PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Die Leiden des jungen Werthers.
Erſter Theil.
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Leipzig, in der Weygandſchen Buchhandlung. 1774.
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Was ich von der Geſchichte des ar - men Werthers nur habe auffin - den koͤnnen, habe ich mit Fleiß geſammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir’s danken werdet. Jhr koͤnnt ſei - nem Geiſt und ſeinem Charakter eure Bewun - derung und Liebe, und ſeinem Schickſaale eure Thraͤnen nicht verſagen.

A 2Und[4]

Und du gute Seele, die du eben den Drang fuͤhlſt wie er, ſchoͤpfe Troſt aus ſei - nem Leiden, und laß das Buͤchlein deinen Freund ſeyn, wenn du aus Geſchick oder eig - ner Schuld keinen naͤhern finden kannſt.

Wie
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Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Beſter Freund, was iſt das Herz des Menſchen! Dich zu verlaſſen, den ich ſo liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu ſeyn! Jch weis, Du verzeihſt mir’s. Waren nicht meine uͤbrigen Verbindungen recht ausgeſucht vom Schickſaal, um ein Herz wie das meine zu aͤngſtigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unſchuldig! Konnt ich dafuͤr, daß, waͤh - rend die eigenſinnigen Reize ihrer Schweſter mir einen angenehmen Unterhalt verſchafften, daß eine Leidenſchaft in dem armen Herzen ſich bildete! Und doch bin ich ganz unſchuldig? Hab ich nichtA 3ihre6ihre Empfindungen genaͤhrt? Hab ich mich nicht an denen ganz wahren Ausdruͤcken der Natur, die uns ſo oft zu lachen machten, ſo wenig laͤcherlich ſie waren, ſelbſt ergoͤzt! Hab ich nicht O was iſt der Menſch, daß er uͤber ſich klagen darf! Jch will, lieber Freund, ich verſpreche Dir’s, ich will mich beſſern, will nicht mehr das Bisgen Ue - bel, das das Schickſaal uns vorlegt, wiederkaͤuen, wie ich’s immer gethan habe. Jch will das Ge - genwaͤrtige genießen, und das Vergangene ſoll mir vergangen ſeyn. Gewiß Du haſt recht, Beſter: der Schmerzen waͤren minder unter den Menſchen, wenn ſie nicht Gott weis warum ſie ſo gemacht ſind mit ſo viel Emſigkeit der Einbildungskraft ſich beſchaͤftigten, die Erinnerungen des vergangenen Uebels zuruͤckzurufen, ehe denn eine gleichguͤltige Gegenwart zu tragen.

Du biſt ſo gut, meiner Mutter zu ſagen, daß ich ihr Geſchaͤfte beſtens betreiben, und ihr ehſtens Nachricht davon geben werde. Jch habe meine Tante geſprochen, und habe bey weiten das boͤſe Weib nicht gefunden, das man bey uns aus ihr macht, ſie iſt eine muntere heftige Frau von dembeſten7beſten Herzen. Jch erklaͤrte ihr meiner Mutter Beſchwerden uͤber den zuruͤckgehaltenen Erbſchafts - antheil. Sie ſagte mir ihre Gruͤnde, Urſachen und die Bedingungen, unter welchen ſie bereit waͤre alles heraus zu geben, und mehr als wir verlang - ten Kurz, ich mag jezo nichts davon ſchreiben, ſag meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber! wieder bey dieſem klei - nen Geſchaͤfte gefunden: daß Mißverſtaͤndniſſe und Traͤgheit vielleicht mehr Jrrungen in der Welt ma - chen, als Liſt und Bosheit nicht thun. Wenig - ſtens ſind die beyden leztern gewiß ſeltner.

Uebrigens find ich mich hier gar wohl. Die Einſamkeit iſt meinem Herzen koͤſtlicher Balſam in dieſer paradiſiſchen Gegend, und dieſe Jahrszeit der Jugend waͤrmt mit aller Fuͤlle mein oft ſchau - derndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke iſt ein Straus von Bluͤten, und man moͤchte zur Mayen - kaͤfer werden, um in dem Meer von Wohlgeruͤchen herumſchweben, und alle ſeine Nahrung darinne finden zu koͤnnen.

Die Stadt iſt ſelbſt unangenehm, dagegen rings umher eine unausſprechliche Schoͤnheit der Natur. A 4Das8Das bewog den verſtorbenen Grafen von M .. einen Garten auf einem der Huͤgel anzulegen, die mit der ſchoͤnſten Mannigfaltigkeit der Natur ſich kreuzen, und die lieblichſten Thaͤler bilden. Der Garten iſt einfach, und man fuͤhlt gleich bey dem Eintritte, daß nicht ein wiſſenſchaftlicher Gaͤrtner, ſondern ein fuͤhlendes Herz den Plan bezeichnet, das ſein ſelbſt hier genießen wollte. Schon man - che Thraͤne hab ich dem Abgeſchiedenen in dem ver - fallnen Cabinetgen geweint, das ſein Lieblingsplaͤz - gen war, und auch mein’s iſt. Bald werd ich Herr vom Garten ſeyn, der Gaͤrtner iſt mir zu - gethan, nur ſeit den paar Tagen, und er wird ſich nicht uͤbel davon befinden.

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze See - le eingenommen, gleich denen ſuͤßen Fruͤhlings - morgen, die ich mit ganzem Herzen genieſſe. Jch bin ſo allein und freue mich ſo meines Lebens, in dieſer Gegend, die fuͤr ſolche Seelen geſchaffen iſt, wie die meine. Jch bin ſo gluͤcklich, mein Beſter,ſo9ſo ganz in dem Gefuͤhl von ruhigem Daſeyn ver - ſunken, daß meine Kunſt darunter leidet. Jch koͤnnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein groͤſſerer Mahler geweſen als in dieſen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Ober - flaͤche der undurchdringlichen Finſterniß meines Wal - des ruht, und nur einzelne Strahlen ſich in das innere Heiligthum ſtehlen, und ich dann im hohen Graſe am fallenden Bache liege, und naͤher an der Erde tauſend mannigfaltige Graͤsgen mir merk - wuͤrdig werden. Wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwiſchen Halmen, die unzaͤhligen, unergruͤndli - chen Geſtalten, als der Wuͤrmgen, der Muͤckgen, naͤ - her an meinem Herzen fuͤhle, und fuͤhle die Gegenwart des Allmaͤchtigen, der uns all nach ſeinem Bilde ſchuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewi - ger Wonne ſchwebend traͤgt und erhaͤlt. Mein Freund, wenn’s denn um meine Augen daͤmmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Geſtalt einer Gelieb - ten; dann ſehn ich mich oft und denke: ach koͤnn - teſt du das wieder ausdruͤcken, koͤnnteſt du demA 5Papier10Papier das einhauchen, was ſo voll, ſo warm in dir lebt, daß es wuͤrde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele iſt der Spiegel des unendlichen Gottes. Mein Freund Aber ich gehe dar - uͤber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieſer Erſcheinungen.

Jch weis nicht, ob ſo taͤuſchende Geiſter um dieſe Gegend ſchweben, oder ob die warme himmliſche Phantaſie in meinem Her - zen iſt, die mir alles rings umher ſo paradiſiſch macht. Da iſt gleich vor dem Orte ein Brunn, ein Brunn, an den ich gebannt bin wie Meluſine mit ihren Schweſtern. Du gehſt einen kleinen Huͤgel hinunter, und ſindeſt dich vor einem Ge - woͤlbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarſte Waſſer aus Marmorfelſen quillt. Das Maͤuergen, das oben umher die Einfaſſung macht, die hohen Baͤume, die den Platz rings um - her bedecken, die Kuͤhle des Orts, das hat alles ſo was anzuͤgliches, was ſchauerliches. Es ver -geht11geht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da ſizze. Da kommen denn die Maͤdgen aus der Stadt und holen Waſſer, das harmloſeſte Geſchaͤft und das noͤthigſte, das ehmals die Toͤchter der Koͤnige ſelbſt verrichteten. Wenn ich da ſizze, ſo lebt die patriarchaliſche Jdee ſo lebhaft um mich, wie ſie alle die Altvaͤter am Brunnen Bekanntſchaft ma - chen und freyen, und wie um die Brunnen und Quellen wohlthaͤtige Geiſter ſchweben. O der muß nie nach einer ſchweren Sommerlagswanderung ſich an des Brunnens Kuͤhle gelabt haben, der das nicht mit empfinden kann.

Du fragſt, ob Du mir meine Buͤcher ſchikken ſollſt? Lieber, ich bitte dich um Gottes wil - len, laß mir ſie vom Hals. Jch will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret ſeyn, brauſt die - ſes Herz doch genug aus ſich ſelbſt, ich brauche Wiegengeſang, und den hab ich in ſeiner Fuͤlle ge - funden in meinem Homer. Wie oft lull ich mein empoͤrendes Blut zur Ruhe, denn ſo ungleich, ſounſtet12unſtet haſt Du nichts geſehn als dieſes Herz. Lie - ber! Brauch ich Dir das zu ſagen, der Du ſo oft die Laſt getragen haſt, mich vom Kummer zur Aus - ſchweifung, und von ſuͤſſer Melancholie zur ver - derblichen Leidenſchaft uͤbergehn zu ſehn. Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all ſein Wille wird ihm geſtattet. Sag das nicht weiter, es giebt Leute, die mir’s veruͤbeln wuͤrden.

Die geringen Leute des Orts kennen mich ſchon, und lieben mich, beſonders die Kinder. Eine traurige Bemerkung hab ich gemacht. Wie ich im Anfange mich zu ihnen geſellte, ſie freundſchaftlich fragte uͤber dieß und das, glaubten einige, ich wollte ihrer ſpotten, und fertigten mich wol gar grob ab. Jch ließ mich das nicht verdrieſſen, nur fuͤhlt ich, was ich ſchon oft bemerkt habe, auf das lebhafteſte. Leute von einigem Stande werden ſich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten ſie durch Annaͤherung zu verlieren, und dann giebts Fluͤchtlinge und uͤble Spasvoͤgel, dieſich13ſich herabzulaſſen ſcheinen, um ihren Uebermuth dem armen Volke deſto empfindlicher zu machen.

Jch weiß wohl, daß wir nicht gleich ſind, noch ſeyn koͤnnen. Aber ich halte dafuͤr, daß der, der glaubt noͤthig zu haben, vom ſogenannten Poͤbel ſich zu entfernen, um den Reſpekt zu erhalten, eben ſo tadelhaft iſt, als ein Feiger, der ſich fuͤr ſeinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen fuͤrchtet.

Lezthin kam ich zum Brunnen, und fand ein junges Dienſtmaͤdgen, das ihr Gefaͤß auf die un - terſte Treppe geſetzt hatte, und ſich umſah, ob keine Cameraͤdin kommen wollte, ihr’s auf den Kopf zu helfen. Jch ſtieg hinunter und ſah ſie an. Soll ich ihr helfen, Jungfer? ſagt ich. Sie ward roth uͤber und uͤber. O nein Herr! ſagte ſie. Ohne Umſtaͤnde Sie legte ihren Kringen zurechte, und ich half ihr. Sie dankte und ſtieg hinauf.

Jch hab allerley Bekanntſchaft gemacht, Geſell - ſchaft hab ich noch keine gefunden. Jch weiß nicht, was ich anzuͤgliches fuͤr die Menſchen habenmuß,14muß, es moͤgen mich ihrer ſo viele, und haͤngen ſich an mich, und da thut mirs immer weh, wenn unſer Weg nur ſo eine kleine Strecke mit einander geht. Wenn Du fragſt, wie die Leute hier ſind? muß ich Dir ſagen: wie uͤberall! Es iſt ein ein - foͤrmig Ding um’s Menſchengeſchlecht. Die mei - ſten verarbeiten den groͤſten Theil der Zeit, um zu leben, und das Bisgen, das ihnen von Freyheit uͤbrig bleibt, aͤngſtigt ſie ſo, daß ſie alle Mittel aufſuchen, um’s los zu werden. O Beſtimmung des Menſchen!

Aber eine rechte gute Art Volks! Wann ich mich manchmal vergeſſe, manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die ſo den Menſchen noch gewaͤhrt ſind, an einem artig beſetzten Tiſch, mit aller Offen - und Treuherzigkeit ſich herum zu ſpaſſen, eine Spa - zierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen und dergleichen, das thut eine ganz gute Wuͤrkung auf mich, nur muß mir nicht einfallen, daß noch ſo viele andere Kraͤfte in mir ruhen, die alle un - genutzt vermodern, und die ich ſorgfaͤltig verbergen muß. Ach das engt all das Herz ſo ein Unddoch!15doch! Misverſtanden zu werden, iſt das Schickſal von unſer einem.

Ach daß die Freundin meiner Jugend dahin iſt, ach daß ich ſie je gekannt habe! Jch wuͤrde zu mir ſagen: du biſt ein Thor! du ſuchſt, was hienieden nicht zu finden iſt. Aber ich hab ſie gehabt, ich habe das Herz gefuͤhlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir ſchien mehr zu ſeyn als ich war, weil ich alles war was ich ſeyn konnte. Guter Gott, blieb da eine einzige Kraft meiner Seele un - genutzt, konnt ich nicht vor ihr all das wunderbare Gefuͤhl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt, war unſer Umgang nicht ein ewiges We - ben von feinſter Empfindung, ſchaͤrfſtem Witze, deſſen Modifikationen bis zur Unart alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun Ach ihre Jahre, die ſie voraus hatte, fuͤhrten ſie fruͤher an’s Grab als mich. Nie werd ich ihrer vergeſſen, nie ihren feſten Sinn und ihre goͤttliche - Duldung.

Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V an, ein offner Junge, mit einer gar gluͤcklichen Geſichtsbildung. Er kommt erſt von Akademien,duͤnkt16duͤnkt ſich nicht eben weiſe, aber glaubt doch, er wuͤßte mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich an allerley ſpuͤre, kurz er hatt huͤpſche Kennt - niſſe. Da er hoͤrte, daß ich viel zeichnete, und Griechiſch konnte, zwey Meteore hier zu Land, wandt er ſich an mich und kramte viel Wiſſens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und verſicherte mich, er habe Sulzers Theorie den erſten Theil ganz durchgeleſen, und be - ſitze ein Manuſcript von Heynen uͤber das Stu - dium der Antike. Jch ließ das gut ſeyn.

Noch gar einen braven Kerl hab ich kennen ler - nen, den fuͤrſtlichen Amtmann. Einen offenen, treuherzigen Menſchen. Man ſagt, es ſoll eine Seelenfreude ſeyn, ihn unter ſeinen Kindern zu ſe - hen, deren er neune hat. Beſonders macht man viel Weſens von ſeiner aͤltſten Tochter. Er hat mich zu ſich gebeten, und ich will ihn ehſter Tage beſuchen, er wohnt auf einem fuͤrſtlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem Tode ſeiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und dem Amthauſe zu weh that.

Sonſt17

Sonſt ſind einige verzerrte Originale mir in Weg gelaufen, an denen alles unausſtehlich iſt, am unertraͤglichſten ihre Freundſchaftsbezeugungen.

Leb wohl! der Brief wird dir recht ſeyn, er iſt ganz hiſtoriſch.

D das Leben des Menſchen nur ein Traum ſey, iſt manchem ſchon ſo vorgekommen, und auch mit mir zieht dieſes Gefuͤhl immer herum. Wenn ich die Einſchraͤnkung ſo anſehe, in welche die thaͤtigen und forſchenden Kraͤfte des Menſchen eingeſperrt ſind, wenn ich ſehe, wie alle Wuͤrkſam - keit dahinaus laͤuft, ſich die Befriedigung von Be - duͤrfniſſen zu verſchaffen, die wieder keinen Zwek haben, als unſere arme Exiſtenz zu verlaͤngern, und dann, daß alle Beruhigung uͤber gewiſſe Punkte des Nachforſchens nur eine traͤumende Reſignation iſt, da man ſich die Waͤnde, zwiſchen denen man gefangen ſizt, mit bunten Geſtalten und lichten Ausſichten bemahlt. Das alles, Wilhelm, macht mich ſtumm. Jch kehre in mich ſelbſt zuruͤk, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahndung undBdunkler18dunkler Begier, als in Darſtellung und lebendiger Kraft. Und da ſchwimmt alles vor meinen Sin - nen, und ich laͤchle dann ſo traͤumend weiter in die Welt.

Daß die Kinder nicht wiſſen, warum ſie wol - len, darinn ſind alle hochgelahrte Schul - und Hof - meiſter einig. Daß aber auch Erwachſene, gleich Kindern, auf dieſem Erdboden herumtaumeln, gleich - wie jene nicht wiſſen, woher ſie kommen und wo - hin ſie gehen, eben ſo wenig nach wahren Zwekken handeln, eben ſo durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiſer regiert werden, das will niemand gern glauben, und mich duͤnkt, man kann’s mit Haͤn - den greifen.

