Jean Paul ſagt: „ Friede mit der Zeit! ſollte man oͤfter in ſich hineinrufen. Wie uns ein quaͤlender Tag nicht in den Hoffnungen un¬ ſers Lebens irret, ſo ſollte uns ein leidendes Jahrhundert nicht die entziehen, womit wir uns die weite Zukunft malen. “ Wenn nun aber die Zeit gar unfriedlich iſt, ſollte da nicht ein Blick in die Zukunft das bedraͤngte, oft zagende Herz troͤſten, beleben, erheitern? Und eine beſſere Zukunft naht ſo gewiß, als die Vergangenheit von der GegenwartII uͤbertroffen wird. Wenigſtens gilt die Be¬ hauptung, inſofern wir, von der immer mehr entwickelten Kultur, das Heil der Sterblichen erwarten. Was wir aber noch nicht ſehen koͤnnen, traͤumen, iſt ja wohl poetiſch und religioͤs. Und
Sind's gleich nur Welten aus Ideen, So baut man ſie ſo herrlich als man will.
Der Verfaſſer.
Das Titelkupfer ſtellt eine von Wallfiſchen ge¬ zogene Reiſeinſel dar, wovon Seite 294 die naͤ¬ here Beschreibung.
Bei der Vignette, eine Luftpoſt abbildend, waͤre ein Ball von groͤßerem Umfang zu wuͤn¬ ſchen. Jedoch tragen die Adler, uͤbrigens etwas zu groß, ein wenig mit.
Der Verfaſſer merkt an, daß, ob er ſchon die Adler waͤhlte, ihm deshalb Zambeccaris Theo¬ rie nicht unbekannt war. — Auch noch, wie ihm diejenige philoſophiſche Kompenſazion, nach welcher die Moͤglichkeit hoͤherer Wohlfahrt der Erdenſoͤhne, billig in Zweifel gezogen wird, ſo wenig fremd iſt, daß er ſich vielmehr ihr zuge¬ erklaͤrt.
Die Trennung.
Ich Ungluͤcklicher ſoll dich meiden, rief Guido wehmuͤthig.
Wozu die Klage, entgegnete Ini. Moͤgen dich ruͤſtige Adler zum Pol tragen, magſt du dich in die Tiefen des Ozeans ſenken, mein Bild bleibt dir nahe. Frei durchfliegt der Gedanke des Liebenden die Ferne, und die Region der Phantaſie iſt eine wirkliche. Auch waͤre daheim dein Ziel nicht zu umarmen. Das Anſchaun der Welt, die Uebung der Kraft in Thaten, muͤſſen jene Bildung der Schoͤnheit vollenden, deren Lohn meine Gegenliebe ſein wird. Darum ſcheide maͤnnlich!
Guido war ein Juͤngling von etwa zwanzig Jahren. Seine Herkunft blieb ihm noch immerA 24geheim. Die Sage machte ihn zum Fuͤndling, und als ſolchen, wollten die Geſetze, daß die Landespflege ihn erziehen ließ. Fruͤh hatte man ihn in das große Knabenhaus gebracht, das am Meerſtrande unweit Palermo angelegt war, und wo die ſinnigen Vorſteher, bis zum zwoͤlften Jahre, fuͤr die Entwicklung des Koͤrpers durch Laufen, Ringen, Schwimmen und fuͤr die Staͤr¬ kung des Denkvermoͤgens durch Gimnaſtik des Kalkuͤls Sorge trugen. In vergangenen Jahr¬ hunderten wuͤrde auch der tiefſinnigſte Geometer nicht geahnt haben, was im Felde der Rechnung junge Knaben hier ſchon vermogten. Allein es war uͤberhaupt ſo weit damit gekommen, (zudem die mechaniſchen und optiſchen Handwerke ſo leicht durch Maſchinen, ſo einfach durch neue Ent¬ deckungen, ſo allgemein bekannt durch Schulen), daß Hirten, welche die Sternkunde gleich ihren Altvaͤtern wieder trieben, ſich bei Tage Teleskope fertigten, zur Nacht den Himmel beobachteten, und die Finſterniſſe der vielen neugewahrten Pla¬ neten und ihrer Trabanten ausmittelten.
Von da ward Guido dem treuen Gelino uͤbergeben, deſſen Villa nicht weit von dem großen Luſtgarten, der den Aetna einſchließt, lag. Dieſer5 Mann hatte, ehe er ſich nach dem Wohnplatz der Ruhe zuruͤckgezogen, am Hofe zu Rom ein Amt bekleidet und umfaßte die Kunſt zarte Juͤnglinge auf die Bahnen der Tugend zu leiten, mit Liebe.
Der Kaiſer, gewohnt, wenn ihn nicht wich¬ tigere Dinge abhielten, den lieblichen Februar auf Sizilien zu verleben, hatte den jungen Guido geſehn — wie es ſchien — Behagen an dem Knaben gefunden und ihm Fuͤrſorge zugeſagt. Ehrender Antrieb fuͤr ihn.
Doch moͤchte es vielleicht nicht gelungen ſein, die mit Guidos flammender Lebenskraft verbundenen wilden Neigungen zeitig zu ent¬ waffnen, wenn nicht folgender Umſtand hin¬ zugetreten waͤre.
Neben Gelino wohnte ſeit einiger Zeit die edle Athania, Wittwe des afrikaniſchen Helden Medon. Sie hatte nach des Gatten Tode ihren Sitz auf dem lieblichen Eilande genommen und eine Pflegetochter mitgebracht, uͤber deren Ge¬ burt auch viele Dunkelheit lag.
Guido ſah das Maͤdchen in ſeinem ſiebzehn¬ ten Jahre. Ini zaͤhlte kaum vierzehn, doch6 prangte ihre Schoͤnheit in uͤppiger Fuͤlle, ihr Verſtand entzuͤckte.
Im ein und zwanzigſten Jahrhundert hatte man die Erziehungskunde einer Arithmetik un¬ terworfen, die ſchon lange genaue Anzeigen ergab und ſich immer mehr erweitete. Streben und Erfahrung hatten die Linie gefunden, bis an welche die Natur Freiheit zu reinen Ausbil¬ dungen der Formen bedingt, und wieder das Maas von Gegenwirkungen entdeckt, mit welchem ihr am gluͤcklichſten zu begegnen iſt. Da nun zugleich die Chemie der hoͤheren Arzneikunſt, diejenigen Krankheiten nach und nach in ihren Stoffen vertilgt hatte, welche ſonſt das Geſchlecht entſtellten, da die edlere Verfaſſung, jene Eigen¬ ſucht, mit ihren leidenſchaftlichen Ausgeburten, Neid, Haß, niedrige Sinnlichkeit, meiſtens ent¬ fernte, ſo konnte ſie auch nicht mehr, wie Ehedem Antlitz und Haltung verunbilden. So mußte von Geſchlecht zu Geſchlecht die menſchliche Schoͤn¬ heit ſich lieblicher entfalten, und jene har¬ moniſchen Geſtalten, welche einſt Bildner in Athen ausſannen, erblickte die Wirklichkeit da lange ſchon lebend, wo die Kultur waltete. Ja, jene Statuen wurden bereits auf eine nie zuvor geahnte7 Weiſe uͤbertroffen, denn eine ganz neue Ideen¬ maſſe hatten die Menſchen in ſich aufgenommen, welche der Schoͤnheit einen neuen irdiſch-goͤtt¬ lichen Ausdruck zulegte. Wie wuͤrden die Phidias und Raphael geſtaunt haben, waͤre ihnen ver¬ goͤnnt geweſen, aus dem Todtenlande wiederzu¬ kehren, und die Formen dieſes Zeitalters zu betrachten.
Die Schaͤdelkunde, am Ende des achtzehn¬ ten Jahrhunderts entdeckt, ſparſam im neun¬ zehnten vervollkommnet, doch im zwanzigſten und ein und zwanzigſten zur tiefen Wiſſenſchaft er¬ hoben, leiſtete auch zur allgemeinen Veredlung bedeutende Huͤlfe, wie wir in der Folge zeigen wollen.
Guido ſah die junge Ini kaum, als er ahnte, von den Strahlen dieſer Schoͤnheit werde ein neuer Fruͤhling in ſeinem Gemuͤthe aufbluͤhen. Suͤße Betaͤubung, ſchmachtende Unruhe, ſtellten ſich als Vorboten der Liebe ein, holde Traͤume umgaben ihn wachend.
Guido war im ſiebzehnten Jahre ſo ſtark und gewandt, daß er manches Raubthier mit unbewaffneten Haͤnden wuͤrde uͤberwunden haben. Er ſprang in die See, wenn ein Orkan ihre8 Wogen erhob, und kaͤmpfte dann laͤchelnd mit der empoͤrten Flut. Er konnte im Laufen das fliehende Reh ereilen und den Gemſen des Hoch¬ gebirgs nachklimmen. Dabei war er ein flei¬ ßiger Mathematiker, hatte eine Karte von dem Meergrunde zwiſchen Sizilien und Kalabrien ge¬ fertigt, die Beifall fand. Kriegeriſche Kuͤnſte beſchaͤftigten ſeine Einbildungskraft, und mit Chemie vertraut, gab er die Konſtrukzion einer dichten Gewitterwolke an, die ein kuͤnſtlicher Wind uͤber ein feindliches Heer treiben, wo ſie in ſo viel Blitzen niederwaͤrts ſich entladen ſollte, als das Heer Koͤpfe zaͤhle. Anmaaßend, wie es unerfahrner Jugend wohl eigen iſt, hatte er, ohne ſeines Lehrers Darumwiſſen, den Entwurf nach Rom geſandt und dem Strategion zur Pruͤfung uͤbergeben. Die Maͤnner aber, welche dieſen Rath bildeten, lachten allgemein, indem ſie einwandten, die Gegner duͤrften ſich ja nur ſaͤmtlich mit Ableitern verſehn und der Wolke ſpotten. Doch ſetzten ſie hinzu: der Juͤngling moͤge nicht ohne gute Anlage ſein, und ihm ge¬ buͤhre einige Aufmunterung.
Manches andere Wiſſen dagegen war unſerm Guido noch fremd. Beſonders konnte er ſich9 immer nicht an die Geſchichte ketten, weil ihm gar zu winzig und unbedeutend ſchien, was die vergangenen Jahrhunderte vollbracht hatten.
Nachdem er lange in ſich verſchloſſen geweſen war, eilte er an einem ſchoͤnen Sommerabend zu Ini. Sie hatte den kleinen Marmorſaal in ihrem Hauſe zum Aufenthalt waͤhrend der Tages¬ hitze beſtimmt. Hier ſtroͤmte ein Springbrunnen gelaͤutert Quellwaſſer, der andere gepreßten Oran¬ genſaft, der dritte Zuckereſſenz aus mancherlei Wurzeln des Gartens gezogen. Einen niedlichen Goldbecher mit Sorbeth, aus den Fluͤſſigkeiten gemengt, in der Hand, ſtieg nun Ini auf das platte Marmordach, wo aus Vaſen Blumen dufteten und ihr Webeſtuhl ſich befand. Sie malte fertig und bei der kunſtvollen Einrichtung des Stuhles ahmte ſie ihre Malereien in Seiden¬ arbeit nach. Wo blieben die Gobelintapeten, lange zuvor beruͤhmt, neben dieſen Geweben!
Guido kam ihr nach auf die Zinne. Maͤdchen, rief er, ſeit ich dich ſah, bin ich erkrankt und geneſen, die Luͤge wird mir Wahrheit, die Wahr¬ heit Luͤge, immer draͤngt es mich, dich zu ſehn wie das Sehenswerteſte, und ich fliehe dich wie das Furchtbarſte. Ich bin in des Aetna Tiefe10 geſtiegen, doch die Flammen deines Auges trag ich nicht. Deute mir das, hohe Schoͤnheit!
Das Maͤdchen zog dunkle Falten der Stirne, die aber ihr frohes Auge Luͤgen ſtrafte. Mit verſtelltem Unwillen entgegnete ſie: ich glaube, du willſt mir gar mit Liebe nahn!
Guido rief: ich bin mir keinen Willen be¬ wußt. Dem Zuge deiner Schoͤnheit folge ich unterwuͤrfig.
Ini ſann einen Augenblick mit hochgeroͤtheter Wange nach. Dann ſagte ſie laͤchelnd: den Worten ſoll ich Liebe glauben? Beweiſe ſie durch die That und ich will mich fragen, ob ich ſie hoͤren darf.
Entzuͤckt von dem holden Strahl einer aus weiten Fernen ſchimmernden Hoffnung, flehte Guido mit Ungeſtuͤm, ihm die That zu nennen, wodurch er ſeine Liebe zu bewaͤhren haͤtte?
Tritt naͤher, ſagte Ini, nimm Platz, dort auf den Seſſel von Elfenbein, daß ich dein Haupt von der Seite erblicke.
Guido gehorſamte ſtill.
Ini zog ein ander Seidenzeug auf ihren kunſtreichen Webeſtuhl, und in wenigen Minu¬ ten hatte ſie Guidos Abbild darin gewirkt. Hier,11 rief ſie, des ſichtbaren Guido Umriß, wie er zeugt von dem unſichtbaren, die Urkunde ſeines geheimen Lebens, der Tag ſeiner innen walten¬ den Nacht.
Guido blickte hin. Die hoͤchſte Wahrheit hatte die Bildnerin getroffen. O webe mir dein Bild, flehte er wehmuͤthig, mit Entzuͤcken will ich es von hinnen tragen.
Das ſteht weit hinaus, erwiederte ſie. Doch will ich nun ein zweites Gewebe fertigen.
Sie ging wieder an die Arbeit, waͤhrend der Juͤngling ſich mit trunknen Blicken an der hohen Geſtalt weidete, und bisweilen aͤrgerlich auf ſein Konterfei ſah. Denn es wollte ihm nicht gefallen, ob er ſchon nicht wußte, warum.
Nach einer Viertelſtunde hatte Ini geendet. Sie zeigte ihm ein neues Seitenbild, das Guido in den Zuſtand der hoͤchſten Verwunderung brachte. Er ſah ſeine Grundzuͤge wieder, aber in einer bezaubernd ſchoͤnen Idealitaͤt. Hoͤher ſtrebte des Schaͤdels Mitte empor, regelmaͤßig woͤlbte ſich das Hinterhaupt, weit drang die reine Wellen¬ linie der Stirn hervor, eine unbeſchreibliche Veredlung wohnte in dem ganzen Profil, liebliche Anmuth um den Mund, in dem klarer, tiefer,12 ſtrahlender gewordenen Auge, redete der volle, Ehrfurcht gebietende Ausdruck jugendlicher Weisheit, der in fruͤheren Zeiten nicht lebend anzutreffen war, den auch die Kuͤnſtler, welche einſt den Apollon vom Belvedere oder den An¬ tinous fertigten, noch nicht dargeſtellt hatten. Indeſſen konnte ihn die Entwicklung der Menſch¬ heit erſt ſpaͤt hervordringen.
Guido blickte bald verlegen auf das Kunſt¬ werk, bald auf die hochſinnige Meiſterin. Ich ſehe mich hier in ein Gedicht verklaͤrt, hub er an, was willſt du mir deuten?
Kein Gedicht, entgegnete das Maͤdchen, erreich¬ bare Wahrheit. Du haſt mir ſuͤßen Schmerz der Liebe geklagt. Geſtalte dich nach dieſem Bilde um, ich gebe dir zwei bis drei Jahre Zeit, haſt du dann dieſe Schoͤnheit dir anerzogen, ſoll meine Gegenliebe dein Lohn ſein.
Wie ſoll ich das anfangen! rief der Befrem¬ dete. Bin ich Herr uͤber meine Geſtalt?
Du biſt es.
Bin ich ein Schoͤpfer?
Wenn dein Lieben wahr iſt! Ich ſage dir nichts mehr. Dem Geiſt deiner Liebe haſt du das Geheimniß zu entwinden. Doch nicht allein13 ſollſt du umwandeln. Ich werde mir auch ein Ideal meiner Geſtalt entwerfen.
Eitles Muͤhn! wie koͤnnte deine Phantaſie einen ſchoͤneren Traum erſchaffen als die Wirk¬ lichkeit!
Schmeichelei, oder, wenn es dir ſo ſcheint, Unvollkommenheit in deinem Urtheil. Es wird ſich ſtaͤrken, dein Tadel erwachen, und das Streben, mich vor dem Tadel zu retten, mir wohlthun. Der Augenblick wo einem Maͤdchen zum Erſten¬ male Liebe bekannt wird, giebt neue Ausſichten in die Welt hoͤherer Anmuth. Nach einem Jahre ſollſt du mein Ideal ſehen. Ehe nicht. Bis dahin begnuͤge dich auch, an mich zu denken.
Wie, ich ſoll dich in dem langen Zeitraume nicht erblicken?
„ Die erſte Pruͤfung! Auch eine nothwendig ungeſtoͤrte Friſt! “
Unbegreifliche! — Und dennoch erwacht mir die Hoffnung, ich werde den hohen Sinn deiner Worte faßen lernen.
„ Frage den Geiſt der Liebe, ſein Orakel toͤnt in deiner Bruſt. Und nun nichts weiter. Lebe wohl! “
Ehrerbietig entfernte ſich Guido, irrte umher14 in den lieblichen Thalen, bis Nachtviolen die Orangenbluͤthe uͤberdufteten und der Vollmond¬ ſchein durch die Oelbaͤume und Mandelſtraͤuche des blumigen Huͤgels winkte.
Wie auch der Sturm heiliger Empfindungen in ihm wogte, immer ward die Frage laut.
Und der Liebe Geiſt antwortete ihm leiſe: So du der Seele Schoͤnheit pflegſt, wird ſie ſich in der Geſtalt verkuͤnden.
Guido kniete nieder vor der Gottheit in ſeiner eigenen Bruſt und flehte innig um Lehre.
Wer ſo innig fleht, wird erhoͤrt. Aus dun¬ keln Nachtgewoͤlken enthuͤllte ſich mit jedem Tage die Miſterie reiner, bis die Pfade ihm von tau¬ ſend Morgenſternen erhellt ſchienen.
Er machte ſich mit den Schriften neuer ge¬ ruͤhmter Weiſen bekannt. Im ein und zwanzigſten Jahrhundert gab es Wenige, die es zu dem Namen bringen konnten, denn die Weisheit galt keine Seltenheit mehr. Auch ſahe man nur wenige Buͤcher, in der allgemeinen Sprache von Europa, vor hundert Jahren eingefuͤhrt, als man hier endlich die Thorheit beſeitigte, ein und daſſelbe Ding auf ſo verſchiedene Arten zu nennen, und dem, der bedeutendes Wiſſen umfangen will,15 das halbe Leben im Studium der Mundarten abzufordern. Es gab dagegen unermeßliche Buͤcher¬ ſammlungen in den alten Sprachen, aber ſie galten meiſtens Denkmaͤler vorzeitlicher Irrthuͤmer. Die wenigen, welche in den Tagen hoͤher ge¬ diehener Bildung noch den Namen Weiſen er¬ rangen, waren Maͤnner, die mit ruͤſtiger Kraft, aus den Schaͤtzen der Vergangenheit, das Beſte, das Allgemeinguͤltige ſonderten, was ſich denn auf wenige Blaͤtter bringen ließ, nun aber auch die Mitwelt deſto leichter in Stand ſetzte, die Hoͤhe des vorhandenen Wiſſens ſchnell zu er¬ fliegen und mit ſtarken Schritten weiter zu dringen.
Auch die Geſchichte des Menſchengeſchlechts hatten tiefe Forſcher ſo bearbeitet, daß die Er¬ ſcheinungen ſich immer deutlicher in ihrem Ur¬ ſprung erklaͤrten und daß daraus, ſowohl die Kraͤfte als der Zweck des Lebens deutlicher wurden.
Guido erbeutete nach und nach reiche Sum¬ men von Wiſſen, eine ſchon durch die Mathe¬ mathik geſtaͤrkte Denkkraft, eine durch die Liebe entzuͤndete Phantaſie, nehmen leicht auf, bewahren dauernd und fuͤhlen mit jedem Tage mehr, wie des Genius Fittig ſich regt.
16Bei dieſem Geſchaͤft, das er mit heiligem Eifer trieb, kamen Empfindungen uͤber ihn, deren Hoheit und Wuͤrde er nie getraͤumt hatte. Stark fuͤhlte er alles Große, edle That ſprach ihn an, daß er lebhaft ſich in den Zuſtand deſſen denken mußte, der ſie verrichtet hatte, mit tief liebender Ehrfurcht fuͤllte ihn die Religion, er ſchwaͤrmte fuͤr alle Schoͤnheit der Natur, um ſo mehr, als er Inis Verwandtſchaft darin zu erkennen waͤhnte.
So floh denn das Jahr eilig dahin, und hatte ſich Guido ſchon bei ſeinem Anfang durch die Wunder der Liebe veraͤndert gefunden, ſo ſchien er ſich jetzt gar nicht mehr das Weſen von Ehedem zu ſein. Trat er ſeit einem halben Jahre an den Spiegel, meinte er auch ſchon, hie und da haͤtten ſich ſeine Formen umgewan¬ delt. Doch war er mit ſich ſelbſt nicht einig, ob er hier an Wahrheit oder Taͤuſchung glauben ſollte.
Das Jahr war endlich um, und er eilte mit hochklopfendem Buſen zu Ini. Wie geſpannt iſt das junge Herz, wenn es nach einer ſo langen Abweſenheit dem Gegenſtand heiliger Liebe wieder nahen darf.
Ini17Ini ſaß eben im Garten und ruͤhrte die Zephirharmonika. Es war dies ein Inſtrument, mit vielen langen Harfenſaiten beſpannt, die hoch in die Luft reichten. Zu jedem Ton ge¬ hoͤrten hundert gleich geſtimmte Saiten, hinter¬ einander an wiederhallende Laden gefuͤgt und vorne mit einer Blende verſehn. Unten befand ſich ein Taſtenwerk, wodurch jedesmal, nachdem man ſchwache oder ſtarke Toͤne hervorrufen wollte, die Blende, weniger oder mehr entfernt ward. Nun beruͤhrten die aufgefangenen Luftſtroͤme die Saiten und man vernahm jene reizende aͤtheriſche Schwingungen, welche fruͤherhin ſchon an den ſogenannten Aeolsharfen bezauberten, nur daß damals noch Niemand Herr der Melodien zu werden verſtand.
Guido trat in das Gartenthor, leicht aus Porphir gearbeitet, und nahm ſeinen Weg durch einen, von hohen bluͤhenden Roſenſtraͤuchen be¬ ſchatteten, Gang, an deſſen Ende die Zephirhar¬ monika auf einem frei emporragenden, nur mit niedrigen Lilien und Anemonen bepflanzten Huͤgel ſtand. Die Toͤne wehten ihm her durch die balſamhauchende Abendluft, ehe er noch das Inſtrument ſah. Er waͤhnte, ſie ſtiegen vonB18gluͤcklicheren Sternen nieder. Endlich erblickte er Ini. Das Piedeſtal des Inſtruments, etwa zwanzig Schuh hoch, war aus hell durchſichtigen Glasſaͤulen erbaut. Ein Maſchinenwerk hob auf den Sitz. Dieſer, wie auch die Laden und Blenden waren mit goldfarbigem duͤnnem Zeuge bedeckt und wolkenartig geſtaltet. Ueber ſie weg in gefaͤlliger Rundung woͤlbten ſich dieſe Zeuge. Die Saiten gewahrte das Auge in einiger Ent¬ fernung nicht, und ſo ſchien es, Ini ſchwebe ob dem Huͤgel auf einem Wolkenthron.
Eine Umgebung der Art muͤßte jede Schoͤn¬ heit erhoͤhen, um wie mehr wenn erquickende Blumenduͤfte, und zaubervolle Harmonien be¬ ſtachen, um wie mehr wenn die wirklich hohe Schoͤnheit mit dem Blick der Liebe angeſtaunt ward.
Guido erſchrack freudig, da er um die letzte Kruͤmmung des Roſenganges trat, und nun Ini erſah. Nieder mußte er anbetend ſinken. Ihre Geſtalt lag in ſo hoher Vollkommenheit in ſeiner Einbildung verwahrt, aber das erſte Anſchaun jetzt belehrte ihn von neuer Trefflichkeit.
Sie wandte bald das Auge nach ihm hin. Nicht konnte man dieſe Bewegung eben zufaͤllig19 nennen, wohl hatte ſie Tag und Stunde ge¬ merkt, da das Jahr umgelaufen waͤre, ſie hoffte jetzt den Juͤngling erſcheinen zu ſehn, und wenn ſie ihn gerade ſo empfing, ſind wir berechtigt, den Grund in ihrer Weiblichkeit aufzuſuchen.
Sie erroͤthete — da haͤtten Abendſonne und Roſen ſich beſchaͤmt abwenden moͤgen, ſie endete ihr Spiel, da konnte der Nachtigallenchor ſich freuen, weil er nun gehoͤrt zu werden hoffte.
Sie ſtieg herab, winkte freundlich dem Juͤng¬ ling aufzuſtehen. Laͤchelnd und geſammelter nahm ſie ſeine Hand und fuͤhrte ihn nach dem Zimmer im Wohnhauſe, das mit ihren maleriſchen Ge¬ weben umhaͤngt war. Hier befand ſich jenes Ideal von Guidos kuͤnftiger Schoͤnheit, das ſie gleich herbeilangte.
Du weckteſt ſchoͤne Kraͤfte in dir, hob ſie an, ihr Walten ſpricht in deinem Auge, ein reiner Sinn erzog dir dieſe Reinheit im Antlitz, edle Gefuͤhle, hohe Einbildung, angenehme Affekten trugen den Ausdruck dieſer Harmonie aus Linien, Farben, Zuͤgen zuſammen. Eile emſig weiter auf der hold betretenen Bahn, und das ſchoͤne Ziel wird dir nicht entfliehn.
Guido empfand ſelige Wonne. Als ſich ſeineB 220Gefuͤhle erſt in Worte zu kleiden vermogten, ſagte er Ini, wie auch ihre Schoͤnheit, ob er ſie ſchon auf den Gipfeln der Vollendung getraͤumt haͤtte, unendlich erhoͤht ſei.
Sie ward verlegen, laͤchelte und holte eine zweite Malerei, welche auch ihre Geſtalt in einem Ideale bildete. Guido wollte die neue Verſuͤndigung gegen ihre dermaligen Reize ſchelten, doch Staunen und[Bewunderung] ſchloſ¬ ſen ſeinen Mund. —
Von der Zeit an ſahen ſich die Liebenden oͤfter. Viel inniger noch wurden ihre gegen¬ ſeitigen Beziehungen und dennoch mehr Ver¬ ſtaͤndigkeit hineingelegt. Die Ruͤckwirkung war fuͤr jeden Theil ſegnend.
Gelino, der ſorgſame Lehrfreund, hatte ſchon im Laufe jenes Jahres manche Veraͤnderungen be¬ merkt, welche Guido in ſeinem Charakter zeigte. Der Uebergang war zu ploͤtzlich geweſen. Die Fortſchritte im Guten hatten zu ſchnell geeilt, als daß der lebenserfahrne Greis nicht richtig auf den Grund davon haͤtte ſchließen ſollen. Gleichwohl konnte er nichts weiter erſpaͤhn, da Guido in dieſem Zeitraume faſt ſeine Wohnung nicht mied.
21Auch Athania, die edle Erzieherin, war zu ſcharfſichtig, um nicht Ini bald aus ihren Um¬ geſtaltungen zu errathen, wenn ihr gleich der Juͤngling ihrer Liebe noch ein Geheimniß blieb.
Doch da die Liebenden ſich nachher oͤfter zu¬ ſammenſtahlen, konnten ſie der forſchenden Be¬ obachtung nicht entgehen. Beide Alten waren ſchnell mit ihrem Glauben aufs Reine und bei einer Zuſammenkunft entſtand folgendes Ge¬ ſpraͤch.
Gelino. Werthe Athania, mein Zoͤgling ſcheint Ini zu lieben.
Athania. Eben wollte ich dir meine Be¬ merkungen uͤber dieſen Gegenſtand vortragen.
Gelino. Ich gerathe in keine kleine Verle¬ genheit. Wohl hat dieſe Liebe, ohne Zweifel die erſte, und eben ſo gewiß auf eine wuͤrdige Art erwiedert, Veredlung im Gefolge, dennoch muß ich darauf ſinnen, wie ſie am bequemſten zu hindern ſei.
Athania. Harte Strenge gegen die jungen Seelen.
Gelino. Aber nothwendig. Der Kaiſer nimmt ſich meines Guido, den er hier kennen lernte, an, hat mir bei ſeiner letzten Gegenwart ver¬22 traut, wie er ihn zu hohen Staatsaͤmtern berufen wolle.
Athania. Und Ini ward mir von einer Afri¬ kanerin uͤbergeben, die ich nur verſchleiert ſah, die aber auf einen hohen Stand ſchließen ließ, und bis dahin die Tochter in einem Fuͤndlinghauſe hatte erziehen laſſen. Daß ſie ſich Inis Ehe zu beſtimmen vorbehalten bat, laͤßt ſich um ſo eher erwarten, als ich bald mit dem Maͤdchen nach Afrika beſchieden bin. Gleichwohl duͤrften wir mit all' unſerer Sorge nicht ſo viel an den Pflegbefohlnen erziehen wie die Liebe.
Gelino. Darin ſtimme ich vollkommen ein.
Athania. Geſtatten wir den jungen Leuten ſich zu lieben, den Fruͤhling ihrer Jahre entzuͤckt zu genießen. Doch werde ihnen auch gleich verkuͤndet, wie Beſitz nimmer das Ziel dieſer Liebe ſein koͤnne, wie ſie ſich an den Freuden des Augenblicks und an wechſelſeitiger Erziehung zu genuͤgen hat.
Gelino wandte noch manches ein, gab aber endlich nach, wobei denn noch beſchloſſen ward, die jungen Perſonen ſollten ſich immer in einiger Entfernung bewacht finden.
Athania ſprach mit Ini, welche erroͤthete,23 Bald ſammelte ſich aber das Maͤdchen und entgeg¬ nete, wie ſie ſich eine ſolche Ankuͤndigung gar wohl gefallen laſſen koͤnne, da zwiſchen Guido und ihr eigentlich ja nur das bildneriſche Pro¬ blem geloͤſet werden ſollte, die hoͤchſt moͤgliche Schoͤnheit zu erringen.
Athania war nicht wenig befremdet, als ihr dies naͤher erklaͤrt wurde, hoffte, daß dem feinen Sinn der ſo etwas zu erfinden vermoͤge, auch die Selbſtherrſchaft nicht abgehen werde, wenn die Trennung geboten ſei.
Gelino fand hoͤhere Beſtuͤrzung an dem Juͤng¬ ling, da ſich dieſer ſo unerwartet entdeckt ſah. Doch faßte er ſich auch und erklaͤrte: koͤnne er Ini nimmer beſitzen, ſolle doch das Geſchaͤft, ſich ihrer wuͤrdig zu machen, ſein Gluͤck heißen. Dies lobte ſein Fuͤhrer mit Waͤrme.
Die Liebenden eilten einander mitzutheilen, was Jedes von ihnen eben gehoͤrt hatte. Guido war in truͤben Kummer verſenkt. Ini zeigte eben nicht ihren gewohnten heitern Muth, doch ſagte ſie mit Feſtigkeit: Ich verhieß dir, wenn du mein Ideal erreicht haben wuͤrdeſt, dir mit Gegenliebe zu lohnen. Bis dahin erwarte nichts, dann alles, was das Schickſal auch einreden mag.
24Bald darauf kam ein Eilbote durch die Luft aus Afrika geflogen, und meldete, wie Inis Mutter ihre Tochter zu ſehen begehre. Er brachte zugleich ein bequemes Fahrzeug mit, das die Reiſenden nach jener Kuͤſte tragen ſollte.
Es war dies ein Haͤuschen von duͤnnem Schilf¬ rohr geflochten und mit Fenſtern aus einem ganz durchſichtig gemachten leichten Horne ver¬ ſehn. Zwei Kabinette, eine Kammer fuͤr die Dienerſchaft und eine Kuͤche, mit dem noͤthigen kleinen Magazin von Speiſen und Getraͤnken, waren im Innern abgetheilt. Koſtbare Teppiche ſchmuͤckten mit andern Geraͤthſchaften die Kabi¬ nette. Das Dach war platt, mit einem Gelaͤn¬ der und Sitzen umgeben, ſich dort bei angenehmer Witterung aufzuhalten. An dies Dach waren die ſeidenen Straͤnge befeſtigt, welche von der oben ſchwebenden Azotkugel niederhingen. Man wußte jetzt dae Azot viel leichter und einfacher zu bereiten als im Anfang der Luftſchifferei. Auch hatte lange ſchon die Verſuche, Adler zu zaͤhmen und an die Fahrzeuge zu ſpannen, Erfolg gekroͤnt. Man hielt auch viele Inſtitute zur Zucht und Einlehrung dieſer Thiere. Poſt¬ aͤmter befanden ſich in allen Richtungen von25 Grad zu Grad, und wenn Reiſende im Abſtand einer Meile, bei Tag mit einer lang flatternden Fahne, bei Nacht mit einem Raketenſchein ſich meldeten, trafen ſie alles bereit.
Das Fahrzeug, worin die Schoͤne nach Afrika eilen ſollte, war mit zwanzig ruͤſtigen Thieren beſpannt. Guido bat flehend um die Erlaubniß, ſie einen Grad begleiten zu duͤrfen. Athania und Gelino willigten ein. Er miethete alſo eine kleine offene Gondel, wie ſie zu Briefpoſten im Gebrauch war, die nur an einem kleinen Ball hing und von zwei Adlern fortgeſchaft werden konnte. Dieſe ward an das groͤßere Fahr¬ zeug befeſtigt und die beiden Adler einſtweilen vorne mitgebraucht.
Man ſtieg an einem herrlichen Morgen ein, und ließ das Fahrzeug ſich hoch erheben. Welche herrliche erquickende Empfindung, im reineren Aether oben, welch 'entzuͤckendes Schauſpiel, die Sonne, die dem Thale erſt im Purpurhauche am Oſt ſich verkuͤndet hatte, nun ſchnell am tiefen Erdrund zu gewahren, da der Flug ihr zuvor eilte. Die Reiſenden ſahen die klare Sonnenſcheibe des unbewoͤlkten Himmels, doch unter ihnen ſchwand noch alles in Dunkel, weil26 Siziliens hohe Fluren noch nicht erhellt wurden. Nur der Aetna, welcher eben Flammen auswarf, entdeckte ſich ihnen in feurigen Verſchlingungen. Bald aber trafen Foͤbos Strahlen die Hoͤhen des Eilandes, und kurze Zeit darnach lag es in ſeiner ganzen Geſtalt erkennbar unter ihnen, denn ſie ſchwebten hoch genug, Sizilien vom ſilberfarbnen Meere umguͤrtet, zu uͤberſehen. Palermo, Meſſina und Sirakus waren kaum als Punkte bemerklich, die Orangen - und Pinien¬ haine zogen ſich in blauen Streifen an den Ge¬ birgen hin, die Thaͤler waren in ein heitres Gelb verſchmolzen. Der Liebenden Buſen wallte hoch auf in dem frohen Anſchaun, und nur die nahe Trennung ſtoͤrte ihre erhabenen Geſpraͤche uͤber den erhabenen Gegenſtand.
Fuͤrchte nichts, ſagte Ini, ich komme gewiß nach Sizilien zuruͤck. Es wird meine erſte Bitte an die Mutter ſein, meine Erziehung hier zu vollenden. Ich ſchreibe dir, was ſie beſchließt, und du koͤmmſt mir dann wieder entgegen.
Die Reiſe ging ſchnell, da die Thiere munter die Fluͤgel regten und man ſich in einer ſtillen Luftregion befand, wo ſie keinem Widerſtand entgegen zu kaͤmpfen hatten. Nach einigen27 Stunden lag die Blaͤue des Meeres unter ihnen und eine gruͤne Linie an ſeinem mittaͤglichen Rande bezeichnete Afrika. Der Grad iſt bereits uͤberſchritten, ſagte Inis Erzieherin, es iſt Zeit, daß du an die Ruͤckkehr denkſt, Guido. Dieſem waren die Stunden wie Minuten entwichen, er flehte um eine Zugabe von Friſt. Man muß den Vertrag halten, antwortete Jene, auch merkte der Knabe, den Guido von der Luftpoſt zu Palermo mitgenommen hatte, an, die Adler duͤrften ermuͤden.
Guido ſtieg in den kleinen Kahn, vor welchen der Knabe die zwei Adler gelegt hatte, die nun ruͤckwaͤrts gelenkt wurden. Tauſend Lebe¬ wohl rief er Ini nach, die ihren thraͤnenden Blick zu ihm wandte. Bald ſah ſie von der kleinen Kugel nur einen hellen Punkt, den ſie ſo lange als moͤglich mit dem Sehrohre ver¬ folgte.
Guido war ſehr traurig als er wieder in ſeiner Wohnung anlangte. Nur die Hoffnung, bald einer Nachricht von Ini entgegen ſehen zu duͤrfen, richtete ſein Gemuͤth auf.
Man hatte um dieſe Zeit die Mittel, ſich aus der Ferne zu unterhalten, bedeutend vervielfacht. 28Telegraphen ſtanden durch ganz Europa, in allen Linien von namhaften Orten, aufgerichtet, und Jedermann konnte ſich ihrer gegen eine maͤßige Zahlung bedienen. Die vervollkommnete Akkuſtik diente hier aber mehr dem Gehoͤr, als fruͤherhin die wenig umfaſſenden Zeichen dem Auge. Es gab Sprachtrompeten, welche bei Tag und Nacht, und faſt bei jeder Witterung, auf eine Meile deutlich hoͤrbar toͤnten und durch welche man von Station zu Station melden ließ, was man wollte. Ueber Meere leiſteten dagegen die allge¬ mein gewordenen Taubenſendungen Huͤlfe. Ini hatte deshalb von dem Manne, der die Tauben¬ poſt zu Palermo hielt, ſechs dieſer gefiederten Boten mit ſich genommen, um ſie mit kleinen Briefchen am Halſe zuruͤckfliegen zu laſſen. In dieſem Orte waren deren ebenfalls aus Neu - Karthago, der jetzigen Hauptſtadt von Afrika vorhanden, deren ſich Guido bedienen konnte.
Jeden Tag eilte er zu dem Manne und blickte aus ſeinem Thuͤrmchen nach Suͤden. Manche Taube kam geflattert, eins oder mehrere Papiere am zarten Hals, doch lautete die Aufſchrift an andere Perſonen. Endlich nach einer Woche ſchwebte es weiß daher und die roͤthlichen Fuͤßchen29 einer niedlichen Turteltaube ſetzten ſich auf den Schlag nieder. Das zahme Thier ließ ſich willig ergreifen. An Guido, ſtand auf dem Briefchen. Hurtig ward es abgenommen und geoͤffnet.
Ini ſchrieb, wie ſie von ihrer Mutter mit froher Zaͤrtlichkeit aufgenommen ſei, und dieſe Mutter, die ganz ſtill auf einem Landhauſe bei Neu-Karthago lebe, auch ihre Liebe im reichen Maaße verdiene. Sie ſetzte hinzu wie ſie nicht begreife, daß dieſe Mutter, bei einem ſo warmen Herzen, ihre Erziehung der Fremden habe uͤber¬ tragen koͤnnen, und wie hier ein Grund vor¬ handen ſei, bedeutende Geheimniſſe zu ver¬ muthen, um deren Aufſchluß ſie vergebens gefleht habe. Noch folgten begeiſterte Schilde¬ rungen der vorzuͤglichen Eigenſchaften dieſer edlen Frau.
Guido, wie unendlich ihn der Empfang des Schreibens erfreute, ward tief beſtuͤrzt, daß darin von keiner Wiederkunft die Rede war. Er fuͤrchtete, Mutterliebe werde die Tochter nicht wieder ſcheiden laſſen, und Inis Herz — von dem er doch taͤglich mehr fuͤr ſich hoffte — von ihm wenden.
Nach einigen Tagen langte ein zweiter Brief30 an. Hier ſchrieb ihm Ini, ſie kaͤme nach Sizilien zuruͤck. Schwerer, als ſie es geglaubt haͤtte, wuͤrde die Bitte darum ihr geworden ſein, weil ſie die Mutter einen Mangel an Anhaͤnglichkeit haͤtte argwohnen laſſen koͤnnen, doch ſei dieſe ihren Wuͤnſchen mit der Erklaͤrung entgegen gekommen, Athania werde mit ihr auf unge¬ wiſſe Zeit den vorigen Aufenthalt nehmen. Ini klagte noch mit ſchmerzlichem Gefuͤhl uͤber die nahe Trennung von einer Mutter, die ſo gut und weiſe ſei. Sie ſetzte hinzu, daß ſie — ſonder¬ bar — der verſchleierten Mutter Antlitz nimmer ſchauen duͤrfe.
Guido war hoch entzuͤckt uͤber den einen Punkt, wenn ihn ſchon der andere nicht ganz ohne Unruhe ließ, denn die Liebenden wollen nichts als ſich geliebt wiſſen, ſogar eine Mutter nicht.
Nach einigen Tagen meldete ein Taͤubchen die Ruͤckkunft auf Morgen an. Wie flog Guido zur Adlerpoſt, die Kouriergondel zu dingen. Wie froh ſchwang er ſich zur Hoͤhe!
Man lenkte bei dieſen Luftfahrten nach Kar¬ ten und Kompaß, konnte alſo den Strich nicht verfehlen, um ſo mehr als beides in ſehr ver¬31 beſſerter Art vorhanden war. Denn man bil¬ dete die Karten in erhabener Arbeit, ſo daß ſie auf das Genaueſte die Berge, Staͤdte, Fel¬ der u. ſ. w. darſtellten. Alle Verhaͤltniſſe der Laͤnge, Breite, Hoͤhe waren richtig, wenn ſchon in bequemer Verkleinerung, und ſo, daß ſie dem gewoͤhnlichen Auge nicht erkennbar wurden. Dann bediente man ſich aber der jetzt ſo treflichen Mikroskope, unter welchen alles deutlich ward. Der Kompaß war mit Uhren, Zeitmeſſern und andern Vorrichtungen dergeſtalt verbunden, daß man, zumal auch die Laͤngenfindung entdeckt war, in jedem Augenblicke den Punkt angegeben hatte, in welchem man ſich befand. Es konnte mithin unſerm Guido nicht fehlen, ſeinem Maͤd¬ chen in der Luftregion zu begegnen.
Auch das Sehrohr entdeckte ſie ihm ſchon auf weiter als zwei Grad 'und er ward zu ſeinem hohen Vergnuͤgen bald inne, daß auch ihr ſchoͤnes Auge an dem nemlichen Inſtrumente lag, nach ihn auszuſehen. So laͤchelten und liebaͤugelten ſie einander ſchon zu, wenn gleich mehr als zwanzig Meilen entfernt. Bis auf einige Meilen genaht, leiſteten ihnen die akkuſti¬ ſchen Werkzeuge Huͤlfe, ſich zu begruͤßen und32 ſich ſuͤße Dinge zu ſagen. Herrliche Erfindungen fuͤr Liebende.
Endlich war das aͤtheriſche Haͤuschen erreicht, in welchem die gefeierte Schoͤnheit ſaß. Guido konnte die Zeit nicht erwarten, aus ſeiner Gon¬ del auf das Dach zu ſpringen. Er war zu eilig, verſah es, und — fiel.
In einer Hoͤhe von viertauſend Schuh fiel Guido nieder. Allein ſaͤmtliche Luftpaſſagiere waren gewohnt, eine Hauptbedeckung von einem duͤnnen Zeuge, mit kleinen Staͤben aufgeſteift, zu tragen, die ſich bei einem etwanigen Unfall, durch die natuͤrliche Wirkung der Luft, breit entwickelte. So erfolgte dann nichts weiter, als ein jaͤhes Niederſinken von etwa hundert Schuhen Tiefe, dann hing man geſichert am Fallſchirm und ſchwebte langſam der Erde zu. Der Poſtknabe flog mit ſeinen Adlern ſchnell niederwaͤrts, fiſchte den Juͤngling auf, brachte ihn wieder an Inis Fahrzeug, wo er diesmal vorſichtiger einſtieg, nur den Schaden hatte ausgelacht zu werden, und — was fuͤr den Lie¬ benden freilich wichtig genug iſt, eine Minute verloren zu haben.
Guido und Ini hatten einander unendlichviel33viel zu ſagen, wenn ſchon die Weisheit es un¬ endlich wenig genannt haben duͤrfte. Noch eifriger betrachteten ſie einander: Der ganze Prozeß der Beiden legte es, wie wir ſchon oft genug beruͤhrten, auf Verſchoͤnerung an. Ver¬ ſchoͤnt nun Liebe an ſich, iſt ſie die beſte Lehr¬ meiſterin in jeder Kunſt, fachen zugleich Tren¬ nung, Sehnſucht und Entzuͤcken beim Wieder¬ ſehn ſie um ſo hoͤher an, ſo konnte es nicht fehlen, daß dieſe wenigen Tage ſie ihren Zielen um etwas naͤher gefuͤhrt hatten.
Nicht lange darauf kam der Kaiſer nach Palermo. Er ließ ſich den Juͤngling vorſtellen und bezeugte ſeine Zufriedenheit mit dem vor¬ theilhaften Bericht, welchen ſein Erzieher uͤber ihn abſtattete. Dann gebot er dieſem, ſogleich eine Reiſe mit Guido anzutreten. Wenn dieſe vollendet waͤre, ſollten ſie nach Rom kommen, und wuͤrde dann der Juͤngling, bei einer neuen Pruͤfung, beſtehen, verhieß Jener, ſollte er zu einem wichtigen Staatsamte berufen werden.
So ſtanden alſo die Sachen. Morgen ſollte Guido ſcheiden. Ini empfahl ihm nichts waͤr¬ mer, als das Ideal nimmer zu vergeſſen, welches ſie ihm nun auch einhaͤndigte. Sind die dreiC34Jahre um, ſprach ſie, und wir haben Beide er¬ reicht, was wir wollten, dann liegt es ſchon in der ganzen Natur dieſer Schoͤnheit, daß wir uns beſitzen muͤſſen. Und nun ſcheide mit einem maͤnnlichen Lebewohl.
Daß es nicht ſehr maͤnnlich war, und die ermannende Rathgeberin ſelbſt im Geheim der Faſſung entrathete, iſt zu vermuthen. Bei dem Allen ließ die hohe Wehmuth des Abſchiedes auf lange Dauer wieder einen neuen Zug von Schoͤn¬ heit zuruͤck.
Guido ſollte nicht immer durch die Hoͤhen rei¬ ſen, weil ihm die Tiefe dann nicht kund geworden waͤre. Ein ſegelfertig Schiff im Hafen ward beſtiegen, das den Lehrer und Zoͤgling nach der jetzigen Oſtmark des Staates von Europa tra¬ gen ſollte.
Die Kunſt zu ſchiffen hatte bedeutend ge¬ wonnen. Unendlich geringer war die Gefahr dabei. Strand, Klippen, Meergrund hatte die viel erweitete Geographie treflich bezeichnet, der gute Pilot wußte den Strich, kannte die Tiefen ſeines Fahrwaſſers genau. Naͤchtliches Dunkel bereitete kein Hinderniß, weil man die Fahrzeuge mit Reverberen umhing, die im Um¬35 kreis einer Viertelmeile faſt Tageshelle verbrei¬ teten. Der Kampf mit Stuͤrmen brachte Niemand mehr in Verlegenheit. Denn es gab Ankertaue aus feinen Metalldraͤthen, welche große Halt¬ barkeit mit geringem Umfang verbanden, und befeſtigte dadurch das Schiff, mogte die See noch ſo empoͤrt wogen. Bei Windſtillen, die fruͤherhin den Seefahrer in zeitraubende Unthaͤ¬ tigkeit verſetzten, halfen neuerfundene Ruder¬ werke, durch einen einfach kunſtvollen Mecha¬ nismus in Bewegung gebracht. Man baute auch weit groͤßere Schiffe, was um ſo eher an¬ ging, als die Haͤfen uͤberall zu ihrer Aufnahme geeignet waren, und benutzte den Raum darin geſchickt. Es war endlich ein Lack erfunden wor¬ den, der allen Eindrang von Waſſer hemmte, daher die Waaren in den Kellern ganz trocken lagen und zugleich in ſehr großer Menge, denn rohe Erzeugniſſe zu verfahren, ſchaͤmte ſich der meiſten Nationen Kunſtfleiß, und die verarbei¬ teten nahmen weniger Platz ein. Der obere Theil der Schiffe war gemeinhin ſehr vortheil¬ haft abgetheilt. Die Seeleute hatten Verfeine¬ rung genug angenommen, um ſich nicht auf einſeitige Beſchraͤnkungen zu verſtehn, und derC 236Lebensgenuß war Jedermann zu wichtig, als daß er irgendwo verbannt geweſen waͤre. Deshalb fand man hier einen Konzertſaal, der auch zum Theater umgeſchaffen werden konnte, ein Leſe¬ zimmer, deſſen Wandſchraͤnke mit Buͤchern, Kar¬ ten und Inſtrumenten zum Behuf der Seefahrt und Naturkunde gefuͤllt waren. Eine breite Gal¬ lerie umlief das Schiff, beſetzt mit Fruchtbaͤumen und Blumen in Toͤpfen. Hier luſtwandelte man, ohne durch das Arbeitgetoͤſe auf dem Verdeck ge¬ ſtoͤrt zu werden.
37Die Reiſe.
Gelino bemuͤhte ſich waͤhrend dieſer Meerfahrt den Zoͤgling in mancherlei ihm noch unbekannten Dingen zu unterrichten. Das Vergnuͤgen der Bequemlichkeiten mancher Art, die Zerſtreuungen durch Muſik und Buͤhne, wurden ihm ſparſam zu¬ gemeſſen; er mußte dagegen haͤufig im Kriſtall¬ thurm weilen, und die Natur unter der Wogen¬ flaͤche beobachten.
Mit dieſem Thurme hatte es folgende Be¬ wandniß.
Er war nur ſo groß, daß etwa drei oder vier Perſonen, ein ſcheidekuͤnſtleriſcher Apparat und mancherlei Beobachtungsinſtrumente darin Raum fanden. Von ſtarken Bohlen viereckig gebaut, mit Seitenfenſtern von ſehr dickem aber voll¬38 kommen durchſichtigem Kriſtall. Der Boden uͤberaus feſt, um bei einem Stoße an Klippen nicht in Truͤmmern zu fallen. Die Decke an einen dicken, hohlen Metalltau gebunden, der ins Innre lief. Zudem vollkommen gegen den Eindrang der Fluthen geſichert.
Dieſer Thurm ward nun ins Meer gelaſſen, indem er in der Gegend des Steuerruders be¬ feſtigt blieb. Durch ſeine Schwere ging er unter. Die Hohlung des Taues ſetzte die un¬ ten befindlichen Perſonen in den Stand, mittelſt eines Sprachrohrs verlangen zu koͤnnen, ob ſie tiefer hinab geſenkt, oder hoͤher hinauf gezogen ſein wollten. Die Chemie hatte lange ſchon die Mittel entdeckt, eine verſchloſſene Luft durch Reinigen und Erzeugen von Sauerſtoff athembar zu erhalten. War das Meer nun nicht in zu lebhafter Bewegung, ſo konnte man durch die Fenſter alles weit um ſich entdecken, ja man bediente ſich einer Art Lampen vor Hohlſpiegeln, um die Tiefe noͤthigenfalls noch mehr zu er¬ hellen.
Welche Entdeckungen hatte die Naturkunde ſeit dieſer Erfindung gemacht! Die Welt im39 Ozean, von der Ehedem ſo wenig bekannt war, lag nun dem Auge des Forſchers offen da.
Furchtbar ſchien es dem Neuling, im tiefen Gebiet der Nereiden und Tritonen zu hauſen, auch nahten manche ſchlimme Gefahren. Die Meerungeheuer, ergrimmt uͤber den ſeltſamen Beſuch, wuͤtheten bisweilen gegen des Thurmes Fenſter und ſuchten ſie zu zerſtoͤren. Allein es mangelte auch nicht an Vorkehrungen. Stacheln an den Ecken empfingen ſie unfreundlich, ſo daß ſie ſich bald auf die Flucht begaben. Auch gab es Fallen mit einem kuͤnſtlichen Mechanismus, die hie und da einen Seeloͤwen, einen Haifiſch, einen Delphin und andere erſt ſeit dieſer Er¬ findung bekannt gewordene Thiere umklammerten, die denn als eine Beute fuͤr die Schiffskuͤche oder fuͤr eine Sammlung von Seltenheiten mit empor gebracht wurden. Bisweilen fanden ſich aber zu große Thiere ein, und wenn der Thurm nicht eilig genug zur Hoͤhe gewunden ward, ging er mit ſeinen Bewohnern verloren.
Neue Steinarten auf dem Meergrunde, Foſſi¬ lien, andere Gattungen von Perlen und Koral¬ len waren eben ſowohl in großer Menge entdeckt worden, als man die Ichtiologie bereichert hatte.
40Hier blieb Guido halbe Tage lang, uͤbte den kaltbluͤtigen Sinn in Lebensgefahr und aͤrntete merkwuͤrdige Kenntniſſe. Von dem was er ſah und lernte, hielt er ein Tagebuch, brachte das Vorzuͤglichere davon in einen Auszug und ſandte ihn durch mitgenommene Tauben an Ini.
Man gelangte in den Archipelagus. Die meiſten Eilande wurden beſucht. Sie waren jetzt zum Theil von Hirten bewohnt, die ein dem alten arkadiſchen aͤhnliches Leben fuͤhrten, denn Unſchuld und fromme Sitte hatte man einhei¬ miſch gemacht; zum Theil aber ſahe der Rei¬ ſende vortreffliche Anſtalten zur Bildung von Seeleuten und zum Schiffbau, wozu die Lage einlud.
Guido geſellte ſich bisweilen zu den Juͤng¬ lingen und Maͤdchen unter den Hirten. Jene trugen gemeinhin an einem Bande ein Sehrohr auf dem Ruͤcken weil ſie in klaren Naͤchten die Beſchaͤftigung ihrer Urvaͤter trieben und die Sternkunde bereicherten. Daneben fertigten ſie eine liebliche Art Floͤten und begleiteten den Geſang froher Maͤdchen, deren Hand zugleich ungemein wohltoͤnende Citharen ruͤhrte. Wie weit auch dieſe Muſik der Zephirharmonika nach¬41 ſtand, mit welcher Ini ihn bezaubert hatte, fuͤhlte Guido dennoch die Ruͤhrung einfacher und tief empfundener Melodien. Natur und harmloſe Lebensſitte hatten auch dieſe Menſchen ſo poetiſch gemacht, daß auf Verlangen oder aus eignem Drang, Hirten und Hirtinnen Lied und Harmonien auf der Stelle erfanden und vor¬ trugen, was die Hoͤrer in die Zeiten der Amphion und Homer verſetzte. Guido entwarf davon eine anziehende Schilderung und ſandte ſie Ini.
Das Verlangen Athen bald zu ſehen, reg¬ te ſich nun lebhafter, denn zu viel hatte ihm Gelino davon geſagt. Es wurde auch in kurzem geſtillt, man erblickte das alte Vorland Sunium, die Berggipfel Parnes und Brileſſus, und lag bald darauf im Hafen Piraͤus vor Anker
Gelino unterrichtete ihn im Voraus uͤber die Erſcheinungen, welche ihn auf dieſem merk¬ wuͤrdigen Erdfleck belehren ſollten.
Im achtzehnten Jahrhundert, hub er an, ereignete ſich in der Provinz Frankreich jene be¬ kannte Staatsveraͤnderung, welche das Schick¬ ſal beſtimmt hatte, nach und nach allen Reichen am Erdboden eine neue Geſtalt zu geben. Nach langen blutigen Kriegen, die bis tief ins neun¬42 zehnte Jahrhundert gefuͤhrt wurden, kam der groͤßte Theil von Europa unter eine Obergewalt, welche aber die Unterregierung mehrerer Koͤnige feſtſtellte. Man nannte dies Reich, das erneute roͤmiſch-abendlaͤndiſche und Rom wurde, wie es jetzt noch iſt, der Wohnſitz des Kaiſers. Der ſchwerſte Kampf war gegen die Albionen, damals in Schiffahrt und Seekrieg beruͤhmt, welche un¬ geheure, wenn gleich meiſtens eingebildete, Reich¬ thuͤmer gehaͤuft und den gigantiſchen Entwurf gemacht hatten, die Handlung des ganzen Erd¬ balls an ſich zu bringen. Doch nach einer ge¬ lungenen Landung flohen die Vornehmen mit ihren klingenden Schaͤtzen nach dem Indien am Ganges, und Calcutta ward die Hauptſtadt ihres neuen Reichs. Das Volk blieb verarmt zuruͤck und mußte unter fremder Regierung ſei¬ nem Kunſtfleiß eine andere Richtung geben.
Doch bildete ſich neben dem abendlaͤndiſchen Kaiſerthume auch ein neues morgenlaͤndiſches. Einen Caͤſar an der Spitze, der ſich den griechiſchen nannte, drangen die Voͤlker des Nordens hervor, mit eiſernen Armen, in alt ſcithiſcher wilder Kraft und dennoch mit den Kuͤnſten der vorhan¬ denen Kultur vertraut. Den Boden des ehema¬43 ligen Griechenlands hatten damals die Otto¬ mannen inne, ein kraͤftig Volk, voll Religion und warmer Phantaſie, doch weit zuruͤckgeblieben in den Wiſſenſchaften. Sie mußten bald aus Europa weichen, wo ihr Sultan, durch mehrere Jahrhunderte, auf Conſtantins Thron geſeſſen hatte. Allein ihr reizend Gebiet in Europa ward der Zankapfel zwiſchen den beiden Gro߬ monarchien. Neu-Griechen und Neu-Roͤmer machten ihre Anſpruͤche darauf mit dem Schwerdte guͤltig. Eine verheerende Fehde folgte der an¬ dern, die Menſchheit blutete. Man ſah in den lachenden Gegenden nur Ruinen, entvoͤlkerte Wohnplaͤtze, verwuͤſtete Auen. Umſonſt mahnte Philoſophie der blutenden Menſchheit zu ſchonen. Zu gewaltig fuͤhlten ſich die Streitkraͤfte, zu ent¬ flammt waren die ehrgeizigen Gemuͤther, ſtolzer gemacht durch bedeutende Erfolge und immer weiter ſtrebend in ungemeſſenen Entwuͤrfen.
Zuletzt veranſtalteten beide Kaiſer eine Unter¬ redung zu Conſtantinopel. Mein muß Europa gehoͤren, ſagte der Occidentale, die Natur ſeiner Graͤnzen weiſt mich darauf an, ich ende den Kampf darum nicht und ſollte das lebende Ge¬ ſchlecht darin untergehn. Doch nimm dir vom44 alten Morgenland Roms, das herrliche Klein - Aſien, Sirien, dringe zum Euphrat vor, ja bemaͤchtige dich aller Lande, denen einſt Cirus gebot. Ich will dir in deinen Eroberungen treulich beiſtehn. Schon iſt dein Aſien dem um¬ fange nach, groͤßer als mein Gebiet, wie viel reichere fruchtbarere Provinzen kannſt du ihm noch zugeſellen.
Die Kuͤhnheit des Plans gefiel dem Monar¬ chen aus dem Hauſe Romanow. Da kamen von den Stroͤmen Obi, Lena, Jeniſei, von den Seen Aral, Telegul, Baikal, von den Altaniſchen und Sajaniſchen Gebirgen ſtreitbare Krieger. Turalinzen, Kirgiſen, Teleuten, Abinzen, Tſchu¬ limiſche und Werchotomekiſche Tatarn ſtroͤmten uͤber den Kaukaſus, Huͤlfsvoͤlker aus den ſtolzen Spaniern, den ehrgeizigen Franken, den markig¬ ten Germanen, den feurigen Polen, den ſchlauen Italiern und andern Nationen zuſammen ge¬ bracht, drangen uͤber die Meerenge Conſtan¬ tinopel vor oder landeten an den Kuͤſten von Sirien.
Tapfer vertheidigten ſich die Anhaͤnger der Religion Muhameds. Doch Uneinigkeit theilte ihre Kraft, ſie waren der uͤberlegenen Kunſt45 nicht gewachſen. Zwar koſtete es Jahre, muͤhe¬ voller Anſtrengung und das Leben von Hundert¬ tauſenden, endlich aber wurden bis zu Meſopo¬ tamien hin alle alt-tuͤrkiſchen Beſitzungen uͤber¬ ſchwemmt. Der Schach von Perſien kam den Glaubensverwandten zu Huͤlfe, ward ſo in die Kriege verflochten und erlag am Ende des neun¬ zehnten Jahrhunderts auch.
Nun ward Ispahan des neuen ungeheuren Staates Mittelpunkt. Man bemuͤhte ſich mit Weisheit die Voͤlker zu gewinnen, indem ihnen nach und nach die Wohlthaten der Kultur ein¬ leuchtend gemacht, und die verſchiedenen Reli¬ gionen in einen, von Wahn gereinigten, und durch allgemeine Moral veredelten, Kultus vereint wurden.
Bald aber ſahe man ſich genoͤthigt neue Kriege im Oſt zu beginnen. Die Albionen in Indien waren maͤchtig geworden. Sie trieben nicht nur in allen Gewaͤſſern zwiſchen Madagas¬ kar und Japan ihr altes Spiel, ſondern hatten auch zu Lande ihre Herrſchaft bis uͤber Tibet hinaus verbreitet, befehdeten den Khan von Sina, und gaben den Neu-Perſern (ſo nannten ſich jetzt die vormaligen Moskowier) zu vielen46 Klagen Anlaß. Die Waffen mußten entſcheiden, ein hartnaͤckiger Kampf durch mehrere Jahr¬ zehende folgte. Doch ein Monarch, Cirus Ale¬ xander genannt, drang zuletzt an den Ganges vor, nahm Calcutta ein und die Albionen ſahen ſich abermal gezwungen ihr Reich uͤbers Meer zu verlegen. Sie waͤhlten Neu-Holland, da Cirus Alexander ihnen auch die Inſelgruppe von Borneo wegnahm. Doch jenes große Eiland, das nunmehr den Namen Suͤd-Brittania em¬ pfing, ſammt vielen andern und manchen neu entdeckten am Pol, bildet jetzt ihr ſtattlich Reich und die kunſtfleißige und uͤppige. Hauptſtadt Botani-Bai iſt zu der Bevoͤlkerung einer Million herangewachſen. Zu Calcutta, das ſie eilig raͤumen mußten, fand man eine Abtei voll Grabmaͤhler und Denkbilder großer Seehelden und Gelehrten. Denn dies Volk war von uralten Zeiten her ungemein dankbar gegen Verdienſte um das Vaterland, und darum iſt es ihm auch wohl ge¬ lungen mit anfaͤnglich geringen Huͤlfsmitteln bewundernswerthe Dinge zu vollziehn.
Nachdem das Neu-Perſiſche Reich geſtiftet und befeſtigt war, genoß das abendlaͤndiſche Kaiſerthum einer langen gluͤckſeligen Ruhe. Der47 Kaiſer Marcus Aurelius II. berief zu Anfang des zwanzigſten Jahrhunderts die Fuͤrſten und Weiſen aus allen Landen, um eine Verfaſſung zu gruͤn¬ den, wie das Beduͤrfniß der vorgeruͤckten Zeiten ſie verlangte.
Hier wurde nun vorerſt angetragen, den Namen abendlaͤndiſches Kaiſerthum aufzugeben. Was duͤrfen wir Rom nachahmen? fragte man. Unſer Reich iſt an Umfang, Reichthum und Ge¬ walt, bei weitem groͤßer als das Reich der Qui¬ riten in ſeiner uͤppigſten Bluͤthe. Haben wir allenfalls in Aſien maͤchtigere Feinde zu fuͤrchten als ſie, ſo fehlt es uns nicht an Bundgenoſſen, mit denen vereint wir ihnen kraͤftigen Wider¬ ſtand leiſten koͤnnen. Da auch die reinſte Ge¬ meinſache der Zweck dieſes großen Landtags iſt, ſo heiße das Reich kuͤnftig die Republik Europa.
Aurelius, weit entfernt, ſeine Rechte gekraͤnkt zu finden, ſahe hier nur ſeine Wuͤnſche ausge¬ ſprochen.
Nur Gleichheit, ſagte der weiſe Gekroͤnte, iſt Verfaſſung des Rechts. Wenn Spaltung des Willens Ehedem die Republiken erſchuͤtterte, und ſie zuletzt in Herrſchaft der Willkuͤhr untergehen ließ, ſo kam das daher, weil die Volksvernunft48 noch nicht hinlaͤnglich gereift war, das Gute klar einzuſehn. Man nannte die Tugend Stuͤtze der Gemeinſache, Ehre die des Alleinregiments. Thoͤrigter Irrwahn beide Begriffe zu ſcheiden. Heil der Zeit, welche endlich einſah, Ehre koͤnne allein der Tugend Preis werden und Tugend ſei durchaus nichts anderes als Huldigung der Vernunft.
Dann bedingt aber die Verfaſſung, durch ſich ſelbſt, Volkswillen und Alleinherrſchaft ſo verbun¬ den, daß der Mann auf der Spitze, jenen nach¬ druͤcklich ausſpricht, und, wie er ihn von unten herauf vernahm, ihn von oben hinunter in Er¬ fuͤllung gehen laͤßt.
Es gab Zeiten wo die Fuͤrſten ſich freuten, blindgehorſamen, vernunftarmen Sklaven zu ge¬ bieten. Jetzt, dem Himmel ſei Dank, finden wir nur Ehre darin, freien, edlen, verſtaͤndigen Buͤr¬ gern vorzuſtehn. — So ſprach dieſer Monarch.
