Dir junges Deutſchland widme ich dieſe Reden, nicht dem alten. Ein jeder Schriftſteller ſollte nur gleich von vorn herein er¬ klaͤren, welchem Deutſchland er ſein Buch be¬ ſtimmt und in weſſen Haͤnde er daſſelbe zu ſehen wuͤnſcht. Liberal und illiberal ſind Bezeichnungen, die den wahren Unterſchied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der Liberalitaͤt ausgeruͤſtet ſind jetzt die meiſten Schriftſteller, die fuͤr das alte Deutſchland ſchreiben, ſei es fuͤr das adlige, oder fuͤr das gelehrte, oder fuͤr das philiſtroͤſe alte Deutſchland, aus welchen drei Beſtandtheilen daſſelbe bekanntlich zuſammengeſetzt iſt. Wer aber dem jungen Deutſchland ſchreibt, der erklaͤrt, daß*VIer jenen altdeutſchen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutſche, todte Gelehrſamkeit in die Grab¬ gewoͤlbe aͤgyptiſcher Pyramiden verwuͤnſcht, und daß er allem altdeutſchen Philiſterium den Krieg erklaͤrt und daſſelbe bis unter den Zipfel der wohl¬ bekannten Nachtmuͤtze unerbittlich zu verfolgen Wil¬ lens iſt.
Dir junges Deutſchland widme ich dieſe Reden, fluͤchtige Erguͤſſe wechſelnder Auf¬ regung, aber alle aus der Sehnſucht des Ge¬ muͤths nach einem beſſeren und ſchoͤneren Volks¬ leben entſprungen. Ich hielt ſie als Vorleſungen auf einer norddeutſchen Akademie, hoffe aber, ſie werden den Geruch der vier Fakultaͤten nicht mit ſich bringen, der bekanntlich nicht der friſcheſte iſt. Ich war noch von der Luft da draußen angeweht und der Sommer 1833 war der erſte und letzte meines Dozirens. Univerſitaͤtsluft, Hof¬ luft und ſonſtige ſchlechte und verdorbene Luftar¬ ten, die ſich vom freien und ſonnigen Voͤlkertage abſondern, muß man entweder gaͤnzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit einathmen. Riechflaſchen mit ſcharfſatiriſchem Eſſig, wie ihn z. B. Boͤrne in Paris deſtillirt, ſind in dieſem Fall nicht zuVII verachten. Lobenswerth iſt auch die Vorſicht, die man beim Beſuch der Hundsgrotte beobachtet — ſonderlich wenn's in die Hofluft geht — man buͤcke ſich nicht zu oft und zu tief. Abſchreckend iſt das Beiſpiel von Miniſtern und Hofleuten, die des Lichtes ihrer Augen und ihres Verſtandes dadurch beraubt worden ſind und ſchwer und aͤngſtlich nach Luft ſchnappen.
Dir junges Deutſchland widme ich dieſe Reden, dem braͤunlichen wie dem blon¬ den, welches letztere mich umgab und die Muſe war, die mich zweimal in der Woche begeiſterte. Ja, begeiſternd iſt der Anblick aufſtrebender Juͤng¬ linge, aber Zorn und Unmuth miſcht ſich in die Begeiſterung, wenn man ſie als Zuͤchtlinge ge¬ lehrter Werkanſtalten vor ſich ſieht. Sclaverei iſt ihr Studium, nicht Freiheit. Stricke und Bande muͤſſen ſie flechten fuͤr ihre eigenen Arme und Fuͤße, dazu verurtheilt ſie der Staat. Die Un¬ gluͤcklichen, wie haben ſie mich geſucht und ge¬ liebt, als ich ihnen die Freiheit wenigſtens im Bilde zeigte.
Preußen traͤgt ſich mit dem Plan, die alten Univerſitaͤten umzuſchmelzen. Immerhin, und magVIII das gelehrte Deutſchland auch Blut uͤber den Frevel ſchwitzen. Ich traue freilich dem neuen Guſſe nicht, weil ich nicht einſehe, woher Preu¬ ßen das rechte Metall dazu nehmen will, es waͤre denn preußiſch-evangeliſches Kanonen - und Glockengut. Aber auch dieſes halte ich fuͤr beſ¬ ſer als die alte tonloſe Miſchung, die ſelbſt un¬ ter Thors Hammerſchlaͤgen keinen Klang mehr von ſich geben wuͤrde.
Zur Zeit der Reformation waren die Univer¬ ſitaͤten Stuͤtzpunkte fuͤr den Hebel des[neuen] Um¬ ſchwungs. Gegenwaͤrtig bewegen ſie nichts, ja ſie ſind Widerſtaͤnde der Bewegung und muͤſſen als ſolche aus dem Wege geraͤumt werden.
Zu warnen aber ſind junge Maͤnner von Kraft und Talent, ſich nicht unbedacht jener ed¬ len Taͤuſchung hinzugeben, als ob ſich dennoch ein zeitgemaͤßer und volksthuͤmlicher Wirkungs¬ kreis fuͤr ſie auf unſern Univerſitaͤten erſchwingen laſſe. Glaubt mir, ihr hebt den Fluch nicht auf, den die Zeit uͤber jene alten Gemaͤuer ausgeſpro¬ chen hat, ihr ſetzt euch hingegen der Gefahr aus, mit demſelben Fluche auf euren eigenen geiſtigen Schwingen belaſtet zu werden. Zittert vor derIX greiſen alma mater, die als Ahnfrau unſerer Univerſitaͤten ihr faltenreiches, mottenzerfreſſenes Gewand auf dem Boden der Aula einherſchleift, und ihre alten Liebhaber-Pedanten durch junge und friſche zu rekrutiren ſucht. Zittert vor ihrer duͤrren Umarmung, vor dem Kuß ihrer geſpen¬ ſtiſchen grauen Lippen, denn ſie ſaugt euch das Blut langſam aus den Adern und ſchrumpft die Hochgefuͤhle eurer Bruſt zu jenem Minimum zuſammen, das etwa einem alten ausgedoͤrrten Wilhelm Traugott Krug oder Chriſtian Daniel Beck kaum verſchlaͤgt, um damit den letzten Athemzug fuͤr den Himmel zu beſtreiten. Denkt daran, daß alle große Deutſche der neuern Zeit nur zu ihrem Ungluͤck deutſche Univerſitaͤtslehrer geworden ſind, daß ein Fichte, Schelling, Nie¬ buhr, Schleiermacher, geborene Tribunen des Volks, fuͤr das Volk und ihren eigenen hoͤheren Ruhm verloren gegangen ſind. Fichte's Reden an die deutſche Nation verhallten nicht blos deswe¬ gen in den Wind, weil die Nation taub war, ſondern weil zwiſchen ihr und ihm eine Scheide¬ wand aufgerichtet war, die ſelbſt Fichte's eherne Stimme nicht zu durchdringen vermochte.
**XNun denn, junges Deutſchland, mit Gott! Wir leben ja noch einen Tag zuſammen, und wer weiß, ob unſer Hort und Fuͤhrer uns ſo lange durch die Wuͤſte ziehen laͤßt, wie Moſes die Iſraeliten.
Iſt aber eine Silberlocke unter deiner Schaar, ein Greis mit jugendlichem Herzen, ich kuͤſſe ihm Auge und Stirn und wuͤnſche auch mir einen warmen Fruͤhling unter der Eisdecke kuͤnftiger Jahre.
Meine Herren. Sie wollen mir die Ehre ge¬ ben, meinen Vortraͤgen uͤber Aeſthetik beizuwoh¬ nen. Ich freue mich uͤber Ihre Zahl und ich bemerke mit Vergnuͤgen, aber nicht ohne Gefuͤhl meiner unzulaͤnglichen Kraͤfte und Huͤlfsmittel, die Theilnahme und Aufmerkſamkeit, womit Sie der Eroͤffnung dieſer in mehr als einer Hinſicht be¬ denklichen Vortraͤge entgegenſehen. Es iſt zwar das, was die Seele, das Prinzip der Aeſthetik ausmacht, naͤmlich das Schoͤne, die Form, die Geſtalt ſchon im Alterthum von den tiefſinnigſten Weiſen behandelt worden; allein wie abſtechend von dieſer Behandlung iſt die heutige Form einer akademiſchen Disziplin, in welcher die Aeſthetik ſeit Baumgartens Zeit in Deutſchland aufgetreten iſt. Selbſt der Name ruͤhrt aus dieſer Zeit her,Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 12er iſt von Baumgartens Erfindung und war den alten Griechen und Roͤmern in dieſem Sinne voͤl¬ lig unbekannt.
Aesthetica betitelt Baumgarten die beiden Volumina, welche im Jahr 1750 und 1758 ans Licht traten. Den Barbarismus des Wortes will ich nicht tadeln, nur den Barbarismus, der darin lag, ein ſolches Werk in lateiniſcher Sprache zu ſchreiben. Barbariſch — pedantiſch war der Ur¬ ſprung der Aeſthetik oder der vagen Wiſſenſchaft, welche man mit dieſem Namen bald allgemeiner zu bezeichnen anfing. Riedel und Sulzer machten daraus eine Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte und Letz¬ terer ſchrieb ſogar eine ſolche „ allgemeine Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte “nach alphabetiſcher Ord¬ nung, zwei Quartbaͤnde unfruchtbarer Theorien, die weder dem Philoſophen noch dem Kuͤnſtler foͤrderlich ſein konnten. In ein hoͤheres Gebiet wurde die Aeſthetik aufgenommen, als Kant ſei¬ nen eminenten Scharfſinn auch nach dieſer Seite wandte und in „ der Kritik der Urtheilskraft “eine von ſeinem Standpunkt und ſeinen Prinzipien ausgehende Kritik des Geſchmacks aufſtellte. Nach ihm wurde die Aeſthetik von mehreren Profeſſoren der Philoſophie bearbeitet, am Vollſtaͤndigſten von Fr. Bouterwek, deſſen Werk (in zwei Baͤnden) das bekannteſte iſt und drei Auflagen erlebt hat. 3Grundzuͤge aͤſthetiſcher Vorleſungen ſchrieb 1808 Heinrich Luden, die auf ſeine bekannte Weiſe geiſt¬ reich und gediegen ſind. Bluͤhender und an wah¬ rem aͤſthetiſchen Gehalt reicher iſt die Vorſchule der Aeſthetik von Jean Paul, die 1813 eine neue Auflage erlebte.
Ich werde mein Urtheil uͤber dieſe akademi¬ ſchen Schriften (die Jean Pauliſche gehoͤrt nicht in ihren Kreis) zuſammenfaſſen und nur vorher bemerken, daß die Aeſthetik nicht immer mit den Anſpruͤchen auf wiſſenſchaftliche Form und Voll¬ ſtaͤndigkeit in Deutſchland aufgetreten, ſondern daß es ſehr intereſſante aͤſthetiſche Abhandlungen gibt, die ſich ungebundener und freier auslaſſen. Dazu gehoͤren die aͤſthetiſchen Abhandlungen von Schil¬ ler, die ich als bekannt vorausſetze, z. B. ſein Aufſatz uͤber die aͤſthetiſche Erziehung des Men¬ ſchen, uͤber die nothwendigen Grenzen beim Ge¬ brauch ſchoͤner Formen (!), uͤber naive und ſenti¬ mentale Dichtung, uͤber das Erhabene, ſeine Ge¬ danken uͤber den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunſt u. ſ. w. Auch laſſen ſich viele Aufſaͤtze von Goethe in den Propylaͤen und in Kunſt und Alterthum als ſehr bedeutende Beitraͤge zu der Aeſthetik des Goethiſchen Jahr¬ hunderts betrachten. Was Schiller betrifft, ſo behandelte er die Theorie des Schoͤnen mehr in1*4Beziehung auf dichteriſche Form und geſelliges Leben, dagegen Goethe mehr die bildenden Kuͤnſte, insbeſondere die Antike ins Auge faßte. Bilden¬ der fuͤr den Geſchmack ſind bei weitem die Be¬ merkungen von Goethe, in ſofern ſie mehr aus dem einheitlichen Quell des Goethiſchen Lebens her¬ vordringen und die ungetruͤbteſten Anſchauungen der Welt und ihrer Schoͤnheiten in Natur, Kunſt und Leben enthalten, wie die ſaͤmmtlichen Goethi¬ ſchen Werke, ſeien ſie Gedichte oder Proſa. Waͤh¬ rend Goethe's geiſtige Magnetnadel ſich unverwandt gegen den ſchoͤnen Kunſtpol neigte, bewegt ſich Schiller's ringende Natur nach den entgegengeſetz¬ teſten Richtungen und ſtrebt vergebens nach dem Schwerpunkt, der ſeiner geiſtigen Natur angemeſ¬ ſen war. Reinhold hatte ihn in Jena in die Kan¬ tiſche Philoſophie eingefuͤhrt, als Schiller auf dor¬ tiger Akademie hiſtoriſche Vorleſungen hielt. Nun gerieth er zwiſchen zwei Feuer, das griechiſche der Kunſt und Poeſie, das in Weimar gluͤhte, und das nordiſche der Philoſophie, welches zu jener Zeit mit kritiſch verzehrendem Feuer, von der Oſtſee, aus Koͤnigsberg ausgebrochen war. Es iſt gewiß, daß ſeine ſchoͤnere Natur zuletzt den Sieg davontrug, was beſonders ſeit der Zeit merklich wird, als die Vorurtheile zwiſchen ihm und Goethe hinweggefallen waren und beide große5 Naturen durch gegenſeitigen Umtauſch ihrer Ge¬ danken und perſoͤnlichen Umgang in Weimar wett¬ eifernd ihrer Ausbildung entgegenſchritten. Allein ſeine erwaͤhnten aͤſthetiſchen Anſichten tragen noch deutlich die Spuren geiſtiger Entzweiung, die aus dem Studium der Kantiſchen Philoſophie fuͤr ihn reſultirte. Er iſt ſich ſelbſt nicht klar und laͤßt daher auch einen ſehr unklaren Eindruck auf den Leſer zuruͤck. Die Bewunderung fuͤr Kant's dik¬ tatoriſches und von der moraliſchen Seite ſo er¬ habenes Genie, die ihm Reinhold's Vortraͤge und Studium der Kantiſchen Kritiken eingefloͤßt hatte, verleitete ihn zur Annahme Kantiſcher Prinzipien, die, wie man ſie ſonſt auch verſteht, auslegt, bil¬ ligt oder verwirft, von Niemand ſo leicht als kunſtfoͤrderlich oder auch nur vertraͤglich mit den Forderungen des aͤſthetiſchen Sinnes betrachtet wer¬ den moͤgen. Es gibt vielleicht keinen konſequenten Kantianer gegenwaͤrtig auf der Welt, damals aber war alle Welt Kantiſch, es ging eine Seuche durch Deutſchland, ſich Kantiſch auszudruͤcken und bei Dietrich in Goͤttingen erſchien im Jahr 1801 ſo¬ gar eine Kantiſche Poſtlehre mit dem Titel: „ Vor¬ laͤufige Darſtellung der Begruͤndung einer allge¬ meinen Poſtanſtalt. “
Daher findet man denn auch die meiſten Handbuͤcher der Aeſthetik, die aus jener Zeit ſtam¬6 men, mehr oder weniger in die abſtrakten For¬ meln der Kantiſchen Philoſophie gebannt, z. B. die von Ben David und von Krug, welcher ſchon als ſolcher und inmitten ſeiner Philoſophie, der leibhaftige Tod fuͤr die Aeſthetik iſt.
An ſich, meine Herren, gehoͤrt das Element der Aeſthetik, das Schoͤne, ohne Zweifel in den Kreis der erhabenſten Philoſophie. Die Wirkun¬ gen der Schoͤnheit, die Schoͤnheit ſelber iſt uns ein Geheimniß, ein Raͤthſel, zu deſſen Aufloͤſung wir den Schluͤſſel bei einer Wiſſenſchaft ſuchen, von der, wie Sie wiſſen, wenigſtens die Rede geht, daß ſie den großen goldenen Schluͤſſel zu allen Geheimniſſen der Welt, wenn auch nicht be¬ ſitzt, doch wenigſtens zu ſchmieden befliſſen ſei. Dennoch, meine Herren, und wenn der Schluͤſ¬ ſel auch gefunden waͤre, iſt aufſchließen und ſchauen, offenbar zweierlei. Nehmen wir z. B. an, daß der ver¬ ſtorbene Hegel, unter deſſen Schriften man ebenfalls eine Aeſthetik findet, die im geſchloſſenen Ringe ſeiner Philoſophie ihren beſtimmten Platz und Namen hat, daß Hegel den Grund und das Weſen aller Dinge nicht allein tiefer erforſcht haͤtte, als alle ſeine Vorgaͤnger, ſondern auch wirklich und wahrhaftig in dieſem Grunde angelangt waͤre und von da aus im Staͤnde waͤre, die ganze Welt dem lieben Gott nachzukonſtruiren und zu beweiſen, warum7 Alles ſo waͤre und nicht anders ſein koͤnnte, als es iſt, koͤnnte er mehr thun, als uns das Warum der Schoͤnheit in abſtrakter Formel auszuſprechen, koͤnnte er uns mit ſchoͤpferiſcher Kraft eine Ah¬ nung der Schoͤnheit ſelbſt ins Herz floͤßen? Muß nicht das Schoͤne auch wieder durch das Schoͤne bezeichnet werden, um ſich als ſchoͤn fuͤhlen zu laſſen, kann man durch undichteriſche Schoͤnheits¬ lehren uͤber die Schoͤnheit belehren, hebt nicht eine abſtrakte Definizion die Schoͤnheit, die ſie definiren will, und daher ſich ſelber auf, kann man die geiſtigſte Bluͤthe alles Erſchaffenen, ſei es dem unmittelbaren Quell der Natur oder den Haͤn¬ den der Kunſt entſprungen, unter das anatomiſche Sezirmeſſer bringen und iſt das, was unter ſolchen Haͤnden ſeufzſt, todt oder lebendig zu nennen?
Nicht jede Philoſophie alſo hat, als ſolche, die Kraft und die Eigenſchaft, das Prinzip der Schoͤnheit wuͤrdig darzuſtellen und noch weniger laͤßt ſich erwarten von den Schriften der gelehr¬ ten Pedanterie, wie ein ſolches muſterhaftes Bei¬ ſpiel oder Gegenſpiel der Aeſthetik in Baumgar¬ ten's lateiniſchen Werken vorliegt, der die auslaͤn¬ diſche Form natuͤrlich noch zum geringſten Vor¬ wurfe dient. Schon der Name Aeſthetik iſt ſo unpaſſend als moͤglich, dieſer Name, der das ver¬ diente Schickſal gehabt hat, anfangs nur unter8 lateiniſch-deutſchen Gelehrten, unter akademiſchen Kathedriſten bekannt zu ſein, bei ſeinem Eintritt ins große Publikum aber, ſo wie in gegenwaͤrti¬ ger Zeit, von den Gelehrten faſt verachtet, von ſuͤßlichen Schoͤngeiſtern erniedrigt und in der Mei¬ ſten Munde beſpoͤttelt zu werden. Es waͤre in der That ſehr zu wuͤnſchen, daß der Name und die ganze Behandlung deſſen, was man unter die¬ ſem Namen zuſammenfaßte, in Deutſchland gar nicht aufgekommen waͤre. Das Gefuͤhl des Schoͤ¬ nen iſt unter den Deutſchen keineswegs ſo verbrei¬ tet, befeſtigt und veredelt, daß es geſchuͤtzt und ſicher genug waͤre vor den erkaͤltenden Einfluͤſſen, womit daſſelbe auf der einen Seite von dem hoͤl¬ zernen Scepter der Schulgelehrſamkeit, auf der andern von dem leichtfertigen Geckenthum des Gallizismus bedroht wird. Die Aeſthetik iſt als Wiſſenſchaft, fuͤr Deutſchland viel zu fruͤh gekom¬ men. Das Gefuͤhl des Schoͤnen muß ſich vor Allem erſt durch das Leben befruchten und bilden, wenn es in Buͤchern und Hoͤrſaͤlen wuͤrdig darge¬ ſtellt und ein wahrhaft integranter Theil der Phi¬ loſophie werden ſoll. Das Schoͤne ſelbſt aber ſchwebt nicht in der Luft, eben ſo wenig, wie die Bluͤthe und das Roſenblalt, es muß befeſtigt ſein an einem Stamme, es muß Charakter haben und nichts fehlte zur Zeit, als Baumgarten ſeine Aeſthe¬9 tik ſchrieb, der deutſchen Nation mehr als dieſe. Nationalgefuͤhl, muß dem Gefuͤhl fuͤrs Schoͤne, politiſche Bildung der aͤſthetiſchen vorausgehen. Ohne Kraft gibt es keine Gewandheit, ohne Cha¬ rakter keinen Ausdruck, ohne Ausdruck keine Schoͤn¬ heit, weder im Stil des Bildhauers, noch im Stil des Schriftſtellers. Begluͤckter war das grie¬ chiſche Volk, als wir. Es beſaß freilich keine Aeſthetik, aber dafuͤr platoniſche Dialogen, worun¬ ter wahre Opfer an die Goͤttin der Schoͤnheit, behandelten ſie auch nicht, wie ſie thun, das κα¬ λον κἀγαϑον als ihren Hauptgegenſtand und iden¬ tifizirte ihr Urheber auch nicht, wie er thut, das Schoͤne mit dem ewig Einen, mit Gott ſelber. Unſere neuere Aeſthetik beſchraͤnkt ſich daher auch, aus Mangel an Lebensfuͤlle, gaͤnzlich auf das Schoͤne oder die Schoͤnheiten in Poeſie und Kunſt und ſind, wie auch viele den Namen fuͤhren, bloße Theorien der ſogenannten ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, die zu Anfang einige vorlaͤu¬ fige Definizionen vom Schoͤnen, Erhabenen, An¬ muthigen, Witzigen u. ſ. w. aufſtellen und dann allerlei und mancherlei aus der Geſchichte und Technik der ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften fol¬ gen laſſen. Es gibt nur eine einzige Schrift uͤber gewoͤhnliche Aeſthetik, die genial und aͤſthetiſch iſt, die Jean Pauliſche, wie nur ein einziges Werk,10 das die Aeſthetik im hoͤhern, im griechiſch-plato¬ niſchen Sinne auffaßt, der Erwin von Solger. Allein ſchon aus der allgemeinen Unkunde dieſes Werks, muß ſich zweierlei klar machen, daß es entweder nicht in zeitgemaͤßer Form geſchrieben, oder daß ſein Inhalt nicht zeitanſprechend ſei. Beides iſt mir ausgemacht. Die Form iſt dialo¬ giſch und der Inhalt eine Vergoͤtterung des Schoͤ¬ nen mit einem Anſchein des Enthuſiasmus, der dem Platoniſchen nicht allein nahe kommt, ſondern ihn noch zu uͤbertreffen ſcheint, der aber lange nicht die Waͤrme und Kunſtloſigkeit hat, als der des griechiſchen Meiſters. Um ſich davon einen Begriff zu machen, vergleiche man die ſo wahre als genievolle Schilderung, die Jean Paul von den Griechen gibt, mit dem Leben, das wir Deut¬ ſche in Deutſchland fuͤhren, ſo wird man einſehen, daß die Begeiſterung eines platoniſchen Dialogs, wie des Sympoſions, eine natuͤrliche, Solger's aber eine gemachte war, wie mehr und weniger jede Begeiſterung, die iſolirt ſteht und ihre Quelle nicht aus der Zeit nimmt.
11Meine Herren. Ich bitte Sie, ſich aus der er¬ ſten Vorleſung den Satz ins Gedaͤchtniß zuruͤckzu¬ rufen, daß der Gegenſtand der Aeſthetik, die Schoͤnheit und deren Erſcheinung in den Gebie¬ ten des Lebens und der Kunſt, weder von abſtrak¬ ter Philoſophie, noch von geiſt - und ahnungsloſer Gelehrſamkeit aufgewieſen und dargeſtellt werden koͤnne; daß aber die deutſche Aeſthetik, als akade¬ miſche Wiſſenſchaft, mit wenigen Ausnahmen eben das Schickſal gehabt habe, von ſolchen Maͤnnern geſchrieben und gelehrt worden zu ſein, denen der rechte Naturſinn und die Bildung fuͤr die Schoͤn¬ heit bald voͤllig abging, bald nur in ſehr geringem Grade beiwohnte. Einſeitigkeit in jeder Art iſt keiner Wiſſenſchaft nachtheiliger, als der Lehre12 vom Schoͤnen, ja es ſteht eben die Einſeitigkeit im graden Widerſpruch mit der Schoͤnheit, welche die freie Entfaltung liebt und nur im Elemente der Freiheit ſowohl gedeihen, als verſtanden wer¬ den kann. Wenn in der Philoſophie, in der Wiſſenſchaft eine große einſeitige Schaͤrfe des Ver¬ ſtandes, der Abſtraktion, wenn in Sachen der Ge¬ lehrſamkeit eine gewiſſe einſeitige Staͤrke des Ge¬ daͤchtniſſes, bedeutenden Leiſtungen nicht nur nicht hinderlich, ſondern foͤrderlich ſcheint — eine Be¬ merkung, die ſich Ihnen bei der Geſchichte der Philoſophie und der Gelehrſamkeit aufdringen wird — ſo iſt dies der umgekehrte Fall bei den Lehren des Geſchmacks, welche bei einſeitigen Rich¬ tungen der darſtellenden Individuen und ganzer Zeitalter um deſto geſchmackloſer und den Sinn fuͤr das Schoͤne um deſto weniger erregend und bildend ſind, je naturwidriger und unharmoniſcher, das heißt, je einſeitiger die Bildung ihrer Urheber war. Ich moͤchte noch immer, nach Allem, was bisher in Deutſchland Aeſthetiſches und uͤber Aeſt¬ hetik geſchrieben worden, ſo viele Goldkoͤrner Leſ¬ ſing, Herder, Jean Paul, Schiller, ſelbſt Bou¬ terwek auf dieſen duͤrren Boden hingeſtreut haben, ich moͤchte noch immer dem Juͤnger des Schoͤnen und dem Freund ſeiner eigenen harmoniſchen Aus¬ bildung den Rath geben, ſich ſeinem eigenen Ge¬13 nius zu uͤberlaſſen und ſtatt ſich durch mehr oder minder willkuͤhrliche Raͤſonnements uͤber die Schoͤn¬ heiten in Kunſt und Poeſie verwirren zu laſſen, ſich nur an die meiſterhaften Kunſtprodukte der alten und neuen Zeit ſelbſt zu halten und bei ihrer Leſung, ihrem Anſchauen ſich von den unausbleib¬ lichen Wirkungen der geiſtigen Kraft der Schoͤnheit lebendig zu erfuͤllen, wozu dem Deutſchen insbe¬ ſondere Goethe's Werke als muſterhaft vorſchweben.
Doch vielleicht, meine Herren, kommt den Deutſchen, als Nation, die Schoͤnheitslehre und der Schoͤnheitsſinn viel zu fruͤh, und dies war der zweite Hauptſatz der erſten Vorleſung, in der ich dieſe Behauptung aufzuſtellen gewagt habe. Die Schoͤnheit, ſagte ich, beruht auf Kraft und Charakter, ſie beruht auf leiblicher und geiſtiger Geſundheit, auf Lebensfriſche, auf Behaglichkeit, auf Freiheit und Harmonie; denn unter dieſen Grundbedingungen kann jedes Volk des Erdbodens, nicht allein das griechiſche unter ſeinem ewigblauen Himmel und mit ſeiner offenen, ſonnigheitern Sinnlichkeit, ſondern auch der Deutſche, der Nordmann unter rauherem Himmel, den Sinn fuͤr Schoͤnheit unter ſich ausbilden und aller Seg¬ nungen deſſelben und des doppelten und dreifachen Lebensgenuſſes, der aus dieſem Sinn entſpringt, theilhaftig werden. Aber faſt mehr noch als der14 Grieche, der Sohn des Suͤdens, hat der Deut¬ ſche, der Nordmann auf die Ausbildung ſeines Charakters hinzuarbeiten; unſer Geiſt iſt von Na¬ tur formloſer, als der griechiſche; zwiſchen unthaͤ¬ tiger Ruhe und traͤger Beharrung und momenta¬ ner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leiden¬ ſchaften ſchwanken die Beſſeren und die Beſten unter uns hin und her; die geiſtigſten Aeußerun¬ gen und die tiefſten Gemeinheiten vereinigen ſich oft in einer und derſelben Perſon. An Leuten, die vor Gelehrſamkeit ſtrotzen und halb daruͤber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfſinn und Spitzfindigkeit beſtaͤndig auf Nadeln gehen, an uͤberſchwaͤnglichen Poeten, an wahnſinnigen Muſicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Froͤmmlern, an Charakteren dieſer Art, fehlt es allerdings nicht in Deutſchland, allein ihre Fuͤlle und Anzahl beſtaͤtigt eben meine Behauptung, daß man zu wenig Charakter und Ausbildung deſſelben unter uns antreffe. Es ſind dieſe und aͤhnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur ſchlechte Kopien), lebendige Muſter der charakterloſen Ein¬ ſeitigkeit einer zerſplitterten Zeit, die ſich zum wah¬ ren Charakter der Humanitaͤt in gar kein anderes Verhaͤltniß ſtellen laſſen, als in das der Scheuch¬ bilder einer menſchlichen Geſtalt zur menſchlichen Geſtalt ſelber. Daß ſolche und aͤhnliche Charak¬15 tere oder Charakterverzerrungen unfaͤhig ſind, den Stempel der Schoͤnheit aufzunehmen, bedarf wohl keiner Erlaͤuterung. Eine zweite und noch zahl¬ reichere Gattung von Charakteren liefern uns die Geſchaͤftsmaͤnner in allen Zweigen des Le¬ bens; die Amtleute, Juriſten, Advoka¬ ten, Sachwalter; dieſe Generalpaͤchter des Geſetzes und der Gerechtigkeit, die noch in ſo vielen Laͤndern die Barbarei eines unbekannten, undeutſchen, unvolksthuͤmlichen und daher rechtlo¬ ſen Rechts taͤglich verewigen und die daher ſeit alter Zeit eine pedantiſch gelehrte Kaſte bilden, welche, wie alles Kaſtenweſen, der freien Bil¬ dung und ſchoͤnen Humanitaͤt ſchnurſtracks entge¬ genlaͤuft, — die Aerzte, welche ebenfalls ihre Wiſſenſchaft und ihr ganzes Treiben vor den Au¬ gen der gebildeten Nation verbergen und ſich in den Nimbus einer Kunſt huͤllen, die an unſern eigenen Leibern experimentirt und taſtet — die Schulmaͤnner, die ſich noch immer nicht ent¬ ſchließen koͤnnen, ihre Perruͤcke abzulegen und deutſche Juͤnglinge ſtatt Latiniſten und Graͤziſiſten fuͤrs Leben heranzubilden — die Theologen — kurz alle Aemter, die als ſogenannte Brodſtudien auf unſern Univerſitaͤten in eigenen abgeſchloſſenen Dis¬ ziplinen gelehrt werden, wie wenig entſprechen ſie im Ganzen, Großen, wie im Einzelnen dem rei¬16 nen Bilde der Humanitaͤt, und wie ſelten kann man beim Anblick des Wirkens der in dieſen und durch dieſe Disziplinen ausgebildeten Maͤnner freudig ausrufen, hier iſt ein Charakter, der rein und freudig im Geiſte ſeines Volks und im Hoͤ¬ heren der Menſchheit ruht, ein individueller Menſch, der natuͤrlich und aus dem Grunde lebt, der die Wiſſenſchaft, die Kunſt und Alles, was er treibt, nicht auf angelernte Weiſe handwerksmaͤßig treibt, ſondern mit innerem Drang, mit eigenem Den¬ ken und nach ſelbſtgemachten Erfahrungen, ein Geiſt, deſſen charakteriſcher Zug es eben iſt, die Bahn, die Art und Weiſe ſeiner Thaͤtigkeit ſich weder von außen aufdringen zu laſſen, noch ſich ſelber mit Willkuͤhr zu ſetzen, ſondern mit klarer Beſonnenheit zu waͤhlen. An der Bildung eines ſolchen Mannes, meine Herren, mag vielleicht die letzte Feile fehlen, ſeiner geiſtigen Geſtaltung, ſei¬ ner leiblichen Erſcheinung noch Manches abgehen, was der Grieche des Perikles, der auf jeden Zug, auf jedes Wort, auf jede Bewegung achtete, Sorg¬ falt verwandte, was der ungern vermißt haͤtte, es mag ihm noch nicht der rechte Sinn aufgegangen ſein fuͤr die tiefe Bedeutſamkeit der aͤußeren ſchoͤ¬ nen Form, fuͤr die himmliſche Bluͤthe des Gei¬ ſtes, fuͤr den reinen Abdruck der innern Harmo¬ nie, es mag ihm Sinn und Gemuͤth noch nicht17 gehoͤrig aufgeſchloſſen ſein fuͤr die Freuden der Kunſt, fuͤr den Genuß der Poeſie, er mag den Apoll von Belvedere noch nicht bewundern, ſich fuͤr die Goethiſche Iphigenie noch nicht begeiſtern, ſich vom Zauber einer ſchoͤnen Gegend, einer Mo¬ zartſchen Muſik nicht hinreißen laſſen, ſich uͤber¬ haupt noch nicht uͤber den bloßen baaren Ernſt des Lebens in die freiere Region erhoben haben, wo der Ernſt ein Spiel und das Spiel ein Ernſt iſt, ich meine die Region der Kunſt, der aͤſtheti¬ ſchen Anſchauungen des Lebens — aber er iſt vor¬ bereitet, er iſt des Beſten wuͤrdig, was Gott fuͤr uns beſtimmt hat, des Genuſſes, den nur derje¬ nige ahnt, dem er dafuͤr Empfaͤnglichkeit gegeben, und dem Welt, Erziehung und Geſellſchaft deſſen nicht beraubt haben.
Allein, ſo lange noch das Leben ſelbſt, das uns von der Wiege auf umfaͤngt, ſo lange noch die Schule, die Univerſitaͤt, dieſe Bildungsmittel unſeres Geiſtes, ſpaͤter der Staat und das, was jetzt unter dem Namen der guten Societé und im weitern Umfang, der buͤrgerlichen Geſellſchaft be¬ ſteht, ſo lange dies Alles der eigenthuͤmlichen Bil¬ dung und Entwicklung unſers Charakters mit Haͤn¬ den und Fuͤßen entgegenarbeitet, werden ſolche Maͤnner immer nur zu den ſeltenen Erſcheinungen gehoͤren und ſomit auch die Ausbildung des Schoͤn¬Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 218heitſinnes, nach meiner innigſten Ueberzeugung, eine vergebliche, ja in vielen Faͤllen ſchaͤdliche ſein, eine Erfahrung, die wir ſowohl an jenen geſchmack¬ vollen Kunſtkennern machen, welche in unmaͤnnli¬ cher Sorgloſigkeit und Unbekuͤmmertheit die Wiſ¬ ſenſchaft ums Vaterland und die großen Intereſſen der Zeit, in italieniſchen und antiken Kunſtgenuͤſ¬ ſen ſchwelgen, oder, wenn ſie es nicht zur Kunſt¬ kennerſchaft bringen, fade Schoͤngeiſter werden, die ſich bei den Gebildeten, und die Aeſthetik mit ihrer Perſon beim großen Haufen laͤcherlich ma¬ chen. Vom Letzteren habe ich bisher noch gar nicht einmal geſprochen, indem ich die Unfaͤhigkeit unſerer Zeit zum Genuß und zur Wuͤrdigung des Schoͤnen in dieſer Einleitung beruͤhrte. Wer hat ihn, dieſen großen Haufen, beſſer geſchildert als Kant in ſeinem Werke uͤber das Gefuͤhl des Schoͤ¬ nen und Erhabenen, wenn er ſpottend ſagt: wohl¬ beleibte Perſonen, deren Autor der Koch iſt und deren Werke von feinem Geſchmack im Keller lie¬ gen, werden bei gemeinen Zoten und einem plum¬ pen Scherz in eben ſo lebhafte Freude gerathen, als diejenige iſt, worauf Perſonen von edler Em¬ pfindung ſo ſtolz ſind. Ein bequemer Mann, der die Lektuͤre der Buͤcher liebt, weil es ſich ſo wohl dabei einſchlafen laͤßt; der Kaufmann, dem alles Vergnuͤ¬ gen laͤppiſch erſcheint, dasjenige ausgenommen, das19 ein kluger Mann genießt, wenn er ſeinen Hand¬ lungsvortheil uͤberſchlaͤgt; der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder wilde Thiere, Alle dieſe haben ein Gefuͤhl, wel¬ ches ſie faͤhig macht, Vergnuͤgen nach ihrer Art zu genießen, ohne daß ſie andere beneiden duͤrfen, oder auch von andern ſich einen Begriff machen koͤnnen — allein, ich wende fuͤr jetzt keine Auf¬ merkſamkeit darauf. Es gibt noch ein Gefuͤhl von feinerer Art, und ſo fort, unter dieſem Gefuͤhl verſtand Kant das Gefuͤhl fuͤr das Schoͤne und Erhabene, das in ihm ſelbſt, wenn auch mit Ue¬ bergewicht fuͤr das geiſtig und moraliſch Erhabene lebendiger war, als in den meiſten ſeiner ſpaͤteren Juͤnger, Fichte und Schelling ausgenommen.
Ueberhaupt bin ich weit entfernt, wenn ich den Deutſchen der naͤchſtvergangenen und heutigen Welt das rechte Lebenselement und daher den rech¬ ten Sinn der Schoͤnheit abſpreche, in dieſer Be¬ hauptung den Einfluͤſterungen gewiſſer Schriftſtel¬ ler Raum zu geben, die allzu leichtfertig uͤber un¬ ſere Nation den Stab brechen. Vor dieſer Ge¬ ſinnung ſchuͤtze uns nicht eben die Stumpfheit, die man uns uͤberm Rheine vorwirft und die Gleich¬ guͤltigkeit gegen das Urtheil der Welt — denn man kann wohl ſagen, daß die ganze Welt uͤber uns richtet, und daß wir nicht allein dem raſchen2 *20Franzoſen, ſondern auch dem bedaͤchtigen Englaͤn¬ der, ja ſelbſt dem knechtiſch-feigen Italiener ein willkommner ſatyriſcher Stoff ſind — ſondern der Glaube an unſere Nation, das Vertrauen auf die Zeit, die Roſen und Ketten bricht, die Kenntniß unſerer Geſchichte, die uns einen Spiegel vorhaͤlt, worin wir eine beſſere und glaͤnzendere Vorzeit be¬ ſchauen.
Ja, ich bin im Gegentheil ſo weit entfernt von Kleinmuth, daß ich der Ueberzeugung lebe, keine einzige von den großen europaͤiſchen Natio¬ nen ſei von der Natur beſſer bedacht, als eben die unſrige. Das ſehen wir am Mittelalter, an demſelben Mittelalter, das, als es veraltet war, Luthers Hand, und der dreißigjaͤhrige Krieg, und der ſiebenjaͤhrige, und die Revolution und Napo¬ leon und die Befreiungskriege, Alles, was auf Deutſchland losgeſtuͤrmt hat, nicht ſo weit hat zer¬ ſtoͤren und abbrechen koͤnnen, daß nicht noch ge¬ genwaͤrtig die alten zerbroͤckelten Saͤulen und Bo¬ gengaͤnge in Schulen und auf Univerſitaͤten, in Kirche und Staat vor unſern Augen daſtaͤnden, und uns an eine Zeit ermahnten, deren geiſtiges Prinzip laͤngſt untergegangen iſt, deren leiblicher Schutt aber noch immer unausgekehrt, Leben und Wachsthum hemmend in der Gegenwart liegt. So großartig baute jenes granitne Mittelalter,21 ſolche Maſſen thuͤrmte es in die Luft, mit ſo fe¬ ſtem Kitt band es die Formen ſeines Lebens an einander feſt und ſo lange Zeit muß es dauern, daß nach ſeinem Fall eine neue Generation ſich wieder erheben und auf eigenem Grund und Bo¬ den fuͤr ſich daſtehen kann. Unzweifelhaft leiden wir Deutſchen blos am Mittelalter — daher un¬ ſere Pfaffen, daher unſere Hoͤfe, daher unſere Ritter, daher unſere lateiniſchen Juriſten, medici ‚ theologi, Promotionen und Diſſertationen und das ganze Spießbuͤrgerthum unſerer politiſchen und ge¬ lehrten Welt, woruͤber unſere Nachbarn und wir ſelbſt im guten Humor uns ſo oft luſtig machen. Allein, beweiſt nicht eben dieſe Zaͤhigkeit und Un¬ zerſtoͤrbarkeit der mittelaltrigen Formen, die ein ganz anderer Geiſt beſeelte, fuͤr die ungeheure auf¬ bauende Kraft jener Zeiten?
Das iſt aber klar, ſagt Moriz Arndt, daß, wenn man dieſe Zeit aus ihren Werken und Schoͤ¬ pfungen erklaͤren und erkennen will, man bei ih¬ nen nicht ſtehen bleiben darf. Ein tapferer und hoͤherer Lebensgrund, in der fruͤhſten Zeit gewor¬ fen, eine uralte, geiſtreiche und ſeelenvolle Reli¬ gion, die aus Aſien in die Waͤlder Germaniens eingewandert war, die innigſte und tiefſte Welt¬ anſchauung und Weltdurchdringung, die ſich in tauſend Zeichen und Bildern in der fruͤheſten22 Sprache wiederſpiegelt, einer Sprache, welche die Geiſter des Lichts erfunden haben — alles dieſes muß man glauben, wenn man begreifen will, wie ein Volk, das ſie im neunten Jahrhundert noch Barbaren nannten, im zwoͤlften und drei¬ zehnten Jahrhundert ſchon ſo herrlich ſchaffen und bilden konnte. Woher iſt alles das Namenloſe und Unendliche, was jene fruͤhſte Zeit geboren hat? Aus welcher Bruſt klang zuerſt das Nibe¬ lungenlied und ſo viele ſuͤße Volksgeſaͤnge? Wer hat die Dome in Mailand, Ulm, Koͤln, Wien, Straßburg und Piſa gebaut? Woher entſpran¬ gen die unendlichen Bilder, gleichſam aller Welt¬ kraͤfte Spiegel, die in tauſend Geſtalten uns wie Traͤume und Daͤmmerungen aus einer lange ver¬ gangenen oder wie Andeutungen und Weiſſagun¬ gen einer zukuͤnftigen Zeit zu umflattern ſcheinen? Wahrlich, dieſe Werke und Bilder ſind Beides, denn dieſe freudigen Menſchen lebten mitten in Gott und er ſelbſt ſchuf aus ihnen.
In der That, wenn es nach des ſchoͤnen Griechenlands Entartung eine Epoche in der Welt¬ geſchichte gab, welche ſich durch ihr reges Walten und Wirken und durch ihren Sinn fuͤr Kunſt und Schoͤnheit die Auszeichnung erwarb, nicht mit Griechenland verglichen, ſondern Griechenland an23 die Seite geſtellt zu werden, ſo iſt dieſes die Epoche des deutſchen Mittelalters.
Von ſonſtiger Vergleichung zwiſchen beiden kann allerdings nicht die Rede ſein, jede iſt zu eigenthuͤmlich ausgepraͤgt und kann daher nur aus ſich ſelbſt begriffen und mit ſich ſelbſt verglichen werden. Man hat die Kunſt und Poeſie des Mittelalters mit dem Namen der romantiſchen, die Kunſt und Poeſie der Alten mit dem Namen der klaſ¬ ſiſchen getauft, welcher Name und Gegenſatz von einer deutſchen Dichterſchule, Tieck und den bei¬ den Schlegeln, die man ſelbſt zur neuromantiſchen Klaſſe zaͤhlte, ausging, in Deutſchland viel Streit und Gerede machte und ſeit einem Dezennium auch in Frankreich und Italien die groͤßten Spal¬ tungen erregte, indem die jungen franzoͤſiſchen und italieniſchen Dichter ſich zu den deutſchen Roman¬ tikern ſchlugen, und im Gegenſatze zu den Nach¬ ahmern des altklaſſiſchen Stils ſich mehr der brit¬ tiſchen und deutſchen Phantaſiefuͤlle und Regello¬ ſigkeit hingaben, worin ſie hauptſaͤchlich das We¬ ſen der Romantik erblickten. Ueberhaupt hat man viel Mißbrauch mit beiderlei Namen getrieben, und man iſt ſich noch jetzt, weder in Deutſchland, noch bei unſern Nachbarn ſelten klar, worin denn eigentlich das unterſchiedliche Weſen der einen und24 der andern Art beſtehe. Vielleicht druͤckt man ſich daruͤber am Richtigſten aus, wenn man ſagt, die Kunſt der Alten, das iſt, die Klaſſik, habe darin beſtanden, daß ſie jede Idee, die ſie darſtellen wollten, ſei's mit dem Meißel, am Stoff des Marmors, ſei's mit dem Griffel, am Stoff der Sprache, daß ſie jede darzuſtellende Idee, ſo voll¬ kommen an dieſem Stoffe ausdruͤckten, daß nichts mehr und nichts weniger, als eben die Idee ſelbſt ſinnlich vor Augen trat; dagegen die Kunſt der Romantiker darin beſtand und beſteht, daß ſie die Idee im ſinnlichen Stoff keineswegs vollkommen erſchoͤpften, ſondern nur ſymboliſch an ihm dar¬ ſtellten, ſo daß man bei ihren Gebilden immer etwas mehr hinzuzudenken habe, als man vor Au¬ gen ſaͤhe. Die Urſache war denn die, daß die alten griechiſchen Kuͤnſtler, nach ihren Begriffen von ſinnlicher Form und Schoͤnheit, alle diejeni¬ gen Ideen zur Darſtellung verſchmaͤhten und von ſich wieſen, welche ſie nicht in feſte Form voll¬ kommen einfaſſen konnten, die Kuͤnſtler und Dich¬ ter des Mittelalters aber ſich kein Bedenken dar¬ aus machten, das Hoͤchſte und Tiefſte, was nur die Menſchenbruſt faſſen, aber kaum ein ſterblicher Mund ausſprechen konnte, ſymboliſch in Formen und Geſtalten wenigſtens anzudeuten. Daß uns25 eine ſolche Kunſt der Bedeutſamkeit, eine ſolche Symbolik der Religion und der Liebe aus den Denkmaͤlern des Mittelalters uͤberall anweht, uns bald heimlich, bald großartig, bald abentheuerlich ergreift und etwas Unendliches, Ahnungvolles, Sehnſuͤchtiges in uns anregt, wird Jeder geſte¬ hen, dem das Mittelalter bekannter geworden iſt, wie aus Buͤchern der neuern Zeit uͤber daſſelbe.
Sollte es nun dieſe romantiſche Art der Schoͤnheit ſein, die uns als Muſter, als natio¬ nelles Element vorſchweben muß, wenn wir uns aus dieſer Zeit nach einer ſchoͤneren umſehen?
Ehe ich mir dieſe Frage zu beantworten ge¬ traue, werfe ich einen kritiſchen Blick auf gewiſſe Erſcheinungen des Mittelalters, die als die glaͤn¬ zendſten von den romantiſchen Dichtern geprieſen worden ſind; bewaͤhren ſich dieſe als echt, als fuͤr alle Zeiten echt, ſind ſie nicht allein dem Schooß einer gewiſſen Bildungsſtufe, ſondern dem ewigen Schooße der Natur ſelbſt entſprungen, ſo wuͤrden ſie fuͤr die romantiſche Schoͤnheit, mit welcher ſie in ſehr genauer Verbindung ſtehen, in unſern Augen ein ſehr guͤnſtiges Vorurtheil erwecken. Ich meine hier insbeſondere die Andacht, die Ritter¬ ehre und die Frauenliebe des Mittelalters, drei2 **26der ſchoͤnſten Strahlen aus dem Leben dieſer wun¬ derbaren Zeit.
War, frage ich mit Herder, war jene An¬ dacht des Mittelalters, ich ſpreche nur von der reinen und uneigennuͤtzigen, von der hohen, myſti¬ ſchen Andacht und nicht von der pfaͤffiſchen mit ihrem Klingklang und ihrer Selbſtſucht, jene An¬ dacht, welche die ungeheuren Dome baute, welche ſich unermeßlichen und[unnennbaren] Gefuͤhlen hin¬ gab, war ſie rein menſchlich, oder lag nicht etwas Uebertriebenes, Ungeſtaltetes und Falſches darin? Ich glaube, ja. Das Unermeßliche, ſagt Herder, hat kein Maß, das Unendliche keinen Ausdruck. Je laͤnger man an dieſen Tiefen ſchwindelt, deſto mehr verwirret ſich die Zunge, Du ſagſt nichts, wenn Du vorhatteſt, etwas Unausſprechliches zu ſagen.
Und jene Frauenliebe, jene Galanterie der Liebe, war ſie nicht ein falſcher Geſchmack, war es die Sprache des Herzens, der rein menſchliche Erguß des Gefuͤhls und natuͤrlicher Neigungen, welche in dieſen Bildern, Schwuͤren, Worten, Witzen und Wendungen der mittelaltrigen Ge¬ dichte (das Nibelungenlied iſt uͤberall auszunehmen) ſpielt. — Ich denke ja, und daſſelbe denke ich von der uͤbertriebenen Ritterwuͤrde. Alles Geklirr,27 ſagt derſelbe Herder, alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verſtand, Zweck, Ebenmaß, wo Humanitaͤt fehlt, kein Klang einer himmli¬ ſchen Muſe werden. — Daß die Raubritter des ſpaͤtern Mittelalters zu dieſem Gemaͤlde nicht ein¬ mal geſeſſen haben, ſehen Sie von ſelbſt.
28Indem ich dem deutſchen Leben von geſtern und heute denjenigen Charakter abſprach, der uͤberhaupt nur faͤhig waͤre, ſich zur Schoͤnheit zu ſteigern und zu verklaͤren, wies ich zugleich die Beſchuldi¬ gung von mir, als ob ich unſerer Nation uͤberall Charakterbefaͤhigung und daher Schoͤnheitsbefaͤhi¬ gung abzuſprechen gedaͤchte. Ich hielt Ihnen den Spiegel des deutſchen Mittelalters vor, Sie ſahen den nationalen Quell des deutſchen Lebens eroͤff¬ net, in jugendlicher Freiheit dahin ſtroͤmend, ge¬ waltige und zugleich ſchoͤne Unternehmungen, ſtarke und zugleich kunſtreich gebildete Menſchen, Kuͤnſte die der Reichthum ernaͤhrt, kunſtreiche Kirchen und oͤffentliche Gebaͤude, Ernſt im Schaffen, Luſt im Spiel, Kriegsuͤbungen, weibliche Ritter, tapfere29 Buͤrger, welche das Schwert zu fuͤhren verſtan¬ den, keuſche Weiber, die in Anmuth, Zucht und Unſchuld aufbluͤhten und daher nach Allem auch eine Poeſie, welche der Wiederſchein dieſes Lebens war und in der ſich alle Strahlen ſammelten, die romantiſche Poeſie des Mittelalters.
Mußte nun dies Spiegelbild viel Anziehendes fuͤr unſere Phantaſie haben, die in der Gegen¬ wart aus Mangel an Nahrung zu verſchmachten droht, ja lag uns die Frage nahe, ob es nicht eben dieſe romantiſche Schoͤnheit des Mittelalters ſei, deſſen Wiederbelebung der Zeit und dem deut¬ ſchen Volke Noth thue, ſo ließen wir uns doch nicht darauf ein, dieſe Frage eher zu beantworten, als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet waͤre, naͤmlich die: traͤgt die romantiſche Schoͤn¬ heit des Mittelalters auch in der That den Stem¬ pel der ſchoͤnen Humanitaͤt an ſich, der uns als Ideal vorſchwebt, war ſie lautre Natur, frei von Kuͤnſtelei und Ueberſpannung, war ſie dem deut¬ ſchen Geiſte ſo eigenthuͤmlich, daß keine ſpaͤtere Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne ſich in dieſe Form zu ſchmiegen, muß die neue ſchoͤnere Zeit, die heranzieht, die als Samenkorn in tauſend und aber tauſend deutſchen Herzen verſchloſſen liegt, um an irgend einem Fruͤhlingsmorgen neuerwacht ins Leben zu bluͤhen, muß ſie haben Barone, Ritter,30 Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienſt, Minnegeſang und alle jene Denk - und Lebensfor¬ men, wodurch ſich das Mittelalter auszeichnete. Und da glaubten wir mit Nein antworten zu muͤſſen, und ich denke, Alles was jung iſt in Deutſchland, ſteht auf unſerer Seite und lebt der frohen Hoffnung, daß auch ohne Verjuͤngung mit¬ telaltriger Formen eine Wiedergebaͤrung der Na¬ tion, eine poetiſche Umgeſtaltung des Lebens, eine Ergießung des heiligen Geiſtes, eine freie, natuͤr¬ liche, zwangloſe Entfaltung alles Goͤttlichen und Menſchlichen in uns moͤglich ſei.
Das Mittelalter hat ſich uͤberlebt, ſein Geiſt iſt ein Schatten der Geſchichte, der auf verwit¬ terten Ruinen einherwandelt. Poeſie mag ihn beſchwoͤren, mag ihn in romantiſchem Mondlicht unſerm Auge voruͤberfuͤhren, der helle Tag ſieht und kennt ihn nicht mehr. Schon zur Zeit der Reformation gehoͤrte er zu den Abgeſchiedenen, die Erfindung des Pulvers, der erſte Kanonenſchuß, die Entdeckung der griechiſchen und lateiniſchen Klaſſiker, die Entdeckung von Amerika hatten ihn in Europa, und hauptſaͤchlich in Deutſchland all¬ maͤhlig geſchwaͤcht und vernichtet, als Luther auf¬ trat und durch den Erfolg ſeiner kuͤhnen Worte und Unternehmungen darthat, daß ſeine aͤlteſte31 Burg und ſein feſteſtes Prachtgebaͤude, die Kirche, nur ſein eignes Mauſoleum ſei.
Meine Herren, man hat es unſerm Luther verdacht und ich kann große Maͤnner dafuͤr an¬ fuͤhren, daß er beim Werk der Reformation ſo wenig auf der einmal gegebenen hiſtoriſchen Baſis fortbaute, daß er der Kirche, welche er ſtiftete, ſo wenig aus der Nachlaſſenſchaft der alten zertruͤm¬ merten aneignete, daß er das ehrwuͤrdige Erbe der Vaͤter zu unbedenklich Preis gegeben, die Tradi¬ tion verworfen, die Zeremonien und Aeußerlichkei¬ ten verachtet habe; allein dieſer Vorwurf beruht auf Mißverſtaͤndniß ſowohl der Reformation, als uͤberhaupt der geſchichtlichen Fortbildung der Menſch¬ heit, wie ſie uns eben in der Geſchichte ſelbſt zu Tage liegt, wenn wir unſere Augen nicht durch willkuͤhrliche Vorurtheile blenden. Die Reforma¬ toren waren begreiflicher Weiſe keine Anhaͤnger der hiſtoriſchen Schule, welche gerade in unſerer Zeit ſo viele Haͤupter und Verfechter findet und deren Prinzip der allmaͤhligen, ſchrittweiſen Entwicklung des Poſitiven, des Staats, des Rechts u. ſ. w. zu kleinlichen und engherzigen Anſichten und Irr¬ thuͤmern Veranlaſſung gibt. Haͤtte Luther das traditionelle Prinzip zugegeben, ſo haͤtte er es nicht wagen duͤrfen, auch nur einen Stein an32 Sankt Peter zu ruͤhren, dazu hatte das Gebaͤude der alten Kirche viel zu viel Konſequenz, als daß ein Einzelner haͤtte mit Einzelnem willkuͤhrlich ſchalten und walten duͤrfen. Luther, der ſchwach anfing, ward durch innere Nothwendigkeit auf ſei¬ nem Wege immer weiter fortgetrieben und ſah ſich am Ziel ſeiner Laufbahn durch eine unuͤber¬ ſteigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters getrennt, nicht etwa, als haͤtte er ein poſitiv Le¬ bendiges dem poſitiv Todten gegenuͤber geſtellt — denn was Luther aus der Bibel und der fruͤhſten chriſtlichen Zeit dogmatiſch Poſitives zum Behuf ſeiner Kirche aufzuſtellen ſich veranlaßt fand, war in ihm ſelbſt allerdings mit gewaltſamen und gro߬ artigen Zuͤgen ausgepraͤgt, zeigte ſich aber bald in verſteinertem Zuſtande der Orthodoxie und ohne jugendliche Zeugungskraft — ſondern weil er ge¬ gen die Unvernunft und gegen die Hiſtorie prote¬ ſtirte und Papſt, Religion und Kirche ſeinen lu¬ theriſchen Kopf entgegenſetzte, der denn auch ſo feſt, eiſern war, daß er unbeſchadet an ihrem Fels anrennen konnte.
Dies Proteſtiren gegen die Hiſtorie, meine Herren, das iſt die große Erbſchaft, die Luther uns uͤbermacht hat und wollte Gott, ſeine Kraft und ſein Geiſt ſenkte ſich auf uns nieder und wir waͤren im Stande, das begonnene Werk der Re¬33 formation nach allen Seiten hin wuͤrdig zu vollen¬ den. So wie aber die Reformation einſeitig ſte¬ hen geblieben iſt, ſo wie dieſelbe ſich in aller Haſt vermaͤhlt hat mit der Einſeitigkeit des Ver¬ ſtandes, mit der Proſa des Lebens, haͤngt die ſchoͤne Frucht leider ſaftlos und traurig am duͤrren Aſt und ſehnt ſich abzufallen und einer neuen Bluͤthe Platz zu machen. Wehmuth ergreift mich, ſehe ich den Lorbeerbaum von tauſend Wucher¬ pflanzen umſchnuͤrt, ſeiner beſten Saͤfte und Kraͤfte durch Schmarotzer beraubt, froͤſtelnd in kalter Luft, abſterbend in fremdem Boden, ohne einen Fu߬ breit vaterlaͤndiſche Erde, im Treibhaus der Un¬ natur, ſtatt frei und offen dazuſtehen in Gottes ſchoͤner Welt, ſeine Wurzel befruchtet durch die uralten Quellen der Poeſie, ſeine Blaͤtter dem Saͤuſeln der Liebe und dem Sturm der Leiden¬ ſchaften Preis gegeben, ſeine Krone dem Himmel, dem Frieden, der Sehnſucht und den Segnungen der himmliſchen Sonne, Religion.
Wie ſich aber unſer nationales Leben in Zu¬ kunft geſtalten und entfalten wird, ſo viel ſcheint gewiß zu ſein, daß die Hoffnung der Zukunft einerſeits beruhe auf der Jugend, andererſeits auf der Wahl deſſelben Weges, auf dem Luther den erſten Rieſenſchritt machte und auf dem ihm die Pygmaͤen der Folgezeit in Stich gelaſſen haben. Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 334Ich meine auf dem Wege des Proteſtirens, des Proteſtirens gegen alle Unnatur und Willkuͤhr, gegen den Druck des freien Menſchengeiſtes, gegen todtes und hohles Formelweſen, Proteſtiren wider die Ertoͤdtung des jugendlichen Geiſtes auf unſern Schulen, wider das handwerksmaͤßige Treiben der Wiſſenſchaften auf unſern Univerſitaͤten, Proteſti¬ ren wider den Beamtenſchlendrian im Leben, wi¬ der die Duldung des Schlechten, weil es her¬ koͤmmlich und hiſtoriſch begruͤndet, wider die Reſte der Feudalitaͤt, wider die ganze feudal-hiſtoriſche Schule, die uns bei lebendigem Leibe ans Kreuz der Geſchichte nageln will, und vor allen Dingen Proteſtiren gegen den Geiſt der Luͤge, der tauſend Zungen ſpricht und ſich mit tauſend Redensarten und Wendungen eingeſchlichen hat in alle unſere menſchlichen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe.