Jch geſtehe dir gern, denn ich weis, was du mir hierauf ſagen moͤchteſt, daß diejenige die gluͤk - lichſten ſind, die gleich den Kindern in Tag hinein leben, ihre Puppe herum ſchleppen, aus und an - ziehen, und mit großem Reſpekte um die Schubla - de herum ſchleichen, wo Mama das Zuckerbrod hinein verſchloſſen hat, und wenn ſie das gewuͤnſch - te endlich erhaſchen, es mit vollen Bakken verzeh - ren, und rufen: Mehr! das ſind gluͤkliche Ge -ſchoͤpfe!19ſchoͤpfe! Auch denen iſts wohl, die ihren Lumpen - beſchaͤftigungen, oder wohl gar ihren Leidenſchaf - ten praͤchtige Titel geben, und ſie dem Menſchen - geſchlechte als Rieſenoperationen zu deſſen Heil und Wohlfahrt anſchreiben. Wohl dem, der ſo ſeyn kann! Wer aber in ſeiner Demuth erkennt, wo das alles hinauslaͤuft, der ſo ſieht, wie artig jeder Buͤrger, dem’s wohl iſt, ſein Gaͤrtchen zum Para - dieſe zuzuſtuzzen weis, und wie unverdroſſen dann doch auch der Ungluͤkliche unter der Buͤrde ſeinen Weg fortkeicht, und alle gleich intereſſirt ſind, das Licht dieſer Sonne noch eine Minute laͤnger zu ſehn, ja! der iſt ſtill und bildet auch ſeine Welt aus ſich ſelbſt, und iſt auch gluͤklich, weil er ein Menſch iſt. Und dann, ſo eingeſchraͤnkt er iſt, haͤlt er doch immer im Herzen das ſuͤſſe Gefuͤhl von Freyheit, und daß er dieſen Kerker verlaſſen kann, wann er will.

Du kennſt von Alters her meine Art, mich an - zubauen, irgend mir an einem vertraulichen Orte ein Huͤttchen aufzuſchlagen, und da mit allerB 2Ein -20Einſchraͤnkung zu herbergen. Jch hab auch hier wieder ein Plaͤzchen angetroffen, das mich ange - zogen hat.

Ohngefaͤhr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den ſie Wahlheim*)Der Leſer wird ſich keine Muͤhe geben, die hier genannten Orte zu ſuchen, man hat ſich genoͤthigt geſehen, die im Originale befindli - chen wahren Nahmen zu veraͤndern. nennen. Die Lage an einem Huͤgel iſt ſehr intereſſant, und wenn man oben auf dem Fuͤßpfade zum Dorfe heraus geht, uͤberſieht man mit Einem das ganze Thal. Eine gute Wirthin, die gefaͤllig und munter in ihrem Alter iſt, ſchenkt Wein, Bier, Caffee, und was uͤber alles geht, ſind zwey Linden, die mit ihren ausgebreiteten Aeſten den kleinen Plaz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhaͤufern Scheuern und Hoͤfen eingeſchloſſen iſt. So ver - traulich, ſo heimlich hab ich nicht leicht ein Plaͤzchen gefunden, und dahin laß ich mein Tiſchchen aus dem Wirthshauſe bringen und meinen Stuhl, und trinke meinen Caffee da, und leſe meinen Homer. Das21Das erſtemal als ich durch einen Zufall an ei - nem ſchoͤnen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plaͤzchen ſo einſam. Es war alles im Felde. Nur ein Knabe von ohngefaͤhr vier Jahren ſaß an der Erde, und hielt ein andres et - wa halbjaͤhriges vor ihm zwiſchen ſeinen Fuͤſſen ſitzendes Kind mit beyden Armen wider ſeine Bruſt, ſo daß er ihm zu einer Art von Seſſel diente, und ohngeachtet der Munterkeit, womit er aus ſeinen ſchwarzen Augen herumſchaute, ganz ruhig ſaß. Mich vergnuͤgte der Anblik, und ich ſezte mich auf einen Pflug, der gegen uͤber ſtund, und zeichnete die bruͤderliche Stellung mit vielem Ergoͤzzen, ich fuͤgte den naͤchſten Zaun, ein Ten - nenthor und einige gebrochne Wagenraͤder bey, wie es all hintereinander ſtund, und fand nach Ver - lauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete ſehr intereſſante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeſte von dem meinen hinzuzuthun. Das be - ſtaͤrkte mich in meinem Vorſazze, mich kuͤnftig allein an die Natur zu halten. Sie allein iſt unend - lich reich, und ſie allein bildet den großen Kuͤnſt - ler. Man kann zum Vortheile der Regeln vielB 3ſagen,22ſagen, ohngefaͤhr was man zum Lobe der buͤrger - lichen Geſellſchaft ſagen kann. Ein Menſch, der ſich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeſchmak - tes und ſchlechtes hervor bringen, wie einer, der ſich durch Geſezze und Wohlſtand modeln laͤßt, nie ein unertraͤglicher Nachbar, nie ein merkwuͤr - diger Boͤſewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefuͤhl von Natur und den wahren Aus - druk derſelben zerſtoͤren! ſagſt du, das iſt zu hart! Sie ſchraͤnkt nur ein, beſchneidet die geilen Re - ben ꝛc. Guter Freund, ſoll ich dir ein Gleichniß geben: es iſt damit wie mit der Liebe, ein jun - ges Herz haͤngt ganz an einem Maͤdchen, bringt alle Stunden ſeines Tags bey ihr zu, verſchwen - det all ſeine Kraͤfte, all ſein Vermoͤgen, um ihr je - den Augenblik auszudruͤkken, daß er ſich ganz ihr hingiebt. Und da kaͤme ein Philiſter, ein Mann, der in einem oͤffentlichen Amte ſteht, und ſagte zu ihm: feiner junger Herr, lieben iſt menſch - lich, nur muͤßt ihr menſchlich lieben! Theilet eu - re Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsſtunden widmet eurem Maͤdchen, berech -net23net euer Vermoͤgen, und was euch von eurer Nothdurft uͤbrig bleibt, davon verwehr ich euch nicht ihr ein Geſchenk, nur nicht zu oft, zu ma - chen. Etwa zu ihrem Geburts - und Namens - tage ꝛc. Folgt der Menſch, ſo giebts einen brauch - baren jungen Menſchen, und ich will ſelbſt jedem Fuͤrſten rathen, ihn in ein Collegium zu ſezzen, nur mit ſeiner Liebe iſt’s am Ende, und wenn er ein Kuͤnſtler iſt, mit ſeiner Kunſt. O meine Freunde! warum der Strom des Genies ſo ſel - ten ausbricht, ſo ſelten in hohen Fluthen herein - brauſt, und eure ſtaunende Seele erſchuͤttert. Lie - ben Freunde, da wohnen die gelaßnen Kerls auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhaͤus - chen, Tulpenbeete, und Krautfelder zu Grunde ge - hen wuͤrden, und die daher in Zeiten mit daͤm - men und ableiten der kuͤnſtig drohenden Gefahr abzuwehren wiſſen.

Jch bin, wie ich ſehe, in Verzuͤkkung, Gleichniſſe und Deklamation verfallen, und habe druͤber vergeſſen, dir auszuerzaͤhlen, was mit den KindernB 4weiter24weiter worden iſt. Jch ſaß ganz in mahleriſche Empfindungen vertieft, die dir mein geſtriges Blatt ſehr zerſtuͤkt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwey Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die ſich die Zeit nicht geruͤhrt hatten, mit einem Koͤrbchen am Arme, und ruft von weitem: Philips, du biſt recht brav. Sie gruͤßte mich, ich dankte ihr, ſtand auf, trat naͤher hin, und fragte ſie: ob ſie Mutter zu den Kindern waͤre? Sie bejahte es, und in - dem ſie dem Aelteſten einen halben Wek gab, nahm ſie das Kleine auf und kuͤßte es mit aller muͤtter - lichen Liebe. Jch habe, ſagte ſie, meinem Philips das Kleine zu halten gegeben, und bin in die Stadt gegangen mit meinem Aeltſten, um weis Brod zu holen, und Zukker, und ein irden Brey - pfaͤnnchen; ich ſah das alles in dem Korbe, deſ - ſen Dekkel abgefallen war. Jch will meinem Hans (das war der Nahme des Juͤngſten) ein Suͤppchen kochen zum Abende, der loſe Vogel der Große hat mir geſtern das Pfaͤnnchen zerbrochen, als er ſich mit Philipſen um die Scharre des Brey’s zankte. Jch fragte nach dem Aeltſten, und ſie hatte mirkaum25kaum geſagt, daß er auf der Wieſe ſich mit ein Paar Gaͤnſen herumjagte, als er hergeſprungen kam, und dem zweyten eine Haſelgerte mitbrach - te. Jch unterhielt mich weiter mit dem Weibe, und erfuhr, daß ſie des Schulmeiſters Tochter ſey, und daß ihr Mann eine Reiſe in die Schweiz ge - macht habe, um die Erbſchaft eines Vettern zu ho - len. Sie haben ihn drum betruͤgen wollen, ſagte ſie, und ihm auf ſeine Briefe nicht geantwortet, da iſt er ſelbſt hineingegangen. Wenn ihm nur kein Ungluͤk paſſirt iſt, ich hoͤre nichts von ihm. Es ward mir ſchwer, mich von dem Weibe loszu - machen, gab jeden: der Kinder einen Kreuzer, und auch fuͤr’s juͤngſte gab ich ihr einen, ihm einen Wek mirzubringen zur Suppe, wenn ſie in die Stadt gieng, und ſo ſchieden wir von einander.

Jch ſage dir, mein Schaz, wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten wollen, ſo linderts all den Tumult, der Anblik eines ſolchen Geſchoͤpfs, das in der gluͤklichen Gelaſſenheit ſo den engen Kreis ſeines Daſeyns ausgeht, von einem Tag zum an - dern ſich durchhilft, die Blaͤtter abfallen ſieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter koͤmmt.

B 5Seit26

Seit der Zeit bin ich oft draus, die Kinder ſind ganz an mich gewoͤhnt. Sie kriegen Zukker, wenn ich Caffee trinke, und theilen das Butterbrod und die ſaure Milch mit mir des Abends. Sonn - tags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betſtunde da bin, ſo hat die Wir - thin Ordre, ihn auszubezahlen.

Sie ſind vertraut, erzaͤhlen mir allerhand, und beſonders ergoͤzz ich mich an ihren Leidenſchaf - ten und ſimplen Ausbruͤchen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe ſich verſammeln.

Viel Muͤhe hat mich’s gekoſtet, der Mutter ihre Beſorgniß zu benehmen: Sie moͤchten den Herrn inkommodiren.

Warum ich dir nicht ſchreibe? Fragſt du das und biſt doch auch der Gelehrten einer. Du ſollteſt rathen, daß ich mich wohl befinde, und zwar Kurz und gut, ich habe eine Bekannt - ſchaft gemacht, die mein Herz naͤher angeht. Jch habe ich weis nicht.

Dir27

Dir in der Ordnung zu erzaͤhlen, wie’s zu - gegangen iſt, daß ich ein’s der liebenswuͤrdigſten Geſchoͤpfe habe kennen lernen, wird ſchwerer hal - ten, ich bin vergnuͤgt und gluͤklich, und ſo kein guter Hiſtorienſchreiber.

Einen Engel! Pfuy! das ſagt jeder von der ſeinigen! Nicht wahr? Und doch bin ich nicht im Stande, dir zu ſagen, wie ſie vollkommen iſt, warum ſie vollkommen iſt, genug, ſie hat all mei - nen Sinn gefangen genommen.

So viel Einfalt bey ſo viel Verſtand, ſo viel Guͤte bey ſo viel Feſtigkeit, und die Ruhe der Seele bey dem wahren Leben und der Thaͤtigkeit.

Das iſt alles garſtiges Gewaͤſche, was ich da von ihr ſage, leidige Abſtraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbſt ausdruͤkken. Ein andermal Nein, nicht ein andermal, jezt gleich will ich dir’s erzaͤhlen. Thu ich’s jezt nicht, geſchaͤh’s nie - mals. Denn, unter uns, ſeit ich angefangen ha - be zu ſchreiben, war ich ſchon dreymal im Be - griffe die Feder niederzulegen, mein Pferd ſatteln zu laſſen und hinaus zu reiten, und doch ſchwur ich mir heut fruͤh nicht hinaus zu reiten undgehe28gehe doch alle Augenblikke ans Fenſter zu ſehen, wie hoch die Sonne noch ſteht.

Jch hab’s nicht uͤberwinden koͤnnen, ich mußte zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, und will mein Butterbrod zu Nacht eſſen und dir ſchrei - ben. Welch eine Wonne das ſuͤr meine Seele iſt, ſie in dem Kreiſe der lieben muntern Kinder ihrer acht Geſchwiſter zu ſehen!

Wenn ich ſo fortfahre, wirſt du am Ende ſo klug ſeyn wie am Anfange, hoͤre denn, ich will mich zwingen ins Detail zu gehen.

Jch ſchrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald in ſeiner Einſiedeley, oder vielmehr ſeinem kleinen Koͤnigreiche zu beſuchen. Jch ver - nachlaͤßigte das, und waͤre vielleicht nie hingekom - men, haͤtte mir der Zufall nicht den Schaz ent - dekt, der in der ſtillen Gegend verborgen liegt.

Unſere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angeſtellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Jch bot einem hieſigen guten, ſchoͤnen, weiters unbedeutenden Maͤdchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutſchenehmen,29nehmen, mit meiner Taͤnzerinn und ihrer Baaſe nach dem Orte der Luſtbarkeit hinausfahren, und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen ſollte. Sie werden ein ſchoͤnes Frauenzimmer kennen ler - nen, ſagte meine Geſellſchafterinn, da wir durch den weiten ſchoͤn ausgehauenen Wald nach dem Jagdhauſe fuhren. Nehmen ſie ſich in Acht, ver - ſezte die Baaſe, daß Sie ſich nicht verlieben! Wie ſo? ſagt ich: Sie iſt ſchon vergeben, ant - wortete jene, an einen ſehr braven Mann, der weggereiſt iſt, ſeine Sachen in Ordnung zu brin - gen nach ſeines Vaters Tod, und ſich um eine anſehnliche Verſorgung zu bewerben. Die Nach - richt war mir ziemlich gleichguͤltig.

Die Sonne war noch eine Viertelſtunde vom Gebuͤrge, als wir vor dem Hofthore anfuh - ren, es war ſehr ſchwuͤhle, und die Frauenzimmer aͤuſſerten ihre Beſorgniß wegen eines Gewitters, das ſich in weisgrauen dumpfigen Woͤlkchen rings am Horizonte zuſammen zu ziehen ſchien. Jch taͤuſchte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde,ob30ob mir gleich ſelbſt zu ahnden anfieng, unſere Luſt - barkeit werde einen Stoß leiden.

