Alle Rechte, insbeſondere das Ueberſetzungsrecht, vorbehalten. Copyright 1898 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Druck von C. Grumbach in Leipzig.
Fürſt Bismarck begann die Aufzeichnungen ſeiner „ Gedanken und Erinnerungen “bald nachdem ihm durch die Entlaſſung aus ſeinen ruhmreich geführten Aemtern — wie er ſelbſt wiederholt geſagt hat — das Spalier entzogen war, an dem ſich ſein Leben bisher emporgerankt hatte. Die erſte Anregung gab ihm eine von einem Verlagsangebote begleitete Anfrage des Cotta'ſchen Hauſes; ſchon am 6. Juli 1890 wurde zwiſchen dem Fürſten und dem Vertreter der Cotta'ſchen Buchhandlung ein Abkommen getroffen, durch welches dieſem Hauſe für den Fall, daß der Fürſt Erinnerungen aus ſeinem Leben niederſchriebe, das Verlags¬ recht übertragen wurde. Lothar Bucher, der geſchichtskundige Diplomat, der nach des Fürſten Entlaſſung Jahre lang mit kurzen Unterbrechungen in Friedrichsruh oder Varzin als ſtiller Hausgaſt weilte, hat das Ver¬ dienſt, daß er den Fürſten Bismarck in ſeinem Entſchluſſe zur Nieder¬ ſchrift ſeiner Erinnerungen und ſeiner politiſchen Gedanken beſtärkte und ihn in täglichen Geſprächen bei dem begonnenen Werke feſthielt. Buchers ſtenographiſche Nachſchriften nach dem Dictate des Fürſten bildeten den Grundſtock zu der erſten Ausarbeitung, mit der ſich der Fürſt Jahre lang eifrig beſchäftigte, indem er die in Kapitel eingetheilten und ſyſtematiſch geordneten Aufzeichnungen immer von neuem durchſah und durch eigenhändige Nachträge ergänzte. Um ihm dieſe Arbeit zu er¬ leichtern, wurden die „ Gedanken und Erinnerungen “ſchon im Jahre 1893 als Manuſkript gedruckt mit allen Aenderungen, die der Fürſt an dem erſten Entwurf angebracht hatte. Dieſes neue Manuſkript hat Fürſt Bismarck dann noch zwei - bis dreimal durchgearbeitet und ſorgfältiger Nachprüfung unterzogen, in der ihn ſein faſt untrügliches Gedächtniß aufs beſte unterſtützte. Ganze Kapitel hat er noch in den letzten beiden Jahren in neue Formen umgegoſſen.
Die zunehmenden Leiden des Alters und eine gewiſſe Scheu vor der Mühe des Schreibens ließen die Arbeit zuweilen ins Stocken ge¬VIVorwort des Herausgebers. rathen, aber ein großer Theil iſt fertig geworden und bildet ein koſtbares Erbe der deutſchen Nation. Aus dieſer reichfließenden Quelle werden auch noch in künftigen Jahrhunderten unſere Staatsmänner und Geſchicht¬ ſchreiber Belehrung ſchöpfen, unſer ganzes Volk aber wird ſich noch bis in die fernſten Zeiten, wie an den Werken ſeiner Klaſſiker, an dem Buche erbauen, das ſein Bismarck ihm hinterlaſſen hat.
Pflicht des Herausgebers, der hierin einem vom Fürſten Otto von Bismarck ſelbſt herrührenden Auftrage nachkam, mußte es ſein, die eingeſtreuten Schriftſtücke, die oft aus mangelhaften Drucken über¬ nommen worden waren, nach den Urſchriften richtig zu ſtellen, kleine Irrthümer in der Angabe von Daten oder der Schreibung von Namen, die der Mangel an amtlichem Material verſchuldete, zu beſſern, in Fußnoten auf ähnliche Aeußerungen des Fürſten in ſeinen politiſchen Reden aufmerkſam zu machen und literariſche Nachweiſe zu geben. Nirgends aber iſt der Text geändert oder gekürzt worden — die Pietät gebietet einem ſolchen Todten gegenüber doppelte Zurückhaltung.
Anmerkungen von der Hand des Fürſten ſind durch Sternchen (✱), ſolche des Herausgebers durch Ziffern kenntlich gemacht.
Chemnitz, 21. Oktober 1898. Horſt Kohl
[VII]Als normales Product unſres ſtaatlichen Unterrichts verließ ich Oſtern 1832 die Schule als Pantheiſt, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, daß die Republik die vernünftigſte Staatsform ſei, und mit Nachdenken über die Urſachen, welche Millionen von Menſchen beſtimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachſenen manche bittre oder geringſchätzige Kritik über die Herrſcher hören konnte. Dazu hatte ich von der turneriſchen Vorſchule mit Jahn'ſchen Tra¬ ditionen (Plamann), in der ich vom ſechſten bis zum zwölften Jahre gelebt, deutſch-nationale Eindrücke mitgebracht. Dieſe blieben im Stadium theoretiſcher Betrachtungen und waren nicht ſtark genug, um angeborne preußiſch-monarchiſche Gefühle auszutilgen. Meine geſchichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Har¬ modius und Ariſtogiton ſowohl wie Brutus waren für mein kind¬ liches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder. Jeder deutſche Fürſt, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiſer widerſtrebte, ärgerte mich, vom Großen Kurfürſten an aber war ich parteiiſch genug, antikaiſerlich zu urtheilen und natürlich zu finden, daß der ſiebenjährige Krieg ſich vorbereitete. Doch blieb mein deutſches Nationalgefühl ſo ſtark, daß ich im Anfang der Univerſitätszeit zunächſt zur Burſchenſchaft in Beziehung gerieth,Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 12Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei perſönlicher Bekanntſchaft mit ihren Mitgliedern mißfielen mir ihre Weigerung, Satisfaction zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Geſellſchaft, bei näherer Bekanntſchaft auch die Extravaganz ihrer politiſchen Auf¬ faſſungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntniß der vorhandenen, hiſtoriſch gewordenen Lebensverhältniſſe beruhte, von denen ich bei meinen ſiebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meiſten jener durchſchnittlich ältern Studenten. Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen Empfindungen und den Glauben, daß die Entwicklung der nächſten Zukunft uns zur deutſchen Einheit führen werde; ich ging mit meinem amerikaniſchen Freunde Coffin die Wette darauf ein, daß dieſes Ziel in zwanzig Jahren erreicht ſein werde.
In mein erſtes Semeſter fiel die Hambacher Feier (27. Mai 1832), deren Feſtgeſang mir in der Erinnerung geblieben iſt, in mein drittes der Frankfurter Putſch (3. April 1833). Dieſe Erſcheinungen ſtießen mich ab, meiner preußiſchen Schulung widerſtrebten tumultuariſche Eingriffe in die ſtaatliche Ordnung; ich kam nach Berlin mit weniger liberaler Geſinnung zurück, als ich es verlaſſen hatte, eine Reaction, die ſich wieder abſchwächte, nachdem ich mit dem ſtaatlichen Räder¬ werke in unmittelbare Beziehung getreten war. Was ich etwa über auswärtige Politik dachte, mit der das Publikum ſich damals wenig beſchäftigte, war im Sinne der Freiheitskriege, vom preußiſchen Offizierſtandpunkt geſehn. Beim Blick auf die Landkarte ärgerte mich der franzöſiſche Beſitz von Straßburg, und der Beſuch von Heidelberg, Speier und der Pfalz ſtimmte mich rachſüchtig und kriegsluſtig. In der Zeit vor 1848 war für einen Kammergerichts - Auscultator und Regirungs-Referendar, dem jede Beziehung zu mini¬ ſteriellen und höhern amtlichen Kreiſen fehlte, kaum eine Ausſicht zu einer Betheiligung an der preußiſchen Politik vorhanden, ſo lange er nicht den einförmigen Weg zurückgelegt hatte, der durch die Stufen3Jünglingsanſchauungen. Die preußiſche Diplomatie. der bürokratiſchen Laufbahn nach Jahrzehnten dahin führen konnte, an den höhern Stellen bemerkt und herangezogen zu werden. Als muſtergültige Vordermänner auf dieſem Wege wurden mir im Familienkreiſe damals Männer wie Pommer-Eſche und Delbrück vor¬ gehalten, und als einzuſchlagende Richtung die Arbeit an und in dem Zollvereine empfohlen. Ich hatte, ſo lange ich in dem damaligen Alter an eine Beamtenlaufbahn ernſtlich dachte, die diplomatiſche im Auge, auch nachdem ich von Seiten des Miniſters Ancillon bei meiner Meldung dazu wenig Ermuthigung gefunden hatte. Derſelbe be¬ zeichnete nicht mir, aber hohen Kreiſen gegenüber als Muſterbild deſſen, was unſrer Diplomatie fehle, den Fürſten Felix Lichnowſki, obſchon man hätte vermuthen ſollen, daß dieſe Perſönlichkeit, wie ſie ſich damals in Berlin zur Anſchauung brachte, der anerkennenden Würdigung eines der evangeliſchen Geiſtlichkeit entſtammenden Miniſters nicht grade nahe ſtände.
Der Miniſter hatte den Eindruck, daß die Kategorie unſres hausbacknen preußiſchen Landadels für unſre Diplomatie den ihm wünſchenswerthen Erſatz nicht lieferte und die Mängel, welche er an der Gewandheit des Perſonalbeſtandes dieſes Dienſtzweiges fand, zu decken nicht geeignet war. Dieſer Eindruck war nicht ganz ohne Berechtigung. Ich habe als Miniſter ſtets ein landsmann¬ ſchaftliches Wohlwollen für eingeborne preußiſche Diplomaten ge¬ habt, aber im dienſtlichen Pflichtgefühle nur ſelten dieſe Vorliebe bethätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Betheiligten aus einer militäriſchen Stellung in die diplomatiſche übergingen. Bei den rein preußiſchen Civil-Diplomaten, welche der Wirkung militäriſcher Diſciplin garnicht oder unzureichend unterlegen hatten, habe ich in der Regel eine zu ſtarke Neigung zur Kritik, zum Beſſer¬ wiſſen, zur Oppoſition und zu perſönlichen Empfindlichkeiten ge¬ funden, verſtärkt durch die Unzufriedenheit, welche das Gleichheits¬ gefühl des alten preußiſchen Edelmanns empfindet, wenn ein Standes¬ genoſſe ihm über den Kopf wächſt oder außerhalb der militäriſchen Verhältniſſe ſein Vorgeſetzter wird. In der Armee ſind dieſe Kreiſe4Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. ſeit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geſchieht, und geben den Bodenſatz ihrer Verſtimmung gegen frühere Vorgeſetzte an ihre ſpätern Untergebenen weiter, ſobald ſie ſelbſt in höhere Stellen gelangt ſind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen unter den Aſpiranten, welche Vermögen oder die zufällige Kenntniß fremder Sprachen, namentlich der franzöſiſchen, beſitzen, ſchon darin einen Grund zur Bevorzugung ſehn und deshalb der obern Leitung noch anſpruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als Andre. Sprachkenntniſſe, wie auch Oberkellner ſie beſitzen, bildeten bei uns leicht die Unterlage des eignen Glaubens an den Beruf zur Diplomatie, namentlich ſo lange unſre geſandſchaftlichen Be¬ richte, beſonders die ad Regem, franzöſiſch ſein mußten, wie es die nicht immer befolgte, aber bis ich Miniſter wurde amtlich in Kraft ſtehende Vorſchrift war. Ich habe manche unter unſern ältern Geſandten gekannt, die, ohne Verſtändniß für Politik, lediglich durch Sicherheit im Franzöſiſchen in die höchſten Stellen aufrückten; und auch ſie ſagten in ihren Berichten doch nur das, was ſie franzöſiſch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862 von Petersburg franzöſiſch amtlich zu berichten gehabt, und die Geſandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Miniſter franzöſiſch ſchrieben, empfahlen ſich dadurch als beſonders berufen zur Diplo¬ matie, auch wenn ſie politiſch als urtheilslos bekannt waren.