Es iſt eben zu dieſer Zeit, wo der Geiſt aus veralteten Formen gaͤnzlich herausgewichen iſt, die Hiſtorie ſelber zur Luͤge geworden und die Be¬ hauptung, es muͤſſe ſich das Neue aus dem Al¬ ten, das todt und abgethan iſt, allmaͤhlig fortent¬ wickeln, iſt eben die abgeſchmackteſte Luͤge, womit der Anbruch des Neuen zuruͤckgehalten werden ſoll. Es iſt wahr, es liegt im Gange der Menſchheit, ſich in der Dauer gewiſſer Epochen am Poſitiven weiterzubilden; allein nicht weniger wahr iſt es,35 daß mit dem Schluſſe dieſer Epochen die geiſtige Entwicklung voͤllig aufhoͤrt — das Poſitive ver¬ fault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Bruſt der Menſchheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu bluͤhen, zu wachſen, zu welken und zu vergehen. Betrachte ich die geiſtige und leibliche Lebendigkeit jugendlicher Voͤlker, z. B. einſt der Griechen und unſers eigenen Volks und vergleiche dieſe mit den europaͤiſchen der Gegen¬ wart, ſo ſehne ich mich unter jenen geſchichtloſen Menſchen zu leben, die nichts hinter ſich ſehen, als ihre eigenen Fußſtapfen und nichts vor ſich als Raum, freien Spielraum fuͤr ihre Kraft. Die Menſchheit, ſagen freilich die feudalen Hiſto¬ riker, iſt nicht ſo uͤbel daran, immerfort bildet und beſeelt ſie das Alte, den Theil, der ſich nicht laͤnger bilden und beſeelen laͤßt, ſtreift ſie von ſich ab und ſie hat daher aus ihrem Wege nichts wei¬ ter zu tragen, als ſich ſelbſt. — Was nicht iſt, bemerken Andere, ſollte wenigſtens ſo ſein: ſucceſ¬ ſive Fortentwicklung iſt das Geſetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu re¬ vidiren, durch Stehenlaſſen und Ausmerzen Heute und Geſtern mit einander zu verſoͤhnen. Aber, frage ich, wer ſchreibt denn die Geſetze des Le¬ bens, Ihr oder die Geſchichte. Seht Ihr nicht,3 *36daß den fortlaufenden Generationen ſich von ſelbſt und trotz aller Gegenmuͤhe ſpaniſche Stiefel an die Fuͤße haͤngen, daß die Ausduͤnſtungen des Le¬ bens ſich nach und nach am Buſen der Voͤlker verſteinern, ſich als Kruſten um ihre Bruſt ſetzen und ihnen das Athemholen ſchwer machen, daß es fuͤr die Voͤlker keine Wohlthat, ſondern Plage iſt, Tauſende von Jahren hinter ſich her am Schlepptau zu ziehen? Alle Urſagen der Voͤlker beſtaͤtigen uns, daß ſelbſt die fruͤheſte, ſchoͤpfungs¬ junge Menſchheit ſich bald, ſehr bald ausgelebt und gleichſam abgenutzt habe; bildet es doch ein Hauptſtuͤck in den hebraͤiſchen, indiſchen, griechi¬ ſchen Sagen, daß Suͤndfluthen das fruͤh gealterte, ſeiner eigenen Geſchichte verfallene Geſchlecht der Menſchen wegraffen und vom Erdboden vertilgen? Muß nicht eine neue Jugend die Erde bevoͤlkern, wenn die Elohim, die Goͤtter den Anblick der er¬ baͤrmlichen, ſuͤndigen und ausgearteten Soͤhne des Staubes nicht laͤnger ertragen koͤnnen? Und in der Geſchichte — man werfe nur einen Blick auf die Roͤmer und Griechen zur Zeit des Heilandes: Was hatte die fruͤhere Goͤtter - und Heroenwelt, die Zeit der Ariſtide und der Katonen ihnen zum Erbtheil uͤberlaſſen? Ihren Leichengeruch. Und dieſes weltverjuͤngende Chriſtenthum, das nicht neuen Moſt in alte Schlaͤuche fuͤllte, dieſes Chri¬37 ſtenthum in den Tagen vor Luther? Ausgearteter, als das Judenthum je geweſen. Statt Kinder Gottes, wie die Chriſten ſein ſollten, nicht ein¬ mal Knechte Gottes, was die Juden waren, Knechte des Papſtes, der Pfaffen, der Tradition, der Geſchichte, die ihren Abfall und Kehricht den Menſchen thurmhoch auf die Seele geſchichtet hatte. Die Anwendung auf unſere Zeit uͤberlaſſe ich Ihnen ſelbſt. Wir ſind krank an unſerer Hi¬ ſtorie und wir werden vielleicht daruͤber hinſterben, ehe wir uns den Muth faſſen, den unheilbaren Sitz unſerer Krankheit einzuſehen, und uns dem wunderbaren Genius anvertrauen, der verjuͤngend durch die Welt ſchreitet. Jedoch ſteht dem Truͤb¬ ſinnigen, das in dieſer Anſicht fuͤr uns liegt, der Spruch der Hoffnung gegenuͤber, daß ein Augen¬ blick Alles umgeſtalten kann, ſo im Schickſal des Einzelnen, als im Schickſal der Voͤlker und Na¬ tionen. Was aber der Jugend, als dem Element im Staat, das die neue Geſchichte bildet, jeden¬ falls obliegt, iſt der feſte Vorſatz, nach Kraͤften den bezeichneten Weg einzuſchlagen, iſt der feſte Wille, ſich immer entſchiedener von der Luͤge los¬ zuſagen, immer deutlicher ſich des Gegenſatzes zwiſchen dem Alten und Neuen bewußt zu werden, jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fah¬ ren zu laſſen und die Kunſt zu ergreifen, das38 Unſchoͤne in Wort und That an ſich und Andern nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen Geiſtes nicht zu ſchließen und, weder gedankenlos und leichtfertig dahinlebend, noch ſchwermuͤthig bruͤtend, die Bluͤthen des Lebens und der Wiſſen¬ ſchaft mit jugendlicher Unſchuld und Heiterkeit zu pfluͤcken.
Es muß anders werden, das ſollte das Ge¬ fuͤhl ſein, das ſich Aller bemaͤchtigte, wir ſelbſt ſind dazu berufen, das ſtarke Echo dieſes Gefuͤhls. Wie viel duͤrre Blaͤtter wir dazu aus dem Kranze unſeres Lebens herausreißen muͤſſen, wie viel Un¬ ſchoͤnes wir von uns abthun, wie viel gemeine Proſa wir fuͤr ewig in den Schlamm und Schlick der abgeſtandenen Zeit verſenken muͤſſen, welche neue Anſichten der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der Poeſie, der Religion, des Staats, des Lebens wir faſſen und zum Eigenthum unſeres Herzens machen muͤſſen, dies Alles muß uns oft und leb¬ haft beſchaͤftigen und das Befreundete muß ſich verbinden mit dem Befreundeten, um ſich gegen¬ ſeitig auszutauſchen und zu befeſtigen.
Jetzt, darauf komme ich zuruͤck, jetzt liegt Alles noch, Anſicht, Gefuͤhl, und gar das Leben und Treiben gar zu ſehr in roher Unbildung, in Verwirrung, Uneinigkeit und Zwiſt, und es haͤlt ſchwer, wenn nicht unmoͤglich, fuͤr den Einzelnen,39 ſich leicht und rein hinzuſtellen und ſich aus dem truͤben unaͤſthetiſchen Fahrwaſſer gemeiner Anſich¬ ten immer gluͤcklich herauszuziehen. Schon habe ich mit wenig Worten unſerer Schulen, Akademien und Brodſtudien als ſolcher Erwaͤhnung gethan, die im ſchneidendſten Kontraſte ſtaͤnden mit indi¬ vidueller und volksthuͤmlicher Bildung, der Grund¬ bedingung charakteriſtiſcher Schoͤnheit und ihres Verſtehens und Auffaſſens. Doch unterliegen nicht geringerem Tadel unſere Anſichten und Studien jener allgemeineren Wiſſenſchaften, welche den Schlußſtein unſerer hoͤheren Geiſtesbildung aus¬ machen ſollten und ich will darunter nur die der Philoſophie und der Geſchichte mit Namen auf¬ fuͤhren, vom Studium und der wiſſenſchaftlichen Aneignung der Religion aber gaͤnzlich ſchweigen.
Beginnen wir von der Geſchichte. Welche unleidliche, lebloſe Anſicht machen wir uns uͤber dieſelbe. Ueberall, wo wir zuruͤckgehen auf die fruͤhſten Zeiten eines Volkes, iſt es leicht zu mer¬ ken, wie Poeſie und Hiſtorie ungetrennt von einem Gemuͤth aufbewahrt und von einem begei¬ ſterten Munde verkuͤndet wurde. Beide vereinigen ſich darin, das Leben mit allen ſeinen Aeußerun¬ gen aufzufaſſen und darzuſtellen. Erſt eine ſpaͤ¬ tere gelehrte Anſicht mußte ſie trennen, welche die Hiſtorie auf kritiſche Wahrheit beſchraͤnkt, die epi¬40 ſche Poeſie aber dem Dichter uͤberlaͤßt. Allein die kritiſche Wahrheit, hat an ſich gar keinen Werth, ſondern erhaͤlt ihn nur in Verbindung mit poetiſcher; nicht irgend eine aͤußere Thatſache wol¬ len wir wiſſen, ſondern ihren Zuſammenhang mit dem Leben. Was will man von der Geſchichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche ſie darſtellt, und muß nicht alſo unſere jetzige kri¬ tiſche Hiſtorie wieder, wenn auch auf einem an¬ dern Wege, eins werden mit der Poeſie, mit dem Epos der Voͤlker? Denken Sie an das beſte Ge¬ ſchichtswerk der neuern Zeit, an unſers Niebuhr's roͤmiſche Geſchichte. Iſt nicht eine contradictio in adjecto in dieſem Titel, kann jemals durch ge¬ lehrte Forſchungen etwas, was einmal nicht Ge¬ ſchichte war und iſt, zur Geſchichte erhoben wer¬ den? Laſſen Sie uns doch einen Augenblick be¬ denken, was es heißt: Roms Geſchichte ſoll vor unſern Augen entſtehen, ſich fortſpinnen, mannig¬ fach verknuͤpfen, in immer groͤßern Radien anſchie¬ ßen bis zur Vollendung des aͤußerſten und zur ge¬ waltſamen Durchloͤcherung und Zerfetzung des gan¬ zen Weltſpinnengewebes durch die furchtbaren Stuͤrme des Nordens.
Die erſten Faͤden aller Voͤlkergeſchichten ver¬ laufen ſich in den Morgenhimmel des Mythus, Goͤtter ſpinnen ſie aus ihrem Buſen, ſie fliegen41 wie verklaͤrte Genien in einem loſen, lieblichen Durcheinander und man ſieht es kaum, wo ſie ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der Geſchichte ſetzen. Dichter und Kuͤnſtler ſind dar¬ uͤber leicht zu troͤſten; allein Geſchichtsforſcher und Mythologen wandern verzweifelnd in der poetiſchen Goͤtterdaͤmmerung umher, vielfach geneckt von den raͤthſelhaften verzauberten Geſtalten, die nicht ſel¬ ten mit ſchelmiſcher Ironie ſich grade vor ſie hin¬ ſtellen, ſich geduldig entkleiden, befuͤhlen und be¬ taſten laſſen, und dann auf einmal wie der Wind aus ihren Haͤnden entſchluͤpfen. Doch laͤßt man ſich auf die Laͤnge nicht abſchrecken. Man macht ſich an das Geſchaͤft, die fluͤchtigen Weſen, ſo gut es gehen will, zu klaſſifiziren, die einen nennt man religioͤſe, die andern naturhiſtoriſche, die drit¬ ten voͤlkerhiſtoriſche Mythen, die widerſpenſtigſten Schwaͤrmer laͤßt man laufen, hartnaͤckig widerſtre¬ bende bringt man auf die Folter und von da zum Geſtaͤndniß, oder man bindet ihnen ſo triftige Ar¬ gumente und eine ſo ſchwerfaͤllige Gelehrſamkeit ans Bein, daß ſie ſich ſeufzend und abgemattet in ihr Geſchick begeben.
Sie wiſſen, meine Herren, auch die roͤmiſche Urgeſchichte verlaͤuft ſich in Goͤtter - und Heroen¬ dunkel. Bewunderungswuͤrdig iſt es zu ſehen, mit welchem Muth, welcher Ausdauer, welcher Vor¬42 und Umſicht unſer Niebuhr dies dunkle Gebiet durchirrt hat, mit wie ſcharfen, unverwandten Blicken er die kuͤmmerlichen Spuren verfolgt hat, die vor den Stadtthoren Roms an die Urſitze der italiſchen Volksſtaͤmme leiten, Spuren, die unauf¬ hoͤrlich kreuz und quer von Goͤttertritten und Schweinepfoten, griechiſchen Fluͤchtlingen und ſaͤu¬ genden Woͤlfinnen, Heroen und Banditen verwirrt und verwiſcht werden. Ohne Glauben kommt man ihm nicht nach. Seine Schuͤler ſchlagen ein Kreuz, faſſen ihn getroſt beim Rockzipfel und gehen mit ihm durch Dick und Duͤnn, was freilich am Ende nichts ſchadet, da die Leitung eines ausgezeichne¬ ten Mannes, ſelbſt in die Irre, immer belehrend und fruchtreich iſt. Allein wir fragen nur, iſt das der Weg zur Geſchichte, kann ſelbſt in ſpaͤtern, ſogenannten hellen und hiſtoriſchen Zeiten etwas zur Geſchichte erhoben werden, was nicht im Ur¬ ſprung Geſchichte war? Duͤrfen alterthuͤmliche Forſchungen, waͤren ſie noch ſo geiſtreich und ſcharfſinnig, den großen Namen „ Geſchichte “an der Stirn fuͤhren? Nein, meine Herren, das duͤrfen ſie nicht. Geſchichte iſt nicht das Reſultat gelehrter Forſchungen, ſie ſpringt nackt und ſchoͤn wie Aphrodite aus dem Schaum der Wellen, wie Minerva in unmittelbarer Vollendung aus dem Haupte der kreiſenden Zeit.
43Nehmen Sie an, man koͤnnte es in einer nachtraͤglichen Geſchichte zu einer gewiſſen aͤußerlichen, ich moͤchte ſagen peinlichen, dem Ver¬ hoͤr von hundert durcheinanderſprechenden Zeugen abgewitzigten Wahrheit bringen, was waͤre dieſe? Ein todtes Reſiduum von Kraͤften, die, laͤngſt im großen Weltenraum zerſtoben und verflogen, kein Zauberſpruch zuruͤckbeſchwoͤrt, Muſchel, kal¬ kene Schale auf den Gebirgen, die nur ſchwache, unſichere Spuren ehemaliger Beſeelung erlugen laͤßt. Aber die Seele? die innere Wahrheit?
Wahrheit, ſeliger Reinhold, was iſt Wahr¬ heit? Ich fuͤhle es, was ich geſchichtliche Wahr¬ heit nenne, hat fuͤr mich etwas Unmittelbares und Zuverſichtliches, etwas, was allen kleinlichen Zwei¬ fel niederſchlaͤgt, was meinen Geiſt mit ſuͤßem Verſtaͤndniß in ſeine Kreiſe zieht. Ich hoͤre das Fernſte aus fernen Zeiten und verſtehe es ſonder Muͤhe; ich ſehe die wunderbarſten Geſtalten und Erſcheinungen an mir voruͤberziehen und bin mit ihnen vertraut, wie mit alten Bekannten und kann mir ihre Wirklichkeit nicht anders denken, als wie ſie mir eben erſcheint. Denn ſo kryſtalliſch klar ſteht die That, der geſchichtliche Heldenleib vor meinen Augen da, daß ich die innerſte Seele, die Alles belebt und bewegt, die zarteſten Adern, die feinſten Gefaͤße, den ganzen lebendigen Organis¬44 mus hell und offen vor mir liegen ſehe. Iſt das nun, wie ich's beſſer fuͤhle als ausſprechen kann, hervorſtechender Charakterzug der Geſchichte, ſo ſind mir Homer's goͤttliche Geſaͤnge tauſendmal geſchichtlicher, als die aſſyriſche, aͤgyptiſche, perſi¬ ſche Hiſtorie, ja, Homer's Achilles hat in meinen Augen mehr Fleiſch und Bein, als Cyrus und der große Alexander. Alexander — welche Verkehrheit, von einer Geſchichte Alexanders zu ſprechen. Wiſ¬ ſen wir nicht, daß es der einzige große Schmerz des Welteroberers war, keinen wuͤrdigen Geſchicht¬ ſchreiber, keinen Homer zu beſitzen? Deſſenunge¬ achtet haben wir eine Geſchichte von ihm? Was man unter Gevattern Geſchichte nennt, in der That aber ſo wenig eine, ſo ſehr keine, daß man heutigen Tags nicht weiß, ſoll man ihn einen jun¬ gen Gott oder einen wahnſinnigen Melech nen¬ nen. Wer zeichnet uns das lebendige Alexander¬ geſicht? Plutarch von Chaͤronea, Quintus Cur¬ tius, Schloſſer von Heidelberg, oder die allgemeine Welthiſtorie, ſo in England durch eine Geſellſchaft von Gelehrten u. ſ. w. — o uͤber den armen großen Alexander!
Geſchichtliche Wahrheit iſt lebendige Harmo¬ nie zwiſchen Leib und Seele der Geſchichte, zwi¬ ſchen Gedanke und That. Wie in Toͤnen die45 Seele des Muſikers athmet, ſo athmet die Seele des Helden in der That. Den wahren Geſchicht¬ ſchreiber muß das Spiel der Harmonien in unmit¬ telbarer Gegenwaͤrtigkeit ergreifen, im hiſtoriſchen Konzertſaal, unter den ſchwellenden Toͤnen, den ringenden, jauchzenden Menſchen, da feſſelt er mit unnachahmlichem Zauber das Unſichtbare an das Sichtbare, den Geiſt an die Erſcheinung, den Sinn an die That. Geſchichtliche Wahrheit — mich uͤberfaͤllt ein Grauen, denke ich an den Tod¬ tentanz, den man Geſchichte nennt — geſchicht¬ liche Wahrheit, iſt ſie nicht das Leben, ſelbſt ge¬ lebt und angeſchaut von einem Genius, ſchwebend auf den Fluͤgeln ſeiner Zeit, in ihre Stroͤme ſeine Feder ſenkend, wie ein begeiſterter Apoſtel nieder¬ ſchreibend, was der zur That gewordene, der Fleiſch gewordene Geiſt der Zeiten ihm diktirt? Wer ſchrieb Geſchichte, die ſolches Namens wuͤr¬ dig war? Sind es nicht Maͤnner, die gleich Thukydides, Macchiavelli, Seguͤr, der Zeit im Schooße ſaßen? Geſchichte wird einmal nicht ge¬ ſchrieben, ſie ſchreibt ſich ſelber, ſie waͤhlt einen ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Ver¬ zeichnung ihrer großen Thatengedanken. Wir ha¬ ben keine Geſchichte Roms, Griechenlands, Ita¬ liens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeſchichte im46 gewoͤhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume der Geſchichte, die bluͤhendſte Entfaltung der Voͤlkerkraft, bluͤht und duftet durch alle Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem ſie an¬ gehoͤrt, laͤngſt erſtarrt, abgeſtorben, zerſtreut oder ausgeartet iſt. So haben wir eine Geſchichte der Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Ge¬ ſchichte der Roͤmer waͤhrend der Karthagerkriege, eine Geſchichte der lombardiſchen Staͤdte, als Freiheit ſie begeiſterte, eine Geſchichte Frankreichs unter dem ſiegreichen Kaiſer, eine Geſchichte Deutſchlands — welche die Zukunft geſchehen laſ¬ ſen und dann auch ſchreiben wird. In der Ge¬ ſchichte, hat man geſagt, gibt es großartige Epo¬ poͤen; allein ich kenne keine andere Geſchichte, als die ſich von ſelbſt zur großartigen epiſchen Dich¬ tung geſtaltet, Verherrlichung eines Volkes, das ſich ſelbſt verherrlicht hat. Traum und Phanta¬ ſieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeſchich¬ ten gehoͤren nicht ins goldene Buch des Lebens. So hat Tazitus, der uͤber die unnatuͤrlichen Kraͤm¬ pfe der roͤmiſchen Kaiſer und die fallende Sucht ihrer Unterthanen ſchrieb, nur einen aͤrztlichen Bericht, aber keine Geſchichte geſchrieben. Das Gemaͤlde eines Peſthofes, wo das gelbe Fieber auf hundert verzerrten Geſichtern brennt, iſt kein47 Gemaͤlde, kein Kunſtwerk, — und Geſchichte, ſie iſt Kunſt, Kunſt auf ihrem hoͤchſten Gipfel.
Ich ſchließe, meine Herren. Moͤchte Ihnen dieſe Diatribe uͤber den wahren, aͤſthetiſchen Be¬ griff der Geſchichte, uͤber ein ſo wichtiges Stu¬ dium die Augen oͤffnen.
48Gegen den Unfug Hiſtorie, gegen die ſchlechten Gewohnheiten, die das Leben umſtricken, gegen die gemeinen Anſichten, gegen das unfreie und knechtiſche Formelweſen, das nur den blinden Ge¬ horſam und das todte Gedaͤchtniß in Anſpruch nimmt, gegen Alles, was die Aeußerungen der ſchoͤnen und wahren Natur im Keim erſtickt, kuͤhn und offen zu proteſtiren, das ſei die Aufgabe der edleren Jugend, war der Inhalt und die Auf¬ forderung meiner letzten Vorleſung.
Um Ihnen aber dieſe Aufgabe recht nahe zu legen und Sie auf den ganzen Umfang derſelben aufmerkſam zu machen, fuͤhrte ich Sie zum Schluß in die Hallen zweier Wiſſenſchaften, welche ſich humaniora nennen und durch dieſes epitheton or¬49 nans ſchon in der Benennung ſich uͤber jene Stu¬ dien erheben, welche das Poſitive der drei Fakul¬ taͤten umfaſſen und denen der Name: Brodſtudien, leider nur mit zu vollem Rechte zukommt. War¬ nen und verwahren wollte ich bei ſo paſſender Ge¬ legenheit vor dem Irrthum, als bringe das Stu¬ dium der Geſchichte und Philoſophie, wie es an¬ noch damit gehalten wird von den Studierenden, in jenen hoͤhern Kreis der Humanitaͤt, und als ſei daſſelbe in der That etwas Beſſeres und Edle¬ res, als z. B. das Studium des Rechts oder der Medizin oder der Diplomatik oder der Genealogie und Wappenkunde, welche letztere, wie Hegel ſpoͤttiſch ſagt, die poſitiveſte aller Wiſſenſchaften iſt. Von dem Ungeſchichtlichen, das iſt Unepiſchen unſerer Geſchichte habe ich dies ausfuͤhrlicher und aus dem Begriff der Geſchichte ſelbſt zu erweiſen geſucht und ich zweifle nicht daran, daß manches Wort aufgehen wird, als Samenkorn, das die ſchoͤnere Idee und Anſicht zur Reife bringt; bin ich mir doch ſelbſt bewußt, daß mir von der Zeit an, als mir die Ahnung der Geſchichte aufging, das ganze Leben klarer geworden iſt und ich fuͤr das Theoretiſche und Praktiſche, fuͤr das Wahre und Schoͤne, das ſich gemeiniglich polariſch gegen¬ uͤber zu ſtehen pflegt, einen Mittelpunkt gefunden habe, in dem ſich beide geſchwiſterlich vereinigen. 450Es bleibt mir noch, Sie auf das Studium der Philoſophie aufmerkſam zu machen, und auch in dieſer Hinſicht der lebendigeren Anſicht, der mit der Schoͤnheit verwandteren die Thuͤr zu oͤffnen, wogegen die unaͤſthetiſche Anſicht breitſtaͤmmig ſich anlehnt. Ich habe aber abſichtlich die Philoſophie hinter der Geſchichte genannt, um von ihr einen Uebergang zu machen zu der Philoſophie jener Kunſt oder Wiſſenſchaft, welche der beabſichtigte Inhalt dieſer Vorleſungen iſt.
In welcher Abſicht ſtudirt man auf Univer¬ ſitaͤten die Philoſophie? In der Regel aus kei¬ ner, oder um des Examens wegen. Aus keiner; denn welche Abſicht ſoll einen zur Erlernung einer Wiſſenſchaft hintreiben, deren Weſen und Zweck ſo unbekannt ſind, wie die Philoſophie den Mei¬ ſten, die von der Schule auf die Univerſitaͤt zie¬ hen. Auch hier findet ſich das klaͤgliche Mißver¬ haͤltniß zwiſchen den hoͤhern und niedern Bildungs¬ anſtalten, das uͤberall durchbricht und nach allen Seiten eine Scheidewand zwiſchen den beiden gro¬ ßen Schritten zieht, welche der ſtudirende Juͤng¬ ling zu machen gezwungen iſt, dem Schritt der Schulbildung und dem Schritt der akademiſchen Bildung. In der That ſind die beiden Prinzi¬ pien, worauf hier die Schule, dort die Akademie gegruͤndet ſind, durchaus von einander verſchiedene51 und bewegen ſich in entgegengeſetzten Elemen¬ ten. Die Schulbildung leitet in die alte klaſſiſche Welt, oder wenigſtens macht Anſtalten, beſtrebt ſich, gibt ſich das Anſehen, dieſes zu thun. Die Univerſitaͤtsbildung dagegen bereitet vor zum prak¬ tiſchen Leben, zum Staatsdienſt, zur Ausfuͤllung derjenigen Aemter, welche herkoͤmmlich in dieſe große hoͤlzerne Maſchine eingreifen, welche wir unſer oͤffentliches Leben nennen. Ich wuͤßte aber nicht, welche beide Richtungen ſich kontraſtirender nach ganz verſchiedenen Regionen verlaufen, als die Richtung auf das Leben der Alten und auf unſer Le¬ ben, ſie beruͤhren ſich wirklich eben ſo nahe, als der Nordpol und der Suͤdpol am Himmel, als Hemmung und Freiheit, Kunſt und Unkunſt, Poe¬ ſie und Proſa, Geiſt und Geſchmackloſigkeit, freier Marktplatz und enge Stube, bewußter Genuß und dumpfe Vegetation, Maͤnnerwuͤrde und ergebenſte Diener u. ſ. w. Doch wird es gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weiſe mit dem Studium des freien Alterthums auf unſern Schulen, nicht ſo gruͤnd¬ lich ernſthaft gemeint, als ſollte denn nun auch im Gemuͤth der Jugend aufgehen der Strahl, der jene untergegangene Welt verklaͤrte, als ſollte es in Liebe entflammen fuͤr den großen Sinn und die Großthaten einer Heldenwelt, als ſollte es ſich mit der ahnungsvollen friſchen Begeiſterung jener4 *52gluͤcklichen Jahre, die wir in den hoͤheren Klaſſen der gelehrten Schule zubringen, den erzgegoſſenen Pforten des Heiligthums naͤhern, ſich unter die Schatten jener froͤhlichen Menſchheit mengen, die ihn bevoͤlkern, und aus ihren Geſichtern, Bewe¬ gungen, Reden und Geſaͤngen den ſchoͤnen Geiſt ſtudiren, der uͤber Allem thront und ſchimmert — ſo iſt es denn nicht ſo recht eigentlich gemeint, obgleich uns gelegentlich und in Schulreden und Schulprogrammen viel Schoͤnes und Ruͤhrendes vom bildenden Studium der alten Klaſſiker vor, geſprochen wird und wir ſelbſt auch ſelten verfeh¬ len, beim Abgang in lateiniſchen oder deutſchen, gereimten oder ungereimten Abſchiedsworten, die hohe Wichtigkeit der Freundſchaft und der Vater¬ lantsliebe u. dergl. nach Muſtern des Alterthums darzuſtellen und dieſem mit dem beſten Kranze unſerer erſten jugendlichen Beredtſamkeit, mit den erleſenſten Floskeln aus Zizero das Haupt ſchmuͤ¬ cken. Allein ich frage Sie ſelbſt und die Mehr¬ zahl deutſcher Studirender, ob dieſe feſtliche Be¬ geiſterung, die ich ſo eben erwaͤhnte, der natuͤr¬ liche, aufrichtige und ungekuͤnſtelte Erfolg und Er¬ guß iſt aus den Studien, die wir in der Klaſſe getrieben, oder nicht vielmehr ein hergebrachter Ak¬ tus, bei dem wir entweder nichts fuͤhlen und den¬ ken, oder, im beſſeren Fall, bei dem wir mit53 Phantaſie und einigem Gefuͤhl gleichſam wehmuͤ¬ thig das ausſprechen, was uns das Alterthum haͤtte ſein ſollen und werden koͤnnen in der bluͤ¬ henden Zeit, als wir in Prima ſaßen, und uͤber der Schale nicht zum Kern gelangen konnten. Zerſtreut ſind wir worden und ermuͤdet vor der Zeit, ein nacktes, duͤrftiges Wiſſen von Vokabeln und Regeln, von Stellen und Gebraͤuchen haben wir in die Faͤcher unſeres Gedaͤchtniſſes eingeſam¬ melt, roh und ungebildet oder froſtig gelehrt und altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬ vor, und nicht duͤrfen uns beneiden jene Geſpielen unſerer erſten Jahre, welche nicht, wie wir, zur Fahne der Gelehrſamkeit ſchworen, ſondern mit duͤrftigem Wiſſen, aber deſto derberem und froͤh¬ licherem Lebensgefuͤhl ſich dem Landbau oder an¬ dern buͤrgerlichen Geſchaͤften widmeten. Sie ha¬ ben ſich noch ſelbſt behalten, ſie ſind ſich noch der Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird nicht hin und her geworfen durch widerſprechende Gefuͤhle und Anſichten, ſie lieben die nahe Ge¬ genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, ſie ruhen von ihrem Geſchaͤft, ſpannen ſich an und ab nach dem aͤlteſten Geſetze der Natur, das im behagli¬ chen Wechſel zwiſchen Thaͤtigkeit und Ruhe be¬ ſteht, und wenn ihr Geiſt auch nicht fuͤr den Ge¬ nuß hoͤherer Freuden ausgebildet iſt, ſo ſchwebt er54 auch nicht, wie Tantalus, durſtig an der verbote¬ nen Quelle, ohne einen Tropfen der Labung er¬ haſchen zu koͤnnen, ſo iſt er auch nicht verbildet, halbgebildet, unfruchtbar gebildet und durch die verſchiedenen Elemente ſeiner Bildung mit ſich ſelbſt in Kampf und Streit gerathen, was Alles, wie wir ſelbſt am Beſten wiſſen, unſerer jetzigen gelehrten Schulbildung ſaure Frucht zu ſein pflegt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es fuͤr den tuͤch¬ tigſten Schulmann eine unendlich ſchwere Aufgabe iſt, den Dichter, den Redner, den Geſchichtſchrei¬ ber, den Philoſophen des griechiſchen und roͤmi¬ ſchen Alterthums, bei unſern heutigen geſellſchaft¬ lichen Zuſtaͤnden, bei der Mechanik des Staatsle¬ bens, deſſen hoͤlzerne Raͤder auch in der Schul¬ ſtube klappern, fruchtreich in den Schulen zu er¬ klaͤren; allein eben ſo gewiß iſt es, daß den We¬ nigſten nur einmal die Ahnung aufgegangen iſt von der Bedeutung der Alten fuͤr das jetzige Le¬ ben, daß ſie ſelbſt jene großen und leuchtenden Zuͤge in den Pergamenten klaſſiſchen Alterthums, die Zuͤge der reinen Natur, des tiefen Sinnes fuͤr die Myſterien der Welt, fuͤr Wahrheit und Schoͤnheit nur ſelten einmal mit verwandtem Auge ſelbſt angeſchaut und ſich von ihnen durchdrungen haben. Wie ſollte es anders kommen. Ein Schulmann bildet den andern und die Philologie55 iſt ſo weit aus dem Leben geruͤckt und das Leben ſelbſt aͤußert ſich noch ſo glatt, ſchwach, duͤrftig und widerſprechend, daß es immer ein halbes Wun¬ der bleiben muß, wenn ein Voß, ein Auguſt Wolf mitten aus philologiſchem Wuſte ſich erheben und Funken poetiſcher Lebendigkeit ausſtroͤmen, die kein Menſch vor ihnen dieſer Wiſſenſchaft zutraute.
Waͤren und wuͤrden nun ſolche Maͤnner haͤu¬ fig und haͤufiger, entvoͤlkerten ſich die Schulaͤmter nach und nach von Leuten, die mit dem Alterthum nicht blos ein Sylbenſtechen halten, konjugiren und dekliniren lehrten, ſondern deſſen Geiſt zu er¬ laͤutern und Juͤnglingen einzufloͤßen verſtaͤnden, ſo wuͤrde dies eine Reaktion auf die Univerſitaͤten verurſachen, welche ſich auf alle die humanen und inhumanen Studien erſtrecken wuͤrde, die man her¬ koͤmmlich auf ihnen treibt, und es wuͤrden nicht allein die ſogenannten Brodſtudien davon gut haben und zu Geiſtſtudien aufruͤcken und mit der Humanitaͤt mehr Hand in Hand gehen, ſondern auch ſelbſt die humaniora wuͤrden humaner werden und nicht ſo leicht einer Geſchichte und Philoſophie nur darum etwas ſtudiren, weil etwas Kenntniß davon im Examen verlangt wird, ſondern aus innerm Antrieb, aus reiner Bildungsluſt und mit der, auf Schulen bereits erzielten Vorbereitung zum wuͤrdigen Eintritt in dieſe hoͤhern Gebiete der Wiſ¬56 ſenſchaft. Denn es iſt eben das Leben der Alten, wie es in den Schriften derſelben erſcheint, wahr¬ haft geeignet, eine ſolche Vorbereitung zu bewerk¬ ſtelligen und eine Geſinnung und Gemuͤthsſtim¬ mung zu erzeugen, die auf das Ideale in jeder Kunſt und Wiſſenſchaft gerichtet iſt. Und ſchon allein das Studium, das iſt das lebendige Ergrei¬ fen der ſchoͤnſten platoniſchen Dialoge, in welchen die ewigen Ideen der Schoͤnheit wie Fixſterne fuͤr alle Zeiten leuchten, iſt hinlaͤnglich, um die Weihe fuͤr ein ganzes Leben zu erhalten, hinlaͤnglich zu¬ naͤchſt, um auf das Studium der Philoſophie und der mit der Philoſophie unmittelbar verwandten, aus ihr entſprungenen und durch ſie zu befeſtigen¬ den Wiſſenſchaften eingeleitet zu werden; denn wie Boͤckh richtig ſagt, in dem Maß, als der Juͤngling ergriffen wird vom Geiſt der Alten, in demſelben iſt er faͤhiger zum Philoſophiren. Aber man glaube nicht, daß man Philoſophie ſtudirt, wenn man ſich die logiſche Technik zu eigen macht, wenn man Alles das lernt und weiß, was die Philoſophen von Indien durch Griechenland bis nach Deutſchland, von der aͤlteſten Zeit bis auf die jetzige gewußt und nicht gewußt haben, wenn man ungekochte und unverdaute Meinungen uͤber Gott und Welt in ſein Hirn preßt, wenn man die Sprache der Philoſophen als ein Abrakadabra57 unverſtanden und unverſtaͤndlich nachbetet, oder ſich auch ſelbſt „ mit Worten ein Syſtem berei¬ tet, “weil man, um mich eines Ausdruckes von Goethe uͤber das hohle ſcholaſtiſche Treiben einer Gattung von Philoſophie zu bedienen, weil man der Anſicht lebt:
Philoſophie iſt nichts, was ſich lehren und lernen laͤßt auf dem Wege hiſtoriſcher Mittheilung. Die Philoſophie ſteht nicht auf dem Katheder und ſpricht die Zuhoͤrer zu Philoſophen, der Lehrer kann ſie dem Schuͤler nicht in die Hand druͤcken, wie ein Stuͤck zurechtgekauter Wiſſenſchaft, wie ein fertiges Machwerk, die Philoſophie iſt eben nichts anders als das Philoſophiren, als das wiſ¬ ſenſchaftliche Bearbeiten ſeiner eigenen Begriffe, als das Selbſtdenken, wenn ſie ſich theoretiſch, das Selbſtfuͤhlen und Selbſtanſchauen, wenn ſie ſich praktiſch aͤußert. Das iſt nun aber eben ſo wenig eines jeden Menſchen Sache, als die Poe¬ ſie, die Liebe, und was einem ſonſt als freies Geſchenk vom Himmel faͤllt, und das man wohl durch Fleiß und Muͤhe ausbilden und veredeln, aber im Schweiße ſeines Angeſichts ſich nicht an¬ ſchaffen kann, wenn das Organ dafuͤr nicht an¬ geboren iſt. Allerdings ſind alle Menſchen zum58 Denken, zum Selbſtdenken berufen und wenn man die Menge ſo gedankenlos in den Tag leben ſieht, ſo ſchreibe man dies eben ihrer Erziehung und dem bleiernen Druck der Verhaͤltniſſe zu, der auf ihr laſtet; wird dieſer Druck aufgehoben, ſo fan¬ gen auch die Federn ihres Verſtandes an zu ſpie¬ len und die Geburtſtunde der, freilich immer rela¬ tiven, Selbſtſtaͤndigkeit hat fuͤr ſie geſchlagen. Al¬ lein auch der gebildetſte Menſch, geſchweige denn die Maſſe, iſt nicht immer fuͤr jene Art der Be¬ arbeitung ſeiner Begriffe geſchaffen, welche im heutigen Sinn und unter uns Deutſchen vorzugs¬ weiſe die philoſophiſche heißt und die in ihrer letz¬ ten ſcharfen Beſtimmung auch nur als Laie zu ahnen, man einigermaßen von Natur beguͤnſtigt ſein muß, die alſo mit einem gelegentlichen Wort nicht abgethan werden kann. Das Philoſophiren in dieſem ſtrengen Sinn, mag es nun fuͤr den Philoſophirenden ein Gluͤck, oder Ungluͤck ſein, mag es ein Zuſtand der Geſundheit oder Krank¬ heit des Geiſtes genannt werden muͤſſen — und daruͤber lauten bedeutende Stimmen ſehr verſchie¬ den — kann und darf nur als eine freie Kunſt getrieben werden, zu der Niemand gezwungen iſt, ja, zu der Niemand aufgefordert werden ſoll, noch weniger, von deſſen Reſultaten er zu Gluͤck ſtadt oder Schleswig endliche Rechenſchaft zu lie¬59 fern haͤtte, es muß ſich freiwillig und von ſelbſt einfinden, es muß ihm, wie jedem freien Erzeug¬ niß des Geiſtes allerdings nichts in den Weg ge¬ ſchoben werden, im Gegentheil muß er die Mit¬ tel ſeiner Nahrung auf den vaterlaͤndiſchen Bil¬ dungsanſtalten antreffen und der Staat muß ſei¬ nem ſpaͤteren Einfluß auf Geſellſchaft und oͤffent¬ liches Leben ruhig entgegenſehen — das ſind die Bedingungen, unter welchen die hoͤhere Philoſo¬ phie bei uns wachſen und gedeihen muͤßte, wenn ſie Juͤnger und Enthuſiaſten findet, die, nach ge¬ wiſſenhafter Pruͤfung, ihr Leben ihr zu widmen gedaͤchten; denn darauf, auf die Widmung eines ganzen Lebens mit allen ſeinen Tendenzen macht ſie Anſpruch, denn ſie will nicht etwa dann und wann, und hie und da, zu dieſem oder jenem Behufe, ſtudirt, zitirt und benutzt werden, ſon¬ dern rein um ihrer ſelbſt willen, und verlangt alle die Opfer, welche eine eiferſuͤchtige und gerecht¬ ſtolze Geliebte ihrem Liebhaber zum Geſetze macht. Ihr Bild ſoll er auf dem Herzen tragen, ihr Gedanke ſoll ihm vorſchweben Tag und Nacht, nur fuͤr ihre Geſpraͤche ſoll er ein Ohr haben, und in ihrem Umgang ſich gluͤcklich fuͤhlen und gegen jedermaͤnniglich behaupten und ausfechten, daß ſie die Unvergleichlichſte und Schoͤnſte ſei un¬ ter allen ihren Schweſtern auf der Welt.
60Iſt das nun, meine Herren, dieſer Urania echter und weſentlicher Charakterzug, an der ſie jeder Selbſtphiloſophirende erkennt, an der ſie ein Plato, ein Kant, ein Fichte, ein Reinhold wie¬ dererkannt haͤtten, ſo fuͤhlen und begreifen Sie wohl, daß Philoſophie in dieſem deutſchen Sinn — denn Franzoſen und Englaͤndern iſt der Be¬ griff der Philoſophie ſo weit, daß die erſteren eine leichte luſtige Lebensanſicht und die letzteren die Experimentalphyſik fuͤr Philoſophie und Elektriſir¬ maſchinen und Luftpumpen fuͤr philoſophiſche Inſtrumente ausgeben — daß Philoſophie in dieſem Sinn nur einer kleinen Zahl von Sterb¬ lichen angehoͤre, wozu namentlich weder ich, noch vielleicht einer von den Anweſenden ſich zaͤhlen moͤchte. Und da hoͤren Sie offen und freimuͤthig ausgeſprochen, was man ſo ſelten geſteht, wo¬ mit man ſich unter einander ein Geheimniß macht, das aber die Waͤnde unſerer Hoͤrſaͤle laͤngſt ausge¬ plaudert haben, das Geſtaͤndniß, Philoſophie liegt de facto außer dem Kreis der groͤßten Anzahl der Menſchen, ja mehr, außer dem Kreis ſelbſt jener Auserwaͤhlteren, welche ſich auf Akademien dem Studium der Wiſſenſchaften hingeben. —
Wollten die Waͤnde noch etwas hinzufuͤgen, ſo koͤnnten ſie auch ſagen: das gerade iſt eine von euren vielen Luͤgen, daß ihr dutzendweiſe auftretet61 und ſagt: mit der Philoſophie auf vertrautem Fuß zu leben, obgleich euch dieſe verſchleierte, edle Dame kaum dem Namen nach kennt.
Sie ſehen hieraus, meine Herren, daß ich nicht der Meinung bin, als muͤſſe die Leſung der Alten auf Schulen und was man ſonſt noch auf denſelben zur Vorbereitung fuͤr die Akademie zu treiben pflegt, eine vorherrſchende Richtung auf die Philoſophie bekommen, im Gegentheil glaube ich, daß der Schulmann ſich in dieſer Hinſicht darauf zu beſchraͤnken hat, die geiſtreiche Faſſung, die wunderbare Form und Schoͤnheit bemerklich zu machen, wodurch ſich die philoſophiſchen Schrif¬ ten des Alterthums ſo ſehr zu ihrem Vortheil von den neuen Schriftſtellern der Philoſophie unter¬ ſcheiden. Und ſind es nicht uͤberall vorzuͤglich dieſe idealen Formen des Alterthums, zu deren Anſchauung und Wuͤrdigung der Schuͤler fruͤhzeitig ſoll hingeleitet werden und auf denen am Ende die Frucht jener muͤhſeligen und zeitraubenden Studien beruht, denen ſich der Schuͤler unterzie¬ hen muß, um zum Verſtaͤndniß der Quellen zu gelangen? Sind es nicht dieſe ſuͤßen, wohllau¬ tenden Toͤne der Ilias, an denen ſein Ohr Har¬ monie und Rhythmik erlauſchen ſoll, iſt es nicht die klare und durchſichtige Darſtellung der homeri¬ diſchen Welt, die ſeinen Geiſt mit gewiſſem Zau¬62 ber befangen und ihn aufmerkſam machen ſoll auf die dichteriſche Juweleneinfaſſung eines Stoffes, der unter andern Haͤnden, als unter Homers, von jedem andern gemeinen Stoffe vielleicht nur durch den tragiſchen Ausgang und die Zerſtoͤrung einer bluͤ¬ henden Stadt verſchieden waͤre. Und wird darum nicht Herodot, Thuzydides recht eigentlich auf Schulen geleſen, oder ſollten ſie nicht darum ge¬ leſen werden, um den Schuͤlern den echten epi¬ ſchen Stil der Geſchichte fruͤhzeitig an ſo ausge¬ zeichneten Muſtern vor Augen zu ſtellen und ihnen den Unterſchied zwiſchen ihm und der modernen Geſchichtsklitterung klar und augenfaͤllig zu ma¬ chen? Und Platons Sympoſium, Phaͤdrus nicht hauptſaͤchlich, um ihrem Geſchmack attiſches Salz auf die Zunge zu legen, Beſonnenheit in der Be¬ geiſterung, Beherrſchung des Stoffes und ſokrati¬ ſche Ironie zu lernen? Hat denn wirklich noch außerdem der deutſche Schulmann einen hoͤhern Zweck bei Leſung der Alten vor Augen, oder darf und ſoll er ihn haben? Soll er vollkommne Grie¬ chen aus unſern deutſchen Juͤnglingen machen, auch im beſten Sinn[Griechen], und nicht blos Graͤculi? Einmal muͤßte er nothwendig in ſeiner Abſicht ſcheitern, da ſich der Charakter einer Na¬ tion nicht uͤberdoziren laͤßt auf eine andere, und zweitens, waͤre ſchon die Abſicht ein Hochverrath63 gegen die eigene Nation, die, ſo ſchmaͤhlich ſie auch zerriſſen und zerruͤttet iſt, doch noch immer nicht an ſich ſelbſt zu verzweifeln braucht und noch im Grunde ihres Daſeins tieflaufende Adern be¬ wahrt, die neu entdeckt und ausgegraben ploͤtzlich uͤber die Wuͤſte herſprudeln und dem ſchmachten¬ den Zuſtande ein Ende machen koͤnnen. Erziehung des Juͤnglings nicht zum Philoſophen, nicht zum Griechen, ſondern zum wackern, gebildeten Deut¬ ſchen, iſt des deutſchen Lehrers hoͤchſte, zum le¬ bendigen Glied jener Kette der Nationalitaͤt, die Gottlob von Tage zu Tage mehr Glieder und Ringe in ſich aufnimmt und von der Donau bis zur Oſtſee mehr freudig hoffende Seelen umſpannt, iſt des deutſchen Lehrers naͤchſte Pflicht.
Bildung, meine Herren, iſt ein weites Wort und laͤßt ſich viel darein faſſen. Von theologiſcher, philoſophiſcher, juriſtiſcher Bildung macht man ſich leichter Begriffe, aber, wo von hoͤherer, allgemei¬ ner, von humaner Bildung die Rede iſt, da ſchwebt der Begriff ins Unbeſtimmte und weder der Bildung Ziel noch Umfang tritt den Meiſten recht klar vor Augen. Das kommt, wir ſind, wie die Fiſche außer dem Waſſer, und leben in keinem rechten Element, wir geben uns im Ganzen Muͤhe genug uns zu bilden und vielleicht mehr als irgend je eine Nation auf dem Erdboden; allein, obgleich64 wir ſchon behaupten koͤnnen, daß wir unendlich viel mehr wiſſen und lernen, als z. B. unſere Nachbarn uͤberm Rhein und ſelbſt die Englaͤnder, ſo moͤchten wir uns ſchwerlich mit Recht, wenn wir im Leben mit ihnen zuſammenſtoßen, mehr Bildung beilegen duͤrfen, als ihnen. Gutmuͤthig ſcheinen wir den Fremden, und das iſt Alles, was ſie Gutes von uns ſagen. Hoͤren wir dagegen unſere Philoſophen, ſo liegt die Unvollkommenheit unſerer Bildung darin, daß wir noch nicht tief genug in die Paragraphen ihrer Philoſophie ein¬ gedrungen ſind, und, waͤhrend der Franzoſe, der Englaͤnder, die aͤußere Form und Faſſung an uns vermißt, vermißt ein Hegel noch die erſte, noth¬ wendige philoſophiſche Grundbildung bei den Ge¬ bildeten der Nation. Wenn wir uns nun keines¬ wegs dazu verſtehen koͤnnen, in eine uns fremde oberflaͤchliche Form und Feinheit nach Franzoſen¬ art Werth zu ſetzen; auch nicht mit Allgemein¬ heit das tiefere philoſophiſche Beduͤrfniß fuͤhlen, ſo muͤſſen wir doch anerkennen, daß uns ſelbſt noch jenes ſchoͤne Mittel zwiſchen dem Allerinnerſten und Aeußerſten, zwiſchen dem myſterioͤſen Grund der Philoſophie und der mit Leichtſinn und Flitter¬ gold belegten Oberflaͤche des Lebens nicht ſo recht inwohne, ſo daß wir ſagen koͤnnten, wir lebten darin, wie die Voͤgel in der Luft, und wie die65 Fiſche im Waſſer. Vielmehr iſt es gar Vielen nicht einmal zum Bewußtſein gekommen, daß ih¬ nen der eigentliche Mittelpunkt der Bildung ab¬ gehe, daß ſie, um ſich zu foͤrdern und in guter Abſicht rechts und links umhergreifen, um ſich Elemente zur Bildung anzueignen, welche dann oft die allerheterogenſten ſind und eine wunderliche muſiviſche Arbeit hervorbringen, wo rothe, blaue, gelbe und gruͤne Steine ſeltſam und abenteuerlich neben einander liegen. Wo die Grundwurzel die¬ ſes Uebels liege, iſt leicht abzuſehen. Die Grie¬ chen hatten's leichter, ſich zu bilden, ſie wuchſen ſchon als Kinder in ſolche Bildung hinein, Reli¬ gion, Politik, Moral, der Himmel ſelbſt beguͤn¬ ſtigte ſie. Wir haben es dagegen ſchwer, oft iſt uns Alles entgegen, wir werden von fruͤh auf hierhin geriſſen, dorthin geriſſen, ſind eine Beute der widerſprechendſten Neigungen und haben nir¬ gends einen breiten ſichern Grund, um in Gemein¬ ſchaft mit Andern darauf fortzuwandeln. Es man¬ gelt uns an großen gemeinſamen Zwecken, es mangelt uns an oͤffentlichem Leben, und wenn die Schwingungen des griechiſchen Geiſtes zwiſchen Wiſſenſchaft und Staat, zwiſchen Wahrheit und Schoͤnheit, zwiſchen Religion und Poeſie, zwiſchen Himmel und Erde gleichmaͤßig hin und her gingen und ſich nie aus der Bahn entfernten, ſo ſchwan¬Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 566ken die unſrigen ohne rechtes Maß bald zu der einen, bald zu der andern Seite uͤber und es koͤn¬ nen in einem Hauſe der tiefſinnigſte und abſtrakteſte Philoſoph, der plattſte Lebemenſch, der wuͤthendſte Demagoge und der ledernſte Philiſter wohnen.
Es fehlt uns alſo an gemeinſamen Mitteln der Bildung, weil es uns an Aeußerungen des gemeinſamen Lebens fehlt. Doch ſchon dieſe Ein¬ ſicht, die ſich in der That immer mehr verbreitet, iſt ſchon ein halber Schritt zur Beſſerung und dieſe Einſicht, zur hoͤchſten Evidenz und Klarheit gebracht, die ein Jeder ihr zu geben im Stande iſt, ſteht ſchon mitten in der Vorhalle derjenigen Wiſſenſchaft, welche, unter Vorausſetzung eines rechten und tuͤchtigen nationalen Lebens, ſich den Zweck ſetzt, die Elemente jener hoͤhern, allgemei¬ nern Bildung darzuſtellen und an Werken der Kunſt und Wiſſenſchaft zu erlaͤutern, der Aeſthe¬ tik, oder der Philoſophie der Kunſt, dies Wort im weiteſten Sinn befaßt, worin auch der Menſch als ein Kunſtwerk erſcheint.
67Es fehlt uns nicht an Philoſophie, wenigſtens nicht an Philoſophen, es fehlt uns nicht an Ge¬ lehrſamkeit, es fehlt uns an einem gemeinſamen Mittelpunkt der Bildung, und Urſache deſſen, es fehlt uns an gemeinſamem Leben.
Was iſt der Zweck der Erziehung? Der Zweck der Erziehung iſt Vorbereitung auf den Zweck des Lebens. Was iſt Zweck des Lebens? Der Zweck des Lebens iſt das Leben ſelbſt.
Scheint etwas einfacher zu ſein, als dieſe Antworten auf dieſe Fragen? Gewiß nicht. Den¬ noch hat man den Ruf der Natur uͤberhoͤrt und die kuͤnſtlichſten Syſteme, Erziehungsplaͤne und Lebensanſichten auf die Bahn gebracht.
68Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir vielmehr, um zu leben? Daß man die Natur auf den Kopf ſtellen kann, um das erſtere zu be¬ haupten! Hat es doch in Deutſchland ſogar den Anſchein, als ob die Menſchen der Buͤcher wegen geboren wuͤrden. Klaͤglicher Irrthum, moͤnchiſche Verdumpfung, trauriger Reſt aus den Kloſter¬ zellen.
Leben, was iſt Leben? Kein Wort iſt ſchwe¬ rer, oder vielmehr weniger zu definiren. Leben iſt ein Hauch, ein wehender Athem, eine Seele, die Koͤrper baut, ein friſches, wonnigliches, thatkraͤfti¬ ges Prinzip, und wenn es Jemand nicht wuͤßte oder fuͤhlte, er erinnere ſich einer Stunde, wo ſein Herz voll aufging, wo ſeine Muskeln ſich ſpannten, ſeine Augen glaͤnzten, und ein maͤnnli¬ cher Entſchluß allen Hinderniſſen zum Trotz in ſei¬ ner Seele aufſtieg; auch ſchlage er nur das Buch des Lebens auf, die Geſchichte, und frage nach den Griechen, nach den Roͤmern, den Roͤmern, die ſo viel Thatenfuͤlle auf einen kleinen Punkt der Welt, zwiſchen ſieben armſelige Huͤgel zuſam¬ mendraͤngten, daß ſie damit das ganze Erdenrund uͤberſchnellten. Die haben gelebt, und darum ſind ſie auch unſterblich.
Aber großartiges und ruhmvolles Leben, ob¬ wohl am wuͤrdigſten fuͤr die Traͤume der Jugend,69 iſt oft nur Reſultat der Zeit und Umſtaͤnde, bei Einzelnen, wie bei ganzen Voͤlkern. Es gibt ein Leben, das dem Griffel der Geſchichte keine Nah¬ rung gibt und dennoch aus der goͤttlichen Quelle entſprungen iſt, aus der alles Lebendige abſtammt. Sie wiſſen aus Herodot, wie wenig dazu gehoͤrte, einem alten Perſer im Sinne ſeines Volkes eine ſolche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahr¬ heit ſprechen und damit war er fertig. Sollen wir mit chriſtlichem Mitleid auf des armen Men¬ ſchen Unwiſſenheit herabſehen? Ich denke, wir laſſen es bleiben. Ein Perſer auf ſeinem ſchnel¬ len Roß, hinter Tigern durchs Gebirge ſtreifend, Pfeil und Bogen in den ſchlanken Haͤnden, Au¬ gen voll Feuer, trotziges Laͤcheln auf den von Luͤge unentweihten Lippen, das war ein Menſch, auf den die Sonne, die er anbetete, mit Luſt und Wohlgefallen herabſah — wir wuͤrden eine ſchlechte Rolle an ſeiner Seite ſpielen.
Das bloße Wiſſen, meine Herren, hat kein inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche, ſein Stoff zerfließt in Zentillionentheilchen. Wie manche Wiſſenſchaft, ja wie mancher Aſt einer fruͤheren, erfordert gegenwaͤrtig eines Menſchen volles Leben, taͤgliches und naͤchtliches Arbeiten und Lernen, um ſich des Stoffes nur einigermaßen zu70 bemaͤchtigen. Nun ſtellen Sie ſich vor, wir haͤt¬ ten eine Welthiſtorie nach zweitauſend Jahren, die mit Begebenheiten ſo reich ausſtaffirt waͤre, als das letzte Jahrtauſend, oder imaginiren Sie ſich einen Profeſſor, der a dato nach zweitauſend Jah¬ ren im Kollegio Welthiſtorie vorzutragen haͤtte — bedenken Sie, daß nicht blos Europa, daß auch Aſien, Afrika, Amerika, die Inſeln der Suͤdſee eine Geſchichte haben werden, und wenn Sie auch der Anſicht leben, daß die Geſchichte ſich immer mehr vergeiſtigen und die inneren Umgeſtaltungen der Kuͤnſte, Erfindungen, des Lebens befaſſen werde, bedenken Sie, welche Fluth von Erfindungen, Ver¬ aͤnderungen, Evolutionen im Staatsleben, in der Kunſt, in der Wiſſenſchaft muͤſſen tauſend Millio¬ nen gebildeter Menſchen in tauſend und aber tau¬ ſend Jahren beſtaͤndiger Generationserneuerung hervorbringen und beurtheilen Sie darnach die Angſt und Verlegenheit beſagten Profeſſors der Geſchichte, wenn er das Alles in einen halbjaͤhri¬ gen oder einjaͤhrigen oder dreijaͤhrigen akademiſchen Kurſus einzwaͤngen ſoll. Wie will er es nur ſelbſt zu einem Stuͤckwerk von Gelehrſamkeit, zu einer oberflaͤchlichen Materialienkenntniß bringen in einem Fache, das ſo unendlich, unuͤberſehlich ſein wird, wie das Weltmeer, von ſo unzaͤhlbaren Ein¬ zelheiten, wie Tropfen darin. Ins Unendliche71 theilen muͤßte man die gelehrte Arbeit, wie es in Fabriken geſchieht, wo der Eine den Knopf, der Andere den Schaft, der Dritte die Spitze der Nadel fabrizirt. Der eine Profeſſor verſtaͤnde ſich auf das Jahr 2000, der Andere auf das Jahr 1999, oder der eine waͤre gelehrt in der Geſchichte aller großer Maͤnner, deren Name mit dem Buch¬ ſtaben A, der andere in der Geſchichte der beruͤhm¬ ten Leute, deren Name mit dem Buchſtaben Z an¬ faͤngt, und wie man ſich noch weiter ſcherzhafter¬ weiſe den laͤcherlichen Wirrwarr entknaͤueln mag, der aus der ungeheuerlichen Menge und Zerfallen¬ heit des Stoffes mehr und mehr entſpringen wird.
Alſo, Wiſſen als ſolches kann nicht Aufgabe und Zweck des Lebens ſein, weil daſſelbe maßlos mit dem Anwachſen des Stoffes ſich ſelbſt zerſtoͤrt und aufhebt. Dieſem maßloſen Wirken gegenuͤber ſteht ein Geiſt, deſſen Kraͤfte nur zu wohl gemeſ¬ ſen und abgewogen ſind. Die Vergroͤßerung der Wiſſensmaſſe macht das menſchliche Hirn nicht groͤ¬ ßer, ſeine Kapazitaͤt bleibt dieſelbe wie vor Alters. O wie dieſes gelehrte Unweſen ſeit Jahrhunderten die edelſten Kraͤfte Deutſchlands zur unfruchtbaren Tantalusarbeit verurtheilt hat, wie wir Deutſche aus wandernden Helden Stubenſitzer, aus Krie¬ gern und Jaͤgern lebensſieche, thatenſcheue Magi¬ ſter geworden ſind!
72Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte, Wiſſende? Ich meine. Aber kein griechiſcher Gelehrter konnte ſich dermaßen verknoͤchern, weil Welt und Studium ſich die Hand boten und die Palaͤſtra neben der Stoa ſich befand. Die Wiſ¬ ſenſchaft der Griechen war die Frucht ihres Le¬ bens, uns iſt ſie der traurige Reſt deſſelben. Als jenes griechiſche Leben verfiel, als jenes ſchoͤne Herz ſtockte und ſtillſtand, da ward es in der Kapſel nach Aegypten gebracht, zu Alexandrien einbalſa¬ mirt und die trockne Mumie nannte Eratoſthenes Philologie. Meine Herren, als das Leben todt war, hielt die Gelehrſamkeit Leichenſchau.
Haͤtten wir nur das Eine von den alten Griechen gelernt, das Eine, wie wir den Orga¬ nismus unſers Geiſtes, die Einheit unſers Lebens uͤber Alles, alles Uebrige aber danach zu ſchaͤtzen wuͤßten, ob es ſich unſerm Organismus lebendig veraſſimilirt.
Eine kleine Welt nennt man den Menſchen und man hat Recht. Mikrokosmus koͤnnte und ſollte der Menſch ſein, denn eingeſchloſſen ſind in ſeinem Weſen die Elemente und die Kraͤfte des Alls und er iſt im buchſtaͤblichen Sinn die ganze Schoͤpfung, im Auszug. Alles Geſchaffene iſt freilich Mikrokosmus, Stern, Thier und Blume, doch in truͤ¬ berer Geſtalt und bewußtlos. So iſt es und doch fuͤr73 uns iſt der Ausdruck und die Wahrheit nur be¬ ſchaͤmend, wir ahnen, was wir ſein ſollten und fuͤhlen, was wir nicht ſind. Wir repraͤſentiren nicht unſere eigene Welt, wir tragen nur eine fremde zur Schau, unſere Gebildeten, unſere Dichter und Denker begnuͤgen ſich damit, die Welt in kalter Geſchliffenheit wieder abzuſpiegeln, unſere Gelehrten duͤnken ſich eine Welt zu ſein, wenn ſie ſich eine Welt von Gedanken, Sachen, Zahlen und Woͤrtern in den Kopf gelernt haben.
Daher, klein genug ſind wir, aber wo bleibt unſere Welt, die lebendig organiſche Ganzheit, die geſunde, vollbluͤhende Gegenwart? Die kleinſte Alpenroſe beſchaͤmt uns. Sie hat ein pulſirendes Herz, Lebenseinheit, ſie gleicht einer Welt im Kleinen. Was uns geiſtig zuſammenhaͤlt, iſt nicht innerer Hauch, nicht polariſche Attraktion, ſondern gemeine Kohaͤſion. Die Alpenroſe mit ihren klaren, klugen Augen iſt auf ihre Weiſe auch nicht ungelehrt, ſie iſt eine kleine Studentin, hoͤrt Kollegia uͤber Felserde, Wetterkunde, Thautro¬ pfen, Fruͤhlingsathem, aber ſie weiß Alles beſſer in succum et sanguinem zu vertiren, das iſt bei uns nur eine ſchulfuͤchſiſche Redensart, womit wir unſer oͤdes, lateiniſches Treiben ſelbſt verſpotten.
Das Leben iſt des Lebens hoͤchſter Zweck und hoͤher kann es kein Menſch bringen, als den leben¬5 **74digen Organismus darzuſtellen. Kenntniſſe und Wiſſenſchaften ſind nicht fuͤr ſich, ſind nur fuͤr den Geiſt vorhanden, deſſen Trank und Speiſe ſie ſind. Der Geiſt iſt kein Magazin, keine kalte, ſteinerne Ziſterne, die den Regen des Wiſſens auffaͤngt, um ſich damit bis an den Rand zu fuͤllen. Er gleicht einer Blume, die ihren Kelch den Thautropfen aufſchließt und aus den Bruͤſten der Natur Leben und Nahrung ſaugt. Aufzubluͤhen, ins Leben hin¬ einzubluͤhen, Farben auszuſtrahlen, Duͤfte auszu¬ hauchen, das iſt die Beſtimmung der Menſchen¬ blumen.
Wir haben uns herausſtudirt aus dem Leben, wir muͤſſen uns wieder hineinleben. So gruͤnd¬ lich, wie wir ſtudiren, ſo gruͤndlich ſollen wir le¬ ben. Deutſchland war bisher nur die Univerſitaͤt von Europa, das Volk ein antiquariſches, ausge¬ ſtrichen aus der Liſte der Lebendigen und geſchicht¬ lich Fortſtrebenden. Tauſend Haͤnde ruͤhrten ſich, um der Vergangenheit Geſchichte zu ſchreiben, we¬ nige Haͤnde, um der Zukunft eine Geſchichte zu hinterlaſſen. Deutſchland hatte nur Bibliotheken, aber kein Pantheon. Die Deutſchen waren nur Zuſchauer im Theater der Welt, aber hatten ſelbſt weder Buͤhne noch Spieler. Sie waͤren ſtolz auf ihre Unparteilichkeit, ihre vorurtheilsfreie Anerken¬ nung und Wuͤrdigung aller Lebens - und Kraft¬75 aͤußerungen fremder Nationen, aber ſie ſelbſt wur¬ den nicht wieder anerkannt, denn ſie hatten keinen poſitiven Lebensgehalt zur Ruͤckanerkennung frem¬ den Voͤlkern zu bieten. Nur die Kraft mag an¬ erkennen und ſie erhoͤht ihren Werth, wenn ſie es nicht unterlaͤßt — die Schwaͤche muß. Der Kraͤftige fragt den Schwaͤchling nicht, ob er ihn und ſeine Kraft gelten laſſen will, dem Schwaͤchling bleibt keine Wahl, er muß, er ſieht ſich dazu gezwungen, aller Bettelſtolz hilft ihm zu nichts. Der kleinſte Funke einer ſchoͤpferiſchen Lebenskraft hat ſeinen Altar auf der Welt, ſeine Prieſter, Verehrer, aber ohne den iſt Alles nichts.
Bloßes Wiſſen, ſage ich, kann nicht Zweck der Erziehung, nicht Aufgabe des Lebens ſein, und ich habe unter Wiſſen bisher nur den Ballaſt hiſtoriſcher Poſitivitaͤten verſtanden, womit Deutſch¬ land zum Verſinken befrachtet iſt. Es gibt aber ein dem hiſtoriſchen und dogmatiſchen Wiſſen ent¬ gegengeſetztes hoͤheres, ein Wiſſen nicht des Ge¬ daͤchtniſſes, ſondern des Verſtandes, ein ſelbſtthaͤ¬ tiges, verſtehendes Wiſſen, das man mit dem Na¬ men des philoſophiſchen bezeichnet. Der tiefſten metaphyſiſchen Seite deſſelben iſt in voriger Stunde mit ſchuldiger Ehrerbietung Erwaͤhnung gethan, ſie fuͤhrt vom Leben ab, das liegt in ihrer Natur und die Thatſache leidet keinen Zweifel; denn ſie76 muß die Welt erſt zerſtoͤren, um ſie aufzubauen, ſie iſt der Tod der Sinne und der Sinnlichkeit, und ſchon Plato definirte ſie als ein langſames Abſterben fuͤr die bunten und wechſelnden Geſtal¬ ten und Erſcheinungen der Welt und ein Feſtwer¬ den in den Ideen der Ewigkeit. Auch haͤngt ſie in hoͤherem Grade, als eine blos dialektiſche, kri¬ tiſche und pſychologiſche Sekte der modernen Phi¬ loſophie zugeſtehen mochte, mit dem religioͤſen Myſtizismus eng zuſammen.
Neben und außer der Philoſophie, die ſich in der Geſellſchaft gleichſam iſolirt, herrſcht ein weites Reich des Gedankens, das ſich, gleich je¬ ner, uͤber den Zwang des Gegebenen, Hiſtoriſchen und Poſitiven erhebt, keinesweges aber mit ihr gleichſam an die aͤußerſten Grenzen der erſchaffe¬ nen Welt verliert, ſondern in der Mitte und Fuͤlle der lebendigen Schoͤpfung ſtehen bleibt und ſich an den organiſchen und gebildeten Naturen derſel¬ ben erfreut. Auch hier iſt Zweck und Reſultat ein Wiſſen und zwar ebenfalls ein ſolches, das ſich ſowohl durch die Analogie der Erſcheinungen, als durch die Harmonie mit den Geſetzen unſeres Denkvermoͤgens bewaͤhrte, ein Wiſſen, zu dem am Ende auch die abſtrakte Philoſophie gelangen muß, wenn ſie, wie Herbart in Koͤnigsberg dies witzig und ſcharfſinnig ausgedruͤckt hat, wenn ſie Rech¬77 nungsproben zu ihren allgemeinen Saͤtzen ſucht. Es hat dieſes Wiſſen bald die Natur, bald den Staat und die Geſellſchaft, bald die einzelnen Produktionen derſelben, die Werke der Kunſt, Be¬ redtſamkeit und Poeſie im Auge. Es zerſtoͤrt nicht das Gegebene, es erhebt ſich nur uͤber daſ¬ ſelbe, es laͤßt ſich in freie Betrachtungen ein, es unterſucht, urtheilt, pruͤft und vergeiſtigt ſich den Stoff, indem es ihn geiſtig bearbeitet und repro¬ ducirt. Der Naturforſcher unterſucht den Orga¬ nismus der Pflanzenwelt, die Metamorphoſen eines Gewaͤchſes, die Brechungen des Lichts, die Kry¬ ſtalliſationen des Fluͤſſigen und es iſt uͤberall ſein hoͤchſtes Bemuͤhen, den organiſchen Zuſammen¬ hang und die Identitaͤt des Mannigfaltigen an einem Werke, einer Erſcheinung der Natur auf¬ zufaſſen. So unterſucht und erforſcht der Politi¬ ker den Organismus des Staats, der Aeſthetiker den Organismus der Kunſt und die Geſetze und Bedingungen, unter denen ſich die Kunſtſchoͤnheit entfaltet. Zweck und Reſultat alles deſſen iſt und bleibt das Wiſſen, ſo ſehr es ſich auch durch Friſche und Individualitaͤt vom abſtrakten und gar vom geiſtloſen hiſtoriſchen Wiſſen unterſcheidet.
Aber auch dieſes Wiſſen, das Kennzeichen der Bildung, das allgemeinſte Erforderniß, um auf den Namen eines denkenden und gebildeten78 Menſchen Anſpruch zu machen, habe man ſich nun mehr auf die eine oder auf die andere Seite deſ¬ ſelben geworfen, iſt nicht und erſetzt nicht das Leben; wenn ſie auch in naturgemaͤßem Zuſtande denkbar waͤre, ohne Vorausſetzung des Letzteren.
Denn es iſt der Menſch nicht blos der Spie¬ gel, der die Schoͤpfung reflektirt und geiſtig wie¬ der auffaßt, er iſt ja ſelbſt eine Schoͤpfung und ihm angeboren iſt das Recht und die Kraft, ſelbſt etwas fuͤr ſich zu ſein und unter den Exiſtenzen der Welt ſeinen Platz einzunehmen. Er ſoll ſich dort behaupten durch ſelbſteigene ſchoͤpferiſche Thaͤ¬ tigkeit, er ſoll, da wo er geboren iſt, mit den Fuͤßen Wurzel faſſen in der Gegenwart und die Hand ruͤhren zu Werken, welche ſein fluͤchtiges Daſein beurkunden, er ſoll ſich freuen an menſch¬ licher That, ſich hingeben menſchlichem Genuſſe, das Spiel ſeiner Kraͤfte entfalten, fuͤr Recht und Wahrheit in die Schranken treten, die Unſchuld lieben, die Tugend ehren, die Luͤge haſſen, die Bosheit entlarven, den Frevel raͤchen, die Gefahr verachten, und wenn's noͤthig, ſein Leben fuͤr die hoͤchſten Guͤter, ſei's zur Erringung oder Behaup¬ tung derſelben, fuͤr Freiheit und Vaterland in die Schanze zu ſchlagen.
Wir ſind nicht blos auf die Welt geſetzt, um79 uͤber die Welt zu raiſonniren, um Philoſophen, Naturforſcher, Aerzte und Politiker zu ſein. Die Welt geht ihren Gang ohne uns, wir ſollten nur mehr unſern eigenen Gang gehen, die Sinne ſchaͤr¬ fen, die Kraft ausbilden und Kraft gegen Kraft abreiben. Um das Denken und die humane Bil¬ dung iſt es eine ſchoͤne Sache, aber fehlt ihr der Mittelpunkt, fehlt ihr das Herz, das Leben, der ungebrochene ſtarke Wille, ſo iſt das Denken nur ein Spiel und die Bildung ohne Gehalt. Denke dir den Blitz und fuͤhle ihn, ſagt ein Schwede, und das Wort iſt ſelbſt ein Blitz, das man den¬ kend fuͤhlt.
Das Leben iſt des Lebens hoͤchſter Zweck, kein Wiſſen und keine Wiſſenſchaft, keine Bil¬ dung erſetzt den Fond des Lebens, koͤnnte ſie auch ohne Vorausſetzung des Letzteren im naturgemaͤßen Zuſtande gedacht werden.
Allein, meine Herren, das kann keine Wiſ¬ ſenſchaft. Nur im Element des Lebens bilden ſie ſich naturgemaͤß, außer dieſem ſind es kuͤnſtliche Gewaͤchſe, die mehr oder minder die Flecken und Gebrechen der Willkuͤr, der Unnatur, der Ge¬ ſchmackloſigkeit an ſich tragen. Das Leben raͤcht ſich an ſeinen Veraͤchtern und ſeine Rache beſteht darin, daß es die großen, einfachen Wahrheiten, die ſonſt Jedermann einleuchten, mit einem Nebel80 von Vorurtheilen verhuͤllt und ſie dem Auge der Naturforſcher, der Philoſophen, der Politiker, der Aeſthetiker entzieht. Zum ſchlagenden Beweiſe fuͤhre ich die unnatuͤrliche Geſchmackloſigkeit an, die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in allen Kreiſen der Kunſt und Wiſſenſchaft an der Tagesordnung war. Die Politik, dieſe hohe Wiſ¬ ſenſchaft, die den vollkommenſten aller Organismen, den Staat, analyſiren ſoll, wie konnte ſie ſich zu der Hoͤhe dieſer Bedeutung aufſchwingen, da die europaͤiſchen Staaten ſo unendlich tief unter ihr ſtanden und ein franzoͤſiſcher Koͤnig mit edler Drei¬ ſtigkeit zu behaupten ſich unterſtand: l'état c'est moi. Was konnte ſie anders ſein zu dieſer Zeit als ein trauriges Abbild dieſes hoͤfiſchen Ichs, das ſein gepudertes Haupt aus allen Fenſtern und Erkern des Staatsgebaͤudes herausſteckte, als eine Wiſſenſchaft des Despotismus, der Intrigue, der Geheimnißkraͤmerei, als eine Satyre auf den Staat? Und die Aeſthetik, die Lehre des Ge¬ ſchmacks, die Analyſe der Schoͤnheit, konnte ſie auch nur im Entfernteſten der Idee entſprechen, zu einer Zeit, wo die Natuͤrlichkeit der menſchli¬ chen Lebensaͤußerungen untergegangen war im ſteif¬ ſten Zeremoniell, wo nichts ſich ruͤhrte und regte, als auf den Wink pedantiſcher Zuchtmeiſter, wo man ſchwarze Lappen auf geſchminkten Wangen81 Schoͤnpflaͤſterchen nannte, und die Damen ihre Huͤften mit ungeheuern Reifbaͤndern umgaben, wo das Volk ſich in die Pfuͤtze warf, wenn abge¬ ſchmackte goldene Karoſſen mit betreßten und be¬ zopften Hanswuͤrſten hinterm Kutſchenſchlag vor¬ uͤberraſſelten, wo im ausbrechenden Kriege die Ge¬ nerale und Kondottieris mit einander Schach ſpiel¬ ten, moderne Helden, die durch Maitreſſen eben ſo oft ihre Stelle erhielten, als verloren und noch oͤfter die Feldzugsplaͤne aus dem Schlafgemach des Koͤnigs ins Lager mitnahmen. Wie war zu die¬ ſer Zeit eine ſchoͤne Natur moͤglich in Frankreich, oder gar in Deutſchland, wo man ſich der plum¬ peſten Nachahmung des franzoͤſiſchen Unſinnes hin¬ gab. Wie war zu dieſer Zeit ein Kuͤnſtler, ein Dichter moͤglich und nun gar ein Aeſthetiker, der doch der Schoͤnheit, der Kunſt, der Poeſie, nicht geſetzgeberiſch vorauf, ſondern geſetzempfangend hintennach geht. Sie werden vom Abbé Bat¬ teux gehoͤrt haben. Sein unique principe des belles lettres war einmal ein europaͤiſch beruͤhm¬ tes Werk der Aeſthetik und Rammler hat es in vier deutſche Baͤnde gebracht. Dieſer Abbé nannte die Nachahmung der Natur und zwar der ſchoͤnen Natur, das einzige große aͤſthetiſche Prinzip, das den Arbeiten des Geſchmackes zu Grunde gelegt werden muͤſſe. Leſen Sie das Werk eines ſonſtWienbarg, aͤſthet. Feldz. 682geiſtreichen Mannes, das noch immer die Art von Verachtung nicht verdient ‚ womit man gegenwaͤr¬ tig davon ſpricht, was das eigentlich mit der ſchoͤ¬ nen Natur und ihrer Nachahmung auf ſich hatte ‚ und in einer Epoche auf ſich haben konnte ‚ als alle wirkliche Natur aus dem Leben geſchwunden war und Malerei, Bildhauerei, Muſik, Poeſie ‚ Baukunſt ‚ Gartenkunſt und was es ſonſt fuͤr Kuͤnſte gibt ‚ die an einem gegebenen Stoff das Schoͤne verwirklichen wollen ‚ unglaublich verſchro¬ ben und manierirt waren.
Diderot und Rouſſeau hießen die beiden un¬ ſterblichen Maͤnner ‚ die ſich aus der Unnatur ih¬ res Jahrhunderts zuerſt herausriſſen. Rouſſeau’s Emil legte den Grund zu einer neuen Erziehung der europaͤiſchen Jugend, ſein contrat social den Grund zur franzoͤſiſchen Revolution ‚ dem Todes¬ ſtoß der europaͤiſchen Tyrannis in Kunſt ‚ Sitte und Staat. Fuͤr die Deutſchen ging zu gleicher Zeit Shakſpeare auf und damit ein fluthendes Luftmeer von Genien und Kraͤften ‚ woran die unerſaͤttlichſte Phantaſie ewigen Stoff zur Schwelgerei findet. Lange Zeit nahm man den Genuß nur ſo hin, ohne uͤber die Quelle deſſelben nachzudenken; ſo wie man ſich auch die franzoͤſiſche Revolution mit der Phantaſie aneignete, ohne etwas Arges dabei zu denken und ohne aus der Schlaͤfrigkeit des buͤr¬83 gerlichen Lebens zu erwachen. Dann aber kam eine Zeit und ſie dauert fort, wo man ſich fragt, woher ſtammt dieſe Fuͤlle von Leben und Kraft, die uns an Shakſpeare entzuͤckt und ſeine dich¬ teriſchen Gebilde ſo lebensderb, ſo kuͤhn, ſo un¬ uͤbertrefflich macht? Und da lautete die Antwort: das hat er ſich nicht auf ſeinem Stuͤbchen zuſam¬ mengedichtet, das hat er nicht aus dem Stegreif phantaſirt, das hat er gelernt und herausgeſchaut aus dem wildbewegten, großartigen Leben, das ſeine Jugendtraͤume umflatterte und ihn ſpaͤter als Juͤngling und Mann in ſeine Mitte aufnahm.
Und ſo kommt uns von allen Seiten die Beſtaͤtigung zu, daß das Leben das Hoͤchſte iſt und allem Uebrigen, wenn es gedeihen ſoll, zu Grunde liegen muß, geſchweige der Kunſt, der Schoͤnheit, und der ſich mit ihr beſchaͤftigenden Aeſthetik.
Und ſo ſchließe ich dieſe Vorleſung mit den Schlußworten der vorigen:
Es fehlt uns an einem gemeinſamen Mittel der Bildung, weil es uns an gemeinſamem Le¬ ben fehlt. Doch ſchon dieſe Einſicht, die ſich immer mehr verbreitet, iſt ein Schritt zur Beſſe¬ rung, und dieſelbe zur hoͤchſten Evidenz und Klar¬ heit gebracht, die ein Jeder ihr zu geben im6 *84Stande iſt, ſteht ſchon damit in der Vorhalle der¬ jenigen Wiſſenſchaft, welche unter Vorausſetzung eines rechten und tuͤchtigen Lebens, die Schoͤnheit der Bildungen in Leben und Kunſt aufweiſet und erlaͤutert, der Aeſthetik.
85Nach der gegebenen Einleitung, meine Herren, wird es Ihnen klar geworden ſein, daß wir der Aeſthetik ſowohl einen weitern Umfang, als eine tiefere Bedeutung einzuraͤumen haben, als dies in den gewoͤhnlichen Aeſthetiken zu geſchehen pflegt. Es gibt Wiſſenſchaften, deren Zeitraum und Pe¬ ripherie ſeit Alters ſo ziemlich gleichmaͤßig beſtimmt geweſen; wie z. B. die Mathematik, die Logik. Dieſe ſtehen gleichſam uͤber der Geſchichte; indem ſie ſich zu allen Zeiten weſentlich gleich ſehen und in Anlage und Ausfuͤhrung, wenn auch nicht unver¬ aͤnderlich, dennoch nur ſolcher Veraͤnderungen faͤ¬ hig ſind, welche als bloße Erweiterungen von in¬ nen heraus treten. Sie gedeihen in allen Zeit¬ laͤuften und auch, wenn die Zeit ſtille ſteht, das86 heißt, wenn das geſchichtliche Leben der Voͤlker todt und abgeſtorben iſt; daher denn auch Logik und Mathematik am Allerwenigſten den menſchli¬ chen Geiſt in ſeiner Bewegung abſpiegeln, und wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Stu¬ dium derſelben keinen Schluß auf die Bluͤthe an¬ derer Studien zu ziehen erlaubt. Es erſcheint in ihnen das Geiſtige nur in den allgemeinſten For¬ men, Denk - und Anſchauungsgeſetzen, aber man vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem Skelett zu thun. Mit vollem Recht kann man behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder Blut noch Gewiſſen, weder Geiſt noch Herz zu beſitzen braucht, daß ihm Alles fremd bleiben kann, was des Menſchen Buſen erfuͤllt und begeiſtert, was ihn zum Menſchen macht, daß ein Logiker und Mathematiker eben ſo gut auf dem Jupiter oder Uranus ſeine Heimath finde, daß es nur gleichſam reine Zufaͤlligkeit iſt, wenn er ſeine Ope¬ rationen und Berechnungen auf der Erde inner¬ halb der gewoͤlbten Waͤnde eines menſchlichen Ge¬ hirns anſtellt. Dieſe Wiſſenſchaften geben uns keine Ahnung von der Fuͤlle der Menſchheit, es iſt ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkba¬ ren Inhalt zu abſtrahiren. Glauben Sie nicht, daß dies zur Verachtung derſelben geſagt werden ſoll, ich verehre insbeſondere die Mathematik und87 erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen und kuͤnftigen Einfluß auf die materielle Fortbil¬ dung der Geſellſchaft. Allein es war auch nur meine Abſicht, dieſe Wiſſenſchaft in ihrer theoreti¬ ſchen Abſtraktheit aufzuſtellen und ſie zum Gegen¬ ſatz auf jene andern Zweige des Wiſſens zu lei¬ ten, welche von vorn herein ſich mit irdiſchem Heimathsgefuͤhl zum Menſchen geſellen und an den hoͤheren geiſtigen Evolutionen des Geſchlechts in¬ nigen Antheil nehmen. Dahin zaͤhle ich die Stu¬ dien der Natur und Kunſt, die gleichſam Hand in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Ge¬ ſchichte theilen. Dieſelbe geſchichtliche Natur hat die Aeſthetik. Sie beruht auf dem Leben, iſt mehr oder minder lebendig, tief oder oberflaͤchlich, welk oder bluͤhend, je nachdem das Herz, das in einem Zeitalter pulſirte, das Eine oder das Andere war. Man ſieht ſie von Zeit zu Zeit bei Plato, Plotin, Hemſterhuis, Solger in veraͤndertem Ge¬ wande hervortreten, in ſchoͤner Form, in Unform, als tiefſinnigſte Lebensphiloſophie, als Tagsgeſchwaͤtz, bald unter dieſem, bald unter jenem Namen. Laſſen Sie ſich nicht irre machen uͤber ihre Natur und Exiſtenz! Jeder ausuͤbende Kuͤnſtler, jeder handelnde und fuͤhlende Menſch traͤgt ſeine Aeſthe¬ tik in ſich, bewußt oder unbewußt faͤllen wir taͤg¬ lich Hunderte von aͤſthetiſchen Urtheilen, aus denen88 grade das Eigenthuͤmlichſte unſerer Geſinnungs - und Denkweiſe unmittelbar hervorbricht.
Folgen Sie mir, meine Herren, in das Ge¬ biet der Geſchichte. Es muͤßte Schuld meiner Darſtellung ſein, oder es wird aus den wenigen großen welthiſtoriſchen Zuͤgen, welche ich anzufuͤh¬ ren gedenke, in Ihrer Seele der Begriff der Aeſt¬ hetik in hoͤchſter Potenz ſich als der Begriff deſ¬ ſen lebendig machen und erweitern, was man in neuerer Zeit ſo paſſend Weltanſchauung genannt hat, eine Bezeichnung, die ebenfalls nur der deut¬ ſchen Sprache, oder vielmehr dem deutſchen Ge¬ danken eigenthuͤmlich iſt.
Erkennen und Handeln ſind die beiden Pole unſeres Geiſtes. Das aͤſthetiſche Element tritt zwiſchen beide in die Mitte, es iſt ein Denken und zugleich ein Fuͤhlen, das in jedem Moment beim Kuͤnſtler ins Handeln umſchlaͤgt. Alle aͤſthe¬ tiſchen Urtheile ſind von dieſem Gefuͤhl begleitet, ſie ſind nichts ohne daſſelbe, das bald anziehend bald abſtoßend, bald beifaͤllig, bald mißfaͤllig das Gemuͤth in elektriſchen Stroͤmungen lebendig erhaͤlt. Was uns nur als ſchoͤn oder haͤßlich, als gut oder boͤſe anmuthet oder wider¬ ſteht, iſt aͤſthetiſcher Natur, hat ſeine Wurzel im ſinnlich-geiſtigen Urgrund unſeres Weſens, und er¬ kennt in dieſer Unmittelbarkeit keinen hoͤheren Rich¬89 ter uͤber ſich. Nach Verſchiedenheit der Indivi¬ dualitaͤten ſind die aͤſthetiſchen Gefuͤhle und Ur¬ theile ſo verſchieden, wie die menſchlichen Grund¬ naturen; alle vereinigen ſich wieder in gewiſſen Grundgefuͤhlen, Anſichten und Urtheilen, welche den beſondern Charakter eines Volks, einer ge¬ ſchichtlichen Epoche ausmachen.
Schlagen wir zunaͤchſt unſere Blicke auf jene uralte indiſche Welt, von deren Groͤße uns nur ein armſeliger Schatten uͤbrig geblieben; betrachten wir jene traͤumeriſchen Menſchen, welche die Ufer des Ganges bevoͤlkerten und gleich menſchlichen Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen bluͤhten. Große Werke der Religion, Philoſophie, Poeſie und Kunſt haben ſie uns hinterlaſſen, zu deren Verſtaͤndniß erſt die neueren Zeiten den Schluͤſſel geliefert. Dennoch koͤnnen wir uͤber das Verſtaͤnd¬ niß nicht ſo recht zum Genuß derſelben durchdrin¬ gen — die aͤſthetiſche Grundanſchauung der Inder iſt zu verſchieden von der unſrigen. Legen wir den Maßſtab unſerer Moral und Aeſthetik an die Moral und Aeſthetik der Inder, ſo offenbart ſich das entſchiedenſte Mißverhaͤltniß, obgleich wir be¬ kennen muͤſſen, es ſpreche ſich wirkliche Natur und wirklicher menſchlicher Zuſtand nicht weniger im Indiſchen, als im Europaͤiſchen aus. Bedenken wir uns nun jenes aͤſthetiſche Grundprinzip, das90 der indiſchen Weltanſchauung zu Grunde liegt und das Kriſchnas in der Bagavadgita (Unterredung des Kriſchnas) mit den Worten ausſpricht: nie iſt der Werth einer Handlung in die Frucht geſetzt, ſo fuͤhlen wir ſchon gleich alle Konſequenzen, welche aus dieſem Grund¬ ſatz fuͤr Leben und Kunſt ohnedies herausfließen muͤßten. Nie iſt der Werth des Han¬ delns in die Frucht geſetzt: das heißt: nicht die That iſt etwas, nicht der Erfolg, nur der Gedanke, die Abſicht. Wilhelm Humbold, der uͤber die Bagavadgita ſich in einer eigenen Schrift verbreitet hat, nennt eine ſolche Stimmung eine unlaͤugbar philoſophiſche, eine an das Erhabene grenzende. Das Erſtere wird man ihm leicht zugeſtehen, da die Philoſophie als ſolche, oder die Metaphyſik, ſich nicht allein aus dem Kreiſe menſchlicher Handlungen, ſondern aus allem Stoffartigen der Natur und Menſchheit zu¬ ruͤckzieht und, wie ſchon bemerkt, mit der entkoͤr¬ pernden Myſtik in nahen Verhaͤltniſſen ſteht. Auch die Bezeichnung des Erhabenen oder deſſen, was an das Erhabene grenzt, mag man unangetaſtet laſſen, da das Erhabene auch in unſern Augen dann hervortritt, wenn ein Menſch, ohne Aus¬ ſicht auf Erfolg, ſich fuͤr eine große Sache auf¬ opfert, und nur die Heiligkeit und Schoͤnheit des91 Gedankens, der ihn begeiſtert, vor Augen hat. Allein ſchon hierin muͤſſen wir auf der Hut ſein, das indiſche Geſetz nicht europaͤiſch auszulegen und darin etwa Kant's kategoriſchen Imperativ zu ſehen, nach dem man die Pflicht nur um ihrer ſelbſt willen thun ſoll; ſelbſt Schleiermacher's in den Monologen ausgeſprochenes Prinzip, das faſt woͤrtlich ſo lautet, wie das indiſche in der Bagavadgita, ſtimmt dem Sinne nach, wenigſtens nicht in allen indiſchen Konſequenzen damit voͤllig uͤberein.
Denn, betrachten wir nun, wie das indiſche Leben, ihre Philoſophie und Poeſie ſich geſtaltet hat, ſo ſehen wir ſo recht deutlich, wie tiefgreifend der aͤſthetiſche Grundſatz durch alles dieſes hindurch geht und dem ganzen Inderthum Farbe und Ge¬ praͤge gibt. Die Negation der That iſt nichts anders, als die indiſche Geſchichte, Kunſt und Poeſie ſelber.
Das Handeln wird uͤberall vom Denken, Traͤumen, Phantaſiren abſorbirt, ſelbſt dieſes Den¬ ken und Phantaſiren zieht ſich immer weiter zu¬ ruͤck von der Welt der Sinne, es verſenkt ſich in ſich ſelbſt, es laͤßt im indiſchen Philoſophen und Myſtiker die ganze Welt hinter ſich zuruͤck, um als einſames Ich uͤber ſeinem Ich zu bruͤten, und das goldne Ei der indiſchen Weltphiloſophie92 auszuhecken, das Nichts und doch Alles in ſich faßt. Nichts zu denken, war grade die hoͤchſte Aufgabe der Yogalehre.
So lauten Kriſchnas Worte in der Bagavad¬ gita. Weitere Vorſchriften und Zuͤge ſtellt Wil¬ helm Humbold aus indiſchen Schriften zuſam¬ men: der Fromme ſoll in einer menſchenleeren reinen Gegend einen nicht zu hohen, nicht zu nie¬ drigen, mit Thierfellen bedeckten Sitz haben, Hals und Nacken unbewegt, den Koͤrper im Gleichge¬ wicht halten, den Odem hoch in das Haupt zu¬ ruͤckziehen und gleichmaͤßig durch die Naſenloͤcher aus - und einhauchen, nirgends umherblickend, ſeine Augen gegen die Mitte der Augenbrauen und die Spitze der Naſe richten, und die beruͤhmte Sylbe Om! ausſprechen. — Zu ſolchem unſchoͤnem, unnatuͤrlichem, ſtumpfem und dumpfem Zuſtande fuͤhrte auf gradem Wege das Prinzip, das der93 indiſchen Weltanſchauung zum Grunde lag. Den¬ noch haben wir es bezeichnet als ein aͤſthetiſches, obwohl es in unſerm und griechiſchem Sinne der Aeſthetik gradezu als unaͤſthetiſch erſcheint. Allein eben ſo gut, wie wir die Poeſie in indiſchen Ge¬ dichten Poeſie nennen, und zur Anerkennung der¬ ſelben uns genoͤthigt fuͤhlen, eben ſo gut duͤrfen und muͤſſen wir jene Grundanſicht, die auch der Poeſie vorſchwebt, als aͤſthetiſch bezeichnen, weil ſie auf einem aͤſthetiſchen Punkt wenigſtens be¬ ginnt und von ihm ausgeht: naͤmlich von einem beſtimmten Grundgefuͤhl des Lebens, das ein¬ mal vorhanden war, moͤgen wir daſſelbe gegenwaͤrtig theilen oder nicht.
Nur kann uns keine Pietaͤt gegen die Ge¬ ſchichte und gegen die geiſtigen Aeußerungen eines der Urvoͤlker des Menſchengeſchlechts die Freiheit benehmen, nach unſern Anſichten und Grundge¬ fuͤhlen ſowohl das Prinzip ſelbſt, als deſſen Ein¬ fluß auf Leben, Kunſt und Poeſie zu beurtheilen. Der in den indiſchen Dichtungen herrſchende Ge¬ ſchmack iſt fuͤr uns ein Ungeſchmack und als ſol¬ chen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreiſung der modernen Inder dargeſtellt. Wir verlangen fuͤr Poeſie und Kunſt vor allen Dingen Charak¬ tere mit ſcharfbegrenzter Individualitaͤt, ſie ſollen ihren Geiſt auf beſtimmte Zwecke richten, deren94 Verwirklichung fordern und anſtreben und nur in dieſer Eintracht des Willens mit der That ſehen wir poetiſche Lebendigkeit und poetiſche Wirkung. Der indiſche Dichter hingegen, dem es auf die That nicht ankommt, der die Harmonie zwiſchen Verſtand und Willen, Denken und Thun nicht als das hoͤchſte Geſetz anerkennt, uͤberlaͤßt ſich ganz naiv der vollen Abſurditaͤt der Phantaſie und der traͤumeriſchen Richtung der Gefuͤhle und erfuͤllt auf dieſe Weiſe das aͤſthetiſche Geſetz im Sinne ſeines Volks, wie er es, im Sinne der neueren Voͤlker uͤbertritt. Man kann ſich kaum einen Be¬ griff machen von den ungeheuerlichen Schoͤpfun¬ gen, mit denen ein indiſches Dichterhirn ſchwan¬ ger ging. Am Ausfuͤhrlichſten und Glaͤnzendſten iſt in dieſer Hinſicht die Epiſode des Ramajuna, dieſes indiſchen Nationalgedichts, das ſich der groͤßeſten Beruͤhmtheit erfreut.
Verfolgen Sie nur die charakteriſtiſchen Zuͤge, die den Umriß des Gedichts ausmachen:
Wuſchiſta, ein Bramin, lebt in einer Einſie¬ delei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen be¬ deckt iſt, beobachtend heilige Gebraͤuche, umringt von Weiſen, die dem Opfer und der Wiederho¬ lung des heiligen Namens (Om! Om!) ihr Leben widmen, 60,000 Weiſen, entſprungen aus den Haaren und Naͤgeln Brahma's, alle ſo groß wie95 ein Daͤumling. Nun kam einmal der Koͤnig Wiſchwamitra zu jenem Weiſen, weil er die Kuh beſaß, die der Koͤnig zu erhalten wuͤnſchte; zum Preiſe bietet er erſt 100,000 Kuͤhe, dann 14,000 Elephanten mit Saͤtteln und Zeug von purem Gold und außerdem 100 goldene Wagen, jeden von vier weißen Roſſen gezogen. Aber umſonſt. Er nimmt ſie alſo mit Gewalt. Durch Brahma's Huͤlfe erhaͤlt der Weiſe eine Armee von hundert andern Koͤnigen und dieſe zerſtoͤren die Armee des Koͤnigs Wiſchwamitra; und Wiſchwamitra geht verzweiflungsvoll in eine Wildniß. So groß iſt die Macht des Brahma.
Allein in der Wildniß uͤbernimmt der Fluͤchtige die ſtrengſten Uebungen, um Shivas oder Maha¬ devas, des boͤſen Geiſtes, Geiſt und Unterſtuͤtzung zu erlangen; er ſteht auf den Spitzen ſeiner gro¬ ßen Zeh, mit aufgehobenen Haͤnden, wie eine Schlange von Luft gefuͤttert — hundert Jahre lang. Der Gott gewaͤhrt dem Koͤnige die von ihm verlangte Kunſt des Bogens in ihrem ganzen zerſtoͤrenden Umfang. Er gebraucht ſie, um an dem betenden Brahminen Wuſchiſta Rache zu nehmen, er verbrennt und verwuͤſtet den Wald, den Schauplatz der Devotion deſſelben, ſo daß die Weiſen, Thiere, Voͤgel zu Tauſenden davonfliehen. Aber Wiſchnu's Bogen, vor dem ſonſt die Goͤtter96 und alle drei Welten in Schrecken gerathen, wird zu Schanden vor dem einfachen Stabe, den Wu¬ ſchiſta in der Hand fuͤhrt. So groß iſt Brahma's Macht. Der Koͤnig ſieht es, ſeufzt und faͤngt eine neue Laufbahn ſtrenger Uebungen und Ab¬ ſtraktionen an, um nur erſt Brahmane zu wer¬ den. Daruͤber bringt er tauſend Jahre zu.
Dieſes gefaͤllt Brahma und nach Verlauf der Zeit erklaͤrt er ihn fuͤr einen koͤniglichen Weiſen.
Wiſchwamitra laͤßt aber ſein Haupt mit Scham haͤngen und ſpricht voll Verdruß: nach¬ dem ich ſolche Uebungen vollbracht, nur ein koͤnig¬ licher Weiſer (die koͤnigliche Weisheit muß ſchon damals fuͤr nicht weit her gehalten ſein). Ich achte mich fuͤr nichts und damit beginnt er von Neuem ſeine Uebungen und Abſtraktionen. In¬ deſſen faͤllt es einem gewiſſen Fuͤrſten Trichunko, einem Mann der Wahrheit, von beſiegten Leiden¬ ſchaften, ein, ob er nicht in ſeinem koͤrperlichen Zuſtande unter die Goͤtter kommen koͤnne. Er wendet ſich an Wuſchiſta, allein dieſer erklaͤrt ihm die Unmoͤglichkeit der Sache, ſpricht einen Fluch uͤber ſeinen Frevel und macht eine niedrige Krea¬ tur aus ihm. Der eiferſuͤchtige Wiſchwamitra aber erbietet ſich, durch ein Opfer den ungluͤckli¬ chen Fuͤrſten wirklich in den Himmel zu verſetzen. 97Er ladet den Wiſchuſta und die Goͤtter zu dieſem Opfer ein, aber unwillig ſchlagen ſie die Einla¬ dung aus. Voll Zorn ergreift nun der große Wiſchwamitra den geheiligten Kochloͤffel und ſchwoͤrt, kraft ſeiner geuͤbten Enthaltſamkeiten, ſei¬ nen Freund und Schuͤtzling wohl von ſelbſt in den Himmel zu bringen. Trichunko ſteigt wirklich in den Himmel empor; allein, angekom¬ men, wirft ihn Indra, der Gott des Himmels, wieder heraus. Wiſchwamitra ſieht ihn fallen und nach Huͤlfe ſchreien; er ruft halt und auf dieſen Zuruf bleibt er ſo zwiſchen Himmel und Erde hangen. Dann ſchafft Wiſchwamitra im vollen Zorn einen ganz neuen Himmel und andere Goͤt¬ ter darin und an ihrer Spitze einen neuen Indra.
Die Goͤtter und Weiſen, verſteinert vor Er¬ ſtaunen, wenden ſich hierauf an Wiſchwamitra um Einhalt und bitten ihn demuͤthig, nicht auf die Verſetzung eines vom Brahminen Verfluchten ohne vorhergaͤngige Reinigung zu beſtehen und uͤberhaupt die alte gute Ordnung im Himmel und auf Erden zu zerſtoͤren. Der Koͤnig beharrt auf dem, was er ſprach, doch vereinigt er ſich zuletzt auf guͤtliche Weiſe uͤber einen Platz nicht im Himmel, ſondern am Himmel.
Nach tauſend Jahren vollbrachter Abſtraktio¬ nen erklaͤrt Brahma den Koͤnig fuͤr einen ober¬Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 798ſten Weiſen. Noch nicht zufrieden damit, faͤngt er einen neuen Kurſus an; hier kommt aber zu ſeinem Ungluͤck ein ſchoͤnes Maͤdchen (die Mutter der Sakontula) zu ihm und nimmt ſo ſehr ſeine Sinne gefangen, daß er 25 Jahr mit ihr ver¬ taͤndelt. Erwachend aus dieſer Vergeſſenheit faͤngt er ein neues Jahrtauſend ſtrenger Buͤßungen an. Die Goͤtter gerathen ſchon in Bangigkeit, er werde ihnen durch ſeine ſtupende Froͤmmigkeit neues Un¬ gluͤck bereiten. Brahma geſteht ihm darauf das Prinzipat unter den oberſten Weiſen zu. Auf des Koͤnigs Frage, warum er noch nicht zu einem Brahma-Weiſen ernannt werde, erklaͤrt Brahma: noch haſt du deine Leidenſchaften, Zorn, Luſt und Liebe nicht unterjocht.
Abermals beginnt er ſeine Uebungen; aber vergebens ſucht ihn Indra durch das ſchoͤnſte Maͤd¬ chen zur Liebe und durch allerhand Schelmenſtreiche zum Aerger zu reizen. Nachdem der Chef der Weiſen tauſend Jahr lang geſchwiegen, wird dem Gott Indra im Himmel bang um den Himmel. Er wendet ſich an Brahma. In dieſem großen Weiſen, ſagt er, iſt nicht der kleinſte Schatten einer Suͤnde mehr — wenn das Verlangen ſeines Geiſtes nicht geſtillt wird, wird er mit ſeiner Ab¬ ſtraktion das ganze Univerſum zerſtoͤren. Die Ex¬ treme der Welt ſind in Verwirrung, das Meer99 brauſt, die Berge ſtuͤrzen ein, die Erde zittert — o Brahma!
So wird nun Wiſchwamitra von Brahma endlich zum Brahmaweiſen erklaͤrt und ver¬ ſoͤhnt ſich mit Wuſchiſta, der weniger kuͤhn, es noch nicht ſo weit gebracht hat, als er.
In dieſem Gedicht liegt die indiſche Weltan¬ ſchauung, wie in dem Satz des Kriſchna die aͤſthetiſche Quelle derſelben. Wie anders lautet das aͤſthetiſche Prinzip im Munde eines griechiſchen Gottes, und wie ſehr verſchieden iſt das chriſtliche von beiden. Die aͤſthetiſche Weltanſchauung, die im Griechenthum und Chriſtenthum ſich offenbart, wird das Object der naͤchſten Vorleſung ſein.
7 *100Im Indiſchen, wie wir geſehen, verwirrt ſich der von der That und der Welt der Sinne ſich losſagende Gedanke einerſeits in das Gebiet der abſtruſeſten Phantaſiebilder, andererſeits in einen bodenloſen Abgrund der Myſtik, wo er uͤberhaupt aufhoͤrt Gedanke zu ſein und als ein Nichts uͤber dem Nichts in ſchauerlicher Oede hinbruͤtet. Die aͤſthetiſche Weltanſchauung der Indier machte nur die Augen auf, um ſie wieder zu ſchließen, ſie ward ſich der Sinne nur bewußt, als zu vernich¬ tender Widerſpiele des Geiſtes, des Geiſtes nur als einer zu toͤdtenden Mannigfaltigkeit von Ge¬ danken, Gefuͤhlen und Beſtrebungen, der ganzen Welt nur, als einer kriminaliſtiſchen Mummerei wechſelnder Geſtalten, welche aus Blumen und101 Thieraugen den Menſchen wehmuͤthig ſchmerzlich anſehen und in Gemeinſchaft mit ihm nach der Zeit ſchmachten, wo ihre Larven fallen und ſie wieder in den Zuſtand der Seligkeit, das iſt der Bewußtloſigkeit, der Vernichtung zuruͤckkehren. — Zu verweſen bei lebendigem Leibe, dieſe ſchauder¬ hafte Sehnſucht zieht ſich durch die indiſche Welt, und erfuͤllt uns mit einem ſeltſamen, unheimli¬ chen Gefuͤhl, das uns durch den ganzen Orient begleitet und uns nicht eher verlaͤßt, als bis wir an den Ufern des lebensfriſchen und lebensfrohen Griechenlands Athem holend angelangt ſind. Wel¬ cher Himmel, welche Erde, welche Menſchen, welche Goͤtter, welche Geſchichte, welche Gedichte, welche Natur, welche Kunſt, das Alles iſt Griechenland und man muß ſtaunen und ſich verwundern, daß zwei ſo ungleiche Laͤnder, wie Indien und Grie¬ chenland, auf einem und demſelben Planeten zuſam¬ men liegen. Unaufloͤslich wuͤrde in der That das Raͤthſel ſein, wie die Weltanſchauung und das Leben bei Geſchoͤpfen von einerlei Natur und Art, aus einerlei Teig geknetet und mit demſelben gei¬ ſtigen Odem durchweht, ſo grundverſchieden, ja in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬ gegengeſetzt ſich geſtalten konnte, waͤre uns die Ur¬ geſchichte des griechiſchen Geiſtes voͤllig unbekannt und koͤnnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke102 auf den fruͤheren Zuſammenhang orientaliſcher und europaͤiſcher Bildung werfen. Die Natur, das iſt unſere Ueberzeugung, kennt keine Widerſpruͤche, keine ſchreiende Diſſonanzen, ſie arbeitet ſich durch tauſend Mittelglieder hindurch und verbindet die Enden der Welt mit einem unſichtbaren Zauber¬ bande, das im Dunkel des Mythos und der Ge¬ ſchichte flattert, und nur vom Auge des Geiſtes erkannt wird. Alle die Toͤne der Weltenlyra klin¬ gen zuſammen in einen einzigen ungeheuren Ak¬ kord, in dem nichts Einzelnes mehr unterſcheidbar iſt und ſo haben alle Sprachen und Sagen aller Voͤlker, ſo fremd und diſſonirend ſie klingen, einige Grundlaute mit einander gemein, die eben den geiſtigen Urlaut des menſchlichen Daſeins bilden. Aber durch allen Sinn und Unſinn der Geſchichte, durch den Wirrwarr aller Voͤlkerſtimmen geht die¬ ſer rein menſchliche Ton, dieſe Stimme der Na¬ tur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die Weißen und die Olivenfarbigen und die tauſend¬ jaͤhrigen Todten und die Lebendigen heutigen Tags um den einen gemeinſchaftlichen Urborn des leib¬ lichen und geiſtigen Lebens der Menſchheit ver¬ ſammelt.
Europaͤer ſind Aſiaten, das lehrt die Ge¬ ſchichte: Europa iſt ein Stuͤck von Aſien, lehrt die Geographie. Die europaͤiſche Bildung hat ihre103 Wurzeln in Aſien, das deuten uns die aͤlteſten Mythen und die Urelemente der Sprache, der Schrift, der Sitten und Geſetze der europaͤiſchen Voͤlkerſchaften; auch die Bildung der Griechen hat ihre Wurzel jenſeit des Hellesponts, oder vielmehr ſie hat ſich mit dieſer Wurzel von aſiatiſchem Bo¬ den losgeriſſen und ſie in griechiſche Erde ver¬ pflanzt. Es gab eine Zeit, wo die Griechen noch nicht Griechen waren, eine Zeit, wo ihr Geiſt noch verſenkt war in den ſtarren Naturſymbolen des Orients, wo Prieſterherrſchaft und Kaſtengeiſt noch die Entfaltung des oͤffentlichen Lebens hemmte, wo ihre Sinne ſich noch mit einem daͤmmernden Flor umzogen und ſie nur noch die erſten Ver¬ ſuche machten, ſich aus den bleiernen Armen der aſiatiſchen Tradition loszuringen und ihr Leben auf eigenthuͤmliche Weiſe zu geſtalten. Nicht immer ward der griechiſche Olymp von Goͤttern bewohnt, wie Homer ſie ſchildert, nicht immer war den Griechen wuͤſte Phantaſie und Abgeſchmacktheit ein Greuel, ihre aͤlteſten Goͤtterdynaſtien, ihre Thier - und Menſchenungeheuer, Sphinxen und Centauren, ihre pelasgiſchen Kabiren verrathen uns nur zu deutlich eine fruͤhere Bildungsſtufe, auf der ſie den Aegyptern und Indiern aͤhnlicher ſehen, als ſich ſelbſt in ſpaͤterer Zeit. Lange Zeit moͤgen ſie in dieſer dunkeln Naturmyſtik befangen gewe¬104 ſen ſein, worin ſie, wie die alten Indier noch ſchlaftrunken und mondſuͤchtig am Abgrund des Weſens hintaumelten und ihr Hirn ſchwindeln machten von den myſterioͤſen Duͤnſten, welche ſpaͤ¬ ter die Pythia allein einſog. Nur allmaͤhlig kam die Menſchheit zur Beſinnung, ſie aber waren die erſten, welchen das menſchliche Bewußtſein auf¬ ging, die menſchliche Perſoͤnlichkeit gegen die dun¬ keln Maͤchte der Natur geltend machten, die, wenn der Ausdruck nicht zu kuͤhn iſt, das Nabel¬ band zerſchnitten, das den Menſchen bisher, wie ein Thier, mit dem Schooß der Erde verknuͤpfte und ihm das Bewußtſein eigner freier Exiſtenz fortwaͤhrend verduͤſterte. Der Indier hatte kein Gefuͤhl von ſeiner Kraft, daher war auch ſeine Weltanſchauung eine leidende und auf Vernichtung aller Perſoͤnlichkeit, aller ſelbſtſtaͤndigen That ab¬ zielende. Des Griechen Weltanſchauung ward eine thaͤtige, und drang mit Bewußtſein auf die Harmonie des Gedankens und Willens und griff in alle Saiten der Seele und wuͤhlte Toͤne auf, die kein ſterbliches Ohr bisher geahnt und ſetzte Gedanken ins Leben, die nicht untergehen werden, ſo lange die Welt ſteht. Suchen wir einen Na¬ men, um die beſondere Art ihrer aͤſthetiſchen Welt¬ anſchauung zu bezeichnen, ſo duͤrfen wir nur die Augen aufſchlagen und auf ihren Werken den ein¬105 gepraͤgten Stempel betrachten, die ſchoͤne, die freie, die plaſtiſche, die perſoͤnliche, die harmoni¬ ſche, die rein menſchliche; Namen fuͤr eine Sache, Strahlen eines Lichts, Blumen auf einem Staͤn¬ gel; denn nur als Perſoͤnlichkeit, nur als freie und ſchoͤne Perſoͤnlichkeit iſt der Menſch ein rei¬ ner Menſch, ein nach allen Kraͤften ſeiner Natur durchgearbeitetes Weſen, ein wachendes, handeln¬ des, freudiges Geſchoͤpf, das den ſchoͤnen Kreis, der ſeine bewußte Exiſtenz umgibt, nur dann durchbricht, wenn Schlaf, Traum oder Tod es unwillkuͤhrlich herbeifuͤhren. Dem traͤumenden In¬ dier ward das ganze Leben zum Traum und der Traum ſelber eine Sehnſucht nach dem Austraͤu¬ men, das heißt nicht nach dem Erwachen, ſon¬ dern nach Stillſtand, Tod, Aufloͤſung.
Vor Traum und Tod, welche die Lebendigen und Wachenden umlauern, fand der Grieche kei¬ nen Schutz, aber er traͤumte nicht, wenn er wachte und er toͤdtete ſich nicht ab, um dem Tode den Sieg zu verſchaffen; ja die Vorſtellung des letztern ſuchte er ſich zu verſchoͤnern und zu erheitern und ſtatt eines grinſenden Schaͤdels blickte ihn auf Grabmalen der Juͤngling mit umgekehrter Fackel an. Die Spanne zwiſchen Geburt und Grab; die Stunden zwiſchen Schlaf und Wachen, die nannte er ſeine Welt, ſeine Zeit, ſein Eigen¬106 thum, darin bluͤhten ſeine Hoffnungen, darin reif¬ ten ſeine Plaͤne, darin herrſchte ſeine That; was draußen und dahinter lag, war fuͤr ihn kein Ge¬ genſtand der Sehnſucht und der Aufopferungen. Nur das menſchlich Geſtaltete, das Organiſche ge¬ dieh ihm zur Luſt und Freude, und daher belebte er die ganze Natur, Erde, Himmel und Meer, mit Geſtalten, die ihm glichen und die zum Mit¬ gefuͤhl ſeiner Leiden und Freuden ſich herabließen. Und nicht allein auf den Gipfeln des Olymps und des poetiſchen Parnaſſus lebte eine perſoͤnliche, vielgeſtaltige Goͤtterwelt, ſondern auch auf den Hoͤhen der Philoſophie regte ſich das plaſtiſche Streben des griechiſchen Geiſtes und ich ſehe in der platoniſchen Ideenlehre nur Goͤtter, die Plato Ideen nennt und denen er die Idee der Ideen, das Eine, das Gute, als einen Ideenzeus uͤber¬ ordnet, ſo aber, daß jede durch Theilnahme an der Natur des Einen, eine volle und ſelbſtſtaͤndige Goͤttlichkeit genießt.
Wie in Philoſophie, Poeſie und Kunſt, ſo insbeſondere im Staate war das plaſtiſche Prin¬ zip der Griechen wirkſam, welches wir als ihr oberſtes aͤſthetiſches Grundgeſetz betrachteten. Un¬ ter den Griechen tritt die Beſeelung des Staates, als eines Kunſtwerks zuerſt hervor, und zwar nach dem allgemeinen Gang und der Natur des Prin¬107 zips durchaus demokratiſch. Die erwachte Freiheit machte ſich ganz und gar als Beſonderheit gel¬ tend, auf ſich ſtrebte jede Perſoͤnlichkeit ſich zu baſiren, jeder reklamirte im allgemeinen Wechſel¬ verkehr ſeine natuͤrlichen und angebornen Rechte. Zu gleicher Zeit fuͤgten ſich alle dieſe Einheiten der hoͤhern Einheit des Staats, ſie waren frei und beſeelt, aber ſie theilten ihre Seele miteinan¬ der. Es war eine ſtrahlende Lebendigkeit in allen dieſen Geſtalten, ein inneres, heroiſches Ungeſtuͤm trieb die Gemuͤther ins Leben und aus jeder haͤus¬ lich duͤrftigen Beſchraͤnkung heraus, der Schwung der Gemuͤther druͤckte gegen jede Feſſel und drohte ſie zu zerſprengen. Und doch zerfloß das Ganze nicht in Anarchie, denn die verborgene Einheit zuͤgelte wieder den Uebermuth, dieſe Einheit, nicht des dumpfen Zwanges der Natur oder Gewohn¬ heit, ſondern des Geiſterreiches, der Kraft und Zuͤgel, Bedenken und Thun ſinnig vereinte, kein modernes Abſtraktum, kein logiſcher Staatsbegriff, ſondern die Einheit des Lebens, der Kunſt und der Schoͤnheit, welche im Mannigfaltigen das Identiſche feſthaͤlt. In dieſer Elaſtizitaͤt der Wil¬ lenskraͤfte, die federnd nach außen wirkten, ver¬ bunden mit jener Sympathie der Vaterlandsliebe ging das großartige Leben des Alterthums hervor. So hatten ſie ganz und gar ihren Beſtand im108 Sinnlichen gegruͤndet, waren Autochthone, wie ſie ſich auch nannten und hingen mit dem verwitter¬ ten Urſtamme der aſiatiſchen Menſchheit nur in ſo fern zuſammen, als ſie die nachquillenden rohen Naturſaͤfte deſſelben zu ihrer eigenen Bluͤthe ver¬ wandten.
Leider war auch dieſe Bluͤthe vom Schickſal beſtimmt, um zu verwelken und andern Bluͤthen des menſchlichen Geiſtes Platz zu machen. Die Roͤmer haben Griechenland nicht zerſtoͤrt, ſie haben nur die letzte Hand daran gelegt, ſie haben die ſterbende Nationalexiſtenz nach hoͤherem Beſchluß exekutirt. Sie ſtehen uͤberhaupt in der Geſchichte als unerbittliche Exekutoren da, die alles Leben, was nicht auf den Beinen feſtſteht, vor ſich nie¬ derwerfen und mit eiſernem Fuße auf eine unter¬ jochte und zertruͤmmerte Welt hintreten. Die Griechen waren ſich ſelbſt genug, daher machten ſie keine auswaͤrtigen Eroberungen, außer geiſti¬ gen. Die Roͤmer hingegen draͤngten ſich, mit aller Kraft einer iſolirten Richtung, aus ſich heraus und wurden Eroberer und Unterjocher, weil ihnen das innere poetiſche Leben und der geſtaltende Sinn der Kunſt abging. Rom hat keine großen Dich¬ ter und Kuͤnſtler erzeugt, noch viel weniger einen Philoſophen, aber Roms Redner beſaßen eine daͤ¬ moniſche Kraft, weil die Beredtſamkeit des Forums109 mit der Richtung ihres Geiſtes uͤbereinſtimmte und einen thatſaͤchlichen Charakter trug; Maͤnner der That hat kein Volk in ſo großer Zahl und ſo ununterbrochener Reihe aufzuweiſen. Poſitiv und praktiſch war die Weltanſchauung der Roͤmer, im graden Gegenſatz zur indiſchen, die ſich in ſich zu¬ ruͤckzog, waͤhrend die griechiſche ſich in der Har¬ monie des Geiſtigen und Leiblichen ſchwebend er¬ hielt, daher denn auch mit Recht Virgilius den Roͤmern zurief:
Der Zuruf kam freilich zu ſpaͤt, die Roͤmer hat¬ ten Kuͤnſte und Wiſſenſchaften bekommen, aber ihre Kraft war gebrochen und der Koloß ihrer Herrſchaft ging in Faͤulniß und Gaͤhrung uͤber.
