PRIMS Full-text transcription (HTML)
Maler Nolten.
Novelle in zwei Theilen
Mit einer Muſikbeilage.
II.
Stuttgart. E. Schweizerbart’s Verlagshandlung.1832.
[323]

Leopold ging unter tiefen Betrachtungen nach der Stadt zurück. Er kommt an dem Garten des wun - derlichen Hofraths vorbei. Der Liebling des Leztern, ein zahmer Staar, ſizt auf dem Spitz-Dache eines Pump - brunnens, über den ſich eine Trauerweide neigt. Der Vogel ſtimmt, eben wie Leopold vorüber will, ſein Stückchen an, mit einem ſpöttiſchen Zwiſchenruf, der offenbar ihm gilt: Es reiten drei Spitzbub zum Thore hinaus; zugleich wird das gepuderte Haupt des Hofraths ſichtbar; derſelbe erſucht den Bildhauer, einen Augenblick hereinzutreten. Ich habe eine Neuig - keit, ſagt er, über deren angenehmen Inhalt Sie wohl dem Flegel da droben ſeine Unart vergeſſen werden. Monſieur Larkens wurde den Morgen ſchnell zu einem Verhöre berufen. Man darf ſich auf ein er - wünſchtes Reſultat gefaßt halten; mir ward nur en paſſant und ganz im Allgemeinen, jedoch von ſicherer Hand ein Wink gegeben. Bringen Sie den Leutchen dieſen Troſt, ſagen es aber nicht weiter. Voll Freu - den dankte der Bildhauer und wollte eilends gehn, als der Hofrath, der heute ſeinen ſchönen Tag hatte, ihn noch am Rockknopf feſthielt und ſagte: Widmen Sie doch dem Burſchen da droben noch einen Blick! Be -324 merken Sie die philoſophiſche Klarheit, den feinen Sarkasmus, womit dieſer Schnabel in die Welt hin - ausſticht! Stellen wir uns nun etwa unter der Brun - nen-Pyramide ein Monument, ein Grabmal vor, ſo wäre es dem elegiſchen Geſchmack ohne Zweifel ge - mäßer, in den hängenden Weidenzweigen ſich Philo - melen, die ſüße Sängerin der Wehmuth und der Liebe, zu denken, als den gebildetſten Staaren, deſſen bloße Figur ſchon viel zu viel vom Weltmann hat. In - deſſen, dünkt mich, wäre ein Hanswurſt, gedankenvoll auf einem Sarkophagen ſitzend, eine ſo üble Vorſtel - lung auch nicht, vielleicht ein Gegenſtand für einen Hogarth. Man gäbe dem Coujon etwa ein ſchlafen - des Kind auf den Schoos und hinter ſeinem Rücken würde, halb zürnend halb lächelnd, ein eisgrauer Alter am Stabe das ſonderbare Selbſtgeſpräch belauſchen. Des Narren Geſicht müßte zeigen, wie er ſich Mühe gibt, recht tiefſinnig und ernſthaft zu ſeyn; aber es geht nicht, und das bedeutendſte Kopfſchütteln wird jedes Mal von der Schellenkappe begleitet. Was mei - nen Sie nun? der geflügelte Schlingel dort, welcher geſtern das Unglück gehabt, ich weiß weder wo noch wie, in einen Topf mit gelber Oelfarbe zu fallen, da - von er die Spuren noch trägt gleicht er denn nicht auf’s Haar ſo einem buntſchäkigen Allerweltsſpötter? Iſt es nicht ein unvergleichlicher Junge?

Der Bildhauer mußte dem Vogel eine Lobrede halten, war aber endlich nur froh, loszukommen und ſich bei den Freunden ſeiner glücklichen Zeitung zu entledigen.

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Wirklich gingen nicht vier Tage hin, als den Gefangenen bereits ihre Losſprechung eröffnet ward. Man hatte bei keinem von Beiden eine bösliche Ab - ſicht, wohl aber eine ſtrafbare Unziemlichkeit in ihrer Handlungsweiſe entdeckt, wofür ihnen die Gnade des Königs Verzeihung zuerkannte.

Sämmtliche Freunde fanden dieß ganz in der Regel, nur den Schauſpieler ſchien die ſchnelle Wen - dung der Sache zu befremden, er ſchüttelte den Kopf, indem er nicht undeutlich zu verſtehen gab, daß da - hinter irgend etwas ſtecken müſſe; übrigens äußerte er weiter keine Vermuthung und theilte von Herzen den allgemeinen Jubel.

Der Augenblick, in dem er Nolten zum Erſten - male wieder, obgleich am Krankenbett begrüßte, riß Jeden, der zugegen war, zu Rührung und Freude hin. Nie hatte man eine leidenſchaftlichere Freundſchaft geſehen, und wenn ſonſt Larkens die Vermeidung jedes Anſcheins von Empfindſamkeit beinahe bis zur Härte trieb, ſo ward er jezt nicht ſatt, den Kranken zu umarmen und zu küſſen, ihm auf’s Beweglichſte den Unfall abzubitten, deſſen er ſich allein anklagte. Zum Glück verſprach der Arzt, daß Nolten in kur - zer Zeit völligen Gebrauch von ſeiner Freiheit würde machen können, ja der Kranke ſelber ſchwur, es fehle gar nicht viel, ſo hätte er wohl Luſt, ſich heute ſchon auf die Füße zu richten; zum wenigſten wollte er aus dem traurigen Arreſtzimmer erlöst ſeyn und müßte326 man ihn auch ſammt dem Bette wegtragen. Lar - kens nahm gleich den Schließer auf die Seite, ließ ſich die nächſtgelegenen Zimmer weiſen und kam bald mit der luſtigen Botſchaft wieder, er habe nur we - nige Schritte von Theobalds Zelle ein Lokal ent - deckt, darüber in der Welt Nichts gehe: einen kleinen getäfelten Ritterſaal mit einem Erker, der die ſchönſte Ausſicht im ganzen Schloß darbiete. Sodann beſchrieb er den alterthümlichen Reiz der vielfach verzierten eichenen Wände, eine Reihe von lebensgroß in Holz geſchnizten Grafen und Herzogen mit ihren Wappen - ſchildern und Sinnſprüchen, die hölzerne Decke, auf welcher, in gleiche Quadrate getheilt, die halbe bib - liſche Hiſtorie in rührender Geſchmackloſigkeit gemalt zu ſchauen, zwei rieſenhafte Ofen, die man im Noth - fall beide heitzen würde; daneben in einer Ecke lehne ein Haufen roſtiger Waffen, an deren Schwere der Patient von Tag zu Tage ſeine zunehmenden Kräfte prüfen müſſe; auch ſtünden ein paar kleine Feuer - ſpritzen bereit, und er behalte ſich vor, dieſelben an dem Tage, wo man Befreiung und Geneſung feſtlich begehen würde, mit Tokaier füllen zu laſſen, denn da müſſe der Wein recht eigentlich in Strömen fließen. Sprach er das Leztere im Scherz, ſo war es ihm mit der Verlegung Noltens in den bezeichneten Saal ſo vollkommen Ernſt, daß er noch jenen Mor - gen die Erlaubniß hiezu von Seiten des Verwalters einholte und Anſtalt machte, Alles recht ſauber und327 reinlich herzuſtellen. Der Umzug ging des andern Tages vor ſich, und Nolten mußte geſtehen, er fühle ſich wahrhaft erleichtert und erhoben durch eine ſo heitere als eindrucksvolle Umgebung. Fenſter an Fenſter reihten ſich die langen Wände entlang und die ehmalige Pracht erſtreckte ſich ſelbſt bis auf die kleinen runden Scheiben, deren Blei noch überall die Spuren guter Vergoldung zeigte. Es ſoll der Saal vor Zeiten ſeiner Koſtbarkeit und außerordentlichen Helle wegen, die goldene Laterne geheißen haben.

Einer der erſten Beſuche, deren unſer Freund in ſeiner neuen Wohnung eine große Anzahl erhielt, war Tillſen und der alte Baron von Jaßfeld. Beide hatten während der Gefangenſchaft, vermuthlich aus Rückſicht gegen den Hof, Anſtand genommen, dieſe Pflicht zu erfüllen. Der Schauſpieler konnte eine ſpöttiſche Bemerkung deßhalb nicht unterdrücken, für Theobald aber war wenigſtens der gegenwärtige Beweis von Aufmerkſamkeit um ſo wichtiger, als er eine günſtige Folgerung auf die Geſinnungen der Zarlin’ſchen daraus zog. Allein hierin irrte er ſich, denn gar bald ließ man ihn merken, daß in jenem Hauſe noch immer eine auffallende Verſtimmung herr - ſche, daß er wohl thun würde, ſich vor der Hand durchaus entfernt zu halten. Hiezu war er nun wirk - lich feſt entſchloſſen, beſonders da auch in den folgen - den Tagen von Seiten des Grafen nicht einmal ein trockener Glückwunſch, geſchweige denn, wie doch zu328 erwarten geweſen wäre, ein freundlich Wort an ihn erging.

Unter andern Umſtänden vielleicht hätten dieſe Ausſichten ihn troſtlos gemacht, aber ſo ward ſein Stolz empfindlich gereizt, er ſah ſich unfreundlich, ſchnöde zurückgeſtoßen, und da er wußte, wie wenig von jeher die Gräfin gewohnt geweſen, ſich ihre Ge - fühle und Handlungen durch den Bruder oder ſonſt Jemanden vorſchreiben zu laſſen, ſo konnte er auch ihr jetziges Benehmen keineswegs auf fremde Rech - nung ſetzen. Er glaubte ſich in ſeinen Vorſtellungen von der ungemeinen Denkart dieſes Weibes entſchie - den getäuſcht, zum Erſtenmal fand er an Conſtan - zen die Kleinlichkeit ihres Geſchlechts, die engherzige Pretioſität ihres Standes, ja was noch mehr als dieß, er überzeugte ſich, daß ſie ihn niemals eigentlich ge - liebt haben könne. Er war traurig, allein er wun - derte ſich, daß er es nicht in höherem Grade ſey.

Auf dieſe Art hatte nun freilich der Schauſpie - ler, dem ſehr darum zu thun ſeyn mußte, die Ein - drücke dieſer Leidenſchaft bei Nolten von Grund aus zu vertilgen, bei weitem leichtere Arbeit, als er immer gefürchtet. Er wunderte ſich im Stillen höch - lich über die vernünftige Gelaſſenheit ſeines Freundes, und gab dem Wunſche deſſelben gerne nach, daß von der Sache nicht weiter die Rede ſeyn ſolle.

Uebrigens gab es für Larkens gar mancherlei zu bedenken und auszumitteln. Gleich nach der Hafts -329 entlaſſung war es eine ſeiner erſten Sorgen geweſen, ob jene ſeltſame Eliſabeth, welche vor wenig Tagen von Leopold war auf der Straße geſehen worden, nicht etwa noch in der Nähe ſich befinde: mehrere Gründe ſezten es jedoch außer Zweifel, daß ſie die Stadt bereits wieder verlaſſen. Jezt wünſchte er ſich über den Zuſtand der Gemüther im Zarlin’ſchen Hauſe, ſo wie über den wahren Grund der eilfertigen Erledigung jener anfänglich ſo ernſthaft behandelten Rechtsſache genauer zu unterrichten. Er war um ſo begieriger, als einige heimliche Stimmen ſich verlau - ten ließen, Herzog Adolph habe ſich mit ſeinem fürſtlichen Worte für die Gefangenen verbürgt und ſo den Knoten mit Einemmal zerſchnitten. Dieß fand der Schauſpieler ſo unwahrſcheinlich nicht, ob - gleich der Herzog, wie es ſchien, ſeine Großmuth öffent - lich nicht Wort haben wollte und ſich übrigens jeder Berührung mit ſeinen Schützlingen entzog. Höchſt peinlich empfand daher Larkens ſeine Ungewißheit über dieſen Punkt, ſo wie die Unmöglichkeit, dem Wohlthäter ausdrücklich zu danken, wenn dieſer ſich wirklich in der Perſon des Herzogs verſteckt haben ſollte. Lezteres ward er je länger je mehr überzeugt, und bald geſellte ſich hiezu noch eine weitere, obgleich noch ſehr entfernte Muthmaßung, welche er jedenfalls vor Nolten auf das Sorgfältigſte zu verbergen gu - ten Grund haben mochte. Der Gedanke ſtieg nämlich bei ihm auf, ob nicht Gräfin Conſtanze ſelbſt als330 geheime Triebfeder, zunächſt zu Gunſten Theobalds, durch den Herzog könnte gewirkt haben? Er wußte nicht eigentlich, was ihn auf dieſe Vorſtellung führte, im Allgemeinen aber ſezte er bei Conſtanzen noch immer eine ſtille, ſehr nachhaltige Neigung für Theo - bald voraus, und es war ihm unmöglich, ſie anders als in einem leidenden Zuſtande zu denken.

Eines Morgens findet er ſeinen Freund außer dem Bette unter dem halboffnen Fenſter ſitzen und ſich im kräftigen Strahl der Frühlingsſonne wärmen. Der Schauſpieler drückte laut ſeine Freude über die glücklichen Fortſchritte des Rekonvalescenten aus, wäh - rend Theobald ihm lächelnd mit der Hand Still - ſchweigen zuwinkte, denn der lieblichſte Geſang tönte ſo eben aus dem Zwinger herauf, wo die Tochter des Wärters mit den erſten Gartenarbeiten beſchäftigt war. Sie ſelbſt konnte wegen eines Vorſprungs am Gebäude nicht geſehen werden, deſto vernehmlicher war ihr Liedchen, wovon wir wenigſtens einen Vers anführen wollen.

Frühling läßt ſein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte,
Süße wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land;
Veilchen träumen ſchon,
Wollen balde kommen;
Horch, von fern ein leiſer Harfenton!
Frühling, ja du biſt’s!
Frühling, ja du biſt’s!
Dich hab ich vernommen!
331

Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich auf - geregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den Menſchen, und den Geneſenden weit inniger als den Geſunden, heimzuſuchen pflegt. Eine ſeltene Heiter - keit belebte das Geſpräch der beiden Männer, während ihre Blicke ſich fern auf der keimenden Landſchaft er - gingen. Nie war Nolten ſo beredt wie heute, nie der Schauſpieler ſo menſchlich und liebenswürdig ge - weſen. Auf Einmal ſtand der Maler auf, ſah dem Freunde lang und ernſt, wie mit abweſenden Gedan - ken, in’s Geſicht, und ſagte dann, indem er ſeine Hände auf die Schultern des Andern legte, im ruhig - ſten Tone: Soll ich dir geſtehen, Alter, daß dieß der glücklichſte Tag meines Lebens iſt, ja daß mir vorkommt, erſt heute fang ich eigentlich zu leben an? Begreife mich aber. Nicht dieſe erquickende Sonne iſt es allein, nicht dieſer junge Hauch der Welt und nicht deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, wo - von ich rede, lag in der lezten Zeit ſchon beinahe reif in mir; ich kann nicht ſagen, daß es die Folge langer Ueberlegung ſey, doch ruht es auf dem klarſten und nüchternſten Bewußtſeyn und iſt ſo wahr als ich nur ſelber wirklich bin. Es hat ſich mir in dieſen Tagen die Geſtalt meiner Vergangenheit, mein inneres und äußeres Geſchick, von ſelber wie im Spiegel auf - gedrungen und es war das Erſtemal, daß mir die Bedeutung meines Lebens, von ſeinen erſten Anfängen an, ſo unzweideutig vor Augen lag. Auch konnte das332 und durfte nicht wohl früher ſeyn. Ich mußte ge - wiſſe Zeiträume wie blindlings durchleben, vielleicht geht es mit den folgenden nicht anders und vielleicht iſt das bei den meiſten Menſchen ſo; aber auf den kurzen Moment, wo die Richtung meiner Bahn ſich verändert, wurde mir die Binde abgenommen, ich darf mich frei umſchauen, als wie zu eigner Wahl, und freue mich, daß, indem eine Gottheit mich führt, ich doch eigentlich nur meines Willens, meines Gedankens mir bewußt bin. Die Macht, welche mich nöthigt, ſteht nicht als eigenſinniger Treiber unſichtbar hinter mir, ſie ſchwebt vor mir, in mir iſt ſie, mir däucht, als hätt ich von Ewigkeit her mich mit ihr darüber verſtändigt, wohin wir zuſammen gehen wollen, als wäre mir dieſer Plan nur durch die endliche Beſchrän - kung meines Daſeyns weit aus dem Gedächtniß ge - rückt worden, und nur zuweilen käme mir mit tiefem Staunen die dunkle wunderbare Erinnerung daran zurück. Der Menſch rollt ſeinen Wagen wohin es ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht ſich un - merklich die Kugel, die er befährt. So ſehe ich mich jezt an einem Ziele, wornach ich nie geſtrebt hatte, und das ich mir niemals hatte träumen laſſen. Vor wenig Wochen noch ſchien ich ſo weit davon entfernt! Manches, was mir ſo lang als nothwendige Bedin - gung meines Glücks, meines vollendeten Weſens er - ſchienen war, was ich mit unglaublicher Leidenſchaft genährt und gepflegt hatte, liegt nun wie todte Schaale333 von mir abgefallen; ſo iſt Conſtanze mir nicht viel mehr als noch ein bloßer Name, ſo iſt mir ſchon früher jene Agnes untergeſunken.

Große Verluſte ſind es hauptſächlich, welche dem Menſchen die höhere Aufgabe ſeines Daſeyns unwi - derſtehlich nahe bringen, durch ſie lernt er dasjenige kennen und ſchätzen, was weſentlich zu ſeinem Frieden dient. Ich habe viel verloren, ich fühle mich unſäg - lich arm, und eben in dieſer Armuth fühle ich mir einen unendlichen Reichthum. Nichts bleibt mir übrig, als die Kunſt, aber ganz erfahr ich nun auch ihren hei - ligen Werth. Nachdem ſo lange ein fremdes Feuer mein Inneres durchtobt und mich von Grunde aus ge - reinigt hat, iſt es tief ſtill in mir geworden, und lang - ſam ſpannen alle meine Kräfte ſich an, in feierlicher Er - wartung der Dinge, die nun kommen ſollen. Eine neue Epoche iſt für mich angebrochen, und, ſo Gott will, wird die Welt die Früchte bald erleben. Siehſt du, ich könnte dir die hellen Freudethränen weinen, wenn ich dran denke, wie ich mit Nächſtem zum Erſtenmale wie - der den Pinſel ergreifen werde. Viel hundert neue, nie geſehene Geſtalten entwickeln ſich in mir, ein ſeliges Gewühle, und wecken die Sehnſucht nach tüchtiger Ar - beit. Befreit von der Herzensnoth jeder ängſtlichen Leidenſchaft, beſizt mich nur ein einziger gewaltiger Affekt. Faſt glaub ich wieder der Knabe zu ſeyn, der auf des Vaters Bühne vor jenem wunderbaren Ge - mälde wie vor dem Genius der Kunſt geknieet, ſo jung334 und fromm und ungetheilt iſt jezt meine Inbrunſt für dieſen göttlichen Beruf. Es bleibt mir nichts zu wün - ſchen übrig, da ich das Allgenügende der Kunſt und jene hohe Einſamkeit empfunden, worin ihr Jünger ſich für immerdar verſenken muß. Ich habe der Welt entſagt, das heißt, ſie darf mir mehr nicht angehören, als mir die Wolke angehört, deren Anblick mir eine alte Sehn - ſucht immer neu erzeugt. Ich ſage nicht, daß jeder Künſtler eben ſo empfinden müſſe, ich ſage nur, daß mir nichts anderes gemäß ſeyn kann. Auf dieſe Reſig - nation hat jede meiner Prüfungen hingedeutet, dieß war der Fingerzeig meines ganzen bisherigen Lebens; es wird mich von nun an nichts mehr irre machen.

Der Maler ſchwieg, ſeine blaſſen Wangen waren von einer leichten Röthe überzogen, er war auf’s Aeußer - ſte bewegt und bemerkte mit Unwillen die Befremdung ſeines Freundes, ſo wie ſein zweifelhaftes Lächeln, das jedoch weniger Spott als die Verlegenheit ausdrückte, was er auf Theobalds höchſt unerwartete Erklärung erwidern ſollte.

Darf ich, fing Larkens an, darf ich aufrichtig ſeyn, ſo läugne ich nicht, mir kommt es vor, mein Nolten habe ſich zu keiner andern Zeit weniger auf ſich ſelber verſtanden, als gerade jezt, da er plötzlich wie durch Inſpiration zum einzig wahren Begriff ſein Selbſt gelangt zu ſeyn glaubt. Weiß ich es doch aus eigener Erfahrung, wie gerne ſich der Menſch, der alte Taſchenſpieler, eine falſche Idee, das Schooskind ſeines335 Egoismus, die Grille ſeiner Feigheit oder ſeines Trotzes, durch ein willkürlich Syſtem ſanktionirt, und wie leicht es ihm wird, einen ſchiefen oder halbwahren Gedanken durch das Wort komplet zu machen. Denn du gibſt mir doch zu

Hör auf! ich bitte dich, rief Theobald leb - haft, hör auf mit dieſem Ton! du machſt, daß ich be - reue, dir mein Innerſtes aufgeſchloſſen, dir das heilig - ſte Gefühl bloßgeſtellt zu haben, das mir kein Menſch unter der Sonne von den Lippen gelockt hätte, wenn es der Freund nicht wäre, von dem ich eine liebevolle Theilnahme an meiner Sinnesart erwarten durfte, ſelbſt wenn ſie der ſeinigen zuwider liefe. Höre, ich kenne dich als einen verſtändigen und klugen Mann, nur was gewiſſe Dinge anbelangt, gewiſſe Eigenheiten eines treuen Gemüths, ſo hätt ich nicht vergeſſen ſollen, daß wir von jeher vergeblich drüber disputirten. Laß uns von dieſem Punkte lieber gleich abgehn und thun, als wäre von Nichts die Rede geweſen; es braucht’s auch nicht, da ich meinen Weg verfolgen kann, unbeſchadet unſeres bisherigen Verhältniſſes

Doch wirſt du mir nicht zumuthen, antwortete Larkens, ich ſoll dich ſtillſchweigend einer Grille überlaſſen, die dir nur ſchädlich werden kann. Vor der Hand finde ich deinen Irrthum verzeihlich; das Unglück macht den Menſchen einſam und hypochon - driſch, er zieht den Zaun dann gern ſo knapp wie möglich um ſein Häuschen. Ich ſelber könnte wohl336 einmal in dieſen Fall gerathen, nur wär es dann ein Kaſus wahrhaftig ganz verſchieden von dem deinen. Der Herr führt ſeine Heiligen wunderlich. Unſtreitig hat dein Leben viel Bedeutung, allein du nimmſt ſeine Lehren in einem viel zu engen Sinn: du legſt ihm eine Art dämoniſchen Charakter bei, oder, ich weiß nicht was? glaubſt dich gegängelt von einem wunderlichen Spiritus familiaris, der in dei - nes Vaters Rumpelkammer ſpuckt. Ich will mich in dieſe Myſterien nicht miſchen; was Vernünftiges dran iſt, leuchtet mir ein, ſo gut wie dir: nur ſage mir, mein Lieber, du haſt vorhin von Einſamkeit, von Unabhängigkeit geſprochen: je nachdem du das W〈…〉〈…〉 t nimmſt, bin ich ganz einverſtanden. In allem Ernſt, ich glaube, daß deine künſtleriſche Natur, um ihren ungeſchwächten Nerv zu bewahren, ein ſehr bewegtes geſellſchaftliches Leben nicht verträgt. Eben die edel - ſten Keime deiner Originalität erforderten von jeher eine gewiſſe ſtete Temperatur, deren Wechſel ſo viel möglich nur von dir abhängen mußte, eine heimlich melancholiſche Beſchränkung, als graue Folie jener unerklärbar tiefen Herzensfreudigkeit, die ſo recht aus dem innigen Gefühl unſeres Selbſt hervorquillt. Im Ganzen iſt das ſo bei jedem Künſtler von Genie, ich meine bei jedem Künſtler deines Faches, nur weiß der eine mehr, als der andere ſeine Stimmung in die Welt zu theilen. Was aber namentlich die Berüh - rung mit der ſogenannten großen Welt anbelangt, ſo337 war es mir gleich Anfangs eine ausgemachte Sache, daß du dich nie dorthin verlieren würdeſt. Der plötzliche Anlauf, den du mit der Bekanntſchaft des Herzogs genommen, ſchien mir deßhalb der größte Widerſpruch mit dir ſelber. Gewohnt, dich als einen ſeltnen Kna - ben zu betrachten, der ausgerüſtet mit erhabnen Kräf - ten, ſich auf Einmal ungeſchickt und faſt unmächtig fühlen müſſe, ſo bald man ihn in jene blendenden Zirkel hineinzöge, war mir die Geſchmeidigkeit, womit du dich in Kurzem aſſimilirteſt, beinah, wie ſoll ich ſagen? nicht verdächtig, doch höchſt auffallend, und mir ahnete, es würde in die Länge nicht wohl dauern. 〈…〉〈…〉leicht, ſo meint ich, wär es möglich, daß unter ſolchen Influenzen ſich dieß und jenes von ſeiner ur - ſprünglichen Farbe verwiſchte, daß ſein Ehrgeiz eine falſche Richtung nähme, daß er an der Treue gegen ſeinen Genius etwas aufopferte! Kurzum, mich pei - nigte etwas, und wär’s auch nur das thörichte Mit - leid, das einen anwandeln kann, wenn der Kryſtall, losgeriſſen aus ſeiner mütterlichen Nacht, die ſein Wachsthum förderte, in die unkeuſchen Hände der Menſchen fällt. Doch das ſind Poſſen. Aber du ſiehſt nur daraus, ich bin weder bornirt, noch anmaßend, noch leichtſinnig genug, dir dein eigentliches Esse zu beſtreiten und den ſtillen Boden aufzulockern, worin dein Weſen ſeit früheſter Zeit ſo liebevoll Wurzel ge - ſchlagen. Gewiß, ich habe die herrlichſten Früchte daraus hervorgehn ſehen; und Nolten! ſiehſt22338du, es hat dich nicht befremdet noch verdroſſen, wenn du ſeit der ganzen Zeit, als wir uns kennen, nichts von überſchwänglichem Lobe, von enthuſiaſtiſchen Dis - kurſen über den Gang deines Geiſtes und derglei - chen aus meinem Munde vernahmſt; ich bin nun ein - mal wie ich bin. Aber in dieſem Augenblick, wo ſich ſo viel ernſte Betrachtung von ſelbſt aufdringt, du deine Sache gleichſam auf die Spitze ſtellſt, jezt möcht ich wohl, daß die Zunge ſich mir löste, daß ich dir ſagen könnte, wie ich von Anfang an mit einer ſtillen Rührung, mit einer bewundernden Freude deiner Ent - wicklung zugeſchaut, ja gewiß mit mehr Pietät und Sorgfalt, als du mir zuzutrauen ſcheinſt.

Nolten hörte mit zunehmendem Staunen die Bekenntniſſe ſeines Freundes, wodurch er ſich wirklich höher geehrt und herzlicher geſtärkt fühlte, als durch das ruhmvollſte Lob, das ihm irgend ein mächtiger Gönner hätte ſpenden mögen. Er wollte ſo eben et - was erwiedern, als der Schauſpieler fortfuhr:

Laß mich dir Eins anführen. Du erinnerſt dich des Geſprächs, das wir bei einem Spazierritt nach L. zuſammen hatten. Es war der köſtlichſte Abend mit - ten im Juli, die untergehende Sonne warf ihren ro - then Schein auf unſere Geſichter, wir ſchwazten ein Weites und Breites über die Kunſt. Mit jedem Worte ſchloſſeſt du, ohne es zu wollen, mir die Bil - dung deiner Natur vollſtändiger auf, zum Erſtenmal durft ich mich freudig in den innern Kelch deines339 Weſens vertiefen. Es frug ſich, weißt du, über das Verhältniß des tief religiöſen und namentlich des chriſtlichen Künſtlergemüths zum Geiſt der Antike und der poetiſchen Empfindungsweiſe des Alterthums, über die Möglichkeit einer beinahe gleich liebevollen Aus - bildung beider Richtungen in einem und demſelben Subjekte. Ich geſtand dir eine hohe und ſeltne Uni - verſalität zu, wie denn hierüber auch nur Eine Stimme ſeyn kann. Ich überzeugte mich, es ſey für deine Kunſt von Seiten deines chriſtlichen Gefühlslebens, das immerhin doch überwiegend bleibt, nichts zu be - fürchten, ſelbſt wenn zulezt der Argwohn gewiſſer Ze - loten ſich noch rechtfertigen ſollte, die einen heimlichen Anhänger der katholiſchen Kirche und den künftigen Apoſtaten in dir wittern. Du haſt, ſo dacht ich, ein für alle Mal die Blume der Alten rein vom ſchön ſchlanken Stengel abgepflückt, ſie blüht dir unverwelk - lich am Buſen und miſcht ihren ſtärkenden Geruch in deine Phantaſie, du magſt nun malen was du willſt; nichts Enges, nichts Verzwicktes wird jemals von dir ausgehn. Siehſt du, das war mir längſt ſo klar geworden! und ſeh ich nun all den glücklichen Zuſam - menklang deiner Kräfte, und wie willig ſich deine Na - tur finden ließ, jeden herben Gegenſatz in dir zu ſchmelzen, denk ich das unſchätzbare einzige Glück, daß dir die Kunſt ſo frühe, faſt ohne dein Zuthun, als reife Frucht aus den Händen gütiger Götter zu - fiel, die ſich es vorgeſezt zu haben ſcheinen, in dir ein340 Beiſpiel des glücklichſten Menſchen aufzuſtellen ſag mir, ſoll mich’s nicht kränken, toller Junge, ſoll mir’s die Galle nicht ſchütteln, wenn du, vom ſeltſam - ſten Wahne getrieben, mit Gewalt Einſeitigkeit er - zwingen willſt, wo keine iſt, keine ſeyn darf! Ich rede nicht von deiner Stellung zur allgemeinen Welt, darüber kann ja, wie geſagt, kein Streit mehr ſeyn, aber daß du der freundlichſten Seite des Lebens ab - ſterben und einem Glück entſagen willſt, das dir doch ſo natürlich wäre, als irgend einem braven Kerl, das iſt’s, was mich empört. Zwar geb ich gerne zu, dir hat die Liebe nicht ganz zum Beſten mitgeſpielt, ich läugne nicht, daß du ſeit Agnes

Ach, ſo? rief Nolten auf Einmal, wie aus den Wolken gefallen, dahinaus? das war die Abſicht, die du bisher mit ſo viel ſchmeichelhafter Beredtſam - keit glaubteſt vorbereiten zu müſſen?

Sey nicht unbillig, guter Freund! Was ich bis - her zu deinem Ruhm geſprochen haben mag, war mein aufrichtiger baarer Ernſt, und es bedarf wohl der Betheurung nicht erſt zwiſchen uns. Uebrigens magſt du immerhin den Kuppler in mir ſehen, ich halte dieß Geſchäft im gegenwärtigen Falle für ein ſehr löbli - ches und ehrenwerthes. Wo dich eigentlich der Schuh drückt, iſt mir ganz wohl bekannt. Deine Lie - beskalamitäten haben dich auf den Punkt ein wenig revoltirt, nun ziehſt du dich ſchmerzhaft und gekränkt n’s Schneckenhaus zurück und ſagſt dir unterwegs341 zum Troſte: du bringeſt deiner Kunſt ein Opfer. Du fürchteſt den Schmerz der Leidenſchaft, ſo wie das Ueberſchwängliche in ihren Freuden. Zum Teufel aber! was ſoll man von dem Künſtler halten, der zu feige iſt, dieß Beides in ſeinem höchſten Maß auf ſich zu laden? Wie? du, ein Maler, willſt eine Welt hin - ſtellen mit all ihrer tauſendfachen Wonne und Pein, und ſteckſt dir vorſichtig die Grenzen aus, wie weit du wolleſt dich mitfreun und leiden? Ich ſage dir, das heißt die See befahren und ſein Schiff nicht wol - len vom Waſſer netzen laſſen!

Wie du dich übertreibſt! rief Nolten, wie du mir Unrecht thuſt! eben als ob ich mir eine Diä - tetik des Enthuſiasmus erfunden hätte, als ob ich den Künſtler und den Menſchen in zwei Stücke ſchnitte! Der leztere, glaub mir, er mag ſich drehen, wie er will, wird immerhin entbehren müſſen, und ohne das wer triebe da die Kunſt? Iſt ſie denn was an - ders, als ein Verſuch, das zu erſetzen, zu ergänzen, was uns die Wirklichkeit verſagt, zum wenigſten das - jenige doppelt und gereinigt zu genießen, was jene in der That gewährt? Muß demnach Sehnſucht nun einmal das Element des Künſtlers ſeyn, warum bin ich zu tadeln, wenn ich drauf denke, mir dieß Gefühl ſo ungetrübt und jung als möglich zu bewahren, in - dem ich freiwillig verzichte, eh ich verliere, eh ich’s zum zweiten und zum dritten Male dahin kom - men laſſe, daß die gemeine Erfahrung mir mein blü -342 hend Ideal zerpflückt, daß ich, erſättigt und enttäuſcht am Gegenſtande meiner Liebe, zulezt daſtehe arm mit welkem Herzen? Du merkſt, ich rede hier zu - nächſt von dem geprieſenen Glück der Ehe: denn dieß iſt’s doch, um was deine ganze Demonſtration ſich dreht.

Und was gilt es, ich bringe dich noch zurechte, wenn ich nur erſt deine tollen Prätenſionen herabge - ſtimmt habe! Wer heißt dich Ideale im Kopf tragen, wo von Liebe die Rede iſt? Bei allen Grazien und Muſen! ein gutes natürliches Geſchöpf, das dir einen Himmel voll Zärtlichkeit, voll aufopfernder Treu ent - gegenbringt, dir den geſunden Muth erhält, den fri - ſchen Blick in die Welt, dich freundlich losſpannt von der wühlenden Begier einer geſchäftigen Einbildung und dich zur rechten Zeit herauslockt in die helle All - tagsſonne, die doch dem Weiſen wie dem Thoren gleich unentbehrlich iſt was willſt du weiter?

Nolten ſah ſchweigend vor ſich nieder und ſagte endlich: Es gab eine Zeit, wo ich eben ſo dachte. Er waudte ſich erſchüttert auf die Seite, ging mit lebhaften Schritten durch den Saal und ließ ſich dann erſchöpft auf einen entfernten Stuhl nieder.

Der Schauſpieler, nachdem er die Erörterung des ihm über Alles wichtigen Gegenſtands nicht ohne Klug - heit und Nachdruck bis hieher geführt, war voll Be - gierde, den Augenblick zu nutzen, und jezt mit dem Gedanken an Agnes entſchiedener hervorzutreten, mußte jedoch von dieſem Wagniß ganz abſtehen, da er343 bemerkte, wie heftig Nolten angegriffen war; er ſuchte deßhalb das Geſpräch zu wenden, allein es wollte nichts mehr weiter rücken, man war verſtimmt, man mußte zulezt höchſt unbefriedigt ſcheiden.

Seit ſeiner Haftsentlaſſung hatte Larkens ei - nen Entſchluß gefaßt, wovon er bis jezt noch gegen Nolten nichts laut werden ließ. Er wollte auf un - beſtimmte Zeit die Stadt verlaſſen und in’s Ausland gehen. In mehr als Einer Hinſicht ſchien dieß wün - ſchenswerth und nothwendig. Sein Schauſpielkontrakt war ſeit Kurzem zu Ende, der hieſige Aufenthalt war ihm durch die öffentlichen Vorfälle verbittert, der Hof ſelber ſchien ſeine Entfernung, auf eine Zeit wenig - ſtens, nicht ungerne zu ſehen. Aber dringender als dieſes Alles empfand er das eigene Bedürfniß, durch Zerſtreuung, ja durch völlige Entäußerung von ſeiner bisherigen Lebensweiſe ſich innerlich auszubeſſern und auszuheilen. Er entdeckte Theobalden ſeine Abſicht, ſo weit er vor der Hand für räthlich fand, und die - ſer, obgleich höchſt unangenehm dadurch überraſcht und faſt gekränkt, konnte bei genauerer Betrachtung nichts dagegen ſagen.

Wie man aber, ehe an die Zukunft gedacht wird, vor allen Dingen der Gegenwart und der Vergangen - heit ihr Recht erzeigen muß, ſo hatte Larkens im Stillen einen Abend auserſehen, an dem man die Er -344 löſung von ſo mancherlei Unluſt und Fährlichkeit recht fröhlich mit einander feiern wollte. Er beſorgte ein ausgewähltes Abendeſſen und machte ſich’s beſonders zum Vergnügen, die kleine, für ein dutzend Gäſte be - rechnete Tafel auf alle Art mit den früheſten Blumen und Treibhauspflanzen, ſo wie mit den verſchiedenen Ge - ſchenken aufzuputzen, deren ſich eine ziemlich bunte Samm - lung von theilnehmenden Freunden und Gratulanten eingefunden. Was unter dieſen hübſchen und zum Theil koſtbaren Dingen am meiſten figurirte, war eine große Alabaſter-Vaſe von höchſt zierlicher Arbeit, welche für Nolten beſtimmt, in der Mitte des Ti - ſches mit üppigen Gewächſen prangte. Sie war eine Gabe des Malers Tillſen, der ſich heute überhaupt als einen der herzlichſten und redſeligſten erwies. Der wunderliche Hofrath hatte nach ſeiner Weiſe die Ein - ladung nicht angenommen und ſich entſchuldigt, doch zum Beweis, daß er an Andrer Wohlſeyn Antheil nehme, einen Korb mit friſchen Auſtern eingeſchickt. Die übrige Geſellſchaft beſtand meiſt aus Künſtlern.

Unſer Maler, von ſo viel ehrenden Beweiſen der Freundſchaft gleich Anfangs überraſcht und bewegt, hatte gegen eine wehmüthige Empfindung anzukämpfen, die er, eingedenk der heitern Forderung des Augen - blicks, für jezt abweiſen mußte. Die Unterhaltung im Ganzen war mehr munter und ſcherzhaft abſpringend, als ernſt und bedeutend; ja es nahmen die Späße eines gewiſſen Akteurs und Sängers dergeſtalt über -345 hand, daß Jeder eine Weile lang vergaß, ſelbſt etwas Weiteres zur allgemeinen Ergötzlichkeit beizutragen, als daß er aus voller Bruſt mitlachte. Larkens, der Laune ſeines theatraliſchen Kollegen zuerſt nur von Weitem die Hand bietend, wiegte ſich lächelnd auf ſeinem Stuhle, während er zuweilen ein Wort als neuen Zündſtoff zuwarf; bald aber kam auch er in den Zug, und indem er nach ſeiner Gewohnheit einen paradoxen Satz aufſtellte, der Jedermann zum Angriff reizte, wußte er durch den luſtigen Scharfſinn, womit er ihn verfocht, die lebendigſte Bewegung un - ter den ſämmtlichen Gäſten zu bewirken, und immer das Beſte, was in der Natur des Einzelnen verbor - gen lag, war es Gemüth, Erfahrung oder Witz, mit Leichtigkeit hervorzulocken, wodurch denn unvermerkt das Intereſſe des Geſprächs ſich auf das Höchſte ver - mannichfaltigen mußte. Zulezt als man dem Frohſinn ein äußerſtes Genüge geleiſtet, ward Larkens zuſe - hends ſtiller und trüber; er nahm, da man ihn damit aufzog, keinen Anſtand, zu erklären, daß er der glück - lichen Bedeutung dieſes Abends im Stillen noch eine andere für ſich gegeben habe, und daß er ſich die Bitte vorbehalten, es möge nun auch die Geſellſchaft in eben dem beſondern Sinne die lezten Gläſer mit ihm leeren; er werde auf längere oder kürzere Zeit aus der Gegend ſcheiden, um einige lang nicht geſehene Verwandte auf - zuſuchen. Der Vorſatz, ſo natürlich er unter den be - kannten Umſtänden war, erregte gleichwohl großes, bei -346 nahe ſtürmiſches Bedauern, und um ſo mehr, als Ei - nige vermutheten, man werde den geſchäzten Künſtler, den ſich die ganze Stadt ſeit Kurzem erſt gleichſam auf’s Neue wiedergeſchenkt glaubte, bei dieſer Gelegenheit wohl gar für immerdar verlieren, aber Nolten ver - bürgte ſich für die treuen Geſinnungen des Flüchtlings. So wurden denn die Kelche nochmals angefüllt, und unter mancherlei glückwünſchenden Toaſten beſchloß man endlich ſpät in der Nacht das muntere Feſt.

Die Ungeduld, mit welcher von jezt an Larkens ſeinen Abgang betrieb, verhinderte ihn nicht, das fer - nere Schickſal ſeines Freundes zu bedenken, vielmehr wenn er ſich bisher zur ernſtlichſten Aufgabe gemacht hatte, die Neigung Noltens wieder auf die Braut zurückzulenken, wenn er ſich vermittelſt jenes fromm täuſchenden Verkehrs mit Agneſen fortwährend von der Liebenswürdigkeit des Mädchens, von ihrem reinen und ſchönen Verſtande, aber auch von dem natürlichen Verlangen überzeugte, womit, wie billig, ein zärtliches Kind ſich den Geliebten bald für immer in die Arme wünſcht, wenn er Theobalds ganze Verfaſſung, die noch immer drohende Nähe Conſtanzens bedachte, ſo konnte ihm nichts angelegener ſeyn, als dieſem zwei - felhaften Schwanken einen raſchen und kräftigen Aus - ſchlag zu geben. Sein Plan deßhalb ſtand feſt, aber er ſollte erſt nach ſeiner Abreiſe in Wirkung treten, ja es347 war der günſtige Erfolg, deſſen er ſich vollkommen ver - ſichert hielt, gewiſſermaßen auf ſeine Entfernung be - rechnet.

Nun ſchrieb er an Agneſen, und wirklich, er dachte nur ungerne daran, daß es zum lezten Male ſey. Was für ein Thor man doch iſt! rief er aus, indem er nachdenklich die Feder weglegte. Mitunter hat es mich ergözt, von der innerſten Seele dieſes lieblichen Weſens gleichſam Beſitz zu nehmen, und um ſo größer war mein Glück, je mehr ich’s unerkannt und wie ein Dieb genießen konnte. Ich bilde mir ein, das Mädchen wolle mir wohl, während ich ihr in der That ſo viel wie Nichts bedeute; ich ſchütte unter angenommener Firma die ganze Gluth, die lezte, mühſam angefachte Kohle meines abgelebten Herzens auf dieß Papier und ſchmeichle mir was Rechts bei dem Gedanken, daß dieſes Blatt ſie wiederum für mich erwärme. O närriſcher Teufel du! kannſt du nicht morgen verſchollen, geſtorben, be - graben ſeyn, und wächst der Schönen drum auch nur ein Härchen anders? Bei alle dem hat mir die Täu - ſchung wohl gethan, ſie half mir in hundert ſchwülen Augenblicken den Glauben an mich ſelbſt aufrecht er - halten. Es fragt ſich, ob es nicht ähnliche Täuſchun - gen gibt, eben in Bezug auf unſre herrlichſten Gefühle? Uod doch, es ſcheint in Allen etwas zu liegen, das ih - nen einen ewigen Werth verleiht. Geſezt, ich werde dieſem wackern Kinde an keinem Orte der Welt von Angeſicht zu Angeſicht begegnen, geſezt, es bliebe ihr all348 meine warme Theilnahme für immerdar verborgen, ſoll das der Höhe meines glücklichen Gefühls das Mindeſte benehmen können? Wird denn die Freude reiner Zu - neigung, wird das Bewußtſeyn einer braven That nicht dann erſt ein wahrhaft Unendliches und Unveräußer - liches, wenn du damit ganz auf dich ſelbſt zurückgewie - ſen biſt?

Er nahm jezt in Gedanken den herzlichſten Abſchied von dem Mädchen, und weil nach ſeiner Berechnung ſchon ihr nächſter Brief wieder unmittelbar an Nolten kommen ſollte, ſo gab er ihr deßhalb die nöthige Wei - ſung, jedoch ſo, daß ſie dabei nichts weiter denken konnte.

Verrieth nun das Benehmen des Schauſpielers in dieſen lezten Tagen überhaupt eine gewiſſe Unruhe und Beklommenheit, ſo war er bei dem Abſchied von Theo - bald noch weniger im Stande, eine heftige Bewegung zu verbergen, welche, zuſammengehalten mit einigen ſeiner Aeußerungen, auf ein geheimes Vorhaben hinzu - deuten ſchien und unſerm Maler wirklich auf Augen - blicke ein unheimliches Gefühl gab, das denn Larkens nach ſeiner Art, wobei man oft nicht ſagen konnte, ob es Ernſt oder Spaß ſey, ſchnell wieder zu zerſtreuen wußte.

Uebrigens fühlte Nolten die große Lücke, welche durch des Schauſpielers Entfernung nothwendig nach Innen und Außen bei ihm entſtehen mußte, nur allzu - bald, und die vielfachen Nachfragen der Leute zeigten ihm genugſam, daß er nicht als der Einzige bei dieſer349 Veränderung entbehre. Die beiden Freunde Leopold und Ferdinand reiſ’ten indeſſen auch ab, und doppelt und dreifach ward jezt des Malers Verlangen geſchärft, das Gleichgewicht ſeines Weſen vollkommen herzuſtellen. Der Entwurf eines neuen Werkes, wozu die erſte Idee während der Gefangenſchaft bei ihm entſtanden war, lag auf dem Papier, und nun ging es an die Ausfüh - rung mit einer Luſt, mit einem Selbſtvertrauen, der - gleichen er nur in den glücklichſten Jahren ſeines erſten Strebens gehabt zu haben ſich erinnerte. Dennoch mußte er nach und nach bemerken, daß ihm zu einer völligen Freiheit der Seele noch Vieles fehlte; er ward verdrießlich, er ſtellte die Arbeit unwillig zurück, er wußte nicht, was ihn hindere.

Eines Morgens bringt man ihm die Schlüſſel zu den Zimmern des Schauſpielers. Dieſer hatte ſie bei ſeiner Abreiſe einem dritten Freunde mit dem ausdrück - lichen Wunſche hinterlaſſen, daß er ſie erſt nach Verfluß einiger Tage an den Maler ausliefere, welcher dann nicht ſäumen möge, die Zimmer aufzuſchließen und was darin ſich vorfinde, theils in Empfang zu nehmen, theils zu beſorgen. Zugleich erhielt Nolten ein Verzeichniß der ſämmtlichen Effekten, nebſt Angabe ihrer Beſtim - mung. Er ſtuzte nicht wenig über dieſe ſonderbare Kommiſſion und befragte jene Mittelsperſon mit eini - ger Aengſtlichkeit: Was denn das Alles zu bedeuten hätte? Der junge Menſch aber wußte nicht viel weiter Beſcheid zu geben und entfernte ſich bald. Sogleich350 öffnete Nolten die Zimmer, wo er Mobilien, Bücher, Kupferſtiche, Uhren und dergleichen wie ſonſt in der beſten Ordnung fand. Alsbald aber zogen einige an ihn überſchriebene Pakete, die auf einem Tiſchchen be - ſonders hingerüſtet waren, ſeine Augen auf ſich. Ha - ſtig riß er den Brief auf, welcher obenan lag. Gleich bei den erſten Linien gerieth Nolten in die größte Bewegung, es zitterte das Blatt in ſeiner Hand, er mußte inne halten, er las auf’s Neue, bald von vorne, bald aus der Mitte, bald von hinten herein, als müßte er die ganze bit - tere Ladung auf Einmal in ſich ſchlingen. Inzwiſchen fiel ſein Blick auf die übrigen Pakete, deren eines die Ueberſchriften hatte: Briefe von Agnes. Von de - ren Vater. Meine Briefkoncepte an Agnes. Ein anderes zeigte den Titel: Fragmente meines Tage - buchs. Ohne recht zu wiſſen was er that, griff er nochmals nach dem einzelnen Schreiben, er durchlief es ohne Beſinnung, indem er ſich von einem Zimmer, von einem Fenſter zum andern raſtlos bewegte; er wollte ſich faſſen, wollte begreifen, nachdem er ſchon Alles begriffen, Alles errathen hatte. Er warf ſich auf’s Sopha nieder, die Ellbogen auf die Kniee ge - ſtüzt, das Geſicht in beide Hände gedrückt, ſprang wieder auf und ſtürzte wie ein Unſinniger umher.

Sein Bedienter hatte ſo eben das Pferd zum Spazierritt vorgeführt und meldete es ihm. Er be - fahl, es wegzuführen, er befahl, noch zu warten, er widerſprach ſich zehnmal in Einem Athem. Der Bur -351 ſche ging, ohne ſeinen Herrn verſtanden zu haben. Nach einer halben Stunde, während welcher Nol - ten, weder die übrigen Papiere anzuſehen, noch ſich einigermaßen zu beruhigen vermocht hatte, wieder - holte der Diener ſeine Anfrage. Raſch nahm der Maler Hut und Gerte, ſteckte die nöthigſten Papiere zu ſich und entkam wie betrunken der Stadt. Wir wenden uns auf kurze Zeit von ihm und ſeinem trau - rigen Zuſtande weg und ſehen inzwiſchen nach jenem wichtigen Schreiben.

Larkens an Nolten.

Indem Du dieſe Zeilen lieſeſt, iſt der, der ſie ge - ſchrieben, ſchon viele Meilen weit von Dir entfernt, und wenn er Dir denn die Abſicht geſteht, daß er ſich fortgeſtohlen, um ſo bald nicht wieder zu kehren, daß er ſeinen bisherigen Verhältniſſen auf immer, und auch Dir, dem einzigen Freunde, vielleicht auf Jahre ſich entziehen will, ſo ſoll folgendes Wenige dieſen Schritt, ſo gut es kann, rechtfertigen.

Gewiß klingt es Dir ſelber bald nicht mehr wie ein hohles und frevelhaft übertriebenes Wort, was Du wohl ſonſt manchmal von mir haſt hören müſſen: mein Leben hat ausgeſpielt, ich habe angefangen, mich ſelber zu überleben. Das iſt mir ſo klar geworden in der lezten Zeit, wo ja unſer einer wahrhaftig ſchöne Gelegenheit hatte, die Reſultate von dreißig Jahren wie Fäden mit den Fingern auszuziehn. Ich352 mag Dir die alte Litanei nicht vorſingen; genug, mir iſt in meiner eignen Haut nimmer wohl. Ich will mir weiß machen, daß ich ſie abſtreife, indem ich von mir thue, was bisher unzertrennlich von meinem We - ſen ſchien, vor Allem den Theater-Rock, und dann noch das Eine und Andere, was ich nicht zu ſagen brauche. Mancher grillenhafte Heilige ging in die Wüſte und bildete ſich ein, dort ſeine Tagedieberei gottgefälliger zu treiben. Ich habe noch immer etwas Beſſeres wie das im Sinn. Am End iſt’s freilich nur eine neue Fratze, worin ich mich ſelber hinterge - hen möchte; und fruchtet’s nicht, nun ſo geruht viel - leicht der Himmel, der armen Seele den lezten Dienſt zu erweiſen, davor mir denn auch gar nicht bang ſeyn ſoll.

Den Abſchied, Lieber, erlaſſ mir! O ich darf nicht denken, was ich mit Dir verliere, herrlicher Junge! Aber ſtill; Du weißt, wie ich Dich am Her - zen gehegt habe, und ſo iſt auch mir Deine Liebe wohl bewußt. Das iſt kein geringer Troſt auf mei - nen Weg. Auch kann es ja gar wohl werden, daß wir uns an irgend einem Fleck der Erde die Hände wieder reichen. Aber wir thun auf alle Fälle gut, dieſe Möglichkeit als keine zu betrachten. Uebrigens forſche nicht nach mir, es würde gewiß vergeblich ſeyn.

Und nun die Hauptſache.

Mit den Paketen übergeb ich Dir ein wichtiges, ich darf ſagen, ein heiliges Vermächtniß. Es betrifft353 Deine Sache mit Agneſen, die mich dieſe lezten zehn Monate faſt einzig beſchäftigte. Mein Lieber! ich bitte dich, höre mich ruhig und vernünftig an.

In der gewiſſeſten Ueberzeugung, daß die Zeit kommen müſſe, wo Dein heißeſtes Gebet ſeyn werde, mit dieſem Mädchen verbunden zu ſeyn, ergriff ich ein gewagtes Mittel, Dir den Weg zu dieſem Heilig - thume offen zu halten. Vergib den Betrug! nur meine Hand war falſch, mein Herz gewißlich nicht: ich glaubte das Deine treulich abzuſchreiben; ſtraf mich nicht Lügen! Laßt mich den Propheten eurer Liebe geweſen ſeyn! Ihr Märtyrer war ich ohnehin; denn indem ich Deiner Liebe Roſenkränze flocht, meinſt du, es habe ſich nicht manchmal ein Dorn in mein eigen Fleiſch gedrückt? Doch das gehört ja nicht hie - her; genug, wenn meine Epiſteln ihren Dienſt ge - than. Fahre Du nun mit der Wahrheit fort, wo ich die Täuſchung ließ. O Theobald wenn ich je - mals etwas über Dich vermochte, wenn je der Name Larkens den Klang der lautern Freundſchaft für Dich hatte, wenn Dir irgend das Urtheil eines Men - ſchen richtiger, beſſer ſcheinen konnte als Dein eignes, ſo folge mir dießmal! Hätt ich Worte von durch - dringendem Feuer, hätt ich die goldne Rede eines Gottes, jezt würd ich ſie gebrauchen, um Dein In - nerſtes zu rühren, Freund, Liebling meiner Seele! So aber kann ich’s nicht; mein Kiel iſt ſtumpf, mein Ausdruck matt, Du weißt ja, es iſt alle Schönheit23354von mir gewichen; die dürre nackte Wahrheit blieb mir allein, ſie und die Reue. Vor dieſer möcht ich Dich bewahren. Ich bin Dein guter Genius, und indem ich von Dir ſcheide, ſey Dir ein andrer, beſ - ſerer, empfohlen. Ich meine Agneſen. Setze das Mädchen in ſeine alten Rechte wieder ein. Du fin - deſt auf der Welt nichts Himmliſchers, als die Seele dieſes Kindes iſt. Glaub mir das, Nolten, ſo ge - wiß, als ſchwür ich’s auf dem Todtenbette. Du haſt Dich in Deinem Argwohn garſtig geirrt. Lies dieſe Briefe, namentlich des Vaters, und es wird Dir wie Schuppen von den Augen fallen. Dann aber zaudre auch nicht länger; faſſe Dich! Eile zu ihr, tritt ſorglos unter Ihre Augen, ſie wird nichts frem - des an Dir wittern, ſie weiß nichts von einer Zeit, da Theobald ihr minder angehört als ſonſt; das Feld iſt durchaus frei und rein zwiſchen euch.

Es ſteht bei Dir, ob der gute Tropf das Inter - mezzo erfahren ſoll oder nicht; bevor ein paar Jahre vorüber, würd ich kaum dazu rathen. Dann aber wird euch ſeyn, als hättet ihr einmal in einem Som - mernachstraum mitgeſpielt, und Puck, der täu - ſchende Elfe, lacht noch in’s Fäuſtchen über dem wohl - gelungenen Zauberſpaß. Dann gedenket auch meiner mit Liebe, ſo wie man ruhig eines Abgeſchiednen denkt, nach welchem man ſich wohl zuweilen ſehnen mag, doch deſſen Schickſal wir nicht beklagen dürfen.

355

Auf einem beſondern Zettel befand ſich noch fol - gende

Nachſchrift.

Schon war mein Brief geſchloſſen, als es mir nachgerade gewaltigen Skrupel machte, Dir einen Um - ſtand verſchwiegen zu haben, der Dich vielleicht ver - drießen mag, mir aber ad inelinandam rem nicht wenig dienen konnte. Ein Winkelzug gegen die Gräfin. So höre denn, und fluche mir die ganze Hölle auf den Hals und heiſſ mich einen Schurken, wenn Du das Herz haſt ich weiß doch, was ich zu thun hatte. Conſtanze wurde durch mich, oder vielmehr durch einen angelegten Zufall (hinter welchem ſie we - der mich noch ſonſt Jemand vermuthen kann) avertirt, daß ein gewiſſer Freund bereits irgendwo auf der Liſte der glücklichen Bräutigame ſtehe. Ich hoffe nicht, Dich durch den Coup zu ſtark kompromittirt zu haben, und ein Weniges war ſchon zu wagen. Wenn ihr die Neuigkeit nicht ſchmeckte, ſo iſt das in der Regel; nicht, weil ſie in Dich verliebt, ſondern weil ſie ein Weib iſt. Wir haben die Ungnade, worein ſie uns gleich auf jenes Poſſenſpiel hat fallen laſſen, einer elenden Konvenienz gegen die Hofſippſchaft zu - geſchrieben, und eines Theils bin ich noch jezt der Meinung; geſteh ich Dir nun aber zugleich, daß ſie um die nämliche Zeit auch die Agneſiana zu ſchlu - cken bekam, ſo ſeh ich ſchon im Geiſt voraus, an was für neuen verzweifelten Hypotheſen nun plötzlich Dein356 armer Kopf anrennen wird. Wie, wenn Madam ſich mit ganz andern Gründen zum Zorne hinter’s allge - meine Zeter ihrer Schranzen verſteckt hätte? Holla! das läuft dem guten Jungen heiß und kalt über die Leber! Auch will ich ein Rhinozeros von Propheten ſeyn, wenn ſich Dir nicht in dieſem Augenblick die rührende Geſtalt von der Ferne zeigt, den ſchwarzen Lockenkopf in Trauer hingeſenkt, weinend um Deine Liebe. Ein verführeriſch Bild, fürwahr, dem ſchon Dein Herz entgegen zuckt! Doch halt, ich weiſe Dir ein anderes. In dem ſonnigen Gärtchen hinter des Vaters Haus betrachte mir das ſchlichte Kind, wie es ein fröhlich Liedchen ſummt, ſeine Veilchen, ſeine Myrthen begiest. Man ſieht ihr an, ſie hat den Strauß im Sinne, den ihr heimkehrender Verlobter bald unter tauſend tauſend Küſſen zum Willkomm haben ſoll; jeden Tag, jede Stunde erwartet ſie ihn

Was nun? wohin, Kamerade? Nicht wahr, ein bittrer Scheideweg? Hier wollt ich Dich haben! ſo weit mußt ich’s führen. Der Rückweg zu Conſtan - zen vielleicht er ſteht noch offen, ich zeig ihn Dir, nachdem Du ihn ſchon für immer verſchloſſen geglaubt. Du ſollteſt freie Wahl haben; das war ich Dir ſchuldig. Inzwiſchen haſt Du gelernt, es ſey auch möglich, ohne eine Conſtanze zu leben, und damit mein ich, iſt unendlich viel gewonnen.

Theobald! noch einmal: denk an den Gar - ten! Neulich hat ſie die Laube zurecht gepuzt, die357 Bank, wo der Liebſte bei ihr ſitzen ſoll. Wirſt Du bald kommen? wirſt Du nicht? Wag es ſie zu betrügen! Den hellen ſüßen Sommertag dieſer ſchuld - loſen Seele mit Einem verzweifelten Streiche hinzu - ſtürzen in eine dumpfe Nacht, wehe! das wimmernde Geſchöpf! Thu’s, und erlebe, daß ich in wenig Mon - den, ein einſamer Wallfahrer, auf des Mädchens Grab - hügel die kraftloſe Poſſe, das Nichts unſrer Freund - ſchaft, und die zerſchlagene Hoffnung beweine, daß mein elendes Leben, kurz eh ich’s ende, doch wenig - ſtens noch ſo viel nutz ſeyn möchte, zwei gute Men - ſchen glücklich zu machen.

Wer war unglücklicher als der Maler? und wer hätte glücklicher ſeyn können als er, wäre er ſogleich fähig geweſen, ſeinem Geiſte nur ſo viel Schwung zu geben, als nöthig, um einigermaßen ſich über die Um - ſtände, deren Forderungen ihm furchtbar über das Haupt hinaus wuchſen, zu erheben und eine klare Ueberſicht ſeiner Lage zu erhalten. Doch dazu hatte er noch weit. In einer ihm ſelbſt verwunderſamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langſam, bald hitzig einen einſamen Feldweg, und ſtatt daß er, wie er einige Mal verſuchte, wenigſtens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, ſah er ſich, wie eigen! immer nur von einer monotonen, lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgend ein Kobold zur höchſten Unzeit neckiſch in den358 Ohren lag. Mochte er ſich Gewalt anthun ſo viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und ſchnurrte, vom Takte des Reitens unter - ſtüzt, unbarmherzig in ihm fort. Weder im Zuſam - menhange zu denken, noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zuſtand. Um Got - teswillen, was iſt doch das? rief er zähneknirſchend, indem er ſeinem Pferde die Sporen heftig in die Sei - ten drückte, daß es ſchmerzhaft auffuhr und unauf - haltſam dahinſprengte. Bin ich’s denn noch? kann ich dieſen Krampf nicht abſchütteln, der mich ſo ſchnürt? Und was iſt’s denn weiter? wie, darf dieſe Entdeckung ſo ganz mich vernichten? was iſt mir denn verloren, ſeit ich das Alles weiß? genau beſehen Nichts, ge - wonnen Nichts ei ja doch, ein Mädchen, von dem mir Jemand ſchreibt, ſie ſey ein wahres Gottes - lamm, ein Sanspareil, ein Angelus! Er lachte herzlich über ſich ſelbſt, er jauchzte hell auf und lachte über ſeine eignen Töne, die ganz ein andres Ich aus ihm herauszuſtoßen ſchien.

Indem er noch ſo ſchwindelt und ſchwärmt, ſtellt ſich ſtatt jener muſikaliſchen Spuckerei eine andere Sucht bei ihm ein, die wenigſtens keine Plage war. Seine aufgeregte Einbildungskraft führte ihm mit un - begreiflicher Schnelligkeit eine ganze Schaar maleri - ſcher Situationen zu, die er ſich in fragmentariſch - dramatiſcher Form, von dichteriſchen Worten lebhaft begleitet, vorſtellen und in großen Contouren haſtig359 ausmalen mußte. Das Wunderlichſte dabei war, daß dieſe Bilder nicht die mindeſte Beziehung auf ſeine eigne Lage hatten, es waren vielmehr, wenn man ſo will, reine Vorarbeiten für den Maler, als ſolchen. Er glaubte niemals geiſtreichere Konceptionen gehabt zu haben, und noch in der Folge erinnerte er ſich mit Vergnügen an dieſe ſonderbar inſpirirte Stunde. Wir ſelbſt preiſen es mit Recht als einen himmliſchen Vorzug, welchen die Muſe vor allen an - dern Menſchen dem Künſtler dadurch gewährt, daß ſie ihn bei ungeheuren Uebergängen des Geſchickes mit einem holden energiſchen Wahnſinn umwickelt und ihm die Wirklichkeit ſo lange mit einer Zaubertapete be - deckt, bis der erſte gefährliche Augenblick vorüber iſt.

Auf dieſe Weiſe hat ſich unſer Freund beträcht - lich von der Stadt entfernt, und ehe er ihr von einer andern Seite wieder näher kommt, ſieht er unfern in einer anmuthigen Kluft die ſogenannte Heer-Mühle liegen, einen ihm wohlbekannten, durch manchen Spa - ziergang werth gewordenen Ort. Er war ein ſtets gerne geſehener Gaſt bei dem Müller, welcher zu der - jenigen Gattung von Pietiſten gehörte, mit denen Je - dermann gut auskommt. In gewiſſer Art konnte der Mann für unterrichtet gelten, nur hatte er Urſache, manche Eigenheiten zu verbergen, deren er ſich mit - unter ſchämte; ſo hatte er, da er anfänglich zur Schrei - berei beſtimmt, in alten Sprachen nicht ganz unwiſ - ſend war, ſich noch bei vorgerücktem Alter in den360 Kopf geſezt, die heiligen Schriften alten und neuen Teſtaments im Urtexte zu leſen, wobei es hauptſäch - lich auf chiliaſtiſche Zwecke mochte abgeſehen ſeyn. Nach einem ſehr mühſamen und wenig geordneten Studium von mehreren Jahren ſah er ſich ungern überzeugt, daß Alles eitel Stückwerk bei ihm ſey und das ganze ſchöne Unternehmen auf Nichts hinauslaufe. Aus Verdruß über die verlorne Zeit warf er ſich in kecke ökonomiſche Spekulationen, dabei er denn zwar keinen Schaden, doch auch nicht ganz ſeine Rechnung fand. Seine Frau, eine kluge und ſtille Haushälterin, wußte ihn mit guter Art zu lenken und zu leiten, niemals rückte ſie ihm ſeinen Irrthum ausdrücklich vor, auch wenn ſie ihn denſelben fühlen ließ, und da ihm nichts Unangenehmeres begegnen konnte, als wenn er irgend - wie an die Nichtigkeit jenes wiſſenſchaftlichen Trei - bens erinnert ward, ja da er, um nur kein Unrecht einzugeſtehn, ſich auch wohl die Miene gab, als wür - den ihm jene Forſchungen ſeiner Zeit noch die reich - lichſten Zinſe abwerfen, ſo ſchonte das Weib dieſe Schwachheit gerne und war heimlich zufrieden, wenn ſie ihm eine neue falſche Idee vergeſſen machen konnte. Uebrigens kannte man ihn als einen muntern, redſe - ligen Geſellſchafter, als den beſten Gatten und Vater ſeiner größtentheils ſchon wohlverſorgten Familie.

