PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Sokratiſche Denkwuͤrdigkeiten
fuͤr die lange Weile des Publicums zuſammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile.
Mit einer doppelten Zuſchrift an Niemand und an Zween.
O curas hominum! o quantum eſt in rebus inane! Quis leget haec? Min tu iſtud ais? Nemo hercule Nemo? Vel DVO vel NEMO (PERS. )
Amſterdam,1759.
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An das Publicum, oder Niemand, den Kundbaren.

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Du fuͤhrſt einen Na - men, und brauchſt kei - nen Beweis Deines Daſeyns, Du findeſt Glauben, und thuſt keine Zeichen denſelben zu verdienen, Du erhaͤltſt Ehre, und haſt weder Be - grif noch Gefuͤhl davon. Wir wiſſen, daß es keinen Goͤtzen in der Welt giebt. Ein Menſch biſt Du auch nicht; doch muſt Du ein menſchlich Bild ſeyn, das der Aberglaube vergoͤttert hat. Es fehlt Dir nicht an Augen und Oh - ren, die aber nicht ſehen, nicht hoͤ -A 3ren;6ren; und das kuͤnſtliche Auge, das Du machſt, das kuͤnſtliche Ohr, das Du pflanzeſt, iſt, gleich den Dei - nigen, blind und taub. Du muſt alles wiſſen, und lernſt nichts; Du muſt alles richten, und verſtehſt nichts. Du dichteſt, haſt zu ſchaffen, biſt - ber Feld, oder ſchlaͤfſt vielleicht, wenn Deine Prieſter laut ruffen, und Du ihnen und ihrem Spoͤtter mit Feuer antworten ſollteſt. Dir wer - den taͤglich Opfer gebracht, die an - dere auf Deine Rechnung verzeh - ren, um aus Deinen ſtarken Mahl - zeiten Dein Leben wahrſcheinlich zu machen. So eckel Du biſt, nimmſt Du doch mit allem fuͤr lieb, wenn man nur nicht leer vor Dir erſcheint. Jch7Jch werfe mich wie der Philoſoph zu den erhoͤrenden Fuͤſſen eines Ty - rannen. Meine Gabe beſteht in nichts als Kuͤchlein, von denen ein Gott, wie Du, einſt barſt. Ueber - laß ſie daher einem Paar Deiner Anbeter, die ich durch dieſe Pillen von dem Dienſt Deiner Eitelkeit zu reinigen wuͤnſche.

Weil Du die Zuͤge menſchlicher Unwiſſenheit und Neugierde an Dei - nem Geſichte traͤgſt; ſo will ich Dir beichten, wer die Zween ſind, de - nen ich durch Deine Haͤnde dieſen frommen Betrug ſpielen will. Der erſte arbeitet am Stein der Weiſen, wie ein Menſchenfreund, der ihn fuͤr ein Mittel anſieht, den Fleiß, dieA 4buͤr -8buͤrgerliche Tugenden und das Wohl des gemeinen Weſens zu befoͤrdern. Jch habe fuͤr ihn in der myſtiſchen Sprache eines Sophiſten geſchrie - ben; weil Weisheit immer das ver - borgenſte Geheimnis der Politick bleiben wird, wenn gleich die Alchy - mie zu ihren Zweck kommt, alle die Menſchen reich zu machen, welche durch des Marqvis von Mirabeau fruchtbare Maximen bald! Frank - reich bevoͤlkern muͤſſen. Nach dem heutigen Plan der Welt bleibt die Kunſt Gold zu machen alſo mit Recht das hoͤchſte Project und hoͤch - ſte Gut unſerer Staatsklugen.

Der andere moͤchte einen ſo all - gemeinen Weltweiſen und gutenMuͤnz -9Muͤnzwaradein abgeben, als New - ton war. Kein Theil der Kritick iſt ſicherer, als die man fuͤr Gold und Silber erfunden hat. Daher kann die Verwirrung in dem Muͤnz - weſen Deutſchlands ſo groß nicht ſeyn, als die in die Lehrbuͤcher ein - geſchlichen, ſo unter uns gaͤng und gebe ſind. Es fehlt uns an richti - gen Verhaͤltnis-Tabellen, die uns beſtimmen, wie vielloͤthig eine Wahr - heit ſeyn muͤſſe, und wie viel an ei - nem Einfall fehlet, wenn er eine Wahrheit gelten ſoll u. ſ. w.

