Dem Hochwohlgebohrnen Herrn, Herrn Johann Paul Freyherrn von Vockel, Seiner Kayſerlichen Majeſtaͤt hochverordnetem Reichshofrath, Meinem Gnaͤdigen Herrn und hohem Goͤnner.
Ew. Freyherrl. Gnaden gehoͤren zu der edlen Art erhabner Maͤn - ner, welche ſich durch weiſe Ver - waltung der wichtigſten Ge - ſchaͤffte um gantze Staaten verdient ma - chen. Jndem Dero treue Dienſte dera 3glor -glorwuͤrdigſt regierenden Kayſerli - chen Majeſtaͤt gewidmet ſind, ſo brei - ten ſich zu gleicher Zeit die Fruͤchte von Dero Gerechtigkeitseyfer durch gantz Deutſchland aus. Dero großen Ver - dienſte kommen mit der hohen Wuͤrde, zu der der groͤſte Monarch Dieſelben be - ruffen hat, vollkommen uͤberein: und große Wiſſenſchafft, lange Erfahrung, ſtarcke Proben eines unermuͤdeten Fleiſ - ſes, nebſt der angebohrnen reitzenden Ei - genſchafft, die Gewogenheit der Hohen, und die Gnade der Hoͤchſten in der Welt zu erwerben, ſind die Mittel und Stuf - fen geweſen, durch welche die goͤttliche Vorſehung Dero Tugend zu ſo hohen Belohnungen hat aufſteigen laſſen.
Nach einem alten Gebrauche, pflegen Gelehrte ihre Wercke Maͤnnern aus ei - ner hoͤhern Sphaͤre zu widmen. Einige haben ihre Ehrfurcht und Ergebenheit dadurch zu bezeigen geſucht: andere ha - ben ſolches aus Danckbarkeit nicht un - terlaſſen zu koͤnnen geglaubt: andere haben ſich den Weg zur Gewogenheit maͤchtiger Goͤnner zu bahnen geſucht: wiederum andere haben ihre Arbeit demjenigen widmen wollen, von dem ſiever -verſichert geweſen, daß ſie die geneigte Aufnahme ihres großen Goͤnners, als die erſte Frucht ihrer angewandten Muͤ - he und Arbeit, zuverlaͤßig einſammlen wuͤrden.
Ew. Freyherrl. Gnaden geprieſe - ner Nahme ſoll der Schmuck meines ge - genwaͤrtigen Buches ſeyn. Deswegen wird es Hochdenenſelben, vor andern hohen Kennern aͤchter Wiſſenſchafften gewidmet. Dargegen habe die gegruͤn - deſte Hoffnung, daß der Jnnhalt deſſel - ben ſich Dero hohen Einſicht gefaͤllig machen, und mithin dem Verfaſſer die guͤtigſte Aufnahme gar leicht zuwege bringen werde. Die vor Augen liegen - den Wuͤrckungen von Dero Geſinnung, laſſen mich daran nicht zweifeln.
Ew. Freyherrl. Gnaden haben Dero beſondere Achtung vor unſere Uni - verſitaͤt dadurch werckthaͤtig bezeiget, daß Dieſelben zwey Hoffnungsvolle Herren Soͤhne nirgend beſſer, als bey uns aufgehoben zu ſeyn geglaubt haben. Dieſe haben Jhren Academiſchen Lauf allbereit auch mit dem beſten Erfolg an - getreten: und mir iſt dabey die angeneh -a 4meme Gelegenheit zu theil worden, zu der Vollkommenheit und Ausſchmuͤckung ſo edler und wohl zubereiteter Gemuͤther etwas beytragen zu koͤnnen. Richtig dencken, ſcharf urtheilen, Wahrheiten aller Art leicht uͤberſehen koͤnnen, ſind die Stuͤcke, zu welchen ich noch niemahls mit ſo großer Hoffnung, als bey dieſen Ew. Freyherrl. Gnaden ſo nahe an - gehoͤrigen Perſonen, Anleitung gegeben habe.
Ew. Freyherrl. Gnaden ſehen dann, auch aus gegenwaͤrtigem Buche, daß Dero Geliebte Sich auf einer hohen Schule befinden, wo man die Wercke des Verſtandes nicht laͤßig treibet; wo man das Reich der Wahrheiten zu er - weitern ſucht; und wo man unter an - dern, auch durch den Vortrag neuer Lehren kraͤfftigſt angetrieben wird, zu - foͤrderſt die alten Wahrheiten, worauf die neuen gebauet werden, begierigſt einzuſammlen. Dieſe verſicherte Nach - richt kan Denenſelben nicht anders als angenehm ſeyn; und jedes Document, wodurch ſolche beſtaͤtiget wird, muß De - ro Aufmerckſamkeit, mitten unter dengroͤſtengroͤſten Geſchaͤfften nothwendig auf ſich ziehen.
Jndem ich aber durch Ueberreichung dieſer neuen Wiſſenſchafft dem Triebe meiner innigſten Ehrerbietung einiges Gnuͤge thue, ſo gehet zugleich mein eyfrigſtes Wuͤnſchen dahin, daß Ew. Freyherrl. Gnaden die Fruͤchte von Dero weiſeſten vaͤterlichen Vorſorge zu rechter Zeit reichlich einſammlen, und daß Dero ruhmvolleſten Jahre, bis jene zur voͤlligen Reiffe kommen, unter taͤglich vermehrten Verdienſten und erneuerten goͤttlichen Seegen fort - dauren moͤgen. Deutſchland und viele hohe Haͤuſer in demſelben, die die Er - haltung ihrer ihnen unſchaͤtzbaren Ge - rechtſame Ew. Freyherrl. Gnaden hohen Einſicht und gerechteſt abge - faſſeten Ausſpruͤchen zu dancken ha - ben, werden auch in den ſpaͤteſten Zei - ten Dero ſchon erworbenen großen Ruhmes unvergeſſen ſeyn. Der Hoͤch - ſte aber wolle denſelben in Dero Nachkommen, die die vaͤterlichen Fuß - tapfen ſo gluͤcklich betreten, auf dena 5hoͤch -hoͤchſten Gipfel der Dauerhaftigkeit ſtei - gen laſſen.
Hochwohlgebohrner Freyherr, Gnaͤdiger Herr Reichshofrath, Ew. Freyherrl. Gnaden
zu Gebet und Dienſt gehorſamſt verbundenſter Johann Martin Chladenius, D.
Es ſind mancherley Banden, durch wel - che mich die goͤttliche Vorſehung gelei - tet hat, dieſes neue Syſtem mit uner - muͤdeter Emſigkeit, unter hoͤherm Beyſtand auszuarbeiten. Die verſchiedenen Veraͤnde - rungen des Standes und der Aemter, welche mich der Wille des Hoͤchſten ſeit der erſten Entſchluͤßung zu ſolcher Unternehmung erfah - ren laſſen, haben meinen Vorſatz ſo wenig un - terbrochen, daß ſie mir vielmehr von Zeit zu Zeit zu einer neuen Triebfeder gedienet haben, ein Vorhaben, das ich immer nuͤtzlicher befun - den, in der That ſelbſt auszufuͤhren. Jetzo, da das Werck zum Preiſe des Hoͤchſten vollbracht iſt, koͤnten jene Umſtaͤnde, die nur den Verfaſ - ſer betreffen, gar wohl in Vergeſſenheit geſtellt werden. Ein Werck wird darum nicht beſſer, und die Wahrheiten, die man vortraͤgt, werden dadurch nicht fruchtbarer, die Umſtaͤnde des Ver -faſſers,Vorrede. faſſers, die ihn darzu angetrieben, moͤgen be - ſchaffen ſeyn, wie ſie wollen: ſo wie ein Berg - werck darum nicht ergiebiger wird, man mag durch Regeln der Kunſt, oder durch einen noch ſo ſonderbaren Zufall, zu der Entdeckung deſ - ſelben gekommen ſeyn. Viel gewoͤhnlicher iſt es, ſich um die Abſicht eines Buches, zumahl von einer neuen Art, zu bekuͤmmern; und man iſt in Sorgen, daß man daſſelbe ent - weder nicht recht verſtehen, oder nicht recht zu Nutzen anwenden moͤchte, wenn man von derſelben nicht gnugſam belehret wird. Die meiſten Leſer dieſer Vorrede werden daher ge - waͤrtig ſeyn, daß ihnen in derſelben die Ab - ſicht der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft bekannt gemacht werde. Daraus entſtehet vor mich eine Verbindlichkeit, der ich mich nicht fuͤglich entziehen kan. Doch die Frey - heit bleibt mir uͤbrig, es auf diejenige Art zu thun, welche ich vor die beqvemſte halte, mei - ne Leſer am vollſtaͤndigſten, und vielleicht auch zugleich aufs kuͤrtzeſte davon zu belehren. Sie werden aber meine Abſicht am beſten erken - nen, wenn ich ihnen meine Anleitungen, der allgemeinen. Geſchichtswiſſenſchaft immer mehr und mehr nachzudencken, in natuͤrlicher Ordnung erzehlen werde.
SchonVorrede.Schon bey meinen philoſophiſchen Vorle - ſungen auf der Univerſitaͤt Wittenberg, beſon - ders uͤber die Vernunftlehre, iſt mir bey oͤfte - rer Wiederholung derſelben vorgekommen, als wenn die gegenwaͤrtige Einrichtung dieſer vortrefflichen Wiſſenſchaft ſo beſchaffen waͤre, daß, ohngeachtet ihre Lehren gantz allgemein zu ſeyn ſchienen, ſolche dennoch mehr eine Hauptart der Wahrheiten, als die Wahrheit in ihrer voͤlligen Abſtraction zum Gegenſtan - de haͤtten. Bey der Lehre von Begriffen zum Exempel, kommt zwar vieles vor, wel - ches von allen Begriffen gelten kan, aber die gantze Tabelle der Eintheilungen derſelben, ratione formæ, ſchickt ſich doch mehr vor die allgemeinen Begriffe, als vor das Gegentheil derſelben; nemlich vor die individuellen Be - griffe. Die Lehre von Definitionen betrifft gleichfalls nur die Begriffe der Geſchlechter und Arten. Und ſo wird man durch Zuſam - menhaltung aller uͤblichen Lehren in dieſer Di - ſciplin gewahr werden, daß man in denſelben durchgaͤngig auf die hiſtoriſche Erkenntniß wenig oder gar nicht geſehen habe. Dieſer Umſtand iſt mir alſo nach und nach in die Augen geleuchtet; und wie natuͤrlich war es nicht, daß daraus ein innerlicher Trieb ent - ſtanden iſt, die Gedenckart der menſchlichenSeeleVorrede. Seele bey den hiſtoriſchen Wahrheiten eben ſo in Regeln verfaſſet zu ſehen, als uns nun - mehro faſt alle Triebfedern des menſchlichen Verſtandes bey Erfindung allgemeiner Wahr - heiten, beſonders durch die Bemuͤhungen des unſterblich verdienten Freyherrn von Wolfs, erklaͤrt vor Augen liegen.
Mein Unternehmen, die Hermenevtick philoſophiſch und ſyſtematiſch vorzutragen, welches ebenfalls noch in Wittenberg zu Stande gekommen, ohngeachtet die Ausgabe meiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernuͤnftiger Reden und Schriften, erſt bey meinem Aufenthalt auf der Univerſitaͤt zu Leipzig erfolget iſt; hat mich ſodann veran - laſſet, ja genoͤthigt, der Sache naͤher zu treten. Die verſchiedenen Arten der Auslegungen, woraus Commentarii und Noten beſtehen, muſten unter andern, ja vornehmlich, aus dem verſchiedenen Jnnhalte der Buͤcher, und aus ihrer Materie, hergeleitet werden. Die Ein - theilung der Buͤcher und Stellen in dogmati - ſche und hiſtoriſche, war der Hauptgrund, worauf ich zu bauen hatte. Jch muß geſte - hen, daß es mit der Auslegung der erſten Art, in Vergleichung alles uͤbrigen, wenig Schwie - rigkeit hatte. Denn da hatte ich in der Ver -nunft -Vorrede. nunftlehre alle, auch die kleinſten Theile eines dogmatiſchen Buches ſchon ſo zergliedert vor mir, nemlich die Definitionen, die Grundſaͤtze, die Theorems u. ſ. w. daß es nicht viel Muͤhe erforderte, bey jedem Stuͤcke eines dogmati - ſchen Buches zu zeigen, wie dabey vor gewiſſe Leſer Dunckelheiten entſtehen koͤnnten; und wie dieſe durch eine geſchickte Auslegung zu heben waͤren. Aber mit den hiſtoriſchen Buͤ - chern war es gantz anders beſchaffen. Alles was in dogmatiſchen Buͤchern, die allgemeine Wahrheiten in ſich faſſen, vorkoͤmmt, trifft man in hiſtoriſchen Buͤchern nicht an: Hin - gegen, was man in dieſen antrifft, iſt, wie ge - dacht, in der Vernunftlehre gar nicht erklaͤ - ret. Hier war es alſo unumgaͤnglich noͤthig, daß ich uͤber die hiſtoriſchen Stellen, als die elementa hiſtoriſcher Buͤcher, neue Betrach - tungen anſtellte, und alſo die Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Erkenntniß genauer unter - ſuchte. Wie weit ich dazumahl in dieſer ver - wickelten und vorher gantz nicht aufgeklaͤrten Materie gekommen ſey, wird das achte Capi - tel meiner Einleitung zur richtigen Auslegung am klaͤrſten bezeigen. Man kan leicht ermeſ - ſen, daß der Vorſatz, gegenwaͤrtiges Buch zu ſeiner Zeit auszuarbeiten, unter jener Arbeit nicht wenig ſey beſtaͤtiget worden.
