürch - terlicher Schnelle flog die Briczka der Tiefe zu, ohne daß die Anſtrengungen des Kutſchers etwas gegen die Vehemenz vermochten, mit der der Wagen auf die Pferde eindrang, was ſie zu verdoppelter Eile antrieb. Ein Sturz der Pferde, ein Fehltritt nur, und der Wagen, aus275 der Richtung gekommen, lag zerſchmettert am Fuße der Felſen in den Wellen der Murg! Niemand, außer dem jubelnden Knaben, konnte ſich es verbergen, wie drohend die Gefahr ſei.
„ Das Kind, das Kind! “ſchrie Jenny, als ſie das Unheil bemerkte, und zog mit Walter's Beiſtand den Knaben zu ſich her - unter, den ſie in Todesangſt an ſich preßte.
Walter ſah unverwandt auf die Pferde hin. Er hatte ſeinen Arm wie ſchützend um Jenny gelegt und ſagte: „ Keinen Laut! keinen Schrei! ich beſchwöre Sie! “ Dann zum Kutſcher ge - wandt: „ Muth, Muth! halte die Zügel kurz, ſieh nicht zur Seite! halte die Pferde nur noch wenig Augenblicke feſt und wir ſind gerettet! “ Aber ſo ruhig er ſich zu ſcheinen zwang, ſeine Stimme bebte und Leichenbläſſe bedeckte ſein Geſicht, als endlich der Wagen in der Tiefe ſtillſtand und der erſchöpfte Kutſcher den keu - chenden Pferden Zeit zur Erholung gönnte.
276Walter's erſter Gedanke, ſein erſter Blick galt Jenny. Sie war leblos, aus einer kleinen Stirnwunde blutend, zurückgeſunken und ihre Arme hatten den Knaben losgelaſſen, der ſie jetzt weinend umfaßt hielt. Bei der Haſt, mit der Jenny das Kind an ſich gedrückt, hatte der eiſerne Griff der Schmetterlingsſcheere Jenny's Stirne mit ſo heftigem Schlage getroffen, daß er die Haut zerriß, ohne daß Jenny in der entſetzlichen Aufregung des Momentes die Ver - wundung oder das herabtröpfelnde Blut be - merkte. Nur des einen Gedankens, das Kind zu retten, das man ihr anvertraut hatte, war ſie ſich bewußt geweſen, und als mit dem Stilleſtehen der Pferde die furchtbare Angſt von ihr gewichen, war ſie, von einer in See - lenleiden durchwachten Nacht ſchon ohnehin an - gegriffen, ohnmächtig zuſammengebrochen. An eine augenblickliche Hülfe war hier nicht zu denken; kein Haus in der Nähe, und wie weit277 der zurückgebliebene Wagen noch entfernt ſei, ließ ſich nicht berechnen. Mit zitternder Hand legte Walter ein Tuch um Jenny's Stirne, nahm die ganz Bewußtloſe in ſeine Arme und befahl dem Kutſcher, ſo ſchnell als möglich vorwärts zu fahren, um Gernsbach zu erreichen, damit man das Nöthige für Jenny herbeiſchaffen könnte.
Wie hatte er gewünſcht, die Geliebte in ſeine Arme zu ſchließen, ſie an ſeiner Bruſt zu halten! Jetzt war ſein Sehnen erfüllt und doch wie anders als er es gehofft! Mit unausſprech - licher Liebe hingen ſeine Augen an Jenny's bleichen Zügen, er verſuchte durch Reiben ihre Hände zu erwärmen und wer ſchildert ſein Entzücken, als ein leiſer Schimmer von Röthe, ein ſchwacher Athemzug die Wiederkehr des Le - bens anzeigten, als Jenny endlich langſam die großen dunkeln Augen aufſchlug, Richard mit ſeligem Lächeln anblickte, der ängſtlich ſchwei -278 gend vor ihr ſaß, und dann ſtill weinend wieder an Walter's Bruſt ſank. Seiner ſelbſt nicht mächtig drückte er ſie an ſein Herz und er - wärmte mit glühenden Küſſen ihre noch kalten Lippen.
„ Warum weinſt Du noch? Warum küßt Dich Graf Walter, Jenny? “fragte der Knabe, ungeduldig das ihm peinliche Schwei - gen brechend.