Weil dieſe Kuͤchlein nicht gekaut, ſondern geſchluckt werden muͤſſen, gleich denenjenigen, ſo die Cosmiſche Familie zu Florenz in ihr WapenA 5auf -10aufnahm; ſo ſind ſie nicht fuͤr den Geſchmack gemacht. Was ihre Wirkungen anbetrift; ſo lernte bey einem aͤhnlichen Gefuͤhl derſelben Veſpaſian zuerſt das Gluͤck Deines Namens erkennen, und ſoll auf ei - nem Stuhl, der nicht ſein Thron war, ausgeruffen haben: VTI PVTO, DEVS FIO!

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An[11]

An die Zween.

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Das Publicum in Griechenland laß die Denkwuͤrdigkeiten des Ariſtoteles uͤber die Naturge - ſchichte der Thiere, und Alexander ver - ſtand ſie. Wo ein gemeiner Leſer nichts als Schimmel ſehen moͤchte, wird der Affect der Freundſchaft Jhnen, Meine Herren, in dieſen Blaͤttern viel - leicht ein mikroſkopiſch Waͤldchen ent - decken.

Jch habe uͤber den Sokrates auf eine ſokratiſche Art geſchrieben. Die Analogie war die Seele ſeiner Schluͤſ -ſe,14ſe, und er gab ihnen die Jronie zu ihrem Leibe. Ungewißheit und Zuver - ſicht moͤgen mir ſo eigenthuͤmlich ſeyn als ſie wollen; ſo muͤſſen ſie hier doch als aͤſthetiſche Nachahmungen betrach - tet werden.

Jn den Werken des Xenophons herrſcht eine aberglaͤubiſche, und in Platons eine ſchwaͤrmeriſche Andacht; eine Ader aͤhnlicher Empfindungen laͤuft daher durch alle Theile dieſer mimi - ſchen Arbeit. Es wuͤrde mir am leich - teſten geweſen ſeyn denen Heyden in ihrer Freymuͤthigkeit hierin naͤher zu kommen; ich habe mich aber bequemen muͤſſen meiner Religion den Schleyerzu15zu borgen, den ein patriotiſcher St. John und platoniſcher Shaftesbury fuͤr ihren Unglauben und Misglauben gewebt haben.

Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunſtrichter. Er unterſchied in den Schriften des Heraklitus, das - jenige, was er nicht verſtand, von dem, was er darin verſtand, und that eine ſehr billige und beſcheidene Vermuthung von dem Verſtaͤndlichen auf das Un - verſtaͤndliche. Bey dieſer Gelegenheit redete Sokrates von Leſern, welche ſchwimmen koͤnnten. Ein Zuſam - menfluß von Jdeen und Empfindun - gen in dieſer lebenden Elegie vomPhi -16Philoſophen machte deſſelben Saͤtze viel - leicht zu einer Menge kleiner Jnſeln, zu deren Gemeinſchaft Bruͤcken und Faͤhren der Methode fehlten.

Da Sie beyde meine Freunde ſind; ſo wird mir Jhr partheyiſch Lob und Jhr partheyiſcher Tadel gleich ange - nehm ſeyn. Jch bin ꝛc.

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Sokra -[17]

Sokratiſche Denkwuͤrdigkeiten.

Einleitung.

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Der Geſchichte der Philoſophie iſt es wie der Bildſaͤule des franzoͤſi - ſchen Staatsminiſters ergan - gen. Ein groſſer Kuͤnſtler zeigte ſeinen Meiſ - ſel daran; ein Monarch, der Name eines ganzen Jahrhunderts, gab die Unkoſten zum Denkmal und bewunderte das Geſchoͤpf ſei - nes Unterthauen; der Scythe aber, der auf ſein Handwerk reiſete, und wie Noah oderBder18der Galilaͤer des Projektmachers, Julians, ein Zimmermann wurde, um der Gott ſei - nes Volks zu ſeyn, dieſer Scythe begieng ei - ne Schwachheit, deren Andenken ihn allein verewigen koͤnnte. Er lief auf den Marmor zu, both grosmuͤthig dem Stein die Haͤlfte ſeines weiten Reichs an, wenn er ihn lehren wollte, die andere Haͤlfte zu regieren. Sollte unſere Hiſtorie Mythologie werden; ſo wird dieſe Umarmung eines lebloſen Lehrers, der ohne Eigennutz Wunder der Erfuͤllung ge - than, in ein Maͤhrchen verwandelt ſeyn, das den Reliquien von Pygmalions Leben aͤhn - lich ſehen wird. Ein Schoͤpfer ſeines Vol - kes in der Sprache unſers Witzes wird nach einer undenklichen Zeit eben ſo poetiſch ver - ſtanden werden muͤſſen, als ein Bildhauer ſeines Weibes.