Das nun hervortretende Chriſtenthum, das ſich nicht als Volks -, ſondern als Voͤlkerreligion geltend zu machen ſuchte, wurzelte allerdings im Judenthum und in den Ideen des Orients, ward aber von einem durchaus neuen und eigenthuͤm¬ lichen Geiſte beſeelt, wie es auch andrerſeits von den heidniſchen Religionen des Occidents ſich we¬ ſentlich unterſchied und unter den juͤngeren Gene¬ rationen, welche ſich auf dem Ruin der alten occi¬ dentaliſchen Welt anbauten, eine von allen bishe¬ rigen Erfahrungen verſchiedene Anſchauungsweiſe110 hervorrief. Ueber dem alten Goͤtterhimmel woͤlbte ſich ein neuer Himmel, und wenn einſt der ſinn¬ lich gluͤckliche Grieche ſich von ſeinen Goͤttern ſelbſt uͤber die irdiſche Seligkeit beneiden ließ, ſo ſchlug nun die Sehnſucht ihren Blick in die Hoͤhe und die himmliſche Seligkeit uͤberſtrahlte die irdi¬ ſche, welche keine mehr war, ſondern eine Pruͤ¬ fung, ein vergaͤnglicher Wandel, ein Leben im Fleiſch, in dem das Boͤſe wohnt und das ge¬ kreuzigt werden muß, damit das Leben im Geiſt beginne. Draͤngt ſich uns danach die reſigni¬ rende Natur der chriſtlichen Weltanſchauung auf, ſo gerathen wir doch nicht auf die irrthuͤmliche Verwechſelung der chriſtlichen Reſignation mit der indiſchen Negation des Sinnlichen. Dieſe hob nicht allein das Sinnliche, ſondern mit dem Sinn¬ lichen das verwandte Geiſtige auf, waͤhrend der reſignirende Chriſt nur noch energiſcher und kraͤfti¬ ger die hoͤhere Welt anſtrebte und die gedemuͤthigte Seele wieder erhob und zu reineren Regionen mit ſich fortriß. Balſam war ſie fuͤr ihre Zeit; die geſunkene Menſchheit richtete ſich an ihr wieder auf und die Millionen Sclaven warfen ihre Feſ¬ ſeln hin, um mit ihren Herren vor den Altar des Herrn aller Herren zu treten. So bemaͤch¬ tigte ſie ſich anfangs aller Geiſter, die hienieden nichts zu hoffen hatten, im Fortgang der irdi¬111 ſchen Großen, die viel zu fuͤrchten hatten, und kroͤnte ihr Werk mit Ergreifung jener jugendli¬ chen Nationen von germaniſchem Stamm, die wild und feurig in der Welt umherſtreiften und ſich noch erſt Wohnplaͤtze auf der weiten Erde aufſuchten. Neues Blut und neue Kraft draͤngte ſich nun auf die Buͤhne der Geſchichte und nun erſt bekam die neue Lehre ihre wahren Juͤnger, welche die alte abgeſtorbene Zeit ihr kaum bilden konnte. Das Element des Myſtizismus, das in ihrem Grundcharakter urſpruͤnglich lag, aber in ihrem Verkuͤndiger ganz in unmittelbar praktiſche Lebensſitte, Kindlichkeit und Reinheit der Geſin¬ nung eingeſchleiert war, aber ſchon in den naͤch¬ ſten Nachfolgern zum Vorſchein kam, wurde nun von den nordiſchen Naturen, die innere Anlage dieſem Ziel entgegentrieb, mit friſcher, junger Kraft und Energie ausgebildet und zur romanti¬ ſchen Entwicklung hinangetrieben. Es war das Ferment, das mit der urſpruͤnglichen Kraft des Nordens durchgaͤhrte und die ganze mittlere Ge¬ ſchichte, Papſtthum, Kaiſerthum, Ritterthum, Feu¬ dalismus, gothiſche Baukunſt, Poeſie, Malerei und Skulptur des Mittelalters bilden half. Solche Geſtaltung des Lebens war nur durch die chriſt¬ liche Anſchauungsweiſe moͤglich, war nur einmal da in der Welt, und wird nicht wiederkommen. 112Selbſt die Kunſt, welche das Chriſtenthum eine Zeit lang verherrlichte, die Malerkunſt des 14. und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung deſſelben bei; ſie war bei den Griechen in die Schule gegangen und hatte die Schoͤnheiten der Form an der Antike ſtudirt und mit griechiſchem Auge im Leben aufgeſucht. Offne und freie Schoͤn¬ heit der Form aber iſt dem Chriſtenthume fremd, das Chriſtenthum iſt ernſt, verhuͤllt und zuͤchtig, und immer ahnt es die Schlange, die hinter den Roſen verſteckt liegt. Auf einer raphaeliſchen Ma¬ donna wuͤrde der Blick eines Paulus ſchwerlich mit demſelben Wohlgefallen geruht haben, wie etwa der unſrige, derſelbe Apoſtel, der der Jung¬ frau verbot ihre Haare wallen zu laſſen und Kraͤnze auf ihr Haupt zu ſetzen, mußte auch die Abſicht des Malers verrathen, bei aller Heiligkeit und Unſchuld der Madonna doch hauptſaͤchlich das Bild eines ſchoͤnen und reizenden Weſens vor Au¬ gen zu bringen.
Eben ſo gefaͤhrlich, als die neu erwachende Sinnlichkeit der griechiſchen Kunſt, ward der ur¬ ſpruͤnglichen Anſchauungsweiſe des Chriſtenthums der ſcharfe Verſtand, der unglaͤubige Witz, der ſcharf die Dinge ſcheidet, der klar und hell in die Erſcheinungen blickt und der freſſend, zehrend den Zauber, der ihn fangen will, durchſchneidet. Und113 ſo ſieht ſich daſſelbe von zwei Richtungen in die Mitte genommen, von der Sinnlichkeit und vom Verſtande, und es gaͤhrt wieder, wie ehemals, in einem neuen geſchichtlichen Prozeſſe und Jeder von uns fuͤhlt ſich mitbegriffen, bewegt und er¬ ſchuͤttert im Weben der Zeit und ſucht der Rich¬ tung zu folgen, welche ſich am Herrſchendſten in ihm geltend macht. Ohne Zweifel wird ſich aus dieſem Kampf eine neue aͤſthetiſche Anſchauungs¬ weiſe entwickeln und damit eine Umgeſtaltung der Dinge, welche eine neue Kunſt, eine neue Poe¬ ſie, ein neues Leben herbeifuͤhren wird. Mehr in ahnenden Zuͤgen, als in wirklichen Umriſſen ſie darzuſtellen, wird meine Aufgabe fuͤr die naͤchſte Vorleſung ſein.
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 8114Die Manifeſtation einer neuen Anſchauungsweiſe, und damit eines neuen Lebens, einer neuen Kunſt und Poeſie iſt, wie wir am Beiſpiel der griechi¬ ſchen und chriſtlichen geſehen, kein momentaner Akt, der ſich ſofort aller geſchichtlichen Elemente bemaͤchtigte und die Formen der fruͤheren Anſchau¬ ungsweiſe auf einmal zertruͤmmerte, ſondern ein progreſſiver Akt, dem nur allmaͤhlig die Ueberwaͤl¬ tigung und Ausſcheidung der zuckenden, abgeſtor¬ benen Lebensreſte gelingt. Es verharrt die Zeit ſo lang im Verpuppungszuſtande, bis ihr unter der Decke die Fluͤgel ausgewachſen ſind, ſie dehnt ſich, lockert ſich, erwartet den Augenblick — dann koſtet es nur einen Sonnenſtrahl, vielleicht den erſten nach ſchwerem Gewitter und geſprengt iſt115 der alte Leib und die Pſyche der Menſchheit ath¬ met wieder die Freiheit ein.
In ſolch verpupptem Zuſtande erſcheint uns die Gegenwart. Sie traͤgt noch die Larve der alten Zeit, die haͤßliche, runzligte Larve und das Leben, das ſich im Innern entfaltet, iſt nur noch ein huͤpfender Punkt, iſt noch gemiſcht aus Seuf¬ zern der Hoffnung und Seufzern des Schmerzes. Aber es iſt ein neues Leben, ſo gewiß und wahr¬ haftig, als das alte todt iſt und nur noch mit ge¬ ſpenſtiſcher Huͤlle das junge druͤckt, verſchließt und beaͤngſtigt.
Taͤuſchen wir uns nicht, Vieles ſcheint noch lebendig, weil es leibhaft vor uns ſteht. Groß iſt die Macht, die im Schein des Sichtbaren liegt, tiefgewurzelt die glaͤubige Gewohnheit hinter dem Sichtbaren das Unſichtbare vorauszuſetzen. Nur mehr, unendlich mehr, wir ſelbſt ſind die Traͤ¬ ger der abgeſtorbenen Zeit, wir ſelbſt ſind verhuͤllt von Kopf bis zu Fuͤßen, ſprechen und handeln im Charakter unſerer Maske, bewußtlos wie die Menge, mit Bewußtſein, wie Viele. Nur Wenige haben die Aufrichtigkeit, mit dem Finger auf ihre Maske hinzudeuten, noch Wenigere den Muth, ſie ſich und Andern vom Antlitz zu reißen.
So ſteht es bei uns. Es iſt eine druͤckende Zeit. Man iſt unwohl in ſeiner eigenen Haut8 *116und doch luͤgt man ſich die Haut voll. Das Herz kann man ſich nicht beluͤgen. Die Zunge freilich iſt ein furchtſames Glied, dem Einen iſt ſie der Kloͤppel der ehernen Unverſchaͤmtheit, dem Andern das Laͤmmerſchwaͤnzchen demuͤthiger Erge¬ benheit. Auch die Wange iſt kein treuer Spiegel der Seele mehr, ſie wird eher roth oder blaß, wenn die Wahrheit, als wenn die Luͤge zum Vor¬ ſchein kommt. Aber das Herz kann man ſich nicht beluͤgen, ſchon das Auge nicht; taͤglich, ſtuͤndlich koͤnnen wir uns unſere moraliſchen, reli¬ gioͤſen, politiſchen Luͤgen aus dem Auge herausle¬ ſen. Das iſt der Fluch der Zeit, der auf einer Uebergangsepoche, wie der unſrigen ruht, das iſt der Schmerz, der die edelſten Geiſter durchdringt, der in ſo vielen Stunden die Hoffnung uͤbertaͤubt und die Unruhe, die Zerriſſenheit, den Zweifel erzeugt, Plagegeiſter der Menſchheit, wenn ſie naͤchtlich mit neuen Geburten ſchwanger geht.
Dennoch ſollte die Hoffnung groͤßer ſein, als die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht hemmt, die Hoffnung befluͤgelt, weil die Furcht Zweifel erregt, die Hoffnung ſie zerſtreut, weil die Furcht trennt und zerruͤttet, die Hoffnung einigt und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht den Feinden Muth gibt, die Hoffnung aber ihnen denſelben laͤhmt. Vergebens aber ſchminkt ſich117 dieſe alte Zeit mit Hoffnungen, die Todtenfarbe ſchimmert hindurch; vergebens ſucht ſie ſich an das junge Leben anzuklammern, jeder Pulsſchlag draͤngt ſie weiter zuruͤck.
Unſere Zeit gleicht der Zeit des Kaiſers Ju¬ lian und ſie gleicht ihr in ſo uͤberraſchenden Zuͤ¬ gen, daß wir darin eine wunderbare Fuͤgung des Schickſals erblicken muͤſſen. Unſerer Zeit ging vorauf die Revolution und Napoleon ihr Erbe, der Konduktor ihrer elektriſchen Freiheitsſchlaͤge; dann kam die heilige Allianz, der Bund der alten Maͤchte gegen die neuen und es begann der Kampf zwiſchen dem alten und neuen Genius, uͤberall, wo dieſer aus dem webenden Dunkel hervortrat und Geſtalt anzunehmen verſuchte, gluͤcklich oder ungluͤcklich, bisher ohne Sieg, Niederlage und Ab¬ ſchluß. Auch der Zeit des Julian ging eine Re¬ volution vorher und Konſtantin hieß der Kaiſer, der die Klugheit hatte, ſich an ihre Spitze zu ſtel¬ len und ihr Symbol, das Kreuz, auf die Standar¬ ten jener Legionen zu pflanzen, welche Chriſtum gekreuzigt und Jeruſalem zerſtoͤrt hatten. Aber noch ſchwankte der Sieg, denn die Inſtitute des Heidenthums waren zu maſſiv und das Chriſten¬ thum war nur noch ein reiner Spiritus, ein uͤber¬ irdiſcher Pilger, der ohne Schimmer und Prunk einherging und ſein zweiſchneidiges Schwert unter118 dem Mantel der Armuth und Demuth verbarg. Julian verſammelte die bisherigen Goͤtter der Welt zu einer „ heiligen Allianz “gegen den neuen Gott und ſprach den Bann uͤber ihn aus. Er ließ ſeine Trabanten das Kreuz umſtoßen, ſeine Philoſophen das Kreuz laͤcherlich machen und ein zeitgemaͤßeres Heidenthum fabriziren; aber um¬ ſonſt. Die Goͤtter ſahen aus todten Augen, die Speere zerbrachen wie Glas und die Philoſophie ſah ſich genoͤthigt, ihre Ohnmacht und Unfrucht¬ barkeit zu bekennen. Die neue Weltanſchauung behielt den Sieg.
Drum ſoll die Hoffnung groͤßer ſein, als die Furcht, denn unſere Zeit gleicht der Zeit des Julian.
Sie gleicht ihr — bis auf einen Zug — denn nichts wiederholt ſich vollkommen in der Weltgeſchichte. Erklaͤre ich, was ich meine. Ueber das neue Leben, das Julian zu verdraͤngen, zu vernichten trachtete, war ſchon damals und gleich vom Urſprung an, die Formel der Bedeutung aus¬ geſprochen, Einer hatte es offenbart, Zwoͤlf hatten es der Welt verkuͤndigt und Tauſende und Millio¬ nen ſchwuren auf das Wort, das Menſch geworden war. Welche Lippe hat aber das Wort ausgeſpro¬ chen, worin ſich der neue Geiſt inkarniren will, wo iſt der Meſſias, wo ſind die Apoſtel, wo ſind119 die gemeinſamen Symbole dieſes Geiſtes? Es iſt wahr, er weht durch die ganze Welt und wir hoͤren ſein Brauſen, aber wiſſen wir auch, woher er kommt, wohin er geht? Es iſt wahr, wir rei¬ ßen uns allmaͤhlig aus der Umarmung des ſtarr¬ gewordenen Lebens los, wir fuͤhlen uns mit Geiſt und Sinnen in eine neue Stroͤmung verſetzt, die uns unaufhaltſam mit ſich fortreißt, wir ſehen neue Sterne vor unſerm Blicke aufgehen, aber wiſſen wir auch, welchen Ufern die Welle uns zutreibt? Prophetiſch iſt jede Zeile, die gedruckt, jedes Wort, das geſprochen, jede That, die voll¬ fuͤhrt wird, aber meſſianiſch keine. Sollen wir, wie die Juden, den Meſſias erwarten, als eine Perſon, oder ſollen wir einer innern Ahnung Glauben ſchenken, die uns zufluͤſtert, voruͤber ſind die meſſianiſchen Zeiten, wo die Offenbarung aus¬ ging von einem Einzigen, die Zeit ſelbſt iſt fort¬ hin der gebenedeite Schooß der Jungfrau, der vom Geiſt befruchtet wird und das iſt die Erfuͤl¬ lung der alten Weiſſagung von einer Zeit, wo alle Juͤnglinge und Jungfrauen ſich dem Zuge der Begeiſterung uͤberlaſſen?
Wie dem auch iſt, ſo unbezeugt hat ſich die Zukunft nicht gelaſſen, ſo unſicher, verwirrt und ſchwach ſind nicht die Aeußerungen des neuen Gei¬ ſtes bisher geweſen, um jeden divinatoriſchen Ver¬120 gleich, die Elemente und Grundzuͤge der werdenden Weltanſchauung ahnungsvoll aufzufaſſen, ſchon a priori zu einem nichtigen zu machen. Es iſt hin¬ gegen Pflicht, ſein Bewußtſein zu ſchaͤrfen und das Ziel ins Auge zu faſſen, um nicht die Kraft, wie es ſo oft geſchieht, in unnuͤtzen Beſtrebungen zu verzehren nach einem Ziel, das uns nicht im Angeſicht, ſondern im Ruͤcken liegt.
Sieh auf die Zeit, betrachte die naͤchſte Ver¬ gangenheit, erforſche die Gegenwart und beachte, was ſich im Kleinen und Großen lebendig regt und den Progreſſus der Geſchichte bildet, beachte vor allen Dingen die Phaͤnomene deines eigenen Geiſtes, ſchwaͤrme nicht, aber ſei noch weniger ſtumpfſinnig, reibe dir nur die Augen aus und ſieh, was in dir und um dich vorgeht. Dann denke an die laͤngſtvergangenen Zeiten, an die Welt vor einem Halbtauſend von Jahren, an die Menſchen und die Erſcheinungen, welche jene Zeit hervorrief, und vergleiche ſie mit den Menſchen und Erſcheinungen in der Gegenwart; tritt dir dann nicht der ſchlagendſte Kontraſt entgegen, magſt du dann noch glauben oder hoffen, jene Zeit koͤnne ſich auf eine Art, durch eine Art nur wieder er¬ neuern, ſo ſei uͤberzeugt, du biſt ein Nachtwandler unter den Lebendigen und kannſt als Poet die ſchoͤnſten Traͤume haben und als Prediger die feu¬121 rigſten Reden halten, als Politiker die feinſten Staatsplaͤne ſpinnen, aber du kannſt es auch zum Heil der Welt eben ſo gut laſſen, denn dein Traum entzuͤckt nicht, deine Rede bekehrt nicht, dein Ge¬ ſpinnſt haͤlt nicht, du biſt der Zeit verfallen, die Geſchichte kennt dich nicht und wenn du dem Le¬ bendigen und Wachen uͤber den Weg kommſt, ſo wirſt du bei Seite geſchoben.
Kaum aber laͤßt ſich erwarten, daß ein auf¬ richtiger und unparteilicher Zuſchauer der Weltbe¬ gebenheiten, ein Pruͤfer ſeines eigenen Herzens die maͤchtige Scheidewand verkennen wird, die un¬ widerruflich zwiſchen uns und der alten Zeit nie¬ dergefallen iſt. Schon vor 400 Jahren begann die Bildung der neuern Zeit und ein Deutſcher war es, der den erſten Grundſtein dazu legte. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt durch Fauſt hat die geiſtige Kaſtenordnung in der europaͤiſchen Welt zuerſt gebrochen, und indem ſie eine unbe¬ ſchraͤnkte Gemeinſchaft der Geiſter einfuͤhrte, die Schranken umgeſtuͤrzt, welche der Despotismus des Staats und der Wiſſenſchaft um ſich erbaut. Eine unendliche Maſſe von Licht hat ſich uͤber Europa ausgegoſſen und Luther Flammen aus Licht gezaubert und verzehrend die alten Heiligthuͤ¬ mer angetaſtet. Der Sohn dieſes Lichts und die¬ ſer Flamme, der Verſtand, errang die Herrſchaft8 **122und hat ſie von Tage zu Tage mehr ausgebreitet. Man legte Baͤnder um ihn her, aber er ſchluͤpfte hindurch wie eine Sylfe, man wollte ihn gewalt¬ ſam greifen und halten, aber er zerrann in den Haͤnden ſeiner Feinde und ſpottete ihres nichtigen Beginnens. Er war es auch, der die Riegel weg¬ ſchob vor der eingekerkerten Sinnlichkeit, und nun im Verein mit der ſinnlichen Kraft offen die Spitze bot und die franzoͤſiſche Revolution zu Stande brachte.
Verſtand und Sinnlichkeit habe ich ſchon in voriger Stunde als diejenigen Kraͤfte gedacht, welche die entſchiedenſte Richtung gegen die Anſchauungs¬ weiſe der alten Zeit eingeſchlagen. Unzweifelhaft ſind es dieſe beiden Elemente, auf deren harmo¬ niſcher Vereinigung die Form der neuen Anſchau¬ ungsweiſe beruhen wird. Hiſtoriſch denkreich iſt es wieder, daß unſer proteſtirendes Deutſchland auch der geiſtige Herd war, wo der zuruͤckge¬ draͤngte Funke des ſinnlichen Lebens zuerſt aus der Aſche der Schulweisheit aufblitzte. Nicht nur poetiſche, ſondern hiſtoriſche Bedeutſamkeit hat die Sage vom Fauſtus, der ſeine Buͤcher an die Wand wirft und im Ueberdruß nichtiger Weisheit ſich in das bunte Leben ſtuͤrzt, um ſein verwelk¬ tes Herz wieder mit den Stroͤmen der Liebe und des Haſſes aufzufriſchen. Daß dieſe deutſche Volks¬123 ſage mit der Erfindung der Buchdruckerkunſt koin¬ zidirt, ja, daß ſie ſogar den Erfinder uns als Fauſtus vorſtellt, iſt tief und charakteriſtiſch. Kein Dichter hat die ganze Tiefe dieſes ernſthaften Maͤhrchens ſo geiſtreich nachempfunden, als der große Goethe, der im Fauſt Niemand anders, als ſich ſelbſt und den Drang der neuen Zeit ge¬ ſchildert hat. Freilich ſtammt das Maͤhrchen noch aus einer Zeit, wo: das Recht des Sinnli¬ chen geltend zu machen gegen die An¬ maßungen des Spiritualismus, als ein ſchwarzes Verbrechen erſchien, woher denn auch der Fauſtus nach der Sage von Gott abfaͤllt und einen Bund mit dem Boͤſen ſchließt — einen volksthuͤmlichen Zug, den Goethe als Dichter wie¬ der aufzunehmen nicht verſaͤumte.
Das hat, ſagt ein bekannter Schriftſteller, das hat nun das deutſche Volk laͤngſt geahnt, daß die Menſchen nicht blos zu einem himmliſchen, ſondern auch zu einem irdiſchen Gluͤck berufen ſind; denn das deutſche Volk iſt ſelbſt jener ge¬ lehrte Doktor Fauſt, der nach materiellen Genuͤſ¬ ſen verlangt und dem Fleiſche ſeine Rechte wieder¬ gibt — doch noch befangen in der katholiſchen Simbolik, wo Gott als der Repraͤſentant des Geiſtes und der Teufel als der Repraͤſentant des Fleiſches gilt, bezeichnete man jene Rehabilitation124 des Fleiſches als einen Abfall von Gott, als ein Buͤndniß mit dem Teufel.
Jener brennende Glaube, jene Kaſteiung des Fleiſches, jener heroiſche Sinn, der ſich ſelbſt und ſein Liebſtes opfert, um der Liebe Gottes willen, war die Seele des Mittelalters. Glaube iſt aber der kindlich unſchuldige Sinn, die einfaͤltige Hin¬ gebung an die aͤußere Auktoritaͤt.
Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, wie der Heroismus, wie der Glaube, daß in Gott alle Dinge leben, weben und ſind. Aber eben darum, und weil noch immer in der zertruͤm¬ merten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die Wache halten, gibt es eine neue Geſchichte, gibt es Maͤrtyrer der Freiheit und des Glaubens, gibt es Enthuſiaſten und Opfer, gibt es Hochgefuͤhle in unſerer Bruſt, die erhabener und reiner ſind als die, welche der verwitterte Glaube und die erkaltete Liebe der Vorzeit zu erregen im Stande ſind.
Fuͤrchtet nicht, daß der Verſtand der neuen Zeit alles Heilige zum Geſpoͤtte, alle Ahnung zum Kindertraum, alles Schoͤne zum Beduͤrftigen herabwuͤrdigen wird. Wohl iſt der Verſtand ein Handelsherr, Maſchinenmeiſter, Konſtitutionsſchmie¬ der, und an ſich mehr Feind als Freund des Ge¬ muͤths und des poetiſch ſinnlichen Lebens. Aber125 ihm gegenuͤber macht ſich geltend ein poetiſcher Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der dem Verſtande allerdings dankbar iſt fuͤr die in der Befreiungsſache geleiſtete Huͤlfe, keineswegs aber geſonnen, ſich von ihm als einem neuen Des¬ poten unter ein neues Joch ſpannen zu laſſen. Fuͤrchtet auch nicht, daß dieſe uͤppige Jugend aus ihren felſigten Ufern hervortreten und die Bluͤthen des Geiſtes, die ſie ſelbſt hervorgerufen und be¬ fruchtet, uͤberſchwemme und zerſtoͤre. Sie iſt ja eben die Poeſie und das Leben ſelber und alle edlen und großen Leidenſchaften und die ſchoͤpfe¬ riſche Kraft der Geſchichte fließt aus ihrem Blut und Nervengeiſte. Sie iſt das bewegende Prin¬ zip und nimmt alle Keime der Bildung auf in ihrem Schooße, wie man's ſieht an jenem Mit¬ telalter, an der Jugend unſerer Nation, welche die ſchoͤnen und herrlichen Erſcheinungen des Chri¬ ſtenthums (wie wirkte daſſelbe im greiſen Orient?) erſt moͤglich und wirklich machte.
Behauptung der Rechte des Verſtandes und des ſinnkraͤftigen Gemuͤths, darauf draͤngt der Geiſt der neuen Zeit. Ueber unſerer Aſche wird ſich ein neues europaͤiſches Griechenthum erheben, angemeſſen dem geiſtigen Fortſchritt, den das Chriſtenthum vorbereitet hat. Nur zweimal hat der Erdball die Erſcheinung erlebt, daß Menſchen126 in ſinnlich-geiſtiger Eintracht organiſche Monaden bildeten und ein Leben der Friſche und Geſund¬ heit fuͤhrten. Von dem Einen berichtet uns die Sage des Paradieſes, von dem Andern die Ge¬ ſchichte Griechenlands. Indien vernichtete das Sinnliche, Palaͤſtina uͤberhob das Geiſtige, zwi¬ ſchen beiden bluͤhte Griechenland wie zwiſchen zwei Abgruͤnden, deren bodenloſe Tiefe es ahnungs¬ los mit Roſen und Lorbeeren uͤberſtreute. Aber die Menſchheit mußte hinuͤber und dem germani¬ ſchen Stamm war es vorbehalten, in die tiefſte Tiefe hinabzuſchauen und ſelig den zu preiſen, „ der lebt im roſigen Licht. “ Dem germaniſirten Europa bleibt die dritte Entwicklungsſtufe der Menſchheit vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeiſtigter wie bei den Griechen, das Gei¬ ſtige durchſinnlichter wie bei den Chriſten zur Er¬ ſcheinung kommt. So gleicht das Menſchenge¬ ſchlecht in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung einem wahren Organismus, einer erhabenen Pflanze, die von Zeit zu Zeit in neue Knoten anſchießt, ſich zuſammenſchließt, um ſich deſto kraͤftiger wieder zu entfalten.
127Wir haben uns in die Weltanſchauung der In¬ dier, der Griechen, des chriſtkatholiſchen Mittel¬ alters verſetzt, und geſehen, wie eine nach der andern mit Leben, Kunſt und Dichtung ihren Kreis in der Zeit beſchloß und einem unabaͤnder¬ lichen Schickſal anheimfiel. Dadurch beſtaͤtigte ſich uns die aufgeſtellte Anſicht, daß die Aeſthetik, wenn irgend etwas eine geſchichtlich geſchloſſene Diſziplin iſt, und als ſolche einem viel hoͤhern, aber zugleich auch beſchraͤnkteren Standpunkt an¬ gehoͤrt, als man ihr gewoͤhnlich einraͤumt, naͤm¬ lich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltan¬ ſchauung ſelber. In dieſem Sinne iſt freilich keine Aeſthetik der Indier, der Griechen, des Mittelalters vorhanden, wenn wir unter dieſem128 Namen den ganzen heutigen Umfang aͤſthetiſcher Geſetze und Urtheile begreifen, allein theils iſt dieſe Art wiſſenſchaftlicher Vollſtaͤndigkeit uͤberhaupt mehr eine Erſcheinung der neueren Zeiten, wor¬ auf es das Alterthum nicht ablegte, theils beſitzen wir in den Gedichten, Philoſophemen und Kunſt¬ werken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigſte Aeſthetik jener Zeiten und Voͤlker, um ſo lebendiger, da ſie aus dem Leben ſelbſt ge¬ ſchoͤpft iſt.
Von Geſchmack und Ungeſchmack kann auf dieſem Standpunkt nicht die Rede ſein. Die ab¬ ſurdeſten Extravaganzen der indiſchen Phantaſie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herab¬ faͤllt, und ſich in dem wulſtigen Haupthaar eines Gottes verſtrickt, ein Gott mit Elephantenruͤſſel u. dergl. ſind fuͤr die Anſchauungsweiſe des indi¬ ſchen Aeſthetikers eben ſo muſterguͤltige Bilder und Vorſtellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorſtellung aus dem griechiſchen und chriſtkatholi¬ ſchen Anſchauungskreiſe, wie z. B. die Venus Anadiomene, die ſich aus dem Schaum der Wel¬ len erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Chriſti uͤber den Waſſern des Jordan flattert. Entweder man hat den Ge¬ ſchmack, oder man hat ihn nicht, das iſt Alles, was ſich ſagen laͤßt; denn dies heißt dann weiter129 nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Chriſt die Welt und ihre Erſcheinungen auffaßt. So geſchieht es allerdings oft, daß dem chriſtlichen Auge mißfaͤllig und un¬ ſchoͤn vorkommt, was dem griechiſchen ſchoͤn und gefaͤllig, was Beiden vielleicht uͤbereinſtimmend ſchoͤn, dem indiſchen Auge als das grade Gegen¬ theil, oder umgekehrt, daß, was den Indier ent¬ zuͤckt, dem Griechen und Chriſten ein Abſcheu und Graͤuel iſt.
Alle dieſe verſchiedenen Geſchmacksurtheile ſind keineswegs willkuͤhrlich und zufaͤllig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefaͤllt, oder aus individueller Mißbildung der Organe hervorgegan¬ gen; ſondern man muß ſie betrachten als direkte, geſetzmaͤßige Ausfluͤſſe aus der Grundquelle aͤſthe¬ tiſcher Urtheile, als volksthuͤmliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanſchau¬ ung ausgepraͤgt ſind.
Solche Geſetze und Formen mußte die Aeſt¬ hetik, wie ſchon bemerkt, nach dem wiſſenſchaftli¬ chen Beduͤrfniſſe unſerer Zeit, in moͤglichſter Voll¬ ſtaͤndigkeit enthalten und dies iſt eine Aufgabe, welche die Reflexion des Aeſthetikers ohne Schwie¬ rigkeit zur Loͤſung bringen kann, ſobald ſein Leben in eine Zeit faͤllt, der eine eigenthuͤmliche, Alles durchdringende[Weltanſchauung] zu Theil gewor¬Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 9130den, ſobald ſein Leben einer Menſchheit angehoͤrt, die mit ihm und mit ſich ſelbſt ſympathiſirt und gleichſam aus einem Zeuge gewebt iſt. Da denke ich mir den Aeſthetiker, wie er zunaͤchſt aus dem tauſendfaͤltig Gegebenen, vermoͤge eines Akts poetiſch divinirender Abſtraktion, die einfache For¬ mel des aͤſthetiſchen Bewußtſeins oder, was daſ¬ ſelbe, der zeitig lebendigen Weltanſchauung auf¬ ſucht. Hat ſich ihm dieſe ahnungsvoll erſchloſſen, ſo mag er ſie im Eingang ſeines Werkes ausſpre¬ chen, als eine Definition der Schoͤnheit, womit auch die modernen Aeſthetiker den Anfang zu ma¬ chen pflegen, und daß in ihrer geſchichtloſen und todten Weiſe der Begriff der Schoͤnheit zur allge¬ meinen Abſtraktion wird, waͤhrend ſie bei jenem eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er ſie aus den ſchoͤnſten Bluͤthen der Gegenwart ſelbſt aus¬ geſogen und eingeathmet hat. So mochte z. B. der indiſche Aeſthetiker auftreten und ſagen, die Schoͤnheit, oder das, was gefaͤllt, iſt der Ueber¬ oder Untergang des Wirklichen und Natuͤrlichen in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts; der Grieche, die Schoͤnheit oder das, was gefaͤllt, iſt die goͤttliche Idee der Einheit im Mannigfalti¬ gen und Wirklichen, welche verklaͤrt zur Erſcheinung kommt; eine Abſorbtion des Geiſtigen durch das Sinnliche; der Chriſt, die Schoͤnheit oder das,131 was gefaͤllt, iſt der Sieg des Unſichtbaren uͤber das Sichtbare, des Himmliſchen uͤber das Irdi¬ ſche, die Abſorbtion des Sinnlichen durch das Gei¬ ſtige, oder, wie Jeder von dieſen Supponirten das Eigenthuͤmlichſte ſeiner aͤſthetiſchen Grundanſchau¬ ung ausſprechen mochte.
Nach dieſem denke ich mir den Aeſthetiker, wie er den Begriff der Kunſt entwickelt und zwar nach dem weiteſten Umfang, in dem nicht nur die Poeſie und die bekannten Kuͤnſte eingehen, ſon¬ dern auch und vorzuͤglich, die groͤßte und erha¬ benſte Kunſt, die Kunſt, ſein innres und aͤußeres Leben als Einzelner, als Glied der Familie, als Glied des Staats, als Glied der Menſchheit zu geſtalten, die Kunſt alſo, die ſich unſer Sittliches und Sinnliches ſelbſt zum Stoffe auswaͤhlt, um an ihm die Schoͤnheit zu bethaͤtigen. Hierauf hat er auf eine Reihe von Kunſtlehren ſich einzu¬ laſſen und in jeder beſonderen darauf ſein Haupt¬ augenmerk zu richten, daß das urſpruͤngliche Ge¬ ſetz, die Grundanſchauung ſeiner Zeit und ſeiner Aeſthetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde, ſondern moͤglichſt klar und individuell heraustrete und ſeine Rechtfertigung in ſich ſelber und im Ganzen finde. Da aber der Aeſthetiker nicht eigentlich Geſetze gibt, ſondern nur zuruͤckgibt, ſie nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da ſie zu9 *132den geſchichtlichen Wiſſenſchaften gehoͤrt, ſo wird ihm die kritiſche Betrachtung vorhandener Kunſt¬ werke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtun¬ gen und uͤberhaupt der Produkte des Genies, den Beſchluß jener Kunſtlehren bilden, wie ſie in der That auch ihren Anfang erſt moͤglich machten.
Dieſes iſt in kurzen Zuͤgen das Bild eines Aeſthetikers und einer Aeſthetik, wie es mir vor¬ ſchwebt, vorſchwebt, ohne daß ich die entfernteſte Moͤglichkeit ſaͤhe, wie es ein ſterblicher Menſch heut zu Tage realiſiren koͤnnte, weil Leben, Sit¬ ten, Kuͤnſte, Dichtungen in einem widrigen Zwie¬ licht ſtehen, wie alles Charakteriſtiſche total unter¬ gegangen iſt, weil noch die Zeit ihren Geiſt ſucht, der ihr abhanden gekommen iſt, wie Peter Schle¬ mihl ſeinen Schatten und weil das, was man vorlaͤufig Zeitgeiſt nennt, bisher nur mehr nega¬ tive als poſitive Lebensaͤußerungen von ſich gege¬ ben hat.
Was man bisher deutſche Aeſthetik nannte, war ein unaͤſthetiſches Gemengſel ſogenannter aͤſthe¬ tiſcher Geſetze und Formen, woraus die Dichter des Ramajana und Mahabarat, wonach Firduſi und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Cal¬ deron, Shakſpeare und Goethe, Jeder etwas und Alle nichts haͤtten ſchoͤpfen koͤnnen. So war auch die Zeit zuſammengemiſcht aus allen moͤglichen133 Elementen und man moͤchte die groͤßten Dichter derſelben poetiſche Kamaͤleons nennen, die bald im reichen orientaliſchen Talar, bald im ſpani¬ ſchen Mantel, bald als eiſerne Ritter in Helm und Panzer, bald als Moderne im Pariſer Frack auftraten und die Poeſie fremder Voͤlker und Zei¬ ten auf die taͤuſchendſte Weiſe nachzuahmen ver¬ ſtanden; dadurch ward die Poeſie allerdings im¬ mer poetiſcher und die Zahl der Poeten in einem Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein auf der andern Seite ward das Leben immer pro¬ ſaiſcher, immer fader, immer mehr platt wirklich. Die nationale Quelle der Poeſie war ver¬ trocknet und haͤtten die Poeten auch das poetiſche Weltmeer ausgeſchoͤpft und den Strom aller himm¬ liſchen und irdiſchen Poeſien uͤber die ſchmachtende Gegenwart ergoſſen, ſie waͤre darob um nichts poetiſcher und bluͤhender geworden, als ſie war. Eben dieſer Zeitraum, den wirklich geniale und große Dichter, wie Schiller und Goethe verherr¬ lichten, liefert uns den ſchlagendſten Beweis, daß die Poeſie und alles Schoͤnſte immer und ewig ein Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt und nicht geboren und aufgewachſen mit den Kin¬ dern der Heimath. Und die Poeſie unſerer Dich¬ ter war das Maͤdchen aus der Fremde, wovon Schiller ſingt, die erſcheint, man weiß nicht wo¬134 her, und ſpurlos verſchwindet, wenn ſie Abſchied nimmt. So kam die Poeſie zu den Deutſchen, ſo laſen ſie Schiller's und Goethe's Gedichte, ſo ſahen ſie den Tell auf der Buͤhne, und wenn die Poeſie wieder weggegangen war, ſo war ihre Spur verloren und des Philiſteriums breite, ausgetretene Fußſtapfen wurden betreten, nach wie vor.
Gegenwaͤrtig iſt es freilich anders. Nicht, daß wir ſchoͤner lebten; doch fuͤhlen wir allmaͤhlig Sehnſucht danach und es faͤngt uns an zu daͤm¬ mern von einer Poeſie des Lebens, die aller Kunſt¬ poeſie Mutter iſt und zwar mater, filia pulchrior. Die großen Dichter ſind todt und wir graͤmen uns nicht ſo ſehr daruͤber, uͤberall ſind wir mehr gleich¬ guͤltig gegen Kunſt und Poeſie geworden, in dem Verſtand, worin beide bisher gepflegt, auch Das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieſes, daß die ſogenannte Proſa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetiſcher zu ſtroͤmen anfaͤngt, als bisher, wo die Proſa eben den von den Stri¬ cken der Philiſter gebundenen Simſon vorſtellte und die ſogenannte gebundene Rede, die Poeſie, ſchrankenlos umherſchwaͤrmte.
Unſere Dichter ſind proſaiſcher geworden, un¬ ſere Proſaiker aber poetiſcher, und das iſt ein be¬ deutſamer Wechſel, ein Wechſel, der zu den er¬ freulichen Zeichen und Erſcheinungen der Zeit ge¬135 hoͤrt, weil Proſa unſere gewoͤhnliche Sprache und gleichſam unſer taͤgliches Brod iſt, weil unſere Landſtaͤnde in Proſa ſprechen, weil wir unſere Per¬ ſon und Rechte nachdruͤcklicher in Proſa vertheidigen koͤnnen, als in Verſen.
Doch iſt dem Aeſthetiker mit alledem nicht viel geholfen; die Stagnation des Lebens iſt noch zu allgemein und vorherrſchend und das gruͤne, truͤbſchmutzige Waſſer iſt kaum trinkbar fuͤr einen Muͤllereſel, geſchweige fuͤr das gefluͤgelte Roß, das ſeinen Durſt in der klaren Fluth der Hippokrene ſtillen will.
Alſo, es gibt keine Aeſthetik im angegebenen Sinn, es kann keine echte Aeſthetik geben, wer ſie ſchriebe, muͤßte vorher (neue Religion, eine neue Moral) eine neue Kunſt, ein neues Leben herbeiſchaffen. Weder in Muͤnchen, noch in Ber¬ lin wird ſie ein Profeſſor leſen, alle Gemaͤlde, Bildſaͤulen und geſchnittene Steine der Koͤnige von Preußen und Baiern reichen nicht aus, um einen Paragraphen der Aeſthetik zu fuͤllen, die der neuen Geſchichte, ich meine, der Zukunft ange¬ hoͤrt. Iſt doch ſelbſt jene ſogenannte neue Kunſt - und Malerſchule an beiden genannten Orten, nur die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur Wiederholung von Kunſtideen und Kunſtformen, die, wie Alles, ihre Zeit gehabt haben.
136Indem ich dies Geſtaͤndniß, das ich ſchon in der erſten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬ dem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Ar¬ gumentation deſſelben gedient hat, ſchreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Aeſthe¬ tik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬ ſchichtliche zu ſein, durchaus nicht entſprechen kann, von Aeſthetik noch bleibt.
Zunaͤchſt wird Jeder gleich ſehen, daß uns hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle An¬ ſichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aeſtheti¬ ker ſich in den Fall verſetzt findet, mit hinlaͤngli¬ cher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten belie¬ big Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die klaſſiſchen, bald mehr die romantiſchen zu beguͤn¬ ſtigen, bald mehr die Kunſt, bald mehr die Poeſie in ſein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬ toriſchen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu ver¬ ſtatten.
Aus dieſem Wirrwarr iſt wirklich das, was wir heutiges Tags Aeſthetik nennen, entſprungen. Man iſt ausgegangen, ſagt Herbart, von der Thatſache, daß uͤber Sachen des Geſchmacks ver¬ ſchieden geurtheilt wird; man wuͤnſcht aber zu einer ſichern Entſcheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Aeſthetik als137 eine, der vorhandenen unſichern Beurtheilung des Schoͤnen in der Natur und Kunſt vorgeſcho¬ bene und zum Dienſt derſelben beſtimmte Wiſ¬ ſenſchaft. Sehr richtig. Jeder abſtrahirte nun die Geſetze des guten Geſchmacks (ein Wort, das den Alten natuͤrlicherweiſe nicht bekannt war, da ihr Schoͤnheitsſinn nicht allein guten Geſchmack an Artiſtik und Poeterei, ſondern auch am Leben bezeichnete, mit dem unſer guter Geſchmack gar nichts zu ſchaffen hat, Jeder, ſage ich, abſtrahirte die Geſetze des guten Geſchmacks aus den ihm bekannten Poeten und Kuͤnſtlern. Da nun das vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV. trug, ſo war man anfangs ziemlich einig uͤber die echten Muſter der Poeſie und Kunſt, und da¬ her auch uͤber die Kunſterzeugniſſe, welche bei der Abfaſſung jener ſteifzierlichen, franzoͤſiſch antiken Meiſterwerke zur Richtſchnur dienen ſollten.
In Deutſchland wurde ſolche Kritik des Ge¬ ſchmacks Aeſthetik, und nur etwas langweiliger, gelehrter, philoſophiſcher unter dieſem Namen auf den Univerſitaͤten dozirt. Das durch Winckelmann wieder aufbluͤhende Studium der Antike, die Be¬ kanntſchaft mit Shakſpeare, mit Kalderon und andern auslaͤndiſchen Dichtern, mit dem romanti¬ ſchen Mittelalter, mit Indien und Perſien zuletzt, alles dieſes, was zur neuern Geſchmacksbildung,138 das heißt, zur neuern Geſchmacksverwirrung ge¬ hoͤrt, bereicherte und verwirrte auch die Aeſthetik. Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die ihren Geſchmack bilden wollten, die halbe Welt durchzuſchmecken, woraus aber mehr Ekel, als Genuß und Bildung hervorging und wovon all¬ maͤhlig Widerwille gegen alles Aeſthetiſche die na¬ tuͤrliche Folge war.
Beantworte ich alſo die Frage, was uns ge¬ genwaͤrtig als Aeſthetik noch bleibt, damit, daß ich ſage: die alte Aeſthetik fuͤr die, die ihrer noch nicht uͤberdruͤſſig geworden ſind, fuͤr die Andern aber, das leiſe aͤſthetiſche Gefuͤhl, das im Schooß der Zeit ſich regt, das prophetiſche Gefuͤhl einer neu beginnenden Weltanſchauung, das ſich von Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die Einleitung zur kuͤnftigen Aeſthetik.
Als eine ſolche, meine Herren, moͤgen Sie auch die gegenwaͤrtigen Vorleſungen betrachten. Was uns betrifft, ſo koͤnnte uns ſchon deswegen die gewoͤhnliche Aeſthetik nicht genießlich ſein, da wir im Norden aller kuͤnſtleriſchen Bildung er¬ mangeln, da es am hieſigen Ort weder Gemaͤlde¬ ſammlungen, noch Gypsabdruͤcke, noch Daktilio¬ theken gibt, da ich auch auf keine Anſchauungen der Art hinweiſen, noch mich auf fruͤhere berufen koͤnnte. Hoͤren Sie alſo den Plan, den ich in139 der Zukunft befolgen werde. Was den Stoff be¬ trifft, ſo muͤſſen wir uns, einige Allgemeinheiten abgerechnet, allerdings beſchraͤnken auf Poetik und Rhetorik, was den Geiſt und die Darſtellung be¬ trifft, hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare Pedanterie fruͤherer Behandlungen, ſo wenig als moͤglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe ſein wird, ſowohl Poeſie als Proſa im Zuſammen¬ hang mit den Richtungen der Zeit aufzufaſſen und Sie das Geſetz der Schoͤnheit, das uͤber beiden gemeinſchaftlich waltet, als das Geſetz der wer¬ denden Weltanſchauung ahnen zu laſſen. Meine Bemerkungen werden ſich anreihen an die Werke einiger neuerer Schriftſteller, an Byron und Goe¬ the in poetiſcher, an Heinrich Heine in proſaiſch ſtiliſtiſcher Beziehung. Die Proſa wird vor allen Dingen unſer Augenmerk ſein, und ich hoffe Sie ſelbſt in den letzten Stunden zu praktiſchen Uebun¬ gen zu bewegen. Die Proſa iſt eine Waffe jetzt und man muß ſie ſchaͤrfen; dies allein ſchon waͤre ein erfreuliches Reſultat unſeres Zuſammentreffens.
140Haben wir die aͤſthetiſche Weltanſchauung als eine Offenbarung der Geſchichte angeſprochen, un¬ ſerer Zeit aber eine ſolche abgeſprochen, ſo muͤſſen wir deſſenungeachtet das Zugeſtaͤndniß machen, daß das aͤſthetiſche Gefuͤhl auch zu unſerer Zeit An¬ ſpruͤche mache, Urtheile faͤlle, zu Handlungen reize, Befriedigung ſuche. Wir ſchreiben uns einen Ge¬ ſchmack zu, um eine ſchoͤne That von einer haͤßli¬ chen zu unterſcheiden, um eine Sudelei nicht mit einem Meiſterwerk zu verwechſeln; und ſind wir ſelbſt die Handelnden und die Kuͤnſtler, ſo trach¬ ten wir bei unſern Handlungen und Produktionen ſowohl nach eigenem, als nach fremdem Beifall, und ſuchen das Mißfallende nach Kraͤften zu ver¬ meiden. Was alſo unterſcheidet uns und unſere141 Zeit von ſolchen Menſchen und Zeiten, die ſich einer gemeinſamen Weltanſchauung zu ruͤhmen ha¬ ben? Nach dem Bisherigen und Ihrem eigenen Gefuͤhl iſt die Antwort: der Mangel an Einheit und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit, und daher der Mangel an Wahrheit. Wir ſind im Handeln eben ſo unſicher, wie im Genießen, im Schaffen eben ſo ſchwankend, wie im Beur¬ theilen, Kopf ſtoͤßt ſich an Kopf, Gefuͤhl an Ge¬ fuͤhl, es iſt eine Welt von Diſſonanzen, die ihren Generalbaß erſt von der Zukunft erwartet.
Was iſt ſchoͤn? Was nennt man heutzu¬ tage unisono eine ſchoͤne That? Denken Sie an den Aufſtand der Polen! — Daß vor vielen Jahrhunderten die Schweizer ſich von Oeſtreich losriſſen, daß Tell den Gesler erſchoß, daß Win¬ kelried der Freiheit eine Mauer war und die feind¬ lichen Lanzen in ſeine eigne Bruſt ſchob, das fin¬ den wir allerdings unisono ſchoͤn und es iſt jedem Deutſchen ſowohl polizeilich, als aͤſthetiſch erlaubt, daruͤber in gelinden Enthuſiasmus zu gerathen. Allein, daß ein ſchaͤndlich zerſtuͤcktes und unter¬ druͤcktes Volk vor unſern Augen die Eisdecke der Tyrannei in die Luft ſprengt, daß es eine Nacht gab, wo wir ruhig in unſern Betten ſchliefen und Gott weiß, von welcher Oper traͤumten, eine Nacht, wo eine Handvoll kuͤhner Juͤnglinge142 den Palaſt zu Warſchau ſtuͤrmten und nach der Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen einer Morgenroͤthe zujauchzten, welche die geſpreng¬ ten Ketten einer großen und edelmuͤthigen Nation beleuchtete, dieſes Ereigniß und alle die glaͤnzen¬ den Thaten und Opfer, die es nach ſich zog — fand es ſo allgemeinen Anklang, riß es ſo allge¬ mein und wahrhaft die Gemuͤther hin, oder hoͤrte man nicht, wo Zwoͤlf zuſammenſtanden, den Ei¬ nen verabſcheuen, den Andern bewundern und Ze¬ hen mit den Haͤnden klatſchen, als wohnten ſie nur im Theater der Welt der Auffuͤhrung eines ſchoͤnen Stuͤckes bei.
Ich fuͤhre eben dieſes tragiſche, uns ſo nahe liegende Beiſpiel an, um zu zeigen, was es fuͤr eine Bewandtniß habe mit unſern aͤſthetiſchen Ge¬ fuͤhlen, wenn auch die gluͤhendſte Thatenſchoͤnheit ſich vor unſern Blicken aufthut. Hier ſehen Sie eine That, von deren Schoͤnheit man durchdrun¬ gen ſein muß, wenn man einen Tropfen Roͤmer¬ blut, einen Hauch aus Timoleons Seele in ſich ſpuͤrt, wenn nicht Alles Luͤge und Schulgeſchwaͤtz iſt, was wir der alten Geſchichte nachruͤhmen, der kontraſtirendſten Beurtheilung anheim fallen, nach den Extremen der Bewunderung und des Ab¬ ſcheus hingetrieben und bei der Menge entweder dumpfes Staunen, ſtupides Ergoͤtzen, oder eine143 Art von kuͤnſtleriſchem, dramatiſch-theatraliſchem Wohlgefallen erregend. Ein ſolches Schickſal, meine Herren, wird jede andere ſchoͤne That unter uns erleben: Viele werden ſie ſchoͤn finden, nicht als Ereigniß der Geſchichte, nicht als ſittliche Hand¬ lung, nicht als wiederbegeiſternde Begeiſterung ſchoͤner Seelen, ſondern als ein ſchoͤnes Natur - oder Kunſtprodukt, deſſen bequeme und ruhige Betrachtung wohl eine angenehme Waͤrme im Herzen verbreitet, aber eine Waͤrme, die fuͤr das Herz ſo flau und unſchuldig iſt, wie eine Taſſe Thee fuͤr den Magen; immer nur Wenige wird es geben, denen die That auf's Herz ſchießt, wie ein Blitz, entzuͤndend, begeiſternd, zu aͤhnlichen Thaten befluͤgelnd, kurz, auf deren Gemuͤth die geſchichtliche, lebendige Schoͤnheit, wie es in ihrem urſpruͤnglichen Weſen liegt, geſchichtlich und leben¬ dig wirkſam iſt.
Leichter, werden Sie ſagen, vereinigt man ſich uͤber die Schoͤnheiten der Kunſt und Dichtung. Sie haben recht, und das iſt es auch eben, was dem Kuͤnſtler und Dichter nicht allen Muth nimmt in dem Maß, wie dem handelnden Menſchen, das iſt ſogar die Urſache, weswegen der Aeſtheti¬ ker, wenn er auch ſeiner Aufgabe nicht entſprechen kann, die Aeſthetik nicht ganz fahren laͤßt. Laſſen Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakſpeare,144 die Polenrevolution, den Kampf und Untergang der Freiheit, großartig poetiſch in ruhiger Zeit auf die Breter bringen, „ welche nicht die Welt ſind, ſondern die Welt bedeuten, “wie Schiller ſagt, dann werden Sie hoͤren, wie alle Urtheile ſich vereinigen, wie das Parterre klatſcht, wie die Faͤhndriche ſich in die Bruſt werfen, wie die Kri¬ tiker ihre Brillen wiſchen, welcher Enthuſiasmus ſich in den Logen verbreitet und wie vielleicht ſelbſt ein erſtarrtes Amts - und Miniſtergeſicht am Schluß des Stuͤcks und der Freiheit Thraͤnenwaſſer und einen Reſt von Mitgefuͤhl und Wehmuth auf den Wangen hat.
Woher dieſe Erſcheinung? Hat der Dichter Begeiſterung und Schmerz der That erſt hinzuge¬ dichtet, oder gehoͤren ſie nicht vielmehr der That an; hat der Dichter Erhabenes und Schoͤnes aus ſeinem Hirn geboren oder iſt nicht bereits die That erhaben und ſchoͤn, liegt Alles, was ſo maͤchtig ruͤhrt, nur darin, daß es in Verſen aus¬ geſprochen und in fuͤnf Akte vertheilt iſt, oder hat die Poeſie einen tieferen Grund, weswegen ſie zum Herzen ſpricht? Ja, die Poeſie hat einen tieferen Grund. Die dramatiſche Poeſie waͤre gar keine ohne die Poeſie der That, der Dichter iſt kein Gott, der uns aus angebornem Kraftvermoͤ¬ gen neue Welten erſchaffen koͤnnte, er iſt auch kein145 Taſchenſpieler, der durch Reim und Klang, durch eine rhythmiſche Abwechſelung von ſechs metriſchen Fuͤßen, allerhand Phantome der Luſt und des Schmerzes, der Furcht und der Begeiſterung in der Seele ſeiner Zuhoͤrer aufregen koͤnnte; der Dichter nimmt Stoff und Begeiſterung aus der That und die hoͤchſte Palme hat er errungen, wenn die Schoͤnheit der That aus dem Leben in eine andere Welt, in die Kunſtwelt, von ihm verpflanzt, ſein Gedicht durchſtrahlt und wieder vom Gedicht, wie ein Juwel in der Einfaſſung, neuen Glanz annimmt. So durchlaͤuft die Schoͤnheit einen doppelten Kreis und bringt zweifache Wirkung her¬ vor, einmal im Leben, als ſittliche, poetiſche, hiſto¬ riſche, geſellſchaftliche, das andere Mal in der Dichtung, als kuͤnſtleriſche, dramatiſche, epiſche. In beiden Faͤllen wirkt ſie ein aͤſthetiſches Gefuͤhl, aber im erſten mehr ein thaͤtiges, im andern mehr ein leidendes, im erſten mehr ein unmit¬ telbar, im zweiten ein mehr mittelbar ruͤckwirken¬ des. So ſollte, wollte ich ſagen, die Schoͤn¬ heit einen doppelten Kreis durchlaufen und ſowohl auf den Willen, wie auf das Gefuͤhl ihren zau¬ bervollen Einfluß ausuͤben; allein wir gingen mit Recht davon aus, daß der Zauberſtab der Schoͤn¬ heit, womit ſie die Zuſchauer und Hoͤrer ſchoͤner, großer Thaten, ſelbſt wieder zu ſchoͤner und gro¬Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 10146ßer That bewegt, leider keine Macht uͤber uns ausuͤbt, und daß nur das Luftigere der Kunſt un¬ ſere Gemuͤther bewegt, und zur paſſiven Mitem¬ pfindung anreizt.
Ueber das Schoͤne in Kunſt und Dichtung findet daher eine leidliche Verſtaͤndigung in der Regel Statt, auch theilen wir beim Anblick ſchoͤ¬ ner Gemaͤlde und Gedichte miteinander ſo ziem¬ lich denſelben Eindruck; allein im Gebiet des Thatſaͤchlichen zerfallen die Meinungen und Ge¬ fuͤhle und hier, wo das Schoͤne unmittelbar aus der Quelle ſprudelt, wo es vom goͤttlichen Athem noch gleichſam warm angehaucht iſt, hier laͤßt es ſo Viele kalt; hier wird es von ſo Vielen ver¬ ſchmaͤht. Plato wollte keine Dichter in ſeine Re¬ publik aufnehmen, ſondern nur handelnde Maͤnner, unſere Geſetzgeber wollen keine Maͤnner, nur Dich¬ ter im Staat, keine Thaten, nur die Schatten derſelben, keine andern Schoͤnheiten, als gereimte und gemalte.
Eben daher iſt uns denn auch der Begriff der Schoͤnheit ſo zuſammengeſchrumpft, daß der Name: ein ſchoͤner Geiſt, eben nur einen Belle¬ triſten von Fach andeutet, der Ausdruck einer ſchoͤnen That uns an ein gegebenes Almoſen und an Alles eher, als an eine heroiſche Hand¬ lung erinnert; die ſchoͤnen Wiſſenſchaften und147 Kuͤnſte aber mitſammt den Schoͤnheiten der Na¬ tur, ſchoͤnen Weibern, ſchoͤnen Blumen den gan¬ zen Inbegriff des Schoͤnen ausfuͤllen.
Unſere Aeſthetiker, wenn ſie die Frage, was iſt die Schoͤnheit, aufwerfen, haben dabei faſt nur die Proportionen des Geſichts und der menſch¬ lichen Geſtalt vor Augen, und wenn ſie dieſe be¬ ſondere Schoͤnheit in eine Definition gezwaͤngt ha¬ ben, ſo glauben ſie die Weihe der Aeſthetik damit ertheilt zu haben, noch dazu ſchlug der Gott der Schoͤnheit die Meiſten mit Blindheit.
Uebereinſtimmung der Theile erklaͤren Viele als das Myſterium der Schoͤnheit; wobei noch dazu die klaͤglichſte Verirrung zur Einſeitigkeit hinzutritt; denn die Theile eines Kamſchadalen ſtimmen eben ſo gut uͤberein, wie die Theile eines Antinous und uͤberhaupt iſt Proportion nichts weiter, als Maaß. Man kann alle Ver¬ haͤltniſſe beobachten, jede Figur in ſo und ſo viel Kopflaͤngen eintheilen, ohne doch eine ſchoͤne Geſtalt zu Stande zu bringen. Die Schoͤnheit liegt auch da wieder in etwas, was in der Defi¬ nition nicht liegt. Andere ſprachen von der An¬ gemeſſenheit jedes einzelnen Theils zum Zweck des Ganzen. Aber Polyphems großes Stirnauge iſt eben ſo gut zum Sehen geſchickt, als Apolls, und ſo zweckmaͤßig auch und harmoniſch mit dem gan¬10 *148zen Leibe die Stacheln eines Stachelſchweins em¬ porſtarren, ſo wenig ſchoͤn finden wir dieſen An¬ blick. Der engliſche Maler Hogarth fand die Lineamente der Schoͤnheit in der Wellenlinie, wonach denn auch das unfoͤrmlichſte Ganze, die oͤdeſte Seekuͤſte, mit den Spuren der Wellenlinie darin ſchoͤn genannt werden muͤßte.
Fragt die Kroͤte, ſagt Voltaire, was ſchoͤn iſt, oder einen Schwarzen von Guinea, oder einen Philoſophen, — dieſer allein wird euch mit einem Gallimathias antworten. Man kann Voltaire nur beiſtimmen. Selbſt Platon's Erklaͤrung der Schoͤn¬ heit iſt nur eine ſchoͤne Mythe, welche bei naͤhe¬ rer Betrachtung das Weſen der Schoͤnheit eigent¬ lich aufhebt. Sie erinnern ſich, wo er von dem Entzuͤcken ſpricht, worein Jemand gerathen wuͤrde, erſchien ihm die Idee der Schoͤnheit ſelbſt in leicht verkoͤrpertem Gewande. Allein dies Entzuͤcken wird keinem Sterblichen zu Theil werden, Platon's Idee der Schoͤnheit iſt, bei Licht betrachtet, von jeder andern abſtrakten Idee durch nichts unter¬ ſchieden, wir koͤnnen die Schoͤnheit nicht abloͤſen von den individuellen Organismen, in denen ſie zur Erſcheinung kommt, die ſchoͤne That nicht vom Charakter des Menſchen, der ſie ausfuͤhrt, die ſchoͤne Roſenknospe nicht von dem ſchlanken, gruͤ¬ nen Staͤngel, worauf ſie waͤchſt, die ſchoͤnen Au¬149 gen, den bezaubernden Mund, die feine Naſe nicht von dem Geſicht und das Geſicht nicht von dem Rumpfe des einzelnen Weſens getrennt und abgeſondert denken, ohne uns uͤberhaupt den Ein¬ druck der Schoͤnheit zu zerſtoͤren.
