Gr. Excellentz Dem Hochwohlgebohrnen Herrn, HERRN Johann Adolph von Looß, Gr. Koͤnigl. Maj. in Pohlen und Churfl. Durchl. zu Sachſen, Hochbetrauten wircklich geheimten Rathe und Oberſten Stallmeiſtern ꝛc. Meinem gnaͤdigen Herrn.
Wie auch Dem Hochwohlgebohrnen Herrn, HERRN Chriſtian von Looß Gr. Koͤnigl. Maj. in Pohlen und Churfl. Durchl. zu Sachſen Hochanſehnlichen Cammerherrn, Hofrathe und geheimtem Referendario &c. Meinem gnaͤdigen Herrn.
MJtten unter den wichtigſten Geſchaͤften, womit Ew. Excell. und Hochwohlgeb. Gnaden in den Dienſten unſers aller gnaͤdigſten Landes-Vaters, das Beſte dieſer Lande befoͤr - dern helfen; erkuͤhne ich mich, Denenſelben ein Buch, ſo von der Poeſie handelt, vor die Augen zu bringen, ja gar Dero Hohe Nahmen auf die erſten Blaͤtter deſſelben zu ſetzen.
Es iſt den groͤſſeſten Leuten niemahls gleich - guͤltig geweſen, ob ihre Leibes-Geſtalt wohl oder uͤbel abgeſchildert worden; und wir fin - den Prinzen in den Geſchichten, die ſich nur von* 3denden beſten Kuͤnſtlern ihrer Zeiten haben ge - mahlt wiſſen wollen. Was die Mahler-Kunſt im Abſehen auf den Coͤrper bewerckſtelliget, das verrichtet die Dichtkunſt, als eine weit vollkommnere Mahlerey, auch im Abſehen auf die Eigenſchafften des Geiſtes und Gemuͤthes: Daher es denn ein Wunder iſt, daß groſſe Her - ren es nicht laͤngſt allen ungeſchickten, ja mittel - maͤßigen Poeten unterſaget haben; ſich mit ihren groben Zuͤgen, an die Abbildungen ihrer Tugenden und Thaten zu wagen, die von rechtswegen nur von lauter ungemeinen Fe - dern entworfen werden ſollten.
Dieſes Buch, ſo Ew. Excell. und Hochwohl - geb. Gnaden zuzueignen ich die Ehre habe, ent - haͤlt unter andern auch diejenigen Regeln, dar - nach ſich alle Verfaſſer der Lobgedichte, und folg - lich auch diejenigen werden zu achten haben, die ſich kuͤnftig an Dero hohes Lob machen duͤrften. Je trefflicher die Eigenſchafften ſind, dadurch Dieſelben ſich die Gnade eines groſſen Monar - chen, und die Hochachtung eines ſo zahlreichen Hofes erworben haben; und je groͤſſer alſo das Feld iſt, ſo ſich hier einem Poeten oͤffnen wird: deſto verwerfflicher wuͤrde ſeine Arbeit ſeyn, wenn er ſich in einer ſo wuͤrdigen Materie ver - gienge, und ein ſo praͤchtiges Lob aus Unwiſ -ſenheitſenheit oder Mangel der Faͤhigkeit gleichſam entweyhete.
Jn Wahrheit, der durchdringende Verſtand Ew. Excell. und Hochwohlgeb. Gnaden; De - ro Erfahrung in den oͤffentlichen Staats-An - gelegenheiten; die mit den vollkommenſten Hofmanieren ſo genau verſchwiſterſte Auf - richtigkeit des Hertzens; die aus der maͤnnlich ſchoͤnen Bildung, Dero vollkommenſten Lei - bes-Geſtalt hervorleuchtende leutſeelige Groß - muth, dadurch ſich dieſelbe Hohe und Niedrige verbinden, ja gantz zu eigen machen; und was ich zu allererſt haͤtte erwehnen ſollen, der un - verbruͤchliche Eifer in den Dienſten unſers al - lergnaͤdigſten Koͤniges, der niemahls beſſer, als durch das vollkommene Vertrauen Seiner Majeſtaͤt, gegen Dieſelben vergolten werden koͤnnen: Dieſes alles, ſage ich, verdiente ja wohl von einem ſolchen Dichter beſchrieben und geprieſen zu werden, deſſen Gabe zu ſchildern ſo vollkommen waͤre, als die Vorzuͤge, dadurch ſich Ew. Excell. und Hochwohlgeb. Gnaden eine all - gemeine Bewunderung zuwege gebracht haben.
Da nun die Abſicht dieſes Buches auch dieſe hauptſaͤchlich iſt, den Groſſen dieſer Welt ge - ſchickte Herolde ihrer Thaten zu verſchaffen; ſo wird es verhoffentlich ſo unbillig nicht ſeyn,* 4wennwenn ſich auch dieſe Grundregeln der Dicht - Kunſt, der Pruͤfung ſolcher erlauchten Ken - ner unterwerfen, denen es ſelbſt nicht einerley ſeyn kan, ob Jhre Abbildungen durch dieſe oder jene Hand der Nachwelt uͤberbracht werden. Finde ich mich alſo gleich zu ſchwach, die Nahmen Ew. Excell. und Hochwohlgeb. Gnaden durch meine Gedichte unvergeßlich zu machen: ſo werden Dieſelben mich doch vielleicht darum Jhrer Gnade nicht gantz unwuͤrdig ſchaͤtzen, weil ich zum wenigſten mittelbar etwas zur Verewigung derſelben beyzutragen geſucht.
Erlange ich nun das ſonderbare Gluͤck, die Protection ſo groſſer Staats-Leute zu ge - nieſſen; ſo werde mit der eifrigſten Devotion lebenslang verharren,
Hochwohlgebohrne Herren, Gnaͤdige Herren, Ew. Excell. u. Hochwohlgeb. Gnaden Leipzig 1729 den 6 Octobr. unterthaͤnigſt-gehorſamſter Diener M. Joh. Chriſtoph Gottſched.
DJeſes Buch wuͤrde keiner Vorrede bedoͤrfen, wenn ich es nicht vor noͤthig hielte, den Titel deſſelben, wieder die Einwuͤrfe derjenigen zu vertheidigen, denen derſelbe gleich bey dem er - ſten Anblicke anſtoͤßig ſcheinen doͤrfte. Jch beſorge, daß ſolches auf zweyerley Art geſchehen werde; darum will ich mich uͤber beydes ausfuͤhrlich erklaͤren.
Zuerſt wird es vielen nicht gefallen, daß ich meine Dicht-Kunſt eine Critiſche Dicht-Kunſt nenne: theils weil ſie an allem was critiſch iſt, einen Mißfallen haben; theils, weil ſie mirs nicht zutrauen werden, daß ich mich mit ſattſamer Faͤhigkeit dergleichen Werck auszufuͤhren unterſtanden. Wenn es Feinde der Critick unter uns giebt, ſo haben ſie entweder keinen rechten Begriff von der - ſelben; oder ſie verſtehen gar wohl was critiſiren heißt, haſſen es aber deswegen, weil ſie ein boͤſes Gewiſſen ha - ben, und ihre Schrifften nicht gern in Gefahr ſetzen wol - len, als ſchlecht erfunden zu werden. Denen erſten kan man leicht begegnen, wenn man ihnen nur zeigt, daß die wahre Critick keine ſchulfuͤchſiſche Buchſtaͤblerey, kein unendlicher Kram von zuſammengeſchriebenen Druck - und Schreibefehlern, die in den alten Scribenten began -* 5genVorrede. gen worden; kein uͤbelverdauetes Buͤcherleſen; kein wuͤ - ſter Haufe unendlicher Allegationen und fremder Mey - nungen von einer verderbten Stelle in Hebraͤiſchen, Grie - chiſchen und Roͤmiſchen Buͤchern ſey. Leute, ſo dieſes al - les thun, und ihr Handwerck in der That verſtehen, thun uns gute Dienſte, indem ſie ſich bemuͤhen uns die alten Scribenten ſo richtig, als es moͤglich iſt, zu liefern. Sie koͤnnen auch gewiſſermaßen Critici heiſſen: aber Critici von der unterſten Claſſe, weil ſie nur mit Buchſtaben und Sylben umgehen. Die Critick iſt eine weit edlere Kunſt. Jhr Nahme ſelber zeiget zur Gnuͤge, daß ſie ei - ne Beurtheilungs-Kunſt ſeyn muͤſſe, welche nothwendig eine Pruͤfung oder Unterſuchung eines Dinges nach ſei - nen gehoͤrigen Grundregeln, zum voraus ſetzet. Da die - ſer Begriff aber noch gar zu allgemein iſt, ſo darf man nur mercken, daß die Critick ſich nur auf die freyen Kuͤn - ſte, das iſt auf die Grammatic, Poeſie, Redekunſt, Hiſto - rie, Muſic und Mahlerey erſtrecke. Die Geometrie, ſo bey den Alten auch zu den freyen Kuͤnſten gerechnet wur - de, iſt in neuern Zeiten ſo wohl als die Baukunſt mit gu - tem Grunde unter die Wiſſenſchafften gezehlet worden: weil man es darinn laͤngſt zu einer demonſtrativen Ge - wißheit gebracht hat; die man in jenen noch lange nicht erreichen koͤnnen. Ein Criticus iſt alſo dieſer Erklaͤrung nach, ein Gelehrter, der die Regeln der freyen Kuͤnſte phi - loſophiſch eingeſehen hat, und alſo im Stande iſt, die Schoͤnheiten und Fehler aller vorkommenden Meiſterſtuͤ - cke oder Kunſtwercke, vernuͤnftig darnach zu pruͤfen und richtig zu beurtheilen.
Dieſen meinen Begriff zu rechtfertigen, will ich mich nur auf den, ſeiner groſſen Einſicht und Gelehrſamkeit halber, beruͤhmten Engliſchen Grafen von Schaftesburyberuf -Vorrede. beruffen, der im I. Th. ſeiner Characteriſticks und zwar in dem Tractate Advice to an Author, ausdruͤcklich eben dieſe Beſchreibung gemacht. Die gantze andre Ab - theilung dieſes Werckchens handelt weitlaͤuftig davon, und waͤre wohl werth, daß ſie von allen, die Buͤcher ſchrei - ben wollen, vorher geleſen und wohl erwogen wuͤrde. Jch kan aber keine beſondre Stelle daraus herſetzen, weil ſie gar zu weitlaͤuftig fallen, und mir alſo den Platz zu an - dern Dingen, die dieſe Vorrede in ſich halten ſoll, beneh - men wuͤrde. Vielleicht giebt uns jemand eine Uberſe - tzung dieſes einzelnen Tractats, oder wenigſtens eines Stuͤckes davon; denen dadurch zu dienen, ſo dieſes tref - liche Werck in ſeiner Mutterſprache nicht leſen, oder doch ſeiner nicht habhafft werden koͤnnen.
Was hat man nun Urſache, vor einer ſolchen ver - nuͤnftigen Critick einen Abſcheu zu bezeugen, wenn man nur vor ſich ſicher iſt, und nicht fuͤrchten darf, ſelbſt in ihre Unterſuchung zu gerathen? Aber das iſt es eben, was viele, die ſich ins Buͤcherſchreiben miſchen, mit der groͤſten Unruhe beſorgen. Der Zoilus, der Momus, oder die Critici ſind die Geſpenſter, die Rieſen, die Zauberer, wie Schafftsbury redet, vor welchen ſie zittern und beben. Und das iſt kein Wunder. Ergreifen nicht die meiſten die Feder, ehe ſie noch wiſſen wie man recht ſchreiben muͤſ - ſe? Giebt man nicht allerley Buͤcher heraus, ehe man ge - wuſt hat, wie ſie gemacht werden muͤſſen, und nach was vor Regeln ſie ſich richten ſollten? Daher entſteht nun die Furcht vor den Criticis; wie ihre Vorreden ſattſam zeigen. Man weiß, daß dieſelben unerbittliche Richter ſind. Sie laſſen ſich nicht durch den aͤußerlichen Schein eines Werckes blenden; Sie bleiben nicht an der Schale kleben; Sie dringen bis aufs innerſte Marck derſelben;SieVorrede. Sie durchforſchen die verborgenſten Schlupfwinckel ei - ner Schrifft, ſie ſey von welcher Art ſie wolle. Und da bleibt vor ihren ſcharfſichtigen Augen nichts verſtecket. Werden ſie offt Schoͤnheiten gewahr, die andre nicht ſe - hen: So entdecken ſie auch offt Fehler wieder die Re - geln der freyen Kuͤnſte, die nicht ein jeder ſo gleich wahr - nimmt, der ſolch ein Werck ohne eine tiefere philoſophiſche Einſicht in die Natur deſſelben, nur obenhin angeſehen. Da nun in dem letzten Falle die Leſer den Criticis viel Danck ſchuldig ſind, welche ſie vor ſolchen glaͤntzenden Narben, und ſcheinbaren Unvollkommenheiten der Schrifften gewarnet: So haben im erſten Falle die Scri - benten ſelbſt Urſache, ſie hochzuſchaͤtzen und zu verehren; weil die unſichtbaren Schoͤnheiten ihrer Wercke, durch ihren Dienſt mehr und mehr ans Licht gebracht werden. Wenn alſo dieſe Letztere ein gut Gewiſſen haben, daß nehmlich ihre Sachen nach den wahren Kunſtregeln aus - gearbeitet worden; ſo werden ſie keine Feindſchafft gegen die Criticos blicken laſſen: Wiedrigen falls aber muͤſſen ſie es nicht uͤbel nehmen, wenn dieſe gerechte Kunſtrichter mehr auf die gantze gelehrte Welt, als auf einzelne, und zwar ſchlechte Schrifftſteller ſehen; und zum wenigſten angehende Scribenten vor den Abwegen warnen, darauf ſich ihre Vorgaͤnger entweder aus Unachtſamkeit, oder aus andern Urſachen verirret haben.
Nunmehro waͤre wohl nichts beſſer vor mich; als wenn ich mich ruͤhmen koͤnnte, ein ſolcher Criticus zu ſeyn, oder wenn ich allbereit bey unſern Deutſchen in dem An - ſehen ſtuͤnde. Allein da dieſes nicht iſt: ſo hat man frey - lich Urſache zu fragen: Ob ich denn eben derjenige ſey, der ſich zum Verfaſſer einer Critiſchen Dicht-Kunſt haͤtte aufwerfen muͤſſen? Dieſer Frage, ſo gut als ich kan, zube -Vorrede. begegnen, will ich nach dem vernuͤnftigen Anſchlage eines geſchickten und ſcharfſinnigen Critici(*)Siehe des beruͤhmten Hn. Prof. Stolles Vorrede zu ſeiner Hiſtorie der Gelahrheit, in der neuern Auflage. unſerer Zeit, kuͤrtzlich diejenigen Umſtaͤnde erzehlen, ſo mich nach und nach zu dieſem Entſchluſſe, der meinem eigenen Geſtaͤnd - niſſe nach faſt gar zu kuͤhn und verwegen iſt, gebracht ha - ben; und alſo eine kurtze Hiſtorie meiner Dicht-Kunſt machen, die zu deſto beſſerm Verſtande derſelben viel bey - tragen wird.
Wie ich von Jugend auf allezeit ein groſſes Vergnuͤ - gen an Verſen gehabt, und ſelbſt durch das Exempel mei - nes eigenen Vaters dazu aufgemuntert worden: alſo fand ſich 1714, gleich im Anfange meiner Academiſchen Jahre, eine Gelegenheit, ein ſogenanntes Collegium Poeticum zu hoͤren. Mein Lehrer war der nunmehro ſeel. Prof. Rohde zu Koͤnigsberg, ein ſehr geſchickter Mann, der ſelbſt einen artigen Vers ſchrieb; und das Buch, ſo er zum Grunde legte, war Menantes allerneuſte Art zur galanten Poeſie zu gelangen. Als nachmahls der itzige Koͤn. Preuß. Hofrath und Leib-Medicus, Hr. D. Pietſch die Poetiſche Profeßion daſelbſt erhielte, und ſonderlich das Gedichte auf den Printz Eugen heraus gab, bekam ich noch einen groͤſſern Trieb zur Poeſie: weil ſein Exempel dazumahl bey jedermann viel Eindruck machte. Jch hatte nach der Zeit die Ehre mit demſelben bekannt zu werden, und ſeine Cenſuren uͤber meine Klei - nigkeiten, ſo offt als ich es wuͤnſchete, zu hoͤren. Dieſer wackere Mann verſtattete mir allezeit einen freyen Zu - tritt, und ihm habe ichs zu dancken, daß ich Canitzen und Horatzen mit Verſtande zu leſen angefangen: weil er mir des erſtern Satire von der Poeſie offt auswendigher -Vorrede. herſagte, und aus dem andern zuweilen ſeine Uberſetzun - gen vorlaß. Unter ſo vielen Unterredungen, ſo ich ſeit 1717 bis 1724 mit demſelben gehabt, dachte derſelbe denn auch einmahl, daß er nicht ungeneigt waͤre, eine An - weiſung zur Poeſie zu ſchreiben: Nicht zwar auf den Schlag, als die gewoͤhnlichen Anleitungen waͤren, dar - an wir ja keinen Mangel haͤtten; ſondern ſo, daß darinn der innere Character und das wahre Weſen eines jeden Gedichtes gewieſen wuͤrde. Damahls geſchah es alſo, daß ich mir den erſten Begriff von einer Critiſchen Dicht-Kunſt machte: deren Nutzbarkeit ich gar wohl ein - ſahe; aber mirs noch nicht traͤumen ließ, daß ich mich der - einſt an dergleichen Arbeit wagen ſollte.
Jm Jahr 1724 kam ich nach Leipzig und ward in der unter Hn. Hofraths Menckens Aufſicht ſtehenden Poetiſchen, itzo Deutſchen Geſellſchafft, gewahr; daß man bey Verleſung eines Gedichtes unzehliche Anmerckungen machte, und ſolche Sachen, Gedancken und Ausdruͤckun - gen in Zweifel zog, die ich allezeit vor gut gehalten hatte. Jch fand ſelber wohl, daß die meiſten ſo ungegruͤndet nicht waren: und ob ich wohl in einigen Stuͤcken auf mei - ner Meynung blieb, und die Einwuͤrfe ſo man mir mach - te, vor ungegruͤndet hielte; ſo war ich doch nicht im Stan - de dieſelben zu heben, und meine Gewohnheit auf eine uͤberzeugende Art zu vertheidigen. Eben damahls ka - men mir die Diſcurſe der Mahler in die Haͤnde, die mich durch ſo viele Beurtheilungen unſrer Poeten, noch begie - riger machten, alles aus dem Grunde zu unterſuchen, und wo moͤglich, zu einer voͤlligen Gewißheit zu kommen, was richtig oder unrichtig gedacht; ſchoͤn, oder heßlich geſchrie - ben; recht, oder unrecht, ausgefuͤhret worden.
Dazu fand ſich nun die ſchoͤnſte Gelegenheit, da ichdasVorrede. das Gluͤck hatte, drey Jahre in des obgedachten Hn. Hof - raths Hauſe zu wohnen, und zugleich Erlaubniß bekam, mir deſſen treffliche Bibliotheck zu Nutze zu machen. Hier lernte ich alle alte Scribenten, alle auslaͤndiſche Poe - ten, alle Criticos, und ihre Gegner kennen. Jch muͤſte ein groſſes Regiſter machen, wenn ich alle die groͤſſern und kleinern Wercke anzeigen wollte, die ich in der Zeit durchgeleſen, bloß in der Abſicht mir ſelbſt einen regelmaͤſ - ſigen Begriff von der Poeſie zu machen; und endlich ei - ne Gewißheit in meinen Urtheilen zu erlangen. Was mir nun Ariſtoteles, Longin, Horatz, Scaliger, Boileau, Dacier, Boſſu, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evre - mont, Fontenelle, Callieres, Furetiere, Schafftsbury, Steele, imgleichen Corneille und Racine in den Vorre - den zu ihren Tragoͤdien, und a. m. die mir itzo nicht ein - fallen, vor ein Licht gegeben; das werden diejenigen ſich leicht vorſtellen, ſo nur etliche davon geleſen haben. Hier - zu ſind nachmahls noch des Caſtelvetro, Muralts und Voltaire Beurtheilungen alter und neuer Poeten, im - gleichen des Hn. Bodmers hieher gehoͤrige Schrifften, ge - kommen, welche mich immer mehr in den alten Jdeen be - feſtiget, und meinem Gemuͤthe eine neue Befriedigung ge - geben haben.
Ob mir nun wohl ſchon im Jahr 1727 von einem groſſen Kenner der Poeſie, unſerm grundgelehrten Herrn D. Maſcou zugemuthet wurde, eine Poetiſche Anweiſung nach meinen Begriffen heraus zu geben; ſo trauete ich mir doch ſolches nicht zu, nach Wuͤrdigkeit ins Werck zu richten. Jndeſſen fand ſich das nechſte Jahr eine An - zahl guter Freunde, die mich erſuchten, ihnen ein Poeti - ſches Collegium zu leſen. Hier ergriff ich nun die Gele - genheit, mir den erſten Entwurf zu einer Critiſchen Dicht -KunſtVorrede. Kunſt zu machen, und die bisherigen unordentlichen Ge - dancken und Anmerckungen von der Poeſie, in einen ſy - ſtemaſtiſchen Zuſammenhang zu bringen. Es iſt nun - mehro ein Jahr, daß ich denſelben zum Ende brachte, und ſeit der Zeit entſchloß ich mich dieſen meinen Entwurf et - was beſſer auszufuͤhren, und ein ziemlich vollſtaͤndiges Werckchen daraus zu machen. Da ſich nun bald ein guter Verleger dazu fand, ſo legte ich wircklich Hand an, und liefere itzo meinem Vaterlande dieſen Verſuch einer Critiſchen Dichtkunſt: den ich gewiß nicht aus meinem Gehirne angeſponnen; ſondern aus allen oberwehnten beruͤhmten Scribenten, und uͤberdas, aus den vortheil - hafften muͤndlichen Unterredungen Hn. Coſten, unſres Franzoͤſiſchen Reformirten Predigers, eines tiefſinnigen Critici; des Hn. Geh. Secretar Koͤnigs, und Hrn. Prof. Krauſens in Wittenberg, geſammlet und in einige Ord - nung gebracht. Dieſe Arbeit, und die Fehler, ſo ich etwa in derſelben begangen haben moͤchte, kan ich mir allein zu - ſchreiben; alles uͤbrige gebe ich nicht vor mein eigen aus. Es wird mir alſo zu keinem Vorwurfe dienen koͤnnen, wenn man irgend ſagen wuͤrde: Jch haͤtte dieſes oder je - nes nicht von mir ſelbſt; es waͤre nichts neues, ſondern hier oder daher genommen ꝛc. Jch hatte mir nur vorgeſetzt das - jenige, was in ſo unzehlich vielen Buͤchern zerſtreut iſt, in einem einzigen Wercke zuſammen zu faſſen, und es de - nen in die Haͤnde zu geben, die entweder ſelbſt Poeten wer - den, oder doch von Poeſien vernuͤnftig wollen urtheilen lernen. Und aus dieſer Nachricht wird ein jeder leicht abnehmen; ob ich mir ſelbſt zu viel zugetrauet, da ich es unternommen eine Critiſche Dicht-Kunſt ans Licht zu ſtellen?
Der andre Einwurf, den ich bey meinem Titelblattevor -Vorrede. vorher ſehe; wird die Worte betreffen, darinn ich ſage, daß das Weſen der Poeſie uͤberhaupt, und ihrer fuͤrnehmſten Gattungen, in der vernuͤnftigen Nachahmung der Natur beſtehe. Jch weiß, wie ſchwer dieſes allen denjenigen ein - gehet, welche die Versmacher-Kunſt und Poeſie vor ei - nerley anſehen; die von keinem Proſaiſchen Gedichte, und von keiner gereimten Proſa was hoͤren wollen: ungeach - tet beydes ſo gemein iſt, als was ſeyn kan. Was mich aber bisher gegen alle Wiederſpruͤche von dieſer Seite in Si - cherheit geſetzet hat, iſt dieſes, daß alle meine Gegner von der Gattung niemahls eine einzige Critiſche Schrifft der alten oder neuern geleſen. Jch bitte alſo meine Leſer ſich nicht zu uͤbereilen, ſondern erſt das Buch ſelbſt, oder zum wenigſten die erſten ſechs Capitel zu leſen, und alles wohl zu uͤberlegen. Jch wuͤrde mich bey Verſtaͤndigen aus - lachenswuͤrdig gemacht haben, wenn ich die Poeſie in der Kunſt zu ſcandiren oder zu reimen geſucht haͤtte. Fran - zoſen und Jtaliener thun das erſte nicht, und haben doch Poeſien die Menge. Die Engellaͤnder ſchreiben ſo wohl als die alten Griechen und Roͤmer, gantze Helden-Gedich - te ohne Reime: wer will ihnen aber die Poeſie abſpre - chen? Alle Romane ſind weder um das Sylbenmaßes noch des Reimes wegen, ſondern bloß um der Fabel hal - ber zur Poeſie zu rechnen. Ariſtoteles hat auch ausdruͤck - lich geſagt: Die Epopee koͤnne in beyderley Schreibart abgefaſſet werden und doch ein Gedichte bleiben; herge - gen Empedocles ſey ein Naturlehrer, aber kein Poet zu nennen, ob er gleich ein groß Buch in Alexandriniſchen Verſen geſchrieben. Eben dieſer groſſe Criticus hat aus - fuͤhrlich dargethan, daß ein Poet ſo wohl als ein Mahler und Bildſchnitzer ein Nachahmer der Natur ſey; und eine Sache entweder ſo wie ſie iſt, oder geweſen; oder wie ſie zu** 2ſeynVorrede. ſeyn ſcheint, und wie man ſagt, daß ſie ſey: oder endlich wie ſie von rechtswegen ſeyn ſollte, abbilde und vorſtelle. S. das XXVIſte Cap. ſeiner Poetick. Wer nun die Sache beſſer zu verſtehen denckt, der ſey ſo gut und wiederlege die - ſen tiefſinnigen Kenner freyer Kuͤnſte, der gewiß ſo viel Einſicht in die wahre Dicht - und Rede-Kunſt gehabt, als ob er ſich ſein lebenlang auf nichts anders gelegt haͤtte. So lange man aber dieß nicht gethan, ſo erlaube man es mir eben den Weg zu gehen, darauf die geſunde Vernunft alle gute Poeten und Criticos, die vor mir gelebt, zu allen Zeiten und in allen Laͤndern geleitet hat. Man mercke aber endlich auch, daß es ein anders ſey, etwas in metriſcher und etwas in poetiſcher Schreibart abfaſſen. Vieles iſt metriſch genug geſchrieben; das iſt, es ſcandirt und reimet gut genug: Aber es iſt kein Fuͤnckchen von Poetiſchem Geiſte darinn; und verdient alſo eine gereimte Proſe zu heißen. Vieles hergegen iſt ſehr poetiſch geſchrieben, ob es gleich weder Sylbenmaaß noch Reime hat. Von bey - dem aber iſt noch ein poetiſcher Jnhalt, wie eine Perſon von dem Kleide, ſo ſie traͤgt, unterſchieden. Ein Gedichte kan metriſch und proſaiſch, ſchlecht weg, auch poetiſch be - ſchrieben werden: bleibt aber allemahl ein Gedichte: wie dieſes alles in dem Wercke ſelbſt ausfuͤhrlicher vorkom - men wird.
Wegen des Dritten Capitels, vom guten Geſchma - cke eines Poeten, habe ich noch zu erinnern, daß ich nach der Zeit, als es ſchon gedruckt war, gefunden, daß auch der Hr. von Leibnitz meiner Meynung geweſen. Jch finde nehm - lich in den Anmerckungen uͤber des Grafen von Schaffts - bury oberwehntes Buch, im Recueil de diverſes pieces, p. 285 folgende Worte: Le Diſcours ſur le Gout, Miſc. 3 c. 2 me paroit conſiderable. Le Gout diſtingué del’En -Vorrede. l’Entendement, conſiſte dans les perceptions confuſes, dont on ne ſauroit aſſez rendre raiſon. C’eſt quelque choſe d’approchant de l’Inſtinct. Le Gout eſt formé par le Naturel & par l’Uſage. Et pour l’avoir bon; il faut s’exercer à gouter les bonnes choſes, que la Rai - ſon & l’Experience ont deja autoriſées: En quoi les jeunes gens ont beſoin de guides. Wer dieſe merck - wuͤrdige Worte, des groͤſten Philoſophen unſres Vater - landes und unſrer Zeiten, mit meinem Capitel vom guten Geſchmacke zuſammen haͤlt; der wird finden, daß ſelbiges gleichſam nur eine Erklaͤrung und weitlaͤuftige Ausfuͤh - rung davon zu nennen: weil er mit kurtzem eben das ſagt, was ich vollſtaͤndiger erwieſen und gehoͤriger Weiſe mit Exempeln erlaͤutert habe. Es iſt aber werth daß wir die Stelle des gelehrten Engellaͤnders auch anſehen, ob er vielleicht einer andern Meynung, den Geſchmack betref - fend, zugethan iſt, als der Hr. von Leibnitz. Our joint Endeavour, heiſt es p. 164, therefore, muſt appear this: To ſhew, that nothing, which is found charming or delightful in the polite World, nothing, which is adopted as Pleaſure, or Entertainment, of whatever Kind, can any way be accounted for, ſupported, or eſtablish’d without the Pre-eſtablishment or Suppoſi - tion of a certain Taſte. Now a Taſte or Jugdment, t’is ſupposd, can hardly come ready form’d with us in - to the World. Whatever Principles or Materials of this Kind we may poſſibly bring with us; whatever good Facultys, Senſes, or anticipating Senſations and Imaginations, may be of Nature’s Growth, and ariſe properly, of themſelves, without our Art, Promotion, or Aſſiſtence, the general Idea which is form’d of all this Management, and the clear Notion we attain of** 3whatVorrede. what is preferable ad principal in all theſe Subjects of Choice and Eſtimation, will not, as I imagine, by any Perſon be taken for innate. Uſe, Practice and Cul - ture muſt precede the Underſtanding and Wit of ſuch an advanced Size and Growth as this. A legitimate and juſt Taſte can neither be begotten made, conceiv’d, or produc’d, without the antecedent Labour and Pains of Criticism.
Dieſe Stellen, wie mich duͤnckt, geben deutlich genug zu verſtehen, daß der Geſchmack nach dieſer beyden groſſen Maͤnner Meynung, uns nicht angebohren, ſondern erlan - get werde; daß junge Leute einer Anfuͤhrung darinn be - noͤthiget ſind; daß er ein Urtheil von dem was ſchoͤn, an - genehm, oder heßlich und verdruͤßlich iſt, ſey, inſoweit man von dieſen Beſchaffenheiten eines Dinges nur nach un - deutlichen Empfindungen urtheilt; und daß endlich der gute Geſchmack ſich auf critiſche Regeln gruͤnde und dar - nach gepruͤfet werden muͤſſe: daher es denn unwieder - ſprechlich folget, daß zwey wiederwaͤrtige Urtheile des Ge - ſchmackes, von der Schoͤnheit gewiſſer Dinge, unmoͤglich zugleich wahr und richtig ſeyn koͤnnen. Wie ich nun dieſe wenige Zeugniſſe hoͤher als hundert andre halte; ſo will ich auch weder den Spectateur, noch den Herrn Rollin anfuͤhren, ob ſie gleich auch meiner Meynung ſind. Es iſt ohnedem unnuͤtze, mit Zeugen etwas aus - zumachen, was durch Gruͤnde erwieſen werden muß; und man bedient ſich derſelben in ſolchem Falle nur ge - gen die, ſo noch in dem Vorurtheile des Anſehens ſtecken, und nicht im Stande ſind, die Krafft gruͤndlicher Beweiſe recht bey ſich wircken zu laſſen.
Schluͤßlich bitte ich alle itzt lebende Deutſche Poeten um Vergebung; daß ich ihre Gedichte in meinem Wer -ckeVorrede. cke nicht habe brauchen koͤnnen. Jch hatte mir die Re - gel gemacht, gar keinen lebenden Dichter zu tadeln oder zu critiſiren: daraus floß nun nothwendig die andre, daß ich auch keinen loben muͤſte; weil ſonſt diejenigen, ſo ich uͤbergangen haͤtte, ſolches Stillſchweigen vor einen Tadel wuͤrden gehalten haben. Es war alſo dieſes der ſicherſte Weg, mich weder einer Schmeicheley, noch des Haſſes oder Neides halber, verdaͤchtig zu machen. Die Nachkommen werden ſchon einem jeden ſein Recht wie - derfahren laſſen; und ich werde deswegen doch einen je - den nach ſeinen Verdienſten zu verehren wiſſen, auch bey andrer Gelegenheit mich nicht entziehen, dieſelben oͤffent - lich zu ruͤhmen.
Da ich uͤbrigens die Poeſie allezeit vor eine Brodt - loſe Kunſt gehalten, ſo habe ich ſie auch nur als ein Ne - ben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit darauf ge - wandt, als ich von andern ernſthafftern Verrichtungen eruͤbern koͤnnen. Sollte ich kuͤnftig noch eben ſo viel Muße behalten: ſo dencke ich noch eine neue Ausgabe der Wercke Virgilii zu Stande zu bringen, und zwar auf eine bisher ungewoͤhnliche Art. Man hat, wie be - kannt, drey hundert Jahre her ſich bemuͤhet, uns den Text dieſes Poeten durch Gegeneinanderhaltung der alten Manuſcripte ſo richtig zu liefern, als es moͤglich geweſen: und daher ſind alle die Auflagen mit Obſer - vationibus criticis, Lectionibus variantibus, No - tis variorum, in vſum Delphini, u. ſ. w. entſtanden; davon alle Buchlaͤden voll ſind. Andre die wohl ſa - hen, daß dieſe Ausgaben mehr vor critiſche Gruͤbler, als vor gemeine Leſer waren, ſo ſich aus der unendli - chen Menge ihrer Anmerckungen offt keine einzige zu Nutze machen konnten; gaben die alten ScribentenmitVorrede. mit ſolchen Noten heraus, die den Verſtand des Textes erleichterten, und theils die Alterthuͤmer, theils die ſchwerſten Stellen erklaͤrten: dergleichen die Ausgaben Bonds, Minellii, Cellarii, ad modum Minellii, u. dergl. geweſen. Noch andre gaben den bloßen Text, ohn alle Anmerckungen in kleinerm Formate heraus, um dadurch denen zu dienen, die ſchon mit dem Texte bekannt wa - ren, oder nicht viel auf groſſe und theure Buͤcher wen - den wollten, wie die Elzeviriſchen, und zum theil die Waesbergiſchen Editionen ausweiſen. Mein Vorha - ben aber iſt endlich einmahl die Schaale der Worte Virgilii, damit man ſich ſo lange aufgehalten, fahren zu laſſen, und auf den Kern ſeiner Gedichte zu gehen. Man hat uns bisher den Virgil in die Haͤnde gegeben, um Woͤrter und poetiſche Redensarten daraus zu lernen: um den Jnhalt aber, der doch das fuͤrnehmſte war, oder um die innere Einrichtung ſeiner Gedichte nach den Re - geln der Dicht-Kunſt, hat man ſich wenig bekuͤmmert. Dieſes ſoll alſo meine Arbeit ſeyn, daß ich I) vor die Eclogen ſowohl, als vor die Georgica und die Eneis, Poetiſch-critiſche Einleitungen ſetzen, und die Natur die - ſer Gedichte darinn erklaͤren werde, II) will ich auch un - ter den Text uͤberall diejenigen Anmerckungen ſetzen, ſo zu deſto beſſerer Einſicht der Poetiſchen Kunſtgriffe Vir - gilii dienen, und die Urſachen anzeigen werden, warum er es ſo, und nicht anders gemacht. III) Werde ich auch nicht unterlaſſen, die kleinen Fehler anzumercken, ſo die - ſem groſſen Poeten zuweilen entwiſchet ſind. Die Edi - tion ſoll ſo ſauber werden als eine Hollaͤndiſche, und in ſolchem Formate erſcheinen, daß man ſie um einen billigen Preis wird geben koͤnnen.
JCh habe es vor dienlich erachtet, an ſtatt einer Einleitung zu meiner deutſchen Poeſie, das treffliche Gedicht Horatii zu uͤberſetzen, welches dieſer groſſe Kenner und Meiſter der Poeſie mit dem Nahmen einer Dichtkunſt belegen wollen: ohngeachtet es eigentlich nur in Form eines Schreibens an ein vornehmes Geſchlecht der Piſo - nen abgefaſſet iſt.
Die Menge ſchlimmer Poeten mochte zu Zeiten dieſes Dichters in Rom ſo groß ſeyn, als heute zu Tage in Deutſchland. Siehe L. II. Ep. I. v. 108. Ein jeder, der nicht faul war, ſtuͤmpelte was zuſammen, ſo zwar ein ziem - lich richtiges Sylbenmaaß hatte, aber weder durch ſeinen ſinnreichen und feurigen Jnhalt von dem Geiſte, noch durch die ordentliche Einrichtung von dem Urtheile, noch endlich durch die regelmaͤßige Schreibart von der Kunſt ſeines Meiſters ein Zeugniß ablegte. Gleichwohl wollten alle dieſe Verßmacher Poeten heiſſen; ja einige davon unterſtunden ſich gar, durch ihre Geſchwindigkeit im Dichten, und den Beyfall des Poͤbels verleitet, den groſ - ſen Geiſtern, ſo ſich dazumahl am Roͤmiſchen Hofe aufhiel -a 2ten,4Vorbericht. ten, den Preis ſtreitig zu machen. Die Schrifften unſe - res Horatii zeigen an hundert Stellen unzehliche Spuren davon; und ſogar Virgil, ſo wenig er ſonſt zur Satire geneigt war, hat ſich nicht enthalten koͤnnen, auf einen Bavium und Maͤvium als ein paar eingebildete Poeten zu ſticheln.
Horatz, einer der aufgeklaͤrteſten Koͤpfe ſeiner Zeit, konnte aus einem gerechten Eifer vor den guten Ge - ſchmack, den Stoltz ſolcher Stuͤmper nicht leiden: zumahl er ſehen muſte, daß der groſſe Haufe ſeiner Mitbuͤrger von dieſen unzeitigen Sylbenhenckern gantz eingenommen war. Denn die Roͤmer waren auch zu Auguſts Zeiten lange ſo geſcheidt noch nicht, als vormahls die Athenien - ſer in Griechenland geweſen. Die freyen Kuͤnſte hatten in Jtalien ſpaͤt zu bluͤhen angefangen, und der gute Ge - ſchmack war damahls noch lange nicht allgemein worden. Nach Regeln von Dingen zu urtheilen, das iſt ohne dem kein Werck vor unſtudirte Leute, ja nicht einmahl vor Halbgelehrte: Und daher kam es, daß Horatz theils ſei - nen Roͤmern eine Anleitung geben wollte, wie ſie die Schrifften ihrer Poeten recht pruͤfen koͤnnten; theils auch der groſſen Anzahl der damahligen Versmacher die Au - gen zu oͤffnen ſuchte, damit ſie nicht ferner aus blinder Eigenliebe ihre Mißgeburten vor Meiſterſtuͤcke ausgeben moͤchten.
Jn dieſer Abſicht nun trug er aus den griechiſchen Scri - benten, ſo vor ihm davon geſchrieben hatten, die vornehm - ſten Hauptregeln zuſammen, und verfertigte ein herrli - ches Gedichte daraus. Er richtete ſolches an die Piſones, das iſt an den Vater Piſo, der mit dem Druſus Libo im Jahr der Stadt Rom 738, als Horatius ein und funfzigJahr5Vorbericht. Jahr alt war, Buͤrgermeiſter geworden; und an deſſen Soͤhne. Dieſer Piſo war ein Liebhaber und groſſer Kenner der Poeſie, und ſein aͤlteſter Sohn mochte ſelbſt viel Luſt und Naturell dazu haben, wie aus dem Gedichte ſattſam erhellen wird. Dieſen anſehnlichen Leuten, die am Kaͤyſerlichen Hofe in groſſen Gnaden ſtunden, wollte Horatz eine Richtſchnur in die Hand geben, darnach ſie ſich in Beurtheilung aller Gedichte achten koͤnnten; zu gleicher Zeit aber den guten Geſchmack des Hofes in gantz Rom und Jtalien ausbreiten: nachdem er ſich ſelbſt, durch unablaͤßigen Fleiß in Griechiſchen Buͤchern, ſonderlich durch Leſung der critiſchen Schrifften Ariſtotelis, Crito - nis, Zenonis, Democriti und Neoptolemi von Paros, in den Regeln deſſelben recht feſt geſetzet hatte.
Jndeſſen muß niemand dencken, daß hier der Poet ein vollſtaͤndiges ſyſtematiſches Werck habe machen wollen. Die groͤſten Bewunderer deſſelben geſtehen, daß es ohne alle Ordnung geſchrieben ſey, und bey weitem nicht alle Regeln in ſich faſſe, die zur Poeſie gehoͤren. Der Ver - faſſer hat ſich an keinen Zwang einer philoſophiſchen Ein - richtung binden wollen; ſondern als ein Poet nach Ver - anlaſſung ſeiner Einfaͤlle, bald dieſe bald jene Poetiſche Regel in einer edlen Schreibart Vers-weiſe ausgedruͤckt. Aber alles was er ſagt iſt hoͤchſtvernuͤnftig, und man kan ſich von ſeinen Fuͤrſchrifften kein Haar-breit entfernen, ohne zugleich von der Wahrheit, Natur und geſunden Vernunft abzuweichen. Die unordentliche Vermiſchung ſeiner Regeln dienet nur dazu, daß durch dieſe Mannig - faltigkeit, und unvermuthete Abwechſelung der Sachen, der Leſer deſtomehr beluſtiget und eingenommen werde.
Es iſt dieſe Dichtkunſt Horatii bereits von dem be -a 4ruͤhm -6Vorbericht. ruͤhmten Herrn Eckardt ins Deutſche uͤberſetzt worden, und in den poetiſchen Nebenſtunden, ſo er unter den Buch - ſtaben H. A. E. G. v. D. herausgegeben, anzutreffen. Ob ich es nun beſſer oder ſchlechter getroffen als derſelbe, mag der geneigte Leſer ſelbſt urtheilen. Jch hatte ſeine Uberſetzung mehr als einmahl durchgeleſen, als ich ſchluͤßig ward, mich noch einmahl an eben dieſelbe Arbeit zu wa - gen: bildete mir aber nicht ein, daß es mir ſo viel Muͤhe dabey koſten wuͤrde, als ich hernach in der That gewahr wurde. Die nachdruͤckliche Wortfuͤgung der lateiniſchen Sprache, der zuweilen abgebrochene Ausdruck Horatii, nebſt vielerley Kunſtwoͤrtern und Alterthuͤmern, die ſich ſo ſchwer Deutſch geben laſſen, machten mir die Arbeit ſo auer, daß ich ſie bald wieder haͤtte liegen laſſen, als ich ſchon den dritten Theil davon fertig hatte. Doch nach Jahres friſt griff ich es von neuem an, und brachte endlich das gantze Gedichte in den Stand, darinn ich es hier ans Licht ſtelle.
Jch ruͤhme mich nicht daß ich es von Zeile zu Zeile, viel - weniger von Wort zu Wort gegeben haͤtte: Denn dieſes iſt zum theil unnoͤthig, theils auch aus oberwehnten Ur - ſachen unmoͤglich geweſen. Aus fuͤnfhundert lateiniſchen Verßen habe ich mich genoͤthiget geſehen faſt 700 deutſche zu machen; wiewohl ich die Regel ſtets vor Augen hatte: Ein Uberſetzer muͤſſe kein Paraphraſt oder Ausleger wer - den. Habe ich nur in hauptſaͤchlichen Dingen nichts ver - ſehen oder geaͤndert; ſo wird mans verhoffentlich ſo genau nicht nehmen, wenn gleich nicht der voͤllige Nachdruck aller Horatianiſchen Sylben und Buchſtaben erreichet worden. Ein proſaiſcher Uberſetzer muß es hierinn ge - nauer nehmen; einem poetiſchen aber muß man in Anſe -hung7Vorbericht. hung des Zwanges dem er unterworfen iſt, ſchon eine klei - ne Abweichung zu gute halten, wenn er nur dieſen Man - gel durch eine angenehme und leichtflieſſende Schreibart erſetzet.
Dieſes iſt mit eine von den vornehmſten Abſichten ge - weſen, die ich mir in dieſem Gedichte vorgeſetzet habe. Jch wollte den Horatz gern ſo uͤberſetzen, daß man ihn ohne Anſtoß, und wo moͤglich mit Vergnuͤgen in unſrer Spra - che leſen koͤnnte. Dieſen Zweck aber wuͤrde ich nicht er - halten haben, wenn ich kein Bedencken getragen haͤtte, die Richtigkeit unſrer deutſchen Wortfuͤgung, nebſt der Reinigkeit im Sylbenmaaße und in den Reimen aus den Augen zu ſetzen. Das Gehoͤr unſrer Landesleute iſt im Abſehen auf dieſe aͤuſſerliche Stuͤcke ſchon uͤberaus zaͤrt - lich geworden. Kein Menſch lieſt itzo mehr Lohenſteins Gedichte: das macht ſie ſind bey ſo viel herrlichen Ge - dancken zu hart und zu rauhe. Selbſt Hoffmannswaldau iſt nicht mehr ſo beliebt, als er ſonſt geweſen; das macht daß er von ſeinen Nachfolgern auch in der Reinigkeit der Verße weit uͤbertroffen worden. Ja dieſe Zaͤrtlichkeit geht zuweilen ſo weit, daß man deßwegen die allerelen - deſten Reime, ſo nur etwas ungezwungen flieſſen, bey aller ihrer Unvernunft und Niedertraͤchtigkeit der Ge - dancken vor ſchoͤn: und hingegen bey einer kleinen Haͤrte des Ausdruckes, die ſchoͤnſten Gedichte groſſer Meiſter vor elend und mager ausruffet. Habe ich alſo nicht Ur - ſache gehabt, mich auch vor dem Eckel der zaͤrtlichſten Oh - ren zu huͤten; ſonderlich in einem Gedichte, daraus ſie die innern Schoͤnheiten der wahren Poeſie ſollen beurtheilen lernen?
Jſt es mir nun darinn nach Wunſche gelungen, ſo tra -a 4ge8Vorbericht. ge ich keinen Zweifel, daß meine Arbeit ihren Nutzen haben werde. Es iſt nicht eines jeden Werck, ſich mit dem Lateine der alten Poeten ſo bekannt zu machen, daß er ſeinen Horatium ohne Muͤhe verſtehen, geſchweige denn mit Luſt leſen koͤnnte. Jn deutſcher Sprache wird er alſo viel verſtaͤndlicher ſeyn, und auch Anfaͤnger auf einen gu - ten Weg weiſen, die ſich vielleicht ſonſt durch uͤble Anfuͤh - rer haͤtten verderben laſſen. Daß es bereits vielen ſo ge - gangen, iſt wohl kein Zweifel, daß aber auch viele durch Horatium von ihren Jrrwegen wieder zurecht gebracht worden, koͤnnte ich durch mein eigen Exempel erweiſen, wenn es wichtig genug waͤre. Doch Herr Hoffrath Neu - kirch wird vermuthlich Anſehen genug haben, uns zu zei - gen, daß auch Leute, die bereits in gantz Deutſchland vor Poeten gehalten werden, in unſrer Horatianiſchen Dicht - kunſt noch genug zu lernen finden. Er hat ſolches in einem Hochzeit-Gedichte von ſich ſelbſt oͤffentlich geſtanden, ſo er, allem Anſehen nach, aus Berlin nach Breßlau abge - ſchicket. Es ſteht Hofm. W. Ged. VI. Th. 101. Bl.
Er ruffet gleich anfangs die Muſen um Huͤlfe an, weil er abermahl ein Gedichte nach Schleſien zu verfertigen vorhabe; dabey er denn beſorgen muͤſte, daß es nicht mehr ſo wohl, als die vorigen wuͤrde aufgenommen werden. Die Urſache, ſagt er, ſey die Aenderung, ſo mit ſeiner Poe - ſie vorgegangen. Er habe aufgehoͤrt ſeinen Vers mit Muſcateller-Safft und Amberkuchen zu naͤhren. Es ſey kein Zibeth noch Biſam, kein Plautus, Tacitus, Seneca oder Plato mehr darinn zu ſpuͤren; Ja er habe auch ſo - gar die Sinnbilder gaͤntzlich ausgemuſtert. Darauf ſagt er, daß ihm alle dieſe Lapalien itzo gantz laͤcherlich vorkaͤ - men, ungeachtet ſie ſonſt viel hundert Leſer verblendet,und9Vorbericht. und ihm ſelbſt viel Ruhm gebracht haͤtten. Man habe ihn gar dem groſſen Opitz vorgezogen, den er doch nie errei - chen koͤnnen. Endlich bricht er in den feurigen Ausdruck aus; der uns die Quelle anzeiget, daraus dieſe ſo merck - liche Veraͤnderung ſeines Geſchmacks in der Poeſie her - gefloſſen. Es heißt:
Wieviel Schuͤler wuͤrde nicht Horatz noch bekommen, wenn alle Deutſche Poeten, die deſſen beduͤrftig waͤren, dem Exempel dieſes wackern Mannes folgen wollten!
Die kleinen Anmerckungen, ſo ich unter den Text geſe - tzet, werden vermuthlich nicht ohne Nutzen ſeyn, und in mancher Sache ein gutes Licht geben. Jn Verßen laſſen ſich nicht alle Alterthuͤmer ſo erklaͤren, daß man ſie ſattſam verſtehen koͤnnte, wenn man von der Zeit des Scribenten faſt ein paar tauſend Jahre entfernet iſt. Gelehrtere Leſer, die derſelben nicht noͤthig haben, koͤnnen ſie nach Belieben ungeleſen laſſen; wie mans mit den Lateiniſchen Noten bey alten Scribenten zu machen pflegt, wenn man darinn ſchon geuͤbt iſt. Jch habe meinen Zweck erreicht, wenn nur Anfaͤnger daraus meinen Poe - ten verſtehen lernen.
Vermag denn dieß ein Dampf, der uns bey Schlaf und Nacht, Umnebelt Seel und Sinn? Der uns zu Schwaͤrmern macht, Jm Schlafen ohne Schlaf, im Ruhen ohne Raſten? Der klettert hin und her an Thuͤren in Pallaſten. Der will der Lunen nach in unbepfaͤlter Lufft, Steigt friſch dem Giebel zu. Der Schmied ergreift den Hammer, Und laͤufft zum Amboß hin, der Zimmermann die Klammer. Der ſchwimmet durch den Strohm, erleget ſeinen Feind, Der macht ſich auf den Weg, eh Phoſphorus noch ſcheint, Der ſetzt ſich auf das Holtz, und meynet wegzureiten, Giebt friſch der Wand den Sporn. Der faͤnget an zu ſtreiten Und brauchet ſeiner Fauſt: Der zeucht ſich auf das Hauß, Jm Kloben kuͤhnlich an, und nimmt die Elſtern aus. Wie auch viel andre mehr, die ſchlafend das beginnen, Was niemand wachend kan.
WEnn das Alterthum einer Sache ein Anſehen geben oder einen beſondern Werth beylegen kan; ſo iſt gewiß die Poeſie eine von den wich - tigſten freyen Kuͤnſten, ja der vornehmſte Theil der Gelehrſamkeit. Sie iſt ſo alt, daß ſie auch vor der Wiſſen - ſchafft der Sterne hierinn den Vorzug behaupten kan, die doch von den uralten Chaldaͤern, oder wie andre meynen, von den Egyptern, bald nach der Suͤndfluth ſchon eifrig getrieben wor - den. Und das iſt kein Wunder. Die Aſtronomie hat ihren Urſprung auſſer dem Menſchen, in der ſehr weit entlegenen Schoͤnheit des Himmels. Die Poeſie hergegen hat ihren Grund im Menſchen ſelbſt, und geht ihn alſo weit naͤher an. Sie hat ihren erſten Quell in den Gemuͤths-Neigungen des Menſchen. So alt alſo dieſe ſind, ſo alt iſt auch die Poeſie; und wenn ſie ja noch einer andern freyen Kunſt weichen ſoll, ſo wird ſie bloß die Muſic, ſo zu reden, vor ihre aͤltere Schwe - ſter erkennen.
Einige wollen behaupten, daß die allererſten Menſchen das Singen von den Voͤgeln gelernet. Es kan ſolches freylich wohl nicht gantz und gar geleugnet werden; vielmehr hat esD 5eine58Das I. Cap. Vom Urſprungeeine ziemliche Wahrſcheinlichkeit vor ſich. Leute, die im An - fange der Welt mehr in Gaͤrten oder angenehmen Luſtwaͤl - dern, als in Haͤuſern wohnten, muſten ja taͤglich das Ge - zwitſcher ſo vieler Voͤgel hoͤren, und den vielfaͤltigen Unter - ſcheid ihres Geſchreyes wahrnehmen. Von Natur waren ſie, ſo wohl als unſre kleineſten Kinder, uns ſelbſt nicht aus - genommen, zum Nachahmen geneigt: Daher konnten ſie leicht Luſt bekommen, den Geſang desjenigen Vogels, der ihnen am beſten gefallen hatte, durch ihre eigene Stimme nachzumachen, und ihre Kehle zu allerley Abwechſelungen der Thoͤne zu gewehnen. Diejenigen, ſo vor andern gluͤcklich darinn waren, erhielten den Beyfall der andern, und weil man ſie gern hoͤrete, legten ſie ſich deſto eifriger auf dergleichen Melodeyen die gut ins Gehoͤr fielen: ſo daß dieſe vormahlige Schuͤler des wilden Gevoͤgels, bald ihre Meiſter im Singen uͤbertrafen.
Allein es iſt nicht noͤthig auf ſolche Muthmaßungen zu verfallen. Der Menſch wuͤrde meines Erachtens geſungen haben, wenn er gleich keine Voͤgel in der Welt gefunden haͤtte. Lehrt uns nicht die Natur alle unſre Gemuͤths-Be - wegungen durch einen gewiſſen Thon der Sprache ausdruͤ - cken? Was iſt das Weinen der Kinder anders als ein Kla - gelied, ein Ausdruck des Schmertzens, den ihnen eine unan - genehme Empfindung verurſachet? Was iſt das Lachen und Frohlocken anders als eine Art freudiger Geſaͤnge, die einen vergnuͤgten Zuſtand des Gemuͤthes ausdruͤcken? Eine jede Leidenſchafft hat ihren eigenen Thon, womit ſie ſich an den Tag legt. Seufzen, Aechzen, Draͤuen, Klagen, Bitten, Schelten, Bewundern, Loben, u. ſ. w. alles faͤllt anders ins Ohr; weil es mit einer beſondern Veraͤnderung der Stim - me zu geſchehen pflegt. Weil man nun angemercket, daß die natuͤrlich ausgedruͤckten Leidenſchafften auch bey andern, eben dergleichen zu erwecken geſchickt waͤren; ſo lieſſen ſichs die Freudigen, Traurigen, Zuͤrnenden, Verliebten u. ſ. w. deſtomehr angelegen ſeyn, ihre Gemuͤths-Beſchaffenheit aufeine59und Wachsthume der Poeſie. eine bewegliche Art an den Tag zu legen, um dadurch auch andre, die ihnen zuhoͤreten, zu ruͤhren; das iſt, ihnen was vorzuſingen.
Wie nun bisher erwehnter maßen, auch bloße Stimmen die innerlichen Bewegungen des Herzens ausdruͤcken; indem z. E. die geſchwinde Abwechſelung wohl zuſammen ſtimmen - der ſcharfer Thoͤne luſtig, die langſame Abaͤnderung gezoge - ner und zuweilen uͤbellautender Thoͤne traurig klinget, u. ſ. f. So iſt doch leicht zu vermuthen, daß man nicht lange bey blo - ßen Stimmen oder Thoͤnen im Singen geblieben ſey, ſon - dern auch bald gewiſſe Worte dabey werde ausgeſprochen haben. Man hoͤrt es freylich auch auf muſicaliſchen Jnſtru - menten ſchon, ob es munter oder klaͤglich, trotzig oder zaͤrtlich, raſend oder ſchlaͤfrig klingen ſoll: und geſchickte Virtuoſen wiſſen ihre Zuhoͤrer zu allen Leidenſchafften, bloß durch ihre kuͤnſtliche Vermiſchung der Thoͤne, zu zwingen. Allein es iſt kein Zweifel, daß Worte, ſo nach einer geſchickten Melodie ge - ſungen werden, noch viel kraͤfftiger in die Gemuͤther wirken.