Außerdem kann ich Ancillon nicht Unrecht geben, wenn er von den meiſten Aſpiranten aus unſerm Landadel den Eindruck hatte, daß ſie ſich aus dem engen Geſichtskreiſe ihrer damaligen Berliner, man könnte ſagen provinziellen Anſchauungen ſchwer los¬ löſen ließen, und daß es ihnen nicht leicht gelingen würde, den ſpecifiſch preußiſchen Bürokraten in der Diplomatie mit dem Firniß des europäiſchen zu übertünchen. Die Wirkung dieſer Wahrnehmungen zeigt ſich deutlich, wenn man die Rangliſte unſrer Diplomaten aus damaliger Zeit durchgeht; man wird erſtaunt ſein, ſo wenig geborne Preußen darin zu finden. Die Eigenſchaft, der Sohn eines in Berlin accreditirten fremden Geſandten zu ſein,5Beſchaffenheit der preußiſchen Diplomatie. gab an ſich einen Vorzug. Die an den kleinen Höfen erwachſenen, in den preußiſchen Dienſt übernommnen Diplomaten hatten nicht ſelten den Vortheil größrer assurance in höfiſchen Kreiſen und eines größern Mangels an Blödigkeit vor den eingebornen. Ein Beiſpiel dieſer Richtung war namentlich Herr von Schleinitz. Dann finden ſich in der Liſte Mitglieder ſtandesherrlicher Häuſer, bei denen die Abſtammung die Begabung erſetzte. Aus der Zeit, als ich nach Frankfurt ernannt wurde, iſt mir außer mir, dem Frei¬ herrn Karl von Werther, Canitz und dem franzöſiſch verheiratheten Grafen Max Hatzfeldt kaum der Chef einer anſehnlichen Miſſion preußiſcher Abſtammung erinnerlich. Ausländiſche Namen ſtanden höher im Kurſe: Braſſier, Perponcher, Savigny, Oriola. Man ſetzte bei ihnen größere Geläufigkeit im Franzöſiſchen voraus, und ſie waren „ weiter her “, dazu trat der Mangel an Bereitwilligkeit zur Uebernahme eigner Verantwortlichkeit bei fehlender Deckung durch zweifelloſe Inſtruction, ähnlich wie im Militär 1806 bei der alten Schule aus Friedericianiſcher Zeit. Wir züchteten ſchon da¬ mals das Offiziersmaterial bis zum Regiments-Commandeur in einer Vollkommenheit wie kein andrer Staat, aber darüber hinaus war das eingeborne preußiſche Blut nicht mehr fruchtbar an Be¬ gabungen wie zur Zeit Friedrichs des Großen ſelbſt. Unſre er¬ folgreichſten Feldherrn, Blücher, Gneiſenau, Moltke, Goeben, waren keine preußiſchen Urproducte, ebenſowenig im Civildienſte Stein, Hardenberg, Motz und Grolman. Es iſt, als ob unſre Staats¬ männer wie die Bäume in den Baumſchulen zu voller Wurzel¬ bildung der Verſetzung bedürften.
Ancillon rieth mir, zunächſt das Examen als Regirungs - Aſſeſſor zu machen und dann auf dem Umwege durch die Zoll¬ vereinsgeſchäfte Eintritt in die deutſche Diplomatie Preußens zu ſuchen; einen Beruf für die europäiſche erwartete er alſo bei einem Sprößlinge des einheimiſchen Landadels nicht. Ich nahm mir ſeine Andeutung zu Herzen und beabſichtigte, zunächſt das Examen als Regirungs-Aſſeſſor zu machen.
6Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.Die Perſonen und Einrichtungen unſrer Juſtiz, in der ich zunächſt beſchäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffaſſung mehr Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktiſche Ausbildung des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich zugewieſen war, Herrn von Brauchitſch, über die Gebühr heran¬ gezogen wurde, weil ich damals über den Durchſchnitt ſchnell und lesbar ſchrieb. Von den „ Unterſuchungen “, wie die Criminal¬ prozeſſe bei dem damals geltenden Inquiſitionsverfahren genannt wurden, hat mir eine den nachhaltigſten Eindruck hinterlaſſen, welche eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatür¬ lichen Laſter betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinſchaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch — alles das bewies ſchon 1835 eine Demoraliſation, welche hinter den Ergebniſſen des Prozeſſes gegen die Heinze'ſchen Eheleute (October 1891) nicht zurückſtand. Die Verzweigungen dieſer Geſellſchaft reichten bis in hohe Kreiſe hinauf. Es wurde dem Einfluſſe des Fürſten Wittgenſtein zugeſchrieben, daß die Akten von dem Juſtiz¬ miniſterium eingefordert und, wenigſtens während meiner Thätigkeit an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.
Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem Stadtgerichte, vor das die Civilſachen gehörten, verſetzt und aus der mechaniſchen Beſchäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich zu einer ſelbſtändigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit und mein Gefühl mir die Stellung erſchwerten. Das erſte Stadium, in welchem der juriſtiſche Neuling damals zu einer ſelbſtändigen Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Eheſcheidungen. Offenbar als das Unwichtigſte betrachtet, waren ſie dem unfähigſten Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Be¬ arbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlaſſen worden, die damit in corpore vili ihre erſten Experimente in der Richterrolle zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit7Als Auscultator beim Criminal - und Stadtgericht. des Herrn Prätorius, der jedoch ihren Verhandlungen nicht bei¬ wohnte. Zur Charakteriſirung dieſes Herrn wurde uns jungen Leuten erzählt, daß er in den Sitzungen, wenn behufs der Ab¬ ſtimmung aus einem leichten Schlummer geweckt, zu ſagen pflegte: „ Ich ſtimme wie der College Tempelhof “, und gelegentlich darauf aufmerkſam gemacht werden mußte, daß Herr Tempelhof nicht an¬ weſend ſei.
Ich trug ihm einmal meine Verlegenheit vor, daß ich, wenige Monate über 20 Jahre alt, mit einem aufgeregten Ehepaare den Sühneverſuch vornehmen ſolle, der für meine Auffaſſung einen gewiſſen kirchlichen und ſittlichen Nimbus hatte, dem ich mich in meiner Seelenſtimmung nicht adäquat fühlte. Ich fand Prätorius in der verdrießlichen Stimmung eines zur Unzeit geweckten, ältern Herrn, der außerdem die Abneigung mancher alten Bürokraten gegen einen jungen Edelmann hegte. Er ſagte mit geringſchätzigem Lächeln: „ Es iſt verdrießlich, Herr Referendarius, wenn man ſich auch nicht ein bischen zu helfen weiß; ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht. “ Ich kehrte mit ihm in das Terminszimmer zurück. Der Fall lag ſo, daß der Mann geſchieden ſein wollte, die Frau nicht, der Mann ſie des Ehebruchs beſchuldigte, die Frau mit thränenreichen Declamationen ihre Unſchuld betheuerte und trotz aller Mißhandlung von Seiten des Mannes bei ihm bleiben wollte. Mit ſeinem lispelnden Zungenanſchlage ſprach Prätorius die Frau alſo an: „ Aber Frau, ſei ſie doch nicht ſo dumm; was hat ſie denn davon? Wenn ſie nach Hauſe kommt, ſchlägt ihr der Mann die Jacke voll, bis ſie es nicht mehr aushalten kann. Sage ſie doch einfach Ja, dann iſt ſie mit dem Säufer kurzer Hand aus¬ einander. “ Darauf die Frau weinend und ſchreiend: „ Ich bin eine ehrliche Frau, kann die Schande nicht auf mich nehmen, will nicht geſchieden ſein. “ Nach mehrfacher Replik und Duplik in dieſer Tonart wandte ſich Prätorius zu mir mit den Worten: „ Da ſie nicht Vernunft annehmen will, ſo ſchreiben Sie, Herr Referendarius, “und dictirte mir die Worte, die ich wegen des tiefen Eindrucks,8Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. welchen ſie mir machten, noch heut auswendig weiß: „ Nachdem der Sühneverſuch angeſtellt und die dafür dem Gebiete der Moral und Religion entnommnen Gründe erfolglos geblieben waren, wurde wie folgt weiter verhandelt. “ Mein Vorgeſetzter erhob ſich und ſagte: „ Nun merken Sie ſich, wie man das macht, und laſſen Sie mich künftig mit dergleichen in Ruhe. “ Ich begleitete ihn zur Thüre und ſetzte die Verhandlung fort. Die Station der Ehe¬ ſcheidungen dauerte, ſo viel ich mich erinnere, vier bis ſechs Wochen, ein Sühneverſuch kam mir nicht wieder vor. Es war ein gewiſſes Bedürfniß vorhanden für die Verordnung über das Verfahren in Eheſcheidungen, auf welche Friedrich Wilhelm IV. ſich beſchränken mußte, nachdem ſein Verſuch, ein Geſetz über Aenderung des materiellen Eherechts zu Stande zu bringen, an dem Widerſtande des Staatsraths geſcheitert war. Dabei mag erwähnt werden, daß durch jene Verordnung zuerſt in den Provinzen des All¬ gemeinen Landrechts der Staatsanwalt eingeführt worden iſt, als defensor matrimonii und zur Verhütung von Colluſionen der Parteien.
Anſprechender war das folgende Stadium der Bagatellprozeſſe, wo der ungeſchulte junge Juriſt wenigſtens eine Uebung im Auf¬ nehmen von Klagen und Vernehmen von Zeugen gewann, wo man ihn im Ganzen aber doch mehr als Hülfsarbeiter ausnutzte, als mit Belehrung förderte. Das Local und die Procedur hatten etwas von dem unruhigen Verkehre an einem Eiſenbahnſchalter. Der Raum, wo der leitende Rath und die drei oder vier Aus¬ cultatoren mit dem Rücken gegen das Publikum ſaßen, war von hölzernen Gittern umgeben, und die dadurch gebildete viereckige Bucht war von der wechſelnden und mehr oder weniger lärmenden Menge der Parteien rings umfluthet.
Mein Eindruck von Inſtitutionen und Perſonen wurde nicht weſentlich modificirt, nachdem ich zur Verwaltung übergegangen war. Um den Umweg zur Diplomatie abzukürzen, wandte ich mich einer rheiniſchen Regirung, der Aachner, zu, deren Curſus9Eheſcheidungen. Bagatellprozeſſe. Rheiniſche Regirungscollegien. ſich in zwei Jahren abmachen ließ, während bei den altländiſchen wenigſtens drei erforderlich waren1)Vgl. die Akten des Aachner Aufenthalts in Bismarck-Jahrbuch III, die Probearbeiten zum Referendariats-Examen in Bismarck-Jahrbuch II..
Ich kann mir denken, daß bei Beſetzung der rheiniſchen Re¬ girungscollegien 1816 ähnlich verfahren worden war, wie 1871 bei der Organiſation von Elſaß-Lothringen. Die Behörden, welche einen Theil ihres Perſonals abzugeben hatten, werden nicht auf das ſtaatliche Bedürfniß gehört haben, für die ſchwierige Aufgabe der Aſſimilirung einer neu erworbenen Bevölkerung den beſten Fuß vorzuſetzen, ſondern diejenigen Mitglieder gewählt haben, deren Abgang von ihren Vorgeſetzten oder von ihnen ſelbſt gewünſcht wurde; in den Collegien fanden ſich frühere Präfektur-Sekretäre und andre Reſte der franzöſiſchen Verwaltung. Die Perſönlichkeiten entſprachen nicht alle dem unberechtigten Ideale, das mir in dem Alter von 21 Jahren vorſchwebte, und noch weniger that dies der Inhalt der laufenden Geſchäfte. Ich erinnere mich, daß ich bei vielen Meinungsverſchiedenheiten zwiſchen Beamten und Re¬ girten oder innerhalb jeder dieſer beiden Kategorien, Meinungsver¬ ſchiedenheiten, deren polemiſche Vertretung jahrelang die Akten an¬ ſchwellen machte, gewöhnlich unter dem Eindrucke ſtand, „ ja, ſo kann man es auch machen, “und daß Fragen, deren Entſcheidung in dem einen oder dem andern Sinne das verbrauchte Papier nicht werth war, eine Geſchäftslaſt erzeugten, die ein einzelner Präfekt mit dem vierten Theile der aufgewandten Arbeitskraft hätte er¬ ledigen können. Nichtsdeſtoweniger war, abgeſehn von den ſub¬ alternen Beamten, das tägliche Arbeitspenſum ein geringes und beſonders für die Abtheilungs-Dirigenten eine reine Sinecure. Ich verließ Aachen mit einer, abgeſehn von dem begabten Präſidenten Grafen Arnim-Boitzenburg, geringen Meinung von unſrer Büro¬ kratie im Einzelnen und in der Geſammtheit. Im Einzelnen wurde meine Meinung günſtiger durch meine demnächſtige Erfah¬10Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. rung bei der Regirung in Potsdam, zu der ich mich im Jahre 1837 verſetzen ließ, weil dort abweichend von den andern Pro¬ vinzen die indirecten Steuern zum Reſſort der Regirung gehörten und grade dieſe wichtig waren, wenn ich die Zollpolitik zur Baſis meiner Zukunft nehmen wollte.
