Geh hin, Buͤchlein! in die Welt, wo es Menſchen giebt, die zu ih - rem Daſeyn ſagen koͤnnen: ich bin deiner ſatt, und vollende dein Ta - gewerk, wie es dir auf die Stirne ge - zeichnet iſt, dem Menſchen ſeine Wuͤr - de fuͤhlbar zu machen — den Werth, ein Menſch zu ſeyn.
Einige werden dir ſchon von ferne entgegen rufen: Wozu? Du kommſt zu fruͤhe. Derley gutmuͤthigen Fremdlin - gen in der neueſten Weltgeſchichte, die ſo) (2redenInſtructionreden koͤnnen, darfſt du nur die Leichen vorzaͤhlen, die der Menſchenfeind, Selbſt - mord, in nahen und fernen Landen ſeit kurzem gehaͤufet hat, und ſie werden dich deines Weges gehen laſſen. Wo nicht: ſo fuͤhre ſie ſtiliſchweigend in die Geſell - ſchaften, in denen der Selbſtmord ſeine Lobredner, und, wer ſoll es glauben? ſeine Lobrednerinnen findet: in Schrift - ſtellerſtuben, die die ſchwarze Muͤhe ken - nen, die ihre Bewohner an der Empfeh - lung ſolcher Grundſaͤtze verſchwenden, deren Befolgung mit dem Selbſtmorde endet: in Romanen-Bibliotheken, wo die Helden und Heldinnen wetteifern die Laſt des Lebens, und der Liebe mit ei - nemmale wegzuwerfen: in Schauſpiele[n], die es als erſte Tapferkeit preiſen, ein Moͤrder ſeiner ſelbſt zu werden: zu Toiletten, wo Schriften, die alle Ar - ten von uͤberſpannten Gefuͤhlen predigen, als Lieblingslectuͤre oben an zu ſtehen die Ehre haben, und das Vorrecht, in den taͤglichen Putzſtunden als einzige Lebens -weisheitfuͤr dieß Buͤchlein.weisheit geleſen — verſchlungen zu werden.
Andere werden dir beweiſen wol - len, du kommeſt zu ſpat. Ich will ſe - hen — ſonſt antworte nichts, und geh kaltbluͤtig weiter.
Wem dein Mittelgewand zwiſchen dem ſteifen der Schule, und dem leich - ten, ſpielenden der Mode zu ernſthaft iſt, bey dem uͤbernachte nicht, und wo nur fliegende Schriftleins willkomm ſind, die gleich einer Landplage von Heuſchre - cken die kleinen Reſte des deutſchen Sin - nes noch vollends aufzuzehren drohen, da betritt nicht einmal die Schwelle.
Aber dem Juͤngling, der nicht um - ſonſt fragt, was iſt Wahrheit? der auf dem Scheidewege des Laſters, und der Tugend ſtille ſteht, und vor dem ent - ſcheidenden Entſchluſſe, dieſen oder jenen Pfad zu betreten, den Blick ſchaͤrft, um das Ende zu ſehen, wohin beyde fuͤh - ren; der ein hoͤher Beduͤrfniß in der) (3BruſtInſtruction fuͤr dieß Buͤchlein.Menſch heißt, mit Einer Stimme zu - rufen:
Was weineſt du?
Wir jauchzen all zuſamm’, und ſind faſt wenig —
Empfinde, wer du biſt! Du unſer Koͤnig, Und weinen, du?
Meinen Freunden ſage im Fortge - hen, mit einem Haͤndedruck, daß du ein Muſter ſeyſt, wie ich Moralphilo - ſophie lehre.
Und bey wem die Wahrheit uͤber alles geht, zu dem ſage: Bruder!
Selbſtmord iſt eine Empoͤrung ge - gen den Naturtrieb zur Selbſt - erhaltung — die unnatuͤrlichſte Handlung, deren ein Menſch faͤhig iſt.
Selbſtmord! Wie kommen dieſe wi - derſprechenden Begriffe, Mord, und Selbſt in Einen zuſammen? Einen Mitmenſchen morden iſt ſchon unnatuͤrlich: aber ſich ſelbſt morden — iſt das Unnatuͤrlichſte aus allem, was ſich denken laͤßt.
Wenn es uns die Geſchichte nicht ſag - te, daß Menſchen an ſich ſelbſt Hand ange - leget haben, wer ſollte es glauben, daß eine Wut wider ſein eigen Daſeyn in einem Men - ſchen moͤglich waͤre? Alles, was lebt, ſtrebtA 2nach4Erſter Abſchnitt.nach Fortdauer ſeines Lebens, und kaͤmpft gegen jede aͤußere Gewalt, die ihm das Le - ben zu rauben drohet. Wie iſt es denn moͤglich, daß ein Lebendiger, der den Werth des Lebens fuͤhlen kann, und ihn ſchon ſo oft gefuͤhlet hat, ſich ſelbſt Gewalt anthue, um ſich dieß ſein Leben zu rauben? Welche Empoͤrung eines Geſchoͤpfes, dem der Wunſch zu leben Natur iſt, gegen dieſe ſeine Natur gehoͤrt dazu, daß es ſich ſelbſt hinrichte.
Selbſthinrichtung! welch eine Schauer durchlaͤuft mein Gebein beym bloßen Aus - ſprechen dieſes Wortes? Der Wurm kruͤmmt ſich gegen den zerdruͤckenden Fußtritt des Menſchen, und ſagt durch dieſe Kruͤmmung: Ich will leben; und der Menſch, der hoch uͤber dem Wurme an der Leiter der Dinge ſteht, kann ein Feind ſeiner Exiſtenz wer - den, und durch That ſprechen: Ich will nicht leben! Welche Unordnung!
Du ſagſt: Die Leiden, die auf mir liegen, ſind ſo ſchwer, daß ſie den Trieb zur Selbſterhaltung uͤberwaͤltigen; daß mei -ne5Gruͤnde wider den Selbſtmord.ne Natur flehend zu mir ruft: Zerſtoͤre mich; daß der Trieb zur Selbſterhaltung — Trieb zur Zerſtoͤrung wird.
Freund! ich kenne deine Sprache; hoͤre itzt die meine:
Fuͤrs erſte: denke zuruͤck, wie oft hat dich dein Gefuͤhl ſchon widerlegt? Wie oft griffſt du ſchon, im Drange der Leiden, nach dem Dolch, und wollteſt ihn dir in die Bruſt ſtoſſen: und der Dolch fiel dir unge - braucht aus der Hand? Wie oft bebteſt du ſchon zuruͤck vor dem gefaßten Entſchluß, ich will mich ſelbſtmorden, und ein Ent - ſetzen vor dir ergriff dich, daß du ſtille ſtan - deſt, und ſuchteſt Muth, die Greulthat an dir zu vollfuͤhren, und fandeſt ihn nicht? Alſo ſchwieg er nicht der Trieb zur Selbſt - erhaltung: er redete laut. Zwar kannſt du ihn nach und nach ſchon noch zum Schwei - gen bringen, das heißt, zuerſt ihn — und dann dich ſelbſt ermorden, wenn du par - theyiſch genug biſt, immer nur auf das er - wuͤnſchte Ende des Leidens, immer nur auf die ſcheinbare Unertraͤglichkeit der Laſt, undA 3nie6Erſter Abſchnitt.nie auf die Wahrſcheinlichkeit, oder wenigſt auf die Moͤglichkeit kommender Errettung hinzuſehen. Allein eben dieſes beweiſet ja, daß es nicht eigentlich die Leiden ſind, die den Trieb zur Selbſterhaltung in dir uͤber - waͤltigen, ſondern daß die Partheylichkeit deines Herzens die Vorſtellungen von der Groͤße der Leiden ſo hoch ſpannen kann, daß ſie den Trieb zur Selbſterhaltung unterdruͤ - cken. Man mag nun das Reich der menſch - lichen Freythaͤtigkeit erweitern oder verengen, wie man will: ſo kann doch kein ruhiger, helldenkender Verſtand daran zweifeln, daß die Ueberſpannung der Vorſtellungen, und die daraus entſtehende Ueberwaͤltigung des Erhaltungstriebes, wenigſt in den Anfaͤn - gen und erſteren Fortgaͤngen der Spannung, von den Einfluͤſſen der menſchlichen Freythaͤ - tigkeit abhaͤngig ſey.
Haben doch die menſchlichen Leiden im - mer zweyerley Seiten: an einer hangen große Laſten, die die Leiden groß, und wohl gar unertraͤglich machen, an der an - dern ſind brauchbare Handheben feſtgemacht,die7Gruͤnde wider den Selbſtmord.die ſich bequem anfaſſen, und an denen ſich die ſchwerſten Laſten ganz leicht aufheben laſſen. Nun iſt es wohl moͤglich, daß ei - ner immer die Handheben vorbeygeht, und nur die Zentnerlaſten anfuͤhlet, und etwa mit Huͤlfe der Einbildungskraft noch neue daran haͤngt. Da wird ihm denn freylich das Leiden immer unertraͤglicher, und der Trieb zur Selbſterhaltung immer ſchwaͤcher werden. Aber was koͤnnen z. B. zwey Summen dafuͤr, daß eine immer groͤßer, und die andere immer kleiner wird, wenn wir bey einer immer neue Quellen hin - zuſetzen, und bey der andern immer eini - ge wegſtreichen?
Fuͤrs Zweyte: Der Trieb zur Selbſt - erhaltung iſt nicht nur in der ſinnlichen, er iſt auch in der vernuͤnftigen Natur des Menſchen gegruͤndet. Nicht nur das Thier in uns, auch der Geiſt, dieſer Funke der Gottheit ſpricht laut das Geſetz der Natur aus: erhalte dich. Und ob ſie gleich, dieſe ſtreitenden Parteyen, der Geiſt und die Sinnlichkeit, im ewigen Kriege miteinanderA 4verwi -8Erſter Abſchnitt.verwickelt ſind, ſo ſtimmen ſie dennoch ge - woͤhnlicher Weiſe in dem Geſetze der Selbſter - haltung uͤberein. Und wenn ſie ſich auch darinn entzweyen, ſo iſt es immer nur die Sinnlichkeit, oder wenigſt eine irrige, ver - worrene Vorſtellung, die den Erhaltungs - trieb ſelbſtmoͤrderiſch uͤberwaͤltiget, und die Laſt des Lebens unberufen wegwirft: wie die geſunde Vernunft. Dieſe ruft immer mit Macht entgegen:
„ Unter -(a)Soll ihn die Vernunft anrathen; ſo muß uns eine kalte Ueberlegung verſichern, daß alle Guͤter dieſer Erde fuͤr uns auf ewig verlohren ſeyn werden; ſo muß es wenigſtens hoͤchſt wahrſcheinlich ſeyn, daß weder Ueber - legung noch Zeit vermoͤgend ſeyn werden, ei - nen quaͤlenden Eindruck zu uͤberwaͤltigen. Wir muͤſſen den ſchwarzen Dunſt, der aus dem Schlamme der Leidenſchaft aufſteigt, zer - ſtreuet, und die Gegenſtaͤnde lauter, und un - gebrochen betrachtet haben. Und dennoch ſoll uns das Leben eckeln? Dennoch ſollen wir mehr Truͤbſal, als Gutes vor Augen ſe - hen? Welcher von allen Selbmoͤrdern war in ſolchen Umſtaͤnden? Oder welcher unſelige Sterbliche wird je in ſolchen Drangſalen ſeuf - zen? — — Wenn du je geliebt haſt, Euphranor! ſo verſetze dich ganz in das Elend dieſer Ver -zweifel -
9Gruͤnde wider den Selbſtmord.„ Unternimm das Wichtigſte nicht in der Stunde der Verwirrung — harre nur noch eine kleine Weile: Zeit und die kaͤltere Ueberlegung werden dir das Le - ben wieder ertraͤglich, und liebenswerth machen. „
Die Vernunft iſt es nie, die zum Selbſtmord raͤtht, wie Moſes mit ſeinem Scharfſinn, und mit ſeiner Darſtellungs - gabe beweiſet(a)zweifelten. Empfinde alle Schmach des be - trogenen Liebhabers, die Reue des Treulo - ſen, und die ſchreckliche Greuel des Verfuͤh - rers in ihrem weiteſten Umfange. Noch mehr! Laß ſie alle in entſetzlicher Vermiſchung uͤber ein einziges Haupt ausgegoſſen ſeyn. Wie nun? Bleibt dem Elenden kein anderer Troſt, als Gift und Dolch? Wenn der Verſtockte auch gegenwaͤrtig ſeine Bruſt allen Troſtgruͤn - den verſchließt, wenn die Vernunft, die Freund - ſchaft, die ganze Natur, die Gottheit ſelbſt itzt tauben Ohren predigt; wird die Zeit nicht den heilſamen Staub der Vergeſſenheit uͤber ſeine Wunde ſtreuen? Wird die Zukunft ihn nicht ganz umbilden, und in eine Sphaͤre von ruhigen Empfindungen ſetzen, in welcher er den gegenwaͤrtigen Sturm von ferne be - trachten wird? Geſetzt, er laͤugnet die Vor - ſehung, er laͤugnet die Guͤte Gottes, die alles,Euphra -, und das iſt viel geſagtA 5fuͤr10Erſter Abſchnitt.fuͤr den, der die Raͤthe der Vernunft zu ſchaͤtzen weis, das heißt, fuͤr Ausſpruͤche der Wahrheit haͤlt.
Der Selbſtmord iſt ein Aufruhr ge - gen das allgemeine Menſchengefuͤhl.
Wenn der Tod irgend einen Fuͤr - ſten, einen Ehegatten, einen Sohn, einen Freund aus dem Schooſe des Landes, der Familie, der Freundſchaft hinwegnimmt, ſo verwundet er das Herz des Freundes, der Familie, des Vaterlandes. Jedes Auge ſieht den Tod als einen Raͤuber der Freude an, und jedes Herz wird erſchuͤttert durch den Hintritt eines Geliebten.
Wenn(a)Euphranor, fuͤrwahr! alles zu unſerm Beſten lenket; hat er ſo elende Begriffe[von] der Na - tur unſerer Empfindungen, daß er glaubet, der Donner wuͤrde unaufhoͤrlich in ſeinen Oh - ren rauſchen, der itzt uͤber ſeinem Haupte rol - let? Und hievon ſoll ihn die Vernunft uͤber - zeugen? O nein! die Leidenſchaft, die ſchwaͤr - zeſte Leidenſchaft hat ſein Geſicht umnebelt. Und wenn er noch ſo kaltſinnig, den Dolch inder
11Gruͤnde wider den Selbſtmord.Wenn nun aber der Fuͤrſt, der Ehe - gatte, der Sohn, der Freund an ſich ſelbſt Hand anlegt, und ſich der Familie, den Freunden, dem Vaterlande raubt, dann iſt’s nicht bloß Schmerz, der uns das Herz zerreißt: es iſt ein Schauer, der den Strom unſerer Empfindungen aufhaͤlt; es iſt ein Entſetzen der Natur, das uns nicht zum Weinen kommen laͤßt; es iſt eine Spannung unſerer Gefuͤhle, von der wir nicht ſo leicht zuruͤck kommen; es iſt eine Zerruͤttung der Empfindungen, die ſich nicht beſchreiben, nur empfinden laͤßt.
Denken wir, wie uns zu Herze waͤre im Augenblick, wo wir vor einem hohen Thurme vorbey giengen, und man uns ſag - te: Der edle Juͤngling da, deß Hirnmarkdieſen(a)der Hand, ſeinen Entſchluß zu uͤberlegen ſchei - net; ſo laß dich den Schein nicht truͤgen. Es iſt die wilde, halsſtaͤrrige Gemuͤthsſtille der verſtockteſten Selbſthaſſer, der Gipfel al - ler Wuth, der die Vernunft noch weiter von ihnen verbannet, als das Toben der ausgelaſ - ſenen Verzweiflung; denn dieſe brauſet oͤfter in Worten aus, ohne bis zur entſetzlichen That empor zu ſchaͤumen. “(vermiſchte Philoſ. Schriften, I. B. Dreyzehnter Brief.)12Erſter Abſchnitt.dieſen Pflaſterſtein hier faͤrbt, und ſich mit Erdenſtaub vermiſchet, fiel unverſehens von dieſem hohen Thurm herab: und wie uns auf einmal ſo ganz anders werden wuͤrde, wenn man uns ſagte: Der Juͤngling ſtieg in der Abſicht auf den Thurm, um ſich herabzuſtuͤrzen, und ſtuͤrzte ſich aus Vor - ſatz herab. Im erſten Falle waͤren wir Schmerz, Mitleid, im zweyten verloͤren wir uns ſelbſt im Angriff der ungewohnteſten Gefuͤhle.
Auch iſt es ſonderbar, daß bey der erſten Nachricht von dem Selbſtmorde einer gekannten, merkwuͤrdigen Perſon der Land - mann wie der Hofmann, die Viehmagd wie der Schulgelehrte, der Verwandte wie der Fremdling, der Greis wie der Knabe, der tapfere Krieger wie das weichherzige Maͤdchen ꝛc. in eine neue Welt von Empfin - dungen hineingeworfen werden — Voraus - geſetzt, daß die Hoͤrer dieſer Nachricht noch nicht um alle Menſchenempfindung gekom - men, oder nicht eben in der ungluͤcklichen Arbeit begriffen ſind, ſich ein Syſtem der Selbſtentleibung zu bauen, oder ein vol -lendetes13Gruͤnde wider den Selbſtmord.lendetes gegen die Stimme des Gewiſſens zu rechtfertigen.
Noch verdient hier angemerkt zu wer - den, daß die beruͤhmteſten Aerzte und Men - ſchenforſcher, um das Phaͤnomen des Selbſtmordes erklaͤren zu koͤnnen, ſich ge - noͤthiget finden, eine Art von Verruͤckung der Gedankenreihen in dem Subjecte des Selbſtmoͤrders anzunehmen.
Was alſo alle Geſunddenkende misbil - ligen, wogegen ſich das allgemeine Men - ſchengefuͤhl empoͤret — „ was ſich bey geſun - dem, unverdorbenem Sinne, und ohne eine Zerruͤttung im Verſtande, nicht einmal den - ken laͤßt — „ das kann doch keine empfeh - lenswuͤrdige — muß wenigſt eine aͤußerſt bemitleidenswerthe That ſeyn.
Zwar verliert dieſer Grund, von dem Aufruhr des Menſchengefuͤhles gegen den Selbſtmord, je laͤnger je mehr von ſeiner Kraft auf das menſchliche Herz, weil das Selbſtmorden, je laͤnger, je (nicht allge - meiner, aber doch) weniger ſelten zu wer - den ſcheinet. Je mehrere ſich wider dießGefuͤhl14Erſter Abſchnitt.Gefuͤhl empoͤren, deſto wahrſcheinlicher kann es vielen flachdenkenden, oder ſtarkem - pfindenden Seelen werden, daß der Abſcheu gegen den Selbſtmord kein Naturgefuͤhl, ſondern erſt durch Huͤlfe der Erziehung ein - gepfropfet ſey.
Es iſt dieß freylich (recht verſtanden) ein bloßer Schein: aber ſchon der Schein nimmt bey allen denen, die ihn fuͤr mehr als Schein halten, dem Beweisgrunde et - was von ſeiner Kraft auf das Menſchenherz. Ich kann und will es alſo nicht widerſpre - chen, daß die Kraft dieſes Beweiſes gerade in dem Verhaͤltniſſe ſchwaͤcher werde, in welchem das Selbſtmorden allgemeiner wird. Allein bey alle dem verliert die innere Rich - tigkeit des Beweiſes nichts. Denn die in - nere Richtigkeit eines Beweisgrundes, und das Quantum ſeiner wirkenden Kraft ſind gar verſchiedene Dinge. Die innere Rich - tigkeit iſt unveraͤnderlicher Natur, immer die - ſelbe: aber die Groͤße einer beſtimmten Kraft kann nur durch ihr Uebermaaß uͤber die entgegen wirkenden Hinderniſſe, nurdurch15Gruͤnde wider den Selbſtmord.durch den Reſt, den die Subtraction der geringern Kraft von der groͤßern giebt, be - ſtimmet werden. Der Satz alſo, Selbſt - mord ein Aufruhr gegen alles geſunde Menſchengefuͤhl, bleibt immer allgemein - wahr, wenn gleich das Selbſtmorden noch ſo allgemein wuͤrde: nur muͤßte man als - denn die zweyte Wahrheit beyſetzen: daß des geſunden Gefuͤhles unter den Menſchen immer weniger, und die Zahl der Kran - ken immer groͤßer wuͤrde. Krankheit iſt Krankheit, es mag Ein Menſch, oder eine Million Menſchen krank darnieder liegen. Was geſunde Menſchenaugen ſehen, iſt dem Menſchenauge ſichtbar: es mag uͤbrigens viele, oder wenige Blinde geben, die es nicht ſehen. Was die Gefuͤhle aller Ge - ſunddenkenden empoͤret, das kann keine Frucht einer geſunden, feſten Empfindung ſeyn: es mag von vielen oder wenigen fuͤr geſunde Empfindung gehalten werden.
Sie haben eine unausweichliche Kraft fuͤr jeden, der den Trieb der Selbſt - erhaltung noch nicht toͤdtlich verwundet, und ſich das geſunde Menſchengefuͤhl noch nicht aus dem Herzen geriſſen hat.
Sie haben auch die traurige Kraft, daß ſie fuͤr den gewichtig ſeyn koͤnnen, der ungluͤcklich genug iſt, am Daſeyn einer all - ordnenden Fuͤrſehung zu zweifeln: wenn er anders noch ein Ohr fuͤr dieſe Stimme der Natur hat, die die Selbſterhaltung em - pfiehlt und vor Selbſtentleibung warnet.
Laßt uns itzt von der Natur zum Schoͤp - fer aufſteigen, um das Vernunftwidrige des Selbſtmordes noch fuͤhlbarer zu machen.
Der Selbſtmord iſt ein eigenmaͤchti - ger Eingriff in die Oberherrſchafts - rechte des Schoͤpfers. Denn der Selbſt - moͤrder verlaͤßt eine Stelle,
Daß wir uns an die Stelle, die wir als lebendige Weſen im Bezirke der Schoͤp - fung behaupten, nicht ſelbſt hingeſetzet ha - ben, bedarf doch wohl keines Beweiſes.
Daß der Selbſtmoͤrder vor dem Zeit - punkte, den ihm die Natur dazu beſtimmt,Bdieſe18Erſter Abſchnitt.dieſe Stelle verlaͤßt, iſt wieder keiner Be - zweiflung faͤhig.
Daß das Geſchoͤpf kein Recht hat, ſei - ne Stelle gegen die offenbaren Winke des Schoͤpfers eigenmaͤchtig zu verlaſſen, das liegt in dem großen Verhaͤltniſſe zwiſchen Geſchoͤpf und Schoͤpfer —
Wer ein Geſchoͤpf denkt, denkt ein abhaͤngig Weſen von dem Willen des Schoͤp - fers. Wer dieſe Abhaͤngigkeit laͤugnet, laͤugnet das Daſeyn des Schoͤpfers. Wer das Daſeyn des Schoͤpfers laͤugnet, wem dieſe erſte Wahrheit nicht erſte Wahrheit iſt, der kann freylich keinen Sinn fuͤr dieſes Buͤchlein haben: zumal er keinen fuͤr die Natur hat.
Die Abhaͤngigkeit des Geſchoͤpfes vom Schoͤpfer iſt alſo nicht mehr, und nicht we - niger gewiß, als gewiß das Geſchoͤpf Ge - ſchoͤpf, und der Schoͤpfer Schoͤpfer iſt.
Daß der Schoͤpfer das erſte, urſpruͤng - liche Recht hat, das Geſchoͤpf von der Stel[-]le dieſes Lebens abzurufen, wenn es ſein[e]Weis[-]19Gruͤnde wider den Selbſtmord.Weisheit fuͤr gut findet, das wird ihm wohl kein Werk ſeiner Haͤnde ſtreitig machen.
Es iſt alſo nur noch ein Gang uͤbrig, den die Frage nehmen kann, dieſer naͤm - lich, ob nicht etwa der Schoͤpfer dem Geſchoͤpfe das Recht, ſeine Stelle zu ver - laſſen, aus weiſem Wohlwollen uͤberlaſ - ſen habe — wenigſt im heiſſeſten Lei - densdrange wirklich uͤberlaſſe.
Wenn die Vernunft (nicht Leiden - ſchaft, nicht das Herz, nicht Mode,) un - terſuchen darf, ſo wird ſie geſtehen muͤſſen, daß viele Gruͤnde zum Nein, keiner zum Ja neigen. Die ganze menſchliche Natur, dieſer große, mit dem Finger Gottes ge - ſchriebene Codex aller natuͤrlichen Rechte, Befugniſſe ꝛc. kann keine Spur von dieſem uͤberlaſſenen Rechte aufweiſen. Laßt uns Schritt vor Schritt gehen.
1. Die Natur des Menſchen, in ſo ferne ſie die Natur eines lebendigen Weſen iſt, kann das allgemeine Geſetz(b)Erſter Grund.,B 2das20Erſter Abſchnitt.das dieſem Rechte gerade entgegen ſteht — das Geſetz der Selbſterhaltung, nicht ver - laͤugnen. Alſo keine Spur von dieſem Rechte.
2. Die Natur des Menſchen, in ſo ferne ſie hoͤhere Empfindungskraft in ſich ſchließt, und aus den Gefuͤhlen aller Geſunddenkenden erkennbar iſt, hat ein all - gemeines Naturgefuͤhl(c)Zweyter Grund. aufzuweiſen, ei - nen natuͤrlichen Abſcheu gegen die Selbſt - ermordung, eine entſcheidende Misbilligung der vollendeten That, eine kunſtloſe, bered - ſame Warnung vor dem fuͤrchterlichen Schritte — und dieſer Abſcheu, dieſe Mis - billigung, dieſe Warnung der Mutter Na - tur laͤßt ſich mit dem Rechte, die Stelle dieſes Lebens nach Gutbefinden zu verlaſſen, nicht wohl vereinigen. Alſo keine Spur von dieſem Rechte.
3. Die Natur des Menſchen, in ſo ferne ſie Denkkraft, Forſchungsgabe iſt, kann auch von den heiſſeſten Leiden nie mit Zuverlaͤſſigkeit zum voraus beſtimmen:Ob21Gruͤnde wider den Selbſtmord.Ob dieſe Leiden nicht noch auch in der kurzen Strecke dieſes Lebens ein Saame hoͤherer Freuden fuͤr den Leidenden, und fuͤr andere werden koͤnnen; kann nie mit Zuverlaͤſſigkeit zum voraus beſtimmen, ob nicht vielmehr das ſcheinbare Gute, das er von dem Selbſtmorde erwartet, von den boͤſen Folgen fuͤr ihn und fuͤr andere, die daraus entſtehen, unver - gleichbar werde uͤberwogen werden; kann am allerwenigſten, im Sturmgedraͤnge von Leiden die La - ſten der Gegenwart, die Hoffnungen der Zukunft, und die Folgen des Selbſt - mordes meſſen.
Alſo koͤnnte der Menſch das Recht, ſeine Stelle zu verlaſſen, wenn er es auch haͤtte, nicht einmal mit Vernunft ausuͤben. Eben darum hat die Vernunft gar keinen Grund, anzunehmen, daß der Schoͤpfer dem Geſchoͤpfe ein Recht gegeben haͤtte, deſ - ſen vernuͤnftiger Gebrauch ganz auſſer derB 3Sphaͤr22Erſter Abſchnitt.Sphaͤre ſeiner Denkkraft laͤge. Alſo keine Spur von dieſem Rechte.