Nolten ſehnte ſich nach der harmloſen Gegen - wart eines menſchlichen Weſens eben ſo ſehr, als er ſich ungeſchickt fühlte, an irgend einer Geſellſchaft Theil361 zu nehmen; er überlegte deßhalb ſo eben, ob er den Pfad nach der Mühle hinunter einſchlagen oder nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein Müllerknecht begegnet, der ihm ſagt, Herr und Frau wären über Feld und kämen vor Abend nicht nach Hauſe. Wie erwünſcht war dem Maler die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur ſein trau - liches Plätzchen in des Müllers Wohnſtube aufſuchen: es ſchien ihm dieß der einzige Ort der Welt, der ſei - ner gegenwärtigen Verfaſſung tauge. Und er hatte Recht; denn wer machte nicht ſchon die Erfahrung, daß man einen verwickelten Gemüthszuſtand, gewiſſe Schmerzen, Ueberraſchungen und Verlegenheiten weit leichter in irgend einer fremden ungeſtörten Umgebung, als innerhalb der eignen Wände bei ſich verarbeite? Nolten gab ſein Pferd in den Stall, wo man ihn ſchon kannte, und trat in die reinliche braun getäfelte Stube, wo er Niemanden traf, nur in der Kammer neben ſaß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen, das ein kleineres Brüderchen im Schooſe hatte. Eine ältere Tochter Juſtine, eine Prachtdirne, ſchlank und rothwangig mit kohlſchwarzen Augen, trat herein unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte, daß die Eltern abweſend ſeyen, lief gleich nach den Kellerſchlüſſeln und freute ſich, als Nolten ihr er - laubte, weil man im Hauſe ſchon gegeſſen hatte, ihm wenigſtens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen. Er nahm ſogleich ſeine alte Bank und das Fenſter362 ein, von wo man unmittelbar auf die Waſſerſperre hinunter und weiter hinaus auf das erquickendſte Wieſengrün und runde Hügel ſah. Um wie viel lieb - licher, eigener kam ihm an dieſer beſchränkten Stelle Frühling und Sonnenſchein vor, als da ihn dieſer noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte er ſo auf den Spiegel des Waſſers, er fühlte ſich ſonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und zugleich ſicher in dieſer eingeſchloſſ’nen Gegenwart. Auf einmal zog er die Papiere aus der Taſche, das nächſte, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne Wahl zuerſt öffnen: es waren Briefe ſeiner Braut, vermeintlich an Theobald geſchrieben. Er ſieht hin - ein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefeſſelt, bei der ſein Inneres von einer ihm längſt fremd ge - wordnen Empfindung anzuſchwellen beginnt; er will zu leſen fortfahren, als er Juſtinen mit Gläſern kommen hört; ganz unnöthigerweiſe verbirgt er ſchnell den Schatz, aber ihm iſt wie einem Diebe zu Muth, der eine Beute vom höchſten, ihm ſelber noch nicht ganz bekannten Werth, bei jedem Geräuſche erſchro - cken zu verſtecken eilt. Das Mädchen kam und fing lebhaft und heiter zu ſchwatzen an, in deſſen Erwie - derung Nolten ſein Möglichſtes that. Sie mochte merken, daß ſie überflüſſig ſey, genug, ſie entfernte ſich geſchäftig und ließ den Gaſt allein. Er iſt zu - fällig vor einen kleinen ſchlechten Kupferſtich getreten, der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur363 vorſtellt; unten ſtehn ein paar fromme Verſe, die er in frühſter Jugend manchmal im Munde ſeiner ver - ſtorbenen Mutter gehört zu haben ſich ſogleich erin - nert. Wie es nun zu geſchehen pflegt, daß oft der geringſte Gegenſtand, daß die leichteſte Erſchütterung dazu gehört, um eine ganze Maſſe von Gefühlen, die im Grunde des Gemüths gefeſſelt lagen, plötzlich ge - waltſam zu entbinden, ſo war Noltens Innerſtes auf Einmal aufgebrochen und ſchmolz und ſtrömte in einer unbeſchreiblich ſüßen Fluth von Schmerz dahin. Er ſaß, die Arme auf den Tiſch gelegt, den Kopf dar - auf herabgelaſſen. Es war, als wühlten Meſſer in ſeiner Bruſt mit tauſendfachem Wohl und Weh. Er weinte heftiger und wußte nicht, wem dieſe Thränen galten. Die Vergangenheit ſteht vor ihm, Agnes ſchwebt heran, ein Schauer ihres Weſens berührt ihn, er fühlt, daß das Unmögliche möglich, daß Altes neu werden könne.

Dieß ſind die Augenblicke, wo der Menſch willig darauf verzichtet, ſich ſelber zu begreifen, ſich mit den bekannten Geſetzen ſeines bisherigen Seyns und Em - pfindens übereinſtimmend zu vergleichen; man über - läßt ſich getroſt dem göttlichen Elemente, das uns trägt, und iſt gewiß, man werde wohlbehalten an ein beſtimmtes Ziel gelangen.

Nolten hatte keine Ruhe mehr an dieſem Ort, er nahm ſchnell Abſchied und ritt gedankenvoll im Schritt nach Hauſe.

364

Wie er den Reſt des Tages hingebracht, was Alles in ihm ſich hin und wieder bewegte, was er dachte, fürchtete, hoffte, wie er ſich im Ganzen em - pfunden, dieß zu bezeichnen wäre ihm vielleicht ſo unmöglich geweſen als uns, zumal er die ganze Zeit von ſich ſelbſt wie abgeſchnitten war durch einen un - ausweichlichen Beſuch, den er zwar endlich an einen öffentlichen Ort, wo man viele Geſellſchaft traf, glück - lich abzuleiten wußte, ohne ſich jedoch ganz entziehen zu dürfen.

Entſchieden war er nun freilich ſo weit, daß er Agneſen aufſuchen müſſe und wolle. Noch hatte er die ſchriftliche Darſtellung der Thatſachen, welche ſo ſehr zur Rechtfertigung des theuren Kindes dien - ten, gar nicht angeſehn; ein ſtiller Glaube, der das Wunderbarſte vorausſezte und keinen Zweifel mehr zuließ, war dieſe lezten Stunden in ihm erzeugt wor - den, er wußte ſelbſt nicht wie. Doch als er in der Nacht die merkwürdigen Berichte des Förſters las, als ihm Larkens’s Tagebuch ſo manchen erklären - den Wink hiezu gab, wie ſehr mußte er ſtaunen! wie graute ihm, jener ſchrecklichen Eliſabeth überall zu begegnen! mit welcher Rührung, welchem Schmerz durchlief er die Krankheitsgeſchichte des ärmſten der Mädchen, dem die Liebe zu ihm den bittern Leidens - kelch miſchte! Und ihre Briefe nun ſelbſt, in denen das ſchöne Gemüth ſich wie verjüngt darſtellte! Der ganz unfaßliche Gedanke, dieß einzige Geſchöpf,365 wann und ſo bald es ihm beliebe, als Eigenthum an ſeinen Buſen ſchließen zu können, durchſchütterte wech - ſelnd alle Nerven Theobalds. Auf Einmal über - ſchattete ein unbekanntes Etwas die Seligkeit ſeines Herzens. Dieſe zärtlichen Worte Agneſens, wem anders galten ſie, als Ihm? und doch will ihm auf Augenblicke dünken, er ſey es nicht: ein Luftbild habe ſich zwiſchen ihn und die Schreiberin gedrungen, habe den Geiſt dieſer Worte voraus ſich zugeeignet, ihm nur die todten Buchſtaben zurücklaſſend. Ja, wie es nicht ſelten im Traume begegnet, daß uns eine Per - ſon bekannt und nicht bekannt, zugleich entfernt und nahe ſcheint, ſo ſah er die Geſtalt des lieben Mäd - chens gleichſam immer einige Schritte vor ſich, aber leider nur vom Rücken; der Anblick ihrer Augen, die ihm das treuſte Zeugniß geben ſollten, war ihm ver - ſagt; von allen Seiten ſucht er ſie zu umgehn, um - ſonſt, ſie weicht ihm aus: ihres eigentlichen Selbſts kann er nicht habhaft werden.

Zu dieſen Gefühlen von ängſtlicher Halbheit, wo - von ihn, wie er wohl vorausſah, nur die unmittel - bare Nähe Agneſens losſprechen konnte, geſellten ſich noch Sorgen andrer Art. Das unbegreifliche Ver - hängniß, daß die räthſelhafte Perſon der Zigeunerin auf’s Neue die Bahn ſeines Lebens, und auf ſo ab - ſichtlich gefahrdrohende Weiſe durchkreuzen mußte, der Gedanke, wie nahe er ſelbſt ihr, ohn es zu wiſſen, neuerdings wieder gekommen (denn des Schauſpielers366 Tagebuch entdeckte ihm ihre zweimalige Anweſenheit), dieß Alles gab ihm mancherlei zu ſinnen und weckte die Beſorgniß, es möchte die Verrückte über kurz oder lang ihm in den Weg treten, oder hinter ſeinem - cken, vielleicht in dieſem Augenblick, zu Neuburg wiederholte Verwirrung anſtiften. Ein weiterer Ge - genſtand ſeiner Unruhe war Larkens; er wußte die treffliche Abſicht des Freundes, wenn er gleich die einzelnen Schritte nicht billigen konnte, ja zum Theil ſie bitter zu ſchelten geneigt war, doch von der rech - ten Seite zu nehmen und dankbar zu ſchätzen; er er - kannte auch darin eine kluge Vorſicht deſſelben, wenn er durch ſeine eigene Entfernung alles weitere Unter - handeln über die Pflicht, über Neigung oder Abnei - gung Noltens in dieſer zweifelhaften Sache völlig zwiſchen ſich und ihm abſchneiden und den Maler, in - dem er ihn ganz auf ſich ſelber ſtellte, zwingen wollte, das Gute, Nothwendige friſch zu ergreifen Aber was ſollte man überhaupt von der eiligen Flucht des Schauſpielers denken? welchem Schickſal ging der un - faßliche Mann entgegen? Beinahe ſeiner ſämmtlichen häuslichen Habe hat er ſich entäußert, ein großer Theil war ohne Zweifel in’s Geld geſezt, ein anderer, der hier zurückblieb, entweder zu Geſchenken beſtimmt, oder ſollte er durch Nolten verwerthet und zu Be - friedigung der Gläubiger verwendet werden. Mangel für Larkens ſelber war nicht zu fürchten. Aber wenn aus Allem hervorging, daß eine tiefe Erſchö -367 pfung, ein verjährter Schmerz ihn in die Weite trieb, wenn ſogar einige Stellen ſeines Briefs auf eine freiwillig gewaltſame Erfüllung ſeines Schickſals ge - deutet werden konnten ſo frage man, wie Nol - ten dabei zu Muthe geweſen! Eine dritte und nicht die kleinſte Sorge war ihm die ſchlimme und ſelbſt verächtliche Meinung, womit die Gräfin, ſeit ſie durch Larkens einſeitig und falſch von dem Verhältniß zu Agneſen unterrichtet worden, ihn nothwendig anſe - hen mußte. Nicht als ob er fürchtete, es hätte ſie eine ſolche Entdeckung irgend unglücklich gemacht, denn in der That war ſeine Vorſtellung von der Leidenſchaft Conſtanzens bedeutend herabgeſtimmt, und höch - ſtens wollte er glauben, daß ihr ſeine Liebe einiger - maßen habe ſchmeicheln können, aber da er ihr doch ſeine Abſicht damals ſo dringend, ſo entſchieden be - kannt hatte, wie elend, wie verrucht mußte er als Verlobter vor ihr erſcheinen, wie tückiſch und plan - voll ſein Schweigen über dieſe Verbindung! Mußte ſie ſich, abgeſehn von jedem eignen leidenſchaftlichen Intereſſe, nicht inſofern perſönlich für beleidigt halten, als ſchon der Verſuch, ſie mit zum Gegenſtande eines ſo zweideutigen Spieles zu machen, einen Mangel der Achtung bewies, deren ſie ſich von Nolten hätte verſichert halten dürfen? Schien in dieſem Sinne der Zorn und die Kälte, womit ſie ihn ſeit jenem Abende keines Blicks mehr würdigte, nicht ſehr ver - zeihlich und gerecht? Unſer Maler fühlte das Be -368 ſchämende, die ganze Pein dieſes Verdachts: keine Stunde mehr konnte er ruhen, der Boden brannte unter ſeinen Füßen, er wollte eilen, wollte ſich reini - gen, es koſte was es wolle. Aber das ging ſo ſchnell nicht an. Wie ſollte er an Conſtanzen gelangen? wie war es möglich, ſich zu rechtfertigen und doch zu - gleich die höchſte Delikateſſe zu beobachten? Denn gar leicht konnte die Gräfin ihn dergeſtalt mißverſtehn, als wenn er gekränkte Liebe bei ihr vorausſezte, ein Irrthum, der ihn, wie er meinte, zum lächerlichſten Menſchen in den Augen der ſchönen Frau machen müßte. Er überlegte ſich die Sache fleißig, und wollte warten, bis ihm ein glücklicher Weg erſchiene.

Am folgenden Tage fiel ihm ein, von dem Hof - rath, dem er ohnehin einen Beſuch ſchuldig war, die Stimmung der Zarlin’ſchen zu erlauſchen, und ſo - gleich machte er ſich auf den Weg.

Bei der Wohnung des Hofraths angelangt, fand er zufällig die Hausthüre nur angelehnt, was ihn ſehr Wunder nahm, da es einen der erſten Grundſätze in der Hausordnung dieſes Mannes ausmachte, die Ein - gänge jederzeit geſchloſſen zu halten. Außer dem Briefträger und einer alten Magd, welche auswärts wohnte, und zu geſezten Stunden mit dem Eſſen er - ſchien, betrat nur ſelten ein Beſuch die Schwelle, und wenn jemals, ſo mußte die Glocke gezogen werden,369 worauf ein grauer Diener, das einzige lebende Weſen, das den Hofrath umgab, bedächtig aus dem Fenſter ſchaute und öffnete. Im untern Hausflur, wo ſich ſogleich der Geſchmack und die Kunſtliebhaberei des Hausherrn in gut aufgeſtellten Gypsfiguren ankündigte, findet Theobald einen unſcheinbar gekleideten Kna - ben auf der Treppe ſitzen und Zuckerwerk aus ſeiner Mütze naſchen, der übrigens ganz hier zu Hauſe zu ſeyn ſcheint. Eine unglaublich angenehme Geſichts - bildung, die hellſten Augen, ſehr muthwillig, lachen dem Maler entgegen, dem beſonders die zierlich ge - lockten Haare auffallen. Der Knabe, nachdem er un - ſern Freund ruhig vom Kopf bis zum Fuße gemeſſen, ſtand auf und gab der Thüre einen tüchtigen Tritt, daß ſie ſchmetternd zuſchlug. Kannſt Du ſagen, ar - tiger Junge, ob der Herr Hofrath daheim iſt? Der Kleine antwortete nicht, ſondern indem er die Treppe hinaufging, winkte er Theobalden, zu folgen. Oben öffnet er leis eine ſchmale Thüre und deutet ſchalkhaft hinein. Nolten befand ſich allein in ei - nem kleinen Vorzimmer, wollte eben an einem zwei - ten Eingang klopfen, als ihm ein kleines Seitenfen - ſter, deſſen Vorhang von innen ſchlecht zugezogen iſt, die wunderbarſte ſtumme Scene im Nebenzimmer zeigt. In einer geſpannten Beleuchtung, faſt nur im Dämmerlichte, ſizt weiß gekleidet ein Frauenzimmer, bis an den Gürtel entblöſ’t. Ihre Stellung iſt ſin - nend, das Haupt etwas zur Seite geneigt, eine Hand24370oder vielmehr nur den Zeigefinger hat ſie unter’m Kinne, dieß kaum damit berührend. Ihr Seſſel ſteht auf einem dunkelrothen Teppich, auf welchen herab die reichen Falten des Gewandes und der Tücher ſich prächtig ergießen. Ein Bein, das über das andre geſchlagen iſt, läßt den Fuß nur bis über die Knö - chel blicken, wo ihn die andre Hand bequem zu hal - ten ſcheint. Aber welch ein herrlicher Kopf! mußte Theobald unwillkürlich für ſich ausrufen; die - miſche Kraft im Schwunge des Hinterhaupts vom ſtarken Nacken an kontraſtirte ſo rührend gegen das Kindliche des Angeſichts, deſſen Ausdruck nur lautre Schaam verriethe, wenn ſich die leztere nicht ſo eben zur liebevollſten Ergebung in die Nothwendigkeit des Augenblicks zu neigen ſchiene. Offenbar war das Frauenzimmer nicht gewohnt, als Modell zu dienen. Und in des Hofraths Hauſe? Sollte der alte Narr etwa ſelbſt den Pfuſcher machen? Leider war es un - möglich, eine zweite Perſon, die ſich gewiß im Zim - mer befinden mußte, zu entdecken; auch hörte man keinen Laut: die Schöne verharrte wie ein Marmor in derſelben Stellung, nur die leiſen Bebungen der Bruſt verriethen, daß ſie athme, auch ſchien es ein - mal, als ob ſie einen müden Blick gegen das Fenſter hinüber wagte, von wo das Licht hereinfiel. Nolten hätte geſchworen, dort ſitze der Hofrath. Sagte nicht ein Gerücht, daß der alte Herr früher wirklich die Kunſt getrieben? und wollten nicht Einige behaupten,371 er habe den Meiſel noch in ſeinem Alter insgeheim ergriffen? Wie überraſchte es daher unſern Maler, als auf ein Geräuſch, das in der Ecke entſtand, die Jungfran ſich erhob und ein ſchlanker, ſchwarzbärtiger Mann anſtändig auf ſie zutrat, ihr mit einem Kuſſe auf die Lippen dankte, ſo herzlich und unbefangen, als wenn es eine Schweſter wäre. Theobald er - kannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bild - hauer, Raymund, den er öfters und namentlich bei dem Larkens’ſchen Abſchiedsſchmauſe geſehen, ohne ihm irgend näher gekommen zu ſeyn. Doch es war endlich Zeit zum Rückzuge, ſo ſchwer er ſich von die - ſem Anblick trennen konnte, der ihm eben ſo rührend und ſchuldlos däuchte, als er reizend und erhebend war. Kaum hat er die Thür hinter ſich zugezogen und ſich gefreut, daß der verrätheriſche kleine Schelm nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge ſei - ner geſtillten Neugierde zu ſeyn ſo ſtreckt der Hof - rath den Kopf aus dem Saale, und Beide begrüßen ſich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch eine Weile fortdauerte, nachdem das Geſpräch bereits in Gang gekommen. Theobald war durchaus zer - ſtreut von ſeinem ſchönen Abenteuer; auf ſeinem Ge - ſicht, in ſeinen Augen lag eine ungewöhnliche Gluth, deren Grunde der Alte ſchlau genug nachkam. Ich merke, merke was! ſchmunzelte er und klopfte dem Freund auf die Achſel; nur laſſen Sie ja ſich ſonſt nichts anmerken! es iſt ein wilder Eber, der Ray -372 mund, und nicht mit ihm zu ſpaßen. Nolten geſtand offenherzig den ſonderbaren Zufall. Unter uns, ſagte der Hofrath, Sie ſollen wiſſen, wie Alles zuſammenhängt. Der junge Mann, furios in ſeiner Kunſt ſo wie im Leben, verlangte von ſeiner Braut, an der er außer einem hübſchen Wuchs lange keinen Vorzug mochte gekannt haben, daß ſie ihm ſitze, ſtehe, wie er’s als Künſtler brauche. Das Mädchen konnte ſich nicht überwinden, es kam zu Verdruß, der bald ſo ernſtlich wurde, daß Naymund das ſtörrige Ding gar nicht mehr anſah. So dauert es ein halb Jahr und das Mädchen, ſonſt ein ſanftes, verſtändiges Ge - ſchöpf, das ihn unbändig liebt, überdieß armer Leute Kind iſt, fängt an im Stillen zu verzweifeln. Ueber - dem bekömmt ſie einen vortheilhaften Antrag, ſich für’s Theater zu bilden, da ſie ſehr gut ſingen ſoll. Sie ſchlägt es ſtandhaft aus, und dieſe wackere Re - ſignation bringt den Trotzkopf von Bräutigam plötzlich auf ganz andere Gedanken von dem Werthe des Mäd - chens, ſo daß er ſie vor etlichen Tagen zum Erſten - mal wieder beſuchte. Auf beiden Seiten ſoll die Freude des Wiederſehens ohne Grenzen geweſen ſeyn, und gleich in der erſten Viertelſtunde, ſo erzählt er mir, habe ſie ihm die Gewährung ſeiner artiſtiſchen Grille freiwillig zugeſagt. Da nun Raymund durch ſein Zuſammenwohnen mit einem andern Künſtler um ein Lokal verlegen war, ſo fand er bei mir, der ich ihm auch ſonſt zuweilen nützlich zu ſeyn ſuche, gerne den er -373 forderlichen Raum. Heut iſt die zweite Sitzung. Das Närriſche dabei iſt, daß er ſich nicht entſchließen kann, was er eigentlich machen ſoll. Er behauptet, wenn man eine Weile in’s Blaue hinein verſuche und den Zufall mitunter walten laſſe, ſo gerathe man häufig auf die beſten Ideen.

Er hat Recht! ſagte Theobald.

Er hat nicht Unrecht, verſezte der Alte; wenn mir aber ſolch ein Verfahren am Ende nur nicht gar zu dilettantiſch würde! So fängt er neulich einen Amor in Thon zu formen an, wozu er das Muſter auf der Gaſſe unter den Betteljungen aufgriff, wirk - lich ein delikates Füllen, ſchmutzig, jedoch zum Küſſen die Geſtalt. Seitdem nun aber die Geliebte ſich ein - geſtellt, durfte der Liebesgott ſpringen; jezt liegt ihm die aufdringliche Kröte, die ſich gar gut bei dem Han - del geſtanden, tagtäglich auf dem Hals, und daß der Burſche nicht ſchon im Hemdchen unter’s Haus kömmt, iſt Alles; neulich ward er gar boshaft und paßte der Braut mit einem Prügel auf; recht ein Cupido dirus!

Ein Anteros! rief Theobald lachend.

Suchen Sie doch einiges Verhältniß zu Ray - mund, fuhr der Hofrath fort, es wird Ihnen leicht werden: er reſpektirt Sie höchlich, und das will bei dem ſtolzen Menſchen ſchon etwas heißen. Sie finden das ehrlichſte Blut in ihm und ein eminentes, leider noch wildes Talent. Es ärgert Manches an ihm, Kleinigkeiten vielleicht, die indeſſen doch einen Man -374 gel an Bildung verrathen, genug, mich indigniren ſie; nur Ein Beiſpiel und Sie werden mir beiſtimmen. Man traut mir billig zu, daß ich kein Pedant bin mit archäologiſcher Vielwiſſerei, inſofern ſie dem Künſtler nichts hilft. Stellt mir Einer eine lobenswerthe Ariadne hin, ſo frag ich den Henker darnach, ob er wiſſe, daß die Gemahlin des Bacchus auch Libera heißt. Macht es einen Mann aber nicht lächerlich, wenn er von Göttern und Halbgöttern nur eben wie ein Dragoner ſpricht? Werden es ihm Diejenigen vergeben, die auf den erſten Blick unmöglich wiſſen können, daß dieſer Menſch, ſo gut als Einer, Cha - rakteriſtik der Mythen verſteht und plaſtiſchen Sinn ge - nug in Aug und Fingern ſitzen hat? Nun ſtellen Sie ſich vor, neulich Abends im ſpaniſchen Hofe, es waren lauter gründliche Leute da, kömmt auf ein paar Kunſtwerke die Rede, Raymund fällt in ſeinen begeiſterten Schuß und ſagt wirklich vortreffliche Dinge, aber er ſpricht ſtatt von Panen und Satyrn, mir nichts dir nichts, und in vollem Ernſte immer von Waldteufeln! Iſt ſo was auch erhört? Ich ſaß wie auf Nadeln, ſchämte mich in ſein Herz hinein, trat ihm faſt die Zeyen weg und wollt ihm helfen; nichts da! ein Waldteufel um den andern! und merkte das Lächeln nicht einmal, das hie und da auf die Geſichter ſchlich. Nachher verwies ich ihm die Unſchicklichkeit, und was iſt ſeine Antwort? Er lacht; nun, alter Papa rief er, es muß mir doch erlaubt ſeyn, mit -375 unter ſo zu ſprechen, wie die Niederländer malen durften! Der Hofrath lachte ſelber auf’s Herzlichſte, und man ſah ihm an, wie lieb er den hatte, den er ſo eben ſchalt. Ein ſtupender Eigenſinn! Mich dauert nur die Braut.

Wer iſt ſie denn eigentlich? fragte Nolten.

Des Schloßwärters F. Tochter.

Was? hör ich recht? rief Nolten voll Ver - wunderung aus. O gute Henriette! Wie manch - mal hat dein wehmüthiger Geſang unter meinen Git - tern mich getröſtet!

Ja ja, verſezte der Hofrath, das war noch zur Zeit der liebekranken Nachtigall!

Der Maler fiel auf einige Augenblicke in ſüße Gedanken. Die glückliche Vereinigung dieſer Lieben - den war ihm von guter Vorbedeutung für ſich; denn hatte nicht jene Verlaſſene in ſeiner kranken Einbil - dung einige Mal die Stimme Agneſens geborgt? und war er nicht auf dem Wege, der Leztern auch den Bräutigam zurückzugeben?

Nun aber fand er erſt Zeit, den Hofrath in der Angelegenheit zu befragen, um derentwillen er eigent - lich gekommen war. Der alte Herr bedachte ſich und zuckte die Achſeln. Ich weiß nicht, an Ihrer Stelle ging ich geradezu ſelbſt hin die Gräfin zwar ſoll unpaß ſeyn, den Grafen können Sie immer ſprechen. Mein Gott, was ſollten denn dieſe Leute eigentlich gegen Sie haben? So viel indeſſen Theobald376 aus dem weitern Geſpräch entnehmen konnte, war es gerathener, ſich nicht perſönlich auszuſetzen. Der beſte Ausweg fiel ihm aber ein. Eine Frau von Niet - helm, die intimſte Freundin Conſtanzens, eine feine hochbegabte Dame, deren Zeit und Talent vor - züglich der Bildung zweier Prinzeſſen gewidmet war, hatte ſich ihm von jeher gewogen gezeigt; ihrer hoffte er ſich nun als Mittelsperſon zu bedienen, und der glückliche Gedanke erfüllte ihn augenblicklich dergeſtalt, daß er den Hofrath eilends verlaſſen wollte, als eben Raymund hereintrat. Der feurige Mann umarmte ihn alsbald mit Enthuſiasmus, und ſuchte ihm ſeine Achtung auf jede Art zu bezeugen. Um nicht un - freundlich zu erſcheinen, verweilte Nolten noch eine Viertelſtunde, worauf er ſich beſtens empfahl.

Gegen Abend trat er den Gang zur Gouvernan - tin an, nachdem er auf ſein Anmelden eine höfliche Einladung erhalten hatte. Unterwegs erſt fiel ihm auf, wie wenig er auf das, was zu ſagen und wie es zu ſagen war, vorbereitet ſey; er nahm ſich ſchnell zuſammen; eh er ſich’s verſah, ſtand er im Zimmer der Gouvernantin.

Die zarte Dame empfing ihn im Ganzen freund - lich genug, und wenn dennoch etwas von Zurückhal - tung fühlbar war, ſo ſchien es, als ob ſie nur un - gerne und mit Rückſicht auf Conſtanzen ſich eini - gen Zwang auflegte.

377

Ich bin, begann Nolten, als er der liebens - würdigen Frau gegenüber Platz genommen hatte, ich bin veranlaßt, in Kurzem dieſer Stadt und Gegend Lebewohl zu ſagen; Pflicht und Neigung führen mich auswärts; aber wie ſehr muß ich wünſchen, mit voll - kommen beruhigtem Sinne ſcheiden zu können! Es iſt ſo ſchön und tröſtlich, ſich im Andenken ſeiner Freunde geſichert wiſſen! Die Liebe, die Neigung, die wir an einem Orte zurücklaſſen, gibt uns eine ſtille Gewähr, daß uns auch anderswo ein guter Stern erwarte. Möchte denn auch ich dieſen Troſt mit mir nehmen dürfen! möchten Sie, meine Gnädige, mich in dieſer frohen Zuverſicht beſtärken können! Indem ſich mir in dieſen Tagen eine Reihe ausge - zeichneter Perſonen, deren Bekanntſchaft ich mich im Laufe dreier Jahre vielfach zu erfreuen hatte, doppelt lebendig vor dem Geiſte aufſtellt, und indem ich mich anſchicke, den Einzelnen noch ein herzliches Wort zu ſagen, muß ich vor Allen jenes verehrten Hauſes ge - denken, deſſen Gaſtfreundſchaft mir unvergeßlich bleibt, das mit den Edelſten dieſer Stadt, und, wie freudig ſpreche ich es aus! auch mit Ihnen, gnädige Frau, mich in freundliche Verbindung ſezte. Leider hat das ſchöne Verhältniß zulezt eine Störung erlitten, die mir das ganze Glück einer dankbaren Erinnerung für alle Zukunft trüben muß, und um ſo ſchmerzlicher, da man mir aus den Gründen meines Mißgeſchicks, in - ſofern ich dieſes ſelbſt verſchuldet haben ſoll, ein Ge -378 heimniß macht. Sollte nun auch Ihnen, Verehrteſte, nicht erlaubt ſeyn, meine Zweifel zu löſen, ſo geſtat - ten Sie doch, daß ich die Verſicherung bei Ihnen niederlege, ich ſey mir, Ihrer theuren Freundin, ſo wie dem Herrn Grafen gegenüber, eines ſolchen Ver - gehens nicht bewußt; vergönnen Sie, daß ich den Freunden, die mich nicht mehr zu ſehen wünſchen, die Aufrichtigkeit meiner Geſinnungen durch Ihren Mund betheure.

Die Gouvernantin, die in den Mienen des Ma - lers, ſo lange er ſprach, mit Aufmerkſamkeit zu leſen geſucht hatte, ſchien keineswegs ungerührt; zwar er - wiederte ſie nur das Allgemeinſte, doch ſah man ihr an, ſie hätte herzlich gerne mehr geſagt. Nolten gewann nun Muth, folgendergeſtalt fortzufahren: Wie wäre Ihnen zu verargen, gnädige Frau, wenn ſich Ihnen, ſo wie wir uns jezt einander gegenüber befinden, und nach dem, was indeſſen Alles zur Sprache gekommen ſeyn mag, ein unüberwindliches Mißtrauen gegen mich im Herzen aufwerfen ſollte! Ich fühle wohl, und Sie ſelber verbergen ſich’s nicht, wie fremde in ganz kurzer Zeit Ihnen ein Mann geworden ſey, der Ihnen früher nicht ganz unwerth geweſen. Sonſt war es uns willkommener Genuß, Erfahrung und Empfindung in heiteren Geſprächen auszuwechſeln, Entferntes und Nächſtgelegenes lebendig durch einan - der zu miſchen; ſtets ſchenkten Sie mir nachſichtsvol - les Gehör, wenn, wie es wohl dem jüngern Manne,379 der eben erſt in eine völlig neue Welt eintrat und vielfach Urſache findet, unzufrieden mit ſich ſelbſt zu ſeyn, natürlich zu geſchehen pflegt, ſich auch bei mir ein inniges Bedürfniß regte, mich einer gemüthvollen, geiſtreichen Frau beſcheiden mitzutheilen, Ihnen meine Verehrung für jenes edle Haus im erſten glücklichen Erſtaunen auszudrücken. Nun heute wieder, wie gerne möcht ich den Zuſtand meines Innern offen und gläubig vor Ihnen enthüllen, doch Ihr Verſtummen verſchüchtert mir das Wort auf meinen Lippen! wie gerne würden Sie meiner Unruhe hülfreich entgegen kommen, doch wird es ſchwer, den Faden des Ver - trauens ſo ſchnell wieder aufzunehmen. Wohlan, meine theure, meine hochverehrte Freundin, laſſen Sie mich wenigſtens einige[Augenblicke] der ſchönen Täuſchung leben, als ſäßen wir noch ſo wie ehmals gegen einander über! Erlauben Sie, daß ich erzähle, was in der Zwiſchenzeit ſich mit mir begeben, in mir verändert hat. Laſſen Sie mich keine Abſicht nennen, wozu dieß Bekenntniß dienen ſoll. Es ſoll nur ſeyn, als ſpräche ich zu einer Dame, von der ich weiß, ſie nehme an meinem Schickſale allgemeinen heitern An - theil und aus deren Munde eine günſtige Divination meines künftigen Geſchickes zu vernehmen mich hoch beglücken würde.

Mit ſanftem Lächeln forderte ſie den Maler zu reden auf, indem ſie ſagte: Sie ſollen eine emſige Zuhörerin haben, und was ihr an Prophetengabe380 mangelt, werden die redlichſten Wünſche für Ihr Wohl ergänzen. Somit war Theobald im Begriff, ſeine Sache mit Agneſen, und wie ſie ſich durch Larkens’s Thätigkeit neuerdings umgeſtaltet, weit - läufig darzulegen, und eben damit auf indirekte Weiſe ſich gegen Conſtanze zu rechtfertigen. Aber in dem Augenblick, da er beginnen will, überraſcht ihn die ganze Schwierigkeit ſeiner Aufgabe und es that wahrlich Noth, daß ihm der gute Geiſt noch ſchnell genug ein bequemes Mittel, ſich aus dieſer Verlegen - heit zu retten, eingab, worauf er ſagte: So vermeſ - ſen es ſeyn würde, in Räthſeln zu Ihnen reden zu wollen, ſo wenig kann es ſchaden, wenn ich zuvörderſt, um die Kluft, welche ſich zwiſchen uns gelegt hat, erſt nach und nach und nur von Weitem auszufüllen, dasjenige, was nun zu ſagen iſt, mit veränderten Na - men in eine allgemeine Darſtellung einkleide; ſo werde ich unbefangner reden, ohne deßhalb unverſtändlicher oder der Wahrheit ungetreu zu ſeyn. Sofort wurde denn das Verlobten-Verhältniß eines Antonio zu Clementinen, von ſeiner erſten Entſtehung bis zu dem drohenden Zerfall, es wurde das ungeheure Irrſal, wozu Eliſabeth Veranlaſſung gegeben, in allen ſeinen Wendungen entwickelt. Einer Cornelia ward gedacht, Antonio’s Leidenſchaft für dieſe nicht verhehlt, jedoch nur als einſeitig zugegeben. Ein Mime Hippolyt löſ’t heimlich den fatalen Kno - ten, doch daß er dieß und wie er es auch bei Cor -381 nelien that, davon ſchweigt Nolten mit Bedacht, als wenn er ſelbſt nicht darum wüßte. Er hatte ſich Zeit zu ſeiner Erzählung genommen, um ſo mehr, als er das geſpannteſte Intereſſe bei ſeiner Neben - ſitzerin wahrnahm; auch wurde er, wie wohl zu merken war, vollkommen gut verſtanden. Die ganze Geſchichte, an ſich abenteuerlich und unglaublich, ge - wann durch einen gewandten und lebhaften Vortrag die höchſte Wahrheit. Endlich war er fertig, und nach einigem Stillſchweigen verſezte die Gonvernantin (während ſie ihn mit einem Blick anſah, worin er ihren Dank für die zarte Schonung leſen ſollte, die er gegen ihre Freundin und gewiſſermaßen gegen ſie ſelbſt mit ſeiner Fabel beobachtet hatte): Meint man doch wahrlich ein Mährchen zu hören, ſo bunt iſt Alles hier gewoben!

Es ſtehen Beweiſe für die Wahrheit zu Dienſte, erwiederte Theobald; ja ich erbitte mir ausdrücklich die Erlaubniß, Ihnen dieſer Tage einige Papiere vor - legen zu dürfen, welche Sie jedenfalls mit Intereſſe durchlaufen werden.

Vielleicht, antwortete die Gouvernantin, kann ich anderwärts Gebrauch davon machen, der Ihnen wünſchenswerth ſeyn dürfte.

Was Sie thun werden, Gnädigſte, habe meinen innigſten Dank voraus! verſezte Nolten mit einiger Haſt, indem er ihr die Hand mit Ehrfurcht küßte. Sie war indeſſen nachdenklich geworden. Unvermerkt382 lenkte ſie das Geſpräch auf die Gräfin und es traten ihr Thränen in die Augen. Leider muß ich Ihnen ſagen, lieber Nolten, fuhr ſie fort, es iſt bei Zar - lins ſeit einiger Zeit gar viel anders geworden; auch unſre Kränzchen haben aufgehört. Conſtanze iſt nicht mehr die ſie war, ein ſeltſamer Gram wirft ſie nieder. Lange wußte Niemand die Urſache, ſelbſt ich nicht, und mit Unrecht ſchrieb man Alles körperlichem Leiden zu, denn freilich leidet ihre Geſundheit mehr als je. Aber Gott weiß, wie Alles zuſammenhängt. Vor - geſtern Nachts, als ich allein vor ihrem Bette ſaß, ſprach ſie halb in der Hitze des Fiebers, halb mit Bewußtſeyn dasjenige aus, wovon ich glauben muß, daß es wo nicht der einzige, doch immer ein Grund ihres angſtvollen Zuſtandes ſey.

Nolten, dem dieſe Worte eine raſche und vor - eilige Ahnung erweckten, that ſehr wohl, noch an ſich zu halten, denn ſogleich kam es ganz anders, als er erwartet haben mochte.

Ich bin überzeugt, fuhr die Gouvernantin fort, es handelt ſich bloß um einen wunderlichen Zufall, um eine Kleinigkeit, worüber mancher lächeln würde; gleichwohl iſt jezt ſehr viel daran gelegen, und Sie werden mich völlig darüber aufklären können. Sie haben ein Gemälde, worauf eine Frau abgebildet ſeyn ſoll, welche die Orgel ſpielt?

Ganz recht.

383

Sagen Sie doch, welche Bewandtniß hat es mit dem Bilde? Kennen Sie eine ſolche Perſon? Iſt ſie in der Wirklichkeit vorhanden?

Nolten war durch die Frage natürlich frappirt. Er hatte, wie der Leſer weiß, in der Skizze, die bei dem Gemälde zu Grunde gelegen, jene Wahnſinnige kenntlich genug gezeichnet, ja er hatte noch auf Till - ſens ausgeführtem Tableau dem merkwürdigen Kopfe durch wenig beigefügte Striche die äußerſte Aehnlich - keit gegeben. Conſtanzen war das Bild immer ſehr wichtig geweſen und Nolten erinnerte ſich jezt plötzlich des Traumes, den ſie ihm damals mit ſo großer Bewegung entdeckt. Er ſagte nun der Gou - vernantin: daß, wenn er vorhin in ſeiner Erzählung von einer Zigeunerin geſprochen, eben dieſe das Ori - ginal zum Bilde des weiblichen Geſpenſtes ſey.

Sonderbar! ſagte die Gouvernantin, ſehr ſon - derbar! Wiſſen Sie nicht, ob die Perſon ſich neu - erdings in hieſiger Stadt gezeigt hat?

Vor etwa einem Monat wollen meine Freunde ſie hier geſehen haben.

Nun, Gott ſey Dank! rief die Gouvernantin aus, ſo iſt es doch wie zu vermuthen war; ſo darf mir doch nun die Arme Troſt und Vernunft nicht län - ger beſtreiten!

Wer? fragte Theobald, wer ſah denn ? doch nicht die Gräfin?

Nun ja!

384

Himmel! und wo?

In der Kirche.

Jezt rief der Maler ſich auf Einmal einen Umſtand in’s Gedächtniß, den man ſich vor mehreren Wochen in der Stadt erzählte und woraus er damals nicht eben ſonderlich viel zu machen wußte. Conſtanze hatte nämlich, bei nicht völligem Wohlſeyn, Sonntags die Frühkirche beſucht und während des Gottesdienſts den ſonderbaren Zufall gehabt, daß ſie plötzlich mit einem für die Zunächſtſitzenden ſehr vernehmlichen Laut des heftigſten Schreckens bewußtlos niederſank. Sie mußte nach Hauſe getragen werden, wo ſie ſich in Kurzem zu erholen ſchien. Die wahre Urſache des Unfalls blieb durchaus Geheimniß. In der Kirche ſelbſt wollten Einige bemerkt haben, daß die Gräfin unmittelbar, bevor ſie ohnmächtig geworden, den Blick ſtarr nach dem offenſtehenden Haupteingang gerichtet, wo ſich mehreres gemeine Gaſſenvolk unter die Thüren gepflanzt hatte. Niemand aber gewahrte unter die - ſer bunten Gruppe den Gegenſtand einer ſo außeror - dentlichen Apprehenſion, Niemand war verſucht, den - ſelben in der gleichwohl ſtark genug hervorragenden Geſtalt einer Zigeunerin zu ſuchen.

Es war bei Theobald nun gar kein Zweifel mehr, daß jenes ungeheure Weſen, ſo wie einſt bei Agneſen mit Abſicht, ſo nun hier bei der Gräfin unwillkürlich ihn abermals verfolgte. Es fing dieſer Eigenſinn des Schickſals ihm nachgerade ängſtlich zu385 werden an. Er hatte Mühe, ſeine Gedanken davon los zu machen, und auf die Gegenwart, auf Conſtan - zen zurückzulenken. Ihr Zuſtand bekümmerte ihn ſehr; denn aus Allem, was die Gouvernantin von eigenen Aeußerungen Conſtanzens wiederholte, ging hervor, daß das Entſetzen über die Erſcheinung in der Kirche unmittelbar mit jenem Traume zuſammenhing, und daß die Gräfin ſeit dieſem Auftritte mit heimlichen Gedan - ken an einen frühen Tod umgehe. Der Maler verſank in ſtilles Nachdenken, und ein tiefer Seufzer entwand ſich ſeiner Bruſt. Wie Vieles, dachte er, muß hier zuſammengewirkt haben, um den hellen und feſten Geiſt dieſes Weibes zu bethören! Wie ſehr iſt nicht zu glauben, daß dieß Gemüth lange zuvor mit ſich ſelbſt uneins geweſen ſeyn müſſe, eh ſolche Träume es gefangen nehmen konnten! Er enthielt ſich nicht, dergleichen gegen die Gouvernantin zu äußern, die ihm mit traurigem Kopfnicken beiſtimmte. Sie ſah ihn an, und ſagte: Vergeſſen wir nicht, unſre Freundin iſt krank, und krank in mehr als Einem Sinne.

Ein Beſuch, welcher in dem Augenblick angeſagt wurde, nöthigte Theobalden zum Aufbruch. Er empfahl ſich mit der Bitte, in dieſen Tagen nochmals erſcheinen zu dürfen. Die verſprochenen Papiere ſandte er noch denſelben Abend nach, jedoch mit Auswahl, und namentlich ward jene Nachſchrift zu Larkens’s Brief mit ſchonendem Bedacht zurückbehalten.

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Obgleich er ſich die Unterredung mit der Gou - vernantin in gewiſſem Betracht nicht beſſer hätte wün - ſchen können, denn eine vollſtändige Ausgleichung des widerwärtigſten Mißverſtändniſſes war damit auf das Sicherſte eingeleitet, ſo war er doch ſeitdem von einer unbegreiflichen Unruhe umgetrieben. Er konnte den Tag nicht erwarten, an dem er endlich die Stadt würde verlaſſen können. Unverzüglich fing er daher an, ſeine Anſtalten zur Abreiſe zu treffen, beſorgte die Angelegenheiten ſeines Freundes, und machte nur die nothwendigſten Beſuche ab, da ihm ein ungehöri - ges, obwohl aufrichtiges Mitleid, womit man überall den Scheidenden betrachten zu müſſen glaubte, allzu verdrießlich fiel. An den Herzog richtete er ein all - gemein verbindliches Billet, das er nicht ohne ein Lächeln zuſammenfalten konnte, weil es ihm dießmal gelungen war, mit mehreren Worten ſo viel wie Nichts zu ſagen. Am herzlichſten entließ ihn Tillſen und der Hofrath, welch Lezterer ihm in den wunderbarſten Ausdrücken eine nie genugſam ausgeſprochne Neigung auf Einmal verrathen zu wollen ſchien, indem er zu - gleich auf ein beſonderes Verhältniß anſpielte, das längſt zwiſchen ihnen Beiden beſtünde, und welches zu entdecken er ſich bis auf dieſe Stunde nicht habe entſchließen können; auch jezt überraſche ihn der Ab - ſchied des Malers dergeſtalt, daß er nothwendig eine andere Zeit abwarten müſſe. Theobald, welcher den Alten von jeher im Verdacht gehabt, als ob er mit387 einiger Schalkheit gerne den Geheimnißvollen ſpiele, achtete wenig auf dieſe dunkeln Winke, obgleich dem guten Manne die Rührung ſichtlich aus den Augen ſprach.

Sein lezter Ausgang am Schluß der vielgeſchäf - tigen Woche war zu der Gouvernantin. Unglückli - cher Weiſe war eben Geſellſchaft dort und die liebens - würdige Frau konnte ihm nur wenige Augenblicke allein auf ihrem Zimmer ſchenken. Sie zog einen verſiegelten Brief hervor und ſagte: Ihre neulichen Mittheilungen haben der Gräfin ein unerwartetes Licht gegeben, von deſſen erſter erſchütternder Wir - kung ich jezt nichts ſage. Ich danke Gott, daß die - ſer Kampf vorüber iſt. Empfangen Sie hier das lezte Wort von unſrer Freundin. Seitdem ſie den Entſchluß gefaßt, ſich Ihnen zu offenbaren, iſt endlich ein Schimmer von Frieden bei ihr eingetreten, den zu befeſtigen ich mir nach Kräften angelegen ſeyn laſſe. Nur was dieß Blatt betrifft, ſo darf ich nicht ver - ſchweigen, daß es im erſten Schmerz geſchrieben wurde, wo es ſchien, als ob ſie nur im ungemeſſenſten Aus - drucke ihrer Schuld einige Erhebung und ein willkom - menes Mittel gegen völlige Verzweiflung habe finden können. Schließen Sie alſo aus dieſem Briefe nicht auf ihren Zuſtand überhaupt, den ſicherlich die Zeit auch heilen wird. Vielleicht erkennen Sie in dieſen Linien, deren Inhalt ich wohl ahnen kann, noch jezt das ſchöne Herz, das ſein Vergehn mehr als genug388 empfindet. Gewiß, ich darf das ſagen, ohne eben ent - ſchuldigen zu wollen ach leider, daß ich es nicht kann! Aber wie gerne wollen wir der Armen Alles vergeſſen, wenn ſie nur erſt ihre Ruhe wieder gewon - nen hätte! O wüßten Sie, Nolten, welche traurige Beſorgniſſe mir die Richtung einflößte, der ſich ihr Geiſt ſtarrſinnig hinzugeben drohte. Und noch bin ich nicht aller Sorge los. Zu oft noch ſeh ich ihren Blick nach jener trüben Seite hingekehrt, von wo ſie ſich ein frühes Grab verkündigt glaubte. Denn ſelbſt durch Ihre freundſchaftlichen Aufſchlüſſe, ſo ſehr ſie uns zu Statten kamen, konnte dieſe Vorſtellung nicht ganz zerſtört werden. Freilich ſieht ſie nun Alles bis auf einen gewiſſen Grad natürlich an, weil aber doch etwas Außerordentliches an dem Zuſammentreffen der Begebenheiten nicht zu läugnen und jener frühere Eindruck auch nicht ſo ſchnell auszutilgen iſt, ſo kann ſie den Gedanken an eine ſolche Vorbedeutung nicht von ſich wegbringen. Aber laſſen Sie mich abbrechen, eh ich weich werde, und in’s Klagen falle. Wie ſehr bedaure ich, daß Sie eben jezt ſo eilig von uns müſ - ſen und doch, es wird auch wieder gut für beide Theile ſeyn. Und nun (ſie ging an einen Schrank und holte ein ſchönes Futteral hervor, das ſie ihm in die Hand drückte), zwei Freundinnen bitten, dieß zu dem Hochzeitsſchmuck der lieben Braut zu legen und ihr zu ſagen, wie ſehr ſie in der Ferne gekannt, wie389 ſchweſterlich geliebt ſie ſey. Leben Sie wohl, und denken gerne mein.

Ehe Theobald noch recht zu danken wußte, hatte ſie ſich bereits, ihre ſteigende Bewegung zu ver - bergen, leiſe zurückgezogen. Eilig ging er nach ſeiner Wohnung, auf’s Höchſte erſtaunt über die räthſelhaf - ten Dinge, die er ſo eben gehört. War es denn nicht, als ſollte ihm ein Verbrechen Conſtanzens entdeckt werden? Sprach nicht die Gouvernantin ſo, als wüßte er bereits darum? Auf ſeinem Zimmer an - gekommen, verſchloß er hinter ſich die Thür und las wie folgt:

Nicht einen lezten Blick der Neigung, kein Auge des Mitleids ſollen Sie dieſem Blatte gönnen, das von dem jammervollſten, ach zugleich von dem unwür - digſten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis dieſen Augenblick noch keine Ahnung) ſo wie mein Unglück, iſt auch meine Schuld ohne Gränzen. Nie kann ich hoffen, Sie mir zu verſöhnen, ja wäre das möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine, von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich ſchreck - lich genug im eigenen Bewußtſeyn trage, bin ich im Begriff auf’s Höchſte zu ſchärfen, indem ich meinen Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre ganze Verachtung, Ihren gerechteſten Haß auf mich ziehe. Was hält mich ab vom entehrendſten Bekennt - niß? Iſt man noch eitel, iſt man noch klug, ſucht man ängſtlich noch einigen Schein für ſich zu bewah -390 ren, wenn man einmal ſich ſelbſt zu verachten einen verzweifelten Anfang gemacht hat? Gleichgültig ver - zicht ich auf die kleinen Künſte, womit wir Armen ſonſt in ſolchen Fällen der Bedrängniß uns vor uns ſelbſt und vor Ihrem Geſchlechte beſchönigen. Hin - weg damit! Dem beſten, dem edelſten Manne zeige ſich, ganz wie es iſt, das elende Geſchöpf, das ihn ſo unerhört betrogen. Erfahren Sie’s alſo, Con - ſtanze war’s, durch deren Tücke Ihnen Ihr harm - loſer Antheil an jener lezten Abendunterhaltung in unſerem Hauſe ſo ſchwer zu ſtehen kam, und ſo wollte es die Wuth eines Weibes, deſſen entſchiedene Liebe ſich beiſpiellos hintergangen wähnte ich hätte vielleicht, o ich hätte gewiß, wär es in meiner Macht geſtanden, die Grauſamkeit auf’s Aeußerſte getrieben. Der Himmel fand noch zeitig ein wunderbares Mit - tel, mich einzuſchrecken, mich zu züchtigen. Nun auf Einmal zum thörichten Kinde verwandelt, von Göt - tern und Geiſtern verfolgt, eilt ich in meiner Her - zensnoth, Sie zu befreien. Es gelang, und durch dieſelbe Hand zwar, an die ich Sie zuerſt verrathen. O Schande, Schande! mein kurz gemeſſ’nes Leben reicht nicht hin, ſie zu beweinen, wie ſie es verdient, und nein ich ſchweige; daß Sie nicht etwa den - ken, ich gehe darauf aus, durch übertriebne Selbſtan - klagen mir einen Funken gerührter Theilnahme zu erſchleichen, ſo entſag ich der Wolluſt, mich jezt im Staube vor Ihnen zu winden. Aber haſſen Sie, ver -391 dammen Sie mich keck, ja dürft ich mein ganzes Ge - ſchlecht wider mich aufrufen, möchten die Beſten deſ - ſelben mich fremd aus ihrer Mitte weiſen! das här - teſte Gericht, dürft ich’s erdulden, damit ich doch den einzigen Troſt genöſſe, meine Buße vollendet zu ſehen, eh mein beflecktes Daſeyn ſein Ende erreicht! Gott, du Gerechter, weißt, ob ich mich ſolcher Miſſethat je fähig halten konnte, bevor du mir dieſe Verſuchung bereitet! Doch daß ich ſie ſo ſchlecht beſtand, das öffnet mir ſchaudernd die Augen über mich ſelbſt, über mein geſammtes Weſen. Die ſchönen Stunden auch, wo mich die Liebe mit Hoffnungen der glücklichſten Zukunft täuſchte und eine fromme Weihe über mein kommendes Leben harmoniſch zu verbreiten ſchien mit Thränen ſag ich mir, daß ſelbſt der Werth ſo reiner Augenblicke, ſo himmliſcher Entſchlüſſe, nichts - würdig in jenem ungeheuern Abgrunde verſchwindet, den dieſes Herz, ſein ſelbſt unkundig, mir bis daher verbarg. Nun ich mich aber kenne, nun, Gott ſey geprieſen, weiß ich auch, wohin mein Trachten gehen muß. Doch davon red ich Ihnen nicht, ich habe das mit einem Höhern.

Nehmen Sie meinen Dank für die Mittheilun - gen an die Niethelm; ſie ſind mir treulich zuge - kommen. Ich wäre verloren geweſen ohne ſie; drum tauſend, tauſend Dank für die Barmherzigkeit!

Aber mit welchen Empfindungen hab ich zugleich in die Wege blicken müſſen, in denen Ihr Geſchick Sie392 führte! Nur eine Heilige, wie Agnes, wird mit Kin - derhänden den wunderbaren Schleier lüpfen, der über Ihrem Schickſal liegt. In dieſem herrlichen Geſchöpf fürwahr iſt Ihnen die Befriedigung Ihres höchſten Strebens aufbehalten. Leben Sie wohl! wohl! Ach aus dem tiefſten Grund der Seele wünſch ich, fleh ich, es möge Ihnen wohl ergehen. Welch einen Troſt ich darin für mich ſuche, ahnet Ihnen kaum. Und dürft ich nur Einmal im Leben Agneſen um - armen, den Engel, den ich preiſe! Sie iſt die Glück - lichſte auf Erden, ich aber bin die Erſte, die dieſes Glück ihr gönnt. Lebt Beide wohl, ihr Theuren, und laßt mich Aermſte für Euch beten.

Wir laſſen nun über dem bisherigen Schauplatze von Noltens Leben den Vorhang fallen, und wenn er jezt ſich auf’s Neue hebt, ſo treffen wir den Maler bereits ſeit zweien Tagen auf der Reiſe begriffen. Wohin er ſeinen Weg nehme, fragen wir nicht erſt. Wir denken uns übrigens wohl, daß eben nicht die leidenſchaftliche Wonne des Liebhabers, wie man ſie ſonſt bei ſolchen Fahrten zu ſchildern gewohnt iſt, auch nicht die bloße kühle Pflicht es ſey, was ihn nach Neu - burg führt; es iſt vielmehr eine ſtille Nothwendig - keit, die ihn ein Glück nur leiſe hoffen heißt, welches leider jezt noch ein ſehr ungewiſſes für ihn iſt. Denn eigentlich weiß er ſelbſt nicht, wie Alles werden und393 ſich fügen ſoll. Beharrlich ſchweigt ſein Herz, ohne irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn er ſich das Ziel ſeiner Reiſe vergegenwärtigt, kann ein ſüßes Erſchrecken ihn befallen.

Er hat mit ſeinem muntern Pferde ſchon in der vierten Tagreiſe das Ende des Gebirgs erreicht, das die Landesgränze bezeichnet und von deſſen Höhe aus man eine weite Fläche vor ſich verbreitet ſieht. Es war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die lange Steige hinunter und machte am Fuß derſelben Halt. Er führte ſein Pferd ſeitwärts von der Straße, band es an eine der lezten Buchen des Waldes, wo zwiſchen kleinem Felsgeſtein ein friſches Waſſer vor - quoll. Er ſelber ſezte ſich auf eine erhöhte, mit jun - gem Moos bewachſene Stelle und ſchaute auf die reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer Ent - fernung verſchiedene Ortſchaften und die glänzende Krümmung eines anſehnlichen Fluſſes zeigte. Ein Schäfer zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Ler - chen, und Schlüſſelblumen dufteten in nächſter Nähe.

Den Maler übernahm eine mächtige Sehnſucht, worein ſich, wie ihm däuchte, weder Neuburg, noch ir - gend eine bekannte Perſönlichkeit miſchte, ein ſüßer Drang nach einem namenloſen Gute, das ihn allent - halben aus den rührenden Geſtalten der Natur ſo zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche Ferne ſich ihm zu entziehen ſchien. So hing er ſei - nen Träumen nach und wir wollen ihnen, da ſie ſich394 von ſelbſt in Melodieen auflöſen würden, mit einem liebevollen Klang zu Hülfe kommen.

Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel,
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
Ach ſag mir, alleinzige Liebe,
Wo du bleibſt, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte haben kein Haus.
Der Sonnenblume gleich ſteht mein Gemüthe offen,
Sehnend
Sich dehnend
In Lieben und in Hoffen.
Frühling, was biſt du gewillt?
Wann werd ich geſtillt?
Die Wolke ſeh ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis in’s Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauſchet,
Thun als ſchliefen ſie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauſchet.
Ich denke dieß und denke das,
Ich ſehne mich, und weiß nicht recht, nach was;
Halb iſt es Luſt, halb iſt es Klage.
Mein Herz, o ſage,
Was webſt du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
Alte, unnennbare Tage!

Aber nicht allzulange konnte ſich das Gefühl un - ſeres Freundes in ſo allgemeinem Zuge halten. Er nahm eine alte Locke Agneſens vor ſich, es lag ne - ben ihm im Graſe blitzend das koſtbare Collier der Gräfin (denn dieß war der Inhalt jenes zierlichen395 Futterals), der Brief des Schauſpielers ruhte auf ſeiner Bruſt. Zärtlich drückte er alle dieſe Gegen - ſtände an ſeinen Mund, als hätten ſie ſämmtlich glei - ches Recht an ihn.

Ein leichter Regen begann zu fallen und Theo - bald erhob ſich. Wir laſſen ihn ſeine Straße unge - ſtört fortziehn und ſehen ihn nicht eher wieder, bis er mit dem vierten Sonnenuntergang im lezten Dorfe ange - langt iſt, wo man ihn verſichert, daß er von hier nur noch drei kleine Stündchen nach Neuburg habe. Auf die - ſer lezten Station wollte er übernachten, ſich zu ſtär - ken, ſich zu ſammeln. Er that dieß nach ſeiner Art mit der Feder in der Hand und legte ſich ſodann be - ruhigt nieder. Der Morgen graute kaum und der Mond ſchien noch kräftig wie um Mitternacht, als Theobald den Ort verließ. So wie der Tag nun un - aufhaltſam vordrang, zog ſich die Bruſt des Freundes enger und enger zuſammen; aber der erſte Blitz der Sonne zuckt jezt im rothen Oſten auf und entſchloſſen wirft er allen Kleinmuth von ſich. Mit einer unvermutheten Wendung des Wegs öffnet ſich ein ſtilles Thal, das gar kein Ende nehmen will, aus ihm entwickelt ſich ein zweites und drittes, ſo daß der Maler zweifelt, ob er das rechte wähle; doch ritt er zu, und die Berge traten endlich ein wenig auseinander. Herz, halte feſt! ruft er laut aus, da er auf Einmal den Rauch von Häuſern zu entdecken glaubt. Er irrte nicht, ſchon konnte man des Förſters heitere einſtockige Woh -396[nung] mit ihren grünen Läden, einzeln an die Seite des Bergs hinaufgerückt, unweit der Kirche, liegen ſehn. Herz, halte feſt! klingt es zum zweiten Mal in ſeinem Innern nach, da ihn die Gaſſen endlich auf - nahmen. Er gab ſein Pferd im Gaſthof ab, er eilte zum Forſthaus.

Herein! rief eine männliche Stimme auf’s Klopfen an der Thür. Der Alte ſaß, die Füße in Kiſſen ge - wickelt, im Lehnſtuhl und konnte vor Freudeſchrecken nicht aufſtehn, ſelbſt wenn das Podagra es erlaubt hätte. Wir ſagen nichts vom hellen Thränenjubel die - ſes erſten Empfangs und fragen mit Nolten ſo - gleich nach der Tochter.

Sie wird wohl, iſt die Antwort, ein Stückchen Tuch drüben auf den Kirchhof zur Bleiche getragen haben; die Sonne iſt gar herrlich außen; gehn Sie ihr nach und machen ihr gleich die köſtliche Ueberra - ſchung! Ich kann nicht erwarten, euch bei einander zu ſehn! Ach mein Sohn! mein lieber trefflicher Herr Sohn! ſind Sie denn auch noch ganz der Alte? Wie ſo gar ſtattlich und vornehm Sie mir ausſehen! Ag - nes wird Augen machen! Gehn Sie, gehn Sie! Das Kind hat keine Ahnung. Dieſen Morgen beim Früh - ſtück ſprachen wir zuſammen davon, daß heute wohl ein Brief kommen würde, und nun! Theobald umarmte den guten Mann wiederholt und ſo entließ ihn der Alte. Im Vorbeigehn fiel ſein Blick zufällig in die Kammer der Geliebten, er ſah ein ſchlichtes397 Kleid von ihr, das er ſogleich wieder erkannte, über’n Seſſel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit ſtechen - der Wehmuth, und ſchaudernd mußte ſein Geiſt über die ganze Kluft der Zeiten hinwegſetzen.

Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwi - ſchen den Haſelhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm Alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer ſtand offen; er trat in den ſtille grünenden Raum, der mit ſeinen ländlichen Gräbern und Kreuzen die beſcheidene Kirche umgab. Begierig und ſchüchtern ſucht er die Geſtalt Agneſens; hinter jedem Baum und Buſch glaubt er ſie zu erſpähen; umſonſt; ſeine Ungeduld wächst mit jedem Athemzug; ermüdet ſezt er ſich auf eine hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und über - ſchaut den friedſamen Platz. Die Thurmuhr läßt ih - ren feſten Perpendikeltakt vernehmen, einſame Bienen ſummen um die jungen Kräuter, die Turteltaube gurret hie und da, und, wie es immer kei - nen unerfreulichen Eindruck macht, wenn ſich un - mittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der Zerſtörung die heitere Vorſtellung eines thätig regſa - men Lebens anknüpft, ſo war es auch hier wohlthuend für den Beſchauer, mitten auf dem Felde der Ver - weſung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen Daſeyns anzutreffen. Dort hatte der benachbarte Tiſchler ein paar friſch aufgefärbte Bretter an einen verwitterten Grabſtein zum Trocknen angelehnt, wei - ter oben blähten ſich ein paar Streifen Leinwand in der luſtigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von398 ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen werden, wenn er dachte, welche Hände dieſes Garn geſponnen und ſorglich es hieher getragen, wie manche Stunde des langen Tages und der langen Nacht das treuſte der Mädchen unter wechſelnden Gedanken an den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieſer Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne, mit ſündiger Gluth eine fremde Neigung pflegte.

Jezt hatte er kein Bleibens mehr an dieſem Ort, und doch konnte er den Muth auch nicht finden, Ag - neſen geradezu aufzuſuchen; er trat unſchlüſſig in den Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle und, trotz der armſeligen Ausſtattung, ein feierlicher Geiſt empfing. Haftete doch an dieſen braunen abge - nuzten Stühlen, an dieſen Pfeilern und Bildern eine unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch dieſe kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einſt den ganzen Umfang ſeines Gemüths erfüllt und es ah - nungsvoll zum Höchſten aufgehoben, war doch dort, der Kanzel gegenüber, noch derſelbe Stuhl, wo Agnes als ein Kind geſeſſen, ja den ſchmalen Goldſtreifen Sonne, der ſo eben die Rücklehne beſchien, erinnerte er ſich wohl an manchem Sonntagmorgen gerade ſo geſehen zu haben; in jedem Winkel ſchien ein holdes Geſpenſt der Vergangenheit neugierig dem Halbfrem - den aufzulauſchen und ihm zuzuflüſtern: Siehe, hier iſt ſich am Ende Alles gleich geblieben, wie iſt’s in - deſſen mit dir gegangen?

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Zur Emporkirche ſtieg er nun auf; er ſah ein altes Bleiſtiftzeichen wieder, das er einſt in einem be - deutenden Zeitpunkt, abergläubiſch, gleichſam als Frage an die Zukunft, hingekritzelt hatte aber wie ſchnell beſtürzt wendet ſeine Aufmerkſamkeit ſich ab, als ihm durch die beſtäubten Glasſcheiben außen eine weibliche Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zwei - fel bleiben kann. Agnes iſt es wirklich. Sein Bu - ſen zieht ſich athemlos zuſammen, er vermag ſich nicht von der Stelle zu bewegen, und um ſo weniger, je treffender, je rührender die Stellung iſt, worin eben jezt ihm das Mädchen erſcheint. Er öffnet behut - ſam den Fenſterflügel um etwas und ſteht wie ein - gewurzelt.

Die den Kirchhof umſchließende Mauer bildet etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufen - des Geſimſe, worauf ſich ein Kreuz von alter Stein - hauerarbeit freiſtehend erhebt; an deſſen Fuße auf dem Geſimſe ſizt, noch immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, das liebliche Geſchöpf mit dem Strickzeug und im Hauskleide, ſo daß dem Freunde das Profil des Geſichts vollkommen gegönnt iſt; an einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzen - den hängt ein friſcher Kranz von Immergrün, ſie ſel - ber bückt ſich ſo eben aufmerkſam, die Nadel leiſe an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts, worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig auf und zuzieht; jezt, indem er auffliegt, gleitet ihr400 Blick flüchtig am Fenſter Theobalds hin, daß die - ſem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf ent - fahren wäre; aber das Köpfchen hing ſchon wieder ruhig über dem geſchäftigen Spiele der Finger. Schicht - weiſe kam einigemal der ſüßeſte Blumengeruch gegen den Lauſcher herübergeweht, um den geiſtigen Nerv ſeiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender zu ſpannen, denn dieſe eigenthümliche Würze, meint er, habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt ausgehaucht, als hier, wo ſich ſein Duft mit den frü - hen Gefühlen einer reinen Liebe vermiſchte.

Er dachte jezt ernſtlich darauf, wie er am ſchick - lichſten aus ſeinem Verſteck hervortreten, und ſich dem ahnungsloſen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er bisher in ſchönem Vorgenuß die Geſtalt und alle das Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobach - ten, ſo wollte ein artiger Zufall ihn auch den lang - entbehrten Ton ihrer Stimme noch hören laſſen. Der Storch, der ſeit uralter Zeit ſein Neſt auf dem Kirch - dache gehabt, ſpazierte mit ſehr vieler Gravität erſt unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als gälte es eine Morgenviſite bei Agnes. Haſt ſchon gefrühſtückt, Alter? komm, geh her! rief ſie und ſchnalzte mit dem Finger; der langbei - beinige Burſche aber nahm wenig Notiz von dem herzlichen Gruße und marſchirte gelaſſen hinten vorüber. Jezt ſtreckte plötzlich der alte Förſter den Kopf ſchalk - haft durch’s Pförtchen: Muß doch auch ein Bischen nach dem verliebten Paare ſchauen, das ſeine Freude ſo401 ganz aparte haben will Nun, mein Herzchen? dein Beſuch? was läuft er denn wieder weg? Agnes, dieſe Worte auf den Storch ziehend, deutet mit La - chen ſeitwärts nach dem fortſtolzierenden Vogel: allein bevor der Förſter ſich näher mit ihr erklärt und ehe das Mädchen die Mauerſtufen ganz herunter iſt, er - ſcheint Nolten unter der Kirchthür: Agnes, ihn erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zu - nächſtſtehenden Vater um den Hals, wo ſie ihr glü - hendes Geſicht verbirgt, während unſer Freund, der ſich dieſe erſchüttert abgewandte Bewegung blitzſchnell durch ſein böſes Gewiſſen erklären läßt, mit einiger Verlegenheit ſich heranſchmiegt, bis ein verſtohlener, halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Al - ten Schulter hinweg ihm ſagte, daß Freude, nicht Ab - ſcheu oder Schmerz es ſey, was hier am Vaterherzen ſchluchze. Aber als das herrliche Kind ſich nun plötz - lich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt leidenſchaftlicher Liebe ſich um den Leib warf und nur die Worte vorbrachte: Mein! Mein! da hätte auch er laut ausbrechen mögen, wenn die Uebermacht ſol - cher Augenblicke nicht die Luſt ſelbſt der glücklichſten Thränen erſtarren machte.