DasVorrede.Das oͤffentliche Lehramt der Kirchenalter - thuͤmer, welches mir nachher auf der Univer - ſitaͤt Leipzig zu theil wurde, drunge mich, ei - nen ſo wichtigen Theil der hiſtoriſchen Erkennt - niß auf alle Weiſe genauer zu beleuchten. Nun weiß man, was vor Schwierigkeiten in dieſer vortrefflichen Art der Gelahrheit vor - walten; zumahl wenn man den Urſprung der Gebraͤuche, Verfaſſungen und Kirchenanſtal - ten nebſt ihren Veraͤnderungen, durch welche ſie oͤfters mit der Zeit ein gantz ander Anſehen bekommen haben, begreiflich machen will. Doch die handgreiflichſten Stuͤcke der Alter - thuͤmer ſind eben ſowohl, als die ruchtbarſten Geſchichte der Kirche, ſchon laͤngſt aus den alten Schriftſtellern geſammlet und dergeſtalt in Ordnung gebracht worden, daß, was in jenen mit deutlichen und duͤrren Worten ent - halten iſt, nunmehro faſt nicht ohne Eckel wiederholet werden kan. Unſre Vorfahren haben, nach ihrem unuͤberwindlichen Fleiße, ſchon alles erſchoͤpfet. Die Nachleſe, welche vor uns uͤbrig geblieben iſt, beſtehet aus lau - ter ſolchen Nachrichten, die man mehr als Spuren gewiſſer Geſchichte, als vor eigent - liche Erzehlungen anſehen kan. Aus dieſen muß man durch Muthmaßungen und Zuſam - menhaltung mancherley Stellen noch eineundVorrede. und andere Particularitaͤt entdecken, welche etwa von unſern Vorfahren nicht iſt bemerckt worden. Hier kommt man freylich ins Wahrſcheinliche. Jndem ich alſo, vermoͤge meines Amts, oͤfters mit ſolchen mißlichen Stuͤcken der Kirchengeſchichte und Kirchen - alterthuͤmer umgegangen bin, wobey wider meinen natuͤrlichen Trieb, ohne Regeln zu dencken genoͤthigt wurde, ſo konnte nichts an - ders als eine ſtarcke Neigung in mir entſte - hen, ſolche Regeln ausfuͤndig zu machen, die in ſo ſchweren Unterſuchungen ſtatt eines Leit - fadens dienen koͤnnten.
Waͤhrender Zeit habe unter andern Bemuͤ - hungen an meiner Einleitung in die ſyſtema - tiſche Theologie ſtarck gearbeitet; obgleich de - ren voͤllige Ausfertigung erſt in Coburg erfol - get iſt. Jndem ich nun hierbey zufoͤrderſt alle Theile unſerer Glaubenslehren genau durchgienge, um deutlich erklaͤren zu koͤnnen, wie ſolche aus der heiligen Schrift, als der einzigen Qvelle aller unſerer geoffenbarten Erkenntniß, muͤſten hergeleitet und erwieſen werden; ſo leuchtete mir gar bald in die Au - gen, daß ein großer Theil der heiligen Lehren von der Art der hiſtoriſchen Erkenntniß waͤ - ren. Jederman wird auch ſolches mit mirberken -Vorrede. erkennen, und einraͤumen muͤſſen; und wer daran zweifeln wollte, den koͤnnte faſt allein der Nahme des Evangelii, welcher bekann - ter maßen eine froͤliche Botſchaft anzeiget, davon voͤllig verſichern. Wie leicht war daraus nicht der Schluß zu machen, daß eine genauere Erkenntniß, was es mit der hiſtori - ſchen Erkenntniß uͤberhaupt vor Bewandniß habe, auch bey der Erklaͤrung und der Ver - theidigung der geoffenbarten Wahrheiten großen Nutzen ſchaffen muͤſſe. Und zwar dieſes um ſo viel mehr, da ſehr viele Stuͤcke der heiligen Schrift, welche unmittelbar nicht zu den Geſchichten gehoͤren, dennoch mit der hiſtoriſchen Erkenntniß große Gemeinſchaft haben. Jch habe ſolches von den meiſten Bitten, von den Verheiſſungen, von den Drohungen, von den Ermahnungen erwie - ſen; woraus zugleich erhellet, wie weit ſich die hiſtoriſche Erkenntniß, unter mancherley Nahmen und Geſtalt erſtrecke. Unter dieſer Abhandlung alſo, welche die Gewißheit und Vertheidigung der reinen Lehre lediglich zur Abſicht gehabt, iſt der Vorſatz, mich ſelbſt an die Ausarbeitung der allgemeinen Geſchichts - wiſſenſchaft zu wagen, dergeſtalt in mir ge - wachſen und befeſtiget worden, daß ich den erſten Anfang und die erſten Anlagen gegen -waͤr -Vorrede. waͤrtiger Abhandlung ſchon damahls, in die Einleitung zur ſyſtematiſchen Theologie, als einen beſondern Abſchnitt eingeſchaltet habe.
Das an dem academiſchen Gymnaſio zu Coburg gefuͤhrte Directorat hat mir ſodann noch anderweitige Gelegenheit gegeben, dieſer neuen Wiſſenſchaft, deren Grundriß ich ein - mahl in Sinn gefaſſet hatte, weiter nachzu - dencken. Es war meines Amts, auf die Er - leichterung bey Erlernung der ſchoͤnen Wiſ - ſenſchaften, da man ietzo alles gerne leicht er - lernen will, meine Gedancken gerichtet ſeyn zu laſſen. Hier aber herrſchet uͤberall die hiſtoriſche Erkenntniß augenſcheinlich. Nur eins ins beſondere zu gedencken. Welchen Rang hat nicht unter den ſchoͤnen Wiſſen - ſchaften die Beredſamkeit? Man ſehe aber nur die groͤſten Meiſterſtuͤcke alter und neuer Redner an, ſo wird man gewahr werden, daß jede Rede nichts anders als ein rechtes Ge - webe von lauter Erzehlungen von verſchiede - ner Groͤße und Einrichtung iſt. Die meiſten Reden ſind gleich ihrem Hauptinnhalte nach hiſtoriſch. Wenn aber auch ein Redner ſich allenfalls mit einer allgemeinen Wahrheit be - ſchaͤfftiget, ſo wird man doch finden, daß der oratoriſche Vortrag ſolcher Wahrheiten faſtb 2inVorrede. in nichts anders beſtehen, als daß man alle Theile einer ſolchen Rede mit Erzehlungen und Geſchichten, die anmuthig und bewegend ſind, gleichſam zu durchflechten weiß. Eine Geſchichte deutlich und annehmlich zu erzeh - len wiſſen, kan man faſt vor mehr, als vor die Helfte der Beredſamkeit anſehen. Sollte alſo einem Redner die allgemeine Geſchichts - wiſſenſchaft nicht eben ſo dienlich ſeyn, als er die Regeln der Vernunftlehre zu wiſſen unum - gaͤnglich noͤthig hat?
Doch die Gewißheit iſt allem andern Schmucke weit vorzuziehen, in welchen man die Wahrheit nicht ohne Nutzen einkleiden kan. Alle Bemuͤhungen der Gelehrten ſollen deswe - gen zufoͤrderſt auf jene edle Eigenſchaft gerichtet ſeyn. Die neuere Lehre von der Wahrſchein - lichkeit aber, wuͤrde der Gewißheit einen uner - ſetzlichen Schaden zufuͤgen, wenn ſie auf die Art weiter getrieben werden ſollte, wie ſie ge - trieben zu werden angefangen hat. Die Wahrſcheinlichkeit iſt einmahl nichts anders, als eine Art der Ungewißheit; und wo man es nicht weiter als auf eine, obgleich große Wahrſcheinlichkeit, bringen kan, da muß man ſich auch die Ungewißheit gefallen laſſen. Man urtheile, ob meine Bemuͤhung, folgende SaͤtzezuVorrede. zu widerlegen, entweder uͤberfluͤßig, oder un - gegruͤndet geweſen? nemlich dieſe Saͤtze: daß die gantze Auslegungskunſt, die gantze Hiſto - rie, die gantze Phyſick, die gantze Einrichtung unſrer Handlungen, nur wahrſcheinlich ſey? Die gewiſſe Erkenntniß leidet ohnſtreitig ſehr viel, wenn ſo viele und gewaltig große Theile unſerer Erkenntniß derſelben entzogen werden. Und es iſt nicht abzuſehen, warum ſo viele wichtige Erkenntnißarten auf einmahl mit dem Vorwurfe der Ungewißheit ſollen beſchmitzt werden? Mir iſt wenigſtens auch die hiſtori - ſche Erkenntniß viel zu ehrwuͤrdig, als daß mir gleichguͤltig ſeyn ſollte, wenn ſolche in lauter Ungewißheit verkehrt wuͤrde. Jch habe da - her dieſelbe, wie die uͤbrigen Erkenntnißarten, in den vernuͤnftigen Gedancken vom Wahr - ſcheinlichen, und deſſen gefaͤhrlichen Mißbrau - che ſorgfaͤltig vertheidigt. Es iſt aber ſolches, nach meinem damahligen Inſtituto, die Sache in Programmatibus abzuhandeln, nur uͤber - aus kurtz geſchehen. Wie ich aber bey ge - nauerer Pruͤfung gefunden, daß der Scepti - ciſmus in der Hiſtorie ſeine meiſte Nahrung daraus erhielte, daß man von der hiſtoriſchen Erkenntniß gar keine Grundſaͤtze, gar keine be - ſtimmten Lehrſaͤtze hatte; ja daß die Grund - begriffe derſelben, in der groͤſten Verwirrungb 3ſichVorrede. ſich befaͤnden, ſo hat mich die Liebe zur gewiſ - ſen Erkenntniß auch in dieſem Stuͤcke ange - trieben, dem ausbrechenden hiſtoriſchen Sce - pticiſmo durch eine vollſtaͤndige Erklaͤrung der hiſtoriſchen Erkenntniß auf die nachdruͤcklichſte Art zu begegnen.
Jederman, der auf die Zeichen der gegen - waͤrtigen Zeiten Achtung hat, wird es vor eine unumgaͤnglich noͤthige Bemuͤhung erkennen muͤſſen, wenn Gottesgelehrte ſich denen ſo kuͤhnen, als gefaͤhrlichen Unternehmungen der Naturaliſten mit allen Kraͤften widerſetzen, und ſie zwar nicht mit fleiſchlichen Waffen, aber doch mit den Waffen des Lichts zu daͤm - pfen ſich beſtreben. Man darf ſich aber nur etwas in den Schriften der engliſchen Frey - geiſter, und was nach ihrem Exempel auch Spoͤtter in Deutſchland geſchrieben haben, umſehen, ſo wird man bald gewahr, daß we - nigſtens die Helfte ihrer Einwuͤrfe und Spoͤt - tereyen, wider die hiſtoriſchen Capitel und Stellen der heiligen Schrift gerichtet ſind. Bald tadelt man die gantze Erzehlungsart, die in der Schrift gebraucht worden, daß ſolche gar nicht nach den Regeln der Kunſt, und nach den beſten Beyſpielen der Griechiſchen und Roͤmiſchen Geſchichtſchreiber eingerichtet ſey:baldVorrede. bald beſchuldiget man einzelne Stuͤcke der hei - ligen Geſchichte der Unwahrſcheinlichkeit, oder des Widerſpruchs, oder einer Unbilligkeit, die dennoch in der Schrift nicht ſey geahndet worden; bald findet man Stellen und Um - ſtaͤnde in Profanſcribenten, mit deren kund - baren Wahrheit, dieſe oder jene Erzehlung in der Schrift, nicht beſtehen koͤnne. Man darf des hoͤchſtverdienten Herrn D. Baumgartens erſten Theil ſeiner vortrefflichen Kirchenge - ſchichte nachſehen, ſo wird man finden, daß faſt kein Artickel der Geſchichte, die die heili - gen Evangeliſten aufgezeichnet haben, von ſol - chen Vorwuͤrfen frey geblieben ſey. Soll man ſolchen unſeligen Unternehmungen ſich nicht, wie dieſer große Gottesgelehrte bey un - zaͤhligen Stuͤcken der heiligen Geſchichte ſchon gethan, eifrigſt widerſetzen? Nun iſt wohl an dem, daß Streitigkeiten uͤber hiſtoriſche Wahr - heiten ſich nicht ſowohl aus allgemeinen Prin - cipiis, als vielmehr aus den beſondern Um - ſtaͤnden, und ſorgfaͤltigſt aufgeſuchten und un - terſuchten Particularitaͤten der ſtreitigen Ge - ſchichte, ingleichen aus Zuſammenhaltung ver - ſchiedener Zeugniſſe, und aus der ſpeciellen Kenntniß der Geographie, Chronologie und Antiquitaͤten entſcheiden laſſen. Doch wird man auch geſtehen muͤſſen, daß wie die aller -b 4meiſtenVorrede. meiſten Streitigkeiten in andern Wiſſenſchaf - ten zwar nicht lediglich aus der Logick, den - noch aber auch nicht ohne Beyhuͤlfe der Lo - gick, koͤnnen entſchieden, noch in ein voͤlliges Licht geſetzt werden; alſo auch die hiſtoriſchen Streitigkeiten zwar nicht alles, aber doch vie - les, und oͤfters ihr unentbehrliches Licht, aus der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft erhal - ten muͤſſen. Meines Orts nun habe mich ſeit Antretung meines Lehramts der Gottes - gelahrheit verbunden geachtet, das Maaß der mir verliehenen Kraͤfte, hauptſaͤchlich nach den Umſtaͤnden der gegenwaͤrtigen Zeiten, zum Dienſte der Gemeinde Chriſti anzuwenden, und in dieſer Abſicht zufoͤrderſt die gantze Ge - denckart der Naturaliſten in ihrer Bloͤße dar - zuſtellen. Meine Unterſuchung der Frage: Ob Joſeph ſich gegen die Egyptier tyranniſch erwieſen? ingleichen der andern, noch wichti - gern: Warum unſer hochgelobter Heyland nicht im Angeſicht ſeiner Feinde auferſtanden ſey? wird jeden Leſer gar bald uͤberzeugen, daß ich mir dabey die Lehren der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft zu nutze gemacht habe. Und mit goͤttlicher Huͤlfe ſollen mit der Zeit noch mehrere nutzbare Anwendungen bey Streitigkeiten und Fragen dieſer Art ans Licht geſtellt werden.
UnterVorrede.Unter ſo vielerley andern Arbeiten und Be - muͤhungen auf den Grund der Dinge zu kom - men, hat ſich nach und nach gegenwaͤrtige Abhandlung in mir ausgewickelt; und der Grundriß der gantzen hiſtoriſchen Erkenntniß mehr und mehr aufgeklaͤrt; Es fehlte nur noch an einer bewegenden Veranlaſſung, die Feder ſelbſt anzuſetzen, und dieſes neue Lehr - gebaͤude wuͤrcklich aufzufuͤhren, deſſen Schwie - rigkeiten gar leicht den Aufſchub von einer Zeit zur andern haͤtten verurſachen koͤnnen. Die oͤftere Vorſtellung einer neuen Academie, auf der ich, mitten unter andern vortrefflichen Maͤnnern, zum Lehrer geſetzt worden, hat endlich der Sache den Ausſchlag gegeben. Eine neue Academie iſt beynahe ſchuldig und verpflichtet, einen mercklichen Beytrag zum Wachsthum der wahren und nuͤtzlichen Er - kenntniß zu thun. Ein Theil ſolcher Ver - bindlichkeit lieget auf meinen Schultern, ſo viel nemlich als dieſelben von ſolcher Laſt tra - gen koͤnnen. Jch habe alſo nicht Anſtand nehmen wollen, mich eines Theils derſelben, ſo bald als moͤglich, zu entſchuͤtten. Und in dieſer Geſinnung iſt die Ausarbeitung und Ausgabe gegenwaͤrtiges Buchs unter goͤttli - chen Beyſtande, erfolget. So viel bin ver -b 5ſichert,Vorrede. ſichert, daß dieſelbe vor das Reich der Wahr - heit nicht ohne allen Nutzen ſeyn werde. Re - geln, wo vorhin keine geweſen ſind, koͤnnen unmoͤglich gantz unfruchtbar ſeyn. Sollten aber die Leſer meines Buchs die darinne vor - getragene allgemeine Geſchichtswiſſenſchaft von großem Nutzen zu ſeyn befinden, ſo wuͤrde mir ſolches uͤberaus angenehm ſeyn; nicht ſowohl um des Werthes willen, der demſelben dadurch zuwachſen wuͤrde, als viel - mehr darum, weil durch die Anrichtung einer ſo nuͤtzlichen Wiſſenſchaft die große Abſicht wenigſtens einestheils erfuͤllet wuͤrde, welche der Durchlauchtigſte Stiffter unſerer Frie - drichsuniverſitaͤt, nach ſeiner hohen Weis - heit bey der Stifftung derſelben gehabt hat.