Es iſt nicht meine Abſicht, hier alle Defini¬ tionen der Schoͤnheit zu beleuchten. Bemerke ich nur, daß grade die tiefſinnigſte auf dem Grund¬ fehler beruhe, die Schoͤnheit als ein ideelles Et¬ was, als eine einzige beſtimmte Urſache fuͤr alle Wirkungen des Schoͤnen zu betrachten. Allein mannigfaltig iſt des Schoͤnen Natur und viele Elemente gibt es, die das Schoͤne darſtellen.
Doch halte ich es fuͤr wichtig, ehe ich Ihnen daruͤber meine Ideen mittheile, Sie vor der ſo gewoͤhnlichen Verwechſelung des Schoͤnen, ſei es mit dem Nuͤtzlichen und Angenehmen, ſei es mit dem Intereſſanten, zu warnen. Ganze philoſo¬ phiſche Sekten, wie die ſtoiſche, haben das Schoͤne mit dem Nuͤtzlichen verwechſelt; alle Dialektik der Stoiker konnte den aͤſthetiſchen Sinn nicht erſetzen. Das Schoͤne befriedigt, wie das Nuͤtzliche und Angenehme, allein das Schoͤne befriedigt, wie es geſucht wird, um ſein ſelbſt willen, das Nuͤtzliche nur um eines Andern willen, wozu es nuͤtz iſt, und, obwohl wir das Angenehme oft ohne wei¬ tere Nebenruͤckſichten begehren, und es alſo mit150 dem Gefallenden und Mißfallenden im nahen Ver¬ haͤltniß ſteht, ſo fehlt uns doch noch oͤfter der be¬ ſtimmte Gegenſtand dafuͤr und es ſchwebt nur als ein dunkles Gefuͤhl in uns, ohne uns, wie das Schoͤne, als Gegenſtand entgegenzutreten und ſich der Beurtheilung zu unterwerfen. Das Ange¬ nehme ergoͤtzt ſich mit augenblicklichen Gefuͤhlen, die, ſobald man ſie aufklaͤrt, in Nichts zuruͤcktre¬ ten und verſchwinden, dagegen iſt das Schoͤne, je laͤnger man es betrachtet, je ſchaͤrfer man ſeine Natur unterſucht, deſto lebendiger und nachhalti¬ ger von Wirkung auf das Gefuͤhl, ſo wie nur der Kenner der Kunſt den vollſten Genuß vom Anſchauen der Meiſterwerke hat und dem Kenner der Muſik tauſend Fibern im Ohr beruͤhrt wer¬ den bei Anhoͤrung eines wohlexerzirten Orcheſters, gegen eine Fiber im Ohr des Unkundigen. Nur das Schoͤne, wenn man den Ausdruck genau neh¬ men will, nur das Schoͤne gefaͤllt, nicht das Nuͤtz¬ liche, nicht einmal das Angenehme, obwohl dieſes auf unmerklichen Wegen ſich zum Schoͤnen ſtei¬ gern kann; beſonders wenn es den Sinn des Ge¬ ſichts affizirt, wie bei den Farben, als bloßen Pigmenten, oder bei einem Stuͤck blauer Luft, oder gruͤnem Raſen und dergleichen. Doch iſt der Sprachgebrauch hierin ziemlich lax und obwohl Niemand ſagen wird, daß ihm der Zirkel gefaͤllt,151 weil er rund iſt, ſo wird Mancher ſchon von dem Geruch einer Hyazinthe, als etwas, das ihm ge¬ falle, ſprechen koͤnnen.
Das Intereſſante iſt aber, was ſich dem Schoͤnen beigeſellt, ohne ſelbſt das Schoͤne zu ſein. Ein Dichter, der es darauf anlegt, unſere Aufmerkſamkeit auf mehrere Stunden in Anſpruch zu nehmen, erreicht dieſen Zweck ſelten nur mit bloßer Huͤlfe des Schoͤnen, er muß unſere Auf¬ merkſamkeit durch den Wechſel der Perſonen und Szenen, durch den Wechſel des Ernſten und Hei¬ tern, uͤberhaupt durch Abwechſelung zu unterſtuͤtzen ſuchen, er muß fuͤr unſere Unterhaltung ſorgen, wenn er uns das Schoͤne zu genießen gibt. So kann z. B. ein Trauerſpiel von 24 Akten ſehr ſchoͤn ſein, aber ich zweifle, daß es auch unter¬ haltend iſt. Voltaire hat nicht Unrecht, wenn er von den Gattungen der Dichtkunſt ſagt: jedes Genre iſt gut, ausgenommen das langweilige.
152Die Empfindung des Schoͤnen, das Schoͤne ſelbſt, haben wir voͤllig dem Kreis des Hiſtoriſch-Sub¬ jektiven vindizirt. Allein wir duͤrfen nicht bei die¬ ſem Satze ſtehen bleiben; auch das Gute, auch das Wahre gehoͤrt in dieſes Gebiet. Wer es laͤugnet, verkennt die Geſchichte und den innigen Zuſammenhang des Guten, Schoͤnen und Wahren, wie er ſich geſchichtlich kund thut.
Wir haben den Punkt zu bezeichnen geſucht, der auf den verſchiedenen Kulturſtufen des Voͤlker¬ lebens als der Mittelpunkt aller geiſtig-ſinnlichen Thaͤtigkeiten erſchien und in welchem alle indivi¬ duellen Anſchauungen ſich in eine große epochen¬ artige Weltanſchauung konzentrirten. Nur eine Zeit, der gar keine gemeinſame Anſchauungsweiſe153 zu Grunde liegt, konnte ſcheiden, was Gott ver¬ einigt hat, konnte mit duͤrren Schulbegriffen in der geheimnißvollen Werkſtatt des Lebens operiren. So wenig in ſolcher Zeit die Theologie mit der Religion, ſo wenig hat die Moral mit der Sitt¬ lichkeit, mit der Anwendung auf das oͤffentliche und einzelne Leben zu ſchaffen. Was man Moral nennt, wird ein todtes Abſtraktum von Pflichten - und Tugendlehre, die ſich den Anſtrich geben, ab¬ ſolut guͤltig zu ſein und jedem Menſchenkinde als apodiktiſche Richtſchnur des Handelns zu dienen. Was man Aeſthetik nennt, wird ein aͤhnliches Ab¬ ſtraktum von Schoͤnheitslehren fuͤr alle Zeiten und Generationen, von der abſoluten Natur moraliſcher Noͤthigungen nur dadurch unterſchieden, daß dieſe auf einem kategoriſchen Imperativ beruhe, jene aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der Wahl und Willkuͤhr weiteren Spielraum oͤffnen. Unter den Haͤnden der Philoſophen bekam die Aeſthetik eine ſehr untergeordnete Stellung, wie beſonders im Syſtem des Heros der kritiſchen Philoſophie. Waͤhrend Kant die Erhabenheit der Pflicht, die Majeſtaͤt des Geſetzes mit kraͤftigen und glaͤnzenden Farben ſchilderte, ſtand ihm das Bewußtſein und das Gefuͤhl des Schoͤnen ein klein wenig uͤber den thieriſchen Vorſtellungskraͤften; das Schoͤne ſelbſt iſt ihm etwas Begriffloſes, eine154 gewiſſe Form der Zweckmaͤßigkeit eines Gegenſtan¬ des, welche nothwendiger Weiſe gefaͤllt, ſofern ſie ohne Vorſtellung eines Zweckes wahrgenommen wird, eine Definition, die ſo einſeitig als falſch iſt, da die Zweckmaͤßigkeit, das iſt, das Treffen des Mittels zum Zweck, wie ſchon bemerkt, we¬ der an ſich die Schoͤnheit iſt, da es ſehr viele zweckmaͤßig haͤßliche Erſcheinungen gibt, noch uͤber¬ haupt ſchoͤn genannt werden kann, indem ſie nur in dem Beduͤrftigen der Natur ihren Sitz hat. Betrachtet man mit phyſiologiſchen Augen das Innere des menſchlichen Leibes, ſo erſcheint uns darin Alles durch die Verhaͤltniſſe von Zweck und Mittel geordnet, was aber durchaus keine aͤſthe¬ tiſche Betrachtungsweiſe zulaͤßt. Zweck und Mit¬ tel ſind dort in ſtetigem Uebergang in einander und zwar allerdings auf die kuͤnſtlichſte Weiſe, die auch nichts von der Willkuͤhr unſerer Kuͤnſteleien hat, ſondern die Nothwendigkeit einer hoͤhern Kunſt. Allein Alles dieſes hat die Natur unſern Augen wohlthaͤtig verborgen, und wir draͤngen uns, um unſere Kenntniſſe zu bereichern, in ihre in¬ nere Werkſtaͤtte. Nicht den Prozeß ihrer Thaͤtig¬ keit, etwas viel Schoͤneres fuͤhrt ſie uns vor Au¬ gen, das Produkt derſelben, in welchem alle ihre inneren Anſtalten ihr Ziel erreicht haben, vollen¬ det erſcheinen, bei welchem man alſo gar nicht155 mehr von Mittel und Zweck als abgeſonderten Gegenſtaͤnden ſprechen darf, ſondern wo Mittel und Zweck in einander aufgeloͤſt und verfloſſen ſind. Niemand hat dies ſcharfſinniger aus einander ge¬ ſetzt, als Solger im Ervin.
Moral und Aeſthetik haben in Kant's Phi¬ loſophie nichts mit einander gemein; der Geſchmack am Guten und der gute Geſchmack ſind ſich durch¬ aus fremd; es iſt nicht blos gut, das Gute zu empfinden, in dem Sinn, wie es ſchoͤn iſt, das Schoͤne zu empfinden, nein, das Gute iſt ein Muß, eine Pflicht, ein moraliſches Geſetz, dem ſich der Wille beugen und unterwerfen muß, ohne ſich an der Guͤte und Schoͤnheit der That zu er¬ freuen, ja, ein ſolches Wohlgefallen, das der That vorhergeht oder ſie begleitet, iſt verdaͤchtig, denn Luſt und Liebe ſind truͤbe Quellen und nur die ſteinernen Tafeln des Geſetzes bewahren die Welt vor dem Verfall der Sittlichkeit. Denken Sie nur an eine Menge lyriſcher Gedichte und insbeſondere auch an die aͤſthetiſchen Abhandlungen des kantiſirenden Schillers. Hier ſehen Sie, wie das freie Spiel der Schoͤnheit dem Ernſt der mo¬ raliſchen Geſetzgebung gegenuͤber geſtellt, dort, wie die Luſt mit der Pflicht in grauſamem Kampfe dargeſtellt wird.
So lange noch Moͤglichkeit vorhanden iſt,156 ſagt unter Andern Schiller in ſeiner Abhandlung uͤber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch ſchoͤner Formen: ſo lange noch Moͤglichkeit vor¬ handen iſt, daß Neigung und Pflicht in demſelben Objekt des Begehrens zuſammentreffen, ſo kann dieſe Repraͤſentation des Sittengefuͤhls durch das Schoͤnheitsgefuͤhl keinen poſiti¬ ven Schaden anrichten; obgleich, ſtreng genom¬ men, fuͤr die Moralitaͤt der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall veraͤndert ſich gar ſehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verſchiedenes Intereſſe haben, wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Ge¬ ſchmack empoͤrt, oder wenn ſich dieſer zu einem Objekt hingezogen fuͤhlt, das die Vernunft als moraliſche Richterin zu verwerfen gezwungen iſt.
Jetzt naͤmlich tritt auf einmal die Nothwen¬ digkeit ein, die Anſpruͤche des moraliſchen und aͤſthetiſchen Sinns auseinanderzuſetzen, ihre gegen¬ ſeitigen Befugniſſe zu beſtimmen und den wah¬ ren Gewalthaber im Gemuͤth zu erfahren. Aber eine ſo ununterbrochene Repraͤſentation hat ihn in Vergeſſenheit gebracht und die lange Ob¬ ſervanz, den Eingebungen des Geſchmacks unmit¬ telbar zu gehorchen, und ſich dabei wohl zu be¬ finden, muͤßte dieſem unvermerkt den Schein eines Rechtes erwerben.
157Und nun fuͤhrt Schiller die Liebe an, die er unter allen Neigungen, die von dem Schoͤnheits¬ gefuͤhl abſtammen, diejenige nennt, die ſich dem moraliſchen Gefuͤhl, als ein veredelter Affekt vorzuͤglich empfehle und nachdem er erſt eine dich¬ teriſche Schilderung von ihr gegeben, daß ſie goͤtt¬ liche Funken aus gemeinen Seelen ſchlage, daß ſie jede eigennuͤtzige Neigung verzehre, durch ihre allmaͤchtige Thatkraft Entſchluͤſſe beſchleunige, welche die bloße Pflicht den ſchwachen Sterblichen um¬ ſonſt wuͤrde abgefordert haben, ruft er auf einmal aus: aber man wage es ja nicht mit dieſem Fuͤh¬ rer, wenn man nicht ſchon vorher durch einen beſſeren geſichert iſt, was beilaͤufig zu ſagen, ſo viel heißt, als: man liebe nicht ohne Kant's kate¬ goriſchen Imperativ.
Das Beiſpiel, das er nun anfuͤhrt, mag uns zugleich dienſam ſein, die Natur des Irrthums uͤber Pflicht und Schoͤnheitsſinn aufzudecken und uns auf die richtige Spur zu leiten.
Der Fall ſoll eintreten, ſagt Schiller, daß der geliebte Gegenſtand ungluͤcklich iſt, daß es von uns abhaͤngt, ihn durch Aufopferung einiger moraliſcher Bedenklichkeiten gluͤcklich zu machen. Sollen wir ihn leiden laſſen, um ein reines Ge¬ wiſſen zu behalten. Erlaubt dieſes der uneigen¬ nuͤtzige, großmuͤthige, ſeinem Gegenſtand ganz da¬158 hingegebene, Alles vergeſſende Affekt? Heißt das lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten noch an ſich ſelbſt denkt? So ſophiſtiſch, faͤhrt er fort, weiß dieſer Affekt die moraliſche Stimme in uns veraͤchtlich zu machen und unſere ſittliche Wuͤrde als ein Beſtandſtuͤck unſerer Gluͤckſeligkeit vorzuſtellen, das zu veraͤußern in unſerer Macht ſteht.
Der Fall iſt gut gewaͤhlt, doch ſchuͤtzt er nicht, um den Trugſchluß der ganzen Anſicht, die Willkuͤhr philoſophiſcher Lehrſaͤtze eines Jahrhun¬ derts hinter der Willkuͤhr eigner Natur zu ver¬ ſtecken.
Wir ſehen hier einen Menſchen, den die Liebe verfuͤhrt, dem, was er fuͤr Pflicht haͤlt, untreu zu werden oder vielmehr, der ſich eine hoͤhere Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Menſch¬ heit zu uͤbertreten. Seine Neigung war an ſich eine edle, ſie war entſprungen aus dem Schoͤn¬ heitsgefuͤhl, hatte ſich geſteigert zur Leidenſchaft und drohte nur als ſolche der Sittlichkeit und dem Pflichtgefuͤhl gefaͤhrlich zu werden, ſie war alſo in ihrem Laufe eine andere geworden, das Schoͤn¬ heitsgefuͤhl, das eine zarte Neigung erzeugte, und ſich mit dieſer verſchmolz, war getruͤbt worden durch heftige Leidenſchaft, dieſe aber verbindet ſich bekanntlich eben ſo oft mit der Liebe, als mit dem159 Haſſe, dieſe ſtrebt eben ſo oft das Haͤßlichſte, als das Schoͤnſte an, dieſe, wie ſie die Erzeugerin alles Großen in der Weltgeſchichte iſt, war auch die Mutter aller Gewaltthaten und Graͤuel, die nicht vom kalten Blut und der vertrockneten Bosheit diktirt wurden. Nicht allein die Liebe, die auf dem Schoͤnheitsgefuͤhl beruht, hat ihre Leidenſchaf¬ ten, auch die Religion hat die ihrigen und die liebevollſte unter allen, die chriſtliche, hat ſich mit den furchtbarſten geſellt und iſt durch ſie in die blindeſte Befangenheit trauriger Irrthuͤmer geſtuͤrzt. Ja noch mehr, ſelbſt dieſe kalte Pflichtenlehre, welche das moraliſche Geſetz mit eiſerner Ruthe uͤber das Gewiſſen ihrer Unterthanen walten laͤßt, ſelbſt dieſe kann ſich leidenſchaftlich aͤußern, und es iſt mir von einem Kantianer erzaͤhlt, der mit einer Art kaltphiloſophiſcher Wuth alle Blumen der Luſt und Poeſie aus ſeinem Herzen riß und nach den Trommel - und Taktſchlaͤgen des Kanti¬ ſchen Moralprinzips ſo eifrig, wie ein neuange¬ worbener Rekrut, auf dem Felde der Sittlichkeit ſich einexerzirte. Koͤnnen wir uns nicht an der Stelle des Schillerſchen Beiſpiels ein anderes den¬ ken, wo grade das zur hoͤchſten Einſeitigkeit aus¬ gebildete ſogenannte Pflichtgefuͤhl in Kolliſion mit den ſchoͤnern Gewalten der Liebe, ſei's nun durch Begehen oder Unterlaſſen empoͤrend und abſcheu¬160 lich wird? Verſuchen wir ein ſolches; denken wir uns einen aͤngſtlich gewiſſenhaften Pflichtmenſchen, der ſich aͤrgert, wenn es ihm einmal widerfaͤhrt, das Gute aus Luſt zu thun und das Boͤſe aus Widerwillen zu unterlaſſen, der ſich aber gluͤcklich ſchaͤtzt, daß er es ziemlich ſo weit gebracht hat, entweder ſeine Neigungen zu toͤdten, oder trotz ſeinen Neigungen (natuͤrlich auch ſeinen ſchoͤnen und edlen Neigungen) nur auf die ſtrengen Ge¬ bote deſſen zu achten, was er Pflicht nennt. Denken Sie ſich alſo einen Mann, der es nach Schiller's obigem Ausſpruch wagen kann, ſich zu verlieben. Er liebt wirklich. Der Gegenſtand ſeiner Liebe iſt ein ſchoͤnes und edles Maͤdchen, lange geht es gluͤcklich, lange theilt er die Neigungen der Liebe mit Pflichten der Moral, bis ihn die Voraus¬ ſicht eines moͤglichen, ja wahrſcheinlichen Kolli¬ ſionsfalles unruhig und aͤngſtlich macht und die bloße Furcht, in dieſem Kampfe der Liebe mehr als der Pflicht zu gehorchen, das Gebot einer Pflicht annimmt, die ihm anbefiehlt, ſein hoͤchſtes Gut, die Moralitaͤt, den kategoriſchen Imperativ, bei Zeiten in Sicherheit zu bringen und ſich, wenn auch mit blutendem Herzen, von dem geliebten Gegenſtand loszureißen. Mag nun auch aus den Tiefen ſeiner beſſern und ſchoͤnern Natur die Stimme der Liebe, der Ehre ſich empoͤren uͤber das eiſige161 Gebot einer kuͤnſtlichen, mißverſtandenen Pflicht, er hoͤrt ſie, uͤberhoͤrt ſie, flieht, macht ein edles Weſen, ſich ſelbſt im Grunde der Seele ungluͤck¬ lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den Sieg der Pflicht uͤber die Leidenſchaft, nach un¬ ſerm Gefuͤhl der ſophiſtiſchen Unnatur uͤber die menſchliche Natur, welche uns unbewußter und leiſer, aber deſto richtiger die Pfade des Lebens fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬ ralgeſetz, als ein Goͤtzenbild unſerer Philoſophie.
Unterſuchen wir nun, worauf die Herabſetzung des Aeſthetiſchen in dieſer Anſicht beruht, ſo fin¬ den wir, daß eine voͤllige Verkennung ſowohl des Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle iſt. We¬ ſen, die ſchoͤn denken und ſchoͤn handeln, iſt das Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identiſch. Allein, wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit nur die Kunſt nachbleibt, ſo taucht eine Moral auf, die um ſo unerbittlicher den Reſt ſchoͤner Nei¬ gungen bekaͤmpft, als dieſe wirklich, aus ihrem Zuſammenhang mit dem Leben geriſſen, nur zu oft in Gefahr ſtehen, dem bloßen ſinnlichen Trieb anheim zu fallen und durch gemeine Beiſaͤtze ent¬ adelt zu werden. Niemand hat in ſolcher Zeit den rechten Muth, ſich ſeiner Natur zu uͤberlaſſen, als ob Jeder fuͤrchtete, ſich in ſeiner Bloͤße zuWienbarg, aͤſthet. Feldz. 11162zeigen und die ſchlaffen, unreinen Sprungfedern ſeines innern Lebens vor den Augen der Welt aufzudecken. Aber je armſeliger und nackter das Innere, deſto prachtvoller iſt der moraliſche Appa¬ rat, den man nach außen aufthuͤrmt, deſto ſtoi¬ ſcher huͤllt man ſich in den Mantel der Entſagung, deſto ſcheinheiliger verdammt man die nackte Na¬ tur und deſto niedriger und erbaͤrmlicher fuͤhlt man ſich im Angeſicht jenes ſelbſtgeſchaffenen erhabenen Pflichtprinzips, das man weder zu erfuͤllen noch zu laͤugnen die Kuͤhnheit hat. Nun traͤgt die arme Sinnlichkeit alle Schuld, nun iſt die Schoͤn¬ heit ſelbſt, die nicht lebendig mehr im Herzen lebt, die Verfuͤhrerin, das Gewiſſen aber der Pi¬ latus, der ſich die Haͤnde in Unſchuld waͤſchet und alle Schuld auf die unbaͤndigen Triebe wirft und auch die Phantaſie anklagt, als ob ſie beſtaͤndig durch den Reiz ihrer zuͤgelloſen Einfaͤlle zu Uebertretun¬ gen des moraliſchen Geſetzes verfuͤhre. So wird unſere Seele dann vorgeſtellt als der Kampfplatz aller moͤglichen widerſtrebenden Kraͤfte und Nei¬ gungen und uͤber dem Gewuͤhl und Wellen der ruhig ernſte kategoriſche Imperativ, der quos ego donnert. Eine ſolche Vorſtellung ſchickt ſich in der That fuͤr ſolche Zeiten, die wir erlebt; aber ſie iſt Gottlob nicht die natuͤrliche und wahre, ſie163 gehoͤrt dem Gebiete an, woraus ſie ſtammt, dem Gebiet der Schwaͤche und der Unnatur. Schafft uns ein kraͤftiges Geſchlecht, ſprengt die Bande, die den Krafterguß ſchoͤner Neigungen und Triebe ſuͤndhaft gefeſſelt halten, befreit die Welt von den Suͤnden der Schwaͤche, und dann ſeht, wie viele Rudera eurer jetzigen Pflichtenlehre ſich in der Umgeſtaltung des Lebens erhalten werden, und um wie Vieles kuͤrzer und buͤndiger das Kapitel von den Kolliſionsfaͤllen zwiſchen Moral und Trieb aus¬ fallen wird. Aber das iſt eben der Haupt - und Grundfehler unſerer Moral, nur zu negiren, nur zu verbieten, nur zu vernichten, dagegen ſie ſich Muͤhe gibt, alles Treibende und Liebende in uns als das Unmoraliſche, als das zu Negirende, als das Suͤndhafte darzuſtellen.
Sie, der es nicht gelang, auch nur ein ein¬ ziges Gebot der Liebe zu predigen, wollte es mit der Achtung und Ehrfurcht zwingen, die nach ihrer Behauptung jeder Sterbliche dem kategori¬ ſchen Imperativ ſchuldig ſei. Allein, ſo groß auch die Zahl ihrer Verehrer war, es fehlte ſchon fruͤher nicht an Solchen, die den Imperativ grade zu ablehnten, die rechte Luſt zur ſchoͤnen That empfanden, rechten Abſcheu vor dem Haͤßlichen und denen das Schoͤne und Haͤßliche in Bezug11 *164auf die Perſoͤnlichkeit eben in dem Begriff des Guten und Schlechten enthalten war. Eine ſolche kernhaft ſchoͤne Natur war Goethe, nie hat dieſer ſeine Lippe oder Feder mit einem Miſerere vor dem Kampf zwiſchen Schoͤnheit und kategori¬ ſchem Imperativ beſchwert.
165Nur die deutſche Kathedermoral konnte das Ge¬ ſetz der Schoͤnheit ſo ſchnoͤde verkennen, um das ganze ſittliche Leben in ihren duͤrren Formelkreis bannen zu wollen. Man lege jetzt ihren Kodex auf das Grab ihrer Schreiber und Urheber. Die Zeit hat ſich uͤber den Werth der Moralkompen¬ dien hinlaͤnglich aufgeklaͤrt, man wuͤnſcht mehr Moral im Leben und weniger auf dem Papier, und man wuͤnſcht eine Moral der That, eine Mo¬ ral der Jugend, die, ſtatt uns die Fluͤgel zu be¬ ſchneiden und unſere Fortſchritte zu hemmen, uns befluͤgelt und zur Ausuͤbung alles Guten und Schoͤnen anleitet. Die Menſchheit, das edle Roß, laͤßt ſich nicht laͤnger mehr trainiren, ſie iſt der Reitſchule mit ihren veralteten Kuͤnſteleien uͤber¬166 druͤßig, ſie will nicht laͤnger im Umkreis weniger Schritte, im verdeckten Kaſten, auf den Wink ihres Bereiters ihre edle Kraft vergeuden, und peitſcht ſie nur, quaͤlt ſie nur, reißt ſie nur im Zuͤgel, ſie hat die offene Thuͤr und das reiche, gruͤne Feld geſehen, ein Schlag, ein Satz und ihr liegt unter ihren Hufen und ein anderer Rei¬ ter ſchwebt mit ihr der Freiheit entgegen.
Ich habe bisher nur von der philoſophiſchen Moral dieſes und des vorigen Jahrhunderts ge¬ ſprochen, von dieſer Antagoniſtin der menſchlichen Kraft und Schoͤnheit, die mit der Anmaßung, eine abſolute zu ſein, in Deutſchland auftrat. Ich darf Ihnen wohl kaum erklaͤren, daß jede philoſo¬ phiſche Moral, erſcheine ſie, zu welcher Zeit ſie wolle, die ſich fuͤr abſolut ausgibt, nur ein Mach¬ werk der Schule und keine Moral des Lebens ſei, da dieſes immer nur unter konkreten Bedingungen zur Erſcheinung kommt. Jede geſchichtliche Welt¬ anſchauung hat ihr eignes moraliſches Prinzip und ſo lange die chriſtliche bluͤhte, gab es außer der chriſtlichen Moral keine andere, die das Geſetz des Lebens in ſich trug: Man ſchreibe, wenn man kann, ein Moralkompendium des 13. Jahrhunderts, eine Moral chriſtlichen Ritterthums und Buͤrger¬ thums, da beſaͤße man doch wenigſtens ein ver¬ dienſtvolles hiſtoriſches Werk, das alle die aus167 dem abſtrakten Begriff des Chriſtenthums abſtra¬ hirten heutigen Moralen an wiſſenſchaftlichem Werth uͤbertreffen wuͤrde; wuͤrde man zeigen, wie die urſpruͤngliche menſchliche Kraft jenes Zeitalters ſich durchdrang von den geſchichtlich gegebenen Elementen des Chriſtenthums und wie dieſe Mi¬ ſchung ſich in den eigenthuͤmlichſten Formen kry¬ ſtalliſirte und das Groͤßte wie das Kleinſte in den ſittlichen Aeußerungen ſo und nicht anders geſtal¬ tete, wie es die Geſchichte lehrt. Aber nun, nach¬ dem ſich die Grundbeſtrebungen der Zeit außer dem fruͤheren, innigern Kontakt mit dem chriſtli¬ chen ſahen, eine Art formeller philoſophiſcher chriſt¬ licher Moral der geſchichtlich chriſtlichen ſubſtituiren und nach willkuͤhrlichen Abſtraktionen aus dieſer das Gewiſſen der neuen Zeit regeln und beſchwe¬ ren zu wollen, iſt ein nichtiges Unternehmen, das auf die Geſtaltung des Lebens keinen Einfluß ha¬ ben und finden, obwohl auf Akademien, wie Alles, ſich eine Zeit lang ſo hinſchleppen wird, bis etwas Beſſeres dafuͤr an die Stelle tritt. Was ſollen wir mit ſolcher Moral anfangen, wozu ſollte ſie uns nuͤtzlich ſein? Entweder ſie geht unſern Weg und dann iſt ſie nicht das, wofuͤr ſie ſich ausgibt, dann muß ſie ſich beſcheiden, ihr Zentrum noch nicht gefunden zu haben, oder ſie geht ihn nicht und dann predigt ſie tauben Ohren. Sie gibt168 freilich uͤberall nur einen undeutlichen Ton von ſich, ſo daß Niemand ſich leicht ihrethalben zum Kampfe ruͤſtet. Was ſagt ſie uns von der Mo¬ ralitaͤt oder Unmoralitaͤt unſerer Staatseinrichtun¬ gen, was hat ſie fuͤr ein Urtheil uͤber Freiheit und Knechtſchaft? iſt es moraliſch oder unmora¬ liſch, oder gleichguͤltig, ſich in den Kampf der Zeit einzulaſſen, das Schwert fuͤr Recht und Frei¬ heit zu zuͤcken, das Bollwerk der Privilegien, die Mißbraͤuche des Kaſtenweſens anzugreifen? iſt es ein moraliſcher oder unmoraliſcher Zuſtand, daß unſer Volk kein vaterlaͤndiſches, verſtaͤndliches Recht hat, daß es in ſo vielen Laͤndern noch keine Stimme fuͤhrt, wo es ihre vornehmlichſten und heiligſten Intereſſen betrifft? Fragt ſie uͤber dieſe und aͤhnliche Verhaͤltniſſe und Zuſtaͤnde und hoͤrt, welch undeutlich zwitſchernder Ton aus ihrem Munde geht, wie ſie im ſelben Athem zugeſtehen und ablaͤugnen, einraͤumen und beſchraͤnken, oder gar, wie ſie dieſe Fragen, die allein gegenwaͤrtig das Rad der Zeit umdrehen, als außer ihrem Kreiſe liegende, außermoraliſche, oder außerakade¬ miſche, was weiß ich, von ſich ablehnen. Wirk¬ lich Letztere ſind noch die Beſten, man weiß doch, woran man mit ihnen iſt. Es iſt unſers Amts nicht, ſagen ſie, in der Moral uͤber das Beſte¬ hende und Werdende zu diskutiren, die Haupt¬169[ſache] iſt, daß man erſt moraliſch wird, nach An¬ leitung unſers Kompendiums, oder vielmehr, daß man erſt lernt, was Moral iſt, und daß man ſich die großen Schwierigkeiten zu Gemuͤth zieht, die fuͤr einen Moralkompendienſchreiber nach Erſchei¬ nung der Schleiermacherſchen Kritik aller Mo¬ ral auf dieſem Gebiet erwachſen ſind. Mit der Gegenwart, mit dem Leben hat die Moral als Moral nichts zu thun, denn die Moral iſt eine akademiſche Wiſſenſchaft und die Akademie iſt gar kein Leben, ſondern eine bloße Studienanſtalt, de¬ ren Wirkungskreis ſich voͤllig innerhalb der vier Waͤnde unſerer Auditorien abſchließt.
Sehen Sie, man weiß doch, woran man ſich zu halten hat, wenn man ſolche Stimmen hoͤrt. Man kann ihnen gleich nur erwiedern, ſo huͤtet euch, daß die Fenſter eurer Auditorien nicht offen ſtehen, denn der Luftzug aus der wirklichen Welt ſtroͤmt herein und erinnert die junge Bruſt an ihre Hoffnungen, an ihren Zuſammenhang mit dem Leben, an Alles, was draußen liebt und haßt, kaͤmpft und ſtrebt, ſiegt und unterliegt, an die Zeit, an die Gegenwart.
Es waͤre leicht zu zeigen, daß ſich dieſe Her¬ ren verſuͤndigten an der Moral wie an der Zeit, allein dieſe ſelbſt hat dafuͤr geſorgt, daß Jene11 **170Suͤnde nicht groß wird, und daß ihre eunuchiſche Tendenz ſich ſelbſt vernichtet.
Eine maͤnnlichere und edlere Moral wird ſich herbilden aus dem Schooße der Zeit, eine Moral, die dem neuen Zeitalter ſo innig angehoͤren wird, wie die chriſtkatholiſche dem Mittelalter. Jene hab 'ich im Sinn, wenn ich behaupte, die echte Moral muͤſſe mitten in das Gebiet der Aeſthetik verpflanzt werden. Wohin ſich die heutige akade¬ miſche ſtellt und wo ſie am Ende[bleibt], kann uns gleichguͤltig ſein. Mitten in der Aeſthetik wird die Moral ihren Platz haben, wenn die Zeit erlaubt, die eine wie die andere in ihren lebendig geſchichtlichen Zuͤgen aufzuſtellen; denn aus einem Grundgefuͤhl muͤſſen beide entſprießen, ein Geiſt muß ſie beide beſeelen, eine That muß ſie beide vereinigen. Es gibt vielerlei ſchoͤne Kuͤnſte — die Kunſt, ſein eignes Leben zu geſtalten und ihm eine wuͤrdige, zeitentſprechende Form zu geben, die Moral wird eine derſelben und zwar die ſchoͤnſte und edelſte von allen. Man werfe mir nicht ent¬ gegen, daß der Meiſter der Lebekunſt, der Bild¬ ner ſeiner eigenen Perſoͤnlichkeit ſchon deswegen himmelweit vom Bildner einer Statue, vom Ver¬ fertiger eines Gemaͤldes verſchieden ſei, daß Jenem eine moraliſche Gottheit, ein Gewiſſen, das ihn lohne und ſtrafe, im Herzen throne, waͤhrend die¬171 ſer ohne moraliſches Gewiſſen zu Werke gehe: dann kennt ihr den Genius des Kuͤnſtlers ſchlecht, wenn ihr glaubt, er arbeite gewiſſenlos, er fuͤhle nicht den warmen, lohnenden Kuß der Goͤttin, wenn ihm ein Meißelſchlag, ein Pinſelzug unter den Haͤnden gelungen, oder nicht den kalten, ſchneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch Leichtſinn, Unvorſichtigkeit das ganze Werk oder ein Theil deſſelben mißlungen iſt, hat nicht jedes Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinſte, ſein Gewiſſen und die goͤttliche Kunſt ſollte keins ha¬ ben, ſie, die nur eine ſo ſchmale, zarte Linie hat, worauf das Geſetz der Schoͤnheit ihr erlaubt, den Fuß zu ſetzen, ſie ſollte mit ihrer Gewiſſenhaftig¬ keit zuruͤckſtehen koͤnnen, vor irgend einer andern und nun gar vor jener plumpen und weiten der gemeinen Moral, wie ſie alltaͤglich im Leben aus¬ geuͤbt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom Gewiſſen des Dichters, des Muſikers, habt ihr keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des Letztern, wenn ſeinem Inſtrument ein falſcher Ton entſchluͤpft, wenn der Violinſpieler nur eine Linie breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider, ich ſage das zu unſerer Schande, leider iſt im Gegentheil die Kunſt gewiſſenhafter, als die Mo¬ ral, der Kuͤnſtler gewiſſenhafter als der Menſch. Ach, waͤhrend in unſern Konzertſaͤlen himmliſche172 Melodien die Luft erfuͤllen und das Reich der Toͤne in der durchgreifendſten Harmonie ſich un¬ ſern Ohren aufthut, ſchreien die ſtummen Diſſo¬ nanzen unſerer Bruſt zum Himmel an, und, koͤnnten ſie laut werden, ſie wuͤrden die Muſik der Engel uͤbertoͤnen und die ſchrillendſten Mi߬ laute am Throne der Harmonie ſelbſt laut werden laſſen. Ja, die jaͤmmerlichſte Katzenmuſik waͤre eine ſolche moraliſche, welche wir in guter Geſell¬ ſchaft auffuͤhren wuͤrden, falls durch Zauberei un¬ ſere Empfindungen Trompeten -, Geigen - und Floͤ¬ tentoͤne wuͤrden. Und woher das? Weil unſere Moral kein ſo ſeines Gewiſſen hat, als unſere Muſik, weil wir die Gewiſſenloſigkeit haben, die ſchaͤndlichen Disharmonien der Geſellſchaft, des Staatslebens, unſers eigenen, ruhig und mit ge¬ duldig langen Ohren zu ertragen.
Auch den Einwurf ſtelle man mir nicht ent¬ gegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunſt hingegen genieße. Beide, wenn ſie echt ſind, thei¬ len Genuß und Entſagung und beide beruhen in Ewigkeit auf dem Grundſatz: nichts Großes kann der Menſch vollbringen, nichts Großes der Kuͤnſt¬ ler geſtalten, ohne ſeine Kraͤfte zu konzentriren, d. h. ohne Selbſtentſagung, ohne Aufopferung, ohne Ausſcheidung des Unweſentlichen, Stoͤrenden und Feindlichen. Und hier tritt nun derſelbe Fall173 ein, wie bei dem vorigen Einwurf; man muß ihn leider grade auf den Kopf ſtellen und behaupten, daß die bisherige Moral, bei aller Rigoroſitaͤt ih¬ rer Prinzipien in der Anwendung eben die flaue und laue iſt und nicht im Stande, einen kern¬ haften Menſchen zu bilden und ihn zu zwingen, um eines Hoͤchſten willen den Genuß, den Beſitz und die Guͤter der Welt fahren zu laſſen; dage¬ gen die Kunſt an Hunderten von Kuͤnſtlern unſe¬ rer Zeit das Beiſpiel gibt, zu welch anhaltendem Streben, zu wie viel durchwachten Naͤchten, zu welcher Menge und Groͤße der Opfer, Entſagun¬ gen und Entbehrungen ſie ihre erwaͤhlten Lieb¬ linge anſpornt. Und man leſe das Leben der gro¬ ßen Maler und Dichter der Vergangenheit, und man leſe, ob einer von ihnen groß geworden iſt ohne den heiligen Entſchluß, ſeinem Talent zu le¬ ben und zu ſterben, und der Kunſt alle Opfer zu bringen, welche mit ihrer großartigen, leidenſchaft¬ lichen Ausuͤbung verbunden ſind. Freilich jene Opfer wurden entſchaͤdigt und wohl uͤberreichlich aufgewogen durch den freudigen Genuß und die Seligkeit, die ſie uͤberſtroͤmte. Nicht der Entſa¬ gung wegen entſagten ſie, nein, des Genuſſes wegen, ſie brannten im Feuer der Begeiſterung, das alles Unreine verzehrt und ſelbſt den Schmerz in Rauch und Aſche aufloͤſet.
174Armſelige Moraliſten, die auftreten und den Leichtſinn der Kunſt anklagen, der in unſerer Zeit immer mehr einreiße und um ſich greife. Tretet beſchaͤmt zuruͤck und ſchweigt; denn wo noch in der Gegenwart der ſchoͤnere Funke der Natur, der Wahrheit und der Freiheit hervorbricht, da ſieht man ihn uͤberall eher im Geſang und Gedicht, als im Leben, das unter der ſchalen, gedankenloſen und leichtfertigen Oberflaͤche nur erſt ſpaͤrliche Lich¬ ter durchzucken laͤßt. Nicht die Kunſt iſt es, die das Leben, das Leben iſt es, das die Kunſt ver¬ dirbt und zu allen Zeiten, zu den ſchlechteſten un¬ ter Nero, iſt dieſe noch immer beſſer und heiliger geweſen, als jenes.
Nur Wenige ſind zu Kuͤnſtlern geboren: Alle um Selbſtkuͤnſtler, Bildner ihrer eignen Perſoͤn¬ lichkeit zu ſein; dieſes eben, die Allgemeinheit und Unerlaͤßlichkeit der Forderung iſt es, was die Le¬ benskunſt, die Moral, von den uͤbrigen Kuͤnſten unterſcheidet, die man auch in dieſer Beziehung frei nennen kann, indem es auf Talent und Luſt ankommt, ſich mit ihnen zu befaſſen, waͤhrend Jedem die Luſt angemuthet, das Talent zugeſpro¬ chen werden muß, ſeine eigne moraliſche Bildung zu unternehmen.
So ſind beide nur in ihrem Umfang, aber nicht in ihrem Urſprung und in ihrer aͤſthetiſchen175 Geltung unterſchieden. Beide theilen auch daſ¬ ſelbe Ziel, Organiſirung der aͤſthetiſchen Elemente zu einem gebildeten Ganzen, das bei der groͤßten Mannigfaltigkeit ſeiner Theile von einer Grund¬ idee durchdrungen und zur Einheit verknuͤpft wird. Nicht die Art und Menge dieſer Theile, nicht die Art und Beſchaffenheit der Grundidee iſt das, was dem Ganzen Werth und Wuͤrde gibt, ſon¬ dern einerſeits die Staͤrke und Maͤchtigkeit des zu Grunde liegenden Lebens, andererſeits die mehr oder weniger durchgefuͤhrte Einigung und Durch¬ dringung der zum Ganzen gehoͤrigen Theile. So bei Menſchen, ſo bei Kunſtwerken, ſo bei Einzel¬ nen, ſo bei ganzen Zeitaltern. Nicht tief genug kann man ſich dieſe Wahrheit einpraͤgen, nicht lebhaft genug kann man es fuͤhlen und ausrufen: der Menſch iſt nichts werth, der Kuͤnſtler iſt nichts werth, der nicht Drang und Kraft und aufſprin¬ gende Fibern im Herz und Hirn hat, Alles, was er bildet, und waͤr 'es die vollkommenſte Idee im feinſten Material, iſt nichts werth vor Gott und Menſchen.
Solche Kraft iſt aber ein Erbtheil der Ge¬ burt und der einzige Adel, der die Probe der Zeit beſteht. Sie kann nicht, wo ſie fehlt, erſetzt, kann aber, wo ſie iſt, geſchwaͤcht, ja vertilgt wer¬ den. Welchem Geſchlecht hat die Natur ſie ganz176 verſagt, welchem hat ſie den Brunnen ihres Le¬ benswaſſers ganz verſchloſſen. Was waͤre die Ge¬ ſchichte, welche armſelige Rolle haͤtte ſelbſt das Chriſtenthum auf der Weltbuͤhne geſpielt, ohne dieſe aͤlteſte und ewige Offenbarung und Ergießung des Lebensgeiſtes, welche Gabe des Himmels kaͤme einer ſchwindſuͤchtigen und ohnmaͤchtigen Menſch¬ heit zu gute, welche Engelszunge kann ein mat¬ tes, erſtorbenes Herz in Begeiſtrung ſetzen. In jener geiſtig-leiblichen Urkraft ruht das Gute und Schoͤne wie im befruchtenden Schooß, ohne ſie ſind beide welk und unfreundlich und verdienen den Sonnenſchein des Himmels nicht.
Auf dieſer Kraft beruht unſere Wiedergebaͤ¬ rung — wer ſie in ſich fuͤhlt, der wehre dem Raube, womit die Zeit ſie bedroht.
177Wir haben die Moral als die Kunſt eines Je¬ den, ſeinen Charakter zu bilden und ſein Leben zu geſtalten, dem Kreis der ſchoͤnen Kuͤnſte vindizirt, indem wir die irrigen Anſichten vom Leichtſinn und der Gewiſſenloſigkeit der Kunſt als dem Ernſt und Gewiſſen der Moral entgegengeſetzt in die ge¬ hoͤrige Beleuchtung ſtellten. In der That, Jeder¬ mann iſt Kuͤnſtler und Kunſtwerk zugleich, beob¬ achten Sie nur die moraliſchen Aeußerungen der Menſchen, mit denen Sie umgehen, mit kuͤnſtle¬ riſchem Auge, ſo werden Sie etwas von dem Eindruck empfinden, den ein Gedicht, eine Ma¬ lerei, ein Bildwerk auf Sie zu machen pflegt. Hier ſehen Sie einen Menſchen, der durch und durch Charakter iſt, ſtark im Wollen, wenn auchWienbarg, aͤſthet. Feldz. 12178beſchraͤnkt und einſeitig, mit ſtarken, kuͤhnen, aber wenigen Strichen gezeichnet; dort einen Menſchen, der bei vielſeitiger, formeller Ausbildung nur einen ſchwachen Nerv, zu wollen und zu handeln, ver¬ raͤth und waͤhrend der Erſtere als die beſonderſte Individualitaͤt daſteht, von allen Seiten ſchroff, gebieteriſch und unzugaͤnglich, dieſer glatt, gefaͤllig, lenkbar und ſich allen Umſtaͤnden und Charakteren anſchmiegend. Sie werden auch nicht lange un¬ ter Ihrer Bekanntſchaft zu ſuchen haben, um ſich einen Dritten zur Anſchauung zu bringen, der von der Natur in punktirter Manier ausgearbeitet iſt und allen ſeinen Geſchaͤften, Handlungen und Re¬ den den Charakter aͤngſtlicher Ausfuͤhrlichkeit und Genauigkeit verleiht, ſo wie einen Vierten, den die Natur nur als fluͤchtige Skizze hingeworfen hat und der daher mehr nach Einfaͤllen und Lau¬ nen die Dinge angreift, als ſie auszufuͤhren und zu vollenden ſtrebt. Und ſo mag ſich ein Jeder unter ſeinen Freunden und Bekannten eine Gal¬ lerie lebendiger Portraits ſammeln, die einem Bil¬ derſaal der Kunſt aͤhnlich, im verſchiedenſten Stil gearbeitet ſind. Doch — glaube ich, ſtraͤubt ſich noch immer bei Ihnen, und das mit Recht, et¬ was gegen dieſe Anſicht, welche die Moral in den Kreis der Kunſt und des Aeſthetiſchen zieht. — Spreche ich es richtig aus, wenn ich Sie ſo ver¬179 ſtehe: allerdings muß zugegeben werden, daß das, was man gemeiniglich unter dem Namen ſchoͤne Kunſt begreift, ihr beſonderes Gewiſſen hat und auch nicht ohne Opfer von Seiten des Kuͤnſtlers zu Stande kommt; allein damit iſt es noch nicht gethan und die Moral von Kunſt noch himmel¬ weit unterſchieden, denn das Gewiſſen der Moral ſetzt unbedingt die Moͤglichkeit voraus, ſeinen An¬ forderungen Genuͤge zu leiſten, da die Moral fuͤr Jedermann iſt und alle ihre Gebote oder Anforde¬ rungen oder leiſe Winke, ſowohl abſolut zu erfuͤl¬ lende, als, vermoͤge der menſchlichen Freiheit, auch abſolut erfuͤllbare ſind. Es gibt nur eine Moral und nur eine Art, wie der Menſch ſie ausuͤbt, dagegen laͤßt die Kunſt einen weiten Spielraum fuͤr verſchiedene Bearbeitungen derſelben und man ſpricht daher von mehreren Kunſtſchulen, von ita¬ lieniſchen, altdeutſchen, hollaͤndiſchen Malerſchulen, allein bisher iſt es noch Niemand eingefallen, von einer beſondern italieniſchen, deutſchen oder fran¬ zoͤſiſchen Moral zu ſprechen. Darauf antworte ich denn Folgendes: wenn wir uns recht verſtehen und einmal abſtrahiren von der abſolut thuenden Kathedermoral, welche der deutſche Student in ſein Heft niederſchreibt und es dabei bewenden laͤßt, falls er nicht rationaliſtiſcher Prediger, oder auch wieder Profeſſor wird; wenn wir alſo ſtatt12 *180gemachter und papierner Moral die Moral des Lebens, die Moral der Geſchichte unſerer Betrach¬ tung wuͤrdigen, ſo muß es moͤglich ſein, uns uͤber den beregten Punkt zu verſtaͤndigen. Wir denken doch, daß es eine ſolche Moral im Leben und in der Geſchichte gibt und daß die Moral nicht blos in den Lehrbuͤchern und auf dem Papier ſtehe; wir haben doch den Glauben, ich meine den leben¬ digen, daß das Goͤttliche in der Welt wirklich zur Erſcheinung gekommen, daß Gott ſich in der Ge¬ ſchichte offenbart hat, wie in der Natur, welche gleichſam nur die Vorhalle ſeines Offenbarungs¬ tempels iſt. Es waͤre ja gottlos, daran zu zwei¬ feln, daß Gottes Eigenſchaften ſich irgendwo un¬ bezeugt gelaſſen, unverſtaͤndig, ja unſinnig z. B. zu ſagen, der gerechte Gott faͤnde ſich nicht in der Natur und in dem, was nach chriſtlicher Termi¬ nologie natuͤrlicher Menſch heißt, und wir muͤßten es, in Ermanglung reeller Offenbarungszeugniſſe, Gott auf ſein Wort blos glauben, daß er ge¬ recht ſei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns, in der Natur, in der Geſchichte ausgepraͤgt zu finden. Alſo, betrachten wir die Moral der Ge¬ ſchichte, ſehen wir, wie die goͤttlichen Ideen ſich in dieſem, in jenem Volke, zu dieſer und zu jener Zeit verkoͤrperten, in der Bruſt der Menſchenkin¬ der lebten und ſich zu Thaten entfalteten, ſo ſehen181 wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben dieſer Ideen, der Guͤte, der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewiſſen eigenthuͤmlichen Beſchraͤnkung, ſo und ſo gefaͤrbt und ausgepraͤgt, ſeinen Beſtand habe, was grade das Charakteriſtiſche der Zeit und des Volkes aus¬ macht und was wir die jedesmalige Weltanſchau¬ ung genannt haben. Nun waͤre es ja ein Aber¬ witz, das ſittliche Leben der Indier, nach dem Sittengeſetz der Griechen, dieſes nach der evange¬ liſchen Moral des Teſtaments, Alle nach dem Mo¬ ralkompendium eines deutſchen Profeſſors zu beur¬ theilen und zu richten — ein Aberwitz freilich, den man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬ ſchichte mit all ihrer Groͤße, Erhabenheit und goͤtt¬ lichen Mannigfaltigkeit in dem Muͤhlwerk einer be¬ ſchraͤnkten Anſicht zerſtampft und des Herrn Geiſt und Werke ſo wenig begreift, wie ein Maulwurf den Straßburger Muͤnſter oder ein bigotter Heng¬ ſtenberg und Tholuck die griechiſche Iliade und den Jupiter des Phidias. Bedenken wir alſo den Satz, daß die Moral der Voͤlker nicht minder ein geſchichtliches Produkt ſei, als die Kunſt und die Poeſie der Voͤlker, und daher auch nicht minder verſchieden und wechſelnd, als dieſe, ſo muͤſſen wir die Behauptung, es gaͤbe nur eine Moral, wenn ſie Sinn, Verſtand und Wahrheit haben182 ſoll, dahin faſſen, daß wir bekennen, die goͤttli¬ chen Ideen, die Begriffe der Moral ſind elemen¬ tariſch durch die ganze Welt zerſtreut, und alle Menſchen, wenn ſie auf Moralitaͤt Anſpruch ma¬ chen wollen, muͤſſen den elementariſchen Gott in ihrem Buſen tragen, muͤſſen die Keime der Liebe, der Gerechtigkeit u. ſ. w. ſich eingepflanzt fuͤhlen; obwohl dies zum moraliſchen Leben keineswegs hinreicht und das Goͤttliche in der Geſchichte nicht elementariſch und abſtrakt ſich aufweiſet, ſondern als gebildet uns zu den verſchiedenartigſten Cha¬ rakteren verarbeitet, zur Erſcheinung kommt. Der¬ ſelbe Fall iſt es mit der Kunſt. Es kann eben ſo wenig eine abſtrakte Kunſt geben, die dem ganzen menſchlichen Geſchlecht angehoͤrte, als eine Mo¬ ral; dagegen findet ſich das Elementariſche der Kunſt, die aͤſthetiſchen Ideen in den Kunſtwerken aller Zeiten und Voͤlker wieder, und nur der in¬ dividuelle Komplex derſelben, der organiſche Zu¬ ſammenhang und Alles, was zur konkreten Leben¬ digkeit gehoͤrt, macht das Unterſchiedliche und Ei¬ genthuͤmliche in der Kunſt der Voͤlker aus. So alſo unterſcheiden wir zunaͤchſt in der Einen Mo¬ ral und Kunſt die beſondere Weltanſchauung, welche im Ganzen und Großen ihren Zeitcharakter bildet. Allein hierbei bleiben wir noch nicht ſte¬ hen. Die eine Moral und Kunſt der beſondern183 Weltanſchauung ſpaltet ſich nun wieder tauſend¬ fach in ihrem Kreiſe, nach dem Naturell der Voͤlker, der Individuen, welche ſich mit ihrer Aus¬ uͤbung beſchaͤftigen. Hier verſchmilzt ſich der Volks¬ charakter mit dem Charakter des Einzelnen zu einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichſte und Groͤßte bleibt immer ein Kind ſeiner Zeit, ein Sohn ſeines Volkes und als ſolcher ſteht er zwiſchen ihm und der Menſchheit und empfaͤngt die Aufgabe, ſeine Individualitaͤt geltend zu ma¬ chen, ohne weder dem rein Menſchlichen, noch dem Volksthuͤmlichen den gerechten und nothwen¬ digen Tribut zu verſagen. Welche unendliche Mo¬ difikationen erleiden nun nicht Moral und Kunſt durch das Geſetz des Lebens, und welche Anwen¬ dung geſtatten jene abſtrakten Moralien und Kunſt¬ lehren dem Menſchen und Kuͤnſtler, der nach in¬ dividueller tuͤchtiger Bildung ſtrebt und Andere nur in ſo fern und in dem Maaß achtet, als ſie im ſelbigen Streben begriffen ſind. Haben nicht ſelbſt die verſchiedenen Lebensalter, ganz allgemein be¬ trachtet, ihre beſondere Moral und wird man vom Juͤngling die Ruhe, Umſicht und Weisheit des Greiſes, vom Greiſe die Tapferkeit des Juͤnglings, vom Kinde die Beſtaͤndigkeit des Mannes verlan¬ gen? Was will man alſo am Ende ſagen mit der einen, abſoluten Moral, die weder kalt noch184 warm macht und mit der man, um mich dieſes Ausdrucks zu bedienen, keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt. Ja es gibt eine Moral der verſchie¬ denen Alter, der verſchiedenen Staͤnde, Talente, Stellungen, Charaktere, es gibt eine Moral der verſchiedenen Zeitalter und Weltanſchauungen, eben ſo, wie es in den genannten Ruͤckſichten eine ver¬ ſchiedene Theorie der Kunſt und Poeſie gibt. Daß man nicht von ſpaniſcher, franzoͤſiſcher, deutſcher Moral in ihren Schulen ſpricht, iſt kein Grund, um die ſprechende Thatſache zu laͤugnen. Ein Gemaͤlde vom ſpaniſchen Maler Morillo, ein Ge¬ maͤlde vom franzoͤſiſchen Maler David, ein ande¬ res von unſerm Albrecht Duͤrer, jedes derſelben kann nicht entſchiedener die charakteriſtiſchen Zuͤge der Nationalitaͤt an ſich tragen, als die ſittliche Perſoͤnlichkeit ſeines Malers ſelbſt, angeſchaut vom feinen und geuͤbten Auge des Menſchenkenners und nicht vom todten des Gelehrten, das ſich eben ſo wenig auf die Individualitaͤt der Kunſt, als auf die der Moral verſteht.
Dieſe Andeutungen ſtehen leicht weiter auszufuͤh¬ ren und mit andern zu befeſtigen, allein, ich hoffe, ſie werden genuͤgen, um die Anſicht vom Zuſammenhange des Aeſthetiſchen und Moraliſchen und von der Moral als einer Kunſt unter den Kuͤnſten zu rechtfertigen185 und etwanige Gewiſſensſkrupel, die ſich dieſerhalb regen moͤchten, zu beſeitigen.
Gingen wir nun von der Anſicht aus, daß eine allgemeine Kunſtlehre eben ein ſolches Ding und Unding ſei, als eine allgemeine Moral, ſo wollten wir doch damit keineswegs den allgemei¬ nen Theil einer Moral und Kunſtlehre negiren, vielmehr haͤtte ich ſchon in fruͤhern Stunden bei der ideellen Konſtruktion einer kuͤnftigen Aeſthetik, dieſes allgemeinen Theils, als eines ſolchen Er¬ waͤhnung thun ſollen, der die Aufzaͤhlung der aͤſthe¬ tiſchen Elemente, die aller Moral und Kunſt zu Grunde liegen, mit moͤglichſt groͤßter Vollſtaͤndig¬ keit enthalten muͤßte. Dagegen verlangt jede ein¬ zelne Kunſtlehre, gehoͤre ſie der Poeſie oder Proſa, der Malerei oder Bildhauerei an, daß ſie vom beſondern Standpunkt der Zeit und des Volkes aufgefaßt und dargeſtellt werde. Ein Anderes hieße, in den Tag hineinzureden und einen bun¬ ten Kolibri in einem Netz mit meilenweiten Ma¬ ſchen fangen zu wollen.