Jch war ausgeſtiegen. Und eine Magd, die an’s Thor kam, bat uns, einen Augenblik zu ver - ziehen, Mamſell Lottchen wuͤrde gleich kommen. Jch gieng durch den Hof nach dem wohlgebauten Hauſe, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgeſtie - gen war und in die Thuͤre trat, fiel mir das rei - zendſte Schauſpiel in die Augen, das ich jemals geſehen habe. Jn dem Vorſaale wimmelten ſechs Kinder, von eilf zu zwey Jahren, um ein Maͤd - chen von ſchoͤner mittlerer Taille, die ein ſimples weiſſes Kleid mit blaßrothen Schleifen an Arm und Bruſt anhatte. Sie hielt ein ſchwarzes Brod und ſchnitt ihren Kleinen rings herum jedem ſein Stuͤk nach Proportion ihres Alters und Appe - tites ab, gabs jedem mit ſolcher Freundlichkeit, und jedes rufte ſo ungekuͤnſtelt ſein: Danke! in - dem es mit den kleinen Haͤndchen lang in die Hoͤh gereicht hatte, eh es noch abgeſchnitten war, und nun mit ſeinem Abendbrode vergnuͤgt entweder wegſprang, oder nach ſeinem ſtillern Charakter ge - laſſen davon nach dem Hofthore zugieng, um dieFrem -31Fremden und die Kutſche zu ſehen, darinnen ihre Lotte wegfahren ſollte. Jch bitte um Vegebung, ſagte ſie, daß ich Sie herein bemuͤhe,[und] die Frauen - zimmer warten laſſe. Ueber dem Anziehen und allerley Beſtellungen fuͤr’s Haus in meiner Ab - weſenheit, habe ich vergeſſen meinen Kindern ihr Veſperſtuͤk zu geben, und ſie wollen von nieman - den Brod geſchnitten haben als von mir. Jch machte ihr ein unbedeutendes Compliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Geſtalt, dem Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich von der Ueberraſchung zu erholen, als ſie in die Stube lief ihre Handſchuh und Faͤcher zu nehmen. Die Kleinen ſahen mich in einiger Entfernung ſo von der Seite an, und ich gieng auf das juͤngſte los, das ein Kind von der gluͤklichſten Geſichts - bildung war. Es zog ſich zuruͤk, als eben Lotte zur Thuͤre herauskam, und ſagte: Louis, gieb dem Herrn Vetter eine Hand. Das that der Knabe ſehr freymuͤthig, und ich konnte mich nicht ent - halten, ihn ohngeachtet ſeines kleinen Roznaͤs - chens herzlich zu kuͤſſen. Vetter, ſagt ich, in - dem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daßich32ich des Gluͤks werth ſey, mit Jhnen verwandt zu ſeyn. O! ſagte ſie, mit einem leichtfertigen Laͤcheln - unſere Vetterſchaft iſt ſehr weitlaͤuftig, und es waͤ - re mir leid, wenn ſie der Schlimmſte drunter ſeyn ſollten. Jm Gehen gab ſie Sophien, der aͤltſten Schweſter nach ihr, einem Maͤdchen von ohnge - faͤhr eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Klei - nen Acht zu haben, und den Papa zu gruͤſſen, wenn er vom Spazierritte zuruͤkkaͤme. Den Klei - nen ſagte ſie, ſie ſollten ihrer Schweſter Sophie folgen, als wenn ſie’s ſelbſt waͤre, das denn auch einige ausdruͤklich verſprachen. Eine kleine nas - weiſe Blondine aber, von ohngefaͤhr ſechs Jahren, ſagte: du biſt’s doch nicht, Lottchen! wir haben dich doch lieber. Die zwey aͤltſten der Knaben waren hinten auf die Kutſche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte ſie ihnen, bis vor den Wald mit zu fahren, wenn ſie verſpraͤchen, ſich nicht zu necken, und ſich recht feſt zu halten.

Wir hatten uns kaum zurecht geſezt, die Frauenzimmer ſich bewillkommt, wechſelsweis uͤber den Anzug und vorzuͤglich die Huͤtchen ihre An - merkungen gemacht, und die Geſellſchaft, die manzu33zu finden erwartete, gehoͤrig durchgezogen; als Lotte den Kutſcher halten, und ihre Bruͤder herabſteigen lies, die noch einmal ihre Hand zu kuͤſſen begehr - ten, das denn der aͤltſte mit aller Zaͤrtlichkeit, die dem Alter von funſzehn Jahren eigen ſeyn kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtſinn that. Sie ließ die Kleinen noch einmal gruͤßen, und wir fuhren weiter.

Die Baaſe fragte: ob ſie mit dem Buche fertig waͤre, das ſie ihr neulich geſchickt haͤtte. Nein, ſagte Lotte, es gefaͤllt mir nicht, ſie koͤnnens wieder haben. Das vorige war auch nicht beſſer. Jch erſtaunte, als ich fragte: was es fuͤr Buͤcher waͤren und ſie mir antwortete:*)Man ſieht ſich genoͤthigt, dieſe Stelle des Briefs zu unterdruͤcken, um niemand Ge - legenheit zu einiger Beſchwerde zu geben. Ob gleich im Grunde jedem Autor wenig an dem Urtheile eines einzelnen Maͤdgens, und eines jungen unſteten Menſchen gelegen ſeyn kann. Jch fand ſo viel Cha - rakter in allem was ſie ſagte, ich ſah mit jedemCWorte34Wort neue Reize, neue Strahlen des Geiſtes aus ihren Geſichtszuͤgen hervorbrechen, die ſich nach und nach vergnuͤgt zu entfalten ſchienen, weil ſie an mir fuͤhlte, daß ich ſie verſtund.

Wie ich juͤnger war, ſagte ſie, liebte ich nichts ſo ſehr als die Romanen. Weis Gott wie wohl mir’s war, mich ſo Sonntags in ein Eckgen zu ſezzen, und mit ganzem Herzen an dem Gluͤkke und Unſtern einer Miß Jenny Theil zu nehmen. Jch laͤugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize fuͤr mich hat. Doch da ich ſo ſelten an ein Buch komme, ſo muͤſſen ſie auch recht nach meinem Ge - ſchmakke ſeyn. Und der Autor iſt mir der liebſte, indem ich meine Welt wieder finde, bey dem’s zugeht wie um mich, und deſſen Geſchichte mir doch ſo intereſſant ſo herzlich wird, als mein ei - gen haͤuslich Leben, das freylich kein Paradies, aber doch im Ganzen eine Quelle unſaͤglicher Gluͤkſeligkeit iſt.

Jch bemuͤhte mich, meine Bewegungen uͤber dieſe Worte zu verbergen. Das gieng freylich nicht weit, denn da ich ſie mit ſolcher Wahrheitim35im Vorbeygehn vom Landprieſter von Wakefield vom*)Man hat auch hier die Namen einiger va - terlaͤndiſchen Autoren ausgelaſſen. Wer Theil an Lottens Beyfall hatte, wird es ge - wiß an ſeinem Herzen fuͤhlen, wenn er die - ſe Stelle leſen ſollte. Und ſonſt brauchts ja niemand zu wiſſen. reden hoͤrte, kam ich eben auſſer mich und ſagte ihr alles was ich mußte, und bemerkte erſt nach einiger Zeit, da Lotte das Geſpraͤch an die andern wendete, daß dieſe die Zeit uͤber mit offnen Augen, als ſaͤßen ſie nicht da, da geſeſſen hatten. Die Baaſe ſah mich mehr als einmal mit einem ſpoͤttiſchen Naͤsgen an, daran mir aber nichts gelegen war.

Das Geſpraͤch fiel auf das Vergnuͤgen am Tanze. Wenn dieſe Leidenſchaft ein Fehler iſt, ſag - te Lette, ſo geſteh ich ihnen gern, ich weis nichts uͤber’s Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem verſtimmten Kla - viere einen Contretanz vortrommle, ſo iſt alles wieder gut.

C 2Wie36

Wie ich mich unter dem Geſpraͤche in den ſchwarzen Augen weidete, wie die lebendigen Lip - pen und die friſchen muntern Wangen meine gan - ze Seele anzogen, wie ich in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz verſunken, oft gar die Wor - te nicht hoͤrte, mit denen ſie ſich ausdrukte! Da - von haſt du eine Vorſtellung, weil du mich kennſt. Kurz, ich ſtieg aus dem Wagen wie ein Traͤumen - der, als wir vor dem Luſthauſe ſtill hielten, und war ſo in Traͤumen rings in der daͤmmernden Welt verlohren, daß ich auf die Muſik kaum ach - tete, die uns von dem erleuchteten Saale herun - ter entgegen ſchallte.

Die zwey Herren Audran und ein gewiſſer N. N. wer behaͤlt all die Nahmen! die der Baa - ſe und Lottens Taͤnzer waren, empfiengen uns am Schlage, bemaͤchtigten ſich ihrer Frauenzimmer und ich fuͤhrte die meinige hinauf.

Wir ſchlangen uns in Menuets um einan - der herum, ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und juſt die unleidlichſten konn - ten nicht dazu kommen, einem die Hand zu rei - chen, und ein Ende zu machen. Lotte und ihrTaͤnzer37Taͤnzer fiengen einen engliſchen an, und wie wohl mir’s war, als ſie auch in der Reihe die Figur mit uns anfieng, magſt du fuͤhlen. Tanzen muß man ſie ſehen. Siehſt du, ſie iſt ſo mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabey, ihr ganzer Koͤrper, eine Harmonie, ſo ſorglos, ſo unbefan - gen, als wenn das eigentlich alles waͤre, als wenn ſie ſonſt nichts daͤchte, nichts empfaͤnde, und in dem Augenblikke gewiß ſchwindet alles andere vor ihr.

Jch bat ſie um den zweyten Contretanz, ſie ſag - te mir den dritten zu, und mit der liebenswuͤrdig - ſten Freymuͤthigkeit von der Welt verſicherte ſie mich, daß ſie herzlich gern deutſch tanzte. Es iſt hier ſo Mode, fuhr ſie fort, daß jedes paar, das zuſammen gehoͤrt, beym Deutſchen zuſammen bleibt, und mein Chapeau walzt ſchlecht, und dankt mir’s, wenn ich ihm die Arbeit erlaſſe, ihr Frauenzim - mer kann’s auch nicht und mag nicht, und ich habe im Engliſchen geſehn, daß ſie gut walzen, wenn ſie nun mein ſeyn wollen fuͤrs Deutſche, ſo gehn ſie und bitten ſich’s aus von meinem Herrn, ich will zu ihrer Dame gehn. Jch gab ihr die HandC 3drauf,38drauf und es wurde ſchon arrangirt, daß ihrem Taͤn - zer inzwiſchen die Unterhaltung meiner Taͤnzerinn aufgetragen ward.

Nun giengs, und wir ergoͤzten uns eine Weile an mannchfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Fluͤchtigkeit beweg - te ſie ſich! Und da wir nun gar an’s Walzen kamen, und wie die Sphaͤren um einander herum - rollten, giengs freylich anfangs, weil’s die wenigſten koͤnnen, ein bisgen bunt durch einander. Wir wa - ren klug und lieſſen ſie austoben, und wie die un - geſchikteſten den Plan geraͤumt hatten, fielen wir ein, und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und ſeiner Taͤnzerinn, wakker aus. Nie iſt mir’s ſo leicht vom Flekke gegangen. Jch war kein Menſch mehr. Das liebenswuͤrdigſte Geſchoͤpf in den Ar - men zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles rings umher vergieng und Wilhelm, um ehrlich zu ſeyn, that ich aber doch den Schwur, daß ein Maͤdchen, das ich liebte, auf das ich Anſpruͤche haͤtte, mir nie mit einem andern walzen ſollte, als mit mir, und wenn ich druͤber zu Grunde gehen muͤßte, du verſtehſt mich.

Wir36[39]

Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verſchnauffen. Dann ſezte ſie ſich, und die Zitronen, die ich weggeſtohlen hatte beym Punſch machen, die nun die einzigen noch uͤbrigen waren, und die ich ihr in Schnittchen, mit Zukker zur Erfri - ſchung brachte, thaten fuͤrtrefliche Wuͤrkung, nur daß mir mit jedem Schnittgen das ihre Nachbarinn aus der Taſſe nahm, ein Stich durch’s Herz gieng, der ich’s nun freylich Schanden halber mit praͤ - ſentiren mußte.

Beym dritten Engliſchen waren wir das zwey - te Paar. Wie wir die Reihe ſo durchtanzten, und ich, weis Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arme und Auge hieng, das voll vom wahrſten Ausdrukke des offenſten reinſten Vergnuͤgens war, kommen wir an eine Frau, die mir wegen ihrer liebenswuͤrdi - gen Mine auf einem nicht mehr ganz jungen Ge - ſichte, merkwuͤrdig geweſen war. Sie ſieht Lotten laͤchelnd an, hebt einen drohenden Finger auf, und nennt den Nahmen Albert zweymal im Vorbey - fliegen mit viel Bedeutung.

Wer iſt Albert, ſagte ich zu Lotten, wenns nicht Vermeſſenheit iſt zu fragen. Sie war imC 4Begriff40Begriffe zu antworten, als wir uns ſcheiden mußten die groſſe Achte zu machen, und mich duͤnkte eini - ges Nachdenken auf ihrer Stirne zu ſehen, als wir ſo vor einander vorbeykreuzten. Was ſoll ich’s ih - nen laͤugnen, ſagte ſie, indem ſie mir die Hand zur Promenade bot. Albert iſt ein braver Menſch, dem ich ſo gut als verlobt bin! Nun war mir das nichts neues, denn die Maͤdchen hatten mir’s auf dem Wege geſagt, und war mir doch ſo ganz neu, weil ich das noch nicht im Verhaͤltniſſe auf ſie, die mir in ſo wenig Augenblikken ſo werth geworden war, gedacht hatte. Genug ich verwirrte mich, ver - gaß mich, und kam zwiſchen das unrechte Paar hinein, daß alles drunter und druͤber gieng, und Lot - tens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen noͤ - thig war, um’s ſchnell wieder in Ordnung zu bringen.

Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blizze, die wir ſchon lange am Horizonte leuchten ge - ſehn, und die ich immer fuͤr Wetterkuͤhlen ausge - geben hatte, viel ſtaͤrker zu werden anfiengen, und der Donner die Muſik uͤberſtimmte. Drey Frauen - zimmer liefen aus der Reihe, denen ihre Herrenfolgten,41folgten, die Unordnung ward allgemein, und die Muſik hoͤrte auf. Es iſt natuͤrlich, wenn uns ein Ungluͤk oder etwas ſchroͤkliches im Vergnuͤgen uͤber - raſcht, daß es ſtaͤrkere Eindruͤkke auf uns macht, als ſonſt, theils wegen dem Gegenſazze, der ſich ſo leb - haft empfinden laͤßt, theils und noch mehr, weil un - ſere Sinnen einmal der Fuͤhlbarkeit geoͤffnet ſind und alſo deſto ſchneller einen Eindruk annehmen. Dieſen Urſachen muß ich die wunderbaren Grimaſ - ſen zuſchreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen ſah. Die Kluͤgſte ſezte ſich in eine Ekke, mit dem Ruͤken gegen das Fenſter, und hielt die Ohren zu, eine andere kniete ſich vor ihr nie - der und verbarg den Kopf in der erſten Schoos, ei - ne dritte ſchob ſich zwiſchen beyde hinein, und um - faßte ihre Schweſterchen mit tauſend Thraͤnen. Ei - nige wollten nach Hauſe, andere, die noch weniger wußten was ſie thaten, hatten nicht ſo viel Beſin - nungskraft, den Kekheiten unſerer jungen Schluk - kers zu ſteuern, die ſehr beſchaͤftigt zu ſeyn ſchie - nen, alle die aͤngſtlichen Gebete, die dem Himmel beſtimmt waren, von den Lippen der ſchoͤnen Be - draͤngten wegzufangen. Einige unſerer Herren hat -C 5ten42ten ſich hinab begeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen, und die uͤbrige Geſellſchaft ſchlug es nicht aus, als die Wirthinn auf den klugen Ein - fall kam, uns ein Zimmer anzuweiſen, das Laͤden und Vorhaͤnge haͤtte. Kaum waren wir da ange - langt, als Lotte beſchaͤftigt war, einen Kreis von Stuͤhlen zu ſtellen, die Geſellſchaft zu ſezzen, und den Vortrag zu einem Spiele zu thun.

Jch ſahe manchen, der in Hoffnung auf ein ſaftiges Pfand ſein Maͤulchen ſpizte, und ſeine Glie - der rekte. Wir ſpielen Zaͤhlens, ſagte ſie, nun gebt Acht! Jch gehe im Kreiſe herum von der Rech - ten zur Linken, und ſo zaͤhlt ihr auch rings herum jeder die Zahl die an ihn kommt, und das muß gehn wie ein Lauffeuer, und wer ſtokt, oder ſich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und ſo bis tauſend. Nun war das luſtig anzuſehen. Sie gieng mit ausge - ſtrektem Arme im Kreiſe herum, Eins! fieng der er - ſte an, der Nachbar zwey! drey! der folgende und ſo fort; dann fieng ſie an geſchwinder zu gehn, immer geſchwinder. Da verſahs einer, Patſch ei - ne Ohrfeige, und uͤber das Gelaͤchter der folgende auch Patſch! Und immer geſchwinder. Jch ſelbſtkriegte43kriegte zwey Maulſchellen und glaubte mit innigem Vergnuͤgen zu bemerken, daß ſie ſtaͤrker ſeyen, als ſie ſie den uͤbrigen zuzumeſſen pflegte. Ein allge - meines Gelaͤchter und Geſchwaͤrme machte dem Spiele ein Ende, ehe noch das Tauſend ausgezaͤhlt war. Die Vertrauteſten zogen einander beyſeite, das Gewitter war voruͤber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs ſagte ſie: uͤber die Ohr - feigen haben ſie Wetter und alles vergeſſen! Jch konnte ihr nichts antworten. Jch war, fuhr ſie fort, eine der Furchtſamſten, und indem ich mich herzhaft ſtellte, um den andern Muth zu geben, bin ich muthig geworden. Wir traten an’s Fen - ſter, es donnerte abſeitwaͤrts und der herrliche Regen ſaͤuſelte auf das Land, und der erquikkend - ſte Wohlgeruch ſtieg in aller Fuͤlle einer warmen Luſt zu uns auf. Sie ſtand auf ihrem Ellenbo - gen geſtuͤzt und ihr Blik durchdrang die Gegend, ſie ſah gen Himmel und auf mich, ich ſah ihr Au - ge thraͤnenvoll, ſie legte ihre Hand auf die mei - nige und ſagte Klopſtock! Jch verſank in dem Strome von Empfindungen, den ſie in dieſer Loo - ſung uͤber mich ausgoß. Jch ertrugs nicht, neig -te44te mich auf ihre Hand und kuͤßte ſie unter den wonnevolleſten Thraͤnen. Und ſah nach ihrem Auge wieder Edler! haͤtteſt du deine Vergoͤt - terung in dieſem Blikke geſehn, und moͤcht ich nun deinen ſo oft entweihten Nahmen nie wieder nennen hoͤren!