Du wirſt auf deiner weitern Reiſe Gelegen¬ heit finden, die Einrichtungen zu ſehn, welche nun in der monarchiſchen Republik gegruͤndet wurden, indem man unablaͤßig ſtrebte, Tugend und Ehre zu gatten, und zugleich die Volksin¬ telligenz und die Fuͤrſtenintelligenz erzog. VielHohes,49Großes, Kraͤftiges, Entzuͤckendes iſt daraus her¬ vorgegangen, wenn gleich freilich immer noch ein Grundſatz fuͤr die Tugend der Buͤrger mangelt, der ihre Tugend gewiß, aͤcht und als ſolche er¬ kennbar macht. Ihn zu ſuchen iſt das hohe Geſchaͤft der Zeit, wiewohl man noch nicht gluͤcklich darin war.
Vor der Hand merke aber ſo viel von jenen Anordnungen:
Alle Voͤlker von Europa ſollten zur Sitten¬ einheit erzogen werden.
Man fuͤhrte darum Ueberall daſſelbe Maaß in Schwere und Umfang, daſſelbe Tauſchmittel, dieſelben Satzungen des Rechtes, ein.
Die allgemeine Sprache durch ganz Europa folgte.
Die Voͤlker hatten ihre beſonderen Fuͤrſten, da Eine Obergewalt unmoͤglich das weite Ganze im Einzelnen uͤberblicken konnte. Dieſen Fuͤr¬ ſten blieb die Wuͤrdeerblichkeit zugeſtanden, um den Uebeln der Ehrſucht, Liſt, Beſtechung aus¬ zuweichen, doch haftete ſie nicht an dem erſtge¬ borenen, ſondern an dem edelſten Sohn. Hier¬ uͤber mußte das große Rechtstribunal ſchlichten, welchem der Kaiſer vorſaß und wo auch alleD50Streitigkeiten der Fuͤrſten gehoben wurden, wo¬ durch, wie das Staatswohl auch von ſelbſt ver¬ langte, ein immerwaͤhrender Friede in Europa beſtand, ein wichtiger Triumph der Zeit, wo¬ gegen die Vorwelt, in den Reichen, die jetzt nur, trotz ihren erblichen Gebieern, als Provinzen be¬ trachtet werden, traurige innere Kriege ſah. So hatte unter andern einſt Deutſchland einen Foͤde¬ ralismus geſtiftet, wo aber demungeachtet ſich ein Fuͤrſt gegen den andern der Waffen bediente. Doch, damit die Erben von Thronen, ſich ihres erhabenen Berufs wuͤrdig machten, mußten die Vaͤter, des Gemeinwohls halber, das frohe haͤus¬ liche Verhaͤltniß aufgeben, ſie um ſich zu ſehn. Zeitig wurden die Soͤhne fernen Erziehungsan¬ ſtalten uͤbergeben, wo ſie, unerkannt und unter andern Pfleglingen, nach den Grundſaͤtzen gebil¬ det wurden, die die Weisheit fuͤr die beſſeren erkannte, und welche ſie immerfort veredelten. Dann bekleideten ſie Aemter mannichfacher Art und wurden in Lagen gebracht, wo ihre ſchon entwickelten Talente ſich noch mehr kraͤftigten. Endlich, maͤnnlich gereift, an Leib und Geiſt prangend ausgeſtattet, erfuhren ſie ihre hohe Beſtimmung und traten ſie, von Schmeichelei und51 Luͤſten unverdorben, an. Dieſer Gebrauch ging in der Folge ſogar auf die Fuͤrſtentoͤchter uͤber, und keineswegs duͤrfen die Kinder der Kaiſer da¬ von ausgenommen ſein.
Was fuͤr die Religion, den Landbau, die Wiſſenſchaften, Kuͤnſte, Handwerke, die Ausrot¬ tung der Armuth, von Oben geſchah, daß ſie Un¬ ten deſto freier gedeihen konnten, wird ſich dir an ſeinem Orte verkuͤnden.
Ungeachtet der beſchloßenen und nach und nach durchgefuͤhrten Identitaͤt der Europaͤer, glaubte man dennoch, dieſer oder jene Landſtrich koͤnne durch ſeine Natur, und allenfalls durch gewiſſe Uebertragungen vom Alterthum, ſollte es auch nur das begeiſternde Andenken ſein, ſich fuͤr gewiſſe Beſchaͤftigungen vorzuͤglich eignen. So wurde den bildenden Kuͤnſten, deren ſchoͤnen, ſittlichen Einfluß man nicht verkannte, das alte Griechenland zum Wirkungskreis angewieſen, und dabei, auf allgemeine Koſten, der lieblich phan¬ taſtiſche Plan ausgefuͤhrt, Athen wieder aufzu¬ bauen. Du wirſt dieſe Stadt nun ſehen und zwar moͤglichſt genau nachgeahmt, ſo weit nur die Alterthumskunde dazu Huͤlfsmittel anbot. Du wirſt dich in die Zeiten des Perikles zuruͤckD 252waͤhnen, in ſeine Mauern tretend. Keiner von den Tempeln, keins der ehmaligen oͤffentlichen Gebaͤude mangelt. Bildhauer und Maler trei¬ ben vorzuͤglich ihre Kunſt, und wenn der Haupt¬ anreiz vor Zeiten in dem großen vortheilhaften Abſatz der Statuen und Gemaͤlde beſtand, welche der alte Politheismus aus der halben bekannten Welt in Attika kaufte, hat auch der neuere Kul¬ tus dieſen Anreiz wiederholt, indem es ein Ge¬ genſtand des Stolzes geworden iſt, ſimboliſche Darſtellungen aus Athen zu beſitzen, deren wohl viele ſchon in Palermo oder Meſſina dir zu Geſicht kamen. Ohne dieſen beguͤnſtigenden Umſtand wuͤrden Athens neuere Bildner ſchwerlich die Phidias und Apelles zuruͤck gelaſſen haben, wie es wirklich geſchehen iſt. Mitbewerbung iſt je¬ doch, wie ſich von ſelbſt verſteht, hiedurch nicht aufgehoben, bei der allgemeinen Freiheit in Eu¬ ropa mag die Kuͤnſte uͤben wer da will, und wo er will, auch wetteifern die Maler in Italien ſehr gluͤcklich mit denen am Iliſſus, doch die Fertigkeit in Stein zu geſtalten, drang hier am weiteſten, wie uͤberhaupt auch die Vorkunde (Theorie) des Schoͤnen, in Athen am meiſten einheimiſch iſt.
53Bei den Worten Vorkunde des Schoͤnen ergluͤhte der Zoͤgling und dachte an Ini, die ſinnige Malerin. Es ſoll mich wundern, ſagte er zu ſich, ob die Bildner zu Athen meine holde Geliebte an Zartheit und Imaginazion uͤbertreffen werden.
Man zog nun in die Stadt ein. Guidos Herz wallte hoch auf, bei den ruͤhrenden Erinne¬ rungen an das edle Alterthum, ſo lebendig durch die Nachahmung verſinnlicht. Vor allen Haͤuſern ſtanden Hermen, deren Vollkommenheit Staunen erregte, das einfache und doch mit großem Eindruck erfuͤllende Ebenmaaß der heiter-majeſtaͤtiſchen Tempel, legte entzuͤckende Bewundrung auf.
Gelino beſuchte mit ſeinem jungen Freund die Werkſtatt des geruͤhmteſten Meiſters unter den Bildhauern. Der Mann faßte den Juͤng¬ ling feſt ins Auge, und ſchien befremdet. Dann zeigte er willig ſeine reichen Vorraͤthe, zu wel¬ chen die meiſten Kuͤnſtler von Belang ihre Ar¬ beiten geliefert hatten, die nun in den weitlaͤuf¬ tigen Saͤaͤlen dieſer Werkſtatt und unter vor¬ theilhafter Beleuchtung, dem Auge der Fremden ausgeſtellt ſein ſollten.
Was als Kunſtvorwurf gelten konnte, wurde54 in Athen auch kuͤnſtleriſch behandelt und man band ſich durch keine Vorliebe. Aus der alten Griechenmithologie ſah man nicht nur trefflich ge¬ lungene Nachbildungen jenes Apollon, jener Ve¬ nus, jener Niobe und anderer Statuen, die ſich einſt gluͤcklich durch die Jahrhunderte der Bar¬ barei retteten und in ſpaͤteren das Morgenroth des Schoͤnen wieder aufgehen ließen, ſondern man hatte auch die naͤmlichen Ideen auf andere Weiſe bearbeitet und der Vorſprung des Genius ward daran ſichtbar. Foͤbos hatte weit mehr Goͤttlichkeit, die Goͤttin von Paphos mehr weib¬ liche Anmuth, wenn fruͤhere Zeiten dies ſchon un¬ begreiflich fanden.
Auch aus der alten nordiſchen Goͤtterlehre waͤhlten die Kuͤnſtler Stoffe. Odin, Wodan, die Valkiren, waren in trefflichen ſinnlichen Ver¬ herrlichungen aufgeſtellt, eben ſo Brama, Oſir und was ſonſt dazu ſich eignete.
Fuͤr Saͤaͤle und Gaͤrten der Großen in Europa fand ſich immer Nachfrage, auch hatte jede namhafte Sadt einen Park, zur Ergehung der Bewohner, angelegt, den der Kunſtſinn gern ſchmuͤckte, uͤberzeugt, dies wirke lebendig auf den Flug der Gemuͤther ein, und die ſo55 vervollkommnete Leichtigkeit der Fortſchaffung maͤßigte die Koſten.
Der regſamſte Kunſteifer ward aber durch die Landesreligion unterhalten. Ein Sinod von Wei¬ ſen hatte fruͤherhin fuͤnfzigjaͤhrige Sitzungen ge¬ halten uͤber dieſen hoͤchſt wichtigen Gegenſtand, etwas Allgemeinguͤltiges, Dauerndes feſtzuſtellen. Tauſend Vorſchlaͤge hatte man gepruͤft und ver¬ worfen, bis eine anſehnliche Mehrheit ſich fuͤr die folgenden entſchied.
Die chriſtliche Moral, ſagte der Sinod, iſt die erhabenſte, noch nicht uͤbertroffene Legislatur der Rechtsgefuͤhle, doch die chriſtliche Glaubens¬ lehre kann nur einem finſtern Zeitalter anpaſſen. Wenn jene, ihrem Geiſte nach, und auf die ehrwuͤrdige Urreinheit zuruͤckgefuͤhrt, nach Jahr¬ tauſenden ſegnend auftreten kann, ſo iſt dieſe, nach den ungemeſſenern Begriffen vom Welt¬ gebaͤude, welche ein aufgehelltes Geſchlecht er¬ rang, nicht laͤnger brauchbar, wenn die Ver¬ nunft nicht mit ſich ſelbſt im Widerſpruche le¬ ben will.
Was iſt hier aber zu thun? Ein Abſtrakt bindet, uralten Erfahrungen zufolge, die Herzen zu wenig, was durch die Phantaſie zur Ver¬56 nunft dringt, nimmt nicht nur die Schwaͤche, auch der kraͤftige Sinn freundlicher auf, vorzuͤg¬ lich wenn es in das Leben der Handlung uͤber¬ gehn ſoll.
Verbannen wir daher vom Denken alles Bildliche, doch zum thaͤtigen Wirken moͤgen immer Dichtung und Kuͤnſte uns lieblich be¬ geiſtern.
Der moſaiſch-chriſtliche Theismus ſei und bleibe die Grundlage unſerer neuen, und den¬ noch aus dem tiefen Alterthume empfangenen Religion. Wir glauben an eine Gottheit, un¬ begreiflich den Formen, in welchen uns dermalen unſere Natur zu erkennen geſtattet. Außer dem Raume, außer der Zeit, unendlich, ewig, all¬ maͤchtig bezeichnen wir dieſe Gottheit, nichts Hoͤheres wiſſen wir zu nennen, wenn wir uns auch in tiefer Anbetung beſcheiden, was wir nennen nicht zu verſtehn, und ein eitles Stre¬ ben, das unſere Kraͤfte uͤberſteigt, ſein Weſen naͤher zu faſſen, aufgeben.
Keine Ehrengebaͤude dieſer erhabenen Vermu¬ thung! Unwuͤrdig ſtellt ſie die Materie dar. Koͤnn¬ ten hoͤhere Weſen ihm Tempel weihn aus Erdſter¬ nen, Altaͤre darin aus Feuerſternen, es prieſe57 ihren Urheber nicht. Nur Einigemal im Jahre mag ſich die dankbare Andacht unter dem himm¬ liſchen Gewoͤlbe verſammeln, und ſich ſelbſt hei¬ ligen, in heiliger Empfindung. Wenn der Ball ſich wieder zu den Sonnenflammen dreht, ihren befruchtenden Segen zu trinken, wenn wir aͤrn¬ teten, was die innere Goͤtterkraft der Auen naͤhrend geſtaltete, dann wimmle die Menge in Eintracht hinaus und huldige.
Doch da die ewige Gottheit, nicht wohnend im Raum, nicht ſchwimmend im Strome der Zeiten, unſerm jetzt auf dieſen Erdſtern ange¬ wieſenen Geiſte, nur im Simbol ſich offenbart, ſo iſt es hehr und wuͤrdig, zu ehren, was wir irrdiſch-goͤttlich nennen, und ſich, ſo weit der Staub vermag, bildete nach dem Ideal des Allgoͤttlichen, wie es im Buſen der edleren Menſchheit geahnet wird.
Laßt uns preiſen, was ſchon das tiefe Alter¬ thum pries, ſchon ſo viele Millionen der Ge¬ ſtorbenen zur Tugend erwaͤrmte, uns im Abbild erkennbare Muſter des Hohen giebt, es einen mit den Satzungen unſers Buͤrgervertrags. Laßt uns Staͤtten des innigen Andenkens erbauen,58 die uns ruͤhrender mahnen und zur Nacheife¬ rung weihen.
Moſes, der hohe Urprieſter der einigen Got¬ teslehre, der weiſe Erfinder heiliger Geſetze, der kraͤftige Held, iſt werth unſerer Ehre. Sei er uns Heros des Rechtes, des Kampfes, wo uns geboten wird, gegen innere feindliche Leiden¬ ſchaft, oder aͤußere Krieger die Waffen der Ver¬ nunft oder des Armes zu erheben. In ſeinen Tempeln werde das Recht gelehrt, geſprochen, in ſeinen Tempeln entflamme ſich der Muth, wenn des Vaterlandes Vertheidigung uns zum Schwerte ruft.
Jahrtauſende nannten den Juͤngling in Palaͤ¬ ſtina goͤttlich, der in wenige Worte die Lehre der reinſten Menſchlichkeit zuſammen draͤngte. Er ſei uns der Heros des Bruderſinns. Er liebte die Kinder, die Erziehung ſei ihm geweiht. Ehren wir ſein Andenken, indem wir ſtreben, von ſeinem Geiſte durchdrungen zu werden. Vor ſeinen Altaͤren hoͤre die bruͤderliche Ver¬ ſammlung, Moral der Gemeinſchaft, und der Weiſen Unterricht, kluͤglich die Keime im jungen Herzen zu pflegen. Hier werden die Juͤnglinge,59 das aufbluͤhende Maͤdchen oftmal gepruͤft, in ihren Fortſchritten zur Veredlung.
Schoͤner zarter Mithos deiner himmliſchen Liebe, o Maria, dir gebuͤhrt eine Staͤtte in unſrer Religioſitaͤt! Das Weib fuͤhle ſich er¬ hoben, eine Heilige ihres Geſchlechts in Tempeln gefeiert zu ſehn. Mag der poetiſche Flug in Marmor und Farben, mag er im Gebiet holder Dichtung wetteifern, einem gebildeten Volke ſchoͤne Bildungen der hohen Maria zu geben. Ihr bringe die Liebe Anbetung, und erhebe ſich begeiſterter zum Himmliſchen, ſie ſei die idea¬ liſche Koͤnigin aller Schoͤnheit und die Kuͤnſte machen ſich ihr werther, in dem lieblichen Wahn, von ihrer Glorie umſtrahlt zu ſein. Die Ehe knuͤpfte ihre innigen Bande, Maria vor deinen blumengekraͤnzten Altaͤren.
Des ernſten Moſes Prieſterthum verwalten ergraute, ruhmgenannte Helden, untadelhafte Volksrichter und Fuͤrſten, deren weiſe gepflogenes Amt die allgemeine Liebe lohnte. Des ſanften Chriſtus Tempeldienſt ſollen die edelſten Jugend¬ lehrer verwalten, wenn ſie dem Gemeinweſen eine bedeutende Zahl trefflich gedeihender Zoͤg¬ linge gaben. Kuͤnſtler, die verklaͤrenden Genius60 in ihren Werken offenbarten, uͤben den Kultus der ſchoͤnen Heroin Maria, Choͤre von un¬ ſtraͤflichen Jungfrauen im Gefolge.
So geben wir dem Irrdiſchen hoͤheren Adel, indem es mit den Ahnungstraͤumen goͤttlicher Natur verwandter gemacht wird.
Dieſe Religion, anfaͤnglich mit vielem Wider¬ ſpruch der lebenden Generation bekaͤmpft, wurde bei den folgenden allgemein, und gab den Kuͤn¬ ſten reiche Vorwuͤrfe. Man ſah den Heros des Rechtes und der Waffen, vielfach geſtalten. Die Idee deſſelben ward von dem ſtrebenden Kunſt¬ ſinn immer herrlicher empfangen, und jene Kraft¬ ſumme, lange in dem Standbilde des Herkules der Farneſe bewundert, blieb bald gegen den vollendeteren, zugleich geiſtvoller ausgepraͤgten Moſes einer geiſtvolleren Zeit, zuruͤck. Neben einer Anmuth und einem Einklang der Ver¬ haͤltniſſe, wie ſie viele Jahrhunderte an jenem Apollon ruͤhmten, hatte die reifere Kunſt den Chriſtusdarſtellungen eine unbeſchreibliche Hoheit und Milde, uͤber das goͤttliche Antlitz gegoſſen, ſo daß nicht nur der unterrichtete Kennerſinn, ſondern jeder im Volke, von dem Geſammtaus¬ druck auf das Innigſte ergriffen, geruͤhrt wurde,61 und der Begriff vollkommene Menſchlich¬ keit nach Maasgabe ſeiner geringeren oder vol¬ lendeteren Bildung, ſchwaͤcher oder erhabener vor ſeiner inneren Seele ſchwebte. Nichts uͤbertraf aber die Geſtaltungen der Maria. Hier hatte ſich die reinſte Poeſie der Kunſt entfaltet. Vor den ſchoͤnſten dieſer Statuen, gingen die lieblichen Maͤdchen von Athen ſelten weg, ohne einen neuen Zug eigner Schoͤnheit mitzunehmen.
Wie ſtannte aber der ſchoͤnheitſinnige Guido, von dieſer Kunſtſammlung umgeben! Er ſchoͤpfte in der gefuͤhlten Begeiſterung frohen neuen Un¬ terricht uͤber das Ebenmaaß der Formen, und lernte Inis Gebote klarer verſtehn. Hoch mußte er jedoch bewundern, daß ſeine Geliebte, die ſich nimmer in Athen befunden, ſondern ihr Studium vor den Kunſtwerken in Sizilien geuͤbt hatte, zu einer Idee gelangt war, welche dennoch naͤher an die Vollkommenheit zu reichen ſchien, als alles, was er hier erblickte.
Der geprieſene Meiſter trat wieder zu ihm heran. Juͤngling, nahm er das Wort, von wannen du auch ſeiſt, du ſtammſt aus einem Ge¬ ſchlechte, das durch eine lange Reihe von Glie¬ dern, hoher Entwicklung entgegen ſtrebte.
62Guido ward verlegen, da ihm nichts uͤber ſeine Herkunft bekannt war.
Der Bildner fuhr fort: Edler Einklang ſpricht aus deiner Geſtalt, die Kunſt wuͤrde nichts zuzugeben vermoͤgen, wenn ſie dich in Marmor darſtellte, nur am Haupte, an der Stirn, an Mund und Wange, bleiben einige Umriſſe, einige Linien zu wuͤnſchen uͤbrig.
Guido erroͤthete, gab aber doch mit unbe¬ fangenem Selbſtgefuͤhl die Antwort: Ich zaͤhle noch nicht zwanzig Jahre, meine Entwicklung iſt unvollendet. Wer weiß —
Dann bat er den Kuͤnſtler, ſein Profil ſo zu zeichnen, wie es die Forderung der hoͤheren Wiſſenſchaft verlange.
Es geſchah. Neugierig geſpannt blickte Guido hin. Es duͤnkte ihm jedoch, der Mann ſtaͤnde in ſeinem Entwurf gegen Ini unvollkommen da. So uͤberfliegt denn der Liebe Genius weit die Lehren der Kunſterfahrung, ſagte er ſich mit geheimen Entzuͤcken.
Waͤhrend dieſer Unterhaltung bemerkte er, daß viele Schuͤler umher ſaßen, die ihn zeich¬ neten, und geſchmeichelt, weilte er laͤnger. Bei dem allen pflanzte ſich Eitelkeit nicht in ſeine63 Bruſt, dagegen hatte ihn Inis Reinheit ver¬ wahrt.
Man begab ſich nun in die Kunſtſtaͤtte des beruͤhmteſten unter den Malern, ſo reich an Schildereien als jene in Werken aus Marmor, Pophir und Elfenbein. Voll hingen alle Waͤnde, und die lebendigen, farbigen Geſtalten, zogen des Juͤnglings Blicke noch mehr an. Gefaͤllig erklaͤrte ihm der Vorſteher Bedeutung und Werth. Die Malerei, hub er an, ſtieg vor mehr als einem halben Jahrtauſend auf eine bedeutende Hoͤhe, von welcher ſie aber ſpaͤterhin, aus man¬ nichfachen Urſachen, wieder herabſank. Im ſieb¬ zehnten, achzehnten, neunzehnten Jahrhundert gab es durchaus weder einen Raphael, noch Ru¬ bens, noch Titian. Doch wenn die Ausfuͤhrung krankte, rettete ſich das Urtheil durch die un¬ fruchtbare Zeit, und bereitete vollkommenere Schoͤpfungen vor. Ein tiefdenkender Kunſtrich¬ ter zu Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts, maaß das Verdienſt der ruhmvollen Maler, nach einer hoͤchſt ſinnig entworfenen Tabelle ab, wo Zeich¬ nung, Zuſammenſtellung, Farbe und Ausdruck, unter gewiße Staffeln gebracht waren. Zwanzig Grade enthielt die Tabelle, den achzehnten nahm64 ſie bereits erreicht an, den neunzehnten noch nicht, den zwanzigſten unerreichbar. Sie er¬ kannte Raphael den Preis in Zeichnung und Ausdruck zu, wenn dagegen Titian im Kolorit ihn bei weiten uͤbertraf, Rubens im Ausdruck mit ihm wetteiferte, und ihn in der Zuſammen¬ ſtellung zuruͤckließ. Es mußte nun nothwendig der Wunſch nach einem Gemaͤlde entſtehen, in welchem die richtige Hand, die bluͤhende Einbil¬ dung eines Raphael, mit der hohen Kraͤftigkeit eines Rubens, und der ſorgſamen lieblichen Ausfuͤhrung eines Titian gegattet waren. Lange jedoch ward er umſonſt gefuͤhlt. Erſt im zwan¬ zigſten Jahrhundert, nachdem die Kuͤnſte unter der Aegide eines langen Friedens ungeſtoͤrter auf¬ bluͤhen konnten, und eine kluge Regierung dem Volke von Europa Reichthum genug erzogen hatte, ſie freundlich zu naͤhren, ließ ſich erſt die Vor¬ zeit wieder erreichen. Nun eilten die Fortſchritte gluͤcklich. Die vervollkommnete Lehrmethode ſtaͤrkte fruͤh der Zoͤglinge Faſſungskraft, die mechaniſche Fertigkeit konnte zeitiger errungen werden, die Scheidekunſt erfand eine bei weitem vortheil¬ haftere Bereitung der Farben. Um die Mitte dieſes Jahrhunderts vereinten die beſſeren Malerſchon65ſchon jene ſonſt getrennten Vorzuͤge, gegen das Ende drang bereits einer bis zu dem von Piles geahnten aber nie geſehenen Grad empor. Jetzt darf kein Kuͤnſtler ein Werk in dieſe Ausſtellung bringen, in welches er nicht richtigere Zeichnung, vollendeteren Ausdruck wie Raphael, mehr Poeſie der Verbindung wie Rubens, mehr Farbenideali¬ taͤt wie Titian gebracht haͤtte. Siehe fuͤhlender Fremdling, hier Werke der Art.
Er fuͤhrte ihn nun zu einem großen Gemaͤlde, das, nach der altnordiſchen Mithologie, die An¬ kunft eines Helden in Odins Walhalla vor¬ ſtellte. Guido ward betroffen ob all der Wonne die in dieſem Anblick uͤber ihn kam. Entzuͤckend war die Dichterphantaſie, welche hier den Pinſel geleitet hatte, einen Aufenthalt belohnter Seli¬ gen, den Sinnen erkennbar zu machen. Ein lieb¬ licheres Azur, wie unter Siziliens ſanftem Him¬ mel woͤlbte ſich uͤber Gefilde von unſaͤglich ruͤh¬ render Pracht. Blumen, Raſen, Baͤume, waren zwar aus der uns bekannten Natur genommen, aber in ſich ſo verſchoͤnt, ſo reitzend znſammen¬ geſtellt, daß das Auge an die Natur einer an¬ dern Welt glaubte. Man ſah die oſtindiſche Oelpalme, den antilliſchen Kampah-Baum, dieE66peruaniſche Balſamſtaude, Cipreſſen, Granaten, Lorbeeren, Platanen, aber die Maſſen in welche ſie gefuͤgt waren, machten einen unweit anmu¬ thigeren Eindruck, als er in irgend einer wirk¬ lichen Gegend empfunden wird. In den man¬ nichfachen Blumen lebte eine Wahrheit, daß man an ihren Duft in ſuͤßer Taͤuſchung glaubte, und zum Triumph des Urhebers, viele ſtreitend be¬ haupteten, der Maler habe ſie mit den Eſſenzen ih¬ rer Geruͤche verſehen, ſo wie andere die Hand in die beruͤckende Tiefe des Gemaͤldes ausdehnen wollten, und ſie beſchaͤmt von der Leinwand wegzogen. Was aber dem Ganzen am meiſten das Fremdartige, uͤberſinnlich, ſelig Erſcheinende gab, war die zarterfundene Beleuchtung. Eine tief am Horizont ſchwebende Sonne ſandte ihr Licht ſparſam durch dunkel gedraͤngte Waldung an einer Seite. Ihre Scheibe zeigte aber kein hellleuchtend Goldfeuer, ſondern eine weiße ſanft¬ ſtrahlende Diamantenglut. Hiedurch wurden alle Tinten veraͤndert und nahmen einen aͤtheriſchen Charakter an, der mit ſuͤßem Rauſch erfuͤllte, und die Abſcheidung von Schmerz und Erdenwahn freudigahnend empfinden ließ. Auch auf die menſchlichen Geſtalten wirkte das Zauberlicht ſo67 wunderbar, daß ſie bei der uns verwandten Natur ihrer Formen, geiſtiges Leben zu athmen ſchienen. Den eben angelangten Helden, in Kraft und Stattlichkeit, den vollen Ausdruck ed¬ ler Seelenhoheit im Antlitz, verklaͤrte die ſtau¬ nende uͤberraſchende Wonne der ihn rings um¬ fangenden Glorie. Die Jungfrauen von Wall¬ halla nahten ihm in der lieblichſten Anmuth, der holdeſten Freundlichkeit, brachten ihm den Trank der Unſterblichen und kroͤnten ſein Haupt mit ewig bluͤhenden Roſen. Ihre heiligen Reitze geboten zugleich Liebe und ſchalten das Gefuͤhl Verwegenheit. Die erhabenen Zuͤge forderten knieende Anbetung, die kindliche Unſchuld un¬ terſagte ihnen goͤttlich zu huldigen.
So war dies Gemaͤlde angethan, von dem Guido ſich nicht abzuwenden vermochte. Erſt nach manchen Erinnerungen ging er weiter und trug die Totalidee eines Helden in ſeiner Seele davon, der ſich glorreich uͤber alle Schrecken der Gefahr erhoben und eines unſterblichen Lohnes werth gemacht hat.
Ihm wurde nun ein Chriſtus gezeigt, der Iairus Tochter erweckt. Des Heilands Geſicht zeigte keine Spur von allem was an Leiden¬E 268ſchaft erinnert, das reine menſchliche Gepraͤge ſtand da, doch von erhabner Liebe und feſtem Goͤtterwillen unausſprechlich heilig beſeelt. Das: „ Stehe auf! “gebot ſein hohes Auge mit ruhiger Majeſtaͤt, mild laͤchelte die maͤnnliche durch An¬ muth bewegende Wange. Der Uebergang vom Tod ins Leben war an dem Maͤdchen mit be¬ zaubernder Kunſt ausgefuͤhrt. Ein leichter Ro¬ ſenhauch goß ſich uͤber das noch ſtarre Antlitz. Der Augenaufſchlag war frommer Lichtgruß, kindlicher Engelſinn. Die kaum wieder regen Haͤnde ſtrebten, ſich zum Gebet zu erheben. Ihr Vater, ihr Geliebter, ſanken neben dem Sarge aufs Knie. Die ganze ſiegende Haltung des Gemaͤldes zwang jeden Zuſchauer, der fuͤhlenden Sinn mitbrachte, die Anbetung in der nehmli¬ chen Lage zu theilen. So geboten hier die Ma¬ ler dem Herzen. Guido nahm von dieſer Staf¬ felei einen noch weit erhabneren Begriff von Tu¬ gend mit ſich, als er bisher in ihm gelegen hatte.
Noch viele andere meiſterhafte Werke wurden ihm gezeigt, von denen er ſchwelgende Erinne¬ rungen bewahrte. Er ſchrieb durch ein Taͤub¬ chen an Ini von ſeinem Entzuͤcken, ſetzte aber69 hinzu: Du biſt dennoch ſchoͤner als jedes Maria¬ bild, jede Muſe oder Valkire, die ich ſah.
Gelino zeigte ihm nun das Parthenon, ge¬ nau dem alten nachgeahmt, deſſen Saͤulengaͤnge einſt ſo große Summen gekoſtet hatten. Phi¬ dias alte Meiſterſtatue der Minerva aus Elfen¬ bein, ward durch eine Heilandsmutter in gedie¬ genem Golde vertreten, der dieſer Tempel nun geheiligt war.
Gelino, indem er ihm dieſe und andere Merk¬ wuͤrdigkeiten zeigte, hub an: Du ſiehſt Athen der Welt in ſeinen Schoͤnheiten wiedergegeben, doch die Sklavenhorden von Ehedem, das wilde, mit den Archonten kaͤmpfende, den Pnix mit Geſchrei und Streit erfuͤllende Volk der Vorzeit nicht. Dieſe Erſcheinungen dulden unſere beſſeren Tage nimmer. Wir koͤnnten noch das Odeon beſuchen, wo die Meiſter der Tonkunde wetteifern, die Buͤh¬ nen, wo man Sophokles, Euripides und Ariſto¬ phanes Schoͤpfungen darſtellen ſieht, doch in die¬ ſen Vorwuͤrfen wird Athen anderweitig uͤber¬ troffen, und die Reiſe eilt. Wir wollen jetzt nach der Graͤnzfeſtung des Staats, lerne dort, wie man maͤchtig der Feinde Angriffe wehrt. 70Nicht immer kannſt du bei den lieblichen Kuͤn¬ ſten weilen.
Dieſe Graͤnzfeſtung war jetzt die Citadelle bei Konſtantinopel. Die ehemalige Bevoͤlkerung der Stadt hatte durch den politiſchen Wechſel um mehr als die Haͤlfte abgenommen, und die Lage daneben, eignete ſich zu ihrer gegenwaͤrtigen Be¬ ſtimmung. Lange zwar hatte Europa keinen Krieg mit dem Morgenlande gefuͤhrt, aber die Neu-Perſer geboten ungeheurer Macht, und die Vorſicht empfahl, nicht unbereitet zu ſein.
Doch uͤber der Meerenge winkte auch eine Feſte von aͤhnlichem Umfang, und beim Aus¬ bruch eines Krieges ließ ſich vorausſehen, daß ſie einander wechſelſeitig beſchießen wuͤrden; denn der Abſtand der Citadelle von Konſtantino¬ pel bis Neu-Troja, ſo nannte man jenen Ort, wurde von der nunmehrigen Artillerie bequem abgereicht.
Schon lange hatte man dem Schießpulver neue Beſtandtheile gegeben. Seine Wirkung ging nicht mehr von der Elaſtizitaͤt des ſich ent¬ bindenden Stickſtoff - und Kohlenſtoff-ſauren Ga¬ ſes allein aus, man mengte dem Salpeter noch Ammoniakgas und Knallſilber bei, deren unzet¬71 tigem und zu leichtem Entbinden eine chemiſche Gegenkraft abhalf. Furchtbar traf dieſes Pul¬ vers zerſtoͤrende Gewalt.
Die Metallroͤhre ſchoſſen Kugeln von funfzig bis zu dreihundert Pfunden auf zwei oder drei Meilen, die Moͤrſer warfen noch weiter, und ſchwerere Laſten. Da aber der Erdkruͤmmung halber die Flaͤche kaum eine Meile ſichtbar iſt, ſo mußten die Stuͤcke auf hohe Berge geſchafft werden, wenn ſie in weiter Entfernung ihr be¬ ſtimmtes Ziel treffen ſollten. Ein gutes Sehrohr war dann an den Viſirpunkt befeſtigt, und bei der ſcharfen Genauigkeit der Drehewerke, womit ſich die Richtung vollzog, konnte man das Ziel nur ſelten verfehlen. Die Bomben, von ungeheu¬ rem Umfang, trugen deren andere in ſich, die aberma! mit kleineren gefuͤllt waren, welche zuletzt unvertilgbar Feuer in ſich trugen. Der Artilleriſt wußte die Bahn, welche ſie zu durch¬ fliegen hatten, dem Raume und der Zeit nach, auf die Sekunde zu berechnen, beſonders da auch ein Windmeſſer ihn von dem Widerſtande, mit welchem die Luft ihm entgegen ſtreben wuͤrde, vollkommen unterrichtete. Weil daneben, bei Ver¬ fertigung des neuen Pulvers, mit einer ſo großen72 Gewißheit verfahren wurde, daß ein davon be¬ reiteter Zuͤnder, jedesmal die Exploſion in dem Augenblicke vollzog, den der Konſtabler wuͤnſchte, (eine Fertigkeit, welche man Ehedem nicht er¬ rang), ſo ward, indem man nach einer feind¬ lichen Stadt warf, die Entzuͤndung gemeinhin bewirkt, wenn die Bombe in der Hoͤhe von ei¬ nigen hundert Schuhen uͤber den Daͤchern an¬ gekommen war. Nun breiteten ſich die groͤßeren Granaten der Fuͤllung, deren Exploſion nach Maaßgabe der Groͤße des Orts erfolgte, ſo aus, daß dieſer mit den letzten Kugeln und den Truͤm¬ mern der ſchon geſprungenen, uͤberdeckt wurde, wobei das nach allen Richtungen ſpruͤhende Feuer die Verwuͤſtung vollendete.
Der nahe Ruin jeder belagerten Feſtung war unter dieſen Umſtaͤnden unvermeidlich. Allein die Feſtungen wurden dermalen auf Hoͤhen an¬ gelegt, wo, ohne Waſſer zu finden, tief zu gra¬ ben war. Man woͤlbte dann hundert Schuh un¬ ter der Erde Straßen aus, die durch Zugloͤcher von oben Luft empfingen, und beſtaͤndig durch Laternen erleuchtet wurden. Von dieſen waren hoͤhlenartige, doch gut gemauerte und mit Be¬ quemlichkeit verſehene, Wohnungen ſeitwaͤrts ein¬73 gebrochen, in welchen die Soldaten, und was zu ihnen gehoͤrte, hauſen konnten. Da genoß man Sicherheit, mochten oben die Bomben ein¬ ſchlagen. Auch alle Waͤlle hatte man ausgehoͤhlt und mit Felſenlagen hinlaͤnglich gedeckt, damit ſich die Wachen inwendig aufhalten konnten. Uebrigens traf die Beſatzung mit eben ſo furcht¬ baren Schluͤnden auch ihre Widerſacher, und ſo waren die Dinge ſich wieder gleich; denn der menſchliche Geiſt entdeckt, wie das Zerſtoͤ¬ rungsmittel, auch die Gegenwirkung.
Noch iſt hier der ſchnellen Art zu denken, in der aus einer Feſtung, oder aus einem Lager, nach dem Hauptquartiere irgend eines fernen Heeres, oder auch nach der Hauptſtadt, Briefe geſchafft wurden. Luftpoſten, Telegraphen, akku¬ ſtiſche Anſtalten, blieben dagegen, entweder an Ge¬ ſchwindigkeit, oder Ausfuͤhrlichkeit, zuruͤck. In erreichbaren Abſtaͤnden befanden ſich nehmlich auf befeſtigten Hoͤhen Kanonen, und Zielwaͤnde. Nun ſandte man eine Kugel ab, an welcher eine Stahlkette und an dieſer ein dichtes Kaͤſtchen ge¬ heftet war, das die Briefe oder andere zu uͤber¬ machende Gegenſtaͤnde enthielt. Die Kugel ſchlug in die Zielwand, das Kaͤſtchen blieb zu¬74 ruͤck, ward von dort wachenden Konſtablern ſo¬ gleich abgeloͤſet, und an eine andere Kugel ge¬ fuͤgt, wodurch denn hundert Meilen, in weniger als einer Viertelſtunde, erreicht waren.
Die Citadelle bei Konſtantinopel war, als die vorzuͤglichſte im Reiche, auch am ſorgſamſten gebaut. Ihre Waͤlle glichen Gebirgen, die Kel¬ lerſtadt, mit ihrem unterirrdiſchen Leben, bot den ſehenswuͤrdigſten Anblick dar. Es fehlte nicht an Tempeln, Marktplaͤtzen, Buͤhnen; die Genuͤſſe hatten auch ihren Sitz in der Tiefe er¬ richtet, und die treffliche Erhellung ließ das Tageslicht nicht vermiſſen. Um vorbereitet auf den Belagerungsſtand zu ſein, mußte auch fort¬ waͤhrend im Frieden, die Beſatzung hier wohnen, und, indem ſie zahlreich und gut belohnt war, hatte das viele Buͤrger gelockt, ſich unten anzu¬ ſiedeln, und ihr Leben zu gewinnen, indem ſie jenen das ihrige bequemer machten. So wuchs die Bevoͤlkerung nach und nach dort ziemlich an.
Bei der Vervollkommnung des Pulvers hatte man auch den Minenkrieg weiter ausgedehnt. Es war nun nicht allein ausfuͤhrbar, einen gro¬ ßen Ort auf Einmal in die Luft zu ſprengen, ſondern man legte auch außerhalb Minen in75 ſchiefer Richtung an, warf durch ſie Maſſen von Erde dahin, und bedeckte die Feſtung in kurzer Zeit mit einem ganzen Berg, wobei die Alter¬ thumskundigen bewogen wurden, an die Fabel der Giganten zu denken, welche einſt den Oſſa, Pelion und Olimp auf einander thuͤrmten. Allein die Gegenanſtalten mangelten auch hier nicht. Der Feind ward nicht dazu gelaſſen, die Feſtung unterhoͤhlen zu koͤnnen. Weit hinaus vor den Feſtungswerken liefen Straßen unter der Erde hin, an Groͤße und Dauer vergleichbar den alt¬ roͤmiſchen Waſſerleitungen. Von ihnen gingen kleinere Gaſſen aus, welche mit ihren Neben¬ ſteigen ein weitlaͤuftiges Gewebe bildeten. Hier zogen die Streifwachen raſtlos umher, und er¬ ſpaͤhten zeitig, was der Gegner unter dem Erd¬ horizont beabſichtete. Dann druͤckte man, nach ihm hin, die Erde ein, ſeine Arbeiter erſtickend. Warf der Feind einen Berg auf die Feſtung, ſo war dieſe reichlich genug mit dem Ammoniak - und Knallſilber-Pulver verſehn, um ſich davon zu befreien, indem ſein Schutt wieder auf der Feinde Haͤupter geſchleudert wurde. Dieſe hat¬ ten daher auch auf Laufgraͤben zu denken, welche in der Tiefe Sicherheit gewaͤhrten.
76Guido ſah alle dieſe Anordnungen bewun¬ dernd. Sein Gemuͤth ward entflammt, der Ruhm eine ſolche Feſte einſt glorreich zu vertheidigen, oder glorreich einzunehmen, gewann einen ho¬ hen Reiz fuͤr ihn. Sein mathematiſcher, erfin¬ dungreicher Kopf wußte auch von einer Menge Verbeſſerungen zu reden, die man am Geſchoß, an den Minen und anderen Kriegverrichtungen guͤltig machen koͤnne. Gelino lobte dies feurige Umfaſſen eines hohen Gegenſtandes, ſetzte hinzu: ihn koͤnne leicht der Kaiſer einſt beim Heere be¬ ſchaͤftigen, und lobenswerth muͤſſe es dann ſein, wenn er ſich des hoffenden Vertrauens wuͤrdig mache. Bei dem allen ſei aber nichts lebhafter zu wuͤnſchen, als daß die Voͤlker des geſammten Erdbodens dem Beiſpiele jener von Europa folg¬ ten, und, ein Welttribunal zum Schlichten aller Streitfaͤlle unter Nationen errichtend, die Kriege fuͤr ewig aufhoͤben.
Dies iſt auch einer von Inis Gedanken, ver¬ ſetzte Guido, aber wodurch ſoll dann die Kraft Ruhm erwerben? Dann iſt keine ſo hohe Ge¬ ſtalt mehr auszubilden, wie jene, die das Gemaͤlde von Wallhalla in Athen zeigt. Nur77 die Heldenſeele praͤgt die erhabenſte maͤnnliche Schoͤnheit aus.
Auch die Seele des Tugendhaften, entgegnete ſein Lehrer. Es giebt Feinde genug in der ei¬ genen Bruſt zu uͤberwinden, der Sieg uͤber ſie iſt eben ſo glorreich, ja vielleicht noch mehr.
Die Reiſe ging jetzt zu der noͤrdlichen Pro¬ vinz hin, vor Zeiten das europaͤiſche Rußland genannt. Man bediente ſich dazu einen von den Frachtwagen, die ſuͤdliche Erzeugungen dorthin, und noͤrdliche nach den mittaͤglichen Gegenden brachten.
Zu dem Ende waren hier, wie meiſtens im ganzen Staate, herrliche Kunſtſtraßen angelegt. Sie hatten eine Breite von zweihundert Schu¬ hen, und waren in der Tiefe von funfzig Schu¬ hen, mit geſtampftem Granit feſtgerammt. Je mehr groͤßere und kleinere Straßen der Art es ſchon gab, je leichter fiel es auch, deren neue zu bahnen und die Steine nach den Gegenden zu ſchaffen, wo ſie mangelten.
Auf der Straße von Konſtantinopel waren Wagen mit zwei Raͤdern gebraͤuchlich. Jedes Rad hatte aber einen Durchmeſſer von funfzig Schuhen. Jede ſeiner Speichen beſtand aus einem78 maͤßigen Fichtenbaum, und war mit Eiſen reich¬ lich verſtaͤrkt. Die uͤbrigen Theile hatten ange¬ meſſene Verhaͤltniſſe. Durch die gewaltige He¬ belkraft ſolcher hohen Raͤder ließ ſich nun eine außerordentliche Laſt fortbringen. Die von meh¬ reren Eichenſtaͤmmen zuſammengefuͤgte und mit zentnerſchweren Eiſenringen verbundene Achſe hatte eine Breite von funfzig Schuhen, und an dicken Ketten hing ein Prahmen im Gleichge¬ wicht, etwa ſechs Schuh von der Erde, uͤber hundert Schuh lang, gegen dreißig breit, und gegen funfzehn tief. Hierein wurde die an¬ ſehnliche Menge von Waaren geladen, und die Kajuͤte des Prahmens diente Reiſepaſſagieren zum angenehmen Aufenthalt, wie auch uͤber den Waaren ein Verdeck zum Luſtwandeln eingerich¬ tet war. Baͤumchen auf Toͤpfen und Blumen gewaͤhrten einen lachenden Anblick und erhoͤhten das Vergnuͤgen der Reiſenden.
Die Art, in welcher die rieſenhaften Karren gezogen wurden, hatte viel Einfachheit. Zwoͤlf Pferde waren genug. Dieſe gingen einige hun¬ dert Schritte voraus, an lange dicke Taue ge¬ ſpannt, welche von der Achſe ausliefen. Die79 Raͤder gaben, wie ſchon bemerkt wurde, die mechaniſche Leichtigkeit.
Es verſteht ſich aber, daß die Kunſtſtraßen horizontal fortliefen. Tiefen zu fuͤllen und ſich durch Hoͤhen zu brechen, war ja auch nur ein unbedeutend Werk, ſeitdem die Menſchheit ſich mit dem neueren Pulver vertraut gemacht hatte, das, außer den Kriegen, noch ſo mannichfachen Nutzen in Sprengungen gewaͤhrte.
Was konnte angenehmer ſein, als auf einem ſolchen, durch Pferde bewegten Prahmen, zu rei¬ ſen. Zwar ging die Luftpoſt ſchneller, zwar konn¬ ten die Meerfahrzeuge ſchwimmenden Pallaͤſten verglichen werden, allein hier genoß man doch die Erheiterung, ſtets die nahe Landſchaft und die Merkwuͤrdigkeiten der Gegend zu ſehen. Auch war die Sicherheit die vollkommnere, was immer das Gemuͤth ruhiger laͤßt. Unfaͤlle blie¬ ben nicht denkbar, da auf allen Stationen der Zuſtand des ganzen Wagens gepruͤft, und das etwa Schadhafte hergeſtellt wurde. Das Schlimm¬ ſte, was ſich haͤtte ereignen koͤnnen, waͤre ein Durchgehen der Pferde geweſen. Aber dies haͤtte nur um ſo zeitiger an Ort und Stelle gebracht, denn aus der Bahn dieſer Kunſtſtraßen konnten80 die Thiere nicht weichen. Sie waren zu beiden Seiten mit hohen Gittern eingeſchloſſen, und noͤthigenfalls ſchnitten die vorn reitenden Fuhr¬ leute die Straͤnge ab.
Es ging immer in vollem Sprung. Auf je¬ der geographiſchen Meile befand ſich ein Pferde¬ wechſel, durch Schuͤſſe und Flaggen zeitig be¬ nachrichtigt, in der Nacht durch Feuerſignale. So war das Abſchirren und Anſpannen das Werk einer Minute, in der man auch einen Waſſer¬ ſtrom uͤber die erhitzten Raͤder leitete, und ſie inwendig mit einem ſchluͤpfrigen Oele verſah. Reverberen brannten in der Dunkelheit zu bei¬ den Seiten des Wegs. So kam man in vier und zwanzig Stunden gegen zwei geographiſche Grade weiter, aß, trank und ſchlief im Prah¬ men. Das einzige vorenthaltene Vergnuͤgen blieb, daß man nicht die Staͤdte und Doͤrfer inwendig ſehen konnte, denn allerdings mußten die Kunſt¬ ſtraßen umweg laufen.
Nach einigen Tagen langte der Wagen in Moskau an, wo ſich ſogleich viele gierige Kaͤufer zu den Suͤdfruͤchten draͤngten, welche er geladen hatte, und die meiſtens friſch uͤberkamen.
Der Umfang, die zahlreichere Bevoͤlkerungdie¬81dieſes Orts, ſeine großen Fabriken gaben die Vorwuͤrfe, welche nun Guidos Aufmerkſamkeit feſſelten. Die meiſte Betriebſamkeit war auf die Anfertigungen fuͤr die Heere gegruͤndet, welche in der Nachbarſchaft in ihren Uebungslaͤgern ſtan¬ den. Hier waren die meiſten Soldaten verſam¬ melt, theils der Graͤnze gegen Aſien halber, theils, weil die rauhe Gegend ſich zu ihrer Ab¬ haͤrtung eignete.
Mit der Werbung, Unterhaltung, Verfaſ¬ ſung der Krieger, hatte es folgende Bewandniß:
Es galt Regel, daß jeder europaͤiſche geſunde
Juͤngling ſich ein Jahr lang an den Waffen¬ plaͤtzen einzufinden hatte. Nicht Geburt, nicht erkornes Gewerbe, verſtatteten eine Ausnahme. Gegen das achtzehnte oder zwanzigſte Jahr, wurden ſie in ihren Provinzen aufgerufen, und folgten dem Zuge zu den ihnen angewieſenen Laͤgern.
Sie zaͤhlten hier ſchon den Vortheil der Reiſe, und konnten bei ihrer Heimkehr ſich mancher Er¬ innerung freuen, auch das geſehene Merkwuͤrdige auf ihren anderweitigen Lebensberuf nuͤtzlich anwenden.
Im Lager wurden ſie zunaͤchſt gepruͤft, obF82ſie in den Erziehungsſchulen der Heimath auch im Laufen, Ringen, Schwimmen, daneben im Gedaͤchtnißrechnen und den erſten Elementen der Meßkunde und Naturlehre unterrichtet wor¬ den. Auch uͤber ihre wohlbegriffene Religions - und Buͤrgermoral hatten ſie Zeugniſſe abzulegen, und von Aeltern und Lehrern, die Beſcheinigung einer ſorgſamen und von gutem Willen begleite¬ ten Anwendung der Jugend, einzureichen.
Fiel dieſe Pruͤfung zu ihrem Nachtheile aus, war die Abweiſung von der Ehre, einſt das Va¬ terland vertheidigen zu helfen, die Folge. Hie¬ mit war ein druͤckendes Abwenden der oͤffentli¬ chen Achtung verbunden, kein Maͤdchen von Zart¬ gefuͤhl reichte einem ſolchen die Hand, nie durfte er hoffen, ein oͤffentlich Amt zu bekleiden. War es ein Fuͤrſtenſohn, ſah er ſich von der Erbfolge ſeines Vaters ausgeſchloſſen.
Dieſe harte Ahndung ſowohl, als auch die Allgemeinheit guter Erziehung, woran auch der Unbemittelte Theil nehmen konnte, machten ei¬ nen ſolchen Fall hoͤchſt ſelten.
Ward dagegen der Rekrut angenommen, em¬ pfing er ein Kriegergewand und Waffen. Man theilte ihn einem Haufen zu, er bezog eine La¬83 gerbaracke bei den Veteranen, welchen die Uebung der Kriegsjugend oblag.
Hier ward er im Fechten und Schießen geuͤbt, mußte fleißig Laufen, oder Laſten tragen, bei ſpaͤrlicher Nahrung leben, den Schlaf entbehren, und ſich immer bedeutenderen Abmattungen un¬ terziehen lernen. Die ſtrengſte Moralitaͤt gebot in dieſen Laͤgern, ſchon durch die ganze Lebens¬ weiſe, die keinem Gedanken an Befriedigung roher Sinnlichkeit Raum gab, begruͤndet.
Nach einem halben Jahre ging er, von den Veteranen, zu ſeinem Haufen ins große Lager, mußte nun den Dienſt eines Fußſoldaten ver¬ richten.
Beſtaͤndig uͤbte man hier, ohne Ruͤckſicht auf Jahreszeit, Witterung, Beſchaffenheit des Bodens, oder Tag und Nacht. Die klugen An¬ fuͤhrer ließen mehr in der Dunkelheit als bei der Tageshelle thaͤtig ſein, ſuchten abſichtlich die ſchwierigen durchſchnittenen Gegenden aus; nicht der ſtrenge Froſt, nicht der druͤckende Sonnen¬ ſtrahl, nicht ſtroͤmende Regenguͤſſe machten eine Abaͤnderung. Denn ſie ſagten: Der Feind wird unſere Bequemlichkeit nicht ins Auge faſſen.
F 284Das Fußvolk verfuhr in ſeinen Bewegungen folgendergeſtalt:
Jeder Einzelne war mit einem Spaten, einer Lanze und einem kleinen Schießrohre verſehn. Das letzte trug durch den inneren gewunde¬ nen Bau und das Ammoniakpulver, auf Tauſend Schritte und hatte am Lauf ebenfalls ein klei¬ nes Fernrohr, durch welches man auf den wei¬ ten Abſtand zielen konnte.
Eine Stellung nahmen die Heerhaufen zu Fuße gewiſſermaßen nicht, ſondern eine Lage. Dies heißt: ſobald man ſich im Bereich des feindlichen Geſchoſſes fand, oder es bei der Uebung vorausſetzte, ſtreckten ſich die Reihen auf den Boden hin, nachdem man in groͤßter Eil mit den Spaten einen Erdaufwurf von einigen Schu¬ hen gefertigt hatte, der nun, den ohnehin durch ihr Liegen auf dem Geſichte, nur wenig Zielraum darbietenden Soldaten, viel Bedeckung gab. Ueber den Erdwurf legten ſie ihre Roͤhre und gaben wirkſame Feuer.
Auf das Zeichen einer helltoͤnenden Pfeife, ſprangen ſie ploͤtzlich auf, legten fuͤnfzig Schritte gebuͤckt, und im vollen Rennen, zuruͤck, worauf ſich die Reihe wieder zu Boden warf, und die85 neue Erdwehr in einigen Sekunden anfer¬ tigte. Die Schuͤſſe huben wieder an, wurden auf ein abermaliges Signal eingeſtellt, um einen neuen Anlauf folgen zu laſſen. So nahte man allmaͤhlig dem Feind, der ſchon durch die wohl¬ gezielten Schuͤſſe aufgerieben ſein mußte, wenn ſeine Vorkehrungen nicht einem ſolchen Angriffe entſprachen. Da man aber nicht auf Saͤumniſſe hoffen durfte, ſo hatten die Soldaten fuͤr den letzten Abſtand auf zehn Schritten noch Feuer¬ kraͤnze, die entzuͤndet in Feindes Glieder gewor¬ fen wurden, durch ihr Glutſpruͤhen und den athemraubenden Schwefeldunſt Verwirrung an¬ zurichten, waͤhrend deſſen die Roͤhre der fertigen Schuͤtzen erlegten, was noch uͤbrig war.
Dieſe Angriffe mußten Berg auf und Thal ab vollzogen werden, man ſich aber auch dage¬ gegen zu ſchirmen wiſſen.
In dieſer Art bedroht, nahm man ebenfalls Platz an der Erde, und machte den Aufwurf um ſo hoͤher, als man hier verharren wollte. Schoß der Feind, bogen ſich die Vertheidiger zuruͤck, ließen ſich auch gar nicht darauf ein, Feuer zu geben, ſo lange jener hinter ſeiner Wehr lag. Wie er aber aufſprang, befand man86 ſich im Anſchlag und verduͤnnte ſeine Reihen. War er nahe genug gekommen, was nicht an¬ ders als nach großem Menſchenverluſt geſchehen konnte, begruͤßte man ihn eher mit Feuerkraͤn¬ zen, als er ſelbſt daran dachte. Waren Feuer und Dunſt verflogen, vollendete man mit Lanze und Schwert ſeine Niederlage. Auch bereiteten die militaͤriſchen Chemiker, deren einige jeder Abtheilung von Hunderten zugeſellt waren, Saͤuren welche die Stickſtoffe ſchnell aufhoben. So bekaͤmpfte hoͤhere Kunſt die hoͤhere Kunſt.
Neben dieſen Uebungen mußte das Fußvolk geometriſche Maͤrſche vollziehen, wodurch man Vor¬ theile uͤber den Feind gewinnen konnte, und was ſonſt dahin einſchlug.
Nach einem Jahre konnte der junge Soldat ſeinen Abſchied verlangen und zu den Seinigen gehen. Geſtaͤrkter, mit mancher Kunde berei¬ chert, kam er dort an, und der Staat hatte uͤberall Buͤrger, welche im Nothfalle zu den Waffen gerufen werden konnten. Auch fanden unter dieſen noch jaͤhrliche Uebungen von eini¬ gen Tagen ſtatt, damit jener Unterricht nicht zu ſehr dem Gedaͤchtniß entfloͤhe.
Zeigte aber ein Juͤngling nach dieſem Jahre87 Neigung, bei dem Heere zu bleiben, ſo nahm man ihn, nach Maasgabe ſeiner beſondern Anla¬ gen, bei den beſonderen Truppengattungen auf, deren kunſtvollerer Dienſt eine laͤngere Lehrzeit forderte.
Eigentlich ward der Krieg in den Luͤften, auf der Erde, und unter der Erde voll¬ zogen.
Der leichten Truppen Beruf wies ihnen die hoͤhere Region an. Es wurde ſchon erzaͤhlt, wie dieſe Zeit Adler einuͤbte, Azotgondeln fortzuzie¬ hen. Bei den Heeren fand man vor allem große Zuchtanſtalten dieſer Thiere. Es gab kleinere Nachen und groͤßere Gallionen, alle hingen aber an vielen kleinen, damit verbundenen Steige¬ kugeln, damit, wenn ein feindliches Geſchoß traf, nicht gleich das Sinken folgte.
Jene hatten die Beſtimmung, den Feind aus der Ferne, in ſeiner Zahl und ſeinen Maasre¬ geln zu erſpaͤhen. Da man hoch genug ſtieg, und die erweitete Optik ſo wichtige Huͤlfe lei¬ ſtete, ergiebt ſich, daß dieſer ſchon auf zwanzig Meilen ein Gegenſtand der Beobachtung wurde. Allein der Feind, welcher ſeine Plane gerne heh¬ len wollte, ſaͤumte gewoͤhnlich nicht, aͤhnliche88 leichte Fahrzeuge voranzuſchicken, welche die dieſ¬ ſeitigen zuruͤckzutreiben ſuchten. Und ſo ereig¬ neten ſich in der Hoͤhe Vortrabgefechte, wie ſie, um Jahrhunderte fruͤher, unter Huſaren oder Koſaken beſtanden.
Gewandt die Adler zu lenken, aus der ſteilen Entfernung, Gegenden und den Truppenſtand aufzunehmen, mittelſt der Telegraphie dem Feld¬ herrn davon Meldung zu thun, dies waren die vorzuͤglichen Obliegenheiten, in welchen dieſe Leute ſich tuͤchtig zu machen hatten. Daneben mußten ſie eben ſo fertig als das Fußvolk zielen koͤnnen, um wo moͤglich ihres Gegenparts Adler zu er¬ legen, wo dann die Eroberung unſtaͤt treibender Na〈…〉〈…〉 en ein Spiel ward. Den meiſten Ruhm brachte es jedoch bei dieſer Truppengattung, wenn man in Nacht und Dunkel uͤber Feindes Heer ſchlich, mit anbrechendem Tage ihn bei aller Vorſicht erkundete, und unerreicht entfloh. Oder wenn man uͤber dichte Wolken dahin ſchwebte und ſich zu dem naͤmlichen Zweck in die klare Region niederließ. Dies war indeſſen ſchwierig genug, weil dem Feinde die Vorſicht auferlegte, bei Nacht ſowohl als bei umzogenem Himmel, oben patrouilliren zu laſſen.
89Die groͤßeren Gallionen entfernten ſich nicht weit und blieben den Gefechten vorbehalten. Sie luden Granaten mit reinem Knallſilber gefuͤllt und Feuerkraͤnze, lenkten dann uͤber einen Trup¬ penhaufen, und ließen Verderben auf ihn nieder¬ fallen. Die Kriegskunſt lehrte aber, ihnen ſo¬ gleich andere entgegen zu ſenden, auch wurden aus Tder iefe, weitreichende Feldſtuͤcke mit gluͤ¬ henden Kugeln, auf ſie gerichtet. Hier moͤglichſt auszuweichen, und dort doch der Abſicht ein Ge¬ nuͤge zu thun, ſtrebte die Lufttaktik. Allerdings langte man nicht immer gluͤcklich mit den Theo¬ rien aus, die Fahrzeuge geriethen in Brand, die Adler wurden getoͤdtet, man war gezwungen ſich mit dem Fallſchirm erdwaͤrts zu wenden, und wenn der Feind ſich unten befand, auf Gnade und Ungnade ſich zu ergeben.
Die regſten, leichteſten Burſche kamen denn zu dieſen, im aͤchten Sinne des Worts, leichten Truppen.
Andere kamen zu der Reuterei. Dieſe hatte jetzt Pferde, welche man eben ſo wohl zum Krieg abgehaͤrtet hatte, als die Menſchen. Ein¬ gehegte Wildniſſe waren der Ort ihrer Erzeu¬ gung. Dort liefen ſie bis ins fuͤnfte Jahr um¬90 her, jeder Witterung blos gegeben, durch keine warme Stallung, kein regelmaͤßiges Fuͤttern, ver¬ woͤhnt. Schwer ward es dann ſie zu baͤndigen, doch gelang es endlich durch Guͤte und Strenge. Im ſchnellen Laufen uͤbte man ſie taͤglich, dann mußten ſie auch verſchiedene, vor ihnen in Ge¬ ſtalt von Soldaten zu Fuß und zu Pferde, zur Hoͤhe gerichtete Gegenſtaͤnde, uͤber den Haufen rennen, in Stickfeuer und Schwefeldunſt gehen, von Furcht befreit, vertraut mit Schmerzen. Dabei mußten ſie ſich auf des Reuters Verlan¬ gen ſchnell zur Erde werfen, denn auch hier war es im Gebrauch, wenn es die Umſtaͤnde wollten und erlaubten, ſich mit Erdaufwuͤrfen zu ſichern.
In fruͤheren Zeiten galt es erſchoͤpfende An¬ ſtrengung, wenn Reuterei etwa eine Viertelmeile im vollen Rennen zuruͤcklegte. Jetzt hatten die wild aufgewachſenen, durch Uebung immer mehr gekraͤftigten Kampfroſſe, Athem genug, dies mehrere Meilen zu vollbringen, obſchon ſie ſowohl als der Reuter gepanzert waren, und oft noch ein Schuͤtz hinten auf ſaß, der denn im vollen Laufe, entweder uͤber des Reuters Schul¬ tern, oder rechts und links, feuerte.
91Auf große Abſtaͤnde bediente ſich dieſe Waffe ſchon des Feuerrohrs, Hundert Schritte vom Feind pflegte man eine Wurflanze in ſeine Rei¬ hen zu ſchleudern, zwei andere Spieße, die ein leichter Mechanismus ſenkte oder hob, waren an des Reuters Fuͤßen befeſtigt.
So geſchah der Einbruch. Zuletzt ſtroͤmten weite Piſtolen noch kleine Kugeln und Raketen, dann wuͤthete das Schwert.
Doch der Feind traf auch Gegenmaaßneh¬ mungen. Das Fußvolk zog in bewundernswer¬ ther Geſchwindigkeit Graͤben mit Lanzen ausge¬ ſpickt, uͤber welche die Kampfroſſe fielen. Reuterei warf Fußangeln an duͤnnen Stricken weit hin¬ aus, den Gegner dadurch zu verwirren, ſie aber auch gleich wieder aufzunehmen, wenn es Verfol¬ gung galt.
Die jungen Maͤnner, welche hier Anſtellung fanden, mußten, neben dem ſchon vergangenen Lehrjahre, drei andere, bei den Uebungen im Reiten, im Schießen vom Sattel, und dem Fechtkampfe auf Lanze und Schwert, verleben. Mitgebrachte Vorkunde und gluͤckliches Auffaſ¬ ſungvermoͤgen minderten gleichwohl dieſe Zeit.
Weit bewundernswerther als andere Waffen,92 trat jedoch die Artillerie auf. Wie wuͤrden die Maͤnner aus dem achtzehnten und dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts, welche dem gro¬ ßen Geſchoß vorſtanden, haben ſtaunen muͤſſen, wenn ihnen ein Blick auf ihre ſpaͤten Nachfol¬ ger, von jenſeits der Graͤber her, waͤre vergoͤnnt ge¬ weſen. Es wurde ſchon bei Gelegenheit der Feſten gemeldet, welche Kaliber die dermalige Zeit ſah, allein auch im Felde leiteten Metall¬ lehre, Scheidekunſt und Bewegungstheorie, das Geſchaͤft des Verderbens wunderſam.
Vervielfaͤltigt waren die Mittel, dem Ruͤck¬ lauf zu begegnen, und ſo konnte der Konſtabel ſich leichter Roͤhre bedienen, wenn ſie gleich ſchwere Ballen fortzutreiben vermochten. Es gab viele derſelben auf einem Geſtell, die mit Lade¬ maſchinen in unglaublich kurzer Zeit nach ein¬ ander den Tod ſpieen. Andere wieder, auf ſo hohen Wagen, daß ſie uͤber Fußvolk und Reu¬ terei emporragten und durch dieſe gedeckt, von hinterwaͤrts ihre Zerſtoͤrung ausſandten. Es gab feuerfeſte Wandelthuͤrme, in vielen Stockwerken mit Kanonen beſetzt. Es gab bewegliche Re¬ duten, auf allen ihren Seiten Batter〈…〉〈…〉 en. Wie ſchaffte man die fort? iſt die Frage. O derglei¬93 chen haͤtte ſchon um Jahrhunderte fruͤher vor¬ handen ſein koͤnnen, wenn damals nicht eine ſo große Geiſtestraͤgheit unter den Kriegern zu finden geweſen waͤre, wenn nicht manche Voͤlker es vorgezogen haͤtten, dem Verderben zuzueilen, als das Genie uͤber die Maasregeln ihrer Ret¬ tung zu hoͤren. Das war nun freilich ſpaͤterhin anders. Niemanden traf Verfolgung, weil er kluͤger war, als der Haufe, der Verſtand war kein Monopol ſondern Allmende. Pulverkraft ſchaffte dieſe Wandelthuͤrme, dieſe Wandelſchanzen fort, und es iſt gar ſo ſchwer nicht, die Moͤg¬ lichkeit zu ahnen.
Die Artillerie zu Pferde hatte ihre Stuͤcke nicht auf Wagen, ſondern bei ſich an den Saͤtteln, in kleine Theile zerlegt, die man in etlichen Se¬ kunden zum Ganzen vereinte. Sie bewegte ſich noch ſchneller als die gewoͤhnliche Reuterei, in¬ dem ſie die vorzuͤglichſten Pferde empfing, und jener im Anſprung voraus eilen mußte, durch einige ſchnell angebrachte Lagen die Bahnen aufzuhellen.