Es iſt leicht zu ermeſſen, daß es bey der Ausarbeitung an muͤhſamen Ueberlegungen nicht werde gefehlet haben, wie theils der gantze Grundriß, theils einzelne Capitel, auf die brauchbarſte Art moͤchte eingerichtet wer - den. Bey bekannten und ſchon oͤfters ab - gehandelten Diſciplinen iſt die Einrichtung großer und kleiner Theile viel leichter gefun - den. Eine Entſchlieſſung vornehmlich iſt erſt nach einem langen Zweifel getroffen worden. EsVorrede. Es war nemlich die Frage: Ob ich lieber dieſe Lehren von der hiſtoriſchen Erkenntniß unmittelbar zum beſondern Gebrauch der Gottesgelahrheit einrichten wollte? oder aber dieſelbe ſo allgemein abfaſſen, daß ſie in allen Theilen der Gelahrheit, in hiſtoriſche Erkennt - niß einen Einfluß hat, mit gleichem Nutzen koͤnnten gebraucht werden? Das erſte zu thun ermunterte mich meine Hauptabſicht, welche allerdings auf die Erklaͤrung und Ver - theidigung der geoffenbarten Wahrheiten ge - richtet iſt. Ja ich habe auch auf Seiten meiner Leſer ſicher vermuthen koͤnnen, daß gar vielen eine Abhandlung dieſer Art, nem - lich mit der beſtaͤndigen unmittelbaren An - wendung, auf Stellen der heiligen Schrift, auf Glaubensartickel, auf polemiſche Wahr - heiten, auf die Kirchengeſchichte angenehmer ſeyn duͤrfte, als eine gantz allgemeine Ab - handlung. Jm Gegentheil zeigte mir die allgemeine Abhandlung auch ihre Vortheile. Einmahl theilet ſich das gantze Reich aller Wahrheiten in zwey große Theile; nemlich der allgemeinen Wahrheiten, und der hiſto - riſchen Wahrheiten. Jene ſind mit den ſchoͤnſten Regeln in der Logick verſehen: jeder erlernet ſolche Regeln: man ſiehet ſie als dasLebenVorrede. Leben der Gelahrheit an: man haͤlt denjeni - gen vor einen verdorbenen Gelehrten, der ſich niemahls mit ihnen bekannt gemacht hat. Sollten die hiſtoriſchen Wahrheiten, die in den hoͤhern Facultaͤten ein ſo großes Stuͤck ausmachen, nicht gleiches Recht genieſſen, in Regeln gefaſſet zu werden? und ſollten dieſe Regeln nicht ebenfalls die Gelahrheit, obgleich auf eine neue Art befoͤrdern, aufklaͤren und erleichtern? Meines Orts bin davon voͤllig uͤberzeugt, und eine ſolche Ueberzeugung wird mich bey allen billigen Leſern ohnſchwer recht - fertigen, daß ich lieber eine allgemeine Ge - ſchichtswiſſenſchaft der Welt liefere, die zufoͤr - derſt der Gottesgelahrheit gute Dienſte thun kan, als daß ich eine Abhandlung habe liefern wollen, die bloß der Gottesgelahrheit gewid - met geweſen waͤre.
Um eben den Einfluß der in dieſem Buche abgehandelten Wahrheiten in die Gottesge - lahrheit, und beſonders auch in die Dogma - tick, nur etwas zu erlaͤutern, ſo will folgen - den Satz meinen Leſern zur Erwegung vor - legen. Jch ſage: alles, was bey der Ge - ſchichtserkenntniß auſſer der Theologie, wie im kleinen vorkommt, daſſelbe trifft man inderVorrede. der Offenbarung im großen, und in der An - wendung auf viel hoͤhere und herrlichere Ge - genſtaͤnde an. Exempel ſollen dieſe Wahr - heit beſtaͤtigen. Die gemeinen Weltgeſchich - te gehen doch nur mit Thaten der Men - ſchen um, die Offenbarung aber mit den großen Thaten Gottes; jene beſtehen hoͤch - ſtens aus ſeltenen Begebenheiten, dieſe aber lehret uns die groͤßten Wunderthaten: jene beſtehet und beruhet auf Zeugniſſen der Menſchen; dieſe aber beziehet ſich ſogar auf Zeugen im Himmel: jener ihre Zierde ſind geheime Nachrichten; dieſe aber zeigt uns hohe und goͤttliche Geheimniſſe: jene beſchaͤfftiget ſich mit Anſchlaͤgen der Men - ſchen; dieſe aber vornehmlich mit den ewi - gen Rathſchluͤſſen Gottes, die Seligkeit der Menſchen betreffend: jene beſtehet aus Tha - ten und Begebenheiten, die in die Augen der Menſchen fallen; dieſe haͤlt eine große Menge von Begebenheiten des Hertzens, ſowohl der Frommen, als der Boͤſen, in ſich: in jener finden wir Denckmahle der menſch - lichen Thaten; in der Offenbarung aber Denckmahle der goͤttlichen Wunder: in jenen beziehet man ſich oft auf Brief und Siegel; in dieſer werden uns Siegel dergoͤtt -Vorrede. goͤttlichen Verheiſſungen und Gnade, an den Sacramenten, ja eine Verſiegelung der Glaͤubigen gewieſen, u. ſ. w. Nun urtheile ich alſo: Wer von den goͤttlichen Tha - ten, von den Wundern Gottes, von himm - liſchen Zeugniſſen und Zeugen, von goͤttlichen Rathſchluͤſſen, von Geheimniſſen, von Bege - benheiten und Geſchichten des Hertzens, von Denckmahlen der goͤttlichen Wercke, von den Siegeln der goͤttlichen Verheiſſungen, han - deln, und dieſe hohe Wahrheiten vertheidigen und anpreiſen ſoll, der wird ſolches viel leichter, ausfuͤhrlicher und gruͤndlicher thun koͤnnen, wenn er uͤberhaupt von der innern Beſchaffenheit der Thaten, der Zeugniſſe und Zeugen, der Denckmahle, der Siegel, der Geheimniſſe, der Rathſchlaͤge, u. ſ. w. gruͤnd - lich unterrichtet iſt, als wenn er von allen dieſen Dingen keine weitere Erkenntniß hat, als diejenige, die jederman im gemeinen Le - ben, bloß aus Exempeln, ohne weiteres Nach - dencken erlanget. Von allen dieſen Dingen aber gruͤndlich zu handeln, iſt eben das eigene Werck der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft, die unſere Leſer hierdurch in die Haͤnde gelie - fert bekommen.
DochVorrede.Doch ich bemuͤhe mich vielleicht mehr, als noͤthig iſt, die Anwendung der hier vorgetra - genen deutlichen Begriffe bey hoͤhern Wahr - heiten, und beſonders bey den geoffenbarten, darzuſtellen. Wenigſtens iſt zu beſorgen, daß ich daruͤber die Graͤntzen einer Vorrede ſchon uͤberſchritten habe. Und dieſe Beſorg - niß haͤlt mich vollends ab, von der Anwen - dung derſelben bey andern Arten der Gelahr - heit, auch nur ein weniges zu ſagen. Der Gebrauch, den einige gelehrte Goͤnner davon zu machen willens ſind, denen ich den Grund - riß dieſer Wiſſenſchaft ſchon vor einiger Zeit mitgetheilet habe, wird die Sache am klaͤrſten beſtaͤtigen. Und die tieffe Einſicht, welche ich von dem mehreſten Theil meiner Leſer ver - muthen kan, uͤberhebt mich vollends der Nothwendigkeit, in der Vorrede weitlaͤuftig zu ſeyn. Sie werden an dem Nutzen nicht zweifeln, woferne ſie nur verſichert ſind, daß Wahrheiten in dieſem Buche vorgetragen ſind. Und damit ſie zu verwahren, bin ich aͤuſſerſt befliſſen geweſen. Ja! mein einiger Wunſch gehet dahin, daß durch die ange - ſtellten Unterſuchungen manches Vorurtheil, manche Verwirrung, mancher Jrrthum moͤge gehoben werden, welcher bisher ungepruͤftdurch -Vorrede. durchgegangen iſt; und alſo in dem Verſtan - de der Menſchen den Fortgang der Erkennt - niß gehindert, ja dem Glauben wohl ſelbſt zum Anſtoße gereichet hat. So wird denn auch durch dieſe meine geringe Arbeit, die Ehre des Hoͤchſten befoͤrdert, und manchem Feinde der Wahrheit Zaum und Gebiß in den Mund geleget werden. Geſchrieben auf der Friedrichsuniverſitaͤt zu Erlangen den 22ten Sept. 1751.
Da die Welt nichts anders, als eine un - begreifflich groſſe Menge, oder Reyhe, von lauter endlichen und eingeſchrenckten Weſen iſt; ſo muͤſſen in derſel - ben, und in allen ihren groſſen und kleinen Thei - len unaufhoͤrlich Veraͤnderungen vorgehen. Gleichwie nun der unendliche Geiſt, und das hoͤchſte Weſen ſich dieſelben insgeſamt auf das allerdeutlichſte vorſtellet; alſo treffen wir bey de - nen mit Verſtand begabten Geſchoͤpfen, oder end - lichen Geiſtern, ebenfals eine Krafft an, ſich dieAWelt2Erſtes Capitel,Welt mit ihren Veraͤnderungen, jedoch auf eine gantz andere und eingeſchrenckte Art, vorzuſtel - len: indem ſie weder alle Veraͤnderungen oder Be - gebenheiten erkennen, noch ſich dieſelben auf ein - mahl, und in ihrer gantzen Verbindung vorſtel - len koͤnnen. Und da jede Art der endlichen Gei - ſter eine beſondere Art haben muß, ſich die Welt vorzuſtellen, ſo iſt uns zu wiſſen beſonders noͤthig, wie der Menſchen ihre Erkentniß von denen Veraͤnderungen der Welt beſchaffen iſt.
Wenn wir die Wircklichkeit einer Sache, wel - che fortdauret, anzeigen wollen, ſo ſprechen wir: ſie iſt. Z. E. die Sonne iſt: Es iſt Friede: auf dem Felde ſind Steine. Wenn wir aber Sachen anzeigen wollen, welche entweder gantz, oder in ihren Theilen augenblicklich vergehen: ſo ſprechen wir: ſie geſchehen. Z. E. es geſchie - het eine Schlacht: es geſchiehet ein Donner - ſchlag. Die Erkentniß der Dinge, welche ſind oder geſchehen, wird zuſammen genommen die Hiſtoriſche Erkentniß genennet.
Eine Veraͤnderung in der Welt, in ihrer Wircklichkeit, und vor ſich betrachtet, heiſſet eine Begebenheit. Wenn man nehmlich eine Sa - che abgebrochen erzehlet, ſo ſpricht man gemeini - glich: es begab ſich. Eben dieſelben Dinge werden aber auch ſowohl Veraͤnderungen alsBege -3von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. Begebenheiten genennet; nachdem man ſie ent - weder vor ſich, oder aber in der Verbindung mit dem vorher gegangenen betrachtet. Eine Sache die da iſt, welche entweder in dem Begriff einer andern enthalten iſt, oder wenigſtens damit zu - ſammenhanget, und ihr gleichſam an die Seite geſetzet iſt: heiſſet ein Umſtand. Eine Bege - benheit, die die Folge einer andern aͤndert, heiſ - ſet ein Zufall.
Wenn wir bey einer Begebenheit gegenwaͤr - tig ſind, und wir uns derſelben bewuſt ſind, ſo entſtehet in unſerm Verſtande ein Urtheil. Ein Urtheil pflegt gemeiniglich uns der Worte zu er - innern, wodurch man ſolches ausdrucken koͤnte. Wenigſtens, wenn wir unſere Vorſtellung von einer Begebenheit andern bekannt machen wollen, ſo brauchen wir Worte dazu, und ſuchen ſolche, wodurch ſich unſer Urtheil geſchickt ausdrucken laͤſſet. Ein Satz, dadurch eine Begebenheit, oder unſer Urtheil von der Begebenheit ausge - druckt wird, wollen wir einen hiſtoriſchen Satz nennen.
Gleichwie jeder eintzelne Satz nur ein einiges Praͤdicat haben ſoll; alſo ſoll auch durch einen hiſtoriſchen Satz nur eine einige Begebenheit ausge - druckt werden. Wir muͤſſen daher genauer be - ſtimmen, was eine einige Begebenheit ſey? A 2Die4Erſtes Capitel,Die Begebenheit iſt nehmlich eine Veraͤnderung in einem vorhandenen Dinge (§. 3.). Wenn ich nun in einer vorgehenden Veraͤnde - rung, durch die bloſſe Aufmerckſamkeit nichts weiter unterſcheide, ſo wird die Veraͤnderung als eine einige angeſehen. Z. E. man ſiehet es blitzen. Die Veraͤnderung iſt das helle Licht, welches auf einmahl entſtehet. Wie man nun darinne, wegen der groſſen Geſchwin - digkeit, nichts durch die Aufmerckſamkeit unter - ſcheiden kan, alſo iſt ein geſchehener Blitz eine Begebenheit. Ein Ziegel faͤllt vom Dache: auch hier iſt wegen der Geſchwindigkeit wenigſtens in manchen Faͤllen, nichts zu unterſcheiden: daher iſt dieſer Fall eine Begebenheit.
Wenn eine Reyhe von aͤhnlichen Ver - aͤnderungen unmittelbar auf einander er - folgen, ſo werden dieſelben zuſammen als eine Begebenheit angeſehen. Z. E. Ein an - haltender Donnerſchlag iſt eine anhaltende, oder welches einerley iſt, eine vielfache Erſchuͤtterung der Lufft. Man kan aber dieſelben unmittelbar auf einander erfolgende Erſchuͤtterungen nicht von einander unterſcheiden; daher wird ein noch ſo lange anhaltender Donnerſchlag, zumahl wenn ſich der Klang ſelbſt nicht aͤndert, als eine Bege - benheit angeſehen.