4. In die Natur des Menſchen, in ſo ferne ſie nebſt dem belebenden Geiſte das ſterbliche, vergaͤngliche, irdiſche Princi - pium, den Leib, mitbegreift, iſt ein maͤchti - ger Schauer vor dem Tode, vor der Zer - ſtoͤrung gelegt, und der Schoͤpfer, deß Hand die Menſchennatur gebaut, hat die Straſſen des Todes mit vielen, vielen Vor - mauern des Schreckens vermauert, um da - durch unſre eigenmaͤchtige Annaͤherung da - zu — zu verhuͤten. Alſo keine Spur von dem Rechte, die Stelle des Lebens eigen - maͤchtig zu verlaſſen.
5. Die Natur des Menſchen, in ſo ferne ſie zur Unſterblichkeit(d)Fuͤr Leſer, die die Beſtimmung zur Unſterb - lichkeit in der Menſchennatur nicht finden koͤnnten, ſchloͤſſe ſich die Analyſe des dritten Grundes ſchon. n. 4. geſchaffen iſt, kann, ohne gegen alle Vernunftgruͤnde anzuſtoſſen, kein ander Daſeyn nach dem Ende dieſes Lebens erwarten, als welches eine Folge des vorhergegangenen iſt. Jegroͤßer23Gruͤnde wider den Selbſtmord.groͤſſer alſo der Heldenmuth des Sterbli - chen, deſto belohnender wird das neue Da - ſeyn des Unſterblichen ſeyn. Wenn nun der Sterbliche das Recht haͤtte, die Stelle hienieden nach Willkuͤhr zu verlaſſen, ſo wuͤrde er eben dadurch berechtiget ſeyn, ſei - nen Schickſalen jenſeits des Grabes gerade die ſchlechtere Wendung zu geben: Und dieß Recht ſollte der Schoͤpfer, die erſte Liebe, dem Lieblinge der Schoͤpfung, beſtimmt zum lebendigſten, vollkommenſten Leben, er - theilen koͤnnen? Alſo keine Spur von die - ſem Rechte in der ganzen, groſſen, viel - umfaſſenden Menſchennatur.
Uebrigens hat ſchon Pythagoras dieſen Grund gegen den Selbſtmord, der aus der Oberherrſchaft Gottes hergeholet iſt, ange - bracht, indem er verboten(e)Vetatque Pythagoras, injuſſu impera - toris, id eſt, Dei, de praeſidio, et ſta - tione vitae decedere. (Cic. de Senect. XX. edit. Haude.) Ohne Befehl des Feldherrn, das heißt, Gottes, den Poſten, undB 4die24Erſter Abſchnitt.die Wache dieſes Lebens zu ver - laſſen. Mit andern Worten: Der den Geiſt dem Leibe eingehau - chet, der allein hat das Recht, ihm die Zeit des Aufenthaltes in dieſem Wohnorte zu beſtimmen.
Der Selbſtmord iſt eine gewaltſame Durchſtreichung des Planes, den die Fuͤrſehung dem Geſchoͤpfe gezeichnet.
Nur die alluͤberſehende Weis - heit kann entſcheiden, wie lange zu leben, einem Menſchen gut ſey, und den entſchei - denden Ausſpruch dieſer alluͤberſehenden Weis - heit lernet der Menſch natuͤrlicher Weiſe nur aus den Kraͤften ſeines Koͤrpers, nur aus der Natur der Dinge kennen. Wir ha - ben (die Faͤlle der unmittelbaren Offenbarun - gen weggelaſſen) keinen andern Weg den Willen der Gottheit zu erforſchen, als die Natur der Dinge. Dieſe iſt das Orakelder25Gruͤnde wider den Selbſtmord.der Gottheit, das wir, wie ſie ſelbſt, re - ſpectiren muͤſſen. Aus der Erleuchtungs - und Erwaͤrmungskraft der Sonne in Abſicht auf unſere Erde ſchlieſſe ich mit Grund, es ſey der Wille des Schoͤpfers, daß die Erde und die Erdebewohner von ihr beleuch - tet und erwaͤrmet werden. Aus dem, daß der Vogel Schwingfedern, der Fiſch Floß - federn hat, ſchlieſſe ich mit Grund, es ſey der Wille des Schoͤpfers, daß jener flie - ge, dieſer ſchwimme. Aus dem, daß das Thier mit Inſtinkt, der Menſch mit Ver - nunft begabt iſt, ſchlieſſe ich mit Grund, es ſey der Wille des Schoͤpfers, daß das Thier dem Inſtinct folge, der Menſch ſich durch Vernunft leiten laſſe. Aus der er - kannten Fruchtbringungskraft des Saatkorns im Schooſe der Mutter-Erde, ſchlieſſe ich mit Grund, es ſey der Wille des Schoͤp - fers, daß das Saatkorn in die Erde gelegt werde. So iſt denn jede Kraft ein Wink der Gottheit, daß man dieſelbe fortdauren, und wirken laſſe, ſo lange ſie fortdauren, und wirken kann, im Falle, daß das Ge - ſetz der hoͤhern Vollkommenheit kein Op -B 5fer,26Erſter Abſchnitt.fer, keine Einſchraͤnkung, keine Ausnah - me fodert. So iſt es denn auch der Wille der Gottheit, daß jeder Sterbliche den Fa - den ſeines Lebens ſo lange fortlaufen laſſe, bis ihn die Hand des Schoͤpfers abſchneidet, die ihn angeſponnen hat. Denn die Regel der hoͤhern Vollkommenheit kann nie fordern, daß ich ihn ſelbſt abſchneide, weil ich da - durch eben die Regel aller hoͤhern Vollkom - menheit umſtoſſe, die es laut ſagt:
Schreit auf der Bahn, die dir die Fuͤr - ſehung angewieſen, nur immer weiter fort, bis dich der Tod im Namen der naͤmlichen Fuͤrſehung, durch ſein non plus ultra abfodert — ſpring aber nie ſelbſt von der angewieſenen Bahn weg. Fortwandeln iſt deine Pflicht — deine Beſtimmung — das Werk deiner Treue. Das Auf - und Abtreten haͤngt nicht von dir ab, gehoͤrt nicht in die Ge - genſtaͤnde deiner Wahl. Zum Abtre - ten darfſt du dir das Zeichen nicht ſelbſt geben, ſo wenig du — die Stunde zum erſten Auftritt beſtimmen konn -teſt27Gruͤnde wider den Selbſtmord.teſt — da du noch nicht wareſt. Nur ſorgen ſollſt du, daß dein Abtreten ehrevoll fuͤr dich, und dem gefaͤllig werde, der dich hiehergeſtellt.
So gewiß aber der Pilger gegen den Plan ſeiner Reiſe handelt, wenn er die Marſchru - the abkuͤrzt, und einen naͤher gelegenen Ort zum letzten Ziele ſeiner Reiſe macht, als der im Reiſeplan aus viel bedeutenden Gruͤn - den dazu beſtimmt war: ſo gewiß durch - ſtreicht der Selbſtmord den Plan der hoͤch - ſten Weisheit, ſo viel an ihm iſt: indem er das Lebensziel, das die Fuͤrſehung aus den weiſeſten Abſichten weiter hinausge - ſetzt, eigenmaͤchtig naͤher hereinruͤckt — und den Plan der Pilgerſchaft abkuͤrzt. Und dazu hat die menſchliche Kurzſichtig - keit kein Recht, und keinen Beruf, ſo we - nig der Blinde und Unerfahrne das Recht haben kann, ſich zum Hofmeiſter des ſe - henden und erfahrnen Mannes in Geſchaͤf - ten, wo Auge und Erfahrung Hauptſache ſind, aufzuwerfen. Zwar wird die Fuͤrſe - hung auch den Selbſtmord wieder in dengroßen28Erſter Abſchnitt.großen Plan der Weltregierung einzuflech - ten wiſſen; aber dazu hat der Unterthan nie ein Recht, Uebels zu thun, damit der Regent Gelegenheit habe, etwas Gutes herauszuziehen.
Der dritte ſetzet das Daſeyn des Schoͤp - fers voraus, und iſt zwar blos ver - nemend, aber dennoch ſtarkwirkend auf die noch nicht ſchlaffgewordenen Fibern ei - ner menſchenkennenden, und Gottvereh - renden Seele.
„ Es findet ſich in der Menſchennatur keine Spur von einem Rechte, die Stelle dieſes Lebens eigenmaͤchtig zu verlaſſen. „
Dieſer fuͤr das Wohl der Menſchheit, und fuͤr die Sicherheit der menſchlichen Exiſtenz ſo vielbedeutende Satz wird an der Hand einer ziemlich vollſtaͤndigen Induction burch alle anerkannte, oder wenigſt erweis -bare29Gruͤnde wider den Selbſtmord.bare Grundbeſtimmungen der Menſchenna - tur durchgefuͤhrt.
Mein Wahrheitſinn findet dieſe Be - weisart fuͤr genugthuend: und wenn ihr der Lebensſatte auch nur einigen Grad von Wahrſcheinlichkeit beylegte, ſo haͤtte die Verſuchung zum Selbſtmorde ſchon viel von ihrer Kraft auf ſein Herz verloren. Denn in dem ſchrecklichſten Geſchaͤfte, wo es auf Selbſthinrichtung ankommt, wo zwiſchen Leben und Tod, zwiſchen Fortdauer des Le - bens und Selbſttoͤdtung gewaͤhlet wird, in dem ſchauervollſten Augenblicke, der ſich den - ken laͤßt, ſollte der Muth zu deiner gewiß ſchweren Arbeit ſchon bloß durch die auffal, lende Wahrſcheinlichkeit, daß der Selbſt - mord ein Eingriff in die Rechte des Schoͤp - fers ſey, vollends entkraͤftet werden koͤnnen.
Der vierte Beweis geht auch den Gang der Induction, wie ſein Vorgaͤnger, nur mit dem Unterſchiede, daß dieſer das Ge - biet der Menſchennatur durchwandert, jener den Bezirk der ganzen weiten Schoͤpfung durchlaͤuft: Beyde kommen auf verſchiede -nen30Erſter Abſchnitt.denen Wegen zu Einem Ziele: aß der Selbſtmord Eingriff in die Rechte der Fuͤrſehung, und Durchſtreichung Ihres Planes ſey.
Wer dieſes Paar Gruͤnde unphiloſo - phiſch finden kann, der hat den Schluͤſſel, den uns der Schoͤpfer gegeben den Sinn der Natur aufzuſchlieſſen, noch nie recht ken - nen gelernet. Ich will ihn hier bloß nen - nen, weil ich anderswo ausfuͤhrlich genug davon geredet habe(e)Vernunftlehre fuͤr Menſchen wie ſie ſind. Erſter Band, Seit. 320. bey Strobl, Muͤnchen.: er heißt Analogie. Induction beruht ja auf Analogie, und Ana - logie ſtuͤtzt ſich auf Erfahrungen, und Er - fahrung iſt Grund und Stof und Same alles menſchlichen Erkennens. Wer alſo die - ſen Beweisgrund unlogiſch findet, beweiſet dadurch, daß er die ganze Logik unlogiſch finde.
Der Selbſtmord iſt die aͤuſſerſte Ent - weihung des edelſten Geſchenkes, das uns zum edelſten Zwecke gegeben ward.
Das Menſchenleben, das ſich der Selbſtmoͤrder abkuͤrzt, iſt eine vielbefaſſen - de Kraft, die
Nun der Selbſtmoͤrder braucht dieſe koͤſtliche, und zur Erreichung der wichtig - ſten Zwecke gegebene Kraft, dieſes edle Ge - ſchenk — das Menſchenleben als ein Werk - zeug, eben dieſes Menſchenleben zu zerſtoͤ - ren, arbeitet durch ſein Ich gegen ſein Ich — braucht ſeine lebendige Hand wider das Le - ben ſeiner Hand, ſeine Exiſtenz wider ſeine Exiſtenz. Er wirft alſo die koſtbarſte Perle in den vorbeyflieſſenden Strom, und waͤhnt ſich gluͤcklich, der Perle los geworden zu ſeyn. Ganz gewiß hat er ihren Werth ver - kannt: ſonſt haͤtte er die Perle noch, und bewahrte ſie, wie ein Heiligthum. Denn wer den Werth dieſes Lebens fuͤhlte, koͤnnte ſo wenig ein Zerſtoͤrer dieſes ſeines Lebens werden, als wenig die Liebe haſſen kann.
„ Allein, wird der ſcharfſinnigere Theil meiner Leſer denken, da liegt eben der Knote, das iſt eben die Frage: wie koͤnnen wir uns den Werth dieſes Lebens fuͤhlbar machen, und dieß Gefuͤhl immer lebendig genug erhalten „? Ja wahrlich, da iſt der Knote. Die Kunſt den Werth des Lebenskennen33Gruͤnde wider den Selbſtmord.kennen zu lernen, und ihn zu fuͤhlen iſt zwar ſehr einfach an Regeln: aber, wie bey allem, was wahrhaft groß, und edel macht, ſo auch da — die Ausuͤbung, die Ausuͤbung kaͤmpft mit großen Schwierigkeiten. Wer den ganzen Werth ſeines Lebens fuͤhlen moͤch - te, der denke ſich nur (freylich bald geſagt, und ſchwer zu befolgen!) der denke ſich nur
Wer den ganzen Werth ſeines Le - bens(f)In den Predigten uͤber die Wuͤrde des Menſchen, und den Werth der vornehmſtenDinge. angeben will, darf nur den Werth dieſes, und des kommenden Lebens in Eine Schale legen. Denn der Werth einer Sa - che ſteigt ja gerade in dem Verhaͤltniſſe, in welchem der Werth aller jener Dinge ſteigt, die uns der Beſitz dieſer Sache verſchafft, und deren Erkenntniß, Erwerb, Beſitz in Zukunft — mit dieſer Sache wie immer in Verbindung ſtehet. So z. B. beſteht der Werth des Adels in dem Inbegriffe und Werthe aller jener Vortheile, und Vorzuͤ - ge, die er wirklich gewaͤhrt, und dazu er faͤhig macht. Die Summe und der Werth derjenigen Guͤter alſo, die der weiſe Ge - brauch dieſes Lebens verſchaffen, und deren er uns fuͤr die Zukunft und Ewigkeit faͤhig machen kann, vollenden den Werth dieſes Lebens.
Dieſe Betrachtungen (und was iſt ein - facher als ſie?) koͤnnen jeden geſunden, nachdenkenden Verſtand gar bald zur Ueber -zeugung35Gruͤnde wider den Selbſtmord.zeugung bringen, daß der Werth dieſes Lebens (in einem wahren Sinn) unermeßlich ſey, und alle nur erdenkliche Bitterkeiten dieſes Lebens weit uͤberwaͤge. Aber, wenn gleich alle Guͤter der Gegenwart und Zukunft, die den Werth dieſes Lebens vollenden, in Eine Schale gelegt — alle Leiden, die einem Menſchen in der Laufbahn ſeiner Sterblich - keit begegnen koͤnnen, in die andere Schale gelegt — unvergleichlichbar uͤberwaͤgen: ſo bleibt es doch immer eine traurige Wahr - heit, daß ſehr wenige Menſchen den Werth des Lebens recht zu waͤgen wiſſen, noch we - nigere aber im Aufſtoſſe irgend eines Lei - dens unpartheyiſch genug ſind, die ſchlim - men und guten Seiten dieſes Lebens, beſon - ders in Verbindung mit der Zukunft und Ewigkeit, gegen einander abzuwaͤgen. Ein Tropfen Bitterkeit vergaͤllt manchem das Meer aller Vergnuͤgungen, das ihm bis - her geworden iſt, und waͤchst durch Huͤlfe der vergroͤſſernden Einbildungskraft zu einemC 2Meere(f)Dinge. Leipzig in der Weygandiſchen Buch - handl. 1784. fuͤhret der vortrefliche Verfaſſer dieſe große Idee vortreflich aus.36Erſter Abſchnitt.Meere von Leiden an, deſſen Anblick die kranke Seele nicht mehr ertragen kann — und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol - lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße des Berges die Statue des Lebens nieder. Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue, ſie iſt nicht mehr!
So iſts mit jedem Leiden, wodurch das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens nach und nach aus der Seele des Leidenden verdraͤngt, und die Empfindung von der Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er - hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu vollziehen.
Das iſt die Geſchichte der Krankheit. Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver - theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen? Nicht wahr, wer der erſten Empfindung, „ Das Leben eine Laſt “, maͤchtig entge -gen37Gruͤnde wider den Selbſtmord.gen kaͤmpft; wer das fliegende Gefuͤhl vom Werthe des Lebens mit Gewalt zuruͤck haͤlt; wer den Funken nicht im Buſen naͤhrt, bis er Flamme wird, ſondern ihn muthig vom Leib und Kleide ſchuͤttelt, da er noch Funke iſt: der wird wohl nie Selbſtmoͤrder werden koͤnnen. Allein, wenn jemand, ſein eig - ner Feind, das Gute ſeiner Exiſtenz immer in den Schatten zuruͤckſetzt, und das Schlim - me immer ans Licht hervorzieht, und, was Hauptſache iſt, die erfinderiſche Einbildungs - kraft mit ihren lebhaften Farben darein malen laͤßt, was ſie will: welch’ ein fuͤrch - terlich Lebensgemaͤlde wird nach Jahren da - ſtehen? Der ungluͤckliche Maler wird ſich wohl nicht mehr enthalten koͤnnen, es mit Einem Pinſelzug durchzuſtreichen, und die Leinwand, worauf die Ebenteuer gemalt ſind — ins Feuer zu werfen, um von dem folternden Anblicke des Schauergemaͤldes auf immer frey zu werden. Sehr natuͤrlich, denke ich: aber dieß Natuͤrliche beweißt nichts, gar nichts fuͤr den Selbſtmord. Oder wuͤrden wir denn nicht jede Todesart auf dem Krankenlager auch natuͤrlich finden,C 3wenn38Erſter Abſchnitt.wenn wir die Reihe der Wirkungen uͤberſe - hen koͤnnten, die ſie hervorgebracht haben? Wenn ſich jemand durch Trunkenheit hin - richtet, und auf dem Siechenbette zum fuͤrchterlichen Gerippe keucht: kann man von ihm nicht ſagen, daß er ſein Leben, das edelſte Geſchenk, ſchrecklich entwei - het hat? Und es iſt doch ſo natuͤrlich, daß Trunkenheit den Helden fruͤhe in die Bahre legt. Wer durch wilde Ausbruͤche des Zorns ſeine Geſundheit zerruͤttet, entweihet doch wohl das edelſte Geſchenk, ſein Leben. Und es iſt doch ſo natuͤrlich, daß die Aus - bruͤche des Zorns die Geſundheit zerſtoͤren.
Es laſſen ſich alſo beyde Wahrheiten ganz ſein neben einander hinſtellen: Selbſtmord iſt aͤuſſerſte Entweihung des edelſten Geſchenkes, Und: Es geht ſo ganz natuͤrlich zu, daßeiner(g)Der Selbſtmord iſt die unnatuͤrlichſte Handlung, weil er den Naturtrieb zur Selbſterhaltung uͤberwaͤltiget — und der39Gruͤnde wider den Selbſtmord.einer zur unnatuͤrlichſten(g)Hang zum Selbſtmord doch ſehr natuͤrlich, weil er den Leidenſchaften, dem Temperamen - te ꝛc. ganz conform iſt. Hand - lung, zum Selbſtmorde, reif wird. Oder: Es iſt nicht ſo leicht, das Gefuͤhl vom Werthe des Lebens immer leb - haft zu erhalten, Und: Das Wegwerfen der koͤſtlichen Perle iſt doch Entweihung des koͤſt - lichen Geſchenkes.
Der Selbſtmord iſt zugleich der Tod aller vernuͤnftigen, aufgeklaͤrten, erleuchteten
Denn ſo lange Gottes - Menſchen - und Selbſtliebe in dem Herzen lebt, und ſo lange dieſe Gottes - Menſchen - und Selbſt -C 4liebe40Erſter Abſchnitt.liebe von der aufgeklaͤrten Vernunft ge - leitet wird, iſt aller Selbſtmord gerade - zu unmoͤglich.
Ich behaupte nicht, daß der Selbſt - mord der Tod aller Gottes-Menſchen - Selbſtliebe ſey, ſondern nur daß er der Tod aller erleuchteten Gottes - Menſchen - und Selbſtliebe ſey.
Selbſtmord der Tod aller erleuch - teten Gottesliebe. Es kann ſich ein gut - muͤthiger Schwaͤrmer „ aus Liebe Gottes „ morden, d. h. aus Sehnſucht, nur recht bald bey ſeinem Gott zu ſeyn. Allein da liegt keine erleuchtete Gottesliebe zum Grun - de, weil alle erleuchtete Gottesliebe ſich in eine treue, ausharrende Erfuͤllung des goͤtt - lichen Willens aufloͤſet, und der goͤttliche Wille von dem Menſchen nichts anders fo - dert, als:
Es kann ein redlicher Schwermuͤthige in der Verwirrung ſeiner Begriffe vielleicht ſo weit gebracht werden, daß er die Selbſt - mordung als den hoͤchſten Actus der Liebe Gottes anſieht. Seinem Herzen fehlt es nicht an Liebe, an Neigung zu dem lie - benswuͤrdigſten Weſen, aber ſeinem Ver - ſtande an Erleuchtung.
Im Gegentheile, die erleuchtete Lie - be kennt den Willen des Herrn, weil ſie er - leuchtet iſt, und thut ihn, weil ſie Liebe iſt. So lange ſie alſo bey Leben iſt, dieſe erleuchtete Liebe, ſo lange kann keine Ver - ſuchung zum Selbſtmorde wichtig werden, weil der Verſtand, der helle, ungetruͤbte Menſchenſinn, die Sanction des Natur - geſetzes, harre aus auf der Stelle, bis dir das Zeichen zum Abzuge von dem Feldherrn gegeben wird, nicht miskennet, und der Wille, die thaͤtige Liebe, feſt an dem Geſetze haͤlt.
Selbſtmord der Tod aller vernuͤnf - tigen Selbſtliebe.
C 5Es42Erſter Abſchnitt.Es kann ſich ein Elender aus Selbſt - liebe morden, d. h. um ſeinen Leiden, die er fuͤr unertraͤglich haͤlt, ein Ende zu ma - chen. Allein dieſe Selbſtliebe iſt keine ver - nuͤnftige (von den Grundſaͤtzen der hellen Vernunft geleitete) Selbſtliebe. Denn die vernuͤnftige Selbſtliebe geht vorzuͤglich auf Selbſterhaltung aus, ohne die ſich keine wei - ter fortſchreitende Bildung des Menſchen in der Bildungsſchule dieſes Lebens denken laͤßt. Sie arbeitet vorzuͤglich an der ſtuffen - weiſe aufſteigenden Vervollkommnerung des unſterblichen Geiſtes. Und die Vollkom - menheit des unſterblichen Geiſtes, wenigſt die Seelenſtaͤrke, die ein betraͤchtlicher Theil davon iſt, verhaͤlt ſich gerade wie die Groͤße der Erduldungskraft, gerade wie der geſetzte hohe Sinn im Gutesthun, und Boͤſesdul - den. Wer groͤſſere Laſten tragen kann, iſt offenbar ſtaͤrker; wer feſter, ruhiger in dem Anfalle des heftigſten Schmerzens aushar - ren kann, iſt offenbar herzhafter; wer in dem Gedraͤnge von Leiden noch groß genug iſt, ſich groͤßer, als das groͤßte Leiden zu fuͤhlen, der iſt offenbar groͤßer, im eigen -ſten43Gruͤnde wider den Selbſtmord.ſten Sinne großmuͤthiger, als alle andere, die geringere Laſten tragen, geringere Leiden dulden koͤnnen. Wer aber offenbar ſtaͤrker, herzhaftiger, großmuͤthiger iſt als andere, der iſt eben darum offenbar vollkommener, als andere. In ſo ferne alſo der Selbſt - mord aus Mangel an Erduldungskraft ent - ſteht, und zugleich den Faden der Geiſtes - vervollkommnerung eigenmaͤchtig abſchnei - det, iſt er nicht vernuͤnftige Selbſtliebe — ſondern eigentlicher Selbſthaß — alſo Tod aller vernuͤnftigen Selbſtliebe.
Selbſtmord iſt auch Tod aller ver - nuͤnftigen Menſchenliebe.
Waͤre in dem Ungluͤcklichen, der ſich ſelbſt morden kann, die allgemeine Men - ſchenliebe lebendig: ſo wuͤrde er ſich als ei - nen Theil des ganzen Geſchlechtes, als ein Glied an dem großen Koͤrper fuͤhlen, das kein Recht hat, ſich ſelbſt von den uͤbrigen Gliedern loszureiſſen. Waͤre in ihm die Buͤrgerliebe lebendig: ſo wuͤrde er ſeine Exiſtenz als einen Beytrag zum gemeinen Beſten anſehen, die ſich ſelbſt nicht nachWill -44Erſter Abſchnitt.Willkuͤhr zerſtoͤren darf, weil dem Staate das bloße Beyſpiel des Selbſtmordes (ohne itzt den Verluſt eines einzelen Gliedes in die Rechnung zu bringen) nicht anders als ſchaͤdlich, und das Beyſpiel der aushar - renden Geduld nicht anders als nuͤtzlich ſeyn kann: indem das erſte die falſchen Begriffe von Tapferkeit verbreitet, das zweyte die wahren unterſtuͤtzet. Es iſt nichts gemein - ſchaͤdlichers, als wenn die Tapferkeit der Buͤrger von Vertheidigung des Staates ge - gen auswaͤrtige Feinde, auf Verminderung der Staatsbuͤrger, auf Selbſtzerſtoͤrung ab - gelenket wird. Es iſt nichts gemeinnuͤtzi - gers, als wenn jeder Staatsbuͤrger ſein Le - ben, ſeine Kraft, als ein Heiligthum an - ſieht, das nur zum gemeinen Beſten darf verwendet werden. Waͤre in ihm (dem Selbſtmoͤrder) die Naͤchſtenliebe lebendig: ſo wuͤrde er keine Urſache finden, an ſeinem Koͤrper Hand anzulegen, ſo lange es in der Welt Elende giebt, denen er durch Vorſtel - lung, Bitte, Warnung, Huͤlfe, Beyſpiel nuͤtzlich ſeyn kann. Waͤre in ihm die Ver - wandtenliebe lebendig, ſo wuͤrde er keineKraft45Gruͤnde wider den Selbſtmord.Kraft finden, den Dolch in ſeine Bruſt zu ſtoſſen, der zugleich das Eingeweide aller ſeiner Verwandten tief verwunden wuͤrde. Waͤre in ihm die Freundeliebe lebendig: wie koͤnnte er Seelen, die jede Freude und jedes Leiden mit ihm getheilt haben, fuͤr ih - re Freundſchaftstreue mit dem Uebermaaſe alles Kummers lohnen? Waͤre in ihm auch nur eine vernuͤnftige Geſchlechtsliebe leben - dig: ſo wuͤrde er ſich wohl huͤten, nicht nur ſich alle Quellen der menſchlichen Freuden auf immer zu verſtopfen, ſondern auch der geliebten Perſon das Andenken an ihren un - gluͤcklichen Liebhaber fuͤr ihr ganzes Leben ſchauervoll zu machen.
Der fuͤnfte bringt die kurze Strecke dieſes Lebens mit jener nach dem Tode in ei - ne Verbindung, macht Ein Continuum dar - aus, um den Werth des Menſchenlebens zu erhoͤhen.
Es46Erſter Abſchnitt.Es iſt bekannt, daß ſich von dem, was Menſchenleben heißt, zweyerley Vor - ſtellungsarten denken laſſen. Eine, die ich die menſchenfeindliche nennen moͤchte, macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande - re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab - ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil - chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un - aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart (die ich die menſchenfreundliche nenne, weil das kranke Menſchenherz einen Balſam dar - an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens - faden, der vom erſten Puncte des Seyns bis zum Grabe reicht, der andere, welcher vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch - reicht, herausſpinne.
