Die Hoffnung, daſs ich öfter als achtundzwanzigmal ſpatzieren würde, haben meine Leſer zuerſt dem Herrn Himburg zu danken. Mein Herz wußte anfangs von dem Verſprechen des Titelblatts nichts. Ich ſahe mich un - gern, in Verlegenheit etwas wider Wil - len zu thun; oder in Gefahr für einen Menſchen gehalten zu werden, der ſich zu Geſchäfften erbietet, die er nicht zu4 verrichten geſonnen iſt. In der That war ich auch ſchon für einen andern Gang entſchloßen, wenn nicht einige ſchätzbare Leute in den Weg getreten wären und mir ihre Begleitung auf meinen fernern Spatziergängen erlaubt hätten.
Ich geſtehe, daſs ich mich durch ei - nen ſo wenig erwarteten Antrag außer - ordentlich geſchmeichelt fand. Ich wand - te zwar noch ein, daſs man mit mir rei - ſen, daſs man mich
5würde begleiten müßen. Aber auch da - zu war man bereit. Ich erinnerte zu - lezt, daſs ich Feinde hätte; daſs die Pha - nors, die Funccianer, die allzeitfertigen Prediger, die Poſtillenreuter, die Defrau - danten, die Damen, die über beſſers Da - men als ſie ſelbſt ſind Gericht halten — an der Gränze aufpaſſen, und mich wie einen treuen Diener der Tabaksadmini - ſtration behandeln würden. Dafür ſte - hen wir ein — ſagten alle mit Einer Stimme. Einer meiner Freunde hob ſei - nen ſchweren nervichten Arm in die Hö - he. — Und, was meine Schweſtern betrifft — ſagte die freundliche Chloe;6 die können es leiden, daſs man an ihrem moraliſchen Werthe zweifelt, wenn man nur nichts auf ihre Artigkeit, auf ihren Anzug und den Reiz ihrer Geſtalt zu ſagen hat. Ich dächte ſie gäben mir ihren Arm und wir gingen. —
In den letzten ſchönen Sommertagen des vergangenen Iahres begleitete ich die Frau von L** auf ihrer Reiſe nach dem Karlsbade. Wir hatten das Unglück, un - weit eines Sächſiſchen Dorfes, unſern Rei - ſewagen zu zerbrechen. Dieſer Vorfall ſetzte uns in die Nothwendigkeit, daſs wir8 uns zwey Tage lang in einer ziemlich elen - den Schenke aufhalten mußten. Den Morgen nach unſrer Ankunft legte ich, ſo bald es ſich nur immer ſchicken wollte, einen Beſuch bey dem Prediger des Orts ab, in welchem ich mit Vergnügen den Vater eines meiner älteſten und beſten Schulkameraden erkannte. Er empfing mich als den Freund ſeines Sohnes, und ich würde ſeine gaſtfreye Einladung, ihrem ganzen Umfange nach angenommen ha - ben, wenn es mir erlaubt geweſen wäre die Frau von L** zu verlaßen, oder wenn ich meinen Magiſter mit meiner Reiſege - ſellſchaft hätte beläſtigen können. Eines Theils war ſeine Wohnung ſo enge, daſs er ſich hätte zu ſeinen Kühen hinbetten müſ - ſen, um uns Raum zu machen; andern Theils würden wir, in der kurzen Zeit unſers Aufenthalts bey ihm, auf das min -9 deſte den dritten Theil ſeines jährlichen Einkommens aufgezehrt, und doch noch an manchen Bequemlichkeiten Mangel ge - litten haben. Ich veranſtaltete es deshalb ſo, daſs der Magiſter zu uns kommen, und uns, ſo lange wir in dem Dorfe waren, Ge - ſellſchaft leiſten mußte. Er ließ es ſich bey uns recht gut ſchmecken, unterhielt uns dafür mit der Geſchichte ſeiner Ge - gend, mit den Unglücksfällen des letzten Krieges, und vergaß nichts was ihm be - merkenswürdig ſcheinen konnte. Auf un - ſern Promenaden (Denn man muß alles ſehen, wenn man an einem Orte ſonſt nichts zu thun hat;) war er unſer willfer - tiger Begleiter. Wir erſtiegen mit ihm die luſtigen Hügel, von deren Gipfel man das reizende Dreſden erblickt; wir beſa - hen alles, bis auf den bemooſten Pfal, in der Mitte eines Birkenbuſches, der die10 Gebeine eines erſchlagenen Unbekannten bedeckt. Die Kirche war allerdings mit der vornehmſte Gegenſtand unſrer Neube - gierde. Unſrer Aufmerkſamkeit entging nichts. Jede Inſchrift wurde geleſen und wieder geleſen. Nun glaubten wir fertig zu ſeyn, als uns unſer Führer einen be - ſchatteten Winkel des Kirchhofs zu bemer - ken erſuchte. Ein ziemlich weiter Bogen, von Linden gebildet, führte zu der merk - würdigen Stelle. Wir fanden daſelbſt, was man mit dem kleinſten Nachdenken vermuthet haben wird: ein Grabmahl, ei - nen aufrechtſtehenden Marmorſtein mit folgender Inſchrift.
Raimarus von Z***, deſſen Seele Gott begnadigen wolle, bekennet hiemit einem jeden, den der Zufall ſeinem Aſchenhau - fen zuführt: Daß er ſeine würdige Gat - tinn durch ungegründeten Verdacht auf11 das empfindlichſte gekränkt; daſs er ſich auf eine übereilte Weiſe von ihr getren - net, daſs er ihr Leben unglücklich ge - macht, und villeicht gar ihren frühzeiti - gen Tod befördert habe. Dieß Bekennt - niß iſt er allen ſchuldig, die an ſeinem Betragen ein Aergerniß genommen ha - ben; allen die eine argwöhniſche Seele haben; allen die ſich auf dem Wege der Uebereilung befinden.
Raimarus von Z*** ſtarb den VII December MDCCLXX, zwey Iahre nach dem Tode ſeiner Gattin, und zwey Monathe nach dem Tode ſeines einzigen Sohnes.
Dieſe ſonderbare Grabſchrift machte nun allerdings einen tiefen Eindruck auf uns. Die Frau von L** hatte noch Eine Urſach mehr an der Geſchichte Theil zu nehmen, weil ſie ſich in ihren jüngern Iah -12 ren einmal in einer ähnlichen Lage befun - den hatte. Man denke, ob wir uns an den dürren Worten des Monuments be - gnügen ließen, oder ob wir nicht vielmehr der Muſe zu ſingen geboten. Wir baten beyde den Magiſter, faſt zu gleicher Zeit und mit einem kleinen Ungeſtüme, um die Mittheilung einer Begebenheit, von der er, allem Anſehen nach, ein Augenzeuge ge - weſen ſeyn müßte. Er verſicherte, daſs er alle Umſtände davon wiße. Er könne auch um ſo viel weniger abgeneigt ſeyn ſie uns bekannt zu machen, da ihm der ſelige Herr von Z*** recht eigentlich dazu ver - pflichtet habe. Wenn er unſre Neubegier - de nicht ſogleich befriedigte, ſo geſchähe es nur darum, daſs er ſie deſto vollkomm - ner befriedigen wolle. Mit Anbruch des Abends ſahen wir unſern Magiſter wieder, und er machte keine weitern Schwierig -13 keiten (die einzige, daſs er ſich erſt ſatt eßen müße, ausgenommen;) uns die ver - langte Geſchichte zu erzählen, die ich mei - nen Leſern, ſo viel als möglich, mit ſeinen eignen Worten wiederzugeben, mich be - mühen werde.
Raimar von Z*** war ein Landjunker in dem gemeinen Sinne des Worts. Seine wohlſeligen Aeltern hatten ihn zu dieſem rühmlichen Gewerbe erzogen, und ſie hat - ten beyderſeits, noch vor ihrem Ende, das Vergnügen, ihn ihre Erwartungen in aller Abſicht erfüllen zu ſehen. Wann er, mit Schweiß und Staube bedekt, von der Feld - arbeit zurückkam, dann ſchlug ſeinem red - lichen Vater das Herz und Freudenthränen rollten ihm über die Wangen herab. Er unterließ es ſodann nie, was er ſonſt nur bey den wichtigſten Vorfällen zu thun pflegte; ſeine Pfeiffe aus dem Munde zu14 nehmen und ihm ein freudiges: Was machſt du alter Iunge? — entgegen zu räuſpern. In der That glich er dem eh - maligen Lieutenant von Z*** (denn bis zu dieſer Ehrenſtelle hatte ſich der alte Herr hinaufgeſchwungen;) zum Erſtaunen, und ſeine Mutter konnte niemals umhin ihn mit einer mehr als mütterlichen Zärt - lichkeit anzuſehen. Sie hatte ſich um des - willen nie entſchließen können, ihn auf längere Zeit, als auf Einen Tag von ſich zu laßen, und Iunker Raimar hatte in der That nur die nächſten Dörfer, und nur Einmal in ſeinem Leben, bey Gelegenheit eines Iahrmarkts, einen benachbarten Fle - cken beſucht. Ein alter Kandidat, den in jüngern Iahren, ein einziger mißlungener Verſuch zu predigen, zu dem traurigen Entſchluße, der Kanzel auf immer zu ent - ſagen, gebracht hatte, war der Mentor un -15 ſers jungen Herrn, der, nach einem zehn - jährigen Unterrichte, doch ſo viel von ihm lernete, daſs er einen leſerlichen Brief ſchreiben, die mehreſten Hauspoſtillen, wenn ſie nicht mit allzuvielen Lateiniſchen Floskeln ausgeſchmückt waren. geläufig wegleſen, und auf einem Familienklaviere einen leichten Choral, eine Paſſepied, eine Murki und dergleichen, ohne ſonderlichen Anſtoß wegſpielen konnte. Unſer Iunker war ſonſt eine ganz gute Art von einem jungen Menſchen. That er nicht viel Gu - tes, ſo that er doch auch gewiß nicht viel Böſes. Er hatte wenig eigne Meynungen; hatte er ſich aber einmal von einer Sache überredet, ſo war es mehrentheils un - möglich ihn auf andre Gedanken zu brin - gen. In der Wirthſchaft ſuchte er ſeines Gleichen, und da er von den mehreſten Ausſchweiffungen junger Leute keinen Be -16 griff hatte, ſo vermehrte er die Verlaßen - ſchaft ſeines Vaters in wenigen Iahren ſo anſehnlich, daſs man ihn mit Grunde für einen der wohlhabendſten Kavaliere in ei - nem Bezirke von einigen Meilen halten konnte. Es iſt eine Bemerkung irgend eines alten Philoſophen, deſſen Nahme mir entfallen iſt: daſs in einem ſchönen Körper nothwendig auch eine ſchöne See - le wohnen müße. Sie mag wahr ſeyn oder nicht, ſo iſt doch nichts gewißer, als daſs die Natur, ſo wie ſie den größten Philo - ſophen dergleichen Streiche bisweilen zu ſpielen pflegt, auch in Abſicht unſers Jun - kers eine Ausnahme von der Regel ge - macht hatte. Der junge Herr von Z*** war in der That eine der wohlgebildeſten Mannsperſonen, die nur jemals einen Fe - derhut getragen haben. Er war ſo ſchön, daſs die gnädigen Fräuleins in ſeiner Pro -17 vinz ſeine ſchlechten Manieren darüber vergaßen, und es ihm gern vergaben, wenn er ſich nicht immer auf das feinſte auszu - drücken wußte. Milch und Blut war ſei - ne Farbe, und ſeine untadliche Figur wur - de mit den ſtattlichſten Gewächſen der Ge - gend verglichen.
Bey dieſen Worten machte der Magi - ſter ſeinen Zuhörern eine Verbeugung und entſchuldigte ſich, daſs er in ſeiner Erzäh - lung ſo weit ausgehohlt, und die Geſchich - te gleichſam von den Eyern der Leda an - gefangen habe. Er hoffe aber, daſs der Verfolg ihn am beſten rechtfertigen, und die vorausgeſchickte Notiz von dem Hel - den der Geſchichte geneigte Richter finden werde. — Unſererſeits wurde dieſe Aeuſ - ſerung auf das höflichſte beantwortet, und die Bitte hinzugefügt: Der Herr Magiſter möchten ſich durch ſolche und andere Be -B18ſorgniße, auf keine Weiſe aufhalten, oder nur hindern laßen, alles in dem Tone und der Folge zu erzählen, die ihnen die beſte ſcheinen würde. Der Faden wurde alſo folgendergeſtalt wieder angeknüpft.
Herr von Z*** hatte das Glück, daſs mehr als Eine Schöne ingeheim nach ihm ſeufzte, und das noch größere Glück, daſs er nicht darauf Acht gab. Noch bey Leb - zeiten ſeiner Aeltern vermehrten ſich die Beſuche des benachbarten Adels, und je nachdem unſer Iunker mit einem oder dem andern Fräulein ein Wort mehr ſprach als mit den übrigen, ſo bemerkten es alſobald die Augen des Gerüchts, und er hatte die Ehre nach und nach für den Liebhaber al - ler dieſer hoffenden Schönheiten ausgeru - fen zu werden. An allem dieſen Gerede war aber nichts. Iunker Raimar hatte nicht im Traume daran gedacht. In der19 That konnte er, ſeiner Erfahrung nach, eine Frau auch für nichts weiter, als für die Verwalterinn der kleinen häuslichen Geſchäfte halten, und da ſeine Mutter die - ſem Theile der Wirthſchaft noch auf das beſte vorſtund, ſo ſchien ihm eine Frau allerdings ein ſo überflüßiges Geräthe zu ſeyn, als ein Krückſtock für einen, der ſich noch auf den Gebrauch ſeiner Füße verlaßen kann. Der Verluſt ſeiner beyden Aeltern, die kurz nach einander ſtarben, mußte nothwendig ſeiner Denkungsart über dieſen Artikel eine ganz andre Rich - tung geben. Sein Vater hatte ihm ohne - hin noch, den Tag vor ſeinem ſeligen Hin - ſchiede aus der Welt, die Fortpflanzung ſeines Nahmens auf das nachdrücklichſte anempfohlen. Er hatte ihm zu Gemüthe geführt, daſs er der letzte ſeines vormals ſo berühmten Hauſes ſey, und daſs er Ge -20 fahr laufe mit ſich den Nahmen eines der älteſten und beſten adelichen Geſchlechter in Deutſchland untergehen zu ſehen. Ei - nen ſo großen Unfall zu verhüten, ſey ei - ne ſeiner wichtigſten Obliegenheiten. Er ſelbſt wünſche nichts angelegentlicher. Er verſichre ſogar, daſs es ihn noch im Grabe beunruhigen würde, wenn ſein einziger ge - liebter Erbe dieſe Erwartung unerfüllt laſ - ſen ſollte. Inzwiſchen verging doch noch eine geraume Zeit, ehe der Herr von Z*** daran dachte den letzten Willen ſeines Va - ters zu vollziehen, und villeicht möchte er noch wohl lange nicht daran gedacht ha - ben, wenn nicht gewiße Angelegenheiten ſeine perſönliche Gegenwart in Dresden erfodert hätten. Dieſe gaben zugleich Gelegenheit, daſs er mit einem angeſehe - nen Rechtsgelehrten bekannt wurde, in deſſen Hauſe ſich das junge Fräulein von21 R*** aufhielt. Aurora von R*** war die Tochter des ehemaligen Geheimen - raths von R***, von dem ſie nur ihr Da - ſeyn und eine ſtandesmäßige Erziehung ererbet hatte. Nach dem Tode ihres Vaters wurde ſie ſelbſt von ihren näch - ſten Anverwandten vernachläßiget, die es, ihres adlichen Stolzes und ihres anſehn - lichen Vermögens ungeachtet, leiden konn - ten, daſs ihre unglückliche Kouſine von ei - nem ehmaligen Klienten ihres Vaters aus Dankbarkeit aufgenommen, und mit recht väterlicher Sorgfalt vor den Ungelegenhei - ten der Dürftigkeit bewahrt wurde. Au - rora von R*** war eben damals in der Blüthe ihrer jugendlichen Reize. Sie hat - te nur erſt das zweyte Zehend ihrer Iahre beſchloßen. Ohne eine glänzende Schön - heit zu ſeyn, hatte ſie doch Vorzüge, die ſie geltend zu machen wußte. Sie gefiel22 daher gewiß, wenn ſie gefallen wollte, und ſie wollte mehrentheils immer gefallen. Unbillige Richter werden das Eitelkeit, Koketterie und wer weiß was noch mehr? nennen, was ſie ſelbſt für ein weſentliches Stück einer feinen Lebensart und für das einzige Mittel ihren Zuſtand zu verbeſſern anſah. Ich meinestheils verdenke es kei - nem Mädchen, wenn es ſich aller erlaub - ten Mittel zu einem wohlhabenden Manne zu kommen bedient, und am wenigſten einem armen Mädchen, das keine andere Ausſichten vor ſich ſieht, als die immer läſtige Abhängigkeit von einem Gönner, deſſen veränderliche Gewogenheit tauſend Zufällen unterworfen iſt, den ſein Glück, und wenn nicht ſein Glück, den ſeine wohl - thätige Geſinnung verlaßen, der, wenn alles noch ſo gut geht, ſterben kann. Un - ſre Schöne hatte den Iunker von Z*** nicht23 ſo bald in ihrem Wirkungskreiſe erſchei - nen ſehen, ſie hatte ſeine vortheilhaften Glücksumſtände nicht ſo bald aus der Aufmerkſamkeit, mit der man ihm in ih - rem Hauſe begegnete, erſchloßen, als ſie ihn ſogleich für einen Gegenſtand erkann - te, deſſentwegen es wohl der Mühe werth ſey ein kleines Netzchen auszuſpannen. Auch mochte die Schönheit des Iunkers ſelbſt, die von der ſchöpferiſchen Hand ei - nes Dreſdenſchen Friſeurs noch um vieles erhöhet worden war, keinen kleinen Theil an den geheimen Regungen genommen ha - ben, die in ihrem Herzen entſtanden wa - ren. Nun entging es ihrer Aufmerkſamkeit zwar nicht, daſs die Sitten des Iunkers einer großen Verbeſſerung bedürften; allein ſie hielt ſich aufs wenigſte für die rechte Per - ſon, die dieſe Verbeſſerung am ſicherſten bewirken würde. Seine Seele, ſagte ſie ſich24 ſelbſt: iſt eine unbeſchriebene Tafel. Deſto beſſer! Ich bin beſtimmt, daſs ich ſie be - ſchreiben ſoll. Eine kluge Frau kann alles aus einem Manne machen was ſie daraus zu machen Luſt hat. — Ich übernehme es eben nicht mich für die Richtigkeit die - ſer Gedanken zu verbürgen; ich glaube aber doch, daſs die meiſten Frauenzimmer in ähnlichen Fällen eben ſo denken, we - nigſtens handeln, als ob ſie ſo dächten.
Sie haben Recht, Herr Magiſter! ſag - te die Frau von L**. Die Mannsperſo - nen dürfen ſich nichts darauf zu gute thun, daſs ſie uns betrügen; wir ſorgen ſchon davor, daſs ſie es nicht erſt thun dürfen; Wir betrügen uns ſelbſt. —
Noch viele andere Schwierigkeiten wußte ſich das Fräulein mit gleicher Ge - ſchicklichkeit aufzulöſen. Wovon kann man ſich nicht überreden, wenn das Herz25 dem Verſtande vorläuft! Schien es ihr gleich noch ſo unangenehm, einen Ort zu verlaſ - ſen, dem ſie ſo viele frohe Stunden zu dan - ken hatte; war es ihr gleich eine höchſt widrige Vorſtellung, den Zirkeln ihrer Freunde und Freundinnen entſagen zu müßen; konnte ſie ſich gleich die langen Winterabende auf dem Lande nicht ohne eine Art von Schauer gedenken: ſo zwei - felte ſie doch keinen Augenblick, daſs ſie nicht Mittel finden würde einem großen Theile dieſer Ungelegenheiten zuvorzu - kommen. — Man kann ja den benach - barten Adel beſuchen; man kann ihn ge - ſellig machen, wenn er es nicht iſt; man kann Aſſemblées und Kränzchen veranſtal - ten; man kann zur Zeit des Karnevals nach der Stadt reiſen; die Entfernung iſt nur gering. Ich bin gewiß, daſs ich die ge - fälligſte Gattinn ſeyn und den Herrn von26 Z*** zu einem jeden anſtändigen Vergnü - gen bereden werde. —
Hier ließ ſich der Magiſter in eine ziemlich umſtändliche Erzählung aller der kleinen Künſte ein, die das Fräulein an - wandte den armen Iunker in einen lang - weiligen, ſteifen Liebhaber zu verwandeln. Wir tragen aber Bedenken ihm zu folgen. Manche Dinge laßen ſich ganz gut anhö - ren; machen aber nur eine ſchlechte Fi - gur, wenn man ſie zu Papiere bringt. Ue - berhaupt ſind ſich die Operationsplane der Liebhaber und Liebhaberinnen in allen weſentlichen Theilen vollkommen gleich, und man kann es einem erfahrnen Leſer immer zutrauen, daſs er die Lücke zu fül - len wißen werde, die ihm der Schriftſtel - ler in ſolchem Falle offen gelaßen hat.
Inzwiſchen würde doch die Heldinn, bey genaueſter Befolgung ihres ſo künſt -27 lich angelegten Plans nimmermehr das Feld behalten haben, wenn ſie nicht von einer dritten Macht eine ganz unerwartete Hülfe erhalten hätte. Deutlicher zu reden: Der Iunker hatte Feuer gefangen, die Schöne war ihm ganz und gar nicht gleichgültig; allein dieß war eine Empfindung, der er ſich ſelbſt kaum bewußt war. Er würde Dreſden verlaßen, ſeine Aurora vergeßen und den letzten Funken einer Neigung zu ihr in ſich erſtickt haben, wenn nicht der rechtſchaffene Pflegevater des Fräuleins, der Hofrath P* den Zunder angeblaſen, und den ganzen Holzſtoß in lichte Flam - men gebracht hätte. Dieſer ſcharfſichtige Mann wurde das was vorging nicht ſo bald gewahr, als er die Vortheile auf das ge - naueſte berechnete, die ſeiner angenomme - nen Tochter dadurch zuwachſen könnten. Er fand ſie anſehnlich, und von dem Au -28 genblicke an war der Handel ſo gut als ge - ſchloßen. Bey der nächſten Gelegenheit erinnerte er den Iunker an den letzten Befehl ſeines Vaters. Es war ihm nicht ſchwer das Gewißen deſſelben dabey zu in - tereſſiren. Der Iunker glaubte ſchon zu lange gewartet zu haben, und es kam nun nur darauf an, daſs man ihn hinführte wo - hin man ihn haben wollte. — Z. E: Wie gefällt ihnen meine Aurora? — Gut, ſehr gut! — Wie? wenn ich ſie bey ihr in Vorſchlag brächte? — O! wenn ſie das wollten! — Das will ich, bey mei - ner Ehre! das will ich. — Aurora glaubte die gewöhnlichen jungfräulichen Bedenklichkeiten nicht einmal machen zu dürfen: Ein freudiges: Ia! von ihren Ro - ſenlippen verſetzte ſie in den Stand der ſüßeſten Erwartungen, dem viele weiſe Männer jenem nachfolgenden Stande, der29 nichts mehr erwarten läßt, noch haben vorziehen wollen. Für unſer Fräulein war er indeß ſo reizend eben nicht. Denn mit dem Iunker war ſchlechterdings nichts anzufangen. Wann er am zärtlichſten war, ſo ſetzte er ſich ſeiner Braut gegen - über, ſahe ſie Stundenlang an, verzog kei - ne Miene, räuſperte ſich zuweilen, nahm eine Priſe Taback und ſprach kein Wort, es wäre denn, daſs man ihn wonach ge - fragt hätte. Es war daher nichts rathſamer, als daſs die Komödie zur letzten Scene des fünften Akts gebracht, und der Vorhang niedergelaßen wurde. Nach Verlauf ei - nes Monaths hatte das Fräulein von R*** die große Metamorphoſe überſtanden, ver - mittelſt welcher es in die Frau von Z*** verwandelt wurde. Das neue Ehepaar kam bald nachher bey uns an, und die jun - ge Dame war in den erſten Tagen des30 Wohllebens noch immer in ihrem Elemen - te. Sie gab dem benachbarten Adel, in einem Bezirke von einigen Meilen umher, Beſuche, und der Iunker war ſo gefällig, daſs er ſich mit fortſchleppen ließ. Die Beſuche wurden erwiedert, und er war noch ſo gefällig ſeinen Stuhl bey einer je - den Veranlaßung von der Art geduldig auszufüllen. Frau von Z*** brachte noch manche wichtige Veränderungen in der häuslichen Verfaßung ihres Gemahls zu ſtande. Es wurden gleich anfänglich zwey Bediente mehr angenommen; man ver - ſchrieb einen himmelblauen Staatswagen mit Spiegelfenſtern und vergoldeten Lei - ſten; das adliche Schloß wurde überweiſ - ſet, die Zimmer verändert, neu verziert und das alte Hausgeräthe mit einem moder - nen vertauſcht. Bey dem alten Herrn wurden nur die drey Geburtstage des Hau -31 ſes gefeyert, und außer dem Gerichtshal - ter und meiner Wenigkeit niemand zur Tafel gezogen. Nunmehr aber wurden die Beſuche häufiger, und es verging ſelten eine Woche, die nicht zu einem Gaſtmahle Gelegenheit anbot. Für mich war der Sonntag, und ich muß es der ſeligen Frau noch in der Erde nachrühmen, daſs ſie mich jederzeit mit den ausgeſuchteſten Speiſen, mit einem guten Glaſe Wein und mit einer unnachahmlichen Freundlichkeit bewirthet hat. Der ökonomiſche Iunker mochte die Ungelegenheiten dieſer neuen Einrichtung vielleicht wohl empfinden; er beſtritt aber die Ausgaben ohne laute Widerrede und ſah höchſtens nur ſauer dazu aus. Er überwand ſich ſo gar ſo weit, daſs er ge - wöhnlich nur ſechs Pfeiffen rauchte, da er ſonſt das doppelte Quantum verſchmaucht hatte, und daſs er, wann er Damensgeſell -32 ſchaft bey ſich hatte, gar nicht rauchte. An den Tagen da die Frau von Z*** einen Schmaus gab, enthielt er ſich der Iagd, ſetzte eine friſchgepuderte Perücke auf, er - ſchien in einem betreßten Rocke und in ſeidenen Strümpfen. Er gab es zu, daſs ſtatt der bisherigen deutſchen, franzöſiſche Karten bey ihm eingeführt werden durf - ten. Er erlernte ſelbſt einige Spiele und brachte es im Tarock zu der Vollkommen - heit, daſs er die Points unter allen Um - ſtänden ganz richtig zuſammenzählen konnte.
Spielen Sie Tarock, Herr Magiſter? — fragte die Frau von L** mit einem Lä - cheln, welches Verwunderung bedeutete.