Indem man nach dem Hauſe zurückging, bedauerte man ſehr, daß Theobald den guten Baron vor ei - nigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er ſeit einer Woche verreiſ’t ſey.

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Ich bin noch ganz freudewirr und dumm; ſagte Agnes, wie ſie in die Stube traten, laß mich erſt zu mir ſelber kommen! Und ſo ſtanden ſie einander in glücklicher Verwunderung gegenüber, ſahen ſich an, lächelten, und zogen auf’s Neue ſich lebhaft in die Arme.

Und was es ſchön geworden iſt, mein Kind, Papa! rief Theobald, als er ſie recht eigens um ihre Geſtalt betrachtete; was es zugenommen hat! Vergib, und laß mich immer nur ſtaunen!

Wirklich war ihre ganze Figur entſchiedener, mächtiger, ja wie Theobald meinte, ſelbſt größer ge - worden. Aber auch alle die Reize, die der Bräutigam ihr von jeher ſo hoch angerechnet hatte, erkannte er wieder. Jenes tiefe Dunkelblau der Augen, jene eigne Form der Augbraunen, die von allen übrigen ſich da - durch unterſchieden, daß ſie gegen die Schläfe hin in einem kleinen Winkel abſprangen, der in der That etwas Bezauberndes hatte. Dann ſtellten ſich noch immer, beſonders bei’m Lachen, die vollkommenſten Zahnreihen dar, wodurch das Geſicht ungemein viel kräftige Anmuth gewann.

Indeſſen das Wunderſamſte, und worauf ich mir ſelber etwas einbilden möchte, das will der Herr, ſcheint’s, abſichtlich gar nicht entdecken! ſagte Agnes, indem eine köſtliche Röthe ſich über ihre Wangen zog. Wohl wußte er, was ſie meine. Ihre Haare, die er bei ſeiner lezten Anweſenheit noch beinah blond ge -403 ſehen hatte, waren durchaus in ein ſchönes glänzen - des Kaſtanienbraun übergegangen. Theobalden war es bei’m erſten Blicke aufgefallen, aber auch ſogleich hatte ſich ihm die ſonderbare Ahnung aufgedrungen, Krankheit und dunkler Kummer hätten Theil an die - ſem ſchönen Wunder. Agnes ſelber ſchien nicht im entfernten dergleichen zu denken, vielmehr ſie fuhr ganz heiter fort: Und meinſt du wohl, es habe ſon - derlich viel Zeit dazu gebraucht? Nicht doch! faſt zuſehends, in weniger als zwanzig Wochen war ich ſo umgefärbt. Die Paſtorstöchter und ich, wir haben heut noch unſern Scherz darüber.

Am Abend ſollte Nolten erzählen. Allein da - bei konnte wenig Ordentliches herauskommen; denn wenn er ſich gleich aus Larkens’s Koncepten über - zeugt hatte, wie treulich ihm der Freund bereits in Bezug auf gewiſſe Verlegenheitspunkte, ſo namentlich auch wegen der Verhaftsgeſchichte, zur Beruhigung der guten Leutchen vorgearbeitet, ſo fand er ſich nun doch durch die Erinnerung an jene gefährliche Epoche dem unvergleichlichen Mädchen gegenüber im Herzen beengt und verlegen; er verfuhr deßhalb in ſeinen Erzählun - gen nur ſehr fragmentariſch und willkürlich, und übri - gens, wie es bei Liebenden, die ſich nach langer wech - ſelvoller Zeit zum Erſtenmale wieder Aug in Auge beſitzen, natürlich zu geſchehen pflegt, verſchlang die reine Luſt der Gegenwart mit Ernſt und Scherz und Lachen, es verſchlang ein ſtummes Entzücken, wenn404 Eins das Andre anſah, jedes übrige Intereſſe und alle folgerechte Betrachtung. Wenn nun das junge Paar Nichts, gar Nichts in der Welt vermißte, ja wenn zuweilen ein herzlicher Seufzer bekannte, man habe des Glückes auf Einmal zu viel, man werde, da die erſten Stunden ſo reich und überſchwänglich ſeyen, die Wonne der folgenden Zeit gar nicht er - ſchwingen können, ſo war der Alte an ſeinem Theil nicht eben ganz ſo zufrieden. Er ſaß nach aufgehob - nem Abendeſſen (Tiſchtuch und Gläſer mußten bleiben) geruhig zu einer Pfeife Tabak im Sorgenſeſſel, er er - wartete mancherlei Neues von der Reiſe, vom Aus - land und namentlich von Bekanntſchaften des Schwie - gerſohns dieß und jenes Angenehme oder Ruhmvolle behaglich zu vernehmen. Agnes, den Fehler wohl bemerkend, ſtieß deßhalb den Bräutigam ein paarmal heimlich an, der denn nach Kräften ſchwatzend, gar bald den Vater in den beſten Humor zu verſetzen und einige Mal zum herzlichſten Gelächter anzuregen wußte. Es fiel dem ganz jugendlich auflebenden Greiſe noch ein, eine Flaſche ächten Kapweins, welche der Baron verehrt, vom Keller bringen zu laſſen, und immer wurde man munterer.

Von dem Vater, den wir im Allgemeinen ſchon kennen, ſagen wir bei dieſer Gelegenheit nur ſo viel: Es war ein Mann von gutem geraden Verſtande, ſein ganzes Weſen vom beſten Korn, und während die eigenſinnige Strenge ſeines Charakters durch die405 äußerſte Zärtlichkeit für ſeine Tochter auf eine liebens - würdige Weiſe gemildert ſchien, ſo war dagegen der Schwiegerſohn beinahe der einzige Menſch, vor dem er einen unbegränzten Reſpekt fühlte. Denn eigent - lich pflegte der Alte etwas auf ſich zu halten, und da er als Forſtmann, zumal in frühern Zeiten, mit einem hohen Jagdperſonal in vielfache Berührung kam, als erfahrner und gründlicher Mann geſucht und geſchäzt war, ſo durfte er ſich zu einer ſolchen Mei - nung gar wohl berechtigt glauben.

Als man nach eilf Uhr ſich endlich erhob, ver - ſicherten alle Drei, es werde vor freudiger Bewegung Keins ſchlafen können. Kann ich’s doch ohne das nicht! ſeufzte der Förſter, hab ich doch in jungen Jahren bei Tag und Nacht in Näſſe und Kälte han - tierend, mich um den wohlverdienten Schlaf meines Alters beſtohlen! nun hab ich’s an den Füßen. Doch mag’s! Es denkt und lernt ſich Manches ſo von Mitternacht bis an den lieben hellen Tag. Und wenn man ſich dann ſo im guten Bette ſagen kann, daß Haus und Eigenthum von allen Seiten wohl geſichert und geriegelt, kein heimlich Feuer nirgend iſt, und ſo weit all das Ding wohl ſteht, und dann der Mond in meine Scheiben fällt, ſo ſtell ich mir dann Tauſen - derlei vor, ſtelle das Wild mir vor, wie’s draußen im Dämmerſchein auf’m Waldwaſen wandelt und Fried und Freud auch hat von ſeinem Schöpfer; ich denke der alten Zeit, der vorigen Jahre, ſagt der Pſalmiſt406 ich denke des Nachts an mein Saitenſpiel (denn das iſt dem Waidmann ſeine Büchſe), und rede mit meinem Herzen, mein Geiſt muß forſchen. Ja ja, Herr Sohn, lächeln Sie nur, ich kann auch ſenti - mentaliſch ſeyn, wie ihr das ſo nennt, ihr junges Volk. Nun, ſchlafen Sie wohl! Er lüpfte freund - lich ſeine Zipfelmütze und Agnes durfte dem Bräu - tigam leuchten.

Es glänzte wieder die herrlichſte Sonne in die Fenſter des Forſthauſes, um die Bewohner zeitig zu verſammeln.

Agnes, ſeit lange gewohnt, die Stelle der Haus - frau zu behaupten, war am erſten rege. Und auf’s Neue wie trat ſie den Augen des Liebſten entgegen! Ein ander Kleid als geſtern, eher noch ein einfacheres, hatte ſie angelegt; aber wie alle das auch paßte, ſich innig ſchmiegte an ihr wahrſtes Weſen, ja völlig Ei - nes mit demſelben ward! Gleich dieſem neuen Tag war ſie für Nolten durchaus eine Neue; gewiß, wir ſagen nicht zu viel, ſie war der goldne Morgen ſel - ber. So eben hatte ſie den Stöcken Waſſer gegeben, und es hing ihr ein heller Tropfen an der Stirn; mit welcher Wolluſt küßt er ihn weg, küßt er die glatt und rein an beiden Seiten heruntergeſcheitel - ten Haare!

Er machte eine Bemerkung, die ihm das Mäd -407 chen nach einigem Widerſpruch doch endlich gelten laſ - ſen mußte. Bräute, deren Väter vom Forſtweſen ſind, haben vor Andern in der Einbildung des Lieben - den immer einen Reiz voraus, entweder durch den Gegenſatz von zarter Weiblichkeit mit einem muthigen, nicht ſelten Gefahr bringenden Leben, oder weil ſelbſt an den Töchtern noch der friſche freie Hauch des Walds zu haften ſcheint; es ſucht überdieß die ge - meinſchaftliche Farbe Grün ſolche Ideen gar gefällig zu vermitteln. Nur das Leztere litt eine Ausnahme bei Agneſen, welche die Eigenheit hatte, daß ſie dieſe muntre Farbe in der Regel nicht, und nur ſehr ſparſam an ſich leiden mochte.

Sie ging, das Frühſtück zu beſorgen, und Nol - ten unterhielt ſich mit dem Förſter. Das Geſpräch kam auf Agneſeus Krankheit und weil kein Theil da - bei verweilen mochte, ſehr bald auf einen Gegenſtand, wovon der Alte mit Begeiſterung, der Sohn mit ei - nem ſtillen, faſt ſcheuen Vergnügen ſprach ſeine Hochzeit. Man dürfe nun damit nicht lange mehr zögern, meinte der Vater, meinte auch Nolten, ſelbſt Agnes hatte ſich mit dem ernſten Gedanken mehr ver - traut gemacht. Eine Hauptfrage war noch unent - ſchieden: wo der Herr Sohn ſich niederlaſſen werde? Nun eben ſprachen die Männer darüber. Auf ein - mal fragt Nolten, den Kopf aufrichtend und hor - chend: Wer iſt ſo muſikaliſch in der Küche? wer pfeift denn? Sie thut’s, die Agnes; antwortet408 der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen - blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort. Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln, Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl - gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen. Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un - bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht. Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be - griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei - nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol - ten von dieſer Empfindung berührt, von einer unan - genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die - ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen, die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan - gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei - ner verliebten Laune zu verrathen. Ei, rief der Vater dazwiſchen bis wir trinken, hole doch die Man - doline! das iſt dir, glaub ich, noch gar nicht einge - fallen. Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle - genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte Mitleid fordert; er kam bei Agnes ſelten vor, war409 es aber der Fall, ſo wurden ihre Augen, ohne eigent - lich zu thränen, plötzlich ſchwimmend und öffneten ſich mächtig weit, wie man etwa bei Somnambülen dieß bemerkt; es war unmöglich, ſie dann anzuſehn, denn man ward innig bange, ſie ſtehe auf dem Punkt, wie durch ein Wunder zu zerfließen, wie eine leichte Wolke ſich völlig aufzulöſen. Sie trat ängſtlich hinter Theo - balds Stuhl und ihr Finger ſpielte haſtig in ſeinem Haar. Niemand wagte weiter etwas zu ſagen und ſo entſtand eine drückende Pauſe. Ein andermal! ſagte ſie kleinlaut und eilte in die Küche.

Der Vetter, der Lehrmeiſter, irrt ſie, merk ich wohl, Ihnen gegenüber. Doch hätt ich das nicht mehr erwartet, aufrichtig zu ſagen.

Wir wollen ſie ja nicht ſtören! verſezte Theo - bald, laſſen Sie uns ja vorſichtig ſeyn. Ich denke mich recht gut in ihr Gefühl. Des Mädchens Anblick aber hat mich erſtaunt, erſchreckt beinah! Merkten Sie nicht, wie ſie bei’m Weggehn die Farbe zum zweiten Mal wechſelte und ſchneebleich wurde?

Sonderbar! ſagte der Vater, mehr unmuthig als beſorgt, in jener ſchwermüthigen Periode konnte man daſſelbe manchmal an ihr ſehn und inzwiſchen nie wieder, bis dieſen Augenblick. Beide Männer wollten nachdenklich werden, aber Agnes brachte die Taſſen.

Beim Frühſtück hielt man Rath, was heute be - gonnen werden ſollte. Eh ich an irgend etwas wei -410 ter denken kann, eh wir den Papa zum Wort kommen laſſen mit Beſuchen, die zu machen, mit Rückſichten, die zu nehmen ſind, erlauben Sie uns das Vergnü - gen, daß Agnes mir zuvörderſt das Haus vom Gie - bel bis zum Keller, von der Scheune bis zum Gar - ten, und Alles nach der Reihe wieder zeige, was mich als Knaben glücklich machte. Was waren das doch ſchöne Zeiten! Sie hatten ihrer vier Jungen im Hauſe, lieber Vater, die beiden Z., dieſe wilden Brü - der, mich und Amandus, der ja nun Pfarrer drü - ben iſt in Halmedorf. Wie freu ich mich, ihn wie - der zu ſehn! wir müſſen hinüber gleich in den näch - ſten Tagen, hörſt du mein Schatz? hört ihr Papa? da muß dann Jedes ſein Häufchen Erinnerung her - zubringen, und es wird ein groß Stück Vergangen - heit zuſammen geben. Leider, ſagte Agnes, kann aus dieſer Zeit von mir noch nicht die Rede ſeyn; ich hatte nur erſt ſieben Jahre, wie du zu uns kamſt. Was? nicht die Rede? meinſt du, der Tag, der ver - hängnißvolle, ſchwarze Unglücks-Sonntagnachmittag werde nicht aufgeführt in unſern Schulannalen, wo du mein Exercitienheft zur Hand kriegteſt, es auf dem Schemel hinter den Ofen nahmſt und unmittelbar hinter das rothe Pessime des Rektors hin mit unge - lenker Feder, in beſter Meinung, eine ganze Front lan - ger hakiger P’s und V’s malteſt? Welch ein Jammer, da ich das Skandal gewahr wurde! Ich nahm dich, Gott verzeih mir’s, bei den Ohren, und die Andern411 auch über dich her, wie ein ergrimmter Bienen-Trupp wenn ein Feind einbrechen will! Ach, und was das immer ein ſaurer Gang war Morgens mit dem Bücherriemen nach der Stadt in’s Lyceum! denn der gute Rektor lag mir beſonders ſcharf an. Aber, kam dann der Samſtag heran, der erſehnte Wochenſchluß! wir ſagten: im Himmel müßte es immer Samſtag Abend ſeyn, denn ſelbſt der Sonntag ſey ſo lieblich nicht mehr. O ich muß den Boden wieder ſehn, wo wir das Heu durchwühlten, das Garbenſeil, an wel - chem wir uns ſchaukelten, den Teich im Hofe, wo man Fiſche groß zog! Kirch und Kirchhof, lachte der Vater, dieſe Herrlichkeiten haben Sie ſchon in Au - genſchein genommen; zu den Glocken hinauf wird auch wohl noch der Steeg zu finden ſeyn. Ei, und warf Agnes dazwiſchen, deinen alten Günſtling, deinen Geſchaggien haſt du auch ſchon gehört! Theo - bald begriff nicht gleich, was ſie damit wollte, plötz - lich fiel ihm mit hellem Lachen bei, ſie meine einen alten Nachtwächter, über den ſie ſich luſtig zu machen pflegten, weil er die lezten Sylben ſeines Stunden - rufs auf eine eigne, beſonders ſchön ſeyn ſollende Manier entſtellte.

So eben brachte der Bote von der Stadt die neueſten Zeitungen, die der Vater ſchon eine Weile zu erwarten ſchien, denn er ſparte ſeinen Kaffee und die zweite Pfeife lag nur zum Anzünden parat. Höf - lich, nach ſeiner Art, gab er dem Sohn die Hälfte412 der Blätter hin, der ſie indeſſen neben ſich ruhen ließ. Nein, ſagte er, wieder heimlich zu Agneſen ge - wendet, während der Alte ſchon in Politik vertieft ſaß, ich habe Käſperchen die Nacht nicht gehört. Ich habe! verſezte ſie, um drei Uhr, es war noch dunkel, rief er den Tag an; und, ſezte ſie leiſe hin - zu, an dich hab ich gedacht! aber wie! eben war ich erwacht, mich überfiel’s auf Einmal, du wärſt hier, wärſt mit mir unter Einem Dache! ich mußte die Hände falten, ein Krampf der Freuden drückte ſie mir in einander, ſo dankbar, froh und leicht hab ich mein Tage nicht gebetet. Gebt ’mal Acht, Kin - der! hub der Vater an: das iſt ein Einfall vom ruſſiſchen Kaiſer! ſuperb, ganz excellent! Da hört nur. Und nun ward ein langer Artikel vorgeleſen, wobei der Alte ſeine Wölkchen heftiger vom Mund abſtieß. Nolten vernahm kaum den Anfang des Edikts, er iſt noch hingeriſſen v[o]n den lezten Worten Agneſens, woraus ihm alles Gold ihrer Seele entgegenſchimmert; durchdringend ruht ſein Blick auf ihr und zugleich ergreift ihn das Andenken an Larkens auf das Lebhafteſte. O, hätte er ausrufen mögen, warum muß er mir jetzo fehlen? Er, dem ich dieſe Seeligkeit verdanke, warum verſchmäht er, ſelbſt Zeuge zu ſeyn, wie herrlich die Saat aufgegangen iſt, die ſeine treue Hand im Stillen ausgeſtreut! Und ich ſoll hier ge - nießen, indeß ein freudelos Geſchick, ach, das eigne unerſättliche Herz, ihn in die Ferne irren heißt, ver -413 lechzend in ſich ſelber, ohn eine hülfreiche theilneh - mende Seele, die ſeine heimlichen Schmerzen beſpräche, in die Tiefe ſeines Elends beſcheidnen Troſt hinun - terleiten könnte! Ihn ſo zu denken! und keine Spur, keine Ahnung, welcher Winkel der Erde mir ihn ver - birgt. Und wenn ich ihn nimmer fände? Gott! wenn er bereits, wenn er in dieſem Augenblick dasjenige verzweifelt ausgeführt hätte, womit er ſich und mich ſo oft bedrohte ! Eine Sorge, die nur erſt als ſchwacher Punkt zuweilen vor uns aufgeſtiegen und immer glücklich wieder verſcheucht worden war, pflegt tückiſcher Weiſe gerade in ſolchen Momenten uns am hartnäckigſten zu verfolgen, wo alles Uebrige ſich zur freundlichſten Stimmung um uns vereinigen will. Im heftigen Zugwinde einer aufgeſcheuchten Einbildungskraft drängt ſich ſchnell Wolke auf Wolke, bis es vollkommen Nacht um uns wird. So ballte mitten in der lieblichſten Umgebung das rieſenhafte Geſpenſt eines abweſenden Geſchickes ſeine drohende Fauſt vor Theobalds Stirn, und ſo war plötzlich eine ſonderbare Gewißheit in ihm aufgegangen, daß Lar - kens für ihn verloren ſey, daß er auf eine ſchreck - liche Art geendigt habe. Er ertrug’s nicht mehr, ſtand auf von ſeinem Sitze, und ging im Zimmer umher. Die ſüße Nähe Agneſens beklemmt ihn wunderbar, eine unerklärliche Angſt befällt ihn, ihm iſt, als wenn ihn dieſe reine Gegenwart mit ſtillem Vorwurf wie einen Fremden, Unwürdigen, ausſtieße. Dieß Zimmer,414 der Alte mit ſeiner Tochter, die ganze Scene, die ihm ein Blitz des Gedankens im vollen überraſchenden Kontraſte mit der Vergangenheit aufreißt und erhellt, dünkt ihm auf Einmal Duft und Traum zu ſeyn, ja, wäre das, was er hier um ſich her mit Augen ſah, durch einen mächtigen Zauber urplötzlich vor ihm verſunken und verſchwunden, er hätte darin nur die natürliche Auflöſung einer ungeheuren Illuſion geſehen.

Glücklicherweiſe war die Aufmerkſamkeit Agne - ſens während dieſer heftigen Bewegung Theobalds völlig auf den Vater geſpannt, der es liebte, mit ſei - ner Tochter über politiſche Begebenheiten zu raiſon - niren und ihr Urtheil daran zu prüfen und zu üben.

Unſer Freund kam ſich ganz verſtoßen und ver - laſſen vor, und wenn ſein Blick auf das liebe Mäd - chen fiel, ſo ſchien ſie ihm gar nicht mehr anzugehö - ren, ihn niemals etwas angegangen zu haben.

Wie nun aber unſer Herz, durch die Dazwiſchen - kunft eines kleinen Umſtandes ſich von einem Aeußer - ſten zur natürlichen Empfindung geſchwind umſchwen - ken zu laſſen, eine wohlthätige Fertigkeit beſizt, ſo war, als nun die Thüre aufging und unerwartet der gute alte Baron eintrat, unſer Freund alsbald ſich ſelbſt zurückgegeben, und nicht die Erſcheinung einer Gottheit hätte ihm wohler thun können. Mit aus - geſtreckten Armen eilt er auf ihn zu und liegt ſchluch - zend, als ein Kind, am Halſe des ehrwürdigen Mannes,415 deſſen weißgelockten Scheitel er mit Küſſen deckt. Auch bei den Uebrigen war Freude und Verwunderung groß; ſie hatten den gnädigen Herrn noch hinter Berg und Thal gedacht, und er erzählte nun, wie ein Ungefähr ihn früher heimgeführt, wie man ihm geſtern Abend ſpät bei ſeiner Ankunft geſagt, daß der Maler ange - kommen, und wie er denn kaum habe erwarten kön - nen, denſelben zu begrüßen.

Es macht bei ſolchen Veranlaſſungen eine beſon - ders angenehme Empfindung, zu bemerken, wie Freunde, zumal ältere Perſonen, welche man geraume Zeit nicht geſehn, gewiſſe äußerliche Eigenthümlichkeiten, gewohnte Liebhabereien, unverändert beibehielten; dieß Beharren gewährt uns eine Art von Verſicherung für unſer eignes Daſeyn, denn indem wir in den Alten das Leben, das dieſe ſo eifrig feſthalten, doppelt liebgewinnen, finden wir Jüngere uns zugleich in unſern Anſprü - chen darauf und in einem herzhaften Genuſſe deſſel - ben beſtärkt. So hatte der Baron bei dieſem Beſuche ſeinen gewohnten Morgenſpaziergang, den er ſeit vie - len Jahren immer zur ſelben Stunde machte, im Aug, ſo ſtellte er ſein Rohr noch wie ſonſt in die Ecke zwi - ſchen den Ofen und den Gewehrſchrank, noch immer hatte er die unmodiſch ſteifen Halsbinden, die an ſeine frühere militäriſche Haltung erinnerten, nicht abge - ſchafft. Aber zum peinlichen Mitleiden wird unſre frohe Rührung umgeſtimmt, wenn man wahrnehmen muß, daß dergleichen Alles nur noch der Schein des416 frühern Zuſtandes iſt, daß Alter und Gebrechlichkeit dieſen überbliebenen Zeichen einer beſſern Zeit wider - ſprechen. Und ſo betrübte auch Nolten ſich im Stil - len, da er den guten Mann genauer betrachtete. Er ging um Vieles gebückter, ſein faltiges Geſicht war bedeutend bläſſer und ſchmaler geworden, nur die wohl - wollende Freundlichkeit ſeines Mundes und das geiſt - reiche Feuer ſeiner Augen konnte dieſe Betrachtungen vergeſſen machen.

Während nun zwiſchen den vier Perſonen das Geſpräch heiter und gefällig hin und her ſpielt, kann es bei aller äußern Unbefangenheit nicht fehlen, daß Nolten und der Baron durch Blick und Miene, noch mehr aber durch gewiſſe zufällige, unbeſchreibliche Merkmale des Ideengangs ſich einander unwillkürlich verrathen, was Jeder von Beiden bei dieſem Zuſam - mentreffen beſonders denken und empfinden mochte, und unſer Freund glaubte den Baron vollkommen zu verſtehen, als dieſer mit ganz eignem Wohlgefallen und einer Art von Feierlichkeit ſeine Hand auf das ſchöne Haupt Agneſens legte, indem er einen Blick auf den Bräutigam hinüberlaufen ließ. Nolten fand einen Troſt darin, daß er den heimlichen Vorwurf, das theure Geſchöpf ſo tief verkannt zu haben, mit einem Manne theilen durfte, den er ſo ſehr verehrte; ja es war dieſe Idee, wiewohl vielleicht nur dunkel, eben dasjenige geweſen, was ihm gleich bei des Ba - rons Eintritt in’s Zimmer die größte Laſt vom Her -417 zen weggenommen. Der feine Greis mochte übrigens Recht haben, jene verdeckte Zwieſprache der Gedan - ken ſogleich abzuſchneiden, indem er in allgemeinen heitern Umriſſen von Theobalds Glück, wie es von unten herauf mit ihm verfahren, eine Darſtellung machte, und man ſo auf die Jugendzeit Theobalds zu ſprechen kam. Agnes inzwiſchen hatte ſich in Ge - ſchäften entfernt.

Man ſagt mir noch auf den heutigen Tag in’s Geſicht, begann der Maler, und ſelbſt mein wer - theſter Herr Papa gibt zuweilen zu verſtehen, ich ſey länger als billig ein Knabe geblieben. Zu läugnen iſt nun nicht, meine Streiche als Burſche von ſechzehn Jahren ſind um kein Haar beſſer geweſen, als eines Eilfjährigen, ja meine Liebhabereien ſahen vielleicht bornirter aus, wenigſtens hatten ſie die praktiſche Be - deutung nicht, um derentwillen man dieſem Alter manche Spiele, wären ſie auch leidenſchaftlich und zeit - vergeudend, noch allenfalls verzeihen kann. Bei mei - ner Art ſich zu unterhalten, wurde der Körper wenig geübt; Klettern, Springen, Voltigiren, Reiten und Schwimmen reizte mich kaum; meine Neigung ging auf die ſtilleren Beſchäftigungen, öfters auf gewiſſe Kurioſitäten und Sonderbarkeiten. Ich gab mich an irgend einem beſchränkten Winkel, wo ich gewiß ſeyn konnte, von Niemanden gefunden zu werden, an der Kirchhofmauer, oder auf dem oberſten Boden des Hau - ſes zwiſchen aufgeſchütteten Saatfrüchten, oder im27418Freien unter einem herbſtlichen Baume, gerne einer Beſchaulichkeit hin, die man fromm hätte nennen kön - nen, wenn eine innige Richtung der Seele auf die Natur und die nächſte Außenwelt in ihren kleinſten Erſcheinungen dieſe Benennung verdiente; denn daß ausdrücklich religiöſe Gefühle dabei wirkten, wüßte ich nicht, ausgeſchloſſen waren ſie auf keinen Fall. Ich unterhielt zu Zeiten eine unbeſtimmte Wehmuth bei mir, welche der Freude verwandt iſt, und deren eigenthümlichen Kreis, Geruchskreis möcht ich ſagen, ich, wie den Ort, woran ſie ſich knüpfte, willkürlich betreten oder laſſen konnte. Mit welchem unaus - ſprechlichen Vergnügen konnte ich, wenn die Andern im Hofe ſich tummelten, oben an einer Dachlücke ſitzen, mein Veſperbrod verzehren, eine neue Zeichnung ohne Muſterblatt vornehmen! Dort nämlich iſt ein Verſchlag von Brettern, ſchmal und niedrig, wo mir die Sonne immer einen beſondern Glanz, überhaupt ein ganz ander Weſen zu haben ſchien, auch konnte ich völlig Nacht machen, und (dieß war die höchſte Luſt), während außen heller Tag, eine Kerze anzün - den, die ich mir heimlich zu verſchaffen und wohl zu verſtecken wußte. Herr Gott, du namenloſe Güte! rief der Förſter aus, hätt ich und meine ſelige Frau damals gewußt, was für ein gefährlich Feuerſpiel So verging eine Stunde, fuhr Nolten fort, der un - gern unterbrochen war, bis mich doch auch die Ge - ſellſchaft reizte, da ich denn ein Räuberfangſpiel, das419 mich unter allen am meiſten anzog, ſo lebhaft wie nur irgend Einer, mitmachte. Jüngere Kinder, dar - unter auch Agues, hörten des Abends gern meine Mährchen von dienſtbaren Geiſtern, die mir mit Hülfe und Schrecken jederzeit zu Gebote ſtanden. Sie durf - ten dabei an einer hölzernen Treppenwand zwei Aſt - löcher ſehen, wo jene zarten Geſellen eingeſperrt wa - ren; das Eine, vor das ich ein dunkles Läppchen ge - nagelt hatte, verwahrte die böſen, ein anderes (oder das vielmehr keines war, denn der runde Knoten ſtack noch natürlich in’s Holz geſchloſſen) die freund - lichen Geiſter; wenn nun zu gewiſſen Tagszeiten eben die Sonne dahinter ſchien, ſo war der Pfropf vom ſchönſten Purpur brennend roth erleuchtet; dieſen Ein - gang, ſo lange die Rundung noch ſo glühend durch - ſichtig ſchien, konnten die luftigen Weſen gar leicht aus und ein durchſchweben; unmittelbar dahinter dachte man ſich in ſehr verjüngtem Maasſtab eine ziemlich weit verbreitete See mit lieblichen, duftigen Inſeln. Nun war das eine Freude, die Kinder, die andächtig um mich herſtanden, ein Köpfchen ums andre hinaufzulüpfen, um all die Pracht ſo nahe wie mög - lich zu ſehn, und Jedes glaubte in der ſchönen Gluth die wunderbarſten Dinge zu entdecken; natürlich! hab ich’s doch beinah ſelbſt geglaubt! Jedoch, es iſt nicht ſchicklich, ſo lange von ſich ſelbſt zu reden, nur wenn Sie das Bekenntniß beluſtigen kann, Papa, ſo will ich gern geſtehn, daß der alte Theobald noch420 jezt zuweilen ſich über einer Spur von dieſen Kin - dereien ertappt.

Der Förſter ſchüttelte den Kopf und ließ nach ſeiner Gewohnheit, wenn ihn etwas ſehr wunderte, ein langes ſſſ t! vernehmen. Der Baron da - gegen hatte mit einem ununterbrochenen lieben Lächeln zugehört und ſagte jezt: Aehnliche Dinge habe ich von Andern theils gehört, theils geleſen, und Alles, was Sie ſagten, trifft mit der Vorſtellung überein, die ich von Ihrer Individualität ſeit früh gehabt. Ueberhaupt preiſ ich den jungen Menſchen glücklich, der, ohne träge oder dumm zu ſeyn, hinter ſeinen Jahren, wie man ſo ſpricht, weit zurückbleibt; er trägt gewöhnlich einen ungemeinen Keim in ſich, der nur durch die Umſtände glücklich entwickelt werden muß. Hier iſt jede Abſurdität Anfang und Aeuße - rung einer edeln Kraft, und dieſes Brüten, wobei man nichts herauskommen ſieht, das kein Stück gibt, iſt die rechte Sammelzeit des eigentlichen innern Men - ſchen, der freilich eben nicht viel in die Welt iſt. Ich kann es mir nicht reizend und rührend genug vor - ſtellen, das ſtille gedämpfte Licht, worin dem Knaben dann die Welt noch ſchwebt, wo man geneigt iſt, den gewöhnlichſten Gegenſtänden ein fremdes, oft unheim - liches Gepräge aufzudrücken, und ein Geheimniß da - mit zu verbinden, nur damit ſie der Phantaſie etwas bedeuten, wo hinter jedem ſichtbaren Dinge, es ſey dieß, was es wolle ein Holz, ein Stein, oder der421 Hahn und Knopf auf dem Thurme ein Unſicht - bares, hinter jeder todten Sache ein geiſtig Etwas ſteckt, das ſein eignes, in ſich verborgnes Leben an - dächtig abgeſchloſſen hegt, wo Alles Ausdruck, Alles Phyſiognomie annimmt.

Nur werden Sie mir zugeben, verſezte Nol - ten, daß dergleichen Eigenheiten auch gefährlich wer - den können, wenn ich Ihnen den freilich nur ſehr ſchwachen Anfang einer fixen Idee in einem Kinder - gemüth vortrage, einen Fall, den Sie wenigſtens bei dieſem Alter nicht geſucht haben würden. Ich rede von meiner Braut, von Agneſen. Da das gute Kind es nicht hört, ſo können wir offen davon ſpre - chen; es iſt zugleich ein Beweis, wie ein unheimli - cher Hang bei ihrer übrigens ſo reinen und ſchönen Natur doch frühzeitig vorhanden war, und wie ſehr man ſeit den Vorfällen vom vorigen Jahre Urſache haben mag, ſich bei ihr in Acht zu nehmen. Erzäh - len Sie’s dem Herrn Baron, Vater, da ich’s ja auch nur von Ihnen erfuhr; wiſſen Sie, die frühere Grille des Mädchens bei Gelegenheit als vom Auslande, von fremden Städten, die Rede war.

Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforſtmei - ſter, von Ihren Reiſen zurückkamen, und die Gnade hatten, manchmal in meinem Hauſe davon zu erzäh - len. Dieſer Herr, nachdenklich und ernſthaft, aber freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mäd -422 chen einen beſondern Eindruck, der ihr lange geblie - ben iſt. Nun kommt ſie einmal (die Geſellſchaft war gerade weggegangen) von ihrem Sitz hinter dem Ofen, wo ſie eine Zeitlang ganz ſtill geſeſſen und geſtrickt hatte, hervor, ſtellt ſich vor mich hin, ſieht mir ſcharf in’s Geſicht und lacht mich an, wie über etwas, das mir ſchon bewußt ſeyn müßte, und dabei fährt ſie mir mit der Stricknadel ſchalkhaft über die Stirn. Auf meine Frage, was dieß zu bedeuten habe, gibt ſie keine deutliche Antwort und geht wieder an ihren Platz. So treibt ſie’s zu verſchiedenen Zeiten ein paarmal. Zulezt ward ich doch ungeduldig und fuhr ſie etwas hart an, da fiel ſie in ein Weinen, indem ſie ſagte: Geſteht es nur Papa, daß es die Länder und Städte gar nicht gibt, von denen Ihr alls redet mit dem Herrn; ich merke wohl, man thut nur ſo, wenn ich um den Weg bin, ich ſoll Wunder glauben, was Al - les vorgehe draußen in der Welt, und was doch nicht iſt; deßwegen laßt Ihr mich auch nie weiter als bis nach Weil, nach Grebenheim und Neitze. Zwar daß unſers Königs Land ſehr groß iſt, und daß die Welt noch viel viel weiter geht, auch noch andre Völker ſind, weiß ich wohl, aber Paris, das iſt gewiß kein Wort, und London, ſo gibt es keine Stadt; Ihr habt es nur erdacht und thut ſo bekannt damit, daß ich mir Alles vorſtellen ſoll. So ungefähr ſchwazte das einfältige Ding; halb ärgert’s mich, halb mußt ich lachen. Ich gab mir Mühe, ihr Alles klar aus -423 einander zu ſetzen, wies ihr auch die Charten, die ſie übrigens ſchon oft geſehen hatte; dabei lauſchte ſie immer auf meine Miene, und der kleinſte Zug von Lachen brachte ſie faſt zur Verzweiflung. Nun, die Caprice verlor ſich bald, und als ich ſie vor etlichen Jahren wieder dran erinnerte, lachte ſie ſich herzlich ſelber drüber aus, erklärte deutlicher, wie’s ihr gewe - ſen, und ſagte ich weiß nicht was Alles. Kurz, nahm Theobald das Wort, es läuft darauf hin - aus, daß ſie ſich als Mittelpunkt und Zweck einer großen Erziehungsanſtalt betrachtete, die auf jene Weiſe allerlei lebhafte Ideen in des Kindes Kopfe habe in Umlauf ſetzen und ſeinen Geſichtskreis durch eine Täuſchung erweitern wollen, deren Nutzen ſie zu ahnen glaubte, doch nicht begriff. Sie vermuthete, man wiſſe überall, wohin ſie komme, wer ihr da und dort begegnen werde, und da ſeyen alle Worte abge - kartet, Alles auf das ſorgfältigſte hinterlegt, damit ſie auf keinen Widerſpruch ſtoße. Uebrigens hatte ſich die Grille durchaus nicht ſo feſtgeſezt, daß ſie nicht dazwiſchen hinein wieder längere Zeit ganz frei da - von geweſen wäre, ſie ſchien ſich ſelbſt nicht recht dabei zu trauen. Ich habe ſie nie darüber fragen mögen.

Indeſſen, ſagte der Baron nach einigem Beſin - nen, bei näherer Betrachtung zeigt ſich doch, es ge - hört dieſer ſkeptiſche Kaſus, der allerdings höchſt merk - würdig bleibt, nicht ganz in unſer voriges Kapitel. 424Laſſen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glück - lichen Myſticism des Knabenalters zurückkehren! denn eigentlich ſind es doch nur die Knaben, nicht aber die Mädchen, bei denen er ſich findet. Das wollt ich noch ſagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von dieſer angenehm phantaſtiſchen Komplexion wozu ich überdieß, was nicht nothwendig dabei ſeyn muß und bei den Wenigſten iſt, eine größere Portion Geiſt überhaupt zuſetze daß, ſag ich, ſolche Individuen jedesmal zu Dichtern und Künſtlern geboren ſind? ich ſollte nicht meinen.

Keineswegs! verſezte Nolten. Ich habe mir bei einem Manne, der ſcheinbar nicht hieher gehört, bei Napoleon, einige geheime Eigenſchaften ge - merkt, welche ſich ſehr gut an gewiſſe Fädchen von Lichtenbergs eigenſter Natur anknüpfen laſſen; ſie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo reden, aber ſie hängen mit einer Gattung Aberglau - ben zuſammen, der ein Grenznachbar aller Idioſyn - kraſien iſt.

Napoleon! rief der Baron aus, als wenn nicht auch ſein Aberglaube nur angenommene Maske wäre!

Machen Sie mir ihn nicht vollends zum ſeich - ten Verbrecher! entgegnete Nolten. Er war nüch - tern überall, nur nicht in dem tiefſten Schachte ſei - nes Buſens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die einzige Religion, die er hatte, die Anbetung ſeiner425 ſelbſt oder des Schickſals, das mit göttlicher Hand ihm einen Spiegel vorzuhalten ſchien, worin er ſich und die Nothwendigkeit ſeiner Thaten erblickte.

Wir laſſen das gut ſeyn; verſezte der Baron, ſo weit ich Sie aber verſtehe, haben Sie vollkommen Recht. Das Schickſal verwendet die Kräfte, welche verſchränkt in einem Menſchen liegen können, gar mannichfaltig, und aus einer Miſchung von Poeſie, bald mit politiſchem Verſtand, bald mit philoſophi - ſchem Talent, mit mathematiſchem Sinn u. ſ. f., in einem und demſelben Subjekte ſpringen die wunder - barſten, die größten Reſultate hervor, vor denen die Gelehrten gaffend und kopfſchüttelnd ſtehn und wo - durch das lahme Rad der Welt auf lange hinein wie - der einen tüchtigen Schwung erhält. Da ſcheint denn die Natur vor unſern eingeſchränkten Augen ſich auf Einmal ſelbſt zu widerſprechen, oder wenigſtens zu übertreffen, ſie thut aber keines von Beiden. Zwei heterogen ſcheinende Kräfte können ſich wunderbar einander ſtärken, und das Trefflichſte hervorbringen. Doch ich verirre mich. Ich wollte von Ihren kin - diſchen Geſtändniſſen aus nur auf den Punkt kommen, wo der Philiſter und der Künſtler ſich ſcheiden. Wenn dem Leztern als Kind die Welt zur ſchönen Fabel ward, ſo wird ſie’s ihm in ſeinen glücklichſten Stun - den auch noch als Mann ſeyn, darum bleibt ſie ihm von allen Seiten ſo neu, ſo lieblich befremdend.

Am meiſten als Enthuſiaſt hat Novalis (der426 mir übrigens dabei nicht ganz wohl macht) dieſes ausgeſprochen, ſo weit es den Dichter angeht

Ganz recht! fiel Nolten ein; aber wenn dem wahren Dichter bei dieſer beſondern Anſchauungs - weiſe der Außenwelt jene holde Befremdung durchaus eigen ſeyn muß, ſelbſt im Falle ſie ſich in ſeinen Pro - duktionen nicht ausdrücklich verrathen ſollte, ſo kann dagegen die Vorſtellungsart des bildenden Künſtlers ganz entfernt davon ſeyn, ja ſie iſt es nothwendig. Auch der Geiſt, in welchem die Griechen Alles per - ſonificirten, ſcheint mir völlig verſchieden von demjeni - gen zu ſeyn, was wir ſo eben beſprechen. Ihre Phan - taſie iſt mir hiefür viel zu frei, zu ſchön und, möcht ich ſagen, viel zu wenig hypochondriſch. Ein Todtes, Abgeſtorbenes, Fragmentariſches konnte in ſeiner Na - turweſenheit nichts Inniges mehr für ſie haben. Ich müßte mich ſehr irren, oder man ſtößt hier wiederum auf den Unterſchied von Antikem und Romantiſchem.

Nun kam das Geſpräch auf Theobalds neuſte Arbeiten, und da es hierauf abermals eine gewiſſe allgemeine Wendung nehmn wollte, ſagte der Baron, indem er auf die Uhr ſahe: Damit wir nun aber nicht unverſehens in den unfruchtbarſten aller Dispute hineingerathen, denn wir ſind auf dem Wege, was nämlich ſtärkender ſey, joniſche Luft einzuathmen, oder den ſüßeſten Himmel, wo er den Umriß einer Ma - donna-Wange berührt, ſo entlaſſen Sie mich, damit ich meinen gewohnten Marſch antrete. Auf den Abend427 hoffe ich Sie bei mir zu ſehn, und Sie ſagen mir dann mehr von Ihrem angefangenen Narciß. Da Nolten wußte, daß der alte Herr Morgens gerne allein auf ſeinen Gütern herumging, ſo drang er ſeine Begleitung nicht auf. Er bat Agneſen zu einem Gang in’s Gärtchen; ſie befahl der Magd einige Ge - ſchäfte, ging in ihre Kammer, ein Halstuch zu holen, und Theobald folgte ihr dahin.

Hier ſieh auch einen Mädchenkram! ſagt ſie, indem ſie die Schublade herauszieht, wo eine Menge Käſtchen, Schächtelchen, allerlei beſcheidner Schmuck bunt und nett bei einander lag. Sie nahm ein ro - thes Schatullchen auf, drückte es an die Bruſt, legte die Wange darauf und ſah Theobalden zärtlich an: Deine Briefe ſind’s! mein beſtes Gut! Einmal haſt du mich dieſen Troſt lange entbehren laſſen, und dann, als du gefangen warſt, wieder; aber gewiß, ich habe mich nicht zu beklagen. Unſerm Freund ging ein Stich durch’s Herz und er erwiderte nichts. Dein neuſtes Geſchenk (es war eine kleine Uhr), ſiehſt du, fuhr ſie fort, indem ſie eine zweite Schub - lade zog, ſoll hier ſeinen Platz nehmen, es gehört ihm eine vornehme Nachbarſchaft. Aber, Seele! was haſt du damals gedacht? Das iſt der Putz für eine Gräfin, nicht für unſer Eine! (Sie zeigte einen geſchmackvollen Spenzer von dunkelgrünem Sammet, reich mit goldnen Knöpfchen und zarten Ketten, ſtatt der Litzen, beſezt; Larkens hatte ihr das Maas auf428 eine feine Weiſe abzuliſten gewußt, und ſo das Klei - dungsſtück ganz fertig geſendet.) Theobald ſtand geblendet, vernichtet von der Großmuth ſeines Freun - des. Er ſpielte in Gedanken mit einem Strauß ita - lieniſcher Blumen, ohne zu merken, wie jämmerlich ſeine Finger ihn zerknitterten; Agnes zog ihm das Bouquet ſachte aus der Hand: er lächelte, die Thrä - nen ſtanden ihm näher. Das Collier der Gräfin fiel ihm ein; er wagte immer noch nicht, damit hervor - zurücken. Wie Alles, Alles ihn verlezte, quälte, ent - zückte! ja ſelbſt der reizende Duft, der den Putz - Schränken der Mädchen ſo eigen zu ſeyn pflegt, ſchien ihm auf Einmal den Athem zu erſchweren; es war Zeit, daß er ſich losmachte und auf ſein Zimmer ging, wo er ſich elend auf den Boden warf, und allen ver - drungenen Schmerzen Thür und Thor willig eröffnete.

In Kurzem klopft Agnes außen: er kann nicht aufſchließen, er darf ſich in dieſem Zuſtand nicht vor ihr ſehen laſſen. Ich kleide mich an, mein Kind! ruft er, und leiſe geht ſie wieder den Gang zurück.

Nach einer Weile, da er ſich gefaßt hatte, kam der Vater. Auf ein Wort! ſagte er, als ſie allein waren, das wunderliche Ding, das Mädchen, jezt geht es ihr im Kopf herum, ſie hätte Ihnen vorhin ſpielen ſollen; ſie fürchtet ſich davor und wird ſich fürchten, bis es Einmal überwunden iſt; nun fiel’s ihr ein, ſie wolle ſich geſchwinde entſchließen Nur jezt nicht! rief Nolten ich bitte Sie um429 Gotteswillen, Papa, nur dieſen Morgen nicht! War - um denn? verſezte der Alte, in der Meinung, Theo - bald wolle nur das Mädchen geſchont wiſſen, wir müſſen den Augenblick ergreifen, ſonſt machen wir ſie ſtutzig; ſie iſt ganz guten Muths: ich rieth ihr, zu - gleich in dem neuen Anzug zu erſcheinen und Sie zu überraſchen, das ſchien ihr die Aufgabe zu erleichtern, denn ſie kann ſich einbilden, das wäre nun die Haupt - ſache. Laſſen Sie’s zu dießmal! Sie wird gleich fertig ſeyn und Sie kommen dann hinüber. So mußte Nolten nachgeben, der Alte ging und rief ihn in Kurzem.

Da ſtand ſie nun wirklich! glänzend, ſchön, einer jungen Fürſtin zu vergleichen. Innig verwundert und erfreut ward Theobald durch den Anblick. Es war ihm ſo fremd, ſie ſo geſchmückt zu ſehen, und doch ſchien ein ſolcher Anzug ihrer einzig würdig zu ſeyn. Ein weißes Kleid ſtand gar gut zu dem prächtigen Spenzer und einige Blumen zierten das Haar. Wie lebhaft empfängt er die Verſchämte in ſeinen Arm! wie ſelig blickt ſie ihm in die Augen!

Nun aber lache mich nicht aus! ſprach ſie, während ſie ſich nach der Mandoline umſah und man ſich ſezte. Ich will dir erzählen, wie es eigentlich zuging, daß ich’s lernte. Ich habe dich einmal, weißt du noch? an dem Abend, wo wir die Johan - niskäfer in das gläſerne Körbchen ſammelten, da hab ich dich von ungefähr gefragt, ob es dir nicht leid430 wäre, daß ich ſo gar Nichts von den hübſchen Kün - ſten verſtehe, die dir ſo werth und wichtig ſind, nicht auch ein Bischen von Muſik oder eine Blume hübſch zu malen oder dergleichen, was wohl andre Mädchen können. Du ſagteſt: das vermiſſeſt du an deiner Braut gar nicht. Ich glaubt’s auch, wie ich dir denn Alles glaube, und dankte dir im Herzen für deine Liebe. Weiter ſagteſt du dann: die paar Jägerlieder - chen, die ich zuweilen ſänge, die wären dir lieber als Alles. Zwei Tage darauf kamen wir nach Tiſch in’s Pfarrhaus zu Beſuch. Die älteſte Tochter ſpielte den Flügel, und ſo ſchön, daß wir uns kaum ſatt hörten, du beſonders. Aber Eins hat mich damals verdroſ - ſen, an der jüngern, an Auguſten. Du mußt dich erinnern. Liſette war kaum aufgeſtanden vom Kla - vier, ſo fordert die Schweſter mich auf, meine Stimme auch hören zu laſſen; ich ahnte nichts Unfeins von dem Mädchen und fing das nächſte Beſte an. Aber auf Einmal werd ich befangen und roth, denn Au - guſte hält ſich ein Notenpapier vor den Mund, ihr Lachen zu verbergen; der Ton zitterte mir in der Kehle, und wie ich mich wenigſtens zum lezten Verſe noch ermannen will, guckt Auguſte ſpottend durch die Rolle wie durch ein Fernrohr auf mich, daß ich vollends konfus ward und mit kleiner Stimme kaum noch zum Ende ſchwankte. Indeß ihr Andern weiter ſpieltet und ſangt, hatt ich am Fenſter genug zu thun und zu wiſchen mit Weinen. Später, du warſt ſchon431 fort, fing mich der Vorfall an zu wurmen; ich hätte gern auch etwas gegolten, ich grämte mich innig um deinetwillen; überdem kam meine Krankheit; ich glaube noch bis auf die Stunde, ich wäre ſchneller geneſen, hätt ich mir mit Muſik manchmal die Zeit vertreiben können; indeſſen ging’s Gottlob auch ſo vorüber. Um dieſe Zeit beſuchte uns der Vetter zuweilen aus der Stadt und (ſie ſtockte und ſtreifte verlegen über das Inſtrument hin) nun, alſo dieſer lehrte mich’s.

Eins von den luſtigen zuerſt! fiel der Vater, ſchnell zu Hülfe kommend, ein. Raſch und herzhaft fing ſie nun an, mit einer Stimme, die kräftig und zart, ſich doch ſtets lieber in die Tiefe als in die Höhe bewegte. Ihr Geſang wurde nach und nach immer einſchmeichelnder, immer kecker. Der Herr darf mich wohl anſehn! ſagte ſie einmal dazwiſchen zu Theobald hinüber, der ihren Anblick bisher ver - mieden hatte. Er zeigte, als das Lied geendigt war, auf ein anderes in ihrem Notenhefte, der Jäger überſchrieben, deſſen Text ihm gefiel, und obwohl es Agneſen nicht eben ſo ging, ſtimmte ſie doch ſo - gleich damit an.

Drei Tage Regen fort und fort,
Kein Sonnenſchein zur Stunde,
Drei Tage lang kein gutes Wort
Aus meiner Liebſten Munde!
Sie truzt mit mir und ich mit ihr,
So hat ſie’s haben wollen;
432
Mir aber nagt’s am Herzen hier,
Das Schmollen und das Grollen.
Willkommen denn, des Jägers Luſt,
Gewitterſturm und Regen!
Feſt zugeknöpft die heiße Bruſt,
Und jauchzend euch entgegen!
Nun ſizt ſie wohl daheim und lacht,
Und ſcherzt mit den Geſchwiſtern;
Ich höre in des Waldes Nacht
Die alten Blätter flüſtern.
Nun ſizt ſie wohl und weinet laut
Im Kämmerlein, in Sorgen;
Mir iſt es wie dem Wilde traut,
In Finſterniß geborgen.
Kein Hirſch und Rehlein überall!
Ein Schuß zum Zeitvertreibe!
Geſunder Knall und Wiederhall
Erfriſcht das Mark im Leibe.
Doch wie der Donner nun verhallt
In Thälern in die Runde,
Ein plötzlich Weh mich überwallt,
Mir ſinkt das Herz zu Grunde.
Sie truzt mit mir und ich mit ihr,
So hat ſie’s haben wollen,
Mir aber frißt’s das Herze ſchier
Das Schmollen und das Grollen.
Und auf! und nach der Liebſten Haus!
Und ſie gefaßt um’s Mieder!
Drück mir die naſſen Locken aus,
Und küſſ und hab mich wieder!
433

Beide Männer klatſchten lauten Beifall. Sie wollte aufſtehn. Aller guten Dinge weißt du? rief der Alte, noch Eines! Alſo blätterte ſie aber - mals im Heft, unſchlüſſig, keines war ihr recht; über dem Suchen und Wählen war der Vater aus der Stube gegangen; ſie klappte das Buch zu und ſprach mit Theobalden, während ſie hin und wieder ei - nen Akkord griff. Auf Einmal fiel ſie in ein Vor - ſpiel ein, bedeutender als alle frühern; es drückte die tiefſte rührendſte Klage aus. Agneſens Blick ruhte ernſt, wie unter abweſenden Gedanken, auf Nolten, bis ſie ſanft anhob zu ſingen.

Wir theilen das kleine Lied noch mit, und den - ken, der Leſer werde ſich aus den einfachen Verſen vielleicht einen entfernten Begriff von der Muſik ma - chen können, beſonders aus dem zweiten Refrain, bei welchem die Melodie jedesmal eine unbeſchreibliche Wendung nahm, die Alles herauszuſagen ſchien, was irgend von Schmerz und Wehmuth ſich in dem Bu - ſen eines unglücklichen Geſchöpfs verbergen kann.

Roſenzeit! wie ſchnell vorbei,
Schnell vorbei,
Biſt du doch gegangen!
Wär mein Lieb nur blieben treu,
Blieben treu,
Sollte mir nicht bangen.
In der Ernte wohlgemuth,
Wohlgemuth,
Schnitterinnen ſingen;
28434
Aber ach, mir kranken Blut,
Mir kranken Blut,
Will Nichts mehr gelingen.
Schleiche ſo durch’s Wieſenthal,
So durch’s Thal,
Als im Traum verloren,
Nach dem Berg, da tauſend Mal,
Tauſend Mal,
Er mir Treu geſchworen.
Oben auf des Hügels Rand,
Abgewandt,
Wein ich bei der Linde:
An dem Hut mein Roſenband,
Von ſeiner Hand,
Spielet in dem Winde.

Agneſen hatte der Ton zulezt vor Bewegung faſt verſagt; jezt warf ſie das Inſtrument weg und ſtürzte heftig an die Bruſt des Geliebten. Treu! Treu! ſtammelte ſie unter unendlichen Thränen, in - dem ihr ganzer Leib zuckte und zitterte, du biſt mir’s, ich bin dir’s geblieben! Ich bleibe dir’s! mehr konnte Theobald, mehr durfte er nicht ſagen.

An einem der folgenden ſchönen Tage wollte man den ſchon mehrmals zur Sprache gekommenen Ausflug nach Halmedorf zu den jungen Pfarrleutchen machen, denen man ſich bereits hatte anſagen laſſen. Die beiden alten Herren, der Förſter und der Baron, verſprachen im Wagen des leztern zu fahren; denn435 immerhin war es drei Stunden dahin. Die Jugend, nämlich unſer Paar, ein Sohn und zwei Töchter des Paſtors, welche man trotz einigen Einwendungen Noltens zulezt auf Agneſens beharrliche Vorſtel - lungen hinzu bitten müſſen, dieſe wollten zu Fuße gehn; die eine Partie ſollte Morgens bei guter Ta - geszeit ſich auf den Weg machen, die Fahrenden erſt nach Tiſche. Leider aber war der Baron indeſſen bedeutend unpaß geworden, er mußte, was in langer Zeit nicht erhört worden, das Bett hüten, die Reiſe hatte ihm zugeſezt, wie er nun ſelber eingeſtand. Alſo beſchloß auch der Förſter zurückzubleiben, dem verehr - ten Freunde zur Geſellſchaft.

So wanderte denn der kleine Zug und gelangte bald aus dem Thälchen auf die fruchtbare höher ge - legene Ebene, die ſich abermals um ein Weniges ſenkte, wo ihnen denn der reinliche, etwas ſteil heraufgebaute Ort entgegenſah. Lange zuvor hatte man den Hügel vor ſich, der, unter dem Namen Geigenſpiel bekannt, an ſeinem Fuße unbedeutend anzuſehn, oben mit ei - ner außerordentlichen Ausſicht überraſcht.

Schön! ſchön! das heiſ ich doch die Stunde eingehalten! rief der Pfarrer, der ſie hatte kommen ſehen und bis an die nächſten Aecker entgegengegan - gen war. Seht da, mein Dachs will den Gruß vor mir wegſchnappen! Der Narre kennt dich noch von vier Jahren her: aber ſein Herr fürwahr hätte dich bald nicht wieder erkannt Komm an mein Herz,436 alter Kamerad! Ad pectus manum, ſagte der Rek - tor, wenn wir gelogen hatten: manum ad pectus, ich liebe Dich und habe nicht gelogen. O ich möchte ſchreien, daß die Berge aufhüpften, möcht alle Glo - cken zuſammenläuten laſſen, durch’s ganze Ort möcht ich poſaunen und duten, wäre ich juſt nicht der See - lenhirt, der ſich im Reſpekt erhalten muß, ſondern ein Anderer.

In dieſem Tone fuhr Amandus fort, Eins nach dem Andern zu ſalutiren, und noch als man bereits vor dem Pfarrhauſe ſtand, war er nicht fertig. Jezt ſprang, ſo leicht und zierlich wie ein achtzehnjähriges Mädchen unter der Haube, die Paſtorin entgegen, aber auch ſie konnte über dem Muthwillen ihres Manns nicht zum Worte kommen. Mit Jubel be - tritt man endlich die Stube, die hell und neu, recht eigentlich ein Bild ihrer Bewohner darſtellte. Kaum über die Schwelle getreten, kann man ſogleich bemer - ken, wie der Pfarrer in eiliger Verlegenheit einen grünen Uniformrock, der an der Wand hing, zu ent - fernen ſucht; er bleibt jedoch, da er ſeine Abſicht ver - rathen ſieht, mitten auf dem Wege ſtehn: daß dich! rief er, gegen Nolten gewendet nun Freund - chen, iſt mir’s herzlich leid, da du eine Heimlichkeit doch einmal gewittert haſt, ſo will ich lieber gar mit der ſonderbaren Geſchichte herausrücken. (Er zupfte heimlich ſeine Frau und fuhr mit verſtelltem Ernſt und vieler Gutmüthigkeit fort.) Seit geſtern baben437 wir einen fremden Offizier, einen Obriſt, im Hauſe, der eigentlich bloß dich hier erwartet; er iſt nur eben ausgeritten, wird aber nicht bis Abend ausblei - ben. Er langte geſtern ſpät hier an, und weil wir kein anſtändiges Wirthshaus im Dorf haben, lud er ſich auf das Höflichſte bei mir zu Gaſte, das mir denn um ſo größre Ehre war, als ich einen Freund von dir in ihm vermuthete. Allein ich merkte bald, daß es mit der Freundſchaft nicht ſo recht ſeyn müſſe; er nannte deinen Namen kaum, und verſtummte nachdenklich, beinahe finſter, wenn ich von dir anfing; im Uebrigen zeigte ſein Geſpräch viel Welterfahrung und alle die Anmuth, die man bei gebildeten Militärs zuweilen findet. Meine Frau zwar gab mir gleich bei ſeinem Empfang nicht undeutlich zu verſtehen, er habe ihr ſo ein visage de contrebande, und in der That, ich weiß nicht das Geheimnißvolle in Be - ziehung auf dich er könnte wenn er dir nur nichts anhaben will

Wie heißt er denn?

Ja, gehorſamer Diener, das hat er mir nicht geſagt.

Woher denn? in welchen Dienſten? fragte Nolten dringender und nicht ohne einige Bewegung, denn augenblicklich, er wußte nicht warum, fiel ihm ein Bruder Conſtanzens ein, der noch in der lezten Zeit von des Malers Aufenthalt in jener Reſidenz, bei der Gräfin zu Beſuch geweſen ſeyn ſollte. Er438 ſelbſt hatte ihn nicht geſehn und konnte die Schilde - rung, welche Amandus von dem Fremden machte, auch ſonſt mit Niemanden vergleichen. Die Heimath des Gaſtes indeſſen, wie der Pfarrer ſie zufällig an - gab, widerſprach jener beſorglichen Vermuthung nicht. Gern, fuhr Amandus fort, hätt ich dir das Abenteuer noch verſchwiegen, das einmal doch nichts Angenehmes verſpricht; es wäre Nachmittag noch Zeit geweſen, und die Delikateſſe des Fremden, daß er uns unſer erſtes Beiſammenſeyn über Tiſch nicht ſtören wollte, war in der That zu loben, er gab mir dieſe freundliche Abſicht beim Wegreiten ſehr deutlich zu verſtehn. Nun freilich wär’s faſt beſſer, er wäre gleich zugegen und du dieſer verteufelten Ungewißheit über - hoben. Höre, wenn es am Ende nur keine odiöſe Ehrenſache iſt! Du weißt, die Herren Offiziers Du haſt doch keine Händel gehabt? Ich wüßte doch nicht, ſagte Nolten und ging einige Mal ſtill die Stube auf und ab.

Indeſſen war die Pfarrerin ſachte mit der Uni - form in die Kammer gegangen. Auf Einmal that ſich die Thür weit auf, ein hoher ſchöner Mann trat heraus und lag blitzſchnell in Theobalds Armen. Es war kein anderer Menſch, als ſein getreuer Schwa - ger S., der Gatte Adelheids, die wir ja ſchon als Mädchen kennen lernten. Der Tauſend! rief der Pfarrer, während Alles der herzlichſten Umar - mung zuſah, ſo ganz feindſelig, wie ich dachte, ſo439 auf Leben und Tod iſt die Rencontre nun doch nicht, es wäre denn, ſie brächen ſich einander vor Liebe die Hälſe. Nun! hab ich es nicht ſchön gemacht? Sorge voraus, Freud gleich hinterdrein, wird erſt ein wah - rer Jubel ſeyn. Alſo (brummte er für ſich in den Bart) das wäre Numero 1. Seine Schalkheit ward jezt wacker geſcholten. Doppelt und dreifach mußte Nolten erſtaunen, denn S. war, ſeitdem ſie ſich nicht mehr geſehen, zum Obriſten avancirt, deßwegen Jener auch aus der Uniform nicht klug werden konnte. Triumphirend erzählte der Pfarrer, wie er, nachdem die Nachricht von Theobalds Ankunft in Neuburg bei ihm eingelaufen, ſogleich den herrlichen Einfall gehabt, den Schwager, den er in Geſchäften für ſein Regiment nur auf fünf Stunden in der Nähe gewußt, durch eine Staffette herbeizukriegen.

Auf’s fröhlichſte ſpeiste man gleich zu Mittag. Es war eine anſehnliche Tafel. Sohn und Töchter des Neuburger Paſtors ſaßen halb bänglich, halb ent - zückt in einem für ſie ſo neuen Freudenkreiſe treffli - cher Menſchen. Unſer Maler, zwiſchen Agnes und den Schwager geſezt, wollte die Hände der Beiden gar nicht aus der ſeinigen laſſen, er fühlte ſeit lan - ger Zeit einmal wieder alles Drückende und Schwere rein von ſich abgethan und ein über’s andre Mal traten ihm die Augen über.

An dem Pfarrer wurde nach nnd nach eine pri - ckelnde Unmüßigkeit ſichtbar; er entfernte ſich öfters,440 gab vor der Thür geheime Befehle und ſah mit Ver - gnügen die lezte Schüſſel auftragen. Eh man zum Nachtiſch kam, ſtand er auf und ſagte: Es beginne nun die Symphonie zum zweiten Aktus, mit etwelchem Gläſergeklingel, wenn’s beliebt. Sofort erhebe ſich eine werthe Geſellſchaft, greife nach Hüten und Son - nenſchirmen und verfüge ſich allgemach aus meinem Hauſe, woſelbſt für jezt nichts mehr abgereicht wird. Zuvor aber richten Sie gefälligſt noch die Blicke hier nach dem Fenſter und bemerken dort drüben den ſon - nigen Gipfel. Man erblickte auf einem vor dem Walde gelegenen Hügel, den wir ſchon als das Gei - genſpiel bezeichnet haben, ein großes linnenes Schirm - dach mit bunter Flagge aufgerichtet, das einen run - den weiß gedeckten Tiſch zu beſchatten ſchien. Die dichten Laubgewinde, die an fünf Seiten des Schirms herunterliefen, gaben dem Ganzen das Anſehn eines leichten Pavillons. Amandus hatte dieſe bewegliche Einrichtung ſchon ſeit einiger Zeit für die jährlichen Kinderfeſte, ſo wie zur Bequemlichkeit der Fremden machen laſſen, weil die daneben ſtehende Linde dem Platze mehr Zierde als Kühlung verlieh. Die Ge - ſellſchaft kam außer ſich vor Freude; man machte ſich auch unverzüglich auf den Weg, denn Jedes ſehnte ſich, ſein glückliches Gefühl in freieſter Weite noch leichter auszulaſſen. Die Jüngern waren ſchon vor - aus geſprungen.

Unterwegs wurden Nolten und die Braut nicht441 ſatt, ſich von Adelheiden erzählen zu laſſen. Wir wiſſen die faſt mehr als brüderliche Neigung, welche den Maler an die Schweſter band, deren ſtille Tiefe ſich, wie behauptet wird und wir gern glauben - gen, inzwiſchen zu einem höchſt liebenswerthen und ſeltenen Charakter entwickelt und befeſtigt hatte; zum wenigſten fand Agnes nach ihrer demüthig liebevol - len Weiſe ſogleich im Stillen ein Muſterbild der äch - ten Frauen in dieſer Schwägerin für ſich aus, ob - gleich ſich Beide nur erſt Einmal geſehen hatten. Jezt gedachte man der Entfernten mit deſto innige - rer Rührung, da man gleich Anfangs gehört, ſie ſey vor Kurzem zum Erſtenmale Mutter, und eine höchſt beglückte, geworden. Noch ſagen wir bei dieſer Gelegenheit, daß eine ältere Schweſter, Erneſtine, auch längſt verheirathet war, jedoch, ſo viel man wiſ - ſen wollte, nicht ſehr zufrieden, da ſie auch in der That nicht geſchaffen ſchien, einen Mann für immer zu feſſeln. Die Jüngſte, Nantchen, ſtand eben in der ſchönſten Jugendblüthe und lebte bei einer Tante.

