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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Zehnten Bandes zweites Stuͤck.

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Fortsetzung der Revision der Erfahrungs - seelenkunde. von2Salomon Maimon.

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Der Verfasser bemuͤht sich zwar (99) zu zeigen, daß sich hier dieses es nicht auf den folgenden Satz, sondern auf eine unbekannte Ursache bezieht, indem er sagt: » dieser Gedanke (daß mein Freund wieder hergestellt wird) bringt die Empfindung der[ Freude nicht] hervor, und ist nicht sowohl die Ursache, als vielmehr nur der Stoff zu derselben. Denn, faͤhrt er fort, der Gedanke an irgend eine Sache, die mit unsern Wuͤnschen uͤbereinstimmt, und unsre Empfindung der Freude sind eins u.s.w. «

Freilich muͤßte es so seyn, wenn der Gedanke an irgend eine Sache, die mit unsern Wuͤnschen uͤbereinstimmt (das Urtheil vom Verhaͤltnisse der2 Dinge zu einander) auch den Gedanken, daß diese Sache mit unsern Wuͤnschen uͤbereinstimmt (das Urtheil vom Verhaͤltnisse dieses Gedankens zu unsrer Empfindung) einschloͤsse, alsdann waͤre freilich der Gedanke, und die Freude daruͤber eins. Es verhaͤlt sich aber in der That nicht so; in dem Gedanken ist mein Freund das Subjekt, und seine Wiederherstellung das Praͤdikat. Zum Urtheile daß dieses mit meinen Wuͤnschen uͤbereinstimmt hingegen ist der vorige Gedanke Subjekt, und seine Uebereinstimmung mit meinen Wuͤnschen das Praͤdikat, das in dem Gedanken nicht enthalten war. Die Harmonie, wovon der Verfasser spricht, ist selbst ein Gedanke, und kann blos als die Ursache der Empfindung der Freude, nicht aber als die Empfindung selbst angesehn werden.

Der Unterschied zwischen ich denke, und mich duͤnkt glaube ich besteht darin: im ersten Falle bin ich mir die Reihe der Vorstellungen die in mir den Gedanken hervorgebracht haben, bewußt, im letzten aber nicht, in jenem bin ich also voͤllig thaͤtig, in diesem aber zum Theil leidend.

5H. Spaldingssonderbaren Zufall erklaͤrt6H. Mendelssohn(Band 3. Stuͤck 46.) sehr scharfsinnig. Was mich anbetrift, so glaube ich dieses ließe sich auf eine weit einfachre Art folgendermaßen erklaͤren.

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Der Mensch als ein vernuͤnftiges Thier wird in seinen Handlungen durch zweierlei Arten der Naturgesetze bestimmt. Als bloßes Thier wuͤrkt er nach den Gesetzen der Jdeenassociation der Einbildungskraft; als vernuͤnftiges Thier aber, nach den Gesetzen der Zweckmaͤßigkeit.

Anfangs scheint es als wenn viererlei Associationsarten zu unterscheiden[ waͤren.]1) Die Associationsart der Jdentitaͤt. 2) Der Koexistenz und Succession in Zeit und Raum. 3) Der[ Dependenz] von Ursache und Wuͤrkung. Man geraͤth gemeiniglich von einer Jdee auf die ihr aͤhnliche, oder auf die auf ihr unmittelbar folgende (in Zeit und Raum) oder endlich auf die mit ihr in einer Kausalverbindung stehende, (von der Ursache auf die Wuͤrkung, oder umgekehrt) bei genauerer Ueberlegung aber ergiebt es sich, daß es in der That nur einerlei Associationsart giebt, nehmlich die der unmittelbaren Koexistenz und Succession in Zeit und Raum. Daß man von einer Jdee auf eine ihr aͤhnliche geraͤth, ist nicht die Folge einer durch Wiederholung hervorgebrachten zufaͤlligen Verknuͤpfung derselben die nur in Beziehung auf das Subjekt, bei dem diese Wiederholung vorgegangen ist, statt finden kann, sondern die Folge einer objektiven folglich allgemeinguͤltigen Verknuͤpfung derselben. Die Wuͤrkung dieser objektiven Verknuͤpfung der Jdeen aufs Subjekt wird an sich durch Wiederholung nicht ver -4 staͤrkt. Nur alsdann ist die Wiederholung in der Folge aͤhnlicher Jdeen auf einander noͤthig, wenn die Folge weniger aͤhnlicher in Ansehung der mehr aͤhnlichen das Obergewicht behalten soll, d.h. die Wiederholung einer Folge von Jdeen auf einander, ist nicht, insofern diese Jdeen aͤhnlich sind noͤthig, sondern insofern sie es nicht sind. Ferner, die Kausalverknuͤpfung der Jdeen mag noch so sehr in der innern Verknuͤpfung der Dinge an sich gegruͤndet seyn, so ist doch diese Verknuͤpfung in Ansehung unsrer Erkenntniß blos zufaͤllig, und kann daher nur durch Wiederholung der Folge der Jdeen auf einander ihre Wuͤrkung aͤussern. Mag z. B. die Folge der Jdee des Rauches auf der des Feuers noch sehr in dem innern Verhaͤltniß dieser Objekte zu einander gegruͤndet seyn, so ist doch in Ansehung unsrer (da wir das innere Wesen des Feuers und des Rauches nicht kennen) diese Folge blos zufaͤllig, und kann nur durch ihre Wiederholung auf uns eine Wuͤrkung haben (daß wir bei Wahrnehmung des Feuers die Wahrnehmung des Rauchs vorhersehn.) Also die Kausalverbindung worinn die Objekte an sich untereinander stehn, hat keinen Einfluß in der Bestimmung ihrer Jdeenfolge, sondern diese bleibt, wie die der unmittelbaren Koexistenz und Succession zufaͤllig, und kann nur durch Wiederholung in ihrer Wuͤrkung auf uns bestimmt werden.

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Hieraus erhellet, daß wir in der That nur einerlei Associationsart haben, nehmlich die der unmittelbaren Koexistenz und Succession.

Der Mensch als ein vernuͤnftiges Thier wird in seinen freiwilligen Handlungen durch die Vorstellung des Zweckes bestimmt.

Die Folge einer zweckmaͤßigen Reihe Vorstellungen wird mehrentheils nicht durch die objektive Verknuͤpfung (die Jdentitaͤt) auch nicht durch die subjektive Verknuͤpfung der Jdeen (durch Wiederholung) bestimmt; ja sie ist sogar mehrentheils diesen entgegengesetzt.

Die Bestimmung einer zweckmaͤßigen Folge der Jdeen erfordert daher in den mehresten Faͤllen, wo jene zwei Arten ihr entgegengesetzt sind, die groͤßte[ Geistesanstrengung]. Man muß alle moͤgliche Reihen von Vorstellungen durchgehn, aus denjenigen Reihen, die entweder wegen der objektiven, oder der aus Wiederholung entstandenen subjektiven Verknuͤpfung der Jdeen, gleichsam sich von selbst darbieten, muß man die zum Zwecke untauglichen Glieder weglassen, wiederum andere die vorher nicht da waren, hinein schieben, und die Glieder in eine andre Ordnung als diejenige, worinn sie uns vorkommen, versetzen.

Zwar hat es mit der Verknuͤpfung der aus der Erfahrung schon bekannten Mittel und Zwecke6 keine Schwierigkeit, weil in diesem Falle die Associationsart der Succession, der zweckmaͤßigen Verknuͤpfung zu Huͤlfe koͤmmt. Jst hingegen diese Verknuͤpfung erst neu herausgebracht, und noch in keiner Erfahrung vorgekommen, so erfordert es erstlich eine große Anstrengung um sie zu erfinden, und dann eine noch groͤßere um sie in Ausuͤbung zu bringen. Alle menschliche Handlungen sind mehr oder weniger vernunftmaͤßig, nachdem sie eine groͤßere oder geringere Freiheit in den Jdeenverknuͤpfungen voraussetzen, sogar fehlerhafte, dem vorgesetzten Zweck nicht angemessene freiwillige Handlungen sind vernunftmaͤßiger als dem Zweck angemessene mechanische (aus Gewohnheit entsprungene) Handlungen. Gesetzt jemand stellt sich etwas als ein Gut vor, welches in der That nicht gut ist. Nun bringt er durch eine Reihe von Schluͤssen diejenigen Mittel heraus, die zur Erwegung dieses vorgestellten Guten erforderlich sind. Ein andrer ist frei von diesem Jrrthum, und erlangt seinen aus der Erfahrung bekannten Zweck durch die mechanischen ihm aus Gewohnheit zur zweiten Natur gewordenen dazu als Mittel gehoͤrigen[ Handlungen, da] jener seinen Zweck nicht erreicht; und doch wird jeder eingestehn, daß die Handlungen des erstern in der Vernunft gegruͤndet sind, des letztern aber nicht.

Eine noch groͤßere Anstrengung des Geistes erfordert die Hervorbringung mehrerer Jdeenreihen,7 deren jede zwar durch die Vorstellung eines Zweckes bestimmt, dieser Zweck aber in jeder verschieden ist, ohne eine Zeit zwischen diesen Jdeenreihen verfließen zu lassen. Jeder vernuͤnftige Mensch ist im Stande eine durch einen Zweck bestimmte Jdeenreihe zu verfolgen, und die waͤhrend der Zeit sich[ ihm][ aufdringende] mechanische Reihen (der Jdentitaͤt Koexistenz und Succession) von sich abzuwehren. Hingegen sind sehr wenige im Stande verschiedene Geschaͤfte zugleich zu verrichten.

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Dem Leser dieser Aphorismen.

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Jst Hypothese das Grab der Philosophie oder ist sie Laͤuterung, die dem anbrechenden Schimmer der Wahrheit vorhergehet? Was ist in dem ganzen weiten Reiche des Naturforschens mehr, als hypothesenmaͤßiges Aufstellen und Schliessen, was anders, als auf truͤgliche Sinne gebaute, von voruͤbergehenden Sinnenerscheinungen abgezogene Resultatenreihe! Dogmatismus ist das Ende des Weiterstrebens und Fortschreitens in dem Naturforschen, der gefaͤhrliche Markstein, wo die Vernunft ungluͤcklich Halt machet, die Natur sorglos in ihren Geheimnissen ihr Wesen forttreiben und fortarbeiten zu lassen. Die Alten waren, glaub 'ich immer, der Entdeckung der Naturgeheimnisse naͤher, naͤher der Aufhellung des geheimen Geschaͤfts der Zeugung, als wir; je mehr durch Hypothesen sie das wahrscheinlichste abwogen, und je mehr wir an dogmatischen Glauben der Zergliederungskunde gewoͤhnt nichts anders zu glauben und zu finden als was die Sinne sehen, fuͤr unphilosophisch und ungruͤndlich halten. Die Erfahrung muß nur bestaͤtigen, und die Vernunft finden: die Erfahrung aber nicht finden, und die Vernunft blos bestaͤtigen.

Wittenberg.

9Grohmann.

Aphorismen uͤber Zeugung.

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Ce n'est qu'un moule, dans le quel Dieu a jetté l'Univers.

Wir blicken nach den aͤussersten Enden unsers Daseins hin, und sie verschwinden Jahrhunderte durchsuchen wir, forschen Anatomen, Denker, Beobachter, und nichts finden wir auf dem langen9 Wege des Suchens, als immer blendenden und bald untergehenden leeren Hypothesenschein. Raͤthsel Leben aus todten in die innerste Lebensorgane hingestellten Massen hervorgehen; Menschen Menschen zeugen, Menschen als Schoͤpfer in bewußtlose Massen zuruͤcksinken zu sehen ! Jst es Schicksal, daß wir aus dem finstern ins finstere gehen oder ist es Standpunkt, der vor unser Auge den Flor ziehet?

Die Sinnenwelt lieget da und wir schreiben aus der irrdischen Huͤlle das unwandelbare auf die Ausdehnung hin: die Ausdehnung wird Abdruck in Formen[ geistigen] Empfindens kleidet sich die Materie in harmonische Darstellung der hingebildeten Seele. Die Sinnenwelt ist in der Seele, ehe diese noch mit einem Blick uͤber die ausdehnende Oberflaͤche hinsehe: denn die Sinnenwelt ist sinnliche Anschauung der ewigen Denkformen, die alle unendlichen Geisterarten ausser Gott hin befassen. Was wollen wir, daß uns Erfahrung von den Gesetzen der Natur lehre Anatomie von den ewigen stellenden Formen der Zeugung? Finden Sinne etwas mehr als Werkzeuge, durch welche die Natur arbeitet? Mag Anatomie, moͤgen Mikroscope die hoͤchste moͤgliche Vollendung erreichen nichts haben wir zu hoffen, als hundert Hypothesen noch zu den hunderten, die da sind nichts als noch staunendern Anblick der ins unendlich fortge -10 henden feinern Verarbeitung durch Werkzeuge. Neuton sahe den Fall des Apfels und das Gesetz der Schwere war da, oder vielmehr er dachte das Gesetz der Schwere und die Natur bestaͤtigte. Von allgemeinen Gesetzen muͤssen wir anfangen, wenn wir die Gesetze lernen wollen, nach denen die Natur in ihrer zeugenden Werkstaͤte arbeitet.

Zwei Wege und die unendlichen Hypothesen kamen zum Vorschein: die Natur giebt unthaͤtig her, was Jahrhunderte durch in ihrem Schooße geschlummert oder sie arbeitet mit Schoͤpferkraft selbst an der vorhergehenden Schoͤpfungsreihe wie ein schlafender Embrio laͤsset sie die traͤumenden Phantasien, von dem spielenden naͤchtlichen Glockenschlage, dem Stoß eines kreisenden Atomen geweckt, aus sich herausspinnen oder mit fliegender Phantasie schaffet und wiederschaffet sie selbst die stolzen Geburten der schoͤnen vergeistigten Formen der organischen Leiber. [ Jsts] Evolution oder epigenetische Schoͤpfung? Alles ist Hervorgehen alter Zeugung in verjuͤngenden Formen, Formen die ewig in der Natur da sind, ewig in der Natur dieselben bleiben bestimmt von der Quantitaͤt der Bewegung und der Qualitaͤt der Formung, die beide selbst ausser den gegenseitigen und zuruͤckwuͤrkenden Ursachen noch in den alles herausbildenden Formen der Elemente sich bestimmt halten. Die Natur11 beweget sich fort, wie sie angefangen formet fort, wie sie angefangen, denn der Grund die Elemente und das Wuͤrken gehen fort, die Formung folget den Elementen, wie Wuͤrkung der Ursache nichts rohes ungebildetes hat daher die Natur in dem ganzen Umfange ihrer Zeugung *). *) Was ist der Bildungstrieb? » Es ist ein besonderer lebenslang thaͤtiger Trieb in allen organisirten Koͤrpern rege erst Anfangs in dem rohen ungebildeten Zeugungsstoff, nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ihre bestimmte Gestalt anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstuͤmmelt werden, wo moͤglich wieder herzustellen « s. Hofr. Blumenbach uͤber den Bildungstrieb. » Erklaͤret dieser Trieb das Geheime, Verborgene, Raͤthselhafte in dem Geschaͤfte der Zeugung? [ wann] soll er entstehen? warum erst dann entstehen, wenn der Zeugungsstoff zu seiner Reife zu dem Ort seiner Bestimmung gelangt ist? welche Kraft soll ihn erwecken? was soll er endlich bilden? die Bildung folget gleich selbst der Materie, sobald diese da ist, denn in der Wuͤrkung ihrer Elemente lieget die Formung; keines Anreizes bedarf sie zu diesem Geschaͤfte keinen Zeitpunkt bedarf sie zu erwarten, da die Bildung zugleich mit der Absonderung der Materie anhebet. Sinne wenden hier[ nicht] ein, daß erst nach einigen Tagen oder Wochen der[ Empfaͤngniß Bildung] sichtbar werde: sie sind zu unempfaͤngliche unsichere Zeugen, als daß sie bei Gesetzen, wo Deduktion von a priori gegebenen gemacht wird etwas bestaͤtigen oder ungewiß lassen koͤnnten. «Alles lieget schon in dem Zeugungsstoff, sobald er da ist, beschlossen bestimmt, gebildet: Das Geschoͤpf erwartet nur den letzten Punkt der Zeit, daß es in die12 Reihe der Dinge von den groͤbern Sinnen mit groͤßerer organischen Vollendung in sinnlicherer Wahrnehmung auftrete.

Misgestaltet tritt der Mensch in die Sinnenwelt ein, keine Ordnung reget noch seine Glieder, kein Hauch eines goͤttlichen Ordens stroͤmet auf seinen Koͤrper: sinnliche Thierheit fuͤhret das Zepter, und nur der edlere Theil ist da, um bald hinreifend das Joch des Despoten von sich zu schuͤtteln. Wie hingeworfene Thonmasse, welche die schaffende Hand des Kuͤnstlers zu einer Form umbildet, ist der ganze Umriß des Schaͤdels ohne Woͤlbung in plattgedruckter geradlinichter Flaͤche erstreckt sich die Stirn bis zum Scheitel, und der Nacken wieder in der unthaͤtigen Gestalt eines liegenden Eins weit hinausstehend zugespitzt bis zur Stirne: der Vordertheil des Gesichts ist unbestimmter Zusammenfluß von Saͤften und weicher Masse, noch kein Theil auf demselben durch bestimmte Grenzen gemessen: die Sinne, ruhendes Auge ungeoͤfnet, das Werkzeug des Geruchs vor den eindringenden Lufttheilchen verschlossen 13 das Stirn und Nasenbein ohne alle Erhebung kraftlos: der untere Theil des Gesichts von dem obern hervorragend zur einzigen bis jetzt bestimmten Erfuͤllung des thierischen Daseins des in sich nehmenden Verdauens und Wachsens. *)*) s. m. Jdeen zu einer physiognomischen Anthropologie. Leipz. 1791. Absch. 1. Kap. 2. Fuͤr die Sinnenwelt geboren, gehoͤret es der Sinnenwelt ihn zu entwickeln: die erste Periode ist vollendet, die zweite angefangen, die das gluͤckliche Band zwischen Seele und Welt anknuͤpfet. Schon erhebet sich die Tafel des Gesichts zum Wiederstralen der Ausdehnung, das Haupt, das der Menschheit die Krone aufsetzt, zum Throne zum Himmel stroͤmend gehet Mannigfaltigkeit aus uͤber den ganzen Koͤrper das jugendliche Gewaͤchs stehet da das Gleichgewicht ist erreicht, das Wachsthum vollendet. Die dritte Periode beginnet. Leben soll er geben, wie er Leben empfangen Schoͤpfer werden, um als Schoͤpfer zu sterben. Gluͤckliches ungluͤckliches Loos des menschlichen Lebens! er suchet und findet nicht, toͤnet in melancholischen Klagen der Ungluͤckliche! er suchet gefunden! ach der Selige! Goͤtterfreuden genießet er im pflanzen der Unsterblichkeit.

Mann und Weib Eine Form Eins. Modifikation nur, wie gluͤhendere Empfindung14 dort kuͤhleres hier stilleres Wehen: staͤrker dort am scharfen Felsen brechender Tonhall leisere hier im niedern Thale fortgehende Tonstimme. Brennendes Blut im maͤnnlichen Koͤrper, mit[ feurigem] Aether gekraͤnkter Nervenstern, gehaltvolle Knochensubstanz: weichere Aether im weiblichen, leichteres Blut hinfliessen, nachgebenderer Knochengehalt: Ursache und Wuͤrkung haͤrtere dort auch umrissene weichere hier abfliessendere Koͤrperform. Muͤssen wir vorgebildete ineinander tausendfaͤltig verschlungene Keime denken daß die raͤthselhafte Erscheinung des Geschlechts hervorgehe? Es ist ja Alles in der Natur Ein Gang! Der Waldstrom bahnt sich das Bette von strauchichten Erdzungen, der wilden schroffe hin und zuruͤck Windende kleine friedliche Bach den gleichen geraden blumichten Erdschooß: haͤrterer Stoff und es wird Mann weicherer Grundstoff und es wird Weib: der erste Partikel bildet den ganzen sich erhebenden Erdhuͤgel.