Ia! meine gnädige Frau! auch L’hom - bre wenn ſie wollen. Wir benachbarten Prediger leben unter einander in dem be - ſten Vernehmen und unterlaßen nicht uns33 uns oft zu beſuchen. Nun iſt es unmög - lich, ſtundenlang von der Wirthſchaft, von dem Kornpreiſe, von Viehmärkten und ähnlichen Dingen zu reden. Man wird auch der pohlniſchen Händel und des Türkenkrieges müde. Semlern und die allgemeine deutſche Bibliotheck haben wir ein für allemal dem Satan übergeben. Was ſoll man in den trüben Wintertagen vor - nehmen die böſe Laune zu entfernen, die der Geſundheit und Gemüthsruhe eines armen Dorfpfarrern ſo gefährlich werden kann? Ich bin erbötig, für einen jeden beſſern Vorſchlag meine Karten, ſo viel ich deren habe, in den Kamin zu werfen. Ich leugne es ſo gar nicht, daſs ich einigen von meinen Amtsbrüdern Lektion im Spie - len gegeben habe, und daſs ich mich nun in ihrer Geſellſchaft um ſo viel beſſer befinde. Denn was ſoll man in aller Welt mit ge -(II. Theil.) C34wißen Leuten anfangen, die von nichts zu reden wißen, die einem den Tabacksrauch ins Geſicht blaſen, die —
Eingelenkt, Herr Paſtor! — ſagte die Frau von L**. Morgen bitte ich mir die Ehre von ihnen auf eine Partie Tarock aus. —
Stand ich nicht bey der Gefälligkeit des Iunkers ſtille? Sie war in der That größer als man ſie hätte erwarten ſollen; allein ſie war doch auch nicht ſchlechter - dings unerſchöpflich. Etwas Eitelkeit we - niger und ſo viel Verſtand mehr, würden die Frau von Z*** zur immerwährenden Beherrſcherinn ihres Mannes gemacht und ſie in einer weiten Entfernung von dem Abgrunde erhalten haben, dem ſie ſo un - beſonnener Weiſe zulief. Zwey Punkte waren es, die das erſte Mißvergnügen un - ter ihnen beyden veranlaßten. Der Iun -35 ker hatte ſichs ein für allemal vorgeſetzt ſeinen Hofſtaat nicht weiter zu vergröſ - ſern; die Frau von Z*** dagegen ver - langte, daſs über die andern Bedienten auch noch ein Läufer angenommen werden ſollte. Es wurde dafür und dawider geſtritten und die Sache fiel ſo aus, daſs die Dame, wider Willen ihres Gemahls, einen Läufer in ihre Dienſte nahm, und ſich allen Folgen unterwarf, die aus einem ſo kühnen Streiche nur immer entſtehen konnten. Der Iunker erhielt ſo viel über ſich, daſs er ſeinen Verdruß im Beyſeyn ſeiner Gemahlinn nur in Mienen und Zei - chen ausließ. Außer dem aber durfte ſich der Läufer nicht vor ihm ſehen laßen, und da er ihn auf einer Reiſe nach Dreſden, auf Anſtiften der Frau von Z*** mit ein - mal vor dem Wagen erblickte, ſprang er ohne ein Wort zu ſagen heraus und ging36 zu Fuß nach Hauſe, ungeachtet er einen Weg von einer guten Meile zurück zu ma - chen hatte. Der Gebrauch des Bieres, und nahmentlich des Merſeburgers, den der Iunker aus Galanterie unterlaßen ſollte, gab zu einer zweyten Mißhelligkeit Anlaß. In dieſem Punkte aber war nun ſchlech - terdings nichts über ihn zu erhalten. Er vertrug es nicht, daſs ſeinem Lieblingstran - ke auch nur eine verächtliche Miene gege - ben wurde. Geſchah es, daſs ſeine Ge - mahlinn ſich zuweilen über ſeinen Ge - ſchmack luſtig machte, ſo ſuchte er bey mir, oder bey ſeinem Pachter eine Frey - ſtadt, in der es ihm erlaubt war ſich ohne alle Kränkung an ſeinem Gerſtenſafte zu laben, und wo er auſſerdem noch das Ver - gnügen hatte, daſs ihm nach alter deutſcher Sitte Beſcheid gethan wurde. Unter die - ſen Umſtänden hatte gleichwohl die Zärt -37 lichkeit, die der Iunker für ſeine Gemah - linn hatte, nach Verlauf eines halben Iah - res, mehr zu - als abgenommen. Er hat mich zu wiederholten Malen mit den größ - ten Eydſchwüren verſichert, daſs er ſeine Aurora über alles liebe, daſs er dem Be - ſitze einer Grafſchaft ihrentwegen entſa - gen, daſs er ſein Leben für den alleinigen Genuß ihrer Zärtlichkeit aufopfern wolle. Wer ſich darin nicht zu finden weiß, daſs man eine Perſon über alles lieben, und ſich doch nicht überwinden könne, ihr zu Lie - be den Gebrauch einer ſo geringen Sache als der Merſeburger iſt zu unterlaßen, dem rathe ich: nicht zu der Meyerſchen Seelen - lehre ſeine Zuflucht zu nehmen; ſondern in ſeiner eignen Seele die Data zur Auflöſung dieſes großen Paradoxons aufzuſuchen.
So ſtanden die Sachen bey dem An - fange des nächſtfolgenden Sommers, da un -38 ter vielen andern Beſuchen, ſich auch ein gewißer Fähnrich von N** auf dem Gute des Herrn von Z*** einfand. Die Frau von Z*** hatte dieſen jungen Herrn ſchon in Dreſden gekannt und er hatte das Glück gehabt ihr vor allen Fähnrichen ihrer Be - kanntſchaft vorzüglich zu gefallen. Nun war der Herr von N** allerdings ein recht feiner junger Menſch, und man hätte ihn mit den Augen des Neides anſehen müſ - ſen, um ihn anders finden zu wollen. Kam er dem Herrn von Z*** gleich an körper - licher Schönheit nicht bey, ſo übertraf er ihn gewiß in einer jeden andern Abſicht. Er war der angenehmſte Geſellſchafter; ſei - ne Manieren waren ausnehmend gefällig; ſein Witz unerſchöpflich. Er hatte die be - ſten Schriften der Neuern, und am fleiſ - ſigſten die erſten Wielandiſchen geleſen. Daher ſein Enthuſiaſmus in der Freund -39 ſchaft; daher ſein Syſtem von geheimer Sympathie, von harmoniſcher Stimmung præexſiſtirender Seelen, vom Begegnen, Wiederfinden und Erkennen derſelben nach der Vereinigung mit dem Körper u. ſ. w. Wer die wirkſame Natur dieſer fei - nen Ideen kennt, den wird es nicht Wun - der nehmen, daſs die Frau von Z*** da - von hingerißen, und zu einer geiſtigen Lie - be mit ihrem platoniſchen Fähnrich ver - bunden wurde. So ſehr nun auch eine ſolche Liebe eine eigenthümliche Regung der Seele ſeyn mag, ſo wenig iſt es doch möglich, daſs ſie ſich in ihren Gränzen immer erhalten, daſs ſie ſich durchaus in keiner körperlichen Handlung äußern ſoll - te. Unſre Liebenden fingen an ſich von Tage zu Tage gewogner zu werden und dieſe Gewogenheit wurde nach und nach ſo ſichtbar, daſs ſie bemerkt werden muß -40 te. Wenig Gelegenheiten, da ſie ſich ein - ander nicht die deutlichſten Beweiſe davon gaben. Herr von N** war es, der bey der Frau von Z*** ſaß; mit dem ſie in allen Spielen Partie machte; Herr von N** war es, dem ſie etwas zuflüſterte, und ging ſie ſpatzieren, ſo war es wieder der Herr von N** der ſie führte. Miſchte ſich ein böſer Dämon zuweilen ins Spiel; mußte der Herr von N** ſich zu einer andern Dame ſetzen: ſo war er zerſtreut, ver - ſtummte, oder ſagte etwas abgeſchmack - tes. Wurde er zu einer Partie gezogen, an welcher die Frau von Z*** nicht Theil nahm: ſo vergab er die Karten, ſo verpaß - te er die beyden As, oder verſpielte ein Solo mit offenbaren fünf Stichen. Seine ſympathetiſche Freundinn verhielt ſich voll - kommen zu ihm, wie zu einem gleichar - tigen Thermometer, und zeigte, wenn man41 darauf Acht gab, mit ihm Einen Grad von Wärme und Kälte. Gleichwohl war in dem allen nichts Schlimmes. Wenig - ſtens ließen ſichs unſre Liebenden nicht einfallen, daſs ihre Unſchuld dabey in Gefahr hätte gerathen, oder daſs irgend ein nahmhaftes Uebel aus ihrer philo - ſophiſchen Vertraulichkeit hätte entſte - hen können. Ihre Seelen waren ſo rein wie der Himmel, an welchem nur der erfahrne Kenner der Wetter und Winde ein kleines Wölkchen bemerkt, welches, ſo klein es iſt, zu einem Gewit - ter werden und Sturm und Platzregen aus ſeinem Schooße ſchütten kann. Was den Herrn von Z*** betraf, ſo verſtand er ſich zwar ganz gut auf allerhand ſym - pathetiſche Heilungsmittel und auf ſo man - che geheimen Künſte der edeln Iäger - praktik, die, wenn man nicht eine adio42 in diſtans(*)Bey dieſem lateiniſchen Brocken wollte die Frau von L** dem Herrn Magiſter zu ver - ſtehen geben, daſs ſie eine Dame ſey, und daſs er ſich entweder erklären; oder ſich gäuzlich al - les Lateins enthalten müße: allein der Magiſter hatte nun ſeine Zunge nicht mehr in ſeiner Ge - walt; die Periode rollte Berg herunter und be - kam von einem jedweden Hinderniße nur einen neuen Stoß geſchwinder zu rollen. zugeſtehen will, ſchlechter - dings nicht begriffen werden können; al - lein bey der Sympathie der Seelen wußte er in der That nichts zu denken. Und ob er gleich den Anfang gemacht hatte einige Seiten in Wielands Sympathien zu leſen, die er von ohngefähr einmal auf der Toi - lette ſeiner Gemahlinn angetroffen, ſo hat - te er ſich doch in ſeiner Erwartung von dieſem Buche ſo ſehr betrogen gefunden, daſs er es, nicht ohne Beſtürzung des Herrn43 von N**, bey der erſten Gelegenheit an öffentlicher Tafel für kauderwelſches Zeug erklärte, und aller Gegenvorſtellung unge - achtet nie wieder dahin gebracht werden konnte es in die Hand zu nehmen. Man kann denken, ob es, unter den angezeig - ten Umſtänden wohl die mindeſte Schwie - rigkeit gemacht haben könne, den Kopf des guten Iunkers mit Argwohn wider ſei - ne zärtlichgeliebte Gemahlinn zu erfüllen. Eben dieſe zärtliche Liebe war es, die der Bosheit den Sieg erleichterte. Die Frau von Z*** hatte eine Kammerjungfer, die den artigen Fähnrich in ganz beſondre Affektion genommen hatte. Sie befand ſich bey dieſer einſeitigen Neigung aber nur ſehr übel, und ſie ſahe keinen andern Weg ſich zu helfen offen, als wenn ſie Empfindungen, die den ihrigen entſprächen in dem Herzen des Herrn von N** her -44 vorzubringen ſuchte. Dazu bediente ſie ſich denn aller nur erſinnlichen Mittel, die ihr Erfahrung und eine ausgebreitete Ro - manenkenntniß an die Hand gaben. Der Herr von N** aber wollte dieſe mannig - faltigen Verſuche entweder nicht bemer - ken; oder vielmehr er bemerkte ſie wirk - lich nicht. Unter ſo manchen rühmlichen Eigenſchaften, an welchen er die meiſten jungen Herren ſeines Charakters übertraf, war die Keuſchheit keine der geringſten. Er hatte bis zu dem Zeitpunkte da er in Dienſte getreten war, unter der Aufſicht eines Oheims geſtanden, der ſein Herz für Tugend und anſtändige Sitten ſo mächtig einzunehmen gewußt hatte, daſs ſo wenig die ungebundene Lebensart, die er erwählt hatte, als das Beyſpiel ſeiner Kameraden vermögend geweſen waren ihn zu den ge - meinen Ausſchweiffungen junger Leute45 fortzureißen. Wenn er alſo die mannich - faltigen Angriffe der verliebten Kammer - jungfer, den wahren Sinn ihrer freundli - chen Anreden, ihrer entflammten Blicke, ihrer ganzen außerordentlichen Gefällig - keit im mindeſten nicht errieth: ſo kam es bloß daher, weil er ſich auf dieſe Dinge zu wenig verſtand; weil er Freundlichkeit und gefälliges Weſen für Zeichen eines gu - ten Herzens, und einen feurigen Blick für eine ganz natürliche Bewegung der Augen hielt, die in dieſen Umſtänden nichts be - ſonders bedeuten könne. Liſette wurde durch ein ſo ſonderbares und von einem jungen Offiziere ſo unerwartetes Betragen auf das empfindlichſte gekränkt. Die wahren Gründe davon aufzufinden, über - ſtieg die phyſiſchen und moraliſchen Kräf - te eines ſolchen Weſens, als die Kammer - jungfer einer adlichen Dame zu ſeyn pflegt. 46Sie konnte es daher nur aus der einzigen Vermuthung erklären, daſs villeicht eine andre Schöne ſchon im gänzlichen Beſitz ſeines Herzens ſeyn müße. Anfangs ſuch - te ſie dieſe vermeynte Schöne in Dreſden auf; bald genug aber entdeckte ſie ihre Ne - benbuhlerinn in ihrer gnädigen Frau ſelbſt und die Sache wurde ihr in kurzem un - gezweifelt gewiß. Nun war wohl nichts ſo natürlich, als daſs ſie diejenige Perſon, die ihr ſo ſehr im Wege ſtand, auf irgend eine Weiſe auf die Seite zu ſchaffen; un - vermerkt entweder hinwegzudrängen; oder allenfalls ohne Umſtände fortzuſtoßen, und ſich an ihren Platz zu ſtellen ſuchte. Sie fand auch bey einem ſolchen Unterneh - men ſo wenig etwas unanſtändiges, daſs ſie ſich vielmehr ſelbſt von ihrer höchſten Verbindlichkeit gegen ihre Gebieterinn dazu aufgefodert glaubte. — Sollte ſie47 es zugeben, daſs eine ſo brave Dame von einer unerlaubten Leidenſchaft fortgerißen würde? Noch ſey es villeicht Zeit das äußerſte zu verhüten und einen Umgang zu unterbrechen, der beyden Theilen ver - derblich werden könne. — In dieſer Gemüthsfaßung war ihr die erſte vorkom - mende Gelegenheit zur Ausführung ihres Vorhabens die beſte und der geſchäfftige Teufel ſäumte nicht ſie ihr anzubieten. Die Frau von Z*** reiſete den nächſtfol - genden Winter nach Dreſden und hatte die Grille, ihre Liſette bey ihrem Manne zu - rückzulaßen. Ihre Dame nach der Haupt - ſtadt reiſen zu ſehen, und nicht mitreiſen zu dürfen, das war die höchſte Beleidi - gung die einer ſo galanten Kammerjungfer wiederfahren konnte. Ihre Galle wurde dadurch auch ſo ſehr geſchärft, daſs nun kein innerer Widerſpruch mehr gegen die48 unverzügliche Vollziehung ihres Entwurfs in ihr aufkam. Das erſtemal da der Iun - ker allein war machte ſie ſich in ſeinem Zimmer ein Gewerbe, und ungeachtet er ſich ſonſt nicht leicht mit ſeinem weibli - chen Geſinde in eine Unterredung einzu - laßen pflegte: ſo wußte ſie doch Mittel das einzige mögliche intereſſante Geſpräch, was unter ihnen entſtehen konnte, zu ver - anlaßen. Dem Iunker Eiferſucht einzu - flößen, würde ein eben ſo vergebliches Geſchäfft geweſen ſeyn, als ob man hätte Waßer ins Meer gießen wollen. Er hatte ſich ſelbſt ſchon damit angefüllt. Es kam nur darauf an, daſs man die vorhandene Leidenſchaft erhöhete. Und hierauf ver - ſtand ſich Liſette vortrefflich. Unglück - licherweiſe hatte die Frau von Z*** den Entwurf zu einem Briefe liegen laßen, den ſie vor einiger Zeit an den Fähnrich ge -49 ſchrieben hatte. Dieſer Brief enthielt zwar nichts anſtößiges, nichts das einen uneingenommenen Richter einen verbote - nen Umgang unter beyden hätte vermu - then laßen können; aber er war doch in einem ſo zärtlichen Tone geſchrieben; ſo ganz von dem Feuer eines freundſchaftli - chen Enthuſiaſmus voll, daſs der Eindruck den er auf das Gemüth des Junkers mach - te unmöglich anders als nachtheilig ausfal - len konnte. Verglich er die Briefe da - mit, die Er von ſeiner Gemahlinn aus Dreſ - den erhielt: ſo war, ſeiner Meynung nach, der Unterſchied ſo merklich, die Schreib - art in dieſen ſo plan, die Ausdrücke ſo kalt, der Ton ſo gemein; daſs er ſich für zu - rückgeſetzt, für ſchändlich betrogen halten mußte. Zu allen dieſen nachtheiligen Umſtänden kam noch ſeine ſo nachgeben - de, ſo aufrichtige und bey dem allen doch(II. Theil.) D50verſchmähte, hintergangne Liebe. Der bloße Gedanke daran bemeiſterte ſich vol - lends der wenigen Ueberlegung, die man ſonſt noch in Sachen die er mit kaltem Blute behandelte an ihm wahrnahm. An - fangs war er entſchloßen ſeine Gemahlinn nie wiederzuſehn; nachmals fiel es ihm aber ein, daſs er damit nur die Abſichten der beyden Verliebten begünſtigen und die freywillige Urſach zur Fortſetzung eines laſterhaften Umgangs unter ihnen ſeyn würde. Sogleich änderte er ſeinen Ent - ſchluß und fertigte einen Boten nach Dreſ - den ab, der der Frau von Z*** ankündi - gen mußte: Ihre Gegenwart ſey zu Hauſe nöthig, und ſie werde innerhalb vierund - zwanzig Stunden unausbleiblich erwartet. Von allen dieſen Vorfällen erfuhr ich da - mals nichts. Sonſt hätt’ ich villeicht noch Mittel finden können, wo nicht allen, doch51 den ſchlimmſten Folgen eines ſo verworre - nen Handels vorzubeugen. Wann ich den Iunker beſuchte, ſo fand ich ihn zwar ver - drießlicher und ſtiller als ſonſt; ich konn - te aber eher als irgend etwas anders ver - muthen: daſs es ihm läſtig ſey von ſeiner Gemahlinn entfernt zu leben. Und da ich nicht den mindeſten Trieb habe etwas wißen zu wollen, was man mir nicht von freyen Stücken bekannt zu machen geſon - nen iſt: ſo blieb ich bey einer Hypotheſe, woraus ſich alle Erſcheinungen, die ich an dem Iunker wahrnahm, ſo glücklich erklä - ren ließen. Die Frau von Z*** ſtutzte anfänglich zwar, daſs ſie ſo ohne alle Kom - plimente, durch den Mund eines ganz ge - meinen Menſchen nach Hauſe zu kommen entboten wurde; ſie war mehr als einmal willens, ſich einen zweyten, mit Gründen unterſtützten Befehl auszubitten; nur ihr52 ſanfter N** konnte ſie beſtimmen, und da er ihr ſeine Geſellſchaft anbot, ſo konnte ſie es um ſo viel eher vergeßen, die Win - terluſtbarkeiten der Stadt nur zur Hälfte geſchmeckt zu haben.
Es ſcheinet in der That, als ob gewiße Perſonen zum Unglück auserſehen wären; ſo wie andre dagegen es mit ihrem unbe - ſonnenſten, widerſinnigſten Betragen oft nicht verhüten können zu Glück und Eh - ren zu kommen. Die Frau von Z*** wollte gewiß nichts weniger als ihr Ver - derben: und gleichwohl war es eben ſo, als ob ſie mit einem genommenen An - ſatze, ſporenſtreichs dahin gelaufen wäre. Auf der ganzen weiten Welt war der Herr von N** wohl die unſchicklichſte Reiſebe - gleitung, die ſie ſich hätte ausſuchen mö - gen: und doch befand ſie ſich in einer La - ge, daſs ſie nichts Unſchickliches darin53 finden konnte. Ihre Ankunft war dem Iunker im voraus gemeldet worden, und man hatte nicht vergeßen ihres Reiſege - fährten zugleich mit zu gedenken. Es be - fremdete die Frau von Z*** ſchon nicht wenig, daſs ſie ihren Gemahl nicht gleich bey ihrer Ankunft zu Geſichte bekam: al - lein ſie erſchrack noch weit mehr, da ſie die Hausthüre verſchloßen fand, und da ihr Nahmens ſeiner ein alter halbverfallner Wittwenſitz zu ihrer künftigen Wohnung angewieſen; dem Herrn von N** aber bedeutet wurde: daſs man ſeinen Beſuch für heute, und für immer verbitte. Sie proteſtirte anfangs gegen ein ſolches Ver - fahren und verlangte den Iunker zu ſpre - chen: allein der Schreiber verſicherte da - gegen mit einer ſehr wichtigen Miene: Der gnädige Herr würden ſich nicht ſpre - chen laßen und ſeine Verfügungen müßten54 ohne Widerrede befolgt werden. Sie mußte nachgeben und der Fähnrich bat ſich für die traurigſte Nacht ſeines Lebens bey mir Quartier aus. Er konnte nicht umhin ſeine Geſchichte mit einem Affekte zu erzählen, der mein ganzes Mitleiden re - ge machte. Inzwiſchen ſah’ ich wenig Licht in der Sache. Das Betragen des Iunkers ſchien mir durchaus unbegreiff - lich, und ich leugne nicht, daſs ich zuweilen auf den Gedanken kam: er müſ - ſe ſein bischen Verſtand vollends verloren haben.
Der Tag war nicht ſo bald angebro - chen, als ich zur Frau von Z*** gerufen wurde. Ich fand ſie noch ſo, wie ſie den Abend zuvor aus dem Wagen geſtiegen war. — Iſt der Fähnrich noch bey ih - nen? — war ihre erſte Frage. Auf meine Verſichrung, daſs er noch da ſey:55 Sagen ſie dem Unglücklichen, — fuhr ſie fort; daſs er dieſe Wohnung des Elends verlaße; daſs er zurück nach Dreſden ei - le; daſs er ſich hüte mich jemals wieder - zuſehen. Er iſt die unſchuldige Urſach meines Verderbens; oder vielmehr ich bin es ſelbſt; meine Unbeſonnenheit macht mich elend. — In der That, Herr Ma - giſter! ich bin eine Thörinn geweſen. — Wißen ſie nichts? gar nichts? O! ich war ſo unwißend als ſie. — Aber nun weiß ichs, und ſie müßen es auch wißen, da - mit ſie mir helfen können, wenn mir an - ders zu helfen iſt. Man überließ mich geſtern Abend in dieſem. Kerker den Aus - dünſtungen eines zwar geheizten, aber zer - löcherten Ofens, dem Grauen der Nacht und meinen quälenden Gedanken. Ein elendes Licht, welches ohnehin nur ein großes berußtes Zimmer mit ſchwachen56 Stralen erhellte, erloſch um die Mitter - nachtsſtunde. Ich bin nicht furchtſam; aber in der Lage darin ich mich befand ſchauderte ich bey einem jeden unbedeu - tenden Geräuſche. Es war ohnehin eine abſcheuliche Nacht. Ein Sturmwind mit Regengüßen vermiſcht ſchien mich unter den Ruinen dieſes Hauſes begraben zu wollen. Dieſes Getöſe wechſelte nur mit einem noch verhaßteren ab. Alle Eulen der Gegend ſchienen ſich vereinigt zu ha - ben mir meinen Untergang zu weißagen. So ſaß ich und ſahe dem Morgen entge - gen, als ich plötzlich den Gang eines Men - ſchen zu hören glaubte. In demſelben Augenblicke trat ein weibliches Geſchöpf mit einer kleinen Laterne in mein Zimmer. Liſette war es, die mit allem Scheine eines aufrichtigen Mitleidens ſich in meine Ar - me warf und ihre Thränen mit den meini -57 gen vermiſchte. Sie ſagte: daſs ſie ſich des ausdrücklichen Verbots meines Man - nes ungeachtet, aus ihrem Bette geſchli - chen habe um mich noch einmal zu ſehen. Er habe ſie den Abend zuvor ihres Dien - ſtes entlaßen und ihr zugleich aufgegeben, Morgendes Tages nach Dreſden zurückzu - kehren, wo ſich der Hofrath P* um ihre Verſorgung bekümmern würde. Durch vieles Fragen bracht’ ich endlich ſo viel von ihr heraus, daſs, allem Anſehn nach, wohl die Eiferſucht an dem Betragen mei - nes Mannes Schuld ſeyn möchte; daſs er einmal über das andre über die Unbeſtän - digkeit unſers Geſchlechts gewehklaget und nahmentlich den Fähnrich mit den entſetz - lichſten Flüchen in die Hölle gewünſcht habe. Weiter wiße ſie nichts. Ich ent - ließ ſie, mit dem Auftrage: daſs ſie dem Hofrathe meine Situation bekannt machen58 und ihn meinetwegen um Hülfe anſprechen möchte. Soll ich es ihnen ſchwören, lieb - ſter Magiſter! daſs ich mich eines ſolchen Verbrechens, als man mir ſchuld giebt, nicht einmal in Gedanken bewußt bin? Thorheit war es, Leichtſinn; oder wie ſie es ſonſt nennen wollen, daſs ich meines Geſchlechts vergaß, und mich mit einem jungen Menſchen in eine Verbindung ein - ließ, die unter Perſonen von beyden Ge - ſchlechtern villeicht nie ohne alle Gefahr und zuverläßig immer einer ſchlimmen Auslegung fähig iſt. Aber das war es auch alles. — Mit dieſer Erzählung ver - band ſie die dringendſte Bitte, daſs ich mich ihrer annehmen, und vor allen Dingen da - für ſorgen möchte, daſs ſich der Fähnrich auf das geſchwindeſte von hier entfernte. Den letzten Theil ihres Auftrags richtete ich ſofort aus. Der Fähnrich gerieth anfangs59 über eine ſo beleidigende Beſchuldigung in Wuth, und betheuerte: daſs er das Dorf nicht eher verlaßen würde, bevor er nicht den nichtswürdigen Iunker auf eine ſtan - desmäßige Weiſe zurecht gewieſen hätte. Ich konnte ihn nur dadurch zurückhalten, daſs ich ihm zeigte: wie er den Zuſtand der Frau von Z*** dadurch ganz gewiß nicht verbeßern, wie er ihre Freundſchaft noch dazu verlieren würde, wenn er es wagte ſich ihrentwegen mit einem Manne zu ſchlagen, den ſie noch immer liebte, der einmal ihr Mann wäre und mit dem ſie ſich, ſelbſt auf ſeine Unkoſten, vergleichen müßte. Ich ließ ihm noch überdieß mer - ken, daſs allerdings in ſeinem Betragen et - was geweſen ſeyn müße, dadurch der Herr von Z*** argwöhniſch gemacht, und zu ſo ſchlimmen Mitteln ſeine Zuflucht zu nehmen genöthigt worden ſey, und daſs60 ſich dieß alles allein mit ſeiner Iugend und mit ſeiner Unerfahrenheit entſchuldigen lieſ - ſe. Das wenigſte was er thun könne, ſey: daſs er einen Ort vermiede, den er ſchul - diger, oder unſchuldiger Weiſe mit Kummer erfüllt habe. Ueberhaupt ſey er zu der ſtrengſten Erſetzung alles angerichteten Schadens bey ſeinem Gewißen und bey ſeiner Ehre verbunden, wenn es anders in ſeinem Vermögen ſtünde etwas dabey zu thun. Ich hatte inzwiſchen ein Pferd für ihn beſorgen laßen, und ich ſah’ ihn, nach einem abermaligen Kampfe mit ſeinem wi - derſtrebenden Herzen, noch vor Abend, unter dem Geleite ſeiner ſiegenden Ver - nunft, auf der großen Straße nach Dreſ - den. Ich begab mich nun ohne Anſtand zu dem Herrn von Z***. Hier fand ich andere Schwierigkeiten zu beſtreiten, eine unendlich größere tiefeingewurzelte Lei -61 denſchaft, bey einer, vergleichungsweiſe unbeträchtlichen Doſis Vernunft. Ich ließ kein Mittel ungebraucht; ich erduldete Ausgelaßenheit und Grobheit bis zur Be - ſchimpfung: und am Ende hatte ich im - mer nicht mehr als gar nichts ausgerichtet. Der Iunker behauptete, ohne ſich auf An - zeige ſeiner Gründe einzulaßen: ſeine Frau ſey ihm ungetreu; ihr Verſtändniß mit dem Fähnrich ſey eine erwieſene Sache. Ueberhaupt habe ſie von Anfang an bey nahe keine ihrer Pflichten erfüllt. Es ſey unbegreifflich, wie er einer ſo ausſchweif - fenden Lebensart ſo lange Zeit habe zuſe - hen können. Ein anſehnlicher Theil ſei - nes Vermögens ſey innerhalb Iahresfriſt, verſchmauſet, verkleidet, vertändelt wor - den: und wenn dieſe Raſerey fortgedauert hätte, würd’ er bald genug in Armuth und Schande gerathen ſeyn. Scheiden62 wolle er ſich inzwiſchen von ihr nicht laſ - ſen. Die ihr angewieſene Wohnung ſolle ausgebeſſert, und ihr ein mäßiges Iahrgeld ausgeſetzt werden, mit welchem ſie ſich an eine regelmäßigere Wirthſchaft gewöh - nen könnte. Uebrigens erwarte er, daſs ſie alle Gelegenheiten ihm zu Geſichte zu kommen geflißentlich vermeiden, und am allerwenigſten ſich gelüſten laßen werde ſeine Schwelle zu betreten. In dieſen Be - ſchuldigungen war in der That viel wahres; die Frau von Z*** konnte ſelbſt nicht umhin es zuzugeben. Sie behauptete aber, daſs, da ſie ſich von der ſchwerſten Ankla - ge frey machen könne, ſie des übrigen wegen, eine viel zu harte, und durchaus unausſtehliche Begegnung erdulden müße. Unter mehreren Mitteln, die ſie zu ihrer Wiederherſtellung ergreiffen wollte, konnt’ ich nur das Einzige billigen: daſs ſie ſich63 an den Hofrath P* wenden, und ihn um ſeine Vermittlung erſuchen ſollte, die ihr, allem Anſehn nach, nicht entſtehen wür - de. Uebrigens wäre ein ganz leidentliches Verhalten zuverläßig das beſte, und man müße bey einer ſo ſeltſamen Gemüthsart, als die Gemüthsart des Iunkers ſey; nicht ſowohl auf Ueberzeugung, als auf glück - liche Vorfälle rechnen, die Zeit und Zu - fall herbeyführen würden. Dieſem Rathe zu folge, wandte ſich die Frau von Z*** in einem ſehr rührenden Schreiben an ih - ren ehmaligen Gönner, in der gewißen Erwartung: Er werde ihre Partie auf das nachdrücklichſte nehmen, und die Sachen in ihre alte Lage zurückſetzen. Aber es vergingen acht Tage, und es erfolgte nicht die mindeſte Antwort. Auf eine wieder - hohlte Anfoderung erhielt ſie endlich die - ſen Zeddel:
64„ Ich bin von Ihren Angelegen - heiten vollkommen unterrichtet. Ma - dame haben durchaus Unrecht. Ich bin mit dem Laufe der Welt zu ſehr bekannt. Ihre rührenden Vorſtellun - gen belehren mich wohl: daſs Sie die gewöhnlichen Künſte des Frauenzim - mers in Ihrer Gewalt; nicht aber, daſs Sie Recht haben. Ertragen Sie Ihr Schickſal, ſo gut Sie können. Ihr Ge - mahl geht noch ſehr billig mit Ihnen um. Dieß iſt aller Rath und alle Hül - fe die ich Ihnen geben kann.”