Es bleibt mir nun immer noch uͤbrig, ehe ich fuͤr dieſe Vorleſungen den angekuͤndigten Weg ein¬ ſchlage, im Allgemeinen der Art und Weiſe zu gedenken, wie nach Goethe's Ausdruck das gluͤck¬ lichſte Ergebniß einer kunſtreichen Behandlung des186 Stoffes, das Schoͤne zur Wirkſamkeit gelangt. Ich habe der verfehlten Definition des Schoͤnen gedacht und bin nicht geſonnen, einen gleich un¬ gluͤcklichen Verſuch zu machen, in drei, vier aͤrm¬ liche Worte den myſterioͤſen Grund und Reich¬ thum der Schoͤnheit einzufaſſen. Allein ich hoffe, ſowohl mich zu verſtehen, als verſtanden zu wer¬ den, wenn ich mich daruͤber ſo ausdruͤcke:
Die Schoͤnheit, oder wie man das nennen mag, was den Menſchen als das Gelungenſte in Natur und Kunſt, kraͤftig, reizend und wohlgefaͤllig in die Augen ſpringt, iſt zunaͤchſt nichts Ideelles und Abſtraktes, ſondern allemal etwas Konkretes und Beſonderes, das an einem beſtimmten Stoffe, ſei's That, ſei's Marmor, ſei's Fleiſch und Blut zur Erſcheinung kommt. Eben ſo individuell, wie die Schoͤnheit ſelber, muß das Auge ſein, das ſich ihrer erfreut und ſo ſehen wir es im Weſen der Schoͤnheit ſelbſt begruͤndet, daß ſie nicht Allen ſchoͤn iſt und daß ſie in verſchiedenen Anſchauungs¬ kreiſen verſchiedene Gefuͤhle erregt, verſchiedene Urtheile hervorruft, wenn man auch Alles das vom Geſchmack der Voͤlker und des Einzelnen ab¬ rechnet, was ſeiner Anſchauungsweiſe nur zufaͤllig und außerweſentlich iſt, wie dem Chineſen der Geſchmack fuͤr winzig kleine Fuͤße. So erſcheint uns alſo zunaͤchſt die Schoͤnheit vom hiſtoriſchen187 Standpunkte. Allein, man iſt nur zu geneigt, dieſen Standpunkt zu verlaſſen, und ſich auf einen hoͤhern ſtellend, zu behaupten, daß die echte Schoͤn¬ heit nur in der Harmonie zwiſchen unſerm Auge und dem Objekte beruhe und daß andere Augen aus Ungeſchmack Schoͤnheiten bemerken, welche keine waͤren. Dies erregt einen Streit, bei dem Jeder ſich auf ſein Gefuͤhl zu berufen pflegt, wie auf den letzten Schiedsrichter, und das mit Recht, da im Aeſthetiſchen keine andere Appellation zu¬ laͤſſig iſt, als auf Gefuͤhl und Gewiſſen. Damit ſoll aber nicht geſagt ſein, daß das ſubjektive Recht auch ein objektives ſei; vielmehr findet ſich der Nachdenkende veranlaßt, eine groͤßere und ge¬ ringere Kapazitaͤt des Schoͤnen, ein Plus und Minus in der Bildung des Schoͤnheitsſinns unter den Menſchen zu ſtatuiren. Haben wir doch ſelbſt, von dieſem Standpunkte aus, uͤber die in¬ diſche Kunſt den Stab gebrochen, obgleich wir ſie als hiſtoriſche Erſcheinung, in ihrer Guͤltigkeit anzuerkennen gezwungen waren. Dagegen ſahen wir in der griechiſchen Kunſt und Sitte eine Art der Schoͤnheit, welche wir unſerm Geſchmack bei weitem angemeſſener fanden, was kein Wunder, da wir wirklich das Beſſere unſeres Geſchmacks eben den Griechen verdanken, das Beſſere, Hoͤhere und Edlere aber, das wir an Geſchmack und Geſin¬188 nung vor den Griechen voraufhaben koͤnnten, nur erſt elementariſch im Schooß der keimenden Zeit ruht und weder zur Darſtellung noch zur Anſchau¬ ung bisher gelangt iſt. Genug alſo, wir leben der Ueberzeugung, daß ſowohl das Schaffen als das Genießen und Beurtheilen des Schoͤnen ſeine Geſchichte hat, ſeine Bildungsſtufen durchlaͤuft und in dieſer Ueberzeugung begruͤßen wir das Schoͤne, das wir empfinden, ſowohl als wirklich und leben¬ dig, als auch als die vollkommenſte Wirklichkeit, deren wir uns bewußt werden koͤnnen, ohne damit die moͤglichen Erweiterungen und Veredlungen des Schoͤnheitsſinns fuͤr die Zukunft abzuweiſen. Fra¬ gen wir nun, wie das Schoͤne uns wirklich wird, ſo geben wir, in etwas belehrt, die obige Ant¬ wort, nur im Beſondern und Individuellen und damit ſprechen wir aus, daß das Schoͤne jedesmal, um ſchoͤn zu ſein, Charakter haben muß. Lange hat man ſich in Deutſchland daruͤber geſtrit¬ ten, was der hoͤchſte Grundſatz der Alten in Sa¬ chen der Kunſt geweſen. Winckelmann ſagte: die Schoͤnheit, Leſſing die klaſſiſche Ruhe, Fernow das Idealiſche, Hirt das Charakteriſtiſche, bis Goethe nach langem Forſchen und ſinnigem Stu¬ dium alle Parteien mit der Aeußerung zur Ruhe brachte: „ der hoͤchſte Grundſatz der Alten war das Bedeutende, das hoͤchſte Reſultat aber einer gluͤck¬189 lichen Behandlung das Schoͤne, “welche Worte uns als Text dienen ſollen, um in den naͤchſten Vorleſungen uns mit wohlerwogenen Schlußwor¬ ten uͤber die Natur des Schoͤnen, uͤber das Hoͤchſte der Kunſt und uͤber das Verhaͤltniß der Kuͤnſte unter einander zu verſtaͤndigen.
190„ Der hoͤchſte Grundſatz der Alten war das Be¬ deutende, das hoͤchſte Reſultat aber einer gluͤckli¬ chen Behandlung das Schoͤne “dieſe Worte Goe¬ the's moͤgen uns heute zum Text dienen, um un¬ ſere Betrachtungen uͤber Natur und Kunſt, und uͤber das Schoͤne als die Bluͤthe von Natur und Kunſt daran fortzuſpinnen.
Eben ſo richtig haͤtte Goethe ſagen koͤnnen: der hoͤchſte Grundſatz der Natur iſt das Bedeu¬ tende und ihr gluͤcklichſtes Reſultat das Schoͤne; doch leidet dieſer Satz, von der Natur verſtanden, eine bedeutende Einſchraͤnkung, indem wir tagtaͤg¬ lich ſehen, daß in der Natur das Prinzip der Erhaltung, der bloßen Lebensrettung, wo es Noth thut, mit ruͤckſichtsloſer Gewalt ſich geltend macht,191 und in dieſem Fall ſowohl dem Charakter als der Schoͤnheit des individuellen Naturprodukts Abbruch thut. Verſtaͤndigen wir uns zunaͤchſt uͤber dieſen ſo wichtigen Akt, der die Produkte der Natur von den Produkten der Kunſt charakteriſtiſch unter¬ ſcheidet.
Das Bedeutende in Natur und Kunſt iſt eben die individuelle Beſtimmtheit der Natur - und Kunſtprodukte, ihr Charakter, ihr Begriff.
Je entſchiedener ſich dieſer Begriff ausgeſpro¬ chen bei einer Pflanze, einem Thier, einem Men¬ ſchen, deſto vollkommener iſt das Produkt. So ſtellen wir den Schmetterling hoͤher, als die Raupe, denn, obwohl ſchon an der Raupe und deren Ver¬ puppung die Ringe, Fluͤgel, Einſchnitte und an¬ dere Gliederungen des kuͤnftigen Schmetterlings wirklich vorhanden ſind, ſo ſind ſie es doch nur der Anlage und Tendenz nach, ihre Entfaltung bleibt der hoͤhern Lebensſtufe des Schmetterlings vorbehalten. Eben ſo uͤbertrifft die Palme an Charakter und Schoͤnheit, nicht nur an Groͤße und Dicke, den Grashalm, obgleich dieſer von den Naturforſchern zu den Palmenarten gezaͤhlt wird und eine noch unentwickelte Palme im Kleinen vorſtellt. Durch daſſelbe Prinzip berechtigt ſpre¬ chen wir ſowohl im Pflanzenreich als im Thier¬ reich von hoͤhern und niedern Bildungen, je nach¬192 dem wir Pflanzen und Thiere vollkommner oder unvollkommner gegliedert und durchgebildet ſehen und ſo ſtellen wir z. B. im Animaliſchen die Ge¬ ſtalt des Menſchen, als die individuellſte, kunſt¬ reichſte, verwickeltſte Organiſation, als das Mei¬ ſterwerk der Schoͤpfung, dem Mollusk und dem ganzen Geſchlecht der Wuͤrmer, dem unentwickel¬ ten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenuͤber, den erſten Anfang der ſchoͤnſten Vollendung des animaliſchen Lebens auf der Erde.
Ich ſage, als die ſchoͤnſte Vollendung. Denn im ſelben Grade, wie wir den Charakter einer Pflanze, eines Thieres ſich deutlicher entwickeln ſehen, im ſelbigen ſchreiben wir ihm auch eine groͤßere Schoͤnheit zu; und umgekehrt, je ſchoͤner wir die Bildungen der Natur finden, deſto voll¬ kommner wird ſich bei naͤherer Unterſuchung ihre Charakteriſtik ausweiſen. Wem z. B. gefaͤllt nicht das bloße gruͤne Blatt eines Roſenſtrauchs, einer Weinrebe vor hundert andern Blaͤttern, wenn ihm auch die Urſache dieſes Gefallens nicht klar iſt, er wird aber bei genauerer Betrachtung auch dieſe entdecken, und die feineren Faſern, die zarteren Verzweigungen, den regelmaͤßigeren Schnitt, die gelungene Auszackung des Blattes dafuͤr halten. Wem gefaͤllt nicht die Geſtalt eines Pferdes beſ¬ ſer, als die Geſtalt einer Kuh und wer ſieht nicht193 gleich, daß er das Pferd darum ſchoͤner findet, weil daſſelbe ſchoͤn im Aeußern, ſchaͤrfere Sinne, ſchlankere Glieder aufweiſt und daher eine gebil¬ detere Organiſation des Innern verraͤth, alſo einer entſchiedeneren Thiercharakteriſtik angehoͤrt. Mit gleichem Recht halten wir daher die menſchliche Geſtalt, nicht allein fuͤr die entſchiedenſte, an Or¬ ganen feinſte, an Funktionen reichſte, an Bewe¬ gung freiſte, ſondern auch, und aus demſelben Grunde fuͤr die ſchoͤnſte, fuͤr die idealiſchſte Ge¬ ſtaltung der Animaliſation.
Wir ſehen alſo, daß die Natur, indem ſie die Leiter ihrer Bildungen hinaufſteigt, dabei den Grundſatz vor Augen hat, Schritt vor Schritt an Bedeutung, wie an Schoͤnheit zu gewinnen, bis ſie bei der bedeutſamſten Geſtalt, der menſchlichen, anlangt und mit dieſer, gleichſam als Reſultat ihres Strebens, die hoͤchſte Schoͤnheit vereinigt.
In ſo fern finden wir die Natur auf dem¬ ſelben Wege mit der Kunſt und die Kunſtgeſchichte gewiſſermaßen analog mit der Geſchichte der Na¬ turreiche, indem die Anfaͤnge beider ſich erſt all¬ maͤhlig aus unbeſtimmter Charakterloſigkeit, aus roher Maſſe, ſchwachen Andeutungen der Glieder aufarbeiteten zu individuelleren Formen und Ge¬ ſtalten, bis das Prinzip der Schoͤnheit ſich merk¬ lich machte und die hoͤchſte Charakteriſtik mit derWienbarg, aͤſthet. Feldz. 13194hoͤchſten Anmuth zuſammenfiel. Man kann ſogar darauf anſpielen, daß die aͤlteſte Malerei und Bildhauerei von Thierſymbolen ausging und all¬ maͤhlig erſt ſich zur Darſtellung des Menſchlichen ſteigerte, dieſes ſelbſt aber Jahrhunderte lang noch ſehr unvollkommen blieb, ſteife, eckige Umriſſe, ge¬ ſchloſſene Arme und Beine, kaum bemerklichen Unterſchied der Geſchlechter beibehielt, bis nach der Sage Daͤdalus die Bildſaͤulen wandeln ließ, das heißt getrennte Beine, fortſchreitende Fuͤße, freie Arme, offene Augen, entſchiedene Geſchlechts¬ charakter am Marmorblocke ausfuͤhrte.
So ward auch fuͤr die Kunſt das Bedeu¬ tende immer mehr Grundſatz und da die Zeich¬ nung der feſten Theile, der Knochenbau als der Traͤger des Bedeutſamſten an der menſchlichen Fi¬ gur anerkannt werden mußte, ſo gab es in der griechiſchen, wie in jeder andern nationalen Kunſt¬ geſchichte, einen Zeitraum, wo die Bildung der feſten Theile, des Charakters in ſeinem ſtarren Typus, in ſeinen ſtark ausgedruͤckten Grundzuͤgen, das uͤberwiegende Prinzip war und den ſogenann¬ ten Stil ausmachte. Winckelmann bezeichnet die¬ ſen zweiten Zeitraum als den großen und ho¬ hen Stil der griechiſchen Kunſt, in dem Phidias, Zeitgenoſſe des Miltiades und Themiſtokles, der ausgezeichnetſte Meiſter war. Erſt im dritten Zeit¬195 raum, offenbarte ſich der ſchoͤne Stil, der mit Beibehaltung des charakteriſtiſch Feſten auch das charakteriſtiſch Weiche und Zarte ausdruͤckte, aus welcher Behandlung eben die hohe Schoͤnheit ihrer Meiſterwerke, wozu unter andern der Laokoon ge¬ hoͤrt, reſultirte; eben ſo wie die Natur unter allen Schoͤnheiten, die ſie bildet, bei der Bildung eines ſchoͤnen Juͤnglings oder Mannes ſich gleichſam ihr aͤußerſtes Ziel geſetzt hat, da in einer maͤnnlich ſchoͤnen Geſtalt das Feſte und Weiche harmoniſcher in einander aufgehen, als in der ſchoͤnſten weibli¬ chen Geſtalt.
Allein die Meiſterin Natur hat andere Schwie¬ rigkeiten zu beſiegen, als die Meiſter der Kunſt. Keine Schoͤnheit kann freilich die ihrige uͤbertref¬ fen, wenn und ſo oft ſie ſich einer ungeſtoͤrten Entwicklung erfreut, die kuͤhnſte Bildnerei und Malerei wird zu Schande vor ihrer nackten Ein¬ falt. Waͤhrend aber der echte Kuͤnſtler bei hin¬ laͤnglich gutem Material alle Zeit im Stande iſt, die Verwirklichung des aͤſthetiſchen Geſetzes charak¬ teriſtiſcher Schoͤnheit ungehindert und ausſchließlich anzuſtreben, wird die Kuͤnſtlerin Natur nur zu oft in ihrem Streben gehemmt und waͤhrend ſie es auf das Hoͤchſte anlegte, auf das blos Nothwen¬ dige der Exiſtenz, auf die Rettung des Daſeins ihrer Geſchoͤpfe, auf Selbſterhaltung reduzirt. Se¬13 *196hen Sie hier, meine Herren, den weſentlichen Unterſchied zwiſchen dem Bildungsgange der Na¬ tur und der Kunſt. Die Kunſt gehoͤrt dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwen¬ digkeit an, die Kunſt kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schoͤnſte, die Natur aber, beim beſten Willen, ſieht ſich nicht ſelten genoͤ¬ thigt, durch den Schrei der nackten Exiſtenz in¬ nerlich gezwungen, ihren auf das Schoͤne gerich¬ teten Willen zu brechen und zunaͤchſt nur die aͤrm¬ lichen Forderungen des Daſeins zu erfuͤllen. Die ganze Organiſation iſt ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und regelloſen Kraͤften des Chemiſchen, Unorganiſchen, Chaotiſchen, das von allen Seiten auf das Orga¬ niſche eindringt, tuͤckiſch auf jede Bloͤße lauert, welche daſſelbe darbietet und dann ſogleich den nagenden, zerſtoͤrenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man z. B. das ganze Verdauungsſyſtem der Thiere als einen defenſiven Akt der organiſchen Natur betrach¬ ten, die Speiſen, die wir zu uns nehmen, und die unſer Magen mit ſo gebieteriſcher Regelmaͤßig¬ keit verlangt, ſind bei weitem weniger zu unſerer Ernaͤhrung, als zu unſerer Vertheidigung beſtimmt, wir werfen die animaliſchen und vegetabiliſchen Stoffe dem Zerſtoͤrer hin zur chemiſchen Zerſetzung,197 damit nicht unſer eigener Koͤrper ihm zur Zerſe¬ tzung und Zerſtoͤrung anheimfalle. Hier ſehen wir alſo einen Erhaltungsakt, der einem regelmaͤßigen Syſtem des Koͤrpers angehoͤrt, auf dem ſeine ganze Exiſtenz baſirt iſt; allein, nun bedenken Sie die tauſend moͤglichen, unvorhergeſehenen Zufaͤlle, in welchen der geſchloſſene Organismus durchbro¬ chen und feierlich angegriffen werden kann, das Heer der Stoͤrungen und Krankheiten, welche die Huͤlfsmittel der Natur auf einem Punkt in Anſpruch nehmen und ſich ihrer harmoniſchen Ver¬ wendung fuͤr das Ganze widerſetzen, und Sie be¬ greifen, daß dieſe Meiſterin ſelten in voller Kraft, und gleichſam in Ruhe und Muße fortarbeiten und die Idee, die ihr vorſchwebt, zur Ausfuͤh¬ rung und Vollendung bringen kann. Licht, Luft, Erde, Waſſer, Waͤrme, Kaͤlte u. ſ. w. bedingen unaufhoͤrlich die ideale Thaͤtigkeit der Natur, und was zu den ſchoͤnſten Formen berechnet war, kann der Zufall in die aͤrmlichſten und ſchlechteſten hin¬ abdruͤcken.
198Ich glaube annehmen zu duͤrfen, meine Herren, daß die aufgeſtellte Anſicht vom Verhaͤltniß der Natur zur Kunſt Manchem unter Ihnen Veran¬ laſſung gegeben, ſein Nachdenken auf dieſen wich¬ tigen Gegenſtand zu richten, der Ihnen vielleicht unter neuem Geſichtspunkte erſchien. Um ſo mehr darf ich hoffen, Ihre Aufmerkſamkeit mir zu be¬ wahren, wenn ich den Faden wieder aufnehme und das Allgemeine noch einer beſondern Betrach¬ tung unterwerfe.
Natur und Kunſt, ſo ließen wir uns verneh¬ men, theilen dieſelbe Aufgabe, organiſche Einhei¬ ten zu bilden, Begriffe, Charaktere auszupraͤgen und dieſelben mit der Bluͤthe der Schoͤnheit an¬ zuhauchen.
199Fuͤr diejenigen nun, welche gewohnt ſind, die Natur als ein rein Materielles, Todtes, Be¬ griffloſes zu betrachten, welche daher die Schoͤn¬ heit ſelber nur in der Ausdehnung und in raͤum¬ lichen Verhaͤltniſſen finden, hat eine ſolche Anſicht wenig Empfehlendes. Sie gehen weder in der Natur noch in der Kunſt von der Seele aus und unbekannt bleibt ihnen daher jene gemeinſchaftliche Quelle deſſen, was ihr Auge an den Produkten der Natur und Kunſt in Entzuͤckung ſetzt.
Erkennen wir jene poſitive geiſtige Kraft an, welche den zufaͤlligen und willkuͤhrlichen Stoff zur Einheit des Begriffes verbindet und die widerſtre¬ benden Atome zwingt, ſich um dieſen zu verſam¬ meln. Eine geiſtige Symmetrie beherrſcht die koͤrperliche, der Blick des Auges, die ausſtrahlende Seele wirkt der aͤußere Bau und die Wohl - oder Mißverhaͤltniſſe unſers Sehorgans. Kann man daher behaupten, daß es blos koͤrperliche Schwin¬ gungen, Winkel und Linien ſind, womit uns das Auge der Schoͤnheit anlaͤchelt, oder iſt es nicht vielmehr das geiſtige Etwas, das ſich durch dieſe Linien und Winkel ſymboliſch verraͤth?
Ich beruͤhre hier einen Punkt, um den ſich die deutſche Naturphiloſophie wie um ihr Zentrum dreht. Wenn die Natur nicht eben ſo gut Ver¬ ſtand und Kunſt beſaͤße, als wir Menſchen, wenn200 die Natur nicht eben ſo gut Begriffe enthielte, als das philoſophiſche Hirn, wie ſollte der Menſch zum Begriff und Verſtaͤndniß der Natur gelangen. Bleibt es doch unumſtoͤßlich wahr, daß das Fremde das Fremde nicht begreift, daß nur Gleiches von Gleichem erkannt wird, daß die Seele nichts wiſ¬ ſen koͤnnte von den Dingen, wenn die Dinge nicht ſeeliſch, ſeeliſcher Natur, ſeeliſchen Urſprungs waͤ¬ ren. Wodurch unterſcheidet ſich denn die Wirk¬ ſamkeit der Naturdinge von der Wirkſamkeit un¬ ſeres Geiſtes? Durch das Bewußtſein, jene Sonne, die auf den niederſten Stufen der Natur ſich hin¬ ter dem Horizont verbirgt und nach graduellen Daͤmmerungen leuchtend in der Seele des Men¬ ſchen hervortritt. Die Natur ſtellt keine Reflexio¬ nen an. Bei der Roſe iſt der Begriff zugleich die That, der Entwurf die Ausfuͤhrung. Daher iſt auch ſinnliche Anſchauung Anfang und Ende der Naturforſchung. Der Phyſiolog ergreift mit dem Auge den verkoͤrperten Gedanken der Natur¬ gegenſtaͤnde, den Begriff, die Operationen der Na¬ tur in ihren immanenten Urtheilen und Schluͤſſen; er huͤtet ſich weislich, ſeine eigenen Begriffe, Ur¬ theile und Schluͤſſe der Natur unterzuſchieben. So z. B. ſieht ein Goethe den generellen Pflan¬ zenbegriff im Blatt der Pflanze, die Pflanze iſt ihm Wiederholung des Blattes, das ſich periodiſch201 ſucceſſive entfaltet und ſchließt, Staͤngel, Knoten, Bluͤthe und Frucht bildet und ſo an ſich ſelbſt die Urtheile und Schluͤſſe vornimmt, die der beob¬ achtende Phyſiolog nur zu wiederholen und gleich¬ ſam in menſchliche Sprache zu uͤberſetzen hat. Selbſt die rohe Materie trachtet ja nach Einheit und Geſtaltung, ſie nimmt ſtereometriſche Formen an, die dem Reich der Begriffe angehoͤren und etwas Geiſtiges in der verhaͤrtetſten Materie repraͤ¬ ſentiren. „ Den Geſtirnen, “ſagt Schelling, „ iſt die erhabenſte Zahl und Meßkunſt eingeboren, die ſie ohne einen Begriff derſelben in ihren Bewegungen ausuͤben; deutlicher, obwohl ihnen ſelbſt unfaßlich erſcheint die lebendige Erkenntniß in Thieren, welche wir unzaͤhlige Wirkungen hervorbringen ſehen, die viel herrlicher ſind, als ſie ſelbſt; der Vogel, der von Muſik berauſcht in ſeelenvollen Toͤnen ſich ſelbſt uͤbertrifft, das kleine, kunſtbegabte Geſchoͤpf, das ohne Uebung und Unterricht leichte Werke der Architektur vollbringt, alle aber geleitet von einem uͤbermaͤchtigen Geiſt, der ſchon in einzelnen Bli¬ tzen von Erkenntniß hervorleuchtet. “
Es iſt derſelbe Geiſt, der im Menſchen als Freiheit erſcheint. Schon in den Naturweſen be¬ merken wir die Thaͤtigkeit, welche uͤber die Exi¬ ſtenz des Thieres hinausgeht, welche nicht blos im Innern Knochen baut und die aͤußere Haut mit202 Federn und Haaren beſetzt, ſondern nach Außen ſich abloͤſt, ein kuͤnſtleriſches Reſiduum zuruͤcklaͤßt, einen Geſang, ein Geſpinnſt, ein Neſt und der¬ gleichen zu Tage foͤrdert. Das iſt dieſelbe bildende Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte, die ſich zum menſchlichen Genius verklaͤrt und zu¬ gleich mit daͤmoniſcher Unwiderſtehlichkeit, mit un¬ bewußtem Drang wie mit menſchlich bewußter Freiheit Meißel und Pinſel ergreift und eine zweite hoͤhere Schoͤpfung in der Schoͤpfung hervorbringt.
Nur auf den hoͤchſten Stufen der Individua¬ litaͤt wirkt die unbewußte Natur ſeeliſche Schoͤn¬ heit und Anmuth, der bewußte Menſch ſteht ſchon oder ſollte ſchon auf dieſer ſtehen, er findet das Geſetz der Schoͤnheit in ſich, außer ſich, die Wahl des Schoͤnſten ſteht ſeiner Kuͤnſtlerhand offen und wenn er ſich vergreift, wenn er ſtatt Seelen nur Leiber, ſtatt Edelm Unedles bildet, ſo faͤllt die Schuld einzig und allein auf ſein Haupt, er hat ſeine Freiheit gemißbraucht, den Beruf der Kunſt, ſein ſchoͤnſtes Vorrecht vor der blind und nothduͤrftig waltenden Natur, ungehin¬ derte Bildung des Schoͤnſten im Charakter des Individuellen, verkannt.
Dieſe gluͤckliche Lage der Kunſt zur Natur ſollte man richtig einſehen und fleißig bedenken, will man uͤber den Werth der verſchiedenen Kunſt¬203 leiſtungen ein richtiges Urtheil faͤllen. Wirkt und ſchafft der Kuͤnſtler blind, ſo unterſcheidet er ſich durch nichts von der Natur, als durch die Un¬ vollkommenheit ſeines Werkes, verglichen mit dem¬ ſelben Werk der Natur. Will er ſich aber mit Bewußtſein der Natur blos unterordnen, ſo wird es ihm nicht darauf ankommen, welchen Gegen¬ ſtand er fuͤr die Kunſt bearbeitet, er wird mit knechtiſcher Treue dieſen Gegenſtand wiedergeben, verdoppeln, Abſchreiber der Natur aber kein Kuͤnſt¬ ler ſein. Kuͤnſtler iſt er nur dann, wenn er Seelen erfaßt, wenn er ſeeliſche Schoͤnheit in ihrer Verkoͤrperung darſtellt, wenn er alles Koͤr¬ perliche nur als Symbol des Geiſtigen betrachtet und ſolche Symbolik aus ſeinem Kunſtwerk klaͤr¬ lich durchblicken laͤßt. Jenen im Innern der Dinge wirkſamen, durch koͤrperliche Sinnbilder zum Auge ſprechenden Naturgeiſt ſoll er in ſich lebendig machen und erſt nach lebendiger Ergrei¬ fung deſſelben zur Nachahmung des Naturwerkes ſchreiten. Dann hat er etwas Kuͤnſtleriſches ge¬ ſchaffen, das weder Natur noch Ideal iſt; denn es iſt etwas Hoͤheres als die Natur, etwas Wahr¬ hafteres als Ideal, als eine Grille, die willkuͤhr¬ liche Schoͤnheiten willkuͤhrlich zuſammenrafft.
Es bedarf naͤmlich wohl keiner beſondern Er¬ waͤhnung und Ausfuͤhrung, daß fuͤr die Kunſt das204 Ueberſchwaͤngliche, Idealiſche eben ſo unzulaͤſſig ſei, als das Gemeine, Sklaviſche, Kopirte.
Die Forderung zu idealiſiren, ſagt Schelling ſehr treffend, die Manche an den Kuͤnſtler machen, ſcheint aus einer Denkart entſprungen zu ſein, nach welcher nicht die Wahrheit, Schoͤnheit, Guͤte, ſon¬ dern von Allem das Gegentheil das Wirkliche iſt. Waͤre das Wirkliche der Wahrheit und Schoͤnheit entgegengeſetzt, ſo muͤßte es der Kuͤnſtler nicht idealiſiren, ſondern vernichten, um an deſſen Stelle die Schoͤnheit hinzupflanzen.
205Nicht das Wirkliche als wirklich will der Kuͤnſt¬ ler nachahmen, ſondern dem Wirklichen eine kuͤnſt¬ leriſche Bedeutung geben. Der Kuͤnſtler huͤtet ſich wohl, die marmornen Wangen ſeiner Diane roth zu faͤrben. Er vermeidet ſelbſt den Schein, als habe er mit der Natur wetteifern wollen. Er verachtet den Trug natuͤrlicher Lebendigkeit, jedes Inſekt, das auf dem Boden kriecht, wuͤrde ihn beſchaͤmen. Er fuͤhlt ſich nicht geſchmeichelt, wenn ſein Gemaltes oder Gemeißeltes des Zuſchauers Sinne in die Taͤuſchung verſetzt, als ſei es ein Lebendiges und Leibhaftes. Jene griechiſchen Anek¬ doten von gemalten Trauben und anpickenden Voͤ¬ geln, von gemalten Pferden und anwiehernden206 lebendigen ſind zweifelsohne reine Erdichtung; je¬ denfalls aber keine Beweiſe großer Kunſt.
Wollte man ſie dafuͤr ausgeben, ſo waͤren Wachsfiguren die Meiſterwerke der Kunſt, ſie kom¬ men dem Leben am Naͤchſten, ſtehen aber eben deswegen vom Leben am Entfernteſten ab. Da¬ durch erregen ſie dem natuͤrlichen Betrachter den widerlichſten Eindruck. Sie ſtieren uns an, als wollten ſie uns weiß machen, daß ſie lebten, aber uns graut vor dieſem waͤchſernen Blick, vor die¬ ſen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und rothen Wangen und wir verwuͤnſchen die Finger¬ fertigkeit des Wachskuͤnſtlers, der uns mit den Haaren zur Taͤuſchung herbeiziehen will. Dage¬ gen betrachten wir mit Luſt und Bewunderung die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige Weſen, Goͤtter, Helden, Frauen vor's Auge fuͤh¬ ren — ihre marmorne Haut ſcheint uns nicht ge¬ ſpenſtiſch, eben ſo wenig ihr ſternloſes Auge; ja, wir wuͤrden eher von dieſer Empfindung beſchlichen werden, wenn ein ſolcher Stern des Marmorau¬ ges unſern Blicken begegnete. Wir ſehen, der Kuͤnſtler hat uns kein qui pro quo vormachen wol¬ len, er gab uns das Leben der Kunſt ohne Wett¬ eifer mit dem Leben der Natuͤrlichkeit, ohne Falſch¬ muͤnzerei, wie der Wachsboſſirer. Lebendig und wahr ſoll alſo die Kunſt ſein wie die Natur, aber207 die Kunſt, wie es ihr ſelbſt, nicht wie es der Natur zukommt.
Dieſes Geſetz gilt in allen Kreiſen der Kunſt und man erkennt eben den Pfuſcher in der Ma¬ lerei, den Maler, dem die Weihe der Kunſt ab¬ geht, ſaͤhe man ihn auch im Beſitz vortrefflicher Kunſtgriffe und mechaniſcher Fertigkeiten, man erkennt ihn hauptſaͤchlich an der falſchen Beſtre¬ bung naturwahr ſtatt kunſtwahr zu ſein, mit Fruͤchten, Figuren, Gegenſtaͤnden aller Art das Auge des Beſchauers gleichſam aufzufordern, ſie mit natuͤrlichen in Vergleich zu ſtellen.
In der Malerei faͤllt dies Beſtreben um ſo mehr auf, da ſie nicht freie, rings von Luft umgebene Bilder liefert, wie die Bildhauerei, ſon¬ dern da man ausdruͤcklich ihre Bilder als Bilder anſehen ſoll. Sie legt ja darum auch weniger Gewicht auf die Materie, als die Plaſtik, will ſchon mehr als Seele zur Seele ſprechen, dage¬ gen die Bildhauerei, dem Material nach, ganz und gar in der Sinnenwelt ruht und ein Taſtba¬ res, Irdiſches darſtellt. Daher ſtammen die ver¬ ſchiedenen Geſetze, die der Bildhauer und der Maler in der Darſtellung befolgen. Waͤhrend je¬ ner ſich in Acht nimmt, die Zuͤge der Leidenſchaft ſeinen Figuren uͤber ein gewiſſes Maaß einzupraͤ¬ gen, ja waͤhrend er ſich's zum Geſetze macht, das208 bloße Leiden, den reinen Schmerz im Stein nicht zu verewigen, iſt dem Maler keine ſo aͤngſtliche Grenze geſetzt und der hoͤchſte Schmerz wie die hoͤchſte Luſt, Leidenſchaft, Leiden, Duldung, That gelingen ſeinem Pinſel auf's Vollkommenſte, falls er anders nicht vergißt, daß auch ihm ein gewiſſes Maaß der Leidens - und Thataͤußerungen von Noͤ¬ then bleibt.
Aus dieſem leicht bewaͤhrten Gegenſatz der Malerei und der Plaſtik ergibt ſich das Vorherr¬ ſchen der letzteren im Alterthum, das Vorherrſchen der erſteren in der neuern Geſchichte. Beide aber, Plaſtik und Malerei, werden fuͤr ewig in ihren beſtimmten Kreiſen getrennt operiren; die Plaſtik darf nicht ins Maleriſche, die Malerei nicht ins Plaſtiſche ausarten. Nicht ohne Zeitbedeutung ſcheint es zu ſein, daß die Plaſtik der neueſten Zeit an Canova, beſonders an Thorwaldſen ſo große Meiſter gefunden; es iſt ein Sieg der That uͤber die bloße Empfindung, des Griechenthums uͤber das Mittelalter.
Noch geiſtiger als die Malerei zeigte ſich die Poeſie und grade um ſo viel geiſtiger, als ihr Material, die Buchſtaben, geiſtiger ſind, als ge¬ riebene Farbenerde. Leſſing druͤckte das Verhaͤlt¬ niß der Poeſie zur Malerei mit den Worten aus:209 die Malerei ſchildert Koͤrper und andeutungsweiſe durch Koͤrper Bewegungen (Leidenſchaften u. ſ. w.); die Poeſie ſchildert Bewegungen und andeutungs¬ weiſe durch Bewegungen Koͤrper. Wie dieſer Ausſpruch nun das ganze Verhaͤltniß durchaus richtig angibt, ſo iſt auch der Schluß daraus von Leſſing buͤndig und richtig abgeleitet, daß die Ma¬ lerei (wie die Plaſtik uͤberhaupt) ſich mit dem Si¬ multanen, die Poeſie ſich mit dem Succeſſiven beſchaͤftigen muͤſſe. Die Poeſie ſoll es alſo unter¬ laſſen, koͤrperliche Schoͤnheiten zu ſchildern; ſie kann nur Zug fuͤr Zug verfahren, und waͤhrend ſie bei den Fuͤßen anlangt, iſt das Bild des Ko¬ pfes ſchon wieder verwiſcht. Der Malerei, die alle Schoͤnheiten auf einmal darſtellt, ſoll ſie die¬ ſes uͤberlaſſen, die Malerei aber der Poeſie die komplizirten Zuͤge einer Handlung, die bewegte Schoͤnheit darzuſtellen; ihr gehoͤrt das Bewegte, der Plaſtik das Ruhende.
Sehen Sie hier, meine Herren; die Urſache, warum Naturſchilderungen, ſelbſt wenn Walter Scott's eminentes Talent ſie ausfuͤhrt, je laͤnger und breiter ſie hinausgezeichnet ſind, deſto vergeb¬ licher und unerfreulicher unſere Phantaſie abmar¬ tern und keine lebhafte Anſchauung hervorzubrin¬ gen im Stande ſind. Die engliſchen Dichter ſindWienbarg, aͤſthet. Feldz. 14210dieſem Fehler ſehr unterworfen. Walter Scott wird nicht ſelten aus einem Dichter Maler, Archi¬ tekt, Kleiderſeller. Der echte Dichter ſchildert, wie Leſſing ſich ausdruͤckt, Bewegung, Handlung und nur andeutungsweiſe durch dieſe Koͤrper. Zwingen, wie derſelbe Leſſing bemerkt, den Ho¬ mer beſondere Umſtaͤnde, unſeren Blick auf ein¬ zelne koͤrperliche Gegenſtaͤnde zu lenken, ſo wird doch kein Gemaͤlde daraus, dem der Maler mit dem Pinſel folgen koͤnnte; Homer weiß dieſen Ge¬ genſtand in eine Folge von Augenblicken zu ver¬ ſetzen und uns auf dieſe Art ſeine Geneſis vor Augen zu legen. Will er uns z. B. den Wagen der Juno ſehen laſſen, ſo muß Hebe ihn Stuͤck fuͤr Stuͤck zuſammenſetzen, wir ſehen die Raͤder, die Achſen, den Sitz, die Deichſel u. ſ. w. nicht ſowohl, wie es beiſammen iſt, ſondern wie es un¬ ter den Haͤnden der Hebe zuſammenkommt. Will er uns zeigen, wie Agamemnon bekleidet geweſen, ſo muß der Koͤnig vor unſern Augen Mantel, Stiefel, Schwert anthun und wenn er damit fer¬ tig iſt, ergreift er das Zepter. So iſt auch die Beſchreibung des Zepters eine Geſchichte des Zep¬ ters, die Beſchreibung des Achilleiſchen Schildes eine Reihe von Geſchichten. Fuͤr ein Ding hat Homer gewoͤhnlich nur einen Zug. Ein Schiff211 iſt ihm das dunkle, das ſchnelle, wenn's hoch kommt, das wohlberuderte, dunkle Schiff. Aber wohl dient ihm das Schiffen, die Abfahrt, das Anlanden eines Schiffes zu ausfuͤhrlichen Gemaͤl¬ den, woraus der Maler jedesmal ein Halbdutzend verfertigen muͤßte, wollte er ſie ganz auf die Lein¬ wand bringen. Mit gleicher Kunſt behandelt er die menſchlichen Schoͤnheiten. Nireus war ſchoͤn, Achilles noch ſchoͤner, Helena beſaß goͤttliche Schoͤnheit; das iſt Alles. Nirgends laͤßt er ſich auf umſtaͤndliche Schilderungen ein. Im Vorbei¬ gehen erfahren wir, daß ſie weiße Arme hatte. Welchen Luxus wuͤrde ein ſchlechterer Dichter, als Homer mit Helena's Schoͤnheiten getrieben haben. Aber wuͤrde er uns auch, gleich Homer, durch einen einzigen Zug, die Schoͤnheit der Helena als die hoͤchſtdenkbare, fuͤhlbar gemacht haben? Helena tritt ins Thor, wo die Greiſe Verſamm¬ lung halten; da fluͤſtert Einer dem Andern zu:
welche Worte im Munde von Graͤubaͤrten, die Blut und Thraͤnen und erſchlagene Soͤhne nicht achten, um eines ſo goͤttlichen Weibes wegen.
14 *212So viel im Allgemeinen vom Verhaͤltniß der Poeſie zur Plaſtik, von dem der geiſtig¬ ſten aller Kuͤnſte, welche der Plaſtik im Kunſt¬ kreiſe polariſch gegenuͤberſteht, der Muſik in naͤch¬ ſter Vorleſung.
213Man ſollte denken, daß die Muſik diejenige un¬ ter den Kuͤnſten waͤre, welche am wenigſten Ge¬ fahr liefe, ihr eigenthuͤmliches Gebiet zu verken¬ nen; allein die Erfahrung hat gelehrt und lehrt noch taͤglich, daß der Muſiker bald den Maler, bald den Dichter zu uͤberbieten ſtrebt und dabei die eigenthuͤmliche Wuͤrde ſeiner Kunſt außer Au¬ gen ſetzt. Im Gegenſatz zu einer Muſik, deren Noten weder einer Empfindung noch einer Idee entſprechen, die wie meiſtens die italieniſche, ins¬ beſonders die fruͤhere, ein reines, gedankenloſes, ſchwelgeriſches Tonſpiel ausdruͤckten, bildete ſich eine Charaktermuſik, die aus lauter Andeutungen, phyſiſchen und geiſtigen, beſtehen ſollte, die Ge¬ witter, Mondſcheinkuͤſſe, Pferdegalopp nachahmte214 und alles Maleriſche und Dichteriſche ohne Aus¬ nahme in ihr unnatuͤrlich erweitertes Gebiet auf¬ nahm.
Allerdings, meine Herren, iſt nicht zu ver¬ kennen, daß Poeſie und Muſik innig verwandte Kuͤnſte ſind, die in ihrer Vereinigung z. B. in der Oper, im Liede, die wunderbarſten Wirkungen auf unſer Gemuͤth aͤußern. Allein, man erklaͤre ſich den Umſtand, daß die Sprache und die Mu¬ ſik ſo ſelten, ja faſt nie ſelbſtſtaͤndig zuſammenwir¬ ken, daß bald die Sprache der Muſik, bald die Muſik der Sprache untergeordnet erſcheint, jenes in unſern heutigen Opern, wo der Text nur ſo mitlaͤuft, dieſes in den Schau - und Trauerſpielen der Alten, wo Text die Hauptſache, Muſik und Tanz nur als Begleiterinnen auftraten. Woher dieſe Schwierigkeit, beide Kuͤnſte in ihrer Selbſt¬ ſtaͤndigkeit mit einander zu verbinden? Die Ant¬ wort gab ſchon Leſſing. Die Muſik bedient ſich natuͤrlicher, die Poeſie willkuͤhrlicher Zeichen, die Muſik der Toͤne, die Poeſie der Buchſtaben. Beide Zeichen wirken allerdings in der Folge der Zeit, allein das Zeitmaaß iſt verſchieden. Ein einziger Laut der Sprache, als willkuͤhrliches Zei¬ chen, kann in einem fluͤchtigen Augenblick ſo viel Gedanken und Empfindungen ausdruͤcken, als die Muſik nur in einer langen Reihe von Toͤnen nach215 und nach hoͤrbar und fuͤhlbar machen kann. Die hieraus entſpringende Regel nehmen ſich auch die Dichter der Operntexte zu nutz, wenn ſie darauf ausgehen, den Gedanken ſo wortreich als moͤglich auszuſpinnen und die laͤngſten und geſchmeidigſten Worte den energiſch kurzen vorziehen. Man hat den Komponiſten vorgeworfen, daß ihnen die ſchlechteſte Muſik die beſte waͤre; aber ſie iſt ihnen nicht deswegen die liebſte, weil ſie ſchlecht iſt, ſon¬ dern weil die ſchlechte nicht gedraͤngt und gepreßt zu ſein pflegt. Sie ſind oft genoͤthigt, ein Wort, eine Sylbe ein Halbdutzendmal zu wiederholen, um den entſprechenden muſikaliſchen Eindruck zu machen. Dennoch ſcheint die Verbindung der Muſik mit der Poeſie die aͤlteſte und urſpruͤnglichſte zu ſein, die Trennung eine ſpaͤtere. Die Regeln des Versbaues gruͤnden ſich alle auf Harmonie, alle muſikaliſchen Abwechſelungen, Pauſen ſind auch in der Sprache der Poeſie denkbar. So waren die aͤlteſten Dichter zugleich auch Saͤn¬ ger, die aͤlteſte Poeſie zugleich Muſik. Wenn es heißt, daß Orpheus Leier den Marmor ſchmolz und Stroͤme in ihrem Lauf hemmte, wenn Amphion Theben baute, ſo wurden unter den Toͤnen der Leier nicht bloße muſikaliſche Laute, noch bloße Worte, ſondern der wunderbare Einklang von Poeſie und Muſik verſtanden.
216Ueberhaupt war die Muſik der Alten immer mit Poeſie verbunden, ſelbſtſtaͤndige Inſtrumental¬ muſik war ihnen fremd. Die Urſache liegt nahe. Ihre Inſtrumente waren weder vollzaͤhlig noch vollkommen, was ließ ſich mit der Harfe, Cither oder Forminx, mit der Lyra oder Laute, mit der Tibia oder Hoboe, mit der trompetenartigen Tuba und mit dem Syrinx der Hirten aufſtellen? Erſt in ſpaͤteren Zeiten, beſonders unter Italienern und Deutſchen bildete ſich die Muſik zur eigentlich dar¬ ſtellenden Kunſt. Vorher war ſie nur die Huͤlle, das Gewand der Poeſie. Jetzt riß ſie ſich, den eigenen Kraͤften vertrauend, von ihr los, jedoch, wenigſtens nicht bei den Deutſchen, um ſich ganz von ihr zu trennen, ſondern, um ſich ihr mit Freiheit wieder zu naͤhern. Selbſt das Wort muſikaliſch ward nun ſelbſtſtaͤndig gebraucht fuͤr die Kunſt der Muſik, fruͤher bezeichnete es den Verein von Poeſie und Geſang, von Mimik und Deklamation, in dem jeder griechiſche Juͤngling ſich ausbilden mußte; in dieſem Sinne muß man immer den muſikaliſchen Unterricht verſtehen, wo¬ von Plato, Plutarch und andere griechiſche Schrift¬ ſteller ſo oft ſprechen, als von dem weſentlichſten Bildungsmittel der Jugend, das auf Geiſt und Gemuͤth den unwiderſtehlichſten Einfluß ausuͤbe.
217Die Alten ſahen nur auf Melodien, ihre Choͤre wurden nur nach einander abgeſungen und deklamirt. Kuͤnſtliche Harmonien, Durcheinander¬ laſſen der Toͤne auf verſchiedenen Inſtrumenten, Tonverſetzungen, Fugen, Aufloͤſungen kuͤnſtlicher Diſſonanzen, kurz Werke eines Haydn oder Mo¬ zart, ganze große, durchdachte, auf die Regeln der Harmonie gegruͤndete, mit Kraft, Geſchicklichkeit, großartiger Phantaſie ausgefuͤhrte muſikaliſche Kunſt¬ werke waren den Alten unerreichbar.
Raͤumen wir dieſe Selbſtſtaͤndigkeit der Mu¬ ſik in neuerer Zeit ein, ſo kehrt mit verdoppeltem Nachdruck die Frage zuruͤck, welche Stelle nimmt die Muſik unter den Kuͤnſten ein, welche Gren¬ zen ſind ihr geſetzt, was iſt ihr Reich, ihr Gebiet?
Kant in ſeiner Kritik der Urtheilskraft ſagt von der Tonkunſt, daß ſie unter den Kuͤnſten den groͤßten Genuß, aber fuͤr ſich die wenigſte Kultur gewaͤhre, indem ſie mit bloßen Empfindungen ſpiele, welche auf unbeſtimmte Ideen von Affek¬ ten fuͤhrten.
Die Muſik ſtand alſo dem Koͤnigsberger nicht ſehr hoch; auch Hegel machte ſich nicht viel aus der Muſik, weil ſie ihm, wie er ſagte, zu wenig zu denken gebe. Wie anders mußte Luthers14**218Ohr vom Zauberſtabe der Muſik beruͤhrt werden, wenn er ausruft: ich ſage es frei heraus, daß nach der Theologie keine Kunſt ſei, ſo mit der Tonkunſt kann verglichen werden, der die Floͤte und noch kunſtreicher die Laute ſpielte, und ſei¬ nen hellen maͤnnlichen Tenor jeden Abend in ſeinem Hauſe ertoͤnen ließ. Es iſt nur Mangel an Tonſinn, an kindlicher Stimmung, an poetiſch¬ webenden Gefuͤhlselementen, was Kant, Hegel und andere Philoſophen wie Nichtphiloſophen zur Herabſetzung der Muſik beſtimmte. Schon das Medium, der Stoff der Muſik erregen fuͤr ihre aͤſthetiſche Wuͤrde ein guͤnſtiges Vorurtheil. Sie ſpricht durch den Sinn des Gehoͤrs zu uns, ihr Medium, die Luft, iſt unſichtbar, wie die Toͤne, welche ſie hervorruft, in dieſem Unſichtbaren wirkt ſie ſelber als etwas Unſichtbares, als etwas aus fremder Welt, und zwar nicht als Todtes, Unbe¬ wegtes, Ruhendes, ſondern als etwas Eilendes, Fließendes, uͤber, neben, unter uns Hinſchweben¬ des. Ihre Melodien ſind uns die Sinnbilder un¬ ſerer geiſtigen Regſamkeit, unſere ſtummen Ge¬ fuͤhle, Ahnungen, Hoffnungen, unſere Schmerzen und Freuden, Alles wird laut in unſerer Bruſt, wir fuͤhlen doppelt ſtark, allein wir erheben uns uͤber den Schmerz und genießen dieſen nur als Ton, der unſer Ohr entzuͤckt, ohne im Herzen219 einen Stachel zuruͤckzulaſſen. Die Toͤne, ſagt Heinſe in ſeinem muſikaliſchen Roman, greifen die Nerven und alle Theile des Gehoͤrs an und ver¬ aͤndern dadurch das innere Gefuͤhl außer allen Vorſtellungen der Phantaſie. Unſer Gefuͤhl ſelbſt iſt nichts Anderes, als eine innere Muſik, immer¬ waͤhrende Schwingung der Lebensnerven. Die Muſik ruͤhrt ſie ſo, daß es ein eigenes Spiel, eine ganz beſondere Mittheilung iſt, die alle Beſchrei¬ bung von Worten uͤberſteigt. Sie ſtellt das innere Gefuͤhl von außen in der Luft dar. Das Ohr, ſagt er an einer andern Stelle, iſt gewiß unſer wichtigſter Sinn und ſelbſt das Gefuͤhl, was man bisher fuͤr den untruͤglichſten gehalten hat, bildet ſich nach ihm. Das geuͤbteſte Auge eines Ma¬ lers, Meßkuͤnſtlers iſt gewiß nicht im Stande, uns ſo, wie der Muſiker, die leichten Verhaͤltniſſe der Haͤlften, Drittel, Fuͤnftel und Sechſtel einer Linie, irgend einer Laͤnge und Groͤße in Wirklich¬ keit auf ein Haar zu treffen. Deswegen ſind die Taubſtummen um ſo Vieles ungluͤcklicher als die Blinden, weil ſie den Hauptſinn des Verſtandes, der die andern zur Richtigkeit gewoͤhnt, nicht ha¬ ben und ſo gibt die Muſik unter allen Kuͤnſten der Seele den helleſten und friſcheſten Genuß. Ein Gluͤck, daß das Ohr des Menſchen an feiner und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterſchei¬220 dung von Toͤnen das Ohr aller andern Thiere uͤbertrifft, obwohl ein vollkommen zartes, feſtes, reines und noch mehr, ausgebildetes Gehoͤr eben ſo ſelten iſt, wie alle hohe Schoͤnheit und man durch ſchlechte Gewohnheit dieſen goͤttlichen Sinn ſehr verderben kann.
In der That, vor der Muſik muß jede Kunſt, die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirk¬ ſamkeit uͤbertroffen werden, wie der Koͤrper vom Geiſte: denn ſie iſt Geiſt, verwandt mit der Na¬ tur der in uns waltenden Kraft, der Seele, der Bewegung. Was anſchaulich dem Menſchen nicht werden kann, wird ihm durch Muſik mittheilbar. Voruͤbergehend iſt jeder Augenblick dieſer Kunſt, denn eben das Kuͤrzer und Laͤnger, das Staͤrker und Schwaͤcher, das Hoͤher und Tiefer iſt ihre Bedeu¬ tung, ihr Eindruck. Im Kommen und Fliehen, im Werden und Geweſenſein liegt die Siegskraft des Tons und der Empfindung. Dagegen jede Kunſt des Anſchauens, die an beſchraͤnkten Ge¬ genſtaͤnden und Gebaͤuden, und nun gar an Lokal¬ farben haftet, dennoch nur langſam begriffen wird, obwohl ſie Alles auf einmal zeigt.
Vergangenheit und Zukunft unſerer Empfin¬ dungen iſt das Eigenthuͤmlichſte der Muſik. Sie ſoll die Natur nicht malen, nicht dichtend darſtellen, wie Maler, Bildhauer und Dichter,221 ſondern anregen, nichts als anregen. Daher wirkt die Muſik nie beſtimmt, wie der Dichter, ſondern unbeſtimmt; daher artet die Bemuͤhung, einzelne Begebenheiten und Erſcheinungen der Na¬ tur in der Muſik nachzuahmen z. B. das Klap¬ pern der Muͤhlen, das Schnurren der Raͤder, das Knirſchen der Zaͤhne u. ſ. w. in laͤcherliche und unertraͤgliche Spielerei aus. Die Muſik darf nie aus dem reinen Aether herabſinken und ihren Fuß auf den glatten Boden der Wirklichkeit ſetzen. Unſere Gefuͤhle begegnen ihr von ſelbſt, wir tau¬ chen uns in ihrem reinen, dunkelwogenden Strom, wir trinken ihre Toͤne und ſtillen und reinigen uns in ihren harmoniſchen Fluthen.
Man kann die Tonkunſt unter den Kuͤnſten die freieſte nennen, weil ſie am Unmittelbarſten ſich unſerer Seele, unſerer Einbildungskraft be¬ maͤchtigt und mit den muſikaliſchen Formen der Schoͤnheit anfuͤllt, ohne durch das Verſtandesge¬ biet der Begriffe und noch weniger durch die Welt der wirklichen Anſchauungen hindurchzugehen. In ihr verbindet ſich am Leichteſten das Individuelle mit dem Idealen, in ihr druͤckt ſich am Fuͤhlbar¬ ſten das Unendliche durch das Endliche aus.
Daß die Toͤne, ſagt Jean Paul, die in einem dunkeln Mondlicht von Kraͤften ohne Koͤrper unſer Herz umfließen, die unſere Seele ſo verdoppeln,222 daß ſie ſich ſelber zuhoͤrt, und mit denen unſere tiefheraufgewuͤhlten, unendlichen exaltirten Hoff¬ nungen und Erinnerungen gleichſam im Schlafe reden, daß die Toͤne ihre Allmacht vom Sinne des Grenzenloſen empfangen, dies brauche ich nicht erſt zu ſagen. Die Harmonie fuͤllet uns zum Theil durch ihre arithmetiſchen Verhaͤltniſſe; aber die Melodie, der Lebensgeiſt der Muſik erklaͤrt ſich aus nichts, als etwa aus der poetiſchen Nachah¬ mung der roheren Toͤne, welche unſere Schmer¬ zen und Freuden von ſich geben. Die aͤußere Muſik erzeugt die innere und daher geben uns alle Toͤne einen Reiz zum Singen.
Wir ſchließen mit dieſen Worten unſere Ge¬ danken uͤber den Kunſtkreis der Muſik. Nachdem wir bisher die eigenthuͤmliche Bahn der ſaͤmmtlichen Kuͤnſte beſchrieben, fluͤchtig durchlaufen ſind, wer¬ den wir in naͤchſter Vorleſung unmittelbar nach unſerm Plane diejenige von den Kuͤnſten behan¬ deln, welche ſich der Worte als ihrer ſimboliſchen Zeichen bedient, der Poeſie und Rhetorik.
223Nach der allgemeinen Charakteriſtik der Kuͤnſte, welche in den Kreis der Aeſthetik gehoͤren, beſchraͤn¬ ken wir uns verabredetermaßen auf die Kunſt der Rede, der poetiſchen wie der proſaiſchen. Dieſe Kunſt bedient ſich der Sprache, als ihres Mate¬ rials, wie der Bildhauer des Marmors, der Mu¬ ſiker des Tons. Nicht alle Sprachen ſind gleich geeignet fuͤr die kunſtreiche Bearbeitung, einige ſind zu ſproͤde, andere zu weich, einige zu roh, andere zu gebildet, einige zu arm, andere, man moͤchte ſagen, zu reich, wie die deutſche, was zwar ein ſchoͤner Fehler iſt, wenn uͤberall einer, was aber doch dem Dichter oder Redner bei der Wahl der Woͤrter und Ausdruͤcke nicht ſelten auch die Qual verurſacht. Allein der wichtigſte Unter¬224 ſchied, den dieſes Material, dieſer Gedankenmar¬ mor, die Sprache darbietet, iſt der, ob daſſelbe unmittelbar und urſpruͤnglich aus dem Urfels der Nationalitaͤt gebrochen und gewonnen wird, oder ob es nur ein ausgebrochenes Stuͤck Sprache iſt, das vom Urfelſen getrennt, nur bedeutungsloſe, geſprungene und unterbrochene Adern aufweiſet; ich meine, ob die Sprache eine Grundſprache oder eine abgeleitete iſt. Keiner kann die Tiefe dieſes Unterſchiedes begreifen, als der, deſſen Begriffe in einer Grundſprache wurzeln, der ſelbſt das Gluͤck genießt, einem Volke anzugehoͤren, deſſen Sprache eine ewig fortrieſelnde Quelle iſt, deren Urſprung ſich in die Felſen und Gebuͤſche der dunkelſten Vorzeit verliert. Man diſputire nicht mit einem Franzo¬ ſen uͤber den Vorzug der beiderlei Sprachen, und wenn der Franzoſe, was jetzt haͤufig von jungen und geiſtreichen Pariſern zum Studium Goethe's, Hoffmann's und anderer deutſchen Schriftſteller geſchieht, wenn er auch das Deutſche mit einiger Fertigkeit leſen und ſprechen gelernt hat und den beſten Willen zeigt, ohne altfranzoͤſiſches Vorur¬ theil die Vergleichung beider Sprachen anzuſtellen, ſo wird er doch nie den groͤßten Vorzug des Deutſchen vor dem Franzoͤſiſchen, die Urſpruͤnglich¬ keit begreifen und mit auf die Wagſchale legen. Niemand hat dieſen Punkt eindringlicher und tie¬225 fer eroͤrtert, als Fichte in ſeinen unſterblichen Re¬ den an die deutſche Nation; ich verweiſe Sie auf dieſe Stelle, wenn Sie Ihr Herz recht mit dem ſtolzen Gefuͤhl durchdringen wollen, wie hoch un¬ ſere deutſche Mutterſprache uͤber den neuen euro¬ paͤiſchen ſteht. Freilich an aͤußerem Reiz iſt manche ihr uͤberlegen, heitrer, anmuthiger, geſellſchaftlicher iſt die franzoͤſiſche, grandioͤſer die ſpaniſche, ſang¬ reicher die italieniſche, allein ſeelenvoller und herz¬ inniger, geſtaltreicher und gedankendurchſichtiger, als alle, iſt und bleibt die deutſche. Die franzoͤſiſche und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder ſind mehr rhetoriſcher, die deutſche und alle ur¬ ſpruͤnglichen Sprachen mehr poetiſcher Natur. In jener hat ſich die Sprache abgeloͤſt vom ſprach¬ ſchaffenden, ſprachbildenden Genius, vom Herzen, vom Bewußtſein der Nation, ſie iſt ein Aeußeres und Fremdes geworden, und wer ſich ihrer be¬ dient, nimmt ſie nicht aus ſich, ſondern aus dem Vorrath conventioneller Formeln und Redensarten, die fuͤr alle Zeiten geſtempelt ſind. In dieſer, der urſpruͤnglichen, iſt Sprache und Seele eins, wer Deutſch ſpricht, ſpricht es aus ſeinem eignen In¬ nern heraus und bedient ſich der Sprache nicht wie einer bloßen Convention, ſondern als eines Naturprodukts, das in ſeinem eignen Lebensblute Wurzel faßt und ſeinen Geiſt vielaſtig mit Bluͤ¬Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 15226then und Fruͤchten durchwaͤchſt. Goethe vergleicht daher ſehr richtig die franzoͤſiſche Sprache mit ausgepraͤgter Scheidemuͤnze, die Jeder in der Taſche bei ſich traͤgt und der er ſich auf das Schnellſte im Handel und Wandel bedienen kann, die deutſche aber mit einer Goldbarre, die ſich ein Jeder erſt muͤnzen und praͤgen muß; woher es auch ein gewoͤhnlicher Fall, daß der gemeinſte Franzoſe raſch und fließend ſpricht, da er ſeine Woͤrter ungezaͤhlt nur ſo ausgibt, der Deutſche aber, ſelbſt der gebildete, ſich nur ſelten ſo rund und voll auszudruͤcken vermag, als er wohl wuͤnſcht. Demſelben Umſtande hat die franzoͤſiſche Proſa ihre Vollkommenheit zu verdanken und ſie, die Proſa, iſt es vor allen Dingen, was den Ruhm und auch den Werth der franzoͤſiſchen Literatur ge¬ gruͤndet hat, obwohl daruͤber noch Manche im Unklaren ſind und die franzoͤſiſche Poeſie, die Trauerſpiele eines Corneille, Racine, die gereimten Luſtſpiele eines Moliere, die Henriade eines Vol¬ taire u. ſ. w. fuͤr die einflußreichſten und am mei¬ ſten klaſſiſchen Produkte der franzoͤſiſchen Literatur erachten. Ich weiß nicht, ob die Franzoſen ein rein poetiſches Produkt zu Stande gebracht haben, ich wuͤßte keins, wo nicht der Redner den Poe¬ ten uͤberwoͤge, oder wenigſtens ihm den Rang ab¬ zulaufen verſuchte; ſelbſt in der neueſten roman¬227 tiſchen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo ſteht, und die ohne Zweifel an poetiſchem Gehalt die altfranzoͤſiſch klaſſiſche uͤberfluͤgelt, ſpielt die Rhetorik, die Floskelei, die Tiradenſucht die Haupt¬ rolle. Was ſind die franzoͤſiſchen Poeten gegen die franzoͤſiſchen Proſaiker, welche Sterne des Parnaſſus kann man einem Buͤffon, Rouſſeau, Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern ent¬ gegenſtellen? Im Deutſchen moͤchte der Fall um¬ gekehrt ſein, den europaͤiſchen Ruhm unſerer Lite¬ ratur verdanken wir unſern Dichtern und ich glaube mit Recht. Abſtrahiren wir von den tief¬ ſinnigen Gedanken, von den wiſſenſchaftlichen Sy¬ ſtemen, welche unſere Proſa ſeit 50 Jahren ent¬ wickelt hat — wir wollen uns dieſen Ruhm nicht ſchmaͤlern, aber wir wollen nur bedenken, welch ein geringer Theil der Nation von dieſem Tief¬ ſinn, dieſer Wiſſenſchaftlichkeit Frucht gezogen hat — was bleibt uns nach; ſei es politiſch oder mo¬ raliſch oder ſonſt was in Proſa, was wir gegen die Werke unſerer Poeſie, gegen nur einen einzi¬ gen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein ein¬ ziges Gedicht, wie den Fauſt in die Schanze ſchlagen moͤchten? Ich wuͤßte es nicht. Es kann aber auch nicht anders ſein, als daß bisher die deutſche Poeſie die Proſa hinter ſich ließ. Ich glaube den Grund ſchon einmal angedeutet zu ha¬15 *228ben und zwar bei der Gelegenheit, als ich meine Freude uͤber das kraͤftigere Aufbluͤhen unſerer heu¬ tigen jugendlichen Proſaiker ausſprach. Die deut¬ ſche Proſa wird nie der franzoͤſiſchen gleichgeartet werden, wer es von unſerer Seite auf Nachah¬ mung anlegte, wie es von Dieſem und Jenem wirklich geſchieht, der ahnt den Genius nicht, den er verhoͤhnt. Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus deutſcher Rede, ob ſie einfach-proſaiſch dahinfließt, oder rythmiſche Echos hoͤren laͤßt; wir haben eine Naturſprache, die ſo¬ wohl an den Gedanken als an die Empfindung ſich anſchmiegt, ohne der gallonirten Kleider zu beduͤrfen: Natur, Wahrheit, Herzlichkeit, das ſind die drei Farben, welche dem Deutſchen ſo wohl ſtehen und die keine Kunſt der Rednerei, der Witzelei, der Phantaſterei erſetzt. Allein, beden¬ ken wir die bisherigen Zuſtaͤnde der Deutſchen, bedenken wir dieſe miſerabeln buͤrgerlichen und ge¬ ſellſchaftlichen Zuſtaͤnde der Deutſchen, ſo begreifen wir leicht, warum die deutſche Proſa, der treue Spiegel dieſer Zuſtaͤnde, jetzt im Allgemeinen eben ſo miſerabel ausſehen mußte, als ſie wirklich that und thut. Ja, nehmen wir nur die ausgezeich¬ netſten Proſaiker der neuern Zeit, die viel Muͤhe und Fleiß auf die Ausbildung ihrer Sprache ver¬229 wandt haben und denen es beſſer wie Tauſenden gegluͤckt iſt, einen Fichte, Schleiermacher, Schiller, Goethe, welchen, ſelbſt Goethe nicht ausgeſchloſ¬ ſen, moͤchte man der Jugend als reines Muſter empfehlen. Fichte's Periodengeflechte ſind mehr dornigt als blumigt, Schleiermacher ſpinnt faſt unſichtbare Gewebe und in dem Werk, was man fuͤr das Meiſterſtuͤck ſeines Sprachſkelets ausgibt, in den Monologen, ſchreibt er Jamben, ſtatt Proſa; Schiller uͤberbietet ſich in einer glaͤnzenden, aber nur zu oft undeutſchen und hohlklingenden Paradeſprache, und Goethe, der weit entfernt von dieſem Fehler iſt, hat in ſeinen Proſaroma¬ nen eine ſolche Menge glatter, hoͤfiſcher Wendun¬ gen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie man mit ihm daran iſt. Der Stil iſt der Menſch ſelber, ſagt Buͤffon; und Jean Paul: wie jedes Volk ſich in ſeiner Sprache, ſo malt jeder Autor ſich in ſeinem Stil. Kraͤftigen, reinen und ſchoͤ¬ nen Stil wird kein Schriftſteller in unkraͤftiger, unreiner und unſchoͤner Zeit erwerben, fuͤge ich hinzu, denn der Schriftſteller iſt im hoͤhern Grad als ein Anderer, oder vielleicht nur ſichtbarer, ein Kind ſeiner Zeit. —
Doch dieſes ſind Gedanken, die wir ſpaͤter noch weiter auszufuͤhren haben; fuͤr jetzt und zu¬230 naͤchſt ſoll es nicht die Proſa, ſondern die Poeſie der neuen Zeit ſein, an welche wir unſere Aeſthe¬ tik zu knuͤpfen gedenken.