Wie von einem Centro gehet die ganze Form aus wo sich Mann und Weib scheidet. Eine Harmonie ist zwischen dem Koͤrper Eine gegenseitige Harmonie zwischen dem gegenseitigen Koͤrper der Mannheit und Weibheit. Waͤre es nicht Disharmonie, groͤßern Unterschied zwischen diesen zeugenden Theilen zu denken als zwischen der senkrechten mit Protuberanzen sich woͤlbenden maͤnnlichen Kopfform, und dem weichern allmaͤh -15 lichen Zuruͤcksinken des weiblichen? nicht Disharmonie groͤssern Unterschied hier finden, als zwischen der wallenden Wellenform des weiblichen Halses und dem kurzen starken widerstehenden Nacken des Mannes? Auffallender fuͤr die Sinne ist er nur nicht groͤßer: auffallender, weil die ganze Modifikation des haͤrtern und weichern hier endet, die ganze Modifikation des kuͤhnern und allmaͤhlichern Umrisses hier anhebet. Der Mann hat festere Brust, breitere Schultern von Muskeln und Sehnen erhobene Schenkel, und um seinen ganzen Koͤrper die von sich selbst ausgehende in sich gegruͤndete Form eines Dreiecks: Das Weib hingegen abfliessendere Schultern, weichern sanftern zur Liebe empfaͤnglichern Busen vollere Fuͤlle des Fleisches: und beide daher auch mit diesem modifizirenden Charakter harmonisch modifizirte zeugende Organe des Lebens. Von dem Grundstoff des zeugenden Lebens dem weichern oder haͤrtern, mildern oder feurigern Princip der Schoͤpfung gehet der Unterschied dieser maͤnnlichen und weiblichen Bildung aus mit dem ersten Hinstroͤmen der Saͤfte beginnet er sichtbarer vor ihm in weiter und immer weiterer Entformung verschwindet er gaͤnzlich in zweideutiger Unkenntlichkeit dieser Organe. *)*) s. Blumenbach Elementa[ Physiol. Physicl. ]§. 492. » Et in genere quidem cucivis sexui proprius uus est et ab altero discrepans habitus: in homine nato lucculenter abservabilis; in foetibus vero tenerioribus primo saltem intuitu vix dignoscendus, uto'opte quibus ipsa genitalia externa, si obiter saltem inspecta fuerint, differre videntur, cum femino embreoni clitoris proportione vaegrandis, masculo autem prominens scrotum ad huc vix vllum sit. (§. 520.) Quibusdam tamen in partibus vtriusque generis organa perquam simiclem monstrant fabricationem. lta sub pube in commissura labiorum superiore latens clitoris non una in re cum virili membro conuenit, nisi quod ab urethra seiuncta, ideoque imperforata et in rite formatis perexigua sit. Similiter ceterum ea particula cauernosis constat corporibus et erectioni apta est et praeputio tegitus et smegma praebet Littriano haud absimile. « Buffon histoira natur. Paris MDCCXLIX. Tom. III. wo Kupfer von Embrionen die Aehnlichkeit der gegenseitigen Zeugungstheile zeigen. « Mit dem grausamen Raube der zeugenden16 Gefaͤße im Manne als Quelle aller bildenden Formung fliehet daher auch die mit diesen Theilen charakteristische Stimmung des Koͤrpers fliehet und wendet sich[ bei der] Abwesenheit des feurigen Stoffes zu einer nach dem Raube der mittaͤglichen Sonne gedeihenden feuchtern Gewaͤchsart. *)*) Jch glaube, wenn das Werk der Kastration noch fruͤher an dem maͤnnlichen Koͤrper koͤnnte vorgenommen werden, wo die Saͤfte der ganze Bau des Koͤrpers noch weniger bestimmt, noch fluͤssger weicher ist, wenn das Messer selbst in den Leib der Mutter und des Kindes koͤnnte dringen, daß die Natur dann den kuͤnftigen Menschen noch zweideutiger bilden, und ihn selbst in seinem Geschlechte dem weiblichen Zeugungstheilen aͤhnlicher umformen wuͤrde. 17 Alle Formen waren in dem unendlichen Reiche der Schoͤpfung befasset alles sollte sich an einander anschliessen alles sich von einander entfernen Polypen - und Elephantenmassen, die weitesten Enden, in einer Kontinuitaͤt sich einander vereinigen: alle Formen der Zeugung waren also zugleich da wollte die Natur nicht mit ihren Werken Spiel treiben, Elephantengebuͤrge wie Polypen, und Polypen wie Elephanten sich fortpflanzen lassen. Einfache Organisationen umfaßten einfache Mittel, vielfache auch vielfache Polypen polypenartige Ergießungen Elephantengebuͤrge auch gebuͤrgsmaͤßige Zeugungen. Auf der niedrigsten Stufe ergossen sich Stroͤme von Leben, in jedem momentmaͤßigen Anreiz Leben schien hier wie in einer Werkstatt in tausendfaͤltigen Funken unerschoͤpflich tausendfaͤltig umherzuspruͤhen: in der hoͤhern Stufe wanden Geschoͤpfe sich, jedes in sich gegenseitig mehreren zum Leben zu helfen: auf noch hoͤhern Stufen standen endlich einzelne groß an Masse groͤßer noch in dem kunstreichen der18 Organe und sie standen und nur zwei konnten einem in dem einem das geben, was in den niedern das einzige leichteste Geschaͤft schien. So entstanden Geschlechter es mußte eine Ordnung in der Natur seyn, eine harmonische Weisheit: der Mensch sollte nicht weniger leben als der hundertarmige Polype der Mensch nicht weniger empfindungsreiche Momente in der Summe der Jahre zaͤhlen als das schwammartige Geschoͤpf in dem Momente seines Vegitirens ein Verhaͤltniß sollte seyn in allen Lebensarten zwischen der embrionischen Bruͤtedauer und den deutlichen in der Sinnenwelt empfundenen Lebensmomenten. Der Mensch weniger groß in seiner Organisation als derselben Gewebe bedurfte mehrere daher bis zu dem Ziel der voͤlligen Vollendung zur Ausdauer ausser den organischen Lebensbehaͤltnissen der Zeugung das Elephantengebuͤrge groͤßer noch in seiner Organenstruktur bedurfte noch mehrere Jahre bis zu dem Zeitpunkte des erreichten Wachsthums: waͤre kein Geschoͤpf da gewesen, das gleichsam das innerste in seinem Schooße von seinem Leben zu dem einem mit[ hinschuͤttelt] kein Geschlecht da, das durch gegenseitige Vereinigung der embrionischen Keime in kuͤrzerer Zeit in geschwindern Monaten durch seinen Beitrag dem kommenden Geschoͤpfe Wachsthum und Vollendung gab. War es Ohnmacht wer wollte es behaupten! die der Natur die Fesseln anlegte, hoͤhere Organisa -19 tionen nicht auch einseitig wie die einfachern in einem Geschoͤpfe sich fortorganisiren zu lassen? Weisheit war es daß sie nicht wollte, was sie konnte nicht that: hoͤhere Organisationen und edlere haͤtten sonst im ganzen Bezug ihrer Entwicklungszeit in Verhaͤltniß der Existenz ausser der Mutter mit der Existenz innerhalb derselben weniger gelebet, als die einfachern, die weniger Bruͤtezeit in ihrem embrionischen Zustande verschlafen. Lasset den Menschen zwei Jahre innerhalb den Zeugungsbehaͤltnissen verweilen, zwei Jahre, welche analogisch zu schliessen noͤthig gewesen waͤren, um ihm die Vollendung erreichen zu lassen, die er jezt durch den doppelten Beitrag der Geschlechter in halb so langer Zeitdauer erreichet: ein Jahr waͤre an seinem Leben abgegangen ein Jahrhundert an hundert Menschenaltern - welche Summe von Empfindungen welche Summe von Jahren weiter gezahlet auf Welt auf Menschengeschlechtsalter! oder er haͤtte nach dem allgemeinen Gesetze des Verhaͤltnisses der Zeitdauer innerhalb und ausserhalb der zeugenden Werkstatt, der embrionischen Entwicklung und dem vollen bewußten Menschenleben, welches die Natur durch alle Geschoͤpfarten beobachtet, noch einmal so langes Leben zaͤhlen muͤssen als er jetzt zaͤhlet und welche Stoͤrung dann wieder in dem allgemeinen Plan der Welt, deren kein anderer besserer denn sonst waͤre er da denkbar und moͤglich war20 als dieser. So Einstimmung in eine Ordnung und Geschoͤpfe traten hervor auf der Stufe der umfassendern Organe Geschoͤpfe, die einartig doch verschieden, einartige in Ruͤcksicht der zeugenden Organe aber Modifikationen waren. Mystisches Raͤthsel gluͤcklicher Zauber der[ nach] immer staͤten Genuß hindraͤngenden Leben! Labyrinthe brachtest du hervor Tiefen undurchdringliche Dunkel in dem Tempel deines Naturforschens und errichtet warest du, daß kein Geschoͤpf mit der Natur rechte.

So vereinigen sich also auf der Stufe hoͤherer organischen Wesen zwei Geschoͤpfe, um ein drittes aus der Mitte ihrer organischen Lebenswaͤrme hervorgehen zu lassen mit gleichem Beitrag beider an dem Leben, gleichem Beitrag beider an der keimenden bald hervorsprossenden Knospe der Schoͤpfung. Warum soll der maͤnnliche Saame blos befruchten? *)*) Befruchten ist ein Wort, das unter so vielen andern mystischen Worten in dieser Materie uns etwas hat erklaͤret geben wollen: das aber nur leider durch die Dargabe eines sinnlichen Begriffs uns fuͤr weitere Zergliederung beruhiget hat. warum bald im weiblichen bald im maͤnnlichen Zeugungsstoff der Keim des kuͤnftigen Menschen enthalten seyn? Der Zweck der Trennung der Geschlechter war, in kuͤrzerer Zeit moͤchte das Geschoͤpf organische21 Vollendung erhalten, in kuͤrzerer Zeit die Summe seiner Empfindungen zu zaͤhlen anfangen. Das Weib mußte also gleichen Beitrag wie der Mann und dieser wie jene beide gleiche Anlagen entgegenbringen gleiche Grundformen des kuͤnftigen Menschen. Warum sollte auch in dem Weibe nicht das nehmliche vorgehen, wie in dem Manne? beide begruͤnden ja gleiche Ursachen: hier sondern sich Zeugungssaͤfte ab dort muͤssen sich also auch absondern; denn gleiche Koͤrper gleiche absondernde Elemente: in diesen lieget nach den Gesetzen des formens das Geschoͤpf gebildet warum also nicht auch in jenen? gleiche wuͤrkende Ursachen gleiche Effekte. Die Natur spielet nicht mit leerer Mannigfaltigkeit, daß sie ihren Geschoͤpfen, wie das Kind seinen einherfuͤhrenden Puppen nur immer andere und andere Gewaͤnder, andere farbichte Flecke mit andern Schnitten umhaͤnge: ihre Mannigfaltigkeit ist Absicht zur endlichen Erreichung hoͤherer vielfacherer Zwecke der Schoͤpfung. Mann und Weib bringen also zwei Embrione, zwei Anlagen zu Einem entgegen und es ist kein mordender Gedanke: der eine gehet unter indem er sich mit dem andern verbindet: es ist nur hoͤhere Spannung beider physischen Leben beider Empfindungsvermoͤgen zu und in einem konzentrischen Punkte. *) *) Soͤmmering v. Baue des menschl. Koͤrpers. Th. 5. §. 117. » Ein spaͤterer Ursprung der Seele als im Augenblicke der Empfaͤngniß oder der Erzeugung des belebten Hirnkeimes ist undenkbar; ob sie aber fruͤher in der Mutter oder in dem Vater, oder zum Theile in beiden virtualiter sich befinde, kann man wohl nicht entscheiden. «

22

War die Organisation beider Geschlechter auch nicht verschiedenartig nur Modifikation hervorgegangen aus den innern Lebenskraͤften nach dem Zwecke der zeugenden Bestimmung: so konnte doch nicht jedes, ob schon im Besitz der lebendigen Grundform des kuͤnftigen Geschoͤpfs, allein zeugen Die Bestimmung der Vereinigung verlangte auch Organisation,[ Umordnung] der zeugenden Lebenstheile, welche der einzelnen Ausbildung ohne Ausnahme widerspraͤche. Jn dem maͤnnlichen Koͤrper ordneten sich die Behaͤltnisse des zeugenden Prinzips ausser den Koͤrper, und kein Uterus ist da, der das embrionische des Lebensprinzips aufnehme und zum Wachsthum vollendete: in dem weiblichen Koͤrper ist dieser Uterus da, aber der Lebensstoff ist ausser demselben hingestellt, und nur maͤnnlicher Anreiz kann ihn in der Regel durch Mechanism der Fallopischen Roͤhren in die groͤßer entwickelnde Werkstaͤte hinfuͤhren. *) *) Die ovula Graafiana im weiblichen Koͤrper sind gewiß nichts anders als die Testes und vesiculae seminales im maͤnnlichen Behaͤltnisse nehmlich des vor unsern Augen verschwindenden embrionischen Geschoͤpfes anders nur nach dem Endzweck der gegenseitigen Geschlechtsvereinigung, geordnet und organisch gebildet. Daß corpora latea auch ohne vorhergehende wirkliche Vereinigung in[ dem] ovario entstehen, beweisen Versuche Beobachtungen, (s. Blumenbach medizin. Bibl. 3. B. 3. St.) Daß also auch der Mechanism, der die Fallopischen Roͤhren dem ovario zur Aufnahme des weiblichen Zeugungsstoffes naͤher bringet, ausser der Geschlechtsvereinigung durch andere widernatuͤrliche Ursachen erfolge, erhellet eben auch aus diesen Beobachtungen. Ob nun schon bei solchem widernatuͤrlich erregten Mechanism in den Zeugungstheilen des Weibes auch der Zeugungsstoff als das ovulum aus dem ovario in den Uterum hinuͤbergehen muß: so kann doch keine Ruͤcksicht genommen auf die Beispiele, die durch glaubwuͤrdige Zeugen von bald im weiblichen bald im maͤnnlichen Koͤrper[ vor] aller Vereinigung entwickelten Embrione erzaͤhlet werden, (s. Blumenbach uͤber den Bildungstrieb) glaube ich, nicht einmal im weiblichen Koͤrper, in welchem alle zur vollendenden Entwicklung bestimmten Behaͤltnisse da sind, dieser hinuͤbergegangene Zeugungsstoff des Weibes zur wirklichen Vollendung der Ausbildung kommen, weil nehmlich der maͤnnliche Zeugungsstoff fehlet, der durch seinen Beitrag die Ausbildung des Geschoͤpfes befoͤrdert. Denn in Ermangelung dessen muͤßte nach[ analogischem] Schlusse das weibliche Zeugungsprinzip[ laͤngere] Zeit doppelt so lange zum voͤlligen Wachsthum in den Zeugungsbehaͤltnissen verbleiben, in welcher laͤngerer Zeit aber wider die Anordnung der Natur wahrscheinlich es untergehet und als Abart stirbet.

23

Wir sehen taͤglich Erscheinungen vor unserm Auge aufziehen aufgluͤhen und wieder verschwinden: und die Ursachen, die diese Phaͤnomene in der Menschheit so auffuͤhren, liegen vor unsern Augen verborgen. Ewig kommen sie unter den nehmlichen Bedingungen hervor wir bilden Register, ziehen Summen Differenzen auf Jahrhunderte Jahrtausende ganze Menschenalter hinaus und doch wachet nur ein Deus ex machina uͤber diese Proportionen die sich nach den Aufknicken der Natur wie die Menschenhandlungen auf dem kindischen Affengehirn ohne ver -24 bindende Reihe von Ursache und Folge in unserm Gehirn nachdrucken. Das Verhaͤltniß der einen zeugenden Mithaͤlfte in den Geschlechtsgeschoͤpfen wird nie groͤßer als das andere nie verhaͤltnißmaͤßig geringer als das andere immer das nehmliche und doch ist nur dieses Verhaͤltniß in unsern zeichnenden Chroniken, nicht in[ unserm] Verstande. Worinnen wuͤßten wir uns aber nicht zu helfen! » Die Gottheit stellte praͤformirte Keime hin und bildete in denselben das gleiche maͤnnliche und weibliche Hervorgehen. « Du bist's ruft das Kind aus es kann die Erscheinung nicht in dem Dinge begreifen: große Kinder wie wir sind! kindischer Kindesgedanke noch als der ist, der das aͤffende Vogelsgeschrei nicht in der kleinen leichten Federmaschine der Luftpressung glaubet! Koͤnnen25 wir stolz seyn auf unsere Erzogenheit, wenn wir solche Kinder sind? Die Natur Alles von allen was sie ist, hat alles in sich, wodurch sie hervorbringet Die Gesetze liegen in ihr, die sie ewig zur Behaltung gleicher Ordnung der Geschlechter bestimmen.

Die Geschlechtsfortpflanzung beruhet in dem elementarischen Stoffe der Zeugung, dessen Modifikation feuriger oder kuͤhler, haͤrterer oder weicher wieder in dem Temperamente des Mannes und Weibes bestimmt lieget. Der Mann sowohl als das Weib beide koͤnnen Prinzip bald zum maͤnnlichen bald weiblichen Foetus absondern, je nachdem ihr Temperament zu dieser oder jener Form sich mehr hinwieget. Die Erklaͤrung lieget in folgenden Saͤtzen.

Ob schon die Temperamente wie die[ Race] des Menschengeschlechts ins unendliche unmerkbar hinspielen: so ziehen sich doch gewisse Linien fest, die gewisse Hauptpunkte zwischen ihnen Haupttemperamente wie[ Hauptracen] abzeichnen lassen. Die Natur gruͤndete auf den dreifachen Unterschied auf dem sie ihre organische Maschine des Menschen baute auf dem alles unterstuͤtzenden Knochengebaͤude dem Lebensstrom des Blutes und dem geistigen empfindenden Aether des Nerven selbst die Haupttemperamente und auf den einzelnen Bedingungen jener auch die26 Bedingungen und abmodifizirenden Erscheinungen dieser. *) *) Es ist hier der Ort nicht, die bestimmenden Ursachen dieser Temperamente auseinanderzusetzen, und fuͤr ihre Entwicklung Gruͤnde zu fuͤhren: s. m. Jdeen zu einer physiog. Anthropologie.

Das knochenreiche Temperament.
  • a) Gedraͤngter Knochen mit scharfen eckigten Umrissen: das Roͤmischfeurige.
  • b) Gedraͤngt stark mit runden gewoͤlbten Umrisse: das Roͤmischmaͤnnliche.
  • c) Aufgedunsen locker mit scharfen hervorspringenden Umrisse: das grobe Pralende.
  • d) Aufgedunsen locker mit runden abgeschliffenen Umrisse: das Baͤotische.
Das blutreiche Temperament.
  • a) Blut mit feurigen elementarischen Theilchen angefuͤllt in heftigen starken Umlauf: das Koleurische.
  • b) mit weniger feurigen, abgekuͤhltern Theilchen angefuͤllt, in leichten geschwindem Umlauf: das Sanguinische.
  • c) mit waͤsserichten Theilchen angefuͤllt im langsamen stillen Umlauf das leichte Pflegmatische.
  • 27
  • d) mit groben dicken Erdtheilen angefuͤllt im schwerfaͤlligen Umlauf: das grobe Pflegmatische.
Das aͤtherische Temperament.
  • a) Der Nervensaft leicht, aͤtherisch mit ungehinderter freier Thaͤtigkeit: das Melancholische.
  • b) leicht, aͤtherisch, mit periodisch lebhafter unruhiger Thaͤtigkeit: das Aetherische.
  • c) leicht, weniger aͤtherisch mit starker gichtischer zuckender Bewegung in das Hecktische.
  • d) leicht, wenig aͤtherisch, mit schwacher unmerklich verschwindender Thaͤtigkeit: das Schwindsuͤchtige.

Jn dem weiblichen Geschlechte bedingen sich diese Temperamente zu andern Erscheinungen: sanfteres Klima bringet hier sanftere Jneinanderschmelzungen der Erdboden leichtere freiere Gewaͤchsarten hervor. Der Aether des maͤnnlichen Koͤrpers modifizirt sich hier gefaͤlliger, leidend, mehr empfaͤnglich der Knochen mehr ineinander verschmolzen nachgiebig Das Blut weniger stuͤrmend leichter hinfliessend: die haͤrtern Temperamente des maͤnnlichen Koͤrpers28 verloͤschen also hier, oder verschwinden in andere leichtere. *) *) Jch habe diese Temperamente, die ich im weiblichen Koͤrper modifizirt und unter andern Erscheinungen beobachtet habe, auch anders benennet. Das grobe Pflegmatische findet hier wegen der leichtern und fluͤssigern Saͤfte des weiblichen Koͤrpers nicht statt, desto haͤufiger aber und fast allgemein das leichte weibliche.

  • Das knochenreiche Temperament.
    • a) Das Roͤmischmaͤnnliche.
    • b) Das Baͤotische.
  • Das blutreiche Temperament.
    • a) Das Koleurische. (selten)
    • b) Das Sanguinische.
    • c) Das leichte Pflegmatische.
    • d) Das leichte Weibliche.
  • Das aͤtherische Temperament.
    • a) Das trockne unruhige.
    • b) Das leichte trockne ruhige.
    • c) Das trockne schwindsuͤchtige.

Was ist nun bei dem gegenseitigen Verhaͤltniß des maͤnnlichen und weiblichen Koͤrpers die Ursache der jedesmaligen maͤnnlichen oder weiblichen Geschlechtsfortpflanzung? Der Mann sowohl als29 das Weib enthaͤlt den Embrio des kuͤnftigen Menschen Das Geschlecht dieser Embrione liegt bestimmt in den Temperamenten des Mannes und des Weibes, in so fern nehmlich durch die Elemente des verschieden temperirten Zeugungsstoffes die weibliche oder maͤnnliche Koͤrperform produzirt wird bei der Vereinigung dieser Embrione in den Zeugungsbehaͤltnissen des Weibes bleibet diejenige Koͤrperform, die mittelst ihrer Elemente die meiste Konsistenz das groͤßte Aus - und Einwuͤrken, den meisten Lebensgehalt hat Das gleiche Verhaͤltniß des maͤnnlichen und weiblichen Geschlechts beruhet auf[ diesem] gleich abgemessenen Verhaͤltniß der gegenseitigen Temperamente: die Erscheinung, daß mehr maͤnnliche als weibliche Kinder geboren werden, auf der staͤrker bestimmenden Bildungsform der Elemente des Mannes.

Bestimmungen der Geschlechtsfortpflanzung.

  • 1) Bestehet der Zeugungsstoff des Mannes aus harten knochenreichen, fest zusammenverbundenen Elementen: der des Weibes aus weichen fluͤssigen Bluttheilchen von weniger Thaͤtigkeit: so werden, obschon der weibliche Zeugungsstoff zu der Form und dem Temperamente des weiblichen Koͤrpers sich hinneiget, maͤnnliche Kinder Er muß bei der Vereinigung mit dem maͤnnlichen Zeugungsprinzip mittelst dessen groͤßerer Einwuͤrkung und staͤrkerer Konsistenz auch in dessen gleich harmonische haͤrtere Bildungsform des maͤnnlichen Koͤr -30 pers hingehen, a)
  • 2) Bestehen die Zeugungssaͤfte des Mannes und Weibes[ aus harten] knochenreichen Elementen: so ist nicht anders moͤglich, als daß maͤnnliche Kinder gezeugt werden, b)
  • 3) Auch dann werden maͤnnliche Kinder gezeuget, wenn der Zeugungsstoff der Mutter aus knochenreichen Elementen zusammengesetzt ist: obschon das maͤnnliche Zeugungsprinzip aus weichen fluͤssigen Saͤften des Blutes bestehet. c)
  • 4) Bestehet der maͤnnliche Saamen aus dem Prinzip der Knochen: der weibliche hingegen aus weichen Theilchen des Bluts von großer Thaͤtigkeit: so entstehen bei der gegenseitigen Vereinigung dieser thaͤtigen Temperamente bald Maͤdchen bald Knaben nach Bedingungen vielleicht einer groͤßern periodischen Thaͤtigkeit eines dieser Temperamente, d)
  • 5) Bestehet der maͤnnliche Zeugungsstoff aus weichen fetten Theilchen des Bluts der weibliche aus trocknen unruhigen Nervenaͤther: so werden fast jederzeit maͤnnliche Kinder, e)
  • 6) Jst der maͤnnliche Saamen aus rohen schweren fetten Bluttheilen der weibliche aus31 unruhigen Nervenaͤther zusammengesetzt: so entstehen Kinder maͤnnlichen Geschlechts, wenigstens dessen mehr als des weiblichen. f)
  • 7) Bestehet der maͤnnliche Saame aus feurigen Elementen des Blutes der weibliche aus weichen waͤsserichten: so werden maͤnnliche Kinder. g)
  • 8) Bestehet der maͤnnliche Zeugungsstoff aus weichen Bluttheilen und ruhigen leichten Nervenaͤther der weibliche aus unruhigen lebhaften thaͤtigen Nervenaͤther: so entstehen Kinder weiblichen Geschlechts, h)
    • a) Der Mann von Roͤmischfeurigen maͤnnlichen oder Baͤotischen Temperamente das Weib von leichten Pflegmatischen: maͤnnliche Kinder.
    • b) Mann und Weib von den Temperamenten, die aus den Knochen entspringen: maͤnnliche Kinder.
    • c) Das Weib von einem der knochenreichen Temperamente der Mann den leicht Pflegmatischen: maͤnnliche Kinder.
    • d) Der Vater vom Roͤmischfeurigen oder maͤnnlichen Temperamente das Weib dem leichten weiblichen: bald maͤnnliche bald weibliche Kinder.
    • e) Der Vater von dem leicht Pflegmatischen oder Sanguinischen die Mutter dem trocknen unruhigen: weibliche Kinder.
    • 32
    • f) Der Vater von dem Baͤotischen oder groben Pflegmatischen die Mutter von dem trocknen unruhigen: maͤnnliche Kinder, wenigstens deren mehr als weibliche.
    • g) Der Vater von dem koleurischen Temperamente die Mutter dem leicht Pflegmatischen: mehr maͤnnliche Kinder.
    • h) Der Vater von dem Melancholischen die Mutter dem leichten trocknen ruhigen Temperamente: mehr weibliche Kinder.

Anerkannt als hoͤchstes Gesetz der Natur nach dem Endzweck der Anordnung des Geschlechts die Vereinigung Entwicklung zweier Embrione zu Einem: draͤngen sich doch Geburten zum Vorschein, die als Ausnahmen dieses Einheitsgesetzes der Zeugung, in der hervorkommenden Reihe der Einheiten selbst Regeln ihrer Ausnahmen zu beobachten scheinen, in weiteren oder engeren Verhaͤltniß unter diesem oder jenen Voͤlkerstamme bestimmt vermuthlich nach Ursachen des verschiedenen physischnationalcharakteristischen. *)*) Blumenbach[ Institutiones Physiol. Elementa Physicl. ]§. 576. Proportio inter gemellos et solitarios partus sub nostro quidem coelo vt 1 ad 70 observatur: apud Hibernos a contrario illi ad singulorum partus fere vt 1 ad 53 se habent: a pud Grönlandos deneque gemellorum expresse notat raritatem. (Essede in[ descr. deser.] du Grönland.) Lassen sich von Wuͤrkungen Ruͤckschluͤsse auf Ursachen33 machen: so glaube ich wohl mich auf meine Beobachtungen nicht ganz hypothetisch zu gruͤnden, und von dergleichen Erscheinungen der Aehnlichkeit der Zwillinge dem gleichen Geschlechte derselben*)*) Jch wuͤnschte allgemeinere Bestaͤtigung, ob die Zwillinge oͤfters oder ohne Ausnahme von einerlei Geschlecht sind beide maͤnnlich entweder oder weiblich. auch gleiche Temperamente und gleiche klimatische Konstitution der Zeugungssaͤfte des Mannes und Weibes als Ursachen derselben der Zwillingsgeburten schliessen zu koͤnnen. Die gleichen Temperamente destruiren sich weder, noch zwingen einander zur Vereinigung in Einheitsgeburt: jede Anlag bildet sich obschon vereiniget in einem zeugenden Behaͤltniß abgesondert durch selbsteigne Tendenz zum einzeln Wachsthum und einzelner organischen Vollendung.