Es47Gruͤnde wider den Selbſtmord.Es iſt itzt nicht mein Beruf, die Wahrheit dieſer letzten Vorſtellung zu erwei - ſen; ich ſage nur: wenn die menſchenfreund - lichſten Vorſtellungen gerade die wahrſten ſind, ſo fuͤhle ich hierinn eine Harmonie, die der Wuͤrde der Menſchennatur Ehre macht. Ich ſage nur: wer an die Un - ſterblichkeit glaubt, hat um einen wichtigen Grund wider den Selbſtmord mehr; kann in jeder Nacht dieſes Lebens einen Lichtpunct finden, der ihn vom Abgrunde der Verzweif - lung wegleitet; kann ſich nicht nur den Be - griff von dem Werthe dieſes Lebens unend - lich erweitern, ſondern auch das ſterbende Gefuͤhl davon, immer wieder neu beleben. Ich ſage nur: nichts ſcheuchet den Gedanken an Selbſtentleibung maͤchtiger zuruͤck, als ein Blick auf die Wuͤrde des Menſchen, und was iſt die Wuͤrde des Menſchen, wenn nach einem paar ſchwuͤler Tage, das man Leben nennet, der ganze Menſch modert? Ich ſage nur, daß die Unſterblichkeit dem Menſchenleben einen unermeßlichen Werth giebt, und daß ſich der Vernuͤnftige doch zweymal beſinnen wird, dieß ſein Lebenwegzu -48Erſter Abſchnitt.wegzuwerfen, wenn er glaubt, daß die Dauer ſeines Geiſtesleben ewig iſt, und die kom - mende Periode deſſelben mit der gegenwaͤrti - gen in Verbindung ſteht. Ich ſage nur: daß der Menſch, der ſein Leben wegwirft, wie wenn er eine verſengte Blume in den vorbeyflieſſenden Bach wuͤrfe, ein koͤſtlich Geſchenk wegwerfe, und daß dieß Weg - werfen Entweihung des Geſchenkes ſey.
Dieß ſage ich, und dieß zeigt den Selbſtmord von einer Seite, die ſich, und ihn nicht empfiehlt — die ſich und ihn je - dem, der den wahren Werth der Dinge pruͤft, als verabſcheuungswerth darſtellen muß.
Der ſechste Grund fuͤhrt den Selbſt - mord in das Triebhaus aller Moralitaͤt zu - ruͤck — — und beweiſet, daß erleuchtete Liebe, die ſich zum Schoͤpfer ſchwingt, und vom Schoͤpfer zum Ich, und zum Bruder - geſchlechte des Ichs herunterſteigt, und die - ſes große Drey zugleich umfaßt, dieſer Adel der Vernunftgeſchoͤpfe — nie Triebfeder zum Selbſtmorde werden kann. Gruͤnde genugfuͤr49Gruͤnde wider den Selbſtmord.fuͤr den, der bedenkt, daß Waͤrme des Her - zens ohne Licht des Verſtandes — fuͤr We - ſen, die Wille und Verſtand ſo nahe bey - ſammen haben, nie Beſtimmung heiſſen, nie zweckerreichendes Streben ſeyn kann.
Der Selbſtmord ſteht im fuͤrchterlich - ſten Gegenſatze gegen den Buchſta - ben, und Geiſt der Offenbarung. Denn
Wenn uns nun aber die Suͤnde zu Sklaven, Chriſtus hingegen und die Wahrheit zu Freygebohrnen ma - chen: ſo iſt’s offenbar, daß uns weder die Befriedigung der gereitzten Leidenſchaften, noch die Selbſthin - richtung frey machen koͤnnen. Denn Sklaverey unter dem Zepter des Unrechtes iſt das geradeſte Gegen - theil von der Freyheit des Menſchen, und Durchbrechung des Koͤrpers iſt noch lange nicht Freyſtellung des von Luͤge und Schein und wilder Luſt gefeſſelten Geiſtes. Meſſer, Piſtole, Strick ꝛc. ſind alſo nach dem Geiſte der Offenbarung keine Mittel, den Menſchengeiſt frey zu machen.
Menſch, haſt du einmal die Le - bens - und Leidensgeſchichte des Hoch - gelobten geleſen, oder leſen hoͤren: fandeſt du nicht, daß ſeine Lebens - reiſe, von der Geburt in der Hoͤhle zu Bethlehem bis zum Sterben auf Golgatha, mit Dornen dicht beſaͤet war, daß die letzten drey Jahre, und beſonders die letztern Stunden ſeines Lebens die leibhafteſte Leidens - geſchichte der Menſchheit liefern; daß aber jede neue Stufe des Leidens fuͤr Ihn eine hoͤhere Stufe zur Herr - lichkeit, und daß die hoͤchſte Stufe des Leidens, das Geiſtaufgeben amD 5Kreu -58Erſter Abſchnitt.Kreuzespfahl, die naͤchſte Stufe zum Throne der Herrlichkeit fuͤr Ihn ward.
Wenn nun das vollkommenſte Vorbild der Menſchheit, und das vollkommenſte Abbild der Gottheit, Jeſus Chriſtus, keinen naͤhern, ge - radern Weg zur Vollendung des Menſchenwuͤrde kennet, keinen an - dern ſelbſt geht, keinen zu gehen anraͤth als das Ausdauern in dem Vorſatze, zu thun und zu dulden, was wir nach dem Willen der Fuͤrſe - hung thun und dulden ſollen, bis wir zum großen, erſchmachteten Ruhe - puncte, zu unſerm: es iſt vollbracht, gelangen; wo iſt der Sophiſt, der da Glauben verdient, wenn er ruft: Selbſtmord, das Nichtaushar - ren auf dem Wege zur Vollen - dung, fuͤhrt ſchneller und richtiger zum Ziele?
Alle dieſe Lehren, Beyſpiele, Verheiſ - ſungen ſind
Und dieſer feſtſtehende, treuarbei - tende, ſtarkduldende, unbeſiegliche Glaube iſt offenbar das Gegentheil des lahmen, alle Laſten wegwerfen - den Selbſtmordes.
Er iſt offenbar der gewichtigſte; denn auch der flachſte Anblick kann den red - lichen Leſer uͤberzeugen, daß er an Reich - thum, Mannigfaltigkeit, Kraft, Zuverlaͤßig - keit der Lehren, Beyſpiele, und Verheiſſun - gen keinen ſeines gleichen hat.
Er iſt vielleicht(h)Ein Wink fuͤr den, dem die Freude ge - worden, tiefer in die Tiefen der Menſchen - der einzige, der es recht anſchaulich beweiſet, daß das Selbſt - morden in gar keinem Falle, auch da nicht, wo die Laſt des Lebens ſo ganz unertraͤglich zu ſeyn ſcheint, dem Willen der Fuͤrſehung gemaͤß ſeyn kann.
Er iſt gewiß der einzige, der nicht nur die Pflicht in dem aͤuſſerſten Leiden aus - zuharren, beweiſet, ſondern auch allgemein hinlaͤngliche Kraft zum Ausdauern theils giebt, theils verheißt.
Er iſt das letzte Fundament, auf dem die Zuverlaͤßigkeit der vorigen Gruͤndewider63Gruͤnde wider den Selbſtmord.wider den Selbſtmord, die aus dem Glau - ben an die Fuͤrſehung, und die Unſterblich - keit der Seele hergeleitet worden, auch als - denn noch unwandelbar feſt beruhet, wenn die Vernunftgruͤnde fuͤr jene große Wahrhei - ten wankend zu werden beginnen.
Er muß jedem Freunde des Chriſten - thums auch deßwegen willkommen ſeyn, weil er die Quinteſſenz des Chriſtenthums, und das Mark der Bibel dem forſchenden Blicke nahe legt.
(h)natur, und das Reich der menſchlichen Ueber - zeugungen hinein zu b[l]icken.
Der Selbſtmord iſt nach allen Bezie - hungen(i)Faſſe mich recht, lieber Leſer: ich ſage nicht, daß der Selbſtmoͤrder alle dieſe Beziehungen im Augenblicke der Selbſtmordung vor Augen habe: denn ſo ein Ebenteuer von Greuelthaͤ - ter iſt nicht gedenkbar, der alle dieſe Beweg - gruͤnde, nicht zu ſuͤndigen hell anblickte, unddennoch betrachtet, ein Inbe - grif von allem, was grauvoll heiſſen kann. Denn
(i)dennoch ſuͤndigte. Ich warne nur den Juͤng - ling vor der Greuelthat, ich beſchreibe nicht die Empfindung des Selbſtmoͤrders. Ich bin Arzt, der vor dem Gifttranke warnet, nicht Dichter, der die Gaͤnge malet, wie ein Menſch zum Gifttrinken mit Bewußtſeyn, kommen kann.
E66Erſter Abſchnitt.Was in Abſicht auf die Vergan - genheit den Gedanken an das ge - noſſene Gute undankbar verbannet; den Vorſatz, das geſtiftete Gute mit neuem zu vermehren zernichtet, und den Plan, das veruͤbte Un - recht wieder gut zu machen zerreiſſet;
E 5Was74Erſter Abſchnitt.Was in Abſicht auf die Gegen - wart nur Gewaltthaͤtigkeit iſt, und Gewaltthaͤtigkeit zur Selbſtzer - ſtoͤrung;
Was in Abſicht auf die Zukunft den unſterblichen Geiſt gerade in ſeinem allerſchreckbarſten Zuſtande, wo alle ſeine Kraͤfte auf die trau - rigſte Weiſe verſtimmt ſind, — der Ewigkeit in den Schoos wirft;
Was alſo der redliche Zuruͤckblick auf die Vergangenheit, der gerade Anblick der Gegenwart, der ge - ſchaͤrfte Hinausblick in die Zu - kunft — graunvoll finden, und eben darum mit Einer Stimme misbil - ligen: — — wie kann dieß von ungetruͤbter Vernunft, und von aufgehelltem Gewiſſen gebilliget werden?
Die Urſachen, die zum Selbſt - mord verleiten, ſind entweder fuͤrch -terliche75Gruͤnde wider den Selbſtmord.terliche Ausſchweifungen des Her - zens, oder ſchauervolle Verirrun - gen des Verſtandes, oder, was ge - woͤhnlicher iſt, beydes zugleich — allemal Schwaͤche, bemitleidens - wuͤrdige Schwaͤche.
Die That ſelbſt iſt auf einer Seite faſt immer qualvoller als al - les Elend, wovon man ſich durch den Selbſtmord zu befreyen ſucht, und auf der andern ſinnloſe Wut gegen ſeine Natur, unerſetzliche Zer - ſtoͤrung der menſchlichen Exiſtenz. —
Die Folgen, bloß in Abſicht auf die Perſon des Selbſtmoͤrders, ſind graunvoll genug, als: Unfaͤ - higkeit, neue Verdienſte um das Wohl der Menſchen zu ſammeln; Unfaͤhigkeit, die unnennbaren Freu - den, die uͤberwundene Verſuchung zum Selbſtmorde verſchaffet haben wuͤrde, zu genieſſen; Unfaͤhigkeit, dem Schoͤpfer fuͤr die ſchoͤne Mor - genroͤthe, die nach etlichen finſternStun -76Erſter Abſchnitt.Stunden — mit nie geſehenem Glanze in das noch ſehende Auge geſtralet haͤtte, kindlichfroh zu dan - ken; Und dann — — ganz umge - aͤnderte Schickſale der Zukunft, der Ewigkeit, die offenbar einen an - dern Gang genommen haͤtten, wenn der Selbſtmoͤrder die Hand, die ihm einige Tropfen Wermut in den Le - benskelch getroͤpfelt, dankbar geſeg - net haͤtte, ſtatt daß er den Lebens - kelch (mit all ſeiner Suͤſſe und Bit - terkeit) zertruͤmmert hat.
Daß in dieſem Grunde theils einige, ſchon im Vorhergehenden erwaͤhnte Gruͤnde, theils andere neue Bemerkungen concentrirt ſind, ſagt die Aufſchrift, und bedarf keiner beſondern Erinnerung. —
1. Der Schoͤpfer hat dem Menſchen die Unmaͤßigkeit in Speiſe und Trank verboten, hauptſaͤchlich auch deßwegen, weil ſie am Lebensfaden naget: ſoll er das eigen - maͤchtige, ſtuͤrmiſche Abreiſſen des Lebens - fadens erlauben?
2. Dieſes Leben iſt fuͤr den Menſchen eine Pruͤfungsklaſſe: darf der Schuͤler ohne den Wink des Schulherrn abzuwarten, der Pruͤ - fungszeit gewaltſam, und eigenmaͤchtig ein Ende machen, beſonders da die fortdaurende Lebenskraft ein Pfand vom Schoͤpfer iſt, daß ſein Wille das Ausdauern in der Pruͤfungs - klaſſe dem Schuͤler zur Pflicht macht?
3. Es iſt keine geltende Entſchuldigung eines Moͤrders, wenn er ſagt, und es allen - falls auch beweiſen koͤnnte: Ich habe des - wegen den Cajus erſtochen, weil er es von mir ſo dringend begehrt hat. Wie darfalſo78Erſter Abſchnitt.alſo Cajus ſich ſelbſt einen Dienſt thun, den ihm kein anderer erweiſen darf? Du ſagſt: das Gewicht ſeiner Gruͤnde, die Laſt ſeiner Leiden kann kein anderer ganz ſo fuͤhlen, wie er. Mithin darf ihn kein anderer, er aber ſich ſelbſt morden. Und ich ſage: keiner wird durch das uͤberſpannte Gefuͤhl ſeiner Leiden, ſeiner Laſten ſo ganz des geſunden Verſtandes beraubt, wie er: und daraus, daß nur der Leidende das ganze Maas ſeines Leidens fuͤhlen kann, laͤßt ſich nur erklaͤren, wie es zugehe, daß einer ſein Selbſtmoͤrder werden koͤnne, aber nicht, daß er es mit Recht werde.
4. Ein Forſcher in den Annalen des Men - ſchengeſchlechtes hat zur Ehre der Tugend die Anmerkung gemacht, daß der Selbſtmord zu Rom nie gemeiner geweſen, als unter Ti - berius und Nero, wo Unzucht, Schwelgerey, Tyranney den hoͤchſten Gipfel erreichet hat - ten. — Selbſtmord — das iſt wider dich!
Irreligion, Weichlichkeit, und was ich nicht deutſch nennen mag — vaga libido, Ueberſpannung der Empfindung allerley Art, Druck, Verkaufung des Rechtes an denMeiſt -79Gruͤnde wider den Selbſtmord.Meiſtbietenden, Kaͤlte gegen die leidende Menſchheit bey dem ewigen Gekreiſche von Liebe predigen — ſind, ſo viel ich mein Jahr - hundert kenne, keine ſeltne Erſcheinungen. Iſt es kindiſche Furcht, wenn ich an dem Leitfaden der Geſchichte, und das Bleymaas der taͤglichen Beobachtung in der Hand, ahn - de, der Selbſtmord muͤſſe von Tag zu Tag natuͤrlicher werden, je natuͤrlicher(l)in einem eignen Sinne des Wortes. die unnatuͤrlichſten Ausbruͤche der Leidenſchaften bereits geworden ſind?
5. Ich bin ein Bild des Allbelebers: Er, das Original, hat ſeine Freude am Be - leben, an Conſervation der Lebenskraͤfte — und ich, ſein Bild, ſoll Troſt ſuchen, Troſt finden koͤnnen in Toͤdtung, in Zerſtoͤrung der Lebenskraͤfte? Der Menſch! — ein Bild deß, der lebt und ganz Leben und Freude iſt, ſoll Freude am Nichtſeyn haben? —
Der Stein da, auf dem ich ſtehe, iſt, weiß aber nicht, daß er iſt, und kann ſich ſeines Seyns nicht freuen; und das Bluͤm - chen, das da trinkt den Morgenthau, und ſaugt den Nahrungsſaft aus der Erde, undſich80Erſter Abſchnitt.ſich oͤffnet dem kommenden Strale der Son - ne, iſt wohl auch, weiß aber nichts darum, daß ſie den Thau trinkt, und Nahrung aus der Erde ſaugt, und dem Strale des Mor - genroths ſich oͤffnet; und das Fuͤllen dort auf der Weide, das munter ſpringt und freudig wiehert, iſt auch, und empfindet auch, kann aber dieſe Empfindung der Freude durch Nach - denken nicht wieder genieſſen. —
In der Mitte dieſer Erdegeſchoͤpfe, die kein Gefuͤhl Ihrer Selbſt, kein Anſchauen Ihres Werthes in ſich haben, bin ich, und weiß, daß ich bin, und kann mich freuen, daß ich bin, und kann dieſe Freude durch Nachden - ken vergroͤßern — und ich ſoll mit dieſer Kraft zu empfinden, daß ich bin, mit die - ſer Kraft froh zu werden, daß ich bin, mit dieſer Kraft die Freude an meinem Seyn durch Nachdenken, Selbſtbewußtſeyn wie - der zu genieſſen, und durch Wiedergenuß zu vergroͤßern — Ich, nicht Stein, nicht Blume, mehr als Thier, Ich Menſch ſoll ſprechen: Ich will nimmer ſeyn?
Sieh da die Antwort auf alle Scheingruͤnde!
[83]„ Ich bin ſo elend, ſo ohne alle Aus - ſicht in der Welt, daß ich keine Freude mehr fuͤr mich hoffen darf. Alſo iſt Selbſtentleibung meine ein - zige Gluͤckſeligkeit, und eine Kugel vor den Kopf mein einziger Erloͤſer. „
„ Ich kann keine Freude mehr hoffen. “
Freund, weißt du denn, was der morgige Tag alles bringen wird? Kennſt du denn zum voraus alle Kummer - und Freuden - thraͤnen, die morgen unter der Sonne aus den Augen der Menſchen troͤpfeln werden? „ Nein, das weiß ich nicht, das kann ich nicht wiſſen, das kann kein Sterblicher wiſ - ſen. “ Wenn du aber nicht weist, was der morgige Tag, der in wenigen Stunden an -F 2bricht,84Zweyter Abſchnitt.bricht, mitbringen wird: wie kannſt du wiſ - ſen, daß alle die noch kommenden Tage, die zu deiner natuͤrlichen Lebensbahn gehoͤren, dir keine einzige Freude mehr bringen wer - den? Biſt du denn ſchon einmal im Archi - ve der Zukunft geweſen, haſt du ſchon in dem großen verſiegelten Buche des goͤttlichen Weltplanes alle Blaͤtter durchgeleſen, und auch verſtanden, daß du ſagen darfſt: fuͤr mich koͤmmt keine Freude mehr? Was daͤchteſt du von dem politiſchen Zeitungstho - ren in der Schenke, der bey ſeinem Glas Bier mathematiſch demonſtrirte, er wiſſe genau, was fuͤr Entwuͤrfe unſer Kaiſer Jo - ſeph in ſeinem Herzen traͤgt, auch jene, die er noch keinem Menſchenohr vertraut; er wiſſe umſtaͤndlich, was alle Großen der Er - de in den verſchwiegenſten Cabineten beſchaͤf - tiget; er koͤnne alle Plane ihrer Conferenz - miniſter, denen ſie ſelbſt noch keinen Namen gegeben, beym rechten Namen nennen. Nicht wahr, das muͤßte der erſte Tollhaͤus - ler auf Gottes Erdboden ſeyn? Wenn es aber Thorheit iſt, aus den Cabineten der Großen Dinge wiſſen wollen, die noch nichttrans -85Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.transſpiriret haben: ſoll es nicht Thorheit ſeyn, den undurchdringlichen Schleyer, der auf den Zahlloſen Begebenheiten der Zukunft liegt, mit der Fingerſpitze wegheben wollen, und ſagen: fuͤr mich bluͤht keine Freude mehr.
„ Ich darf keine Freude mehr hoffen. “ Sieh, wie du deine gegenwaͤrtige Empfin - dung, in der alle deine Sinne, Vernunft und Herz ſchwimmen, zum Maaßſtabe dei - nes Urtheils uͤber die Zukunft machſt: und gerade dieſer Maaßſtab iſt der unzuverlaͤſſig - ſte aus allen. Wenn der Wetterfuͤrchten - de Knabe (um das im Eingange angefuͤhrte mendelſohn’ſche Gleichniß auszumalen) glaub - te, der Donner, der itzt in dem Momente des fuͤrchterlichen Krachens uͤber ſeinem Haupte rollet, werde ewig, ewig in ſeinem Ohr rau - ſchen: was wuͤrdeſt du ihm ſagen?
„ Lieber Knabe, wuͤrdeſt du ihm ſagen, die Donner bruͤllen nicht immer, nicht im - mer leuchten die Blitze: Heiterkeit und Stil - le iſt ſchon auf dem Wege — fuͤr dein Aug’ F 3und86Zweyter Abſchnitt.und Ohr: du muſt die Gegenwart nicht zur Richterinn uͤber die Zukunft machen: auf Regen folgt Sonnenſchein, und das erder - ſchuͤtternde Donnerwetter verliert ſich in eine feyerliche, liebliche Stille. “
Was du nun dem Knaben ſagteſt, das predigt dir die ganze Natur laut in dein Herz:
„ Harre aus — der Leiden jedes loͤſet ſich fruͤhe oder ſpaͤte in eine nie gefuͤhlte Freude auf.
Denke doch zuruͤck auf die groͤßte Freu - de, die dir in deinem Leben geworden iſt. Wenn du in der Stunde dieſer deiner Ent - zuͤckung gedacht haͤtteſt: fuͤr mich waͤchst nun kein Leiden mehr: ewig, ewig ſchwimm’ ich im Freudenmeere; waͤr’ in dieſem Ur - theile Wahrheit geweſen? Nein, denn es ſind auf jene heitern Tage wirklich viele truͤbe Stunden gefolget. So kann denn auch das entgegen geſetzte Urtheil, in dem entgegen geſetzten Zuſtande, in der Stunde des heiſſeſten Leidens: fuͤr mich koͤmmt kei - ne Freude mehr, unmoͤglich gewiſſe Wahr - heit ſeyn.
Ich87Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.Ich habe gefehlet, daß ich das Wort Urtheil gebraucht habe. Denn die Spra - che, fuͤr mich kommt keine Freude mehr, iſt kein Urtheil, kein Ausſpruch der geſun - den Vernunft, iſt kein aus ruhiger Ueber - legung, aus richtiger Einſicht quillendes Ja, ſondern Sprache der Empfindung, der ſchwar - zen, gegen alle Stralen von Hoffnung kaͤmp - fenden Empfindung. Der erſte Grund alſo fuͤr den Selbſtmord, ich kann keine Freu - de mehr hoffen, iſt kein Grund, denn er ſtreitet wider die Natur, das heißt, wider die Veraͤnderlichkeit der Dinge, und wi - der die Veraͤnderlichkeit der menſchlichen Empfindungen.
„ Das Leben iſt eine Wohlthat, ein Geſchenk: ich darf es al - ſo zuruͤck geben, wenn es mir beſchwerlich wird: wie ich ein geſchenktes Haus vertauſchen,F 4ver -88Zweyter Abſchnitt.verſchenken, oder gar abbrechen darf, wenn ich will. “(m)So ſchwach dieſer Grund iſt, ſo haben ihn doch große Geiſter wichtig gefunden, oderwenig -
An dieſem Scheingrunde iſt gar alles Schein; denn
Erſtens: iſt es nicht allgemein wahr, daß ich z. B. ein geſchenktes Haus nach Willkuͤhr veraͤndern, abbrechen ꝛc. darf. Oder, was wuͤrde die wachende Polizey in einem gebildeten Staate dazu ſagen, wenn mehrere Buͤrger in die Raſerey geriethen, ihre ſchoͤn und regelmaͤſſig gebauten Haͤuſer, deren Eigenthuͤmer ſie durch Schenkung, oder wie immer geworden ſind, nach ihren eigenſinnigen Launen mit hundert tauſend Schnoͤrkeln, nach altem gothiſchem Geſchma - cke, verunſtalten, oder abbrechen, oder gar in die Luft ſprengen zu laſſen?
Und wenn das der Buͤrger in einem cultivirten Staate mit ſeinem Hauſe nicht thun darf, ſoll es der Menſch, im Staate Gottes, mit ſeinem Leibe wagen duͤrfen?
Zwey -89Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.Zweytens: iſt es nicht allgemein wahr, daß man jede Wohlthat dem, der ſie erthei - let hat, nach Willkuͤhr heimgeben darf. Oder, wenn dir ein wohlthaͤtiger weiſer Fuͤrſt ſein eigen Portraͤt zum Geſchenke mach - te, etwa um dir auf dem Wege zur Weis - heit einen neuen Sporn zu geben: duͤrfteſt du dem Fuͤrſten dieß ſein Portraͤt nach Will - kuͤhr zuruͤck geben, ohne dich in den Augen aller Welt mit dem Schandzeichen der Ge - fuͤhlloſigkeit, des Stolzes, des Undankes zu brandmarken? Und, wenn du das ge - ſchenkte Portraͤt des Fuͤrſten nicht nach Will - kuͤhr zuruͤck geben darfſt, wie darfſt du es wagen, die menſchliche Exiſtenz, dieß ſchoͤ - ne Ebenbild, und Portraͤt der Gottheit, zu zerſtoͤren, und es dem Koͤnig der Koͤnige mit undankbarer Gewaltthaͤtigkeit hinzu - werfen? —
Drittens: kann es Geſchenke geben, die mit beygeſetzten Verpflichtungen deß, der das Geſchenk empfangen, und mit aus -F 5druͤck -(m)wenigſtens wichtig zu machen geſucht. Ein Be - weis, was es mit ſogenannten großen Geiſten fuͤr ein gebrechlich Ding ſey.90Zweyter Abſchnitt.druͤcklicher Vorbehaltung des Herrſchafts - rechtes fuͤr die Perſon des Schenkherrn ge - macht werden.
So kann der Beſitzer einer Biblio - thek irgend einer Akademie das Recht ſchen - ken, die Buͤcher zur Aufnahme der Wiſſen - ſchaften zu benutzen, mit dem Anhange, daß er der Eigenthuͤmer der Bibliothek bleibe.
Auf eine aͤhnliche Weiſe ſchenkte uns der Herr alles Lebens das Menſchenleben, mit der angehaͤngten theuren Pflicht, es weislich zu benutzen, und mit dem noth - wendigen Vorbehalte, daß der Geber des Menſchenlebens auch Herr deſſelben ſey und bleibe. Wir haben das Recht, die Lebens - kraͤfte zu eignem und fremdem Wohl zu ge - brauchen: aber keines, ſelbe eigenmaͤchtig zu ſtoͤren.
Viertens: heißt ſich Selbſtmorden nicht: dem Schoͤpfer die Wohlthat zuruͤck ge - ben — ſondern die Wohlthat zerſtoͤren, und die Truͤmmer davon dem Wohlthaͤter uͤberlaſſen; es heißt ſein Haus abbrennen,und91Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.und die Aſche davon dem Schenkherrn, oder vielmehr dem Zufalle, dem Winde preis ge - ben. Wo Zerſtoͤrung des Geſchenkes, da iſt keine Zuruͤckgabe gedenkbar — Und was kann ich zuruͤck geben, da ich im Au - genblicke der Selbſtermordung aufhoͤre, Menſch zu ſeyn?
Fuͤnftens: iſt es ein unausdenkli - cher Abſtand zwiſchen dem Geſchenke eines materiellen Hauſes, das aus Kalk, Stein, Kuͤtte ꝛc. beſteht, und zwiſchen dem Ge - ſchenke des Menſchenlebens, das aus Kno - chen und Muskeln und Fibern und Ner - ven und Blut und Duft und Geiſt be - ſteht. Das Haus kannſt du abbrechen, und aus den Truͤmmern deſſelben ein an - dres erbauen: aber gehe hin, ſchneide dir deinen Lebensfaden ab, und knuͤpfe ihn wieder an — wenn du kannſt. Raube dir das Menſchenleben, und gieb dir es wieder, wenn du kannſt. Hoͤr auf Menſch zu ſeyn, und werde es wieder, wenn du kannſt — aus eigner Kraft, die dahin iſt.