Wo ich neulich mit meiner Erzaͤhlung geblieben bin, weis ich nicht mehr, das weis ich, daß es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und daß, wenn ich dir haͤtte vorſchwaͤzzen koͤn - nen, ſtatt zu ſchreiben, ich dich vielleicht bis an Tag aufgehalten haͤtte.

Was auf unſerer Hereinfahrt vom Balle paſ - ſirt iſt, hab ich noch nicht erzaͤhlt, hab auch heute keinen Tag dazu.

Es war der liebwuͤrdigſte Sonnenaufgang. Der troͤpfelnde Wald und das erfriſchte Feld um - her! Unſere Geſellſchafterinnen nikten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie ſeyn wollte, ihrentwegen ſollt ich unbekuͤmmert ſeyn. So lang ich dieſe Augen offen ſehe, ſagt ich, undſah45ſah ſie feſt an, ſo lang hats keine Gefahr. Und wir haben beyde ausgehalten, bis an ihr Thor, da ihr die Magd leiſe aufmachte, und auf ihr Fra - gen vom Vater und den Kleinen verſicherte, daß alles wohl. ſey und noch ſchlief. Und da verließ ich ſie mit dem Verſichern: ſie ſelbigen Tags noch zu ſehn, und hab mein Verſprechen gehalten, und ſeit der Zeit koͤnnen Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirthſchaft treiben, ich weis weder daß Tag noch daß Nacht iſt, und die ganze Welt verliert ſich um mich her.

Jch lebe ſo gluͤkliche Tage, wie ſie Gott ſeinen Heiligen ausſpart, und mit mir mag werden was will; ſo darf ich nicht ſagen, daß ich die Freu - den, die reinſten Freuden des Lebens nicht genoſ - ſen habe. Du kennſt mein Wahlheim. Dort bin ich voͤllig etablirt. Von dort hab ich nur eine hal - be Stunde zu Lotten, dort fuͤhl ich mich ſelbſt und alles Gluͤk, das dem Menſchen gegeben iſt.

Haͤtte ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwekke meiner Spaziergaͤnge waͤhlte, daß es ſonahe46nahe am Himmel laͤge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wuͤnſche einſchließt, auf meinen weiten Wandrungen bald vom Berge, bald in der Ebne uͤber den Fluß geſehn.

Lieber Wilhelm, ich habe allerley nachgedacht, uͤber die Begier im Menſchen ſich auszubreiten, neue Entdekkungen zu machen, herumzuſchweifen; und dann wieder uͤber den innern Trieb, ſich der Einſchraͤnkung willig zu ergeben, und in dem Glei - ſe der Gewohnheit ſo hinzufahren, und ſich weder um rechts noch links zu bekuͤmmern.

Es iſt wunderbar, wie ich hierher kam und vom Huͤgel in das ſchoͤne Thal ſchaute, wie es mich rings umher anzog. Dort das Waͤldchen! Ach koͤnnteſt du dich in ſeine Schatten miſchen! Dort die Spizze des Bergs! Ach koͤnnteſt du von da die weite Gegend uͤberſchauen! Die in einander gekettete Huͤgel und vertrauliche Thaͤler. O koͤnnte ich mich in ihnen verliehren! Jch eilte hin! und kehrte zuruͤk, und hatte nicht gefunden was ich hoffte. O es iſt mit der Ferne wie mit der Zu - kunft! Ein groſſes daͤmmerndes Ganze ruht vor unſerer Seele, unſere Empfindung verſchwimmt ſichdarinne,47darinne, wie unſer Auge, und wir ſehnen uns, ach! unſer ganzes Weſen hinzugeben, uns mit all der Wonne eines einzigen groſſen herrlichen Gefuͤhls ausfuͤllen zu laſſen. Und ach, wenn wir hinzu - eilen, wenn das Dort nun Hier wird, iſt alles vor wie nach, und wir ſtehen in unſerer Armuth, in unſerer Eingeſchraͤnktheit, und unſere Seele lechzt nach entſchluͤpftem Labſale.

Und ſo ſehnt ſich der unruhigſte Vagabund zulezt wieder nach ſeinem Vaterlande, und findet in ſeiner Huͤtte, an der Bruſt ſeiner Gattin, in dem Kreiſe ſeiner Kinder und der Geſchaͤfte zu ih - rer Erhaltung, all die Wonne, die er in der weiten oͤden Welt vergebens ſuchte.

Wenn ich ſo des Morgens mit Sonnen - aufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim, und dort im Wirthsgarten mir meine Zukkererbſen ſelbſt pfluͤkke, mich hinſezze, und ſie abfaͤdme und dazwi - ſchen leſe in meinem Homer. Wenn ich denn in der kleinen Kuͤche mir einen Topf waͤhle, mir Butter ausſteche, meine Schoten an’s Feuer ſtelle, zudekke und mich dazu ſezze, ſie manchmal umzu - ſchuͤtteln. Da fuͤhl ich ſo lebhaft, wie die herrli -chen48chen uͤbermuͤthigen Freyer der Penelope Ochſen und Schweine ſchlachten, zerlegen und braten. Es iſt nichts, das mich ſo mit einer ſtillen, wahren Empfindung ausfuͤllte, als die Zuͤge patriarchali - ſchen Lebens, die ich, Gott ſey Dank, ohne Affek - tation in meine Lebensart verweben kann.

Wie wohl iſt mir’s, daß mein Herz die ſimple harmloſe Wonne des Menſchen fuͤhlen kann, der ein Krauthaupt auf ſeinen Tiſch bringt, das er ſelbſt gezogen, und nun nicht den Kohl allein, ſon - dern all die guten Tage, den ſchoͤnen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoß, und da er an dem fortſchreitenden Wachs - thume ſeine Freude hatte, alle in einem Augenblik - ke wieder mit genieſt.

Vorgeſtern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmanne und fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir herumkrabelten, andere mich nekten und wie ich ſie kuͤzzelte, und ein groſſes Geſchrey mit ihnen verfuͤhrte. Der Doktor, der eine ſehr dogmatiſcheDra -49Dratpuppe iſt, und im Diskurs ſeine Manſchet - ten in Falten legt, und den Kraͤuſel bis zum Na - bel herauszupft, fand dieſes unter der Wuͤrde eines geſcheuten Menſchen, das merkte ich an ſeiner Na - ſe. Jch lies mich aber in nichts ſtoͤren, lies ihn ſehr vernuͤnftige Sachen abhandeln, und baute den Kindern ihre Kartenhaͤuſer wieder, die ſie zer - ſchlagen hatten. Auch gieng er darauf in der Stadt herum und beklagte: des Amtmanns Kin - der waͤren ſchon ungezogen genug, der Werther verduͤrbe ſie nun voͤllig.

Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen ſind die Kinder am naͤchſten auf der Erde. Wenn ich ſo zuſehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kraͤfte ſehe, die ſie einmal ſo noͤ - thig brauchen werden, wenn ich in dem Eigenſinne, alle die kuͤnftige Standhaftigkeit und Feſtigkeit des Charakters, in dem Muthwillen, allen kuͤnftigen gu - ten Humor und die Leichtigkeit, uͤber alle die Ge - fahren der Welt hinzuſchluͤpfen, erblikke, alles ſo un verdorben, ſo ganz! Jmmer, immer wiederhol ich die goldnen Worte des Lehrers der Menſchen: wenn ihr nicht werdet wie eines von dieſen! UndDnun,50nun, mein Beſter, ſie, die unſers gleichen ſind, die wir als unſere Muſter anſehen ſollten; behandeln wir als Unterthanen. Sie ſollen keinen Willen haben! Haben wir denn keinen? und wo liegt das Vorrecht? Weil wir aͤlter ſind und geſcheuter? Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder ſiehſt du, und junge Kinder und nichts wei - ter, und an welchen du mehr Freude haſt, das hat dein Sohn ſchon lange verkuͤndigt. Aber ſie glau - ben an ihn und hoͤren ihn nicht, das iſt auch was alt’s, und bilden ihre Kinder nach ſich und Adieu, Wilhelm, ich mag daruͤber nicht weiter radotiren.

Was Lotte einem Kranken ſeyn muß, fuͤhl ich an meinem eignen armen Herzen, das uͤbler dran iſt als manches, das auf dem Siechbette verſchmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt bey einer rechtſchaffenen Frau zubringen, die ſich nach der Auſſage der Aerzte ihrem Ende naht, und in dieſen lezten Augenblikken will ſie Lotten um ſich haben. Jch war vorige Woche mit ihrden51den Pfarrer von St. .. zu beſuchen, ein Oertgen, das eine Stunde ſeitwaͤrts im Gebuͤrge liegt. Wir kamen gegen viere dahin. Lotte hatte ihre zwey - te Schweſter mitgenommen. Als wir in den, von zwey hohen Nußbaͤumen uͤberſchatteten, Pfarrhof traten, ſaß der gute alte Mann auf einer Bank vor der Hausthuͤre, und da er Lotten ſah, ward er wie neubelebt, vergaß ſeinen Knotenſtok, und wagte ſich auf ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm, noͤthigte ihn ſich niederzuſezzen, indem ſie ſich zu ihm ſezte, brachte viel Gruͤſſe von ihrem Vater, herzte ſeinen garſtigen ſchmuzigen juͤngſten Buben, das Quakelgen ſeines Alters. Du haͤtteſt ſie ſehen ſollen, wie ſie den Alten beſchaͤftigte, wie ſie ihre Stimme erhub um ſeinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie ſie ihm erzaͤhlte von jungen robuſten Leuten, die unvermuthet geſtorben waͤren, von der Vortreflichkeit des Carlsbades, und wie ſie ſeinen Entſchluß lobte, kuͤnftigen Sommer hinzugehen, und wie ſie fand, daß er viel beſſer ausſaͤhe, viel munterer ſey als das leztemal, da ſie ihn geſehn. Jch hatte indeß der Frau Pfar - rern meine Hoͤflichkeiten gemacht, der Alte wurdeD 2ganz52ganz munter, und da ich nicht umhin konnte, die ſchoͤnen Nußbaͤume zu loben, die uns ſo lieblich be - ſchatteten, fieng er an, uns, wiewohl mit einiger Be - ſchwerlichkeit, die Geſchichte davon zu geben. Den alten ſagte er, wiſſen wir nicht, wer den gepflanzt hat, einige ſagen dieſer, andere jener Pfarrer. Der juͤngere aber dorthinten iſt ſo alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahre. Jhr Vater pflanzte ihn des Morgens, als ſie gegen Abend gebohren wurde. Er war mein Vorfahr im Amte, und wie lieb ihm der Baum war, iſt nicht zu ſagen, mir iſt er’s gewiß nicht weniger, meine Frau ſas drunter auf einem Balken und ſtrikte, als ich vor ſieben und zwanzig Jahren als ein armer Stu - dent zum erſtenmal hier in Hof kam. Lotte frag - te nach ſeiner Tochter, es hieß, ſie ſey mit Herrn Schmidt auf der Wieſe hinaus zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in ſeiner Erzaͤhlung fort, wie ſein Vorfahr ihn lieb gewonnen und die Tochter dazu, und wie er erſt ſein Vikar und dann ſein Nachfolger geworden. Die Geſchichte war nicht lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrern mit dem ſogenannten Herrn Schmidt durch den Garten her -kam,53kam, ſie bewillkommte Lotten mit herzlicher Waͤrme, und ich muß ſagen, ſie gefiel mir nicht uͤbel, eine raſche, wohlgewachſne Bruͤnette, die einen die Kur - zeit uͤber auf dem Lande wohl unterhalten haͤtte. Jhr Liebhaber, denn als ſolchen ſtellte ſich Herr Schmidt gleich dar, ein feiner, doch ſtiller Menſch, der ſich nicht in unſere Geſpraͤche miſchen wollte, ob ihn gleich Lotte immer herein zog, und was mich am meiſten betruͤbte, war, daß ich an ſeinen Geſichtszuͤgen zu bemerken ſchien, es ſey mehr Ei - genſinn und uͤbler Humor als Eingeſchraͤnktheit des Verſtandes, der ihn ſich mitzutheilen hinder - te. Jn der Folge ward dieß nur leider zu deut - lich, denn als Friedrike beym Spazierengehn mit Lotten und verſchiedentlich auch mit mir gieng, wur - de des Herrn Angeſicht, das ohne das einer braͤun - lichen Farbe war, ſo ſichtlich verdunkelt, daß es Zeit war, daß Lotte mich beym Ermel zupfte, und mir das Artigthun mit Friederiken abrieth. Nun verdrießt mich nichts mehr als wenn die Men - ſchen einander plagen, am meiſten, wenn junge Leute in der Bluͤthe des Lebens, da ſie am offen - ſten fuͤr alle Freuden ſeyn koͤnnten, einander dieD 3paar54paar gute Tage mit Frazzen verderben, und nur erſt zu ſpaͤt das unerſezliche ihrer Verſchwendung einſehen. Mir wurmte das, und ich konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zu - ruͤkkehrten, und an einem Tiſche gebroktes Brod in Milch aſſen, und der Diskurs auf Freude und Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergrei - fen, und recht herzlich gegen die uͤble Laune zu re - den. Wir Menſchen beklagen uns oft, fing ich an, daß der guten Tage ſo wenig ſind, und der ſchlimmen ſo viel, und wie mich duͤnkt, meiſt mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz haͤt - ten das Gute zu genieſſen, das uns Gott fuͤr je - den Tag bereitet, wir wuͤrden alsdenn auch Kraſt genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es kommt. Wir haben aber unſer Gemuͤth nicht in unſerer Gewalt, verſezte die Pfarrern, wie viel haͤngt vom Koͤrper ab! wenn man nicht wohl iſt, iſt’s einem uͤberall nicht recht. Jch geſtund ihr das ein. Wir wollens alſo, fuhr ich fort, als eine Krank, heit anſehen, und fragen ob dafuͤr kein Mittel iſt! Das laͤßt ſich hoͤren, ſagte Lotte, ich glau - be wenigſtens, daß viel von uns abhaͤngt, ich weises55es an mir, wenn mich etwas nekt, und mich ver - druͤßlich machen will, ſpring ich auf und ſing ein paar Contretaͤnze den Garten auf und ab, gleich iſt’s weg. Das war’s was ich ſagen wollte, vorſezte ich, es iſt mit der uͤblen Laune voͤllig wie mit der Traͤgheit, denn es iſt eine Art von Traͤg - heit, unſere Natur haͤngt ſehr dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben uns zu erman - nen, geht uns die Arbeit friſch von der Hand, und wir finden in der Thaͤtigkeit ein wahres Ver - gnuͤgen. Friederike war ſehr aufmerkſam, und der junge Menſch wandte mir ein, daß man nicht Herr uͤber ſich ſelbſt ſey, und am wenigſten uͤber ſeine Empfindungen gebieten koͤnne. Es iſt hier die Fra - ge von einer unangenehmen Empfindung, verſezt ich, die doch jedermann gern los iſt, und niemand weis wie weit ſeine Kraͤfte gehn, bis er ſie ver - ſucht hat. Gewiß, einer der krank iſt, wird bey allen Aerzten herum fragen und die groͤßten Re - ſignationen, die bitterſten Arzneyen, wird er nicht abweiſen um ſeine gewuͤnſchte Geſundheit zu er - halten. Jch bemerkte, daß der ehrliche Alte ſein Gehoͤr anſtrengte um an unſerm Diskurs TheilD 4zu56zu nehmen, ich erhub die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn wandte. Man predigt gegen ſo viele Laſter, ſagt ich, ich habe noch nie gehoͤrt daß man gegen die uͤble Laune vom Predigtſtuhle ge - arbeitet haͤtte*)Wir haben nun von Lavatern eine trefliche Predigt hieruͤber unter denen uͤber das Buch Jonas. Das muͤßten die Stadtpfar - rer thun, ſagt er, die Bauern haben keinen boͤſen Humor, doch koͤnnts auch nichts ſchaden zuweilen - es waͤre eine Lektion fuͤr ſeine Frau wenigſtens, und den Herrn Amtmann. Die Geſellſchaft lach - te und er herzlich mit, bis er in einen Huſten verfiel, der unſern Diskurs eine Zeitlang unterbrach, darauf denn der junge Menſch wieder das Wort nahm: Sie nannten den boͤſen Humor ein La - ſter, mich daͤucht, das iſt uͤbertrieben. Mit nichten gab ich zur Antwort, wenn das, womit man ſich ſelbſt und ſeinen Naͤchſten ſchadet, den Namen verdient. Jſt es nicht genug, daß wir einander nicht gluͤklich machen koͤnnen, muͤſſen wir auch noch einander das Vergnuͤgen rauben, das je - des Herz ſich noch manchmal ſelbſt gewaͤhren kann. Und57Und nennen ſie mir den Menſchen, der uͤbler Lau - ne iſt und ſo brav dabey ſie zu verbergen, ſie al - lein zu tragen, ohne die Freuden um ſich her zu zerſtoͤren; oder iſt ſie nicht vielmehr ein innerer Unmuth uͤber unſre eigne Unwuͤrdigkeit, ein Mis - fallen an uns ſelbſt, das immer mit einem Neide verknuͤpft iſt, der durch eine thoͤrige Eitelkeit auf - gehezt wird: wir ſehen gluͤkliche Menſchen die wir nicht gluͤklich machen, und das iſt unertraͤg - lich! Lotte laͤchelte mich an, da ſie die Bewegung ſah mit der ich redte, und eine Thraͤne in Frie - derikens Auge ſpornte mich, fortzufahren. Weh denen ſagt ich, die ſich der Gewalt bedienen, die ſie uͤber ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm ſelbſt hervorkei - men. Alle Geſchenke, alle Gefaͤlligkeiten der Welt erſezzen nicht einen Augenblik Vergnuͤgen an ſich ſelbſt, den uns eine neidiſche Unbehaglichkeit un - ſers Tyrannen vergaͤllt hat.