Nur selten uͤberschreitet die Natur in der Summe ihr Einheitsgesetz durch noch vielfachere Zeugung in drei Geburten. Entstehen sie, wenn mehr als eins der weiblichen Anlagen aus dem ovario in die entwickelnde Werkstaͤte hinuͤbergehen? Jn den niedern Geschoͤpfarten ist es Regel die[ Kontinuitaͤt] der Natur wollte es, daß hier das Geschlecht anfieng wenig zusammen -34 gesetzt aber noch wenig verschlungen gleichsam in dem Gewebe der Organisation verband sie zugleich in ihnen das Gesetz als Kontinuitant der Zeugung, daß mehrere Organisationen als eine auf einmal aus ihrem Schooße hervorgiengen. So steiget die Zeugung mit der Organisation von Einem zu mehreren von mehreren zu Tausenden zu Millionen hinab!

Bringet gleiche in dem maͤnnlichen und weiblichen Zeugungsstoff herrschende Temperatur Doppeltgeburten zum Vorschein: ist es widersprechend, daß Discrepanz unvollendete Organisation oder gaͤnzliches Versagen der Entwicklung des embrionischen Geschoͤpfes verursache? Destruiret werden die Anlagen, die jetzt in dem Augenblick der Vereinigung zusammentreffen: Ungleichheit ist zwischen ihnen weder Tendenz zur eigenen einzelnen Vollendung noch harmonische Vereinigung zu einem einzigen empfindenden Lebenspunkte ist in ihnen verstattet. Was sind die Faͤlle der Beobachtung, die ich fuͤr diese wenn man will, hypothetische Ursache zaͤhle? Jch habe immer unter den Ehen, die unfruchtbar waren, oder unvollkommene Organisationen hervorbrachten, den Mann und das Weib von ganz entgegengesetzten[ kontrastierenden] Temperamenten gefunden Der Mann z. B. von dem leichten oder groben Pflegmatischen Temperamente und das Weib von dem trocknen[ ruhigen]. Die Natur35 scheinet nicht gewollt zu haben, daß der unbehuͤlfliche dicke Pflegmatismus unter den verschiedenen Erscheinungen und Darstellungen des Menschen mit auftrete. Der Mann war immer vom groben pflegmatischen Temperamente, wenn Kinder unvollkommene Organisationen unvollkommene Sprachwerkzeuge hatten.

So das Geschlecht in der Liebe in dem sympathetischen Hindrange gegen einander gemessen ist bestaͤndiges Hinwogen von Mutter und Vater zum Sohne vom Sohne zum Vater: Ebbe und Fluth in Formen und Gestalten Geistererscheinung, daß Todte aus Graͤbern wandeln uͤber Generationen wie Luftbilder hinschweben Todte mit dem ersten Ersterben verschwinden und keine Spur eines Gebildes zuruͤcklassen. *)*)24Lavaterin s. physiog. Werke (uͤber die Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit der Kinder mit ihren Eltern). » Es ist eben so gewiß und eben so erklaͤrlich, daß gewisse frappante Physiognomien von den fruchtbarsten Personen durchaus ohne aͤhnliche Nachkommenschaft untergehen; so gewiß und unerklaͤrlich es ist, daß gewisse andere niemals aussterben: nicht weniger merkwuͤrdig ist, daß eine vaͤterlich oder muͤtterlich stark gezeichnete Physiognomie sich bisweilen in den unmittelbaren Kindern verlieret, in den Kindeskindern gaͤnzlich wieder zum Vorschein kommt. « Zusammenschmelzen in Eins Hinbilden des Vaters in die Gestalt der Mutter in dem hoͤchsten empfun -36 denen Lebensmomente oder der Mutter in die Gestalt des Vaters: und die Gestalt will25Lavater,schwimmt uͤber ins Leben, das sich in ihrer Mitte jetzt bildet. Was ist die Phantasie, daß sie ihre luftigen Gebilde hineindrucke in die schwerere groͤbere Materie diese nachforme das schwebende Stalten des Einbildens? Die Natur ist nicht erklaͤret, wenn uͤbernatuͤrliche Kraͤfte herzueilen, ihre Produktionen zu bilden Phantasie Einbildungskraft in der zeugenden Werkstaͤte mit arbeitet. Die Physiognomik die fuͤr[ manchen] mehr fuͤr viele weniger gesaget hat, als sie wollte, gruͤndet sich auf die innern herausbildenden Elemente der Saͤfte die Physiognomie des Kindes auf die Temperatur des abgesonderten elementarischen Zeugungsstoffes die Aehnlichkeit oder Unaͤhnlichkeit der Kinder also mit ihren Eltern auf die Konstitution und das Verhaͤltniß des gegenseitig hergegebenen Stoffes zur Zeugung.

Es waͤre ein einziges unverletzliches Gesetz der Materie, immer in der nehmlichen staltenden Formung zu bleiben: waͤre durch alle Geschoͤpfarten einem einzigen Jndividuo das Werk der Fortpflanzung uͤberlassen worden. Jn allen Faͤllen waͤre dafuͤr zu stehen gewesen » diese nehmliche Form, diese nehmliche Gestalt tritt wieder auf « da es nun bei der Theilnahme zweier Jndividuen an einem Zwecke in Millionen Faͤllen in37 allen Faͤllen kein einzigesmal moͤglich ist, daß irgend ein Produkt in dem hervorgehenden Naturreiche mit den nehmlichen Zuͤgen, der nehmlichen Stattung wieder hervorgehe. Die groͤssere mindere oder endlich getheilte Aehnlichkeit der Kinder mit einem Theile ihrer Eltern beruhet auf den drei moͤglichen Faͤllen: auf[ der groͤssereren innren] Kraft und dem Zusammenhang des maͤnnlichen Saamens die groͤssere Aehnlichkeit der Kinder mit dem Vater: auf der staͤrkern Thaͤtigkeit des weiblichen Prinzips die groͤssere Aehnlichkeit derselben mit der Mutter: und auf dergleichen verhaͤltnißmaͤßigen Einwirkung und Thaͤtigkeit des maͤnnlichen und weiblichen Zeugungsstoffes der vermischte gleiche Antheil der Eltern an der Aehnlichkeit der Kinder. *) *) Es ist leicht, nach diesen drei Bestimmungen der Aehnlichkeitsfortpflanzung gleichsam auf kuͤnftige Geschlechter die Ähnlichkeit vorauszusagen. Die Temperamente, die aus den Knochen entspringen, pflanzen sich am aͤhnlichsten fort: ich habe immer, wenn der Vater das Roͤmischfeurige, maͤnnliche oder[ baͤotische] Temperament hatte, die Kinder mehr ihm als der Mutter aͤhnlich gesehen. Die knochenreiche Form des Vaters gehet aber doch in den Kindern durch den weiblichen Zeugungsstoff[ erweichet,] zu einer gleichsam verjuͤngten, gedehntern Form uͤber. Das Temperament, das aus dem Blute entspringet, gehet in den Kindern bald zu dieser bald zu jener Unterabtheilung dieses Temperaments uͤber. Alle Unterabtheilungen aber desselben bilden sich in der Form einander aͤhnlich daher werden die Kinder, wenn der Vater das kouleurische Temperament hat, immer mehr ihm als der Mutter aͤhnlich sehen. Dieses ist auch der Grund der Selbststaͤndigkeit der juͤdischen Gesichts form: das blutreiche Temperament ist uͤberhaupt der juͤdischen Nation eigen, dieses gehet schwer zu einem andern Temperamente uͤber, und ist auch in seiner Formung unter allen Bedingungen aͤhnlich.

38

Keine Ausnahme machet die Natur von diesen staͤtigen Regeln der bildenden Fortpflanzung: selbst in Misgeburten und Bastarden*)*) Hieher rechne ich z. B. den Maulesel: vergleichende Zergliederung desselben wuͤrde gewiß nach den drei Bestimmungen den drei moͤglichen Faͤllen der Aehnlichkeitsfortpflanzung, die Nothwendigkeit seiner abweichenden von beiden Theilen des Pferdes und des Esels zusammengesetzten Organisation zeigen. Hieher gehoͤret auch das Beispiel, das Blumenbach ([Institutiones Physiol. Elementa Physicl] §. 596 de nisu[ formativoformatino]) aus Koͤlreuters vorlaͤufigen Nachrichten. (3. Forts. pag. 51) anfuͤhret. » Retero huc v.e. ex hybridorum historie memorebile experimentum, quo in hybridis prolificis per plures generationes saepices iterata corum foccundatione ope viriter ejusdem specici seminis adco sensim a primaccea materna forma deflexit nova ea pronepotum hybridorum facies, ut potuis magis magisque in paternam alterices specici formam abiret, et sic denique ista in hanc (arbitraria quesi meta morphosi) tota quenta transmutata plane videretur. « traget sie39 diese organisirende Aehnlichkeit, selbst die physischen Fehler des Vaters oder der Mutter auf die jenem oder diesem Theile mehr aͤhnlichen Kinder hinuͤber, so daß das Kind, das dem Vater aͤhnlich siehet, auch seine physischen Gebrechen an sich habe, das Kind, das der gesunden Mutter aͤhnlich siehet, von ihnen frei sey. Wohl koͤnnen also Kinder derselben Eltern einige gesund und gerade, andere ausgewachsen und unvollkommen seyn wohl wie das Beispiel der kallogischen Familie zeiget, welches den Physiologen so viel Erklaͤrungsarten abgezwungen hat, *)*) Haller Elem.[ Physiol. Physicl. ]1. 29. S. II. §. 8. auch Maupretuis Venus Physique wo dergleichen Beispiele von Fortpflanzungen erzaͤhlet werden. einige mit der ordentlichen Anzahl der Finger, andere mit einer Ueberzahl geboren werden, je nachdem diese dem Theile der Eltern aͤhnlich sind, welcher diesen Fehler an seinem Koͤrper traͤget jene dem, der davon frei ist, aͤhnlich sehen. So koͤnnen auch Nationalformen Nationalzuͤge entstehen die nicht in der Formart der Na -40 tur lagen, die nur durch Eigensinn Unwissenheit oder andere Zufaͤlle in ihr erpreßt wurden. *) *) Hippokrates erzaͤhlet in dem Buche de aëre aquis et locis, daß man geglaubt habe, die ehemalige Gewohnheit der Kalchier, den Kopf der neugebornen Kinder zu pressen, sey die Ursache gewesen, daß ihre Nachkommen mit dieser Form des Schaͤdels waͤren geboren worden. Man vergleiche ferner Blumenbach ([Institutiones Physiol. Elem. Physicl. ]§ 598) » Tum et quod non solum connatae monstrositater, sed et aduentitae mutitationer aliaeue deformatio hes, aut casu aut studio corpori illatae, hae redilariae subirele fiunt, ita vt quod primoartis opur erat, sensim in alteram quesi naturam deflectere dicenatum sit. «

Bestimmungen der Fortpflanzung der Temperamente.

  • 1) Hat der Vater das kouleurische Temperament die Mutter das leichte weibliche (weiche Umkleidung des Fleisches, lebhafte Empfindung und[ Reizbarkeit):] so neigen sich die Kinder zu dem Sanguinischen Temperamente hin.
  • 2) Der Vater vom kouleurischen Temperamente die Mutter vom trocknen unruhigen (langen schwachen Koͤrperbau, grosser Reizbarkeit der Nerven:) so sind die Kinder gemeiniglich mehr von dem aͤtherischen als41 dem sanguinischen Temperament (grosser Empfindlichkeit des Nervenaͤthers und feiner geistigen[ Empfindung). ]
  • 3) Der Vater vom sanguinischen Temperamente die Mutter vom trocknen unruhigen: Die Kinder von dem Temperament der Mutter.
  • 4) Der Vater von einer gewissen Mischung des kouleurischen und sanguinischen Temperaments die Mutter von[ dem] trocknen schwindsuͤchtigen ([kleinem] schwachen Koͤrperbau, schuͤchterner furchtsamer Empfindung:) so bekommen die Kinder gemeiniglich das sanguinische, theils das melancholische Temperament.
  • 5) Der Vater von dem Sanguischen die Mutter dem trocknen Schwindsuͤchtigen; in den[ Kindern] eine gewisse Modifikation eines leichten sanguinischen Temperaments.
  • 6) Der Vater von dem baͤotischen die Mutter dem trocknen unruhigen Temperamente: so haben die Kinder entweder das Temperament des Vaters das baͤotische, oder das aͤtherische nach dem Temperament der Mutter.
  • 7) Der Vater vom groben Pflegmatischen die Mutter dem Roͤmischmaͤnnlichen (starken Koͤrperbau's, unerschrockenen Gemuͤths:) so sind die Kinder gewiß auch von dem Pfleg -42 matischen oder einer Modifikation desselben.
  • 8) Der Vater[ vom] leicht Pflegmatischen (nicht starken Koͤrperumfang, weicher Umkleidung des Fleisches) die Mutter dem trocknen unruhigen: so sind die Kinder von dem Temperament der Mutter.
  • 9) Vater und Mutter von dem pflegmatischen Temperamente: die Kinder von dem Baͤotischen.
  • 10) Die Mutter von dem pflegmatischen Temperamente: so werden die Kinder nach dem mehr oder weniger hitzigen Blute des Vaters mehr oder weniger von dem Temperament der Mutter.
  • 11) Der Vater von einer Mischung des sanguinischen und baͤotischen Temperaments die Mutter von dem Roͤmischmaͤnnlichen: so folgen die Kinder gemeiniglich dem Temperament der Mutter.
  • 12) Der Vater von dem roͤmischfeurigen: die Kinder von dem roͤmischmaͤnnlichen Temperamente.
  • 13) Der Vater von dem Melancholischen die Mutter dem trocknen Ruhigen: so haben die Kinder (gemeiniglich weiblichen Geschlechts) das Temperament der Mutter.
43

Zur hoͤhern Erfahrungsseelenkunde.

1. Ueber die Schwaͤrmerei.

30

Die Eintheilung einer Wissenschaft in einem gemeinen und hoͤheren Theil z. B. die gemeine und hoͤhere Geometrie, Chemie u.d.g. ist entweder in der Art den Gegenstand dieser Wissenschaft zu betrachten gegruͤndet. Jn dem gemeinen Theil wird er so betrachtet, wie er am leichtesten in die Augen faͤllt. Der auf dieser Art bestimmter Begriff desselben wird in diesem Theil den daraus zuziehenden Folgen zum Grunde gelegt, ohne sich darum zu bekuͤmmern, ob nicht dieser Begriff allgemeiner gefaßt, und also die daraus zuziehenden Folgen nicht blos fuͤr ihn, sondern fuͤr alles was unter ihm begriffen ist, gelten koͤnnen?

Jn dem hoͤheren Theil hingegen wird der Begriff des Gegenstandes in seiner hoͤchsten Allgemeinheit genommen. Der Gegenstand wird nicht blos so betrachtet, wie er in die Augen faͤllt, sondern seiner Entstehungsart nach, und so wie ihn der Verstand denken muß, wenn die groͤßte systemati44 sche Einheit dieser Wissenschaft erhalten werden sollte.

So wird z. B. ein Zirkel der gemeinen Geometrie als eine Linie erklaͤrt, die in allen ihren Theilen von einem gewissen Punkt (dem Mittelpunkt) gleich weit ist. Die aus diesem Begriff zuziehenden Folgen gelten blos fuͤr den Zirkel, nicht aber fuͤr eine andere krumme Linie. Jn der hoͤheren Geometrie aber wird der Zirkel als eine krumme Linie der zweiten Ordnung durch eine allgemeine Gleichung bestimmt. Die aus dieser Gleichung zuziehenden Folgen gelten daher nicht blos fuͤr den Zirkel, sondern fuͤr alle Linien dieser Ordnung; u.d.g. mehr.

Oder diese Eintheilung hat in der Verschiedenheit der Gegenstaͤnde selbst (die aber doch in einem Gattungsbegriff uͤbereinstimmen, wodurch sie zu einer einzigen Wissenschaft gehoͤren) ihren Grund so wie z. B. die Rechnung des Endlichen und des Unendlichen in der Mathematik.

Jn diesen beiden Ruͤcksichten denke ich, kann auch die Erfahrungsseelenkunde in der gemeinen und hoͤheren Erfahrungsseelenkunde eingetheilt werden. Der Gegenstand jener sind die aus der Erfahrung bekannten so genannten niedern Seelenkraͤfte ([Sinne] u.s.w.). [Der Gegenstand dieses] aber, die hoͤheren Seelenkraͤfte (Verstand, Vernunft), ihre Krankheiten und Wiederherstellungsmethoden. Zwar bin ich uͤberzeugt,45 daß die hoͤheren Seelenkraͤfte an sich, unmittelbar keinen Krankheiten unterworfen seyn koͤnnen. Doch kann dieses durch die Krankheiten der niedern Seelenkraͤfte allerdings statt finden.

So aͤussern sich auch die Krankheiten der niedern Seelenkraͤfte in derjenigen Wuͤrkungsart unsers Erkenntnißvermoͤgens die sich auf bestimmte Objekte beziehet (Vorstellungen, Begriffe und Urtheile.) Die Krankheiten der hoͤheren Seelenkraͤfte aber aͤussern sich, wie ich nachher zeigen werde, hauptsaͤchlich in dem Trieb unsers Erkenntnißvermoͤgens das, seiner Natur nach[ Unbestimmbare] zu bestimmen (Jdeen als reelle Objekte[ darzustellen).] Von dieser Art ist z. B. die Schwaͤrmerei.

Die Schwaͤrmerei ist ein Trieb der[ produktiven] Einbildungskraft (das Dichtungsvermoͤgen,) Gegenstaͤnde die der Verstand, nach Erfahrungsgesetzen, fuͤr unbestimmt erklaͤrt, zu bestimmen. *) *) Jch stimme mit Hr.33Kantin der Lehre der Jdeen und den daraus zuziehenden Folgen vollkommen uͤberein. Nur behaupte ich wider diesen großen Philosophen, daß die Jdeen nicht in der Vernunft, sondern in der Einbildungskraft ihren Grund haben. Jch erklaͤre die Vernunft nicht als das Vermoͤgen der Prinzipien, sondern als das Vermoͤgen das Mannigfaltige der Erkenntniß nach Prinzipien zu verbinden. Welche Erklaͤrung mit dem uͤbereinstimmt, was alle Philosophen bis auf34Kantvon der Vernunft behauptet haben, daß sie das Vermoͤgen mittelbar zu urtheilen, oder zu schließen ist. Die Vernunft dringt keinesweges auf Totalitaͤt unserer Verstandserkenntniß. Sie verbindet nur so viel als ihr gegeben wird. Daß wir immer die Vordersaͤtze eines Schlusses wiederum durch Prosyllogismen zu beweisen suchen, ist allerdings wahr. Dieses ist in der Natur unseres Erkenntnißvermoͤgens uͤberhaupt und in dem allgemeinen Trieb nach der hoͤchsten Vollkommenheit gegruͤndet, nicht aber eben in der Natur der Vernunft, sondern, wie ich schon bemerkt habe, der transzendenten Einbildungskraft. Die Lehren von Gott, Unsterblichkeit, und Moral werden auch durch diese Behauptung keinen Abbruch leiden. Nur daß diesen allen nicht (wie nach der35KantischenPhilosophie) die Form der Vernunft, sondern (wie nach der Wolfisch-Leibnizischen) der Trieb nach der hoͤchsten Vollkommenheit, zum Grunde liegen wird.Doch erwarte ich hier uͤber das Urtheil unpartheiischer Denker.

46

So lang als man die Jdeen dieser Art fuͤr nichts anders ausgiebt, als was sie sind, fuͤr Jdeen, die blos zum regulativen Gebrauch unserer Erkenntniß bestimmt sind, ist man kein Schwaͤrmer. Man wird es nur alsdann wenn man die Natur dieser Jdeen verkennt, und reelle Objekte da -47 durch zu bestimmen sucht. Hier ist die Grenzscheidung zwischen Philosophie und Schwaͤrmerei und der Uebergang von jener zu diese. Die[ Methaphysik] uͤberschreitet diese Grenze. Da sie aber ihre Objekte nur durch diese Jdeen bestimmt, und keine diesen widersprechenden Bestimmungen hinzudichtet, so ist sie gleichsam blos der Anfangspunkt der Schwaͤrmerei, aber noch keine Schwaͤrmerei. Aus der subjektiven Einheit des Bewußtseyns eine objektive Einfachheit der Seele, aus der Persoͤnlichkeit in der Erkenntniß, Unsterblichkeit zu demonstriren, ist freilich ein Fehler im Denken. Aber so lange man der Seele (um sie naͤher zu bestimmen) keine diesen widersprechenden Bestimmungen hinzudichtet (das Fluͤgen zum Himmel, das Essen und Trinken im Paradies u.d.g.) ist man noch kein Schwaͤrmer, und so auch in andern Faͤllen.

Jch werde hier so wenig von diesem hohen Ursprung der Schwaͤrmerei, als von der groben Schwaͤrmerei, die nicht in diesen absoluten hohen Trieb des Erkenntnißvermoͤgens, sondern in einem[ komperativ] uͤberspannten Trieb desselben gegruͤndet ist (wenn der Trieb zur Erkenntniß die vorgelegten Data und ihre voͤllige Entwicklung uͤbertrifft) sprechen. Sondern blos von der hoͤheren Schwaͤrmerei, die aus der Natur der Jdeen ihren Ursprung nimmt, und die nicht blos bei der reinen Methaphysik stehen bleibt, sondern sich48 die Gegenstaͤnde derselben durch allerhand Bilder faßlicher zu machen sucht, und dadurch eine unvermeidliche Verwirrung nach sich ziehet. Dieses alles laͤßt sich aber besser durch Beispiele als durch allgemeine Beschreibungen begreiflich machen.

Jch werde daher zu diesem Behuf ein paar Abschnitte aus einem Buche von einem Jtaliener36Jordan Bruno von Nola(nach37Hrn. JakobiUebersetzung) analysiren, das Gruͤndliche vom Schwaͤrmerischen darin gleichsam durch eine chemische Operation absondern, und uͤberlasse es38meinem Freunde und Mitherausgeber dieses Magazins,das zuruͤckgebliebene caput mortuum nach seiner vortreflichen Manier in psychologischen Darstellungen zu beugen.

49

2. Auszug aus39Jordan Bruno von Nola.Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einem.

I. Von der Ursache, in wie fern sie von dem Prinzip verschieden und mit demselben einerley ist. Jdentitaͤt der wuͤrkenden, formellen und idealen Ursache.

» Alles was nicht erstes Prinzip und erste Ursache ist, hat ein Prinzip und eine Ursache. «

Ein Philosoph in Forma, wird hier gleich den Schwaͤrmer zu finden glauben, indem der Verfasser diesen Satz als Grundsatz aufstellt, daß nehmlich alles was nicht erstes Prinzip und erste Ursache ist, ein Prinzip und eine Ursache hat, ohne vorher die darin vorkommenden Begriffe von Prinzip, Ursache, erstes Prinzip, erste Ursache, zu erklaͤren. Aber nach genauer Ueberlegung findet es sich daß der Verfasser hierin ganz recht hat, daß er diese Begriffe und den sich darauf beziehenden Grundsatz so wie sie der gemeine Menschenverstand unentwickelt denkt, voranschickt, und hinterher sie zu entwickeln sucht. Die mathematische Methode schickt sich fuͤr die Philosophie nicht. Die Mathematik konstruirt ihre Begriffe a priori, wodurch50 sie von der einen Seite Realitaͤt (Beziehung auf ein reelles Objekt) von der andern Seite aber durchgaͤngige Bestimmtheit (in Ansehung der daraus zuziehenden Folgen) erhalten. Die Philosophie hingegen legt Begriffe des gemeinen Menschenverstands zum Grund; nachher erst untersucht sie, ob diese Begriffe Realitaͤt (Beziehung auf ein reelles Objekt) haben, oder nicht? Weil der gemeine Menschenverstand nicht selten das blos Subjektive mit dem Objektiven, das Relative mit dem Absoluten, seine eigene Wuͤrkungsart im Denken eines Objekts mit den Merkmalen dieses Objekts selbst zu verwechseln pflegt. Wird die Realitaͤt dieser Begriffe dargethan, muß sie wiederum untersuchen, ob sie auch in Ansehung der daraus[ herzuleitenden] Folgen, durchgaͤngig bestimmt sind, so daß sie nicht mehr oder weniger Merkmale enthalten, als zur Herleitung dieser Folgen erforderlich ist, welches von dem gemeinen Menschenverstand nicht zu erwarten seyn moͤchte. Findet sie diese durchgaͤngige Bestimmtheit nicht, so muß sie selbst dieselbe vornehmen. Das Definiren ist also das letzte Geschaͤft der Philosophie.