Sonderlich muß man dieſes damahls wahrgenommen haben, als die Geſang-Weiſen ſo vollkommen noch nicht wa - ren als itzo, da die Muſick aufs hoͤchſte geſtiegen iſt. Es war alſo ſehr natuͤrlich, daß die erſten Saͤnger an ſtatt unver - nehmlicher Thoͤne, verſtaͤndliche Sylben und deutliche Woͤr - ter zu ſingen den Anfang machten. Dadurch konnten ſie das - jenige ſo ſie bey ſich empfunden hatten, deſto lebhaffter aus - druͤcken, ihre Gedancken ausfuͤhrlich an den Tag geben, und bey ihren Zuhoͤrern den gewuͤnſchten Endzweck erreichen. Ab - geſungene Worte, die einen Verſtand in ſich haben, oder gar einen Affect ausdruͤcken, nennen wir Lieder; darinn man alſo den Text von der Melodie unterſcheiden kan. Die Ge - ſaͤnge ſind dergeſtalt die aͤlteſte Gattung der Gedichte, und die erſten Poeten ſind Lieder-Dichter geweſen.
Man kan ſich aber leicht einbilden, wie dieſe erſten Oden moͤgen geklungen haben. Alle Dinge ſind anfaͤnglich rauh und grob, oder doch voller Einfalt. Die Zeit beſſert allesaus;60Das I. Cap. Vom Urſprungeaus; die lange Ubung in einer Kunſt bringt ſie endlich zu groͤſ - ſerer Vollkommenheit, und der Ausputz findet ſich offt ſehr ſpaͤt, wenn gleich die Sache ſelbſt laͤngſt erfunden geweſen. Jch ſtelle mir die neuerfundenen Lieder nicht anders vor, als die Evangelien, das Vater unſer und andre in ungebundener Rede abgefaßte Lieder, die man noch itzo an vielen Orten ſin - get: a. d. ſ. die Litaney, der Lobgeſang Mariaͤ, die Collecten u. d. m. Saͤtze von ungleicher Groͤße, ohne eine regelmaͤßige Abwechſelung langer und kurtzer Sylben; ja ſo gar ohn alle Reime, waren bey den erſten Saͤngern ſchon eine Poeſie. Die Pſalmen der Hebraͤer, das Lied Moſis, der Geſang den Mirjam beym Durchgange des rothen Meeres angeſtimmet; u. a. m. koͤnnen uns davon ſattſam uͤberzeugen. So muͤhſam ſich einige Gelehrten mit Hieronymo haben angelegen ſeyn laſ - ſen, in dieſen alten Hebraͤiſchen Liedern ein gewiſſes Sylben - maaß zu finden; ſo leicht wird doch ein jeder Unpartheyiſcher ſehen, daß alle ihre Arbeit vergebens geweſen. Sie haben es mehr hinein gezwungen als darinn gefunden, und es iſt we - der wahrſcheinlich noch noͤthig, daß die Poeſie der aͤlteſten Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt habe, als ſie nachmahls bey den Griechen und Roͤmern erlanget. Man haͤlt es alſo billig mit Joſ. Scaligern, der in ſeinen An - merckungen uͤber Euſeb. ſchreibet: „ Die Hebraͤiſche Spra - „ che iſt durchaus nicht auf die Regeln des Griechiſchen oder „ Lateiniſchen Sylbenmaaßes zu bringen: wenn man gleich „ Himmel und Erde durch einander miſchen wollte.
Selbſt die erſten Poeten unſrer Vorfahren habens nicht beſſer zu machen gewuſt. Jn Schweden hat man in der Edda ſolche Uberbleibſel alter Lieder, wo weder Sylbenmaaß noch Reime gefunden werden. Morhof im Unterr. von der Deutſ. Spr. p. 268. fuͤhrt folgendes an:
Latur ſa er hakon heitir Han rakir lid bannat Jord kan frelſa findum Fridroß kongar oßa Sialfur raͤdr alt och ElfarEira61und Wachsthume der Poeſie. Eira ſtillir amilli Gramur ofgifft ad fremri Gandwikz Jofur Landi.
Jmgleichen hat Schilter in der Vorrede zu Ottfrieds Evan - gelio §. X. T. I. Theſ. Antiqu. Germ. dieſe Probe gegeben.
Daß dieſe alte Schwediſche Sprache wo nicht eine Mutter, wie Rudbeck in ſeiner Atlantica, nebſt andern Schweden behaupten wollen, doch zum wenigſten eben ſowohl eine Toch - ter der Scythiſchen, als die alte Celtiſche geweſen ſey, von welcher die Deutſche ihren Urſprung hat; daß zeigen ſo viele Woͤrter, die in dieſen beyden Proben, an Verſtand und Buch - ſtaben mit unſern heutigen uͤbereinkommen; wenn man die an oberwehnten Orten befindliche lateiniſche Uberſetzung zu Huͤlfe nimmt, und ſonderlich der plattdeutſchen Mundart maͤchtig iſt. Z. E. lid heißt leiten, bannat, verbannet, kan iſt voͤllig kan; Fridroß, Friedensbruch; Kongar Koͤnig; ſialfur, ſelber; alt, alles; och, auch; ad, und; landi, land. Und in dem andern heißt ok auch, firthakind, Men - ſchenkind, grimmi, grimmige, yfr, uͤber, tha, die, warthathi, bewahrete, einginn, einiger, komaſt kom - men. Doch dieſes nur beylaͤufig.
Fragen wir alſo worinn die damahlige Poeſie der Alten denn eigentlich beſtanden: ſo muͤſſen wir ſie, im Abſehen auf das Aeuſſerliche, bloß in der ungefehr getroffenen Gleichheit der Zeilen ſuchen. Es traf ſich irgend ſo, daß die kurzen Ab - ſchnitte der Rede, oder kleinen Theile der Lieder, faſt einerley Anzahl der Sylben hatten. Doch gieng es damit ſo genau nicht zu. Es kam ihnen nicht darauf an, ob die eine Zeile etliche Sylben mehr oder weniger hatte, als die andre. Die Geſchwindigkeit des Singens verkuͤrzte die langen, und dieLang -62Das I. Cap. Vom UrſprungeLangſamkeit der Ausſprache verlaͤngerte die kurtzen, ſo daß ſie ſich ſchon zur Melodie ſchicketen. Wir koͤnnen uns dieſes noch heute zu Tage an alten geiſtlichen Geſaͤngen, imgleichen an den Liedern der Bergleute vorſtellen; die es auch ſo genau nicht nehmen, und die Zeilen ihrer Verße gleichſam nur mit einem Hoͤltzchen abzumeſſen pflegen.
Solche Lieder wird man nun geſungen haben, als Jubal allerley Muſicaliſche Jnſtrumente erfunden, und als Laban dem Jacob ſagte, daß er ihn mit Freuden, mit Singen, mit Paucken und Harfen haͤtte begleiten wollen. Dergleichen Lieder hat Mirjam, Moſes, und nachmahls Debora geſun - gen. Dergleichen Lieder haben David, Aſſaph, Salomo, Jeremias und viele andre gedichtet: Ja die gantze Hebreiſche Poeſie weiß von keinen andern: ſo daß es laͤcherlich iſt, wenn Joſephus ſchreibet, das Buch Hiob fey in Hexametris ge - ſchrieben. Jn ſolchen Verßen hat auch ohne Zweifel Am - phion, Orpheus und Linus in Griechenland noch geſungen, die doch ſo groſſen Ruhm mit ihrer Dicht-Kunſt erlanget. Solcher Art ſind auch die alten Saliſchen Lieder bey den Roͤ - mern geweſen, die Numa eingefuͤhrt. Kurtz, ſo ſind die Poe - ſien der alleraͤlteſten Voͤlcker in der gantzen Welt beſchaffen geweſen. Und wenn ſie ſich von der ungebundenen Rede noch in ſonſt was unterſchieden; ſo muß es bloß in den erhabenen Gedancken und dem edlen Ausdrucke derſelben, in praͤchtigen Figuren, Fabeln, Gleichniſſen und ſchoͤnen Redens-Arten geſucht werden: wie ſolches aus der Morgenlaͤndiſchen Poeſie ſonderlich zu erſehen iſt. Ein Poet aber und ein Muſicus, war damahls einerley, weil die Saͤnger ſich ihre Lieder ſelbſt machten, und die Dichter die ihrigen ſelbſt ſungen. Daher kommt denn nachmahls die Gewohnheit, daß die Poeten ihre Leyren, Cithern, Seyten, Floͤten und Schalmeyen immer anreden, wenn ſie gleich nicht ſpielen koͤnnen. Weil nehm - lich die Alten beydes zugleich konnten, ſo bleiben die Neuern noch bey der Sprache ihrer Vorgaͤnger, und entſchuldigen ſich gemeiniglich mit einer tropiſchen Redens-Art, die uns er - laubt das Adjunctum an ſtatt des Subjecti zu ſetzen.
Mit63und Wachsthume der Poeſie.Mit der Zeit fieng man an die Sylben in poetiſchen Zei - len etwas genauer abzuzehlen, damit ſie ſich deſto beſſer zu den Melodeyen ſchicken moͤchten. Die Griechen moͤgen wohl die erſten geweſen ſeyn die ſolches gethan, obwohl noch allezeit Lieder bey ihnen im Schwange geblieben, darinn ſich die Poe - ten viel Freyheiten heraus nahmen. Man leſe nur nach was Scaliger in ſeiner Poetic, von Dithyrambiſchen und Paͤa - niſchen Geſaͤngen geſchrieben. Ja dieſes witzige Volck ließ es auch dabey nicht bewenden. Denn wie es ein ſehr zartes Gehoͤr hatte, und alſo zur Muſic ſehr geſchickt und geneigt war: alſo bemerckte es bald, daß es auch mit der bloſſen Syl - benzahl in einem Liede nicht ausgerichtet ſey. Die eine Zeile hatte immer einen beſſern Wohlklang als die andre, wenn ſie gleich auf einerley Art geſungen wurden; und bey genauer Aufmerckſamkeit fand man, daß die Urſache in der Abwech - ſelung langer und kurzer Sylben zu ſuchen waͤre. Man be - merckte derowegen, welche Art der Vermiſchung ſich zu die - ſer oder jener Geſang-Weiſe am beſten ſchickte, und daher entſtunden ſehr viel verſchiedene Gattungen der Verße, die in ſo groſſer Menge bey Griechen und Lateinern vorkommen daß man ſie faſt nicht zehlen kan.
Die nordlichen Voͤlcker, darunter denn auch die Deut - ſchen gehoͤren, liebten zwar auch das Singen, hatten aber kein ſo zaͤrtliches Gehoͤr: und verfielen alſo auch auf dieſes kuͤnſtliche Sylbenmaaß der Griechen und Roͤmer nicht. An deſſen ſtatt geriehten ſie auf den Gleichlaut der letzten Sylben in zwo Zeilen ihrer Lieder, und fanden ein beſonderes Belie - ben an ihrem uͤbereinſtimmenden Klange, den ſie den Reim nenneten. Sie gewehnten auch ihre Ohren dergeſtalt daran, daß ſie dieſen Reim endlich vor das weſentlichſte Stuͤck der Poeſie hielten, ja die Verße und alle Gedichte uͤberhaupt, nicht anders als Reime nennten. Dieſen Reim nun zu haben, ſparten ſie weder Kunſt noch Muͤhe; ja ſie verwehrten ſich auch keine Freyheit. Zum wenigſten wuſten ſie einige Aehn - lichkeit der letzten Worte heraus zu bringen, wenn gleich keinevoͤllige64Das I. Cap. Vom Urſprungevoͤllige Gleichheit zu erhalten moͤglich war. Z. E. Ottfrieds Vorrede zu ſeinem Evangelio hebt ſo an:
Nun haben zwar einige, als Huet, in ſeinem Buche vom Ur - ſprunge der Romane, den Urſprung der Reime den Arabern zuſchreiben wollen, welche ſie im achten Jahrhunderte nach Spanien gebracht haben ſollen: welchem auch Campanella beypflichtet. Gyrald holet ſie aus Sicilien her, und Claude Fauchet aus Provence in Franckreich. Andre wollen dieſe Kunſt gar den Rabbinen der Juden zueignen, die doch erſt ſeit des David Kimchi Zeiten dergleichen zu machen angefan - gen; und es ohne Zweifel von den Europaͤiſchen Chriſten ge - lernt. Noch andre haben gar die Reime ſchon bey den alten Lateinern und Griechen finden wollen. Ob es nun wohl nicht zu leugnen iſt, daß man nicht hier und dar einige ſolche Verße finden ſollte, da ſich entweder zwey am Ende, oder einer vor ſich, in der Mitten und am Ende reimet: So iſt doch dieſes von ungefehr gekommen, und man hat wenigſtens keine ſolche Schoͤnheit darinn geſucht als die alten Deutſchen. Die Ver - ſus Leonini ſind auch in Jtalien allererſt im fuͤnften Jahrhun - derte aufgekommen, und haben den Nahmen von einem ge - wiſſen Leonio Canonico, der ſich damit zuerſt hervorgethan. Damahls aber, wie bekannt iſt, waren die deutſchen Voͤlcker ſchon eingefallen, und hatten alſo ihre Reimart mit ſich dahin gebracht. Die Lateiner verliebten ſich auch bey der einreiſſen - den Barbarey und dem Verfalle des guten Geſchmackes ſo ſehr ins Reimen, daß ſie ſich nicht ſatt reimen konnten. Es war nicht genug daß zwey Zeilen mit einander reimeten z. E.
Sondern es muſte ſich auch wohl Mittel und Ende eines Verßes reimen. Z. E.
Kaum war dieſes erdacht, als man gar dreyfache Reime machte: Z. E.
Und auch daruͤber fanden ſich noch andre Kuͤnſtler, die ihre Vorgaͤnger in der Reimſucht uͤbertreffen wollten, indem ſie eine noch kuͤnſtlichere Verſchraͤnckung der gereimten Zeilen erdachten, wie dieß Exempel zeigen wird:
So wurden denn die Verße ſelbſt bey ſo vielen Reimen un - ſichtbar, und die eingebildeten Poeten wurden nichts als elen - de Reimſchmiede, die ſich an dem Klappen der Sylben, wie Kinder an dem Klingen der Schellen beluſtigten.
Bey dem allen aber bleibt es wohl gewiß, daß die Scy - thiſchen oder Celtiſchen Voͤlcker, das iſt unſre Vorfahren und die Barden derſelben als ihre Poeten, etwa um die Zeiten Taciti, auch wohl noch zeitiger, die Reime in ihren Liedern eingefuͤhret, damit ihre Landesleute das Lob ihrer Helden deſto leichter lernen und deſto beſſer behalten moͤchten. Denn weil an Schreibern damahls ein groſſer Mangel war, und das Gedaͤchtniß die Stelle der Chronicken vertreten muſte: ſo waren die gereimten Lieder ſehr geſchickt das Auswendigler - nen zu befoͤrdern. Alle Sprichwoͤrter unſrer Alten zeigen davon. Dieſe hielten den Kern ihrer moraliſchen und politi - ſchen Klugheit in ſich, und wurden der Jugend gleichſam mit der Mutter-Milch eingefloͤſſet; aber zu deſto groͤſſerer Er - leichterung des Gedaͤchtniſſes in Reimen verfaſſet: Z. E.
Doch die Sache iſt ſo ausgemacht, daß ſie keines fernern Beweiſes vonnoͤthen hat.
EWie66Das I. Cap. Vom UrſprungeWie nun die Griechen in ihrem Sylbenmaaße die La - teiner zu Nachfolgern bekommen: So haben auch die alten Deutſchen gantz Europa reimen gelehret. Jtalien, Spanien und Gallien nahmen die Art derjenigen Voͤlcker an, die ſich durch die Gewalt der Waffen ihrer bemaͤchtigten. Ja auch die Pohlen, eine Abkunft der alten Sarmater, beliebten die reimende Poeſie. Die Daͤnen, Schweden, Holl - und Engel - laͤnder ſind ſelbſt von deutſchem Geſchlechte, und haben alſo dieſe Kunſt von ihren eigenen Vorfahren gefaſſet. Nichts iſt dabey mehr zu bewundern, als daß die Jtaliener, Spa - nier und Franzoſen, die doch Abkoͤmmlinge der Lateiner ſind, nicht das regelmaͤßige Sylbenmaaß ihrer Vorfahren beybe - halten, und ſelbiges mit der Deutſchen Reimart verbunden haben. So hoch Dantes und Petrarcha in Welſchland, Ronſard und Malherbe in Franckreich, wegen der durch ſie geſaͤuberten Poeſie ihres Vaterlandes, geſchaͤtzet werden: ſo ſeltſam muß es einem Verſtaͤndigen vorkommen, daß dieſe groſſe Geiſter ihren Landesleuten nicht gewieſen, wie man auch im Welſchen und Franzoͤſiſchen die lateiniſche Art zu Dichten nachahmen, und verſchiedene Arten der Abwechſe - lung langer und kurtzer Sylben einfuͤhren koͤnnte. Sie blieben nehmlich bey der bloſſen Abzehlung der Sylben, und dem Reime: wozu die Franzoſen in den fuͤnf und ſechs fuͤßigen Verßen noch einen Abſchnitt hinzugethan. Daher iſt es denn vergeblich, wenn einige von unſern Landesleuten in der Poeſie dieſer Voͤlcker ein Sylbenmaaß ſuchen, oder ihre Poeten be - ſchuldigen, daß ſie dawieder verſtoſſen, wie der ungenannte Verfaſſer der Reflexions ſur la Verſification françoiſe gethan. Sie haben ſichs noch niemahls in den Sinn kommen laſſen, daß ihre Sprache lange und kurtze Sylben habe; ſo leicht man ihnen ſolches durch die Ausſprache ſelbſt zeigen kan. Und wenn ſie gleich viel von ihrer ſo genannten Cadance ſchwatzen: ſo iſt es bey ihnen doch ein bloſſes je ne ſçai quoi. Sie wiſſen nehmlich nicht zu ſagen, woher dieſelbe entſtehe, koͤnnen auch keine Regeln davon geben; und wollen ſich doch nicht ſagen laſſen, daß ſolches bloß von einer regelmaͤßigen Abwechſelung langer und kurtzer Sylben herruͤhre. Dieſe gelinget ihnenzu -67und Wachsthume der Poeſie. zuweilen von ungefehr, ohne daß ſie daran gedacht. Z. E. Ein jeder Franzoſe giebt zu, daß folgende Verße einen recht unvergleichlichen Wohlklang haben:
Aber niemand wird es gewahr daß dieſer Vers faſt durchge - hends aus lauter Jamben beſteht, ſo daß alle Sylben ihren natuͤrlichen Accent behalten, den ſie in ungebundner Rede haben. Eben das koͤnnte man auch von Jtalienern und Spa - niern erweiſen, wenn es hieher gehoͤrete.
Da nun alle dieſe Nationen, und die Pohlen noch dazu, bey dieſer unvollkommenen Art Verße zu machen geblieben: ſo haben die Deutſchen ſie gewiß weit uͤbertroffen. Unſre Poeten haben durch die Zaͤrtlichkeit ihres Gehoͤres es bald gemercket, daß die regelmaͤßige Abwechſelung langer und kurtzer Sylben, dadurch die griechiſche und roͤmiſche Poeſie ſo vollkommen geworden, auch in unſrer Mutterſprache ſtatt haben koͤnne; und daher hat man ſchon vor unſerm groſſen Opitz allerley Gattungen des Sylbenmaaßes gebraucht. Z. E. Winsbeck, der am Hofe des Kaͤyſers Barbaroſſa ge - lebt, hat die Ermahnung an ſeinen Sohn in lauter jambiſchen, und zwar ziemlich reinen Verßen beſchrieben: Es heiſt gleich von Anfang:
Jn dieſer erſten Strophe iſt nur das Wort mannigem, die - wile und lebeſt, wieder das ordentliche Sylbenmaaß: allesE 2uͤbri -68Das I. Cap. Vom Urſprungeuͤbrige iſt recht. Wer ſieht aber nicht daß in der heutigen Ausſprache in jenem das J, in den beyden letzten aber das eine E leichtlich verſchlungen wird. Man ſehe nur die Lieder an, ſo D. Luther ſchon vor 200 Jahren gemacht, ſo wird man ziemlich richtige Jambiſche oder trochaiſche Verße darinn finden. Jch darf zum Beweiſe nur den Glauben anfuͤhren, als wo beyde erwehnte Gattungen vermiſcht anzutreffen ſind.
Wir glaͤuben all’ an einen GOtt, Schoͤpfer Himmels und der Erden, Der ſich zum Vater geben hat, Daß wir ſeine Kinder werden. Er will uns allzeit ernehren, Allem Unfall will er wehren, Er ſorget fuͤr uns huͤt’ und wacht, Es ſteht alles in ſeiner Macht.
Ein jeder wird hier unſchwer ſehen, daß alle ausgeruͤckte und maͤnnlich gereimte Verße jambiſch; alle eingeruͤckte weibliche hergegen trochaͤiſch ſind: Und das gantze Sylbenmaaß iſt ſo richtig, daß nur in der letzten Zeile das einzige Wort alles, wieder ſeine Natur, vorn kurtz und hinten lang ausgeſprochen werden darf. Waͤren nun ſeine Nachfolger in der Poeſie den Spuren dieſes groſſen Vorgaͤngers gefolget, ſo wuͤrden wir lange vor Opitzen taugliche Verße im Deutſchen bekom - men haben. Da aber Hans Sachſe und andre nach ihm, kein ſo zartes Gehoͤr hatten, und bey der alten Art blieben: ſo muſte freylich der itzt gedachte Vater unſrer gereinigten Poe - ſie von neuem die Bahn darinn brechen. Er nahm ſich die Hollaͤnder zum Muſter, als wo ſchon Heins und Cats ihrem Vaterlande eben den Dienſt geleiſtet hatten. Und alſo uͤber - trifft nunmehro unſre deutſche Poeſie an Kunſt und Lieblich - keit des Wohlklanges, die Poeſien aller Jtaliener, Franzo - ſen und Spanier; weil wir nehmlich den Reim unſrer Vor - fahren mit dem majeſtaͤtiſchen Sylbenmaaße der Griechen und Roͤmer vereinbaret haben.
Was ich hier von den Deutſchen ſage, das gilt auch von Schweden, Daͤnen und Engellaͤndern, wiewohl dieſe leztern auch noch zuweilen ohne Sylbenmaaß reimen: ja wohlgar69und Wachsthume der Poeſie. gar ohne Reim und Sylbenmaaß dichten, und bloß auf die Laͤnge der Zeilen ſehen, wie Milton in ſeinem Paradiſe loſt gethan; welche Art der Verße ſie blank Verſes nennen. Exem - pel davon mag ich hier nicht anfuͤhren; weil ich gar zu weit von meinem Zwecke ausſchweifen wuͤrde
Dacier, in ſeiner Vorrede zu der von ihm uͤberſetzten Dichtkunſt Ariſtotelis, iſt der Meynung, die Religion ſey die Hebamme der Poeſie geweſen; uud man habe die erſten Lieder bloß zum Lobe GOttes gemacht und abgeſungen. Er hat dieſes mit andern von ſeinen Landesleuten gemein, daß ſie aberglaͤubiſcher Weiſe, den Wiſſenſchafften gern einen hei - ligen Urſprung geben wollen. Was iſt es aber noͤthig, die Poeſie durch Fabeln in Anſehen zu ſetzen, da ſie ohne dem Liebhaber genug findet, wenn man gleich ihren Urſprung aus der Natur ſelbſt herleitet? Meines Erachtens wuͤrde man nimmermehr auf die Gedancken gekommen ſeyn, GOtt zu Ehren Lieder zu ſingen; wenn man nicht vorher ſchon ge - wohnt geweſen waͤre zu ſingen. Und ich glaube vielmehr, daß man durch die geiſtlichen Lobgeſaͤnge, eine an ſich ſelbſt gleich - guͤltige Sache geheiliget; als durch die weltlichen Lieder, eine an ſich heilige Sache entweyhet habe. Jch muthmaße alſo daß die Poeſie folgendermaſſen entſtanden ſey.
Wenn ein muntrer Kopf von gutem Naturelle ſich bey der Mahlzeit oder einem ſtarcken Truncke das Gebluͤt erhitzet und die Lebens-Geiſter rege gemacht hatte; hub er etwa an vor Freuden zu ſingen, und ſein Vergnuͤgen auch durch dabey ausgeſprochene Worte zu bezeigen. Man lobte die Suͤßigkeit des Weines, man pries den Berg, oder Stock darauf er ge - wachſen; man erhob auch wohl das gute Jahr, die fruchtbare Zeit, oder diejenige Gottheit ſo dergleichen Fruͤchte hervorge - bracht. Ein verliebter Schaͤfer, dem bey der langen Weile auf dem Felde, wo er ſeine Heerde weidete, die Gegenwart einer angenehmen Schaͤferin das Hertz ruͤhrete, und das Ge - bluͤt in eine Wallung ſezte, bemuͤhte ſich nach dem Muſter der Voͤgel ihr was vorzuſingen, und bey einer lieblichen Melodie zugleich ſeine Liebe zu erklaͤren, ihr zu ſchmeicheln, ihre Schoͤn - heit zu loben, oder die Liebe ſelbſt zu erheben. Als nachmahlsE 3der70Das I. Cap. Vom Urſprungeder Aberglaube den Gott Baſcchus dem Weine, die Ceres den Feld-Fruͤchten, die Pomona den Gaͤrten, die Venus und ihren Sohn der Liebe vorgeſetzet; gerieth man allmaͤhlig auf das Lob der Goͤtter. Dem Jupiter und allen uͤbrigen Gottheiten wiederfuhr hernach gleiche Ehre, und ſolcherge - ſtalt wurde die Poeſie gleichſam dem Gottesdienſte geheiliget.
Von dem Lobe der Goͤtter kam man leicht auf das Lob der Helden, Erbauer der Staͤdte, Stiffter der Republicken, und Stammvaͤter groſſer Geſchlechter: wiewohl ich es auch vor gantz moͤglich halte, daß man von dem Lobe der Helden auf das Lob der Goͤtter gekommen, oder vielmehr dieſelben durch das Lob ſelbſt vergoͤttert habe. Es iſt nehmlich bekannt, daß alle Goͤtter der Heyden vormahls Menſchen geweſen ſeyn ſollten, und nur wegen ihrer Fuͤrtrefflichkeit unter die Ein - wohner des Himmels waren aufgenommen worden. Bey ſolchen Lobliedern nun ſchliechen ſich auch die ſtachlichten Spottgeſaͤnge mit ein. Ariſtoteles gedenckt, daß man ſchon vor Homero ſchimpfliche Lieder auf die Leute gemacht, und ſie ſehr anzuͤglich darinn herumgenommen. Ja Aventinus will in ſeiner deutſchen Hiſtorie, daß, wie Tuiſcon zu Anreitzung der Nachkommen, die Gutthaten der Frommen mit Liedern zu ehren befohlen; alſo haͤtte Koͤnig Laber geboten, daß man auch von denen, die uͤbels thaͤten, Lieder machen, und damit ſie ſich ſchaͤmeten und beſſerten, ſelbige bey Nacht wenn man das Licht angezuͤndet haͤtte, auf oͤffentlicher Gaſſe fuͤr den Haͤuſern, abſingen moͤchte; daher denn dieſe Art Satyriſcher Lieder Geſanglichter genennet worden. S. Morhofs Un - terricht. Cap. VI. p. 260.
Und ſo ſehen wir denn nicht nur, daß die alleraͤlteſte Gat - tung der Poeſie in Geſaͤngen, Liedern und Oden beſtanden: ſondern auch in wie vielerley Gattungen ſich dieſelben allmaͤh - lich eingetheilet. Ein Lied zum Lobe der Goͤtter hieß nachmahls im Griechiſchen Hymnus, oder Paͤan; Ein Lied auf einen Hel - den Encomium auch Scolion; Ein Satiriſch Lied, Dithyram - bus; ein verliebtes Lied, Melos, threnus; und ein Sauflied, Ode, wiewohl dieſe Nahmen auch offt in allgemei - nerm Verſtande gebraucht worden. Die erſten Poeſien warender -71und Wachsthume der Poeſie. dergeſtalt alle zum ſingen gemacht; und die Muſic gab ihnen das rechte Leben. So gar als allmaͤhlig die Heldengedichte, Tragoͤdien, Comoͤdien und Schaͤfer-Gedichte auf kamen, war noch der Geſang ein unentbehrliches Stuͤck bey allen.
Das Helden-Gedicht entſtund aus den Lobliedern auf Goͤtter oder Helden, indem Homerus ſeine Jlias, ſo er dem Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapſodien, d. i. Stuͤcken oder Buͤchern deſſelben, in Griechenland ſoll oͤffent - lich abgeſungen haben. Die Tragoͤdien und Comoͤdien ent - ſtunden aus den ſatiriſchen Spottliedern, die auf den Doͤr - fern, an Feſt-Tagen, von luſtigen Koͤpfen, die Bauren zu vergnuͤgen, geſungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen Capiteln von dieſen beyden Arten ausfuͤhrlicher erhellen wird. Die Schaͤfer-Gedichte entſtunden aus den verliebten Liedern, welche ſonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein paar fruchtbaren und geſeegneten Landſchafften, moͤgen im Schwange geweſen ſeyn: weil nehmlich daſelbſt der Uberfluß an Lebens-Mitteln, die muͤßigen Schaͤfer gar leicht zu dieſem annehmlichen Affecte reitzen konnte.
Bey allen dieſen Gattungen der Poeſien nun, verlohr ſich allmaͤhlich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri ſind wohl nach der Zeit, als Piſiſtratus ſie in Ordnung ge - bracht, in Griechenland nicht mehr geſungen, ſondern nur geleſen worden: dafern man nicht das Leſen eines harmoni - ſchen Verßes auch einen Geſang nennen will. Jn der Tra - goͤdie blieb nur der Chor muſicaliſch, der auch in der That lauter Oden ſang. Alles uͤbrige, was zwiſchen den Liedern des Chores eingeſchaltet wurde, und aus einem bloſſen Neben - wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht geſungen, ſondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam - biſchen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der ungebundenen Sprache der Griechen ſehr uͤberein kamen. Bey der Comoͤdie war es anfaͤnglich eben ſo, bis endlich der Chor, wegen ſeiner Schmaͤhſucht, gar von der Obrigkeit verboten ward, und alſo verſtummen muſte, wie Horatius ſagt. Was es aber bedeute, wenn die Aufſchrifften der Terentianiſchen Comoͤdien ſagen, daß dieſelben mit dieſer oder jener Art vonE 4Pfei -72Das I. Cap. Vom UrſprungePfeifen geſpielt worden: das haben die Gelehrten noch nicht ausgemacht. Die Schaͤfer-Gedichte Theocriti und Virgilii moͤgen auch wohl nie alle ſeyn geſungen worden: denn da ihre Verfaſſer nicht wahre, ſondern nur allegoriſche Schaͤfer wa - ren, ſo ſcheinen ſie nur zum bloßen Leſen gemacht zu ſeyn. Ja ſelbſt die Oden ſo Pindarus, Sappho, Anacreon und Horatz in ſo groſſer Menge gemacht, ſind nicht alle zum ſingen ver - fertiget worden. Denn man ſehe nur z. E. die leztern an, und bemercke bey was vor verſchiedenen Gelegenheiten ſie verfer - tiget worden; ſo wird man ſelbſt geſtehen, daß die wenigſten darunter ein einzig mahl moͤgen in die Muſic geſetzt worden ſeyn.
Da nun dergeſtalt die Poeſie ſich ohne die Thon - und Singe-Kunſt beliebt gemacht hatte, ſo war es kein Wunder, daß noch immer mehr und mehr unmuſicaliſche Gedichte er - funden wurden. Dahin gehoͤren nun die Satiren Lucilii, Horatii, Juvenalis und Perſiii; die Poetiſchen Briefe des Flaccus und Naſo; die Elegien Catulli, Tibulli und Pro - pertii; die Sinngedichte Martialis und andrer Lateiner, der Griechen voritzo nicht zu gedencken, ſo in allen dieſen Stuͤcken den Roͤmern vorgegangen. Alle dieſe Gattungen konnten nicht mehr Lieder heiſſen: Poeſien aber, Gedichte oder Verße zum wenigſten blieben ſie doch; als welchen leztern Nahmen Horatz auch ſeinen Briefen zugeſteht, da er hingegen den erſten nur vor die erhabenen Heldenlieder, Lobgedichte und Tragoͤdien auf behalten wiſſen will. Noch mehr entfernte ſich von der alten Art ein Empedocles, der die gantze Natur - lehre, Aratus, der die Sternkunſt, Lucretius, der gleichfalls die Natur-Wiſſenſchafft, und Virgil, der den Feldbau in Alexandriniſchen Verßen beſchrieb. Allen dergleichen Wer - cken ſpricht Ariſtoteles in ſeiner Dichtkunſt den Nahmen der Gedichte ab: weil ſie nehmlich keine Nachahmungen oder Fabeln ſind; ob ſie gleich das aͤuſſerliche Anſehen der Poeti - ſchen Schreibart beybehalten haben. Zu eben dieſer Claſſe koͤnnte man den Silius Jtalicus, Lucanus und Statius rech - nen, deren jener den ganzen Puniſchen, der andre den Phar - ſaliſchen Krieg, und dieſer das gantze Leben des Achilles be -ſchrie -73und Wachsthume der Poeſie. ſchrieben. Sie ſind alſo nach dem Urtheile Ariſtotelis, und des Patersle Boſſu, mehr vor Hiſtorienſchreiber in Verßen, als vor Poeten zu halten: wie an ſeinem Orte ausfuͤhrlich ſoll gewieſen werden. Und wo bleiben endlich alle die Epitha - lamia, Genethliaca und Epicedia der Alten, ſo gewiß allezeit zum leſen; niemahls aber, oder doch ſehr ſelten zum ſingen verfertiget worden.
Als bey der Wiederherſtellung der freyen Kuͤnſte in Europa, auch die Poeſie wieder in Flor gekommen, hat man ſich nicht an den alten Gattungen der Griechiſchen und Roͤ - miſchen Poeſien gnuͤgen laſſen; ſondern verſchiedene neue, theils muſicaliſche, theils unmuſicaliſche Arten erfunden. Zu jenen gehoͤren die Opern die von dem getreuen Schaͤfer des Guarini ihren Urſprung haben; Ferner die Paſtorale, Se - renaden, Cantaten u. d. gl. Hieher aber die Stantzen, Son - nette, Madrigale, Rondeaux und andre Kleinigkeiten, die nicht viel werth ſind. Die meiſten davon ſind von den Jta - lienern erfunden, als welche ihre Poeſie am allererſten in ein Geſchicke gebracht. Die Franzoſen ſind ihnen nebſt den En - gellaͤndern und Hollaͤndern bald gefolget, und wir Deutſchen geben ihnen gewiß in allen dieſen Gattungen nichts nach: Hingegen was die groſſen Gedichte der Alten, nehmlich Hel - den-Gedichte, Tragoͤdien und Comoͤdien anlangt, ſo haben wir noch nichts rechtes in unſrer Sprache aufzuweiſen, ſo nach den gehoͤrigen Regeln ausgearbeitet, und aus keiner fremden Sprache uͤberſetzt waͤre. Die Jtaliener uͤbertreffen uns durch ihren Taſſo, wie die Engellaͤnder durch ihren Mil - ton, denen wir noch nichts entgegen ſetzen koͤnnen, ſo Stich hielte. Denn Poſtels Wittekind taugt nichts, und alle uͤbrige Helden-Gedichte ſo wir haben ſind nur elende Uberſe - zungen. Des Hrn. Hofrath Pietſchen Sieg Carls des VIten in Ungarn, wird eher einer Lucaniſchen Pharſal, als einer Eneis des Virgil aͤhnlich ſehen; weil derſelbe ſich nicht nach den Regeln eines Helden-Gedichtes, die Ariſtoteles und le Boſſu feſtgeſetzet, richten wollen. Die Franzoſen haben itzo an ihrem Voltaire einen Poeten, der ihre Ehre gegen die vorerwehnten beyden Nationen ſo gut behauptet, als ſelbigeE 5durch74Das I. Cap. Vom Urſprungedurch den Chapelain war geſchmaͤlert worden. Jn Tragoͤ - dien und Comoͤdien aber ſind ſie die groͤſten Meiſter, und koͤn - nen durch ihren Corneille, Racine und Moliere, nicht nur uns Deutſchen, ſondern ſogar den alten Griechen und Roͤ - mern trotzen.
Jch komme endlich auf die Abſichten, ſo die Erfinder und Fortpflanzer der Poeſie vor Augen gehabt: deren Kenntniß uns in Unterſuchung des wahren Weſens der Poeſie, nicht ein geringes Licht geben wird. So mannigfaltig dieſelben geweſen ſeyn moͤgen, ſo leicht ſind ſie doch zu errathen. Jhre Gedichte ſind ja die Mittel, wodurch ſie dieſelben zu erlangen geſucht, und wircklich erlanget haben: wozu alſo dieſelben geſchickt geweſen, das iſt vor einen Endzweck ihrer Verfaſſer anzuſehen.
Die allererſten Saͤnger ungekuͤnſtelter Lieder, haben nach der damahligen Einfalt ihrer Zeiten, wohl nichts anders im Sinne gehabt, als wie ſie ihren Affect anf eine angenehme Art ausdruͤcken wollten, ſo daß derſelbe auch in andern eine gewiſſe Gemuͤths-Bewegung erwecken moͤchte. Dahin zielten alſo ihre luſtige und traurige, verliebte und ſpoͤtti - ſche Lieder ab, und dieſen Endzweck erlangten ſie auch, ſo offt ſie ihren eigenen Affect theils durch bequeme Texte, theils durch geſchickte Melodeyen natuͤrlich und lebhafft vorſtelleten. Ein Sauf bruder machte den andern luſtig. Ein Betruͤbter lockte den andern Thraͤnen heraus, ein Liebhaber gewann das Hertz ſeiner Geliebten, und ein Spottvogel brachte durch ſeinen beiſſenden Schertz das Gelaͤchter gantzer Geſellſchaff - ten zuwege. Die Sache iſt leicht zu begreifen, weil ſie in der Natnr des Menſchen ihren Grund hat, und noch taͤglich durch die Erfahrung beſtaͤtiget wird.
Eine ſo wunderbare Kunſt brachte den geſchickteſten un - ter ihren Meiſtern ſehr viel Hochachtung zuwege. Man hoͤrte dieſe treffliche Saͤnger gern, man lobte ſie ſehr, und hielte gar davor daß ſie etwas mehr als Menſchen ſeyn; oder zum wenigſten einen goͤttlichen Beyſtand haben muͤſten. Dieſes lieſſen ſich die Poeten leicht gefallen, und bemuͤhten ſich einen ſo vortheilhafften Gedancken von ihrer Kunſt nicht nur zu un -ter -75und Wachsthume der Poeſie. terhalten, ſondern auch je mehr und mehr zu beſtaͤrcken. Jn dieſem Vorhaben lieſſen ſie ſichs angelegen ſeyn, allerley an - nehmliche und reitzende Sachen in ihre Lieder zu bringen, da - durch die Gemuͤther der Zuhoͤrer noch deſto mehr an ſich zu locken und gleichſam zu feſſeln. Nichts war dazu bey der einfaͤltigen Welt geſchickter, als kleine Hiſtorien oder Fabeln, die etwas wunderbares und ungemeines in ſich enthielten. Man ſieht es ja an kleinen Kindern, wie begierig ſie nach den Erzehlungen ihrer Waͤrterinnen ſind; und dieſen unerfahr - nen und neugierigen Creaturen waren die aͤlteſten Voͤlcker gantz gleich. Das bezauberte nun gleichſam die ſonſt un - gezogenen Gemuͤther. Die wildeſten Leute verließen ihre Waͤlder, und liefen einem Amphion oder Orpheus nach, welche ihnen nicht nur auf ihren Leyern was vorſpielten; ſondern auch allerley Fabeln von Goͤttern nnd Helden vor - ſungen: nicht viel beſſer als etwa itzo auf Meſſen und Jahr - maͤrckten die Baͤnckelſaͤnger mit ihren Liedern von Wunder - Geſchichten, den Poͤbel einzunehmen pflegen.
Jn dieſer einmahl erhaltenen Hochachtung, erhielten ſich die nachfolgenden Dichter, durch die Schoͤnheit des Ausdruc - kes und die untermiſchten weiſen Lehr - und Sitten-Spruͤche. Die Poeten redeten nicht die gemeine Sprache der andern Leute, ſondern ihre Redensarten waren edel und erhaben, ihre Worte ausgeſucht, ihre Saͤtze neu und wohlklingend, und ihr gantzer Vortrag in einer verbluͤmten oder gar allego - riſchen Schreibart abgefaſſet. So viel Witz und lebhaffte Einbildungskrafft ſie dadurch bewieſen, ſo viel Verſtand und hohe Weisheit zeigten ſie durch die trefflichen Sittenlehren und Lebens-Regeln, ſo ſie in ihren Liedern mit vorbrachten. Die alten Poeten waren nehmlich die erſten Weltweiſen: oder umgekehrt, die aͤlteſten Weltweiſen bedienten ſich der Poeſie, um das rohe Volck dadurch zu zaͤhmen. Horat. Dichtk. v. 576.
Jn der That wurden auch die aͤlteſten Poeten vor Gottesge - lehrte, Staatskuͤndige, Rechtsverſtaͤndige und Weltweiſe zugleich gehalten. Sie waren auch in der That alles in allem, und wurden alſo vor Lehrer des menſchlichen Geſchlechts, vor auſſerordentliche, ja recht goͤttliche Maͤnner angeſehen; die nothwendig alles was ſie ſungen, aus einer hoͤhern Eingebung, nehmlich von dem Beyſtande der Muſen und des Apollo, her - haben muſten.
Dieſes alles hat Homerus in ſeinen beyden Helden-Ge - dichten, Jlias und Odyſſee, auf eine geſchickte Art zu verbin - den gewuſt. Er erzehlt wahre Geſchichte; Er erdichtet Fa - beln von Goͤttern und Helden; Er bewegt die Affecten; Er ſchreibt edel und erhaben; Er lehrt und beluſtiget endlich ſeine Leſer, auf eine ſo kuͤnſtliche Art und Weiſe, daß man ſich lange vergebens bemuͤhet hat ſeine rechte Haupt-Abſicht zu errathen. Ohne Zweifel aber hat er mit Fleiß alle Schoͤn - heiten der Poeſie in einem einzigen Wercke verbinden, und alſo ein Meiſterſtuͤck verfertigen, ſich ſelbſt aber dadurch in beſondre Hochachtung ſetzen wollen. Er hat auch ſeinen End - zweck damit erreichet; denn es iſt bekannt, wie hoch derſelbe zwey bis drey tauſend Jahre her, von allen die ihn verſtanden, geſchaͤtzet worden. Ja ſo gar diejenigen, ſo ihn vieler Fehler beſchuldiget, haben ihm doch das Lob eines recht groſſen leb - hafften und gluͤcklichen Geiſtes, nicht abgeſprochen. Man ſehe des Hrn. de la Motte Diſcurs uͤber Homerum, ſo er vor ſeiner franzoͤſiſchen Jlias drucken laſſen. Mit Virgilio hat es eben die Bewandniß.
Die Tragoͤdien und Comoͤdien anlangend, ſo iſt die Ab - ſicht ihrer Verfaſſer gewiß eben dieſelbe geweſen. Man findet was wahres, auch was erdichtetes darinnen. Die Erregung der Affecten iſt hier noch weit lebhaffter als in jenem, weil die ſichtbare Vorſtellung der Perſonen weit empfindlicher ruͤhret, als die beſte Beſchreibung. Die Schreibart iſt, ſonderlich im Trauerſpiele, edel und erhaben, und an lehrreichen Spruͤ - chen hat ſie eher einen Uberfluß als Mangel. Selbſt die Co -moͤdie77und Wachsthume der Poeſie. moͤdie lehret und unterrichtet die Zuſchauer, obwohl ſie das Ge - laͤchter erweckt; und alſo haben freylich auch ein Sophocles, Euripides, Menander und Terentius, Ehre genug durch ihre Poeſien erlanget, u. ihren Zweck dergeſtalt vollkom̃en erhalten.
Was die kleinern Gattungen der Gedichte anlangt, ſo ſind dieſelben freylich ſo vollkommen nicht. Einige erzehlen nur; andre ſind bloße Fabeln: noch andre klagen nur allein; und einige ſind bloß zum Lehren gemacht. Jn einigen will man nur loben, und in andern ſchlechterdings ſpotten. Viele ſind auch nur zum Schertze und zur Beluſtigung gemacht, und alſo haben ſich die Verfaſſer derſelben gleichſam in die Vollkommenheiten der groͤſſern getheilet. Sie erhalten aber dergeſtalt auch nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen poetiſchen Abſicht auch ein ſehr ſeichter Geiſt, und maͤßiger Witz ſchon zulaͤnglich iſt. Auch bringen ſolche poetiſche Klei - nigkeiten einer Nation nicht viel Ehre. Es muß was groͤſſers ſeyn, womit man ſich gegen andre Voͤlcker breit machen, und ihren Dichtern trotz bieten will. Jndeſſen bleibt es doch in allen Gattungen der Gedichte bey dem Ausſpruche Horatii:
Bey dem allen iſt es nicht zu leugnen, daß nicht nach dem Ur - theile des groſſen Ariſtoteles, das rechte Hauptwerck der Poeſie in der geſchickten Nachahmung beſtehe. Die Fabel ſelbſt, die von andern vor die Seele eines Gedichtes gehalten wird, iſt nichts anders als eine Nachahmung der Natur. Denn wenn eine Fabel nicht wahrſcheinlich iſt, ſo taugt ſie nichts: Wie kan ſie aber wahrſcheinlich ſeyn, wenn ſie nicht die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nach - gehet. Horatz ſchreibt
Dieſe Nachahmung der Poeten nun, geſchieht vermittelſt einer ſehr lebhafften Beſchreibung, oder gar lebendigen Vorſtellung desjenigen, was ſie nachahmen. Und dadurch unterſcheidet ſich der Dichter von einem Mahler der mit Far - ben, und einem Bildhauer, der in Stein oder Holtz ſeine Nachachmung verrichtet. Will man ſagen, daß auch in un - gebundner Rede ſolche Nachahmungen zu geſchehen pflegen, die wir der Poeſie zueignen: als wenn zum Exempel Eſopus proſaiſche Fabeln macht, oder Livius und andre Geſchicht - ſchreiber gewiſſen groſſen Maͤnnern ſolche Reden andichten, die ſie zwar nicht von Wort zu Wort gehalten, aber doch wahrſcheinlicher Weiſe haͤtten halten koͤnnen. So werde ich antworten, daß ſowohl Eſopus, als ſolche dichtende Geſchicht - ſchreiber, inſoweit ſie dichten, unter die Poeten gehoͤren. Die Verße machen das Weſen der Poeſie nicht aus, viel weniger die Reime. Koͤnnen doch gantze Helden-Gedichte in ungebundener Rede geſchrieben werden: denn wer wollte leugnen, daß nicht die proſaiſche Uberſetzung ſo Madame Dacier von Homero gemacht, noch ein Helden-Gedicht ge - blieben waͤre; oder daß des Ertz-Biſchofs von Cambray Te - lemach kein poetiſches Werck waͤre? Kinder und Unwiſſende bleiben am aͤuſſerlichen kleben, und ſehen auch eine ſcandirte und gereimte Proſe vor ein Gedichte, und jeglichen elenden Versmacher vor einen Poeten an: Kenner aber halten es mit Horatio, der uns einen Poeten ſo beſchreibt:
NAchdem wir den Urſprung und das allmaͤhliche Wachs - thum der Poeſie kuͤrtzlich erwogen: ſo iſt es nicht undien - lich von einem wahren Poeten einen Abriß zu machen, und ihn nach allen ſeinen Eigenſchafften zu beſchreiben. Man iſt mit dieſem Nahmen zu allen Zeiten gar zu freygebig geweſen; weil man nehmlich nicht ſattſam eingeſehen, was vor eine groſſe Faͤhigkeit der Gemuͤths-Kraͤffte, Gelehrſamkeit, Er - fahrung, Ubung und Fleiß zu einem rechtſchaffenen Dichter gehoͤren. Und das iſt kein Wunder geweſen. Diejenigen haben ſichs gemeiniglich angemaſſet den Titel eines Poeten auszutheilen, die einen viel zu ſeichten Verſtand, und eine viel zu bloͤde Einſicht in das Weſen der wahren Dichtkunſt gehabt. Der Poͤbel hat ſich allezeit ein Recht zueignen wollen, von poetiſchen Scribenten zu urtheilen; und dieſes iſt um deſto laͤcherlicher, da ihm die Beurtheilung proſaiſcher Schrifften niemahls zugeſtanden worden. Kan er nun hierinn keinen guͤltigen Ausſpruch thun, und die Verfaſſer derſelben, weder vor gute Hiſtorienſchreiber, noch vor Redner, Philo - ſophen, Arzneyverſtaͤndige oder Rechtsgelehrte erklaͤren: Wie wird er von Gedichten zu urtheilen vermoͤgend ſeyn, als deren Einrichtung und Ausarbeitung deſto ſchwerer zu pruͤfen iſt; je mehr ſie unter ſo vielen aͤuſſerlichen Schoͤnheiten und Zierrathen, dadurch auch critiſche Augen zuweilen verblendet werden, verhuͤllet, ja tief verborgen lieget. Plinius ſchreibt an einem Orte: Von Kuͤnſtlern kan nur ein Kuͤnſtler urthei - len. Man wird alſo mit der Poeſie wohl nicht unbilliger han - deln wollen, als mit der Muſic, Mahlerey, Baukunſt und dem Bildſchnitzen. Wer berufft ſich aber in allen dieſen Kuͤn - ſten auf das Urtheil des groſſen Haufens? Das wuͤrdenſchlechte80Das II. Capitelſchlechte Meiſter darinnen werden, die ihren Ruhm in dem Beyfalle eines eigenſinnigen Volckes ſuchen wollten, welches ohne Verſtand und ohne Regeln von ihren Sachen urtheilet, und deſſen Geſchmack die unbeſtaͤndigſte Sache von der Welt iſt. Es trifft freylich zuweilen zu, daß ein gantzes Land oder eine groſſe Stadt ſich an lauter regelmaͤßige Sachen gewehnet, und ſo zu reden eine zeitlang Geſchmack daran fin - det. Aber dieſer gute Geſchmack kan nicht lange Zeit erhalten werden; wenn es nicht Kunſtverſtaͤndige darunter giebt, die dasjenige, was der gemeine Mann nach der ſinnlichen Em - pfindung beliebet, nach richtigen Grundregeln vor gut und ſchoͤn erkennen. Ohne ſolche Meiſter geht der gute Geſchmack bald wieder verlohren. Die Leichtſinnigkeit der menſchlichen Gemuͤther ſucht allezeit eine Veraͤnderung; und wie leicht geſchieht es da, daß Leute von keiner Einſicht, an ſtatt der wahren Schoͤnheiten, die aus wircklichen Vollkommenheiten entſtehen, auf ſcheinbare verfallen, die offt die bloſſe Sinn - lichkeit eben ſo ſehr als die erſtern beluſtigen. Alsdann verfaͤllt alles in Verachtung, was vorhin mit gutem Grunde war hoch - geſchaͤtzet worden. Der allgemeine Beyfall einer Nation kan alſo nicht eher von der Geſchicklichkeit eines Meiſters in freyen Kuͤnſten, ein guͤltiges Urtheil faͤllen, als bis man vorher den guten Geſchmack derſelben erwieſen. Dieſes aber geſchieht nicht anders, als wenn man zeiget: daß derſelbe mit den Re - geln der Kunſt uͤbereinſtimme, ſo aus der Vernunft und Na - tur hergeleitet worden.
Jch habe hiermit beylaͤufig meinen Begriff von dem gu - ten Geſchmacke entdecket: einer Sache, davon zu itziger Zeit uͤberall ſo viel Redens und Schreibens iſt. Weiter unten wird mehr davon vorkommen; denn zu einem guten Poeten gehoͤrt auch ein guter Geſchmack. Aus dem vorhergehenden aber ſchluͤſſe ich, daß wir die zu einem wahren Dichter gehoͤ - rigen Eigenſchafften von denjenigen lernen muͤſſen, die das innere Weſen der Poeſie eingeſehen, die Regeln der Voll - kommenheit erforſchet, daraus ihre Schoͤnheiten entſtehen, und alſo von allem was ſie an einem Gedichte loben und ſchel - ten, den gehoͤrigen Grund anzuzeigen wiſſen. Wenn manein81Von dem Charactere eines Poeten. ein gruͤndliches Erkenntniß aller Dinge Philoſophie nennet; ſo ſieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von ei - nem Poeten wird geben koͤnnen, als ein Philoſoph: Aber ein ſolcher Philoſoph, der von der Poeſie philoſophiren kan; wel - ches ſich nicht bey allen findet, die jenen Nahmen ſonſt gar wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit ſich mit ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen zu den freyen Kuͤnſten zu wenden, und da lange nachzugruͤbeln: Woher es komme, daß dieſes ſchoͤn und jenes heßlich ſey, dieſes wohl und jenes uͤbel gefalle? Wer dieſes aber thut, der bekommt einen beſondern Nahmen und heißt ein Criticus: dadurch ich nehmlich nichts anders verſtehe, als einen Gelehrten, der von freyen Kuͤnſten philoſophiren kan. Was uns nun dergleichen Critici, ſolche philoſophiſche Poeten, oder Poeſie-verſtaͤndige Philoſophen ſagen werden, das wird wohl ohne Zweifel weit gruͤndlicher ſeyn, und einen richtigern Begriff von einem wahren Dichter bey uns erwecken, als was der groſſe Haufe, nach einer betruͤglichen Empfindung ſeines unbeſtaͤndigen Geſchmackes, zu loben oder zu tadeln pflegt.
Unter den Griechen iſt ohne Zweifel Ariſtoteles der beſte Criticus geweſen, was nehmlich die Redekunſt und Poeſie anlanget. Es iſt ein Gluͤck, daß ſeine Schrifften von beyden nicht gantz verlohren gegangen: denn von der Dichtkunſt ha - ben wir freylich nur einen Theil uͤbrig behalten. Jndeſſen zeugen doch dieſe beyde Buͤcher, eben ſowohl von dem durch - dringenden Verſtande dieſes groſſen Weltweiſen, als ſeine uͤbrige Schrifften. Er hat das innere Weſen der Bered - ſamkeit und Poeterey aufs gruͤndlichſte eingeſehen, und alle Regeln ſo er vorſchreibet, gruͤnden ſich auf die unveraͤnderli - che Natur der Menſchen, und auf die geſunde Vernunft. Nichts wuͤrde alſo vor mich erwuͤnſchter ſeyn, als wenn dieſer tiefſinnige Mann auch den ausfuͤhrlichen Character eines wahren Poeten gemacht haͤtte: denn ſo doͤrfte man ſich nur daran halten, und ſich ſelbſt ſowohl als andre, nach Anleitung deſſelben gehoͤrig pruͤfen. Allein wir finden zum wenigſten in ſeiner Poetic etwas, C. I. II. III. ſo uns auf die rechte Spur helfen kan. Er lehrt gleich im Anfange derſelben, daß dieFgantze82Das II. Capitelgantze Poeſie nichts anders ſey, als eine Nachahmung menſchlicher Handlungen, u. daß alſo der Unterſcheid verſchie - dener Gedichte bloß auf die mancherley Arten der Nachah - mung ankomme. Man koͤnne aber die Handlungen der Menſchen in gute und boͤſe eintheilen, und die Sitten der Welt waͤren alſo nur durch dieſe beyden Eigenſchafften unter - ſchieden. Wer alſo Menſchen abbilden wolle: der koͤnne ſie entweder beſſer, oder ſchlechter vorſtellen als ſie ſind; oder dieſelben gantz aͤhnlich ſchildern. Dieſes erlaͤutert er durch das Exempel der Mahler, und ziehet es hernach auf verſchie - dene Arten der Poeſie. Dieſes giebt meines Erachtens An - leitung genug, wie man einen Poeten zu characteriſiren habe.
Jch ſage alſo erſtlich: Ein Poet ſey ein geſchickter Nach - ahmer aller natuͤrlichen Dinge; und dieſes hat er mit den Mahlern, Muſicverſtaͤndigen u. a. m. gemein. Er iſt aber zum andern von ihnen unterſchieden, durch die Art ſeiner Nachahmung, und die Mittel, wodurch er ſie vollziehet. Der Mahler ahmet ſie durch Pinſel und Farben nach; der Muſicus durch den Tact und die Harmonie; der Poet aber durch eine tactmaͤßig abgemeſſene, oder ſonſt wohl eingerich - tete Rede; oder welches gleich viel iſt, durch eine harmoniſche und wohlklingende Schrifft, die wir ein Gedichte nennen.