Der Hofrath P*
Bisher hatte ſie immer noch gehofft; dieſer entſcheidende Brief aber ſchlug ihre Lebensgeiſter danieder. Sie ſahe ſich nun von der ganzen Welt verlaßen, mit Verluſt ihrer Ehre, mit Aufopferung ihres liebſten Umgangs und aller ihrer unſchuldigen65 Freuden, zu einer immerwährenden Ein - ſamkeit verurtheilt. Ich beſuchte ſie zwar täglich, und bemühte mich, ſo gut ich konnte, ſie bey getroſtem Muthe zu erhal - ten; ich konnt’ es aber nicht hindern, daſs nicht der Kummer nach und nach ihr gan - zes Herz erfüllt, ihren Körper geſchwächt, und ihre ſonſt ſo feſte Geſundheit zerrüt - tet haben ſollte. Ihre Schwangerſchaft trug nicht wenig zur Vermehrung die - ſer Uebel bey, und eine ſchwere Geburt brachte ſie ſo weit herab, daſs ich ſie von der Zeit an für verloren hielt. Der Iun - ker, den ich, ſeines Widerwillens unge - achtet, ſo oft ich ihn ſprach von ſeiner Frau unterhielt, konnte durch alle dieſe Umſtände zu keinem Mitleiden bewogen werden. Er erklärte mehr als Einmal: Das alles ſey Verſtellung von ſeiner Frau, die er beſſer kenne; oder Erfindung von(II. Theil.) E66mir, die ſich mit nichts, als meiner guten Abſicht entſchuldigen ließe. Er ging in ſeiner Härte ſo weit, daſs er den Sohn, den ſeine Gemahlinn gebohren hatte, nicht für den ſeinigen erkennen und durchaus nicht auf ſeinen Namen getauft haben woll - te. Zwar achtete ich meines Theils darauf nicht; allein die Frau von Z*** hatte doch den Verdruß, daſs ihr dieſe ärgerliche Er - klärung ihres Gemahls mit einer recht un - beſonnenen Grobheit bekannt gemacht wurde. Dieſe und ähnliche Kränkungen fehlten nur noch, die Unglückliche um den kleinen Reſt von Hoffnung zu bringen, den ſie villeicht noch in ihrem Herzen un - terhalten mochte. Ihre Geſundheit nahm zuſehends ab, und ſie kam bald dahin, daſs ſie das Bette nicht mehr verlaßen konnte. Der Iunker blieb immer unerbittlich, und nur mein letztes dringendes Verlangen und67 die Betheurungen des Arztes, daſs die Frau von Z*** den folgenden Tag nicht über - leben würde, bewogen ihn einen Beſuch bey ihr abzulegen. Ich kündigte ihr den - ſelben an und ſie verlangte, daſs ich da - bey gegenwärtig ſeyn ſollte. Ach! — ſagte ſie; liebſter Magiſter! — und reich - te mir ihre zitternde Hand; auch dieſe Wohlthat bin ich ihnen ſchuldig. Sie er - füllen den letzten Wunſch meines Herzens. Nun will ich gerne ſterben. — Vater des Lebens! — rief ſie dann mit erhabner Stimme, die Augen gen Himmel gekehrt, aus; — unterſtütze meine ſinkenden Kräfte! Ich verlange mich ſelbſt nicht zu rechtfertigen; aber dieß unglückliche Kind, dieſe weinende Unſchuld! — Die - ſer Erhebung ihrer Lebensgeiſter folgte ei - ne ſtundenlange Kraftloſigkeit, in der ſie ſich zu dem einzigen noch bevorſtehenden,68 merckwürdigen Auftritte ihres Lebens zu erhohlen ſchien.
Gegen Abend trat der Iunker, nicht ohne alle Kennzeichen eines beunruhigten Herzens, ins Zimmer. Da er ſich ganz leiſe dem Bette ſeiner Gemahlinn näherte, ſo bemerkte ſie ihn faſt nicht eher, als bis ſie ihn ganz ſahe. Alsbald richtete ſie ſich mit einer außerordentlichen Anſtrengung nach ihm empor. —
Ach! ſie ſind es, liebſter Z***! Mich hat ſo nach ihnen verlangt. — Gottlob! daſs ich ſie noch einmal ſehe. — Nicht wahr? ſie finden mich ſehr verändert? Ich bin es auch wirklich! — Nicht mehr das leichtſinnige Weib! nicht mehr die fröh - liche Thörinn, die ihre Liebe verſcherz - te! — Ich ſterbe nun viel ruhiger, da ich ihnen geſtehen kann, daſs ich unweislich gehandelt; daſs ich ſie empfindlich belei -69 digt; daſs ich mich ſelbſt elend gemacht habe, mich, die ich mit ſo wenigen Ko - ſten ſo glücklich ſeyn konnte. — Nur Eine Bitte, liebſter Z***! Ich kann es wohl zugeben, daſs ſie gerecht handelten, da ſie mich ihren Zorn ſo nachdrücklich empfinden ließen; aber dieſe arme, ver - laßene Kreatur — iſt unſchuldig — iſt ihr Kind! — Sehen ſie: Ich gehe nach wenig Augenblicken villeicht zu meinem Richter; ich habe Zeit gehabt alles zu be - denken und zu überlegen. Sie hatten Grund, mich für ungetreu zu halten; es mußte ihnen ſo vorkommen. Aber ich war nur unbeſonnen; ungetreu nicht, nicht mit Einem Gedanken. — Ich bin immer nicht ohne Schuld; ich würde verzweifeln, wenn nicht der Gedanke an einen gnädi - gen Gott meine müde Seele erquickte. — Und doch, mein beſter Gemahl! — ſie70 können nicht argwöhnen, daſs ich ſie jetzt noch betrügen werde; — und doch geb’ ich dieſen einzigen, mir übrigen Troſt auf, wenn dieſer weinende Knabe nicht der rechtmäßige Erbe ihrer Güter und ihres Namens iſt. — Nun iſt es geſagt! — Hier ſank ſie in eine lange Ohnmacht zu - rück.
Herr von Z*** hatte dieſer ganzen Anrede in einer unbeweglichen Stellung, aber nicht mit einem unbewegten Herzen zugehört. Er verſicherte, nachdem er eine geraume Zeit mit ſich ſelbſt zu Rathe gegangen war, daſs er in einer Art von Verblendung geweſen ſeyn müße, und be - zeugte, unter Vergießung vieler Thränen, ſeine aufrichtige Reue. So bald ſeine Gemahlinn ſich ihrer ſelbſt wieder bewußt zu werden anfing, näherte er ſich ihrem Bette von neuem. — Meine theuerſte71 Aurora! — ſagte er, und küßte ihre er - kaltenden Hände; — ich weiß, daſs es zu ſpät iſt; aber es kann, und muß noch geſchehen: Ich gebe ihnen meine Liebe wieder. Ihr Sohn iſt der meinige! Ver - geben ſie mir! Mein künftiges Leben wird doch unglücklich genug ſeyn. — Die Sterbende konnte nur noch mit einem letz - ten freundlichen Lächeln antworten. Sie ſprach nachher nur wenige unverſtändliche Worte, und gab, noch vor Anbruch des folgenden Morgens, im Beyſeyn meiner, den Geiſt auf. Der Iunker beweinte ih - ren Tod lange. Nur der Anblick ſeines Sohnes, dem er nun ſeine ganze Zärtlich - keit ſchenkte, konnte ihm einigen Troſt geben. Ich beſuchte ihn täglich, und ich kann ſagen, daſs ich ſein Zutrauen in einem hohen Grade gewann, und daſs er nicht leicht etwas wichtiges ohne meinen Rath72 unternahm. Die Erziehung ſeines Sohnes wäre auch mein eigentliches Geſchäfft ge - worden, wenn es nicht der Vorſehung ge - fallen hätte, ihn, da er kaum das zweyte Iahr ſeines Lebens erfüllt hatte, von der Welt zu nehmen. Dieſer zweyte Schlag traf den Iunker auf das empfindlichſte. Die alten Wunden wurden dadurch wie - der aufgerißen, und, wie er ſelbſt ſagte, unheilbar gemacht. Er verfiel bald in ei - ne finſtre Melancholie, die ich, mit aller meiner Bemühung, nicht zu vertreiben vermochte. Einige Wochen vor ſeinem Ende diſponirte er über ſeine ausſtehende Kapitalien, die zu allerhand milden Stif - tungen verwandt wurden. Die Zinſen von tauſend Thalern legte er der Pfarre bey, unter der Bedingung: daſs ſeine Ge - ſchichte dafür in beſtändigem Andenken erhalten und von dem jedesmaligen Predi -73 ger, auf Verlangen, einem jedem Neugie - rigen mitgetheilt werden ſollte. Mir wur - de beſonders aufgegeben, für die Verfer - tigung ſeines Monuments zu ſorgen, zu welchem er die Inſchrift ſelbſt aufgeſetzt hatte. Ich kam die letzten Tage ſeines Lebens faſt nicht von ſeinem Bette. Die Umſtände ſeines Todes laßen mich nicht zweifeln, daſs er nicht zu einem unendlich glücklicheren Leben, als das glücklichſte hier unten ſeyn mag, übergegangen ſeyn ſollte. —
Hier endigte der Magiſter ſeine Ge - ſchichte. Wir dankten ihm auf das ver - bindlichſte, baten uns ſeine Geſellſchaft für den morgenden Tag aus, und ließen ihn, mit Anwünſchung einer guten Nacht, von uns.
Trauriges Loos alles irdiſchen Vergnü - gens! — Und wenn es noch ſo unſchul - dig wäre, ſo iſt es darum nicht minder hinfällig und vorübergehend. Die höchſte Freude wird nicht ohne Zuſatz genoßen; ſie enthält den Samen des Mißvergnügens in ſich, der, über kurz oder lang ſchon ſeine bittern Früchte hervortreiben wird.
Zärtlichliebende finden ſich nach einer vieljährigen Trennung wieder zuſammen. Die Tugend ſelbſt wird ihre Entzückungen rechtfertigen und die gütige Gottheit wird ihre Umarmungen wohlgefällig bemerken. Aber eben der ungefähre Zuſammenſtoß von Umſtänden, der ſie vereinigte, trennt ſie wieder. Es iſt möglich, daſs ſie ſich nie wiederſehen. Dieſer endliche Ab -75 ſchied, dieſe geſtammelten Worte, dieſe beredten Blicke, dieſe rollenden Zähren — ſind ſie nicht Zeichen einer beſchwerlichen Empfindung, die dem höchſten körper - lichen Schmerze gleich kömmt? — Muß - ten wir uns darum wiederſehen?
Kann man ſich etwas glücklicheres un - ter dem Monde gedenken, als dieſe genaue - ſte Verbindung gleichgeſtimmter Seelen, die den vollkommneren Eheſtand ausmacht? Was kann da fehlen, wo jeder Tag eine neue Freude herbeyführt, wo jede Freu - de durch die gefällige Theilnehmung ver - doppelt wird? Berührt Dieſe Saite, ſo zit - tert die andre mit! — Gleichwohl iſt dieß zärtliche Gefühl ſelbſt die traurige Urſach mancher Schmerzen, von welchen freylich der gröſſere Theil der Menſchen keinen Begriff hat; die aber den, der ſie leiden muß, nur allzuoft in dem Laufe ſeiner76 Vergnügungen aufhalten. Wir ſind nicht ungeſtöhrt glücklich. Jene genaueſte Ver - bindung iſt eben deswegen, weil ſie die genaueſte iſt, einer Menge wirklicher Ge - fahren, und bey zärtlichen Gemüthern, einer noch größern Menge von Beſorgniſ - ſen unterworfen.
Ieder Tag führt ſeinen wirklichen, oder eingebildeten Kummer mit ſich, der, wie die Freude, ſich durch gefällige Theilneh - mung vervielfältiget. Berührt Dieſe Saite, ſo zittert die übereinſtimmende mit! —
Hoheit, auch die, die man nicht von dem Glücke allein erhalten, Anſehn und Achtung unter den Menſchen, die man durch wohlthätige Verdienſte erworben hat, ſind wahre Vorzüge die den Wohl - ſtand desjenigen, der ſie beſitzt, um ein77 merkliches vergrößern können; aber ſie ſind ſo unbeſtändig, wie alle menſchlichen Begegniße überhaupt. Hoheit ſichert nicht vor dem Fall, und wenn ſie auf ei - nem noch ſo feſten Grunde ruhen ſollte. Das uneigennützigſte Verdienſt, wenn es bemerkt wird, iſt ein Dorn in den Augen der Scheelſucht. Oft genug gelingt es der Verleumdung den Unſchuldigen mit dem Böſewichte zu verwechſeln, und die er - weislichſte Tugend, wo nicht geradehin in ein Laſter zu verwandeln; doch auß mindeſte in den Verdacht einer allezeit ſchädlichen Gleißnerey zu bringen. Wenn nun auch die erhabne Seele des Weiſen un - ter dieſen Streichen der Bosheit nicht ganz erliegt, ſo iſt es doch unmöglich, daſs ſie durchaus nichts davon empfinden ſollte.
Das ſinnliche Vergnügen hat ſeinen einſchmeichelnden eigenen Reiz, der un -78 ſrer zuſammengeſetzten Natur vorzüglich gemäß iſt. Aber doch ſtellt es uns dem Ueberdruße blos, wenn es lange nachein - ander, ohne Abwechslung, (und eine be - ſtändige Abwechslung iſt nicht möglich;) genoßen, und doch macht es uns traurig, wenn es uns ſchnell entzogen wird. — Reichthum iſt nie ohne Unruhe; man mag ihn blos bewachen, man mag ihn ver - ſchwenden, oder vernünftig verbrauchen wollen. —
Und wenn ich mich in eine gelehrte Einſamkeit begeben, wenn ich mich aller menſchlichen Geſellſchaft entziehen, und mich der Wolluſt des Denkens überlaßen wollte; ſo würd’ ich auch da die reine Glückſeligkeit nicht finden, der ich ſo ſehnlich nachgehe. Der eingeſchränkte Geiſt ermüdet nur allzubald; die geſpann - ten Nerven erſchlaffen; ich fehe Augen -79 blicke kommen, wo ich Wahrheit verken - nen, wo ich Irrthum ergreiffen, wo ich das Schöne geſchmacklos, das Gute unaus - führlich finden werde. —
Wohlan denn! Ich will mich an Gott vergnügen. Die Religion ſey der Nerve meines irdiſchen Wandels! Das wird mich recht froh, das wird mich einer ununter - brochenen Ruhe theilhaftig machen. Ja, gewiß! Aber nicht hier, in der Kindheit, in dem hülfloſen Zeitraume meiner Exi - ſtenz. Es bedarf oft eines anhaltenden be - ſchwerlichen Kampfs, einer ſchmerzhaften wiederhohlten Verleugnung ſeiner ſelbſt, ehe man zu dem Grade des Wohlbefindens hinauf ſteigt, den die einfältige Recht - ſchaffenheit giebt. Und dann hat man doch die ſichre Höhe nicht erreicht; man iſt ihr nur näher gekommen. Das war80 alles was man konnte. Dein Werk, o Allgütiger! iſt es, uns dahin zu erheben, wo aller Mißklang eines unvollkommenen Lebens ſich in einen ewigen Wohllaut auf - löſen wird.
Wann ich unſre chriſtlich erzogene Iu - gend den Iudenkindern nachlaufen ſehe; wann ich bemerke wie dieſe von jener mit der muthwilligſten Grobheit beleidiget, ge - mißhandelt, geſchimpft werden: ſo gerath’ ich immer in einen heftigen Unwillen, den ich nur mit Mühe zurückhalten kann, daſs er nicht in Thätlichkeit ausbricht. — Woher anders dieſer aufkeimende National - haß, als von den Beyſpielen ungezogener Alten, und von dem in die jungen Herzen ausgeſtreuten Samen menſchenfeindlicher Maximen? Kenn’ ich nicht Leute, die es andern an Verſtand zuvorthun wollen, und ſich doch nicht zu behaupten ſcheuen, daſs der Begriff eines ehrloſen Betrügers, (denn(II. Theil.) F82ſo viel wollen ſie doch mit dem Worte: Schelm anzeigen;) einem jeden Iuden oh - ne Ausnahme zukomme? Kenn’ ich nicht Leute, die, in der gewißen Vorausſetzung: daſs ein Jude allemal betrüge; es nicht für blos erlaubt, ſondern gewißermaßen für nothwendig halten: durch einen wirklichen aktiven Betrug auf einen blos möglichen paſſiven zu prænumeriren? Kenn’ ich nicht Leute, deren gemeine Menſchenliebe, de - ren Mitleid, deren Höflichkeit ſelbſt er - ſchöpft iſt, wann es darauf ankömmt, auch nur Eine dieſer Pflichten, auch nur in ei - nem ganz geringen Grade gegen einen ar - men Iſraeliten zu beweiſen? — Es iſt ja nur ein Iude! — Iſt es nicht erſtaunlich, eine ſo abgeſchmackte Entſchuldigung aus dem Munde eines feinen Mannes zu hö - ren, der die Frechheit hat ſich einen Nach - folger des Ieſus zu nennen, der vor allen83 Dingen in die Welt gekommen war, die Herzen der Menſchen mit allgemeinem Wohlwollen zu erfüllen, und ohne Aus - nahme alle zu einer großen und glückli - chen Familie zu verbinden?
Doch ich höre auf zu erſtaunen, wenn ich finde, daſs es noch weit kleinere, ver - meynte Vorzüge giebt, als der Vorzug einer beſſern Religion iſt, um derentwillen ſich die Menſchen berechtigt glauben, andre geringer als ſich halten, oft verachten und zuweilen wohl gar beſchimpfen zu dürfen.
Unſre Iünglinge, die wir oft nur aus Stolz auf die Akademie ſchicken; ſtatt daſs wir ſie nach Einſicht bey einem ehrlichen Handwerker hätten in die Lehre geben ſol - len, deſſen Geſchäffte mehr Knochen als Geiſt erfodern; unſre aufgeblaſenen Iüng - linge, ſag ich, werden von frühen Iahren an ſchon mit ſo großer Einbildung von ſich84 erfüllt, werden ſchon ſo zeitig zu wichti - gen Herren gemacht, daſs ſie nachmals, wann ſie ſich von dem unmittelbaren Zwange ihrer Aeltern und Vormünder be - freyt und im gänzlichen Beſitz ihrer ſelbſt ſehen, zu zweifeln anfangen: ob außer ihnen noch jemand unter die Menſchen - kinder gerechnet werden könne. Wer ſich nur ein paar Tage auf einer und der andern deutſchen Univerſität aufgehalten hat, wird ſich leichter davon überzeugen können, als wir andern, die wir von der Wunderkraft der akademiſchen Luft viel zu ſehr überzeugt ſind, als daſs wir davon nicht den heilſamſten Einfluß auf den Ver - ſtand und die Sitten unſrer geliebten Zög - linge erwarten ſollten. Wir laßen es uns nicht träumen, daſs die Lieblinge der Gra - zien und Muſen gegen irgend jemand die Geſetze der Höflichkeit verletzen; einen85 ehrlichen armen Bürger zum Hutabneh - men zwingen; ihn, wenn er nicht ſogleich aus dem Wege geht, mit Ungeſtüm auf die Seite ſtoßen, oder auch nur vor den Ohren der Umſtehenden, mit einer ſchim - pfenden Benennung bezeichnen ſollten. Wir laßen es uns nicht träumen, daſs viele unſrer akademiſchen Lehrer ſelbſt die muth - willige Iugend durch ihr Beyſpiel zu dieſen ähnlichen Ausſchweifungen veranlaßen könnten. Was iſt es aber anders, wann ein Doktor der Rechte, auf die traurige Nothwendigkeit ſeiner Wißenſchaft ſtolz, auftritt — und eine jede andre Fakultät, als unnütz in Abſicht auf Vortheil und Eh - re verachtet? Was iſt es anders, wenn der vorgebliche Philoſoph die Verachtung er - wiedert — dem Vortrage des Rechtsge - lehrten alle Ordnung, der Kenntniß des Mediciners alle Gewißheit und dem Theo -86 logen alles eigene Denken abſpricht? — Die Poëten werden von einem guten Theile der eigentlich ſo genannten Gelehr - ten für überzählig, und, mit Erlaubniß zu ſagen; für die Trommelſchläger und Pfeiffer des Trupps gehalten. Dieſe rächen ſich für die Beſchimpfung dadurch, daſs ſie ihre Pfeile ohne Unterſchied auf alle abdrücken, und ſich für den Undank ihrer Zeit, den ſie deutlich genug erfahren, mit dem dankbaren Lobe der ſpäten Nachwelt tröſten, davon ſie, allem Anſehn nach, nichts erfahren werden.
In einigen Freyſtaaten, deren Größe von der Handlung herrührt, hab’ ich den Stolz der Kaufleute nicht minder beleidi - gend gefunden. Wenn man auch dem Gelehrten noch einige äußerlichen Ehren - bezeugung zukommen läßt, ſo hält man ſie im Grunde nur für nothwendige Uebel87 der Geſellſchaft, für geſchäfftige Müßig - gänger, die von einem Brodte zehren, zu deſſen Erwerb ſie nichts beygetragen haben.
Soll ich von dem Betragen des Adels gegen den Bürger reden? Von dieſem Ge - genſtande ſo vieler Satyren von Juvenals Zeiten an? Ich will nicht davon reden. Wen die Muſter eines wahrhaftig edeln Betragens, deren es doch hin und wieder einige giebt, die ich öffentlich nennen würde, wenn ich nicht ihre Beſcheiden - heit zu ſchonen hätte; wen dieſe nicht zur Nachahmung anreizen: mit dem hab’ ich in der That kein Wort weiter zu verlieren. Nur möcht’ ich meine gnädigen Damen ſo überzeugend als möglich verſichern, daſs ſie die allgemeine Verehrung, die ſie ſu - chen und die in der That ſo ſuchenswür - dig iſt, auf keine ſichre Weiſe erreichen88 werden; es wäre denn, daſs ſie ſichs an - gelegen ſeyn ließen, ſo wie an einer jeden Liebenswürdigkeit, ſo auch vornehmlich an Herablaßung und gefälligen Sitten, eine jede wohlgezogene bürgerliche Schöne zu übertreffen. —
Dem Soldaten, der in unſerm militäri - ſchen Zeitalter eine ſo anſehnliche Rolle ſpielt, wird man gern mit aller der Ach - tung begegnen, die er billiger Weiſe fo - dern kann; aber man darf es ihm doch wohl ſagen: daſs wir unſer Brod mit ihm theilen, daſs wir ihn mit einem Theile un - ſrer mühſeligen Beſchäfftigungen ernähren, und daſs er, uns zu beſchützen, nicht zu beſchimpfen geſetzt iſt? Dem gemeinen Manne möchte man ſo manche Beleidigung noch wohl überſehen; allein von den En - keln unſrer alten Helden, von der Blüthe unſers ehrenvollen Adels, von den Bürgen89 unſrer fortwährenden Sicherheit, von den künftigen Befehlshabern unſrer ſiegreichen Legionen möchte man wohl ein anſtändi - geres Betragen erwarten. — Wir Leh - rer einer Religion, bey deren erhabenſter Wahrheit ſie ſich zu einer unbeſtechlichen Treue gegen den Staat verpflichtet haben, was haben wir ihnen gethan, daſs ſie uns für Flende halten, für Störer alles Vergnü - gens, für Feinde ihrer Ruhe, denen man Grobheiten ſagen darf, wenn man will, und denen man Grimaſſen machen darf, wenn man luſtig iſt? Es iſt wahr, wir ſind Diener einer Religion, die ihren Neigun - gen zuwider iſt, die ſie ſich zu bekennen ſchämen; allein wir ſind mit ihnen Bür - ger eines Staats, der uns nicht dulden, nicht ernähren würde, wenn ihm unſre Dienſte ſo überflüßig wären; wir ſind Menſchen, und, wie wir es ohne Eitelkeit ſagen kön -90 nen nicht von der geringſten Gattung. Sie ſollten uns wenigſtens ertragen, wenn ſie uns auch nicht ehren wollten. —
Wir andern Grillenfänger, Pedanten und Schulfüchſe, (denn mit dieſen ſchö - nen Benennungen vergelten ſie es uns, daſs wir mehr gelernt haben als ſie;) wir ge - ben ihnen nur zu bedenken, daſs Unwiſ - ſenheit und Renommiſterey gewiß die ſchönen Eigenſchaften nicht ſind, durch welche man ſich einem Fürſten empfiehlt, den ſeine ausgebreitete Wißenſchaft, den ſeine mannichfaltige Kenntniß nicht gehin - dert hat, ſich zu einem Nahmen hinauf - zuſiegen, der in dem ſpäteſten Weltalter ein Gegenſtand einer allgemeinen Vereh - rung ſeyn wird.
Uns Kaufleuten, Künſtlern und Hand - werkern werden ſie nun wohl am wenig - ſten Rede ſtehen. Wir gehören allerdings91 zum Pöbel und ſie erweiſen uns Ehre ge - nug, wenn ſie uns ihre Gläubiger zu ſeyn erlauben. —
Hören ſie mich, wenn ich für Alle das Wort nehme! Ich wiederhohle die Ge - danken eines braven Mannes aus ihren Mitteln, der ſeinen Verſtand ſein ganzes Leben hindurch angebaut hatte, und der ein eben ſo gründlicher Gelehrter als wei - ſer Befehlshaber war. — Ich ſeh’ es gern, ſagte er einmal zu einer anſehnlichen Verſammlung ihm untergebner junger Kriegesbedienten; ich ſeh’ es gern, ihr Herren! daſs ihr etwas auf euch haltet; ich ſchätze den Mann von Ehre; ich werd’ ihn zu empfehlen wißen: aber ich möchte um vieles nicht, daſs dieſe hohe Meynung, die ihr von euch ſelbſt habt, in Verach - tung, oder wohl gar in Beleidigung gegen andre ausartete. Die Beleidigung würd’92 ich ahnden müßen, wenn ſie zu meiner Wißenſchaft käme; die übermüthige Ver - achtung würde ſich an euch ſelbſt rächen. Sind die andern Stände, den eurigen allein ausgenommen, alle verächtlich — ſo ſeyd ihr die Beſchützer eines elenden Haufens; ſo entehrt ihr euch ſelbſt, indem ihr andre entehren wollt.
Ich begleite dieſe flüchtigen Gedanken mit einigen Reflexionen, die mir dabey mit eingefallen ſind, die ich nachher ge - prüft, und zwar nicht neu, doch aber ei - ner genauern Ueberlegung werth und zur Sache gehörig gefunden habe.
Die verſchiedene Denkungsart der Menſchen machte mehrere Religionen un - vermeidlich. Wer von einer andern Re - ligionspartey iſt als wir, iſt darum kein Gegenſtand unſrer Verachtung; oder wir93 müßen zugeben, daſs er im Falle der über - wiegenden Macht gleiche Rechte gegen uns habe. Der Geiſt der beſten Religion iſt der Geiſt der Duldung und man kann ſicher behaupten: daſs eine Religion, die, mit Verdrängung aller andern, die herr - ſchende ſeyn will, unmöglich die beſte ſeyn könne.
Allgemeine Gleichheit unter den Men - ſchen, gedacht in völliger Beſtimmung, iſt ein Traum aus einer andern Welt, eine recht eigentlich utopiſche Grille. Eben die - ſe allgemeine Ungleichheit, wenn ſie nur verhältnißmäßig beſtimmt iſt, macht die Schönheit des myſtiſchen Körpers aus; iſt ein weſentlicher Beytrag zu dem vollkom - menen Ganzen, das man erhalten wollte. Kein Stand hat Urſach den andern zu ver - achten, ſonder welchen er ſelbſt aufhören94 würde ein Glied in der großen Kette zu ſeyn, die das Band aller politiſchen Glück - ſeligkeit iſt. Man erinnere ſich hier der berühmten Fabel des Menenius Agrippa.
Körperliche Gebrechan, angeborne Schwäche der Seelen, unverſchuldete Dürf - tigkeit, verdienen Mitleiden, Nachſicht und Wohlwollen. Verachtung, Spott, be - leidigende Beſchimpfung könnte nicht un - glücklicher angewandt werden, als eben hier.
Verſchuldete Unwißenheit, halsſtarri - ger Irrthum, kriechende Niederträchtig - keit, und die ganze Reihe der gröbern Untugenden, ſind allein Gegenſtände ei - ner vernünftigen Verachtung und zuwei - len einer wirkſamen Beſchimpfung. Da aber über die letztern das Erkenntniß und95 des Erkenntnißes Anwendung in vielen Fällen dem weltlichen Richter zuſteht: ſo bleiben unſrer äußerlichen, erklärten Ver - achtung in der That nur eine kleine Anzahl von Gegenſtänden übrig. Und auch da - bey iſt die gewißenhafteſte Behutſamkeit nöthig, damit nicht die allgemeine Men - ſchenliebe verloren gehe, die durch die ge - gründeteſte Verachtung doch niemals auf - gehoben werden muß.