Das Laboratorium ſetzte in Erſtaunen. Hier wurden unter andern die Feuermaterien gemengt, deren Flammen ſich uͤberall vertilgend anhingen. 94Die Artillerie bewarf zuweilen eine feindliche Reihe ſo damit, daß ein dichtes Glutmeer uͤber ſie hinſtroͤmte und der Erfolg iſt denkbar. Ueber¬ haupt geizte die Artillerie nach der Ehre, Schlachten und kleinere Gefechte zu entſcheiden, ohne daß andere Maſſen Theil daran nahmen, was auch oft gelang.
Den Krieg unter der Erde fuͤhrten die Mi¬ nirer. Reutereiangriffen, wie ſie jetzt angethan waren, dem ſchnellen Heranbringen mordender Batterien, konnte faſt nur eine wirkſame Ver¬ theidigung entgegen geſtellt werden, wenn der Boden an Stellen, wo ſie voruͤberkamen, unter¬ hoͤhlet, und Mine an Mine, mit reinem Knall¬ ſilber gefuͤllt, gereiht wurde. Dann ließen ſich Tauſende leicht zerreiſſen, nach den Wolken ſenden. Selten ward ein Lager bezogen, wo die ruͤſtigen Krieger in der Tiefe, nicht ſogleich die ganze Linie mit ihren verborgenen Werken umguͤrtet haͤtten. Brachten ſie dieſe nun zum Ausbruch, ſo ſchien es, als ob Vulkan neben Vulkan ſpie, und die fluͤßigen Feuer ſtroͤmten, der Lava gleich, weit umher.
Bei ſo erſchwertem Zugang, hatte nun der Angreifer zu ſinnen, wie er ſeinen Kohorten,95 vor ihrem Sturme, den Boden ſicherte. Dies konnte nicht anders als unter ſeinem Rande geſchehen. Daher mußten die diſſeitigen Minirer zeitig ihren Weg antreten. Große Erdbohrer, durch Maſchinen in Bewegung geſetzt, dienten zu dieſem Zwecke. Man beeilte ſich, die hoͤlliſchen Anlagen aufzufinden und durch eine fruͤhere Brandſtiftung ſie unſchaͤdlich zu machen.
Grauſenvoller Krieg, ſchauderhafte Anwen¬ dung entſetzlicher Naturkraͤfte! Doch dies fuͤrch¬ terliche Verfahren war nothwendig geworden, man durfte ſich nicht ungeſtraft an Mordkunſt uͤberbieten laſſen. Und die Moͤglichkeit ſolcher Allvertilgung, mahnte deſto lauter an, den Frieden zur erſten Tugend der Menſchheit zu erheben. Noch hoͤrten aber nicht alle Voͤlker darauf.
Wer nun von den jungen Soldaten in eine der kunſtreichen Truppenarten aufgenommen worden, und den Unterricht dreier neuen Lehr¬ jahre empfangen hatte, konnte nach Belieben wieder austreten, denn es war nuͤtzlich, unter den Buͤrgern im Staate, auch eine Zahl ſo ange¬ lehrter zu wiſſen. Es war nun eine Befreiung von gewiſſen Gaben und ein Ehrenzeichen ihr Lohn.
96Wer aber noch laͤnger zu weilen Luſt zeigte, trat ins große Heer, wo ſein Dienſt zehn Jahre waͤhrte. Nach dieſer Zeit ging er zu den Vete¬ ranen, welche entweder die Beſatzung der Feſten bildeten, oder der Uebung junger Rekruten ob¬ lagen. Denn es galt der Grundſatz: kein Krie¬ ger im offenen Felde duͤrfe mehr als dreißig Jahre zaͤhlen. Man kannte den leichten, die Gefahr hoͤhnenden Sinn, welcher allein mit der Jugendkraft verbunden iſt. Nothfaͤllen blieben Ausnahmen vorbehalten.
Die Befoͤrderung zu hoͤheren Stellen beſtimmte die Dienſtzeit. Im Frieden ward dies durchaus nicht abgeaͤndert, eine Auszeichnung war da ſel¬ ten, weil alle ebenmaͤßig gebildet wurden. Im Kriege galten Großthaten Pflicht, und die Vor¬ ausſetzung, Niemand werde ihrer ermangeln, wenn ihm die Gelegenheit winkte. Es iſt ſchlimm, ſagte man, von Verdienſt zu reden. Die Abweſenheit deſſelben bei Vielen, wird ſtill¬ ſchweigend eingeſtanden, wenn des Einzelnen Lob darum ertoͤnt.
Doch Anfuͤhrer großer Heerhaufen wurden nach Maaßgabe des hoͤheren Genies ausgewaͤhlt, das ſie beurkundeten. Sie mußten in den Kriegs¬uͤbun¬97uͤbungen, waͤhrend vieler Jahre, keinen Tadel verwirkt haben. Sie mußten aus den Schulen ihrer Theorien, welche ſich bei den Heeren be¬ fanden, vortheilhafte Zeugniſſe mitbringen. Sie mußten dann eine Zeitlang dort ſelbſt den Lehr¬ ſtuhl beſteigen, denn man wußte gar wohl, wie auch der beſte Kopf lehrend am meiſten lernt. Sie mußten in gehaltvollen Schriften beweiſen, daß ſie die Kriegskunſt nicht nur ihrem Umfange, und ihren einzelnen Abtheilungen nach, ergruͤn¬ dend verſtaͤnden, ſondern daß ſie ſie auch mit neueren Anſichten zu bereichern wuͤßten. Gute Erfindungen, durch welche das Heer einen wahr¬ haften Vortheil uͤber die der Nachbaren errang, gaben endlich den Ausſchlag, der Zahl derer bei¬ geſellt zu werden, aus welcher man Heerfuͤhrer waͤhlte.
Dies geſchah aber von Seiten des Heeres ſelbſt. Die meiſten Stimmen, im Geheim er¬ theilt, entſchieden. So konnten keine unreine Mittel angewandt werden, ein ſolches Amt zu erlangen. Auch war es nicht ausfuͤhrlich, Hun¬ derttauſend Mann zu beſtechen. Nur aͤchte, keine Scheingenialitaͤt, konnte wohl mit ihrem Rufe ſo weit dringen, daß die Mehrheit einer ſolchenG98Zahl in ihren Wuͤnſchen gewonnen ward. Dann ſandte der aus den Aelteſten zuſammengeſetzte Rath des Heeres, die Wahl nach Rom, wo das Strategion, eine Koͤrperſchaft alter Feldherrn und Kriegsgelehrten, ihre Gruͤnde unterſuchte und danach abwog, ob ſie dem Kaiſer zur Be¬ ſtaͤtigung vorgelegt werden ſollte, oder nicht. Dieſem blieb zuletzt ſein ſouveraines Ja oder Nein.
So weiſe verfuhr dies Zeitalter bei der ge¬ wichtigen Frage: wer ſeinen trefflichen Heeren gebieten ſollte?
Wie trefflich dieſe Heere aber auch ſein moch¬ ten, ſo koſteten ſie dem Staate nichts. Gewiſ¬ ſermaaßen nichts.
Denn jener zehnjaͤhrige Dienſt nach den Lehr¬ jahren, er mochte bei den kuͤnſtleriſchen Trup¬ penarten oder nur bei dem einfacheren Fußvolke Statt haben, (wo auch Viele blieben, die jene zu ſchwierig fuͤr ſich fanden,) ward nicht allein mit Kriegsuͤbung hingebracht. Dies haͤtte man un¬ noͤthig, uͤberfluͤſſig gefunden. Die großen Heere tummelten ſich drei Monate im Jahr. Und da¬ bei waͤhlte man nach einander Fruͤhjahr, Som¬ mer, Herbſt und Winter. Dies ſchien hinlaͤng¬99 lich, das Handwerk fortgeſetzt in ſeiner Gewalt zu haben, und der Strenge jeder Witterung Trotz bieten zu koͤnnen. Zudem hatten dieſe Uebungen ſo viel Praktik als immer thunlich blieb. Zwei Heere bildeten ſich und verfuhren als Feinde gegen einander, auf alle Weiſe die Wirklichkeit darſtellend, nur daß freilich die Roͤhre nicht mit Kugeln verſehen waren. Gleich¬ wohl ging es dabei nicht ohne Gefahr ab, wor¬ auf es auch bei Menſchen, deren ganzes Weſen die Gefahr geringſchaͤtzen ſoll, nicht ankommen muß. In der Hitze des Streits blieb hie und da ein Krieger, und ward dann, als ob Ernſt beſtanden haͤtte, an den Ehrenſaͤulen genannt, welche der Nachwelt die Namen derer uͤbergaben, die im Kampfe mit des Vaterlands Feinden ge¬ fallen waren.
Nun hatte aber der Staat ſeit lange den Heeren Laͤndereien uͤbergeben. In den Provin¬ zen, Polen, Moskau, Schweden, manchen Ge¬ genden der vormaligen Tuͤrkei von Europa, gab es uͤberfluͤſſige Waldungen, unbewohnte Step¬ pen, Moraͤſte, die einer Austrocknung faͤhig waren, in Menge. Auch fanden ſich hie und da Berg¬ werke, zeither ungenuͤtzt und ergiebig. In denG 2100neun Monaten, wo nun die Soldaten ſich nicht mit den Waffen beſchaͤftigten, war ihr Beruf, zu urbaren, zu bauen, zu ſaͤen, zu pflanzen, zu aͤrnten. Dies war im Laufe der Zeit ſchon weit gediehen, und die Krieger hatten ungemein wohl¬ gepflegte Beſitzungen.
Nach den Lehrjahren wirklicher Soldat, em¬ pfing auch Jeder ſeinen Antheil, den er fuͤr ſich be¬ arbeitete, doch auch die Obliegenheit, einer ne¬ benliegenden Hufe ſeine Sorge zuzuwenden. Die¬ ſe war Vermoͤgen der Geſammtheit, welche, durch die Menge derſelben, ſich eines hohen Reichthums erfreute. Aus den Einkuͤnften da¬ von, konnte nicht allein der Sold fuͤr die Rekru¬ ten und Veteranen, beſtritten werden, ſondern ſie waren auch die Quellen, aus denen man zum Behuf der anderweitigen Heeresnothwendig¬ keiten ſchoͤpfte.
Das Heer, ließ ſeine Magazine mit Korn fuͤllen, und haͤufte hier immer Vorraͤthe fuͤr mehrere moͤgliche Kriegsjahre auf. Es zog ſeine Pferde in den wilden Stutereien. Es ließ ſeine Kupferminen, ſeine Eiſen - und Schwefelberg¬ werke bearbeiten, erzeugte Salpeter, Ammoniak und andere Gegenſtaͤnde fuͤr ſeine Waffenfabri¬101 ken und chemiſche Laboratorien in Ueberfluß. Auf Kunſtſtraßen, welche es bauen half, ſchafte es mittelſt ihm zugehoͤriger Prahmwagen ſie leicht an die Orte, wo dieſe Fabriken angelegt waren. Die Wolle ſeiner Schaͤfereien, die Linnen ſeiner Flachsſchollen, kleideten die Soldaten. Die Ve¬ teranen, nach dem dreißigſten Jahre keinesweges veraltet, trieben auch den Feſtungbau. Lobenswer¬ the Einrichtungen in fruͤheren Zeiten, wo man den Muͤßigang der Krieger willig duldete und ſie dadurch[vielſeitig] verdarb, nie ins Daſein gerufen.
Gelino machte nun dem Zoͤgling bekannt, wie er, als europaͤiſcher Buͤrger, ſich nun werde gefallen laſſen, hier ſein Waffenjahr anzutreten. Guido hoͤrte das mit innigem Vergnuͤgen, von jeher hatte das Kriegshandwerk fuͤr ſeine lebhafte Einbildung unſaͤgliche Reitze gehabt, und immer hoffte er einſt Ruhm darin zu finden, wenn ſchon eben keine Ausſicht zu ernſtlichen Kaͤmpfen be¬ ſtand.
102Guido im Heere.
Der Lehrer fuͤhrte ihn einige Meilen von Moskau weg, wo eben die große Uebung des Heeres Statt fand. Wie begeiſterte den Juͤng¬ ling der ſtrahlende Waffenglanz, der laute Don¬ ner ſo vieler Feuerroͤhre, deren Rauchwolken den ganzen ſilbernen Himmel dunkel umzogen und wieder mit tauſendfachem Blitz erhellten. Am fernen Boden ſchlaͤngelten ſich der Minen Lavabaͤche, wenn ihre Erdberge emporſtiegen.
Nachdem die Truppen die heutige Uebung geendet hatten, begab ſich Gelino mit ſeinem jungen Freund, zum Anfuͤhrer. Er ſtellte ihm Guido vor und uͤbergab dabei ein Schrei¬ ben. Der Feldherr blickte den Juͤngling wohl¬ gefaͤllig an, und brach darauf das Siegel. Nach¬ dem er geleſen hatte, ſagte er: Wohl ſcheinſt du es werth, Juͤngling, daß der Kaiſer dich ſelbſt empfielt. Er muß dich vortheilhaft kennen gelernt haben, große Waͤrme ſpricht in ſeinem Briefe, und deine Miene betruͤgt auch wohl103 kein Vertrauen. Doch verlangt deines Beſchuͤt¬ zers Weisheit unfehlbar nicht, daß ich dir un¬ verdienten Vorzug einraͤume. Zeige jedoch Wil¬ len und Kraft, ſo kann die Ehre im Heere ge¬ achtet zu werden, dir nicht entſtehn.
Guido ward verlegen, da er von dem Briefe des Kaiſers nichts wußte. Doch antwortete er mit beſcheidenem Selbſtgefuͤhl: er achte ſich zu ſehr, eine Auszeichnung zu verlangen.
Er hatte nun die Pruͤfung zu beſtehn. Seine ſeltne Gewandheit in Leibesuͤbungen erregte Staunen, er war ſo keck, die Behendeſten im Laufen, die Staͤrkſten im Ringen, die Ruͤſtig¬ ſten im Schwimmen, zum Wettkampf einzula¬ den, und trug den Sieg davon. Eine Probe ſeiner geometriſchen Ueberſicht abzulegen, ſchwang er ſich an einen Luftball empor, und entwarf binnen einer Stunde eine hoͤchſt genaue Charte des ſichtbaren Landhorizonts. Auch anderweitig beſtand er, nicht nur zur Zufriedenheit, ſondern zur Bewunderung der Anweſenden, was dem Lehrer Gelino ſuͤß ſchmeichelte.
Er empfing ſeine Waffen und begann die Uebungen froh. An Ini ſchrieb er: Ich trage nun das Kriegerkleid. Neue Kraftuͤbungen wer¬ den meine Formen entfalten, der hohe Gedanke104 an Heldenthum, verbunden mit dem entzuͤcken¬ den, verklaͤrenden an dich, werden mir endlich die Geſtalt vollenden, welche deiner allein werth ſein kann.
Sie antwortete: Gehe nicht leicht hin uͤber das Schwere. Sorge und wache. Liebe ſtaͤrke dich!
Der Seegen einer Geliebten hat immer wun¬ derbare Einwirkungen. Jedes Geſchaͤft geht leich¬ ter von dannen, der Genius erwacht, traͤgt bald auf den Gipfel des Vorhandenen und laͤßt hoͤ¬ here Vollkommenheit umfaſſen.
Guidos nervigte Arme lernten die Kunſtgriffe mit dem ſcharfen Spaten bald, und fuͤhrten Lanze und Schwert mit Geſchicklichkeit, ſein ge¬ uͤbtes Auge brauchte in wenigen Wochen das Feuerrohr ſo fertig, daß er nie ſein Ziel fehlte.
Was ſollen wir dich lehren, fragten die Ve¬ teranen, dir iſt ſchon alles bekannt, was der Fußſoldat wiſſen muß, um zu ſeinem Haufen zu gehen.
Guido beruhigte ſich aber dabei nicht. Er hatte nachgedacht, ob man nicht uͤber den Erd¬ wurf feuern koͤnne, ohne das Haupt dem feind¬ lichen Geſchoß zum Ziel darzubieten. In der Optik fand er ein Mittel zu dieſem Zweck. Er105 ließ ſich ein hakenfoͤrmiges Sehrohr fertigen, das die Lichtſtrahlen in einen Winkel brach, und ſein Feuerrohr mit einem gebogenen Kolben verſehn. Nun blieb er ganz hinter der Erdwehr liegen, und ſah durch ſein Inſtrument dennoch daruͤber hin. Der Schuß erfolgte da bei aller eignen Sicherheit. Er zeigte den Veteranen, was er erſonnen hatte. Dieſe gaben ihm großen Beifall zu erkennen, und ſandten ſein Feuerrohr an die Rathsverſammlung des Heeres, welche neue Erfindungen zu unterſuchen hatte. Sie war von dem wichtigen Nutzen der vorliegenden zur Stelle uͤberzeugt, und ſchickte ſie wieder durch einen Eilboten dem Strategion zu Rom. Dieſes antwortete bald: Man haͤtte ſogleich alle Feuerroͤhre der Fußſoldaten auf die vorgeſchla¬ gene Weiſe umzuaͤndern.
Man ſprach beim ganzen Heere von dieſem Ereigniß. Durchaus war es neu, daß ein Juͤng¬ ling, nur einige Wochen unter den Waffen, ſchon eine Abaͤnderung beim Heere veranlaßt hatte. Man unterſuchte zwar alles willig, mun¬ terte liebevoll auf, doch ſelten erfolgte die wirk¬ liche Anwendung. Wenn es diesmal auf einmuͤ¬ thigen Beifall geſchah, ſo lagen auch vor Je¬106 dermann die Beweiſe der Trefflichkeit jener Er¬ findung.
Man ſprach ihn auch zugleich von der Oblie¬ genheit los, ein Lehrjahr bei den Fußſoldaten zu weilen. Es ward ihm frei geſtellt, in eine andere Waffe zu treten, und er waͤhlte die Meuterei.
Grade waren Pferde aus der eingehegten Wildniß angelangt, und der Fuͤhrer des Zuges klagte uͤber die Unbaͤndigkeit des einen darunter, rathend, es als unbrauchbar zu toͤdten. Guido bat um die Gunſt, es verſuchen zu duͤrfen. Man wollte ſie lange nicht zugeſtehn, einwen¬ dend, ſchon die bewaͤhrteſten Reuter haͤtten Un¬ faͤlle mit dieſem Thiere gehabt. Jener ließ aber nicht nach, zaͤumte und ſattelte das Roß, bei allem Widerſtreben, und ſchwang ſich darauf. Es baͤumte ſich hoch, Guido druͤckte ihm mit ſtarkem Arm den Kopf nieder. Es ging, dem Zuͤgel nicht mehr gehorchend, athemlos ins Weite. Guido riß ihm den Kopf herum und brachte es zum Stehn. Endlich, die Kraft ſei¬ nes Meiſters gewahrend, bequemte ſich die uͤp¬ pige Wildheit zum Nachgeben. Gelehrig folgte das Pferd, wohin Guido wollte. Er ritt es107 vor aller Augen an einen Bombenmoͤrſer, und ließ ihn neben ſich losbrennen. Ein gewaltiger Sprung zur Hoͤhe folgte, der Juͤngling ſaß feſt und hielt ſein Thier auch zugleich wieder an, es kuͤhn mit dem Sporn fuͤr die Unart ſtrafend. Es ſchnaubte Wuth, wagte aber, bei einem zwei¬ ten Schuß, nicht mehr, von der Stelle zu gehn. Endlich legte Guido das Feuerrohr zwiſchen ſeine Ohren, erlegte tauſend Schritte davon einen Habicht, der eben durch die Luft flog, und ſein Pferd ruͤhrte ſich nicht.
Alle Reuter jauchzten ihm Lobſpruͤche, und er dachte geheim: Haͤtte mich doch Ini jetzt geſehn!
Eine freundliche Aufnahme in die Reihen war ſein Lohn, und das Verlangen, dies Pferd fuͤr den Dienſt behalten zu duͤrfen, fand Be¬ willigung.
Er bewies ſich bald ſo tuͤchtig als Reuter, daß die Veteranen urtheilten, es beduͤrfe hier durchaus keiner Lehrzeit mehr. Deshalb bat er aber, zu dem großen Heere geſandt zu werden, und das aus folgendem Grunde:
Der Caͤſar von Neu-Perſien hatte Aſien im Beſitz, mit Ausnahme von Japan und China. 108Dieſe alten Reiche hatten in vorigen Kriegen immer gluͤcklichen Widerſtand geleiſtet, jenes durch ſeine abgeſonderte, meerumfloſſene und durch Felſenkuͤſten ſichere Lage, dieſes mittelſt ſei¬ ner ungeheuren Bevoͤlkerung, und indem es, auf¬ geweckt durch die naͤhere Gefahr, das Volks¬ genie auch geweckt und in den Kriegskuͤnſten neuer Zeit mitgeſtrebt hatte. Grade war aber eine neue Fehde ausgebrochen, und bei dieſer Gelegenheit ein Trupp chineſiſcher Tatarn ver¬ ſprengt worden, der, Unfug und Verheerung uͤbend, den Graͤnzen von Europa nahte.
Man ſandte eine Heerabtheilung, meiſtens Reuterei, entgegen, im Fall ſie ſich nicht ent¬ bloͤden wuͤrden, das dieſſeitige Gebiet zu betre¬ ten, und da Guido ſehnlich wuͤnſchte, dem et¬ wanigen Feldzuge beizuwohnen, drang er ſo leb¬ haft darauf, zum Heer geſandt zu werden, was auch geſchah.
Der Ruf war ihm zuvor gegangen, neugie¬ rig ſammelte ſich die Menge, den Juͤngling zu ſehn, der eine genievolle Erfindung gemacht hatte und fuͤr den kraͤftigſten Roſſebaͤndiger galt. Die Art, wie er unter den neuen Kameraden109 auftrat, erwarb ihm auch gleich Vertrauen und Gewogenheit.
Es ging zur Graͤnze, wo eilig das Ge¬ ruͤcht einlief, ſchon waͤren mehrere Doͤrfer gepluͤndert und verwuͤſtet worden. Der Anfuͤhrer nahm ſeinen Marſch in die Gegend, welche, die noch unkultivirteſte in Europa, dichte Wal¬ dungen durchſchnitten.
So leicht der europaͤiſche Stolz dieſen Krieg gewuͤrdigt hatte, ſo furchtbar-ſchwer war er zu fuͤhren. Die Waldungen deckten den Feind. Man konnte ſich nicht uͤber ſeine Zahl oder Stel¬ lung erkundigen, weil die leichten Truppen, fuͤr dies Geſchaͤft dem Heere zugetheilt, nicht von oben herab durch die Kronen der Baͤume zu bli¬ cken vermogten. Die Tatarn verbargen ſich ge¬ ſchickt, drangen dann unvermuthet in wilden Haufen hervor, fielen mit Ungeſtuͤm an, und entfernten ſich mit einer Schnelligkeit, die den Vrotheil auf ihre Seite brachte. Denn ihre Pferde, welche Klugheit bei Zucht und Anleh¬ rung der europaͤiſchen auch thaͤtig war, hatten den Vorzug.
Die berittene Artillerie ließ ſich in den Ge¬ hoͤlzen nicht brauchen, wider die kleineren Roͤhre110 bedienten ſich die Feinde eines Schildes, mit einem in China erfundenen Lack uͤberzogen, der bei großer Leichtigkeit Reuter und Pferd deckte, im Anrennen vorn, im Weichen hinterwaͤrts Ge¬ brauch fand. Schlimmer wie alles das, konnte man ihre Pfeile anſehn, womit ſie uͤberaus ge¬ ſchickt trafen, und den gepanzterten Mann ent¬ weder im Geſicht oder an den Haͤnden verwun¬ deten. Dieſe Pfeile waren in ein Peſtgift ge¬ taucht, das nicht allein den Getroffenen hin¬ raffte, ſondern auch ſich epidemiſch mittheilte. Sie dagegen, war mit Recht anzunehmen, mu߬ ten mit einem ſchirmenden Gegenmittel verſehen ſein, da man von keinen Krankheiten unter ih¬ nen hoͤrte.
Groß war, bei allem anerzogenen tapfern Sinn, die Beſtuͤrzung, als der Tod in den eu¬ ropaͤiſchen Reihen wuͤthete. Die Aerzte wußten keinen Rath, fanden ſelbſt ihr Grab. Der An¬ fuͤhrer wagte einen verwegenen Streich, wurde aber mit ſeinem Vortrab umzingelt und nieder¬ gehauen.
Die Truppen waͤhlten einen neuen Gebieter, der einſtweilen ſein Amt uͤbernahm, bis die Be¬ ſtaͤtigung darin eingelaufen ſein konnte. Es war111 der Sohn eines vornehmen Fuͤrſten, welcher demungeachtet der erforderlichen Eigenſchaften nicht ermangelte. Er hielt den Truppen eine kraͤftige Anrede, worin er die Nothwendigkeit bewies, die Raͤuber zu vertilgen, wenn dem ganzen Lande nicht Untergang durch die Peſt drohen ſollte; mahnte jeden an, den Sinn der Aufopferung in ſich zu wecken, und zu denken, auf welchen Wegen ſich der entſetzlichen Gefahr begegnen ließ. Der Feuerwille, im Kampf dem Tode zu trotzen, ließ ſich auch uͤberall wahrneh¬ men, doch die natuͤrliche Furcht vor der Peſt bleichte jedes Antlitz, und im ganzen Lager toͤnte Wehklage, da keine Minute verging, wo nicht ein Freund dem Freunde ſtarb.
Guido ſchrieb an ſeinen Lehrer, der nun in Moskau geblieben war: Komme ich um, ſo ſage Ini, mein Leben ſei mit ihrem Namen den Lippen entflohn, vielleicht aber gelingt es mir, ruhmgekroͤnt wiederzukehren, denn ein Wagſtuͤck iſt mir beigefallen, das uns retten kann.
Er ging zu dem Heerfuͤhrer, bat ſich einen Luftnachen und einige mu[t]hbewaͤhrte Maͤnner aus. Du biſt ja Reuter, was willſt du unter den Spaͤhtruppen? fragte jener. Vertraue mir um112 was ich bitte, hieß die Antwort, ich will mein Leben daran ſetzen, den Tod vom Lager zu fernen.
Wohlan! Und moͤge das Gluͤck dich geleiten.
Guido ſtieg hoch in die Luͤfte auf, begab ſich uͤber den Feind und blickte mit einem treflichen Fernrohre nieder, das ihm der Feldherr auf ſein Anſuchen noch mitgegeben hatte. Nach langer vergeblicher Muͤhe entdeckte er in der Waldung einen kleinen offnen Raum, wo ein praͤchtig Gezelt ſtand. Hier iſt ohne Zweifel der tata¬ riſche Feldherr, ſagte er zu ſeinen Begleitern, dies wollte ich erkunden.
Jetzt ſchwebt er zuruͤck uͤber das eigne Lager, und ließ einen Brief niederfallen, in welchem er den diſſeitigen Heerfuͤhrer bat, einen Angriff, wenn auch nur ſcheinbar, zu machen. Er ſah nach einer halben Stunde, daß ſeine Bitte Gehoͤr gefunden hatte, die Schlachttrompete klang, die Glieder ruͤckten aus.
Jetzt mußten ihn die Adler wieder uͤber jenen lichten Raum bringen, hoch genug, daß, bei ohnehin truͤber Luft, er nicht mit bloßen Augen zu entdecken war. Sein gutes Fernrohr zeigte ihm aber bald, wie auf den Schlachtlaͤrm einvor¬113vornehmer Tatar aus dem Gezelte trat, zahl¬ reich begleitet ſich aufs Kampfroß ſchwang und vorwaͤrts eilte. Nur wenige Einzelne umzingel¬ ten in einiger Entfernung wachend das Haupt¬ quartier.
Sogleich ließ ſich Guido, durch ſtille Luft und einbrechende Abenddaͤmmerung beguͤnſtigt, am Fallſchirm nieder. Nicht weit von dem Hauptgezelt blieb er an einer Eiche hangen, und kletterte von da zur Erde. Eine Wache entdeckte ihn, doch ehe der unbeſorgt geweſene Tatar zum Bogen greifen konnte, hatte er Guidos Dolch in der Bruſt. Dieſer legte nun ſeine Kleidung an, verdachtloſer weiter handeln zu koͤnnen. Er ging einigen Anderen voruͤber, die, ſeiner Kleidung halber, nicht Acht auf ihn ga¬ ben und gelangte gluͤcklich in das Zelt. Hier ſtanden viele große Flaſchen mit der tatariſchen Ueberſchrift: Gegengift. Dies war was Guido gewollt hatte. Er nahm eine davon, und ſchlich weit ruͤckwaͤrts in den Wald, indem die Nacht dunkler wurde. Endlich, niemand mehr gewah¬ rend, zuͤndete er ein kleines Feuer an, was ſei¬ nen Kameraden im Luftnachen zum Zeichen diente, ſich niederzuſenken.
H114Dies geſchah. Guido beſtieg mit ſeiner Beute den Nachen, und man eilte durch die Luft dem eignen Lager zu, wo man gegen Mor¬ gen erſt anlangte, denn das Gefecht hatte eine ungluͤckliche Wendung genommen, die Europaͤer waren weit zuruͤck gedraͤngt worden.
Er fand unglaubliche Verwirrung, auch der Feldherr war geblieben. Getroſt, rief er, ich bringe vorerſt eine Huͤlfe, das Weitere wird ſich finden.
Die Aerzte wurden berufen. Man unterſuchte die Flaſche, mittelte die Beſtandtheile aus, und traf ſogleich Anſtalt, das Mittel in großer Menge zu fertigen. Zugleich ward es an den Peſtkran¬ ken, die in großer Zahl ſchmachteten, verſucht, und alle ſahen ſich nach wenigen Stunden herge¬ ſtellt. Die Art des Gebrauchs enthuͤllte ſich ſchon aus der Natur dieſer Arzenei. Sie wurde auch ſchnell nach den ruͤckwaͤrts liegenden Ort¬ ſchaften geſandt, wohin ſich das Uebel auch ſchon verbreitet hatte.
Hoher Freudejubel! Neuerwachter Muth im Heere, da keine Peſtpfeile mehr zu fuͤrchten ſtan¬ den. Guidos Lob klang in aller Krieger Munde. 115Kein Neid truͤbte einen ſo rein verdienten Dank.
Die Aelteſten ordneten eine neue Heerfuͤhrer¬ wahl. Jeder im Heerhaufen naͤhrte denſelben Gedanken. Mag der Juͤngling ſelbſt nicht das erſte Lehrjahr beſtanden haben, ſein Geiſt, ſeine Thaten erheben ihn zum Wuͤrdigſten. Man zog die Namen aus dem Helm, der unter allen Krie¬ gern umhergegangen war. Guido ſtand auf je¬ dem Papier.
Er war beſchaͤmt, verlegen — doch klopfte ſein Buſen von nicht geringer Freude. „ Was wird Ini ſagen, wenn ſie davon hoͤrt! “dachte er, dann — gab er Befehle.
Eine weite Umzingelung des Feindes ſchien ihm in dieſen Waldungen das Dienlichſte. Je¬ der Krieger empfing eine kleine Viole von dem Gegengift, um nun bei einer Wunde ſogleich ei¬ nige Tropfen davon anwenden zu koͤnnen. In der folgenden Nacht traten die Fluͤgel ihren Weg an, um ſich in den Ruͤcken des Feindes zu begeben. Zeitmeſſer und Kompaß dienten, ſich genau an den Stellen einzufinden, wo es der Plan ver¬ langte. Ein Moraſt, durch den die Tatarn nicht dringen konnten, beguͤnſtigte an einer Seite denH 2116Entwurf, an der andern ließ Guido ſchnell eine Meile lang die Baͤume mit Knallſilber umwer¬ fen, daß auch dort der Ausweg geſperrt waͤre.
Dann begann der Angriff von zwei Seiten in der naͤmlichen Minute. Die Tatarn erſchra¬ ken, da ſie die alte Furcht vor ihren Giftpfeilen nicht mehr inne wurden. Ja, Beſtuͤrzung ver¬ breitete ſich unter ihnen, als einige gewahrten, die Verwundeten der Europaͤer bedienten ſich eines Gegenmittels. Die nehmliche Entdeckung hatte auch den Neu-Perſern eine Ueberlegenheit uͤber dieſe Truppen gegeben und ſie in die Noth¬ wendigkeit geſetzt nach dem Norden zu fliehn.
Man drang ſcharf ein. Die fluͤchtige Eil der tatariſchen Roſſe half nicht, da zu beiden Seiten der Feind anruͤckte. Im Nahekampf hatten die europaͤiſchen Waffen den Vorzug.
Jener Feldherr, ſeine mißliche Lage erwaͤgend, ſammelte auf den Ton eines weitſchallenden In¬ ſtrumentes eine große Maſſe und ſuchte mit die¬ ſer durchzubrechen. Guido, der dies vermuthete, begann an der Spitze einiger Tauſende ein Scheingefecht, floh und lockte die Feinde auf eine große Mine, deren Exploſion in dem Au¬117 genblick erfolgte, als der Vortrab des Gegners den unterwuͤhlten Boden betreten hatte.
Graͤßlich ſchauderhafter Anblick, als Tauſend entwurzelte Eichen dem Aether zuflogen! Doch wurde es auch Guidos Leuten verderblich, als die Baumtruͤmmer, die zu Tauſenden zerriſſe¬ nen Gaͤule und Menſchen, wieder dem Geſetz der Schwere gehorchten, und ſich weiter verbrei¬ teten als man erwartet hatte. Manche darunter wurden getoͤdtet, ſelbſt Guidos Pferd von einem großen Stamm aufs Haupt getroffen. Er ent¬ ging jedoch den Gefahren gluͤcklich, und beſtieg ein anderes Kampfroß, die Niederlage der Ta¬ tarn zu vollenden.
Ihr Feldherr gab die Hoffnung nicht auf, wandte ſich nach einer andern Gegend. Guido ließ ihm aber keine Friſt, fiel den Haufen von allen Seiten an. Nicht uͤberall konnten die chi¬ neſiſchen Schilde decken, große Verheerungen be¬ wirkten die europaͤiſchen Feuerroͤhre. Endlich traf Guido auf den Feldherrn ſelbſt, ein innig gefuͤhlter Wunſch. Er rief ihm zu: laß uns beide kaͤmpfen; wer faͤllt, deſſen Schaaren ſollen ſich dem andern ergeben!
Der Tatarfuͤrſt war es zufrieden und warf118 ſeine Lanze. Sie wuͤrde, wohl zielend, Guidos Geſicht getroffen haben, wenn dieſer ſie nicht mit ſeinem Schwerte hinweggeſchlagen haͤtte. Er ſchoß, dem Tatar half ſein Schild. Nun gab Guido dem Pferde den Sporn, flog dicht neben ſeinen Gegner hin, ihm den Degen in die Seite zu bohren. Es gelang nicht, weil der Andere auch mit fechtender Geſchicklichkeit den Streich abzuwenden wußte. Guidos Pferd, im Sprung, war nicht gleich aufzuhalten, der Ta¬ tar ſandte einen Pfeil nach, verwundete es toͤdt¬ lich, und Guido mußte auf den Boden ſpringen.
Nun ſuchte der Feind ihn mit ſeinem Kampf¬ roſſe uͤber den Haufen zu rennen. Ohne hohe Geiſtesgegenwart war Guido verloren. Doch er dachte an Ini, und fuͤhlte neue Kraft durch ſeine Adern ſtroͤmen. Er wich rechts und links dem ſchnaubenden Thiere aus, erſah den Au¬ genblick und bohrte das Eiſen in ſeinen Bauch. Mit großem Getoͤſe fiel es in den Staub, nach¬ dem es durch die letzte krampfhafte Baͤumung den Reuter weggeſchleudert hatte.
Dieſer ſtand aber auch gleich wieder auf den Fuͤßen und Schwert gegen Schwert wuͤthete. Die Panzer vereitelten Hieb und Stoß, an119 ihrer Kraft brachen beider Klingen. Nur die Arme blieben den ergrimmten Kaͤmpfern noch uͤbrig. Den fabelhaften Rieſen der Vorzeit gleich umſchlangen ſie ſich damit, und geriethen auf das Eis eines kleinen Sees, der dort lag.
Der Tatarfuͤrſt ſchien an Nervengewalt ſei¬ nem Feinde nicht nachzuſtehen, doch lebte ihm keine hohe Liebe daheim, in deren Anruf er ſeine Heldenkraft verdoppeln konnte. Allein vor Gui¬ dos Seele ſtand Inis ſegnendes Bild und neue Goͤtterflammen ſtroͤmten in ſeine Bruſt. Mit des Bildes Erſcheinung lebte auch das Triumph¬ gefuͤhl in ihm auf. Es ward ihm ein Spiel, hoch den Tatar empor zu heben und ungeſtuͤm gegen die gefrorne Flaͤche zu werfen. Der Fall des Gepanzerten aufs Haupt war entſcheidend, die Gebeine des Nackens waren zerſchellt, weit glitt der Leichnam auf das klare Eis hin.
Guido nahm das zertruͤmmerte Schwert, den Panzer und eine Diamantkette, die an der Bruſt des Todten hing, alles an Ini zu ſenden. Die Europaͤer ließen Sieggeſang ertoͤnen, die Raͤu¬ berhorden flehten um Gnade und lieferten die Waffen ab.
Man fand großen Raub im Lager, den Guido120 unter die gepluͤnderten Landleute vertheilen hieß. Edel genug waren ſeine Soldaten, nur Waffen ſich zum Andenken des Tages zuzueigenen.
Noch wurde auf die hie und da zerſtreuten Feinde Jagd gemacht, von denen auch keiner entkam. Die zahlreiche Schaar der Gefangnen bewachend eingeſchloſſen, eilte der Heerhaufen zuruͤck nach dem großen Lager. Das Volk der Gegend erwartete Guido uͤberall an den Wegen, und brachte dem Retter von Tauſend Schrecken ſein Dankopfer in Freudenthraͤnen.
Unterwegs begegnete ihm ein Heer, reich mit Artillerie und andern Erforderniſſen verſehn. Es war im Anzuge, da man aus den Berichten entnommen hatte, jene Meuterei werde dem zu gering geachteten Feinde, nicht vollen Widerſtand leiſten koͤnnen. Auch befanden ſich viele Aerzte im Gefolge, die Natur der Seuche zu pruͤfen. Krankheiten waren dieſem Zeitalter verhaßt und ſchrecklich, denn es war in Europa weit damit gekommen, ſie auszurotten. Seit Jahrhunderten wußte man nichts mehr von Kinderblattern, die Krankheiten von Ausſchweifungen im Ge¬ ſchlechtstrieb, hatte man dadurch verbannt, daß einſt zum Gemeinbeſten, im ganzen Staate,121 an einem ausgeſchriebenen und der Menge ge¬ heim gehaltenen Tage, eine jede Perſon, ohne Ausnahme, Unterſuchung traf und ihre Heilung bewerkſtelligt wurde. Andere Welttheile waren klug genug, dieſes Beiſpiel nachzuahmen und die Uebel beſtanden nur noch in der Geſchichte. Dem Heere von Fiebern mancher Art, wider¬ ſtanden die durch gute phiſiſche Erziehung und Maͤßigung in den Leidenſchaften, geſtaͤhlten Or¬ ganiſazionen. Geiſt und Koͤrper bewegten ſich bei dieſem Geſchlechte zu viel, zu wachſam uͤbte man die Sorge fuͤr geſunde Nahrung, als daß Gicht und Podagra haͤtten foltern koͤnnen. Langer Gebrauch der Milch bei den Kindern, viel fruͤ¬ hes Laufen in freier Luft, bildeten die Lungen vortheilhaft aus, daher konnten Bruſtkrankhei¬ ten nur hoͤchſt ſeltne Erſcheinungen ſein. Jene Reſultate von Verderbniß der Saͤfte, in alten Zeiten bekannt, die ſcheuslichen Waſſerſuchten, waren mit ihren Urſachen verſchwunden. Die Aerzte fanden unten dieſen Umſtaͤnden wenig Be¬ ſchaͤftigung, als bei zufaͤlligen aͤußeren Wunden, oder der auch nicht ſchwierigen Geburtshuͤlfe. Sie trieben dagegen Chemie, die jetzt ſehr viel geuͤbte, und auf das Leben uͤberall angewandte122 Kunſt, und bekleideten demnaͤchſt, bei den Er¬ ziehungsanſtalten, heilſame Aemter. — Immer hoͤher reichte das Leben der Menſchen hinauf, immer gewoͤhnlicher fuͤhrte eine ſanfte ſchmerzen¬ loſe Entkraͤftung hinaus.
Wie hoch mußte alſo die Erkenntlichkeit des Zeitalters gegen den Mann ſein, der die Ver¬ heerungen der Seuche durch ſeine tapfere Liſt abgewendet hatte. Indem die Aelteſten in dem anziehenden Heere, und die Naturkundigen, in ſein Lob ausbrachen, wich Guido beſcheiden aus und entgegnete: Es war immer doch nur zu¬ faͤllig, wenn ich das Gegenmittel fand. Haͤtte ich es ſelbſt entdeckt, bereitet, dann wollte ich euer Lob annehmen.
Daß er den Feind ſchon uͤberwaͤltigt hatte, freute jene Soldaten deſto weniger. Sie haͤtten gern ihren Antheil bei dem Ruhm gehabt. Doch erklaͤrten die Maͤnner im großen Heeresrath ein¬ muͤthig, man muͤſſe beim Strategion darauf antragen, daß Guido einen Triumpheinzug zu Moskau hielt.
Wie wuͤrde mir, dem Juͤngling, das zie¬ men, rief er. Nein, ich bitte um meine Ent¬ laſſung, da ich meine ferneren Reiſen anzutre¬123 ten denke. Giebt es aber einſt neuen Krieg, dann ſtell 'ich mich.
Beſcheidener! rief ein Unteranfuͤhrer, du biſt in ſolchem Fall nicht ſicher, daß ein großes Heer dich zum Feldherrn erkieſt. Zu laut iſt dein Name von Ohr zu Ohr gedrungen.
O, dies anzunehmen, muͤßte ich noch weit mehr Wiſſen errungen haben, antwortete Guido. Doch einige Vorſchlaͤge, zu Verbeſſerungen, an dem ſchweren Geſchoß, und den Minen, bitte ich noch von mir anzuhoͤren. Die Erfahrung dieſer Tage lenkte mich darauf.
Die kuͤnſtleriſchen Soldaten wurden hier ein wenig ſchwierig. „ Wie, er diente nicht in un¬ ſrer Mitte, und hofft uns lehren zu koͤnnen, was wir noch nicht wiſſen? “
Doch er eignete ſich Theorien zu, entgegne¬ ten des Erfinders Freunde.
„ Ei Theorien! Sie ſind nicht die Erfah¬ rung! “
Auch dieſe hat er geſammelt.
„ Aber nicht in zulaͤnglicher Summe. “
Man ſieht, daß die Maͤnner, bei allem Vor¬ ausſein eine Tradizion von ihren Urvaͤtern durch den Zeitſtrom gerettet hatten. Doch ganz ſo ei¬124 genſinnig waren ſie nicht. Sie pruͤften — gin¬ gen vom Tadel zur Billigung uͤber — und nah¬ men an.
Guido hatte aber noch eine andere Idee um¬ faßt, die er gern zur Ausfuͤhrung bringen wollte. Die Muſik beim Heere mißfiel ihm. Manches, ſagte er im Rath der Anfuͤhrer, habt ihr von mir angenommen, was den Nutzen zum Ziel hatte, laßt mich nun etwas fuͤr die Schoͤnheit thun, die ohnehin eine gute Wirkung nicht ver¬ fehlen wird.
Aus der Kaſſe, welche zum Erproben neuer Erfindungen beſtimmt war, wurden ihm belie¬ bige Summen zugewilligt, uͤber die noͤthige Per¬ ſonenzahl konnte er entſcheiden. Er ging eilig an die Ausfuͤhrung, und der Arbeiter Gewand¬ heit ſtillte bald ſeine Ungeduld.
Er ließ eine Luftgallione bauen, von funfzig Adlern gezogen, die fuͤr einige Hundert Men¬ ſchen Raum enthielt. Zwei Silberpauken, maͤ¬ ßigen Haͤuſern an Umfang gleich, befanden ſich darauf, und wurden mit eichenen Knebeln durch Maſchinen geruͤhrt. Zudem metallene Hoͤrner von der Laͤnge einer Tanne, deren hintere Muͤn¬ dung an einen großen Blaſebalg gebunden war,125 Dieſen konnten zwei Maͤnner durch einen Schnell¬ hebel leicht niederſtoßen. Jedes Horn hatte nur einen Ton, und es galt geuͤbte Aufmerkſamkeit der Spielenden, ihn richtig anklingen zu laſſen, wenn das auszufuͤhrende Stuͤck es verlangte. Aehnliche Trompeten waren auch in guter Zahl vorhanden, und Poſaunen, welche ſehr tief und kraͤftig anſprachen. Daruͤber hing ein reinge¬ ſtimmtes Glockenſpiel, dem akkuſtiſche Kunſt eine gewaltige Reſonnanz gegeben hatte.
Guido ſahe bald alles dargeſtellt, und uͤbte ins Geheim ſeine Kuͤnſtler zur Fertigkeit. Dann ſagte er den Heeranfuͤhrern: Ruͤcket aus mit den Truppen. Ihr ſollt eine Muſik vernehmen, dem geſammten Heere, durch das Klirren der Schwerter, ſelbſt durch den lauten Donner eurer Kanonen, hoͤrbar. Toͤne ermuthigen in der Schlacht, fuͤllen dem Tapfern mit noch edlerer Begeiſterung das Herz. Von derſelben Melodie ſollen alle Streiter bezaubernd ergriffen werden.
Man gehorchte ihm. Reuterei, Fußvolk und Artillerie zog auf die Gefilde, in den Bewegun¬ gen eines großen Kampfes. Zu den Wolken ſtieg der graue Dampf ihrer Roͤhre der Himmel war verhuͤllt. Da ließ Guido das maͤchtige Feld¬126 orcheſter uͤber ſie ſchweben, dreihundert Klafter hoch, unſichtbar in dem wallenden Rauchnebel. Die Muſiker hatten die Ohren dicht verſtopft, nicht Taubheit davon zu tragen.
Welch ein Effekt in der Tiefe, als der Sturm des Klanges niederbrauſte, auf Meilenfernen in gleicher Gewalt hoͤrbar. Es war, als ob der Gott der Heerſchaaren in den Luͤften walte¬ te, ſeine Treuen durch himmliſche Melodien zum unſterblichen Ruhm weihend. Entzuͤckt, wonnetrunken, horchten die ſtaunenden Helden. Warum iſt kein Feind da, den wir, von den Harmonien umſtroͤmt, bekaͤmpfen koͤnnen, riefen ſie. Zu unuͤberwindlichen Loͤwen erhuͤbe uns die wundervolle Magie.
Hatte er zuvor die Liebe der Soldaten ge¬ wonnen, ſo flogen ihm nunmehr alle Herzen zu, denn dieſe Krieger bargen Schoͤnheitsſinn. Die Erfindung ward auch einmuͤthig angenommen, doch beſtimmten die Anfuͤhrer ihren Gebrauch nur fuͤr den Ernſt, im Frieden ſollte ſich das Ohr der Soldaten nicht daran gewoͤhnen, da¬ mit einſt in der Schlacht die Wirkung hoͤher reichte.
Guido wandte ſich nun heimlich von den127 Truppen, dem ſchmeichelhaften Abſchied zu ent¬ fliehn, und eilte nach Moskau, wo ihn Gelino freudig in die Arme ſchloß.
Sich hier ſelbſt mehr gegeben, pruͤfte er ſeine Geſtalt an Spiegeln, und ward froher noch uͤber die jetzige Entdeckung, als in dem ſtolzen Au¬ genblick, wo es ihm endlich gelang, den Feld¬ herrn der tatariſchen Horden zu uͤberwaͤltigen. Denn faſt kannte er ſich nicht gleich, ſo hatte ſeine Schoͤnheit zugenommen. Entwickelter zu einer reinen Uebereinſtimmung, ſtellten ſich die Verhaͤltniſſe der Arme, des Leibes, der unteren Theile dar, heller gluͤhte das muntere Inkarnat der Wangen, durch die viele ruͤſtige Bewegung in der geſunden Nordluft. In dem Auge ſtrahlte ein unglaublich frohes, edles Feuer, eine ſtolze Sicherheit, erzogen durch das ſiegende Bewußt¬ ſein vollbrachter Heldenthat, und die Wonne des Stolzes im Selbſtgefuͤhl, wenn ſchon durch Be¬ ſcheidenheit in gemeſſenen Schranken gehalten, daß keine Verzerrung einen Ausdruck von Eitel¬ keit entſtehn ließ, der andere durch Tadel be¬ leidigte. Der Hochſinn, bei den Gefuͤhlen der Liebe und den Entzuͤckungen der Kuͤnſte, hatte immer nur ſanft des Oberhauptes Rundung em¬128 porgehoben, die ungeſtuͤme Heldengluth aber, in ihrer, beſonders den hohen Theil im Gehirn be¬ wegenden Seelenthaͤtigkeit, hatte ſie ſchnell hin¬ ausgedraͤngt, und wie es Guido ſchien, bis an die Linie welche Inis Ideal verlangte. Dage¬ gen wenn er ſein Profil in zwei Spiegeln be¬ ſah, konnte er mit ſeiner Stirn noch nicht zu¬ frieden ſein. Denn dort war immer noch nicht genug geſchehen, noch lag ſie nur in einer Per¬ pendikulaͤre mit dem Kinn, da ſie gleichwohl um ein Gutes haͤtte vordringen muͤſſen. Guido ſagte ſich unter dieſen Umſtaͤnden, was ich bis¬ her dachte, war noch immer nicht genug, der Summe nach, oft auch nur fluͤchtiger Aufflug der Imaginazion. Ich muß mehrere Gegen¬ ſtaͤnde in die innere Welt rufen, und durch fort¬ fahrende ſchwere Kraftuͤbung des Denkens, des Gehirnes Maſſe vermehren. Dann habe ich mich auch vorzuͤglich mit Dingen zu beſchaͤftigen, die die Empfindung ausſchließen, rein abgezogen ſind. Nur ſo iſt das vorliegende Mark des Schaͤdels thaͤtig, waͤchſt an und ſtoͤßt ſeine ge¬ ſtaͤrkte Huͤlle weiter. Die Hoffnung, auch das werde gelingen, erhob ſeinen Muth.
Er129Er ſchrieb an Ini, ihr ſeine Trophaͤen ſendend:
„ Einem andern Maͤdchen duͤrfte ich ſchon kuͤhn nahen, und um ihre Hand werben. Denn ein ſtattlicher Ritter, leg 'ich der Geliebten Feindes Waffen zu Fuͤßen, und ſchmuͤcke ſie mit einer Eroberung. Du aber ſteigerſt deinen Ver¬ trag, und darfſt, du Goͤttliche, hoͤhern Preis auf dich ſetzen. Je mehr ich ſinne und handle, je mehr lerne ich dich verſtehn, je mehr be¬ greife ich, wie deine Idee menſchlicher Wuͤrdig¬ keit weit hinaus liegt, uͤber alles, was ſchon Sterbliche thaten. Ich muͤßte vor dieſem rei¬ neren Erkennen verzweifeln, deiner Forderung glorreich Genuͤge zu thun, haͤtte ich nicht die Wunderkraft fuͤhlen lernen, die dein Bild in meine Adern gießt. So aber beginne ich hof¬ fend den neuen Lauf, lebt doch das Flehn in mir, das dich um Beiſtand anrufen kann, wie in jenes Kampfes Stunde, wo gnaͤdig mich die Goͤttin erhoͤrte. “
Gelino ſagte darauf, laß uns eine andere Wohnung beziehn, wo wir mehr Schutz gegen die Kaͤlte finden. Der Winter iſt ſtrenge, im¬ mer hoͤher deckt ſich der Boden mit Schnee.
I130Guido empfand die Unbehaglichkeit eben nicht, doch dem ſchwaͤcheren Greis nachgebend, folgte er willig.
Sie traten am Abend in ein geraͤumig Haus, deſſen Zimmer trefflich durch Oefen erwaͤrmt und artig verziert waren. Willſt du nicht deine Be¬ merkungen uͤber die Reiſe aufzeichnen, und die Geſchichte deines Feldzugs? fragte Gelino. Der Juͤngling dankte ihm fuͤr die Erinnerung, und eilte um ſo eher zu ſchreiben, weil ernſthaftere Beſchaͤftigungen dem eben gefaßten Vorhaben entſprachen. Mit Ausnahme eines kurzen Schlafs, und einer Stunde beim Mahl, wich er nicht von ſeiner Arbeit. Einigemal ward er darin ge¬ ſtoͤrt, weil ihm duͤnkte, das Haus bewege ſich. ſollte das ein Erdbeben ſein? fragte er den Lehrer. Weiß man denn hier nicht, wie in Ita¬ lien, die Zeit und die Staͤrke einer ſolchen Na¬ turerſcheinung zu berechnen, oder ſie abzuwen¬ den von den Staͤdten, mittelſt tief gewuͤhlter Brunnen, durch welche das tiefe Feuer einen Ausweg findet?
Sei unbeſorgt, erwiederte Gelino, hier ſind die Erdbeben ſelten, und traͤte ja der Fall ein, wuͤrden die Naturkundigen ſchon zeitig warnen. 131Glaube nicht, man ſei hier noch ſo unwiſſend, wie in rohen Jahrhunderten einſt durch ganz Eu¬ ropa, wo Staͤdte zertruͤmmert wurden.
Gab es wirklich eine ſo unwiſſende Zeit? fragte Guido ſtaunend.
Sieh da die Folge deiner Saͤumniß, Ge¬ ſchichte zu lernen, ſtrafte der Lehrer. Liſſabon und ſelbſt unſer Meſſina haben einſt furchtbar dadurch gelitten. Du weißt viel, erfindeſt viel, dennoch ſchoͤpfeſt du zu wenig aus dem rechten Quell.
Du haſt Recht, gab Guido zur Antwort hier ſieht mein Streber noch ein weites Feld. O ich muß auch die Naturkunde noch mehr treiben und manches Andere.
Nun, wir werden auch ins gelehrte Deutſch¬ land kommen. Da magſt du dich mit Elemen¬ ten vertrauen und deinem kuͤnftigen Denken neue Richtungen geben.
Der Zoͤgling hatte nach dreien Tagen ſeine Arbeit vollendet. Freilich waren darin nur hin¬ geworfene Bemerkungen und kurze Ueberſicht der Thatſachen zu finden; die Urſachen der Erſchei¬ nungen aufzuſuchen, fiel ihm noch nicht genug ein; ſein Wiſſen, wenn ſchon reich in der Menge,J 2132hatte zu vielen poetiſchen Anſtrich. Entzuͤckt ſein, hieß ihm noch oft Bemerken. Gelino beruhigte ſich aber dabei, indem er wohl wußte, aus dem jugendlichen Genie koͤnne erſt die Gruͤndlichkeit als eine Frucht der Jahre hervorkeimen. Laß uns jetze eine andere Wohnung ſuchen, ſagte Gelino.
„ Schon wieder? Ich meinte, dieſe ſei dir bequem? “
Eine noch bequemere.
„ Wie du willſt, ich will ohnehin ein wenig ins Freie. Seit drei Tagen kam ich nicht unter dem Dache weg. “
Sie traten hinaus. Guido ſah einen großen ſchoͤnen Platz, ihm unbekannt. Was iſt das? fragte er, den Platz ſah ich noch nicht, und glaubte doch ganz Moskau durchirrt zu haben. Auch ſchien mir, unſer Haus laͤge in einer en¬ gen Gaſſe, da wir es neulich am Abend be¬ zogen.
O wir ſind nicht in Moskau, rief Gelino laͤchelnd.
Guido blickte ihn verwundert an.
Jener fuhr fort: Du biſt in Petersburg. Das Haus war ein Schlitten. Du haſt nur133 einigemal einen kleinen Anſtoß geſpuͤrt. Sonſt glitten wir in den drei Tagen ſanft uͤber den Schnee hieher.
Guido freute ſich hoch. Ich geſtehe, ſagte er, wie mir vor dieſer Reiſe ein wenig bangte. Durch die Luft, fuͤrchtete ich, wuͤrde es dir zu kalt ſein, und wie ein Wagen eine Bahn in der ſtarren Winterdecke finden werde, konnte ich nicht begreifen.
Sie beſahen nun die ſchoͤne Stadt, reich durch einen uͤppigen Handel, und einen glaͤnzen¬ den Fuͤrſtenhof. Guido nahm jedoch einen an¬ dern Nahmen an, denn ſein Ruf war voran¬ geeilt, und er wollte ſich ſo wenig durch Schmei¬ cheleien betaͤuben, als in ſeiner Lernbegier ſtoͤ¬ ren laſſen.
Unter den mannichfachen Sehenswuͤrdigkeiten, gefiel unſern Reiſenden nichts mehr als die Win¬ tergaͤrten, welche man hier angelegt hatte, um das Anſchauen gruͤnender Natur nicht ſo lange zu entrathen, als der unfreundliche Himmelſtrich gebot. Faſt jeder von den Reichen beſaß eine ſolche liebliche Anſtalt; die weitlaͤuftigſte darunter war jedoch oͤffentlich, wurde von der Geſammt¬134 heit erhalten, und es ſtand jedem Einwohner und Auswaͤrtigen frei, ſich dort zu vergnuͤgen.
Eine dicke Mauer von Quadern umzog einen Raum von mehreren Tauſend Schuhen im Ge¬ vierte. Der ganze Boden war hohl, Pfeiler von großem Umfang trugen ſeine Gewoͤlbe, und durch viele Eiſenoͤfen, deren Zuͤge und Roͤhren kuͤnſtlich umhergeleitet waren, empfing die ge¬ laͤuterte, auf alle Weiſe fruchtbar gemachte Erde, die auf dem Gewoͤlbe lag, Erwaͤrmung.
Von dieſen Vorkehrungen ward jedoch Nie¬ mand oben etwas inne. Man trat durch ein Thor in eine Vorhalle, die wieder zu einem geraͤumigen Saal fuͤhrte, ſchon milder in ſeiner Temperatur als jene. Durch doppelte und ver¬ huͤllte Thuͤren, damit die Kaͤlte nicht eindraͤnge, gelangte man weiter.
Aus dieſem Saal fuͤhrten andere Thuͤren in eine breite Gallerie, deren hohe bis zur Erde reichende Fenſter, von Polkriſtall, nur nach In¬ nen gingen.
Und wohin? Durch die ſtarre Kaͤlte, wie Dezember und Januar unter dieſer Breite geben, trat man in die Vorhalle mit frierendem Athem, das Haar mit Eis behangen. Aufwaͤrter reinig¬135 ten die rauhe Fußbekleidung von Schnee, und ſaͤuberten des Ankoͤmmlings Locken. Im andern Saale fand man den Pelz beſchwerlich, und gab ihn ab. In der Gallerie wehten milde Sommer¬ luͤfte, das Auge blickte froh durch die Fenſter hinaus auf liebliche Gruͤne, auf Veilchen, Jon¬ quillen und Roſen.
Ein angenehmes Parterre bot ſich im Halb¬ rund dar, reich an Florens Pracht, mit holdem Duft labend, begraͤnzt durch dunkle Katalpen¬ buͤſche, aus denen reizende Marmorgebilde winkten.
Selige Ueberraſchung! Frohes Athmen, ſuͤße Wandlung durch den kleinen Platanenhain, an ſilberhellen Baͤchen hin, uͤber bebluͤmte Huͤgel, wo ſich hinter Teichen weite Ausſichten in rei¬ zende Gebirglandſchaften oͤffneten. Der Stau¬ nende, nicht vertraut mit des kleinen Paradie¬ ſes Kunſt, begriff nicht, was er ſah, und rief die Fabeln der Wohnſitze mithiſcher Zauberinnen und Hesperidengaͤrten in die Erinnerung.
Der kurze Tag entfloh bald; wer vermogte ſich von dem Heiligthume zu trennen? Im Daͤmmerlichte gewannen die mannichfachen Schoͤn¬ heiten erhoͤhten Reitz, Nachtigallen floͤteten aus136 Bluͤthenzweigen nieder, in Jasminlauben horch¬ ten die Luſtwandelnden ihrem Geſang. Bald ſtieg aber der Mond empor, hoch im Norden am Aether hangend, und goß ſeine Schimmer verklaͤrend nieder. O Ini, ſeufzte Guido tief¬ bewegt, koͤnnt 'ich an deinem Arme hier den Himmel fuͤhlen!
Und wie hatte der kluge Fleiß dies alles ge¬ ſchaffen? In den dicken Mauern der Umgebung lagen, wie unten, Oefen verborgen. Die gro¬ ßen, hie und da zerſtreuten, Eichen und Fichten, waren durch Kunſt der Natur nachgeahmt, zum Theil hohl, um in den durchgefuͤhrten Roͤhren Waͤrme auszuhauchen, damit auch oben eine gleichmaͤßige Temperatur erzeugt wuͤrde, zum Theil beſtimmt die hohe Glasdecke zu tragen, die ſich zwiſchen ihnen in kleinen Gewoͤlben ſenkte und hob.
Glasſteine, rein und klar genug, den Licht¬ ſtrahl nicht zu hemmen, und doch von der noͤ¬ thigen Staͤrke, um alle Kaͤlte abzuwenden, bil¬ deten dieſe Gewoͤlbe. Kein Kitt verband ſie, ſondern man hatte im Bauen ihre Seiten durch Feuer erweicht und ſie ſich ſo verſchmelzen laſ¬ ſen. Die Anſtalten mangelten nicht, ſie Außen137 vom Schnee und Inwendig von Duͤnſten zu rei¬ nigen, und ſo war die gluͤckliche Taͤuſchung voll¬ endet. Die weiten Ausſichten hatte allerdings die Malerei geſtaltet, aber ſo trefflich, daß das Auge vollkommen betrogen wurde, um ſo mehr da es kleine Teiche kluͤglich hinderten, zu den, Fer¬ nen luͤgenden Waͤnden, zu dringen. —
Unterdeſſen kam in Moskau ein Schreiben vom Strategion zu Rom an. Eine lange Be¬ rathung hatte es aufgehalten. Nicht gern wollte man ſo fruͤh einen Juͤngling belohnen, damit der Sporn zu hoͤherem Streben nicht mangle, und dennoch hatte dieſer Juͤngling durch ſo fruͤhe Thaten, Lohn verdient. Endlich ſandte das Strategion dennoch eins von den großen Ehren¬ zeichen, wie ſie Feldherren nach gewonnenen Schlachten empfingen. Man beſann ſich, daß Guido ſchon in ſehr fruͤhen Jahren Beweiſe ſeines erfinderiſchen Kopfes geliefert habe und dies gab den Ausſchlag. Ein aufmunterndes Schreiben, von des Kaiſers eigener Hand, lag bei.
Guido befand ſich aber nicht mehr in dieſer Stadt und Niemand wußte dort, wohin er ge¬ reiſet ſei. Er hatte dagegen die Weiſung zuruͤck gelaſſen, im Fall Briefe an ihn uͤberkaͤmen, ſie138 nach Sizilien zu ſenden, daneben die Aufſchrift, an Ini.
Dieſe empfing nun durch die Eilpoſt jene Gegenſtaͤnde. Gleich ſchmeichelhaft fuͤr Geliebte und Geliebten.
Sie wußte, daß er ſich jetzt in Petersburg befand, und ſchrieb ihm, jenen Brief zugleich beantwortend:
„ Gern ſeh ich dich in der Heldenreihe, doch mehr noch wuͤrde es mich erfreuen, wenn du beitragen koͤnnteſt, daß die Menſchheit den un¬ ſeligen, ihre Natur entehrenden, Krieg verbannte. Ein Ehrenzeichen liegt fuͤr dich hier, ich ſende es nicht, hoffend, du werdeſt zu edel denken, es zu tragen. Es iſt noch ein Reſt alter Bar¬ barei, wenn man ſolche Zeichen ausgiebt, meine ich immer. Traurig wenn das Vaterland ge¬ bieten muß, Blut zu vergeuden. Wer die ſchreck¬ liche Pflicht uͤbte, ihm zu gehorchen, wozu ſoll er noch ausgezeichnet ſein, daß ſein Anblick durch eine ſchauderhafte Erinnerung empoͤre. Verheimlichen, tief verheimlichen, ſollte unſre Zeit die ungluͤcklichen Heldenthaten. Glaube auch, nur der reinſte Menſchenſinn kann deine Schoͤn¬ heit vollenden. “
139Dies gefiel freilich dem flammenden Juͤng¬ ling nicht ganz. Lob, warmes Lob, haͤtte er von dem Maͤdchen gehoft, das begeiſternd mit Kraft weihte, und es toͤnte nun ſo ſparſam, ſo bedungen. Doch raͤumte er ihrem feinen Geiſt den hoͤheren Ausſpruch ein, und antwortete nur, indem er dieſem ſeine Ehrfurcht darbrachte.
Er blieb noch einige Zeit in Petersburg, ſich von dem Handel und dem Zuſtande der Wiſſen¬ ſchaften im Norden zu unterrichten.