So fremde vielen dieſe Beſchreibung eines Dichters vorkommet, ſo vollſtaͤndig und fruchtbar iſt ſie in der That. Ein Poet wird dadurch nicht nur von den obgedachten freyen Kuͤnſten; ſondern auch von allen andern Theilen der Gelehr - ſamkeit unterſchieden. Ein Geſchichtſchreiber ſoll nicht nach - ahmen, was die Menſchen zu thun pflegen, oder wahrſchein - licher Weiſe gethan haben koͤnnten, thun ſollten oder wuͤrden, wenn ſie in ſolchen Umſtaͤnden befindlich waͤren: ſondern man fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzehlen ſolle, was ſich hier oder da vor Begebenheiten zugetragen. Ein Redner ſoll nicht nachahmen was andre Leute thun; ſondern die Leute uͤberreden, etwas vor wahr oder falſch zu halten, und ſie be - wegen etwas zu thun oder zu laſſen. Ein Weltweiſer iſt gleich - falls von der Nachahmung ſehr weit entfernet, indem er uns die Gruͤnde von der Moͤglichkeit aller Dinge unterſuchen leh -ret.83Von dem Charactere eines Poeten. ret. Wie die Rechts-Gelehrſamkeit, Arzeney-Kunſt und andre Wiſſenſchafften mehr von der Poeſie unterſchieden ſind, das wird ein jeder ſelbſt leicht abnehmen koͤnnen.
Es iſt wahr; man macht hier verſchiedene Einwuͤrfe. Der Geſchichtſchreiber, ſagt man, ſchildert ja auch diejeni - gen Perſonen ab, von welchen er uns Erzehlungen macht. Er fuͤhrt ſeine Helden wohl gar redend ein, und laͤſt ſie offt Dinge ſagen, die ſie zwar haͤtten ſagen koͤnnen, aber in der That niemahls geſagt haben: wie wir in griechiſchen und lateiniſchen Scribenten haͤufige Exempel davon vor Augen haben. Der Zweifel iſt werth daß er beantwortet werde.
Jch ſage alſo vors erſte: Nicht alles was ein Geſchicht - ſchreiber thut, das thut er als ein Geſchichtſchreiber. Z. E. Er ſchreibt auch nach den Regeln der Sprachkunſt: Wer glaubt aber deswegen, daß die richtige Schreibart zum We - ſen der Hiſtorie gehoͤre, und nicht vielmehr der Grammatic eigen ſey? Ein Geſchichtſchreiber kan freylich wohl auch mo - raliſiren, und politiſche Anmerckungen in ſeine Erzehlungen miſchen, wie Tacitus und andre gethan: Gehoͤrt das aber eigentlich zur Hiſtorie? und iſt dieſes deswegen nicht vor eines Sittenlehrers und Staatskuͤndigen eigentliche Pflicht zu hal - ten? Eben ſo gehts mit den Bildern und erdichteten Reden ſo in Geſchichtbuͤchern vorkommen. Sie ſind poetiſche Kunſt - ſtuͤcke, die ein Geſchichtſchreiber nur entlehnet, um ſeine trocknen Erzehlungen dadurch ein wenig anmuthiger zu ma - chen. Er iſt gleichſam wie ein Bildſchnitzer beſchaffen, der die Geſichter und Kleidungen ſeiner Kunſtſtuͤcke mit Pinſel und Farben uͤbermahlet: Nicht als wenn dieß eigentlich ſein Werck waͤre; ſondern weil er einer andern Kunſt Huͤlfe braucht, ſeine Arbeit zur Vollkommenheit zu bringen.
Vors andre habens auch die Critici an einigen Ge - ſchichtſchreibern vorlaͤngſt gemißbilliget, daß ſie die Regeln der hiſtoriſchen Schreibart gar zu ſehr aus den Augen geſetzet. Man leſe nur nach was einige von dem Florus, und le Clerc vom Cur tius, wegen ſeiner gekuͤnſtelten Beſchreibungen ge - urtheilet. Man hat kein Bedencken getragen, dieſen Scri - benten eine poetiſche Schreibart zuzueignen; welches ſattſamF 2zei -84Das II. Capitelzeiget: daß die lebhafften Beſchreibungen eigentlich in der Dichtkunſt zu Hauſe gehoͤren; ſonderlich wenn ſie wie des Curtii ſeine, nur aus dem bloſſen Witze des Scribenten her - kommen. Und was ſoll ich von den Reden eines Xenophons, Livius, Salluſtius, u. a. m. ſagen? Man hat es laͤngſt er - kannt, daß dieſes Proben von der dichtenden Einbildungs - Krafft dieſer Scribenten waͤren; dazu ſie als Geſchichtſchrei - ber nicht waͤren verbunden geweſen. Ja man hat ſie deßwe - gen mit Recht getadelt; weil es einem aufrichtigen Verfaſſer hiſtoriſcher Nachrichten nicht zuſtuͤnde, das geringſte in den wahren Begebenheiten zu aͤndern, auszulaſſen oder hinzuzu - ſetzen. Wie haben aber gedachte Scribenten dieſe Pflicht in ſolchen Reden beobachten koͤnnen, die ſie beruͤhmten Leuten viel hundert Jahre nach ihrem Tode angedichtet? Zum we - nigſten hat Curtius dem Scythiſchen Geſandten eine Anrede an Alexandern in den Mund gelegt; die derſelbe allen Um - ſtaͤnden nach unmoͤglich ſo ſchoͤn und kuͤnſtlich haͤtte halten koͤnnen. Was ich hier von der Hiſtorie zur Antwort gegeben habe, das laͤſt ſich mit leichter Muͤhe auf alle uͤbrige Einwuͤrfe, die man von andern Wiſſenſchafften hernimmt, ausdeuten, und gehoͤriger maſſen anwenden.
Ariſtoteles hat es ſchon ausgefuͤhrt, wie natuͤrlich es dem Menſchen ſey, alles was er ſieht und hoͤret nachzuahmen. Jn unſrer zarteſten Jugend geht dieſe Ubung an. Man ſagt, die Kinder ſind wie Affen: weil ſie alles nachmachen was die Er - wachſenen thun. Man moͤchte aber mit beſſerm Rechte ſprechen, die Affen ſind wie Kinder: denn dieſen gebuͤhrt ſon - der Zweifel im Nachahmen der Vorzug. Alles was wir lernen und faſſen, das faſſen und lernen wir durch die Nach - ahmung. Gehen und ſtehen, reden und ſingen, eſſen und trincken, ja leſen und ſchreiben entſteht bey uns aus keiner andern Quelle.
Die andern Thiere zwar kennt jedes ſeine Krafft,Und weiß auch von Natur von ſeiner Eigenſchafft:Der Menſch allein, ihr Haupt, der Herr ſo vieler Sachen,Muß alles was er thut von andern lernen machen.Und85Von dem Charactere eines Poeten.Und daß er ißt und trinckt, redt, ſitzt, ſteht, geht und liegt,Koͤmmt nur durch Unterricht, ſchlaͤft auch nicht ungewiegt.Opitz II. Buch der Troſt-Ged.
Daher leitet nun der tiefſinnige Weltweiſe den Urſprung der Poeſie her. So viel iſt gewiß, daß diejenigen Knaben, ſo die groͤſte Geſchicklichkeit im Nachahmen an ſich blicken laſ - ſen, auch die groͤſte Faͤhigkeit zur Poeſie beſitzen. Zeiget ſich aber jene ſonderlich in der Mahlerey und Muſic, imgleichen im Tantzen u. ſ. f.: ſo ſieht man wohl, daß Kinder, die zu der - gleichen Ubungen viel Naturell und Luſt haben, auch zur Dichtkunſt ſelbſt ein treffliches Geſchicke erlangen koͤnnen; wenn die Auferziehung ſonſt darnach eingerichtet iſt.
Weil nun dieſe natuͤrliche Geſchicklichkeit im Nachah - men bey verſchiedenen Leuten auch ſehr verſchieden iſt; ſo daß einige faſt ohn alle Muͤhe eine große Fertigkeit darinn erlan - gen, andre hergegen bey vieler Quaal und Arbeit dennoch hinten bleiben: So hat man angefangen zu ſagen, daß die Poeten nicht gemacht; ſondern gebohren wuͤrden.
C’eſt en vain, qu’au Parnaſſe un temeraire AuteurPenſe de l’art des vers atteindre la hauteur;S’il ne ſent point du Ciel l’influence ſecrete,Si ſon aſtre en naiſſant ne l’a formé Poëte.Dans ſon genie étroit il eſt toujours captif,Pour lui Phebus eſt ſourd, & Pegaſe retif.Boil. Art. Poet. Ch. I.
Den heimlichen Einfluß des Himmels fuͤhlen, und durch ein Geſtirn in der Geburt zum Poeten gemacht worden ſeyn, heiſt auſſer der gebundnen Schreibart nichts anders: als ein gutes und zum Nachahmen geſchicktes Naturell bekommen haben.
Es iſt hier nicht genug die arme Rede zwingen,Die Sylben uͤber Hals und Kopf in Reime bringen,Der Woͤrter Hencker ſeyn: Wer nicht den Himmel fuͤhlt,Nicht ſcharf und geiſtig iſt, nicht auf die Alten zielt,Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner,Als ſeine Finger ſelbſt, und ſchaut daß ihm kaum einerVon allen auſſen bleibt, wer die gemeine BahnNicht zu verlaſſen weiß, iſt zwar ein guter MannDoch nicht gleich ein Poet. Opitz Poet. W. I. B.
Unſer Poet fordert alſo von einem Dichter, er ſolle den Him - mel bey ſich fuͤhlen, ja ſcharf und geiſtig ſeyn. Das zielet ebenfalls auf das gute Naturell oder den faͤhigen Kopf eines Dichters: denn
‒ wer nicht von Natur hiezu iſt wie gebohren,Bey dem iſt Kunſt und Fleiß und Ubung auch verlohren.Hoͤr, was der Roͤmer ſpricht: Die Stadt giebt jaͤhrlich zwarDer Buͤrgermeiſter zwey: Jedoch nicht alle JahrKommt ein Poet hervor. So viel hat das zu ſagen,Wenn jemand will mit Recht das Lorber-Kraͤntzlein tragen.Rachel. Sat. der Poet.
Das iſt nun meines Erachtens die beſte Erklaͤrung ſo man von dem Goͤttlichen in der Poeſie geben kan; davon ſo viel ſtreitens unter den Gelehrten iſt. Ein gluͤcklicher muntrer Kopf iſt es, wie man insgemein redet; oder ein lebhaffter Witz, wie ein Weltweiſer ſprechen moͤchte. Dieſer Witz iſt eine Gemuͤths-Krafft, welche die Aehnlichkeit der Dinge leicht wahrnehmen, und alſo eine Vergleichung zwiſchen ihnen anſtellen kan. Sie ſetzet die Scharfſinnigkeit zum Grunde, welche ein Vermoͤgen der Seelen anzeiget, viel an einem Dinge wahrzunehmen, welches ein andrer, der gleich - ſam einen ſtumpfen oder bloͤden Sinn und Verſtand hat, nicht wuͤrde beobachtet haben. Je groͤſſer nun dieſe Scharf - ſinnigkeit bey einem jungen Menſchen iſt, je aufgeweckter ſein Kopf iſt, wie man zu reden pflegt; deſto groͤſſer kan auch ſein Witz werden, deſto ſinnreicher werden ſeine Gedancken ſeyn. Denn wo man viel Eigenſchafften der Dinge angemercket hat, auf alle Kleinigkeiten bey einer Perſon, Handlung, Begebenheit u. ſ. w. Acht gegeben: da kan man deſto leichter die Aehnlichkeit einer ſolchen Perſon, Handlung, Begeben - heit oder Sache mit andern dergleichen Dingen wahrneh - men. Die Einbildungs-Krafft nehmlich bringet bey den gegenwaͤrtigen Empfindungen ſehr leicht wiederum die Be - griffe hervor, die wir ſonſt ſchon gehabt; wenn ſie nur die geringſte Aehnlichkeit damit haben. Alle dieſe Gemuͤths - Kraͤffte nun, gehoͤren in einem hohen Grade vor denjenigen, der geſchickt nachahmen ſoll. Und ein Poet muß dergeſtalt,ſowohl87Von dem Charactere eines Poeten. ſowohl als ein Mahler, Bildſchnitzer u. ſ. w. eine ſtarcke Einbildungs-Krafft, viel Scharfſinnigkeit und einen groſſen Witz ſchon von Natur beſitzen, wenn er den Nahmen eines Dichters mit Recht fuͤhren will.
Doch alle dieſe natuͤrliche Gaben ſind an und vor ſich ſelbſt noch roh und unvollkommen, wenn ſie nicht aufgeweckt und von ihrer anklebenden Unrichtigkeit geſaubert werden. Viel witzige Koͤpfe verroſten gleichſam bey ihrer guten Faͤhig - keit, aus Mangel der Anfuͤhrung. Kinder, denen es an Unterricht fehlet, bleiben bey aller ihrer natuͤrlichen Geſchick - lichkeit dennoch ſtecken: Und wenn ſie ſich gleich unter andern ihres gleichen durch ein lebhaffteres Weſen hervorthun; ſo iſt doch alle ihr Witz gleichſam ein ungebautes Feld, das nur wilde Pflantzen hervortreibet; ein ſelbſt wachſender Baum, der nur ungeſtalte Aeſte und Reiſer hervorſproſſet. Man kan aber junge Knaben beyzeiten aufwecken, wenn man ihnen bald allerley ſinnreiche Schrifften zu leſen giebt; wenn man ſie auf die trefflichſten Stellen derſelben aufmerckſam ma - chet; ihnen die Schoͤnheit derſelben recht vor Augen ſtellet, und durch ein vernuͤnftiges Lob ihrer Verfaſſer, ſie anſpornet nach gleicher Ehre zu ſtreben.
Dieſes thut man, wenn die Jugend ſchon ihren Verſtand einiger maſſen brauchen kan: der Grund aber kan noch fruͤ - her dazu geleget werden, wenn man ſie beyzeiten im Zeichnen oder Reißen unterweiſen laͤſt. Es glaubt niemand, was dieſe Ubung jungen Leuten vor Vortheil ſchaffet; als wer ſie mit philoſophiſchen Augen anſieht. Wer einen vor Augen lie - genden Riß nachmahlen will, der muß ſehr genau auf alle gerade und krumme Linien, Verhaͤltniſſe, Groͤſſen, Stel - lungen, Entfernungen, Erhebungen, Schattirungen, Strich - lein und allerkleineſte Puncte Achtung geben. Durch der - gleichen Ubung und Bemuͤhung erlangt man alſo einen hohen Grad der Aufmerckſamkeit auf jede vorfallende Sache; welche endlich zu einer Fertigkeit gedeyhet, in groſſer Ge - ſchwindigkeit, und faſt im Augenblicke viel an einer Sache wahrzunehmen; welche Fertigkeit wir vorhin die Scharf - ſinnigkeit genannt. Jndem aber ein ſolcher Knabe ſich fernerF 4bemuͤ -88Das II. Capitelbemuͤhet, ſeinen Riß, dem vorgelegten Muſterbilde aͤhnlich zu machen; ſo muß er die Aehnlichkeiten zwiſchen beyden wahrnehmen lernen: das iſt ſeinen Witz uͤben. Faͤngt er endlich gar an wirckliche Perſonen zu ſchildern, oder Gegen - den und Landſchafften zu mahlen, die er wircklich vor ſich ſiehet: So wird er noch fertiger. Am hoͤchſten bringt ers endlich, wenn er aus ſeiner eigenen Erfindung gantze Hiſto - rien wohl zu entwerfen, und auf eine ſehr lebhaffte, natuͤrliche und folglich anmuthige Art auszumahlen geſchickt wird. Dergleichen Ubungen formiren unvermerckt Poetiſche Gei - ſter. Denn dafern durch das Studiren, dergleichen jungen Leuten zugleich die Fertigkeit in der Sprache, die Kenntniß vieler Sachen, nebſt den Regeln der gebundenen Schreibart beygebracht wird: So werden ſie hernach eben ſo geſchickt mit der Feder, als mit Pinſel und Farben, die Nachahmung natuͤrlicher Dinge zu vollziehen.
Denn das muß man nothwendig wiſſen, daß es mit Einbildungs-Krafft, Scharfſinnigkeit und Witz bey einem Poeten nicht ausgerichtet iſt. Dieß iſt der Grund von ſeiner Geſchicklichkeit, den die Natur legt: aber es gehoͤrt zu dem Naturelle auch die Kunſt und Gelehrſamkeit. Muß doch ein Mahler, der was rechtes thun will, in der Meß-Kunſt, Perſpectiv, Mythologie, Hiſtorie, Bau-Kunſt, ja Logic und Moral was gethan haben; wenn er es zu einiger Voll - kommenheit bringen will. So wird denn ein Poet, der auch die unſichtbaren Gedancken und Neigungen menſchlicher Gemuͤther nachzuahmen hat, ſich nicht ohne eine weitlaͤuftige Gelehrſamkeit behelfen koͤnnen. Es iſt keine Wiſſenſchafft von ſeinem Bezircke gantz ausgeſchloſſen. Er muß zum we - nigſten von allem was wiſſen, in allen Theilen der unter uns bluͤhenden Gelahrtheit ſich ziemlicher maſſen umgeſehen haben. Ein Poet hat Gelegenheit von allen Dingen zu ſchreiben. Macht er nun Fehler, die von ſeiner Unwiſſenheit in Kuͤnſten und Wiſſenſchafften zeugen; ſo verliert er ſein Anſehen. Ein einzig Wort giebt offt ſeine Einſicht in einer Sache, oder auch ſeine Unerfahrenheit zu verſtehen. Ein einzig Wort kan ihn alſo in Hochachtung und in Verachtungſetzen,89Vom Charactere eines Poeten. ſetzen, nachdem es entweder ſeine Gelehrſamkeit oder Unwiſ - ſenheit an den Tag legt. Daraus folgt nun unfehlbar, daß ein Poet keine Wiſſenſchafft ſo gar verabſaͤumen muͤſſe; als ob ſie ihn nichts angienge. Er muß ſich vielmehr bemuͤhen von allen, zum wenigſten einen kurtzen Begriff zu faſſen: damit er ſich wo nicht in allen geſchickt erweiſen; doch mindſtens in keiner einzigen auf eine laͤcherliche Art verſtoßen moͤge.
Vielleicht wirft man mir ein: Jch machte den Begriff von einem Poeten zu groß und zu vollkommen; Dergleichen Leute von allgemeiner Gelehrſamkeit haͤtte es wohl noch nie gegeben: Jnskuͤnftige aber, wuͤrde man ſie noch weniger zu gewarten haben, da die Anzahl der Wiſſenſchafften und Kuͤnſte faſt taͤglich groͤſſer wuͤrde. Hierauf will ich zur Ant - wort geben, daß man nicht uͤbel thue, wenn man eine Sache nach ihrer groͤſten Vollkommenheit abſchildert. So haben die Stoicker ihren Weiſen, die Lehrer der Redekunſt ihren vollkommenen Redner, und die heutigen Weltweiſen einen vollkommenen Philoſophen beſchrieben. Es iſt gut wenn man ein Ziel vor Augen hat, darnach man ſtreben kan, wenn es gleich noch niemand erreichet haͤtte. Je naͤher man ihm kommt, deſto vollkommener iſt man, und der am wenigſten davon entfernet bleibt, der iſt am lobwuͤrdigſten. Geſteht aber Seneca von dem Stoiſchen Weiſen, Cicero von einem vollkommenen Redner, und Herr Wolf von einem vollkom - menen Philoſophen, daß dergleichen noch niemahls in der Welt zu finden geweſen: So will ichs auch bekennen, daß noch kein Poet den hoͤchſten Gipfel in ſeiner Kunſt erreichet habe. Die Erfahrung hat es gewieſen. An den beruͤhm - teſten alten und neuen Dichtern haben ſcharfe Critici mit gutem Grunde ſo viel auszuſetzen gefunden; daß man auch hier die menſchliche Unvollkommenheit nur gar zu deutlich hat wahrnehmen koͤnnen. Wie aber deswegen weder die Stoicker nach Weisheit, noch die Redner nach Beredſamkeit, noch die Philoſophen nach der Philoſophiſchen Erkenntniß zu ſtre - ben aufgehoͤret: Alſo darf auch kein Liebhaber der Dichtkunſt den Muth ſincken laſſen.
F 5Denn90Das II. CapitelDenn dieß gilt dahin nicht, daß dieſe SchwierigkeitDich laͤßig machen ſoll. Der Gaben UnterſcheidDer hebt nicht alles auf. Kanſt du dem Uber-ReichenAn ſeinem groſſen Schatz und Vorrath nicht wohl gleichen,So iſt dir wenig gnug. Spann alle Sinnen an,Wer weiß was nicht dein Fleiß dir mehr erwerben kan.Schreib wenig, wo nicht viel; doch das nach Arbeit ſchmecket.Ein kleines Wercklein hat offt groſſen Ruhm erwecket.Zwey Zeilen oder drey von Buchnern aufgeſetzt;Sind billig mehr als dieß mein gantzes Buch geſchaͤtzt.Nur eine Fliege wohl und nach der Kunſt gemahlet,Jſt ihres Lobes werth, und wird ſowohl bezahlet,Als nach des Lebens Maaß ein groſſer Elephant,Den nur ein Sudler hat geſchmieret von der Hand.Kanſt du kein Opitz ſeyn, kein theurer Flemming werden,O es iſt Raum genug vom Himmel bis zur Erden ꝛc.Rachelius Sat. der Poet.
Vor allen Dingen aber iſt einem wahren Dichter eine gruͤndliche Erkenntniß des Menſchen noͤthig, ja gantz unent - behrlich. Ein Poet ahmet hauptſaͤchlich die Handlungen der Menſchen nach, die von ihrem freyen Willen herruͤhren, und vielmahls aus den verſchiedenen Neigungen des Ge - muͤths und hefftigen Affecten ihren Urſprung haben. Daher muß derſelbe ja die Natur und Beſchaffenheit des Willens, der ſinnlichen Begierde, und des ſinnlichen Abſcheues in allen ihren mannigfaltigen Geſtalten gruͤndlich einſehen lernen. Wie wuͤrde es ihm ſonſt moͤglich ſeyn, einen Geitzigen, Stol - zen, Verſchwendriſchen, Zaͤnckiſchen, Verliebten, Trau - rigen, Verzagten u. ſ. w. recht zu characteriſiren? Alle Be - wegungen des Willens entſtehen aus den Meynungen und Urtheilen des Verſtandes, ſo wie dieſe in den verſchiedenen Vorſtellungen der Sinne ihren Grund haben. Der Poet muß alſo auch die Gemuͤths-Kraͤffte der vernuͤnftigen Seele, und ihren verſchiedenen, ſowohl boͤſen als guten Gebrauch kennen; damit er thoͤrichte Leute thoͤricht, und ſo ferner Aber - glaͤubiſche, Leichtglaͤubige, Unglaͤubige, Vernuͤnftler, Gruͤb - ler, Zweifler, Einfaͤltige, Spitzfuͤndige, Verſchlagene, Dumme und Kluge nach ihrer gehoͤrigen Art abzuſchildern und nachzuahmen im Stande ſey. Sind ferner die Handlun -gen91Vom Charactere eines Poeten. gen der Menſchen entweder gut oder boͤſe: ſo wird er nicht im Stande ſeyn dieſelben recht zu beurtheilen, wenn er nicht das Recht der Natur, die Sittenlehre und Staatskunſt gruͤndlich verſteht. Das iſt nun diejenige Wiſſenſchafft von den Charactern und Pflichten der Menſchen, die Horatz in ſeiner obſtehenden Dichtkunſt ſo eifrig von einem Poeten for - dert, und ihm zu wiederholten mahlen einſchaͤrfet. Boileau thut desgleichen:
So nothwendig nun einem Poeten die Philoſophie iſt; ſo ſtarck muß auch ſeine Beurtheilungs-Krafft ſeyn. Es wuͤrde nichts helfen witzig und ſcharfſinnig zu ſeyn; wenn der Witz uͤbel angebracht wuͤrde, oder gar nicht rechter Art waͤre. Eine gar zu hitzige Einbildungs-Krafft macht unſinnige Dichter; dafern das Feuer der Phantaſie nicht durch eine geſunde Vernunft gemaͤßiget wird. Nicht alle Einfaͤlle ſind gleich ſchoͤn, gleich wohl gegruͤndet, gleich natuͤrlich und wahrſchein - lich. Das Urtheil muß Richter daruͤber ſeyn. Es iſt nirgends leichter ausgeſchweifet, als in der Poeſie. Wer ſeinen regel - loſen Trieben den Zuͤgel ſchieſſen laͤßt, dem geht es wie dem jungen Phaeton. Er hat wilde Pferde zu regieren, aber we - nig Verſtand und Kraͤffte ſie zu baͤndigen und auf der rechten Bahn zu halten. Sie reiſſen ihn fort, und er muß folgen wohin ſie wollen, bis er ſich in den Abgrund ſtuͤrtzet. So iſt es mit einem gar zu feurigen poetiſchen Geiſte auch bewandt. Er92Das II. CapitelEr reiſt ſich leicht aus den Schrancken der Vernunft, und es entſtehen lauter Fehler aus ſeiner Hitze, wenn er nicht durch ein reifes Urtheil gezaͤhmet wird. Statius, Claudianus, Lucanus und der tragiſche Seneca koͤnnen uns unter den La - teinern zur Warnung dienen. St. Evremont haͤlt den Brebeuf, der die Pharſal des Lucans uͤberſetzt, ſeinem Ori - ginale nicht nur gleich; ſondern ſagt gar daß er denſelben noch an wildem Feuer der Einbildung uͤbertroffen habe. Von den Jtalienern und Spaniern hat uns Bouhours in hundert Exempeln die Fruͤchte gar zu hitziger Geiſter gewieſen, die keine Pruͤfung der Vernunft aushalten. Von unſern Lan - desleuten mag ich nicht Exempel anfuͤhren. Es iſt bekannt, daß Hofmanswaldau und Lohenſtein auch dem Jtalieniſchen Geſchmacke gefolget, und ihr Feuer nicht allemahl zu maͤßigen gewuſt. Viele von ihren Anbetern ſind noch weiter gegangen als ſie; aber ich weiß nur einen einzigen Hrn. Neukirch, der beyzeiten umgekehrt, und wieder der Vernunft und Natur nachzugehen angefangen: wie bereits aus dem VIten Theile der Hofm. W. Ged. 101 S. angefuͤhret worden. Jch kan alſo nicht unterlaſſen, abermahl eine Stelle aus dem Boileau herzuſetzen, worinn er ſeine poetiſche Lehrlinge vermahnet, die geſunde Vernunft nie aus den Augen zu ſetzen.
La plûpart emportez d’une fougue inſenſée,Toujours loin du droit ſens vont chercher leur penſée,Ils croiroient s’abaiſſer dans leurs vers monſtrueux,S’ils penſoient ce qu’un autre a pû penſer comme eux.Evitons ces excés. Laiſſons à l’Italie,De tous ces faux brillans l’eclatante folie,Tout doit tendre au bon ſens: mais pour y parvenirLe chemin eſt gliſſant & penible à tenir,Pour peu qu’on s’en écarte, auſſitôt on ſe noyeLa Raiſon, pour marcher, n’a ſouvent qu’une voye.Art. Poet. Ch. I.
Auſſer allen dieſen Eigenſchafften des Verſtandes die ein wahrer Poet beſitzen und wohl anwenden muß, ſoll er auch von rechtswegen ein ehrliches tugendliebendes Gemuͤthe ha - ben. Der Beweis davon iſt leicht. Ein Dichter ahmet die Handlungen der Menſchen nach; die entweder gut oderboͤſe93Vom Charactere eines Poeten. boͤſe ſind. Er muß alſo in ſeinen Schildereyen die guten als gut; das iſt ſchoͤn, ruͤhmlich und reitzend: Die boͤſen aber als boͤſe; das iſt heßlich, ſchaͤndlich und abſcheulich abmahlen. Thaͤte er dieſes nicht, und unterſtuͤnde er ſich die Tugend als veraͤchtlich, ſchaͤdlich und laͤcherlich, das Laſter hergegen als angenehm, vortheilhafft und lobwuͤrdig zu bilden; ſo wuͤrde er die Aehnlichkeit gantz aus den Augen ſetzen, und die Natur derſelben ſehr uͤbel ausdruͤcken. Jch ſchweige noch, daß ein ſo ſchaͤdlicher Scribent in einer wohlbeſtellten Republic nicht zu dulden waͤre: worauf denn Plato geſehen haben mag, wenn er in der ſeinigen gar keine Dichter hat leiden wollen. Es hat nehmlich zu allen Zeiten auch ſolche verderbte Vers - macher gegeben, die, weil ſie ſelbſt uͤbel geſittet geweſen und gottlos gelebt, auch andere durch ihre Gedichte zu allerhand Schande und Laſtern gereizet. Sonderlich iſt die Geilheit unzuͤchtigen Gemuͤthern allezeit ein Stein des Anſtoſſens ge - worden. Ein Ovidius und Catullus ſind wegen ihrer unzuͤch - tigen Gedichte, bey allen ihren Schoͤnheiten, ſchaͤdlich zu leſen. Selbſt Horatz iſt nicht uͤberall ſo keuſch in ſeinen Aus - druͤckungen als er wohl haͤtte ſeyn koͤnnen, wenn er ſich den zuͤchtigen Virgil haͤtte zum Muſter nehmen wollen. Gleich - wohl ruͤhmt er in einem Schreiben an den Kaͤyſer Auguſt, daß ein wahrer Poet, das Ohr eines Knaben, deſſen Aufer - ziehung er zu beſorgen hat, von ſchaͤndlichen Zoten abwende: und ihm vielmehr gute Sitten beyzubringen bemuͤht ſey.
Os tenerum pueri balbumque Poeta figurat,Torquet ab obſcoenis jam nunc ſermonibus aurem.Mox etiam pectus praeceptis format amicis.Aſperitatis & invidiae corrector & irae,Recte facta refert. L. II. Ep. 1.
Da man ſich nun lieber an Horatii Regel, als an ſein Exem - pel haͤtte kehren ſollen, ſo hat es doch allezeit ſolche unverſchaͤm - te Zotenreißer gegeben, die ihren gantzen Witz in aͤrgerlichen Poſſen geſuchet, und nicht anders ſinnreich oder angenehm zu dichten gewuſt, als wenn ſie die unzuͤchtigſten Reden in garſtigen Allegorien, groben Zweydeutigkeiten und heß - lichen Wortſpielen zu Marckte gebracht. Racheliushat94Das II. Capitelhat ſie in ſeiner offt gedachten Satire nachdruͤcklich abge - mahlet.
Wenn nun ein grobes Holtz, ein Eulenſpiegels gleichen,Laͤſt einen (Pfui dich an!) mit gutem Willen ſtreichen,Bringt kahle Zoten vor, verſchluckt ein gantzes Ey,Und ruͤlzet ins Gelach und ſchmatzet in den Brey;Wenn er ſich luſtig macht mit ſolchen Buben-Poſſen,Die auch kein Huren-Wirth ſollt hoͤren unverdroſſen;Da lacht die Unvernunft, daß ihr die Lufft entgeht,Und ſpricht wohl: Hey, das iſt ein luſtiger Poet!O allzutheurer Nahm, fuͤr ſolche grobe Hachen!Kan denn ein fauler Stanck ſo bald Poeten machen?Ein unverſchaͤmtes Wort? O! weit vom Ziel gefehlt!Das muß ein ander ſeyn, der mit will ſeyn gezehltJn dieſe werthe Zunft. Die keuſchen PierinnenSind keinem Unflath hold und haſſen grobe Sinnen.
Opitz, Dach, die Gryphier, Canitz und andre von unſern beſten Poeten, haben wohl niemahls, auch in verliebten Gedichten, ein zartes Ohr geaͤrgert. Hofmanswaldau und Lohenſtein aber ſind auch in dieſem Stuͤcke in die Fußtapfen der geilen Jtaliener getreten, die ihrer Feder ſo wenig als ihren Be - gierden ein Maaß zu ſetzen wiſſen; und dieſe Vorgaͤnger haben ſehr viel angehende Dichter verderbet. Die Franzoͤ - ſiſche Nation verdienet hingegen viel Lob, daß die Schrifften ihrer verliebteſten Poeten ſo rein von allen Unflaͤtereyen ſind, daß man faſt keine einzige anſtoͤßige Stelle bey ihnen antref - fen wird. Boileau hat auch dieſe Regel in ſeiner Dichtkunſt ſo wenig vergeſſen, daß er ſie vielmehr zu verſchiedenen mah - len wiederholet hat. Am Ende des III. Geſanges wo er noch von der Comoͤdie handelt, ſchließt er ſo:
J’aime ſur le Theatre un agreable Auteur,Qui ſans ſe diffamer aux yeux du Spectateur,Plait par la raiſon ſeule, & jamais ne la choque;Mais pour un faux Plaiſant, à groſſiere équivoque,Qui pour me divertir n’a que la ſaleté,Qu’il s’en aille, s’il veut, ſur deux tretaux monté,Amuſant le Pont-neuf de ſes ſornettes fades,Aux Laquais aſſemblez jouer ſes Maſcarades.
Wie er nun hier in Comoͤdien an ſtatt eines artigen Schertzeskeine95Von dem Charactere eines Poeten. keine grobe Zweydeutigkeiten und Fratzen leiden will, indem er ſolche Poeten auf die neue Bruͤcke zu Paris verweiſet, wo ſie ihr Lumpenzeug dem daſelbſt verſammleten Geſindel vor - ſpielen koͤnnten: alſo giebt er auch hernach im IV. Geſange die Regel, einen guten Character von ſich ſelbſt bey den Leſern zu machen, und ſich nicht in eine uͤble Meynung bey ihnen zu ſetzen. Er koͤnne nehmlich diejenigen Scribenten nicht leiden, die in Verßen die Erbarkeit an den Nagel hiengen, und Ver - raͤther der Tugend wuͤrden: indem ſie das Laſter als liebens - wuͤrdig vorſtelleten.
Und nachdem er ſich in etlichen Verßen entſchuldiget, daß er einem Poeten nicht eben verbieten wolle gar nichts verliebtes zu ſchreiben; wie denn wohl einige Scheinheilige auch Ro - derichs und Chimenens keuſche Liebe nicht auf der Buͤhne leiden wollen: Sondern nur den unflaͤtigen Ausdruck derſelben wiederrathe; als ohne welchen auch die unzuͤchtigſte Liebe keinen ſchamroth zu machen pflegt: So ſetzt er noch hinzu, daß der Poet ſelbſt innerlich tugendhafft ſeyn muͤſſe, wenn er allezeit keuſch und rein ſchreiben wolle; weil er ſich ſonſt un - verſehens verrathen wuͤrde. Denn wes das Hertz voll iſt, des geht der Mund uͤber:
Dieſe tugendhaffte Gemuͤthsart eines Poeten muß ſich zu allerletzt auch darinn zeigen, daß er weder ein Schmeichler noch ein Laͤſterer werde. Beydes iſt vor einen vernuͤnftigen und rechtſchaffenen Mann eine viel zu niedertraͤchtige Be -ſchaͤffti -96Das II. Capitelſchaͤfftigung. Vor alles was gut iſt, und eine wahre Ehre bringen kan, eine Hochachtung zu bezeigen; das iſt einem wahren Dichter niemahls verwehrt. Vielmehr erfordert es ſeine Pflicht, die ihm als einem redlichen Buͤrger obliegt, die Tugendhafften auf eine vernuͤnftige Art zu loben, ihr Gedaͤchtniß zu verewigen, und durch die Beſchreibung ihrer ruͤhmwuͤrdigen Exempel, theils die zu ihrer Zeit Lebenden, theils auch die Nachkommen zu loͤblichen Thaten aufzumun - tern. Eine wahre Ehrliebe iſt eine gantz unſchuldige Neigung, und giebt einen Sporn zu vielem Guten ab, wie in der Sit - tenlehre gewieſen wird. Dieſe aber wird durch nichts beſſer erwecket, als durch ein billiges Lob welches denen wiederfaͤhrt, die ſich wohl verhalten, ihrem Vaterlande dienen, gerecht, freygebig, beſcheiden, maͤßig, ſparſam, wohlthaͤtig, leut - ſeelig, ſtandhafft, dienſtfertig und gedultig ſind. Hier mahlet ein rechtſchaffener Poet das an ſich ſelbſt ſchoͤne Weſen der Tugend, in der Perſon eines tugendhafften Mannes ſo lie - bens-wuͤrdig ab, daß es alle die es ſehen, in ſich verliebt macht. So hat z. E. unſer groſſer Opitz in den Buͤchern von Wieder - waͤrtigkeit des Krieges, die Fuͤrtrefflichkeit eines im Ungluͤcke gelaſſenen und ſtandhafften Mannes, unter dem Bilde des unuͤberwindlichen Ulyſſes abgeſchildert. Wie aber dieſer groſſe Mann, gleich darauf die falſche Standhafftigkeit des beruͤhmten Roͤmers Cato, der ſich ſelbſt ums Leben gebracht, entbloͤßet, und den nichtigen Schein ſeiner ſo geprieſenen Unerſchrockenheit entdecket: Alſo hat er durch ſein Exempel gewieſen, daß ein rechtſchaffener Dichter ſich durch das aͤuſ - ſerliche Anſehen gleiſſender Laſter nicht muͤſſe blenden laſſen. Das thun aber die Schmeichler theils aus Unverſtand, theils aus Bosheit, und ſtifften eben durch dieß unvernuͤnftige Lob viel Schaden.
Vor Alters, wo mir recht, ward nie ein Held beſungen,Wenn er nicht durch Verdienſt ſich in die Hoͤh geſchwungen,Und eine Redensart, die goͤttlich ſollte ſeyn,Die ward zu ſolcher Zeit den Sclaven nie gemein.Wo lebt itzt der Poet, der dieß Geheimniß ſchonet?So bald er einen merckt, der ihm die Arbeit lohnet,Wird ſeinem Pegaſus der Sattel aufgelegt,Der97Vom Charactere eines Poeten.Der ein erkauftes Lob bis an den Himmel traͤgt,Den wir durch ſolche Peſt ſo offt zum Zorne reitzen,Und oͤffter noch vielleicht als ſich die Sterne ſchneutzen.Daß mehrentheils die Welt in traͤger Luſt verdirbt,Und ſich um wahren Ruhm ſo ſelten mehr bewirbt,Jſt der Poeten Schuld. Der Weyhrauch wird verſchwendet,Und manchem Leib und Seel, um die Gebuͤhr, verpfaͤndet,Daß die Unſterblichkeit ihm gar nicht fehlen kan,Der als ein Erdenſchwamm ſich kaum hervorgethan,Und den ſonſt anders nichts vom Poͤbel unterſcheidet,Als daß ein bloͤder Fuͤrſt ihn an der Seite leidet,Da er fuͤr jedes Loth, das ihm an Tugend fehlt,Ein Pfund des eiteln Gluͤcks und ſchnoͤden Goldes zehlt.Canitz Sat. von der Poeſie.
So groß nun die Niedertraͤchtigkeit der Schmeichler iſt; eben ſo groß iſt die Bosheit der Laͤſterer. Jene wollen das Laſter zur Tugend; wie dieſe die Tugend zum Laſter machen. Sie folgen nicht der Billigkeit und Vernunft in Beurtheilung der menſchlichen Eigenſchafften: ſondern ihrem Neide, ihrer Rachgier, oder wohl gar eigennuͤtzigen Abſichten; wenn ſie nehmlich ihre Feder zum Dienſte neidiſcher oder rachgieriger Leute mißbrauchen. Sie werden dadurch Tageloͤhner der Bosheit, und Feinde der Tugend: wiewohl ſie ſelten im Stande ſind, derſelben wircklich zu ſchaden. Es iſt ein gantz an - der Werck mit der ſatiriſchen Poeſie. Dieſe iſt die Frucht einer gruͤndlichen Sittenlehre, und hat ordentlich die Liebe der Tu - gend zur Mutter, und den Haß der Laſter zum Vater. Die wahre Satire greift alſo nicht unſchuldige, ſondern ſchuldige Leute an: ja ſie ſtrafet das Boͤſe an ſich, ohne die Perſonen ſo es an ſich haben zu nennen, oder auf eine anzuͤgliche Art zu beſchimpfen. Eben der Homerus, der ein ſo herrlich Talent zum Loben gehabt, hat auch, nach dem Berichte Ariſtotelis, auf einen gewiſſen Margites eine Satire gemacht, der weder ein Ackersmann noch ein Wintzer noch ein Schaͤfer, das iſt, gar kein nuͤtzliches Glied der menſchlichen Geſellſchafft war. Denn auf die drey Lebensarten legte ſich bey der damahligen Einfalt der Welt alles, was ſein Brodt ehrlich erwerben wollte. Ein Menſch alſo, der keines von allen trieb, war ein Muͤßiggaͤnger, und verdiente freylich wohl eine Satire. DaßGein98Das II. Cap. Von dem Charactere ꝛc. ein alter Koͤnig der Deutſchen befohlen, auf die Laſterhafften gewiſſe ſatiriſche Lieder zu machen; iſt in dem vorigen Capitel erinnert worden. Und alſo iſt es gewiß, daß man die wahre Satire mit gottloſen Pasquillen oder Laͤſterſchrifften nicht zu vermiſchen habe. Jene iſt die Seele aller Comoͤdien, die doch in ſo vielen wohlbeſtellten Republicken nicht ohne groſſen Nutzen gedultet, ja auf gemeine Koſten geſpielet worden: Dieſe aber eine Stiffterin unzehliches Unheils, weswegen ſie auch durch die Geſetze der Obrigkeit allezeit verboten und ſcharf beſtrafet worden. Rachelius hat im Schluſſe ſeiner Satire vom Poeten, beyde ſehr wohl unterſchieden, welche Stelle ich herſetzen, und dadurch dieß Capitel beſchlieſſen will.
OB es gleich ſcheint, daß ich im vorigen alle gute Eigen - ſchafften eines wahren Poeten erzehlet habe: ſo iſt doch noch etwas von groſſer Wichtigkeit uͤbrig, das ich in einem beſondern Capitel abhandeln will. Es iſt in den neuern Zeiten ſehr viel vom guten Geſchmacke geredet und geſchrieben worden. Man hat ihn gewiſſen Dichtern zuge - ſtanden, andern aber abgeſprochen; und endlich gar die Regel gemacht: Ein Poet muͤſſe einen guten Geſchmack haben. Dieſe Regel nun nach meiner Art zu erklaͤren und zu erwei - ſen, das iſt meine Abſicht in dieſem Hauptſtuͤcke.
Jch will mich hier nicht in die hiſtoriſche Unterſuchung ein - laſſen, wenn und wo das Wort Geſchmack zuerſt in dieſer neuen Bedeutung genommen worden. Das haben ſchon andre vor mir gethan, deren Schrifften ich mit Vergnuͤgen und Vortheil geleſen habe: darunter ich denn des Hrn. Geh. Secr. Koͤnigs, und Hrn. Bodmers aus Zuͤrich dahin gehoͤrige Sachen, nahmhafft machen und loben muß. Jch weiß auch, daß in Franckreich nur neulich der Pater Duboſc mit ſeinem Wiederſacher verſchiedene Streitigkeiten daruͤber gehabt. Man kan dieſe Redensart nunmehro vor eine bekannte und voͤllig eingefuͤhrte halten; und man darf ſich nur angelegen ſeyn laſſen, ſie im rechten Verſtande zu gebrauchen. Dieſen aber zu beſtimmen, das iſt nicht eines jeden Werck. Wem es damit gelingen ſoll, der muß erſtlich die Kraͤffte der menſch - lichen Seelen, und ſonderlich die Wirckungen des empfinden - den und urtheilenden Verſtandes aus der Weltweisheit ver - ſtehen. Hernach muß er eine Fertigkeit in der Vernunftlehre beſitzen, ſo, daß er faͤhig iſt ſich von jedem vorkommenden Dinge und Ausdrucke, nach den logiſchen Regeln eine guteG 2Erklaͤ -100Das III. CapitelErklaͤrung zu machen. Endlich muß er ſich auch in der Poeſie, oder andern Kuͤnſten, davon etwa die Rede iſt, wohl geuͤbet haben. Ohne dieſe drey Stuͤcke, wird die Beſchreibung des guten Geſchmacks nicht zum beſten gerathen koͤnnen. Da es nun den Franzoſen, die bisher davon geſchrieben, entweder an zweyen, oder doch zum wenigſten an einem von dieſen drey Stuͤcken gefehlet hat: ſo iſt es auch kein Wunder, daß ſie weder mit einander eins werden, noch uns Deutſchen ein beſ - ſeres Licht haben anzuͤnden koͤnnen. Unſre oberwehnte Lan - desleute haben die Sache mit viel groͤſſerer Geſchicklichkeit angegriffen; und ſie eben deswegen auch weit gruͤndlicher auszufuͤhren vermocht.
Zum erſten ſetze ich zum voraus, der Geſchmack im ge - meinen und eigentlichen Verſtande, ſey die Faͤhigkeit oder Gabe unſrer Zunge, die verſchiedenen Wirckungen zu em - finden, ſo von Speiſe und Tranck auf derſelben verurſachet werden, wenn ſie davon ſattſam beruͤhret und durchdrungen worden. Unſre Sinne, inſoweit ſie coͤrperlichen Gliedmaſſen zukommen, ſind nichts als Leidenſchafften, und empfangen alſo nur die Eindruͤckungen der auſſer uns befindlichen Dinge. Daher eigne ich auch der Zunge bloß die Geſchicklichkeit zu empfinden zu, welche nur was leidendes iſt; da hergegen eine Krafft was thaͤtiges angezeiget haͤtte. Dieſe habe ich vor den Geſchmack vorbehalten, in ſo weit er in der Seele iſt, den ich alſo eine Krafft des Gemuͤthes nenne, vermoͤge welcher daſſelbe die von Speiſe und Tranck in den ſchwammigten Faͤſerchen der Zunge verurſachten Veraͤnderungen, ſich vor - ſtellen und ihren Unterſcheid beurtheilen kan.
Man wird mir ferner leicht einraͤumen, daß die Begriffe und Vorſtellungen, ſo wir uns von dem beſondern Geſchmacke verſchiedener Speiſen machen, bey aller ihrer Klarheit den - noch nichts deutliches in ſich haben. Wir ſind bey geſunden Tagen gar wohl im Stande das ſuͤſſe vom bittern, das ſaure von dem herben u. ſ. w. zu unterſcheiden, und jedes mit ſeinem Nahmen zu nennen: Alſo ſind die Begriffe von dieſen Woͤr - tern bey uns nicht dunckel. Wir ſind hingegen nicht vermoͤ - gend das allergeringſte zu antworten; wenn man uns fragt,worinn101Vom guten Geſchmacke eines Poeten. worinn der ſaure Geſchmack vom bittern, dieſer vom herben, ſcharfen u. ſ. f. unterſchieden ſey, und woran wir einen vor dem andern erkennen? Dieſes zeiget daß unſre Vorſtellungen davon verwirrt, und eben ſo undeutlich ſind als die Begriffe von der rothen, blauen, gruͤnen oder gelben Farbe. Und von eben dieſer Undeutlichkeit kommt es her, daß man das Sprich - wort gemacht hat: Vom Geſchmacke muͤſſe man nicht viel zancken.
Weiter nehme ich aus der gemeinen Sprache an, daß man denen, die den geſunden Gebrauch ihrer Zunge haben, den guten Geſchmack nicht abzuſprechen pflegt; ſo lange ſie ſagen, daß der Zucker ſuͤß, Wermuth bitter, und Eßig ſauer ſchmeckt: Denn darinn koͤmmt die gantze Welt uͤberein. Wer hergegen ein Gallenfieber hat, ſo, daß ihm alles ohne Unterſcheid bitter ſchmeckt, dem eignet man einen verderbten Geſchmack zu; weil er nicht mehr nach Beſchaffenheit der Sachen, ſondern nach ſeiner verderbten Zunge urtheilet. Jmgleichen pflegt es zu geſchehen, daß ſich gewiſſe Leute von Jugend auf gewoͤhnen Kohlen, Kalck, Kreide u. a. m. zu eſſen; daher es nachmahls kommt, daß ſie in dem Genuſſe ſolcher ungeſchmackten Dinge einen beſondern Geſchmack zu finden vermeynen, welchen aber niemand der keine ſo ver - wehnte Zunge hat, darinn finden kan. Von ſolchen Leuten ſagt man nun auch, daß ſie einen verderbten, uͤbeln oder ver - kehrten Geſchmack haben. Und ſo viel vom Geſchmacke im eigentlichen Verſtande.
Von dem metaphoriſchen Geſchmacke unſrer Seelen bemercket man, daß man ſich dieſes Wortes faſt gantz allein in freyen Kuͤnſten und etlichen andern ſinnlichen Dingen be - dienet: hergegen wo es auf die Vernunft allein ankommt, da pflegt man daſſelbe nicht zu brauchen. Der Geſchmack in der Poeſie, Beredſamkeit, Muſic, Mahlerey und Bau - Kunſt; imgleichen in Kleidungen, Gaͤrten, Hausrathe u. d. m. iſt ſehr bekannt. Aber niemahls habe ich noch vom Geſchmacke in der Arithmetic und Geometrie, oder in andern Wiſſenſchafften reden hoͤren, wo man aus deutlich erkannten Grund-Wahrheiten die ſtrengeſten Demonſtrationen zuG 3machen102Das III. Capitelmachen vermoͤgend iſt. Jn ſolchen Wiſſenſchafften aber wo das deutliche und undeutliche, erwieſene und unerwieſene noch vermiſcht iſt, pflegt man auch wohl noch vom Geſchmacke zu reden. Z. E. ich koͤnnte wohl ſagen: Ein theologiſch Buch nach Moßheimiſchem Geſchmacke; ein Recht der Natur nach Puffendorfs Geſchmack; eine Artzeneykuuſt nach Boerha - vens Geſchmack. Aber hier werde ich anmercken, daß man den Geſchmack[nur] in denjenigen Theilen ſolcher Diſciplinen ſuchet, die noch ungewiß ſind, und alſo nicht durchgehends beliebt werden. So bald eine Sache allgemeinen Beyfall erhaͤlt, und vor was demonſtrirtes gehalten wird, ſo hoͤrt man auch auf ſie zum Geſchmacke zu ziehen. So werden die Sternſeher bald nicht mehr ſagen koͤnnen, ein Welt-Bau nach Copernicaniſchem Geſchmacke: weil dieſes Syſtema bereits allenthalben vor das einzige wahre erkannt und ange - nommen wird.
Dieſe Anmerckung iſt von groſſem Nutzen. Sie lehrt uns nehmlich, daß der metaphoriſche Geſchmack eben ſowohl als der gemeine, nur mit klaren, aber nicht gantz deutlichen Begriffen der Dinge zuthun habe; und ſolche Dinge von einander unterſcheide, die man nach der bloßen Empfindung beurtheilet. Z. E. Ein Buͤrger bauet ſein Haus, und laͤßt ſich von etlichen Baumeiſtern Riſſe dazu machen. Sie ge - rathen alle anders; und obgleich der Bauherr nichts von der Architectur verſteht, ſo wehlt er doch einen Riß vor allen uͤbrigen, den er will ausfuͤhren laſſen: und man ſagt alsdann er habe die Wahl nach ſeinem Geſchmacke verrichtet. Fragt man ihn warum er dieſen und nicht einen andern Riß geweh - let, ſo weiß er nichts weiter zu ſagen; als daß ihm dieſer am beſten gefallen habe: das iſt, er habe ihn vor den ſchoͤnſten und vollkommenſten gehalten; wie ich denn zum voraus ſetze, daß der Bauherr nicht eigennuͤtzig zu bauen, ſondern ein ſchoͤn Gebaͤude aufzufuͤhren willens ſey. Geſetzt aber, man legte einem andern in der Baukunſt ſehr geuͤbten Mathematiſchen Kenner, die obgedachten Riſſe vor, mit dem Begehren, ſich einen zu erwehlen: So wuͤrde dieſer ſie gewiß alle nach Archi - tectoniſchen Regeln unterſuchen, und zuletzt denjenigen allenuͤbrigen103Vom guten Geſchmacke eines Poeten. uͤbrigen vorziehen, der nach den[Grnndſaͤtzen] der Wiſſen - ſchafft die groͤſte Vollkommenheit haben wuͤrde. Hier wuͤrde man aber ſchwerlich ſagen, dieſer Kenner habe nach ſeinem Geſchmacke gewehlet; vielmehr wuͤrde es heiſſen: Er habe die Riſſe nach den Regeln gepruͤfet, und vermoͤge ſeiner Ein - ſicht befunden, daß der erwehlte der beſte geweſen.
Aus dieſer bisher erlaͤuterten Anmerckung erhellet nun, daß zwo Perſonen von einer Sache, aus verſchiedener Er - kenntniß, ſowohl einerley, als zweyerley Urtheile faͤllen koͤnnen. Waͤre es im obigen Falle nicht leicht moͤglich, daß der unge - lehrte Buͤrger ſich von den verſchiedenen Riſſen eben den ausſuchte, welchen auch hernach der Bau-verſtaͤndige Kenner vor den beſten erklaͤrete? Koͤnnte aber auch nicht gerade das Wiederſpiel geſchehen, daß ihm nehmlich ein andrer Entwurf beſſer anſtuͤnde; an welchem hernach der Baumeiſter viel Fehler auszuſetzen faͤnde? Ein jeder ſieht wohl daß beydes moͤglich iſt. Aber was folgt daraus? Dieſes: 1) daß Leute, die nach dem bloſſen Geſchmacke urtheilen, ſehr uneins ſeyn koͤnnen, 2) Daß beyde Urtheile zugleich nicht wahr ſeyn koͤnnen; weil ſie nehmlich wiederwaͤrtig ſind; Daß endlich 3) dasjenige Urtheil dem andern vorzuziehen ſey, ſo mit den Regeln der Baukunſt und dem Ausſpruche eines Meiſters in dieſer Wiſſenſchafft, einſtimmig iſt. Die erſten beyden Folgerungen ſind wohl unumſtoͤßlich: wegen der dritten aber kan man auch nicht viel Zweifel tragen. Denn wie waͤre es moͤglich daß derjenige Riß der beſte ſeyn koͤnnte, der wieder alle Regeln der Architectur gemacht waͤre? Das waͤre eben ſo, als wenn eine Muſic ſchoͤn ſeyn koͤnnte, die wieder alle muſicaliſche Regeln liefe. Die Regeln nehmlich, die auch in freyen Kuͤnſten eingefuͤhret worden, kommen nicht auf den bloßen Eigenſinn der Menſchen an: ſondern haben ihren Grund in der unveraͤnderlichen Natur der Dinge ſelbſt; in der Ubereinſtimmung des Mannigfaltigen; in der Ordnung und Harmonie. Dieſe Geſetze nun, die durch langwierige Erfahrung und vieles Nachſinnen unterſuchet, entdecket und beſtaͤtiget worden, bleiben unverbruͤchlich und feſte ſtehen; wenn gleich zuweilen jemand nach ſeinem Geſchmacke, dem -G 4jenigen104Das III. Capiteljenigen Wercke den Vorzug zugeſtuͤnde, welches dawieder mehr oder weniger verſtoſſen haͤtte.
Nunmehro wird es leicht ſeyn, die Beſchreibung des gu - ten und uͤbeln Geſchmackes zu machen: Jener iſt nehmlich der von der Schoͤnheit eines Dinges nach der bloßen Empfin - dung richtig urtheilende Verſtand, in Sachen, davon man kein deutliches und gruͤndliches Erkenntniß hat. Dieſer her - gegen iſt ebenfalls der Verſtand, der nach der Empfindung von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber ſich in ſol - chen ſeinen Urtheilen betruͤget. Jch rechne zufoͤrderſt den Geſchmack zum Verſtande; weil ich ihn zu keiner andern Gemuͤths-Krafft bringen kan. Weder der Witz, noch die Einbildungs-Krafft, noch das Gedaͤchtnis, noch die Vernunft koͤnnen einigen Anſpruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu, man muͤſte denn einen ſech - ſten Sinn davon machen wollen. Jch ſage aber daß er ein urtheilender Verſtand ſey: weil diejenigen, ſo ihn wircklich zu Unterſcheidung der Dinge anwenden, entweder aͤuſſerlich, oder doch innerlich den Ausſpruch thun: Dieß iſt ſchoͤn und jenes nicht. Jch ſetze ferner, daß ſich dieſes Urtheil auf die bloße Empfindung gruͤnde; und verſtehe die innerliche Em - pfindung einer ſchoͤnen Sache, die entweder wircklich auſſer uns verhanden iſt, oder von unſrer eignen Phantaſie hervor - gebracht worden: Wie z. E. ein Mahler ſich in Gedancken einen Entwurf eines Gemaͤhldes machen, und nach ſeinem Geſchmacke von der Schoͤnheit deſſelben urtheilen kan. Es muß aber dieſe Empfindung einer ſolchen Sache uns noth - wendig die Schoͤnheit eines Dinges vorſtellen: Denn dieſe allein iſt es, womit der Geſchmack zu thun hat. Man ent - ſcheidet dadurch niemahls eine andre Frage, als: Ob uns etwas gefaͤllt oder nicht? das Wohlgefallen aber entſteht allezeit aus einer Vorſtellung der Schoͤnheit, ſie mag nun eine wirckliche oder vermeynte ſeyn. Dieſe Schoͤnheit wird aber nur undeutlich, obwohl ſehr klar, empfunden; weil der - jenige, dem ſie gefaͤllt, nicht im Stande iſt zu ſagen warum ſie ihm gefaͤllt. Zum wenigſten wird der groͤſte Theil der - ſelben keine Deutlichkeit haben. Denn ſo bald man von einerSchoͤn -105Vom guten Geſchmacke eines Poeten. Schoͤnheit zu zeigen vermoͤgend iſt, aus was vor Vollkom - menheiten dieſelbe eigentlich entſtehet: So bald wird der Geſchmack von der Sache in eine gruͤndliche Einſicht ver - wandelt, wie bereits oben gewieſen worden. Endlich unter - ſcheide ich den guten Geſchmack vom uͤbeln, durch das Bey - wort richtig, ſo ich zu dem Urtheile ſetze. Wer einen guten Geſchmack hat, der muß richtig von der klar empfundenen Schoͤnheit eines Dinges urtheilen, das iſt, nichts vor ſchoͤn halten, was nicht wahrhafftig ſchoͤn iſt: und nichts vor heß - lich erklaͤren; was nicht heßlich iſt. Der Probierſtein dieſes Urtheiles darf nicht weit geſucht werden. Man findet ihn in den Regeln der Vollkommenheit, die ſich vor jede beſondre Art ſchoͤner Dinge, a. d. ſ. Gebaͤude, Schildereyen, Mu - ſicken u. ſ. w. ſchicken, und von rechten Meiſtern derſelben deutlich begriffen und erwieſen worden. Derjenige Geſchmack iſt alſo gut, der mit den Regeln uͤberein kommt, die von der Vernunft in einer Art von Sachen allbereit feſt geſetzet worden.
