PRIMS Full-text transcription (HTML)
ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ
oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
als ein Lesebuch fuͤr Gelehrte und Ungelehrte.
Neunter Band. 1
Berlin,2
[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Neunten Bandes erstes Stuͤck.

1

Ueber den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

Auszug aus einem Briefe von S. M. an K. P. M. Fortsetzung.

2

Der Plan, die Seelenarzeneikunde, ihre Eintheilung und systematische Ordnung nach dem Modell der Koͤrperarzeneikunde einzurichten, ist im Allgemeinen genommen recht gut, erfordert aber eine genauere Auseinandersetzung. Ehe ich diese unternehme, muß ich erstlich von der Evidenz der Arzeneikunde uͤberhaupt, und von ihren verschiedenen Behandlungsmethoden sprechen. Hernach werde ich erst im Stande seyn, eine Vergleichung zwischen Koͤrper - und Seelenarzeneikunde anzustellen.

1) Was die Evidenz der Arzeneikunde uͤberhaupt anbetrifft, so ist zu merken, daß, indem die Arzeneikunde ein besonderer Theil der Naturwissenschaft uͤberhaupt ist, ihr keine groͤßere Evidenz, als2 der Naturwissenschaft uͤberhaupt beigelegt werden kann. Eben so muß die Behandlungsmethode der Arzeneiwissenschaft keine andere, als die der Naturwissenschaft uͤberhaupt seyn. Man ist auch in jener auf eben dieselben Abwege gerathen, als in dieser, ehe man in beiden den rechten Weg ausfuͤndig gemacht hat. Es giebt nehmlich viererlei Arten die Naturwissenschaft zu behandeln.

  • A) Die Pythagoraͤer und Platoniker suchten die Naturerscheinungen durch die Eigenschaften der Zahlen und geometrischen Figuren zu erklaͤren. Die Veranlassung dazu war diese: die Lehrer dieser Wissenschaft wollten dieselbe nicht durch das Profanum Vulgus, die davon keinen richtigen Gebrauch machen koͤnnen, entweihen lassen. Sie versteckten sie daher unter allerhand hieroglyphische Zeichen aus der Arithmetik und Geometrie, wodurch sie die Naturerscheinungen nicht nur zu erklaͤren, sondern auch zu bestimmen und wissenschaftlich zu behandeln suchten; deren Auslegung aber sie nur ihren gepruͤften Schuͤlern mitzutheilen pflegten. Der Erfolg davon war, das die Andern, die von dieser Erklaͤrung nichts wußten, die Zeichen fuͤr die Sache selbst hielten, und daher auf allerhand aberglaͤubische Meinungen von der Kraft der Zahlen und Figuren geriethen. Uns kann zwar die auf diese Art behandelte antike Naturlehre nicht mehr schaden. Sie kann uns aber auch, da wir3 die Bedeutung der Zeichen nicht wissen, zu nichts nutzen.
  • B) Die Peripathetische Schule sucht die Naturerscheinungen durch Materie und Form, verborgene Eigenschaften (Qualitates occultae), Sympathien, und dergleichen zu erklaͤren, d.h. ihre Ursachen anzugeben. Jn der That aber heißt dieses nicht die Ursachen angeben, sondern vielmehr fuͤr die Erscheinungen selbst schickliche Nahmen ausfindig machen.
  • C) Die Empiriker wollten gar von keiner Erklaͤrung aus Prinzipien, von keiner allgemeinen Theorie in der Naturerkenntniß wissen. Sie suchten blos einzelne Erfahrungen und Beobachtungen zu sammlen und zum zukuͤnftigen Gebrauche aufzubewahren.
  • D) Die Mechaniker suchten alle Naturerscheinungen aus Materie und Bewegung, Figur und Lage der kleinsten Theile eines Koͤrpers und dergleichen zu erklaͤren.

Man kann zwar nicht leugnen, daß jede dieser Behandlungsarten der Naturwissenschaft ihren Grund hat; nur muͤssen die Graͤnzen derselben genau bestimmt werden.

Die Pythagoraͤer und Platoniker haben in so fern Recht, daß sie die Eigenschaften der Zahlen und Figuren, d.h. die Lehrsaͤtze der Mathematik zur Erklaͤrung der Verhaͤltnisse der Naturerscheinungen und ihrer Bestimmung a priori gebrau -4 chen. Denn da alle koͤrperlichen Naturerscheinungen von der Bewegung abhaͤngen, so ist es nothwendig, daß dieselben aus der Lage, Figur und Groͤße der bewegten Koͤrper, aus den verschiedenen Arten und Graden der Bewegung, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt werden. Nur muß diese Erklaͤrungsart nicht die Graͤnzen ihres Gebrauchs uͤberschreiten, und zur Erklaͤrung der Entstehungsart der Erscheinungen selbst, worauf sich die Mathematik nicht anwenden laͤßt, gebraucht werden.

Die Peripathetiker haben auch guten Grund in ihrer Naturlehre, Kraͤfte, verborgene Eigenschaften und dergleichen zu gebrauchen, wenn sie nur dadurch nicht die Ursachen, sondern die Arten der Erscheinungen selbst verstehen; in so fern sie verschiedene Grade annehmen koͤnnen. Wir koͤnnen z. B. von einer Anziehungskraft sprechen, wodurch wir blos die Wuͤrkung der Anziehung, nicht aber ihre Ursache verstehen. Diese ist in Ansehung unserer eine Qualitas occulta. Jene hingegen hat ihre eigenen Gesetze, wodurch wir von derselben als von etwas fuͤr sich Bestehendem sprechen, und ihre Grade bestimmen koͤnnen. So ohngefaͤhr, wie wir in der Algebra die unbekannten Groͤßen x oder y nennen, und dadurch im Stande sind, aus den Bedingungen einer jeden Aufgabe dieselben zu bestimmen; so koͤnnen wir auch die Groͤße der Anziehung, die Kraft selbst mag uns noch so unbekannt seyn, in jedem besondern Falle bestimmen.

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Das Wort Anziehungskraft ist hier das x, dessen Groͤße aus den gegebenen Bedingungen bestimmt werden soll.

Die Empiriker haben allerdings Recht, die Erfahrung zur Grundlage ihrer Naturerkenntniß zu machen. Nur muß diese nach den logischen Gesetzen der Erfahrung geschehen, wodurch die Erfahrungserkenntniß zu einer Erkenntniß a priori erhoben, und durch die Mathematik bestimmt werden kann.

Endlich haben auch die Mechaniker Recht, wenn sie die Naturerscheinungen aus den bekannten mechanischen Gesetzen auf besondere Faͤlle angewandt zu erklaͤren suchen. Nur muͤssen sie hierin die Graͤnzen nicht uͤberschreiten, und um den Mangel der Erfahrung zu ersetzen, ihrer Hypothese angemessene Figuren und Lagen der kleinsten koͤrperlichen Theile erdichten.

Diese Bemerkungen treffen auch insbesondere in Ansehung der Arzeneikunde ein.

Die alten Aerzte verbargen ihre Weisheit unter Hieroglyphen. Diese gaben hernach Anlaß zu manchen aberglaͤubischen Kuren, zum Glauben an die Kraft der Zahlen und Buchstaben, Amuletten und dergleichen.

Hippokrates war ein guter Empiriker, Galenus, ein Peripathetiker; Boerhave verband mit der Methode der Alten noch die Mathematik und Chimie. Hoffmann richtete seine Hauptauf -6 merksamkeit auf die feinern Theile des menschlichen Koͤrpers; nehmlich auf das Nervensystem. Stahl trieb die Verfeinerung der Arzeneikunde noch weiter. Er behauptete, daß nicht nur alle Wuͤrkungen des gesunden Koͤrpers von der Herrschaft und Wuͤrksamkeit der Seele, welche beurtheilt, was demselben nuͤtzlich und gut ist, abhaͤngen, sondern daß auch die mehrsten Zeichen und Anzeigen eines widernatuͤrlichen Zustandes, d.h. einer Krankheit, von der nehmlichen Ursache herruͤhren, und nichts anders, als eine zuweilen mit gutem, zuweilen auch mit schlechtem Erfolg verknuͤpfte Bemuͤhung der Seele seyn, die Ursache der Krankheit zu heben.

Die Seelenarzeneikunde kann so wenig von der Mathematik, als von der Chimie Gebrauch machen. Jhre Behandlungsmethode kann auf einem von diesen dreien Principien beruhen.

1) Wird angenommen, daß die Seele ein vom Koͤrper unabhaͤngiges Daseyn habe, und mit andern Wesen ihrer Art, mit Geistern, in Verbindung und Wechselwuͤrkung stehe. Diesem zufolge besteht also die Seelengesundheit in der guten Korrespondenz zwischen der Seele und den andern Wesen ihrer Art, mit denen sie in Beziehung steht; so wie die Seelenkrankheit das Gegentheil davon ist, nehmlich ein bloßes Leiden der Seele von den Wuͤrkungen der andern Wesen. Die Geisterwelt wird eben so wie die Koͤrperwelt nach gewissen Gesetzen regiert. Die Seelenarzenei -7 kunde beruht also auf der aus der Magie geschoͤpften Kenntniß dieser Gesetze von der Wuͤrkung der Geister aufeinander. Hieraus entsprangen die Geisterbeschwoͤrungen und Bannungen, Zauberkaraktere, Amuletten, und dergleichen, wodurch man die Seelenkrankheit, oder ihr Leiden von den andern Geistern zu heben suchte. Dieses System beruhte also auf dem Mangel an Einsicht der Verbindung zwischen Seele und Koͤrper, wie auch auf dem Mangel an einer guten Psychologie uͤberhaupt.

2) Die Materialisten halten die Seele fuͤr kein fuͤr sich bestehendes, vom Koͤrper unabhaͤngiges Wesen, sondern blos fuͤr eine Modifikation des Koͤrpers selbst. Sie suchen daher alle ihre Veraͤnderungen aus den Veraͤnderungen des Koͤrpers zu erklaͤren. Die Seelenarzeneikunde macht also in diesem Systeme keine von der Koͤrperarzeneikunde verschiedne Wissenschaft aus.

3) Die Dualisten nehmen an, daß Seele und Koͤrper zwar miteinander verknuͤpft seyn, aber doch auch ohne einander bestehen koͤnnen, und daß außer den Veraͤnderungen, die sie wechselsweise ineinander hervorbringen, sie auch ihren eignen Wuͤrkungskreis in sich selber haben.

Nur nach diesem Systeme ist sowohl Seelenkrankheits - als Seelenarzeneikunde moͤglich. Seele und Koͤrper stehen in genauer Verbindung miteinander; die Veraͤnderungen der Seele veranlassen8 ihnen korrespondirende Veraͤnderungen des Koͤrpers, und so auch umgekehrt; und es koͤmmt also in der Seelenarzeneikunde blos auf diese Untersuchung an: ob man unmittelbar in dem Koͤrper oder in der Seele Veraͤnderung der Krankheit hervorbringen solle?

Jch bemerke aber, daß ohngeachtet dieser genauen Verbindung zwischen Seele und Koͤrper, die Seele auch in sich selbst wuͤrkt, d.h. Modifikationen hervorbringt, denen keine koͤrperliche Modifikationen entsprechen. Von dieser Art sind die Wuͤrkungen der sogenannten hoͤhern Seelenkraͤfte und des freien Willens. Jene, in so fern sie von den Bedingungen der Sinnlichkeit, Zeit und Raum, unabhaͤngig sind, folglich ihnen nichts Sinnliches entsprechen kann. Denn einer sinnlichen Vorstellung entspricht allerdings eine besondere koͤrperliche Modifikation; einem Verstandesbegriffe und Urtheile hingegen kann keine koͤrperliche Modifikation entsprechen, weil diese in Zeit und Raum entsteht, jene aber nicht. Diese, nehmlich die Wuͤrkungen des freien Willens sind nicht nur von den Organenwuͤrkungen unabhaͤngig, sondern sogar denselben entgegengesetzt. Denn eine gewisse Veraͤnderung in den Organen bringt eine angenehme Empfindung, und diese einen Trieb hervor. Der freie Wille aber widersetzt sich diesem Triebe.

Dieses vorausgeschickt, werde ich auch im Stande seyn, zu erklaͤren, worin die Seelenge -9 sundheit und Seelenkrankheit uͤberhaupt bestehe. Seelengesundheit ist nehmlich derjenige Seelenzustand, worin die Wuͤrkungen des freien Willens ungehindert ausgeuͤbt werden koͤnnen; so wie Seelenkrankheit in dem entgegengesetzten Zustande besteht. Die Ursache der Seelenkrankheit uͤberhaupt muß, wenn sie nicht Koͤrperkrankheit seyn soll, blos in einer aus Gewohnheit entsprungenen Fertigkeit zu einer besondern Associationsart bestehen, die so stark geworden ist, daß sie eine jede andere Associationsart unmoͤglich macht.

Die Kurmethode der Seelenkrankheit besteht also blos darin, daß man diese herrschende Associationsart zu schwaͤchen, und mit den andern ins Gleichgewicht zu bringen sucht.

Der groͤßte Seelenarzt, der uns aus der Geschichte bekannt ist, war ohne Zweifel Sokrates. Seine Heilmethode war, die Krankheit von Grund aus zu kuriren, d.h. die Jrrthuͤmer und Vorurtheile, als die Ursachen der Krankheit, dadurch zu heben, daß er die daran Leidenden von ihrem Ungrunde uͤberzeugte.

Die Stoiker waren auch vortreffliche Seelenaͤrzte. Aber wie es scheint, haben sie sich vielmehr mit der Diaͤtetik, und Verhuͤtung der Krankheiten, als mit ihrer Heilung, nachdem sie schon ausgebrochen, beschaͤftigt.

Selbst Epikur war ein guter Seelenarzt. Er unterschied sich von den Stoikern blos darin, daß10 nach diesen eine Seelenkrankheit, gleich wie eine Koͤrperkrankheit nach den Neuern, durch den Mangel oder die Unordnung der Seelenverrichtungen erkannt wird. Beim Epikur aber eine Seelenkrankheit durch den Schmerz oder die Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit mit sich selbst, sich zu erkennen giebt. Sobald als diese gehoben wird, mag uͤbrigens die Seele ihre Thaͤtigkeit auf eine vollstaͤndige Art aͤußern oder nicht, so ist sie, ihm zufolge, fuͤr voͤllig gesund zu halten. Die Stoischen Grundsaͤtze sind bei ihm blos ein sichres Mittel diese Seelenruhe und Zufriedenheit zu erhalten, indem man nicht immer den aͤußern Mitteln dazu trauen darf.

Gesetzt aber ein Wolluͤstling besitze alle Mittel zur Befriedigung seiner Begierden, und genieße sie wuͤrklich waͤhrend seines ganzen Lebens, so ist seine Seele nach Epikur bei ihrer voͤlligen Gesundheit, indem er der Zufriedenheit als des Merkmaals der Gesundheit bestaͤndig genießt. Nach den Stoikern hingegen ist dieser Wolluͤstling bei aller seiner Zufriedenheit dennoch seelenkrank, indem seine Seele ihrer Selbstthaͤtigkeit beraubt, ein Spiel der aͤußern Ursachen ist. Er gleicht denjenigen gefaͤhrlichen Kranken, die selbst die Empfindung der Krankheit verlohren haben. Die Stoiker hielten nicht nur einen Tollen, einen Rasenden und dergleichen fuͤr seelenkrank, sondern auch einen Geizigen, einen Ehrsuͤchtigen und dergleichen. Ja sie beschaͤftigten11 sich blos mit Heilung dieser Krankheiten, indem sie an der Hebung jener verzweifelten. Und wie ich glaube, nicht ohne Grund. Denn was kann ein Psycholog, ein Moralist mit diesen machen? Hier hilft kein Ueberzeugen, kein Ueberreden. Man muß dergleichen Kranken der Fuͤrsorge der guͤtigen Natur uͤberlassen.

Die neuern Seelenaͤrzte scheinen die aͤlteste Methode aufs neue hervorgesucht zu haben. Nehmlich die Seelenkrankheiten durch Locos Communes, d.h. gleichsam durch Worte und Zauberformeln zu kuriren, wie z. B. die Tugend macht gluͤckseelig; sie ist ihre eigne Belohnung und dergleichen sind; ohne sich daruͤber zu erklaͤren, was sie doch unter dieser Tugend verstehn, und noch weniger die Wahrheit ihrer Lehre zu beweisen, und ihre Ausuͤbung moͤglich zu machen. Den Ehrgeizigen kuriren sie mit diesen Worten: die Ehre ist eitel. Dem Geizhals sagen sie: der Geiz ist ein schaͤndliches Laster, und dergleichen Spruͤchelchen mehr, wodurch nie jemand besser geworden ist.

Jch komme nun zu der Vergleichung zwischen der Seelen - und Koͤrperarzeneikunde.

1) Der Physiologie in der Koͤrperarzeneikunde kann die Psychologie in der Seelenarzeneikunde entsprechen. Aber die Physiologie ist die Lehre von den koͤrperlichen Verrichtungen im gesunden Zustande. Der gesunde Zustand des Koͤrpers ist derjenige, worin die, aus seiner besondern Orga -12 nisation, nach den bekannten Naturgesetzen sich erklaͤrenden Wuͤrkungen ungehindert erfolgen. Die besondere Organisation ist uns aus der Anatomie bekannt. Die Wuͤrkungen derselben aber wissen wir theils a priori aus den bekannten Gesetzen der Mechanik, theils aber auch durch Erfahrung und Beobachtung.

Was sollen wir aber in der Psychologie zum Grunde legen, um dadurch den Zustand der Seelengesundheit zu bestimmen? Oder mit andern Worten: wodurch erkennen wir, ob die Seele gesund sey, und alle ihrem Wesen moͤgliche Verrichtungen ungehindert erfolgen?

Wird man sagen, wir erkennen es daraus, daß alle uns bekannten Seelenvermoͤgen ihre Wuͤrkungen in einer solchen Proportion aͤußern, daß dadurch die groͤßte Summe aller Wuͤrkungen hervorgebracht wird; so frage ich abermals: wodurch erkennen wir diese heilsame Proportion, und nach welchem gemeinschaftlichen Maasstabe sollen wir diese verschiedenen Seelenvermoͤgen abmessen, um dadurch diese Proportion herauszubringen?

Wird man sagen, daß diese Proportion nicht an sich, sondern blos durch ihren guten Erfolg in Beziehung auf das besondere Subjekt, durch die dadurch hervorgebrachte Zufriedenheit mit sich selbst oder Gluͤckseeligkeit erkannt werde; so muͤßte man manchen aus dem Tollhause, der sich in seiner Tollheit gluͤcklich duͤnkt, fuͤr keinen Seelenkranken halten.

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Werther traf einst einen Menschen an, der, nachdem er aus dem Tollhause, worin er wegen seiner Raserei einige Zeit eingesperrt gewesen war, befreiet worden, blos noch in eine niemanden schaͤdliche tiefe Melancholie versenkt war. Dieser erzaͤhlt ihm: » es war einmal eine Zeit, da mir's so wohl war, jetzt ist es aus mit mir. Jch bin nun u.s.w. « und auf Befragen, ob er wuͤrklich einst gluͤcklich gewesen sey? antwortet er: » ach ich wollte ich waͤre wieder so, da war mir's so wohl, wie einem Fische im Wasser (wodurch er den Zustand seiner Tollheit versteht). « *)*) Siehe die Leiden des jungen Werthers, den 2ten Theil. Und sollte dieses auch keine wahre Anekdote, sondern eine bloße Erdichtung vom Verfasser seyn, so ist diese Bemerkung doch nicht minder wahr, und kann durch tausend Beispiele bestaͤtigt werden.

2) Pathologie. Gesetzt wir haͤtten eine Erklaͤrung der Seelengesundheit, und folglich auch der Seelenkrankheit (der Abweichung vom vorigen Zustande) ausfindig gemacht, so ist es doch unmoͤglich, die Seelenkrankheitslehre so vollstaͤndig systematisch zu behandeln, als die Koͤrperkrankheitslehre.

Denn nehmen wir die Krankheit des Koͤrpers in ihrem hoͤchsten Grade, in ihrem voͤlligen Ausbruche, so kann die letztere Art (weil die Krankheiten des Koͤrpers sich unsrer Beobachtung haͤufiger und14 mannigfaltiger, als die der Seele darbieten; indem fast jeder Mensch in seinem Leben in eine Krankheit des Koͤrpers gerathen muß; da es hingegen sehr selten geschiehet, daß ein Mensch toll oder rasend wird) nicht blos a priori, sondern auch durch Erfahrung und Beobachtung vollstaͤndig behandelt werden.

Mit den Krankheiten der Seele ist es hingegen ganz anders beschaffen. Ein Mediciner wuͤrde es sehr uͤbel nehmen, wenn man sagen wollte, daß es noch viele Krankheiten gaͤbe, wovon er, aus seiner Theorie, nichts wisse. Ein Englaͤndischer vortreflicher mathematischer Arzt druͤckt sich hieruͤber folgendermaßen aus: » ich zweifele nun gar nicht, die so wichtige Aufgabe: gegen eine jede gegebne Krankheit, auch ein Mittel zu erfinden aufgeloͤst und beantwortet zu haben, und kann mir also mit Recht schmeicheln, dieses so große Geschaͤft gluͤcklich zu Stande gebracht zu haben. « *)*) Siehe Gregory's Uebersicht der theoretischen Arzneiwissenschaft etc. Vorrede. Und sollte eine Krankheit ihm vorkommen, die von allen ihm bis jetzt bekannten noch so sehr verschieden waͤre, so wird er sie doch zu klassifizieren wissen, und ihre Verschiedenheit aus besondern zufaͤlligen Umstaͤnden zu erklaͤren suchen. Der Seelenarzt aber kann hierin noch nicht so sicher zu Werke gehn.

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Betrachten wir hingegen die Seelenkrankheit in ihrem Anfange, so wird jeder Mensch, außer den Stoischen Weisen, fuͤr ziemlich seelenkrank gehalten werden muͤssen, welches doch mit den Krankheiten des Koͤrpers ganz anders beschaffen ist.

3) Die Therapie in der Seelenarzeneikunde ist auch von der in der Koͤrperarzeneikunde sehr verschieden. Jn dieser koͤmmt man der Krankheit durch aͤußere Mittel zu Huͤlfe, deren Wuͤrkung nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung bekannt ist. Jst zum Beispiel eine Stockung der Saͤfte die Ursache der Krankheit, so bedienen wir uns der aus der Chimie bekannten Aufloͤsungsmittel, deren Wuͤrkung nicht nur im menschlichen Koͤrper sondern allgemein ist; und so verfahren wir auch in andern Faͤllen. Jn der Seelenarzeneikunde hingegen koͤnnen wir uns keiner aͤußern Mittel bedienen, sondern, so wie die Ursache der Krankheit in der Seele selbst, so muͤssen auch die Mittel dawider in ihr selbst gesucht werden. Die Seelenarzeneikunde kann auch nicht wie die Koͤrperarzeneikunde von der Mathematik, Mechanik oder Chimie einen Gebrauch machen.

Von einer andern Seite betrachtet aber ergiebt es sich, daß ohngeachtet aller dieser Verschiedenheiten, die Seelenarzeneikunde nicht nur auf einen eben solchen Fuß, wie die Koͤrperarzeneikunde eingerichtet werden, sondern in gewissem Betracht dieselbe sogar an Evidenz uͤbertreffen kann. Der Anatomie in dieser entspricht die Analysis der ver -16 schiedenen Seelenvermoͤgen in jener. Diese hat aber einen betraͤchtlichen Vorzug vor jener, indem die Anzahl der Seelenvermoͤgen weit geringer, als die der Theile des menschlichen Koͤrpers ist.

Was die Seelen-Physiologie und Pathologie oder die Bestimmung der Seelengesundheit und Krankheit anbetrifft, so verfaͤhrt man hierin am sichersten, wenn man verschiedene Seelenkrankheiten untereinander vergleicht, und das Allgemeine davon abstrahirt. Jch glaube daher, folgende Erklaͤrung festsetzen zu koͤnnen. Eine Seelenkrankheit ist derjenige Zustand der Seele, worin sie ihre freiwilligen Handlungen nicht ausuͤben kann; so wie der diesem entgegengesetzte Zustand Seelengesundheit ist; wenn nehmlich die Seele ihre freiwilligen Handlungen ungehindert ausuͤben, wenn sie aus eigner Macht eine Associationsreihe anfangen, fortsetzen, unterbrechen, und mit einer andern vertauschen kann. Wovon das Gegentheil bei allen Arten der Tollheit, des Wahnwitzes und der Raserei zu bemerken ist, wo die Seele entweder an eine besondere Associationsreihe so gebunden ist, daß sie sich auf keine Weise davon loszumachen im Stande ist, oder wo sie sich an gar keiner zweckmaͤßigen Associationsreihe festhalten kann, sondern bestaͤndig von der einen zur andern herumgetrieben, gleichsam ein Marionettenspiel des Zufalls ist.