Eben ſo, wenn eine Reyhe von aͤhnlichen Veraͤnderungen neben einander zugleich entſtehet, ſo werden ſie ebenfals als eine Begebenheit an - geſehen. Ein Regiment Soldaten z. E. giebt auf einmahl Feuer; hieraus entſtehet ein lang aus - gedehnter Rauch, den man aber vor eine Sache anſiehet.
Wenn Veraͤnderungen in einer gewiſſen Ord - nung auf einander erfolgen; ſo werden dieſelben (ob man ſie gleich von einander unterſcheiden koͤn - te, auch wohl gar wircklich unterſcheidet,) als ei - ne Veraͤnderung, und mithin als eine Begeben - heit angeſehen. Ein Aufzug und Proceßion, ſo lang dieſelbe auch immer ſeyn mag, wird von al - len als eine einige Sache angeſehen; nehmlich die Ordnung, die die Perſonen unter einander und im Aufziehen beobachten, macht ſie zu einer Sache. Siehet man einer Proceßion aber von ferne zu, wo man die Partheyen, woraus ſie beſtehet, oder we - nigſtens eintzelne Perſonen nicht mehr unterſchei - den kan; ſo wird ihr Aufzug nach dem 6. §. als eine einige Begebenheit angeſehen.
Wenn viele Veraͤnderungen, entweder zu - gleich, oder nach einander in einerley Abſicht ge -A 3ſchehen,6Erſtes Capitel,ſchehen, ſo machen ſie zuſammen eine Begeben - heit und eine Veraͤnderung aus. Wie viele Hand - lungen werden nicht unter dem Worte: der Aus - richtung einer Hochzeit begriffen? wie vielerley gehoͤrt nicht zu einer Kriegsruͤſtung? Nehmlich ſo vielerley Handlungen werden bloß wegen der gemeinſchafftlichen, oder einerleyen Abſicht, als eine Begebenheit betrachtet.
Wenn viele Veraͤnderungen unter einem moraliſchen oder phyſicaliſchen Begriffe enthalten ſind, der dem Zuſchauer bekant iſt, ſo gehoͤren dieſelben zu einer Art, und werden daher als ei - ne Begebenheit angeſehen. Z. E. Streitlieb hat ſehr viele Gelehrte angefochten, und ſeinen auf - geſuchten Gegnern fleißig geantwortet: er ſelbſt iſt von vielen angegriffen worden, und iſt nie - mahls iemanden etwas ſchuldig geblieben. Alles dieſes wird ſeiner Aehnlichkeit wegen in einem all - gemeinem Begriffe zuſammen gefaſſet, und man ſagt kuͤrtzlich: Streitlieb habe ſein Leben mit Con - troverſien zugebracht.
Alle Begebenheiten, welche ſich in einer, und mit einer Sache zugetragen, werden als eine Begebenheit angeſehen. Denn nicht allein ihre Aehnlichkeit, daß ſie zu einer Sache gehoͤren,ſon -7von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. ſondern auch, weil hier gemeiniglich eines den Grund des andern in ſich enthaͤlt, macht, daß ſie als eine Sache angeſehen werden. Wenn man ſagt: Das Leben Alexanders, Carl des groſſen, Luthers, ſo faſſet man alle Begebenheiten ſolcher Maͤnner in einen Begriff zuſammen, und der Grund davon iſt die Einheit der Perſon.
Ohngeachtet alſo eine Begebenheit eigentlich dieienige iſt, darinnen durch die bloſſe Aufmerck - ſamkeit nichts unterſchieden werden kan (§. 5.): dennoch pflegen oͤffters Begebenheiten, die ſich entweder der Zeit (§. 6.), oder dem Orte nach (§. 7.), oder auch durch ihre innerliche Beſchaf - fenheiten (§. 9. 10. 11. ) unterſcheiden lieſſen, als eine Begebenheit angeſehen zu werden; weil man ſie nehmlich entweder nicht ſo gleich unterſcheiden kan, oder auch in einer gewiſſen Abſicht (als der Kuͤrtze halber,) nicht unterſcheiden will.
Eine Reyhe von Begebenheiten wird eine Geſchichte genennet. Das Wort Reyhe be - deutet allhier, wie es auch der gemeine Gebrauch deſſelben mit ſich bringet, nicht bloß eine Vielheit oder Menge; ſondern zeigt auch die Verbindung derſelben unter einander, und ihren Zuſammen - hang an; welcher, wie kuͤnfftig wird gezeiget werden, vielerley ſeyn kan. Man wird aus den vorhergehenden leichte begreiffen, wie eine Bege -A 4benheit8Erſtes Capitel,benheit, wenn man ſie nehmlich auswickelt, zu ei - ner Geſchichte; und wiederum eine Geſchichte, wenn man ſie zuſammen ziehet, zu einer Bege - benheit werden kan. Die Begriffe aber der Be - gebenheit, und der Geſchichte, muͤſſen dennoch an und vor ſich ſelbſt unterſchieden bleiben.
Gleichwie die Vorſtellung der Begebenheit von der Begebenheit ſelbſt unterſchieden iſt, und durch einen hiſtoriſchen Satz ausgedruckt wird (§. 4.), alſo iſt auch von der Geſchichte die Er - kentniß der Geſchichte zu unterſcheiden. Wird nun eine Begebenheit durch ein Urtheil dem Ver - ſtande vorgeſtellt, und durch einen Satz ausge - druckt (§. 4.): ſo wird die Geſchichte, als eine Reyhe oder Menge von Begebenheiten, durch viele Urtheile dem Verſtande vorgeſtellt, und durch viele Saͤtze ausgedruckt werden muͤſſen. Die Saͤtze, wodurch eine Geſchichte ausgedruckt wird, heiſſen eine Erzehlung. Worte, wo - durch entweder eine Begebenheit, oder auch eine Erzehlung ausgedruckt wird, heiſſen uͤberhaupt eine Nachricht. Man ſuchet durch dieſe ſorg - faͤltige Erklaͤrungen nicht etwa den Worten zu ſtatten zu kommen, als wenn ſie unbe - kant oder auch unverſtaͤndlich waͤren, ſondern es iſt uns bloß um die Grundbegriffe der hiſto - riſchen Erkentniß zu thun, welche auf das aller -genaueſte9von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. genaueſte und auf das allerrichtigſte beſtimmet werden muͤſſen.
Begebenheiten ſind Veraͤnderungen wirckli - cher Dinge (§. 4.); und Geſchichte ſind nicht minder wirckliche Veraͤnderungen derer wirckli - chen Dinge (§. 13.). Wie nun die wircklichen Dinge nicht noͤthig haben, daß ſie durch Men - ſchen erkant, und von ihnen durch Worte aus - gedruckt werden; alſo koͤnnen Begebenheiten und Geſchichte vorgehen, ohne daß eben deswegen hi - ſtoriſche Saͤtze, Erzehlungen und Nachrichten daraus entſtehen. Hingegen da die Erkentniß wircklicher Dinge nicht ſeyn kan, wenn nicht die Wircklichkeit der Dinge ſelbſt ſchon vorausgeſetzt wird: ſo koͤnnen hiſtoriſche Saͤtze, Erzehlungen und Nachrichten nicht ſtatt finden, wo nicht Be - gebenheiten und Geſchichte vorausgeſetzt werden.
Weil hiſtoriſche Saͤtze, Erzehlungen und Nachrichten nicht ſtatt finden, wo nicht die da - durch ausgedruckten Begebenheiten und Geſchich - te vorausgeſetzt werden (§. 15.): hingegen Be - gebenheiten und Geſchichte, die uns nicht vorge - ſtellt werden, auch kein Vorwurff unſerer Betrach - tung ſeyn koͤnnen; ſo gehoͤren zum Begebenheiten auch Erzehlungen und Nachrichten; und wieder -A 5um10Erſtes Capitel,um zum Erzehlungen und Nachrichten gehoͤren Geſchichte. Mithin gehoͤren dieſe Dinge ſo zuſam - men, daß eins ohne das andere nicht ſeyn kan. Sie muͤſſen aber dennoch von einander unterſchieden werden; weil die hiſtoriſchen Schwierigkeiten bald aus der Geſchichte und Begebenheit ſelbſt, bald aber aus den Nachrichten und Erzehlungen entſpringen.
Das eigentlich Griechiſche Wort: Hiſtorie, zeiget ſowohl die Begebenheit an und vor ſich be - trachtet, als auch die Vorſtellung derſelben, und die daraus erſt flieſſende Erzehlung an. Eben dieſes Wort wird auch ſowohl von denen eintzel - nen Begebenheiten und Geſchichten gebraucht; wie aus den haͤufigen Exempeln klar iſt. Daher iſt der Begriff und die Bedeutung des Wortes: Hiſtorie ſehr weitlaͤufftig; und begreifft die Be - gebenheiten, die Zufaͤlle, die hiſtoriſchen Saͤtze, die Umſtaͤnde, die Geſchichte, die Erzehlungen und Nachrichten unter ſich: Das iſt, alle dieſe verſchiedenen Begriffe werden uns zuſammen, und in einer groſſen Verwirrung vorgeſtellt, wenn wir das Wort Hiſtorie brauchen. Und da dieſe Dinge gewiſſer maſſen zuſammen gehoͤ - ren, ſo iſt auch dienlich, daß man ſie ſich, wenigſtens in gewiſſen Faͤllen zuſammen vorſtellt. Wir werden hingegen auch jedesmahl, wo es noͤthig iſt, jedes ins beſondere mit ſeinem eigenen Nahmen benennen.
Die Begebenheiten, und mithin auch die Geſchichte ſind Veraͤnderungen (§. 3. 13.) Ver - aͤnderungen ſetzen ein Subject, ein dauerhafftes Weſen oder Subſtantz voraus. Folglich muͤſſen 1. die Begebenheiten und Geſchichten ein Sub - ject haben, dahin dieſelben gehoͤren. Und ſo muͤſ - ſen 2. auch die hiſtoriſchen Saͤtze, Erzehlungen und Nachrichten, jedesmahl ihr Subject haben, deſſen Veraͤnderungen darinnen vorgetragen wer - den. Nur, daß einmahl das Subject einer Sub - ſtantz aͤhnlicher ſiehet und uns vorkomt, als das andere mahl. Die Geſchichte Caͤſars haben ihr ungezweifeltes und zwar einiges Subject: inglei - chen die Hiſtorie von Rom. Aber die Hiſtorie der Roͤmiſchen Freyheit, die Hiſtorie der En - thuſiaſterey hat ein Subject, welches nicht von jedem ſogleich als was ſubſtantielles duͤrffte ange - ſehen werden.
Weil endliche Dinge mit andern endlichen, und mithin veraͤnderlichen Dingen zu thun haben, ſo gehoͤren die Begebenheiten des einen oͤffters mit zu den Begebenheiten des andern: Wie die Geſchichte eines Menſchen gemeiniglich etwas von den Geſchichten ihrer Eltern und ihrer Kinder in ſich faſſen. Daher komt es nun, daß die Thei - le einer Geſchichte, nicht allemahl ein Subject ha -ben,12Erſtes Capitel,ben, ſondern auch offt von gantz verſchiedenen Dingen handeln.
Die Veraͤnderungen wechſeln ab, da unter - deſſen das Subject der Begebenheiten, und der Geſchichte, beſtaͤndig fortdauert. Dannenhero ge - hoͤret das Subject jeder Begebenheit, Veraͤnde - rung, Geſchichte, Erzehlung und Hiſtorie unter die Dinge welche ſind (§. 2.).
Das Subject einer Veraͤnderung und Bege - benheit gehoͤret unter die Dinge, welche ſind (§. 20). Es iſt aber auch zugleich das Subject des hiſtori - ſchen Satzes, wodurch die Begebenheit ausge - druckt wird. Da nun das Subject eines Satzes eher erkant wird, als ſein Praͤdicat; ſo muß das Subjectum der Begebenheit und Geſchichte eher erkant ſeyn, als die Begebenheit ſelber.
Ein hiſtoriſcher Satz beſtehet theils aus der Erkentniß des Subjects, theils aus der Erkent - niß der Veraͤnderung (§. 18.): Das Subject gehoͤret unter die Dinge, welche ſind (§. 20.): und die Veraͤnderung hingegen unter die Dinge, welche geſchehen (§. 2.). Daher 1. iſt in jedem hiſtoriſchen Satze die Erkentniß eines Dinges,wel -13von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. welches iſt, mit der Erkentniß einer Sache ver - bunden, die geſchiehet. Weil aber die Erkent - niß des Subjects voraus geſetzet wird, und die Erkentniß der Begebenheit, oder Praͤdicats dar - auf folget (§. 21.): ſo 2. richtet ſich die Einſicht in die Veraͤnderungen eines Dinges, nach der Erkentniß, die wir von der Sache an und vor ſich betrachtet haben. Z. E. der Gelehrte hat gleich eine andere Jdee vom Monde, wie ſolcher be - ſtaͤndig ausſiehet, als der gemeine Mann: und nach dieſer verſchiedenen Erkentniß entſtehen auch ver - ſchiedene Vorſtellungen, wenn ſich eine Finſter - niß, ein Monden-Hoff, oder ſonſt etwas nicht alltaͤgliches damit begiebet.
Weil ſich die Erkentniß der Veraͤnderungen eines Dinges, nach der Erkentniß richtet, die man von dem Dinge ſelbſt hat (§. 22.): dieſes Ding aber unter diejenigen gehoͤret, welche ſind (§. 20.): ſo kan 1. man von der Erkentniß der Weltbegeben - heiten nicht Rechenſchafft geben, wenn man nicht weiß, was es vor Beſchaffenheit habe, mit den Dingen, welche ſind. Wie nun die Erkentniß der Dinge, welche ſind und geſchehen, die hiſto - riſche Erkentniß ausmachen (§. 2.): alſo ſiehet man 2. daß man den einen und bekanteſten Theil der Geſchichte, der nehmlich die geſchehene Dinge betrifft, nicht wohl ohne dem andern, durch eine brauchbare Theorie erlaͤutern koͤnne.
Die Geſchichte werden zu Erzehlungen und Nachrichten, wenn man ſich dieſelbe vorſtellt, und durch Worte ausdruckt (§. 14.): und die Hiſto - rie begreifft alles dieſes in ſich (§. 17.). Eine Hiſtorie erfordert daher eben ſowohl, als jede Er - zehlung, einen Zuſchauer der Begebenheit, wel - cher ſich dieſelbe vorgeſtellt, und ſie in eine Er - zehlung und Hiſtorie gebracht hat.