Nach dieſer allgemeinen Beſchreibung und Erklaͤrung des guten Geſchmackes uͤberhaupt, wird es leicht fallen den guten Geſchmack in der Poeſie zu erklaͤren. Es iſt nehmlich derſelbe eine Geſchicklichkeit von der Schoͤnheit eines Gedich - tes, Gedanckens oder Ausdruckes recht zu urtheilen, die man groͤſtentheils nur klar empfunden, und nach den Regeln ſelbſt nicht gepruͤfet hat. Und aus dieſer Beſchreibung iſt es nun - mehr leicht zu begreifen, daß ein jeder Poet von rechtswegen damit verſehen ſeyn ſolle.
Es laſſen ſich aber aus dieſer Erklaͤrung alle die ſchweren Fragen beantworten, die von dem Geſchmacke ſchon aufge - worfen worden. Man will wiſſen: Ob der Geſchmack mit dem Menſchen gebohren, oder erſt allmaͤhlich erlanget werde? Jch wollte dabey fragen: Ob der Verſtand, Witz, und Geiſt eines Poeten mit ihm gebohren wuͤrden? Denn eben das, was man mir hier antworten wird, kan auch jenem Zweifel abhelfen. Wir bringen wohl nichts mehr als die bloße Faͤ - higkeit mit uns zur Welt. Dieſe iſt nun freylich groͤſſer oder kleiner, und thut ſich entweder bald oder ſpaͤt hervor: DieG 5Art106Das III. CapitelArt der Auferziehung bringt ſie allererſt ins Geſchicke. Sie muß erweckt, angefuͤhrt, von Fehlern geſaubert, und auf dem guten Wege ſo lange erhalten werden, bis ſie ihres Thuns gewiß wird. Der Geſchmack iſt alſo dem Menſchen ſo was natuͤrliches als ſeine uͤbrige Gemuͤths-Kraͤffte. Ein jeder, der Sinne und Verſtand hat, beſitzt auch eine Ge - ſchicklichkeit von der Schoͤnheit empfindlicher Dinge zu urtheilen. Und ſo lange dieſe nicht ihre Natur und Eigen - ſchafften verlieren, wird ein jedes vernuͤnftiges Weſen davon ſagen koͤnnen, ob ſie ihm wohl oder uͤbel gefallen.
Man will ferner wiſſen: Ob gewiſſen Leuten der gute, andern aber der ſchlimme Geſchmack angebohren ſey? Jch antworte eben ſo wie vorhin. So wenig einem eine geſunde, dem andern eine verderbte Natur angebohren iſt: So wenig iſt ſolches auch bey dem Geſchmacke zu vermuthen. Die Faͤhigkeit neugebohrner Kinder iſt zu allem gleichguͤltig. Man kan aus ihnen machen was man will. Erzieht es unter den Bauren, es wird baͤuriſch dencken und reden; unter den Buͤrgern, es wird buͤrgerlich urtheilen; unter Soldaten, es wird kriegeriſche Dinge im Kopfe haben; unter Gelehrten, es wird nach Art ſtudirter Leute vernuͤnfteln und gruͤbeln; bey Hofe, es wird ſich von lauter Luſtbarkeiten und Regie - rungs-Sachen Chimaͤren erdencken. Die Kinder ſind wie Affen. Wie mans ihnen vormachet, ſo machen ſie es nach. Man lobe in ihrer zarten Jugend etwas; Sie werdens bald hoch ſchaͤtzen lernen: Man verachte etwas; Sie werdens bald verwerfen lernen. Jhre erſten Urtheile richten ſich nach den Urtheilen derer mit denen ſie immer umgehen. Der Ausſpruch ihrer Eltern oder Waͤrterinnen iſt ſchon zulaͤnglich ihnen etwas als ſchoͤn oder heßlich einzupraͤgen: Zumahl wenn ſie mercken, daß man dabey ſeine Gedancken auf ſie nicht richtet, ſondern vor ſich davon urtheilet. So gewehnet ſich allmaͤhlig ihr Verſtand durch die bloſſe Nachahmung, dieſes weiß und jenes ſchwartz zu heiſſen. Und dadurch entſte - het entweder ein guter oder uͤbler Geſchmack; nachdem dieje - nigen ihn haben, zu deren Schuͤlern ſie das Gluͤcke gemacht, ehe ſie noch geſchickt waren, dieſelben vor ihre Lehrer zu erkeñen.
So107Vom guten Geſchmacke eines Poeten.So groß hier das Gluͤck der Kinder iſt, die von klugen Eltern gebohren worden und in die Haͤnde vernuͤnftiger Lehr - meiſter gerathen: ſo ſehr iſt es zu bedauren, daß die groͤſte Anzahl derſelben von Jugend auf verderbet wird. Die ein - faͤltigſten Weibs-Perſonen legen den erſten Grund zu dem verderbten Geſchmacke, den viele haben. Jhre verkehrte Art zu dencken und von Dingen zu urtheilen, macht einen tiefern Eindruck in die Seele eines zarten Knaben, als mancher ſich einbildet. Die gleichſam hervor keimenden Gemuͤths-Kraͤffte ſind nicht im Stande ihre Thorheiten zu verwerfen: vielmehr nehmen ſie auf guten Glauben das erſte vor das beſte an. Dieſes wird mit der Zeit der Maaßſtab aller ihrer uͤbrigen Wirckungen. Was ihren erſten Eindruͤckungen gemaͤß iſt, das nennen ſie hernach recht und gut, ſchoͤn und angenehm. Alles uͤbrige iſt falſch, boͤſe, garſtig, verdruͤßlich. Warum? Sie habens von Kindesbeinen an nicht anders gelernt. Das iſt meines Erachtens die erſte Quelle des uͤbeln Geſchmackes, der in den meiſten Laͤndern noch ſo allgemein iſt.
Fragt man weiter, welches denn das Mittel ſey, den gu - ten Geſchmack bey Erwachſenen zu befoͤrdern? So ſage ich: Nichts anders als der Gebrauch der geſunden Vernunft. Man halte nichts vor ſchoͤn oder heßlich, weil man es ſo nennen gehoͤret, oder weil alle Leute die man kennet, es davor halten; ſondern man unterſuche es an und vor ſich, ob es ſo ſey. Man muß ſeine eigne fuͤnf Sinne zu Rathe ziehen: Dieſe werden bald die falſche Schoͤnheit von der wahren, den Firniß von rechtem Marmor, das Flitter-Gold von dem aͤchten unter - ſcheiden, und allen Betrug entdecken lernen. Durch dieſes Mittel hat vorzeiten Griechenland die Regeln der meiſten freyen Kuͤnſte erfunden, und dadurch den guten Geſchmack auf etliche tauſend Jahre bey ſich unwandelbar gemacht. Die Mahlerey, Architectur, Schnitzkunſt, Muſic, Poeſie und Redekunſt ſind daſelbſt erfunden und faſt zur Vollkom - menheit gebracht. Das macht die Griechen waren die ver - nuͤnftigſten Leute von der Welt. Alles philoſophirte daſelbſt: alles urtheilte frey, und folgte ſeinem eigenen Kopfe. Daher entdeckte man nach und nach die wahrhafften Schoͤnheitender108Das III. Capitelder Natur. Man nahm wahr, wo Ubereinſtimmung und Ordnung eine Vollkommenheit zuwege brachte; und wo hingegen eine Verwirrung wiederwaͤrtiger Dinge einen Ubelſtand erweckte. Die Tiefſinnigſten unter ihnen brachten aus genauer Betrachtung wohlgerathener Meiſterſtuͤcke, die Regeln heraus, aus welchen alle ihre Schoͤnheit den Ur - ſprung hatte. Und wie alſo dieſelben nicht bloße Hirngeſpinſte waren, ſondern aus wircklichen Exempeln, die nach dem Urtheile der kluͤgſten Koͤpfe vor ſchoͤn befunden worden, ent - worfen waren: Alſo hat man zu aller Zeit geſehen, daß die Regeln der Griechen, in allen freyen Kuͤnſten, die beſte Anlei - tung zum guten Geſchmacke geweſen ſind.
Was ich hier von den Griechen geſagt, kan auch mit gehoͤriger Veraͤnderung von Roͤmern geſagt werden. Der Unterſcheid iſt dieſer, daß ſie ihren guten Geſchmack den Griechen zu dancken gehabt, und wie ſie denſelben ſpaͤt be - kommen, alſo auch nur kurtze Zeit erhalten haben. Nachdem aber die barbariſchen Voͤcker den gantzen Occident mit einem verderbten Geſchmacke erfuͤllet hatten: ſind abermahl die Griechen die einzigen geweſen, die den guten Geſchmack in Jtalien wieder hergeſtellet haben. Von da hat er ſich nach Franckreich, Deutſchland, Holl - und Engelland ausgebreitet, doch kaum irgendwo die voͤllige Oberhand bekommen koͤnnen. Das ſicherſte Mittel iſt alſo denſelben zu erhalten, wenn man ſich an die Regeln haͤlt, die uns von den Kunſt-verſtaͤndigen Meiſtern der Alten uͤbrig geblieben. Wenn man die Reſte von ihren Meiſterſtuͤcken dargegen haͤlt, wird man gewiß finden, daß ſie eine Schoͤnheit an ſich haben, die der Ver - nunft nothwendig gefallen muß, wennn ſie nur nicht in Vor - urtheilen erſoffen, und in ihre eigene Misgeburten allbereit verliebet iſt.
Wie aber? Soll man ſich denn immer mit Regeln ſchleppen, wenn man den guten Geſchmack haben will? Das iſt eine neue Frage. Nicht alle die den guten Geſchmack haben wollen; ſondern nur die, ſo ihn wieder herſtellen wollen, muͤſſen die Regeln derjenigen freyen Kuͤnſte einſehen, darinn ſie was verbeſſern wollen. Es darf nur ein geſchickter Kopfkom -109Vom guten Geſchmacke eines Poeten. kommen, der auf die rechte Spur geraͤth: So gleich faͤllt die Schoͤnheit ſeiner Wercke aller Welt in die Augen. Die deutſche Poeſie kan uns zum Muſter dienen. Alle unſre Vers - macher ſtacken vor hundert Jahren noch in der tiefſten Bar - barey. Der einzige Opitz, hatte aus Griechen und Roͤmern, Hollaͤndern und Franzoſen ſich die Regeln des guten Ge - ſchmackes bekannt gemacht. Er folgte denenſelben in ſeinen Gedichten, und verwarf alles was ſeine Vorfahren geſtuͤm - pelt hatten. Alsbald wachte gantz Deutſchland auf. Ein ſo unvermuthetes Licht fiel ſehr ſtarck in die Augen, und da fieng eine Menge von Poeten an zu ſingen, die nur dem Exem - pel dieſes groſſen Vorgaͤngers folgeten, die Regeln der Alten aber nicht halb ſo gut kannten, als er. Sie bekamen alſo aus Leſung ſeiner Schrifften den guten Geſchmack, nicht aber aus Regeln; und es waͤre zu wuͤnſchen, daß ihn nur viele ſeiner Landesleute nicht wieder verderbet haͤtten.
Fraget man, wie man einen jungen Menſchen zum guten Geſchmacke in der Poeſie bringen koͤnne? So gebe ich dieſe Antwort: Man gebe ihm von Jugend auf lauter Poeten von gutem Geſchmacke zu leſen. Terentz, Virgil, Horatz, von den Lateinern; Petrarcha und Taſſo von Jtalienern; Mal - herbe, Boileau, Corneille, Racine, Moliere und Voltaire von Franzoſen; Heins und Cats von Hollaͤndern; Opitz, Dach, Flemming, Tſcherning, beyde Gryphier, Amthor, Canitz und Guͤnther von unſern Landesleuten: Das ſind die Muſter die man jungen Leuten zur Nachfolge vorlegen muß. Man gehe dieſelben mit ihnen durch; Man mache ſie auf - merckſam auf die ſchoͤnſten Stellen; Man entdecke ihnen einiger maſſen die Urſachen warum ſie ſo ſchoͤn ſind, und zeige ihnen daß das Wiederſpiel heßlich geweſen ſeyn wuͤrde. Man bemercke ihnen auch die ſchlechten Stellen, die ſich als Uberbleibſele des uͤbeln Geſchmackes, auch bey allen ober - wehnten Scribenten noch hier und da finden. Dadurch wird man der Jugend unvermerckt eine Geſchicklichkeit wohl zu urtheilen beybringen. Nichts wird ihr hernach gefallen koͤnnen, was nicht eine wirckliche Schoͤnheit hat. Und wenn ſie gleich die innern Regeln der darinn befindlichen Vollkom -menheit110Das III. Capitelmenheit nicht eingeſehen, ſo wird ſie doch faͤhig ſeyn, durch eine zaͤrtliche Empfindung wahrzunehmen, ob dieſelben in einem Gedichte, Gedancken, oder Ausputze deſſelben beobachtet worden oder nicht.
Man hat endlich auch gefragt: Ob ein Scribent ſich nicht vielmehr dem Geſchmacke ſeiner Zeiten, ſeines Ortes, oder des Hofes; als den Regeln der Kunſt, zu bequemen Urſache habe? Man meynt nehmlich, die erſten Regeln der freyen Kuͤnſte, waͤren doch nur nach dem Geſchmacke des Athenien - ſiſchen Volckes entworfen, indem ſich die Critici darinn auf diejenigen Meiſterſtuͤcke beruffen und gegruͤndet, die den all - gemeinen Beyfall erhalten hatten. Warum ſollen wir denn, ſpricht man, unſern Kopf nach dem Athenienſiſchen Eigen - ſinne richten? Warum ſollen wir heutiges Tages nicht das Recht haben, das vor ſchoͤn zu halten, was uns gefaͤllt; ſondern dasjenige, was den alten Griechen vor zwey tauſend Jahren gefallen hat.
Der Einwurf ſcheint wichtig zu ſeyn, weil er unſrer Eigenliebe ſchmeichelt. Er wuͤrde auch unaufloͤßlich ſeyn, weun es ein bloßer Eigenſinn waͤre, der eine Sache vor ſchoͤn erklaͤrete. Haͤtten ferner die Athenienſer weiter nichts zum voraus vor uns, und waͤren wir ihnen in allen Stuͤcken gleich: ſo koͤnnten wir uns ihnen mit Recht wiederſetzen. Allein beydes verhaͤlt ſich gantz anders. Die Schoͤnheit eines kuͤnſtlichen Werckes beruht nicht auf einem leeren Duͤnckel; ſondern hat ihren feſten und nothwendigen Grund in der Na - tur der Dinge. GOtt hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geſchaffen. Die natuͤrlichen Dinge ſind ſchoͤn; und wenn alſo die Kunſt auch was ſchoͤnes hervor bringen will, muß ſie dem Muſter der Natur nachahmen. Das genaue Ver - haͤltniß, die Ordnung und richtige Abmeſſung aller Theile daraus ein Ding beſteht, iſt die Quelle aller Schoͤnheit. Die Nachahmung der Natur, kan alſo einem kuͤnſtlichen Wercke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Ver - ſtande gefaͤllig und angenehm wird.
Man verſuche es doch, und berede einen Baumeiſter, Mahler oder Muſicverſtaͤndigen einmahl, daß ſeine Archi -tectoni -111Vom guten Geſchmacke eines Poeten. tectoniſchen, Perſpectiviſchen und Harmoniſchen Regeln nichts als einen lautern Eigenſinn zum Vater haͤtten: Die ſechs Seulen-Ordnungen waͤren eben ſo willkuͤhrlich, als die wunderſeltſamen Zierrathe in der Gothiſchen Baukunſt; Die Lehre vom Geſichts-Puncte und der Entfernung in Ge - maͤhlden, waͤre nur eine Phantaſie; Und die Gleichfoͤrmigkeit oder Wiederwaͤrtigkeit der Thoͤne, haͤtte nur die Einbildung zur Mutter. Man wird ſich durch dergleichen Einwuͤrfe nur auslachens wuͤrdig machen. Alle dieſe Kuͤnſtler, wenn ſie anders geſchickte Leute ſind, werden haarklein zu zeigen wiſſen, was vor eine natuͤrliche Nothwendigkeit in dem allen ſteckt, und den Grund ihrer Regeln, in der Empfindung und geſunden Vernunft entdecken. Jn der Beredſamkeit und Poeſie geht es nicht anders. Kan hier gleich das Verhaͤltniß nicht mit Zahlen und Linien ausgedruͤcket, mit Zirckel und Lineal abgemeſſen, und ſo handgreiflich gemacht werden, als in den andern Dingen, wo man durch Huͤlfe der Geometrie alles ſehr ins Licht ſetzen kan: So folgt doch deßwegen nicht, daß hier alles willkuͤhrlich ſey. Unſre Gedancken ſind ſo vieler Harmonie, Ordnung, Abmeſſung und Verhaͤltniß faͤhig, als Figuren und Thoͤne. Nur es gehoͤren ſcharfſinnigere Koͤpfe dazu, die Schoͤnheiten ſolcher Dinge, die man weder fuͤhlen noch greifen kan, recht auszugruͤblen, und in ihren erſten Quellen zu unterſuchen. Daher hat auch der Tief - ſinnigſte von den alten Weltweiſen ſich zuerſt daruͤber machen muͤſſen, die Regeln der Dicht - und Redekunſt zu entwerfen, welches vor ihm ſich noch niemand unterſtanden hatte. Die - jenigen bleiben alſo nur an der aͤuſſerſten Schale kleben, die ſich einbilden, die poetiſchen Schoͤnheiten waͤren gantz will - kuͤhrlich; Heute koͤnnte dieß, und morgen was anders gefal - len; Jn Rom koͤnnte was heßlich ſeyn, ſo in Paris oder Lon - den unvergleichlich waͤre. Nicht der Beyfall macht eine Sache ſchoͤn; ſondern die Schoͤnheit erwirbt ſich bey Ver - ſtaͤndigen den Beyfall.
Zweytens iſt es auch gantz falſch, daß wir uns den Athe - nienſern mit Recht an die Seite ſetzen, oder ihnen gar die Stirne bieten koͤnnten. Sie haben viele Vorzuͤge gehabt,deren112Das III. Capitelderen wir uns nicht ruͤhmen koͤnnen. Sie ſind das geſcheu - teſte Volck auf dem Erdboden geweſen, ſo ſich zu allererſt aus der finſtern Barbarey geriſſen. Sie ſind die Erfinder aller freyen Kuͤnſte und Wiſſenſchafften. Von ihnen haben alle andre wohlgeſittete Voͤlcker ihre Geſetze, Philoſophie, Artz - neykunſt, Beredſamkeit, Poeſie, Baukunſt, Mahlerey und Muſic gelernet, ſo vieler andern Kuͤnſte zu geſchweigen. Koͤnnten wir eben das von uns ruͤhmen, ſo moͤchten wir uns etwa ihrem Geſchmacke wiederſetzen doͤrfen; muͤſten aber wohl zuſehen, daß wir es nicht ohne Grund thaͤten. Da wir nun vermuthlich noch in der Barbarey ſtecken wuͤrden, wenn uns nicht die Griechiſchen Buͤcher die Augen aufgethan haͤt - ten; da wir alle Wiſſenſchafften und freye Kuͤnſte von ihnen gefaſſet: Was vor ein Recht haben wir denn wohl, uns wie - der unſre Lehrmeiſter aufzulehnen?
Ja, wird man ſprechen: Weil uns vieles gefaͤllt, was jenen Alten nicht gefallen, und doch das Gefaͤllige allezeit eine Schoͤnheit zum Grunde hat; ſo fragt ſichs, ob es nicht noch andre wirckliche Schoͤnheiten in Kunſtwercken geben koͤnne, als die den Alten bekannt geweſen? Die Erfahrung zeigt aber allerdings, daß es dergleichen gebe.
Non eadem miramur: eo disconvenit interMeque & te. Nam quae deſerta & inhoſpita tesquaCredis, amoena vocat, mecum qui ſentit; & oditQuae tu pulcra putas. Hor. L. I. Ep. XIV.
Jch antworte, freylich entſteht das Wohlgefallen allezeit aus der Empfindung einer Schoͤnheit. Aber es giebt wahre, es giebt auch eingebildete Schoͤnheiten. Dieſe erwecken freylich bey vielen eine Beluſtigung: aber nur ſo lange, als ſie dieſel - ben vor Schoͤnheiten anſehen. Offtmahls lernen ſie begrei - fen, daß ſie ſich in ihrem Urtheile betrogen; und alsdann erwecket ihnen dasjenige Verdruß, was ihnen vorher wohl - gefiel. Von ferne ſieht offt eine Perſon ſehr wohl aus; wenn wir ſie aber in der Naͤhe erblicken, iſt ſie heßlich. Aus der Baukunſt, Muſic und Mahlerey kan man hier unzehlige Er - laͤuterungen geben. Wie offt gefaͤllt hier nicht einem unwiſſen - den Schuͤler etwas, ſo einem Kenner mißfaͤllt? Haben dennda113Vom guten Geſchmacke eines Poeten. beyde Urtheile wahre Schoͤnheiten oder Ungereimtheiten zum Grunde? So muͤſte ein Ding zugleich ſchoͤn und heß - lich, zugleich wahr und falſch, zugleich ordentlich und ver - wirrt: zugleich weiß und ſchwartz ſeyn koͤnnen. Wer ſoll ſich aber nach des andern Urtheile bequemen? Soll der Mei - ſter dem Schuͤler, oder der Schuͤler dem Meiſter folgen? Ohne zweifel wird derjenige beſſern Grund von der Sache haben, der ſeinem Gegenpart die Unrichtigkeit ſeines Ur - theils zeigen und ihn dahin bringen kan, daß er ſeinen vorigen Ausſpruch wiederrufft. Nun laſſe man einen unerfahrnen Schuͤler ſeinem Meiſter ſo lange er will vorſagen, daß ein Fehler eine Schoͤnheit ſey: Nimmermehr wird ers ſo weit bringen, daß jener ſeine Vernunft, Einſicht und Sinne ver - laͤugne, und daran einen Gefallen zu haben anfange, deſſen Unordnung und Mißhelligkeit er aus den Kunſt-Regeln un - umſtoͤßlich zu erweiſen im Stande iſt. Dem Schuͤler aber fehlt es nur an Unterricht: So bald er die Natur der Sa - chen wird verſtehen lernen, wird er ſich ſchaͤmen, daß er vor - hin etwas bewundern koͤnnen, was nur eine Schein-Schoͤn - heit an ſich gehabt; in der That aber ein Zuſammenfluß un - zehlicher Ungereimtheiten geweſen.
So muͤſſen ſich denn die Poeten niemahls nach dem Geſchmacke der Welt, das iſt des großen Haufens, oder un - verſtaͤndigen Poͤbels richten. Dieſer vielkoͤpfigte Goͤtze ur - theilt offt ſehr verkehrt von Dingen. Er muß vielmehr ſu - chen den Geſchmack ſeines Vaterlandes, ſeines Hofes, ſei - ner Stadt zu laͤutern: Es waͤre denn daß dieſes ſchon vor ihm geſchehen waͤre. Es geſchieht aber niemahls gantz voll - kommen; und es bleibet auch in dem geſcheuteſten Volcke allezeit ein Uberreſt des uͤbeln Geſchmackes zuruͤcke. Jn Rom hatte Terentius und Lucretius ſchon einen ziemlich rei - nen und zarten Geſchmack erwieſen. Doch klagt Horatius in ſeinem langen Briefe’an den Kayſer ſowohl, als in ſeiner Dicht-Kunſt, daß die Roͤmer noch an den Plautiniſchen Zo - ten, und Lucilii unreinen Poſſen ein Belieben truͤgen. Ba - vius und Maͤvius fanden auch ihre Anbeter. Haͤtten ſich nun Virgilius und Varus nach dem Geſchmacke der ſonſtHſo114Das III. Capitelſo klugen Roͤmer richten wollen, was wuͤrden ſie vor elendes Zeug haben ſchreiben muͤſſen? Sie ſuchten alſo vielmehr mit ihren Wercken wieder den gemeinen Strom zu ſchwimmen, und waren zufrieden, daß ſie wenigen Kennern gefielen.
Jch mag den Beyfall des windigen Poͤbels nicht haben; ſchreibt Horatz an einem Orte. Noch viel ausfuͤhrlicher hat er ſolches in ſeiner X Satire des I Buchs zu verſtehen gegeben. Bemuͤhe dich nicht, ſchreibt er, von dem großen Haufen bewundert zu werden; und ſey mit wenigen Leſern zufrieden. Biſt du ſo thoͤricht, zu wuͤnſchen, daß von deinen Verſen in den gemeinſten Spielgeſellſchafften geplaudert werde? Jch nicht! Genug wenn die edlen Ritter mich ihres Beyfalls wuͤrdigen. ‒ ‒ Sollte ich mich um den ſchmutzigen Pantilius bekuͤmmern? oder ſollte ich mich quaͤlen daß mich Demetrius hinterruͤcks durchzieht? oder daß der naͤrriſche Fannius, des Hermogenis Tiſchgaſt mich ſchimpfet? Wenn nur Plotius und Varius, Maͤcenas und Virgilius Valgius und Octa - vius der gnaͤdigſte Kayſer nebſt dem Fuſcus, meine Schriff - ten gut heiſſen, wenn nur beyde Viſci mich loben. Ja ohne Ruhm zu melden, kan ich dich noch nennen Pollio, dich Meſ - ſalla mit deinem Bruder, und euch Bibulos und Servos, nebſt dem aufrichtigen Furnus, imgleichen viele andre die ich als gelehrte Leute und gute Freunde mit Fleiß vorbey gehe: denen ich aber mit dieſen meinen geringen Sachen zu gefallen wuͤnſche; und mich betruͤben wuͤrde, wenn ſie ihnen nicht ſo wohl, als ich wuͤnſche, gefallen ſollten. Dich aber Deme - trius und dich, du guter Tigellius, laſſe ich unter den Schul - baͤncken des Frauenzimmers, denen ihr als euren Schuͤlerin - nen gefallet, euer Ungluͤck beweinen.
Eben das hat Boileau allezeit geklaget, wenn er den verderbten Geſchmack ſeiner Pariſer, die auch das elendeſte Zeug vielmahls ſchoͤn nenneten und bewunderten, herunter gemacht. Er verſichert, daß ſeine Zeiten ſowohl an naͤrri - ſchen Scribenten als an naͤrriſchen Bewunderern fruchtbar geweſen; und ſetzt hinzu, daß Land und Stadt und Hof kei - nen Mangel daran gehabt. Das niedertraͤchtigſte Werck habe ſeine eifrige Verfechter, und ein jeder Narr einen noch groͤßern gefunden, der ihn bewundert haͤtte.
Ainſi qu’en ſots auteurs,Notre ſiecle eſt fertile en ſots a dmirateurs,Et ſans ceux, que fournit la Ville & la Province,Il en eſt chez le Duc, il en eſt chez le Prince.L’Ouvrage le plus plat à chez les Courtiſans,De tout temps rencontré de zelez Partiſans.Et pour finir enfir par un trait de Satire,Un Sot trouve toujours un plus Sot, qui l’admire.Art. Poet. Ch. I.
Von unſerm Opitz kan man ein gleiches erweiſen. Er haͤtte lauter Hans Sachſen-Verſe machen muͤſſen, wenn er der Mode ſeiner Zeiten haͤtte folgen wollen. Er muß auch wohl nicht bey allen ſo viel Beyfall gefunden haben, als er verdienete; denn er klagt ausdruͤcklich daruͤber, wenn er ſich in dem Briefe an Zinckgraͤfen, den er in Paris geſchrieben, uͤber die Menge der elenden Poeten beſchweret; und ſich auf das Urtheil der Nachwelt beruffet:
Mein rechter Eifer brennetNur wieder dieſes Volck, das Die Poeten nennet,Bey dir und auch bey uns, an welchen um und anJa nichts Poetiſch iſt, als daß es luͤgen kan.H 2Doch116Das III. CapitelDoch laͤßt uns dieſe Peſt der Sprachen unvertrieben,Kein Verß vom Bavius und Maͤvius iſt blieben:Der Venuſiner Schwan, der Preis von Mantua,Und Naſo und Catull, die ſind noch alle da.Laß du, o Zinckgraͤf, nur den guten Zweck nicht liegen,Zu helfen, wie du thuſt, die Finſterniß beſiegen,Die deutſcher Reden Zier bisher umhuͤllet hat.Kriegt gleich ein Neſſelſtrauch bey Roſen ſeine Statt;So bluͤhen ſie gleichwohl. Wir wollen nicht bedencken,Daß traͤge Hummeln ſich an dieſen Bienſtock hencken.Ein Coͤrper bleibet doch, obgleich des Schattens ScheinSich groͤßer macht als er. Die Zeit ſoll Richter ſeyn.I. B. der Poet. W.
Jch wuͤrde noch des Herrn Neukirchs Exempel anfuͤhren, der nach Ablegung des Hofmanns-Waldauiſchen und Lo - henſteiniſchen Geſchmackes ſehr beſorgte, daß ſein verwehn - tes Schleſien und das ſonſt ſo witzige Budorgis an ſeiner Poeſie nichts gefaͤlliges mehr finden wuͤrde, wenn ich ſolches nicht ſchon in dem Vorberichte zu Horatii Dicht-Kunſt ge - than haͤtte.
Alles dieſes nun geht einzig und allein dahin, daß ein Poet ſich an den Geſchmack ſeiner Zeiten und Oerter nicht zu kehren, ſondern den Regeln der Alten und den Exempeln großer Dichter zu folgen habe.
Woher der uͤble Geſchmack des großen Haufens komme, iſt aus dem obigen leicht abzunehmen. Die ſchlechte Aufer - ziehung iſt ſonder Zweifel die allergemeinſte, und dadurch werden auch die faͤhigſten Koͤpfe verwahrloſet. Weil die Kinder durchgehends nur durch die Nachahmung urtheilen lernen: ſo gefaͤllt ihnen gleich von Jugend auf das, was ſie von ihren Eltern, oder andern Leuten, denen ſie was zutrauen, loben hoͤren. Die erſten Urtheile werden alſo unvermerckt eine Richtſchnur der uͤbrigen, und nachdem ſie durch eine lan - ge Gewohnheit gleichſam tief eingewurtzelt ſind, koͤnnen ſie faſt gar nicht mehr ausgerottet werden. Der Geſchmack alter Leute laͤſt ſich alſo ſchwerlich beſſern. Sie bleiben feſt bey ihren Meynungen, und ſchaͤmen ſich, dasjenige zu verwerfen, was ſie ihr Lebenlang vor ſchoͤn gehalten. Manmag117Vom guten Geſchmacke eines Poeten. mag ihnen ſagen, was man will: ſo bleiben ſie doch auf ihrem Eigenſinne: weil ſie es vor ſchimpflich anſehen, ſich bey grauen Haaren in ihren Urtheilen zu aͤndern, und dadurch einzuraͤu - men, daß ſie ſo lange geirret und einen uͤbeln Geſchmack gehabt.
Vel quia nil rectum, niſi quod placuit ſibi ducunt;Vel quia turpe putant parere minoribus, & quaeImberbes didicere, ſenes perdenda fateri.Hor. L. II. Ep. I.
Junge Leute hingegen koͤnnen leichter ihren Geſchmack aͤn - dern, wenn ſie gleich bereits verwehnet worden. Sie ſind in ihrer Meynung noch ſo ſehr nicht verhaͤrtet; Sie trauen ih - ren Urtheilen noch keine ſolche Unfehlbarkeit zu, daß ſie nicht auch zuweilen falſch ſeyn koͤnnten; Sie geben alſo eher der geſunden Vernunft Gehoͤr, und begreifen die Richtigkeit der Regeln gar leicht. Ja wenn man ihnen gleich nicht die Gruͤnde des guten Geſchmackes und die Quellen wahrer Schoͤnheiten entdecken und begreiflich machen kan; weil ſie etwa nicht ſtudiret haben oder ſonſt die gehoͤrige Faͤhigkeit nicht beſitzen: So lernen ſie doch aus der bloßen Empfindung endlich wohl urtheilen. Man darf ihnen nur was ſchoͤnes zeigen, und ſie aufmerckſam darauf machen: ſo werden ſie es gewahr. Denn mehrentheils gefaͤllt ihnen deswegen das Schlechte, weil ſie noch nichts beſſers geſehen haben: Nicht anders, wie mancher bloß daher in eine mittelmaͤßige Geſtalt verliebt iſt, weil er noch keine rechte Schoͤnheit kennen zu ler - nen Gelegenheit gehabt. Man zeige nur einem ſolchen Lieb - haber eine vollkommenere Perſon als ſeine vermeynte Halb - goͤttin iſt: Er wird ihrer entweder gar vergeſſen; oder doch zum wenigſten den groͤſten Theil ſeiner Hochachtung gegen dieſelbe verlieren.
Und ſo haͤtte ich wohl meines Erachtens in dieſem Ca - pitel meinen Vorſatz ins Werck gerichtet, indem ich nicht nur einen deutlichen Begriff von dem Geſchmacke uͤber - haupt gegeben, ſondern auch die Regeln des guten Ge - ſchmacks entdecket, und ihn dadurch von dem uͤbeln unter -H 3ſchie -118Das IV. Capitelſchieden; Ferner dieſes gegen die Einwuͤrfe vertheidiget, und endlich etliche zweifelhafte Fragen ſo bey dieſer Ma - terie aufgeworfen worden, nach meinen Grundſaͤtzen ent - ſchieden. Nunmehro ſollte ich beſondre Lehren geben, und zeigen, was denn in allerley Gedichten, Einfaͤllen und Aus - druͤckungen dem guten oder uͤbeln Geſchmacke gemaͤß ſey. Allein dieſes iſt eine Arbeit die alle folgende Capittel dieſes Buches einnehmen wird, als in welchen ich ſtuͤckweiſe die Regeln vortragen will, darnach die poetiſchen Schoͤn - heiten beurtheilet werden muͤſſen. Man mercke zum Be - ſchluſſe die Regel Horatii an:
Jmgleichen was Seneca c. 20. de Vit. Beat. ſchreibt: Non tam bene cum rebus humanis agitur, vt meliora pluribus pla - ceant. Argumentum peſſimi turba eſt.
DJe Nachahmung der Natur, darinn, wie oben ge - wieſen worden, das Weſen der gantzen Poeſie be - ſteht, kan auf dreyerley Art geſchehen. Die Erſte iſt eine bloße Beſchreibung, oder ſehr lebhaffte Schilderey von einer natuͤrlichen Sache, die man nach allen ihren Ei - genſchafften, Schoͤnheiten, Fehlern, Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten ſeinen Leſern klar und deutlich vor die Augen mahlet, und gleichſam mit lebendigen Farben ent - wirfft, daß es faſt eben ſo viel iſt, als ob ſie wircklich zugegen waͤre. Dieſes nun mit rechter Geſchicklichkeit zu verrichten,iſt119Von den Poetiſchen Nachahmungen. iſt eine gar feine Gabe, und man hat es dem Homer zu groſſem Lobe angemercket, daß ein beruͤhmter Griechiſcher Mahler, der eine Minerva zu ſchildern willens war, zu dem Ende erſt in der Jlias die Beſchreibung dieſer Goͤttin nach - geſchlagen, durchgeleſen, und ſich dadurch eine lebhaffte Ab - bildung von ihr gemachet. Solche Mahlerey eines Poeten nun, erſtrecket ſich noch viel weiter, als die gemeine Mahler - Kunſt. Dieſe kan nur vor die Augen mahlen, der Poet her - gegen kan vor alle Sinne Schildereyen machen. Er wircket in die Einbildungs-Krafft; und dieſe bringt aller empfindli - chen Dinge Begriffe eben ſo leicht als Figuren und Farben hervor. Ja er kan endlich auch geiſtliche Dinge, als da ſind innerliche Bewegungen des Hertzens und die verborgenſten Gedancken beſchreiben und abmahlen. Man kan hierbey mit Nutzen nachleſen was Herr Bodmer in ſeinen vernuͤnft. Ged. und Urtheilen von der Beredſamkeit vor feine Regeln und Anmerckungen gegeben.
Doch dieſe Art der Poetiſchen Nachahmung iſt bey aller ihrer Fuͤrtrefflichkeit nur die geringſte: Weßwegen ſie auch Horatz im Anfange ſeiner Dicht-Kunſt vor unzulaͤng - lich erklaͤret, einen wahren Poeten zu machen. Wenn ich die beſten Bilder von der Welt in meinen Gedichten machen koͤnnte, wuͤrde ich doch nur ein mittelmaͤßiger oder gar nur ein kleiner Poet zu heiſſen verdienen: wenn ich nichts beſſers zu machen wuͤſte. Ja ich koͤnnte wohl gar ein verdruͤßlicher Dichter und Scribent werden, wenn ich meine Leſer mit un - aufhoͤrlichen Mahlereyen und unendlichen Bildern eckelhafft machte. Boileau hat dieſen Fehler am Scuderi ſchon an - gemerckt und verworfen, wenn er in ſeiner Dicht-Kunſt Ch. I. geſchrieben:
Un Auteur quelque fois trop plein de ſon objet,J’amais ſans l’epuiſer n’abandonne un ſujet.S’il rencontre un palais, il m’en depeint la face,Il me promene aprés de terraſſe en terraſſe;Ici s’offre un perron, là regne un corridor,Là ce balcon s’enferme en un baluſtre d’or.Il conte des plafonds les ronds & les ovales,Ce ne ſont que feſtons, ce ne ſont qu’Aſtragales.H 4Je120Das IV. CapitelJe ſaute vingt feüillets, pour en trouver la ſin,Et je me ſauve a peine au travers d’un jardin.Fuyez de ces Auteurs Pabondance ſterile!Et ne vous chargez point d’un detail inutile.Tout ce qu’on dit de trop, eſt fade & rebutant,L’eſprit raſſaſié le rejette à l’inſtant;Qui ne ſçait ſe borner ne ſceut jamais ecrire.
So muß man denn auch in dieſem Stuͤcke Maaß zu halten wiſſen; theils daß man unnoͤthige und uͤberfluͤßige Bilder ſeinem Leſer nicht aufdringe; theils bey einem an ſich noͤthigen Abriſſe nicht gar zu ſorgfaͤltig alle Kleinigkeiten auszudruͤcken bemuͤht ſey. Virgil wird deßwegen gelobt, weil er in Be - ſchreibungen ſo beſcheiden geweſen. Er hat wohl zehnmahl Gelegenheit gehabt, den Regenbogen abzumahlen; und was wuͤrde uns da ein poetiſcher Mahler von Profeſſion nicht mit ſeinen Farben gequaͤlet haben, aber Virgil ſagt nichts mehr als: Mille trahens varios aduerſo ſole colores.
Die andre Art der Nachahmung geſchicht, wenn der Poet ſelbſt die Perſon eines andern ſpielet, oder einem der ſie ſpielen ſoll, ſolche Worte, Geberden und Handlungen vor - ſchreibt und an die Hand giebt, die ſich in ſolchen und ſolchen Umſtaͤnden vor ihn ſchicken. Man macht z. E. ein verliebtes, trauriges, luſtiges Gedichte im Nahmen eines andern, ob man gleich ſelbſt weder verliebt noch traurig, noch luſtig iſt. Aber man ahmet uͤberall die Art eines in ſolchen Leidenſchaff - ten ſtehenden Gemuͤthes ſo genau nach, und druͤckt ſich mit ſo natuͤrlichen Redens-Arten aus, als wenn man wircklich den Affect bey ſich empfaͤnde. Zu dieſer Gattung gehoͤrt ſchon weit mehr Geſchicklichkeit als zu der erſten. Man muß hier die innerſten Schlupfwinckel des Hertzens ausſtudirt, und durch eine genaue Beobachtung der Natur den Unterſcheid des gekuͤnſtelten, von dem ungezwungenen angemercket haben. Dieſes aber iſt ſehr ſchwer zu beobachten, wie die Fehler ſattſam zeigen, ſo von den groͤſten Meiſtern in dieſem Stuͤcke begangen worden. Daß Virgilius in ſeinen Schaͤferge - dichten nicht immer gluͤcklich damit geweſen, hat der Jta - lieniſche Criticus Ludevig Caſtelvetro, deſſen Critiſche Wer - cke Argelati nur vor zwey Jahren herausgegeben, ſehrgruͤnd -121Von den Poetiſchen Nachahmungen. gruͤndlich erwieſen. Jn Fontenellens Gedancken von Schaͤ - fergedichten wird man auch Theocritum offt gantz billig ge - tadelt finden. Herr Fontenelle ſelbſt wird in dem Evardian von Richard Steelen gleicher Fehler, und zwar nicht ohne Grund beſchuldiget, wie an dem gehoͤrigen Orte ausfuͤhrli - cher gedacht werden ſoll. Daß nicht auch unter unſern Deutſchen es viele hierinn ſollten verſehen haben iſt gar kein Zweifel. Man darf nur die Diſcourſe der Mahler nachſe - hen, wo unterſchiedene ſolche Cenſuren vorkommen, die hieher gehoͤren. Die Klag-Gedichte, die Canitz und Beſſer auf ihre Gemahlinnen gemacht, werden ſonſt als beſondere Mu - ſter ſchoͤn ausgedruckter Affecten angeſehen; die ich gar wohl unter dieſe Art der Nachahmung rechnen kan, ob ſie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorſtel - len wollen. Denn ſo viel iſt gewiß, daß ein Dichter zum wenigſten denn, wenn er die Verße macht, die volle Staͤrcke der Leidenſchafft nicht empfinden kan. Dieſe wuͤrde ihm nicht Zeit laſſen, eine Zeile aufzuſetzen, ſondern ihn noͤthigen, alle ſeine Gedancken auf die Groͤße ſeines Verluſts und Un - gluͤcks zu richten. Der Affect muß ſchon ziemlich geſtillet ſeyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen und ſeine Kla - gen in einem ordentlichen Zuſammenhange vorſtellen will. Und es iſt auch ohnedem gewiß, daß alle beyde oberwehnte Gedichte eine gute Zeit nach dem Tode ihrer Gemahlinnen verfertiget worden: da gewiß die Poeten ſich nur bemuͤhet haben ihren vorigen betruͤbten Zuſtand aufs natuͤrlichſte aus - zudruͤcken. Ob ich nun wohl nicht leugne, daß dieſe treffliche Stuͤcke des beruͤhmten Amthors Klagen in gleichem Falle weit weit vorzuziehen ſind: So koͤnnte doch ein ſcharfes Au - ge auch in dieſen zwey Meiſterſtuͤcken noch manchen gar zu gekuͤnſtelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entde - cken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr wuͤrde hervorgebracht oder gelitten haben. Was hier von dem Schmertze gilt, das muß von allen Affecten verſtanden werden. Hoffmanns Waldaus Helden-Briefe, ſollen ver - liebt geſchrieben ſeyn: haben aber den Affect, den der Poet nachahmen wollen, ſehr ſchlecht getroffen, und tauſend bunteH 5Ein -122Das IV. CapitelEinfaͤlle und Zierrathen angebracht, die ſich vor keinen war - hafftig verliebten ſchicken. Man darf nur dargegen halten, was Guͤnther I Th. ſein. Ged. an ſeine Geliebte geſchrieben, wo alles der Natur gemaͤß iſt: ſo wird man leicht ſelbſt wahr - nehmen, was eine geſchickte Nachahmung der Natur iſt, und was ein kaltes und froſtiges Gewaͤſche in der Poeſie heiſt.
Auf dieſer Kunſt nun beruhet faſt die gantze Theatraliſche Poeſie, was nehmlich die Charactere einzelner Perſonen, ihre Reden in einzelnen Scenen, und ihre Handlungen an - langt. Denn hier muß ein Poet alles, was von dem auf - tretenden Helden oder was es ſonſt iſt, wircklich und der Na - tur gemaͤß haͤtte geſchehen koͤnnen, ſo genau nachahmen, daß man nichts unwahrſcheinliches dabey wahrnehmen koͤnne. Jn Helden-Gedichten, und allen uͤbrigen Arten, wo man auch zuweilen andre redend einfuͤhret, hat eben dieſes ſtatt, wie an ſeinem Orte ſtuͤckweiſe ſoll erwieſen werden. Ho - ratius hat in ſeiner Dicht-Kunſt zu verſchiedenen mahlen daran gedacht, und nicht nur die Regel gegeben, wie man, den Achilles, die Medea, den Jxion, die Jo u. ſ. w. abbilden und auffuͤhren ſolle; daß ein Greis und ein Juͤngling, ein Argiver und Babylonier, ein Kauffmann und Bauer, eine Matrone und eine Amme nicht auf einerley Art reden und handeln muͤſſe. Sondern auch gewieſen, wo man die Kunſt gute Charactere zu machen lerne; nehmlich aus der Sitten - Lehre und der Erfahrung. Dieſe zeiget uns die herrſchenden Neigungen der Kinder, Juͤnglinge, Maͤnner und Alten: Jene hergegen lehret ſowohl die Natur der Affecten, als die Pflichten aller Menſchen in allen Staͤnden. Wer nun hierinn wohl bewandert iſt, und ſonſt ſcharfſinnig genug iſt, auf die Wahrſcheinlichkeit in allen Stuͤcken recht Achtung zu geben; der wird in ſeiner Nachahmung unfehlbar gluͤcklich fortkommen muͤſſen: Da hingegen ein Fremdling in dem allen alle Augenblicke Fehler begehen, und lauter unaͤhnliche Schildereyen verfertigen wird. Jch ſchließe bey dem allen den Witz nicht aus, denn dieſes iſt eben diejenige Gemuͤths - Krafft, die mit den Aehnlichkeiten der Dinge zu thun hat, und folglich auch die Abriſſe ihren Urbildern aͤhnlich machen,oder123Von den Poetiſchen Nachahmungen. oder dieſe in jenen nachahmen muß. Ohne dieſe wird man unfehlbar in den Fehler verfallen, den dort Canitz an den mei - ſten unſrer Poeten tadelt, wenn er den Virgil als einen gluͤck - lichen Nachahmer der Natur im Abſehen auf den Character der Dido erhebet. Es heißt:
Man redt und ſchreibt nicht mehr was ſich zur Sache ſchicket, Es wird nach der Natur kein Einfall ausgedruͤcket, Der Bogen iſt gefuͤllt, eh man an ſie gedacht; Was groß iſt, das wird klein, was klein iſt, groß gemacht: Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen, Nur bloß die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen, Und eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert, Wenn es wird in Geſtalt der Rieſen aufgefuͤhrt. Wir leſen ja mit Luſt Aeneas Abentheuer: Warum? Stoͤßt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer; So hat es ſein Virgil, ſo kuͤnſtlich vorgeſtellt, Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken uͤberfaͤllt: Und hoͤr ich Dido dort von Schimpf und Undanck ſprechen, So moͤcht ich ihren Hohn an den Trojanern raͤchen. So kuͤnſtlich trifft itzund kein Dichter die Natur, Sie iſt ihm viel zu ſchlecht: Er ſucht ihm fremde Spur, Geußt ſolche Thraͤnen aus, die lachenswuͤrdig ſcheinen, Und wenn er lachen will, ſo moͤchten andre weinen.
Doch auch dieſe ſo ſchwere Gattung der Nachahmung ma - chet nicht das Hauptwerck in der Poeſie aus. Die Fabel iſt hauptſaͤchlich dasjenige, ſo die Seele der gantzen Dicht - Kunſt iſt, wie Ariſtoteles im VI. Cap. ſ. Poetik ſchreibt: Αρχὴ καὶ οιϲ῀ν ψυχὴ μῦϑος. Selbſt unſre Mutterſprache lehrt uns dieſes; wenn wir die Poeſie die Dicht-Kunſt, und ein Poetiſches Werck, ein Gedichte nennen. Sachen die wircklich geſchehen ſind, d. i. wahre Begebenheiten, darf man nicht erſt dichten: folglich entſteht auch aus Beſchrei - bung und Erzehlung derſelben kein Gedichte, ſondern eine Hiſtorie oder Geſchicht: und ihr Verfaſſer bekommt nicht den Nahmen eines Dichters, ſondern eines Geſchichtſchrei - bers. Die Pharſaliſche Schlacht alſo, die Lucanus in Verßen beſchrieben hat, kan nichts anders als eine Hiſtorie in Verßen heiſſen: Die Fabeln Eſopi hergegen, obwohl ſie nur in ungebundner Schreibart abgefaſſet worden, ſindGe -124Das IV. CapitelGedichte. Und wer die Faͤhigkeit nicht beſitzt gute Fabeln zu erfinden, der verdient den Nahmen eines Poeten nicht: wenn er gleich die ſchoͤnſten Verße von der Welt machte. Phaͤdrus iſt derowegen wohl ein Versmacher, aber kein Dichter geweſen: maßen er zwar die Eſopiſchen Fabeln in Verße gebracht, aber ſelbſt keine erfunden hat.
Wenn Ariſtoteles ſagen will was die Fabel in einem Gedichte eigentlich ſey, ſo ſpricht er: Es ſey die Zuſammen - ſetzung oder Verbindung der Sachen. Der Pater Boſ - ſu in ſeinem Tracat vom Heldengedichte, laͤßt ſich an dieſer Erklaͤrung gnuͤgen, und verſteht durch die Sachen, ſo in ei - ner Fabel verbunden werden ſollen, das Wahre und das Falſche. Jn der That muß eine jede Fabel was wahres und was falſches in ſich haben: nehmlich einen moraliſchen Lehrſatz, der gewiß wahr ſeyn muß; und eine Einkleidung deſſelben in eine gewiſſe Begebenheit, die ſich aber niemahls zugetragen hat, und alſo falſch iſt. Allein er ſcheint mir den Verſtand des Philoſophen nicht recht eingeſehen zu haben. Die Sachen muͤſſen auf das Zubehoͤr der Fabel, als da ſind, die Thiere, Menſchen, Goͤtter, Handlungen, Geſpraͤche, u. ſ. w. gedeutet werden. Dieſe Dinge muͤſſen verknuͤpfet und verbunden werden, ſo daß ſie einen Zuſammenhang be - kommen, und alsdann entſteht eine Fabel daraus. Haͤtte dieſes Boſſu geſehen, ſo wuͤrde er es nicht noͤthig gehabt ha - ben, eine andre Beſchreibung davon zu geben, die noch weni - ger Stich haͤlt, als die obige. Denn da er ſagt: Die Fa - bel ſey eine Rede, welche unter den Allegorien einer Hand - lung ihre Lehren verbirget, und zu Beſſerung der Sit - ten erſonnen worden: So iſt bey dieſer Erklaͤrung ſehr viel zu erinnern. Denn zu geſchweigen daß die Fabel nicht nur eine Rede, ſondern auch eine Schrifft ſeyn kan; ſo machen ja nicht alle Allegorien die da lehrreich und unterrichtend ſind, eine Fabel aus. Die Ode Horatii iſt bekannt, wo der Poet die Roͤmiſche Republic unter dem Bilde eines Schiffes an - redet, und ihr viel heylſame Regeln, in einer beſtaͤndigen allegoriſchen Rede giebt. Wer hat aber dieſe Ode jemahls zu den Fabeln gezehlet? Wollte man ſagen, hier waͤre keinealle -125Von den Poetiſchen Nachahmungen. allegoriſche Handlung verhanden: So wuͤrde man antwor - ten, daß nach ſeinem eigenen Geſtaͤndniſſe nicht zu allen Fa - beln eine Handlung noͤthig ſey, wie er denn ſelbſt in folgenden dergleichen anfuͤhret; nehmlich da die Fliege an dem Rade eines großen und ſchleunig fortgezognen Wagens ſitzt, ſelbſt nichts thut, ſondern nur ſagt: Ey welch einen großen Staub mache ich nicht!
Jch glaube derowegen eine Fabel am beſten zu beſchrei - ben, wenn ich ſage: Sie ſey eine unter gewiſſen Umſtaͤnden moͤgliche, aber nicht wircklich vorgefallene Begebenheit, dar - unter eine nuͤtzliche moraliſche Wahrheit verborgen liegt. Philoſophiſch koͤnnte man ſagen, ſie ſey ein Stuͤcke aus ei - ner andern Welt. Denn da man ſich in der Metaphyſick die Welt als eine Reyhe moͤglicher Dinge vorſtellen muß; auſſer derjenigen aber, die wir wircklich vor Augen ſehen, noch viel andre dergleichen Reyhen gedacht werden koͤnnen: So ſieht man, daß eigentlich alle Begebenheiten die in un - ſerm Zuſammenhange wircklich verhandener Dinge nicht ge - ſchehen, an ſich ſelbſt aber nichts wiederſprechendes in ſich haben, und alſo unter gewiſſen Bedingungen moͤglich ſind; in einer andern Welt zu Hauſe gehoͤren, und Theile davon ausmachen. Herr Wolf, hat ſelbſt wo mir recht iſt, an ei - nem gewiſſen Orte ſeiner philoſophiſchen Schrifften geſagt, daß ein wohlgeſchriebener Roman, das iſt ein ſolcher der nichts wiederſprechendes enthaͤlt, vor eine Hiſtorie aus einer andern Welt anzuſehen ſey. Was er von Romanen ſagt, das kan mit gleichem Rechte von allen Fabeln geſagt werden. Weil aber dieſe Erklaͤrung unphiloſophiſchen Koͤpfen viel - leicht Schwierigkeiten machen koͤnnte: So bleibe ich bey der erſten, die nach dem gemeinen Begriffe aller die nur deutſch verſtehen, eingerichtet iſt. Jch erlaͤutere ſie durch das bereits erwehnte Exempel. Die Begebenheit iſt daſelbſt, daß ein großer Wagen auf einem ſtaubigten Wege, von vier oder mehr hurtigen Pferden geſchwinde hingeriſſen wird; Eine Fliege an dem Rade deſſelben ſitzet, und ſich ſchmeichelt ſie habe allen dieſen Staub erreget. Dieſe Begebenheit iſt un - ter gewiſſen Umſtaͤnden moͤglich. Wenn nehmlich nur einan -126Das IV. Capitelangeſpannter Wagen faͤhret, und eine Fliege die daran ſitzt ſo viel Verſtand hat, daß ſie uͤber den rings um aufſteigenden Staub ihre Betrachtungen anſtellen kan: So geht es gar wohl an, daß ſie ſo eitel ſeyn, und ſich ſelbſt vor die Urſache einer ſo großen Staubwolcke anſehen kan. Die moraliſche Lehre endlich, die darunter verborgen liegt, iſt dieſe: Ein Stoltzer iſt ſo thoͤricht, daß er ſich ſelbſt und ſeinen Verdien - ſten Dinge zuſchreibt, die von gantz andern Urſachen herruͤh - ren und ſeine Kraͤffte unzehliche mahl uͤberſteigen.