Die Mitglieder des Collegiums machten mir einen würdigern Eindruck als die Aachner, aber doch in ihrer Geſammtheit den Eindruck von Zopf und Perrücke, in welche Kategorie meine jugend¬ liche Ueberhebung auch den väterlich-würdigen Oberpräſidenten von Baſſewitz ſtellte, während der Aachner Regirungspräſident Graf Arnim zwar die generelle Staatsperrücke, aber doch keinen geiſtigen Zopf trug. Als ich dann aus dem Staatsdienſte in das Land¬ leben überging, brachte ich in die Berührungen, welche ich als Gutsbeſitzer mit den Behörden hatte, eine nach meinem heutigen Urtheil zu geringe Meinung von dem Werthe unſrer Bürokratie, eine vielleicht zu große Neigung zur Kritik mit. Ich erinnere mich, daß ich als ſtellvertretender Landrath über den Plan, die Wahl der Landräthe abzuſchaffen, gutachtlich zu berichten hatte und mich ſo ausſprach, die Bürokratie ſinke in der Achtung vom Land¬ rath aufwärts; ſie habe dieſelbe nur in der Perſon des Landraths bewahrt, der einen Januskopf trage, ein Geſicht in der Bürokratie, eins im Lande habe.
Die Neigung zu befremdendem Eingreifen in die verſchiedenſten Lebensverhältniſſe war unter dem damaligen väterlichen Regimente vielleicht größer als heut, aber die Organe zum Eingreifen waren weniger zahlreich und ſtanden an Bildung und Erziehung höher als ein Theil der heutigen. Die Beamten der Königlichen hochlöblichen Regirung waren ehrliche, ſtudirte und gut erzogne Beamte, aber ihre wohlwollende Thätigkeit fand nicht immer Anerkennung, weil ſie ſich ohne locale Sachkunde auf Details zerſplitterte, in Betreff deren die Anſichten des gelehrten Stadtbewohners am grünen Tiſche nicht immer der Kritik des bäuerlichen geſunden Menſchen¬ verſtandes überlegen waren. Die Mitglieder der Regirungs¬11Bürokratismus ſonſt und jetzt. Collegien hatten damals multa, nicht multum zu thun, und der Mangel an höhern Aufgaben brachte es mit ſich, daß ſie kein ausreichendes Quantum wichtiger Geſchäfte fanden und in ihrem Pflichteifer ſich über das Bedürfniß der Regirten hinaus zu thun machten, in die Neigung zur Reglementirerei, zu dem, was der Schweizer „ Befehlerle “nennt, geriethen. Man hatte, um einen vergleichenden Blick auf die Gegenwart zu werfen, gehofft, daß die Staatsbehörden durch die Einführung der heutigen localen Selbſtverwaltung an Geſchäften und an Beamten würden ent¬ bürdet werden; aber im Gegentheile, die Zahl der Beamten und ihre Geſchäftslaſt ſind durch Correſpondenzen und Frictionen mit den Organen der Selbſtverwaltung von dem Provinzialrathe bis zu der ländlichen Gemeindeverwaltung erheblich geſteigert worden. Es muß früher oder ſpäter der wunde Punkt eintreten, wo wir von der Laſt der Schreiberei und beſonders der ſubalternen Bürokratie erdrückt werden.
Daneben iſt der bürokratiſche Druck auf das Privatleben durch die Art der Ausführung der „ Selbſtverwaltung “verſtärkt worden und greift in die ländlichen Gemeinden ſchärfer als früher ein. Vorher bildete der der Bevölkerung ebenſo nahe als dem Staate ſtehende Landrath den Abſchluß der ſtaatlichen Bürokratie nach unten; unter ihm ſtanden locale Verwaltungen, die wohl der Controlle, aber nicht in gleichem Maße wie heut der Diſciplinargewalt der Bezirks - oder Miniſterial-Bürokratie unterlagen. Die ländliche Be¬ völkerung erfreut ſich heut vermöge der ihr gewährten Selbſt¬ regirung nicht etwa einer ähnlichen Autonomie wie ſeit lange die der Städte, ſondern ſie hat in Geſtalt des Amtsvorſtehers einen Vorſtand erhalten, der durch Befehle von oben, vom Landrathe unter Androhung von Ordnungsſtrafen diſciplinariſch angehalten wird, im Sinne der ſtaatlichen Hierarchie ſeine Mitbürger in ſeinem Bezirke mit Liſten, Meldungen und Zumuthungen zu beläſtigen. Die regirte contribuens plebs hat in der landräthlichen Inſtanz ungeſchickten Eingriffen gegenüber nicht mehr die Garantie, welche12Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. früher in dem Verhältniß lag, daß die Kreiseingeſeſſenen, die Landräthe wurden, dies in ihrem Kreiſe lebenslänglich zu bleiben in der Regel entſchloſſen waren und die Leiden und Freuden des Kreiſes mitfühlten. Heut iſt der Landrathspoſten die unterſte Stufe der höhern Verwaltungslaufbahn, geſucht von jungen Aſſeſſoren, die den berechtigten Ehrgeiz haben, Carrière zu machen; dazu be¬ dürfen ſie der miniſteriellen Gunſt mehr als des Wohlwollens der Kreisbevölkerung und ſuchen erſtre durch hervorragenden Eifer und Anſpannung der Amtsvorſteher der angeblichen Selbſtverwaltung bei Durchführung auch minderwerthiger bürokratiſcher Verſuche zu gewinnen. Darin liegt zum großen Theil der Anlaß zur Ueber¬ laſtung ihrer Untergebenen in der localen „ Selbſtverwaltung “. Die „ Selbſtverwaltung “iſt alſo Verſchärfung der Bürokratie, Ver¬ mehrung der Beamten, ihrer Macht und ihrer Einmiſchung ins Privatleben.
Es liegt in der menſchlichen Natur, daß man von jeder Einrichtung die Dornen ſtärker empfindet als die Roſen, und daß die erſtern gegen das zur Zeit Beſtehende verſtimmen. Die alten Regirungsbeamten zeigten ſich, wenn ſie mit der regirten Be¬ völkerung in unmittelbare Berührung traten, pedantiſch und durch ihre Beſchäftigung am grünen Tiſche den Verhältniſſen des prak¬ tiſchen Lebens entfremdet, hinterließen aber den Eindruck, daß ſie ehrlich und gewiſſenhaft bemüht waren, gerecht zu ſein. Daſſelbe läßt ſich von den Organen der heutigen Selbſtverwaltung in Land¬ ſtrichen, wo die Parteien einander ſchärfer gegenüberſtehn, nicht in allen Stufen vorausſetzen; das Wohlwollen für politiſche Freunde, die Stimmung bezüglich des Gegners werden leicht ein Hinderniß unparteiiſcher Handhabung der Einrichtungen. Nach meinen Er¬ fahrungen aus jener und der ſpätern Zeit möchte ich übrigens den Vorzug der Unparteilichkeit im Vergleiche zwiſchen richterlichen und adminiſtrativen Entſcheidungen nicht den erſtern allein ein¬ räumen, wenigſtens nicht durchgängig. Ich habe im Gegentheil den Eindruck behalten, daß Richter an den kleinen und localen13Der Landrath ſonſt und jetzt. Parteiweſen und Richter. Gerichten den ſtarken Parteiſtrömungen leichter und hingebender unterliegen als Verwaltungsbeamte; und es iſt auch kein pſycho¬ logiſcher Grund dafür erfindlich, daß bei gleicher Bildung die letztern a priori für weniger gerecht und gewiſſenhaft in ihren amtlichen Entſcheidungen gehalten werden ſollten als die erſtern. Wohl aber nehme ich an, daß die amtlichen Entſchließungen an Ehrlichkeit und Angemeſſenheit dadurch nicht gewinnen, daß ſie collegialiſch gefaßt werden; abgeſehn davon, daß Arithmetik und Zufall bei dem Majoritätsvotum an die Stelle logiſcher Begrün¬ dung treten, geht das Gefühl perſönlicher Verantwortlichkeit, in welcher die weſentliche Bürgſchaft für die Gewiſſenhaftigkeit der Entſcheidung liegt, ſofort verloren, wenn dieſe durch anonyme Majoritäten erfolgt.
Der Geſchäftsgang in beiden Collegien, in Potsdam wie in Aachen, war für meine Strebſamkeit nicht ermuthigend geweſen. Ich fand die mir zugewieſene Beſchäftigung kleinlich und lang¬ weilig, und meine Arbeiten auf dem Gebiete der Mahlſteuerprozeſſe und der Beitragspflicht zum Bau des Dammes in Rotzis bei Wuſterhauſen haben mir kein Heimweh nach meiner damaligen Thätig¬ keit hinterlaſſen. Dem Ehrgeiz der Beamtenlaufbahn entſagend, erfüllte ich gerne den Wunſch meiner Eltern, in die feſtgefahrne Bewirthſchaftung unſrer pommerſchen Güter einzutreten. Auf dem Lande dachte ich zu leben und zu ſterben, nachdem ich Erfolge in der Landwirthſchaft erreicht haben würde, vielleicht auch im Kriege, wenn es einen gäbe. Soweit mir auf dem Lande Ehrgeiz verblieb, war es der des Landwehr-Lieutenants.
Die in meiner Kindheit empfangenen Eindrücke waren wenig dazu angethan, mich zu verjunkern. In der nach Peſtalozzi'ſchen und Jahn'ſchen Grundſätzen eingerichteten Plamann'ſchen Erziehungs¬14Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. anſtalt war das „ von “vor meinem Namen ein Nachtheil für mein kindliches Behagen im Verkehre mit Mitſchülern und Lehrern. Auch auf dem Gymnaſium zum grauen Kloſter habe ich einzelnen Lehrern gegenüber unter dem Adelshaſſe zu leiden gehabt, der ſich in einem großen Theile des gebildeten Bürgerthums als Reminiſcenz aus den Zeiten vor 1806 erhalten hatte. Aber ſelbſt die aggreſſive Tendenz, die in bürgerlichen Kreiſen unter Umſtänden zum Vor¬ ſchein kam, hat mich niemals zu einem Vorſtoße in entgegengeſetzter Richtung veranlaßt. Mein Vater war vom ariſtokratiſchen Vor¬ urtheile frei, und ſein inneres Gleichheitsgefühl war, wenn über¬ haupt, nur durch die Offizierseindrücke ſeiner Jugend, keineswegs aber durch Ueberſchätzung des Geburtsſtandes modificirt. Meine Mutter war die Tochter des in den damaligen Hofkreiſen für liberal geltenden Cabinetsraths Friedrichs des Großen, Friedrich Wil¬ helms II. und III. aus der Leipziger Profeſſorenfamilie Mencken, welche in ihren letzten, mir vorhergehenden Generationen nach Preußen in den auswärtigen und den Hofdienſt gerathen war. Der Freiherr vom Stein hat meinen Großvater Mencken als einen ehrlichen, ſtark liberalen Beamten bezeichnet. Unter dieſen Um¬ ſtänden waren die Auffaſſungen, die ich mit der Muttermilch ein¬ ſog, eher liberal als reactionär, und meine Mutter würde, wenn ſie meine miniſterielle Thätigkeit erlebt hätte, mit der Richtung derſelben kaum einverſtanden geweſen ſein, wenn ſie auch an den äußern Erfolgen meiner amtlichen Laufbahn große Freude empfunden haben würde. Sie war in bürokratiſchen und Hofkreiſen groß ge¬ worden; Friedrich Wilhelm IV. ſprach von ihr als „ Mienchen “im Andenken an Kinderſpiele. Ich darf es darnach für eine ungerechte Einſchätzung meiner Auffaſſung in jüngern Jahren erklären, wenn mir „ die Vorurtheile meines Standes “angeheftet werden und be¬ hauptet wird, daß Erinnerung an Bevorrechtigung des Adels der Ausgangspunkt meiner innern Politik geweſen wäre.