Mein ganzes Herz war voll in dieſem Au - genblikke, die Erinnerung ſo manches Vergangenen draͤngte ſich an meine Seele, und die Thraͤnen ka - men mir in die Augen.

D 5Wer58

Wer ſich das nur taͤglich ſagte, rief ich aus: du vermagſt nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu laſſen und ihr Gluͤk zu vermeh - ren, indem du es mit ihnen genieſſeſt. Vermagſt du, wenn ihre innre Seele von einer aͤngſtigen - den Leidenſchaft gequaͤlt, vom Kummer zerruͤttet iſt, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?

Und wenn die lezte bangſte Krankheit dann uͤber das Geſchoͤpf herfaͤllt, das du in bluͤhenden Tagen untergraben haſt, und ſie nun da liegt in dem erbaͤrmlichen Ermatten, und das Aug gefuͤhl - los gen Himmel ſieht, und der Todesſchweis auf ihrer Stirne abwechſelt, und du vor dem Bette ſtehſt wie ein Verdammter, in dem innigſten Ge - fuͤhl, daß du nichts vermagſt mit all deinem Ver - moͤgen, und die Angſt dich inwendig krampft, daß du alles hingeben moͤchteſt, um dem untergehenden Geſchoͤpf einen Tropfen Staͤrkung, einen Funken Muth einfloͤſen zu koͤnnen.

Die Erinnerung einer ſolchen Scene, da ich gegenwaͤrtig war, fiel mit ganzer Gewalt bey die - ſen Worten uͤber mich. Jch nahm das Schnupf - tuch vor die Augen, und verlies die Geſellſchaft,und59und nur Lottens Stimme, die mir rief: wir woll - ten fort, brachte mich zu mir ſelbſt. Und wie ſie mich auf dem Wege ſchalt, uͤber den zu warmen Antheil an allem! und daß ich druͤber zu Grunde gehen wuͤrde! Daß ich mich ſchonen ſollte! O der Engel! Um deinetwillen muß ich leben!

Sie iſt immer um ihre ſterbende Freundinn, und iſt immer dieſelbe, immer das gegenwaͤrtige holde Geſchoͤpf, das, wo ſie hinſieht, Schmerzen lin - dert und Gluͤckliche macht. Sie gieng geſtern Abend mit Mariannen und dem kleinen Malgen ſpazieren, ich wußt es und traf ſie an, und wir giengen zuſammen. Nach einem Wege von andert - halb Stunden kamen wir gegen die Stadt zuruͤck, an den Brunnen, der mir ſo werth iſt, und nun tauſendmal werther ward, als Lotte ſich auf’s Maͤuergen ſezte. Jch ſah umher, ach! und die Zeit, da mein Herz ſo allein war, lebte wieder vor mir auf. Lieber Brunn, ſagt ich, ſeither hab ich nicht mehr an deiner Kuͤhle geruht, habe in eilen -dem60dem Voruͤbergehn dich manchmal nicht angeſehn. Jch blikte hinab und ſah, daß Malgen mit einem Glaſe Waſſer ſehr beſchaͤftigt heraufſtieg. Jch ſahe Lotten an und fuͤhlte alles, was ich an ihr habe. Jndem ſo kommt Malgen mit einem Glaſe, Ma - rianne wollt es ihr abnehmen, nein! rufte das Kind mit dem ſuͤßten Ausdrukke: nein, Lottgen, du ſollſt zuerſt trinken! Jch ward uͤber die Wahrheit, die Guͤte, womit ſie das ausrief, ſo entzuͤkt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrukken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und kuͤßte es lebhaft, das ſogleich zu ſchreien und zu weinen an - fieng. Sie haben uͤbel gethan, ſagte Lotte! Jch war betroffen. Komm Malgen, fuhr ſie fort, in - dem ſie es an der Hand nahm und die Stufen hinabfuͤhrte; da waſche dich aus der friſchen Quelle geſchwind, geſchwind, da thut’s nichts. Wie ich ſo da ſtund und zuſah, mit welcher Emſigkeit das Kleine mit ſeinen naſſen Haͤndgen die Bakken rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgeſpuͤlt, und die Schmach abgethan wuͤrde, einen haͤslichen Bart zu kriegen. Wie Lotte ſagte, es iſt genug, und das Kind dochimmer61immer eifrig fort wuſch, als wenn Viel mehr thaͤte als Wenig. Jch ſage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Reſpekt nie einer Taufhandlung beygewohnt, und als Lotte herauf kam, haͤtte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.

Des Abends konnt ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzaͤhlen, dem ich Menſchenſinn zutraute, weil er Verſtand hat. Aber wie kam ich an. Er ſagte, das waͤre ſehr uͤbel von Lotten geweſen, man ſolle die Kinder nichts weis machen, dergleichen gaͤbe zu unzaͤhlichen Jrrthuͤmern und Aberglauben Anlaß, man muͤßte die Kinder fruͤhzeitig davor bewahren. Nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen hatte taufen laſſen, drum ließ ich’s vorbey gehn, und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir ſollen es mit den Kindern machen, wie Gott mit uns, der uns am gluͤklichſten macht, wenn er uns im freundlichen Wahne ſo hintaumeln laͤßt.

am62

Was man ein Kind iſt! Was man nach ſo ei - nem Blikke geizt! Was man ein Kind iſt! Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauen - zimmer fuhren hinaus, und waͤhrend unſrer Spa - ziergaͤnge glaubt ich in Lottens ſchwarzen Augen Jch bin ein Thor, verzeih mir’s, du ſollteſt ſie ſehn, dieſe Augen. Daß ich kurz bin, denn die Augen fallen mir zu vom Schlaf. Siehe die Frauenzimmer ſteigen ein, da ſtunden um die Kut - ſche der junge W. .. Selſtadt und Audran, und ich. Da ward aus dem Schlage ge - plaudert mit den Kerlgens, die freylich leicht und luͤftig genug waren. Jch ſuchte Lottens Augen! Ach ſie giengen von einem zum andern! Aber auf mich! Mich! Mich! der ganz allein auf ſie re - ſignirt daſtund, fielen ſie nicht! Mein Herz ſagte ihr tauſend Adieu! Und ſie ſah mich nicht! Die Kutſche fuhr vorbey und eine Thraͤne ſtund mir im Auge. Jch ſah ihr nach! Und ſah Lottens Kopfputz ſich zum Schlag heraus lehnen, und ſie wandte ſich um zu ſehn. Ach! Nach mir? Lieber!63Lieber! Jn dieſer Ungewißheit ſchweb ich! Das iſt mein Troſt. Vielleicht hat ſie ſich nach mir umgeſehen. Vielleicht Gute Nacht! O was ich ein Kind bin!

Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Ge - ſellſchaft von ihr geſprochen wird, ſollteſt du ſehen. Wenn man mich nun gar fragt, wie ſie mir gefaͤllt Gefaͤllt! das Wort haß ich in Tod. Was muß das fuͤr ein Kerl ſeyn, dem Lotte gefaͤllt, dem ſie nicht alle Sinnen, alle Empfin - dungen ausfuͤllt. Gefaͤllt! Neulich fragte mich ei - ner, wie mir Oſſian gefiele.

Frau M.. iſt ſehr ſchlecht, ich bete fuͤr ihr Le - ben, weil ich mit Lotten dulde. Jch ſeh ſie ſelten bey meiner Freundinn, und heut hat ſie mir einen wunderbaren Vorfall erzaͤhlt. Der alte M.. iſt ein geiziger rangiger Hund, der ſeine Frau im Leben was rechts geplagt und eingeſchraͤnkt hat. Doch64Doch hat ſich die Frau immer durchzuhelfen ge - wußt. Vor wenig Tagen, als der Doktor ihr das Leben abgeſprochen hatte, ließ ſie ihren Mann kommen, Lotte war im Zimmer, und redte ihn alſo an: Jch muß dir eine Sache geſtehn, die nach meinem Tode Verwirrung und Verdruß ma - chen koͤnnte. Jch habe bisher die Haushaltung gefuͤhrt, ſo ordentlich und ſparſam als moͤglich, al - lein du wirſt mir verzeihen, daß ich dich dieſe dreyßig Jahre her hintergangen habe. Du be - ſtimmteſt im Anfange unſerer Heyrath ein gerin - ges fuͤr die Beſtreitung der Kuͤche und anderer haͤuslichen Ausgaben. Als unſere Haushaltung ſtaͤrker wurde, unſer Gewerb groͤſſer, warſt du nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem Ver - haͤltniſſe zu vermehren, kurz du weißt, daß du in den Zeiten, da ſie am groͤſten war, verlangteſt, ich ſolle mit ſieben Gulden die Woche auskommen. Die hab ich denn ohne Widerrede genommen und mir den Ueberſchuß woͤchentlich aus der Looſung geholt, da niemand vermuthete, daß die Frau die Caſſe beſtehlen wuͤrde. Jch habe nichts verſchwen - det, und waͤre auch, ohne es zu bekennen, getroſtder65der Ewigkeit entgegen gegangen, wenn nicht dieje - nige, die nach mir das Weſen zu fuͤhren hat, ſich nicht zu helfen wiſſen wuͤrde, und du doch immer drauf beſtehen koͤnnteſt, deine erſte Frau ſey damit ausgekommen.

Jch redete mit Lotten uͤber die unglaubliche Verblendung des Menſchenſinns, daß einer nicht argwohnen ſoll, dahinter muͤſſe was anders ſtek - ken, wenn eins mit ſieben Gulden hinreicht, wo man den Aufwand vielleicht um zweymal ſo viel ſieht. Aber ich hab ſelbſt Leute gekannt, die des Propheten ewiges Oelkruͤglein ohne Verwunde - rung in ihrem Hauſe ſtatuirt haͤtten.

Nein, ich betruͤge mich nicht! Jch leſe in ihren ſchwarzen Augen wahre Theilnehmung an mir, und meinem Schickſaale. Ja ich fuͤhle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daß ſie O darf ich, kann ich den Himmel in dieſen Wor - ten ausſprechen? daß ſie mich liebt.

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Und ob das Vermeſſenheit iſt oder Gefuͤhl des wahren Verhaͤltniſſes: Jch kenne den Menſchen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fuͤrch - tete. Und doch wenn ſie von ihrem Braͤuti - gam ſpricht mit all der Waͤrme, all der Liebe, da iſt mir’s wie einem, der all ſeiner Ehren und Wuͤr - den entſezt, und dem der Degen abgenommen wird.

Ach wie mir das durch alle Adern laͤuft, wenn mein Finger unverſehns den ihrigen beruͤhrt, wenn unſere Fuͤſſe ſich unter dem Tiſche begegnen. Jch ziehe zuruͤck wie vom Feuer, und eine gehei - me Kraft zieht mich wieder vorwaͤrts, mir wirds ſo ſchwindlich vor allen Sinnen. O und ihre Un - ſchuld, ihre unbefangene Seele fuͤhlt nicht, wie ſehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn ſie gar im Geſpraͤch ihre Hand auf die meinige legt, und im Jntereſſe der Unterredung naͤher zu mir ruͤckt, daß der himmliſche Athem ihres Mundes meine Lippen reichen kann. Jch glaube zu verſinken wie vom Wetter geruͤhrt. Und Wilhelm,wenn67wenn ich mich jemals unterſtehe, dieſen Himmel, dieſes Vertrauen Du verſtehſt mich. Nein, mein Herz iſt ſo verderbt nicht! Schwach! ſchwach genug! Und iſt das nicht Verderben?

Sie iſt mir heilig. Alle Begier ſchweigt in ih - rer Gegenwart. Jch weis nimmer wie mir iſt, wenn ich bey ihr bin, es iſt als wenn die Seele ſich mir in allen Nerven umkehrte. Sie hat eine Melodie, die ſie auf dem Clavier ſpielt mit der Kraft eines Engels, ſo ſimpel und ſo geiſtvoll, es iſt ihr Leiblied, und mich ſtellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn ſie nur die er - ſte Note davon greift.

Kein Wort von der Zauberkraft der alten Muſik iſt mir unwahrſcheinlich, wie mich der einfache Geſang angreift. Und wie ſie ihn anzubringen weis, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor’n Kopf ſchieſſen moͤchte. Und all die Jrrung und Finſterniß meiner Seele zerſtreut ſich, und ich athme wieder freyer.

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Wilhelm, was iſt unſerm Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne iſt, ohne Licht! Kaum bringſt Du das Laͤmpgen hinein, ſo ſcheinen Dir die bunteſten Bilder an deine weiße Wand! Und wenn’s nichts waͤre als das, als vor uͤbergehende Phantomen, ſo machts doch immer unſer Gluͤk, wenn wir wie friſche Bubens davor ſtehen und uns uͤber die Wundererſcheinungen ent - zuͤkken. Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine un - vermeidliche Geſellſchaft hielt mich ab. Was war zu thun. Jch ſchikte meinen Buben hinaus, nur um einen Menſchen um mich zu haben, der ihr heute nahe gekommen waͤre. Mit welcher Unge - dult ich den Buben erwartete, mit welcher Freude ich ihn wieder ſah. Jch haͤtt ihn gern bey’m Kopf genommen und gekuͤßt, wenn ich mich nicht ge - ſchaͤmt haͤtte.

Man erzaͤhlt von dem Bononiſchen Stein, daß er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strah - len anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet. So war mir’s mit dem Jungen. Das Gefuͤhl, daßihre69ihre Augen auf ſeinem Geſicht ſeinen Bakken, ſeinen Rokknoͤpfen und dem Kragen am Suͤrtout geruht hatten, machte mir das all ſo heilig, ſo werth, ich haͤtte in dem Augenblikke den Jungen nicht vor tauſend Thaler gegeben. Es war mir ſo wohl in ſeiner Gegenwart Bewahre dich Gott, daß du daruͤber nicht lachſt. Wilhelm, ſind das Phantomen, wenn es uns wohl wird?

Jch werde ſie ſehen: ruf ich Morgens aus, wenn ich mich ermuntere, und mit aller Heiterkeit der ſchoͤnen Sonne entgegen blikke. Jch werde ſie ſehen! Und da hab ich fuͤr den ganzen Tag keinen Wunſch weiter. Alles, alles verſchlingt ſich in die - ſer Ausſicht.

Eure Jdee will noch nicht die meinige werden, daß ich mit dem Geſandten nach *** gehen ſoll. Jch liebe die Subordination nicht ſehr, und wir wiſſen alle, daß der Mann noch dazu ein wi -E 3driger70driger Menſch iſt. Meine Mutter moͤchte mich gern in Aktivitaͤt haben, ſagſt du, das hat mich zu lachen gemacht, bin ich jezt nicht auch aktiv? und iſt’s im Grund nicht einerley: ob ich Erbſen zaͤhle oder Linſen? Alles in der Welt laͤuſt doch auf eine Lumperey hinaus, und ein Kerl, der um anderer willen, ohne daß es ſeine eigene Leiden - ſchaft iſt, ſich um Geld, oder Ehre, oder ſonſt was, abarbeitet, iſt immer ein Thor.