„ Wuͤrde ein Menſch, ein Vater zuͤrnen, dem ſein unvermu - thet zuruͤckkehrender Sohn um den Hals fiele, und riefe: ich bin wie - der da, mein Vater: zuͤrne nicht, daß ich die Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem Willen laͤnger haͤtte fortſetzen ſollen: mir iſt nur wohl, wo du biſt. Und du lieber himmliſcher Vater, ſollteſt den ungluͤcklichen Selbſtmoͤrder von dir weiſen? “
Dieſer Einwurf koͤnnte deshalb einen ſtaͤrkern Eindruck auf ein fuͤhlend Menſchen - herz machen, weil er die Vaterliebe Gottes ſehr kuͤnſtlich in ein auffallendes Parallel mit menſchlicher Guͤte zu ſetzen weiß. Wenn wir aber den Blick ſchaͤrfen: ſo iſt es nichts mehr als ein elender Fehlſchluß, der blendet, und wahrlich nur den Unachtſamen blen - den kann.
Setzen wir den Fall nur etwas beſtimm - ter, und der Scheingrund ſteht in ſeiner ganzen Bloͤße da.
Setzen93Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.Setzen wir, der Vater haͤtte ſeinen Sohn auf Reiſen geſchickt, damit er die Menſchen kennen, Wiſſenſchaften und Kuͤn - ſte lernen, und wohlgebildet an Leib und Seele zuruͤckkehren, und dann die La - ſten der Haushaltung, und Amtsgeſchaͤfte der muͤden Vaterſchulter abnehmen ſollte: er, der Vater, wolle ihn zu rechter Zeit ſchon ſelbſt heimberufen.
Nun aber waͤre dem Soͤhnchen die Luft zu rauh, das Reiſen zu unbequem, und das Sichſelbſtbilden zu muͤhſam. Er kaͤme alſo ungerufen, dumm und ungezogen nach Hauſe, und gienge auf den Vater zu, um ihn zu umarmen, und ſpraͤche: Vater, ſieh, ich bin gern bey dir: verzeih, daß ich meine Reiſezeit nicht ausgehalten habe. — Was wuͤrde in dieſem Falle auch der liebend - ſte Vater ſagen, thun?
„ Ungehorſamer, wuͤrde er ſagen, du biſt meiner Umarmung nicht werth: das Herz deines Vaters haſt du bluten gemacht durch deinen Ungehorſam. Du kommſt zu - ruͤck ohne Bildung, ohne Tugend, ohneWeis -94Zweyter Abſchnitt.Weisheit. Ich kann ſo einen elenden Tau - genichts, weder in meiner Haushaltung, noch bey meinen Amtsgeſchaͤften brauchen. Du haſt die Abſicht deines Vaters ganz vereitelt — Fort mit dir — und gehe dei - nem Vater nimmer unter das Angeſicht, bis du weiſer und beſſer, und zu deinem Gluͤcke reifer geworden biſt. „
Der Vater wuͤrde alſo eines aus bey - den mit ſeinem Sohne thun, ihn entweder, unter Aufſicht eines wackern Hofmeiſters wieder auf Reiſen ſenden, oder im vaͤterli - chen Hauſe ſtrenge Zucht mit ihm halten. Und, wenn das der Vater nicht thut, ſo handelt er wider die Pflicht der weiſen Va - terliebe. Laßt mich noch verſtaͤndlicher re - den, und das Gleichniß noch einmal vor - nehmen, von dem ich am Schluſſe des erſten Abſchnittes ſchon einen Gebrauch gemacht habe. Die Aeltern ſchicken ihre Kinder in oͤffentliche Schulen. Wenn nun der Knabe nach der erſten Viertelſtunde wieder nach Hauſe liefe, und zur Entſchuldigung angaͤ - be: er ſey lieber zu Hauſe bey der Mamaals95Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.als in der Schule bey dem Schullehrer: wuͤr - de die Mutter, wenn ſie Mutter waͤre, nicht nur hieſſe, mit dieſer unzeitigen, und eitel vorgeblichen Anhaͤnglichkeit des Kindes an die Mutterſeite zufrieden ſeyn? Wuͤrde ſie nicht vielmehr ſagen: Kind, wenn du mich lieb haſt, ſo beweiſe es dadurch, daß du die beſtimmte Schulzeit bis auf den letzten Punct aushaͤltſt. —
Nun iſt es ein abgenutzter, aber wah - rer, aber nie genug zu uͤberdenkender Ge - danke, daß dieſes unſer Leben eine Pilger - reiſe nach unſerer Heimat, eine Univerſi - taͤt zur Bildung der Menſchheit, eine Er - ziehungsanſtalt zum beſſern Leben ſey.
So iſt es denn offenbar gegen die Abſicht des Vaters der Menſchen gehandelt, wenn der Pilger ſeine Erdereiſe hienieden eigen - maͤchtig einſtellt, oder der Schuͤler im Gymnaſium der Fuͤrſehung (den Menſchen meyne ich) — eigenmaͤchtig aus der Zucht - ſchule hinauslaͤuft, und den Ruf des großen Erziehers nicht abwartet.
„ Da Gott bey ſeiner Vorſehung und Regierung das menſchliche Leben ſo unzaͤhlich vielen, oft aus den kleinſten und zufaͤlligſten Urſachen entſtehenden Gefahren uͤberlaſſen: ſollte er’s nicht auch, und vielmehr noch, der eignen Willkuͤhr des Men - ſchen uͤberlaſſen haben? Und wenn aus jenen erhellet, daß der Plan der goͤttlichen Herrſchaft, und Regie - rung nicht von Verlaͤngerung einze - ler Menſchenleben abhaͤnge, wie kann die willkuͤhrliche Abkuͤrzung des eigenen Lebens ein Verbrechen gegen die Gottheit ſeyn? (n)Dieſer Einwurf kommt in den Auſſaͤtzen uͤber Selbſtmord, und Unſterblichkeit vor, die dem David Hume zugeſchrieben werden.
Dieſer Grund ſagt nicht mehr und nicht weniger als: dieſen erſchlaͤgt ein Dachziegel, jenen der Donner: da ſtirbt einer am tollen Hundsbiſſe, dort ein anderer an den Blat - tern. Soll nun ſich der Menſch das nicht ſelbſt anthun duͤrfen, was Hundsbiſſe, Blat -tern,97Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.tern, Donnerwetter, Dachziegel, Zufall thun koͤnnen, und an unzaͤhligen Menſchen bereits gethan haben? — — Nein, er darf es nicht thun — und darf es darum nicht thun, weil er Menſch iſt. Er hat Ueberle - gung — kann in die Zukunft hineinſchauen, das der Dachziegel nicht kann; hat Ver - nunft — kann dem wilden Triebe widerſte - hen, das der tolle Hund nicht kann; hat ein Gewiſſen in der Bruſt — und wird nicht vom Electricismus getrieben wie der Donner.
Oder darf der Menſch etwa auch das (neugebaute) Haus ſeines Vaters anzuͤnden, weil es vor zwey Jahren der Blitz eingeaͤ - ſchert hat? Darf er ſeinem Bruder das Ge - treid aus der Scheune ſtehlen, weil ihm vor Jahren der Hagel die Saaten verwuͤſtet hat? O Welt, was wuͤrde aus dir werden, wenn das der Menſch mit Ueberlegung thun duͤrf - te, was die Elemente nach dem Natur - Plane thun?
Wenn(n)Sieh die goͤttingiſche Anzeigen St. 210 den 31. Dec. 1784.
G98Zweyter Abſchnitt.Wenn der Donner die Eiche ſpaltet, und den Hirten am Felde toͤdtet, ſo thut er den Willen des Herrn. Denn dieſer hat es ihm befohlen: Spalte mir dieſe Eiche, und toͤdte mir den Hirten dort.
Wenn der Menſch die fremde Eiche, die nicht ſein iſt, ſpaltat, und den Hirten mordet, ſo thut er wider den Willen des Herrn, der ihm in’s Herz ſchrieb: laß je - dem das Seine, und beflecke dich nicht mit Menſchenblut.
Alſo auch, wenn der Donner dich in Aſche verwandelt, thut er den Willen des Herrn: wenn du dich ſelbſt mordeſt, ſo thuſt du wider den Willen des Herrn, der dich auf die Erde geſtellt, und den Trieb zum Lebendir(o)Dieſer Ausdruck: Der Schoͤpfer hat das Menſchenleben vielen Gefahren uͤberlaſſen, iſt wirklich ſehr zweydeutig. Denn der Schoͤpfer hat fuͤrs erſte mein Le - ben den Gefahren nicht uͤberlaſſen: er wuß - te, was kommen wuͤrde, ehe es koͤmmt; er leitete die natuͤrlichen Begebenheiten ſo, daß das kommen mußte, was kommt; er beſtimm - te den erſten und letzten Punct, und alle Zwi -ſchenpuncte99Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.dir in’s Herz gelegt hat, und ſprach: harre aus, bis ich komme.
Man ſieht alſo, daß dieſer ungluͤckliche Einfall der ſkeptiſchen Laune fuͤr den Selbſt - mord nichts beweiſe, oder zugleich alle Pflich - ten gegen den Naͤchſten, und das gemeine Weſen aufloͤſe. Denn ſo wie der Schoͤpfer das Leben der Menſchen unzaͤhligen Gefah - ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei - ten, und wohl auch von den kleinſten, un - geahndeſten Veraͤnderungen zerſtoͤret zu wer - den (um den Ausdruck des Skeptikers(o) beyzubehalten), uͤberlaſſen hat: ſo hat er auch die Gluͤcksguͤter der Menſchen, den Flor der Koͤnigreiche, und das ganze Quantum zeitlicher Gluͤckſeligkeit dieſen naͤmlichen Ge - fahren uͤberlaſſen.
G 2Fer -(o)ſchenpuncte des menſchlichen Lebens: das heißt nun nicht, das Menſchenleben den Gefahren uͤberlaſſen. Fuͤrs zweyte iſt das, was in unſern Augen, aus Mangel der Einſicht in die Reihe der Begebenheiten, Gefahr iſt, im allſehenden Auge Gottes keine Gefahr: ſo wie was in Abſicht auf unſer Nichtvorherwiſſen Zufall iſt, in Hinſicht auf Gott nicht Zufall, ſondern Ordnung, Fuͤgung, Feſtſtel - lung iſt.
100Zweyter Abſchnitt.Ferner: wie der Schoͤpfer mein Leben von den Elementen, ſo hat er auch das Le - ben meiner Mitmenſchen von den Elementen abhaͤngig gemacht. Wenn ich alſo aus dem Grunde, daß mein Leben in Gefahr ſteht, von dem Gange der Elemente abgekuͤrzt zu werden, es mir ſelbſt eigenmaͤchtig ab - kuͤrzen duͤrfte: ſo wuͤrde ich das naͤmliche Befugniß in Abſicht auf das Leben anderer Menſchen, die naͤmlichen Verwuͤſtungsrech - te in Abſicht auf die Gluͤcksguͤter anderer, ja ſogar auf den Flor der Staaten, den Wohlſtand der Nationen, und umgekehrt je - der andere die naͤmlichen Rechte auf meine, und aller uͤbrigen Menſchen Guͤter und Le - ben haben. Und dieß waͤre nichts gerin - gers, als das bekannte bellum omnium erga omnes. Anbeter des Pyrrhonis - mus — ſteh ſtille, und ſtaune, und wirb ihm noch ferner neue Candidaten, wenn du kannſt, dem angebeteten Goͤtzen!
„ Die Liebe (wenn ſie unbezwingbare Leidenſchaft geworden, und wie bald bricht der feuerſchwangere Funke in helle, unbeſiegliche Flam - men aus?) ſpannt die Empfindung, bis ſie uͤberſpannt iſt — und uͤber - ſpannte Empfindung kann ſich nicht mehr tragen, und nicht herunter - ſpannen: alſo muß ſie ſich toͤdten, und den Koͤrper auch mit. “
Zuerſt eine Antwort ohne Kompliment.
Wenn der Kranke mit der Krankheit ſpielet, und die Krankheit immer maͤchtiger werden laͤßt: ſo wird ſie endlich ſo maͤchtig werden, daß keine Arzney mehr dagegen wirken kann. — Izt liegt er todt da, der vor zehen Tagen noch geſund war, und deſſen Krankheit vor zwey Tagen noch heil - bar geweſen waͤre.
G 3Nun102Zweyter Abſchnitt.Nun koͤmmt mich hohe Luſt an zu fragen:
Dann eine Stelle aus der beſten Rezenſion der Leiden des jungen Werthers. (p)Asmus ſaͤmtliche Werke, erſter Theil.
Ich glaubte mich an der Wahrheit zu ver - ſuͤndigen, wenn ich dieſe Stelle, die es verdiente, daß alle feurige Juͤnglinge ſich ſelbe als ein Ordensband umhiengen, und alle Maͤdchen an ihre Rechte baͤnden, nicht als die kompleteſte, und ſinnlichſte Ant - wort auf den erwaͤhnten Scheingrund hie - her ſetzte:
„ Ja, die Lieb’ iſt ’n eigen Ding; laͤßt ſich’s nicht mit ihr ſpielen, wie mit einem Vogel. Ich kenne ſie, wie ſie durch Leib, und Leben geht, und in jeder Ader zuckt, und ſtoͤrt, und mit ’m Kopf und der Ver - nunft kurzweilt. Der arme Werther! Er hat ſonſt ſo feine Einfaͤlle, und Gedanken. G 4Wenn104Zweyter Abſchnitt.Wenn er doch eine Reiſe nach Pareis, oder Pecking gethan haͤtte! So aber wollt’ er nicht weg von Feuer und Bratſpieß, und wendet ſich ſo lange dran herum, bis er ca - put iſt. Und das iſt eben das Ungluͤck, daß einer bey ſo viel Geſchick und Gaben ſo ſchwach ſeyn kann. Und darum ſollen ſie unter der Linde an der Kirchhofmauer neben ſeinem Grabhuͤgel eine Grasbank machen, daß man ſich darauf hinſetze, und den Kopf in die Hand lege, und uͤber die menſchliche Schwachheit weine. — Aber, wenn du ausgeweinet haſt, ſanfter, guter Juͤngling! wenn du ausgeweinet haſt; ſo hebe den Kopf froͤlich auf, und ſtemme die Hand in die Seite! Denn es giebt Tugend, die, wie die Liebe, auch durch Leib, und Leben geht, und in jeder Ader zuckt, und ſtoͤrt. Sie ſoll, dem Vernehmen nach, nur mit viel Ernſt, und Streben errungen werden, und deßwegen nicht ſehr bekannt, und beliebt ſeyn; aber wer ſie hat, dem ſoll ſie auch da - fuͤr reichlich lohnen, bey Sonnenſchein, und Froſt und Regen, und wenn Freund Hain mit der Hippe kommt. “
Im105Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.Im Grunde thut jeder Selbſtmoͤrder à la Werther, was Fritze gleich nach die - ſer Stelle ſagt:
Ein Gottlob! noch einſamer Weg zum Selbſtmorde.
Es giebt einige Ungluͤckliche, die an kei - nen Gott glauben, als der fuͤr das All - gemeine ſorgte, und zu groß waͤre, als daß er ſich um das Einzele bekuͤmmern ſollte. Ihr Gott iſt ein Admiral, der ſich um die Ratzen ſeiner Flotte, die unten im Schiffe nagen, nicht bekuͤmmert — das heißt um die Menſchen, die an dieſem Erderund auf und abkriechen. Ihr Gott iſt ein Gene - ral(q)Im Carl von Carlsberg II. Th. 324. wird ein ſolcher Selbſtmoͤrder und dieſe Denkart geſchildert. der einen forçirten Marſch thut,G 5und106Zweyter Abſchnitt.und ſich nichts daraus macht, wenn ein paar hundert Mann im Moraſte ſtecken blei - ben. Ihr Gott iſt, um das ſchonendſte Bild zu waͤhlen, ein Kuͤnſtler, der eine ſich ſelbſt bewegende Kunſtuhr vollendet, — ihr den erſten Trieb zur Bewegung gegeben, und ſich nicht mehr um Gang, und Schick - ſale einzeler Raͤder bekuͤmmert. Ihr Gott verderbt die Zeit nicht damit, daß er auf die heiſſen Angſtthraͤnen, die die Wangen der Wittwe durchgluͤhen, herunterſaͤhe, oder dem Wehegeheul des Waiſen, der ſich ohne Mutter und ohne Huͤlfe in der Welt ſieht, zuhoͤrte — wenn auch ſein Aug und Ohr ſo weit reichten.
Wer nun an einen ſolchen Gott glaubt, der glaubt an keinen(r)Denn es iſt wider alle geſunde Begriffe ei - nen Gott annehmen, der das Allgemeine be - ſorgt, ohne das Einzele zu beſorgen.. Wer an einen ſolchen Gott glaubt, der ſieht das Beten, als erſte Thorheit an, ſo wie es eine Thor - heit waͤre, wenn der Schiffbruchleidende im Untergehen einen tauben Felſen um Huͤlfe anflehete. Wer aber ohne Gott, und ohneGebet107Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.Gebet in der Welt lebt, der iſt das wehrlo - feſte Geſchoͤpf bey den Verſuchungen zum Selbſtmorde. Sobald ihm eine Laſt uner - traͤglich ſcheint (und wie oft kann ſich dieſer Fall ereignen?) ſo oft er ſich ohne Huͤlfe, ohne Ausſicht, ohne Kraft fuͤhlet — in den Sturm der Leiden hinausgeworfen: dann ſchwebet er allemal uͤber dem Abgrunde der Selbſthinrichtung, und ſieht ihn, dieſen Abgrund, noch dazu — fuͤr ſeinen Port an. Wie ſchauert mir’s ab dem Gemaͤlde? Wie ſchrecklich iſt das Ende dieſes Weges? Und wie ſie ihn ſo hoch erheben, die Thoren, die darauf wandeln? Wie ſie ſich ruͤhmen ihres Idealgottes, der ſeine erhabene Groͤße be - leidigte, wenn er ſich um die Kleinigkeiten dieſer Welt annaͤhme, der die Selbſtherr - ſchaft an die Geſetze der Natur abgetreten hat, der fuͤr die Millionen, Millionen Seuf - zer ſeiner Geſchoͤpfe entweder kein Ohr, oder wenigſtens keine Aufmerkſamkeit hat, der mit dem eiſernen Zaum der ewigen Geſetze nur die Genera und Species leitet, und in Ordnung haͤlt, ohne die Einzelheiten eines Blickes zu wuͤrdigen — gleich jener Philo -ſophie,108Zweyter Abſchnitt.ſophie, die im Nebel der abgezogenen Be - griffe eingehuͤllt, keine Erfahrung, kein Indi - viduum vor ihren Thron kommen laͤßt!!
Wie iſt mir dagegen der Bibelgott(s)Sieh das herrliche Lied: Der Bibelgott, im chriſtl. Magaz. Viert. Band. ſo lieb, aus dem, durch den, und in dem alles iſt, deß Auge im Verborgenen ſieht, wie an der Mittagshelle, von deſſen Wink das große Weltſyſtem, wie das Erdeſtaͤub - chen abhaͤngt, deſſen Hand Koͤnigreiche wie Waſſertropfen leitet, deſſen Liebe den Lieb - ling der Schoͤpfung, den Menſchen — und den nach Speiſe ſchreyenden Raben naͤhret, deſſen Weisheit die Schickſale aller Natio - nen, und das Fallen des Sperlinges vom Dache geordnet, deſſen allſehender Blick die großen Revolutionen aller Jahrhunderte, und das letzte ſilberweiſſe Haar am Schei - tel des Greiſes bemerket — Der Bibel - gott, der hoͤrt und ſieht, hilft und ſegnet, troͤſtet und warnet, lebt und belebt, ord - net und lenket, iſt und herrſcht, antwortet und giebt, der lebendige Allbeleber, Er iſtzwar109Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.zwar auch der Natur-Gott, der Vernunft - Gott — aber nicht der weltenbauenden, ſondern in dieſer Welt ſtill beobachtenden, nicht der willkuͤhrlich witzelnden, ſondern der redlich forſchenden, nicht der durch Stolz und Vorurtheil getruͤbten, ſondern der geſun - den, geraden, hellen Menſchenvernunft. —
Ja, Du Vernunft - und Bibel - gott! wie erhebt mich der Gedanke an dich uͤber alles, was vergaͤnglich iſt, und reizt! Wie ſtaͤrkt der Glaube an dich gegen alles, was vergaͤnglich iſt, und druͤckt!
Mit dieſem kurzen Aufſatze, der dem Verfaſſer aus dem Herzen kam, wollte er nur dieß ſagen: Die verfuͤhrendſten Schein - gruͤnde zum Selbſtmorde liegen in der Trug - idee, daß Gott eine ruhige alte Monas, das Leitſeil der allgemeinen Naturgeſetze in der Hand — und das Gebet Alfanz und Aberglaube ſey.
Dank der Fuͤrſehung, daß das Reich dieſer Trugidee, meines Wiſſens, noch ſehr duͤrftig, und ihr Termin von kleinem Um - ſchnitte ſey!
„ Das Leben eines Menſchen iſt fuͤr das Univerſum nicht wichtiger als das Leben einer Auſter: alſo kann der Selbſtmord nicht viel be - deutender ſeyn, als es zu bedeuten hat, ob an der Tafel des Edel - manns um eine Auſter mehr oder weniger aufgezehret werde. “
Ja, wahrlich, wenn wirklich alle Menſchen ihre Vernunft, die ſie uͤber Au - ſtern und Adler erhebt, dazu misbrauchten, um den Menſchen, in Vergleich mit dem Univerſum, zur Auſter herab zu wuͤrdigen: Dann waͤre freylich die elende Vergleichung nicht gar ſo ebenteurlich gerathen — und bis dahin wollen wir zu ſtolz ſeyn dem Ein - wurfe die Ehre einer Widerlegung zu er - weiſen. —
Nur ergreife ich die Gelegenheit, ei - nen Abweg, den die Philoſophie (nicht die Tochter des Himmels, ſondern die Nachaͤf -ferinn111Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.ferinn derſelben) zu gehen angefangen, bey ſeinem rechten Namen zu nennen.
Wer Menſch iſt, und die Wuͤrde fuͤhlt, Menſch zu ſeyn, dankt es der Stern - kunde, daß ſie uns den kuͤhnen Gedanken verſchaft: So viele Fixſterne, ſo viele Sonnen; ſo viele Sonnen, ſo viele Wel - ten Gottes. Allein, wenn dieſer Gedan - ke den Menſchen uͤber die kleine Erde erhebt, und ihm den Begriff von Gottes Allmacht erweitert: ſo druͤckt uns ein zweyter Gedan - ke, der von einigen Denkern, oder Nachbe - tern als gleich richtig angenommen, und mit Geraͤuſch gepredigt wird, tief in den Erde - ſtaub herunter. Der Gedanke heißt: Wie wenig, wie gering, wie nichts iſt der Menſch gegen das Univerſum? Dieſer Gedanke iſt falſch, iſt menſchenwuͤrdeſchaͤn - dend, iſt Unphiloſophie.
Er iſt falſch. Denn es mag die Schoͤpfung noch ſo viele, unzaͤhliche Wel - ten in ſich begreifen: ſo bleibt es doch im - mer wahr, daß der Erdbewohner, der Menſch heißt, Bild Gottes iſt — und alſo alletauſend -112Zweyter Abſchnitt.tauſendmal tauſend Sonnen, alle tauſend - mal tauſend Welten, das ganze Univerſum (in ſo ferne ich Geiſter und Menſchen davon wegdenke, und nur Koͤrper, Maſſen, Ele - mente, Planetenbahnen, Zentralkraͤfte ꝛc. darunter verſtehe) der Menſchenwuͤrde den Kniefall machen, und ihn, den Menſchen, als Gottes Bild reſpectiren muͤſſen. Menſch wache auf, und fuͤhle, was du biſt!
Er iſt menſchenwuͤrdeſchaͤndend. Denn man mag die Fixſterne noch ſo groß machen, und mit noch ſo viel tauſend Ver - nunftgeſchoͤpfen bevoͤlkern: ſo bleibt es doch ewig wahr, daß es Erdebewohner, Men - ſchen waren, die die Planeten und Fixſter - ne geſchieden, die Bahnen der erſtern be - rechnet, und die Groͤße der letztern gedacht, den Lichtſtral geſpaltet, und dem Blitze neue Wege angewieſen — daß es Menſchen ſind, die den Durchgang eines Sterns durch die Sonne, und die Mondsfinſterniſſe ꝛc. auf Tag und Minute weiſſagen koͤnnen — daß es Menſchen waren und ſind, die Haͤuſer auf dem Meere gebauet, und erſt neulich ei -nen113Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.nen Pfad durch die Luft gefunden haben — daß es Menſchen ſind, die ſich in einem Au - genblicke von Welten zu Welten, von Ge - ſchoͤpfen zum Schoͤpfer empor ſchwingen, und Ewigkeiten denken koͤnnen.
Er iſt Unphiloſophie. Denn was falſch iſt, und die Menſchenwuͤrde ſchaͤndet, kann ſo wenig Philoſophie ſeyn, als wenig die dunkelſte Mitternachtſtunde, Mittags - helle iſt.
Auch iſt’s ebenteuerlich: um den Men - ſchen klein zu machen, verlaͤßt der Menſch den geraden Anblick des Menſchen, der ihm vor dem Auge ſteht, und ſteigt mit ſeinen Einbildungen in die unbekannten Welten hinauf, traͤumt da, was ſich mit einem an - gebrannten Hirn traͤumen laͤßt, und traͤgt am Ende das Reſultat ſeines Traumes, der Menſch ſey nichts gegen das Univerſum, mit einem Hohngelache uͤber den Stolz der Menſchheit, die ſich ſo groß deuchte und ſo klein waͤre, zur Schau umher.
Freund! ein großer Mann ſagte einſt: was den Begriff von Gottes Liebenswuͤr -Hdigkeit114Zweyter Abſchnitt.digkeit klein machet, das kann nicht Wahr - heit ſeyn; und ich moͤchte ſagen: was die Wuͤrde des Menſchen herunterſetzt, das kann nichts mehr als ein Phantom ſeyn.
„ Der Nervenbau iſt beſonders bey gefuͤhlvollen Menſchen ſo ſchwach, die Fiber ſo reitzbar, die Empfindlichkeit der Organe ſo groß, der Uebergang vom Eindruck zum Gedanken, vom Gedanken zur Luſt, von der Luſt zur That ſo ſchnell, ſo unaufhaltſam, daß auch die Selbſtentleibung in dieſer Hinſicht immer nur Mitleid, und nie Tadel verdienen kann. “
Es war eine Zeit, wo alle Erſchei - nungen in der Koͤrperwelt durch den Aether (die beruͤhmte materia omnipotens) er - klaͤret wurden: und nun iſt eine andere, wo die erſten Ausſchweifungen in der Sittenwelt durch den Nervenbau entſchuldigt und ge - rechtfertiget werden. Ganz gewiß muͤßtedie115Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.die Reitzbarkeit des Nervenſyſtems und ſein Einfluß auf das ſittliche Betragen der Men - ſchen auch mit in Anſchlag gebracht werden, wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun - gen, und die Grade derſelben genau beſtim - men wollte, oder koͤnnte. Allein man hat deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit der Nerven zur Decke zu machen, unter der die Leidenſchaften ihre fuͤrchterlichen Griffe gar bequem verbergen koͤnnen. Und da ſtoße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un - ſerer hochgeruͤhmten Zeitweisheit, naͤmlich: „ Man ſchreibt auf einer Seite die erſten Ausſchweifungen dem ſchwachen Fibern - bau auf die Rechnung, und thut auf der andern zu gleicher Zeit alles Aeuſ - ſerſte, um die ſchwaͤchliche, leichtbe - wegliche, reitzbare Fiber nur noch ſchwaͤchlicher, leichtbeweglicher, im - mer reitzbarer zu machen. “
Man ſpricht vom ſchwachen Fibern - bau — und giebt dem ſchwachen Geſchoͤpfe Romanen in die Hand, die die Empfin - dung auf’s hoͤchſte ſpannen, und den Juͤng -H 2ling116Zweyter Abſchnitt.ling entnerven, ehe er Mann wird. Man ſpricht vom ſchwachen Fibernbau — und nimmt das ſchwache Geſchoͤpf mit in Schau - ſpiele, wo alle ſchlafenden Reitze der Sinn - lichkeit aufgewecket, und alle wachenden aufs hoͤchſte geſpannt werden. Man ſpricht vom ſchwachen Fibernbau — und fuͤhrt das Maͤd - chen in Geſellſchaften, wo die wolluſttrun - kenen Blicke des frechen Junkers, und alle die Aergerſzenen des Geſetzloſen und geehrten Laſters die Phantaſie mit unaustilgbaren Luſt - bildern fuͤllen, und Herz und Hirn zugleich verderben. Man ſpricht vom ſchwachen Fi - bernbau — und giebt dem ſchwachgebauten Geſchoͤpfe eine Erziehung, die weiter nichts iſt als ein ſchreckliches Einerley von Beyſpie - len und Regeln der Eitelkeit, Taͤndeley, Empfindeley, Liebeley u. ſ. w.