„ Weil Jenny meine Braut iſt, weil wir uns freuen, daß wir dem Tode entgangen ſind “, antwortete ihm Walter, ſtrahlend vor Liebe und Wonne, „ weil nun ein glückliches, ſeliges Leben vor uns liegt! Komm, Richard, komm! Du mußt unſere Freude theilen, denn auch über Dir, geliebtes Kind! hat die Hand des Todes geſchwebt; komm, küſſe auch Deine Jenny, meine ſchöne, ſüße Braut! “
Und Jenny? Bei des Knaben erſter Frage hatte ſie ſich von Walter's Bruſt emporgerichtet,279 beſchämt über das Geſtändniß, welches ſie dem - ſelben in ihrer Schwäche gemacht, als ſie Ruhe ſuchend, ſich an ihn, wie an ihren anerkannten Beſchützer lehnte. Jetzt ſtieg der Gedanke an die Trennung von dem Grafen wie ein düſterer Schatten vor ihrem Geiſte auf, ſie wendete ſich ab von dem Geliebten und barg mit einem tiefen Seufzer das Geſicht in ihren Händen. Aber Walter's Stimme, die Freude und Liebe, die aus ſeinen Worten klang, machte ihr inner - ſtes Herz erbeben, und als er zärtlich ſagte: „ Du wendeſt Dich fort, Jenny? “vermochte ſie nicht zu widerſtehen, reichte ihm beide Hände hin und ſagte: „ Ich habe es gewollt, ich wollte Dich meiden, weil mir Dein Glück theurer iſt, als meines! Gott will es anders — wir leben noch! ſo will ich auch nur in Dir leben, Walter! “
Jenny's Hand in der ſeinen, Richard auf ſeinen Knien haltend, ſo langte Walter vor280 dem Gaſthauſe in Gernsbach an, wo man ihn ſchon kannte, da er früher mehrmals auf ſeinen Streifereien hier eingeſprochen war. Er und der Diener halfen Jenny aus dem Wagen, die ſich bereits wohler fühlte und dem Grafen, der nach einem Arzt verlangte, verſicherte, wie ſie weder eines Arztes, noch irgend eines Bei - ſtandes bedürfe. „ Nur der Kopf iſt mir ein wenig ſchwer “, ſagte ſie, während ſie die Binde von der Stirne nahm, „ mir iſt, als hätte ich zu tief und zu lange geſchlafen — und wirklich weiß ich kaum, ob ich erwacht bin, oder ob ein ſchöner Traum mich noch umfängt. “
„ Frau Gräfin ſollten doch den Doctor kom - men laſſen! “ſagte die geſchäftige Wirthin und rief damit eine flüchtige Röthe und ein freund - liches Lächeln auf Jenny's Wangen hervor, das Walter unendlich glücklich machte. Arm in Arm harrten ſie der Ankunft ihres Vaters, der mit Ueberraſchung ſie in dieſer Stellung281 ſah, und, als er den Vorgang erfahren, als Walter ihn an ſein Verſprechen erinnert und deſſen Erfüllung verlangt hatte, tief bewegt ſein Kind ſegnete, das in ſo großer Gefahr ihm erhalten war und nun einer glücklichen Zukunft entgegenging.
Herr Meier und Frau von Meining allein genoſſen der Reize, welche Gernsbach und das zauberiſch ſchöne Eberſteinſche Schloß ſchmücken. Walter und Jenny ſahen nur ſich, und wäh - rend jene ſich der köſtlichen Ausſicht erfreuten, die man aus den Fenſtern jenes Schloſſes über das ganze Thal genießt, ſaß das Brautpaar am Fuße des Berges in dem Schatten einer Laube und Jenny erzählte dem Geliebten, wie ſie noch geſtern ihn habe beſchwören wollen, ſie zu verlaſſen, und wie ſchwer ihr der Entſchluß geworden, weil ſie ihn ſo lieb, ſo herzlich lieb habe. Alle ihre Beſorgniſſe ſprach ſie ihm282 offen und frei aus, ſelbſt jenes Geſpräch der Stiftsdame theilte ſie ihm mit, das ſie ſo tief verletzt hatte, und fragte:
„ Walter! wird es Dich nie ſchmerzen, wenn Du Aehnliches hören müßteſt? “
„ Niemals! “ſagte Walter entſchieden. „ Glaube mir! Habe ich es je als ein Glück empfunden, auf der Höhe des Lebens geboren zu ſein, ſo war es, weil von dieſer Höhe aus, mir jene Vorurtheile, die den Sinn der Menge verwirren, ſtets ſo gar klein und thöricht er - ſchienen; weil dieſer Standpunkt unſer Thun und Handeln ſichtbar zur Richtſchnur für viele Andere macht. Ich bin ſtolz darauf, Dich, Du Geliebte, mit der Grafenkrone zu ſchmücken, zu zeigen, daß mir Dein Beſitz mehr gilt als alle Würden der Welt und kein Tadel kann mich verletzen, da ich weiß, daß nie ein herrlicheres Weib unſern alten Namen getragen, als Du! “
283„ Und Dein Onkel? Deine Angehörigen? Werden ſie mich willkommen heißen, werden ſie gleich Dir denken? “wandte Jenny ein.