Man kan die Faͤbeln eintheilen in unwahrſcheinliche, wahrſcheinliche und vermiſchte. Jene ſind die, wo man un - vernuͤnftige Thiere oder wohl gar lebloſe Dinge ſo reden und handeln laͤßt als wenn ſie mit menſchlicher Vernunft begabt waͤren. Ein Exempel davon finden wir ſo gar in der Schrifft, wo Abimelechs Bruder im Buche der Richter ſei - nen Landsleuten erzehlet, wie die Baͤume ſich einen Koͤnig er - wehlet, der ſie mit Feuer verzehret, und alſo, ihrer thoͤrichten Wahl halber, ſattſam beſtrafet haͤtte. Die andre Art ſind die wahrſcheinlichen Fabeln, wo lauter Menſchen und andre vernuͤnftige Weſen vorkommen; bey denen es nichts un - glaubliches iſt, daß ſie mit Verſtande reden und handeln koͤn - nen. Dergleichen iſt abermahl in der Schrifft die Fabel Nathans vom reichen und armen Manne, deren jener dieſen ſeines einzigen geliebten Schaͤfleins beraubet: imgleichen die Fabel vom verlohrnen Sohne, vom armen Lazarus u. d. gl. Die dritte Art, nehmlich der vermiſchten Fabeln entſteht, wenn darinn theils unvernuͤnftige, theils vernuͤnftige Dinge redend und handelnd vorkommen. Dergleichen wuͤrde die Begebenheit Bileams mit ſeiner Eſelin ſeyn, wenn dieſes nicht wircklich geſchehen ſeyn ſollte. Wir finden aber in den Eſopiſchen Fabeln unzehliche ſolche, wo theils vernuͤnftige Menſchen, theils Thiere und Baͤume aufgefuͤhret werden: zugeſchweigen daß Homerus in ſeiner Jlias einmahl ein Pferd mit ſeinem Herrn hat reden laſſen:
Τὸν127Von den Poetiſchen Nachahmungen.Τὸν δ᾽αρ ὑπὸ ζυγόφιν προσέφη ποδας αἴολος ἵππος, Ξάνϑος ‒ ‒ ‒ Καὶ λιήν σ᾽ἔτι νῦν γε σαωσομεν ὄβριμ Αχιλλεῦ. Iliad. L. XIX.
Ein Exempel von meiner Erfindung ſteht in den vernuͤnft. Tadl. von dem Veilchen-Stocke, der Tulpe und der Blu - men-Goͤttin Flora. Jmgleichen von dem Manne ſeinem Hunde und der Katze, und im II Th. derſelben vom Pferde und Eſel, wiewohl dieſe vielleicht unter die Wahrſcheinlichen zu zehlen ſind. Endlich auch im II Th. des Biedermanns vom Haſen der ſich in den Loͤwenſtand erheben ließ.
Ferner koͤnnen die Fabeln eingetheilt werden in Epiſche und Theatraliſche. Jene werden bloß erzehlet, und dahin gehoͤren nicht nur die Jlias, Odyſſee und Eneis; ſondern al - le Romane, ja ſo gar die Eſopiſchen Fabeln. Dieſe herge - gen werden wircklich geſpielet und alſo lebendig vorgeſtellt. Dahin rechnet man alſo alle Tragoͤdien-Comoͤdien - und Schaͤfer-Spiele, imgleichen alle kleinen dramatiſchen Ge - dichte, die wircklich auf einer Schaubuͤhne aufgefuͤhrt wer - den koͤnnen. Man ſieht gar leicht, daß dieſer andre Unter - ſcheid ſich auf den erſten gruͤnde. Denn die Theatraliſchen Fabeln leiden nichts als was wahrſcheinlich iſt, wie Hora - tius in ſeiner Dichtkunſt ſehr fleißig erinnert: Hingegen die Epiſchen koͤnnen gar wohl auch unwahrſcheinliche Fabeln von Thieren und lebloſen Dingen brauchen. Tauſend Din - ge laſſen ſich gar wohl erzehlen; aber den Augen laͤßt ſich nichts vorſtellen als was glaublich iſt. Wer das obige re - dende Pferd des Homeri, oder Bileams Eſelin auf die Schaubuͤhne bringen wollte: dem wuͤrde Horatz zuruffen:
Weiter koͤnnen die Fabeln theils im Abſehen auf ihren Jnhalt, theils in Abſicht auf die Schreibart, in hohe und nie - drige eingetheilet werden. Unter die hohen gehoͤren die Hel - dengedichte, Tragoͤdien und Staats-Romane: darinn faſt lauter Goͤtter und Helden, Koͤnigliche und Fuͤrſtliche Per - ſonen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlenSchreib -128Das IV. CapitelSchreibart entweder erzehlet oder geſpielet werden. Unter die niedrigen gehoͤren die buͤrgerlichen Romane, die Schaͤfe - reyen, die Comoͤdien und Paſtorale nebſt allen Eſopiſchen Fabeln: als worinn nur Buͤrger und Landleute, ja wohl gar Thiere und Baͤume in einer gemeinen Schreibart redend eingefuͤhret oder beſchrieben werden. Von dieſen letztern koͤnnte man mit einigem Scheine fragen, ob ſie auch zur Poe - ſie gehoͤreten? weil Horatius ſolches von der Comoͤdie ihres niedrigen Ausdruckes halber in Zweifel gezogen:
Idcirco quidam Comoedia nec ne PoemaEſſet, quaeſiuere: quod acer ſpiritus ac visNec verbis nec rebus ineſt, niſi quod pede certoDiffert ſermoni, ſermo merus. Sat. IV. L. 1.
Wiewohl aus dem obigen iſt leicht darauf zu antworten. Die hohe Schreibart iſt zwar eine gute Eigenſchafft eines Poeten, und in gewiſſen Gedichten unentbehrlich: Aber ſie allein machet noch keinen Dichter, wenn keine Fabel da iſt, die darinn vorgetragen wird. Dieſe hergegen bleibt was ſie iſt, nehmlich eine Fabel, ein Gedichte, wenn man ſie gleich in der gemeinen Sprache erzehlt. Sie zeigt alſo ſattſam, daß ihr Verfaſſer ein Dichter geweſen, der auch wohl erha - ben haͤtte ſchreiben koͤnnen, wenn er gewollt haͤtte, und wenn es ſich in dieſer Art von Gedichten haͤtte thun laſſen. Hora - tius ſelbſt traͤgt dieſen Zweifel wegen der Comoͤdie nur als was fremdes vor. Einige, ſpricht er, haben gefragt, ꝛc. Er giebt ihnen aber deßwegen nicht recht; zumahl er in ſeiner Dichtkunſt ſelbſt erinnert, daß auch in der Comoͤdie zuweilen die pathetiſche, feurige und erhabene Schreibart ſtatt finde: wenn nehmlich ein Chremes zu ſchelten und vor Zorn zu po - chen und zu poltern anfaͤngt:
Die Fabeln koͤnnen noch ferner in vollſtaͤndige und man - gelhaffte eingetheilet werden. Jene erzehlen diejenige Be - gebenheit gantz, die zu der darunter verſteckten Sittenlehre gehoͤret: Dieſe hergegen brechen ab; wenn die Begebenheit kaum in die Helfte gekommen iſt. Zum Exempel einer gan -tzen129Von den Poetiſchen Nachahmungen. tzen oder vollſtaͤndigen koͤnnen alle die obigen dienen, die wir ſchon angefuͤhret haben: denn die Erzehlung geht daſelbſt ſo weit als noͤthig iſt, und das Gemuͤthe bleibt am Ende der - ſelben gantz ruhig; weil man den Zweck einſieht, warum ſie erzehlet worden. Eine mangelhaffte und halbe Fabel aber war jene, die Demoſthenes ſeinen Mitbuͤrgern erzehlte, als ſie in einer wichtigen Rede, ſo die Wohlfahrt ihres Staats anbetraf, ſehr unachtſam waren. Denn als er ihnen die Helfte davon erzehlet hatte, und ſie alle aus ihrer vorigen Nachlaͤßigkeit ermuntert und begierig worden waren, den voͤlligen Verlauf ſeiner Geſchicht zu vernehmen; hoͤrte er mit gutem Bedachte auf, ſchwieg ſtille und wollte ſich aus der Verſammlung begeben. Weil aber die Fabel nur halb fertig war, konnten ſich die Zuhoͤrer dadurch nicht zufrieden ſtellen; darum riefen ſie ihn zuruͤcke, und verlangten, daß er ihnen auch den Ausgang der gantzen Begebenheit erzehlen ſollte: Wobey er denn Gelegenheit nahm, ihnen ihre Leicht - ſinnigkeit vorzuruͤcken, die ſich um Kleinigkeiten ſo ernſtlich, um die wichtigſten Dinge aber, ſo er in ſeiner Rede vorge - tragen, ſo wenig bekuͤmmert und aufmerckſam bezeigete.
Bey dieſer Abtheilung der Fabeln muß man ſich vor einem Misverſtande huͤten. Eine gantze Fabel erfordert nicht allemahl den voͤlligen Umfang aller Begebenheiten, die eini - gen Zuſammenhang mit einander haben; ſondern es iſt ge - nug, daß ſie alles dasjenige enthaͤlt, was zu der Sittenlehre, die man vortragen will, unentbehrlich iſt. Z. E. Die Jlias Homeri, iſt eine Fabel vom Zorne Achillis, und den trauri - gen Wirckungen deſſelben. Daher iſt dieſe Fabel gantz, wenn der Poet zeigt, wie und woher dieſer Zorn entſtanden, nehmlich von der Beleidigung die Agamemnon dieſem Hel - den zugefuͤgt; ferner wie ſich derſelbe geaͤuſſert, nehmlich durch die Enthaltung vom Streite, da Achilles ruhig auf ſeinem Schiffe blieb; weiter wie ſchaͤdlich derſelbe geweſen, weil die Griechen in ſeiner Abweſenheit allezeit den kuͤrtzern gezogen, Achilles ſelbſt aber ſeinen beſten Freund Patroclus eingebuͤſſet: Endlich wie dieſer Zorn ein Ende genommen, da der Held aus Rachgier gegen den Hector ſeines altenJGrolls130Das IV. CapitelGrolls vergeſſen, und alſo den Trojanern großen Abbruch gethan. Dieſe Fabel war zulaͤnglich, die moraliſche Wahr - heit von der ſchaͤdlichen Uneinigkeit benachbarter Staaten, die Homerus in ſeinem Gedichte lehren wollen, in ein voͤlliges Licht zu ſetzen. Es war dabey nicht noͤthig, den Urſprung des Trojaniſchen Krieges oder den Ausgang deſſelben zu zei - gen; vielweniger von den beyden Eyern der Leda anzufan - gen, aus deren einem die Helena, die einzige Urſache des Krieges, war gebohren worden. Dieſes waͤre eine gar zu große Fabel geworden, und Horatz lobt deswegen Home - rum, daß er ſolches nicht gethan.
Nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri,Nec gemino bellum Trojanum orditur ab ouo.Semper ad eventum feſtinat.
Diejenigen Poeten haben alſo keinen rechten Begriff von der Fabel gehabt, die ſich eingebildet, ſie muͤſſe ſo vollſtaͤndig ſeyn, daß weder forne noch hinten das geringſte daran fehle. Dahin gehoͤrt Statius, der den gantzen Lebenslauf Achillis in ein Gedichte gebracht, und bey den Griechen der Ver - faſſer der kleinen Jlias, deſſen Ariſtoteles gedencket; wel - cher gleichfalls den gantzen Trojaniſchen Krieg in eins gezo - gen, davon uns die große Jlias nur ein Stuͤcke von andert - halb Monaten erzehlet. Vielweniger werden die Ver - wandlungen Ovidii vor ein einzig Gedichte koͤnnen angeſe - hen werden, als worinn eben ſo wenig als in den Eſopiſchen Fabeln eine einzige moraliſche Fabel zum Grunde liegt. Die Jlias iſt einem koͤniglichen Pallaſte, voller Zuſammen - hang, Ordnung und Schoͤnheit gleich: die Verwandlun - gen Ovidii ſind einer gantzen Stadt zu vergleichen, die aus ſo viel Buͤrgerhaͤuſern zuſammengeſetzt iſt, als Fabeln ſie enthaͤlt; welche nicht mehr Verknuͤpfung mit einander haben, als daß ſie aneinander ſtoßen und mit einer Ring - mauer umgeben ſind. Die Eſopiſchen Fabeln koͤnnte man nach eben dieſer Allegorie ein großes Dorf nennen, darinn jede Fabel eine Bauerhuͤtte vorſtellet, die eben ſoviel Thiere als Menſchen in ſich zu halten pflegen.
Noch eine Abtheilung der Fabeln iſt noͤthig anzumer -cken,131Von den Poetiſchen Nachahmungen. cken, da ſie nehmlich in Haupt - und Neben-Fabeln unter - ſchieden werden. Dieſer Unterſcheid findet ſonderlich in Helden-Gedichten, Romanen und Theatraliſchen Stuͤcken ſtatt. Daſelbſt iſt eine die groͤßeſte und wichtigſte, die im gantzen Gedichte zum Grunde lieget, und gar wohl ohne die uͤbrigen beſtehen koͤnnte. Auf dieſe kommt denn hauptſaͤch - lich die Schoͤnheit des gantzen Werckes an, weil ſie eigent - lich zum Zwecke des Verfaſſers fuͤhret und die moraliſche Abſicht deſſelben unmittelbar befoͤrdert. Dergleichen war die oben angefuͤhrte Haupt-Fabel der Jlias; dergleichen iſt in Sophoclis Antigone, welche Opitz verdeutſchet hat, die Grauſamkeit Creons, der den Coͤrper des Polynices, eines Sohns Oedipi und Jocaſtaͤ, unter freyen Himmel werfen, und die Prinzeſſin Antigone, die ſich ihres todten Bruders annahm und ihn begrub, in eine Hoͤle verſperren ließ; daruͤ - ber er denn nicht nur ſeinen Sohn Haͤmon, ſondern auch ſeine Gemahlin Euridice einbuͤßete und endlich ſelbſt in Ver - zweifelung und Raſerey fiel. Die Neben - oder Zwiſchen - Fabeln aber ſind alle die Einſchiebſel und beylaͤufigen Erzeh - lungen gewiſſer kleinerer Begebenheiten, die mit der groͤßern einigermaßen zuſammenhangen, und theils zur Verlaͤn - gerung, theils zur Abwechſelung, theils auch zum Verſtande der Hauptfabel etwas beytragen. Dergleichen ſind in der Jlias unzehliche von Goͤttern und Helden, die Homerus uͤberall eingeſtreuet hat; in der Eneis die Begebenheiten von der Dido, und den Luſtſpielen die Eneas ſeinem Vater zu Ehren angeſtellet; Jn dem Gottfried die Liebes-Geſchicht von Sophronia und Olindo. Jm Don Quixote der kleine Roman von Cardenio, und dem eiferſuͤchtigen Bruder; Jm Telemach die Hiſtorie vom Egyptiſchen Koͤnige Seſoſtris; in der Baniſe die Eroberung verſchiedener Staͤdte und den dabey veruͤbten Grauſamkeiten. u. d. m.
Bey allen dieſen Poetiſchen Fabeln fragt ſichs nun, ob ſie nothwendig moraliſche Abſichten haben muͤſſen? Man ant - wortet darauf, daß es freylich wohl moͤglich ſey, Fabeln zur bloßen Beluſtigung zu erſinnen, dergleichen manches Maͤhr - lein iſt, ſo die Ammen ihren Kindern erzehlen, ja dergleichenJ 2die132Das IV. Capiteldie meiſten Romanſchreiber in ihren Buͤchern ausbruͤten. Allein da es moͤglich iſt die Luſt mit dem Nutzen zu verbinden, und ein Poet nach der bereits gegebenen Beſchreibung auch ein rechtſchaffener Buͤrger und redlicher Mann ſeyn muß: So wird er nicht unterlaſſen ſeine Fabeln ſo lehrreich zu ma - chen, als es ihm moͤglich iſt; ja keine einzige erſinnen, darunter nicht eine wichtige Wahrheit verborgen laͤge. Denn
Die alten Griechen ſind uns hier mit guten Exempeln vorge - gangen. Alle ihre Fabeln ſtecken voller Sittenlehren, und es war eine ſo gemeine Sache, daß ihre Poeten erbauliche Fabeln ſchrieben und auf der Buͤhne vorſtellen ließen, daß man auch allezeit ſagte: Eine Fabel, das iſt Tragoͤdie oder Comoͤdie lehren:
So iſt z. E. die Fabel der Odyſſee beſchaffen, wie Ariſtoteles ſelbſt uns den Auszug davon macht: Ein Koͤnig iſt viel Jahre aus ſeinem Hauſe abweſend. Neptun verfolgt ihn, und beraubt ihn aller ſeiner Gefehrten. Jndeſſen iſt bey ihm zu Hauſe alles in Unordnung; Sein Vermoͤgen wird ver - ſchwendet; Seine Gemahlin und ſein Printz ſtehen in Ge - fahr. Endlich aber kommt er nach vielen Ungewittern gluͤck - lich an, erkennet etliche von den Seinigen, erlegt durch ihren Beyſtand ſeine Feinde und bringt alles wieder in Ordnung. So iſt auch die Fabel vom Oedipus, dem beruͤhmteſten Trauerſpiele ſo bey den Alten gemacht worden, beſchaffen. Oedipus bittet die Goͤtter um die Abwendung der Peſt, wo - durch Theben verwuͤſtet wurde. Das Orackel antwortet: Man muͤſſe den Tod des Koͤniges Lajus an deſſen Moͤrdern raͤchen. Er unterſuchet derowegen die Sache, findet aber nicht nur daß er ſelbſt der Thaͤter ſey, ſondern gar ein Sohn des Lajus geweſen und folglich an der Jocaſta, deſſen Witt - we, ſeine eigene Mutter geheyrathet habe. Daruͤber be - ſtraft erſich ſelbſt, indem er ſich die Augen ausreißt, ins Elendgeht133Von den Poetiſchen Nachahmungen. geht, und alſo ſeinem Volcke die Geſundheit wieder herſtel - let. Wer ſieht hier nicht, daß beyde Fabeln vollkommen moraliſch ſind, und die wichtigſten Lehren in ſich faſſen; wenn man ſie gleich nur uͤberhaupt anſieht, und der uͤberall eingeſtreuten Sittenſpruͤche nicht einmahl wahrnimmt. Ein jeder der nur ſeinen eigenen Augen trauet, wird alſo keines fernern Beweiſes noͤthig haben, und die Einwuͤrfe ſelbſt be - antworten koͤnnen, die le Clerc in ſeinen Parrhaſianis da - wieder gemacht, und ich vor den Pietſchiſchen Gedichten, ins Deutſche uͤberſetzt, herausgegeben.
Wie greift man indeſſen die Sache an, wenn man ge - ſonnen iſt, als ein Poet ein Gedichte oder eine Fabel zu ma - chen? Dieſes iſt freylich das Hauptwerck in der ganzen Poeſie, und alſo muß es in dieſem Capitel nicht vergeſſen werden. Vielen, die ſonſt ein gutes Naturell zur Poeſie gehabt, iſt es blos deswegen nicht gelungen, weil ſie es in der Fabel verſehen haben. So viel ſchlechte Heldengedichte, Tragoͤdien, Comoͤdien und Romane ſind gemeiniglich nur in dieſem Stuͤcke mangelhafft: ſo vieler kleinern Fabeln, in andern Gattungen der Poeſie, voritzo nicht zu gedencken. Es iſt alſo der Muͤhe ſchon werth daß wir uns bekuͤmmern wie man alle Arten der Fabeln erfinden und regelmaͤßig ein - richten koͤnne.
Zu allererſt wehle man ſich einen lehrreichen moraliſchen Satz, der in dem gantzen Gedichte zum Grunde liegen ſoll, nach Beſchaffenheit der Abſichten, die man ſich zu erlangen vorgenommen. Hierzu erſinne man ſich eine gantz allge - meine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkommt, daran dieſer erwehlte Lehrſatz ſehr augenſcheinlich in die Sin - ne faͤllt. Z. E. Jch wollte einem jungen Prinzen die Wahr - heit beybringen: Ungerechtigkeit und Gewaltthaͤtigkeit ſey ein abſcheulich Laſter. Dieſen Satz recht ſinnlich und auf eine angenehme Art faſt handgreiflich zu machen, erdencke ich folgende allgemeine Begebenheit, ſo ſich dazu ſchicket, indem man daraus die Abſcheulichkeit des gedachten Laſters Son - nen-klar ſehen kan. Es war jemand, wird es heißen, der ſchwach und unvermoͤgend war, der Gewalt eines maͤchti -J 3gern134Das IV. Capitelgern zu wiederſtehen. Dieſer lebte ſtill und friedlich; that niemanden zu viel, und war mit dem wenigen vergnuͤgt, was er hatte. Ein Gewaltiger, deſſen unerſaͤttliche Begierde ihn verwegen und grauſam machte, ward dieſes kaum ge - wahr, ſo griff er den Schwaͤchern an, that mit ihm was er wollte, und erfuͤllete mit dem Schaden und Untergange deſ - ſelben ſeine gottloſe Begierden. Dieſes iſt der erſte Ent - wurf einer poetiſch-moraliſchen Fabel. Die Handlung ſo darinn ſteckt, hat die folgenden vier Eigenſchafften. (I) Jſt ſie allgemein. (II) Nachgeahmt. (III) Erdichtet. (IV) Allegoriſch, weil eine moraliſche Wahrheit darinn verbor - gen liegt. Und ſo muß der Grund aller guten Fabeln be - ſchaffen ſeyn, ſie moͤgen Nahmen haben wie ſie wollen.
Nunmehro kommt es auf mich an, wozu ich dieſe Erfin - dung brauchen will; ob ich Luſt habe eine Eſopiſche, comi - ſche, tragiſche, oder Epiſche Fabel daraus zu machen? Alles beruht hierbey auf der Benennung der Perſonen, ſo darinn vorkommen ſollen. Eſopus wird ihnen thieriſche Nahmen geben und ſagen: Ein Schaͤfchen, welches gantz friedlich am Strome ſtund, und ſeinen Durſt zu leſchen trincken wollte, ward von einem Wolfe angefallen, der am obern Theile eben deſſelben Waſſers ſoff, und ſeiner von ferne anſichtig wurde. Dieſes raͤuberiſche Thier beſchuldigt das Schaaf, es habe ihm das Waſſer truͤbe gemacht; ſo daß er nicht haͤtte trin - cken koͤnnen: und wiewohl ſich daſſelbe durch die Unmoͤglich - keit der Sache aufs beſte entſchuldiget, fragt der Wolf doch nichts darnach, ſondern greift es an und frißt es auf. Woll - te jemand dieſe thieriſche, und folglich unwahrſcheinliche Fa - bel, in eine menſchliche und deſto wahrſcheinlichere verwan - deln; ſo darf man nur diejenige nachſchlagen, die dort Na - than dem Koͤnige David erzehlet. Ein armer Mann, wird ſie lauten, hatte ein einzig Schaͤfchen, welches er ſehr lieb hat - te: Sein reicher Nachbar hergegen beſaß große Heerden. Dieſer letztere nun bekam Gaͤſte, und weil er ſie zwar wohl aufzunehmen, aber doch von ſeinen eigenen Schaafen keins zu ſchlachten willens war: ſchickt er zu ſeinem Nachbar, laͤßt ihm ſein einziges Schaͤfchen mit Gewalt nehmen, ſchlachtenund135Von den Poetiſchen Nachahmungen. und ſeinen Gaͤſten zubereiten. Dieſes iſt noch eben ſowohl eine Eſopiſche Fabel, als die obige.
Waͤre ich willens eine comiſche Fabel daraus zu ma - chen, ſo muͤſte ich ſehen, daß ich das Laſter der Ungerechtig - keit als ein laͤcherliches Laſter vorſtellen koͤnnte. Denn das Auslachenswuͤrdige gehoͤrt eigentlich in die Comoͤdie, das Abſcheuliche und Schreckliche hergegen laͤuft wieder ihre Abſicht. Jch muͤſte es alſo bey einer kleinen Ungerechtigkeit bewenden laſſen, deren Unbilligkeit zwar einem jeden in die Augen fiele, aber doch kein gar zu großes Mitleiden erwecken koͤnnte. Die Perſonen ſo dabey vorkommen, muͤſſen buͤr - gerlich ſeyn, denn Helden und Prinzen gehoͤren in die Tra - goͤdie. Derjenige aber der das Unrecht thaͤte, muͤſte endlich daruͤber zum Spott und Gelaͤchter werden. Die Nahmen werden nur dazu erdacht, und man darf ſie nicht aus der Hi - ſtorie nehmen. Jch ſage alſo: Herr Trotzkopf, ein reicher aber wolluͤſtiger und verwegener Juͤngling, hat einen halben Tag mit Schmauſen und Spielen zugebracht, geraͤth aber des Abends in ein uͤbelberuͤchtigtes Haus, wo man ihm nicht nur alle ſeine Baarſchafft nimmt, ſondern auch das Kleid vom Leibe zieht, und ihn ſo bloß auf die Gaſſe hinausſtoͤßt. Er fluchet und poltert eine Weile vergebens, geht aber end - lich mit dem bloßen Degen in der Hand Gaſſe auf, Gaſſe nieder, in dem Vorhaben dem erſten dem beſten mit Gewalt das Kleid zu nehmen, und alſo nicht ohne Rock nach Hauſe zu kommen. Es begegnet ihm Herr Ruhelieb, ein friedfertiger Menſch, der von einem guten Freunde kommt, und etwas ſpaͤt nach Hauſe geht. Dieſen faͤllt er an, noͤthiget ihn nach dem Degen zu greifen, entwaffnet ja verwundet ihn ein we - nig, und zwinget ihn alſo das Kleid auszuziehen und ihm zu geben. Kaum hat er ſelbiges angezogen um damit nach Hauſe zu gehen, ſo ſtehen an der andern Ecke der Straße ein paar tuͤchtige Kerle, die von Herrn Ruheliebs Feinden er - kauft worden, denſelben wichtig auszupruͤgeln. Dieſen faͤllt Herr Trotzkopf in die Haͤnde, und ob er gleich Leib und Seele ſchweret daß er nicht derjenige ſey, davor ſie ihn anſehen, wird er doch wacker abgeſtraft, ſo daß er aus Zorn und Un -J 4gedult136Das IV. Capitelgedult das Kleid wieder von ſich wirft, und gantz braun und blau gepruͤgelt nach Hauſe laͤuft.
Weil dieſe Fabel vor eine vollſtaͤndige Comoͤdie noch zu kurtz iſt, ſo muͤſte man irgend etliche Zwiſchen-Fabeln dazu dichten. Herr Trotzkopf muͤſte irgend eine Liebſte haben, der er viel von ſeiner Hertzhafftigkeit vorgeſagt haͤtte. Die - ſe muͤſte nun durch das naͤchtliche Lermen aufgeweckt irgend zum Fenſter hinaus ſehen und an der Stimme ihren Liebha - ber erkennen. Oder es koͤnnte ſonſt ein Patron deſſelben, ſol - ches gewahr werden, der von ſeiner boͤſen Lebensart nichts gewuſt. Kurtz, die Abtheilung und Auszierung muͤſte nach den Regeln gemacht werden, die im andern Theile, wo von der Comoͤdie ins beſondre gehandelt wird, vorkommen ſollen. So viel iſt indeſſen gewiß, daß in dieſer Fabel noch immer jene erſtere allgemeine zum Grunde lieget, und die moraliſche Wahrheit von der Gewaltthaͤtigkeit allegoriſch in ſich be - greift.
Die Tragoͤdie iſt von der Comoͤdie nur in der beſondern Abſicht unterſchieden, daß ſie an ſtatt des Gelaͤchters die Verwunderung, das Schrecken und Mitleiden zu erwecken ſuchet. Daher pflegt ſie ſich lauter vornehmer Perſonen zu bedienen, die durch ihren Stand, Nahmen, und Aufzug mehr in die Augen fallen, und durch große Laſter und trauri - ge Ungluͤcks-Faͤlle ſolche hefftige Gemuͤths-Bewegungen er - wecken koͤnnen. Jch werde alſo ſagen: Ein maͤchtiger Koͤ - nig ſahe, daß einer ſeiner Unterthanen ein ſchoͤnes Landgut hatte, welches er gern ſelbſt beſeſſen haͤtte. Er bot ihm an - faͤnglich Geld davor: als jener es aber nicht verkaufen woll - te, braucht er Gewalt und Liſt; laͤßt den Unſchuldigen durch erkaufte Klaͤger, falſche Zeugen und ungerechte Richter vom Leben zum Tode bringen, ſeine Guͤter aber unter ſeine Kam - merguͤter ziehen. Dieſes iſt der Grundriß zu einer tragi - ſchen Fabel, woran nichts mehr fehlt, als daß man noch in der Hiſtorie etliche Nahmen ſuche, die ſich zu dieſer Fabel ei - niger maßen ſchicken. Mir faͤllt hier gleich der Koͤnig Achab ein, der den Naboth auf ſolche ungerechte Art um ſeinen Weinberg gebracht. Hier kan man die Jeſabel ihre Rolleauch137Von den Poetiſchen Nachahmungen. auch ſpielen laſſen, imgleichen der Ehgattin Naboths was zu thun geben, ſo wird die Fabel zu einer Tragoͤdie lang ge - nug werden. Die beſondern Regeln des Trauerſpiels werden gleichfalls im II Th. in einem eigenen Capitel vor - kommen.
Endlich folgt die Epiſche Fabel, ſo ſich vor alle Helden - gedichte und Romane ſchicket. Dieſe iſt das fuͤrtrefflichſte, was die gantze Poeſie zu Stande bringen kan, wenn ſie nur auf gehoͤrige Art eingerichtet wird. Ein Dichter wehlt alſo dabey in allen Stuͤcken das beſte, was er in ſeinem Vorrathe hat, ein ſo großes Werck damit auszuſchmuͤcken. Die Handlung muß wichtig ſeyn, das iſt nicht einzelne Perſonen, Haͤuſer oder Staͤdte; ſondern gantze Laͤnder und Voͤlcker anbetreffen. Die Perſonen muͤſſen die Anſehnlichſten von der Welt, nehmlich Koͤnige und Helden und große Staats - leute ſeyn. Die Fabel muß nicht kurtz ſondern lang und weitlaͤuftig werden, und in dieſer Abſicht mit vielen Zwi - ſchen-Fabeln erweitert ſeyn. Alles muß darinn groß, ſelt - ſam und wunderbar klingen, die Characteren, die Gedan - cken, die Neigungen, die Affecten und alle Ausdruͤckungen, d. i. die Sprache oder die Schreibart. Kurtz dieſes wird das Meiſterſtuͤck der gantzen Poeſie. Aus dieſer Urſache werde ich alſo meine obige Fabel ſo einkleiden: Ein junger Held, in welchem eine unerſaͤttliche Ehrbegierde brennet, ſuchet ſich durch die Macht der Waffen einen großen Nah - men zu machen. Er ruͤſtet derowegen ein gewaltiges Heer, uͤberzieht erſt die benachbarten kleinern Staaten mit Krieg, bezwingt ſie, und wird dadurch immer maͤchtiger. Durch Liſt und Geld trennet er die Buͤndniſſe ſeiner ſtaͤrckern Nach - barn, greift ſie darauf einzeln an, und bemeiſtert ſich aller ihrer Laͤnder. Da er nun endlich ſo groß geworden iſt, als es moͤglich war, aber auch zugleich ein Abſcheu aller Welt geworden, faͤllt ſeine Hoheit auf eine ſchmaͤhliche Art und er nimmt ein klaͤgliches Ende. Dieſe Haupt-Fabel eines Hel - dengedichtes nach den beſondern Regeln deſſelben zu rechtfer - tigen, iſt dieſes Orts noch nicht. Jch mercke nur dieſes an, daß ſie nicht zum Lobe der Hauptperſon, ſondern zur Schan -J 5de138Das IV. Capitelde derſelben gereichen wuͤrde; und darinn iſt ſie von den be - ruͤhmten Heldengedichten der Alten unterſchieden. Meine al - lererſte allgemeine Fabel, und der darinn zum Grunde gelegte Lehrſatz ließ ſolches nicht anders zu: Die Regeln des Helden - gedichtes aber verbieten ſolches nicht; wiewohl ich es ſelbſt vor rathſamer achte, loͤbliche als ſtrafbare Handlungen zu verewigen. Nichts mehr fehlt bey der alſo geſtalteten Fa - bel, als die Benennung der Perſonen. Das ſteht aber wie - derum bey mir. Jch ſuche in der Hiſtorie dergleichen Prin - zen, die ſich zu meiner Abſicht ſchicken, und mein Vaterland ins beſondre angehen. Waͤre ich ein Grieche von Geburt, ſo wuͤrde ich mir den Xerxes wehlen, der nach vielen Ge - waltthaͤtigkeiten in der Marathoniſchen Schlacht elendiglich entfliehen muͤſſen. Waͤre ich ein Perſianer: ſo wuͤrde ich den großen Alexander nehmen, der nach Eroberung von halb Aſien zu Babylon ein fruͤhes Ende genommen. Waͤre ich ein Roͤmer, ſo wuͤrde Hannibal mein Held werden, der mit Schimpf und Schande aus Jtalien weichen muͤſſen, als Scipio ſeine Hauptſtadt in Africa belagerte. Waͤre ich ein alter Gallier, ſo koͤnnte Attila die Hauptperſon meines Gedichtes abgeben, der in den Catalauniſchen Feldern aufs Haupt geſchlagen worden. Weil ich aber itzo in Deutſch - land lebe; ſo doͤrfte ich nur Ludewig den XIV und deſſen bey Hoͤchſtaͤdt gedaͤmpften Ubermuth in meinem Gedichte be - ſchreiben, und demſelben den Titel des herrſchſuͤchtigen Lu - dewigs, oder eingebildeten Univerſal-Monarchen geben: So haͤtte es in dieſem Stuͤcke ſeine Richtigkeit, und die Ne - ben-Fabeln, ſamt allen dazu gehoͤrigen Perſonen muͤſten nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde und Geſchichte bequemet, und alſo aufs wahrſcheinlichſte eingerichtet werden.
Aus dem allen erhellet nun ſonder Zweifel, wie man mit Grunde der Wahrheit ſagen koͤnne, daß die Fabel das Hauptwerck in der gantzen Poeſie ſey; indem die allerwich - tigſten Stuͤcke derſelben einzig und allein darauf ankommen. Es iſt aber auch leicht daraus abzunehmen, mit wie vielem Grunde Ariſtoteles von der Dicht-Kunſt ſagen koͤnnen, daß ſie philoſophiſcher ſey als die Hiſtorie, und angenehmer alsdie139Von den Poetiſchen Nachahmungen. die Philoſophie. Ein Gedichte haͤlt in der That das Mittel zwiſchen einem moraliſchen Lehrbuche, und einer wahrhafften Geſchicht. Die gruͤndlichſte Sittenlehre iſt vor den großen Haufen der Menſchen viel zu mager und trocken. Denn die Schaͤrfe in Vernunftſchluͤſſen iſt nicht vor den gemeinen Verſtand unſtudirter Leute. Die nackte Wahrheit gefaͤllt ihnen nicht; Es muͤſſen philoſophiſche Koͤpfe ſeyn, die ſich daran vergnuͤgen. Die Hiſtorie aber, ſo angenehm ſie ſelbſt den Ungelehrten zu leſen iſt, ſo wenig iſt ſie ihnen erbaulich. Sie erzehlt lauter beſondre Begebenheiten, die ſich das tau - ſendſte mahl nicht auf den Leſer ſchicken, und wenn ſie ſich gleich ohngefehr einmahl ſchickten, dennoch viel Verſtand zur Ausdeutung bey ihm erfordern wuͤrden. Die Poeſie hergegen iſt ſo erbaulich als die Moral, und ſo angenehm als die Hiſtorie; ſie lehret und beluſtiget, und ſchicket ſich vor Gelehrte und Ungelehrte: darunter jene die beſondre Ge - ſchicklichkeit des Poeten, als eines kuͤnſtlichen Nachahmers der Natur, bewundern; dieſe hergegen einen beliebten und lehrreichen Zeitvertreib in ſeinen Gedichten finden.
Ein jeder ſieht wohl, daß die gemeinen Romane in einer ſo loͤblichen Abſicht nicht geſchrieben ſind. Jhre Verfaſſer verſtehen offt die Regeln der Poeſie ſo wenig, als die wahre Sittenlehre; daher iſt es kein Wunder wenn ſie einen ver - liebten Labyrinth in den andern bauen, und eitel Thorheiten durch einander flechten, ihre wolluͤſtige Leſer noch uͤppiger zu machen und die Unſchuldigen zu verfuͤhren. Wenn ſie er - baulich ſeyn ſollten, muͤſten ſie nach Art eines Heldengedich - tes abgefaſſet werden, wie Heliodorus, Longus, Cervantes und Fenelon gethan. Zieglers Baniſe iſt bey uns Deutſchen noch der allerbeſte Roman, das macht daß er in wenigen Stuͤcken von den obigen Regeln abweicht: kan auch daher von verſtaͤndigen und Tugendliebenden Gemuͤthern mit Luſt und Nutzen geleſen werden.
Jndeſſen darf niemand dencken, die Fabel waͤre bloß allein in den großen Gattungen der Gedichte brauchbar, und muͤſte alſo nicht vor was allgemeines ausgegeben werden. Man kan ſie uͤberall anwenden, und in allen kleinern Artender140Das IV. Capitelder poetiſchen Wercke mit Nutzen einmiſchen. Jn Oden, Elegien, Schaͤfergedichten und Satiren, ja auch in poeti - ſchen Briefen haben die Alten und Neuen ſich ihrer Dich - tungs-Krafft mit gutem Fortgange bedienet. Deswegen aber leugne ich nicht, daß nicht die erſtern und unvollkomme - nern beyden Gattungen der Nachahmung, nehmlich die Beſchreibungen und Ausdruͤckungen der Gemuͤths-Beſchaf - fenheiten, in dieſen kleinern Gedichten gleichſam herrſchen ſollten. Eben darum aber ſind ſie auch vor geringer zu hal - ten als die großen poetiſchen Wercke, wo die Fabel zum Grunde liegt. Wer jene geſchickt verfertiget, heißt zwar auch ein Dichter, in ſo weit er der Natur nachahmet; aber ein Dichter von weit geringerer Faͤhigkeit, als einer der in großen moraliſchen Fabeln, die Handlungen der Menſchen auf eine ſo vollkommene Art vorzuſtellen vermoͤgend iſt. Wer ein gut Naturell und Luſt zur Poeſie hat, faͤngt vom kleinen an; ſtrebt aber mit einer loͤblichen Ehrliebe nach dem vollkommenſten. Wer dieſen Gipfel nicht erreichen kan, der beſcheidet ſich auch, daß er kein großer Poet iſt, und begnuͤgt ſich, wenn er unter den kleinen Dichtern Lob verdienet. Unſer Vaterland hat auch in der That noch keinen großen Poeten hervorgebracht, weil wir in den großen Gattungen der Gedichte noch kein gutes Original aufzuweiſen haben. Mit Uberſetzungen iſt es nicht ausgerichtet. Wenn ich gleich die Jlias und Odyſſee, und die Eneis noch dazu, in die ſchoͤn - ſten deutſchen Verße uͤberſetzte: So wuͤrde ich dadurch eben ſo wenig ein Poet, als die Frau Dacier durch ihre unge - bundne franzoͤſiſche Uberſetzung eine Dichterin geworden. Es muß was eigenes, es muß eine neue poetiſche Fabel ſeyn, deren Erfindung und geſchickte Ausfuͤhrung nur den Nahmen eines Dichters erwer - ben ſoll.
JM erſten Capitel iſt ſchon beylaͤufig gedacht worden, daß ſich die aͤlteſten Dichter angelegen ſeyn laſſen, bey dem einfaͤltigen Haufen ein Anſehen zu erwerben, und von ihnen bewundert zu werden. Nun bewundert man nichts gemeines und alltaͤgliches, ſondern lauter neue, ſeltſa - me und fuͤrtreffliche Sachen. Daher muſten auch die Poe - ten auf was ungemeines dencken, dadurch ſie die Leute an ſich ziehen, einnehmen, und gleichſam bezaubern koͤnnten. Der Grund dieſer Bemuͤhung ſteckt in der menſchlichen Neugie - rigkeit; und die Wirckungen habens gewieſen, daß ſie nicht vergebens geweſen. An ſich ſelbſt aber iſt dergleichen Mit - tel, die Leute aufmerckſam zu machen, erlaubt: wenn man nur den Endzweck hat, ſie bey der Beluſtigung zu beſſern und zu lehren.
Nun kan man wohl freylich die Fabel ſelbſt, davon wir im vorigen Capitel gehandelt haben, von dem Wunderbahren nicht ausſchließen. Die Eſopiſchen Fabeln inſonderheit ſind von der Art, daß ſie Kindern und Einfaͤltigen ſehr wunder - bar vorkommen; bloß weil es neu und ſeltſam zu hoͤren iſt, daß Thiere, Baͤume und andere lebloſe Dinge vernuͤnftig ſollen geredet haben. Die goͤttlichen Fabeln ſind voͤllig von eben der Gattung. Es duͤnckete denen alten Heyden ſehr wunderſam zu ſeyn, wenn ſie hoͤreten, daß die groͤſten himm - liſchen und irrdiſchen Goͤtter eben ſo als wir Menſchen be - ſchaffen ſeyn ſollten, wie ſie Heſiodus und Homerus be - ſchrieben. Und ſie hatten große Urſache dazu, weil die erſten Poeten ſehr unrichtige Begriffe von der Gottheit gehabt; die der Vernunft nothwendig ein Anſtoß und Aergerniß ge - ben muſten. Die menſchlichen Fabeln, die in Heldengedich - ten, Schauſpielen und Schaͤfergedichten hauptſaͤchlich herr - ſchen, ſcheinen anfangs nicht viel wunderbares in ſich zu be -greifen,142Das V. Capitelgreifen, weil lauter Perſonen darinn vorkommen, die ge - woͤhnlicher Weiſe in der Welt zu reden und zu handeln pfle - gen. Allein die Verwirrungen dieſer Fabeln, die mannig - faltigen Zufaͤlle die ihren Hauptperſonen begegnen, die großmuͤthigen oder verzagten Entſchluͤſſungen, ſo ſie dabey faſſen, und andre ſolche Stuͤcke mehr, machen offt eine ſonſt gantz wahrſcheinliche Fabel ſo wunderbar, als ob Baͤume und Thiere mit einander geredet haͤtten, oder ein halb dutzend Goͤtter ſichtbar erſchienen waͤren.
Wir koͤnnen alſo nach dieſer Anleitung das Wunder - bahre in drey Gattungen eintheilen, davon die Erſte alles was von Goͤttern und Geiſtern herruͤhret: die andre, alles was von Menſchen und ihren Handlungen, entſteht: die dritte was von Thieren und andern lebloſen Dingen kommt, in ſich begreift. Alle drey Arten ſetzen einen Leſer oder Zu - ſchauer eines Gedichtes in Erſtaunen, wenn ſie nur wohl er - ſonnen, und gluͤcklich angebracht worden: Alle drey aber wollen auch nach gewiſſen Regeln eingerichtet werden, wenn ſie nicht kindiſch und laͤcherlich herauskommen ſollen.
Das erſte Wuͤnderbare, ſo die Goͤtter verurſachen, iſt wohl zweifelsohne der Beyſtand den ſie dem Poeten ſelbſt lei - ſten. Wir finden daß die Alten nicht nur die Muſen ſon - dern auch wohl andre Gottheiten, den Jupiter, Phoͤbus, Bacchus, Mars, imgleichen die Venus, Diana, Sonne ꝛc. angeruffen: Doch haben die Erſtern allezeit den Vorzug be - halten, daß man ſie vor die eigentlichen Gehuͤlfinnen der Dichter angenommen. Daher entſtunden nun die haͤufi - gen Anruffungen derſelben, die wir in allen Arten der Gedich - te antreffen. Die Poeten achteten ſichs vor eine Ehre, von den Muſen getrieben und begeiſtert zu ſeyn, oder es wenig - ſtens zu heißen: ja ſie begaben ſich faſt alles Antheils, ſo ſie an ihren Sachen hatten, um nur vor goͤttlich-erleuchtete Maͤnner gehalten zu werden, die gleich denen Propheten nicht von ſich ſelbſt, ſondern aus hoͤherer Eingebung geredet und geſchrieben. Bey der Einfalt der aͤlteſten Voͤlcker war auch dieſes was leichtes. Die dummen Leute, die irgend ei - nes mittelmaͤßigen Poeten Verße hoͤreten, dachten gleich:das143Von dem Wunderbahren in der Poeſie. das gienge nicht natuͤrlich zu, daß ein ſolcher Menſch wie ſie ſelbſt waren, dergleichen ungemeine Dinge aus ſeinem eige - nen Kopfe hernehmen koͤnnte. Der Schluß war alſo rich - tig: Haben ſie es nicht von ſich ſelbſt; ſo hat es ihnen ein hoͤ - heres Weſen, eine Gottheit, oder eine Muſe eingegeben. Wir finden ſelbſt in der Vertheidigungs-Rede Socratis beym Plato, daß Socrates von den Poeten ſagt, ſie pflegten viele herrliche und ſchoͤne Spruͤche und Sachen zu ſagen: Doch waͤren ſie daher den Propheten gleich, die auch treffli - che Dinge ſagten, aber ſelbſt dasjenige nicht verſtuͤnden, was ſie redeten. Dergeſtalt koͤnnte wohl ſogar dieſer Weltweiſe die Poeten vor begeiſterte Leute gehalten haben. Und war - um das nicht? Zum wenigſten hat es mit ihren goͤttlichen Trieben eben ſo viel Richtigkeit gehabt, als mit ſeinem Gei - ſte, der ihn allezeit gewarnet haben ſoll. Wenn nun die Poeten dieſem gemeinen Wahne zu Folge, fleißig die Muſen anriefen: ſo klang es in den Ohren des Poͤbels recht andaͤch - tig, und machte dem Dichter ein gutes Anſehen. Und da - her mag es vielleicht gekommen ſeyn, daß ſogar Lucretius, der doch keine Vorſehung oder Wirckung der Goͤtter in der Welt glaubte, eben das Buch, von der Natur der Dinge, darinn er dieſe Lehre vorzutragen willens war, mit einer An - ruffung der Goͤttin Venus angefangen.
Wie aber alle Dinge großen Misbraͤuchen unterwor - fen ſind, ſo geht es auch mit dem Anruffen der Muſen. Die heydniſche Mythologie iſt niemahls ſyſtematiſch vorgetragen worden, daher iſt es leicht geſchehen, daß auch die alten Poeten vielfaͤltig wieder ihr eigen Fabelſyſtema verſtoßen haben, indem ſie die Muſen zur Unzeit angeruffen haben. Man kan an allen Gedichten die Form von der Materie, oder die aͤußere Geſtalt von dem Jnhalte unterſcheiden und hiebey verſchiedene Fehler anmercken, die von den Poeten begangen worden. Der Form nach iſt ein Gedichte entweder groß oder klein, entweder epiſch oder dramatiſch, entweder in erhabener Schreibart abgefaßt, oder in einer niedrigen und gemeinen Art des Ausdruckes geſchrieben. Da wird es nun leicht zu begreifen ſeyn, daß ein Poet wohl in großen, epiſchenund144Das V. Capitelund erhabenen, aber nicht in kleinen, dramatiſchen und nie - drigen Gedichten die Muſen anruffen muͤſſe. Die Urſache iſt bald zu finden. Die Kraͤffte eines Menſchen von gutem aufgewecktem Kopfe, langen zur Noth, auch nach der Ein - faͤltigſten Geſtaͤndnis, ſchon zu, ein Sonnet, Madrigal, eine Arie, kleine Ode, Satire, ja auch wohl Elegien, Briefe und Schaͤfergedichte zu verfertigen. Was iſt es alſo noͤthig, in ſolchen Kleinigkeiten den goͤttlichen Beyſtand der Muſen zu ſuchen? Virgil ſcheint dieſes nicht allezeit bedacht zu haben, wenn er in ſeinen Eclogen gar offt die Muſen anrufft, da doch dieſe Art von Gedichten ſo was ſchweres, und erhabenes nicht an ſich hat. Z. E.
Ecl. IV.Sicelides Muſae, paullo maiora canamus.Ecl. VIII.Vos quae reſponderit AlpheſiboeusDicite Pierides. Non omnia poſſumus omnes.Ecl. X.Haec ſat erit divae, veſtrum ceciniſſe Poetam,Dum ſedet & gracili fiſcellam texit hibiſco,Pierides.
Jmgleichen in dem Gedichte vom Ackerbau ſoll ihm die Muſe was helfen. Geor. IV.
Quis Deus hanc Muſae, quis nobis extudit artem,Vnde nova ingreſſus hominum experientia coepit.
Horatz iſt hierinn viel beſcheidner geweſen, weil er wohl un - zehliche kleine Oden, Briefe und Satiren gemacht, ohne die Muſen ein einzigmahl anzuruffen. Nur wenn er etwas groͤßeres machen will, dergleichen die IV Ode des III Buches iſt, hebt er an:
Deſcende coelo, & dic age tibia,Regina longum Calliope melos.
Hieraus iſt leicht zu ſchließen, daß die heutigen Poeten, die in allen elenden Hochzeit - und Leichen-Verßen, die Muſen dabey haben wollen, die Hoheit dieſer Goͤttinnen ſchlecht ver - ſtehen, wenn ſie ſich einbilden, daß ſie ſich um ihrer elenden Kleinigkeiten wegen viel bemuͤhen wuͤrden. Es wuͤrde auchbey145Von dem Wunderbaren in der Poeſie. bey ſo vielem magern Zeuge nicht leicht zu beſorgen ſeyn, daß man ihre Einfaͤlle vor was uͤbermenſchliches halten moͤchte.
Die epiſchen Gedichte heißen hier alle diejenigen darinn der Poet ſelber redet, ob er gleich zuweilen auch andre redend einfuͤhret. Hierinn geht es nun freylich an, daß er die Muſen nach Beſchaffenheit der Sachen anruffen koͤnne. Allein in dramatiſchen Gedichten oder Schauſpielen, wo der Poet gar nicht zum Vorſcheine kommt, ſondern lauter andre Per - ſonen die Fabel ſpielen, da iſt es gar wieder alle Wahr - ſcheinlichkeit, daß eine von denſelben, entweder vor ſich, oder im Nahmen der andern den Beyſtand der Muſen anruffen ſoll. Denn ſie werden ja nicht als Poeten vorgeſtellet, die was dichten wollten; ſondern als ſchlechte Menſchen, die aus eigenen Kraͤfften nach Veranlaſſung der Umſtaͤnde re - den und handeln. Dieſe Regel iſt auch von den Alten und Neuern ſo wohl beobachtet worden, daß man nichts weiter davon hinzuſetzen darf.
Die erhabene Schreibart, iſt von der gemeinen Art zu reden durch die edlen, geiſtreichen und feurigen Ausdruͤckun - gen ſehr unterſchieden, wie man im folgenden zeigen wird. Wenn alſo ein Poet recht was hohes ſchreibt, welches ihm nicht ein jeder vermoͤgend iſt nachzuthun; ſo ſieht man wohl, daß er ſich des Beyſtandes der Muſen mit guter Wahr - ſcheinlichkeit ruͤhmen, ſie auch deswegen mit Recht darum anruffen koͤnne. Schreibt er aber ein Gedichte, oder ſonſt eine Kleinigkeit, in der gemeinen Sprache des Poͤbels, die nichts edles, nichts feuriges, nichts ungemeines hat: ſo waͤre es abermahl laͤcherlich zu ſagen, daß er ſolches mit Huͤlfe der Muſen verfertiget habe; welche ſich gewiß von ihren Huͤgeln ſo tief nicht herunter zu laſſen pflegen.
Jhrem Jnnhalte nach ſind die Gedichte entweder unter die hiſtoriſchen, oder dogmatiſchen, oder auch unter die pro - phetiſchen zu rechnen. Hier fragt ſichs nun, ob alle drey Gattungen, oder nur eine davon vor die Muſen gehoͤre? Von den hiſtoriſchen iſt wohl kein Zweifel: Denn die Mu - ſen ſind Toͤchter der Mnemoſyne, dadurch die Fabel unfehl - bar anzeiget, daß die Wiſſenſchafft alter Geſchichte ihnen ei -Kgen146Das V. Capitelgen ſey. Die Spuren davon findet man auch uͤberall in den Poeten, zu geſchweigen daß Clio ins beſondre der Hiſtorie vorgeſetzet worden. Man muß nur dabey bemercken, daß die Muſen ſich nicht um gemeine und uͤberall bekannte Din - ge anruffen laſſen, die man auch ohne ihre Huͤlfe wiſſen kan. Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn ich ſie erſuchte mir die Tha - ten Alexanders oder Caͤſars zu offenbaren, davon alle Buͤ - cher voll ſind. Es muͤſſen verborgene, und gantz ins Ver - geſſen gerathene Dinge ſeyn, dabey man ſich ihren Beyſtand ausbittet. So machts Homerus am Ende des erſten Bu - ches in ſeiner Jlias. Er bittet die Muſen, ihm alle die Ar - meen und ihre Heerfuͤhrer zu entdecken, die ſich bey Troja verſammlet, welche damahls gewiß kein Menſch mehr zu nennen wuſte. Freylich hat er ſie ſelbſt nach der Wahr - ſcheinlichkeit erdichtet: Aber ſeine Erzehlung wuͤrde nicht ſo viel Glauben gefunden haben, wenn er nicht gethan haͤtte, als ob ihm die Muſen ſolches eingegeben. Denn man haͤtte gleich gefragt, woher er alle die Nachrichten haͤtte?
Eben ſo hats Virgilius gemacht. Er will gleich im An - fange ſeiner Eneis wiſſen, warum doch Juno ſo erzuͤrnt ge - weſen, welches gewiß ein bloßer Menſch nicht wiſſen konnte: Darum ſchreibt er:
Muſa, mihi cauſſas memora, quo numine laeſa,Quidue dolens regina deum, tot voluere caſusInſignem pietate virum, tot adire laboresImpulerit? Tantaene animis caeleſtibus irae?
Darauf faͤngt er an Dinge zu erzehlen, die unter den Goͤt - tern im Himmel und auf Erden vorgegangen, und die viel - leicht noch keinem in den Sinn gekommen waren; aber nach der heydniſchen Theologie nichts unmoͤgliches oder unglaub - liches in ſich hielten. Eben ſo macht ers an verſchiedenen Orten mitten im Gedichte, wo er bald eine, bald die andre, bald alle Muſen zugleich um die Offenbarung gewiſſer Um - ſtaͤnde aus alten Geſchichten anruffet. Z. E. Aeneid. VII.
Nunc age, qui Reges, Erato, quae tempora rerum,Quis Latio antiquo fuerit ſtatus, aduena claſſemCum147Von dem Wunderbaren in der Poeſie.Cum primum auſoniis exercitus depulit oris,Expediam, & primae reuocabo exordia pugnae.
Und bald darauf in eben dem Buche:
Pandite nunc Helicona, Deae, cantusque mouete,Qui bello exciti Reges, quae quemque ſecutaeComplerint acies; quibus Itala iam tumFloruerit terra alma viris, quibus arſerit armis:Et meminiſtis enim Diuae, & memorare poteſtis;Ad nos vix tenuis famae perlabitur aura.
Jm IXten Buche ruft er die Calliope ins beſondre an; wie vorhin die Erato.
Vos o Calliope precor, aſpirate canenti,Quas ibi tunc ferro ſtrages, quae funera TurnusEdiderit; quem quisque virum demiſerit orco.Et mecum ingentes oras euoluite belli,Et meminiſtis enim Diuae, & memorare poteſtis.
Und abermahl bey ſolcher Gelegenheit in demſelben Buche:
Quis Deus, o Muſae, tam ſaeua incendia TeucrisAvertit? Tantos ratibus quis depulit ignes?Dicite. Priſca fides facto, ſed fama perennis.