Wann ich eine Zeit lang den Geſchäff - ten dieſer Erde nachgegangen bin, wann ich mich an ihren Freuden geſättiget habe: dann iſt es oft eine ſüße Erhohlung für mich, entweder allein einen Flug in die Zukunft hinauszuwagen; oder meine wei - ſeren Freunde zu meiner Begleitung auf - zufordern. Betrachtung eines andern Lebens, Betrachtung einer künftigen Welt! eine gemeine Seele erhebt ſich nicht bis zu dir; du biſt ferne von dem Menſchen, den die Sinnlichkeit feßelt, der des Denkens ungewohnt, der unverſchul - det, oder verſchuldet unfähig dazu, ſein trauriges Leben verſchlummert. Aber herzerweiternd biſt du einer jeden edleren97 Seele; willkommen dem Erkenntnißbegie - rigen, der auch hier oft einen unentdeck - ten Stern ſieht, oder auch, wo er ihn in der leeren Tiefe nicht ſieht, mit einer Art von Vergnügen vermuthet; willkommen dem Tugendfreunde, dem du die ſinkenden Flügel erhebſt; willkommen auch mir, den die Nacht einſamer Wälder, wie einſt den maleriſchen Sänger der Alpen, deinen Lieb - ling, zu ernſten Gedanken begeiſtert. —
Es kömmt eine Zeit, und villeicht iſt ſie näher, als ich jetzt glaube, da ich nicht in dieſer ſichtbaren Geſtalt mehr dieſen bluhmichten Fußſteig betrete; da dieſe romantiſche Wildniß ſich nicht mehr in dieſen Augen abbilden, da dieſer erfri - ſchende Schatten mich nicht mehr mit ei - nem ſüßen Troſte durchſchauern wird. Die Zeit kömmt gewiß, da man mich, wie den Bettler, der an der Landſtraße ſtarb,(II. Theil.) G98vor dem Anblicke meiner Mitmenſchen, in den Schooß der mütterlichen Erde ver - birgt. Meine Freunde werden mich vil - leicht beweinen; aber dieſer ſichtbare Ue - berreſt meines ehmaligen Ichs wird doch bald genug der Gegenſtand ihres Abſcheus ſeyn und mit ihrem guten Willen, wie eine jede andre abgenutzte Maſchine, der Zer - ſtörung überlaßen werden. Was wird dann dieſer denkenden Kraft begegnen, die, aus ihrem Kreiſe gerißen, in eine unermeßli - che Wüſte verſtoßen zu ſeyn ſcheinet? —
Villeicht daſs ſie, wie die Flamme des Lichts, ihre beſtimmte Zeit brannte, daſs ſie den ganzen Vorrath ihrer Nahrungs - mittel aufzehrte, und dann für immer er - loſch; — villeicht daſs dieſe Flamme, in einen ſchwachen lodernden Funken ver - wandelt, unter einem Gebürge von Aſche, ewig fortglüht; — villeicht daſs die -99 ſer Funke, nach und nach einen andern entzündet, und nach einem langen Zwi - ſchenraume von Iahren, in helle Flammen aufſchlägt; — villeicht auch daſs ihn ein Sturmwind der Allmacht erweckt, und er aus den Trümmern ſeines ehmaligen Wohnſitzes auf einmal hervorbrennt. —
Schrecklich und ſchauervoll iſt der Ge - danke, daſs ich, aus der Reihe der Weſen vertilgt, zu ſeyn aufhören ſoll. Der ver - ruchteſte Böſewicht ſelbſt kann ihn ohne Entſetzen nicht denken, wenn er ihn an - ders denken will. — Vernichtet! — Lieber unglücklich ohne Ende! Vernich - tung iſt endloſes unbegränztes Unglück. Es iſt doch Etwas, zu ſeyn! Mag doch die Bedingung ſeyn, welche ſie will! — Aber iſt der ganze Fall nicht undenkbar? Iſt der ganze unbeſonnene Wunſch, wenn er je - mals von einem verzweifelnden Thoren ge -100 wünſcht wurde, nicht eine Chimäre? — Wie wirkſam war ich nicht, dieſe dreyßig Iahre meines eigentlichen Lebens hin - durch! Wie mannichfaltig waren die Fol - gen meiner handelnden Kräfte! Unbe - rühmt iſt mein Nahme; aber an ſo man - chen Orten weiß man gleichwohl von mei - nem Daſeyn. Ich that vieles für mich und für andre; ich ſtand in ausgebreite - ter Verbindung. Noch mehr! ich war, obzwar ein unendlich kleiner, doch ein ſehr reeller Theil dieſes Weltalls. Unend - liche Zufälligkeiten, unendliche Verhält - niße hingen von mir ab. Der Allmächti - ge vernichte mich: ſo ſind alle dieſe Wir - kungen, alle dieſe Zufälligkeiten, alle dieſe Verhätniße zugleich mit mir vernich - tet. — Mein Untergang, der Unter - gang eines ſo unbeträchtlichen Dinges, iſt doch immer der Untergang einer Sonne,101 die ein ganzes Planetenſyſtem mit ſich in den Abgrund fortreißt. — Und der Ur - heber einer überhaupt ſo gewaltſamen, und für mich inſonderheit ſo traurigen Verän - derung, iſt Gott! — Gott zerreißt die Kette, die ich, von ſeinem Throne an, durch die ganze Schöpfung fortführe. Er iſt es, der dieſe zahlloſe Menge von Reali - täten aufhebt, und unendliche Verneinun - gen an ihre Stelle ſetzt. Er der Vollkom - menſte! — Wer kann Das denken? — Ieder einfache Theil der Welt iſt ſchon, um ſeines allgemeinen Zuſammenhangs willen mit allen übrigen, frey von der Vernichtung. Und meine Seele ſollt’ es nicht ſeyn? Der Würgengel ſollte das Volk in allen Reichen der Welt verſchonen, und nur die Könige ſchlagen? —
Ich werde alſo fortdauern! — Aber wie? Wie ein todtes Sandkorn villeicht in102 der Zuſammenſetzung eines Felſenſtücks? Wie das Rad einer Maſchine villeicht, oh - ne zu wißen, ob ich Etwas, oder Nichts zu dem Laufe des Ganzen beytrage? Was bin ich Damit gebeſſert? Ich fülle nur, wie ein ſtummes Mitglied meiner großen Geſellſchaft, einen ledigen Platz aus. Das iſt es alles. — So tief bin ich gefal - len! — Wie geſchahe das? Wie konnte das geſchehen? — Hier erwarb ich eine Menge der nützlichſten Kenntniße; hier lernt’ ich Begriffe bis zu den höhern Gra - den der Deutlichkeit entwickeln, aus ver - verbundenen neue herleiten; hier lernt’ ich die Scheidekunſt der Wahrheit; hier erfand ich das Neue aus dem Alten, den - ken, reden, ſchließen, wollen und nicht wollen, war mein tägliches Geſchäffte. Und dieſen fruchtbaren Samen hätt’ ich in einen todten Boden geſtreut? Von einer103 ſo reichen Ausſaat ſollte kein Körnchen entrinnen? Es mag ſeyn, daſs mich nach einer Thätigkeit von ſolcher Dauer und Größe ein verhältnißmäßiger Schlummer überfällt! Aber ſollt’ er ewig auf mich lie - gen? ewig die Federn meiner Seele läh - men? Das iſt unwahrſcheinlich zum Er - ſtaunen! — Man kann, ohne ſchädliche Folgen villeicht, eine geraume Zeit lang, in einem Pulverhauſe mit brennender Lun - te herumlaufen; aber es iſt der Natur der Sache gemäß, daſs doch endlich ein Fünk - chen ſich losreißen und die ſchrecklichſte Entzündung veranlaßen werde. Ich kann es nicht gewiß machen, wie ich die ewi - gen Wahrheiten der Meßkunſt gewiß zu machen im Stande bin: daſs ich zu jener meiner nur unterbrochnen Geiſteskraft, von neuem gelangen, daſs ich dann wie - der zuſammenhängend denken, daſs ich,104 mit Bewuſtſeyn meiner ſelbſt, einer aufge - heiterten Erkenntniß gemäß handeln wer - de. Das Gegentheil bleibt immer mög - lich. Die Nothwendigkeit bis ins Unend - liche fortzudenken, kömmt dem vollkom - menſten Weſen allein zu, und kann nur aus dem größten Beyeinanderſeyn alles Reellen überzeugend begriffen werden. Genug, daſs ich meine Wiederherſtellung mit einer Wahrſcheinlichkeit, die der Ge - wißheit nahe kömmt erwarten; genug, daſs ich ihr Gegentheil kaum Einmal in ei - ner finſtern Stunde meines Lebens beſor - gen darf! —
Wie bald? und auf welche Weiſe ich zu meiner verlornen Geiſtigkeit wiederge - langen werde? iſt nur Vermuthung. Mein Tod iſt villeicht nur eine flüchtige Früh - lingswolke, die das Antlitz der Sonnen wenige Minuten lang verhüllt. Villeicht105 daſs ich, wie aus einer Ohnmacht, erwa - chen und meine gewöhnlichen Geſchäffte, nach einer kurzen Erhohlung, in ſo weit ich ſie, meiner veränderten Lage gemäß, fortſetzen kann, bald genug fortſetzen wer - de: — Dieß iſt der gemeine Glaube, der mit einigem Scheine vertheidigt, ganz ge - wiß aber auch aus der Natur der Seele ſelbſt mit Erfolg beſtritten werden kann. Eine ſo erſtaunliche Veränderung kann, wenn ich nach ähnlichen Fällen ſchließen darf; für mich nicht anders vollzogen wer - den, als daſs ich in eine lange Betäubung verſinke, als daſs ich, villeicht nach einem Zeitraume von mehreren Iahren und durch die Zwiſchenkunft mancher großen Bege - benheiten, erſt wieder zu einem völligen Bewußtſeyn meiner ſelbſt gelange. Die höchſte Kraft kann auch hier etwas außer - ordentliches wirken; ſie kann die Dauer der106 Betäubung, die ſich meiner gewiß bemei - ſtern wird, wie ſie will, verkürzen oder verlängern. Der Augenblick meines To - des kann die ſchmale Gränze ſeyn, über die ich zu einem neuen Leben hinweg - ſchreite. Oder wenn es ſeyn ſoll, daſs ich ſterbend in einen langen Schlummer verfalle, ſo kann ich villeicht, mit meiner Vorwelt und Nachwelt zugleich, ohne Vorbereitung, von dem Geräuſche eines einzigen welterſchütternden Donners plötz - lich erwachen. — Das kann ſeyn; aber wer leiſtet mir die Gewähr, daſs es auch wirklich ſo ſeyn werde? Einem längern Schlummer reden das denkende Alterthum und die heiligen Schriftſteller ſelbſt das Wort. Der Tod wird bey ihnen, nicht blos mit dem Schlummer verglichen; ſon - dern ſelbſt Schlummer genannt, anhalten - der Schlummer, Ruhe. Ein plötzliches107 Erwachen der ganzen geiſtigen Menſchen - welt, aller, die die Welt in ihrer Iugend ſahen, aller, die noch ſind, und bis zu dem Rufe des Erzengels ſeyn werden, — iſt der Glaube derer, die ſich dem Begriff einer allgemeinen Auferſtehung nicht ge - nug entwickelt haben, um ihn von ähnli - chen unterſcheiden zu können. Die Ver - nunft findet ein allmähliges Erwachen Ei - nes Entſchlafenen nach dem Andern un - gleich verſtändlicher. Tauſend Urſachen: bald ein geübterer Verſtand, bald eine rei - nere Tugend, können ein früheres Erwa - chen einer und der andern Seele befödern, und noch mehrere villeicht, den Schlum - mer verlängern, oder auch minder erquik - kend machen. — Auch dieſen unerkann - ten Bewegungsgrund zur Weisheit und Tugend, ſo klein und verächtlich er ſchei - nen mag; will ich nicht unbemerkt laßen.
108Es wird alſo eine Zeit für mich kom - men, da ich mich von neuem fühlen; da ich Gedanken aus Gedanken erzeugen; Entwürfe erfinden, genehmigen, vollfüh - ren werde. Iſt es wahrſcheinlich, daſs ich dann, wie aus dem Leibe meiner Mut - ter, ohne von meinem vormaligen Leben das mindeſte zu wißen, die Bühne betre - ten, und von einer neuen Kindheit des Geiſtes, allmälig wieder zu einem reiferen Alter fortſchreiten werde? —
Nein! Lethe, mit deinen bluhmichten Ufern, du biſt nur ein reizend Gedicht! Nur in der glühenden Einbildung der Mantuaniſchen Muſe beſpülſt du Elyſiens Fluren! Dich erkennt die überlegende Vernunft nicht! — Ich ſoll fortempfinden, forturtheilen, fortbegehren? Warum nicht auch einen vormaligen Gedanken wieder denken? Warum nicht von einer gegen -109 wärtigen Empfindung auf eine vormalige ähnliche zurückkommen? Ich ſoll Gleich - heiten bemerken? Warum nicht unte ge - genwärtigen und vergangenen Dingen? Man giebt ein ewiges Fundament zu, dar - auf nie fortgebaut werden ſoll; ewige An - lage, ohne Ausbildung. Das iſt unna - türlich!
Aber wie? wenn nun in meinem Ge - hirne der Grund meines Denkens liegt? Wenn beſonders meine Einbildungskraft, wenn die Wiedererinnerung des Vergan - genen davon abhängt? In meinem gegen - wärtigen Zuſtande iſt es ſo. Wird es in einem veränderten anders ſeyn? Wenig - ſtens weiß ich, aus Gründen, die ich mir längſt entwickelt habe, daſs meine Seele für ſich ſelbſt Kraft, und auch ohne die Zwiſchenkunft dieſer ſo gebrechlichen Ma - ſchine, zu unzähligen Wirkungen aufgelegt110 iſt. Wenigſtens bin ich durch die Erfah - rung belehrt, daſs Eine Wirkung die Fol - ge mehrerer Urſachen ſeyn kann. Wenn es nun ſonſt wahrſcheinlich iſt, daſs ſich eine Begebenheit, auch ohne ihre gewöhn - liche Urſach zutragen werde: ſo iſt es auch wahrſcheinlich, daſs ſie in andern Urſachen gegründet ſeyn könne. Und wie viele Wahrſcheinlichkeiten, die dieſer bey wei - tem nicht gleich ſind, giebt es nicht in dem Leben des Menſchen, die ihn, wie Gewißheiten, oft zu den wichtigſten Hand - lungen beſtimmen, und auch beſtimmen müßen!
Dieſe Unſterblichkeit meiner denken - den Kraft in ihrem edelſten Sinne, iſt doch immer die Seligkeit ſo vieler Millionen, die ohne ſie verloren ſeyn würden, die Seligkeit eines ganzen Weltballs, der doch immer in dem Unermeßlichen eine be -111 trächtliche Stelle ausfüllt; die Quelle ſo vieler, und unter ſo vielen der erhaben - ſten Tugenden. Sie rechtfertigt den Schö - pfer vor ſeinen Geſchöpfen; wirft auf alle ſeine liebenswürdigen Eigenſchaften ein glänzendes Licht; verklärt ſeine höchſte Weisheit und macht ihn zum Vater von uns allen.
Wo lebten jemals große und edelge - ſinnte Menſchen, deren Seelen nicht von dem Schimmer dieſer Wahrheit gerührt, nicht zu irgend einer außerordentlichen Wirkſamkeit fortgerißen wurden? Unter den bekannteſten Völkern aller Zeitalter war die Fortdauer der Seele nach dieſem Leben ein alter, eingeführter Glaube. Vil - leicht daſs eine von Vater auf Sohn fortge - pflanzte höhere Offenbarung dieſe Mey - nung veranlaßet, villeicht daſs ſie der Nach - denkende ſelbſt gefunden hatte. Genug,112 daſs ſie auch durch den Nebel der Fabel hindurchſcheint! So viele Dichter erkann - ten unſern himmliſchen Urſprung, und er - warteten eine Rückkehr zu den Wohnun - gen der Götter. Man erkannte einen ge - heimen Trieb nach Unſterblichkeit. Die edlere Ehrbegierde ſelbſt wünſchte, noch nach dem Tode etwas von ſich erfahren zu können. Freylich wurde dieſe Erkennt - niß von manchem Vernünftler bezweifelt; freylich war ſie in den meiſten Menſchen, ſo unvollkommen, ſo dunkel und ſo wenig gewiß, daſs davon nur für das Wohl der Welt ein geringer Nutzen erwartet werden konnte. Wenn auch ein Sokrates ſeiner Sache einigermaßen gewiß war, ſo wurden ſeine Gründe doch nur wenigen bekannt, und ſeine Schüler trugen villeicht ſelbſt da - zu bey, daſs eine ſo wichtige Lehre für den größten Theil des Menſchengeſchlechts113 verloren ging. So war es denn allerdings, auch von dieſer Seite betrachtet, die wohl - thätigſte Veranſtaltung Gottes, daſs er einen erleuchteten göttlichen Mann in die Welt ſandte, eine Lehre zu verkündigen, an de - ren Wißenſchaft einem jeden Sterblichen ohne Ausnahme gelegen ſeyn mußte. Ich finde hierin für die Wahrheit des Chriſten - thums einen Beweis, der für mich einer der überzeugendſten iſt. Keine andre Religion, von der ich nur jemals gehört habe, beſchäfftigt ſich mehr mit meinem künftigen Leben; verſichert mich mehr davon; ermuntert mich mehr, mich des - ſelben werth zu machen. Schreckliche Wahrheit für jeden, der ihre heilſamen Wirkungen in ſich zerſtört! Traurige Vor - ſtellung, daſs es Leute giebt, die ein künf - tiges Leben erwarten, und doch nicht an - ders handeln, als ob dieſe Erwartung ein(II. Theil.) H114Traum wäre! — Ich will mich von ihnen entfernen. Ich bekannte mit meiner Rede die endloſe Dauer meines Geiſtes: Ich will ſie auch mit meinem Wandel be - kennen. —
Was für Veränderungen dieſe wandel - bare Maſchine, die ich beſeele, treffen werden; ob mein Geiſt ſich auf immer von ihr trennen, ob er nur, wie ein Pilgrim, Eine Herberge verlaßen wird, um nach wenigen Stunden villeicht eine andre zu beziehen; oder ob er ewig für ſich bleiben, und nie wieder mit einem Theile der Materie in Verbindung tre - ten wird? Dieſe und ſo manche andre Fragen von der Art, ſind freylich von minderer Wichtigkeit; doch aber der be - ſcheidenen Unterſuchung nicht unwerth. Ich werde doch etwas darauf antworten können.
115Ich bin für immer ein Glied in der großen Kette aller wirklichen Dinge. Es iſt ausgemacht: Kein Zufall wird jemals den Zuſammenhang unterbrechen, in wel - chem ich mit dieſem unermeßlichen Gan - zen ſtehe. Doch werden einige Theile deſſelben meinen unmittelbaren Einfluß erfahren und in mich auf gleiche Weiſe zurückwirken. Dieſe Theile, von welcher Beſchaffenheit ſie auch nur immer ſeyn mögen, nenn’ ich meinen Körper, mit eben dem Rechte, wie ich jetzt dieſe mir gehörige Zuſammenſetzung feſter und flüſ - ſiger Theile mit dieſem Nahmen belege. Mein jetziger Körper bleibt, genau zu re - den; keinen Augenblick lang derſelbige. Kein Tag, da ich nicht unzählige ſeiner Theile verliere, da ich dieſen Verluſt nicht auch wieder durch andere reichlich er - ſetze. Solchen Veränderungen bin ich116 für immer unterworfen. Mein Tod iſt eine der wichtigern. Denn wer kann ſa - gen, daſs ich nicht noch wichtigere, in al - len zahlloſen Zuſtänden meiner unbegränz - ten Fortdauer, erfahren werde? Es be - fremdet mich um ſo weniger, daſs ein be - ſtimmter Theil der Körperwelt für immer mit zu meinem Ich gehören ſoll; da ich weiß, daſs ſo viele Ordnungen des Geiſter - reichs zu einer ähnlichen Verbindung be - ſtimmt ſind, und der unendliche Geiſt al - lein nur in der vollkommenſten Bedeutung für ſich beſtehn kann.
Ueber die beſtimmtere Beſchaffenheit des Körpers, den meine Seele mit meinem Tode zu dem ihrigen machen wird, hab’ ich nie geträumt. Ich weiß nur, daſs die meiſten Vermuthungen davon auf ſchwa - chen Gründen ruhen, und zum Theil lä - cherlicher ſind, als ſie es in einer ſo ernſt -117 haften Sache ſeyn ſollten. Bald ſoll ich, in ein Samenkörnchen verbannt, meinen mütterlichen Boden durchbrechen und in irgend einem nützlichen Kraute, oder in einer anmuthigen Bluhme, die Gartenbeete meiner Nachwelt ſchmücken; bis es vil - leicht einem meiner Enkel gefallen wird, mich zu einer Vorkoſt, oder zu einem wohlriechenden Strauße für ſeine Schöne zu beſtimmen. Bald bedroht man mich, daſs ich in dem Leibe eines Thieres, in dem genaueſten Verhältniße, die Vergehungen büßen ſoll, deren ich in dieſem Leben ſchuldig geworden bin. Wer iſt mir dann Bürge, daſs ich nicht in einem engen Kä - ficht von Holz oder Eiſen, bey geringer Koſt, mein Leben verſingen; wer iſt mir Bürge, daſs ich dereinſt nicht, mit ſchim - mernden Gefieder, von Bluhme zu Bluhme flattern, und nach einer Sommermonds -118 freude, in der Hand eines muthwilligen Knaben, meinen Reiz und mein Leben verlieren werde? — Bald nimmt man die Anzahl der Menſchenſeelen ſo klein, die Anzahl der menſchlichen Körper aber, die zum Daſeyn gelangen ſollen, ſo groß an, daſs es unmöglich ſeyn würde dieſe zu beleben, wenn man nicht Einer und derſelben Seele den Uebergang in mehrere Körper verſtatten wollte. Ich erinnere mich zwar nicht, daſs ich, wie Pythagoras, vormals, in der Geſtalt des Euphorbus, für den ſchönen Sohn des Priamus kämpfte; aber es könnte doch wohl ſeyn, wenn ich nach dem Antheile urtheilen darf, den ich an Einer Begebenheit mehr als an der an - dern nehme; daſs ich mich ehemals für den Schwediſchen Guſtav verwandte, und in irgend einem rühmlichen Gefechte für ihn mein Leben verlor; es könnte doch119 wohl ſeyn, daſs ich, aus heroiſcher Nei - gung zu einem andern meiner Helden, ſein Pferd mit dem meinigen vertauſchte, und dieſen patriotiſchen Tauſch mit dem Leben bezahlte. Doch von dem allen weiß ich ja nichts; das Andenken dieſer Begebenheiten iſt ganz aus meinem Gedächtniße vertilgt. Und das würde doch nicht ſeyn, wenn das alles nicht Träume wären, die der ſpielen - de Witz der Menſchen erdacht hat. —
Kann man denn aber hier nichts, als träumen? — Wie? wenn ich die ganze Geſchichte meiner bisherigen Verwandlun - gen, ſo weit ſie innerhalb meines Beobach - tungskreiſes liegt, zurückgienge? Wie? wenn ich die Art meiner Zuſammenſetzung genauer ſtudierte, und dann aus dem, was ich nach und nach war und was ich noch bin, etwas von dem was ich werden ſoll vermuthete?
120Erſt war ich in dem großen Unſicht - baren. Schon damals ein einfaches We - ſen, mit einem Körper verbunden. Doch klein über alle Vorſtellung, dem bewaffne - ten Auge des geübteſten Beobachters un - erreichlich. Die Zeit kam, da ich zur Er - ſcheinung reifen ſollte. Aber noch immer war ich ein Wurm, der einen Waßertro - pfen für ein Weltmeer gehalten haben würde. So haben alle Körper ihre weſent - lichen Grundtheile, ihren eigenthümlichen Stoff, der in eine unendlich kleine Maſſe zuſammenfällt. Eine bewundernswürdige Veranſtaltung machte, daſs ich, durch tau - ſend Wege, zuletzt zu einem Theile der Materie gelangte, der vor allen übrigen geſchickt war mit mir zu einem Ganzen zuſammenzuwachſen. Eigenthümlicher auf - geſchwollener Stoff, mit erworbenem neuen, mehr und minder zuſammenhän -122 genden verbunden, war nun mein Leib, mit dem ich Erſcheinung wurde, der nach und nach mehrere Theile der Körperwelt an ſich riß und zu dieſer größern Geſtalt erwuchs. — Aber dieß Wachſen wird ein Ende nehmen.
Jetzt fühlet ſchon mein Leib die Nähe - rung des Nichts. — Eine Zeit kömmt, da ich dieſe Eroberun - gen verlieren, da ich, ſo arm als jemals, in das große Unſichtbare, aus welchem ich gekommen bin, zurücktreten werde. Nicht körperlos; meine weſentlichen Beſtand - theile werden mich auch Dahin begleiten. Man ſage nicht, daſs ich dann auch, wie in dem nähmlichen Zuſtande vormals, Iahrhun - derte lang, bis zu einer neuen Verwand - lung, in gänzlicher Gedankenloſigkeit zu - bringen werde. Vormals war ich Nur fähig; nun bin ich geübt. Meine Möglichkeit zu123 denken iſt zu einer großen Fertigkeit er - höht, und bey dem erſten Anſtoße bereit, zu einer neuen Wirklichkeit zu gelangen.
Daß ich endlich wieder einmal, am Ende eines Platoniſchen Iahres villeicht, oder wer weiß, wann? mit einem ausge - dehnteren Körper ans Licht treten werde, iſt der räſonnirenden Vernunft freylich nicht erwieſen gewiß; aber es widerſpricht ſich doch auch im mindeſten nicht; es iſt nicht wider die Natur, und die Art und Weiſe wie es geſchehen kann, iſt nicht ſchlechterdings über unſre Begriffe. Der Natur gemäß iſt es, daſs ich nach und nach den und jenen Theil des vollen Raums mit mir verbinde; es wird dann nach unzählichen ſolchen Veränderungen endlich einmal geſchehen müßen, daſs ich auf ſolche Theile komme, die meinen ei - genthümlichern vor andern ähnlich ſind;124 mit dieſen werd’ ich genauer, werd’ ich länger zuſammenhängen, mit dieſen werd’ ich eine größere, in die Sinne fallende Ausdehnung gewinnen, mit dieſen werd’ ich zuletzt, in eine neue Geſtalt umgebil - det, hervortreten, die vor allen übrigen die ich annehmen könnte, meiner gegen - wärtigen die ähnlichſte ſeyn wird. Zu ei - ner ſolchen Umbildung ſind gewiß einige weſentlichere Theile meines vormaligen Leibes die geſchickteſten. Dieſen kann ich mich villeicht, aus eigner Einſicht von neuem nähern; oder es kann ſeyn, daſs eine verborgne Hand die ganze Maſſe des menſchlichen Staubes ihrer neuen Beſtim - mung nahe bringt, daſs durch irgend eine uns unbekannte Kataſtrophe, einem jeden ſo viel von dem Seinigen zugeführt wird, als er zu ſeiner Wiedererſcheinung nöthig hat. Denn wenn gleich tauſend Zufälle125 den feinen Samen der Bluhmengefilde in alle vier Winde verſtreuen, wenn gleich von ſo vielen anmuthigen Geſtalten keine Spur übrig bleibt: ſo bringt doch der kom - mende Frühling, Thau und Regen, und der Sonne beſeelender Stral die ganze himmliſche Scene, den bunten Schmuck der Thäler zurück. —
Die Art und Weiſe wie ich nach die - ſem Leben empfinden, wie ich den Ein - druck äußerer Gegenſtände annehmen, wie ich in die materielle Welt zurückwirken werde, wird freylich von meinem jetzigen Leiden und Thun weit, weit unterſchieden ſeyn; aber viel davon zu beſtimmen, wer darf ſich das getrauen? Der Tod, ſagt man; wird die Reihe meiner Vorſtellun -126 gen nur dem Scheine nach unterbrechen. So fällt ein Strom von einer Felſenwand hinunter, um tief im Thale mit ungeſtü - merer Heftigkeit fortzurollen. Dieſe Ver - wandlung wird alle meine geiſtigen Ver - mögen erhöhen: die Empfindungen er - leichtern, der Einbildungskraft einen ſtär - kern Schwung geben. Mein Empfindungs - kreis ſelbſt wird ſich vergrößern; aber ich werde zugleich auch ſcharfe Blicke bis auf den Grund ſo mancher Dinge thun, von welchen ich jetzt kaum die Oberfläche be - merke. Dann wird auch meine Geſchäff - tigkeit wachſen. Ich werde mich zu groſ - ſen Entwürfen aufgelegt fühlen. Schwie - rigkeiten, die ich mich hier nicht zu be - rühren getraute, werden dort wie ein leich - ter Nebel verſchwinden; ich werde allent - halben einen ebenen Weg ſehen. Mit ei - nem Körper von Luft, oder Aether, werd’127 ich den Winden zuvoreilen. — Wie leicht werd’ ich dann nicht meine geſelligen Trie - be befriedigen! Ich werde meine verlore - nen Freunde zuerſt aufſuchen; ich werde ſie bald wiederfinden; ein geheimer Zug wird mich ihnen nähern. Welche ent - zückende Freude, wenn wir einander zu - rufen werden: Das iſt er, der Freund meiner Iugend! — Das iſt ſie, meine Ro - ſalia, meine Freundinn, meine Liebe! — Und die großen Männer der Vorwelt; die Wohlthäter des ganzen menſchlichen Ge - ſchlechts; die unſterblichen Weiſen; die Väter der Völker, deren Schriften ich be - wundre, deren Thaten ich mich, ſo viel an mir iſt, nachzueifern beſtrebe; ſie alle werd’ ich von Angeſicht zu Angeſicht ſe - hen; mit ihnen werd’ ich mich von Weis - heit und Tugend unterhalten; Iahrhunder - te werden vergehen, wie meine froheſten128 Stunden anjetzt. — Wenn dieß Träume ſind, ſo ſind es aufs mindeſte Träume von einer gewißen Größe und Anmuth; Pro - dukte eines edeln Geſchmacks, einer er - habnen Einbildungskraft, einer Homeri - ſchen Begeiſterung. —
Wie das Schema unſers unſterblichen Geiſtes beſchaffen ſeyn müße, ſolcher Ein - drücke empfänglich zu werden, ſo viel, ſo ſtark zu empfinden, ſo Vieles und ſo leicht zu thun; dieß alles iſt wieder nur ein Ge - genſtand der ſchüchternen Vermuthung. O ihr, die ihr ſchon zu der Würde erhöht ſeyd, die wir lange nach euch erſt erlangen ſollen; die ihr ſchon an der Quelle ſeyd, glückliche Bürger der unſichtbaren Welt!