„ Mein Onkel iſt ein edler Mann und hat wie ich nicht mit dem Leben zu ringen gehabt; wir fanden unſern Platz bereitet. Darum wür - digt er, gleich mir, die Stellung, die das Ver - dienſt unſerer Voreltern uns erworben; aber er ehrt auch die Würde Desjenigen, der ſich ſelbſt erſt ſeine Welt erſchaffen muß. Vergiß es nicht, daß es das freie, ſtolze England war, das zuerſt ſeine Sklaven befreite. Je freier ein edler Menſch ſich ſelbſt empfindet, je weiter wird ſein Herz, je lebhafter empört er ſich gegen Feſſeln, die man den Andern anlegt, gegen Unterdrückung und Unrecht. Mein Onkel bil - ligte meine Wahl nicht, ich geſtehe das ſelbſt, weil ſie die alte Sitte unſers Hauſes gegen ſich hatte; nun ſie unwiderruflich iſt und mein Glück begründet, wird er Dich lieben, wenn er284 Dich ſieht, und gerade in ihm wirſt Du den treuſten Beiſtand finden, wie ich ihn kenne. “
In ſolchen Geſprächen und in fröhlichen Entwürfen für die Zukunft flogen die Stunden vorüber, und Herr Meier mußte Jenny erin - nern, welche Abſicht ſie eigentlich hierher geführt.
Wie leicht mit Glücklichen zu unterhandeln ſei, das empfand der Vater der kranken Marie bald. Was er irgend verlangte, wurde ihm gern und ſchnell gewährt. Man kam überein, ihm eine Summe zur Erweiterung ſeines Ge - werbes anzuvertrauen, während man für Marie und ihr Kind ein kleines Kapital feſtſetzte, hin - reichend, ſie unabhängig von ihrem Vater zu unterhalten, der unter dieſen Verhältniſſen nicht anſtand, der Tochter und dem Enkel ſein Haus285 wieder zu öffnen, in das ſie nach wenig Tagen wieder einziehen ſollten.
Erſt ſpät am Tage fuhren die Glücklichen nach Baden zurück, wo eine neue Freude ihrer harrte in den Briefen, die aus der Heimat an - gekommen waren. Wie Herr Meier es voraus - geſehen, hatte Eduard ſich der Verbindung Jenny's mit Walter gefreut, von deren Wahr - ſcheinlichkeit ſein Vater ihn benachrichtigt hatte. Er ſah darin unwiderleglich den Triumph der Vernunft über jene Vorurtheile, deren Bekäm - pfung ſein Lebenszweck geworden; und während dieſe Heirath Jenny's Glück begründete, ge - wann ſie ihm einen Bundesgenoſſen, der aus Rückſicht auf ſein eigenes Intereſſe und ſeine eigene Ehre, künftig die Rechte der Juden ver - treten mußte, wo ſie irgend angefochten wur - den. Eduard meldete noch, daß Ferdinand her - geſtellt und in den Kreis ſeiner Familie zurück - gekehrt ſei, was auch ein Brief von William286 und Clara wiederholte, die Beide in den wärm - ſten Ausdrücken von dem Danke ſprachen, zu dem ſie Eduard verpflichtet wären. Sie nann - ten ihn den Gründer ihres Glückes, eines Glückes, dem jetzt nur die Anweſenheit ihrer Kinder fehle, um ein ganz vollkommenes zu ſein, und Clara bat Jenny und Herrn Meier, ihre Abreiſe von Baden zu beſchleunigen, falls es dieſe kein Opfer koſte, weil ſowol ſie als William ſich lebhaft nach den Kindern ſehnten.