Jener war ſehr ausgebreitet, und wurde mit einer der Lage des Landes angemeſſenen Klug¬ heit geleitet. Die Bevoͤlkerung war ſeit zwei Jahrhunderten in den Gegenden an der finniſchen Bai, am Ladoga und weißen Meere bedeutend angewachſen, aber doch nicht in dem Maaße, daß die großen Waldungen dadurch ſo verdraͤngt worden waͤren, daß das Holz, kein Gegenſtand der Ausfuhr bleiben konnte, wie es in vielen, noch dichter bewohnten Laͤndern, ſchon lange der Fall war. Man blickte alſo auf dieſe Waldun¬ gen, als einen vorzuͤglichen Handelsvorwurf. Doch roh ihn zu verkaufen, war man zu weiſe. Es wurden Schiffe in Menge gebaut, wodurch ſich denn die dabei thaͤtigen Handwerker in gro¬140 ßer Zahl naͤhrten. Andere Voͤlker, der Schiffe benoͤthigt, und uͤberzeugt, ſie waͤren nur in Pe¬ tersburg am wohlfeilſten zu bekommen, holten ſie dann fleißig ab, und brachten Erzeugniſſe, die zufolge des Himmelſtriches hier fehlten. Auſſer dem noͤthigen Brotgetraide wurde durch den Landbau ein Ueberfluß an Hanf gewonnen. Auch dieſen veraͤußerte man nicht im unverar¬ beiteten Zuſtande. Thaue und Straͤnge aller Art, wie auch Segeltuche, wurden daraus gefer¬ tigt, und wegen ihrer Vollkommenheit uͤberall beliebt. Hiezu kamen, Pelzwerk, Juchten, Saf¬ fian, Kaviar, welche die Lebhaftigkeit des Ver¬ kehrs mehrten.
Der Handel war jetzt ungemein beguͤnſtigt. Die große Sicherheit der Schiffahrt, die erhoͤhte Vollkommenheit der Landtransporte, die ausge¬ dehnteſte Freiheit, die Verbannung aller Privi¬ legien, leiſteten ihm Vorſchub. Die gleiche Guͤte des Geldes, von der Regierungsweisheit immer im richtigen Verhaͤltniß zu den Sachen gehalten, die gleichen Maaße der Dinge verſchafften ihm erweiterte Bequemlichkeit. Die Ehrliebe der Kaufleute, welche einen Bankrottirer mit ewiger Verachtung wuͤrde geſtempelt haben, befeſtigte141 den Kredit und es war unerhoͤrt, daß einer dar¬ unter ſein Wort nicht erfuͤllt haͤtte. So knuͤpfte man Erdtheil an Erdtheil und erfreute ſich der mannichfachen Gaben der Natur Allenthalben.
Die Wiſſenſchaften bluͤhten in Petersburg an jedem Zweig, vorzuͤglich aber lag man der Na¬ turkunde ob, und die reich ausgeſtattete Akade¬ mie ließ den Norden fleißig bereiſen, neue Entdeckungen im Gebiet der Phiſik zu machen, oder die aͤlteren zu berichtigen. Eine große Zahl von Foſſilien, erdigt, ſalzig, metalliſch und ge¬ mengt, vor dreihundert Jahren noch ganz unbe¬ kannt, hatten dieſe Verſendete in den Gebirgen gegen den Pol ausgemittelt, wie man ihnen auch die erſte Entdeckung der koͤſtlichen, allent¬ halben geſuchten, Polkriſtalle dankte. Denn die erſte Reiſe zur Erdachſe im Norden, war von Petersburg geſchehen. Die Naturgeſchichte aller der Land - und Eisthiere, jenſeits dem achzigſten Grade Nordbreite gefunden, hatte dieſe Akade¬ mie ſinnreich bearbeitet. Hoͤchſt ſehenswerth konnte man ihre Sammlung von Petrefakten nennen, worunter, außer vielen Ichthioliten und Tetrapo¬ dolithen auch ein vortrefflicher ganzer Anthro¬ polith war, mit Mergeltuf durchzogen und in142 allen Theilen wohl zu erkennen. Ein verſteiner¬ ter Mammouth befand ſich ebenfalls hier, wie viele Skelette dieſes verſchwundenen Thieres, deſſen ganze Organiſazion man aber dennoch kannte.
Guido wohnte einer Vorleſung uͤber die Ver¬ aͤnderung der Erdachſe, und einer andern uͤber die Abnahme des Meeres bei, hoͤrte viel Stau¬ nenswuͤrdiges, und lernte ernſter uͤber die großen Beobachtungen nachſinnen, welche Jahrtauſende der Vorwelt und Jahrtauſende der Nachwelt umfaſſen. Man ſprach von einer Zeit, wo die hohe Tatarei noch unter der Linie gelegen hatte, und von einer anderen, wo der Polpunkt in Ir¬ kutzk zu finden ſein werde. Man erzaͤhlte von einem Volke, das vor Zehntauſend Jahren in Siberien gelebt, und ſich eines ziemlichen Gra¬ des von Kultur erfreut habe. Die Monumente, unter der Erde gefunden, die alten erhaltenen und endlich entzifferten Schriften, hatten ein zweifelfreies Licht daruͤber verbreitet. Man wußte genau, um welche Zeit Schweden aus der See hervorgetreten waͤre, und gab wieder jene an, in welcher der finniſche Meerbuſen trocken liegen, und ſich zum Anbau eignen wuͤrde.
143Dieſe Akademie gab auch bisweilen der Stadt Petersburg ein ganz eigenthuͤmliches Feſt, und gemeinhin in den laͤngſten Naͤchten, wenn kein Mond ſchien. Sie huͤllte ſie dann naͤmlich in ein kuͤnſtliches Nordlicht, was eine ganz zaube¬ riſche Wirkung hervorbrachte. Denn die Ge¬ ſetze dieſer Meteore, lange ein Geheimniß, wa¬ ren ergruͤndet worden, und man brachte die Ma¬ terie beliebig hervor, was jedoch nur in dieſen Gegenden, und bei einem gewiſſen Kaͤltegrad anging.
Es herrſchte hier ein Nachkoͤmmling der Ro¬ manow, denn jenes Haus, da es ſich erobernd gegen den Orient gewandt hatte, wollte doch nicht ganz die Vatererde aufgeben, wo einſt Peters ſchoͤpferiſcher Genius das erſte Licht beſ¬ ſerer Aufklaͤrung anzuͤndete. Auch ſah man Pe¬ ters Standbild, einſt von der genievollen nordi¬ ſchen Semiramis erhoͤht, noch wohlerhalten und vielgeehrt an der alten Stelle.
Nach Genuͤſſen und Belehrungen mannich¬ facher Art, wandten ſich unſere Reiſenden nach dem ehmaligen Polen, wo ſie gegen den Fruͤh¬ ling ankamen.
Gelino ſagte: Dies Land war vor einigen144 Jahrhunderten durch eine fehlerhafte Regierungs¬ form ſehr arm an Menſchen. Der Landbau, wie ſehr es durch fruchtbaren Boden darauf ange¬ wieſen iſt, ward unvollkommen getrieben, die Handwerke und Kuͤnſte lagen ganz danieder. Skla¬ verei der geringen Klaſſen entehrte die Menſch¬ heit. Jetzt hingegen prangen ſeine Gefilde in uͤppiger Erzeugung, wohlgebaute Staͤdte und Doͤrfer zeigen reiche Bevoͤlkerung, Kunſtfleiß in jeder Art iſt regſam. Dies vermag langer Friede unter weiſer Verwaltung.
Guido ergoͤtzte ſich innig bei dem lachenden Anblick, der ſich allenthalben darbot. Große Kunſtſtraßen und Nebenwege waren ohne Aus¬ nahme mit mehreren Reihen nutzbarer Obſt¬ baͤume beflanzt, deren Bluͤthenſchnee mit den dunkelgruͤnen hochbegraſten Triften und fetten Kornfluren angenehm wechſelte. Nie hatte Guido ſo ſtattliche Heerden geſehn als hier wei¬ deten. Er rief: Siziliens Landſchaft iſt man¬ nichfacher, feinere Baumgattungen und Frucht¬ arten ſchmuͤcken ſie, doch ein ſo friſches Gruͤn labt dort die Blicke nicht.
Gelino antwortete: Die Natur iſt uͤberallreich,145reich, der Menſch verſtehe nur ihre Winke ge¬ horſam, und ſie lohnt.
Der Zoͤgling wunderte ſich uͤber die vielen Kanaͤle, mit denen das Land durchzogen war, und die von Floͤſſen und Fahrzeugen wimmelten. Wer hat alle dieſe Arbeiten vollbracht, und zu welchem Ende? fragte er.
Der Lehrer gab ihm die Antwort: Das Land iſt niedrig und zu Kanaͤlen geeignet, die außer der erleichterten Fortbringung auch durch Be¬ waͤſſerung nuͤtzen. Sehr einfach hat man ſie aufgewuͤhlt, und nach den Stroͤmen geleitet. Ehedem wandten die thoͤrichten Menſchen, die gewaltige Kraft in Entbindung gewiſſer Gas¬ arten, nur auf das Verderben an. Kluͤglicher hat man ſpaͤterhin, durch das vervollkommnete Schie߬ pulver, Erdlagen gebeſſert und Kanaͤle erſchaffen.
Dies Land bringt, trotz ſeiner großen Be¬ voͤlkerung, die ja auch nur die Erzeugungen mehrt, wohl dreimal mehr Getraide, Obſt, Honig und Schlachtvieh hervor, als es ſelbſt verbrauchen kann. Dieſer Ueberfluß ladet, wie einleuchtend iſt, zum Handel ein. Es giebt kein Land mehr in Europa, das nicht weiſe genug waͤre, ſeine erſte Subſiſtenz ſelbſt hervorbrin¬K146gen zu wollen, doch einige, wo es zufolge natuͤr¬ licher Hinderniſſe nicht angeht. Dahin gehoͤrt ein Theil von Schweden und Norwegen, Lappland, Nowaja Semlia und Spitzbergen. Die letzt¬ genannten waren Ehedem wenig oder gar nicht bewohnt, ſpaͤterhin hat man ſie zu Verweiſungs¬ orten fuͤr Europaͤer gemacht, die unklug genug waren, ſich nicht den Geſetzen unterziehn zu wollen. Dieſe haben ſich gemehrt, der Handel andere dahin gefuͤhrt, und ſo ſind auch jene ſo weit zum Pol hinliegenden Gegenden jetzt be¬ voͤlkert, und man weiß ſich dort gut zu naͤhren.
Dies Land fertigt jedoch aus ſeinem uͤberfluͤſ¬ ſigen Korn, Backwerke aller Art, die ſich Jahre lang halten, und durch Befeuchtung genießbar werden. Fleiſch von Rindern und Schaafen wird durch Salz und Raͤucherung dauerhaft gemacht, das Obſt getrocknet, oder in geiſtigem Waſſer auf¬ bewahrt. Der Honig dient, mannichfache Kuchen zu bereiten, welche beliebt ſind. Endlich fertigt man ſtarke Biere, in Eſſenzen verkuͤrzt, und ge¬ brannte Waſſer an.
Meiſtens gehn dieſe Gegenſtaͤnde nach den genannten Nordlaͤndern, welche deswegen doch nicht arm zu achten ſind. Sie bieten wieder147 vortreffliche Eiſenwaaren, fertige Pelzkleidun¬ gen, Fett von Wallfiſchen und Robben feil, und geben ſich daneben fleißig mit dem Hering¬ fange ab.
Die inlaͤndiſchen Kanaͤle, welche du hier ſiehſt, geben nun all' dieſer Regſamkeit doppeltes Leben. Denn wenn die Fortbringung auf den großen Prahmenwagen ſchneller von ſtatten geht, ſo iſt jene mit geringeren Koſten verbunden, da auf den ebnen Nebenſteigen, welche am Waſſer hinlaufen, ein Pferd betraͤchtliche Laſten zieht. —
In den Staͤdten nahm man die großen Brau - Back - und Brennanſtalten in Augenſchein, wo ſich alles durch eine kunſtreiche Behandlung und Reinlichkeit auszeichnete. Und dennoch, bemerkte Gelino, melden alte Schriftſteller, ſollen vor einigen Jahrhunderten dieſe Staͤdte einen ſcheu߬ lichen Anblick gewaͤhrt, Unwiſſenheit und Un¬ ſauberkeit hier ihren Wohnſitz aufgeſchlagen haben.
Dem Getraide ſeinen geiſtigen Inhalt zu entziehn, verſtand man vortrefflich, denn chemi¬ ſche Naturkunde leitete die Grundſaͤtze. Lieb¬K 2148liche und dennoch unſchaͤdliche Einmengungen ver¬ beſſerten den Geſchmack.
Die Anſtalten, Fleiſchwerk durch Rauch dauer¬ haft zu machen, hatten Thurmhoͤhe. Der Rauch ward durch lang empor gewundene Roͤhren ge¬ leitet, und zog ſich ſo feiner in die Maſſen. Durch fette Weiden wohl genaͤhrt, lieferten die Schlachtthiere ſchon ein ungemein nahrungge¬ haltiges Fleiſch, und uͤberaus zart war der Geſchmack der hier geraͤucherten Gaͤnſebruͤſte, Schinken u. ſ. w. Leckermaͤuler gaben ihnen den Rang vor allen uͤbrigen in Europa.
Es laͤßt ſich deuten, wie das Volk in dieſen Gegenden, ohnehin ſo wohlhabend, auch durch dieſe Urſachen ſtark an Knochenbau und Muskeln geweſen ſein muͤſſe. —
Man langte endlich in der weitlaͤuftigen und freundlich gebauten Vorſtadt Praga vor Warſchau an. Hier ereignete ſich, ſagte Gelino, um das Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein ſchau¬ derhafter Auftritt, indem bei einem Sturm faſt alle Einwohner hingemetzelt wurden. Heil uns! daß wir Blutſzenen in Europa gar nicht mehr, und an den Graͤnzen nur ſelten und nothgedrun¬ gen erblicken; daß auch, wenn ja Krieg beſteht,149 die Voͤlkeruͤbereinkunft ihn bloß auf die Heere ausdehnt. Der Soldat wuͤrde ſich entehrt hal¬ ten, wenn ein ruhiger Bewohner des Landes uͤber ihn klagte. Wenigſtens denkt der Soldat von Europa ſo.
Eine treffliche Anſicht ſtellte ſich, da ſie an den majeſtaͤtiſchen, mit Schiffen bedeckten, Strom kamen, in der mit ihren Vorſtaͤdten und Gaͤr¬ ten unabſehlich ans Ufer hinlaufenden Stadt Warſchau dar. Der jenſeitige hohe Rand war terraſſenfoͤrmig mit Pappelalleen geſchmuͤckt, von der Hoͤhe winkten Prachtgebaͤude, Tempelkup¬ peln mit reicher Vergoldung, Obelisken, Tele¬ graphen - und Glockenthuͤrme. Sternwarten, Luftpoſtzinnen und andere hohe Gebaͤude, wie ſie jetzt in Staͤdten uͤblich waren, hoben ſich aus dem Steinmeere in bezaubernden Verhaͤlt¬ niſſen empor. Man hielt uͤberhaupt in dieſem Jahrhundert viel auf die Phiſiognomie der Staͤdte, die ſchon in weiter Ferne dem Wande¬ rer verkuͤndeten, was er im Innern zu finden hoffen duͤrfe.
Sie fuhren uͤber die praͤchtige Marmorbruͤcke, zu beiden Seiten mit atheniſchen Bildſaͤulen ge¬ ziert. Guido wunderte ſich, da er den Strom150 hinaufblickte und in der Weite viel Feuer und Rauch aufſteigen ſah. Der Lehrfreund erklaͤrte ihm die Erſcheinung.
Vor Zeiten, fing er an, war der Eisgang auf dieſem Strome ſehr ungeſtuͤm, und es ließ ſich keine dauerhafte Bruͤcke bauen, da man be¬ fuͤrchten mußte, ſie im Fruͤhjahre zerſtoͤrt zu ſehn. Jetzt iſt man klug genug, das nuͤtzliche Feuer¬ pulver auch hier anzuwenden. Wie eine Gefahr dieſer Art droht, belegt man die Winterdecke des Stromes mit einer Menge von Raketen, aus Pulver und jener heftigen Feuermaterie gemengt, die auch im Kriege gebraucht wird, und auf Eis und Waſſerfluthen fortbrennt. Dieſe Rake¬ ten bedecken die ganze Flaͤche mit Funken, und ſchmelzen durch ihre Menge in kurzem alles Eis. Da, obgleich der Fruͤhling ſchon um ein Gutes vorruͤckte, noch hie und da Schollen ankommen, ſo wirſt du dort jene Thaͤtigkeit inne.
Er ſetzte hinzu: Auch Ueberſchwemmungen, durch Anhaͤufen der Gebirgwaͤſſer erzeugt, ſuch¬ ten Ehedem manche Laͤnder heim. Nun aber fließen ſie durch Kanaͤle ab, oder durch die hohen Bewallungen an den Stroͤmen, immer noch be¬ nutzt, da man gute Fruchtbaͤume darauf zieht. So151 traͤgt im Kampfe gegen die feindliche Natur, der Menſch immer den Sieg davon, wenn er mit Vernunft den Willen umfaßt.
Auf den Gaſſen der Stadt bemerkte Guido, daß es hier ungemein viel ſchoͤne Weiber gaͤbe. War gleich, wie oben im Eingang berichtet worden, das Geſchlecht uͤberhaupt zu einer ent¬ wickelteren Anmuth erzogen, und die europaͤiſche Menſchheit durch Gleichheit der Verfaſſung in einander gefloſſen, ſo mußten dennoch einige Unterſchiede in der aͤußeren Bildung uͤbrig blei¬ ben, deren Urſachen man in Abſtammung und Gegendeigenheiten zu ſuchen hatte. Der Lehrer erklaͤrte: Schon im Alterthum wurden die Sar¬ matiſchen Schoͤnen geprieſen.
Guido fand bald darauf Gelegenheit, dieſe lieblichen Bluͤthen im vereinten Strauß zu beob¬ achten.
Zu Moskau, dem Hauptorte der Kriegpro¬ vinz, hatte er einen vorzuͤglichen Moſestempel bewundert, in welchem das Standbild des Ge¬ feierten in einer Groͤße, wie Ehedem der rho¬ diſche Koloß, prangte, und wo ein Heer von Hunderttauſend Mann auf einmal ſeine An¬ dacht verrichten konnte. In Warſchau dagegen152 ſtand ein Heiligthum der Maria, durch ſeine geſchmackvolle Pracht weit beruͤhmt. Die Jung¬ frauen im Lande hatten es aus ihren Mitteln erbaut, und ſich dafuͤr das Recht vorbehalten, hier allein zu beten, und Feiergeſang anzu¬ ſtimmen.
Sie nahmen dann Platz auf dem Marmor¬ boden, doch die Erhoͤhungen welche der Rotunde Innenwaͤnde umliefen, konnten Maͤnner beſtei¬ gen und Niemand mag zweifeln, daß ſie nicht angefuͤllt geweſen waͤren.
Gelino haͤtte es vielleicht nicht unumgaͤnglich noͤthig gefunden, ſeinen Zoͤgling dahin zu fuͤh¬ ren; doch dieſer hatte davon viel gehoͤrt, und bewies ſehr redſelig, man muͤſſe die Reiſekunde auf jede Art bereichern.
Es war das Fruͤhlingsfeſt der Maria, der Kultus hatte einige Aehnlichkeit mit den Flora¬ lien der Alten. Im weißen Gewand, blendend wie Schnee, fein wie die Schleier der Arachne, die Sandale mit bunten Baͤndern an den bloßen Fuß geknuͤpft, die Locken mit jungen Blumen durchflochten, zogen die Jungfrauen in den Tempel.
Guido befand ſich im Gedraͤnge auf der Er¬153 hoͤhung. Suͤß ſtroͤmte der Duft hinauf, die Treibhaͤuſer waren von ihren Orangenbluͤthen und Roſen gepluͤndert, nimmer hatten Guido, ſelbſt auf dem heimathlichen Eilande, ſo holde Geruͤche gelabt.
Alle ohne Ausnahme waren ſchoͤn, lieblich, anmuthig, denn die, welchen die Natur dieſe Mitgift verſagt hatte, pflegten an einem ſolchen Tage unpaͤßlich zu ſein, um nicht ſo vielem Lichte die Schatten zu geben.
Hundert von den Jungfrauen unterhielt der Tempel fuͤr den muſikaliſchen Kultus. Geſtalt und wohltoͤnende Stimme, waren die Bedin¬ gungen, unter welchen man ſie annahm. Gute Lehrer unterwieſen die Huldinnen, erſt nach be¬ deutender Fertigkeit durften ſie oͤffentlich auf¬ treten. Kein Inſtrument begleitete ihre Lieder, und wie dieſe Zeit auch die Harmonika, die Floͤte, die Harfe vervollkommnet hatte, den Zu¬ ſammenklang Hundert reiner wohlgeuͤbter Maͤd¬ chenorgane, wuͤrden ſie immer nur geſtoͤrt, nicht erhoben haben.
Sie ſangen einen Himnus, der in die Sprache fruͤherer Zeiten uͤbertragen, ſo weit es moͤglich iſt, den hoͤheren Ausdruck des Idioms im ein und154 zwanzigſten Jahrhunderte wiederzugeben, unge¬ faͤhr gelautet haben wuͤrde:
Als die Feier geendet hatte, ſchrieb Guido an Ini: Heute Maͤdchen, that dein Bild hohe Wunder. Ich ſah den lieblichſten Blumenkranz in Europa, vergaß aber dennoch die Roſe nicht, fuͤr die ich gluͤhe.
Der Triumph, den eine Geliebte uͤber frem¬ de Schoͤnheiten davon traͤgt, wird auch von dem Liebenden hoch empfunden, ſeine Flamme lodert heller, ein edles Selbſtgefuͤhl ſtroͤmt in die Seele, im Bewußtſein reiner Treue, und praͤgt ſich im Auge, auf der Wange, mit einem un¬ vergaͤnglichen Zauber aus. So nahm denn Guido abermal einen neuen Zug der Schoͤhnheit von hinnen.
156Sie beſahen noch den großen Markt, der hier um dieſe Zeit gehalten wurde. Auf dem Gefilde von Wola, beruͤhmt im Alterthum durch die Koͤnigswahlen, hatte man ihn. den Sammel¬ punkt angewieſen, da in der Stadt kein Raum dazu vorhanden war.
Einen weiten leeren Platz umlief ein uͤber¬ dachter Saͤulengang, hinter welchem ſich unge¬ heure Speicher, die Waaren einzunehmen, be¬ fanden. Auf vielen Kunſtſtraßen hatte ſie der Voͤlker Thaͤtigkeit hergefuͤhrt. Eine davon lief nach Konſtantinopel, von dort nach Sirien und dem rothen Meere. Hier kamen die Araber, auf lange Reihen von Kamelen, Spezereien und Gold geladen. Auch die Athener, welche auf Prahmwagen, Statuen in Marmor und Elfen¬ bein, wie auch treffliche Gemaͤlde brachten. Die andere ging um die Kaspiſche See nach Iſpahan und den indiſchen Eilanden. Daher nah¬ ten die Neu-Perſer, mit Elephantenlaſten koͤſt¬ licher Gewuͤrze, feiner Zeuge und Edelſteine. Eine dritte Straße war dem Chineſen, durch die Mongolei, Songarei, und das Kirgiſenland gebahnt. Er brachte Farben, Porzellan und an¬ dere Gegenſtaͤnde ſeines Kunſtfleißes, denn der157 Krieg hinderte ſeine Karavanen nicht. Von Pe¬ tersburg erſt uͤbers Meer, und dann auf dem Weichſelſtrom herbeigeſchafft, langten vortreff¬ liche Schiffe zum innlaͤndiſchen Gebrauch an, die auf einem Baſſin, zum Marktfelde geleitet, feil ſtanden. Auf aͤhnlichen Wegen waren vom aͤu¬ ßerſten Norden, Arbeiten in Eiſen und Pelzklei¬ dungen gekommen. Eben daher vortreffliche Ge¬ ſchirre, Fenſterſcheiben und Bauwerkſtuͤcke aus dem ſo ſpaͤt erſt entdeckten Polkriſtall. Auf den vielen Kunſtpfaden durch Teutonien langten noch unendlich mehrere Handelswaaren an. Von den engliſchen Eilanden, wiſſenſchaftliche und techniſche Inſtrumente aller Art. Man ſahe ganz fertige Sternwarten, mit kuͤnſtlichen Trieb¬ werken des Planetenſiſtems, deren Genauigkeit und Feinheit in Erſtaunen ſetzte, indem ſie außer den vielen neugewahrten Planeten und ihren Begleitern, auch alle Kometen dieſes Siſtems darſtellten, denn den jetzigen vollkommenen Te¬ leskopen, entging keiner mehr davon, wie weit auch ſeine Bahn ihn von der Sonne wegfuͤhren mochte. Fing man doch ſchon an, das Leben im Monde zu beobachten, und ſeine Naturge¬ ſchichte zu entwerfen. — Ferner Thurmuhren,158 mit reitzenden Glockenſpielen, an deren Ziffer¬ blatt, ſich außer den Stunden - und Minuten¬ weiſern, ein vollſtaͤndig entworfener Kalender befand, daneben Thermometer, Barometer und Eudiometer, welche Kaͤlte oder Waͤrme, Schwere oder Leichtigkeit der Luft, ſo unterrichtend be¬ zeichneten, daß dadurch die Witterungsveraͤnde¬ rung auf mehrere Tage vorher kund ward, und Jedermann bei ſeinen Beſchaͤftigungen ſich dar¬ nach fuͤgen konnte. — Ferner, Muͤhlen zum Stampfen, Zermalmen und Saͤgen zugleich, und mit einem artigen Mobile perpetuum regirt. — Ferner, zum Behuf des Landbaues, Pfluͤge mit ei¬ ner geringen Kraft bewegt, die den Boden zehn bis zwoͤlf Schuh tief aufwuͤhlten, die geruhete Erde oben, die entkraͤftete unten brachten, ſie zugleich puderartig zerrieben, und von groͤbern Beſtandtheilen durch Siebe reinigten. Eben ſo Pflanzmaſchinen, welche die Getraidekoͤrner in beliebiger Weite und Tiefe gleichabſtehend ein¬ ſenkten, und ſo Aufwuchs und Gedeihen unge¬ mein erhoͤhten. Eben ſo Waͤſſerungbehaͤlter, ge¬ eignet, aus fernen Seen, Stroͤmen oder Kanaͤlen mit wenigem Kraftaufwande, Fluͤſſigkeit herbei¬ zuſchaffen, und durch hidrauliſche Vorrichtungen,159 in weit ausgebreiteten Fontaͤnen niederſtroͤmen zu laſſen. — Der Franke lieferte chemiſche Apparate zu vielen Zwecken dienlich. Auch der Landmann konnte ſie huͤlfreich gebrauchen, damit bei großer Duͤrre, aus Waſſerſtoff ein Woͤlk¬ chen zuſammenſetzen, und auf ſeine Scholle nie¬ derfallen laſſen. Zudem Kuͤchen, wo in ſehr ſinnreich geſtalteten Toͤpfen oder Pfannen, die Speiſen uͤberaus ſchmackhaft geriethen, und man auch Schnee und Eis ſogleich bereiten konnte. Imgleichen Kleidungsmaſchinen, die man belie¬ big mit Seide oder Wolle verſah, und ſich dann hineinſtellte. In wenigen Minuten webte nun das Kunſtwerk ein Kleid, den Formen des dar¬ gebotenen Koͤrpers niedlich angeſchmiegt, ohne Rath, wie ſich von ſelbſt verſteht, faͤrbte es zu¬ gleich in der eben guͤltigen Modetinte, und par¬ fuͤmirte es mit koͤſtlichen Oelen. Die chirurgi¬ ſchen Inſtrumente der Franken waren nicht we¬ niger ſehenswerth. Unter andern erblickte man da kuͤnſtliche Ohren und Augen mancher Art. Bei nur geſchwaͤchter Hoͤr - oder Sehkraft wurde jene durch Roͤhre, dieſe durch Glaͤſer bis zum Normalzuſtand verſtaͤrkt; außerdem hatte man aber, ein hoher Triumph menſchlicher Kunſt,160 nachgeahmte Trommeln, Euſtachiſche Roͤhren, Au¬ genaͤpfel mit ihren ſechs Haͤuten und drei ver¬ ſchiedenen Feuchtigkeiten, welche mit den Ner¬ ven, durch taͤglich wiederholten Galvanismus in Verbindung gebracht, Tauben und Blinden, Schall - und Lichtſtrahlen wunderbar wieder ein¬ fuͤhrten. Ihre Weinlaͤger wurden nur von den ſpaniſchen und portugieſiſchen uͤbertroffen, wo in langen Reihen, Tonnen lagen, jede groͤßer als Ehedem das Faß zu Heidelberg. — Die Ita¬ liaͤner hatten unter andern große Orgeln, fuͤr die Tempel, feil, in welchen die vielſtimmige Vox humana, die gewohnten Religionsgeſaͤnge deutlich vortrug, willkommen fuͤr Ortſchaften die nicht reich genug waren, Choͤre zu unterhalten. Zudem auch Orcheſter, wo eine Klaviatur, Hun¬ dert Saiten - und Funfzig Blaſeinſtrumente in Bewegung ſetzte, welche auch durch Walzen die beliebteſten Tonſtuͤcke und durch akkuſtiſch nach¬ geahmte Soprane, Alte, Baritone u. ſ. w. ſchoͤne Lieder ausfuͤhrten. Der Beſitzer konnte alſo ſeinen Gaſt, wenn er wollte, mit einem vollſtaͤndigeren Konzert bewirthen, als es vor Jahrhunderten Koͤnige mit großem Aufwand ver¬ mocht hatten. — Der emſige Deutſche wett¬eiferte191[161]eiferte mit allen Europaͤern in Allem, und ſandte daneben die meiſten Buͤcher zum Markt. Buͤ¬ cher, die Materien abhandelten, von denen die Vorzeit noch keine Ahnung hatte.
Aber auch aus Amerika, Afrika und Poline¬ ſien waren Kaufleute anweſend. Sie fuͤhrten edle Steine, edle Metalle, ganze Naturalien¬ kabinette aus ihren Landſtrichen, artige Sinzialos, Jakos, indianiſche Raben, die fertig redeten, Menagerien von Loͤwen, Tigern, Leoparden, Giraffen, Armadille, welche man aber nicht er¬ ſtand, wenn ſie nicht auch zugleich in ergoͤtzenden Kuͤnſten abgerichtet waren. Es gab auch in gro¬ ßen, durchſichtigen, mit Waſſer gefuͤllten Behaͤl¬ tern, Fiſche aller Gattung aus der Fremde. Horn¬ fiſche, Chimaͤren, alle Haiarten, Panzerfiſche, Seedrachen, Zitteraale, Katoͤdons, und die vie¬ len Geſchlechter, welche erſt entdeckt worden, nach¬ dem die Taucherkunſt ihre jetzige Vollkommen¬ heit erreichte.
So hatte die vermehrte Kultur, die geſetz¬ liche Sicherheit, und die Leichtigkeit der Rei¬ ſen, Menſchen von allen Staͤmmen hieher ge¬ fuͤhrt. Wollige Neger, ſchon lange nicht mehr zur Sklaverei verdammt, tanzten luſtig amL162Abend und ſangen Nationallieder. Braungelbe Sineſen und Japaner zaͤhlten ſorgſam ihre ge¬ wonnenen Summen. Olivenfarbene Araber, Indier, Malaien, kauten ruhig ihren Betel oder ſchmauch¬ ten ihre Pfeife zur Erholung. Kleine mißge¬ ſtaltete, aber doch ſehr lebendige, Oſtiaken, Sa¬ mojeden, Eskimos liefen neugierig gaffend um¬ her. Roͤthliche Amerikaner, noch den Feder¬ buſch der Altvorderen tragend, zeigten ihre Kraft im Ringen und Laufen. Neuſeelaͤnder, Otaheiter, Sandwichinſulaner, Bewohner der erſt ſpaͤt entdeckten Suͤdpolarlaͤnder, die ſchwaͤr¬ zere oder hellere Haut ſeltſam punktirt, ſaßen in ihren mitgebrachten Binſenhaͤuschen auf kuͤnſt¬ lichen Matten, die ihnen abgekauft wurden, um ſie in Gaͤrten aufzuſtellen.
Das Getuͤmmel auf dieſem Markt war unbe¬ ſchreiblich, die Wechſelgeſchaͤfte verbanden durch Federſtriche, Neu-York und Ulimaroa, den Hoff¬ nungskap und Miako, Liſſabon und Peking. Noch iſt hier des Komptoirs zu gedenken, welches die Land - und Seetruppen hielten. Da ſie ſich durch eigene Thaͤtigkeit unterhalten mußten, be¬ ſchickten ſie auch die Maͤrkte mit uͤberfluͤſſigen Erzeugungen. Unter andern boten ſie Feuer¬163 roͤhre, großer und kleiner Art, feil, welche von Voͤlkern, die noch keine Waffenmanufakturen hat¬ ten, eingetauſcht oder gekauft wurden. Man ging aber auch, vorausgeſetzt, daß man reich ge¬ nug war zu ſolchen Ausgaben, in ihre vorhan¬ denen Metallgießereien oder Schmieden, um ſich, die Geliebte, den Freund, in Erz oder Stahl bilden zu laſſen. Augenblicklich druͤckten ge¬ ſchickte Meiſter die Geſtalt in Wachs ab, um ſie gleich darauf in Thon nachzuahmen. Das Me¬ tall floß ſchon in den Gluͤhoͤfen, eilig vollende¬ ten flinke Geſellen die hohle Form, und der Guß erfolgte. Durch kuͤnſtliche Mittel ward nun das Metall erkaltet, die Form zerſchlagen, das Jahrtauſende hoͤhnende Standbild heraus gewunden und glatt polirt. Noch geſchwinder gingen die Stahlſchmiede, mittelſt ihrer mecha¬ niſchen Vorrichtungen, Feinheit und Gewalt auf eine zuvor nie erdachte Weiſe verbindend, zu Werke. Ein Fuͤrſt aus Amerika, eben mit ſeiner jungen Gemahlin zugegen, ließ ſich mit derſel¬ ben in Silber darſtellen. Guido haͤtte weinen moͤgen, nicht Ini hier zu ſehn, und kein Kai¬ ſerſohn zu ſein, um ihre Statue in Gold zu begehren.
L2164Nach viel erworbnem Unterricht, durch Ge¬ linos Lehren und eigne Anſchauung, wurde des Juͤnglings Reiſe fortgeſetzt. Er wandte ſich nach Teutonien, wo das platte Land ihn noch weit mehr in Erſtaunen ſetzte. Er ſah hier keine Doͤrfer mehr, ſondern nur die in einander flie¬ ßenden Vorſtaͤdte weitlaͤuftiger Orte. Gelino er¬ klaͤrte ihm die Erſcheinung einer ſo großen Le¬ bensfuͤlle in folgender Art:
Das Klima in dieſem Lande iſt weit milder geworden, ſeitdem unnuͤtze Kriege, verderbliche Immoralitaͤt und Krankheiten, gegen welche die unvollkommene Heilkunde wenig vermochte, nicht mehr die Zunahme ſeiner Bevoͤlkerung hemmen. Mit ihrem Anwuchs veredelte ſich der Boden wovon eine mildere Luft immer die Folge iſt. Der Mais - und Reisbau ſahen hier ſchon lange erwuͤnſchten Fortgang, und zwei Ernten ſind gewoͤhnlich. Wenige Morgen naͤhren eine Fami¬ lie bequem, und werfen noch einen Ueberfluß ab, von deſſen Verkauf, ſie nicht erzeugte Nothwen¬ digkeiten anſchaffen kann. Das in dem, vor¬ trefflich zubereiteten, Boden durch Maſchinen ge¬ pflanzte Wintergetraide ‚ gelangt um die Mitte des Junius ſchon zur Reife, und lohnt meiſtens165 funfzigfaͤltig. Man maͤht es durch kunſtreiche Sichelwagen, die zugleich abſchneiden, aufladen und hinterwaͤrts den Boden wieder pfluͤgen, wodurch die Arbeit gar ſehr vereinfacht wird. Nun iſt Zeit genug uͤbrig, das Feld wieder mit Sommerkorn, Gartengewaͤchſen, Fuͤtterungkraͤu¬ tern zu beſtellen, wovon der Fleiß noch reichen Gewinn im Spaͤtjahre zieht. Dies wuͤrde aber nicht immer gluͤcklich von Statten gehn, haͤtte man nicht das Mittel erfunden, die angebauten Fluren, gegen Kaͤlte im Lenz und Nachſommer zu ſichern. Wenn die Witterungmeſſer einen Froſt ankuͤndigen, eilt der Landwirth ſein Feld mit großen Strohmatten zu uͤberdecken. Bei den kleinen Landporzionen iſt es leicht dies Mit¬ tel anzuwenden. In Wintertagen fertigt das Geſinde aus dem reichlichen Stroh die Matten, uͤber Baͤume ſpannt man ſie zeltartig, Fluren werden ebenhin damit bedeckt.
Bemerke, wie ſorgſam jeder Eigner, von jedem Schuhgevierte, Ertrag zu ziehen ſucht. Ein Zaun von nutzbarem Strauchwerk, umlaͤuft ver¬ wachſen die Scholle. Kleine Beeren und kleine Nuͤſſe mancher Gattung bluͤhen darauf. Das Feld iſt mit edlen Obſtbaͤumen beflanzt, an die166 uͤppige Weinreben ſich hinaufwinden. Ihr Schat¬ ten faͤhrdet die Saaten nicht, bei einem ſo kraͤf¬ tig gemachten Boden, und beim Pflanzen traͤgt man kluge Sorge die Wurzeln nicht zu verletzen, was bei den guten Maſchinen zu dieſem Gebrau¬ che leicht wird.
Futterkraͤuter, gewiſſe wohlnaͤhrende Ruͤben¬ arten, getrocknet Baumlaub, ſind dem Viehe beſtimmt, und leicht zieht eine Familie davon ſo viel auf, um mit Milch, Butter und Fleiſch verſorgt zu ſein. In jedem Hauſe befindet ſich eine Kelter, eine Anſtalt zum Brauen, eine An¬ ſtalt zum Fertigen gebrannter Waſſer, im Kleinen. Die Arbeit daran iſt ſo vereinfacht, daß auch ein Kind ihr vorſteht.
So iſt alſo fuͤr den Unterhalt dieſer Men¬ ſchen reichlich geſorgt, und die eitle Furcht ob einer zu großen Bevoͤlkerung, in rohen Zeital¬ tern oft angekuͤndigt, wuͤrde nur Lachen erregen. Jedes neue Glied, das in die Geſellſchaft tritt, kann auch einen neuen Spielraum nuͤtzlicher Thaͤtigkeit finden und ſeinen Bedarf gewinnen. Nach den vielen Erfahrungen welche man ſam¬ melte, nach den vielen lehrreichen Entdeckun¬ gen, welche gute Koͤpfe im Erproben des Aus¬167 fuͤhrbaren machten, iſt jedermann lebendig uͤber¬ zeugt, die Fruchtbarkeit des Bodens ſei noch um ein Anſehnliches weiter zu treiben, ja die Graͤn¬ ze, welche einſt der klugen Pflege ein Ziel ſetzen koͤnne, durchaus nicht abzuſehn. Und traͤte ja nach Jahrhunderten, der unerwartete Fall ein, mehr Menſchen erzeugt zu ſehn, als der Landesertrag naͤhren koͤnne, ſo weiß man gar wohl, das es noch ſchlecht bebaute Laͤnder genug in anderen Erdtheilen giebt, wohin ſich Kolo¬ nien ſenden laſſen. Afrika enthaͤlt in ſeiner Mitte große Wuͤſten, die, einſt urbar gemacht, unermeßliche Ausbeute liefern werden. Am Susquehannach, am Orinoko, am Amazonen - fluß ſind weitlaͤuftige Strecken bereit, neue Mil¬ lionen aufzunehmen. So ruͤſtig auch der Alt¬ britte daran ging, Ulimaroa, welches den Umfang von halb Europa hat, und die weitlaͤuftigen Inſeln, Neu-Guinea und Neu-Seeland, an Be¬ wohnern reich zu machen, ſo hat doch, im Ver¬ lauf weniger Jahrhunderte, immer noch nichts Erhebliches geſchehen koͤnnen, und Auswanderer wuͤrden dort hoͤchſt willkommen ſein. Ja, wie die Lehrer der Wiſſenſchaften behaupten, in de¬ nen die Umgeſtaltung des Erdballs abgehandelt168 wird, und wo man die jaͤhrliche Meerabnahme nach unbezweifelten Erfahrungen berechnen lernte, wird nach einigen Jahrhunderten, ohne das im achtzehnten einſt gefundene Polineſien, ein un¬ geheurer neuer Erdtheil, aus dem ſtillen Ozean, weſtlich von Amerika, treten. Die unter dem Meere hinſtreifenden Parallel - und Meridian - Gebirge verbreiteten hieruͤber ſchon in alten Zei¬ ten Licht, jetzt hat man ihren Zuſammenhang deutlicher erkannt, und vermag uͤberhaupt aus der Vergangenheit genauer auf die Folge zu ſchlie¬ ßen, weil ſinnige Forſcher, ihre Beobachtungen der Nachwelt, ein ſchaͤtzbares Erbe, vermachten. So iſt jetzt unter andern die Inſel Owaihi, weit groͤßer an Umfang, als zu der Zeit, wo ein kuͤhner Seefahrer, Cook genannt, ſie entdeckte. Die ziemlich großen und hohen Eilande, weſt¬ lich von Peru, hießen vor Jahrhunderten die niedrigen Inſeln, ein Beweis, wie damals die See hoͤher an ſie hinaufſpuͤlte. Das Senkblei faͤllt in ihrem Bezirk immer ſeichter, die Meer¬ mooſe nehmen zu, die Taucher koͤnnen dort in der Tiefe mit Leichtigkeit beobachten, und aus allen dieſen Umſtaͤnden laͤßt ſich die Richtigkeit jener Verkuͤndung ahnen. Alle die Inſelketten169 in jenem Meere werden dann die Gebirgruͤcken des neuen Erdtheils ſein.
Guido ſagte hier zu ſeinem Lehrer: Du draͤngſt mein Nachſinnen in einen noch tieferen Hintergrund. Es macht zwar froh, ſo viel neue Moͤglichkeit des Lebens zu traͤumen, auch ſehe ich nur Vortheil fuͤr das Geſchlecht darin, wenn junge Laͤnder zum Anbau einladen, wenn die Kaspiſche See, das ſchwarze Meer, das mittel¬ laͤndiſche Meer, trocken geworden, mit Staͤdten und Doͤrfern uͤberſaͤet werden koͤnnen. Wo ſoll das aber endlich hinaus? Wenn nun das Waſ¬ ſer, nach manchen Jahrtauſenden, ganz vom Erd¬ ball verſchwaͤnde, muͤßte nicht die Menſchheit, an ſeinen Verbrauch unablaͤßig gebunden, jammer¬ voll untergehn?
Gelino laͤchelte und gab ſeinem Zoͤgling die Antwort: Dies koͤnnte wohl ſein, und wenn die hoͤchſte Entwickelung, der Menſchheit Zweck iſt, was waͤre denn noch an ihrer Fortdauer ge¬ legen, wenn ſie das Ziel umfaßt haͤtte, und es etwa mit jenem Zeitpunkt zuſammentraͤfe? Gleich¬ wohl duͤrfte ſein Untergang auch nicht einmal an das Verſchwinden des Waſſers gebunden ſein. Denn, kann der Erdenſohn nicht uͤbernehmen,170 was die Natur nicht mehr noͤthig erachtet, fuͤr ihn zu leiſten, da ſie ihn genug mit Kraͤften ausſtattete, und der Gebrauch dieſer Kraͤfte hin¬ laͤnglich erweitert iſt? Koͤnnen wir nicht lange ſchon Waſſer chemiſch bereiten? Wird dieſe Kunſt ſich nicht vervollkommnen? Freilich, neue Meere, um ſie luſtig zu beſchiffen, duͤrfte man nicht hervorbringen lernen; doch Fluͤſſigkeiten fuͤr den Hausbedarf, Regengewoͤlke zum Traͤnken der Gefilde, wovon ja ſchon manche Verſuche jetzt gelangen, ſcheinen keineswegs außer dem Be¬ reiche der Sterblichen zu liegen. Doch du wirſt daruͤber in Berlin manche Hipotheſe hoͤren.
Blicke einſtweilen ſorgſam auf die Einrich¬ tungen, die unſer Weg dir zur Anſicht darbie¬ tet. Du ſiehſt alle Staͤdte in Teutonien voller Kunſtfleiß, voller trefflichen Schulen; prachtvolle Tempel und Buͤhnen zteren die meiſten. Bei ſo vielem Reichthum, als der kluge Landbau einer großen Volkmenge, hier dem Boden entlockt, iſt der Staͤdte Flor eine ganz natuͤrliche Folge. Der Ackermann naͤhrt den Handwerker, in¬ dem er ihm ſeinen Ueberfluß verkauft, und von ihm wieder die Lebensbeduͤrfniſſe holt, welche er nicht allein hervorbringen kann. Letzterer bezieht171 wieder die Maͤrkte anderer Gegenden, mit der Arbeit, welche ihm daheim nicht abgenommen wurde, und ſchafft dafuͤr ihre Erzeugungen her¬ bei. Das Geld, uͤberall werthhaltig und durch weiſe Aufmerkſamkeit der Regierungen, im rich¬ tigen Verhaͤltniſſe zum Preis der Sachen, em¬ pfaͤngt einen ſchnellen Umlauf, und regt auf demſelben die Betriebſamkeit unaufhoͤrlich an.
Wie bluͤhend wir aber dieſe Gegenden finden, ſo haͤtten wir nur alte Buͤcher zu fragen, um uͤber die Barbarei, welche noch vor drei oder vierhundert Jahren ſie druͤckte, belehrt zu ſein. Damals fand man kaum jede halbe Meile ein elendes Dorf, in deſſen unreinlichen Strohhuͤtten ſklavenſinnige Halbmenſchen wohnten.
In den Staͤdten lag der Gewerbfleiß kran¬ kend danieder. Europens Staaten hatten ſich nicht weiſe verbunden, um durch Handel gegen¬ ſeitig ihre Thaͤtigkeit zu beleben und die Ge¬ nuͤſſe auszutauſchen; man ſann nur auf Ueber¬ vortheilung, die am Ende Allen verderblich war. Unnatuͤrlich große Heere wurden auf den Beinen gehalten, wodurch dem Gemeinweſen ſo viel jugendlich ruͤſtige Kraͤfte entgingen. Dieſe Heere naͤhrten ſich nicht ſelbſt durch Nebenarbeit, ſon¬172 dern mußten Sold empfangen, wodurch die Re¬ gierungen ſich genoͤthigt ſahen, die Voͤlker mit Abgaben zu erdruͤcken. Unter ſolchen Umſtaͤnden mußten die meiſten Laͤnder zur Haͤlfte Wuͤſten bleiben; Tauſend harter Ungerechtigkeiten und Thorheiten, die natuͤrliche Folge verkehrter Ein¬ richtungen, nicht zu gedenken.
Und die Menſchen hatten doch damals, ſo gut wie in unſeren Zeiten, die goͤttliche Kraft der Vernunft, auch Philoſophen in Menge, welche, die Natur dieſer Vernunft zu erkennen, ſie gleich¬ ſam anatomiſch zu zerlegen und ſcheidekuͤnſtleriſch in ihre Beſtandtheile aufzuloͤſen ſtrebten. Es galt demungeachtet von ihnen, was einer ihrer alten Dichter ſang:
Unter dieſen Geſpraͤchen kamen die Reiſenden durch einen kleinen Ort, wo ſie ein dichtes Volk¬ gedraͤnge und lauten Jubel wahrnahmen. Sich von dem Anlaß dieſer Erſcheinung zu unterrich¬ ten, nahten ſie, und ſahen einen Aufzug zum Mariatempel wimmeln. Wohlgeſchmuͤckte Prie¬ ſterinnen gingen, einen lauten Chorgeſang an¬173 ſtimmend, voran; dann folgte ein etwas ge¬ beugter, doch gleichwohl noch munterer Greis an ſeinem Stabe, am Arm ein Altmuͤtterchen, das zwar kaum noch den Fuß von der Stelle zu heben vermochte, dem bei dem Allen aber, aus einem mit Runzeln uͤberpfluͤgten Geſicht und dem ermatteten Auge heitre Freude ſchimmerte. Um die ſchneeweißen duͤnnen Locken des Paares wa¬ ren Blumenkraͤnze geflochten, eine lange Reihe folgte ihnen, bunt aus Perſonen von dem ver¬ ſchiedenſten Alter zuſammengeſtellt, Greiſe und Greiſinnen, Maͤnner und Frauen in den Mittel¬ jahren, viel bluͤhende Jugend und ein zahlreicher froͤhlicher Kinderſchwarm.
Die befragten Zuſchauer unterrichteten Ge¬ lino: wie das Paar die Hundertjaͤhrige Feier ſeiner Ehe beginge. Im fuͤnf und zwanzigſten Jahre, erzaͤhlten ſie, heirathete einſt der Greis, ſeine Gattin zaͤhlte damals zwanzig. Arbeit, Maͤßigung, zufriedener Sinn, ließen ſie ein ſo hohes Alter erreichen. Die ihnen zum Tempel folgen, ſind ihre Kinder, Enkel und Urenkel, ein markig Geſchlecht, den Stammaͤltern mit inniger Liebe und Ehrerbietung zugethan.
Tiefere Ruͤhrung empfand Guido waͤhrend174 ſeiner ganzen Reiſe nicht, als im Anblick dieſer Feier. Er verſenkte ſich in die Vorſtellung der Gluͤckſeligkeit jenes Patriarchen, hinſchauend auf ſeine Nachwelt, ruͤckblickend in die wonnevolle Vergangenheit eines Jahrhunderts haͤuslicher Eintracht. Und wie Liebe alles gern auf ſich be¬ zieht, ſo traͤumte er mit hochwogendem Buſen, ein Eheleben mit Ini von langer Dauer und am ſpaͤten Lebensziele gekroͤnt von Urenkeln.
Sie langten bald darauf in der Gegend von Berlin an. Die Maſten vieler See - und Strom¬ ſchiffe erhoben ſich, einem Walde gleich, aus ſeinem breiten Hafen, mit leichten bunten Flag¬ gen geziert, ſpielend im friſchen Abendwinde. Die ſchoͤne Bergkette, welche an einer Seite den großen Ort umgab, ſtellte eine lachende Anſicht dar, bepflanzt mit Weingaͤrten, beſchat¬ tet von Luftgehoͤlzen und prangend mit heiteren Sommerwohnungen reicher Buͤrger.
Hier triumphirte, fing Gelino an, menſch¬ liche Kunſt auf eine ſeltne Art uͤber die wider¬ ſtrebende Natur. Vor Jahrhunderten ſah der Wanderer hier nur eine langweilende, kaum von unbedeutenden Erhoͤhungen, die nicht ein¬ mal Huͤgel, ſondern Niederungsraͤnder des175 Stromes waren, unterbrochene Flaͤche. Die Stadt lag gleichwohl ſchon in dem Sand¬ meere da, zeichnete ſich durch regelvolle Anlage, und, nach damaligen Begriffen, ſchoͤne Pracht¬ gebaͤude aus, wovon man noch manche Ruinen, ſogar einige noch ziemlich erhalten ſieht, die dir, wenn wir ihre Plaͤtze und Straßen durch¬ wandeln, zu Geſicht kommen werden.
Da nun aber die inneren Kriege in Europa geendet hatten, und, als nothwendig gluͤckliche Folge, die Kultur ſtieg, auch Berlin, der Sitz des europaͤiſchen Bundesgerichts — welches man hieher verlegte, weil Berlin ziemlich den Mit¬ telpunkt von Europa einnimmt — ſehr bedeu¬ tend wurde, wollte der Schoͤnheitſinn ihm eine anmuthigere Umgebung erziehen, ſo wie die Weisheit noͤthig fand, ſeiner großen Einwohner¬ menge neue Quellen der Erhaltung zu oͤffnen.
Beide konnten, wie faſt immer, Hand in Hand gehen. Der beruͤhmte Kanal, tief genug um Meerfahrzeuge zu tragen, der die Elbe und Oder auf einem nahen Wege verbindet, und bei Berlin voruͤber geht, wurde gefertigt, dazu der Hafen, deſſen blaue Wogen dort ſchimmern, an Groͤße einem maͤßigen Landſee gleich. Ohne die176 Pulverſprengungen und die neuerfundenen me¬ chaniſchen Hebewerkzeuge, mit welchen die Grund¬ erde leicht aus der Tiefe zu winden iſt, und man die Stroͤme gegen Verſandung und Seichtigkeit ſchuͤtzt, waͤren ſolche Arbeiten unmoͤglich gewe¬ ſen; mit ihnen kam es nur auf Geld und em¬ ſige Haͤnde an, die nicht mehr fehlten, als mit der Bevoͤlkerung aller Kunſtfleiß maͤchtig heran¬ wuchs. Auch wurde der Elbſtrom, bis gegen die Boͤhmiſchen Gebirge, ausgetieft, und eine große Zahl geraͤumiger Schiffe, fuͤhrte aus den dort, lebhafter als je bearbeiteten Steinbruͤchen, die Quadern, womit des Kanals Seitenwaͤnde ein¬ gefaßt wurden. Die aus dem Hafen gewonnene Erde diente nun, jene erhabene Bergkette auf¬ zuthuͤrmen. Iſt ihre Hoͤhe, gegen Urgebirge gehalten, freilich nicht von großem Belang, ſo iſt ſie es doch ſcheinbar, da ſie ſich aus der Ebene erhebt.
Indem, nach dreißig muͤhevollen Jahren, dieſe Werke ihre Vollendung ſahen, meinten die Zeit¬ genoſſen, ſie waͤren immerhin, an Arbeit, mit den Piramiden von Egipten zu vergleichen, uͤber¬ traͤfen ſich jedoch weit an Nutzen. Sie hatten Recht: wer ſtaunte nicht ſie erblickend, und wiees177es ſich von ſelbſt verſteht, wurden Hafen und Kanal die Quellen großer Reichthuͤmer fuͤr Berlin.
Sie waren unter dieſen Geſpraͤchen bis an ein Thor gekommen, das auf großen Saͤulen ruhte. Der Lehrer hatte einſt, wie ſich auch von ſeiner Vertrautheit mit den uͤberall vorhan¬ denen Gegenſtaͤnden erwarten laͤßt, Europa ſchon durchwandert, und konnte daher ſeinem Zoͤgling immer Auskunft geben. Dies Thor, das Bran¬ denburger ſeit dem Alterthum genannt, iſt das ſchlechteſte, es bleibt jedoch als eine ehrwuͤrdige Antiquitaͤt ſtehen, und trotzt auch ſchon drei Jahrhunderten durch ſeine Feſtigkeit. Dies darf um ſo mehr befremden, als ſeine Erbauung noch in die Zeit faͤllt, wo Bruchſteine nur mit ſchwe¬ rer Muͤhe auf aͤrmlichen Spreekaͤhnen herbeige¬ fuͤhrt wurden, und man ſich meiſtens der Zie¬ gel bediente. Jetzt haben es freilich die Bau¬ meiſter bequemer, da der Elbkanal, von Pirna her, ſo große Ladungen von Felsbloͤcken traͤgt, und nun koͤnnen freilich die Tempel und Pallaͤſte leicht ſo ſtattlich ſein, als wir ſie ſehen.
Schon vor der Stadt hatte Guido zu ſeiner Verwunderung wahrgenommen, daß eine MengeM178leuchtender Kugeln uͤber den Haͤuſern ſchwebend erſchienen. Nun erklaͤrte ſich das. Man erleuch¬ tete nehmlich die langen graden Straßen mit doppelten Hohlſpiegeln von betraͤchtlichem Um¬ fang, auf hohe Saͤulen geſtellt. Vor ihnen brannte eine kunſtreiche, durch Luftzuͤge ver¬ ſtaͤrkte Flamme, deren Licht aber, mittelſt einer an¬ gelaufenen Kriſtallſcheibe, ſanfter erſchien, ſo daß das Ganze den Vollmond um ſo taͤuſchender nachahmte, als ſeine Karte auf die Scheibe ge¬ zeichnet war. Die Wirkung glich eben ſo, und ein traulich Silberlicht goß ſeine Schimmer in die Straßen und Plaͤtze nieder. In der Mitte der Laͤnge einer jeden Straße, brannte ein ſolcher Hohlſpiegel, fuͤr die Erleuchtung nach beiden Seiten genug, doch ſo, daß man ſich mit ſeiner Groͤß enach der der Straße richtete. Am Abend gab dies Heer von Monden der Stadt von Außen ein ſonderbar liebliches Anſehn.
Sie ſtiegen in einem bedeutenden Gaſthofe ab. Nachdem jedem von ihnen ein Badezimmer angewieſen worden, erfriſchten ſie ſich in ſilber¬ nen mit Roſenwaſſer gefuͤllten Wannen. Hier¬ auf trugen wohlgekleidete Diener das Mahl zur Nacht auf. Es beſtand unter andern aus Kalb¬179 nieren von Archangel, ſehr von leckeren Gaumen beliebt, aus einer Surinamſchen Schnecke, de¬ ren gewundenes geſprenkeltes Haus einen Kuͤrbis an Groͤße uͤbertraf, und aus Vogelneſten, wohl¬ erhalten von Tunkin gebracht. Wein von Cipern und Buenos Aires, Sorbet in Iſpahan verfer¬ tigt, perlten in Kriſtallflaſchen. — Warum gebt ihr uns Speiſe und Getraͤnk aus ferner Zone? fragte Gelino einen Diener, ob ihr gleich in eurem geſegneten Lande koͤſtlichen Ueberfluß er¬ zieht. Wird es uns doch wohlfeil in den Hafen gebracht, und gegen unſere Erzeugniſſe vertauſcht, war die Antwort.
Sie gingen noch auf einen Ball, wo ſehr ſchoͤne, doch an Betragen uͤberaus ſittſam zuͤch¬ tige, Maͤdchen tanzten. Gelino ſagte: Ihre For¬ men ſind zart und athmen Harmonie, doch die friſch lebendige Fuͤlle, welche wir an den Gra¬ zien in Polen ſahn, mangelt ihnen dennoch. Allein der Abkunft iſt dies zuzuſchreiben, ihre Voraͤltern lebten einſt in argem Sittenverderb. Jetzt dagegen giebt es nirgend auf der Erde keu¬ ſchere Frauen, wie zu Berlin, und zwar ſind ſie das aus lauter Geſchmack. Die Feinſinnigen wiſſen, daß man nur durch Keuſchheit ſich dieM 2180hoͤchſten Freuden der Liebe bereitet. Darin ha¬ ben ſich hier die Zeiten, gegen Ehedem, durchaus umgewandelt. Merke dir uͤbrigens das lehrende Wort, Guido!
Dieſer antwortete: Ich bedarf deſſen nicht, Ini zeichnete es mir mit heiliger Schrift in den Buſen.
Am andern Morgen hub Jener an: Du ſollſt hier einer Sitzung des ehrwuͤrdigen Rathes, Bundesgericht von Europa genannt, beiwohnen, und hier uͤberhaupt lernen, welche Bewandniß es mit unſerer Verfaſſung hat.
Noch wenig hoͤrteſt du von den Koͤnigen in dieſem Erdtheil, wenn wir ſchon einige mit ih¬ ren glanzvollen Umgebungen ſahen. Dies iſt aber ein großer Segen fuͤr die Menſchheit. Im Alterthum war es ihre Sucht, von ſich reden zu machen, und ſie waͤhlten das Verderben, uͤber Fremde und Unterthanen gebracht, unter dem Namen Heldenthaten. Jetzt, einem ſchoͤneren Beruf hingegeben, muß es ihr Ehrgeiz ſein, daß ihr Name wenig zur Sprache koͤmmt, denn ſo wird der Beweis, daß keine Noth uͤber ihr Land hereinbricht, am beſten gefuͤhrt. Den Lohn fuͤr eine muſterhafte Verwaltung empfangen ſie181 beim Leben um ſo weniger, als Schmeichelei in Europa fuͤr das tiefſte Verbrechen geachtet wird; doch nach ihrem Tode erkennt das Bundesgericht, wohin ihre Urne gebracht werden ſoll. Haben ſie die Bevoͤlkerung gemehrt, erhoben ſich Land¬ bau, Wiſſenſchaft und Kunſt in ihren Gebieten, koͤmmt ſie in den Tempel der Unſterblichkeit, den du einſt in Rom beſuchen wirſt. Sahen ſie aber die Regierung als einen Genuß, nicht als eine Pflicht an, gelangt ſie in einen gemeinen Todtenacker, und wird der Vergeſſenheit uͤber¬ geben. Auch iſt es herkoͤmmlich, daß dann die Geſchichte ihren Namen nicht nennt, ſondern nur ſagt: In dieſen Jahren herrſchte ein Koͤ¬ nig, dem das Gehorchen beſſer geweſen waͤre.
Als nach vielen blutigen Jahren die neue Verfaſſung endlich gegruͤndet werden konnte, wollte man erſt die Koͤnige waͤhlen, und immer dem Weiſeſten in irgend einem Lande die Krone geben. Allein die Schwierigkeiten bei der Wahl mahnten ab, die Buhlerei um die Gunſt des Vol¬ kes wuͤrde heuchleriſchen Sinn hervorgebracht ha¬ ben, und die Stifter des großen Bundes heiligten uͤberall die Wahrheit. Aurelius, der große Kai¬ ſer, von dem du ſchon oft hoͤrteſt, behielt dem¬182 nach die Geburtfolge bei, doch traf er die Ein¬ richtungen ſo, daß, was fruͤherhin nimmer ge¬ ſchehen war, auch die Koͤnige zu ihrem Amte erzogen wurden.
Hiebei verfuhr man im Laufe der Zeit abweichend, je nachdem eingeſammelte Er¬ fahrungen die Anſichten umwandelten. Bei ei¬ ner Erziehung, die es, unter ſparſam eingepflanz¬ ten fremden Begriffen, auf moͤglichſt vollkommene Entwickelung der Eigenthuͤmlichkeit anlegte, hat ſich gezeigt, daß ſie dann mit dem wirklichen Zuſtand der Dinge nicht vertraut genug wurden. Bei der moͤglichſt ſorgſamen, wiſſenſchaftlichen Bildung iſt es wohl geſchehen, daß die Staaten Maͤnner auf den Thronen erblickten, welche zu weit mit den Ideen uͤber die Wirklichkeit hinaus drangen. Endlich kam man dahin, Eigenthum und Fremdheit dadurch ins Gleichgewicht zu bringen, daß die Fuͤrſtenſoͤhne, fruͤh in ein Fuͤnd¬ linghaus gebracht, Herkunft und Beruf nicht erfahrend, ſolche Pflege genoſſen, daß an Koͤrper - und Geiſteskraft, vor allen Dingen Maͤnner aus ihnen wurden. Anſchaun der Welt, nach Stu¬ dien, bei welchen ihnen viel Willkuͤhr gelaſſen wird, muß hauptſaͤchlich ihr Nachdenken uͤber183 die buͤrgerliche Verfaſſung wecken, ſie gerathen in Lagen, wo ſie, zum Handeln gezwungen, ihre ganze Thaͤtigkeit kraͤftigen, hie und da giebt man ihnen, nach dem Maaße ihrer Faͤhigkeit, ir¬ gend ein Amt zu verwalten. Bisweilen ſchoͤpfen ſie Unterricht in der Regierungskunde von Wei¬ ſen, oder an einem fremden Hofe lebend, wo ſie ſie ausgeuͤbt beobachten, und muͤſſen ſich dann, unterrichtet uͤber ihre Beſtimmung, einer Pruͤ¬ fung des großen Rathes hingeben. Faͤllt dieſe Pruͤfung zu ihrem Vortheile aus, werden ſie regierungsfaͤhig erklaͤrt, wo nicht, ſind neue Anſtrengungen unerlaͤſſig. Denn, da es die Klug¬ heit unterſagt, das niedrigſte Amt im Gemein¬ weſen, jemanden zu vertrauen, der nicht ſeine Tuͤchtigkeit dazu außer Zweifel geſetzt haͤtte, ſo gilt dies allerdings um ſo mehr vom hoͤchſten, und eine ſo weit herangereifte Zeit als die un¬ ſere, kann ſich nicht den Tagen roher Barbarei gleich ſtellen, wo es faſt allein dem blinden Zu¬ fall uͤberlaſſen blieb, ob ein Fuͤrſt ſein Amt be¬ greifen werde oder nicht, wo das fruͤhe Gift der Schmeichelei ihre Herzen verdarb, wo die eigne Kraft ſo wenig Anreitz zum eignen Ge¬ brauch fand, weil die Kraft der Diener fuͤr ſie184 waltete, wo ſie bald ihre Leidenſchaften zum Ge ſetz erhoben, bald ſich Ekel an ihrem Amte und ein ſieches Leben erſchwelgten, bald ganze Geſchlechter in unſinnigen Kriegen zertraten, bald ihres hohen Berufes vergeſſend, und mit elenden Kleinigkei¬ ten ergoͤtzt, ihre Voͤlker jedem Sturm von In¬ nen und Außen Preis gaben. Hart mußten ſolche Zeiten ihren Wahnſinn buͤßen, und das Loos der Koͤnige fiel auch ſehr traurig. Denn die reichen Genuͤſſe freuten ſie nicht, da ſie keine Entbehrungen wuͤrzten. Die Wahrheit kam ih¬ nen ſelten zu Ohr, und ſo im Dunkeln tap¬ pend, konnten ſie faſt nur durch ein Wunder, die ihrer Zeit jedesmal zutraͤglichen Maaßneh¬ mungen ergreifen. Wiſſenſchaft, die ihnen al¬ lein ein klares Auge haͤtte erziehen koͤnnen, um durch die dicke Weihrauchumwoͤlkung zu ſchauen, blieb ihnen meiſtens fremd. Immer waren ſie von Ehrgeitz und Raubſucht der Nachbarn be¬ droht, eine Kunſt, damals Politik genannt, und nicht viel beſſer als Schutz durch Trug vor Trug, aͤngſtete ſie unaufhoͤrlich. Jetzt dagegen ſchirmt ſie die Moral des Voͤlkerrechtes, ſie ſind nicht nur heilig dem Unterthan, ſondern allen Voͤl¬ kern, die das große Volk von Europa zuſam¬185 menſtellen, edel genug iſt ihre Bildung um hoͤ¬ here Gluͤckſeligkeit, als die ſinnlichen Genuͤſſe oder eitlen blutigen Ruhm, erkennen und em¬ pfinden zu lernen.