Was die dogmatiſchen Sachen anlangt, ſo wird wohl freylich in ungebundner Schreibart niemand den Bey - ſtand der Muſen anruffen; wo er nicht eben ſo unge - reimt handeln will als Valerius Maximus, der im Anfange ſeiner zuſammengeſtoppelten Hiſtoͤrchen den Kayſer Tiberius, als eine Gottheit anrufft, ihm in ſeiner Arbeit beyzuſtehen; die doch ſo leicht war, daß ſie keines Beyſtandes bedorfte: Oder als Varro, der ein Buch vom Ackerbau ſchreibet, und im Anfange deſſelben die Feldgoͤtter anruffet ihm zu helfen; da er doch ſolches von ſich ſelbſt ſchon ausfuͤhren konnte. Al - lein was in poetiſcher Schreibart von dogmatiſchen Dingen ausgearbeitet worden, als des Aratus Gedichte von der Stern-Wiſſenſchafft, Lucretii Buͤcher von der Naturlehre, Virgils Buͤcher vom Feldbaue u. d. g. da fragt ſichs, ob man die Muſen oder ſonſt eine Gottheit anruffen ſolle; im Falle das Werck ſo groß und ſo wohl geſchrieben iſt, daß man Urſache dazu hat. Uberhaupt ſind die Muſen nichtK 2Goͤt -148Das V CapitelGoͤttinnen der Weisheit oder der Wiſſenſchafften; ſondern der Poeſie, der Muſic und der Geſchichte, mit einem Worte, der freyen Kuͤnſte. Man muß alſo von ihnen nichts fordern als was ihnen zugehoͤrt. Die Vernunftſchluͤſſe gehoͤren vor die weiſe Pallas, der Feldbau vor die Feldgoͤtter, als Sonn und Mond, Bachus und Ceres, die Faunen und Nymphen, den Pan und Neptun, die Minerva und den Silvan u. ſ. w. Alle dieſe ruft Virgil in ſeinen Georgicis zu Huͤlfe: ja er ſetzt endlich noch gar den Caͤſar dazu, als der vielleicht auch nach ſeinem Tode ein Feldgott werden koͤnnte. Lucretius, wie ich bereits oben gedacht, hat auch die Goͤttin Venus, als die Vorſteherin der Erzeugung angeruffen; welches beyden, als Dichtern nicht uͤbel genommen werden kan. Horatz hat in der XI Ode des III Buches den Mercur als einen Gott der Beredſamkeit um ſeinen Beyſtand angeruffen, als er ein recht bewegliches und hertzruͤhrendes Liebeslied machen woll - te. Dieſes ſcheint der Form nach unrecht zu ſeyn, weil Mer - cur weder Verße noch Liebeslieder machen kan. Allein dem Jnnhalte nach geht es doch an. Denn zu geſchweigen, daß derſelbe die Muſic verſteht und dazu ſingt, wie Horatius an - fuͤhrt: ſo iſt er ja ein Gott der Beredſamkeit, der ihm alle die Vorſtellungen und Bewegungsgruͤnde eingeben konnte, die er noͤthig hatte, das Gemuͤth ſeiner geliebten Lyde zu ge - winnen. Den Fehler aber kan ich nicht entſchuldigen, wenn Virgilius im IVten Buche ſeines Georgiſchen Gedichtes ſchreibt:
Quis Deus hanc, Muſae, quis nobis extudit artem,Vnde noua ingreſſus hominum experientia coepit?
Was bekuͤmmern ſich die Muſen um die Bienenzucht? Und wie konnte ſich der Poet einbilden, die Goͤttinnen der freyen Kuͤnſte wuͤrden die Kunſtgriffe des Feldlebens herzuzehlen wiſſen? Pan und Ceres moͤchten ihm davon Nachricht ge - geben haben. Vielweniger aber kan folgendes gelten, aus der III Ecloga.
Pierides, vitulam lectori paſcite veſtro.
Denn wie kan mans immermehr den Muſen zumuthen, denHeli -149Von dem Wunderbahren in der Poeſie. Helicon zu verlaſſen und Viehhirtinnen zu werden? Große Leute fehlen auch; aber ihr Verſehen muß uns behutſam machen.
Wir kommen auf die prophetiſchen Sachen, darinn manchmahl ein Poet etwas kuͤnftiges vorher ſagt. Hier fragt ſichs, ob man es von den Muſen fordern koͤnne, dem Poeten dergleichen bevorſtehende weitentfernete Begeben - heiten vorherzuſagen? Die Mythologie lehret aber nir - gends, daß ſie Sybillen oder Wahrſagerinnen geweſen, folglich muß ein Dichter der was prophezeyhen will, den A - pollo zu Huͤlfe ruffen, und dieſen weiſſagenden GOtt um die Offenbarung des Zukuͤnftigen anruffen. Und aus die - ſem Grunde kan abermahl Virgil eines Fehlers beſchuldiget werden, weil er in der IVten Ecloge die Sicilianiſchen Mu - ſen, das iſt die Schaͤfer-Muſen des Theocritus im Anfange des Gedichtes anruffet, etwas hoͤhers hoͤren zu laſſen, als ſie ſonſt gewohnt waͤren.
Denn zu geſchweigen, daß die Schaͤfer-Muſen auf ihren Haberroͤhren und Schalmeyen unmoͤglich einen Trompeten - Klang erzwingen koͤnnen, und er alſo die Calliope als eine Helden-Muſe haͤtte anruffen muͤſſen: So zeiget auch der Verfolg der Ecloge, daß dieſes hohe, ſo er von ihr fordert, nichts anders als eine Prophezeyung von den bevorſtehenden gluͤckſeeligen Zeiten geweſen; die allen Criticis ſo viel Schwierigkeiten gemacht hat. Wie haben die Muſen ihm dieſes immermehr einzugeben vermocht? Wie ſind ſie auf einmahl zu Prophetinnen geworden, und der Pythia ins Amt gefallen? Wenn man dichten koͤnnte was ſich nicht mit einander reimet, ſo koͤnnte mans auch keinem Mahler ver - uͤbeln, wenn er auf einen Pferdehals einen Menſchenkopf ſetzen, Fluͤgel anfuͤgen und endlich einen Fiſchſchwantz dazu mahlen wollte: Welches doch alle Welt mit Horatio vor auslachenswuͤrdig erklaͤren wuͤrde. Was noch ſonſt bey Anruffung der Gottheiten in den Heldengedichten ins beſon - dre zu ſagen iſt, ſoll an gehoͤrigem Orte vorkommen.
K 3Jch150Das V. CapitelJch fahre fort zu den andern Arten des Wunderbaren ſo von den Goͤttern herruͤhret; und das ſind die Wunder - wercke ſo durch ihre unmittelbare Wirckung geſchehen. Die Poeten haben ſich derſelben in Heldengedichten und Tragoͤdien ſehr haͤufig bedienet, ſind aber nicht allezeit gluͤck - lich damit geweſen. Ovidius hat gar ein gantzes Buch mit ſolchen poetiſchen Wundern angefuͤllet, und die Sache aufs hoͤchſte getrieben: So daß ſeine Verwandlungen auch bey den Heyden ſelbſt alle Wahrſcheinlichkeit uͤberſtiegen haben. Es iſt wahr, daß man in allen Religionen den Goͤttern und Geiſtern mehr Macht zugeſtanden als bloßen Menſchen, und daß es daher ſo ungereimt nicht iſt, in Faͤllen wo ſichs der Muͤhe verlohnet, zu dichten, es waͤre ein Wunderwerck von GOtt geſchehen. Wer aber hierinn ſein Urtheil nicht zu rathe zieht, der wird handgreiflich verſtoßen. Die goͤttliche Macht erſtreckt ſich auf alles moͤgliche, aber auf nichts un - moͤgliches; daher muß man ſich nicht auf ſie beruffen, ſeine ungereimte Einfaͤlle zu rechtfertigen. Der Schild Achillis, den Homerus beſchreibt, gehoͤrt unter dieſe Claſſe: denn weil es nicht moͤglich iſt, ſo viel ſeltſame und wiederſinniſche Dinge auf eine Flaͤche von der Groͤße und Beſchaffenheit zu bringen: So ſollte auch Vulcans Kunſt nicht zu Beſchei - nigung eines ſolchen falſchen Wunders gebraucht worden ſeyn; wie im folgenden Capitel ausfuͤhrlicher ſoll gezeiget werden. Virgil iſt auch voll ſolcher Wunder, die nicht zum beſten angebracht, oder uͤbel ausgeſonnen ſind. Die ge - ſtrandeten Schiffe verwandeln ſich in Seenymphen. Ein Baum laͤßt Blut fließen, da ihm in die Rinde gehauen wird, und derjenige, ſo darunter begraben liegt und halb verfault iſt, muß anfangen zu reden. Aus dem Baume im Eingange der Hoͤllen iſt ein guͤldner Aſt gewachſen. Die Voͤgel pro - phezeyhen mit menſchlicher Stimme und Sprache u. a. m. Alle dieſe Wunder ſind entweder ohne Noth, oder nicht mit genugſamer Wahrſcheinlichkeit erdacht.
Was die heydniſchen Poeten von ihren Goͤttern vor Wunderdinge geſchehen laſſen; das haben die Chriſtlichen Dichter den Engeln und Teufeln zugeſchrieben. Daherkom -151Von dem Wunderbaren in der Poeſie. kommen die vielfaͤltigen Zauber-Hiſtorien, die in ſo vielen Ritterbuͤchern und Romanen, ja ſelbſt im Taſſo und andern ſeinen Landesleuten vorfallen. Die Meynungen der Critic - verſtaͤndigen ſind hiervon ſehr uneins: Es iſt gewiß, daß man dieſe Leute mit der herrſchenden Meynung ihrer aberglaͤubi - ſchen Zeiten eben ſowohl entſchuldigen kan, als die alten Poe - ten, wegen der Fabeln von ihren Goͤttern, in Betrachtung der heydniſchen Theologie, entſchuldiget werden. Aber es iſt auch eben ſo unleugbar, daß es beſſer ſey, ſich ſolcher Arten des Wunderbaren zu bedienen, die allen Zeiten und Orten gemein ſind und bleiben. Wer kan ſich itzo des Lachens ent - halten, wenn Taſſo in ſeinem IV Buch den Teufel mit ſol - chen Hoͤrnern, dagegen alle Berge und Felſen nur wie kleine Huͤgel zu rechnen ſind, ja gar mit einem langen Schwantze abmahlet, und ohne Maaß und Ziel allerley Zaubereyen von ihm und ſeinem Anhange geſchehen laſſen. Wer merckt die Ausſchweifung nicht, wenn des Raimunds Schutz-Engel im VIIden Buche aus der himmliſchen Ruͤſt-Kammer einen Diamantnen Schild, von ſolcher Breite holet, daß er vom Caucaſus, biß an den Atlas alle Laͤnder und Meere damit be - decken koͤnnte. Dieſes Wunderbare iſt viel zu abgeſchmackt vor unſre Zeiten, und wuͤrde kaum Kindern ohne Lachen er - zehlet werden koͤnnen. Eben dahin rechne ich die Zauberey die Voltaire in ſeine Henriade gebracht, dadurch ein Juͤdi - diſcher Hexen-Meiſter der Koͤnigin, Heinrich den vierdten, als den kuͤnftigen Reichsfolger ihres Sohnes herbannen muß. Und dieſes mit deſto groͤßerm Rechte, weil eben dieſer Poet in ſeinem Diſcours vom Heldengedichte den be - ruͤhmten Milton deswegen getadelt: da er ſich doch eben dieſes Fehlers nothwendig bewuſt ſeyn muſte; wie der Eng - liſche Criticus, der ſein Gedichte gepruͤfet, gar wohl erin - nert hat. Ein heutiger Poet hat alſo große Urſache in der - gleichen Wunderdingen ſparſam zu ſeyn. Die Welt iſt nunmehro viel aufgeklaͤrter, und nichts iſt ein groͤßeres Zei - chen der Einfalt, als wenn man, wie ein andrer Don Qui - xote, alles was geſchieht, zu Zaubereyen machet. Jch geden - cke dieſes trefflichen Buches mit Fleiß allhier; weil deſſenK 4Ver -152Das V. CapitelVerfaſſer Cervantes ſehr viel dazu beygetragen, daß die abentheuerlichen Fabeln aus Ritterbuͤchern und Romanen allmaͤhlich abgeſchaffet, oder doch weit behutſamer als vor - mahls geſchehen, eingerichtet worden.
Jn Theatraliſchen Gedichten findet das Wunderbare, ſo von Goͤttern herruͤhret, auch ſtatt. Es erſcheinet zuwei - len eine Gottheit auf der Buͤhne, zuweilen verrichtet ſie ein Wunderwerck, dieſen oder jenen Helden aus Noth zu helfen. Bald wird was prophezeyhet, bald gezaubert, alles dieſes gehoͤrt zum Wunderbaren der Schaubuͤhne. Daß die Heyden in ihren Schauſpielen ſich zuweilen vermiſchter Fa - beln bedienet, darinnen ſo wohl Goͤtter als Menſchen vor - kommen, das iſt ihnen gar nicht zu verdencken. Homerus war gleichſam ihre Bibel, und darinnen ſtunden ſehr viel Er - ſcheinungen der Goͤtter beſchrieben, die in alten Zeiten ge - ſchehen ſeyn ſollten. Es war alſo ihrer Theologie eben ſo wohl gemaͤß dieſelben zu glauben, als der Unſrigen, daß im alten Teſtamente den Glaͤubigen vielmahls Engel erſchienen ſind. Wer bey uns von Adam und Eva, von Loth, von Abraham und Jacob, von David, Nebucadnezar, Da - niel und Tobias Schauſpiele machte, wuͤrde eher getadelt werden, wenn er die Engel wegließe, als wenn er ſie bey - braͤchte. Das erſte Welt-Alter hat bey allen Voͤlckern das Vorrecht, daß man ihm gern viel wunderbares zuſchreibet; ja was man itzo ſeinen eigenen Augen nicht glauben wuͤrde, das duͤncket den meiſten ſehr moͤglich und wahrſcheinlich, wenn es nur vor drey oder vier tauſend Jahren geſchehen ſeyn ſoll. Es habens derowegen auch die Griechen und Roͤmer ſchon beobachtet, daß ſie zwar diejenigen Fabeln ihrer Schauſpiele, ſo aus den aͤlteſten Zeiten hergenommen ſind, mit einigen goͤttlichen Erſcheinungen und Wundern ausge - ſchmuͤcket: aber in denen ſo ſie aus neuern Zeiten entlehnet, ſich derſelben aufs ſorgfaͤltigſte enthalten haben. Daher hat auch Horatz die Regel gemacht:
Jn der That erfordert es nicht viel Verſtand alle Augenblickeinen153Von dem Wunderbaren in der Poeſie. einen Gott vom Himmel kommen zu laſſen, um dem Schau - ſpiele auszuhelfen, wenn es wiederwaͤrtig ablaufen will, wo nicht ein hoͤherer Beyſtand dazu kommt. Das heiſt meh - rentheils den Knoten zerſchneiden, aber nicht aufloͤſen. Und darinn verſtoßen gemeiniglich unſre Opernſchreiber. Weil ſie ihre Schauſpiele gern ſo wunderbar machen wollen als es moͤglich iſt, ſo dencken ſie fleißig auf Maſchinen, das iſt auf goͤttliche Erſcheinungen, Verwandlungen, und andre poeti - ſche Seltenheiten, ſo die Augen des Poͤbels blenden. Und weil ſich dieſelben nicht in alle Fabeln ſchicken wollen, ſo wer - den ſie mit den Haaren dazu gezogen; damit nur ja was vom Himmel herunter komme, wie man zu reden pflegt. Wenn nun ihre Stuͤcke noch aus der aͤlteſten heydniſchen Fabel her - genommen ſind, darinn ſolche Erſcheinungen laͤngſt das Buͤrgerrecht erhalten haben: ſo kan man ihnen ihre Wun - derſachen noch gelten laſſen; dafern ſie nur der obigen Regel Horatii nachkommen, und nicht ohne Noth die Goͤtter be - muͤhen, auch nicht in allen Opern die Maſchinen vor unent - behrlich halten wollten.
Eben das kan von den Zaubereyen und boͤſen Geiſtern geſagt werden. Auch ein ſeichter Geiſt iſt geſchickt, einen Hexenmeiſter auf die Schaubuͤhne zu ſtellen, der einen Zau - berſeegen nach dem andern hermurmelt, einen Aſtrologiſchen Ring mit Characteren verkauft, dieſen unſichtbar, jenen unbeweglich, einen andern unkenntlich macht; ja wohl gar ein halb dutzend junge Teufel herzubannet. Das Maͤhr - chen von D. Fauſt hat lange genug den Poͤbel beluſtiget, und man hat ziemlicher maßen aufgehoͤrt ſolche Alfanzereyen gern anzuſehen. Daher muß denn ein Poet große Behutſamkeit gebrauchen, daß er nicht unglaubliche Dinge aufs Theater bringe, vielweniger ſichtbar vorſtelle. Horatz hat dieſes auch laͤngſt verboten, wenn er will, daß man die Progne nicht in einen Vogel, den Cadmus nicht in eine Schlange ver - wandeln ſolle, imgleichen daß niemand auf der Schaubuͤhne einer Hexe das aufgefreſſene Kind lebendig wieder aus dem Leibe ſolle ziehen laſſen. Das waͤre eben ſo viel, als wenn ich Bileams Eſelin redend einfuͤhren, oder den EdelmannK 5vor154Das V. Capitelvor den Augen des Schauplatzes zum Schweine wollte wer - den laſſen. Wer nicht weiß wie laͤcherlich dieſes iſt, darf nur den Peter Squentz des Andreas Gryphius nachleſen, wo ſogar die Wand und der Brunn, der Mond und der Leue als redende Perſonen aufgefuͤhret werden. Da kan es denn wohl mit Recht heiſſen:
Denn es iſt gewiß, daß dergleichen Dinge, die man bey einer bloßen Erzehlung eben nicht vor ungereimt gehalten haben wuͤrde, gantz und gar unglaͤublich heraus kommen, wenn wir ſie mit eigenen Augen anſehen, und alſo das Unmoͤgliche, ſo darinn vorkommt, in voller Deutlichkeit wahrnehmen koͤnnen.
Jn andern kleinern Gedichten gehoͤren hauptſaͤchlich die Fabeln unter das Wunderbare. So faͤngt Horatz die 19te Ode des andern Buches an. Er erzehlt wie er den Bacchus auf einem entlegenen Felſen ſitzend geſehen, wo er den Nym - phen und bockfuͤßigten Satiren, Lieder gelehret habe.
Oder man erzehlt eine Verwandlung, die ſich womit zuge - tragen haben ſolle, oder noch zutragen werde: wie ebenfalls Horatius thut, wenn er in der XX Ode des II Buchs ſagt, daß er ſelbſt zum Schwane werden und ſich hoch uͤber alles erheben wolle. Dergleichen Dinge nun klingen wunder - bar, ſind aber nicht ungereimt, zumahl wenn ein allegoriſcher Verſtand darunter verborgen liegt, den ein jeder leicht finden kan. Man merckt es alſo gleich, was der Poet damit im Sinne gehabt, und wenn ſonſt nur nichts wiederſinniſches in der Fabel vorkommt, wird man ſie nicht verwerfen. Es doͤrfen aber unſre neue Fabeln deßwegen nicht alle auf heyd - niſche Art herauskommen. Man kan allegoriſche Perſonen darinn auffuͤhren, die nach ihrer Art charaeteriſiret werden, ohne an die Goͤtter der Griechen und Roͤmer zu dencken. Wir ſind es laͤngſt gewohnt von Tugenden und Laſtern, vonden155Von dem Wunderbaren in der Poeſie. den vier Jahres-Zeiten, den verſchiedenen Altern des Men - ſchen, den Welt-Theilen, Laͤndern und Staͤdten, ja Kuͤn - ſten und Wiſſenſchafften, als von ſo viel Perſonen zu reden: Daher koͤnnen ja nach ſolcher Anleitung unzehliche Fabeln erdacht werden, die allegoriſcher Weiſe was bedeuten. Deswegen aber doͤrfen doch die alten bereits bekannten Nah - men aus der Mythologie nicht gantz verworfen werden. Man weiß es laͤngſt daß Mars den Krieg, Pallas die Weis - heit, Apollo die freyen Kuͤnſte, Venus die Liebe, Hymen den Eheſtand, Ceres den Sommer, Flora den Fruͤhling, Pomona den Herbſt, Bacchus den Wein, Neptunus die See, Eolus den Wind, Juno den Stoltz, Plutus den Reichthum, u. ſ. w. vorſtellen. Wer ſich nur nicht in gar zu tiefe Fabeln des Alterthums ſteckt, wenn er auch von Un - gelehrten verſtanden werden will; der iſt deswegen nicht zu tadeln. Auf die Nahmen kommt es nicht an; und es iſt ja beſſer bey dem eingefuͤhrten zu bleiben, als daß ſich ein jeder eine neue Sprache machet. Die Sternſeher haben es mit den Benennungen der Geſtirne, ſo ſie von den Alten bekom - men, auch ſo gemacht, und uns dadurch ein gutes Exempel gegeben.
Von dem Wunderbaren, ſo von den goͤttlichen und andern geiſtlichen Dingen herruͤhret, kommen wir auf das Wunderbare, ſo von den Menſchen und ihren Handlungen entſteht. Dieſe ſind entweder gut oder boͤſe, entweder ge - mein oder ungemein, entweder wichtig oder von keiner Er - heblichkeit. So wohl das Gute als das Boͤſe, kan wunder - bar werden, wenn es nur nicht was gemeines und alltaͤgli - ches, ſondern was ungemeines und ſeltſames iſt; imgleichen wenn es von großer Erheblichkeit zu ſeyn ſcheint, welches aus dem Einfluße zu beurtheilen iſt, den es in die Welt hat. Ein Koͤnig iſt alſo weit mehr zu bewundern als ein Buͤrger, und ein hoher Grad der Tugend und des Laſters mehr, als ein geringerer, der uns gar nichts neues iſt. Da nun die Poeſie das Wunderſame liebet, ſo beſchaͤfftiget ſie ſich auch nur mit lauter außerordentlichen Leuten, die es entweder im Guten oder Boͤſen aufs hoͤchſte gebracht. Jene ſtellt ſie alslob -156Das V. Capitellobwuͤrdige Muſter zur Nachfolge, dieſe aber als ſchaͤndliche Ungeheuer zum Abſcheue vor. Eine mittelmaͤßige Tugend ruͤhret die Gemuͤther nicht ſehr. Ein jeder haͤlt ſich ſelbſt dazu faͤhig, und alſo machen dergleichen wahre oder erdichtete Exempel wenig Eindruck, wenn gleich ſonſt alle poetiſche Kuͤnſte in Beſchreibung oder Vorſtellung derſelben ange - wandt waͤren. Mit den Laſtern gehts eben ſo. Daher ſucht ſich ein kluger Poet lauter ungemeine Helden und Hel - dinnen, lauter unmenſchliche Tyrannen und verdammliche Boͤſewichter aus, ſeine Kunſt daran zu zeigen. Ein Achil - les mit ſeinem unausloͤſchlichen Zorne; Ein Ulyſſes und ſeine unuͤberwindliche Standhafftigkeit; Ein Eneas und ſeine ausnehmende Froͤmmigkeit; Ein Oedipus in ſeinen ab - ſcheulichen und unerhoͤrten Laſtern; Eine Medea in ihrer unmenſchlichen Raſerey; Ein Auguſt mit ſeiner auſſeror - dentlichen Gnade gegen einen rebelliſchen Cinna; Eine un - vergleichliche Chimene mit ihrem tapfern Roderich, u. d. m. Das ſind Menſchen und Thaten die wunderbar ſind, und ohne alle Beyhuͤlfe andrer Seltſamkeiten die Leſer oder Zu - ſchauer eines Gedichtes entzuͤcken koͤnnen. Die Geſchichte ſind voll von ſolchen Helden und Handlungen, und ein ver - ſtaͤndiger Poet kan leicht Nahmen finden, treffliche Bilder großer Tugenden und Laſter zu entwerfen; wenn er nur mo - raliſche Einſicht genug beſitzet, dieſelben recht zu bilden. Weil aber ſeichte Geiſter und ungelehrte Versmacher dazu nicht faͤhig ſind, daher kommt es, daß man uns anſtatt des wahrhafftig Wunderbaren mit dem falſchen aufhaͤlt; an - ſtatt vernuͤnftiger Tragoͤdien, ungereimte Opern voller Ma - ſchinen und Zaubereyen ſchreibet, die der Natur, und wah - ren Hoheit der Poeſie zuweilen nicht aͤhnlicher ſind, als die geputzten Marionetten, lebendigen Menſchen. Solche Puppenwercke werden auch von Kindern und Unverſtaͤndi - gen als erſtaunenswuͤrdige Meiſterſtuͤcke bewundert und im Werthe gehalten. Vernuͤnftige Leute aber koͤnnen ſie ohne Eckel und Gelaͤchter nicht erblicken und wuͤrden lie - ber eine Dorfſchencke voll beſoffener Bauren in ihrer natuͤr - lichen Art handeln und reden, als eine unvernuͤnftigeHaupt -157Von dem Wunderbaren in der Poeſie. Haupt - und Staatsaction ſolcher Oper-Marionetten ſpie - len ſehen.
Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich aus den beruͤhmteſten Heldengedichten und Trauerſpielen gezogen. Man darf aber nicht dencken, dieſe Gattungen der Gedichte waͤren allein der Sitz des Wunderbaren in der Poeſie. Denn ob ſie gleich hauptſaͤchlich zu ihrer Abſicht haben, die Leſer und Zuſchauer durch die Bewunderung und das Schrecken zu erbauen; ſo iſt doch deswegen das Luſtſpiel mit den uͤbrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeſchloſ - ſen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem andern vorziehen, und ſeine Gedichte dadurch beliebt machen. Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, alſo auch hier nicht aus den Augen geſetzet werden. Z. E. Wenn ich in einer Comoͤdie einen Geitzhals vorſtelle, ſo muß ich freylich keinen mittelmaͤßigen Geitz abbilden, den noch viele vor eine Sparſamkeit anſehen koͤnnten; ſondern ich muß al - les zuſammen ſuchen, was ich an verſchiedenen kargen Leu - ten bemercket habe, und aus dieſen Stuͤcken einen vollkom - menen Geitzhals zuſammen ſetzen: wie jener Mahler aus den vier ſchoͤnſten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die Schoͤnheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil - lens war. Jch koͤnnte alſo meinen Geitzhals das Gold von den Pillen ſchaben, und alles uͤbrige thun laſſen, was Canitz in ſeiner Satire vom Harpax geſaget. Da waͤre noch alles wahrſcheinlich, ſo ſeltſam es auch iſt, und ſo wunderbar es ausſehen wuͤrde. Aber wenn ich den Harpax ſo mißtrauiſch vorſtellete, daß er ſeinen Bedienten, die von ihm giengen, alle - zeit die Haͤnde und Taſchen beſuchte, ehe er ſie herausließe; ja ihm wohl gar nach Aufweiſung beyder Haͤnde die Worte in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das duͤnckt mich, hieße das Wunderbare in dieſem Laſter aufs hoͤchſte treiben, und ein jeder wuͤrde dieſes zwar vor einen leichtferti - gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der Natur anſehen.
So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der Traurigkeit u. ſ. w. Das Wunderbare muß noch allezeitin158Das V. Capitelin den Schrancken der Natur bleiben und nicht zu hoch ſtei - gen. Was iſt gemeiner als daß man in Romanen, Schauſpielen und andern verliebten Gedichten die Buhler ſo raſend abbildet, daß ſie ſich alle Augenblick hengen, erſte - chen und erſaͤufen wollen? Was iſt aber auch ausſchweifen - der als dieſes? Daher es denn gekommen, daß dieſe Art des eingebildeten Wunderbaren ſchon laͤngſt laͤcherlich geworden und nur der Poeſie zum Schimpf gediehen. Das Seltſa - me in allen Arten muß noch natuͤrlich und glaublich bleiben, wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Gelaͤchter erwe - cken ſoll. Die Traurigkeit wird ebenfalls auf ſolche Art ausſchweifend, wenn der Poet nicht ſtets die Natur vor Au - gen hat. Es iſt ſo ſchwer einen hohen Grad derſelben poe - tiſch vorzuſtellen, als abzumahlen. Da nun Timantes die Klugheit gebraucht, bey dem Opfer der Jphigenia den Va - ter dieſer Prinzeſſin mit verhangenem Geſichte zu mahlen; ſo muß ſich ein Dichter dieſes zur Lehre dienen laſſen. Aus Furcht den Schmertz eines außerordentlich Betruͤbten un - natuͤrlich zu machen, muß er ihn lieber durch eine geſchickte Verhelung, durch ein gaͤntzliches Stillſchweigen und Ver - ſtummen ausdruͤcken. Des Herrn von Beſſers Schmertz uͤber ſeine Kuͤhleweinin iſt mir allezeit gar zu geſchwaͤtzig vor - gekommen, und es ſcheint mir nicht glaublich, daß ein auſſer - ordentliches Leid ſo viel auserleſene Redner-Kuͤnſte leiden koͤnne. Er erſchoͤpfet ſeine gantze Einbildungs-Krafft ſeinen Jammer auszudruͤcken; und das Unglaublichſte iſt dabey, daß er dieſe ſeine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben die Leichen-Proceſſion auf der Gaſſe geſehen, wie ausdruͤck - lich darinne ſteht. Gieng er denn irgend nicht mit zu Grabe? Oder hatte er auf der Gaſſe Zeit ſie ſo ſinnreich zu beklagen? Der Affect hat bey dem Verluſte einer ungemeinen Ehgat - tin, ungemein und wunderbar ſeyn ſollen: Er iſt aber un - glaublich geworden. Beſſer hat als ein kuͤnſtlicher Poet, nicht als ein troſtloſer Wittwer geweinet.
Jch will hiermit dieſen gantzen Ausdruck der Traurig - keit nicht verwerfen; Es iſt ſo viel ſchoͤnes darinn als in ir - gend einem Klaggedichte, ſo wir haben. Wer aber einerecht159Von dem Wunderbaren in der Poeſie. recht ſeltſame Klagrede poetiſch abgefaßt leſen will, der ſchla - ge Salomon Francken nach, wo er die Suſanna von ihrem Manne und Kindern Abſchied nehmen laͤſt. Er bemuͤht ſich einen ſo gerechten Schmertz einer unſchuldig Verurtheilten in ſeiner hoͤchſten Vollkommenheit vorzuſtellen, und ihn recht wunderbar zu bilden; verfaͤllt aber ins abgeſchmackte: wie es gemeiniglich denen geht die etwas unternehmen, dem ſie nicht gewachſen ſind. Jch will doch ein Stuͤcke davon herſe - tzen: So hebt ſie p. 52. an:
Haͤtte der Poet es dabey bewenden laſſen, ſo haͤtte man es vor eine gluͤckliche Nachahmung der Natur angeſehen, und die Groͤße ihres ungemeinen Schmertzens aus der ſie uͤber - fallenden Ohnmacht geſchloſſen. Allein der Poet wollte das Heulen und Weinen eines wehmuͤthigen Weibes noch beſſer abſchildern, darum laͤſt er ſie wieder aufleben und mit achzig langen Verßen einen ziemlich ausfuͤhrlichen Ab - ſcheid nehmen:
Das iſt nun allererſt der vierte Theil des Aechzens und Wehklagens, daruͤber einem Zeit und Weile lang wird, wenn man es hinter einander durchleſen will. Die erſten vier Zeilen giengen noch an, weil ſie einen kurtzen Abſcheid von Mann und Mutter in ſich enthalten; der ziemlich na - tuͤrlich iſt. Die andern vier ſo an die Welt gerichtet ſind, kommen ſchon kuͤnſtlicher heraus. Denn die Welt einen Kercker voller Buben zu nennen, iſt vor ihre Traurigkeit gar zu ſtudirt. Warum ſagt ſie nicht lieber zu den beyden Alten: Jhr ehrvergeßnen Buben! Das war meines Erachtens leichter von ihr zu vermuthen, da ihr der Abſchied ſo ſchwer ward, und die Aelteſten allein Schuld daran hatten. Jn den folgenden vier Zeilen kommen die erſten vier von Wort zu Wort wieder vor, und das laͤuft wieder die Natur und wird alſo unglaublich. Wie iſt es moͤglich eine und dieſelbe Klage, die aus ſechs und dreyßig Woͤrtern beſteht, zwey mahl hinter einander zu wiederhohlen ohne eine Sylbe darinn zu aͤndern. Ja! wenn Suſanna Franckens Verße auswen - dig gelernt, und ſie als eine Comoͤdiantin auf der Schau - buͤhne hergeſagt haͤtte! Es koͤmmt eben ſo heraus, als die Wiederholungen ſo im Homero vorkommen, womit die Critici niemahls zu frieden geweſen. Das folgende insge - ſamt ahmet zwar das unterbrochene Reden und Schluchzen eines weinenden Weibes einiger maſſen nach; aber es uͤber - ſchreitet die Maaß, und erwecket anſtatt der Verwunderung und des Mitleidens lauter Eckel. Es iſt auch unmoͤglich, daß eine mit Thraͤnen und haͤufigen Seufzern, bey gehemm - tem Athemholen verrichtete Klage, ſo lange dauren koͤnne; welches ein jeder ſelbſt wahrnehmen wird, wenn er die gantze Stelle nachlieſt. Jch will itzo nicht unterſuchen ob der Poet wohlgethan, daß er die Unſchuld und Tugend ſo kleinmuͤthig und verzagt zum Tode gefuͤhrt: Denn war - um hat er ſie nicht lieber ſtandhafft und großmuͤthig ge - bildet? Jch erinnere nur wie leicht man aus Begierde zu dem Ungemeinen und Wunderbaren zu gelangen, ins Abge -ſchmackte161Von dem Wunderbaren in der Poeſie. ſchmackte und Eckelhaffte verfallen koͤnne. So wahr iſts was Horatz ſagt:
Jch koͤnnte noch von dem Wunderbaren ſo in Gluͤcks - und Ungluͤcksfaͤllen vorkommt, allhier handeln. Dieſe betreffen ebenfalls die Menſchen, und gehoͤren alſo in dieſe Claſſe. Die Begebenheiten, davon die Poeten ihre Gedichte verfer - tigen, muͤſſen auch in der That, eben ſo wohl ſeltſam und un - gemein ſeyn, als die Perſonen und Handlungen derſelben. Es muß ihren Helden viel unvermuthetes begegnen, ſo bald zu ihren Abſichten behuͤlflich iſt, bald denenſelben zuwieder - laͤuft. Theils entſteht dieſes aus den Wegen der goͤttlichen Vorſehung, die Großen und Kleinen offt einen Strich durch ihre Rechnungen macht, und ihnen gantz andre Wege zeiget als ſie zu gehen gedacht. Theils aber kommt es auch unmit - telbar von andern Leuten her. Dieſe hindern offt einander in ihren Verrichtungen und Abſichten; es ſey nun unwiſſend oder mit gutem Bedacht, und daher entſtehen ſo viel ploͤtzli - che Veraͤnderungen, daß man daruͤber erſtaunet, ob es gleich alles gantz natuͤrlich zugeht. Eben dahin rechne ich die Ver - kleidung und Entdeckung gewiſſer Perſonen, die bisweilen einer Sache ſchleunig einen andern Ausſchlag giebt. Doch weil in allen dieſen Stuͤcken hauptſaͤchlich die Intrigue, der Knoten oder die Verwirrung der Fabeln beſteht, die in Schauſpielen hauptſaͤchlich vorkommt: ſo muß ich es bis da - hin verſparen.
Die dritte und letzte Gattung des Wunderbahren war diejenige Art deſſelben, ſo auf Thiere und lebloſe Dinge an - kommt. Dieſe braucht nun ein Poet am wenigſten, weil er ſich mehrentheils mit dem Menſchen beſchaͤfftiget, und das Ubrige nur in ſo weit braucht, als es hierzu dienlich ſeyn kan. Neue Gattungen von Thieren zu dichten iſt wohl kaum er - laubt, weil es doch nur Chimaͤren werden koͤnnten, die inLeinem162Das V. Capiteleinem bekannten Lande keinem glaublich vorkaͤmen. Die Rabbinen und Mahometaner beſchreiben ſolche große Voͤ - gel und Fiſche, daß man ihre laͤcherliche Phantaſie mehr als die Misgeburten derſelben bewundert. Aus weit entlege - nen Laͤndern laͤſt ſich zuweilen was wunderbares entlehnen: man muß aber wohl zuſehen, daß man nichts fabelhafftes mit einſtreue, ſo unglaublich iſt. Siam und Perou, Cey - lon und Japan iſt ſchon mit ſolchen luͤgenhafften Wundern angefuͤllet worden, daß die Einwohner dieſer Laͤnder große Urſache haͤtten, uns mit den Chineſern vor einaͤugigte zu hal - ten, weil wir ſolche Narrenpoſſen von ihren Laͤndern ſchrei - ben und glauben. Das beſte und vernuͤnftigſte Wunder - bare iſt, wenn man auch bey Thieren und lebloſen Dingen nur die Wunder der Natur recht nachahmet, und allezeit dasjenige wehlt, was die Natur am vortrefflichſten gemacht hat. Es kommt hier alles auf gute Beſchreibungen recht außerordentlich ſchoͤner und ſchlechter Sachen an, denn die mittelmaͤßigen werden nichts wunderwuͤrdiges abgeben. Beſchreibet man eine Gegend, einen Garten, ein Gebaͤude, einen Wald, einen Berg, eine Hoͤle, eine Heerde Vieh, eine Jagd u. d. m. So muß dieſes alles nach der Abſicht des Poeten in ſeiner Vollkommenheit geſchildert werden. Nur die edelſten Dinge muß man der Phantaſie des Leſers vor - mahlen, um dieſelbe zu gewinnen. Deswegen aber will ich nicht ſagen, daß ein Poet immer mit Gold und Perlen, Ru - binen und Diamanten um ſich werfen; lauter Adler und Loͤwen, Panther und Tyger bey ſich fuͤhren, lauter Jeſmin und Zibeth ſtreuen, lauter Ambroſin und Nectar auftra - gen, oder ſonſt alle Koſtbarkeiten Jndiens verſchwenden ſolle. Dieſen Mißbrauch hat der Herr Geh. Secr. Koͤnig in ſeiner verkehrten Welt ſchon zu Spott gemacht, indem er erzehlen laͤſt, es waͤre in der andern Welt ein Poet, der die - ſe theuren Sachen ſo unbedachtſam verſchleudert, ins Toll - haus gebracht worden: weil man ihn vor unſinnig gehalten haͤtte.
Zuweilen treibt man in Oden und Heldengedichten die Hyperboliſchen Ausdruͤckungen ſo hoch, indem man von leb -loſen163Von dem Wunderbaren in der Poeſie. loſen oder unvernuͤnftigen Dingen redet, daß es recht wun - derbar klinget. Davon wird aber in dem Capitel von den verbluͤmten Ausdruͤckungen mehr vorkommen.
Die Ovidianiſchen und Eſopiſchen Fabeln koͤnnten auch einigermaßen hieher gezogen werden, weil jene den Urſprung vieler Thiere und Blumen u. ſ. w. anzeigen, dieſe aber ſonſt viel wunderbares von ſolchen Geſchoͤpfen erzehlen. Allein weil hiervon ſchon oben gehandelt worden, ſo iſt eine Wie - derholung hier unnoͤthig.
Die Geſtirne ſind endlich noch uͤbrig, von denen die Poe - ten auch viel ſeltſames und ungemeines zu erzehlen pflegen. Die Cometen, ſo ſich ſehen laſſen, haben bey ihnen gemei - niglich eine boͤſe Bedeutung, und einen wunderbaren Ein - fluß. Die Sonn - und Mond-Finſterniſſen werden ſehr ſchrecklich von den Alten beſchrieben, ja die Ungewitter, Erd - beben und Sturmwinde machen auch einen großen Theil des Wunderbaren in ihren Schrifften aus. Was die erſten Stuͤcke anlangt, ſo muß man freylich die Alten entſchuldi - gen, wenn ſie ſich aus den himmliſchen Zeichen zu viel gema - chet. Man verſtund dazumahl die Naturlehre ſehr ſchlecht: allein itzo wuͤrde es eine Schande vor den Poeten ſeyn, wenn er uns viel von dem Einfluſſe des Himmels reden wollte. Daher klingt die gewoͤhnliche Operſprache ſehr laͤcherlich, wenn es immer heißt, die Sterne, der Himmel, und ſeine Lichter haͤtten dieſes oder jenes gethan: Es waͤre denn, daß man darunter das Verhaͤngniß oder die Vorſehung verſte - hen koͤnnte. Die Leute in Geſtirne zu verwandeln geht heu - te zu Tage nicht mehr an, nachdem der gantze Himmel ſo ge - nau uͤberzehlt iſt, daß man keinen Stern finden kan, der nicht ſchon vorhin bekannt geweſen waͤre. Erſchiene aber irgend ein neuer Stern, ſo koͤnnte freylich ein Poet dichten, daß dieſes oder jenes dazu Gelegenheit gegeben.
Die letztern Stuͤcke ſo oben erwehnet worden, kan ein Dichter mit gutem Fortgange brauchen. Ungewoͤhnliche Witterungen, Donner und Blitz, Uberſchwemmungen, Schiffbruͤche u. d. gl. ſind freylich ſehr wunderbar, wenn ſie nur natuͤrlich beſchrieben werden. Das iſt aber die Kunſt! L 2Man164Das VI. CapitelMan ſehe hier nochmahls des Herrn Bodmers gruͤndliche Gedancken von der Beredſamkeit nach, wo verſchiedene Stellen der Poeten von dieſer Gattung gruͤndlich gepruͤfet und beurtheilet werden.
AUs dem vorigen Capitel wird man zur Gnuͤge erſehen haben, daß das Wunderbare in der Dichtkunſt nicht ohne Unterſcheid ſtatt finde. Es muß auch glaublich herauskommen, und zu dem Ende weder unmoͤglich noch wiederſinniſch ausſehen. Daher kommt es denn, daß man auch im Dichten eine Wahrſcheinlichkeit beobachten muß, ohne welche eine Fabel, oder was es ſonſt iſt, nur ungereimt und laͤcherlich ſeyn wuͤrde. Jch verſtehe nehmlich durch die poetiſche Wahrſcheinlichkeit nichts anders, als die Aehnlich - keit des Erdichteten, mit dem, was wircklich zu geſchehen pflegt; oder die Ubereinſtimmung der Fabel mit der Natur. Horatz hat gleich im Anfange ſeiner Dichtkunſt die Thorheit eines Mahlers verſpottet, der in einem Gemaͤhlde einen Menſchenkopf auf einen Pferdehals ſetzen, einen Vogel - kropf mit bunten Federn hinzufuͤgen, und den Leib aus Glied - maßen verſchiedner andrer Thiere zuſammen flicken wollte. Die Urſache dieſer ſeiner Regel aber iſt keine andre, als weil ſolch ein Bild wieder alle Wahrſcheinlichkeit laufen wuͤrde. Es thut auch der Einwurf dieſer Fuͤrſchrifft keinen Eintrag, den er ſich im Nahmen gewiſſer poetiſchen Freygeiſter machet.
Denn wie ſchon oben in den Anmerckungen zu der Uberſetzung dieſer Stelle erinnert worden, ſo beantwortet er denſelben gleich darauf ſo, daß er die Freyheit im Dichten in gebuͤh - rende Graͤntzen einſchraͤncket.
Scimus,165Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.Was heißt das anders geſagt, als daß ein Poet in ſeinen Fa - beln beſtaͤndig die Regeln der Wahrſcheinlichkeit vor Augen haben muͤſſe.
Vielleicht denckt jemand, dieſes ſey demjenigen zuwie - der was in dem Hauptſtuͤcke von der Fabel ſchon geſagt wor - den. Wir theilten da die Fabeln in wahrſcheinliche, un - wahrſcheinliche und vermiſchte ein, und rechneten zu den un - wahrſcheinlichen die meiſten Eſopiſchen, wo nehmlich die un - vernuͤnftigen Thiere redend eingefuͤhret werden. Soll die Wahrſcheinlichkeit in allen Gedichten herrſchen, wird man etwa ſprechen; ſo muͤſſen ja alle dieſe thieriſche Begebenhei - ten verworfen und aus der Poeſie verbannet werden. Allein man muß hier die Wahrſcheinlichkeit in eine unbedingte und hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit abtheilen. Jene findet ſich freylich in den Eſopiſchen Fabeln nicht, wenn Baͤume und Thiere als vernuͤnftige Menſchen handelnd eingefuͤhret werden. Nach dem gemeinen Laufe der Natur pflegt ſol - ches nicht zu geſchehen, daher pflegt man auch Kindern bey Erzehlung ſolcher Fabeln vorherzuſagen: Sie haͤtten ſich damahls zugetragen, als die Thiere noch reden konnten; wodurch man ihnen zugeſteht, daß ſolche Begebenheiten frey - lich nach der itzigen Beſchaffenheit der Thiere, keinen Schein der Moͤglichkeit an ſich haben. Deswegen aber kan man doch dieſen Fabeln die hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit nicht abſprechen, die unter gewiſſen Umſtaͤnden dennoch ſtatt hat, wenn gleich ſo ſchlechterdings keine verhanden waͤre. Daß z. E. die Baͤume ſich einen Koͤnig wehlen koͤnnen, iſt an ſich ſelbſt weder moͤglich noch wahrſcheinlich; gleichwohl macht dort im Buche der Richter Jotham eine ſchoͤne Fabel daraus, der es an ihrer hypothetiſchen Wahrſcheinlichkeit nicht im ge - ringſten mangelt. Denn man darf nur die Bedingung zum vorausſetzen, daß die Baͤume Verſtand und Sprache ha - ben, ſo geht alles uͤbrige an. Es wird moͤglich und wahr - ſcheinlich ſeyn, daß ſie in ihrer Wahl auf den Oelbaum fal -L 3len,166Das VI. Capitellen, daß der Oelbaum ſolches abſchlagen und ſagen wird: Soll ich meine Fettigkeit laſſen ꝛc. Daß ſie ferner auf den Feigenbaum gerathen; und daß dieſer ihnen gleichfalls eine abſchlaͤgige Antwort giebt: Soll ich meine Suͤßigkeit laſ - ſen ꝛc. u. ſ. w. Hier thun weder die Baͤume uͤberhaupt, noch jeder ins beſondre etwas, ſo nach der einmahl angenom - menen Bedingung unmoͤglich waͤre. Ein Oelbaum redet wie ein Oelbaum, und ein Feigenbaum wie ein Feigenbaum reden wuͤrde, wenn beyde den Gebrauch der Sprache haͤt - ten. Hier iſt nichts wiederſprechendes in der Begebenheit, folglich auch nichts unwahrſcheinliches. Daß dergleichen hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit in der Fabel zulaͤnglich ſey, habe ich oben in der Beſchreibung derſelben ſchon ſattſam angezeiget; und daß Homerus dieſelbe beobachtet habe, zei - get Horatius, wenn er von ihm ſchreibt:
Man kan hievon in Ariſtotelis Poetic das IXte und XXVſte Capitel nachſchlagen, ſo wird man finden, daß ſeine Ge - dancken eben dahinaus laufen; ohngeachtet er ſich zuweilen harter Ausdruͤckungen bedienet. Le Clerc in ſeinen Parrha - ſianis hat ſich ſonderlich daruͤber aufgehalten, daß dieſer Philoſoph geſagt: Die poetiſche Wahrſcheinlichkeit gehe zuweilen bis aufs unvernuͤnftige. Allein wer das Exem - pel anſieht, ſo Ariſtoteles davon gegeben, nehmlich da Achil - les den Hector dreymahl rund um die Stadt Troja getrie - ben, die Armeen aber indeſſen ſtockſtille geſtanden, wie Ho - merus in der Jlias erzehlt: So wird man wohl ſehen, daß dieſes ſo ungereimt nicht ſey, als es wohl ſcheint. Freylich auf dem Schauplatze ließe ſich dieſes nicht wahrſcheinlich vor - ſtellen, wie Ariſtoteles ſelbſt geſteht. Allein in einem Hel - dengedichte, wo man nur die Erzehlungen lieſt, kan es wohl wahrſcheinlicher klingen, ſonderlich wenn der Poet das Un - glaubliche dabey kuͤnſtlich zu verſtecken weiß. Zum wenig - ſten hat Homer dieſe Kunſt gewuſt; denn er erzehlt dieſe Fa - bel ſo kuͤnſtlich, daß man mit den Gedancken gantz auf die beyden Helden verfaͤllt, und die beyden Armeen daruͤbergantz167Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. gantz vergiſt. So wird denn die Wahrſcheinlichkeit zum wenigſten in ſo weit erhalten, als dieſelbe von einem Leſer des Heldengedichtes verlanget wird: Geſetzt daß die Sache an ſich ſelbſt wunderlich genug ausſehen wuͤrde.
Uberhaupt iſt von der Wahrſcheinlichkeit dieſes anzu - mercken, daß offt eine Sache, die an ſich unglaublich und unmoͤglich ausſieht, durch den Zuſammenhang mit andern Begebenheiten, und unter gewiſſen Umſtaͤnden nicht nur moͤglich, ſondern auch wahrſcheinlich und glaublich werden koͤnne. Dahin gehoͤren, zum Exempel, viele Fabeln, wo die Goͤtter oder andre Geiſter darzwiſchen kommen. Dieſen trauet man groͤßere Kraͤffte zu, als bloßen Menſchen: wenn nun dieſelbe einem Helden oder ſonſt einem von ihren Lieblin - gen zu gefallen, was außerordentliches unternehmen, ſo man ſonſt nicht glauben wuͤrde, ſo wird dieſes eben dadurch wahr - ſcheinlich, wenn es nur nicht an und vor ſich ſelbſt unmoͤglich iſt. Hierwieder hat nun Homerus gewiß verſtoßen, wenn er den Vulcan ſolche kuͤnſtliche Wercke verfertigen laͤßt, die gantz unbegreiflich ſind. Er macht Dreyfuͤße, die von ſich ſelbſt in die Verſammlung der Goͤtter ſpazieren. Er ſchmie - det goldene Bildſeulen, die nicht nur reden, ſondern auch dencken koͤnnen. Er macht endlich dem Achilles einen Schild, der eine beſondre Beſchreibung verdient. Erſtlich iſt er mit einer ſo großen Menge von Bildern und Hiſtorien gezieret, daß er zum wenigſten ſo groß muͤſte geweſen ſeyn, als des Taſſo diamantner Schild aus der himmliſchen Ruͤſt - kammer, deſſen oben gedacht worden. Vors andre ſind ſei - ne Figuren auf dem Schilde lebendig, denn ſie ruͤhren und bewegen ſich, ſo daß man ſich ſelbige wie die Muͤcken vorſtel - len muß, ſo rund um den Schild ſchweben. Vors dritte, ſind zwey Staͤdte darauf zu ſehen, die zwey verſchiedene Sprachen reden, und wo zwey Redner ſehr nachdruͤckliche und bewegliche Vorſtellungen an das Volck thun. Wie iſt das alles moͤglich, auch durch eine goͤttliche Macht zuwege zu bringen? Kurtz, Homerus hat ſich verſehen, und die Wahrſcheinlichkeit nicht recht beobachtet.
Eben das kan man von ſeinen Goͤttern ſagen, die er aͤr -L 4ger168Das VI. Capitelger als die unvollkommenſten Menſchen geſchildert hat. Sie ſind wie Menſchen gebohren, verheyrathen ſich wie Men - ſchen, und vermehren ihre Geſchlechter wie Menſchen. Sie ſind allen unſern Leidenſchafften, Kranckheiten, ja gar der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun - det, vergießen Blut, und haben ſogar einen Balbier noͤthig. Sie zancken ſich, drohen einander Schlaͤge, und verſpotten ſich wie die kleinen Kinder. Es iſt wahr, daß zu Homeri Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finſterniſſen geſte - cket. Die Philoſophen hatten ſich noch nicht auf die Unter - ſuchung der goͤttlichen Natur geleget, und von einer Offen - barung wuſte man nichts. Was uns alſo ſehr unwahr - ſcheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke ſehr wahr - ſcheinlich klingen. Dem ungeachtet haͤtte doch Homerus die Gottheiten nicht ſo veraͤchtlich abbilden ſollen, als er ge - than. Man hielt ſie zwar groͤſtentheils vor geweſene Men - ſchen, aber doch vor ſolche, die vergoͤttert, das iſt in einen voll - kommnern Zuſtand verſetzet worden. Dieſes haͤtte alſo aus ihren Beſchreibungen erhellen muͤſſen, damit man deſtomehr Ehrerbietung vor ihnen bey ſich empfunden haͤtte. Da die - ſes nun der Poet nicht gethan, ſo ſind einige auf die Gedan - cken gekommen, er habe mit Fleiß die Goͤtter ſo laͤcherlich be - ſchrieben, um die ernſthafften Thaten ſeiner Helden, mit was luſtigem abzuwechſeln, und alſo dem Eckel ſeiner Leſer zuvorzukommen.
Kommen wir auf ſeine Helden, ſo hat man auch da vieles bemercket, was wieder die Wahrſcheinlichkeit laͤuft. Etliche rechnen das Hauptwerck des gantzen Gedichtes, nehmlich den Trojaniſchen Krieg hieher, und meynen es ſey ungereimt zu glauben, daß ſich zwey tapfere Voͤlcker um eines ſchoͤnen Weibes willen zehn Jahre lang die Koͤpfe zerſchmeißen wuͤr - den. Allein dieſes geſchieht ohne Grund. Es hatte ſich in dieſen Krieg der Ehrgeitz und die Rachgier mit eingemeiſchet. Die Griechen wollten ſtaͤrcker als die Trojaner, und dieſe tapferer als jene ſeyn; und die Prinzeſſin Helena kam faſt gar daruͤber ins Vergeſſen. Andre koͤnnen es nicht ver - dauen, wenn der große Held Achilles ſeinen Gaͤſten ſelbſteine169Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. eine Mahlzeit zubereitet, die Kuͤche beſtellet, auftraͤgt, und zu Tiſche dient. Allein ſie muͤſten zufoͤrderſt beweiſen, daß man damahls ſchon nach unſerm heutigen Ceremoniel ſich durch Edelknaben, Kammerdiener und Lakeyen aufwarten laſſen, oder einen eigenen Mundkoch gehalten. Die Ein - falt der alten Zeiten macht dergleichen Verhalten Achillis gantz wahrſcheinlich, ſo ungereimt es heutiges Tages klingen wuͤrde, wenn man einen Marlboroug, oder Printz von Ba - den dergeſtalt beſchreiben wollte. Es waͤre gut wenn man den Homer uͤberall ſo leicht entſchuldigen koͤnnte. Allein wenn er ſeine Helden mitten im hitzigſten Gefechte zuſam - men kommen und halbe Stunden lang mit einander zancken laͤßt, als wenn ſie weder Spieß noch Schwerdt in Haͤnden haͤtten: So kan man nicht leicht einen Vorwand finden. Sie ſchimpfen einander aufs aͤrgſte, ein jeder prahlt dem an - dern ſeine Abkunft, Waffen und Thaten vor; ja ſie erzehlen einander wohl gar die Geſchlechtregiſter ihrer Pferde, daß einem Leſer Zeit und Weile daruͤber lang wird. Das ſchi - cket ſich nun vor wuͤtende Soldaten, und ſolche hertzhaffte Kriegsleute nicht, als ſeine Helden waren. Warum ſchlagen ſie nicht lieber zu? Warum verderben ſie die Zeit mit einem unnoͤthigen Geplauder? Hier laͤuft alles wieder die Natur menſchlicher Affecten, die zu allen Zeiten einerley geweſen; und Homer kan auf keine Weiſe gerettet werden. Eben die Unwahrſcheinlichkeit herrſchet in den langen Anreden, die Hector z. E. an ſeine vier Pferde haͤlt. Xanthus und Po - dargus, heißt es, und du Ethon und Lampus, hier habt ihr die ſchoͤnſte Gelegenheit, mir alle die Muͤhe zu vergelten, die Andromacha, des großmuͤthigen Ections Tochter an euch gewandt, indem ſie euch taͤglich ſelbſt gefuͤttert, und lieber euch als mir das Brodt und den Wein von meinem Tiſche gegoͤnnet hat. Wie offt hat ſie mich verlaſſen, um euch zu beſuchen? Die Pferde der Goͤtter ſind ſelbſt niemahls beſſer gehalten worden. Zeiget denn eure Erkenntlichkeit itzo, verfolget den Feind aufs ſchleunigſte, ſchonet euch nicht, eilet, damit ich den Schild Neſtors bekomme, der gantz von dich - tem Golde iſt, und deſſen Ruhm bis an die Sterne ſteiget;L 5wie170Das VI. Capitelwie auch den wunderwuͤrdigen Kuͤraß Diomedis, der ein Meiſterſtuͤck des kuͤnſtlichen Vulcans iſt. Erobern wir dieſe preiswuͤrdige Beute, ſo iſt kein Zweifel, die Griechen werden ſich dieſe Nacht auf ihre noch uͤbrige Schiffe begeben, und unſer Ufer verlaſſen. Scheint es hier nicht als wenn Homerus ſeine Pferde den Menſchen gleich gemacht haͤtte, indem er ſie auf eben die Art durch die Beredſamkeit lencken laͤſt, als ob ſie Verſtand und Freyheit haͤtten? Und wer kan alſo glauben, daß hier die Regeln der Wahrſcheinlichkeit beobachtet werden.