Da nun ohnehin die Zeit, welche Frau von Meining gewöhnlich in Baden zuzubringen pflegte, ſich bereits ihrem Ende nahte, ſo ent - ſchied man ſich, Clara's Bitte nachzukommen und Baden etwas früher zu verlaſſen, als man es beabſichtigt hatte. Noch einmal aber kehrten ſie alle nach Gernsbach zurück, um Marie im Hauſe ihres Vaters zu beſuchen, um noch einmal die Stelle wiederzuſehen, an der dem Brautpaar aus Todesangſt das höchſte287 Glück erwachſen. Diesmal war es Frau von Meining vergönnt, auch Jenny und Walter bewundernd die Gegend betrachten zu ſehen, die ihr durch den alljährlich wiederholten Auf - enthalt in derſelben ſo werth war, und erſt, nachdem der Graf ihr verſprochen, im nächſten Jahre mit ſeiner Frau Baden wieder zu be - ſuchen, ſchied man von der Gegend, in der Jenny's Schickſal eine ſo freundliche Wendung genommen hatte.
Ueber der Meierſchen Familie, die wir durch wechſelnde Erlebniſſe begleitet, ſchien nun ein günſtiges Geſtirn in ruhiger Klarheit zu leuch - ten. Vereint mit Frau von Meining und Walter hatte man Baden verlaſſen; die Er - ſtere faſt bis in ihre Heimat begleitet und nach -288 dem man die Kinder wohlbehalten in Clara's Arme geführt, hatte Jenny ſelig an Walter's Seite ihr väterliches Haus betreten. Die in - nigſte Eintracht verband ihre Familie mit der Hornſchen. Eduard ſchien in dem Glücke ſeiner Jenny, in der Freundſchaft William's und Clara's den fröhlichen Sinn ſeiner früheſten Jugend wiederzufinden und gab ſich mit gan - zer Seele dem Vertrauen hin, mit dem Walter ihm brüderlich entgegenkam. Männer wie Eduard und der Graf mußten ſich leicht ver - ſtändigen, da ihre Geſinnungen, wenn auch von verſchiedenen Punkten ausgehend, ſich am Ziele in dem Enthuſiasmus begegneten, mit dem ſie die Idee der Freiheit und des Fortſchrittes um - fingen.
Selbſt die Ankunft von Walter's Onkel, deren Jenny bisweilen mit Scheu gedacht hatte, trug nur dazu bei, ihr Glück zu erhöhen. Eine gewiſſe vornehme Zurückhaltung, welche289 der alte Graf bei der erſten Begegnung mit Jenny und ihrer Familie beobachtet hatte, war vor Jenny's Liebenswürdigkeit und der ruhigen Würde ihrer Angehörigen bald gewichen. Schon nach wenigen Tagen, in denen Jenny die vollſte Liebe des alten Grafen gewonnen hatte, ſagte er, als er ſich Abends mit Walter allein be - fand: „ Da es einmal nicht zu ändern iſt, be - kenne ich Dir, Du hätteſt ſchlechter wählen können, als dies Mädchen, die, ihre Geburt abgerechnet, eine wahre Perle unter den Frauen iſt. Aber folge mir! heirathe ſie bald. Es klingt mir doch nicht angenehm, Deinen Na - men immerfort mit dem dieſes übrigens wackern Banquier Meier vereinigt zu hören. Iſt Jenny Deine Frau, ſo hört das natürlich auf und die Gräfin Walter iſt leichter zu ſouteniren gegen jede Einwendung als Mademoiſelle Meier. Sage dem lieben Kinde, daß ich es wohl mit ihr meine und darum die Beſchleunigung EurerII. 13290Ehe wünſche. Ich denke den Vater ſchnell zu überzeugen, daß es für Euch das Beſte iſt, wenn Ihr bald als Mann und Frau auf Deine Güter geht und dort verweilet, bis Alles in die Reſidenz zurückkehrt, wo ich Euch erwar - ten will, um Jenny's erſtes Auftreten zu er - leichtern. “
Obgleich die Wichtigkeit, welche der alte Graf auf die Ausführung dieſes Planes legte, Walter übertrieben ſchien, ſtimmte er doch ſo wohl mit ſeinen eigenen Wünſchen zuſammen, daß er bereitwillig darauf einging und man erlangte von Herrn Meier das Verſprechen, Jenny's Hochzeit mit Walter ſchon in den er - ſten Tagen des Novembers zu feiern. Der Onkel — wie wir den alten Grafen mit Walter nennen wollen — der Onkel ſelbſt machte mit Walter faſt überall den Begleiter und Beſchützer der glücklichen Jenny, deren Geſellſchaft ihm das lebhafteſte Vergnügen gewährte. Bis -291 weilen fiel es ihm wol auf, wie er jetzt ganz außer ſeinem gewohnten Kreiſe, in der Mitte einer jüdiſchen Familie lebe und ſich ganz be - haglich dabei fühle, dann aber beruhigte er ſich mit dem Gedanken, daß es vernünftig ſei, bonne mine