Die Dinge, welche geſchehen, haben unter ſich eine groſſe Abtheilung: theils ſind ſie ge - ſchehen; theils werden ſie geſchehen: jenes heiſſen vergangene, dieſes zukuͤnftige Dinge. Man koͤnte nun zwar bey der hiſtoriſchen Erkent - niß, die dritte Art, nehmlich die gegenwaͤrti - gen Dinge, als die wichtigſten und betraͤchtlich - ſten auſehen: allein weil dasjenige, was geſchie - het, augenblicklich geſchiehet, und mithin indem und ſo lange es geſchiehet, keine beſondere Be - trachtung und Ueberlegung leidet, als worzu Zeit erfordert wird: ſo wird die hiſtoriſche Erkentniß gemeiniglich davor angeſehen, als ob ſie bloß auf vergangene und zukuͤnftige Dinge gerichtet waͤre.
Die Erkentniß der vergangenen Dinge wird im gemeinen Leben vor die gantze hiſtoriſcheErkent -15von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. Erkentniß angenommen; weil ſie nehmlich den groͤſten Theil derſelben ausmachet. Es iſt aber bekant, daß unſere Eintheilungen der Sachen und unſerer Erkentniß, die wir im gemeinen Leben brauchen, nicht allemahl geſchicklich abgefaſſet ſind. Wir folgen allda der Regel: a potiori fit deno - minatio. Und dieſes trifft bey dem Begriff der hiſtoriſchen Erkentniß ein. Denn ohngeachtet die Erkentniß des Zukuͤnfftigen gegen die Erkentniß des Vergangenen ſehr enge und kurtz geſaſſet iſt; ſo haben wir doch mancherley Einſicht ins Zukuͤnff - tige, nicht allein durch die Offenbarung, ſondern auch in der Aſtronomie und in buͤrgerlichen Ge - ſchaͤfften. Die Artzneykunſt hanget von dieſer Erkentniß ſo ſtarck ab, daß der Artzt nicht weni - ger ſeine Aufmerckſamkeit aufs Kuͤnfftige, als auf den gegenwaͤrtigen Zuſtand des Patienten zu richten hat. Und daher muß in der Vernunfft - lehre der Geſchichte, dieſer Begriff allerdings ſo weitlaͤufftig gefaſſet werden, daß er das Zukuͤnff - tige unter ſich begreiffet.
Wenn wir etwas wollen, ſo betrifft es alle - mahl etwas zukuͤnfftiges: wir ſtellen uns nehmlich mancherley moͤgliche Dinge vor, welche kuͤnfftig zur Wircklichkeit gelangen koͤnnen: was uns nun darunter am beſten gefaͤllt, dabey bleiben wir ſte - hen, und daſſelbe wollen wir. Die Erkentniß demnach, woraus unſer Wollen entſtehet, ge -hoͤret16Erſtes Capitel,hoͤret zur hiſtoriſchen Erkentniß (§. 25.): und man kan von der Beſchaffenheit unſers Wollens nicht Rechenſchafft, wenigſtens nicht genaue Re - chenſchafft geben, wenn man nicht von der Be - ſchaffenheit der hiſtoriſchen Erkentniß unterrich - tet iſt.
Jm gemeinen Leben iſt nicht ſowohl der all - gemeine Begriff der Willensmeinungen, als viel - mehr die Arten derſelben bekant, als da ſind: Befehle, Geſetze, Verſprechungen, Pacte, Drohungen, Verheiſſungen u. ſ. w. Was wir aber von den Willensmeinungen uͤber - haupt gewieſen haben (§. 27.), daß ſie ſich auf hiſtoriſche Saͤtze gruͤnden, und daß man von ih - rer innerlichen Beſchaffenheit nichts erweiſen kan, ohne die hiſtoriſche Erkentniß voraus zu ſetzen, das gilt auch von allen ihren angeſuͤhrten Arten. Man kan nehmlich die Beſchaffenheit der Befeh - le, Geſetze, Verſprechungen, Pacten, Verheiſ - ſungen, Drohungen u. ſ. w. nicht recht einſehen, wenn nicht die Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Er - kentniß vorher in ein helles Licht geſetzet worden.
Da die Jurisprudentz mit lauter buͤrgerli - chen Geſetzen zu thun hat, welche, wie offenbar, Geſetze, und mithin Willensmeinungen ſind; dieErkent -17von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. Erkentniß und tieffere Einſicht aber der Willens - meinungen von der hiſtoriſchen Erkentniß abhan - get (§. 27.): ſo iſt nicht zu zweifeln, daß die Rechtsgelahrheit aus einer gruͤndlichen Abhand - lung der hiſtoriſchen Erkentniß einen betraͤcht - lichen Vortheil erhalten werde. Man wird wi - der dieſen Beweis nichts einwenden koͤnnen, man muͤſte denn glauben, daß die Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Erkentniß an und vor ſich, auch oh - ne Regeln, ſo ſo klar und bekant waͤre, daß es keiner Anweiſung und beſondern Wiſſenſchafft da - bey beduͤrffe; welches aber durch dieſe gantze Ab - handlung wird widerlegt werden: worinnen die Lefer gar vielerley Betrachtungen antreffen wer - den, welche bis hieher noch niemahls ſind gemacht worden, und wodurch man vielen Vorurtheilen begegnen kan, die ſich bey der hiſtoriſchen Erkent - niß aus Ermangelung der Regeln eingeſchlichen haben.
Gewiſſe und zuverlaͤßige Nachrichten von kuͤnfftigen Dingen, die ſich aber doch nicht durch Schluͤſſe aus dem gegenwaͤrtigen erweiſen laſſen, werden Weiſſagungen oder Prophezeyungen genennet. Es iſt klar, daß dieſelben ſowohl auf Seiten deſſen, der ſie vortraͤgt, als auf Seiten deſſen, der dadurch benachrichtiget wird, zur hi - ſtoriſchen Erkentniß gehoͤren (§. 14. 25.). Je begieriger der Menſch iſt, kuͤnfftige Dinge zu wiſ - ſen, deſto mehr und lieber beſchaͤfftiget er ſich mitBWeiſ -18Erſtes Capitel,Weiſſagungen, wenn dergleichen vorhanden ſind. Man ſiehet ſolches nicht allein daraus, daß ſo gar die eitelſten Ausſpruͤche von kuͤnfftigen Dingen, welche gar nicht den ehrwuͤrdigen Nahmen der Weiſſagungen verdienen, dennoch bey vielen Per - ſonen eine groſſe Aufmerckſamkeit verurſachen; ſondern auch daraus, daß die wahren Weiſſagun - gen, welche in der heiligen Schrifft anzutreffen ſind, faſt bey allen Leſern eine Begierde erwecken, noch mehr, und die Sachen umſtaͤndlicher zu wiſſen, als da ſtehet. Was ſich aber auch an de - nen ſo genanten Auslegungen vor Fehler befin - den, iſt mehr als zu bekant. Wollte man nun ſowohl einen unzeitigen Vorwitz zu daͤmpfen, als auch, wo es moͤglich, tieffer in den Verſtand der goͤttlichen Weiſſagungen einzudringen Regeln er - finden; ſo koͤnnen dieſe nirgends anders, als aus den allgemeinen Eigenſchafften der hiſtoriſchen Er - kentniß hergeleitet werden. Ohngeachtet wir al - ſo hier nicht von den Weiſſagungen handeln wer - den, ſo iſt doch zuverlaͤßig abzuſehen, daß die vor - zutragenden Lehren auch dem exegetiſchen Capitel, von Weiſſagungen, nicht geringen Nutzen ver - ſchaffen werden.
Fabeln ſind eine Nachahmung der Geſchich - te, welche die Einbildungskrafft, oder vielmehr die Dichtkunſt hervorbringet. Bey ihnen iſt die Wahrſcheinlichkeit dasjenige, was bey denGeſchich -19von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. Geſchichten die Wahrheit iſt, nehmlich ihre vor - nehmſte Tugend. Jm uͤbrigen ſind ſie denen Ge - ſchichten aͤhnlich. Die ungeſchickten Fabeln, wel - che dann und wann zum Vorſchein kommen ſind, haben Gelegenheit gegeben, auf Regeln zu den - cken, wornach man Fabeln verfertigen, oder we - nigſtens beurtheilen koͤnte. Es iſt aber nicht zu zweifeln, daß durch die Erklaͤrung der wahren Geſchichte, oder der eigentlichen hiſtoriſchen Er - kentniß auch die Beſchaffenheit der Fabeln erlaͤu - tert werde. Und wie leicht pflegt nicht auch de - nen wahren Geſchichten etwas fabelhafftes ange - klebet zu werden? Wie offte beſchuldiget man nicht auch wahrhaffte Geſchichte eines fabelhafften Anſehens? alles dieſes macht die Erkentniß der hiſtoriſchen Wahrheit uͤberhaupt noͤthig.
Die Beredſamkeit hat mit lauter eintzelnen Wahrheiten, oder mit Geſchichten zu thun. Die drey Arten der Reden, demonſtratiuum, deli - beratiuum und iuridiciale, welche die alten Leh - rer der Beredſamkeit geſetzt haben, gehen mit nichts anders um, als mit hiſtoriſchen Saͤtzen. Doch laͤugne ich nicht, daß ſowohl alte, als be - ſonders unſere neuen Redner, ihre Beredſamkeit auch bey allgemeinen Wahrheiten angewendet haben; ja daß man ſie jetzo hauptſaͤchlich dabey anwendet. Carneades hat zu Rom die Gerech - tigkeit an dem einem Tage mit allgemeinem Beyfall gelobt, und ſie den andern Tag wieder laͤcherlichB 2gemacht.20Erſtes Capitel,gemacht. Doch wenn man auf den Vortrag die - ſer Redner genauer achtung giebt, ſo wird man bald mercken, daß, indem ſie die allgemeinen Wahrheiten lebhafft vortragen wollen, ſie uͤberall Metaphorn, Gleichniſſe, Exempel brauchen, Per - ſonen redend einfuͤhren, und die Eigenſchafften der Dinge in beſondere Weſen verwandeln; wel - ches alles aus der hiſtoriſchen Erkentniß genom - men iſt. Wann daher die Beredſamkeit, auch wo ſie mit allgemeinen Wahrheiten umgehet, ſich dennoch mit der hiſtoriſchen Erkentniß beſchaͤffti - get; ſo kan man wohl ſicher uͤberhaupt ſchluͤſſen, daß die hiſtoriſche Erkentniß in dieſelbe den groͤ - ſten Einfluß habe. Und dieſes wuͤrde ſich noch deutlicher zeigen, wenn man in der Redekunſt nicht wie bisher, bloß die Beſchaffenheit der groͤſ - ſern Theile einer Rede, ſondern auch die klei - nern, ja die kleinſten, in Betrachtung zu ziehen anfinge.
Eben die Bewandniß hat es mit den Ge - dichten. Sie ſind theils gemahlte Geſchichte, theils gemahlte Fabeln, theils aus beyden zu - ſammengeſetzt. Die poetiſche Mahlerey ſelber beſtehet aus einer Menge kleiner Umſtaͤnde und Begebenheiten, welche augenſcheinlich zur Hiſto - rie gehoͤren. Wollte man in einem Gedichte allgemeine Wahrheiten vortragen, ohne ei - ne Menge von Geſchichten zu Huͤlffe zu nehmen, ſo wuͤrde ſolches gewiß auſſer den Reimund21von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. und das Sylbenmaaß nichts Poetiſches an ſich haben. Kurtz, die Gedichte gehoͤren nicht allein zur hiſtoriſchen Erkentniß, ſondern halten auch ſo gar das allerfeinſte von der hiſtoriſchen Erkent - niß in ſich.
Die Critick wird in ſo mannigfaltiger Be - deutung genommen, daß es ſchwer werden wird, dem Worte iemahls eine beſtimte Bedeutung zu verſchaffen: Man mag ſie aber in einem ſo weit - laͤufftigen Verſtande nehmen, als man immer will, ſo erſtrecket ſich doch ihre Herrſchafft nicht weiter, als uͤber hiſtoriſche Dinge. Hingegen mag man auch eine ſo enge Bedeutung dieſes Wortes annehmen, als man nur will, ſo wird man doch allemahl mit einem Stuͤcke der hiſtori - ſchen Erkentniß zu ſchaffen haben. Man urtheilt nehmlich uͤber hiſtoriſche und poetiſche Schrifften, uͤber Reden, ob ſie nach der Sprachkunſt unta - delhafft; ob ſie vollſtaͤndig, ob ſie ſchoͤn geſchrie - ben? ob ſie dem vorgeblichen Verfaſſer zukom - men, oder untergeſchoben ſind? ob ſie gantz, oder mit Fehlern in unſere Haͤnde gekommen? und wie dieſen abzuhelffen ſey? Alles dieſes iſt hiſto - riſch; und eine bloſſe Anwendung der allgemei - nen Beſchaffenheit hiſtoriſcher Dinge auf eintzelne Faͤlle. Daher iſt klar, daß die Critick uͤberhaupt, und in allen ihren Theilen, durch die allgemeinen Regeln der hiſtoriſchen Erkentniß muͤſſe erkannt, erklaͤret und bewieſen werden: woferne man nichtB 3unter22Erſtes Capitel,unter dem Titul der Critick ein Befugniß, den andern nach ſeinem Duͤnckel und Eigenſinn zu ta - deln, und mit einer alten Schrifft nach ſeinem Gefallen zu ſchalten und zu walten, verſtehen und einfuͤhren will.
Die Gottesgelahrheit hat mit der hiſto - riſchen Erkentniß mehr zu ſchaffen, und iſt mit derſelben genauer verbunden, als man ſich gemei - niglich einbildet. Jhr Grund iſt die heilige Schrifft. Betrachtet man den Jnhalt derſelben, ſo faͤllt es gleich in die Augen, daß eine recht groſſe Menge derſelben Geſchichte ſind. Gantze Buͤcher werden deswegen ſchlecht weg darinnen die hiſtori - ſchen Buͤcher genennet. Die Prophezeyungen ſowohl altes als neuen Teſtamentes, ſind ohne Zweifel denen hiſtoriſchen Wahrheiten beyzuzeh - len. Jm uͤbrigen finden wir durchgaͤngig die ſchaͤrfſten Geſetze, Ermahnungen, Verheiſſungen und Drohungen, welche mit der Hiſtorie eine ge - naue Verbindung haben (§. 28.). Das Ev - angelium iſt gleich ſeiner Benennung nach, ei - ne gute Bothſchafft, oder eine erfreuliche Nachricht. Selbſt die Gebete und Bitten, der - gleichen in der Schrifft in Menge vorkommen, gehoͤren zur hiſtoriſchen Erkentniß (§. cit.). Kan man alſo wohl zweifeln, daß eine genauere Er - kentniß von der Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Er - kentniß uͤberhaupt, eine gute Einleitung zum Ver -ſtande23von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. ſtande ſehr vieler Stellen der heiligen Schrifft ge - ben werden? oder wird dieſelbe nicht vielmehr hoͤchſt noͤthig ſeyn?