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Die Seelenheilkunde erfordert zwei Stuͤcke. 1) Richtige Beurtheilung der Krankheit. 2) Kenntniß der Kraͤfte der Arzeneimittel. Das Erstere besteht in der Beurtheilung einer jeden Seelenkrankheit, ob sie blos Schwaͤche eines Seelenvermoͤgens, oder zu große Staͤrke und Ueberspannung desselben zum Grunde hat? Eine angebohrne Schwaͤche, z. B. Dummheit, Jndolenz, Unfaͤhigkeit zu allen demjenigen, was eine maͤßige Anstrengung der Seelenkraͤfte erfordert, kann ohnmoͤglich durch die Seelenarzeneikunde gehoben werden, und ist also kein Gegenstand derselben. Jst aber diese Schwaͤche nicht angebohren, ist sie keine Negation eines Seelenvermoͤgens selbst, sondern blos eine Privation seiner Wuͤrkung, so ist sie allerdings ein Gegenstand der Seelenarzeneikunde, und kann durch dieselbe gehoben werden.

Entsteht diese Privation dadurch, daß ein anderes diesem entgegengesetztes Seelenvermoͤgen die Oberhand erhalten hat, so daß es die Wuͤrkung des gegebenen vernichtet, so koͤmmt es hier auf die Untersuchung an, ob die Summe der Seelenwuͤrkungen uͤberhaupt dadurch vermehrt oder vermindert werde?

Jm ersten Falle ist es blos eine Scheinprivation und fuͤr keine Seelenkrankheit zu halten. Wenn ein Newton aus Zerstreuung (eher sollte dieses Sammlung heißen) bei seinem Nachdenken uͤber das Weltsystem zuweilen den aͤußern Wohl -18 stand verletzt; und N. auf den modigen Zuschnitt und Farbe seines Kleides seine ganze Aufmerksamkeit wendet, den ganzen Vormittag mit seinem Anzuge, Frisur, und sich im Spiegel zu begucken zubringt, und so ausgeschmuͤckt, mit einer Ladung nouvelles des jours befrachtet, in großen Gesellschaften erscheint, so werden freilich diese jenen ungefaͤhr wie die Abderitten den Demokrit, fuͤr seelenkrank und diesen fuͤr gesund ausgeben.

Der wahre Seelenarzt aber wird, gleich einem Hippokrates, hierinnen ganz anders urtheilen. Er bemerkt an jenem einen hoͤhern Grad der Seelenwuͤrksamkeit, als an diesem, sowohl in Ansehung der Mannigfaltigkeit, als der Einheit (worin die eigentliche Seelenwuͤrkung besteht), wodurch nicht nur dieses Mannigfaltige in systematischer Ordnung zu einem Ganzen der Erkenntniß verknuͤpft und auf einmal uͤbersehn wird, sondern welches auch Grund zu neuer Erkenntniß ist, welches aber bei diesem nicht der Fall ist. Bei jenem ist die Associationsart objektiv nothwendig (nach der innern Verknuͤpfung von Grund und Folge, Ursache und Wuͤrkung) und subjektiv freiwillig. Bei diesem hingegen ist sie objektiv zufaͤllig, und subjektiv mechanisch.

Wird aber die Summe der Seelenwuͤrkungen dadurch vermindert, ist irgend eine Associationsart so maͤchtig geworden, daß sie keine andere mehr zulaͤßt, oder sind verschiedene Associationsarten sich19 einander so entgegengesetzt, daß sie einander wechselsweise ihre Wuͤrkungen heben; liegt nicht blos Zerstreuung und Unaufmerksamkeit auf die Data eines Urtheils, sondern ein durch eine Leidenschaft mißgeleitetes Urtheil selbst, der bemerkten Seelenverwirrung zum Grunde; alsdann ist dieses eine wahre Seelenkrankheit, und muß der Sorge des Seelenarztes uͤberlassen werden. Hat dieser sowohl die Krankheit selbst, als ihre Ursache entdeckt, so kann er zur Kur schreiten.

Die beste Methode hierinnen, so wie in der gemeinen Arzeneikunde, ist, die Natur genau zu beobachten, ihr keine Gewalt anzuthun, sondern vielmehr ihr bloß zu Huͤlfe zu kommen. Eine Leidenschaft muß nicht unterdruͤckt, sondern gehoͤrig geleitet, oder durch eine andere gemaͤßigt werden. Diese Kurart geht freilich langsam; aber auch desto sicherer von statten.

Bei gefaͤhrlichen Krankheiten hingegen muß man die schleunigsten Mittel ergreifen, wenn sie gleich nicht die Besten seyn moͤgen. Man muß ohne Zeitverlust die gefaͤhrlichen Symptome zu heben suchen, obgleich die Ursache der Krankheit selbst dadurch noch nicht gehoben wird. Jst die durch eine heftige Leidenschaft verursachte Seelenverwirrung noch nicht in Tollheit und Raserei ausgeartet, so suche man die Krankheit von Grunde aus, durch Hebung ihrer Ursache, zu heben. Jst es aber damit schon so weit gekommen, und zu be -20 sorgen, daß ehe diese langwierige methodische Kurart ihre Wuͤrkung aͤußern werde, der Kranke sich selbst oder andern unheilbaren Schaden zufuͤgen koͤnne, so muß man zur bessren Sicherheit denselben ins Tollhaus schicken und an Ketten schmieden lassen.

Eine angehende Leidenschaft kann durch Vernunftgruͤnde, und Vorstellung ihrer Schaͤdlichkeit, ohngefaͤhr wie eine Krankheit des Koͤrpers in den primis viis durch Abfuͤhrungsmittel gehoben werden. Eine eingewurzelte Krankheit hingegen erfordert erst eine weitlaͤuftige Preparation dazu.

Es koͤmmt hier nicht so sehr auf Theorie, als auf praktische Beurtheilung an. Es gehoͤrt dazu viele Erfahrung und Menschenkenntniß, und ein hoher Grad von Geduld. Man muß mit dem Kranken verschiedene Proben machen, und sich durch einen mißlungnen Erfolg nicht abschrecken lassen. Freilich muͤssen dergleichen Versuche nicht gaͤnzlich aufs Gerathewohl angestellt werden. Sie muͤssen durch eine Theorie, diese mag noch so unvollkommen seyn, geleitet werden.

Bakon sagt: » Derjenige, der etwas sucht, pflegt, das was er sucht, unter einer allgemeinen Jdee zu begreifen, weil derselbe sonst solches, wenn er es entdeckt hat, ja nicht erkennen koͤnnte. Je vollkommner und richtiger aber unsere vorgefaßte Jdee ist, desto zweckmaͤßiger und kuͤrzer wird auch21 unsere Untersuchung seyn. So wie aber einer einen Weg auf dreierlei Weise machen kann, indem er entweder im Finstern tappt, oder, wenn er nur wenig sieht, von der Hand eines andern gefuͤhrt wird, oder derselbe endlich seinen Schritt nach einem vollen Lichte richtet, so gleicht auch einer der alle Arten von Versuchen ohne eine Ordnung oder Methode macht, blos einem im Finstern Tappenden. Richtet er sich bei seinen Versuchen nach einiger Anweisung und Ordnung, so ist dieses eben so viel, als wenn er an der Hand geleitet wuͤrde. Allein die wahre Ordnung der Erfahrung zuͤndet erst ein Licht an, und bezeichnet durch solches den Weg, indem sie von den in Ordnung gebrachten gehoͤrig durchgearbeiteten und nicht falschen Erfahrungen anfaͤngt, aus solchen gewisse allgemeine Grundsaͤtze herleitet, und auf diese Letztern wieder neue Versuche gruͤndet. Alles dieses ist um desto noͤthiger, weil nicht einmal Gott, da er die Welt erschuf, auf die Masse der Dinge ohne eine gewisse Ordnung gewuͤrkt hat. «

» Es duͤrfen sich daher, faͤhrt Bakon weiter fort, die Menschen gar nicht verwundern, daß sie die Wissenschaft noch nicht zu der nothwendigsten Vollkommenheit gebracht haben, weil sie dabei so oft von dem wahren Wege abgewichen sind, und die Erfahrung entweder ganz verlassen, oder in solcher, da sie keiner gewissen Ordnung folgten, sich verwirrt und herumgeschweift haben; da uns blos eine gehoͤrig eingerichtete Ordnung bestaͤndig durch22 die Wildniß der Versuche zu der freien offnen Gegend der allgemeinen Grundsaͤtze fuͤhrt. «

Ferner heißt es: » Man muß nicht nur mehrere und andere Versuche als wie bisher anstellen, sondern solche auch nach einer ganz andern Methode und Ordnung einrichten und fortsetzen. Eine unbestimmte und sich selbst uͤberlaßne Erfahrung ist nur schwankend, und mehr betaͤubend als unterrichtend. Geht aber die Erfahrung nach bestimmten Gesetzen, einer gewissen Folge und Zusammenhang fort, so kann man hoffen, daß die Wissenschaften in einen bessern Zustand werden gesetzt werden. «

Jch werde in der Folge Gelegenheit nehmen, von besondern Seelenkrankheiten zu sprechen, jetzt aber blos etwas im Allgemeinen beifuͤgen. Die Seelenkrankheiten koͤnnen uͤberhaupt in zwei Hauptarten eingetheilt werden. Denn da, wie schon bemerkt worden, Seelenkrankheit uͤberhaupt in Beraubung der Seelenfreiheit besteht, diese aber zweierlei Art seyn kann, daß[ nehmlich] dadurch die Seele entweder in Unthaͤtigkeit oder in eine bestimmte Art der Thaͤtigkeit gesetzt wird, wovon sie sich nicht befreien kann, so ist die erste Art der Seelenkrankheiten eine entweder allgemeine oder in Ansehung einer besondern Art der Thaͤtigkeit herrschende Seelenschwaͤche; oder die Unfaͤhigkeit eine Reihe von Jdeen zweckmaͤßig zu verfolgen; die zweite Art hingegen eine mechanische Thaͤtigkeit, oder ein Zwang eine gewisse Reihe von Jdeen be -23 staͤndig zu verfolgen, ohne im Vermoͤgen zu seyn dieselbe abzubrechen, und zu einer andern uͤberzugehn.

Es versteht sich aber von selbst, daß diese beiden Arten nur alsdann Krankheiten genannt werden, wenn sie einen merklichen Grad erreicht haben. Zu der ersten Art gehoͤrt z. B. das Kindisch werden im hohen Alter, wie auch der Zustand der Muthlosigkeit, Verzweifelung und Gleichguͤltigkeit gegen alles, worin man durch lang anhaltenden Kummer versetzt wird. Zur zweiten gehoͤren alle Arten der Raserei, des Wahnwitzes und dergleichen.

Es geschieht auch oft, daß der Patient von der zweiten Art zur ersten uͤbergeht. Er tobt alsdann so lange, bis sich seine Kraͤfte verzehrt haben, und er in eine Betaͤubung und Ohnmacht geraͤth. Selten aber geschieht es umgekehrt, daß einer von der ersten Art zur zweiten uͤbergehen sollte.

Da ich aber in der Folge bei Behandlung der besondern Seelenkrankheiten mich umstaͤndlicher daruͤber erklaͤren werde, so will ich mich jetzt hierbei nicht laͤnger aufhalten.

6Salomon Maimon.

24

Zur Seelennaturkunde.

1. Fragmente aus Ben Josua's Lebensgeschichte. *)*) Der8Herausgeberdieser Fragmente darf wohl nicht erst versichern, daß sie eine buchstaͤblich getreue Darstellung wirklich erlebter Schicksale enthalte; die ganze Erzaͤhlung an sich selber traͤgt zu sehr das aͤchte Gepraͤge der Wahrheit, als daß irgend ein theilnehmendes Herz sie darin verkennen sollte. Auch hofft der Herausgeber bald mehr von dieser Geschichte, welche von Herzen zu Herzen redet, dem Publikum mittheilen zu koͤnnen. Herausgegeben von9K. P. Moritz.

10

Jn seinem sechsten Jahre fing sein Vater mit ihm an die Bibel zu lesen. Jm Anfange schuf Gott Himmel und Erde. Hier unterbrach12B. J.seinen Vater, und fragte: Aber Papa, wer hat Gott erschaffen? V. Gott ist von niemand erschaffen, er war von aller Ewigkeit da. 13B. J.War er auch vor zehn Jahren da? V. O ja, er war auch25 vor hundert Jahren da. 14B. J.Also ist Gott vielleicht schon tausend Jahr alt? V. Behuͤte! Gott war ewig. 15B. J.Aber er hat doch einmal gebohren werden muͤssen? V. Naͤrrchen, nein! er war ewig und ewig und ewig.

16B. J.war zwar mit dieser Antwort nicht befriedigt, aber er dachte doch, Papa muͤsse es besser wissen als er, er muͤsse es also dabei bewenden lassen.

Ein andermal las er in der Bibel die Geschichte von Jakob und Esau; sein Vater citirte ihm hiebei eine Stelle aus dem Talmud, wo es hieß: Jakob und Esau theilten alle Guͤter der Welt untereinander; Esau waͤhlte sich die Guͤter dieses, Jakob hingegen die Guͤter des zukuͤnftigen Lebens; und da wir von Jakob herstammen, so muͤssen wir allen Anspruch auf die zeitlichen Guͤter aufgeben.

Hierauf sagte17B. J.mit Unwillen, Jakob sollte kein Narr gewesen seyn, und lieber die Guͤter dieser Welt gewaͤhlt haben.

Der arme18B. J.bekam hierauf zur Antwort: du gottloser Bube! und unmittelbar darauf eine Ohrfeige. Sein Zweifel war freilich damit nicht gehoben, aber es brachte ihn doch zum Stillschweigen.

19B. J.hatte von seiner Kindheit an viel Neigung und Genie zum Zeichnen. Er hatte zwar in seinem vaͤterlichen Hause nie ein Werk dieser Kunst zu sehen bekommen, aber er fand am Titelblatt einiger hebraͤischer Buͤcher Holzschnitte von Laubwerk,26 Voͤgeln, und dergleichen; er fand an diesen Holzschnitten einen großen Gefallen, und bestrebte sich, dieselben mit einem Stuͤckchen Kreide oder einer Kohle nachzuzeichnen. Was aber diesen Trieb bei ihm noch verstaͤrkte, war ein hebraͤisches Fabelnbuch, worin die agirenden Personagen (die Thiere) durch solche Holzschnitte vorgestellt waren. Er zeichnete alle Figuren mit der groͤßten Genauigkeit ab. Sein Vater bewunderte zwar hierinnen seine Geschicklichkeit, schalt aber zugleich auf ihn, mit diesen Worten: Willst du ein Mahler werden? Du sollst den Talmud studiren und ein Rabiner werden. Wer den Talmud versteht, der versteht alles.

Sein Vater hatte in seiner Studierstube einen Schrank mit Buͤchern stehn, er verbot zwar dem jungen20B. J.alle andern Buͤcher außer dem Talmud zu lesen. Aber es half nichts. Da der Vater die mehrste Zeit mit haͤuslichen Angelegenheiten beschaͤftigt war, so machte sich21B. J.diese Zeit zu Nutze.

Aus Neugierde machte er sich uͤber den Schrank her, blaͤtterte alle Buͤcher durch, und da er schon ziemlich hebraͤisch verstand, fand er an einigen derselben mehr Behagen als an dem Talmud.

Die vorzuͤglichsten darunter waren: eine hebraͤische Chronik; ein Josephus; eine Geschichte der Verfolgung der Juden in Spanien und Portugal; und was ihn am staͤrksten an sich zog, ein astronomisches Buch.

27

Hier eroͤffnete sich ihm eine neue Welt, er machte sich also mit dem groͤßten Fleiße daruͤber. Man denke sich ein Kind von ohngefaͤhr sieben Jahren, das noch nie von den ersten Elementen der Mathematik etwas gesehn oder gehoͤrt hat, dem ein astronomisches Buch in den Wurf koͤmmt, und seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, woruͤber ihm aber niemand Anweisung geben kann (seinem Vater durfte er seine Begierde darnach nicht wissen lassen, und ohnedem war dieser selbst nicht im Stande ihm hieruͤber Auskunft zu geben); wie muß dieses seinen nach Wissenschaften schmachtenden Geist nicht entflammt haben! Dieses zeigt auch der Erfolg.

Da er noch ein Kind war, und die Betten in seines Vaters Hause sehr rar waren, so war es ihm erlaubt, mit seiner alten Großmutter (deren Bette in gedachter Studierstube stand) in einem Bette zu schlafen. Und da er den Tag uͤber blos mit dem Studium des Talmuds sich abgeben mußte, und kein anderes Buch in die Hand nehmen durfte, so bestimmte er die Abende zu seinen astronomischen Betrachtungen.

Nachdem also die Großmutter zu Bette gegangen war, steckte sich22B. J.frisches Kienholz an, machte sich uͤber den Schrank her und holte sich sein geliebtes astronomisches Buch hervor. Die Großmutter schalt ihn zwar deswegen, weil es der alten Frau zu kalt war, um allein im Bette zu liegen, er aber kehrte sich nicht daran, und setzte sein Stu -28 dium so lange fort, bis das Kienholz ausgebrannt war.

Nachdem er dieses einige Abende getrieben hatte, kam er endlich zu der Vorstellung von dem Himmelsglobus und seinen zur Erklaͤrung der astronomischen Erscheinungen erdichteten Zirkeln.

Dieses war im Buche durch eine einzige Figur vorgestellt, wobei der Verfasser dem Leser den guten Rath gab, daß er zur bessern Verstaͤndlichkeit, indem die mannigfaltigen Zirkel in einer Flaͤchenfigur nicht anders als durch gerade Linien vorgestellt werden koͤnnten, sich entweder einen ordentlichen Globus, oder einen Globus armillaris verfertigen solle.

23B. J.faßte also den Vorsatz einen solchen Globus armillaris aus geflochtenen Ruthen zu verfertigen; nachdem er diese Arbeit zu Ende gebracht hatte, war er im Stande das ganze Buch zu fassen. Da er sich aber in Acht nehmen mußte, daß sein Vater von dieser seiner Beschaͤftigung nichts erfahre, so versteckte er immer seinen Globus armillaris, ehe er zu Bette gieng, in einen Winkel hinter den Schrank.

Seine Großmutter, die verschiedenemal bemerkt hatte, daß er ganz im Lesen vertieft sey, und dann und wann auf aus Ruthen geflochtene, kreuzweise aufeinander gelegte Kreise seinen Blick richtete, gerieth hieruͤber in den groͤßten Schreck; sie glaubte nicht anders, als daß ihr Enkel naͤrrisch geworden sey.

29

Sie unterließ also nicht, seinen Vater hiervon zu benachrichtigen, und demselben den Verwahrungsort des magischen Jnstruments anzuzeigen. Dieser rieth bald, was dieses bedeuten muͤßte. Er nahm also den Globus in die Hand und ließ24B. J.zu sich rufen. Nachdem dieser gekommen war, fragte er ihn mit folgenden Worten:

V. Was hast du dir da fuͤr ein Spielwerk gemacht?

25B. J.Dieses ist ein Kader. *) *) Die Benennung eines Globus im Hebraͤischen.

V. Was soll dieses bedeuten?

27B. J.erklaͤrte ihm hierauf den Gebrauch aller Zirkel zur Begreiflichmachung der himmlischen Erscheinungen.

Der Vater der zwar ein guter Rabiner war, aber kein sonderliches Talent zu Wissenschaften hatte, konnte nicht alles begreifen, was28B. J.ihm begreiflich machen wollte; besonders befremdete ihn die Vergleichung seiner Sphaera armillaris mit der Figur im Buche, und wie aus geraden Linien Zirkel entsprungen waͤren, aber so viel konnte er doch einsehen, daß29B. J.seiner Sache gewiß war.

Er schalt daher zwar auf ihn, daß er sein Verbot sich mit etwas anderm außer dem Talmud abzugeben, uͤbertreten habe, freute sich aber doch innerlich, daß sein junger Sohn, ohne einen Anfuͤhrer30 und Vorkenntniß zu haben, von sich selbst ein ganzes Werk von einer Wissenschaft habe durcharbeiten koͤnnen; und damit war dieser Proceß zu Ende.

30B. J.bekam also auf diese Art eine Privaterziehung und Unterricht, theils von seinem Vater, theils aber von sich selbst; so daß er, als er ungefaͤhr eilf Jahr alt war, es schon im Studium des Talmuds so weit gebracht hatte, daß er einen vollkommenen Rabiner abgeben konnte. Außerdem hatte er von der Geschichte, Astronomie, und einigen unzusammenhangenden mathematischen Wahrheiten uͤberhaupt einige Kenntniß erlangt.

Er brannte vor Begierde sich noch mehr Kenntnisse zu erwerben; aber wie sollte es bei dem Mangel an Anfuͤhrung, an wissenschaftlichen Buͤchern, und an allen Mitteln dazu, angehen? Er mußte sich also begnuͤgen, ohne allen Plan und Ordnung, sich das, was er zufaͤlligerweise davon erhalten konnte, zu Nutze zu machen.

Jch uͤbergehe hier seine Lebensepoche nach seiner Verheirathung, die wegen der uͤbeln Umstaͤnde seines Vaters, und nach dem Gebrauch dieser Nation in diesen Gegenden, uͤberhaupt sehr fruͤhzeitig (in seinem eilften Jahre) vor sich gieng, und bemerke hier blos diejenigen Umstaͤnde, die hauptsaͤchlich zur Bildung seines Geistes und Karakters etwas beigetragen haben.

31B. J.war in seiner Jugend sehr lebhaft, und hatte viel Annehmlichkeit in seinem Wesen. Jn31 seinen Begierden und Leidenschaften war er heftig und ungeduldig. Bis ungefaͤhr in sein eilftes Jahr spuͤrte er, da er einer sehr strengen Erziehung genoß, und von allem Umgange mit Frauenzimmern abgehalten wurde, keine sonderliche Zuneigung zu dem schoͤnen Geschlechte in sich. Eine Begebenheit aber brachte hierin eine große Veraͤnderung bei ihm hervor.

Ein armes, aber sehr huͤbsches Maͤdchen von ohngefaͤhr dem Alter des32B. J.wurde in dem Hause seiner Aeltern als Dienstmaͤdchen angenommen. Das Maͤdchen gefiel dem33B. J.ungemein. Es wurden bei ihm Begierden rege, die er bis jetzt nicht gekannt hatte. Er mußte aber, nach der strengen rabinischen Moral, sich in Acht nehmen, dieses Maͤdchen mit Aufmerksamkeit anzusehn, und noch mehr, sie zu sprechen, und konnte nur dann und wann verstohlne Blicke auf sie werfen.

Es ereignete sich einmal, daß die Frauensleute aus dem Hause ins Bad giengen, welches nach dem Gebrauche dieses Landes ein paarmal die Woche uͤber zu geschehen pflegt. 34B. J.den sein Jnstinkt, ohne es selbst zu wissen, von ohngefaͤhr nach der Gegend wo das Bad war, hintrieb, erblickte auf einmal dieses huͤbsche Maͤdchen, wie es aus dem Schwitzbade heraus in den nahe vorbeifließenden Fluß hineinsprang.

Er gerieth bei diesem Anblicke ganz außer sich; nachdem er sich erholt hatte, wollte er, der strengen32 talmudistischen Gesetze eingedenk, zuruͤckfliehn, aber konnte nicht. Er blieb also auf seiner Stelle wie angewurzelt stehn.

Da er aber hier uͤberrascht zu werden fuͤrchtete, mußte er sich doch mit einem schweren Gemuͤthe zuruͤckbegeben. Seit der Zeit war er bestaͤndig unruhig, gerieth zuweilen außer sich, und dieser Zustand dauerte bis zu seiner Verheirathung, welche bald darauf erfolgte.

Um seiner Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften ein Genuͤge zu leisten, war kein anderes Mittel fuͤr ihn uͤbrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollten er es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war ihm unmoͤglich, indem von der einen Seite die Vorurtheile seiner eignen Nation ihm alle andern Sprachen außer der Hebraͤischen, und alle andre Kenntnisse und Wissenschaften außer dem Talmud und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentaren, verwehrten; von der andern Seite aber auch die Vorurtheile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen.

Außerdem war er in sehr schlechten zeitlichen Umstaͤnden. Er mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der hebraͤischen Schrift, und dergl. eine ganze Familie ernaͤhren. Er mußte also eine lange Zeit nach der Befriedigung seines natuͤrlichen Triebes vergebens seufzen.