à mauvais jeu zu machen und daß ſeine Pflicht ihm gebiete, den Schritt, den ſein Neffe nun doch gethan, gleichſam durch die Anerkennung zu rechtfertigen und zu heiligen, die er der künftigen Gräfin Walter ſchon jetzt bewies. Er hatte erklärt, bis zur Hochzeit ſeines Neffen in dieſer Stadt bleiben zu wollen, und unbeſchäftigt, wie er es war, betrieb er auf das Angelegentlichſte die Beſorgung der Equipagen, des Silbergeräthes und alles Deſſen, was ſonſt noch zur vollſtändigen Einrichtung des künftigen Haushaltes gehörte; oder er be - ſuchte, da die Jagdzeit begonnen hatte, die Edelleute ſeiner Bekanntſchaft, die in der Nähe ihre Beſitzungen hatten.
13*292So war man in die letzten Tage des Ok - tobers gekommen, als der Onkel, während ſie im Meierſchen Hauſe zu Mittag aßen, ſeinen Neffen aufforderte, ihm zum Dank für die Mühe, welche ihm die Beſorgung der neuen Einrichtung verurſachte, auch ſeinerſeits gefällig zu ſein und ihn zu einem Freunde zu begleiten, der am nächſten Tage eine Jagdpartie veran - ſtalten wollte, zu der er auch die beiden Gra - fen eingeladen hatte. Walter antwortete an - fangs ausweichend, aber der alte Herr wollte keine Entſchuldigungen annehmen und ſagte zu Jenny: „ Ich bitte Sie, Töchterchen! legen Sie ein gutes Wort für einen alten Onkel ein, der Ihrem Bräutigam einſt die erſte Flinte in die Hand gab und ſich nun ein - mal an den Künſten ſeines Schülers erfreuen möchte. “
Was wollte Walter machen? Er mußte die Einladung des Greiſes annehmen, deſſen bit -293 tender Ton ſonderbar gegen ſeine befehlende Haltung abſtach, und man ſtand von der Tafel auf, weil der Graf ſchon in der Dämmerung auf das Land zu fahren wünſchte, um vor der Nacht bei ſeinen Freunden einzutreffen.
In lebhafte Diskuſſionen über eine Maß - regel der Regierung vertieft, ſaßen nach dem Mittagseſſen die beiden alten Herren ihren Kaffee trinkend vor der Flamme eines Ka - mins, während Walter mit ſeiner Braut in der Brüſtung eines Fenſters ſtand und Eduard und Joſeph die neueſten Zeitungen durchflogen.
„ Ich fahre ungern hinaus! “ſagte Walter, „ ſo ſehr ich die Jagd liebe, ſo wenig ſagt mir gerade dieſe Geſellſchaft zu, die mich außerdem ein paar Tage von Dir trennt. “
„ Wie wäre es “, fragte Jenny, „ wenn ich den Onkel bäte, Dich mir und meinem Vater zu laſſen, da wir ja doch kaum noch eine Woche bei ihm bleiben? “
294„ Nein! laß das, Liebchen! “antwortete der Graf, „ und am Ende müſſen wir dieſe kleine Trennung, die uns gerade jetzt ſo unangenehm iſt, wie ein Opfer betrachten, das wir den Göttern bringen, damit ſie uns nicht beneiden. Wir ſind zu glücklich geweſen bis jetzt und nun dieſe Zukunft vor uns! “
„ Sage das nicht, Walter! “bat Jenny; „ es klingt ſo ſicher und wer iſt des nächſten Tages nur gewiß? “
„ Abergläubiſches Kind! “ſchalt der Graf, indem er ſie an ſich zog. „ Warum ſollte das Schickſal, das mich von Jugend auf begün - ſtigte, mir jetzt ſeine Huld entziehen, da ich ſie mit Dir zu theilen denke? Sei nicht bange, Jenny! und vertraue mit mir meinem alten, wohlbekannten Glück! “
Indeſſen hatte Eduard von der Zeitung aufgeſehen und blickte mit innigſtem Wohl - wollen auf das Brautpaar hin: „ Schade, daß295 die Mutter das nicht ſieht! “ſagte er leiſe zu Joſeph, „ daß ſie nicht ſieht, welch eine Zukunft Jenny's harrt, wie froh der Vater in Jenny's Glück ſich fühlt! Wie würde ſie Theil nehmen auch an den Hoffnungen, die ich jetzt feſter als jemals in mir hege; die vielleicht bald zu ſchö - ner Wahrheit werden! “
„ Weißt Du, was noch bis dahin geſchieht? “entgegnete Joſeph in ſeiner gewohnten Art. „ Den Todten iſt am wohlſten, laß ſie ruhn. “
Unangenehm durch dieſe Worte in ſeiner heitern Stimmung berührt, ſtand Eduard auf und trat zu dem alten Grafen, der ſich eben zum Fortgehen anſchickte und Walter auffor - derte, jetzt mit ihm zu kommen. Herzlich nahm dieſer Abſchied von ſeiner Braut; es war die erſte tagelange Trennung ſeit ihrer Verlobung, und Jenny begleitete ihn bis in das Vorzim - mer hinaus.