Es iſt uͤbrigens hergebracht, daß vor dem dreißigſten Jahre kein Fuͤrſt das Szepter in die Hand nehmen darf, wird ein Thron fruͤher er¬ ledigt, folgt eine Regentſchaft.
Worin beſtehn hauptſaͤchlich die Geſchaͤfte ei¬ nes Koͤnigs? fragte Guido.
Er hat die Satzungen der drei Raͤthe ent¬ weder zu genehmigen oder zu verwerfen, und laͤßt ſie in jenem Falle mit Machtvollkommen¬ heit zur Vollziehung bringen, antwortete Ge¬ lino.
Aber koͤnnten die Raͤthe nicht allein, durch Stimmenmehrheit, entſcheiden, und mit Gewalt zum Vollbringen ausgeruͤſtet ſein? So beduͤrfte es keiner Koͤnige.
„ Trennungen, Partheigeiſt, Unruhen, ſind dann, wie die Erfahrung bewies, leicht die Folge. Wir wuͤrden ſie zwar weniger zu fuͤrchten haben, als jene Zeiten, da beim Einzelnen die Sinn¬ lichkeit ſelten, die Vernunft meiſtens den herr¬ ſchenden Zuͤgel fuͤhrt, aber wenn alle Gewal¬186 ten in eine Spitze auslaufen, iſt die Ruͤckwir¬ kung nachdruͤcklicher. “
Beſchraͤnken uͤbrigens dieſe Raͤthe den Koͤnig?
„ In Nichts, er kann ſie ſogar aufheben, mit andern Formen vertauſchen, die er zutraͤglicher fin¬ det. Doch ſeit laͤnger als einem Jahrhundert ließ ſie jeder Monarch unangetaſtet weil er die Trefflichkeit der Einrichtung nicht verkennen konnte. Denn, will ſich der Monarch ſelbſt am Beſten befinden, muß er am vollkommenſten mit dem Ganzen verinnigt ſein. Die Raͤthe ſind das Mittel dazu. Sie fuͤllen den Raum vom Schlußſtein der Piramide bis an ihre Ausbrei¬ tung, bilden dieſe vielmehr ſelbſt. Unabhaͤngige Gewalt iſt den Koͤnigen darum verliehen wor¬ den, damit deſto weniger Reitz zu ihrem Mi߬ brauch entſtehen koͤnne. Wer alles hat, kann nichts mehr fordern wollen. Die gute Verwal¬ tung iſt ihnen durch die Umſtaͤnde auferlegt, denn verwalten ſie ſchlecht, verlieren ſie mit dem Ganzen, und ihr Nachruhm ſchwindet auch hin. Doch ein Opfer muͤſſen ſie fuͤr den uͤber¬ wiegenden Genuß von Rechten, gegen andere Buͤrger, bringen. Es iſt hart, allein ihre Ver¬ nunft muß die Guͤte des Opfers einſehn, und187 die Koͤnige, auch ohnehin in Europa Republika¬ ner, werden es dadurch gewiſſermaaßen noch mehr. Sie muͤſſen ſich — dies iſt Reichsgeſetz und wird im Fall der Widerſetzung durch die Geſammtkraft vollzogen — der Suͤßigkeit ent¬ uͤbrigen, ihre Kinder um ſich zu ſehn. Dieſe wer¬ den, wie du ſchon erfahren haſt, beſonders erzo¬ gen, und das Gemeinweſen kann nur, vollkom¬ men beruhigt, Machtvollkommenheit vertrauen, wenn ſie uͤberzeugt iſt, ſie der Einſicht zu uͤber¬ tragen. “
Welche Einkuͤnfte genießen die Koͤnige?
„ Den Hunderttheil von allem Erwerb im Lande. Je bevoͤlkerter und regſamer das Land iſt, je hoͤher ſteigt ihr Gewinn, alſo liegt es in der Natur ihres eigenen Vortheils, die Men¬ ſchenzahl, durch Erweiterung der Subſiſtenz zu mehren, und die moͤglichſte Freiheit zu ihrer Bereicherung zu geſtatten. Und dies iſt denn auch die beſte Regierung. Geitz waͤre Thorheit, und Thoren koͤnnen die Throne einmal nicht be¬ ſteigen, Verſchwendung eben ſo, daher ſieht man Ueberall gute Haushaltung, weil ihr Vor¬ theil, ihr Ruhm, ſie den Koͤnigen auferlegt. Fremdes Eigenthum an ſich reißen zu wollen,188 kann ihnen nicht einfallen, denn die Unſicherheit deſſelben wuͤrde ohne Zweifel alle Betriebſamkeit laͤhmen, und ſie um ſo viel im Ganzen verarmen, als ſie im Einzelnen ungerecht ſich bereicherten. “
Welche Ausgaben beſtreiten die Koͤnige?
„ Sie ſolden die Raͤthe, ihre Hofhaltung, und legen eine jaͤhrliche Summe in den Ge¬ ſammtſchatz von Europa, den Krieg beſtreiten zu helfen, wenn er gegen andere Erdtheile noth¬ wendig wird. “
Von den drei Raͤthen habe ich manches er¬ fahren, doch wuͤnſchte ich, du nennteſt mir ihre eigentliche Beſtimmung genau.
„ Sie ſind mit der Religion oder Moral, was Eines und Daſſelbe geachtet wird, verbun¬ den, und die Klugheit gilt auch wieder eben ſo viel. Die hoͤhere Religion, auch mit dem al¬ ten Namen Philoſophie benannt, iſt vom Irdi¬ ſchen abgezogen, hat darauf keinen vom Staat gelenkten Einfluß, jeder Einzelne mag zu ſeiner inneren Wuͤrdigung davon zu erkennen ſuchen, was er vermag, die Feſte des hoͤchſten Weſens, vom Volke unter dem Himmelgewoͤlbe begangen, ſind ohne Prieſter, ohne Kultus, jeder feiert dort mit dem Herzen. Alles das iſt dir bekannt,189 und du haſt das heilige Grauen, die Wonne¬ ſchauer eingeſtanden, welche bei ſolchem Anlaß uͤber dich kamen. Doch die irdiſche Religion, in drei Tempelſatzungen getheilt, beſtimmt, das Leben ſchoͤner mit der Idee zu gatten, ſteigt auf zur Verehrung hoher Simbole und auch wieder nieder in die Welt vorhandener Dinge, kraͤftiger und erleuchteter zu heiligen. Du knie¬ teſt oft geruͤhrt im Chriſtustempel, dem erſten von allen. Seine Prieſter haben einen obern Sinod, aus den wuͤrdigſten gewaͤhlt, ſitzend im Obertempel, in der Hauptſtadt des Monarchen. Chriſtus iſt uns Heros, oder Beſchuͤtzer und Verklaͤrer der Erziehung und des Bruderſinnes. In ſeinem Geiſt, und auf den Zeitfortgang merkend, haben alſo die Wuͤrdigen aus denen jener Sinod zuſammen geſtellt iſt, uͤber Erzie¬ hung und Bruderſinn zu wachen, dem Volke Freiheit und Kunde zu ihrer Verbeſſerung, auf jede Weiſe zu bereiten, es durch Rath und auch durch Beiſpiel zu erleuchten, dem Fuͤrſten Nachricht von allen Fortſchritten zu geben, Vor¬ ſchlaͤge darzubringen, wie neue Stufen der Voll¬ kommenheit zu erſteigen ſind. Das Wort Erzie¬ hung hat aber einen weiten Umfang. Es begreift190 nicht nur die Abhaͤrtung und Bildung der Ju¬ gend, auch die Erziehung des Geſchlechtes durch hoͤheren moraliſchen Adel zu gluͤcklicherer Wohl¬ fahrt. Dies kann auf keinem anderen Wege ge¬ ſchehen, als wenn Arbeitſamkeit zuvor den Ge¬ winn der Lebensnothwendigkeiten erhoͤht. Daher ſtehen nicht nur die Schulen, ſondern auch der Landbau, und alle nuͤtzlichen Handwerke, unter der Leitung des Chriſtustempels. Der obere Rath ſpaltet ſich in die beſonderen Kammern und haͤlt in den einzelnen Bezirken untere Ver¬ weſer, gemeinhin Tempeldiener zugleich, welche heilſame Sorge tragen, und vorzuͤglich ihrem Beruf darin nachkommen, daß ſie den weiſeſten Aufflug in Allem beachten, ihm, nach weiſen An¬ zeigen, ſo viel als moͤglich die Richtung geben, und, indem alle Weisheit in ihre Koͤrperſchaft ſtroͤmt, dieſe auch wieder der Quell ſei, aus wel¬ chem das Volk ſchoͤpfen koͤnne. Der Bruderſinn iſt zum Gedeihen aller Volkthaͤtigkeit nothwen¬ dig, weil ohne ihn, ein Theil dem andern, uͤber¬ all Hinderniſſe legen wuͤrde. Er folgt jedoch aus ihrer hoͤheren Vollkommenheit von ſelbſt, denn weil alsdann die Noth um das Mein und Dein, ſich immer mehr verringern muß, ſind die Haupt¬191 wurzeln aller Feindſeligkeit auch immer mehr vertilgt. Ermahnungen in frommen, verſtaͤndi¬ gen, oͤffentlichen Reden, Belebung des Funkens der Menſchenliebe in jeder Bruſt, durch Lehre und Beiſpiel, die ruͤhrenden Kuͤnſte zur Mitwir¬ kung rufend, werden keineswegs verſaͤumt; doch ſtrebt man am muͤhſamſten, die Triebe der Selbſt¬ erhaltung und Geſelligkeit, dem Sterblichen durch die Hand der Natur gegeben, in Einklang zu brin¬ gen, wobei das Uebrige ſich ziemlich allein giebt. Du lernteſt nun uͤberſichtlich den erſten Rath der Koͤnige und ſeine ausgebreiteten Verwaltungzweige kennen. — Der zweite Rath haͤngt mit der Ver¬ ehrung des Moſes zuſammen. Dieſer iſt Heros der Gewalt, des Rechtes. Inſofern ſich dies auf den Krieg bezieht, ſchweige ich, es wurde dir im großen Feldlager kund. Reden wir von dem buͤrgerlichen Eingriff. Wie ſchon in Europa uns ein weit groͤßeres, vollſtaͤndigeres Leben zu Theil wurde, das immer neue Verhaͤltniſſe ſchafft, und immer mehr, den Lebenserwerb be¬ quemer geſtaltende, Einſichten hervorbringt; wie gluͤcklich die, von Wahn gereinigte und durch die Kuͤnſte veredelte Religion, in einen reinen An¬ trieb zum freien Guten umgewandelt iſt; in192 welche zarte Miſtik, die Grundlinien der Buͤrger¬ ehre verwebt wurden; wie klar das, in fruͤher Erziehung geuͤbte Kombinazionsvermoͤgen, die Nothwendigkeit des Rechtes, in den viel erwei¬ teten und berichtigten Geſellſchaftsbeziehungen, einſieht; wie ſorgſam weiſe Jahrhunderte zu fer¬ nen ſuchten, was gereizte Begierden wecken, niedere Leidenſchaften entflammen kann; immer war doch der Stoff des Widerſtrebens gegen das Gute, in der Sterblichen Bruſt nicht ganz zu tilgen. Die Eigenſucht will hie und da immer noch zum Schaden des Geſammtvortheils auf ſich beziehen, und ſind die Verbrechen gleich bei weitem ſeltener als Ehedem, hoͤren wir, Dank ſei es den beſſeren Zeiten! nie von ſolchen, die vor Jahrhunderten noch die menſchliche Na¬ tur entweihten, ſo wird das Geſetz doch biswei¬ len umgangen, und ein ernſterer Widerſtand in warnenden, auch drohenden Ahndungen, iſt noͤ¬ thig. Er geht vom Moſestempel aus. Hier wird Recht geſprochen uͤber den Frevler, wie¬ wohl, von zehn Jahren zu zehn Jahren, die Straf¬ ſatzungen haben gemindert werden koͤnnen, in¬ dem die traurigen Faͤlle, wo ſie eintreten mu߬ ten, abnahmen. Hier werden auch Streitigkei¬ten193ten uͤber Eigenthum, bei denen kein boͤſer Wille, ſondern Zweifel zum Grunde lag, geſchlichtet. Doch nicht, wie vormals, haͤlt ſich die Gerech¬ tigkeit verborgen. Oeffentlich im Tempel, vor der Menge Augen, uͤbt ſie ihr wohlthaͤtig Amt. Auch predigen die Richter dem verſammelten Volke, erklaͤren das Geſetz, beweiſen ſein Heil, ſchaͤrfen ſeine Wuͤrde, und zeigen vorzuͤglich den Unverſtand aller geſetzwidrigen Handlungen, wo¬ durch denn der erregte Ehrgeitz guter Vernunft, auch ein Sporn zur Tugend wird. Entſteht eine Klage uͤber Gewaltthaͤtigkeit — die letzten Jahre zaͤhlten ſie ſparſam — ſo dingt derjenige, wel¬ cher die Beſchwerde zu fuͤhren hat, einen Ma¬ ler, der die kraͤnkende Handlung nach der Natur darzuſtellen hat. Das Gemaͤlde wird vor den Richtern hingehangen, und ſpricht zu ihrer Em¬ pfindung. So braucht es der Anwalde Bered¬ ſamkeit nicht. Doch, der Recht verwaltenden Prieſter Amt nicht freudelos zu machen, iſt ih¬ nen auch die ſchoͤnere Obliegenheit geworden, Lohn fuͤr edle That zu ſpenden. Sie rufen den Buͤrger vor ihren Stuhl, den eine nuͤtzliche Ent¬ deckung verdient machte, der irgend etwas er¬ fand, wovon die Geſammtheit Vortheile ziehenN194kann, den Mann der funfzig Jahre irgend einen Beruf ruͤhmlich verwaltete, das Ehepaar, in ei¬ ner langen Reihe von Jahren durch haͤusliche Tugenden ehrwuͤrdig, den alten treubewaͤhrten Diener, und ertheilen ihm oͤffentlich Lob oder Ehrenzeichen. Die aͤlteſten, tadelloſeſten, weiſe¬ ſten unter allen Moſesprieſtern, bilden in der Hauptſtadt des Koͤnigs den zweiten Rath. — Im Tempel der Maria fleht die Liebe, der Ehen heiliges Band wird dort geknuͤpft, die ſchoͤnen das Leben ſchmuͤckenden Kuͤnſte, die Poeſie, die aufgebluͤhte Jugend waͤhnen ſich in der Obhut der Heiligen. Unter ihren Prieſterinnen ſteht nun das ganze weibliche Geſchlecht. In alter Zeit wurde es herabwuͤrdigend beengt, wir aber ſahen ein, daß Vernunftweſen eine andere Stellung in der Geſellſchaft gebuͤhrt, und ihre Moralitaͤt ſo durchaus gewinnen muß. Darum uͤben ſie eignen erhebenden Kultus, werden in Reden edler Prieſterinnen an die Gattinpflicht gemahnt, ihnen die Grundſaͤtze der fruͤheſten Kinderzucht erlaͤutert, ihr Sinn fuͤr das Schoͤne und Gute geſchaͤrft, wodurch ſie an Anmuth und Lie¬ benswuͤrdigkeit zunehmen. Bei uneinigen Ehen wird der Frauen Recht wahrgenommen, im ſeltnen195 ſchlimmen Fall, Trennung verhaͤngt. Strafe kann dem Weibe nur von hier zuerkannt werden. Die edleren unter den edlen dieſer Prieſterin¬ nen, ſtellen des Koͤnigs dritten Rath zuſammen. Eine fruͤhere Zeit wuͤrde uͤber den Rath von Frauen gelacht haben, und doch iſt er ſo ange¬ meſſen. Auch hat ihr feiner Sinn ſchon des Guten unendlich viel geſtiftet. “
Nenne mir die Beſtimmung des Kaiſers!
„ Er iſt oberer Kriegsherr. Die geſammten Truppen ſtehen unter ſeinem Befehl. Er wacht uͤber den Frieden der Republik, laͤßt die Heere ins Feld ruͤcken, wenn der Kampf unvermeidlich wird, und endet ihn, wenn es ihm gelang, die Feinde zur Verſoͤhnlichkeit zu bewegen. Die Ge¬ ſetze der Rekrutirung ſind bleibend, nicht der Fuͤrſten ſonſtige Machtvollkommenheit, nur ein allgemeiner Beſchluß koͤnnte ſie umwandeln. Auch ziehn die Koͤnige nicht mit ins Feld, da ſie ihre Staaten daheim zu leiten haben, wohl aber die Soͤhne, wenn gerade ihre Dienſtzeit in den Aus¬ bruch eines Krieges faͤllt. Die Uebung der Truppen und Flotten, die Vervollkommnung derſelben durch beſſer erkannte Technik, ſtehen unter Kaiſers Vorſorge, und das Strategion, dirN 2196ſchon bekannt, pruͤft, ſchlaͤgt vor, entſcheidet uͤber einzelne Faͤlle, theils allein, theils nach¬ dem der Kaiſer beſtaͤtigte. Der Kaiſer iſt auch Vorſitzer des Bundesgerichts, und hat ſeine Ausſpruͤche zu ſankzioniren, inſofern von Strei¬ tigkeiten der Koͤnige gegen einander, oder von Wiederbeſetzung eines erledigten Thrones die Rede iſt. Wenn dies Gericht nicht in Rom ſei¬ nen Aufenthalt hat, ſo liegt auch die Abſicht zum Grunde, daß es nicht dem Kaiſer unbedingt un¬ terworfen werden ſoll. Die Telegraphenlinie kann ihm zudem in wenigen Stunden von den Verhandlungen Nachricht ſenden. Der Kaiſer hat auch ſein Koͤnigreich, und zwar das groͤßere, aus welchem ſeine Einkuͤnfte ihm zufließen. Seine Vorfahren haͤtten bei ihrem großen Waf¬ fengluͤck leicht ganz Europa ſich unbedingt un¬ terwerfen koͤnnen, ſie wollten es aber nur durch die gegenwaͤrtige Verfaſſung bedungen, wodurch das weite Reich bequemer regiert, und der im¬ mer fortgehenden Entwickelung eine freiere Bahn gelaſſen wird. “
Guido dachte, als ſein Lehrer geendet hatte viel uͤber die Verfaſſung von Europa nach, es draͤngten ſich ihm manche Ideen auf, wie ſie197 noch geſteigert werden koͤnnte, und er nahm ſich vor, daruͤber einen Entwurf aufzuſetzen. Gelino billigte das, ihm zuſagend: wenn ſeine Vorſchlaͤge gut waͤren, er ſicher auf das Ver¬ gnuͤgen zaͤhlen koͤnne, ſie in Ausfuͤhrung ge¬ bracht zu ſehn.
Sie gingen nach dem Pallaſt, wo das Bun¬ desgericht oder Voͤlkertribunal ſeine Sitzungen hielt. Es war ein Gebaͤude, das durch ſeine Feſtigkeit auf ewige Dauer berechnet ſchien. So viel beſondere Reiche in Europa, ſo viel eherne Bildſaͤulen von einer Staunen erregenden Groͤße zierten das Dach. Sie hielten ſich umſchlungen, ein Adler ſchwebte mit ſeinen breiten deckenden Fittigen uͤber die majeſtaͤtvolle Gruppe. Im in¬ neren Marmorſaale empfand Guido fromme Schauer der Ehrfurcht, als er die Verſammlung der Greiſe ſah, denen ſchneefarbne Baͤrte auf den Buſen niederfloſſen. Er ſahe zudem hier eben ein ruͤhrend Schauſpiel.
Die Urne eines ſeit kurzem verſtorbenen Koͤ¬ nigs ward in den Saal gebracht, von ſeinen vornehmſten Unterthanen getragen. Eine wei¬ nende Menge, aus der Ferne gekommen, die der Saal nicht aufnehmen konnte, ſtuͤrzte nach,198 einmuͤthig flehend, dem Staube ihres Monar¬ chen den Tempel der Unſterblichkeit zu bewil¬ ligen.
Euer Flehen ehrt den Verſtorbenen, ant¬ wortete der hohe Senat, allein es darf uns nicht beſtechen. Wo liegen die Beweiſe, daß euer Koͤnig das Grab des Ruhmes verdiene?
Nun draͤngten ſich beſondere Sendungen der Raͤthe in den Staaten des Todten hervor. Sie reichten Schriften ein, worin die Zunahme der Volkzahl waͤhrend ſeiner Regierung berechnet ſtand, in welchen dargethan wurde, daß ſich die Klagen in den Tempeln des Rechtes, waͤhrend eben dieſem Zeitraume, ungemein vermindert hatten; ferner, daß auch nicht eine Ehe getrennt wor¬ den ſei. Die Papiere wurden laut verleſen. Bedaͤchtig horchten die Greiſe, ruͤhrende Blicke auf die Urne wendend. Nach den Berathungen einer Stunde ſprachen ſie einmuͤthig aus: Seine Regierung war gut, da dieſe Erfolge Zeugniß ablegen. Dem Staube werde des Ruhmes Grab, wenn der Kaiſer das Urtheil heiligt.
Die Todten wurden jetzt uͤberhaupt nicht als Leichname begraben. Man wollte den ſchauder¬ haften Zuſtand der Verweſung nirgend wiſſen,199 auch unter den Raſenhuͤgeln empoͤrte er die Ge¬ fuͤhle einer zartſinnigeren Menſchheit. Hatte der Verſtorbene, nach einigen Tagen, die untruͤg¬ lichen Kennzeichen des Todes, ſchafften ihn die Verwandten in ein Leichenhaus, wo durch einen chemiſchen Prozeß alle Fluͤſſigkeiten verfluͤchtigt, und die feſten Theile in Erde aufgeloͤſet wurden. Dieſe kam in die mitgebrachte Urne, und die Leidtragenden brachten ſie nach dem Todtengar¬ ten, den die Staͤdte mit Baumpflanzungen und Blumen zu ſchmuͤcken, wetteiferten, um ſie dort einzuſenken. Ein Denkmal aber durfte auch dann nur die Stelle bezeichnen, wenn die Mitbuͤrger des Ortes, durch Stimmenmehrheit, den Verſtor¬ benen dieſer Ehre wuͤrdig achteten. Den Wohn¬ platz der Ruhe ſollten nicht Luͤgen entheiligen. Perſonen, welche dem Geſetz widerſtrebend gelebt hatten, kamen auf ein geſondertes entferntes Graͤ¬ berfeld, oͤde, ohne Strauch und Blumen, und die Staͤdte fanden einen Stolz darin, kein ſol¬ ches Feld auf ihrem Gebiete zu wiſſen.
Das Bundesgericht meldete noch am Mor¬ gen, durch den Telegraphen, ſeinen Ausſpruch nach Rom. Am Abend langte die Antwort an. Der Kaiſer ließ durch die akkuſtiſchen Roͤhre zu¬200 ruͤckſagen: Was eben berichtet ſei, ſtimme ganz mit den Kunden uͤberein, welche ihm von der Amtsfuͤhrung jenes Koͤniges auf anderen Wegen zugekommen waͤren. Er ehre der Greiſe Weis¬ heit, beſtaͤtigte ihren Spruch, und gebiete, die Urne nach Rom zu ſenden.
Am anderen Tag wurde ſie nun mit Blu¬ men und Lorbeeren feſtlich gekroͤnt, dann unter hohem Gepraͤnge, bei den Trauermelodien aller Glockenſpiele und dem Chorgeſang aller Jung¬ frauen auf einem goldnen Wagen abgefuͤhrt. Ein Ausſchuß der Greiſe des Voͤlkertribunals begleitete ihn, wie Tauſende der angelangten Unterthanen, die ſich das Recht nicht nehmen laſſen wollten, den Reliquien ihres geliebten Monarchen bis zum Tempel der Unſterblichkeit zu folgen. Guido blickte dem Gewimmel mit froher Wehmuth nach, und geſtand: wie die Ruͤhrung, welche er heute empfaͤnde, jede bisher gefuͤhlte, uͤbertraͤfe.
Der andere Tag war jedoch noch merkwuͤr¬ diger fuͤr unſern Juͤngling. Denn jenes Koͤnigs Nachfolger, von dem Gerichte vorgeladen, ſtellte ſich.
Er hatte das dreißigſte Jahr erreicht, da je¬201 ner in einem hohen Alter verſtorben war. Be¬ ſcheiden trat er in den Saal.
Der Greis, welcher im Namen des Kaiſers den Vorſitz fuͤhrte, fragte ihn:
Wie wurdeſt du erzogen, Monarchenſohn?
„ Zuerſt in einem Fuͤndlinghauſe in Spa¬ nien. „
Haſt du, dort entlaſſen, Proben deiner ſtatt¬ lichen Kraft, deines fruͤh geuͤbten Denkvermoͤ¬ gens, abgelegt? Hat dein Gemuͤth ſich in rei¬ nem Sinn bewaͤhrt?
„ Hier ſind die Zeugniſſe, welche ich empfing, jene Erziehungsanſtalt meidend. “
Sie wurden vorgeleſen und ſtellten den Rath zufrieden. Der Alte fragte weiter:
Wo befandeſt du dich nachher?
„ Ich durchreiſete Europa und Aſien, zu Lande und durch die Luft, umſchiffte den Erdball. “
Recht. Du haſt deine Bemerkungen auf die¬ ſer Wanderung einſt uns eingeſandt. Wir haben daraus auf den unterrichteten Denker geſchloſ¬ ſen. — Wohin begabſt du dich alsdann?
„ Zum Heere, wo ich vier Jahre verlebte. “
Wann erfuhrſt du deine koͤnigliche Abkunft?
„ Im fuͤnf und zwanzigſten Jahre, da der202 alternde Vater eine Stuͤtze neben ſich ſehen wollte. “
Wie ward dir bei der großen Nachricht?
„ Ich fuͤhlte die mir bis dahin unbekannten kindlichen Entzuͤckungen mit Innigkeit, doch er¬ ſchrack ich, daß einſt das ſchwere Koͤnigsamt mich erwarte. “
Gut und auch nicht gut! Der kraͤftige Mann ſoll vor nichts erſchrecken, der Koͤnig am we¬ nigſten. — Wie brachteſt du deine Zeit neben dem Vater hin?
„ Ich wohnte den Sitzungen der Raͤthe bei, beſah unſere Staaten, bis auf das kleinſte Dorf, ſuchte mich uͤber ihre Natur, ihre Gewerbe zu unterrichten, den Mann von Verdienſt kennen zu lernen. “
Wohl! Machteſt du oft Vorſchlaͤge zu Ver¬ beſſerungen in deinem Lande?
„ Dazu fuͤhlte ich mich noch zu ſchwach, meinte nichts hoͤher umfaſſen zu koͤnnen, als der weiſe Vater. “
Schlimm, Koͤnigſohn, ſchlimm! Der Juͤng¬ ling ſoll nicht ſtehen bleiben, ſondern weiter dringen. Deine Erziehung konnte die Erfindungs¬ gabe wecken.
203Der Befragte erroͤthete. Sanft munterte ihn aber der Alte auf und fuhr fort:
Willſt du den Thron deiner Vaͤter beſteigen?
„ Wenn ihr, fromme Vaͤter, mich deſſen wuͤrdig achtet. “
Das koͤmmt nur auf dich ſelbſt an. — Was denkſt du hauptſaͤchlich beim Regieren zu thun?
„ Ueberall das Gute zu foͤrdern. “
Ei, dort falſche Beſcheidenheit, hier große Anmaaßung. Raͤume nur zuvor uͤberall das Boͤſe hinweg, ſo wird das Gute von ſelbſt folgen.
„ Ich hoffe — nicht zu irren — wenn ich ſtrenge den Vater zum Vorbild waͤhle — „
So? Du hoffſt demnach ſo gut wie der Vater zu regieren.
„ Ganz ſo freilich nicht. “
O, ihn zu uͤbertreffen muß dein Vorſatz ſein, wie gerechtes Lob er auch fand. Die neue ent¬ wickeltere Zeit laͤßt dir ja ihr Licht flammen. Durch deine Raͤthe empfaͤngſt du es, kannſt ſeine Strahlen, in deiner Vernunft geſammelt, wohl¬ thaͤtig zuruͤckgießen. — Biſt du vermaͤhlt?
„ Noch nicht. “
Seltſam! Und aus welchem Grunde?
204„ Ueber die raſtloſen Arbeiten vergaß ich, mich nach einem geliebten Weibe umzuſehn. “
So war deine Erziehung dennoch fehlerhaft. Die, welche ſie leiteten, gaben dir nicht Frei¬ heit genug. Du biſt das Werk Anderere gewor¬ den, und die eigenthuͤmlich waltende Kraft keimte zu wenig auf. Die Liebe hat ihren Goͤtterfunken nicht in dir entzuͤndet, darum ſo karger Aufflug deines Herzens. Wir koͤnnen des edlen Vaters wegen dir nicht nachſehn. Sein Ruhm hat mit dem Wohl der folgenden Geſchlechter in ſeinen Staaten nichts gemein. Ich urtheile, daß dein Land ein Jahrlang unter Regentſchaft geſetzt werden muß. Waͤhrend dieſer Zeit bemuͤhe dich um Selbſtvertrauen, um die Kraft des Muthes, die Koͤnigen ziemt. Vermaͤhle dich liebend, dann kehre wieder und hoͤre unſern neuen Spruch. So mein Urtheil, habt ihr es zu tadeln, Vaͤter, ſo tretet auf und wir wollen die Stimmen ſammeln.
Alles ſchwieg.
Nach einer Pauſe fing der Vorſitzer wieder an:
Euer Schweigen nennt meinen Spruch gerecht, der Telegraph ſoll ihn zur Stelle nach Rom bringen.
Tief beſtuͤrzt ſtand der abgewieſene Thronfol¬ ger da vor der ſchauenden Menge. Wohl nicht205 hatte er dies erwartet. Um ſo erſchuͤtterter mußte er ſein, als der Gram uͤber des Vaters Tod ihn wirklich tief verwundet hatte. Dennoch galt keine Einwendung gegen das Machturtheil, er durfte die Ehrfurcht dagegen nicht verletzen, und ſich, wie ihm geboten worden, auf die neue Pruͤfung vorbereiten.
Still ging er nach einer Verneigung mit ſei¬ nem Gefolge davon. Das im Saal verſammelte Volk, ſonſt gewohnt, die Ausſpruͤche welche ihm gerecht ſchienen, mit lautem Beifall zu begruͤ¬ ßen, verhielt ſich diesmal ſtill, und ſchonte ſo des Prinzen. Doch nicht, als ob es nicht voll¬ kommen mit dem Voͤlkertribunal waͤre zufrieden geweſen, ſondern, weil es in dieſem zarten Be¬ tragen, den Manen des Koͤnigs eine Huldigung darbringen wollte.
In aͤlteren Zeiten wuͤrde ein ſolches Bundes¬ gericht wohl ſchwerlich ſeine Beſtimmung erfuͤllt haben. Die Macht des Goldes haͤtte ohne Zweifel ſeine Spruͤche gelenkt. Allein man waͤhlte die tugendhafteſten Maͤnner zu den Richterſtellen. Und das ein und zwanzigſte Jahrhundert hatte in der Kunſt, die Tugend zu bilden, Fortſchritte gemacht, die das achtzehnte oder neunzehnte206 nicht ahnen konnte. Dann wechſelte man ſie oft und unvermuthet. Ferner hatten ſie den feinen Takt des Volkes zu fuͤrchten, das uͤber die Ge¬ rechtigkeit ihrer Verhandlungen ſcharf fuͤhlte, und ihre Ehrliebe haͤtte ein mißbilligend Geraͤuſch, ſeit laͤnger als einem Jahrhunderte nicht erfolgt, kaum getragen. Eben auch ſtand dem Kaiſer das Recht zu, den mit der Strafe ewiger Entehrung zu belegen, der nicht furchtloſe Tugend zu ſeiner Richtſchnur waͤhlte. Endlich durften die Koͤnige insgeſammt, wenn ihre Stimmenmehrheit das Verfahren dieſes Gerichtes tadelnswuͤrdig fand, Einſpruch thun, und ſich ſelbſt in ſeinem Pal¬ laſte verſammeln, um ſtatt deſſelben zu richten, wo denn der Kaiſer in Perſon vorſaß und das Recht der Billigung oder Verwerfung uͤbte. Alle dieſe Maaßregeln erhielten die Ehre des Senats unſtraͤflich.
Guido redete viel mit ſeinem Lehrer uͤber die Antworten des Thronkandidaten. Er behaup¬ tete ſehr keck, ſie beſſer gegeben haben zu wuͤr¬ den, und Gelino ermahnte ihn, im Gefuͤhl ſei¬ nes Feuers auch nicht weiter zu dringen als Beſcheidenheit es geſtatte.
Aber, rief der Juͤngling, war es denn nicht207 eben Beſcheidenheit, was die Vaͤter an dem Koͤ¬ nigſohn ſtraften?
Allerdings, doch ſeine Geburt, ſein Beruf, die Jahre welche er vor dir voraus hat, leiteten des Tribunals Urtheil. Du aber, den kein Purpur erwartet, ſollſt mehr ſtreben als waͤhnen erſtrebt zu haben.
Ich ſtrebe fort, guter Lehrer, entgegnete der Juͤngling, aber ich weiß auch, daß ich ſchon er¬ ſtrebte.
Dann ward er nachdenkend, und rief, in eini¬ gen Schmerz aufwallend: O es muß goͤttlich ſein, von einem Throne herab zu gebieten!
Beneide die Monarchen nicht, warnte Gelino, ſchwer iſt ihr Amt.
Leicht, leicht! ſchwaͤrmte Guido. Darf ich die Kraͤfte zuſammenfaſſen, kann ich auch maͤch¬ tig damit walten. Spannt mir nur Sonnen¬ roſſe an den Wagen, ich will ſie ſchon durch den Aether lenken!
„ Und doch laͤßt jene Mithe den Verwe¬ genen, der es unternahm, ſeinen Untergang finden. “
Ein Furchtſamer hat ſie erdacht. An Phaetons208 Stelle flehte ich zu Ini, und Goͤtterkraft durch¬ gluͤhte mich!
„ Wahrlich, die Pruͤfung in jenem Tribunal ſcheint dich hoch zu entflammen. „
Dieſe Bemerkung des Lehrers war richtig. Guido ſann, von dieſem Tage an, oͤfter einſam nach, warf Gedanken uͤber manche Voͤlkerange¬ legenheiten aufs Papier, ſchnelle Roͤthe uͤberzog ſeine Wange, wenn edle Monarchen und ihre Thaten genannt wurden. Oft ſprach er von dem Tempel der Unſterblichkeit und erklaͤrte, einen heißen Drang zu fuͤhlen, ihn zu ſehn. Habe Ge¬ duld, verſetzte Gelino, wir werden nach Rom kommen.
Die Wanderer beſuchten nun hier verſchiedene Lehrſtuͤhle, denn, wie der Norden von Teutonien fuͤr das gelehrteſte Land galt, nannte dies wie¬ der die hohe Schule zu Berlin die gelehrteſte.
Ein Lehrer trug die Geometrie vor, handelte von den ſeit etwa drei Jahrhunderten erfunde¬ nen neuen Lehrſaͤtzen, und laͤchelte dabei uͤber die geringfuͤgigen Konzepzionen eines Archimedes, Galilei, Newton, la Place. Doch ſetzte er auch billig hinzu: Dieſe Maͤnner bleiben dennoch im Verhaͤltniß zu ihren Zeiten vorteffliche Koͤpfe, daßdie209die unſrigen unendlich mehr ausſprachen, iſt eine Erſcheinung, welche durch den wiſſenſchaftlichen Fortgang und die immer mehr zuſammengedraͤng¬ ten Volkmaſſen nothwendig wurde.
Guido, ſelbſt ein geuͤbter Rechner, bewun¬ derte die arithmetiſchen Formeln, welche ihm hier zu Geſicht kamen. Der Integral - und Diffe¬ renzialkalkul waren auch ſchon vollkommen ins ge¬ meine Leben uͤbergegangen, und die endlich ge¬ fundene Quadratur der Rundung, erleichterte die Meſſung aller Groͤßen noch weit mehr.
Ueber die Mechanik vernahm er unerhoͤrte neue Lehrbegriffe. Nur die Ausfuͤhrung mancher davon, konnte ihn noch zu mehr Bewunderung hinreiſſen. Denn man beſchloß waͤhrend ſeiner Anweſenheit, einen großen Pallaſt, welcher in der Straße, wo er gegenwaͤrtig ſtand, keine vortheil¬ hafte Anſicht darbot, nach einem freien Markte zu ſchaffen. Sein Fundament ward geſtuͤtzt, unterhoͤhlt, gewaltige Hebemaſchinen draͤngten das Gebaͤude im Gleichgewicht empor, Rollen, aus Marmorbloͤcken gehauen, empfingen daſſelbe, und in wenigen Tagen war es unverſehrt nach der neuen Stelle gebracht, wobei ſich an denO210noͤthigen Wendungen die ſchwierigſte Kunſt offenbarte.
Auf der Sternwarte eines durch neue Ent¬ deckungen beruͤhmten Aſtronomen, hoͤrte er meh¬ rere Vorleſungen. Daß man jetzt uͤber Tauſend Millionen Fixſterne zaͤhlte, wogegen vor etwa drei Jahrhunderten deren nur fuͤnf und ſiebenzig Millionen angenommen wurden; daß die Zahl der Ehedem bekannten Dreihundert und neunzig Kometen verdreifacht ausgemittelt war, und uͤber die Geſetze ihres Umſchwungs, die Natur der ſie umwallenden Duͤnſte, kein Zweifel mehr beſtand; daß die Vortrefflichkeit der Sehroͤhre ſchon die Planeten der naͤchſten Sonnenſterne erblicken ließ, wußte er lange; ganz unerwartet erfuhr er hier aber, welchen bedeutenden Vorſchub die Chemie der Sternkunde leiſtete. Denn wenn ſie zuvor den Waͤrme - und Lichtſtoff nimmer hatte waͤgen koͤnnen, ſo war ihr dies nunmehr ganz bequem geworden. Es gab Waagen, die in Theilbarkeit der Schwere Subtilitaͤten geſtatteten, die mit denen, welche das Mikroſkop in der Sichtbarkeit erzielt, verglichen werden konnten. Nun hatte der genannte Sternkundige, Strahlen der Licht¬ materie, welche uns von den, viele Billionen211 Meilen entlegenen, Fixſternen, nach langen Jah¬ renreihen zuſtroͤmt, in luftleeren hohlen Koͤrpern aufgefangen, gewogen und ſcheidekuͤnſtleriſch zer¬ legt. Er wies nun den Zuhoͤrern ſeine merk¬ wuͤrdigen Reſultate vor. Es wurde durch ſie er¬ klaͤrt, weshalb das Licht vom Sirius weiß, das vom Arktur roͤthlich ſei, warum die Glanzfarben an den Hauptſonnen, in den Sternbildern Orion, Leier, Kaſſiopea, Loͤwe, Eridan u. ſ. w. ſo von einander abwichen. Aus der Natur ihrer Licht¬ ſtoffe ſchloß nun der gelehrte Mann auf die ihrer Planeten, ſogar auf die dort nothwendigen Mo¬ difikazionen der anorgiſchen und organiſchen Koͤr¬ per, wodurch er einer ganz neuen, erhabenen Wiſſenſchaft, ihr bewundernswuͤrdiges Feld oͤff¬ nete.
In einem Hoͤrſal der Naturkunde fanden ſich unſere Reiſenden auch mit lebhaftem Antheil ein. Hier zaͤhlte man die Mineralien, Pflanzen, Saͤu¬ gethiere, Voͤgel, Amphibien, Fiſche, Inſekten und Wuͤrmer auf, welche bis jetzt entdeckt waren. Gegen die Vorzeit hatte ſich die Zahl mehr als verdoppelt. Dies galt aber nicht von den Thie¬ ren des Meeres, von denen einige Tauſend Gat¬ tungen in den Regiſtern der Phiſiker genanntO 2212wurden, wo man ſonſt nur Achthundert beobach¬ tet hatte. Denn bei jeder Reiſe in den Grund des Ozeans — wo ſich die kuͤhnen Erforſcher der wunderſamen Tiefe, nach Maasgabe ihres Wei¬ terdringens, einen Ruf bereiteten, wie Ehedem die Colon, Magellan, Hudſon, van Diemen, und Tiefgebuͤrge oder Meerthaͤler nach ihren Namen benannt ſahen — wurde man Arten an¬ ſichtig, die bis jetzt den Blicken verborgen ge¬ blieben waren, und nicht in die hoͤhere Waſſer¬ region zu dringen pflegten. Guido erfuhr viel Seltſames davon, wandte aber der Anatomie der Infuſionsthiere noch groͤßere Aufmerkſamkeit zu, und die meiſte, den Lehren uͤber das Pflan¬ zenleben. Hier ſpottete man jetzt der Vorzeit, welche die Vegetabilien einſt leblos nannte, un¬ geachtet einſaugende und aushauchende Gefaͤße ſowohl, als die Erzeugung durch Begatten, ſie vom Gegentheil haͤtte uͤberzeugen koͤnnen.
Die Geogenie behauptete Hipotheſen, in welche die Bailli und Gatterer der Vorzeit ſich ſchwerlich wuͤrden gefunden haben. Sie wollte genau angeben, wann einſt der Erdball, nur aus Urgebuͤrgen be¬ ſtehend, durch eine aͤtheriſche Revolution von Waſſerfluthen waͤre umfangen worden, die die213 Urſache aller Lebenserſcheinungen in ſich tragend, in dem Maaße abgenommen haͤtten, als dieſe aus ihren Mitteln hervorgebracht waͤren. Eben ſo berechnete ſie die endliche vollkommene Kondenſa¬ zion der Fluͤſſigkeiten, und wies dann dem er¬ ſtorbenen Felsball eine Trabantenſtelle bei einem weit uͤber den Uranus hinaus entſtehenden oder dann mit Lebenselement umfloſſenen Planeten an. Andere Meinungen aber, leiteten die Geburt der Erde, von der Begattung zweier Kometen her, da ſie in den Aether geworfen worden, gewiſſer¬ maaßen in Eigeſtalt, wo der Urgranit als das Gelbe, die Fluthen als das Weiße zu be¬ trachten waͤren. Die allmaͤhlige Umwandlung der Verhaͤltniſſe des Fluͤſſigen zum Feſten, nannte dieſe Meinung, den Wachsthum des Eies, und ſein Entfalten zum Kometen, wo einſt das kindiſche Einherwandeln am Gaͤngelbande der Sonnenan¬ ziehkraft aufhoͤren, und der kecke Juͤngling ſich der Leitung ſeiner feurigen Waͤrterin entziehen werde, nicht mehr waͤrmende Pflege von ihr be¬ duͤrfend. — Freilich zeigte ſich hier auch ſo gut wie vormals die Beſchraͤnkung des menſch¬ licher Wiſſens, und Guido draͤngte den Lehrer bald mit Fragen, auf die er keine Antwort hatte.
214Die Philoſophie ſah dies gegenwaͤrtig wohl ein und trug zur Belehrung nur ihre eigne Ge¬ ſchichte vor. Die letzteren Siſteme, die juͤngſten Traͤume vom Ueberſinnlichen, mußten nothwen¬ dig, nach einem um ſo groͤßern Maaßſtabe ange¬ legt worden ſein, als die Erkenntniß im Gebiet des Sinnlichen ſich mehr ausgebreitet hatte. Man trug ſie vor, beſchied ſich abzuſprechen und uͤberließ jedem Denker — ſich zum hoͤchſten We¬ ſen anbetend zu wenden.
Guido, bereits fruͤh mit jugendlicher Weisheit ausgeſtattet, zeither, wie wir ſchon berichtet ha¬ ben, eifrig dem Studium der weiſeſten Schrif¬ ten dieſer Zeit hingegeben, umfaßte nun, ſchnell in ſich aufnehmend, was er hier ſah und hoͤrte, und vollendeter wurde der tiefe kraͤftige Denker. Die Hochgefuͤhle ſeines ſtammenden Thatentrie¬ bes, wurden dadurch wechſelnd gemildert und angefacht.
Wahre geiſtige Religion, in Bewunderung der Natur und Allmacht, lenkte ſein Gemuͤth zum hoͤheren Aufflug als je, und die Liebe, in ihrer immer reineren Miſtik, ſchmiegte ſich an alles Empfundene und Gedachte.
215Allein der Ausdruck eines ſo ſchoͤnen Geiſtes praͤgte ſich auch immer vollendeter in ſeiner Ge¬ ſtalt aus. Er fuͤhlte, ſah es mit Frohlocken, ſchrieb an Ini: Wenn ſein Auge, vielmehr ſein Herz nicht luͤge, muͤſſe er nun ſehr nahe an ſei¬ nem Goͤtterziele ſtehn. —
Man beſah noch das Innere von Berlin em¬ ſig. Ein altes Zeughaus lag in ehrwuͤrdigen Ruinen da. Es war nicht wieder erbaut worden, indem bei der jetzigen, gluͤcklichen Verfaſſung von Europa, in der Mitte des Staates keine Waffenvorraͤthe noͤthig waren.
Ein Standbild Friedrichs II. zog Guidos Blicke auf ſich. Sein Lehrer ſagte: Dieſem Koͤnig war freilich Neigung zum blutigen Ruhm vorzuwerfen, und er fuͤhrte Kriege, die aller¬ dings zu vermeiden geweſen waͤren. Doch ent¬ ſchuldigt der rohe Charakter ſeiner Zeit viel daran. Hingegen wußte er den Monarchenberuf, der ſich mit dem Ganzen zum Vortheil Aller verinnigen, und das Staatsſchiff im Strome der Zeit dahin lenken ſoll, ohne ſeine Wogen vor¬ auseilen zu laſſen, oder ihnen ſelbſt voranzuflie¬ gen, ſo richtig zu erfuͤllen, daß manche Zuͤge ſeines Regentenlebens, ſogar jetzt noch, jungen216 Gekroͤnten Muſter leihen duͤrfen. Deshalb prangt auch nicht allein hier ſein Denkmal, ſondern ſeine Reſte wurden ſpaͤterhin auch nach Rom ge¬ bracht. Du ſiehſt ſeine Urne dort im Tempel der Unſterblichkeit. Hatte ſein Volk ſich zur Groͤße aufzuſchwingen verſtanden, wie ſein Koͤ¬ nig, ſo ging vielleicht Europas ſchoͤnere Ent¬ wickelung, von Friedrichs Monarchie aus.
An dem Marmorbilde einer Koͤnigin des Al¬ terthums, weilte der Juͤngling bewundernd. Ge¬ lino unterrichtete ihn: Dieſe Huldin auf dem Throne, Luiſe genannt, ſei die ſchoͤnſte Frau ihrer Zeit geweſen. Auch waͤre die Vorliebe fuͤr ihre Geſtalt hier ſo lebendig auf die Nachkommen uͤber¬ gegangen, daß man ſie in den Marientempeln, durch Kuͤnſtler von Athen, noch immer nachah¬ men ließe.
Es befand ſich auch ein Pantheon in dieſer Stadt, wo die Bildniſſe verdienter Maͤnner in dieſen Gegenden, aus neuer und aͤlterer Zeit aufgehangen wurden. Man ſahe hier Al¬ brecht, Waldemar, Luther, Copernikus, Gue¬ rike, Friedrich Wilhelm, Leibnitz, Kant, einen gewiſſen Rochow, einen gewiſſen B*** — — doch der Verfaſſer dieſes Werkleins mag es nicht217 unternehmen, die noch anzugeben, welche ſein prophetiſcher Traum ſah, mancher Aſpirant der Unſterblichkeit wuͤrde zuͤrnen, ſich zu vermiſſen.
Wir wollen nun mit unſerer Reiſe mehr ei¬ len, ſprach Gelino. Hinlaͤnglich ſahſt du das arbeitſame Treiben kleiner Staͤdte und auf dem Lande in dieſer Erdgegend. Laß uns die ſchnelle Luftpoſt dingen.
Noch vor Aurora klang das Horn, die Rei¬ ſenden warfen ſich in die Gondel. Morgen¬ ſchlummer ſank noch uͤber ſie. Als ſie davon auf¬ daͤmmerten, ließ ſich das Fahrzeug ſchon auf die Boͤhmiſche Bergkuppe nieder, wo ſich die erſte Station nach Wien befand. Neue Adler flogen muthiger uͤber die lachenden Ebenen hin, man ſah die rauchenden Sudeten, gleich Altaͤ¬ ren, von denen dem Ewigen der Andacht Opfer emporwallte; die Elbe, die Moldau gleich ge¬ ſchlaͤngelten Silberfaͤden; Glockenklaͤnge, Ernte¬ lieder, ineinander gewebt, toͤnten zu ihnen her¬ auf. Gegen Mittag ſchwebte das ſonnenbeglaͤnzte Prag voruͤber, zwei Stunden danach nahmen ſie auf einem Huͤgel in Maͤhren, wo die zweite Luftpoſt erbauet war, ein erfriſchendes Mahl. Dann ward wieder angeſpannt und das Sehrohr218 entdeckte ſchon die ehrwuͤrdige gothiſche Piramide, Ehedem ſammt ihrer Kirche dem heiligen Ste¬ phan geweiht, nun ein Chriſtustempel, noch dauerhaft genug, ferne Jahrhunderte zu ſehen. Am Abend zog man uͤber die Wipfel des Pra¬ ter hin, vielen Luſtwandelnden in der Hoͤhe be¬ gegnend, und der Fuhrmann ſenkte ſeine Paſſa¬ giere auf die Platteforme des Gaſthauſes, zum Ochſen genannt, nieder, das ſeinen alten Na¬ men in dem Betracht nicht geaͤndert hatte, daß ein Ochs zu allen Zeiten ein venerables Thier bleiben wird.
Sie ſpeiſten noch weit leckerer zu Nacht als in Berlin, die Enkel waren hierin den Vaͤtern treu geblieben, auch das Bad enthielt mehr aro¬ matiſche Beimengungen, ſtaͤrkte die Lebensgeiſter und munterte hoͤher zu Genuͤſſen auf.
Am andern Tag beſahen ſie die Stadt und das von Schiffen wimmelnde Baſſin der Donau, welches hervorzubringen, die alte Brigittenau zerſtoͤrt worden.
Gelino erzaͤhlte ſeinem jungen Freunde: wie kunſtreich-muͤhevoll denkende Regierungen bewirkt haͤtten, daß Seeſchiffe die Donau ſtromauf haͤt¬ ten befahren koͤnnen, was in alten Zeiten, bei219 allem erfinderiſchen Fleiß, nicht einmal mit klei¬ nen Kaͤhnen ſei thunlich geweſen. Eine Ueber¬ einkunft mit Griechenland, große Summen und das Ausharren bei vieljaͤhriger Arbeit, haͤtten den¬ noch allen Widerſtand beſiegt. Da der zu ſtarke Fall des Stromes alle Hinderniſſe legte, waren zu ſeinen Seiten hohe Daͤmme aufgefuͤhrt, das Flußbette vertieft und geaͤndert, und demnaͤchſt von dreißig Meilen zu dreißig Meilen bis zum ſchwarzen Meere Waſſerfaͤlle angelegt worden, die dem von Niagara fluͤchtig glichen. So hatte die Hidraulik die Fluthen zu einem ruhigen Lauf gezwungen. Kam nun ein Schiff dem Strom entgegen — entweder vom Winde oder von Ma¬ ſchinenruderwerken geleitet — bis an einen Waſ¬ ſerfall, hob es eine Schleuſe empor; im ande¬ ren Falle trug ſie es nieder.
Noch eine andere gigantiſche Arbeit hatte der Unternehmungsgeiſt hier vollbracht. Lange ſchon waren die Einwohner der Meinung geweſen, je¬ ner Zweig der Steiermaͤrkiſchen Gebirge, unter den alten Namen, Kalenberg und Leopoldsberg, bis ans Donauufer dringend, erkaͤlte die Gegend und mache die Witterung unbeſtaͤndig. Ohne ihn, war man uͤberzeugt, muͤſſe das Klima ſo220 freundlich ſein, als unter gleicher Breite in Un¬ garn. Nicht nur auf ſich, ſondern auch auf die Enkel blickend, hatten alſo die Großvaͤter — dieſen Namen zwiefach tragend — eine Summe zuſammengebracht, um funfzig oder achtzig Jahre hindurch, einige Tauſend Arbeiter und Laſtthiere damit verpflegen zu koͤnnen. Weit hinauf gegen Steiermark zu, wurden nun die Berge geſprengt, und zwar nicht mit Pulver, um die Stadt nicht zu erſchuͤttern, ſondern durch kuͤnſtlich darin er¬ zeugtes Eis, was auch fruͤherhin begreiflich ge¬ weſen waͤre, da man ſchon im achtzehnten Jahr¬ hunderte, die Kraft, welche eine Bombe, mit Waſſer gefuͤllt, das in Froſt uͤbergegangen iſt, ſprengt, auf 3351 Pfund berechnete. Die zer¬ ſtuͤckelten Felſen, ſchafften nun Prahmenwagen von ungewoͤhnlicher Groͤße, auf einer eigen dazu gefertigten Kunſtſtraße aus Eiſenerz, nach Maͤh¬ ren. Da ſie aber keine Bruͤcke haͤtte tragen koͤnnen, mußte man ſich entſchließen, einen hoh¬ len Gang unter der Donau hin zu woͤlben, ge¬ gen welchen die geprieſenen unterirdiſchen Kanaͤle im alten Rom, nur ein Spielwerk zu nennen waren. In Maͤhren ward das Gebirge wieder221 aufgefuͤhrt. Nun wehten die ſuͤdlichen Luͤfte freier, die aus Norden wurden betraͤchtlich gehemmt.
Durch alle ſolche Maaßregeln hatte die Be¬ voͤlkerung der Stadt bis auf eine Million zuge¬ nommen. Die alten Feſtungwerke vertilgte man laͤngſt, wo ſonſt die Vorſtaͤdtiſche Linie ging, be¬ graͤnzte ſich nunmehro die Stadt, die neuen Vor¬ ſtaͤdte floſſen nicht nur mit Schoͤnbrunn, Dorn¬ bach, Nußdorf, ſondern ſogar mit Enzersdorf und Neuburg zuſammen. Vergnuͤgungen und Wohlleben wurden uͤberall ſichtbar. Guido be¬ ſuchte an einem Abend den maskirten Ball. Sein Lehrer folgte ihm nicht, hatte Daheim zu ſchrei¬ ben. Die alte Sitte, ſich ſcherzend zu verlar¬ ven, beſtand noch, doch feinſinniger und deu¬ tungreicher. Der Juͤngling erblickte viele Schoͤn¬ heiten, anziehend durch liebliche Formen, bei al¬ lem dichten Gewande. Doch ruhte ſein Auge mehr neugierig als betroffen darauf. Eine aber darunter, wie Hebe gekleidet, das Geſicht bis an den Mund verſchleiert, regte ſeine Aufmerk¬ ſamkeit lebendiger an. Hoͤchſt edler Gang, be¬ zaubernde Harmonie in allen Bewegungen, der untere Theil des Geſichts, wo ſich das Kinn in zarten Wellenlinien, der ausdruckvolle, laͤchelnde222 Mund in zwei roſenhaft prangenden, ſanft ge¬ ſpannten Lippen, darſtellten, begannen ſeinen Puls zu erhoͤhen. Alles mahnte ihn an Ini, nur eine etwas laͤngere Geſtalt ſah er hier. Er konnte nicht umhin, der freundlichen Erſcheinung im Gedraͤnge zu folgen, den trunkenen Blick ihr nachzuſenden, endlich bebend die Maske zum Tanz einzuladen. Sein Verlangen ward erfuͤllt, ſelig flog er mit der Schoͤnheit durch die Rei¬ hen. Ihre Beruͤhrung traf ihn wie elektriſche Funken. Gefuͤhle wie aus anderen Welten durchſtroͤmten ihn. Die Muſik, nur Melodien der Liebe und Wolluſt athmend, nahm das noch Uebrige ſeiner Beſonnenheit hin.
Wien, ſchon im Alterthum ſeiner Tonkuͤnſtler wegen geruͤhmt, hatte auch zeither hierin den Vorrang behauptet. Die Revoluzion der Muſik, Ehedem kaum geahnt, war von Wien ausge¬ gangen. Wo ſonſt die Toͤne wild und dunkel ſchwaͤrmten, fand jetzt alles klare Bedeutung. Die Muſik hatte, was ihr immer fehlte, ihre Grammatik empfangen, auf dieſe gruͤndete ſich die Uebereinkunft wegen ihrer Sprache. So konnten die beſtimmten Zuſammenklaͤnge, Figu¬ ren, Zeitmaaße, Worte vertreten; Poeſien, Re¬223 den u. ſ. w. ausgefuͤhrt werden, die der leicht Unterrichtete vollkommen verſtand. Einem Goͤtter¬ idiom glich die herrliche Erfindung. Welchen Ein¬ druck mußte ſie hervorbringen!
Bei der Tanzmuſik entſtanden oft Klagen der Polizei, wenn ſie zu uͤppige verfuͤhreriſche Klang¬ worte ſprach. Wie jener Grieche einſt die Sai¬ ten der Lira verminderte, wie Gregor VII. bei dem Tempelchor auf groͤßere Einfalt drang, ließ ſich jetzt eine Cenſur die Tanzſtuͤcke vorzeigen, und ſtrich manche Notenphraſe. Bei den maskir¬ ten Baͤllen ſah ſie indeſſen hie und da nach, vielleicht zu ſehr, und ſo ging dem zu weit hin¬ geriſſenen Juͤngling, die alte Strenge gegen lei¬ denſchaftliche Aufwallung, beinahe zu Grunde.
Guido knuͤpfte, mit ſeiner Taͤnzerin im Neben¬ zimmer ruhend, warme Unterredungen an. Sie war im Anfang einſilbig, antwortete jedoch im¬ mer mit Witz und Gehalt. Auch tiefe, himmel¬ volle Empfindung verkuͤndete ſich in ihren Wor¬ ten. Guido ſagte ihr, ſeiner nicht laͤnger maͤch¬ tig: Ich liebe ein Maͤdchen daheim, ach mehr wie das Goͤttliche in der Natur, nimmer wankte mein Herz — als vor deinem Anblick!
Die Verſchleierte gab zu Antwort: Der224 Uebergang von Liebe zu Liebe lohnt mit hoher Wonne. Der ſtrafende Vorwurf, was kann er, als den neuen ſeligen Taumel wuͤrzen!
Guido rief: O wie unterwirft mich der Zau¬ berklang deiner Stimme! Dein Auge ſtrahlt helle Glorien durch den Schleier. O warum darf ich es, warum die Bluͤthe der Wangen nicht ſehn?
Hier nicht, entgegnete die Schoͤnheit, doch folge nach meiner Wohnung.
Sie ſtand auf, eine ganz verhuͤllte, aͤltliche, weibliche Maske, trat hinzu, begleitete Jene.
Guido zauderte lange. Ein draͤngender Zug, den Himmel weiſſagend, gebot ihm ihr nachzu¬ eilen, eine innere tadelnde Stimme hielt ihn zu¬ ruͤck. Doch eine weiche Hand, die die ſeinige ergriff, und mit aͤtheriſcher Waͤrme durchgluͤhte, ließ keine Wahl mehr.
Unten harrte ein niedlicher Wagen. Die Masken ſtiegen in denſelben. Guido nahm ruͤck¬ waͤrts ſeinen Platz, man rollte dahin. Das Herz von ſuͤßen Erwartungen bebend, die Gewiſſensre¬ gungen niederkaͤmpfend, ſaß der Liebegluͤhende da, zur Rede kaum ermannt.
Man hielt an einem Gartenthor, das ſich aufein225ein Zeichen oͤffnete. Holde Blumenduͤfte athme¬ ten den Eintretenden entgegen. Der roͤthlich aufgehende Mond ſchien durch die bluͤhenden Orangenbaͤume, die holde Maske fuͤhrte Guido nach einem Luſthauſe, wo eine kleine Lampe vor einem hohlgeſchliffenen großen Amathiſt brannte. Dieſe magiſche Helle verklaͤrte alle Gegenſtaͤnde umher. Koͤſtliche Teppiche waren im Zim¬ mer ausgebreitet, das Ruhebett im Hintergrunde umfloß eine kuͤnſtliche Wolke, aus dem Rauche ſuͤß betaͤubender arabiſchen Spezereien. Die Maske fuͤhrte Guido hinein, alle Fibern und Nerven erklangen in ihm. Er ſtammelte: Nun, nun, laß mich dein Antlitz ſchauen! — „ Nicht ehe, bis du mir, ein Abtruͤnniger deiner vorigen Er¬ waͤhlten, ewige Liebe ſchwoͤrſt. “
Guido erſchrack heftig, ſeine Sinnenverwir¬ rung nahm jedoch zu.
Dann, fuhr ſie fort, biſt du mein Gott die¬ ſe Nacht, deine Jo umarmt dich in dem Zauber¬ gewoͤlk.
Guido ſchlug auf die Bruſt. Die Lippe wollte ſich oͤffnen, doch ſeine Hand hatte Inis Bild am Herzen verborgen, getroffen. Dies rief ihm Ermannung durch die Seele. Er riß das Ge¬P226maͤlde hervor, warf einen Blick darauf, hohe Gewalt der Unſchuld kehrte ihm zuruͤck. Nein, Verfuͤhrerin, rief er, Treue iſt ſchoͤner als Wol¬ luſt! Heil mir, dem der Muth zu fliehen er¬ wacht!
Er eilte aus der Grotte, ſtark, kraͤftig in wiedergekehrter Tugend. Es ſchien ihm, als ob himmelſuͤße Stimmen ihn zuruͤck riefen, er widerſtand.
Am Gartenthor angekommen, fand er es verſchloſſen, was ihn peinigend aͤngſtete. Er wollte hinaus in die Freiheit, deſto ehe Meiſter zu ſein der gefaͤhrlichen Leidenſchaft, in Gelinos Armen Schutz dagegen ſuchen, wenn die eigne Kraft nicht mehr zulange. Seine Furcht war heftig, doch gerecht. Er wußte auch, der wahre Muth koͤnne ſich der Verfuͤhrung nur entwinden, und ſein feiges Beben durchflammte Heldengefuͤhl.
Umſonſt bemuͤht das Thor zu oͤffnen, weilte er mit Einemmale ſtarr und unbeweglich. Eine Melodie ergriff ihn ſo wunderbar. In holden Zaubertoͤnen redend, edler, ſiegender, wie alle die er in Wien gehoͤrt hatte, doch ſchon einſt von ihm gehoͤrt, loͤſte ſie goͤttlich ſeine innere Welt. Erinnernd, die ſeligſten Bilder der Vor¬227 zeit im Gefolge, traf ihn die Melodie. Die Saiten einer Zephirharmonika ſtroͤmten ſie nie¬ der, dort in Sizilien hatte ſie ihn einſt zu einem verklaͤrteren Daſein emporgetragen. Was hieß das? Was ſollte Guido denken?
Er konnte nicht mehr fliehn, wandte ſich um, nach der Seite des Klanges horchend. Suͤß lis¬ pelten die Zweige der bluͤthenduftenden Linde, im ſtaͤrker wehenden, warmen Abendwind. Hoͤ¬ her ſchwebte der klare Mond, heller goſſen ſich ſeine Strahlen auf die Wipfel nieder, Guido ſah etwas uͤber dieſen Wipfeln, ſanftleuchtend und roſig ſchimmern, und wandelte bebend den Pfad dorthin. Die ſchwarze Maske trat ihm entgegen, nahm ihn bei der Hand, fuͤhrte ihn durch eine dunkle Kruͤmmung, wo er aus den Blick ver¬ lor, was er eben geſehen hatte, doch immer noch, die Melodie vernahm. Kein Wort konnte die Lippe ſtammeln. Bald endete das Dickigt vor einem freien mondbeglaͤnzten Huͤgel, und voͤllig ſichtbar in der ereilten Naͤhe, winkte das hohe Inſtrument, dem aͤhnlich, das Guido auf dem heimathlichen Eiland entzuͤckte. Die Hebe ruͤhrte nun ihre Saiten nicht mehr, ſtieg herab, ach! wie einſt Ini im Abendſchein. Guido ſankP 2228aufs Knie, Ahnung, Verwirrung, Furcht und ſelige Wonne zugleich im Buſen. Des Maͤdchens weißer Arm zog den Schleier vom Antlitz — o Himmel! — Geliebte! Mehr vermochte der Juͤng¬ ling nicht zu ſagen.
Ini trat naͤher, erhob ihn laͤchelnd. Pruͤfen wollt 'ich deine Liebe, ſprach ſie, Athania war Zeugin von Allem. — Die ſchwarze Maske ent¬ huͤllte auch ihr Geſicht.
O ich bin ein Unwuͤrdiger, verdiene den Tod! rief Guido mit zerriſſenem Gemuͤth.
Richte, Athania! ſprach Ini wieder.
Die Erzieherin fing an: Maͤnnlich haſt du der ſcheinbaren Verfuͤhrung widerſtanden. Deine Flucht war Treue und Tugend. Nicht darf dich die Liebe anklagen.
O Ini, brach Guido aus, der Schrecken in nie geahnten himmelvollen Entzuͤckungen verwirrt mir die Seele. Laß mich Beſonnenheit ſammeln, damit ich mein Herz fragen koͤnne, ob Schuld ſeine Reinheit truͤbt? Dann — o dann will ich entfliehn, mich ewig zu verbergen!
Frage, entgegnete hold das Maͤdchen.
Guido ſchwieg lange, mit tief geſenktem Blick; dann hob er das Auge langſam empor, doch freier, klarer.
229Freudig erroͤthend rief Ini: So blickt nur die Unſchuld auf. Du biſt rein!
Ach, entgegnete Guido, wenn deine Geſtalt mich einen Augenblick mir ſelbſt raubte, ſo konnte es auch nur dieſe, dieſe Geſtalt. Ich habe mich nicht anzuklagen, ſie gebietet meinem Leben.
Er blieb deiner werth, fiel Athania ein, gluͤck¬ liche Freundin!
Wenn meine alten Bedingungen erfuͤllt ſind, iſt er meiner werth; und ich ſeiner, wenn ich ſelbſt vollbrachte, was ich mir einſt aufgelegt habe, war Inis Antwort.