Ich kehre zu einer zuverläßigern Er - kenntniß zurück, zu einem göttlichen Lich - te auf dem dunklen Wege des Lebens, zu der grofsen Folge meiner geiſtigen Fort - dauer; um derentwillen mein unendliches Daſeyn allein meines brennenden Wun - ſches werth iſt. —
Ich werde mein geiſtiges Leben fort - ſetzen. Aber wie? — In aller Abſicht als eine Folge des gegenwärtigen.
131Hier war ich gut und böſe; aber eins von beyden überwiegend. Das werd’ ich dort auch ſeyn. So will es die Natur ei - nes freyen Weſens. Glückſelig oder un - glückſelig zu ſeyn, iſt meine immerwähren - de Beſtimmung. — Hier fand ich Un - glück in dem Hauſe des Rechtſchaffenen; hier ſah ich den ſorgloſen Böſewicht in ei - nem ununterbrochnen Wohlergehn ſeine Tage verleben. Dieß Verhältniß kann nicht fortdauern. Gott iſt gut und gerecht. Er muß den Tugendfreund wie den Skla - ven der Laſter zu einem künftigen Leben aufbehalten; er muß ſich an beyden recht - fertigen.
132O du, den ich über alle hinfälligen Gü - ter des Lebens liebe; o du, dem ich allein vertraue; du Freude meines Herzens von meiner Iugend an! — Soll ich es nicht von deinem väterlichen Wohlwollen erwar - ten, daſs du mich auch dort in einem recht - ſchaffenen Wandel erhalten, daſs du mich dort inniglich beſeligen, daſs du mich dort überſchwenglich beglücken werdeſt? Ia! ich erwarte es mit Zuverſicht. O du Welt - richter! du wirſt dich vor meinen Augen verklären. Ich werde den Triumph der Tugend ſehn. Wann wird die glückliche Stunde anbrechen? —
Meine Seligkeit wird mit meinem Er - wachen beginnen. Die Verbrecher Gottes werden ihr Elend mit dem Augenblicke empfinden, da ſie von ihrer Betäubung zu - rückkommen werden. Wozu denn der Tag eines allgemeinen Gerichts? — Zu einer133 feyerlichen Erklärung für alle, und für ei - nen jeden inſonderheit, daſs ihm wiederfah - re und in alle Ewigkeit wiederfahren wer - de, was er mit ſeinen Handlungen verdient hat. Nicht genug, daſs uns die höchſte Ge - rechtigkeit richten; nicht genug, daſs die weiſeſte Güte, in dem vollkommenſten Ver - hältniße, angenehme, oder unangenehme Folgen mit unſern Thaten verbinden wird: wir ſollen ihr Verfahren uns ſelbſt auch ent - wickeln, wir ſollen die Moralität deſſelben begreiffen wir ſollen ſelbſt mit Ueberzeu - gung einſehen können, daſs unſer Richter ſo mit uns umgehen mußte, wenn er ſich anders ſeiner höchſten Gerichtsbarkeit über uns gemäß bezeigen wollte. — Welche Feyerlichkeit! größer als ſie ſich jemals auf dieſer irdiſchen Kugel zugetragen hat, wann nun alle Völker der Erde, die ganze zahlloſe Nachkommenſchaft Adams ſich um134 den Thron des oberſten Richters verſam - meln, in einer ehrfurchtsvollen Stille das Ur - theil der Losſprechung oder Verdammung erwarten, und dann alle mit Einem Munde bezeugen werden: Herr! deine Gerichte ſind gerecht! Deine Gottheit verklärt ſich in dem kleinſten Lohne, wie in der furcht - barſten Beſtrafung. — Wenn ich auch nicht beſtimmt wäre an dieſer Begebenheit Theil zu nehmen, ſo würd’ ich doch wün - ſchen daran Theil nehmen zu dürfen.
Die Menſchen haben ſich von je her keine kleine Mühe gegeben, das ewige Wohl der Seligen, ſo wie das Elend der Verdammten, ſich und andern deutlich zu machen. Dieſe Bemühung iſt oft unglück - lich genug ausgefallen. Man hat mehren - theils immer ſeine eignen, oft ſehr ſchwan - kenden Begriffe von Wohl und Wehe zum Maaßſtabe angenommen, ohne einmal die135 zufälligen Beſtimmungen davon abzuſon - dern, die uns, allem Anſehn nach, wohl ſchwerlich über das Grab hinausbegleiten werden. Daher die Begriffe von einem immerwährenden Genuße ſinnlicher Freu - den, ſelbſt von der gröbern Art; daher die Erwartungen eitler Vorzüge, einer Herrſchaft über andre, denen man hier ungern untergeben iſt, einer ganz unge - ſchäfftigen Muße, einer ewigen Ruhe von aller Arbeit; daher die leeren Schrecken einer ſo genannten Hölle, die Furien und Teufel, die Martern eines Phalaris,
Nacht und Feßeln, unbeſchreiblicher Froſt und unauslöſchliche Flammen, und wie die widerſinnigen Beſchreibungen in un -136 ſerm lieben Geſangbuche weiter lauten. Daher zum Theil auch die gewagten Be - ſtimmungen jenes unbekannten Landes, welches unſre einſt glückliche, oder un - glückliche Wohnung ſeyn ſoll. Wer kennt nicht Elyſium, die Inſeln der Glücklichen, das Paradies des Muſelmanns und das et - was verfeinerte ſo manches ehrlichen Chri - ſten; den Tartarus, das Fegefeuer, den Limbus und das Thal Hinnon? O Thorheit des Menſchen! Die neue Welt wäre nie gefunden worden, wenn die Kolons ſich in ihre Zimmer verſchloßen und ſich, ihr Leben hindurch, beſchäfftigt hätten die Möglichkeit derſelben zu begreiffen, die Wirklichkeit zu vermuthen und dann zu beſtimmen, wie viele Himmelsſtriche ſie einnehmen, was für Produkte ſie hervor - bringen und was für Schaden oder Vortheil ſie uns armen Europäern verſchaffen wer -137 de. Von allen dieſen Dingen erkenn’ ich nur das Allgemeine. Ich laße mich auf nähere Beſtimmungen darüber nicht ein. Die feineren Vorſtellungen einiger Neuern ſelbſt, die doch auch nur von ihrem eigen - thümlichen Hange nach Erkenntniß und Wißenſchaft hergenommen ſind, ſcheinen mir zu gewagt. Ich weiß nichts davon, ob mein Auge wechſelsweiſe ein Sehror oder ein Mikroskopium ſeyn wird, ob ich mich mit der Schnelligkeit eines Lichtſtrals von dem Monde zur Sonne, und von da zu dem letzten Nebelſterne erheben werde, den nur das Auge eines geübten Beobach - ters belauſcht hat. Ich weiß nichts davon, ob ich mir im Monde Freunde machen, oder ob ich mich auf meiner Weltreiſe zu einem Bürger des Saturnus geſellen werde.
Ich weiß: ich bin ein Werk des All - gütigen. Er hat auch durch mich ſeinen138 Namen verherrlichen wollen. Meine Se - ligkeit iſt: daſs ich ihn erkenne, daſs ich mich an ſeinen Vollkommenheiten beluſti - ge, daſs ich ihn in ſeiner unendlichen, ſicht - baren und unſichtbaren Welt bewundre, daſs ich ihn mehr als mich ſelbſt liebe, daſs ich ihn anbete in ſeinen furchtbaren Ge - richten, wie in den Anſtalten ſeiner unbe - gränzten Erbarmung. Meine Seligkeit iſt: daſs ich mich aus meiner ganzen vereinig - ten Kraft, obgleich in einem unendlichen Abſtande von ihm, beſtrebe vollkommen zu ſeyn, wie er iſt: daſs ich nicht ſelig al - lein bin, daſs ich mein geſchäfftigſtes Wohl - wollen ſo weit ich kann verbreite, daſs ich Freunde und Feinde, daſs ich alle empfin - denden Weſen mit verhältnißmäßiger Lie - be umfaße. Dieß war hier mein eigent - liches Wohl. Und in dieſem Verſtande werd’ ich auch künftig Gott ſchauen, werd’139 ich auch künftig meine edelſte Beſtim - mung erfüllen. Ob ich dann den gold - nen Pallaſt der Sonne bewohnen, oder ob ich, wie es mir am wahrſcheinlichſten iſt, ein Bürger dieſer Erde bleiben werde, die ſich villeicht mit mir verwandeln und zu einer höhern Ordnung von Weltkörpern erheben wird: das darf mich wenig be - kümmern. Allenthalben bin ich deines Beyfalls, o Unendlicher! gewiß. Und dann darf ich es doch wohl erwarten, daſs du mich auch von außenher mit einem Theile der Materie verbinden werdeſt, der mich mit überwiegend angenehmen Em - pfindungen erfüllen kann. Ich werde dann zwar immer noch ein endliches, der Veränderung, ſelbſt der zum Böſen unter - worfenes Geſchöpf bleiben; ich kann nie über die Möglichkeit mich, wie in tauſend andern Dingen, ſo auch inſonderheit in140 Rückſicht auf meine Glückſeligkeit, zu ir - ren, erhoben werden: aber bey einer ſo langen Uebung in der Tugend, muß doch die Gefahr zu fallen ſich unendlich vermin - dern und meine moraliſche Güte zu einer großen Vollkommenheit reifen. Dieſes Wachſen im Guten, welches mich der Gottheit immer näher bringen muß, macht es nun auch immer unwahrſcheinlicher, daſs es mit mir jemals ein Ende nehmen ſollte. Ich darf nicht beſorgen, daſs ich jemals ein Nicht mehr weites meiner Voll - kommenheit antreffen werde. Es iſt ge - wiß, daſs ich in Ewigkeit fortſteigen kann, ohne die oberſte Stufe zu erreichen, und daſs der Alleinſelige doch immer das unbe - ſchreibliche Ideal bleibt, von welchem al - le endliche Große zuſammengenommen in unendlichen Räumen abſteht. Das iſt dann Freude, die kein Auge geſehn, kein141 Ohr gehört hat, die in kein menſchliches Herz gekommen iſt. Meine Erkenntniß davon iſt freylich ſehr unvollſtändig; aber doch Erkenntniß genug um mich ſicher zu leiten. Mein ewiges Wohl iſt in meinem zeitlichen gegründet. Jenes kann ich in dieſem erreichen. Es ſoll an meinem Be - ſtreben dazu nicht fehlen. Andre mögen durch die ängſtliche Beſorgniß einer qual - vollen, endloſen Beſtrafung, zu einem heil - ſamen Nachdenken gebracht werden. Ich will ſie darum nicht geringer als mich ſelbſt halten, ich will auf dem Wege zur Ewig - keit ihre Geſellſchaft mit Freuden anneh - men und ihnen die meinige anbieten. Wir werden anfangs aus unterſchiedenen Bewe - gungsgründen reiſen; mit der Zeit aber werden ſich auch die ihrigen zu dem Adel erheben laßen, der der Würde der Sache gemäß iſt.
142Ueber das Elend der Verdammten hab’ ich immer mit Mißvergnügen nach - gedacht. Iſt es nicht traurig, daſs es ver - nünftige Weſen giebt, die eine ewige Ent - fernung von Gott fürchten, und doch alle nur mögliche Wege einſchlagen ſie ſich ſelbſt unvermeidlich zu machen? Eine ein - zige kleine Hoffnung, daſs ſie die bevor - ſtehende Gefahr immer noch zeitig genug bemerken werden, um derſelben entgehen zu können, erhält ſie in einer ſonſt unbe - greifflichen Sorgloſigkeit. Aber wie trüg - lich iſt dieſe Hoffnung! Mit ihr glaubt auch der Anbauer eines Vulkans, daſs er ſich, durch mancherley Zeichen gewarnt, ſeinem Verderben entziehn werde; aber tauſende hat doch ſchon der Feuerſtrom ergriffen, oder der tödtende Dampf er - ſtickt, oder die ſchwankende Erde ver - ſchüttet. —
143Es iſt, in Abſicht meiner wenigſtens, eine richtige Bemerkung: daſs ich auch im Allgemeinen, über die Natur der Schickſale meiner verlornen Mitmenſchen, niemals zu einer ſolchen Vollſtändigkeit der Erkennt - niß habe gelangen können, als ich mir doch mit geringerer Mühe von dem ewi - gen Wohl der Rechtſchâffenen zu erwer - ben im Stande geweſen bin. Lag dieſe Verſchiedenheit in der Sache ſelbſt? oder wollte mich die himmliſche Güte nur über die edelſten Bewegungsgründe zur Tugend erleuchten? —
Der beharrliche Sünder hat in dem Laufe eines oft ſiebenzig und achtzigjähri - gen Lebens eine unendliche Menge von Realitäten in ſich ſelbſt aufgehoben. Un - endliche Verneinungen müßen Folgen die - ſes Betragens ſeyn bis in alle Ewigkeit hin - aus. Eine lange Fertigkeit ſich in Abſicht144 ſeiner Glückſeligkeit zu irren, muß eine noch längere veranlaßen; die Gewohnheit falſch zu ſchließen wird, wie alle Gewohn - heit, zur andern Natur; Unwißenheit und Irrthum erwachſen endlich zu einer un - überwindlichen Stärke. Wie ſchwer iſt es oft nicht, eine Leidenſchaft auszurotten, der man nur einige Monathe lang nachge - ſehen hat! Begleitet ſie uns eine Reihe von Iahren hindurch bis an den Abend unſers Lebens, ſo iſt es, ohne die Zwiſchenkunft einer übernatürlichen Hülfe, faſt nicht möglich etwas dagegen auszurichten. Iſt es nicht höchſt wahrſcheinlich, daſs die Tyranney unſrer unordentlichen Begierden mit unſerm Weſen fortdauern werde? Wir werden ewig fortſündigen. Unſre Erkennt - niß wird ſich ewig verſchlimmern; wir werden uns ewig von der Quelle unſers Glücks entfernen. Wer will uns dahin145 zurückführen? Was können wir hoffen? Iſt Gott unendlich gütig, ſo iſt er auch un - endlich gerecht. Er wird ſtrafen, weil wir geſündigt haben, und er wird ewig fortſtrafen, weil wir ewig fortſündigen wer - den. — Erſtlich iſt unſer immer zuneh - mendes moraliſches Verderben ein fürch - terliches Elend. Ein unauslöſchlicher, brennender Durſt, die Schrecken einer ewigen Nacht, ſind ſchwache Bilder von dem Feuer, das in unſerm Inneren ewig fortwüten, von der Finſterniß, die unſern Verſtand umhüllen wird. Und dann ha - ben wir noch ſo manche Leiden von auſ - ſenher zu erwarten, von denen wir jetzt freylich keinen Begriff haben, die aber zu - verläßig in dem traurigen Orte ihren Grund haben werden, den der weiſeſte Richter für eine Gattung von Weſen be - ſtimmen mußte, die, mit einer ſo großen(II. Theil.) K146Anlage vollkommner zu werden, gleich - wohl in alle Ewigkeit unvollkommen blei - ben wollte. —
Dieſe Beſtimmungen unſrer künftigen Verdammniß ſind nun freylich von der Art, daſs die Vernunft ſich anfänglich dabey be - ruhigen kann; die Offenbarung ſcheinet ſo vielen, und der rechtgläubigen Kirche ſelbſt, damit übereinzuſtimmen: allein, bey wie - derhohlter genauerer Erwegung, werden beſonders gegen die ewige Fordauer der angedrohten Strafen ſo viele Zweifel rege, daſs man mehrentheils immer geneigt wird, ſich von ſeinem eignen zärtlichen Herzen leiten und in dieſer ganzen Angelegenheit eine gewiße Mäßigung gelten zu laßen. Meine Erkenntniß ſoll ſich bis ins Unend - liche verſchlimmern? Meine moraliſche Unvollkommenheit ſoll ewig zunehmen? Unangenehme Empfindungen von außen -147 her ſollen ſich zu Millionen Malen vermeh - ren, um mich von einem Augenblicke zum andern über alle Vorſtellung unglücklich, elend ohne Ende zu machen? — Ueber - legt man auch was man damit ſagt? Kann man die Verneinungen wie die Realitäten berechnen? Iſt eine Vermehrung jener oh - ne Ende auch ſo möglich, wie ſie es von dieſen war? Das mögen andre finden! — Die höchſte Unwißenheit, die höchſte dop - pelte Unwißenheit, Irrthum, muß die Grän - ze aller andern ſeyn. Die kann nur Einer erreichen. Und bis dahin ſcheint es doch als wenn zulezt Alle gelangen müßten. Der äußerſte Grad moraliſcher Unvollkom - menheit, der damit verbunden ſeyn wür - de, iſt wiederum nur Einer. Und bis zu ihm kömmt villeicht Niemand herunter. Ich ſage Niemand! — In der moraliſchen Welt, wenn ich von der bloßen Möglich -148 keit in meinen Vorſtellungen, zur Wirk - lichkeit übergehe; iſt Stillſtehen Wider - ſpruch. Fortgang, oder Rückgang; ein Drittes giebts nicht. Von der letzten Stufe tritt man ins Nichts. Der Rückgang würde ein Wunder erfodern. Schmerz - hafte Empfindungen, die ohne Aufhören zunehmen ſollen, ſind nicht viel mehr be - greifflich. Die äußerſte würde ſo ſtark ſeyn, daſs unſre Natur nur eben noch da - bey beſtehen könnte. Und dann würde ſie uns fühllos machen, oder nachlaßen müßen. Will man einen immer und ewig abwechſelnden Rückgang vom Böſen zum Guten und umgekehrt, ſo muß man auch damit zu Ende kommen; indem eine jede wiederholte Verſchlimmerung die Ver - ſchlimmerung im Ganzen bis zu einer letz - ten vergröſſern muß. Und iſt es von der andern Seite wohl wahrſcheinlich, daſs eine149 zu unendlichen Malen wiederholte Verbeſ - ſerung immer ihres Zwecks verfehlen ſoll - te? Was die Natur nicht leiſten kann, iſt villeicht durch den Zutritt einer übernatür - lichen Kraft möglich. Unſre Schickſale hängen ja alle von dem Winke des All - mächtigen ab. Ihm iſt es ein Kleines, ſich dem Strome unſrer Wirkſamkeit entgegen - zuſtellen und uns zu nöthigen Wege einzu - ſchlagen, die er uns ſelbſt auszeichnen wollte. Iſt Gott unendlich gerecht, ſo iſt auch ſeine Güte unerſchöpflich. Wer kann ſagen, daſs es ſeiner Weisheit immer unmöglich ſeyn werde, ſeiner Strafgerech - tigkeit ein Genüge zu leiſten; immer un - möglich ein Mittel aufzufinden, wie der natürlich ewige Sünder geneigt werden könne ſeine Seligkeit mit Erfolg zu wollen? Sollte ſeine Macht eine ſolche Begebenheit nicht veranlaßen können; oder ſeine Barm -150 herzigkeit nicht wollen? Mein Herz iſt wenigſtens bereit ſie für das Wohl der Welt zu wünſchen. Es ſehnet ſich nach ihr, wie nach einem Ergänzungsſtücke ſei - ner eignen Zufriedenheit. Ich fühle, daſs ich ein Glück nicht vollkommen genießen werde, deſſen ſo viele meiner Brüder im - mer und ewig verluſtig gehen müßen. — Verzeih’ es, o Erbarmer deiner guten Kinder! wenn auch dieß innige Verlangen meines Herzens Thorheit und Unverſtand war; verzeih’ es dem Ausbruche eines einfältigen Wohlwollens, einer villeicht nicht recht überlegten, aber doch mit mei - ner Natur ſo genau verbundenen Zärtlich - keit! — Meine Vernunft ſieht hier nicht weiter. Wer will mir eine breitere Aus - ſicht eröffnen? Wer will mich über das belehren, was ich durch mich ſelbſt nicht erkennen ſollte? Hat ſich die Gottheit151 erklärt, ſo liegt mir daran es zu wiſ - ſen. — Aber wenn ich es lieber nicht wüßte! Die Offenbarung, ſagt man; wi - derſpricht der endlichen Errettung des ver - urtheilten Sünders in den deutlichſten Aus - drücken. Ewiges Verderben iſt ſein Theil; ihn erwartet ein Wurm der nicht ſtirbt und ein Feuer das nicht verlöſcht; eine ewige Entfernung von dem Angeſichte des Herrn. Hier war die Gnadenzeit. Er verſäumte ſie. Sie iſt für ihn auf ewig verfloßen. Der beharrliche Sünder wird für verloren geachtet. — Und, fährt man fort; hätte Gott auch hierüber ſich nicht in ſo beſtimmten Ausdrücken her - ausgelaßen, wären auch noch manche nicht unwichtige Gründe fürs Gegentheil übrig: die Theologiſche Klugheit würde doch im - mer der härtern Meynung das Wort reden müßen, wenn anders der größere Theil152 des menſchlichen Geſchlechts nicht einem unvermeidlichen Verderben blosgeſtellt werden ſollte. Es giebt nothwendige Vor - urtheile, welchen man ſich nicht entgegen - ſetzen muß; ihr Einfluß in die ſittliche Vollkommenheit iſt oft entſchiedener, als der Einfluß ſo mancher erwieſenen Wahr - heit. — Dieſe und ähnliche Aeußerun - gen befremden mich. Ich kann mich da - bey nicht beruhigen. Wie? wenn ich ſie meiner Prüfung von neuem unterwürfe; wenn ich mir ſo manche Betrachtung, die ich ſonſt darüber angeſtellt habe, zurück - riefe; wenn ich auch für einen Augenblick einer gelindern Auslegung mein Ohr liehe? —
Zuvörderſt kann ich es gelten laßen, daſs man Vorurtheile annimmt, über die man zu gewißen bedenklichen Zeiten und unter manchen beſondern Umſtänden, den153 und jenen Theil des menſchlichen Ge - ſchlechts zu erleuchten für gefährlich hält. Nur bin ich der Meynung, daſs die Lehre von der Ewigkeit der Höllenſtrafen zu dieſen Vorurtheilen ſo ausgemacht gewiß nicht gehöre. Die gegenſeitige wird doch auch nie zu Der Zuverläßigkeit gebracht, die allen fèrnern Zweifel ausſchließt. Mit - hin iſt ihr Gegenthèil immer möglich. Die göttliche Drohung iſt in Ausdrücken abge - faßt, die eine zwiefache Erklärung verſtatten. Und für die Eine giebt es ſowohl Gründe, als für die Andre. Die Gefahr eines ewigen Verderbens iſt alſo immer noch vorhanden, und das zu beſorgende Uebel iſt ſo groß, daſs es auch bey minderer Wahrſcheinlich - keit, um ſeiner Größe willen allein ſchon, in Betrachtung gezogen zu werden ver - diente. Bey dem allen läßt ja auch die gelindere Meynung, nach dieſem Leben,154 eine ernſtliche Beſtrafung der Laſter, von unbeſtimmter langer Dauer und in dem ge - rechteſten Verhältniße zu. Dem Sünder wird immer nur eine entfernte Hoffnung gelaßen, und die Erfüllung derſelben hängt ſeinerſeits, von einer Menge von Bedin - gungen ab, die theils nicht in ſeiner Ge - walt ſind, theils von ihm nicht ohne große Schwierigkeiten vollzogen werden kön - nen. Ihm iſt alſo nur dem Scheine nach geholfen. Nur ein Raſender würde, wann er in einen reißenden Strom gefallen wä - re, ein näheres Ufer verlaßen, in der un - gewißen Erwartung, daſs er ſich endlich wohl noch auf ein entferntes Eyland ret - ten, oder an einem ſchwimmenden Bret - te, welches doch noch außerhalb ſeines Geſichtskreiſes liegt, feſthalten werde. Ei - ne nicht ganz verderbte Gemüthsart wird die Ankündigung einer gewißen Beſtra -155 fung von längerer Dauer ſchrecklich ge - nug finden, um dadurch von einem la - ſterhaften Wandel zu tugendhaften Geſin - nungen zurückgebracht zu werden. Und dieß um ſo viel mehr, da auch die end - liche Rettung der ſo genannten Verdamm - ten immer noch, wenn ich ſo reden darf, das Siegel der Verurtheilung an ſich tra - gen wird. Oder man müßte den ewigen Abſtand für nichts rechnen wollen, in wel - chem ſie ſich, in aller Abſicht, von der frü - herbeſeligten Menge der Auserwählten Gottes, alle Aeonen hindurch befinden werden. Wer ſich verſpätet, bleibt zurück. Das ſieht ein Jeder. Die höchſte Gerech - tigkeit ſelbſt ſcheint dieſen immerwähren - den Unterſchied zu fodern. Wenigſtens iſt kein Grund vorhanden, warum die Sache anders ſeyn ſollte. — Endlich muß die härtere Behauptung ſelbſt nicht ohne Be -156 hutſamkeit vorgetragen werden, und man hat auch gegenſeitig nicht unrecht, den Freunden derſelben eine kleine Theologi - ſche Klugheit anzuempfehlen. Zwiſchen einem in Laſtern zugebrachten Leben von ſiebenzig bis achtzig Iahren, welches ohne - hin ſchon über die Gränzen unſers gewöhn - lichen Lebens hinausreicht, und einer Be - ſtrafung von endloſer Dauer, ſcheinet ſo manchem, der darüber nachgedacht hat und noch nachdenkt, kein Verhältniß ſtatt zu finden. Auch der Sünder hat die Ver - ſichrung für ſich, daſs ihm ſeine guten Handlungen, ſie mögen noch ſo klein ſeyn; nicht ganz unvergolten bleiben ſollen. Ei - nem in guter Abſicht gegebenen Waſſer - trunke iſt ſeine Belohnung verheißen. Nun iſt auch der größte Böſewicht nicht ohne moraliſche Güte. Dieß vermindert wenigſtens den Grad der Verdamniß, wenn157 ſie dadurch auch nicht ganz gehoben wer - den ſollte. Und bey dem allen, bey ſonſt ſo richtigen Vorſtellungen von göttlicher Erbarmung und Geduld, will man ſo man - chen Verirrungen, ſo mancher laſterhaften Handlung, die ſich hier und da wohl noch entſchuldigen ließe, wenn man, wie der Allwißende, den Grund der Herzen er - forſchen könnte, eine Unglückſeligkeit folgen laßen, die in dem ſtrengſten Ver - ſtande unendlich ſeyn ſoll? Das verräth allzumenſchliche Geſinnungen und eine Härte, die über alle Wahrſcheinlichkeit iſt. Man vermuthet eine falſche Politik des Ge - ſetzgebers. Die Drohung wird zu einem Popanz und verliert bald die Kraft, die man davon erwartet hatte. — Und nun — die Folgen, die das unausbleib - lich in Leben und Wandel hervorbringen muß? — Die, denk’ ich; fallen zu ſehr158 in die Augen, als daſs ſie einer nähern An - zeige bedürften. —