» So unlaͤugbar dieser Satz, und so groß die Aussicht auf Erkenntniß von Ursachen und Prinzipien ist, welche wir durch ihn erhalten: so gewiß ist es dennoch, daß wir kaum die naͤchste Ursache und das naͤchste Prinzip der Wuͤrkungen, welche wir wahrnehmen, zu ergruͤnden faͤhig sind, und in51 ihnen von der Ersten Ursache, und dem Ersten Prinzip nur mit aͤusserster Muͤhe Etwas, das man eine zuruͤckgelassene Spur nennen koͤnnte, entdecken. «

Eine zuruͤckgelassene Spur. Dieser Ausdruck ist zwar bildlich, aber dennoch zur Begreiflichmachung der Sache sehr passend. Eine zuruͤckgelassene Spur in eigentlicher Bedeutung ist das zuruͤckgelassene Merkmal von den Fußstapfen eines sich bewegenden lebendigen Wesens, Woran wir erkennen daß es da war, und den von ihm genommenen Weg verfolgen koͤnnen. Erste Ursache und erstes Prinzip bedeutet kein bestimmtes Objekt das wir an sich durch Merkmale erkennen, sondern blos die Forderung der Vernunft bei keiner naͤchsten Ursache stehen zu bleiben, und nach eben dem Gesetz wie wir zur naͤchsten Ursache gelangt sind, von Ursache zu Ursache bis ins Unendliche fortzuschreiten. Ob schon wir auf diese Art zur ersten Ursache niemals gelangen, so verfolgen wir gleichsam den Weg den sie genommen hat, durch dieses Gesetz, als der von ihr zuruͤckgelassenen Spur, mit der groͤßten Sicherheit.

» Wissen wir nur, was wir unter einer ersten Ursache, einem ersten Prinzip verstehen? Was wollen wir uͤberhaupt mit diesen zwey Benennungen? Haben sie im Grunde nur einerley, oder verschiedene Bedeutung? Und ist das letzte; wo liegt der Unterschied?

52

Daß wirklich ein Unterschied vorhanden sey, entdeckt sich bald, obgleich die Verwechselung beyder Ausdruͤcke haͤufig geschieht. Prinzip ist der innerliche Grund eines Dinges, die Quelle seines moͤglichen Daseyns; Ursache, der aͤusserliche Grund desselben, die Quelle seines wirklichen gegenwaͤrtigen Daseyns. Das Prinzip bleibt in der Wuͤrkung, und erhaͤlt die Sache in ihrem Wesen. Jn diesem Verstande sagt man, daß Materie und Form sich mit einander vereinigen, und sich gegenseitig unterstuͤtzen. Die Ursache hingegen ist ausser der Wuͤrkung, und bestimmt das aͤusserliche Daseyn der Dinge, zu welchem sie sich verhaͤlt, wie das Werkzeug zu dem Werke, das Mittel zu dem Zweck. «

Die Erklaͤrung von Prinzip und Ursache und ihre Unterscheidung von einander, wie sie hier vom Verfasser aufgestellt wird, hat mehr das Gepraͤge der Schwaͤrmerei und einer Ahndung als einer gruͤndlichen Einsicht der Wahrheit. So viel ist gewiß, daß Prinzip und Ursache keine leere Worte ohne alle Bedeutung sind, und daß sie in etwas beiden gemeinschaftliches uͤbereinstimmen, aber auch durch besondere Bestimmungen dieses Gemeinschaftlichen unterschieden seyn muͤßten.

Jch will daher diese Begriffe die in der That, in Ansehung ihres Gebrauchs von großer Wichtigkeit sind, zu eroͤrtern suchen.

Ein Objekt uͤberhaupt ist ein jeder Gegenstand des Bewußtseyns, uͤberhaupt (Anschauung, Be -53 griff, Jdee u.s.w. ja selbst das nichts in so fern es Subjekt eines Urtheils seyn kann, z. E. das nichts ist mit sich selbst einerlei u.d.g.) Dieses ist entweder ein Objekt der Wahrnehmung oder ein Objekt des Denkens, und dieses wiederum entweder ein Objekt des blos logischen oder des reellen Denkens. Jenes wiederum entweder ein solches das einem Urtheil zum Grund gelegt wird, oder ein solches das durch ein Urtheil entstehet. Dieses entweder ein Objekt des reellen Denkens a priori oder a posteriori. Jch erklaͤre mich hieruͤber.

Die Wahrnehmung der rothen Farbe an sich, ohne sie als Praͤdikat irgend eines sinnlichen Subjekts zu betrachten, ist ein Objekt der Wahrnehmung. Ding uͤberhaupt ist ein logisches Objekt von der ersten Art. Dieser Begriff wird nicht durch ein Urtheil gedacht, sondern als etwas denkbares an sich, einem Urtheil zum Grunde gelegt (daß es nehmlich nicht zugleich seyn und nichtseyn kann.) Eine suͤße Linie ist ein logisches Objekt der zweiten Art. Linie und suͤß an sich sind zwar reelle Objekte. Das aus ihrer Verknuͤpfung entstehende Objekt (suͤße Linie) aber ist blos ein logisches Objekt, das durch das Urtheil: Eine Linie kann suͤß seyn (das als Praͤdikat gedachte Merkmal der Suͤße widerspricht dem Subjekte, Linie, nicht) entstehet. Ein Dreieck oder der Begriff von Raum in drei Linien eingeschlossen ist ein Objekt des reellen Denkens a priori. Das Praͤdikat (drei Linien)54 wird mit dem Subjekte nicht blos deswegen zusammengedacht, weil es demselben nicht widerspricht, sondern weil es ohne dasselbe nicht gedacht werden kann, indem Linien ohne Raum undenkbar[ sind.] Die Vorstellung des unbestimmten Raumes uͤberhaupt sowohl, als des bestimmten (Linie) wie auch ihre Verknuͤpfung zu einem Objekt hat nicht blos einen logischen sondern einen transzendentalen Grund a priori. Ein Objekt der Natur (ein Mensch, ein Thier, eine Pflanze u.d.g.) ist ein reelles Objekt a posteriori. Seine Merkmale werden uns auf eine bestimmte Art a posteriori gegeben. Sie werden nicht darum zu einem einzigen Objekt verknuͤpft, weil sie ohne einander nicht vorstellbar sind, sondern weil sie ohne einander nicht wirklich sind; da nun dieses einen Grund haben muß, so muͤssen sie ohne einander in einem unendlichen Vorstellungsvermoͤgen nicht vorstellbar, und daher nicht wirklich seyn koͤnnen. Ein unendliches Vorstellungsvermoͤgen denkt z. B. einen Menschen nicht wie ein Endliches, noch, von der einen Seite unvollstaͤndigen, von der andern Seite aber unwesentlichen Merkmalen, sondern so wie wir z. B. ein Dreieck denken.

Diejenige Merkmale eines Objekts der Natur, die, weil sie von keinem Vorstellungsvermoͤgen uͤberhaupt ohne einander vorstellbar sind, von einem unendlichen Vorstellungsvermoͤgen zu einem einzigen55 Objekt verknuͤpft werden, machen das Prinzip dieses Objekts aus.

Eben so wie das wirkliche Koexistiren mehrerer Merkmale eines Objekts in ihrem idealischen Koexistiren im unendlichen Vorstellungsvermoͤgen seinen Grund hat, so muß auch die regelmaͤßige Sukzession verschiedener Objekte aufeinander darin seinen Grund haben, daß diese Objekte von dem unendlichen Vorstellungsvermoͤgen im Verhaͤltniß von Grund und Folge gedacht werden, welches der Grund von der zwischen ihnen bemerkte Kausalitaͤt, d.h. der Folge in der Zeit nach einer Regel ist.

Das Beispiel wodurch der V. den Begriff von Prinzip zu erlaͤutern sucht, ist vielleicht das Einzige in seiner Art. Denn da wir von den Merkmalen eines Objekts der Natur selbst, eine sehr unvollstaͤndige Erkenntniß haben, so koͤnnen wir auch die Nothwendigkeit ihrer Verknuͤpfung durch kein einziges Beispiel von irgend einem bestimmten Objekt darthun (z. B. die nothwendige Verknuͤpfung zwischen Vernunft und dem auf einer gewissen Art organisirten menschlichen Koͤrper.) Dahingegen wir die nothwendige Verknuͤpfung zwischen Materie und Form in einem Objekt der Natur uͤberhaupt wohl einsehen koͤnnen.

» Nachdem wir den Unterschied zwischen Ursache und Prinzip festgesetzt haben, muͤssen wir in Absicht dieser Begriffe selbst das Naͤhere zu bestimmen suchen. «

56

Nachdem der V. die Erklaͤrung von Ursache und Prinzip und ihre Unterscheidung von einander vorausgeschickt hat, will er nun die Eintheilung derselben in verschiedenen Arten, nach verschiedenen Ruͤcksichten, vornehmen.

» Was verstehen wir unter einer ersten wuͤrkenden Ursache; was unter der mit ihr unzertrennlich verknuͤpften Formalen; was endlich unter der Endursache, welche die wuͤrkende in Bewegung setzt? «

Diese viererlei Ursachen sind in einem jeden kuͤnstlichen durch Handlung eines mit Erkenntnißvermoͤgen begabten Wesens offenbar. Ein Haus z. B. setzt erstlich eine materielle Ursache, nehmlich das Daseyn der Materie, woraus das Haus gebaut ist (Holz, Steine u.d.g.) Zweitens eine wuͤrkende Ursache, die physische Kraft, wodurch es hervorgebracht wird. Drittens eine formelle Ursache, ein Erkenntnißvermoͤgen, das sich unter andern die Form des Hauses vorstellt, und letztlich die Endursache, eben dasselbe Erkenntnißvermoͤgen das sich den Zweck der durch das Haus erlangt werden soll (darin zu wohnen) vorstellt, voraus. Jn den Produkten der Natur treffen wir gleichfals Materie, Form und Zweckmaͤßigkeit an. Was sich daraus in Ansehung dieser vier Ursachen schließen laͤßt, soll im Folgenden eroͤrtert werden.

» Was die wuͤrkende Ursache betrifft, so weiß ich von keinem andern allgemein und wirklich thaͤtigen, das ist physisch wuͤrksamen Wesen, als jenem57 allgemeinen Verstand, der ersten und vornehmsten Kraft, der Weltseele, welche sich als die allgemeine Form des Weltalls zu erkennen giebt. Alles ist von dieser Kraft erfuͤllt; sie erleuchtet das Universum; weiset die Natur an, wie sie ihre Werke verrichten soll; und verhaͤlt sich zu der Hervorbringung der natuͤrlichen Dinge, wie die denkende Kraft des Menschen sich zu der Hervorbringung der Begriffe verhaͤlt. Die Pythagoraͤer nannten diesen allgemeinen Verstand den Reger und Beweger des Alls; die Platoniker, in einem ganz aͤhnlichen Sinne, den Werkmeister der Welt; die Magier, den Saamen aller Saamen, weil er die Materie mit der Unendlichkeit ihrer Formen beschwaͤngert. Orpheus nannte ihn das Auge der Welt, weil er alles durchschaut, um den Dingen von innen und von außen Ebenmaaß und Haltung zu ertheilen; Empedokles, den Unterscheider, weil er nie ermuͤdet die verworrenen Gestalten im Schooße der Materie zu sondern, und aus dem Tode neues Leben zu erwecken. Vater und Erzeuger war er dem Plotin, weil er die Saamen auf den Acker der Natur ausstreut, und aus seiner Hand alle Formen zuletzt unmittelbar hervorgehen. Mir erscheint er als ein innerlicher Kuͤnstler, weil er von innen die Materie bildet und gestaltet. Aus dem Jnnern der Wurzel oder des Saamkorns sendet er die Sprosse hervor; aus der Sprosse treibt er die Aeste, aus den Aesten die Zweige, aus den Jnnern der58 Zweige die Knospen. Das zarte Gewebe der Blaͤtter, der Blumen, der Fruͤchte, alles wird innerlich angelegt, zubereitet und vollendet. Und von innen ruft er auch wieder zuruͤck seine Saͤfte aus den Fruͤchten und Blaͤttern zu den Zweigen; aus den Zweigen zu den Aesten; aus den Aesten zu dem Stamm; aus dem Stamme zur Wurzel. Wie hier in der Pflanze, so im Thiere, so in Allem. «

Die Vorstellung von einer Weltseele als ein intelligibiles Wesen das die hoͤchste wuͤrkende Formelle und Endursache aller Objekte der Natur ist, kann in verschiedener Ruͤcksicht als wahr und als falsch erklaͤrt werden. Die Objekte der Natur haben ausser der ihnen gemeinschaftlichen absoluten Materie (materia prima) noch besondere Formen die besondern Zwecken gemaͤß sind, und sich einander wechselseitig bestimmen. Die Form muß schon vor ihrer Verknuͤpfung mit der Materie an sich moͤglich seyn (nach dem bekannten ontologischen Satze: was an sich unmoͤglich ist, ist auch in Verbindung unmoͤglich) d.h. ihre Merkmale muͤssen sich einander nicht widersprechen. Sie setzt also ein denkendes Wesen, das den Grund oder die Vorstellung dieser Moͤglichkeit enthaͤlt, als Ursache, voraus. Sie muß auch in Verbindung mit der Materie moͤglich seyn, sonst ist ihre Moͤglichkeit an sich blos logisch aber nicht reel, d.h. in einem Objekt darstellbar. Sie setzt also nicht blos ein denkendes sondern auch ein erkennendes Wesen als Ursache vor -59 aus. Da aber mehrere Formen zugleich von diesen Wesen als moͤglich erkannt werden, so setzt die wirkliche Verknuͤpfung einer bestimmten Form mit der Materie, (die an sich auch eine andere Form haͤtte annehmen koͤnnen) dieses Wesen auch als wuͤrkende Ursache voraus. Nun aber ist diese Verknuͤpfung nicht nach bloßer Willkuͤhr (die vom Zufalle nicht unterschieden ist) sondern gewissen Zwecken gemaͤß. Dieses setzt dieses Wesen als ein vernuͤnftiges nach Zwecken handelndes Wesen d.h. als Endursache voraus. Wir werden also nach dem bekannten Grundsatz: alles hat seine Ursache, auf die Vorstellung einer absoluten ersten Ursache geleitet.

Da aber die erste Ursache von uns blos durch ihr Verhaͤltniß zu den Objekten der Natur vorgestellt, nicht aber durch innere Merkmale an sich als Objekt dargestellt werden kann, so ist diese Vorstellung nur in so fern wahr, und zur grenzlosen Erweiterung unserer Naturerkenntniß brauchbar, als man sie blos durch ihr Verhaͤltniß zu den Objekten der Natur bestimmt. Bestimmt man sie hingegen mit andern Objekten, worin dieses Verhaͤltniß statt findet, analogisch, durch die, diesen Objekten zukommenden[ Merkmale,] so wird sie antropomorphistisch und folglich falsch.

Hier ist die groͤßte Klippe, woran die Schwaͤrmer, die den Unterschied dieser Vorstellungsarten nicht einsehen, scheitern muͤssen, und wofuͤr sich60 Philosophen nicht genug in Acht nehmen koͤnnen. Jene begnuͤgen sich nicht blos damit die Welt d.h. alle Objekte der Natur als ein verbundenes Ganzes auf eine Ursache uͤberhaupt zu beziehen, sondern sie suchen diese Ursache nach Analogie der menschlichen Seele, als Objekt zu bestimmen. Die[ verschiedenen] Arten die menschliche Seele vorzustellen,[ darbieten] ihnen eben so viele Arten diese Weltseele vorzustellen.

Die Materialisten welche die Existenz der Seele, als Objekt an sich leugnen, und sie blos fuͤr eine Harmonie in der koͤrperlichen Organisation ausgeben, leugnen auch die Existenz dieser Weltseele als Objekt an sich, sie lassen alles auf eine zufaͤllige Art, aus Materie und Bewegung entstehen. Die Form ist nach ihnen nichts anders als eine besondere zufaͤllige koͤrperliche Zusammensetzung. Die beobachtete Zweckmaͤßigkeit gleichfals blos scheinbar, und eine Wuͤrkung des Zufalls. Der Zufall ist also nach ihnen die wuͤrkende, formelle, und Endursache.

Die Jdealisten welche die Existenz ihres Koͤrpers leugnen, und ihn blos fuͤr eine Modifikation ihres Vorstellungsvermoͤgens ausgeben, sind in Absicht des[ Weltalls] Monadisten. Sie leugnen die Existenz der Materie als Objekt an sich, und halten die scheinbare Existenz desselben fuͤr eine Folge von der Einschraͤnkung unserer Erkenntniß. Die wuͤrkende, formelle, und Endursache ist nach ihnen eine unendliche Monade.

61

Die Dualisten welche sowohl die Existenz des Koͤrpers als der Seele an sich annehmen, nehmen auch in Absicht des Weltalls ein unendliches intelligibiles Wesen als wuͤrkende, formelle, und Endursache an. Wie aber dieses intelligibiles Wesen zugleich materielle Ursache (Ursache der Materie) seyn kann? ist freilich schwer durch Analogie begreiflich zu machen. Doch kann uns selbst unser Erkenntnißvermoͤgen in Absicht auf die Objekte der Mathematik einigermaßen die Moͤglichkeit davon begreiflich machen. Raum als die Materie dieser Objekte, wird so gut als alle Verhaͤltnisse im Raume in den Objekten der Mathematik, vom Erkenntnißvermoͤgen selbst hervorgebracht. Wir koͤnnen also problematisch ein intelligibiles Wesen annehmen, das sich zu allen Objekten der Natur uͤberhaupt, wie unser Erkenntnißvermoͤgen zu den Objekten der Mathematik verhaͤlt.

» Diese lebendigen Werke: sollten sie hervorgebracht seyn ohne Verstand und Geist, da unsere leblosen Nachahmungen auf der Oberflaͤche der Materie beides schon erfordern? Wie unendlich muß nicht dieser Kuͤnstler der inwendige Allgegenwaͤrtige, uͤber uns erhaben seyn; Er der nie ausschließend Stoff oder Gegenstaͤnde waͤhlt, sondern unaufhoͤrlich, und in Allem alles wuͤrket. «

Dieses kann nach Leibnizens Monadenlehre und der Harmonie praestabilita auf folgender Art erklaͤrt werden.

62

Das unendliche Vorstellungsvermoͤgen stellt sich alle moͤgliche Dinge aufs deutlichste vor. Da wir nun diesem System zufolge, von keiner andern Substanz eine Vorstellung haben, als von unserm Jch oder Vorstellungsvermoͤgen selbst (denn die koͤrperlichen Substanzen sind diesem Systeme zufolge nur Scheinsubstanzen) so sind alle moͤgliche Dinge als Substanzen nichts anders als alle moͤgliche Vorstellungsvermoͤgen. Diese sind wiederum nichts anders als das unendliche Vorstellungsvermoͤgen auf unendliche Arten eingeschraͤnkt. Dieses unendliche Vorstellungsvermoͤgen stellt also sich selbst auf alle moͤgliche Arten eingeschraͤnkt vor. Die Vorstellungen eines unendlichen Vorstellungsvermoͤgens sind zugleich Darstellungen, d.h. sie erhalten dadurch daß sie Vorstellungen sind Objektive Realitaͤt ausser demselben. Ein jedes Objekt der Natur, d. h. ein jedes als Substanz existirendes Vorstellungsvermoͤgen ist also wie Leibniz sich ausdruͤckt ein Spiegel des Universums, weil es, ob zwar in Ansehung der Jntension, auf eine eingeschraͤnkte Art, das ganze Universum vorstellt. Der Kuͤnstler des Universums wuͤrkt also alles in Allem.

» Wir haben aber dreierlei Verstand zu unterscheiden. Den Goͤttlichen, welcher alles ist; den Verstand des Weltalls, welcher alles hervorbringt; den Verstand der einzelnen Dinge, in welchem alles hervorgebracht wird. Zwey Extreme; und in der Mitte die wahre wuͤrkende, so -63 wohl aͤusserliche als innerliche Ursache. Aeusserliche, weil sie als efficiente Ursache nicht zu den zusammengesetzten und hervorgebrachten Dingen als ein Theil derselben gerechnet werden kann, folglich als ausser ihnen betrachtet werden muß. Jnnerliche, weil sie weder an noch ausser der Materie geschaͤftig, sondern durchaus nur von innen thaͤtig ist. «

Diese Unterscheidung der dreierlei Arten von Verstand oder Vorstellungsvermoͤgen uͤberhaupt, ist ungeachtet der Dunkelheit worin der V. sie einhuͤllet, von großer Wichtigkeit. Es verlohnt also die Muͤhe wenn ich mich hiebei ein wenig aufhalte.

Die menschliche Seele wird mit Recht, in hoͤhern und niedrigern Seelenvermoͤgen eingetheilt. Jene sind die intelligibilen Seelenvermoͤgen, Verstand und Vernunft, die blos die Formen der Erkenntniß, oder die verschiedene Arten das gegebene Mannigfaltige in eine Einheit des Bewußtseyns zu bringen, liefern; Diese sind die Vermoͤgen der Sinnlichkeit; Empfindung, Einbildungskraft. Diese liefern den Stoff, das gegebene Mannigfaltige. Jene verbinden und trennen dieses Mannigfaltige nach Gesetzen der Sinnlichkeit. Die hoͤhern Seelenvermoͤgen sind im hoͤchsten Grade thaͤtig, indem die Verbindung und Trennung der Vorstellungen durch dieselbe ohne Zeit, d.h. in einem beliebigen Zeitpunkt geschieht. Die Vorstellungen selbst folgen aufeinander in der Zeit, das Urtheil uͤber ihr Verhaͤltniß zu einander hingegen muß in64 einem untheilbaren Moment geschehen. Aber sie sind blos in sich thaͤtig, und man kann nicht von ihnen sagen: sie sind auf die Vorstellungen wuͤrkend. Denn wuͤrken heißt, Veraͤnderungen in der Zeit hervorbringen. Die hoͤhere Seelenkraͤfte aber wuͤrken nicht in der Zeit; sie bringen die Formen der Erkenntniß nicht hervor, sondern diese inhaͤriren in ihrem Wesen auf eine nothwendige Art. Die Sinne und die Einbildungskraft muͤssen die Vorstellungen worauf diese Formen angewendet werden sollen, in einer Zeitfolge herschaffen. Die Anwendung der Formen auf dieselbe aber geschieht auf eine nothwendige Art, ohne Zeit.

Die Empfindung verhaͤlt sich blos leidend, indem sie das gegebene Mannigfaltige blos aufnimmt.

Also nur die Einbildungskraft ist in gewisser Ruͤcksicht wuͤrkend, indem sie das gegebene Mannigfaltige (die Vorstellungen) nach ihren eigenen Gesetzen verbindet und trennet.

Auf eben der Art kann von dem unendlichen Vorstellungsvermoͤgen nicht gesagt werden, es wuͤrkt (bringt hervor) alles d.h. seine Vorstellungen, weil diese seinem Wesen nothwendig sind; sondern es ist alles. Das menschliche eingeschraͤnkte Vorstellungsvermoͤgen ist nicht alles was es seyn kann auf einmal, sondern dieses wird in ihm nach und nach hervorgebracht. Die Weltseele als ein Vorstellungsvermoͤgen das zwar alle moͤgliche Vor -65 stellungen wirklich macht. Aber nicht auf einmal, sondern in einer Zeitfolge ist also die wahre wuͤrkende Ursache.

» Jch gehe zu der mit der wuͤrkenden oder efficienten Ursache verknuͤpften formalen uͤber, welche von dem idealen Grund, oder der Endursache nicht wohl getrennet werden kann. Denn eine jede Handlung, welche mit und durch Verstand geschehen soll, setzt ein Vorhaben zum voraus, dem eine Hinsicht auf Etwas zum Grunde liegt. Dieses Etwas ist aber nichts anders, als die Form derjenigen Sache welche zu Stande kommen soll. Jn jenem Verstande also, welcher die Kraft hat, alle Arten der Dinge hervorzubringen, und mit der herrlichsten Kunst das Vermoͤgen der Materie im Wirklichen darzustellen, muͤssen nothwendig alle jene Dinge, nach einem gewissen formalen Grunde, fruͤher schon vorhanden seyn. Eine zwiefache Form muß daher durchaus angenommen werden; einmal diejenige, welche Ursache, aber noch nicht zu Wirklichkeit bestimmende Ursache ist; alsdenn die andere, welche den Gegenstand aus der Materie wirklich jetzt entstehen laͤßt. Der Zweck der wuͤrkenden Ursache, oder die Endursache uͤberhaupt, ist die Vollkommenheit des Universums, welche darin besteht, daß in den verschiedenen Theilen der Materie alle Formen zum wirklichen Daseyn gelangen: und in diesem Zwecke gefaͤllt und ergoͤtzt sich der Verstand so sehr, daß er nie muͤde wird, neue66 Gattungen der Form aus der Materie zu erwecken; welches auch die Meinung des Empedokles gewesen zu seyn scheint. Jch fuͤge noch hinzu, daß wie die wuͤrkende Ursache im Universum allgemein; in jedem Einzelnen aber und seinen Theilen auch besonders gegenwaͤrtig ist: dasselbige in Absicht ihrer Form und ihres Zweckes statt finde. «

Wer mit dem Unterschied zwischen beiderlei Arten, nehmlich der transzendentalen und empyrischen Konstruktion der Objekte der Mathematik nicht unbekannt ist, der wird auch den Unterschied zwischen den beiderlei Arten von Formen, wovon der V. spricht, leicht begreifen.