Und wenn nun durch Erziehung, Lec - tuͤre, Umgang, Schauſpiele, Verfuͤh - rung ꝛc. die Leidenſchaft der Juͤnglinge, der Maͤdchen auf den Punct geſpannt worden, daß ſie ſich, und ihre Familien mit Schand - thaten gebrandmarkt: dann heißt’s:„ Der117Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.„ Der ſchwache Nervenbau war ſchuld daran “!
Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre, Umgang, Schauſpiele ꝛc. die Leidenſchaft des ſchwachen Geſchoͤpfes ſo hoch geſpannt worden, daß es ſich ſelbſt mordete: dann dreht ſich der Philoſoph auf ſeinem Abſatz, und ſingt ſein Liedchen: „ ’s war ſchwacher Nervenbau. “
Wie, wenn an einem heiſſen Som - mertage der Blitz die fuͤrſtliche Burg in Flamme ſetzte, und die Buͤrger, ſtatt daß ſie wetteiferten das Feuer zu loͤſchen, muͤſſig am Marktplatze zuſammenſtuͤnden, einander anſaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten: „ Heut war’s ſehr ſchwuͤl “, und die Flamme wuͤten lieſſen, bis auch ihre Haͤuſer davon ergriffen waͤren: gerade ſo handeln die Menſchenfreunde, die bey dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu ſagen haben, als vom ſchwachen Nerven - bau, und ihres Ortes ſelbſt dazu beytra -H 3gen,118Zweyter Abſchnitt.gen, wenigſtens es nicht zu hindern trach - ten, daß die Empfindungen der vaterlaͤndi - ſchen Jugend immer weicher, und die Fi - bern immer ſchwaͤcher werden. — —
„ Ich bin ſo ein unnuͤtzes Hausge - raͤth in der Welt — hinaus mit mir aus dem Hauſe. “
So denken entweder aͤußerſt Laſter - hafte, weil ſie keine Geiſteskraft, keine Luſt mehr, andern Gutes zu thun, in ih - rem Innerſten fuͤhlen, oder aͤußerſt Ver - ungluͤckte, weil ſie keinen Wirkungskreis, keine Gelegenheit mehr, andern nuͤtzlich zu werden, wie ſie es vordem waren, zu ha - ben glauben, oder aͤußerſt Schwermuͤthi - ge, weil ſie in den finſtern Stunden ihres Daſeyns weder die Geiſteskraft, die in ihnen liegt, noch die Gelegenheit wohlzuthun, die um ſie herum iſt, gewahr werden.
Wahrheit iſt in dieſer Vorſtellung gewiß nicht: ſie mag im Verſtande des Boͤ -ſewich -119Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.ſewichtes, oder des Verungluͤckten, oder des Truͤbſinnigen gedacht werden. Denn wer nuͤtzlich werden will, kann es faſt allemal, wenigſtens durch das Beyſpiel des aushar - renden Gehorſams gegen die Befehle der Fuͤrſehung: und wer nicht nuͤtzlich werden will, der beweiſet weiter nichts, als daß er es nicht will — alſo nicht, daß der Selbſt - mord erlaubt ſey.
Und wenn es im ſtrengſten Sinne wahr waͤre, daß ich andern gar nichts, auch nicht durch das Beyſpiel nuͤtzen koͤnnte: ſo giebt mir deshalb die Vernunft noch kein Recht zum Selbſtmorde. Denn wenn auch mein Daſeyn wirklich andern gar nichts mehr nuͤtzen koͤnnte: ſo kann es dennoch mir, dem lebendigen Ich allemal nuͤtzlich werden. Alſo wird der Menſch im Staate Gottes nie ein unnuͤtzes Hausgeraͤth. Der Staatsverbrecher, zur ewigen Gefangenſchaft verdammt in einer unterirrdiſchen Gruft, koͤnnte vielleicht am eheſten von dem Gedan - ken, ſieh deine Exiſtenz — ein ganz unnuͤ - tzes Hausgeraͤth, zum Selbſtmorde ver -H 4ſucht120Zweyter Abſchnitt.ſucht werden. Denn er iſt beydes zugleich, laſterhaft und ungluͤcklich, ungluͤcklich und ohne den Stral einer Hofnung, und er wird, wenn ihm nicht die Religion den Muth ſtuͤtzt, bald auch aͤußerſt ſchwermuͤ - thig werden muͤſſen. Alſo Schwermuth, Elend, boͤſes Gewiſſen, Hofnungsloſigkeit — alles menſchliche Leiden vereinigt ſich in dem Schickſale dieſes Verbrechers. Und dennoch kann er dieß ſein fuͤrchterliches Schickſal, die Abgeſchiedenheit von den uͤbrigen Men - ſchen, das Bewußtſeyn ſeiner Greuelthat, die Feſſel am Beine, das ewige Mitter - nachtdunkel ſeiner Gruft, das Vergeſſen - oder Verfluchtſeyn von ſeinen Freunden — alles Leiden kann er zur Quelle des Segens fuͤr ſich machen, wenn er nur will; kann im Dunkeln des Kerkers durch ungeſtoͤrtes Nachdenken lernen, was er im Anblicke und Genuſſe der freyen, von Gottes Sonne be - leuchteten Welt nicht gelernet hatte; kann in dem Zuſtande der tiefeſten Niedrigkeit, das Nichts aller irdiſchen Hoheit fuͤhlen, das er auf dem Gipfel der Ehre wohl nie ge - fuͤhlet hatte; kann an der ſparſamen Miſſe -thaͤter -121Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.thaͤterkoſt die Guͤte des Menſchenvaters ken - nen lernen, die er an den praͤchtigen Hofta - feln, und im Ueberfluſſe von allen Arten in - und auslaͤndiſcher Weine, nicht gefuͤhlet hatte; kann itzt die lange Reihe ſeiner Ju - gend - und Staats-Suͤnden, und jede in ihrer wahren Geſtalt erblicken, die er im Ge - wirre der Cabalen auch bey hundert Wand - leuchtern, auch bey hellſtem Mittagslichte nicht erblicket hatte; kann itzt die Erbarmun - gen Gottes, die durch den verſchloſſenſten Kerker offne Wege finden, und kein tiefge - ruͤhrtes Herz voruͤber gehen, mit hochver - trauendem Herzen umfaſſen, fuͤr die er im Galakleide keinen Sinn gehabt hatte; kann die letzten Jahre ſeines Lebens mit unſterb - lichen Heldenthaten des Glaubens an die allordnende Liebe, mit großmuͤthiger Dul - dung der Folgen ſeiner Suͤnden, und mit vollkommenſter Selbſtunterwerfung gegen alle Wege der Fuͤrſehung adeln, da er ehe - dem Ordensband und Stern und Fuͤrſten - gunſt und ſich ſelbſt durch das ſchwaͤrzeſte Verbrechen entehret hatte; — kann den Ver - wahrungs - und Zuͤchtigungsplatz der Staats -H 5ver -122Zweyter Abſchnitt.verbrecher in einen Stufengang zur Tugend, Weisheit und Seligkeit verwandeln, und in der Nacht des Kerkers zu den herrlichſten Lichtfreuden der Ewigkeit reif werden.
Und wenn das elendeſte, verſunkenſte Geſchoͤpf, ein verjaͤhrter Staatsverbrecher mit Vorſatz und nach Entwuͤrfen — zur ewi - gen Gefangenſchaft verdammt — in der großen Familie Gottes noch gluͤcklich, noch gut und weiſe werden kann: wo iſt der Menſch, der ſagen darf: hinaus mit mir aus der Welt: ich bin ein unnuͤtz Haus - geraͤth?
10. Es(u)(u) Non modo quaerimus, vtrum ſit fa - ctum, ſed vtrum fuerit faciendum. Sana quippe ratio etiam exemplis anteponen - da eſt, cui quidem et exempla concor - dant: ſed illa quae tanto digniora ſunt imitatione, quanto excellentiora pietate. Non fecerunt Patriarchae, non Prophe - tae, non Apoſtoli: quia et ipſe domi - nus Chriſtus, quando eos, ſi perſecu - tionem paterentur, fugere admonuit de ciuitate in ciuitatem, potuit admonere, vt ſibi manus inferrent, ne in manusperſe -
„ Es haben ſich ſo viele beruͤhmte Maͤnner des Alterthums ſelbſt gemordet: und Roͤmer und Grie - chen ſehen dieſe Thaten als Helden - thaten an. “—
Darauf laſſe ich zuerſt, einen gar nicht neuen Schriftſteller, den ſcharfſinni - gen Auguſtin antworten, weil bis auf dieſe Stunde noch kein Schriftſteller treffender ge - antwortet hat.
„ Es fraget(u) ſich itzt nicht, ob ſie es gethan haben, ſondern, ob ſie es haͤttenthun(n)perſequentium pervenirent. Porro ſi hoc ille non juſſit, aut monuit, ut hoc mo - do ſui ex hac vita migrarent, quibus migrantibus manſiones aeternas ſe prae - paraturum eſſe promiſit, quaelibet exem - pla opponant gentes, quae ignorant Deum, manifeſtum eſt, hoc non licere colenti - bus vnum verum Deum. Sed tamen etiam praeter Lucretiam, de qua ſupra ſatis quod videbatur diximus, non facile reperiunt, de cuius auctoritate praeſcri - bant, niſi illum Catonem, qui ſe Vticaeocci -124Zweyter Abſchnitt.thun ſollen. Denn die geſunde Vernunft muß auch mehr als alle Beyſpiele gelten. Doch haben wir auch Beyſpiele, die mit der geſunden Vernunft uͤbereinſtimmen, und die - ſe ſind deſto nachahmungswuͤrdiger, je aus - gezeichneter ſie an Tugend (und Weisheit) ſind. Die Patriarchen haben es nicht ge - than, die Propheten haben es nicht gethan, die Apoſtel haben es nicht gethan. Auch haͤtte ihnen der Herr Chriſtus damals, alser(u)occidit; non quia ſolus id fecit, ſed quia vir doctus et probus habebatur, vt merito putetur recte etiam fieri potuiſ - ſe vel poſſe, quod fecit. De cujus fa - cto quid potiſſimum dicam, niſi quod amici ejus, etiam docti quidam viri, qui hoc fieri prudentius diſſuadebant, imbecillioris, quam fortioris animi faci - nus eſſe cenſuerunt, quo demonſtrare - tur non honeſtas turpia praecavens, ſed infirmitas adverſa non ſuſtinens. Hoc et ipſe Cato in ſuo chariſſimo filio indi - cauit. Nam ſi turpe erat ſub victoria Caeſaris vivere, cur auctor hujus turpi - tudinis pater ſilio fuit, quem de Caeſa - ris benignitate omnia ſperare praecepit? cur non et illum ſecum coegit ad mor -125Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.er ſie von einer Stadt in die andere fliehen, und ſo der Verfolgung ausweichen hieß, gar wohl die Ermahnung geben koͤnnen, daß ſie ſelbſt an ſich Hand anlegen ſollten, um nicht den Verfolgern in die Haͤnde zu fal - len, aber Er gab ihnen dieſe Ermahnung nicht. Da nun Jener, welcher den Sei - nen verſprechen konnte, daß Er ihnen nach dieſem Leben ewige Wohnungen zubereiten wuͤrde, die Seinen nicht ermahnte, aufdieſe(u)tem? Nam ſi eum filium, qui contra imperium in hoſtem pugnauerat, etiam victorem, laudabiliter Torquatus occi - dit, cur victus victo filio pepercit Cato, qui non pepercit ſibi? An turpius erat contra imperium eſſe victorem, quam contra decus ferre victorem? Nullo mo - do igitur Cato turpe eſſe judicauit ſub victore Caeſare vivere, alioquin ab hac turpitudine paterno ferro filium libera - ret. Quid eſt ergo, niſi quod filium quantum amauit, cui parci à Caeſare et ſperauit, et voluit, tantum gloriae ipſius Caeſaris, ne ab illo etiam ſibi parcere - tur, vt ipſe Caeſar dixiſſe fertur, inui - dit: aut vt aliquid nos mitius dicamus, erubuit? De civitate Dei. Lib. I. C. XXIII. 126Zweyter Abſchnitt.dieſe Weiſe aus dem Leben zu treten: ſo iſt es offenbar, daß die Verehrer des Einen wahren Gottes, ungeachtet aller Beyſpiele von Gottnichtkennenden Voͤlkern, dieſes nicht thun duͤrfen. — — Beſonders macht man viel Weſens aus Cato’s Selbſtermor - dung, nicht weil er ſich ſelbſt gemordet, das wohl auch viele andere thaten, ſondern weil er fuͤr einen gelehrten und rechtſchaffenen Mann gehalten wird: woraus man denn auf die Rechtſchaffenheit dieſer ſeiner lezten That, und uͤberhaupt auf die Erlaubtheit des Selbſtmordes ſchlieſſet. Man kann aber uͤber dieſe ſeine That nicht leicht ein treffen - deres Urtheil faͤllen, als wenn man das be - hauptet, was ſeine Freunde, auch gelehrte Maͤnner geſagt haben, da ſie ihm den Selbſt - mord misriethen: es zeuge die Selbſter - mordung mehr von Geiſteskleinheit als Geiſtesgroͤße; der Selbſtmord ſey ein Beweiß nicht von der Rechtſchaffenheit, die ſich vor allem huͤtet, was ſchaͤndlich iſt, ſondern von der Schwaͤche die das widrige Schickſal nicht ertragen kann. Dieſe Denkart aͤußerte Cato ſelbſt in Anſe -hung127Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.hung ſeines liebſten Sohnes. Denn wenn es eine Schandthat waͤre, unter der Sie - gesfahne des Caͤſars zu leben, wie duͤrfte der Vater den Sohn zu dieſer Schandthat reitzen, da er ihn alles Gute von Caͤſars Men - ſchenfreundlichkeit hoffen machte? Warum zwang er ihn nicht vielmehr, mit ſich zu ſterben? Wenn Torquatus ruͤhmlich gehan - delt, da er ſeinen eigenen Sohn, der ge - gen Staats - und Kriegsbefehle mit dem Feinde geſtritten, und auch als Sieger zu - ruͤck kam, als einen Staatsverbrecher hin - richtete: warum ſchonte der uͤberwundene Cato ſeines uͤberwundenen Sohnes, da er ſeiner nicht ſchonte? — — Cato hatte es alſo im Herzen wohl ſelbſt nicht geglaubt, daß es eine Schandthat waͤre, noch laͤnger unter Caͤſars Siegen zu athmen: ſonſt haͤtte er wohl ſeinen Sohn mit vaͤterlichem Schwer - te von dieſer Schande gerettet. Man kann alſo nichts anders ſagen, als: ſo ſehr Cato als Vater ſeinen Sohn geliebet, und ihm Caͤſars Gnade gewuͤnſcht, und gegoͤnnet hatte: ſo ſehr misgoͤnnte Cato als Cato dem Caͤſar die Ehre, dem Cato eine Gnade er -wieſen128Zweyter Abſchnitt.wieſen zu haben, oder um den mildeſten Ausdruck zu waͤhlen: ſo ſehr ſchaͤmte ſich Cato aus Caͤſars Gnade zu leben.
Zweytens erinnere ich: eben dieſes Factum, daß die Philoſophie der Alten, die ohne den Leitſtern der hoͤhern Offenba - rung im Finſtern fortwandelte, den Selbſt - mord fuͤr Heldenthat ruͤhmen konnte, zeigt dem unpartheyiſchen Forſcher des menſchli - chen Wiſſens, wie ſchwer es der iſolirten Vernunft ſeyn muͤſſe, ſich zu uͤberzeugen - den Beweiſen, und richtigen(x)Denn das iſt kein richtiger Begriff von der Unſterblichkeit, der mir Muth zum Selbſt - morde giebt. Nicht der Gedanke, ich wer - de ewig ſeyn, ſondern der ganze Gedanke: ich werde ewig ſeyn, und mein kuͤnf - Begrif - fen von der Unſterblichkeit der Seele durch - zuarbeiten, und wie leicht der Selbſtmord auch den uͤbrigens ſcharfſinnigſten Koͤpfen im falſchen Lichte erſcheinen koͤnne, ſobald ſie ihn nicht aus dem Standpuncte der Men - ſchenwuͤrde, der Unſterblichkeit betrachten.
Drittens bemerke ich, wie unphilo - ſophiſch eine gewiſſe Philoſophie, die nichtmehr129Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.mehr im Dunkeln ſchleicht, gegen ihre eig - nen Eingeweide kaͤmpft, indem ſie lieber zu den Begriffen des Alterthums, die doch an der Sonne der hoͤhern Offenbarung nicht reif - fen konnten, lichtſcheu zuruͤckkehret, als daß ſie ſich die Wohlthat der Zeit, und das Licht des Chriſtenthums dankbar zu Nutzen mach - te. Denn das kann ſelbſt der Nichtchriſt, der je ein Blatt in der Weltgeſchichte durch - geblaͤttert, nicht laͤugnen, daß durch das, was man Chriſtenthum nennt, Licht in die Welt gekommen ſey.
„ Der Selbſtmoͤrder vertauſcht ſein elendes Daſeyn nicht mit ſei - ner Zernichtung; er ſtreift nur die gegenwaͤrtige Huͤlle ab, laͤßt nur den verdruͤßlichen Balg hinter ſich, um in einer neuen Verwandlung mitverklaͤr -(x)tig Seyn nach dem Tode wird die Frucht meines itzigen ſeyn, dieß iſt aͤchter Begriff von der Unſterblichkeit. Sieh die Aufloͤſung des folgenden Einwurfes.J130Zweyter Abſchnitt.verklaͤrter Schoͤnheit hervor zu bre - chen. “ So ſpricht bey Moſes der menſchlichere Vertheidiger des Selbſtmordes.
Alſo Freund, glaubſt du an eine Un - ſterblichkeit? Nun dieſe deine Ueberzeugung ſtuͤzt ſich entweder auf den Glauben an eine hoͤhere Offenbarung: ſo ſagt dir ja eben die - ſe, daß die Unſterblichkeit eine Folge der Sterblichkeit, dieſe die Ausſaat, jene die Aernte ſey; oder auf Gruͤnde der geſunden Vernunft(y)Es gehoͤrt nicht hieher, zu entſcheiden, was auf die Vernunftbeweiſe von der Un -: ſo ſagt dir eben die naͤmli - che Vernunft, daß ſie ſich keinen Begriff von der hoͤchſten Weisheit machen kann, welche alle andere Veraͤnderungen in der Welt, als Urſachen und Wirkungen zuſam - mengeknuͤpft, und gerade in dem allerwich - tigſten Geſchaͤfte der Bildung des menſchli - chen Geiſtes, Gegenwart und Zukunft, Zeit und Ewigkeit, Sterblichkeit und Unſterblich - keit, nicht als Folge und Urſache in Ver - bindung gebracht haͤtte — Und was nochmehr131Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.mehr iſt, Sie, die Vernunft kann keinen einzigen Vermuthungsgrund fuͤr die Unſterb - lichkeit ausfindig machen, wenn ſie die Zu - kunft nicht als eine Aufloͤſung des in der Gegenwart verwickelten Knotens — und hie - mit die Unſterblichkeit als Folge der Sterb - lichkeit anſehen darf.
Alſo keine Unſterblichkeit, oder eine ſolche, wie ſie die Vernunft vermuthet, und die hoͤhere Offenbarung verheißt. — Um alſo in einer neuen Verwandlung mit ver - klaͤrter Schoͤnheit hervorzugehen, muͤſſen wir uns in der ſterblichen Huͤlle, dieſer Ver - wandlung faͤhig machen. Um zu herrſchen im Reiche der Unſterblichen muͤſſen wir hier, im Lande der Sterblichen, dulden, und kaͤmpfen, bis der Koͤrper (welcher dem Chriſten, der an eine Auferſtehung glaubt, und auch dem Kenner der Menſchennatur etwas mehr iſt als ein verdruͤßlicher Balg) bis der Koͤrper ſelbſt zerfaͤllt.
J 212. „ Man(y)ſterblichkeit der Seele, fuͤr ein Gewicht zu legen ſey.
„ Man wird mich als Philoſophen ehren, wenn ich uͤber die Schrecken des Todes erhaben, dem gefangenen Geiſte Luft machen kann. “
Als Philoſophen? Hoͤrt der Leichnam wohl auch den Laut der Glocke, wenn man ihn zu Grabe traͤgt? Oder ſchwebt etwa der entflohene Geiſt noch uͤber dem Sarge, um ein Zeuge des Leichengepraͤnges zu ſeyn, und die Freunde zu zaͤhlen, die ſeine Leiche begleiten? Waͤre Philoſophie in dem Unſinn, wenn einer den Tod gewaltſam herbeyrufte, um nur bald in der Leichenrede gelobt zu werden, und dieſes Lob ſelbſt mit anzuhoͤren?
Iſt denn Philoſophie was anders als Lebensweisheit, und die Kunſt dem Kno - chenmanne froh entgegen zu laͤcheln, wenn die Senſe klirrt? Iſt das Philoſophie — dem Tode die Senſe gewaltſam aus der Hand wenden, um (Worte, und Begriffe fliehen einander) ſich ſelbſt nieder zu maͤhen? Und wer ſind am Ende die Leute, die den Selbſt -moͤrder133Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.moͤrder als Philoſophen preiſen? Ein Jour - naliſt, von dem der Setzer noch etwas Ma - nuſcript mit Ungeſtuͤm fodert, um das letzte Blatt fuͤllen zu koͤnnen… Ein ver - liebter Narr, dem ſeine Goͤttin mit ihrer entſchloſſenen Sproͤdigkeit die Welt zu enge gemacht… Ein Verleger, der vom eben veruͤbten Selbſtmorde, wie der Raabe vom Aaſe ſeinen Profit ſucht, und groͤßere Ver - ſchleiß hofft, wenn er von ſeinem Klienten, oder Goͤnner den Selbſtmord Philoſophie nennen laͤßt, als wenn man ihn nach altem Herkommen Unphiloſophie hieſſe… Ein witziger Geſellſchafter, der die Unwichtigkeit ſeiner Perſon durch das Paradoxe ſeiner Saͤ - tze gerne verkleiſtern moͤchte… Hundert Nachbeter, die allemal mit der Parthey, davon ſie Unterſtuͤtzung hoffen, den Mund auf - und zuthun, und ſich wie die Drat - puppen, nur nach dem Zuge ihres Princi - pals bewegen… Hundert Betrogene, die nicht wiſſen zwiſchen der Rechten und Linken zu unterſcheiden… Ein Candidat, der eben ſeinen akademiſchen Curſus vollendet hat, und nun durch freye Mienen und kuͤh -J 3ne134Zweyter Abſchnitt.ne Meynungen deſto hitziger Brod ſucht, je mehr ihn die ordentlichen Atteſtaten uͤber - all zuruͤck ſchlagen… Ein Skeptiker, der einen Theil ſeines Lebens der traurigen Be - muͤhung, das Klare zu verdunkeln, und das Gewiſſe ungewiß zu machen, aufgeopfert hat… Der Leſer vollende dieſes Regiſter: ich ſetze nur hinzu: wehe der Philoſophie, wenn Leute, aus derley Zuͤnften, das Ver - dienſt des Philoſophen zu beſtimmen haben, und das Ordensband des Weiſen umhaͤngen koͤnnen — wenn ſie wollen! Der Edle ſchaͤmet ſich aus ihrer Hand den Ritterſchlag zu empfangen, und o daß es dieſer Edlen immer mehrere gaͤbe! Dann braͤche das goͤldene Jahrhundert der Philoſophie mit Macht heran!
„ Gott hat den Menſchen nach ſei - nem Bilde gemacht: alſo gab er ihm das Herrſchaftsrecht uͤber ſein Leben. “
Antwort. Alſo kann der Kuͤnſtler ſei - nem Kunſtwerke die Eigenſchaft geben, daß es ſich ſelbſt gemacht hat?
Eben weil der Menſch nur Bild Got - tes, nur ein matter Stral der Geiſterſonne iſt, ſo iſt er nicht Urbild, nicht Herr des Lebens.
„ Was kann der ſchwache Sterbliche dafuͤr, wenn ihn Schwermut, Ver - zweiflung, Leidenſchaft uͤberraſcht? “
Antwort. Der Weiſe richtet ſein Herz ſo ein, daß es von der unnatuͤrlichſten Handlung nicht uͤberraſcht werden kann.
„ Ich darf mein Leben um der Reli - gion, des Vaterlandes, des Fuͤr - ſten, der Rechtſchaffenheit willen preis geben: alſo auch um meines eignen Beſten willen. “
Antwort. Ja, wenn das Beſte deiner ganzen Exiſtenz, die Zeit und Ewig - keit umfaßt, und das Beſte der Geſellſchaft, des Koͤrpers, deſſen Glied du biſt, nicht gerade das Gegentheil foderte.
„ Bey den Englaͤndern iſt der Selbſt - mord eine Art von Krankheit, die periodiſch wiederkehrt; was koͤnnen die armen Deutſchen dafuͤr, wenn ſie dieſe Krankheit erben? “
Antwort. Auch bey den Englaͤndern iſt der Selbſtmord offenbar nicht bloß Wir - kung einer Krankheit, nicht bloß Sache des Klima, oder des Temperaments: Getraͤn - ke, Ausſchweifungen, Lebensweiſe, Unglau - be, Irreligion ꝛc. tragen gewiß viel dazu bey.
Ferners,137Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.Ferner, halte ich wohl ſelbſt das Selbſtmorden fuͤr eine Seuche, aber fuͤr eine ſolche, die Niemanden verpeſten kann, der nicht will, und fruͤhe genug vorar - beitet, daß er am Ende nicht wolle — verpeſtet werden. —
Uebrigens halte ich den Deutſchen ſei - nes Namens unwerth, der die Nachahmung ſo weit treibt, daß er ſich Sitten, Laſter, und Seuchen aus der Fremde holet, da es uns ja an einheimiſchen noch nie gefehlet hat.
„ Ich bin an der aͤuſſerſten Graͤnze der Duͤrftigkeit, und in der Gefahr, Hungers zu ſterben: warum ſoll ich denn meinen Abſchied von der Welt nicht beſchleunigen duͤrfen? “
Antwort. Der Menſch lebt nicht vom Brode allein, ſondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt. Harre auf Ihn: der Raben ſpei - ſet, kann deiner nicht vergeſſen: der dir das Leben gab, der hat auch Nahrung dafuͤr. Und dann waͤge noch einen Augenblick: aufJ 5einer138Zweyter Abſchnitt.einer Schale — die Furcht, Hungers zu ſterben, eine Furcht, die bloß Furcht iſt, die wahrſcheinlich nie realiſirt wird, die noch in Freude an Fuͤlle der Lebensmittel, ver - wandelt werden kann: auf der andern Scha - le — der Tod aus Selbſtermordung; und wirklicher, gewiſſer Tod, gewaltſamer Tod… Am Ende: die Memme beſchleunigt ihr Loos, der Mann erwartet es.