Man kam an einem Tannengehölze vorüber, das Reiherwäldchen genannt, deſſen Echo berühmt war. Der Pfarrer rief, mit den gehörigen Pauſen, hinein:

Frau Adelheid,
Zu dieſer Zeit
In ihrem Bettlein reine,
Muß ferne ſeyn,
Muß ferne ſeyn,
Doch iſt ſie nicht alleine.
442
Herr Storch hat ihr Beſuch gemacht,
Darob ihr ſüßes Herze lacht,
Ob auch das Bürſchlein greine.
Frau Echo, ſprich,
Noch weiß ich nicht:
Was herzet denn das Liebchen,
Ein Mädchen oder Bübchen?
Büb chen!

In Kurzem befand man ſich auf dem Berg, tief athemholend und erſtaunt über die unbegränzte Aus - ſicht. Bei Frauenzimmern fing Amandus an, wenn ſie den lezten herben Schritt überwunden ha - ben und jezt ſich umſehn, unterſcheide ich jedes Mal zweierlei Gattungen Seufzer. Der eine iſt ganz ge - mein materieller Natur, kein Lüftchen iſt im Stand, ihn von der Roſenlippe aufzunehmen und über die glänzende Gegend ſelig hinweg zu tragen, ſondern ſogleich fällt er plump, ſchwer zu Boden, proſaiſch wie das Schnupftuch, womit man ſich die Stirn ab - trocknet. Billig ſollten die Schönen ſich ſeiner ganz enthalten, ihn wenigſtens unterdrücken, denn gewiſſer - maßen muß er den Wirth beleidigen, den Cicerone der Geſellſchaft, der alle dieſe Herrlichkeit mit Enthu - ſiasmus wie ſein Eigenthum vorzeigt und nicht be - greifen kann, wie man in ſolchem Augenblicke nur noch das mindeſte Gefühl von der armſeligen Mühe haben kann, womit man ſich ſo einen Anblick erkaufte. Ja, Damen hab ich geſehen, die gaben ſich Mühe, dieſen Seufzer recht reizend ſchwindſüchtig und ätheriſch443 hervorzubringen, und ein mitleidflehendes Geſicht zu machen, als würde gleich die Ohnmacht kommen. Man enthält ſich kaum dabei recht ſchmachtend zu fragen: Iſt Ihnen nicht ein Schluck Affenthaler gefällig, Fräu - lein, oder dergleichen? Kurz alſo, wenn jene erſte Gattung nichts weiter ſagen will als: Gottlob, dieß wäre überſtanden! ſo iſt dagegen die zweite Er hatte noch nicht ausgeredt, ſo kam erſt Agnes, bis jezt von Niemand eigentlich vermißt, mit einem Kinde des Pfarrers, das nicht mehr hatte fortquackeln kön - nen und das ſie ſich auf den Rücken geladen, den ſteilen Rand von der Seite heraufgeklommen; ſie ſezte athemlos das Kind auf die Erde und ein Gott - lob! entfuhr ihr halblaut. Bei dieſem Wort ſah man ſich um, ein allgemeines Gelächter war unwider - ſtehlich, aber auch rührender konnte nichts ſeyn, als die erſchrocken fragende Miene des lieben Mädchens. Herzlich umarmte und küßte ſie Amandus, indem er rief: dießmal, wahrhaftig, iſt Marthas Mühe ſchöner als ſelbſt das Eine, das hier oben Noth iſt.

Welch ein Genuß nun aber, ſich mit durſtigem Auge in dieſes Glanzmeer der Landſchaft hinunter - zuſtürzen, das Violet der fernſten Berge einzuſchlür - fen, dann wieder über die nächſten Ortſchaften, Wälder und Felder, Landſtraßen und Waſſer, im un - erſchöpflichen Wechſel von Linien und Farben, hin - zugleiten!

Hier ſchaute, gar nicht allzuweit entfernt, eine444 lang gedehnte Alb-Traufe ernſthaft und groß her - über;*)Die kurze Beſchreibung dieſer Gegend iſt, ſo viel es möglich war, nach der Natur entworfen. Der Punkt, auf welchen man hier aus - drücklich aufmerkſam machen will, befindet ſich im Würtembergi - ſchen, im Oberamt Nürtingen, zunächſt bei dem Pfarrdorfe Groß - Bettlingen. ſie verſchloß beinah die ganze Oſtſeite, Berg hinter Berg verſchiebend und in einander wickelnd, ſo doch, daß man zuweilen ein ganz entlegnes Thal, wie es ſtellenweiſe von der Sonne beſchienen war, mit oder ohne Fernrohr erſpähen und ſich einander freudig zeigen konnte. Beſonders lang verweilte Agnes auf den Falten der vorderen Gebirgsſeite, worein der ſchwüle Dunſt des Mittags ſich ſo reizend lagerte, die ahnungsvolle Beleuchtung mit vorrücken - dem Abend immer verändernd, bald dunkel, bald ſtahl - blau, bald licht, bald ſchwärzlich anzuſehn. Es ſchie - nen Nebelgeiſter in jenen feuchtwarmen Gründen ir - gend ein goldenes Geheimniß zu hüten. Eine bedeu - tende Ruine krönte die lange Kette des Gebirgs und ſelbſt durch einen ſchwächern Tubus glaubte man ihre Mauern mit Händen greifen zu können, dagegen ganz hinten in der Ferne vom Rehſtock nur der Abfall des Waldrückens ſichtbar war, auf dem er ru - hen mußte.

Indeß war von gar muntern Händen ein Feuer zwiſchen Steinen angemacht worden, der Kaffee fing an zu ſieden, die Taſſen klirrten, und der Pfarrer ge - bot ein allgemeines Niederſitzen; Niemand aber wollte445 ſich noch des ſchönen Zeltes bedienen, welches bis jezt nur für eine Art Speiſeküche galt; man ſaß in will - kürlichen Gruppen auf dem Boden umher, ein Jedes ließ ſich ſchmecken was ihm beliebte, nur rückte man etwas näher zuſammen, als Amandus folgenderma - ßen das Wort nahm:

Es darf, meine Lieben, der ſchöne Platz, worauf wir gegenwärtig ruhen, nicht leicht beſucht werden, ohne daß man das Andenken des Helden erneuert, dem er ſeinen Namen verdankt. Gewiß iſt Keines von Ihnen völlig unbekannt mit der merkwürdigen Sage, aber die Wenigſten hatten wohl Gelegenheit ſich aus den verſchiedenen, zum Theil einander ſchein - bar widerſprechenden Erzählungen des Volks, ein voll - ſtändiges Bild von dem Charakter des wunderſa - men Weſens zu machen, von welchem hier die Rede iſt; es kann alſo Niemanden unangenehm ſeyn, jezt eine genauere Schilderung zu hören, wobei ich mir weniger angelegen ſeyn laſſen will, alle einzelnen Ge - ſchichten und Anekdoten anzubringen, als vielmehr nur die Hauptzüge anſchaulich zu machen. Vielleicht ich kann dadurch Freund Nolten veranlaſſen, mei - nen ſeltſamen Geiger zum Gegenſtand einer maleri - ſcher Kompoſition zu nehmen, ein lang von mir ge - hegter Wunſch, den er mir einmal feierlich zugeſagt und noch bis heut nicht erfüllt hat. Sie, lieber Oberſt, werden mich in meiner Bitte gewiß kräftig unterſtü - tzen, da Sie ſich ſelbſt für die poetiſche Figur des446 Spielmanns ſo lebhaft intereſſiren und noch heute ſich emſig um die Vervollſtändigung ſeiner Geſchichte bekümmert haben. Ey, eben recht, daß mir das bei - fällt; Sie ſollen auch jezt zuerſt die Ehre haben und die Ergebniſſe Ihrer ſtaubigen Forſchungen uns in einem lebendigen und heiteren Gemälde vorlegen, ich aber will etwa nachhelfen, wo Sie eine Lücke laſſen ſollten. Der Oberſt ließ ſich nicht lang bitten und die Geſellſchaft merkte wacker auf.

In dieſer Gegend ſoll vor Alters gar häufig ein Näuber, Marmetin, ſein Weſen getrieben ha - ben, den Jedermann unter dem Namen Jung Vol - ker kannte. Räuber ſag ich? Behüte Gott, daß ich ihm dieſen abſcheulichen Namen gebe, dem Lieb - linge des Glücks, dem Luſtigſten aller Waghälſe, Aben - teurer und Schelme, die ſich jemals von fremder Leute Hab und Gut gefüttert haben. Wahr iſt’s, er ſtand an der Spitze von etwa ſiebenzehn bis zwanzig Kerls, die der Schrecken aller reichen Knicker waren. Aber, beim Himmel, die pedantiſche Göttin der Gerechtig - keit ſelbſt mußte, dünkt mich, mit wohlgefälligem Lächeln zuſehn, wie das verrufenſte Gewerbe unter dieſes Volkers Händen einen Schein von Liebens - würdigkeit gewann. Der Praſſer, der übermüthige Edelmann und ehrloſe Vaſallen waren nicht ſicher vor meinem Helden und ſeiner verwegenen Bande, aber dem Bauern füllte er Küchen und Ställe. Voll körperlicher Anmuth, tapfer, beſonnen, leutſelig und447 doch räthſelhaft in allen Stücken, galt er bei ſeinen Geſellen faſt für ein überirdiſches Weſen, und ſein durchdringender Blick mäßigte ihr Benehmen bis zur Beſcheidenheit herunter. Wär ich damals im Lande Herzog geweſen, wer weiß, ob ich ihn nicht geduldet, nicht ein Auge zugedrückt hätte gegen ſeine Hantie - rung. Es war, als führte er ſeine Leute nur zu fröhlichen Kampfſpielen an. Seht, hier dieſer herr - liche Hügel war ſein Lieblingsplatz, wo er ausruhte, wenn er einen guten Fang gethan hatte; und wie er denn immer eine beſondere Paſſion für gewiſſe Gegenden hegte, ſo gängelt er ſeine Truppe richtig alle Jahr, wenn’s Frühling ward, in dieß Revier, damit er den ferndigen Gukuk wieder höre an dem - ſelben Ort. Ein Spielmann war er wie Keiner, und zwar nicht etwa auf der Zither oder dergleichen, nein, eine alte abgemagerte Geige war ſein Inſtru - ment. Da ſaß er nun, indeß die Andern ſich im Wald, in der Schenke des Dorfs zerſtreuten, allein auf dieſer Höhe unter’m lieben Firmament, muſicirte den vier Winden vor und drehte ſich wie eine Wet - terfahne auf’m Abſatz herum, die Welt und ihren Seegen muſternd. Der Hügel heißt daher noch heut zu Tag das Geigenſpiel, auch wohl des Geigers Bühl. Und dann, wenn er zu Pferde ſaß, mit den hundertfarbigen Bändern auf dem Hute und an der Bruſt, immer gepuzt wie eine Schäfersbraut, wie reizend mag er ausgeſehn haben! Ein Paradiesvo -448 gel unter einer Heerde wilder Raben. Etwas eitel denk ich mir ihn gern, aber auf die Mädchen wenig - ſtens ging ſein Abſehn nicht; dieſe Leidenſchaft blieb ihm fremd ſein ganzes Leben; er ſah die ſchönen Kin - der nur ſo wie mährchenhafte Weſen an, im Vor - übergehn, wie man ausländiſche Vögel ſieht im Käfig. Keine Art von Sorge kam ihm bei; es war, als ſpielt er mit den Stunden ſeines Tages wie er wohl zuweilen gerne mit bunten Bällen ſpielte, die er, mit flachen Händen ſchlagend, nach der Muſik harmoniſch in der Luft auf und nieder ſteigen ließ. Sein In - neres beſpiegelte die Welt wie die Sonne einen Be cher goldnen Weines. Mitten ſelbſt in der Gefahr pflegte er zu ſcherzen und hatte doch ſein Auge aller Orten; ja, wäre er bei einem Löwenhetzen geweſen, wo es drunter und drüber geht, ich glaube, er hätte mit der einen Fauſt das reißende Thier bekämpft und mit der Linken den Sperling geſchoſſen, der ihm juſt über’m Haupt wegflog. Hundert Geſchichtchen hat man von ſeiner Freigebigkeit. So begegnet er ein - mal einem armen Bäuerlein, das, ihn erblickend, plötz - lich Reißaus nimmt. Den Hauptmann jammert des Mannes, ihn verdrießt die ſchlimme Meinung, die man von ihm zu haben ſcheint, er holt den Fliehen - den alsbald mit ſeinem ſchnellen Roſſe ein, bringt ihn mit freundlichen Worten zum Stehen und wun - dert ſich, daß der Alte in der ſtrengſten Kälte mit unbedecktem Kahlkopf ging. Dann ſprach er: vor449 dem Kaiſer nimmt Volker den Hut nicht ab, jedoch dem Armen kann er ihn ſchenken! Damit reicht er ihm den reichbebänderten Filz vom Pferde herunter, nur eine hohe Reiherfeder machte er zuvor los und ſteckte ſie in den Koller, weil er dieſe um Alles nicht miſſen wollte; man ſagt, ſie habe eine zauberiſche Ei - genſchaft beſeſſen, den der ſie trug in allerlei Fähr - lichkeit zu ſchützen. Jezt käme ich auf Volkers Frömmigkeit und wunderliche Bekehrung, da dieß aber eine Art von Legende iſt, ſo wird ſie ſich am beſten im Munde Seiner Hochehrwürden geziemen.

Ich zweifle nur, erwiderte Amandus, ob ich meine Aufgabe ſo zierlich löſen werde, wie mein be - redter Vorgänger ſich aus der ſeinigen zog. Aber ich rufe den Schatten des Helden an und ſage treulich was ich weiß, und auch nicht weiß. Alſo: in den Gehölzen, die da vor uns liegen, kam man einsmals einem ſelte - nen Wilde auf die Spur, einem Hirſch mit milchweißem Felle. Kein Waidmann konnte ſeiner habhaft werden. Des Hauptmanns Ehrgeiz ward erregt, eine unwider - ſtehliche Luſt, ſich dieſes edlen Thieres zu bemächtigen, trieb ihn an, ganze Nächte mit der Büchſe durch den Forſt zu ſtreifen. Endlich an einem Morgen vor Son - nenaufgang erſcheint ihm der Gegenſtand ſeiner Wünſche. Nur auf ein funfzig Schritte ſteht das prächtige Ge - ſchöpf vor ſeinen Augen. Ihm klopft das Herz; noch hält Mitleid und Bewunderung ſeine Hand, aber die Hitze des Jägers überwiegt, er drückt los und trifft. 29450Kaum hat er das Opfer von Nahem betrachtet, ſo iſt er untröſtlich, dieß muntere Leben, das ſchönſte Bild der Freiheit zerſtört zu haben. Nun ſtand an der Ecke des Waldes eine Kapelle, dort überließ er ſich den wehmüthigſten Gedanken. Zum Erſtenmal fühlt er eine große Unzufriedenheit über ſein ungebundenes Leben überhaupt, und indeß die Morgenröthe hinter den Ber - gen anbrach und nun die Sonne in aller ſtillen Pracht aufging, ſchien es, als flüſtere die Mutter Gottes ver - nehmliche Worte an ſein Herz. Ein Entſchluß entſtand in ihm, und nach wenig Tagen las man auf einer Ta - fel, die in der Kapelle aufgehängt war, mit zierlicher Schrift folgendes Bekenntniß (ich habe es der Merk - würdigkeit Wort für Wort auswendig gelernt):

Dieß täflein weihe *) unſerer lieben frauen ich Marmetin. gennent Jung Volker zum daurenden gedächtnuß eines gelübds. und wer da ſolches lieſet mög nur erfahren und inne werden was wunderbaren maßen Gott der Herr ein menſchlich ge - müethe mit gar geringem dinge rühren mag. denn als ich hier ohn allen fug und recht im wald die weiße hirſchkuh gejaget auch ſelbige ſehr wohl troffen mit meiner gueten Büchs da hat der Herr es alſo gefüget daß mir ein ſonderlich verbarmen kam mit ſo fein ſanf -451 tem thierlin, ein rechte angſt für einer großen ſünden. da dacht ich: itzund trauret ringsumbher der ganz wald mich an und iſt als wie ein ring daraus ein dieb die perl hat brochen. ein ſeiden bette ſo noch warm vom ſüeßen leib der erſt geſtolenen braut. zu meinen füeßen ſank das lieblich wunderwerk. verhauchend ſank es ein als wie ein flocken ſchnee am boden hinſchmilzt und lag als wie ein mägdlin ſo vom liechten mond gefallen.

Aber zu deme allen hab ich noch müeßen mit großem ſchrecken merken ein ſeltſamlichs zeichen auf des arm thierlins ſeim rucken. nemlich ein ſchön akkurat kreuzlin von ſchwarz haar. alſo daß ich kunt erkennen ich hab mich freventlich vergriffen an eim eigenthumb der muetter Gottes ſelbs. nunmehr mein herze ſo er - weichet geweſen nahm Gott der ſtunden wahr und dacht wohl er muß das eiſen ſchmieden weil es glühend und zeigete mir im geiſt all mein frech unchriſtlich trei - ben und loſe hantierung dieſer ganzer ſechs Jahr und redete zu mir die muetter Jeſu in gar holdſeliger weiß und das ich nit nachſagen kann noch will. verſtändige bitten als wie ein muetterlin in ſchmerzen mahnet ihr verloren kind. da hab ich beuget meine knie allhier auf dieſen ſtäfflin und hab betet und gelobet daß ich ein frumm leben wöllt anfangen. und wunderte mich ſchier ob einem gnadenreichen ſchein und klarheit ſo rings - umbher ausgoſſen war. ſtand ich nach einer gueten weil auf, mich zu bergen im tiefen wald mit himmliſchem betrachten den ganzen tag bis daß es nacht worden und452 kamen die ſtern. ſammlete dann meine knecht auf dem hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker geſchehen ſagt auch daß ich müeß von ihne laſſen. da huben ſie mit wehklagen an und mit geſchrey und ihrer etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen ſie wöllten auseinander gehn und ein ſittſam leben fürder führen. wo ich denn ſelbs mein bleibens haben werd deß ſoll ſich niemand kümmern noch grämen oder gelüſten laſſen daß er mich fahe. ich ſteh in eins andern handen als derer menſchen. dieß täflein aber gebe von dem volker ein frumm beſcheidentlich zeugnuß und ſage dank auf immerdar der himmliſchen huldreichen jung - frauen Marien als deren ſegen friſch mög bleiben an mir und allen gläubigen kindern. ſo geſtift am 3. des brachmonds im jahr nach unſers Herren geburt 1591.

Leider, fuhr der Pfarrer gegen die Geſellſchaft fort, welche mit ſichtbarer Theilnahme zuhörte, leider iſt das Original dieſer Votivtafel verloren gegangen; eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Hal - medorfer Rathhauſe. Auch die Kapelle iſt längſt ver - ſchwunden; die älteſten Leute erzählen, ihre Urgroß - väter hätten ſie noch geſehn. Wo aber Volker da - mals ſich hingewendet, blieb unbekannt. Einige ver - muthen einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo er dann in ein Kloſter gegangen ſeyn ſoll.

Eine andere Sage, nahm der Obriſt wieder das Wort, läßt ihn auf dem Wege nach Jeruſalem von ſeiner Mutter, einer Zauberin, entführt werden und453 ich gedenke hier nur noch einiger alten Verſe, welche wahrſcheinlich den Schluß eines größern Lieds aus - machten. Sie weiſen auf die fabelhafte Geburt Vol - kers hin und machen ihn, wie mich däucht, gar cha - rakteriſtiſch für den freien kräftigen Mann, zu einem Sohne des Windes. Er ſelber ſoll das Lied zuweilen geſungen haben.

Und die mich trug in Mutterleib,
Die durft ich niemals ſchauen,
Sie war ein ſchön, frech, braunes Weib,
Wollt keinem Manne trauen.
Und lachte hell und ſcherzte laut:
Ei, laßt mich gehn und ſtehen!
Möcht lieber ſeyn des Windes Braut,
Denn in die Ehe gehen.
Da kam der Wind, da nahm der Wind
Als Buhle ſie gefangen,
Von dem hat ſie ein luſtig Kind
In ihren Schoos empfangen.

Wird mir doch in dieſem Augenblick, ſagte die Pfarrerin, indem ſie ein heimliches Auge an der Linde hinauflaufen ließ, mir wird von all dem Zauberweſen ſo kurios zu Muthe, daß ich mich eben nicht ſehr entſetzen würde, wenn jezt noch die Fabel vom ſingenden Baum wahr würde, ja wenn Herr Volker leibhaftig als luſtiges Geſpenſt in unſre Mitte träte.

Noch ein anderes Lied, ſagte der Obriſt, iſt mir im Gedächtniß geblieben, das man ſich im Munde454 von Volkers Bande denken muß. Ich will, wenn die Frauenzimmer nicht ſchon durch das vorige

Plötzlich wurde der Erzähler von den Tönen eines Saiteninſtruments unterbrochen, welche ganz nahe aus dem Eipfel der dichtbelaubten Linde hervorzukommen ſchienen. Die Anweſenden erſchracken und Aller Augen waren nach dem Baume gerichtet. Niemand bewegte ſich vom Platze; tiefe Stille herrſchte, während die Muſik in den Zweigen von Neuem begann und der unſichtbare Spielmann mit lebhafter Stimme Folgen - des ſang:

Jung Volker das iſt der Räuberhauptmann
Mit Fidel und mit Flinte,
Damit er geigen und ſchießen kann
Nachdem juſt Wetter und Winde,
Ja Winde!
Fidel oder Flint,
Fidel oder Flint,
Volker ſpielt auf!
Ich ſah ihn hoch im Sonnenſchein
Auf ſeinem Hügel ſitzen;
Da ſpielt er die Geig und ſchluckt rothen Wein,
Seine blauen Augen ihm blitzen,
Ja blitzen!
Fidel oder Flint,
Fidel oder Flint,
Volker ſpielt auf!
Ich ſah ihn ſchleudern die Geig in die Luft,
Ich ſah ihn ſich werfen zu Pferde,
Da hörten wir Alle wie er ruft:
Brecht los wie der Wolf in die Heerde!
Ja Heerde!
455
Fidel oder Flint,
Fidel oder Flint,
Volker ſpielt auf!

Die Saiten klangen aus. Es war ein allgemei - nes Schweigen. Die Geſellſchaft ſah ſich lächelnd an, und ſchon während des Geſangs verkündigten einige ſchlaue Geſichter eine angenehme Ueberraſchung, wobei es mit ganz natürlichen Dingen zugehen dürfte. Es rauſchte jezt und knackte in den Zweigen, zwiſchen denen Jemand behutſam herunterzuſteigen ſchien. Ein Fuß ſtand bereits auf dem lezten Aſte; ein kecker Sprung noch, und, wen man am wenigſten erwartete, den auch die Wenigſten kannten, Raymund, der Bildhauer, ſtand mit der Zither, ſich tief verneigend, vor der verblüfft-erfreuten Verſammlung. Amandus und der Obriſt klatſchten, Bravo rufend, in die Hände. Raymund ſprang auf den Maler zu, der wie aus den Wolken gefallen da ſtand; die Uebrigen hörten inzwiſchen von der Pfarrerin, wer der Herr wäre. Agnes hatte den Schauſpieler Larkens vermuthet, ja Nolten ſelbſt, als die Muſik anfing, bebte das Herz bei dem gleichen Gedanken, und es dauerte eine ganze Zeit, bis er ſich wieder faſſen konnte.

Man nahm nun ordentlich am runden Tiſch un - ter dem Schirme Platz; mit dem beſten Weine füllten die Gläſer ſich friſch, und während die Frauenzimmer das Strickzeug vornahmen, begann der Bildhauer: Zuvörderſt iſt es meine Pflicht, mit wenig Worten456 den Schein des Gräulichen und Ungeheuren von mei - ner Hieherkunft zu entfernen, beſonders um der Da - men willen, denen der Schreck noch nicht ganz aus den Gliedern gewichen ſeyn muß, weil bis jezt keine ſich getraute, mich auch ein wenig freundlich anzu - ſchauen. Nun alſo: zwei Tage, bevor Sie, lieber Nolten, die Rückkehr in ihr Vaterland antraten, die ich mir ſo nahe gar nicht vermuthend ſeyn konnte, war ich genöthigt, in nicht ſehr erfreulichen Angele - genheiten eines Bruders nach K * zu reiſen, was kaum ſechs Meilen von hier liegt. Ich wußte damals noch nichts von Ihren Verbindungen in dieſer Gegend, und weder ein Neuburg noch ein Halmedorf exiſtirte für mich in der Welt, ſonſt hätt ich wohl um Auf - träge bei Ihnen angefragt und wäre vielleicht nicht ſo ſchmählich um Ihren Abſchied gekommen. Doch wider Hoffen und Vermuthen ſollt ich um Vieles glücklicher werden. Ich war bereits acht Tage in K *, ſo kommt ein Brief, preſſant, an mich dorthin (von wem? das rathen Sie wohl nicht!) mit dem dringenden Auftrage, im Rückweg einen kleinen Ab - ſtecher zu Ihnen zu machen und ein beigelegtes Schrei - ben eigens in Ihre Hände zu überliefern. (Er gab Theobalden den Brief und wandte ſich gegen die Andern.) Dem ſchönen Zufall muß ich noch beſonders lobpreiſende Gerechtigkeit widerfahren laſſen, der mich zwei Stunden von hier mit dem Herrn Obriſt zu - ſammenführte; wir geſellten uns als fremde Paſſagiere457 zu einander und wären beinahe eben ſo wieder ge - ſchieden, als kaum noch zu rechter Zeit ſich entdeckte, daß wir die gleiche Abſicht hätten. Wer weiß mir eine artigere Fügung? Ich war’s zufrieden, ſogleich nach Halmedorf mitzureiten. Dort hieß man mich denn freundlich bleiben, und Herr Paſtor war ganz glückſelig, eine doppelte Ueberraſchung veranſtalten zu können. Der Plan zu dieſen Späßen ward heute früh entworfen, und gerne ließ ich mir’s gefallen, mein Mittagsmahl hier unter freiem Himmel zu verzehren, von Volkers rothem Wein zu trinken und meine Rolle einzuüben. Auch hab ich, wenn man Luſt hätte, den Geiger zu malen, dieſem Hügel vorläufig eine Anſicht abgemerkt, wo er ſich als ein Hintergrund ganz unvergleichlich ausnehmen müßte.

Indeſſen ſpiegelte ſich auf Noltens Angeſicht die erhaltene Botſchaft mit leſerlicher Freude; ja ſo mächtig ergriffen war er, daß er Agneſen das Blatt nur ſtill hinbieten und Raymunden die Hand nur mit einem leuchtenden Blicke des Dankes über den Tiſch reichen konnte. Nun, ſagte Jener, ich darf der Erſte ſeyn, der Ihnen Glück wünſcht. So ſind wir nicht die Lezten! rief der Obriſt mit dem Pfar - rer, indem man die Gläſer erhob. Agneſen ſtürzte eine Thräne aus den ſchönen Augen und auch ſie hob ihr Glas. Es wurde ſofort erklärt: daß Nolten und Raymund einen ſehr vortheilhaften Ruf in die Dienſte eines hochgebildeten und verehrten Fürſten458 des nördlichen Deutſchlands erhalten haben, zunächſt um bei einer gewiſſen Privatunternehmung des kunſt - liebenden Regenten verwendet zu werden, doch ſollte die Anſtellung auf Zeitlebens ſeyn. Die Sache ging durch den Maler Tillſen und den alten Hof - rath, deren Empfehlung man, wie es ſchien, das Ganze eigentlich zu danken hatte. Etwas Geheim - nißvolles war immer dabei, und Nolten hatte Ur - ſache zu glauben, daß noch ganz andere Hebel gewirkt haben müßten. Jenes Schreiben ſelbſt war von dem Hofrath. Er gibt ſich alle Mühe, dem Freunde dieß Offert ſo einleuchtend als möglich zu ſchildern, er hatte zum Ueberfluß Raymundens mündliche Beredt - ſamkeit noch in Reſerve geſtellt, wenn Nolten je Bedenken tragen ſollte, die Stelle anzunehmen, ein Zweifel, deſſen nur der Hofrath fähig ſeyn konnte, weil er immer von ſeiner eignen Seltſamkeit ausging. Was übrigens die Sendung Raymunds anbelangt, ſo verhielt ſich’s wirklich ſo, wie er vorhin erklärte; er ſelber hatte beim Antritt ſeiner Reiſe noch keine Ahnung von den Dingen, die im Werke waren.

Die beiden Künſtler ſchloſſen jezt in der Ausſicht auf ihr gemeinſchaftliches Ziel ſogleich Brüderſchaft, und wer hätte nicht Theil an ihrem Glücke nehmen ſollen? Alle ſprachen durcheinander auf’s Lebhafteſte von der Sache hin und her.

Ja, fragte die Pfarrerin, und der Zug geht wohl bald vor ſich?

459

Bald oder nicht! wie man’s nimmt; jeder Tag ſpäter macht mir lange Weile! rief Raymund, indem er ſich ungeduldig auf dem Abſatz herumwarf. In zwei Monaten iſt der Termin.

Da wird man erſt ein Pärchen aus Euch machen müſſen? ſagte der Pfarrer zu Agnes hin.

Dacht ich es doch! rief Raymund, bleibt mir nur, ihr ſchwarzen Herrn, mit euren Weitläuftig - keiten fort! So viel ihr aus den Beiden machen könnt, ſind ſie ja ſchon. Er ſprach dieß halb im Scherz, doch hätte der Pfarrer nicht wiſſen dürfen, daß er die Geiſtlichen für etwas Ueberflüſſiges hielt und nie recht hatte leiden mögen.

Wie? rief Amandus, Sie ſind, wie ich höre, auch Bräutigam: Sie laſſen ſich wohl gar nicht kopuliren?

Bewahre Gott mich davor! antwortete der Bildhauer. Die Kopula iſt ſchon gefunden.

So ſind Sie ein Heide?

Und zwar ein frommer!

Doch was ſagt Ihre Braut zu Ihrem Vorſatz?

Ich habe ſie noch nicht gefragt.

Und ſagte der Pfarrer, leicht abbrechend was ſpricht lieb Agneschen? Sie ſchaute auf, ſie hatte nicht gehört, wovon die Rede war, da ſie ſich ange - legentlich mit Nolten unterhielt. Nach der ſonder - baren, beinahe verdrießlichen Wendung, welche das Geſpräch der beiden Männer genommen, war es na -460 türlich, daß die Frauen im Stillen ſchon das arme Mädchen bedauerten, das an einen ſo närriſchen und wilden Menſchen gerathen müſſen, und dieß Mitlei - den verbarg ſich endlich gar nicht mehr, als Theo - bald ſich eifriger nach Henrietten erkundigte, und Raymund anfing, mit aller ihm eigenen treuherzi - gen Lebhaftigkeit zu erzählen, auf welchem guten Fuß er mit ihr lebe, wie ſie ſich unterhielten, welche Un - tugenden und Dummheiten er ihr ſchon abgewöhnt, was für Talente an ihr entwickelt habe. Da er zum Beiſpiel ein leidenſchaftlicher Freund vom Kegelſchie - ben ſey und es für die geſundeſte Motion halte, ſo habe er ſich in den Kopf geſezt, ſeine Braut müſſe es aus dem Fundamente lernen. Er habe den Un - terricht, auf einer unbeſuchten Bahn, auch ſogleich mit ihr begonnen; es geſchehe ihr zwar einigermaßen ſauer, doch zeige ſie den beſten Willen und werde es mit der Zeit ſehr weit bringen. Ferner, weil er wahrgenommen, daß ſie mit einer thörichten Furcht vor allem Feuergewehr und Schießen geſtraft ſey, und ihm ſolche übertriebene Alterationen in den Tod zuwider ſeyen, ſo habe er ſie von dem Lächerlichen dieſes Benehmens zuerſt theoretiſch überzeugt, ihr den Mechanismus einer Flinte, die Wirkung des Pulvers ruhig und ordentlich erklärt und endlich einen prakti - ſchen Anfang im Schloßgraben bei der Scheibe ge - macht, der aber leider bis jezt den gehofften Erfolg noch nicht bewieſen. Im Fall es nun, wie das un -461 geſchickte Ding ihn mit Thränen verſichert habe, er aber noch nicht glaube, wirkliche Nervenſchwäche wäre, ſo würde er freilich davon abſtehen müſſen, doch hoffe er es noch durchzuſetzen.

Die Frauenzimmer, ſo wie die Männer, konnten nicht umhin, ihr Mißfallen auszudrücken, es gab ei - nen allgemeinen Streit, und Agnes fing an dem Bildhauer im Herzen recht gram zu werden, ſie kannte ihn nicht genug und hielt ihn für boshaft; wie nun ihr ganzes Weſen ſeit jener Botſchaft gewaltſam auf - geregt war, ſo nahm ſie auch den gegenwärtigen Fall heftiger auf als ſie ſonſt gethan haben würde, ſie glaubte eine ihrer Schweſtern von einem Barbaren mißhandelt, die Wange glühte ihr vor Unwillen und ihre Stimme zitterte, ſo daß Theobald, der dieſe Ausbrüche an ihr fürchtete, ſie ſanft bei der Hand nahm und bei Seite führte.

Raymund hatte, wie ernſt es mit den Vor - würfen beſonders der Frauenzimmer gemeint ſey, gar nicht bemerkt, weil es ihm in der Geſellſchaft durch - aus an allem Takte gebrach. Sein unruhiger von Ei - nem auf’s Andere ſpringender Sinn war ſchon ganz anderswo mit den Gedanken, während man ihn über ſeinen Fehler nachdenklich gemacht und faſt verlezt zu haben meinte. Er blickte durch den Tubus in die Ferne und ſchüttelte zuweilen mit dem Kopf; auf Einmal ſtampft er heftig auf den Boden. Um’s Himmels willen, was iſt Ihnen? fragte der Oberſt. 462 Nichts! lachte Raymund, aus ſeinem Traum er - wachend, es iſt nur ſo verflucht, daß ich die Jette jezt nicht da haben ſoll! ſie nicht am Schopfe faſſen kann und recht derb abküſſen! Sehn Sie, lieber Oberſt, eigentlich iſt’s nur die Unmöglichkeit, was mich foltert, die plumpe, phyſiſche Unmöglichkeit, daß der einfältige Raum, der zwiſchen zweien Menſchen liegt, nicht urplötzlich verſchwindet, wenn Einer den Willen recht gründlich hat, daß dieß Geſetz nicht fällt, wenn auch mein Geiſt mit allem Verlangen ſich dagegen ſtemmt! Iſt ſo was nicht, um ſich die Haare aus - zuraufen und mit beiden Füßen wider ſich ſelber zu rennen? Wie dort der Berg, der Mollkopf, glozt und prahlt, recht dreiſt die Fäuſte in die Wampen preßt, daß er ſo breit ſey! Hier ſchlug Raymund ein ſchallendes Gelächter auf, machte einen Satz in die Höhe und ſprang wie toll den Abhang hinunter.

Nun ja, Gott ſteh uns bei! ſo etwas iſt noch nicht erhört! hieß es mit Einem Munde. Aber Nolten nahm ſich des Bildhauers mit Wärme an; er ſchilderte ihn als einen unverbeſſerlichen Natur - menſchen, als einen Mann, der ſeine Kräfte fühle, und übrigens von aller Tücke, wie von Affektation gleich weit entfernt ſey, und wirklich gelang es ihm durch einige auffallende Anekdoten von der Herzens - güte ſeines Sansfaçon die Geſellſchaft ſo weit aus - zuſöhnen, daß man zulezt nur noch lächelnd die Köpfe ſchüttelte. Alle geſellige Luſt flammte noch einmal463 auf; man ſprach nun erſt recht kordial von Noltens und Agneſens Zukunft; der Bildhauer hatte ſich auch wieder eingefunden, unvermerkt verfloſſen ein paar Stunden und einige Stimmen erinnerten endlich nur leiſe an den Heimweg. Die Sonne neigte ſich zum Untergang. Das herrlichſte Abendroth entbrannte am Himmel und das Geſpräch verſtummte nach und nach in der Betrachtung dieſes Schauſpiels. Agnes lehnt mit dem Haupt an der Bruſt des Geliebten, und wie die Blicke Beider beruhigt in der Gluth des Horizonts verſinken, iſt ihm, als feire die Natur die endliche Verklärung ſeines Schickſals. Er drückt Ag - neſen feſter an ſein Herz; er ſieht ſich mit ihr auf eine Höhe des Lebens gehoben, über welche hinaus ihm kein Glück weiter möglich ſcheint. Wie nun in ſolche Momente ſich gern ein leichter Aberglaube ſpie - lend miſcht, ſo geſchah es auch hier, als der helle Doppelſtrahl, der von dem Mittelpunkt des rothen Luftgewebes ausging, ſich nach und nach in vier zer - theilte. Was lag, wenn man hier deuten wollte, der Hoffnung unſeres Freundes näher, als einen Theil des wonnevoll geſpaltnen Lichts auf zwei geliebte, weit entfernte Geſtalten fallen zu laſſen, deren wehmüthige Erinnerung ſich dieſen Abend einige Male bei ihm gemeldet hatte. Allein wie ſonderbar, wie ſchmerzlich muß er es eben jezt empfinden, daß er dem treuſten Kinde, das hier in ſeinen Arm geſchmiegt mit leiſen Küſſen ſeine Hand bedeckte, und dann ein Auge aller464 Himmel voll, gegen ihn aufrichtete, nunmehr nicht ſeinen ganzen Buſen öffnen durfte! Er mußte den Kreis ſeines Glücks, ſeiner Wünſche im Stillen für ſich abſchließen und ſegnen, doch in die Mitte deſſel - ben darf er Agneſenals ſchützenden Engel aufſtellen.

Die Uebrigen waren aufgeſtanden, man wollte gehen. Theobald trennte ſich ſchwer von dieſem glück - lichen Orte, noch einmal überblickt er die Runde der Landſchaft und ſchied dann mit völlig befriedigter Seele.

Alsbald bewegte ſich der Zug munter den - gel hinab. Am Wäldchen wurde nicht verſäumt, das Echo wieder anzurufen; Raymund brachte allerlei wilde Thierſtimmen hervor und ſtellte mit Huſſa-Ruf und Hundegekläff das Toben einer Jagd vollkommen dar; die Frauenzimmer ſangen manches Lied, und gemächlich erreicht man das Pfarrhaus, wo die von Neuburg ſich ſogleich zum Abſchied wenden wol - len, trotz den Vorſtellungen des Pfarrers, der einen Plan, die ſämmtlichen Gäſte dieſe Nacht in Halme - dorf unterzubringen, komiſch genug vorlegte. Ray - mund ſchloß ſich der Partie des Malers an, um morgen von Neuburg aus weiter zu reiſen. Wenig - ſtens müſſe man den Mond noch abwarten, meinte Amandus, und er wollte ſeine Kaleſche, ein uraltes aber höchſt bequemes Familienerbſtück, inzwiſchen parat halten laſſen. So verweilte man ſich auf’s Neue; den Männern ſchien erſt jezt der Wein recht zu ſchme -465 cken, und Nolten ſelbſt überſchritt ſein gewöhnliches Ziel. Während dem hat der Himmel ſich umzogen, es wurde völlig Nacht, und Agnes, von ſeltſamer Unruhe befallen, ließ mit Bitten und Treiben nicht nach, bis man endlich zum lezten Wort gekommen war und die beſchwerte Kutſche vom Haus wegrollte. Raymund ritt vor den Pferden her und kaum hat - ten ſie das Dorf im Rücken, ſo fing er herzhaft an zu ſingen. Er nahm in ſeinem frohen Uebermuth dem Bauerburſchen, der neben her leuchtete, die beiden Fackeln ab und ſchwang ſie rechts und links in wei - ten Kreiſen, indem er ſich an den wunderlichen Schat - ten höchlich ergözte, die er durch verſchiedene Bewe - gung der Brände in eine rieſenhafte Länge, bald vor bald rückwärts, ſchleudern konnte. So oft es anging kam er an den Schlag und brachte die Geſellſchaft durch allerlei phantaſtiſche Vergleichungen über ſeine Reiterfigur zum innigen Lachen. Er war wirklich höchſt liebenswürdig in dieſer Laune, ſelbſt Agnes ließ ihm Gerechtigkeit widerfahren. Der Maler wett - eiferte mit ihm, theils ſchauerliche, theils liebliche Mährchen aus dem Stegreife zu erzählen, wobei ſich Theobald ganz unerſchöpflich zeigte. Als ſie im Wald an einer öden Strecke Ried vorüberkamen, hieß es, hier ſey vor vielen hundert Jahren das Herz ei - nes Zauberers nach deſſen Tode in die Erde gegra - ben worden, das dann, zum ſchwarzen Moos ver - wachſen, als ein unendliches Geſpinnſt rings unterm30466Boden fortgewuchert habe. Daraus wäre von dem Rieſen Flömer eine unermeßliche Strickleiter gemacht worden, die er gegen den halben Mond geworfen; das eine Ende ſey mit der Schleife am ſilbernen Horne hängen blieben und nun ſey der Rieſe trium - phirend zum Himmel hinauf geklettert. Agnes er - innerte, im Gegenſatz zu ſolchen Ungeheuern, an eine kleine anmuthige Elfengeſchichte, die Nolten als Knabe ihr vorgemacht hatte, und ſo gab Jedes einen Beitrag her; auch die drei andern jungen Leute blie - ben nicht zurück, vielmehr dieſe trauliche Dunkelheit ſchien ſie nun erſt mehr aufzuwecken. Der Bildhauer fand den Gedanken Noltens, daß, um die roman - tiſche Fahrt vollkommen zu machen, Raymund noth - wendig Henrietten auf ſeinem Rappen hinter ſich haben ſollte, ganz zum Entzücken, und ſogleich fing er an, die ſämmtlichen Balladen, welche von nächtli - chen Entführungen, Geſpenſterbräuten u. ſ. w. han - deln, mit Pathos zu recitiren. Nun war es aber für unſre beiden Liebenden der ſüßeſte Genuß, zwi - ſchen alle dieſen Spielen einer unſtet umherflackern - den Einbildung auf Augenblicke heimlich im ſtilleren Herzen einzukehren und die Gedanken auf das Bild der nächſten reizenden Zukunft zu richten, ſich einan - der mit einem halben Wort in’s Ohr, mit einem Händedruck zu ſagen, wie man ſich fühle, was Eines am Andern beſitze, wie viel man ſich erſt künftig noch zu werden hoffe.

467

Schon eine Zeitlang hatte Raymund von Ferne ein Fuhrwerk zu hören geglaubt; es kam jezt näher und eine Laterne lief mit. Es war der Wagen des Barons. Der Herr Förſter ſchicke ihn entgegen, ſagte der Knecht mit einem Tone, der eine ſchlimme Nachricht fürchten ließ. Der gnädige Herr, hieß es, ſey ſchnell dahingefallen, von einem Nervenſchlag ſpreche der Arzt, vor zwei Stunden habe man ihm auf das Ende gewartet, ſie möchten eilen, um ihn noch am Leben zu ſehn. Welche Beſtürzung! welche Verwand - lung der frohen Gemüther! Schnell wurden die Wa - gen gewechſelt, der eine fuhr zurück, der andre eilte Neuburg zu.

Der Baron erkannte bereits den Maler nicht mehr, er lag wie ſchlummernd mit haſtigem Athem. Theobald kam nicht von ſeinem Bette, er und die einzige Schweſter des Sterbenden, eine achtungs - würdige Matrone, und ein alter Kammerdiener wa - ren zugegen, als der verehrte Greis gegen Morgen verſchied.

So hatte Nolten einen andern Vater, es hatte der Förſter den würdigſten Freund verloren; ja die - ſer durch und durch erſchütterte Mann, da ihm zu - gleich ein neues Glück in ſeinen Kindern tröſtlich auf - gegangen war, gewann doch ſeinem erſten Schmerz - gefühl kaum ſo viel ab, als billig ſchien, um, wie es468 ſonſt in ſeiner frommen Art geweſen wäre, dankbar und laut eine Wohlthat zu preiſen, die ihm der Him - mel mit der einen Hand als reichlichen Erſatz nicht minder unerwartet ſchenkte, als er ihm unerwartet mit der andern ein theures Gut entriſſen hatte.

Was Theobald betrifft, ſo war ein ſolcher Verluſt für ihn noch von beſonderer Bedeutung. Wenn uns unvermuthet eine Perſon wegſtirbt, deren innige und verſtändige Theilnahme uns von Jugend an be - gleitete, deren ununterbrochene Neigung uns gleichſam eine ſtille Bürgſchaft für ein dauerndes Wohlergehn geworden war, ſo iſt es immer, als ſtockte plötzlich unſer eignes Leben, als ſey im Gangwerk unſeres Schickſals ein Rad gebrochen, das, ob es gleich auf ſeinem Platze beinah entbehrlich ſcheinen konnte, nun durch den Stilleſtand des Ganzen erſt ſeine wahre Bedeutung verriethe. Wenn aber gar der Fall ein - tritt, daß ſich ein ſolches Auge ſchließt, indem uns eben die wichtigſte Lebensepoche ſich öffnet, und ehe den Freund die frohe Nachricht noch erreichen konnte, ſo will der Muth uns gänzlich fehlen, eine Bahn zu beſchreiten, welche des beſten Segens zu ermangeln, uns fremd und traurig anzublicken ſcheint.

Wer dieſer trüben Stimmung Theobalds am wenigſten aufhelfen konnte, war Agnes ſelbſt, deren Benehmen in der That den ſonderbarſten Anblick dar - bot. Sie war ſeit geſtern wie verſtummt, ſie ließ die Andern reden, klagen oder tröſten, ließ um ſich469 her geſchehen was da wollte, eben als ginge ſie’s am wenigſten an, als werde ſie nicht von dieſer allgemei - nen Trauer, ſondern von etwas ganz Anderem bewegt. Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das ſie mit Niemand theilen zu können ſchien. Dann wie - der war ihr Weſen auf Einmal feierlich gehoben; ſie griff die gewöhnlichen häuslichen Geſchäfte mit aller äußern Ruhe an, wie ſonſt, aber nur der Körper, nicht der Geiſt, ſchien gegenwärtig zu ſeyn. Auf mit - leidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters be - kannte ſie zulezt, daß eine unerklärliche Angſt ſeit geſtern an ihr ſey, ein unbekannter Drang, der ihr Bruſt und Kehle zuſchnüre. Ich ſeh euch alle wei - nen rief ſie aus, und mir iſt es nicht möglich. Ach Theobald, ach Vater, was für ein Zuſtand iſt doch das! Mir iſt, als würde jede andere Empfindung von dieſer einzigen, von dieſer Feuerpein der Angſt verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine Thränen auf größeres Unglück aufſparen ſoll, das erſt im Anzug iſt! Sie hatte dieſes noch nicht aus - geſagt, als ſie in das fürchterlichſte Weinen ausbrach, worauf ſie ſich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging allein in’s Gärtchen, und als Theobald nach einer Weile ſie dort aufſuchte, kam ſie ihm mit einer wei - chen Heiterkeit auf dem Geſicht, nur ungewöhnlich blaß, entgegen. Der Maler im Stillen war über ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie geſehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen470 Ahnungen zu widerrufen, und nannte es ſündhafte Schwäche, dergleichen böſen Zweifeln nachzugeben, die man durch aufrichtiges Gebet jederzeit am ſicherſten los werde, und es ſey auch gewiß das lezte Mal, daß Nolten ſie ſo kindiſch geſehen. Mit der natür - lichen Beredtſamkeit eines frommen Gemüths empfahl ſie ihm Vertrauen auf Gottes Macht und Liebe, von welcher ſie nach ſolcher Anfechtung nur um ſo freu - digeres Zeugniß in ihrem Innerſten empfangen habe. So wahr ihr auch dieß Alles aus dem Her - zen floß, ſo wich ſie Noltens Fragen, was denn eigentlich der Grund jenes Verzagens geweſen ſey, mit einiger Unruhe aus. Sie glaubte ihn mit dem Bekenntniſſe verſchonen zu müſſen, daß, als ſie geſtern den Brief des Hofraths geleſen, ihre Freude hierüber auf der Stelle mit einer dunkeln Furcht vor dieſem Glück, vielleicht gerade weil es ihr zu groß gedäucht, ſeltſam gemiſcht geweſen war.

Den folgenden Tag war die Beiſetzung des Ba - rons. Alle, auch Agnes, die ihm die Todtenkrone flocht, hatten ihn noch im Sarge geſehen, und einen durchaus reinen und erhebenden Eindruck von ſeinem Liebe-Bild zurückbehalten. Raymund, mit einem dankbaren Schreiben Theobalds an den Hofrath, war zeitig weiter gegangen. Zur feſtgeſezten Zeit wollten beide Künſtler ſich an dem neuen Orte ihrer Beſtimmung fröhlicher wieder begrüßen, als ſie ſich jetzo trennten.

471

Zunächſt nun folgte in dem Forſthaus eine ſtille, doch wohlthätige Trauerwoche. In traulichen, öfters bis tief in die Nacht fortgeſezten Geſprächen verge - genwärtigte man ſich die eigenthümliche Sinnesart des Verſtorbenen auf alle Weiſe. Erinnerungen aus früheſter und neueſter Zeit traten hervor. Entwürfe eines Denkmals, das Grab des Todten einfach und edel zu zieren, wurden verſchiedentlich verſucht, Um - riſſe der freundlichen Geſichtsbildung wurden gezeich - net, nach Anſicht eines Jeden ſorgfältig verändert und wieder gezeichnet. Jezt langten Noltens Effekten an. Er fand unter ſeinen Papieren eine Sammlung älterer Briefe des Barons (denn in dem lezten Jahre ſchrieb er faſt nichts mehr, und alle Verbindung zwi - ſchen ihm und dem Maler war nur gelegentlich durch das Forſthaus). Meiſtens fiel dieſe Korreſpondenz in die Zeit, da ſich Theobald in Rom aufhielt, man bekam die Gegen-Blätter vollſtändig aus dem Nach - laſſe des Barons zuſammen und ſie gewährten jezt eine eben ſo lehrreiche als erbauliche Unterhaltung.

Von einem ſolchen, dem theuren Abgeſchiedenen mit frommer Neigung gewidmeten Andenken war dann der Uebergang zum lebendigen Genuſſe der Gegenwart in jedem Augenblicke leicht gefunden. Größere und kleinere Spaziergänge, Beſuche aus der Nachbarſchaft erwiedert, hundert kleine Beſchäftigungen in Haus und Feld und Garten, wechſelten ab, die Tage ſchnell und harmlos abzuſpinnen. Nolten verſäumte dabei nicht,472 wenn von der großen Veränderung die Rede war, die ihm und den Seinigen bevorſtand, gelegentlich einen Plan erſt nur entfernterweiſe und wie im Scherze blicken zu laſſen, womit er aber eines Abends, als alle Drei beim traulichen Lichte verſammelt ſaßen, ernſt - haft hervortrat und den Vater wie Agneſen nicht wenig überraſchte. Er ſey entſchloſſen, ſagte er, ſei - nen künftigen Wohnort auf einem kleinen Umweg über einige ſehenswerthe Städte Deutſchlands zu er - reichen, und nicht nur die Geliebte werde ihn beglei - ten, ſondern, wie er halb hoffe, auch der Vater, den er auf jeden Fall als bleibenden Genoſſen ſeines künf - tigen Hauſes ſchon längſt im Stillen angeſehn und nunmehr, von Agneſen unterſtüzt, um ſeine Einwil - ligung herzlich und kindlich bitte. Gerührt verſprach der Alte, der Sache nachzudenken; was aber, ſezte er hinzu, dieſe nächſte Reiſe betrifft, ſo taugt ein alter gebrechlicher Kamerade wie ich zu dergleichen Seitenſprüngen nicht mehr. Und überdieß (er hatte die Landkarte auf dem Tiſch ausgebreitet) ſo ganz unbeträchtlich find ich den Umweg des Herrn Sohns eben nicht. Sehn Sie, dieß Dreieck, man mag es nehmen wie man will, macht immer einen ziemlich ſpitzen Winkel hier bei P *, wo Sie dann gegen Nor - den lenken wollten. Nein, liebe Kinder, vor der Hand bleib ich hier. Euch ſo lange hinzuſperren, bis ich Haus und Hof beſchickt und abgegeben hätte, wäre unſinnig, und doch muß man ſich zu ſo etwas Zeit473 nehmen können; daß ich aber für jezt nur abbräche, um wieder zu kommen und dann die Sachen in Ord - nung zu bringen, wäre wo möglich noch ungeſchickter. Kommt ihr nur erſt an Ort und Stelle an, wir wol - len ſehen, was ſich dann weiter ſchickt und ob es Gottes Wille iſt, daß ich euch folge.

Agnes konnte dem Vater nicht Unrecht geben; am liebſten freilich hätte ſie Theobalden jenen Ne - benplan ausreden mögen, der ihr und, wie ſie wohl bemerkte, noch mehr dem Vater, der bedeutenden Ko - ſten wegen, bedenklich vorkam. Sie hielt auch dieſe Einwendung nicht ganz zurück, doch da man ſah, wie vielen Werth der Maler auf die Sache legte, ſo dachte man ſie ihm nich〈…〉〈…〉 zu verkümmern. Man fing alſo zu rechnen an, und Theobald erklärte, daß er, ſo günſtig wie nunmehr die Dinge für ihn lägen, eine Schuld ohne Gefahr aufnehmen könne, ja er geſtand, er habe dieß Geſchäft ſchon abgethan und bereits die Wechſel in Händen. Dieß gab ihm einen kleinen Zank, doch mußte man es ihm wohl gelten laſſen.

Nun aber kam ganz unvermeidlich die Hochzeit zur Sprache. Es war ein Punkt, der dieſe lezten Tage her Agneſen im Stillen Vieles mochte zu ſchaffen gemacht haben; ſie faßte ſich daher ein Herz und fing von ſelbſt davon zu reden an, jedoch nur um zu bit - ten, daß man damit nicht eilen, daß man dieſen und den nächſten Monat noch abwarten möge. Was ſoll das heißen? rief der Vater und traute ſeinen Ohren474 kaum. Wir reiſen ja die nächſte Woche ſchon, mein Kind! rief Nolten. Das hindere nichts, behauptete Agnes; ſie müßten ſich ja nicht nothwendig im Lande trauen laſſen, was ihr freilich, an ſich betrachtet, ungleich lieber wäre, es könne aber auch in W * geſchehn (dieß war der Ort, wo ſie ſich niederlaſſen ſollten), und noch beſſer in H * (hier lebte ein naher Verwandter des Förſters und die Reiſenden mußten das Städtchen paſſiren, das nur wenige Meilen von W * gelegen war); dort würden ſie in einer feſtzuſetzenden Woche mit dem Vater zuſammentreffen, und ſo Alle mitein - ander aufziehn. Der Alte hielt ſeinen Verdruß noch an ſich, um erſt die Gründe der Tochter zu - ren, allein da dieſe rein innerlich, dem guten Mäd - chen ſelber nicht ganz klar und überhaupt gar nicht geeignet waren, eine gemein verſtändige Prüfung aus - zuhalten, ſo gerieth der Vater in Hitze und es kam zu einem Auftritt, den wir dem Leſer gern erſparen. Genug, der Förſter, nachdem er ſeine Meinung über ſolchen Eigenſinn mit Bitterkeit von ſich geſchüttet hatte, verließ ganz außer ſich das Zimmer. Die Arme warf ſich voller Schmerz auf’s Bette, und Theobald, dem ſie nur rückwärts ihre Hand hinlieh, ſaß lange ſchweigend neben ihr. Sie wurde ruhiger, ſie rührte ſich nicht mehr, ein leiſer Schlaf umdämmerte ihre Sinne.

Unſerem Freunde drangen ſich in dieſer ſtummen ſonderbaren Lage verſchiedene Betrachtungen auf, die475 er ſeit jenem Morgen, an dem er die Geliebte von Neuem an ſein Herz empfing, nimmermehr für mög - lich gehalten hätte, doch jezt, wer möchte ihm verar - gen, wenn ihn der Zweifel überſchlich, ob denn das Räthſelweſen, das hier troſtlos vor ſeinen Augen lag, dazu beſtimmt ſeyn könne, durch ihn glücklich zu wer - den, oder ihm ein dauerndes Glück zu gründen, ob er es für ein wünſchenswerthes und nicht vielmehr für ein höchſt gewagtes Bündniß halten müſſe, wo - durch er ſich für’s ganze Leben an dieß wunderbare Geſchöpf gefeſſelt ſähe? Aber zu fragen brauchte er ſich wenigſtens das Eine nicht: ob er ſie wirklich liebe, ob ſeine Neigung nicht etwa nur eine künſtlich übertragene ſey? vielmehr durchdrang ihn das Gefühl derſelben nie ſo vollglühend als eben jezt. Er dachte weiter nach und mußte finden, daß eben jene dunkle Klippe, woran Agneſens ſonſt ſo gleichgewiegtes Leben zum Erſtenmal ſich brach, dieſelbe ſey, nach der auch ſein Magnet von früh an unabläſſig ſtrebte, ja daß (man gönne uns immer das Gleichniß) die ſchlimme Zauberblume, worin des Mädchens Geiſt zuerſt mit unheilvollen Ahnungen ſich berauſchte, nur auf dem Grund und Boden ſeines eignen Schickſals aufgeſchoſſen war. Nothwendig daher und auf Ewig iſt er mit ihr verbunden, Böſes oder Gutes kann für ſie Beide nur in Einer Schaale gewogen ſeyn.

Seine Gedanken verſchwammen nach und nach in einer grundloſen Tiefe, doch ohne Aengſtlichkeit;476 mit einer Art von frommer Todes-Wolluſt, mit über - ſchwänglichem Vertrauen küßt er den Saum am Kleide der Gottheit, deren geweihtes Kind er ſich empfindet. Er hätte eine Ewigkeit ſo ſitzen können, nur dieſe Schlafende neben ſich, nur dieſe ruhige Kerze vor Augen. Er neigt ſich über Agnes her und rührt mit leiſen Lippen ihre Wange; ſie ſchrickt zuſammen und ſtarrt ihm lange in’s Geſicht, bis ſie ſich endlich findet. Stillſchweigend treten Beide an’s offene Fen - ſter, eine balſamiſche Luft haucht ihnen entgegen; der volle Mond war eben aufgegangen und ſezte die Ge - gend, das Gärtchen, in’s Licht. Sie deutet hinab, ob er noch einen Gang zu machen Luſt hätte. Man zauderte nicht. Der Vater war zu Bette gegangen, das ganze Dorf in Ruhe. Sie wandelten den mitt - lern Weg vom Haus zur Laube, zwiſchen aufblühen - den Roſengehegen, Hand in Hand auf und nieder. Keins konnte die erſten Worte recht finden. Er fing endlich damit an, den Vater zu entſchuldigen, und rückte ſo dem Gegenſtand des Streites näher, um zu erfahren, woher ihr dieſe Scheu, dieß Widerſtreben gegen ein ſo natürliches als erfreuliches Vorhaben kam, von dem ſie noch vor wenig Wochen mit aller Unbefangenheit, ja ganz im Sinn des ächten Mäd - chens geſprochen hatte, dem auch die äußeren Erfor - derniſſe eines ſolchen Tags, die Muſterung und Wahl des Putzes, ein reizender Gegenſtand der Sorgfalt und der Mühe ſind. Mit welcher Rührung hatte ſie477 neulich (wir verſäumten bis jezt, es zu erwähnen), mit welcher Bewunderung das ſchöne Angebinde der unbekannten Freudinnen aus Theobalds Händen empfangen und gegen das ſchwarze Feſtkleid gehalten! Sieh, ſagte der Bräutigam jezt, und ſtreichelte ihr freundlich Kinn und Wangen, indem ſein Ton zwi - ſchen Wehmuth und einer ermuthigenden Munterkeit wechſelte, dort ſchaut das Kirchlein her und thut wie traurig, daß es die Freude deines Tags nicht ſehen ſoll! kannſt du ihm ſeinen Willen denn nicht thun? Gewiß, Agnes, ich will dich nicht beſtür - men: hier meine Hand darauf, daß du mit keinem Wort, mit keiner unfreundlichen Miene, auch vom Vater nicht, es künftig entgelten ſollſt, wenn du, was wir verlangen, nun einmal nicht über dich vermöch - teſt, nur überleg es noch einmal. Ich will Alles bei Seite ſetzen, was der Vater hauptſächlich für ſeine Abſicht anführt, ich will davon nichts ſagen, daß es Jederman auffallen müßte, Stoff zu Vermuthungen gäbe, und dergleichen. Aber ob du der Heimath, in deren Schoos du deine frohe Jugend lebteſt, von der du nun für immer Abſchied nimmſt, ob du ihr dieß Feſt nicht ſchuldig biſt, worauf ſie ſo gerne ſtolz ſeyn möchte? Der Ort, das Haus, das Thal, wo man er - zogen wurde, dünkt uns von einem eigenen Engel behütet, der hier zurückbleibt, indem wir uns in die weite Welt zerſtreuen: es iſt dieß wenigſtens das liebſte Bild für ein natürliches Gefühl in uns; be -478 denke nun, ob dieſer fromme Wächter deiner Kind - heit dir’s je verzeihen könnte, wenn du ihm nicht vergönnen wollteſt, dir noch den Kranz auf’s Haupt zu ſetzen, dich auf der Schwelle deines elterlichen Hau - ſes mit ſeinem ſchönſten Seegen zu entlaſſen. Es hoffen alle deine Geſpielen, Jung und Alt hofft dich vor dem Altar zu ſehen, das ganze Dorf hat die Augen auf dich gerichtet. Und darf ich noch mehr ſagen? Zweier Perſonen muß ich gedenken, die dieſen Tag nicht mehr mit uns begehen ſollten, deine theure Mutter und unſer kürzlich vollendeter Freund: ihr Gruß wird uns an jenem Morgen ſchmerzlich fehlen, aber doch eine Spur ihres Weſens wird uns an der Stätte begegnen, wo ſie einſt mit uns waren, von ihrer Ruheſtätte wird

Um Jeſu willen, Theobald, nicht weiter! ruft Agnes, ihrer nicht mehr mächtig, und wirft ſich ſchluchzend vor ihm auf die Kniee Du bringſt mich um Es kann nicht ſeyn Erlaſſet mirs! Beſtürzt hebt er ſie auf, liebkost, beſchwichtigt, tröſtet ſie: man ſey ja weit entfernt, ſagt er, ihrem Herzen Gewalt anzuthun, er habe ſich nun überzeugt, wie unmöglich es ihr ſey, auch liege ja ſo ſehr viel nicht an der Sache, er werde es dem Vater vorſtellen, es werde Alles gut gehn. Sie kamen vor die Laube, ſie mußte ſich ſetzen; ein ſchmaler Streif des Mondes fiel durchs Gezweige auf ihr Geſicht und Theobald ſah ihre Thränen in hellen Tropfen fallen. Er ſolle479 die Reiſe allein machen, verlangte ſie, er ſolle wieder zurückkommen, indeſſen ſey die Zeit vorüber, vor wel - cher ſie ſich fürchte, dann wolle ſie gern Alles thun, was man wünſche und wo man es wünſche. Auf die Frage, ob es alſo nicht die Reiſe ſelbſt ſey, was ſie beängſtige, erwiderte ſie: nein, ſie könne nur das Ge - fühl nicht überwinden, als ob ihr überhaupt in der nächſten Zeit etwas Beſonderes bevorſtünde es warne ſie unaufhörlich etwas vor dieſer ſchnellen Hochzeit. Was aber dieß Beſondere ſey, das wüßteſt mir nicht zu ſagen, liebes Herz? Sie ſchwieg ein Weilchen und gab dann zurück: Wenn der Zeitpunkt vorüber iſt, ſollſt du es erfahren. Nolten vermied nun, weiter davon zu reden. Er war weniger wegen ir - gend eines bevorſtehenden äußern Uebels, als um das Gemüth des Mädchens beſorgt; er nahm ſich vor, ſie auf alle Art zu ſchonen und zu hüten. Was ihm aber eine ſolche Vorſicht noch beſonders nahe legte, war eine Aeußerung Agneſens ſelbſt. Nachdem nämlich das Geſpräch bereits wieder einen ruhigen und durch Theobalds leiſe, verſtändige Behandlung, ſelbſt einen heitern Ton angenommen hatte, gingen Beide, da es ſchon gegen Mitternacht war, in’s Haus zurück. Sie zündete Licht für ihn an, und man hatte ſich ſchon gute Nacht geſagt, als ſie ſeine Hand noch feſt hielt, ihr Geſicht an ſeinem Halſe verbarg und kaum hörbar ſagte: Nicht wahr, das Weib wird nimmer kommen? Welches? fragt er betroffen. 480 Du weißt es; erwiderte ſie, als getraute ſie ſich nicht, das Wort in den Mund zu nehmen. Es war das Erſtemal, daß ſie ihm gegenüber die Zigeunerin berührte. Er beruhigte ſie mit wenigen aber ent - ſchiedenen Worten.

Auf ſeinem Zimmer angekommen unterſucht er eifrig den Verſchlag, worin unter andern Malereien auch das fatale Bild vergraben war; eine augenblickliche Beſorgniß, die Kiſte möchte aus Irrthum geöffnet worden ſeyn, war durch Agneſens Worte in ihm aufgeſtiegen; doch fand ſich Alles unverſehrt.

Den andern Morgen, noch ehe Agnes aufge - ſtanden war, erzählte er die geſtrige Scene dem Va - ter, den er ſchon wider Erwarten milde geſtimmt fand. Der Alte geſtand ihm, daß bald nachdem er die Bei - den verlaſſen, er etwas Aehnliches, wo nicht noch Schlimmeres, zu befürchten angefangen habe, und ſeine Heftigkeit bereue. Es bleibe nichts übrig, als man gebe nach; daß ſie aber am Ende nicht auch die Reiſe verweigere, müſſe man ja vorbauen. Laß uns Frieden ſchließen! ſagte er beim Frühſtück zu der Tochter und bot ihr die Wange zum Kuß; ich habe mir den Handel überſchlafen, und es ſoll dir noch ſo hingehn; man muß eben auf einen Vorwand den - ken, wegen der Leute. Aber ſo viel merk ich ſchon, ſezte er ſcherzhaft gegen den Schwiegerſohn hinzu, der Pantoffel ſteht Ihnen gut an, von der Böſen da. Die Böſe ſchämte ſich ein wenig, und der Zwiſt481 war vergeſſen. Zu der Reiſe ließ ſie ſich willig fin - den und mit den Vorbereitungen ward noch heute der Anfang gemacht. Zur erheiternden Begleitung wollte man unterwegs Nannetten, Theobalds jüngſte Schweſter, aufnehmen, die er ohnedieß vor der Hand zu ſich zu nehmen entſchloſſen war.