33

Endlich kam ihm hierin ein gluͤcklicher Zufall zu Huͤlfe. Er bemerkte nehmlich an einigen hebraͤischen Buͤchern, die sehr starkleibig waren, daß sie mehrere Alphabete enthielten, und man ihre Bogenanzahl daher nicht blos mit hebraͤischen Buchstaben hatte bezeichnen koͤnnen, sondern im zweiten und dritten Alphabet sich zu diesem Behuf auch anderer Schriftzeichen hatte bedienen muͤssen, welches gemeiniglich lateinische und deutsche Buchstaben waren.

Nun hatte zwar35B. J.nicht den mindesten Begriff von einer Druckerei. Er stellte sich gemeiniglich vor, daß Buͤcher so wie Leinwand gedruckt wuͤrden, und daß jede Seite durch eine besondre Form abgedruckt wuͤrde.

Er vermuthete aber, daß die nebeneinanderstehenden Schriftzeichen einen und eben denselben Buchstaben bedeuteten. Er supponirte also, daß z. B. a das neben א steht, gleichfalls ein Alpha seyn muͤsse. Auf diese Art lernte er nach und nach die lateinische und deutsche Schrift kennen.

Durch eine Art des Dechifrirens fing er an, verschiedene deutsche Buchstaben in Woͤrter zu kombiniren, blieb aber dabei noch immer zweifelhaft, ob nicht seine ganze Muͤhe vergebens seyn wuͤrde, indem die neben den hebraͤischen Buchstaben befindlichen Schriftzeichen ganz etwas anders als eben dieselben Buchstaben seyn koͤnnten, bis ihm zum Gluͤck einige Blaͤtter aus einem alten deutschen Buche in die Haͤnde fielen.

34

Er fing an zu lesen. Und wie groß war nicht seine Freude und Verwunderung, da er aus dem Zusammenhange sahe, daß die Worte mit denjenigen, die er schon gelernt hatte, voͤllig uͤbereinstimmten. Zwar blieben ihm nach seiner juͤdischen Sprache eine Menge Worte unverstaͤndlich, aber aus dem Zusammenhange konnte er doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen.

36B. J.fuͤhlte noch immer eine Leere in sich, die er nicht auszufuͤllen im Stande war. Er konnte seine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds sein Hauptgeschaͤfte, woran er aber blos in Ansehung der Form, indem sie die hoͤhern Seelenkraͤfte in Thaͤtigkeit setzt, einen Gefallen hatte; keineswegs aber in Ansehung der Materie.

Man findet darin Gelegenheit zur Uebung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gruͤnden, zur Entdeckung der verborgensten Widerspruͤche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen u.s.w. Da aber die Prinzipien selbst blos eine eingebildete Realitaͤt haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keinesweges damit befriedigen.

Er sahe sich also nach etwas um, wodurch er diesen Mangel ersetzen koͤnnte. Nun wußte er zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft giebt, die bei den juͤdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwange ist; nehmlich die[ Kabala,]35 wodurch man nicht nur seine Wißbegierde befriedigen, sondern auch sich ungemein vervollkommnen und Gott naͤhern koͤnne.

Er brannte also, wie natuͤrlich, vor Begierde darnach; aber da diese Wissenschaft wegen ihrer Heiligkeit nicht oͤffentlich gelehrt, sondern ins Geheim traktirt werden muß, so wußte er nicht, wo er die darin Eingeweiheten, und ihre Schriften aufsuchen sollte.

Er erfuhr darauf, daß der Unterrabiner oder Prediger dieses Orts ein kabalistischer Adept sey, und machte sich also, zur Erreichung seines Endzwecks, mit ihm bekannt, nahm seinen Platz in der Synagoge neben ihm, und da er einst merkte, daß der Prediger immer nach dem Gebete in einem kleinen Buche las, und alsdann dasselbe auf der Stelle verwahrte; so wurde37B. J.sehr begierig, zu wissen, was dieses fuͤr ein Buch seyn moͤge?

Nachdem also der Prediger nach Haus gegangen war, ging38B. J.und hohlte dieses Buch aus dem Orte, wo jener es versteckt hatte, und nachdem er gefunden hatte, daß es ein kabalistisches Buch sey, so nahm er dasselbe zu sich, und versteckte sich damit in einem Winkel in der Synagoge, bis alle Leute aus derselben gegangen, und die Synagoge zugeschlossen worden war.

Nachher kroch er aus seinem Schlupfwinkel hervor, und las in seinem geliebten Buche so lange bis der Schließer des Abends die Synagoge wieder36 aufmachte; ohne den ganzen Tag uͤber an Essen oder Trinken zu denken.

Jn ein Paar Tagen wurde er auf diese Art mit seinem Buche fertig. Dieses aber, anstatt seine Begierde zu befriedigen, reitzte dieselbe noch vielmehr. Er wuͤnschte noch mehrere Buͤcher dieser Art zu lesen.

Da er aber zu schuͤchtern war, um dieses dem Prediger zu entdecken, so beschloß er einen Brief an ihn zu schreiben, worin er seine unwiderstehliche Begierde nach dieser heiligen Wissenschaft aͤußerte, und daher den Prediger instaͤndig bat, daß er ihn mit Buͤchern unterstuͤtzen moͤchte.

Darauf erhielt er von dem Prediger eine sehr guͤnstige Antwort. Dieser lobte seinen Eifer fuͤr diese heilige Wissenschaft, und versicherte ihn, daß dieser Eifer, unter so wenig Beguͤnstigung, ein offenbares Merkmaal sey, daß39B. J.Seele von Olam Aziloth (der Welt des unmittelbaren goͤttlichen Ausflusses) herkomme, anstatt daß die Seelen der bloßen Talmudisten von Olam Jnzire (der Welt der Schoͤpfung) ihren Ursprung nehmen. Er versprach ihm daher, so viel in seinem Vermoͤgen waͤre, ihn mit Buͤchern zu unterstuͤtzen.

Da er aber sich selbst hauptsaͤchlich mit dieser Wissenschaft beschaͤftigte, und dergleichen Buͤcher bestaͤndig bei der Hand haben mußte, so konnte er ihm dieselben nicht leihen, erlaubte ihm aber,37 sie in seinem eignen Hause nach Belieben zu studiren.

Wer war froher als40B. J.? Er nahm dieses Anerbieten des Predigers mit Dankbarkeit an, kam beinahe nicht aus des Predigers Hause, und saß Tag und Nacht uͤber den kabalistischen Buͤchern.

Dieses aber inkommodirte den Herrn Prediger ungemein; er hatte seit kurzer Zeit eine sehr huͤbsche junge Frau geheirathet, sein elendes Haͤuschen bestand aus einem einzigen Zimmer, welches zugleich Wohn - Studier - und Schlafstube war. Hier wachte also41B. J.ganze Naͤchte durch. Seine Uebersinnlichkeit kam daher mit des Predigers Sinnlichkeiten nicht selten in Kollision.

Dieser dachte folglich auf Mittel den angehenden Kabalisten auf eine gute Art loß zu werden. Er sagte ihm daher einst: hoͤren Sie Herr42B. J.Jch merke, daß es Sie zu sehr inkommodiren muß, der Buͤcher wegen bestaͤndig außer Jhrem Hause bei mir zuzubringen. Sie koͤnnen in Gottes Nahmen dieselben einzeln mit nach Hause nehmen, und also nach ihrer Kommoditaͤt studiren.

Dem43B. J.war nichts willkommener als dieses. Er nahm daher von dem Prediger ein Buch nach dem andern nach Hause, und studirte darin so lange, bis er die ganze Kabala inne zu haben glaubte. Er begnuͤgte sich nicht blos mit der Erkenntniß ihrer Prinzipien und mannigfaltigen Systeme, sondern suchte auch von diesen den gehoͤrigen38 Gebrauch zu machen. Es war keine Stelle in der heiligen Schrift, oder im Talmud anzutreffen, deren geheimen Sinn er nicht aus kabalistischen Prinzipien, mit der groͤßten Fertigkeit haͤtte herauswickeln koͤnnen.

Selbst der Prediger gerieth daruͤber in Erstaunen und Verwunderung, als er sahe, daß es44B. J.in einer kurzen Zeit viel weiter als er selbst darin gebracht hatte, und in die Tiefen dieser Wissenschaft eingedrungen war.

45B. J.wollte sich aber dennoch mit der litterarischen Kenntniß dieser Wissenschaft nicht befriedigen, er suchte in ihren Geist einzudringen; und da er bemerkte, daß diese ganze Wissenschaft, wenn sie diesen Nahmen verdienen sollte, nichts anders als die Geheimnisse der Natur in Fabeln und Allegorien eingehuͤllet, seyn koͤnne; so bemuͤhte er sich diese Geheimnisse ausfindig zu machen, und dadurch seine bloße litterarische Erkenntniß zu einer Vernunfterkenntniß zu erheben.

Er konnte aber dieses damals nur auf eine sehr unvollstaͤndige Art bewerkstelligen, weil er noch sehr wenige Begriffe von Wissenschaften uͤberhaupt hatte. Doch gerieth er von selbst durch eignes Nachdenken auf viele Applikationen dieser Art. Er erklaͤrte sich z. B. gleich die erste Jnstanz, womit die Kabalisten gemeiniglich ihre Wissenschaft anfangen.

Nehmlich: ehe die Welt erschaffen worden ist, hatte das goͤttliche Wesen allein den ganzen unend -39 lichen Raum ausgefuͤllt. Nun wollte aber Gott eine Welt erschaffen, damit er seine Eigenschaften die sich auf andere Wesen außer ihn beziehen, offenbaren koͤnnte; er schraͤnkte, zu diesem Endzwecke, sich selbst in den Mittelpunkt seiner Vollkommenheit ein. Ließ hernach in den dadurch leergebliebenen Raum zehn konzentrische Lichtkreise fahren, daraus entstanden hernach mannigfaltige Figuren (Parzoffim) und Gradationen bis zur gegenwaͤrtigen sinnlichen Welt u.s.w.

B. J. konnte sich auf keinerlei Art vorstellen, daß dieses alles im gemeinen Sinne dieser Worte wahr seyn solle, so wie beinahe alle Kabalisten es sich vorstellen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß, ehe die Welt erschaffen worden, eine Zeit verflossen sey, indem er aus seinem Mora Newochim wußte, daß die Zeit blos eine Modifikation der Welt sey, und folglich ohne diese nicht gedacht werden koͤnne.

Er konnte sich nicht vorstellen, daß Gott einen, obgleich unendlichen Raum erfuͤlle; ferner, daß er als ein unendlich vollkommenes Wesen, seine eigne Vollkommenheit auf eine zirkelfoͤrmige Art in seinem Mittelpunkte einschraͤnken sollte.

Sondern er suchte sich dieses alles auf folgende Art zu erklaͤren: Gott ist nicht der Zeit nach, sondern seinem nothwendigen Wesen nach, als Bedingung der Welt eher als dieselbe. Alle Dinge außer Gott mußten, so wohl ihrem Wesen, als ihrer Existenz nach, von ihm als ihrer Ursache ab -40 haͤngen. Die Erschaffung der Welt konnte also nicht als eine Hervorbringung aus nichts, auch nicht eine Bildung von etwas, von ihm Unabhaͤngigen, sondern nur als eine Hervorbringung aus sich selbst gedacht werden. Und da die Wesen von verschiedenen Graden der Vollkommenheit sind, so muͤssen wir zur Erklaͤrung ihrer Entstehungsart, verschiedene Grade der Einschraͤnkung des goͤttlichen Wesens annehmen. Und da diese Einschraͤnkung grade vom unendlichen Wesen bis zu der Materie gedacht werden muß, so stellen wir uns den Anfang dieser Einschraͤnkung figuͤrlich als einen Mittelpunkt (den niedrigsten Punkt) des Unendlichen vor.

Unter den zehn Kreisen dachte sich46B. J.die zehn Praͤdikamente des Aristoteles, die er aus gedachtem More Newochim kennen gelernt hatte, die allgemeinsten Praͤdikate der Dinge, ohne welche nichts gedacht werden kann u.s.w.

47B. J.zog sich aber durch diese Erklaͤrungsart manche Ungelegenheit zu. Die Kabalisten behaupten nehmlich, daß die[ Kabala] keine menschliche, sondern eine goͤttliche Wissenschaft sey, und daß es folglich dieselbe herabwuͤrdigen hieße, wenn man ihre Geheimnisse der Natur und Vernunft gemaͤß erklaͤren wollte.

Je vernuͤnftiger also48B. J.Erklaͤrungen herauskamen, desto mehr wurden sie gegen ihn aufgebracht, indem sie dasjenige blos fuͤr goͤttlich hielten, was keinen vernuͤnftigen Sinn hatte.

41

49B. J.mußte also seine Explikationen fuͤr sich behalten. Ein ganzes Werk das er daruͤber geschrieben hat, brachte er noch mit nach B. welches er noch bis jetzt als ein Denkmaal von dem Streben des menschlichen Geistes nach Vollkommenheit, ohngeachtet aller Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, verwahrt.

Unterdessen konnte ihn doch dieses nicht befriedigen. Er wuͤnschte, die Wissenschaften nicht in Fabeln eingehuͤllet, sondern in ihrem natuͤrlichen Lichte zu erblicken. Er hatte zwar schon, obwohl sehr mangelhaft, deutsch lesen gelernt; aber wo sollte er in Litthauen deutsche Buͤcher hernehmen?

Zum Gluͤck fuͤr ihn, erfuhr er, daß der Oberrabbiner von F. der sich in seiner Jugend in H. aufgehalten, und da die deutsche Sprache erlernt, und sich mit den Wissenschaften einigermaßen bekannt gemacht hatte, sich noch bis jetzt, obzwar ins Geheim, mit den Wissenschaften abgebe, und eine ziemliche Bibliothek von deutschen Buͤchern haͤtte.

50B. J.beschloß daher, zu diesem Oberrabbiner nach F. zu wallfahrten, und diesen um einige wissenschaftliche Buͤcher anzuflehen. Ohne sich also um Reisegeld und Fuhrwerk im mindesten zu bekuͤmmern (er war solche Reisen ziemlich gewohnt, und er gieng einst nach W. 30 Meilen zu Fuß, um ein hebraͤisch-peripathetisch-philosophisches Buch aus dem 12ten Jahrhundert zu sehn), und ohne seiner42 Familie ein Wort davon zu sagen, machte er sich auf die Reise nach F. in der Mitte des Winters.

So bald er da angelangt war, gieng er zu dem Oberrabbiner, sagte ihm sein Anliegen, und bat ihn flehentlich um Huͤlfe darin. Dieser erstaunte nicht wenig daruͤber, indem seit 31 Jahren, daß er von Deutschland zuruͤckgekommen war, noch kein Mensch sich gefunden hatte, der eine Bitte dieser Art an ihn gethan haͤtte, und versprach, ihm einige alte deutsche Buͤcher zu leihen. Die vorzuͤglichsten darunter waren eine alte Optik und Sturms Physik.

51B. J.wußte diesem braven Oberrabbiner seine Dankbarkeit nicht genug auszudruͤcken, steckte diese paar Buͤcher ein, und kehrte damit voller Entzuͤcken nach Hause zuruͤck.

Nachdem er diese durchstudirt hatte, wurden ihm auf einmal seine Augen aufgethan. Er glaubte nun den Schluͤssel zu allen Geheimnissen der Natur erlangt zu haben. Er wußte wie ein Gewitter, Thau, Regen, u.s.w. entstehe.

Er sahe uͤber alle andern, die dieses noch nicht wußten, stolz herab, lachte uͤber ihre Vorurtheile und Aberglauben, und erbot sich, ihre Begriffe hierin aufzuklaͤren und ihren Verstand zu erleuchten.

Dieses wollte aber nicht uͤberall anschlagen. Er bemuͤhte sich einmal einem Talmudisten beizubringen, daß die Erde rund sey, und daß wir Gegenfuͤßler haͤtten. Dieser aber machte ihm den Ein -43 wurf, daß diese Gegenfuͤßler nothwendig fallen muͤßten?

52B. J.hatte genug zu demonstriren, daß das Fallen der Koͤrper nicht nach einer bestimmten Richtung im leeren Raume, sondern nach dem Mittelpunkt der Erde geschehe, und daß die Begriffe von Oben und Unten blos die Entfernung und Naͤherung von diesem Mittelpunkte waͤren. Es half alles nichts, der Talmudist blieb dabei, daß dieses Vorgeben ungereimt sey.

So gieng er einmal mit einigen seiner Freunde spatzieren. Nun mußte ihnen gerade eine Ziege im Wege liegen. 53B. J.gab der Ziege einige Schlaͤge mit seinem Stocke, seine Freunde warfen ihm seine Grausamkeit vor. Er aber erwiderte: was Grausamkeit? glaubt ihr denn, daß die Ziege einen Schmerz fuͤhlt, wenn ich sie schlage? ihr irrt euch hierin sehr. Die Ziege ist (nach dem Sturm, der ein Karthesianer war) eine bloße Maschine.

Diese lachten herzlich daruͤber, und sagten, aber hoͤrst du nicht, daß die Ziege schreit, wenn du sie schlaͤgst? Worauf jener antwortete: ja freilich schreiet sie; wenn ihr aber auf eine Trommel schlagt, so schreiet sie auch.

Diese erstaunten uͤber diese Antwort, in kurzer Zeit wurde in der ganzen Stadt bekannt, das54B. J.naͤrrisch geworden waͤre, indem er behaupte: Eine Ziege sey eine Trommel.

44

55B. J.dessen aͤußere Umstaͤnde sehr schlecht waren, weil er sich nicht mehr zu seinen gewoͤhnlichen Geschaͤften schicken wollte, und sich daher uͤberall außer seiner Sphaͤre befand; und von der andern Seite auch seine Lieblingsneigung zum Studium der Wissenschaften, in seinem Wohnorte, nicht genug befriedigen konnte, beschloß endlich, sich nach Deutschland zu begeben, und da Medizin, und bei dieser Gelegenheit auch andere Wissenschaften zu studiren.

Nun war nur die Frage, wie eine solche weite Reise zu machen sey?

Er wußte zwar, daß einige Kaufleute aus seiner Stadt bald nach Koͤnigsberg in Preußen reisen wuͤrden; aber da er mit diesen wenig Bekanntschaft hatte, so konnte er nicht hoffen, daß sie ihn umsonst mitnehmen wuͤrden. Nach[ vielem] Ueberlegen gerieth er endlich auf ein gutes Expediens.

Er hatte einen sehr gelehrten und frommen Mann zum Freunde, der in der Stadt bei der ganzen Judenschaft in großer Achtung stand, diesem entdeckte er sein Vorhaben, und zog ihn hieruͤber zu Rath.

Er stellte ihm seine schlechten Umstaͤnde vor; zeigte ihm, daß, indem er einmal seine Neigungen auf die Erkenntniß Gottes und seiner Werke gerichtet habe, er zu allen gewoͤhnlichen Geschaͤften nicht mehr tauglich sey; besonders stellte er ihm vor, daß er sich jetzt bloß von seiner Gelehrsamkeit, als Jnformator in der Bibel und dem Talmud, er -45 naͤhren muͤsse, welches nach dem Ausspruche einiger Rabbiner nicht ganz erlaubt seyn sollte. Er wolle daher die Medizin als eine profane Kunst studiren, wodurch er nicht nur sich selbst, sondern auch der ganzen Judenschaft in dieser Gegend nutzen wuͤrde, weil es da keinen ordentlichen Mediziner gebe, und diejenigen, die sich dafuͤr ausgeben, die unwissendsten Bartscherer waͤren, die die Menschen mit ihren Kuren von der Welt schafften.

Diese Gruͤnde thaten auf diesen frommen Mann eine außerordentliche Wuͤrkung. Er gieng zu einem Kaufmann von seiner Bekanntschaft, stellte ihm die Wichtigkeit von56B. J.Unternehmen vor; und beredte ihn, daß er den57B. J.auf seiner eignen Fuhre mit nach Koͤnigsberg nehmen moͤchte. Dieser durfte diesem goͤttlichen Manne nichts abschlagen, und willigte also darein.

Er reiste also mit diesem juͤdischen Kaufmanne nach Koͤnigsberg in Preußen. So bald er da ankam, gieng er zu dem dasigen juͤdischen Doktor medizinaͤ H ... eroͤffnete ihm sein Vorhaben, Medizin zu studiren, und bat ihn um guten Rath und Unterstuͤtzung. Dieser, dessen Berufsgeschaͤfte ihn verhinderten, sich mit58B. J.daruͤber gehoͤrig zu besprechen, und der ohnedem ihn nicht gut verstehn konnte, verwieß ihn an einige Studenten, die in seinem Hause logirten.

Diese jungen Herren brachen, so bald59B. J.sich ihnen zeigte, und sein Vorhaben eroͤffnete, hier -46 uͤber in ein lautes Gelaͤchter aus; welches ihnen auch gar nicht zu verdenken war. Man stelle sich einen polnischlitthauischen Mann von ohngefaͤhr 25 Jahren, mit einem ziemlich starken Barte, in zerrissener schmutziger Rab - binischer Kleidung vor, dessen Sprache aus der hebraͤischen, juͤdischdeutschen, polnischen und russischen Sprache mit ihren respective-grammatikalischen Fehlern zusammengesetzt ist, und der die deutsche Sprache zu verstehen, und einige Kenntnisse und Wissenschaft erlangt zu haben vorgiebt. Was sollten diese jungen Herren dazu denken?

Sie fingen also an ihren Spas mit ihm zu treiben, und gaben ihm Mendelssohns Phaͤdon, der ohngefaͤhr auf dem Tische lag, zu lesen. 60B. J.las sehr erbaͤrmlich (so wohl wegen seiner eignen Art die deutsche Sprache lesen zu lernen, als wegen seiner[ schlechten] Aussprache) und jene brachen abermals in ein starkes Gelaͤchter aus, sagten aber, er solle ihnen das Gelesene expliciren. Er that es nach seiner Art. Da sie ihn aber nicht verstanden, so verlangten sie, daß er das Gelesene ins Hebraͤische uͤbersetzen moͤchte.

Dieses vollzog61B. J.auf der Stelle. Die Studenten, die das Hebraͤische wohl verstanden, geriethen in ein nicht geringes Erstaunen, indem sie sahen, daß62B. J.nicht nur den Sinn dieses beruͤhmten Verfassers wohl gefaßt hatte, sondern auch denselben in der hebraͤischen Sprache gluͤcklich aus -47 druͤckte; sie fingen also an, sich fuͤr ihn zu interessiren; verschaften ihm einige alte Kleidungsstuͤcke, und Unterhaltung, waͤhrend seines Aufenthalts in K. und riethen ihm zugleich, daß er, um seinen Zweck zu erlangen, nach B. reisen moͤchte.

Um aber diese Reise seinen Umstaͤnden gemaͤß einzurichten, riethen sie ihm ferner, er moͤchte von K. bis Stettin zu Schiffe reisen; von wo er nach Frankfurt an der Oder, und von dort nach B. leicht Gelegenheit finden wuͤrde.

63B. J.gieng also zu Schiffe, und hatte zur Zehrung nichts mehr als ein geroͤstetes Brod, einige Heringe, und ein Flaͤschchen Branntwein. Man sagte ihm in K. daß diese Reise ohngefaͤhr zehn und hoͤchstens vierzehn Tage dauern koͤnne. Diese Prophezeihung aber traf nicht ein. Die Reise dauerte, wegen kontrairer Winde, fuͤnf Wochen.

Jn welchen Umstaͤnden64B. J.sich hier befunden habe, kann man sich leicht vorstellen. Es waren auf dem Schiffe außer ihm keine andere Passagirer, als eine alte Frau, die bestaͤndig geistliche Lieder zu ihrem Troste sang. Er kannte so wenig die pommerisch-deutsche Sprache der Schiffsleute, als diese seine juͤdisch-pol - nisch-litthauische Sprache verstanden; bekam die ganze Zeit durch nichts Warmes zu genießen, und mußte im Raum auf hart beladenen Saͤcken schlafen. Das Schiff gerieth auch einigemahl in Gefahr. Er, wie natuͤrlich, war den groͤßten Theil der Zeit schiffkrank.

48

Endlich kam er nach Stettin. Man sagte ihm, daß er von da bis nach F. eine Reise zu Fuße ganz spielend machen koͤnnte. Aber wie sollte ein polnischer Jude in den elendesten Umstaͤnden, ohne einen Pfennig zum Zehren bei sich zu haben, und sogar ohne die Landessprache zu verstehn, eine Reise, wenn auch nur von wenigen Meilen, machen?