Es iſt Zeit auf den Virgil zu kommen, und einige Fehler anzumercken, die er dawieder begangen. Von den Wun - dern, ſo er hie und da eingeſtreuet, iſt ſchon im vorigen Capitel gedacht; nur muß ich hinzuſetzen, daß Voltaire in ſeinen Gedancken vom Heldengedichte, dieſen Poeten dadurch ent - ſchuldigen wollen, daß ſchon Dionyſius von Halicarnaß, in ſeiner Hiſtorie der Harpyen ſowohl, als des Celeno und des Koͤniges Cacus gedacht; Virgil alſo Wahrſcheinlichkeit genug vor ſich gehabt habe. Allein erſtlich iſt es gewiß, daß dieſer Geſchichtſchreiber ſeinem eigenen Geſtaͤndniſſe nach, ſein Buch allererſt zwanzig Jahre nach geendigten Buͤrger - kriegen in Jtalien geſchrieben; als Virgil ſchon zehn oder zwoͤlf Jahre todt geweſen: So daß eher Dionyſius den Poeten, als dieſer jenen geleſen und gebrauchet haben kan. Geſetzt aber, zweytens, es waͤre ſo, wie Voltaire meynt; ſo wuͤrde doch eine unwahrſcheinliche Sache nicht wahrſchein - lich, wenn ſie gleich ein fabelhaffter Hiſtoricus erzehlet haͤtte. Zum Exempel, wer auch in Verßen alles das anbringen woll - te, was Herodotus erzehlet, der wuͤrde laͤcherlich dadurch werden. Die Verwandlung der Schiffe in Seenymphen, die er vermuthlich nur aus der gemeinen Sage der Leute her - genommen, haͤtte er auch erſparen koͤnnen, und meines Er - achtens hilft es nichts, daß er den Vers hinzugeſetzt:
Denn warum muſte er alle Maͤhrchen, die er ſelbſt nicht glaubte, in ſein Heldengedichte bringen? Weit aͤrger hat in - deſſen Virgilius wieder die Wahrſcheinlichkeit verſtoßen, daer171Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. er den Eneas zur Dido nach Africa kommen, und die neuan - gelegte Stadt Carthago beſuchen laſſen. Es iſt bekannt, wie unmoͤglich dieſes nach der Zeitrechnung iſt, indem Dido allererſt zwey bis dreyhundert Jahre nach des Eneas Ankunft in Jtalien gelebt. Wenn das angienge, ſo muͤſte es auch erlaubt ſeyn, daß GOtt mit den Kindern Adams ein Exa - men aus Lutheri Catechiſmo angeſtellet, wie Hans Sachſe in einer ſchoͤnen Comoͤdie gethan; oder daß Adam ſelbſt auf ſeinem Sterbe-Bette ein Teſtament gemacht, und darinn ſeinen Kindern anbefohlen, an GOtt Vater, Sohn und hei - ligen Geiſt zu glauben, wie Loredano in dem Leben Adams ſchreibt. Es iſt wahr, daß man in Rom die alte Chronologie ſo genau nicht gewuſt, und alſo der Poͤbel dieſen Fehler Vir - gils nicht wahrgenommen. Allein in ſolchen Stuͤcken muß ein Dichter mehr auf einen verſtaͤndigen Criticum, als auf eine gantze Stadt voll unwiſſender Leute ſehen; weil der Ta - del, den er bey jenem verdient, ihm weit mehr ſchaden, als der Beyfall von dieſen nuͤtzen kan. Jch uͤbergehe hier die entſetzlich lange Erzehlung, die Virgil ſeinen Helden bey der Dido einen Abend machen laͤßt; da es gewiß viel wahr - ſcheinlicher iſt, daß ſie daruͤber eingeſchlafen ſeyn, oder doch fleißig gejaͤhnet haben wuͤrde; als daß ſie ihm ſo gedultig, und ohne ein Wort dazwiſchen zu reden, zugehoͤret haben ſollte. Jch verſchweige auch andre Unwahrſcheinlichkeiten dieſes Poeten, und komme auf die Fehler einiger Neuern in dieſem Stuͤcke.
Camoens, ein neuer Portugieſiſcher Poet, hat auf eine beſondre Art wieder die Wahrſcheinlichkeit verſtoßen, wenn er die heydniſchen Goͤtter und das Chriſtenthum ver - miſchet hat. Veraſco ſein Held, ruffet Chriſtum in einem Gebet an, und anſtatt deſſen kommt ihm die Goͤttin Venus zu Huͤlfe. Die Abſicht der gantzen Schiffahrt, die er be - ſchreibt, ſoll die Ausbreitung der Chriſtlichen Religion ſeyn; indeſſen regiert Jupiter, Bacchus und Venus die gantze Reiſe, und das Unternehmen des Veraſco. Unter andern ſagt dieſer Held einmahl zu einem wilden Koͤnige, dem er ſeine Geſchichte erzehlet: O Koͤnig, urtheile nun ob Eneas undUlyſſes172Das VI. CapitelUlyſſes ſo weit als ich gereiſet, und ſoviel Gefaͤhrlichkeiten ausgeſtanden als ich. Gerade als wenn der Africaner von Virgilii und Homeri Schrifften was wiſſen koͤnnte.
Alonzo, ein Spanier, in ſeinem Gedichte Araucana ge - nannt, darinn er ſeine eigene Heldenthaten wieder ein Me - xicaniſches Volck, beſchrieben, hat ſich ebenfalls ſehr oft ver - ſehen. Z. E. Er marſchirt einmahl des Nachts mit ſeinen Soldaten, um den Feind unverſehens zu befallen, und da er - hebt ſich zum Zeitvertreibe ein Geſpraͤch unter ihnen, vom Virgil, und ſonderlich der Dido. Alonzo ergreift dieſe Ge - legenheit, aus den alten Geſchichten den Poeten zu wiederle - gen, und der armen Dido ihre Ehre zu retten. Und die Ab - handlung einer ſo wichtigen Sache geraͤth ſo lang, daß ſie zwey gantze Buͤcher des Heldengedichtes anfuͤllet. Ob die - ſes Soldatiſche Unterredungen ſind, womit ſie ſich auf dem Marſche in feindlichen Landen beluſtigen, mag ein jeder ſelbſt urtheilen. Zum wenigſten muͤſte mehr als ein Don Alonzo bey der Armee geweſen ſeyn, wenn dieſes einige Wahrſchein - lichkeit haben ſollte.
Taſſo, der die beyden vorigen unendlichweit uͤbertrifft, hat nichts deſtoweniger offt wieder die Wahrſcheinlichkeit geſuͤndiget. Der Zauberer Jſmeno, raͤth im andren Bu - che ein Marienbild in eine Tuͤrckiſche Moſchee zu tragen, um dadurch die Unglaͤubigen unuͤberwindlich zu machen. Dieſe Vermiſchung des Chriſtenthums mit der Tuͤrckiſchen Reli - gion wahrſcheinlich zu machen, bemuͤht ſich zwar Taſſo ſehr, indem er ſagt, Jſmeno waͤre ein abgefallener Chriſt geweſen:
Er ſchiebt es alſo auf die Unwiſſenheit und den Aberglauben des Zauberers, daß er einen ſo wunderlichen Anſchlag giebt. So wahrſcheinlich er aber dadurch den Anſchlag macht; ſo unwahrſcheinlich bleibt es noch, daß ihm der Koͤnig Aladin von Jeruſalem, nebſt der Mahometaniſchen Prieſterſchafft Gehoͤr werde gegeben haben. Die Bewegungs-Gruͤn -de,173Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. de, womit er jenen zu bereden ſuchet, ſind folgende:
Aber ein jeder mag ſelbſt urtheilen, ob es glaublich ſey, daß ein Mahometaner dem Schwartzkuͤnſtler zu gefallen, eine ſei - ner Religion ſo wiederwaͤrtige Sache gethan haben wuͤrde.
Allein das iſt nicht das Aergſte. Armide iſt noch eine groͤßere Hexe als Jſmeno. Sie verwandelt wohl zehn Chriſtliche Printzen in Fiſche, und ein Papagey muß aller - hand verliebte Liederchen ſingen, die er ſelbſt gemacht hat. Das uͤbertrifft faſt noch die Homeriſchen Erzehlungen von der Circe, iſt aber um deſtoweniger zu entſchuldigen, da es in einer weit erleuchtetern Zeit geſchrieben worden, als jenes. Noch mehr, Rainaldo kan aus den Haͤnden eines Mahome - taniſchen Zauberers nicht anders als durch die ſchwartze Kunſt eines Chriſtlichen Hexenmeiſters befreyet werden. Das heiſt ja rechtes Belieben an Teufeleyen haben, und da - durch, zum wenigſten außer Jtalien, alle Wahrſcheinlichkeit aus den Augen ſetzen. Kurtz, es iſt dem guten Taſſo nichts ſchweres, die Meſſe, Beicht und Litaney mit Beſchwerun - gen und Teufelskuͤnſten, den Michael ſamt allen Engeln mit dem Pluto und der Alecto, das iſt den Himmel mit der Hoͤl - le, ꝛc. das Chriſtenthum mit dem Heydenthum und Maho - metaniſchen Aberglauben, durch ein ander zu miſchen.
Ubaldo wird zu einem alten und heiligen Beſchwerer ge - ſandt, der ihn bis in den Mittelpunct der Erden bringt, wo er mit ſeinem Gefehrten an einem Strome gantz voller Edel - geſteine ſpazieren geht. Von da ſchickt man ihn nach Aſca - lon zu einer alten Vettel, die ihn auf einem Schifflein, in die Canariſchen Jnſeln verſetzet. Unter GOttes Beyſtand kommt er, einen bezauberten Ring in Haͤnden habend, gluͤck -lich174Das VI. Capitellich daſelbſt an, und fuͤhret den tapfern Rainald bis ins Chriſtliche Lager mit ſich zuruͤck. Aber zu was Ende? Die Zauberkunſt muß dieſen Helden ſo viel tauſend Meilen weit zuruͤckbringen, bloß weil ihn die Vorſehung beſtimmet hat, etliche alte Baͤume in einem von Geſpenſtern beunruhigten Walde zu faͤllen.
Jm Anfange befiehlt GOtt dem Ertzengel Michael die in der Lufft umher ſchwermenden Teufel in die Hoͤlle zu ſtuͤr - tzen, weil ſie lauter Ungewitter machten, und ihm die Don - nerkeile allezeit den Mahometanern zum Beſten auf die Chri - ſten lencketen. Michael thut es, und verbietet ihnen, ſich niemahls in die Haͤndel der Chriſten zu mengen. Sogleich gehorſamen ſie, und verſencken ſich in den Abgrund. Aber es dauret nicht lange. Der Zauberer Jſmeno hat mehr Gewalt als Michael. Denn auf ſeinen Winck kommen ſie wieder heraus, und wiſſen den goͤttlichen Befehl durch ge - wiſſe kuͤnſtliche Ausfluͤchte unguͤltig zu machen. Sie er - ſchrecken die Chriſten im Walde durch allerley fuͤrchterliche Larven. Tancredi findet ſeine Clorinde in einer Fichte ver - zaubert, und durch den Hieb verwundet, den er dem Baume gegeben. Armide ſiehet dieſes hinter einem Myrrthen-Ge - puͤſche zu, ob ſie gleich zu der Zeit auch in Egypten iſt; und der Poet berichtet uns gar nicht, wie auch die kuͤnſtlichſte Zau - berin an zweyen Orten zugleich ſeyn koͤnne.
Arioſt ein Landsmann des Taſſo, hat denſelben an ſelt - ſamen Unwahrſcheinlichkeiten weit uͤbertroffen, und zum we - nigſten dadurch verdienet, daß er von vielen Jtalienern dem - ſelben vorgezogen wird. Sein raſender Roland iſt bekannt, und ſoll eben ſowohl ein Heldengedicht heißen, als das be - freyte Jeruſalem. Dieſer Held, war aus Eiferſucht uͤber die ſchoͤne Angelica zum Narren geworden, weil ſein Neben - buhler Medor gluͤcklicher bey ihr geweſen als er. Aſtolph ein andrer Ritter befand ſich eines Tages im irrdiſchen Pa - radieſe, auf dem Gipfel eines hohen Berges, wohin ihn ein gefluͤgelter Loͤwe getragen hatte. Daſelbſt traf er den heili - gen Johannes, welcher ihm zu wiſſen that, daß er den Ro - land von ſeiner Raſerey zu befreyen, eine Reiſe nach demMon -175Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. Monden thun muͤſſe. Aſtolph bedencket ſich nicht lange, ſeine irrende Ritterſchafft, auch außer der Erdkugel fortzuſetzen, und alsbald iſt ein feuriger Wagen da, der den Apoſtel und Ritter durch die Lufft wegfuͤhrt. Wie erſtaunet Aſtolph nicht, als er bey ſeiner Annaͤherung gewahr wird, daß der Mond weit groͤßer iſt als er ſonſt ausſieht, und daß er endlich Land und Waſſer, Berge und Stroͤme, Seen und Staͤdte, ja ſo gar Nymphen gewahr wird, die ſich in den Waͤldern mit der Jagd beluſtigen. Man ſollte dencken, Arioſt ſey den neuern Philoſophen zugethan geweſen, die den Mond ſowohl vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das Folgende wird ſattſam zeigen, daß man ihm dieſe Ehre nicht anthun koͤnne. Er findet auch ein ſeltſames Thal im Mon - den, wo alles anzutreffen iſt, was auf der Erde verlohren ge - gangen; es mochte nun ſeyn was es wollte, Kron und Scepter, Geld und Gut, Ehre und Anſehen, gute Hoffnung, verſchwendete Zeit, die Allmoſen der Verſtorbenen, die Lob - gedichte auf große Herren, und ſogar die Seufzer der Ver - liebten.
Bey ſo vielen Wunderdingen, die der Ritter daſelbſt an - traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohꝛnes Ver - ſtandes daſelbſt zu finden. Da ſtunden unzehliche Glaͤſer mit einem ſubtilen Waͤſſerchen angefuͤllet, auf deren jedem der Nahme deſſen geſchrieben war, dem der Verſtand zuge - hoͤrt. Unter ſo vielen Glaͤſern ſolcher Leute, die Aſtolph alle - zeit vor ſehr klug gehalten hatte, und die doch ſo ziemlich voll waren, fand er auch ſein eigen Glaͤschen, welches er ſogleich erhaſchte, und mit Erlaubnis des Apoſtels, zog er ſeinen Ver - ſtand wie Ungariſch Waſſer durch die Naſe wieder in ſich. Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemaͤch - tigte ſich deſſelben, um es mit ſich zuruͤcke zu nehmen, weil dieſes der Zweck ſeiner Reiſe war. Er fand daß daſſelbe ſehr ſchwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da - von uͤbrig behalten, und ſonſt die Art deſſelben eben nicht die ſubtilſte geweſen ſeyn mochte. Hiebey faͤngt nun Arioſt an, einen verliebten Seufzer an ſeine Schoͤne zu thun, dergleichen er mitten in ſeinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt. Er176Das VI. CapitelEr ſagt ihr, daß er ſeinen Verſtand auch zwar verlohren, aber daß er ihn nicht ſo weit werde zu ſuchen haben. Er ſchwebe auf ihren Augen und Lippen herum, und er bitte ſich deswe - gen nur die Erlaubniß aus, denſelben mit ſeinen Lippen wie - der zu haſchen. Genug von Arioſts Fantaſien, die gewiß eher den Traͤumen eines Krancken, wie Horatius ſpricht, als der vernuͤnftigen Dichtung eines Poeten aͤhnlich ſehen: weil weder Wahrſcheinlichkeit noch Ordnung darinn anzu - treffen iſt.
Was ſoll ich von dem Marino ſagen, deſſen Schrifften eben ſo voll unwahrſcheinlicher Dinge ſind, als ſeiner Lands - leute? Zur Probe darf ich nur das entſetzliche Conterfey neh - men, ſo er im Anfange ſeines Kindermordes von dem Satan gemacht. Er liegt im Abgrunde ohne Grund, an einer ſcheußlichen Kette, von hundert in einandergeſchlungenen Schlangen. Sein Kleid und Thron iſt ein unausloͤſchlich Feuer. Sein vormahls leuchtender Mantel iſt nunmehr aus Flammen und Finſterniß gewebet. Sieben Hoͤrner hat er auf dem Haupte, darum ſich lauter Hydren und Ce - raſten gewickelt haben, die gleichſam die Edelſteine in ſeiner Krone machen. Jn ſeinen Augen flammt ein rothes und truͤbes Licht, und ſeine Blicke gleichen den Cometen und Bli - tzen. Stanck und Finſterniß dampfet aus ſeiner Naſe, ſein Hauch iſt dem Wetterſtrahl, und ſein Seufzen dem Donner aͤhnlich. Dadurch ſowohl als durch ſeine feurige Blicke zuͤn - det er ſelbſt den Holtzſtoß an, (der doch vorher ſchon brannte) der unverbrennlich iſt, und doch alles verzehret. Seine von Geifer und Roſt angefreſſene Zaͤhne klappern und machen ein groß Geraͤuſche, durch ihr Knirſchen, und ſein Schwantz ſchlaͤgt in der Glut auf die Schuppen ſeiner ſtaͤhlernern Gliedmaßen. Bey dieſem hoͤlliſchen Tyrannen ſtehn drey Furien, (damit ja das Heydenthum wieder ins Chriſten - thum gemiſcht werde) ihn auf ewig auf die Folterbanck zu ſpannen, und mit ihren Natterſtreichen unaufhoͤrlich zu geißeln. Jhre Haare ſind magre Schlangen, ſein Zepter iſt von Stahl, und kurtz er iſt ſo abſcheulich, daß er vor ſich ſelbſt ſowohl als vor ſeinem Reiche einen Abſcheu hat. Nunfaͤngt177Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. faͤngt der Poet an dieſen gefallenen Geiſt aus der heydni - ſchen Mythologie zu ſchimpfen, und ihn bald einen Narciß bald einen Phaeton zu nennen, und die ſtrenge Richterhand des wahren GOttes, mit einem fabelhafften Phlegeton zu vermengen. Die Sybillen und Orackel, werden bald dar - auf von der Jungfer Maria und der Eliſabeth abgeloͤſet. Und auf die Geburt Chriſti muß der Friedens-Goͤttin Tempel einfallen. Endlich holt der Poet noch nach, daß Satan auch Fluͤgel gehabt, die als die groͤſten Schiffſeegel ausgedehnet, um vor dem Bethlehemitiſchen Stern zu entfliehen; aber durch ein ſtaͤhlernes Gebiß in ſeinem ewigen Gefaͤngniſſe feſt behalten worden.
Ob eine ſolche Schilderey des Satans, die halb Chriſt - lich, halb heydniſch iſt; ihn bald zum Koͤnige und bald zum Sclaven macht; bald andre ſchlagen, bald ſelbſt gefoltert und gepeitſchet werden laͤßt; ihm Hoͤrner und Klauen, einen Schwantz und ſtaͤhlerne Schuppen giebt; ihn mit Feuer und Schlangen zugleich umgiebt, ja bekleidet auch nackend zugleich, auf dem Thron und auf der Folterbanck zugleich vorſtellt u. ſ. w. ja ferner alles uͤbrige durch einander men - get; ob dieſe Beſchreibung wahrſcheinlich ſey, ſage ich, das laſſe ich meine Leſer ſelbſt urtheilen. Mir kommt es vor, daß der Dichter aus großer Begierde recht was wunderbares zu machen, die Regel Horatii vergeſſen:
Jmgleichen:
Jch komme auf den Milton, der in engliſcher Sprache ein Heldengedicht vom verlohrnen Paradieſe geſchrieben. Dryden ein andrer engliſcher Poet zieht ihn dem Homer und Virgil in einer Sinnſchrifft vor:
Er hat ſich aber auch nicht aller Fehler in dieſem Stuͤcke ent - halten koͤnnen, ſo große Faͤhigkeit er auch ſonſt erwieſen hat. MErſt -178Das VI. CapitelErſtlich erklaͤrt er alle heydniſche Gottheiten vor Teufel, die unter verſchiedenen Nahmen; hernach berufft er ſich auf den Raub der Proſerpina, als eine wahre Geſchicht. Wer haͤtte es dencken ſollen, daß in der bibliſchen Materie vom Falle der Engel das Heydenthum ſtatt finden wuͤrde? Am ſeltſamſten ſieht ſein Pandaͤmonium aus, das iſt der Ort, wo die Teufel mit einander zu Rathe gegangen. Satan hatte ſie ſchon einmahl in einem weiten Felde zuſammenbe - ruffen, und eine Anrede an ſie gehalten, und alſo ſchien es vergebens zu ſeyn, daß er noch ein beſondres Gebaͤude haͤtte, wo er mit ihnen rathſchlagen koͤnnte. Aber der Poet ſcheint ein Belieben getragen zu haben, ſein Pandaͤmonium nach der Doriſchen Ordnung zu bauen, es mit allerley Verzie - rungen, als Karnießen und goldnen Blumen auszuſchmuͤ - cken. Dieſe Erfindung ſcheint ſich nun zwar nicht aufs beſte vor einen ernſthafften Milton zu ſchicken; aber noch ſchoͤner kommt es heraus, wenn ſich alle ſeine Teufel in Zwerge ver - wandeln muͤſſen, damit ſie nur in dem gar zu engen Gebaͤu - de Platz finden moͤgen. Lucifer indeſſen mit ſeinen vornehm - ſten Bedienten behalten ihre natuͤrliche ungeheure Groͤße, dagegen der gemeine Poͤbel boͤſer Geiſter nur in Geſtalt klei - ner Pygmeen erſcheinen muß. Wenn das nicht das Laͤcher - liche aufs hoͤchſte getrieben heiſt: ſo weiß ich nicht mehr, was wahrſcheinliche oder unwahrſcheinliche Erdichtungen ſeyn ſollen.
Noch eine Fabel iſt indeſſen werth aus dieſem Dichter angemercket zu werden. Die Suͤnde wird aus dem Gehir - ne des Satans, als eine Minerva aus dem Haupte Jupi - ters gebohren. Satan aber zeuget von dieſer ſeiner Tochter abſcheulicher Weiſe ein Kind, nehmlich den Tod; und die - ſes raſende und ſchmutzige Ungeheuer beſchlaͤft wieder ſeine Mutter, ſo wie es der Vater mit ſeiner Tochter gemacht hatte. Aus dieſer neuen Blutſchande wird ein gantzes Schlangenneſt erzeuget, die in den Schooß ihrer Mutter kriechen, und alle ihre Eingeweide verzehren, daher ſie ent - ſproſſen ſind. Ob eine ſo ſchmutzige und wahrhafftig ab - ſcheuliche Allegorie Wahrſcheinlichkeit genug habe, will ichaber -179Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. abermahl nicht ſelbſt beurtheilen, ſondern einem jeden ſeine Gedancken davon laſſen. Zum wenigſten ſieht man nicht, warum die Suͤnde mit dem Tode noch einmahl verbotener Weiſe zuhalten muͤſſen. Dieſes hat in der Sache ſelbſt kei - nen Grund mehr, und ſcheint von dem Poeten nur zu Ver - groͤßerung der Abſcheulichkeiten erſonnen zu ſeyn. Eben da - durch verliehrt ſeine Fabel die Wahrſcheinlichkeit; weil man nicht begreifen kan, warum der Tod noch die Schlangen zeu - gen muͤſſen? Eben ſo wenig kan man bald hernach ſehen, warum ſich der Tod mit der Suͤnde zancket, wobey ſie grau - ſame Geſichter und Stellungen machen, nicht anders als ob ſie einander pruͤgeln wollten. Nicht beſſer gehts mit dem Paradieſe der Narren, wo die Moͤnche, Capuciner, Jn - dulgentzien, Bullen und Reliquien auf den Fluͤgeln des Win - des herumſpazieren; Petrus aber mit ſeinen Schluͤſſeln an der Himmelsthuͤr ſteht. Wie konnten alle dieſe Dinge zu der Zeit verhanden ſeyn, da das Paradieß verlohren gegan - gen? Vor den Arioſt wuͤrden ſich ſolche Thorheiten beſſer als vor einen Milton geſchicket haben.
Es iſt ſchade, daß Voltaire in ſeinem neuen Heldenge - dichte, darinn er es allen vorigen in Beobachtung der Wahr - ſcheinlichkeit zuvorgethan, nicht gaͤntzlich von Fehlern frey bleiben koͤnnen. Jch will hier nicht an die Fabel gedencken, da er Henrich den Vierten, ſeinen Held gleich im Anfange ſeines Gedichtes eine Reiſe nach Engelland thun laͤſt, um ſich den Beyſtand der Koͤnigin Eliſabeth zuwege zu bringen. Dieſes iſt zwar freylich in der Hiſtorie nicht gegruͤndet, und alſo nicht wircklich geſchehen; allein es iſt doch wahrſchein - lich; weil Henrich gleichſam etliche Monate in einer ſolchen Stille zugebracht, daß man indeſſen von ihm nichts aufge - zeichnet findet. Hier ſtund es nun dem Poeten frey, ſeinem Helden, der ohnedem in Franckreich nichts verſaͤumete, außer Landes was zu thun zu geben. Er zaubert ihn aber nicht etwa in die Canariſchen Jnſeln, und wieder zuruͤck; wie Taſſo es mit ſeinem Reinald macht: ſondern er laͤßt ihn natuͤrlicher Weiſe uͤber den Canal zwiſchen Franckreich und Engelland ſchiffen. u. ſ. w.
M 2Jch180Das VI. CapitelJch frage nur, ob der alte Greis, den er ſogleich auf der Engliſchen Kuͤſte in einer Einoͤde antreffen und ſeinem Helden ſein gantzes kuͤnftiges Schickſal vorherſagen laͤßt; ob dieſe Fabel, ſage ich, Wahrſcheinlichkeit genug vor ſich habe. Der Einſiedler muß ein Prophet werden, und zwar ein wirck - lich von GOtt erleuchteter Prophet, dergleichen die im Alten Teſtament geweſen. Er ſagt ausdruͤcklich:
Jch weiß nicht, ob dieſe vier Zeilen es wahrſcheinlich und glaublich machen koͤnnen, daß GOtt die Buͤcher des Ver - haͤngniſſes einem Eremiten werde eroͤffnet haben, welches er ohne Noth niemahls gethan; auch niemahls zu thun verſpro - chen hat. Um ſo viel mehr aber iſt mir dieſer neue Prophet aͤrgerlich anzuhoͤren, da er die Proteſtantiſche Religion, als ein eifriger Papiſt vor einen Jrrthum anſieht; den Ubertritt Heinrichs des IV. zur Roͤmiſchen Kirche eine Erleuchtung nen - net, u. ſ. w.
Ob nun ein Prophet, der die gereinigten Wahrheiten des Evangelii vor ein Ungeheur ſchilt, es einen neuen Gottes - dienſt nennet, und ſeinen Urſprung aus dem menſchlichen Ei -genſin -181Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. genſinne herleitet, ihm einen baldigen Untergang drohet: Ob ein ſolcher Prophet ein goͤttlicher Prophet ſeyn koͤnne; das moͤgen alle Proteſtanten, davon halb Europa voll iſt, ſelbſt bedencken. Gleichwohl verkuͤndiget unſer Einſiedler alles vorher, als ob er die Geſchichte Heinrichs des vierten ſchon zum voraus geleſen haͤtte. Man darf hier nicht ſagen, es koͤnne von einem Catholiſchen Poeten nicht gefordert wer - den, daß er als ein Proteſtant ſchreiben ſolle. Jn Franck - reich werde dieſer Eremit wahrſcheinlich genug ſeyn. ꝛc. Jch antworte: Voltaire hat in ſo vielen Stellen ſeines Gedich - tes, welches gewiß viel zu der Schoͤnheit deſſelben mit bey - trage, genugſam zu verſtehen gegeben, daß er kein ſo blinder Papiſt ſey als mancher wohl dencken moͤchte. Hat er nun ſelbſt das Hertz gehabt, viel Saͤtze einfließen zu laſſen, die ſei - nen Religions-Verwandten ſo ſehr mißfallen haben, daß er das Land deswegen raͤumen muͤſſen: Warum hat er nicht vollends dieſen Einſiedler, der doch eine Creatur ſeiner Ein - bildungs-Krafft iſt, ſo gebildet, daß er uͤberall und nicht nur in Franckreich wahrſcheinlich heraus gekommen?
Jch komme auf die Hexerey der Verſchwornen, die er im fuͤnften Buche ſeines Gedichtes beſchrieben; und davon ſchon oben gedacht worden. Es iſt wahr, daß die Koͤnigin von Medicis eine Liebhaberin der Zauberkunſt geweſen, und es kan ſeyn, daß ihr Exempel viele ihrer Unterthanen nach ſich gezogen. Es ließe ſich daher auch mit einiger Wahr - ſcheinlichkeit dichten, die ſechzehn Haͤupter der Rebellen haͤt - ten zu einem Schwartzkuͤnſtler ihre Zuflucht genommen, um das Schickſal ihres Reiches zu erfahren. Dies finſtre un - terirrdiſche Gewoͤlbe, alle die aberglaͤubiſchen Zuruͤſtungen der juͤdiſchen Hexenmeiſter, kurtz, alles was vorhergeht, und ſich bloß auf die thoͤrichte Fantaſie der Menſchen gruͤndet, iſt in meinen Augen nicht unwahrſcheinlich. Aber daß der Poet auf eine ſo verdammliche Begierde das Kuͤnftige zu wiſſen, auf ſolche Gotteslaͤſterliche und ruchloſe Beſchwerungen, und Zauberformeln, eine Erhoͤrung ihres Wunſches erfol - gen laͤſt, das kan ich ihm nicht vergeben. GOtt beſtaͤrcket dieſe aberglaubiſche Rotte in ihrer Thorheit. Was derM 3Zaubrer182Das VI. CapitelZaubrer nicht vermag; thut derjenige, den er gelaͤſtert hat; und was das Aergſte iſt, durch ein wahrhaftes Wunder - werck, dabey er die Geſetze der Natur aufheben muß. So ſagt der Poet:
Wo hat man nun ein ſolch Exempel von dergleichen Begeben - heiten gehoͤrt oder geſehen, da GOtt anſtatt des Satans einem Hexenmeiſter ſeinen Wunſch erfuͤllet; ihn dadurch in ſeiner Thorheit geſtaͤrcket, und alſo der Ehre ſeines eigenen Nah - mens ſelbſt Hinderniſſe in den Weg gelegt. Herr Voltaire, der ſonſt ſolche geſunde Begriffe von dem hoͤchſten Weſen hat, ſollte ſich hier wohl etwas behutſamer aufgefuͤhrt haben; damit er die Regeln der Wahrſcheinlichkeit, die er andern ſo wohl vorzuſchreiben weiß, ſelbſt nicht aus den Augen geſetzt haͤtte.
Jch habe mich bisher in Bemerckung der Fehler bloß al - lein bey den beruͤhmteſten Heldengedichten der aͤltern und neuern aufgehalten, und wuͤrde noch ein deutſches Helden - gedichte vornehmen muͤſſen; wenn eins verhanden waͤre, ſo ſich der Muͤhe verlohnte. Wir haben zwar den Wittekind, den uns Poſtel verfertiget hat; allein dieſer verdient eben ſo wenig eine Critic, als des Chapelains Maͤdchen von Or - leans, oder des St. Amand erretteter Moſes in Franckreich. Zudem wird er faſt von niemand geleſen, und alſo iſt es nicht zu beſorgen, daß ſein Exempel andre verfuͤhren werde. Jch komme alſo noch mit wenigen auf die Fehler, ſo in dramati - ſchen Poeſien wieder die Wahrſcheinlichkeit begangen wer - den. Die Alten ſind davon eben ſo wenig frey als die Neu - ern, und wenn wir ſie gleich loben, ſo wollen wir nicht allesſchlech -183Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. ſchlechte damit gut heiſſen, ſo ihnen zuweilen entwiſchet iſt. Sophocles ſoll uns bey den Griechen mit ſeinem Oedipus zum Beyſpiel dienen, daß er auch habe fehlen koͤnnen: wenn gleich die Fabel uͤberhaupt und das gantze Stuͤck ſeinen Werth behaͤlt.
Der Schauplatz oͤffnet ſich durch einen Chor Thebani - ſcher Buͤrger, die vor den Altaͤren auf ihren Knien liegen, und von den Goͤttern das Ende ihres Ungluͤcks erbitten wol - len. Oedipus ihr Koͤnig, erſcheint mitten unter ihnen, und ſagt: Jch bin Oedipus, der in aller Welt ſo beruͤhmt iſt. Was iſt die Urſache, meine Kinder, weswegen ihr hie - her gekommen? Jſt es hier wohl wahrſcheinlich, daß die Thebaner ihren Herrn nicht gekannt; und daß er es alſo noͤ - thig gehabt zu ſagen wer er ſey? Der Hoheprieſter antwor - tet ihm indeſſen im Nahmen des Volcks. Du ſiehſt hier Juͤnglinge und alte Maͤnner vor dir. Jch, der ich dich anrede, bin der Oberprieſter Jupiters. Deine Stadt iſt wie ein Schiff, ſo von Ungewittern beſtuͤrmt wird ꝛc. und hier faͤngt er ihm an die Peſt zu beſchreiben, die im Lande damahls wuͤtete. Sollte hier wohl Oedipus wiederum we - der den Hohenprieſter gekannt, noch um den Zuſtand ſeines Landes gewuſt haben? Jndem die Beſchreibung der Peſt noch waͤhret, koͤmmt Creon, der Jocaſta Bruder, den man an das Orackel geſchickt hatte, eine goͤttliche Antwort wegen der Landplage zu vernehmen, dieſer redet den Oedipus an: Herr, ſpricht er, wir haben vormahls einen Koͤnig ge - habt der Lajus hieß. Jch weiß es, erwiedert jener, ob ich ihn gleich niemahls geſehen habe. Er iſt erſchlagen worden, verſetzt Creon, und Apollo will, daß wir ſeine Moͤrder zur Strafe ziehen ſollen. Jſt denn Lajus zu Hauſe oder im Felde erſchlagen worden; fragt Oedipus hierauf. Hier ſieht nun wohl abermahl ein jeder, es ſey nicht wahrſcheinlich, daß Creon eine ſo bekannte Sache, als der Tod des Koͤnigs Lajus in Theben ſeyn muſte, dem als was unbekanntes werde erzehlet haben, der an ſeiner Stelle ſchon etliche Jahre regieret hatte: Vielweniger, daß Oedipus ſich in ſo langer Zeit nicht mehr um die Art ſeines Todes bekuͤm -M 4mert184Das VI. Capitelmert haben werde. Doch er faͤhrt fort zu fragen, ob denn aus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erſchlagenen Koͤ - nige geweſen, niemand wieder zuruͤcke gekommen? Einer der wircklich mit zugegen geweſen, giebt zur Antwort, daß es von einer Menge von Straßen-Raͤubern geſchehen; da es doch von einer einzigen Perſon, nehmlich vom Oedipus ſelbſt, ge - ſchehen war. Wie war das moͤglich, eine ſo falſche Antwort zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das Geringſte zu beſorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich, daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus noch lebe; und von dieſem haͤtte er leicht voͤllige Nachricht einziehen koͤnnen: Allein er laͤßt ihn, wieder alles Vermu - then, nicht einmahl zu ſich fordern. Auch der Chor, der ihm allezeit Anſchlaͤge giebt, denckt nicht daran, ſondern raͤth ihm, lieber den Tireſias fordern zu laſſen. Endlich in der vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen, wie es mit dem Tode des Koͤniges bewandt geweſen; weil er ſo begierig war, ſeinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni - ger als das. Die Tragoͤdie endigt ſich, ehe Phorbas ein Wort von dem Tode ſeines Herrn zu reden bekommen.
Dieß mag zu einer Probe genug ſeyn, daß Sophocles die Wahrſcheinlichkeit nicht genau beobachtet habe. Wer ſich ausfuͤhrlicher darum bekuͤmmern will, kan die Critique nachleſen, die Voltaire uͤber die drey Oedipos, nehmlich den griechiſchen, des Corneille franzoͤſiſchen, und ſeinen eigenen gemacht. Jmgleichen kan man die Critik uͤber den Cid, von der franzoͤſiſchen Academie in dieſer Abſicht zu rathe ziehen. Die Liebhaber der Opern moͤgen St. Evremonts Gedancken daruͤber nachſchlagen; und uͤberhaupt von Theatraliſchen Poeſien kan man auch leſen was Cervantes im Don Quixo - te, einen gewiſſen Canonicum davon hat ſagen laſſen. Die Wahrſcheinlichkeit in Schaͤfergedichten anlangend, darf man nur Fontenellens Diſcours, imgleichen den Guardian davon beſehen. Die Satire betreffend, ſehe man Mu - ralts Briefe uͤber die Franzoſen nach, wo er des Boileau ſeine Satire uͤber Paris unterſuchet hat.
Jch185Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.Jch ſehe ſchon vorher, daß viele dieſe beyde letztern Ca - pitel mit ſcheelen Augen werden angeſehen haben. Es wird wenigen von unſern deutſchen Poeten gefallen, daß man ſich die Freyheit nimmt, die Gedichte der groͤſten Meiſter ſo ſcharf zu pruͤfen. Man wird ſagen, es ſchicke ſich nicht, aller Leute Geſchmack nach ſeinem eigenen Leiſten zu meſſen. Was mir nicht gefiele, koͤnne deswegen doch andern gefallen, und alſo auch ſchoͤn ſeyn. Und ich waͤre der Mann nicht, der ſich uͤber die groͤſten Meiſter zum Richter erheben koͤnnte. Allein ich antworte auf dieſes letzte, daß ich mir meiner Schwachheit von ſelbſt ſchon bewuſt bin. Jch habe ſelbſt weder ein Hel - dengedicht noch ein Theatraliſches Stuͤck geſchrieben; und gebe mich alſo vor keinen Poeten aus, der denen gleich zu ſchaͤtzen, geſchweige vorzuziehen waͤre, die ich beurtheilet habe. Jch ſage nur Anfaͤngern in der Poeſie, was ich von andern vor poetiſche Regeln gelernet habe, und wie man die Gedichte darnach pruͤfen muͤſſe. Horatius machte es auch ſo:
Den Freunden des willkuͤhrlichen Geſchmacks aber aufs er - ſte zu antworten, gebe ich eine treffliche Stelle des engliſchen Grafen Schafftesbury zu uͤberlegen, die ich, weil das Buch nicht uͤberall zu haben iſt, aus dem III. Tom. ſeiner Characte - riſtics Miſc. III. C. 2. p. 165. herſetzen will. (*)„ Aus dieſer „ Urſache, ſchreibt er, wollen wir nicht allein die Sache der „ Criticverſtaͤndigen vertheidigen; ſondern auch allen den „ nachlaͤßigen und gleichguͤltigen Schrifftſtellern, Verfaſſern, „ Leſern, Zuhoͤrern, Comoͤdianten und Zuſchauern einen of - „ fenbaren Krieg ankuͤndigen; die ihre Einfaͤlle allein zu einer „ Regel der Schoͤnheiten und Annehmlichkeiten machen; und „ da ſie von dieſem ihren Eigenſinne, oder ihrer wunderlichen „ Fantaſie keine Red und Antwort geben koͤnnen, die Critik, „ oder Unterſuchungs-Kunſt verwerfen; wodurch ſie doch al - „ lein geſchickt werden koͤnnen, die wahre Schoͤnheit und den „ rechten Werth jedes Dinges zu entdecken.
„ Nach186Das VI. Capitel„ Nach der erzwungenen Auslachenswuͤrdigkeit, die ſol - „ che abgeſchmackte Leute wahren Criticis aufbuͤrden wollen, „ wuͤrde dis beluſtigende von allen Kuͤnſten und natuͤrlichen „ Schoͤnheiten verlohren gehen. Sogar in Trachten und „ Sitten wuͤrden wir zu dieſen Zeiten ſo barbariſch werden, „ als wir in unſern Ergetzungen und Luſtbarkeiten ſind. Doch „ will ichs von dieſen Feinden der Critick hoffen, ſie wuͤrden „ nicht ſo unhoͤflich, oder ſo fern von aller Menſchlichkeit ſeyn, „ zu behaupten: daß das allerbarbariſchſte Leben, und viehi - „ ſche Beluſtigungen, eben ſo hoch als die artigſten und poli - „ teſten Vergnuͤgungen zu ſchaͤtzen waͤren.
„ Meines theils, wenn ich zuweilen Maͤnner von bekann - „ ter Geſchicklichkeit, mit einem weibiſchen und klaͤglichen „ Thone wieder die Criticos habe eifern hoͤren, habe ich wirck - „ lich gedacht; ſie haͤttens im Sinne, den anwachſenden Geiſt „ junger Leute, die ihnen nacheifern, niederzuſchlagen; indem „ ſie dieſelben von derjenigen Unterſuchung und Pruͤfung ab - „ zuwenden ſuchen, ohne welche eine tuͤchtige Arbeit ſowohl „ als ein richtiges Urtheil nicht beſtehen kan.
WJr haben oben gewieſen, daß ein Dichter ſeine Nachahmung durch eine harmoniſche und wohlklin - gende Rede ins Werck richte. Die Rede iſt ein Ausdruck unſrer Gedancken, der durch Worte geſchiehet, welche entweder einzeln, oder mit andern zuſammen ge - nommen ihre Bedeutungen haben. Dieſe letztern be - kommen den Nahmen der Redens-Arten, und davon wird in dem folgenden Capitel gehandelt werden. Hier will ich nur von der erſtern Gattung handeln, und theils ihren man - nigfaltigen Unterſcheid, theils ihren vernuͤnftigen Gebrauch in der Poeſie zeigen.
Vors erſte iſt es bekannt, daß die Sprachverſtaͤndigen in der deutſchen Sprache ſo wohl als in der Lateiniſchen, ach - terley Gattungen von Woͤrtern bemercket, die zur Ausdruͤ - ckung und Verbindung unſrer Gedancken noͤthig ſind. Wir haben Nennwoͤrter, womit wir theils die Sachen theils ihre Eigenſchafften anzeigen, z. E. Kopf, Hand, Buch, ge - lehrt, geſchickt, gruͤndlich, u. d. gl. Wir haben Vorwoͤr - ter, die anſtatt der vorigen gebraucht werden koͤnnen, um gewiſſe Wiederholungen zu erſparen. Z. E. Jch, du, er; der, die, das, dieſer, dieſe, dieſes, u. ſ. w. Wir haben Hauptwoͤrter, um das Thun oder Leiden gewiſſer Dinge zu bedeuten: als ſchreiben, leſen, hoͤren, lernen, u. d. gl. und die werden wieder in ihre Claſſen abgetheilet. Wir haben Mittelwoͤrter, die von den vorigen etwas, und von den Nennwoͤrtern auch etwas an ſich haben, und alſo zwiſchen beyden das Mittel halten. Z. E. Das Wort verworfener deutet erſtlich an ein vergangenes Leiden, ſo einer Sache, die verworfen worden, wiederfahren: hernach aber auch die Ei - genſchafft, z. E. eines ſchlechten Reimes: Ein verworfener Reim. Wir haben ferner Neben-Woͤrter, dadurch dieBe -188Das VII. CapitelBedeutungen der Hauptwoͤrter entweder eingeſchraͤncket oder vergroͤßert, oder ſonſt auf gewiſſe Weiſe beſtimmet wer - den: als z. Ex. wohl ſchreiben, recht reimen, ſchoͤn dencken, ſtarck ruͤhren. Wir haben Vorwoͤrter, welche man bey den Reim - und Vorwoͤrtern noͤthig hat, ihre Verhaͤltniſſe unter einander anzuzeigen: als von Rom, nach Paris; bey mir, zu ihm, uͤber die Wolcken, im Staube, unter dem Poͤbel. Wir haben Verbindungswoͤrter, die den Zu - ſammenhang unſrer Begriffe anzeigen, als da ſind: Und, auch, aber, denn, weil, dafern, u. d. gl. Endlich auch Zwi - ſchenwoͤrter, die gemeiniglich zum Ausdrucke gewiſſer Ge - muͤthsbewegungen und andrer kleiner Umſtaͤnde dienen, die zu den vorigen nicht gebracht werden koͤnnen. Als: Ach! O! Hey! Sa, Sa! St! Wohlan! luſtig! u. d. m.
Aller dieſer Gattungen von Woͤrtern, kan ein Poet eben ſo wenig, als die Geſchichtſchreiber und Redner entbehren. Allein er bedienet ſich dabey offtmahls gewiſſer Freyheiten, die in andern Schrifften nicht erlaubt ſeyn wuͤrden. Jch wuͤrde hier Regeln und Exempel davon geben muͤſſen, wenn ſich ſolches nicht bequemer bey den folgenden Abtheilungen der Woͤrter thun ließe. Man kan nehmlich dieſelben uͤber - haupt, entweder als veraltete, oder als uͤbliche, oder als neu - gemachte Woͤrter anſehen, und dabey fragen, welche von die - ſen vor einen Poeten eigentlich gehoͤren.
Was die altfraͤnckiſchen Woͤrter betrifft, ſo finden wir ſie in den Schrifften, die vor und um die Zeiten der Refor - mation Lutheri, ja bis auf Opitzens Zeiten, verfertiget wor - den. Man darf nur den Theuerdanck, Hans Sachſens und andrer ſolcher alten Meiſterſaͤnger Schrifften nachſehen, ſo wird man die Proben davon gantz haͤuffig finden, z. E. im Theuerdanck ſteht gleich von Anfang beſchaffen vor geſchaf - fen, Gemahel vor Gemahlin, Kuͤnigein vor Koͤnigin, Be - filh, vor Befehle, beſtet, vor beſtattet, von nahenden, vor nahen. Einhelligklich, vor einhellig, endtſchuͤttet, vor beſchuͤtzet, abgan, vor abgehen. Morgenich, vor morgen - de, Faulkeit, vor Faulheit. Ruck, vor Ruͤcken, offt und dick vor vielmahls, Gehueren vor Geweihe oder Gehoͤrneeines189Von poetiſchen Worten. eines Hirſchen. Benungich, vergnuͤgt, oͤffen, vor eroͤff - nen; kecklichen, vor behertzt ꝛc. doch genug, denn ſonſt muͤ - ſte ich ein gantz Woͤrterbuch machen. Man ſieht es wohl, daß von allen dieſen Worten theils die Bedeutung, theils die Endigung, theils die Rechtſchreibung altfraͤnckiſch iſt: einige auch gantz und gar ungewoͤhnlich worden. Zuweilen iſt auch wohl das Geſchlecht veraͤndert, als wenn z. E. im Theuerdanck ſteht das Jeiaid, anſtatt daß wir itzo die Jagd ſagen. Wenn man aber in noch aͤltere Zeiten zuruͤcke geht, ſo findet man gar unverſtaͤndliche Woͤrter, die man auch im Zuſammenhange nicht errathen kan. Was heiſt z. E. in fol - genden Zeilen das letzte Wort?
Vnnd mit gantzen trewen Warnen Jhr muͤſt die Koͤnigin erarnen. Theurd.
Unzehlicher andrer, die im Ottfried, Willerom, Stricker, Winsbeck und dergleichen alten Schrifften vorkommen, zu geſchweigen, die man in Schilters Wercke nachſehen kan.
Hier fragt ſichs nun, ob ein Poet ſich ſolcher alten Woͤr - ter noch bedienen koͤnne. Von der letzten Art kan man wohl kein Bedencken tragen mit Nein zu antworten. Denn was einen unverſtaͤndlich machet, das muß man mit Fleiß vermei - den. Von den erſten aber iſt es ebenfalls nicht anders. Durch die ſeltſame Figur, die ſolche Woͤrter itzo in unſern Augen machen, wuͤrde ein Gedichte nur laͤcherlich werden, oder, wenn ſie offt vorkaͤmen, wuͤrde ein Vers nur rauh und grob davon ausſehen. Jch habe einen Geiſtlichen gekannt, der ſich aus D. Luthers Schrifften dergleichen alleraͤlte - ſten Woͤrter und Redensarten anmerckte, und ſeine Predig - ten damit ausſtaffirte. Seine Meynung war dabey, ſich als einen eifrigen Schuͤler Lutheri zu bezeigen: aber, eine ſo ſeltſame Nachahmung machte ihn nicht nur unverſtaͤndlich, ſondern auch laͤcherlich. Einem Poeten wuͤrde es nicht beſ - ſer gehen, wenn er dergleichen thun wollte; Es waͤre denn, daß er mit Fleiß die Schreibart der Alten, in einem ſoge - nannten Knittelreime nachahmen wollte; da es denn nicht nur erlaubt, ſondern auch eine Schoͤnheit ſeyn wuͤrde, alles recht altfraͤnckiſch zu machen.
Soviel190Das VII. CapitelSoviel iſt indeſſen gewiß, daß man in gewiſſen alten Buͤchern zuweilen Woͤrter findet, die ſich auch zu unſern Zei - ten ſehr wohl brauchen laſſen: obwohl ſie ſeit funfzig oder hundert Jahren, aus der Mode gekommen, z. E. das Wort Geſchwader, Eſcadron iſt heutiges Tages faſt nicht mehr zu hoͤren; gleichwohl haben wir kein beſſers an deſſen Stelle er - funden; man wollte denn Schwadronen ſagen. Das Wort Buhlſchafft iſt noch von Opitzen und Flemmingen gebraucht worden, dasjenige anzuzeigen, was die Franzoſen Maitreſſe, und die Deutſchen eine Courteſie nennen. Die Verliebungen, les Amours, iſt gleichfalls ein Wort, wel - ches wir nicht beſſer auszudruͤcken im Stande ſind: ich finde es aber in einem Buche von 1648 gebraucht. Wenn ſich nun ein Poet dieſer und dergleichen Woͤrter mit Verſtande und maͤßig bedienet, ſo kan man ihn nicht tadeln; ſondern hat vielmehr Urſache, ihm verbunden zu ſeyn, daß er ein ge - ſchicktes Wort aus dem Staube der Vergeſſenheit wieder hervorgezogen, darein es ohn alle ſeine Schuld gerathen war.
WEgen der uͤblichen Woͤrter, ſcheint es bey einem Poeten keine Schwuͤrigkeit zu haben: Allein man kan doch verſchiedene gute Anmerckungen daruͤber machen. Zum er - ſten ſind dieſelben entweder gemein, ſo daß ſie auch den ein - faͤltigſten Leuten gelaͤufig ſind: Oder ſie ſind ungemein und ſeltſam; weil ſie nur unter den Gelehrten zu Hauſe ſind, oder in ihren Buͤchern vorkommen. Ein Poet hat nach Anlei - tung des 1. Cap. die Abſicht, ſich durch eine edle Art des Aus - druckes in Hochachtung zu ſetzen, und gleichſam die Sprache der Goͤtter zu reden. Daher muß er denn nicht die gemein - ſten; ſondern die ungemeinſten Woͤrter brauchen: zumahl wenn er in ſeinem Nahmen ſchreibet. Wenn z. E. gemeine Leute ſagen: Der Kopf thut mir wehe: ſo ſpricht etwa der Poet: Mich ſchmertzt das Haupt. Jenes hoͤrt man taͤg - lich, drum klingt es nicht: Dieſes hoͤrt man ſelten; drum iſt es edler und erhabener.
Doch191Von poetiſchen Worten.Doch ſind die gemeinen Woͤrter auch nicht gantz zu ver - werfen. Jn gewiſſen Gattungen der Gedichte, wo das Na - tuͤrliche mehr herrſchen muß, wuͤrde es ein Ubelſtand ſeyn, lauter geſuchte Ausdruͤckungen zu brauchen. Z. E. Jn ei - nem Schaͤfergedichte, Briefe, zaͤrtlichen oder luſtigen Liebes - liede, imgleichen in einer Satire oder Comoͤdie, ſind die ge - woͤhnlichſten Woͤrter gemeiniglich die beſten. Die Urſa - chen davon werden in den beſondern Regeln von dieſen Gat - tungen vorkommen. Sogar die gantz niedertraͤchtigen und poͤbelhafften Worte koͤnnen einem Poeten nicht gantz verbo - ten werden, wenn ſie nur nicht wieder die Erbarkeit laufen. Er muß ja zuweilen dergleichen Perſonen redend einfuͤhren, die gewiß auf keine andere Art ihre Gedancken von ſich ge - ben koͤnnen. Der beruͤhmte Spanier, Cervantes, hat die - ſes ſehr wohl beobachtet, wenn er ſeinen Sanſche Panſa als einen Bauerkerl gantz abgeſchmackt, und in lauter baͤuri - ſchen Sprichwoͤrtern reden laͤſt. Und man koͤnnte es daher in Zieglers Baniſe mit Recht tadeln, daß Scandor gemei - niglich eben ſo edel als der Printz Balacin redend eingefuͤhret wird. Alle Woͤrter aber, die Unflaͤtereyen bedeuten, alles was wieder den Wohlſtand laͤuft, alles was guten Sitten zuwieder iſt, muß der Poet auch bey den allerniedrigſten Aus - druͤckungen zu vermeiden wiſſen, wie in den Anmerckungen zur Dichtkunſt Horatii ſchon erwieſen worden.
UNter die uͤblichen Woͤrter moͤchte mancher auch wohl die Auslaͤndiſchen, ſonderlich Lateiniſchen und Franzoͤſiſchen rechnen wollen: weil nehmlich nichts gewoͤhnlicher iſt, als dieſelben mit in unſre Sprache zu miſchen, wenn wir reden. Dieſes Ubel iſt auch ſo neu nicht, als man wohl dencken ſollte; ſondern ſchon vor hundert und mehr Jahren hat ſich Opitz in ſeiner deutſchen Poeterey daruͤber beſchweret. So ſteht es auch zum hefftigſten unſauber, ſchreibt er, wenn allerley latei - niſche, franzoͤſiſche, ſpaniſche und welſche Woͤrter in den Text unſerer Rede geflickt werden; als wenn ich wollte ſagen:
Nehmt192Das VII. CapitelWie ſeltſam nun dieſes klinget, faͤhrt er fort, ſo iſt nichts deſto weniger die Thorheit innerhalb kurtzen Jahren ſo eingeriſſen, daß ein jeder, der nur drey oder vier auslaͤndiſche Woͤrter, die er zum offtern nicht verſtehet, erwiſcht hat, bey aller Gele - genheit ſich bemuͤhet, dieſelbigen herauszuwerfen. Er er - weiſet ſeinen Satz durch das Exempel der Lateiner, welche faſt kein einzig griechiſch Wort in ihre Verße gemiſcht: aus - genommen wo Juvenalis theils einmahl uͤber das roͤmiſche Frauenzimmer geſpottet, die aus Galanterie ihren Buhlern auf griechiſch liebkoſeten; theils einmahl ein gewiſſes Laſter, welches er aus Schamhafftigkeit nicht lateiniſch nennen wol - len, griechiſch ausgedruͤcket.
Seiner Regel ſind alle gute Poeten unſers Vaterlandes gefolget, ja viele haben auch nach ihm ihren Eifer wieder die Sprachenmengerey durch die ſchaͤrfſten Stellen erwieſen. Andreas Gryphius hat in ſeinem Horribilicribifax ſo wohl dieſen Großſprecher, als ſeinen Gegner Daradiridatumta - rides, das Welſche, Spaniſche, Franzoͤſiſche; den Schul - fuchs Sempronius hergegen, das Griechiſche und Lateiniſche auf eine laͤcherliche Art ins Deutſche miſchen laſſen, um an - dern einen Abſcheu davor zu erwecken. Rachelius hat ſich gleichfalls bemuͤht eine ſo uͤble Gewohnheit abzuſchaffen, und in ſeiner offterwehnten Satire, der Poet, folgender Geſtalt geſchrieben:
Er faͤhrt noch weiter fort, und ſtellet ſogar einen Geiſtlichen vor, der das Evangelium vom Hauptmanne zu Capernaum in einer ſolchen neumodiſchen Sprache auf der Cantzel vorge - tragen, welches wohl werth iſt geleſen zu werden. Dieſer Rachelius ſelbſt iſt in dieſem Stuͤcke ſo gewiſſenhafft, daß er in der Vorrede zu ſeinen zehn Satiren (in 12. vom Jahr 1700) ausdruͤcklich erinnert: daß er zwey oder drey lateini - ſche, vielleicht auch ſoviel franzoͤſiſche Woͤrter mit eingeſcho - ben, nicht unwiſſend, daß ſolches im Deutſchen kein geringer Soloeciſmus iſt. Er habe es aber mit Fleiß gethan, derer zu ſpotten, die ſich auf ſolche Weiſe hervorthun wollten, wie es auch die Lateiner mit denen gemacht, die halb lateiniſch, halb griechiſch haben reden wollen. Was koͤnnte ich nicht noch aus Laurenbergs plattdeutſchen Schertzgedichten vor Zeug - niſſe anfuͤhren, wenn es noͤthig waͤre, eine ſo ausgemachte Sache noch weitlaͤuftiger zu erweiſen.
Ein deutſcher Poet bleibt alſo bey ſeiner reinen Mutter - ſprache, und behaͤnget ſeine Gedichte mit keinen geſtohlnenNLum -194Das VII. CapitelLumpen der Auslaͤnder. Aber wie haͤlt es mit den eigenen Nahmen der Perſonen, Staͤdte, Fluͤſſe, Laͤnder und Ber - ge? Dieſe kan man unmoͤglich vermeiden. Denn wer kan allen ſolchen Dingen deutſche Benennungen geben, die doch verſtaͤndlich ſind? Man laͤſt alſo dieſe Nahmen, nach Opi - tzens Regel, aus dem VI Cap. ſeiner Poeterey, unveraͤnder - lich durch alle Abfaͤlle; wenn es ſich thun laͤſt. Z. E.