„ Ich bin aus dem Mittelpuncte der Anbetung ausgeworfen worden: Schande deckt mich, ich ſehe mich als das Ziel der allgemeinen Ver - achtung an — Und Schande, Ver - achtung iſt nach meinem Gefuͤhle aͤrger als der Tod. “
Antwort. Aber doch nicht aͤrger als der Richterblick des Schoͤpfers? Was iſt alles Urtheil der Welt gegen die Sentenz des Weltrichters?
„ Ich kann die Angſt des Gewiſſens nicht mehr ertragen: die Rache Got -tes139Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.tes verfolget mich: mein Vergehen iſt groͤßer, als daß ich Vergebung hoffen koͤnnte. “
Antwort. Wer biſt du, daß du den graͤnzenloſen Erbarmungen des Allbarmher - zigen eine Graͤnze ſetzen darfſt, und ſagen: bis hieher, und nicht weiter? „ Mein Vergehen iſt zu[] groß, als das es “— von dir haͤtte ſollen begangen werden, aber nicht ſo groß, daß es nicht ſollte koͤnnen vergeben werden. Der dich ſchuf, iſt groͤßer als du. „ Die Rache Gottes verfolgt mich “— Ra - che? Gottes? Verfolgen? Wie ſchauervoll auch das Gemaͤlde der Liebe ausfallen muß, wenn es die Hand der Verzweiflung ent - wirft! Gott die Liebe, verfolgen!!! Und wenn das Gemaͤlde Wahrheit waͤre, ſo waͤre es immer Thorheit, wie ſich ein Welt - weiſer ausdruͤckt, in den Fluß hinunter zu ſpringen, um der Angſt auf einer gefaͤhrli - chen Bruͤcke zu gehen, uͤberhoben zu wer - den. „ Ich kann die Angſt des Gewiſſens nicht mehr ertragen “— Alſo weg mit der Angſt. „ Ich kann ihrer nicht los wer -den “—140Zweyter Abſchnitt.den “— weil du nur in dich nicht hinein - blickeſt. Aber erhebe dein Auge, und be - trachte den ſchoͤnen blauen Himmel, und denke dir den Vater, der ſeinem verlohrnen Sohne entgegen laͤuft, und unter den zaͤrt - lichen Umarmungen Freudenthraͤnen uͤber die Wangen des Wiedergefundenen weinet, und ſich nicht ſatt weinen kann, und ſeines andern Sohnes daruͤber vergißt: und es wird dir leichter um’s Herz werden.
Denn beyde ſind Kinder Eines Gottes.
[143]Verwirf, ohne Unterſuchung, alles, was das Gefuͤhl von der Groͤſſe dieſer Greuelthat ſchwaͤcht. Denn es iſt — nur Blendwerk. Glaub es mir, auf mein Wort: denn ich habe unterſucht. Mancher kalte Philoſoph ſpraͤche vielleicht: unterſuche, und pruͤfe ſelbſt. Auch ich re - de in tauſend Faͤllen ſo. Aber gerade in dieſem rede ich nicht ſo, und wiederhole: verwirf, ohne Unterſuchung alles, was den natuͤrlichen Abſcheu vor dem Selbſtmorde mindert. Denn der Arzt ſendet den Patien - ten nicht erſt auf Univerſitaͤten, die Medizin zu ſtudiren — ſondern ſchreibt ihm Arz - neyen und Diaͤt vor.
So144Dritter Abſchnitt.So ſage ich dir nicht: loͤſe die Schein - gruͤnde wider den Selbſtmord auf, ſon - dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn - de der Muͤhe des Aufloͤſens (wenigſtens fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo - phiſche, ipſe dixit, erſte Philoſophie. Denn die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ - hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer - den, als wie Kinder und Kranke — durch den Glauben an das Mutterwort, und an die Befehle des Arztes.
Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt - morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor - inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies nicht einmal die Biographien der Selbſt - moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die - ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ -ſen,145Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.ſen, und Biographien der Selbſtmoͤrder unter aͤhnlich geſtimmten, manchen Selbſt - mord.
Wenn dieſe Vorſchrift zu ſtrenge, zu pietiſtiſch klingt, der leſe die Geſchichte des Selbſtmordes L ‒ ‒ ‒ die in dem Magazin zur Erfahrungskunde (dritten Bandes zwey - tem Stuͤcke, Berlin bey Mylius 1785.) erzaͤhlet wird. Ich will davon nur die merkwuͤrdigern Umſtaͤnde ausheben.
„ Des Morgens fruͤhe, da mein Be - dienter um ſechs Uhr hinzukommt, und auch in die Stube, wo die Conducteurs arbeiten, herein will, um Nachtigallen zu fuͤttern, findet er ſolche zugeſchloſſen; er gehet nach der Stube, wo ſie ſchlafen, und ſiehet, daß L .... s Bette noch gemacht, woruͤber er, ſo wie die uͤbrigen beiden Conducteurs, die beym Anziehen begriffen, ſich wundern, zuſammen nach der Stube gehen, mit Ge - walt die Thuͤr eroͤfnen wollen, aber ſo we - nig damit als mit dem ſtaͤrkſten Laͤrm daran, das geringſte ausrichten koͤnnen.
KSie146Dritter Abſchnitt.Sie gehen alſo in meine Stube, wo man auch durch eine Thuͤr hereinkommen kann, allein auch dieſe, welche ich beſtaͤn - dig verſchloſſen gehalten, koͤnnen ſie nicht oͤffnen.
Von ohngefaͤhr ſiehet ſich mein Be - dienter um, und wird ein Bund Schluͤſſel gewahr, paſſet alle durch, und findet den dazugehoͤrigen. Er ruft die beyden Con - ducteurs und ſagt: ich kann nun aufſchlieſ - ſen, allein aber gehe ich nicht hinein.
Sie kommen alſo, um mit dabey zu ſeyn. Mein Bedienter ſchließet auf, und da er die Thuͤre, ſo nach inwendig aufge - het, kaum einen Fuß breit aufgemacht, ſo ſiehet er den L…. vollkommen angezogen, mit fliegendem Haar, ganz weiß als Kreide ſtehen, und ſaget ſchon die Worte: Herr L .... — um weiter zu ſprechen: was feh - let Ihnen? aber ehe er letzteres ſagen kann, hebt er ſchon die Piſtole in die Hoͤhe, ſetzt ſolche ins rechte Auge, und Knall und Fall iſt eins.
Alles aufs aͤußerſte erſchrocken, laͤuft beſtuͤrzt die Treppe herunter — nachdem ſieſich147Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.ſich vom Schrecken erholet, gehen ſie zuſam - men wieder herauf und finden ihn todt, oh - ne ein Zeichen des Lebens zu geben, auf dem Geſichte zur Erde liegend, und im Blute ſchwimmend. Auf ſeinem Tiſche lieget der Werther aufgeſchlagen, S. 218, wo es heißt: es iſt zwoͤlf — ſie ſind gela - den, u. ſ. w.
Sogar das Leſen ſolcher Schriften, die wider den Selbſtmord geſchrieben ſind, kann einem Schwermuͤthigen, der mit Ge - danken vom Selbſtmorde zu kaͤmpfen hat, zur Falle werden.
Der philoſophiſche Arzt erzaͤhlet (im zweyten Stuͤcke 2. Aufl. S. 208.) ein auf - fallendes Beyſpiel: „ Ein trockener Schrift - ſteller hatte ein weitlaͤufiges Werk vom Selbſt - morde geſchrieben. Er bewies ſehr ſtrenge, daß der Selbſtmord gegen Gott, gegen die Religion, gegen den Staat, und gegen alle Vernunft waͤre. Ihm begegnete einſtens ein anderer Englaͤnder in voͤlligem Tiefſinne. Man ſah ihm ſeine ſchwermuͤthigen Ent -K 2ſchluͤſſe148Dritter Abſchnitt.ſchluͤſſe an dem Geſichte an. Wo wollen ſie hin, mein Freund, ſagte der Schrift - ſteller? Ich gehe nach der Temſe, mich zu erſaͤufen, ſagte der finſtere Englaͤnder. Ey, gehen Sie doch nur noch dieſesmal nach Hauſe, ſagte jener, und leſen ſie doch mein ſo gruͤndliches und ausfuͤhrliches Buch vom Selbſtmorde. Ja wohl, erwiederte der Englaͤnder, eben das oͤde Durchleſen ihres unſchmackhaften Buches hat mir eine ſo ver - drießliche lange Weile verurſacht, daß ich mich entſchloſſen habe, mir das Leben zu nehmen. “
Gewiſſen zum Truͤbſinn oder Schwaͤr - merey geneigten Seelen koͤnnen ſogar Schrif - ten fuͤr die Unſterblichkeit gefaͤhrlich werden. So hat ſich Cleombrotus, als er Plato’s Buch von der Unſterblichkeit geleſen, von einer Mauer ins Meer geſtuͤrzt, um ſchnell aus dieſem Leben zur Unſterblichkeit zu gelangen. —
Sey nie Lobredner der Selbſtmoͤr - der — auch nicht gegen deine Ueberzeugung,um149Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.um zu witzeln; denn auch die laͤcherlichſten Einfaͤlle des Witzes wiſſen ſich in der Stun - de der Verſuchung die Miene der Wichtig - keit zu geben. Auch iſt’s Weisheit des Juͤnglings bey dem menſchenfeindlichen Lob - preiſen des Unnatuͤrlichſten taub zu ſeyn; „ Kuͤtte in den Ohren “— iſt auch da hoͤchſte Weisheit, iſt beſſer als alle War - nungen vor dem Sirenengeſange.
Lerne Maͤßigung in allem, was Freu - de oder Kummer, Begierde oder Furcht heißt. Der Freund der Maͤßigung kann unmoͤglich Selbſtmoͤrder werden. Denn die hoͤchſte Zerruͤttung laͤßt ſich nicht denken, wo die Empfindungen Ordnung und Maaß kennen. Ordnung und Maaß der Empfin - dungen — ſieh da das große weite Feld der praktiſchen Vernunft.
Das iſt hoͤchſte, praktiſche Vernunft, in der Ebbe und Flut des menſchlichen Stre - bens das Scepter der Oberherrſchaft nicht aus den Haͤnden laſſen, und jeder WogeK 3von150Dritter Abſchnitt.von Neigung mit der Fingerſpitze gebieten koͤnnen: lege dich, und jedem Gemurmel der Eigenliebe: verſtumme. Dieſe hoͤchſte, praktiſche Vernunft heißt in der verachteten Sprache des Evangeliums: Selbſtverlaͤug - nung, ein Begriff, der in den beliebte - ſten, und zahlreichſten Schriftſtellereyen des Jahrhunderts keinen Plaz mehr finden kann, ſo wenig die Sache ſelbſt, die wirkliche Selbſtverlaͤugnung, bisher bey den Meiſten hat Eingang finden koͤnnen. Es iſt trau - rig, daß die Fahrten der theoretiſchen(y)Dieß ſey mit aller Ehrfurcht gegen den Kopf des Menſchen geſagt. Vernunft ſo viele Lobredner haben, unge - achtet der vielen Sandbaͤnke und Meerſtru - del, die ſie allemal gefaͤhrlich machen, im Gegentheile die Souveraͤnitaͤt der prakti - ſchen Vernunft uͤber das tauſendwogige Men - ſchenherz, die allemal nur mit Freude und Heiterkeit lohnet, ſo wenig Freunde findet.
Man hat dem Chriſtenthum vorgewor - fen, daß es die Rechte der menſchlichen Ver - nunft kraͤnket: und ich halte es fuͤr die erſte Eigenſchaft des Chriſtenthums, daß es dieVer -151Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.Vernunft in ihre koͤnigliche Rechte wieder einſetzt, und den Thron ihrer Alleinherr - ſchaft gruͤndet, daß ihn das Univerſum nicht umſtoſſen mag.
Das koͤnigliche Recht der Vernunft iſt herrſchen — uͤber die rebelles ani - mi motus.
Und dieſes Koͤnigreich der Venunft iſt auch nicht von dieſer Welt, iſt ohne Pracht und Praͤtenſion, gegruͤndet auf Wahr - heit und Kampf, unſichtbar und inner - lich, kommt ohne Geraͤuſch und wirket mit Macht.
Wohl dem, der dieß Koͤnigreich der Vernunft zu erweitern, und zu befeſtigen ſucht, und ihr zuerſt ſeine Sinnlichkeit, ſeine Launen, und alles Regen ſeines Her - zens unterwirft. Er iſt Koͤnig durch ſie, und kann denn auch ſeinen Bruͤdern, die das eiſerne Joch der Sinnlichkeit mit ſchoͤnen Baͤndern umwunden, ohne zu ſeufzen — vielmehr jauchzend, und gluͤckſelig in ih - rem Wahn forttragen, die Augen oͤffnen, daß ſie erkennen ihren Sklavenſtand, und Muth empfangen die Feſſel zu brechen, undK 4auf -152Dritter Abſchnitt.aufrufen: auch ich bin zum Koͤnige ge - bohren!
Allein nichts iſt verkannter, ungeſchaͤtz - ter, als die Koͤnigswuͤrde der menſchli - chen Vernunft, dieſer ſchoͤne Zug in dem Ebenbilde Gottes — dem Menſchen: oder, wenn dem metapherſcheuen Geſchmacke eini - ger meiner Leſer dieſe Ausdruͤcke zu ſinnlich ſind: nichts iſt verkannter, ungeſchaͤtzter als die Grundbeſtimmung der Menſchenver - nunft, den geheimſten, verſchwiegenſten Regungen des Herzens gegen die Stimme des Gewiſſens, mit Macht entgegen zu ar - beiten, bis volle Einſtimmung aller Re - gungen des Herzens mit dem Gewiſſen, das iſt, mit dem Befehle der Gottheit er - kaͤmpfet iſt.
Da hat nun das Chriſtenthum ein dreyfaches Verdienſt um dieſe Wuͤrde der Menſchenvernunft, erſtens, weil es uns darauf aufmerkſam macht; zweytens, weil es uns die Behauptung dieſer Wuͤrde zurſtren -(z)Daß Wolluſt im eigenſten Sinne Selbſt - moͤrderinn ſey, beweiſet unter andern auch der oben erwaͤhnte Selbſtmord. Denn ebendieſer153Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.ſtrengen Pflicht macht; drittens, weil es uns Kraft verheißt und giebt, die Herrſchaft des Geiſtes uͤber die Empoͤrungen des Flei - ſches feſt zu gruͤnden.
Alſo nicht nur die kalte Vorſchrift, lerne Maͤßigung, muß man dem Juͤng - linge geben, eine Vorſchrift, die alle Wei - ſen aller Jahrhunderte wohl auch gegeben haben, ſondern hinweiſen muß man ihn zur Quelle, wo er nicht nur Unterricht, ſon - dern auch Kraft ſchoͤpfen kann, die empfoh - lene Maͤßigung zu erobern.
Und dieß wollte ich.
Huͤte dich vorzuͤglich vor den Leiden - ſchaften, die ich eigentlich die ſelbſtmoͤr - deriſchen nennen moͤchte, weil ſie die mei - ſten Selbſtmorde erzeugen. Sie heiſſen: Geiz, Stolz, Schwelgerey, Wol - luſt(z)dieſer L… war ſchon in ſeinem achtzehenten Lebensjahre durch allerley Ausſchweifungen ſehr beruͤchtigt. Da er ſeinen Aeltern dieaͤngſt -. Und weil es in der ſittlichen WeltK 5ſo154Dritter Abſchnitt.ſo wenig einen Sprung geben kann, als we - nig ihn die Naturforſcher in der Koͤrperwelt gelten laſſen, ſo bebe zuruͤck von den er - ſten Lockungen dieſer Moͤrderinnen. Der Schwelger, der ſich geſtern hingerichtet, dachte vor zwanzig Jahren wohl nicht an den Selbſtmord, ob er gleich ſein Vermoͤ - gen je laͤnger je mehr zuſammenſchmelzen ſah — dachte nicht an den Selbſtmord, als er die erſten tauſend Thaler gegen fuͤnf Pro - zente aufnahm. Der bloße Gedanke an den Tod war ihm unertraͤglich: es konnte ihm alſo der Gedanke an Selbſttoͤdtung ſchon gar nicht zu Sinne kommen. Aber als nach mehreren Jahren Schulden auf Schulden gehaͤufet wurden; als Armuth und Schande und Fluch ihn mit vereinigterMacht(z)aͤngſtlichſten Sorgen verurſacht hatte, wurde er nach Berlin geſchickt. Hier betrug er ſich eine Zeitlang gut, alsdann fieng er wieder an, auszuſchweifen, ſchlich ſich auch einmal zu Nachts aus dem Hauſe weg, worinn er in Penſion war, und gieng in ein H… haus. Als er hier alles zugeſetzt hatte, entlehnte er eine Piſtole, kaufte Pulver und Schrott, und gieng in die Haſenheide, um ſich zu erſchieſ - ſen. Er ſaß auf der Erde, hatte das Pul -155Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.Macht geiſſelten, als alle Ausſichten Geld aufzutreiben, und ſeine Ehre zu retten ſchwanden — da trat die ſchwarze Verzweif - lung mit ihrem fuͤrchterlichen Plane zu ihm hin, und der Selbſtmord ward ihm, als einziger Retter, willkommen.
So behandeln auch die uͤbrigen drey Leidenſchaften, Stolz, Geiz, Wolluſt ihre Sklaven. Sie ſind die vollkommenſten So - phiſtinnen, die ſich denken laſſen. Zuerſt verſprechen ſie ihren Freunden nur Gluͤckſe - ligkeit, zaubern ihnen nur Paradieſe vor, fuͤhren ſie am zweyfachen Gaͤngelbande des Genuſſes und der Erwartung von Abgrun - de zu Abgrunde, verheiſſen immer, was ſie nicht geben koͤnnen, taͤuſchen immer und ſaͤttigen nie — und reden dabey kein Sylb -chen(z)ver vor ſich liegen, und wollte die Piſtole zu - bereiten, als ein Funke ins Pulver fiel, wel - ches aufflog, und ihn verſengte. Ganz be - taͤubt von Schrecken fiel er um, ſah aber ei - nen Mann, den er bat, nach ſeinem Hauſe zu gehen, und zu bitten, daß man ihn in ei - ner Kutſche abholen moͤchte, welches auch ge - ſchah. Ein halb Jahr nachher erſchoß er ſich wirklich. (Im Magazine zur Erfahrungsſee - lenkunde. 3. B. 2. St. S. 115.)156Dritter Abſchnitt.chen vom Selbſtmorde: auf einmal, da die Zeit den Trug der Verheiſſungen aufdecket, und der Elende ſich in allen ſeinen Hoffnun - gen betrogen findet, da ruͤcken ſie mit dem bis auf den Augenblick geheim gehaltenen Projecte heraus, und weiſen mit ausgeſtreck - tem Zeigefinger auf Selbſtentleibung, als den einzigen Ausweg. Der Ungluͤckliche folgt auch dem letzten Rath ſeiner angebeteten Freundinn, wie er den fruͤhern blind gefol - get war — und iſt nicht mehr. Kurz: in den Praͤmiſſen paradirt nichts als Luſt, Se - ligkeit, und in der Concluſion ſteckt der Selbſtmord.
Was iſt Sophiſterey des Herzens ge - gen den Verſtand, wenn dieß keine iſt? Und was iſt Vernunftſache, wenn die Auf - deckung der Sophiſtereyen keine iſt? — — Laßt uns alſo, Bruͤder, denen das Men - ſchenleben theuer iſt, die uͤberſchriene Ver - nunft in Schutz nehmen gegen die Sophiſte - reyen des Herzens; laßt uns die Fehlſchluͤſ - ſe der Leidenſchaft ſcharf pruͤfen, und die Irrgaͤnge des vom Herzen verfuͤhrten Ver - ſtandes, mit der Fackel der geſunden Be -griffe157Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.griffe beleuchten, damit er einmal anbreche, der Tag der Vernunft, und die Sophiſte - reyen der Sinnlichkeit, wie die Schatten der Nacht von der kommenden Morgenroͤthe, verſcheuchet werden. Sehet, Freunde, wie ich fuͤr das Reich der Vernunft eifere, aber fuͤr jenes, das ſo wenig mit Unglauben als mit Aberglauben zu thun hat, das weder der Hypotheſenbauerey, noch der Zweyfeley in die Haͤnde arbeitet, das nur die Men - ſchenwuͤrde aus Licht ſtellt, und uͤbrigens in hoͤchſter Harmonie mit dem Reiche der Of - fenbarung lebt, ihr Wege bahnt, und von ihr Licht und Kraft empfaͤngt.
Laß dich nie vom Gebethe, das heißt, vom Kinderſinn gegen den Allvater der Menſchheit, oder, was eines iſt, vom Glauben an die Fuͤrſehung.
Ich achte es der Muͤhe werth, zu be - weiſen, daß dieſes Bewahrungsmittel recht verſtanden, und recht gebraucht, das ein - zige allgemeinhinlaͤngliche ſey.
Die158Dritter Abſchnitt.Die naͤchſten Urſachen des Selbſtmor - des ſind, wie es theils aus dem bisherge - ſagten erhellet, theils bey flachem Nachden - ken einleuchten muß,
Alle dieſe Urſachen laſſen ſich nun auf Eine zuruͤck fuͤhren, naͤmlich: auf Mangel am feſten, erleuchteten, thaͤtigen Glauben an die Fuͤrſehung. Denn wuͤrde dieſes feſte, erleuchtete Vertrauen noch im Augen - blicke, der ſchon zum Selbſtmorde beſtimmt iſt, lebendig, ſo wuͤrde im naͤmlichen Augen - blicke der Truͤbſinn von dem Allerfreuenden neue Lebensfreuden, und das zerruͤttete Gewiſſen von dem Allerbarmenden Verge - bung aller Fehltritte mit Zuverſicht erwar - ten; ſo wuͤrde die Sehnſucht bald bey Gott zu ſeyn, dem Weiſeſten die Beſtim - mung des letzten Augenblickes getroſt uͤber - laſſen; ſo wuͤrde ſich die beginnende Ver - zweiflung des Stolzen, des Wolluͤſtigen, des Geldgierigen ꝛc. und das Muͤdeſeyn angewoͤhn -160Dritter Abſchnitt.gewoͤhnlichen Vergnuͤgungen, und die elen - de Nachaͤffung des Heroismus in ſtilles Anſchmiegen an die Huld des Allmaͤchtigen verwandeln — das heißt, es wuͤrde kein Selbſtmord mehr ſeyn.
Wenn nun alle Selbſtmorde aus Man - gel am feſten, erleuchteten Vertrauen auf die Fuͤrſehung entſtehen, und wenn dieß feſte, erleuchtete Vertrauen eigentlich Gebet iſt: ſo ſoll man doch die Quelle des Selbſt - mordens da aufſuchen, wo ſie liegt, und die Quelle zu verſtopfen trachten, die wirklich Quelle des Jammers iſt, wenigſtens vom Gebete nicht mehr im verachtenden Tone ſprechen, und die Empfehlung deſſelben der Dummheit uͤberlaſſen.
Bruͤder, wer ſich des Gebetes ſchaͤmt, der gleicht dem Sohne, der ſich ſeines Va - ters ſchaͤmet. Wer an Gott glaubt, glaubt an die Kraft des Gebetes, oder er weis nicht, was er glaubt.
Drum feuriger Juͤngling, wenn dir das Menſchenleben lieb iſt, ſo laß dich nicht vom Gebete.
Suche dir einen Herzens - und Ge - wiſſensfreund, der Wahrheit und Tugend uͤber alles ſchaͤtzt, und dem du dein Inner - ſtes aufzudecken Kraft und Luſt fuͤhleſt: und wenn du ihn gefunden haſt, den Schatz oh - ne ſeines gleichen, ſo bewahre ihn wie dei - nen Augapfel, denn ſein Freundeswort wird dich vor tauſend Thorheiten, und vor der groͤſten, ſich das Leben zu rauben, bewah - ren. Dieſem deinem Freunde entdecke jede Verſuchung zum Selbſtmorde gleich im er - ſten Angriffe: er wird dich das Unnatuͤrliche der Sache fuͤhlen, und noch zu rechter Zeit verabſcheuen machen. Sein ernſter Blick wird dich durch die gefaͤhrlichſten Auftritte deines Lebens begleiten: ſein Beyſpiel in den reizendſten Verſuchungen dein Schutzen - gel ſeyn, und dir auf manchem gefaͤhrlichen Pfade, ehe du einen ungluͤcklichen Schritt thuſt, ſanft ins Ohr fliſtern: Zuruͤck, da liegen Fußangeln —
Diſputire nie mit dir ſelbſt uͤber den Selbſtmord, ſuche keine Beweisgruͤnde fuͤr ihn auf, ſondern kaͤmpfe gegen jede Luͤ - genidee, die den unermeßlichen Werth eines Gutes, das ſo leicht zerſtoͤrbar, und durch - aus unerſetzbar iſt, verkleinert. Wer ſich mit Feinden dieſer Art in Diſpute einlaͤßt, iſt ſo viel als uͤberwunden: und wer uͤber Gebote vernuͤnftelt, ſteht am Rande der Uebertretung. Die Verfuͤhrungsgeſchichte unſrer Stammmutter Heva, ihr Geſpraͤch mit der Schlange uͤber das Warum des Verbotes, dieſe erſte und ungluͤcklichſte Di - ſputation auf Gottes Erdboden, iſt ein tref - fendes Sinnbild von den Verfuͤhrungsge - ſchichten ihrer Kinder.
Sieh den Gedanken, es iſt mir nimmer zu helfen, als den aͤrgſten Feind deines Lebens an. Laß alſo dein Herz nie vertraut mit ihm werden. Und damit es dich nicht hinterliſte, und al’ incognito mit ihm Freundſchaft mache, ſo arbeite mit Macht allen den feindſeligen Vorſtellungen entgegen, die immer nur die Finſterniß der Gegenwart, die Ungewißheit der Zukunft, und die Bereuungswuͤrdigkeit der Vergan - genheit vergroͤßern. — — Die abgenutz - teſten Wahrheiten waͤren auch hier die brauch - bareſten, z. B. ſo lange ein Gott im Himmel iſt, ſo giebt es immer noch Ei - nen, der helfen kann: und ſo lange der Menſch auf dieſen Einen ſein Vertrauen ſetzet, kann ihm immer noch geholfen werden.
Lerne warten, denn entweder aͤndert ſich die Geſtalt der Dinge — oder dein Herz. Lerne warten, denn zum Selbſtmorde iſt’s immer noch Zeit genug: und wenn du wirk - lich zu kraftloß wuͤrdeſt, dieſe Handlung zu vollfuͤhren, wohl dir alsdann, daß die Na - tur der Dinge den unnatuͤrlichſten Plan zer - nichtet: ſie handelte weiſer als du! Lerne warten, denn wenn du ihn einmal gethan haſt, den ſchauervollen Schritt, magſt du ihn ewig nicht wieder zuruͤck nehmen. Ler - ne warten, denn da kann nie periculum in mora werden. Lerne warten, denn wer warten kann, der will ſeines Lebens wie - der froh werden, und wer dieß will, der bedarf, fuͤr dieſen Augenblick wenigſtens, keiner Warnung vor dem Selbſtmorde.
Bleib nie allein, wenn das duͤſtere Stuͤndchen kommt. Die Einſamkeit hat die meiſten Selbſtmorde aus Truͤbſinn — zur Reife gebracht. Wie die Nacht die Mutterder165Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.der Geſpenſter, und aller Kinderfurchten iſt: ſo erregt oder naͤhrt wenigſtens die Einſam - keit alle die finſtern Entwuͤrfe des lebenſat - ten Truͤbſinns.