Auch die unumſchränkte Autorität der alten preußiſchen Königs¬ macht war und iſt nicht das letzte Wort meiner Ueberzeugung. 15„ Junkerthum. “ Vortheile und Nachtheile des Abſolutismus. Für letztre war allerdings auf dem Erſten Vereinigten Landtage dieſe Autorität des Monarchen ſtaatsrechtlich vorhanden, aber mit dem Wunſche und dem Zukunftsgedanken, daß die unumſchränkte Macht des Königs ſelber ohne Ueberſtürzung das Maß ihrer Be¬ ſchränkung zu beſtimmen habe. Der Abſolutismus bedarf in erſter Linie Unparteilichkeit, Ehrlichkeit, Pflichttreue, Arbeitskraft und innere Demuth des Regirenden; ſind ſie vorhanden, ſo werden doch männliche oder weibliche Günſtlinge, im beſten Falle die legitime Frau, die eigne Eitelkeit und Empfänglichkeit für Schmeicheleien dem Staate die Früchte des Königlichen Wohl¬ wollens verkürzen, da der Monarch nicht allwiſſend iſt und nicht für alle Zweige ſeiner Aufgabe gleiches Verſtändniß haben kann. Ich bin ſchon 1847 dafür geweſen, daß die Möglichkeit öffentlicher Kritik der Regirung im Parlamente und in der Preſſe erſtrebt werde, um den Monarchen vor der Gefahr zu behüten, daß Weiber, Höflinge, Streber und Phantaſten ihm Scheuklappen anlegten, die ihn hinderten, ſeine monarchiſchen Aufgaben zu überſehn und Mißgriffe zu vermeiden oder zu corrigiren. Dieſe meine Auffaſſung hat ſich um ſo ſchärfer ausgeprägt, je nachdem ich mit den Hof¬ kreiſen mehr vertraut wurde und gegen ihre Strömungen und gegen die Oppoſition des Reſſortpatriotismus das Staatsintereſſe zu vertreten hatte. Letztres allein hat mich geleitet, und es iſt eine Verleumdung, wenn ſelbſt wohlwollende Publiziſten mich be¬ ſchuldigen, daß ich je für ein Adelsregiment eingetreten ſei. Die Geburt hat mir niemals als Erſatz für Mangel an Tüchtigkeit gegolten; wenn ich für den Grundbeſitz eingetreten bin, ſo habe ich das nicht im Intereſſe beſitzender Standesgenoſſen gethan, ſondern weil ich im Verfall der Landwirthſchaft eine der größten Gefahren für unſern ſtaatlichen Beſtand ſehe. Mir hat immer als Ideal eine monarchiſche Gewalt vorgeſchwebt, welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ſtändiſche oder berufsgenoſſen¬ ſchaftliche Landesvertretung ſoweit controllirt wäre, daß Monarch oder Parlament den beſtehenden geſetzlichen Rechtszuſtand nicht16Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. einſeitig, ſondern nur communi consensu ändern können, bei Oeffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller ſtaatlichen Vorgänge durch Preſſe und Landtag.
Die Ueberzeugung, daß der uncontrollirte Abſolutismus, wie er durch Louis XIV. zuerſt in Scene geſetzt wurde, die richtigſte Regirungsform für deutſche Unterthanen ſei, verliert auch der, welcher ſie hat, durch Specialſtudien in den Hofgeſchichten und durch kritiſche Beobachtungen, wie ich ſie am Hofe des von mir perſönlich geliebten und verehrten Königs Friedrich Wilhelms IV. zur Zeit Manteuffel's anſtellen konnte. Der König war gläubiger, gottberufener Abſolutiſt, und die Miniſter nach Brandenburg in der Regel zufrieden, wenn ſie durch Königliche Unterſchrift gedeckt waren, auch wenn ſie perſönlich den Inhalt des Unterſchriebenen nicht hätten verantworten mögen. Ich erlebte damals, daß ein hoher und abſolutiſtiſch geſinnter Hofbeamter in meiner und mehrer ſeiner Collegen Gegenwart auf die Nachricht von dem Neufchâteler Aufſtand der Royaliſten in einer gewiſſen Verblüffung ſagte: „ Das iſt ein Royalismus, den man heut zu Tage doch nur noch ſehr fern vom Hofe erlebt. “ Sarkasmen lagen ſonſt nicht in der Ge¬ wohnheit dieſes alten Herrn.
Wahrnehmungen, welche ich auf dem Lande über Beſtechlich¬ keit und Chicane von Bezirksfeldwebeln und ſubalternen Beamten machte, und kleine Conflicte, in welche ich als Kreisdeputirter und Stellvertreter des Landraths mit der Regirung in Stettin gerieth, ſteigerten meine Abneigung gegen die Herrſchaft der Bürokratie. Von dieſen Conflicten mag der eine erwähnt ſein. Während ich den beurlaubten Landrath vertrat, erhielt ich von der Regirung den Auftrag, den Patron von Külz, der ich ſelbſt war, zur Ueber¬ nahme gewiſſer Laſten zu bewegen. Ich ließ den Auftrag liegen, um ihn dem Landrathe bei ſeiner Rückkehr zu übergeben, wurde wiederholt excitirt, und eine Ordnungsſtrafe von einem Thaler wurde mir durch Poſtvorſchuß auferlegt. Ich ſetzte nun ein Protokoll auf, in welchem ich erſtens als ſtellvertretender Landrath, zweitens17Conflicte mit der Bürokratie. Oppoſition des Erſten Verein. Landtags. als Patron von Külz als erſchienen aufgeführt war. Comparent machte in ſeiner Eigenſchaft ad 1 ſich die vorgeſchriebene Vor¬ haltung; entwickelte dagegen in der ad 2 die Gründe, aus denen er die Zumuthung ablehnen müſſe; worauf das Protokoll von ihm doppelt genehmigt und unterſchrieben wurde. Die Regirung ver¬ ſtand Scherz und ließ mir die Ordnungsſtrafe zurückzahlen. In andern Fällen kam es zu unangenehmeren Schraubereien. Ich wurde zur Kritik geneigt, alſo „ liberal “in dem Sinne, in welchem man das Wort damals in Kreiſen von Gutsbeſitzern anwandte zur Bezeichnung der Unzufriedenheit mit der Bürokratie, die ihrer¬ ſeits in der Mehrzahl ihrer Glieder liberaler als ich war, aber in andrem Sinne.
Aus meiner ſtändiſch-liberalen Stimmung, für die ich in Pommern kaum Verſtändniß und Theilnahme, in Schönhauſen aber die Zuſtimmung von Kreisgenoſſen wie Graf Wartensleben-Karow, Schierſtädt-Dahlen und Andern fand, denſelben Elementen, die zum Theil zu den ſpäter unter der neuen Aera gerichtlich ver¬ urtheilten Kirchen-Patronen gehörten, aus dieſer Stimmung wurde ich wieder entgleiſt durch die mir unſympathiſche Art der Oppoſition des Erſten Vereinigten Landtags, zu dem ich erſt für die letzten ſechs Wochen der Seſſion wegen Erkrankung des Abgeordneten von Brauchitſch als deſſen Stellvertreter einberufen wurde. Die Reden der Oſtpreußen Saucken-Tarputſchen, Alfred Auerswald, die Sentimentalität von Beckerath, der rheiniſch-franzöſiſche Liberalismus von Heydt und Meviſſen und die polternde Heftigkeit der Vincke¬ ſchen Reden waren mir widerlich, und auch wenn ich die Verhand¬ lungen heut leſe, ſo machen ſie mir den Eindruck von importirter Phraſen-Schablone. Ich hatte das Gefühl, daß der König auf dem richtigen Wege ſei und den Anſpruch darauf habe, daß man ihm Zeit laſſe und ihn in ſeiner eignen Entwicklung ſchone.
Ich gerieth mit der Oppoſition in Conflict, als ich das erſte Mal zu längerer Ausführung das Wort nahm, am 17. Mai 1847,Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 218Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage. indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den Krieg gegangen wären, um eine Verfaſſung zu erlangen, und meiner naturwüchſigen Entrüſtung darüber Ausdruck gab, daß die Fremd¬ herrſchaft an ſich kein genügender Grund zum Kampfe geweſen ſein ſolle1)Politiſche Reden, Cotta'ſche Ausgabe I 9.. Mir ſchien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß ſie ſich ſelbſt befreit habe, dem Könige eine in Verfaſſungsparagraphen zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm ſich aus¬ getobt hatte, meine Rede zu Ende.
Bei den Hoffeſtlichkeiten, die während des Vereinigten Land¬ tags ſtattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzeſſin von Preußen in augenfälliger Weiſe gemieden, jedoch aus ver¬ ſchiedenen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch populär war, von dem erſtern aus einem Grunde, der mir erſt ſpäter klar wurde. Wem er bei Empfang der Mitglieder vermied, mit mir zu ſprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe nach jeden angeredet hatte, abbrach, ſobald er an mich kam, um¬ kehrte oder quer durch den Saal abſchwenkte: ſo glaubte ich an¬ nehmen zu müſſen, daß meine Haltung als royaliſtiſcher Heißſporn die Grenzen überſchritt, die er ſich geſteckt hatte. Daß dieſe Aus¬ legung unrichtig, erkannte ich erſt einige Monate ſpäter, als ich auf meiner Hochzeitsreiſe Venedig berührte. Der König, der mich im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz und zur Tafel, mir ſo unerwartet, daß mein leichtes Reiſegepäck und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Mög¬ lichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erſcheinen. Mein Empfang war ein ſo wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politi¬ ſchem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geſchah. 19Gegen die Adreſſe. Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck. Bei dieſer Gelegenheit und bei kleinern Diners im Schloſſe über¬ zeugte ich mich, daß ich bei beiden allerhöchſten Herrſchaften in voller Gnade ſtand, und daß der König, wenn er zur Zeit der Landtagsſitzungen vermieden hatte, öffentlich mit mir zu reden, damit nicht eine Kritik meines politiſchen Verhaltens geben, ſondern nur ſeine Billigung den Andern zur Zeit nicht zeigen wollte.
Die erſte Kunde von den Ereigniſſen des 18. und 19. März 1848 erhielt ich im Hauſe meines Gutsnachbarn, des Grafen von Wartensleben auf Karow, zu dem ſich Berliner Damen geflüchtet hatten. Für die politiſche Tragweite der Vorgänge war ich im erſten Augenblick nicht ſo empfänglich wie für die Erbitterung über die Ermordung unſrer Soldaten in den Straßen. Politiſch, dachte ich, würde der König bald Herr der Sache werden, wenn er nur frei wäre; ich ſah die nächſte Aufgabe in der Befreiung des Königs, der in der Gewalt der Aufſtändiſchen ſein ſollte.
Am 20. meldeten mir die Bauern in Schönhauſen, es ſeien Deputirte aus dem dreiviertel Meilen entfernten Tangermünde an¬ gekommen, mit der Aufforderung, wie in der genannten Stadt geſchehn war, auf dem Thurme die ſchwarz-roth-goldne Fahne auf¬ zuziehn, und mit der Drohung, im Weigerungsfalle mit Verſtärkung wiederzukommen. Ich fragte die Bauern, ob ſie ſich wehren wollten: ſie antworteten mit einem einſtimmigen und lebhaften „ Ja “, und ich empfahl ihnen, die Städter aus dem Dorfe zu treiben, was unter eifriger Betheiligung der Weiber beſorgt wurde. Ich ließ dann eine in der Kirche vorhandene weiße Fahne mit ſchwarzem Kreuz, in Form des eiſernen, auf dem Thurme aufziehn und er¬ mittelte, was an Gewehren und Schießbedarf im Dorfe vorhanden21Der 18. und 19. März. Die Schönhauſer Bauern. war, wobei etwa fünfzig bäuerliche Jagdgewehre zum Vorſchein kamen. Ich ſelbſt beſaß mit Einrechnung der alterthümlichen einige zwanzig und ließ Pulver durch reitende Boten von Jerichow und Rathenow holen.