Nunmehr überſpringen wir einen Zeitraum von wenigen Wochen, in denen der Wagen unſrer beiden Liebenden ſchon eine gute Strecke weit auf landfremden Wegen fortgerollt ſeyn mag. Man war um zwei muntere Augen vermehrt und in der That um ſo viel reicher geworden. Denn wenn das Glück eines Paares, wel - chem vergönnt iſt, auf unabhängige und bequeme Weiſe ein größeres Stück Welt mit einander zu ſehen, ſchon an ſich für den ſeligſten Gipfel des mit zarten Sor - gen und Freuden ſo vielfach durchflochtenen Braut - ſtandes mit Recht gehalten wird, ſo gewinnt dieſe glückliche Zweiheit gar ſehr an herzinnigem Reiz durch das Hinzutreten einer engbefreundeten jüngern Perſon, deren lebendige, mehr nach Außen gerichtete Aufmerk - ſamkeit den Beiden die vorüberfliegende Welt in er - höhter Wirklichkeit zuführt, und jene wortloſe Beſchau - lichkeit, worein Liebende in ſolcher Lage ſich ſonſt ſo gerne einwiegen laſſen, immer wieder wohlthätig auf - ſchüttelt. Eine ſolche Ableitung nun war unſerm Paare um ſo nöthiger, als gewiſſe ſchwere Stoffe auf dem Grunde der Gemüther, ſo wenig man es einander ein -31482geſtand, ſich Anfangs nicht ſogleich zertheilen wollten. Dieſen Vortheil aber gewährte Nannettens Gegen - wart vollkommen. Sowohl im Gefährte, wo ſie ſich mit Konrad, dem Kutſcher, einem treuherzigen Bur - ſchen aus Neuburg, gleich auf den luſtigſten Fuß zu ſetzen wußte, als in den Gaſthöfen, wo ſie die Eigen - heiten der Fremden genau zu beobachten, auf alle Ge - ſpräche zu horchen und die Merkwürdigkeiten einer Stadt immer zuerſt auszukundſchaften pflegte, überall zeigte ſie eine raſche und praktiſche Beweglichkeit, und wo man hinkam, erwarb ſie ſich durch ein anſprechen - des Aeußere, durch ihren naiven und ſchnellen Ver - ſtand die charmanteſten Lobſprüche. Das Wetter, das in den erſten Tagen meiſt Regen brachte, hatte ſich gefaßt und verſprach beſtändig zu bleiben. So langte man eines Abends ganz wohlgemuth in einer ehemaligen Reichsſtadt an, wo übernachtet werden mußte. Unſere Geſellſchaft war in dem beſten Gaſt - hofe untergebracht, und während dieſe ſich auf ihre Weiſe gütlich thut, möge der Leſer es nicht verſchmä - hen, auf kurze Zeit an einer entfernten Trinkgeſellſchaft aus der niedern Volksklaſſe Theil zu nehmen. Kon - rad hofft ſeine Rechnung dort beſſer als an jedem andern Orte zu finden; man hat ihn auf ein großes Brauerei-Gebäude, den Kapuzinerkeller, neugierig ge - macht und er wird uns den Weg dahin zeigen.

Es lag der genannte Keller in einem ziemlich düſtern und ſchmutzigen Winkel der Altſtadt und bil -483 dete den Schluß einer Sackgaſſe, die meiſt von - fern, Gerbern und dergleichen bewohnt ward. Konrad ſizt in dem vordern allgemeinen Trinkzimmer, hart an der offnen Thür einer Nebenſtube, der er ſeine ganze Aufmerkſamkeit ſchenkt. Dort hat nämlich ein Zirkel von fünf bis ſechs regelmäßigen Gäſten ſeinen Tiſch, deſſen ſchmale Seite von einem breitſchultrigen Manne mit pockennarbigem Geſicht beſezt iſt, einem aufgeweck - ten und, wie es ſcheint, etwas verwilderten Burſchen. Aus ſeinen kleinen ſchwarzen Augen blizte die helle Spottluſtigkeit, eine zu allerlei Sprüngen und Poſſen aufgelegte Einbildungskraft. Er trug ſeine Scherze übrigens mit trockener Miene vor, und machte die Seele der Geſellſchaft aus. Man nannte ihn den Büch - ſenmacher, auch wohl Stelzfuß, denn er hatte ein höl - zernes Bein. Zwei Mann unter ihm ſaß ein Menſch von etwa ſechs und dreißig Jahren. Es war keine beſonders feine Beobachtungsgabe nöthig, um in dieſer Geſtalt, dieſem Kopfe etwas Bedeutenderes und durch - aus Edleres zu entdecken, als man ſonſt in einem ſolchen Kreis erwarten würde. Ein ſchmales, ziemlich verwittertes und tiefgefurchtes Geſicht, das unſtete feu - rige Auge, eine leidenſchaftliche Haſt in den anſtändi - gen Bewegungen zeugten offenbar von ungewöhnlichen Stürmen, die der Mann im Leben mochte erfahren haben. Er ſprach wenig, ſah meiſt zerſtreut vor ſich nieder, und doch, je nachdem ihm die Laune ankam, konnte er an Einfällen den Stelzfuß ſogar überbieten,484 nur daß dieß immer auf eine feinere Weiſe geſchah, und ohne ſich das Geringſte zu vergeben. Alle be - trachteten ihn mit auffallender Diſtinktion, ja mit einer gewiſſen Scheu, obgleich er nur Joſeph, der Tiſch - ler, hieß. Ihm gegenüber hatte ein jüngerer Geſelle, Namens Perſe, ein Goldarbeiter, ſein Glas ſtehen. Es war der Einzige, mit dem Joſeph auch außer - halb dem Wirthshaus einigen Umgang pflegen mochte. Von den Uebrigen wüßten wir nichts weiter zu ſagen, als daß es aufgeweckte Leute und ehrbare Handwerker waren.

Mir fehlt heut etwas, ſagte der Büchſenmacher, ich weiß nicht was. Ich hab das Licht nun ſchon Viermal hintereinander gepuzt, in der Meinung, der - weil ein friſches Trumm in meinem Kopf zu finden, denn euer einerlei Geſchwätz da von Meiſtern, Kun - den, Herrſchaften iſt mir ganz und gar zum Ekel; ich weiß von dieſem Quark lange nichts mehr und will vor der Hand auch nichts davon hören. Die Lichtputze noch einmal! und jezt was Neues, ihr Herrn! Mir ſchnurrt eine Grille im Oberhaus. Es wäre nicht übel, der Menſch hätte für ſeinen Kopf, wenn der Docht zu lang wird, auch ſo eine Gattung In - ſtrumente oder Vorrichtung am Ohr, um ſich wieder einen friſchen Gedankenanſatz zu geben. Zwar hat man mir ſchon in der Schule verſichert, daß ſeit Erfindung der Ohrfeigen in dieſem Punkte nichts mehr zu wün - ſchen übrig ſey; das mag vielleicht für junge Köpfe485 gelten, aber ich bin bald Vierzig; nur in dieſem köſt - lichen Oel, ich meine dieſen goldnen Trank aus Malz und Hopfen, find ich ein kleines Surrogat für

Spaß bei Seit! rief Perſe ihn unterbrechend, ich kann mir überhaupt nicht denken, Lörmer, wie dir’s nur eine Stunde wohl ſeyn mag bei dem un - nützen Leben, das du in den zwei Monaten führſt, ſeit du Hamburg verlaſſen haſt. Bei Gott, ich wollt dich ſchon mehrmals auf dieß Kapitel bringen und dir zureden, denn mich dauert’s in der Seele, wenn ſie davon erzählen, wie du ein geſchickter Arbeiter gewe - ſen, wie du Grütz und Gaben hätteſt, dich den erſten Meiſtern in deinem Fache gleichzuſtellen und dein Glück zu machen auf Zeitlebens und nun! ſich hier auf die faule Haut legen, höchſtens um Taglohn für Hun - gerſterben da und dort ein Stück Arbeit annehmen in einer fremden Werkſtatt und dich ſchlecht bezahlen laſſen für gute Waare, wie ſie dem Geübteſten nicht aus der Hand geht! Heißt das aber nicht geſündigt an dir ſelber? iſt das nicht himmelſchreiend?

Der Angeredete ſchaute verwundert auf über dieſe unerwartete Lektion und lauerte einigermaßen beſchämt nach Joſeph hinüber, als wollte er deſſen Gedanken belauſchen: aber dieſer traf ihn mit einem finſtern, bedeutungsvollen Blick, wobei ſich die Uebrigen aller - lei zu denken ſchienen.

Was? nahm Perſe wieder das Wort, will dem Kerl Niemand die Wahrheit ſagen? hat Keiner486 das Herz, ihm den Leviten zu leſen, wie’s recht iſt? Redet doch auch ihr Andern!

Redet nicht ihr Andern! entgegnete ernſthaft der Büchſenmacher; das iſt, hol mich der Teufel, kein Text für dieſen Abend und für die Schenke, wo man Fried haben will. Ich ſag euch, und das iſt mein letzt Wort in der Sache: gar gut weiß ich, woran ich bin mit mir ſelber, und ſo viel iſt auch gewiß, wenn ich will hat dieß tolle Leben ein End über Nacht. Der Lörmer wird ſich vom Kopf bis zum Fuß das alte Fell abziehen mit Einemmal, wie man einen Handſchuh abreißt. Ihr ſollt ſehen. Laßt mich aber indeß mit eurer Predigt in Ruh, ſie richtet in zwei Jahren nicht aus, was der ungefähre Windſtoß eines friſchen Augenblicks bei mir aufjagt. Muß aber heut ja von Lumperei die Rede ſeyn, ſo will ich euch und hiemit nahm der Sprecher plötzlich ſeine wohlbehagliche, muntere Haltung wieder an will ich euch ein Räthſel vorlegen in Betreff eines Lumpen, der ſich auf unbegreifliche Weiſe innerhalb vier und zwanzig Stunden zum flotten Mann pouſſirt hat, und zwar iſt es einer aus unſerer Geſellſchaft. Wie? Was? riefen Einige. Ohne Zweifel; erwiderte der Büchſenmacher; er befindet ſich zwar gegenwärtig nicht unter uns und ſchon mehrere Tage nicht, aber er rechnet ſich zur Compagnie, er verſprach heute zu kommen, und es wäre unbarmherzig, wenn ihr ihn nicht wenigſtens als Anhängſel, als ein Schwänzchen487 von mir wolltet mitzählen laſſen. Ah! rief man lachend, die Figur! die Figur! er meint die Figur!

Allerdings, fuhr der Andere fort, ich meine das ſpindeldünne bleichſüchtige Weſen, das mir von Hamburg an, ungebetenerweiſe und ohne vorausge - gangene genauere Bekanntſchaft hieher folgte, um, wie er ſagte, in meinen Armen den Tod ſeines unvergeß - lichen Freundes und Bruders, des Buchdruckers Mur - ſchel, zu beweinen. Nun wißt ihr, ich bewohne ſeit einiger Zeit mit dieſem zärtlichen Barbier, Sigismund Wispeln, Eine Stube, er ißt mit mir und ich theile aus chriſtlicher Milde Alles mit ihm, bis auf das Bett, das ich mir aus billigen Gründen allein vor - behalten. Man hat aber keinen Begriff, was ich für ein Leiden mit dieſer Geſellſchaft habe. Schon ſein bloßer Anblick kann einen alteriren. Eine Menge kurioſer Angewohnheiten, eine unermüdliche Sorgfalt, ſeine Milbenhaut zu reiben und zu hätſcheln, ſeine röthlichen Haare mit allerlei gemeinem Fette zu be - träufeln, ſeine Nägel bis auf’s Blut zu ſchneiden und zu ſchaben ich bekomme Gichter beim bloßen Ge - danken! und wenn er nun die Lippen ſo ſüß zuſpizt und mit den Augen blinzt, weil er, wie er zu ſagen pflegt, an der Wimper kränkelt, oder wenn er ſich mit den tauſend Liebkoſungen und Geſten an mich anſchmiegt, da dreht ſich der Magen in mir um und ich hab ihn wegen dieſer Freundſchaftsbezeugungen mehr als Ein - mal wie einen Flederwiſch an die Wand fliegen laſſen. 488Nun ging ich neulich damit um, mir das Geſchöpf mit guter Art vom Hals zu ſchaffen. Vielleicht iſt euch nicht unbekannt, daß der Kerl an Händ und Füßen, beſonders aber zwiſchen den Zehen, wirkliche Schwimmhäute hat, auch lebe ich der feſten Ueberzeu - gung, man würde aus ſeinen Gliedmaßen lauter ſchmale Stäbe von Fiſchbein, ſtatt der Knochen, ziehen und überhaupt die wunderbarſten Dinge bei ihm entdecken. Mein Rath war alſo, ſich zuvörderſt von einem Pro - feſſor beſichtigen und dann dem Fürſten empfehlen zu laſſen, vor allen Dingen aber ſich aus meinem Logis zu verlegen. Dieſer mein Vorſchlag kam freilich etwas unerwartet, und ich mußte ihm ſchon noch einige Tage Zeit gönnen, um ſich zu faſſen. Geſtern Morgen aber ſtand er ungewöhnlich früh vom Bette auf; ich lag noch halbſchlafend mit geſchloſſenen Augen, mußte aber im Geiſt jede Gebärde verfolgen, die der Widerwart während des Ankleidens machte, jede Miene, nein, ich ſage paſſender, jeden Geſichtsſchnörkel, der ſich während des Waſchens zwanzig und dreißigfältig bei ihm for - mirte. Jezt griff er nach ſeinem ordinären Frühſtück, einem vollen Glas mit kaltem Brunnenwaſſer, jezt hört ich ihn ſeine beinernen Finger auf den Tiſch ſetzen und knackend abdrucken, daß die Wände gellten, das gewöhnliche Manöver, wodurch er mich zum Er - wachen, zum Geſpräch zu bringen ſucht, und: Guten Morgen, Bruder! wie ſchlief ſich’s? lispelt er, aber ich rühre mich nicht. Er wiederholt den Gruß noch489 einige Mal, ohne Erfolg; endlich fühle ich meine Naſe zärtlich von zwei eiskalten Fingerſpitzen gehalten, ich fahre auf und der Freund hat eben noch Zeit, ſich meinem Zorn durch eine ſchnelle Ausbeugung zu ent - ziehen. Allein wie groß war mein Erſtaunen, als ich den Hundsfott im neuen ſchwarzen Frak, mit neumo - diſch hoher Halsbinde und ſüperbem Hemdſtrich in der Ecke ſtehen ſah. Die mir wohlbekannte verblichene Hoſe aus Nanking und die abgenuzten Schuhe zeugten zwar noch von geſtern und ehegeſtern, aber die übrige Pracht, woher kam ſie an ſolchen Schuft? Geſtohlen oder entlehnt waren wenigſtens die Kleider nicht, denn bald fand ich die quittirten Rechnungen von Tuch - händler und Schneider mit Stecknadeln wie Schmet - terlinge an das bekannte armſelige Hütchen geſteckt, das naſeweis von dem hohen Bettſtollen auf ſeinen veränderten Herrn blickte. Vergebens waren alle meine Fragen über dieſe glücklich begonnene Beſſerung der Umſtände meines Tropfen; ich erhielt nur ein geheim - nißvolles Lächeln und noch heute iſt mir das Räthſel nicht gelöst. Der Schuft muß auch baare Münze haben; er ſprach mir von Schadloshaltung, von einem Koſtgeld und dergleichen. Uebrigens ſpeiſ’t er, wie ich höre, jezt regelmäßig im goldenen Schwan. Nun! ſagt mir, iſt einer unter euch, der mir beweiſ’t, es gehe ſo was mit natürlichen, oder doch ehrlichen Din - gen zu? Sagt, muß man den Menſchen nicht in ein freundſchaftliches Verhör nehmen, ehe die Obrigkeit Verdacht ſchöpft und unſern Bruder einſteckt?

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Man ſprach, man rieth, man lachte herüber und hinüber. Endlich nahm der Stelzfuß das Wort wie - der, indem er ſagte: Weil wir ohnedem jezt an dem Kapitel von den Mirakeln ſind, ſo ſollt ihr noch eine kleine Geſchichte hören. Sie hat ſich erſt heute zuge - tragen, ſteht aber hoffentlich in keinem Zuſammenhang mit der vorigen. Dieſen Morgen kommt ein Jude zu mir, hat einen Sack unterm Arm und fragt, ob ich nichts zu ſchachern hätte, er habe da einen guten Rock zu verhandeln. Der Kerl muß die ſchwache Seite an dem meinigen entdeckt haben; das verdroß mich und ich war dem Spitzbuben ohnedieß ſpinnefeind. Während ich alſo im Stillen überlege, auf was Art ich den Sün - der am zweckmäßigſten die Treppe hinunterwerfe, fällt mir zufällig meine Taſchenuhr in’s Aug. Nun weiß ich nicht, war es ein weichherziger Gedanke an meinen ſeligen Vater, von welchem mir das Erbſtück kam, oder was war es, daß ich plötzlich in mitleidige Geſinnungen überging. Ich dachte, ein Jud iſt doch gleichſam auch eine Kreatur Gottes und dergleichen; kurz, ich nahm die Uhr höchſt gerührt vom Nagel an meinem Bette, beſah ſie noch einmal und fragte: was ſie gelten ſoll? Der Schurke ſchlug ſie nun für ein wahres Spottgeld an und ich gab ihm einen Backenſtreich, den ſchlug er aber gar nicht an, und endlich wurden wir doch Han - dels einig.

Alles lachte über dieſe ſonderbare Erzählung, nur dem Joſeph ſchien ſie im Stillen weh gethan zu haben.

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Wartet doch, fuhr der Stelzfuß fort, das Beſte kommt noch. Ich ging mit meinen zwei Thalern, die ich ungeſehn, wie Sündengeld in die Taſche ſteckte, aus dem Haus, ohne recht zu wiſſen wohin. So viel iſt ſicher, ich langte endlich vor dem beſten Weinhaus an und nahm dort ein mäßiges Frühſtück zu mir. Da mir aber, wie geſagt, ein Jude meinen Zeitweiſer geſtohlen, ſo wußt ich ſchlechterdings nicht, woran ich eigentlich mit dem Tag ſey; kurz, es wurde Abend, eh mir der Kellner die lezte Flaſche brachte. Ich gehe endlich heim, ich komme auf meiner Kammer an und ſpaziere in der Dämmerung auf und ab; zuweilen blinzl ich nach dem leeren Nagel hinüber und pfeife dazu, wie Einer, der kein gut Gewiſſen hat. Auf Einmal iſt mir, es laſſe ſich etwas hören wie das Picken eines ſolchen Dings, dergleichen ich heute eins verlor; ganz erſchrocken ſpitz ich die Ohren. Das thut wohl der Holzwurm in meinem Stelzfuß, denk ich, und ſtoße den Stelzen gegen die Wand, wie immer geſchieht, wenn mir’s die Beſtie drin zu arg macht. Aber Pinke Pink, Pinke Pink, immerfort und zwar nur etliche Schritt von mir weg. Bei meiner armen Seele, ich dacht einen Augen - blick an den Geiſt meines guten Vaters. Indeſſen kommt mir ein Päckel unter die Hand, ich reiß es auf und, daß ich’s kurz mache, da lag meine alte Genferin drin! Weiß nicht, wie mir dabei zu Muth wurde; ich war ein veritabler Narr für Freuden, ſprach franzöſiſch und kalmukiſch unter einander mit meiner Genferin,492 mir war, als hätten wir uns zehn Jahre nicht geſehn. Jezt fiel mir ein Zettel in die Finger, der nun, das gehört nicht zur Sache. Schaut, hier iſt das gute Thier! und hiemit legte er die Uhr auf den Tiſch.

Aber der Zettel? fragte Einer, was ſtand dar - auf? wer ſchickte das Paquet? Der Büchſenmacher griff ſtillſchweigend nach dem vollen Glas, drückte nach einem guten Schluck martialiſch die Lippen zuſammen und ſagte kopfſchüttelnd: Weiß nicht, will’s auch nicht wiſſen. Aber dein iſt die Uhr wieder? Und bleibt mein, war die Antwort, bis in’s Grab, das ſchwör ich euch.

Während dieſer Erzählung hatte Perſe etliche Mal einen pfiffigen Blick gegen den Tiſchler hinüber - laufen laſſen, und er und Alle merkten wohl, daß Jo - ſeph der unbekannte Wohlthäter geweſen war.

Jezt hob der Büchſenmacher ſachte ſeinen hölzernen Fuß in die Höhe und legte ihn mitten auf den Tiſch. Dabei ſagte er mit angenommenem Ernſt: Seht, meine Herren, da drinne hauſ’t ein Wurm; es iſt meine Tod - tenuhr; hat der Burſche das Holz durchgefreſſen und das Bein knackt einmal, eben wenn ich zum Exempel über den Stadtgraben zu einem Schoppen Rothen ſpa - ziere, ſo ſchlägt mein leztes Stündlein. Das iſt nun nicht anders zu machen, Freunde. Ich denke gar häufig an meinen Stelzen, d. h. an den Tod, wie einem guten Chriſten ziemt. Er iſt mein Memento mori, wie der Lateiner zu ſagen pflegt. So werden einſt die Würmer493 auch an euren fleiſchernen Stötzchen ſich erluſtigen. Proſit Mahlzeit, und euch ein ſelig Ende! Aber wir gedenken bis dahin noch manchen Gang nach dem Ka - puzinerkeller zu thun und bei’m Heimweg über man - chen Stein wegzuſtolpern,

bis das Stelzlein bricht, juhe!
bricht, juhe!
bis das Stelzlein bricht!

So ſang der Büchſenmacher mit einer Anwand - lung von Rohheit, die ihm ſonſt nicht eigen war, und von einer deſperaten Luſtigkeit begeiſtert, womit er ſich ſelbſt, noch mehr aber dem Joſeph wehe that. Auf Einmal ſchlug Lörmer den Fuß drei - mal ſo heftig auf das Tiſchblatt, daß alle Gläſer zu - ſammenfuhren, und zugleich entſtand ein helles Ge - lächter, denn in dieſem Augenblick öffnete ſich die Thür, und eine Figur trat ein, in welcher der ele - gante Barbier Wispel keineswegs zu verkennen war.

Er ſchwebte einige Mal vornehm hüſtelnd in der vordern Stube auf und ab, ſtrich ſich den Titus vor dem Spiegel und ſchielte im Vorübergehen nach un - ſerer Geſellſchaft.

O Spahn der Menſchheit! brummte Joſeph leiſe in den Bart, denn Lörmer hatte den Andern gleich Anfangs ein Zeichen gegeben, man müſſe thun, als bemerkte man Sigismund gar nicht. Dieſer ließ ſich indeſſen mit vieler Grazie an Konrads Tiſch nieder, wo er die Freunde auf vier Schritte im494 Aug hatte. Er nippte zimpferlich aus einem Kelche Schnaps, warf wichtige Blicke umher, klimperte mit dem Meſſer auf dem Teller und ſuchte ſich auf alle Art bemerklich zu machen.

Habt ihr, fing der Büchſenmacher gegen die Andern gewendet an, ei, habt ihr von dem Joko, dem braſilianiſchen Affen, auch ſchon gehört, von dem wirk - lich in allen Zeitungen ſteht?

Ja, erwiderte Joſeph, aber er ſoll ſich flüch - tig gemacht haben; man vermuthet, daß er einer Thea - tergarderobe Ein und Anderes entwendet, ſich Ge - ſicht und Hände raſirt und ſo, gänzlich unkennbar, be - ſchloſſen habe, ſich die Welt ein wenig zu muſtern.

Dieſe Rede gab Wispeln Gelegenheit, über das bekannte Ballet ein kunſtverſtändiges Geſpräch mit ſeinem nächſten Nachbar, dem Kutſcher unſerer drei Reiſenden, anzubinden. Konrad, die hochtrabenden Floskeln des Windbeutels keineswegs zu erwidern im Stande, nahm ſeinen ganzen Witz zuſammen, ihn ſeinerſeits zum Beſten zu haben, woran denn die Geſellſchaft ihren köſtlichen Spaß hatte. Je länger aber der Kutſcher ſich ſeinen Mann betrachtet, deſto mehr kommt ihm vor, als hätte er den Menſchen ſchon irgendwo geſehen, ja zulezt geht ihm wirklich ein Licht auf: zu Neuburg ſelbſt war es geweſen, wo Nolten vor drei Jahren dieſen Wicht als dienendes Subjekt bei ſich gehabt. Kaum hat ihm Konrad ſeinen Gedanken zugeraunt und etwas von der An -495 weſenheit ſeines chmaligen Herrn fallen laſſen, ſo ſpringt Wispel wie beſeſſen auf, nimmt Hut und Stock, und fliegt, über Stühle und Bänke wegſetzend, davon, indem der Kutſcher ihm eben ſo flugfertig auf dem Fuße nachfolgt, eh die verblüffte Geſellſchaft nur fragen kann, was der tolle Auftritt bedeute.

Eben kommt Konrad noch zu der erſtaunlichen Scene, wo Wispel ſich dem Maler zu erkennen ge - geben hat. Dieſer ſaß eben mit den beiden Mädchen auf ſeinem Zimmer beim Nachteſſen und Jedes ergözte ſich nun von ganzem Herzen an dieſer lächerlichen Er - ſcheinung. Aber, fängt der Barbier nach einer Weile mit geheimnißvoller Precioſität zu liſpeln an, wenn mich nicht Alles trügt, ſo war Ihnen, mein Werthe - ſter, bis jezt noch völlig unbewußt, welche ſeltene Connaiſſancen Sie in hieſiger Stadt zu erneuern Ge - legenheit finden würden.

Wirklich? antwortete der Maler; es fiel mir nicht im Traume ein, daß mir dein edles Angeſicht hier wieder begegnen ſollte, aber Berg und Thal kom - men zuſammen und das nächſte Mal ſeh ich dich, ſo Gott will, am Galgen.

Aye! je vous rends mille graces! Sie ſcher - zen, mein Beſter. Doch ich ſprach ſo eben nicht ſo - wohl von meiner Wenigkeit, als vielmehr von einer gewiſſen Perſon, die früher ſehr an Sie attachirt, ge - genwärtig in unſern Mauern habitirt, freilich unter ſo prekären Umſtänden, daß ich zweifle, ob ein Mann496 wie Sie, es anſtändig findet, ſich einer ſolchen liaison auch nur zu erinnern. Auch muß ich geſtehn, das Individuum, wovon ich eben rede, machte es mir ge - wiſſermaßen zur Pflicht, ſein Inkognito unter allen Umſtänden

Ei ſo packe dich doch zum Henker, du heilloſer, unerträglicher Schwätzer!

Aha, da haben wirs ja! Sie merken, aus wel - cher Hecke der Vogel pfeift, und mögen nichts davon hören. O amitié, oh fille d’Avril ſo heißt ein altes Lied. Waren Sie Beide doch einſt wie Caſtor und Pollux! Aber loin des yeux, loin du coeur!

Jezt wird Nolten plötzlich aufmerkſam, eine ſchnelle Ahnung ſchauert in ihm auf, er ſchüttelt den Bar - bier wie außer ſich an der Bruſt, und nach hundert unausſtehlichen Umſchweifen flüſtert der Menſch end - lich Theobalden einen Namen in’s Ohr, worauf dieſer ſich entfärbt und mit Heftigkeit ausruft: Iſt das möglich? Lügſt du mir nicht, Elender? Wo wo iſt er? Kann ich ihn ſehen, kann ich ihn ſpre - chen? jezt? um Gotteswillen, jezt im Augenblick?

Quelle émotion Monsieur! krächzt Wispel, tout-beau! Ecoutez moi! Jezt nimmt er eine ſeriöſe Stellung an, räuſpert ſich ganz zart und ſagt: Ken - nen Sie vielleicht, mein Wertheſter, den ſogenannten Kapuzinerkeller? le caveau des capucins, ein Ge - bäude, das ſeines klöſterlichen Urſprungs wegen in497 der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich bereits zu Anfange des neunten Siècle

Schweig mir, du Teufel, und führ mich zu ihm, ſchreit Nolten, indem er den Burſchen mit ſich fort - reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge - bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt mit Wispeln die Treppe hinunter.

Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter - deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie - mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi - ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den wir vorhin als Joſeph, den Tiſchler, bezeichneten. Nolten, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und ja! es iſt ſein Larkens! er iſt’s, aber Gott! in welcher unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen bleibt Theobald an eine Säule gelehnt ſtehen, die Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent - ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt, als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer32498Sekunde durch den Raum der toſenden Hölle getra - gen, die Geſtalt des theuerſten Freunds erblickt hätte, mitten im Kreis der Verworfenen ſitzend. Noch ſchwankt das fürchterliche Bild vor ſeiner Seele, und ſinkt und ſinkt, und will doch nicht verſinken, da klopft ihn wieder Jemand auf den Arm und Wispel flüſtert ihm haſtig die Worte zu: Sacre-bleu, mein Herr, er muß Sie geſehen haben, ſo eben ſteht er blaß wie die Wand von ſeinem Sitz auf, und wie ich meine, er will auf Sie zugehen, reißt er die Seiten - thür auf und weg iſt er, als hätt ihn der Leib - haftige gejagt. Kommen Sie plötzlich ihm nach er kann nicht weit ſeyn, ich weiß ſeine Gänge, faſſen Sie ſich!

Nolten, wie taub, ſtarrt nach dem leeren Stuhle hin, indeſſen Wispel immer ſchwazt und lacht und treibt. Jezt eilt der Maler in ein Kabinet, läßt ſich Papier und Schreibzeug bringen, wirft drei Linien auf ein Blatt, das Wispel um jeden Preis dem Schauſpieler zuſtellen ſoll. Wie ein Pfeil ſchießt der Barbier davon. Nolten kehrt in ſein Quartier zu - rück, wo er die Frauenzimmer aus der ſchrecklichſten Ungewißheit erlös’t und ihnen, freilich verwirrt und abgebrochen genug, die Hauptſache erklärt.

Es dauert eine Stunde, bis der Abgeſandte end - lich kommt, und was das Schlimmſte war, ganz un - verrichteter Dinge. Er habe, ſagte er, den Flücht - ling aller Orten geſucht, wo nur irgend eine Mög -499 lichkeit gedenkbar geweſen; in ſeiner Wohnung wiſſe man nichts von ihm, doch wäre zu vermuthen, daß er ſich eingeriegelt hätte, denn ein Nachbar wolle ihn haben in das Haus gehen ſehn.

Da es ſchon ſehr ſpät war, mußte man für heute jeden weitern Verſuch aufgeben. Man verab - redete das Nöthige für den folgenden Tag und die auf morgen früh feſtgeſezte Abreiſe ward verſchoben. Unſere Reiſenden begaben ſich zur Ruhe; alle ver - brachten eine ſchlafloſe Nacht.

Des andern Morgens, die Sonne war eben herr - lich aufgegangen, erhob ſich unſer Freund in aller Stille und ſuchte ſein erhiztes Blut im Freien abzu - kühlen. Erſt durchſtrich er einige Straßen der noch wenig belebten Stadt, wo er die fremden Häuſer, die Plätze, das Pflaſter, jeden unbedeutenden Gegenſtand mit ſtiller Aufmerkſamkeit betrachten mußte, weil ſich Alles mit dem Bilde ſeines Freundes in eine weh - müthige Verbindung zu ſetzen ſchien. So oft er wie - der um eine Ecke beugte, ſollte ihm, wie er meinte, der Zufall Larkens in die Hände führen. Aber da war keine bekannte Seele weit und breit. Die Schwal - ben zwitſcherten und ſchwirrten fröhlich durch den Morgenduft, und Theobald konnte nicht umhin, dieſe glücklichen Geſchöpfe zu beneiden. Wie hätte er ſo gerne die Erſcheinung von geſtern als einen500 ſchwülen, wüſten Traum auf einmal vor dem Gehirn wegſtäuben mögen! In einer der hohen Straßenla - ternen brannte das nächtliche Lämpchen, ſeine gemeſ - ſene Zeit überlebend, mit ſonderbarem Zwitterlichte noch in den hellen Tag hinein: ſo und nicht anders ſpuckte in Theobalds Erinnerung ein düſterer Reſt jener ſchrecklichen Nachtſcene, die ihm mit jedem Au - genblick unglaublicher vorkam.

Ungeduld und Furcht trieben ihn endlich zu ſeinem Gaſthof zurück. Wie rührend kam ihm Agnes ſchon auf der Schwelle mit ſchüchternem Gruß und Kuß entgegen! wie leiſe forſchte ſie an ihm, nach ſeiner Hoffnung, ſeiner Sorge, die zu zerſtreuen ſie nicht wagen durfte! So verging eine bange, leere Stunde, es vergingen zwei und drei, ohne daß ein Menſch erſchien, der auch nur eine Nachricht überbracht hätte. So oft Jemand die Treppe herankam, ſchlug Nolten das Herz bis an die Kehle; unbegreiflich war es, daß ſelbſt Wispel nichts von ſich ſehen ließ; die Un - ruhe, worin die drei Reiſenden einſilbig, unthätig, verdrießlich um einander ſtanden, ſaßen und gingen, wäre nicht zu beſchreiben.

Nannette hatte ſo eben ein Buch ergriffen und ſich erboten, etwas vorzuleſen, als man plötzlich durch einen immer näher kommenden Tumult auf dem Gange zuſammengeſchreckt von den Stühlen auffuhr, zu ſehen was es gibt. Der Barbier, außer Athem mit krei - ſchender Stimme, ſtürzt in das Zimmer und während501 er vergeblich nach Worten ſucht, um etwas Entſetzli - ches anzukündigen, iſt der Ausdruck von unverſtelltem Schmerz und Abſcheu auf dem verzerrten Geſichte dieſes Menſchen wahrhaft ſchauerlich für alle An - weſenden.

Wiſſen Sie’s denn noch nicht? ſtottert er heiliger barmherziger Gott! es iſt zu gräßlich der Joſeph da der Larkens, werden Sie’s glau - ben er hat ſich einen Tod angethan heute Nacht wer hätte das auch denken können Gift! Gift hat er genommen Gehn Sie, mein Herr, gehn Sie nur und ſehen mit eignen Augen, wenn Sie noch zweifeln! Die Polizei und die Doktoren und was weiß ich? ſind ſchon dort, es iſt ein Zuſam - menrennen vor dem Haus und ein Geſchrei, daß mir ganz übel ward. Bald hätt ich Sie vergeſſen über dem Schreck, da lief ich denn, ſo viel die Füße ver - mochten, und

Nolten war ſtumm auf den Seſſel niederge - ſunken. Agnes ſchloß ſich tröſtend an ihn, während Nannette die eingetretene Todten-Stille mit der Frage unterbrach: ob denn keine Rettung möglich ſey?

Ach nein, Mademoiſelle! iſt die ſtockende Ant - wort, die Aerzte ſagen, zum wenigſten ſey er ſeit vier Stunden verſchieden. Ich kann’s nicht Alles wiederholen, was ſie ſchwazten. O liebſter, beſter Herr, vergeben Sie, was ich geſtern in der Thorheit ſprach. Sie waren ſein Freund, Ihnen geht ſein502 Schickſal ſo ſehr zu Herzen, ſo entreißen Sie ihn den Blicken, den Händen der Doktoren, eh dieſe ſeinen armen Leib verletzen! Ich bin ein elender, nichtswür - diger, hündiſcher Schuft, hab Ihren Freund oft ſchänd - lich mißbraucht und verdiene nicht, hier vor Ihnen zu ſtehen, aber möge Gott mich ewig verdammen, wenn ich jezt fühllos bin, wenn ich nicht hundertfach den Tod ausſtehen könnte für dieſen Mann, der ſei - nesgleichen auf der Welt nimmer hat. Und nun ſoll man ihn traktiren dürfen wie einen gemeinen Sün - der! Hätten Sie gehört, was für unchriſtliche Reden der Medikus führte, der S. , ich hätt ihn zerreiſ - ſen mögen, als er mit dem Finger auf das Gläschen hinwies, worin das Operment geweſen, und er mit lachender Miene zu einem Andern ſagte: der Narr wollte recht ſicher gehen, daß ihn ja der Teufel nicht auf halbem Weg wieder zurückſchicke; ich wette, die Phiole da war voll, aber ſolche Lümmel rechnen Alles nach der Maßkanne! nicht wahr Herr Hofrath, wer par force todt ſeyn will, kann doch wohl weder im comparativo noch ſuperlativo todt ſeyn wollen? Und dabei nahm der dicke, hochweiſe Perrückenkopf eine Priſe aus ſeiner goldenen Tabatiere, ſo kaltblü - tig, ſo vornehm, daß ich ja glauben Sie, das hat Wispeln weh gethan, weher als Alles Wispel hat auch Gefühl, daß Sie’s nur wiſſen, ich habe auch noch ein Herz! Hier weinte der Barbier wirklich wie ein Kind. Aber da er nun mit geläufiger Zunge fort -503 fahren wollte, das Ausſehen des Todten zu beſchrei - ben, wehrte der Maler heftig mit der Hand, ſchlang die Arme wüthend um den Leib Agneſens und ſchluchzte laut. O Allmächtiger! rief er vom Stuhle aufſtehend und mit gerungenen Händen durchs Zim - mer ſtürmend, alſo dazu mußt ich hieher kommen! Mein armer, armer, theurer Freund! Ich, ja ich habe ſeinen fürchterlichen Entſchluß befördert, mein Erſcheinen war ihm das Zeichen zum tödtlichen Auf - bruch! Aber welch unglückſeliger Wahn gab ihm ein, daß er vor mir fliehen müſſe? und ſo auf Ewig, ſo ohne ein liebevolles Wort des Abſchieds, der Verſöh - nung! Sah ich denn darnach aus, als ob ich käme, ihn zur Verzweiflung zu bringen? Und wenn auf mei - ner Stirn die Jammerfrage ſtand, warum mein Lar - kens doch ſo tief gefallen ſey, gerechter Gott! war’s nicht natürlich? konnt ich mit lachendem Geſicht, mit offnen Armen, als wäre nichts geſchehen, ihn begrü - ßen? konnt ich gefaßt ſeyn auf ein ſolches Wieder - ſehen? Und doch, war ich es denn nicht längſt ge - wohnt, das Unerhörte für bekannt anzunehmen, wenn Er es that? das Unerlaubte zu entſchuldigen, wenn es von Ihm ausging? Es hat mich überraſcht, auf Augenblicke ſtieg ein arger Zweifel in mir auf, und in der nächſten Minute ſtraft ich mich ſelber Lügen: gewiß, mein Larkens iſt ſich ſelber treu und gleich geblieben, ſein großes Herz, der tiefverborgne edle Demant ſeines Weſens blieb unberührt vom Schlamme, worein der Arme ſich verlor!

504

Schon zu Anfang dieſer heftigen Selbſtanklage hatte ſich ſachte die Thüre geöffnet, kleinmüthig und mit ſtummem Gruße, einen geſiegelten Brief in der Hand, war der Büchſenmacher eingetreten, ohne daß der Maler ihn wahrgenommen hätte. Starr vor ſich hin - ſchauend ſtand der Stelzfuß an der Seite des Ofens und Jederman fiel es auf, wie er bei den lezten Worten Theobalds zuweilen die buſchigen Augbrau - nen finſter bewegte und zornglühende Funken nach dem Manne hinüberſchickte, der mitten im Jammer beinahe ehrenrührig von dem Verſtorbenen und deſ - ſen gewohnter Umgebung zu ſprechen ſchien.

Kaum hatte Nolten geendigt, ſo trat der Büch - ſenmacher gelaſſen hervor mit den Worten: Lieber Herr[,]es iſt für uns Beide recht gut, daß Sie gerade ſelber aufhören, denn ich ſtand auf heißen Kohlen im Winkel dort, weil’s faſt ausſehen konnte, als wollt ich horchen; das iſt aber meine Sache nicht, ſonder - lich wenn es mein eigenes oder meiner Kameraden Lob oder Schande gilt, und davon war juſt eben die Rede. Ihre Worte in Ehren, Herr, Sie müſſen ein genauer Freund von meinem wackern Joſeph gewe - ſen ſeyn, alſo ſey’s Ihnen zu gut gehalten. Werden ſpäterhin wohl ſelbſten inne werden, daß Sie dato nicht ſo ganz recht berichtet ſind, was für eine Be - wandtniß es mit dem Joſeph und ſeiner Genoſſen - ſchaft habe. Ich ſollte meinen, er hatte ſich ſeiner Leute nicht eben zu ſchämen. Nun, das mag ruhen505 vor der Hand; zuvörderſt iſt es meine Pflicht und Schuldigkeit, daß ich Ihnen gegenwärtiges Schreiben übermache, denn es wird wohl für Sie gehören; man fand es, wie es iſt, auf dem Tiſch in Joſephs Stube liegen.

Begierig nahm Theobald den dargebotenen Brief und eilte damit in ein anderes Zimmer. Als er nach einer ziemlichen Weile wieder zurückkam, konnte man auf ſeinem Geſicht eine gewiſſe feierliche Ruhe bemerken, er ſprach gelaſſener, gefaßter, und wußte namentlich den gekränkten Handwerker bald wieder zu beruhigen. Uebrigens entließ er für jezt die beiden Kameraden, um mit Agneſen und der Schweſter allein zu ſeyn und ihnen das Weſentlichſte vom Zu - ſammenhang der Sache zu eröffnen. Oft unterbrach ihn der Schmerz, er ſtockte, und ſeine Blicke wühlten verworren am Boden.

Von dem Inhalt jenes hinterlaſſenen Schreibens wiſſen wir nur das Allgemeinſte, da Nolten ſelbſt ein Geheimniß daraus machte. So viel wir darüber erfahren konnten, war es eine kurze, nüchterne, ja für das Gefühl der Hinterbliebenen gewiſſermaßen verſöhnende Rechtfertigung der ſchauderhaften That, welche ſeit längerer Zeit im Stillen vorbereitet gewe - ſen ſeyn mußte, und deren Ausführung allerdings durch Noltens Erſcheinen beſchleunigt worden war, wiewohl in einem Sinne, der für Nolten ſelbſt kei - nen Vorwurf enthielt. Auch wäre die Meinung irrig,506 daß nur das Beſchämende der Ueberraſchung den Schauſpieler blindlings zu einem übereilten Entſchluß hingeriſſen habe, denn wirklich hat ſich nachher zur Genüge gezeigt, wie wenig ihm ſeine neuerliche Le - bensweiſe, ſo ſeltſam ſie auch gewählt ſeyn mochte, zu eigentlicher Unehre gereichen konnte. Begreiflich aber wird man es finden, wenn bei der Begegnung des geliebteſten Freundes der Gedanke an eine zerriſ - ſene Vergangenheit mit überwältigender Schwere auf das Gemüth des Unglücklichen hereinſtürzte, wenn er ſich Ein für alle Mal von demjenigen abwenden wollte, mit dem er in keinem Betracht mehr gleichen Schritt zu halten hoffen durfte, und aus deſſen reiner Glücks - nähe ihn der Fluch ſeines eigenen Schickſals für im - mer zu verbannen ſchien.

(Einige Jahre nachher hörten wir von Bekann - ten des Malers die Behauptung geltend machen, daß den Schauſpieler eine geheime Leidenſchaft für die Braut ſeines Freundes zu dem verzweifelten Ent - ſchluſſe gebracht habe. Wir wären weit entfernt, dieſe Sage, wozu eine Aeußerung Noltens ſelbſt Veran - laſſung gegeben haben ſoll, ſchlechthin zu verwerfen, wenn wirklich zu erweiſen wäre, daß Larkens, wie allerdings vorgegeben wird, kurz nachdem er ſeine Lauf - bahn geändert, Agneſen bei einer öffentlichen Gele - genheit, und unerkannt von ihr, zu Neuburg geſehen habe. Getraut man ſich alſo nicht, hierin eine ſichere Entſcheidung zu geben, ſo müſſen wir das507 harte Urtheil derjenigen, welche dem Unglücklichen ſelbſt im Tode noch eine eitle Bizarrerie Schuld ge - ben möchten, deſto entſchiedener abweiſen.)

O wenn du wüßteſt, rief Theobald Agneſen zu, was dieſer Mann mir geweſen, hätt ich dir nur erſt entdeckt, was auch Du ihm ſchuldig biſt, du wür - deſt mich fürwahr nicht ſchelten, wenn mein Schmerz ohne Grenzen iſt! Agnes wagte gegenwärtig nicht zu fragen, was mit dieſen Worten gemeint ſey, und ſie konnte ihm nicht widerſprechen, als er das unru - higſte Verlangen bezeigte, den Verſtorbenen ſelber zu ſehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß, für die Beſtattung ſeines Freundes zur wichtigſten Pflicht. Larkens ſelbſt hatte ihm dießfalls ſchriftlich Mehreres angedeutet und empfohlen, und Theobald mußte auf einen ſehr wohlgeordneten Zuſtand ſeiner Vermögensangelegenheiten ſchließen. Vor allen Din - gen nahm er Rückſprache mit der obrigkeitlichen Be - hörde, und einiger Papiere glaubte er ſich ohne Wei - teres verſichern zu müſſen.

Indeſſen war es bereits ſpät am Tage und ſo trat er in einer Art von Betäubung den Weg nach der Stätte an, wo der traurigſte Anblick ſeiner wartete.

Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger Gäßchen vor das Haus eines Tiſchlers, bei welchem ſich Larkens ſeit einigen Monaten förmlich in die Arbeit gegeben hatte. Der Meiſter, ein würdig aus - ſehender, ſtiller Mann, empfing ihn mit vielem An -508 theil, beantwortete gutmüthig die eine und andere Frage und wies ihn ſodann einige ſteinerne Stufen zum unteren Geſchoß hinab, indem er auf eine Thür hinzeigte. Hier ſtand unſer Freund eine Zeitlang mit klopfendem Herzen allein, ohne zu öffnen. Jezt nahm er ſich plötzlich zuſammen und trat in eine ſauber auf - geräumte, übrigens armſelige Kammer. Niemand war zugegen. In einer Ecke befand ſich ein niedriges Bett, worauf die Leiche mit einem Tuch völlig über - deckt lag. Theobald, in ziemlicher Entfernung, ge - traute ſich kaum von der Seite hinzuſehen, Gedanken und Gefühle verſtockten ihm zu Eis und ſeine einzige Empfindung in dieſem Augenblicke war, daß er ſich ſelber haßte über die unbegreiflichſte innere Kälte, die in ſolchen Fällen peinlicher zu ſeyn pflegt, als das lebhafteſte Gefühl unſeres Elends. Er ertrug dieſen Zuſtand nicht länger, eilte auf das Bette zu, riß die Hülle weg und ſank laut weinend über den Leich - nam hin.

Endlich, da es ſchon dunkel geworden, trat Perſe, der Goldarbeiter, mit Licht herein. Nur un - gern ſah Theobald ſich durch ein fremdes Geſicht geſtört, aber das beſcheidene Benehmen des Menſchen fiel ihm ſogleich auf und hielt ihn um ſo feſter, da derſelbe mit der edelſten Art zu erkennen gab, daß auch er einiges Recht habe mit den Freunden des Todten zu trauern, daß ihm derſelbe, beſonders in der lezten Zeit, viel Vertrauen geſchenkt. Ich ſah, 509fuhr er fort, daß an dieſem wunderſamen Manne ein tiefer Kummer nagen müſſe, deſſen Grund er jedoch ſorgfältig verbarg; nur konnte man aus Manchem eine übertriebene Furcht für ſeine Geſundheit erken - nen, ſo wie er mir auch ſelbſt geſtand, daß er eine ſo anſtrengende Handarbeit, wie das Tiſchlerweſen, außer einer gewiſſen Liebhaberei, die er etwa für dieß Geſchäft haben mochte, hauptſächlich nur zur Stär - kung ſeines Körpers unternommen. Auch begriff ich gar wohl, wie wenig ihn Mangel und Noth zu der - gleichen beſtimmt hatte, denn er war ja gewiß ein Mann von den ſchönſten Gaben und Kenntniſſen; deſto größer war mein Mitleiden, als ich ſah, wie ſauer ihm ein ſo ungewohntes Leben ankam, wie un - wohl es ihm in unſerer Geſellſchaft war und daß er körperlich zuſehends abnahm. Das konnte auch kaum anders ſeyn, denn nach dem Zeugniß des Meiſters that er immer weit über ſeine Kräfte und man mußte ihn oft mit Gewalt abhalten. Hier deckte er die Hände des Todten auf, wie ſie von grober Arbeit gehärtet und zerriſſen waren. Jezt öffnete ſich die Thüre und ein hagerer Mann mit edlem Anſtande trat herein, vor welchem ſich der Goldarbeiter ehrer - bietig zurückzog und deſſen ſtille Verbeugung Nolten eben ſo ſchweigend erwiederte. Er hielt den Fremden für eine offizielle Perſon, bis Perſe ihm beiſeit den Präſidenten von K * nannte, den keine amtliche Ver - richtung hieher geführt haben könne. So ſtand man510 eine Zeitlang ohne weitere Erklärung um einander und Jeder ſchien die Leiche nur in ſeinem eignen Sinne zu betrachten.

Ihr Schmerz ſagt mir, nahm der Präſident das Wort, nachdem Perſe ſich entfernt hatte, wie nahe Ihnen dieſer theure Mann im Leben müſſe ge - ſtanden haben. Ich kann mich eines näheren Verhält - niſſes zu ihm nicht rühmen, doch iſt meine Theilnahme an dieſem ungeheuren Fall ſo wahr und innig, daß ich nicht fürchten darf, es möchte Ihnen meine Gegen - wart O ſeyen Sie mir willkommen! rief der Maler, durch eine ſo unverhoffte Annäherung in tief - ſter Seele erquickt, ich bin hier fremd, ich ſuche Mit - gefühl, und ach, wie rührt, wie überraſcht es mich, ſolch eine Stimme und aus ſolchem Munde hier in dieſem Winkel zu vernehmen, den der Unglückliche nicht dunkel genug wählen konnte, um ſich und ſeinen gan - zen Werth und alle Lieb und Treue, die er Andern ſchuldig war, auf immer zu vergraben.

Des Präſidenten Auge hing einige Sekunden ſchweigend an Theobalds Geſicht und kehrte dann nachdenklich zu dem Todten zurück.

Iſt’s möglich? ſprach er endlich, ſeh ich hier die Reſte eines Mannes, der eine Welt voll Scherz und Luſt in ſich bewegte und zauberhelle Frühlings - gärten der Phantaſie ſinnvoll vor uns entfaltete! Ach, wenn ein Geiſt, den doch der Genius der511 Kunſt mit treuem Flügel über all die kleine Roth des Lebens wegzuheben ſchien, ſo frühe ſchon ein ekles Auge auf dieſes Treiben werfen kann, was bleibt alsdann ſo manchem Andern zum Troſte übrig, der ungleich ärmer ausgeſtattet, ſich in der Niederung des Erdenlebens hinſchleppt? Und wenn das vor - treffliche Talent ſelbſt, womit Ihr Freund die Welt entzückte, ſo harmlos nicht war, als es ſchien, wenn die heitere Geiſtesflamme ſich vielleicht vom beſten Oel des innerlichen Menſchen ſchmerzhaft nährte, wer ſagt mir dann, warum jenes namenloſe Weh, das alle Mannheit, alle Luſt und Kraft der Seele, bald bänglich ſchmelzend untergräbt, bald zornig aus den Gränzen treibt, warum doch jene Heimathloſigkeit des Geiſtes, dieß Fort - und Nirgendhin-Verlangen, in Mitten eines reichen, menſchlich ſchönen Daſeyns, ſo oft das Erbtheil herrlicher Naturen ſeyn muß? Das Räthſel eines ſolchen Unglücks aber völlig zu machen, muß noch der Körper helfen, um, wenn die wahre Krankheit fehlt, mit einem nur um deſto gräß - licheren Schein die arme Seele abzuängſtigen und vol - lends irre an ſich ſelber zu machen!

Auf dieſe Weiſe wechſelten nun beide Männer, beinahe mehr den Todten als einander ſelbſt anredend und oft von einer längern Pauſe unterbrochen, ihre Klagen und Betrachtungen. Erſt ganz zulezt, bevor ſie auseinander gingen, veranlaßte der Fremde, in - dem er ſeinen Namen nannte, den Maler, ein512 Gleiches zu thun, ſo wie den Gaſthof zu bezeichnen, wo Jener ihn morgen aufſuchen wollte. Denn es iſt billig, ſagte er, daß wir nach einer ſolchen Begeg - nung uns näher kennen lernen. Sie ſollen alsdann hören, welcher Zufall mir noch erſt vor wenigen Wo - chen die wunderbare Exiſtenz Ihres Freundes ver - rieth, den bis auf dieſen Tag, ſo viel ich weiß, noch keine Seele hier erkannte. Meine Sorge bleibt es indeſſen, daß ihm die lezte Ehre, die wir den Todten geben können, ohne zu großes Aufſehn bei der Menge, von einer Geſellſchaft würdiger Kunſtverwandten mor - gen Abend erwieſen werden könne. Ich habe die Sache vorläufig eingeleitet. Aber nun noch eine Bitte um Ihrer ſelbſt willen: verweilen Sie nicht allzu - lange an dieſem traurigen Orte mehr. Es iſt das ſchönſte Vorrecht und der edelſte Stolz des Mannes, daß er das Unabänderliche mit feſtem Sinn zu tra - gen weiß. Schlafen Sie wohl. Lieben Sie mich! Wir ſehn uns wieder. Der Maler konnte nicht ſprechen, und drückte ſtammelnd beide Hände des Präſidenten.

Als er ſich wieder allein ſah, floſſen ſeine Thrä - nen reichlicher, jedoch auch ſanfter und zum Erſten - mal wohlthuend. Er fühlte ſich mit dieſer Laſt von Schmerz nicht mehr ſo einſam, ſo entſetzlich fremd in dieſen Wänden, dieſer Stadt, ja Larkens’s Anblick ſelber däuchte ihm ſo jämmerlich nicht mehr; eben als wenn der Schatte des Entſchlafenen mit ihm die513 ehrenvolle Anerkennung fühlen müßte, die er noch jezt erfuhr.

Nun aber drang es Theobalden mächtig, am Buſen der Geliebten auszuruhen. Er ſteckte ein Nacht - licht an, welches für die Leichenwache bereit lag, er ſagte unwillkürlich ſeinem Freund halblaut eine gute Nacht, und war ſchon auf der Schwelle, als Lörmer, der Büchſenmacher, ihm den Weg vertrat. Der Menſch bot einen Anblick dar, der Ekel, Grauen und Mit - leid zugleich erwecken mußte. Von Wein furchtbar erhizt, mit ſtieren Augen, einen gräßlichen Zug von Lächeln um den herabhängenden Mund, ſo war er im Begriff, das Heiligthum des Todes zu betreten. Nolten, ganz außer ſich vor Schmerz und Zorn, ſtößt ihn zurück und reißt den Schlüſſel aus der Thür, Lörmer wird wüthend, der Maler braucht Gewalt und kann nicht verhüten, daß das Scheuſal vor ihm niederſtürzt und[mi]t dem Kopf am Boden aufſchlägt. Ich bitte Sie, lallt er, indem er ſich vergebens aufzurichten ſucht, und nicht bemerkt, daß Nolten ſchon verſchwunden iſt, um die Hausleute von dem Skandal zu benachrichtigen, um Gottes Barmherzig - keit willen! laſſen Sie mich hinein! mich! ich bin noch allein der Mann, ihm zu helfen Sie müſſen wiſſen, Herr, er pflegte gelegentlich auf den Lörmer was zu halten, Herr Sehn Sie, dieſe Uhr hab ich von ihm, aber ſie iſt ſtehn geblieben Wir ſtanden Du und Du, mein guter Herr, ich und der33514Komödiant Hieß er mich nicht immerdar ſein lie - bes Vieh? hat er je einen Andern ſo geheißen? und Hohl Euch der Teufel Alle zuſammen Sehn muß ich ihn, da hilft kein Gott und keine Polizei Ihr wißt den Henker zu diſtinguiren, ob ein Menſch in der That und Wahrheit k irt iſt oder nicht Soll ich Dir etwas im Vertrauen ſagen? Da drinne liegt er munter und geſund und hat Euch alle am Narrenſeil. Denn das iſt Einer, ſag ich Euch, der weiß wie man den Mäuſen pfeift. Und aber wenn es je wahr wäre (hier fing er an zu heulen) wenn er mir das Herzeleid anthun wollte, und aufpacken und ſeinen Stelzer verlaſſen wenn das Jeſu Maria! Auf! auf! ſchlagt die Thür ein! ich muß ihm noch beichten Jagt Papſt und Pfaff und Biſchöff, die ganze Kleriſei zum Teufel! ich will dem Komödianten beichten, trotz dem daß er ein Ke - tzer iſt Er muß Alles wiſſen, was ich ſeit mei - ner Firmelung an Gott und Welt geſündigt! Auf! hört ihr nicht? Ich will die ganze Barake in Trüm - mer ſchmeiſſen, ich will ein ſolches jüngſtes Gericht antrommeln, daß es eine Art hat! Alter! lieber Schreiner, laß mich hinein Das Schloß ſprang auf, und Lörmer ſtürzte einige Stufen hinab in das Zimmer, wo man ihn, als die Leute kamen, bewußt - los am Fuß des Bettes liegen fand.

515

Am Morgen kam ein Billet des Präſidenten und lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem ein - fachen Mittagmahl. Nolten war dieſe Ableitung beſonders um der Mädchen willen ſehr erwünſcht, mit deren verlaſſenem Zuſtande, weil er jeden Augenblick veranlaßt ward, bald aus dem Hauſe zu gehen, bald ſich mit Schreibereien zu befaſſen, man in der That Bedauern haben mußte. Agnes und ihr Benehmen war indeß zu loben. Bei allen Zeichen des aufrich - tigſten Antheils bewies ſie durchaus eine ſchöne, ver - nünftige Ruhe, ſogar ſchien ſie natürlicher, und ſicherer in ſich ſelbſt, als es auf der ganzen Reiſe der Fall gewe - ſen ſeyn mochte; nicht nur dem Maler, auch Nannet - ten fiel das auf. Es hatte aber dieſe ſonderbare Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mäd - chen zu beſcheiden war, ihn zu entdecken, oder zu ſchüchtern vielmehr, um an ihre alten Wunderlichkei - ten (wie Theobald zuweilen ſagte) in dem Augen - blicke zu mahnen, wo es ſich um eine ernſte und ſchau - dervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war es ein hoher Ernſt mit dem, was ſie für jezt zurück - zuhalten rathſam fand. Denn in der ganzen ſchreck - lichen Begebenheit mit Larkens erblickte ſie nichts Anderes als die gewiſſe Erfüllung eines ungewiſſen Vorgefühls, und ſo vermochte ſie ein offenbares und geſchehenes Uebel mit leichterem Herzen zu beweinen, als ein gedrohtes zu erwarten.

Nolten erkundigte ſich bei dem Wirth nach den516 Verhältniſſen des Präſidenten, und erfuhr, daß der - ſelbe, obgleich ſeit Jahr und Tag mit ſeiner Frau ge - ſpannt, eines der angeſehenſten Häuſer hier bilde, ſich aber als ein leidenſchaftlicher Mann vor Kurzem auch mit der Regierung entzweit habe, und bis auf Wei - teres von ſeinem Amte abgetreten ſey. Er wohne ſelten in der Stadt und neuerdings faſt einzig auf ſeinen Gütern in der Nähe.

Perſe, der Goldarbeiter, kam einiger Beſtellun - gen wegen, welche die Leiche betrafen. Beiläufig er - zählte er, daß der Barbier, als mehrerer Diebſtähle verdächtig, ſeit heute früh im Thurme ſitze. Er habe geſtern in der öffentlichen Wirthsſtube ſich aus Alte - ration und Reue wegen ähnlicher an Larkens ver - übter Schändlichkeiten ſelber verſchwazt. Die größte Niederträchtigkeit an dem Schauſpieler habe der Tau - genichts dadurch begangen, daß er ſich von Jenem das Stillſchweigen über ſeinen wahren Charakter mit ſchwerem Gelde habe bezahlen laſſen, indem er ihm täglich gedroht, Alles auszuplaudern. Theobald fragte bei dieſer Gelegenheit nach dem Büchſenmacher, und konnte aus Perſes umſtändlichem Berichte ſo viel entnehmen, daß Larkens dem Menſchen, weil es ein geſcheidter Kopf, einiges Intereſſe geſchenkt, das übrigens ſo gut als weggeworfen geweſen, da die deutliche Abſicht des Schauſpielers, ihn zu corrigiren, bloß dem Uebermuth des Burſchen geſchmeichelt habe, zumal die Art, wie Larkens zu Werke gegangen, bei417[517] weitem zu delikat geweſen. Uebrigens habe ſich Lar - kens nicht nur dem Zirkel, ſondern beſonders auch vielen Armen als unbekannter Wohlthäter unvergeß - lich gemacht.

Mittagszeit war da, die Mädchen angekleidet und Nolten bereit, mit ihnen zu gehen. Eine Toch - ter des Präſidenten empfing ſie auf das Artigſte, und nach einiger Zeit erſchien der Vater; außerdem kam Niemand von der Familie zum Vorſchein. Die Frau, mit dreien andern Kindern, einem ältern Sohne und zwei Töchtern, wurde erſt heute Abend vom Lande erwartet, und zwar, wie man überall wußte, nur um ihren Aufenthalt wieder auf einige Monate mit dem Gemahl zu wechſeln.

Während der Präſident ſich, bis man zu Tiſche ging, eifrig mit dem Maler unterhielt, geſellte ſich Margot zu den beiden Frauenzimmern. Sie war immer der Liebling des Vaters geweſen und bildete, weil es ihrer innerſten Natur widerſprach, ausſchließende Partei zu nehmen, eine Art von leichtem Mittelglied zwiſchen den zwei getrennten Theilen.

Es war ſervirt, man ſezte ſich. Für jezt betraf die Unterhaltung nur Dinge von allgemeinerem Intereſſe. Ein zartes Einverſtändniß der Gemüther ſchloß von ſelbſt den Gegenſtand geweihter Trauer für dieſe Stunde aus. Dagegen war der Augenblick, wo endlich das Gefühl ſein Recht erhielt, einem Jeden deſto inniger willkommen. Wir ſind genöthigt, hier ſo manches be -518 merkenswerthe Wort der wechſelſeitigen Aufklärung über die Eigenthümlichkeit und allmälige Verkümmerung von Larkens’s Weſen zu übergehn, und erzählen dafür mit den eignen Worten des Präſidenten, auf welche Art er zur Bekanntſchaft des Schauſpielers gelangte.