296„ Alſo zwei Tage, Walter! “ſagte Jenny, „ länger bleibſt Du nicht! — Hören Sie, lie - ber Onkel! Keine Stunde länger borge ich Ihnen Walter und Sie ſelbſt bringen mir ihn wieder! “— rief ſie den Scheidenden zu.
„ Auf mein Wort! “antwortete der alte Graf, als er mit Walter davonging.
Es war noch hell am Tage und Walter bat ſeinen Onkel, da ſie noch Zeit hätten, mit ihm in den Laden des Juweliers zu treten, bei dem er den Brautſchmuck für Jenny beſtellt hatte, der noch einiger Abänderungen bedurfte. Dort fanden ſie einen Baron Werner, der früher mit Walter in demſelben Regimente ge - dient hatte und nun nach jahrelangem Aufent - halt an verſchiedenen Höfen Europas nach Deutſchland zurückgekehrt war.
Verwundert, die beiden Grafen Walter hier zu ſehen, wo ſie weder Angehörige noch Be - ſitzungen hatten, fragte Werner, während der297 alte Graf mit dem Juwelier in ein Nebenzim - mer ging, wo Jenny's künftiges Silbergeräth aufgeſtellt war. „ Welch ein Zufall führt Sie in dieſe Stadt, lieber Graf? “
„ Ich bin meiner Braut von Baden-Baden hieher gefolgt, und bleibe bis nach unſerer Hoch - zeit hier! “
„ Sie ſind Bräutigam? “fragte Werner weiter — „ eine Feldheim? eine Erſtner ver - muthlich! “
„ Nein! keines von Beiden! Meine Braut iſt Fräulein Jenny Meier, die Tochter des Bankier Meier. “
„ Ah, fidonc! Scherzen Sie nicht, das iſt nicht möglich! ein Judenmädchen? “rief der Baron lachend.
„ Was fällt Ihnen daran ſo ſonderbar auf? “fragte Walter verletzt und ſehr ernſthaft.
„ Ich kann's nicht glauben! Ihre Verhält - niſſe ſind zu gut arrangirt “, antwortete Wer -13**298ner noch immer lachend, „ als daß ſie nöthig hätten, ein ſolches Mädchen zu heirathen pour fumer vos terres! “
„ Die Aeußerung durfte keinen Mann von Ehre machen, nachdem ich erklärt, daß Fräu - lein Meier meine Braut ſei! “ſagte Walter, heftig auffahrend.
Werner wollte in demſelben Tone antwor - ten, als der alte Graf mit dem Juwelier in das Zimmer und, ohne die Veranlaſſung des Streites zu kennen, zwiſchen ſie trat. „ Keine Scene, meine Herren! “— ſagte er gebietend, aber leiſe. „ Sie wiſſen, wo Sie ſich finden, was braucht es weiter? “— Und indem er den Goldarbeiter ruhig noch einige Befehle gab, ſchritt er grüßend am Arme ſeines Neffen hinaus.