Da Dir ſo viel daran gelegen iſt, daß ich mein Zeichnen nicht vernachlaͤſſige, moͤcht ich lie - ber die ganze Sache uͤbergehn, als Dir ſagen: daß zeither wenig gethan wird.

Noch nie war ich gluͤklicher, noch nie meine Empfindung an der Natur, bis auf’s Steingen, auf’s Graͤsgen herunter, voller und inniger, und doch ich weis nicht, wie ich mich ausdruͤkken ſoll, meine vorſtellende Kraft iſt ſo ſchwach, alles ſchwimmt, ſchwankt vor meiner Seele, daß ich kei - nen Umriß pakken kann; aber ich bilde mir ein,wenn71wenn ich Thon haͤtte oder Wachs, ſo wollt ich’s wohl herausbilden, ich werde auch Thon nehmen wenn’s laͤnger waͤhrt, und kneten, und ſollten’s Ku - chen werden.

Lottens Portraͤt habe ich dreymal angefan - gen, und habe mich dreymal proſtituirt, das mich um ſo mehr verdrieſt, weil ich vor einiger Zeit ſehr gluͤklich im Treffen war, darauf hab ich denn ihren Schattenriß gemacht, und damit ſoll mir genuͤgen.

Jch habe mir ſchon ſo manchmal vorgenommen, ſie nicht ſo oſt zu ſehn. Ja wer das halten koͤnnte! Alle Tage unterlieg ich der Verſuchung, und verſpreche mir heilig: Morgen willſt du ein - mal wegbleiben, und wenn der Morgen kommt, find ich doch wieder eine unwiderſtehliche Urſache, und eh ich mich’s verſehe, bin ich bey ihr. Ent - weder ſie hat des Abends geſagt; Sie kommen doch Morgen? Wer koͤnnte da wegbleiben? Oder der Tag iſt gar zu ſchoͤn, ich gehe nach Wahl - heim, und wenn ich ſo da bin iſt’s nur nochE 4eine72eine halbe Stunde zu ihr! Jch bin zu nah in der Atmoſphaͤre, Zuk! ſo bin ich dort. Meine Großmutter hatte ein Maͤhrgen vom Magneten - berg. Die Schiffe die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eiſenwerks beraubt, die Naͤgel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden ſchei - terten zwiſchen den uͤbereinander ſtuͤrzenden Brettern.

Albert iſt angekommen, und ich werde gehen, und wenn er der beſte, der edelſte Menſch waͤre, unter den ich mich in allem Betracht zu ſtellen bereit waͤre, ſo waͤr’s unertraͤglich, ihn vor meinem Angeſichte im Beſizze ſo vieler Vollkommenheiten zu ſehen. Beſiz! Genug, Wilhelm der Braͤuti - gam iſt da. Ein braver lieber Kerl, dem man gut ſeyn muß. Gluͤklicher weiſe war ich nicht bey’m Empfange! Das haͤtte mir das Herz zerriſſen. Auch iſt er ſo ehrlich und hat Lotten in meiner Gegen - wart noch nicht einmal gekuͤßt. Das lohn ihm Gott! Um des Reſpekts willen, den er vor demMaͤd -73Maͤdgen hat, muß ich ihn lieben. Er will mir wohl, und ich vermuthe, das iſt Lottens Werk, mehr als ſeiner eigenen Empfindung, denn darinn ſind die Weiber fein, und haben recht. Wenn ſie zwey Kerls in gutem Vernehmen mit einander hal - ten koͤnnen, iſt der Vortheil immer ihre, ſo ſelten es auch angeht.

Jndeß kann ich Alberten meine Achtung nicht verſagen, ſeine gelaſſne Auſſenſeite, ſticht gegen die Unruhe meines Charakters ſehr lebhaft ab, die ſich nicht verbergen laͤßt, er hat viel Gefuͤhl und weis - was er an Lotten hat. Er ſcheint wenig uͤble Laune zu haben, und du weiſt, das iſt die Suͤn - de, die ich aͤrger haſſe am Menſchen als alle andre.

Er haͤlt mich fuͤr einen Menſchen von Sinn, und meine Anhaͤnglichkeit an Lotten, meine war - me Freude, die ich an all ihren Handlungen ha - be, vermehrt ſeinen Triumph, und er liebt ſie nur deſto mehr. Ob er ſie nicht manchmal heimlich mit kleiner Eiferſuͤchteley peinigt, das laß ich da - hin geſtellt ſeyn, wenigſtens an ſeinem Plazze wuͤr - de ich nicht ganz ſicher vor dem Teufel bleiben.

E 5Dem74

Dem ſey nun wie ihm wolle, meine Freude bey Lotten zu ſeyn, iſt hin! Soll ich das Thor heit nennen oder Verblendung? Was braucht’s Nahmen! Erzaͤhlt die Sache an ſich! Jch wuſte alles, was ich jezt weis, eh Albert kam, ich wuſte, daß ich keine Praͤtenſionen auf ſie zu machen hatte, machte auch keine Heiſt das, inſofern es moͤglich iſt, bey ſo viel Liebenswuͤrdigkeiten nicht zu begehren Und jezt macht der Frazze groſſe Augen, da der andere nun wirklich kommt, und ihm das Maͤdgen wegnimmt.

Jch beiſſe die Zaͤhne auf einander und ſpot - te uͤber mein Elend, und ſpottete derer doppelt und dreyfach, die ſagen koͤnnten, ich ſollte mich reſigni - ren, und weil’s nun einmal nicht anders ſeyn koͤnnte. Schafft mir die Kerls vom Hals! Jch lauſe in den Waͤldern herum, und wenn ich zu Lotten komme, und Albert ſo bey ihr ſizt im Gaͤrtgen unter der Laube, und ich nicht weiter kann, ſo bin ich ausgelaſſen naͤrriſch, und fange viel Poſſen, viel verwirrtes Zeug an. Um Got - tes willen, ſagte mir Lotte heute, ich bitte Sie! keine Scene wie die von geſtern Abend! ſie ſindfuͤrch -75fuͤrchterlich, wenn ſie ſo luſtig ſind. Unter uns, ich paſſe die Zeit ab, wenn er zu thun hat, wutſch! bin ich draus, und da iſt mir’s immer wohl, wenn ich ſie allein finde.

Jch bitte dich, lieber Wilhelm! Es war gewiß nicht auf dich geredt, wenn ich ſchrieb: ſchafft mir die Kerls vom Hals, die ſagen, ich ſollte mich reſigniren. Jch dachte warlich nicht dran, daß du von aͤhnlicher Meinung ſeyn koͤnnteſt. Und im Grunde haſt du recht! Nur eins, mein Beſter, in der Welt iſt’s ſehr ſelten mit dem Entweder Oder gethan, es giebt ſo viel Schattirungen der Empfin - dungen und Handlungsweiſen, als Abfaͤlle zwiſchen einer Habichts - und Stumpfnaſe.

Du wirſt mir alſo nicht uͤbel nehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einraͤume, und mich doch zwiſchen dem Entweder Oder durchzuſtehlen ſuche.

Entweder ſagſt du, haſt du Hofnung auf Lotten, oder du haſt keine. Gut! Jm erſten Falleſuch76ſuch ſie durchzutreiben, ſuche die Erfuͤllung deiner Wuͤnſche zu umfaſſen, im andern Falle ermanne dich und ſuche einer elenden Empfindung los zu werden, die all deine Kraͤfte verzehren muß. Be - ſter, das iſt wohl geſagt, und bald geſagt.

Und kannſt du von dem Ungluͤklichen, deſſen Leben unter einer ſchleichenden Krankheit unauf - haltſam allmaͤhlich abſtirbt, kannſt du von ihm ver - langen, er ſolle durch einen Dolchſtos der Quaal auf einmal ein Ende machen? Und raubt das Uebel, das ihm die Kraͤfte wegzehrt, ihm nicht auch zugleich den Muth, ſich davon zu befreyen?

Zwar koͤnnteſt du mir mit einem verwand - ten Gleichniſſe antworten: Wer lieſſe ſich nicht lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zau - dern und Zagen ſein Leben auf’s Spiel ſezte Jch weis nicht und wir wollen uns nicht in Gleichniſſen herumbeiſſen. Genug Ja, Wil - helm ich habe manchmal ſo einen Augenblik auf - ſpringenden, abſchuͤttelnden Muths, und da, wenn ich nur wuͤſte wohin, ich gienge wohl.

am77

Jch koͤnnte das beſte gluͤklichſte Leben fuͤhren, wenn ich nicht ein Thor waͤre. So ſchoͤne Umſtaͤnde vereinigen ſich nicht leicht zuſammen, ei - nes Menſchen Herz zu ergoͤzzen, als die ſind, in denen ich mich jezt befinde. Ach ſo gewiß iſt’s, daß unſer Herz allein ſein Gluͤk macht! Ein Glied der liebenswuͤrdigen Familie auszumachen, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten und nun der ehrliche Albert, der durch keine lau - niſche Unart mein Gluͤk ſtoͤrt, der mich mit herz - licher Freundſchaft umfaßt, dem ich nach Lotten das liebſte auf der Welt bin Wilhelm, es iſt eine Freude uns zu hoͤren, wenn wir ſpazieren gehn und uns einander von Lotten unterhalten, es iſt in der Welt nichts laͤcherlichers erfunden worden als dieſes Verhaͤltniß, und doch kommen mir druͤ - ber die Thraͤnen oft in die Augen.

Wenn er mir ſo von ihrer rechtſchaffenen Mutter erzaͤhlt, wie die auf ihrem Todbette Lot - ten ihr Hauß und ihre Kinder uͤbergeben, und ihmLotten78Lotten anbefohlen habe, wie ſeit der Zeit ein ganz anderer Geiſt Lotten belebt, wie ſie in Sorge fuͤr ihre Wirthſchaft und im Ernſte eine wahre Mut - ter geworden, wie kein Augenblik ihrer Zeit ohne thaͤtige Liebe, ohne Arbeit verſtrichen, und wie den - noch all ihre Munterkeit, all ihr Leichtſinn ſie nicht verlaſſen habe. Jch gehe ſo neben ihm hin, und pfluͤkke Blumen am Wege, fuͤge ſie ſehr ſorgfaͤltig in einen Straus und werfe ſie in den vor - uͤberflieſſenden Strohm, und ſehe ihnen nach wie ſie leiſe hinunterwallen. Jch weis nicht, ob ich dir geſchrieben habe, daß Albert hier bleiben, und ein Amt mit einem artigen Auskommen vom Ho - fe erhalten wird, wo er ſehr beliebt iſt. Jn Ord - nung und Emſigkeit in Geſchaͤften hab ich wenig eines gleichen geſehen.

Gewiß Albert iſt der beſte Menſch unter dem Himmel, ich habe geſtern eine wunderbare Scene mit ihm gehabt. Jch kam zu ihm, um Ab - ſchied zu nehmen, denn mich wandelte die Luſt an,in’s79in’s Gebuͤrg zu reiten, von daher ich dir auch jezt ſchreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir ſeine Piſtolen in die Augen. Borg mir die Piſtolen, ſagt ich, zu meiner Reiſe. Meint - wegen, ſagt er, wenn du dir die Muͤhe geben willſt ſie zu laden, bey mir haͤngen ſie nur pro forma. Jch nahm eine herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorſicht einen ſo unartigen Streich ge - ſpielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu thun haben. Jch war neugierig, die Geſchichte zu wiſſen. Jch hielte mich, erzaͤhlte er, wohl ein Vier - teljahr auf dem Lande bey einem Freunde auf, hat - te ein paar Terzerolen ohngeladen und ſchlief ru - hig. Einmal an einem regnigten Nachmittage, da ich ſo muͤßig ſizze, weis ich nicht wie mir einfaͤllt: wir koͤnnten uͤberfallen werden, wir koͤnnten die Terzerols noͤthig haben, und koͤnnten du weiſt ja, wie das iſt. Jch gab ſie dem Bedienten, ſie zu puzzen, und zu laden, und der dahlt, mit den Maͤdgen, will ſie erſchroͤkken, und Gott weis wie, das Gewehr geht los, da der Ladſtok noch drinn ſtekt und ſchießt den Ladſtok einem Maͤdgen zur Maus herein, an der rechten Hand, und zerſchlaͤgtihr80ihr den Daumen. Da hatt ich das Lamentiren, und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und ſeit der Zeit laß ich all das Gewehr ungeladen. Lieber Schaz, was iſt Vorſicht! die Gefahr laͤßt ſich nicht auslernen! Zwar Nun weißt du, daß ich den Menſchen ſehr lieb habe bis auf ſeine Zwar. Denn verſteht ſich’s nicht von ſelbſt, daß jeder all - gemeine Saz Ausnahmen leidet. Aber ſo recht - fertig iſt der Menſch, wenn er glaubt, etwas uͤber - eiltes, allgemeines, halbwahres geſagt zu haben; ſo hoͤrt er dir nicht auf zu limitiren, modificiren, und ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts mehr an der Sache iſt. Und bey dieſem Anlaſſe kam er ſehr tief in Text, und ich hoͤrte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffah - renden Gebaͤhrde druckt ich mir die Muͤndung der Piſtolen uͤbers rechte Aug an die Stirn. Pfuy ſagte Albert, indem er mir die Piſtole herabzog, was ſoll das! Sie iſt nicht geladen, ſagt ich. Und auch ſo! Was ſoll’s? verſezt er ungedultig. Jch kann mir nicht vorſtellen, wie ein Menſch ſo thoͤrigt ſeyn kann, ſich zu erſchieſſen; der bloſſe Gedanke erregt mir Widerwillen.

Daß81

Daß ihr Menſchen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich ſprechen muͤßt: Das iſt thoͤrig, das iſt klug, das iſt gut, das iſt boͤs! Und was will das all heiſſen? Habt ihr deßwegen die innern Verhaͤltniſſe einer Handlung erforſcht? Wißt ihr mit Beſtimmtheit die Urſachen zu ent - wikkeln, warum ſie geſchah, warum ſie geſchehen mußte? Haͤttet ihr das, ihr wuͤrdet nicht ſo eil - fertig mit euren Urtheilen ſeyn.

Du wirſt mir zugeben, ſagte Albert, daß gewiſſe Handlungen laſterhaft bleiben, ſie moͤgen aus einem Beweggrunde geſchehen, aus welchem ſie wollen.

Jch zukte die Achſeln und gabs ihm zu. Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden ſich auch hier einige Ausnahmen. Es iſt wahr, der Dieb - ſtahl iſt ein Laſter, aber der Menſch, der, um ſich und die Seinigen vom ſchmaͤligen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitlei - den oder Strafe? Wer hebt den erſten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne ſein untreues Weib und ihren nichtswuͤrdigen Ver - fuͤhrer aufopfert? Gegen das Maͤdgen, das in ei -Fner82ner wonnevollen Stunde, ſich in den unaufhaltſa - men Freuden der Liebe verliert? Unſere Geſetze ſelbſt, dieſe kaltbluͤtigen Pedanten, laſſen ſich ruͤhren, und halten ihre Strafe zuruͤk.

Das iſt ganz was anders, verſezte Albert, weil ein Menſch, den ſeine Leidenſchaften hinreiſſen, alle Beſinnungskraft verliert, und als ein Trunkener, als ein Wahnſinniger angeſehen wird. Ach ihr vernuͤnftigen Leute! rief ich laͤchelnd aus. Lei - denſchaft! Trunkenheit! Wahnſinn! Jhr ſteht ſo gelaſſen, ſo ohne Theilnehmung da, ihr ſittlichen Menſchen, ſcheltet den Trinker, verabſcheuet den Un - ſinnigen, geht vorbey wie der Prieſter, und dankt Gott wie der Phariſaͤer, daß er euch nicht ge - macht hat, wie einen von dieſen. Jch bin mehr als einmal trunken geweſen, und meine Leiden - ſchaften waren nie weit vom Wahnſinne, und bey - des reut mich nicht, denn ich habe in meinem Maaſſe begreifen lernen: Wie man alle auſſer - ordentliche Menſchen, die etwas groſſes, etwas un - moͤglich ſcheinendes wuͤrkten, von jeher fuͤr Trunke - ne und Wahnſinnige ausſchreien muͤßte.