Sie nahm Guido bei der Hand, ihn in ein erleuchtet Gemach zu bringen. Er folgte, immer noch mit einigem Zittern. Ich bin nach Afrika beſchieden, ſagte ſie auf dem Wege, ohne zu wiſſen, wie lange ich ausbleibe. Du kamſt nach Wien, der Abſtand von Sizilien iſt ſo weit nicht, ich beſchloß, dich hier zu ſehn, zu pruͤfen, mie¬ thete den Garten. Doch nur eine Stunde kann ich noch weilen, dann ſteige ich in meinem Wa¬ gen auf und fliege zur Heimath.
Sie hatten das Gemach erreicht, hohe freu¬ dige Beſtuͤrzung uͤber des Maͤdchens vollkomme¬ nere Schoͤnheit in Guidos ſtrahlendem Blick, aber230 auch das naͤmliche ſuͤße Staunen in Inis gluͤ¬ hendem Auge. O, rief ſie, viel, viel hat mein Guido waͤhrend ſeiner Entfernung gethan, die innere Schoͤnheit auszubilden, der letzte Sieg goͤttlicher Tugend machte dich verwandter noch mit meinem Ideal, der unverkennbare Zug des edlen Triumphgefuͤhls iſt dir auf ewig ein¬ gepraͤgt.
„ O Ini — ich weiß mich nicht anzuklagen, und dennoch — ich haͤtte nicht folgen ſollen — “
Ohne Gefahr kein Kampf, ohne Kampf kein Sieg.
Guido ließ nun ſeinem Entzuͤcken uͤber Inis neue hinreißende Anmuth freien Lauf.
Sie ſprach: Das Weib kann daheim nur im Stillen ſinnen, wo der Mann in die Ferne ſchweift, handelt, wirkt. Doch uͤber ſein Han¬ deln und Wirken ſinnt eben einſame Liebe un¬ geſtoͤrt, und fraͤgt das ruhige Gefuͤhl nach dem Rechten, Guten, Wahren. Ich, die Malerin, erſann daheim deine Aufgabe. Mein Gefuͤhl weiſſagte ihre Loͤſung. Der Geiſt deiner Liebe mußte ferner walten, und redlich hat er gewal¬ tet. Doch iſt das Ziel noch nicht erreicht. Viel¬ leicht lange noch nicht. Sei nicht traurig. Die231 Zeit vor dir, die Kraft in dir, werden maͤchtig fortgeſtalten. Nur vergiß nicht, daß du Gemuͤth und Geiſt in immer vollkommeneren Einklang bringen mußt, den Preis der hoͤchſten Schoͤnheit davon zu tragen. Noch gab 'dein Gemuͤth oft zu vielen Ausſchlag. Dieſer Durſt nach Helden¬ ruhm, um den ich dich einſt anklagte, wenn er gleich dem Manne ziemt, muß ſich der Betrach¬ tung uͤber die ſchoͤnere Eintracht der Menſchheit unterwerfen. Das Wiſſen, die hellere Ueberſicht, muͤſſen dieſe Betrachtung rufen. Doch wenn Pflicht es gebeut, mußt du entſagen koͤnnen, auch wirk¬ lich entſagen. Dies Wort verſtehe wohl, dann wird erſt das Goͤttliche in Herrlichkeit den inne¬ ren Menſchen durchſtrahlen, und von vollendeter Bildung die verklaͤrte Geſtalt zeugen. Roher Sinnenwahn, niedere Leidenſchaft gebieten nicht mehr in dir, durch den letzten Kampf haſt du dich ihnen ganz entwunden, des Denkers gereif¬ tere Kraft wohnt auf der weit vorgedrungenen Stirn, was den Linien im Antlitz ſonſt hie und da ein Mißverhaͤltniß erzog, iſt viel ausgeglichen. Viel — nicht vollkommen. Noch Uebung im edlen Denken, im richtigen Empfinden, noch232 ein großer Triumph uͤber ſelbſtſuͤchtig Begeh¬ ren, und ich hoffe, du ſtehſt am Ziel.
Es folgte eine himmelvolle Stunde trunk¬ ner Unterhaltung. Sie floh wie ein Augenblick. Dann mahnte Athania. Kein Flehen hielt Ini zuruͤck. Sie erhob ſich im mondbeleuchteten aͤthe¬ riſchen Wagen, flog unter den Sternen hin, ei¬ nem Seraph aͤhnlich, in der Glorie aus Lunens Strahl gewunden, und ſchwand dann in blauer dunkler Ferne dem entwichenen Meteor gleich.
Guido empfand die Nacht und den folgenden Tag hindurch, nur den Nachklang der ſeligen Er¬ ſcheinung, alles um ſich vergeſſend; dann er¬ mannte er ſich, und drang wieder, um den ſchoͤ¬ nen Preis kaͤmpfend, ins Leben. —
Die Reiſe ging nun nach Frankreich. Es wuͤrde zu viele Zeit geraubt haben, noch laͤnger in Deutſchland zu weilen, ob gleich noch viel Sehenswerthes uͤbrig blieb, das ſie in Muͤnchen, Stuttgardt, Frankfurt u. ſ. w. haͤtten betrachten koͤnnen, als beſonders kluge Einrichtungen, Mo¬ numente alter trefflicher Fuͤrſten, Volkfreuden. Doch ſie mußten es, nach dem einmal gewaͤhl¬ ten Plan, bei den groͤßten Staͤdten bewenden laſſen.
233Unfreundliche Herbſtwitterung ſtoͤrte die Reiſe in etwas. Wenn ſich der Luftwagen vom Poſt¬ hauſe aufſchwang oder bei dem folgenden nieder¬ ſenkte, hatten die Adler Muͤhe, gegen die Stuͤrme anzukaͤmpfen. Außerdem hielt man ſich jedoch in der hoͤheren Region, wo kein Wind mehr ſauſte, und die angeſpannten Thiere konnten bequem ih¬ ren Pfad verfolgen. Gegen die Kaͤlte ſchirmten artige Oefen von duͤnnem Blech, mit Papier ge¬ heißt, und Pelzhuͤllen von Schwanenfell.
Am Rhein und in den Gegenden des ehe¬ maligen Lothringens, freute ſie der laute Winzer¬ jubel der unter ihnen toͤnte, eben ſo die uͤberall noch dichter als in Germanien angebaute Land¬ ſchaft. Ohne Unfaͤlle erlebt zu haben, erblickten ſie bald das weitlaͤuftige Paris, deſſen Vorſtaͤdte jetzt mit Meaux, St. Denis, Verſailles u. ſ. w. zuſammenhingen.
Guido wunderte ſich uͤber eine duͤnne ſpitze Saͤule von niegeſehener Hoͤhe, die eine ſeltſame Geſtalt hatte und fragte ſeinen Lehrer, was er da¬ von zu denken haͤtte? Dieſer erklaͤrte ihm, wie die Pariſer ſchon lange damit unzufrieden gewe¬ ſen waͤren, bei regnigtem Wetter ihre enggebaute Stadt ſo unreinlich zu ſehn. Die Erfindung haͤtte234 ſich in mancherlei Mitteln gegen dieſen Uebel¬ ſtand erſchoͤpft. Es ſei im Werke geweſen, die nahenden Regenwolken jedesmal durch Kanonen von. Luftbatterien zu zerſtreuen und ſo die At¬ moſphaͤre der Stadt zu reinigen. Allein die Ei¬ genthuͤmer der Gaͤrten in den Umgebungen, haͤt¬ ten ſich uͤber dieſe Maaßregeln mit Recht be¬ klagt, weshalb man ſie einſtellen muͤſſen. End¬ lich aber ſei ein Projektant aufgetreten, mit dem rieſenhaften Entwurf eines Regenſchirms fuͤr die eigentliche Stadt.
Die duͤnne Spitzſaͤule, fuhr er fort, iſt es. Eine Geſellſchaft Aktieninhaber beſorgte die Er¬ richtung; eine kleine Abgabe aller Einwohner, fuͤr die trockne Reinlichkeit willig gezollt, traͤgt den Zins und die fortlaufenden Koſten. Die Saͤule ſteht genau in der Mitte von Paris. Zweitauſend Schuh hoch, beſteht ſie aus ſtarkem Granit, auf einer hinlaͤnglich feſten Grundlage. Dann folgen bis zur Spitze wohlzuſammenge¬ fuͤgte Eichenſtaͤmme, um welche Eiſenringe lau¬ fen. Eine Wendeltreppe von Außen fuͤhrt vom Fuß bis zur Hoͤhe.
Der ungeheure Schirm beſteht aus einem von Hanffaͤden gewebten Tuch, mit waſſerdichtem235 Firniß uͤberzogen. Wallfiſchrippen, durch Klam¬ mern verbunden, ſpannen ihn bis zur Mitte, von da wird der gardinenartig aufgehobene Theil, mittelſt gewaltiger Taue, die nach allen Seiten in Abſtaͤnden von Hundert Klaftern, zur Erde gehn, niedergezogen und wieder empor ge¬ bracht. Die Erhebung der Wallfiſchrippen voll¬ zieht ein ungemein kunſtreicher Mechanismus.
Indem er noch ſprach, umdunkelte ſich der ſchon truͤbe Himmel noch mehr, die Gewoͤlke nahmen gegen die Stadt ihren Lauf. Eine Fahne wehte ploͤtzlich vom Gipfel der Piramide, das Zeichen fuͤr ſaͤmmtliche Arbeiter an ihr Werk zu gehn. Nun waͤhrte es kaum zwei Minuten und das weite Gezelt breitete ſich uͤber die Tem¬ pel und Haͤuſermaſſen hin. Der Poſtillon trieb die Adler maͤchtig an, um auch bald den Schutz zu genießen, und in kurzem befand man ſich unter der wohlthaͤtigen Decke, auf welche der Platzregen mit dumpfhohlem Getoͤſe niederſchlug. Guido bewunderte am meiſten die Roͤhren des Umkreiſes, die das abſtroͤmende Waſſer auffingen, und in die verſchiedenen, zu dieſem Zweck gegra¬ benen, Teichbaſſins leiteten, die wieder einen Abfluß in der Seine fanden. Er betheuerte: un¬236 ter allem Merkwuͤrdigen, was er noch auf der Wanderung geſehen, ſtaͤnde dieſer Paraplu oben an. Es iſt auch ein Erdenwunder von Kunſt, ſagte Gelino.
Sie ſtiegen im Poſthauſe ab, uͤbergaben Traͤgern ihr Gepaͤck, und eilten zu einem Wechs¬ ler, wo der Lehrer Summen, fuͤr ihren Aufent¬ halt noͤthig, in Empfang nehmen wollte. Un¬ terwegs ſtellte ſich ihnen ein ſonderbarer An¬ blick dar.
Ein Menſch bettelte. Dies war ſo unerhoͤrt, daß das aufgeregte Mitleid keine Graͤnzen kannte. Aus allen Haͤuſern eilte man hervor, den Ungluͤcklichen mit Wohlthaten zu uͤberhaͤufen, der ſich auch bald in Beſitz ſo vielen Geldes ſah, daß er flehend bitten mußte, nur einzu¬ halten.
Guido reichte ebenfalls hin, was er bei ſich trug, und fragte den Lehrer: wie ſo eine, die Menſchheit entwuͤrdigende, Erſcheinung moͤglich ſei? Dieſer erkundigte ſich naͤher, und erfuhr: der Mann waͤre aus dem ſuͤdlichen Amerika, und durch einen Schiffbruch um ſeine Habe ge¬ kommen.
Guido ſchauderte bei der Nachricht von ei¬237 nem Schiffbruch. Sie waren jetzt uͤberaus ſel¬ ten, nur ein bedeutender Fehler des Piloten konnte es dazu kommen laſſen. Denn bei den genauen Karten vom Meergrunde, der ſchon ſeit mehr als einem Jahrhundert entdeckten Berechnung der Laͤnge, den herrlichen Mitteln bei Nacht einen weiten Umkreis zu erleuchten, konnte man beliebig jeder Gefahr entfliehn, auch der dauerhaften Bauart der Schiffe und der Moͤglichkeit, faſt uͤberall vor Anker zu gehn, nicht einmal zu gedenken. Hier hatte inzwiſchen ein Schiffer ſtrafbare Nachlaͤſſigkeit verſchuldet.
Das Betteln aber mußte darum maͤnniglich ſo befremden, weil auch ſeit laͤnger als einem Jahrhunderte es in Europa unerhoͤrt war. Denn Staatsordnung, Sitte, moraliſches Gefuͤhl hiel¬ ten Jeden zur Thaͤtigkeit an, und da Landbau und Handwerke, durch tiefere Naturkunde und viel erweitete Technik, ſo leicht, ſo uͤberfluͤſſig die Lebensnothwendigkeiten hervorbrachten, ſo war es auch der Betriebſamkeit des Einzelnen, ſie mochte beſtehn worin ſie wollte, nur ein Spiel, ſeinen Antheil zu erwerben. Die erhoͤhte Be¬ voͤlkerung, ſtatt dieſe Leichtigkeit zu ſtoͤren; mußte ſie vielmehr, ihrer ganzen Natur nach, foͤrdern,238 woran man, nur bei irriger Kenntniß der moͤg¬ lichen Fruchtbarkeit des Erdbodens, zweifeln kann.
Allein weiſe Anordnungen dachten auch auf Krankheitfaͤlle Unbemittelter, auf Verſtuͤmmelte, auf hohes entkraͤftetes Alter. Um nun in ſol¬ chen Faͤllen ein Recht auf Unterſtuͤtzung zu be¬ gruͤnden, hatte jedes Kind, ohne Ausnahme, bei ſeiner Geburt, eine kleine Summe zu er¬ legen, oder vielmehr die Aeltern ſtatt ſeiner. Zudem jede einzelne Perſon, einen geringen monathlichen Beitrag. Die Summen wurden kluͤglich bewirtſchaftet, wuchſen dann ſehr na¬ tuͤrlich hoch an, und konnten viel beſtreiten. Um aber die monathliche Erhebung der Beitraͤge minder weitlaͤuftig zu machen, hatte man ſie in eine, durch ganz Europa gleichmaͤßig aufgelegte, ſehr geringe Akziſe, verwandelt. Nun mochte ſich Jemand aber in Europa auch befinden, wo er wollte, ſeinen Aufenthalt aͤndern, ſo oft es ihm gefiel, immer zahlte er unmerklich und be¬ hielt ſein Recht. Die Summe des allgemeinen Armenſchatzes, den auch der ganze Erdtheil — bei der vervollkommneten Arithmetik, wovon ſchon die Rede war, hoͤchſt bequem uͤberſah — mußte auch darum ſo groͤßer werden, als Reiche oder239 Wohlhabende, bei der Geburt eines Kindes nicht den gewohnten Satz, ſondern mehr beiſteuerten.
Gerieth nun Jemand in Noth, meldete er ſich bei der naͤchſten Sadtverwaltung. Dieſe un¬ terſuchte ſeinen Zuſtand genau. Einem geſunden Menſchen ward nicht das Mindeſte ſchenkend ge¬ reicht, ſondern er empfing die Gelegenheit, durch diejenige Arbeit, welche er verrichten konnte, den Unterhalt zu erſchwingen. Krank dagegen nahm ihn ein Spital auf. Das Alter von ſechzig Jah¬ ren durfte auf eine angemeſſene Beihuͤlfe zu der ihm noch moͤglichen Arheit zaͤhlen, uͤber ſiebzig Jahr verpflegte man dagegen Greiſe und Grei¬ ſinnen ganz, was auch bei Kruͤppeln und derglei¬ chen geſchah. Bei dem allen hielt ein zartes Ehrgefuͤhl die Geſchlechter ab, eines ihrer Glie¬ der in die Nothwendigkeit zu verſetzen, die oͤffent¬ liche Wohlthaͤtigkeit in Anſpruch zu nehmen; wenn es irgend moͤglich ſchien, verheimlichten ſie den Mangel in den einer der ihrigen geſunken war, machten es auch zum Gegenſtand ihrer Re¬ ligion, Kranke und Alte ſelbſt zu pflegen.
Ueberlegt man hiebei, daß die meiſten Urſachen, welche Armuth hervorbringen, ja lange ſchon aus dem Wege geraͤumt waren, als240 Kriegraͤubereien, unmaͤßige Auflagen, falſche Geldoperazionen der Regierungen, Handelsver¬ bindungen, in welchen ein Volk mit betruͤgeri¬ ſcher Schlauheit, das andere mit Unkunde ſei¬ ner eigenen Kraͤfte auftritt, gehaͤſſige Immora¬ litaͤt des Einzelnen, die zu Verſchwendungen lei¬ tet, ehrloſe Traͤgheit und Unempfindlichkeit ge¬ gen Achtung, die nicht erwerben moͤgen, auch Almoſen ſpendende Kloͤſter, den Muͤßiggang un¬ terſtuͤtzend; erwaͤgt man noch, daß das furcht¬ bare Heer der Krankheiten ſich unendlich vermin¬ dert hatte, ſo geht ganz von ſelbſt hervor, wie ein Reiſender Europa durchwandeln konnte, ohne jemal das widrige unedle Schauſpiel der Bette¬ lei wahrzunehmen. Guidos Befremdung erklaͤrt ſich demnach ſo gut, als das mitleidige Zudraͤn¬ gen der Pariſer.
Es waͤhrte aber nicht lange, ſo erſchien ein Polizeibeamter und fragte den Armen zuͤrnend: warum er nicht zur Stadtobrigkeit gekommen ſei? Die Antwort hieß: Weil ich kein Euro¬ paͤer bin, folglich nicht zu euren Wohlthaͤtig¬ keitsanſtalten beigetragen habe, durfte ich auch nicht mit Recht auf ihre Milde bauen. Der Diener des Geſetzes entgegnete ſtreng: Es rei¬ſen241ſen viele Buͤrger anderer Erdtheile in Europa, und die Akziſe gewinnt an ihrer Zehrung. Wie unbillig wuͤrde es daher ſein, wenn irgend Jemand darunter ſich arm ankuͤndigte, ihm Huͤlfe zu ver¬ ſagen. Du haſt uns durch Mangel an Vertrauen beleidigt und ein oͤffentlich Aergerniß gegeben, deſſen ſich ohne Zweifel der aͤlteſte Greis nicht mehr entſinnt. Behalte was man dir reichte, verzehre es jedoch im Kerker. Dann wollen wir dir eine Summe geben, mit welcher du dein Vaterland wieder erreichen kannſt. — Wider die¬ ſen Spruch galt keine Einrede, denn er enthielt den Geiſt der Geſetze.
Gelino und ſein Zoͤgling draͤngten ſich muͤhe¬ voll durch das Volkgewimmel der Straßen, und um ſo mehr, da, wenn gleich am hohen Mit¬ tage, der Regenſchirm Dunkel verbreitete. Doch eben da ſie auf einem großen Markt angekom¬ men waren, hatte das Unwetter geendet und die Bedeckung wurde wieder eingelegt. Man verrichtete dies ſchnell, und neu, uͤberraſchend, blendend war die Wirkung des ploͤtzlich nieder¬ ſcheinenden Sonnenlichts.
Sie langten im Hauſe des Wechſlers an. Gelino uͤbergab ein Schreiben; der Mann warQ242ſehr hoͤflich und rief einige Traͤger, welche ſchwere Goldſaͤcke auf einen Wagen luden. Der Lehrer ſah alles nach, gab ihm Empfangſcheine, und nahm dann mit ſeinem Zoͤgling Platz auf dem Wagen.
Dieſer hatte befremdet und nachdenkend zugeſehn. Nun fragte er: Woher die großen Summen, und wozu? Gelino antwortete: Wir behalfen uns bisher mit geringen Koſten, doch in Paris und London wollen wir einigen Aufwand machen, damit du auch mit dem Leben des Reichthumes vertraut wirſt.
Da empfange ich nur eine Auskunft, rief Guido. Woher, frage ich abermal, die großen Summen?
„ Von dem naͤmlichen Wohlthaͤter, der dich bisher in den Stand ſetzte, die Welt reiſend zu betrachten. “
O dieſer Wohlthaͤter muß reich, ſehr reich ſein. Mein leichter Sinn fragte noch wenig darum. Was gilts aber, es iſt der Kaiſer ſelbſt, dem ich ſo viele Zeichen der Milde ver¬ danke?
„ Ja mein junger Freund, es iſt der Kaiſer. Was er von dir hoͤrte, beſonders von deinen243 Thaten im Heere, erwaͤrmte ſein Herz noch mehr fuͤr dich. Frage nicht weiter, genieße, und vor allen Dingen, lerne, begreife, mache dich der Guͤte ferner werth. “
Guidos Nachſinnen ward ernſter. Einige Minuten darauf brach er aus: O daß ich keine Eltern kenne, und ſo ſuͤße Gefuͤhle, wie die kind¬ lichen, mir verſagt wurden! Erſt bei den Fuͤnd¬ lingen erzogen, hernach unter deiner Leitung, die mich allerdings keinen Vater miſſen ließ, ahnte ich tiefere Empfindungen nicht. Allein, nachdem ich auf der Reiſe ſo oft das entzuͤckende Schau¬ ſpiel eines engen Familienbandes ſah, beweinte ich im Stillen mein hartes Loos.
Gelino druͤckte ihm geruͤhrt die Hand. Ge¬ duld mein Sohn, vielleicht findeſt du einſt dei¬ nen Vater.
Stuͤrmiſche Ungeduld entbrannte in dem Juͤngling. Von ſuͤßen Hoffnungen wogte ſein Buſen. Er drang feurig in den Lehrer, ihm das Geheimniß ſeiner Geburt aufzuklaͤren, wenn er anders den Schluͤſſel dazu haͤtte, oder wenn er nichts genau wiſſe, ihm ſeine Vermuthungen zu nennen. Der Lehrer brach aber gemeſſen ab, empfahl ihm ruhiges Erwarten der Loͤſung ſeinesQ 2244Schickſals. Es war Guido bekannt, daß er, wenn der Lehrer ſchweigen wollte, umſonſt bat, er mußte ſich alſo mit Geduld waffnen, obgleich die Neugier uͤber ſeine Herkunft jetzt heißer als je erwachte, und manche ſonderbare Ahnung in ihm aufſtieg. Er troͤſtete ſich wohl uͤber den Maͤngel an Kindesliebe, weil ihn Inis Liebe beſeligte, und ſein Herz ſo warm an den edlen Lehrer hing, doch meinte er immer wieder, dies Herz ſei weit genug noch mehr Liebe gluͤ¬ hend zu umfaſſen.
Gelino hatte ſchon zuvor nach Paris geſchrie¬ ben, und einen Miethpallaſt, wie es deren fuͤr ſehr reiche Wanderer gab, auf die Tage ihrer Anweſenheit beſtellt. Sie kamen nun dort, von den Dienern des Wechslers geleitet, an. Er war aus rothem und weißen Marmor gebaut, hatte ein ſtark uͤbergoldet Bleidach, das im Strahl der Sonne prangend leuchtete. Eine zahlreiche, glaͤnzende Dienerſchaft, ſtand am Portal. Die innere Einrichtung entſprach der aͤußeren Pracht vollkommen. Man erblickte Zimmer, deren Waͤnde mit dem koͤſtlichſten Moſaik bekleidet waren, an¬ dere mit ſtaunenerregenden Meiſterwerken der Malerei umhangen. Es befand ſich ein Konzert¬245 ſaal hier, den die Standbilder der neun altgrie¬ chiſchen Muſen, zu Athen gefertigt, ſchmuͤckten, und zum Perſonal des Pallaſtes gehoͤrte zugleich das treffliche Orcheſter, was ſich auf Verlangen des Miethers hoͤren ließ. Eben ſo ein kleines Theater, mit Schauſpieler und Schauſpielerinnen. Ferner eine große Bibliothek, der einige Ge¬ lehrte vorſtanden. Der Speiſeſaal war mit Sil¬ bergeſchirren erfuͤllt, goldne Lampen hingen von den Decken nieder. Das Bad war den altroͤ¬ miſchen aͤhnlich, welche die Kaiſer Trajan oder Tiber anlegten. In der Kuͤche bereitete man ſich, wie einſt bei Apicius, immer auf eine große Zahl von Gaͤſten, doch viel ſchmackhafter noch als bei jenem waren die Speiſen zugerichtet, was jetzt um ſo mehr anging, da die Kuͤchen¬ chemie eine eigne weitlaͤuftige Wiſſenſchaft galt, uͤber die Profeſſoren, von Lehrlingen der Tafelkun¬ de gehoͤrt, laſen. Noch fand man im Hofe Wagen aller Art, einen Stall trefflicher Pferde, einen andern mit Adlern, und mehrere ſchoͤne Gon¬ deln, denn ein kleiner Kanalarm fuͤhrte von dort nach dem Strome. Auch ein ſchoͤnes Landhaus mit weitlaͤuftigen Gaͤrten gehoͤrte noch zu die¬ ſem Miethpallaſt. Allerdings gab man aber auch246 eine Miethe, die den zu findenden Bequemlich¬ keiten angemeſſen war.
Guido fragte: Wie iſt es moͤglich, Unter¬ nehmungen der Art zu wagen?
Wirkungen des Reichthums, antwortete der Lehrer. Das ewige Zuſtroͤmen der Fremden nach dieſer Stadt, bringt ſo viel Geld hinein, und ſie ſendet es wieder in die Ferne, um das alles her¬ beizuſchaffen, was die Fremden ferner anreitzen kann. Es prangen mehrere Gebaͤude der Art, und ſelten ſtehen ſie leer, weil es vermoͤgende Wan¬ derer genug giebt. In den vergangenen Jahr¬ hunderten waͤren Erſcheinungen der Art unmoͤg¬ lich geweſen, weil man da weder Freiheit, noch Thaͤtigkeit, noch Kenntniß genug, uͤber den be¬ weglichen Umlauf der Reichthuͤmer, und ihre Vermehrung der Erzeugniſſe waͤhrend ihrem ſchnellen Wirbel, hatte. Damals gab es wenige Reiche und unerhoͤrt viel Armuth. Jetzt ſieht man Jene in großer Zahl und dieſe iſt meiſtens verſchwunden. Große Entwuͤrfe im Handel oder anderer Art, klug und gluͤcklich ausgefuͤhrt, be¬ reichern um ſo leichter, da ſie auf den allgemei¬ nen Wohlſtand berechnet ſind. Damit aber den¬ noch, nicht wenige Familien zuletzt ſo viel wu¬247 chernd an ſich reißen koͤnnen, daß andere von ihnen abhaͤngig ſind, iſt die uͤberaus weiſe Erbſchaftſteuer eingefuͤhrt worden, die den Zweck vor Augen hat, den Erwerber zwar die Frucht ſeiner Thaͤtigkeit vollkommen genießen zu laſſen, dagegen aber die Unthaͤtigkeit der Erben, die von der Arbeit des Todten muͤßig ſchwelgen moͤchten, nach Moͤglichkeit abzuſchneiden. Je vermoͤgen¬ der, je hoͤher die Steuer vom Nachlaß, und ſie ſteigt auch nach Maaßgabe der naͤheren oder weitlaͤuftigeren Verwandſchaft der Erben. Dies hat zur Folge, daß der Reichgewordene auch bei ſeinem Leben viel wieder in den Umlauf giebt, und ihm wird auch, in Betracht des Gemein¬ beſten, und inſofern ſie nicht unmoraliſch iſt, Verſchwendung nachgeſehn. Mag er bauen, rei¬ ſen, Kuͤnſten und Wiſſenſchaften lohnen, da¬ durch empfaͤngt das alles hoͤheres Leben.
Wo bleiben aber die Summen, aus dieſer Erbſchaftſteuer? fragte Guido?
Der Lehrer gab zur Antwort: Sie werden zum Vortheil des Landes auf mannichfache Weiſe angelegt, ſo daß ſie den niederen Staͤnden wie¬ der zuſtroͤmen. Man graͤbt Kanaͤle, wo ſie noch fehlen, baut, macht Verſuche mit nuͤtzlichen Er¬248 findungen, wozu, wie du weißt, auch andere Summen vorhanden ſind, unternehmende, aber nicht bemittelten Buͤrger koͤnnen Anleihen nach¬ ſuchen. Kurz auch hier iſt wieder der raſche Zir¬ kelgang, des, die Dinge und den Kunſtfleiß dar¬ ſtellenden, Metalles, Endzweck. Haͤtte die Vor¬ zeit die Wunder der Freiheit und Ruhe ahnen koͤnnen, traun, ſie wuͤrde um einige Jahrhun¬ derte fruͤher geeilt haben, den Thron der Ver¬ nunft zu erhoͤhn, und in einem Erdtheil, wo die Menſchen ſchon lange ſich durch Bildung aͤhnlich wurden, die unſinnigen Kriege einzuſtellen. Viel¬ leicht ging das aber auch nicht ehe an, bis der Zeitgeiſt alles von ſelbſt ſchoͤnerer Reife entgegen fuͤhrte. Wie langer, vorbereitender Aufklaͤrung, bedurfte es unter andern zu dem großen Schritte, die Religion an die Stelle der Kirchlichkeit zu bringen. Freilich folgte er erſt dem blutig ge¬ endeten Kampfe der Politik, und haͤtte ihm vor¬ ausgehen koͤnnen, wodurch der Chriſtenſtaat ohne jene ſchauderhaften Schlachten, wovon die Geſchichte meldet, zu gruͤnden geweſen waͤre. Denn in der That, lieſt man einige alte Schrift¬ ſteller aus dem achtzehnten Jahrhundert, in deren Koͤpfen bereits ſo viel Licht anbrach, kann man249 nicht genug uͤber die ſeltſame Verſtocktheit ihrer Zeitgenoſſen ſtaunen, welche es nicht nuͤtzen woll¬ ten, das Heil, die Beſtimmung der Menſchheit erkennen, Wahrheit und Irthum, Gutes und Boͤſes unterſcheiden zu lernen. Indeſſen iſt es nun einmal ſo. Das Genie der Verbeſſerung hat zu allen Zeiten Widerſpruch gefunden, oft mußte der große Mann erſt begraben ſein, ehe das Recht ſeiner Ausſpruͤche erkannt wurde. Geht es doch bisweilen noch jetzt nicht anders. Sind wir doch, trotz aller Religion und Erkenntniß zu¬ weilen genoͤthigt, mit Aſien oder Afrika zu kriegen.
O ſchoͤner Voranflug ſeines Zeitalters! rief Guido. O daß ich der Menſchheit irgend eine Wohlthat erſinnen koͤnnte, daß die Nachwelt mein Andenken ſegnete!
Der Friede mit anderen Welttheilen waͤre ſolch eine Wohlthat, antwortete Gelino. Er fehlt der Menſchheit. Allein die Leidenſchaften werden nicht uͤberall ſo gluͤcklich bekaͤmpft als in Europa, und auch hier, wir wollen nicht prah¬ len, gelang es noch nicht ſo weit damit, als wohl zu wuͤnſchen waͤre. Im Geheim treiben ſie oft ihr Spiel fort; denn wer ſieht das In¬250 nere der Seele, wenn die Menſchen in der Tugendlarve heucheln. Es giebt doch hie und da einen Fuͤrſtenrath, einen hohen Prieſter des Geſetzes von gewichtigem Anſehn, entſcheidenden Einfluß, der ſein wahres Spiel birgt, und Zwie¬ tracht mit der Fremde, oder Zwietracht im In¬ nern hervorruft. Man muß auf ſeine Tugend baun, wer vermag ſie genau zu erkennen?
Hier fuͤhlte ſich Guido von einem Gedanken ergriffen, dem er in der Folge eifrig nachhing. Jetzt antwortete er dem Lehrer: Die richtige Erkenntniß des Menſchen ſcheint mir nicht un¬ moͤglich, aber den Frieden aller Voͤlker zu knuͤp¬ fen, iſt ſchwer. Ich ſehe nicht ein, auch wenn ich Kaiſer waͤre, was ich da thun wollte. Da muß das Schickſal ſelbſt freundlich zutreten.
Nun das wird auch einſt geſchehn, antwortete Gelino. Auch gebieten ja die Menſchen dem Schickſal immer mehr, wie ihre Weisheit ſteigt. —
Die Reiſenden erborgten in Paris vornehme Namen und knuͤpften Bekanntſchaften an. Die angeſehenſten Einwohner, Kuͤnſtler, Gelehrte, wurden zu ihrer Tafel, zu ihren Konzerten, nach ihren Gaͤrten geladen, und baten ſie dagegen zu251 ſich. Es war noch in Paris wie vormal, das Neue erregte viel Aufſehn, alle Welt ſprach davon. Nicht eben die Verſchwendung des rei¬ chen Juͤnglings konnte auffallen, doch er ſelbſt, ſein Verſtand, mehr noch ſeine Schoͤnheit. Die Damen waren ganz entzuͤckt, ſie ſchwuren, nie eine ſo vollkommene maͤnnliche Geſtalt erblickt zu haben. Dies benutzten Maler, Kupferſtecher und andere Kuͤnſtler, bildeten ihn vielfach ab, und wenn er ausging, ſah er beſchaͤmt uͤberall Gemaͤlde, Gipsabdruͤcke, Statuen von ſich. Auch Denkmuͤnzen wurden auf ihn geſchlagen und in den Gaſſen ausgerufen, viele Damen trugen ihn in Gemmenringen am Finger. Er empfing auch verliebte Zuſchriften voller Witz, und uͤbte wieder den eignen Witz, indem er die zaͤrtlichen Antraͤge ſo ablehnte, daß ſich die Schoͤ¬ nen dennoch bezaubert fuͤhlten. Dadurch ent¬ ſtand viel neues Gerede, und eine gelehrte Dame veranſtaltete ſogleich eine Sammlung dieſer tu¬ gendhaft witzigen Billets, die man eilig mit Stereotipen druckte, eines ungemeinen, Abſatzes gewiß.
Kurze Zeit nach ſeiner Ankunft hoͤrte Guido von einem ſonderbaren Rechtshandel. Er hatte252 ſich ſchon uͤber die Menge von Diamanten ge¬ wundert, welche ihm Ueberall zu Geſichte kam; die Frauen der niederen Klaſſen waren ſo da¬ mit bedeckt, daß man auf Spatziergaͤngen nicht nach der Seite blicken konnte, wohin die Sonne ſchien, ſelbſt die Dienſtmaͤdchen in ſeinem Pal¬ laſte, trugen Haar, Ohren, Buſen und Arme davon voll. Der Glaube, ſie moͤchten unaͤcht ſein, fand die Widerlegung der Kenner, allein man benachrichtigte ihn: es ſei in Paris ein Juwelenhaͤndler vorhanden, der die edlen Steine um einen tief geringen Preis verkaufe, da¬ bei ein unerhoͤrt angefuͤlltes Waarenlager hielt, und ſo auch den Poͤbel in Stand ſetzte, den geprieſenen Schmuck zu tragen. Deshalb aber, wie man wohl denken kann, verſchmaͤhten ihn nun die Damen der feinen Welt, und ſich ohne Juwelenſchimmer zeigen, hieß glaͤnzen.
Die andern Kleinodienverkaͤufer ſahen ſich zu Grunde gerichtet, feindeten ihren Nebenbuhler an, belangten ihn vor Gericht. Hier begriff auch Niemand, wie der Mann das Theure ſo wohlfeil losſchlagen koͤnne. Neue Pruͤfungen uͤber die Guͤte ſeiner Steine folgten, ſie ſchlu¬ gen abermal zu ſeinem Vortheil aus. Man253 fragte: Aus welchen Indiſchen Diamantengruben er kaufe? Er antwortete: Dies habe er, zu¬ folge der Handelgeſetze, nicht noͤthig zu erklaͤ¬ ren. Man verlangte aber wenigſtens, ein frem¬ des Handelshaus zu nennen, mit dem er Ge¬ ſchaͤfte pflege, ein Schiff, das ſeine Waaren herbeifuͤhre.
Dies konnte er nicht, und nun lag am Tage, ſeine Steine wuͤrden nicht von Auswaͤrts gezo¬ gen. Er verfertigt ſie ſelbſt, riefen die Gegner, folglich ſind ſie, trotz allen Proben, unaͤcht.
Gut, ſprach der Juwelier, ich verfertige ſie, doch eine Unwahrheit iſt eure andere Behaup¬ tung. Unterſuchet ſo lange ihr wollt, ihr wer¬ det keinen andern Gehalt finden, als ob die Steine von Golkonda oder Braſilien kaͤmen. Ich betrog nicht, verkaufte aͤchte Diamanten, dem Kaͤufer kann es gleich ſein, ob die Natur, ob ich ſie hervorbringe.
Bei naͤherer Unterſuchung fand ſich, daß der Mann, den lange ſchon in der Chemie genann¬ ten Beſtandtheil, reinen Kohlenſtoff, ſo zu verdichten gewußt hatte, daß der wirkliche Dia¬ mant erzeugt wurde.
Das Gericht war im Anfang zweifelhaft. Die254 große Zerruͤttung des Werthes der Edelſteine, welche der gluͤckliche Erfinder veranlaßte, machte ihm Bedenken. Doch zuletzt entſchied die Stim¬ menmehrheit: Dem Manne duͤrfe keine Strafe anheim fallen, auch die Fortſetzung ſeiner Kunſt ihm nicht unterſagt werden. Moͤchten die Wei¬ ber gern ſchimmern, ſo waͤre ihnen die Gele¬ genheit aufgethan, um wohlfeilen Preis ihren Wunſch zu erlangen. Gefiele ihnen der wohl¬ feile Schimmer nicht, zeigten ſie noch groͤßere Thorheit als zuvor. Der Mann koͤnne dann zu ihrer Heilung beitragen, und wenn das andere Geſchlecht mehr auf Pflege der wahren Schoͤn¬ heit hielt, mehr dem Manne durch weibliche Tugenden, als kindiſche Glanzfunken zu gefallen ſtrebte, haͤtte das Gemeinwohl dem Kuͤnſtler in¬ nig zu danken. Verloͤren uͤbrigens manche Juwe¬ lenhaͤndler, ſei das zufaͤllig, und das Geſetz koͤnne ihres einzelnen Vortheils halber, keine ir¬ rige Grundſaͤtze aufſtellen. Dabei blieb es nun.
In der That, rief Guido, als er bald dar¬ auf einige mit Edelſteinen uͤberladene Frauen¬ zimmer ſah, mir ſcheinen ſie ſelbſt nicht mehr ſo koͤſtlich, als da ihre Seltenheit mich beſtach.
So biſt du denn auch von blinden Vorurthei¬255 len nicht frei, fiel der Lehrer ein. Doch moͤchte nur alles Schoͤne ſo gemein werden, daß man keine Auszeichnung darin faͤnde, deſto beſſer ſtaͤnde es um die Menſchheit. Zum Gluͤck iſt es auch ſchon mit vielen Tugenden dahin gekommen. Was die Vorwelt ſtaunend geprieſen haͤtte, blik¬ ten wir oft als gleichguͤltige Alltaͤglichkeit an. Wohl uns! —
Sie begaben ſich eines Tages nach der großen Oper. Das Haus war ungemein mit Zuſchauern gefuͤllt. Guidos Blicke ſuchten das Theater. Er ſah vor ſich ein gefuͤlltes Parterre, Logen, Kronleuchter, ſo gut als neben und hinter ſich. Gelind laͤchelte. Wiſſe, ſprach er daß der Vor¬ hang ein Spiegel iſt, der durch die ganze Mitte des Saales reicht. In dieſen ſiehſt du den Platz der Zuſchauer wiederholt. Hebt das Stuͤck an, wird ihn eine Maſchine empor winden.
Dies erfolgte auch zu Guidos Befremdung, und nun zeigte ſich die Buͤhne. Man ſah jetzt kein Licht mehr bei den Zuſchauern, zum Vor¬ theil der Theatererhellung, die dem Tage voll¬ kommen glich, waren ſie ſaͤmmtlich erloſchen, wie aber am Ende eines Aktes der Spiegelvor¬256 hang niederſchwebte, wurden ſie alle durch eine elektriſche Vorrichtung entzuͤndet.
Die alte Mithe, Orpheus war der heutige Stoff. Im erſten Akt ſah man eine Landſchaft und einen Meilenweiten Hintergrund, der un¬ moͤglich gemalt ſein konnte. Guido begriff das nicht. Sein Lehrer erklaͤrte ihm, wie dies Opern¬ haus mit einem Schraubenwerke verſehen ſei, wodurch es der Theatermeiſter, bei den Akten, die eine weite Tiefe darbieten ſollten, bis uͤber die Haͤuſer der Stadt hoͤbe, daß, nach wegge¬ nommener Hinterwand, man das wirkliche Feld der Gegend erblickte.
Alſo ſchweben wir jetzt in ſolcher Hoͤhe? fragte Guido.
„ Allerdings. Die Bewegung vollzog ſich ſo ſanft, daß Niemand ſie merkte. Hat ſchon ein altroͤmiſcher Baumeiſter ein Schauſpielhaus mit Achzigtauſend Zuſchauer gedreht, wird die Me¬ chanik unſerer Zeiten es doch wohl erheben koͤnnen. “
Iſt das aber nicht mit Gefahren verbunden?
„ Fuͤrchte nichts. Die Polizei laͤßt vor den Darſtellungen alles Maſchinenwerk durch Sach¬ verſtaͤndige pruͤfen. “
Im257Im zweiten Akt zeigte ſich die Hoͤlle. Un¬ geheure, weite, brennende Kluͤfte und Abgruͤnde, in deren Flammen gepeinigte Verdammte klag¬ ten. Die Fernſten erſchienen ganz klein, doch waren es lebende Weſen, wovon ſich Guido durch ein Sehrohr uͤberzeugte. Wie iſt dies moͤglich? fragte er abermal.
Gelino antwortete: Das Opernhaus hat mit großen Koſten ein tiefes Souterrain aushoͤhlen laſſen, was um ſo eher anging, da es auf der Hoͤhe des Montmartre liegt. Will man nun weite Gebaͤude, oder Kluͤfte und Abgruͤnde dar¬ ſtellen, wird das Haus durch jene Schrauben¬ werke in die Tiefe geſenkt, wo man ſich nun der unterirdiſchen Entfernungen bedienen kann. Wir befinden uns jetzt unter der Erdflaͤche, die letzten Geſtalten ſind einige Tauſend Schuh von uns entfernt.
Im dritten Akt ſah man den Himmel Fremd¬ artige Farben, ungemein zarte Umriſſe aller Ge¬ genſtaͤnde wirkten mit bezaubernder Schoͤnheit. Ein anderer Mond, andere Sterne mit einer tiefruͤhrenden Idealitaͤt gezeichnet, blinkten da¬ her, was aber Guido am meiſten in Verwun¬ derung ſetzte, war, daß ihre Strahlen durchR258Euridizens und der anderen Schatten Koͤrper leuchteten. Und doch war Euridize die naͤmliche, welche er im erſten Akte geſehn, doch bewegte ſie ſich lebend, ſang. Er ward nun durch ſeinen Lehrer unterrichtet: Alle Geſtalten, die wir jetzt ſehen, ſind nur der wirklichen, in einem Nebenge〈…〉〈…〉 befindlichen, Wiederſcheine, durch ungemein ſinnreiche, optiſche Laternen, hervorge¬ bracht. Daher muß das Licht dieſe Euridize durchſchimmern, denn, treu der Fabel, iſt es wirklich nur ihr Schatten. Daß auch die Blu¬ men, Gebuͤſche, Huͤgel, ſo zarte Umriſſe, ſo ſeltſam fremdartige Farben zeigen, macht eine große Platte von gruͤnem doch klaren Glas, wel¬ che davor haͤngt, wie jener Spiegel, im ganzen Umfang der Buͤhne, ohne daß wir ſie wahr¬ nehmen.
Muſik, Geſang, Taͤnze waren den uͤbrigen Vorwuͤrfen an Vollkommenheit aͤhnlich, und mit hohem Entzuͤcken verließ Guido dies Schau¬ ſpiel, ſich lange noch Orpheus, und Ini Euri¬ dize traͤumend.
Sie ſahen auch das große Trauerſpiel. Der Dichter hatte in dem heutigen Stuͤcke eine That¬ ſache der Vorzeit behandelt, und viel gegen259 die Empfindung wagend. Eine junge Monar¬ chin, ſchoͤn, liebenswuͤrdig, geiſtvoll, iſt mit ei¬ nem Gemahl verbunden, dem alle ihre Vorzuͤge mangeln. Er koͤmmt eben zur Regierung, be¬ legt aber durch ſeine erſten Schritte, dem gro¬ ßen Amte durchaus nicht gewachſen zu ſein. Die Gemahlin erkennt die Richtung, welche dem Volke zu ſeinem Wohl gegeben werden muͤſſe, die Kraft ihres Genius regt ſich kuͤhn, von Liebe zu den Unterthanen ſtammt ihre edelempfindende Bruſt. Doch vermag ſie nichts uͤber den Ge¬ mahl, der ſie nicht verſteht, ihren ſchoͤnen Sinn anfeindet, und in Roheit waltet. Tirannei und Zerruͤttung drohen dem Reich, die Monarchin fuͤhlt, ſie koͤnne ihm eine gedeihenvolle Zeit bluͤ¬ hen laſſen.
Ein weiſer Vertrauter ruft ihr zu: Beſteige den Thron, herrſche, begluͤcke! Sie ſchaudert. Sie kann nur uͤber den Leichnam des Gemahls jenen Stufen nahn. Es iſt ein Unwuͤrdiger, doch ſie ſeine Gattin. Ihr Zartgefuͤhl empoͤrt der Gedanke an jeden Mord, um wieviel mehr an den des Gemahls! Ihr Herz traͤgt ſolche Vor¬ ſtellung nicht, ihre Einbildungskraft muß ihr entfliehn.
R 2260Der Vertraute ſpricht: Beſteige den Thron, durch ein Verbrechen ihn mit deiner Tugend zu ſchmuͤcken. Wie edel iſt dann dies Verbrechen! Es wird die hoͤchſte deiner Tugenden, allen uͤbrigen, die Bahnen ebnend. Begehſt du es nicht, wie laut der Nation geheimes Flehn, wie laut der Beruf deiner Geiſtesgroͤße es ver¬ langen, dann erniedrigt dein Saͤumen dich zur Frevlerin. Alles Wehleiden der Millionen auf dein Haupt, ihr Fluch beugt dich ſchwerer, da du ihn in Seegen haͤtteſt umwandeln koͤnnen.
Hier ſteht ſie nun an dem furchtbaren Schei¬ deweg. Eine kuͤhne Miſſethat — und dann ein ſchoͤnes Leben, dem Ruhm, gottaͤhnlich uͤber ein geliebtes Volk zu herrſchen, geweiht. Eine feige Tugend — und nichts als der Anblick eines elen¬ den geliebten Volkes. Hier ſteht ſie — weint, ruft ſich ſelbſt um Kraft an, mahnt ihren Ge¬ nius, Licht in dies ſchauderhafte Dunkel zu werfen — und — ſtoͤrt endlich nicht, was der Vertraute vollbringen will.
Nun empfaͤngt ſie das Scepter, und haͤlt den Hoffnungen des Ruhmes Wort.
Zum Erſtenmale ward heute das Trauerſpiel261 gegeben. Die feinſinnige Verſammlung, ſonſt gewohnt, ſich uͤber alles Schoͤne oder Unedle ganz beſtimmt zu aͤußern, die der Kunſtwerke Vorzuͤge, nach dem richtigſten Takt mit Beifall lohnte, und ihre Maͤngel eben ſo durch Tadel ſtrafte, wußte — unerhoͤrt in den Annalen die¬ ſer Buͤhne — heute ſich nicht zu entſcheiden. Kein Lob, kein Mißfallen, allgemeine Stille. So blieb es auch bei den folgenden, immer ge¬ draͤngt beſuchten Vorſtellungen.
Gelino wollte aber auch auf dem kleinen Theater des Pallaſtes etwas ſehn. Er ſprach mit dem Vorſteher der Geſellſchaft, die am liebſten bunte, regelloſe Sachen auffuͤhrte. Dieſer trug ihm eine kurzweilige Poſſe an, genannt:
Die Narrheiten vor Dreihundert Jahren.
Gelino war es zufrieden, und lud ſo viele Fremde, als der Raum nur faſſen konnte.
Als der Vorhang weggenommen war, woll¬ ten die Zuſchauer faſt vor Lachen ſticken, uͤber die naͤrriſchen Kleidertrachten, der dargeſtellten Zeit. Wie war es moͤglich, riefen viele, daß ſich die Menſchen jemals ſo unbequem, geſchmack¬ widrig und laͤcherlich umhuͤllen konnten! Eine Hauptbedeckung, grade aufſtehend, oben platt,262 einem umgekehrten Becher aͤhnlich, oder gar ein Dreieck mit abentheuerlichen Stuͤlpen! Wie vie¬ lerlei Lappen haͤngen an den Maͤnnern, der natuͤrlichen Form ganz zuwider, mit haͤßlichen Ecken, und dennoch uͤbel gegen die Witterung ſchirmend. Wie muß dies vielfache Einſchnuͤren die Koͤrper verunſtaltet, ihnen nach und nach Kraft und Geſundheit entzogen haben! Und ſo unanſtaͤndig, pfui, ſo unanſtaͤndig! Fuͤrwahr dieſe Urvaͤter mußten grobe Narren ſein!
Es wurden nun mancherlei Sittenzeichnun¬ gen dargeſtellt, wo denn aber das Gelaͤchter oft mit Abſcheu und Mitleid wechſelte. Man ſah die Kirchlichkeit, wo unverſchaͤmte Prieſter ganz widerſinnige, unnatuͤrliche, die Gottheit herab¬ wuͤrdigende Mithen, einſt einem tief rohen Zeitalter kaum anpaſſend, immer noch als Wahr¬ heiten lehren wollten, und das thoͤrichte Volk gaukleriſch betrogen. Man ſahe Fuͤrſtenhoͤfe, wo eine widrige Erziehung das Oberhaupt aͤrmer an Geiſt daſtehen ließ, als die Unterthanen am Fuß der Staatspiramide, wo es, ſtatt mit der Weisheit, mit dem Vorurtheil umgeben war, und bloͤdſichtige engherzige Hoͤflinge ihm eitel Luͤgen ſagten, wo das wahnſinnige Volk endlich263 durch heuchleriſche Schmeicheleien alles verdarb. Man bildete das Fauſtrecht vor drei Jahrhunder¬ ten ab, wo ein europdiſches Volk das andere um nichtiger Urſachen willen bekriegte, und dies mußte jetzt grade ſo viel Widerwillen erregen, als eine Darſtellung des kleineren Fauſtrechtes, zwi¬ ſchen den Gauen des vierzehnten Jahrhunderts, wenn ſie das neunzehnte ſah. Die Thorheiten, allerhand Siſteme der Philoſophie zu wechſeln, durch Buͤcher voll Unſinn Irthuͤmer auszubrei¬ ten, durch falſche Finanzoperationen ganze Laͤn¬ der verarmen zu laſſen, durch Verſchiedenheit der Dingenmaaße und Sprachen, den Ideen¬ tauſch zu erſchweren, uͤberſtroͤmte eine witzige Satire mit dem wohlverdienten Spott. Am Ende begegnete ſich alles in dem Ausruf: O ihr grobe, grobe Narren der Vorzeit! Gelino erlaͤuterte aber der Verſammlung, daß doch auch nicht jeder damals die Schellenkappe getragen habe, nannte ehrwuͤrdige Namen von Maͤnnern, die ſich ein großes Verdienſt in Bezeichnung der beſſeren Pfade erworben haͤtten, und ſchloß: es ſei fuͤr die Menſchheit nothwendig geweſen, durch dies dunkle Labirinth zu gehen, um den Gegenſatz erhellter Vernunft wohlthaͤtiger zu begreifen. —
264Guido und ſein Lehrer ſahen noch Tauſend Merkwuͤrdigkeiten, welche aufzuzaͤhlen der Raum hier nicht geſtattet. Unter andern folgende auf der Anatomie, welche ſie als eine der vorzuͤglichſten Anſtalten zu Paris beſuchten, und wohin ſich jetzt eine große Zahl geſpannter Neugierigen draͤngte.
Die Veranlaſſung war dieſe:
Vor funfzig Jahren hatte, zu Befremdung von ganz Europa, ein Buͤrger in Paris mehrere todeswuͤrdige Verbrechen begangen. Das Geſetz zauderte lange mit ſeinem Spruch, und wollte ihn endlich nach Spitzbergen verweiſen, wohin, wie wir ſchon wiſſen, ſolche Ungluͤckliche kamen, deren Vernunft ſie nicht von der Schoͤnheit ei¬ nes geſetzlichen Lebens uͤberzeugen konnte. Die Kolonie in Spitzbergen hoͤrte aber davon, und indem jeder Einzelne dort ſich rein gegen jenen Boͤſewicht halten konnte, ſchrieb ſie an das Ge¬ richt und verbat die Verunehrung.
Man wankte von einer Meinung zur anderen. Seit mehr als einem Jahrhundert war in Eu¬ ropa keine Todesſtrafe zuerkannt worden, es gab keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch hatte der Menſch die Todesſtrafe vollkommen265 verwirkt, und hatte er das furchtbare, graͤßliche Schauſpiel unerhoͤrter Frevel geben koͤnnen, war das Beiſpiel einer eben ſolchen oͤffentlichen Ahn¬ dung gerecht. Zuletzt entſchied man denn fuͤr ſeinen Tod, doch uͤber die Art deſſelben konnte man ſich nicht einigen.
Da trat ein Lehrer der Zergliederungskunde auf. Laßt ihn durch ſeinen Tod nuͤtzen, ſprach der Mann, er mag uns um eine wichtige Er¬ fahrung bereichern. Wir entdeckten eine geiſtige Fluͤſſigkeit, viel vervollkommnet gegen die, welcher ſich vormals die Anatomen bedienten, um thie¬ riſche Organe dauernd aufzubewahren. Sie er¬ haͤlt einen Koͤrper genau in dem Zuſtande, worin er ihr uͤbergeben wird. Ich rathe, wir fuͤllen ein weites Gefaͤß mit dieſem Fluidum. Der Verbrecher werde entkleidet und darin ertraͤnkt. Dann ſoll aber das Gefaͤß verſchloſſen werden und funfzig Jahre lang unberuͤhrt bleiben. Nach Verlauf dieſer Zeit aber ſoll man den Koͤrper wie¬ der herausnehmen, und die gewoͤhnlichen Mittel, welche im Waſſer Verungluͤckte oft ins Leben rufen, anwenden. Meine Theorie weiſſagt, man werde ſich nicht umſonſt bemuͤhn, denn die Le¬ benskraft iſt nicht entflohn, alle Theile ſind in266 ihrer Vollkommenheit erhalten worden, weil der Reitz des geiſtigen Feuers in unſrer Fluͤſſigkeit, der Aufloͤſung Widerſtand leiſtet. Irre ich nicht, ſo wird es merkwuͤrdig ſein, einen Mann zu ſehen, der funfzig Jahre lang ſchlief, er wird manches wiſſen, das die Alten und Geſchicht¬ ſchreiber vergaßen. Kuͤnftig koͤnnte man ſogar Jahrhunderte lang Leben aufbewahren, und ge¬ wiß mit Nutzen, denn oft geht auch, trotz dem Weiterſtreben der Menſchheit, manches Gute unter, deſſen Rettung aus der Vergeſſenheit heilſam werden kann.
Der Arzt ſah ſich haͤufig beſtritten, man lachte ſogar uͤber ihn. Endlich aber erklaͤrte ein Ge¬ ſchichtforſcher: er habe in einem alten Buche ge¬ funden, daß einſt im achtzehnten Jahrhundert, der Mann, welcher die erſten Gewitterableiter erfunden, Franklin genannt, Fliegen von Ma¬ dera, die im Weinfaſſe nach Nordamerika ge¬ kommen waͤren, und zehn Jahre lang im Keller geſtanden haͤtten, wieder lebendig gemacht habe.
Was wollt ihr nun? fragte der Arzt.
Fliegen und Menſchen! ſpoͤttelten ſeine Gegner.
Nun, es koͤmmt auf den Verſuch an, hieß es267 endlich, und man beſchloß, den Rath zu voll¬ ziehn, was auch geſchah.
Das Faß mit dem Ertraͤnkten wurde in einem feſten Gewoͤlbe bewahrt, vor deſſen Thuͤr der Rath ſein Siegel legte. Ein Protokoll berichtete der Nachwelt die Thatſache und bat daneben: falls der Verbrecher wirklich wieder zum Daſein gelangen ſollte, dann die weitere Strafe, in Be¬ tracht der erlittenen Todesangſt, aufzuheben. —
Jetzt waren die funfzig Jahre verſtrichen. Der Tag des Verſuches wurde beraumt. Die Na¬ turkundigen ſchrieben fuͤr und gegen jenes, ſchon lange geſtorbenen, Arztes Meinung. Man ſtellte Wetten an, ganz Paris ſprach von nichts, als dem Manne im Spiritus.
Gelino hatte, durch bedeutende Fuͤrſprache, die Erlaubniß des naͤheren Zutritts fuͤr ſich und ſeinen Zoͤgling empfangen. Man brach die Siegel, fand das Gefaͤß unverſehrt, das nun in den Saal der Anatomie geſchafft wurde.
Auf Erhoͤhungen ſaßen die eingelaſſenen Zu¬ ſchauer, die Naturkundigen hatten ſich um den Tiſch, in der Mitte des runden Saales, gedraͤngt.
Der Koͤrper ward aus ſeinem feuchten Grabe gezogen, auf den Tiſch gelegt. Alle Theile wa¬268 ren ſo friſch, als haͤtten ſie nur eine Stunde darin gelegen, das Geſicht blaͤulich aufgetrie¬ ben wie immer bei Ertrunkenen. Verwundernd blickte alles hin, und harrte ungeduldig auf den Ausgang.
Die gewoͤhnlichen Rettungsmittel fanden An¬ wendung, man brachte die Fluͤſſigkeiten aus der Luftroͤhre, rieb, erwaͤrmte, floͤßte ein, u. ſ. w. Doch verging eine Stunde nach der anderen, ohne daß der Zuſtand des Kadavers ſich im min¬ deſten umwandelt haͤtte. Nicht wahr, wir hat¬ ten Recht? ſagten die Unglaͤubigen, wer ſeine Wette verlohren glaubte, zog ein verdrießlich Geſicht.
Endlich rief ein junger Arzt: Vielleicht hin¬ dert der Spiritus, den die Einſaugungsgefaͤße aufnahmen, durch den zu großen Reitz den Um¬ ſchwung der Saͤfte. Suchen wir ihn in einem Schwitzbade auszufuͤhren, das ohnehin durch den hohen Grad von Hitze die Lebenskraft anregen wird.
Es iſt nicht mehr die Rede von Lebenskraft, entgegnete der Vorſteher, indeſſen kann man ein Uebriges thun.
Das Schwitzbad wurde geheitzt, einige kraͤf¬269 tige Maͤnner begaben ſich mit dem Koͤrper hin¬ ein, und ließen die Temperatur hoͤher treiben, als ſie wohl einſt ein Blagden ausgehalten hat, waͤhrend ſie ihre Bemuͤhungen unermuͤdet fort¬ ſetzten.
Vom Saale ſchickte man jeden Augenblick nachzufragen. Die Nachricht langte an: der Ka¬ daver ſchwitze. Ein Lebenzeichen! frohlockte der eine Theil: es ſind die Duͤnſte des Bades, die ſich anlegen, ſtritt der Andere.
Nach einer halben Stunde ſchrie ein Bote athemlos: Athem! — Irrthum, Irrthum! — Seht ihr, ſeht ihr! — Ich hab 'es ſelbſt em¬ pfunden.
Ein anderer ſprang in den Saal, rief, mit eignem ſtarren Puls: — Puls — Unmoͤglich! Wa¬ rum unmoͤglich? — Meine Hand fuͤhlte ihn.
Man wußte nicht woran man war, doch fing der Unglaube an, kleinlaut zu werden.
Der Koͤrper ward nun in dichte Pelze gehuͤllt und wieder in den Saal gebracht. Jedermann ſah die unzweifelhafte Veraͤndrung des Geſichtes, die Blaͤue war geſchwunden, ein brennendes Roth uͤberzog es, wenn ſonſt ſchon ſich keine Bewe¬270 gung zeigte, es auch unempfindlich gegen An¬ ruͤhren mit ſpitzigen Inſtrumenten war.
Doch eine Feder, vor den Mund gelegt, flog weg, alle, welche an die Pulsader griffen, be¬ zeugten, ein leiſes Klopfen wahrzunehmen.
Dabei blieb es aber wohl ſechs Stunden, ſo daß der Zweifel wieder die Stimme erhob, und jene Anzeigen Taͤuſchung nannte. Dann ſchrie aber alles ploͤtzlich auf! Das eine Auge hatte ſich geoͤffnet und wieder geſchloſſen. Nicht lange, ſo geſchah das Naͤmliche mit dem zweiten, eine Stunde noch, und das erſte Wort floh von den Lippen, die funfzigjaͤhrige Erſtarrung ge¬ ſchloſſen hatte.
Niemand mied den Saal. Man vergaß uͤber die Neugier die gewohnte Nahrung zu nehmen, immer das Auge auf den Koͤrper geheftet. Die ganze Nacht verſtrich ſo, waͤhrend hin und wie¬ der die Sprache, doch verwirrt, hoͤrbar wurde. Am andern Morgen aber war die Beſonnenheit vollkommen da, der wieder Lebende ſprach von ſeinem Verbrechen, ſeiner Reue, flehte um Erbarmen.
Man ſagte es zu, ſchonte ſeiner auf alle Weiſe, pflegte, ſtaͤrkte. Er beſann ſich in ein271 Faß geworfen worden zu ſein, meinte aber, man habe ihn nach wenig Minuten wieder herausge¬ nommen, die Todesſtrafe in eine andere zu ver¬ wandeln. Man ſah alſo, daß ihm damals die eigentliche Abſicht nicht vertraut worden war. Er rief um ſeinen Anwald, nannte die Namen der Richter, welche alle nicht mehr lebten, bis auf einen, der, ein hundertjaͤhriger Greis, ſich mit im Saale befand, und uͤber das, den mei¬ ſten Unverſtaͤndliche, was der Mann ſagte, Auf¬ ſchluͤſſe gab.
Er trat auch zu ihm. O Himmel! rief er, wie bleich, wie gerunzelt deine Wangen, Richter, wie weiß dein Haar! Was hat dich ſeit geſtern ſo veraͤndert? Und all dieſe Leute, wie ſelt¬ ſam ſind ſie gekleidet! Wo bin ich? Wohin brachtet ihr mich?
Man half ihm auf, fuͤhrte ihn an ein Fen¬ ſter. Er ſah viele unbekannte Gebaͤude, ver¬ mißte viele alte. Bin ich trunken? Wahn¬ ſinnig? Wo iſt der Pallaſt geblieben, der dort geſtern noch ſtand? Wie koͤmmt ſo ploͤtzlich der große Tempel nach jener immer leeren Stelle? Was ſoll ich denken?
Es war Zeit, ihm die Raͤthſel zu loͤſen, ſein272 Verſtand haͤtte durch die unbegreiflichen Erſchei¬ nungen in Zerruͤttung ſinken koͤnnen.
Wer malt nun aber ſein Staunen! „ Funfzig Jahre haͤtte ich geſchlafen? Unmoͤglich! “
Man zeigte ihm Buͤcher mit der laufenden Jahrzahl, rief einige Perſonen, deren er ſich als Juͤnglinge oder Kinder entſann, deren jetzige Geſtalt keinen Zweifel beſtehen ließ. Er konnte es dennoch immer nicht glauben, ihm war, als ſei er vor wenigen Minuten verſunken, und ruͤhmte wiederholt die Suͤßigkeit ſeines tiefen Schlummers.
Endlich mußte er aber die Wahrheit erkennen, und wurde durch ganz Paris gefuͤhrt, wo Fenſter und Daͤcher, wie ſich denken laͤßt, mit Zuſchauern uͤberfuͤllt waren. Geſchichtforſcher und Antiquare ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und erfuhren auch in der That, manches ihnen Unbe¬ kannte, durch ſeinen Mund.
Er hatte nun gehoͤrt, die weitere Strafe ſei ihm erlaſſen. Doch rief er: Mein Gewiſ¬ ſen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!
Man entgegnete: Moͤchte vor funfzig Jahren geſchehen ſein, was da wolle, die Zeit haͤtte einen Schleier daruͤber geworfen, auch ſeitdemErzie¬273Erziehung und Moral wieder ſo viel an Voll¬ kommenheit gewonnen, das ſolche Verbrecher wohl nicht mehr aufſtaͤnden. — So gebuͤhrt mir die Strafe jener Zeit. Sendet mich in die Ver¬ weiſung, entgegnete er.
„ Nein, nein, die Vorwelt wollte deine Be¬ gnadigung ſelbſt, wenn du die lange Verwei¬ ſung aus der Geſellſchaft uͤberſtaͤndeſt. “
Gut! Laßt mich ein Jahrlang unter euch leben. Dann will ich, mein Gewiſſen zu ent¬ laden, freiwillig abermal in das Gefaͤß. Ihr uͤbergebt mich den Enkeln auf Hundert Jahre. Weit nuͤtzlicher kann ich einſt jener Zeit ſein, mir iſt es gleich, den Reſt meiner Tage nun oder dann zu beſchließen, ja es iſt wohl im letzten Fall noch weit merkwuͤrdiger. In dieſem Jahre will ich mich von den Veraͤnderungen der Welt waͤh¬ rend meines Schlafes uͤberzeugen, und ohne Zweifel werde ich oft ſtaunen.
Man konnte nicht umhin, den Zuſtand dieſes Menſchen von einer Seite zu beneiden, und willfahrtete ihm uͤbrigens.