Jch will mein Gluͤcke tragen,So lang ich kan und mag, will ſetzen auf den Wagen,Der grauen Ewigkeit, durch meiner Leyer KunſtDie braune Flavia.Opitz.
Nicht Flaviam, u. d. m. zuweilen geht es an, daß man von langen Nahmen die letzten Sylben weg laͤſt, und alſo ein Wort von deutſcher Endung draus macht. Als z. E. Ho - mer, Herodot, Plutarch, Auguſt, Virgil, Lucian, Terentz, Ovid, Martin, u. ſ. w. Alsdann laſſen ſich bey den meiſten auch die Veraͤnderungen der Abfaͤlle machen, z. E. Homers Gedichte, Herodots Hiſtorie, Plutarchs Schrifften, Lu - cians Spoͤttereyen ꝛc. Bey etlichen aber will es auch nicht angehen, als bey Terentz und Horatz kan ich unmoͤglich ſagen, des Terentzes, des Horatzes: ſondern da bin ich genoͤthiget, entweder die lateiniſche Endigung oder die deutſche Verkuͤr - tzung unveraͤndert zu behalten, und den Abfall durch den Ar - tickel anzudeuten. Gewiſſe Nahmen haben an ſich ſchon deutſche Endungen, als Solon, Alexander, Hannibal, u. d. g. Und dieſe koͤnnen ohn alle Aenderung nach Art deutſcher Woͤrter gebraucht werden. Die Endigungen us, as und es, imgleichen die Nahmen ſo ein a, o, oder einen andern lauten Buchſtaben zum Ausgange haben, ſind am ſchlimm - ſten nach deutſcher Art zu brauchen. Denn man kan nicht ſagen des Julius’s, Epaminondas’s, Praxiteles’s, Syl - la’s, Cicero’s, ꝛc. beruͤhmte Nahmen. Die Engellaͤnder machens in ihrer Sprache ſo, und im deutſchen habens einige nachthun wollen; aber noch keine Nachfolger gefunden. Es iſt alſo am rathſamſten, alle die Woͤrter entweder zu laſ - ſen wie ſie ſind, und den deutſchen Artickel vorzuſetzen: oderſie195Von poetiſchen Worten. ſie nach Gelegenheit gar auf lateiniſche Art zu veraͤndern. Z. E. Simon Dach ſchreibt faſt vor hundert Jahren ſo:
Hier muß ſich mit ſchoͤnen Fluͤſſen,Hippocrene ſelbſt ergieſſen,Mein Parnaß ragt hier hervor,Hier kan Socrates gebieten,Und die Kunſt des Stagiriten,Hebet hie das Haupt empor.Plato, Tullius, Euclides,Maro, Flaccus, Ariſtides,Und der Aertzte Fuͤrſt Galen,Kriegen hier ein neues Leben,Ja man ſieht ſich hier erheben,Paleſtinen, Rom, Athen.
Worinnen man faſt von allen obigen Regeln zulaͤngliche Exempel antreffen wird. Und ſo viel von uͤblichen oder ge - woͤhnlichen Woͤrtern.
WAs die neuen Woͤrter anlanget, ſo fraget ſichs, ob man dergleichen machen koͤnne und doͤrfe? Man verſteht hier durch neue Woͤrter entweder gantz neue Sylben und Thoͤne, die man ſonſt in unſrer Sprache nicht gehoͤret hat, oder nur eine neue Zuſammenſetzung alter Sylben und Woͤr - ter, die nur dergeſtalt noch nicht verbunden worden. Ob beydes im deutſchen moͤglich ſey, daran iſt wohl kein Zweifel: ja es iſt bey uns viel moͤglicher und leichter als im Jtaliaͤni - ſchen und Franzoͤſiſchen, weil unſre Sprache mehr Aehnlich - keit mit der alten Griechiſchen hat, als alle heutige Europaͤi - ſche Sprachen. Dieſe aber iſt uͤberaus geſchickt, durch die Zuſammenſetzung, recht vielſylbige neue Woͤrter zu machen; wie uns die Kunſtnahmen in der Zerglieder-Kunſt, und die Dythiramben der alten Poeten ſattſam zeigen. Z. E. He - geſander hat dieß Epigramma auf die alten Sophiſten ge - macht:
N 2Ὀφρυα -196Das VII. CapitelὈφρυανασπασίδαι,〈…〉〈…〉 ινεχκαταπυξυγένειοι, Σακκογενειοτρόφοι, καὶ λοπαδαρπαγίδαι, Ἱματανωπερίβαλλοι, νηλίποι και βλεπελαίοι, Νυκτιλατραιοφάγοι, νυκτιπαταιπλάγιοι. Μειρακιεξαπάται, και συλλαβοπεισιλαβῆται, Δοξοματαίοσοφοι, ζηταρετησιάδαι.
Ob unſre Mutterſprache es auch ſo weit bringen koͤnne, das haben die Pegnitzſchaͤfer und Zeſianer nicht unverſuchet laſſen wollen. Die erſten hießen ihren Nuͤrnbergiſchen Strom, die holdrinnende und wuͤrbelfriedige Pegnitz: Jhre Gei - ſter hochſteigend feuerbruͤnſtige Geiſter, ihre Floͤten, der ſchleifenden Pfeifen luſtſchlirfendes Thoͤnen. Jhre Wieſen: die von der Kunſtahmenden Natur huͤgelar - tig erhobenen ſchamarirten Waſen. Jhre Schafe, die wolligten Wollenbehaͤrete Heerden, oder die mit zottig - ten Baͤrten bebaͤrteten Boͤcke. u. d. gl. Fiengen ſie aber gar an die Natur gewiſſer Dinge mit ihren neuen Woͤrtern nachzuahmen; ſo waren ſie gantz unvergleichlich: Z. E.
Desgleichen von andrer Art.
Noch was ſchoͤnes, dergleichen nicht immer vorkommt.
Alle dieſe Bluͤmchen ſind aus Claji Pegnitz-Schaͤferey ent - lehnet. Ein andrer Landsmann von ihm, Floridan ge - nannt, kan die Kunſt eben ſo gut. Jn ſeiner ſeelig entſeeletenMar -197Von poetiſchen Worten. Margaris Lieb - und Lob-Andencken, ſo er im Pegnitz-Ge - filde bey froͤlicher Fruͤhlingszeit traurig angeſtimmet, heißet gleich der Anfang des erſten Trauer-Hirten-Spiels ſo:
Alſo ſagte und klagte (wie es ferner heiſt) der betruͤbte Schaͤ - fer Floridan, von ſeinem gewoͤhnlichen Luſtwandel-Weg ſich an der Pegnitz forttragen laſſend. Seine Sinne ſchwartzeten in die Wette mit ſeinen Kleidern ꝛc. Seine Wangen und Augen hatten die Farben gewechſelt ꝛc. Er oͤffnet ein paar Thraͤnen-Brunnen, ꝛc. Aus ihrem Schmer - tzensthau und Hertzregen laͤſſet er die ihm damahls viel zu guͤldene Sonne, Wolcken machen, und den ſchwartzen Him - mel mit ſaffirnen Cartinen verhaͤngen. ꝛc. Hernach redet er die Baͤchlein poetiſch an, und will ſich mit ihrer Luſt be - luͤſten.
Jndem hernach eine Lerche uͤber ihm tiriliret, bildet er ihm ein ſie ruffe: Margaris, Margaris, Margaris, ꝛc. weiß aber nicht, ob er von dieſer gefluͤgelten Lufftharfe gehoͤnet oder getroͤſtet wird. Doch erinnert er ſich dabey ſeiner unter den himmliſchen Engel-Lerchen ſchwebenden Gottlobenden Margaris. ꝛc. ꝛc.
Was koͤnnte ich nicht aus Zeſens Schrifften vor treffli - che Proben anfuͤhren? Jch doͤrfte nur ſeinen hochdeutſchen helikoniſchen Roſenthal, das iſt, der hoͤchſtpreiswuͤrdigen deutſchgeſinneten Genoſſenſchafft Erſter oder neunſtaͤmmiger Roſen-Zunft Ertzſchrein, durchblaͤttern, und alle die ſeltſamen Misgeburten von Woͤrtern und Redensarten, die er ausge - hecket, anmercken. Allein das obige kan genug ſeyn, die Art dieſer Sprachkuͤnſtler und Worthelden kennen zu lernen. Nichts mehr iſt zu bewundern, als daß ſelbſt Opitz, bey ſo vie -N 3ler198Das VII. Capiteller Einſicht in die Natur unſrer Sprache’, ſich durch das Exempel der Hollaͤnder zu einer gar zu großen Kuͤhnheit ver - leiten laſſen. Er uͤberſetzt z. E. aus Heinſii Poeſien folgende Zeilen von Wort zu Wort, die dem Weingott zu Lobe ge - reichen:
Eben dergleichen neue Nahmen und Woͤrter findet man in ſeinem Lob des Kriegsgottes Mars, und an andern Orten. Er hat z. E. die Nacht eine Kummerwenderin, u. d. m. ge - nennet, welches endlich ſo uͤbel nicht klinget als die vorigen, und alſo ſchon zu dulden waͤre. Seine Nachfolger, z. E. Lohenſtein, u. a. m. haben ſich auch zuweilen großer Freyhei - ten bedienet, die ich keinem nachzuahmen rathen wollte. Sonderlich hat man ſich bemuͤhet, alle Woͤrter, die nur ei - niger maßen dem latein aͤhnlich waren, oder wircklich daraus herſtammeten, auf eine wunderliche Art zu uͤberſetzen, gerade als wenn die Lateiner vormahls alle griechiſche Nahmen oder dergleichen andre entlehnte und hergeleitete Woͤrter ſo hefftig verabſcheuet haͤtten. Rachelius hat ſich abermahl nicht enthalten koͤnnen, dieſe Hirſenpfriemer, wie er ſie nen - net, laͤcherlich zu machen. Jn ſeiner offt angezogenen Sa - tire heißt es:
Auch ſieh dich eben fuͤr, daß deine Arbeit nicht,Sey allzu ſehr genau und ſorglich eingericht.Nach Hirſenpfriemers Art, wenn er alſo darf ſetzen:Der Ertzgott Jupiter, der hatte, ſich zu letzen,Ein Gaſtmahl angeſtellt. Die Weidin gab das Wild.Der Glutfang den Toback. Der Saal ward angefuͤllt.Die Obſtin trug zu Tiſch in einer vollen Schuͤſſel,Der Freye ſaß und ſpielt auf einem Hertzens-Schluͤſſel,Der kleine Liebreich ſane ein Dichtling auf den Schmaus,Der trunckne Heldreich ſchlug die Tageleuchter aus,Die Feurin kam darzu aus ihrem JungferzwingerMit Schnaͤbeln angethan. Apollo ließ die FingerFriſch durch die Sayten gehn. Des Heldreichs WaldhauptmannFieng luſtig einen Tantz mit den Holdinnen an.Je!199Von poetiſchen Worten.Je! daß ich doch ſo ſchreib! Dies Elend iſt entſprungen,Vom guten Vorſatz her, weil man mit fremden Zungen,Die edle Mutterſprach zu ſchaͤnden aufgehoͤrt,Und unſre Deutſchen hat das reine Deutſch gelehrt.
Aus dem allen erhellet deutlich genug, daß man ſich vor der - gleichen neuen Woͤrtern ſoviel moͤglich, zu huͤten habe. Un - ſre Sprache iſt an ſich ſelbſt reich genug. Wir koͤnnten zur Noth andern Voͤlckern eine Menge der beſten Ausdruͤckun - gen abtreten, und wuͤrden doch keinen Mangel leiden doͤrfen. Man kan auch alle ſeine Gedancken gar leicht mit uͤblichen und gewoͤhnlichen Redensarten zu verſtehen geben, wenn man nur will, und fleißig die beſten deutſchen Scribenten ge - leſen hat. Die Begierde, unſre Mundart zu bereichern, macht einen offt unverſtaͤndlich und rauhe: offtmahls auch gar laͤcherlich. Hierinn habens auch wohl große Maͤnner verſehen. Z. E. Beſſern, der doch ſonſt ſo beſcheiden in ſeinen Ausdruͤckungen iſt, iſt doch einmahl der ſeltſame Vers ent - fahren, der eben von keinem guten Geſchmacke zeiget:
Wer ſolte ſichs wohl einbilden, daß dieſes einen Adler bedeu - tet, wenn ers nicht ſelbſt dazu geſetzet haͤtte? Aber wer haͤtte es auch geglaubt, daß dieſe Zeilen aus ſeiner Feder gefloſſen? Gleichwohl ſteht ſie p. 19. ſeiner Gedichte. Dergleichen Exempel muͤſſen uns behutſam machen.
Doch kan man einem deutſchen Poeten freylich nicht alle neue Woͤrter verbieten. Das hieße ſeinem Pegaſus die Fluͤgel gar zu kurtz verſchneiden, wenn er allezeit bey der ge - woͤhnlichſten Art zu ſchreiben bleiben muͤſte. Eine edle Kuͤhnheit ſteht ihm zuweilen ſehr wohl an, und gewiſſe gram - matiſche Verwegenheiten gerathen manchem ſowohl, daß man eine beſondre Schoͤnheit darinnen findet. Doch iſt nicht ein jeder ſo gluͤcklich, daß er Beyfall damit verdienet; weil nicht ein jeder ein ſo zaͤrtliches Gehoͤr hat, das leidliche von dem unertraͤglichen zu unterſcheiden. Es iſt hier mit unſern Poeten ſo, wie mit den lateiniſchen. Plautus und Lucretius haben ſich in dieſem Stuͤcke ſehr vergangen;N 4Vir -200Das VII. CapitelVirgil und Horatz aber haben ſich bey ihren neuen Woͤrtern ſehr vernuͤnftig erwieſen. Ein Mare velivolum, oceanus diſſociabilis, emirari, venti deproeliantes und andre ſolche poe - tiſche Redensarten mehr kommen bey ihnen vor, die in unge - bundner Schreibart nicht gebraͤuchlich ſind, und doch in den zaͤrtlichen Ohren des guͤldnen Alters der lateiniſchen Spra - che nicht wiederwaͤrtig geklungen.
Unſre erſten guten Poeten geben mir eine Menge von Exempeln an die Hand, da ſie es gluͤcklich gewagt, neue Woͤr - ter zu machen.
So legt ſich der Phoͤnix nieder,Stirbet und verjuͤngt ſich wiederDurch den Zimmet-Brand verzehrt.S. Dach.
Und man ſollte furchtloß ſtehn? Derſelbe.
Deine Marck hat dich beſiegtDie von Leid und Angſt durchfahren,Blutig und mit freyen HaarenDir zu ſehr fuͤr Augen liegt.Derſelbe.
Edle Marck, gebrauch dich ſein,Eile, daß ſein Gnaden-Schein.Bald und ſatt dich mag beglaͤntzen.Derſelbe.
Die gelehrte CaſtalisHat mein Fluͤgelroß gewißSelber wollen baden.Derſelbe.
Der, der hier ſo hoch tritt her,Der iſts, den die Ehren-DienſteUnd die leichten Hofe-Guͤnſte.Machen auf den Schein ſo ſchwer.P. Flemming.
Etwa wie ein Tauſendſchoͤnchen,Das gemahlte Lentzen-Soͤhnchen,Mit dem fruͤhen Tag entſteht.Derſelbe.
Hier ſtehn die verweinten AltenBeyder Hertzen ſind zerſtuͤckt.Derſelbe.
Die geſtirnten Himmels-ScheibenWollen gleichſam ſtehen bleibenUber Euch und eurer Zier.Derſelbe.
Recht, denn ſoll der Himmelgurt,Der den Schnee hat zur Geburt,So viel thun bey Liebes-Sachen.M. Opitz.
Du haͤtteſt mit gelehrter HandDas ſchnelle Ziel gezwungen,Und ſie durch kuͤnſtlichen VerſtandVom Grabe weggeſungen.M. Opitz.
Hier waͤre mein Palaſt, hier wollt ich leſen koͤnnenDas ſuͤſſe Himmel-Naß ꝛc.Derſelbe.
Jch bin muͤde, dergleichen neue Woͤrter zu ſuchen, ſonſt woll - te ich ſie auch in andern Buͤchern gar haͤufig finden. Jch will nur noch dieſes erwehnen, daß wenn gute Poeten in ihren Gedichten den Schall gewiſſer natuͤrlichen Dinge haben nachahmen wollen, ſie gleichwohl lieber bekannte und ver - ſtaͤndliche Worte, als ſeltſame und neuausgedachte Thoͤne dazu gebraucht. Z. E. Wenn Nic. Peucker, ſeinem Nah - men zu Ehren, den Pauckenſchall liebt, ſo macht er folgenden Verß:
Mein Pauckenſchlag, das BomdibidibomRufft: Friedrich Wilhelm komm.Mach uns uns ein Freudenlied, das Bomdibidibum,Und Taratantara macht ſchon die Ohren ſtumm.
Hingegen finde ich, daß Opitz in ſeinem Gedichte von der Ruhe des Gemuͤths den Lerchengeſang ſo ausgedruͤcket:
Die Lerche ſchreyet: dir, dir lieber GOtt allein,Singt alle Welt, dir, dir, dir will ich danckbar ſeyn.
Und Flemming ahmt den Geſang einer Nachtigal auf eben ſo eine vernuͤnftige Art nach, wenn er in der 3ten Ode des IIIten Buchs ſchreibt:
Die gelehrten NachtigallenSchreyn euch zu mit lautem Schallen,N 5Gluͤck,202Das VII. CapitelGluͤck, Gluͤck, Gluͤck! du trautes Paar,Dir, dir, dir, gilt unſer Singen ꝛc.
Eben ſo machen ſie es, wenn ſie andre Gattungen der Thoͤne auszudruͤcken ſuchen. Da ſieht man keine unerhoͤrte, neuge - backene Menge nichtsheißender Sylben: ſondern zwar aus - geſuchte und der Natur gemaͤße, aber ungezwungene und ſparſam angebrachte Woͤrter. Ein vollkommenes Exempel giebt mir wiederum Flemming in der angefuͤhrten Stelle.
Daß die Elſter heller rauſchet,Daß mit Buhlerinnen tauſchet,Manch verliebtes Waſſervolck,Daß die Buͤſche ſaͤnfter brauſen,Daß die Luͤffte linder ſauſen,Und uns truͤbet keine Wolck ꝛc.
Hier ſieht man, wie kluͤglich der Poet im erſten Verße das ſtarcke Rauſchen eines Stromes, im vierten das ſanfte Brauſen der Gebuͤſche, und im fuͤnften das lindeſte Sauſen der Luͤfte nachgeahmet; aber ſo, daß es ſcheint, als ob es von ungefaͤhr gekommen waͤre.
AUs einzelnen Woͤrtern werden Redensarten, wenn man ſie zuſammenſetzet, und ſeine Gedancken dadurch aus - druͤcket. Zu den Nennwoͤrtern rechnet man nun insgemein die Beywoͤrter, die in gebundner und ungebundner Rede von großer Wichtigkeit ſind, und alſo eine beſondre Abhandlung erfordern. Jn der That beſteht eine große Schoͤnheit der poetiſchen Schreibart in wohlausgeſuchten und wohlange - brachten Beywoͤrtern. Es kan auch ein Dichter viel Witz und Urtheil, aber auch eben ſo viel Einfalt und Thorheit bli - cken laſſen, nachdem er dieſelben wohl zu brauchen weiß oder nicht. Ein gutes Beywort erhebt offt eine gantze Zeile, und macht einen ſonſt gemeinen Gedancken neu und ſcheinbar. Ein niedriges oder ungeſchicktes hingegen, ſchlaͤgt den beſten Vers nieder, und verderbt auch den ſchoͤnſten Einfall zuwei - len. Es iſt alſo wohl noͤthig, in etwas davon zu handeln.
Die203Von poetiſchen Worten.Die Beywoͤrter bedeuten an ſich theils die Eigenſchaff - ten der Dinge, die ihnen allezeit beywohnen; theils auch nur die zufaͤlligen Beſchaffenheiten. Z. E. Die heiße Glut, der linde Weſt. Da iſt die Glut immer heiß, ſowohl als das Waſſer immer naß iſt; der Weſt-Wind aber iſt nicht alle - zeit ſanft, ſondern auch zuweilen ungeſtuͤm. Nun fragt ſichs, in welchen Faͤllen man jener oder dieſer Art Beywoͤrter brauchen muͤſſe. Von der erſten Gattung koͤnnte man den - cken, daß ſie gantz uͤberfluͤßig ſeyn wuͤrden; weil es nichts ge - ſagt zu ſeyn ſcheinet, wenn man ſpricht, der runde Zirckel, die weiße Kreide, der harte Stein ꝛc. Allein man betruͤgt ſich: Ein Poet kan auch dieſe Art der Beywoͤrter nicht ent - behren. Er will offt ſeinem Leſer oder Zuhoͤrer die Sachen von einer gewiſſen Seite zu betrachten geben. Sagte er nun den bloßen Nahmen derſelben nur allein; ſo wuͤrde man zwar an die gantze Sache uͤberhaupt, aber nicht an die Eigen - ſchafft ins beſondre gedencken, die der Poet erwogen haben will: oder ſich doch dieſelbe nur dunckel vorſtellen. Denn ein Ding hat viele Eigenſchafften, die uns nur verwirrt in Gedancken ſchweben, wenn wir nichts als ſeinen Nahmen hoͤren. Z. E. Der Stein iſt dicht, hart, ſchwer, leicht, daur - hafft, lebloß, unbeweglich u. ſ. w. Weil aber in dieſem oder jenem Falle der Leſer ſeine Gedancken nur auf eine oder die andre Eigenſchafft richten ſoll, um des Poeten Meynung zu verſtehen: ſo muß ein Beywort dabey ſtehen, dadurch er da - zu veranlaſſet werden kan. Z. E.
Oder;
Oder:
Oder:
Oder:
Aus dieſer einzigen Anmerckung wird man ſchon zur Gnuͤge die Regel abnehmen koͤnnen; daß kein Beywort in der Poe - ſie vergebens oder muͤßig da ſtehen muͤſſe. Gantze Zeilen mit Beywoͤrtern anzufuͤllen, die nichts oder doch ſehr wenig zur Abſicht des Poeten beytragen, zeigt keinen ſonderlichen Ver - ſtand an. Ordentlich ſoll kein Wort mehr als ein Beywort haben, welches ſich zur Sache ſchicket, und entweder zum Verſtande unentbehrlich iſt, oder doch einen beſondern Zier - rath abgiebt, indem es eine angenehme Vorſtellung bey dem Leſer erweckt, dadurch er lebhaffter geruͤhret und deſto mehr eingenommen wird. Das zeigt alſo mehrentheils eine Ar - muth an Gedancken, wenn man ſo lange allerley Beywoͤrter zuſammen raffet, bis ein gantzer, ja zuweilen wohl gar etliche Verße damit vollgeſtopfet worden. Wie wuͤrde das klingen?
Hiernechſt ſind die Beywoͤrter entweder gemein, ſo daß ſie einem jeden einfallen; oder neu und unvermuthet. Zum Exempel: Wenn einer ein Frauenzimmer ſchoͤn nennet, ſo iſt nichts gemeiner als dieß Beywort, obwohl die Sache ſo gemein nicht iſt. Wenn aber Opitz ein paar von ſeinen Buhl - ſchafften beſchreiben will, ſo hat er gantz andre Beywoͤrter die er ihnen giebet.
Mich duͤnckt, ein jeder wird hier leicht gewahr werden, was dieſe ſo beſondre Beywoͤrter dem gantzen Verße vor einen ungemeinen Geiſt und Nachdruck geben: den ſie von an -dern205Von poetiſchen Worten. dern bekannten und offt gebrauchten nimmermehr haͤtten er - warten koͤnnen.
Flemming iſt in dergleichen Kuͤnſten noch faſt erfahrner geweſen. Er beſchreibt in einer Ode eine Fruͤhlings-Nacht folgendergeſtalt:
Alles braucht ſich ſeiner Ruh,Sehet, wie die Saat ſich buͤcket,Die verwachte Roſe nicket,Und thut itzt ihr Auge zu.Und die taumelnden Cypreſſen,Haben ihrer ſelbſt vergeſſen.Die gekuͤhlte Lufft ſchleicht aus,Und haucht auf die trucknen Matten,Thauende, geſunde Schatten.Und das frohe SternenhausGeuſt den ſchlummernden Gewaͤchſen,Neue Krafft in ihre Flechſen.
Alle dieſe Beywoͤrter ſind ſo auserleſen und ſinnreich, daß ich mich nirgends entſinne, was ſchoͤners in dieſer Gattung gefunden zu haben. Weil ſie aber faſt alle Gleichnißweiſe zu verſtehen ſind, ſo gehoͤren ſie eigentlich nicht in dieſes Capitel. Eben ſo gluͤcklich in Beywoͤrtern iſt Amthor. Z. E. p. 187.
Der Nordwind hat der Baͤume ZweigenDen gruͤnen Vorhang abgeſtreift,Die kahlen Gipfel ſtehn bereift,Des Jahres Alter anzuzeigen.Das Laub entfleucht der kalten LufftUnd ſuchet die beliebte Grufft:Vielleicht nur in den ſtillen Gruͤnden,Vor ihren Stuͤrmen Schutz zu finden.
Das iſt die erſte Strophe von einer Hochzeit-Ode: Jn den andern finde ich noch das leichtbedeckte Vogelheer, laue Suͤmpfe, warme Neſter, viergefuͤßte rauche Schaaren, neu geputzte Waffen, ein reichbehaarter Balg, der er - ſtarrte Coͤrper, mit weicher Hand ein hartes Eiſen (den Ofen) befuͤhlen; todte Funcken, eine lindgemachte Glut, ein holdbelebter Schooß, in ſeinen Federweichen Gruͤfften,ein206Das VII. Capitelein froher Schlummer, die kalten Schatten, ein froſtig Weh, der weiße Liebes-Schnee, keuſche Luͤſte, die ge - ſchloßne Decke, ein ſtarrer Leib, die geweyhten Anmuths - Flammen, immerfriſches Oel, ein helles Tugendlicht, u. ſ. w.
Bey dem allen fragt es ſich, ob es angehenden Poeten zu rathen ſey, ſich dergleichen ſchoͤne Beywoͤrter und andre poe - tiſche Redensarten zu ſammlen, oder dieſelben in gedruckten Sammlungen nachzuſchlagen und zu brauchen? Wir haben eine Menge ſolcher Handbuͤcher, die ich alle hier nahmhafft machen wollte, wenn ich ihren Gebrauch vor noͤthig hielte. Zwar einem ſolchen Reimſchmiede,
Wie Guͤnther ſchreibt, thun dergleichen Buͤcher zuweilen gute Dienſte. Allein, das ſind eben die Leute nicht, die dem Vaterlande durch ihre Poeſie Ehre bringen werden; und al - ſo waͤre es beſſer, daß man ihnen den Weg zum Reimen und Sylbenhencken nicht erleichterte. Geiſtreiche Koͤpfe brau - chen ſolche Gaͤngelwaͤgen nicht, ihre Muſe zu leiten. Poeten zu leſen, und bey ihren ſchoͤnen Ausdruͤckungen den Witz, ſo darinnen ſtecket, zu uͤberdencken, das ruͤcket uns freylich den Kopf zurechte. Ein Feuer zuͤndet das andre an, und man wird ſelber allmaͤhlich geſchickt guten Muſtern zu folgen. Allein ein Chaos von allerley zuſammengeſtoppelten Bluͤm - chen nachzuſchlagen, und bey jeder Zeile, die man ſchreibt, ei - nen poetiſchen Trichter in Haͤnden zu haben, daraus man Woͤrter ſucht, Gedancken auszudrucken, die man noch nicht hat: das heißt gewiß ſchlecht poetiſiret. Gemeiniglich be - kommt auch ein Beywort ſeine gantze Schoͤnheit aus dem Zuſammenhange, darinn es ſtehet. Jn einer ſolchen Schatz-Kammer aber findet man nichts als
Die verſtuͤmmelten Glieder eines zerriſſenen Poeten; die nunmehro dasjenige nicht mehr ſind, was ſie an ihrem rechtenOrte207Von poetiſchen Worten. Orte geweſen. Wie kan alſo ein Ausdruck außer ſeiner rechten Stelle ſeine Anmuth und ſeinen Nachdruck behalten?
NUn muß ich auch auf die Wortſpiele kommen; die vor - zeiten uͤberall ſo beliebt geweſen, zu unſern Zeiten aber gantz laͤcherlich geworden. Wenn ich durch ein Wortſpiel eine jede Wiederholung eines Wortes oder einer Sylbe ver - ſtehen wollte, ſo wuͤrde ich in der That viele poetiſche Schoͤn - heiten verwerfen muͤſſen. Z. E. Wenn Flemming p. 129. ſchreibt:
Wohl dem, der ſo verdirbt!Wer eh ſtirbt, als er ſtirbt, der ſtirbt nicht wenn er ſtirbt.
So kan ich dieß unmoͤglich ein verwerfliches Wortſpiel nen - nen. Denn der Poet hat lauter wahre und wohlgegruͤndete Gedancken im Kopfe, die er am allerbeſten auf dieſe Art aus - zudruͤcken dachte. Es iſt wahr, daß das Wort ſterben hier in dreyerley Bedeutung genommen wird. Denn ehe ſter - ben, als man ſtirbt; das heißt eigentlich ſeinen Luͤſten abſa - gen, und die Welt verſchmaͤhen, ehe noch die Seele vom Leibe getrennet wird. Und nicht ſterben, wenn man ſtirbt, heißt ſoviel, als in der Welt im guten Andencken bleiben, ja auch der Seelen nach ewig leben; wenn man gleich dem Coͤr - per nach entſeelet worden. Alſo koͤnnte man freylich hier ſa - gen, der Poet haͤtte mit dem Worte ſterben geſpielet, und es bald in eigentlichem, bald in verbluͤmtem Verſtande genom - men. Allein geſetzt, daß man dieſes ein Wortſpiel heißen wollte, welches denn eine willkuͤhrliche Sache iſt: So koͤnn - te es doch kein verwerfliches Wortſpiel heißen. Denn der Gedancke in der gantzen Zeile iſt richtig, deutlich und auf eine ſinnreiche Art ausgedruͤckt. Man haͤtte ihn weder kuͤrtzer faſſen, noch dem Leſer in ſo wenigen Sylben mehr gute Be - trachtungen veranlaſſen koͤnnen. Alle Bedeutungen, die endlich das Wort ſtirbt bekommt; ſind gewoͤhnlich, und der Leſer darf ſich alſo keine Gewalt thun, einen unerhoͤrten Sinn deſſelben zu errathen.
Gantz208Das VII. CapitelGantz anders wird es ſich, meines Erachtens, bey folgen - den Proben von Wortſpielen verhalten, die ich aus eben dem Poeten nehmen will. Er ſetzt z. E.
Hier glaube ich nun, wird wohl ein jeder begreifen, daß dieſe Wortſpiele nichts als leere Schellen ſind, die nur im Gehoͤre klingen, dem Verſtande aber keinen neuen Gedancken ver - anlaſſen. Denn was ſoll es heißen, daß ſich die gekuͤßten Kuͤſſe kuͤſſen? Ein Kuß kan ja nicht gekuͤßt werden, weil er im Kuͤſſen erſt entſteht, und ſogleich aufhoͤret zu ſeyn. Viel - weniger kan er ſelber kuͤſſen. Dieſes ſind alſo Thone ohne Sinn. Und was hat das Freyſeyn mit dem freyen zu thun? Wenn gleich das eine Wort von dem andern abſtammete; ſo waͤre es doch noch kein Grund, das Freyen der Kinder ih - rem Willkuͤhr zu uͤberlaſſen. Jn allen dieſen Wiederholun - gen aͤhnlicher Woͤrter ſtecket weiter nichts, als die Gleichheit des Thones, die ſo leicht einen Eckel als Wohlklang erwecken kan. Das dritte Exempel iſt vollends eine ſehr laͤppiſche Art des Spieles. Ein Buchſtabe muß durch ſeine Aehnlichkeit mit dem andern der gantzen Zeile eine vermeynte Schoͤnheit geben. Die obigen Spiele ſind mir alſo eben ſo laͤcherlich, als folgende Mißgeburt eines Pegnitzſchaͤfers vorgekommen:
Es giebt noch eine Art der Wortſpiele, darauf ſich gewiſſe Leute Wunder was! einbilden. Es ſind die Anſpielungen auf Nahmen, wo ich ſo reden darf; dabey ſie einen beſon - dern Witz zu bezeigen vermeynen. Flemming hat es uns auch an ſolchen Exempeln nicht fehlen laſſen, welche ich der Hochachtung unbeſchadet, die ich ſonſt vor ihn habe, zu dem Ende anfuͤhre, damit man ſehe, wie ſich auch Leute, denen es an Witz und Geiſt ſonſt nicht fehlet, in dergleichen Kleinig - keiten verlieben koͤnnen. p. 364. ſteht ein Lied auf eine Hoch - zeit Johann Weinmanns mit Magd. Waſſerfuͤhrerin. Da heiſt nun eine Strophe:
Schoͤne Braut, gedenckt zuruͤcke,Und erwegt des Himmels Gunſt,Der euch, helfe GOtt zu Gluͤcke!Einen Weinmann, eure Brunſt,Einen Weinmann, der euch liebet,Vor den Waſſerfuͤhrer giebet.
Welch eine Wohlthat GOttes! einen Mann zu bekommen, der vom Weine den Nahmen hat, nachdem man einen ver - lohren, der ihn vom Waſſer herleitete. Ohne Zweifel wird die gute Frau bey dem erſten lauter Waſſer, beym andern lauter Wein getruncken haben. Die 17de Ode in ſeinem III. Buche iſt auf Nicl. von Hoͤveln und Eliſ. Niehuſens Hochzeit gemacht, und darinne ſpielt er ſo unſauber:
Hoͤfelt euer neues Haus Braͤutgam aus. ꝛc.
Dieſes laͤuft nun gar wieder die Erbarkeit, wird aber von ſchmutzigen Versmachern deſto lieber nachgemacht. Jn der 19ten Ode deſſelben Buchs, auf Dam. Glaͤſers und Mar. Reiminen Hochzeit, ſteht folgende letzte Strophe:
Braut, gedencket unterdeſſen,Daß an euch was glaͤſerns iſt,Braͤutgam, thut auch nicht vergeſſenWas ihr nun fort reimen muͤſt.Daß ihr moͤgt nach kurtzen TagenNeue Reim und Glaͤſer tragen.
Wer nun in allen dergleichen Kindereyen Schoͤnheiten zuOſehen210Das VII. Capitelſehen meynet, dem kan man ſeinen Geſchmack wohl laſſen; aber wer was wahres und gruͤndliches dem ſcheinbaren vor - ziehen will und kan, der wird beſſer thun, wenn er alle dieſe Klapperwercke ſorgfaͤltig vermeidet. Die Exempel großer Leute, ſo ſich zuweilen auf die Art vergangen, machens nicht aus. Man hat freylich in Virgils Schaͤfergedichten der - gleichen eins gefunden:
Dieſes Raͤtzel beſteht bloß in der Zweydeutigkeit des Worts caeli, welches entweder von Caͤlius herkommt, und alſo das Grab eines gewiſſen Caelii zu verſtehen giebt: oder von Cae - lum ein Abfall iſt, und alſo die Breite des Himmels andeu - tet. Cicero hat gleichfalls in einer Rede wieder den Verres, ein Geſetze, ſo dieſes geitzigen Mannes Nahmen fuͤhrete, weil es unter ſeinem Buͤrgermeiſteramte gegeben war, Jus Verrinum genennet, und alſo vermittelſt einer Zweydeutigkeit es eine Schweinsbruͤhe nennen wollen. Allein der Poet kan leicht damit entſchuldiget werden, daß er ſein Raͤtzel in den Mund eines einfaͤltigen Schaͤfers leget, der auf dem Dorfe leicht etwas vor ſchoͤn halten konnte, was doch Virgil ſelbſt vor was ſchlechtes hielte. Der Redner aber iſt ſeines Wort - ſpieles halber allbereit zu Quintilians Zeiten critiſiret wor - den, wie aus dem Geſpraͤche von den Urſachen der verfalle - nen Beredſamkeit erhellet. Siehe die Ueberſetzung deſſel - ben vor meiner Rede-Kunſt p. 40. Von Opitzen und andern Poeten unſers Vaterlandes darf man mir alſo beſtoweniger einen Einwurf machen. Jch weiß wohl, daß ſie ſich zuwei - len von dem verderbten Geſchmacke ihrer Zeiten, gleichſam wieder ihren Willen hinreißen laſſen. Jhr Exempel aber muß uns keine Regel machen: weil es mit keinen guten Gruͤnden unterſtuͤtzet iſt. Wir folgen vielmehr der Fuͤr - ſchrifft des Boileau, der in ſeiner Dichtkunſt ausdruͤcklich die Wortſpiele verworfen hat. Denn er erzehlt, wie an - faͤnglich die Spitzfuͤndigkeiten und zweydeutigen Worte aus Jtalien gekommen, und erſtlich in die Sinngedichte, her - nach, da der Poͤbel dadurch verblendet wurde, in Madriga -len,211Von poetiſchen Worten. len, Tragoͤdien, Elegien, Schaͤfergedichten, ja gar vor Gerichte und auf der Cantzel eingefuͤhret worden.
Hierauf ſagt er, die Vernunft haͤtte endlich die Augen aufge - than, und ſie einmahl vor allemahl aus ernſthafften Schriff - ten verbannet, ſie allenthalben vor unehrlich erklaͤret, und ihnen kaum in Sinngedichten, doch mit dem Bedinge, einen Platz vergoͤnnet, daß ſie mit den Gedancken und nicht mit Worten ſpielen moͤchten. Darauf haͤtten zwar allenthalben die Unordnungen aufgehoͤrt; doch waͤren bey Hofe noch Poſ - ſenreißer geblieben; abgeſchmackte Luſtigmacher, unſeelige Pickelheringe, altfraͤnckiſche Verfechter grober Wortſpiele.
Was koͤnnte ich nicht aus des Grafen Schafftsbury, und aus Richard Steelens Schrifften vor Stellen anfuͤhren, darinn ſie uͤber den verderbten Geſchmack ihrer Landes-Leute in dieſem Stuͤcke die hefftigſten Klagen fuͤhren. Allein es iſt genug geſagt, wenn ich nur noch die Probe eines guten Ge - danckens, die von einigen vorgeſchlagen wird, werde ange - merckt haben. Man ſagt: alles, was ſich in eine fremde Sprache uͤberſetzen laͤſt, und gleichwohl noch die vorige Schoͤnheit behaͤlt, das iſt ein gruͤndlicher und richtiger Ge - dancke. Was aber alsdann ſich ſelbſt nicht mehr aͤhnlichO 2ſieht,212Das VIII. Capitelſieht, das iſt zu verwerfen. Jn Ermangelung einer beſſern, will ich mich nicht bemuͤhen, dieſe Regel umzuſtoßen: welches vielleicht nicht ſo gar unmoͤglich waͤre. Das iſt endlich noch anzumercken, daß man zum Gelaͤchter und irgend eines lu - ſtigen Einfaͤlls wegen, wohl zuweilen ein Wort in anderm Verſtande nehmen, und zum Schertze brauchen kan, ohne den guten Geſchmack dadurch zu verletzen. Boileau ſelber erlaubt dieſes in folgender Stelle:
Ce n’eſt pas quelque fois, qu’une Muſe un peu fine,Sur un mot en paſſant ne joue & ne badine,Et d’un ſens detourné n’abuſe avec ſuccés:Mais fuyez ſur ce point un ridicule exces,Et n’allez pas toujours d’une pointe frivole,Aiguiſer par la queuë une Epigramme folle.
Wie viel gezwungene Spitzfindigkeiten muͤſten wir nicht aus unſern meiſten Poeten ausmuſtern; wenn wir des Boileau Fuͤrſchrifft in dieſem Stuͤcke folgen wollten?
DEr groͤſte Zierrath poetiſcher Ausdruͤckungen, beſteht endlich in den tropiſchen, uneigentlichen und verbluͤm - ten Worten und Redensarten. Man ſetzt dieſelben dem eigentlichen Ausdrucke entgegen, der alle Woͤrter in ih - rer natuͤrlichſten und einfaͤltigſten Bedeutung braucht. Dieſes iſt die allergemeinſte Art zu reden und zu ſchreiben, die auch den allerſchlechteſten Koͤpfen nicht ſchwer ankoͤmmt. So leicht und verſtaͤndlich ſie iſt, wenn ſie nur nach den Re - geln der Sprachkunſt richtig bleibt: ſo trocken, ſo mager und waͤſſerigt iſt ſie auch. Sie hat kein Feuer, keinen Geiſt, kein Leben in ſich, und iſt ſehr geſchickt, einen der ſie hoͤret oder lie - ſet, einzuſchlaͤfern. Diejenigen Poeten unſers Vaterlan - des, ſo ſich mehr auf ein fließendes Sylbenmaaß als auf guteGe -213Von verbluͤmten Redens-Arten. Gedancken befliſſen, ſind in dieſer Art des eigentlichen Aus - druckes faſt zu tief heruntergeſuncken. Sie wollten die hoch - trabende Lohenſteiniſche Schreibart meiden, und fielen in den gemeinen proſaiſchen Ausdruck; ſo daß endlich ihre Ge - dichte nichts als eine abgezehlte Proſe geworden. Jch will hieher nur Chr. Weiſen und Beſſern rechnen, welche gewiß in dieſem Stuͤcke vielmahls gar zu natuͤrlich geſchrieben. Von dem Erſtern kommt mir in ſeinen reifen Gedancken p. 175. von ungefehr folgendes in die Hand:
Aus dem letztern faͤllt mir beym aufſchlagen das Beylagers - Gedichte von Alexandern und Roxanen in die Augen, wo Jupiter im Vorſpiele ſich ſo hoͤren laͤßt:
Was iſt nun in dieſen beyden Stuͤcken poetiſches, außer dem Sylbenmaße und den Reimen? Sind es nicht lauter gemei - ne Gedancken, gemeine Woͤrter und Redensarten, gemei - ne Bedeutungen derſelben? Wie haͤtte man ſich eigentlicher ausdruͤcken, und den natuͤrlichen Verſtand der Worte ge - nauer beybehalten koͤnnen, als hier geſchehen? Man darf nur eine kleine Veraͤnderung damit vornehmen, ſo daß das Syl - benmaaß verſchwindet, und der Reim wegfaͤllt, ſo bleibt nichts als eine ſehr magre Proſa uͤbrig. Wir wollen mit dem erſten die Probe machen:
O 3„ Wer214Das VIII. Capitel„ Wer itzo in ſeinem gantzen Leben funfzig Jahre zuruͤ - „ ckelegen kan, dem ſcheinet es trefflich viel zu ſeyn. Die „ Welt nimmt alle Tage ab, und will uns faſt Abſchied geben. „ Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kuͤrtzer wird auch das „ Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieſer Gnade ſegnet, „ daß er noch funfzig Jahre in ſeiner Ehe vollbringt, dem iſt „ ein ſolch Wunderwerck und Gluͤck wiederfahren, das kaum „ einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. ꝛc.
Nun moͤchte ich gern wiſſen, wo hier das poetiſche We - ſen ſtecket; wo ſich der Geiſt und Witz eines Dichters gewie - ſen habe? Alles dieſes hat meines Erachtens ein jeder den - cken und ſchreiben koͤnnen, der niemahls einen Poeten geſehen oder geleſen, ja kein Wort von Poeſie reden gehoͤrt. Jn der Beſſeriſchen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der gemeinſten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben - maaß und die Reime wegſchaffet.
„ Daß auf Erden von den Menſchen Ehen vorgenommen „ werden, das kommt nicht vom Vorſatze der Menſchen her. „ Es iſt ein Werck Jupiters; Es iſt mein Thun, der ich die „ Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen „ lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur „ von mir beſchloſſen werden.
Vielleicht halten viele davor, daß dieſes eben die rechte Schoͤnheit der vernuͤnftigen Poeſie ſey, gantz natuͤrlich zu re - den, und ſich von allen ſchwuͤlſtigen Redensarten zu enthal - ten. Allein wir wollen uns erſtlich erinnern, daß Horatz uns vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch uͤber allen Wolcken nach leerer Lufft zu ſchnappen; noch im Staube zu kriechen: ſondern die Mittelſtraße zu halten, und auf dem er - habenen Parnaß zu gehen befohlen.
Vors andre iſt es laͤngſt auch von Rednern angemercket wor - den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verbluͤmte Re - densarten, ſo gar der ungebundnen Rede eine beſondre An - muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red -ner215Von verbluͤmten Redens-Arten. ner im 38. Cap. ausdruͤcklich, daß die uneigentlichen Be - deutungen der Woͤrter zu allererſt zwar aus Mangel und Duͤrftigkeit der Sprachen aufgekommen; hernach aber auch zur Anmuth und Zierde gebraucht worden: Wie man auch die Kleidungen anfaͤnglich zur Bedeckung unſrer Bloͤße, nachmahls aber zum Pracht ausgeſonnen und eingefuͤhret. Er erweiſet dieſes durch verſchiedene verbluͤmte Reden, die auch bey den lateiniſchen Bauren gewoͤhnlich geweſen; der - gleichen etwa bey uns folgende waͤren: Der Wald iſt mir ausgeſtorben; der Baum hat den Krebs; die Zweige krie - gen ſchon Augen; die Saat ſteht geil; der Acker iſt fett; das Getreyde brandig. u. d. g. Darauf erinnert er, daß auſſer dieſen gemeinen Arten verbluͤmter Reden, es noch eine verwegnere Gattung gebe, die nicht aus dem Mangel der Sprache; ſondern aus einem feurigern Witze entſteht, und der Rede viel Glantz und Schoͤnheit zuwege bringet: welches er denn mit vielen poetiſchen Exempeln erlaͤutert. Jch will desgleichen thun, um die Sache in ein voͤlliges Licht zu ſetzen. So ſchreibt Flemming p. 362.
Der verliebte Himmel laͤchelt,Jn die gleich erwaͤrmte Lufft,Welche gleichſam Kuͤſſe faͤchelt,Auf der ſchwangern Erden Klufft:Die bald beyden, ſo ſie liebet,Tauſend ſchoͤner Kinder giebet.
Wer ſieht hier nicht einen weit edlern Poetiſchen Ausdruck in verbluͤmtem Verſtande gebrauchte Worte und kuͤhne Re - densarten? Der Himmel muß verliebt heißen, welches man ſonſt nur von verſtaͤndigen Weſen ſagt. Die Lufft muß Kuͤſſe faͤcheln; weil ſie ſo lieblich iſt als eine freundliche Schoͤnheit, wenn ſie einen Geliebten kuͤſſen will. Die Erde iſt ſchwanger, weil die Gewaͤchſe gleich einer Frucht in Mut - terleibe, in ihr verborgen liegen, ehe ſie im Fruͤhlinge ausbre - chen. Sie muß den Himmel und die Lufft lieben; welches wieder nur in verbluͤmtem Verſtande angeht; weil ſie ſich nehmlich bey der Gegenwart des freundlichen Himmels mit ihrem Laube und Graſe ſchmuͤcket, wie eine Dirne gegen dieO 4An -216Das VIII. CapitelAnkunft ihres Liebſten. Endlich giebt ſie tauſend ſchoͤne Kinder, das iſt in der eigentlichen Sprache zu reden Blumen und Fruͤchte. Und wer ſieht hier nicht, daß dieſe Strophe durch ihre verbluͤmte Redensarten weit ſchoͤner und geiſtrei - cher geworden, als wenn ſie aus lauter eigentlichen Ausdruͤ - ckungen beſtanden haͤtte. Noch eins zum Uberfluſſe aus eben dem Poeten p. 353.
Hier erhellet ja wohl deutlich genug, was ein poetiſcher Geiſt, was eine edle Art zu dencken, und ein feuriger ungemeiner Ausdruck ſey. Dies iſt die Sprache der Poeten, dadurch ſie ſich von der magern proſaiſchen Schreibart unterſcheiden. Man verſuche es, und zertrenne auch hier das Sylbenmaaß, man verſtecke die Reime wie man will: Es wird doch ein poe - tiſcher Geiſt hervorleuchten. Daß aber dieſes die rechte Probe des poetiſchen Geiſtes ſey, lehrt uns Horatz, der in der IV. Satire ſeines I. B. ausdruͤcklich ſagt, daß ſeine und des Lucilii Verße nichts poetiſches mehr an ſich behielten, ſo bald man durch die Verſetzung der Worte ihnen das Sylben - maaß genommen. Weit anders verhalte es ſich mit Ennio, der die poetiſche Schreibart in ſeiner Gewalt gehabt. Denn wenn man gleich die Worte: Nachdem die ſcheußliche Zwietracht die eiſernen Pfoſten und Thore des Krieges erbrochen: noch ſo ſehr verſetzen wolle; ſo wuͤrde man doch allezeit die Glieder eines zerlegten Poeten darinn antreffen. Es iſt werth, daß ich das Lateiniſche davon herſetze.
Jch muß noch erwehnen, daß Horatz durch dieſe Anmerckung erweiſen wollen, eine Satire verdiene nicht den Nahmen ei - nes Gedichtes. Denn kurtz vorher hatte er ſich ausdruͤcklich aus der Zahl der Poeten ausgeſchloſſen, in ſo weit er ein Sa - tirenſchreiber war:
Ein Poet muß alſo einen großen Witz, einen goͤttlichen Geiſt und einen erhabenen Ausdruck haben, wenn man ihn mit dieſem Nahmen beehren ſoll.
Und freylich zeiget ſich der Witz eines Poeten hauptſaͤch - lich in der gluͤcklichen Erfindung verbluͤmter Redensarten. Denn iſt derſelbe eine Krafft der Seelen, das Aehnliche leicht wahrzunehmen: ſo bemercket man, daß in jedem uneigent - lich verſtandenen Worte ein Gleichniß ſteckt, oder ſonſt eine Aehnlichkeit verhanden iſt, weswegen man eins vor das an - dre ſetzt. Das beluſtiget nun den Leſer eines ſolchen Gedich - tes. Er ſieht nicht nur das Bild, darunter ihm der Poet ei - ne Sache vorſtellet, ſondern auch die Abſicht deſſelben, und die Aehnlichkeit zwiſchen beyden; und da ſein Verſtand auf eine ſo angenehme Art mit ſo vielen Begriffen auf einmahl beſchaͤfftiget iſt, ſo empfindet er nicht nur wegen der Vollkom - menheit des Poeten, deſſen Schrifft er lieſet, ein Vergnuͤ - gen: ſondern beluſtiget ſich auch uͤber ſeine eigene Scharf - ſinnigkeit, die ihn faͤhig gemacht, alle die Schoͤnheiten des verbluͤmten Ausdruckes ohne Muͤhe zu entdecken. Z. E. Am - thor p. 125.
Jtzt ſchwindet allgemach,Der Schatten lange Nacht, und laͤßt der Thuͤrme Zinnen,Ein frohes Morgen-Gold gewinnen.Der alte Nordwind giebt dem jungen Zephir nach,O 5Die218Das VIII. CapitelDie Erde wird der luͤſtern Sonnen Braut,Die ihren Braͤutigam ſtets naͤher treten ſchaut.Sie ſchmuͤckt ſich ſchon zur neuen Hochzeit-Feyer:Weil Phoͤbus ihren Wittwen-Schleyer,Den Schnee und Eis ihr umgethan,Aus heißer Brunſt nicht ferner dulden kan.
Dieſe Stelle kan vor ein Muſter des guten verbluͤmten Aus - druckes angeſehen werden. Das fruͤhe Morgengold auf den Zinnen der Thuͤrme iſt das goldfarbigte Licht der Morgen - roͤthe und der hervorbrechenden Sonnenſtrahlen, ſo ſich an den Thurmſpitzen zuerſt zeigen. Der Nordwind wird ſeiner Kaͤlte halber einem alten Manne, und der warme Zephir ei - nem Juͤnglinge verglichen. Die Erde wird wegen ihres Putzes im Fruͤhlinge als eine Braut, und die Sonne als ihr luͤſterner Braͤutigam vorgeſtellt; weil ſie ſo unverwandt nach derſelben ihre Strahlen ſchießet, wie ein verliebter Freyer bey ſeiner Liebſten zu thun pflegt. Der Schnee des vergangenen Winters, muß endlich, ſeiner Farbe halber, einen Wittwen-Schleyer abgeben, den die bruͤnſtige Sonne ihr vom Angeſichte gezogen. Wer hier nicht den Reich - thum eines poetiſchen Witzes wahrnimmt, der muß gewiß keinen Geſchmack an ſchoͤnen Dingen finden koͤnnen.
Ein jeder ſieht aber von ſich ſelber wohl, daß hier faſt nichts anders als die Metaphora vorgekommen, welche ſonſt bey den Lehrern der Rede-Kunſt die erſte und hauptſaͤchlichſte Gattung verbluͤmter Redensarten iſt. Dieſe war auch ein - zig und allein den Alten, z. E. Ariſtoteli bekannt, und die uͤbrigen hat man erſt nach der Zeit angemercket. Cicero nennt die Metaphora Translatio; beyde Woͤrter haben eine ſehr allgemeine Bedeutung, und ſchicken ſich auch ſo gar vor die Metonymie, Synecdoche und Jronie. Deutſch muͤſte mans eine Verſetzung oder einen Wechſel nennen, denn die - ſes druͤckt die Natur der Sache ziemlich aus; die Metony - mie aber als die andre Gattung verbluͤmter Redensarten, koͤnnte eine Nahmenaͤnderung heißen. Doch wir muͤſſen ſie alle nach der Ordnung durchgehen und mit Exempeln aus unſern Poeten erlaͤutern.
Die219Von verbluͤmten Redens-Arten.Die Metaphore iſt alſo eine verbluͤmte Redensart, wo man anſtatt eines Wortes, ſo ſich in eigentlichem Verſtande zu der Sache ſchicket, ein anderes nimmt, welches eine gewiſ - ſe Aehnlichkeit damit hat, und alſo ein kurtzes Gleichniß in ſich ſchließet. Zum Exempel Flemming ſchreibt in einer Ode p. 363. die demantenen Gewaͤſſer, und bald hernach ge - denckt er der buhleriſchen Sterne. Wir haben ſchon oben die verwachte Roſe, die taumelnden Cypreſſen, die geſun - den Schatten und ſchlummernden Gewaͤchſe aus eben dieſem Poeten angefuͤhret. Dieſes ſind lauter metaphori - ſche Ausdruͤckungen. Jm eigentlichen Verſtande haͤtte man ſagen muͤſſen: Die klaren Gewaͤſſer, die blinckenden Sterne, die verwelckte Roſe, die hin und her wanckenden Cypreſſen; die kuͤhlen Schatten; und die ruhigen Gewaͤch - ſe. Aber der Poet fuͤhret uns durch ſeine geiſtreiche Bey - woͤrter auf gantz andre Begriffe. Die allernechſten Woͤr - ter ſind ihm zu ſchlecht; er holet ſich von weitem gantz unge - meine Gedancken her, die ſich aber zur Sache ſchicken, und dem Verſtande ſehr angenehme Bilder machen, wenn er die Aehnlichkeit derſelben einſieht.
Eben dergleichen Metaphoren koͤnnen auch in Nenn - woͤrtern und Hauptwoͤrtern, ja faſt in allen andern vorkom - men, z. E. Canitz ſchreibt:
Jſts ihm nicht mehr vergoͤnnt zu kuͤſſen eine Docke, Die ihre freche Stirn mit Thuͤrmen uͤberhaͤuft ꝛc.
Da iſt das Wort Thuͤrme, vor den hohen Kopfputz ge - braucht, der vor zwanzig oder dreyßig Jahren Mode gewe - ſen. Eben ſo hat Heraͤus die großen Perruͤcken beſchrieben: p. 248.
Jmgleichen Opitz, nennt ein Frauenzimmer ein Bild; wegen der Schoͤnheit, die man in Bildern am vollkommenſten fin - den kan. p. 165. der Poet. Waͤld.
Hier geht ein ſchoͤnes Bild, Wo nichts zu ſpuͤren war, als ungezaͤhmtes Wild.
Von Hauptwoͤrtern moͤgen folgende Exempel dienen. He - raͤus ſagt, ein Fleißiger habe Minuten zu zehlen:
Wie220Das VIII. CapitelWie dieſem, deſſen Fleiß Minuten hat zu zehlen, Der kommt, den guten Tag zu bieten und zu ſtehlen.
Um das zehlen iſt es einem Fleißigen wohl nicht zu thun; aber es heiſt hier beobachten, ja theuer und werth halten, weil man ſolche Dinge genau nachzuzehlen pflegt. Jmgleichen das ſtehlen ſchicket ſich eigentlich nicht zum Tage. Aber es heißt hier unbrauchbar machen, weil man Sachen, die uns geſtoh - len werden, nicht mehr zu ſeinem Nutzen anwenden kan. Opitz ſchreibt p. 166. der poetiſchen Waͤlder:
Jch kenne den Weg auch. Sehr offt hab