Dann fuhr ich mit meiner Frau auf umliegende Dörfer und fand die Bauern eifrig bereit, dem Könige nach Berlin zu Hülfe zu ziehn, beſonders begeiſtert einen alten Deichſchulzen Krauſe in Neuermark, der in meines Vaters Regiment „ Carabiniers “Wacht¬ meiſter geweſen war. Nur mein nächſter Nachbar ſympathiſirte mit der Berliner Bewegung, warf mir vor, eine Brandfackel in das Land zu ſchleudern, und erklärte, wenn die Bauern ſich wirklich zum Abmarſch anſchicken ſollten, ſo werde er auftreten und ab¬ wiegeln. Ich erwiderte: „ Sie kennen mich als einen ruhigen Mann, aber wenn Sie das thun, ſo ſchieße ich Sie nieder. “— „ Das werden Sie nicht, “meinte er. — „ Ich gebe mein Ehrenwort darauf, “verſetzte ich, „ und Sie wiſſen, daß ich das halte, alſo laſſen Sie das. “
Ich fuhr zunächſt allein nach Potsdam, wo ich am Bahnhofe Herrn von Bodelſchwingh ſah, der bis zum 19. Miniſter des Innern geweſen war. Es war ihm offenbar unerwünſcht, im Geſpräch mit mir, dem „ Reactionär “, geſehn zu werden; er erwiderte meine Begrüßung mit den Worten: „ Ne me parlez pas. “— „ Les paysans se lèvent chez nous, “erwiderte ich. „ Pour le Roi? “— „ Oui. “— „ Dieſer Seiltänzer, “ſagte er, die Hände auf die thränen¬ den Augen drückend. In der Stadt fand ich auf der Plantage an der Garniſonkirche ein Bivouak der Garde-Infanterie; ich ſprach mit den Leuten und fand Erbitterung über den befohlenen Rückzug und Verlangen nach neuem Kampfe. Auf dem Rückwege längs des Kanals folgten mir ſpionartige Civiliſten, welche Verkehr mit der Truppe geſucht hatten und drohende Reden gegen mich führten. Ich hatte vier Schuß in der Taſche, bedurfte ihrer aber nicht. Ich ſtieg bei meinem Freunde Roon ab, der als Mentor des Prinzen Friedrich Karl einige Zimmer in dem Stadtſchloſſe bewohnte,22Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. und beſuchte im „ Deutſchen Hauſe “den General von Möllen¬ dorf, noch ſteif von den Mißhandlungen, die er erlitten, als er mit den Aufſtändiſchen unterhandelte, und General von Prittwitz, der in Berlin commandirt hatte. Ich ſchilderte ihnen die Stim¬ mung des Landvolks; ſie gaben mir dagegen Einzelheiten über die Vorgänge bis zum 19. Morgens. Was ſie zu berichten hatten und was an ſpätern Nachrichten aus Berlin hergelangt war, konnte mich nur in dem Glauben beſtärken, daß der König nicht frei ſei.
Prittwitz, der älter als ich war und ruhiger urtheilte, ſagte: „ Schicken Sie uns keine Bauern, wir brauchen ſie nicht, haben Soldaten genug; ſchicken Sie uns lieber Kartoffeln und Korn, vielleicht auch Geld, denn ich weiß nicht, ob für die Verpflegung und Löhnung der Truppen ausreichend geſorgt werden wird. Wenn Zuzug käme, würde ich aus Berlin den Befehl erhalten und aus¬ führen müſſen, denſelben zurückzuſchlagen. “— „ So holen Sie den König heraus! “ſagte ich. Er erwiderte: „ Das würde keine große Schwierigkeit haben; ich bin ſtark genug, Berlin zu nehmen, aber dann haben wir wieder Gefecht; was können wir thun, nachdem der König uns befohlen hat, die Rolle des Beſiegten anzunehmen? Ohne Befehl kann ich nicht angreifen. “
Bei dieſem Zuſtand der Dinge kam ich auf den Gedanken, einen Befehl zum Handeln, der von dem unfreien Könige nicht zu erwarten war, von einer andern Seite zu beſchaffen, und ſuchte zu dem Prinzen von Preußen zu gelangen. An die Prinzeſſin verwieſen, deren Einwilligung dazu nöthig ſei, ließ ich mich bei ihr melden, um den Aufenthalt ihres Gemals zu erfahren (der, wie ich ſpäter erfuhr, auf der Pfaueninſel war). Sie empfing mich in einem Dienerzimmer im Entreſol, auf einem fichtenen Stuhle ſitzend, verweigerte die erbetene Auskunft und erklärte in lebhafter Erregung, daß es ihre Pflicht ſei, die Rechte ihres Sohnes zu wahren. Was ſie ſagte, beruhte auf der Vorausſetzung, daß der König und ihr Gemal ſich nicht halten könnten, und ließ auf23In Potsdam und Berlin. den Gedanken ſchließen, während der Minderjährigkeit ihres Sohnes die Regentſchaft zu führen. Um für dieſen Zweck die Mitwirkung der Rechten in den Kammern zu gewinnen, ſind mir formelle Eröffnungen durch Georg von Vincke gemacht worden. Da ich zum Prinzen von Preußen nicht gelangen konnte, machte ich einen Verſuch mit dem Prinzen Friedrich Karl, ſtellte ihm vor, wie nöthig es ſei, daß das Königshaus Fühlung mit der Armee behalte, und wenn Se. Majeſtät unfrei ſei, auch ohne Befehl des Königs für die Sache deſſelben handle. Er erwiderte in lebhafter Gemüthsbewegung, ſo ſehr ihm mein Gedanke zuſage, ſo fühle er ſich doch zu jung, ihn auszuführen, und könne dem Beiſpiel der Studenten, die ſich in die Politik miſchten, nicht folgen, er ſei auch nicht älter als die. Ich entſchloß mich dann zu dem Ver¬ ſuche, zu dem Könige zu gelangen.
Prinz Karl gab mir im Potsdamer Schloſſe als Legitimation und Paß das nachſtehende offene Schreiben:
Ueberbringer — mir wohlbekannt — hat den Auftrag, ſich bei Sr. Majeſtät meinem Allergnädigſten Bruder perſönlich nach Höchſtdeſſen Geſundheit zu erkundigen und mir Nachricht zu bringen, aus welchem Grunde mir ſeit 30 Stunden auf meine wiederholten eigenh. Anfragen „ ob ich nicht nach Berlin kommen dürfe “keine Antwort ward.
Potsdam 21. Maerz 1848 Carl Prinz v. Preußen.
1 Uhr N. M.
Ich fuhr nach Berlin. Vom Vereinigten Landtage her vielen Leuten von Anſehn bekannt, hatte ich für rathſam gehalten, meinen Bart abzuſcheeren und einen breiten Hut mit bunter Kokarde auf¬ zuſetzen. Wegen der gehofften Audienz war ich im Frack. Am Ausgange des Bahnhofes war eine Schüſſel mit einer Aufforderung zu Spenden für die Barrikadenkämpfer aufgeſtellt, daneben ein baum¬ langer Bürgerwehrmann mit der Muskete auf der Schulter. Ein Vetter von mir, mit dem ich beim Ausſteigen zuſammengetroffen24Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. war, zog die Börſe. „ Du wirſt doch für die Mörder nichts geben, “ſagte ich, und auf einen warnenden Blick, den er mir zuwarf, „ und Dich vor dem Kuhfuß nicht fürchten? “ Ich hatte in dem Poſten ſchon den mir befreundeten Kammergerichtsrath Meier er¬ kannt, der ſich auf den „ Kuhfuß “zornig umwandte und dann ausrief: „ I Jotte doch, Bismarck! wie ſehn Sie aus! Schöne Schweinerei hier! “
Die Bürgerwache im Schloſſe fragte mich, was ich dort wolle. Auf meine Antwort, ich hätte einen Brief des Prinzen Karl an den König abzugeben, ſagte der Poſten, mich mit mißtrauiſchen Blicken betrachtend, das könne nicht ſein; der Prinz befinde ſich eben beim Könige. Erſtrer mußte alſo noch vor mir von Pots¬ dam abgereiſt ſein. Die Wache verlangte den Brief zu ſehn, den ich hätte; ich zeigte ihn, da er offen und der Inhalt unverfänglich war, und man ließ mich gehn, aber nicht in's Schloß. Im Gaſthof Meinhard, parterre, lag ein mir bekannter Arzt im Fenſter, zu dem ich eintrat. Dort ſchrieb ich dem Könige, was ich ihm zu ſagen beabſichtigt hatte. Ich ging mit dem Briefe zum Fürſten Boguslaw Radziwill, der freien Verkehr hatte und ihn dem Könige übergeben konnte. Es ſtand darin u. A., die Revolution beſchränke ſich auf die großen Städte, und der König ſei Herr im Lande, ſobald er Berlin verlaſſe. Der König antwortete nicht, hat mir aber ſpäter geſagt, er habe den auf ſchlechtem Papier ſchlecht geſchrie¬ benen Brief als das erſte Zeichen von Sympathie, das er damals erhalten, ſorgfältig aufbewahrt.
Auf meinen Gängen durch die Straßen, um die Spuren des Kampfes anzuſehn, raunte ein Unbekannter mir zu: „ Wiſſen Sie, daß Sie verfolgt werden? “ Ein andrer Unbekannter flüſterte mir unter den Linden zu: „ Kommen Sie mit “; ich folgte ihm in die Kleine Mauerſtraße, wo er ſagte: „ Reiſen Sie ab, oder Sie werden verhaftet. “ „ Kennen Sie mich? “fragte ich. „ Ja, “antwortete er, „ Sie ſind Herr von Bismarck. “ Von welcher Seite mir die Gefahr drohen ſollte, von welcher die Warnung kam, habe ich nie erfahren. Der25In den Straßen von Berlin. Prittwitz und Möllendorf. Unbekannte verließ mich ſchnell. Ein Straßenjunge rief mir nach: „ Kiek, det is och en Franzos, “eine Aeußerung, an die ich durch manche ſpätere Ermittlung erinnert worden bin. Mein allein un¬ raſirter langer Kinnbart, der Schlapphut und Frack hatten dem Jungen einen exotiſchen Eindruck gemacht. Die Straßen waren leer, kein Wagen ſichtbar; zu Fuß nur einige Trupps in Bluſen und mit Fahnen, deren einer in der Friedrichſtraße einen lorbeer¬ bekränzten Barrikadenhelden zu irgend welcher Ovation geleitete.
Nicht wegen der Warnung, ſondern weil ich in Berlin keinen Boden für eine Thätigkeit fand, kehrte ich an demſelben Tage nach Potsdam zurück und beſprach mit den beiden Generalen Möllendorf und Prittwitz noch einmal die Möglichkeit eines ſelbſtändigen Handelns. „ Wie ſollen wir das anfangen? “ſagte Prittwitz. Ich klimperte auf dem geöffneten Klavier, neben dem ich ſaß, den Infanteriemarſch zum Angriff. Möllendorf fiel mir in Thränen und vor Wundſchmerzen ſteif um den Hals und rief: „ Wenn Sie uns das beſorgen könnten! “ „ Kann ich nicht, “erwiderte ich; „ aber wenn Sie es ohne Befehl thun, was kann Ihnen denn geſchehn? Das Land wird Ihnen danken und der König ſchließlich auch. “ Prittwitz: „ Können Sie mir Gewißheit ſchaffen, ob Wrangel und Hedemann mitgehn werden? wir können zur Inſubordination nicht noch Zwiſt in die Armee bringen. “ Ich verſprach das zu ermitteln, ſelbſt nach Magdeburg zu gehn und einen Vertrauten nach Stettin zu ſchicken, um die beiden commandirenden Generale zu ſondiren. Von Stettin kam der Beſcheid des Generals von Wrangel: „ Was Prittwitz thut, thue ich auch. “ Ich ſelbſt war in Magdeburg weniger glücklich. Ich gelangte zunächſt nur an den Adjutanten des Generals von Hede¬ mann, einen jungen Major, dem ich mich eröffnete und der mir ſeine Sympathie ausdrückte. Nach kurzer Zeit aber kam er zu mir in den Gaſthof und bat mich, ſofort abzureiſen, um mir eine Unannehmlichkeit und dem alten General eine Lächerlichkeit zu erſparen; derſelbe beabſichtige, mich als Hochverräther feſtnehmen zu laſſen. Der damalige Oberpräſident von Bonin, die höchſte26Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. politiſche Autorität der Provinz, hatte eine Proclamation erlaſſen des Inhalts: „ In Berlin iſt eine Revolution ausgebrochen; ich werde eine Stellung über den Parteien nehmen. “ Dieſe „ Stütze des Thrones “war ſpäter Miniſter und Inhaber hoher und einflu߬ reicher Aemter. General Hedemann gehörte dem Humboldtſchen Kreiſe an.