Es giebt in dem Tempel der Gelehrſam - keit wuͤrklich einen Goͤtzen, der unter ſeinemBilde19Bilde die Aufſchrift der philoſophiſchen Geſchichte traͤgt; und dem es an Hohen - prieſtern und Leviten nicht gefehlt. Stanley und Brucker haben uns Koloſſen geliefert, die eben ſo ſonderbar und unvollendet ſind als jenes Bild der Schoͤnheit, das ein Grie - che aus den Reitzen aller Schoͤnen, deren Eindruck ihm Abſicht und Zufall verſchaffen konnte, zuſammenſetzte. Meiſterſtuͤcke, die von gelehrten Kennern der Kuͤnſte immer ſehr moͤchten bewundert und geſucht; von Klugen hingegen als abentheuerliche Gewaͤch - ſe und Chimaͤren in der Stille belacht oder auch fuͤr die lange Weile und in theatrali - ſchen Zeichnungen nachgeahmt werden.

Weil Stanley ein Englaͤnder und Bru - cker ein Schwabe iſt: ſo haben ſie beyde die lange Weile des Publicums zu ihrem Ruhm vertrieben; wiewohl das Publicum auch fuͤr die Gefaͤlligkeit, womit es die ungleichen Feh -B 2ler20ler dieſer Nationalſchriftſteller uͤberſehen, ge - lobt zu werden verdient.

Deslandes, ein Autor von encyclopiſchen Witz hat eine chineſiſche Kaminpuppe fuͤr das Kabinet des gallicaniſchen Geſchmacks hervorgebracht. Der Schoͤpfer der ſchoͤnen Natur ſcheint die groͤſten Koͤpfe Frankreichs, wie Jupiter ehmals die Cyclopen zur Schmie - de der Strahlen und Schwaͤrmer verdammt zu haben, die er zum tauben Wetterleuchten und aͤtheriſchen Feuerwerken noͤthig hat.

Aus denen Urtheilen, die ich uͤber alle die - ſe ehrliche und feine Verſuche ein kritiſch Sy - ſtem der philoſophiſchen Geſchichte zu ma - chen, gefaͤllt, laͤßt ſich mehr als wahrſchein - lich ſchluͤßen, daß ich keines davon geleſen; ſondern blos den Schwung und Ton des ge - lehrten Haufens nachzuahmen, und denen - jenigen, zu deren Beſten ich ſchreibe, durch ihre Nachahmung zu ſchmaͤucheln ſuche. Un -ter -21terdeſſen glaube ich zuverlaͤßiger, daß unſere Philoſophie eine andere Geſtalt nothwendig haben muͤſte, wenn man die Schickſale dieſes Namens oder Wortes: Philoſophie, nach den Schattierungen der Zeiten, Koͤpfe, Ge - ſchlechter und Voͤlker, nicht wie ein Gelehr - ter oder Weltweiſer ſelbſt, ſondern als ein muͤßiger*)Ein Menſch ohne Geſchaͤfte heißt auf grie - chiſch Argus. Zuſchauer ihrer olympiſchen Spie - le ſtudiert haͤtte oder zu ſtudieren wuͤſte.

Ein Phrygier, wie Aeſop, der ſich nach den Geſetzen ſeines Klima, wie man jetzt redt, Zeit nehmen muſte, klug zu werden, und ein ſo natuͤrlicher Tropf, als ein La Fontaine, der ſich beſſer in die Denkungs - art der Thiere als der Menſchen zu ſchicken und zu verwandeln wuſte, wuͤrden uns an ſtatt gemalter Philoſophen oder ihrer zierlich verſtuͤmmelter Bruſtbilder, ganz andere Ge -B 3ſchoͤpfe22ſchoͤpfe zeigen, und ihre Sitten und Spruͤ - che, die Legenden ihrer Lehren und Thaten mit Farben nachahmen, die dem Leben naͤ - her kaͤmen.