Vor einem Vierteljahr machte die hieſige Bühne den bis daher in Deutſchland noch nicht erhörten Ver - ſuch, Ludwig Tiecks Luſtſpiele aufzuführen. Die Idee war von dem berühmten S ** ausgegangen, welcher als Gaſt hier einige Monate ſpielte und für jenes enthuſiaſtiſche Projekt weniger die Intendanz, als vielmehr die höheren Privatzirkel des gebildeten Publikums, denen er Vorleſungen hielt, zu elektriſiren wußte. Nach einer ſehr gründlichen Vorbereitung un - ſerer Akteurs, und nachdem er durch eine Reihe an - derer, gewohnter Vorſtellungen ſich vorweg das Zu - trauen ſämmtlicher Theaterliebhaber im höchſten Grade gewonnen hatte, ward endlich die verkehrte Welt angekündigt. Die Wenigen, welche dieſe geiſtvolle Dichtung kannten und ſchäzten, wollten freilich vor - ausſehn, daß bei der Stumpfſinnigkeit, nicht nur der Menge, auf die man im Voraus verzichtete, ſondern der ſogenannten Gebildeten, die ſchöne Abſicht im Ganzen verunglücken müſſe; ja S ** ſelbſt ſoll dieß vorhergeſehen haben, und man glaubt, er habe dieß - mal theils auf Koſten des großen Publikums, theils ſeines eignen Rufs, einer Privat-Vorliebe zu viel nach - gegeben. Auf der andern Seite iſt ſeine Uneigennützig -519 keit zu bewundern, da ihm offenbar mehr daran lag, das Genie des Dichters vor den Einſichtsvollen zu verherrlichen, als ihn zur Folie ſeiner perſönlichen Kunſt zu gebrauchen. Da inzwiſchen auch die Ein - geweihten das Mögliche thaten, um eine allgemeine Erwartung zu erregen, den Philiſtern Eins anzuhän - gen und ihnen die Köpfe im Voraus zu verrücken, ſo verſprachen ſich dieſe, vom Titel des Stückes verführt, ein recht handgreifliches Spektakelſtück und Alles ging glücklich in die Falle. Die Aufführung, ich darf es ſagen, war meiſterhaft. Aber, Gott verzeihe mir, noch heute, wenn ich an den Eindruck denke, weiß ich mich nicht zu faſſen. Dieſe Geſichter, unten und auf den Galerien, hätten Sie ſehen müſſen! Tieck ſelbſt würde die Phyſiognomie des Haufens, als mitſpielender Per - ſon, neben den unter die Zuſchauer vertheilten Rollen, ſich nicht köſtlicher haben denken können. Dieſe un - willkürliche Selbſtperſiflage, dieß fünf und zehnfach reflektirte Spiegelbild der Ironie beſchreibt kein Menſch. In meiner Loge befand ſich der Legationsrath U., einer der wärmſten Verehrer Tiecks; wir ſprachen und lachten nach Herzensluſt während eines langen Zwiſchenakts (denn eine ganze Viertelſtunde lang war der Direktor in Verzweiflung, ob er weiter ſpielen laſſe oder aufhöre). Während dieſes tollen Tumultes nun, während dieſes Summens, Ziſchens, Bravorufens und Pochens hörten wir neben uns, nur durch ein dünnes Drahtgitter getrennt, eine Stimme ungemein520 lebhaft auf Jemanden losſchwatzen: O ſehn Sie doch nur um Gotteswillen da auf’s Parterre hinunter! und dort! und hier! der Spott hüpft wie aus einem Sieb ein Heer von Flöhen an allen Ecken und Enden hin und her Jeder reibt ſich die Augen, klar zu ſehen, Jeder will dem Nachbar den Floh aus dem Ohre ziehen und von der andern Seite ſpringen ihm ſechſe hinein Immer ärger! ein Teufel hat alle Köpfe verdreht es iſt wie ein Traum auf dem Blocksberg es wandelt Alles im Schlaf Herrn und Damen bekomplimentiren ſich, im Hemde vor ein - ander ſtehend, glauben ſich auf der Aſſemblee, ſagen: Waren Sie geſtern auch in der verkehrten Welt? Gottlob nun wäre man doch wieder bei ſich ſelbſt u. ſ. w. Der alte Geck dort aus der Kanzlei, o vortrefflich! bietet einer muntern Blondine ſeine Bon - bonniere mit großmächtigen Reichsſiegel-Oblaten an und verſichert, ſie wären ſehr gut gegen Vapeurs und Beängſtigungen. Hier ſehn Sie doch, gerade un - ter’m Kronleuchter ſteht ein Ladendiener vor einem Fräulein und lispelt: Gros de Naples-Band? So - gleich. Wie viel Ellen befehlen Sie wohl? Er greift an ſein Ohr, zieht es in eine erſtaunliche Länge, mißt ein Stück und ſchneidet’s ab. Aber bemerken Sie nicht den Inkroyable am dritten Pfeiler vom Orche - ſter an? wie er ſich langſam über die Stirne fährt und auf Einmal den Poeten embraſſirt: O Freund! ich habe ſchön geträumt dieſe Nacht! Ich habe ein521 winzig kleines Spieldöschen gehabt, das ich hier, ſchaun Sie, hier in meinen hohlen Zahn legte, ich durfte nur ein wenig darauf beißen und die ganze Zauberflöte, ſag ich Ihnen, die ganze Oper von Wolfgang Ama - deus Mozart, ſpielte drei Stunden en suite fort. Eine Dame, die neben mir ſtand, behauptete, es wäre ja Rataplan, der kleine Tambour, was ich ſpiele Him - mel! ſagt ich, ich kenne ja doch die Bären und die Affen und dieſe heil’gen Hallen! O göttlich war’s Nein! Aber da drüben, ich bitte Sie Er - lauben Sie, unterbrach hier eine tiefe Baßſtimme die Rede des Schalks mitten im Fluß, erlauben Sie, mein luſtiger, unbekannter Herr, daß ich endlich frage: wollen Sie mich foppen, oder wollen ſie andere ehr - liche Leute mit dieſem Unſinn foppen? Ach ganz und gar nicht, war die Antwort, keins von Beiden, ich bitte Tauſendmal um Vergebung Aber was iſt denn unſerm Herrn Nachbar da zugeſtoßen? der weint ja erſchrecklich Mit Erlaubniß, haben Sie den Wa - denkrampf? In dieſem Augenblick öffnet ſich un - ſer Gitter, ein langes weinerliches Geſicht beugt ſich herein mit den erbärmlichen Worten: Ach, liebe Herren, iſt es denn nicht möglich, daß ich durch Ihre Loge hinaus, fort aus dieſem Narrenhaus, in’s Freie kom - men könnte? Oder wenn das nicht iſt ſo ſeyn Sie ſo gütig nur eine kleine Bitte Wie heißt denn das Indigo Perfektum von obstupesco, ich bin be - täubt, verwirrt, bin ein Mondskalb geworden? das522 Perfektum Indikativi wollt ich ſagen O lachen Sie nicht ich bin der unglückſeligſte Mann, bin ſeit einiger Zeit am hieſigen Lycäo Präceptor der lateini - ſchen Sprache, habe mir’s recht ſauer werden laſſen auch hatte es bis jezt keine Gefahr, man war mit mir zufrieden allein ſeit einer halben Stunde, bei dem verkehrten verfluchten Zeug da ich weiß nicht mein Gedächtniß die gemeinſten Wörter ich mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir, examino memoriam meam es iſt mir, wie wenn mein Schulſack ein Löchlein, rimulam, bekommen hätte, zuerſt nur ein ganz geringes, aber es wird immer größer, ich kann ſchon mit der Fauſt o entſetzlich! es rinnt mir ſchockweiſe Alles bei den Stiefeln hin - aus, praeceps fertur omnis eruditio, quasi ein Nach - laß der Natur o himmelſchreiend, in einer halben Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem ſchlech - teſten Trivialſchüler gleich Laſſen Sie mich hinaus, hinaus! ich ſprenge die Verzäunung

Ich und der Legationsrath kamen ganz außer uns. Der Menſch aber, empört durch unſer Lachen, ſchlug uns das Gitter vor der Naſe zu und wir ſahen ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten Anfangs, es wäre etwa eine komiſche Figur aus dem Luſtſpiele, der Legationsrath ſchwur ſcherzend, gar Tieck ſelber müſſe es geweſen ſeyn. Indeſſen ging der lezte Aufzug an und ging gleich den erſten herr - lich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterirte Pub -523 likum drängte ſich murrend und drohend nach den Thü - ren, Einige wollten auf der Stelle Rechenſchaft haben. Sieh da! rief der Legationsrath mir zu, ein Bei - ſpiel, ein erſtes und leztes für ganz Deutſchland, ein Wahrzeichen für alle Direktionen, welche auf Sinn und guten Geſchmack bei uns rechnen! Plötzlich ant - wortete eine ganz gelaſſene Stimme am Gitter mit den Worten Cäſars: Pro ostento non ducendum, si pecudi cor defuit. Und zugleich ſtreckte ſich wie - der jenes Präceptors-Geſicht herein, aber ohne die vorige Grimaſſe und daher faſt kaum mehr zu erken - nen. Glauben Sie mir, meine Herren (denn ich habe mich unterdeſſen erholt und ein wunderbares Licht ging mir auf), dieſes Stück wird vergöttert werden bei unſern Landsleuten, und die Direktionen können für ſolche Abende das Entree getroſt auf das Drei - fache ſteigern, um den Pöbel zu verſchmerzen. Den - ken Sie an mich. Ihr Diener. Während er das ſagte, glaubte ich mich dunkel zu erinnern, daß mir dieſes Geſicht nicht zum Erſtenmal begegne, ich wollte ihn ſchnell anreden, aber wie weggeblaſen war er unter dem Gewühl. Ich und mein guter U., nachdem wir von unſerm Erſtaunen einigermaßen zurückgekommen waren, beſchloſſen, dieſen Mann, wenn er ſich anders hier aufhalte, was zu bezweifeln war, auszukundſchaf - ten, es koſte was es wolle. Umſonſt ſahn wir uns auf den Treppen, an den Ausgängen überall um, fragten die Perſonen, denen er zunächſt geſeſſen, Niemand524 wußte von ihm. Nach acht Tagen dacht ich nicht mehr an den Vorfall und hielt den Unbekannten für einen Auswärtigen. Ich befinde mich eines Morgens mit mehreren Bekannten auf dem Kaffeehauſe. Im Auf - und Abgehen klopf ich meine Cigarre am offenen Fenſter aus und werfe zufällig einen Blick auf die Straße; ein Handwerker mit Brettern unter’m Arm geht hart am Hauſe vorüber, meine Aſche kann ihn getroffen haben, kurz, er ſchaut raſch auf und bietet mir das ganze Geſicht entgegen, mit einem Ausdruck, mit einer Beugung des Körpers, wie ich das in mei - nem Leben nur von Einem Menſchen geſehen hatte, und genug, in dieſem Momente wußt ich auch, wer er ſey: der Komiker, den ich vor fünf Jahren im Geizigen des Moliere bewunderte, Larkens. Unver - züglich ſchickt ich ihm nach, ohne mir gegen irgend Jemand das Geringſte merken zu laſſen. Er kam, in der Meinung, man verlange ſeine Dienſte als Handwerker, ich ging ihm entgegen und ließ ihn in ein leeres Zimmer treten. Es gab nun, wie man denken kann, eine ſehr ſonderbare Unterredung, von welcher ich nur ſage, daß ich mich ungewiſſer ſtellte als ich war, nur entfernt von großer Aehnlichkeit mit einem früheren Bekannten ſprach, um ihm auf den Fall er ſein Geheimniß lieber bewahren wollte, den Vortheil der Verläugnung ohne Weiteres zu laſſen. Hier aber erkannte man nun erſt den wahren Meiſter! Eine ſolche köſtliche Zunft-Miene, ſo eine rechtfertige Zäh -525 heit kein Flamänder malt dieſen Ausdruck mit ſolcher Wahrheit. Man glaubte einen Burſchen zu ſehen, auf deſſen Stirne ſich bereits die Behaglichkeit zeichne, womit er am ruhigen Abend bei’m Bierkrug und ſchlechten Tabak den Auftritt ſeinen Kameraden auf - tiſchen wollte, nachdem er ihre Neugierde durch etwas unnöthig längeres Feuerſchlagen gehörig zu ſchärfen für dienlich erachtet. Wie hätte ich nun nach allem dieſen es noch über’s Herz bringen können, dem un - vergleichlichen Mann ſein Spiel zu verderben oder länger in ihn zu dringen? Ich entließ ihn alſo, konnte aber freilich nicht ganz ohne lachenden Mund mein: Adieu, guter Freund, und nehm Er’s nicht übel! hervorbringen. Er ſah mir’s um die Lippen zucken, kehrte ſich unter der Thür noch Einmal um und ſagte[i]m liebenswürdigſten Ton: Ich ſehe wohl, der Schul - meiſter von neulich hat mir einen Streich geſpielt, ich bitte, Euer Exc. mögen dieſe meine gegenwärtige Figur noch zur verkehrten Welt ſchlagen. Dürft ich aber vollends hoffen, daß dieſer Auftritt unter uns bliebe, ſo würde ich Ew. Exc. ſehr verpflichtet ſeyn, und Sie haben hiemit mein Ehrenwort, daß mein Geheim - niß ohne das mindeſte Arge iſt; aber für jezt liegt mir Alles dran, das zu ſcheinen, was ich lieber gar ſeyn möchte. Jezt nahm ich länger keinen Anſtand, ihn bei ſeinem Namen herzlich willkommen zu heißen. Da er natürlich genirt war, in ſeinem gegenwärtigen Aufzuge einen Diskurs fortzuſetzen und doch mein In -526 tereſſe ihm nicht entging, ſo hieß er mich Zeit und Ort beſtimmen, wo wir uns gelegener ſprechen könn - ten, und ſo verabſchiedete er ſich mit einem unwillkür - lichen Anſtande, der ihm ſelbſt in dieſen Kleidern treff - lich ließ.

Um mir nun die ganze ſonderbare Erſcheinung einigermaßen zu erklären, lag freilich der Gedanke am nächſten, es habe dem Künſtler gefallen, die niedrige Natur eine Zeitlang an der Quelle ſelbſt zu ſtudiren, wiewohl derſelbe Zweck gewiß auf andre Art bequemer zu erreichen war. Als wir kurz nachher auf meinem Gute zuſammenkamen, ſchien er mich auch wirklich auf meinem Glauben laſſen zu wollen; doch dachte er zu redlich, um nicht die wahre Abſicht, deren er ſich viel - leicht ſchämen mochte, wenigſtens als ein Neben-Motiv bemerklich zu machen, und da überdieß eine hypochondri - ſche Seite in ſeinem Geſpräche mehrmals anklang, ſo errieth ich leicht, daß dieß wohl der einzige Beweg - grund ſeyn müſſe. Ich vermied natürlich von nun an die Materie gerne, aber auffallend war es mir, daß Larkens, wenn ich das Geſpräch auf Kunſt und dergleichen hinlenkte, nur einen zerſtreuten und beinahe erzwungenen Antheil zeigte. Er zog praktiſche oder ökonomiſche Gegenſtände, auch die unbedeutendſten, jedes Mal vor. Mit wahrer Freude unterſuchte er meine Baumſchule und jede Art von Feldwerkzeug, zugleich ſuchte er ſich beim Gärtner über alle dieſe Dinge gele - gentlich zu unterrichten und gab mitunter die ſinnrei -527 ſten Vortheile an, die ihm weder Handbuch noch Er - fahrung, ſondern nur ſein glücklicher Blick gezeigt haben kann. Uebrigens waren unſerer Zuſammen - künfte leider nicht mehr als drei; vor ſechs Tagen ſpeiſ’te er das lezte Mal bei mir.

Der Präſident war fertig. Eine tiefe Wehmuth war auf alle Geſichter ausgegoſſen und Keines wollte reden. Hatte man während dieſer Erzählung, wenig - ſtens in der Mitte derſelben, nur das rege Bild ei - nes Mannes vor ſich gehabt, welcher, obgleich nicht im reinſten und glücklichſten Sinne, doch durch die feurige Art, wie er die höchſten Glanz-Erſcheinungen des Lebens und der Kunſt in ſich aufnehmen konnte, mit Leib und Seele dieſer Welt anzugehören ſchien, und konnte man alſo auf Augenblicke völlig vergeſſen, es ſey hier von einem Verſtorbenen die Rede, ſo über - fiel nun der Gedanke, daß man in wenig Stunden werde ſeinen Sarg in die Erde ſenken ſehen, alle Ge - müther mit einer unerträglichen Pein, mit einer ganz eigenen Angſt, und unſern Freund durchdrang ein nie gefühlter brennender Schmerz der ungeduldigſten Sehn - ſucht. Sekunden lang konnte er ſich einbilden, ſogleich werde die Thüre ſich aufthun, es werde Jemand her - einkommen, mit freundlichem Geſicht erklären, es ſey Alles ein Irrthum, Larkens komme friſch, und ge - ſund unverzüglich hieher. Aber ach! kein Wunder gibt es und keine Allmacht, um Geſchehenes ungeſche - hen zu machen.

528

Der Präſident trat ſtille auf Theobald zu, legte die Hand auf ſeine Schulter und ſprach: Mein Lieber! es iſt nun Zeit, daß ich eine Bitte, eine rechte Herzensbitte an Sie bringe, mit der ich ſeit geſtern Abend umgehe und welche Sie mir ja nicht abſchla - gen müſſen. Bleiben Sie einige Tage bei uns. Es iſt uns Beiden unerläßliches Bedürfniß, des theuren Freundes Gedächtniß eine Zeit lang mit einander zu tragen und zu feiern. Wir werden, indem wir uns beruhigen, auch ſeinen Geiſt mit ſich ſelber zu ver - ſöhnen glauben. Wir müſſen, wenn ich ſo ſprechen darf, dem Boden, welchem er ſeine unglückliche Aſche aufdrang, die fromme Weihe erſt ertheilen, damit dieſe Erde den Fremdling mütterlich einſchließen könne. Wenn Sie uns verlaſſen haben, ſo iſt hier keine Seele außer mir, die Ihren Larkens kennte und ſchäzte wie er es verdient, und doch ſollen zum wenigſten ſtets ihrer Zwei beiſammen ſeyn, um das Andenken eines Abgeſchiedenen zu heiligen. Ja, geben Sie mei - ner Bitte nach, überlegen Sie nicht Ihre Hand! Morgen reiſen wir alle auf’s Gut und wollen, traurig und froh, Eines dem Andern ſeyn was wir können.

Nolten ließ den in Thränen ſchimmernden Blick freundlich auf Agneſen hinüber gleiten, die denn, zum Zeichen was ſie denke, mit Innigkeit die Hand Margots ergriff, welch Leztere, dieſe Meinung liebreich zu erwidern, ſich alsbald gegen beide Mäd - chen hinbeugte und ſie küßte.

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Wer könnte hier noch länger widerſtehn! rief Nolten aus. Ihre Güte, theurer Mann, iſt faſt zu groß für mich, ich nehme ſie aber, wenn auch nur ſchüchtern, im Namen unſeres Todten an. Unſere Reiſe, meine guten Kinder, ſezte er gegen die Sei - nigen hinzu, in ſo fern ſie dem Vergnügen gelten ſollte, war ich ſeit geſtern ohnehin entſchloſſen abzu - kürzen, ich wollte ungeſäumt dem Orte unſeres künfti - gen Bleibens und meiner Pflicht entgegengehn. Un - vermuthet hat ſich uns nun eine dritte Ausſicht er - öffnet, die ſelbſt mit ihrer ſchmerzlichen Bedeutung bei weitem den ſchönſten Genuß und die lieblichſte Zuflucht verſpricht.

Ein Bedienter kam und meldete einige Herren, welche der Präſident auf dieſe Stunde zu ſich gebeten hatte. Es war der Regiſſeur des Theaters und drei andere Künſtler, die ſich für Nolten nicht weniger, als für den Verſtorbenen intereſſirten, da ihnen der Maler durch Renommee ſchon längſt nicht fremd mehr war. Der Regiſſeur kam vor Jahren einmal mit Larkens in perſönliche Berührung. Er wollte, auf Anregung des Präſidenten und darum ohne Wider - ſpruch von Seiten der Geiſtlichkeit, ein Wort am Grabe reden; Theobald hatte ihm hiezu die nöthi - gen Notizen ſchon am Morgen zuſammen geſchrieben. Man beredete noch Einiges wegen der Feierlichkeit.

Indeſſen hatte ſich der Tag ſchon ziemlich ge - neigt, und ſeine ahnungsvolle Dämmerung wälzte mit34530den erſten Trauerſchlägen von dem Thurme her lang - ſam und feierlich das lezte größte Schmerzgewicht auf die Bruſt unſrer Freunde. Die Leiche mußte vor dem Hauſe des Präſidenten vorüberkommen, wo denn die ordentliche Begleitung mit einbrechender Nacht, Punkt neun Uhr ſich aufſtellen und ein Fackelzug von Künſtlern und Schauſpielern die Leiche abholen ſollte, während deſſen die übrigen Fußgänger und die Wagen hier zu warten angewieſen waren.

Nolten ſuchte noch einen Augenblick los zu kommen, um in aller Stille einen lezten Gang nach des Tiſchlers Hauſe zu thun. Dort traf er bereits eine Menge Neugieriger in der engen Gaſſe verſam - melt, doch wagte Niemand, ihm zu folgen, als der alte Meiſter ihm den Schlüſſel zu der bekannten, weit nach hintenzu gelegenen Kammer reichte. Ein weißer, mit friſchen Blumen behängter Sarg ſtand auf dem Gange. Köſtliches Rauchwerk kam ihm aus dem Zimmer entgegen, als er eintrat. Aber auf’s Schönſte ward er überraſcht und gerührt durch einen Schmuck, den eine unbekannte Hand dem Todten hatte angedeihen laſſen. Nicht nur war der Körper mit einem langen, feinen Sterbekleid und ſchwarzer Schärpe reinlich umgeben, ſondern ein großer, blendend weißer Schleier, mit Silber ſchwer geſtickt, bedeckte das Ant - litz und ließ einen grünen Lorbeerkranz, der um die hohe Stirne lag, und ſelbſt die Züge des Geſichts gar milde durchſchimmern.

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Der Maler blieb nicht länger vor dem Bette ſtehn, als eben hinreichte, um jenes ſtumme, langge - dehnte Lebewohl ſey es auf Wiederſehn, ach! oder auch auf ewig Nimmerſehn durch das Tiefin - nerſte der Seele ziehn zu laſſen und jeden ſtillen Win - kel ſeiner Bruſt mit dieſem Liebes-Echo ſchmerzlich anzufüllen.

Er hörte Tritte auf dem Gang, ſchnell riß er ſich los, in Eiferſucht, daß dieſen Ruhe-Anblick, den er auf alle Zeiten mit ſich nehmen wollte, kein An - derer mit ihm theile.

Wir ſehen einen friſchen Tag über der Stadt aufgehn, und ſagen von dem geſtrigen Abende nicht mehr, als daß die ganze Feier ſchön und würdig voll - zogen wurde.

Der heutige Morgen, es war ein Sonntag, ging mit Einpacken, oder mit Beſuchen hin, die Nolten in der Stadt zu machen und zu erwiedern hatte. Die außerordentliche Begebenheit erwarb ihm eine große Anzahl theils neugieriger, theils aufrichtiger Freunde, es kam nun eine Einladung nach der andern, darun - ter ſehr ehrenvolle, die er nicht ablehnen durfte. Es wurde deßhalb beſchloſſen, daß man nicht heute Abend, wie Anfangs verabredet geweſen, ſondern morgen auf das Landgut fahre. Die Familie des Präſidenten war indeſſen in aller Frühe ſchon hier eingetroffen, und532 Nolten ſah die Präſidentin auf kurze Zeit, neben dem Gemahl, doch war es eben darum bei aller mög - lichen Artigkeit von ihrer Seite eine ziemlich froſtige Bekanntſchaft. Nannette, welche auch dabei zuge - gen, konnte ſich nicht genug verwundern über die hohle Zärtlichkeit des vornehmen Ehepaars und ſie machte gleich hernach Agneſen die ganze Scene vor, wie ſich Beide geküßt, wie zierlich die Frau ihr Sprüch - lein gelispelt habe.

Als Theobald wegen des dem armen Freunde ge - widmeten Ehrenſchmucks ein dankbares Wort an das Fräulein richtete denn er vermuthete ſonſt Niemanden darunter vernahm er, daß zwar der Schleier von ihr, das Uebrige jedoch von einer edlen Dame gekom - men, welche den Schauſpieler vor mehreren Jahren in einigen ſeiner vorzüglichſten Rollen geſehen habe. Margot nannte ihren Namen mit Achtung und er - zählte, daß ſie dieſelbe Frau noch vor ganz kurzer Zeit gelegentlich in einer Geſellſchaft ſehr munter von jenen Vorſtellungen habe erzählen hören.

Montag Mittag endlich verließen die Freunde erleichterten Muthes die Stadt. Die Neuburger Chaiſe mit einem Theil des Gepäcks ſollte hier zurückblei - ben. Unſre Geſellſchaft theilte ſich in zwei Gefährte des Präſidenten, ſo daß die Herren in dem einen, die drei Frauenzimmer in dem andern für ſich allein waren.

Nach einer Stunde ſchon ſah man das Schloß vor ſich auf der flachen Anhöhe liegen, am Fuße der -533 ſelben ein kleines Landſtädtchen, deſſen Marken durch manches Bethaus am Wege, durch manches hölzerne Kreuz die katholiſche Einwohnerſchaft im Voraus verkündigen. Das Schloß ſelber iſt ein alterthümli - ches Gebäude, maſſiv von Stein, in zwei gleich lange Flügel gebaut, welche nach unſrer Seite her in einen ſtumpfen Winkel zuſammenlaufen, ſo, daß der Eine, mehr ſeitwärts gelegene, ſich, je näher man dem Hauptportale kam, hinter den andern zurücklegen mußte. Das ernſte und würdige Anſehn des Ganzen verlor nur wenig durch die moderne gelbbraune Ver - blendung. Ueberall bemerkte man vorſpringende Er - ker und ſchmale Altane, ziemlich unregelmäßig, aber bequem und auf die Ausſicht in’s Weite berechnet. Man fuhr in den Schloßhof ein, der hinten durch eine im Halbkreis gezogene Kaſtanienallee gar ſchön geſchloſſen iſt, indem dieſelbe rechts und links auf beide Flügel-Enden zugeht. Die Mitte des Halbzirkels nimmt ein achteckig gefaßter See mit Springbrunnen ein, deren altfränkiſche Delphine nach vier Seiten hin ihr Waſſer ſtrahlen. Die Allee wird durch geradlinige Wege dreimal durchſchnitten, um in die zunächſt hin - terliegenden Anlagen zu gelangen; der mittlere Aus - gang führt nach der Schnur auf ein anſehnliches Gar - tenhaus zu.

Von der Herrſchaft wurden im ganzen Schloſſe bloß die beiden Etagen des Einen Flügels bewohnt, die obern vom Präſidenten, unten befanden ſich die534 Zimmer der Frau, wo nun auch die beiden Mädchen mit dem Fräulein einquartirt werden ſollten. Das Alles war, wenige Piecen ausgenommen, nach neue - rem Geſchmacke. An Bedienung, weiblicher ſowohl als männlicher, fehlte es nicht.

Nachdem die neuen Gäſte einigermaßen einge - richtet waren, trank man den Kaffee in einem der vielen Bosquets im Garten und wandelte ſodann, in zwei Partien abermals getrennt, die ganze Anlage durch. Ihr Umfang war, obgleich beträchtlich, doch kleiner als es von Innen der Anſchein gab, weil Bäume und Gebüſch die Mauer überall verbargen.

Agnes und Nannette, ihre gefällige Freundin in der Mitte, empfanden ſich in einem völlig neuen Elemente; jedoch ſein Fremdes ward ihnen durch Margots höchſt umgängliches und ungenirtes We - ſen mit jeder Viertelſtunde mehr zu eigen. Ueber - haupt finden wir nun Zeit von der Tochter zu reden, und ſie verdient, daß man ſie näher kennen lerne. Das munterſte Herz, verbunden mit einem ſcharfen Verſtande, der unter dem unmittelbaren Einfluſſe des Vaters, verſchiedene, ſonſt nur dem männlichen Ge - ſchlecht zukommende Fächer der Wiſſenſchaft, man darf kecklich ſagen, mit angeborner Leidenſchaft und ohne den geringſten Zug von gelehrter Koketterie ergriffen hatte, ſchienen hinreichende Eigenſchaften, um mit einem Aeußern zu verſöhnen, das wenigſtens für ein gewöhnliches Auge nicht viel Einnehmendes, oder um535 es recht zu ſagen, bei viel Einnehmendem, manches unangenehm Auffallende hatte. Die Figur war außer - ordentlich ſchön, obgleich nur mäßig hoch, der Kopf an ſich von dem edelſten Umriß, und das ovale Ge - ſicht hätte, ohne den aufgequollenen Mund und die Stumpfnaſe, nicht zärter geformt ſeyn können; dazu kam eine braune, wenn gleich ſehr friſche Haut, und ein Paar große dunkle Augen. Es gab, freilich nur unter den Männern, immer einige, denen eine ſo ei - gene Zuſammenſetzung gefiel; ſie behaupteten, es wer - den die widerſprechenden Theile dieſes Geſichts durch den vollen Ausdruck von Seele in ein unzertrennli - ches Ganze auf die reizendſte Art verſchmolzen. Man hatte deßhalb den Bewunderern Margots den Spott - namen der afrikaniſchen Fremd - und Feinſchmecker aufgetrieben, und wenn hieran gewiſſe allgemein ver - ehrte Schönheiten der Stadt ſich nicht wenig erbauten, ſo war es doch verdrießlich, daß eben die geiſtreichſten Jünglinge ſich am liebſten um dieſe Afrikanerin ver - ſammelten. Die Späße der ballgerechten Stutzer waren indeß, der Eiferſucht zum Troſte, unerſchöpflich. So hatte ein Lieutenant, der ſonſt eben nicht im Geruche des witzigſten Kopfes ſtand, den köſtlichen Einfall aus - geheckt: man bemerke an des Präſidenten Tochter, bei genauerer Betrachtung, ein feines Bärtchen um die Lippen, welches wohl daher komme, daß ſie als Kind ſich ſchon von den alten Knaſterbärten, den Ci -536 ceros und Xenophons habe küſſen laſſen, und vergeſ - ſen, ſich den Mund rein zu wiſchen. Das Schönſte war, daß Margot dergleichen Armſeligkeiten, auch wenn ſie darum wußte, im Geringſten nicht bitter empfand; ſie erſchien bei den öffentlichen Vergnügun - gen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene Bedürfniß ſie trieb, immer mit gleich unbefangener Heiterkeit, ſogar gehörte ſie bei Spiel und Tanz zu den eigentlich Luſtigen; aber indem ſie Wohlgeſinnte und Zweideutige ganz auf einerlei Weiſe behandelte, zeigte ſie, ohne es zu wollen, daß ſie den Einen wie den Andern miſſen könne. Allein auch dieſe unſchul - digſte Indifferenz legte man entweder als Herzloſig - keit, oder Stolz aus. Agnes und ſelbſt die leichter geſinnte junge Schwägerin huldigten dem guten We - ſen von ganzem Herzen, ohne erſt noch ſeine glänzendſte Seite zu kennen.

Die Mädchen ſaßen im Geſpräch auf einer Bank und ſahen jezt einen jungen Menſchen von etwa ſechs - zehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüber kam, nickte er nur ſchnell und trocken mit dem Kopfe vor ſich hin, ohne ſie anzuſehn. Die zarte Bildung ſeines Geſichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nan - netten aufmerkſam, und Margot ſagte: Es iſt der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mit - leidig angeſehn und es geht anfänglich Jedermann ſo,537 man glaubt ihn leidend, doch iſt er es nicht, er hält ſich für den glücklichſten Menſchen. Wir lieben ihn Alle. Er hilft ſeinem Vater und verrichtet eine Menge Gartengeſchäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine Luſt iſt, ihm zuzuſehn, wenn ihm einmal die Sachen hingerüſtet und bedeutet ſind. Nichts kommt ihm falſch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter den Fingern, eben als wenn die Gegenſtände Augen hätten ſtatt ſeiner und kämen ihm von ſelbſt entge - gen. Dieß gibt nun einen ſo rührenden Begriff von der Neigung, dem ſtillen Einverſtändniß zwiſchen der äußern Natur und der Natur dieſes ſonderbaren Men - ſchen. Da er nicht von Geburt, ſondern etwa ſeit ſeinem fünften Jahre blind iſt, ſo kann er ſich Far - ben und Geſtalten vorſtellen, aber wunderlich klingt es, wenn man ihn die Farben gewiſſer Blumen mit großer Beſtimmtheit, aber oft grundfalſch ſo oder ſo angeben hört; er läßt ſich ſeine Idee nicht nehmen, da er ſie ein für alle Mal aus einem unerklärlichen Inſtinkt, hauptſächlich aus dem verſchiedenen Geruche, dann auch aus dem eigenthümlichen Klange eines Na - mens vorgefaßt hat. Das Erſtere kann man ihm noch hingehn laſſen, der Zufall thut viel, und wirklich hat er es Einigemal bei ſehr unbekannten Blumen auffallend getroffen.

Wäre aber, ſagte Agnes, doch etwas Wah - res daran, ſo ſollte man auch wohl die Gabe haben können, etwa aus der Stimme eines Menſchen auf538 ſein Weſen zu ſchließen, wenn auch nicht auf den Na - men, denn geſezt, man ſchöpfte dieſen für die Blu - men wirklich aus einem beſtimmten Gefühl, oder, wie ſoll ich ſagen? aus einer natürlichen Aehnlichkeit, ſo kämen wir auf jeden Fall zu kurz neben dieſen Früh - lingskindern, die man doch gewiß erſt, nachdem ſie voll - kommen ausgewachſen waren, getauft hat, um ihnen nicht Unrecht zu thun mit einem unpaſſenden Namen, während wir den unſrigen erhalten, ehe wir noch den geringſten Ausdruck zeigen.

Margot war über dieſe artige Bemerkung er - freut und Nannette erinnerte gelegentlich an die ſo - genannte Blumenſprache, woraus man ſeit einiger Zeit ordentlich kleine Handbücher mache. Was mir an dieſer Lehre beſonders gefällt, das iſt, daß wir Mädchen bei all ihrer Willkürlichkeit doch gleich durch die Bedeutung, die dem armen nichtswiſſenden Ding im Buche beigelegt iſt, unſer Gefühl beſtimmen und umſtimmen laſſen können, weil wir dem Menſchen, der ſich unterſteht, ſo was Ein - für Allemal zu ſtem - peln, doch einen Sinn dabei zutrauen müſſen, oder weil eine gedruckte Lüge doch immer etwas Unwider - ſtehlicheres hat als jede andere.

Oder, verſezte Margot, weil wir ängſtlich ſind, durch unſer vieles Um - und Wiedertaufen eine böſe Verwirrung in das hübſche Reich zu bringen, ſo daß uns die armen Blumen am Ende gar nichts Ge - wiſſes mehr ſagen möchten.

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Wie närriſch ich früher über Namen der Men - ſchen gedacht habe und zuweilen noch denken muß, kann ich bei der Gelegenheit nicht verſchweigen, ſagte Agnes. Sollten denn, meint ich, die Namen, welche wir als Kinder bekommen, zumal die weniger verbrauch - ten, nicht einen kleinen Einfluß darauf haben, wie der Menſch ſich ſpäter ſein innerliches Leben formt, wie er Andern gegenüber ſich fühlt? ich meine, daß ſein Weſen einen beſondern Hauch von ſeinem Namen annähme?

Dergleichen angenehmen Selbſttäuſchungen, er - widerte das Fräulein, entgeht wohl Niemand, der tiefern Sinn für Charakter überhaupt hat, und da ſie ſo gefahrlos als lieblich ſind, ſo wollen wir ſie uns einander ja nicht ausreden.

Nannette war bei Seite getreten und kam mit einem kleinen Strauß zurück. Während ſie ihn in der Stille zurecht fügte, ſchien ihr ein komiſcher Ge - danke durch den Kopf zu gehn, der ſie unwiderſtehlich laut lachen machte. Was hat nun der Schelm? fragte Margot, es geht auf Eins von uns Beiden nur heraus damit! Es geht auf Sie! lachte das Mädchen, iſt aber nichts zum übel nehmen. Ich ſuchte da nach einer Blume, die ſich für Ihren Sinn und Namen paſſen könnte, nun heißt doch wohl Mar - got nicht weniger noch mehr als Margarete, natürlich fiel mir alſo ein, wie leichtfertig es laſſen müßte, wie dumm und ungeſchickt, wenn Ihnen Je - mand hier dieß Gretchen im Buſch verehren540 wollte. Alle lachten herzlich über dieſe Zuſammen - ſtellung, die freilich nicht abgeſchmackter hätte ſeyn können.

Im Ernſt aber, ſagte Nannette und ſprach damit wirklich ihres Herzens Meinung aus, für Sie, beſtes Fräulein, könnte ich wohl einen Sommer lang mit dem Katalogen in der Hand durch alle Kaiſergär - ten ſuchen, eh mir endlich das begegnete, was Ihrer Perſon, oder weil dieß einerlei iſt, Ihres Namens vollkommen würdig wäre. So? lachte Margot, alſo bleib ich, eben bis auf Weiteres brav Gretel im Buſch! Zum Beweis aber (hier ſtand ſie auf und trat vor ein Rondell mit blühenden Stöcken), daß ich glücklicher bin im Finden als Sie, Böſe und Schöne, ſteck ich Ihnen gleich dieſe niedliche Roſe in’s Haar, Agnes hingegen dieſe blauliche Blüthe mit dem wür - zigen Vanilleduft!

Man gieng nun ſcherzend weiter und das Fräu - lein fing wieder an: Vom guten Henni ſind wir ganz abgekommen, ſo heißt der Blinde, eigentlich Heinrich. Weil ſeine vorhin genannten Talente einigermaßen zweideutig ſind, ſo muß man ihm bei den andern deſto mehr Gerechtigkeit wiederfahren laſ - ſen. Er hat viel mechaniſches Geſchick und ſeltne muſikaliſche Anlagen. In einer leeren Kammer des linken Schloßflügels, welche vor nicht ſehr langer Zeit noch zur Hauskapelle der frühern Beſitzer eingerichtet war, ſteht eine Orgel, die lange kein Menſch anſah. 541Sie befand ſich im ſchlechteſten Zuſtande, bis Henni vor anderthalb Jahren ſie entdeckte. Er hatte nun nicht Raſt noch Ruhe, das verwahrloſ’te ſtaubige Werk, Klaviatur, Pedal und Blasbälge, ſammt den fehlen - den und zerbrochenen Stäbchen, Klappen und Dräh - ten, deren Zahl beiläufig Hundert und Eines ſeyn mag, wieder ordentlich herzurichten. Oft hörte man ihn bei Nacht operiren, klopfen und ſägen, und es war ſonderbar, ihn dann ſo ohne alles Licht in der einſamen Kammer bei ſeiner Arbeit zu denken. Was ihm aber kein Menſch geglaubt hätte: nach weniger als vier Wochen war er wirklich mit Allem zu Stande gekommen. Sie müſſen ihn einmal, und ohne daß er’s weiß, auf der Orgel phantaſieren hören; er be - handelt ſie auf eine eigene Art und nicht leicht würde ein anderes Inſtrument das eigentliche Weſen dieſes Menſchen ſo rein und vollſtändig ausdrücken können. Ich hätte billig unter ſeinen Vorzügen zuerſt von ſei - ner Frömmigkeit geſprochen, doch wird Ihnen dieſe nach dem bisher Geſagten um ſo wahrer und zärter erſcheinen, und ich brauche jezt deſto weniger Worte davon zu machen. Klavierſpielen hatte er ſchon früher ohne Anleitung auf einem ſchlechten Pantalon gelernt, mein Vater verſprach, ihm auf ſeinen Ge - burtstag ein ordentliches Inſtrument zu ſchenken. So lange wir in der Stadt wohnen, laß ich auch wohl zuweilen den Schlüſſel in dem meinigen ſtecken und mag mir gerne denken, daß er ſich ein Stündchen nach542 Herzensluſt darauf ergehe, derweil ſeine Mutter die Zimmer reinigt. Er lobte mir neulich den Ton des Flügels mit ſolchem Feuer, daß er ſich mit ſeinem Geheimniß verſchnappte, er wurde plötzlich blutroth und ich hätte fürwahr viel gegeben, um einen Augen - blick ſelbſt zu erblinden und kein Zeuge dieſer Beſchä - mung zu ſeyn. Es blieb nichts übrig, als ihn auf - zufordern, ſogleich eine Sonate mit mir zu probiren, die er mir und meinem Bruder abgehört hatte. Nichts geht ihm über das Vergnügen, vierhändig zu ſpielen. Das Stück, wovon ich rede, iſt eines von den ſchwe - rern, allein es ging durchweg faſt ohne Anſtoß.

Der Präſident ſtand eben mit dem Maler auf der rechten Seite des Schloſſes, als die Mädchen ge - gen den Hof herkamen; ſie ſprachen dort über eine gewiſſe Baukurioſität, der wir gelegentlich auch einen Blick ſchenken müſſen. Es endigte ſich nämlich jener Flügel mit einer breitſtufigen Steintreppe, welche vor den Fenſtern des oberen Stocks ein Belvedere an - ſezte und, hüben und drüben mit einem Geländer ver - ſehen, auf ſteinernen Bogen herablief. Mit der lezten Stufe an der Erde trat man in ein niedliches Roſen - gärtchen, welches im Viereck von einer niedern, künſt - lich ausgehauenen Baluſtrade umgeben, einer Seits auf den Abhang des Schloßbergs hinunterſah, ande - rer Seits durch ein eiſernes Gatter in die Allee ein - führte. Alles das fand ſich in den gleichen Verhält - niſſen auch auf der entgegengeſezten Flanke des Ge -[543] bäudes, jedoch meiſt nur von Holz und auf den Schein berechnet. Altan und Treppe waren dort verwittert und ohne Gefahr nicht mehr zu betreten.

Die Geſellſchaft begab ſich in’s Innere des Hau - ſes, und bis zum Abendeſſen trieb ein Jedes was ihm beliebte. Der Präſident ließ ſeinen Gäſten Zeit, es ſich bequem zu machen. Gleich Anfangs hatte er den Grundſatz erklärt, es müſſe neben den Stunden der gemeinſamen Unterhaltung und des unmittelbaren Beieinanderſeyns durchaus auch eine Menge Augen - blicke geben, die, ſo zu ſagen, den zweiten und indi - rekten, gewiß nicht minder lieblichen Theil der Ge - ſelligkeit ausmachen, wo es erfreulich genug ſey, ſich mit einander unter Einem Dache zu wiſſen, ſich zu - fällig zu begegnen und eben ſo nach Laune feſtzuhal - ten. Unſeren beiden Frauenzimmern, welche dem Hausherrn gegenüber doch immer etwas von Schüch - ternheit bei ſich verſpürten, kam eine ſolche Freiheit zu ganz beſonderm Troſte, dem Maler war ſie ohne - hin Bedürfniß, und ſogleich gab der Präſident das Beiſpiel, indem er ſich noch auf ein Stündchen in’s Arbeitskabinet zurückzog.

Die Tiſchzeit verſammelte Alle auf’s Neue, und als man ſich zulezt gute Nacht ſagte, trat Jedem der Gedanke erſtaunend vor die Seele, durch was für eine ungeheure Fügung ſich die fremdeſten Men - ſchen dergeſtalt haben zuſammen finden können, daß es ſchon heute ſchien, als hätte man ſich immerdar544 gekannt, als wäre man zuſammengekommen, um nie - mals wieder Abſchied zu nehmen.

Nachdem wir von der Stellung der Perſonen, ſo wie von deren häuslicher und ländlicher Umgebung in ſo weit den Begriff gegeben haben, beſorgen wir noch kaum, daß unſre Leſer ein vollſtändiges Journal von den Unterhaltungen der nächſten Tage von uns erwarten möchten.

Was außerhalb des Schloßbezirks nur immer Anlockendes zu Pferd und Wagen zu erreichen war, und was das Eigenthum des Präſidenten, zumal eine ſehr reichhaltige Bibliothek, zur Unterhaltung darbot, ward abwechſelnd genoſſen und verſucht. Der Präſi - dent liebte die Jagd, und obgleich Theobald weder die mindeſte Uebung, noch auch bis jezt einigen Ge - ſchmack daran hatte, ſo war ihm in ſeiner gegenwär - tigen Verfaſſung der Vortheil dieſer Art ſich zu be - wegen, wobei ſowohl Leib als Seele in kräftiger Span - nung erhalten wird, gar bald ſehr fühlbar und bei einigem Glück mit den erſten Verſuchen ſogar ergötz - lich geworden. Er kehrte an ſo einem Abend auffal - lend erheitert und lebhaft nach Hauſe. Auch hatten die Mädchen bereits ihren Scherz mit ihm, indem Margot behauptete: es könnte wohl nicht leicht ein Maler die ſchönſte Galerie der ſeltenſten Kunſtwerke mit größerem Intereſſe durchlaufen, als er die Ge -545 wehrkammer ihres Vaters, worin er wirklich Stun - den lang verweilte. Gewiß aber war auch weit und breit eine ſolche Sammlung nicht anzutreffen. Ge - wehre aller Art, vom erſten Anfang dieſer Erfindung bis zu den neueſten Formen des engliſchen und franzöſi - ſchen Kunſtfleißes, konnte man hier auf’s Schönſte geordnet in fünf hohen Glaskäſten ſehen. Die Freunde bemerkten mit Lächeln, wie Nolten jedes Mal eine andere Flinte für ſich ausſuchte, denn mit jeder hoffte er glücklicher zu ſeyn, und endlich griff er gar nach einem alten türkiſchen Geſchoß, welches zwar prächtig und gut, doch für den Zweck nicht paſſend und deß - halb von dem ſchlechteſten Erfolg begleitet war.

Beſonders angenehm erſchienen immer nach dem Abendeſſen die ruhigen gemeinſchaftlichen Leſeſtunden. Der Maler hatte Anfangs unmaßgeblich eine Lektüre vorgeſchlagen, welche man in doppelter Hinſicht will - kommen hieß. Unter den ſchriftlichen Sachen, die er vorläufig aus Larkens’s Nachlaſſe an ſich gezogen, befand ſich zufälliger Weiſe ein dünner, italieniſcher Quartband, die Roſemonde des Ruccelai ent - haltend, wovon ihm der Schauſpieler, theils wegen der Seltenheit der alten urſprünglichen Venetianer - Ausgabe, theils weil eine angenehme Erinnerung für ihn dabei war, vormals mit beſonderer Liebe geſpro - chen und gelegentlich erzählt hatte, daß er als fünf - zehnjähriger Knabe das Buch aus der Sammlung eines Großonkels nebſt einigen andern Werken ver -35546ſchleppt habe, natürlich ohne es zu verſtehen, nur weil die ſchön vergoldete Pergamentdecke ihn gereizt. Einige Zeit hernach habe von ungefähr ein Kenner es bei ihm erblickt und es für einen außerordentli - chen Schatz erklärt; hiedurch ſey er auf den Inhalt neugierig worden, um ſo mehr, da ſeine Neigung zu Schauſpielen und Tragödien ſchon damals bis zur Wuth entzündet geweſen. Nun habe er der Roſe - monde der unbekannten Geliebten zu Gefallen mit wahrhaft ritterlichem Eifer ſich ſtraks dem Ita - lieniſchen ergeben, und nachdem er die Süßigkeit der Sprache erſt verſchmeckt, für gar nichts Anderes mehr Aug und Ohr gehabt, in Kurzem auch, ein Zweiter Almachilde (ſo hieß Roſemondens Liebhaber und Retter), der armen Königstochter ſich völlig be - mächtigt.

War aber dieſes Stück, als ein verehrter Zeuge der ſchönen Kindheit des tragiſchen Theaters der Ita - liener ſchon an und für ſich merkwürdig genug, ſo ſezte ſich nun unſer Cirkel, des Mannes eingedenk, von dem es herkam, mit einer Art von Andacht zu dem Trauerſpiel, wiewohl es während des Leſens und Verdeutſchens an munteren Bemerkungen nicht fehlte, entweder weil die Ueberſetzung zuweilen ſtocken wollte, oder weil man nicht umhin konnte, die im Ganzen herrliche Charakteriſtik in der Dichtung mitunter et - was hart und holzſchnittartig zu finden. Außer Agnes und Nannetten war Allen die Sprache bekannt;547 man überſezte wechſelsweiſe, am liebſten aber ſah man immer das Buch in Margots Hände zurückkehren, welche mit eigener Gewandtheit die Verſe in Proſa umlegte und meiſtens ein paar Scenen im Voraus zu Papier gebracht hatte, da denn wirklich der Aus - druck an Kraft, Erhabenheit und Rundung nichts mehr zu wünſchen übrig ließ, ſo daß man, obgleich Alles ſehr treu gegeben war, etwas ganz Neues zu hören glaubte und den Dichter in ſeiner urſprünglich gran - dioſen Natur vollkommen gerechtfertigt ſah. Dem in gewiſſer Hinſicht unbefriedigenden Schluſſe der Hand - lung half das Fräulein, einem glücklichen Fingerzeig ihres Vaters folgend, durch Einſchaltung einer kurzen Scene auf, worin die Vereinigung des liebenden Paa - res, welche der Dichter nur anzudeuten, bei ſeinem höhern Zwecke kaum für der Mühe werth gehalten, zum Troſte jedes zart beſorgten Leſers klärlich moti - virt war. Man bedauerte nur, mit der Lektüre ſo ſchnelle fertig geworden zu ſeyn, und weil Jedermanns Ohr nun ſchon von den ſüdlichen Klängen gereizt und hingeriſſen war, ſo brachte der Präſident einen italie - niſchen Novelliſten hervor, indeſſen der Maler gereimte Gedichte gern vorgezogen hätte, aus einem Grunde zwar, den er nicht allzu lebhaft geltend machen wollte: er war entzückt, wie Margot Verſe las; er glaubte einen ſolchen Wohllaut kaum je von Eingeborenen ge - hört zu haben, und wenn es manchen Perſonen als ein liebenswürdiger Fehler angerechnet wird, daß ſie548 das r nur gurgelnd ausſprechen können, wie denn dieß eben bei dem Fräulein der Fall war, ſo ſchien dieſe Eigenthümlichkeit der Anmuth jenes fremden Idioms noch eine Würze weiter zu verleihen. Agnes ent - ging es nicht, mit welchem Wohlbehagen Freund Theo - bald am Munde der Leſerin hing, allein auch ſie vermochte demſelben Zauber nicht zu widerſtehen.

Ueberhaupt lernten die Mädchen nach und nach immer neue Talente an dieſer Margot kennen; das Meiſte brachte nur der Zufall an den Tag, und weit entfernt, es auf eine falſche Beſcheidenheit anzulegen, oder im Gefühl ihrer Meiſterſchaft den Unkundigen gegenüber die Unterhaltung über gewiſſe Gegenſtände vornehm abzulehnen, theilte ſie vielmehr die Haupt - begriffe ſogleich auf die einfachſte Weiſe mit und machte durch die Leichtigkeit, womit ſie Alles behandelte, den Andern wirklich glauben, daß das ſo ſchwere Sachen gar nicht wären, als es im Anfang ſchien; ſogar legte ſie einmal das liebenswürdige Geſtändniß ab: Wir Frauen, wenn uns der Fürwitz mit den Wiſ - ſenſchaften plagt, krebſen mitunter bloß, wenn wir zu fiſchen meinen, und freilich iſt es dann ein Troſt, daß es den Herren Philoſophen zuweilen auch nicht beſſer geht. Sehn Sie aber, rief ſie aus und ſchob die ſpaniſche Wand zurück, die in der Ecke ihres Zim - mers einen großmächtigen Globus verbarg, ſehn Sie, das bleibt denn doch eine Lieblingsbeſchäftigung, wo man auf ſicherem Grund und Boden wandelt. 549Der Vater hat mich drauf geführt, er ließ die hohle hölzerne Kugel mit Gyps und feiner Farbe weiß über - ziehen, ich zeichne die neueſten Charten darauf ab und mache ohne Schiff und Wagen mit Freuden nach und nach die Reiſe durch die ganze Welt. Die Eine Hälfte wird bald fertig ſeyn, und hier die neue Welt ſteigt auch ſchon ein wenig aus dem leeren Ocean. Agnes bewunderte die Schönheit und Genauigkeit der Zeich - nung, die zierliche Schrift bei den Namen, die breit lavirte Schattirung des Meers an den Küſten herun - ter; Nannette aber rief: Will man den Weibern einmal nichts Anderes laſſen, als das beliebte Nähen, Stricken, Bandmalen oder Sticken, und was damit verwandt ſeyn mag, ſo ſollte man mir gegen eine Arbeit wie dieſe, wenn ich es je bis dahin brächte, die Naſe wahrhaftig nicht rümpfen, denn die Strickerin wollt ich doch ſehen, die ſchönere Maſchen und künſtlichere Filets vorweiſen könnte, als Sie, mein Fräulein, hier bei dieſen Linien und Graden gemacht haben!

Sofort erklärte Margot Dieß und Jenes, und wenn gleich Nannette immer Diejenige war, welche die Sachen am begierigſten auffaßte, am ſchnellſten begriff, und am beſten zu ſchmeicheln verſtand, ſo blieb doch Margots Aufmerkſamkeit, obwohl nicht unmit - telbar, denn ſie fürchtete durch eine direkte und vor - zugsweiſe Belehrung Agneſen zu verletzen, dennoch am erſten auf dieſe gerichtet. Ueberhaupt hatte ihre Neigung zu dem ſtillen Mädchen etwas Wunderbares,550 man darf wohl ſagen, Leidenſchaftliches. Man ſah ſie, zumal auf dem Spaziergange, nicht leicht neben Agnes, ohne daß ſie einen Arm um ſie geſchlagen, oder die Finger in die ihrigen hätte gefaltet gehabt. Zuwei - len machte dieſe Innigkeit, dieß unbegreiflich zuvor - kommende Weſen das anſpruchloſe Kind recht ſehr verlegen, wie ſie ſich zu benehmen, wie ſie es zu er - wiedern habe.

Inzwiſchen hatte man die Nachbarſchaft des Guts ziemlich kennen gelernt, die Stadt ohnehin ſchon mehr - mals beſucht. Unter Anderm rief Theobalden die Publikation des Larkens’ſchen Teſtaments dahin. Es fand ſich ein bedeutendes Vermögen. Ohne alle Rückſicht auf entferntere Familienglieder (nähere aber lebten überall nicht mehr), hatte der Verſtorbene vor - erſt einige öffentliche Beneficien, zumal für ſeinen Ge - burtsort geſtiftet; ſodann betrafen einzelne Legate nur eine kleine Zahl von Freunden, darunter eine Dame, deren Name und Charakter außer dem Maler Nie - mand erfuhr. Der Leztere ſelbſt und ſeine Braut waren keineswegs vergeſſen. Bemerkenswerth iſt die ausdrückliche Verfügung des Schauſpielers, daß Nie - mand ſich beigehen laſſen ſolle, ſein Grab gleich - gültig übrigens wo es ſey auf irgend eine Weiſe ehrend auszuzeichnen.

Am Abende deſſelben Tags, da dieſe Dinge in der Stadt bereinigt werden mußten, gab ein Koncert, von welchem alle Freunde der Muſik lange vorher551 mit großer Erwartung geſprochen, einen höchſt ſelte - nen Genuß. Es war der Händel’ſche Meſſias. Der Maler, dem ein hieſiger Aufenthalt oft eine Art von Ueberwindung koſtete, weil er ſich eine reine Todten - trauer durch unvermeidliche Zerſtreuungen faſt jedes Mal vereitelt und zerſplittert ſah, fand heute in dem frommen Geiſt eines der herrlichſten Tonſtücke den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen, mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend un - mittelbar in den Muſikſaal eintrat. Er hatte ſich et - was verſpätet und mußte ganz entfernt von ſeiner Geſellſchaft, in einer der hinterſten Ecken ſich mit dem beſcheidenſten Platze begnügen, den er jedoch mit aller Wahl nicht beſſer hätte treffen können. Denn ihn verlangte herzlich, die ſüße Wehmuth dieſer Stunde bis auf den lezten Tropfen rein für ſich auszuſchöpfen, er ſehnte ſich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen den ganzen Buſen ohne Schonung Preis zu geben. Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzim - mern (der Präſident war dießmal nicht dabei) im ſchönſten Mondenſchein nach Hauſe. Es hatte jenes Meiſterwerk dermaßen auf Alle gewirkt, daß es in der erſten Viertelſtunde, wo ſie ſich wieder im Gefährt befanden, beinahe ausſah, als hätte man ein Gelübde gethan, auf alles und jedes Geſpräch darüber zu ver - zichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt es dem theuren Larkens faſt ausſchließlich. Das Fräulein offenbarte ſich bei der Gelegenheit zum Er -552 ſtenmal entſchiedener von Seiten des Gefühls, was wenigſtens dem Maler gewiſſermaßen etwas Neues war, da es ihn manchmal däuchte, als ſtünde dieſe Eigenſchaft bei ihr unter einer etwas zu ſtrengen und jedenfalls zu ſehr bewußten Vormundſchaft des mäch - tigern Verſtandes. Das Wahre aber iſt: Margot verbot ſich, bei aller übrigen Lebendigkeit, von jeher den kecken Ausdruck tieferer Empfindung, vielmehr er verbot ſich von ſelber bei ihr, da ſie ihr Lebenlang nie einen Umgang gehabt, wie ihn das Herz bedurfte. Es wäre nicht leicht zu bezeichnen, was es eigentlich war, das einem ſo trefflichen Weſen von Kindheit an die Gemüther der Menſchen, oder doch ihres Ge - ſchlechts, entfremden konnte. In der That aber, ſo wenig kannte ſie das Glück der Freundſchaft, daß ſie ihre eigene Armuth auch nur dunkel empfand, und daß ihr von dem Augenblick ein durchaus neues Le - ben, ja ein ganz anderes Verſtändniß ihrer ſelbſt auf - gegangen zu ſeyn ſchien, da ſie in Agneſen vielleicht die erſte weibliche Kreatur erblickte, welche ſie von Grund des Herzens lieben konnte und von der ſie wieder geliebt zu werden wünſchte. Nolten las heute recht in ihrer Seele, obgleich auch jezt noch ihre Worte etwas Gehaltenes und Aengſtliches be - hielten, ſo daß ſie, was niemals erhört geweſen, mit - ten in der Rede ein paarmal ſtockte, oder gar abbrach.

Zu Hauſe angekommen, glaubten Alle aus der lichten Wolke eines frommen und lieblichen Traumes553 unvermuthet wieder auf die platte Erde zu treten, doch fühlte Jedes im ſanft und freudig bewegten In - nern, daß dieſer Abend nicht ohne bedeutende Spuren, ſowohl in dem Verhältniß zu einander als im Leben des Einzelnen werde bleiben können.

Der Präſident nahm dieſer Tage eine Reiſe vor, und in Geſchäften, wie er ſagte; doch eigentlich war ſeine Abſicht, dem bevorſtehenden Geburtsfeſte ſeiner Frau auszuweichen. Der Maler mit den Mädchen war Anſtands halber gleichfalls geladen und dieſe Höflichkeit mußte angenommen werden. Der Präſi - dent war ſchon fort, als die Botſchaft einlief, die Feier unterbleibe wegen Unpäßlichkeit der Frau. Ver - muthlich lag nur eine Empfindlichkeit gegen den Gat - ten zu Grunde. Margot indeß fuhr am Morgen allein nach der Stadt, verhieß jedoch, am Abend wie - der hier zu ſeyn. So blieben unſre Leute einen vol - len Tag ſich ſelbſt überlaſſen, was zur Abwechslung vergnüglich genug ſchien. Sie konnten ſich ſo lange als die Herren dieſer Beſitzung denken; Nannettens roſenfarbener Humor erfreute ſich einmal wieder des freieſten Spielraums, ſelbſt Agnes behauptete, ſo be - hagliche Stunden in langer Zeit nicht mehr gelebt zu haben, Nolten bemühte ſich zum wenigſten, einen unzeitig auf ihm laſtenden Ernſt zu verläugnen. Nach Tiſche ſchickten ſich die Mädchen an, Briefe nach Haus554 zu ſchreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hin - terlaſſener Schriften ſeines Freundes in den Garten.

Es war ein ſchwüler Nachmittag. Nolten trat in ein ſogenanntes Labyrinth. So heißen bekannt - lich in der alt-franzöſiſchen Gartenkunſt gewiſſe plan - mäßig, aber ſcheinbar willkürlich in einander geſchlun - gene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher ſich ſchwer wieder finden läßt, wenn man erſt eine Strecke weit in’s Innere gedrungen iſt, weil die grü - nen, meiſt ſpiralförmig um einander laufenden und durch unzählige Zugänge unter ſich verbundenen Ge - mächer faſt alle einander gleichen. Die Wege ſind ſehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Scheere geſchnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen. Der Maler ſchritt in dieſen angenehmen Schatten, ſeinen Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und nachdem er lange vergeblich auf das Centrum zu tref - fen gehofft hat, verfolgt er endlich eine beſtimmte Rich - tung und gelangt auch bald in ein größeres rundes Gemach, worauf die verſchiedenen Wege von allen Seiten zuführen; es iſt oben bis auf eine ſchmale Oeffnung überwölbt, und dieſe ſanfte Dämmerung, die Einſamkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen einer Fliege die tiefe ſüße Mittagſtille unterbrach, Alles ſtimmte vollkommen zu den Gefühlen unſeres Freundes. Er ſezte ſich auf eine Bank und ſchlug die Mappe auf. Verſchiedene Aufſätze fanden ſich da, meiſtens perſönlichen Inhalts, Poeſien, kleine Diarien,555 abgeriſſene Gedanken. Sehr viel ſchien ſich auf Theo - bald ſelbſt zu beziehen, Anderes war durchaus un - verſtändlich, auf frühere Lebensepochen hindeutend. Beſonders anziehend aber war ein dünnes Heft mit kleinen Gedichten, faſt lauter Sonnette an L., ſehr ſauber geſchrieben. Nolten errieth, wem ſie galten; denn der Verſtorbene hatte ihm ſelbſt von einer frü - hen Liebe zu der Tochter eines Geiſtlichen geſprochen. Es war Allem nach ein höchſt vortreffliches Mädchen, das in der ſchönſten Jugend geſtorben. Wahrſchein - lich fiel das Verhältniß in den Anfang von Larkens’s Univerſitätsjahren; wie heilig ihm aber noch in der ſpäteſten Zeit ihr Andenken geweſen, erkannte Theo - bald theils aus der Art, wie Larkens ſich darüber äußerte (er ſprach ganz ſelten und auch dann nie ohne Rückhalt von der Sache), theils auch aus an - dern Zeichen, die er erſt jezt verſtand. So lag z. B. in den zierlich geſchriebenen Blättern ein hochrothes Band mit ſchmaler Goldverbrämung, das der Schau - ſpieler von Zeit zu Zeit und, wie Nolten ſich beſtimmt erinnerte, immer nur an Freitagen, unter der Weſte zu tragen pflegte; der Maler legte die Gedichte zu - rück, um ſie ſpäter mit Agnes zu genießen. Jezt aber ward er durch die Aufſchrift einiger andern Bo - gen auf’s Aeußerſte frappirt und eigentlich erſchreckt. Peregrinens Vermählung mit *. Eine Note am Rand ſagte deutlich, wer gemeint war; er blätterte und entdeckte im Ganzen eine unſchuldige Phantaſie556 über ſeine frühere Berührung mit Eliſabeth. Von jeher war es dem Schauſpieler gewohntes Be - dürfniß geweſen, Alles, was ihn auf längere oder kür - zere Zeit intereſſirte, die Eigenthümlichkeiten ſeines nächſten Umgangs, das ganze Leben mancher Freunde, durch Zuthat ſeiner Einbildung mit einem magiſchen Firniß aufzuhöhen, ſich näher zu bringen und ſo Alles auf zweifache Art zu genießen. Er trieb dieſen idea - len Unterſchleif nicht leicht in ſolchem Maße, daß ihm dadurch die natürliche Anſicht von Dingen und Per - ſonen verrückt oder unſchmackhaft geworden wäre, er beurtheilte namentlich Theobalds Weſen bei alle dem auf die nüchternſte Weiſe und pflegte jener phan - taſtiſchen Neigung ſo wenig auf Koſten der Freund - ſchaft, daß er vielmehr mit ängſtlicher Sorgfalt Alles und Jedes vor ihm verſteckte, was auf die Geſund - heit ſeines Gemüths irgend nachtheilig von dorther hätte wirken können. So ließ er ſich denn insbeſon - dere von ſeiner Vorliebe für Eliſabeth nichts gegen Theobald merken. Er beſchäftigte ſich lange Zeit mit dem Schickſale dieſer Perſon, doch außer den ge - treu nach der Wahrheit verfaßten Memoiren, welche der Leſer längſt kennt, kam Nolten keine Zeile von den dahin einſchlagenden Verſuchen zu Geſicht. Ohne Zweifel hatte Larkens einmal die Abſicht gehabt, die Geſchichte mit der Zigeunerin für ſich zu erweitern und in’s Fabelhafte hinüber zu ſpielen; dasjenige, was der Maler in Händen hielt, waren theils Finger -557 zeige zu Gedichten, theils ausgeführte Stücke, welche in loſer und ſchwebender Verknüpfung, wie es der mythiſchen Kompoſition angemeſſen ſchien, zulezt einen gewiſſen Lebenskreis erſchöpfen ſollten. Freilich ge - ſchah dieſe wunderliche Amplifikation der an ſich ſchon wunderbaren Thatſachen mehr in ſeiner eignen als Noltens Sinnesweiſe. Der Maler konnte ſich an der Fiktion als ſolcher ergötzen, doch brachte dieſe Reihe von ſeltſamen Bildern alsbald eine ſolche Be - klemmung, Unruhe und Schwere über ihn, daß er die Blätter mehr als Einmal ungeduldig wegwarf.

Indem hier einige Stücke ausgehoben werden mögen, iſt zum Verſtändniß des erſten Gedichts ei - ner Randbemerkung zu erwähnen, wodurch auf eine gewiſſe Zeichnung hingewieſen wird, welche von Nol - ten zur Zeit, als er die Schule zu ** beſuchte, ent - worfen, Eliſabeths Geſtalt in aſiatiſchem Coſtume, mit Scenerie im ähnlichen Geſchmack, darſtellte; ſpä - ter ſah Larkens das Blatt und bat ſich’s aus, doch lag es nicht hier bei.

Die Hochzeit.
Aufgeſchmückt iſt der Freudenſaal;
Lichterhell, bunt, in laulicher Sommernacht
Stehet das offene Gartengezelte;
Säulengleich ſteigen,
558
Reichlich durchwirket mit Laubwerk,
Die ſtolzen Leiber
Sechs gezähmter, rieſiger Schlangen,
Tragend und ſtützend das
Leicht gegitterte Dach.
Aber die Braut noch wartet beſcheiden
In dem Kämmerlein ihres Hauſes.
Endlich bewegt ſich der Zug der Hochzeit,
Fackeln tragend,
Feierlich ſtumm.
Und in der Mitte,
Mich an der linken Hand,
Schwarzgekleidet geht einfach die Braut;
Schöngefaltet ein Scharlachtuch
Liegt um den zierlichen Kopf geſchlagen,
Lächelnd geht ſie dahin;
Das Mahl ſchon duftet.
Später, im Lärmen des Feſts,
Stahlen wir ſeitwärts uns Beide
Weg, nach den Schatten des Gartens wandelnd,
Wo im Gebüſche die Roſen brannten,
Wo der Mondſtrahl um Lilien zuckte,
Wo die Bäume vom Nachtthau trofen.
Und nun ſtrich ſie mir, ſtilleſtehend,
Seltſamen Blicks mit dem Finger die Schläfe:
Jählings verſank ich in tiefen Schlummer.
Aber geſtärkt vom Wunderſchlafe
Bin ich erwacht zu glückſeligen Tagen,
Führte die ſeltſame Braut in mein Haus ein.
Warnung.
Der Spiegel dieſer treuen braunen Augen
Iſt wie von innrem Gold ein Widerſchein;
559
Tief aus dem Buſen ſcheint er’s anzuſaugen,
Dort mag ſolch Gold in heil’gem Gram gedeihn.
In dieſe Nacht des Blickes mich zu tauchen,
Unſchuldig Kind, du ſelber lädſt mich ein,
Willſt, ich ſoll kecklich dich und mich entzünden
Reichſt lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!
Scheiden von Ihr.
Ein Irrſal kam in die Mondſcheinsgärten
Einer einſt heiligen Liebe,
Schaudernd entdeckt ich verjährten Betrug;
Und mit weinendem Blick, doch grauſam
Hieß ich das ſchlanke,
Zauberhafte Mädchen
Ferne gehen von mir.
Ach, ihre hohe Stirn,
Drin ein ſchöner, ſündhafter Wahnſinn
Aus dem dunkelen Auge blickte,
War geſenkt, denn ſie liebte mich.
Aber ſie zog mit Schweigen
Fort in die graue,
Stille Welt hinaus.
Von der Zeit an
Kamen mir Träume voll ſchöner Trübe,
Wie geſponnen auf Nebelgrund,
Wußte nimmer, wie mir geſchah,
War nur ſchmachtend, ſeliger Krankheit voll.
Oft in den Träumen zog ſich ein Vorhang
Finſter und groß in’s Unendliche,
Zwiſchen mich und die dunkle Welt.
Hinter ihm ahnt ich ein Haideland,
Hinter ihm hört ich’s wie Nachtwind ſauſen;
560
Auch die Falten des Vorhangs
Fingen bald an, ſich im Sturme zu regen,
Gleich einer Ahnung ſtrich er dahinten,
Ruhig blieb ich und bange doch,
Immer leiſer wurde der Haideſturm
Siehe, da kam’s!
Aus einer Spalte des Vorhangs guckte
Plötzlich der Kopf des Zaubermädchens,
Lieblich war er und doch ſo beängſtend.
Sollt ich die Hand ihr nicht geben
In ihre liebe Hand?
Bat denn ihr Auge nicht,
Sagend: da bin ich wieder
Hergekommen aus weiter Welt!
Und wieder.
Die treuſte Liebe ſteht am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, verlaſſen, unbeſchuht,
Dieß kranke Haupt hat nicht mehr wo es ruht,
Mit ihren Thränen nezt ſie bittre Wunden.
Ach, Peregrinen hab ich ſo gefunden!
Wie Fieber wallte ihrer Wangen Gluth,
Sie ſcherzte mit der Frühlings-Stürme Wuth,
Verwelkte Kränze in das Haar gewunden.
Wie? Solche Schönheit konnt ich einſt verlaſſen?
So kehrt nun doppelt ſchön das alte Glück!
O komm! in dieſe Arme dich zu faſſen!
Doch wehe! welche Miene, welch ein Blick!
Sie küßt mich zwiſchen Lieben, zwiſchen Haſſen,
Und wendet ſich und kehrt mir nie zurück.
561

Wie ſonderbar iſt Nolten von dieſer Schilde - rung ergriffen! wie lebhaft erkennt er ſich und Eli - ſabeth ſelbſt noch in einem ſo bunt ausſchweifenden Gemälde! und dieſe Wehmuth der Vergangenheit, wie vielfach iſt ſie bei ihm gemiſcht! Mechaniſch ſteht er endlich auf und läßt ſich von der träumeriſchen Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang wil - lenlos hin und wieder ziehen. So lieblich war die ſchmerzhafte Betäubung ſeiner Seele, ſo ſehr hat er ſich in den Wundergärten der Einbildung vertieft, daß, als er nun ganz unvermuthet ſich am Ausgange des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zu - rückgegeben ſah, dieß ihm das unbehaglichſte Erwachen war. Mit verdüſtertem Kopfe ſchleicht er nun da und dort umher, und als endlich Agnes mit unter - gehender Sonne, vergnügt vom Schreibtiſche kommend, nach dem Geliebten ſuchte, fand ſie ihn einſam auf dem Kanapee des großen Gartenhauſes. Sie ſehnte ſich nach friſcher Abendluft, nach dem erholenden Ge - ſpräch. Kaum waren einige Gänge gemacht, ſo hör - ten ſie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog herwärts. Der Gärtner, welcher dieſe ſchwülen Tage her immer nach Regen geſeufzt, lief jezt und Henni hinterdrein mit ſchnellen Schritten nach Frühbeet und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel über den kommenden Segen, dem ein paar Windſtöße kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das hölzerne Dach des Belvedere getreten; Nannette36562trug einige Stühle hinaus. Sie bemerkten ein zwie - faches Wetter, davon die Hauptmacht vorne nach der Stadt zu lag, ein ſchwächeres ſpielte im Rücken des Schloſſes. Die ganze Gegend hat ſich ſchnell vernach - tet. Da und dort zucken Blitze, der Donner kracht und wälzt ſeinen Groll mit Majeſtät fernab und weckt ihn dort auf’s Neue mit verſtärktem Knall. Auf der Ebene unten ſcheint es ſchon herzhaft zu regnen. Hier oben herrſcht noch eine dumpfe Stille, kaum hört man einzelne Tropfen auf dem nächſten Kaſtanienbaum aufſchlagen, der ſeine breiten Blätter bis an das Ge - länder des Altans erhebt. Jezt aber rauſcht auch hier der Segen mächtig los. Ein ſolcher Aufruhr der Natur pflegte den Maler ſonſt wohl zu einer muthigen Fröhlichkeit emporzuſpannen; auch jezt hing er mit Wolluſt an dem kühnen Anblicke des feurig aufgeregten Elements, doch blieb er ſtille und in ſich gekehrt. Agnes verſtand ſeinen Kummer und leiſe nannte ſie einige Mal den Namen Larkens, doch konnte ſie dem Schweigenden nicht mehr als ein Seuf - zen entlocken.