Nach Schönhauſen zurückgekehrt, ſuchte ich den Bauern begreif¬ lich zu machen, daß der bewaffnete Zug nach Berlin nicht thunlich ſei, gerieth aber dadurch in den Verdacht, in Berlin von dem revolutionären Schwindel angeſteckt zu ſein. Ich machte ihnen daher den Vorſchlag, der angenommen wurde, daß Deputirte aus Schönhauſen und andern Dörfern mit mir nach Potsdam reiſen ſollten, um ſelbſt zu ſehn, und den General von Prittwitz, viel¬ leicht den Prinzen von Preußen zu ſprechen. Als wir am 25. den Bahnhof von Potsdam erreichten, war der König eben dort ein¬ getroffen und von einer großen Menſchenmenge in wohlwollender Stimmung empfangen worden. Ich ſagte meinen bäuerlichen Be¬ gleitern: „ Da iſt der König, ich werde Euch ihm vorſtellen, ſprecht mit ihm. “ Das lehnten ſie aber ängſtlich ab und verzogen ſich ſchnell in die hinterſten Reihen. Ich begrüßte den König ehr¬ furchtsvoll, er dankte, ohne mich zu erkennen, und fuhr nach dem Schloſſe. Ich folgte ihm und hörte dort die Anrede, welche er im Marmorſaale an die Offiziere des Gardecorps richtete*)Die meiner Erinnerung und ſich unter einander widerſprechenden Berichte der Allgemeinen Preußiſchen, der Voſſiſchen und der Schleſiſchen Zeitung liegen mir vor. (Wolff, Berliner Revolutions-Chronik Band I 424.). Bei den Worten: „ Ich bin niemals freier und ſichrer geweſen als unter dem Schutze meiner Bürger “erhob ſich ein Murren und Aufſtoßen von Säbelſcheiden, wie es ein König von Preußen in Mitten ſeiner Offiziere nie gehört haben wird und hoffentlich nie wieder hören wird1)Sie findet ſich nach den Aufzeichnungen eines Offiziers in Gerlach's Denkwürdigkeiten I 148 f..
27Die Schönhauſer in Potsdam. Schreiben an Prittwitz.Mit verwundetem Gefühl kehrte ich nach Schönhauſen zurück.
Die Erinnerung an das Geſpräch, welches ich in Potsdam mit dem General-Lieutenant von Prittwitz gehabt hatte, veranlaßte mich, im Mai folgendes, von meinen Freunden in der Schönhauſer Gegend mitunterzeichnetes Schreiben an ihn zu richten:
„ Jeder, dem ein preußiſches Herz in der Bruſt ſchlägt, hat gewiß gleich uns Unterzeichneten mit Entrüſtung die Angriffe der Preſſe geleſen, welchen in den erſten Wochen nach dem 19. März die Königlichen Truppen zum Lohn dafür ausgeſetzt waren, daß ſie ihre Pflicht im Kampfe treu erfüllt und auf ihrem befohlenen Rückzuge ein unübertroffenes Beiſpiel militäriſcher Diſciplin und Selbſtverleugnung gegeben hatten. Wenn die Preſſe ſeit einiger Zeit eine ſchicklichere Haltung beobachtet, ſo liegt der Grund davon bei der dieſelbe beherrſchenden Partei weniger in einer ihr ſeither gewordenen richtigen Erkenntniß des Sachverhältniſſes, als darin, daß die ſchnelle Bewegung der neuern Ereigniſſe den Eindruck der ältern in den Hintergrund drängt, und man ſich das Anſehn giebt, den Truppen wegen ihrer neueſten Thaten*)Am 23. April hatten ſie Schleswig beſetzt. die frühern verzeihn zu wollen. Sogar bei dem Landvolk, welches die erſten Nachrichten von den Berliner Ereigniſſen mit kaum zu zügelnder Erbitterung aufnahm, fangen die Entſtellungen an Conſiſtenz zu gewinnen, welche von allen Seiten und ohne irgend erheblichen Widerſpruch, theils durch die Preſſe, theils durch die bei Gelegen¬ heit der Wahlen das Volk bearbeitenden Emiſſäre verbreitet worden ſind, ſo daß die wohlgeſinnten Leute unter dem Landvolk bereits glauben, es könne doch nicht ohne allen Grund ſein, daß der Berliner Straßenkampf von den Truppen, mit oder ohne Wiſſen und Willen des vielverleumdeten Thronerben, vorbedachter Weiſe herbeigeführt ſei, um dem Volke die Conceſſionen, welche der König gemacht hatte, zu entreißen. An eine Vorbereitung auf der andern Seite, an eine ſyſtematiſche Bearbeitung des Volkes, will kaum28Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. einer mehr glauben. Wir fürchten, daß dieſe Lüge, wenigſtens im Bewußtſein der untern Volksſchichten, auf lange Zeit hin zu Geſchichte werde, wenn ihr nicht durch ausführliche, mit Beweiſen belegte Darſtellungen des wahren Hergangs der Sache entgegen¬ getreten wird, und zwar ſobald als möglich, da bei dem außer aller Berechnung liegenden Lauf der Zeit heut und morgen neue Ereigniſſe eintreten könnten, welche die Aufmerkſamkeit des Publikums durch ihre Wichtigkeit dergeſtalt in Anſpruch nähmen, daß Erklärungen über die Vergangenheit keinen Anklang mehr fänden.
Es würde unſrer Meinung nach von dem erheblichſten Ein¬ fluß auf die politiſchen Anſichten der Bevölkerung ſein, wenn ſie über die unlautere Quelle der Berliner Bewegung einigermaßen aufgeklärt werden könnte, ſowie darüber, daß der Kampf der März¬ helden zur Erreichung des vorgeſchützten Zweckes, nämlich der Vertheidigung der von Sr. Majeſtät verſprochenen conſtitutionellen Inſtitutionen, ein unnöthiger war. Ew. Excellenz als Befehlshaber der ruhmwürdigen Truppen, welche bei jenen Ereigniſſen thätig waren, ſind unſres Erachtens vorzugsweiſe berufen und im Stande, die Wahrheit über dieſelben auf überzeugende Weiſe ans Licht zu bringen. Die Ueberzeugung, wie wichtig dies für unſer Vaterland ſein und wie ſehr der Ruhm der Armee dabei gewinnen würde, muß uns zur Entſchuldigung dienen, wenn wir Ew. Excellenz ſo dringend als ehrerbietig bitten, eine, inſoweit die dienſtlichen Rück¬ ſichten es geſtatten, genaue und mit Beweisſtücken verſehene Dar¬ ſtellung der Berliner Ereigniſſe vom militäriſchen Standpunkt ſo bald als möglich der Oeffentlichkeit übergeben zu laſſen1)Bismarck-Jahrbuch VI 8 ff.. “
Der General von Prittwitz iſt auf dieſe Anregung nicht ein¬ gegangen. Erſt am 18. März 1891 hat der General-Lieutenant z. D. von Meyerinck in dem Beiheft des „ Militär-Wochenblatts “eine Darſtellung zu dem von mir bezeichneten Zwecke geliefert, leider ſo ſpät, daß grade die wichtigſten Zeugen, namentlich die Flügel¬29Mittheilungen aus Geſprächen mit Minutoli, Prittwitz. adjutanten Edwin von Manteuffel und Graf Oriola, inzwiſchen verſtorben waren.
Als Beitrag zu der Geſchichte der Märztage ſeien hier Ge¬ ſpräche aufgezeichnet, welche ich einige Wochen danach mit Perſonen hatte, die mich, den ſie als Vertrauensmann der Conſervativen be¬ trachteten, aufſuchten, die einen, um ſich über ihr Verhalten vor und an dem 18. März rechtfertigend auszuſprechen, die andern, um mir die gemachten Wahrnehmungen mitzutheilen. Der Polizei¬ präſident von Minutoli beklagte ſich dabei, daß ihm der Vorwurf gemacht werde, er habe den Aufſtand vorausgeſehn und nichts zur Verhinderung deſſelben gethan, und beſtritt, daß irgend welche auffallende Symptome zu ſeiner Kenntniß gekommen wären. Auf meine Entgegnung, mir ſei in Genthin von Augenzeugen geſagt worden, daß während der Tage vor dem 18. März fremdländiſch ausſehende Männer, meiſtens polniſch ſprechend, einige offen Waffen mit ſich führend, die andern mit ſchweren Gepäckſtücken, in der Richtung nach Berlin paſſirt wären, erzählte Minutoli, der Miniſter von Bodelſchwingh habe ihn Mitte März kommen laſſen und Be¬ ſorgniß über die herrſchende Gährung geäußert; darauf habe er denſelben in eine Verſammlung vor den Zelten geführt. Nachdem Bodelſchwingh die dort gehaltenen Reden angehört, habe er ge¬ ſagt: „ Die Leute ſprechen ja ganz verſtändig, ich danke Ihnen, Sie haben mich vor einer Thorheit bewahrt. “ Bedenklich für die Be¬ urtheilung Minutoli's war ſeine Popularität in den nächſten Tagen nach dem Straßenkampfe. Sie war für einen Polizeipräſidenten als Ergebniß eines Aufruhrs unnatürlich.
Auch der General von Prittwitz, der die Truppen um das Schloß befehligt hatte, ſuchte mich auf und erzählte mir, mit ihrem Abzuge ſei es ſo zugegangen: Nachdem ihm die Procla¬ mation „ An meine lieben Berliner “bekannt geworden, habe er das Gefecht abgebrochen, aber den Schloßplatz, das Zeughaus und die einmündenden Straßen zum Schutze des Schloſſes beſetzt ge¬ halten. Da ſei Bodelſchwingh an ihn mit der Forderung heran¬30Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. getreten: „ Der Schloßplatz muß geräumt werden. “ „ Das iſt un¬ möglich, “habe er geantwortet, „ damit gebe ich den König preis. “ Darauf Bodelſchwingh: „ Der König hat in ſeiner Proclamation befohlen, daß alle, öffentlichen Plätze‘*)Die Proclamation ſagt: „ alle Straßen und Plätze “. geräumt werden ſollen; iſt der Schloßplatz ein öffentlicher Platz oder nicht? Noch bin ich Miniſter, und ich habe es wohl auswendig gelernt, was ich als ſolcher zu thun habe. Ich fordere Sie auf, den Schloßplatz zu räumen. “
„ Was, “ſo ſchloß Prittwitz ſeine Mittheilung, „ was hätte ich dar¬ auf anders thun ſollen, als abmarſchiren? “ „ Ich würde, “antwortete ich, „ es für das Zweckmäßigſte gehalten haben, einem Unteroffizier zu befehlen:, Nehmen Sie dieſen Civiliſten in Verwahrung. ‘“ Pritt¬ witz erwiderte: „ Wenn man vom Rathhauſe kommt, iſt man immer klüger. Sie urtheilen als Politiker; ich handelte ausſchließlich als Soldat auf Weiſung des auf eine unterſchriebene allerhöchſte Procla¬ mation ſich ſtützenden dirigirenden Miniſters. “— Von andrer Seite habe ich gehört, Prittwitz habe dieſe ſeine letzte im Freien ſtatt¬ findende Unterredung mit Bodelſchwingh damit abgebrochen, daß er blauroth vor Zorn den Degen in die Scheide geſtoßen und die Aufforderung gemurmelt habe, die Götz von Berlichingen dem Reichscommiſſar durch das Fenſter zuruft. Dann habe er ſein Pferd links gedreht und ſei durch die Schloßfreiheit ſchweigend und im Schritt abgeritten. Durch einen vom Schloſſe geſendeten Offizier nach dem Verbleib der Truppen gefragt, habe er biſſig geantwortet: „ Die ſind mir durch die Finger gegangen, wo Alle mitreden**)Das Schreiben des Paſtors von Bodelſchwingh vom 8. November 1891 (Kreuzzeitung vom 18. November 1891, Nr. 539) und die Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopolds von Gerlach ſind mir bekannt.. “
Von Offizieren aus der nächſten Umgebung Sr. Majeſtät habe ich Folgendes gehört. Sie ſuchten den König auf, der momentan nicht zu finden war, weil er aus natürlichen Gründen ſich zurück¬ gezogen hatte. Als er wieder zum Vorſchein kam und gefragt wurde: „ Haben Ew. Majeſtät befohlen, daß die Truppen abmarſchiren? “31Geſpräch mit Prittwitz. Fürſt Lichnowſki. Adreßdebatte. erwiderte der König: „ Nein, “— „ Sie ſind aber ſchon auf dem Ab¬ marſch, “ſagte der Adjutant und führte den König an ein Fenſter. Der Schloßplatz war ſchwarz von Civiliſten, hinter denen noch die letzten Bajonette der abziehenden Soldaten zu ſehn waren. „ Das habe ich nicht befohlen, das kann nicht ſein, “rief der König aus und hatte den Ausdruck der Beſtürzung und Entrüſtung.