Doch ſind vielleicht die philoſophiſchen Chroniken und Bildergallerien weniger zu ta - deln, als der ſchlechte Gebrauch, den ih - re Liebhaber davon machen. Ein wenig Schwaͤrmerey und Aberglauben wuͤrde hier nicht nur Nachſicht verdienen, ſondern et - was von dieſem Sauerteige gehoͤrt dazu, um die Seele zu einem philoſophiſchen Herois - mus in Gaͤhrung zu ſetzen. Ein brennen - der Ehrgeitz nach Wahrheit und Tugend, und eine Eroberungswuth aller Luͤgen und Laſter, die naͤmlich nicht dafuͤr erkannt wer - den, noch ſeyn wollen; hierinn beſteht der Heldengeiſt eines Weltweiſen.

Wenn Caͤſar Traͤhnen vergießt bey der Saͤule des macedoniſchen Juͤnglings, unddie -23dieſer bey dem Grabe Achills mit Eyferſucht an einen Herold des Ruhms denkt, wie der blinde Minneſaͤnger war: ſo biegt ein Eras - mus im Spott ſein Knie fuͤr den heiligen Sokrates, und die helleniſtiſche Muſe unſers von Baro muß den komiſchen Schatten ei - nes Thomas Diafoirus beunruhigen, um uns die unterirrdiſche Wahrheit zu predigen; daß es goͤttliche Menſchen unter den Heyden gab, daß wir die Wolke dieſer Zeugen nicht verachten ſollen, daß ſie der Himmel zu ſei - nen Boten und Dollmetſchern ſalbte, und zu eben den Beruf unter ihrem Geſchlechte ein - weyhte, den die Propheten unter den Juden hatten.

Wie die Natur uns gegeben, unſere Au - gen zu oͤfnen; ſo die Geſchichte, unſere Oh - ten. Einen Koͤrper und eine Begebenheit bis auf ihre erſten Elemente zergliedern, heißt, Gottes unſichtbares Weſen, ſeine ewige KraftB 4und24und Gottheit ertappen wollen. Wer Moſe und den Propheten nicht glaubt, wird daher immer ein Dichter, wieder ſein Wiſſen und Wollen, wie Buffon uͤber die Geſchichte der Schoͤpfung und Montesquieu uͤber die Ge - ſchichte des Roͤmiſchen Reichs.

Wenn kein junger Sperling ohne unſern Gott auf die Erde faͤllt; ſo iſt kein Denkmal alter Zeiten fuͤr uns verloren gegangen, das wir zu beklagen haͤtten. *)Der Preſident von Goguet urtheilt auf eine aͤhnliche Art in der Vorrede ſeines leſenswuͤr - digen Werkes de l’origine des Loix, des Arts & des Sciences & de leurs progrès chez los anciens Peuples. Sollte ſeine Vor - ſorge ſich nicht uͤber Schriften erſtrecken, da Er Selbſt ein Schriftſteller geworden, und der Geiſt Gottes ſo genau geweſen den Werth der erſten verbotenen Buͤcher aufzuzeichnen, die ein frommer Eyfer unſerer Religion dem Feuer geopfert? **)Apoſtelgeſch. XIX. 19.Wir bewundern es an Pompejus als eine kluge und edle Handlung,daß25daß er die Schriften ſeines Feindes Serto - rius aus dem Wege raͤumte; warum nicht an unſerm HErrn, daß er die Schriften ei - nes Celſus untergehen laſſen? Jch meyne alſo nicht ohne Grund, daß Gott fuͤr alle Buͤcher, woran uns was gelegen, wenigſtens ſo viel Aufmerkſamkeit getragen als Caͤſar fuͤr die beſchriebene Rolle, mit der er in die See ſprang, oder Paulus fuͤr ſein Perga - men zu Troada. *)2 Tim. IV. 13.