Doch dieses mußte einmal geschehn. Er gieng also von Stettin aus, und indem er seine elende Lage uͤberdachte, setzte er sich unter eine Linde und fing an bitterlich zu weinen.

Endlich wurde ihm etwas leichter ums Herz; er faßte Muth und gieng weiter. Nachdem er ein paar Meilen gemacht hatte, kam er gegen Abend ganz ermuͤdet in ein Wirthshaus. Es war eben der Tag vor dem juͤdischen Fasttage der im August faͤllt. Er schmachtete schon vor Hunger und Durst, und sollte noch dazu den ganzen morgenden Tag fasten. Was sollte er nun machen, da er keinen Pfennig zu zehren hatte?

Nachdem er dieses uͤberdacht hatte, fiel ihm ein, daß er noch einen eisernen Loͤffel, den er mit zu Schiffe genommen, in seinem Mantelsack haben muͤsse; er hohlte ihn, und bat die Wirthin, daß sie ihm dafuͤr ein wenig Brod und Bier geben moͤchte. Diese weigerte sich anfangs, den Loͤffel anzunehmen, durch vieles Flehen aber wurde sie doch endlich bewogen, ein Glas sauer Bier dafuͤr zu accordiren. 65B. J.mußte sich also damit befriedigen, trank sein49 Glas Bier, und gieng nach dem Stalle aufs Stroh, um zu schlafen.

Am Morgen setzte er seine Reise fort, indem er vorher nach einem Orte fragte, wo Juden wohnten, damit er in die Synagoge gehen, und die Klaglieder uͤber die Zerstoͤrung Jerusalems mit seinen Bruͤdern singen koͤnnte.

Dieses geschahe. Nach Endigung des Betens und Singens (ungefaͤhr gegen Mittagszeit) gieng er zu dem juͤdischen Schulmeister dieses Orts, und unterredete sich mit ihm; und da dieser merkte, daß66B. J.ein vollkommener Rabbiner sey, fing er an, sich fuͤr ihn zu interessieren, und verschafte ihm bei einem Juden ein Abendessen, und gab ihm auch ein Empfehlungsschreiben an einen andern Schulmeister im naͤchsten Orte mit, worin er67B. J.als einen großen Talmudisten und ehrwuͤrdigen Rabbiner rekommandirte.

68B. J.fand hier auch ziemlich gute Aufnahme, wurde von dem angesehensten und reichsten Juden dieses Orts zum Sabathessen eingeladen, und gieng in die Synagoge, wo man ihm die oberste Stelle anwies, und alle einem Rabbiner gewoͤhnlich zukommende Ehrenbezeigungen erwies.

Nach Endigung des Gottesdienstes nahm ihn der gedachte reiche Jude mit nach Hause, und wies ihm am Tische den obersten Platz an, nehmlich zwischen sich und seiner Tochter. Diese war ein junges50 Maͤdchen von ohngefaͤhr zwoͤlf Jahren, und aufs Schoͤnste ausgeputzt.

69B. J.fing an, als Rabbiner einen sehr gelehrten und erbaulichen Diskurs zu fuͤhren, und je weniger Herr und Madam denselben verstanden, desto goͤttlicher kam er ihnen vor.

Auf einmal merkte er aber zu seinem Leidwesen, daß Mamsell eine saure Miene zu machen, und das Gesicht zu verziehen anfing. Er wußte sich anfangs dieses nicht zu erklaͤren; wie er aber darauf seinen Blick auf sich selbst und auf seine elende schmutzige Lumpenkleidung wandte, wurde ihm sogleich dieses ganze Geheimniß entraͤthselt. Die Beunruhigung der Mamsell hatte ihren guten Grund. Und wie konnte es auch anders seyn? Da er, seitdem er von K. abgereist war, ohngefaͤhr seit sieben Wochen, kein frisches Hemde anzuziehn hatte, in den Wirthshaͤusern auf dem bloßen Strohe, worauf, wer weis, wie viel arme Reisende schon gelegen hatten, liegen mußte, u.s.w.

Nun wurden ihm mit einemmal die Augen aufgethan, er uͤbersahe auf einmal sein ganzes Elend. Aber was sollte er machen? Wie sollte er sich aus dieser mißlichen Lage heraushelfen?

Endlich gelangte er in B. an. Hier glaubte er seinem Elende ein Ende zu machen, und alle seine Wuͤnsche zu erreichen, worin er sich aber sehr betrog. Es gieng damit folgender Weise zu.

51

Da, wie bekannt, in dieser Residenzstadt kein Betteljude gelitten wird; so hat die hiesige juͤdische Gemeinde zur Versorgung ihrer Armen ein Haus am Rt. Thore bauen lassen, worin die Armen aufgenommen, von den juͤdischen Aeltesten uͤber ihr Gesuch in B. befragt, und nach Befinden entweder, wenn sie krank sind, oder einen Dienst suchen, in der Stadt aufgenommen, oder weiter verschickt werden.

70B. J.wurde also in dieses Haus gebracht, das theils mit Kranken, theils aber mit liederlichem Gesindel angefuͤllet war. Er sahe sich lange Zeit vergebens nach einem Menschen um, mit dem er sich uͤber seine Angelegenheiten haͤtte besprechen koͤnnen.

Endlich bemerkte er einen Menschen, der nach seinem Anzuge zu urtheilen ein Rabbiner seyn mußte; er wandte sich also an diesen, und wie groß war nicht seine Freude, als er von diesem erfuhr, daß er wirklich ein Rabbiner, und in B. ziemlich bekannt sey. Er unterhielt sich mit ihm uͤber allerhand Gegenstaͤnde der rabbinischen Gelehrsamkeit, und da71B. J.sehr offenherzig ist, so erzaͤhlte er jenem seinen Lebenslauf in P. eroͤffnete ihm sein Vorhaben in B. Medizin zu studieren, zeigte ihm seinen Kommentar uͤber den More Newochim u.s.w. Dieser merkte sich alles, und schien sich fuͤr72B. J.zu interessiren. Aber auf einmal verschwand er ihm aus dem Gesichte.

52

Endlich gegen Abend kamen die juͤdischen Aeltesten. Es wurde ein jeder vorgerufen und uͤber sein Gesuch gefragt. Die Reihe kam an73B. J.Dieser sagte ganz offenherzig, er wuͤnsche in B. zu bleiben, daselbst Medizin zu studieren u.s.w.

Die Aeltesten schlugen sein Gesuch gerade zu ab, gaben ihm seinen Zehrpfennig und giengen fort. Die Ursache dieses Betragens gegen ihn besonders war keine andere als diese.

Der Rabbiner, von dem ich vorher gesprochen habe, war ein eifriger Orthodox. Nachdem er also des74B. J.Gesinnungen und Vorhaben ausgeforscht hatte, gieng er in die Stadt, benachrichtigte die Aeltesten der Gemeinde von der ketzerischen Denkungsart des75B. J.indem er den More Newochim kommentirt neu herausgeben wolle, und sein Vorhaben nicht sowohl sey Medizin zu studieren und als Profession zu treiben, sondern hauptsaͤchlich, sich in Wissenschaften uͤberhaupt zu vertiefen und seine Erkenntniß zu erweitern.

Dies Letztere sehen die orthodoxen Juden als etwas, der Religion und den guten Sitten Gefaͤhrliches an, besonders glauben sie dieses von den polnischen Rabbinern, die durch einen gluͤcklichen Zufall aus der Sklaverei des Aberglaubens befreiet, auf einmal das Licht der Vernunft erblicken, und sich von jenen Fesseln losmachen.

Dieses ist auch zum Theil wahr. Sie sind mit einem Menschen zu vergleichen, der nach lange53 ausgestandnem Hunger auf einmal an einen wohleingerichteten Tisch versetzt wird; der also mit heftiger Begierde zugreifen, und sich bis zum Ueberladen saͤttigen wird.

Die Verweigerung der Erlaubniß in B. zu bleiben, war fuͤr76B. J.ein Donnerschlag. Das letzte Ziel aller seiner Hoffnungen, seiner Wuͤnsche, wurde ihm auf einmal, da er demselben so nahe war, verruͤckt. Er befand sich in der Lage des Tantalus, und wußte sich nicht zu helfen.

Besonders schmerzte ihn das Betragen des Aufsehers dieses Armenhauses, der auf Befehl seiner Obern, auf seine schleunige Abreise drang, und nicht eher nachließ, bis er ihn vor dem Thore sahe.

77B. J.warf sich vor dem Thore auf die Erde nieder, und fing an bitterlich zu weinen.

Es war ein Sonntag, viele Menschen giengen wie gewoͤhnlich vor dem Thore spatzieren. Die mehrsten kehrten sich an den winselnden Wurm nicht; einigen mitleidigen Seelen aber fiel dieser Anblick sehr auf; sie fragten ihn nach der Ursache seines Wehklagens; er antwortete ihnen; aber sie konnten ihn, nicht nur wegen Mangel seiner natuͤrlichen Sprache, sondern auch wegen haͤufiger Unterbrechung durch Weinen und Schluchzen nicht verstehn.

Er war so alterirt, daß er in ein hitziges Fieber gerieth. Die Soldaten, die am Thore die Wache hielten, meldeten dieses in dem Armenhause.

54

Der Aufseher kam, und hohlte ihn herein. Er blieb den Tag uͤber da, und freute sich in der Hoffnung recht krank zu werden, und auf diese Art einen laͤngern Aufenthalt zu erzwingen; waͤhrend welcher Zeit er mehrere Bekanntschaft zu machen glaubte, wodurch er Schutz und Erlaubniß in B. zu bleiben zu erhalten hoffte.

Aber er wurde in seiner Hoffnung getaͤuscht. Den folgenden Tag stand er wieder munter auf, ohne etwas Fieberhaftes zu spuͤren. Er mußte also fort. Aber wohin? das wußte er selbst nicht.

Er nahm also den ersten den besten Weg, und gieng, ohne zu wissen, wohin.

Am Abend kam er in ein Wirthshaus, wo er einen armen Fußgaͤnger, der ein Betteljude ex professo war, antraf. Es freuete ihn ungemein, einen seiner Mitbruͤder anzutreffen, mit dem er sprechen konnte, und dem diese Gegenden ziemlich bekannt waren.

Er entschloß sich daher, mit diesem Gesellschafter im Lande herumzustreichen, um auf diese Art sein Leben zu erhalten, obwohl keine solche heterogene Personen in der Welt anzutreffen sind. 78B. J.war ein gelehrter Rabbiner, jener hingegen ein Jdiot;79B. J.hatte sich bis jetzt auf eine ehrenvolle Art ernaͤhrt, jener aber war ein Bettler von Profession. 80B. J.hatte Begriffe von Moralitaͤt, Schicklichkeit und Anstaͤndigkeit, jener wußte nichts von diesem allen. Letzlich war81B. J.zwar von gesunder, aber55 doch schwaͤchlicher Leibeskonstitution, jener hingegen war ein starker wohlbeleibter Kerl, der den besten Soldaten haͤtte abgeben koͤnnen.

Aller dieser Verschiedenheiten ungeachtet, schloß sich82B. J., der sich, um sein Leben zu fristen, in einem fremden Lande herumzuirren, gezwungen sahe, an jenen fest an. Auf ihrer Wanderschaft bemuͤhte sich83B. J., seinem Reisegefaͤhrten Begriffe der Religion und der wahren Moralitaͤt beizubringen. Dieser unterrichtete wieder jenen in der Kunst zu Betteln; lehrte ihn die darin uͤblichen Formeln, und empfahl ihm besonders das Fluchen, wenn er abgewiesen werden sollte.

Aber bei aller Muͤhe, die dieser sich hierin gab, wollten doch seine Lehren bei84B. J.nicht anschlagen. Die Bettelformeln hielt er fuͤr abgeschmackt. Er dachte, daß, wenn man einmal gezwungen sey, andre um Huͤlfe anzuflehn, man seine Empfindungen ganz simpel ausdruͤcken muͤsse; und was das Fluchen anbetrifft, so konnte er nicht begreifen, warum ein Mensch, der einem andern eine Bitte abschlaͤgt, den Fluch uͤber sich ziehn sollte? und dann glaubte er auch, daß man dadurch jenen desto mehr erbittern, und seinen Zweck desto weniger erreichen werde.

Wenn er also mit seinem Kameraden betteln gieng, so stellte er sich immer, als bettelte und fluchte er mit jenem zugleich; in der That aber sprach er alsdann nicht ein einziges verstaͤndliches Wort. 56Gieng er aber allein, so wußte er gar nichts zu sagen; aber an seiner Miene und Stellung konnte man doch sehen, was ihm fehlte.

Jener schalt ihn zuweilen, wegen seiner Ungelehrigkeit hierin. Dieser ertrug dieses aber mit der groͤßten Geduld.

Auf diese Art irrten sie in einem Bezirke von einigen wenigen Meilen beinahe ein halbes Jahr herum. Endlich entschlossen sie sich nach Polen ihre Route zu nehmen.

Sie gelangten in Posen an, wo sie in dem juͤdischen Armenhause, dessen Jnhaber ein armer Kleiderflicker war, einkehrten. Hier faßte85B. J.den Entschluß, seiner Wanderung, moͤge es auch kosten, was es wolle, ein Ende zu machen.

Es war Herbstzeit, und fing schon an ziemlich kalt zu werden; er war beinahe nackend und baarfuß; seine Gesundheit war durch diese Art Wanderung, wo er nie etwas Ordentliches zu essen bekam, und mehrentheils mit verschimmelten Brodbrocken und Wasser vorlieb nehmen, und des Nachts auf altem Strohe, zuweilen gar auf bloßer Erde liegen mußte, sehr ruinirt. Dazu kam noch, daß die juͤdischen Heiligen - oder Bußtage heranruͤckten, wo er, der damals ziemlich religioͤs war, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß er diese Zeit, die andere zu ihrem Seelenheil anwendeten, ganz im Muͤssiggange zubringen sollte.

57

Er beschloß daher, von da, zum wenigsten fuͤr jetzt, nicht weiter zu gehn, und allenfalls, wenn es hoch kommen sollte, sich vor die Synagoge zu legen, und entweder da zu sterben, oder das Mitleiden seiner Mitbruͤder zu erregen, und dadurch seinem Leiden ein Ende zu machen.

Sobald daher sein Kamerad am Morgen aufwachte, sich zum Bettelngehn anschickte, und den86B. J.gleichfalls dazu aufforderte, antwortete ihm dieser, daß er jetzt nicht mitgehen wolle, und da dieser ihn fragte, wie er doch auf eine andere Art sein Leben zu erhalten daͤchte, konnte er nichts mehr antworten, als: Gott wird schon helfen.

Darauf gieng er nach der Judenschule. Hier fand er einige junge Schuͤler, die theils lasen, theils aber auch sich die Abwesenheit ihres Lehrers zu Nutze machten, und die Zeit mit Spielen zubrachten.

87B. J.nahm auch ein Buch zum Lesen. Jene, denen sein seltsamer Anzug auffiel, naͤherten sich ihm, fragten ihn, woher er komme? und was sein Vorhaben sey? 88B. J.beantwortete ihnen diese Fragen in seiner litthauischen Sprache, woruͤber jene zu lachen, und sich uͤber ihn lustig zu machen anfiengen.

89B. J.kehrte sich wenig daran; und da er sich erinnerte, daß vor einigen Jahren ein Oberrabbiner aus seiner Gegend zum Oberrabbiner in Posen aufgenommen sey, und dieser einen Bekann -58 ten und guten Freund von ihm als Schreiber mitgenommen hatte, so fragte er die Knaben nach diesem Freunde. Diese aber berichteten ihm, daß dieser Freund nicht mehr in Posen anzutreffen waͤre, indem er mit dem Oberrabbiner, der nachher befoͤrdert, und zum Oberrabbiner in Hamburg aufgenommen worden, nach diesem Orte mitgereist sey; daß er aber seinen Sohn, einen Knaben von ohngefaͤhr zwoͤlf Jahren in Posen bei dem jetzigen Oberrabbiner, der ein Schwiegersohn des vorigen sey, zuruͤckgelassen habe.

Diese Nachricht betruͤbte den90B. J.nicht wenig; doch machte ihm der letzte Umstand noch einige Hoffnung.

Er fragte daher nach der Wohnung des neuen Oberrabbiners, gieng hin, scheute sich aber, da er fast nackend war, hereinzutreten, und wartete daher bis er jemanden in dieß Haus hereintreten sahe. Diesen bat er, er moͤchte doch so gut seyn, ihm seines Freundes Sohn herauszurufen.

So bald dieser herauskam, erkannte er gleich den91B. J.und bezeugte sein Erstaunen, ihn in einem solchen elenden Zustande hier zu sehn. 92B. J.erwiederte hierauf, daß es jetzt nicht die Zeit sey, alle Ungluͤcksfaͤlle zu erzaͤhlen, die ihn in diesen Zustand versetzt haͤtten, und daß er nur fuͤr jetzt darauf bedacht seyn solle, wie er dieses Elend um etwas erleichtern koͤnne.

59

Dieser versprach es, gieng zum Oberrabbiner, und meldete ihm den93B. J.als einen großen Gelehrten und frommen Mann, der durch besondre Zufaͤlle in einen sehr elenden Zustand gerathen sey.

Der Oberrabbiner, der ein vortreflicher Mann, ein scharfsinniger Talmudist, und von einem sehr sanften Karakter war, wurde von dem Elende des94B. J.geruͤhrt, ließ ihn zu sich kommen, unterhielt sich mit ihm eine geraume Zeit, disputirte mit ihm uͤber die wichtigsten Gegenstaͤnde aus dem Talmud, und fand ihn in allen Faͤchern der juͤdischen Gelehrsamkeit sehr bewandert.

Darauf fragte er ihn nach seinem Vorhaben. 95B. J.erwiderte, er wuͤnschte als Hofmeister in irgend einem Hause anzukommen, fuͤr jetzt aber wuͤnschte er nichts mehr, als die heiligen Tage hier feiern zu koͤnnen, und zum wenigsten diese kurze Zeit uͤber seine Reisen zu unterbrechen.

Darauf erwiderte der Rabbiner, daß er, was dieses anbetraͤfe, unbesorgt seyn solle, indem sein Verlangen eine Kleinigkeit, und nicht mehr als billig sey. Er gab ihm darauf so viel Geld, als er bei sich hatte, invitirte ihn, daß er so lange, als er sich hier aufhalten wuͤrde, alle Sabbath bei ihm essen solle, und befahl seinem Knaben, daß er fuͤr96B. J.ein anstaͤndiges Logis schaffen solle.

Dieser kam bald wieder, und fuͤhrte den97B. J.in seine Wohnung.

60

Nun glaubte98B. J.daß diese Wohnung keine andere, als ein Kaͤmmerchen bei irgend einem armen Manne seyn wuͤrde. Er erstaunte daher nicht wenig, als er sich im Hause eines der aͤltesten Juden dieser Stadt sahe, wo man fuͤr ihn ein sehr properes Stuͤbchen zurecht gemacht hatte, welches die Studierstube dieses Mannes war, der sowohl selbst, wie auch sein Sohn, ein großer Gelehrter war.

So bald sich99B. J.ein wenig umgesehn hatte, gieng er zu der Hausfrau, steckte ihr einige Pfennige in die Haͤnde, und bat sie, daß sie ihm dafuͤr eine Gruͤtzsuppe zum Abendessen zubereiten moͤchte. Diese fing an uͤber seine Simplizitaͤt zu laͤcheln, und sagte: » nein mein Herr, wir haben so nicht accordirt, der Oberrabbiner hat Sie uns nicht so empfohlen, daß Sie sich fuͤr Jhr Geld eine Gruͤtzsuppe bei uns machen lassen sollen, « und erklaͤrte ihm, daß er nicht blos in ihrem Hause logiren, sondern auch, so lange er sich in dieser Stadt aufhalten wolle, essen und trinken solle.

100B. J.erstaunte uͤber dieses unerwartete Gluͤck, aber wie groß war sein Entzuͤcken, als man ihm nach dem Abendessen ein reinliches Bette anwies; er trauete seinen Augen nicht, und fragte zu verschiedenenmalen: » ist dieses wirklich fuͤr mich? «

Er versicherte mich oft, daß er nie, sowohl vor dieser Begebenheit als nachher, einen solchen Grad von Gluͤckseeligkeit gefuͤhlt habe, als damals,61 als er sich zu Bette legte, und seine, seit einem halben Jahr strapazierten, ja beinahe zerbrochnen Glieder, in einem weichen Bette ihre vorige Staͤrke wieder erlangen fuͤhlte.

Er schlief bis spaͤt auf den Tag. So bald er aufgestanden war, schickte der Oberrabbiner nach ihm, und ließ ihn zu sich bitten. So bald er erschien, fragte ihn jener, wie er mit seinem Logis zufrieden sey. Dieser konnte keine Worte finden, seine Empfindung hieruͤber auszudruͤcken, und rief in einer Extase: » Jch habe in einem Bette geschlafen! « Der Oberrabbiner freute sich ungemein daruͤber, schickte darauf nach dem Schulkantor; so bald dieser kam, sagte er zu ihm » H ... gehn Sie zu dem Kaufmann .... und nehmen Sie fuͤr H.101B. J.fuͤr meine Rechnung Zeug zu einem Kleide. «

Darauf wandte er sich zu102B. J.und fragte ihn: was beliebt Jhnen fuͤr ein Zeug? Dieser, durchdrungen von der Empfindung der Dankbarkeit und Hochachtung fuͤr diesen vortreflichen Mann, konnte hierauf gar nichts antworten. Ein Thraͤnenstrom der ihm die Wangen herabfloß, diente statt aller Antwort.

Der Oberrabbiner ließ ihm auch neue Waͤsche machen. Jn zweien Tagen war alles fertig. 103B. J.zog reine Waͤsche und sein neues Kleid an, und gieng so ausstaffirt zum Oberrabbiner; er wollte ihm seine Dankbarkeit bezeugen, konnte aber kaum62 einige abgebrochne Worte herausbringen. Fuͤr den Oberrabbiner war dieses ein entzuͤckender Anblick. Er sagte zu dem104B. J.daß er ihm dieses nicht so hoch anschreiben solle, indem das, was er fuͤr ihn gethan habe, eine Kleinigkeit und der Rede nicht werth sey.

Nun moͤchte der Leser vielleicht glauben, daß dieser Oberrabbiner ein reicher Mann gewesen sey, bei dem die Kosten, die er auf den105B. J.wandte, wirklich eine Kleinigkeit gewesen waͤren; aber106B. J.versicherte mich, daß es sich damit ganz anders verhalten habe, der Oberrabbiner habe nur ein maͤßiges Gehalt gehabt, und da er sich bloß mit dem Studium abgegeben, so habe seine Frau die Verwaltung seiner Geschaͤfte, und seine Haushaltung zu besorgen gehabt. Er habe also dergleichen Handlungen ohne Wissen seiner Frau ausuͤben, und vorgeben muͤssen, daß ihm andere Leute Geld dazu gegeben haͤtten. Uebrigens habe er fuͤr sich ein sehr maͤßiges Leben gefuͤhrt, tagtaͤglich, außer am Sabbath, gefastet, und die ganze Woche uͤber kein Fleisch gegessen.

Demohngeachtet aber habe er doch, um seine Neigung zum Wohlwollen zu befriedigen, Schulden machen muͤssen. Diese strenge Lebensart, das viele Studieren und Nachtwachen haben seine Kraͤfte so sehr geschwaͤcht, daß er, nachdem er zum Oberrabbiner in Foͤrde aufgenommen worden, wohin ihm eine große Anzahl Schuͤler gefolgt, ohnge -63 faͤhr in dem sechs und dreißigsten Jahre seines Alters gestorben sey. Nie konnte107B. J.ohne die tiefste Ruͤhrung von diesem goͤttlichen Manne sprechen.

Jch komme zu108B. J.Geschichte zuruͤck. Er hatte noch in seinem vorigen Logis (bei dem armen Kleiderflicker) einige Kleinigkeiten zuruͤckgelassen. Er gieng also hin, um diese abzuhohlen. Der arme Kleiderflicker, seine Frau und der Kamerad des109B. J.die schon von der gluͤcklichen Veraͤnderung, die mit dem110B. J.vorgegangen war, gehoͤrt hatten, erwarteten ihn mit Ungeduld. Dieser kam.

Eine ruͤhrende Szene! Der Mann, der vor drei Tagen in dieser armen Huͤtte ganz entkraͤftet, halb nackend und baarfuß, anlangte, den die armen Bewohner dieses Hauses als einen Auswurf der Natur betrachteten, und dessen Kamerad in dem leinwandnen Kittel mit Spott und Verachtung auf denselben herabsahe, dieser Mann kommt nun (sein Ruf gieng vor ihm) mit einem heitern Gesichte, als ein Oberrabbiner gekleidet, in einer ehrwuͤrdigen Gestalt in eben diese Huͤtte.