Endlich und vornehmlich, die Erkentniß der Geſchichte ſelbſt beruhet zwar hauptſaͤchlich auf vielen und guten Urkunden und Nachrichten; und wenn ſie darinnen klar und deutlich vorgetragen werden, ſo kan man ſie gar wohl erlernen und verſtehen, ohne eben mit einer allgemeinen Ein - leitung zur hiſtoriſchen Erkentniß verſehen zu ſeyn. Allein, haben wir auch allemahl die Nachrichten in der Beſchaffenheit, wie ſie in Abſicht auf den bloſſen Unterricht beſchaffen ſeyn ſollten? Finden wir nicht oͤffters an ſtatt der trockenen Erzeh - lungen, woraus eigentlich die Geſchichte erlernet werden ſollten, nur ſinnreiche Beſchreibungen und Nachrichten, woraus die wahre und eigent - liche Beſchaffenheit der Sache, gleichſam als aus einer Huͤlle erſt ausgewickelt und ausgelegt werden muß? finden wir nicht oͤffters ſtatt deut - licher Nachrichten nur dunckele? und erlernen wir nicht vieles ſo gar nur aus Spuren? Bey allen dieſen Stuͤcken ſind gewiß allgemeine Re - geln der hiſtoriſchen Erkentniß noͤthig; woferne man ſie unter einander verſtehen, und vor ſich ſelbſt nicht nach einem bloſſen Gutduͤncken verfah - ren will. Erfordert nicht ferner die GewißheitB 4der24Erſtes Capitel,der hiſtoriſchen Erkentniß uͤberhaupt, eine allge - meine Betrachtung? Und die hiſtoriſche Wahr - ſcheinlichkeit wird vollends niemahls eine ver - nunfftmaͤßige Geſtalt bekommen, wenn man ſie nicht aus einer allgemeinen Betrachtung der hi - ſtoriſchen Erkentniß herleitet? Unſere Ausfuͤh - rung davon wird ſolches augenſcheinlich beweiſen. Wir verlangen daher gar nicht, die Geſchichte, die man bisher ohne alle Kunſtlehren erkannt hat, durch unſere Wiſſenſchafft in weit ausſehende ſpe - culationes zu verwandeln. Wir wollen nur das Schwere, und Dunckele, woruͤber die Gelehrten einander bisher gar nicht haben bedeuten koͤnnen, deutlich machen. Dieſes kan aber nicht geſche - hen, ohne die gantze Materie bis auf den Grund unterſucht zu haben.
Da ſich nun aus der Natur der Rechtsge - lahrheit (§. 29.), der Beredſamkeit (§. 32.), der Poeſie (§. 33.), der Fabeln (§. 31.), der Critick (§. 34.), der Weiſſagungen (§. 30.), der Gottesgelahrheit (§. 35.), der Geſchichte (§. 37.), ja auch der Artzneykunſt (§. 26.) veroffenbaret, wie weitlaͤufftig ſich die hiſtoriſche Erkentniß, un - ter vielerley Nahmen, und Geſtalten, mittelbar und unmittelbar, erſtrecke; ſo laͤſſet ſich leichte ermeſſen, daß alle eintzelne Puncte der hiſtori - ſchen Erkentniß einer beſondern und gruͤndlichen Betrachtung wuͤrdig ſind; weil jeder Punct, wenner25von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. er gleich in einen oder den andern Theil unſerer Erkentniß und Gelahrheit keinen Einfluß haben ſollte, oder keinen zu haben ſcheinen moͤchte, den - noch in einem andern ſeinen offenbaren Nutzen haben wird. Woraus ſich die Nutzbarkeit der gantzen Wiſſenſchafft von der hiſtoriſchen Erkentniß von ſelbſten zu Tage leget.
Da ſich unſer Verſtand ſo oͤffters, ob wohl unter vielerley Titeln, mit der hiſtoriſchen Er - kentniß beſchaͤfftiget (§. 37.); ſo wird derſelbe, wie bey andern oͤffters wiederhohlten Handlun - gen, alſo auch hier, nach gewiſſen, ob gleich nicht bekannten Regeln verfahren. Man kan aber dieſe Regeln, ſo, wie mit den Regeln der allge - meinen Erkentniß ſchon geſchehen, deutlich er - klaͤren, aus einander herleiten; und mithin in ei - ne Wiſſenſchafft bringen. Da nun dasjenige al - les zur Vernunfftlehre gehoͤret, was unſer Ver - ſtand bey Erkentniß der Wahrheit zu beobachten hat: ſo ſind die Regeln, mit der hiſtoriſchen Er - kentniß gebuͤhrend umzugehen, ein Stuͤck der Vernunfftlehre.
Wenn aber die Wiſſenſchafft der hiſtoriſchen Erkentniß vor ein Stuͤck der Vernunfftlehre aus - gegeben wird, ſo iſt dabey, um allen Mißver - ſtand zu vermeiden, mancherley zu beobachten. B 5Denn26Erſtes Capitel,Denn ſo iſt 1. gewiß, daß vom Ariſtotele an bis auf die jetzigen Zeiten, in der Vernunfftlehre hauptſaͤchlich auf das Lehrgebaͤude der allgemei - nen Wahrheiten geſehen worden; wie ſolches or - dentlich und gruͤndlich eingerichtet werden moͤchte; und daher iſt darinnen von der Beſchaffenheit der hiſtoriſchen Erkentniß kein ausfuͤhrlicher Unter - richt, ja faſt nicht die geringſte Nachricht gegeben worden; als welches nach dem Zuſtande der alten Philoſophie nicht einmahl moͤglich war. 2. Es hat auch unſer Lehrſatz nicht die Meinung, daß die bisherige Verfaſſung der Vernunfftlehre ge - aͤndert, und dieſe Abhandlung, die wir vor uns nehmen, mit jener vermengt werden ſolle. Selbſt dieſe Wiſſenſchafft ſetzet die Logick im bisherigen Umfange genommen, voraus: nicht allein, daß man durch dieſelbe geſchickt werde, die Beweiſe in dieſer Kunſt beſſer zu faſſen; ſondern ſie legt auch die Begriffe und Saͤtze der Vernunfftlehre zum Grunde: indem faſt alles, was in der hiſto - riſchen Erkentniß kuͤnſtlich, und denen Menſchen vor den Thieren eigen iſt, aus der allgemeinen Erkentniß herruͤhret; mit welcher wir ſchon ver - ſehen ſeyn muͤſſen, wenn wir geſchickte Zuſchauer der vorgehenden Veraͤnderungen, Begebenhei - ten und Geſchichte abgeben wollen.
Es iſt aber nichts gantz neues, daß man ſich einen weitlaͤufftigern Begriff von der Vernunfft - lehre macht, als ſich unſere Vorfahren gemachthaben.27von der hiſtor. Erkentniß uͤberhaupt. haben. Leibnitz hat ſchon den Gedancken ge - habt, daß, wenn man das Recht der Natur in der buͤrgerlichen und Staatsrechtslehre anwen - den wollte, ſo muͤſte eine von der damahligen gantz unterſchiedene Vernunfftlehre noch erfun - den werden. So hat man auch wahrgenommen, daß der Begriff des Wahrſcheinlichen eine viel groͤſſere Ausdehnung verdiene, als dieſes Ca - pitel ſonſt in der Vernunfftlehre gehabt. Unter - deſſen wenn auch dieſe und andere Stuͤcke noch ſo weitlaͤufftig abgehandelt werden, ſo wird doch die Vernunfftlehre, in ihren bisherigen engern Ver - ſtande genommen, an ihrem Werthe nichts ver - lieren, ſondern ſie wird in Anſehung der uͤbrigen Theile allemahl das ſeyn, wovor des Euclides Elemente, in Anſehung der gantzen auch hoͤhern Geometrie, angeſehen werden.
Wir werden durch unſere Sinne, beſonders durch Geſichte, viele Dinge gewahr, welche, ſo offte wir unſere Sinne darauf richten wollen, allemal anzutreffen ſind: jedochſind28Zweytes Capitel,ſind ſie nicht von einerley Dauer. Die ſo ge - nannten Weltcoͤrper ſind die allerdauerhaffte - ſten: als welche, weil Menſchen auf der Erde ſind, gedauert haben; auſſer daß die Sternſe - her einen und andern Stern vermiſſen, der ſonſt geſehen worden. Die Cometen hat man, weil ſie eben zu geſchwinde erſcheinen, und wieder unſichtbar werden, lange Zeit nicht vor Weltcoͤr - per angeſehen. Auf unſerer Erde ſind theils eben ſo alte Stuͤcke anzutreffen; theils aber, beſonders die kleinern, ſehen wir hauffenweiſe entſtehen und wieder vergehen.
Ohngeachtet wir faſt alle Coͤrper durch die Augen entdecken, ſo iſt es doch eigentlich das Ge - fuͤhl, wodurch wir von der Exiſtentz der eintzeln Coͤrper auſſer uns, verſichert werden. Wenn wir in der Daͤmmerung etwas ſehen, oder zu ſe - hen vermeinen, ſo gehen wir hin und wollen den geſehenen Coͤrper auch anfuͤhlen, um uns dadurch von ſeinem Daſeyn zu verſichern. Finden wir nichts das wir greiffen koͤnnten, ſo ſagen wir: Es ſey nichts da. Hingegen wenn wir etwas fuͤh - len, wenn wir es gleich nicht ſehen, wie im ſtock - finſtern, ſo zweifeln wir nicht, daß ein Coͤrper vorhanden ſey? und das Sehen, wenn es hin - zukomt, hilfft uns nur genauer zu erkennen, was es vor ein Coͤrper ſey?
Da nun das Gefuͤhl der Sinn iſt, wodurch wir eigentlich von dem Daſeyn eines Coͤrpers ver - ſichert werden; und wir dennoch ungemein viele Dinge vor wuͤrckliche Coͤrper halten, die wir nur bloß geſehen, nie aber beruͤhrt haben, ſo folgt, daß wir die Exiſtentz deſrelben nicht ſowohl un - mittelbar durch die Sinne, als vielmehr durch einen Vernunfftſchluß, obgleich dunckeln, erken - nen, deſſen Beſchaffenheit wir genauer betrach - ten muͤſſen. Nehmlich wir erfahren, daß Din - ge, die wir von ferne ſehen, auch koͤnnen ange - ruͤhret und gefuͤhlet werden, wenn wir nur nahe genug hinzu kommen. Dieſes geſchiehet taͤglich und ſtuͤndlich ſo offte, daß wir bey nahe eine all - gemeine Regel daraus machen koͤnnen: was wir uns durch die Augen vorſtellen, das kan auch, wenn wir nahe genug kommen, beruͤhret werden; und iſt alſo ein Coͤrper. Die Beſchaffenheit ei - nes bloſſen Scheines macht, daß man dieſe Er - fahrungsregel nicht ſo ſchlecht weg vor wahr - hafftig allgemein annehmen kan. Dem Schei - ne fehlet es gemeiniglich an der Dauerhafftig - keit. Wenn wir alſo etwas in der Ferne ſehen, und ſolches beſtaͤndig und lange ſehen, ſo ſchluͤſ - ſen wir daraus, daß es ein beſonderer und wahr - haffter Coͤrper ſeyn muͤſſe; wie an des Mondes und uͤbriger Planeten und Sterne Wircklichkeit niemand zweiffelt.
Man kan ſich aber auch durch die Augen, oder vielmehr durch den mit dem Geſichte verknuͤpfften Schluß, betruͤgen laſſen; daß man etwas vor ei - nen Coͤrper und etwas fuͤhlbares haͤlt, welches es doch nicht iſt. Ein gantz Einfaͤltiger kan doch wohl die Perſonen, die er im Spiegel ſiehet, vor wirckliche Perſonen anſehen; und zu ihnen nahen wollen. Wenn man ſonſten ſo offte Ruͤſtungen und Kriegsheere in der Lufft geſehen hat; ſo mag ſolches von einer zwiefachen Wirckung der Ein - bildungskrafft hergeruͤhret haben, die ſich theils den wahrhafften Schein anders gedichtet, als er an ſich geweſen, theils aber, nach den nicht all - gemeinen Foͤrderſatz (§. 3.) dieſen Schein in ei - nen wircklichen Coͤrper verwandelt hat.
Da wir nun Vorſtellungen durch die Augen von Sachen haben koͤnnen, die nicht fuͤhlbar, und mithin nicht Coͤrper ſind (§. 2.); ſondern nur ei - ne Wirckung anderer Coͤrper: ſo muͤſſen wir auch in der Vorſtellung wircklicher Coͤrper den Schein von dem Seyn unterſcheiden. Der Schein iſt was uns von den Coͤrpern in die Augen faͤllet: das Seyn, oder die Wircklichkeit der Coͤrper be - ſtehet darin, daß er fuͤhlbar iſt. Die Beſchaf - fenheit des Scheins iſt in der Optick auf das treflichſte allbereit erklaͤret worden. Noch allge -meiner31von den Begebenheiten der Coͤrper. meiner ſolches abzuhandeln und zu zeigen, wie man auf den Verdacht des bloſſen Scheins kom - men koͤnne, und ſolle, gehoͤret in die Theorie der Phaͤnomenen, wie wir den Grundbegriff da - von gelegt haben in der Philoſophia noua defi - nitiua C. II. Def.
Eine ſehr kurtze Vorſtellung, oder auch die erſte Vorſtellung eines Coͤrpers durchs Geſicht, wird ein Blick, oder Anblick genennet. Eine fortgeſetzte Vorſtellung aber von coͤrperlichen Din - gen durchs Geſicht, wird das Anſchauen ge - nennet. Das Anſchauen iſt daher ein vielfacher und ununterbrochener Anblick. Doch iſt ein groſ - ſer Unterſchied, ob ich einen Coͤrper bloß erblicke, oder ob ich ihn anſchaue.
Weil alles, wovon Stralen in unſere Augen fallen, uns auch vorgeſtellet wird, und es offen - bar iſt, daß zu gleicher Zeit uns gar viele Coͤr - per in die Augen fallen; ſo wird uns auch durch die Augen jedem Augenblick nicht ein Coͤrper, ſon - dern gar viele vorgeſtellet. Auf einer Hoͤhe koͤn - nen wir gar weit, auch mit unverwandten Augen ſehen. Alle die Coͤrper, welche unſerm Auge auf einmal vorgeſtellet werden, heiſſen eine Ausſicht oder Proſpeckt.
Ohngeachtet wir uns jedem Augenblick einen gantzen Proſpeckt, und mithin eine Menge Coͤr - per vorſtellen (§. 7.), ſo iſt doch aus der Erfah - rung bekannt, daß wir uns nur eines gewiſſen Gegenſtandes, aus der gantzen Ausſicht, auf ein - mahl bewußt ſeyn. Und dieſes iſt allemahl der - jenige Coͤrper, von welchem die Stralen perpen - diculaͤr auf unſere Sehe fallen. Man ſagt von dieſem Theile der Ausſicht: man ſehe drauf. Z. E. ich ſehe aufs Buch: ich ſehe jemanden auf die Finger. Jngleichen, weil derſelbe Coͤrper zu derſelben Zeit das vornehmſte von der gantzen Ausſicht iſt; ſo pflegt man, wenn man ſagen ſoll, was man ſiehet, nicht die gantze Ausſicht anzuge - ben, ſondern nur das, was directe in unſere Augen faͤllet.