Was nun die vermeynten deutlichen Ausſprüche Gottes in den Schriften ſeiner Geſandten an die Menſchen betrifft: ſo will ich ſie nicht durch andre entkräften, die das Gegentheil zu ſetzen ſcheinen. Man hat auch welche von dieſer Art; ſie ſind aber großentheils aus einem Buche herge - nommen deſſen Anſehen beſtritten werden könnte. Ich bemerke nur, daſs das Haupt - wort: Ewig, worauf hier faſt alles an - kömmt, in beyden Grundſprachen, wann es nicht ein Prädikat Gottes iſt, mehren - theils nur eine Dauer von unbeſtimmter Länge zu bezeichnen pflege. Dieſe Be - deutung iſt auch in der Beweißſtelle wor - auf man ſich am meiſten verläßt, um des - willen allein nicht unmöglich, weil daſelbſt ewige Pein und ewiges Leben einander159 entgegengeſetzt werden. Ewig heißt in beyden Fällen unbeſtimmtes längeres Fort - währen, nur mit dem Unterſchiede, daſs es in dem letztern, aus anderweitigen Grün - den, eine eigentliche Dauer ohne Ende mit in ſich begreifft. Der Gegenſatz des Re - denden verliert alſo auch von ſeinem Rhe - toriſchen Werthe nichts. — Aber die bloße Möglichkeit einer ſolchen Bedeu - tung, erlaubt die irgend einen gültigen Schluß auf die Wirklichkeit derſelben? — Nein! das ſoll ſie auch nicht. Sie ſoll nur einer Wahrheit nicht entgegenſtehen, die ich mehr als Einmal in dem erhabenen Plane der Vorſehung geleſen zu haben glaube. Meine Vernunft begriff ſchon die Möglichkeit eines Rettungsmittels für alle und die Offenbarung ſcheint mir verſtänd - lich genug darauf zu deuten. Ich denke mir den Zweck der Sendung Chriſti aus -160 nehmend wichtig und in einer großen All - gemeinheit. So manche vielbedeutende Ausdrücke der heiligen Schriftſteller ſchei - nen mich dazu zu berechtigen. Ein Mann von ſo außerordentlichen Verſtandeskräf - ten, von einer ſolchen Reinigkeit der Sit - ten, von einem ſo warmen Herzen; ein Mann deſſen wohlthätigen Winken die Na - tur gehorchte, nach deſſen weiſen Bedürf - nißen Erſcheinungen erfolgten, die keine endliche Kraft hätte darſtellen können; ein Mann dem Engel zu ſeinem Gefolge ange - wieſen waren; ein Mann der ſich ſelbſt den Sohn Gottes nannte und von einem andern großen Manne der erſtgeborne vor allen Kreaturen genannt wurde, — tritt unter uns auf, durchläuft alle Stufen des menſchlichen Lebens, von der hülfloſen Kindheit an bis ins geſchäfftigere männ - liche Alter; erfährt die ganze Reihe unſrer161 gewöhnlichen Mühſeligkeiten; übernimmt aus erklärter freyer Wahl, den vereinigten Haß ſeines verblendeten Volks und die tragiſche Folge deſſelben, eine unverdien - te Verdammung zu einer ſchimpflichen Todeſart. Er, der unſterblich ſeyn konn - te, ſtirbt unter Schmerzen die allen Aus - druck überſteigen. — Und zu welchem Ende dieß alles? — Um, ſeiner eignen Ausſage nach; zu ſuchen was verloren iſt; für eine richtigere Erkenntniß des einigen Gottes; für die Einführung einer ganz un - ſchuldigen Religion, und mit kurzen Wor - ten: für die Glückſeligkeit des ganzen Menſchengeſchlechts, ſeiner Vorwelt und Nachwelt, bis an den letzten der Tage und von dem an bis in alle Ewigkeit hinaus. — Wer Größe der Seelen verſteht, der muß ſie hier in einem ſo ausnehmenden Grade antreffen, als er ſie ſonſt nirgends wahr -(II. Theil.) L162genommen hat. Welch ein Entwurf! Und auf welche Art ausgeführt! — Und wie konnte man dieß anders in einer An - gelegenheit erwarten, von welcher der Unendliche ſelbſt die nähere wirkende Ur - ſach war? Chriſtus erklärte allenthalben, daſs er nur ein Werkzeug in der Hand ſei - nes Vaters ſey, der ſich aller erbarmen und durch ihn alle ſeiner Erbarmung werth machen wollte. Wann ſich die Gottheit ſelbſt zu einer ſo großen Abſicht bekennt, iſt es da wohl glaublich, daſs ſie dieſelbe nur dem kleinſten Theile nach erreichen ſollte? Iſt es nicht Schwäche des Kopß und des Herzens, das nur zu vermuthen? Freylich hängt unſer künftiges Schickſal zunächſt von unſerm Verhalten in dieſem Leben ab. Hier iſt die Zeit der Gnade! Aber ausſchließungsweiſe Nur Hier? — Wie wenig wäre dann gewonnen! —163 Zwar die Bedingungen unſrer Glückſelig - keit werden in ihrem Weſentlichen immer dieſelben ſeyn. Wir werden auch in je - nem Leben, zu einer größern moraliſchen Vollkommenheit aufgefodert und nur da - durch der Gottheit gefällig werden; wir dür - fen es aber auch erwarten. daſs ſie ſich mit zur Erreichung unſrer aufrichtigen Abſich - ten unaufhörlich verwenden, daſs ſie nach und nach den Widerſtand in uns vermindern und endlich gar aufheben werde, der unſre Seligkeit eine kürzere Zeit oder Iahrtauſen - de hindurch unmöglich machte. —
Die Mittel deren ſich der Allweiſeſte bedienen wird, dieſe Veränderung auch auf eine, ſo viel möglich, natürliche Weiſe zu bewirken, können unendlich mannich - faltig ſeyn. Villeicht, daſs ein längerer Schlummer in einer und der andern Seele dienen wird, den Grund derſelben zu164 verbeſſern, ſo manche gefährlichen Ein - drücke nach und nach auszulöſchen, ſo manche ſündlichen Begierden zu ſchwä - chen, und unter den guten, vorzüglich die letzten, bis zu unſerm Erwachen in einer größern Klarheit zu erhalten. —
Auf welchem Wege ſich dann auch nur immer die grundloſe Barmherzigkeit165 unſers allgemeinen Vaters an einem jeden, für verloren geachteten, endlichen Geiſte rechtfertigen wird: ſo wird doch auch dann ein jeder einzelner Fall meine eigne Seligkeit vergrößern, meine kindliche Lie - be zu ihm von neuem entflammen, meine innige Erkenntlichkeit lebendig machen. Jede glückliche Rückkehr eines Menſchen den ich vormals kannte, mit dem ich durch das Blut villeicht, oder durch andre zärtli - che Verhältniße verbunden war, wird ein neues Feſt für mich, eine neue Wolluſt meines Herzens, ein neues Triumphlied meiner gereinigten Lippen ſeyn. —
Sie fragen mich: welche Behutſamkeiten ſie in der Wahl eines Mannes würden be - obachten müßen, wenn ſie ſich, ſo viel als möglich, ein glückliches und zufriednes Leben verſichern wollten? — Wie kom - men ſie zu der Frage? Wie kommen ſie zu dem Zutrauen gegen mich? Sollt’ ich es wohl mit jenem, ihnen gewidmeten, idealiſchen Spatziergange verdient haben, dem ich es, bey der geringen Hoffnung die ich davon hatte, doch ſo angelegentlich wünſchte, daſs er von ihnen geleſen wer - den möchte? Wenn es wäre; wie viel an - dre Folgen dürft’ ich nicht von einem ſo deutlich bezeugten Beyfalle erwarten! Jetzt befriedige ich einen Theil ihrer Wiß -167 begierde, wo nicht immer nach ihrem Wunſche; doch auf die ehrlichſte Weiſe nach der mangelhaften Einſicht, die ich mir davon zuſchreiben darf. —
Glauben ſie nicht, meine ſchöne Schü - lerinn! daſs es mich unendlich freuen wür - de, ſie in den Armen eines liebenswürdi - gen Ehegatten ſo glücklich zu ſehen, als es uns in dieſer unvollkommenen Sterblich - keit möglich iſt? Glauben ſie nicht, daſs es den Triumph meines zärtlichen Herzens unendlich vergrößern würde, wenn ich mir ſelbſt ſagen dürfte: zu dieſem Glücke haſt du mit beygetragen; an dieſem Him - mel haſt du mit gebaut? — Sie erlauben es mir doch, daſs ich in dieſer Sache dieſe einzige Rückſicht auf mein kleines Inter - eſſe nehmen darf? Einen jeden andern Wunſch meines Herzens will ich auf das geflißentlichſte erſticken. Meine Eigen -168 liebe ſoll ſich in nichts miſchen. Wählen ſie, meine Freundinn! Der Mann, den ſie wählen werden, ſoll mein Freund ſeyn, wenn er es anders ſeyn will! —
Ich ſetze voraus, daſs ſie ſich niemals geſchämt haben werden, ſich unter andern Glücksgütern auch einen rechtſchaffenen Mann von Gott zu erbitten. Da dieß im - mer ein ſehr erlaubtes Verlangen war, das ſie ſich ſelbſt wohl geſtehen durften: war - um wollten ſie es dem nicht vielmehr ge - ſtehen, der ſich durch unerſchöpfliches Wohlwollen ihres Zutrauens ſo werth ge - macht hat, und von dem ſie doch nur al - lein die Erfüllung aller ihrer rechtmäßigen Wünſche erwarten konnten? Es war mir niemals lächerlich, unter andern gutge - meynten Gebeten auch ein Gebet um ein ſo vorzügliches Gut in einer gewißen Sammlung anzutreffen, die man mit eini -169 gem Schaden villeicht, allzuſehr herabge - ſetzt und ohne dafür etwas beſſers wieder - zugeben, ſo manchem einfältigen Chriſten aus den Händen geſpottet hat. Ich möch - te wohl wißen, ob gewiße Leute, die über ſolche Dinge wie Orakel ſprechen, den Ku - bach mit Augen geſehen hätten; oder ob ſie fähig wären ihre Nothdurft dem höch - ſten Weſen auf eine ſo anſtändige Weiſe vorzutragen, als es in der That in manchen Gebeten dieſer Sammlung geſchehen iſt? — Nichts iſt gewißer, als daſs der Gottheit das einfältige Verlangen ihrer vernünftigen Geſchöpfe niemals gleichgültig ſeyn könne und am allerwenigſten wann die Befriedi - gung deſſelben von ihrer weiſen Veranſtal - tung hauptſächlich erwartet wird. Unſre Schickſale mögen dann ausfallen wie ſie wollen; wir mögen des verlangten Gutes theilhaftig werden oder nicht: unſre Ue -170 berzeugung wird uns, auch bey dem gehei - men Widerſpruche unſers Herzens, den Troſt gewähren: daſs das was geſchah ein gleichgeltendes, wo nicht gar ein größeres Gut für uns ſeyn müße, als das was unſrer Meynung nach geſchehen ſollte, und die Erfahrung wird uns nicht ſelten am Ende davon gewiß machen.
Dieſe guten Wünſche ſollen aber un - ſererſeits das ernſtlichſte Beſtreben nicht ausſchließen: alles zu unternehmen, was anſtändiger Weiſe von uns ſelbſt zu ihrer Erfüllung unternommen werden kann. Ich rathe ihnen nicht, die Entſcheidung ihres Schickſals von dem Zufalle beſorgen zu laßen, und den erſten beſten Mann, der ſich ihnen anbietet, als ein Geſchenk des Himmels anzunehmen. Es wäre wohl ein - mal möglich, daſs auch in dieſem Falle für ſie das beſte Loos gezogen würde; allein171 die Sache iſt einer Lotterie zu ähnlich, von welcher der Weiſere, wenn es hoch kömmt; nur einen mäßigen Gewinn er - wartet und es immer dem gemeinen Man - ne überläßt, ſich durch die Hoffnung des höchſten Looſes zum Einſatz bereden zu laßen. Es giebt Erwerbungsmittel, die mehr in ihrer Gewalt ſind. Es iſt zwar keins von ihnen ſchlechterdings untrüg - lich; ſie werden aber doch von vielen zu - ſammengenommen ſo ſicher geleitet wer - den können, als in einem menſchlichen Ge - ſchäffte von einigem Belange, bey dem allemal doch etwas gewagt werden muß, geſchehn kann.
Manche Leute, die es ganz gut mit ih - nen meynen, würden ihnen gleich anfangs in dem Ermahnungstone, den die lieben Tanten gemeiniglich anzunehmen pflegen, zurufen: daſs man ſich nicht müße den172 Schein blenden laßen; daſs nicht alles Gold ſey was gleißt; Schönheit ſey oft nur die Bekleidung eines Ungeheuers; der anſehn - lichſte Apfel könne einen ſchädlichen Wurm enthalten, — und was derglei - chen Brocken aus dem Kodex der Alltags - erfahrungen mehr ſind. — Weg damit! Sie haben mich lange ſchon an eine andre Sprache gewöhnt und ich ſage ihnen ſo gern etwas, das ihr Herz in ſeinen ſüßen Wallungen erhalten und ihre Stirn von einem jeden Wölkchen befreyen kann. Schönheit iſt ein Vorzug beyder Geſchlech - ter und dann vorzüglich des unſrigen, wann ſie nicht ſowohl Zärtlichkeit als Stär - ke andeutet, wann ſie der Geſundheit Fol - ge iſt, wann ſie nicht ängſtlich geſucht, wann ſie nicht durch die Mittel der Kunſt vermehrt, wann ſie nicht allzuſorgfältig unterhalten wird. Sie haben ein Auge173 dafür und, in der That! ich muß ihren Geſchmack loben. Ihre Wahl treffe, wo möglich; den Adonis meines Geſchlechts; einen Mann von offner Geſichtsbildung, von untadelhaftem Wuchſe, von geſunder Farbe, von reiner Haut, von einer durch - gängig edeln Geſtalt und von einem An - ſtande, der das Zeichen der Erziehung und der Weltkenntniß iſt.
Nun fragen ſie ſich ſelbſt, gutes Mäd - chen! ob ein ſolches Geſchöpf allein ſchon, ohne andre Vollkommenheit des Geiſtes und des Herzens, ihre vernünftigen Wün - ſche befriedigen würde? —
Daß ſie nicht unter ihren Stand hey - rathen; daſs ſie nicht leicht mit einer übel - berüchtigten Familie in Verbindung tre - ten; daſs ſie zwar nicht auf Rang und groſ - ſe Einkünfte ſehen, daſs ſie aber auch ge - gen dieſe Dinge nicht gleichgültig ſeyn und174 ſich einen mäßigen Unterhalt auf alle Fälle verſichern ſollen: dieß alles ſind gute und, wenn man will; nothwendige, aber gewiß auch altbekannte Klugheitsregeln, an die man ſie kaum erinnern kann, ohne wider die Achtung zu handeln, die man ihrem Verſtande und ihrer Erfahrung ſchuldig iſt. Sie ſind keine Romanenheldinn. Sie wißen wohl, daſs man von der Liebe ſo wenig, als von der bloßen Luft lebt; daſs man ſich, ohne wichtige Gründe, nicht für einen Stand beſtimmen müße, der zu tief unter dem liegt, zu welchen uns Ge - burt und Erziehung geſchickt gemacht ha - ben; daſs man aber auch keine zu großen Hoffnungen unterhalten muß. Der Stand, für den ſie geboren ſind, läuft mit vielen andern parallel, ich laße ihnen für einen jeden derſelben die Wahl offen. Wenig - ſtens hüten ſie ſich Einen davon zu ver -175 achten! Es giebt treffliche Leute in allen. —
Haben ſie nachgedacht, meine Chloe? — Finden ſie nicht, daſs ihnen die Schön - heit allein, wohl für heute gefallen, in we - nigen Tagen aber etwas gleichgültiges ſeyn würde? Nicht wahr? ſie gäben ſchon ei - nen Theil davon weg, um Munterkeit des Geiſtes, um gefällige Sitten, um Klugheit und Einſicht dafür zu erhalten? Freylich iſt die Vereinigung vieler Vollkommenhei - ten eine Vergrößerung der Vollkommen - heit im Ganzen. Ich wollte, daſs ſich die reichſte, edelſte Zuſammenſetzung dieſer Art ihrer Wahl anböte. Aber was für ein Recht haben ſie, darauf zu warten? Sind ſie eine Byron oder Bismarck? — Opfern ſie immer ein bischen körperlichen Reiz auf, um ſich mit einer ſchönen Seele zu verbinden, um einen Mann zu gewin -176 nen, der die Kunſt verſteht, ihnen lange zu gefallen, der ihnen in der geſitteten Welt Ehre macht und den ſie nicht blos als eine niedliche Puppe zur Schau mit ſich herumführen dürfen. Wenigſtens den allzuzierlichen Narzißus wies’ ich einmal für allemal ab. Ein Menſch, deſſen Reden alle ſo geſangmäßig ſind, der ſich immer ſo gleichförmig bewegt, der ſich ſo jüng - ferlich putzt, den man nicht unbequem ei - nen herumwandelnden Potpourri nennen könnte, der ſich, um es kurz zu ſagen; ſo ausnehmend ſelbſt gefällt: der, ſag’ ich; wird es bald müde werden ihnen allein zu gefallen. Alle Welt ſoll die ſchöne Bluhme bewundern, die ihre glänzen - den Reize ſo geſchickt zu entfalten weiß. Dieß wird kein Glück für ſie ſeyn; oder ich müßte mich wenig darauf ver - ſtehen. —
177Liebes Mädchen! ich habe dir Artig - keit und Schönheit empfohlen und nun verdopple ich meinen Eifer dir die Tugend zu empfehlen. Wie jene Ergänzungsſtücke ſind, ſo iſt dieſe das Weſen der höhern ge - ſelligen Glückſeligkeit ſelbſt. Die leiden - ſchaftliche Liebe verzehret ſich bald, wenn ſie nicht durch Freundſchaft gemäßigt wird. Und Freundſchaft ohne Tugend iſt nichts! Prüfen ſie ſich, Chloe! Würden ſie es lange für ein Glück halten, die Be - ſitzerin eines Mannes zu ſeyn, der nur ar - tig und ſchön iſt, dem es dabey an einem zärtlichen, guten Herzen, an geduldiger Nachſicht für ihre kleinern Mängel und an der ſorgſamſten Theilnehmung an allen was ihnen Gutes und Böſes begegnet, fehlt; der in ſeinen vier Wänden immer mürriſch iſt; der ſie heimlich tyranniſirt; der ihnen nichts vertraut; der ſich alle(II. Theil.) M178Theile der Oberherrſchaft, bis auf Keller und Küche, zueignet und von dem ſie es als eine ſonderliche Gnade anſehen müſ - ſen, wenn er ihnen einen freundlichen Blick giebt; dem es bey dem allen doch nicht gleichgültig iſt, wenn ſie ſich ein kleines Mißvergnügen merken zu laßen, nicht erwähren können; der eiferlüchtig wird wann ſie einer andern männlichen Geſtalt einen Blick gönnen; der ſeine Rechte gekränkt glaubt, wann ſie einmal eine kleine Höflichkeit von einem andern anzunehmen und zu erwiedern für gut fin - den; der, wenn er ſich ihnen auch noch ſo gefällig zu machen verſtehn ſollte, doch für ſie und für andre kein ehrlicher Mann iſt; oder wenn er auch das wäre, ſich aus Religion und Rechtſchaffenheit nichts macht; der irgend einem gröbern Laſter oder auch nur einem andern ungemäßig -179 tem Temperaments - und Erziehungsfehler ergeben iſt, der Unbeſtändigkeit z. E., dem Jachzorne, dem üppigen Aufwan - de? — Wie leicht ſind Schönheit und Lebensart, wann ſie mit ſo niederdrücken - dem Gewichte verglichen werden! Ich trau’ es ihnen zu, Chloe! ſie werden ſich nicht blos bezaubern laßen; ſie werden ſich zur Ueberlegung Zeit nehmen; ſie werden nach dauerhafter Glückſeligkeit ſtreben; ſie werden ſich durch die blen - dendſte Schönheit und durch die feinſte Politeſſe ſelbſt nicht das Ziel verrücken laßen; ſie werden es einem tugendhaften Manne ſchon vergeben: daſs er nicht nach dem ſchönſten Ebenmaaße gebaut iſt, daſs er ſeinem Tanzmeiſter ſchlechte Ehre macht, daſs er in Geſellſchaften nicht eben die große Rolle ſpielt. Ein leidliches An - ſehn, ein mittelmäßiger Anſtand, mit ei -180 nem villeicht minder galanten, aber edeln Betragen werden ihnen zum Gefallen ge - nug ſeyn. Dafür werden ſie es verdie - nen, mehr zu erhalten als ſie villeicht er - wartet haben; dafür werden ſie die Gattin eines Mannes ſeyn, der ſie nicht geringer als ſich ſelbſt halten, der ſie zärtlich vereh - ren, der ihre Winke bemerken, der ihren Wünſchen zuvorkommen wird. Welch ein Sieg über ihre wetteifernden Geſpielen, wann auch die mißgünſtigſten von ihnen ſich gedrungen ſehen werden zu geſtehen: Die Frau iſt doch recht glücklich! —
Es war gerade Mittag, da ich meinem Freunde Serenus die Hand bot. Er ſtand vor ſeiner Geißblattlaube, im Begriff ſich mit ſeinen beyden Söhnen und ſeinem Schulhalter zu Tiſche zu ſetzen. Nichts war der Freundlichkeit gleich, mit der er mir die ehrenvolleſte Stelle an ſeiner Tafel einräumte. Ich war gegangen, ich machte keine Umſtände mich zu ſetzen. Die Spei - ſen, die alle Produkte des Landes und mit den Kräutern der Flur gewürzt waren, wurden aufgetragen. Man aß. Was mich bey dem allen befremdete, war, daſs man ohne irgend ein vorausgeſchicktes Gebet zu Werke ging. — Glaubte der gute Magiſter, daſs man ſich in Gegenwart eines182 Weltmannes einer ſolchen ehrwürdigen Handlung ſchämen müßte? oder hielt er die Handlung überhaupt für überflüßig? Ich behielt mir vor, ihm, ſo bald wir allein ſeyn würden deshalb zur Rede zu ſtellen. Bey Tiſche wurde wenig geſprochen. Der Magiſter verhütete, daſs man in keine ernſthafte Materie einging und an dem Schulhalter bemerkte ich weiter nichts, als daſs es ihm und ſeinen beyden Zöglin - gen vor allen andern gut ſchmeckte. — Heut’ iſt ein Feſttag! — brach der Ma - giſter, wie wir unſern größten Hunger ge - ſtillt hatten, aus; — da, Bernhard! haſt du den Schlüßel, hohle mir eine verſiegel - te! Wir wollen fröhlich ſeyn; wir haben heute unſern lieben M* bey uns. — Mein Wirth hatte mit ſeinen Landespro - dukten groß gethan. Ha! — dacht’ ich; da willſt du ihn fangen! — Der183 ſchäumende Trank floß in den Becher und helle Sterne zirkelten in ſeiner Mitte. Ich fand mich auf die angenehmſte Weiſe be - trogen. Für den Aepfelmoſt meines Sere - nus hätt’ ich alle Weine von Burgund und Champagne weggegeben. — Das ſind die Glückſeligkeiten eines armen Land - manns, ſagte er; ſeine Flur ſpeiſet ihn und ſein erquickender Trank fließt ihm von ſeinen Bäumen herab. — O, mein lieber M*! wenn ſie den Werth dieſes Getränks wie ich kenneten! — Meine Sophie, das Weib meiner Iugend, die Mutter dieſer beyden, hat es zu meinem Labſal berei - tet. O! es war ein Weib aus einem an - dern Weltalter: nicht ſchön, nicht reich, nicht für die große Welt erzogen; aber geſchickt, ein Leben wie das meinige, un - ter ſo manchen Beſchwerlichkeiten, den - noch den Glücklichern ſelbſt beneidens -184 werth zu machen. Doch das iſt vorbey! — Der Becher ging herum und mehr durch den Anblick ſeiner Kinder, als durch ir - gend eine andre Vorſtellung wußte ſich der zärtliche Vater die Heiterkeit des Gei - ſtes wiederzugeben, die ihm ſo natürlich war und die das Andenken an ſeine ver - ewigte Gattinn nur mit einer kleinen Wol - ke bedeckt hatte. — Nicht wahr, Bern - hard! es hat dir heute recht gut ge - ſchmeckt? — Das haſt du dem lieben Gott zu danken. Menſchen ſind wohl auch gütig und in der That, Kinder! ich thue an euch was in meinem Vermögen iſt. Aber was iſt das gegen die Wohltha - ten unſers gemeinſchaftlichen Vaters, die ſich einander in einer ununterbrochenen Reihe folgen und von welchen dieſe ſchö - ne Mahlzeit nur eine der geringſten iſt? Du wirſt erkennen, Bernhard! daſs das ſo185 iſt. — Bernhard ſtand gerührt auf und betete:
Lieber himmliſcher Vater! du haſt uns heute recht viel gutes erwieſen. Es hat uns allen ſo wohl geſchmeckt. Du haſt uns einen lieben Gaſt zuge - führt. Mein Vater iſt ſo vergnügt geweſen. Gib uns bald wieder einen ſolchen frohen Tag! Wir wollen auch recht fromm ſeyn und recht fleißig lernen. —
Ich trau’ es einem guten Theile meiner Le - ſer zu, daſs er ſo etwas für Konfeckt halten und daran mehr Geſchmack als an den ausgeſuchteſten Leckereyen finden werde. Ich ſchämte mich nun vor mir ſelbſt, daſs ich meinen Mann zu wenig gekannt und daſs ich die Unterlaßung des Gebets vor der Mahlzeit ſo niedrigen Bewegungsgrün - den bey ihm Schuld gegeben hatte. —186 Lieber Magiſter! ſagt’ ich deshalb zu ihm, wie wir vom Tiſche aufgeſtanden wa - ren; — ich geſtehe ihnen gern, daſs es mich Wunder nahm, daſs wir uns ſo ganz ohne die gewöhnlichen Vorbereitungen zu Tiſche ſetzten. —
Das hab’ ich ihnen angeſehen, mein Herr! Sagen ſie mir gerade hin, wofür hielten ſie mich? —
Wenn ich es ſagen ſoll, ſo glaubt’ ich, ſie ſchämten ſich zu beten, oder aufs min - deſte hielten ſie die Handlung zu der Zeit für überflüßig. Das war doch das ſchlimm - ſte was ich von ihnen denken konnte? —
Es war ſchlimm genug, in der That! Aber ſie konnten auch nicht viel anders. Ein andrer hätte villeicht geglaubt: ich wäre ſonderlich, ich wollte gern etwas neues haben. Und der hätte ſich doch auch geirrt. Nein, mein Herr! ich habe187 ſo anſtändige Begriffe von dem höchſten Weſen, als ſie nur immer einem Sterbli - chen beywohnen können; ich bin von unſrer gänzlichen Abhängigkeit von ihm auf das lebendigſte überzeugt; ich erken - ne, daſs wir uns in allen unſern Bedürfniſ - ſen zu ihm wenden, daſs wir ihm für eine jede ſeiner Wohlthaten unſre innigſte Er - kenntlichkeit beweiſen und daſs wir das al - les auch vor den Leuten thun müßen. —
Und gleichwohl fanden ſie es bedenk - lich, einen allgemeinen Gebrauch mitzu - machen, der ihren Grundſätzen ſo gemäß war, und den der ruchloſe Böſewicht ſelbſt zu unterlaßen Scheu trägt? Soll ich ſie noch entſchuldigen, ſo muß ich denken, daſs ſie zerſtreut waren und dieſe Zerſtreu - ung ſtimmt mit ihrem ſonſtigen Charakter doch auch nicht zuſammen. Kurz! ſie müſ - ſen mir das anders erklären. —
188Ja, ja! das bin ich ihnen und mir ſchuldig. Sie bleiben heute bey mir. Jetzt hab’ ich Geſchäffte, die mich ein paar Stunden von ihnen entfernen werden. Sie ſind nöthig; ich entſchuldige mich nicht weiter. Ich überlaße ſie dem Herrn Treumann, bey dem ſie ſich in keiner Abſicht übel befinden ſollen. —
Dieſer verneigte ſich ein wenig und brummte ſo etwas, das villeicht eine Ab - lehnung eines Kompliments, oder ſonſt et - was ähnliches heißen ſollte.
Meine Leſer ſtellen ſich einen Mann von mäßiger Größe, mit etwas hervorra - genden Schulterblättern, einer ſehr gerun - zelten Stirne, einer abgeſtumpften Naſe und einem langen einwärts gebogenen Kinne vor, ſo haben ſie den ehrwürdigen Herrn, mit dem ich einen Theil des Nach - mittags allein zubringen ſollte. Ich weiß189 nicht was ein erfahrner Bildungsdeuter aus ihm gemacht haben würde; das weiß ich aber wohl, daſs meine Erwartungen von ihm nur mittelmäßig waren. Die erſten vernehmlichen Worte, die ich von ihm hörte, waren eine Frage: ob ich Taback zu rauchen gewohnt wäre? Ich beantwor - tete ſie, wie ich ſie immer zu beantworten pflege, mit: Nein! Darauf erfolgte ein Be - fehl an den kleinen Bernhard, den andern Schulkindern anzudeuten: daſs ſie für heu - te aus einander gehen und die größern ſich allenfalls in der Gegend des Pfarrhauſes mit Ballſchlagen beluſtigen könnten. Bern - hard machte eine Miene, als ob ihm das nicht recht gefiele und ich bezeugte dem Hrn. Treumann, daſs es mich ſehr gut be - ſchäfftigen würde, wenn er mir Erlaubniß geben wollte ſeinem Unterrichte beyzu - wohnen. Wenn er alſo durch nichts an -190 ders als durch mich abgehalten würde von ſeiner gewöhnlichen Arbeit eine Ausnah - me zu machen, ſo wollt’ ich es in allen Stücken verbitten. — Er machte dann zwar noch eine und die andre Entſchul - digung, ließ ſich aber zuletzt meine Be - gleitung gefallen. Auf dem Wege nach ſeiner Wohnung ſagte er mir: daſs er eine ſo gute Gelegenheit nutzen wolle eine un - erwartete allgemeine Prüfung ſeiner Lehr - linge, davon er jährlich nur einigemal und gerade heute alle Klaſſen beyſammen hätte, zu veranlaßen. Dadurch dächt’ er mich am angenehmſten zu unterhalten und mir zugleich mit den richrigſten Begriff von dem Werthe ſeiner Schulanſtalten beyzu - bringen.