Sie bezeugten alle ihre Freude und Verwunderung uͤber diese Transformation. Die arme Frau nahm ihren Saͤugling auf die Arme, und bat fuͤr ihn, mit thraͤnenden Augen, um den Seegen. Sein Kamerad bat ihn sehr ruͤhrend um Verzeihung wegen seiner rohen Behandlung; er sagte,64 er schaͤtze sich gluͤcklich, einen solchen Reisegefaͤhrten gehabt zu haben, wuͤrde aber sich sehr ungluͤcklich schaͤtzen, wenn111B. J.ihm seine aus Unwissenheit begangenen Fehler nicht verzeihen wollte.

Dieser redete alle sehr liebreich an, gab dem Kleinen seinen Seegen, und seinem Reisekameraden alles Baare das er in seiner Tasche hatte, und gieng sehr geruͤhrt zuruͤck.

Unterdessen hatte das Bezeigen des Oberrabbiners gegen den112B. J.wie auch das seines neuen Wirthes, der selbst ein großer Gelehrter war, und durch haͤufige Unterredungen und Disputiren mit dem113B. J.eine hohe Meinung von seinen Talenten und Gelehrsamkeit gefaßt hatte, seinen Ruf in der Stadt so ausgebreitet, daß alle Gelehrte dieser Stadt ihn, als einen beruͤhmten reisenden Rabbiner, zu sehn, und mit ihm zu disputiren kamen; je naͤher sie ihn aber kennen lernten, in desto groͤßrer Achtung wurde er von ihnen gehalten.

Diese Zeit war nach des114B. J.eigner Versicherung, die gluͤcklichste und ehrenvollste Periode in seinem Leben.

Die jungen Gelehrten dieser Stadt beschlossen in ihrer Versammlung, ihm ein Gehalt auszumachen, wofuͤr er ihnen Vorlesungen uͤber das beruͤhmte tiefsinnige Werk des Maimonides, More Newochim halten sollte. Dieser Vorschlag blieb aber aus der Ursache unausgefuͤhrt, weil die Aeltern dieser jungen Leute besorgten, daß ihre Kinder da -65 durch verfuͤhrt, und durch Selbstdenken uͤber Religion in ihrem Glauben wankend gemacht werden moͤchten.

Sie gestanden zwar, daß115B. J.bei seiner Neigung zum Nachdenken uͤber Religion dennoch ein frommer Mann und orthodoxer Rabbiner sey; traueten aber ihren Kindern so viel Beurtheilung nicht zu, daß sie diesen Weg einschlagen koͤnnten, ohne von dem einen Extrem zum andern, vom Aberglauben zum Unglauben uͤberzugehn, worin sie auch vielleicht Recht hatten.

Nachdem116B. J.ungefaͤhr vier Wochen auf diese Art zugebracht hatte, kam der Mann bei dem er logirte zu ihm, und redete ihn auf folgende Weise an: Herr117B. J.! erlauben Sie mir, daß ich Jhnen einen Vorschlag thue! Sind Sie blos zum Selbststudium geneigt, so koͤnnen Sie hier bleiben, so lange Sie immer wollen. Wollen Sie sich aber nicht blos in sich konzentriren, und sind Sie geneigt, mit Jhren Talenten der Welt zu nutzen, so ist hier ein reicher Mann, einer der vornehmsten dieser Stadt, der einen einzigen Sohn hat, und der nichts so sehr wuͤnscht, als Sie zum Hofmeister zu haben. Dieser Mann ist mein Schwager; wenn Sie es also nicht seinetwegen thun wollen, so thun Sie es meinetwegen, und dem Oberrabbiner zu Gefallen, dem die Erziehung meines Schwagers Sohns, der in seiner Familie vermaͤhlt ist, am Herzen liegt.

66

118B. J.nahm dieses Anerbieten mit Freuden an. Er kam also in diesem Hause unter vortheilhaften Bedingungen als Hofmeister an, und blieb zwei Jahre in groͤßter Ehre darin. Man that nichts in diesem Hause ohne sein Wissen. Man begegnete ihm mit der groͤßten Ehrerbietung. Man hielt ihn beinahe fuͤr ein mehr als menschliches Wesen.

So flossen die paar Jahre unvermerkt und gluͤcklich fuͤr ihn hin. Unter der Zeit giengen aber doch einige kleine Begebenheiten mit ihm vor, die wegen ihrer Merkwuͤrdigkeit in dieser Geschichte nicht uͤbergangen werden duͤrfen.

Erstlich gieng die Hochachtung fuͤr seine Person in diesem Hause so weit, daß man ihn malgré lui zum Propheten machen wollte. Es gieng damit folgendermaßen zu.

Der Schuͤler des119B. J.war mit der Tochter eines Oberrabbiners, der ein Schwager des Oberrabbiners in Posen war, versprochen worden. Die Braut, ein Maͤdchen von ohngefaͤhr zwoͤlf Jahren, wurde, wie gewoͤhnlich, auf den Pflngstfeiertag von ihren Schwiegereltern nach Posen abgehohlt. 120B. J.bemerkte, daß dieses Maͤdchen von sehr phlegmatischem Temperament, und ziemlich kachetisch sey. Er entdeckte dieses dem Bruder seines Hausherrn, der also seines Schuͤlers Onkel war, und fuͤgte noch mit einer bedeutenden Miene hinzu, daß er fuͤr das Maͤdchen sehr besorgt sey, indem er nicht glaube, daß ihre Gesundheit von langer67 Dauer seyn wuͤrde. Nach dem Feiertage wurde das Maͤdchen zu ihren Aeltern zuruͤckgeschickt. Vierzehn Tage nachher bekam man hier einen Brief, worin der Tod dieses Maͤdchens gemeldet wurde.

Nun wurde121B. J.nicht nur in diesem Hause, sondern in der ganzen Stadt fuͤr einen Propheten gehalten, der den Tod dieses Maͤdchens vorausgesagt haͤtte.

122B. J., der zu nichts weniger als zum Betruge geneigt ist, suchte diese aberglaͤubischen Menschen auf andre Gedanken zu bringen, und sagte, daß ein jeder, der einige Beobachtungen in der Welt gemacht haͤtte, ebendasselbe haͤtte voraussagen koͤnnen; aber es half nichts; er war einmal Prophet und mußte es bleiben.

Zweitens wurden in einem juͤdischen Hause des Freitags Fische auf den Sabbath zurecht gemacht. Es kam demjenigen, der einen Karpfen aufschnitt, vor, als gaͤbe dieser einen Laut von sich. Dieses setzte alle in ein panisches Schrecken. Man ließ den Rabbiner fragen, was man mit diesem stummen Fische, der zu reden gewagt haͤtte, machen solle? Dieser befahl, in der aberglaͤubischen Meinung, als waͤre der Karpfen von einem Geiste besessen, man solle den Karpfen in einem Leichentuche aufs herrlichste begraben.

Nun wurde in dem Hause, wo123B. J.war, von dieser schauervollen Begebenheit gesprochen. 124B. J.der durchs fleißige studieren des More Ne -68 wochim*)*) More Newochim heißt Lehrer der Verirrten, und ist ein freimuͤthiges Werk uͤber die juͤdischen Religionsgebraͤuche von dem beruͤhmten Rabbi Maimonides. sich schon ziemlich von dergleichen aberglaͤubischen Meinungen losgemacht hatte, lachte herzlich daruͤber, und sagte: wenn man den Karpfen anstatt zu begraben, lieber ihm zugeschickt haͤtte, so wuͤrde er den Versuch gemacht haben, wie ein solcher begeisterter Karpfen doch schmecken muͤsse.

Dieses Bon mot wurde bekannt. Die Gelehrten ereiferten sich daruͤber, schrien ihn fuͤr einen Ketzer aus, und suchten ihn auf alle Art zu verfolgen.

Die Achtung, die man aber in dem Hause, worin er Hofmeister war, fuͤr ihn hatte, machte alle ihre Bemuͤhungen fruchtlos.

126B. J.der sich auf diese Art sicher sahe, und durch den Geist des Fanatismus vielmehr zum fernern Nachdenken angespornt, als abgeschreckt wurde, fing an, die Sachen ein wenig weiter zu treiben: verschlief mehrentheils die Gebetszeit, kam selten in die Synagoge, und dergleichen. Endlich wurde das Maaß seiner Suͤnden so voll, daß ihn nichts mehr vor der Verfolgung sichern konnte.

Jn dem Eingange des Gemeindehauses befindet sich, wer weiß, seit welcher Zeit, ein Hirschhorn in die Wand eingeschlagen. Von diesem behaupten alle Juden in Posen einstimmig, daß derjenige, der69 dieses Hirschhorn beruͤhre, auf der Stelle sterben muͤsse, und erzaͤhlen eine Menge Beispiele diese Art.

127B. J.dem dieses nicht in den Kopf wollte, lachte daruͤber; und, indem er einst mit andern Juden aus dieser Stadt vor diesem Hirschhorn vorbeigieng, sagte er zu ihnen: Jhr poser Narren, die ihr glaubt, daß derjenige, der dieses Horn beruͤhre, auf der Stelle sterben muͤsse; seht, ich wage es, dasselbe zu beruͤhren.

Diese erwarteten voller Entsetzen auf der Stelle128B. J.Tod; da aber dieser nicht erfolgte, so verwandelte sich ihre Bangigkeit fuͤr ihn in Haß. Sie betrachten ihn als einen der das Heiligthum entweihet habe.

129B. J.bei dem dieser Fanatismus das Verlangen rege gemacht hatte, nach B. zu reisen, und den Rest des Aberglaubens durch Aufklaͤrung in sich zu vernichten, forderte von seinem Herrn den Abschied. Dieser hingegen aͤußerte den Wunsch, daß130B. J.noch laͤnger in seinem Hause bleiben moͤchte, und versicherte ihn seines Schutzes wider alle Verfolgung.

131B. J.aber der einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, wollte denselben nicht aͤndern; nahm also von seinem Herrn und seiner ganzen Familie Abschied, setzte sich auf die Frankfurter Post, und reisete nach B.

70

2. Ueber den Traum und uͤber das Divinationsvermoͤgen. (Als eine Fortsetzung des vierten Aufsatzes 3ten Stuͤcks 8ten Bands.)

132

Es giebt noch eine Art Taͤuschung, die eine besondere Eroͤrterung erfordert, nehmlich: der Traum.

Die Merkmale, woran wir den Zustand des Traͤumens, von dem Zustande des Wachens unterscheiden koͤnnen sind: 1) Die Unregelmaͤßigkeit in der Folge der Vorstellungen auf einander. 2) Das Ausbleiben der Wuͤrkungen aus ihren im Traume vorgestellten Ursachen. 3) Der koͤrperliche Zustand des Schlafens (seine Ausspannung, Ruhe, und Verschließung der sinnlichen Organen).

Das Erste kann, wenn die Unregelmaͤßigkeit, zur Ungereimtheit wird, im Traum selbst wahrgenommen werden, woraus man im Traume selbst weis, daß man traͤumt, so daß man nicht selten daruͤber erwacht. Die beiden andern koͤnnen nicht im Traume selbst, sondern erst nach dem Aufwachen wahrgenommen werden. Wenn, nach dem Jesaias, der Hungrige traͤumt, daß er ißt, so weis er waͤhrend des Traums nicht, daß er traͤumt. Wenn er aber aufwacht und seinen71 Magen leer findet, alsdann erkennt er erst, daß er vorher blos getraͤumt hat. Er erkennt also, daß er blos im Traume gegessen hat, aus dem Ausbleiben der Wuͤrkung dieses Essens nehmlich: der Saͤttigung und dergleichen. So erkennt man auch, daß man getraͤumt hat, wenn man bemerkt, daß man die ganze Zeit uͤber im Bette gelegen, und die Augen zugeschlossen hatte; folglich die im Traume vorgestellten sichtbaren Gegenstaͤnde nicht habe sehen, und die Handlungen nicht habe verrichten koͤnnen, und dergleichen.

Die Ursache des Traums, ist eine, durch die Wuͤrksamkeit der Sinne ununterbrochne Wuͤrksamkeit der Einbildungskraft.

Traum ist derjenige Zustand des Menschen, worin das Associationsvermoͤgen sich nicht selbstthaͤtig nach einer bestimmten Art, sondern leidend, und von der einen Associationsart zur andern leicht uͤberspringend sich aͤußert. Der Traum ist ein Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen, worin der Koͤrper die durch den Schlaf verlohrne Spannung wieder zu erlangen, und empfindungsfaͤhig zu seyn anfaͤngt. Da er aber noch nicht die voͤllige zur Empfindung noͤthige Spannung erlangt hat, so ist die durch den Traum veranlassete Empfindung an sich sehr schwach (obgleich die Ursache davon spaͤter als gewoͤhnlich gedacht wird), und von dem Associationsgeschaͤfte (das vom Koͤrper72 unabhaͤngig im Traume wie im Wachen wuͤrkt) gaͤnzlich verdunkelt.

Jm wachenden Zustande wuͤrkt das Associationsvermoͤgen mehrentheils nach irgend einem Zwecke. Jm Traume hingegen durchkreutzen sich alle Associationsarten. Die gemeinen gesellschaftlichen Unterhaltungen, ja sogar die ernsthaftesten Geschaͤfte mancher Personen sind hierin dem Traume aͤhnlich. Zum Beispiel eines solchen wachenden Traums, kann folgende Stelle aus Shakespeare dienen!

» Die Wirthin: Zum Henker, dich selbst und dein Geld noch dazu! wenn du ein ehrlicher Mann waͤrest! Du schwurst mir auf einen vergoldeten Becher, da du in meiner Kammer am runden Tisch, neben dem Kohlfeuer saßest; es war am Mittwoche in der Pfingstwoche, da dir der Prinz ein Loch in den Kopf schlug, weil du ihn mit einem Saͤnger vom Windsor verglichst, du schwurst mir da, indem ich deine Wunde wusch, daß du mich heirathen, und zur Madam, zu deiner Frau machen wolltest, kannst du das leugnen? Kam nicht Mutter Keech, des Schlaͤchters Frau, herein, und nannte mich Gevatterin Cherkly? Sie kam und borgte Essig, und sagte, daß sie eine gute Schuͤssel mit kleinen Fischen haͤtte, und wolltest gern einige davon essen, und ich sagte, daß sie fuͤr eine frische Wunde nichts taugten. Und sagtest du mir nicht, da sie die Treppe herunter war, daß ich mich nicht73 mehr mit solchem armen Volke so gemein machen sollte, und daß sie mich bald Madam wuͤrde nennen muͤssen! und gabst du mir nicht einen Kuß, und batst, ich sollte dir dreißig Schilling borgen? Thu itzt einen Eid auf deine Bibel, leugne das, wenn du kannst. «

Heinrich IV. der zweite Theil,[ 2ter] Akt, 1ster Auft.

Man sieht hieraus, daß die Menschen in ihren sogenannten gesellschaftlichen Unterhaltungen, wo sie sich an keine bestimmte zweckmaͤßige Associationsart binden, sondern der Einbildungskraft voͤllig freyen Lauf lassen, nichts anders thun, als daß sie wachend traͤumen.

Das Nachtwandeln ist ein hoher Grad des Traums, d.h. einer unwillkuͤhrlichen, unabsichtlichen, obgleich zuweilen zweckmaͤßige Association der Jdeen, die mit den ihnen korrespondirenden koͤrperlichen Bewegungen und Handlungen verknuͤpft sind.

Die Art der Association ist beim Nachtwandeln, so wie beim Traume nicht durchgehends bestimmt (wie bei der willkuͤhrlichen absichtlichen Association), sondern es durchkreutzen sich nach Beschaffenheit des Temperaments, der Gewohnheit und dergleichen, mehrere Arten der Associationen.

Beim Nachtwandeln, wie beim Traume, geraͤth man einigermaaßen außer sich. Denn da das Selbstbewußtseyn auf die Selbstmacht im Fortsetzen74 oder Unterbrechen einer Jdeenreihe nach eigner Willkuͤhr beruht, wodurch man seine eigne Thaͤtigkeit fuͤhlet, wovon die Jdeen selbst die Objekte sind, so wird, wenn daher diese Association unwillkuͤhrlich ist, und man sich dabei blos leidend verhaͤlt, diese Selbstmacht nicht gefuͤhlt; man ist also ganz außer sich in den Objekten. Jch betrachte hier blos die beiden Extreme, zwischen denen es aber viele Mittelgrade geben kann. Die ploͤtzliche Unterbrechung der Associationsreihen im wachenden Zustande (durch die Empfindung) bringt den Menschen auf das Gefuͤhl seiner selbst zuruͤck. Die Association ist im Traume und vorzuͤglich im Nachtwandeln nicht nur staͤrker, sondern auch vollstaͤndiger, als im wachenden Zustande. Jst diese Association zweckmaͤßig (obgleich nicht aus Zweck), so ist die Ruhe in diesem Betrachte vollstaͤndig, d.h. sie enthaͤlt alles, was zum Zwecke erforderlich ist. Jm wachenden Zustande hingegen macht die bestaͤndige Unterbrechung, daß die Reihe, ob sie gleich zweckmaͤßig ist, und nach jeder Unterbrechung fortgesetzt wird, dennoch diese nur en gros geschehen kann, so daß noch manche Luͤcken unausgefuͤllt bleiben.

Daher koͤmmt es, daß man zuweilen im Traume, und vorzuͤglich im Nachtwandeln weit leichter und mit mehr Genauigkeit, als im wachenden Zustande, Handlungen ausuͤben kann. Man geraͤth auf neue Erfindungen, auf die man im wachenden Zustande nicht hat gerathen koͤnnen. Der duͤmste75 Mensch wird im Traume auf einmal ein witziger Kopf, und der feigste ein Held. Man haͤlt Reden, macht Verse und dergleichen, mit bewunderungswuͤrdiger Geschicklichkeit u.s.w. weil die Einbildungskraft in der gegenwaͤrtigen Associationsreihe so geschwind von der einen Vorstellung zur andern uͤbergeht, und gleichsam die ganze Reihe, ohne sich umzusehn, in einem Athem durchlaͤuft, so daß gar keine Vergleichung zwischen verschiedenen Reihen moͤglich ist.

Daher kann sich auch ein Nachtwandler von dem, was er waͤhrend dieser Zeit verrichtet hat, gar nichts erinnern, weil die gegenwaͤrtigen Jdeen in die waͤhrend seines Nachtwandelns herrschende Reihe gar nicht passen wollen, indem die Reihe der Ersten, durch bestaͤndige Unterbrechung der Empfindungen viel Luͤcken enthaͤlt, und daher nicht so vollstaͤndig seyn kann, als die waͤhrend des Nachtwandelns.

Die Vollstaͤndigkeit der Reihe ist auch der Grund, warum ein Nachtwandler sein Geschaͤft weit sichrer, richtiger und geschwinder, als im wachenden Zustande, verrichten kann, weil nehmlich im ersten Falle die zu diesem Zwecke noͤthige Reihe weit vollstaͤndiger, als im letzten Falle ist.

Jch glaube hier zur Erklaͤrung einiger Phaͤnomene in der Psychologie neue Aussichten eroͤfnet zu haben. Z.B. zu der Moͤglichkeit der Ahndungen, Vorhersehungen, und dergleichen; woruͤber ich mich aber aus gewissen Ursachen nicht naͤher erklaͤren will.

76

Die Unterbrechung einer in der Erfahrung gegruͤndeten Associationsreihe ist ein Merkmahl der Nichtwuͤrklichkeit der Vorstellungen außer uns. Es traͤumte mir z. B. als: machte ich eine Reise von Berlin nach Paris, ich passire im Traume alle Oerter die zwischen diesen beiden Hauptstaͤdten liegen ihrer Ordnung nach durch, gelange endlich in Paris an; aber siehe! ich erblicke unweit von der Pont neuf die Berliner Garnisonkirche; die Associationsreihe der Kontiguitaͤt wird dadurch unterbrochen, und ich werde daher veranlaßt zu glauben, das dieses alles ein Traum sey, und dergl.

Waͤre in der Folge unserer Vorstellungen aufeinander gar kein Gesetz anzutreffen, so haͤtten wir sie, da sie in der That Modificationen unserer selbst sind, nothwendig fuͤr ein Spiel der Einbildungskraft gehalten, und niemals auf etwas außer demselben bezogen. Also nicht die Unterbrechung der nach einem Gesetze angefangenen Associationsreihe, sondern vielmehr umgekehrt ihre Folge nach einem Gesetze ein Merkmal der Wuͤrklichkeit außer uns ist.

Um aber die Natur dieser Taͤuschung und den Unterschied zwischen Wachen und Traͤumen genauer bestimmen zu koͤnnen, muß ich erstlich die Natur der verschiedenen Associationsarten entwicklen.

Es giebt nehmlich dreierlei Associationsarten; 1) die der Kontiguitaͤt (der unmittelbaren Folge aufeinander in Zeit und Raum); 2) der Aehnlichkeit; 3) der Dependenz (von Grund und Folge.)

77

Wir wollen also diese verschiedenen Associationsarten untereinander vergleichen.

Die Association der Kontiguitaͤt hat einen empirischen sowohl subjektiven als objektiven Grund (von dem transcendentellen Grunde ist hier die Rede nicht). Die bestaͤndige Wahrnehmung der Folge von B auf A ist der Grund, warum bei der Vorstellung von A die mit ihr associirte Vorstellung von B reproduziert wird.

Die bestaͤndige Wiederholung dieser Folge ist blos subjektiv. Der Grund aber, der bei mir diese Wiederholung selbst veranlaßt hat, ist nicht in mir (weil ich mir statt dieser eine andere Folge vorstellen kann), sondern in den Objekten selbst zu suchen. Jch habe z. B. bestaͤndig in der Naͤhe der Fleischbaͤnke Hunde wahrgenommen, und dieses ist der Grund, warum meine Einbildungskraft bei der Vorstellung der Fleischbaͤnke die Vorstellung der Hunde reproduziert.

Der Grund aber, warum ich die Hunde bestaͤndig bei den Fleischbaͤnken wahrgenommen habe, liegt nicht in mir, sondern in dem innern Verhaͤltnisse dieser Objekte zu einander und dergl.

Die bestaͤndige Wiederholung der Folge der Vorstellungen aufeinander kann uns aber keineswegs auf die Wuͤrklichkeit ihrer Objekte fuͤhren, weil, wie gesagt, diese Wiederholung blos subjektiv ist. Nur der objektive Grund dieser Wiederholung,78 wir moͤgen ihn einsehn oder nicht, fuͤhrt uns auf den Begrif der Wuͤrklichkeit.

Die Unterbrechung dieser, aus der Erfahrung bekannten Kontiguitaͤt ist also ein Merkmal der Nichtwuͤrklichkeit.

Die Association der Aehnlichkeit kann uns auf keine Wuͤrklichkeit fuͤhren, sie hat einen blos idealischen Grund, wodurch blos das Verhaͤltniß der Objekte zu einander, nicht aber ihr Verhaͤltniß zu unserm Gemuͤthe, und noch weniger ihr Realverhaͤltniß bestimmt wird.

Die Objekte moͤgen wirklich oder blos moͤglich seyn, so bleibt immer ihre Aehnlichkeit eben dieselbe.

Endlich die Association der Dependenz ist entweder blos logisch (als Grund und Folge) oder reel (als Ursach und Wuͤrkung), jene fuͤhrt uns mehr auf die Existenz unserer selbst, als auf die der aͤußern Objekte. Mit dieser aber ist es gerade umgekehrt.

Wenn ich eine Kette von Schluͤssen, die als Grund und Folge von einander abhaͤngen, durchdenke, so fuͤhle ich dadurch meine Selbstthaͤtigkeit, und folglich meine Existenz am meisten. Die Existenz der Objekte aber, die durch diese Vernunftoperation verknuͤpft werden, fuͤhle ich am wenigsten, weil sie zu diesem Behufe nicht gaͤnzlich bestimmt, sondern allgemein bleiben muͤssen. Wenn ich aber bei[ schwuͤlem] Wetter den Himmel uͤberwolkt, und darauf einen Regenguß wahrnehme, so79 leitet dieses nicht sowohl auf die Wuͤrklichkeit dieser Erscheinungen, als meiner selbst, weil diese Erscheinung nach der Association der groͤßten moͤglichen Kontiguitaͤt (der Dependenz von Ursache und Wuͤrkung) erfolgt ist.