Aber83

Aber auch im gemeinen Leben iſts unertraͤg - lich, einem Kerl bey halbweg einer freyen, edlen, unerwarteten That nachrufen zu hoͤren: Der Menſch iſt trunken, der iſt naͤrriſch. Schaͤmt euch, ihr Nuͤchternen. Schaͤmt euch, ihr Weiſen. Das ſind nun wieder von deinen Grillen, ſagte Albert. Du uͤberſpannſt alles, und haſt wenigſtens hier ge - wiß unrecht, daß du den Selbſtmord, wovon wir jetzo reden, mit groſſen Handlungen vergleichſt, da man es doch fuͤr nichts anders als eine Schwaͤche halten kann, denn freylich iſt es leichter zu ſterben, als ein qualvolles Leben ſtandhaft zu ertragen.

Jch war im Begriffe abzubrechen, denn kein Argument in der Welt bringt mich ſo aus der Faſſung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinſpruche angezogen kommt, da ich aus gan - zem Herzen rede. Doch faßt ich mich, weil ich’s ſchon oͤfter gehoͤrt und mich oͤfter daruͤber geaͤrgert hatte, und verſezte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: Du nennſt das Schwaͤche! ich bitte dich, laß dich vom Anſcheine nicht verfuͤhren. Ein Volk, das un - ter dem unertraͤglichen Joche eines Tyrannen ſeufzt, darfſt du das ſchwach heiſſen, wenn es endlich auf -F 2gaͤhrt84gaͤhrt und ſeine Ketten zerreißt. Ein Menſch, der uͤber dem Schrekken, daß Feuer ſein Haus ergrif - fen hat, alle Kraͤfte zuſammen geſpannt fuͤhlt, und mit Leichtigkeit Laſten wegtraͤgt, die er bey ruhigem Sinne kaum bewegen kann; einer, der in der Wuth der Beleidigung es mit Sechſen aufnimmt, und ſie uͤberwaͤltigt, ſind dir ſchwach zu nennen? Und mein Guter, wenn Anſtrengung Staͤrke iſt, warum ſoll die Ueberſpannung das Gegentheil ſeyn? Albert ſah mich an und ſagte: nimm mirs nicht uͤbel, die Beyſpiele die du da giebſt, ſchei - nen hierher gar nicht zu gehoͤren. Es mag ſeyn, ſagt ich, man hat mir ſchon oͤſter vorgeworfen, daß meine Combinationsart manchmal an’s Rado - tage graͤnze! Laßt uns denn ſehen, ob wir auf eine andere Weiſe uns vorſtellen koͤnnen, wie es dem Menſchen zu Muthe ſeyn mag, der ſich ent - ſchließt, die ſonſt ſo angenehme Buͤrde des Lebens abzuwerfen, denn nur in ſo fern wir mit empfin - den, haben wir Ehre von einer Sache zu reden.

Die menſchliche Natur, fuhr ich fort, hat ih - re Graͤnzen, ſie kann Freude, Leid, Schmerzen, bisauf85auf einen gewiſſen Grad ertragen, und geht zu Grunde, ſobald der uͤberſtiegen iſt.

Hier iſt alſo nicht die Frage, ob einer ſchwach oder ſtark iſt, ſondern ob er das Maas ſeines Lei - dens ausdauren kann; es mag nun moraliſch oder phyſikaliſch ſeyn, und ich finde es eben ſo wunder - bar zu ſagen, der Menſch iſt feig, der ſich das Le - ben nimmt, als es ungehoͤrig waͤre, den einen Fei - gen zu nennen, der an einem boͤsartigen Fieber ſtirbt.

Paradox! ſehr paradox! rief Albert aus. Nicht ſo ſehr, als du denkſt, verſezt ich. Du giebſt mir zu wir nennen das eine Krankheit zum Todte, wodurch die Natur ſo angegriffen wird, daß theils ihre Kraͤfte verzehrt, theils ſo auſſer Wuͤrkung ge - ſezt werden, daß ſie ſich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine gluͤkliche Revolution, den gewoͤhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzuſtellen faͤhig iſt.

Nun mein Lieber, laß uns das auf den Geiſt anwenden. Sieh den Menſchen an in ſeiner Ein - geſchraͤnktheit, wie Eindruͤkke auf ihn wuͤrken, Jdeen ſich bey ihm feſt ſezzen, bis endlich eine wachſen -F 3de86de Leidenſchaft ihn aller ruhigen Sinneskraft be - raubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens, daß der gelaßne vernuͤnftige Menſch den Zuſtand des Ungluͤklichen uͤberſieht, vergebens, daß er ihm zuredet, eben als wie ein Geſunder, der am Bette des Kranken ſteht, ihm von ſeinen Kraͤf - ten nicht das geringſte einfloͤßen kann.

Alberten war das zu allgemein geſprochen, ich erinnerte ihn an ein Maͤdgen, das man vor weni - ger Zeit im Waſſer todt gefunden, und wiederholt ihm ihre Geſchichte. Ein gutes junges Geſchoͤpf, das in dem engen Kreiſe haͤuslicher Beſchaͤftigun - gen, woͤchentlicher beſtimmter Arbeit ſo herange - wachſen war, das weiter keine Ausſicht von Ver - gnuͤgen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zuſammengeſchafften Puzze mit ihres glei - chen um die Stadt ſpazieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feſte einmal zu tanzen, und uͤbrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichſten Antheils man - che Stunde uͤber den Anlas eines Gezaͤnkes, einer uͤbeln Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplau - dern; deren feurige Natur fuͤhlt nun endlich in - nigere Beduͤrfniſſe, die durch die Schmeicheleyen derMaͤn -87Maͤnner vermehrt werden, all ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach unſchmakhaft, bis ſie endlich einen Menſchen antrifft, zu dem ein unbe - kanntes Gefuͤhl ſie unwiderſtehlich hinreißt, auf den ſie nun all ihre Hofnungen wirſt, die Welt rings um ſich vergißt, nichts hoͤrt, nichts ſieht, nichts fuͤhlt als ihn, den Einzigen, ſich nur ſehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leere Vergnuͤgen einer unbeſtaͤndigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen grad nach dem Zwecke: Sie will die Seinige werden, ſie will in ewiger Verbindung all das Gluͤck antreffen, das ihr mangelt, die Vereini - gung aller Freuden genieſſen, nach denen ſie ſich ſehnte. Wiederholtes Verſprechen, das ihr die Gewißheit aller Hofnungen verſiegelt, kuͤhne Lieb - koſungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele, ſie ſchwebt in einem dumpfen Bewußtſeyn, in einem Vorgefuͤhl aller Freuden, ſie iſt bis auf den hoͤchſten Grad geſpannt, wo ſie end - lich ihre Arme ausſtrekt, all ihre Wuͤnſche zu um - faſſen und ihr Geliebter verlaͤßt Sie Er - ſtarrt; ohne Sinne ſteht ſie vor einem Abgrunde, und alles iſt Finſterniß um ſie her, keine Ausſicht,F 4kein88kein Troſt, keine Ahndung, denn der hat ſie ver - laſſen, in dem ſie allein ihr Daſeyn fuͤhlte. Sie ſieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verluſt erſezzen koͤnnten, ſie fuͤhlt ſich allein, verlaſſen von aller Welt, und blind, in die Enge gepreßt von der entſezli - chen Noth ihres Herzens ſtuͤrzt ſie ſich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode all ihre Quaalen zu erſtikken. Sieh, Albert, das iſt die Geſchichte ſo manches Menſchen, und ſag, iſt das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der ver - worrenen und widerſprechenden Kraͤfte, und der Menſch muß ſterben.

Wehe dem, der zuſehen und ſagen koͤnnte: Die Thoͤrinn! haͤtte ſie gewartet, haͤtte ſie die Zeit wuͤrken laſſen, es wuͤrde ſich die Verzweiflung ſchon gelegt, es wuͤrde ſich ein anderer ſie zu troͤſten ſchon vorgefunden haben.

Das iſt eben, als wenn einer ſagte: der Thor! ſtirbt am Fieber! haͤtte er gewartet, bis ſich ſeine Kraͤfte erhohlt, ſeine Saͤfte verbeſſert, der Tumult ſeines Blutes gelegt haͤtten, alles waͤ -re89re gut gegangen, und er lebte bis auf den heu - tigen Tag!

Albert, dem die Vergleichung noch nicht an - ſchaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich habe nur von einem einfaͤltigen Maͤdgen geſprochen, wie denn aber ein Menſch von Verſtande, der nicht ſo eingeſchraͤnkt ſey, der mehr Verhaͤltniſſe uͤberſaͤhe, zu entſchuldigen ſeyn moͤchte, koͤnne er nicht begreifen. Mein Freund rief ich aus, der Menſch iſt Menfch, und das Bißgen Verſtand das einer haben mag, kommt we - nig oder nicht in Anſchlag, wenn Leidenſchaft wuͤ - thet, und die Graͤnzen der Menſchheit einen draͤn - gen. Vielmehr ein andermal, davon ſagt ich, und grif nach meinem Hute. O mir war das Herz ſo voll Und wir giengen auseinander, oh - ne einander verſtanden zu haben. Wie denn auf dieſer Welt keiner leicht den andern verſteht.

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Es iſt doch gewiß, daß in der Welt den Men - ſchen nichts nothwendig macht als die Liebe. Jch fuͤhl’s an Lotten, daß ſie mich ungern verloͤh - re, und die Kinder haben keine andre Jdee, als daß ich immer morgen wiederkommen wuͤrde. Heut war ich hinausgegangen, Lottens Clavier zu ſtimmen, ich konnte aber nicht-dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein Maͤhrgen, und Lotte ſagte denn ſelbſt, ich ſollte ihnen den Willen thun. Jch ſchnitt ihnen das Abendbrod, das ſie nun faſt ſo gerne von mir als von Lotten annah - men und erzaͤhlte ihnen das Hauptſtuͤckgen von der Prinzeßinn, die von Haͤnden bedient wird. Jch lerne viel dabey, das verſichr ich dich, und ich bin erſtaunt, was es auf ſie fuͤr Eindruͤkke macht. Weil ich manchmal einen Jnzidenzpunkt erfinden muß, den ich bey’m zweytenmal vergeſſe, ſagen ſie gleich, das vorigemal waͤr’s anders geweſt, ſo daß ich mich jezt uͤbe, ſie unveraͤnderlich in einem ſin -gen -91genden Sylbenfall an einem Schnuͤrgen weg zu rezitiren. Jch habe daraus gelernt wie ein Au - tor, durch eine zweyte veraͤnderte Auflage ſeiner Geſchichte, und wenn ſie noch ſo poetiſch beſſer geworden waͤre, nothwendig ſeinem Buche ſcha - den muß. Der erſte Eindruk findet uns willig, und der Menſch iſt ſo gemacht, daß man ihm das abenteuerlichſte uͤberreden kann, das haftet aber auch gleich ſo feſt, und wehe dem, der es wieder auskrazzen und austilgen will.

Mußte denn das ſo ſeyn? daß das, was des Menſchen Gluͤkſeligkeit macht, wieder die Quelle ſeines Elends wuͤrde.

Das volle warme Gefuͤhl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit ſo viel Wonne uͤberſtroͤmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradieſe ſchuf, wird mir jezt zu einem un -er -92ertraͤglichen Peiniger, zu einem quaͤlenden Geiſte, der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn ich ſonſt vom Fels uͤber den Fluß bis zu jenen Huͤ - geln das fruchtbare Thal uͤberſchaute, und alles um mich her keimen und quellen ſah, wenn ich jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Baͤumen bekleidet, all jene Thaͤler in ih - ren mannichfaltigen Kruͤmmungen von den lieb - lichſten Waͤldern beſchattet ſah, und der ſanfte Fluß zwiſchen den liſpelnden Rohren dahin gleitete, und die lieben Wolken abſpiegelte, die der ſanfte Abend - wind am Himmel heruͤber wiegte, wenn ich denn die Voͤgel um mich, den Wald beleben hoͤrte, und die Millionen Muͤkkenſchwaͤrme im lezten rothen Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter zukkender Blik den ſummenden Kaͤfer aus ſeinem Graſe befreyte und das Gewebere um mich her, mich auf den Boden aufmerkſam machte und das Moos, das meinem harten Felſen ſeine Nahrung abzwingt, und das Geniſte, das den duͤrren Sand - huͤgel hinunter waͤchſt, mir alles das innere gluͤ - hende, heilige Leben der Natur eroͤfnete, wie um -faßt93faßt ich das all mit warmen Herzen, verlohr mich in der unendlichen Fuͤlle, und die herrlichen Ge - ſtalten der unendlichen Welt bewegten ſich alllebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich, Abgruͤnde lagen vor mir, und Wetterbaͤche ſtuͤrzten herunter, die Fluͤſſe ſtroͤmten unter mir, und Wald und Gebuͤrg erklang. Und ich ſah ſie wuͤr - ken und ſchaffen in einander in den Tiefen der Er - de, all die Kraͤfte unergruͤndlich. Und nun uͤber der Erde und unter dem Himmel wimmeln die Ge - ſchlechter der Geſchoͤpfe all, und alles, alles bevoͤl - kert mit tauſendfachen Geſtalten, und die Men - ſchen dann ſich in Haͤuslein zuſammen ſichern, und ſich anniſten, und herrſchen in ihrem Sinne uͤber die weite Welt! Armer Thor, der du alles ſo ge - ring achteſt, weil du ſo klein biſt. Vom unzu - gaͤnglichen Gebuͤrge uͤber die Einoͤde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans, weht der Geiſt des Ewigſchaffenden und freut ſich jedes Staubs, der ihn vernimmt und lebt. Ach damals, wie oft hab ich mich mit Fittigen eines Kranichs, der uͤber mich hinflog, zu dem Ufer desun -94ungemeſſenen Meeres geſehnt, aus dem ſchaͤumen - den Becher des Unendlichen, jene ſchwellende Lebens - wonne zu trinken, und nur einen Augenblick in der eingeſchraͤnkten Kraft meines Buſens einen Tropfen der Seligkeit des Weſens zu ſuͤhlen, das alles in ſich und durch ſich hervorbringt.

Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl, ſelbſt dieſe Anſtrengung, jene un - ſaͤglichen Gefuͤhle zuruͤk zu rufen, wieder auszu - ſprechen, hebt meine Seele uͤber ſich ſelbſt, und laͤßt mir dann das Bange des Zuſtands doppelt empfinden, der mich jezt umgiebt.

Es hat ſich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt ſich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabs. Kannſt du ſagen: Das iſt! da alles voruͤbergeht, da alles mit der Wetter - ſchnelle voruͤber rollt, ſo ſelten die ganze Kraft ſeines Daſeyns ausdauert, ach in den Strom fort - geriſſen, untergetaucht und an Felſen zerſchmettertwird.95wird. Da iſt kein Augenblik, der nicht dich ver - zehrte und die Deinigen um dich her, kein Augen - blik, da du nicht ein Zerſtoͤhrer biſt, ſeyn mußt. Der harmloſeſte Spaziergang koſtet tauſend tau - ſend armen Wuͤrmgen das Leben, es zerruͤttet ein Fustritt die muͤhſeligen Gebaͤude der Ameiſen, und ſtampft eine kleine Welt in ein ſchmaͤhliches Grab. Ha! nicht die große ſeltene Noth der Welt, dieſe Fluthen, die eure Doͤrfer wegſpuͤlen, dieſe Erdbe - ben, die eure Staͤdte verſchlingen, ruͤhren mich. Mir untergraͤbt das Herz die verzehrende Kraft, die im All der Natur verborgen liegt, die nichts ge - bildet hat, das nicht ſeinen Nachbar, nicht ſich ſelbſt zerſtoͤrte. Und ſo taumele ich beaͤngſtet! Him - mel und Erde und all die webenden Kraͤfte um mich her! Jch ſehe nichts, als ein ewig verſchlin - gendes, ewig wiederkaͤuendes Ungeheur.

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Umſonſt ſtrekke ich meine Arme nach ihr aus, Morgens wenn ich von ſchweren Traͤumen auf - daͤmmere, vergebens ſuch ich ſie Nachts in meinem Bette, wenn mich ein gluͤklicher unſchuldiger Traum getaͤuſcht hat, als ſaͤß ich neben ihr auf der Wieſe, und hielte ihre Hand und dekte ſie mit tauſend Kuͤſſen. Ach wenn ich denn noch halb im Tau - mel des Schlafs nach ihr tappe, und druͤber mich ermuntere Ein Strom von Thraͤnen bricht aus meinem gepreßten Herzen, und ich weine troſtlos einer finſtern Zukunft entgegen.