Der Himmel hatte ſich erſchöpft, der Regen hörte auf, hie und da traten die Sterne hervor. Die an - genehme Luft, das Tropfen der erquickten Bäume, ein ſanftes Wetterleuchten am dunkeln Horizont machte die Scene nun erſt recht einladend. Die junge Schwä - gerin, nach ihrer unſteten Art, war indeß weggelau - fen, um mit des Fräuleins Zofe zu kurzweilen, einer563 muntern Franzöſin, in der ſie einen unerſchöpflichen Schatz von Geſchichten und Späßen, eine wahre Adels - chronik entdeckt hatte. Agnes bemühte ſich, in Nol - tens Gedanken einzugehn, ſein Schweigen tröſtlich aufzulöſen. Sie erinnerte ſich jener Worte, welche der Maler im erſten Schmerz auf die entſetzliche To - desnachricht im Gaſthof etwas vorſchnell gegen ſie hatte fallen laſſen, wornach ſie ſich dem Todten auf eine beſondere Weiſe perſönlich verpflichtet glauben mußte. Ihre Fragen deßhalb hatte Nolten nachher nur ausweichend und ſo allgemein wie möglich beant - wortet, auch dießmal ging er ſchnell darüber hin und ſie beharrte nicht darauf. Nun aber ſprach ſie über - haupt ſo ruhig, ſo verſtändig von dem Gegenſtand, aus ihren einfachen Worten leuchtete ſo ein reines und ſicheres Urtheil über die innerſte Geſtalt jenes verunglückten Geiſtes hervor, daß Theobald ihr mit Verwunderung zuhörte. Zugleich that ſie ihm aber weh, in aller Unſchuld. Denn freilich mußte ſich in einem weiblichen Gemüth, auch in dem liebevollſten, die Denk - und Handlungsweiſe eines Mannes wie Larkens, nach ihrem lezten ſittlichen Grunde, um gar viel anders ſpiegeln als in den Augen ſeines näch - ſten Freundes, und Nolten konnte im Räſonnement des Mädchens, wie zart und herzlich es auch war, doch leicht etwas entdecken, wodurch er dem Verſtor - benen zu nah getreten ſah, ohne daß er Agneſen auf ihrem Standpunkt zu widerlegen hoffen, ja dieſes564 auch nur wagen durfte. Du kennſt, du kennſt ihn nicht! rief er zulezt mit Eifer aus, es iſt unmög - lich! O daß er dir nur Einmal ſo erſchienen wäre, wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erſchien, du würdeſt einen andern Maßſtab für ihn finden, viel - mehr du würdeſt jedes hergebrachte Maß unwillig auf die Seite werfen. Ja, liebſtes Herz (er ſtockte, ſich beſinnend, dann rief er ungeduldig:) Warum es dir verhalten? was ängſtigt mich? O Gott, bin ich es ihm nicht ſchuldig? Du ſollſt, Agnes, ich will’s, du mußt ihn lieben lernen! dieß iſt der Augenblick, um dir das rührendſte Geheimniß aufzudecken. Du biſt gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jezt, ver - ſteh mich Liebſte, jezt, da wir uns ganz ſo ſelig ungetheilt beſitzen, nicht mehr erſchrecken kann. Wie? hat denn das Gewitter, das mit entſetzlichen Schlä - gen noch eben jezt erſchütternd ob deinem Haupte ſtand, uns etwas Anderes zurückgelaſſen, als den er - hebenden Nachhall ſeiner Größe, der noch durch deine erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren gött - licher Fruchtbarkeit? die ſüße, rein verkühlte Luft? Wir können vom Vergangenen gelaſſen reden, ohne Furcht, daß es deßhalb mit ſeiner alten Pein auf’s Neue gegen uns aufſtehen werde. Wär es nur Tag, nun würde rings die Gegend vom tauſendfachen Glanz der Sonne widerleuchten! Doch, ſey es immer Nacht! Mit tiefer Wehmuth weihe ſie ein jedes meiner Worte, wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn565 ich längſt heimgeſchickte Stürme vom ſichern Hafen der Gegenwart aus anbetend ſegne, hier an deiner Seite, du Einzige, du Theure, ach ſchon zum zweiten Mal und nun auf Ewig Mein-Gewordene! Ja, in den ſeligen Triumph ſo ſchwer geprüfter Liebe miſche ſich die ſanfte Trauer um den Freund, der uns du wirſt es hören zu dieſem ſchönen Ziel gelei - tet hat.

Agnes! nimm dieſen Kuß! gib ihn mir zu - rück! Er ſey ſtatt eines Schwurs, daß unſer Bund ewig und unantaſtbar, erhaben über jeden Argwohn, in deinem wie in meinem Herzen ſtehe, daß du, was ich auch ſagen möge, nicht etwa rückwärts ſorgend, dir den rein und hell gekehrten Boden unſrer Liebe verſtören und verkümmern wolleſt.

Ein Anderer an meinem Platz würde mit Schwei - gen und Verhehlen am ſicherſten zu gehen glauben, mir iſt’s nicht möglich, ich muß das verachten, o und nicht wahr? meine Agnes wird mich verſtehen! Was ich von eigner Schuld zu beichten habe, kann in den Augen des gerechten Himmels ſelbſt, ich weiß das ſicher, den Namen kaum der Schuld verdienen; und doch, ſo leicht wird die rechtfertige Vernunft von dem ſchreckhaften Gewiſſen angeſteckt, daß noch in tauſend Augenblicken und eben dann, wenn ich den Himmel deiner Liebe in vollen Zügen in mich trinke, am grau - ſamſten, mich das Gedächtniß meines Irrthums, wie eines Verbrechens befällt. Ja, wenn ich anders mich566 ſelbſt recht verſtehe, ſo iſt’s am Ende nur dieſe ſon - derbare Herzensnoth, was mich zu dem Bekenntniß unwiderſtehlich treibt. Ich kann nicht ruhn, bis ich’s in deiner liebevollen Bruſt begraben, bis ich durch deinen Mund mich freudig und auf immer losgeſpro - chen weiß.

Der Maler wurde nicht gewahr, wie dieſer Ein - gang ſchon die Arme innig beben machte. In weni - gen, nur ſchnell hervorgeſtoßenen Sätzen war endlich ein Theil der unſeligen Beichte heraus. Aber das Wort erſtirbt ihm plötzlich auf der Zunge. Vollende nur! ſagt ſie mit ſanftem Schmeichelton, mit künſtli - cher Gelaſſenheit, indem ſie zitternd ſeine Hände bald küßt, bald ſtreichelt. Er ſchwankt und hängt beſin - nungslos an einem Abſturz angſtvoll kreiſender Ge - danken, er kann nicht rückwärts, nicht voran, unwider - ſtehlich drängt und zerrt es ihn, er hält ſich länger nicht, er zuckt und läßt ſich fallen. Nun wird ein jedes Wort zum Dolchſtich für Agneſens Herz. Otto die unterſchobenen Briefe die Verirrung zu der Gräfin Alles iſt herausgeſagt, nur die Zi - geunerin, iſt er ſo klug, völlig zu übergehn.

Er war zu Ende. Sanft drückt er ihre Hand an ſeinen Mund; ſie aber, ſtumm und kalt und ver - ſteinert, gibt nicht das kleinſte Zeichen von ſich.

Mein Kind! o liebes Kind! ruft er, hab ich zu viel geſagt? hab ich? Um Gotteswillen, rede nur ein Wort! was iſt dir?

567

Sie ſcheint nicht zu hören, wie verſchloſſen ſind all ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen, wie ſonderbar ein wiederholtes Grauſen durch ihren Körper gießt. Dabei murmelt ſie nachdenklich ein unverſtändliches Wort. Nicht lang, ſo ſpringt ſie heftig auf O unglückſelig! unglückſelig! ruft ſie, die Hände über’m Haupt zuſammenſchlagend, und ſtürzt, den Maler weit weg ſtoßend, in das Haus. Vor ſeinem Geiſte wird es Nacht er folgt ihr langſam nach, ſich ſelbſt und dieſe Stunde verwünſchend.

Margot kam erſt den andern Vormittag zurück von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende Verſtimmung unter ihren Gäſten ſogleich wahrnehmen zu müſſen. Beſcheiden forſchte ſie bei Nannetten, doch dieſe ſelbſt war in der bängſten Ungewißheit. Agnes hielt ſich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menſchen ſehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet ſie an - gekleidet auf dem Bett, den Bleiſtift in der Hand, ſinnend und ſchreibend. Sie iſt ſehr wortarm, nach allen Theilen wie verwandelt, ihr Ausſehn dergeſtalt verſtört, daß Margot im Herzen erſchrickt und ſich gerne wieder entfernt, nicht wiſſend, was ſie denken ſoll. Nannette beſtürmt den Bruder mit Fra - gen, er aber zeigt nur eine ſtill in ſich knirſchende Verzweiflung. Zu deutlich ſieht er die ganze Gefahr568 ſeiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz des Mädchens aus tauſend alten Wunden blutet, die ſeine Unbeſonnenheit aufriß: und nun ſoll er da ſtehn, unthätig, gefeſſelt, ſie rettungslos dem fürchterlichen Wahne überlaſſend? er ſoll die Thüre nicht augenblick - lich ſprengen, die ihn von ihr abſperrt! Einmal über’s andre ſchleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht aufgethan. Zulezt erhält er ein Billet von ihr durch ſeine Schweſter; der Inhalt gibt ihm zweideutigen Troſt; ſie bittet vor der Hand nur Ruhe und Ge - duld von ihm. Sie ſey, hinterbrachte Nannette, mit einem größeren Briefe beſchäftigt, geſtehe aber nicht, an wen er gehe.

Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls die Feder zu ergreifen. Er bietet Allem auf, was ruhige Vernunft und was die treuſte Liebe mit herz - gewinnenden Tönen in ſolchem äußerſten Falle nur irgend zu ſagen vermag. Dabei ſpricht er als Mann zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit ſanftem Vorwurf an ihr Gewiſſen und ſchickt jedwedem leiſen Tadel die kräftigſten Schwüre, die rührendſten Klagen verkannter Zärtlichkeit nach.

Am Abend kam der Präſident. Zum Glück traf er ſchon etwas hellere Geſichter, als er vor wenig Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen hatten dem Maler berichtet: Agnes ſey ruhig, an - redſam und freundlich und habe nur gebeten, daß man ſie heute noch ſich ſelber überlaſſe; es ſey ihr vor,569 vielmehr, ſie wiſſe ſicher und gewiß, daß dieſe Nacht ſich Alles bei ihr löſen werde.

Der Präſident, der Manches zu erzählen wußte, bemerkte etwas von Zerſtreuung in den Mienen ſeiner Zuhörer und vermißte Agneſen. Schon gut, gab er Nolten mit Lächeln zur Antwort, als dieſer ihm nur leichthin von einem kleinen Verdruſſe ſprach, den er ſich zugezogen, recht ſo! das iſt das unentbehr - lichſte Ferment der Brautzeit, das macht den ſüßen Moſt etwas recent. Der Wein des Eheſtands wird Ihnen dadurch um nichts ſchlimmer gerathen.

Das Abendeſſen war vorbei. Man merkte nicht, wie ſpät es bereits geworden. Die beiden Herren ſaßen im Diskurs auf dem Sopha. Nannette und Margot laſen zuſammen in einem kleinen Kabinet, das nur durch eine Thür von dem Zimmer geſchieden war, wo Agnes ſchlief.

Die Unterhaltung der Männer gerieth indeß auf einen ſeltnen Gegenſtand. Der Präſident nämlich hatte gelegentlich von einem üblen Streich geſprochen, den ihm der Aberglaube des Volks und die Liſt eines Pachters hätte ſpielen können. Es handelte ſich um ein ſehr wohlerhaltenes Wohnhaus auf einem Bau - ernhofe, den er, als Beſtandherr, noch geſtern einge - ſehn. Das Haus war wegen Spuckerei verrufen, ſo daß Niemand mehr drin wohnen wollte. Der kluge Pachter ſah ſeinen Vortheil bei dieſer Thorheit, er hatte dem Gebäude längſt eine andere Beſtimmung570 zugedacht, die der Präſident nicht zugeben konnte, und nährte deßhalb unter der Hand die Angſt der Bewoh - ner. Mit ſehr vieler Laune erzählte nun Jener, auf welche Art er die Köpfe ſammt und ſonders zu - recht geſezt und wie er die ganze Sache niedergeſchla - gen. Dieß gab ſofort Veranlaſſung, den Glauben an Erſcheinungen, in wie weit Vernunft und Erfahrung dafür und dagegen wären, mit Lebhaftigkeit zu beſpre - chen. Der Maler fand es durchaus nicht wider die Natur, vielmehr vollkommen in der Ordnung, daß manche Verſtorbene ſich auf verſchiedentliche ſinnliche Weiſe den Lebenden zu erkennen geben ſollten. Der Präſident ſchien dieſer Meinung im Herzen weit we - niger abhold zu ſeyn, als er geſtehen wollte; vielleicht auch war ihm nur darum zu thun, das Intereſſe des Geſprächs durch Widerſpruch zu ſteigern.

Ich will Ihnen doch, ſagt er endlich, eine kleine Geſchichte mittheilen, für deren Wahrheit ich Bürge bin. Noch aber weiß ich ſelber nicht, für welchen von uns Beiden ſie am meiſten ſpricht.

Ich wohnte in England bei einer Verwandten, einer Wittwe ohne Kinder. Sie war mit ihrem Manne gegen den Willen Beider verheirathet worden, ſie leb - ten nur wenige Monate zuſammen und er ſtarb nach einigen Jahren im Auslande. Mein Aufenthalt in London fiel eben in die Zeit, als die ſchöne Frau ſich zum zweiten Male, und entſchieden nach Neigung mit einem reichen Kaufmann aus Deutſchland verlobte. 571Religiöſe Schwärmerei, eben dasjenige, wodurch ſie in der erſten Ehe ſo unglücklich geweſen, machte hier neben einer natürlichen Leidenſchaft das weſentliche Band der Herzen aus. Ich erinnere mich ſeiner noch ganz wohl, als eines Mannes von hoher und zugleich ſehr zarter Geſtalt, anziehend und geheimnißvoll in ſeinen Manieren. Er ging lange Zeit im Haus der Wittwe aus und ein, ſie ſollen gemeinſchaftlich die heimlichen Verſammlungen einer gewiſſen Sekte be - ſucht haben, deren Grundſätze man eigentlich nicht kannte, kurz, er war erklärter Bräutigam; aber Nie - mand begriff, warum es mit der Hochzeit nicht vor - angehn wollte, von der ſich die Familie eines der glänzendſten Feſte verſprach. Indeſſen ward er ver - anlaßt, eine ſehr weit ausſehende Reiſe in Geſchäften nach Nordamerika zu thun, und nun zweifelte man gar nicht mehr, daß er die Verbindung in der Stille werde ausgehn laſſen; man bemitleidete die Braut, die ihn jedoch ganz ruhig und getroſt ſich einſchiffen ſah, und ſo viel man bemerken konnte, bald einen lebhaften Briefwechſel mit ihm unterhielt. Ich war zugegen, als einsmals eine Kiſte mit ausgewählten Geſchenken anlangte, welche die Lady mit einem feier - lichen Wohlgefallen ausbreitete, wobei ſie mir ver - traute: es wäre dieß die Morgengabe ihres Gatten. Ich verſtand ſie nicht und ſie erklärte ſich auch nicht deutlicher. Späterhin erſt ward mir das Räthſel ge - löst. Das wunderſame Paar hatte ſich nämlich ver -572 pflichtet, die Vermählung auf eine höchſt myſteriöſe und völlig geiſtige Weiſe vollziehen zu laſſen. Indem ſie ſo viele hundert Meilen durch Land und Meer geſchieden waren, ſollte Jedes in ſeinem eignen Hauſe, zu einer und derſelben Stunde, hier zwiſchen Aufgang, dort zwiſchen Untergang der Sonne, feierlich von zwei beſondern Prieſtern eingeſegnet werden. Nachdem alſo die Braut ganz im Geheimen auf’s Feſtlichſte gekleidet und mit Blumen geſchmückt, welche man gegen die Morgendämmerung im Garten gebrochen, die halbe Nacht ſich mit Gebet auf die wichtige Handlung vor - bereitet hatte, erſchien der Geiſtliche, von dreien Glau - bensbrüdern begleitet. Ein kleiner Saal war ſparſam erleuchtet, ein Tiſch, worauf zwei Kerzen brannten, zum Altare aufgepuzt. Als nun der Geiſtliche in ſei - ner Liturgie an die Stelle kam, wo im Namen des Abweſenden mit dem Ja geantwortet werden ſollte, verlöſchte plötzlich eins der Lichter von ſelbſt, zum Er - ſtaunen der Gegenwärtigen und zum größten Schre - cken der Braut, die indeſſen dadurch getröſtet wurde, daß man ſie in dieſem Zufall ein erfreuliches Zeichen ſehen ließ; ſie richtete ſich beruhigt von ihren Knieen auf und fühlte ſich mit dem Geliebten innig und ge - heimnißvoll verbunden. Als man ſie ſofort allein ge - laſſen, beſtieg ſie, der Vorſchrift gemäß, ein hochzeit - lich verziertes, mit ſüßen Wohlgerüchen beſprengtes Lager, worin ſie den Vormittag hinter dicht verſchloß - nen Fenſterladen zubrachte. Mit was für Bildern573 ſich ihre Träume beſchäftigten, ob ſie mit dem himm - liſchen Bräutigam oder dem irdiſchen verkehrt habe, laſſ ich dahingeſtellt ſeyn wahrſcheinlich mit Bei - den zugleich, und keiner hatte ſomit Urſache zur Ei - ferſucht. Genug von dieſer tollen Ceremonie, deren raffinirt ſinnliche Heiligkeit Jeden empört. Merkwür - dig bleibt nur, daß bald nachher die Nachricht vom Tode des Kaufmanns einlief. Er war, nach kurzem Krankenlager, einige Tage vor der Hochzeit geſtorben, an welcher er, wenn man der armen Wachskerze glau - ben will, wenigſtens geiſtweiſe Theil genommen. Was halten Sie von dieſer Manifeſtation eines Abgeſchie - denen, mein lieber Maler?

Theobald lächelte und war im Begriff, zu ant - worten, als Margot und Nannette mit großer Bewegung in’s Zimmer gelaufen kamen, und haſtig ein Fenſter öffneten, das gegen die Gartenallee hin - ausſah. Um Gotteswillen, hören Sie doch, rief das Fräulein den beiden Männern zu, was für ein ſeltſamer Geſang das iſt! Während der Präſident, ganz erſtaunt, ſich mit den Mädchen ſtritt, ob die Stimme im Garten oder außerhalb deſſelben ſey, war Nolten in der Mitte des Zimmers ſprachlos ſtehen geblieben: er kannte dieſe Töne, die Ruine vom Reh - ſtock ſtand urplötzlich vor ſeinem Geiſt, ihm war, als ſchlüge das Todtenlied einer Furie weiſſagend an ſein Ohr, er zog ſeine Schweſter vom Fenſter hinweg und mit haſtig verworrenen Worten fordert er ſie auf, mit574 ihm nach Agneſen zu ſehn. Sie fanden Schlafzim - mer und Bett des Mädchens leer. Unter dem Weh - ruf eines Verzweifelten eilt Nolten hinunter, den Anlagen zu. Bediente mit Laternen waren bereits dort angekommen. Der Präſident vom Fenſter aus gab ungefähr die Richtung an, von wo die Stimme hergekommen, denn ſchon war kein Laut mehr zu - ren. Das ganze Schloß war in Bewegung und in dem weitläufigen Garten ſah man bald ſo viele Lich - ter hin und her ſchweben, als nur Perſonen aufzu - treiben waren. Der Präſident ſelbſt half jezt eifrig mitſuchen. Es war eine laue Nacht, der Himmel überzogen, kein Lüftchen bewegte die Zweige. Alle größern und kleinern Wege, Schlangenpfade, Gänge, Lauben, Pavillons und Treibhäuſer hat man in Kur - zem vergeblich durchlaufen, Einige ſteigen über die Mauer, Andre eilen ohne Schonung der Gewächſe und Beete, das Gebüſch und die tiefern Schatten zu beleuchten. Nicht lange, ſo winkt der Jäger des Prä - ſidenten dieſen mit einem traurigen Blicke hinweg, der Maler und die Frauenzimmer folgen. Wenige Schritte vom Haus, hart unter den Fenſtern Agneſens, ſehn ſie das ſchöne Kind unter einigen Weihmuthsfichten, regungslos ausgeſtreckt, im weißen Nachtkleide liegen, die Füße bloß, die Haare auf dem Boden und über die nackten Schultern zerſtreut. Nolten ſank neben dem Körper in die Kniee, fühlte nach Athem, den er nicht fand, er brach in lauten Jammer aus, indem er575 die Hände der Armen an ſeine heißen Lippen drückte. Die Uebrigen ſtanden erſchrocken umher, nach und nach ſammelten die Lichter ſich leiſe um den unglücklichen Platz, ein banges Stillſchweigen herrſchte, während Andere eine Trage herbeizuholen eilten, und Margot die Füße der Erſtarrten in ihr Halstuch einhüllte. Laſſen Sie uns, ſagt jezt der Präſident zu Nolten, welcher noch immer ohne Beſinnung an der Erde kauerte, laſſen Sie uns vernünftig und gefaßt ſchnelle Hülfe anwenden, Ihre Braut wird in Kurzem die Au - gen wieder öffnen! Alſo hob man vorſichtig die Scheinleiche auf das Polſter und Alle ſezten ſich in Bewegung, als auf Einmal eine fremde Weiberſtimme, welche ganz in der Nähe aus dichtem Gezweige her - vordrang, einen plötzlichen Stillſtand veranlaßte. Un - willkürlich ballte ſich Theobalds Fauſt, da er die majeſtätiſche Geſtalt der Zigeunerin mit keckem Schritt in die Mitte treten ſah; aber die Gegenwart einer unnahbaren Macht ſchien alle ſeine Kraft in Bande zu ſchlagen.

Indeß man Agneſen, von den Mädchen ge - ſchäftig begleitet, hinwegtrug, ſagte Eliſabeth mit ruhigem Ernſt: Wecket das Töchterchen ja nicht mehr auf! Entlaßt in Frieden ihren Geiſt, damit er nicht unwillig, gleich dem verſcheuchten Vogel, in der unte - ren Nacht ankomme, verwundert, daß es ſo balde ge - ſchah. Denn ſonſt kehrt ächzend ihre Seele zurück, mich zu quälen und meinen Freund; es eifert, ich576 fürchte, die Liebe ſelber im Tode noch fort. Ich bin die Erwählte! mein iſt dieſer Mann! Aber er blickt mich nicht an, der Blöde. Laßt uns allein, damit er mich freundlich begrüße!

Sie tritt auf Theobalden zu, der ihre Hand, wie ſie ihn ſanft anfaſſen will, mit Heftigkeit weg - wirft. Aus meinen Augen, Verderberin! verhaßtes, freches Geſpenſt! das mir den Fluch nachſchleppt, wohin ich immer trete! Auf ewig verwünſcht, in die Hölle beſchworen ſey der Tag, da du mir zum Erſten - male begegnet! Wie muß ich es büßen, daß mich als argloſen Knaben das heiligſte Gefühl zu dir, zu dei - nem Unglück mitleidig hinzog, in welche ſchändliche Wuth hat deine ſchweſterliche Neigung, in was für teufliſche Bosheit hat deine geheuchelte Herzensgüte ſich verkehrt! Aber ich konnte wiſſen, ich kindiſcher, raſender Thor, mit Wem ich handeln ging! Herr Gott im Himmel! nur dieſe Strafe iſt zu hart Elend auf Elend, unerhört und unglaublich, ſtürzt auf mich ein O ihr, deren Blicke halb mit Erbarmen, halb mit entehrendem Argwohn auf mich, auf dieſes Weib gerichtet ſind, glaubt nicht, daß meine Schuld dem Jammer gleich ſey, der mein Gehirn zerrüttet! Das Elend dieſer Heimathloſen leſ’t ihr auf ihrer Stirn aus dieſer Quelle floß mir ſchon ein über - volles Meer von Kummer und Verwirrung. Keine Verbrecherin darf ich ſie nennen ſie verdiente mein Mitleid, ach, nicht meinen Haß! Doch wer kann billig577 ſeyn, wer bleibt noch Menſch, wenn der barmherzige Himmel ſich in Grauſamkeiten erſchöpft? Was? wär’s ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich ſelbſt ein tobender Wahnſinn ergriffe, mich fühllos machte gegen das Aeußerſte, Lezte, das o ich ſeh es unaufhalt - ſam näher kommen! Was klag ich hier? was ſtehn wir Alle hier? und droben der Engel ringt zwiſchen Leben und Tod Sie ſtirbt! Sie ſtirbt! Soll ich ſie ſehn? kann ich ſie noch retten? O folgt mir! Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja ja auf ihrer Miene kann ich es leſen Es iſt geſchehen mit Agnes, mit Agnes iſt es vorbei! Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen an’s Ende der Welt Kraftvoll hält ihn Eliſabeth feſt, er ſtößt im ungeheuren Schmerz ein entſetzliches Wort gegen ſie aus, aber ſie umfaßt mit Geſchrei ſeine Kniee und er kann ſich nicht rühren. Der Präſident wendet das Auge von der herzzerreiſſenden Scene. Weh! Wehe! ruft Eliſabeth, wenn mein Geliebter mir flucht, ſo zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennſt du mich denn nicht? Liebſter! erkenne mich! Was hat mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege gelehrt? Schau an, dieſe blutenden Sohlen! Die Liebe, du böſer, undankbarer Junge, war allwärts hinter mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht ſehnende Liebe, iſt unermüdlich, iſt unertödtlich, das arme Le - ben! und freut ſich ſo ſüßer, ſo wilder Plage, und37578läuft und erkundet die Spuren des leidigen Flücht - lings von Ort zu Ort, bis ſie ihn gefunden Sie hat ihn gefunden da ſteht er und will ſie nicht kennen. Weh mir! wie hab ich freudigern Empfang gehofft, da ich dir ſo lange verloren geweſen, und, Liebſter, du mir! So gar nicht achteſt du meines herzlichen Grames, ſtößeſt mich von dir wie ein räu - diges Thier, das aber leckt mit der Zunge die Füße des Herrn, das aber will von ſeinem Herrn nicht laſſen. Ihr Leute, was ſoll’s? Warum hilft mir Niemand zu meinem Recht? Sey Zeuge du Himmel, du frommes Gewölbe, daß dieſer Jüngling mir zugehört! Er hat mir’s geſchworen vorlängſt auf der Höhe, da er mich fand. Die herbſtlichen Winde um’s alte Gemäuer vernahmen den Schwur; alljähr - lich noch reden die Winde von dem glückſeligen Tag. Ich war wieder dort, und ſie ſagten: Schön war er als Knabe, wär er ſo fromm auch geblieben! Aber die Kinder allein ſind wahrhaftig. Agnes, was geht ſie dich an? Ihr konnteſt du dein Wort nicht halten; du ſelbſt haſt’s ihr bekannt, das hat ſie krank gemacht, ſie klagte mir’s den Abend. Warſt du ihr ungetreu, ei ſieh, dann biſt du mir’s doppelt geweſen.

Dieſe lezten Worte fielen dem Maler wie Don - ner auf’s Herz. Er wüthete gegen ſich ſelbſt, und jammervoll war es zu ſehen, wie dieſer Mann, taub gegen alle Vernunft, womit der Präſident ihm zuſprach, ſich im eigentlichen Sinne des Worts, die Haare raufte579 und Worte ausſtieß, die nur der Verzweiflung zu ver - geben ſind. Endlich ſtürzt er dem Schloſſe zu, der Präſident, voll Theilnahme, eilt nach. Auf ſeinen Wink wollen einige Leute ſich der Verrückten bemäch - tigen, aber mit einer Schnelligkeit, als hätte ſie es aus der Luft gehaſcht, ſchwingt ſie ein blankes Meſſer drohend in der Fauſt, daß Niemand ſich zu nähern wagt. Dann ſtand ſie eine ganze Weile ruhig, und nach einer unbeſchreiblich ſchmerzvollen Gebärde des Abſchieds, indem ſie ihre beiden Arme nach der Seite auswarf, wo Nolten ſich entfernt hat, wandte ſie ſich und verſchwand zögernden Schritts in der Finſterniß.

Die Nacht ging ruhig vorüber. Agnes hatte ſich geſtern, noch eh der Arzt erſchienen war, unter den Bemühungen ſo vieler zärtlichen Hände ſehr bald erholt. Das Fräulein und die Schwägerin wichen die ganze Nacht nicht von ihrem Bette: von Stunde zu Stunde war Nolten an die Thür getreten, zu hören, wie es drinne ſtand. Geſprochen hatte das Mädchen ſeit geſtern faſt nichts, nur in einem wenig unterbrochenen Schlummer hörte man ſie einige Mal leiſe wimmern. Am Morgen aber nahm ſie das Früh - ſtück mit einer erfreulichen Heiterkeit aus Margots Hand, verlangte, daß dieſe und Nannette ſich nie - derlegen, und ausruhn, für ſich ſelber wünſchte ſie580 nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr dieß nicht weigern durfte, ſo ward eine Perſon in’s Nebenzimmer geſezt, von welcher ſie auf der Stelle gehört und allenfalls beobachtet werden konnte.

Noltens Unruhe und Verzagtheit, ſo lange man in Agneſens Zuſtand noch nicht klar ſehen konnte, iſt nicht auszuſprechen. Es trieb ihn im Schloſſe, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders als einen Menſchen, der jeden Augenblick ſein Todes - urtheil kommen ſieht. Dabei ſagt er ſich wohl, daß vor Allem der Präſident eine befriedigende Erklärung des Vorfalls erwarten könne, daß er dieſe ſich ſelbſt und ſeiner eigenen Ehre ſchuldig ſey. Jedoch mit der edelſten Schonung verweist ihn Jener auf einen ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohl - that, ſich in der Einſamkeit erſt ſelbſt zurechte zu finden.

Ach, aber leider überall erſtarren ihm Sinn und Gedanke; wo und wie er auch immer das fürchter - liche Angſtbild in ſich zu drehen und zu wenden ver - ſucht, er ſieht nicht Grund noch Boden dieſer Ver - wirrungen ab; auf ſich ſelbſt wälzt er die ganze Schuld, auf jenen Abend, da er die arme Seele ſo tödtlich er - ſchüttert und für die wahnſinnigen Angriffe des Weibs erſt empfänglich gemacht.

Unglücklicherweiſe kam Nachmittags Beſuch von der Stadt, Herren vom Kollegium des Präſidenten mit Frauen und Kindern. Der Maler ließ ſich verläugnen;581 ſeine Schweſter half Margoten treulich die Haus - ehre retten.

Gegen Abend fand ſich eine günſtige Stunde, dem Präſidenten die gedachte Aufklärung zu geben. An ihrem Vater bemerkte Margot, als er und der Ma - ler, nach einer langen Unterredung im Garten, endlich in’s Zimmer traten, eine auffallende Bewegung; er mochte nicht reden, man ſezte ſich ſchweigend zu Tiſche und doch wollte man ſich nachher nicht ſogleich tren - nen; es war, als bedürften ſie Alle einander, obgleich Keins dem Andern etwas zu ſagen oder abzufragen Miene machte. Die Mädchen griffen in der Noth zu einer gleichgültigen Arbeit. Der Präſident ſah ein großes Paket Kupferſtiche, noch uneröffnet, an der Seite liegen; es war das prächtige Denon’ſche Werk zu der franzöſiſchen Expedition nach Egypten (er hatte es Nolten zu Liebe von der Stadt bringen laſſen), es wurde ausgepackt, doch Niemand hielt ſich lange dabei auf.

Noch laſten auf Jedem die Schrecken des geſtri - gen Abends; bald muß man mitleidig die flüchtige Geſtalt Eliſabeths auf finſteren Pfaden verfolgen, bald ſtehen die Gedanken wieder vor dem einſamen Bette Agneſens ſtill, welche durch eine wun - derbare Scheidewand auf immer von der Geſellſchaft abgeſchnitten ſcheint.

Der Präſident kann ſich ſo wenig als der Maler es verbergen, daß das Mädchen auf dem geraden Wege582 ſey, ſich durch eine falſche Idee von Grund aus zu zerſtören. Das Unerträgliche, das Fürchterliche dabei iſt für die Freunde das Gefühl, daß weder Vernunft noch Gewalt, noch Ueberredung hier irgend etwas thun können, um eine Ausſöhnung mit Nolten zu bewir - ken: denn dieß muß entſcheiden, und zwar unverzüg - lich, ein jeder Augenblick früher iſt, wie bei tödtlicher Vergiftung, mit Gold nicht aufzuwiegen. Aber Ag - nes verrieth den unbezwinglichſten Widerwillen gegen ihren Verlobten; man wußte nicht, war Furcht oder Abſcheu größer bei ihr. Wie viel Eliſabeth mit - gewirkt, ſtand nicht zu berechnen, vermuthlich ſehr viel; genug ein zweimaliger, erſt bittender, dann ſtürmiſcher Verſuch, den Theobald heute gemacht, ſich Zutritt bei der Braut zu verſchaffen, hätte ſie eher bis zu Konvul - ſionen getrieben, als daß ſie dieſem ſehnlichſten Ver - langen würde nachgegeben haben. So mußte man der Zeit und dem leidigen Zufall die Entwicklung faſt ganz überlaſſen.

Die ſonderbar verlegene Spannung der vier im Zimmer ſitzenden Perſonen iſolirte nun ein Jedes auf ſeltſame Weiſe. Es war, als könnte man gar nicht reden, als müßte jeder Laut, wie in luftleerem Raume, kraftlos und unhörbar an den Lippen verſchwinden, ja, als verhindere ein undurchdringlicher Nebel, daß Eins das Andre recht gewahr werden könne.

Nannette war die Unbefangenſte. Sie ſtellte der Reihe nach ihre Betrachtungen an. Es kam ihr583 ſo närriſch vor, daß Niemand den Mund öffnen wolle, um der Sache raſch und beherzt auf den Grund zu gehn, daß man nicht Anſtalt treffe, ſo oder ſo Agne - ſen beizukommen; ſie fühlte ſich wenigſtens Mannes genug, den böſen Geiſt, welchen Namen er auch haben, in was für einem Winkel er auch ſtecken möge, kurz und gut auszutreiben, wenn ſie nur erſt wüßte, wo - von es ſich handelte, wenn nur der Bruder ſie eines Winkes würdigen wollte. Ihre ganze Aufmerkſamkeit war auf den Präſidenten gerichtet, als dieſer anfing, in Beziehung auf Agneſen der Geſellſchaft einige Verhaltungsregeln an’s Herz zu legen, welche haupt - ſächlich darauf hinausliefen: man müſſe, ſo ſchwer es auch falle, durchaus ſein Gefühl verläugnen, in allen Stücken thun, als wäre nichts Beſonderes vorgefallen, man müſſe bei dem Mädchen durch kein Wort, keine Miene den Grund ihres Kummers, ihrer Abſonderung anerkennen; man ſolle Noltens bei jeder ſchicklichen Gelegenheit und in Verbindung mit den alltäglichſten Dingen bei ihr erwähnen, u. ſ. w. Der gute Mann bedachte nicht, daß die Frauenzimmer zu wenig von dem wahren Standpunkte wußten, um den Sinn dieſer Vorſchriften ganz einzuſehn. Nannetten war es gewiſſermaßen behaglich, den Präſidenten unter ſo be - denklichen Umſtänden zu beobachten. Wir ſprechen, was das Mädchen hiebei empfand, in einer allgemeinen Bemerkung aus.

Es gibt Männer, deren ganze Erſcheinung uns584 ſogleich den angenehmen Eindruck vollkommener Sicher - heit erweckt. Das Uebergewicht einer kräftigen, mehr verneinenden als bejahenden Natur, die Rechtlichkeit eines reſoluten Charakters, ſogar die eigenthümliche Atmoſphäre, welche Rang und Vermögen um ſie ver - breiten, dieß Alles ſcheint nicht nur ſie ſelber zu Her - ren jedes böſen Zufalls zu machen, ſondern ihre Ge - genwart wirkt auch auf Andere, die ſich ihres Wohl - wollens nur einigermaßen bewußt ſind, mit der Magie eines kräftigen Talismans: herzlich gern möchten wir ſolch einen Glücksmann immer auch ein wenig in un - ſere Sorge und Gefahr verflochten ſehn, denn nicht nur etwas Tröſtliches, ſondern wirklich Reizendes liegt darin, ſich eine Perſon, die uns in jedem Betracht überlegen und unzugänglich ſcheint, nun durch gemein - ſame Noth auf Einmal ſo menſchlich nahe zu fühlen. Das kleinſte Wort aus dieſem Munde, der unbedeu - tendſte Troſt thut Wunder; ja Einige wollen behaup - ten, daß ſelbſt die körperliche Berührung durch die weichere Hand, durch das weichere Kleid eines dieſer Vornehmen zuweilen etwas Unwiderſtehliches habe, und deſto mehr, je ſeltener ſie vorkomme. Dieß nun empfand Nannette wirklich, als der Präſident vor - hin einer lange ſtill fortgeſezten Gedankenkette gleichſam den lezten Ring anſchließend mit etwas ermuntertem Geſicht von ſeinem Stuhle aufſtand und ſo im Vorbeigehn mit einer wehmüthigen Freundlich - keit das Mädchen unter’m Kinn anfaßte; ſie war von585 dieſem kleinen Lichtblick ſo ſonderbar gerührt, daß ſie eine Sekunde lang meinte, nun ſey die ganze Noth am Ende und Alles wieder gut.

Man ging jezt auseinander. Eine Perſon mußte die Nacht wachen; übrigens kam die ganz anfänglich getroffene Einrichtung, daß Nannette mit Agnes in Einem Zimmer ſchlief, nun freilich ſehr zu Statten.

Die tiefe Pauſe, welche wie durch einen furcht - baren Zauberſchlag im Leben unſerer Geſellſchaft ein - getreten war, bezeichnete auch die nächſtfolgenden Tage. Nannette und Margot waren indeß von dem Zu - ſammenhang des Uebels unterrichtet worden. Alles hatte einen andern Gang im Schloſſe angenommen. Es war nicht anders, als es läge ein Todtkrankes im Hauſe; unwillkürlich vermied man jede Art von Geräuſch, auch an Orten, von wo nicht leicht etwas in Agneſens Abgeſchiedenheit hätte dringen können; es ſchien, das müſſe nun einmal ſo ſeyn, und wahr - lich, wer auch nur den Maler anſah, das leidende Entſagen, den ſtumpfen Schmerz in ſeiner geſunkenen Haltung, der glaubte nicht leiſe, nicht zart genug auf - treten zu können, um durch jede Bewegung, durch jede kleine Zuvorkommenheit das Unglück zu ehren, das uns in ſolchem Fall eine Art von Ehrfurcht abnöthigt. Der Präſi - dent jedoch tadelte mit Ernſt dieſe Aengſtlichkeit, welche ſich ſelbſt auf die Dienerſchaft erſtreckte; dergleichen,586 behauptete er, ſey auf die Kranke vom übelſten Ein - fluß, indem ſie ſich dadurch in ihrem eingebilde - ten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr müſſe beſtärkt fühlen.

Inzwiſchen erreichte man doch mehrere Vortheile über ſie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr aus - und eingehn; nur gegen das Fräulein, trotz der ſchweſterlichſten Liebe, womit dieſe ihr ſtets nahe zu ſeyn wünſchte, verrieth ſie ein deutliches Mißtrauen. Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die fri - ſche Luft, wenn ſie verſichert ſeyn konnte, Theobalden nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider, ja man wollte bemerken, daß ſie ſich die Gelegenheit hiezu gefliſſentlich erſehe. Stundenlang las der Prä - ſident ihr vor; ſie bezeugte ſich immer ſehr ernſt, doch gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Ge - danken, ein ſchlaues Ausweichen, je nachdem ein Ge - genſtand zur Sprache kam, war unverkennbar; ſie führte irgend etwas im Schilde und ſchien nur den günſtigen Zeitpunkt abzuwarten.

Dieſe geheime Abſicht offenbarte ſich denn auch gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem Präſidenten in aller Stille die Entdeckung: Agnes habe ihn auf das Flehentlichſte beſchworen, daß er ihr Gelegenheit verſchaffe, aus dem Schloſſe zu ent - kommen und nach ihrer Heimath zu reiſen. Dabei habe ſie ihm alles Mögliche verſprochen, auch ſelbſt587 die Mittel ſehr geſchickt angegeben, wie ſeine Beihülfe völlig verſchwiegen bleiben könnte. Ein ſolches Ver - langen war nun, die Heimlichkeit abgerechnet, ſo un - verzeihlich nicht, der Maler hatte neulich ſelbſt den Gedanken für ſie gehabt, man ging jezt ernſtlich dar - über zu Rathe, verdoppelte indeß die Wachſamkeit.

So wenig es bei dieſem Allen Jemanden im Schloſſe einfiel, den armen Freund ſein läſtiges Gaſt - recht empfinden zu laſſen, ſo war ihm eine ſolche Großmuth doch nichts deſto weniger drückend. Dann rückte der Termin herbei, wo er jene Stelle in W * antreten ſollte. Er dachte mit Schaudern der Zu - kunft, mit doppelt und dreifach blutendem Herzen des alten Vaters in Neuburg, der nichts von dem dro - henden Umſturz der lieblichſten Hoffnungen ahnte.

An einem Morgen kommt Nolten wie gewöhn - lich zum Frühſtück auf den Saal. Nannette und Margot fliehen bei ſeinem Eintritt erſchrocken aus - einander, ſie grüßen ihn mit abgewandtem Geſicht, ihr Weinen verbergend. Was iſt geſchehen? fragt er voll Ahnung, was iſt Agneſen zugeſtoßen? Er will hinaus, ſich überzeugen, im ſelben Augenblick tritt der Präſident eilfertig herein. Ich bin auf Al - les gefaßt! ruft Nolten ihm zu: um’s Himmels willen, ſchnell! was hat es gegeben? Gelaſſen! ruhig! Mein theurer Freund, noch iſt nicht Alles verloren. Was wir längſt fürchten mußten, das frühere Uebel, wovon Sie mir ſagten, ſcheint leider eingetreten 588 Aber faſſen Sie ſich, o ſeyn Sie ein Mann! Wie es damals vorüber gegangen, ſo wird es auch dieß - mal. Nein, nimmer, nimmermehr! Sie iſt das Opfer meiner Tollheit! Alſo das noch! Zu ſchrecklich! zu gräßlich! Was? und das ſoll ich mit anſehn? mit dieſen Augen das ſehn und ſoll leben? Nun, ſey’s! Sey’s drum; es geht mit uns Beiden zur Neige. Ich bin es gewärtig, bin’s völlig zufrieden, daß morgen Jemand kommt und mir ſagt: Deine Braut hat Ruhe, Agnes iſt geſtorben. Er ſchwieg eine Weile, fuhr auf und riß im unbändigſten Aus - bruch von Zorn und von Thränen, nicht wiſſend, was er wollte oder that, die Schweſter wild an ſich her Wie ſtehſt du da? was gaffſt du da? Herr, nicht ſo! das iſt grauſam, ruft Margot entrüſtet und nimmt die Zitternde in Schutz, die er wie raſend von ſich weggeſchleudert hat. O, ruft er, die Fauſt vor die Stirne geſchlagen, warum wüthet Niemand gegen mich? warum ſteh ich ſo ruhig, ſo matt und erbärmlich in kalter Vernichtung? Ha, würfe mir irgend ein grimmiger Feind meinen Schmerz in’s Geſicht, vor die Füße! und ſchölte mich den gottver - laſſ’nen Thoren, der ich bin, den dummen Mörder, der ich bin! ſtreute mir Salz und Glut in die Wunde das ſollte mir wohl thun, das ſollte mich ſtärken

Wir überlaſſen Sie ſich ſelbſt, mein Freund, verſezte ganz ruhig der Präſident, und wollen Ihnen589 dadurch zeigen, daß wir nicht glauben, einen Mann, denn dafür hielt ich Sie bis jezt, vor ſich ſelber - ten zu müſſen.

So ſtand nun der Maler allein in dem Saale. Es war der ſchrecklichſte Moment ſeines Lebens.

Wenn uns ganz unerwartet im ausgelaſſenſten Jammer ein beſchämender Vorwurf aus verehrtem Munde trifft, ſo iſt dieß immerhin die grauſamſte Abkühlung, die wir erfahren können. Es wird auf Einmal todtenſtill in dir, du ſiehſt dann deinen eige - nen Schmerz, dem Raubvogel gleich, den in der kühn - ſten Höhe ein Blitz berührt hat, langſam aus der Luft herunterfallen und halbtodt zu deinen Füßen zucken.

Der Maler hatte ſich auf einen Sitz geworfen. Er ſah mit kalter Selbſtbetrachtung geruhig auf den Grund ſeines Innern herab, wie man oft lange dem Rinnen einer Sanduhr zuſehn kann, wo Korn an Korn ſich unabläſſig legt und ſchiebt und fällt. Er bröckelte ſpielend ſeine Gedanken, der Reihe nach, auseinander und lächelte zu dieſem Spiel. Dazwiſchen quoll es ihm, ein über’s andre Mal, ganz wohl und leicht um’s Herz, als entfalte ſo eben ein Engel der Freuden nur ſachte, ganz ſachte die goldnen Schwin - gen über ihm, um dann leibhaftig vor ihn hinzu - treten!

Erſchrocken ſchaut er auf, ihm däucht, es komme Jemand, wie auf Socken, durch die drei offen in590 einandergehenden Zimmer herbei. Er ſtaunt Ag - ues iſt’s, die ſich nähert. Sie geht baarfuß; ſonſt aber nicht nachläſſig angethan; nur Eine Flechte ihres Haars hängt vorn herab, davon ſie das äußerſte Ende gedankenvoll lauſchend an’s Kinn hält. Ein ganzer Himmel voll Erbarmung ſcheint mit ſtummer Klagge - bärde ihren ſchleichenden Gang zu begleiten, die Fal - ten ſelber ihres Kleids mitleidend die liebe Geſtalt zu umfließen.

Nolten iſt aufgeſtanden; doch ihr entgegenzu - gehen darf er nicht wagen; all ſeine Seele hält den Athem an. Das Mädchen iſt bis unter die Thüre des Saals vorgeſchritten, hier bleibt ſie ſtehen und lehnt ſich in bequem-gefälliger Stellung mit dem Kopf an die Pfoſte. So ſchaut ſie aufmerkſam zu ihm hin - über. Der rührende Umriß ihrer Figur, ſo wie die Bläſſe des Geſichts wird noch reizender, ſüßer durch die Dämmerung des grünen Zimmers bei den gegen die ſchwüle Morgenſonne verſchloſſenen Fenſterladen. So ihn betrachtend, ſpricht ſie erſt für ſich: Er gleicht ihm ſehr, er hat ihn gut gefaßt, ein Ei gleicht dem andern nicht ſo, aber Eines von beiden iſt hohl. Dann ſagte ſie laut und höhniſch: Guten Morgen, Heideläufer! Guten Morgen Höllenbrand! Nun, ſtell Er ſich nicht ſo einfältig! Schon gut, ſchon gut! ich bin unbeſchreiblich gerührt. Er bekommt ein Trink - geld für’s Hokuspokus. Bleib er nur bitte ge - horſamſt, ich ſeh’s recht gut, nur immer zwölf Schritt591 vom Leibe. Was macht denn ſeine liebe braune Otter? haha, nicht wahr? Mein kleiner Finger ſagt mir nur zuweilen auch etwas. Nun, ich muß weiter. Kurze Aufwartungen, das iſt ſo Mode in der vorneh - men Welt. Und bemüh Er ſich nur nie wegen mei - ner, wir nehmen das nicht ſo genau.

Sie neigte ſich und ging.

Wenn man ſprach Theobald erſchüttert bei ſich ſelbſt wenn man etwa ſo träumt, wie die - ſes wirklich iſt, ſo ſchüttelt ſich der Träumende vor Schmerz und ruft ſich ſelber zu: hurtig erwecke dich, es wird dich tödten! Schnell dreht er die nächtliche Scheibe ſeines Geiſtes dem wahren Tageslichte zu Noch mehr! er greift mit Geiſterarmen entſchloſſen durch die dicke Mauer, hinter der ſein Körper gefan - gen ſteht, und öffnet wunderbar ſich ſelber von Außen die Riegel. Mir ſchießt in der wachſenden Todes - noth kein Götterflügel aus den Schultern hervor und entreißt mich dem Dunſtkreis, der mich erſtickt, denn dieß iſt wirklich, dieß iſt da, kein Gott wird’s ändern!

So viel man nach und nach aus Agneſens ver - worrenen Geſprächen zuſammenreimen konnte, ſo ſchien die ſonderbarſte Perſonen-Verwechslung zwiſchen Nol - ten und Larkens in ihr vorgegangen zu ſeyn; viel - mehr es waren dieſe Beiden in ihrer Idee auf gewiſſe Weiſe zu Einer Perſon geworden. Den Maler ſchien592 ſie zwar als den Geliebten zu betrachten, aber keines - wegs in der Geſtalt, wie ſie ihn hier vor Augen ſah. Die Briefe des Schauſpielers trug ſie wie ein Heilig - thum jederzeit bei ſich, ihn ſelbſt erwartete ſie mit der ſtillen Sehnſucht einer Braut, und doch war es eigent - lich nur wieder Nolten, den ſie erwartete. Man wird, wie dieß gemeint ſey, in Kurzem deutlicher einſehn.

Inzwiſchen hielt ſie ſich am liebſten an den blin - den Henni; ſie nannte ihn ihren frommen Knecht, gab ihm allerlei Aufträge, ſang mit ihm zum Klavier oder zur Orgel, beredete ihn, ſie da und dort hin zu begleiten, wobei ſie ihn gewöhnlich mit der Hand am Arm zu leiten pflegte. Man glaubte nur eben ein Paar Geſchwiſter zu ſehen, ſo vollkommen verſtanden ſich Beide. Der Präſident und Nolten verſäumten deßhalb nicht, dem jungen Menſchen gewiſſe Regeln einzuſchärfen, damit eine zweckmäßige Unterhaltung ihren Ideen wo möglich eine wünſchenswerthe Rich - tung gebe. Der gute, verſtändige Junge ließ ſich’s auch wirklich mit ganzer Seele angelegen ſeyn. Er verfuhr auf die zärteſte Weiſe und wußte die Abſicht gar klug zu verſtecken. Sie ſelbſt hatte die religiöſen Geſpräche eingeführt, da er ſich denn recht eigentlich zu Hauſe fand und aus dem ſtillen Schatze ſeines Her - zens mit Freuden Alles mittheilte, was eben das Thema gab. Am glücklichſten war er, wenn ſie in irgend ei - nen Gegenſtand ſo weit hineingeführt werden konnte, daß ſie von ſelbſt darin fortfuhr; und wirklich verfolgte593 ſie dann die Materie nicht nur ſehr lange, mit ziemli - cher Stetigkeit, ſondern er mußte ſich häufig auch über den Reichthum ihrer Gedanken, über die tiefe Wahr - heit ihrer innern religiöſen Erfahrung verwundern, die freilich mehr nur durch Erinnerung aus dem geſunden Zuſtand hergenommen ſeyn mochte und mehr hiſtoriſch von ihr vorgebracht wurde, als daß ſie jezt noch rein und innig darin gelebt hätte; nichts deſto weniger war die Fähigkeit unſchätzbar, ſich dieſe Gefühle lebendig zu vergegenwärtigen, ſo wie der Vortheil, ſolche befe - ſtigen und Neues daran knüpfen zu können, dem treuen Henni höchſt willkommen war. Gegen einige grelle, aus Mißverſtändniß der Bibelſprache entſtandene Vor - ſtellungen, welche zwar von Hauſe aus Glaubensarti - kel bei ihr geweſen ſeyn mochten, in reiferen Jahren aber glücklich verdrungen, jezt wieder, auf eine närriſche Art erweitert, zum Vorſchein kamen, hatte Henni vorzüglich zu kämpfen. Beſonders kam er mit ihrer falſchen Anwendung des Dämonenglaubens in’s Ge - dränge, weil er dieſe Lehre, als eine an ſich ſelber wahre und in der Schrift gegründete, unmöglich verwerfen konnte.

Allein im höchſten Grad betrübend war es ihm, wenn ſie, mitten aus der ſchönſten Ordnung her - aus, entweder in eine auffallende Begriffsverwirrung fiel, oder auch wohl plötzlich auf ganz andre Dinge abſprang.

So ſaßen ſie neulich an ihrem Lieblingsplatz unter594 den Akazienbäumen vor dem Gewächshaus. Sie las aus dem Neuen Teſtamente vor. Auf Einmal hält ſie inne und fragt: Weißt du auch, warum Theo - bald, mein Liebſter, ein Schauſpieler geworden iſt? Ich will dir’s anvertraun, aber ſag es Niemand, beſonders nicht Margot, der Schmeichelkatze, ſie plaudert’s dem Falſchen, dem Heideläufer. Vor dem muß mein Schatz ſich eben verbergen. Drum nimmt er verſchiedene Trachten an, ich ſage dir, alle Tage eine andere Geſtalt, damit ihn der Läufer nicht nach - machen kann und nicht weiß, welches von allen die rechte iſt. Vor ein paar Jahren kam Nolten in den Vetter Otto verkleidet zu mir; ich kannte ihn nicht und hab ihn arg betrübt. Das kann ich mir in Ewigkeit nicht vergeben. Aber wer ſoll auch die Komödianten ganz auslernen! Die können eben Alles. Sie ſind dir im Stande und ſtellen ſich todt, völlig todt. Unter uns, mein Schatz that es auch, um dem Lügner für immer das Handwerk niederzulegen. Ich war bei der Leiche damals in der Stadt. Ich ſage dir verſtehſt du, dir allein Henni! der leere Sarg liegt in der Grube, nur ein paar lumpige Kleiderfetzen drin!

Sie verfiel einige Sekunden in Nachdenken und klatſchte dann fröhlich in die Hände: O Henni! ſüßer Junge! in ſechs Wochen kommt mein Bräuti - gam und nimmt mich mit und wir haben gleich Hoch - zeit. Sie ſtand auf und fing an, auf dem freien Platz vor Henni auf’s Niedlichſte zu tanzen, indem595 ſie ihr Kleid hüben und drüben mit ſpitzen Fingern faßte und ſich mit Geſang begleitete. Könnteſt du du nur ſehn, rief ſie ihm zu wie hübſch ich’s mache! fürwahr ſolche Füßchen ſicht man nicht leicht. Vögel von allen Arten und Farben kommen auf die äußer - ſten Baumzweige vor und ſchau’n mir gar naſeweis zu. Sie lachte boshaft und ſagte: Ich rede das eigentlich nur, weil du mir immer Eitelkeit vorwirfſt, ich kann dein Predigen nicht leiden. Warte doch, du mußt noch ein bischen Eigenlob hören. Aber ich will einen Andern für mich ſprechen laſſen. Sie zog einen Brief des Schauſpielers aus dem Gürtel und las:

Oft kann ich mir aber mit aller Anſtren - gung dein Bild nicht vorſtellen, ich meine, die Züge deines Geſichts, wenn ſie mir einzeln auch deutlich genug vorſchweben, kann ich nicht ſo recht zuſammen - bringen. Dann wieder in andern Augenblicken biſt du mir ſo nahe, ſo greifbar gegenwärtig mit jeder Bewegung! ſogar deine Stimme, das Lachen beſon - ders, dringt mir dann ſo hell und natürlich an’s Ohr. Dein Lachen! Warum eben das? Nun ja! behaupten doch auch die Poeten, es gebe nichts Lieblichers von Melodie, als ſo ein herzliches Mädchengekicher. Ein Gleichniß, liebes Kind. In meiner Jugend, weißt du, hatt ich immer ſehr viel von zarten Elfen zu erzählen. Dieſelben pflegen ſich bei Nacht mit allerlei lieblichen Dingen, und unter Anderm auch mit einem kleinen Kegelſpiel die Zeit zu verkürzen. Dieß Spiel -596 zeug iſt vom purſten Golde, und drum wenn alle Neune fallen, ſo heißen ſie’s ein goldenes Gelächter, weil der Klang dabei gar hell und luſtig iſt. Gerade ſo dünkt mich, lacht nun mein Schätzchen.

Henni, was meinſt du dazu? Zum Glück hab ich ſo ſchnell geleſen, daß du nicht einmal Zeit bekamſt, dich drüber zu ärgern. Hör du, als Kind da hatt ich einen Schulmeiſter, der fand dir gar eine ſonderliche Methode, einem das Schnell-Leſen abzugewöhnen, er gab einem das Buch verkehrt in die Hand, daß es von der Rech - ten zur Linken ging So, rief er dann, jezt laß den Rappen laufen! ich will auch bei Zeit Hebräiſch leh - ren. Recht, daß mir der Schulmeiſter beifällt ich bitte dich, mache doch deinen guten Vater aufmerkſam, daß er nicht mehr gineſiſches Gartenhaus ſagen ſoll, ſondern chineſiſches; er würde mich dauern, wenn man ihn ſpöttiſch drum anſähe, es hat mich ſchon recht beſchäftigt; heut hab ich gar davon geträumt, da gab er mir die Erklärung: Jungfer, ich pflege mit dem Wort zu wechſeln, und zwar nicht ohne Grund: zur Winterszeit, wo Alles ſtarr und hartgefroren iſt, ſprech ich gineſiſch, im Frühjahr wird mein g ſchon weicher, im Sommer aber bin ich ganz und gar Chi - neſe. Fürwahr, das iſt er auch: er trägt ein Zöpf - chen. Im Ernſt, ich hätte gute Luſt, einmal mit der Scheere hinter ihm herzukommen; es iſt doch gar zu leichtfertig und altväteriſch.

Eine Magd lief über den Weg, Agnes kehrte597 ihr zornig den Rücken und ſagte, nachdem ſie weg war: Mir wird ganz übel, ſeh ich die Käthe. Geſtern hört ich ſie dort über die Mauer einem Bauerburſchen zurufen: weißt du ſchon, daß die fremde Mamſell bei uns zur Närrin worden iſt? Das erzdumme Menſch. Wer iſt verrückt? Niemand iſt verrückt. Die Vorſehung iſt gnädig. Deßwegen heißt es auch in meinem heuti - gen Morgengebet:

Wolleſt mit Freuden,
Und wolleſt mit Leiden
Mich nicht überſchütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Beſcheiden.

Ja, nichts geht über die Zufriedenheit. Gott - lob, dieſe hab ich; fehlt nur noch Eins, fehlt leider nur noch Eins!

So ging es denn oft lange fort. Und wenn nun Henni, vom Maler täglich einige Mal aufgefordert, nichts Tröſtlicheres zu berichten hatte, ſo brach dem armen Manne faſt das Herz.

Die Aerzte, die man befragt, gaben bloß Regeln an, die ſich von ſelber verſtanden und überdieß bei dem Eigenſinn der Kranken ſchwer anzuwenden waren. Zum Beiſpiel ließ ſie ſich um keinen Preis bewegen, an der allgemeinen Tafel zu ſpeiſen; und nur etwa wenn man beim Rachtiſch noch auf dem Saale beiſammen ſaß, erſchien ſie zuweilen unvermuthet in der offenen Thür des Nebenzimmers, mit ruhigen Augen rings auf der Geſellſchaft verweilend, ganz wieder in der598 angenehmen Stellung, worin wir ſie oben dem Maler gegenüber geſehen. Verſuchte aber Theobald, ſich ihr zu nähern, ſo wich ſie geräuſchlos zurück und kam ſo leicht nicht wieder.

Es war indeß auf’s Neue davon die Rede gewor - den, daß man vielleicht am Beſten thäte, ſie geradezu nach Hauſe zurückzubringen. Der Antrag ward ihr durch Nannetten mit aller Zartheit geſtellt, allein ſtatt daß ſie ihn, wie man erwartete, mit beiden Hän - den ergriffen hätte, bedachte ſie ſich ernſtlich und ſchüt - telte den Kopf. Es war, als wenn ſie ihren Zuſtand fühlte und ihrem Vater zu begegnen fürchtete.

Es ſprach Jemand die Meinung aus, daß Nol - ten ſich entweder ganz entfernen, oder ſeine Entfer - nung wenigſtens der Braut ſollte glauben gemacht werden, da ſeine Gegenwart ſie offenbar beunruhige und ihrem Wahne täglich Nahrung gebe, dagegen, wenn er ginge, wohl gar ein Verlangen nach ihm bei ihr rege werden dürfte, wo nicht, ſo könnte man zulezt Veranlaſſung nehmen, ihn als den erwarteten wahren Geliebten ihr förmlich vorzuführen, oder ſie, wie ein Kind, den frohen Fund gleichſam ſelbſt thun zu laſſen; gelänge dieſe Liſt und wiſſe man ſie kühn und klüglich durchzuführen, ſo ſey Hoffnung zur Kur vorhanden. Dieſe Anſicht ſchien ſo ganz nicht zu verwerfen. Doch Theobald behauptete zulezt: er müſſe bleiben, ſie müſſe ihn von Zeit zu Zeit vor Augen haben, ein ruhi - ges, beſcheidenes Benehmen, der Anblick ſeines ſtillen599 Kummers werde günſtig auf ſie wirken, er halte nichts auf künſtliche Anſchläge und Täuſchungen, er denke, wenn irgend noch etwas zu hoffen ſey, auf ſeine Weiſe eine weit gründlichere und dauerhaftere Heilung zu erzielen.

Nunmehr aber würden wir es unter der Würde des Gegenſtands halten und das Gefühl des Leſers zu verletzen glauben, wenn wir ihn mit den Leiden des Mädchens ausführlicher als nöthig, auf eine pein - liche Art unterhalten wollten, ſo viele Anmuth ihr Geſpräch auch ſelbſt in dieſer traurigen Zerſtörung noch immer offenbaren mochte. Deßhalb beſchränkt ſich unſere Schilderung einzig auf das, was zum Ver - ſtändniß der Sache ſelbſt gehört.

Fräulein, du kannſt ja Lateiniſch, ſagte ſie Einmal zu Margot, was heißt der Funke auf La - teiniſch? Scintilla, war die gutmüthige Antwort. So, ſo; das iſt ein muſterhaftes Wort, es gibt ordentlich Funken; aber du wirſt es nur geſchwind erdacht haben? Thut auch nichts, deſto beſſer vielmehr: ich will künftig, wenn ich dir etwas über die Augen des Bewußten zu ſagen habe, in ſeiner Gegenwart nur bloß Scintilla ſagen, dann merk auf’s grüne Flämmchen, Bst! hörſt du nichts? er regt ſich hinter’m Ofenſchirm nämlich, er kann ſich unſicht - bar machen Ei, das weißt du beſſer wie ich. Und, Fräulein, wenn du wieder mit ihm buhlſt, mir kann es ja eins ſeyn, aber gewarnt hab ich dich. Was600 ſoll mir das Liebe Agnes! O ihr habt ein - ander flugs im Arm, wenn Niemand um den Weg iſt! Ich bitte dich, ſag mir, wie küßt ſich’s denn mit ihm? iſt er recht häßlich ſüß? merkt man ihm an, daß er den Tenfel im Leib hat? Fräulein, weil dir doch nichts dran liegt, ob er hie und da noch andre Galanterien neben dir hat, ſo will ich dir gleich einige nennen; kannſt ihn damit necken: Erſt - lich iſt da: eine ſchöne Comteſſe fürnehm, ah für - nehm! Sieh, ſo iſt ihr Anſtand (hier machte ſie eine graziöſe Figur durch’s Zimmer) Zieh ihn nur damit auf! Aber angeführt ſeyd ihr im Grund doch alle miteinander. Du willſt mir nicht glauben, daß er mit der Zigeunerin verlobt iſt? Wenn ich Luſt hätte, könnt ich den Ort wohl nennen, wo der Ver - ſpruch gehalten wurde und wer den Segen dazuſprach, aber fromme Chriſten beſchreien ſo was nicht. Ueber - haupt, ich werde jezt zur Schlittenfahrt müſſen. Du leihſt mir deinen Zobel doch wieder? Margot ver - ſtand, was ſie im Sinne hatte und gab ihr das Klei - dungsſtück. Nach einiger Zeit kam ſie ſehr art[ig]ge - puzt, wie der Frühling und Winter, aus ihrem Zimmer hervor, ging in den Garten und zum Karrouſel, wo ſie ſich dann gewöhnlich in einen mit hölzernen Pfer - den beſpannten Schlitten ſezte. Der Boden durfte nicht gedreht werden, ſie behauptete, es komme Alles von ſelbſt in Gang, wenn ſie die im Kreiſe ſpringen -601 den Roſſe eine Zeit lang anſehe und es mache ihr ei - nen angenehmen Schwindel.