Magiſter Serenus hatte das Glück mit dem Amtsrath G*, der ſich nicht allein durch vorzügliche ökonomiſche Kenntniße,191 ſondern auch durch ein ſehr geſittetes Be - tragen von dem größern Theile ſeiner Kol - legen unterſchied, in dem beſten Verneh - men zu ſtehen. Mit ihm hatte er ſich oft von den Mitteln unterhalten, vermöge welcher der Landmann einer größern Glückſeligkeit näher gebracht werden kön - ne, und unter vielen andern Vorſchlägen zu welchen der Amtsrath willige Hände dargeboten hatte, war auch eine Verbeſſe - rung des Erziehungswerks mit in den Ent - wurf gekommen. Der Amtsrath hatte in ſeinem Gerichtsſprengel auch die höhern Landeskollegien ſeinen Abſichten geneigt zu machen gewußt, und was die Gemeine ſeines Freundes Serenus inſonderheit be - traf: ſo hatten beyde Herrn aus ihren Mitteln ein Anſehnliches zur Verſorgung eines unbrauchbaren alten Küſters, zur Anſetzung eines geſchickten Schulhalters192 und zur bequemen Einrichtung eines neuen Schulhauſes mit beygetragen. Da - her war hier in allen Stücken etwas vor - zügliches. Herr Treumann wohnte ganz bequem. Er hatte ſeine eigne Schulſtu - be, die geräumig und helle und mit aller nöthigen Geräthſchaft überflüßig verſorgt war. — Ich wünſchte, daſs das ſo man - che Stadtleute, ſo manche vornehme Pa - tronen größerer Anſtalten ſehen möchten, die bey wirkſamern Mitteln, bey mehre - rer Gewalt und bey weit anſehnlichern Fonds, es doch ganz gleichgültig anſehen können, daſs verdiente Lehrer, bey ihren ohnehin ſo undankbaren Geſchäfften, in den öffentlichen Schulgebäuden ſelbſt noch gegen Wind und Wetter, gegen Schmutz und Unrath, gegen böſe Dünſte und hun - dert Unbequemlichkeiten mehr kämpfen müßen. — Doch wer wird dadurch ge -193 rührt? Man denkt mehrentheils nur auf ſich und läßt ſich die kleinſten Hinderniße abhalten, etwas fürs gemeine Beſte zu thun. Da ſey Gott für, daſs man ſich nicht lieber durch koſtbare eitle Vorzüge über andre erheben, als durch einen klei - nen Aufwand von der Art, bey allen Rechtſchaffnen einen guten Nahmen ma - chen ſollte! In der That möchte man manche Schulen in nahmhaften Städten viel eher für Wohnungen der Dürftig - keit, für Freyſtädte der Betteley, als für Tempel der Weisheit halten, in wel - chen unſre Iugend zum Dienſte des Staa - tes zubereitet und in allen ſchönen und anſtändigen Wißenſchaften unterwieſen werden ſoll. —
Aber, mein Herr Spatziergänger! müſ - ſen ſie denn immer deklamiren? können ſie keine Gelegenheit vorbeylaßen? —
(II. Theil.) N194Nicht gern, meine Herren! Dafür ſte - hen ſie jetzt auch mitten unter der blühen - den Iugend einer anſehnlichen Dorfſchaft, an der Seite eines Mannes, der ſie für mei - ne Deklamation, wie mich für die Abwe - ſenheit meines lieben Serenus Schadlos hal - ten wird. —
Herr Treumann hatte ſeine Schulkin - der, ihrem Geſchlechte und ihren Fähig - keiten nach in verſchiedene Klaſſen abge - theilt, deren jede ihren eignen. Tiſch ein - nahm. Sein Anſehn ſchien in ſeinem klei - nen Staate unumſchränkt zu ſeyn, und un - geachtet ich die gewöhnlichen Zeichen deſ - ſelben, die Faſces nirgends wahrnahm; ſo ſchien doch alles in ehrfurchtsvoller Stille auf ſeine Winke zu warten. Ich bekam bald allerhand Probeſtücke zu hören. Ei - nige laſen kleine moraliſche Erzählungen, andre Bibliſche Geſchichten, noch andre195 Briefe und die geſchicktern erzählten was ſie vor einigen Tagen geleſen hatten. Zu gleicher Zeit mußten ſich andre mit Auf - löſung arithmetiſcher Aufgaben beſchäffti - gen, dabey es dann nicht ſowohl darauf ankam, ob ſie in der Geſchwindigkeit da - mit fertig wurden; ſondern ob ſie es un - ter ſo mannichfaltigen Störungen dennoch recht gemacht hatten. Andre mußten ih - re Schreibebücher vorzeigen, die ſich durchgängig durch Nettigkeit, richtig ge - zeichnete Charaktere und eine nicht allzu - ängſtlich geſuchte Rechtſchreibung em - pfohlen. Meinen erſten Tiſch — ſagte Herr Treumann, indem er mich zu dem - ſelben führte; hab’ ich außerdem noch in manchen andern Kenntnißen unterrich - tet, die ich entweder zu der Glückſeligkeit eines jeden Menſchen überhaupt, oder zu der eines Landmanns beſonders gehörig196 geachtet habe. Ich enthalte mich einer Prüfung darüber, da es leicht Verdacht er - wecken könnte, als ob ich nicht ſowohl den Verſtand, als das Gedächtniß meiner Schüler zur Schau ſtellen wollte. Villeicht, mein Herr M*! fänden ſie Vergnügen ſich mit einem und dem andern in eine kleine Unterredung einzulaßen. Ich habe ſie al - le, in gleicher Entfernung von einer übel - verſtandenen Blödigkeit und einem naſe - weiſen Weſen, zu einer freymüthigen Be - antwortung einer jeden Frage, die man an ſie thun könnte, gewöhnt. — Ich fand das alles was mein Treumann ſagte recht ſehr vernünftig, und trug kein Be - denken, mich vor allen an den kleinen Herrmann, den Sohn des Schulzen, zu wen - den, der mich durch eine ſehr glückliche Geſichtsbildung beſonders für ſich einge - nommen hatte. Es war mir ein ungemei -197 nes Vergnügen, bey einem dreyzehnjähri - gen Knaben die geſundeſten Religionsbe - griffe und eine richtige Kenntniß von der Pflicht des Menſchen und beſonders des Menſchen in ſeinen gemeinſten Verhältniſ - ſen, anzutreffen. Herrmann, der keinen größern Stolz hatte, als über kurz oder lang einmal den Platz ſeines verdienten Vaters zu bekleiden, wußte in der That ſchon ſo ziemlich was einem Bauern zu thun und zu leiden zukam; er urtheilte richtig von der Viehzucht, vom Feld - und Gartenbau und wußte die dazu nöthige Geräthſchaft genau zu beſchreiben. Die Geſchäffte eines Gerichtsſchulzen waren ihm mehrentheils alle ſo geläufig, daſs er, wenige kritiſche Fälle ausgenommen; für ſeinen Vater würde haben handeln können. Bey dem allen redete er niemals mit ein, wenn ich etwan mit ſeinen Antworten198 nicht ganz zufrieden war; er ſchien es viel - mehr gut aufzunehmen, wennich ihn über einen und den andern Punkt, ſo gut ich es ſelbſt wußte, belehrte. Es wurde ihm zwar nicht ſchwer zu geſtehen: Das weiß ich nicht! — Allein in ſeinen Mienen war immer etwas, das deutlich genug zu ſagen ſchien: Ich möcht’ es doch wohl wißen! — Ich befragte noch einige an - dre über ähnliche Gegenſtände und ent - deckte dadurch, daſs ſich jeder mit ſeinen eignen Worten auszudrücken wußte und hier folglich eine ſklaviſche Denkungsart ganz etwas fremdes war. —
Hat jemand von ihnen, meine Herren! irgend einmal einer öffentlichen, periodi - ſchen Schulprüfung in mancher nahmhaf - ten Stadtſchule, in Gymnaſien und andern dergleichen Anſtalten beygewohnt? — Die Sache wird da mehrentheils ganz an -199 ders betrieben. Die Schüler werden Wochen lang, auf das was ſie gefragt wer - den ſollen, von ihren Lehrern vorbereitet. Die Antworten werden auswendig gelernt und man hütet ſich ſehr ſorgfältig ſie um etwas zu befragen, darauf ſie nicht eigent - lich abgerichtet ſind; oder auch nur die einmal beliebte Ordnung allzumerklich zu verändern, aus Beſorgniß, daſs man vil - leicht auf die zehnte Frage die dritte Ant - wort erhalten könnte. Ich will damit nicht, daſs man dem Schüler die eigne be - ſtimmtere Vorbereitung unterſage; ich er - fodre ſie vielmehr. Nur der Lehrer ſollte ſich nicht darin miſchen. — Um das Pup - penſpiel deſto glänzender zu machen, über - läßt man einem jeden Lehrer die Klaſſe für die er gearbeitet hat. Manche Lehrer haben dann ihre Lieblinge unter den Schü - lern, die Söhne der Patronen und Vorſte -200 her z. E. mit denen ſie ſich noch beſonders abgegeben haben und die nun, auf eine oft ſehr ungerechte Weiſe, als Muſter des Fleißes und der Geſchicklichkeit an die Spitze der andern geſtellt werden. Das ſind alles Thatſachen, die ich aus mehrjähriger Erfahrung weiß, von denen ich in ſehr be - rühmten Kollegien Beyſpiele geſehen und in bekannten Büchern Vertheidigungen ge - leſen habe. Man ſollte nun wohl ſagen, daſs die Patronen und Vorſteher der Schu - len mit zutreten und ſichs herausnehmen ſollten, die Fähigkeiten der Iugend ſelbſt zu erforſchen, um von dem Ausſchlage die - ſer Bemühung deſto glücklichere Maaßre - geln zur Verbeſſerung des Schulweſens an einem jedesmaligen Orte hernehmen zu können: Allein, vieler andern Hinderniße zu geſchweigen, ſo ſind die meiſten dieſer Herren bey allem guten Willen ſelten da -201 zu geſchickt genug. Die Gelehrten unter ihnen, haben entweder ſelbſt einen ſchlech - ten Unterricht genoßen, oder doch von ih - ren ehmaligen Schulkenntnißen ſo viel ver - geßen, daſs ſie ſich auf ſolche Dinge nicht allzuwohl mehr einlaßen können. Ich mache ſelten Projekte; aber gut wäre es zuverläßig, wenn man nur Männer von Metier und nicht Leute, deren Amt ſie zu ganz andern Geſchäfften verbindet, zu Auf - ſehern der Schulen in Provinzen und Städ - ten beſtellte. Von ihnen würden die er - ledigten Lehrſtühle mit Männern von er - fahrner Geſchicklichkeit beſetzt, die Schu - len den Bedürfnißen eines jeden Ortes ge - mäß eingerichtet und dann alles in ſeinem Gange erhalten werden müßen. Es müß - te das ſchon ihre einzige Beſchäfftigung ſeyn und der Staat müßte ſich deswegen an ihnen halten können. —
202Dieſe Reflexion mit eingeſchloßen, die ich in einem Augenblicke machte, da der gute Treumann beſorgen konnte, daſs ich Langeweile zu haben anfinge, hatte ich mich gerade drey Stunden mit völliger Zu - friedenheit meines Herzens in dieſem klei - nen ländlichen Hörſaale unterhalten. Die Kinder wurden mit einem Beyfall bedeu - tenden Lächeln entlaßen und ich kehrte, in Geſellſchaft meines Schulhalters, mit ganz veränderten Begriffen von ſeinem Werthe, nach dem Pfarrhauſe zurück. —
Herr Treumann! — war das erſte was ich ihm ſagte; — ſie haben mir da ganz unerwartet eine angenehme Stunde gemacht, dafür ich mich bey ihnen bedan - ken muß. Das war alles recht ſehr ſchön. Ich ſtelle mir vor, was ſie ausrichten wür - den, wenn ſie eine größere Anſtalt unter ihre Aufſicht bekommen hätten. —
203Nicht viel, mein Herr! Ich kann es ihnen wohl ſagen: Ich bin in einer Stadt Rektor geweſen, die es für einen Schimpf halten würde, wenn man ſie unter die klei - nen zählen wollte. Ich muß nicht zu wichtigern Geſchäfften taugen. Man war nicht lange mit mir zufrieden; man legte es mir ſo nahe, daſs ich gehen mußte und keiner war, der mich nur einen Augen - blick lang aufgehalten hätte. —
Das muß auf eine eigne Weiſe zuge - gangen ſeyn. Ich muß ihnen ſagen, daſs ich das nicht begreiffe und daſs ich neugie - rig genug bin, den wahren Verlauf der Sa - che zu hören. —
Ich rede nicht gern davon, weil ich ſelten ohne Affekt davon reden kann. —
Reden ſie meinetwegen mit Affekt! Ich verzeih’ es einem jeden wenn er ſich nicht enthalten kann, einer ihm, oder an -204 dern zugefügten, unverdienten Verachtung wegen; in einen edeln Unwillen auszubre - chen. Man iſt ein Menſch und wenn man nur Unwillen äußert, ſo iſt man darum noch keines Vergehens ſchuldig. —
Sehen ſie, mein Herr! ich trat das Rektorat zu W* anfangs unter den beſten Vorbedeutungen an. Ich machte Einrich - tungen bey der Schule, die durchgängig gebilliget wurden. Man lobte mich und dachte ſchon darauf meine ſehr geringen Einkünſte auf einen beſſern Fuß zu ſetzen. Nun hatte ich das Unglück, daſs ich zu - gleich mit den Kenntnißen meiner Unter - gebenen auch ihre Sitten verbeſſern wollte und daſs ich dabey auf Mittel verfiel, die man allenfalls nur an den Söhnen armer Bürger; um des Himmels willen aber nicht an einem Stammhalter einer patriziſchen Familie verſucht haben wollte. Mein bö -205 ſer Genius machte, daſs ich mich ſogar an dem einzigen Sohne Se. Magnificenz des Hrn. Oberbürgermeiſters, oder daſs ich recht ſage; der Frau Oberbürgermeiſte - rinn, vergreiffen mußte, der zwar ein klei - ner Böſewicht war und ein großer zu wer - den drohte; der aber bey dem allen doch auf eine unterſcheidende Weiſe behandelt zu werden verlangte. Ich erwartete von einem ſo gerechten Verfahren, für mich nicht die mindeſten übeln Folgen und ob ich gleich bald genug eine Abnahme mei - nes bisherigen Kredits auf mehr als Eine Weiſe bemerkte; ſo wollt’ ich dieſe unan - genehme Veränderung doch von hundert andern Urſachen lieber, als von der ſchlech - teſten herleiten. Ich hörte nun, daſs man mich anfänglich beſchuldigte: ich ſey un - fähig mein Anſehn zu behaupten und daſs man mich bald darauf, in Sachen die ich206 wißen ſollte, für unwißend erklärte. Man hatte bis jetzt nichts daraus gemacht, daſs ich die Franzöſiſche Sprache nicht in mei - ner Gewalt hatte; nun fand man den Mangel unleidlich. Ich war ein mittelmäſ - ſiger theoretiſcher Geometer; ich ſollte nun auch ein geübter Feldmeßer ſeyn. Und der Himmel mag wißen, was ich al - les ſeyn ſollte und nach dem Urtheile mei - ner umgeſtimmten Gönner nicht war. Dieſe nachtheiligen Urtheile von mir wur - den dann auf das gefliſſentlichſte in allen Geſellſchaften ausgebreitet, ſo daſs ich zu - letzt von den geringſten Bürgersleuten, auf öffentlichen Plätzen, meiner großen Un - wißenheit wegen zur Verantwortung gezo - gen wurde. Meine äußern Umſtände, die ohnehin nicht die glücklichſten waren, mußten ſich dabey außerordentlich ver - ſchlimmern. Die Aeltern nahmen ihre207 Kinder von mir weg und ſchickten ſie auf auswärtige Schulen. Die Stadtſchule kam in Verfall und dieſer Verfall, an dem ich allein unſchuldig war, wurde mir gleich - wohl als eine Folge meiner Unwißenheit und meines ungeſchickten Betragens an - gerechnet. Eine Predigt, die ich für den Superintendenten übernehmen mußte, war die gefährliche Schlinge, die meinen gänz - lichen Fall befödern ſollte. Sie wurde von verſchiedenen, dazu beſtellten Perſo - nen Wort für Wort nachgeſchrieben und wenige Tage nachher foderte mich der geiſt - liche Synodus auf: mich dreyzehn darin bemerkter irriger und den ſymboliſchen Büchern zuwiderlaufender Sätze wegen zu rechtfertigen. Man wollte dabey ſchon lange gewußt haben, daſs ich den Samen ſeelenſtürzender Irrthümer in die Herzen der Iugend gelegt, daſs ich ſchon immer208 nach Baſedowiſchen Grundſätzen gelehrt und, welches erſchrecklich zu ſagen ſey; unter der Hand mit an den gefährlichſten Recenſionen in der allgemeinen Biblio - theck gearbeitet hätte. Mit herzlicher Wehmuth hätte man das alles vorlängſt ſchon vernommen, man wäre in öffentli - chen Vorträgen zuweilen mit deutlichen Worten dagegen angegangen; hätte doch aber ohne zuverläßigere Beweiſe, wie denn das die chriſtliche Liebe erfodre; die ge - hegte gute Meynung von mir nicht auf - geben wollen. Selbſt anjetzt, da man au - genſcheinliche Beweiſe wider mich in Hän - den habe, wolle man doch erſt meine nä - here Erklärung erwarten. — Ich kann ihnen nicht ſagen, mein Herr! wie ſehr ich über ein ſo fremdes Verfahren erſtaunte. Nach einer langen Ueberlegung, ſchloß ich endlich, aus der genommenen ſcheinheili -209 gen Wendung beſonders, daſs mein Unter - gang verabredet ſeyn müße und daſs ich, ich möchte antworten oder nicht antwor - ten; in meinem Schickſale doch keine merkliche Aenderung treffen würde. Ich erklärte deshalb ganz kurz: daſs ich noch zu keiner Zeit einen vorſätzlichen Irrthum öffentlich gelehrt, oder auch nur unter der Hand ausgebreitet hätte und daſs es am wenigſten in der gedachten Predigt geſche - hen ſey. Die dreyzehn Punkte wären von mir erkannte Wahrheiten, alle, meines Er - achtens; der heiligen Schrift gemäß und nur zum Theil den ſymboliſchen Büchern zuwider. Ich würde eine jede Belehrung darüber annehmen und um dazu deſto ge - ſchickter zu ſeyn, bät’ ich eine ehrwürdige Synode; die Verbindung aufzuheben, in der ich bisher gegen den Staat geſtanden hätte und der ich ferner ein Genüge zu lei -(II. Theil.) O210ſten, mich völlig unfähig fühlte. Man hat - te ſeinen vorgeſetzten Zweck nicht durch ſo wenige Mittel zu erreichen gehofft und freute ſich nun um ſo viel mehr, daſs es geſchehen war. Man dachte nicht dar - an, mich über meine Irrthümer zu beleh - ren und ich bekam bald genug Erlaubniß, mein Glück anderswo zu ſuchen. Ich konnte meine Wanderſchaft nur mit ge - ringen Hülfsmitteln antreten und um das Wenige zuſammen zu bringen, hatt’ ich mich genöthigt geſehen meine beſten Klei - dungsſtücke und meinen kleinen Bücher - vorrath faſt um nichts wegzugeben. Ei - ner meiner vormaligen Gönner, der einzige zu dem ich meine Zuflucht zu nehmen wagte, betrog mich, bey dem Zutrauen das ich in ſeine Menſchenliebe ſetzte, gleich - wohl auf das ſchrecklichſte in meiner Er - wartung. Ich hatte ihn noch um nichts211 gebeten; er nahm mich dem ungeachtet mit einer froſtigen Miene auf, ſagte[:]es thue ihm leid, daſs er meine Beſuche ver - bitten müße und gab mir den freundſchaft - lichen Rath, die Gränzen von W* auf das baldigſte zu verlaßen. Das mußt’ ich ſo, wenn ich einer öffentlichen Beſchimpfung entgehen wollte, zu welcher man den Pö - bel ſchon von heiliger Stelle aufgeboten hatte. Ich enthalte mich ihnen die ſchö - nen Anmerkungen anzuzeigen, die ich damals über einen anſehnlichen Theil mei - ner lieben Mitgeſchöpfe zu machen Urſach hatte. Ich erwähne nur, daſs ich von der Zeit an, in Abſicht meiner, auch die klein - ſten Begebenheiten nicht für gleichgültig gehalten habe. Welche Verbindung zwi - ſchen einem Schlage auf die Schultern ei - nes leichtſinnigen Buben und der Verban - nung eines rechtſchaffnen Mannes, der,212 mit Aufopferung alles Wohllebens, das mühſelige Geſchäfft übernahm zu der Glückſeligkeit ſeines Staates die erſten Li - nien zu ziehen! Und gleichwohl verhiel - ten ſich dieſe Begebenheiten, wie die äuſ - ſerſten Ringe einer Kette gegen einan - der. —
Es war gerade die unbequemſte Iahrs - zeit, da ich, ohne zu wißen, wohin? aus dem Thore von W* ging. Tauſend Um - ſtände vereinigten ſich, meinen Weg in die Länge zu ziehen; unzählige Fehlſchlagun - gen und Widerwärtigkeiten mußten meine Philoſophie auf die Probe ſtellen. Mei - ne Wanderſchaft erfüllte das Maaß eines halben Iahres und wurde für mich an nützlichen, obgleich zuweilen höchſt un - angenehmen Erfahrungen, reich. Ich würde von einer Reiſe um die Welt vil - leicht nicht ſo viele Vortheile eingeärndtet213 haben, als hier von einem Wege durch ein paar Provinzen unſes deutſchen Vaterlan - des geſchahe. Ein glücklicher Zufall brach - te mich hieher zu meinem lieben Serenus, der mich bald alles Ungemach meines bishe - rigen Lebens vergeßen lehrte. — Nun iſt mein Glück für immer gemacht! Ich dank’ es der Bosheit meiner Verfolger. Sie, mein Herr! werden ſelbſt ſagen, daſs es Etwas ſey: eine gelehrige Iugend zu einem tu - gendhaften Wandel zuzubereiten und, bey einem hinlänglichen Auskommen, von einer kleinen Geſellſchaft rechtſchaffner Leute ab - zuhängen. Meine hundert Thaler reichen zu meinen nothwendigen Bedürfnißen um ſo viel eher hin, da ich wöchentlich Ein - mal bey dem Magiſter und die übrigen - ſechs Tage bey den Bauern eße, die des - halb unter ſich eine wohlthätige Veranſtal - tung zu meinem Beſten getroffen haben.
214Hic labor extremus, longarum hœc meta viarum. Keine reizende Ausſicht ſoll mich jemals verführen, dieſe Wohnungen der Zufrie - denheit zu verlaßen, wo ich andre glück - lich machen und ſelbſt ſo glücklich ſeyn kann. Es iſt beſchloßen, mein Herr! ich kehre nicht wieder in die große Welt zu - rück. Die Gunſt dieſes treuherzigen Landvolks iſt minder veränderlich und ich denke wohl, daſs ich mich darin bis an mein Ende erhalten werde. —
Dieſe letzten Worte beſonders, ſagte der Mann mit einer ſolchen Würde, daſs meine ganze Aufmerkſamkeit darauf hin - gezogen wurde und daſs ich ſeine groß - müthige Entſchließung faſt wider meine Ueberzeugung bewundern mußte.