Guido und ſein Lehrer warteten jedoch nichts mehr davon ab, ſondern machten ſich auf den Weg nach England. Der Luftpoſtillion fuhrS274diesmal ſo ſchnell, daß Beide, unweit Paris ein wenig entſchlummernd, nicht ehe als uͤber Lon¬ don wieder erwachten, und deshalb auch den Damm zwiſchen Calais und Dover nicht ſahn, welchen man eben zur engeren Verbindung Frank¬ reichs mit Brittanien anlegte. Er lief von bei¬ den Kuͤſten ins Meer, von ungeheuren einge¬ ſenkten Felsſtuͤcken erhoͤht, und, damit der See¬ ſtrom den freien Durchgang behielte, von Hundert Klaftern zu Hundert Klaftern mit Bruͤcken aus Hangewerk unterbrochen, die jedoch ſaͤmmtlich hoͤher waren, als das Gewoͤlbe des Rialto zu Venedig. Denn die groͤßten Kriegſchiffe fanden mit allen aufgezogenen Segeln kein Hinderniß.
London fanden ſie jetzt wahrhaft reich, durch ſeine gluͤckliche, zum Handel bequeme Lage, und einen edlen Wetteifer im Kunſtfleiß, ohne den unſinnigen frevelhaften Vorſatz, alle uͤbrigen Na¬ zionen der Erde zu Grunde richten zu wollen.
Gelino ſagte: Vor dem traurigen Ruin, den ſich England Ehedem zuzog, ſah man hier auch Reichthum, doch, mehr dem Schein als der Wirklichkeit nach. Das Land war ſeine ganze Habe mehr als dreifach ſchuldig. Das baare Geld, oder vielmehr ſeine Darſtellung in Papier,275 war in die Haͤnde von etwa Dreißigtauſend Glaͤubigern der Nation zuſammengefloſſen. Ihre Zinsforderungen befriedigen zu koͤnnen, wurden dem uͤbrigen Volke unerhoͤrt druͤckende Gaben aufgelegt, Verarmung, Elend jeder Art, und endlich voͤllig erſchlaffte Staatskraft, mußten die Folgen ſein. Freilich retteten ſich die Wohlha¬ benderen nach Bengalen, und ſpaͤterhin, wie dir bekannt iſt, nach Polineſien, wo das jetzt maͤch¬ tige Reich durch ſie gegruͤndet, und mindeſtens die Kultur nach fruͤherhin faſt unbekannten Erd¬ gegenden, verbreitet wurde; doch die zuruͤckblei¬ benden traf ein Anfangs hartes Loos, bis ſie ſich auch wieder zum gemeſſenen Streben er¬ mannten, und im freundlichen, auf ewigen inne¬ ren Frieden gegruͤndeten Bund mit Europa, ein feſteres Gedeihen als je fanden.
Die alte Paulskirche ſtand noch, ſogar, wie¬ wohl verfallen, die Weſtminſterabtei. Ueber das, dem Brande von 1660 zum Andenken errichtete, Monument, hatte noch der Zahn der Zeit nichts vermocht.
Der Luxus war dem in Paris aͤhnlich, die Reiſenden bezogen wieder einen Miethpallaſt der jenem nichts nachgab. Man hatte einen oͤffent¬S 2276lichen Garten, wo das alte Eden nachgeahmt war und in der That Milch und Honig in Baͤ¬ chen floß. Es gab aber auch Teiche von Port¬ wein, Rum, Punſch, auf denen man in Nachen aus buntfarbigen Konchilienſchalen oder edlen Metallen fuhr, Baͤume von denen man leckere Konfituren pfluͤckte, gebratene Voͤgel die in der Luft flogen (ſie waren mit brennbarer Luft ge¬ fuͤllt), geſpickte Haaſen, die umherliefen (eben ſo in Bewegung geſetzt), Puddings, Roßbeef¬ ſtuͤcke, Hammern, Auſtern, Bifſteeks von gro¬ ßem Umfang, die Pilzen gleich aus der Erde wuchſen, (denn die Kuͤche hatte unterirdiſche Gaͤnge). Bisweilen regnete es Limonade, ha¬ gelte Zuckerwerk oder fror ſuͤßes Piſtazien¬ eis. Der Eintritt in dieſen Garten koſtete aber, nach altem Muͤnzfuß gerechnet, Hundert Guineen.
Auch hatte ein neuer Graham ein himmli¬ ſches Bett aufgeſchlagen. Wer nun die Beſchrei¬ bung davon leſen wollte, mußte ſo viel zahlen, als fuͤr den Eintritt in jenen Luſtgarten, dane¬ ben einen Eid ſchwoͤren, nicht auszuplaudern. Guido las, ward von den Vorſtellungen unend¬ lich zauberiſch ergriffen. Der Lehrer ſagte:277 Wirſt du einſt im Mariatempel das Band ewi¬ ger Liebe knuͤpfen, dann bediene dich dieſer Er¬ findung. Der Juͤngling loderte in Flammen, und verwahrte dieſes Wort treu.
Die Buͤhnen zu Coventgarden und Drurylane waren nicht mehr vorhanden, es gab andere und in groͤßerer Zahl. Das vorzuͤglichſte hieß Shakespears Theater, doch nicht nur der Name, ſondern auch die Werke des alten Dichters hat¬ ten ihr Andenken erhalten. Auch beſtand neben der Vorliebe fuͤr ihn, viel Nazionalgeſchmack von Ehedem. Die Identifikazionen mit dem uͤbrigen Europa, hatten ihn nicht ganz aufge¬ hoben, was auch in anderen großen Provinzen der Fall, wiewohl im merklichen Abnehmen, war. Man gab Shakeſpears Trauerſpiele noch im¬ mer, jedoch uͤberſetzt in die allgemeine Sprache des Erdtheils, deren Vollkommenheit ſie indeſſen nichts verlieren, ſondern viel an Kraft, Aus¬ druck, Bedeutung gewinnen ließ. Die Theater¬ kunſt trieb es ſo weit als in Paris. Fuͤhrte man den Sturm auf, ſah der Zuſchauer ein wirkli¬ ches, ſturmerregtes Meer auf welchem das Schiff ſcheiterte. Denn ein großes Waſſerbecken gehoͤrte zu dieſer Buͤhne, die man bei ſolchen Gelegen¬278 heiten unmerklich an ſeine Ufer rollte. Im Hamlet war der Geiſt ein Rieſe, deſſen Haupt weit uͤber den Pallaſt emporragte, und den auch der Mond durchſchien. Bankos Geſpenſt in Makbeth und die Zauberinnen zerfloſſen vor aller Augen in Nichts und dennoch hatten ſie geſpro¬ chen, gehandelt. Dies war immer die[Wirkung] kunſtreicher Phantasmagorie, mittelſt der unglaub¬ liche Illuſionen hervorgebracht wurden.
Guido verlangte jedoch von den Ergoͤtzungen weg, deren er ſchon ſo vielen beigewohnt hatte, um die große Flotte zu ſehen. Wie in der Provinz Moskau das Landheer den Hauptſitz hatte, wa¬ ren Brittaniens Haͤfen, und vorzuͤglich London, der Aufenthalt von Europas Seemacht. Auf der Themſe lagen die meiſten Orlogſchiffe, welche zu ihren Uebungen in die Nordſee ausliefen und gefahrvolle Kuͤſten und Zwiſchenmeere beſuchten, die Piloten und niedern Mannſchaften deſto voll¬ kommener zu unterrichten. Jetzt nahte das Spaͤtjahr, mit den um die Zeit der Nachtgleiche gewoͤhnlichen Stuͤrmen, wo die Hauptpruͤfung Statt hatte. Diesmal ſollte die Flotte von London ins Kattegat gehn, eine andere von Portsmuth und Plimouth ſich mit der Abtheilung279 welche bei Kopenhagen zu liegen pflegte, verbin¬ den, und dann wollte man zwiſchen den Belten Seekaͤmpfe halten.
Kadix, Toulon, Genua, Ankona, Korfu, Konſtantinopel waren uͤbrigens auch Kriegshaͤfen, doch der obern Leitung der Admiralitaͤt zu London uͤbergeben worden.
Die Flotte gehoͤrte wie das Landheer dem Foͤderalismus. Ihre junge Mannſchaft zog ſie aus allen Kuͤſtenlanden. Der Dienſt eines See¬ ſoldaten, wie ſein Unterricht, ſeine Entlaſſung oder Befoͤrderung zu wichtigeren Stellen, wurden nach Grundſaͤtzen verfuͤgt, die jenen beim Land¬ heere aͤhnlich waren.
Der Staat zahlte keinen Sold, dennoch aber war die Seemacht wohlgeruͤſtet, wohlgenaͤhrt, be¬ ſaß ſogar Schaͤtze genug, um einen langen Krieg aus ihren Mitteln fuͤhren zu koͤnnen. Dies machte, weil die Schiffe ſechs Monate im Jahre zum Handel gebraucht werden durften, den die Admiralitaͤt, fuͤr Rechnung der Flotte, nach allen Erdgegenden trieb. Unbedingte Hafenfreiheit durch ganz Europa machte ihn noch weit ein¬ traͤglicher.
Guido meldete ſich bei dem Befehlhaber der280 auszulaufenden Fahrzeuge, ſagte ihm, wie er ſich zwar dem Kriegdienſte zu Lande gewidmet habe, dennoch aber einer Seeuͤbung als Frei¬ williger beizuwohnen wuͤnſche. Die Erlaubniß wurde auf ſeine Bitte zugeſtanden, nachdem er vorher bedeutende Proben ſeiner Geſchicklich¬ keit im Schwimmen, Fechten und Schießen nach dem Ziel, abgelegt hatte.
Der Seekrieg wurde auf eine weit furchtba¬ rere Art gefuͤhrt als Ehedem. Man zaͤhlte auch drei Truppengattungen. Eine davon beſtieg Luft¬ fahrzeuge, ſuchte brennende Stoffe auf die feind¬ lichen Galleonen zu werfen und Maſten oder Segelwerk zu zerſtoͤren. Sie ward im Vollziehen und Abwenden nach Bedarf geuͤbt. Die andere diente in den Schiffen ſelbſt auf mancherlei Weiſe. Es gab Schuͤtzen, welche dicht bepanzert an Straͤngen hingen. An den Maſten wurden ſie ſtaffelfoͤrmig zur Hoͤhe gezogen, damit ein dichter Rohrhagel zugleich konnte abgeſendet werden, und nach dem Feuer hinter die Bruſtwehr zu¬ ruͤckgeſenkt, dort laden zu koͤnnen. Einem feind¬ lichen Schiffe nahe, mußten ſie auf einer Fallbruͤcke hinuͤber und mit dem Schwert wuͤthen, blieben demungeachtet aber an das ihrige gebunden, um281 ſie im ſchlimmen Falle, eilig wieder auf das ei¬ gene Verdeck zu ziehn. Es gab Schiffartilleriſten, noch kunſtfertiger als jene auf dem Lande. Sie bedienten ſich immer der gluͤhenden Kugeln, de¬ nen zweckmaͤßig erſonnene Oefen, in einem Au¬ genblick die noͤthige Hitze gaben. Auch lange Schwerter wurden in Boͤgen von oben nach un¬ ten, und von einer Seite zur andern, aus dazu geeigneten trogartigen Moͤrſern geworfen, Tau¬ werk und Segel zu verwuͤſten. Es gab Schiff¬ chemiker, welche die Brandmaterien anfertigten, womit man noch wirkſamer als ſelbſt durch die gluͤhenden Baͤlle zu zerſtoͤren ſtrebte, und auch wieder Stoffe, welche den verderblichen Lauf derer, welche der Feind ſandte, hemmen konnten, alles Reſultate von Erfindungen welche die Vor¬ zeit noch nicht ahnte. Es gab Seemechaniker, die bewunderswuͤrdige Maſchinen lenkten. Da¬ hin gehoͤrten die ſchnellen Ruderwerke, welche bei Windſtillen dienten; die kuͤnſtlichen Steuer, geſchickt ein Fahrzeug in unglaublich kurzer Zeit zu drehen. Den Krieg unter dem Meere konnte man dennoch als den wichtigeren betrachten. In den ſchon beſchriebenen Taucherhuͤtten galt da der ſchlaue grimmige Kampf. Unter den Bauch282 der Schiffe ſuchte man anzulangen, mittelſt fuͤrch¬ terlicher Bohrer Lecke zu bereiten, oder noch fuͤrchterlichere Petarden anzuſchrauben, deren Pul¬ ver auch im Waſſer ſeine Kraft uͤbte. Wer haͤtte nicht glauben ſollen, bei ſo vielen Zerſtoͤrungs¬ mitteln muͤßte es in wenigen Minuten um ganze Flotten geſchehen ſein, dennoch begruͤndeten die Gegenmittel wieder ein Gleichgewicht der Kraͤf¬ te, und zeigte der Feind dieſelbe Kunſt, hing die Entſcheidung oft an Zufaͤlligkeiten. Die Be¬ fehlhaber geſtanden auch, wie die Flotten von Afrika oder Amerika, eben ſo wohlgeruͤſtet und mit kunſterfahrnen Kriegern bemannet waͤren, daß alſo hier von keinem uͤberwiegenden Vorzug die Rede ſei, und derjenige ein wichtiges Verdienſt um den Meerkrieg erwerben koͤnne, der etwas auf¬ zufinden im Stande ſei, das, den Fremden un¬ bekannt, in der naͤchſten Fehde den gewiſſen Ausſchlag gaͤbe.
Dies Wort warf einen Funken in Guidos Einbildungskraft, und ließ ſie aufflammen. Sollte dieſe Aufgabe nicht zu loͤſen ſein? fragte er ſich. Und warum nicht? Strebt doch alles hoͤherer Vollkommenheit entgegen. Er ſann wei¬ ter uͤber dieſen Vorwurf nach.
283Die Flotte lichtete die Anker. Guido hatte von dem Lehrer Abſchied genommen, der in London zuruͤckblieb. Bei einem wuͤthenden Or¬ kan ſtach man um Mitternacht in See, doch die Fertigkeit ſpielte nur mit den Hinderniſſen. Ge¬ gen den Wind kaͤmpften die Ruderwerte, die Klippen und Sandbaͤnke, nach welchen zu ſteuern, mit gutem Bedacht geboten wurde, umlenkte Geographie des Meergrundes und der Piloten Beſonnenheit. So langten die Schiffe nach we¬ nig Tagen in den gefahrvollen Belten an, tra¬ fen bei einem dunkeln Nebel auf jene, welche die feindliche Rolle gaben, und der Kampf begann.
Guido flog erſt mit den Luftgondoliren em¬ por, ſtieg dann wieder in ſein Schiff nieder, und ſenkte ſich endlich mit den Tauchern in die Tiefe. Er wollte von Allem genaue Kunde zu¬ ruͤckbringen, Jedermann ſah ſich befremdet durch ſeinen Eifer, ſeine Kraft und Ausdauer.
Es trat jedoch ein ſeltſamer Fall ein. Drei Schiffe von der Gegenparthei, ſchnitten der dieſ¬ ſeitigen Flotte ein Fahrzeug ab. Es fand ſich umringt, und von den Maſten dort wehte das Signal, ſich zu ergeben. Dies wollte es nicht,284 den Vorwurf, unachtſam geweſen zu ſein, ab¬ zulehnen. Man wandte alle Mittel an, den Weg durch die Feinde zu nehmen, die wieder alle Vorkehrungen trafen, es zu hindern; denn ſie entflammte der Ehrgeitz, eine wohlgelenkte Bewegung ausgefuͤhrt zu haben.
Gefahren mangelten dieſen, mitten im Sturm, im engen, klippenvollen Meere, gehaltenen Uebun¬ gen keineswegs, auch fiel mancher Soldat in die empoͤrten Fluten, wo ihn weder das eigne fer¬ tige Schwimmen, noch die Huͤlfe der Kamera¬ den zu retten vermochte; doch die Roͤhre lud man nicht.
Allein auf dem bedraͤngten Schiffe — Guido befand ſich eben hier — kam ein Artilleriſt auf den Gedanken, die Widerſacher dadurch abzuhal¬ ten, daß er ihre Segel und Ruderwerke zer¬ ſtoͤrte. Strafwuͤrdig fuͤllte er alſo ſein Geſchoß ernſthaft, und erprobte auch ſeine Fertigkeit ſo wohl, daß ein Fahrzeug druͤben bald außer Stand geſetzt wurde, ſeine Bewegungen willkuͤhrlich zu lenken.
Dies Verfahren machte aber, daß die andern wuͤtheten, und Gleiches mit Gleichem bezahlten. Ohne daß ihren Konſtablern durch die Obern285 Einhalt geſchehen konnte, warfen ſie gluͤhende Baͤlle ab. Das bedraͤngte Schiff hatte ein dop¬ pelt uͤberlegenes Feuer zu leiden, und mußte ſich nun auch ernſt vertheidigen, oder untergehn. Das Erſte geſchah mit zuͤgelloſer Hitze, die je¬ doch nicht unbeantwortet blieb, und zur Folge hatte, daß viele Soldaten an beiden Theilen todt hinſanken. Nur mehr eiferten die Gemuͤ¬ ther, ergrimmt ſetzte man den Kampf fort. Die Offiziere fielen ſaͤmmtlich. Guido, deſſen krie¬ geriſches Feuer im raſenden Getuͤmmel hoch auf¬ flammte, lenkte den Streit, ertheilte ſo guten Rath, daß man ſich willig unter ſeinen Ober¬ befehl ſtellte. Er drang geſchickt auf das eine Fahrzeug ein, ließ im guͤltigen Augenblick die Fallbruͤcke werfen, ſtuͤrzte ſich mit der Haͤlfte ſei¬ ner Leute auf das feindliche Verdeck, wo man ſich dieſer Kuͤhnheit dennoch nicht verſah, und ſich ergab. Nun wiederholte er daſſelbe bei dem andern Schiffe, wo es eben ſo gelang, und fuͤhrte die eroberten Schiffe im Triumphe dem Admiral zu. Dieſer zuͤrnte, wie billig, verord¬ nete Strenge gegen die frevelhaften Urheber des blutigen Unfugs, wunderte ſich aber hoch, daß der neue Freiwillige der Soldaten Vertrauen286 habe gewinnen, und ihm mit ſo vieler Sach¬ kunde und Geiſtesgegenwart habe entſprechen koͤnnen. Er begriff auch gar wohl, wie ohne die ſchnell beherzte Entſcheidung, noch mehr Le¬ ben wuͤrde gefallen ſein. Guido wurde mit Lob uͤberhaͤuft, und auf allen Fahrzeugen ruͤhmte das eilig umlaufende Geruͤcht, den kuͤhnen, wei¬ ſen Juͤngling. Er bewaͤhrte ſein Genie auch noch hoͤher, indem er in der That die Erfin¬ dung machte, welche, ſo lange ſie dem Feinde un¬ bekannt blieb, ein entſchieden Uebergewicht im Kampf begruͤndete, und die lange vergeblich ge¬ wuͤnſcht worden war. Sie beſtand in einer ein¬ fachen, doch hoͤchſt wirkſamen und wohlberech¬ neten mechaniſchen Vorrichtung, mittelſt der man, ohne es ſelbſt zu verlieren, einem feind¬ lichen Schiffe das Gleichgewicht rauben, und es rettungslos umwerfen konnte. Als ein Geheim¬ niß vertraute er ſeine Theorie dem ſtaunenden Admiral. Dieſer fand ſie ſo wichtig, daß er ſo¬ gleich die weiteren Uebungen aufhob, um nach London zuruͤckzuſegeln.
Dort angekommen, ward Guido eingeladen, vor einem engeren Ausſchuß der oberen Leitung der Seemacht, Verſuche mit der anzufertigenden287 entworfenen Maſchine zu halten. Sie betrogen die hohe Erwartung nicht; die Admiralitaͤt er¬ theilte ihm ein Ehrenzeichen und machte ihm bekannt: daß dem Strategion und dem Kaiſer eine Nachricht von ſeinem bedeutenden Verdienſt um den Seekrieg wuͤrde zugeſandt werden. Be¬ ſcheiden zog ſich der Juͤngling zuruͤck, und drang in den erfreuten Lehrer, abzureiſen. Das Ehren¬ zeichen trug er nicht, ſondern uͤbermachte es Ini, mit der Bitte, es mit jenem aufzubewah¬ ren. — Dieſe hatte ſich aber damals ſchon von Sizilien entfernt.
Man ſchlug nun den Weg nach Spanien ein. Hier fand Guido viele Monumente mit trauri¬ gen Bezeichnungen, und uͤberſchrieben: „ Denk¬ mal beweinter Irthuͤmer. “ Gelino gab ihm hieruͤber folgende Auskunft: Spanien hatte vor mehr als einem halben Jahrtauſend einen hohen Gipfel des Wohlſtandes eingenommen. Freund¬ lich durch die Natur beguͤnſtigt, ſah man zahl¬ reiche, kunſtfleißige, kluge Bewohner, ſeiner uͤppigen, reitzenden Gefilde pflegen, in den wei¬ ten bluͤhenden Staͤdten wohnten Thaͤtigkeit und Ueberfluß. Doch ein Siſtem frevelhafter Kirch¬ lichkeit, weiter von Religion entfernt als irgend288 in einem Lande und zu irgend einem Zeitraum der Verfinſterung, trat mit widrigen Maaßre¬ geln ſeiner Regenten in Bund, und entvoͤlkerte nach und nach den geſegneten Erdſtrich bis auf ein Drittheil der alten Menſchenſumme. Der Zufall ließ Spanien die erſten Vortheile von Amerikas Entdeckung ziehn, weite reiche Land¬ ſchaften eignete es ſich dort zu, Gold - und Sil¬ berminen, wie ſie zuvor keinem Staate gehoͤr¬ ten, wurden ſein Eigenthum. Doch dieſer Um¬ ſtand brachte, ſtatt wiedererwachten Flor, nur tiefere Verarmung zuwege; denn Spanien ergab ſich dem Muͤßiggang, das Gold wich in die Fremde, man ſank in Schulden. Zuletzt ſchwelg¬ ten nur noch wenige Großen und die Prieſter, die Geiſteskraft lag in den Banden des wahn¬ ſinnigſten Aberglaubens, die Regierung, trotz der meerumfloſſenen und durch die Mauer der Pirenaͤenkette geſicherten Lage von Spanien, konnte ſich nicht mehr vertheidigen. Die ſpaͤter¬ hin geiſtesentwoͤlkten Nachkommen, blickten nun mit Wehmuth in eine Vergangenheit zuruͤck, die ſo viel Saͤumniß, das Gute zu erkennen, zu be¬ klagen darbot. Sie meinten, wenn man der Kraft und Weisheit billig Denkmale ſtelle, ge¬buͤhre286[289]buͤhre ſolches auch wohl zerruͤttenden Irthuͤmern, damit die ſchaudernden Enkel laut gemahnt wuͤrden, auf edlem Pfad zu wandeln.
Guido ſeufzte bei dieſer Erzaͤhlung, freute ſich aber deſto inniger uͤber das nun paradieſiſch angebaute Land, die prangenden Reisgefilde, die duftenden Orangenhaine, die Weingaͤrten, alle uͤbrigen, welche er je geſehn, an Schoͤnheit hinter ſich laſſend.
Madrit, ſagte Gelino, wird dich entzuͤcken. Ehedem ſoll es eine winklige, ohne Geſchmack aufgefuͤhrte, und uͤber alle Beſchreibung unrein¬ liche Stadt geweſen ſein, ſpaͤterhin iſt ſie jedoch von Grund auf neu erbaut worden, und das, dem an ſich lieblichen, und noch viel veredelten Klima angemeſſen.
Guido fand die Beſtaͤtigung dieſer Worte.
Hatten Polen und Teutonien, durch Kultur ihrem Boden Fruͤchte erzogen, die man ſonſt nur in Spaniens Breite ſah, ſo hatte dies Land, durch gluͤckliches Streben und bei reicherem Segen der Naturkraͤfte, manche Erzeugniſſe von Afrika zu ſich verpflanzt. Die Gaͤrten um Madrit ſa¬ hen die edelſten Feigengattungen reifen, der Pi¬ ſang bluͤhte luſtig, die Dattelpalme, der Kokos¬T290baum breiteten ihre dichten Laubgewoͤlbe in lan¬ gen Blaͤttern aus, die Brodfrucht gedieh auf kraͤftigen Staͤmmen und erhoͤhte den Reichthum an Lebensnahrung. Gewuͤrzſtauden mancher Art, ſonſt ein Eigenthum indiſcher Eilande, wurden auch mit Erfolg gezogen und durchhauchten die Luͤfte mit den angenehmſten Aromen. Madrit hatte ſehr breite Straßen, in welche, zur erfri¬ ſchenden Kuͤhlung, Kanaͤle geleitet waren. Man wachte uͤber ihre Sauberkeit mit fleißiger Sorge, ſpiegelhell wogten ſie langſam zwiſchen den mar¬ mornen Bekleidungen hin. Zu beiden Seiten prangten Baumgaͤnge, und die Straßen hatten ihre Benennung davon, je nachdem es Pfirſich, Granataͤpfel, die ſtattliche Benta von Senegal, der nuͤtzliche Kapok, die ſchattige Pflaumenpalme u. ſ. w. waren, welche dort in gleichfoͤrmigen Reihen ſtanden. In Herbſt - und Winternaͤchten huͤllte ſie am Stamm eine Decke ein, und oben waren Froſtableiter angebracht. Vor den Haͤu¬ ſern ſah man auch in graden Abtheilungen Blumenbeete, und von den platten, mit Gelaͤn¬ dern verſehenen, Daͤchern, winkten allerhand lieb¬ liche Stauden in Vaſen, wie ſie auch, von gu¬ ten Steinwoͤlbungen unterſtuͤtzt, eine Erdlage291 fuͤr Luſtpflanzen trugen. Die Einwohner brach¬ ten ſchoͤne Morgen und Abende oben zu, verrich¬ teten hier mancherlei Geſchaͤfte. Oft klang die kaſtilianiſche Guitarre, noch, wiewohl ſehr ver¬ edelt, im Gebrauch, in ſuͤßen Melodien herab, begleitet vom Sopran liebeathmender Maͤdchen, oder der alte Fandango drehte ſich auf den Blu¬ menmatten der Hoͤhe.
Von den vielen Plaͤtzen waren diejenigen, welche nicht zu Handelsmaͤrkten dienten, entwe¬ der mit Luſtwaͤldchen von Cedern oder uͤppigen ſuͤdlichen Fruchtbaͤumen bepflanzt, oder in an¬ muthige Wieſenplane umgeſchaffen, oder mit weiten klaren Waſſerbecken geziert, auf denen bequeme Gondeln zu Freudenfahrten einluden.
So glich Madrit einem großen Garten, und die Wohnungen der Menſchen darin, Pavillonen, Niſchen u. ſ. w. Kaum ließ ſich ein reitzenderer Aufenthalt ertraͤumen. Es gab auch Tempel aus Baumgewoͤlben von ſeltner Hoͤhe, unten mit Meiſterwerken der Bildhauerei geſchmuͤckt, und die Andacht darin hatte einen feierlichen Zauber. Der große Hang, die Lieblichkeit der ſchoͤnen Natur zu genießen, hatte auch mancher Buͤhne, aus Hecken erbaut, das Daſein gegeben. T 2292Bei guter Witterung ſah man hier Schauſpiele unter dem freien Himmelsbogen, oft noch ein Werk des Lope de Vega voll ſeltſamer Liebes¬ abentheuer, die die romantiſch empfindenden Ein¬ wohner nicht vergeſſen hatten.
Dem Manſanares war ein Bett von mehr Tiefe und Umfang als Ehedem gehoͤhlt worden, er ſtand mit dem Minho, Guadiana, Guadal¬ quivir u. ſ. w. in Verbindung, welche, jetzt auch geeignet Seeſchiffe zu tragen, der Hauptſtadt den Vortheil eines ausgebreiteten Handels ver¬ ſchafften.
Nur Buenretiro und Aranjuez entzuͤckten Guido noch mehr, als das liebliche Madrit, und er haͤtte es beweinen moͤgen, nicht mit Ini in die¬ ſen Eliſaͤen wandeln zu koͤnnen. Denn Geſchmack und Reichthum hatten wetteifernd ſich verbun¬ den, die Gaͤrten dort, mit Allem, was Phan¬ taſie und Herz gluͤhend fuͤllen kann, verſchwen¬ deriſch auszuſtatten. Obgleich der Winter nahte, ließ ihn die noch uͤberall gruͤnende Wonne nicht ahnen.
Der Lehrer ſagte aber: Fort von hier, mein Guido! Wenn dieſe Luſt dich, dem die uͤppi¬ gen Vergnuͤgungen von London und Paris lang¬293 weilten, im Streben nach Unterricht, mehr an¬ kettet, weil die Natur hoͤheren Theil daran hat, freut es mich, doch deinem Zweck darf ſie dich auch nicht entfuͤhren. In tieferer Wiſſenſchaft kannſt du hier nichts Betraͤchtliches erlernen, dies Volk hat noch manchen Schritt zu thun, die alte Saͤumniß einzuholen, um neben den Teutonen, Britten und Franken zu ſtehn. Wir wollen nach Liſſabon, doch auch da nur kurze Friſt weilen.
Guido folgte ſogleich, er hatte Selbſtbeherr¬ ſchung genug, um zu wollen, was er ſollte.
Die Luftpoſt trug die Reiſenden bald nach der weſtlichſten Hauptſtadt in Europa. Dort be¬ fand ſich unter andern eine beruͤhmte Vorkeh¬ rung gegen Erdbeben. Weshalb Liſſabon ſo große Summen zu dieſem Zweck aufgewendet hatte, ſieht man leicht ein. Die Anſtalt wuͤrde einem Buͤrger des achtzehnten oder neunzehnten Jahr¬ hunderts ſo großes Staunen aufgedrungen ha¬ ben, wenn ihm ein prophetiſcher Geiſt davon haͤtte Meldung thun koͤnnen, wie Jedermann im zehnten gefuͤhlt haͤtte, wenn damals die Rede von Feuerroͤhren und Blitzableitern ge¬ weſen waͤre.
294Doch eine andere Szene feſſelte Guidos Aufmerkſamkeit, wo moͤglich, noch mehr. Da er naͤmlich am Ausfluß des Tago umherging, kam etwas uͤber die See, keinem Schiffe glei¬ chend. Das Herannahen des Phaͤnomens ſetzte ihn in nur heißere Verwunderung. Er begriff nicht, wie ein Gegenſtand von dieſem Umfange auf den Wogen ſchwimmen koͤnne. Endlich ſah er klar, daß es eine Inſel ſei, und halb Liſſa¬ bon ſtroͤmte hinaus, ſie anzuſtaunen.
Sie kam noch naͤher. Fernroͤhre hatten die Verſammlung Neugieriger ſchon uͤberzeugt, daß ſich viele Menſchen darauf befaͤnden, welche theils auf dem Raſen und in den kleinen Ge¬ buͤſchen ſich ergingen, theils in einem Wohn¬ hauſe, das man auf dem Eilande erblickte, al¬ lerhand Zeitvertreib hielten. Wer konnte aber das alles erklaͤren? War ein Stuͤck Land irgendwo durch ein gewaltſam Naturereigniß losgeriſſen worden, und ſchwamm es nun zufaͤllig gerade auf Liſſabon her? Niemand wußte, was er den¬ ken ſollte.
Freundlich gruͤßten aber von der Inſel Kano¬ nenſchuͤſſe, und die dankende Antwort wurde vom Kaſteel des Hafens nicht vergeſſen.
295Endlich hielt die Inſel. Sie hatte eine ſo geringe Tiefe, daß ſie unfern der Kuͤſte ihren Lauf enden konnte.
Nun offenbarte ſich aber, daß Wallfiſche von ungeheurer Groͤße, deren Koͤpfe und Ruͤcken auch vorher, obwohl nicht deutlich, uͤber der Fluth bemerkt worden waren, das Eiland ge¬ zogen hatten. Die Maͤnner, mit ihrer Lenkung bis dahin beſchaͤftigt, ſpannten ſie jetzt von den unerhoͤrt dicken Geſchirren, warfen Anker von ſeltener Schwere, und banden die Thiere an ihren Tau.
Wallfiſche gezaͤhmt, zum Dienſt des Men¬ ſchen angelehrt? rief Alles; in wem erwachte zu¬ erſt der kecke Einfall? welche Mittel erſann er, ihm Wirklichkeit zu geben?
Mit einem kleinen Nachen kamen nun einige Maͤnner ans Land, faſt erdruͤckt von Portugie¬ ſen. Sie zeigten auf einen hochbejahrten Greis in ihrer Mitte, nannten ihn den Beſitzer des unerhoͤrten Seefuhrwerks. Alles ging dieſen nun um Auskunft an, er mußte einen Balkon beſteigen, zu der immer mehr angewachſenen Menge zu reden.
Ich bin aus Nordamerika, Philadelphia mein296 Geburtsort, hub er an. Schon mein Vater kam in fruͤher Jugend auf die Vermuthung, es werde moͤglich ſein, ſich Fiſchen mit ſeinem Willen verſtaͤndlich zu machen, und ihre geringe Denk¬ kraft, mit der vielumfangenden menſchlichen, in Beziehung zu ſetzen. Denn, dachte er, geht dies bei Thieren vom Lande an, wo iſt der Grund, es werde hier nothwendig mißlingen? Ohne Zweifel gab es einſt Menſchen, die den verlacht haben wuͤrden, der behauptet haͤtte, man koͤnne Roß oder Stier zum dienenden Knecht machen. Genug, mein Vater begann ſein Werk mit unſaͤglicher Muͤhe. Kleine Flußfiſche in Bek¬ ken waren es, womit er den Anfang machte. Die Nachbarn fragten, wozu denn das je nuͤtzen ſolle? Dies mochte mein Vater auch noch nicht recht einſehen, doch machte ihn nichts irre, und nach Jahren konnte er doch einen Hecht, einen Aal zeigen, welche auf ſeinen Wink allerlei kleine Kuͤnſte vollzogen. Der Neuheit wegen lief man herzu, ſah es an, zuckte hernach aber die Achſel ob der eiteln Muͤhe. Doch mein Vater fuhr fort. Ein Zitterfiſch, ein Kabliau und ein Hai, ſehr jung eingefangen, kamen an die Reihe. Er fand bei dieſen Thieren groͤßere Gelehrigkeit,297 mit gebaͤndigterem Muth bei dem folgenden Ge¬ ſchlecht verbunden, das er zog. Mit dem drit¬ ten ging es noch weiter. In einem großen Teich, den Meerwaſſer fuͤllte, hatte der Vater eine Menge Kabliaue und Haie, ruderte ſich auf demſelben umher, ſie abrichtend. Sie kamen auf ſeinen Ruf, empfingen Speiſe, entfernten ſich wenn er es haben wollte, ließen ſich ergrei¬ fen, ſprangen ſogar in den Nachen, und ſchmei¬ chelten ihrem Herrn, indem ſie aber zu bitten ſchienen, ſie wieder in ihr Element zu ent¬ laſſen.
Mein Vater genoß keinen Vortheil davon, als daß er von denen, welche die ſeltſamen Kuͤnſte ſeiner Thiere zu ſehn begehrten, ſich ein Zutrittgeld erlegen ließ, wodurch er aber den¬ noch eine artige Summe gewann.
Eines Tages blieb ein großer Hai ganz zu¬ faͤllig an dem Stricke hangen, womit mein Va¬ ter den Nachen am Lande zu befeſtigen pflegte. Und ſo zog er dieſen, indem er fortſchwamm, hinter ſich. Das kann ein neues Kunſtſtuͤck ge¬ ben, dachte mein Vater, und fertigte Sielen¬ zeug fuͤr zwei Haie an. Erſt thaten die Thiere unbaͤndig, eine Laſt hinter ſich empfindend, und298 einen Zuͤgel im Mund, ſie wollten ihre Bande zerreißen, ſchoſſen gegen den Grund, was den Nachen in Gefahr brachte. Doch fortgeſetzte Liebkoſung, Fuͤtterung, wie ſie ſie gern empfin¬ gen, und nach Jahr und Tag, gab mein Vater ſeinen Haien ein Zeichen mit einer im Waſſer bewegten Glocke, ſie kamen, ließen ſich Zaum und Geſchirr anlegen, und lenken, wohin man wollte. Gegen das Ende ſeines Lebens fuhr der Alte aus ſeinem Teich nach dem hohen Meere, holte von einem Kuͤſtenorte zum andern allerhand Waaren.
Ich, noch ein Knabe, ſann dem Dinge weiter nach. Wie, wenn man Seeſchiffe ſo fortbringen koͤnnte? Man duͤrfte des entgegenwehenden Windes oft ſpotten, haͤtte nicht noͤthig zu kreutzen, wuͤrde mehr Herr der Zeit, beduͤrfte der koſtſpieligen Ruder nicht, und kaͤme vielleicht ſchneller als mit ihnen davon. Aber da beduͤrfte es groͤßerer Thiere. Wenn indeſſen der Hai zum Gehorſam zu brin¬ gen iſt, warum ſollte es nicht auch der Wallfiſch ſein?
Der Vater ſtarb bald, ich nahm mein Erbe, und begab mich nach Kanada, mir dort einen299 kleinen Meerbuſen als Eigenthum zu verſchaffen. Seine Enge vorn ließ ich mit einem Damm verſehn, der durch eine Schleuſe geſperrt wer¬ den konnte. Eine Wohnung erbaute ich mir am einſamen Strand, machte Niemand zum Zeugen meines Vorhabens, als einige Knechte, weil ich vor der Zeit nicht davon geredet wiſſen, und von keinen Neugierigen uͤberlaufen ſein wollte.
Nun ruhte ich nicht, bis es mir gelungen war, vieler jungen Wallfiſche habhaft zu werden, wobei mir Taucherhuͤtten und dazu eingerichtete Fangwerke dienten.
Dies gelang, aber mein weiteres Beginnen war muͤhevoll. Doch jung, kraͤftig, ausdauernd und mein Ziel mit feſtem Willen ins Auge ge¬ faßt, ließ ich mich nicht ermuͤden. Daß ich kurz bin, ſage ich euch, wie ich mein Vorhaben funfzig ganzer Jahre lang treu verfolgte. Dann ſahe ich mich aber auch belohnt. Es war mir ein Schertz, eine Brigg oder einen Dreimaſter von wohlein¬ gefahrenen Wallfiſchen dahin ſchleppen laſſen, ich ſah jedoch auch ein, wie die Kraft dieſer Unge¬ heuer noch mehr leiſten koͤnne. Da fertigte ich einen großen Floß, aus aneinander gefuͤgtem300 Treibholz, bewarf ihn mit durchſiebter frucht¬ baren Erde und pflanzte allerhand Gras und Kraͤuter darauf. Einige erhoͤhte Huͤgel konnten Katalpen und Akazien, andere Fruchtbaͤume tra¬ gen. Ein gemaͤchlich Wohnhaus und Speicher zu Waaren folgten. So entſtand das kuͤnſtliche Ei¬ land welches ihr ſeht. Manches Jahr uͤbte ich erſt die Fahrt in meiner Bai, dann ließ ich den Damm mit Pulver wegſprengen ‚ die Inſel zum Ozean bringen zu koͤnnen, und langte damit wohlbehalten auf der Rheede von Philadelphia an. Die Einwohner ſtaunten wie ihr. Man uͤberzeugte ſich aber bald von der Feſtigkeit und Sicherheit meiner Fahrt und gab mir reiche La¬ dung nach Europa, die ich verlangte. Auch ei¬ nige Paſſagiere fanden ſich, andere wagten es noch nicht, die Reiſe zu theilen. Die meiſten unter jenen Maͤnnern ſind meine Knechte. Doch fahrt jetzt zu der Schwimminſel hinuͤber, erſchaut ihre Bequemlichkeiten. Der Reiſende merkt kaum, daß es weiter geht. Welch ein angenehmer Auf¬ enthalt. Bei heitrer Witterung luſtwandelt man auf den Huͤgeln, ſchlummert im Graſe, beluſtigt ſich mit Fiſchfang. Iſt der Himmel unfreundlich301 ladet das Gebaͤude ein ', wo ſich mehr angenehme Einrichtungen finden, als auf dem groͤßten Schiffe, nicht Buͤcherſammlung, Orcheſterorgel, Luſtthea¬ ter, Fechtboden u. ſ. w. fehlen. Eine Taucher¬ huͤtte haͤngt hinten am Eiland, daß man ſich auf der Reiſe beliebig in die Tiefe ſenken, und dort umſehen kann. Dies alles wurde erſt in Philadelphia vollendet. Und pruͤft auch meine großen Waarenſpeicher. Wohl mehr noch als ein Dutzend große Schiffe, vermag ich zu laden, wohlgeordnet, wohlgepackt, keinem Verderbniß blosgeſtellt, und dennoch geht meine Inſel nicht tief, weil ihre Breite und Laͤnge im ausglei¬ chenden Verhaͤltniß zu den aufgebuͤrdeten Laſten ſteht. Eiliger ſchießen die Wallfiſche dahin, als der guͤnſtigſte Wind ein Fahrzeug zu treiben ver¬ mag. Der Sturm kann ihnen nichts anhaben, er trifft ſie nicht in ihrer Tiefe. Das Eiland iſt zu groß um ein Spiel der Wogen zu ſein, zu hoch, zu feſt, durch Brandungen zu leiden; ſtranden kann es nicht leicht, und wenn auch, es ruhet dann ſicher auf dem Grunde und es ſind Winden vorhanden, die es bald wegſchaffen. Seht, ihr Europaͤer, dies alles kann des Men¬ ſchen Fleiß ins Werk richten!
302Der Greis endete. Man konnte nicht Cha¬ luppen genug finden, die Neugierigen uͤberzuſetzen. Daß Gelino und Guido nicht zuruͤckblieben ver¬ ſteht ſich. Man fand alles, wie der Mann ge¬ ſagt hatte, bewunderte am meiſten die Sielen und Zugketten der ſechs Meerungeheuer, und ſahe zu, wie ſie gefuͤttert wurden und die Knechte auf ihren Ruͤcken tanzen ließen.
Das Abladen der Waaren begann und der Mann verlangte an der Boͤrſe Ruͤckfracht nach Nordamerika. Sie fand ſich, ſeine Maſchinen machten Alles in wenigen Tagen ab.
Waͤhrend der Zeit erwachte in Guido eine heiße Neigung, die Inſelfahrt auch zu theilen. Wir wollten ja ohnehin nach Weſtindien, ſagte er zum Lehrer, laß uns Plaͤtze miethen. Gelino hatte kein Ohr dazu, ſein Alter empfahl mehr Vorſicht als der jugendlich ungeſtuͤme Muth. Zu wenig iſt das noch erprobt, mein Freund, antwortete er, Unfaͤlle, die der Mann ſelbſt nicht erwartet, koͤnnten uns treffen. Erfahrung muß noch deutlicher uͤber den Gegenſtand reden, vielleicht litt dieſe Reiſe nicht von heftigen Stuͤr¬ men, er waͤhnt nun ſeine Anſtalten uͤber alle Ge¬303 fahr erhoben, und ein Andermal kann ſie ihn uͤberwinden. Doch dies alles leuchtete unſerm Guido nicht ein, ſein Verlangen wuchs nur am Widerſtande und er drang ſo lange mit Bitten in den Lehrer, bis er, obwohl bedenklich genug, einwilligte.
304Reiſe außer Europa.
Nun ward der Vertrag geſchloſſen, und das Eiland bezogen. Niemand fragte um guͤnſtigen Wind. Als die Ladung eingenommen war, lich¬ tete man die Anker, legte die Thiere vor, be¬ freite das Eiland vom Grunde, und fuhr unter dem jubelnden Nachruf der Menge ab. In we¬ nigen Stunden ſahn unſre Reiſenden die hohen blauen Felſenkuͤſten von Portugal nicht mehr. Guido war entzuͤckt.
Freilich raubte die Jahrzeit der Reiſe man¬ ches Angenehme. Im Sommer wuͤrde ſie viel reitzender ausgefallen ſein. Aber ſo lebte man bereits in der Mitte des Novembers, in Liſſa¬ bon freilich nicht unbehaglich empfunden, doch deſto mehr, als man in den noͤrdlicheren Gewaͤſ¬ ſern anlangte. Da gewaͤhrten die entlaubten be¬reif¬305reiften Baͤume und das falbe, mit duͤrren Blaͤttern uͤberſtreute Gras auf der Inſel, eben keinen freudigen Anblick mehr, auch war ſie in kurzem ganz mit Schnee bedeckt. Der Inhaber hatte indeſſen auf das Vergnuͤgen ſeiner Paſſa¬ giere gedacht, mehrere lebendige Haſen, Fuͤchſe, Kaninchen verborgen, von denen er jetzt welche heraus ließ, damit man ſie jagen koͤnne. Einige der Reiſenden beluſtigte das weidlich, doch Guido nicht, wohlthaͤtige Schonung gegen Thiere lag in ſeiner Sinnesart. Er blieb meiſtens bei Ge¬ lino im Zimmer, mit Wiſſenſchaften die Zeit verkuͤrzend.
Auf der hohen See wuͤtheten einige Stuͤrme, die Balken der Gebaͤude krachten, die Wellen ſpuͤlten ihren weißen Schaum uͤber die Ufer. Unbeſorgt, rief der Pilot, es hindert unſere Fahrt nicht! In der That war es auch alſo. Die Wallfiſche ſchwammen dann tiefer, als die Wogen vom Sturm bewegt wurden, ſo we¬ nig ein Boot vom Kraͤuſeln eines Baches leidet, ward auch das Eiland vom hohlen Gewuͤhl des Atlantus verletzt. Haus und Speicher wider¬ ſtanden.
Mit großen Reuſen fingen die Knechte taͤg¬U306lich kleinere Seefiſche in großer Menge, welche ſie in einer Art Futterbeuteln, von eines Zeltes Groͤße, den Wallfiſchen gaben. Dieſe zehrten dann, ihren Lauf nicht unterbrechend. Zeigten ſie ſich einmal widerſpenſtig, wollten eine an¬ dere Richtung nehmen, als der an großen, mit Winden verſehenen Pfaͤhlen haͤngende, Zuͤgel vor¬ ſchrieb, neckten einander beißend, oder wollten, dem Inſtinkt folgend, der Fiſchjagd obliegen, ſtrafte man ſie durch zackige Maſtbaͤume deren Streiche ein Hebel auf ſie fallen ließ. Die baͤn¬ digenden Eiſenſtangen in ihren Rachen wogen mehrere Zentner, und ließen ihnen, ſcharf durch die Maſchinen angezogen, die Luſt des Unge¬ horſams bald vergehn.
Nur vierzehn Tage waͤhrte die Fahrt, dann lag man auf der Rheede von Philadelphia. Sie war ſchon mit Eis uͤberdeckt, aber das Eiland brach ſich ſowohl Bahn, als die Wallfiſche unter dem Rande hingleitend, ihn leicht wegbroͤckelten. Dennoch fuhren die Reiſenden auf Eisſchlitten zur Stadt, frohlockten uͤber das Vollbrachte und wurden mit freudigem Gruß bewillkommt.
Gelino war froh, dieſe Reiſe uͤberſtanden zu307 haben. Sie hatte ihn mehr geaͤngſtet, als er ſich ſelbſt merken ließ.
Philadelphia hatte einen großen Umfang und viele Schoͤnheiten der Baukunſt aufzuweiſen. An Reichthum und Vergnuͤgungen gab ſie keiner Stadt in Europa von aͤhnlicher Groͤße etwas nach, uͤbertraf ſie ſogar. Denn die Kultur in Nord¬ amerika hatte eine Stufe erreicht, welche den Vorrang der europaͤiſchen ſtreitig machte. Dies konnte auch nicht anders ſein, da diejenigen Mittel, welche einen raſchen Gang der Bildung begruͤnden koͤnnen, den Einwohnern ſchon in ſehr fruͤher Zeit zu Gebote ſtanden. Die ganze Halbinſel von der Honduras-Bai, bis weit hin¬ ter der Beringsſtraße und Kap Lisburn hinauf, wie an der oͤſtlichen Seite hinter der Baffins - Bai, Groͤnland noch eingeſchloſſen, war nach ei¬ nem ſchon fruͤhen gluͤcklichen Kriege, zu einem gluͤcklichen Staat vereint, deſſen viele weitlaͤuf¬ tige Lande, jedes ſeine demokratiſche Regierungs¬ form hatte, und wieder durch einen, dem eu¬ ropaͤiſchen aͤhnlichen Foͤderalismus, ſich zur voll¬ kommneren Geſammtkraft verbanden. Man war auch durch die Vortheile einer bequemeren Welt¬U 2308verbindung bewogen worden, die neue europaͤi¬ ſche Sprache einzufuͤhren.
Von der Hauptſtadt Waſſington ſprach alles, wie von einem Theben oder Babilon, die Ufer der Stroͤme Lorenz, Niagara, Ohio, Susque¬ hannah, Miſſiſippi u. ſ. w. waren faſt mit neuen Wohnplaͤtzen beſaͤet. Mexiko, Luiſiana, Florida waren Erdenparadieſe, noͤrdlicher konnte man den Zuſtand der Dinge mit jenem in Spanien, Frankreich oder Brittanien vergleichen. Gegen die Hudſons-Bai erblickte man die Landeinrich¬ tungen von Polen oder Moskau wieder. Im Ju¬ nern des Landes waren die wichtigſten neuen Entdeckungen gemacht worden, der Unterſchied zwiſchen Nadoveſſiern, Huronen oder Ueberkoͤmm¬ lingen aus der alten Welt ſchwand immer mehr, da dieſe Voͤlker durch Heirathen ſich verſchmol¬ zen und ihre Sitten ausgeglichen hatten, doch war dies vielleicht auch der Grund, weshalb die Nordamerikaner, in der Mehrzahl, an Schoͤn¬ heit den Europaͤern nachſtanden.
Guido und ſein Lehrer ſchoben es aber bis zum kuͤnftigen Fruͤhling auf, das Land zu durch¬ wandern. Es ſollte zudem ſehr fluͤchtig geſche¬ hen, dann wollten ſie nach Suͤdamerika, jetzt309 ebenfalls ein eignes Reich, dann nach Ulimaroa, den oſtindiſchen Eilanden und China. Auch einen Beſuch am Kaiſerhofe zu Calcutta gedachten ſie abzuſtatten, und dann, uͤber Perſien die Reiſe um den Erdball zu vollenden. Afrika ſollte aus¬ geſchloſſen bleiben, weil die Mißverſtaͤndniſſe, ſchon einige Zeit zwiſchen den Hoͤfen von Neu - Carthago und Rom obwaltend, eine bedenklichere Anſicht gewannen.
Fuͤr die Gegenwart faßten ſie den Entſchluß, einer Reiſe zum Nordpol beizuwohnen, wovon einſt ſchon in Petersburg die Rede geweſen war. Sie fanden mehrere Gefaͤhrten, die ſich eben in Philadelphia dazu bereiteten. Niemand ſparte an den noͤthigen Summen, und ſo trat man den Weg bald an.
Ueber das alte Land der Eskimos flog die Geſellſchaft in Luftfahrzeugen dahin, ließ die Hundſonsſtraße unter ſich liegen. Weiterhin ward die Kaͤlte in der hohen Region zu empfind¬ lich. Man ſtieg nieder und bediente ſich der Schlitten mit Rennthieren. Sie fanden bis uͤber Jones-Sund hinaus noch Anbau, freilich nur in zerſtreuten Huͤtten von Einwohnern, die im Sommer ſich vom Fang der Meerfiſche, und310 im Winter von jenem der Robben, Seekuͤhe und anderer Amphibien naͤhrten. Einen Beweis, daß der Menſch nach und nach den Willen aller Thiere beherrſchen koͤnne, fanden ſie hier dadurch abge¬ legt, daß die Woͤlfe gezaͤhmt und angelehrt wa¬ ren, den Dienſt der Hunde bei den Wohnungen zu verſehn. Auf den Jagden bediente man ſich ihrer allerdings mit noch groͤßerem Vortheil. Und die Eisbaͤren, in ſo furchtbarer Geſtalt, und einer Wildheit, von der Niemand ſonſt ſich wuͤrde haben traͤumen laſſen, ſie ſei je zu baͤndigen, fand man in Staͤllen, um mit ihnen dort zu reiſen, wo ſelbſt das Rennthier oft erfror, naͤm¬ lich jenſeit des achtzigſten Grades noͤrdlicher Breite.
Die Einwohner, die man wegen ihrer un¬ glaublichen Abhaͤrtung ehern haͤtte nennen moͤgen, ritten auf dieſen wohlgeſattelten Eisbaͤren und legten artige Strecken zuruͤck, wer aber aus mil¬ deren Himmelſtrichen kam, fuͤrchtete, ſie nicht lenken zu koͤnnen, oder auch die zu ſtrenge Kaͤlte im Freien, ließ ſie alſo vor die Schlitten legen.
Faſt gegen den zwei und achtzigſten Grad gab es noch ein Doͤrfchen, bewohnt von Verwie¬311 fenen aus Nordamerika. Ihre Haͤuſer waren auf hohe Saͤulen gebaut, an welche Treppen hinauf gingen, um nicht von der, wohl an funf¬ zig Schuh reichenden, Verſchneiung uͤberdeckt zu werden. Man ſah bei dem allen hier Wohlſtand, durch den Handel mit Kriſtall vom Pol, der ſchon bei den Nordlaͤndern jener Hemisſpaͤhre zur Sprache kam, erzeugt, daneben durch den Gewinn, welchen ſie von neugierigen Reiſenden, welche alljaͤhrlich ankamen, zogen.
Man hielt alles fuͤr dieſe bereit, was ihnen zu Vollbringung ihres Vorhabens noͤthig war. Die Schlitten, mit Teppichen aus dichtem Pelz¬ werke uͤberall verſehn, mit Fenſtern aus ſehr dik¬ kem Kriſtall, mit kleinen Oefen, deren Zuͤge an den Waͤnden umhergeleitet waren, und die ver¬ moͤge ihrer guten Einrichung nur eines geringen Feuermaterials aus Papier bedurften, ließen die entſetzliche Kaͤlte vergeſſen. Der Schnee hatte eine gefrorne Decke, uͤber welche ſie hingleiteten.
Meer oder Land waren vollkommen gleich. Einem Schlitten, den etwa vier Wanderer einnah¬ men, folgte ein zweiter mit Lebensnothwendigkeiten fuͤr die ganze Dauer der Reiſe. Sie beſtanden aus Suppentafeln, Gallerten, Auſtern, Fiſch¬312 rogen und anderen Dingen, die viele Naͤhrkraft in kleinem Umfang verſchließen. Doch nahm man auch Fruͤchte in Spiritus, ſogar einiges le¬ bendige Gefluͤgel mit. Zudem vortreffliche ge¬ brannte Waſſer und Weineſſenzen. Ein dritter Schlitten enthielt Feuerungſtoff, da uͤber dieſe Linie weg, weder Holz noch Geſtraͤuche ſichtbar wurden. Ein vierter Nahrung fuͤr die Eis¬ baͤren.
Zwei Grad legte man bei dem geſchwinden Lauf dieſer Thiere in vier und zwanzig Stun¬ den zuruͤck, wobei man ihnen achte zur Ruhe goͤnnte, ſie fuͤtterte und ein Pelzzelt uͤber ſie auf¬ ſchlug. Auch vergaß man nicht einen kleinen Ofen hineinzubringen. Sonſt hatte die Natur fuͤr ſie durch die eigne zottige Haut geſorgt.
Aus Hundert Schlitten beſtand etwa die Karavane. Es verſteht ſich, daß die Reiſenden ſchon lange keinen Tag mehr ſahen. Doch Schnee, Mondſchein, Nordlichte oder Laternen machten, daß man die dauernde Nacht keines¬ wegs hinderlich empfand, ja von dieſem fremd¬ artigen Schauſpiele vieles Wohlbehagen der Neu¬ heit genoß.
Magnetnadel und Geſtirn deuteten den Weg. 313Unfaͤlle ſtoͤrten nicht. Acht Tage noch, ſeit jenem Doͤrfchen der Verwieſenen, und der Polarſtern ſchwebte uͤber Guidos Zenith.
Welche Empfindung, auf dem Achspunkte des Erdballs zu ſtehen, wo der gleichmaͤßige Ster¬ nentanz uns umkreiſt, und der Vollmond (der unſern Wanderern eben ſchien) nicht untergeht! Welche Fuͤlle neu angeregter Ideen! Guido umfing den Lehrer mit flammenden Dank, daß er ihm dieſe Entzuͤckung bereitet habe. Der Alte aber, wenn gleich vielfach in Kleidung, von ſibiriſchen Maͤuſen, Eidervoͤgeln und Zobeln ge¬ huͤllt, auch das Antlitz mit einer guten Larve verſehn, konnte ſich nicht lange aus dem Schlit¬ ten entfernen, wogegen der muntere Guido Stundenlang umherſchweifte, bis die Erſtarrung ihn mahnte, an den Ofen zu fliehn.
Die Reiſegeſellſchaft fand jedoch noch andere Pilger vor, die aus Groͤnland und Samojeden dem naͤmlichen Ziele zugeeilt waren. Wechſelſei¬ tige Unterſtuͤtzung linderte die Beſchwerden, gab den Unterſuchungen mancher Art, welche die Naturkundigen — dies waren ſie meiſtens — an¬ ſtellten, erhoͤhtes Leben.
Einer darunter hatte eine erzene Bildſaͤule314 Newtons mitgebracht, ſie hier[aufzuſtellen]. Alle zollten dem Einfall gerechtes Lob. Wohl, riefen ſie, gebuͤhrt dem Manne gerade hier ein Denk¬ mal, der ſchon vor vierhundert Jahren der Menſchheit die Geſtalt dieſer Abdachung zu ver¬ kuͤndigen wußte.
Doch das Kriſtallgebirge am Pol ahnte New¬ ton noch nicht. Die zackigen Spitzen erhoben ſich aus dem Schnee, wunderbar funkelnd im Strahl des Mondes, oder vom roͤthlichen Nord¬ lichte erhellt.
Viel Pracht der Menſchen, viele[hohe] Schoͤn¬ heitzauber, der gerne lieblich oder erhaben geſtal¬ tenden Natur, war an Guidos Blicken voruͤber¬ gegangen, allein dieſe diamantnen Koloſſen auf dem unuͤberſehbaren, ebnen, reinen, weißen Teppich, galten ihm dennoch wieder das Niege¬ ſchaute, Niebewunderte.
Sie umringten zuletzt einen tiefen Krater in ihrer Mitte. Es ſchien ein Vulkan, die Lava am Rande ließ es vermuthen. Wichtiger ſtellte ſich ein dichter grauer Nebel dar, aus der Tiefe ſteigend, und hoch in der Luft nach allen Sei¬ ten zerfließend. An dieſem Dampf und ſeiner Vermengung mit dem ganzen Luftkreis der Sphaͤ¬315 roide hing die lebendige Simpathie des Magne¬ ten, deren Geheimniß aber nicht in dieſem Traum der Zukunft aufgedeckt werden kann, um nicht Entdeckern der Wirklichkeit vorzugreifen. Die Neigung der Nadel hatte mit den inneren Bewegungen des magnetiſchen Vulkans, die auf das groͤßere oder geringere Sinken der Dampf¬ ſaͤule wirkten, Verwandſchaft. Die Naturkundi¬ gen meinten, ein Herabſteigen in den raͤthſel¬ haften Krater werde noch einſt viel weſentlichere Aufſchluͤſſe geben, endlich wohl gar die Anziehe¬ kraft der Erde erklaͤren lehren.
Waͤhrend die Verſammlung mit Inſtrumen¬ ten mancher Art forſchte, die Beobachtungen in Schlitten niederſchrieb, mit aͤlteren verglich, ſich neuer Ausbeute freute, (woruͤber eine Zeit der halbjaͤhrigen Nacht hinfloh, die nach dem ge¬ woͤhnlichen Maaß, vierzehn Tage enthaͤlt) waren die Maͤnner welche die Schlitten fuͤhrten, be¬ ſchaͤftigt, Kriſtallbloͤcke zu brechen, und auf die, zum Behuf dieſes Handels, noch mitgenommenen unbeladenen Schlitten, zu laden. Sie hatten diesmal vorzuͤglich geeignete Werkzeuge mitge¬ bracht und bemaͤchtigten ſich auch mancher Stuͤcke von ſchoͤner Seltenheit. Guido nahm eins dar¬316 unter, von anſehnlicher Hoͤhe und Klarheit in Beſchlag, er wollte es fuͤr Ini kaufen und ihr Standbild daraus fertigen laſſen. Er meinte, da dieſer Kriſtall das Gold bei weitem an Glanz uͤbertraͤfe, und dem Diamanten, er moͤgte na¬ tuͤrlich oder kunſtverfertigt ſein, gar wenigen Vorzug ließ, ſo muͤßte dies das herrlichſte Stand¬ bild auf dem ganzen Erdball werden. Und ſeine Liebe ſetzte hinzu: Wie ſehr verdient die erſte Schoͤnheit auch die gediegenſte Verewigung!
Doch ein furchtbar ſchauderhaft Mißgeſchick brach uͤber Guido herein. Dort ſo hinaus ge¬ wagt aus den Kreiſen der Menſchen, fand der Pilger auch einen maͤchtigeren, ſchwerer zu be¬ kaͤmpfenden Zufall.
Die Reiſenden aus anderen Gegenden hatten ſich ſchon entfernt, Guidos Karavane machte ſich fertig, den Ruͤckweg zu nehmen. Da will der alte Gelino, dem die Umgebung des Pols ziemlich fremd blieb, weil er ſich kaum aus dem erwaͤrmten Schlitten wagte, doch die Glanz¬ kuppen auch noch ein wenig beſehn. Sein Zoͤg¬ ling ſchweifte umher; er tritt allein, wohlver¬ wahrt, in das Freie, geht weiter. Durch die Verſchiedenheit der Wirkungen ergoͤtzt, will317 er ohne Zweifel andere Stellungen betrachten, dringt mehr vor, verirrt ſich zuletzt in dem La¬ birinth. Er waͤhlt eine falſche Richtung, wieder zu den Seinen zu gelangen, wo man ungluͤck¬ licher Weiſe ſeine Abweſenheit ſpaͤt bemerkt.
Nach einigen Stunden koͤmmt Guido, deſſen kraͤftige Natur ſich ſchon gewoͤhnt hatte, lange im Freien auszuharren; eben will man abfahren, die Baͤren ſind angeſpannt. Er findet den Alten nicht, ruft, ſucht in der Naͤhe. Umſonſt! Bange um ihn, dringt er weiter und weiter, es koſte was es wolle, den Greis auszuſpaͤhn.
Daruͤber entfliehen Stunden. Die Reiſege¬ ſellſchaft ſucht nun beide, doch mit Vorſicht, und den Kompaß zur Hand. Gelino wird bald gefunden, doch — ſtarr am kalten Boden. Man bringt ihn zu den Schlitten, erwaͤrmt ihn, wen¬ det Rettungsmittel an. Sie fruchten nicht. Der Greis iſt dahin, erlag dem Angriff toͤdtlicher Kaͤlte.
Die Erſchrockenen beben nun fuͤr den Juͤng¬ ling, denn ſo lange ſchon iſt er von der Waͤrme fern, hat auf Ruf und Zeichen ſich nicht geſtellt. Ein hohes Feuer laſſen ſie empor lodern, Schuͤſſe ſollen dem Verirrten ſeinen Weg deuten, ſeine318 Diener ſchweifen weit umher, Guido wird nicht gefunden. Endlich kann Niemand mehr an ſein Leben glauben, die Sorge fuͤr eigne Rettung mahnt, abzufahren, denn die Lebensvorraͤthe ſind berechnet. Man laͤßt jedoch, auf den un¬ denkbaren Fall, einen kleinen Schlitten zuruͤck, den Baͤren davor, Speiſe, Getraͤnke und Feue¬ rung. Den mag er nehmen und nacheilen, wenn er ja wiederkehrt; keiner der Knechte entſchließt ſich, zu weilen.
Guido hat unterdeſſen auch fruchtlos den Ruͤckweg geſucht, ſeine Angſt um den Alten ihn zu weit in die Entfernung getrieben. Die Schuͤſſe hat er nicht mehr vernommen, kein Feuer er¬ blickt. Endlich, nach vielen bangen Stunden, faſt verzweifelt in Gram, das Haar emporge¬ ſtraͤubt durch die eigne Noth, da er kaum noch ein Glied zu regen vermag, gelingt es ihm, auf den Polarſtern blickend und durch ſchnellen Lauf ſein Blut in Bewegung erhaltend, nach dem Platze zu kommen, wo die Karavane ſtand. Er ſieht einen Schlitten, und athmet wieder Hoffnung. Ohne weiter um ſich zu ſehn, wirft er ſich hinein, die waͤrmere Luft iſt das drin¬ gendſte. Vielleicht kam Gelino ſelbſt, denkt er,319 und entſchlummert auf die ſchwere Ermuͤdung ploͤtzlich.
Beim Erwachen, das vermuthlich ſpaͤt er¬ folgt, iſt die Betaͤubung, welche vorhin uͤber ihn kam und ſeine Sinne abſpannte, gewichen. Warm und regſam wieder, peinigt ihn auch die Angſt um den Entbehrten deſto mehr. Ob er zuruͤckkehrte? Hinaus zu fragen!
Er meidet den Schlitten, wird aber keinen anderen inne. Keine Antwort auf ſein Rufen. Was heißt das?
Wer nennt jedoch des Armen grauſenden Schrecken, da er, kaum im Mondlicht lesbar, die Worte an den Schlitten geheftet fand:
„ Ungluͤcklicher! lebſt du noch, ſo folge eilig. Der Baͤr iſt der ſchnellſte, wird uns einholen. Nothwendigkeiten ließen wir dir. Feuer ſollen von Zeit zu Zeit brennen, daß du ſo weniger vom Pfade irrſt. “
Guido wußte nicht, ob er traͤume. Ihm ſchauderte in der graͤßlichen Einſamkeit. Wo iſt mein Lehrer? Nahmen ſie ihn mit? Warum davon nichts? O Himmel! nein, der haͤtte mich nicht zuruͤckgelaſſen! Und doch was ſoll ich thun? Ich muß nachfliegen!
320Er blickte in die Richtung des Wegs. Eine Flamme winkte in der Ferne. Sein Kompaß, wohlbezeichnet, lag im Schlitten. Wohlan!
Nun dachte er die Zuͤgel des Baͤren zu er¬ greifen. Entſetzen! grauſames Entſetzen! Der Baͤr lag erfroren.