Ueber den Fürſten Lichnowſki wurde mir erzählt, daß er ab¬ wechſelnd oben im Schloſſe einſchüchternde Nachrichten über Schwäche der Truppen, Mangel an Lebensmitteln und Munition verbreitet und unten auf dem Platze den Aufſtändiſchen deutſch und polniſch zugeredet habe auszuhalten, oben habe man den Muth verloren.
In der kurzen Seſſion des Zweiten Vereinigten Landtags ſagte ich am 2. April1)Politiſche Reden Bd. I S. 45 f.:
„ Ich bin einer der wenigen, welche gegen die Adreſſe ſtimmen werden, und ich habe um das Wort nur deshalb gebeten, um dieſe Abſtimmung zu motiviren und Ihnen zu erklären, daß ich die Adreſſe, inſoweit ſie ein Programm der Zukunft iſt, ohne Weitres acceptire, aber aus dem alleinigen Grunde, weil ich mir nicht anders helfen kann. — Nicht freiwillig, ſondern durch den Drang der Umſtände getrieben, thue ich es; denn ich habe meine Anſicht ſeit den ſechs Monaten nicht gewechſelt; ich glaube, daß dies Miniſterium das einzige iſt, welches uns aus der gegenwärtigen Lage einem geordneten und geſetzmäßigen Zuſtande zuführen kann, und aus dieſem Grunde werde ich demſelben meine geringe Unter¬ ſtützung überall widmen, wo es mir möglich iſt. Was mich aber veranlaßt, gegen die Adreſſe zu ſtimmen, ſind die Aeußerungen von Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geſchehn iſt. Die Vergangenheit iſt begraben, und ich bedaure es ſchmerzlicher32Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. als Viele von Ihnen, daß keine menſchliche Macht im Stande iſt, ſie wieder zu erwecken, nachdem die Krone ſelbſt die Erde auf ihren Sarg geworfen hat. Aber wenn ich dies, durch die Gewalt der Umſtände gezwungen, acceptire, ſo kann ich doch nicht aus meiner Wirkſamkeit auf dem Vereinigten Landtage mit der Lüge ſcheiden, daß ich für das danken und mich freuen ſoll über das, was ich mindeſtens für einen irrthümlichen Weg halten muß. Wenn es wirklich gelingt, auf dem neuen Wege, der jetzt eingeſchlagen iſt, ein einiges deutſches Vaterland, einen glücklichen oder auch nur geſetzmäßig geordneten Zuſtand zu erlangen, dann wird der Augenblick gekommen ſein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung der Dinge meinen Dank ausſprechen kann, jetzt aber iſt es mir nicht möglich. “
Ich wollte mehr ſagen, war aber durch innere Bewegung in die Unmöglichkeit verſetzt, weiter zu ſprechen, und verfiel in einen Weinkrampf, der mich zwang, die Tribüne zu verlaſſen.
Wenige Tage zuvor hatte mir ein Angriff einer Magdeburger Zeitung Anlaß gegeben, an die Redaction das nachſtehende Schreiben zu richten, in welchem ich eine der Errungenſchaften, das ſtürmiſch geforderte und durch die Aufhebung der Cenſur gewährte „ Recht der freien Meinungsäußerung “, auch für mich in Anſpruch nahm, nicht ahnend, daß mir daſſelbe 42 Jahre ſpäter1)Durch den Erlaß Caprivi's vom 23. Mai 1890. würde beſtritten werden.
„ Eure Wohlgeboren haben in die heutige Nummer Ihrer Zeitung einen, Aus der Alt¬ mark‘ datirten Artikel aufgenommen, der einzelne Perſönlichkeiten verdächtigt, indirect auch mich, und ich ſtelle daher Ihrem Gerech¬ tigkeitsgefühl anheim, ob Sie nachſtehende Erwiderung aufnehmen wollen. Ich bin zwar nicht der in jenem Artikel bezeichnete Herr, welcher von Potsdam nach Stendal gekommen ſein ſoll, aber ich33Schreiben an eine Magdeburger Zeitung. habe ebenfalls in der vorigen Woche den mir benachbarten Ge¬ meinden erklärt, daß ich den König in Berlin nicht für frei hielte, und dieſelben zur Abſendung einer Deputation an die geeignete Stelle aufgefordert, ohne daß ich mir deshalb die ſelbſtſüchtigen Motive, welche Ihr Correſpondent anführt, unterſchieben laſſen möchte. Es iſt 1) ſehr erklärlich, daß jemand, dem alle mit der Perſon des Königs nach dem Abzug der Truppen vorgegangenen Ereigniſſe bekannt waren, die Meinung faſſen konnte, der König ſei nicht Herr, zu thun und zu laſſen, was er wollte; 2) halte ich jeden Bürger eines freien Staates für berechtigt, ſeine Mei¬ nung gegen ſeine Mitbürger ſelbſt dann zu äußern, wenn ſie der augenblicklichen öffentlichen Meinung widerſpricht: ja nach den neuſten Vorgängen möchte es ſchwer ſein, jemand das Recht zu beſtreiten, ſeine politiſchen Anſichten durch Volksaufregung zu unterſtützen; 3) wenn alle Handlungen Sr. Majeſtät in den letzten 14 Tagen durchaus freiwillig geweſen ſind, was weder Ihr Correſpondent noch ich mit Sicherheit wiſſen können, was hätten dann die Berliner erkämpft? Dann wäre der Kampf am 18. und 19. mindeſtens ein überflüſſiger und zweckloſer geweſen und alles Blutvergießen ohne Veranlaſſung und ohne Erfolg; 4) glaube ich die Geſinnung der großen Mehrzahl der Ritterſchaft dahin ausſprechen zu können, daß in einer Zeit, wo es ſich um das ſociale und politiſche Fortbeſtehn Preußens handelt, wo Deutſchland von Spaltungen in mehr als einer Richtung bedroht iſt, wir weder Zeit noch Neigung haben, unſre Kräfte an reactionäre Verſuche, oder an Vertheidigung der unbedeutenden uns bisher verbliebenen gutsherrlichen Rechte zu vergeuden, ſondern gern bereit ſind, dieſe auf Würdigere zu übertragen, indem wir dieſes als untergeordnete Frage, die Herſtellung rechtlicher Ordnung in Deutſchland, die Er¬ haltung der Ehre und Unverletzlichkeit unſres Vaterlandes aber als die für jetzt alleinige Aufgabe eines jeden betrachten, deſſen Blick auf unſre politiſche Lage nicht durch Parteianſichten ge¬ trübt iſt.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 334Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.Gegen die Veröffentlichung meines Namens habe ich, falls Sie Vorſtehendes aufnehmen wollen, nichts einzuwenden. Geneh¬ migen Sie die Verſicherung der größten Hochachtung, mit der ich bin Schönhauſen bei Jerichow, 30. März 1848 Eurer Wohlgeboren ergebenſter Bismarck. “
Ich bemerke dazu, daß ich mich von Jugend auf ohne „ v “unterſchrieben und meine heutige Unterzeichnung v. B. erſt aus Widerſpruch gegen die Anträge auf Abſchaffung des Adels 1848 angenommen habe.
Der nachſtehende Artikel, deſſen Concept in meiner Handſchrift ſich erhalten hat, iſt, wie der Inhalt ergiebt, in der Zeit zwiſchen dem Zweiten Vereinigten Landtage und den Wahlen zur National¬ verſammlung geſchrieben. In welcher Zeitung er erſchienen iſt, hat ſich nicht ermitteln laſſen1)Bismarck-Jahrbuch VI 10 ff..
„ Aus der Altmark.
Ein Theil unſrer Mitbürger, welcher ſich unter dem Syſtem der ſtändiſchen Sonderung einer ſtarken Vertretung erfreute, näm¬ lich die Bewohner der Städte, fangen an zu fühlen, daß bei dem neuen Wahlmodus, nach welchem in faſt allen Kreiſen die ſtädtiſche Bevölkerung mit einer der Zahl nach ſehr überwiegenden ländlichen zu concurriren haben wird, ihre Intereſſen gegen die der großen Maſſen der Landbewohner werden zurückſtehn müſſen. Wir leben in der Zeit der materiellen Intereſſen, und nach Feſtſtellung der neuen Verfaſſung, nach Beruhigung der jetzigen Gährung, wird ſich der Kampf der Parteien darum drehn, ob die Staatslaſten gleichmäßig nach dem Vermögen getragen, oder ob ſie überwiegend dem immer ſteuerbereiten Grund und Boden aufgelegt werden ſollen, der die bequemſte und ſicherſte Erhebung geſtattet und von35Ein Zeitungsartikel. deſſen Umfang nie etwas verheimlicht werden kann. Es iſt natür¬ lich, daß die Städter dahin ſtreben, den Steuererheber von der Fabrikinduſtrie, von dem ſtädtiſchen Häuſerwerth, von dem Rentier und Capitaliſten ſo fern als möglich zu halten, und ihn lieber auf Acker und Wieſen und deren Producte anzuweiſen. Ein Anfang iſt damit gemacht, daß in den bisher mahlſteuerpflichtigen Städten die unterſten Stufen von der neuen directen Steuer frei bleiben, während ſie auf dem Lande nach wie vor Klaſſenſteuer zahlen. Wir hören ferner von Maßregeln zur Unterſtützung der Induſtrie auf Koſten der Staatskaſſen, aber wir hören nicht davon, daß man dem Landmanne zu Hülfe kommen wolle, der wegen der kriegeriſchen Ausſichten auf der Seeſeite ſeine Producte nicht ver¬ werthen kann, aber der durch Kündigung von Capitalien in dieſer geldarmen Zeit ſeinen Hof zu verkaufen genöthigt wird. Ebenſo hören wir mit Bezug auf indirecte Beſteuerung mehr von dem Schutzzollſyſtem zu Gunſten inländiſcher Fabrication und Gewerbe ſprechen, als von dem für die ackerbautreibende Bevölkerung nöthigen freien Handel. Es iſt wie geſagt natürlich, daß ein Theil der ſtädtiſchen Bevölkerung mit Rückſicht auf die beregten Streitpunkte kein Mittel ſcheut, bei den bevorſtehenden Wahlen das eigne Intereſſe zur Geltung zu bringen und die Vertretung der Land¬ bewohner zu ſchwächen. Ein ſehr wirkſamer Hebel zu letzterem Zweck liegt in den Beſtrebungen, der ländlichen Bevölkerung die¬ jenigen ihrer Mitglieder zu verdächtigen, deren Bildung und Intelligenz ſie befähigen könnte, die Intereſſen des Grund und Bodens auf der Nationalverſammlung mit Erfolg zu vertreten; man bemüht ſich daher, eine Mißſtimmung gegen die Ritterguts¬ beſitzer künſtlich zu befördern, indem man meint, wenn man dieſe Klaſſe unſchädlich macht, ſo müſſen die Landbewohner entweder Advokaten oder andre Städter wählen, die nach den ländlichen Intereſſen nicht viel fragen, oder es kommen meiſt ſchlichte Land¬ leute, und die denkt man durch die Beredſamkeit und kluge Politik der Parteiführer in der Nationalverſammlung ſchon unvermerkt36Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. zu leiten. Man ſucht daher die bisherige Ritterſchaft als ſolche Leute zu bezeichnen, die den alten Zuſtand erhalten und zurück¬ führen wollen, während die Rittergutsbeſitzer wie jeder andre vernünftige Menſch ſich ſelbſt ſagen, daß es unſinnig und unmög¬ lich wäre, den Strom der Zeit aufhalten oder zurückdämmen zu wollen. — Man ſucht ferner auf den Dörfern die Vorſtellung zu wecken und zu beſtärken, daß jetzt die Zeit gekommen ſei, ſich von allen den Zahlungen, die nach den Separationsreceſſen an Ritter¬ güter zu leiſten ſind, ohne Entſchädigung loszumachen; aber man verſchweigt dabei, daß eine Regirung, die Recht und Ordnung will, nicht damit anfangen kann, eine Klaſſe von Staatsbürgern zu plündern, um eine andre zu beſchenken, daß alle Rechte, die auf Geſetz, Erkenntniß oder Vertrag beruhn, alle Forderungen, die Einer an den Andern haben mag, alle Anſprüche auf hypotheka¬ riſche Zinſen und Capitalien denen, die ſie haben, mit demſelben Rechtstitel genommen werden können, mit welchem man den Ritter¬ gütern ihre Renten ohne volle Entſchädigung nehmen möchte. Man täuſcht den Landmann darüber, daß er mit dem Rittergutsbeſitzer das gleiche Intereſſe des Landwirthes und den gleichen Gegner in dem ausſchließlichen Induſtrieſyſteme hat, welches ſeine Hand nach der Herrſchaft in dem preußiſchen Staate ausſtreckt; gelingt dieſe Täuſchung, ſo wollen wir hoffen, daß ſie nicht lange dauert, daß man ihr durch eine ſchnelle, geſetzliche Abſchaffung der bis¬ herigen politiſchen Rechte der Rittergüter ein Ende mache, und daß der ländlichen Bevölkerung nicht erſt dann, wenn es an's Be¬ zahlen geht, dann aber zu ſpät, die Augen darüber aufgehn, wie fein ſie von den klugen Städtern überliſtet iſt. “