Wir unterhielten uns nachher noch ei - ne Zeit lang über die Mängel des öffentli -215 chen Erziehungsweſens und über die Mit - tel denſelben abzuhelfen. Wir kamen dar - in überein: daſs man in allen Arten von öffentlichen Anſtalten, auf die Ausbildung des ſittlichen Charakters der künftigen Bürger des Staats, ſein vorzügliches Au - genmerk richten und daſs man von einer allgemeinen Erziehung, nach und nach zu der beſondern für einzelne Lebensarten, fortſchreiten müße. Der Künſtler, der Kaufmann, der Handwerker müße anders, als der künftige Gelehrte unterrichtet und dieſer letzte nur zu den obern Klaſſen aus - geſondert werden. Auf Schulen ſolle je - doch nur der Gelehrte überhaupt gebildet und nur einige wenige Rückſicht auf die Gattung gelehrter Geſchäffte genommen werden, zu welchen die einzelnen Subjek - te Trieb und Fähigkeit bey ſich vermerken möchten. Es käme der Akademie zu, den216 Prediger von dem Schulmanne, dieſen von dem künftigen akademiſchen Lehrer und ſo in andern Fakultäten, den Sachwalter, Rich - ter u. ſ. w. von einander zu unterſcheiden und bey dem Vortrage der Hauptwißen - ſchaften mit dahin zu ſehen, daſs ein jeder von ſeiner künftigen Hauptbeſtimmung be - ſonders unterrichtet und im voraus ſchon mit manchen dahin gehörigen praktiſchen Kunſtgriffen bekannt gemacht werde. Die Eintheilung in die vier Hauptfakultäten ſchien dem Hrn. Treumann ganz und gar nicht bequem und überhaupt nachtheilig fürs gemeine Beſte zu ſeyn. Man ſollte dafür lieber eigne Lehrſtühle für künftige Prediger, eigne für Schulleute, für Kame - raliſten, praktiſche Publiciſten u. ſ. w. be - ſtellen. So glaube man aber oft, wer weiß was? gelernt zu haben und ſey mehren - theils fremde in dem, wozu man ſich auf217 das feyerlichſte bekenne. Wahr ſey es, daſs hier die Regierung mit zutreten und in ſo manchen, hieher gehörigen Dingen, eine Aenderung treffen müße. Denn wer wolle ſich wohl, ſo wie die Sachen jezt ſte - hen; von Iugend auf zu einem Lehramte in Schulen beſtimmen, von dem nicht ſo - wohl Ehre, als Verachtung und nur eben - hin ein nothdürftiges Auskommen von ei - nem Tage zum andern zu erwarten ſey? Man könne ſich keine traurigere Lage ge - denken, als die eines Schulmannes, der ſich für den Eheſtand entſchloßen und nun auſ - ſer ſich noch ein geliebtes Weib und eine kleine lallende Republick vor dem Mangel zu ſchützen habe. Ein nachtheiliger Um - ſtand ſey es freylich, daſs unſre künftigen Pädagogen ſich immer ſchon auf theologi - ſche Gelehrſamkeit gefaßt machen müßten, dabey dann die eigentlichen Schulwißen -218 ſchaften mehrentheils immer vergeßen, oder doch zu ſpät erſt und villeicht auch zu nachläßig getrieben würden. Es ſey nicht minder nachtheilig, daſs die meiſten Schulleute genöthigt wären, ſich nicht ſo - wohl auf die ihnen zuſtändigen Geſchäffte, als aufs Predigen zu legen, und daſs ein beträchtlicher Theil, wann er den Schul - ſtaub kaum erſt gekoſtet, Tag und Nacht darauf ſinnen müße, wie er in einen Stand kommen wolle, der überall geehrter ſey und oft Bequemlichkeit und gute Tage er - warten laße. Inzwiſchen ſey das einmal nicht anders. Einige bekannte größre Schulanſtalten würden den gänzlichen Ver - fall einer wahren Gelehrſamkeit freylich überhaupt wohl verhüten; allein daſs man nicht auch in Provinzialſtädten auf einige Abänderungen zum Guten denke: das hin - dre doch immer die Ausbreitung nützliches219 Kenntniße, die ſittliche Vollkommenheit ſelbſt in den niedrigern Ständen und nach aller Schärfe, die höhere Glückſeligkeit des Ganzen. —
Ich hatte an einer ſo lehrreichen Un - terredung ſelbſt ſo vielen Antheil genom - men, daſs ich den Lauf der Zeit darüber nicht bemerkt hatte. In der That war der Abend völlig hereingebrochen und wir fingen an nach unſerm Magiſter auszuſe - hen. Er kam beſtäubt und ermüdet aus dem Felde nach Hauſe, wo er eine kleine Gränzſtreitigkeit zwiſchen einigen Gliedern ſeiner Gemeine, durch ſein bloßes Anſehn, gütlich entſchieden hatte. Nach einem patriarchaliſchen Abendeßen, welches aus kalter Milch und Früchten beſtand, erin - nerte er ſich, daſs er mir ſeine Rechtfer - tigung des unterlaßenen Gebets wegen ſchuldig geblieben ſey. Er meynte jedoch,220 daſs er dieſer Sache wegen noch mehr auf dem Herzen habe und daſs ſich das alles bey dem morgenden Frühſtücke am beſten würde in Erwägung nehmen laßen. — Er berief nun alle ſeine Hausgenoßen zuſam - men, betete ſelbſt ein den Umſtänden ge - mäßes Abendgebet und ſtimmte einen be - kannten Geſang an, der von uns allen an - dächtig mitgeſungen wurde. —
Es war heller Tag, da ich unter dem Geläute der Glocken, unter dem mannich - faltigen Getöne der Heerden und unter dem Geſange unzähliger Vögel erwachte. Ich ſtand ſogleich auf, eröffnete mein Fen - ſter und ſiehe! die Sonne ſtieg hinter Hü - geln herauf, die mit kurzem Gebüſche be - pflanzt waren und mit einem luſtig gele - genen Vorwerke, am Rande eines breiten Sees, den Geſichtskreis von der Morgen - ſeite begränzten. Ein ſo prachtvolles221 Schauſpiel rührte mich ungewöhnlich. Meine Seele wurde dadurch zu dem groſ - ſen und liebenswürdigen Urheber deſſelben erhoben. Ich dachte nur große Gedan - ken. Worte hätten ſie entkräftet. In meinen Begierden war nichts ſträfliches; ſie waren rein wie der Himmel, der mich umgab; alle aufs Gute gerichtet. Ich kenne nichts edles, nichts ruhmwürdiges, das ich in dieſen Augenblicken nicht wür - de beſchloßen haben und zu deſſen Aus - führung ich mich nicht heiter und ſtark genug gefühlt hätte. — So gewiß nimmt die Sinnlichkeit an unſern religiöſen Ent - ſchließungen Theil. Eine Religion für den bloßen Verſtand iſt für höhere Gei - ſter villeicht; aber gewiß nicht für uns gemacht. Man kennt unſre Natur nicht und in der That unternimmt man eine ſchädliche Trennung, wenn man uns aus222 der Materie herausheben und uns, wenn ich ſo reden darf; durchaus vergeiſtigen will. —
Ich ſchäme mich, ſagt’ ich zu dem Magiſter, der eben zu mir hereintrat; daſs ich nicht, wie ſie, der Sonne zuvorgekom - men bin und noch mehr, daſs ich ihren häuslichen Gottesdienſt verſäumt habe. —
Sie haben nichts verſäumt, liebſter M*! wenn ſie, wie ich vermuthe; einen Blick in dieſe reizende Gegend gethan ha - ben, die ſie aus ihrem Fenſter überſehen können. Da ſie ihnen neu iſt, ſo hat ſie gewiß einen ſtarken Eindruck auf ſie ge - macht. Ich glaube, daſs ich ſie kenne. Unſtreitig haben ihre Godanken einen außerordentlichen Flug genommen. —
Ich geſteh’ es ihnen gern, mein lieber Serenus! daſs ich mich einige Augenblicke lang allen Regungen einer frommen Be -223 wunderung überlaßen, daſs ich mich mit Entzücken von der Erde zum Himmel er - hoben, daſs ich mich, unter ſo glücklichen Umſtänden eifriger als jemals, für eine je - de Tugend entſchloßen habe. —
Das iſt es, was ich ſo ſehr liebe: alle wichtigern Begegniße unſers Lebens ſo - wohl, als jeden auf eine merkliche Weiſe in die Sinne fallenden Gegenſtand, in Bezieh - ung auf Religion und Tugend zu denken. Daher meine erklärte Geringſchätzung ei - nes jeden Gottesdienſtes, der aus bloßer Gewohnheit und für die lange Weile unter - nommen wird. Daher die Ueberzeugung bey mir ſelbſt, daſs man lieber gar nicht, als ohne Verſtand, ohne Gegenwart des Geiſtes, ohne Erhebung des Herzens zu Gott beten müße. Dem gemeinen Chri - ſten iſt nichts gewöhnlicher. Er plappert ſein auswendig gelerntes Formular her, oh -224 ne an etwas anders zu denken, als an die aufgetiſchten Speiſen, die ihm ſo lieblich entgegendüften. Es iſt das eben ſo un - nütz, als wenn die Vornehmen einen ſtum - men Kreis ziehen, einen Augenblick lang die Hände falten und dann ein Kompli - ment machen, von dem es zweifelhaft iſt, ob es etwas oder nichts bedeuten ſoll. Wenn wir Landleute täglich mehreremal an den Tiſch treten und unter ſo manchen ſchlechten Gebetsformeln, Ein gedanken - loſes Vaterunſer nach dem andern erſchal - len laßen; ſo iſt das im Grunde doch nicht viel beſſer, als wenn der einfältige Katho - lick ſeinen Roſenkranz abſpielt. —
Sie wollen ſo viel ſagen: daſs man durchaus nicht periodiſch beten ſolle. —
Das will ich eigentlich damit nicht ſa - gen. Ich will nur nicht, daſs man ſich iklaviſch, daſs man ſich abergläubiſch daran225 gewöhnen, daſs man es maſchinenmäßig thun ſolle. Nach einer großen Zerſtreu - ung unmittelbar ſich hinſtellen und mit Gott reden wollen, läßt immer beſorgen, daſs man ein ſo ehrwürdiges Geſchäfft nicht auf die gebührende Weiſe verrichten wer - de. In ſolchem Falle lieber nicht gebetet! Sie erriethen es zuletzt doch. Ich war ge - ſtern in dem Falle. Glauben ſie, daſs mich das entſchuldigen kann? —
Sie wohl, mein lieber Serenus! aber nimmermehr den gemeinen Chriſten, der in mannichfaltige Geſchäffte verwickelt, immer zerſtreut, immer unaufgelegt zum beten iſt; nimmermehr den Mann nach der Welt, der keinen Augenblick bey ſich ſelbſt iſt, der von Einem Vergnügen zum andern forteilt, der ſich vom Spieltiſche an die Tafel ſetzt und mit einem Rauſche(II. Theil.) P226davon aufſteht. Alle dieſe Leute würden kaum Einmal im Iahre beten, wenn ſie nach ihrer Regel beten ſollten. —
Ganz recht! ſie befinden ſich in einem Zuſtande, der nicht in der Regel; aber, meines Erachtens ganz und gar nicht noth - wendig iſt. Einzelne Zerſtreuungen kann man im menſchlichen Leben nicht verhü - ten; wohl aber das Immerzerſtreutſeyn. Die beſte Probe für einen Menſchen von einiger Erziehung: ob er mit Verſtand be - ten könne? — iſt: Wenn er es zuwei - len verſucht mit eignen Worten zu beten. Ich bin nicht wider gute Gebetsformeln. Allein wenn ſie uns zu geläufig werden, ſo verurſachen ſie zuletzt die ſchädliche Ge - dankenloſigkeit, die hier ſo übel ange - bracht iſt. Das Vaterunſer ſelbſt ſollte nicht für eine nothwendige Zuthat einer227 jeden Gebetsübung gehalten werden. Chri - ſtus ſcheint in der That dieſen Endzweck dabey nicht vor Augen gehabt zu haben. Ich glaube vielmehr, daſs er das Fehlerhaf - te des formulariſchen Betens damit habe verhüten und nur die Güter ſummariſch ha - be bezeichnen wollen, um derentwillen man ſich hauptſächlich zu Gott wenden, um de - ren Gehalt man ſich bekümmern, deren Mittheilung man von dem Geber alles Gu - ten vornehmlich erwarten müße. Ich pfle - ge daher bey meinen gottesdienſtlichen Verrichtungen das Vaterunſer ſeltner als ge - wöhnlich zu beten. Dagegen wend’ ich dop - pelten Fleiß darauf, den Inhalt deſſelben ei - nem jeden verſtändlich zu machen. Es liegt viel daran, daſs man wiße was uns wahr - haftig gut ſey und was man ſich vernünf - tigerweiſe von Gott wünſchen dürfe. —
228Sagen ſie mir, ob ich irre? Es kömmt mir ſo vor, als ob ſie doch, ihrer Erklä - rung ungeachtet; wider die Gebetsformeln ein wenig eingenommen wären. Allem Anſehn nach, werden nun auch wohl die Gebetbücher bey ihnen in ſchlechtem Kre - dit ſtehn? —
Das eine ſo wenig, als das andre. Nur müßen Erſtere ſich durch Simplicität und nachdrucksvolle Kürze empfehlen. Sie müßen die wahren Empfindungen des Be - tenden richtig ausdrücken und, wie das in menſchlichen Dingen ſeyn muß, alſo auch hier, in Verhältniß mit dem über alles er - habenen, unendlichen Geiſte ſtehen, mit dem wir uns zu reden erdreiſten. Vor andern können die öffentlichen Kirchenge - bete für die Sonn - und Feſttage ohne Nach - theil formulariſch ſeyn und bleiben. Die229 Umſtände ſind ſich da mehrentheils immer gleich und eine vorkommende kleine Ver - änderung kann der Beurtheilung des Pre - digers ganz wohl überlaßen werden. Zu bedauern iſt es, daſs man ſich an den meh - reſten Orten noch mit einer Sammlung von Kirchengebeten behelfen muß, die ſo viel Ueberflüßiges enthält, die der Würde der Sache ſo wenig entſpricht, die ſich ſo wenig durch edle Gedanken, als durch ei - nen anſtändigen Ausdruck empfiehlt. Es iſt dieß das gelindeſte, was man davon ſa - gen kann. Die heutige Iüdiſche Kirche thut es uns, bey ihren ſonſtigen größern Mängeln, doch gewiß in einigen öffentli - chen Gebeten zuvor, die Meiſterſtücke in ihrer Art ſind und von uns zu Muſtern genommen zu werden verdienten. — Eben ſo wenig zieh’ ich die Nutzbarkeit der230 ſo genannten Gebetbücher überhaupt in Zweifel. Ich will ſogar die nicht allzu - ſtrenge beurtheilt, geſchweige denn auf eine ſpöttiſche Weiſe behandelt wißen, die auf einzelne Fälle heruntergehn, die nur für gewiße Stände unter den Menſchen, nur für gewiße gute und ſchlimme Situa - tionen im Leben beſtimmt ſind. Wenn dieſe verſchiednen Gattungen von Gebe - ten ſonſt nur den Charakter guter Gebete haben; ſo können ſie allerdings die Erbau - ung unter allen Klaſſen von Leſern zu be - fördern dienen. Nur ſage man den Leu - ten: daſs dieſe Formeln, beſonders in ſehr beſtimmten Fällen, nicht eben von uns als eigne Unterhaltungen mit Gott ge - braucht werden müßen; man belehre ſie: daſs der Zuſtand eines jeden Men - ſchen etwas unterſcheidendes habe, daſs231 ein andrer nur zufälligerweiſe unſer ei - gentliches Bedürfniß errathen könne und daſs er es ſchwerlich immer mit unſern Vorſtellungen denken, mit unſern Wor - ten vortragen werde. — Ein gutes Ge - betbuch erfüllt ſeine Beſtimmung, wenn es uns durch Beyſpiele von unſern viel - fältigen Bedürfnißen und von unſrer gan - zen Abhängigkeit von einem unendlich viel vermögenden, allwißenden und höchſt wohlthätigen Weſen unterrichtet, wenn es uns dabey gewöhnet, ihm unter allen Umſtänden zu vertrauen, richtig von ihm zu denken und mit erfoderlicher Würde zu ihm zu reden. —
Dieß alles ſagte der Magiſter viel nachdrücklicher und ſchöner. Wenn ich es ihm aber auch mit ſeinen eignen Wor - ten nachzuſagen wüßte; ſo würd’ ich232 doch den Anſtand und die Miene nicht ausdrücken können, mit der er ſeine Rede beſeelt, mit der er der Wahrheit den Sieg über alle Zweifel zu verſchaffen weiß.
Während dieſer Unterredung nahmen wir unſern Thee zu uns und ich machte mich gleich nachher auf den Weg nach Hauſe zurück. —
Es trägt ſich oft zu, daſs ich an einer mir bekannten, ſchönen Stelle auf meinen Spatziergängen, bey einer weiten Perſpek - tive, bey einer ländlichen Scene, bey ei - nem ſchattichten Waßerfalle z. E., wo ich ſchon hundertmal ſtillſtand, von neuem ſtillſtehe; daſs ich das reizende Ganze dann mit neuem Vergnügen überſchaue, daſs ich jede alte Schönheit deſſelben und mit ihr meine alten Betrachtungen wieder - finde; daſs ich dann meinen vormaligen Ausſchweiffungen in das Land der Moral wieder auf die Spur komme: es trägt ſich aber auch zu, daſs ich dieſe ſo oft über - ſchaute, gleichſam ſtudierte Gegenſtände,234 von einem unerwarteten Zufalle geleitet, aus einem neuen Geſichtspunkte, wie von neuem ſehe; daſs ich dann eine neue Kette von Gedanken zuſammenhänge; daſs ich mich dann auch in neuen Empfindungen der Freude und des Entzückens auslaſ - ſe. — Ein ſolcher Ruheplatz iſt es, bey dem ich auch heute auf dem großen Spa - tzierwege meines Lebens verweile. Der dritte Theil eines Iahrhunderts verfloß, ſeit ich auf die Bahn geführt wurde, die ich erſt mit wankenden Schritten betreten; dann ohne Rückſicht und Nachſinnen ver - folgen; dann zweckmäßig mit erfahrner Bedachtſamkeit, mit denkendem Ernſte durchwandeln ſollte. Ein großes perio - diſches Maaß meiner Reiſe erfüll’ ich auch heute. Hier will ich alſo ſtillſtehen, mit einem Ianusgeſichte auf jeden wichtigern235 Vorfall der Vergangenheit zurück, auf je - den wahrſcheinlich großen Auftritt der dämmernden Zukunft hinaus. Dieß Ge - ſchäfft meines arbeitenden Geiſtes; es mag nun nur meine alten erloſchenen Vorſtel - lungen wieder auffriſchen, oder noch nicht gedachte darſtellen; muß mich doch ge - wiß, wenn ich es anders recht treibe; auf irgend ein wichtigeres Erkenntniß, auf ir - gend einen guten Entſchluß leiten und in einem jeden Falle weſentliche Vortheile verſchaffen.
Meine gegenwärtige Lage iſt gewiß recht glücklich, ſo glücklich, daſs ſie, wenn ich hier und da noch eine kleine Erwar - tung ausnehme; meine vernünftigſten Wünſche in einem reichen Maaße be - friedigt. Ich habe wenig Neigungen, die ich nicht zu erfüllen vermöchte. Was ich236 erwartete und nicht erhielt, das, weiß ich, war nicht mein Theil. Ich kann es mor - gen, ich kann es übers Iahr erhalten: ich will es ferner erwarten. Uebel, die ich be - ſorgte, ſind nicht gekommen: das dank’ ich dem Regierer der Schickſale. Sie können nach Verlauf einiger Iahre, ſie können morgen einbrechen: das darf mich jetzt nicht bekümmern. Genug, daſs mir heute wohl iſt! —
O, ihr Völkerbeherrſcher! die ihr mich mit dem Staube eures Aufzugs be - deckt; o, ihr Mächtigen und Reichen! o, ihr die ihr alles wißt und verſteht, ihr allgemeinen Genies und Erfinder! benei - det mich! So weit ich von euch entfernt ein unbekanntes Leben vollführe: ich bin glücklicher als ihr! — Geſteht es: ſo weit ihr auf eurem Wege fortgeſchritten237 ſeyd: ihr ſeyd nicht an dem Ziele eures Glücks! Habt ihr alles erreicht, was ihr le - bend erreichen wolltet? Alles? — Bey weitem nicht das wichtigere! wenig, ſehr wenig; nichts beynahe! — Nun ſo rennt euren Weg, und laßt mich hier aus - ruhn! —
Ich war ein Knabe, der nur ſeine drey Gedanken erſt zu verbinden anfing. Da hub ich an zu wünſchen. Ich ſage nicht was ich wünſchte. Aber ich geſteh’ es mir und euch allen, die ihr mich ſo freundſchaftlich begleitet, ich geſteh’ es bey meinem beſten Gewißen, ich ſchwöre keinen höhern Schwur: ich wünſchte nichts was ich nicht weſentlich erhielt. — Jetzt bin ich ein Mann. Ich hab’ es tau - ſendmal überlegt; ich finde nicht was ich mir Beſſeres hätte wünſchen ſollen. Ob238 ich nun recht glücklich bin, ob mir wahr - haftig wohl iſt: das mögt ihr entſchei - den! —
Mein ganzes Daſeyn bis auf den heu - rigen Tag, der ſich ſo glänzend aus ſeinen Novembernebeln herausgearbeitet hat und mich nun mit unausſprechlicher Freund - lichkeit anlächelt, zielte dahin, mich auf eine vorzügliche Weiſe zufrieden zu ſtel - len. — Ich war nicht immer glücklich. Oft wütete ein Feuer in meinem Innern; oft ergriff mich mit eiſernen Armen ein Schmerz, der nur vergebens beſchrieben wird; oft brachte mich ein unbegreiffli - cher Zuſammenfluß außerordentlicher Zu - fälle an den Rand des Verderbens. Mehr als zweymal und dreymal verlor ich was ich liebte; einen rechtſchaffnen Vater, gu - te Geſchwiſter, Freundinnen meines Her -239 zens, Freunde meiner überlegteſten Wahl. Das koſtete mir oft meine Ruhe, das lock - te mir manche geheime Thräne ab. Aber mußt’ ich das alles nicht verlieren, um ge - rade dahin zu kommen, wo ihr mich jetzt ſeht? zu dieſer beneideten Unabhängig - keit, zu dieſem zufriedenen Muthe, zu die - ſem ſtillen Vertrauen auf Gott? — Doch verließ mich mein gutes Glück nur ſelten. Ein langwieriges Unglück hätte den zärt - lichen Bau meiner Nerven zu heftig er - ſchüttert; meine Seele würde unter einer allzuſchmerzhaften Empfindung erlegen ſeyn. Ich würde den Anfall nicht ausge - dauert, ich würde meine beſte Ueberle - gung verloren, ich würde meine heilſam - ſten Entſchlüße aufgegeben haben. Ich wurde nicht über mein Vermögen ver - ſucht. — Ich war nicht immer gut. Ihr240 alle wißet es nicht, wie oft ich ein Raub meiner unordentlichen Leidenſchaften war. Oft wußt’ ich es ſelbſt nicht. Eine bittre Empfindung, eine unmittelbare Folge mei - nes Vergehens mußte mich bald davon be - lehren; eine warnende Krankheit mußte bald die Ausſicht in eine ungewiße Zukunft eröffnen; bald mußten ſich mir die unglück - lichen Opfer ihrer Leidenſchaften in den Weg ſtellen und mir ſtillſchweigend ſagen: Das ſind wir geworden; das kannſt du auch werden! — Bald erfuhr ich die Bosheit der Menſchen, bald ſah’ ich ihre Schwäche, bald ſah’ ich, wie wenig man bey einer blinden Anhänglichkeit an ſie gewinnen, wie viel man dagegen verlieren kann. Daß ich es kurz ſage. ich rettete mich aus dem Ungewitter; die letzte Welle brachte mich ins Sichre; ich ward durch Schaden klug.
241Aber bin ich es denn nun auch für immer geworden? — Die ſteigende Lei - ter der Iahre, führt ſie mich über die Sphäre der Menſchheit hinaus? oder hat nicht ein jedes Menſchenalter vielmehr ſei - ne ihm eigenthümlichen Schwachheiten? Wechſeln wir nicht die Leidenſchaften, wie wir die Kleider wechſeln; oder ſind wir von allen frey, weil wir es von eini - gen ſind? — O! der weiſere Mann hat noch eine Urſach mehr über ſein Herz zu wachen. Wenn er den trunknen Freu - den des Iünglings entſagt hat, — und hat er ihnen denn ſo ganz entſagt? — ſo iſt er darum noch nicht frey von dem heiſ - ſen Verlangen nach Ehre, von dem nim - merruhigen Beſtreben ſich und die Seini - gen zu vergrößern, von der kindiſchen Eitelkeit ſeinen genügſamen Mitbruder(II. Theil.) Q242weit hinter ſich im Staube zurückzulaſ - ſen. — Es giebt noch ganze große Zu - ſtände im menſchlichen Leben, die ich nur dem Nahmen nach kenne; es giebt Verhältniße die verwickelter ſind, als alle darin ich mich bis jetzt befunden habe; es giebt Verlegenheiten, die dem aufgeklär - teſten Kopfe, die dem gegenwärtigſten Entſchloßnen zu ſchaffen machen. Was hab’ ich vor andern voraus, daſs ich bis an meinen letzten Athemzug hoffen könnte der ſeltne Glückliche zu bleiben, der ich mich jetzt zu ſeyn, nicht ohne Grund überrede? — Es kann Pflicht für mich werden in die genaueſte Verbindung zu treten, die unter Menſchen ſtatt hat; ich kann mich in meiner kaltblütigſten Wahl dann auf das nachtheiligſte für mein gan - zes Leben betrügen. Aber wenn ich243 mich auch nicht betröge: können mich nicht tauſend Begegniße treffen, von denen ein einziges hinreichte den Frieden meines Herzens auf immer zu zerſtören? — Die Erben meines Nahmens, die Pfänder meiner ehlichen Zärtlichkeit, der Tod, oder was noch ſchrecklicher iſt; das La - ſter kann ſie mir entreißen. Die Geliebte meines Herzens, die freundliche Theilneh - merinn meiner Sorgen, ich kann ſie verlie - ren. — Doch das ſind ja ſo fürchter - liche Beſorgniße und ich wollte nicht ſor - gen, am wenigſten heute ſorgen. Der Himmel iſt ja noch ſo ungewöhnlich, ſo feſtlich erheitert. Und dazu that ich doch nichts! — Die Hand, die meine be - benden Füße zum gehen gewöhnte, die mich, wann ich ausglitt, ſo mächtig er - griff; ſollte die mich mitten auf meinem244 Wege verlaßen, mich verlaßen wann ich ihrer Hülfe am meiſten bedarf, mich ver - laßen in den dringendſten Gefahren des Lebens, mich verlaßen im Alter, im To - de mich verlaßen?
Kleiſts poëtiſche Bilderjagd war auf ſei - nen Spatziergängen. Die meinige iſt in der menſchlichen Geſellſchaft. Ich habe keinen eigentlichen Beruf Regenbögen und Wolken und Bluhmenfelder und Quellen, geſtirnte Himmel und untergehende Son - nen zu malen. Allen dieſen herrlichen Dingen ſtellen Kleiſt und Geßner glück - licher nach. Aber wo ſich die morali - ſche Welt vor meinen Augen ausbreitet, wo ich Geiſter in ihrer Schönheit und Größe gewahr werde, wo ich ſittliche Unregelmäßigkeiten erblicke, menſchlich Vieh, Ochſen, Eſel, Pfauen und Elſtern, dazu auch wilde Thiere: da, da iſt mein Gehege!
246Ein richtiges Verhältniß aller Seelen - vermögen gegen einander, ſollten die ein - zelnen auch nur in geringern Graden vor - handen ſeyn; iſt vorzüglicher, iſt wün - ſchenswürdiger, giebt einen beſſern Haupt - charakter, als das Uebermaaß Eines Ver - mögens bey dem merklichen Mangel vie - ler andern. So iſt auch ein richtiges Ver - hältniß unter allen Theilen unſers Leibes weit etwas vorzüglicheres und giebt ein vollkommneres Ganze, als die überwie - gende Stärke, Größe, Feſtigkeit u. ſ. w. Eines, auch noch ſo edeln Theiles, bey den Mängeln vieler andern. Ein Menſch, der ein ſtarkes Gedächtniß, bey merkücher Schwäche andrer Seelenkräfte hat, iſt ei - nem Unglücklichen gleich, der Stärke in den Armen hat und auf den Füßen nicht ſtehen kann.
247Was iſt ſeltſamer als der Geſchmack, den die mehreſten Frauenzimmer in der Liebe beweiſen? Die vernünftigſten unter ihnen richten ſich nicht ſelten nach einem: Ich weiß nicht was. Sie verkennen oft Alle was an einem Manne gut iſt. Das offenbarſte Verdienſt macht keinen Ein - druck auf ſie. Was iſt Ueberlegung? was iſt Grund? — Ich liebe dich; iſt der zureichende.
Die Tage vor der Hochzeit ſind oft glücklicher, als ſo viel Iahre nacher.
Der beſte Umgang für Frauenzimmer iſt der Umgang mit rechtſchaffnen und verſtändigen Männern. Nur dadurch können ſie den Charakter ihres Geſchlechts ausbilden und ihm die Güte geben, ver - möge welcher er in den wichtigſten Ange - legenheiten des Lebens brauchbar wird.
248Qui le diroit! ſagt Montesquieu*)Eſprit des Loix. Liv. XI. Chap. 4. la vertu même a beſoin de limites. — Man kann tugendhaft ſeyn bis zur Ausſchweif - fung; es giebt ein Nicht mehr weiter in der Tugend, man kann ſie übertreiben: ſagen andre. Iſt das wahr? — Nicht ohne Einſchränkung, nicht ohne Berich - tigung des gemeinen Redegebrauchs. Ich wünſchte, daſs man ſich beſtimmter aus - drücken wollte. Kann man ſich auch hierin übernehmen, möchte mancher den - ken: warum wollte man ſich überhaupt nicht enthalten? Kann man hier auch den Oden verlieren: warum wollte man nicht langſamer eilen, warum nicht zu wieder - hohlten malen ſtill ſtehn? — Die Tugend ſelbſt bedarf einer Gränze? — Einer ge - nauern Beſtimmung, will man ſagen; da -249 mit man ſie von dem ihr ähnlichen Laſter, oder auch nur von dem bloßen Hange des Herzens unterſcheiden könne. — Aus - ſchweiffend tugendhaft, wäre ſo viel, als wenn man ſagte: närriſch fromm. Das moraliſche Gute, meines Erachtens; iſt von ſolcher Natur, daſs man darin nicht zu viel thun kann. Nach einer andern Ver - gleichung, iſt die Bahn der Tugend unab - ſehlich; ſie verliert ſich in eine Ewigkeit; man kann ſicher fortgehn, ohne beſorgen zu dürfen, daſs man jemals darauf zu Ende kommen werde. Will man ſie eine Pflan - ze nennen; ſo iſt ſie in den Gefilden des Himmels einheimiſch und man darf hier nicht denken, daſs man ſie, bey der ſorg - fältigſten Wartung und bey aller Wärme des Eifers jemals übertreiben d. i. durch eine übermäßige Bearbeitung zuletzt ſelbſt250 vernichten werde. — O! — ſagt man; das ſind Wortklaubereyen! Der Nachdenkende weiß doch wohl woran er iſt. — Gut, meine Herren! ſie mö - gen das wißen; aber wißen das alle? Iſt der gemeine Zuhörer und Leſer, dem dergleichen Redensarten zuweilen doch vorkommen, von ihrem wahren Sinne unterrichtet? Die Berichtigung eines Ausdrucks, in der ehrlichen Abſicht: ei - nen und den andern über ſeinen wah - ren Vortheil zu erleuchten, Abweichun - gen zu verhüten, Rechtſchaffenheit zu befödern — iſt das Wortklauberey; ſo hab’ ich ſie weitläuffig genug von Nichts unterhalten. —
Wer nur Einem traut, verdient bey - nahe, daſs er zur Ehre der andern, von dieſem Einen betrogen werde.
251Aus einem reichen Vorrathe nehmen, iſt keine Kunſt; aber klaftertief graben nach Gold und köſtlichen Steinen, iſt Kunſt, iſt Verdienſt. Mittelmäßige Kö - pfe ſuchen in Schriftſtellern von bekann - ter Güte und reichem Gehalte Futter für den Geiſt. Leibnitze hingegen und Mil - tons wagen Zeit und Arbeit an einen Bru - nus und an Ritterbücher. Jener bringt köſtliche Wahrheit und dieſer herrliche Bilder zur Ausbeute an den Tag. Die raſendſten Köpfe haben ihre guten Stun - den, in welchen ſie den geſcheuteſten zu - vordenken.
Die Flecken des Dichters ſollen ſeyn wie die Flecken der Sonne, die das bloße Auge nicht wahrnimmt und nur das bewaffnete des Kunſtverſtändigen be - merkt.
252Schlechte Gelegenheitsgedichte ſind wie ſchlechte Bildniße, die nach dem To - de ihrer Originale für ſechs Dreyer auf dem Trödel verkauft werden. Gute Ge - legenheitsgedichte gleichen guten Fami - lienſtücken, die in den Kabinetten der Kenner immer noch ihren guten Werth behalten, wenn gleich ihre unwichtigen Originale lange nicht mehr vorhanden ſind.
Die Beyſpiele ſchlechter Ehen ſollten keinen vom Heyrathen abhalten. Sie ſind ſeltner, als man zugeſtehen will. Was man immer vor Augen hat, be - merkt man nicht; das Außerordentliche rührt nur. Ich gebe zu, daſs die mei - ſten Ehen von dem Ideal einer voll - kommnen weit genug abſtehen und daſs keine das Ideal erreicht. Aber wer will253 denn auch ganz vollkommne Dinge un - ter dem Monde fodern? Ueberall iſt ei - ne Miſchung vom Guten und Böſen. Wenn nur ein gewißes Gleichgewicht und kein merklicher Ueberſchlag auf der ſchlimmen Seite vorhanden iſt! — Auſ - ſerdem trügt der Schein zuweilen. Die Ehen die den beſten Schein haben ſind nicht immer auch die beſten in der That, und zeugen mehrentheils nur von der Klugheit beyder mit einander verbundnen Theile, die das geſchickt zu verbergen wißen, was ihnen keine Ehre brächte, wenn es ruchtbarer wäre.
Es iſt eine große Seligkeit: Weisheit lernen, und keine geringere: Weisheit lehren. Dieſe Gabe bringt ihrem Geber Gewinn. Weisheit iſt kein Licht, das ſich für andre verzehrt. Weisheit iſt die Quel -254 le des Lichts die ins Unendliche fortrinnt und fortwächſt. Unterricht iſt der große Lehrmeiſter aller Lehrmeiſter. Diſcimus docendo.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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