Meine Selbstthaͤtigkeit hingegen ist hier sehr geringe, ich werde gleichsam zu dieser Association gezwungen. Bei einem mindern Grad der Kontiguitaͤt aber, die blos durch oͤftere, nicht aber bestaͤndige Wiederholung entstanden ist, ist das Gefuͤhl der Selbstexistenz ohngefaͤhr dem der Existenz der aͤußern Objekte gleich.

Das Resultat dieser Untersuchung ist also dieses: das zufaͤllige Unterbrechen einer Jdeenreihe, ist weit entfernt ein Merkmahl des Wachens, d.h. der Wuͤrklichkeit der Vorstellungen außer uns zu seyn, sondern es ist, wie schon gezeigt worden, vielmehr ein Merkmal des Traͤumens.

Das Nichtunterbrechen aber ist deswegen noch kein Merkmal des Wachens, es laͤßt die Erscheinung in Ansehung dieser beiden Zustaͤnde unbestimmt. Hingegen ist das willkuͤrliche Fortsetzen oder Unterbrechen einer Jdeenreihe ein positives Merkmahl des Wachens. Man kann allerdings auch im Schlafe eine Schlußkette verfolgen, aber man kann sie nicht willkuͤrlich verfolgen oder unterbrechen. Die Wuͤrkungen der Vernunft und des Verstandes aͤußern sich im Schlafe selten, und wenn sie sich aͤußern, so geschehen sie (gleich wie80 die Wuͤrkungen der niedern Seelenkraͤfte) mehr mechanisch als willkuͤrlich. Die Seele ist sich nicht dabei des Grunds von jedem Schritt, den sie thut, bewußt, sie wuͤrkt zweckmaͤßig, ohne Vorstellung des Zwecks, so wie die Wuͤrkung des Genies uͤberhaupt ist. Sie wird zufaͤlligerweise (in Ansehung unsrer) auf eine Associationsart geleitet, darin unterhalten oder unterbrochen, ohne zu wissen wie? Nur durch die Selbstmacht der Seele uͤber ihre Jdeen also koͤnnen wir uns von dem Zustand des Wachens versichern.

Das Prinzip der Moral ist also zugleich das Kriterium des vollstaͤndigen Daseyns des Menschen, d.h. der Mensch kann nur insofern aufs vollstaͤndige Daseyn Anspruch machen, in wie fern er sich der hoͤchsten Moralitaͤt naͤhert. Darauf zielten auch unsre Talmudisten, indem sie sagen: die Untugendhaften sind schon bei ihrem Leben todt.

Jch gehe nun zu einer Materie uͤber, die weit seltner als Traͤume und Nachtwandeln ist; die aber dennoch zu eben der Klasse gehoͤrt, nehmlich zu den Visionen, oder Erscheinungen im wachenden Zustande. Der Grund warum man diese Materie aus der Psychologie gaͤnzlich weggelassen hatte, laͤßt sich leicht angeben; nehmlich da alle geoffenbarte Religion sich auf dergleichen Visionen stuͤtzt, so wollten die Orthodoxen einer jeden Religion nicht zugeben, daß man dergleichen Visionen81 auf eine natuͤrliche Art, nach den bekannten Gesetzen der Psychologie erklaͤren sollte, indem sie die aus der heiligen Schrift bekannten Fakta dieser Art fuͤr uͤbernatuͤrliche Wuͤrkungen hielten. Die Heterodoxen hingegen leugnen diese Fakta selbst, indem sie sie blos fuͤr erdichtete Fabeln halten, und auf diese Art aller Erklaͤrung uͤberhoben zu seyn glauben. Beider Verfahren ist aber unrechtmaͤßig. Die auffallende Aehnlichkeit dergleichen Visionen mit den Traͤumen, und ihre Moͤglichkeit an sich, die durch neuere Erfahrungen bestaͤtigt wird, zeigen, daß man von der einen Seite keinen Grund hat, dergleichen Fakta zu leugnen, so wie man auch von der andern Seite sie als uͤbernatuͤrliche Erscheinungen anzunehmen keinen Grund hat, sondern sie als Fakta nach den Regeln des historischen Glaubens untersucht, und als Naturerscheinungen nach den Gesetzen der Psychologie erklaͤrt werden muͤssen, wodurch man sowohl dem Vorwurfe der Schwaͤrmerei als des leichtsinnigen Unglaubens ausweichen kann.

Die Visionen sind dreierlei Art. Sie sind entweder 1) simple, oder 2) allegorische, oder 3) symbolische Visionen. Jn der erstern werden die sowohl der Zeit als dem Raume nach nicht gegenwaͤrtigen Naturbegebenheiten als gegenwaͤrtig, ohne die mindeste Veraͤnderung, vorgestellt. Visionen dieser Art sind in der heiligen Schrift haͤufig anzutreffen, wo die Propheten den zukuͤnftigen Tod82 einer Person, die Zerstoͤrung einer Stadt und dergleichen vorhersahen. Jn der zweiten werden diese Begebenheiten nicht so, wie sie vorfallen, vorgestellt, sondern durch allegorische Bilder. Diese Art der Visionen findet man bei dem Propheten Esekiel und andern Propheten sehr haͤufig. Man findet auch, daß dergleichen allegorische Erscheinungen zuweilen dem Propheten in der Erscheinung selbst erklaͤrt werden; so wie ein Mensch z. B. traͤumt, und im Traume selbst, wieder erwacht zu seyn glaubt, seinen Traum einem andern erzaͤhlt, der ihm denselben auslegt, und dieses alles blos im Traume geschieht, so finden wir auch, daß Sacharias, nachdem er seinen allegorischen Traum erzaͤhlt hat, sagt: Der Engel, der mit mir redete, kam wieder, und erweckte mich, wie man jemanden aus dem Schlafe erweckt, und sagte mir: Was siehst du Sacharias? Darauf erklaͤrt ihm der Engel seine Erscheinung.

So heißt es auch beim Daniel: Jch hatte einen Traum und eine naͤchtliche Erscheinung. Darauf erzaͤhlt er von der Aeußerung seines Verlangens, die Bedeutung dieses Traumes zu wissen. Er befragt daruͤber einen Engel, und dieser legt ihm den gehabten Traum im Traume selbst aus, und dergleichen.

Hr.134van Goens,ein tiefer Denker und Beobachter des menschlichen Geistes, der durch einige Aeußerungen genugsam gezeigt hat, wie wichtig83 ihm Untersuchungen von dieser Art sind, fuͤhrt (4ten Bandes zweites Stuͤck. Nr. 5.) von sich selbst ein aͤhnliches Beispiel an. Es traͤumte ihm nehmlich (in seinen Schuljahren), als befaͤnde er sich in der lateinischen Klasse, wo der Lehrer seinen Schuͤlern die Auslegung einer lateinischen Phrase aufgab. Hr. 135Goenskonnte den Sinn dieser Phrase nicht finden, der Lehrer wandte sich zu den auf jenen in der Reihe folgenden Schuͤler, dieser setzte sogleich den Sinn der Phrase deutlich auseinander, welche Auseinandersetzung dem Hrn.136Goensso einfach vorkam, daß er sich daruͤber ungemein wunderte, wie er darauf nicht habe gerathen koͤnnen. Er wirft also die Frage auf: wie es moͤglich sey, daß die Seele, welche mit der groͤßten Anstrengung vergebens etwas sucht, in einer Minute, oder Secunde, die Seele werden kann, die eben dieselbe Sache sehr gut weiß, indem sie sich zugleich einbildet, es selbst nicht zu wissen, sondern es einen andern sagen zu hoͤren?

Jch glaube aber, dieses ließe sich folgendermaßen erklaͤren. Der gemeine oder auch prophetische Traum wird vom Wachen, wie ich schon gezeigt habe, hauptsaͤchlich dadurch unterschieden, daß in jenem eine mindere Selbstthaͤtigkeit in Verknuͤpfung der Vorstellungen als in diesem anzutreffen ist. Jm Wachen ist diese Verknuͤpfung groͤßtentheils zweckmaͤßig und eine Wuͤrkung des freien Willens. Jm Traume hingegen ist sie groͤßtentheils mecha -84 nisch. Dort herrscht die Art der Association nach Grund und Folge, oder objektiver Coexistenz und Succession. Hier herrscht die nach Aehnlichkeit und subjektiver Coexistenz und Succession.

Hr.137Goenskonnte gewiß durch Anstrengung seines Nachdenkens nach der Verknuͤpfung von Grund und Folge den Sinn der ihm im Traume aufgegebnen Phrase herausbringen. Da es ihm aber im Traume an dem Grade der dazu erforderlichen Selbstthaͤtigkeit mangelte, so kamen andere Associationsarten, die nicht diesen Grad der Selbstthaͤtigkeit erforderten an ihre Stelle. Er gerieth also von der Vorstellung der Phrase auf die Vorstellung des Lehrers, der ihm dergleichen aufzugeben pflegte, und seiner Mitschuͤler, d.h. auf eine aus Gewohnheit entstandene subjektive Associationsart.

Nachdem aber diese vollendet worden war, und der zweckmaͤßigen Associationsart nach Grund und Folge keine Hindernisse von einer andern Associationsart mehr im Wege waren, fing sie an zu wuͤrken. Die Einbildungskraft war aber nicht im Stande dieses alles deutlich zu denken; sie stellte sich also dieses bildlich vor, als haͤtte Hr.138Goensdie Bedeutung der aufgegebenen Phrase von selbst nicht finden koͤnnen, so daß sie ein anderer ihm haͤtte sagen muͤssen.

Es giebt auch viele allegorische Erscheinungen, die nicht waͤhrend der Erscheinung selbst, sondern erst nach dem Aufwachen, sich gleichsam von selbst erklaͤren.

85

Die merkwuͤrdigsten Visionen aber sind die symbolischen, wo die Vorstellungen keine natuͤrliche Zeichen, sondern blos willkuͤrliche Zeichen der Begebenheiten sind. Jeremias z. B. sah einen Mandelstock, dessen Bedeutung die Beschleunigung der goͤttlichen Rache war, indem das Wort דקש (Schakad) in der hebraͤischen Sprache sowohl Beschleunigung, als einen Mandelbaum bedeutet. Und was noch sonderbarer ist, so haben zuweilen die Vorstellung und die vorgestellte Sache nicht einmal einen gemeinschaftlichen Namen, sondern blos die Buchstaben sind beiden Namen gemeinschaftlich. Sacharias z. B. nahm im prophetischen Traume zwei Staͤbe, und nannte den einen Noam, den andern Chowlim; dadurch wurde ihm angedeutet, daß die Nation anfaͤnglich Gott gefaͤllig gewesen, hernach aber in Verderb gerathen, und dadurch Gott widrig geworden sey. Nun aber kann das Wort Chowlim nicht widrig bedeuten, wenn man nicht die Buchstaben versetzt und Bochlim daraus macht, so wie dieses aus dem Verfolge dieser Prophezeihung selbst zu ersehen ist. *) *) Diese Bemerkungen uͤber Visionen habe ich meinem großen Lehrer, dem Maimonides zu verdanken; von dessen Schriften ich bei einer andern Gelegenheit sprechen werde.

Da ich hier von der Wuͤrkung der Jdeenassociation spreche, so will ich bei dieser Gelegenheit86 etwas nachholen, das meinen Aufsatz im 3ten Stuͤck des achten Bandes Nr. 1. anbetrifft.

Jch weiß, daß es manchem, der die Folgen aus ihren entferntesten Gruͤnden herzuleiten nicht gewohnt ist, sehr paradox vorkommen wird, daß ich das Unvermoͤgen zum Sprechen bei einem Manne, der, nach einer Jahreszeit voͤlliger Laͤhmung an den Sprachwerkzeugen, wiederhergestellt wurde, aus einer Verlernung der Artikulation herleite. Wer den Praͤsident Brosses und den140Monbodegelesen, und daraus die große Kunst der Artikulation sich bekannt gemacht hat, wird hier gar keine Schwierigkeit finden. Der letzte141Verfasserbesonders, faͤhrt, nachdem er gezeigt hat, wie viel Zeit und Uebung zur Erlangung der Fertigkeit in der Artikulation noͤthig ist, folgendermaßen fort.

» Und hier koͤnnen wir bemerken, daß es ein sehr falscher Schluß ist, wenn man aus der Leichtigkeit eine Sache zu thun, folgert, daß sie eine natuͤrliche Wuͤrkung sey. Denn was thun wir wohl leichter und fertiger, als reden? und doch, sehn wir, ist es eine Kunst, die nicht ohne die groͤßte Arbeit und Schwierigkeit, beides auf Seiten des Lehrers und Schuͤlers zu lehren; noch durch Nachahmung, ohne bestaͤndige Uebung von unsrer Kindheit an, zu lernen ist. Denn sie ist nicht gleich andern Kuͤnsten als Tanzen und Singen, dadurch zu lernen, daß man sie eine oder zwei Stunden des Tages, wenige Jahre, oder vielleicht nur einige Monate lang treibt;87 sondern bestaͤndige und ununterbrochene Uebung wird, auf viele Jahre, und jede Stunde, ich mag sagen jede Minute des Tages, dazu erfodert. «

» Und sie kann, selbst nachdem sie mit so viel Muͤhe und Arbeit erlernt ist, gleich andern erlangten Fertigkeiten, durch Nichtuͤbung verlohren werden, wovon ich zuvor ein merkwuͤrdiges Beispiel an einem Knaben erwaͤhnte, der sein Gehoͤr nicht eher verlohr, bis er uͤber acht Jahr alt war, und der nicht nur vollkommen reden, sondern auch lesen gelernt hatte; und doch, als er des Unterrichts wegen, zu Herrn Braidwood kam, welches in dem Alter von 25 Jahren geschahe, den Gebrauch der Sprache gaͤnzlich verlohren hatte, und sie sowohl, als jeder andere Schuͤler lernen mußte; so daß wir daran nicht zweifeln duͤrfen, was Alexander Selkirk sagt, der nur drei Jahre in der wuͤsten Jnsel Juan Fernandez war: daß er waͤhrend der kurzen Zeit den Gebrauch der Sprache so sehr verlohren gehabt habe, daß er denen, die ihn daselbst gefunden, kaum verstaͤndlich gewesen sey, u.s.w. «

Mein wuͤrdiger Freund, der Hr. Geheimerath von L. erzaͤhlte mir von sich selbst eine aͤhnliche Begebenheit; nehmlich, nachdem er die Pronunciation der franzoͤsischen Sprache aufs vollstaͤndigste erlernt gehabt habe, habe er sie hernach, aus Mangel an Uebung wieder so verlernt, daß, obschon er noch immer im Stande gewesen, wenn er andere habe88 sprechen hoͤren, die Richtigkeit der Pronunciation zu beurtheilen, er dennoch sie selbst zu bewerkstelligen nicht vermoͤgend gewesen sey.

Aus dem allen erhellet, daß es sehr moͤglich sey, die Bedeutung der Worte im Gedaͤchtniß zu behalten, und dennoch aus Mangel an Uebung das Sprechen zu verlernen.

142Salomon Maimon.

89

3. Von K.143P. M.an S.144M.

145

Hier schicke ich Jhnen:

Beobachtungen uͤber den Geist des Menschen und dessen Verhaͤltniß zur Welt. Ein philosophischer Versuch von Andrei147Peredumin Koliwanow.

(Discite, mortales miseri, discrimina rerum, / Et mox mutatas formas spectabitis omnes.)

Altona, bei Christian Gottlieb Pinkvoß. 1790.

Jch erhielt dieß Buͤchelchen heute Mittag, und habe es in einem Zuge durchgelesen. Jn langer Zeit hat mich nichts so interessirt, wie diese kleine Schrift, welche mir in ihrem rauhen Gewande mehr Reelles zu enthalten scheint, als die ganze Menge der sogenannten gutstilisirten philosophischen Modebuͤcher. Diese kleine Schrift und ihr Verfasser verdienen gewiß in jeder Ruͤcksicht Aufmerksamkeit. Jch zweifle nicht, daß Sie an dieser Lektuͤre, sich so wie ich, erbauen werden.

148M.

90

4. Von S.149M.an K.150P. M.

Dieser Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, den Sie mir geschickt haben, verdient, wie ich dafuͤr halte, hier vorzuͤglich eine Stelle. Der Verfasser ist sowohl in Ansehung der darin vorgetragenen Gedanken, als ihrer Einkleidung, ganz originel. Da er aber das Exterieur nicht fuͤr sich hat, indem er noch aus keinem Meßkatalogus bekannt, und nicht etwa Herr Professor N .... sondern simpel weg Andrei151Peredumin Koliwanowheißt; da ferner seine Sprache auch nicht die Sprache der feinen Welt und der Hochgelahrten ist, indem er sich zuweilen in der plattdeutschen Sprache ausdruͤckt, wo er glaubt, daß diese seinen Gedanken am angemessensten sey; so ist in unsern aufgeklaͤrten Zeiten, wo hauptsaͤchlich auf das Exterieur gesehen wird, zu besorgen, daß eine solche Schrift gaͤnzlich uͤbersehen werden moͤchte. Jch hoffe also, der Leser werde mir es Dank wissen, wenn ich ihn auf diese reichhaltige Schrift aufmerksam mache. Allein aus einer originellen Schrift, die ganz Kern ohne Schaale ist, laͤßt sich kein Auszug machen; ich will hier daher blos einige psychologische Bemerkungen, die mit meinen bisher festgesetzten Grundsaͤtzen in der genauesten Verbindung stehen, daraus anfuͤhren,91 und versichere den Leser, daß ihn die Muͤhe nicht gereuen wird, diese Originalschrift selbst mit Aufmerksamkeit durchzulesen. Des Verfassers Hauptgrundsatz ist dieser: Die menschliche Vollkommenheit und folglich auch Gluͤckseeligkeit, besteht in einer gleichmaͤßigen Ausuͤbung aller Seelenkraͤfte zugleich. Der Verstand (praktische) ist ihm zufolge das den Willen bestimmende Resultat, welches aus Zusammennehmung und Vergleichung aller moͤglichen Gefuͤhle entspringt. Eine Untugend, Suͤnde oder wie man es sonst nennen will, bestehet in der Weglassung irgend eines Gefuͤhls aus dieser Vergleichung, das heißt, in der Unvollstaͤndigkeit derselben. Der Verfasser sagt: (S. 17.) » Alles was wir Angewohnheit nennen, kommt darauf zuruͤck, daß man zuerst eine Nullitaͤt in einer Genuͤgsnehmung begieng (dieses heißt, in meine Sprache uͤbersetzt: daß man bei Vergleichung der den Willen bestimmenden Gefuͤhle etwas weggelassen hat), und sich vor Wiederholung derselben nicht in Acht zu nehmen wußte; da ward Beluͤstung daraus, Fertigkeit, Gewohnheit, gleichsam andere Natur. «

Der Verfasser kann nicht leiden, daß die Philosophen gemeiniglich Gefuͤhle, Verstand und Willen fuͤr ganz heterogene Seelenvermoͤgen halten, da die letztern doch nichts anders, als Resultate einer vollstaͤndigen Vergleichung der Gefuͤhle sind. 92» Wo ist hier (fraͤgt der Verfasser) Einheit des Geistes, die doch jeder in sich fuͤhlt? voila les deux hommes en moi même que je connois bien, rief Ludwig der 14te sehr erbauet, bei einer Arie von Racine, die diese Zweispaltigkeit des innern und aͤußern Menschen beklagte. Dagegen der wackere Luther es sehr lobte, wenns huͤbsch uneinig in uns hergienge: es sey gut, wenn der Mensch einen obern und untern Willen fuͤhle, sonst sey der geistliche Tod schon da. «

Jch bemerke aber hier, das man den wackern Luther mit unserm wackern Verfasser leicht vereinigen kann. Die physische Vollkommenheit des Geistes beruhet freilich, wie der Verfasser behauptet, auf der Einheit desselben, die jeder in sich fuͤhlt. Hingegen beruhet seine moralische Vollkommenheit auf dem formalen Vernunftgesetz und dem freien Willen, im Gegensatze der aus den Gefuͤhlen entsprungenen Neigungen. Hierinnen hat also Luther vollkommen Recht, wenn er sagt, daß, wenn der Mensch nicht einen obern (freien) und untern (aus Gefuͤhlen entsprungenen) Willen in sich fuͤhle, so sey der geistige Tod schon da, weil alsdann die moralische Vollkommenheit, die das eigentliche Daseyn des Geistes ausmacht, zernichtet wird, wie ich dieses im vorhergehenden Aufsatze gezeigt habe.

S. 20. 21. heißt es: » Es ist also keinesweges der Verstand, der aus seinem Vorrath angebohrner oder eingetrichterter Jdeen etwas hervorlangt,93 und dem Willen zu vollziehen auftraͤgt, oder bei aͤußern reizenden Vorfaͤllen seine Regeln und Vorschriften mit dem Neuvorkommenden vergleicht und dieses darnach regulirt und beurtheilt; sondern umgekehrt, die Gefuͤhle tragen den Mitgefuͤhlen die Miterkenntniß auf. Sie unter sich muͤssen die Sachen abmachen und executiren, beides, die potestas[ legislativa] et executiva, koͤnnen nicht getrennt werden. Da wo man sie zu trennen genoͤthigt ist, erweckt man Verdacht, sich mehr aufgeladen zu haben, als man beschicken kann, welches, so gewoͤhnlich es ist, so laͤcherlich ist. Gefuͤhle muͤssen einander selbst balanziren und kontrebalanziren, das ist das wahre Reciprokum im jure publico animi humani. Die ganze Kraft des Geistes besteht uͤberhaupt im Anziehen der gefuͤhlten Genuͤge, und ist also pur Fuͤhlen und Anziehen, d.i. Wollen das, was ihn konvenirt. Dies schließt von selbst das Abweisen des Gegentheils in sich. Es genuͤget ihm aber nichts, als worauf er vom Urheber gestellet, oder dagegen er in ein solches Verhaͤltniß, gleichsam Gefuge, gesetzt ist. Ueberdem aber kann er sich auch selbst noch ex post stellen, und hat er das auf die groͤßere Genuͤge gethan, so verschmaͤhet er die kleinere, zieht sie nicht an. «

Ferner S. 39: » Es muͤssen einige ganz von einander abgehende Empfindungen bei einem Anfaͤnger sich gleichsam aneinander zu reiben Gelegenheit haben, ehe Klarheit oder Entwickelung, so ge -94 ring sie denn auch ist, aufkommen kann. Jmmer einerlei Lage, einerlei Manches erhaͤlt im Schlafe. Aber Kontraste, Anstoͤße, contraria, ja sogar nur disparata wecken auf. «

Sehr wichtig ist die Bemerkung des Verfassers, (S. 73 und 74.) daß der hauptsaͤchlichste Vorzug des Menschen vor den Thieren in der (thaͤtigen) imagination (dem Dichtungsvermoͤgen) bestehe.

Hier sind seine eignen Worte:

» Woher kommts, daß der Mensch alle seine Gefuͤhle, » zwar so ungleich langsamer, aber endlich in einem weit hoͤhern Grade entwickelt, als irgend ein Thier? Fehlts dem letztern an der regen Lebhaftigkeit derselben? Bei einigen ganz und gar nicht, in welchen sie uns im Gegentheil oft uͤbertreffen, der Anschein wenigstens ist zuweilen recht beschaͤmend wider uns. Es muß ihnen also an einem Vermoͤgen fehlen, das wir haben und allen unsern uͤbrigen dergestalt zum Wetzstein dient, oder sie electrisirt, daß sie erst dadurch so großer Thaten faͤhig, so ruͤstig und so innig verbunden werden. Was sollte das fuͤr eines seyn? Vermuthlich die Unterscheidungskraft? Glaub's nicht. Der Witz? Eben so wenig obgleich beide in den Thieren den unsrigen nicht beikommen, aber sie haben davon auch schon ihr Theil recht gut. Nun so ist es die Vernunft; ja ja, die wirds seyn, die fehlt ihnen ganz und gar! Nicht so sehr; denn wenn95 man den Anfang der unsrigen betrachtet, die Erwartung aͤhnlicher Faͤlle, so haben sie die gar schoͤn. Daß sie aber auf diesen guten Anfang nicht weiter hinausbauen koͤnnen, eben so wenig als der uͤbrigen Gefuͤhlsarten, das kommt ganz anders wo her. Mit einem Worte, an der Jmagination scheint es ihnen zu fehlen. «

» Das ist nun der gewoͤhnlichen Meinung der Pneumatiker nicht gemaͤß, die aus den Traͤumen, welche man an Thieren bemerkt, ihre Jmagination genugsam bewiesen glauben. Aber kann die nicht das Gedaͤchtniß allein schon hinlaͤnglich gewaͤhren? Die Jmagination nimmt aus allem, also auch aus dem Gedaͤchtniß ihre Zusammenstellungen, aber ihr Geschaͤft ist ganz ein anders. Erinnerungen braucht sie auch. Thut es doch die Vernunft, der Witz, der Scharfsinn haben die deswegen keine andere Stuͤtze oder Ressource als das Gedaͤchtniß? Das Wesentliche derjenigen Gefuͤhlart, die wir Einbildungskraft nennen, besteht in dem Vermoͤgen, nicht nur Wuͤrklichkeiten aus dem jetzigen oder ehemaligen Bereich zusammenzustellen und vorzufuͤhren, sondern auch bloße Moͤglichkeiten. Aber noch nicht genug, selbst Unmoͤglichkeiten oder das Wunderbare zu haschen, sie mit jenen allen zu vergleichen, ihre Konvenienz oder Diskonvenienz, wie weit sie geht oder nicht geht, zu fuͤhlen, sich daraus die Wahrscheinlichkeit zu ziehn, und die Unwahrscheinlichkeit96 zu entdecken das ist es, was wir erst Jmagination nennen. «

Dieses stimmt auch aufs genaueste mit dem von mir festgesetzten Princip uͤberein, daß nehmlich die moralische Vollkommenheit oder Seelengesundheit auf der Selbstthaͤtigkeit der Seele beruhet, das heißt: auf dem Vermoͤgen eine Reihe Jdeen zweckmaͤßig fortzusetzen, abzubrechen oder mit einer andern zu vertauschen. Die Thiere zeigen in ihren Handlungen, in Ansehung derjenigen Jdeenreihe, wozu sie vermoͤge eines besondern Jnstinkts geschickt sind, Witz und Vernunft; sie koͤnnen aber diese Jdeenreihe nicht nach Willkuͤr unterbrechen, und eine andre an ihre Stelle setzen. Da aber, wie ich hoffe, der Leser gewiß begierig seyn wird, diese wichtige Schrift ganz zu lesen; so mag dieses von mir Angefuͤhrte zur Probe genug seyn.