Der erſte Anblick eines Coͤrpers iſt nicht zu - reichend, einen klaren Begriff davon in uns zu erwecken. Die Erfahrung beweiſet ſolches zur Gnuͤge. Man laſſe jemanden einen Blick durchs Vergroͤſſerungsglaß auf einen Coͤrper thun, ſo wird er nicht wiſſen, was er geſehen hat, ohn - geachtet es gewiß iſt, daß er nicht allein eine neue Ausſicht gehabt, ſondern auch einen gewiſſen Theil des Coͤrpers insbeſondere erblickt hat. Ein an - ders iſt, wenn ihm die Sache ſchon vorher bekanntiſt;33von den Begebenheiten der Coͤrper. iſt; als in welchem Falle ein ſehr kurtzer, und ſo zu reden, ein einiger Blick zureichen kan, einen klaren Begriff zu erwecken. Wir reden aber je - tzo nicht vom oͤffters wiederhohlten, ſondern vom erſten Anblicke.
Da wir durch das Anſchauen klare Begriffe von den uns dargeſtellten Coͤrpern erlangen, wie die taͤgliche Erfahrung lehret; ſolches aber durch den erſten Anblick nicht geſchiehet (§. 9.); ſo muß in der Wiederhohlung des Blicks der Grund lie - gen, warum ein klarer Begriff endlich entſtehet (§. 6.). Weil es uͤberhaupt beſſer iſt, wenn man weiß, wie und warum eine Sache geſchiehet, als wenn man bloß weiß, daß ſie geſchiehet: ſo iſt freylich nicht undienlich, wenn man einſiehet, was die Wiederhohlung des Blicks zur Hervor - bringung eines klaren Begriffes beytraͤget. Nun geſchiehet die gantze Erzeugung eines ſolchen Be - griffes oͤffters in ſehr kurtzer Zeit, als in einer halben Secunde und darunter. Weil nun die - ſes zur Geſchwindigkeit im gedencken gehoͤret, daß man eher oder langſamer mit einem klaren Be - griffe fertig wird, ſo haben wir in unſerer Diſ - ſertation, de celeritate inprimis cogitandi, un - ter andern auch dieſes unterſuchen muͤſſen, wie durch wiederhohlte Blicke ein klarer Begriff er - zeugt werde? §. XVI.
Da uns anfangs durchs Geſicht allemahl ei - ne gantze Ausſicht vorgeſtellet wird: ſo lernen wir nach und nach die darinnen enthaltenen Coͤrper von einander unterſcheiden; und erhalten auf ſol - che Art einen deutlichen Begriff von der gan - tzen Ausſicht. Denn indem wir auf dieſen oder jenen Coͤrper insbeſondere ſehen, ſo erhalten wir davon einen klaren Begriff (§. 7.); und zwar auf eben die Art, wie es bey der gantzen Aus - ſicht geſchiehet (§. 8.): nur daß wir zugleich be - mercken, daß es nur ein Theil der gantzen Aus - ſicht ſey. Dannenhero, wenn wir bald dieſen, bald jenen Theil nach einander anſehen, und die erlangten klaren Begriffe davon im Sinne behal - ten, ſo wird die totalidee, oder der Begriff der gantzen Ausſicht, deutlich.
Wenn wir unſern Stand offte oder augen - blicklich veraͤndern, ſo koͤnnen wir von den um - ſtehenden Coͤrpern weder einen klaren noch deut - lichen Begriff erlangen. Denn wenn wir unſern Stand augenblicklich veraͤndern, ſo entſtehet auch alle Augenblicke ein neuer Proſpeckt oder Aus - ſicht: wie aus der Optick klar iſt; und wir koͤn - nen auf jeden Proſpeckt nur einen Blick thun. Dieſes iſt denn auch der erſte Anblick; daraus aber kein klarer Begriff entſtehen kan (§. 9.). Einen35von den Begebenheiten der CoͤrperEinen Coͤrper aber davon insbeſondere wahrzu - nehmen, iſt nichts anders, als ſich davon einen fernerweiten klaren Begriff machen, auſſer dem, den man von der gantzen Ausſicht hat; welches aber noch mehr Zeit erfordert. Folglich gehet es nicht an, bey immerwaͤhrender Veraͤnderung ſei - nes Standes, von den Sachen klare und deutli - che Begriffe zu erlangen.
Dieſen Satz beſtaͤtiget die Erfahrung: indem wir bey ſehr geſchwinder Bewegung unſeres Kopfs und mithin der Augen, nichts von den umſtehen - den Sachen unterſcheiden. Doch vertragen Sachen, die uns vorher ſchon laͤngſt bekannt ſind, eine groͤſſere Geſchwindigkeit, als Sachen, die wir zum erſten mahle ſehen. Man kan uͤbrigens aus dieſer Regel eines theils erklaͤren, warum die Menſchen in ihrer Kindheit ſo viel Zeit brauchen, ehe ſie zu einer klaren Erkentniß der Coͤrper, die um ſie herum ſind, gelangen. Ein Kind be - kommt nehmlich theils durch die oͤfftere Veraͤnde - rung des Orts, theils auch durch die Wendung der Augen beſtaͤndig eine neue Ausſicht. Ehe dieſe recht klar wird, entſtehet eine neue; und das Anſehen der eintzeln Coͤrper veraͤndert ſich da - bey zugleich; ſo daß ein Kind, nicht anders als ſpaͤte, einen Coͤrper von dem andern unterſcheiden lernet: als welches noch beſondere Umſtaͤnde er - ſordert.
Die Theile einer Ausſicht hangen, dem Ge - ſichte nach, alle an einander, ſie ſcheinen anfangs aus einem Stuͤck zu ſeyn: aber nach und nach lernen wir die Theile der Ausſicht (die wir an - fangs nur als verſchiedene Theile eines Coͤrpers anſahen,) als beſondere Coͤrper betrachten. Und die - ſes geſchiehet zwar anfangs durch derſelben oͤfftere Bewegung. Denn indem der Coͤrper bewegt wird, ſo wird er uns bald bey dieſer, bald bey jener Sa - che ſtehend, oder liegend, vorgeſtellt. Dieſer Sachen werden endlich ſo viel, daß wir ſie ins - geſamt vergeſſen; und uns die Sache gar ohne derjenigen Verbindung vorſtellen, die ſie jedes mahl, vermittelſt unſers Proſpeckts, mit ſo vielen andern Sachen gehabt hat. Wir gedencken alſo einen ſolchen Coͤrper beſonders; ohne gemeini - glich zu wiſſen, wie eigentlich eine ſolche Jdee in uns entſprungen ſey. Durch die bloſſen Augen geſchiehet es nicht, weil wir niemahls einen Coͤr - per gantz allein ſehen.
Eben dieſes erhalten wir auch, wenn die Sa - che zwar ihren Ort nicht veraͤndert, wir aber die - ſelbe bald aus dieſem, bald aus jenem Geſichts - punckte anſehen. Denn jedesmahl wird ſie uns mit andern Sachen, und in Verbindung mit denſelben vorgeſtellt. Weil der Verbindungenendlich37von den Begebenheiten der Coͤrper. endlich zu viel werden, ſo werden ſie auch endlich alle vergeſſen; und wir lernen den Coͤrper vor ſich, und als einen beſondern Coͤrper gedencken.
Die Coͤrper haben auſſer ihrer Oberflaͤche auch ihre Dicke. Die Oberflaͤche iſt, wovon Lichtſtralen auf unſer Auge zuruͤckprallen. Nach der Natur des Lichts, welches in gerader Linie fortgehet, und nach einer gewiſſen Regul zuruͤck - prallet, koͤnnen von der gantzen Oberflaͤche nicht auf einmahl Strahlen auf unſer Auge fallen, ſon - dern nur von einem Stuͤcke. So weit als auf einmahl Lichtſtrahlen von dem Coͤrper in unſere Augen fallen: ſo weit uͤberſehen wir ihn: und die Oberflaͤche, die wir auf einmahl uͤberſehen koͤn - nen, nennen wir eine Seite: dergleichen alſo ein Coͤrper ſehr viele hat.
Der Ort, den unſer Auge bey Beſchauung eines Coͤrpers einnimmt, heiſſet der Geſichts - punckt: oder der Sehepunckt. Dieſer hat auf dreyerley Weiſe einen Einfluß, daß uns ein Coͤrper ſo, und nicht anders vorgeſtellet wird: 1. Durch die Entfernung von der Sache, daß ſie nahe oder ferne iſt: 2. Durch den Stand des Auges, daß nehmlich dem Auge juſt dieſe Seite des Coͤrpers, und keine andere entgegen ſtehet. 3. Durch die Materie, welche zwi -C 3ſchen38Zweytes Capitel,ſchen dem Auge und dem Objeckt iſt, als wo - durch die Strahlen auf mancherley Weiſe nicht ohne Veraͤnderung des daraus entſtehenden Bil - des, pflegen gebrochen zu werden. Von dieſer Art der hiſtoriſchen Erkentniß ſind wir freylich ſchon laͤngſt aus der Optick treflich verſehen. Nur muͤſſen wir hie und da deutliche Begriffe noch ſuchen, damit man allgemeinere Begriffe abſtrahiren kan, die ſich auch auf Geſchichte, die nicht ſichtlich ſind, anwenden laſſen.
Wenn ein Coͤrper B eben die Empfindung bey uns verurſachet, welche ſchon vorher ein Coͤr - per A bey uns hervorgebracht hat; ſo halten wir beydes vor einen Coͤrper. Es kan nehmlich ent - weder wircklich eben derſelbe ſeyn, oder es kan auch ein anderer ſeyn, den wir aber durch einen Jrrthum vor den vorigen halten. Es iſt aber leicht zu ermeſſen, wie es anzufangen ſey, daß wir nicht aus Jrrthum zwey Coͤrper vor einen halten, oder auch, wie es manchmal zu geſchehen pflegt, einen einigen Coͤrper vor zwey ver - ſchiedene Coͤrper halten. Die Lehre von der Aehnlichkeit giebt Licht genug in dieſer Mate - rie; daher wir uns dabey nicht auf halten wollen.
Wir ſehen weder auf der Erde, noch auch in der Hoͤhe jemahls einen Coͤrper allein: ſondernes39von den Begebenheiten der Coͤrper. es wird allemahl anſcheinen, als wenn er von an - dern Coͤrpern umgeben waͤre. Es ſtehet z. E. ein Baum in einer ziemlichen Entfernung von uns; hinter demſelben aber eine weiſſe Wand: ſo wird es ſcheinen, als wenn er von der Wand umgeben waͤre, oder als ob er in der Wand ſtuͤn - de: ingleichen wenn hinter ihm eine groſſe Ebene iſt, dergeſtalt, daß ich hinter ihm und auf der Seite nichts als den Himmel ſehe, ſo wird es ſcheinen, als ob er von dem Himmel umgeben waͤre; woraus die Poetiſche, oder vielmehr recht ſinnliche Redensart entſtanden iſt, daß die ho - hen Baͤume ihren Gipfel bis in die Wolcken ſtrecken.
Wir haben aber auch von vielen Coͤrpern ſol - che Vorſtellungen, daß wir ſie auſſer irgend einer Verbindung mit umſtehenden Coͤrpern betrachten. Eine Bildſaͤule z. E. ſtelle ich mir gantz allein vor, ohne denen umſtehenden Dingen, womit man ſie doch, nach dem (§. 19.) verbunden geſehen. Eben ſo ſtellet man ſich alle bekannte Perſonen vor, oh - ne die Sachen ſich mit vorzuſtellen, die um ſie herum geſtanden haben, zu der Zeit, da wir ſie haben kennen lernen.
Da wir uns Coͤrper auſſer der Verbindung mit andern umſtehenden gedencken (§. 20.); dem bloſſen Augenſchein aber nach kein Coͤrper erkanntC 4wird,40Zweytes Capitel,wird, ohne daß er von andern umgeben ſeyn ſoll - te (§. 19.): ſo koͤnnen ſolche Vorſtellungen von Coͤrpern, auſſer aller Verbindung, keine bloſſe ſinnliche Vorſtellungen ſeyn: ſondern es muß noch eine andere Wuͤrckung der Seele oder des Ver - ſtandes dazu behuͤlflich ſeyn. Wie es nun ge - ſchehe, iſt zum theil ſchon (§. 14. 15. ) gezeiget worden. Es kan aber auch etwas von Schluͤſ - ſen daran Antheil nehmen. Z. E. ich ſehe beym Eintritt in das Zimmer jemanden mitten im Zim - mer ſtehen; ſo werde ich nach der Beſchaffenheit des Sehens (§. 19.) mir ihn vorſtellen, wie er von der Wand, die hinter ihm iſt, umgeben wird, oder, als ob er in der Wand ſtuͤnde. Den - noch wird niemand ſo urtheilen (nehmlich wer ſei - nes Geſichtes von Kindheit an maͤchtig geweſen iſt,), ſondern ſo gleich, wie man ſpricht, ſehen, daß er nicht an der Wand, ſondern mitten im Zimmer ſtehe. Jn der That aber iſt dieſes kein bloß ſinnliches Urtheil, das jeder machen muͤſte, wenn er auch gleich nur erſt ohnlaͤngſt zu ſehen an - gefangen haͤtte: Sondern theils giebt uns das durch die Uebung erlangte Augenmaaß, wie weit wir von der Perſon, und wie weit wir von der Wand hinter ihm entfernet ſind, Gelegenheit zu ſchluͤſſen, daß er mitten in dem Zimmer ſtehe: theils da es eine andere Ausſicht giebt, nachdem eine Perſon nahe oder ferne von der Wand iſt, wegen des verſchiedenen Schattens, (welches wir eben erſt aus der Erfahrung lernen); ſo ſchluͤſſen wir auch auf dieſe Art den wahren Ort eines Coͤrpers, der zwar frey ſtehet, aber doch nach dem bloſſenGeſichte,41von den Begebenheiten der Coͤrper. Geſichte, von andern, obgleich entfernten, um - geben wird. Eben ſo gehet es zu mit den Coͤr - pern, als Bergen, Thuͤrmen, die wir ſchon in der Weite, da ſie noch eine gantz andere Ge - ſtalt, als in der Naͤhe haben, erkennen. Wel - che Wuͤrckung der Seele von uns iſt erklaͤret worden in den Erlangiſchen gelehrten Anzei - gen 1750. No. XLIX. LI. unter dem Titul: Die Gedancken von ferne.