Mache es dir zum unverbruͤchlichen Geſetze, im Sturme des Truͤbſinns nie einen Entſchluß zu faſſen, und laß es ei - nen Beweis deiner Gewiſſenhaftigkeit ſeyn, dieſem Vorſatz auch in Kleinigkeiten getreu zu bleiben, und ihn recht oft zu erneuern.
Sieh es als einen Grundartikel der Natur - und Chriſtus-Religion an,
Wenn der Truͤbſinnige die Religion nicht von der Seite betrachtet, ihre Grund - lehren nicht fuͤr ſein Herz individualiſirt, ſo kann ihm die Religion ſelbſt, dieſe Freun - dinn des Lebens und die Quelle der men - ſchenwuͤrdigſten Freuden, zur Folter und zum Grabe werden.
Wenn dir alſo dein Leben theuer iſt, Mann vom ſchwarzen Blute, und langſa - men Kreislaufe, ſo laß dir dieſe drey großen Wahrheiten, die ſich in dieſe Eine aufloͤ - ſen, daß Gott auch fuͤr dich Gott, die Liebe auch fuͤr dich Liebe iſt, den Inhalt deiner taͤglichen Morgenbetrachtung ſeyn, und leichter wird dir’s werden um’s Herz, und Freude wird deinen Blick aufheitern,und167Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.und die Dinge werden ſich ihm in einer wahren, Freude-athmenden Geſtalt zei - gen. —
Befeſtige dich in dem Troſtgedanken, den wir aus dem Fuͤllhorn der hoͤhern Of - fenbarung empfangen haben, und der fuͤr ſich allein, wenn wir ihr ſonſt keine weitere Vortheile, keine andere Aufſchluͤſſe zu dan - ken haͤtten, die Verdienſte derſelben um die Ruhe und Gluͤckſeligkeit des Menſchenge - ſchlechtes ſchon ins Unendliche erhoͤhen muͤß - te — befeſtige dich in dem Troſtgedanken, der allein im Stande iſt, alle Wunden zu heilen, und alle Kummerthraͤnen zu trock - nen — befeſtige dich in dem Troſtgedan - ken, daß dem Gottliebenden alle Dinge zum Beſten dienen — alſo auch dem Truͤbſinni - gen ſein Temperament, alſo auch dem Schwer - leidenden die Laſten der Leiden, die auf ihm liegen, wenn er nur vertrauensvoll auf - blickt zu dem, der auch den Truͤbſinnigen ſchuf zu ſeinem Bilde, und auch des Schwer - belaſteten Vater iſt.
Suche dein Temperament zu ver - beſſern, das heißt, dem Hange zum Truͤb - ſinn entgegen zu arbeiten;
Es iſt unwiderſprechlich, daß Seneka den Selbſtmord ex inſtituto gelehret habe: man darf ſeinen 58. und 70. Brief nicht ſtudiren, nur leſen, um ſich da - von zu uͤberzeugen. Und ich muß es gegen mein Jahrhundert bekennen, daß er ihn weit ſcharfſinniger und ſcheinbarer verthei -L 5diget,170Dritter Abſchnitt.diget, als viele neuere, die arm an Se - neka’s Kraft waren, und doch durch Ver - theidigung des Unnatuͤrlichen glaͤnzen woll - ten. Es iſt ſo meine Art, daß ich gern jedes Ding in ſeinem Werthe laſſe, den Seneka in ſeinem, und das Chriſtenthum in ſeinem. Und es mag Seneka, als Weltweiſer, noch lange leuchten, wenn er gleich im Gegenſatz mit der hoͤhern Of - fenbarung, in den Schatten tritt. Und ich fuͤhle immer eine Unbehaglichkeit, wenn ich von Vergleichungen zwiſchen unver - gleichbaren Dingen reden hoͤre. Allein, da wir in einer Zeit leben, wo man ſich’s zum Geſchaͤfte macht, das Chriſtenthum in den Schatten, und die Weisheit des gelehrten Alterthums in’s Licht zu ſetzen, ſo kann ich nicht umhin, zwiſchen den Grundſaͤtzen des Chriſtenthums, und jenen der Stoa, wenigſtens wie ſie durch den Mund des Seneka ſpricht, eine Parallel anzuſtellen.
Stellen171Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| So wollen wir denn be - ſtimmen, ob man im grau - en Alter das Ende der Ta - ge nicht ab - warten, ſon - dern dem Le - ben ſelbſt ein Ende machen muͤſſe. | So wollen wir denn die Jugend - und Mannsjahre ſo zubringen, daß das graue Alter noch eine Quelle der Freude fuͤr uns werden kann, und daß wir mit ſtets unbe - ſiegter Gegenwart des Geiſtes dem kommenden Tode entge - gen ſehen, den verzoͤgernden getroſt erwarten koͤnnen: weil es doch laͤngſt ausgemacht iſt, daß wir ihn ſo wenig beſchleu - nigen duͤrfen, als wir Urſa - che haben, vor ihm zu zit - tern, wenn wir weiſe gele - bet haben. Immer |
Itaque de iſto ſeremus ſententiam, an opor - teat faſtidire ſenectutis extrema, et finem non operiri ſed manu facere. — Prope eſt à timen - te, qui fatum ſegnis exſpectat: ſicut ille ul -tra172Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Das ſchick - ſal traͤge er - warten graͤnzt an Furchtſam - keit: ſo wie es ein Beweis der Weinliebe iſt, wenn ei - ner die Flaſche rein ausleeret, und auch die Hefe trinkt. | Immer und ganz fuͤr ſei - ne Pflicht, und gar nicht fuͤr ſein Schickſal beſorgt ſeyn — das graͤnzt nicht et - wa an Weisheit, ſondern iſt ſelbſt hoͤchſte Menſchenweis - heit: ſo wie es ein Beweis der vollkommenſten Tugend iſt, wenn einer weder auf Laͤn - ge noch Kuͤrze des Lebens rech - net, ſondern jeden Augenblick, der ihm wird, zum thaͤtigen Preiſe des Schoͤpfers, das heißt, zu eignem, und fremden Wohl nutzt, als waͤre er der einzige und letzte dieſes Lebens. |
| Wenn die Glieder des Koͤrpers zu ih - ren Amtsver - richtungen un - nuͤtz ſind: wa - | Wenn gleich die Werkzeu - ge des Koͤrpers zu allen ihren Verrichtungen untauglichwer - |
tra modum deditus vino eſt, qui amphoram exſiccat, et faecem quoque exſorbet. — Si inutile miniſteriis eſt corpus, quidni oporteat educere animum laborantem? —
Et173Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| rum ſoll man dem ſchwerbe - laſteten, und nach Freyheit ringenden Gei - ſte nicht her - aus helfen duͤrfen? | werden: ſo bleiben ſie deßun - geachtet immer Gottes Eigen - thum, wie der belebende Geiſt. Er alſo, der Vater der Gei - ſter, der den Menſchengeiſt in den Koͤrper eingeſchloſſen, wird dem naͤmlichen aus dem Koͤrper herauszuhelfen wiſſen, wann es ſeine Weisheit fuͤr gut findet. Eigenthumsrech - te, die die Menſchen unter - einander haben, ſind unantaſt - bar: ſoll es das Eigenthum Gottes — dem Menſchen nicht auch ſeyn? |
| Und ich glaube, daß man mit dem Selbſtmorde | Der Mann, der in freudi - ger Anerkennung der hoͤchſten Oberherrſchaft Gottes er - graut, hat Heiterkeit des Gei -ſtes |
Et fortaſſe paulo ante, quam debet, fa - eiendum eſt, ne eum fieri debeat, facere non poſſis. — Non relinquam ſenectutem, ſi me totum mihi reſervabit: totum autem ab illaparte174Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| nicht zu lange zuwarten muͤſ - ſe, ſonſt moͤch - te man im Zeitpuncte, wo man ſeiner aͤuſſerſt be - duͤrfte, zur Selbſtermor - dung zu ſchwach ſeyn. | ſtes genug, jede Beſchwerde des hohen Alters, auch wenn die Glieder des Leibes ihre Dienſte allmaͤhlich ver - ſagen, zu tragen: bedarf al - ſo des elendeſten Mittels nicht, ſich von dieſer Beſchwerde zu befreyen. Auch wenn die Hand erkaltet, das Auge bricht, die Lippe erſtarrt, — blickt der Geiſt noch ruhig in die Zu - kunft, und harrt Gottgelaſſen dem Feſttage der Aufloͤſung entgegen. Und wenn, was das aͤuſſerſte iſt, die anwach - ſenden Schmerzen dem gepruͤf - ten Dulder auch das Selbſt - bewußtſeyn raubten, was verloͤre er dadurch? Nichts. Das |
parte meliore. At ſi coeperit concutere men - tem, ſi partes eius convellere, ſi mihi non vi - tam reliquerit, ſed animam: proſiliam ex aedi - ficio putrido ac ruenti. —
Morbum175Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Das iſt eben die Groͤße des Gottesverehrers, daß ihn ſelbſt der Verluſt des Bewußtſeyns nicht ungluͤcklich machen kann. Gott kennet die Seinen, auch wenn ſie ſich nicht mehr ken - nen — ihrer nicht mehr be - wußt ſind. | |
| Wenn ich im Alter noch ganz mein bin, wenn der beſ - ſere Theil, der Geiſt, noch un - geſtoͤrt ſeine Arbeit thun kann: dann will ich ger - ne ausharren. | Der Weiſe, den das Evan - gelium bildet, bliebe unerſchuͤt - tert, wenn auch der Welten - bau uͤber ſeinem Haupte zu - ſammenbraͤche: warum ſollte er in dem morſchen Gebaͤude ſeines Koͤrpers nicht aushar - ren, bis es vollens eingeſtuͤrzt und ihm freyen Austritt oͤf - net? Horaz ruͤhmt es wohl auch von ſeinem entſchloſſenen,recht - |
Morbum morte non fugiam, duntaxat ſa - nabilem, nec animo officientem: non afferam mihi manus propter dolorem. Sic mori vinci eſt. Hunc tamen ſi ſciero perpetuo mihi eſſepatien -176Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Aber wenn das hohe Alter den Geiſt zu quaͤlen an - faͤngt, wenn es mir kein Leben mehr, ſondern nur die Seele uͤbrig laͤßt: ſo wer - de ich wohl ſelbſt aus dem morſchen und einſtuͤrzenden Stockhauſe heraus ſprin - gen duͤrfen. | rechtſchaffenen Manne, quod impavidum ferient ruinae. Aber wie wuͤrde er das Kra - chen des Welteinſturzes ertra - gen koͤnnen, wenn er das Zer - fallen ſeines Koͤrpers nicht aushalten kann? Vielleicht be - ſteht darinn der groͤßte Ruhm des Chriſtenthums, daß es Kraft giebt, das zu leiſten, wozu ſich nichtchriſtliche Wei - ſe anheiſchig machen. Uebri - gens wird der menſchliche Geiſt von dem einſtuͤrzenden Koͤr - pergebaͤude nicht erſchlagen: er hat alſo keine Urſache, ſei - ne Abreiſe ſo ſehr zu beſchleu - nigen, um nur dieſem Ein - ſturze zuvor zu kommen. |
| Wenn die Krankheit | Auch die ſchmerzhafteſte Krankheit kann mich (die er -ſten |
patiendum, exibo non propter ipſum, ſed quia impedimento mihi futurus ad omne, pro - pter quod vivitur. — Qui propter dolorem177Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| heilbar, und dem Geiſte unhinderlich iſt, will ich ihr, durch Selbſt - mordnung, kein Ende machen: wegen des Schmerzens werde ich nie Hand an mich legen, denn ſo ſterben hieſſe uͤberwunden werden. Wenn ich aber vor - herſehen kann, daß der Schmerz kein Ende haben werde, ſo wer - | ſten Anfaͤlle und den Fall des verlornen Bewußtſeyns ab - gerechnet) nicht an allem hin - dern, wozu ich geſchaffen bin: vielmehr giebt ſie mir Gele - genheit, durch Erduldung des Schmerzens die Groͤße des Geiſtes zu beweiſen, und ihn durch Uebung noch ſtaͤrker zu machen. Am ruhigen Spe - kuliren kann die Krankheit den Menſchengeiſt hindern, aber ja nicht am ruhigen Forttra - gen der aufgeladenen Buͤrde. Und dieß letztere iſt eine edle - re Verrichtung des Geiſtes, als das erſte. Freylich einen Brief an ſeinen Lucilius uͤber die Zuverlaͤßigkeit des Selbſt - mordes zu ſchreiben, dazu koͤnnte allenfals der krankeSeneka |
moritur, imbecillis eſt et ignavus: ſtultus, qui doloris cauſa vivit.
M178Dritter Abſchnitt.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| de ich aus der Huͤtte heraus gehen, nicht wegen des Schmerzens, ſondern weil er mir hinder - lich ſeyn wuͤr - de, das zu ver - richten, weß - wegen ein Menſch lebet. | Seneka zu wenig Kraft haben: daran koͤnnte ihn der Schmerz hindern. Aber die kranken, wie die geſunden Tage aus der Hand des Schoͤpfers dank - bar anzunehmen, und Ihn mit ſtiller Geduld fuͤr beyde preiſen: dazu kann der kranke Chriſt nie zu wenig Kraft ha - ben: daran kann ihn kein Schmerz hindern, wenn er nur nicht ſelbſt will. |
| Schwach und feig iſt der, welcher Schmerzens halber ſtirbt: aber der iſt ein Thor, wel - cher Schmer - zens halber lebt. | Ja, ein Thor iſt der, welcher Schmerzens halber lebt: aber der iſt ein weiſer Mann, der in den aͤuſſerſten Schmerzen ausdauert, nicht um laͤnger ge - foltert zu werden, ſondern weil es der Wille ſeines Herrn iſt, daß er durch Gedult weiſer, ſtaͤrker, edler, Gottaͤhnlicher werden ſoll. |
| Sieh da, ſo ſcheiden ſich Chri - ſtus und Seneka, das Evange - lium, und die Stoa! In |
In dieſem Briefe redet Seneka zum Theil noch maͤßiger als im 70. Er be - hauptet nicht, daß ſich jeder ſelbſtmorden duͤrfe: nur erlaubt ers dem Greiſen, aus der baufaͤlligen Huͤtte heraus zu ſpringen, noch ehe das Gekrach des Einſturzes an - faͤngt. Ich habe zu milde geſprochen, nicht nur erlaubt ers dem Greiſen, er ſcheint es ihm auch zur Pflicht zu machen, weil es Thorheit waͤre, blos des Schmerzens hal - ber zu leben.
Die Urſache, warum der Greis ſich ſelbſtmorden duͤrfe, iſt ſehr duͤrftig: Der Geiſt wird gehindert an ſeiner Arbeit: alſo darf ich demſelben aus dem Ar - beitshauſe heraus helfen.
Sieh, wie der Philoſoph immer nur auf Eine Arbeit des Geiſtes ſieht, auf das ruhige Denken, Forſchen naͤmlich, und die zweyte, das Selbſtbekaͤmpfen, das Tragen der Beſchwerde, nicht einmal in Rechnung bringt!
M 2Sieh,180Dritter Abſchnitt.Sieh, wie der Philoſoph ſich ſelbſt widerſpricht, da er ſonſt ſo vieles Gerede aus der Tugend zu machen wußte, und ſeinen Tugendhaften uͤber Natur und Schick - ſal erhaben darſtellte, oder vielmehr gar von Gott und Schickſal unabhaͤngig mach - te: itzt aber dieſen ſeinen erhabnen Weiſen wieder ſo klein macht, daß er im Ertra - gen keines, im Laſtwegwerfen alles Heil findet!
„ Der muß ein ſtarker Weinſaͤu - fer ſeyn, der die Flaſche bis auf die Hefe leeret. “
Sieh, wie der Weiſe phantaſirt, da er zwiſchen dem Weinſaͤufer, der den letzten Tropfen vom Nagel ſchluͤrft, und dem Manne, der die Bitterkeiten des Lebens bis auf die Hefe des grauen Alters aus - trinket, eine Aehnlichkeit finden kann, die die - ſen mit jenem in Eine Klaſſe ſetzte! — —
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Der Weiſe lebt, ſo lange er muß, nicht ſo lange er kann. | Der Weiſe glaubt, er muͤſſe ſo lange leben, als er kann: und er koͤnne ſo lan - ge leben, bis ihn der Wille des Schoͤpfers aus dem Le - ben ruſt. |
| Er denkt immer darauf, wie er lebe, nicht ob er lange lebe. | Er iſt wohl auch uͤber - zeugt, daß es nicht auf ein langes, ſondern auf ein gu - tes Leben ankomme. Aber er glaubt darneben auch, es ſey Pflicht, ſo lange gut zu leben, als man lebt, und ſo lange zu leben, als man kann. |
| Kommt vie - les Laͤſtige und | Kommen Laſten uͤber ihn: ſo ſagt er zu ſich: nun willM 3ich |
Sapiens vivit, quantum debet, non quan - tum poteſt. — Cogitat ſemper, qualis Vita, non quanta. — Si multa occurrunt moleſta,et182Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Ruheſtoͤrende uͤber ihn, ſo wirft er ſich aus dem Leben hinaus: und dieß thut er nicht nur im aͤuſſerſten Nothfalle, ſon - dern, ſo bald ihm das Gluͤck verdaͤchtig zu werden begin - net, ſo ſieht er mit ſchar - fem Blicke um - her, ob er wohl ſchon an die - ſem Tage zu | ich erſt recht beweiſen, was das Leben fuͤr einen Werth habe. Nun iſts erſt Tu - gend zu leben. — — Wer - den ihm ſeine Gluͤcksumſtaͤn - de noch ſo verdaͤchtig: Got - tes Vaterliebe wird es ihm nie — und dieſe macht ihm auch die ſchwerſte Laſt ertraͤg - lich. Er ſieht ſich nicht um den Tod um — ſondern um Geduld, und dieſe findet er leichter, als der Selbſtmoͤr - der den Tod. Wenn |
et tranquillitatem turbantia, emittit ſe; nec hoc tantum in neceſſitate ultima facit, ſed cum primum illi coeperit ſuſpecta eſſe fortuna, di - ligenter circumſpicit, numquid illo die deſi -nen183Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| leben aufhoͤren ſolle. | |
| Er waͤhnt, es liege eben nichts daran, ob er ſelbſt ſei - nem Leben ein Ende mache, oder ob dem - ſelben ein En - de gemacht werde. Spaͤ - ter, oder fruͤ - her: er habe keinen groſſen Verluſt zu be - fuͤrchten. | Wenn Krankheit, oder aͤuſſere Gewaltthaͤtigkeit ſei - nem Leben ein Ende macht, ſo glaubt er, daß ihn der Vater der Menſchen aus dem Leben ruft. Den Ein - fall aber, ſein Selbſtſcharf - richter zu ſeyn, haͤlt er nicht fuͤr den Ruf des Vaters. Er ſtellt das fruͤhe oder ſpaͤte Sterben dem anheim, der Leben und Tod in ſeiner Hand hat, fuͤrchtet auch den fruͤhen Tod ſo wenig, als den ſpaͤ - ten: nur glaubt er, nichts beytragen zu duͤrfen, daß der - ſelbe fruͤher komme. M 4Er |
nendum ſit. — Nihil exiſtimat referre, fa - ciat finem, an accipiat: tardius fiat, an ci - tius, non de magno detrimento timet — Ne - mo multum ex ſtillicidio poteſt perdere. —Citius184Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Unſer Leben iſt wie eine Dachtraufe: Tage, Stun - den troͤpfeln ſo dahin — bis es ausgetroͤp - felt hat. Was liegt daran, ob dieſer oder der kommende Tropfen der letzte ſey. | Er haͤlt dieſes Leben auch fuͤr eine Dachtraufe, glaubt aber zugleich, daß jeder Trop - fen den Werth eines wohl - thaͤtigen Stromes bekommen kann, wenn er ihn nur mit Weisheit und Liebe zum Be - ſten ſeines Bruders benutzen will. Bey ihm hat die Stunde auch ſechzig Minu - ten, aber jede Minute — den Werth der Ewigkeit. |
| Fruͤher oder ſpaͤter ſterben — das gehoͤrt nicht zur Sa - che: gut oder nicht gut ſter - | Fruͤher oder ſpaͤter ſterben, gehoͤrt freylich nicht zur Sa - che: aber Urſache des fruͤhen Todes ſeyn — das gehoͤrt ſchon zur Sache. Gut |
Citius mori, vel tardius, ad rem non perti - net: bene mori, aut male, ad rem pertinet. — Bene autem mori, eſt effugere male vivendi periculo. — Si altera mors cum tormento,altera185Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| ben, das ge - hoͤrt zur Sa - che. — | |
| Gut ſter - ben heißt — der Gefahr boͤſe zu leben, auf immer entrinnen. | Gut ſterben heißt, gut gelebt haben, heißt mit dem Bewußtſeyn edler Thaten zur rechten Stunde aus dem Leben gehen — wann der Feldherr das Zeichen zum Ab - zug geben laͤßt… Daß mit dem Tode die Gefahr boͤſe zu leben verſchwindet, iſt kein Beweis des guten Todes — ſondern eine Folge des Todes uͤberhaupt… |
| Wer ſoll nicht eine leichte, einfache To - desart einer | Ich habe mir das Leben nicht gegeben: ich darf es mir alſo auch nicht nehmen. Ich darf das Lebensziel nicht ab -M 5kuͤrzen, |
altera ſimplex, et facilis eſt, quidni huic ſit iniicienda manus? quemadmodum navem eli - gam navigaturus, et domum habitaturus, ita mortem utique, qua ſum exiturus e vita. —Quem -186Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| grauſamen vorziehen? Wenn ich zu Waſſer reiſen will, waͤhl’ ich mir das Schiff, das mir ge - faͤllt; wenn ich Herberge neh - men will, waͤhl’ ich mir das Haus, das mir gefaͤllt: ſoll ich nicht auch die To - desart waͤhlen duͤrfen, die mich aus dem Leben ſchafft? | kuͤrzen, wenn es die allbe - ſtimmende Fuͤrſehung weiter hinaus geruͤckt hat. Die Art, in dieß Leben einzugehen hieng nicht von meiner Wahl ab: ſo kann auch die Art, aus dem - ſelben hinauszugehen, nicht von meiner Willkuͤhr abhan - gen. Denn der die Stunde des Todes beſtimmt, beſtimmt auch die Art des Todes, wie Er die Stunde der Geburt, und die Umſtaͤnde derſelben beſtimmet hat. Anfang und Ende des Lebens ſtehen nicht unter meiner Gewalt: nur der Gebrauch deſſelben. Haus, und Schiff kann ich waͤhlen: aber die Art, und Weiſe in die Welt zu kommen, konnte ich nicht waͤhlen. Tugend und Weisheit kann, und darf ichauch |
Quemadmodum non utique melior eſt longiorvita187Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| auch waͤhlen, die mir den Aus - tritt aus der Welt ſuͤſſe ma - chen — nur darf ich mich nicht ſelbſt gewaltſam hinaus ſtoſſen, ſo wenig ich aus eig - nem Entſchluſſe hereingetre - ten bin. | |
| Gleichwie das laͤngere Leben darum nicht beſſer iſt, weil es laͤnger iſt: ſo iſt doch gewiß der Tod deſto ſchlim - mer, je laͤnger er waͤhret. | Weder der Werth des Le - bens, noch der Werth des Todes haͤngt von der Kuͤrze oder Dauer ab. Wer im Le - ben, und im Sterben die edel - ſte Thaͤtigkeit, und Leidſam - keit aͤuſſert, deſſen Leben, und Sterben haben den groͤſten Werth. Iſt die Todesart mit heftigern Schmerzen verbun - den: ſo iſt der Muth, der die groͤſſere Buͤrde tragen kann, offenbar groͤſſer, als der ſie wegwirft. —In |
vita, ſic peior eſt utique mors longior. —
In188Dritter Abſchnitt.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| In keinem Stuͤcke muͤſ - ſen wir unſern Geiſt mehr Herr ſeyn laſ - ſen, als im To - de. Er gehe hinaus, wo und wie er durch - zubrechen an - gefangen: durch Huͤlfe des Schwer - tes, oder des Strickes, oder des Gifttran - kes — Nur wacker darauf - gearbeitet, bis | In keinem Stuͤcke kann der Geiſt des Menſchen ſeine Staͤrke herrlicher offenbaren, als in großmuͤthigem Kamp - fe gegen die Verſuchung, die Laſt des Lebens wegzuwerfen. Wo feige Seelen keinen an - dern Retter kennen, als den Strick, oder den Gifttrank, oder die Piſtole, da hebt der Großmuͤthige ſein Haupt em - por, und ruft lauft aus ſei - nem Herzen: ich kann le - ben, ich kann die Buͤrde tragen, ich kann im Leiden ausharren — ich kann die Stunde abwarten, bis der Bote des Herrn (der Tod) kommt, und die Feſſel auf -ſchließt, |
In nulla re magis, quam in morte, morem animo gerere debemus. Exeat, qua impetum cepit: ſive ferrum appetit, ſive laqueum, ſive aliquam potionem venas occupantem, pergat,et189Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| die Feſſel der Knechtſchaft zerbrochen ſind. | ſchließt, die der Herr mir an - geſchlagen hat — dann fleug’ ich frey — zum Herrn, und rufe: da bin ich. “ |
| Das Leben magſt du an - dern ruͤh - men — dir den Tod. Die Todesart, die dir gefaͤllt, iſt die beſte. — | Was du dir goͤnneſt, das goͤnne auch andern — Das Beſte aber, was du dir und andern wuͤnſchen kannſt, iſt dieſes, daß der Wille der allordnenden Weisheit an dir und an andern geſche - he — im Leben und im To - de. Was die hoͤchſte Weis - heit fuͤr gut gefunden, die hoͤchſte Liebe verordnet — das iſt das Beſte. Was dem Weiſeſten gefaͤllt, ſoll auch dir gefallen. —Die |
et vincula Servitutis abrumpat. — Vitam et aliis approbare quisque debet, mortem ſibi. Optima eſt, quae placet. — Invenies etiam profeſſos ſapientiam, qui vim afferendam vi -tae190Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Es giebt auch Weiſe, die wider den Selbſtmord ſprechen: es ſey unrecht ſein Selbſtmoͤrder zu werden: man muͤſſe auf den Punct zum Abzug warten, den die Natur feſt - geſtellet hat. Allein, was heißt dieß an - ders, als der Freyheit den Weg ſperren? | Die aͤchte Freyheit des Geiſtes beſtehet nicht darinn, daß er das Gefaͤngniß durch - brechen kann, wann er will, ſondern darinn, daß ihn kein Schmerz, kein Tyrann, keine Angſt zwingen kann, es vor dem Augenblicke, den die hoͤchſte Weisheit genannt hat, ſelbſt zu thun. Der Tyrann kann das Gefaͤngniß durch - brechen — aber daß der Menſch es ſelbſt thue, dazu kann er den freyen Men - ſchengeiſt nicht zwingen. Und dann der Leib iſt nicht bloß Gefaͤngniß des Geiſtes, er iſt Werkſtaͤtte, Wohnſtaͤtte des Unſterblichen, vom Schoͤpfergebaut |
tae ſuae negent, et nefas judicent, ipſum in - teremtorem ſui fieri. Expectandum eſſe exi - tum, quem natura decrevit. Hoc qui dicit, non videt, ſe viam libertati claudere. —
Nil191Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| gebaut zur Ausbildung des Ueberirrdiſchen in einem ir - diſchen Gemaͤchte. Der Selbſtmord zerbricht alſo nicht ſo faſt das Gefaͤngniß eines Staatsgefangenen, als das Laboratorium des Un - ſterblichen, der ſich darinn auf Ewigkeiten verarbeitet. | |
| Das Beſte, was das ewi - ge Geſetz ge - than, iſt dieß, daß jedem Ein Eingang ins Leben beſtim - met iſt, und viele Ausgaͤn - ge offen gelaſ - ſen ſind. | Das Beſte, was wir von dem Schoͤpfer aller Dinge denken koͤnnen, iſt dieß, daß er jedem Menſchen den Zeit - punct ſeines Eintrittes in dieſes Leben, die Bahn, die er durchzulaufen hat, die Marken ſeiner Wohnung, und den Zeitpunct, und die Art ſeines Austrittes aus die -ſem |
Nil melius aeterna lex fecit, quam quod unum introitum nobis ad vitam dedit, exitus multos. — Hoc eſt unum, quod de vita non poſſumus queri; neminem tenet. Placet, vive. non192Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| ſem Leben nach den Maaßre - geln der weiſeſten Liebe be - ſtimmet hat. | |
| Das machts allein, daß man uͤber das Leben nicht klagen kann: es haͤlt nie - manden auf. Gefaͤllts dir zu leben, lebe. Gefaͤllts dir nicht, darfſt nur hingehen, wo du herkom - men biſt. | Das macht uns das Leben zur Freude, und dem, der daran glaubt, alle Klage un - moͤglich, daß die ganze Bahn deſſelben, Anfang, Mittel, Ende, von dem Finger der erſten Weisheit gezeichnet, und alle Schritte darauf von der erſten Liebe geleitet, und auch ſogar die Fehltritte von der erſten Macht in den Plan der hoͤchſten Menſchen - beſeligung eingeflochten ſind. |
| Wenn man einem Wie - genkind das Recht einraͤumen wollte, den Plan zu ſeiner Erziehung zu entwerfen, und die Skizzen ſeines ganzenkuͤnf - |
non placet? licet eo reverti, unde veniſti. —
Ut dolorem capitis levares, ſanguinem ſae -pe193Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| kuͤnftigen Lebens zu zeichnen, welche Thorheit? Aber dieſe Thorheit waͤre nicht groͤßer, als die, welche dem Men - ſchen das Recht einraͤumt, nach Belieben aus dem Le - ben zu treten. Denn ſo wenig ein Wiegenkind auch nur den Begriff von Erziehung denken kann: ſo wenig kann der Menſch das Gute in An - ſchlag bringen, das er ſich durch den Selbſtmord ent - zieht, und das Uebel, das er ſich dadurch zuzieht. So wenig die Erziehung des Kin - des vom Kinde, ſo wenig kann die weitere Erziehung des Erwachſenen zur hoͤhern Vollkommenheit, die Ver - laͤugnung oder Abkuͤrzungſeiner |
pe emiſiſti: ad extenuandum corpus vena mit - titur: non opus eſt vaſto vulnere dividereNprae -194Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| ſeiner Exiſtenz von ſeiner Willkuͤhr, abhangen. Nur der, der alle Folgen, und Ur - ſachen einer That, Zukunft wie Vergangenheit, Vergan - genheit wie Gegenwart, Sterblichkeit und Unſterblich - keit, Zeit und Ewigkeit uͤber - ſieht, nur der große Schau - ſpieler, der ſelbſt alle Kno - ten verflochten, und alle in der letzten Scene aufloͤſen wird, der alle Rollen aus - theilt, und das ganze Schau - ſpiel dirigirt, nur der kann ſagen: itzt trete dieſer da auf die Buͤhne, itzt trete jener dort von der Buͤh - ne ab. | |
| Um den Kopfſchmer - | Einen Stich koſtet die Freyheit — von den gegen -waͤrti - |
praecordia. Scalpello aperitur ad illam ma - gnam libertatem via et puncto ſecuritas conſtat.
195Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| zen zu min - dern — — — laͤſſeſt du dir eine Ader ſchlagen. Es gehoͤrt keine große Wunde dazu, dem Le - ben ein Ende zu machen. Ein Federmeſ - ſer oͤffnet die Thuͤr zur groſ - ſen Freyheit: Einen Stich — nicht mehr koſtet die Si - cherheit. | waͤrtigen Leiden: aber die Freyheit von den martern - den Vorwuͤrfen des Gewiſ - ſens, das der Selbſtmoͤrder nicht morden kann, das ihn mit in die Ewigkeit beglei - tet — die Sicherheit vor dem Richterblicke des Lebens - Herrn, dem ſich der Selbſt - moͤrder nicht entziehen kann — — dieſe verſchaft uns der Stich nicht. Und was nuͤtzt jene Freyheit, jene Sicher - heit ohne dieſe? |
Nochmal: ſo ſprechen Chriſtus und Se - neka, das Evangelium und die Stoa!
(Im Scipio’s Traume)
„ Wenn dich nicht jener Gott, deſſen Tem - pel dieß All iſt, von dem Gefaͤng - niſſe des Leibes frey macht: ſo kannſt du nicht hieher (zu den ſeligen Wohnungen der abgeſchiedenen Geiſter) kommen. …
So iſt es denn Pflicht fuͤr dich, lieber Publius, und fuͤr alle Rechtſchaffene, ja nicht ſelbſt den Menſchengeiſt aus dem Ge - faͤngniſſe des Leibes loszulaſſen. Ohne Be - fehl deſſen, der euch ihn, dieſen Geiſt, ge - ſchenkt hat, duͤrfet ihr das Menſchenleben nicht verlaſſen: damit es nicht das Anſehen gewinne, als haͤttet ihr dem Berufe eines Menſchen, den euch Gott angewieſen, aus dem Wege laufen wollen. “
So197Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.So laͤßt Cicero ſeinen unſterblichen Helden reden.
Welche Stralen von Wahrheit leuch - ten aus dieſen Worten heraus? Wie ehr - wuͤrdig iſt mir Cicero’s Geiſt, durch den die Menſchenvernunft dießmal ſo rein, ſo un - gebrochen geredet?
Wie viel liegt in den Worten:‘retinendus eſt animus in cuſto - dia corporis, ne munus huma - num, aſſignatum à Deo, defu - giſſe videamini? ’Alſo giebt es einen Menſchenberuf, und dieſen hat uns Gott angewieſen, und die - ſem angewieſenen Berufe ſollen wir treu bleiben. ‘Nec injuſſu ejus, a quo ille (ſpi - ritus) vobis datus, ex homi - num vita migrandum. ’
Alſo iſt der menſchliche Geiſt eine Gabe Gottes: und ohne Befehl dieſes Gottes ſoll man das Menſchenleben nicht verlaſſen.
N 3In -198Dritter Abſchnitt.Indeß laͤßt es ſich nicht laͤugnen(a)I. Tuſc. XXX. vetat enim dominans ille in nobis Deus, injuſſu hinc nos ſuo demigrare. Cum vero cauſſam juſtam Deus ipſe dederit, ut nunc Socrati, nunc Catoni, ſaepe multis: ne ille, mediusfidius,, daß Cicero deßungeachtet in dieſer wichtigen Lehre nicht ganz feſt geweſen, und unter dem Ausdruck, injuſſu Dei non e vita mi - grandum, eine Zweydeutigkeit verborgen liege, wie er denn auch von Cato glaubte, daß dieſer auf den Ruf der Gottheit dieß Le - ben verlaſſen, und ihn mit Sokrates in Eine Reihe ſtellte.
Hier alſo ein Beyſpiel von dem Schick - ſale der menſchlichen Vernunft. Auf ei - ner Seite ſieht ſie ſehr richtig, daß man gegen den Befehl der Gottheit den Geiſt nicht aus dem Bewahrungshauſe loslaſſen duͤrfe: auf der andern laͤßt ſie ſich von der uͤbertriebenen Achtung gegen Cato, alſo von einem Vorurtheile, ein gefaͤrbt Glas vor das Auge halten, und nun ſieht ſie an dem Selbſtmorde ein Werk des Gehorſams ge -gen199Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.gen den Ruf der Gottheit, weil ſie eines ſe - hen will — — ſieht die Wahrheit nimmer, weil ſie den Schatten des großen Mannes lieber hat als die Wahrheit.
Dieſer Cicero nun, der die Wahrheit von Unerlaubtheit des Selbſtmordes, im All - gemeinen ſo treu erfaßt, und im Einzeln ſo menſchlich verfehlet — wie groß iſt er an der Seite des Seneka, der in keine Verſuchung kommt von Gottes Willen zu ſprechen, wenn er vom Selbſtmorde ſpricht, der in der wichtigſten Angelegenheit noch mit ſeinem Witze ſpielen kann?
Und dieſer Cicero, der ſo groß er - ſcheint an der Seite des Seneka, dieſer Ci - cero, an dem die Vernunft verſucht zu ha - ben ſcheint, was ſie vermag — wie ſchwan - kend ſpricht er nicht gegen den ſichern, fe -N 4ſten(a)fidius, vir ſapiens, laetus ex his tene - bris in lucem illam exceſſerit: nec ta - men illa vincla carceris ruperit: leges enim vetant: ſed tanquam à magiſtratu aut ab aliqua poteſtate legitima, ſic à Deo vocatus atque emiſſus, exierit. 200Dritter Abſchnitt.ſten Ton des Evangeliums, deſſen Buch - ſtabe und Geiſt das geradeſte Gegentheil vom Selbſtmorde iſt? (Seite 49.)
Dieß ſage ich nicht, um Cicero her - unter, oder um das Evangelium hinaufzu - ſetzen: denn jedes Ding iſt, was es iſt, und bedarf unſers Herunter - und Hinaufſetzens nicht. — Nur um einige Urtheile unſerer Zeit zu berichtigen, ſagte ich’s.
Hier ſtaunet das philoſophiſche Rom den großen Cato als Selbſtmoͤrder an, und da bewundert das heidniſche Rom den hohen Sinn der Chriſten, die als großmuͤ - thige Zeugen fuͤr die Wahrheit des Chriſten - thums, auf Blutgeruͤſten, unter der Hand des Henkers ſterben.
Welcher Contraſt?
Aendern201Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.Aendern wir den Fall: denken wir, Cato haͤtte große Begriffe vom Daſeyn des Einen Gottes, und der Unſterblichkeit der Seele gehabt, und ſie unter der edlen Roͤ - merjugend mit Wort und That ausgebrei - tet; nun waͤre er denn von irgend einem Tyrannen unter Androhung der ſchimpflich - ſten Hinrichtung angehalten worden, oͤffent - lich gegen ſeine Ueberzeugung zu erklaͤren, daß der Glaube an Einen Gott, und die Unſterblichkeit der Seele Thorheit ſey: der Mann Cato aber haͤtte mit unentwegtem Sinne ſeinen Hals dem Beil des Henkers dargeſtreckt, um nur nicht gegen Wahrheit, und Gewiſſen zu handeln, und um die ed - len Roͤmer durch die Machtſtimme ſeines Blutes in der Ueberzeugung von den wichtig - ſten Wahrheiten recht tief zu gruͤnden — die Chriſten hingegen haͤtten ſich ſelbſt ge - mordet, um der oͤffentlichen Hinrichtung zu - vorzukommen.
Wenn der Fall dieſer waͤre, mit wel - chem Recht wuͤrden alle die großen, und kleinen Philoſophen des Cato Heldenthat ge - prieſen, und die todesſcheue Feigheit derN 5Chriſten202Dritter Abſchnitt.Chriſten gebrandmarket haben? Da nun aber der Fall gerade umgekehrt iſt, da Cato ſich ſelbſt gemordet, weil er das Sie - gerantlitz des Caͤſars nicht ertragen konnte, und die Chriſten ſich morden lieſſen, um nur an der gewiß erkannten Wahrheit nicht meyneidig zu werden: wie kommt es, daß Maͤnner, die nach der Vernunft, nicht nach den Leidenſchaften richten ſollten, ſo enthu - ſiaſtiſch gegen die Zeugen der Wahrheit, und ſo enthuſiaſtiſch fuͤr den Selbſtmoͤr - der eingenommen ſeyn koͤnnen? Wie kommt es, daß ſie die Starkmut jener als Fa - natismus bemitleiden, und die Grauſamkeit dieſes gegen ſeine eigne Exiſtenz, als He - roismus anbeten?
Pfuy der elenden Idololatrie in den Tagen, wo von Mannbarkeit und Freylaſ - ſung der Vernunft (manumiſſis ingeniis) ſo vieles gepoſaunet wird! Das iſt der Adel des Freygebohrnen Mannes, daß er die Dinge ſieht, wie ſie ſind, und ſchildert, wie er ſie ſieht?
(ſtatt aller.)
Regulus gieng nach Carthago, ob er gleich vorherſah, daß er auf die grau - ſamſte Art wuͤrde hingerichtet werden, um die Ehre des Eides, und der oͤffentlichen Treue zu retten. Wie erhaben iſt dieſe Selbſterhaltung des Regulus uͤber jenen Selbſtmord des Cato? Gerade ſo viel er - habner Regulus als Cato war(c)Die Anmerkung Auguſtins uͤber den Cha - rakter und die Heldenthaten des Regulus kann ich nicht weglaſſen: Nolunt autem iſti, contra quos agimus, ut ſanctum vi - rum Job, qui tam horrenda mala in ſua carne perpeti maluit, quam illata ſibi morte omnibus carere cruciatibus: vel alios ſanctos ex noſtris litteris ſumma au - ctoritate celſiſſimis fideque digniſſimis, qui captivitatem, dominationemque hoſti -um!
Joſephus der Geſchichtſchreiber, als er von vier Maͤnnern, die mit ihm in eine Hoͤhle geflohen waren, ermuntert ward, ſich lieber das Leben zu nehmen, als dem Veſpaſian als Sklaven zu ergeben, ant -wor -(c)um ferre quam ſibi necem inferre ma - luerunt, Catoni praeferamus: ſed ex li - teris eorum, eidem illi Marco Catoni Marcum Regulum praeferamus. Cato enim nunquam Caeſarem vicerat, cui victus dedignatus eſt ſubjici, et ne ſub - jiceretur, a ſe ipſo elegit occidi: Re - gulus autem Paenos jam vicerat, impe - rioque Romano Romanus imperator non ex civibus dolendam ſed ex hoſtibus laudandam victoriam reportaverat: ab eis tamen poſtea victus, maluit eos fer - re ſerviendo, quam eis ſe auferre mo - riendo. Proinde ſervavit et ſub Car - thaginenſium dominatione patientiam, et in Romanorum dilectione conſtantiam, nec victum auferens corpus ab hoſtibus, nec invictum animum a civibus. Necquod205Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.wortete: Haltet ihr das fuͤr Heldenmuth, ſich ſelbſt zu toͤdten? Iſt denn wohl der Steuermann beherzt, welcher aus Furcht eines heftigen Sturms, ſein Schiff ſelbſt verſenket?
Eines(c)quod ſe occidere noluit, vitae hujus amore fecit. Hoc probavit, cum cauſſa promiſſi jurisque jurandi ad eosdem ho - ſtes, quos gravius in ſenatu verbis, quam in bello armis offenderat, ſine ulla dubitatione remeavit. Tantus ita - que vitae hujus contemptor, cum ſae - vientibus hoſtibus, per quaslibet poe nas eam finire, quam ſe ipſe perimere maluit, magnum ſcelus eſſe ſi fe homo interimat, procul dubio judicavit. In - ter omnes ſuos laudabiles et virtutum inſignibus illuſtres viros non proferunt Romani meliorem, quem neque felicitas corruperit; nam in tanta victoria pau - perrimus permanſit; nec infelicitas fre - gerit: nam ad tanta exitia revertit in - trepidus. De Civit. DEI. L.I. C. XXIV. (d) Nach -
Paulus(d)Nachdem ich das Beyſpiel des Herrn ſchon oben im erſten Abſchnitte beruͤhret habe, ſo ſteht hier das Beyſpiel von einem ſeiner Juͤnger am rechten Orte., der ſich auf einer Seite ſo bruͤnſtig ſehnte aufgeloͤſet, und bey ſei - nem Herrn zu ſeyn, und auf der andern, um der Wahrheit willen die ſchwereſten Lei - den dulden mußte, harrete im heiſſeſten Lei - dengedraͤnge von innen, und von auſſen großmuͤthig aus, und bewies am Ende als Blutzeuge, daß es gerade ſo herrlich ſey — ſich um der Wahrheit willen von andern toͤdten laſſen, und die fremde Gewaltthaͤ - tigkeit maͤnnlich ertragen — als es ſchaͤndlich waͤre, ſich ſelbſt aus Mangel an Stark - muth hinrichten.
Richte nicht, verdamme nicht. Denn das menſchliche Herz hat Tiefen, die man durch kein Senkbley auch der ge - naueſten Beobachtung ergruͤnden kann; Irr - gaͤnge, deren Geſchichte der geuͤbteſte Ge - ſchichtforſcher nicht geben kann; Verſchrau - bungen, deren Entſtehen kein Schrauben - gang irgend einer alten, oder neuen Seelen - kunde erklaͤren kann.
Verdamme nicht. Denn deine Hand hat nicht die Wage des Richters, und dein Auge waͤre nicht ſcharf genug, um das Neigen des Zuͤngleins, das das Ueberge - wicht der Gruͤnde fuͤr oder wider eine in - dividuelle That entſcheidet, zu bemerken.
Verdamme nicht. Denn du biſt ein Mitknecht des Selbſtmoͤrders, und Mitknechte haben keinen Beruf zum Rich - teramte.
Ver -208Dritter Abſchnitt.Verdamme nicht. Denn es iſt Ein Tag feſtgeſetzt, der alles Geheime ans Ta - geslicht hervorbringen wird; Ein Mann beſtimmt, der den ganzen Erdboden richten wird. Greif jenem Tage nicht vor, und dieſem Manne nicht ein.
Aber
„ Wenn ſo viele Gruͤnde wider den Selbſtmord ſtreiten, wie der erſte Abſchnitt glauben machte, ſo habe ich ja gerade ſo viele Gruͤnde den Selbſtmoͤrder zu verdam - men, als viele wider den Selbſtmord an - gefuͤhrt worden.
Nein, Leſer, die Folge iſt unrichtig. Die Gruͤnde wider den Selbſtmord ſind aus der Natur des Selbſtmordes uͤberhaupt her - geholet, nicht aus einem Individuum des Selbſtmordes; ſie ſind in ihrem wahren Lichte gezeiget, um den Juͤngling zu war - nen, daß er ſich nicht der Flamme naͤhere: aber ich kann nicht geradezu behaupten, daß der Selbſtmoͤrder, der wirklich von der Flamme verzehret worden, eben dieſe Gruͤnde in eben dieſem Lichte erblicket habe. Ich209Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.Ich weis nicht, in wie ferne er aus uͤber - legtem Entſchluſſe und mit Bewußtſeyn des Erfolges, der Flamme entgegen gegangen ſey, oder ob ihn nicht etwa eine unſicht - bare Gewalt in den Rachen der Flamme hineingeworfen habe.
Ferners
Wenn der Weiſe ſagt: verdamme den Selbſtmoͤrder nicht, ſo folget dar - aus nicht, daß an der individuelen Hand - lung dieſes Selbſtmordes nichts verdam - menswuͤrdiges ſey: ſo wenig daraus folgt, daß ſie den hoͤchſten Grad der Verdammens - wuͤrdigkeit erreicht habe. Das Wort, ver - damme nicht, iſt nur ſo viel ſagend: „ falle dem Richter nicht in die Wage: du kannſt weder die tauſendmal tauſend Einfluͤſſe des Temperaments, der Erzie - hung, der Vorurtheile, der Unerkenntniß, der Ueberredung, der Beyſpiele, der Ver - fuͤhrung, der Irrungen, der Schwermuth, der Leidenſchaft ꝛc. auf die ſelbſtmordende Handlung, noch das Aufbuͤrdliche oder Un - aufbuͤrdliche aller dieſer Ingredienzen, nochOauch210Dritter Abſchnitt.auch den Grad der Aufbuͤrdlichkeit irgend einer Miturſache meſſen, waͤgen: alſo kannſt du nicht richten, nicht verdammen.
Kanoniſire nicht, vergoͤttere nicht. Wo der einſichtloſe Eifer verdammet, da vergoͤttert die unbaͤndige Schwaͤrmerey: bey - de reden, wo ſie ſchweigen ſollten. Sieh da die großen Partheyen, die von jeher ein - ander verfolgten — und die Wahrheit und Weisheit in der Mitte ließen!
Ich will die dreyerley Sprachen des Eifers, der Schwaͤrmerey, der Weisheit neben einander ſtellen. —
| Sprache des Eifers. | Sprache der Schwaͤrmerey. |
| Im Satansreiche jammert ſchon Die ſchwarze Ra - benſeele, Und aͤrntet ihrerSuͤn - de Lohn Im tiefſten Grund der Hoͤlle. | Die Heldenſeele jauch - zet ſchon Im Chor der Se - raphinen, Und aͤrntet ihrer Tu - gend, Lohn, Wo ew’ge Palmen gruͤnen. Sprache |
Sprache der chriſtlichen Weisheit.
Lerne anbeten. In Gottes großer Familie giebt es ſo manche Auftritte, wo Schweigen und Anbeten Weisheit iſt.
„ Herr! iſts moͤglich, daß ein Ver - nunſtgeſchoͤpf deiner Hand ſo tief ſinken kann? Was iſt doch der Menſch, den Du gebaut? Wer forſchet den Weg, den Du die Deinen fuͤhreſt? Abgrund! Ab - grund! laßt uns hinfallen und anbeten! “ Dieß iſt nicht ſelten das große Eine, was uns bey ſo auſſerordentlichen Begebenhei - ten das Mark durchſchauert.
Wer da ſteht, der ſehe zu, daß er nicht falle. Denn der gefallen iſt, ſtand vor kurzem noch. O, wie finde ich denO 2Men -212Dritter Abſchnitt.Menſchen in jedem Selbſtmoͤrder! Wie fuͤhl’ ich mich ſelbſt in jeder Greuelthat! Wie zittere ich vor mir, wenn ich mich in die Lage des Selbſtmoͤrders hineindenke! Wie trift das: nihil humani à me alie - num, alle Saiten meiner Seele! Wer an dem Selbſtmoͤrder nicht den Menſchen er - blicket, nicht erblicket in ſeiner wahren Ge - ſtalt, der findet ihn nirgends.
| Ein Vernunſtgeſchoͤpf — | und ſein Selbſt - moͤrder! |
| Das Ebenbild Gottes — | und erwuͤrgt am Stricke mit eig - ner Hand! |
| Das edelſte Daſeyn — unter der Sonne — | und dieß edelſte Daſeyn ſich ſelbſt zur unertraͤgli - chen Laſt! |
| Die Krone der Schoͤp - — fung — | und dieſer Krone die große, weite Schoͤpfung zu enge! |
| Der Menſchenkoͤrper — das Meiſterſtuͤck der | und dieſes Mei - ſterſtuͤck, zerſtoͤrtAllmacht |
| Allmacht, die Pil - gerwohnung des un - ſterblichenGeiſtes — | von ihm, dieſe Wohnung einge - riſſen von dem Pil - ger ſelbſt! — |
| Das Naturgeſetz der — Selbſterhaltung, je - dem Lebendigen mit Gottesfinger einge - ſchrieben — | Und dieſe Gottes - flammenſchrift aus - geloͤſcht von dem edelſten Lebendigen auf Erde! |
Welche eine Lection fuͤr Menſchen iſt der Selbſtmord eines aus ihrem Geſchlechte! Und wie wenige oͤffnen die Augen, zu ſehen die Menſchheit, wie ſie iſt, und werden weiſe!
Eine Apologie der Vernunft gegen die deſpotiſchen Druͤckungen, die ſie von Romanenſchreibern(a)Jeden wuͤrdigen Mann, der ſich von die - ſen Claſſen ſelbſt ausnimmt, rechne ich nicht hinein., Schauſpie - lern, Schauſpieldichtern, Modekraͤmern,O 3und214Dritter Abſchnitt.und von dem ganzen Kriegsheere der ſchluͤpfrigen Schriftſteller und Kuͤnſtler erfaͤhrt —
Eine Apologie der Vernunft ge - gen Sinnlichkeit, und gegen Weichlich - keit, Luxus und Wolluſt, ihre Kinder, und gegen alle, die dieſe auf den Altar ſtellen, und jene (die Vernunft) zum Fußſchemel der Leidenſchaft herunterwuͤr - digen —
Eine Apologie der Vernunft ge - gen die entnervende Erziehung, entner - vende Schriftſtellereyen, entnervende Ge - ſellſchaften, entnervende Lebensweſen ꝛc. ꝛc. wuͤnſchte ich zu leſen —
Aber von einem Manne, der das Men - ſchenherz, die Welt, ſich und die Tugend kennet, der Sache und Sprache in ſeiner Gewalt hat, der Sinn und Muth hat zu ſchreiben, was wahr iſt und nuͤtzt, nichtwas(b)Daß Wolluſt, Geitz, Stolz, Schwelgerey im ſtrengſten Sinne ſelbſtmoͤrderiſche Leiden - ſchaften ſind, hab ich oben ſchon gezeigt: itzt bemerke ich, daß jede Leidenſchaft Selbſtmoͤr - derinn werden kann. Ein Unterſchied bleibt215Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.was Geld und Beyfall bringt. Du Mann, unter welchem Himmelſtriche du immer lebſt, wenn dich dieſe Zeile weckte, wie wuͤrden dir nicht Unſchuld, Weisheit, Religion und das vor Selbſtmord geſicherte Menſchenleben danken!
Jede(b)indeß immer: Stolz, Wolluſt, Schwelgerey, Geiz erzeugen die meiſten Selbſtmorde, weil ſie unter den Leidenſchaften die lebhafteſten ſind, und das Zenith, wo ſie ſelbſtmorden, ſchneller als andere erreichen. Leidenſchaft, weß Ramens und Herkommens ſie immer iſt, kann auf einen Punct geſpannet werden, wo ſie den Menſchen zum Selbſtmoͤrder machen kann, und jede Leidenſchaft, die dieſen Punct bereits erreichet hat, war einmal unmerklich klein, und die Ueber - gaͤnge von dem Unmerklichkleinen bis zum Unermeßlichgroßen geſchehen allemal ſchneller als man glauben kann.
Aus216Dritter Abſchnitt.Aus dieſer dreyfachen Bemerkung ſoll ſich der Vernuͤnftige drey heilſame War - nungen herausfolgern:
Jede Leidenſchaft in ihren erſten Anfaͤn - gen, iſt ein ſchlafender Rieſe — hingeſtreckt ins weiche Gras. Wer es nun verſaͤumt, den Schlafenden in Bande zu legen, die er auch wachend nicht zerreiſſen mag: wo iſt der Held, der den Wachenden, den Fuͤrch - terlichkraͤftigen meiſtern kann?
Wem meine Proſa zu matt iſt, der leſe die freye Poeſie uͤber den
— * v. —
Praeſentem Diſſertationem, in qua à P. R. et Clariſſimo D. Michaele Sailer, SS. Theolog. Doctore, et in Univerſitate Dilingana Theologiae Paſtoralis, et Ethices Profeſſore Authochiria ſoli - dis Argumentis impugnatur, et contra eandem apta remedia ſuppeditantur, cum nihil contra catholicum dogma, et bonos mores contineat, typo digniſſimam cenſeo. Auguſtae Vindelico - rum, die 3 Julii, Anno 1785.
| Joannes Nepomu - cenus Auguſtus Ungelter de Deiſ - ſenhauſen, Epiſco - pus Pellenſis, Eccleſiae Cathedralis Auguſtanae ſummus Praepoſitus E - mimi. ac Sermi. D. D. Electoris ac Archiepiſ. Trevirenſis Conſiliarius intimus nec non Vicarius in Pontificalibus et Spiritualibus Generalis mpria. | Joſephus Ant. Stei - ner, SS. Theol. Doctor Eminentiſſ. ae Sereniſſ. Elect. Archiepiſ. Trevir. Epiſcopi Auguſtani Con - ſil. Eccleſ. Major Poeni - tent. Conſiſt. Aſſeſſor, Viſitator generalis, ad inſig. Colleg. S. Mauri - tii Canonicus, et libro - rum Cenſor. |
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