Während der Zweite Vereinigte Landtag zuſammentrat, nahm Georg von Vincke im Namen ſeiner Parteigenoſſen und angeblich in höherem Auftrage meine Mitwirkung für den Plan in An¬ ſpruch, den König durch den Landtag zur Abdankung zu bewegen und mit Uebergehung, aber im angeblichen Einverſtändniß des37Antrag auf Einſetzung einer Regentſchaft. Prinzen von Preußen, eine Regentſchaft der Prinzeſſin für ihren minderjährigen Sohn herzuſtellen. Ich lehnte ſofort ab und er¬ klärte, daß ich einen Antrag des Inhalts mit dem Antrage auf gerichtliches Verfahren wegen Hochverraths beantworten würde. Vincke vertheidigte ſeine Anregung als eine politiſch gebotene, durchdachte und vorbereitete Maßregel. Er hielt den Prinzen wegen der von ihm leider nicht verdienten Bezeichnung „ Kartätſchen¬ prinz “für unmöglich und behauptete, daß deſſen Einverſtändniß ſchriftlich vorliege. Damit hatte er eine Erklärung im Sinne, welche der ritterliche Herr ausgeſtellt haben ſoll, daß er, wenn ſein König dadurch vor Gefahr geſchützt werden könne, bereit ſei auf ſein Erbrecht zu verzichten. Ich habe die Erklärung nie geſehn, und der hohe Herr hat mir nie davon geſprochen. Herr von Vincke gab ſeinen Verſuch, mich für die Regentſchaft der Prinzeſſin zu gewinnen, ſchließlich kühl und leicht mit der Erklärung auf, ohne Mit¬ wirkung der äußerſten Rechten, die er als durch mich vertreten anſah, werde der König nicht zum Rücktritt zu beſtimmen ſein. Die Ver¬ handlung fand bei mir im Hôtel des Princes, parterre rechts, ſtatt und enthielt beiderſeits mehr, als ſich niederſchreiben läßt.
Von dieſem Vorgange und von der Ausſprache, welche ich von ſeiner Gemalin während der Märztage in dem Potsdamer Stadtſchloſſe zu hören bekommen hatte, habe ich dem Kaiſer Wilhelm niemals geſprochen und weiß nicht, ob Andre es gethan haben. Ich habe ihm dieſe Erlebniſſe verſchwiegen auch in Zeiten wie die des vierjährigen Conflicts, des öſtreichiſchen Krieges und des Cultur¬ kampfs, wo ich in der Königin Auguſta den Gegner erkennen mußte, welcher meine Fähigkeit, zu vertreten was ich für meine Pflicht hielt, und meine Nerven auf die ſchwerſte Probe im Leben geſtellt hat.
Dagegen muß ſie ihrem Gemal nach England geſchrieben haben, daß ich verſucht hatte, zu ihm zu gelangen, um ſeine Unter¬ ſtützung für eine contrarevolutionäre Bewegung zur Befreiung des Königs zu gewinnen; denn als er auf der Rückkehr am 7. Juni einige Minuten auf dem Genthiner Bahnhof verweilte und ich38Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. mich in den Hintergrund gezogen hatte, weil ich nicht wußte, ob er in ſeiner Eigenſchaft als „ Abgeordneter für Wirſitz “mit mir geſehn ſein wollte, erkannte er mich in den hinterſten Reihen des Publikums, bahnte ſich den Weg durch die vor mir Stehenden, reichte mir die Hand und ſagte: „ Ich weiß, daß Sie für mich thätig geweſen ſind, und werde Ihnen das nie vergeſſen. “
Meine erſte Begegnung mit ihm war im Winter 1834 / 35 auf einem Hofballe geweſen. Ich ſtand neben einem Herrn von Schack aus Mecklenburg, der, wie ich, lang gewachſen und auch in Juſtiz - Referendarien-Uniform war, was den Prinzen zu dem Scherz ver¬ anlaßte, die Juſtiz ſuche ſich jetzt die Leute wohl nach dem Garde¬ maße aus. Dann zu mir gewandt, fragte er mich, weshalb ich nicht Soldat geworden ſei. „ Ich hatte den Wunſch, “erwiderte ich, „ aber die Eltern waren dagegen, weil die Ausſichten zu ungünſtig ſeien. “ Worauf der Prinz ſagte: „ Brillant iſt die Carrière allerdings nicht, aber bei der Juſtiz auch nicht. “ Während des Erſten Vereinigten Landtags, dem er als Mitglied der Herren¬ curie angehörte, redete er mich in den vereinigten Sitzungen wieder¬ holt in einer Weiſe an, die ſein Wohlgefallen an der damals von mir angenommnen politiſchen Haltung bezeugte.
Bald nach der Begegnung in Genthin lud er mich nach Babelsberg ein. Ich erzählte ihm mancherlei aus den Märztagen, was ich theils erlebt, theils von Offizieren gehört hatte, namentlich über die Stimmung, in der die Truppen den Rückzug aus Berlin angetreten und die ſich in ſehr bittern, auf dem Marſch geſungenen Verſen Luft gemacht hatte. Ich war hart genug, ihm das Gedicht vorzuleſen, welches für die Stimmung der Truppen auf dem befohlenen Rückzuge aus Berlin hiſtoriſch bezeichnend iſt:
Er brach darüber in ſo heftiges Weinen aus, wie ich es nur noch einmal erlebt habe, als ich ihm in Nikolsburg wegen Fort¬ ſetzung des Krieges Widerſtand leiſtete (ſ. Kap. 20).
40Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.Bei der Prinzeſſin, ſeiner Gemalin, ſtand ich bis zu meiner Ernennung nach Frankfurt ſo weit in Gnade, daß ich gelegentlich nach Babelsberg befohlen wurde, um ihre politiſchen Auffaſſungen und Wünſche zu vernehmen, deren Darlegung mit den Worten zu ſchließen pflegte: „ Es freut mich, Ihre Meinung gehört zu haben, “obſchon ich nicht in die Lage gekommen war, mich zu äußern. Der damals 18 - und 19jährige, aber jünger ausſehende ſpätere Kaiſer Friedrich pflegte in ſolchen Fällen ſeine politiſche Sympathie mir dadurch zu erkennen zu geben, daß er mich im Dunkel der abend¬ lichen Abfahrt beim Einſteigen in den Wagen mit lebhaftem Hände¬ druck freundlich begrüßte in einer Art, als ob ihm eine offne Be¬ kundung ſeiner Geſinnung bei Licht nicht geſtattet wäre.
Die Frage der deutſchen Einheit war in den letzten beiden Jahrzehnten unter Friedrich Wilhelm III. nur in Geſtalt der burſchen¬ ſchaftlichen Strebungen und deren ſtrafrechtlicher Repreſſion in die äußere Erſcheinung getreten. Friedrich Wilhelms IV. deutſches oder, wie er ſchrieb, „ teutſches “Nationalgefühl war gemüthlich lebhafter wie das ſeines Vaters, aber durch mittelalterliche Ver¬ brämung und durch Abneigung gegen klare und feſte Entſchlüſſe in der praktiſchen Bethätigung gehemmt. Daher verſäumte er die Gelegenheit, die im März 1848 günſtig war; und es ſollte das nicht die einzige verſäumte bleiben. In den Tagen zwiſchen den ſüd¬ deutſchen Revolutionen, einſchließlich der Wiener, und dem 18. März, ſo lange es vor Augen lag, daß von allen deutſchen Staaten, Oeſtreich inbegriffen, Preußen der einzige feſtſtehende geblieben war, waren die deutſchen Fürſten bereit, nach Berlin zu kommen und Schutz zu ſuchen unter Bedingungen, die in unitariſcher Rich¬ tung über das hinausgingen, was heut verwirklicht iſt; auch das bairiſche Selbſtbewußtſein war erſchüttert. Wenn es zu dem, nach41Stellung zur Prinzeſſin. Politiſche Lage. einer Erklärung der preußiſchen und der öſtreichiſchen Regirung vom 10. März auf den 20. März nach Dresden berufenen Fürſtencongreß gekommen wäre, ſo wäre nach der Stimmung der betheiligten Höfe eine Opferwilligkeit auf dem Altar des Vaterlandes wie die fran¬ zöſiſche vom 4. Auguſt 1789 zu erwarten geweſen. Dieſe Auffaſſung entſprach den thatſächlichen Verhältniſſen; das militäriſche Preußen war ſtark und intact genug, um die revolutionäre Welle zum Stehn zu bringen und den übrigen deutſchen Staaten für Geſetz und Ordnung in Zukunft Garantien zu bieten, welche den andern Dynaſtien damals annehmbar erſchienen.
Der 18. März war ein Beiſpiel, wie ſchädlich das Eingreifen roher Kräfte auch den Zwecken werden kann, die dadurch er¬ reicht werden ſollen. Indeſſen war am 19. Morgens noch nichts verloren. Der Aufſtand war niedergeſchlagen. Führer deſſelben, darunter der mir von der Univerſität her bekannte Aſſeſſor Rudolf Schramm, hatten ſich nach Deſſau geflüchtet, hielten die erſte Nach¬ richt von dem Rückzuge der Truppen für eine polizeiliche Falle und kehrten erſt nach Berlin zurück, nachdem ſie die Zeitungen erhalten hatten. Ich glaube, daß mit feſter und kluger Ausnutzung des Sieges; des einzigen, der damals von einer Regirung in Europa gegen Aufſtände erfochten war, die deutſche Einheit in ſtrengerer Form zu erreichen war, als zur Zeit meiner Betheiligung an der Regirung ſchließlich geſchehn iſt. Ob das nützlicher und dauer¬ hafter geweſen wäre, laſſe ich dahingeſtellt ſein.
Wenn der König im März die Empörung in Berlin definitiv niederwarf und auch nachher nicht wieder aufkommen ließ, ſo würden wir von dem Kaiſer Nicolaus nach dem Zuſammenbruch Oeſt¬ reichs keine Schwierigkeiten in der Neubildung einer haltbaren Organiſation Deutſchlands erfahren haben. Seine Sympathien waren urſprünglich mehr nach Berlin als nach Wien gerichtet, wenn auch Friedrich Wilhelm IV. perſönlich dieſe nicht beſaß und bei der Verſchiedenheit der Charaktere nicht beſitzen konnte.
Der Umzug durch die Straßen in den Farben der Burſchen¬42Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. ſchaft am 21. März war am wenigſten geeignet, das wieder ein¬ zubringen, was im Innern und nach Außen