Es iſt ein Ungluͤk, Wilhelm! all meine thaͤtigen Kraͤfte ſind zu einer unruhigen Laͤſſigkeit ver - ſtimmt, ich kann nicht muͤſſig ſeyn und wieder kann ich nichts thun. Jch hab keine Vorſtellungskraft,kein97kein Gefuͤhl an der Natur und die Buͤcher ſpeien mich alle an. Wenn wir uns ſelbſt fehlen, fehlt uns doch alles. Jch ſchwoͤre Dir, manchmal wuͤnſchte ich ein Tagloͤhner zu ſeyn, um nur des Morgens bey’m Erwachen eine Ausſicht auf den kuͤnftigen Tag, einen Drang, eine Hofnung zu ha - ben. Oft beneid ich Alberten, den ich uͤber die Ohren in Akten begraben ſehe, und bilde mir ein: mir waͤr’s wohl, wenn ich an ſeiner Stelle waͤre! Schon etlichemal iſt mir’s ſo aufgefahren, ich woll - te Dir ſchreiben und dem Miniſter, und um die Stelle bey der Geſandtſchaft anhalten, die, wie Du verſicherſt, mir nicht verſagt werden wuͤrde. Jch glaube es ſelbſt, der Miniſter liebt mich ſeit lange, hatte lange mir angelegen, ich ſollte mich employi - ren, und eine Stunde iſt mir’s auch wohl drum zu thun; hernach, wenn ich ſo wieder dran denke, und mir die Fabel vom Pferde einfaͤllt, das ſeiner Freyheit ungedultig, ſich Sattel und Zeug auflegen laͤßt, und zu Schanden geritten wird. Jch weis nicht, was ich ſoll Und mein Lieber! Jſt nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veraͤnde -Grung98rung des Zuſtands, eine innre unbehagliche Un - gedult, die mich uͤberall hin verfolgen wird?

Es iſt wahr, wenn meine Krankheit zu heilen waͤre, ſo wuͤrden dieſe Menſchen es thun. Heut iſt mein Geburtstag, und in aller Fruͤhe em - pfang ich ein Paͤkgen von Alberten. Mir faͤllt bey’m Eroͤfnen ſogleich eine der blaßrothen Schlei - fen in die Augen, die Lotte vorhatte, als ich ſie kennen lernte, und um die ich ſie ſeither etlichemal gebeten hatte. Es waren zwey Buͤchelgen in duo - dez dabey, der kleine Wetſteiniſche Homer, ein Buͤchelgen, nach dem ich ſo oft verlangt, um mich auf dem Spaziergange mit dem Erneſtiſchen nicht zu ſchleppen. Sieh! ſo kommen ſie meinen Wuͤn - ſchen zuvor, ſo ſuchen ſie all die kleinen Gefaͤllig - keiten der Freundſchaft auf, die tauſendmal wer -ther99ther ſind als jene blendende Geſchenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Jch kuͤſſe dieſe Schleife tauſendmal, und mit jedem Athemzuge ſchluͤrfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenige, gluͤckliche, unwieder - bringliche Tage uͤberfuͤllten. Wilhelm es iſt ſo, und ich murre nicht, die Bluͤthen des Lebens ſind nur Erſcheinungen! wie viele gehn voruͤber, ohne eine Spur hinter ſich zu laſſen, wie wenige ſezzen Frucht an, und wie wenige dieſer Fruͤchte werden reif. Und doch ſind deren noch genug da, und doch O mein Bruder! koͤnnen wir gereifte Fruͤchte ver - nachlaͤſſigen, verachten, ungenoſſen verwelken und verfaulen laſſen?

Lebe wohl! Es iſt ein herrlicher Sommer, ich ſizze oft auf den Obſtbaͤumen in Lottens Baumſtuͤk mit dem Obſtbrecher der langen Stange, und hole die Birn aus dem Gipfel. Sie ſteht unten und nimmt ſie ab, wenn ich ſie ihr hinunter laſſe.

G 2am100

Ungluͤklicher! Biſt du nicht ein Thor? Be - truͤgſt du dich nicht ſelbſt? Was ſoll all dieſe tobende endloſe Leidenſchaft? Jch habe kein Gebet mehr, als an ſie, meiner Einbildungskraft erſcheint keine andere Geſtalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her, ſehe ich nur im Verhaͤltniſſe mit ihr. Und das macht mir denn ſo manche gluͤk - liche Stunde Bis ich mich wieder von ihr losreißen muß, ach Wilhelm, wozu mich mein Herz oft draͤngt! Wenn ich ſo bey ihr geſeſſen bin, zwey, drey Stunden, und mich an der Geſtalt, an dem Betragen, an dem himmliſchen Ausdruk ihrer Worte geweidet habe, und nun ſo nach und nach alle meine Sinnen aufgeſpannt werden, mir’s duͤſter vor den Augen wird, ich kaum was noch hoͤre, und mich’s an die Gurgel faßt, wie ein Meu -chel -101chelmoͤrder, dann mein Herz in wilden Schlaͤgen den bedraͤngten Sinnen Luft zu machen ſucht und ihre Verwirrung vermehrt. Wilhelm, ich weis oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und wenn nicht manchmal die Wehmuth das Uebergewicht nimmt, und Lotte mir den elenden Troſt erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen, ſo muß ich fort! Muß hinaus! Und ſchweife dann weit im Felde umher. Einen gaͤhen Berg zu klettern, iſt dann meine Freude, durch einen unwegſamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hek - ken die mich verlezzen, durch die Dornen die mich zerreiſſen! Da wird mir’s etwas beſſer! Etwas! Und wenn ich. fuͤr Muͤdigkeit und Durſt manchs - mal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tie - ſen Nacht, wenn der hohe Vollmond uͤber mir ſteht, im einſamen Walde auf einem krumgewachs - nen Baum mich ſezze, um meinen verwundeten Solen nur einige Linderung zu verſchaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem Daͤmmer - ſcheine hinſchlummre! O Wilhelm! Die einſame Wohnung einer Zelle, das haͤrine Gewand undG 3der102der Stachelguͤrtel, waͤren Labſale, nach denen mei - ne Seele ſchmachtet. Adieu. Jch ſeh all dieſes Elends kein Ende als das Grab.

Jch muß fort! ich danke Dir, Wilhelm, daß Du meinen wankenden Entſchluß beſtimmt haſt. Schon vierzehn Tage geh ich mit dem Gedanken um, ſie zu verlaſſen. Jch muß. Sie iſt wieder in der Stadt bey einer Freundinn. Und Albert und ich muß fort.

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Das war eine Nacht! Wilhelm, nun uͤberſteh ich alles. Jch werde ſie nicht wiederſehn. O daß ich nicht an Deinen Hals fliegen, Dir mit tauſend Thraͤnen und Entzuͤkkungen ausdruͤkken kann, mein Beſter, all die Empfindungen, die mein Herz beſtuͤrmen. Hier ſizz ich und ſchnappe nach Luft, ſuche mich zu beruhigen, und erwarte den Morgen, und mit Sonnen Aufgang ſind die Pferde beſtellt.

Ach ſie ſchlaͤft ruhig und denkt nicht, daß ſie mich nie wieder ſehen wird. Jch habe mich los - geriſſen, bin ſtark genug geweſen, in einem Ge - ſpraͤche von zwey Stunden mein Vorhaben nicht zu verrathen. Und Gott, welch ein Geſpraͤch!

Albert hatte mir verſprochen, gleich nach dem Nachteſſen mit Lotten im Garten zu ſeyn. JchG 4ſtand104ſtand auf der Teraſſe unter den hohen Caſtanien - baͤumen, und ſah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmal uͤber dem lieblichen Thale, uͤber dem ſanften Fluſſe untergieng. So oft hatte ich hier geſtanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauſpiele zugeſehen und nun Jch gieng in der Allee auf und ab, die mir ſo lieb war, ein geheimer ſympathetiſcher Zug hatte mich hier ſo oft gehalten, eh ich noch Lotten kannte, und wie freu - ten wir uns, als im Anfange unſerer Bekannt - ſchaft wir die wechſelſeitige Neigung zu dem Plaͤz - gen entdekten, das wahrhaftig eins der roman - tiſchten iſt, die ich von der Kunſt habe hervorge - bracht geſehen.

Erſt haſt du zwiſchen den Caſtanienbaͤumen die weite Ausſicht Ach ich erinnere mich, ich ha - be dir, denk ich, ſchon viel geſchrieben davon, wie hohe Buchenwaͤnde einen endlich einſchlieſſen und durch ein daran ſtoßendes Bosquet die Allee im - mer duͤſtrer wird, bis zuletzt alles ſich in ein ge - ſchloſſenes Plaͤzgen endigt, das alle Schauer derEin -105Einſamkeit umſchweben. Jch fuͤhl es noch wie heimlich mir’s ward, als ich zum erſtenmal an ei - nem hohen Mittage hinein trat, ich ahndete ganz leiſe, was das noch fuͤr ein Schauplaz werden ſollte von Seligkeit und Schmerz.

Jch hatte mich etwa eine halbe Stunde in de - nen ſchmachtenden ſuͤſſen Gedanken des Abſchei - dens, des Wiederſehns geweidet; als ich ſie die Teraſſe herauf ſteigen hoͤrte, ich lief ihnen entge - gen, mit einem Schauer faßt ich ihre Hand und kuͤßte ſie. Wir waren eben herauf getreten, als der Mond hinter dem buͤſchigen Huͤgel aufgieng, wir redeten mancherley und kamen unvermerkt dem duͤſtern Cabinette naͤher. Lotte tratt hinein und ſezte ſich, Albert neben ſie, ich auch, doch, meine Unruhe lies mich nicht lange ſizzen, ich ſtand auf, trat vor ſie, gieng auf und ab, ſezte mich wieder, es war ein aͤngſtlicher Zuſtand. Sie machte uns aufmerkſam auf die ſchoͤne Wuͤrkung des Monden - lichts, das am Ende der Buchenwaͤnde die ganze Teraſſe vor uns erleuchtete, ein herrlicher Anblik,G 5der106der um ſo viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe Daͤmmerung einſchloß. Wir waren ſtill, und ſie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im Mondenlichte ſpazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine Verſtorbenen begegnete, daß nicht das Gefuͤhl von Tod, von Zukunft uͤber mich kaͤme. Wir werden ſeyn, fuhr ſie mit der Stimme des herrlichſten Gefuͤhls fort, aber Werther, ſol - len wir uns wieder finden? und wieder erkennen? Was ahnden ſie, was ſagen ſie?

Lotte, ſagt ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll Thraͤnen wurden, wir wer - den uns wieder ſehn! Hier und dort wieder ſehn! Jch konnte nicht weiter reden Wil - helm, mußte ſie mich das fragen? da ich dieſen aͤngſtlichen Abſchied im Herzen hatte.

Und ob die lieben Abgeſchiednen von uns wiſ - ſen, fuhr ſie fort, ob ſie fuͤhlen, wann’s uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer erin - nern? O die Geſtalt meiner Mutter ſchwebt im -mer107mer um mich, wenn ich ſo am ſtillen Abend, un - ter ihren Kindern, unter meinen Kindern ſizze, und ſie um mich verſammlet ſind, wie ſie um ſie verſammlet waren. Wenn ich ſo mit einer ſeh - nenden Thraͤne gen Himmel ſehe, und wuͤnſche: daß ſie herein ſchauen koͤnnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu ſeyn. Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir’s, Theuerſte, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warſt. Ach! thu ich doch alles was ich kann, ſind ſie doch gekleidet, genaͤhrt, ach und was mehr iſt als das alles, gepflegt und geliebet. Koͤnnteſt du un - ſere Eintracht ſehn, liebe Heilige! du wuͤrdeſt mit dem heiſſeſten Danke den Gott verherrlichen, den du mit den lezten bitterſten Thraͤnen um die Wohl - fahrt deiner Kinder batſt. Sie ſagte das! O Wil - helm! wer kann wiederholen was ſie ſagte, wie kann der kalte todte Buchſtabe dieſe himmliſche Bluͤthe des Geiſtes darſtellen. Albert fiel ihr ſanft in die Rede: es greift ſie zu ſtark an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele haͤngt ſehr nach dieſen Jdeen,aber108aber ich bitte ſie O Albert, ſagte ſie, ich weis, du vergißt nicht die Abende, da wir zuſammen ſaßen an dem kleinen runden Tiſchgen, wenn der Papa verreiſt war, und wir die Kleinen ſchlafen geſchikt hatten. Du hatteſt oft ein gutes Buch, und kamſt ſo ſelten dazu etwas zu leſen. War der Umgang dieſer herrlichen Seele nicht mehr als alles! die ſchoͤne, ſanfte, muntere und immer thaͤ - tige Frau! Gott kennt meine Thraͤnen, mit de - nen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hin - warf: er moͤchte mich ihr gleich machen.

Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor ſie hinwarf, ihre Haͤnde nahm und mit tauſend Thraͤ - nen nezte. Lotte, der Segen Gottes ruht uͤber dir, und der Geiſt deiner Mutter! Wenn ſie ſie gekannt haͤtten! ſagte ſie, indem ſie mir die Hand druͤkte, ſie war werth, von ihnen ge - kannt zu ſeyn. Jch glaubte zu vergehen, nie war ein groͤſſeres, ſtolzeres Wort uͤber mich aus - geſprochen worden, und ſie fuhr fort: und dieſe Frau mußte in der Bluͤthe ihrer Jahre dahin, daihr109ihr juͤngſter Sohn nicht ſechs Monathe alt war. Jhre Krankheit dauerte nicht lange, ſie war ruhig, reſignirt, nur ihre Kinder thaten ihr weh, beſon - ders das kleine. Wie es gegen das Ende gieng, und ſie zu mir ſagte: Bring mir ſie herauf, und wie ich ſie herein fuͤhrte, die kleinen die nicht wußten, und die aͤlteſten die ohne Sinne waren, wie ſie um’s Bett ſtanden, und wie ſie die Haͤnde aufhub und uͤber ſie betete, und ſie kuͤßte nach ein - ander und ſie wegſchikte, und zu mir ſagte: Sey ihre Mutter! Jch gab ihr die Hand drauf! Du verſprichſt viel, meine Tochter, ſagte ſie, das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter! Jch hab oft an deinen dankbaren Thraͤnen geſehen, daß du fuͤhlſt was das ſey. Hab es fuͤr deine Ge - ſchwiſter, und fuͤr deinen Vater, die Treue, den Gehorſam einer Frau. Du wirſt ihn troͤſten. Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unertraͤglichen Kummer zu verbergen, den er fuͤhlte, der Mann war ganz zerriſſen.

Albert110

Albert, du warſt im Zimmer! Sie hoͤrte je - mand gehn, und fragte, und forderte dich zu ihr. Und wie ſie dich anſah und mich, mit dem getroͤ - ſteten ruhigen Blikke, daß wir gluͤklich ſeyn, zu - ſammen gluͤklich ſeyn wuͤrden. Albert fiel ihr um den Hals und kuͤßte ſie, und rief: wir ſinds! wir werdens ſeyn. Der ruhige Albert war ganz aus ſeiner Faſſung, und ich wußte nichts von mir ſelber.

Werther, fieng ſie an, und dieſe Frau ſollte dahin ſeyn! Gott, wenn ich manchmal ſo denke, wie man das Liebſte ſeines Lebens ſo wegtragen laͤßt, und niemand als die Kinder das ſo ſcharf fuͤhlt, die ſich noch lange beklagten: die ſchwarzen Maͤnner haͤtten die Mamma weggetragen.

Sie ſtund auf, und ich ward erwekt und er - ſchuͤttert, blieb ſizzen und hielt ihre Hand. Wir wollen fort, ſagte ſie, es wird Zeit. Sie wollte ihre Hand zuruͤk ziehen und ich hielt ſie feſter! Wir werden uns wiederſehn, rief ich, wir werden uns finden, unter allen Geſtalten werden wir unserken -111erkennen. Jch gehe, fuhr ich fort, ich gehe willig, und doch, wenn ich ſagen ſollte auf ewig, ich wuͤr - de es nicht aushalten. Leb wohl, Lotte! Leb wohl, Albert! Wir ſehen uns wieder. Morgen denk ich, verſezte ſie ſcherzend, ich fuͤhlte das Morgen! Ach ſie wußte nicht als ſie ihre Hand aus der meinigen zog ſie giengen die Allee hinaus, ich ſtand, ſah ihnen nach im Mondſcheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus, und ſprang auf, lief auf die Teraſſe hervor und ſah noch dort drunten im Schatten der hohen Lindenbaͤume ihr weiſſes Kleid nach der Garten - thuͤre ſchimmern, ich ſtrekte meine Arme hinaus, und es verſchwand.

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About this transcription

TextDie Leiden des jungen Werthers
Author Johann Wolfgang von Goethe
Extent120 images; 17446 tokens; 4313 types; 113513 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Leiden des jungen Werthers Erster Theil Johann Wolfgang von Goethe. . 111 S. WeygandLeipzig1774.

Identification

HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Lo 2113 (1)Dig: http://diglib.hab.de/drucke/lo-2113-1s/start.htm

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:30:54Z
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Availability

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Holding LibraryHAB Wolfenbüttel
ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Lo 2113 (1)
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