» Da ich von dem Verstande, als einer Eigenschaft der Weltseele, gezeigt habe, er sey der naͤchste und letzte Hervorbringer aller natuͤrlichen Dinge; so ist damit zugleich bewiesen, daß Form und wuͤrkende Ursache nicht zwei von einander eigentlich verschiedene Dinge, sondern gewissermaßen dieselbige sind: eine Einsicht, welche uns der Erkenntniß der Prinzipien, als des innersten Grundes der Dinge, schon um vieles naͤher fuͤhrt.

Hier muͤssen wir nun gleich eine Frage, welche aus der behaupteten Jdentitaͤt der wuͤrkenden und formellen Ursache entsteht, zu beantworten suchen; diese nehmlich: wie ist es moͤglich, daß ein und dasselbe Wesen, nehmlich die Weltseele, zugleich innerlicher und aͤusserlicher Grund, Prinzip und Ursache seyn koͤnne?

67

Eine Vergleichung wird uns zu der Aufloͤsung verhelfen. Wie ein Bootsmann in seinem Schiffe, so befindet die Seele sich in ihrem Koͤrper. Der Bootsmann, in so fern er mit seinem Schiffe einerlei Bewegung hat, macht einen Theil der ganzen bewegten Masse aus. Betrachten wir ihn aber in so fern er diese Bewegung veraͤndert, so erscheint er als ein Unterschiedenes, fuͤr sich wuͤrkendes Wesen. Desgleichen die Weltseele. Jn so fern sie das Universum durchstroͤmt, nur Ein Leben, nur Eine allgemeine Form ist, kann man sie als einen innerlichen, nehmlich, den formellen Theil des Weltalls betrachten. Jn so fern sie aber alle andere Formen bestimmt, einrichtet, und ihre wechselnden Verhaͤltnisse gebiert, kann sie nicht als ein Theil, nicht als Prinzip betrachtet werden, sondern sie ist Ursache. «

Siehe Anmerkung a).

» Wenn alles belebt, und die Seele eines jeden Dinges seine Form ist, so braucht man das Ganze nur nach der Analogie der Theile zu denken, um bei der Jdentitaͤt der wuͤrkenden, formellen und idealen Ursache keine Schwierigkeit zu finden. Aber wir haben, ich weiß nicht was fuͤr eine Abneigung, die Welt als ein durch und durch lebendiges Wesen anzusehen; da wir uns doch eine Form, die nicht Wuͤrkung, nicht unmittelbarer oder mittelbarer Ausdruck einer Seele waͤre, eben so wenig, als etwas uͤberhaupt ohne Form gedenken koͤnnen. 68Bilden kann allein der Geist. Dinge der Kunst die nur mittelbare Wuͤrkungen des Geistes sind, fuͤr lebendige Formen auszugeben, waͤre freilich abgeschmackt und laͤcherlich. Mein Tisch ist als Tisch, meine Kleidung als Kleidung nicht belebt; Da sie aber ihren Stoff aus der Natur haben, so bestehen sie aus lebendigen Theilen. Kein Ding ist so gering und klein, daß nicht Geist in ihm wohnte; und diese geistige Substanz bedarf nur eines schicklichen Verhaͤltnisses, um sich als Pflanze auszubreiten, oder als Thier zu den Gliedern irgend eines regen Leibes zu gelangen. Daraus aber daß in der Natur alles bis zum kleinsten Theile aus Materie und Form besteht, und nichts unbelebt ist, folget noch keinesweges, daß alles was ist, eine thierische Natur oder ein lebendiges Wesen sey. Nicht alle Dinge, welche Seele haben, sind darum, was wir beseelte Wesen nennen. Aber alle besitzen der Substanz nach Seele und Leben; nur sind nicht alle im wirklichen Genuß des Lebens und der Anwendung der Seele. «

Dieses stimmt mit Leibnizens Monadologie aufs genaueste uͤberein.

» Jch werde auf diese Materie zuruͤckkommen, und dann ausfuͤhrlicher von dem Verstande, dem Geiste, der Seele, dem Leben reden; dem Leben, welches alles durchdringt, in allem ist, alle Materie bewegt, ihren Schooß erfuͤllt, und sich dieselbe unterwirft. Denn die geistige Substanz kann nicht69 von der materiellen uͤberwunden werden; sondern diese wird vielmehr von jener beherrscht.

Principio caelum ae terras camposque liquentes Lucentemque globum lunae, Titaniaque astra Spiritus intus alit, totamque infusa per artus Mens agitat molem,[ magno] se corpore miscet. «

Auch dieses stimmt mit Leibnizens Meinung aufs genaueste uͤberein. Jch will mich daher dabei nicht aufhalten.

» Wenn also Geist, Seele, Leben sich in allen Dingen wieder findet, und, nach Graden, was Wesen hat, davon erfuͤllt ist: so muß dieser Geist auch die wahrhafte Form aller Dinge und ihre Kraft seyn. Dem Wandel und dem Untergange sind allein die aͤusserlichen Formen unterworfen, welche nicht Dinge, sondern von dem Dinge sind; nicht Substanzen sondern Beschaffenheiten und Umstaͤnde derselben.

Morte carent animae, domibus habitantque receptae Omnia mutantur nihil interit. «

Auch nach Leibnitz sind nur die peripathetischen Formen oder Kraͤfte wahre Substanzen. Die aͤussern Formen hingegen sind blos ihre[ Phaͤnomene. ]

70

II. Von dem maternellen Prinzip uͤberhaupt: hernach insbesondere. Von dem materiellen Prinzip als Potenz betrachtet.

» Demokritus und die Epikuraͤer, welche behaupten, was nicht Koͤrper sey, sey nichts, nehmen die Materie als den einzigen Grund der Dinge an und sagen: sie selbst sey die goͤttliche Natur. Auch die Cyrenaiker, Cyniker und Stoiker, halten die Formen fuͤr nichts anders als gewisse zufaͤllige Beschaffenheiten der Materie. Jch selbst habe dieser Meinung lange angehangen, weil ihre Gruͤnde sich weit besser aus der Natur, als die Aristotelischen herleiten und beweisen lassen. Nachdem aber mein Gesichtskreis sich erweitert hatte, und ich nun anfieng, der Sache reiflicher nachzudenken; schien es mir dennoch nothwendig, zwey Arten der Substanz anzunehmen, wovon die eine Form, die andre Materie waͤre. Denn eben so wie eine hoͤchste Kraft angenommen werden muß, woraus das wuͤrksame Vermoͤgen aller andern Kraͤfte fließt; so muß auch ein entsprechendes Subjekt, welches eben so viel leiden, wie jenes wuͤrken kann, schlechterdings angenommen werden. Das Vermoͤgen des Einen ist, zu bestimmen; das Vermoͤgen des Andern, sich bestimmen zu lassen. «

Hier gerathen die[ Methaphysiker] die (aus Gallanterie) der Theologie den Hof machen wollen, ziemlich ins Gedraͤnge. Die Frage ist: wie ist71 die Materie entstanden? Das allervollkommenste Wesen das sie als die hoͤchste Jntelligenz bestimmen, kann blos als wuͤrkende, formelle und Endursache, keinesweges aber als materielle Ursache betrachtet werden. Die Allmacht sagen sie, hat die Materie aus nichts hervorgebracht. Aber der Begriff dieser Allmacht selbst, ist blos problematisch und kann von uns auf keinerlei Weise dargestellt werden. Er hat also keine objektive Realitaͤt. Es ist uns hier nicht blos um die Groͤsse der Wuͤrkung, sondern um die Wuͤrkungsart gelegen. Jch kann mir allerdings eine Kraft von bestimmter Wuͤrkung vorstellen, die groͤßer als jede gegebene Kraft ist, aber nicht eine Kraft als Objekt bestimmen, von deren Wuͤrkung ich nicht (ausser den transzendentalen Begriff von Ursache und Substanz) den mindesten Begriff habe. Leibniz erklaͤrt sich nicht daruͤber geradezu, aber aus seinem System laͤßt sich seine Meinung hieruͤber leicht errathen.

Plato behauptet die Materie ist von dem sie regierenden Geiste unzertrennlich, und folglich gleich ihm ewig. Sie ist der Stoff woraus er alles nach Belieben hervorbringt. Dieser Meinung ist auch der V. zugethan.

Wir koͤnnen uns die Wuͤrkungsart dieser hoͤchsten Jntelligenz nicht anders als eine Konstruktion a priori denken, d.h. so daß nicht blos, wie in einer Konstruktion a posteriori, die Form a priori in einer empyrischen Materie dargestellt,72 sondern selbst schon in einer Materie a priori vorgestellt wird. Doch sind die Wege Gottes von den unsrigen verschieden.

» Wenn man die Materie von der Form absondern will, um sie besonders zu betrachten; so pflegt man von einer Vergleichung mit den Werken der Kunst auszugehen. Auf diese Weise sehen wir die Pythagoraͤer, die Platoniker, und die Peripatetiker verfahren. Das erste beste Handwerk kann hier zum Beispiel dienen. So liegt den Arbeiten des Tischlers, das Holz; den Arbeiten des Schmiedes das Eisen zum Grunde. Jeder bringt aus einem und immer nur demselben, aber seiner Kunst besonders geneigten Stoffe, eine Mannigfaltigkeit verschiedener Dinge hervor, deren Gestalt, Art, Beschaffenheit und Gebrauch zwar nicht aus der Natur und dem Eigenthuͤmlichen des Stoffes hergeleitet werden kann; aber[ welche] doch auch schlechterdings nicht durch die Kunst allein und bloß fuͤr sich bestehen koͤnnten. Eben so verhaͤlt es sich in Absicht der Natur; doch mit dem wichtigen Unterschiede, daß die Kunst eine schon gebildete und mannigfaltige Materie, deren bloße Oberflaͤche sie veraͤndert, aus den Haͤnden der Natur empfaͤngt. Die Natur wuͤrket aus dem Mittelpunkte gleichsam ihres Gegenstandes, einer durchaus formlosen Materie; und dieser subjektive Gegenstand ist nur ein einziger und einfacher, dem sie alle seine Verschie -73 denheiten und Bestimmungen durch die Form erst geben muß.

Aber duͤrfen wir eine solche formlose Materie annehmen, wenn wir sie nirgend finden, und kein Mittel haben, uns von ihrer Realitaͤt zu uͤberzeugen? Wir duͤrfen es keinesweges. Fehlt es uns aber darum an einem Mittel die Farben wahrzunehmen, weil wir nicht das Ohr dazu gebrauchen koͤnnen? Freilich, um das von dem Subjekt der Kunst so ganz verschiedene Subjekt der Natur wahrzunehmen, bedarf es eines andern, als des aͤusserlichen Sinnes: es wird nur durch das Auge der Vernunft erblickt, dem es aber nicht entgehen kann.

Wie sich die Form der Kunst zu der Materie der Kunst verhaͤlt; so verhaͤlt sich, unter der gehoͤrigen Einschraͤnkung, auch die Form der Natur zu der Materie der Natur. Welche unzaͤhlige Menge von Verwandlungen sehen wir nicht die Kunst mit einer einzigen Materie vornehmen! Hier liegt der gefaͤllte rohe Stamm; dort stehet ein ausgeschmuͤckter, mit dem kostbarsten Geraͤthe angefuͤllter Pallast. Aehnliche Verwandlungen zeigt uns die Natur. Was erst Saamen war, wird Gras, hierauf Aehre, alsdann Brodt Nahrungssaft Blut thierischer Saamen ein Embrio ein Mensch ein Leichnam; dann wieder Erde, Stein, oder andere Masse, und so fort. Hier erkennen wir also Etwas, welches sich in alle diese74 Dinge verwandelt, und an sich immer eins und dasselbe bleibt. Es kann also weder Koͤrper seyn, noch zu dem gehoͤren, was wir Eigenschaften, Beschaffenheiten oder Qualitaͤten nennen; denn diese sind veraͤnderlich und gehen von einer natuͤrlichen Form in die andere uͤber: es kann folglich auch nicht koͤrperlich und sinnlich dargethan werden.

Da nun aber, diesem zufolge, alle natuͤrliche Formen aus der Materie hervorgehen, und in dieselbe zuruͤckkehren; so scheint wirklich nichts bestaͤndig, ewig, und des Namens eines Prinzips wuͤrdig zu seyn, als allein die Materie. Die Formen koͤnnen ohne die Materie, die sie aus ihrem Schooße hervorgehen laͤßt, und wieder darin aufnimmt, nicht bestehen; dahingegen die Materie immer dieselbige, und immer eben fruchtbar bleibt. Darum sind nicht wenige, nachdem sie dem Grunde der natuͤrlichen Formen lange nachgedacht hatten, zuletzt auf den Gedanken gerathen, es waͤren diese Formen bloße Zufaͤlligkeiten, Beschaffenheiten und Umstaͤnde der Materie. Der Materie allein muͤsse folglich Realitaͤt, Vollkommenheit und wirkliches Vermoͤgen zugeschrieben werden; keinesweges aber solchen Dingen, welche deutlich zu erkennen geben, daß sie weder Substanz, noch Natur; sondern nur Dinge der Substanz und der Natur sind. Dieser Lehre, welche die Materie zu einem nothwendigen, ewigen und goͤttlichen Prinzip macht, war auch75 der Peripatetische Maure Avikab zugethan, der sie den Gott nennt, in welchem alle Dinge sind. «

Die Materie muß nothwendig als Subjekt und die Form als Praͤdikat betrachtet werden, weil die Form blos in der Materie, diese hingegen auch ohne die Form vorstellbar ist. So wie z. B. in einem Dreieck Raum als Subjekt, und die drei Linien worin es eingeschlossen ist, als Praͤdikat, aber nicht umgekehrt betrachtet werden muß, weil Raum auch an sich ohne Bestimmung der drei Linien, diese aber nicht ohne Raum vorstellbar sind.

» Wirklich muß man in diesen Jrrthum gerathen, wenn man nur eine zufaͤllige Form, eine Form der zweiten Gattung, und nicht jene nothwendige, ewige und erste, welche aller Formen Form und Quelle ist, erkennt, die wir mit den Pythagoraͤern das Leben und die Seele der Welt genannt haben.

Aber diese erste allgemeine Form, und jene erste allgemeine Materie: wie sind sie vereinigt, unzertrennlich; verschieden und dennoch nur Ein Wesen? Dieses Raͤthsel muͤssen wir nun aufzuloͤsen suchen.

Das Prinzip, welches Materie heißt, kann auf zweierlei Weise betrachtet werden. Einmal, als Potenz; hernach, als Subjekt. Wenn wir sie als Potenz betrachten, fallen alle moͤgliche Wesen auf eine gewisse Weise unter ihren Begriff; und die Pythagoraͤer, Platoniker, Stoiker und andere haben sie aus dieser Ursache nicht weniger zu den76 uͤbersinnlichen, als zu den sinnlichen Dingen gerechnet. Wir sehen die Materie nicht ganz so an, wie diese Weltweisen, sondern machen uns von ihr, als Potenz, einen hoͤheren und mehr entwickelten Begriff. «

Hier ist der Ort wo ich mich uͤber die sonst schwankende Begriffe von Materie und Form und ihr Verhaͤltniß sowohl zu einander, als zum Erkenntnißvermoͤgen umstaͤndlich erklaͤren muß.

Dem Sprachgebrauche zufolge ist Materie das mehreren Objekten Gemeinschaftliche, welches in einem jeden auf eine besondere Art bestimmt wird. Form aber die besondere Bestimmung eines jeden, wodurch es ein besonderes von dem Uebrigen verschiedenes Objekt ist. Dieses Gemeinschaftliche wird aber entweder analytisch oder synthetisch gefunden. Jm ersten Fall werden die Objekte in ihren wesentlichen Merkmalen zerlegt, aus diesen werden diejenigen Merkmale, worin sie von einander verschieden sind, abgesondert, und blos das allen Gemeinschaftliche (das sich alsdann von selbst ergiebt) beibehalten. So verfaͤhrt man wenn man z. B. den allen Koͤrpern gemeinschaftlichen Begriff von Koͤrper uͤberhaupt herausbringen will, indem man von den Merkmalen besonderer Koͤrper abstrahirt, und blos[ das] allen Gemeinschaftliche, Ausdehnung und Soliditaͤt beibehaͤlt.

Jm zweiten Falle hingegen nimmt man den umgekehrten Weg. Man faͤngt von dem an sich denk -77 baren an, und macht es durch verschiedene, ihm gleich moͤgliche Bestimmungen, zu ein mehreren Objekten Gemeinschaftliches. Man nimmt z. B. den Begriff von Raum, der schon an sich objektive Realitaͤt hat, und bestimmt ihn auf verschiedene Arten zu verschiedene Objekte (z. B. als Dreieck Zirkel u.d.g.) Das diesen Objekten Gemeinschaftliche, nehmlich der Raum ist hier nicht von denselben abstrahirt, sondern es wird vielmehr denselben vorausgesetzt, ohne welches sie nicht gedacht werden koͤnnen. Jm ersten Falle ist Materie und Form (in Ansehung unserer Erkenntniß) blos zufaͤlligerweise verknuͤpft. Aus[ dem] Begriff der Ausdehnung und Soliditaͤt werden wir nie die synthetische Moͤglichkeit des Goldes z. B. oder der besondern Bestimmung dieses allen Koͤrpern Gemeinschaftliches durch gelbe Farbe u.d.g. herausbringen koͤnnen. Wir erkennen dieselbe blos empyrisch. Jm zweiten Falle hingegen hat die Verknuͤpfung von Materie und Form einen Grund a priori, nehmlich die unmoͤgliche Denkbarkeit der Form an sich ausser ihrer Verknuͤpfung mit der Materie, so daß sie nicht als Subjekt sondern blos als Praͤdikat der Materie gedacht werden kann.

Das was auf den synthetischen Weg gefunden wird, kann auch auf den analytischen Weg gefunden werden; aber nicht immer auch umgekehrt. Man kann z. B. die Vorstellung des Raumes auch dadurch erhalten, daß man von allen moͤglichen ma -78 thematischen Figuren, das wodurch sie sich von einander unterscheiden abstrahirt, und das ihnen Gemeinschaftliche beibehaͤlt. Dahingegen koͤnnen wir nicht das allen Koͤrpern Gemeinschaftliche so bestimmen, daß wir auf den synthetischen Weg daraus alle Koͤrper darstellen koͤnnten.

Doch obschon wir dieses nicht koͤnnen, so muͤssen wir es doch in Beziehung auf ein hoͤheres Erkenntnißvermoͤgen als das unsrige ist, voraussetzen, weil sonst die von uns erkannte regelmaͤßige Verknuͤpfung der allgemeinen Merkmale von Koͤrper uͤberhaupt (Ausdehnung und Soliditaͤt) mit dem[ spezifischen] (gelbe Farbe) im Golde unerklaͤrbar waͤre.

Dieses synthetische Gemeinschaftliche ist also von dem von uns gefundenen analytischen Gemeinschaftlichen (das blos eine Folge von Jenem seyn kann) ganz verschieden. Jenes ist Prinzip (Entstehungsgrund) des Eigentuͤmlichen. Dieses hingegen blos Subjekt; oder Jenes ist das reelle, dieses aber das blos logische Subjekt des Eigenthuͤmlichen. Daß der Tisch viereckigt ist, ist blos zufaͤllig. Tisch und Viereck stehen nicht in einem reellen, sondern in einem blos logischen Verhaͤltniß von Subjekt und Praͤdikat. Daß aber Raum in vier Linien eingeschlossen werden kann, ist wesentlich, weil Raum auch an sich, vier Linien hingegen ohne Raum nicht denkbar sind. Raum und vier Linien stehen nicht in einem blos logischen, sondern auch in einem reellen Verhaͤltniß von Subjekt und79 Praͤdikat. Da aber der Raum, obschon er das Viereck moͤglich macht, dennoch dasselbe nicht hervorbringt, so ist Raum blos das materielle Prinzip des Vierecks, das Erkenntnißvermoͤgen selbst aber das wuͤrkende Prinzip desselben. Diese beide sind aber nothwendig verknuͤpft und koͤnnen nicht ohne einander statt finden. Das Erkenntnißvermoͤgen kann seine Formen nur in eine von[ ihm] unzertrennliche Materie a priori darstellen. So weit glaube ich ist es zur Erlaͤuterung der tiefsinnigen aber aͤusserst dunklen Gedanken des V. hinreichend.

» Gewoͤhnlich theilt man die Potenz, oder das Vermoͤgen, in ein aktives und ein passives ein. Jch lasse den aktiven Modum bei Seite, um bei dem passiven zu bemerken, daß man, um ihn nach der Wahrheit zu betrachten, ihn rein und absolut betrachten muͤsse.

Nun ist es unmoͤglich, irgend einer Sache Daseyn beizumessen, welcher das Vermoͤgen da zu seyn gebraͤche. Letzteres bezieht sich aber so ausdruͤcklich auf den aktiven Modum; daß hieraus sogleich erhellet, wie der eine ohne den andern nicht seyn kann, sondern beide sich einander gegenseitig voraussetzen. Wenn also von jeher ein Vermoͤgen zu wuͤrken, hervorzubringen, zu erschaffen da war, so mußte auch von jeher ein Vermoͤgen bewuͤrkt, hervorgebracht, und erschaffen zu werden da seyn. Der Begriff der Materie, als eines passiven Wesens, auf diese Weise gefaßt, laͤßt sich mit dem Be -80 griffe des hoͤchsten uͤbernatuͤrlichen Prinzips, ohne Bedenken vereinigen, und nicht allein alle Philosophen, sondern auch alle Gottesgelehrte muͤssen ihre Stimme dazu geben. Die vollkommene Moͤglichkeit des Daseyns der Dinge, kann vor ihrem wirklichen Daseyn nicht vorhergehen, und eben so wenig nach demselben uͤberbleiben. «

Die vollkommene Moͤglichkeit ist nicht blos der Mangel eines Widerspruchs die logische conditio sine qua non, sondern der synthetische Grund eines Objekts, das immer ein Daseyn voraussetzt.

» Wenn es eine vollkommene Moͤglichkeit wirklich zu seyn, ohne wirkliches Daseyn gaͤbe, so erschaften die Dinge sich selbst, und waͤren da, ehe sie da waͤren. Das erste und vollkommenste Prinzip fasset alles Daseyn in sich; kann alles seyn, und ist alles. Wenn es nicht Alles seyn koͤnnte, so waͤr 'es auch nicht alles. Thaͤtige Kraft und Potenz, Moͤglichkeit und Wuͤrklichkeit, sind in ihm also ein unzertrennliches und unzertrennbares Eins. Nicht so die andern Dinge, welche seyn und nicht seyn, so oder anders bestimmt werden koͤnnen. Jeder Mensch ist in jedem Augenblicke, was er in diesem Augenblicke seyn kann; aber nicht alles, was er uͤberhaupt und der Substanz nach seyn kann. Was alles ist, was es seyn kann, ist nur ein Einziges, welches in seinem Daseyn alles andere Daseyn begreift. Die uͤbrigen Dinge sind nur was sie sind, und jedesmal seyn koͤnnen, einzeln, besonders, in81 einer gewissen Ordnung und Folge. Also ist ein jedes Vermoͤgen eine Handlung, welche im Prinzip eingewickelt, ungetrennt, die einfache Handlung des Prinzips selbst ist, welche in den Dingen entwickelt, zerstreut und vervielfaͤltiget erscheint. «

Wenn der Begriff eines Dinges so gefaßt wird, daß man den Grund seiner Synthesis einsieht, so hat man die vollkommene Moͤglichkeit oder die objektive Realitaͤt desselben. Diese Moͤglichkeit laͤßt der Wirklichkeit nichts mehr uͤbrig, weil alles andere Hinzugedachte zu dieser Synthesis nicht gehoͤrt. Siehet man hingegen den Grund der Synthesis nicht ein, und verbindet man blos deswegen mehrere Merkmale zu einem Objekt, weil sie sich analytisch nicht widersprechen, so ist die dadurch vorgestellte Moͤglichkeit des Objekts nicht vollkommen, weil man auf diese Art noch immer mehrere Merkmale, die die Erfahrung als mit den Vorigen wirklich verknuͤpft[ darbietet,] hinzufuͤgen muß. Also blos der Mangel einer solchen synthetischen Erkenntniß trennt die Wirklichkeit von der Moͤglichkeit eines Dinges, welche Trennung in Ansehung eines unendlichen Erkenntnißvermoͤgens nicht statt finden kann.