Nannette ſezte ſich mit ihrer Arbeit in den Schatten der nächſten Laube. Bald geſellte ſich Ag - nes zu ihr, forderte ſie auf, nicht traurig zu ſeyn und verhieß: ihr Bruder werde nun bald ankommen und ſie Beide entführen. Nicht wahr, wir wollen feſt zuſammenhalten? Du biſt im Grund ſo übel dran wie ich mit dieſen Lügengeſichtern. Ja, ja, auch dir gehn die Augen nach und nach auf, ich merkte es neulich, wie dir grauſ’te, als dich der Böſewicht Schwe - ſter hieß. Zwinge dich nur nicht bei ihm, er kann uns doch nicht ſchaden. Jezt aber ſollſt du etwas Liebes ſehen, das wird dich freuen: Lies dieſe Blätter, du kennſt die Hand nicht, aber den Schreiber. Sie〈…〉〈…〉 nd mein höchſter Schatz, mehr, mehr als Gold und Perlen und Rubinen! Ich mußte ſie dem Höllenbrand abführen, er hatte ſie mir unterſchlagen. Nimm ſie drum fein in Acht und lies ganz in der Stille, recht in herzinniger Stille. Sie ging und ließ Nannet - ten das Liederheft zurück, deſſen wir ſchon bei Ge - legenheit der hinterlaſſenen Papiere des Schauſpielers erwähnt haben.

Da dieſe Gedichte An L. überſchrieben waren und Agnes unter ihren Namen eine Luiſe hatte, ſo eignete ſie ſich dieſelben völlig zu, nicht anders als ſie wären von Theobald an ſie gerichtet worden. Ueberdieß hatte ſie eine Silhouette in jenen Blättern602 gefunden, von der ſie ſich beredete, es ſey ihr Bild. Man traf ſie etliche Male darüber an, daß ſie zwei Spiegel gegen einander hielt, um ihr Profil mit dem andern zu vergleichen.

Vielleicht iſt es dem Leſer angenehm, von jenen Gedichten etwas zu ſehen und ſich dabei des Mannes zu erinnern, der, wie einſt im Leben, ſo jezt noch im Tode, das Herz des unglücklichen Kindes ſo innig be - ſchäftigen mußte.

Der Himmel glänzt vom reinſten Frühlingslichte,
Ihm ſchwillt der Hügel ſehnſuchtsvoll entgegen,
Die ſtarre Welt zerfließt in Liebesſegen,
Und ſchmiegt ſich rund zum zärtlichſten Gedichte.
Wenn ich den Blick nun zu den Bergen richte,
Die duftig meiner Liebe Thal umhegen
O Herz, was hilft dein Wiegen und dein Wägen,
Daß all der Wonne herber Streit ſich ſchlichte!
Du, Liebe, hilf den ſüßen Zauber löſen,
Womit Natur in meinem Innern wühlet!
Und du, o Frühling, hilf die Liebe beugen!
Liſch aus, o Tag! Laß mich in Nacht geneſen!
Indeß ihr, ſanften Sterne, göttlich kühlet,
Will ich zum Abgrund der Betrachtung ſteigen.
Wahr iſt’s, mein Kind, wo ich bei dir nicht bin
Geleitet Sehnſucht alle meine Wege,
Zu Berg und Wald, durch einſame Gehege
Treibt mich ein irrer, ungeduld’ger Sinn.
603
In deinem Arm! o ſeliger Gewinn!
Doch wird auch hier die alte Wehmuth rege,
Ich ſchwindle trunken auf dem Himmelsſtege,
Die Gegenwart flieht taumelnd vor mir hin.
So denk ich oft: dieß ſchnell bewegte Herz,
Vom Ueberglück der Liebe ſtets beklommen,
Wird wohl auf Erden nie zur Ruhe kommen;
Im ew’gen Lichte löst ſich jeder Schmerz,
Und all die ſchwülen Leidenſchaften fließen
Wie roſ’ge Wolken, träumend, uns zu Füßen.
Wenn ich, von deinem Anſchaun tief geſtillt,
Mich ſtumm an deinem heil’gen Werth vergnüge,
Da hör ich oft die leiſen Athemzüge
Des Engels, welcher ſich in dir verhüllt.
Und ein erſtaunt, ein ſelig Lächeln quillt
Auf meinen Mund, ob mich kein Traum betrüge,
Daß nun in dir, zu himmliſcher Genüge,
Mein kühnſter Wunſch, mein einz’ger, ſich erfüllt.
Von Tiefe dann zu Tiefen ſtürzt mein Sinn,
Ich höre aus der Gottheit nächt’ger Ferne
Die Quellen des Geſchicks melodiſch rauſchen;
Betäubt kehr ich den Blick nach oben hin,
Zum Himmel auf da lächeln alle Sterne!
Ich kniee, ihrem Lichtgeſang zu lauſchen.
Schön prangt im Silberthau die junge Roſe,
Den ihr der Morgen in den Buſen rollte,
Sie blüht, als ob ſie nie verblühen ſollte,
Sie ahnet nichts vom lezten Blumen-Looſe.
Der Adler ſtrebt hinan in’s Grenzenloſe,
Sein Auge trinkt ſich voll von ſprüh’ndem Golde,
604
Er iſt der Thor nicht, daß er fragen wollte,
Ob er das Haupt nicht an die Wölbung ſtoße.
Mag einſt der Jugend Blume uns verbleichen,
So war die Täuſchung doch ſo himmliſch ſüße,
Wir wollen ihr vorzeitig nicht entſagen.
Und unſre Liebe muß dem Adler gleichen:
Ob Alles, was die Welt gab, uns verließe
Die Liebe darf den Flug in’s Ew’ge wagen.
Am Waldſaum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kukuk horchend, in dem Graſe liegen,
Er ſcheint das Thal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang ſeiner Klage.
Da iſt mir wohl; und meine ſchlimmſte Plage,
Den Fratzen der Geſellſchaft mich zu fügen,
Hier wird ſie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eig’ne Weiſe mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erſt dächten,
Wie ſchön Poeten ihre Zeit verſchwenden,
Sie würden mich zulezt noch gar beneiden.
Denn des Sonnetts vielfält’ge Kränze flechten
Sich wie von ſelber unter meinen Händen,
Indeß die Augen in der Ferne weiden.
In der Char-Woche.
O Woche, Zeugin heiliger Beſchwerde!
Du ſtimmſt ſo ernſt zu dieſer Frühlingswonne,
Und breiteſt im verjüngten Strahl der Sonne
Des Kreuzes dunkeln Schatten auf die Erde.
Du hängeſt ſchweigend deine Flöre nieder,
Der Frühling darf indeſſen immer keimen,
605
Das Veilchen duftet unter Blüthenbäumen,
Und alle Vöglein ſingen Jubellieder.
O ſchweigt, ihr Vöglein hoch im Himmelblauen!
Es tönen rings die dumpfen Glockenklänge,
Die Engel ſingen leiſe Grabgeſänge,
O ſchweiget, Vöglein auf den grünen Auen!
Ihr Veilchen, kränzt heut keine Lockenhaare!
Euch pflückt mein frommes Kind zum dunkeln Strauße,
Ihr wandert mit zum ſtillen Gotteshauſe,
Dort ſollt ihr welken auf des Herrn Altare.
Wird ſie ſich dann in Andachtsluſt verſenken,
Und ſehnſuchtsvoll in ſüße Liebes-Maſſen
Den Himmel und die Welt zuſammenfaſſen,
So ſoll ſie mein auch mein! dabei gedenken.

Agnes war inzwiſchen mit Henni ſpazieren ge - gangen. Sie führte ihn in’s freie Feld hinaus, ohne recht zu ſagen, wohin es ginge, ein nicht ſeltener Fall, wo ihr jedes Mal eine dritte zuverläſſige Perſon unbe - merkt in einiger Entfernung hinten nachzufolgen pflegte. Agnes brachte ſeit einiger Zeit die ſchöne Sammet - Jacke, das Geſchenk ihres vermeintlichen Liebhabers, kaum mehr vom Leibe; ſo trug ſie dieſelbe auch jezt, und ſah trotz einiger Nachläſſigkeit im Anzug ſehr rei - zend darin aus. Unter ordentlichen Geſprächen ge - langten Beide zu dem nächſten Wäldchen und in der Mitte deſſelben auf einen breiten Raſenplatz, worauf eine große Eiche einzeln ſtand, die einen offenen Brun - nen ſehr maleriſch beſchattete. Agnes hatte von die -606 ſem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdig - keit, gelegentlich erzählen gehört. Es iſt dieß wirk - lich ein ſehenswerthes Ueberbleibſel aus dem höchſten Alterthum und äußerlich noch wohl erhalten. Die runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Theil ver - ſchüttet, iſt noch immer beträchtlich, man konnte mit mäßiger Schnelle auf Sechszehn zählen, eh der hin - eingeworfene Stein unten auf dem Waſſer aufſchlug. Sein Name Alexis-Brunn bezog ſich auf eine Le - gende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.

Vor vielen hundert Jahren, eh noch das Chri - ſtenthum in deutſchen Landen verbreitet geweſen, lebte ein Graf, der beſaß eine Tochter, Belſore, die hatte er eines Herzogs Sohn, mit Namen Alexis, zur Ehe verſprochen. Dieſe liebten einander treulich und rein; über ein Jahr ſollte Alexis ſie heimführen dürfen. Mittlerweile aber mußte er einen Zug thun mit ſeinem Vater, weitweg, nach Konſtantinopel. Dort hörte er zum Erſtenmal in ſeinem Leben das Evan - gelium von Chriſto predigen, was ihn und ſeinen Vater bewog, dieſen Glauben beſſer kennen zu lernen. Sie blieben einen Monat in der gedachten Stadt und kamen mit Freuden zulezt überein, daß ſie ſich woll - ten taufen laſſen. Bevor ſie wieder heimreiſ’ten, ließ der Vater von einem griechiſchen Goldſchmied zwei Fingerringe machen, worauf das Kreuzeszeichen in607 koſtbaren Edelſtein gegraben war; der eine gehörte Belſoren, der andere Alexis. Als ſie nach Hauſe kamen und der Graf vernahm, was mit ihnen geſche - hen, und daß ſeine Tochter ſollte zur Chriſtin werden, verwandelte ſich ſeine Freude in Zorn und giftigen Haß, er ſchwur, daß er ſein Kind lieber würde mit eigner Hand umbringen, eh ein ſolcher ſie heirathen dürfe, und könnte ſie dadurch zu einer Königin wer - den. Belſore verging für Jammer, zumal ſie nach dem, was ihr Alexis vom neuen Glauben an’s Herz gelegt, ihre Seligkeit auch nur auf dieſem Weg zu finden meinte. Sie wechſelten heimlich die Ringe und gelobten ſich Treue bis in den Tod, was auch immer über ſie ergehen würde. Der Graf bot Alexis Be - denkzeit an, ob er etwa ſeinen Irrthum abſchwören möchte, da er ihn denn auf’s Neue als lieben Schwie - gerſohn umarmen wolle. Der Jüngling aber verwarf den frevelhaften Antrag, nahm Abſchied von Belſo - ren, und griff zum Wanderſtab, um in geringer Tracht bald da bald dort als ein Bote des Evangeliums um - herzureiſen. Da er nun überall verſtändig und kräftig zu reden gewußt, auch lieblich von Geſtalt geweſen, ſo blieb ſeine Arbeit nicht ohne vielfältigen Segen. Aber oft, wenn er ſo allein ſeine Straße fortlief, bei Schäfern auf dem Felde, bei Köhlern im Walde über - nachten blieb und neben ſo viel Ungemach auch wohl den Spott und die Verachtung der Welt erfahren mußte, war er vor innerer Anfechtung nicht ſicher und608 zweifelte zuweilen, ob er auch ſelbſt die Wahrheit habe, ob Chriſtus der Sohn Gottes ſey, und würdig, daß man um ſeinetwillen Alles verlaſſe. Dazu geſellte ſich die Sehnſucht nach Belſoren, mit der er jezt wohl längſt in Glück und Freuden leben könnte. Indeß war er auf ſeinen Wanderungen auch in dieſe Gegend ge - kommen. Hier, wo nunmehr der Brunnen iſt, ſoll damals nur eine tiefe Felskluft, dabei ein Quell ge - weſen ſeyn, daran Alexis ſeinen Durſt gelöſcht. Hier flehte er brünſtig zu Gott um ein Zeichen, ob er den rechten Glauben habe; doch dachte er ſich dieſer Gnade erſt durch ein Geduldjahr würdiger zu machen, wäh - rend deſſen er zu Haus beim Herzog, ſeinem Vater, geruhig leben und ſeine Seele auf göttliche Dinge richten wolle. Werde er in dieſer Zeit ſeiner Sache nicht gewiſſer und komme er auf den nächſten Früh - ling wiederum hieher, ſo ſoll der Roſenſtock entſchei - den, an deſſen völlig abgeſtorbenes Holz er jezt den Ring der Belſore feſtſteckte: blühe bis dahin der Stock und trage er noch den goldenen Reif, ſo ſoll ihm das bedeuten, daß er das Heil ſeiner Seele bis - her auf dem rechten Wege geſucht und daß auch ſeine Liebe zu der Braut dem Himmel wohlgefällig ſey. So trat er nun den Rückweg an. Der Herzog war in - zwiſchen dem Erlöſer treu geblieben, und von Belſo - ren erhielt Alexis durch heimliche Botſchaft die gleiche Verſicherung. So ſehr ihn dieß erfreute, ſo blieb ihm doch ſein eigener Zweifelmuth; zugleich be -609 trübte er ſich, weil es im Brief der Braut beinah den Anſchein hatte, als ob ſie bei aller treuen Zärtlich - keit für ihn, doch ihrer heißen Liebe zum Heiland die ſeinige in etwas nachgeſezt. Er konnte kaum erwar - ten, bis bald das Jahr um war. Da macht er ſich alſo zu Fuße, wie er’s gelobt, auf den Weg. Er findet den Wald wieder aus, er kennt ſchon von wei - tem die Stelle, er fällt, bevor er näher tritt, noch Einmal auf die Knie und eilt mit angſtvollem Herzen hinzu. O Wunder! drei Roſen, die ſchönſten, hängen am Strauch. Aber ach, es fehlte der Ring. Sein Glaube alſo galt, aber Belſore war ihm verloren. Voll Verzweiflung reißt er den Strauch aus der Erde und wirft ihn in die tiefe Felskluft. Gleich nachher reut ihn die Unthat; als ein Büßender kehrt er zu - rück in’s Vaterland, deſſen Einwohner durch die Be - mühungen des Herzogs bereits zum großen Theil wa - ren bekehrt worden. Alexis verſank in eine finſtre Schwermuth; doch Gott verließ ihn nicht, Gott gab ihm den Frieden in ſeinem wahrhaftigen Worte. Nur über Einen Punkt, über ſeine Liebe zu der frommen Jungfrau, war er noch nicht beruhigt. Eine heim - liche Hoffnung lebte in ihm, daß er an jenem wunder - baren Orte noch völlig müſſe getröſtet werden. Zum dritten Mal macht er die weite Wallfahrt, und glück - lich kommt er an’s Ziel. Aber leider trifft er hier Alles nur eben wie er’s verlaſſen. Mit Wehmuth erkennt er die nackte Stelle, wo er den Stock ent -39610wurzelt hatte. Kein Wunder will erſcheinen, kein Gebet hilft ihm zu einer fröhlichen Gewißheit. In ſolcher Noth und Hoffnungsloſigkeit überfiel ihn die Nacht, als er noch immer auf dem Felſen hingeſtreckt lag, welcher ſich über die Kluft herbückte. In Ge - danken ſah er ſo hinunter in die Finſterniß und über - legte, wie er mit anbrechendem Morgen in Gottes Namen wieder wandern und ſeiner Liebſten ein Ab - ſchiedsſchreiben ſchicken wolle. Auf Einmal bemerkt er, daß es tief unten auf dem ruhigen Spiegel des Waſſers als wie ein Gold - und Roſenſchimmer zuckt und flimmt. Anfänglich traut er ſeinen Augen nicht, allein von Zeit zu Zeit kommt der liebliche Schein wieder. Ein frohes Ahnen geht ihm auf. Wie der Tag kommt, klimmt er die Felſen hinab, und ſiehe da! der weggeworfene Roſenſtock hatte zwiſchen dem Ge - ſtein, kaum eine Spanne über’m Waſſer, Wurzel ge - ſchlagen und blühte gar herrlich. Behutſam macht Alexis ihn los, bringt ihn an’s Tageslicht herauf und findet an derſelben Stelle, wo er vor zweien Jah - ren den Reif angeſteckt, ringsum eine friſche Rinde darüber gequollen, die ihn ſo dicht einſchloß, daß kaum durch eine winzige Ritze das helle Gold herausglänzte. Noch voriges Jahr müßte Alexis den Ring, wäre er nicht ſo übereilt und ſein Vertrauen zu Gott größer geweſen, weit leichter entdeckt haben. Wie dankbar warf er nun ſich im Gebet zur Erde! Mit welchen Thränen küßte er den Stock, der außer vielen aufgegan -611 genen Roſen noch eine Menge Knoſpen zeigte. Gerne hätte er ihn mitgenommen, allein er glaubte ihn dem heiligen Orte, wo er zuvor geſtanden, wieder einver - leiben zu müſſen. Unter lautem Preiſe der göttlichen Allmacht kehrte er, wie ein verwandelter Menſch, in’s väterliche Haus zurück. Dort empfängt ihn zugleich eine Freuden - und Trauerbotſchaft: der alte Graf war geſtorben, auf dem Todtenbett hatte er ſich, durch die Belehrung ſeiner Tochter gewonnen, zum Chriſtenthum bekannt und ſeine Härte aufrichtig bereut. Alexis und Belſore wurden zum glücklichſten Paare ver - bunden. Ihr Erſtes hierauf war, daß ſie mit einan - der eine Wallfahrt an den Wunderquell machten und denſelben in einen ſchöngemauerten Brunn faſſen ließen. Viele Jahrhunderte lang ſoll es ein Gebrauch gewe - ſen ſeyn, daß weit aus der Umgegend die Brautleute vor der Hochzeit hieherreiſ’ten, um einen geſegneten Trunk von dieſem klaren Waſſer zu thun, welches der Roſen-Trunk geheißen; gewöhnlich reichte ihn ein Pa - ter Einſiedler, der hier in dem Walde gewohnt. Das iſt nun freilich abgegangen, doch ſagen die Leute, die Schäfer und Feldhüter, daß noch jezt in der Charfrei - tag - und Chriſtnacht das roſenfarbene Leuchten auf dem Grunde des Brunnens zu ſehen ſey.

Agnes betrachtete einen vorſtehenden Mauerſtein, worauf noch ziemlich deutlich drei ausgehauene Roſen und ein Kreuz zu bemerken waren. Henni leitete aus der Geſchichte mehrere Lehren für ſeine arme612 Schutzbefohlene ab; ſie merkte aber ſehr wenig dar - auf und zog ihn bald von dem Platze weg, um nahebei einen kleinen Berggipfel zu beſteigen, welcher ſich kahl und kegelförmig über das Wäldchen erhob. Der Wind weht dort! Ich muß das Windlied ſingen; es iſt ſehr rathſam heute, rief Agnes, voraneilend.

Sie ſtanden oben und ſie ſang in einer freien Weiſe die folgenden Verſe, indem ſie bei Frag und Antwort jedes Mal ſehr artig mit der Stimme wech - ſelte, dabei ſehr lebhaft in die Luft agirte.

Sauſewind! Brauſewind!
Dort und hier,
Deine Heimath ſage mir!
Kindlein, wir fahren
Seit viel vielen Jahren
Durch die weit weite Welt,
Und wollen’s erfragen,
Die Antwort erjagen,
Bei den Bergen, den Meeren,
Bei des Himmels klingenden Heeren
Die wiſſen es nie,
Biſt du klüger als ſie,
Magſt du es ſagen.
Fort! Wohlauf!
Halt uns nicht auf!
Kommen andre nach,
Unſre Brüder,
Da frag wieder.
Halt an! Gemach,
Eine kleine Friſt!
Sagt, wo der Liebe Heimath iſt,
Ihr Anfang, ihr Ende!
613
Wer’s nennen könnte!
Schelmiſches Kind,
Lieb iſt wie Wind,
Raſch und lebendig,
Ruhet nie,
Ewig iſt ſie,
Aber nicht immer beſtändig.
Fort! Wohlauf auf!
Halt uns nicht auf!
Fort über Stoppel, und Wälder, und Wieſen!
Wenn ich dein Schätzchen ſeh,
Will ich es grüßen;
Kindlein, Ade!

Gegen Abend hatte ſich Agnes ermüdet zu Bette gelegt; der Präſident war eine Zeitlang bei ihr geweſen; auf Einmal kam er freudig aus ihrem Schlaf - zimmer und ſagte eilfertig zu Theobald hin: Sie verlangt nach Ihnen, geh’n Sie geſchwinde! Er ge - horchte unverzüglich, die Andern blieben zurück und er zog die Thüre hinter ſich zu. Agnes lag ruhig auf der Seite, den Kopf auf einem Arm geſtüzt. Be - ſcheiden ſezte er ſich mit einem freundlichen Gruß auf den Stuhl an ihrem Bette; durchaus gelaſſen, doch einigermaßen zweifelhaft ſah ſie ihn lange an; es ſchien als dämmerte eine angenehme Erinnerung bei ihr auf, welche ſie an ſeinen Geſichtszügen zu prüfen ſuchte. Aber heißer, ſchmelzender wird ihr Blick, ihr Athem ſteigt, es hebt ſich ihre Bruſt, und jezt in - dem ſie mit der Linken ſich beide Augen zuhält 614 ſtreckt ſie den rechten Arm entſchloſſen gegen ihn, faßt leidenſchaftlich ſeine Hand und drückt ſie feſt an ihren Buſen; der Maler liegt, eh er ſich’s ſelbſt verſieht, an ihrem Halſe und ſaugt von ihren Lippen eine Gluth, die von der Angſt des Moments eine ſchau - dernde Würze erhält; der Wahnſinn funkelt frohlockend aus ihren Augen, Verzweiflung preßt dem Freunde das himmliſche Gut, eh ſich’s ihm ganz entfremde, noch Einmal ja er fühlt’s, zum lezten Mal, in die zitternden Arme.

Aber Agnes fängt ſchon an unruhig zu werden, ſich ſeinen Küſſen leiſe zu entziehen, ſie hebt ängſtlich den Kopf in die Höhe: Was flüſtert denn bei dir? was ſpricht aus dir? ich höre zweierlei Stimmen Hülfe! zu Hülfe! du tückiſcher Satan, hinweg ! Wie bin ich, wie bin ich betrogen! O nun iſt Alles, Alles mit mir aus. Der Lügner wird hin - gehn, mich zu beſchimpfen bei meinem Geliebten, als wär ich kein ehrliches Mädchen, als hätt ich mit Wiſſen und Willen dieß Scheuſal geküßt O Theobald! wäreſt du hier, daß ich dir Alles ſagte! Du weiß’t nicht, wie’s die Schlangen machten! und daß man mir den Kopf verrückte, mir, deinem unerfahrnen, armen, verlaſſenen Kind! Sie kniete aufrecht im Bette, weinte bitterlich und ihre losgegangenen Haare be - deckten ihr die glühende Wange. Nolten ertrug den Anblick nicht, er eilte weinend hinaus: Ja lache nur in deine Fauſt und geh und mach dich luſtig mit615 den Andern es wird nicht allzu lange mehr ſo dauern, denn es iſt gottvergeſſen und die Engel im Himmel erbarmt’s, wie ihr ein krankes Mädchen quält!

Die Schwägerin kam und ſezte ſich zu ihr, ſie beteten; ſo ward ſie ruhiger.

Nicht wahr? ſprach ſie nachher, ein ſelig Ende, das iſt’s doch, was ſich zulezt ein Jeder wünſcht; ei - nen leichten Tod, recht ſanft, nur ſo wie eines Kna - ben Knie ſich beugt; wie komm ich zu dem Ausdruck? ich denke an den Henni; mit dieſem müßte ſich gut ſterben laſſen.

In dieſem Ton ſprach ſie eine Weile fort, ver - gaß ſich nach und nach, ward munterer, endlich gar ſcherzhaft, und zwar ſo, daß Nannetten dieſer Sprung mißfiel. Agnes bemerkte es, ſchien wirklich durch ſich ſelbſt überraſcht und beſchämt, und ſie ent - ſchuldigte alsbald ihr Benehmen auf eine Art, welche genugſam zeigt, wie klar ſie ſich auf Augenblicke war: Siehſt du, ſagte ſie mit dem holdeſten Lächeln der Wehmuth, ich bin nur eben wie das Schiff, das leck an einer Sandbank hängt und dem nicht mehr zu helfen iſt; das mag nun wohl ſehr kläglich ſeyn, was kann aber das arme Schiff dafür, wenn mittlerweile noch die rothen Wimpel oben ihr Schelmenſpiel im Wind forttreiben, als wäre nichts geſchehn? Laß ge - hen wie es gehen kann. Wenn erſt Gras auf mir wächst, hat’s damit auch ein Ende.

616

Der Maler verließ den folgenden Tag in aller Frühe das Schloß: der Präſident ſelbſt hatte dazu gerathen und ihm eines ſeiner Pferde geliehen. Es war vor der Hand nur um einen Verſuch mit einigen Tagen zu thun, wie das Mädchen ſich anließe, wenn Theobald ihr aus den Augen wäre. Er ſelbſt ſchien bei ſeiner Abreiſe noch unentſchloſſen, wohin er ſich wende. Auf alle Fälle ward ein dritter Ort beſtimmt, um zur Noth Botſchaft für ihn hinterlegen zu können. Von W * war nicht die Rede; noch kürzlich hatte er dorthin um Friſt geſchrieben, im Herzen übrigens gleich - gültig, ob ſie ihm gewährt würde oder die ganze Sache ſich zerſchlüge.

Die größere Ruhe, die man bei Agnes, ſeit der Gegenſtand ihrer Furcht verſchwunden iſt, alsbald wahrnehmen kann, wird nach und nach zur ſtillen Schwermuth, ihre Geſchwätzigkeit nimmt ab, ſie iſt ſich ihres Uebels zu Zeiten bewußt und der kleinſte Zufall, der ſie daran erinnert, ein Wort, ein Blick von Sei - ten ihrer Umgebung kann ſie empfindlich kränken. Auffallend iſt in dieſer Hinſicht folgender Zug. Der Präſident, oder Margot vielmehr, beſaß ein großes Windſpiel, dem man, ſeiner ausgezeichneten Schönheit wegen, den Namen Merveille gegeben. Der Hund erzeigte ſich Agneſen früher nicht abgeneigt, ſeit ei - niger Zeit aber floh er ſie offenbar, verkroch ſich or - dentlich vor ihr. Ohne Zweifel hatte dieſe Scheu ei - nen ſehr natürlichen Grund, Agnes mochte ihn un -617 wiſſentlich geärgert haben genug, ſie ſelber ſchien zu glauben, es fühle das Thier das Unheimliche ihrer Nähe. Sie ſchmeichelte dem Hund auf alle Weiſe, ja gar mit Thränen, und ließ zulezt, da nichts verfangen wollte, betrübt und ärgerlich von ihm ab, ohne ihn weiter anſehn zu wollen.

Seit Kurzem bemerkte man, daß ſie ihren Trau - ring nicht mehr trug. Als man ſie um die Urſache fragte, gab ſie zur Antwort: Meine Mutter hat ihn genommen. Deine Mutter iſt aber todt, willſt du ſie denn geſehen haben? Nein; dennoch weiß ich, ſie hat den Ring mit fort; ich kenne den Platz, wo er liegt, und ich muß ihn ſelbſt dort abholen. O wäre das ſchon überſtanden! Es iſt ein ängſtlicher Ort, aber einer frommen Braut kann er nichts an - haben; ein ſchöner Engel wird da ſtehn, wird fragen, was ich ſuche und mir’s einhändigen. Auch ſagt er mir ſogleich, wo mein Geliebter iſt und wann er kommt.

Ein ander Mal ließ ſie gegen Henni die Worte fallen: Mir kam geſtern ſo der Gedanke, weil der Nolten doch gar zu lange ausbleibt, gib Acht, er hat mich aufgegeben! Und, recht beim Licht beſehn, es iſt ihm nicht ſehr zu verdenken; was thät er mit der Thörin? er hätte ſeine liebe Roth im Hauſe. Und überdieß, o Henni welk, welk, welk, es geht zum Welken! Siehſt du, wie es nun gut iſt, daß noch die Hochzeit nicht war; ich dachte wohl immer ſo was. 618Nun mag es enden wann es will, mir iſt doch mein Mädchenkranz ſicher, ich nehm ihn in’s Grab Un - ter uns geſagt, Junge, ich habe mir immer gewünſcht, ſo und nicht anders in Himmel zu kommen. Aber den Ring muß ich erſt haben, ich muß ihn vorweiſen können.

Noch eines freundlichen und frommen Auftritts ſoll hier gedacht werden, zumal es das Lezte iſt, was wir von des Mädchens traurigem Leben zu erzählen haben.

Nannette kam einsmals in aller Eile herbei - geſprungen und erſuchte das Fräulein und deren Va - ter, ihr in ein Zimmer des untern Stocks herab zu folgen, um an der angelehnten Thüre der alten Kam - mer, wo die Orgel ſtand, einen Augenblick Zeuge der muſikaliſchen Unterhaltung Hennis und Agneſens zu ſeyn. So gingen ſie zu Dreien leiſe an den be - zeichneten Ort und belauſchten einen überaus rühren - den Geſang, in welchen die Orgel ihre Flötentöne ſchmolz. Bald herrſchte des Knaben und bald des Mädchens Stimme vor. Es ſchien alt-katholiſche Mu - ſik zu ſeyn. Ganz wunderſam ergreifend waren be - ſonders die kraftvollen Strophen eines lateiniſchen Bußliedes aus E dur. Hier ſteht nur der Anfang.

Jesu, benigne!
A cujus igne
Opto flagrare,
Et te amare;
619
Cur non flagravi?
Cur non amavi
Te, Jesu Christe?
O frigus triste!
*)

Dieſe Zeilen finden ſich wirklich in einem uralten, wohl längſt ver - griffenen Andachtsbuch. Sie ſind unnachahmlich ſchön; indeſſen - gen wir, um einiger Leſer willen, dieſe Ueberſetzung bei:

Dein Liebesfeuer, Ach Herr! wie theuer Wollt ich es hegen, Wollt ich es pflegen Hab’s nicht geheget, Und nicht gepfleget, War Eis im Herzen, O Höllenſchmerzen!
*)

Es folgten noch zwei dergleichen Verſe, worauf Henni ſich in ein langes Nachſpiel vertiefte, dann aber in ein anderes Lied überging, welches die ähn - lichen Empfindungen ausdrückte. Agnes ſang dieß allein und der Knabe ſpielte.

Eine Liebe kenn ich, die iſt treu,
War getreu, ſeitdem ich ſie gefunden,
Hat mit tiefem Seufzen immer neu,
Stets verſöhnlich, ſich mit mir verbunden.
Welcher einſt mit himmliſchem Gedulden
Bitter bittern Todestropfen trank,
Hing am Kreuz und büßte mein Verſchulden,
Bis es in ein Meer von Gnade ſank.
Und was iſt’s, daß ich doch traurig bin?
Daß ich angſtvoll mich am Boden winde?
Frage: Hüter, iſt die Nacht bald hin?
Und: was rettet mich von Tod und Sünde?
Arges Herze! ja geſteh es nur,
Du haſt wieder böſe Luſt empfangen;
Frommer Liebe, alter Treue Spur
Ach, das iſt auf lange nun vergangen!
620
Darum iſt’s auch, daß ich traurig bin,
Daß ich angſtvoll mich am Boden winde
Hüter! Hüter! iſt die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde?

Bei den lezten Worten fiel Margot Nan - netten mit heißen Thränen um den Hals. Der Präſident ging leiſe ab und zu. Noch immer klang die Orgel alleine fort, als könnte ſie im Wohllaut unendlicher Schmerzen zu keinem Schluſſe mehr kom - men. Endlich blieb Alles ſtill. Die Thüre ging auf, ein artiges Mädchen, Henni’s kleine Schweſter, welche die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geſchlichen her - aus, entfernte ſich beſcheiden und ließ die Thüre hin - ter ſich offen. Nun aber hatte man ein wahres Frie - densbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich ſaß, gedankenvoll in ſich gebückt, vor der offnen Taſtatur, Ag - nes, leicht eingeſchlafen, auf dem Boden neben ihm, den Kopf an ſein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem Schooſe. Die Abendſonne brach durch die beſtäubten Fenſterſcheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit goldenem Licht. Das große Krucifix an der Wand ſah mitleidsvoll auf ſie herab.

Nachdem die Freunde eine Zeitlang in ſtiller Be - trachtung geſtanden, traten ſie ſchweigend zurück und lehnten die Thüre ſacht an.

Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt. Nannette hatte beim Aufſtehn ihr Bette leer ge -621 funden und voller Schrecken ſogleich Lärm gemacht. Niemand begriff im erſten Augenblick, wie ſie nur irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da man daſſelbe aus verſchiedenen Gründen ſeit einiger Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte, die Thüren Nachts ſorgfältig geſchloſſen, auch wirklich am Morgen noch verſchloſſen gefunden wurden. Aber vor einem Seitenfenſter, das neben dem Belvedere hinausführte, entdeckte man zwiſchen den Bäumen eine hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach ſeinem ei - genen Geſtändniß, geſtern Abends angelegt, weil Ag - nes durchaus ein altes Vogelneſt verlangt habe, das oben aus einer der Lücken im ſteinernen Fries her - vorgeſehen. Nachher war die Leiter vergeſſen worden, was ohne Zweifel die Abſicht des Mädchens geweſen.

Der Vormittag verflog unter den angeſtrengte - ſten Nachforſchungen, unter endloſem Hin - und Her - Rathen, Fragen, Boten-Ausſenden und Empfangen. Innerhalb des Schloßbezirks war bereits Alles um und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erſchien von keiner Seite die mindeſte Nachricht, der mindeſte Troſt. Eine falſche Spur, wozu die irrige Ausſage eines Feldhüters Veranlaſſung gegeben, machte über - dieß den größten Aufenthalt.

Die Sonne war ſeit zwei Stunden untergegan - gen und noch blieb alles Laufen und Schicken frucht - los; die Freunde kamen außer ſich. Nach Mitter - nacht kehrten die lezten Fackeln zurück, nur der alte622 Gärtner und ſelbſt der blinde Henni waren noch im - mer außen, ſo daß man endlich um dieſe beſorgt zu werden anfing. Niemand im Schloſſe dachte daran, ſich ſchlafen zu legen. Der Präſident ſtellte die Muth - maßung auf, daß Agnes irgend einen Weg nach ihrer Heimath eingeſchlagen und, je nachdem ſie zeitig genug ſich von hier weggemacht hätte, bereits einen bedeutenden Vorſprung gewonnen haben dürfte, ehe die Späher ausgegangen; für ihr Leben zu fürchten, ſey kein Grund vorhanden, es ſtünde vielmehr zu er - warten, daß ſie unterwegs als verdächtig aufgegrif - fen und öffentlich Anſtalt würde getroffen werden, ſie in ihren Geburtsort zu bringen. Nannette dachte ſich in dieſem Fall die Ankunft der Unglücklichen im väterlichen Hauſe beinahe ſchrecklicher als Alles; und doch, wenn man ſie nur übrigens wohlbehalten den Armen des Vaters überliefert denken durfte, ſo ließ ſich ja von hier an wieder neue Hoffnung ſchöpfen. Allein mit welchem Herzen mußte man der Rückkehr des Malers entgegenſehen, wenn ſich bis dahin nichts entſchieden haben ſollte! Margot hielt die Ver - muthung nicht zurück, daß die Zigeunerin auch dieß - mal die verderbliche Hand mit im Spiele habe. Dieß Alles ſprach und wog man hin und her, bis keine Möglichkeit mehr übrig zu ſeyn ſchien, das Schlimmſte aber getraute man ſich kaum zu denken, geſchweige auszuſprechen. Zulezt entſtand eine düſtere Stille. In den verſchiedenen Zimmern brannte hie nnd da eine623 vergeſſene Kerze mit mattem Scheine; die Zimmer ſtellten ſelbſt ein Bild der Angſt und Zerſtörung dar, denn alle Dinge lagen und ſtanden, wie man ſie ge - ſtern Morgen im erſten Schrecken liegen laſſen, un - ordentlich umher. Die Schloßuhr ließ von Zeit zu Zeit ihren weinerlichen Klang vernehmen, von den Anlagen her ſchlug eine Nachtigall in vollen, herrli - chen Tönen.

Auf ein Zeichen des Präſidenten erhob man ſich endlich, zu Bette zu gehen. Ein Theil der Diener - ſchaft blieb wach.

Gegen drei Uhr des Morgens, da eben der Tag zu grauen begann, gaben im Hofe die Hunde Laut, verſtummten jedoch ſogleich wieder. Margot öffnet indeß ihr Fenſter und ſieht in der blaſſen Dämme - rung eine Anzahl Männer, darunter den Gärtner und ſeinen Sohn, mit halb erloſchenen Laternen am Schloßthor ſtehn, welches nur angelehnt war und ſich leiſe aufthat. Eine plötzliche Ahnung durchſchneidet dem Fräulein das Herz und laut aufſchreiend wirft ſie das Fenſter zu, denn ihr ſchien, als wären zwei jener Leute bemüht, einen entſetzlichen Fund in’s Haus zu tragen. Gleich darauf hört ſie die Glocke vom Schlaf - zimmer ihres Vaters. Alles ſtürzt, nur halb an - gekleidet, von allen Ecken und Enden herbei.

Die Verlorene war wirklich aufgefunden wor - den, doch leider todt und ohne Rettung. Vor einer Stunde wurde der Körper nach langen mühſamen624 Verſuchen aus jenem Brunnen im Walde gezogen. Es hatte ſich der Gärtner, von ſeinem Sohne auf dieſen Platz aufmerkſam gemacht, noch ſpät in der Nacht dorthin begeben, und ein aufgefundener Hand - ſchuh beſtätigte ſogleich die Vermuthung. Alsbald war der Alte in’s nächſte Städtchen geeilt, um Mann - ſchaft mit Werkzeugen, Strickleiter und Haken, ſo wie einen Wundarzt herbei zu holen.

Der Leichnam war, außer den völlig durchnäßten und zerriſſenen Kleidern, nur wenig verlezt; das ſchnee - weiße Geſicht, um welches die naſſen Haare verwor - ren hingen, ſah ſich noch jezt vollkommen gleich; der halbgeöffnete Mund ſchien ſchmerzlich zu lächeln; die Augen feſt geſchloſſen. Offenbar war ſie, mit dem Kopfe vorwärts ſtürzend, ertrunken; nur eine leichte Wunde entdeckte man rechts über den Schlä - fen. Bemerkenswerth iſt noch, daß ſie in Larkens grüner Jacke, woran man ſie geſtern eine Kleinigkeit, jedoch ſehr emſig und wichtig, hatte verändern ſehn, den Tod gefunden.

Der Wundarzt machte zum Ueberfluß noch den einen und andern vergeblichen Verſuch. Vom grän - zenloſen Jammer der ſämmtlichen Umſtehenden ſagen wir nichts.

Nach Nolten hatte man ausgeſendet, doch traf ihn weder Bote noch Brief. Den zweiten Tag nach625 dem Tode der Braut erſchien er unvermuthet von einer andern Seite her. Sein ganzes Eintreten, das ſonderbar Gehaltene, matt Reſignirte in ſeiner Miene, ſeinem Gruß war von der Art, daß er, was vorge - fallen, entweder ſchon zu wiſſen oder zu vermuthen, aber nicht näher hören zu wollen ſchien. Sonach war denn auch andrerſeits der Empfang beklommen, ein - ſylbig. Nannette, die bei der erſten Begrüßung nicht gleich zugegen geweſen, ſtürzt, da ſie des Bru - ders anſichtig wird, mit lautem Geſchrei auf ihn zu. Sein Anblick war nicht nur im höchſten Grade mit - leidswerth, ſondern wirklich zum Erſchrecken. Er ſah verwildert, ſonnverbrannt und um viele Jahre äl - ter aus. Sein lebloſer gläſerner Blick verrieth nicht ſowohl einen gewaltigen Schmerz, als vielmehr eine ſchläfrige Ueberſättigung von langen Leiden. Das Unglück, das die Andern noch als ein gegenwärtiges in ſeiner ganzen Stärke fühlten, ſchien, wenn man ihn anſah, ein längſt vergangenes zu ſeyn. Er ſprach nur gezwungen und zeigte eine blöde ſeltſame Verle - genheit in Allem, was er that. Er hatte ſich, wie man nur nach und nach von ihm erfuhr, während der lezten ſechs Tage verſchiedenen Streifereien in unbe - kannten Gegenden überlaſſen, zwecklos und einſam nur ſeinem Grame lebend; kaum daß er’s über ſich ver - mocht, einmal nach Neuburg zu ſchreiben.

Indem nun von Agneſen noch immer nicht be - ſtimmt die Rede wurde und man durchaus nicht wußte,40626wie man deßhalb bei Nolten ſich zu benehmen habe, ſo wurde Jederman nicht wenig überraſcht, als er mit aller Gelaſſenheit die Frage ſtellte: auf wann die Beerdigung feſtgeſezt ſey, und wohin man dießfalls gedenke? Mit gleicher Ruhe fand er hierauf von ſelbſt den Weg zum Zimmer, wo die Todte lag. Er verweilte allein und lange daſelbſt. Erſt dieſe An - ſchauung gab ihm das ganze, deutliche Gefühl ſeines Verluſtes, er weinte heftig, als er zu den Andern auf den Saal zurückkam.

Unglücklicher, geliebter Freund, nahm jezt der Präſident das Wort und umarmte den Maler, es iſt mir vorlängſt einmal der Spruch irgendwo vorgekommen: wir ſollen ſelbſt da noch hoffen, wo nichts mehr zu hoffen ſteht. Gewiß iſt das ein herrliches Wort, wer’s nur verſtehen will; mir hat es einſt in großer Noth den wunderbarſten Troſt in der Seele erweckt, einen leuchtenden Goldblick des Glaubens; und nur auf den Entſchluß kommt es an, ſich dieſes Glaubens freudig zu bemächtigen. O daß Sie dieß vermöchten! Ein Menſch, den das Schickſal ſo ängſtlich mit eiſernen Händen umklammert, der muß am Ende doch ſein Liebling ſeyn und dieſe grauſame Gunſt wird ſich ihm eines Tags als die ewige Güte und Wahrheit ent - hüllen. Ich habe oft gefunden, daß die Geächteten des Himmels ſeine erſten Heiligen waren. Eine Feuer - taufe iſt über Sie ergangen und ein höheres, ein gott - bewußteres Leben wird ſich von Stund an in Ihnen entfalten.

627

Ich kann, erwiderte Nolten nach einer klei - nen Stille, ich kann zur Noth verſtehen, was Sie meinen, und doch das Unglück macht ſo träge, daß Ihre liebevollen Worte nur halb mein ſtumpfes Ohr noch treffen O daß ein Schlaf ſich auf mich legte, wie Berge ſo ſchwer und ſo dumpf! Daß ich nichts wüßte von Geſtern und Heute und Morgen! Daß eine Gottheit dieſen mattgehezten Geiſt, weichbettend, in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich Glück ! Er überließ ſich einen Augenblick die - ſem Gedanken, dann fuhr er fort: Ja, läge zum wenig - ſten nur dieſe erſte Stufe hinter mir! Und doch, wer kann wiſſen, ob ſich dort nicht der Knoten nochmals verſchlingt? O Leben! o Tod! Räthſel aus Räthſeln! Wo wir den Sinn am ſicherſten zu treffen meinten, da liegt er ſo ſelten, und wo man ihn nicht ſuchte, da gibt er ſich auf einmal halb und von ferne zu erkennen, und verſchwindet, eh man ihn feſthalten kann!

Agneſens Begräbniß iſt auf den morgenden Sonntag beſchloſſen.

Die Nacht zuvor ſchläft Nolten ruhig wie ſeit langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner muthet ſich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wa - chen, ihm leiſtet der Sohn Geſellſchaft, und da der Alte endlich einnickt, iſt Henni die einzig wache Per - ſon in dem Schloſſe. Der gute Junge war recht628 wie verwaiſ’t, ſeit ihm die Freundin und Gebieterin fehlte. Er war ihr ſo nahe, ſo eigen geworden, er hatte insgeheim die ſchüchterne Hoffnung genährt eine Hoffnung, deren er ſich jezt innig ſchämte Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten haben, die arme Seele mit der Kraft des evangeliſchen Wortes zu der Erkenntniß ihrer ſelbſt, zum Lichte der Wahrheit zurückzuführen; ſein ganzes Trachten und Sinnen, alle ſeine Gebete gingen zulezt nur da - hin, und wie viel ſchrecklicher als er je fürchten konnte, ward nun ſein frommes Vertrauen getäuſcht! Er hält und drückt eine theure kalte Hand, die er nicht ſieht, in ſeinen Händen, und liſpelt heiße Segens - worte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele glaubt, vor deſſen durchdringendem Blick das Buch aller Zeiten aufgeſchlagen liegt, der die Herzen der Menſchen lenkt wie Waſſerbäche, in welchem wir le - ben, weben und ſind. Er ſchrickt augenblicklich zu - ſammen vor ſeligem Schrecken, indem er bedenkt, daß das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Thrä - nen anredet, ein taubes Nichts, ein werthloſes Schein - bild iſt, daß der entflohene Geiſt, viel lieblicher ge - ſtaltet, vielleicht in dieſer Stunde am hellen Strome des Paradieſes kniee und, das irre Auge mit lauterer Klarheit auswaſchend, unter befremdetem Lächeln ſich glücklich wieder erkenne und finde. Henni ſtand ſachte auf, von einer unbekannten ſüßen Unruhe be -629 wegt; unbeſchreibliche Sehnſucht ergriff ihn, doch dieſe Sehnſucht ſelbſt war nur das überglückliche Gefühl, die unfaßliche Ahnung einer himmliſchen Zukunft, welche auch ſeiner warte. Er trat an’s Fenſter und öffnete es. Die Nacht war ſehr unfreundlich; ein heftiger Sturm wiegte und ſchwang die hohen Gipfel der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen zuſammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele überließ ſich dieſem Tumulte mit heimlichem Jauchzen, er ließ den Sturm ſeine Locken durchwühlen und lauſchte mit Wolluſt dem hundertſtimmigen Winde. Es däuchten ihm ſeufzende Geiſterchöre der gebunde - nen Kreatur zu ſeyn, die auch mit Ungeduld einer herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes Denken und Empfinden war nur ein trunkenes Lob - lied auf Tod und Verweſung und ewiges Verjüngen. Mit Gewalt muß er den Flug ſeiner Gedanken rück - wärts lenken, der Demuth eingedenk, die Gott nicht vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Ag - neſens Hülle tritt, iſt ihm wie einem, der zu lange in das Feuerbild der Sonne geſchaut, er ſinkt in dop - pelt ſchmerzliche Blindheit zurück. Still ſezt er ſich nieder, und ſchickt ſich an, einen Kranz von Roſen und Myrthen zu Ende zu flechten.

Nach Mitternacht erweckt indeß den Maler ein ſonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum gehört zu haben glaubt, bald aber kann er ſich völlig überzeugen, daß es Muſik iſt, welche von dem linken630 Schloßflügel herüber zu tönen ſcheint. Es war als ſpielte man ſehr feierlich die Orgel, dann wieder klang es wie ein ganz anderes Inſtrument, immer nur ab - gebrochen, mit längeren und kürzeren Pauſen, bald widerwärtig hart und grell, bald ſanft und rührend. Betroffen ſpringt er aus dem Bette, unſchlüſſig was er thun, wo er zuerſt ſich hinwenden ſoll. Er horcht und horcht, und abermals dieſelben unbegreiflichen Töne! Leis auf den Socken, den Schlafrock umgewor - fen, geht er vor ſeine Thür, und ſchleicht, mit den Händen an der Wand forttaſtend, den finſtern Gang hin, bis in die Nähe des Zimmers, wo ſich der Gärt - ner und Henni befinden. Er ruft um Licht, der Gärtner eilt heraus, verwundert, den Maler zu dieſer Stunde hier zu ſehn. Da nun weder Vater noch Sohn irgend etwas Anderes gehört haben wollen, als das wechſelnde Pfeifen des Windes, welcher auf dieſer Seite heftiger gegen das Haus herſtieß, ſo entfernte ſich Nolten, ſcheinbar beruhigt, mit Licht, gab übri - gens nicht zu, daß man ihn zurückbegleitete.

Keine volle Minute verging, ſo vernahm der Alte und Henni vollkommen deutlich die oben beſchriebenen Töne und gleich darauf einen ſtarken Fall ſammt einem lauten Aufſchrei.

Kaum ſind ſie vor die alte Kapelle gelangt, kaum ſah der Gärtner drei Schritte vor ſich den Maler der Länge nach unter der offenſtehenden Thür ohne Lebens - zeichen liegen, ſo ruft ſchon Henni, ſich angſtvoll an631 den Vater klammernd und ihn nicht weiter laſſend Halt, Vater, halt! um Gotteswillen ſeht Ihr nicht dort in der Kammer

Was? ruft der Alte ungeduldig, da ihn der Knabe aufhält, ſo laß mich doch! Hier, vor uns liegt, was mich erſchreckt der Maler, leblos am Boden!

Dort aber dort ſteht er ja auch und o ſeht Ihr, noch Jemand

Biſt du von Sinnen? du biſt blind! was iſt mit dir?

So wahr Gott lebt, ich ſehe! verſezt der Knabe mit leiſer, von Angſt erſtickter Stimme und deutet fortwährend nach der Tiefe der Kammer, auf die Orgel, wo für den Gärtner nichts zu ſehen iſt; die - ſer will nur immer dem Maler beiſpringen, über wel - chen Henni weit wegſchaut. Vater! jezt jezt ſie ſchleichen auf uns zu Schrecklich! o flieht Hier verſagt ihm die Sprache, er hängt ohnmächtig dem Alten im Arm, der jezt ein verzweifeltes Noth - geſchrei erhebt. Von allenthalben ruft es und rennt es herbei, der Hausherr ſelbſt erſcheint mit den Er - ſten und ſchon iſt der Wundarzt zur Hand, der dieſe lezten Tage das Schloß nicht verließ; er läuft von Nolten zu Henni, von Henni zu Nolten. Beide trägt man hinauf, ein Jedes will helfen, mit rathen, mit anſehn, man hindert, tritt und ſtößt einander, der Präſident entfernt daher Alles bis auf wenige632 Perſonen. Ein Reitender ſprengt nach der Stadt, den zweiten Arzt zu holen, indeß der gegenwärtige, ein ruhiger, tüchtiger Mann, fortfährt, das Nöthige mit Einreibung und warmen Tüchern nach der Ord - nung zu thun; ſchon füllte ſchauerlicher Duft der ſtärkſten Mittel das Zimmer. Mit Henni hat es keine Gefahr, obgleich ihm die volle Beſinnung noch ausbleibt. An Nolten muß nach ſtundenlanger An - ſtrengung, ſo Kunſt wie Hoffnung erliegen. Beſchei - den äußerte der Wundarzt ſeinen Zweifel und als endlich der Medikus ankam, erklärte dieſer auf den dritten Blick, daß keine Spur von Leben hier mehr zu ſuchen ſey.

Hatte Agneſens Krankheit und Tod überall in der Gegend das größte Aufſehn und die lebhafteſte Theilnahme erregt, ſo machte dieſer neue Trauerfall einen wahrhaft paniſchen Eindruck auf die Gemüther der Menſchen, zumal bis jezt noch kein hinreichender Erklärungsgrund am Tage lag. Da indeß doch ir - gend ein heftiger Schrecken die tödtliche Urſache ge - weſen ſeyn muß, ſo lag allerdings bei der von Kum - mer und Verzweiflung erſchöpften Natur des Malers die Annahme ſehr nahe, daß hier die Einbildung, wie man mehr Beiſpiele hat, ihr Aeußerſtes gethan. Die - ſer Meinung waren die Aerzte, ſo wie der Präſident. Doch fehlte es im Schloſſe, je nachdem man auf ge -633 wiſſe Umſtände einen ängſtlichern Werth legen wollte, auch nicht an andern Vermuthungen, die, anfänglich nur leiſe angedeutet, von den Vernünftigen belächelt oder ſtreng verwieſen, in Kurzem gleichwohl mehr Beachtung und endlich ſtillſchweigenden Glauben fanden.

Der Schweſter ließ ſich das Unglück nicht lange verbergen; es warf ſie nieder als wär es ihr eigener Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch frei - lich blieb hier wenig oder nichts zu tröſten.

Henni befindet ſich, zum wenigſten äußerlich, wieder wohl. Er ſcheint über einem ungeheuern Ein - druck zu brüten, deſſen er nicht Herr werden kann. Ein regungsloſes Vor-ſich-Hinſtaunen verſchlingt den eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß ſich nicht zu helfen vor Ungeduld, ſobald man ihn über ſein ge - ſtriges Benehmen befragt; er flieht die Geſellſchaft, aber ſogleich ſcheucht ihn eine Angſt in die Nähe der Seinen zurück.

Der Präſident, in Hoffnung irgend eines neuen Aufſchluſſes über die traurige Begebenheit, befiehlt dem Knaben in Beiſeyn des Gärtners, zu reden. Auch dann noch immer zaudernd und mit einer Art von trotzigem Unwillen, der an dem ſanften Menſchen auf - fiel, gab Henni, erſt mit dürren Worten, dann aber in immer ſteigender Bewegung, ein ſeltſames Bekennt - niß, das den Präſidenten in ſichtbare Verlegenheit ſezte, wie er es aufzunehmen habe.

Als ich, ſprach nämlich der Befragte, geſtern634 Nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief die Thür ſtand offen, und die Laterne außen auf dem Gang warf einen hellen Schein in die Kammer ſah ich tief hinten bei der Orgel eine Fran, wie ei - nen Schatten, ſtehn, ihr gegenüber in kleiner Entfer - nung ſtand ein zweiter Schatten, ein Mann in dun - kelm Kleide, und dieſes war Herr Nolten.

Sonderbarer Menſch! verſezte der Präſident, wie magſt du denn behaupten, dieß geſehen zu haben?

Ich kann nichts ſagen, als: vor meinen Augen war es licht geworden, ich konnte ſehn, und das iſt ſo gewiß, als ich jezt nicht mehr ſehe.

Jenes Frauenbild, fragte der Präſident mit Liſt, verglichſt du es Jemanden?

Damals noch nicht. Erſt heute mußt ich an die verrückte Fremde denken, ich ließ mir ſie daher beſchreiben und kann die Aehnlichkeit nicht läugnen.

Herrn Nolten aber, wie konnteſt du dieſen ſo - gleich erkennen?

Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte dabei den Herrn Maler, da merkt ich erſt, daß Die - ſer, welcher vor uns lag, und Jener, welcher drüben ſtand, ſich durchaus glichen und Einer und derſelbe wären.

Warum brauchſt du den Ausdruck Schatten?

So däuchte mir’s eben; doch ließen ſich Geſicht und Miene und Farben der Kleidung wohl unterſchei - den. Als Beide ſich umfaßten, ſich die Arme gaben635 und ſo der Thür zu wollten, da bogen ſie wie eine Rauchſäule leicht um den hölzernen Pfeiler, der in der Mitte der Kammer ſteht.

Arm in Arm ſagſt du?

Dicht, dicht an einander geſchloſſen; ſie machte den Anfang, er that’s ihr nur wie gezwungen nach und traurig. Hierauf aber o allmächtiger Gott! wie ſoll ich, wie kann ich ausſprechen, was keine Zunge vermag, was doch Niemand glaubt und Niemand glau - ben kann, am wenigſten mir, mir armen Jungen! Er ſchöpfte tief Athem und fuhr ſodann fort: Sie ſchlüpften unhörbar über die Schwelle, er glitt über ſein Ebenbild hin, gleichgültig, als kennt er es nicht mehr. Da wirft er auf Einmal ſein Auge auf mich, o ein Auge voll Elend! und doch ſo ein ſcharfer, durchbohrender Blick! und zögert im Gehn, ſchaut immer auf mich und bewegt die Lippen, wie kraftlos zur Rede da hielt ich’s nimmer aus und weiß auch von hier an nichts weiter zu ſagen.

Der Präſident verſchonte den jungen Menſchen mit jeder weitern Frage, beruhigte ihn und empfahl endlich Vater und Sohn, die Sache bei ſich zu behal - ten, indem er zu verſtehen gab, daß er nichts weiter als eine ungeheure Selbſttäuſchung darunter denke. Der alte Gärtner aber ſchien ſehr ernſt und maß ſelbſt ſeinem Herrn im Innern eine andre Meinung bei, als ihm nun eben zu äußern beliebe.

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Nachdem die beiden Leichen auf dem katholiſchen Gottesacker des nächſten Städtchens, jedoch mit Zu - ziehung eines proteſtantiſchen Geiſtlichen, zur Erde beſtattet worden, traf der edelmüthige Mann, durch den es vornämlich gelang, dieſe lezte Pflicht mit allem wünſchenswerthen Anſtande und unter einem anſehn - lichen Geleite vollzogen zu ſehen, ungeſäumt Anſtalt, der Freundſchaft und der Menſchenliebe ein nenes Opfer zu bringen. Weder konnte er zugeben, daß die arme überbliebene Schweſter des Malers ſich einer ſo traurigen Heimreiſe, als ihr jezt bevorſtand, allein unterziehe, noch ſollte der Förſter den Verluſt ſeiner Kinder auf andere Weiſe, als aus dem Munde des Gaſtfreunds vernehmen, deſſen Haus der unſchuldige Schauplatz ſo ſchwerer Verhängniſſe ward.

Bald ſaß daher der Präſident mit Nannetten und Margot im Wagen. Uebrigens war es bei ihm ſchon im Stillen beſchloſſene Sache, das Mädchen, wenn es ihr und den Ihrigen gefiele, wieder zurück zu nehmen und für ihr künftiges Glück zu ſorgen. Der Gedanke war eigentlich von Margot ausgegan - gen und kaum enthielt ſie ſich, Nannetten nicht ſchon unterwegs die Einwilligung abzudringen.

Der Schmerz des Alten in Neuburg überſteigt allen Ausdruck; doch verfehlte die Perſönlichkeit des hohen Gaſtes ihre gute Wirkung nicht.

Noch in der Anweſenheit des Präſidenten kam ein Brief des Hofraths im Forſthauſe an, mit der637 Ueberſchrift an Nolten und mit der ausdrücklichen Bitte um ſchleunigſte Beförderung. Der Förſter er - brach ihn, las und reichte das Blatt mit ſtummer Verwunderung dem Präſidenten. Der Brief lautete folgendermaßen:

So eben erfahre durch Freundes Hand den grau - ſamen Verluſt, der Sie mit dem Tode einer geliebten Braut betroffen. Auch die näheren Umſtände und was Alles dazu mitgewirkt, weiß ich. Ihr Unglück, welches mit dem meinigen ſo nah zuſammen fällt, ja recht vom Unglücks-Stamme meines Daſeyns aus - ging, erſchüttert mich und zwingt mich zu reden.

Wie oft, als Sie noch bei uns waren, hat mir das Herz gebrannt, Ihnen um den Hals zu fallen! Wie preßte, peinigte mich mein Geheimniß! Aber wie ſoll man es heißen Furcht, Grille, Scham, Feigheit, ich konnte nicht, verſchob die Entdeckung von Tag zu Tag, mich ſchauderte davor, in Ihnen, in dem Sohne eines Bruders, mein zweites Ich, meine ganze Vergangenheit wieder zu finden, dieß La - byrinth, wenn auch nur im Geſpräch, in der Erinne - rung, auf’s Neue zu durchlaufen!

Seit Ihrem Abgang war ich für ſolchen Eigen - ſinn, Gott ſey mein Zeuge, recht geſtraft mit einer wunderbaren Sehnſucht nach Ihnen, Wertheſter! Nun aber vollends dürſtet mich nach Ihrem Anblick innig, wir haben einander ſehr, ſehr Viel zu ſagen. Meine Gedanken ſtehn übrigens ſo: Zu einer ſo gemeßnen638 Thätigkeit, als Sie in W * erwartet würde, dürfte Ihnen der Muth jezt wohl fehlen, um ſo leichter werden Sie es daher verſchmerzen, daß dort, wie mir geſchrieben wird, gewiſſe Leute, auf Ihr Zögern, bereits geſchäftig ſind, Sie auszuſtechen. Wir wollen, dächt ich, ſelbigen zuvorkommen und erſt dabei nichts einbüßen. Hören Sie meinen Vorſchlag: Wir Beide ziehn zu - ſammen! ſey es nun hier, oder beſſer an einem an - dern Plätzchen, wo ſich’s fein ſtille hauſen läßt, gerade wie es zweien Leuten ziemt, wovon zum wenigſten der Eine der Welt nichts mehr nachfragt, der Andere, ſo viel mir bekannt, von jeher ſtarken Trieb empfun - den, mit der Kunſt in eine Einſiedelei zu flüchten. Was mich betrifft, ich habe noch wenige Jahre zu leben. Wie glücklich aber, könnt ich das, was etwa noch grün an mir ſeyn mag, auf Sie, mein theurer Neffe, übertragen. Ja ſchleppen wir unſere Trüm - mer aus dem Schiffbruch muthig zuſammen! Ich will thun, als wär ich auch noch ein Junger. Mit Stolz und Wehmuth ſey’s geſagt, wir ſind zwei Stücke Eines Baums, den der Blitz in der Mitte geſpalten, und iſt vielleicht ein ſchöner Lorbeer zu Schanden gegan - gen. Sie müſſen ihn noch retten und ich helfe mit.

Sehn Sie, wir gehören ja recht für einander, als Zwillingsbrüder des Geſchicks! Mit dreifachen ehernen Banden haben freundlich-feindſelige Götter, dieß Paar zuſammengeſchmiedet ein ſeltenes Schau - ſpiel für die Welt, wenn man’s ihr gönnen möchte;639 doch das ſey ferne; das Grab ſoll unſern Gram der - einſt nicht beſſer decken, als wir dieß Geheimniß be - wahren wollen, nicht wahr? Aber ſo kommen Sie! kommen Sie gleich!

Schließlich noch eine kleine Bitte: daß Sie mir vor den Menſchen immerhin den Namen laſſen, unter dem Sie zu ** meine arme Perſon haben kennen gelernt.

Für Sie aber heiſ ich, der ich bin Ihr treuer Oheim Friedrich Nolten, Hofrath.

Der Präſident wollte in die Erde ſinken vor Staunen. Er hatte durch Theobald von dieſem Verwandten als dem verſtorbenen Vater Eliſabeths gehört und nun er glaubte zu träumen.

Die beiden Männer ſahn ſich lange ſchweigend an und blickten in einen unermeßlichen Abgrund des Schickſals hinab.

Der Präſident verweilte ſich noch einen Tag und ſchied ſodann mit großer Rührung. Es war natür - lich, daß Nannette den Alten nicht verließ. Spä - ter entſchloſſen ſich Beide auf unwiderſtehliches Bit - ten des Hofraths, mit dieſem in einem dritten Orte einer kleinen Landſtadt unfern Neuburg, zuſammenzu - wohnen. Der Oheim ward faſt raſend, als er den Tod des Neffen vernahm und daß nicht wenigſtens noch ſein Bekenntniß ihn hatte erreichen ſollen! Mit größerer Ruhe empfing er die Nachricht von dem,640 vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende eingetretenen Tod ſeiner wahnſinnigen Tochter. Man hatte ſie, wie der Präſident ſogleich bei ſeiner Heim - kunft Meldung that, etliche Meilen von ſeinem Gute entſeelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo ſie ohne Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. Ihr Vater war von ihrer jammervollen Exiſtenz ſeit Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand einige Verſuche gemacht, ſie in einer geordneten Familie unterzubringen; aber ſie fing, ihrer gewohn - ten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augen - ſcheinlich zu welken an, ſie ergriff zu wiederholten Malen die Flucht mit großer Liſt und da überdieß ihr melancholiſches Weſen, mit der Muttermilch ein - geſogen, durchaus unheilbar ſchien, ſo gab man ſich zulezt nicht Mühe mehr, ſie einzufangen.

Noch iſt nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin Armond, ſeit lange krank und aller Welt abgeſtorben, jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die lezte Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Hofrath, insgeheim beſchäftigt, jene kläglichen Schickſale nur wenige Monate überlebte.

Zu verbeſſern.

(Im erſten Theil.)

  • Seite 40 Zeile 10 v. u. ſtatt Farçe lies Farce.
  • 53 8 Tagesbruch l. Tagesanbruch.
  • 54 7 v. o. Beſen l. Beſemen.
  • 89 14 v. u. verſicherte l. verſichert.
  • 107 8 kann l. konnte.
  • 5 ruht l. ruhte.
  • 134 6 v. o. iſt das Eine an wegzuſtreichen.
  • 195 8 v. u. iſt nach ſpiele zu ſetzen: dann.
  • 277 9 v. u. ſtatt einige l. eigene.

(Im zweiten Theil.)

Seite 450 Zeile 15 v. o. verweiſ’t das Zeichen *) auf folgende Note, welche unter den Text zu ſtehen käme: Mög - licher Irrung zuvorzukommen, weil es ſich hier um ein be - ſtimmtes Lokal handelt, wird erinnert, daß man dort weder ein ſolches Denkmal, noch überhaupt dieſe Sage zu ſuchen hat, wozu übrigens der wirkliche Name des gedachten Hügels dem Verf. Veranlaſſung gegeben.

About this transcription

TextMaler Nolten
Author Eduard Mörike
Extent331 images; 68263 tokens; 12593 types; 462798 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationMaler Nolten Novelle in zwei Theilen II Eduard Mörike. . 324 S. SchweizerbartStuttgart1832.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yx 1608<a> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=877489165

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-09T17:33:17Z
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ShelfmarkSBB-PK, Yx 1608<a> R
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