152Salomon Maimon.

97

5. Fragment aus des Herrn Professor153HerzSchrift, uͤber den Schwindel.

154

Die willkuͤrlich sowohl als unwillkuͤrlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdruͤckt oft das Gefuͤhl des heftigsten Schmerzes, und mit diesem das Fieber und dessen uͤbrige widernatuͤrliche Folgen. Man weiß, daß ein italiaͤnischer Missethaͤter, der durch die grausamste Folter nicht zum Gestaͤndniß gebracht werden konnte, und sie ohne die geringste Verzuckung aushielt, waͤhrend derselben immer rief: io ti veddo. Er ward frei gesprochen. Als man ihn nach der Bedeutung seines Ausrufs fragte, antwortete er: den Galgen. Die lebhafte Anschauung dieser schrecklichen Folge seines Gestaͤndnisses erstumpfte in ihm allen Schmerz. Die wuͤthendsten Martern der Migraͤne verlieren sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft unvermerkt waͤhrend einer interessanten Unterhaltung mit einem Freunde, welche die Aufmerksamkeit leicht und sanft beschaͤftigt, ohne sie anzustrengen; da hingegen von der einen Seite eine zu starke Anstrengung derselben, und von der andern der voͤllige Mangel eines sie erregenden Gegenstandes, die eigentliche Quelle der langen Weile, eben diese Krankheit in einem betraͤchtlichen Grade hervorbringt. Auf Reisen, wo zum Theil bestaͤn -98 dig abwechselnde neue Gegenstaͤnde die Aufmerksamkeit des Menschen von seinem eigenen Zustande abwenden, zum Theil das Erkranken mit so vieler Beschwerlichkeit in der Vorstellung erscheint, wird man in der That selten krank. Geringe Widernatuͤrlichkeiten des Koͤrpers, die den empfindlichen Menschen, wenn er zu Hause waͤre, uͤber den Haufen wuͤrfen, werden unterwegs kaum von ihm bemerkt und verschwinden oft wirklich ohne alle nachtheilige Folgen, wiewohl sie zuweilen auch mit desto groͤßerer Wuth hervorbrechen, sobald er vom Wagen steigt. Es ist erstaunlich, wie viel die Seele uͤber den mit ihr so heterogen scheinenden Koͤrper vermag. Sie kann es bis zur Herrschaft uͤber die unwillkuͤrlichsten seiner Bewegungen und Beduͤrfnisse bringen. Man weiß, daß waͤhrend wichtiger Geistesbeschaͤftigungen das staͤrkste Purgirmittel seine Wirkung versagt, und man kann durch festen kraftvollen Vorsatz nicht nur Krankheitsgefuͤhle unterdruͤcken, sondern zuweilen auch Krankheiten aus dem Wege raͤumen. Jch sehe taͤglich mit Verwunderung, wie gemeine minder verzaͤrtelte Personen es sich vornehmen, Anwandlungen von einem Fieber zu trotzen, sich nach ihrem Ausdrucke, nicht gefangen zu geben, und wie oft es ihnen wirklich gelingt, das Fieber zuruͤck zu weisen und sich aufrecht zu erhalten. Sie haͤtten ohnfehlbar dessen regelmaͤßigen Fortgang erdulden muͤssen, wenn sie im Anfange nachgegeben haͤtten!

99

Und doch ist die willkuͤrlich gelenkte Aufmerksamkeit bei weitem nicht von solchem Einfluß auf den koͤrperlichen Zustand, wie die durch heftige Gemuͤthsbewegungen hin und her gerissene. Jn der ungestuͤmsten aller Leidenschaften, in der auflodernden Begierde nach Rache, in welcher der Mensch sich, so zu sagen, seiner Jchheit entaͤußert und mit seinem ganzen Wesen in den Gegenstand der Rache hineinwuͤthet, bleiben die schrecklichsten Schmerzen ungefuͤhlt, die gefaͤhrlichsten Zerruͤttungen des Koͤrpers unbemerkt, und waͤhrend des Taumels auch ohne nachtheilige Folgen. Am auffallendsten, aber nicht minder wahr ist es, daß in diesem Gemuͤthszustande selbst der Tod zuweilen auf eine Zeitlang zuruͤckgehalten wird. Man hat Beispiele, daß Helden mit zerschmetterten Gliedern, gefaͤhrlichen Wunden und toͤdtlichen Verblutungen, ohne ihren Zustand zu merken, den Kampf fortgesetzt und erst zu Ende der Schlacht sich haben verbinden lassen, oder auch hingefallen und gestorben sind. Muley Moluck nahm, da er bereits in den letzten Zuͤgen war, noch seine Kraͤfte zusammen, besiegte seinen Feind, rettete seinen Kindern den Thron, und starb*). *) Man erlaube mir die Geschichte dieses uͤberroͤmischen Heldenmuthes aus dem Englischen Zuschauer B. 5. hier abzuschreiben: Als der Koͤnig von Portugal, Don Sebastian, in das Land des Kaisers von Marokko, Muley Moluck eingefallen war, um ihn vom Throne zu stuͤrzen und seinem Neffen die Krone aufzusetzen, lag Moluck an einer toͤdtlichen Krankheit nieder, von welcher er wußte, daß sie unheilbar sey. Gleichwohl bereitete er sich zum Empfang eines so furchtbaren Feindes. Er war wirklich so todtkrank, daß er nicht einmal den Tag, an welchem das letzte entscheidende Treffen geliefert ward, zu Ende zu leben erwartete. Da er aber wußte, was fuͤr gefaͤhrliche Folgen es fuͤr seine Kinder und sein Volk haben wuͤrde, wenn er eher stuͤrbe, als er den Krieg geendigt haͤtte: so gab er seinen Generalen Befehl, wenn er waͤhrend des Treffens sterben sollte, seinen Tod vor der Armee zu verbergen, und noch immer zu der Saͤnfte, worin er sich tragen ließ, hinzureiten, als ob sie, wie gewoͤhnlich seine Befehle erhielten. Ehe nun die Schlacht anfing, ließ er sich in einer offenen Saͤnfte durch alle Glieder der Armee, wie sie in Schlachtordnung aufmarschiert stand, herumtragen, und ermunterte sie, fuͤr Religion und Vaterland tapfer zu fechten. Da hernach die Seinigen zu weichen anfingen, sprang er, ob er gleich fast schon in den letzten Zuͤgen lag, aus der Saͤnfte, brachte sein Heer in Ordnung, und fuͤhrte es zu einem neuen Angriff an, der sich denn mit einem vollkommenen Siege uͤber seine Feinde endigte. Kaum hatte er seine Leute zum Schlagen gebracht, als er sich, ganz erschoͤpft, wieder in seine Saͤnfte tragen ließ. Hier legte er den Finger auf den Mund, um den umstehenden Generalen anzudeuten, daß sie schweigen sollten, und verschied einige Augenblicke darauf in dieser Stellung.Jch habe einen Mann gekannt, der an100 einem boͤsartigen Gallenfieber starb, und dessen bereits auf den Lippen schwebender Geist noch vier und zwanzig Stunden laͤnger bloß dadurch zuruͤck gehalten ward, daß eine Freundin ihm alle Viertelstun -101 den ins Ohr rief: sein Feind, mit dem er kurz vor der Krankheit einen heftigen Streit gehabt, sey seines Amtes entsetzt worden.

Der zwischen Furcht und Hofnung schwankende Zustand der Seele ist von der widrigsten Wirkung auf den Koͤrper; die zuweilen bloß dadurch gehoben und in eine heilsame verwandelt wird, daß man den Kranken jeder guten Aussicht beraubt und ihm alle Hofnung benimmt. Das sichere Ungluͤck schlaͤgt das Gemuͤth nieder, und bringt es mit der Zeit zur Ruhe; das zweifelhafte erhaͤlt es in einem rastlosen Wanken, und einer dem Koͤrper hoͤchst verderblichen Lebhaftigkeit. Davon sah ich einst in meiner Praxis ein merkwuͤrdiges Beispiel, das ich hier anfuͤhren will, wiewohl ich mir dessen ausfuͤhrliche Beschreibung auf eine andere Gelegenheit vorbehalte. Jch hatte einen jungen sehr lebhaften Mann an einem Lungengeschwuͤr zu heilen, das bereits mit einem anhaltenden heftigen Fieber, aussetzendem Pulse und eitrichtem Auswurfe verbunden war. Mit aller angewandten Muͤhe konnte ich meinen Endzweck, die Fieberbewegungen um Etwas zu mildern, doch nicht erreichen. Jch merkte endlich, daß sie vorzuͤglich von der Unruhe lebhaft unterhalten wurden, in wel -102 che die Gemuͤthsschwankungen zwischen der troͤstlichen Hofnung, die ich als Mensch und Arzt dem Kranken machte, von der einen Seite, und zwischen seinem eigenen Gefuͤhle der nagenden Krankheit, von der andern, ihn versetzten. Nun entschloß ich mich zu einem harten Mittel, um ihn mit Gewalt aus einem Zustande zu reißen, der ihn sicher binnen einigen Wochen aufgerieben haben wuͤrde. Eines Morgens kam ich zu ihm, da er eben einigen Freunden seine verzweiflungsvolle Verfassung vortobte, und kuͤndigte ihm mit einer kalten ernsthaften Miene den Tod an. Jch habe bis vor einigen Tagen, sagte ich, noch immer geglaubt, der Krankheit eine guͤnstigere Wendung geben zu koͤnnen; aber leider, ist sie staͤrker als alle menschliche Kunst. Es ist nun so weit mit Jhnen gekommen, setzte ich hinzu, daß Sie ohne allen Anschein von Rettung verloren sind. Die Saͤfte sind ganz in Faͤulniß uͤbergegangen, die Lungen zereitert, und in dem Herzen hat sich ein fuͤrchterlicher Polyp gebildet. Alle Hofnung ist nun verschwunden; binnen zehn Tagen unterliegen Sie. Hierauf ermahnte ich ihn, sich als ein Weiser gefaßt zu machen, und den Vorschriften genau zu folgen, die ich ihm ertheilte und die blos die Absicht haͤtten, ihm seinen Zustand ertraͤglicher zu machen und den Uebergang zum Tode zu erleichtern. Diese ungewoͤhnliche Anrede eines Arztes und Freundes that sogleich die auffallendste Wirkung. Nach einigen ungestuͤmen, aber natuͤrlichen Aufregungen des103 Gemuͤths ward mein Kranker still, niedergeschlagen, traurig. Des Abends ward der Puls regelmaͤßiger, die Nacht ruhiger als eine der vorigen, und den folgenden Tag das Fieber gelinder. So besserten sich, indeß der Kranke meine Verordnungen auf das strengste befolgte, und anhaltend auf Wiederherstellung resignirte, alle Umstaͤnde zusehends. Von Tage zu Tage wurde der Athem freier, die fieberhaften Zufaͤlle nahmen ab, die Kraͤfte zu, der Auswurf verminderte sich. Nach drei Wochen war der Kranke hergestellt. Er hat seitdem verschiedene große Reisen gemacht, und lebt noch jetzt nach einer ansehnlichen Reihe von Jahren in dem Genusse einer ziemlichen Gesundheit.

104

6. Mystische Vorstellungsart vom Fegefeuer.

157

Gott ist eine hoͤchst vollkommne einfache Wesenheit ohne einige Vermengung: Und wir sind um so viel vollkommner, je mehr wir Gott aͤhnlich sind. Derohalben stehet geschrieben (Matth. 5, 48.) Seyd vollkommen, gleichwie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Dieses Gleichwie, kann niemalen genommen werden fuͤr eben so viel nach der Groͤße oder Hoheit, sondern fuͤr eine unvollkommne Aehnlichkeit in der Art und Eigenschaft der Vollkommenheit. Die Vollkommenheit unsers Geistes bestehet demnach in der Einfalt (oder in einem einfachen Wesen, das nicht vervielfaͤltiget ist). Diese Einfalt und*)*) Eine Anmerkung der franzoͤsischen Edition sagt: Oder die Bloͤße. Wann die Seele von allem Eigenthum und von allem eigenthuͤmlichen Besitz ist entbloͤßet und ausgeleeret worden, so ist sie auch von aller Vielfaͤltigkeit befreiet, sie ist einfach und in der Einheit. die Einheit machen unsern Geist rein und vollkommen: Jemehr unser Geist einfaͤltig oder einfach und entbloͤßt ist, je vollkommner ist derselbe. Diese Einfalt macht unsern Geist eins mit Gott; weil eine solche Einfalt (oder einfaches Seyn) machet, daß unser Geist Gott aͤhnlich wird, welcher ist ein einiges und einfaches Wesen;105 und setzet man voraus, was gesagt worden, daß es der allerhoͤchsten Wesenheit eine Nothwendigkeit ist, alle ihr gleichfoͤrmige Wesen zu sich zu ziehen; so ist es unmoͤglich, daß diese allerhoͤchste Wesenheit sich nicht mit demselben vereinige, welches wahrhaftig einfach und rein ist; denn weil diese allerhoͤchste Wesenheit sich diesen Geist aͤhnlich gemacht hat, so muß es auch diesen Geist mit sich vereinigen.

Die Reinigkeit des Geistes bestehet demnach ohnwidersprechlich in seiner Bloͤße und Einfaͤltigkeit. Nun aber ist zu wissen, daß gleichwie es ohnmoͤglich ist, daß Gott eine reine und in der Einfaͤltigkeit stehende Seele nicht mit sich selbst vereinigen sollte, also ist es auch auf eine gleiche Weise ohnmoͤglich, daß diese Seele koͤnne gereiniget werden, bis zu einem solchen Grad, der erfordert wird, um mit Gott vereiniget zu werden, ohne nur durch Gott selbst. Die Creatur, vermittelst des Beistandes der Gnade, kann sich zwar wohl durch ihre Wuͤrksamkeit in die Gemuͤthsfassung setzen, um von Gott gereiniget werden zu koͤnnen; allein diese Creatur kann doch niemals durch sich selbst sich bis zu einem solchen Grade reinigen, als es erfordert wird, um mit Gott vereiniget zu werden. Die Ursach davon liegt in der Natur und Eigenschaft eben dieser Vereinigung.

Wir haben gesehen, daß die Reinigkeit, die uns mit Gott vereiniget, der Natur Gottes muͤsse theilhaftig gemacht werden, und uns Gott gleich -106 foͤrmig mache. Gott ist eine hoͤchst reine Wesenheit, und ohne Vermischung mit etwas anders. Wir muͤssen daher rein gemacht werden, und ohne einige Vermischung einiger eignen Wuͤrksamkeit. Diese Einfaͤltigkeit Gottes macht seine Reinigkeit; daher ist es nothwendig, daß unsre Einfaͤltigkeit auch unsre Reinigkeit mache. Es kann aber diese Einfaͤltigkeit nicht erworben werden, ohne nur durch die Entbloͤßung. Wann Gott ein Wesen (oder Creatur), das in seiner Beschaffenheit von seiner Wesenheit verschieden und anders ist, mit dieser seiner Wesenheit vereinigen koͤnnte, ohne solches sich vorher gleichfoͤrmig zu machen; so wuͤrde Gott aufhoͤren rein zu seyn, und wuͤrde durch diese Vermischung eine seiner Reinigkeit entgegen seyende Eigenschaft an sich nehmen, und folglicher Weise wuͤrde er sich selbst zerstoͤren durch eine Sache, die der Natur seiner Wesenheit entgegen und zuwider ist. Demnach ist es eine Nothwendigkeit, daß Gott sich gleichfoͤrmig mache die Seele, welche er mit sich vereinigen will. Gleichwie nun aber alle und jede eigne Wuͤrksamkeit der Creatur macht, daß diese Creatur allezeit in der Vielfaͤltigkeit stehet, daß sie allezeit sich selbst gleich und aͤhnlich ist, und daß sie allezeit in sich selbst versenkt bleibt: so ist es nur die Bewuͤrkung Gottes, welche das Vermoͤgen hat, die Seele Gott gleichfoͤrmig zu machen, und folglicherweise sie zu reinigen.

107

Aus dieser Ursach sind auch die Seelen im Fegefeuer blos passiv oder leidsam, und Gott selbst ist es, der sie reiniget. Wenn sie eigene Wuͤrksamkeit haͤtten, um sich reinigen zu wollen, so wuͤrden sie in einer wuͤrklichen Unvollkommenheit (des Willens) sich befinden, deren sie aber unfaͤhig sind. Es ist daher eine Nothwendigkeit, daß Gott durch seine Gerechtigkeit, die wie ein verzehrendes Feuer ist, die Seelen laͤutere, und in ihnen zerstoͤhre, was in diesem Leben nicht ist verzehrt, zerstoͤhrt und gereiniget worden, und daß Gott auf solche Weise diese Seelen zur Aehnlichkeit und Gleichfoͤrmigkeit mit ihm selbst bringe.

Gott reiniget in der Seele das, was sie von Grobheit in sich hat, eben also gleichwie die Sonne die Luft reiniget; immaaßen die Luft allein die Faͤhigkeit hat, das Licht der Sonne auf eine lautere Weise zu empfangen, und gleichsam mit dem Licht der Sonne vermischt zu werden. Die Sonne durch ihre Lichtstrahlen ziehet an sich die groben Duͤnste, welche die Luft verdicken, und verhindern, daß das Licht nicht gaͤnzlich noch voͤllig in diese Luft eindringen kann. Gleichwie diese Unreinigkeiten allezeit eben dieselben bleiben wuͤrden, wenn die Sonne solche nicht an sich zoͤge, und weil auch die Sonne niemals diese Unreinigkeit mit ihrem Licht vereinigen koͤnnte, wenn sie dieselben nicht reinigte, so geschiehet es nothwendiger Weise, daß die Sonne, indem108 sie diese Unreinigkeiten an sich zieht, solche auch zugleich reiniget. Denn die wesentliche Eigenschaft der Sonne besteht nicht weniger darinnen, daß sie durch ihr Ansichziehen reinige, als daß sie an sich ziehe. Eben also macht es auch Gott. Er macht den Anfang damit, daß er die Seele in ihrem Jnnern an sich zieht. Und dieses hat man sehr wohl mit dem Wort (Atract,) Zug oder Ansichziehen ausgedruͤckt.

109

Zur Seelenkrankheitskunde.

Schreiben an Herrn K.160P. Moritz,mit Anmerkungen von Herrn S. 161Maimon.

162
Hochedelgebohrner Herr! Hochzuehrender Herr Professor!

Als ich vor einem halben Jahre, bei meiner Durchreise durch Berlin, von meiner Vaterstadt, nach der hiesigen Universitaͤt, das Gluͤck hatte Jhre Bekanntschaft zu machen, erhielt ich von Jhnen die schmeichelhafte Erlaubniß, Jhnen einen Aufsatz fuͤr das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde uͤberreichen zu duͤrfen. Jch schrieb Jhnen damals am Vorabend meiner Abreise, die haͤufigen Zerstreuungen erlaubten mir nicht was Ordentliches zu denken, ich wuͤrde aber, sobald ich an den ruhigen Sitz meiner Pimplea angekommen waͤre, nicht unterlassen, von Jhrer guͤtigen Erlaubniß Gebrauch zu machen.

110

Jch habe sie erreicht meine Muse; aber Psyche war fuͤr diesesmal das Maͤdchen nicht, das sie sich zu ihrer Gespielin ausersehen; nur des delischen Juͤnglings baͤrtiger Sohn war es, dessen Lehren sie jetzt ihr Ohr lieh. Zu seinen Fuͤßen wog sie die Kraͤfte der menschlichen Natur, spaͤhte mit bewafneter Hand in ihrem Jnnern die Wunder ihres Baues, und maß in endlosen Zahlen die Weite des Erdkreises. Doch jetzt kehrt sie wieder zu der Verlassenen, um schwesterlich und fester als je mit ihr vereint den kommenden Lenz zu durchleben, daß sie ihr ganz ihr Herz aufschließe.

So habe ich dann nicht gesaͤumt, vor einigen Tagen, da die Holde sich zu mir herabließ, und bei wiedererlangter Muße, mich ihrer Eingebung wuͤrdigte, sogleich mein Versprechen zu erfuͤllen. Jch habe also hiemit die Ehre, Jhnen, hochzuehrender Herr Professor, einen Aufsatz zu uͤberreichen, der seinem Jnhalte nach, zwar in jene vortrefliche Zeitschrift gehoͤrt, die unter Jhrer bildenden Hand Leben und Wachsthum erhaͤlt, ob er aber auch wuͤrdig sey einen Platz darin einzunehmen, ob er wagen duͤrfe sich neben Werke von Maͤnnern zu stellen, welche darin leuchten, das uͤberlasse ich ihrem Ausspruche. Es ist dieses die erste Frucht meiner Bemuͤhungen mit der ich mich in die Welt hinauswage. Jch hoffe auf Jhre guͤtige Schonung, und im Fall ich das Gluͤck haben sollte einiger Aufmerk111 samkeit von Jhnen gewuͤrdigt zu werden, auf die Erlaubniß, noch mehreremale meine Aerndte in Jhrem Magazine niederlegen zu duͤrfen.

1Joseph Hyazinth MathyD. A. u. H. K. B. aus Danzig

Tu ne quaesieris, (scire nefas) quem mihi quem tibi Finem Di dederint, Leuconoe neu Babylonios Tentaris numeros (Hor. ode XL L. I. )

So weit meine Erfahrungen und Beobachtungen reichen, habe ich immer zwei Hauptgattungen von Narren unterschieden. Einige sehen alle Dinge von einer verkehrten Seite an, andre aͤußern ihre Narrheit nur in einem gewissen Falle. Jene, zu mehrerer Bestimmung, sind eben diejenigen, die den Vorwurf des Arztes ausmachen. Zu ihrer Klasse gehoͤren die Tollhaͤus'ler, und uͤberhaupt diejenigen deren Krankheit man im Allgemeinen mit dem Namen: Verruͤckung, zu bezeichnen pflegt. Die naͤchste, wenn gleich nicht immer erste Ursache davon, liegt im Koͤrper, und mehrentheils, wenn nehmlich diese Ursache zugleich die erste ist, koͤnnen sie durch112 physische Behandlung gebessert werden. Bei weitem von diesen unterscheiden sich die Narren der andern Art. Jhre Krankheit ist, wenn wir nehmlich zwischen beiden eine ganz scharfe Grenzlinie ziehen (und das muͤssen wir, wenn wir sie vorlaͤufig, genau unterscheiden wollen), ihre Krankheit sage ich ist blos Seelenkrankheit. Es sind diejenigen Menschen, die in allem richtig denken und handeln, bis auf irgend einen gewissen Punkt, da stimmen sie mit andern Menschen nicht uͤberein, da schwindet bei ihnen logische Wahrheit, da scheinen sie der gesunden Vernunft entsagt zu haben. Zu dieser Klasse gehoͤren wir Menschen alle, so auffallend, so widersprechend das auch klingen mag; wer sollte wohl nicht in irgend einer Sache seine ganz besondern, selbst mit seinen eignen, sogar nach ausfuͤhrlich deutlichen Begriffen abgeleiteten Grundsaͤtzen, streitende Meinungen haben? Das Sprichwort: jeder hat sein Gran Narrheit, ist unleugbar ein wahrer Satz, und jeder wird ihn bestaͤtigt finden, der nur Lust hat, seine Wahrnehmungen zu Beobachtungen zu erhoͤhen, und vom Auffallendern und Deutlichern aufs Verstecktere und weniger Bemerkte zu schließen, und hier im Stillen ruhig zu forschen. Wuͤßte man diesem Satze den Gehalt eines Grundsatzes zu geben, das heißt entwickelte man diejenigen Folgerungen aus ihm, die nothwendig in ihm liegen; wahrhaftig wir lebten um einen Theil gluͤcklicher, wuͤrden sanfter gegen113 unsre Bruͤder seyn, und weniger uns selbst beipflichten.