Der Ort eines Coͤrpers beſtehet darinne, daß er andern ſicht - und fuͤhlbaren Coͤrpern nahe oder ferne iſt. Woraus dann folget, 1. daß wir je - den Coͤrper an einem gewiſſen Orte ſehen; 2. weil wir aber eintzelne Coͤrper auch ohne denen, die ſie umgeben, gedencken (§. 14. 15. 21. ); ſo lernen wir auch die eintzeln Coͤrper auſſer ihren Ort ge - dencken. Mithin 3. koͤnnen wir ſie auch in Ge - dancken an einen andern Ort verſetzen, welches einen Theil der Dichtkunſt ausmacht. Der Ort liegender Coͤrper heiſt die Lage, gleichwie der Ort ſtehender oder wandelnder Coͤrper, der Stand.
Die Vorſtellung eines Coͤrpers durch die Au - gen, heiſſet das Anſehen deſſelben. Die Vor - ſtellung, welche ein Coͤrper mit Beyhuͤlffe derer, die ihn umgeben, verurſachen, heiſſet die Geſtalt. Dieſe Definition, welche von der gemeinen Er -C 5klaͤrung42Zweytes Capitel,klaͤrung allerdings abgehet, hat dennoch ihren gu - ten Grund; nehmlich in demjenigen, was (§. 19.) gelehret worden, und kommt mit denen gemeinen Urtheilen der Menſchen genau uͤberein. Wir ge - ben z. E. auf nichts ſo ſehr achtung, als auf die Geſtalt der Menſchen: Wenn aber ſehen wir wohl eines Menſchen Angeſicht, ohne daß die um - ſtehenden Sachen in das Bild deſſelben einen Ein - fluß haben ſollten? Wie aͤndert es nicht gleich die Geſtalt des Geſichts, nachdem die Haare beſcho - ren, oder aber haͤuffig vorhanden ſind: Uns hilfft der Schmuck, womit der Kopf gezieret wird, wenn die umſtehenden Dinge keinen Einfluß in die Geſtalt der Dinge haben. Doch gegenwaͤr - tiger Abhandlung wegen, kan man ebenfalls An - ſehen und Geſtalt mit einander vermengen, wenn anders jemahls eine Vermiſchung zweyer Begrif - fe unſchaͤdlich ſeyn kan.
Wenn wir aber etwas genauer achtung ge - ben, was in dem Begriffe des Anſehens oder der Geſtalt eines Coͤrpers enthalten ſey, ſo werden wir finden, daß uns theils die Figur, theils die Farben unter dieſen Nahmen vorgeſtellet werden.
Auſſer der Geſtalt wird zum Anſehen des Coͤr - pers die Groͤſſe deffelben zu rechnen ſeyn; welche in der Hoͤhe und Breite des Coͤrpers beſtehet. Die Dicke eines Coͤrpers laͤſſet ſich unmittelbardurchs43von den Begebenheiten der Coͤrper. durchs Geſichte nicht erkennen; ſondern gehoͤrt zu den Eigenſchafften, welche wir durch Schluͤſ - ſe herausbringen muͤſſen, die aber deswegen nicht allemahl in ihrer Form, oder deutlich muͤſſen er - kannt werden.
Wenn wir unſern deutlichen Begriff von ei - nem Coͤrper durch Worte an den Tag legen; ſo wird dieſe Rede eine Beſchreibung genennet. Jch will eben nicht behaupten, daß man jetzo das Wort allemahl ſo genau in dieſer Bedeutung neh - me; maſſen es auch wohl bey Dingen gebraucht zu werden pfleget, welche geſchehen ſind: dieſes aber kommt von der Verbindung der Begriffe her, daß man Sachen, welche geſchehen, oͤffters we - gen ihrer Dauer, als: es iſt ein Gewitter, vor Dinge anſiehet, welche ſind. Wenn man aber in der Philoſophie Beſchreibungen (deſcriptio - nes) vor verdorbene und mißrathene Definitio - nen annimmt, ſo iſt dieſes ein Mißbrauch eines gemeinen Wortes, welchem man auch ſeine ge - meine Bedeutung haͤtte laſſen ſollen.
Wir bekommen deutliche Begriffe von eintzeln Coͤrpern, indem wir ſie anſehen. Das Anſehen aber derſelben enthaͤlt die Figur und Farben (§. 24.) nebſt der Groͤſſe in ſich (§. 25.); ſolglich wird auch die Beſchreibung jedes Coͤrpers aus dieſen drey Stuͤcken beſtehen.
Nachdem man uͤberall Maaßſtaͤbe hat, ſo iſt nichts leichter als die Groͤſſe eines Coͤrpers durch Worte dem andern bekannt zu machen. Die Figuren aber laſſen ſich ſchwerer beſchreiben; wel - ches jedoch auf folgende Art geſchiehet. Die Menge eintzelner Coͤrper, welche einerley Figur haben, veranlaſſet bey uns einen allgemeinen Be - griff dieſer oder jener Figur. So erlernen wir von Jugend auf die verſchiedenen Figuren, von allerhand Arten der Thiere, Baͤume, Pflantzen, Steine, und ſo weiter. Jedoch kommen die Men - ſchen in Anſehung dieſer Begriffe, wenn ſie ſich gleich auf einerley Art durch Worte ausdrucken, dennoch nicht vollkommen, mit einander uͤberein, und zwar aus folgenden Urſachen.
Anfangs iſt bekannt, daß man bey den Figu - ren nicht allemahl auf die Groͤſſe ſiehet, ſondern Dingen von gantz ſehr verſchiedener Groͤſſe den - noch einerley Figur zuſchreibt. Ein Strauſſeney und ein Taubeney haben beyde die Figur eines Eyes: eine Zuckerpyramide und eine Egyptiſche Pyramide ſind beydes Pyramiden. Daraus ent - ſtehet nun folgender Unterſchied der Begriffe und Gedancken. Wer lauter ſolche Coͤrper von einer - ley Figur geſehen hat, die auch zugleich von einer - ley oder von wenig unterſchiedener Groͤſſe gewe - ſen, der wird auch die Groͤſſe mit zur Figur rech -nen:45von den Begebenheiten der Coͤrper. nen: wer aber lauter Coͤrper, die im uͤbrigen von ei - nerley Figur, aber von ſehr verſchiedener Groͤſſe wa - ren, geſehen hat; der wird bey dem Begriffe der - ſelben Figur keinesweges auf die Groͤſſe ſehen Ein gemeiner Mann, wenn er zum erſten mahl ein Strauſſeney zu ſehen bekommt, duͤrffte es an - fangs kaum vor ein natuͤrliches und wahres Ey halten; weil wir nehmlich in unſern Landen lauter viel kleinere Eyer zu ſehen bekommen. Zweytens: wer lauter Coͤrper von einerley Figur, aber auch da - nebſt von einerley, oder wenig unterſchiedenen Far - ben geſehen hat; der wird die Farbe ſelbſt mit zur Figur rechnen; hingegen wird derjenige auf die Farbe nicht reflectiren, wer Dinge von einerley Figur, aber dabey von verſchiedenen Farben ge - ſehen hat. Denen meiſten unter uns iſt ein weiſ - ſer Rabe ein Paradoxon; wer aber weiß, daß es auch weiſſe Raben gebe, der wird bey dieſer Art Thieren, wie bey denen uͤbrigen, bloß auf die Figur achtung geben. Durch Beſuchung der Naturalien-Cabinetter werden gemeiniglich unſere Begriffe von den verſchiedenen Arten der Coͤrper gar ſehr erweitert, die ſonſt ein jeder nach den indiuiduis, die in ſeinem Vaterlande anzu - treffen ſind, einzuſchrencken pfleget.
Wenn die Oberflaͤche eines Coͤrpers aus aͤhn - lichen Theilen beſtehet, aber auch dabey auf kei - ner Seite eine uns bekannte Figur hat, ſo wird es ein Klumpen genennet. Z. E. ein Klum -pen46Zweytes Capitel,pen Wachs, Bley, Thon u. ſ. w. Was aber die Alten von der Materie lehreten, daß es kleine Theilgen, oder kleine Coͤrper gebe, welche ſich voͤllig einander aͤhnlich waͤren, iſt eine Einbildung, welche aus Vermiſchung der Phyſick und Meta - phyſick entſtanden iſt.
Weil ein Coͤrper viele Seiten hat (§. 16.): ſo kan es geſchehen, daß eine davon die mehreſte Abwechſelung in der Geſtalt der Theile in ſich ent - haͤlt. Dieſe Seite pfleget man die foͤrdere Sei - te, oder von forne zu nennen: die entgegen ge - ſetzte aber von hinten. Bey Coͤrpern, die kei - ne merckliche Dicke haben, nennet man es die rechte und lincke Seite. Es iſt wohl an dem, daß, wenn wir uns in gemeinen Worten aus - drucken wollten, man ſagen muͤſte: von forne, oder die rechte Seite ſey die, welche die meiſte Schoͤnheit hat; allein unſere gegebene Erklaͤrung hanget mit andern philoſophiſchen Begriffen ge - nauer zuſammen, und wird daher billig vorge - zogen.
Jn der Geometrie werden die leichteſten Ar - ten der Figuren in natuͤrlicher Ordnung erklaͤret, wie dieſelben immer mehr und mehr Seiten ha - ben: dieſe uns beywohnenden allgemeinen Begrif - fe machen, daß wir auch denen uns vorkommen - den eintzeln Coͤrpern eine gewiſſe Anzahl, als4. 6. 10.47von den Begebenheiten der Coͤrper. 4. 6. 10. und ſo weiter Seiten beylegen. Ei - gentlich aber hat ein Coͤrper unendlich viele Seiten. Denn eine Seite iſt das Theil der Ober - flaͤche, welches man auf einmahl uͤberſiehet (§. 16.): So offte ich alſo ein ander Stuͤck nehmen kan, welches ſich auf einmahl uͤberſehen laͤſſet, ſo offte finde ich auch eine neue Seite. Wie ſich nun um dem Coͤrper herum unzehlig viele Geſichts - punckte, und zwar nur in einerley Entfernung dencken laſſen, aus welchem jedem ein anderes Stuͤck der Oberflaͤche uͤberſehen wird, ſo laſſen ſich auch unzehlige Seiten daran gedencken. Bey unbeweglichen Coͤrpern, wie bey Staͤdten, Ber - gen, u. ſ. w. macht und ſetzet man hauptſaͤchlich 4. Seiten, gegen Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht.
Die Veraͤnderungen der Coͤrper ſind uns ſo wohl aus der Erfahrung, als durch Metaphyſi - ſche Betrachtungen uͤber die zuſammen geſetz - ten Dinge bekannt. Sie veraͤndern nehmlich ih - re Figur und Geſtalt: ſie entſtehen oder wer - den ſichtbar, und vergehen, oder werden wieder unſichtbar: ſie veraͤndern endlich ihren Ort, oder bewegen ſich. Bey dieſer letztern Veraͤnderung giebt es bey lebloſen Coͤrpern wenig Abwechſe - lung, und dieſe beſtehet bloß in einer Veraͤnde - rung der Richtung oder des Weges, und der Geſchwindigkeit: Bey lebendigen Coͤrpern aber, als den Thieren, beſonders den Menſchen, giebtes48Zweytes Capitel,es deſto mehr Abwechſelung: indem jede Kunſt und Uebung, derer unzehlige ſind, eine beſondere Art der Bewegung erfordert. Mithin entſtehen aus dieſen Arten der coͤrperlichen Veraͤnderungen auch ſo viele Arten der Begebenheiten (§. 3. C. 1.) und der Geſchichte (§. 16. C. 1.) von Coͤrpern, die hernach durch Erzehlungen zu einem Theile der Hiſtorie werden (§. 16. 17. C. 1.).
Bey lebendigen Coͤrpern iſt man gewohnt die meiſten Handlungen und Veraͤnderungen, nicht ſowohl darnach zu rechnen, was in der handeln - den Sache ſelbſt vorgehet; als darnach was die - ſelbe wuͤrcket, oder auſſer ſich hervorbringet, und hervorbringen will. Z. E. der Wolff friſt das Schaaf, man ſchieſt breche, man bauet ei - ne Kirche. Man ſiehet nehmlich die Sache auf der Seite an, wo ſie am meiſten in die Sinne faͤllt, oder auch, woran uns am meiſten ge - legen iſt. Nun faͤllet uns bey vielen Sachen der Effect, oder das hervorgebrachte Werck am mei - ſten in die Sinne; und daher wird auch die Be - nennung genommen. Z. E. Apelles mahlet ei - nen Kriegsgott: ſeine Handlung iſt eigentlich die Bewegung ſeiner Finger, die den Pinſel fuͤhren: diß aber faͤllt viel weniger in die Augen, als der nach und nach entſtehende Mars. Wir benen - nen alſo von ihm die Handlung des Mahlers. Beym breche ſchieſſen wuͤrde es vor die Canonierseinerley49von den Begebenheiten der Coͤrper. einerley Handlung ſeyn, wenn ſie gleich die Ku - geln nur in die freye Lufft ſchoͤſſen, aber weil es dabey nicht um die Abfeurung der Canonen, ſon - dern um den Umſturtz des Walles zu thun iſt, ſo wird davon die Arbeit der Canonirer benennet.
Die Handlungen der Dinge ſind oͤffters ver - gebens, beſonders der Menſchen: wie viele ma - chen nicht, wie man ſagt, Gold, ohne jemahls darzu zu gelangen? Wie viele fahren nach Oſt - indien, die daſſelbe doch nie zu ſehen bekommen? man fuͤhret offt die Feder, da doch wegen Zaͤhig - keit der Dinten keine Buchſtaben werden. Da man nun die Handlungen nach ihren Wuͤrckun - gen zu benennen pflegt (§. 34.); ſo kan eine Er - zehlung vorkommen, daß etwas geſchehen ſey, welches nach einer andern Erzehlung doch nicht geſchehen iſt: Sie ſind beyde wahr, aber im ver - ſchiedenen Verſtande. Man ſagt z. E. in dieſer oder jener Stadt wuͤrden die Armen reichlich verſorgt: wenn nehmlich milde Stifftungen und andere noͤthige fonds darzu vorhanden ſind. Ob es aber deswegen wuͤrcklich geſchehe, iſt eine an - dere Frage. Wir wollen ein noch ſinnlicher Ex - empel beyfuͤgen. Der Schloſſer wird zu Oeff - nung einer Thuͤre herbey geholt; man ſiehet ihm zu, wie er ſich ans Werck macht: jedermann ſagt: er mache die Thuͤre auf: gleichwohl wenn das Schloß wegen ſeiner kuͤnſtlichen Riegel nicht auf -Dgehet,50Zweytes Capitel,gehet, wird man ſagen muͤſſen: er habe die Thuͤ - re nicht aufgemacht. Wer den Zuſammenhang nicht weiß, ſondern nur