Guido glaubte, eine Ohnmacht von vielen Stunden muͤſſe dieſem Augenblick gefolgt ſein, denn als er wieder klar denken konnte, ſah er von jener fernen Flamme nichts mehr.
Fuͤnf¬321Guidos Einſamkeit.
So war er denn verlaſſen, am Eispol verlaſſen, in tiefer, grimmiger Nacht; um ihn die Oede der kalten Wuͤſtenei, nichts ihm winkend, als Tod. Grauſame Gefaͤhrten!
Ach! rief er aus, noch hab 'ich ſelten mit dem Schickſal gekaͤmpft. Mein Leben laͤchelte froh, die Kriegsgefahr nahte blos, mich mit edlem Ruhm zu ſchmuͤcken, die Liebe erhob mich uͤber das Leben; doch nun, nun ſchlagen die Gewitter deſto zorniger uͤber mich zuſammen. Hier retten nicht Muth noch Kraft, hier muß ich enden! o Ini, Ini!
Doch ſollte abermal ein Dolch in das gequaͤlte Herz ſinken. Indem er ſeine Klagen laut hinaus¬ weinte in die ſtarre Luft, um den Schlitten irrend die Haͤnde blutig rang, ſah er in einigerX322Entfernung einen dunkeln Strich auf dem lich¬ ten Schnee, er nahte, es war eine menſchliche Geſtalt er kam hinan — es war Gelinos Leichnam!
Er ſank daran nieder in wildem Ungeſtuͤm, uͤber den neuen Schmerz den alten Jammer ver¬ geſſend, kuͤßte das kalte Antlitz mit heißen Thraͤ¬ nen, dann riß er den Koͤrper auf, lud ihn auf die Schulter, trug ihn an den Ofen des Schlit¬ tens, hoffte noch Leben in ihm zu wecken.
Wie man denken mag, war dies Streben ei¬ tel, auch kein Sturm der Klagen ruͤttelte den Todten auf. Doch mochte die traurige Auffin¬ dung gluͤcklich fuͤr Guido ſein, die regſame Muͤhe gab ſeinem doppelt ſchreckenerſtarrten Blute wieder Umlauf und zerſtreute den Blick auf ſein Elend, auch ſah er zu dem Feuer im Ofen, das er vielleicht ſonſt haͤtte erloͤſchen laſſen.
Mit einem Schlummer aus Entkraͤftung mußte dies Treiben zu Ende gehn. Neben dem Entſeelten, den Arm um ihn geſchlungen, un¬ ter den naͤmlichen Fellen womit jener bedeckt war, ſchlief Guido feſt ein.
Da ging ein Traumgeſicht an ſeiner inneren323 Welt voruͤber. Ini, noch von hoͤherer Schoͤn¬ heit umſtrahlt, als neulich in dem Zaubergarten, trat aus einer Roſenwolke zu ihm, nahm ſeine Hand und lispelte mit himmelvollem Laut: „ Den Starken pruͤfe ſchweres Leid. Weiſe for¬ ſche er in der reichen Kraft, ſie birgt Huͤlfe. Wir ſehn uns wieder! “ Hier trat ſie in die Wolke zuruͤck, die ſie dicht umhuͤllte und nach dem fernen Horizont zog, ſich weit als eine lichte Morgenroͤthe verbreitend. Ueber dieſe Mor¬ genroͤthe ging dann die Sonne auf, die Schnee¬ gefilde wichen ihr ploͤtzlich, und ein lieblicher Fruͤhling bluͤhte. Von dem duftendſten Baume ſang eine Nachtigall in dem Idiom der Melo¬ die: „ Wir ſehn uns wieder, “und Guido er¬ wachte.
Ihm war, als ob er die Beruͤhrung der lei¬ ſen Geiſterhand noch fuͤhle, als ob ſie neues Leben durch alle ſeine Adern gegoſſen haͤtte. Er ſprang auf, eilte hinaus. „ Wir ſehn uns wie¬ der, “umtoͤnte es noch den getaͤuſchten Sinn uͤber¬ all, von den leuchtenden Felsgipfeln ſchien ein Echo es zu wiederholen. Ja! rief er froͤhlich, ich will mich kaͤmpfend ermannen gegen mein Elend, du, heilige Goͤttin! giebſt mir Staͤrke.
X 2324Er ſann nach. Nicht unmoͤglich war es ja, daß andere Reiſende noch ankaͤmen, und ihn zu den Wohnungen der Menſchen braͤchten, er mußte ſich erhalten, daß in dieſem Fall ſie ihn lebend faͤnden.
Der Schlitten ward unterſucht, nachdem des Greiſes Huͤlle hinausgetragen war. Lebensmit¬ tel? Ja, duͤrftig, auf die Zeit eines Monats etwa. Auch Feuerung. Langte bis dahin ein Retter an, war das Leben zu friſten. Alſo muthig.
Er ging ſo ſparſam mit ſeinem Vorrath um, als es nur ſein konnte, gab ſich wechſelnd Be¬ wegung im Freien, und erwaͤrmte die Glieder. Der Gedanke an ſeinen Traum war ein Balſam. Er kam ſich oft vor, wie eine Mumie, die dieſer Balſam vor Zerſtoͤrung bewahrte.
Es war um Neujahr, als der Eremit ver¬ laſſen worden, der traurige Monat ſchwand bald hin, noch mangelte ihm aber nichts, ſo kaͤrglich hatte er gewaltet. Aber auch kein Wanderer nahte. Wozu jedoch den Troſt der Hoffnung auf¬ geben? „ Wir ſehn uns wieder, “hatte das Traumgeſicht verkuͤndet.
Noch ein Monat floh hin, nun war keine325 Speiſe mehr vorhanden. Nun glaubte er das Geſpenſt des Todes ſchon zu ſehn. Wo wir nicht mehr ſterben, ſagte er ſich, dort ſeh ich Ini wieder. Doch ſein Auge fiel auf den Eis¬ baͤren am Schlitten. Daran hatte er noch nicht gedacht. Die Kaͤlte hatte ihn vollkommen er¬ halten. Freudige Ueberraſchung!
Er hieb mit ſeinem Schwerte ein Glied da¬ von traf Anſtalt es zu braten. Herrliche Koſt in der Noth! Das Thier war groß. Wirklich konnte er Monate lang davon zehren.
Aber die Feuerung drohte auszugehn. Nur auf wenige Tage noch, nach dem Maaße von dort, wo Tag und Nacht gewoͤhnlich wechſeln, gab es Stoff die kleine Flamme zu unterhalten. Wohlan, Ergebung!
Da wachte Guido einſt von einem ſtarken Getoͤſe auf. Was iſt das? Er ſieht hinaus. Eine hohe Feuerſaͤule. Der nahe Vulkan ſpeit Schlacken-Hagel um ihn, Lava ſchlaͤngelt ſich in Baͤchen an den Gletſcherkuppen, und verſin¬ ket im geſchmolzenen Schnee.
Fuͤrchterlich erhabenes Schauſpiel, doch freu¬ debringend dem, der allein vom Feuer Ret¬ tung hoffen kann. Warm iſt die ganze Luft von326 der Flammenſaͤule, gluͤhende Schlacken genug, ſie auf den Abſatz eines Kriſtalls zu ſammeln, und den ganzen Ueberreſt des Baͤren daran ge¬ nießbar zu machen, der dann weiter weggetra¬ gen wird, wo der Schnee nicht mehr an den Gluten zergeht. Eben dies muß mit dem Schlit¬ ten, der ſchon tief einſank, muͤhevoll geſchehen.
Der Vulkan ruht, ſpeit wieder, hoͤrt auf. Die Erfahrung belehrt Guido, daß die Schlacken lange fortgluͤhn, im Krater ſieht er ungeheuern Vorrath davon. Er darf nichts mehr fuͤr ſich vom Froſt fuͤrchten, doch ach! die Hoffnung auf Reiſende kann er nicht laͤnger naͤhren, ſchon iſt es im Maͤrz, wer wird ſich noch hieher wagen? Auch noch nie hatte ein Sterblicher im Sommer zum Pol dringen koͤnnen, durch das Treibeis auf dem Meer und uͤberſchwemmten Lande abgehal¬ ten Zu einer Luftfahrt war es zu weit von be¬ wohnten Ortſchaften, man fuͤrchtete den Mangel an Lebensnothwendigkeit.
Nun ich friſte das Leben, ſo lange ich kann, dachte Guido, die Phantaſie immer noch mit ſeinem Traum gefuͤllt.
Jetzt umſchimmerte ihn ein roͤthlich Licht, das nicht mehr, wie ſonſt der Nordſchein, wich,327 ſondern fortan blieb. Guidos Uhr, welche ihm allein hier den Gang der Zeit ſagte, ließ ihn nicht zweifeln, das roͤthliche Licht ſei die Daͤm¬ merung des halbjaͤhrigen Tages, der uͤber dem Rande der Sphaͤroide anbrechen wollte, denn die Tag - und Nachtgleiche des Fruͤhlings war da.
Immer mehr Helle, ein gluͤhenderer Schein, der in vier und zwanzig Stunden um den ſicht¬ baren Horizont lief, und an Herrlichkeit zu¬ nahm.
„ Gewiß, gewiß die Morgenhelle. Ich werde die Sonne noch einmal ſehn, und dann ſterben. “
Welche Pracht, da endlich die klare Scheibe aus dem fernen Rand emporſtieg, wo Aether¬ blau und Schnee ſich ſchieden, nach jedem Um¬ gang voller, endlich ganz heraus getreten, um nun ſechs Monat zu weilen! Guido vergaß in der Trunkenheit des Entzuͤckens, in die Zukunft zu ſchaun, der Anblick der Gegenwart riß ihn allein hin. Je hoͤher die Sonne ſtieg, je reitzen¬ der wurde auch das bunte Feuerſpiel jener be¬ ſtrahlten Kuppen, die nun ihren Glanz viel hel¬ ler und in mannichfacheren Farben zuruͤckgaben.
Noch konnte Foͤbos den Schnee nicht ſchmel¬ zen, aber die Kaͤlte ließ merklich an Grimm328 nach. Bald ward aber der Boden feuchter und feuchter, die Gletſcher traten mehr hervor. Guido ſuchte einen breiten Felszacken, den Schlitten und ſeinen Lebensvorrath hinauf zu retten, denn er befuͤrchtete ſtroͤmende Flut.
Dies traf auch nach einem Monate ein, wo er denn ſehr peinlich auf dem Fels weilen mu߬ te, doch verlief ſich das Waſſer, und breite Thaͤler entdeckten ſich Guidos Blicken, von brau¬ ſenden Gießbaͤchen durchwogt.
Er ſtieg nach und nach am Gletſcher nieder, den noch uͤbrigen Vorrath nicht vergeſſend. Nicht ohne Gefahr, und manche Muͤhſeligkeit duldend, konnte es geſchehn. Doch ſah er auch, wie die immer ſcheinende Sonne nun aus der Hoͤhe mit wunderbarer Gewalt die Szenen umwandelte. Kaum waren niedrige erdige Huͤgel von der Winterdecke befreit, als auch Gras und Kraͤuter ſchnell ſie deckten, und zu Guidos froher Be¬ fremdung Gefluͤgel ohne Zahl ſich einfand. Be¬ ſonders ſah er Heere von Eisvoͤgeln, die ſich ins hohe Gras bargen, und ihn hoffen ließen, er wuͤrde an ihren Eiern neue Nahrung finden, woran es ihm nun entſchieden gebrach.
Die Hoffnung betrog den kuͤhnen Ausdaurer329 nicht. Neſt bei Neſt ward gefunden, die Eier waren ſchmackhaft und naͤhrend.
Seines Schlittens freute er nicht mehr. Der ſtand auf dem Gletſcher, der hoch uͤber ihn ragte. Aber es galt auch nicht mehr, ſich gegen Kaͤlte zu ſchirmen, ſondern gegen flammende Hitze, die um ſo druͤckender war, als der leuch¬ tende Koͤrper, von dem ſie niederbrannte, nicht mehr unterging. Guido empfand ſogar Krank¬ heitanfaͤlle von dem ungewohnten Wechſel, doch waren auch Kluͤfte in den Thaͤlern vorhanden, wohin er ſich bergen konnte, und er ſaͤumte auch nicht, ſie dicht mit Gras zu uͤberdachen. Zudem badete er oft in den kalten Gießbaͤchen, oder fluͤchtete hinter Gletſcher, uͤber welche auch der anhaltende Sonnenſchein nichts vermochte. Uebrigens hielt die Witterung den gleichmaͤßig¬ ſten Schritt. Stuͤrme gab es an der Achſe nicht, weil nur der Umſchwung des Erdballs ſie erzeugen kann. Auch kein Regen ſank nach dem Fruͤhling mehr nieder, klar blieb der Aether.
Nun entwarf Guido einen Plan fuͤr die Folge. Ohne Zweifel, ſagte er ſich, langen im naͤch¬ ſten Winter Reiſende an, gelingt es mir, mich330 bis dahin zu erhalten, bin ich nicht verloren; alſo, neuen Muth!
Er ſuchte von den Vogeleiern eine betraͤchtliche Menge zuſammen, und trug ſie an jenen Glet¬ ſcher hinauf, ſo weit er jetzt gelangen konnte. In Vertiefungen, wohin die Sonne nicht drang, meinte er, wuͤrden ſie dauern. Spaͤterhin fand er junge Voͤgel in eben ſolcher Zahl, toͤdtete ſie und grub ſie in den Schnee tiefer Hoͤlen, der nicht zerging. Manche wohlſchmeckende Kraͤuter und Wurzeln wurden dazu gelegt. Gras ſchnitt er fleißig ab, breitete es auf den Boden. Ge¬ doͤrrt ſollte es ihm einſt zur Feuerung dienen.
Bald hatte er von dem allen ſo viel geſam¬ melt, daß er mit Zuverſicht in den naͤchſten Winter blicken konnte. Betruͤgt mich dann meine Hoffnung nicht, ſagte er zu ſich, darf ich es nicht bereuen, das wundervolle Schauſpiel eines halbjaͤhrigen Tags, der Erſte von den Sterb¬ lichen, geſehn zu haben.
Nach geſammeltem Vorrath, gab er ſich na¬ turkundigen Unterſuchungen hin, entdeckte viel, wovon die Gelehrſamkeit noch nichts wußte, ſchrieb das Hauptſaͤchliche ſeiner Bemerkungen, ſo gut es gehn wollte, auf der Innenſeite eines331 Fells mit Kohlen von Wurzeln nieder, und er¬ wartete ſehnlich das Spaͤtjahr, da die Sonne ſchon merklich ſank.
Nach grade fielen die aufgeſtiegenen Duͤnſte in Regen, dann in Reifgeſtalt nieder; die Zug¬ voͤgel hatten ſich entfernt. Schauderhafter wurde die Einſamkeit, da alles Leben ſchwieg. Die Kaͤlte nahm merklich uͤberhand, indem die roͤ¬ theren Sonnenſtrahlen immer ſchwaͤcher die Luft durchwaͤrmten, und ehe ſie noch ganz unterge¬ gangen waren, verhuͤllte ſchon der dichte Schnee¬ flor in den Luͤften ihren Anblick. Oede war der langen Nacht trauriger Anbruch.
Guido trug ſeine Vorraͤthe immer hoͤher; nach jeden Schlummer bemerkte er, wie der weiße Teppich angewachſen war, auch durch den zunehmenden Froſt gehaͤrtet. Das Verlangen nach Schlitten und Ofen wurde groß, meiſtens waͤrmte er ſich nur durch die angeſtrengte Arbeit, ſeine Nothwendigkeiten von Zacken zu Zacken des Gletſchers tragend, in dem Maaße, als die Schneegebirge die Thaͤler mehr fuͤllten. Dann zuͤndete er mit ſeinem Feuerrohr duͤrres Gras an, und ſchlummerte.
Endlich nahm die Schneedecke jene alte Hoͤhe332 wieder ein, Guido war zu ſeinem Schlitten ge¬ kommen, und hatte auch dieſen fluͤchten koͤnnen, indem er ihn nur immer etwas aus dem letzten Schnee hervorzog. Er war vollgepackt mit Voͤ¬ geln, Eiern und Wurzeln, anderweitiger Vorrath davon in eine Hoͤhlung des Gletſchers, nahe an ſeiner Spitze, gebracht. Das duͤrre Gras ſtand in einer hohen Piramide.
Gelinos Koͤrper fand er nicht mehr. Den Platz auf einer flachen Steppe, wohin ihn der Juͤngling neulich ſchaffte, hatte der Vulkan mit Schlacken und Lava uͤberdeckt, ohne Zweifel ihn ſo verzehrt. Ein erhaben Grab, in der That! Die Freundſchaft konnte ihm daheim es nicht ſo bereiten.
Nach und nach hoͤrte das Schneien auf, grimmiger bleibender Froſt folgte. Mond, Ster¬ nenlicht, Meteore, brachten die Erſcheinungen des vorigen Jahres abermal hervor. Guido, wohl vertraut mit den feindlichen Umgebungen widerſtand ihnen vollkommen. Im Schlitten ging die gute Erwaͤrmung nicht ab, er hatte nicht nur Lebensmittel genug, ſondern konnte auch damit wechſeln. So harrte ſeine Sehn¬ ſucht der Mitte des Winters entgegen, und333 wankte die freundliche Hoffnung, richtete ihn die Weiſſagung des Traumes, an die er ſchwaͤr¬ mend glaubte, wieder auf.
334Schluß.
Nicht umſonſt hoffte er. Noch vor der Mitte erging er ſich einſt zur Bewegung, da vernahm ſein Ohr fremde Laute. Er horcht, hoͤher wallt und wogt es in der Bruſt, er wendet das Auge nach dem Ton hin — ein heller Fleck am Ho¬ rizont!
Der Mond ſchien eben nicht, nur vom Schnee Daͤmmerung. Deſto deutlicher die Flamme dort ſichtbar, wie ſie ſich vergroͤßerte. Der antrei¬ bende Zuruf fahrender Maͤnner zu unterſcheiden, oft ein Geheul von Baͤren.
Guido warf ſich auf ſein Angeſicht. Du un¬ begreiflicher Gott, dem ich hier oft den Geiſt empfahl, dein Geſchick will mich wieder zu den Menſchen bringen. Dank, dank, wenn du auf mich ſiehſt!
335Der Schlittenzug kam naͤher, hielt jedoch ſeitwaͤrts von der Stelle wo Guido ſich aufhielt. Dieſer lief kaum noch athmend dorthin, blieb aber verwundert ſtehn, als er ſeinen Namen vielfach nennen hoͤrte. Wie wiſſen dieſe Reiſen¬ den von mir? fragte er ſich.
Der Zug enthielt mehr Fahrzeuge als im vo¬ rigen Jahre. Ein anſehnlicher Mann war aus¬ geſtiegen, und rief: Ich muß Guidos Leichnam finden, ſonſt — ich muß ſeinen Leichnam fin¬ den, ſonſt kehre ich nicht nach Rom zuruͤck, wie¬ derholte der Mann aͤngſtlich.
Guido trat hinzu. Wer ſucht mich? Ich bin Guido.
Unbeweglich in hohem Erſtaunen blickte alles auf ihn. Niemand ſchien zu glauben, zu begrei¬ fen. Er iſt es, fing endlich einer aus dem Hau¬ fen an, im vorigen Jahre die Reiſe theilend. Wir harrten lange auf dich, ſuchten, gaben Zei¬ chen. Da wir den Leichnam des Alten fanden, mußte Jedermann auch auf deinen Tod ſchlie¬ ßen. Die eigne Sicherheit gebot uns Entfer¬ nung, doch blieb noch ein Fuhrwerk da —
Gut, gut, fiel der ſeltſame Einſiedler ein,336 es gelang, mich zu erhalten, daß ich froh der Rettung entgegen athme, moͤgt ihr denken.
Iſt es kein Wahn? Lebend? Lebend? brach nun jener angeſehene Mann aus, dem zeither Be¬ fremdung den Mund verſiegelt hatte. Und kaum hoffte ich die theuren Reſte noch zu entdecken, hielt es unmoͤglich —
Und wer biſt du? fragte Guido, heiße Ver¬ wunderung in der Stimme.
„ Lelio iſt mein Name. “
Wie, Lelio, der Vertraute des Kaiſers?
„ Der naͤmliche! Um die Zeit, wo du von Liſſabon dich nach Amerika gewandt hatteſt, bra¬ chen die Kriegflammen mit Afrika aus. Um¬ ſonſt waren alle Bemuͤhungen den Frieden zu erhalten. Das Heer, in Eilzuͤgen aus Moskau nach Kalabrien ruͤckend, ſollte einen Feldherrn waͤhlen. Die einmuͤthige Stimme nannte dich! “
Mich, mich! rief Guido mit entzuͤcktem Staunen.
„ Dich! Vom Strategion wurde zur hohen Freude des Kaiſers die Wahl bekraͤftigt. Daß ſein Wort der Entſcheidung nicht fehlte, ver¬ ſteht ſich. “
O wie viel Milde, wie viel Guͤte ließ mirdie¬337dieſer Großmonarch ſchon angedeihn. Ich Un¬ gluͤcklicher, der ſo ſelten ihn ſah, noch nie ihm danken konnte!
„ Eilboten flogen nach Portugall. Da warſt du nicht mehr. Ein Schiff konnte die ſchneller bewegte Inſel nicht einholen. Da es zu Phila¬ delphia anlangte, hatte dich edle Neugierde zum Pol gefuͤhrt. Man ſaͤumte nicht, dir nachzuſen¬ den. Ueberall kamen die Boten zu ſpaͤt, und er¬ fuhren von der ruͤckkehrenden Karavane dein Misgeſchick. Es ward nach Europa gemeldet. Mit dem hoͤchſten Schmerz vernahm es der Kai¬ ſer. Ihm ſchien unendlich viel an den jungen Helden zu liegen, man begriff kaum, wie der ſonſt ſo gleichmuͤthige Mann beinahe dem Kum¬ mer erlag, wiewohl die Folge ihn gerecht nannte. Es blieb am Ende nur der traurige Troſt uͤbrig, deinen Leichnam zu ſuchen, und ihn nach dem Tempel der Unſterblichkeit zu bringen. So wollte es des Kaiſers Machtwort. Im Sommer war es unmoͤglich den Nordpol zu erreichen, kaum aber brach der Winter an, als ich mich aufmachen mußte, um jeden Preis deine Huͤlle zu erſpaͤhn. O welch Gluͤck wurde mir! ſeine Freude wird ſo die Schranken uͤberfliegen, als jener Gram,Y338von dem immer noch ſein zerſtoͤrtes Herz ſich nicht ermannen konnte. “
Unbegreiflich! Wie hoch, wie unverdient ehrt mich der Kaiſer! Was ſoll ich thun, dieſer Liebe wuͤrdig zu ſein!
„ Der Krieg begann. Die Flotte aus Brit¬ tannien nahm das Heer ein. Auf der mittellaͤn¬ diſchen See traf ſie jene gefuͤrchtete aus Neu - Karthago. Eine neue Erfindung, welche der Ruhm dir zuſchrieb, machte, daß der Sieg ſich zu uns neigte. Das Heer konnte in Afrika ans Land ſteigen. Doch hier wandte ſich das Gluͤck. Die Unſrigen, mit großer Uebermacht im Kampfe, verloren eine Hauptſchlacht. Der Feldherr, dem man einige Schuld gab, ſank. Nachdem der Tapferen eine große Zahl gefallen war, mußten ſie zuruͤck auf die Schiffe. Dieſe, nicht mehr ge¬ hoͤrig bemannt, wurden verfolgt, liefen zu Nea¬ pel ein, waͤhrend die Feinde Sizilien beſetzten, wo die rohen Negerhorden der Afrikaner wilde Verheerungen begannen. Noch gelang es nicht, die Inſel ihnen wieder zu entreißen. “
Sizilien! o mein Sizilien! Ini, wo magſt du weilen? Wie truͤben dieſe Nachrichten meine Wonne!
339„ Ein neues Heer ſteht jedoch in Italien. Eile, den Feldherrnſtab zu nehmen! “
Fort, fort! ſchrie Guido, keine Minute laͤn¬ ger. Noch einen bethraͤnten Blick warf er auf des Lehrers Grab, unter dem Lavahuͤgel.
Die Karavane brach ſogleich zum Ruͤckwege auf. Was ihn nur beſchleunigen konnte, wandte man an, und nach zwei Wochen befand ſich Guido ſchon wieder in Philadelphia. Dort ſtand noch ſein Kriſtallblock. Dieſen nahm er mit auf das ſchwimmende Eiland, zur Reiſe uͤber den Atlan¬ tus gedungen, die ſogleich angetreten wurde.
Er mied waͤhrend dieſer Zeit das Zimmer nicht, einen Plan zu dem Feldzuge auszuarbei¬ ten, ſelbſt ſtaunend uͤber die vielen genievollen, kuͤhnen, niegekannten Huͤlfsmittel, die ſich ihm aufdrangen, die hellen, gediegenen Reſultate von Wiſſenſchaft, Denken, Lebensanſichten, in einen Fokus zuſammenſtrahlend. Nicht hatte er dieſen uͤppigen Reichthum an Einfall in ſich ge¬ ahnt, und ſchwelgende Gefuͤhle erfinderiſcher Wolluſt roͤtheten ſein Antlitz flammender.
In Liſſabon blieb jener Kriſtall. Guido ſtieg ſogleich mit dem Vertrauten des Kaiſers in eine Luftgondel, nach Italien zu fliegen. Auf denY 2340Poſten von Alikante, Palma, Cagliari ſah er, ſo viel es nur ſein konnte, zu der Anſtalten Eil, und traf in ſo kurzer Zeit, als noch nimmer Rei¬ ſende, zu Rom ein.
Noch hatte er die Hauptſtadt von Europa nicht geſehn, doch wuͤrdigte ſein Drang ſich dem Kaiſer zu zeigen, das hergeſtellte Koloſſeum, den mit Gold gedeckten Tempel der Unſterblich¬ keit, den Buͤhnen, Termen, keines Blickes. Kaum legte er ein ander Gewand an in der Herberge.
Der Vertraute eilte voran zum Pallaſt, dem Kaiſer ſein Gluͤck zu melden. Dieſer breitete die Haͤnde dankend gen Himmel aus, ſchloß Guido, der gleich folgte, bebend in ſeine Arme, und fuͤhrte ihn ſtumm ins Strategion, das grade eine Verſammlung hielt.
Die Raͤthe bewillkommten ihren Gebieter mit Ehrfurcht, zugleich uͤberraſcht bei der ſeltenen Bewegung die an ihm ſichtbar wurde. Nicht gleich konnte er noch zu Worte kommen, dann ſammelte er ſich, Guido in die Mitte des Saals fuͤhrend, und ſprach:
Ihr Vaͤter, ich ſtelle euch meinen Sohn vor!
Der Juͤngling ſtarrte.
341Entzuͤcken loderte auf jeder Wange. Niemand vermogte zu reden.
Endlich fuhr der Kaiſer fort: Lange genug ließ ich ihn fern von mir erziehen. Urtheilt, was mein Vaterherz empfand, wenn er mit ſo fruͤhem Ruhm ſein jugendlich Haupt bedeckte. Von meinem Schmerz bei jener bangen Kunde wart ihr Zeugen, und ahntet doch nicht, was meine Bruſt zerriß, nicht ſagte ich es euch, denn im¬ mer noch ſchimmerte mir eine ſtrahlende Hoff¬ nung. Sie hat Wort gehalten!
Guido umfaßte ſeine Knie, Tauſend jubelnde Gluͤckwuͤnſche, nicht von Schmeichelei, ſondern von edlem Wahrheitſinn aufgelegt, wurden im Saale laut. Die Nahverwandten brachen in ſuͤße Freudenthraͤnen aus.
Nun fuͤhre er das Heer, rief der Kaiſer. Mit Schmerz entlaſſe ich ihn wieder, doch des Vaterlandes Noth ruft. Nicht mein Sohn, der Held, durch einmuͤthige Wahl gerufen.
Er fuͤhre es! rief alles.
Ja, mein erhabner Vater, ich eile ins Waf¬ fenleben und kehre nicht wieder, als meiner Ge¬ burt und deiner Milde werth, ſtammelte Guido, in heiliger Ruͤhrung.
342Der Vater umarmte ihn wieder. Nach ſei¬ nem erſten Siege pruͤfe ihn der Voͤlkerrath, und erklaͤre ihn zum Erben des Kaiſerthrons, denn ich will fortan des hohen Alters Sorge mit ihm theilen, ſprach er.
Neuer freudiger Zuruf! Doch — wenn Gui¬ dos Augen das Entzuͤcken ſo vieler neuerwachten Gefuͤhle verkuͤndeten, ſo uͤberzog ein Dunkel ſeine Stirn, das Jedermann wahrnahm, allein Niemand zu erklaͤren wußte.
Auch der Kaiſer fand dies ploͤtzliche Verſin¬ ken in nachdenkenden Ernſt raͤthſelhaft. Schnell aber fing er an: Ich errathe ihn. Er ließ den edlen Gelino am Pol, wie mein Vertrauter er¬ fuhr. So lange vertrat mich der Greis beim Sohn. Liebe weint dem zweiten Vater nach. Der Staat verdankt ihm die Bildung ſeines kuͤnf¬ tigen Oberhaupts. Mehr als Siege gilt dies Verdienſt. Sucht den Leichnam, baut ihm ein Grab, das die Nachwelt ehre!
O, fiel Guido ein, ſein Grab bleibe dort. Die Natur baute ihm ſelbſt einen Obelisk. Doch ſein Standbild laſt uns daneben erhoͤhn, wo Newtons Denkmal ſteht.
Gewaͤhrt, mein Sohn! rief der Kaiſer,343 und was du ſonſt bitten willſt, deine Liebe ver¬ traue mir.
Ha mein Vater! entgegnete Guido feurig und heiter, nach meiner erſten Schlacht, ergreif ich deine Hand, dich an dies Wort mahnend.
Wohlan, ſprach der Kaiſer.
Man verließ das Strategion. Guido em¬ pfing die Feldherrnumgebung, hing noch mit dem ſchoͤnen Ungeſtuͤm neuempfundener Kindes¬ liebe, an der Bruſt des klagenden Vaters, und riß ſich dann maͤnnlich weg, der Stimme des Ruhmes zu folgen.
Wehmuth, tiefe Wehmuth im Herzen mußte er bekaͤmpfen, bei allem Gluͤck der Hoheit, das ihn uͤberraſcht hatte. Ach, ſagte er ſich oft un¬ terwegs, den Feind uͤberwinde ich wohl, doch mich, wie mich, wenn es den Streit gilt, den ich ungluͤckſelig fuͤrchte.
Das Heer in Kalabrien nahm ihn mit jauch¬ zendem Beifallgetoͤſe auf. O haͤtte uns Guido in Afrika gefuͤhrt, rief alles, wir feierten Trium¬ phe wo wir gebeugte Ueberwundene ſeufzen!
Doch ein neuer Muth beſeelt die Krieger. Freudig nahm man die neuen Anordnungen auf, ihre Weisheit bewundernd. Guido ließ keinen344 Augenblick ohne Thaͤtigkeit entfliehn. Jedem alten Gebrechen ward abgeholfen. Begeiſterung ſtroͤmte in jede Bruſt.
Dann eilte er zur Flotte, die man ausge¬ beſſert hatte und gab Befehl die Truppen einzu¬ ſchiffen. Nicht weit von Palermos Vorland traf man auf den Feind, der mit neuer Ueber¬ legenheit heranzog, in Hoffnung, ſelbſt Italiens Geſtade zu betreten.
Der große Kampf begann. Reiche Ernten hielt der Tod an beiden Seiten. Mit Goͤtter¬ kraft leitete der jugendliche Feldherr. Seine er¬ fundene Vorrichtung, noch jetzt vervollkommnet, brachte jedesmal Erfolg, wenn man einem feind¬ lichen Schiffe nahen konnte. Und das geſchah oft, denn trotz dem Flammenregen von Oben, trotz der Taucher Heimtuͤcke in den Wogen, trotz dem todbringenden Donner der Batterien, gegen welche die Kunſt ſich mit weiſer Beſon¬ nenheit vertheidigte, drang man deſto kuͤhner an, nachdem Guidos Fahrzeug das erſte leuchtende Beiſpiel gegeben hatte.
Viele Galleonen der Afrikaner lagen im Meere, ihre Linie war durchbrochen, die hart¬ naͤckige Abwehr auf den Fluͤgeln uͤberwaͤltigt,345 der feindliche Feldherr den Heldentod geſtorben. Der Nachfolger jedoch gab uͤber das eindringende Entſetzen die Hoffnung auf, wollte den Ueber¬ reſt retten und ließ die Signale zum Ruͤckzug wehen.
Einige Schiffe folgten, andere, deren Mann¬ ſchafft zwiſchen Tod und Sieg waͤhlen wollte, nicht. Deſto mehr Vortheil fuͤr die Europaͤer in jener Uneinigkeit. Viele wurden umſchloſſen und mußten, da dennoch kein Ausgang zu fin¬ den war, und ſie ein Fahrzeug nach dem an¬ dern in die Wogen verſenkt ſahen, ſich ergeben.
Guido ließ ſie nach Neapel bringen, ſandte eine Abtheilung gegen Sizilien, das Eiland vom Feinde zu reinigen und gab ihrem Anfuͤh¬ rer mit heißklopfendem Herzen auf, von Athania und ihrer Pflegebefohlnen Kunde einzuziehn.
Dann folgte er den Fluͤchtigen eilig. Man¬ che davon fanden ihr Verderben noch vor der Heimath. Die anderen kamen ans Geſtade und ſtellten ſich in feſten Verſchanzungen auf, eine Landung abzuſchlagen.
Guido kannte den Werth der Minute. Jene hatten ſich noch nicht entwickeln koͤnnen, da ſprang er ſchon mit Tauſenden von Tapfern an346 die Kuͤſten und ſtuͤrmte ihre Waͤlle. Die Mi¬ nire wuͤhlten erſt Graͤber, als die ſchnelle Kuͤhn¬ heit ſchon uͤber ſie hinaus gedrungen war. Bald waren auch Guidos Reuter auf dem Boden und bahnten ſich Wege. Seine Luftkrieger tru¬ gen den Preis uͤber ihre Gegner davon, weil ſie ſich eines von ihrem Feldherrn erſonnenen Ge¬ ſchoſſes bedienten, das jene noch nicht kannten. Bald war die Verwirrung unter den Afrikanern allgemein, ſie mußten eine andere Stellung ſu¬ chen, und das europaͤiſche Heer ward vollend ausgeſchifft.
Guido, zweimal, doch nur leicht verwundet, ordnete eine zweite Schlacht, die mit Anbruch des folgenden Tages begann. Die Afrikaner hetzten angelehrte Tiger und Loͤwen in die Rei¬ hen, Guidos Schuͤtzen erlegten ſie lachend. Tau¬ ſende von Elephanten, in Harniſche gekleidet, auf ihren Ruͤcken kleine Kaſtelle, donnerten daher uͤber den Boden. Sie waren dem Heere aus Neu-Karthago zu Huͤlfe geſandt. Guidos Bat¬ terien ſtanden ſo vortheilhaft, ſeine großen Roͤhre wurden ſo gut bedient, daß die Ungeheuer bald den Sand mit ihren Kadavern deckten. Leichte Schuͤtzen bedienten ſich ihrer als Waͤlle, und tra¬347 fen, mittelſt der von Guido erfundenen Glaͤſer, ungeſehen ihren Feind. Dichte Negerſchaaren, wuthtrunken durch Opium und ein mit vor¬ uͤberfliehender Tollheit fuͤllendes Kraut, drangen gleich ſchwarzen Hagelwolken daher und uͤberzogen den Boden der hellen Gefilde mit Nacht. Bald ſchwieg ihr Mordruf und Blutſtroͤme rannen zwiſchen den dunkeln Leichnamen hin.
Guido beſtieg eine Luftgondel, aus der Hoͤhe den Streit zu uͤberblicken. Zeichen lenkten den Fortgang. Plan, Technik, Zeitgeiſt uͤberwogen hier, dort die Zahl, die Tapferkeit druͤckte mit gleicher Schwere auf die Waage. Doch entſchied der Genius endlich, die Afrikaner flohen.
Guido ertheilte ſeine Befehle, zu kluger, nachdruͤcklicher Verfolgung, und beſah den Graus der Wahlſtaͤte. Nicht, wie vordem einſt, durch¬ gluͤhten ihn die Sieggefuͤhle mit Entzuͤcken, ſchwermuͤthig ſann er uͤber die verderblichen Lei¬ denſchaften, welche Voͤlker anreitzen, ſich zu er¬ ſchlagen. O, wann wird das enden! rief er, wann die Fahne des Friedens wehn, auf allen Hainen und Auen, Bruderſinn die Zwietracht ewig verbannen! Das einſame Jahr dort am Pol, ihn abſcheidend von Sinnenwahn und Taͤu¬348 ſchung, hatte ſein Gemuͤth noch mehr in Ein¬ klang mit der beſſeren Weltmoral gebracht, die Inis reine Bruſt athmete. Ging er auch noch mit frohem Heldenfeuer in den Kampf, ſank nun dennoch eine Thraͤne auf ſeinen Lorbeer, und alle Triumphjubel, alle Gluͤckwuͤnſche konn¬ ten ihn nicht erheitern. Er ordnete uͤbrigens den Krieg wie zuvor, und ſandte abermal nach Rom Meldung; denn ſchon nach dem Siege auf den Fluten war es geſchehen.
Er empfing auch Nachrichten aus Sizilien. Das Eiland war genommen, die meiſten Trup¬ pen der Gegner dort gefangen, doch die Frage, welche ſein Herz ſo nahe anging, blieb ohne Auskunft. Man hatte von Athania ſeit laͤnger als einem Jahre nichts auf Sizilien vernommen.
O Geliebte! ſeufzte Guido, ſo lange Zeit verſtrich, ohne daß ein Brief mich geſucht haͤtte. Sollteſt du die Feindſchaft deines Vaterlandes theilen, und den Juͤngling vergeſſen wollen, der, ein Europaͤer, Afrika bekriegen muß? Dies waͤre grauſam, grauſam!
Aber wenn auch deine Liebe noch fortgluͤht, wenn ſie hoͤher als das Leben der Phantaſie empor¬ flammt, was wird aus dem Kaiſerſohn werden? 349Die Schlacht iſt gewonnen, aber darf er auch mit dieſem Flehn dem Vater nahn? Wird ſein froſtig Alter die Hoheit meiner Liebe faſſen? Wird er nicht zuͤrnen, daß in des Helden Bruſt eine andere Leidenſchaft, als die fuͤr den Ruhm gluͤhte? Wird er nicht fordern, daß ich eine Gattin aus den hohen Geſchlechtern erkieſe? Doch muß ich ihm das Herz offenbaren.
Der Feind zog weiter ins Land; Guido ge¬ wann Freiheit, Neu-Karthago, die ſtolze Wett¬ eifrerin mit jener Stadt im tiefen Alterthum, der ſie Namen und Standpunkt abborgte, zu belagern. Der Hof hatte ſich jedoch ſchon flie¬ hend entfernt, den Weg zu einer anderen großen Hauptſtadt im Innern von Afrika genommen. Dieſe lag an den Quellen des Senegal, war aber noch weit von der Vollendung entfernt, welche man ihr zu geben dachte.
Es wird hier noͤthig, die Geſchichte dieſes Erdtheils in den letzten Jahrhunderten nachzu¬ holen.
Gegen das Ende des neunzehnten waren es endlich die Europaͤer muͤde, Hohn und Schmach von den Staaten Marokko u. ſ. w. zu dulden. Ein Heer ſetzte nach Algier uͤber, nahm dieſe350 Stadt ein, zertruͤmmerte die Regierungen von Tunis, Tripoli, und breitete ſich nach und nach von einer Seite bis Egipten, von der anderen bis Zanhaga aus. So wurde der geſammte Norden von Afrika eine europaͤiſche Kolonie, wohin große Auswanderungen geſchahen. Die Kultur bluͤhte auf, Neu-Karthago wurde gegruͤndet. Man unterſuchte das immer noch unbekannt ge¬ bliebene Innere. Doch vermochten die neckenden Streifereien der Sultane von Darfur und Borun, die Anfaͤlle der ſchwarzen Nazionen von Gago, Tombut, Bombakoo, die Unſicherheit der ſuͤdlichſten Wohnplaͤtze, immerfort Krieg zu fuͤhren, und vertheidigend eroberte die beſſere Kunſt. Nach Hundert Jahren gehorſamte halb Afrika.
Die Schwierigkeit, das große Ganze zu uͤber¬ blicken, machte, daß gluͤckliche Heerfuͤhrer Koͤ¬ nigreiche empfingen, wiewohl abhaͤngig vom Mutterſtaat. Mancher Zwiſt unter ihnen ſelbſt, der Stolz auf die Geſammtkraft, die meerge¬ trennte Lage, brachten ſie aber zuletzt auf den Entſchluß, ihr Verhaͤltniß von dem europaͤiſchen zu trennen, und ſelbſt einen Kaiſer zu waͤhlen. Vergebens kriegte Europa, ſie behaupteten ihre351 neue und allerdings kluge Verfaſſung, um ſo mehr, als die aufgeklaͤrteren Maͤnner unter ih¬ ren Gegnern ihr ſelbſt Beifall gaben. In dem folgenden Frieden breitete ſich aber die Herrſchaft der Chriſten in Afrika noch weiter aus, und ge¬ gen das Ende des ein und zwanzigſten Jahr¬ hunderts, gehoͤrte, bis zum Vorland der guten Hoffnung, alles unter die Obergewalt des Kaiſers.
Er fiel in einer Schlacht gegen die Voͤlker von Monomotopa, und ſeine Gemahlin, reich an Geiſt und Herz, leitete bei ihrer Tochter Minderjaͤhrigkeit die Staatgeſchaͤfte weislich, und ſuchte die noch wilden Sitten der farbigen Na¬ zionen in Einklang mit jenen der Ankoͤmmlinge zu bringen, was auch, obwohl langſam, gelang.
Doch Europa forderte Entſchaͤdigungen, welche man verſagte, politiſche Beſorgniſſe, das neue Reich koͤnne zu furchtbar werden, traten hinzu, und jener Krieg, von welchem oben die Rede war, entſpann ſich. Hegte ſchon dieſe andere Semiramis milde Geſinnungen, war gleich der Kaiſer von Europa moraliſch genug, die blutige Fehde zu verdammen, wollte ſich einmal nicht352 alles guͤtlich ausgleichen laſſen, man mußte die Waffen um Entſcheidung anrufen. —
Zu Guido zuruͤck. Er belagerte Neu-Kar¬ thago mit aller ſchrecklichen Kunſt. Die Ver¬ theidigung ſtellte ſich jedoch eben ſo gewaltig entgegen, und manche Woche verſtrich, ehe ein Theil die Meinung ſchoͤpfen konnte, er habe Vortheile uͤber den andern errungen.
Unterdeſſen fiel der Kaiſerin bei, der Krieg ließe ſich vielleicht, ohne weitere, die Menſchheit entehrende, Graͤuel enden. Sie hatte eine Toch¬ ter, Ottona genannt, ſchoͤn, liebenswuͤrdig, und in herrlicher Bildung erzogen, theils durch fremde, kluggeleitete Sorge, theils durch die Natur ih¬ rer holden Eigenthuͤmlichkeit, die ſich an den Kuͤnſten himmliſch entfaltete. Sie ſprach zu Ottona: Titus, des feindlichen Kaiſers Sohn — er fuͤhrte jetzt den Namen Guido nicht mehr — wird geprieſen, wir fuͤhlen die Gewalt ſeiner Talente. Die Erziehung fern vom Throne, hat auch bei ihm ſich bewaͤhrt. Wenn ich ein Eheband mit dieſem Thronerben und dir, meine Tochter, knuͤpfen koͤnnte, waͤre der Menſchheit vielleicht geholfen.
Ottona ſank bleich an ihrer Mutter nieder. Be¬353Befiel dich ploͤtzlich Krankheit? fragte jene be¬ bend, und rief um Huͤlfe. Nach einiger Zeit erholte ſich die Tochter aber, und hoͤrte ergeben zu, da die Kaiſerin fortfuhr:
Einen Sohn beſitze ich nicht, der Streit um unſere Kaiſerkrone kann einſt Unheil bringen. Europa hat Aſien zu fuͤrchten, auch Afrika; denn Aſien enthaͤlt eine Menſchenzahl, wie dieſe beiden Erdtheile, nachdem juͤngſthin China und Japan uͤberwaͤltigt wurden.
Doch, wenn Europa und Afrika ſich vereinen, wenn ein Voͤlkergericht uͤber beide monarchiſche Republiken waltet, und beider Heere eine Ober¬ gewalt lenkt, dann ſtehen wir im Gleichgewicht gegen Aſien da, nur Unklugheit koͤnnte dann noch je Krieg fuͤhren wollen. Amerika hat lange ſchon auf jeden Angriff verzichtet, und buͤndet die beiden Halbeilande nur zum Widerſtand. Aſien wird dann, durch den ganzen Zuſtand der Dinge von ſelbſt eingeladen, auch ſeine Boten zu dem großen Tribunal ſenden, und ein ewiger Friede, der Weiſen alter, heiliger, noch nie er¬ fuͤllter Wunſch, kann ſeine Palme erhoͤhn.
Ottona barg ihre Thraͤnen — wußte nichts zu entgegnen.
Z354Entzuͤckt dich etwa das frohe Bild einer ſol¬ chen Zukunft, der Stolz deiner erhabenen Be¬ ſtimmung ſo, daß Freude auf deine Wangen thaut? fragte die Mutter.
Ini bat ſtammelnd um Zeit — Ruhe, Faſ¬ ſung zu gewinnen, und ward entlaſſen. Aus der Schoͤnheit ihres Gemuͤthes erklaͤrte die Kai¬ ſerin ihr Betragen, und eilte, einen Brief an ihren Gegner mit dem genannten Vorſchlag zu ſenden.
Der Kaiſer von Europa empfing ihn um die naͤmliche Zeit, als auch ein Schreiben ſeines Sohnes angelangt war. Es lautete:
Mein erhabener Vater, du wollteſt eine Bitte hoͤren, nach meiner erſten ſiegenden Schlacht. Dreimal hab 'ich deinen Feind uͤberwunden, auch wird bald ſeine Hauptſtadt fallen. Wohl moͤchte es bereits geſchehen ſein, wenn ich dem Verlangen der Krieger, einen Sturm zu wagen, nachgegeben haͤtte. Doch ich erwarte Uebergabe auf Bedingung, damit nicht Kunſt und Flor verheert werden, u ich jenes Wuͤthen der Ne¬ ger in Sizilien, mit europaͤiſcher Großmuth ver¬ gelten mag. Aber die Bitte, mir geſtattet von hoher Vatermilde, ich nenne ſie kuͤhn deinem355 Herzen. Viel habe ich gerungen mit dem Vor¬ ſatz, allein ich bekenne, daß hier meine Kraft am Ende war. Vater, was ich bin, was deine Guͤte ſchon an mir lobte, da noch das große Ge¬ heimniß mir nicht enthuͤllt war, iſt — Schoͤpfung der Liebe. Ein Maͤdchen, von einer unbe¬ kannten Herkunft, doch hochgeſtellt uͤber alle Wei¬ ber an Schoͤnheit in Gemuͤth und Form, erzog mich. Ohne ſie wuͤrde ich die Tirannei eines ſiedenden Blutes nicht zu Boden gekaͤmpft ha¬ ben, ohne ſie blieb mein Wiſſen, mein Empfin¬ den arm, Geiſt und Herz errangen keine Har¬ monie, ohne ſie ſchlug ich den ſtolzen Afrikaner nicht, dem es dann vielleicht in ſeiner Uebermacht gelang, Italiens heitre Gefilde zu verwuͤſten. Geſtatte mir, Vater, die Goͤttliche zu ſuchen, die in Afrika, ach, vielleicht in der Stadt lebt, welche ich jetzt mit Kampf umringe. Menſchlich fuͤhlend kannſt du dem Geſtaͤndniß nicht zuͤrnen, wie nur dein Purpur mich freuen kann, wenn ich auch Ini damit ſchmuͤcke, wie alle meine Kraft, ſonſt vielleicht geeignet der Voͤlker Zuͤgel ſicher zu lenken, am Grabe der Liebe ſtirbt. Verzeihe — ich mußte flehn!
Der Thronerbe harrte mit banger SehnſuchtZ 2356den Eilboten entgegen, die jeden Tag, in den Hoͤhen von Rom daher flogen. Als, der Zeit nach, Antwort auf ſein Schreiben anlangen konnte, verwunderte ihn ſeltſam der Befehl, ſogleich die Belagerung einzuſtellen, und in Eile an den Kaiſerhof zu kommen. Er ſollte das Heer einem andern Feldherrn vertrauen, und dem Feinde uͤberall Waffenruhe goͤnnen.
Das letzte ſchien, nach den Umſtaͤnden, nicht weiſe, maͤchtige Verſtaͤrkungen konnten aus dem Innern von Afrika nahen, doch, der treue Sohn gehorſamte.
Wunderbare Ahnungen durchbebten ſeine Bruſt, da er nun die Luftgondel beſtieg, uͤber das Meer nach Rom zu eilen.
Dort angelangt, fand er den Voͤlkerrath ver¬ ſammelt, den der Kaiſer beſchieden hatte. Er mußte gleich dort erſcheinen. Der Vater ſprach ihn nicht zuvor, beſuchte jedoch mit zahlreichem Gefolge den Tempel der Unſterblichkeit, in wel¬ chen jene Maͤnner ſich eingefunden hatten. Denn hier ſollte, der erhabneren Feierlichkeit willen, der junge Caͤſar ſeine Pruͤfung beſtehn.
Zum Erſtenmal betrat er dies Heiligthum. Nicht aus Granit, nicht aus Marmor beſtand357 der Tempel, dieſe Stoffe ſchienen ſeinem Ur¬ heber zu wenig dauerhaft. Eherne Quadern, durch Gluten verſchmolzen, bildeten die dicke Mauer, die weit geſprengte Woͤlbung der unge¬ heuren Rotunde, noch von Erzſaͤulen aus ei¬ nem Guß getragen. Moſaik von edlen Stein¬ gattungen, fuͤr die Ewigkeit dargeſtellt, Thaten meldende Inſchriften, Namen, die in flammenden Buchſtaben glaͤnzten, prangten da; groß war aber der noch leere Raum. In die gleichfalls ehernen Kellergewoͤlbe hinab, leiteten Stufen. Unten befanden ſich die Graͤber mit Aſchen¬ kruͤgen.
Der Vorſitzer des hohen Rathes winkte den Kaiſerſohn zu ſich.
Dein Vater will die Herrſchaft mit dir thei¬ len. Heldenthum bewaͤhrte ſchon den wuͤrdigen Feldherrn; wohnt in dir aber auch Kraft, die Voͤlker zu lenken?
Guido haͤtte, einen Augenblick fruͤher, in den truͤben Beſorgniſſen um ſeine Liebe, durch des Vaters Schweigen uͤber ihn gebracht, wanken duͤrfen an der großen Frage — ach, ohne Ini flog ſein Genius keine Sonnenbahnen — doch, ein ſchauernder Blick, in dieſem Tempel umher358 geworfen, ermannte ihn zur feurigen, ſelbſtver¬ trauenden Antwort.
Er fand Bewunderung, die weiteren gewoͤhn¬ lichen Fragen loͤſend, und uͤbergab auch noch Denkſchriften, die moͤgliche Verbeſſerung der Ju¬ gendpflege, des Buͤrgervereins, in ſcharfſinnigen Planen entwickelnd. Sie wurden abgeleſen, und ihnen Beifall ohne Ausnahme gezollt.
Noch mehr ruͤhmende Anerkennung fand der Entwurf, das Schauſpiel mit dem Kultus zu gatten. Edle That ſollte auf dieſe Weiſe ver¬ ſinnlicht an den Blicken der Menge voruͤber, und jeder Religionsfeier voran, gehn.
Am meiſten jedoch ein Siſtem der Schoͤnheit¬ moral, bei deren befremdenden Saͤtzen und ei¬ ner ganz neuen Formenlehre, die Vaͤter nicht nur den ganzen Tag hindurch pruͤfend weilten, ſon¬ dern auch die erſten Kuͤnſtler und denkendſten Koͤpfe in Rom herbeiluden, mit ihnen Rath zu pflegen.
Dies Siſtem gab in ſeiner Darſtellung die Zeichen an, nach welchen der Einklang zwiſchen Geiſt und Gemuͤth, die Achtung fuͤr die Geſell¬ ſchaft, die Uebereinſtimmung mit den Aufgaben der Tugend, die Fertigkeit im richtigen Empfin¬359 den des Guten und Edlen, die Kraft zu Ent¬ ſagungen; die dem inneren Menſchen entweder mangelten, oder ihn adelten, am aͤußeren erkenn¬ bar waͤren. Dann folgte eine Theorie der Moral. Sie wollte, daß jedem Juͤngling, jedem Maͤd¬ chen in der Republik, gegen die Zeit der bluͤ¬ henden Entwicklung hoͤherer Kraͤfte, ein Ideal nach ſeiner Anlage gefertigt wuͤrde. Ein Vor¬ bild der Schoͤnheit, vom Maler, die moͤglichſt hohe innere Schoͤnheit des Individuums berech¬ nend, nach den klaren Grundſaͤtzen der Lehre, ſichtbar gefertigt. Dies muͤßte herrlicher wirken, als Geſetz, Beiſpiel und Religion, wenn die Achtung, die Liebe, die Freundſchaft, die Auf¬ nahme in den Buͤrgerkreis, die Bekleidung mit einem Amt, immer an einen Vergleich des Ideals mit der Wirklichkeit hingen, behauptete Guidos Denkſchrift. Denn nun koͤnne die in¬ nere Unvollkommenheit ſich nicht mehr bergen, die Abweſenheit des Strebens zum Ziel der Schoͤnheit, wuͤrde ſich in mißgeſtalteten Zuͤgen ſtrafend verkuͤndigen, und in gelungener Annaͤ¬ herung die Lohnwuͤrdigkeit ſich offenbaren. Je bekannter, je verbreiteter das Siſtem waͤre, je weniger muͤſſe die Geſellſchaft, ohnehin ſchon360 bedeutend vom Widerſtand, ſinnlichen Unfugs ge¬ reinigt, noch davon zu fuͤrchten haben.
Nach langem Berathen hub der Vorſitzer an: Iſt dein Siſtem richtig, ſo haſt du der Menſch¬ heit ein Geſchenk ertheilt, wie ſie es ſeit Jahr¬ hunderten nicht empfing, wie kein Religionſtifter es zu geben vermochte.
So danke ſie es der Liebe! rief Guido flam¬ mend.
Der Vorſitzer ſchien dies Wort nicht gehoͤrt zu haben, ſondern fuhr fort: Wohl, erhabener Juͤngling, gebuͤhrt dir, eine Schoͤnheitmoral zu predigen, denn noch keinen Juͤngling, von ſo bezaubernden Formen, erblickten wir.
Wir alle nicht! toͤnte der einmuͤthige Ausruf.
Guido ſenkte die Augen nieder.
Haſt du, fing der Kaiſer, der bisher nur geringen Antheil genommen hatte, nun an, dich auch nach einem Ideal gebildet?
Der Sohn zog es aus dem Buſen. Es ging im Kreiſe umher. Entzuͤckt hingen die Blicke wechſelnd an dem ſchoͤnen Gemaͤlde und an dem ſchoͤnen Juͤngling. Eine Thraͤne freudiger Bewunderung ſank von der Wange des Kaiſers nieder, denn wohl dachte er der Geſtalt des361 Sohnes vor drei Jahren, und faßte kaum die ſo hoch gereifte Liebenswuͤrdigktei.
Indem aber die Kuͤnſtler vergleichend fort¬ fuhren, das todte Muſter und ſeine lebende Nach¬ ahmung zu pruͤfen, behaupteten ſie: Nicht ganz, nur beinahe ward das Ideal erreicht. Noch ir¬ gend ein geringes Etwas, das wir nicht zu nen¬ nen vermoͤgen, irgend ein vollendender Zug fehlt noch.
Dieſer Meinung traten alle bei, auch der Kaiſer. Letzterer fragte: Welcher Maler entwarf dein Urbild?
Guido rief: Kein Maler! Die Liebe! Ein Maͤdchen, unendlich ſchoͤner noch durch eigenen Geiſtes Streben. O Vater! ihre Hand war der Preis meines Ringens, ſoll er mir grauſam ent¬ zogen werden?
Er ſank vor ihm nieder. Die flehende Ge¬ berde ſprach nur noch, ſprach zu den Grei¬ ſen im Rath, Fuͤrworte erbittend, als der Mo¬ narch ernſt und duͤſter ſchwieg.
Dieſe fanden des Juͤnglings Wunſch gerecht. Lohn der Liebe, meinten ſie, muͤſſe das große Geſchenk fuͤr die Menſchheit, ihr eigen Werk, ver¬ gelten. Guido hatte auch die Schoͤnheit ſeiner362 Geliebten geprieſen. Wer konnte ſie auch bezwei¬ feln? Von dieſem ſich entſprechenden Paar, hoffte man eine edle Nachkommenſchaft der Caͤ¬ ſare. Man drang in den Alten.
Er entgegnete ſtrenge: Hier waltet mein Vaterrecht, nicht der Staat! Keineswegs mein Sohn, haſt du dein Ideal errungen, alle raͤu¬ men den fehlenden Zug ein. Der Preis gebuͤhrt dir alſo nicht. Doch entſage, entſage dem Preis, und dieſer Sieg innerer Hoheit wird den Man¬ gel fuͤllen.
Guido bebte ſtarr und bleich. Ausdruck von Unwillen ward auf jedem Angeſicht kund.
Sanfter nahm der Monarch wieder das Wort. Glaube mein Sohn, auch mir hat es einen ſchweren Kampf gegolten, dir den Lohn der Liebe zu verſagen. Doch ich weiche mit blutendem Herzen der Nothwendigkeit. Ewiger Friede kann durch dich uͤber die Menſchheit aufbluͤhn.
Bei den Worten ewiger Friede flammten der Vaͤter Wangen. Guido ſtarrte noch zum Boden nieder.
Die Kaiſerin von Afrika will dir ihre Tochter vermaͤhlen. Lies alles auf dieſem Blatte, und juble dem Rufe des Schickſals entgegen. Auch363 Ottona iſt ſchoͤn, wahrlich nimmer ſah ich ſo verklaͤrte Anmuth, blicke auf dies Bild, von der Mutter dir geſandt.
Die Schmach der Treuloſigkeit, in den Don¬ nerworten enthalten, machte, daß Guido ſein Auge veraͤchtlich von dem Gemaͤlde lenkte. Es fiel auf die feurige Inſchrift am Hochaltar: Unſterblichkeit.
Er ſtand auf, mied ſtolz die Verſammlung, und rief die Worte zuruͤck: Kommt nach drei Tagen wieder, dann ſage ich euch, ob ich um der Menſchheit willen ohne Ini leben kann.
Kein Freund mehr, an deſſen Buſen er wei¬ nen konnte. Allein ſchweifte er umher auf den Gaſſen von Rom, ſah bald dieſe bald jene Denk¬ male der alten Zeit, herrlich die Erinnerung mahnend. O Curtius, du gabſt nur das Leben, nicht die Liebe auf, armer Szávola der der Tu¬ gend nur eine Hand darbrachte, ſtrenger Luzius Junius Brutus, eine Ini haͤtteſt du nicht hin¬ gegeben!
Er kehrt nicht in den Pallaſt zuruͤck, lief hinaus in die Gefilde, achtete nicht auf das wilde Ungewitter das die Pinien um ihn zerſplitterte, aber dennoch nicht tobte, wie die Stuͤrme in364 ſeiner Bruſt. Endlich um Mitternacht langte er vor einer Katakombe an, drang in ihre ſchau¬ rigen Gaͤnge, aͤhnlich der Farbe ſeines Jammers. Abgemattet von innerer Pein fiel er auf den Boden hin, rief den Schlummer, ihn nicht mit kur¬ zem Tod, mit ewigen Tod zu umfangen. Der Schlummer nahte nicht. Guido ſprach Ver¬ wuͤnſchungen gegen ihn, gegen ſeine ungluͤck¬ lich hohe Geburt, gegen den tiranniſchen Va¬ ter, gegen das Traumbild am Nordpol aus, das ihm luͤgend Wiederſehn zuſagte und zu leben bewog. O warum ſtarb ich dort nicht, wim¬ merte er.
Zuletzt hatten ſich die Kraͤfte entſpannt, ein tiefer Schlaf rettete den Dulder vor laͤngerer Qual der Selbſtkaͤmpfe. In dieſem Schlaf waͤhnte die noch thaͤtige Einbildung, Gelino, den verſtorbenen Lehrer zu ſehn, wie er einen ſtrafenden Blick auf ihn warf, und wieder ver¬ ſchwand. Dieſer Blick praͤgte ſich tief in des Juͤnglings Gemuͤth, er ſah ihn immer, noch am Morgen erwacht, und auf den Gefilden ohne Zweck wandelnd. Eine marternde Angſt jagte ihn, in jedem Thale richtete er den Blick empor und glaubte immer das Traumgeſicht in den365 Wolken wieder zu finden, von jedem Huͤgel ſah er Rom und den ſich erhebenden Tempel der Unſterblichkeit, deſſen Anblick auch ein Strafge¬ richt uͤber ihn verhing. So trieb er es. —
Der Kaiſer ließ ihn beſorgt ſuchen, man fand ihn nicht. So ging es am zweiten, am dritten Tag, die Verſammlung harrte bereits unruhig, geſpannt, Schlimmes fuͤrchtend.
Da trat Guido in den Tempel. Bleich, uͤberwacht, verſtoͤrt, doch eine unbeſchreibliche Hoheit in Blick und Geberde, eine Harmonie, einen Zauber in der Geſtalt, die man juͤngſt nicht an ihn wahrgenommen hatte, und Jeden mit der Ueberzeugung durchdrang — nun ſei das Ideal erreicht!
Man errieht ſchon was er ſagen wollte. Bei¬ falljubel von allen Lippen und Haͤnden, von denen des Tempels eherne Mauern und Denkmale toͤ¬ nend wiederhallten, prieſen in voraus.
Oft gab der Kaiſer das Zeichen zu ſchweigen, umſonſt, nur ſpaͤt konnte er vernehmlich fra¬ gen: Dein Kampf ſiegte, du waͤhlſt Ottona?
Um die Menſchheit, antwortete Guido. Neuer Beifall, Beſchluß des Rathes, ihn zum Thron¬ erben, zum Mitkaiſer wuͤrdig zu erklaͤren.
366Guido hoͤrte das betaͤubt, war ſehr gleich¬ guͤltig, als eine Kaiſerkrone, mit einem gruͤnen Lorbeer umflochten, auf ſein Haupt geſetzt wurde, ein Purpur an ſeinen Schultern hing, und das alle Strafen uͤberfuͤllende Volk, da er im Pracht¬ zug nach der Caͤſarenwohnung kehrte, dem neuen Monarchen, dem Sieger in Afrika, dem Sieger uͤber ſich, dem Friedengeber der Menſchheit, Gluͤck zurief! —
Alle Gefangenen, alle Schiffe und Waffen wurden eilig nach Karthago zuruͤck geſandt, die europaͤiſchen Truppen nach Italien gerufen.
Guido ſchickte heimlich einen Eilboten an Ottona, ließ ihr entbieten: den Thraͤnen der flehenden Menſchheit gehorſam, bringe er ihr naͤchſtens ſeine Hand, doch — ein Herz habe er nicht mehr zu vergeben. —
Unterdeſſen traf man in Rom Anſtalten zu ſeiner Reiſe nach Karthago. Sie ſollte mit der hoͤchſten Pracht vollzogen werden, der Vater wollte den Sohn begleiten.
Kurz zuvor ehe man aufbrach, kam der Eil¬ bote zuruͤck. Er ſchwaͤrmte in dem Bilde, das er von Ottona entwarf. Guido gebot, daruͤber hinzugehn. Jener berichtete: Die Kaiſertochter367 habe ſich der Kunde erfreut, denn auch ſie koͤnne nur Fuͤgung in das Schickſal, doch keine Liebe verheißen. Wohl mir, ſeufzte Guido.
Man trat den Weg an. Vor Karthago, wo¬ hin der afrikaniſche Hof zuruͤckgekehrt war, ſtan¬ den alle Gefangenen, fand Guido alle eroberten Trophaͤen, im Hafen wehten die Flaggen der Schiffe, die er juͤngſt den Afrikanern genommen. Er ſtaunte. Die Maͤnner aus dem Strategion dort, ihm entgegen gekommen, ſagten: Dein Vater hat dir in Rom keinen Triumph uͤber Afrika bereitet, ſo will es die Kaiſerin ſelbſt thun.
Umſonſt verbat der Held. Alle glorreiche Zei¬ chen ſeiner Siege gingen voran im glaͤnzendſten Zuge, zum Tempel, dem herrlichſten der Stadt, nun dem ewigen Frieden geweiht. Hier am Hochaltar erwartete die Kaiſerin den Eidam, neben ſich Ottona in einen Schleier gehuͤllt und ſichtbar bebend. Die Vornehmen, durch Guidos Anblick getroffen, ſanken vor ihm nieder in Huldigung.
Eben an dieſem Tage begann das zwei und zwanzigſte Jahrhundert.
Beſcheiden nahte Guido dem Altar. Die hohe Mutter trat ihm entgegen, Freudenthraͤnen auf368 der Wange. Hier, ſprach ſie, junger Caͤſar, Oberherr von Europa und Afrika, empfange meine Tochter. Sie hob den Schleier von Ot¬ tonas Antlitz. Guidos tiefgeſenkter Blick ver¬ mochte nicht aufzuſehn. Nur der Ruf einer wohlbekannten himmelvollen Stimme weckte ſeine Betaͤubung!
Er ſah auf die Braut — — O Himmel! Ottona war Ini — verklaͤrt geſtaltet wie ihr Ideal. — Bei Athania hatte die weiſe Fuͤrſtin ſie erziehen laſſen.
Ende.
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