Es iſt ein alter Satz, daß die Poeſie aͤlter iſt, als die Proſa. Bewieſe es nicht die Ge¬ ſchichte der Menſchheit, ſo bewieſe es die Bil¬ dungsgeſchichte eines jeden Kindes, dem wir die Fibel mit gereimten Spruͤchen und Sprichwoͤrtern fuͤllen. Mit Recht. Die Poeſie gehoͤrt den Kin¬ dern, und was in uns kindlich geblieben iſt, ge¬ hoͤrt der Poeſie. Gebt mir eine friſche Kinder¬ freude, eine Seligkeit um nichts, eine thaufriſche Anſchauung, einen von jenen lebhaften Eindruͤcken, die keine Zeit verwiſcht, und deren der Greis ſich noch am Stabe erinnert, alles das gehoͤrt der Poeſie an. Jede Empfindung gehoͤrt der Poeſie an, wenn ſie aus ihrem ordinairen Zuſtande ent¬ ruͤckt, reiner, friſcher, tiefer wird, ohne zu wiſ¬ ſen wie, ſo auch jeder Gedanke, deſſen Mutter nicht grade das Einmaleins oder die logiſche For¬ mel des Widerſpruchs und des exclusi tertii iſt, jeder Gedanke kann einen poetiſchen Koͤrper an¬ nehmen und aus der abſtrakten Luft in den gruͤ¬ nen Garten der Poeſie herabgezogen werden. Un¬ ſere Dichter treiben dergleichen Geſchaͤft als Kunſt, den uralten Dichtern und den Kindern und dem Volke iſt es Natur, ſo zu denken und zu fuͤhlen. 231Ich will die Poeſie nicht definiren, es geht ihr wie der Schoͤnheit und allem Beſten, was gott¬ lob den Definitionshaͤſchern zu hoch liegt, aber wenn ich ſage: zieht von dieſem Menſchen, die¬ ſem Volke, dieſer Zeit das ab, was ihre Religion, ihr Katechismus, ihr beſonderer geſchichtlicher Cha¬ rakter, ihr poſitiver Gehalt, ihre ſpezielle Weltan¬ ſchauung iſt, ſo bleibt jedem Menſchen, jedem Volk eine Saite, die rein menſchlich oder rein goͤttlich toͤnt, eine Saite, deren Klang und Ton alle Menſchen verſtehen, und ſtaͤnden ſie auch Tau¬ ſende von Jahren auseinander, das iſt die Poeſie. Grade dieſen Gedanken, dieſen Begriff der Poeſie wuͤnſchte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung darzuſtellen. Die Poeſie iſt die Vermittlerin aller Zeiten und Voͤlker, die Vermittlerin aller Men¬ ſchen, die Dolmetſcherin aller Gefuͤhle und Be¬ ſtrebungen, und ſie iſt es dadurch, daß ſie unmit¬ telbar aus dem Herzen dringt, aus jener uner¬ gruͤndlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leiden¬ ſchaft ſchlaͤft, aus jenem Kern des menſchlichen Weſens, der, wenn er verwitterte, die ganze Menſchheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als ob die Poeſie in ihrer Aeußerung bei dieſem, je¬ nem Volke, dieſem, jenem Menſchen keine perſoͤn¬ lichen, volksthuͤmlichen, charakteriſtiſchen Elemente und Beiſaͤtze enthielte — es gibt eben ſo wenig232 eine abſtrakte Poeſie, als uͤberhaupt etwas abſtrakt Lebendiges — ſondern es hat die Poeſie vom Him¬ mel die Gabe empfangen, trotz ihrer beſchraͤnkt geſchichtlichen Aeußerung, im Tiefſten das Rein¬ menſchliche, Allen Verſtaͤndliche, Allen bis zu einem gewiſſen Grade Genießliche, fuͤr ewige Zeit aufzubewahren; eine Gunſt, der ſich weder Philo¬ ſophie noch Religion zu ruͤhmen vermag. Wie auch der Indier, der Chineſe denkt und handelt, das mag uns ungereimt, unverſtaͤndlich vorkom¬ men, ſo daß wir uns eben ſo gut ein außer¬ menſchliches Weſen, einen Mondbuͤrger in ſeiner Perſon imaginiren koͤnnen, aber er liebt, wie wir, er haßt, wie wir, er hofft, er verzweifelt, er jauchzt, er blutet, wie wir, und dieſe rein menſch¬ liche Empfindung macht ſich unwiderſtehlich Luft aus der Maske ſeines geſchichtlichen Charakters und erinnert uns an die Bande der Bruͤderſchaft, die alle Menſchengeſchlechter mit einander verknuͤ¬ pfen. Leſen Sie das indiſche Gedicht Naal und Damajanti — Vieles wird Ihnen fremdphanta¬ ſtiſch und Gewaͤchs der indiſchen Zone ſcheinen — aber nicht die goͤttliche Liebe und Treue, welche ſich darin verkoͤrpert. Leſen Sie den Tſchi-King, das Liederbuch der Chineſen*)Dieſe Anfuͤhrung iſt aus Menzel's Literaturblatt. , mit deſſen Ueber¬233 ſetzung uns Ruͤckert ſein neueſtes Geſchenk ge¬ macht hat, und Sie werden hinter dieſer wunder¬ ſam geſchnoͤrkelten, ſteifen Schale des ſo ganz eigenthuͤmlichen Volks den Kern des Reinmenſch¬ lichen bewahrt ſehen. In die Poeſie fluͤchtet ſich das mißhandelte Herz, hier und hier allein war es vom Prieſterzwange frei, der ſonſt das ganze Leben und ſelbſt den Gedanken des Volkes be¬ herrſchte. Und darum hat der herrliche Ruͤckert Recht, wenn er in der poetiſchen Einleitung ſagt:
Und den letzten Vers ſchließt Ruͤckert mit den tiefſinnigen Worten:
Bleibe ich zum Schluß noch einige Augenblicke bei dieſem neugewonnenen Liederſchatze ſtehen und hebe eins derſelben heraus. Der bei weitem groͤßte Theil derſelben enthaͤlt Reklamationen des menſchlichen Gefuͤhls, Klagen und Proteſtationen, gegenuͤber dem ſtrengen Geſetz oder der willkuͤhr¬ lichen Handhabung deſſelben. Nur der kleinſte235 Theil derſelben iſt ſervil und weihraͤuchert dem Kaiſer, der Regierung, den Sitten — im Ge¬ gentheil ſind manche ſogar gradezu revolutionair. Es iſt der Schmerz und Ruf der Natur unter dem Druck barbariſcher Geſetzkonſequenzen und als ſol¬ ches charakteriſirt ſich auch folgendes Lied eines Eunuchen, der ſeinen Fluch ausſpricht uͤber den Urheber ſeiner Schande, einen Verlaͤumder:
So weiß ſich ein chineſiſcher Eunuch in poe¬ tiſchem Zorn Luft zu ſchaffen, waͤhrend die gei¬ ſtigen Eunuchen unſerer ſchlaffen Zeit das Meſſer kuͤſſen, das ſie geſchaͤndet hat.
237Vielerlei ſind der Sprachen, Zungen und Cha¬ raktere auf der Welt, die einander nicht verſtehen; die Poeſie aber iſt die heilige Flammenzunge, die aus Aller Herzen zu Aller Herzen ſpricht und je¬ den Menſchen mit ſuͤßem Verſtaͤndniß bewegt. Die Poeſie iſt die Natur, die urſpruͤngliche Menſch¬ heit, die ſich mit jeder beſondern Erſcheinung der Menſchheit auf dem Felde der Geſchichte gattet und daher, ſo allgemein menſchlich ſie in ihrer Quelle iſt, doch jedesmal einer beſondern Menſch¬ heit, einem gewiſſen Zeitalter eigenthuͤmlich an¬ gehoͤrt. Man kann daher mit Recht von einer katholiſchen und griechiſchen Poeſie ſprechen, von einer romantiſchen und klaſſiſchen, nur wird man ſich huͤten, den Gegenſatz unmittelbar238 in das Weſen der Poeſie ſelbſt zu ſetzen, die Poeſie iſt nur die eine bei allen Voͤlkern, Zeiten und Zuſtaͤnden, aber der Strahl dieſer einen Sonne bricht ſich tauſendfach in der geiſtigen At¬ moſphaͤre und verurſacht dadurch ein buntes Far¬ benſpiel von Weltpoeſien, deren Verſtaͤndniß, nach Ruͤckert's Ausdruck, allein zur Weltverſoͤhnung fuͤhrt.
Die Geſchichte der Poeſie, dieſe Bluͤthe der Geſchichte der Menſchheit, lehrt uns, daß jene Gattung von Poeſie, welche man die epiſche nennt, bei allen Voͤlkern die urſpruͤnglichſte und aͤlteſte war. Fuͤr die griechiſche und indiſche Poe¬ ſie iſt dies außer allem Zweifel geſetzt; fuͤr die roͤmiſche hat Niebuhr es wahrſcheinlich gemacht, indem er die ganze ſogenannte aͤlteſte roͤmiſche Geſchichte, wie ſie im Livius vorliegt, auf einen dichteriſchen Sagenurſprung zuruͤckfuͤhrt und ſtellen¬ weiſe in den Buͤchern des Livius noch die alten rythmiſchen Klaͤnge nachweiſt. Auch die deutſche Poeſie verraͤth ihren epiſchen Urſprung, mag man dieſen in die aͤlteſte Zeit des Auguſtus und der Herrmannſchlachten oder in die ſpaͤtere der Voͤl¬ kerwanderung verſetzen. Von jener aͤlteſten iſt uns allerdings kein einziges Denkmal uͤbrig geblieben, allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germa¬ nia uͤber die Poeſie der Deutſchen gibt und die239 Erwaͤhnung altdeutſcher Heldenlieder, welche Karl der Große zu ſammeln befahl, ſetzen es beinah außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil ſeine kuͤnſtliche Aeneis ſchrieb, das geſchichtliche Lied von den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgeſang in den Waͤldern Germaniens wiederhallte. Noch zweifelloſer iſt die epiſche Na¬ tur der deutſchen Poeſie, die ſich aus der Voͤlker¬ wanderung entwickelt hat und worauf ſich unſere heutige poetiſche Sprache, als auf ihre erſte er¬ ſichtliche Quelle zuruͤckfuͤhrt. Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die kuͤnſtleriſche Ver¬ einigung aller jener epiſchen Mythenſtrahlen, welche ſeit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutſchen Himmel uͤberflogen, das Band der Rhapſodien, welche bis dahin, gleich den homeriſchen, von wandernden Saͤngern bei feſtlichen Gelegenheiten einzeln vorgetragen wurden.
Fragen wir nach der Urſache, warum eben die aͤlteſte Poeſie einen epiſchen Charakter trug, warum ein Homer fruͤher kommen mußte, als ein Sophokles? Ich denke, wir koͤnnen uns auf fol¬ gende Weiſe uͤber dieſe Erſcheinung verſtaͤndigen. Je weiter man den erſten Anfaͤngen einer Volks¬ geſchichte nachgeht, deſto lebhafter wird man an¬ gereizt durch einen ſtehenden Charakterzug, der die fruͤhere Menſchheit von der jetzigen unterſcheidet. 240Man ſieht die Vorfahren und Stammvaͤter eines jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und Enkel, von einem gewiſſen einheitlichen Gefuͤhl des Lebens durchdrungen, das ſich nicht allein auf die Gegenwart erſtreckt, ſondern auf die Vergan¬ genheit zuruͤckwirkt und dieſe mit jener in unmit¬ telbare Verbindung ſetzt. Bei uns iſt es anders. Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, ſondern unterhalten eine ſolche mittels der Geſchichte, welche uns die fruͤhern Zuſtaͤnde pragmatiſch-kri¬ tiſch vor Augen fuͤhrt. Allein es verhaͤlt ſich das, was wir Geſchichte nennen, zum Epos des Alter¬ thums wie ein friſch bluͤhender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wiſſenſchaftlichen Naturforſchers liegt; oder, es ver¬ haͤlt ſich die Kunde, welche das Alterthum von ſeiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von fruͤheren Dingen nimmt, wie die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare An¬ ſchauung zum lebloſen Bilde. Wir ſtudiren die Geſchichte aus Buͤchern, der Eine weiß viel, ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wiſſen davon hat, hat eben auch nur ein ſolches Wiſſen, das ihm in ſeiner indiffe¬ renten Objectivitaͤt unendlich fern liegt vom wirk¬241 lichen Leben, von ſeinen eignen Gefuͤhlen, Ueber¬ zeugungen und Anſchauungen. Der fruͤhere Menſch aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit, er ſog die Vergangenheit ein mit der Mutter¬ milch, ſie war ihm ein integrirender Theil ſeines Weſens und alle Erſcheinungen, Thaten, Gefuͤhle derſelben blieben ihm ſo verſtaͤndlich, wie die Er¬ ſcheinungen, Thaten und Gefuͤhle der Gegenwart ſelber. Was daher ein Dichter von der Gegen¬ wart ſang, das ſang er im gewiſſen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachruͤhmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart. Warum aber der Dichter am Liebſten die Thaten der Vergangenheit darſtellte, mit denen dann die Anſichten und Gefuͤhle der Gegenwart zuſammen¬ ſchmolzen, davon lag der Grund, wie es mir ſcheint, in der volkseinheitlichen, unperſoͤnlichen Richtung der Poeſie, welche den Dichter mit ſei¬ nen individuellen Anſichten von Zeitcharakteren und Zeitereigniſſen ganz in den Hintergrund treten ließ und ſtatt deſſen nur den vollen, ungetheilten Strom der Volksſage in die Dichtung einleitete. Die Poeſie verlangte eine gewiſſe Ferne, ein Laͤute¬ rungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile und Nichtigkeiten beſchraͤnkter Anſichten von ſich abzuſcheiden, und nur die Stimme des Volkes,Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 16242Gottes Stimme walten zu laſſen. Der Dichter ſang nicht ſich, ſondern dem Volk und den Vor¬ fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬ ruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied ſeine jetzige Geſtalt verdankt, gaͤnzlich unbekannt geblieben iſt, und wie ſelbſt Homer allem Vermuthen nach, erſt in ſpaͤterer Zeit ſeinen Ruf, ja ſeinen Namen erhalten hat.
Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des Epiſchen vor dem Lyriſchen hinlaͤnglich motivirt, weniger aber das Zuruͤckſtehen und das ſpaͤtere Hervortreten des Dramatiſchen. Warum iſt wie das Lyriſche, ſo auch das Dramatiſche in aͤlteſter Zeit nur ein Element des Epiſchen, ohne ſelbſt¬ ſtaͤndige Ausbildung, als Trauerſpiel oder Luſtſpiel? Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in der aͤlteſten Zeit die ganze ungetheilte Weltanſicht vorherrſcht, weil ſich darin keine Kraft des Gei¬ ſtes iſolirt, ſondern Empfinden, Wiſſen, Handeln harmoniſch zuſammenwirkt. In der Lyrik iſt die Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr das Leiden der Perſoͤnlichkeit uͤberwiegend, im Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleich¬ ſam durch den Stab des Rhapſoden um die Dich¬ tung gezogen wird. Das Drama ſondert einen243 Helden, eine Begebenheit aus dem Kreiſe der Helden und Begebenheiten ab, und gibt dadurch der einzelnen Darſtellung eine uͤberwiegende Wich¬ tigkeit; das Epos laͤßt den Helden, ſeine Leiden und Thaten nur in einer ganzen Welt von Hel¬ den und Thaten zur Erſcheinung kommen. Das Epos iſt ſeiner Natur nach unendlich, wie die Geſchichte, das Drama hingegen begrenzt, wenn auch nicht mit innerer Nothwendigkeit ſo enge, daß eines Tages Sonne uͤber den Helden auf - und untergehen muͤßte. Es kommt hinzu, daß nach Goethe's Bemerkung das epiſche Gedicht vorzuͤglich den außer ſich wirkenden Menſchen darſtellt, Schlachten, Stuͤrme, Reiſen, jede Art von Unternehmungen, die eine ſinnliche Breite er¬ fordern, das dramatiſche Gedicht aber mehr den nach Innen gefuͤhrten Menſchen, daher auch dieſes ſich in wenig Raum und Zeit zuſam¬ mendraͤngen laͤßt, ja wenn es echter Natur iſt und ſtreng in ſeinem Charakter gehalten wird, nur wenig Ortsveraͤnderungen und Zeitraͤume bedarf. Auch dieſes lag gaͤnzlich in der Gemuͤthsart des Alterthums, es mußte den aͤußeren Beſtand, das Objekt der gemeinſamen Anſchauung, die That als den Vereinigungspunkt aller Meinungen uͤber¬ wiegend darſtellen, und daher war eben jene alte Poeſie, die epiſche, ein Gemeingut der ganzen16 *244Nation, im hoͤhern Grade, als es je die lyriſche und dramatiſche werden konnte. Waͤhrend naͤm¬ lich das Drama, die Ode auf einen einzigen Dra¬ men - und Odendichter als Verfaſſer zuruͤckweiſt, hatte das Epos eine ganze Nation von Dichtern aufzuweiſen, wo keiner der Vorſaͤnger ſo kuͤhn ſein konnte, ſich allein mit dem Lorbeer zu ſchmuͤcken, der Allen gebuͤhrte.
Indem ich auf dieſe Weiſe verſucht habe, den Grund dafuͤr anzugeben, warum das Epos die aͤlteſte Gattung der Poeſie ſei, habe ich zu¬ gleich den Grund mit beruͤhrt, warum die ſpaͤtere Zeit nicht mehr im Stande ſei, ein echtes Epos zu ſchaffen. Der Verſuche freilich ſind bis auf die neueſte Zeit ſehr viele, noch vor einigen Jah¬ ren hat ein Landsmann von uns, der Buͤrgermei¬ ſter Lindenhan, ein großes, epiſches Gedicht unter dem Namen Malta in die Welt geſchickt, wo es aber nicht ſehr weit hingekommen zu ſein ſcheint. Selbſt ein bedeutenderes, ja das bedeu¬ tendſte dichteriſche Talent muß nothwendig an der Aufgabe ſcheitern, mit der Iliade oder den Nibe¬ lungen in die Schranken zu treten. Ich erwaͤhne der Aeneide des Virgil nicht, denn ſie iſt eben nur einer dieſer verfehlten Verſuche, durch willkuͤhrlichen Entſchluß und mit perſoͤnlichem Talent die innere organiſche Nothwendigkeit einer Volksdichtung nach¬245 zuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzi¬ pirt von dem und dem namhaften Verfaſſer, iſt ſeinem Charakter nach das grade Widerſpiel vom alten echten Epos, und die Strafe, ſich an die¬ ſem verſuͤndigt zu haben, folgt den Verfaſſern ge¬ woͤhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr will¬ kuͤhrliches Machwerk keine Seele erwaͤrmt und be¬ geiſtert, ſondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewiſſe Menſchen bemuͤht ſind, ſich, zu Ehren der epiſchen, vaterlaͤndiſchen Muſe, daruͤber in Selbſttaͤuſchung zu erhalten. Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder patriotiſche Deutſche den Namen des Klopſtockiſchen Meſſias ſchimpfshalber mit einiger Entzuͤckung aus¬ ſprechen, mochte er den Meſſias geleſen haben oder nicht; gegenwaͤrtig, wo vielleicht kein Menſch in Deutſchland lebt, der ſich der vollſtaͤndigen Durch¬ leſung der Meſſiade beruͤhmen kann, iſt es er¬ laubt, bei aller Achtung fuͤr die rieſenhafte Arbeit eines abſtrakten Dichtergenius, ſich deſſen nicht zu ſchaͤmen und jeder Anmuthung der Art durch ſchla¬ gende Gruͤnde zu begegnen. Es iſt ausgemacht, daß jedes epiſche Gedicht neuerer Zeit, je laͤnger es gerieth, deſto langweiliger gerathen iſt, und daß nur die beſondere romantiſch-katholiſche Natur der Comoedia divina des Arioſt's und des befreiten Jeruſalems von Taſſo, dieſen epiſchen Gedichten246 einen Kreis gebildeter Leſer erhalten hat und er¬ halten wird. Das Epos aber kann die Laͤnge und Ausfuͤhrlichkeit gar nicht vermeiden, denn ſie ſind ihm, wie ſchon bemerkt, weſentlich charakteriſtiſch, mag der Dichter ſich nun durch zwoͤlf, oder gar durch vierundzwanzig Geſaͤnge hindurchſchlagen. Dieſe Erbſuͤnde des modernen Epos: Langweilig¬ keit, entſprungen aus noͤthiger Laͤnge, hat Jean Paul ſehr humoriſtiſch dargeſtellt im folgenden Abſchnitt, der der Mittheilung bei dieſer Gelegen¬ heit vorzuͤglich werth iſt.
247Die Zeiten des Epos ſind voruͤber, an die Stelle des Epikers iſt der Romandichter getreten, der mit Entaͤußerung der epiſchen Maſchinerie und des Rythmus ſich im allerfreieſten Element bewegt und den in moderne Proſa, moderne Geſinnung uͤberpflanzten Epiker darſtellt. Wir laſſen aber die Charakteriſtik des Romans nicht unmittelbar auf das Epos folgen, ſondern behalten uns dieſelbe fuͤr die Darſtellung der Proſa vor.
Das Drama, deſſen wir ſchon im Gegenſatz des Epos erwaͤhnt haben, ging einſt unmittelbar, wie alle echte Poeſie, aus dem Schooß des Volks, des nationellen Geiſtes, der nationellen Sitte her¬ vor. Wie in Griechenland, ſo im Mittelalter ent¬ ſprangen die erſten dramatiſchen Vorſtellungen aus248 religioͤſen Faſchings und gaben daher hier wie dort religioͤs-mythologiſche Handlungen zum Beſten, anfangs rein mimiſch, monologiſch, in der Folge dialogiſch, bis ſich auch ihr Gegenſtand und In¬ halt veraͤnderte und an die Stelle der Goͤtter oder Heiligen, Koͤnige und Helden traten. Dies iſt die allgemeine aͤußere Geſchichte des Drama; allein jede Nation hat ihre eigene. Das griechiſche be¬ wahrte viel von ſeinem mythologiſchen Charakter und ließ Goͤtter und Goͤttinnen noch in ſpaͤteſter Zeit perſoͤnlich auf der Buͤhne erſcheinen; das ſpaniſche entwickelte ſich durchaus religioͤs und ka¬ tholiſch-phantaſtiſch; das engliſche ſchwang ſich zu¬ erſt zu reinmenſchlicher, politiſcher Hoͤhe hinauf, waͤhrend das franzoͤſiſche ein à la français zuge¬ ſchnittenes griechiſches blieb und die deutſche nach¬ ahmend mit dem engliſchen und griechiſchen wett¬ eiferte. Mit Nachahmung engliſcher Stuͤcke machte man unter uns den Anfang, Gryphius und an¬ dere Dichter des 17. Jahrhunderts haben Vieles nur ſo vor der Hand uͤberſetzt, man ſtoͤßt in ihren Stuͤcken ſehr oft auf guten engliſchen Humor, der den Deutſchen in damaliger Zeit ganz ausgegan¬ gen zu ſein ſchien. Das erſte Drama von Be¬ deutung, das ein Jahrhundert ſpaͤter aus dem Studium der engliſchen Buͤhne, zumal aber aus der Bewunderung des Shakſpeare entſprang, war249 Goethe's Goͤtz von Berlichingen, nach welchem einzigen Schauſpiel die ungeheure Fluth der Rit¬ terromane ſich erhob, wie nach Schiller's erſtem Produkt, den Raͤubern, die eben ſo ſtarke Litera¬ tur der Raͤuberromane Deutſchland uͤberſchwemmte. Goethe's, des Dramendichters Wuͤrdigung, Goe¬ the's Bedeutung fuͤr ſeine Zeit iſt es nun beſon¬ ders, was ich mir in dieſem Abſchnitt zur Aufgabe ſetze, der vom deutſchen Drama handelt: nicht vom Drama uͤberhaupt, noch von Voͤlkerdramen im Allgemeinen, noch einmal vom deutſchen Drama, als von einem Stuͤck und Fachwerk der ſchoͤnen deutſchen Literatur, ſondern vom deutſchen Drama, das nicht mehr iſt, das mit Schiller und Goethe zu den Schatten hinabgeſtiegen iſt, das mit Schiller, vornaͤmlich aber mit Goethe einer Zeit angehoͤrt, der wir nicht mehr angehoͤren koͤn¬ nen, noch wollen. Wer klagt nicht uͤber den Tod des Schoͤnen auf der Erde, uͤber den Hin¬ gang vorleuchtender großer Koͤpfe, uͤber die Sel¬ tenheit, daß ſolche Verluſte bald durch aͤquivalente Anlagen erſetzt werden, wer klagt nicht daruͤber, daß Deutſchland keinen Schiller mehr hat, oder daß Goethe nicht ewige Jugend zu Theil wurde? Wie willig ſtimme ich dieſer Trauer bei, die ich nur zu gerecht finde, da unſere dramatiſche Buͤhne heutiges Tags veroͤdet iſt und ein Raupach, ein250 Immermann ſtatt Schiller's und Goethe's auf dem deutſchen Kothurn einherſtolziren. Allein man wuͤrde dieſen Verluſt nicht gehoͤrig wuͤrdigen, wenn man glaubte, es ſei wuͤnſchenswerth oder uͤber¬ haupt nur moͤglich, daß die kreiſende Zeit uns einen andern Schiller und Goethe gebaͤre. Und hatten wir auch Dichter, ſo groß wie dieſe, wir hatten damit noch keine Schiller'ſche und Goethe¬ ſche Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die ſich naturgemaͤß aͤußern ſoll, gehoͤrt zweierlei, ein Raum, worauf ſie wirkt, eine Feder, die ſie ſprin¬ gen laͤßt. Beides fehlt in Deutſchland dem Dra¬ mendichter. Jener rein poetiſche Schwung, der die Koͤpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und ſie erſt bei der Befreiung Deutſchlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geſchichte der Poeſie einzig in ſeiner Art, durch¬ aus ohne Beiſpiel, wenn man nicht ungehoͤriger Weiſe das Auguſteiſche Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig ſchnell auf¬ wachſende Literatur aufzuweiſen hat, die auf frem¬ dem griechiſchen Boden entſproſſen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zuſammenhing, die aber ſich doch eines nationalen Sonnenſcheins er¬ freute, indem Rom, obgleich beherrſcht, Herrſche¬ rin des Erdbodens war. Deutſchland hingegen fand ſich in Goethe's Jugend und Mannsalter in251 dem aufgeloͤſteſtem Zuſtande, es war in ſeinem politiſchen Vermoͤgen nach innen und außen para¬ lyſirt, ohne Anregung durch Siege oder Niederla¬ gen, die den Blick poetiſch zu erweitern im Stande geweſen, in welche Kategorie gewiß der ſiebenjaͤhrige Krieg nicht gehoͤrt, wie man an Gleim, Ramler, Kleiſt, den Dichtern deſſelben, zur Genuͤge erſieht. Es war jene Zeit fuͤr Deutſch¬ land, in der man durchaus nichts that, nichts thun wollte, in der die Toͤchter der That, oder der Begeiſtrung fuͤr die That, die Dramen geboren wurden. Zu andern Zeiten und bei andern Na¬ tionen fachte der dramatiſche Dichter das Feuer ſeines Genies an durch den friſchen begeiſternden Athem, der durch die Gegenwart ging, das Volk ſpielte ſein Drama erſt ſelber auf dem Markt, ehe der Dichter es auf die Breter brachte; der Schwung der Geſinnung, die Groͤße der Ideen und Schick¬ ſale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Bu¬ ſen des Dichters. Allein gegen das Ende des 18. Jahrhunderts ſchien es in Deutſchland, als ob die Poeſie ſich abgeloͤſt haͤtte von ihrem Stamm, als ob ſie ein ideelles Leben fuͤr ſich beginnen wolle, ohne Gemeinſchaft mit dem wirklichen. Ein Jahr¬ hundert, das von Rechtswegen aller Poeſie und aller Poeten baar und ledig haͤtte ſein ſollen, war poeſie - und poetenreich, Dichter ſchoſſen an Dich¬252 tern empor und uͤberragend bluͤhten zwei maͤchtige Haͤupter mit den glaͤnzendſten Lorbeeren. Der Eine von ihnen, Schiller, hat ſich ſein ganzes Leben hindurch in dieſer ideellen Richtung be¬ hauptet. Geht man die ſchimmernde Reihe ſeiner Trauerſpiele durch, ſo findet man, die allererſten vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu welcher Zeit dieſelben entſtanden, oder vor wel¬ chem Publicum dieſelben aufgefuͤhrt, es ſind Kunſt¬ dramen oder vielmehr es ſind keine Dramen, ſon¬ dern die Dramatik ſelbſt, von bald abſtrakten, bald hiſtoriſchen Perſonen aufgefuͤhrt. Kann man nun wirklich behaupten, daß der Charakter der ganzen Zeit dieſelbe ideelle Richtung theilte, ſich in Ab¬ ſtraktion und Hiſtorie vertiefte und die verfluͤchtigte Gegenwart und das leere fade Leben nicht daruͤber anſchlug, ſo mag wohl Schiller eher, denn Goe¬ the, als dramatiſcher Repraͤſentant ſeiner Zeit auf¬ geſtellt werden. Allein beobachten wir einen Umſtand, eine Verſchiedenheit in beiden Produktionen mit gehoͤ¬ riger Schaͤrfe, ſo ſind wir, wie es ſcheint, nicht auf¬ gelegt, dieſe Meinung zu beſtaͤtigen. Es gibt keine Succeſſion in Schiller's Werken, keine andere, als die immer durchdachter und ſelbſtbewußter wer¬ dende Kunſt. Seine Dramen zeigen auf der einen Seite keinen innern Zuſammenhang, keine orga¬ niſche Einheit, keine durchlebte Geſchichte von An¬253 ſichten und Gemuͤthsſtimmungen, auf der andern Seite nach außen hin keinen Zuſammenhang mit den Gemuͤthsſtimmungen und Anſichten ſeiner Zeit¬ genoſſen. Dies iſt der Fall bei Goethe und dieſe Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn Schiller als Repraͤſentanten ſeiner Zeit zu betrach¬ ten. Ziehen wir zuerſt das beruͤhrte aͤußere Ver¬ haͤltniß in Erwaͤgung, ſo finden wir, daß Goe¬ the's dramatiſche Meiſterwerke, eben ſo wie deſ¬ ſen Romane und Gedichte, mit der Zeit im in¬ nigſten Zuſammenhang ſtanden, in ſo fern ſie eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die ſich frei¬ lich zuletzt immer ins Abſtrakte oder Philiſterhafte, oder Laͤcherliche verlor), poetiſch, kraͤftig ausſpra¬ chen und fuͤr einen gewiſſen Zeitraum im Publi¬ kum allgemein machten. Goethe's Berlichingen, Egmont, Fauſt, Meiſter und andere Dramen und Romane verrathen die Zeit ihrer Entſtehung, und ihre Schoͤpfung diente Goethe meiſtens als dich¬ teriſches Beduͤrfniß, ſein Gemuͤth von einſeitig heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die verlorne poetiſche Freiheit wiederzugeben. Denſel¬ ben geſchichtlichen Charakter findet man darum auch in perſoͤnlicher Beziehung darin. Goethe's Werke und Dramen waren er ſelbſt zu irgend einer Zeit ſeines Lebens, als Juͤngling, Mann, Greis, als Ritter, Weltmann, Verliebter u. ſ. w. Je¬254 der Deutſche, darf ich ferner behaupten, konnte ſich fuͤr ſeine einzelne Perſon in dieſen Werken ſpiegeln, ſeine Bildung ging denſelben Gang, wie die Goetheſche. Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwaͤrtig in der uͤberwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheſchen Werke, in dem etwas ſeit der Zeit, daß ſie ge¬ ſchrieben, beſchleunigten und zuſammengedraͤngten Leben und Bildungslauf eines Deutſchen ſtudiren. Was am Ende des vorigen Jahrhunderts ſich ſuc¬ ceſſiver in Perioden von laͤngerer Dauer auf ein¬ ander folgte, das ging nun eben ſo ſucceſſive in Perioden von kuͤrzerer Dauer vor ſich. Jener Zeit in Deutſchland, als der Werther gedichtet wurde, als naͤmlich eine unbeſtimmte, ſchmach¬ tende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnſucht ſich der jugendlichen Gemuͤther bemaͤch¬ tigt hatte, entſprach und entſpricht der Zuſtand eines Schuͤlers, Primaners, der voll Sehnſucht und voll Hoffnungen ſteckt, ohne ſo recht eigent¬ lich das Objekt dieſer Sehnſucht zu kennen, und ohne zu wiſſen, was er wuͤnſcht. Jener andern Zeit, als der Goͤtz von Berlichingen die uͤbermuͤ¬ thige, ritterliche Kraftperiode der deutſchen Litera¬ tur ausdruͤckte und repraͤſentirte, entſprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutſchen, wo er auf Univerſitaͤten ſich erſt zurechtfand, die255 Sporen klingen ließ, den Flammberg ſchwang, etwas alterthuͤmlich und ritterlich renommirte, und wenn es ihm wohl ward, das ſchoͤnſte Gefuͤhl in ſich, die angeborne Sehnſucht auf etwas Beſtimm¬ tes, auf das kuͤnftige Vaterland zu fixiren kam. Der Zeit hingegen, als Goethe jene groͤßere Zahl von dramatiſchen und romantiſchen Gedichten ſchrieb, wo die Liebe zu einem Maͤdchen die Hauptrolle ſpielt, entſpricht dieſelbe Periode im Leben eines Deutſchen, die auf die ritterliche folgt, wo der eiſerne Goͤtz in Splittern zerſpringt und ſtatt deſ¬ ſen ein ſchmachtender, ſanfter Liebhaber zum Vor¬ ſchein kommt, der uͤber ſein Maͤdchen Welt und Vaterland vergißt. Was aber die groͤßte und letzte Reihe der Produkte Goethe's betrifft, dieſe Romane und Dramen, welche das Philiſterthum, das vornehme, wie das gemeinbuͤrgerliche nicht allein ertraͤglich und behaglich, ſondern auch poe¬ tiſch finden, ſo entſprechen ſie dem Deutſchen, der Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel bekommen hat und der mit einer gewiſſen vorneh¬ men Ironie auf die Schwaͤrmereien ſeiner Ju¬ gend, auf Sehnſucht, Ritterthum, Vaterland, Jugendleben zuruͤckblickt, des Tags bei den Akten ſchwitzt, des Abends eine Partie L'hombre ſpielt und beim zu Bette gehen den Tag im Kalender durchſtreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staats¬256 buͤrger durchlebt hat. So gleichen die Goetheſchen Schriften, beſonders ſeine Dramen, ihm ſelbſt und ſeiner Zeit; ſo wuͤrden ſie jeder Zeit geglichen haben, in welche Goethe hineingeboren waͤre; ſelbſt der groͤßten, von welcher nur die Geſchichte meldet. Das aber iſt das Kennzeichen des echten Dramatikers, wie jedes großen Dichters, daß er der Zeit ein Spiegel iſt, worin ſie ſich ſelbſt er¬ kennen mag. Wie und warum dieſes nicht vom Fauſt gelten koͤnne, verdient eine beſondere Be¬ trachtung, welche ich der naͤchſten Vorleſung auf¬ ſpare.
257Wir haben in der vorigen Stunde die mancher¬ lei Phaſen des Goetheſchen Geiſtes durchlaufen, die Erſcheinung des Fauſts aber als eine zu ſingulaire bezeichnet, um nicht aus der Reihe der uͤbrigen her¬ vorzuragen. Doch, ſo mannigfach und vielſeitig auch das Goetheſche Leben und die ſeinem Leben entſprechenden Dramen und Gedichte ſind, ſo laſ¬ ſen ſich doch zwei große Partien und Abſchnitte deſſelben unterſcheiden, die den Hauptcharakter der zu ihnen gehoͤrigen dichteriſchen Produkte unver¬ kennlich an ſich tragen, Goethe's Jugend und Goethe's Alter, die Jugend und das Alter ſeiner Zeitgenoſſen, ſeiner Zeit. In ſeiner Jugend dich¬ tete er jene unſterblichen Dramen, die wie ein Feuerguß aus ſeinem Genie, aus ſeinem HerzenWienbarg, aͤſthet. Feldz. 17258ſtroͤmten und die Nation mit der ganzen Friſche der Genialitaͤt, mit dem Zauber der Sympathie ergriffen und in Begeiſtrung ſetzten, den lyriſchen Werther, den ritterlichen Goͤtz, den Egmont, den Fauſt. Denken Sie ſich einen Augenblick lebhaft in jene Zeit zuruͤck, als Goethe's Name ſich zu¬ erſt dem Klopſtock'ſchen anreihte, als Goethe an¬ fing, der Liebling der Deutſchen zu werden und Niemand noch die Bahn berechnen konnte, welche ſein Geiſt in der Literatur beſchreiben wuͤrde. Der große Fritz hatte ein kriegeriſches Feuer in der Jugend angefacht, und waͤhrend er, nach Be¬ endigung des ſiebenjaͤhrigen Krieges, wieder ruhig ſeine preußiſchen Wachtparaden in Potsdam hielt, eroͤffnete Klopſtock die Buͤhne des deutſchen Ruhms in den Weſergebirgen, und fuͤhrte den Deutſchen eine Zeit ins Gedaͤchtniß zuruͤck, wo die furcht¬ barſte Macht der Erde an der Kraft und dem Freiheitsgefuͤhl ihrer Vorfahren zerbrochen und ge¬ ſcheitert war. Klopſtock beſang den Untergang des Varus und ſeiner Legionen, den Triumph der Germanen, den blut - und ſtaubbedeckten Herrmann mit der Affektation des Enthuſiasmus eines alten heidniſchen Barden, der eben ſein Schwert vom Blute der Schlacht gereinigt hat und nun in die Harfe greift, um zugleich ein Saͤnger und ein Held den Ruhm ſeiner Nation zu verkuͤnden. 259Daß kein Deutſcher mehr von der Varusſchlacht wußte, daß alle jene gefeierten Namen, Herr¬ mann, Thusnelda kein lebendiges Erbgut der Na¬ tion waren, ſondern aus lateiniſchen Buͤchern zur Kunde der Gelehrten gelangten, das that dem neuen Barden keinen Eintrag, Herrmann war nun ein¬ mal ſein Held, der Held ſeines Patriotismus, waͤhrend Chriſtus, als der Held ſeiner Religioſitaͤt, ihm friedlich und weltverſoͤhnend aus dem Schooße der Gottheit hervortrat, und der blos menſchlichen Kraft, dem heidniſchen Heldenthum, dem Blut¬ vergießen, Freiheitsdrange, der Vaterlandsliebe, die nicht das himmliſche Vaterland vor Augen hat, den Stab brach. Wie aber die Namen eines Herrmann und Chriſtus dem Dichter Klopſtock mit gleicher Begeiſterung von den Lippen toͤnen konnten, begreift Niemand, der nicht die ganz beſondere Art der Begeiſterung erwaͤgt, welche Klopſtock's und ſeiner Zeit Muſe war. Unſtreitig hatte ſie viel Gemachtes und Pedantiſches, aber ſelbſt der gemachten Begeiſterung liegt ein Beduͤrf¬ niß des Herzens zu Grunde, das nur nicht, aus eigner oder fremder Schuld, auf naturgemaͤßem Wege befriedigt wird. Billigerweiſe zwar haͤtte jene Zeit keine Spur von Begeiſterung verrathen duͤrfen, denn der ſiebenjaͤhrige Krieg war ein Schandfleck fuͤr die Deutſchen und je mehr ſich17 *260ein Name, der des großen Friedrichs, durch Tha¬ ten und Siege unter den Deutſchen erhoben hatte, deſto tiefer druͤckte das Gewicht dieſes Na¬ mens das deutſche Reich, das ganze alte Deutſch¬ land in den Staub der Veraͤchtlichkeit nieder. — Preußen, jenes ſlaviſche Preußen, jene unbedeu¬ tende, fuͤr ſo und ſo viel Silberlinge gekaufte Mark des deutſchen Reiches hatte ſich ſiegreich er¬ hoben uͤber den Kern des alten Deutſchlands, das Haus Brandenburg ſtellte ſich in politiſcher Be¬ deutſamkeit dem Hauſe Habsburg, das eben ſo weit außer dem Herzen Deutſchlands lag und dem es ſchon vor Alters gegluͤckt war, die Kraft des Reiches aus ſeinem Zentrum, Franken, Schwa¬ ben, Sachſen, herauszudraͤngen und den Heerd unſe¬ rer Freiheit Slavenhaͤnden anzuvertrauen, entgegen. Durch das Uebergewicht Preußens war Deutſch¬ land ganz verloren, denn dieſe zerſtuͤckten Laͤnd¬ chen, die von der Donau bis zur Eider im Kern von Deutſchland ſich hinziehen, waren ſchlecht ge¬ eignet, jenen konzentrirten Maͤchten auf der Flanke, auf dem Fluͤgel, der nach den Waͤldern und Step¬ pen der Barbaren hinzieht, das gehoͤrige Gleich¬ gewicht zu halten. Und das Alles hatten die Deutſchen ſelbſt verſchuldet, zu dieſem Allen hat¬ ten ſie freiwillig ihre Arme, ihre Waffen, ihre Talente, ja ihre Begeiſterung hergegeben, und nur261 durch ihre eigene Mitwirkung hatte das ſlaviſche Element das freie deutſche allmaͤhlig in Feſſeln gelegt, was ſonſt, nach der Natur beider Voͤlker¬ ſchaften, ein Ding der Unmoͤglichkeit war. Jener Rudolph von Habsburg, jener Burggraf von Nuͤrn¬ berg, jener Friedrich der Große waren vom deut¬ ſchen Blut, alle Siege und Vortheile, die ſie uͤber Deutſchland gewannen, wurden errungen und behauptet durch deutſche Maͤnner, die ſich ihrem Dienſt widmeten und denen gewiß nicht die ganze Gefahr vor Augen ſchwebte, die ihr Vaterland bedrohte. Dieſelbe Blindheit zeigte die ganze Na¬ tion zur Zeit des ſiebenjaͤhrigen Krieges, ſie be¬ wunderte Friedrichs Genie und in der Bewunde¬ rung ſeiner Perſon, ſeines Gluͤcks, dachte ſie nicht daran, daß ſie ſelbſt eine große moraliſche Perſon ausmache, gegen welche die Perſoͤnlichkeit eines Fuͤrſten, eines einzelnen Mannes verbleichen und verſchwinden muͤſſe, ſie trug in ihrem Eifer ihm die Truͤmmer des kaiſerlichen Zepters und des Reichsapfels entgegen, ſie ließ ſich ſchlagen, ver¬ ſpotten und jubelte uͤber die Schlacht von Ro߬ bach, wo der groͤßte Theil des Heeres nicht aus Franzoſen, ſondern aus deutſchen Reichstruppen beſtand. Sancta simplicitas und doch — ich be¬ greife dieſe Deutſche und will nicht verſchwoͤren, daß Jeder von uns zu der Zeit ein Preußen¬262 gaͤnger, ein Enthuſiaſt fuͤr Friedrichs Siege und Eroberungen geweſen, ſo gut, wie Vater Gleim und der Fruͤhlingsſaͤnger Kleiſt. Ich weiß nicht, wer es geſagt hat, aber es iſt wahr, es liegt eine Ader in der menſchlichen Natur, die muß bewun¬ dern und anbeten. Ich glaube, der Deutſche hat am meiſten von dieſer Art, es iſt ihm von jeher ein Beduͤrfniß des Herzens geweſen, große, ent¬ ſchiedene, machtvolle, Reſignation, Unterwuͤrfig¬ keit gebietende Perſoͤnlichkeiten lebhaft zu verehren, kindlich-fromm unter die Heiligen ſeines Gemuͤths aufzunehmen. Wer wollte dieſen Zug verdammen, gehoͤrt er doch mit zu den ſchoͤnen, leider nur zu ſehr geſchwaͤchten und entſtellten Zuͤgen unſeres Nationalcharakters, wie die Geſchichte uns denſel¬ ben vor Augen fuͤhrt. Das Thier bewundert den Menſchen nicht, aber der Menſch den Engel, den Gott. In der Bewunderung eines uͤber uns er¬ habenen Weſens liegt etwas vom Stoff jener Er¬ habenheit, die wir bewundern, etwas Heroiſches, was der Knechtsſinn nicht ahnt, der nur mit huͤn¬ diſcher Natur die Macht anwedelt, deren Ueberle¬ genheit ihm Pruͤgel und Eſſen verſchafft. Wir entaͤußern uns, nicht aus Furcht oder Intereſſe, ſondern freiwillig unſeres kleinen Ichs, um be¬ ſcheidentlich ein groͤßeres Ich in uns walten zu laſſen, wir fuͤhlen die Naͤhe eines goͤttlichen Daͤ¬263 mons, und eben darum, weil wir im Stande ſind, ſie zu fuͤhlen, entſagen wir dem nichtigen Kampf der Eitelkeit und verſchreiben und ergeben uns ihm, um unſere Bruſt mit einem Gefuͤhl anzuſchwellen, das uns gluͤcklicher, gewiſſer und ſtaͤrker macht, als das Gefuͤhl unſerer eignen Exi¬ ſtenz, entbloͤßt und nackt von jener Magie des fremden Willens. Dies iſt wahr und gereicht uns zur Ehre, allein wir muͤſſen eingeſtehen, daß die Rezeptivitaͤt fuͤr die Groͤße einer Perſoͤnlichkeit in uns ſich theils nicht immer nach der geiſtigen Groͤße der Perſon, ſondern oft nur nach ihrer aͤußern, angebornen richte, theils und uͤberhaupt abhaͤngig ſei von dem mehr oder minder ent¬ ſchiedenen und thaͤtigen Zuſtand unſerer Seele, ſo daß wir, wenn wir ſelbſt am Entſchloſ¬ ſenſten und Thaͤtigſten ſind, uns in dem Maaß am Wenigſten aufgelegt fuͤhlen, in einem blos paſſiven und bewundernden Zuſtand uͤberzugehen. Dieſer Zuſtand der Entſchloſſenheit und Thaͤtigkeit der Kraft des Selbſtbewußtſeins mangelte aber durchaus dem Deutſchland, das Klopſtock's Alter und Goethe's Jugend ſah. Deutſchland war ſo lange veroͤdet geweſen an Helden und Dichtern, da erſchien Friedrich und Klopſtock und die Deut¬ ſchen gaben ſich unbedingt dem Zuge ihres Her¬ zens hin, fuͤllten ihre Phantaſie mit den Bildern264 der Groͤße, des Krieges, mit dem Heros des Ta¬ ges und der Vorzeit, mit Friedrich und Herrmann und mitten im Kriegsgetuͤmmel, im wirklichen oder nachhallenden Donner der preußiſchen Kanonen, und dem nur eingebildeten Schwirren der Cherus¬ ker-Lanzen und dem Gebraus der Bardenlieder horchte eine ausgewaͤhltere, ſtillere Schaar auf die Toͤne der Zionsharfe, welche „ der ſuͤndigen Menſchen Erloͤſung “ſang. Dies war die Zeit, in welcher Goethe auftrat, die Zeit, in welche die erſte Klaſſe ſeiner Produkte fiel, die durch einen charakteriſtiſchen Grundzug von der zweiten Haͤlfte abgeſondert iſt.
Goethe beſang weder den ſiebenjaͤhrigen Krieg noch ſtimmte er in die Barditen Klopſtock's ein. Er war zu poetiſch geſtimmt, um beiderlei Suͤjets fuͤr poetiſch zu halten; aber auch noch zu voll und jugendlich ſtuͤrmiſch, um ſich, wie in ſpaͤte¬ rer Zeit, jedes Suͤjet fuͤr die Ausuͤbung der Dichtkunſt gefallen zu laſſen und die Poeſie nur als die Kunſt, etwas Beliebigem eine poetiſche Form zu geben, in Betrachtung zu ziehen. An¬ geregt durch die Groͤße des Mittelalters, ſeine Thaten und Bauwerke, dramatiſirte er die Ge¬ ſchichte eines deutſchen Helden, deſſen Lebensge¬ ſchichte in den voͤlligen Abſchluß des Mittelalters faͤllt, und der gleichſam zu noch guter Letzt alles265 Rohe und Ehrliche der deutſchen Ritterlichkeit in ſeiner Perſon vereinigte. Dieſen und ſein Zeit¬ alter ſtellte er den Deutſchen zur Bewunderung auf und man weiß, wie ſehr es ihm gelungen iſt, die deutſche Jugend in die kurze Phantaſie zu verſetzen, als truͤge ſie noch, wie damals, eiſerne Beinſchienen und fuͤhlte ſich, wie Goͤtz, berufen, die Welt aus geſchloſſenem Viſir zu betrachten. Goethe ließ die Phantaſie der Deutſchen nicht raſten, er wußte ihnen beſtaͤndig neuen Stoff aus dem Reich ſeiner Ideen und Gefuͤhle darzubieten. Alles dies war revolutionairer Natur, ſtellte ſich in Kontraſt mit der politiſchen und moraliſchen Ordnung, wenn auch unabſichtlich. Eigentlich kann man daſſelbe behaupten von Friedrichs Ruhm und Klopſtock's Bardenliedern, ſie konnten nur durch Nichtachtung und Ueberdruß des damaligen Deutſchlands entſtehen und bluͤhen, Friedrich und Klopſtock konnten Deutſchland nie entzuͤcken, haͤtte es nicht thatenloſe Langeweile gefuͤhlt. Goethe trug die unzufriedene Begeiſterung in alle Gebiete des Geiſtigen und Sittlichen uͤber. Fauſt iſt ihr Kulminationspunkt und als ſolchen muß man ihn auffaſſen, wenn man die Entſtehung dieſes Ge¬ dichts zu jener Zeit begreifen will, das, wie es herauskam, ſo wenig von der tiefen und ewigen Bedeutung deſſelben ahnen ließ und erſt nach und17 **266nach jenen europaͤiſchen Ruf erlangt hat, in wel¬ chem es gegenwaͤrtig ſteht. Dieſer Fauſt iſt der Wendepunkt des Goetheſchen Genies ‚ von dieſer hoͤchſten Spitze der Begeiſterung und Herzensfuͤlle ſtieg es ploͤtzlich wieder herunter ‚ und begann die zweite Epoche ſeines Ruhms, die der ruhigen Plaſtik ‚ der beſchraͤnkten, gegen Stoff gleichguͤltig ſich verhaltenden Kunſtdarſtellung ‚ welche das Tiefſte, Aufregendſte ‚ Leidenſchaftlichſte ſorgfaͤltig vermeidet, ſich mit der Gegenwart verſoͤhnt und auf deren Niveau die Geſtalten der Poeſie auf¬ traͤgt. Doch bezeichnen und verfolgen wir dieſe Richtung nicht weiter, denn wir haben noch Ge¬ legenheit ‚ auf ſie zuruͤckzukommen. Zunaͤchſt iſt es uns um die geſchichtliche Stelle ‚ welche dem Fauſt zukommt ‚ zu thun geweſen und da wir dieſe ermittelt haben, ſo fragt es ſich ‚ nach jener uͤber¬ geſchichtlichen Bedeutung ‚ die Jedermann gewohnt iſt ‚ darin zu ſuchen. Ich habe bereits erklaͤrt ‚ daß ſich dieſe nicht im Zuſammenhang des Goe¬ theſchen Lebens und aus der Zeit entwickeln laͤßt; Fauſt iſt ein Werk ‚ das weit uͤber ſeiner Zeit ‚ ja ſelbſt uͤber dem ſteht ‚ deſſen Feder wir es ver¬ danken. Fauſt war einmal ein Moment im Goe¬ theſchen Geiſte ‚ Goethe war einmal Fauſt ‚ naͤm¬ lich in den großen heiligen Jugendſtunden ‚ als der Geiſt dieſer Dichtung uͤber ihn kam. Aber Goe¬267 the's Geiſt verkoͤrperte ſich auch in einen Wilhelm Meiſter, in einen Schenken Hafis und Gott weiß in welcherlei bunte Geſtalten, die mit Fauſt's Tiefe nichts zu ſchaffen haben. Als Goethe den Fauſt empfunden und geſchrieben hatte, ſchien es, als wuͤßte er nichts mehr von ihm, als kenne er ihn nicht mehr, als ſuche er ihn zu verlaͤugnen und Alles auf jugendliche Ueberſpannung zu ſchie¬ ben. Goethe's Fortſetzung des Fauſt paßt auf ſeinen fruͤhern Fauſt, wie die Fauſt auf's Auge, und muß Einen, wenn man dieſen zweiten Theil durchblaͤttert, jene unendliche Wehmuth ergreifen, die das ganz veraͤnderte und entſtellte Bild einer Geliebten erregt, wenn man ſie nach jahrelangem Zwiſchenraum wieder ſieht. Fauſt iſt der Hiob und das hohe Lied der Deutſchen, er iſt, wie ich dieſe Worte Heine's ſchon einmal angefuͤhrt, das deutſche Volk ſelbſt, das geplagt und durchgemar¬ tert vom Wiſſen, Glauben und Entſagung an die Rechte des Fleiſches appellirt, aus einem Schatten der Geſchichte ein lebendiges Weſen, aus einem Traͤumer ein wachender, genießender Menſch wer¬ den will. Fauſt, der ſeine Studirſtube und ſeine Studien hiſtoriſcher Pergamente verlaͤßt, um ſich der Welt zu naͤhern und der Welt Luſt und Schmerzen in ſeiner Bruſt zu haͤufen, er iſt der Deutſche, der den Staub des Mittelalters von268 ſeinen Fuͤßen ſchuͤttelt, um ſich im Thau der neuen Zeit zu baden. Fauſt iſt das nach Befreiung rin¬ gende Deutſchland, ja, das befreite, das ſich des Siegs ſeiner Freiheit im Voraus bewußte Deutſch¬ land, Fauſt iſt der erſte Verkuͤnder dieſes Siegs und zugleich die Buͤrgſchaft dafuͤr.