Wie nun aber das Gesetz der Staͤttigkeit in der Koͤrperwelt ausgebreitet ist, so findet es auch bei den Geistern statt, und in unserm Falle koͤnnen wir von den unkenntlichsten Spuren, durch unzaͤhlige Verblasungen bis zu den haͤrtesten Zuͤgen fortsteigen, und nicht allein der analogische Exempelschluß, sondern auch eine aufmerksame Beobachtung, und auf Versuche angewandte kalte Aufmerksamkeit, wird uns bei dem offenbar Naͤrrischen voͤllig das, und nichts mehr zeigen, was wir bei jedem Menschen wahrnehmen.

Jch habe zu genauerm Unterschiede angenommen, daß die Krankheit dieser Leute blos Seelenkrankheit sey. Wir bleiben fuͤr jetzt noch dabei, um mit ihrer Bezeichnung desto ungehinderter zu Stande kommen zu koͤnnen.

Sollte man wohl leugnen koͤnnen, daß die Reihe der Jdeen, die ein Mensch sein ganzes Leben hindurch fortsetzt, aus andern als aus geselligen Jdeen gebildet werde? Schon Leibnitz hat das behauptet, und man wird, so viel Muͤhe man sich auch geben mag ihm zu widersprechen, diesen Grundsatz doch schwerlich aufheben koͤnnen. Er hat mir wahr geschienen, schon ehe ich wußte daß Leibnitz ihn angenommen. *)*) Ohne daß ich deswegen seiner Harmonie beifalle. Jch habe mich bemuͤht ihn114 fuͤr falsch zu halten, habe doch aber trotz aller Bemuͤhung mich am Ende genoͤthigt gesehen, auch in ihm den großen Weisen zu bewundern, dessen Geist noch in den spaͤtesten Zeiten immer fortwirken wird. Der Witz ist eine Seelenkraft, die wohl bei weitem reger ist, als man es bisher eingesehen hat. Ungezwungen wird man alle Seelenkraͤfte auf ihn zuruͤckbringen koͤnnen; die hoͤhere Aufmerksamkeit, und mithin Scharfsinn und Absonderungsvermoͤgen, was ist sie anders als Aeußerung des Witzes? Waͤre man wohl im Stande unter mehrern Dingen gleicher Art eines herauszusuchen, herauszusuchen sage ich, wenn man nicht wuͤßte, daß dieses Ding in dieser Art enthalten waͤre? und wie koͤnnte man das, wenn hier nicht der Witz sich thaͤtig erwiese? also wie koͤnnte man das, wenn hier nicht gesellige Jdeen vorhanden waͤren? Gedaͤchtniß, Einbildungskraft, Phantasie, was sind sie, oder was ist dieses anders als Geburt des Witzes? Koͤnnten wir gehabte, nunmehr schlummernde Jdeen wieder haben, wenn sie nicht durch aͤhnliche aufgeregt wuͤrden? und koͤnnten sie das, wenn wir diese Aehnlichkeit nicht wahrnaͤhmen? Wir sind es ja die wir wirken, nicht etwa die Jdeen, als selbststaͤndige Wesen impelliren sich mechanisch!

Ein großer Beweis und vielleicht der groͤßte scheint mir der Scharfsinn zu seyn. Koͤnnen wir wohl Dinge unterscheiden, ohne vorher ihre Ähnlichkeiten wahrgenommen zu115 haben? muͤssen wir nicht, um von Dingen dasjenige zu scheiden was ihre Verschiedenheiten ausmacht, vorher bemerkt haben was sie Aehnliches haben? Verschiedenheiten setzen ja schon Gleichheit voraus, sonst wuͤrden Dinge sich ja nicht auf einander beziehen lassen, wuͤrden ja nicht die Moͤglichkeit einschließen, Verschiedenheiten zwischen ihnen wahrzunehmen! und also setzt Wahrnehmung der Verschiedenheiten auch schon Wahrnehmung der Gleichheit voraus. Jst also der Witz sogar da thaͤtig, wo es auf Wahrnehmung der Verschiedenheiten ankoͤmmt; wird er es denn nicht da seyn, wo die Jdee der Aehnlichkeit die deutlichste ist?

Und nun, ist das, geht der Witz dem Scharfsinn vorher; was finden wir dann noch fuͤr Schwierigkeit bei der untern Aufmerksamkeit? wird nicht eine neue fremde Jdee die sich in uns draͤngt sie dringe so ploͤtzlich ein als sie wolle wird nicht diese Jdee, sich an die letzte, die wir unmittelbar vor ihrem Aufflammen hatten, durch die Mittelidee von ihrer Aehnlichkeit mit dieser, anschließen? Der staͤrkste Beweis den man wider die ununterbrochene Reihe aͤhnlicher ineinander gegruͤndeter Jdeen gefuͤhrt hat, ist von dieser Unaͤhnlichkeit fremder Jdeen hergenommen. Man sagt: wenn ich z. B. die malerischen Verse lese: Diffugere nives, redeunt iam gramina campis, arboribusque comae, und ich nun so ganz darin vertieft bin, nichts weiter außer mir denke, und116 selbst nicht ein Staͤubchen mich in meiner Vertiefung stoͤrt, und ploͤtzlich wird an meinem Zimmer geklopft, und nun mit einemmale sind Schnee und Gefilde und Klee und Baͤume und Hauptschmuck aus meiner Seele weggeschnellt, und eine Reihe anderer Bilder vorgestoßen, die mit den vorigen auch nicht die geringste Aehnlichkeit haben! wie, sagt man, ist es moͤglich daß diese aus jenen sollten entstanden seyn? wie ist da Zusammenhang moͤglich, wo so ein greller Bruch geschehen ist? *) *) Jch habe zu diesem Beispiele mit Fleiß Dinge von ganz getrennter Gattung gewaͤhlt, um nicht, im Fall der mindesten Aehnlichkeit zwischen beiden, den Leser von meinem eigentlichen Beweise abzulenken, daß er verfuͤhrt wuͤrde auf eine, wenn auch nur versteckte Aehnlichkeit zu merken.

Daß dieser Beweis allerdings viel blendenden Schimmer habe, ist nicht zu leugnen, allein wenn hier nur nicht die fallacia ignorationis elenchi zum Grunde liegt! Man hat hier mit Jdee, Gedanke verwechselt. Wenn man von Gedanken spricht, dann hat Leibnitz auf jeden Fall geirrt, allein hier ist die Rede von Jdee! So nimmt mancher Wahrheiten mit in sein Grab, und sein Andenken wandelt unter der Zahl der Buͤhnenaͤrzte, weil ihr Nachhall die Afterwelt betaͤubt! Wenn wir das obige Beispiel genau betrachten; werden wir finden daß es sich damit so verhalte: Gesetzt die letzte Jdee die ich in meinem Nachdenken habe,117 sey: Haar, es wird geklopft, es entsteht in meiner Seele eine Empfindung; was wird nun das Erste seyn, das hier in mir vorgeht? das Allererste wird seyn: ich fuͤhle daß zu meiner Jdee noch etwas hinzugekommen ist: Nun ist die Empfindung die das Klopfen in mir erregt hat, Jdee geworden, aber diese Jdee ist noch dunkel. Was thue ich weiter? ich suche Merkmaale auf, ich finde einige die von denen der Jdee vom Haar unterschieden sind; nun hat meine Jdee vom Klopfen einen Grad der Deutlichkeit erlangt, ich merke darauf, und so komme ich allmaͤlig von meiner vorigen Jdee ab, und habe nun keine als die neue*)*) Sollte einigen der Ausdruck: allmaͤlig, anstoͤßig seyn; weil hier vom ploͤtzlichen Veraͤndern von Jdeen die Rede ist, so verweise ich darauf, daß: ploͤtzlich, und: allmaͤlig, nur Beziehungen sind.. Ward ich also ploͤtzlich von der letzten abgerissen? war zwischen beiden eine unerfuͤllte Spalte? oder spannen sie sich nicht vielmehr gleich wie zu einer stettigen Groͤße zusammen? War es nicht die Empfindung des Mehr, die sich zuerst an die lezte Jdee anschmiegte? und konnte meine Seele da wohl anders, als das Etwas wahrnehmen, das beide zusammenschmolz? Jdeen also, erzeugen einander, nicht Gedanken, d.h. Zusammensetzungen von Jdeen bei denen man zwischen zwei verschiedenen nicht auf diejenigen Ruͤcksicht nimmt, durch die sie verbunden werden. Zu -118 sammengesetzte Jdeen, sagt man, aber das ist ein schwankender Ausdruck; eine Jdee ist nur einzeln! Was nun zwischen einer Jdee und einer hinzukommenden Empfindung, und zwischen einer Empfindung bis sie Jdee wird, noch im Jnnern unsrer Seele vorgehe, das liegt in zu dichtem Dunkel, und ist man auch so gluͤcklich Begriffe davon zu haben; so empoͤren sich wiederum unsre Zeichen der Begriffe. Etwas ist ganz sicher noch da, aber womit diese feine elementarische Stuffenfolge ausgefuͤllt sey, oder ob sie ausgefuͤllt sey, das ist eine andere Frage.

Also der Mensch denkt immer gesellschaftliche Jdeen. Niemand wird leugnen, daß der Mensch gewisse Lieblingsideen habe, und unter diesen sich eine befinde, die ihm die vorzuͤglich liebste sey. Nothwendig wird die Seele sie also auch deutlicher und oͤfter als alle andern Jdeen denken, und wird in der ganzen Reihe ihrer Gedanken diejenigen Jdeen am deutlichsten denken, die ihr gleich sind. So wird es auch mit den Gedanken gehen: diejenigen Gedanken in denen die Jdeen vorkommen, die der Lieblingsidee gleich sind, wird sie deutlicher als alle andern, und eben so deutlich denken als die Gedanken, in denen die Lieblingsidee die Hauptidee ist. Und die Phantasie wird nicht unterlassen, zu diesen neuen Gedanken Jdeen hinzuzuthun, um sie dem Gedanken ganz aͤhnlich zu machen, in welchem die Lieblingsidee die Hauptidee ist. Wenn nun dieser119 Gedanke von der Art ist, daß er entweder den jetzigen oder den kuͤnftigen Zustand der Seele bezeichnet, sey es einen gluͤcklichen oder ungluͤcklichen; so wird die Seele ihn ganz einzig, und hauptsaͤchlich, und am haͤufigsten denken. Sie wird sich nicht begnuͤgen, Aehnlichkeiten in andern Gedanken blos wahrzunehmen; sie wird auch, in jedem Gedanken Jdeen suchen die der Hauptidee dieses Lieblingsgedanken gleich sind, die Phantasie wird wieder das Jhrige dabei thun, und so wird sich eine Menge aͤhnlicher Jdeen aneinander ballen, und je groͤßer diese Zahl wird, desto groͤßer wird, verhaͤltnißmaͤßig nach Maaßgabe dieser groͤßern Zahl, die Menge neuer Gedanken seyn, die sich an die vorigen anweben; denn in jedem Gedanken werden außer der gleichen Hauptidee, noch immer Jdeen seyn, die der Hauptidee zwar ungleich, Jdeen aber gleich sind, die in andern neuen Gedanken vorhanden sind.

So wird der Hauptgedanke immer genaͤhrt. Und das ist der Zustand des Narren. Wer in dem Falle ist, daß ein und derselbe Gedanke immer vorspringt, der ist ein Narr.

Es fraͤgt sich nun, woher ein Mensch gewisse Lieblingsideen habe. Gemeinhin liegt die Ursache davon in der Denkart derjenigen, mit denen er am haͤufigsten umgeht, in der herrschenden Denkart seiner Zeiten, in der Denkart der Schriftsteller, die er am haͤufigsten vielleicht gelesen, und hauptsaͤchlich in der Erziehung, uͤberhaupt also darin, daß gerade120 diese Jdeen am haͤufigsten in ihm vorgekommen sind, entweder passive, da sie von andern wiederhohlt aufgeregt worden, oder aktive, da die Seele, weil sie sie gleich in der ersten Jugend gedacht, selbst, sie oft erneuert. Und, ist dieses nun die Ursache; so ist ja deutlich, daß jeder eine solche Lieblingsidee habe; denn jeder Mensch lebt ja in einem gewissen bestimmten Kreise; und hat auch seine besondre Erziehung genossen; Laßt uns also vom offenbar Naͤrrischen zu dem vernuͤnftigsten Menschen herabsteigen; werden wir einen andern Unterschied zwischen beiden als den Grad finden? und koͤnnen wir demnach nicht von dem Vernuͤnftigen zum Narren in unmerklicher Stufenfolge fortsteigen? und ist also der Satz, daß jeder sein Gran Narrheit habe, nicht wahr und allgemein? *) *) Der Verfasser unterscheidet zwei Hauptgattungen von Narren. Die eine ist die Gattung derjenigen Narren, die alle Dinge von einer verkehrten Seite ansehn, die andere besteht aus denjenigen welche ihre Narrheit nur in einem gewissen Falle aͤußern.Jch glaube aber, daß man schwerlich Narren von der ersten Gattung finden wird, d.h. solche, die, wie der Verfasser sich ausdruͤckt, alle Dinge von einer verkehrten Seite ansehn, oder von allen Dingen falsche Vorstellungen haben. Es kann allerdings Narren von der zweiten Gattung geben, d.h. solche, die nur eine einzige falsche Vorstellung haben, die aber dennoch aus diesem Grunde alle Dinge verkehrt ansehn; wenn nehmlich diese einzige falsche Vorstellung etwas betrift, das mit allen Dingen im Verhaͤltniß steht. Die Korrelata (alle andere Dinge) koͤnnen also immer in der Vorstellung unveraͤndert bleiben, so wird doch dadurch ihr Verhaͤltniß zu dem Dinge wovon man eine falsche Vorstellung hat, nothwendig veraͤndert. Wie wenn z. B. jemand sich einbildet von Glas gemacht zu seyn; so hat er blos von einem einzigen Dinge eine falsche Vorstellung, nehmlich von seinem Koͤrper, und dennoch fuͤrchtet er nicht nur, eine schwere Last zu tragen, als wodurch er nach seiner Einbildung zerbrochen werden koͤnnte, sondern auch, sich auf den Tisch zu lehnen, auf dem Stuhle zu sitzen, auf dem Bette zu liegen, auf den Erdboden zu treten u.s.w. weil alle diese Dinge zum Glase eben dasselbe Verhaͤltniß haben. So wie ohngefaͤhr bei dem Gelbsuͤchtigen die Veraͤnderung der Beschaffenheit der Augensaͤfte, die Veraͤnderung der Farbe aller Dinge nach sich zieht.So sehe ich auch nicht ein, warum der V. die Ursache der ersten Gattung im Koͤrper, der zweiten aber in der Seele zu liegen glaubt? dieses wird von ihm ganz willkuͤrlich angenommen, ohne bewiesen zu werden.Ferner sagt der V. » Der Witz ist u.s.w. ungezwungen wird man alle Seelenkraͤfte auf ihn zuruͤckbringen koͤnnen. « Hier koͤmmt es darauf an, zu wissen, was doch der V. unter Witz verstehn mag. Versteht er darunter, nach der gewoͤhnlichen Erklaͤrung, das Vermoͤgen, die Aehnlichkeit der Dinge wahrzunehmen, so kann er nicht behaupten, daß der Witz das einzige Seelenvermoͤgen sey, worauf alle uͤbrigen sich reduziren lassen. Association ist freilich zu allen Seelenoperationen nothwendig. Aber die Association beruht nicht einzig und allein auf Aehnlichkeit, sondern kann auch auf Koexistenz, und Dependenz (von Grund und Folge) beruhen. Wir koͤnnen daher allerdings gehabte, nunmehr schlummernde Jdeen auch ohne irgend eine Aehnlichkeit mit den gegenwaͤrtigen blos wegen ihrer Koexistenz mit denselben reproduziren. Folglich haͤngt das Gedaͤchtniß nicht nothwendig vom Witze ab.Versteht er aber unter Witz das Associationsvermoͤgen im Allgemeinen, so ist diese Bedeutung offenbar wider den Sprachgebrauch. Was er ferner in Ansehung des Scharfsinns sagt, so koͤmmt es hier auf den Begriff der Verschiedenheit an; ist nehmlich Verschiedenheit nichts anders als Theilentgegensetzung, so muß allerdings die Aehnlichkeit der Verschiedenheit vorhergegangen seyn; weil die Entgegensetzung in eben demselben Subjekte gedacht werden muß; folglich muͤssen die Dinge die als voneinander verschieden gedacht werden sollen, in Ansehung des Subjekts, das in beiden einerlei ist, aͤhnlich seyn. Jst aber bei ihm Verschiedenheit eine besondere Form, so kann man auch ohne Wahrnehmung der Aehnlichkeit die Dinge als verschieden denken. Der Begriff von der Tugend z. B. ist von dem Begriffe eines Dreiecks, ohne demselben in irgend etwas aͤhnlich zu seyn, verschieden.Was er ferner in Ansehung des Unterschiedes zwischen Jdeen und Gedanken sagt, daß nehmlich jene einander erzeugen, folglich immer in einer ununterbrochnen Reihe fortgehen, diese aber nicht, ist mehr spitzfuͤndig als reel. Wenn blos die Vorstellung des Mehr zur Vergesellschaftung verschiedener Jdeen hinreichend ist, so sind alle Jdeen ohne Unterschied gesellschaftliche Jdeen. Das Gesetz der Association ist aber blos ein Gesetz der Einbildungskraft. Diese haͤngt aber allerdings von der Empfindung ab, nicht aber umgekehrt. Man muß daher diesem Gesetze zu Folge von der, die gegenwaͤrtige Empfindung begleitenden Jdee auf eine mit derselben associirte vergangne gerathen; es ist aber nicht nothwendig, daß man auch umgekehrt von einer vergangenen Jdee in der Einbildungskraft auf eine mit ihr gesellschaftliche Empfindung gerathe. Die Verbindung die Leibnitz hier annimmt hat ganz einen andern Sinn.

168Salomon Maimon.

121

Bis so weit haben wir also die Narrheit blos als Seelenkrankheit betrachtet. Sollte aber122 der Koͤrper nicht vermoͤgend seyn sie hervorzubringen, oder sollte er wohl nicht gar, immer sie her -123 vorbringen? Diese Frage zu beantworten, muͤssen wir einen Unterschied zwischen den koͤrperlichen Krankheiten in dieser Absicht machen. Krankheiten nehmlich die die Seele erkennt, dahin alle diejenigen gehoͤren die in die Sinne fallen, und diese werden in der Art vermoͤgend seyn Narrheit hervorzubringen, wie jeder andre Gegenstand durch Ein124 wuͤrkung auf die Sinne es vermoͤgend ist. (Von diesen ist also hier die Rede nicht, außer in sofern sie Ursache von den folgenden Krankheiten, und mithin entferntere Ursache der Narrheit seyn koͤnnen,) und Krankheiten von denen die Seele nur dunkle Begriffe, oder wohl gar nur Empfindung hat. *)*) Beispiel der ersten Art sind, Fieber, Kopfweh, und aͤußere Verletzungen; der zweiten, Hysterie, Hypochondrie. Diese sind nicht allein geschickt, Narrheit zu erzeugen; sondern ich glaube daß sie sie wohl mehrentheils erzeugen. Doch hinreichende Ursache sind sie nie, sondern nur gelegentliche. Waͤren sie hinreichende Ursache, so muͤßten sie in der Seele Jdee von Krankheit hervorbringen, und so fielen sie mit denen von der erstern Klasse zusammen, und wuͤrden also in Absicht ihrer Wuͤrkung auf die Seele, nicht als Krankheit zu betrachten seyn. Das aber thun sie nie, sondern sie veranlassen anderweitige Jdeen, die die Seele entweder vordem gehabt hat, oder bei der Entstehung der Krankheit bildet, und die mit ihr nichts gleich haben, als hoͤchstens die unangenehme Empfindung. Solche Krankheiten koͤnnen Narrheit veranlassen, und veranlassen sie auch in der That wohl immer wenn sie da sind, und ich getraue mir zu behaupten, daß jede Narrheit die in traurigen Gedanken besteht, von der Art Krankheit veranlaßt worden sey. Die Seele wird durch diese Empfindung nur gar zu125 leicht irre gefuͤhrt. Sie geraͤth auf eine Jdee, die in ihrer Wuͤrkung mit dieser Empfindung die mehreste Aehnlichkeit hat, und so wie die traurige Empfindung fortwaͤhrt, so waͤhrt auch diese Jdee fort. Man sieht also, daß das was den Zustand der Narrheit veranlaßt, nicht eben immer Krankheit zu nennen sey; sondern daß auch oft das Temperament dazu hinreiche; denn die Seele empfindet sich nicht allein selbst; wir muͤssen sagen: sie empfindet das Jch des Menschen. Allein die Veranlassung mag nun Krankheit oder Temperament seyn oder nicht, so wird gewiß selten ein Fall seyn, da dieser Zustand der Seele nicht der Art Krankheit hervorbringen sollte. Desto mehr Stoff also die Narrheit zu naͤhren; denn, ist die Krankheit einmal erzeugt, so folgt was ich schon angefuͤhrt: sie wuͤrkt zuruͤck, und hier findet sie nun einen fangenden Zunder, und um wie viel schneller wird dieser Tausch, diese gegenseitige Unterstuͤtzung nicht vor sich gehen, wenn Krankheit die erste Ursache gewesen? So greifen Seele und Koͤrper immer fester ineinander ein, beide zerruͤtten einander immer mehr, und es kann endlich aus dieser Narrheit die der ersten Art entstehen, von der ich ausgegangen bin, und so kann sie von dieser die erste Ursache seyn. Mich aber auf diese Art Seelenkrankheit einzulassen, fordert mein Zweck nicht.

Nachstehende Geschichte mag als Beispiel zur Erlaͤuterung dieser Grundsaͤtze dienen, und auch126 ein Wink allen Polizeiaͤmtern seyn, wie so manche Dinge im Staat als Kleinigkeiten uͤbersehen werden, die auf das Schicksal des Buͤrgers den wichtigsten Einfluß haben.

(Die Fortsetzung folgt im naͤchsten Stuͤck.)

Jnhalt.

1
  • Ueber den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.
    • Auszug aus einem Briefe von Herrn2S. Maimonan3K. P. Moritz.Fortsetzung. 1.
  • Zur Seelennaturkunde.
    • 1. Fragmente aus4Ben Josua'sLebensgeschichte. Herausgegeben von5K. P. Moritz.24.
    • 2. Ueber den Traum und uͤber das Divinationsvermoͤgen. Als eine Fortsetzung des vierten Aufsatzes im dritten Stuͤcke des achten Bandes. Von6S. Maimon.70.
    • 3. Schreiben von7K. P. Moritzan8S. Maimon,bei Zuschickung eines Buches, mit dem Titel: Beobachtungen uͤber den Geist des Menschen u.s.w. von9Andrei Peredumin Koliwanow.89
    • 4. Antwortschreiben von10S. Maimonund Beurtheilung gedachten Buches. 90.
    • 5. Fragment aus des Herrn Prof.11HerzSchrift uͤber den Schwindel. 97.
    • 6. Mystische Vorstellungsart vom Fegefeuer, Fragment aus einer Schrift der Madame12Jeanne Marie Bouviere de la Mothe Guion.104.
  • Zur Seelenkrankheitskunde.
    • Schreiben von Herrn13Joseph Hyazinth Mathyan14K. P. Moritz,mit Anmerkungen von15S. Maimon.109.

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent130 images; 24461 tokens; 5170 types; 165503 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungUniversity of GlasgowNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte neunten Bandes erstes Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1792.

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Universitätsbibliothek Bielefeld UB Bielefeld, 2097611

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

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