Ein Zirkel z. B. ist durch eine Konstruktion a priori vollkommen moͤglich, d.h. dieser Begriff hat schon vor aller Erfahrung objektive Realitaͤt. Was fehlt also noch zu seiner Wirklichkeit? Etwa daß er nicht mit Dinte aufs Papier gezeichnet ist. 82Aber die schwarze Farbe der Dinte gehoͤrt nicht mit zum Begriff des Zirkels, und kann mit demselben in keiner reellen Synthesis gebraucht werden. Sie stehen blos in einem logischen nicht aber in einem reellen Verhaͤltniß von Subjekt und Praͤdikat, weil sie beide ohne einander vorstellbar sind. Der Zirkel ist also durch seine Moͤglichkeit schon wirklich. Denke ich mir hingegen das Gold. Z.B., so, u.s.w.

» Das Universum, die unerzeugte Natur, ist ebenfalls alles was sie seyn kann in der That und auf Einmal; weil sie alle Materie nebst der ewigen unveraͤnderlichen Form ihrer wechselnden Gestalten in sich faßt: aber in ihren Entwicklungen von Moment zu Moment, ihren besondern Theilen, Beschaffenheiten, einzelnen Wesen, uͤberhaupt ihrer Aeusserlichkeit, ist sie schon nicht mehr was sie ist und seyn kann; sondern nur ein Schatten von dem Bilde des ersten Prinzips, in welchem thaͤtige Kraft und Potenz, Moͤglichkeit und Wirklichkeit Eins und dasselbe sind. Da kein Theil des expliciten Weltalls alles ist, was er seyn kann; wie sollte das aus lauter solchen Theilen bestehende Ganze die Vollkommenheit einer Natur ausdruͤcken, welche alles ist, was sie seyn kann, und nichts seyn kann, was sie nicht ist?

Unserm Verstande ist es unmoͤglich, jenes durchaus und schlechterdings thaͤtige Vermoͤgen, welches zugleich das schlechterdings und durchaus leidende Vermoͤgen ist, zu fassen; wir begreifen weder wie83 Etwas alles seyn kann, noch wie es alles ist; denn unsere ganze Erkenntniß ist nur eine Erkenntniß der Aehnlichkeit und des Verhaͤltnisses, welche bei dem Unermeßlichen, Unvergleichbaren, schlechterdings Einzigen auf keine Weise kann angewandt werden. Wir haben kein Auge weder fuͤr die Hoͤhe dieses Lichts, noch fuͤr die Tiefe dieses Abgrunds; woruͤber die heiligen Buͤcher, indem sie beide aͤusserste Enden zusammenfassen mit Erhabenheit sagen: Tenebrae non obscurabuntur a te. Nox sicut Dies illuminabitur. Sicut tenebrae ejus, ita et lumen ejus. «

Dieses mag als ein Beispiel zur Erlaͤuterung meiner Gedanken von der hoͤheren Schwaͤrmerei hinreichend seyn. Hier siehet man, wie die produktive (dichterische) Einbildungskraft, alle andere Erkenntnißkraͤfte zur Wuͤrksamkeit uͤber die Grenzen ihres Vermoͤgens anspornt. Die Natureinheit die der Verstand erkennt, schaft sie zur hoͤchsten Natureinheit, die sie nachher in der hoͤchsten Einheit der Prinzipien idealisirt. Das Erkenntnißvermoͤgen erhebt sich bestaͤndig uͤber sich selbst, und faͤllt wiederum in seinen vorigen Zustand zuruͤck. Daher die Verworrenheit im Vortrage der Gedanken, und das Bildliche im Ausdrucke. Daher das Bestreben die Gedanken auf verschiedene Arten darzustellen, und die Vermaͤngung des Dichterischen mit dem Philosophischen.

84

Der grobe Schwaͤrmer verraͤth einen Mangel des Erkenntnißvermoͤgens, nicht die Jdee von der hoͤchsten Vollkommenheit des Gegenstandes an sich, sondern die dunkel wahrgenommene Beziehung desselben auf den Zustand seiner Empfindung spornet ihn zu Untersuchungen uͤber denselben an. Der kalte, schulgerechte Philosoph verraͤth zwar keinen Mangel des sich auf bestimmte Objekte beziehenden Erkenntnißvermoͤgens, aber doch einen Mangel an Genie. Der Schwaͤrmer von der hoͤheren Art ist ein Genie. Er findet in der schulgerechten Erkenntniß des Philosophen Spuren einer hoͤheren Erkenntniß. Diese bestrebt er sich, ob zwar auf eine unvollkommene Art, darzustellen. Da nun diese Spuren viel tiefer im Erkenntnißvermoͤgen liegen als jede bestimmte Erkenntniß, so ist es kein Wunder, wenn er zuweilen diese jenen aufopfert, und nach Leitung des Genies auf unbekannte Wege herumwandelt.

40S. Maimon.

85

3. Fragmente aus dem Tagebuche Weilers.

41

Sie liebt mich gewiß, gewiß! Warum sollte auch mir ein Geschoͤpf in der Welt Liebe luͤgen? Aber was ist das, daß ich doch nicht so recht in dieser Ueberzeugung ruhig bin? Was will ich von ihr? Freilich hat sie einen Geist zur Jntrigue der mir sonst sehr willkommen gewesen waͤre und jetzt! Warum kann man nicht immer derselbe seyn? Und wie koͤnnte sie, auf der andern Seite mir das seyn, was sie ist, ohne diesen Geist? Wuͤrde sie es denn wagen mich Naͤchte durch in ihrem Schlafzimmer zu haben, wo ihre beiden kleinen Geschwister schlafen, indessen wir am Tisch sitzen und lesen und kuͤssen? Aber das sollte sie nur mir seyn? Ha Teufel! da sitzts. Jch liebe sie unaussprechlich, und wenn es moͤglich ist, daß ich noch einst zu einer ruhigen buͤrgerlichen Gluͤckseligkeit gelange, so muß Sie mein Weib seyn. Ja! und mein Weib eben muß auch faͤhig seyn, so wie ich, der Konvenienz und aller Zucht und Sitte einen Seitenstoß zu geben um der Liebe willen. Aber gleichwohl bin ich nicht toll? nur mir, nur mir!

Jetzt uͤberfaͤllt mich der Gedanke, daß Sie mir vielleicht nicht beschieden waͤre, mit einer Angst,86 wovor ich mich nicht zu retten weiß. Neulich trieb mirs Thraͤnen in die Augen, ich mußte niederfallen. Gieb mir Sie, du Unbegreiflicher, sagt 'ich, vor[ dem] allein mein Geist sich beugt! Gieb mir Sie endlich endlich nur, nach allen ausgepruͤften Quaalen, Sie! Jch gelobte bis dahin nie nach dem letzten Genuß der Liebe zu streben. Du kennst mich, sagt' ich, mehr Tugend hab 'ich nicht, wenn vor dir Entbehrung Tugend ist, mehr hab' ich nicht, als um Sie allen Freuden des Lebens abzusagen, um sie mich auf dies Endlich meines Lebens aufzusparen, zu schmachten und zu kaͤmpfen.

Kann ich mit Gott anders reden als ich denke und empfinde, wenn ich nicht rasen, wenn ich die Wuͤrkung des Gebets Vertrauen und neuen Muth an mir erfahren will? Soll ich dem Allwissenden mehr versprechen als ich zu halten weiß? Und doch koͤmmt dies Wesen: reine Tugend, immer wieder hervor. Jch will schwoͤren, daß ich nicht weiß, was das ist: reine Tugend, und doch ist mirs immer als muͤßt 'ich ein ewiger harmvoller Zweifler bleiben, ohne sie, als wolle man mir nicht eher, auch nur Gehoͤr, geben, bis ich mit ihr bekannt in ihrem Namen bitten koͤnnte. Wunderbares Chaos in mir! Welches Schoͤpfer-Wort wird all das ordnen? Jch muͤßte auch[ Ludwinen] wegdenken koͤnnen, und denn doch gluͤcklich zu seyn begehren koͤnnen! Ach Mensch! das, worauf du so stolz bist, was dich so zum Ty -87 rannen der Dinge macht, Deine Menschheit, giebt dir hienieden nur das Recht, auf eine ganz eigene Art ungluͤcklich zu seyn. Du bist keine fuͤr sich bestehende Gattung, nur ein zweideutiger, in[ ewigem] raͤthselhaften Streit befangener Uebergang, der bald auf diese bald auf jene Seite von unbekannten Kraͤften, wie von einem boͤsen Zauberer, getrieben, steter Unruhe, steter Zweifel,[ fluͤchtiger], eilender Raub ist. Ahndung, aͤhnlich goͤttlicher Vernunft, hebt dich bald hinan zu deiner Vollendung, bald stuͤrzest du dich wieder hinab in deine thierische Masse, die wie ein giftiger Zusatz, sprudelt und gaͤhrt, und alles, was gut und edel ist in Dir, verzehrt.

Ja meine Forderungen an Sie sind seltsam! Sie soll frei denken, verbuhlt seyn, kokett, und doch treu, mir treu, all das nur mir! Ach ich fuͤrchte Sie erfuͤllt meine erste Forderung ganz, und sagt meine kalte richtige Vernunft, und folglich die letzte gar nicht, und daß Sie das so kalt und richtig sagen darf, macht mich rasend.

Gestern als wir, uns wechselseitig umschlungen, da saßen, und ich ihr im Yorick vorlas, und einmal im Affekt ein wenig lauter ward als gewoͤhnlich, erwachte Jhr juͤngerer Bruder, und richtete sich in die Hoͤhe. Ohne sich zu bedenken warf Sie ganz gelassen einen Mantel um mich, und blieb ruhig wie zuvor. Er wird mich doch nicht erkannt haben? sagt 'ich, als er wieder eingeschlafen war. O nein,88 antwortete Sie, er haͤlt Dich fuͤr die Anne, die zuweilen noch spaͤt dasitzt und neht. Neulich erzaͤhlt' er zwar bei Tisch, es waͤre ein Dieb in der Stube gewesen, und haͤtte die[ Ludwine] wollen todt machen, und da meint 'er Dich, Du Kuͤßdieb, man lachte aber uͤber seine Traͤume, und nun mag er erzaͤhlen, was er will, sag' ich: er hat getraͤumt.

Aber wenn Deine Mutter denn doch einmal aufmerksam wuͤrde?

Meinst Du[ Sie hoͤre] die Kinder an? Mit Jhr darf keins ohne besondere Erlaubniß sprechen.

Aber, gesetzt nun, Sie belauschte uns einmal, Himmel! uͤberraschte uns?

Hm! Vorm Ueberraschen sind wir sicher, die Thuͤr ist verriegelt, und koͤmmt Sie herein nun so wirst Du Dir ja wohl ein Viertelstuͤndchen einen unbequemen Aufenthalt gefallen lassen? fuͤr das uͤbrige sorg 'ich denn.

Jch saß da, und sah lange gerade vor mich hinaus, bis Sie mich erinnerte, weiter zu lesen. Himmel! wenn Sie all das um meinetwillen waͤre, mit alle dem Mein, nur mein! Jch zittere die Worte auszusprechen: wer darf das erwarten? Und doch Ach Himmel hilf mir!

Jch lebe und denke und bin nur in ihr, aber gluͤcklich ist darum meine Existenz immer nicht. O89 diese[ Variete,] dies Gefuͤhl, diese Schwaͤrmerei, und dann diese entzuͤckende Koketterie, die Sie mir so begehrenswerth macht, ist mir eine Quelle ewiger Unruhe.

Gestern schlugs 12 Uhr als ich bei Jhr war. Nun laß uns einmal, sagte Sie, von heute bis morgen kuͤssen! Und so hieng ich, bis alle Schlaͤge geschehen waren, in einem Kuß an ihr. Ach! die Begierde wollte mir die Kehle zuschnuͤren, und noch treibt die Jdee, von heute bis morgen Sie kuͤssen, Sie genießen, das Blut wie Feuer durch meine Adern. O Maͤdchen! Maͤdchen!

Jch konnte diese Nacht nicht schlafen, es ward mir so heiß, so ungeduldig im Bett, ich stand also, es mochte etwa 2 Uhr seyn, auf und gieng in das Bad, und kuͤhlte mich ab, und schwamm mich muͤde in[ dem] Fluß, darauf erstieg ich den Elsberg, und legte mich da unter einen duftenden Nußbaum, der Laͤnge lang ins Gras, wo ich bald suͤß einschlief. Es daͤmmerte kaum ein wenig, als ich mich hinlegte, und als ich erwachte, mit dem herrlichen Wohlseyn das einem das Flußbad und die Bergluft giebt Gott! wer das sagen koͤnnte! Eben gieng die Sonne auf. Jeder Ausdruck ist da Stuͤmper Pinselei. Aus mir riefs laut: Lobt den Herrn! und so sang ich das ganze hohe Lied nach der herr -90 lichen Rollischen Melodie. Jch haͤtte nur noch Loͤwen und aller Thiere frolockend Gebruͤll da um mich haben moͤgen, und so im vollen Chor hinauf jubeln: Lobt den Herrn! So war Adams erstes Erwachen! O Vater! warum duͤrfen wir nicht immer so an dem Busen der Natur liegen, und deine Herrlichkeit einschluͤrfen, und im Genuß unsrer Menschheit gluͤcklich seyn? Es war eine selige, selige Stunde meines Lebens. Jch fuͤhlte, daß mein Herz noch des Gluͤcks der Unschuld faͤhig sey. Thoren, die wir sind, sagt 'ich, keiner ist, der nicht in seinem Herzen die Tugend ehren muͤsse, auch in seiner[ schmerzendsten] Stunde, keiner der nicht fuͤhlt: Das ist Tugend und dies Laster, so gut wie das Schoͤne und das Haͤßliche, und doch thun wir als sey Sie uns wildfremd, weil unsere Vernunft ihr Wesen nicht begreift, so wenig, wie das Gesetz der Schoͤnheit, verhaͤrten uns gegen Sie, als sey Sie unsere Feindin, und setzen Jhr elende Chikanen des Verstandes entgegen, indessen Sie ganz allein auf unser Herz Anspruͤche macht. Nein! Nein dieses Gefuͤhl, das sich jetzt so selig uͤber mich ergießt, will ich heilig bewahren, und wenn meine berauschte Sinne mir es rauben wollen, dann will ich diese Stunde meiner Seele zuruͤckrufen, und hier die Wahrheit wieder finden. Gott! und wenn Sie mich liebt, dann soll Sie auf diesem Wege zur stillen kindlichen Gluͤckseligkeit meine Gefaͤhrtin seyn. Jch will zu Jhr sprechen91 mit dem Ausdruck all meiner Liebe, jener Liebe, die jetzt, wo all das geschwunden ist, was mich so oft in einem Wirbel von Sinnengeluͤste umtrieb, noch jenen Stempel der Gottheit, jene allruͤhrende Schoͤnheit, die Schwester der Tugend, in ihr erkannt, und nach inniger Vereinigung, dem ewigen Trieb der Geister gegen einander, strebt. Jch will[ den] Adel ihrer Seele wecken, jene Einfalt und Hoheit, die Jhr so eigen ist, zum moralischen Gefuͤhl in ihr erhoͤhen. Jch will Jhre Knie umfassen und Sie bitten, der Engel meines Lebens zu seyn, mit mir, Hand in Hand, den heitern Unschuldsweg zu wandeln, mit Jhr vereint mich bestreben, gut zu seyn. Mit Jhr? Welch' eine Seligkeit! Und welch suͤßer Lohn wartet unser, wenn wir ausgedauert haben in fester Treue. Gott! Laß mir diese Seligkeit, laß mich Sie verringen!

Heute werd 'ich wieder bei Jhr seyn, o wie klopft mein Herz, Jhr all das mitzutheilen! Ludwine! O sieh! Es ist kein Falsch in mir! Um meiner Liebe willen, Ludwine, die fuͤr Dich alles leiden alles dulden, alles unternehmen will, die gern fuͤr Dich starb, wenn Du Jhr nur noch in der letzten Zuckung des Todes laͤcheltest, Ludwine, o sey mir gut! Sey mir treu!

92

Heute kann Sie mich nicht sehen, schreibt Sie o das ist entsetzlich hart! Warum nun gerade heute nicht? Es ist doch rasend! Und morgen auch nicht; denn Jhre Mutter wird morgen eben so wenig in ihrem frisch angestrichenen Zimmer schlafen. Jch moͤchte zerspringen und kann mich nicht mittheilen. Schreiben? Ach was sind todte Buchstaben! und uͤberhaupt hass 'ich die Briefe, sie verriethen mich schon einmal schaͤndlich.

Nein es ist unbegreiflich! [Just] heute kann Sie mich nicht sehen! Was tritt da fuͤr ein Damm zwischen uns? Aber ich will ausharren, warlich ich will!

Jch bin unterdessen wieder beim Hofrath Engel gewesen, er war allein, und freute sich, daß ich kam. Jch sagte ihm, daß ich entschlossen sey, meine mathematischen und kameralistischen Wissenschaften fortzusetzen, und uͤberhaupt einen Plan meines Lebens gemacht habe, der vielleicht seinen Beifall erhalten wuͤrde. Nur, sagt 'ich, wissen Sie, wo mir es fehlt. Jch habe wenig oder gar kein Geld von Haus zu erwarten, wuͤßten Sie fuͤr diesen Umstand ein Auskunftsmittel, so waͤr' es moͤglich, daß ich noch einst ein gluͤcklicher Buͤrger werden koͤnnte. Er sprang voller Freude auf und93 kuͤßte mich, und seine Augen waren feucht, sagte, daß er oft an mich gedacht, daß es ihn oft bekuͤmmert habe, daß meine Talente so in Unmuth hinsterben sollten, und heute besonders sey ich ihm nicht aus dem Sinn gekommen.

Er that darauf Vorschlaͤge, wie er mich wieder mit meinen Verwandten aussoͤhnen wolle, die ich aber alle verwarf. Nein, es ist mir nicht moͤglich von diesen Menschen Wohlthaten anzunehmen! Er schien das zu begreifen Wissen Sie was? sagt er, wollen Sie uͤbersetzen, so will ich Jhnen einen Verleger schaffen, und ich steh 'Jhnen fuͤr eine ziemliche Einnahme. Er erzaͤhlte mir dann, daß er von einem Leipziger Buchhaͤndler Auftrag erhalten habe, einige Jtalienische Werke zu uͤbersetzen, der[ ihm] fuͤr den Bogen zwei Thaler geboten habe. Er koͤnne diese Arbeit wegen seiner andern Geschaͤfte nicht wohl uͤbernehmen, und da ich ohne dies der Jtalienischen Sprache noch maͤchtiger sey, als er selbst, so wisse er mir gar keinen bessern Vorschlag zu thun.

Jch sagte mit Freuden Ja! und er freute sich fast kindisch, daß er mir helfen konnte.

Guter Gott! Nun bin ich ja wieder ganz ganz gluͤcklich! Welch ein suͤßer Friede in meiner Brust! Nun will ich arbeiten und nichts mehr hoͤren und sehen und wissen als meine Arbeit und meine Wissenschaften, und meine Erholung, meine Freude ist Sie dann, und nur Sie. Was94 bedarf ich jetzt noch! Jch bin uͤberschwenglich gluͤcklich. Oft wenn ich so vor mir hinsehe, so treten mir Thraͤnen in die Augen, ohne daß ich sagen kann warum? und meine Haͤnde falten sich unwillkuͤhrlich. Jn meinem kleinen netten Stuͤbchen mit meinen Buͤchern allein, von niemand getrennt noch gestoͤrt, verdien 'ich mir mit Seelenruhe ehrlich mein Brod, und sammle mir Kenntnisse, die mich einst, guter Gott! die mich einst wuͤrdig machen, um ihre Hand zu werben; und Abends, wenn ich mich muͤde geschrieben und gelesen habe, wenn nun mein Herz auch Nahrung heischt, dann schleich' ich zu Jhr, zu meiner meiner Ludwine, die mir einen Himmel in die Brust kuͤßt, und schlafe dann ruhig in sanfter seliger Fantasie ein, bis mich ein neuer gluͤcklicher Tag weckt. Ach Gott! Laß mir das alles! Laß mich nicht wieder sinken mein Vater!

O ich muß hinaus ins Freie! Hier erstickt mich das Gefuͤhl meiner Seligkeit.

Ja! es ist mir ganz wohl. Jch fuͤhle daß ich lebe, alle meine Kraͤfte sind in Thaͤtigkeit, und gewaͤhren mir Freude an mir selbst und inniges Wohlseyn. Auch sonderbar! seit gestern faͤngt mir meine Vergangenheit wieder an lieb zu werden. W*** und G*** Orte wo ich95 freilich ruhig nie war, aber doch manchen Freudenrausch, so wie manche herbe Stunde verlebte, stellten sich bisher meiner Fantasie immer nur im Nebel dar, ich konnte sie mir nicht anders als im Winter denken. Jetzt erscheinen Sie mir wieder im lieblichen sanften Lichte. Jch denke gern an alle die einzelnen Plaͤtze zuruͤck wo ich war, und, einerlei, ob ich damals eben gluͤcklich war oder nicht, in meiner Ruͤckerinnerung ist nun alles lieb und schoͤn, alles wehmuͤthig wohlthuendes Denkmal. Wie wahr! was irgendwo*)*) Lebensl. in aufst. Linie 1. Th. 236. 6. Anm. d. Herausg. steht: Den Liebenden ist alles besser wie zuvor, Sie sehen alles in den besten Jahreszeiten, alles im Junius.

Ha! Nun war ich ja bei Jhr! Warum sagt 'ich dann nichts von all den schoͤnen Sachen, die ich mir ausgedacht hatte? O gestehe dies nur, armseliger Tropf, weil sie ein duͤnnes weißes Neglige anhatte, Du alle Jhre Reize warm und lebendig mit deinen Armen umfangen fuͤhltest, Du nichts mehr sahst als diese regen quellenden Schenkel, um die ein duͤnnes Roͤckchen schmeichelnd floß, als diesen Busen der sich oͤfnete, um zwischen den96 weißen Huͤgeln, die eine Schwindeltiefe von Wollust errathen zu lassen, weil Jhr Kuß, Jhr himmelwaͤrts hinsterbendes Auge Dich an das letzte Entseelen der Wonne erinnerte, weil Du schon Plane machtest die jenes Gespraͤch wuͤrden zerstoͤrt haben, weil Du befuͤrchtetest Dich bei dem muthwilligen schaͤkernden[ liebefordernden] Maͤdchen laͤcherlich zu machen. Ja das wars, Elender! Freilich schickte Sie Dich diesmal bald fort, aber waren Deine Vorsaͤtze nicht schon rein geschwunden? Wuͤrdest Du das Wort Tugend haben vor Jhr aussprechen koͤnnen? O warlich nicht! Ein Antrag ganz anderer Art brannte aus Deinen Augen, dehnte Deinen Arm so begehrlich um ihre runden Huͤften herum. Schien Sie nicht eben deswegen Dich wegzuschicken, weil Sie etwas Entehrendes in Deinen langen schwebenden Seufzern ahndete! O Himmel! Aber was ist Sie auch fuͤr ein Maͤdchen? Jhren Reiz und ihre Koketterie beschreibt kein Ausdruck. Das ist mehr als ich tragen kann.

Und doch wollt 'ich immer noch anfangen, doch glaub' ich immer noch, daß ich Sie blos zu fruͤh verlassen mußte. Jch haͤtte doch einen Eingang machen muͤssen, und der wollte sich immer gar nicht finden.