„ Was gab es, Walter? “fragte er, und dieſer berichtete aufgeregt, was geſchehen ſei. Der alte Herr ſchüttelte das Haupt: „ Das299 war es, was ich fürchtete! Dergleichen konnte nicht ausbleiben! “ſagte er, wie zu ſich ſelbſt. Dann zu Walter ſich wendend: „ und was willſt Du thun? “
„ Können Sie noch fragen? “antwortete dieſer. „ Der Unverſchämte ſoll mir Genug - thuung geben für die Beleidigung. Ich eile, einen meiner Freunde aufzuſuchen. Ich werde Sie nicht hinausbegleiten, Onkel! “
„ Ruhig, ruhig, Walter! “ſagte der alte Graf. „ Ich werde ebenſo wenig hinausfahren. Die Angelegenheit mit Werner iſt mir fatal! Indeß muß ſie ernſt und raſch beſeitigt werden, darin ſtimme ich Dir bei. Es iſt das Beſte, Du weiſeſt jede Vermittelung ab, zeigſt gleich jetzt, daß Du in der Beziehung keine Scherze liebſt, und damit man ſieht, wie wir Achtung vor Deiner Braut hegen, will ich ſelbſt Dei - nen Secundanten machen. Das Handwerk iſt mir etwas fremd geworden — indeß ich finde300 mich wol noch zurecht und ſehe dann morgen doch, was mein Unterricht im Schießen für Früchte bei Dir getragen hat. “
Walter drückte dem väterlichen Freunde die Hand, der ſeine Unruhe ſcherzend verbergen wollte und nahm dankbar ſein Erbieten an.
Werner's Herausforderung ließ nicht auf ſich warten und Walter bat ſeinen Onkel, es ſo einzurichten, daß ſie ſich am nächſten Mor - gen ſchon treffen könnten. Er ſelbſt wolle ſeine Angelegenheiten ordnen und den Abend dann bei Jenny zubringen. Aber ſein Onkel rieth ihm davon ab. Er ſtellte ihm vor, daß Jenny ihn nicht erwarte. „ Und “, ſagte er, „ das gibt unnöthig eine Rührung, die ſie beunruhigt und Dich aufregt. Ihr jungen Herren der jetzigen Zeit nehmt ſolche Dinge viel zu ſchwer. In meiner Jugend war das anders! Doch will ich Dich nicht hindern, Deine Angelegen - heiten, wie Du es nennſt, zu ordnen. Nur301 zu Jenny gehe nicht! Du ſiehſt ſie ja mor - gen wieder, ſei es, daß Dir ein kleiner Ader - laß zugedacht iſt, oder daß Du ſo davon kommſt, und Du gehſt ruhiger an die Sache, wenn Du Deine Braut ganz unbeſorgt weißt. “
Dieſe Einwendungen überzeugten Walter und er fügte ſich ihnen willig.
Jenny ſchlief am Morgen ruhig von an - muthigen Träumen gewiegt, als man gegen die Gewohnheit ſie aufzuwecken kam. Ver - wundert fragte ſie, was man verlange? Da der Eintritt ihres Vaters und Eduard's ſie ein unerwartetes Ereigniß ahnen ließen.
„ Jenny! “ſagte ihr Vater, „ kleide Dich ſchnell an, Du ſollſt heute zeigen, daß Du die Seelenſtärke haſt, die wir Dir zugetraut. Wal - ter iſt erkrankt und verlangt nach Dir! “
302„ Er iſt todt! “— rief Jenny überwältigt von dem jähen Schreck.