269Goethe iſt der erſte Dramatiker der neuern Zeit, Byron der erſte Lyriker. Die Erſcheinungen die¬ ſer beiden Dichter, zu verſchiedenen Zeiten, in verſchiedenen Laͤndern ſind die bedeutſamſten, welche es fuͤr die aͤſthetiſche Anſchauungsweiſe des neuen Europa gibt. So himmelweit entfernt der auf¬ gehende Stern Byron's vom untergehenden Goe¬ the's am Horizonte ſchimmert, ſo nah lag einſt die Region ihres beiderſeitigen Aufgangs. Auch Goethe erhob ſich bei ſeinem erſten jugendlichen Aufbrauſen zum Streit gegen die beſtehende buͤr¬ gerliche Geſellſchaft, in lyriſcher Wuth ſchuͤttelte er die Ketten der Konvenienz von ſich ab und warf ſich in die Arme der Natur und der Frei¬ heit. Seine erſten Dramen haben einen durch¬270 aus lyriſchen Charakter, wie ſeine ſpaͤtern den epi¬ ſchen. Wie es nun der Lyrik eigenthuͤmlich, daß ſie des Dichters innerſtes Weſen herauskehrt, und die ewigen Laute der Natur vernehmen laͤßt, die ſich in ihrer Unterdruͤckung durch Geſang und Toͤne Luft verſchafft, ſo zuͤckt auch durch Goethe's jugendliche Dramen und Romane der lyriſch revo¬ lutionaire Schrei der Natur hindurch und bildet die ſchrillendſten Mißlaute mit den Satzungen einer abgelebten Geſchichte, mit der Schwaͤche und Un¬ natur ſeines Zeitalters. Von Pietaͤt keine Spur, unbarmherzig und ſchonungslos laͤßt er ſeinem Spott den Zuͤgel ſchießen, keck und ritterlich ge¬ ſinnt ſtellt er in Goͤtz eine derbe Perſoͤnlichkeit dem aufgeloͤſten charakterloſen Weſen ſeiner Zeit gegenuͤber, in Fauſt einen genialen Denker, dem Nachbetertroß der Wagner und aller der tauſend und aber tauſend Gewohnheitsmenſchen, die vor einem ſelbſtſtaͤndigen Gedanken, vor einer friſchen und freien That erſchrecken und ſich lieber fuͤr ihr ganzes Leben, wie Ungeziefer auf dem Kada¬ ver der Vergangenheit ernaͤhren, als den Muth faſſen, die Geburtswehen einer neuen Zeit aus¬ zuhalten und dieſe mit ihrem Mark und Blut groß zu ſaͤugen. Goethe's Spott traf nicht allein die Satzungen der Moral, Theologie, Metaphyſik, der aͤußern Konvenienz, ſondern auch die Satzun¬271 gen der Politik, des todten Mechanismus des Staats, den Unſinn der Geſetze, wie denn jene Worte ſich wie Brandmarken an den bei aller Fuͤlle von Geſetzen geſetzloſen Zuſtand Deutſchlands anheften, die Mephiſtopheles im Fauſt zum Schuͤ¬ ler ſpricht:
Allein, wie Sie wiſſen, war es Goethe nicht vor¬ behalten, in der Politik dieſen lyriſch-ſcharfen Charakter durchzufuͤhren. Es lag vielleicht in ſei¬ ner Natur, die mehr zum Ariſtokratiſchen und Vornehmen, als zum Demokratiſchen ſich hin¬ neigte, vielleicht in dem aͤußern Lauf ſeines Le¬ bens, in der guͤnſtigen Aufnahme, die er am Hofe zu Weimar fand, in der Freundſchaft, die er mit dem Herzog und der herzoglichen Familie pflegte, in einem geheimen zarten Liebesverhaͤltniß, worin er zu einer Prinzeſſin ſtand, in ſeiner ſpaͤtern Stellung als Miniſter, vielleicht in allem dieſem272 motivirt und zum Ueberfluß in dem politiſchen Zuſtand Deutſchlands, in der Unempfaͤnglichkeit der damaligen Deutſchen fuͤr Politik, ihrer ewigen unfruchtbaren Liſtenmacherei, ihrem thatloſen Ge¬ ſchwaͤtz und Geſchreibe, ihrer politiſchen Kanne¬ gießerei, daß Goethe ſich mit dem politiſchen und geſellſchaftlichen Zuſtande, wie er nun einmal ſeit Alters in Deutſchland beſtand, redlich verſoͤhnte, und ſich bis auf ſeinen Tod aller Revolutionsge¬ danken, aller Beſſerung des Staats, deren Im¬ puls von unten aufkam, entſchieden abgeneigt er¬ klaͤrte. Er verlangte, ſeltſam genug, von der Ju¬ gend, von der neuen Generation, welche den Un¬ tergang der aͤlteſten europaͤiſchen Monarchie und die Siege der franzoͤſiſchen Republik als ein wirk¬ lich Erlebtes ſchon hinter ſich ſah, Pietaͤt gegen Geſetz, Staat und Fuͤrſten, er, der in ſeiner Ju¬ gend die Zeiten des Fauſtrechts gluͤcklich geprieſen hatte gegen die Zeit des geſetzlich wuchernden Unrechts, in der er geboren und erzogen ward. In ſeiner letzten Zeit ſchrieb er ein Journal: Kunſt und Alterthum betitelt — „ ob er wirklich glaubte, “fragt Heine, „ daß Kunſt und Alterthum im Stande waren, Natur und Jugend zuruͤckzu¬ draͤngen? “
Allein, meine Herren, welches auch der Grund war, warum Goethe ſich von den aͤußern Bewe¬273 gungen der Zeit zuruͤckzog und das Verdammungs¬ urtheil uͤber ſie ausſprach, es waͤre eine wahre und begruͤndete Impietaͤt, ſeiner Aſche das Ver¬ dienſt zu entziehen, die ſterblichen Atome des groͤ߬ ten Deutſchen, des geiſtigen Befreiers der Deutſchen zu befaſſen. Es iſt wahr, Goethe war ein Ariſtokrat in der Politik, ein Verehrer des Hof - und Fuͤrſtenweſens, ein Panegyriſt der an¬ geſtammten Macht, ein Protektor der leidlichen Mißbraͤuche, bei denen es ſich immer noch ziem¬ lich behaglich leben laͤßt, ein Freund des Manier¬ lichen und aͤußerlich Diſtinguirten, ein ſtrenger Vertheidiger des aͤußern Unterſchiedes der Staͤnde, des Herkoͤmmlichen, Anſtandsvollen; aber in die¬ ſer Charakteriſtik Goethe's liegt ſo wenig Charak¬ teriſtiſches fuͤr ſein Genie, daß es auf jeden Kam¬ merherrn und Hofmarſchall im deutſchen Reiche paßt. Derſelbe politiſche Ariſtokrat, dieſer Mann, der das große geſchichtliche Element der Voͤlker von einem ſo kleinen hoͤfiſchen Standpunkte be¬ trachtete, uͤberſah das religioͤſe, ſittliche und wiſ¬ ſenſchaftliche Leben mit den Blicken eines Adlers, und vom Standpunkte einer Zeit, den Gott weiß, welche Generation unſerer Urenkel erſt muͤhſam erklettern wird. Goethe war der Luther ſeines Jahrhunderts, deſſen Bibel die Natur und deſſenWienbarg, aͤſthet. Feldz. 18274Schuͤler und Anhaͤnger die Jahrhunderte ſelbſt ſind, die nach ihm kommen.
Spreche ich alſo das letzte Wort uͤber ihn aus, indem ich mir ſeinen doppelten Charakter, als Servilen und Liberalen, als Großen und als Klei¬ nen, als Genie und als Weltmann, durch eine Grundrichtung ſeines Geiſtes in letzter Inſtanz zu erklaͤren ſuche. Goethe trug als Juͤngling die ganze neue Zeit, die kommende Weltanſchauung in ſeiner Bruſt und was ihn damals im tiefſten Grund bewegte und womit er die Welt und ſeine Zeitgenoſſen uͤberraſchte, das wird fruͤher oder ſpaͤ¬ ter die Welt bewegen und Deutſchland politiſch und moraliſch umſchaffen. Allein Goethe gehoͤrt zu denjenigen Charakteren, welchen nicht die un¬ mittelbare Geſtaltung der Außenwelt, ſondern zunaͤchſt die Bildung ihrer eigenen Per¬ ſoͤnlichkeit von der Natur zum Grundgeſetz ge¬ macht zu ſein ſcheint; daher er ſich auch bald aus der Gewitterregion, welche aus dem Innerſten und Tiefſten der Leidenſchaft Blitze in die Welt ſchleu¬ dert und deren Staͤrke einzig und allein den Lu¬ ther, den Demagogen macht, zuruͤckzog in die klarere Region eines mehr ruhigen, um die Welt ſcheinbar unbekuͤmmerten Selbſtbewußtſeins, das, nach Außen durch eine freie und wuͤrdige Stellung befriedigt, nach Innen im ſteten Bildungsprozeß275 zu immer groͤßerer Kraft und Klarheit beſchaͤftigt wurde. Eine ſolche Perſoͤnlichkeit iſt ganz durch¬ aus auf ſich baſirt; daß Andere es eben ſo ma¬ chen, ſich eben ſo unabhaͤngig in der Welt hin¬ ſtellen, mag und kann ihr nur recht ſein, aber ſie ſtreckt die Hand nicht aus zu dieſem Zweck, ſie ſucht nicht durch Umwaͤlzungen die ſittlichen und politiſchen Fundamente fremder Perſoͤnlichkeiten zu baſiren, ſie ſchließt ſich egoiſtiſch in ihrem Kreiſe ab und begruͤßt Jeden, der dieſen durchbrechen will, unwillig mit elektriſchen Schlaͤgen. So denke und erklaͤre ich mir den ganzen Goethe und es ſagt mir ein Etwas, daß ich dieſes hohe Ziel nicht zu weit verfehlt habe.
Die Lyrik der neuen Zeit iſt das poetiſche Ausſtroͤmen des Revolutionairen; revolutionair war die Lyrik Goethe's, als er jung und feurig war, revolutionair war die Lyrik des großen Britten, der in Goethe's, des Juͤnglings, Fußſtapfen trat und jene Leier mit neuen Saiten bezog, welche Goethe bei Seite gelegt hatte. Byron ſtarb in Griechenland und ſeine letzte Ode war der Frei¬ heit der Griechen gewidmet, zu deren Miterkaͤm¬ pfung er Jahre lang Geld, Talent, Ruhe, Ver¬ gnuͤgen freudig beigeſteuert hatte. Revolutionair iſt die Lyrik der neuen Zeit, das behaupte ich, aber ich bitte, mich nicht dahin mißzuverſtehen,18 *276als ob ich jeder neuen und neueſten Lyrik, welche dieſen Charakter nicht traͤgt, den Stab brechen wollte; ich erkenne ſie nur nicht fuͤr voll an, ich ſpreche ihr nur das Herz und den Geiſt der Zeit ab, ohne dem Dichter Herz und Geiſt a priori perſoͤnlich abzuſprechen. Viel Zutrauen habe ich freilich nicht zu dem poetiſchen Verdienſt eines neuen Gedichts, oder einer neuen Gedichtſamm¬ lung, von der man mir im Voraus ſagt, es ſeien nichts als poetiſche Buͤſche, Felſen, Seufzer, Rit¬ ter, Tournire, Feſtgeſaͤnge, Reiſen, Spatziergaͤnge und dergleichen zenſurfreie und unſchuldige Saͤchel¬ chen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf die Stimmung der Zeit haͤtten — Gott ſei es geklagt, jede Leipziger Meſſe bringt uns einige Scheffel von dieſem Klingklang - und Singſang¬ ſachen deutſcher Muſenjuͤnglinge, die es nicht ver¬ antworten zu koͤnnen glauben, ihren Namen der Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch liebliche Gedichte der ſuͤddeutſchen Saͤngerſchule, die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, ſo zeit¬ los und einfach ſie auch ſind, mich in Momenten eben ſo ſehr erfreuen, als z. B. auch die liebens¬ wuͤrdige Perſoͤnlichkeit eines Suͤddeutſchen, der unter Bergen und Reben, in der Naͤhe von alten Kloſter - und Burgruinen aufgewachſen, mir hei¬ ter und unbefangen ſeine gluͤckliche Beſchraͤnktheit277 entgegentraͤgt. So kann ich auch im Gegentheil Gedichte, die mit rein politiſcher Tendenz geſchrie¬ ben ſind, Zeitereigniſſe im Prisma der Poeſie be¬ trachten und es darauf anlegen, durch die Dar¬ ſtellung derſelben auf den politiſchen Sinn der Le¬ ſer zu wirken, welche mir dennoch unter dem Ge¬ ſichtspunkt der Poeſie und der Lyrik, durchaus nicht wahr und bedeutend ſcheinen.
Ich verſtehe unter dem Ausdruck: die moderne Lyrik iſt revolutionair das: jeder große Dichter, der in unſerer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerruͤttung ausſprechen, worin die Zeit, worin ſeine eigene Bruſt ſich findet. Der Dichter muͤßte blind ſein, oder kalt, oder gefuͤhl¬ los, oder heuchleriſch, oder kein großer Dichter, der mit ſeiner Leier uͤber den ungeheueren Riß hinweghuͤpft, welcher die Gegenwart von der Ver¬ gangenheit trennt, er muͤßte nicht der Dolmetſcher der Natur und Menſchheit ſein, wenn er nicht das Ringen und den Schmerz dieſer Menſchheit verſtaͤnde, fuͤhlte und in den Wogen der Poeſie dahin brauſen ließe. Byron war ein gro¬ ßer Dichter und daher war ſeine Lyrik, die er nur leicht in ein epiſches Kleid einhuͤllte, durch und durch revolutionair, was um ſo gro߬ artiger und erſchuͤtternder bei ihm hervortritt, als er im Schooß des Gluͤcks geboren, Lord278 und kuͤnftiger Pair des Reichs, fruͤh bewundert und beneidet war. Ich will kurz ſein mit ſeiner Geſchichte, um Goethe, der den Gang ſeines Le¬ bens und Charakters geſchildert hat, fuͤr mich re¬ den zu laſſen. Es iſt wunderbar, wie daſſelbe Land, Griechenland, des alten Meiſters Leiden¬ ſchaft beſchwichtigte und ihn zu Kunſt und Alter¬ thum fuͤhrte, was den Juͤnger erſt in dieſe Leiden¬ ſchaft hineinriß, oder vielmehr die Leidenſchaft, die in ihm ſchlummerte, ihn bewußt werden ließ. Erſt als Byron kaum in den Zwanzigern die Kreidekuͤſte Englands verlaſſen und in den griechi¬ ſchen Buchten und Inſeln ſich umhertrieb, kam jener Geiſt der Poeſie uͤber ihn und ließ ihn in einer Zunge reden, die er fruͤher, unter den Lords und Damen der engliſchen Geſellſchaft kaum verſtan¬ den hatte. Haß gegen Ariſtokratie, Tyrannei, Ka¬ ſtengeiſt, Unnatur der Sitte, Pfaffenthum, dage¬ gen Liebe zur Freiheit, ungebundenes Streben, griechiſch-heitre Anſicht des Lebens und der Liebe, verbunden mit den Gefuͤhlen der Ehre und Sitt¬ lichkeit, ſelbſt mit dem Bewußtſein alten Adels und vormaligen feudalen Geſchlechtsglanzes bilde¬ ten die Grundelemente ſeiner Poeſie, worin Goe¬ the mit tiefem Blick ein Kind des Griechenthums und des Mittelalters geſehen hat. Byron war der einzige revolutionaire Dichter, den Goethe an¬279 erkannte, ja er liebte ihn und trug eine gewiſſe vaͤterliche Beſorgniß um ihn, die Byron von der Zeit an mit kindlicher Ehrfurcht erwiderte; wie dies intereſſante Verhaͤltniß aus Thom. Moore's Leben Byron's zu erſehen iſt. Im zweiten Theil des Fauſt hat Goethe Byron ein Denkmal ge¬ ſetzt, mir wenigſtens unterliegt es keinem Zweifel, daß Byron und nur Byron jenes unruhige, wag¬ halſige, himmelſtuͤrmende Kind der Liebe iſt, wel¬ ches die ſchoͤnſte Epiſode in dieſem zweiten Theile herbeiruft; wie ich mich denn nicht enthalten kann, Ihnen Folgendes daraus mitzutheilen, was dazu dient, ſowohl Goethe, als Byron zu charakteriſiren.
280Wie wir als allgemeines Geſetz aufgeſtellt haben, daß die jedesmalige Literatur einer Zeitperiode den jedesmaligen geſellſchaftlichen Zuſtand derſelben aus¬ druͤcke und abpraͤge, ſo ſahen wir dies bisher im Felde der Dramatik und Lyrik, an Goethe und Byron in ſo fern beſtaͤtigt, als wir Beide zu den glaͤnzenden Herolden ihrer Zeit rechnen mu߬ ten, unbeſchadet ihres individuellen Charakters, der ſie von der großen Menge ihrer Zeitgenoſſen un¬ terſchied. Und auf dieſe Weiſe haben wir uns uͤberall die Repraͤſentation einer Zeit durch Dich¬ ter und Schriftſteller vorzuſtellen, auf die Weiſe naͤmlich, daß ſie Zeichnung und Faͤrbung von ih¬ rer Zeit entlehnen, dennoch aber in Gemaͤlden281 ſelbſtſtaͤndig und ſchoͤpferiſch zu Werke gehen und einen ihnen eigenthuͤmlichen Stil an den Tag legen. So haben wir von Byron erwaͤhnt, daß ſeine Leier von den Schwingen der neuen Zeit angeregt geweſen, mehr wie die eines andern neuen Dich¬ ters; haben aber zugleich bemerkt, daß er in ſei¬ nen Gedichten den Lord nicht vergeſſen und bei allem Feuer fuͤr die Rechte der Menſchheit und der unterdruͤckten Voͤlker, bei allem Enthuſiasmus fuͤr die Freiheit und reine Humanitaͤt des griechi¬ ſchen Alterthums ſich mit Stolz als den Enkel eines altengliſchen, feudalen Geſchlechts betrachtete und kund gab. In dieſer Verſchmelzung des Grie¬ chiſchen und Mittelaltrigen ſah Goethe mit Recht den Grundton ſeiner Poeſie, wie ſie auch jenen beſondern, ja tiefen, charakteriſtiſchen Reiz der Byronſchen Gedichte bildet, der auf des Dichters Perſoͤnlichkeit ruͤckwirkend einen ſo intereſſanten Schimmer wirft. Allein ſo wenig ſich in rein poetiſcher Beziehung Gedicht und Dichter trennen laſſen, ſo erlaubt iſt es, in allgemeiner aͤſthetiſcher den Grundton der Byronſchen Gedichte in einer hoͤhern Weltbedeutung wiederzufinden und dieſe Miſchung des Antiken und Feudalen als eine Miſchung und Vereinigung des griechiſchen und germaniſchen Geiſtes zu betrachten, welche tropfen¬ weiſe in die Adern des europaͤiſchen Staatskoͤrpers282 eindringen und ſeine Muskeln mit friſchem Blut aufſchwellen wird. Griechiſche Luft ſoll und wird die truͤben Duͤnſte, die grauſigen Geſpenſter des Feudalismus verwehen, aber unverweht laſſen jene herrlichen Bluͤthen germaniſcher Tapferkeit und Tu¬ gend, welche unſere Nation in der Heimath, wie in den durch ihr Schwert eroberten Laͤndern, in Frankreich, Spanien, England, vor allen Natio¬ nen des Erdbodens auszeichnet. Kein Geſchlechts¬ adel, keine Adelskaſte mit angebornen und forter¬ benden Unrechten ſoll forthin den freien Boden und die Freiheit aller Maͤnner beſchimpfen, aber dieſe, das ganze Volk ſoll wahrhaft und ritterlich in die Schranke treten, und jeder Einzelne, wel¬ chem Stande er auch angehoͤre, ſoll ſeine Perſon mit der Wuͤrde ſchmuͤcken und umgeben, welche in fruͤherer Zeit nur das Erbtheil des Bevorrech¬ tigten war. Man wird nicht, wie die Griechen, den Handwerker zum Sklavenſtande, nicht wie das Mittelalter, ihn zur dunkeln Folie des Ritters verdammen — es wird eine Zeit kommen, ſagt Goethe, wo Jedermann genoͤthigt und verpflichtet ſein wird, eine Kunſt, ein Gewerbe zu lernen und auszuuͤben und wo es alſo Niemand zur buͤrger¬ lichen Zuruͤckſtellung und geiſtigen Benachtheiligung gereicht, irgend ein Werk der Haͤnde zu verſte¬ hen und ſeinem Nachbarn zum Beiſpiel einen283 Tiſch zu drechſeln, von dem er ſelbſt die metalle¬ nen Verzierungen gegoſſen oder den Ueberzug ge¬ wirkt erhaͤlt. Es wird eine Zeit kommen, wo man des faulen, geiſtigen Luxus, des ewigen Wie¬ derkaͤuens ſchimmeligter theologiſcher und philoſo¬ phiſcher Streitpunkte ſatt und uͤberdruͤſſig ſein wird, wo ein Jeder, reich oder arm, groß oder klein ſich freuen und Gluͤck wuͤnſchen wird, durch kunſtreich geuͤbte Hand Unterhaltung in ein Leben zu wirken, das durch geiſtige Ueberladung vergan¬ gener Jahrtauſende erſchoͤpft und aufgerieben wor¬ den iſt. Dieſe Ausſichten, die jetzt beinahe nur als Traͤume eines Traums erſcheinen, werden ſich verwirklichen durch jenen allmaͤhligen, ſtill fortwir¬ kenden Akt der Weltgeſchichte, welcher die Ueber¬ treibungen, Einſeitigkeiten, Vorurtheile fruͤherer Jahrhunderte pulveriſirt und aus der Aſche eine neue Blume entſtehen laͤßt, welche die Farbe der Geſundheit und Jugend traͤgt.
Byron, ſo groß er unter den Dichtern der neuern Zeit daſteht, war nur der Vorlaͤufer eines Genius, der ungetruͤbt durch Vorurtheile der Ge¬ burt und Erziehung, die heranbrechende Meſſiade der Menſchheit beſingen wird.
Ob in Verſen, oder in Proſa — das iſt gleichguͤltig. Poeſie iſt Alles, was aus der inner¬ ſten Natur der Menſchheit dringt und es ſcheint284 faſt, als ob Deutſchland namentlich ſeine groͤßeren Dichter gegenwaͤrtig unter den Proſaiſten zaͤhlt. Wenigſtens wuͤrde der Schluß vom poetiſchen Ge¬ halt unſerer dramatiſchen Dichter, unſerer lyriſchen und epiſchen Dichter auf den poetiſchen Gehalt unſerer ganzen Literatur ſehr klaͤglich ausfallen; Platen, Immermann, Raupach u. ſ. w. als Re¬ praͤſentanten deutſcher Poeſie, von dieſer keinen großen Begriff zu erregen im Stande ſein. Viel eher moͤchten wir Heinrich Heine als ſolchen be¬ gruͤßen, und auch nicht ſeiner Verſe, verfehlten Dramen und liederlichen Lieder wegen, als um die Proſa, die er in den Reiſebildern zu Tage gelegt hat.
Was dieſen Dichter-Proſaiſten betrifft, ſo habe ich ſchon meine Abſicht erklaͤrt, ihn als ein Charakterbild der neuen Proſa in aͤſthetiſcher Ruͤck¬ ſicht eben ſo aufzufaſſen und darzuſtellen, wie Goethe und Byron als Charakterbilder der neueren Poeſie. Man muß Heine in dieſer Geſellſchaft, der Zeit, wie der Anſicht nach, als den entſchie¬ denſten Charakterſchriftſteller betrachten, indem er ſich, noch ſtaͤrker und ruͤckſichtsloſer als Byron, der gewoͤhnlichen Denk - und Empfindungsmaſſe der fruͤheren Schriftſtellerwelt entgegengeſetzt hat. In offener Fehde mit allen Anſichten der Zeit,285 die ſich ihm als verjaͤhrte und abgeſtandene dar¬ ſtellen, hat er alle dieſe Anſichten, und die Traͤ¬ ger derſelben, ein ungeheurer Haufe, wider ſich und dagegen nur eine Waffe, den Witz, waͤhrend Byron außer ſeinem Talent auch Reichthum und Adel bei ſeinen Anfeindungen ins Feld ſtellen konnte. Dennoch weiß er ſich mit dieſer einen Waffe hinlaͤngliches Anſehen zu verſchaffen und wenn man es auch ſelten wagt, oder wuͤrdigt, ihn oͤffentlich hoch anzuſchlagen, ſo laͤßt man ihm doch, ſelbſt feindlich geſinnt, im Stillen die Ge¬ rechtigkeit widerfahren, daß ſein Kopf in der deut¬ ſchen Literatur uͤber den Koͤpfen ſeiner Nebenbuh¬ ler hervorrage.
Schoͤpfen wir, wie wir es bei Goethe und Byron gethan, aus der Geſchichte ſeines Lebens diejenigen Andeutungen, welche uns die beſondere Art und Richtung ſeines Talents erklaͤren helfen. Er ward in Duͤſſeldorf geboren als Jude, aber von einer chriſtlichen Mutter, war zum Handel beſtimmt und handelte wirklich eine Zeitlang, ſtu¬ dirte dann in Goͤttingen, ſchrieb ſeine Reiſebilder, fuͤhrte ein fluͤchtiges Reiſeleben, war in England, Italien und ſeit der franzoͤſiſchen Juli-Revolution in Paris, wo er ſich an die franzoͤſiſchen Revolu¬ tionaire, beſonders unter den Schriftſtellern, an¬286 ſchloß und ſeine franzoͤſiſchen Zuſtaͤnde, wie zuletzt die ſkizzenhafte Ueberſicht uͤber die deutſche Litera¬ tur herausgab.
Stellen Sie ſich nun ein poetiſches Genie vor, das dem Byronſchen aͤhnlich, ja demſelben an Penetration des Verſtandes uͤberlegen, verkoͤr¬ pert wird nicht im Palaſte eines Pairs von Eng¬ land, ſondern im beſcheidenen Wohnhauſe eines rheiniſchen Juden, ein Genie, das nicht in die Schule von Eaton, ſondern in die Synagoge von Duͤſſeldorf wandert, das zum Handelsmann erzo¬ gen wird und durch Zufall oder innern Drang eine deutſche Univerſitaͤt, die Univerſitaͤt Goͤttin¬ gen beſucht und dort, umgeben von Pedanterie und Rohheit, von ſteifem Zeremoniel der Pro¬ feſſorengeſellſchaften und der Sittenloſigkeit des Studentenlebens, ſich ſeines Genies inne wird — da haben Sie den Schluͤſſel zum erſten Band der Reiſebilder, den er noch als Student in Goͤttin¬ gen niedergeſchrieben hat. Zu keiner Zeit iſt ein dichteriſches Werk erſchienen, das mehr die friſchen Spuren ſeiner Konzeption verrathen haͤtte, als dieſes. Goͤttingen und der Harz ſind einander ge¬ genuͤbergeſtellt als Proſa und Poeſie, allen Aerger und Witz der Jugend ſchuͤttelt er auch uͤber ein ſolches Gefaͤngniß des Geiſtes, eine ſolche ver¬ ſchrobene, beſtaubte Gelehrtenrepublik mit allem287 ihren Unſinn, allen ihren Abgeſchmacktheiten und Rohheiten, allen Hofraͤthen, Pedellen, Kommer¬ zen, Kollegien, Grafenbaͤnken, Duellen und Pro¬ motionen durcheinander, kurz auf dieſes traurige Bild einer nur zu traurigen norddeutſchen Univer¬ ſitaͤtsſtadt, welche wieder ein Bild des noch trau¬ rigern literariſch-geſellſchaftlichen und politiſchen Zuſtandes von Deutſchland abgibt, dagegen wirft er alle Liebe und Poeſie ſeines Herzens auf die Thaͤler, Berge und Fluͤſſe des Harzes, die er mit unnachahmlicher Hand perſonifizirt und dem Leſer als fluͤchtig verkoͤrperte Geiſter der ewigen Natur vor Augen fuͤhrt. Allein dies Herz war nie, oder war nicht mehr rein und unſchuldig, war nie, oder war nicht mehr naiv und unbewußt begei¬ ſtert, und daher, ſo phantaſiereich die Naturſchil¬ derungen ſind, ſtehen ſie doch hinter den Sitten¬ ſchilderungen des Goͤttinger Lebens zuruͤck. Zur ſchaͤrfſten, ſchonungsloſeſten Satyre, die mit jedem Wort den rechten faulen Fleck zu treffen weiß, war Heine vom Schickſal gewiſſermaßen deſtinirt, das ihn vom Handelsjuden zum Goͤttinger Stu¬ denten und zum deutſchen Schriftſteller beſtimmt hatte. Kein Franzoſe und uͤberhaupt kein Aus¬ laͤnder kann die Narrheiten, Schwaͤchen, den Ah¬ nenſtolz, die Pedanterie der Deutſchen nackter in aller ihrer Bloͤße wahrnehmen und beſpoͤtteln,288 als ein in Deutſchland geborner Jude, der dem Herzen und der Geſchichte des Vaterlandes eben ſo fremd, noch einen Stachel zur Satyre mitnimmt, der dem Auslaͤnder fehlt, ich meine den Stachel der Verachtung, worin ſeine Glaubensgenoſſen in Deutſchland bisher ſtanden, das verwundete Ge¬ fuͤhl des durch Jahrhunderte gemißhandelten Vol¬ kes, das bis auf die neueſte Zeit zum Schweigen verurtheilt war, indem es zu feige und zu ſchwach, ſich fruͤher zu aͤußern, ehe der Witz in Europa ſich vor Scheiterhaufen und Armenſuͤnderhemden ſicher wußte.
Aber Heine beſaß nicht allein dieſen Vortheil des Witzes, daß er als geborner Jude, gleichſam als Auslaͤnder und Feind auftrat und zugleich die deutſchen Narrheiten von Jugend auf an der Quelle ſtudiren konnte, er hatte auch von ſeiner deutſchen Mutter diejenigen Eigenſchaften geerbt, welche den Witz erſt glaͤnzend machen, indem ſie ihm zur Folie dienen, naͤmlich die Gabe der Phantaſie, einen dunkeln Anflug von Gemuͤth, die Ahnung oder das Verſtehen des poetiſch Wirk¬ ſamen, die Behandlung des Geheimnißvollen, was im poetiſchen Grunde unſerer Nation ruht und leider nur zu ſehr mit Alltaͤglichem und Gemeinem uͤberſchuͤttet iſt. Daher zeigte ſich Heine ſchon in ſeinem erſten Werk nicht blos als witzigen Kopf,289 als Voltaire, Swift, ſondern als Humoriſten, als einen Byron-Voltaire, der, wie er ſich ſelbſt aus¬ druͤckt, ſein Schlachtopfer erſt mit Blumen kraͤnzt, ehe er ihm den letzten toͤdtlichen Streich verſetzt. Nachdem er ſich an Goͤttingen die Sporen ver¬ dient hatte, eroͤffnete er ſeiner poetiſchen Satyre im zweiten und dritten Theil der Reiſebilder ein wei¬ teres Feld; die neueſte Geſchichte, Napoleon, Frankreich und die Revolution, Deutſchland, Ita¬ lien lieferten ihm Stoff zu einem poetiſchen Hu¬ mor, der, mit gutem Bewußtſein, ſeine eigene Perſon in die Mitte der Darſtellung zu bringen wußte, ohne ſich eben dabei den tugendhafteſten Anſtrich zu geben. Endlich ſcheint er fuͤr ſein Le¬ ben das rechte Zentrum gefunden zu haben, denn die Hauptſtadt von Frankreich, wo er ſich jetzt aufhaͤlt, entſpricht mit ihren Bewegungen, Um¬ trieben, glaͤnzenden Geſellſchaften ganz dem Cha¬ rakters eines Schriftſtellers, der dem witzigſten Franzoſen leicht die Spitze bietet, und außerdem alles das vor ihm voraus hat, was ich vorher unſerer Nation vindizirt habe. Von den Franzo¬ ſen bewundert, hat er in ſeiner letzten Schrift dieſe uͤber neue deutſche Literatur belehren wollen, was er, wenn auch einſeitig und zum Nachtheil Deutſchlands, durch die kuͤhnſten und geiſtreichſten Zuͤge unſerer deutſchen Koryphaͤen ausgefuͤhrt hat.
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 19290Heine's Einfluß auf die deutſche Jugend iſt unberechenbar, und dennoch wuͤrde er noch groͤßer ſein, wenn Heine von Grund aus Deutſch und vom ganzen Herzen, wie Jean Paul, ein Dich¬ ter und Humoriſt waͤre. Allein ſo wie er iſt, muͤßte er vielleicht ſein, um Aufſehen zu erregen und Wirkung zu thun. Inwiefern ſein Talent die Aufmerkſamkeit der deutſchen Proſaiſten ver¬ dient, werde ich in der naͤchſten Vorleſung be¬ ruͤhren.
291Heinrich Heine verdient in doppelter Hinſicht die Aufmerkſamkeit der deutſchen Proſaiſten, ſowohl wegen der Tugenden, als der Fehler ſeines Stils, die eben ſo viel Lichter und Schatten ſeines Ge¬ nius ſind. Im Allgemeinen verdient er aber durchaus die Auszeichnung, die wir ihm vor an¬ dern großen Proſaiſten zu Theil werden laſſen, als Charakterbild der neuen Proſa zu gelten; we¬ der Goethe, noch Jean Paul, noch irgend ein anderer von den ausgezeichneten Geiſtern der juͤngſt vergangenen aͤſthetiſchen Epoche iſt geeignet, den Geiſt der Zeit und der neueſten Bewegungen aus der Abſpiegelung ihrer Proſawerke erkennen zu laſ¬ ſen. Es liegt eine Kluft zwiſchen uns und jenen Werken, die dem gewoͤhnlichen Auge unſichtbar19 *292ſein mag, die aber dem ſchaͤrferen und geuͤbteren Blick in ihrer ganzen Breite und Tiefe nicht ent¬ geht. Dies auszufuͤhren wird meine heutige Auf¬ gabe ſein.
Es iſt ſchwer, mit einigen Worten dieſen Unterſchied anzugeben; derſelbe liegt nicht allein in der Natur der ausgeſprochenen Anſichten, na¬ mentlich in der groͤßeren Freiheit der politiſchen, ſondern im verborgenen Raͤderwerk des Geiſtes, im Schwung, in der Konzentration der Gedanken nach einer gewiſſen Richtung, in der Wahl des Ausdrucks, im Bau der Periode, ſelbſt in ſchein¬ baren Kleinigkeiten, wie Abſaͤtze, Punkte und Kommata ſind. Dennoch bringt es unſere Auf¬ gabe mit ſich, wenigſtens den Verſuch zu machen, uns uͤber das Charakteriſtiſche des Sonſt und Jetzt in der Proſa ſo gut, als es geſchehen kann, aufs Reine zu bringen.
Gewiß, meine Herren, Sie werden ſich kei¬ nen groͤßeren Unterſchied in der Schreibart denken koͤnnen, als zwiſchen der Goethiſchen und der von Jean Paul, obgleich man doch Beide als Zeitgenoſſen zu betrachten hat; eben ſo auffallend wird Ihnen die Heineſche Schreibart von der des edeln Boͤrne abzuſtechen ſcheinen. Dennoch wird ein der Geſchichte kundiger, geiſtreicher Mann, der nach hundert Jahren die fruͤhere und jetzige293 deutſche Literatur ſeiner Aufmerkſamkeit wuͤrdig haͤlt, ohne Weiteres Goethe mit Jean Paul, Heine mit Boͤrne verbinden und jedem Paar ſeine eigenthuͤmliche Periode anweiſen; ſo ſtark und durchſichtig ſind die Kennzeichen, die jedes Zeit¬ alter ſeinen bedeutenden Organen und Schriftſtel¬ lern anhaͤngt. Charakteriſiren wir vorlaͤufig die vier genannten Schriftſteller und ihre Schreibart durch einige der hervorſtechendſten Zuͤge, welche Jedermann bei ihrer Leſung in die Augen ſprin¬ gen. Goethe ſchreibt in ſeinen beſten Werken, wie ein Kuͤnſtler des Alterthums meißelt, jeder Mei¬ ßelſchlag von den tauſenden, die leicht und zierlich vor unſern Augen angebracht werden, bringt eine neue Schoͤnheit ans Licht, zeigt uns eine neue Ader, Muskel des Apoll, der Venus, des Herku¬ les, bis die ganze kunſtreich verkoͤrperte Idee Fleiſch und Blut zu gewinnen ſcheint und mit der zarte¬ ſten Haut umgeben vor uns ſteht. Waͤhrend nun Goethe bei allen ſeinen Produktionen die Idee der Kunſt vor Augen ſchwebte und er kein Wort, keinen Gedanken niederſchrieb, um außer der Reihe der uͤbrigen damit zu glaͤnzen, ſondern jeden Aus¬ druck dem hoͤhern Ganzen unterordnete, hatte Jean Paul, ſein Zeitgenoſſe, gar keine Ahnung von Kunſt und kuͤnſtleriſcher Darſtellung, das Herz voll unausſprechlicher tiefer Gefuͤhle, den Kopf294 ſchwanger von Witz und Phantaſie, goß er eine Fluth von Gedanken und Gefuͤhlen aufs Papier hin, ſo wie er jedesmal im Moment angeregt und aufgelegt war, ohne ſich eben, zum Behuf einer konzipirten Kunſtidee, viel um die Stelle zu be¬ kuͤmmern, wo er ſein Genie leuchten ließ. Mei¬ ſtens gibt er zu viel und erdruͤckt, im Laufe eines Satzes faͤllt ihm Hunderterlei ein, was als Pa¬ rentheſe oder zwiſchen Kommaten eingeſchloſſen wird und ſo gleichen ſeine Perioden dem Zickzack der Blitze und ſind nicht ſelten, wie dieſe, taube Schlaͤge, die wohl erſchuͤttern, aber nur momen¬ tan und keine Nachwirkung zuruͤcklaſſen. Boͤrne, an Gemuͤth ihm aͤhnlich, iſt ihm hierin ganz ent¬ gegengeſetzt, jeder Satz ein abgeſchloſſener Ge¬ danke, Schlag um Schlag eine neue Behauptung, Schritt vor Schritt ein Stuͤck Weges zuruͤckge¬ legt, Stoß um Stoß irgend eine traͤge Maſſe von Vorurtheilen und Dummheiten verdraͤngt. Abſicht und Kunſt, wie bei Goethe, ſind ſelten an ſeiner Darſtellung zu merken, er draͤngt und faͤhrt nur ſo darein und kuͤmmert ſich nicht um das, was die Leute dazu ſagen. Man ſollte mei¬ nen, daß Heine dies auch nur ſo thut, allein man wuͤrde ſich irren. Vergleichen Sie den Hei¬ neſchen Stil mit dem Boͤrneſchen, ſo werden Sie die Abſichtlichkeit der Heineſchen Darſtellung als295 etwas ihr Eigenthuͤmliches nicht verkennen. Heine bedenkt ſich, wo Boͤrne unbedenklich hinſchreibt und wo Jean Paul zwei Gedanken fuͤr einen in einander miſcht. Nicht, daß er um das, was er ſagen will, verlegen waͤre, nicht, daß ihm irgend eine Anſpielung, eine Vergleichung, eine geiſtreiche Wendung nicht zu Gebot ſtaͤnde, er bedenkt ſich, um den Ausdruck zu treffen, der das, was er ſa¬ gen will, unvergeßlich macht, das Wort zu fin¬ den, das ſeinen Gedanken auf das Eigen¬ thuͤmlichſte und Schlagendſte wiedergibt.
Haͤlt man nun dieſe Zuͤge der bewaͤhrteſten Schriftſteller mit einander zuſammen, ſo moͤchte man eher Boͤrne mit Jean Paul, Heine mit Goe¬ the in Vergleichung ſetzen, wenn man bei Beur¬ theilung eines Stiliſtikers von der Idee der Kunſt als tertium comparationis ausgeht. Heine und Goethe, Boͤrne und Jean Paul ſind ſich in der That auch in Anlagen und geiſtigem Vermoͤ¬ gen verwandt, was auch von ihnen ſelbſt, ich meine von den Juͤngeren, Heine und Boͤrne, rich¬ tig gefuͤhlt und ausgeſprochen iſt; von Letzterem in der herrlichen Rede auf Jean Pauls Tod, das ſchoͤnſte Denkmal, das den Manen des großen Dichters errichtet worden und das zugleich, ſo¬ wohl durch die Begeiſterung der Sprache, als durch dieſe ſelbſt dem Redner einige unverwelkliche296 Blaͤtter aus Jean Pauls eigenem Ehrenkranz zu¬ ſichert. Von Erſterem hier und da in ſeinen Schriften und namentlich an zwei Stellen, den¬ ſelben, die ich ihrer naiven Offenheit und Wahr¬ heit wegen anzufuͤhren mich veranlaßt fuͤhle.
In einer Kritik des beruͤhmten Menzel¬ ſchen Werkes uͤber die neuere deutſche Literatur, befindlich in den Cottaiſchen Annalen, deren Her¬ ausgeber Heine eine Zeitlang war, wirft er Men¬ zel die unanſtaͤndige Geringſchaͤtzung vor, mit wel¬ cher dieſer uͤber den Koͤnig der Schriftſteller, Goe¬ the, aburtheilt und ihm nur, ſtatt des Genies, laͤcherlicherweiſe ein Talent zur Schriftſtellerei ein¬ raͤumt, bei welcher Gelegenheit Heine ſo witzig als beilaͤufig ausruft: Menzel muß wenigſtens ein¬ geſtehen, daß Goethe mitunter das Talent hat, ein Genie zu ſein. Allein bei der Rechtfertigung Goethe's unterlaͤßt er ſelbſt nicht, dieſem einen Vorwurf daruͤber zu machen, daß er in ſeinen alten Tagen ganz und gar die Titanenflegeljahre ſeiner Jugend, den rauhen Goͤtz, den ſchwuͤlen Werther, die ſtachlichten Xenien vergeſſe, die jun¬ gen Schriftſteller von Talent nicht anerkennen wolle, und dagegen die liebe geiſtige Mittelmaͤßig¬ keit ſeiner Nachbeter und Schuͤler mit vornehmer Protektion beehre. Der Goethe kaͤme ihm vor, wie ein Raͤuberhauptmann, der ſich vom Hand¬297 werk zuruͤckgezogen und den Abend ſeines Lebens in einem kleinen Landſtaͤdtchen unter Philiſtern zu¬ bringe und vor dem zufaͤlligen Anblick eines alten kalabreſiſchen Waldgefaͤhrten unangenehm zuruͤck¬ ſchaudre — man ſieht, daß Heine ſich dieſe Rolle zutheilt. Der andern Stelle begegnet man in dem neueſten Heineſchen Werk, Geſchichte der deutſchen Literatur, wo er eine unbegrenzte Ehr¬ furcht vor Goethe's Genie ausſpricht und das et¬ was arrogante Eingeſtaͤndniß macht, nun, da Goethe todt ſei, duͤrfe er wohl bekennen, daß Alles, was er fruͤher gegen ihn hatte und aͤußerte, nur Folge ſeiner Eiferſucht geweſen.
Welches Merkmal iſt es alſo, das die Aeſthe¬ tik der neueſten Literatur, die Proſa eines Heine, Boͤrne, Menzel, Laube von fruͤherer Proſa unter¬ ſcheidet? Ich moͤchte ein Wort dafuͤr geben und ſagen, dies Merkmal iſt die Behaglichkeit, die ſichtbar aus der Goetheſchen und Jean Paulſchen Proſa ſpricht[und] die der neueſten fehlt. Jene fruͤheren Großen unſerer Literatur lebten in einer von der Welt abgeſchiedenen Sphaͤre, weich und warm gebettet in einer verzauberten idealen Welt, und ſterblichen Goͤttern aͤhnlich auf die Leiden und Freuden der wirklichen Welt hinabſchauend und ſich vom Opferduft der Gefuͤhle und Wuͤnſche des Publikums ernaͤhrend. Die neuern Schrift¬Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 20298ſteller ſind von dieſer ſichern Hoͤhe herabgeſtiegen, ſie machen einen Theil des Publikums aus, ſie ſtoßen ſich mit der Menge herum, ſie ereifern ſich, freuen ſich, lieben und zuͤrnen, wie jeder Andere, ſie ſchwimmen mitten im Strom der Welt und wenn ſie ſich durch etwas von den Ue¬ brigen unterſcheiden, ſo iſt es, daß ſie die Vor¬ ſchwimmer ſind, und ſei es nur trocken und ele¬ gant auf dem Ruͤcken eines Delphins, wie Heine, oder naß und beſpritzt, wie Boͤrne, den Ge¬ ſtaden der Zukunft entgegeneilen, welche die Zeit fuͤr „ ihre hesperiſchen Gaͤrten gluͤcklicher Inſeln “anſieht.
Behaglichkeit iſt in ſolcher Lage und bei ſol¬ chem Streben nicht wohl denkbar, die Schriftſtel¬ lerei iſt kein Spiel ſchoͤner Geiſter, kein unſchul¬ diges Ergoͤtzen, keine leichte Beſchaͤftigung der Phantaſie mehr, ſondern der Geiſt der Zeit, der unſichtbar uͤber allen Koͤpfen waltet, ergreift des Schriftſtellers Hand und ſchreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geſchichte, die Dichter und aͤſthetiſchen Proſaiſten ſtehen nicht mehr, wie vormals, allein im Dienſt der Muſen, ſondern auch im Dienſt des Vaterlandes und allen maͤchtigen Zeitbeſtrebungen ſind ſie Verbuͤndete. Ja, ſie finden ſich nicht ſelten im Streit mit jenem ſchoͤnen Dienſt, dem ihre Vorgaͤnger hul¬299 digten, ſie koͤnnen die Natur nicht uͤber die Kunſt vergeſſen machen, ſie koͤnnen nicht immer ſo zart und aͤtheriſch dahinſchweben, die Wahrheit und Wirklichkeit hat ſich ihnen zu gewaltig aufgedrun¬ gen, und mit dieſer, das iſt ihre Schickſalsauf¬ gabe, mit dieſer muß ihre Kraft ſo lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegengeſetzte iſt. Daher begreifen ſie auch, woher dieſe Quelle der Behag¬ lichkeit, welche uͤber Goethe's Kunſtproſa, uͤber Jean Pauls Humor ſo ruhig und lieblich hin¬ fließt, und der ſelbſt dieſem, ſo unkuͤnſtleriſch er auch zu Werke geht, weit mehr die Empfindung der Ruhe und Befriedigung mittheilt, welche mit dem Anſchauen klaſſiſcher Werke verknuͤpft iſt, als den Heineſchen Kunſtprodukten.
Ich wuͤrde in Verlegenheit gerathen, ſollte ich im einzelſten Einzelnen an einem Satz, einer Periode das Geſagte nachweiſen, nichtsdeſtoweni¬ ger iſt eben dieſer verſchiedene Charakter im Gan¬ zen, Großen, allen proſaiſchen Werken dieſer und jener Zeit aufgedruͤckt. Die neue Proſa iſt von der einen Seite vulgairer geworden, ſie verraͤth ihren Urſprung aus, ihre Gemeinſchaft mit dem Leben, von der andern Seite aber kuͤhner, ſchaͤr¬ fer, neuer an Wendungen, ſie verraͤth ihren krie¬ geriſchen Charakter, ihren Kampf mit der Wirk¬300 lichkeit, beſonders auch ihren Umgang mit der franzoͤſiſchen Schweſter, welcher ſie außerordentlich viel zu verdanken hat. Der deutſche Proſaiſt iſt ſeit der franzoͤſiſchen Revolution und eben durch franzoͤſiſche Schriften, Herr und Meiſter geworden uͤber das ungeheure Material der Sprache, das den fruͤhern Schriftſtellern in ellenlangen Perioden nachſchleppte, von Goethe aber freilich ſchon zu Kunſtarbeiten gluͤcklich verzimmert worden war. Die groͤßte Meiſterſchaft hat ſich Heine darin er¬ worben, der den fluͤchtigen Ruhm, Liederdichter zu ſein, ſehr bald mit dem groͤßeren vertauſcht hat, auf dem koloſſalen, alle Toͤne der Welt umfaſſen¬ den Inſtrument zu ſpielen, das unſere deutſche Proſa darbietet.
Die Witzader iſt bekanntlich die Hauptader der Heineſchen Proſa, ja der ganzen Heineſchen Perſon, der immer etwas auf den Lippen ſchwebt, was einem Witz aͤhnlich ſieht. Der Witz iſt das, was Heine's Schriften ſo verbreitet und wirkſam macht, was aber auch zugleich die ſteifen Herren, die ariſtokratiſchen Herren, die pfaͤffiſchen Herren wider ſie aufbringt. Es iſt uͤberhaupt in Deutſch¬ land noch nicht lange her, daß es den Schrift¬ ſtellern ungeſtraft hinging, witzig zu ſein; die meiſten Schriftſteller gehoͤrten zur Klaſſe der Ge¬301 lehrten und unter dieſer ſaftloſen und hochmuͤthigen Klaſſe hatte ſich eine ſolche Verachtung der ur¬ ſpruͤnglichen und angebornen geiſtigen Gaben und namentlich des Witzes eingeniſtet, daß es um den Ruf eines jungen Mannes unwiderbringlich geſche¬ hen war, wenn ihm das Malheur paſſirte, in ſeinen Schriften und Vortraͤgen eine geiſtreiche, bluͤhende und witzige Sprache zu fuͤhren. Die deutſchen Gelehrten mieden die witzigen Leute, als waͤren ſie Ausſaͤtzige, und wirklich nannte der Schweizer Bodmer den Witz eine Kraͤtze des Geiſtes, die nicht eher Ruhe laͤßt, als bis ſie ſich durchjuckt. Allmaͤhlig aber ſind den Deutſchen die Augen, wie uͤber viele Dinge, ſo auch uͤber den Witz aufgegangen. Die Nothwendigkeit deutſcher witziger Kultur vertheidigt Jean Paul mit folgen¬ den Worten: es gibt nicht blos Entſchuldigungen der Kultur des Witzes, ſondern ſogar Aufforde¬ rungen dazu, welche ſich auf die deutſche Natur gruͤnden. Alle Nationen bemerken an der deut¬ ſchen, daß unſere Ideen wand -, band -, niet - und nagelfeſt ſind und daß mehr der deutſche Kopf und die deutſchen Laͤnder zum Mobiliarvermoͤgen gehoͤren, als der Inhalt von beiden (naͤmlich die Gedanken und die Menſchen). Wie Wedekind den Waſſerſcheuen beide Aermel aneinander naͤht302 und beide Struͤmpfe, um ihnen das Bewegen einigermaßen unmoͤglich zu machen, ſo werden von Jugend auf unſern innern Menſchen alle Glieder zuſammengenaͤht, damit ruhiger Nexus vorliege und der Mann ſich mehr im Ganzen bewege. Aber Himmel, welche Spiele koͤnnten wir gewin¬ nen, wenn wir mit unſeren einſamen Ideen ro¬ chiren koͤnnten.
Zu neuen Zeiten gehoͤren durchaus freie; zu dieſen wieder gleiche; und nur der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleichgewicht vorher¬ gibt. Er iſt fuͤr den Geiſt, was fuͤr die Scheide¬ kunſt Feuer und Waſſer iſt. Chemica non agunt nisi soluta, das iſt, nur die Fluͤſſigkeit gibt die Freiheit zu neuer Geſtaltung, oder, nur entbun¬ dene Koͤrper ſchaffen neue. Beſinnt ſich ein Au¬ tor zum Beiſpiel bei Sommerflecken des Geſichts auf Herbſt - ‚ Lenz -, Winterflecken deſſelben, ſo offenbart er dadurch wenigſtens ein freies Be¬ ſchauen, welches ſich nicht in den Gegenſtand ein¬ gekerkert verliert und vertieft.
Uns fehlt zwar Geſchmack fuͤr den Witz, aber gar nicht die Anlage zu ihm. Wir haben Phan¬ taſie; und die Phantaſie kann ſich leicht zum Witz einbuͤcken, wie ein Rieſe zum Zwerg, aber nicht dieſer ſich zu jenem aufrichten. In Frankreich iſt die Nation witzig, bei uns die Elite.
303Da dem Deutſchen, faͤhrt Jean Paul ſaty¬ riſch-witzig fort, folglich zum Witz nichts fehlt, als Freiheit, ſo geb 'er ſich doch dieſe. Etwas glaubte er freilich fuͤr dieſe zu thun, daß er neue¬ rer Zeit ein und das andere rheiniſche Laͤnderſtuͤck in Freiheit ſetzte, naͤmlich in franzoͤſiſche und wie ſonſt den Adel, ſo jetzt (dieſer Aufſatz iſt unter Napo¬ leons Herrſchaft geſchrieben) die beſten Laͤnder, zur Bildung ſo zu ſagen auf Reiſen ſchickte zu einem Volk, das gewiß noch mehr frei iſt, als groß.
Hier iſt nur ein alter, aber unſchuldiger Weltzirkel, der uͤberall wieder vorkommt. Die Menſchheit kann nie zur Freiheit gelangen ohne geiſtige hohe Ausbildung: Freiheit gibt Witz und Witz gibt Freiheit. Die Schuljugend uͤbe man im Witz; das ſpaͤtere Alter laſſe ſich zu dem Witz freilaſſen.
So weit Jean Paul. Er ſelbſt hat zur gei¬ ſtigen Emanzipation der Deutſchen durch Humor und Witz, mehr als irgend ein anderer Schrift¬ ſteller ſeiner Zeit, beigetragen. Ihm ſtand mehr Witz zu Gebot, als allen deutſchen Schriftſtellern zuſammengenommen, eine einzige Seite ſeiner Schriften wird ſelbſt durch den witzigſten Franzo¬ ſen und Englaͤnder kaum durch vier andere Sei¬ ten aufgewogen. Dennoch mangelte ſeinem Witz der Charakter der Einheit, welchen die Kunſt und304 eine beſtimmte Gemuͤths - und Lebensrichtung den Strahlen des Witzes verleiht. Der Witz an ſich iſt ein geiſtiges Queckſilber, das in tauſend Kuͤgel¬ chen uͤber die Papierflaͤche rollt, ein ſcherzender Schmetterling, der von Blume zu Blume fliegt, ein ungewiſſer Strahl, der ſich in Luft und Waſ¬ ſer bricht und das reinſte Kryſtall, wie die truͤbſte Glasſcheibe durchflittert und vergoldet. Der Witz an ſich iſt der Diener aller Herren, der Dummen ausgenommen, aber nicht der Schlechten, nicht der Servilen; denn er kehrt ſich nicht an Herz und Geſinnung, ſondern nur an den Verſtand und ein elender Saphir, ein Menſch, den man durch Furcht dahin bringen kann, die Peitſche zu kuͤſſen, die ihn gezuͤchtigt hat, kann einen Waſhing¬ ton, einen Lafayette an Witz beſiegen und uͤber¬ fluͤgeln.
Nur wenn der Witz ſich mit edlerem Ver¬ moͤgen paart, wenn er phantaſiereichen und ge¬ muͤthvollen Menſchen zu Gebot ſteht, wenn er ei¬ nem Jean Paul dient, Himmel und Erde, Ver¬ gangenheit und Zukunft mit einander zu verknuͤpfen, kann er dem ernſteren Deutſchen gefallen: um uns am Witze nicht zu aͤrgern, muß uns der Charak¬ ter des Witzigen nicht aͤrgerlich ſein, um uns am Spiel des Witzes zu ergoͤtzen, muͤſſen wir ihn uͤber der Tiefe des Ernſtes ſchweben ſehen. Das305 iſt auch die Natur des deutſchen Witzes, der an Zweideutigkeiten und Wortſpielen wenig Geſchmack findet; und daß ſeine Natur ſo iſt, verdankt er eben ſeiner Verbindung mit der Phantaſie, welche ihn auf ihre Schwingen nimmt und ihn vor der Gefahr ſchuͤtzt, ins Kleinliche oder Gemeine aus¬ zuarten. Allein auf der andern Seite hat dieſe Verbindung des Witzes mit der Phantaſie auch ihre Nachtheile; wie aus dem Beiſpiel Jean Pauls erhellt; deſſen Witz, bei einem geringeren Grad von Phantaſie, ſchlagender geweſen waͤre, als bei dieſer Ueberfuͤlle. Das iſt der Abweg des deut¬ ſchen Witzes, er wird zu phantaſtiſch, er entfernt ſich zu weit von der naͤchſten graden Gedankenli¬ nie und verliert uͤber dem Haſchen das endliche Ziel aus den Augen. Sie ſehen wohl, wo die Quelle dieſer wildgewordenen Witze, dieſer ins Blaue ſtreifenden Phantaſie zu ſuchen iſt. Den¬ ken Sie an Jean Paul. War eine Lebenseinheit in ſeinem Charakter, ſchwebte ihm ein beſtimmtes Ziel vor Augen? Nein. Er ſtrebte allem Hoͤch¬ ſten nach, aber nach Art der damaligen Poeten, mehr im Traum, als im Wachen, er war ein edler, freier Mann, er kannte die Gebrechen der Zeit, er fuͤhlte die Schmach des Vaterlandes, er zuͤrnte uͤber Ariſtokratismus und Moͤncherei, allein ſein Ringen nach einer beſſern Zeit zerfloß immerWienbarg, aͤſthet. Feldz 21306in Sentimentalitaͤt, und wenn er einmal eine ſtarke Lanze einlegte und gegen einen beſtimmten Feind zu Felde zog, ſo war ihm dieſer eher das Nach¬ druckergeſindel, und ſonſtige deutſche Schofel und Schofeleien, als die großen Landesfeinde und Lan¬ desuͤbel, die der Patriot aufs Korn nehmen ſoll. Das lag in ſeiner Zeit; in der unſrigen hat ſich der Witz einen Kampfplatz aufgeſucht, wo er mit der Freiheit vereint gegen verroſtete Helme und Kaputzen zu Felde zieht und gottlob, es liegen ſchon Splitter und Stuͤcke genug auf dem Boden, welche ſeine Schaͤrfe und Kraft beurkunden.
Man laͤßt den Witz nicht mehr auf ſeine eigne Hand und nach den Grillen der Phantaſie hinlaufen, er iſt nicht mehr ein ungeſatteltes fluͤch¬ tiges Pferd, das ohne Bahn und Steg rechts und links ausſchlaͤgt und blos mit Luſt und Be¬ wunderung uͤber ſeine Kuͤhnheit erfuͤllt, es ſitzt ihm ein Reiter auf dem Nacken, auf deſſen Wink und Fuͤhrung es die verhaßten Barrieren uͤberſpringt und niederreitet, welche die Dummheit und die Un¬ verſchaͤmtheit vor dem Genuß der Welt aufgeſchla¬ gen hat. Der Witz unſerer neuen Proſa iſt nicht mehr ein reiner Phantaſiewitz, ſondern Charakter¬ witz, er iſt unſerer heutigen Proſa, ich meine, unſerm heutigen Buͤrgerſtande, unſere buͤrgerliche Freiheit. Der Adel hat ſich oft mit der Poeſie307 des Lebens verglichen, mag er ſie repraͤſentiren auf die unſchaͤdliche Weiſe, wie es die Goldenſchnitts¬ taſchenbuchspoeten in Deutſchland thun, er iſt ihr ein unentbehrliches Werkzeug, um den vernichten¬ den Krieg zu fuͤhren, deſſen Ende ſich wohl bis zu kuͤnftigen Geſchlechtern hinziehen wird, um das Saͤuberungsgeſchaͤft im Augiasſtall von Europa durchzuſetzen, um reine Bahn zu machen fuͤr andre Fuͤße, als die mit Ketten und Vorurtheilen bela¬ ſteten. Dieſe Bedeutung des Witzes fuͤr unſere Zeit ſpricht Heine, deſſen Witz eben hierin vor¬ leuchtet, mit folgenden Worten aus:
Es gibt trockne Leute in der Welt, die den Witz gern proſkribiren moͤchten und man kann taͤglich hoͤren, wie Pantalon ſich gegen dieſe nie¬ drigſte Seelenkraft, den Witz, zu ereifern weiß und als guter Staatsbuͤrger und Hausvater die Polizei auffordert, ihn zu verbieten. Mag immer¬ hin der Witz zu den niedrigſten Seelenkraͤften ge¬ hoͤren, ſo glauben wir doch, das er ſein Gutes hat. Wir wenigſtens moͤchten ihn nicht entbeh¬ ren. Seitdem es nicht mehr Sitte iſt, einen De¬ gen an der Seite zu tragen, iſt es durchaus noͤ¬ thig, daß man Witz im Kopfe habe. Und ſollte man auch ſo uͤbellaunig ſein, den Witz nicht blos als nothwendige Wehr, ſondern ſogar als Angriffs¬ waffe zu gebrauchen, ſo werdet daruͤber nicht all¬308 zuſehr aufgebracht, ihr edeln Pantalone des deut¬ ſchen Vaterlands. Jener Angriffswitz, den ihr Satyre nennt, hat ſeinen guten Nutzen in dieſer ſchlechten, nichtsnutzigen Zeit. Keine Religion iſt mehr im Stande, die Luͤſte der Erdenherrſcher zu zuͤgeln, ſie verhoͤhnen euch ungeſtraft und ihre Roſſe zertreten eure Saaten; eure Toͤchter hungern und verkaufen ihre Bluͤthen dem ſchmutzigen Par¬ venuͤ, alle Roſen dieſer Welt werden die Beute eines windigen Geſchlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien und vor dem Uebermuth des Reichthums und der Gewalt ſchuͤtzt euch nichts, als der Tod und die Satyre.
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