Ach ich bin schon wieder viel schlechter, viel unruhiger und wilder geworden!

97

Das Naͤchstemal? Ja! und wenn Sie nun das Naͤchstemal wieder so waͤre? wuͤrd 'ichs dann wagen koͤnnen Jhr so Etwas zu sagen, was nothwendig einen Tadel eben Jhres augenblicklichen Betragens enthalten muß, das doch so lieb ist? was Sie beleidigen wuͤrde, mich von ihr entfernen verstecken! Himmel wie koͤnnt' ich das ertragen!

Und doch ja, noch einmal will ichs versuchen, will ein fester unerschuͤtterlicher Mann seyn. Aber vorher muß ich mich erst besser auf alle denkbare Faͤlle vorbereiten, und, vor allen Dingen Sie schlechterdings nicht vorher umarmen und kuͤssen. Dazu ist meine Tugend noch zu neu und weich. An wen Sie wohl schreiben wollte? so in der Nacht! Jch haͤtte fragen sollen, und, in der That schien Sie blos meine Frage zu erwarten, aber, der Teufel weiß, ich war so von mir, so verbluͤft! Sie sagte, dies sey allemal Jhr Brieftag; also eine ordentliche Korrespondenz? Neue Unruhen! Wenn Sie nun noch immer an[ den] schrieb, dessen Briefe der Herr von B** in Haͤnden gehabt hat! Ach daß ich mir nicht treu blieb, ihr nicht sagte was ich wollte! Jetzt waͤr 'ich wenigstens im Reinen. Nun sitz' ich da und schlage mich mit tausend Grillen herum. Ach Maͤdchen, warum bist Du nun gerade so, um zu entzuͤcken und zu quaͤlen?

98

Verlobt! Nein! Nein! Nein! Das ist eine infame Luͤge. Sie kann nicht verlobt seyn, das ist so ein gewoͤhnliches Altweibergewaͤsch. Sie kann ihn ja wohl gekannt, auch wohl geliebt haben, aber seine Verlobte? Nein, das wird sie nicht seyn, das kann sie nicht seyn! Nein, Teufel, Nein! Wie koͤnnte sie mich so heiß kuͤssen, sich mir so hingeben? Was haͤtte sie mit mir vor? Und doch sagt 'er nicht auch, ihre Mutter wisse darum, und sie wechselten noch immer Briefe? Wenn es nicht wahr ist, so helfe Dir Gott, Schwaͤtzer!

Es ist um rasend zu werden, blos um mich zu unterhalten, weil er sieht, daß mich sein Besuch und seine tausend und eine Stadtneuigkeiten immer mehr erschlaffen, daß ich vor Gaͤhnen mich nicht mehr zu lassen weiß, faͤngt er vom Rath und der Raͤthin und von Jhr ein trostloses Geschwaͤtz an, und wuͤrde mich toll geplaudert haben, wenn ich nicht mit Gewalt abgebrochen haͤtte.

Jst man nicht ein Sklav, daß man sich solche unertraͤgliche Besuche muß gefallen lassen? Einen Dieb der mir mein Geld stielt, darf ich, nach Befinden auf der That umbringen, und wenns solch '[einem] Distelkopfe einfaͤllt, mir alles, was mir fuͤr den Augenblick schaͤtzbar ist, meine Zeit und meine99 gute Laune zu rauben, so muß ich dabey sitzen und still halten! Die Leute muͤssen sehr verlegen seyn wie sie ihre Zeit unterbringen wollen. Jch wuͤßte nicht, wie mirs einfallen koͤnnte, einen Menschen, den ich einmal am dritten Orte gesehn haͤtte, nun gleich zu besuchen. Aber koͤmmst Du mir nur wieder in den Wurf, ich will Dir das Besuchen wohl abgewoͤhnen, verdammter Schwaͤtzer, der mich um all meinen Frieden geschwaͤtzt hat! Wissen muß ich was an der Sache ist, es gehe dann wie es will! Und Nein! so entsetzlich luͤgen wird sie nicht, wenn ich sie frage. Was koͤnnte sie davon haben? Nein sie wird nicht so entsetzlich luͤgen.

Alles ist aus und ich bin verloren! Gute Nacht auf ewig aller Friede meiner Seele! O eine Legion Teufel wohnen wieder in meiner Brust! Nein, es ist unmoͤglich, ich kann dies Leben nicht ertragen! Nur in dem Gedanken liegt mir noch Beruhigung, daß ich es abschuͤtteln kann und will. Was soll ich hier? Jch bin ein Fremdling den alles anfeindet haͤmisch teuflisch! Nicht die Menschen o! da handelt am Ende ein jeder nach seiner Konvenienz, was koͤnnen Sie dazu daß ich just uͤberzaͤhlig bin, nirgends hin passe? 100 Hm! Man erzaͤhlt von einem Kaiser, der ein majestaͤtisches Vergnuͤgen daran fand, arme Leute auszuhungern, die er dann mit einemmale an eine, mit koͤstlichen Gerichten besetzte Tafel fuͤhren ließ. Reizende Geruͤche von allerley Speisen dufteten in ihre Nasen, ihre Eßlust stieg aufs hoͤchste, sie fielen heißhungrig uͤber die Speisen her, und fanden sie kuͤnstlich von Gyps gebildet. Der kaiserliche Teufel lachte, und fand den Spas allerliebst, und die Bettler fielen ohnmaͤchtig zu Boden, und das Lustspiel war aus. O ihr Leute! hattet ihr denn nicht mehr Tugend, als das Leben aus lauter Appetit zu verlieren? Arme Schufte! Es war ja nur zum Spas.

Wer nur mitlachen koͤnnte! Jch denke mir so eine Laune als moͤglich. Wenn ich noch einen wuͤßte mit dem das Schicksal auch so, wie die Katze mit der Maus gespielt haͤtte, ich wollte mich und ihn todt lachen!

O Jhr mach 'ich ja keine Vorwuͤrfe: was weiß sie davon, was in mir vorgeht? sie lebt ihren Grundsaͤtzen treu, Grundsaͤtze die ich ja schon so lange bei einem weiblichen Wesen gesucht habe, und jetzt machen sie mich sinnlos.

Jch stand wie einer, neben dem der Blitz eingeschlagen hat lange war ich keiner Silbe faͤhig endlich kam das Bange: Du hast einen Verlobten, und mich liebtest Du nicht? zitternd hervor. O ja, sagte sie, ich liebe dich, und101 jeden braven Burschen der hier Sie zeugte aufs Herz, wohl beschaffen ist, der mit mir schwaͤrmen, und lachen und empfinden kann.

Und Dein Verlobter? Jch muß ausgesehen haben wie ein Esel, als ich dies sagte, denn sie konnte ein Laͤcheln, das mir ungefaͤhr das sagte, nicht unterdruͤcken.

Mein Verlobter, versichr 'ich dich, hat kein Aederchen von Eifersucht. Zum Beispiel, ich hab' ihm dich sehr empfohlen, und ich wuͤnsche, daß ihr euch kennet und gute Freunde werden moͤget. Er ist lauter leichtes gutes Blut, das keine boͤse Laune zulaͤßt. Denn, Lieber, es ist eine pure Laune, ein verderblicher Eigensinn, die Eifersucht.

Also von Treue weißt du gar gar nichts? fragt 'ich fast boshaft wie ein Kind.

Pfui, du mußt mich nicht so ausfragen! Mit einem Worte: Jch versprach ihm, nie mich einem andern zu verloben, und das will ich ihm treu halten. Dagegen macht 'ich Verbannung aller Eifersucht zur Bedingung unsers Bundes. Sollt' es ihm einfallen boͤse Launen zu bekommen, so sind wir geschieden Was starrst du so?

O Maͤdchen! Du hast vielleicht recht, aber ich bin schrecklich elend!

102

Jhr seyd wunderliche Geschoͤpfe, ihr Maͤnner, daß es euch so um unsere Freiheit zu thun ist. Sey kein Thor! Wenn es dich beruhigen kann, so wisse, daß ich dich vielleicht noch mehr liebe als ihn, daß ich vielleicht nie heyrathen wuͤrde, wenn [ Erlaß] mir doch eine Beichte, und komm her und kuͤß mich!

Sie strich mir die Haare von der Stirn, und laͤchelte mir ins Gesicht. Jch kuͤßte Sie, aber ich zitterte, wie einer, den das Fieber schuͤttelt. Leb wohl, sagt 'ich, Deine Lebensweisheit hat ihre schwere Saͤtze, laß mir Zeit dich erst zu begreifen. Leb wohl!

Komm bald wieder, sagte sie, und sey froh und heiter, und laß die Grillen fahren, und du bist mein lieber Adolf.

Ach, wie sie doch so gar nichts ahndet, was in mir vorgeht! Es waͤr ja sonst nicht moͤglich, daß sie so seyn koͤnnte. Ja! und wenn ich sie anbetete, sie wie eine Gottheit um Erbarmen anflehte, und sie waͤr 'auch des Erbarmens faͤhig, was half mir all das? treu koͤnnte sie doch nicht seyn. Treue ist eine Eigenschaft des Herzens, des Karakters, wie kann ich von ihr verlangen, was sie nun einmal nicht hat? Und dann, wuͤrd' ich Ausdruck fuͤr meinen Schmerz haben? Wuͤrd 'ich sie uͤberzeugen, daß ich ohne sie nicht leben koͤnne? Ach! ich fuͤhls, meine Bestimmung ist Opfer. Jch bin eng umschraͤnkt, nur noch103 ein Weg, ein finstrer, unbekannter Weg! Jch gehe!

Nein, fuͤr den wahrhaft Ungluͤcklichen giebts keinen Trost! Oder wollt ihr mich mit eurem: Es ist nun einmal nicht anders! troͤsten? Das ist dem muͤden Waller hienieden, was dem Ohnmaͤchtigen ein Glas Wasser ins Gesicht gegossen. Er schreckt auf, und lebt nun freilich fort, weil er muß. Muß! Das ist ein unertraͤgliches empoͤrendes Wort. Muß! Wenn ich nun auch muͤßte, muͤßte dieses mein quaalvolles Jch mit hinuͤberschleppen, durch alle Ewigkeit immer nur Jch seyn unzerstoͤrbar dieser meiner Existenz schlechterdings nicht entfliehen[ koͤnnte?] Hoͤllische Angst! Wer schloß mich in diesen fuͤrchterlichen Zirkel?

Sey es wie es will, ich will versuchen durchzubrechen. Und wenn es nur dies waͤre, nur diese eine tapfere Entschließung, und ich trat dann mit einemmale heraus aus meinem Kerker, in blumige Fluren einer bessern Welt! Faͤnd meine Marie und meine Mutter meiner harrend, laͤchelnd, daß ich nun die kleine Angst dieses Lebens uͤberstanden haͤtte? Ja ich komme, ich komme!

104

O ich rasender Thor! wie mir bey ihr auch nur die tolle Jdee von Liebe und Treue, und Gott weiß, was noch vor schaͤfermaͤßige Dinge? in den Kopf kommen konnte! Jch begreife mich nicht. War sie nicht von allem Anfang ein verbuhltes begehrendes Maͤdchen? und ich seufze mich bald zum Heimchen. Komm 'ich heut Nacht spaͤt nach Hause, und wie ich so ungefaͤhr zehen Schritte vom Hause bin, hoͤr' ich von innen an der Hausthuͤre arbeiten. Jch[ kehrte] ins Dunkle; die Thuͤr geht leise auf, und heraus tritt Einer in[ einem] weißen Mantel, den ich sogleich vor jenen Schwaͤtzer, den verdammten Siebold erkenne, und schluͤpft geschwind hinuͤber in eine andere Gasse, indem sie ihm nachruft: Gute Nacht, lieber Junge! Lieber Junge! wie unertraͤglich vertraulich!

Jm ersten Gewirre meiner Empfindungen wollt 'ich ihm nach, und ihm das Mahl gesegnen, die Betrachtung aber, daß ich denn doch immer die Rolle eines ungluͤcklichen Nebenbuhlers spielen wuͤrde. Mein Gesicht! Sein[ Spott] wuͤrde mich zermalmt haben kurz ich blieb, und hielt mich still, bis alles wieder ruhig war. Als ich in mein Zimmer kam, fand ich den Horaz auf meinem Tische aufgeschlagen, worinnen ich heute geblaͤttert hatte, und mein Blick fiel gerade auf die Ode: Quis multa gratilis te puer in rosa u.s.w. Jch105[ las] Sie durch und hub laut an zu lachen. Jch ein Mondesritter! Ha! ha! ha! und gerade bey ihr. Wie laͤcherlich muß ich ihr oft gewesen seyn mit meinem Getaͤndel! welche naͤrrische Metamorphose ist mit mir vorgegangen! Sitze da Naͤchte lang bey einem gluͤhenden nach Genuß schmachtenden Maͤdchen, die mich zum schoͤnsten Siege einladet, ein Seladon

der seiner Phillis zu Fuͤßen

die Schaͤferstunde verseufzt

und haͤrme mich um sie wenn ich allein bin, indessen der gracilis puer im weißen Mantel seine Zeit sehr gut bey ihr zubringt. Jch bin jetzt wieder ganz ruhig, wenigstens hab 'ich wieder einen gewissen erreichbaren Zweck, druͤber hinaus mags dann gehen wie es kann und will. Ja, meine aurea Pyrrha,

verzeih ', ich liebte Dich

ich war ein wenig toll!

Kuͤnftig sollst du sicher keine Langeweile mehr bey mir haben. Ha! ich kann nicht genug uͤber mich lachen. Ein Maͤdchen, ein frisches, suͤßes herrliches Wonnemaͤdchen, daß mir all seine Schaͤtze beut, und ich waͤre voruͤbergegangen! Nein! das koͤnnt 'ich mir nie vergeben.

106

Der Teufel hat sein Spiel mit mir! O ich moͤchte mir ins Gesicht schlagen! Verlaͤßt mich denn alle meine Frechheit gerade bei ihr? Ein einziges halblautes Pfui! von ihr entmannt mich. Aber wie zum Henker kam sie auch diesmal gerade auf diese melancholische Schwaͤrmerei, wo nun gar kein Uebergang zu machen war? Glaubt sie mit mir sey weiter nichts anzufangen? Oder taͤuschte mich die Nacht, und sie war es nicht die dem Siebold das: » lieber Junge « nachrief? Oder oder oder soll ich denn schlechterdings rasend werden? Ha! und heute kann sie mich nicht sprechen, und morgen verreist sie mit ihrer Mutter. Teufel! das geht wunderlich her! Aber jetzt will ich, es koste was es wolle! Ha! ich bin nun ganz wieder was ich war!

Diese Reise koͤmmt freilich verdammt quer in den Weg, gerade jetzt! Man kann nicht mehr zum Narren gehabt werden. Welche jaͤmmerliche Rolle werd 'ich unterdessen spielen! Ha! genießen muß ich sie, es koste was es wolle. Mein Vorsatz ist unerschuͤtterlich! Wenn nur die verfluchte Reise nicht waͤre!

Da[ rollte] der Wagen hin, und fort ist sie, und mir ists ganz weich ums Herz. Es107 ist eine eigene Sache um die Trennung. Sie macht uns weicher und empfindlicher, und das, was von uns sich trennt, heiliger, werther, und so ist die Trennung freilich der groͤßte Schmerz, vielleicht der einzige in der Natur.

Als ich sie und ihre Mutter an den Wagen begleitete, da drehte sie sich noch einmal um und sagte: Adieu, lieber Herr Weiler, leben Sie unterdessen recht wohl! Auf das recht legt sie denn allemal so einen ganz besondern Akzent, auch wenn sie sagt: schlaf recht wohl, es liegt in[ ihrem] Ausdruck so eine gewisse biedere Herzlichkeit, die ihr Lebewohl! und ihre Gute Nacht! uͤber die konventionelle Abschiedsformel erhebt, daß es ist, als haͤtte sie einem etwas aus ihren Herzen gegeben, einen Segen worauf man hafften koͤnne.

Nun hab 'ich weder Ruh noch Rast, und moͤcht' ihr nach. Mir ist als wenn da nur Leben und Freude seyn koͤnne, wo sie weilt.

Ach es ist doch ein herrliches trefliches Maͤdchen! Warum? warum? Ach das ist mir das sicherste Pfand, daß ich keine Gluͤckseligkeit hienieden schmecken soll. Jch wollte ja der Jhrige seyn, unter welcher Bedingung es waͤre. Alles waͤre mir ja recht, wenn sie nur mein Weib werden wollte, sie moͤchte ja so frei leben, wie es ihr beliebte. Sie hat Gluͤckseligkeit fuͤr viele, und ich waͤre ja doch in ihrem Arm immer der seligste Schwelger. Dem Perikles war Aspasia immer108 das liebenswuͤrdigste Weib unter der Sonne, ungeachtet jeder wackere Grieche ein Recht auf seine Schwaͤgerschaft hatte. *)*) Das ist nicht erwiesen. A. d. H. Auch Sie wuͤrde nur Maͤnner lieben, deren Herz und Kopf ihnen Anspruch auf den aͤchten Genuß der Schoͤnheit erlaubt. Sie sollten warlich meine Freunde seyn! Wir wollten eine Schule der feinen Wollust bilden. Liebe sollte unser Geschaͤft auf Erden seyn. Musik und Dichtkunst und alle Kuͤnste sollten uns ihre Freuden zollen, schoͤne zufaͤllige Maͤdchen wollten wir unsre Geheimnisse lehren. Sie sollten unsre Naͤchte mit feiern, und guter Wein und frohe Laune erhuͤben unsre Mahle zu Goͤtterfesten. Jhr, unserer Priesterin, braͤchten wir alle Opfer, und keine Eifersucht waͤre da moͤglich, und wenn ich unsere kleine Georgierinnen genug gekuͤßt haͤtte, dann eilt 'ich mit[ zwiefachem] Verlangen in Jhre Arme, und sie waͤre mir immer aufs neue reizend. Ach!

Es ist mir alles so leer, da trieb 'ich mich denn auf Spaziergaͤngen, Kaffeehaͤusern, und, der Himmel weiß, wo all herum, und finde nirgends was ich suche, Trost Nahrung fuͤr mein oͤdes Herz. Auch die Buͤcher ekeln mir an.

109

Von Jhr wird indessen doch mehr gesprochen als ich glaubte. Jch weiß nun nicht, ob man mirs gerade will anzuhoͤren geben, aber die medisance weiß allerlei Geschichtgen von ihr. Schon als sie noch Kind war, spielte sie Romanzen, hielt Rendezvous mit kleinen Buben, und hatte mit einigen von ihnen und ihren Gespielinnen einen Orden gestiftet, den aber nachher die Eltern zerstoͤrten. Daß sie mit dem Helmuth versprochen ist, weiß jedermann, und auch daß sie jetzt noch andere Liebschaften unterhaͤlt. Der Siebold wird vorzuͤglich genannt, von mir scheint man nichts zu muthmaßen, aber den Siebold hat man sogar einmal Nachts wollen zum Fenster einsteigen sehen.

Helmuth soll ein angenehmer junger reicher Mann seyn, der eine glaͤnzende Laufbahn vor sich hat, und zum Sterben in sie verliebt ist: Die andern Maͤdchen in der Stadt sind ihr feind, und uͤberhaupt haben die tugendsamen steifen Matronen in ihrem heiligen Eifer das Verdammungsurtel uͤber sie gesprochen, so daß sie von der Seite ziemlich isolirt lebt.

All das facht nun meine Begierden immer mehr an. Jch wollte sie wuͤrde von allen verlassen, angefeindet, verfolgt, bei Gott! in meinen Armen sollt 'ihr kein Leids geschehen.

Gestern gegen Abend war ich im Rathskeller, und saß in einer Ecke allein, und dampfte Taback in die Luft hin, da trat ihr Bruder herein und110 stellte sich ans Billard und sah dem Spiele zu. Jch saß so, daß ich ohne aufzufallen ihm lange in das Gesicht sehen konnte. Er hat in der That etwas Aehnliches mit ihr, besonders in seinem Laͤcheln. Wenn sie so laͤchelt, so heißt das: » Lieben Leute, moralisirt und predigt und sagt so viele vernuͤnftige Sachen, als ihr wollt, ich habe gar nichts dagegen, und glaube von Herzen, daß ihr Recht habt, und wenn ihr mich auf den Scheiterhaufen vernuͤnfteln wollt. Jch kann nun einmal nur fuͤhlen, und mein Gefuͤhl ist Wonne, und das ist alles was ich weiß. Verzeiht darum meiner Verlegenheit, denn in der That ich gehoͤre gar nicht hieher unter Euch. «

O mit diesem Laͤcheln hat sie mich zum Ewigverschwornen ihrer Partie gelaͤchelt, und wenns gegen die ganze Welt gaͤlt. Er sieht, mit seiner Erlaubniß, nebenbei freilich ein wenig dumm aus, wenn er so laͤchelt, wie er denn uͤberhaupt ein geistloser Klumpen Fleisch ist.

Bald kann ichs laͤnger nicht[ aushalten.]Wie? wenn ich Jhr nachreiste! Feldheim soll nur acht Stunden von hier liegen. Aber wenn mich Jhre Mutter saͤhe, oder man erfuͤhr 'es, Sie wuͤrd' es auf alle Faͤlle nicht gerne sehen.

111

Ach liebe suͤße Ludwine! Komm doch bald zuruͤck! Jch bin nichts als heißes Sehnen nach Dir, alle Eifersucht ist dahin. Komm, o komm und zaubere mich in deinem Schooße zum seligen Gotte! Eil 'in meine Arme, Lida, daß ich fest an deine Lippe mich sauge, Brust an Brust zum Freudentaumel erwaͤrme. Eile, meine Lida, heute liebe, denn morgen scheidet von heute dunkle Nacht, harre nicht des schoͤnen Tages, nicht der blumigern Gefilde; denn ach der armen Sterblichen Wuͤnsche liegen zu weit fuͤr des muͤden Wallers zitternden Fuß! Heute, heute laß an[ deinem] Busen all des Lebens Kummer, all des Todes Schrecken mich vertraͤumen.

Der arme wahnsinnige Christel, der so gern Fische ißt, ach Fische! Fische ess 'ich erstaunlich gern, pflegt er zu sagen, und wenn er es sagt so ists als saͤh ihm die Eßlust zum Munde heraus. Wenn man den stillen Wahnsinn mahlen wollte, so muͤßte man ihn mahlen. Mit seinen großen schoͤnen schwarzen Augen, zwischen denen schraͤg bis auf die Nase, die ein wenig gebogen, forn ganz spitz zu laͤuft, sich eine sonderbare tiefe Falte gebildet hat, seinen gelbbraunen duͤrren Backen, seinem hellbraunen Haar, das ihm aͤhnlichte wie Flachs gerade den Nacken herunter haͤngt, und das112 er immer, als machts ihm zu heiß am Kopf glatt hinter die Ohren streicht. Sein Blick, seine zerstoͤrte laͤchelnde Miene, die immer nur seinen innern Zustand mahlt, eigentlich nie etwas außer ihm betrift, oder zu irgend einer Sache spricht, seine duͤrre halbreife Gestalt, die wie ein C zu forn etwas uͤbergebogen ist, seine Kleidung er traͤgt auf dem Kopf eine Kappe, die von forn kaum die Haare bedeckt, die Ohren nicht beruͤhrt, und hinten bis in den Nacken herunter geht, sein Hals ist blos, weil er nur ein Hemde anhat, statt dessen, und aller uͤbrigen Kleidung traͤgt er eine graue Jacke, die oben bis an die Gurgel fest zugeknoͤpft ist, und[ ihn] bis zur Haͤlfte der Schenkel rund herum bedeckt, und Beinkleider von eben der Farbe, die bis auf die Knoͤchel herabreichen, ohne Schuh und Struͤmpfe; sein Stock, ein dicker Pruͤgel, der fast so lang ist, wie er selbst, und auch so gekruͤmmt, wie zwei Freunde, wo einer des andern Eigenthuͤmlichkeiten nach und nach annimmt; eine kleine Tasche von Baumbast, die ihm an einem Strick uͤber der Achsel auf dem Ruͤcken haͤngt, und worinnen er ein wenig Brod und andere Dinge, die er sich in der Stadt erbettelt, verwahrt: alles dies macht ihn zu einer seltsamen interessanten Figur. Mich hatt' er schon oft interessirt, wenn ich ihn so in seinem stillen Wesen uͤber die Straße hingehen sah. Er heischt denn nie Etwas, sondern die Leute, die ihn alle kennen, und alle Mitleiden mit ihm113 haben, rufen ihn meistens zu sich, und geben ihm oft so reichlich, daß er zuweilen wieder an andere Bettler austheilt, wie man sagt. Seine fixe Jdee ist: Fische, wovon er am liebsten spricht, und die er roh und gesotten, wie er dazu koͤmmt, mit der groͤßten Gier verschlingt. Gestern, als ich an dem Flusse hingieng, stand er bis an den Hals im Wasser. » Christel, ruft 'ich, was treibst Du? « Ach, rief er, ganz beklommen aus enger Brust: Fische! Fische! Komm heraus, armer Junge, sagt' ich, Deine Fische sind schon gefangen, Du sollst sie essen. Er kam sogleich heraus mit seiner triefenden Jacke, denn er hatte sich nicht erst entkleidet, doch lag sein krummer Stock und seine Tasche am Ufer, und gieng mit mir fort nach einer Muͤhle zu, die zugleich ein Wirthshaus ist, indem er noch einigemal sein: Fische! Fische ess 'ich erstaunlich gern, wiederholte. Unterwegens trafen wir einen Mann an, der am Ufer saß und eine Angel im Wasser hielt. Der arme Christel blieb stehen, und sah mich an, dann den Mann mit der Angel, dann ließ er seinen Blick von der Hand, womit dieser die Ruthe hielt, bis zu ihrer Spitze hinauf, und von da am Faden herunter, bis auf den kleinen Wirbel wo der Faden in das Wasser tauchte, und so wieder zuruͤck auf des Mannes Hand laufen. Jndem zog dieser schnell heraus, und ein schoͤner Karpfen zappelte am Faden. Der arme Christel sah mich an, und114 dann den Fisch, und dann den Mann, und schien etwas beginnen zu wollen, indem ihm auf einmal die Thraͤnen in die Augen schossen, die er sich mit der flachen Hand wegwischte, und immer dazu laͤchelte.