„ Nein, er lebt! “antwortete Eduard, „ aber er iſt ſchwer verwundet auf der Jagd, und auf ſeinen Wunſch hat man ihn hierher ge - bracht! “
Wenig Augenblicke darauf kniete Jenny an dem Lager des Geliebten. Er kannte ſie noch, dies bewies der Blick voll Liebe und Trauer, mit dem er ſie begrüßte, die matte Bewegung, mit der er ſeine Hand auf ihr Haupt legte, als ſie neben ihm niederſank. Aber der Jam - mer auf den Geſichtern der Anweſenden, die Ruhe und Unthätigkeit, welche in dem Zimmer herrſchten, ſagten ihr deutlich, daß hier keine Hoffnung ſei, daß ſie an einem Sterbebette ſtehe. Walter's müdes Haupt ruhte wieder an ihrer Bruſt, unverwandt hing ihr Blick an den Zügen des Geliebten, keine Thräne kam in ihre Augen, keine Klage entſchlüpfte303 ihren Lippen. Ihr ſtummer Schmerz beunru - higte die Anweſenden, und mit den Worten: „ Jenny! ſo mußte ich mein Wort löſen! “— verſuchte der alte Graf, ſo tief er ſelbſt gebeugt war, die Unglückliche aus ihrer furchtbaren Ruhe zu reißen. Aber umſonſt! Sie ſah den Onkel ihres Bräutigams bemitleidend an, reichte ihm die Hand und verſenkte ihre Seele wieder in das regungsloſe Anſchauen des Geliebten. Eine Stunde gräßlicher Stille war ſo ent - ſchwunden, nur Eduard's Beſtrebungen, dem Verwundeten einige Erleichterung zu ſchaffen, unterbrachen die herrſchende Ruhe. Da hörte man plötzlich einen lauten Athemzug, Walter's Kopf ſank vorwärts — er hatte geendet. Und mit einem Schrei des furchtbarſten Schmerzes fuhr Jenny nach ihrem Herzen und fiel auf die Leiche ihres Bräutigams nieder.
304Am folgenden Tage verkündete die Zeitung: „ Geſtern fand hier ein Schuß-Duell zwiſchen dem Grafen W ... und dem Baron W ... ſtatt, deſſen Folgen für den Grafen tödtlich waren. Er ſtand auf dem Punkte, ſich zu vermählen und der Schmerz über ſeinen Verluſt hat auch der unglücklichen Braut das Leben ge - koſtet. Familienverhältniſſe ſollen die Veran - laſſung zum Streite gegeben haben! “
Weiter unten las man: „ Den plötzlich er - folgten Tod ſeiner einzigen Tochter Jenny mel - det tief betrübt unter Verbittung des Beileides ſeinen Freunden und Bekannten. R. Meier. “
Bei Fackelſchein hatte Graf Walter die Leiche ſeines Neffen aus der Stadt führen laſ - ſen, um ſie ſelbſt in die Gruft ſeiner Ahnen305 nach ihrem Stammſchloſſe zu begleiten. Jetzt am Morgen ſtanden drei Männer an einem friſch aufgeworfenen Grabe. Es waren Herr Meier, Eduard und Joſeph. Sie hatten es von ihren Freunden als eine Gunſt verlangt, daß man ihnen allein die Beſtattung des theuern Lieblings überlaſſe, und Niemand hatte es gewagt, ihre Trauer zu ſtören. Hell ging die Sonne an dem heitern Himmel auf, der freundlichſte Herbſtmorgen beleuchtete Jenny's Grab. Einſam ſtanden die Ihren auf dem fremden chriſtlichen Kirchhof, auf dem nun Jenny fern von ihrer Mutter, fern von jedem Blutsverwandten ruhte. Starr und ſchweigend ſah der unglückliche Vater zur Erde nieder, die ſein Kind bedeckte, als aus Joſeph's Bruſt der der Ausruf: „ Wozu leben wir noch? “herzzer - reißend zum Himmel tönte und die erſten Thrä - nen in die Augen des Vaters lockte.
Da richtete Eduard ſich mächtig empor:306 „ Wir leben “, ſagte er, mit der Begeiſterung eines Sehers — „ um eine Zeit zu erblicken, in der keine ſolche Opfer auf dem Altare der Vor - urtheile bluten! Wir wollen leben, um eine freie Zukunft, um die Emancipation unſers Volkes zu ſehen! “
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Druckfehler zum erſten Theil. Seite 7 Zeile 20 ſtatt wir lies mir 〃 232 〃 4 〃 Vergangenheit l. Zukunft 〃 264 〃 15 〃 lobt's l. lebt's 〃 — 〃 17 nach Minuten fehlt ſpäter 〃 269 〃 13 ſtatt Savon l. Saron 〃 369 〃 4 〃 Band l. Land. Druckfehler zum zweiten Theil. Seite 16 Zeile 19 ſtatt Nur l. Nun 〃 201 〃 16 〃 ſie l. ſich.
Bei F. A. Brockhaus in Leipzig iſt erſchienen und in allen Buchhandlungen zu haben: Aus einer kleinen Stadt. Erzählt von Frau von W. Gr. 12. Geh. 1 Thlr. 24 Ngr.
Sämmtliche Schriften von Johanna Schopenhauer.
Vierundzwanzig Bände.
Mit dem Bildniſſe der Verfaſſerin.
16. 1834. 8 Thlr.
[311]CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
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