Mich hat nie etwas so geruͤhrt als diese Thraͤnen. Armer Junge! Freilich sind Fische zunaͤchst im Wasser, ein froͤliches Gewimmel! Aber ihnen am naͤchsten, mitten unter ihnen, wo Deine heiße Gier Dich hintreibt, wirst Du eher ertrinken als einen fangen. Troͤste Dich daruͤber, guter Christel, mit tausenden, denen es auch nicht besser geht. Es ist der Lauf der Dinge so. Die Leidenschaft, die brennende Begierde, die schlechterdings nichts lindern kann, die nichts hoͤren und wissen mag als Befriedigung wird nie befriedigt. Warum? Zur Strafe, weil die Leidenschaft leidenschaftlich ist, weil sie von keinen Kuͤnsten weiß, weil sie nur ihr Verlangen fuͤhlt, und nicht Muse hat die Eigenschaften der Dinge die sie begehrt, auszumessen, und die Art, wie ihnen beizukommen ist, zu finden. Werde erst kaͤlter! das heißt, habe erst keine Begierde mehr, und mache Dir wohlbedaͤchtig eine Angel, und lerne Stunden lang ruhig am Ufer sitzen und abwarten. Erst dann wirst Du Fische bekommen, wenn Du sie entbehren kannst! Lerne die[ reizenden] Dinge, die Dich umgeben, verschmaͤhen, verlange erst nach Guͤtern, die fern liegen, die Du nicht siehst, oft nicht kennst,115 dann fallen Dir diese wie von ungefaͤhr zu. Geluͤstet Dir nach einem Dorfe Deines Nachbars, so nimm ihm sein ganzes Land weg, das Dorf allein wirst Du nie erhalten. Willst Du ein schoͤnes Weib haben, so strebe nach Reichthum und Rang, und das schoͤne Weib wuͤrde sich Dir anbieten. Willst Du zeitlich gluͤcklich seyn, so trachte nach den Guͤtern der Ewigkeit, so wird Dir das andere alles zufallen. Man erfand Porzellan als man Gold machen wollte Genug, geh niemals den geraden Weg auf das einzelne begehrte Gut los, er ist immer der Falsche.

Warlich der Zug aus Christels Wahnsinn, ist eine ganze Geschichte meines Lebens. Ach! was soll ich thun, um Sie zu erhalten? Kann ich, kann ich Sie minder begehren? Kann ich noch etwas anders wuͤnschenswerth finden, als Liebe? Ha! grausame, grausame Ordnung der Dinge!

Allein seyn! Das ist was der Mensch nicht ertragen kann. Erste einfaͤltige Paradieses Weisheit: Es ist nicht gut daß der Mensch allein sey! Woher wißt ihr es besser, elende kranke Spleen Maͤnnerchen, und wollt alles vereinzeln! Duͤrft ihr der Natur ins Angesicht widersprechen mit eurem: Der Mensch muß sich selbst genug seyn? O116 man darf nur einen von Euch gesehen haben, ihr neidischen graͤmlichen Geschoͤpfe! die ihr freilich nichts habt, was ihr geben koͤnnt, das einem andern die Freude seines Daseyns rege machte, und darum weist man Euch wie prahlhafte Bettler vor allen Thuͤren ab, wo ihr mit eurem armseligen Stolze anklopft. Und nun habt ihr, um euch zu raͤchen, ein System des Menschenhasses, der Verschwoͤrung wider Gottes Natur aufgefuͤhrt, und habt die ganze Welt vergiftet.

Jch weiß es, und fuͤhl 'es tief, daß Sie luͤgen. Allein seyn, heißt ewig nur sein Gesicht bis zum Ekel im Spiegel sehen. Jch weiß nicht, welch ein wunderbarer Schauder mich ergreift, wenn ich mir zwei sich ganz gleiche Dinge vorstelle, so wie einen Menschen und sein Bild im Spiegel. Jch habe daruͤber nur verworrene Gedanken. Vielleicht so: Die Tugend, sagten die Alten, oder wie sie wohl eigentlich wollten verstanden seyn, das Vollkommene liegt in der Mitte, oder: Wo Du etwas Schoͤnes Gutes oder Wahres entdeckst, da ist nothwendig jede Abweichung hinuͤber und heruͤber, das Gegentheil davon. Nun wird alles, was schoͤn und erfreulich ist, durch das Aehnliche hervorgebracht, wo wir auf eine Aehnlichkeit stoßen, da oͤfnet sich unser Herz und unser ganzes Wesen durchbebt ein angenehmes Gefuͤhl. Selbst die Erinnerung an uͤberstandene Leiden, an Schmerz ist suͤß, weil sie uns eine, jenen Leiden aͤhnliche117 Empfindung zu fuͤhrt. Mahler und Dichter lernten der Natur dies Kunststuͤck ab, und gaben ihren Werken dadurch Anmuth und Zauber.

Also das Aehnliche ist eine Vollkommenheit die in der Mitte steht. Auf jener Seite liegt das Unaͤhnliche, die Heterogene Zusammensetzung, das Horazianische Ungeheuer mit dem Menschenkopf an einem Pferdehalse u.s.w. und auf dieser, das sich Gleiche und das Einzelne. Oder wenn man so will: Einheit in Mannigfaltigkeit ist das Mittel, und seine Abweichung ist, auf der einen Seite nackte Einheit, und auf der andern Seite, Mannigfaltigkeit, ohne Einheit. Denn es ist hier einerlei, ob ich sage: das Aehnliche oder das Mannigfaltige in Einem, weil dies blos durch den Bezug der Aehnlichkeit, sie liege nun worinnen sie will, die alle Theile auf das Eine, und folglich auch unter einander bekommen, hervorgebracht wird.

Beide Abweichungen gebiert die Natur nimmer, beide vermoͤgen keine Freude, keine angenehme Empfindung zu gewaͤhren. Horaz sagt, nachdem er sein Unding aufgestellt hat: » Spectatum admissi[ risum][ teneatis] amici? « und er hat vielleicht in allen Faͤllen der Heterogenen Zusammensetzung Recht: ihr Anblick erregt Spott, eine Empfindung die endlich eine unangenehme Leere hinterlaͤßt; aber das sich Gleiche, das Einzelne, das ist ein graͤßliches Gespenst, wovon unser Ge -118 fuͤhl, moͤcht 'ich sagen, aͤngstlich die Augen wegwendet.

Jch kann freilich nur von meiner Empfindung reden, allein mich deucht, die Marter die ein einzelner (abstrakter) Begriff jedem Ungeuͤbten macht, die Leere, die er in jeglicher Empfindung zuruͤcklaͤßt, unterstuͤtzte meine Meinung, vom Einzelnen, das wir freilich außerdem nirgends so ganz antreffen, so wenig wie das ganz Gleiche: wer indessen jemals einige Stunden weit, in einer schnurgeraden Allee reiste, der wird einen kleinen Vorschmack auch hiervon haben. Jch kann mich nicht erinnern, jemals mehr Geistesmarter ausgestanden zu haben, als, da ich einsmals von Karlsruhe nach Rastadt gieng, zwischen zwei Linien von Baͤumen eine so schnur gerade als die andere dahin, und nun den vergoldeten Jupiter ewig und ewig vor den Augen! Vater der Goͤtter und Koͤnig der Menschen, ruft 'ich in meiner damaligen[ jovialischen] Laune, nie hast Du einen Sterblichen so gequaͤlt als mich! Aber Dein Volk haͤtte Dich auch nicht an das Ende einer Meilen langen schnur geraden Allee hingesetzt, wo Du, aus Langeweile, den Menschen das Leben sauer machst.

Die Natur, die allein durch dies Aehnliche so schoͤn wird, macht uns nicht allein fuͤr diese Schoͤnheit empfaͤnglich, sie gab auch jedem Wesen den Trieb zu seinem Aehnlichen, und dadurch gewinnt sie ihren Reiz Leben und Bewegung. Feuer119 flammt in die Hoͤhe, und was irrdisch ist, fuͤhlt einen Zug, sich mit allem seinem Aehnlichen in dem Mittelpunkte seiner Allmutter der Erde zu sammeln. Stroͤme zerreißen Welttheile, um sich mit dem Meere zu vereinigen Allein seyn ist eine Dissonanz in der Natur, die sie nicht lange ertraͤgt, sie laͤßt sie bald mit einem starken volltoͤnenden Griffe. Und der Mensch diese Welt im Kleinen, auf den alles Bezug hat, der allem Bezug giebt, der Faͤhigkeit und Beduͤrfniß zu[ jeglichem] Genuß, Beruͤhrungspunkte fuͤr jedes Wesen hat, dem seine Ahndungen Anspruͤche zur Seligkeit geben, ist nur ein unmuthiges truͤbes Geschoͤpf, giebt, uͤberdruͤßig, alles hin was er ist, wenn dieser quaͤlende Trieb zu seinem Aehnlichen nicht befriediget wird. Ach seine Quaal muß ja wohl groͤßer seyn als irgend eines andern Geschoͤpfs, da er so vieler Wonne faͤhig ist. Herz und Sinne und Vernunft Leib und Seele, alles hat seinen suͤßen Genuß, wo einer den andern zum hoͤchsten Entzuͤcken erhoͤht.

Dieser Trieb, diese Wonne des Menschen ist die Liebe. Sie ist Vereinigung mit seinen Aehnlichen, Mittheilen und Empfangen, Entzuͤcken im Genuß doppelter Treflichkeit.

Ha! welch ein Himmel ist die Liebe! Der ist ein Seliger, der darinnen wohnt, der ein Verdammter, der keinen Platz darin bekommt! Guter Hoͤlty! Wohl! wohl!

120

Mich haben sie heraus gestoßen, und nun schleich ich im Nebellande allein, truͤb und freudenleer. Ach Ludwine! Jch zittere vor Deiner Zuruͤckkunft, und schmachte[ ihr] entgegen. Noch hoff 'ich Thor, was schlechterdings nicht mehr zu hoffen ist. Sie Mein? und ist Sie nicht schon wirklich fuͤr mich verloren? Noch kruͤmmt sich mein Herz wie ein gequaͤlter Wurm zu glauben, was Du selbst ach selbst! mir sagtest,[ hofft] noch immer einen Ausweg, ach! wird noch[ sehnend] Dir zu klopfen, wenn Du es nun vernichten wirst.

Jch gieng zum Thor hinaus und so weiter und immer weiter Berg auf Berg ab, und als ich mich einmal umsehe bin ich in dem Birkenwald, durch den der Weg nach Salbach geht. Wie mich das ergriff!

Seitdem: daß ich hier mich so uͤberschwenglich gluͤcklich fuͤhlte in ihren Arm guter Gott! welche Stuͤrme in meiner Seele! Wie so ganz anders ist es mit mir geworden!

Warum muß ich nun so ohne Rettung an meinen Wunden verbluten? Warum darf sie nicht mein seyn?

Jch weilte lange hier, und schwelgte in der Wehmuth der Ruͤckerinnerung. Mir duͤnkte ich121 haͤtte alle Plaͤtzgen noch gewußt, wo sie dies und das gesagt, gethan haͤtte.

Wie gewiß glaubt 'ich, damals am Ziele aller meiner Leiden zu seyn, ach! und nun, wie hofnungslos und elend!

Nein, ich erkenn 'es, meine Bestimmung in dieser Welt ist, nicht, Gluͤckseligkeit, mein Loos ist Schmerz und Kampf und Tod. Jch soll fort: darum werd' ich so gereitzt, so mit Hofnungen getaͤuscht, und dann mit einemmale zuruͤckgestoßen in mein Elend, und[ gehoͤhnt.]O Maͤdchen! Nein es ist nicht moͤglich, ich kann ohne dich nicht leben!

Jch gieng vollends nach Salbach. Je naͤher ich dem Orte kam, je laͤnger schlug mir mein Herz. Es ist eine eigene Sache um die Ruͤckerinnerung! Waͤr 'ich mit dem suͤßen Bewußtseyn ihrer Liebe hieher gekommen, so waͤr' ich eingegangen, wie ein Sohn in seines Vaters Haus, wo er lange weg war, und nun weiß, daß er mit Freude und Jubel empfangen wird. Jetzt war mirs, als waͤr ich von einem lieben Orte abgereist, wo ich schon mit[ tiefem] Schmerz auf ewig Abschied genommen haͤtte, und muͤßte nun wieder auf wenige Minuten zuruͤck, um noch etwas zu bestellen, oder mitzunehmen, was ich vergessen hatte. All die Lieben, die ich verließ, find ich noch[ trauernd] uͤber mein Scheiden. Sie sehen mich zuruͤckkommen, aber ihr Blick erheitert sich nicht, sie wissen, daß ich hier nicht122 reden darf, daß ich nur komme um ihren und meinen Schmerz zu erneuern. Sie schweigen, und reichen mir stumm noch einmal die Haͤnde, und ich zerfließe nun in lang verhaltenen Thraͤnen, und stuͤrze jammernd hinweg von ihnen.

So war meine Empfindung, als ich nun alle die Plaͤtzgen wieder betrat, die mich einst so gluͤcklich gesehen hatten, die, ihr geheiliget, ein ewiges Recht auf mein Andenken haben. Ach! du gehoͤrst ja nun nicht mehr hieher, hier hat man dir nichts mehr zu sagen. Jhre Freuden und ihren Kummer darfst du fortan nicht mehr theilen, die Trennung ist geschehen, du bist nun ein Fremdling geworden, dem von alle dem nichts uͤbrig bleibt, als Sehnsucht und Trauer. Du bist abgerissen von ihnen, und, wenn sie dir auch noch eine Thraͤne nachweinen, so wirst du verwelken, und sie werden fortbluͤhn, und ihr wohlgefaͤllig duften.

Ach Gott! fast haͤtt 'ich geweint, als ich mich nun so allein hier wieder fand. All das nun zertreten, vernichtet Ludwine, wird dir das nie auch nur einen Seufzer kosten?

Die Leute, frohe heitere Geschoͤpfe, die sich wenig um meine truͤbe Laune bekuͤmmerten, schienen meiner zu spotten. Jch waͤhnte sie[ wuͤssten] alles, jeder ihrer Blicke schien mir zu sagen: Thor! Wie konntest du nach einer solchen Gluͤckseligkeit streben, du, den die Natur und das Schicksal zum Elend auszeichneten. Jch eilte hinweg von ihnen zu123 den Ruinen. Hier ward mirs wieder einheimisch.

Diese Massen, die taͤglich zerstoͤrt werden, und doch der Vernichtung trotzen, die ihr wahres Leben, ihre Harmonie verloren haben, und nun, ohne ihre eigenthuͤmliche Seele, nur noch in dem allverbindenden Geiste der unsterblichen Natur leben, waren meiner Empfindung naͤher verwandt. Ja! auch ich will in ein anderes Leben hinuͤber, in eine weitere Sphaͤre, will die Baͤnder dieser ungluͤcklichen Zusammensetzung loͤsen.

Jch wuͤnsche[ keinem] meine Erkenntniß, und moͤge keiner begehren die Wahrheit nackend zu sehen! Jeder taumle in seinem froͤlichen Wahne dahin; nur Taͤuschung ist Gluͤck! Gleich einem Schwaͤchling, der einem reizenden Maͤdchen die Huͤlle zu entreißen strebt, die ihre Schoͤnheit seinem uͤppigen Auge verbirgt, und wenn es ihm nun gelungen ist bebt, und ein beschaͤmendes Zeugniß seiner Schwaͤche ablegt, so hat der Mensch keine Ruhe so treibts ihn immer, einen gluͤcklichen Wahn nach den andern zu verlassen, der Wahrheit immer naͤher zu kommen, bis er endlich, von allem was troͤstlich ist hienieden, verlassen, ein Raub der Verzweiflung wird. Mein innrer Sinn erkennt es anschaulich: Nichts ist ewig und selbststaͤndig, alles, alles muß sich endlich dem ewigen Gesetz der Zerstoͤrung unterwerfen. Noch haben alle Jahrtausende der Welt keinen Zweck hervorgebracht, auf124 keinen hingeleitet. So wie der einzelne Mensch, und hinterließ er noch so viele Spuren seines Daseyns, vergeht und seine Thaten nach und nach mißverstanden werden, jeder sein Werk immer wieder von[ forn] anfaͤngt, so sinken Nationen hin, und ihre Tempel werden zerstoͤrt, ihre Heiligthuͤmer geraubt, geschaͤndet, ihre Schoͤnheiten getrennt, ihre Weisheit nicht verstanden, und ihr Geist verfliegt und theilt sich keiner andern mit, keine vermag den Bau der vorigen fortzufuͤhren.

Es giebt einen Grad von Kultur, diesen mag der einzelne Mensch, so wie ein ganzes Volk erreichen, aber druͤber hinaus liegt beider unvermeidliches Elend. Wie oft soll euch dies die Geschichte der Menschheit noch lehren?

Und doch! in welche liebliche Traͤume wiegt euch nicht die Ruͤckerinnerung! Welche suͤßere Hofnung habt ihr als die Hofnung kuͤnftigen Andenkens? Was soll euch dieser unsterbliche Funke, diese Anlage zur Ewigkeit, wenn doch alles so eitel ist, ihr doch immer nur bis auf dasselbe[ Fleckgen] kommt?

O Natur! Jch eil 'aus diesem Leben hinweg, das mir nicht einmal den Wahn der Taͤuschung gewaͤhrt. Nimm mich auf in deinen ewigen Kreislauf, gieb mich den Elementen zuruͤck, und muß ich ja wieder eine Zusammensetzung erhalten, so moͤge es nur diese ungluͤckuͤche Menschenform[ nicht] seyn, der dein Spott nur Wuͤnsche und bange Zweifel zum Vorzug gab.

125

Ha Wuͤnsche! Noch schwebt meine Fantasie um das reizende Bild ihrer Liebe, noch flistert mir eine Stimme zu: Wie schoͤn war dein Leben, wenn Ludwine dein wuͤrde! Ach! wenn sie meinen Kampf saͤhe, wuͤrde sie wohl ihren frohen Leichtsinn behalten? Wird ihr mein Andenken nicht einst eine Thraͤne in das Auge locken? Ha! ist meine ganze Hofnung noch eine Thraͤne? Die auch verrinnen wird im oͤden Sand, wie mein ganzes nichtiges Leben?

Wenn ich nun von ihr werde Abschied nehmen: Leb wohl Ludwine, ich verreise Morgen! und sie dann in ihrer froͤlichen gutmuͤthigen Art: Adieu Lieber, komm bald wieder, und sei indessen recht froh und wohl, und mir auf die lange Reise wohl schaͤkernd ein Band von ihrem Busen mitgiebt, um ihrer dabei zu gedenken, wenn sie mir dann den letzten Kuß kuͤßt Himmel! Wie will ich das ertragen! O Ludwine, wie will ich's ertragen? Warum mußt du mir erst meinen vorigen muͤrrischen Sinn genommen haben, in dem ich so hingegangen waͤre wie ein Schlaftrunkener? Warum mußt du erst all mein Gefuͤhl so aufgereitzt, alle meine Sinne so empfindlich gemacht haben, daß ich nun so zwischen Leben und Tod mich quaͤlen muß.

Waͤhrend ich so da lag im hohen Ridgras das fluͤsternd um die Steine wehte, hatt 'ich so gar nichts außer mir bemerkt, daß ich erst, als ich auf einmal einen Stern uͤber mir erblickte, die Nacht126 um mich gewahr ward. Jch stieg dann hinauf in die Fenster, und uͤbersah die Gegend noch einmal, die in[ sanftem] Mondsschimmer abwechselnd mit schwarzen Waldschatten, vor mir lag. Wie schoͤn, wie ruͤhrend ist die Natur, und doch ohne die Fantasie der Liebe, ohne ein zweites Herz, das es mit empfaͤnde, wie fremd[ ist dies alles] dem Menschen! O warlich, Liebe, du bist ihm nothwendig, nur du legst[ in] ein jedes Ding Sinn und Bedeutung, ohne sie ist ihm die Natur nur ein allverschlingendes Grab.

Jch nahm stummen Abschied von den Ruinen, die ich jede einzeln noch einmal eingieng, und kehrte dann zuruͤck in das Haus.

Die Leute, die jetzt in der Erde bis in die spaͤte Nacht arbeiten, saßen eben um eine große dampfende Schuͤssel herum, und ließen sichs wacker schmecken. Mich schienen sie fuͤr ein seltsames Stuͤck von Menschen zu halten, daß ich da bis in die Nacht allein im Walde gewesen waͤre. Um dies zu zerstreuen, zwang 'ich mich zu einem geselligen Tone, und da ich ohne dies hungerte, weil ich den Mittagstisch versaͤumt hatte, so bat ich mich zu Gaste. Kaum hatten sie den letzten Bissen im Munde, so sank eins da, das andere dort im Schlaf.

127

Sie essen und trinken und schlafen ein! das ist ungefaͤhr der Hauptinhalt von jedem menschlichen Leben, die zwischen Szenen fuͤllen Angst und Muͤhe und Thorheit aus.

Jch ließ mir in das Zimmer wo ich Ludwinen zum erstenmale an mein Herz druͤckte, eine Streu machen, ließ mir Schreibzeug geben, und schrieb dies:

Gute Nacht, Ludwine, denkst du meiner wohl jetzt in dieser stillen Stunde? Sehnst du dich wohl, ach! nur ein wenig nach mir? Ach Ludwine, wenn es moͤglich waͤre! Gute Nacht! Noch sey es nicht die lange Nacht.

(Die Fortsetzung im naͤchsten Stuͤcke.)

128

Jnhalt.

1

Seite.

  • Zur hoͤhern Erfahrungsseelenkunde.
    • 1. Fortsetzung der Revision der Erfahrungsseelenkunde. Von2S. Maimon.1
    • 2. Aphorismen uͤber Zeugung. Von3H. Grohmann.8
    • 3. Ueber die Schwaͤrmerei. Von4S. Maimon.43
    • 4. Fragmente aus dem Tagebuche Weilers. 85

Druckfehler.

Seite 44. Zeile 26. Seine Einbildungskraft u.s.w. muß heißen: Sinne u.s.w. ibid der Gegenstand. Dieser aber, muß heißen: Der Gegenstand[ dieser] aber.

Seite 45. Zeile 16. produktiren l. produktiven.

Seite 47. Zeile 23. komperatio l. komperativ.

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent128 images; 23990 tokens; 5468 types; 164835 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonUniversity of GlasgowGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte zehnten Bandes zweites Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1793.

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Universitätsbibliothek Bielefeld UB Bielefeld, 2097611

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

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