Hatte der Kuͤnſtler, welcher mit einer Lin - ſe durch ein Nadeloͤhr traf, nicht an einen Scheffel Linſen genung zur Uebung ſeiner er - worbenen Geſchicklichkeit? Dieſe Frage moͤch - te man an alle Gelehrte thun, welche die Werke der Alten nicht kluͤger, als jener die Linſen, zu brauchen wißen. Wenn wir mehr haͤtten, als uns die Zeit hat ſchenken wol - len; ſo wuͤrden wir ſelbſt genoͤthiget werden unſere Ladungen uͤber Bord zu werfen, un -B 5ſere26ſere Bibliothecken in Brand zu ſtecken, oder es wie die Hollaͤnder mit dem Gewuͤrz zu machen.

Mich wundert, daß noch keiner den Ver - ſuch uͤber die Hiſtorie gewagt, den Bacon fuͤr die Phyſik gethan. *)Die Geſchichts-Wiſſenſchaft des ſcharfſinnigen Chladenius iſt blos als ein nuͤtzlich Supple - ment unſerer ſcholaſtiſchen oder akademiſchen Vernunftlehre anzuſehen.Bollingbroke giebt ſei - nem Schuͤler den Rath, die aͤltere Geſchichte uͤberhaupt wie die heydniſche Goͤtterlehre und als ein poetiſch Woͤrterbuch zu ſtudie - ren. Doch vielleicht iſt die ganze Hiſtorie mehr Mythologie, als es dieſer Philoſoph meynt, und gleich der Natur ein verſiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Raͤthſel, das ſich nicht aufloͤſen laͤßt, ohne mit einem andern Kalbe, als unſerer Vernunft zu pfluͤgen.

Meine Abſicht iſt es nicht, ein Hiſtorio - graph des Sokrates zu ſeyn; ich ſchreibeblos27blos ſeine Denkwuͤrdigkeiten wie Duͤclos dergleichen zur Geſchichte des XVIIIten Jahrhunderts fuͤr die lange Weile des ſchoͤ - nen Publicums herausgegeben.

Es lieſſe ſich freylich ein ſo ſinnreicher Verſuch uͤber das Leben Sokrates ſchreiben, als Blackwall uͤber den Homer geliefert. Sollte der Vater der Weltweisheit nicht die - ſer Ehre naͤher geweſen ſeyn als der Vater der Dichtkunſt? Was Cooper herausgege - ben iſt nichts als eine Schuluͤbung, die den Eckel ſo wohl einer Lob-als Streit-Schrift mit ſich fuͤhrt.

Sokrates beſuchte oͤfters die Werkſtaͤtte eines Gerbers, der ſein Freund war, und, wie der Wirth des Apoſtel Petrus zu Joppe, Simon hieß. Der Handwerker hatte den erſten Einfall die Geſpraͤche des Sokrates aufzuſchreiben. Dieſer erkannte ſich viel - leicht in denſelben beſſer als in Platons, bey deren Leſung er geſtutzt und gefragt haben ſoll: Was hat dieſer junge Menſch im Sinn aus mir zu machen? Wenn ich nur ſo gut als Simon der Gerber mei - nen Held verſtehe!

Erſter[28]

Erſter Abſchnitt.

Sokrates hatte nicht umſonſt einen Bildhauer und eine Wehmutter zu Eltern gehabt. Sein Unterricht iſt jederzeit mit den Hebammenkuͤnſten verglichen wor - den. Man vergnuͤgt ſich noch dieſen Ein - fall zu wiederholen, ohne daß man ſelbigen als das Saamkorn einer fruchtbaren Wahr - heit haͤtte aufgehen laſſen. Dieſer Ausdruck iſt nicht blos tropiſch, ſondern zugleich ein Knaͤuel vortreflicher Begriffe, die jeder Leh - rer zum Leitfaden in der Erziehung des Ver - ſtandes noͤthig hat. Wie der Menſch nach der Gleichheit Gottes erſchaffen worden, ſo ſcheint der Leib eine Figur oder Bild der Seelen zu ſeyn. *)Siehe die folgende Anmerkung.Wenn uns unſer Gebein verholen iſt, weil wir im Verborgenen ge - macht, weil wir gebildet werden unten in derErde;29Erde; wie viel mehr werden unſere Begriffe im Verborgenen gemacht, und koͤnnen als Gliedmaſſen unſers Verſtandes betrachtet werden. Daß ich ſie Gliedmaaſſen des Ver - ſtandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif als eine beſondere und ganze Geburt ſelbſt anzuſehen. Sokrates war alſo beſcheiden genung ſeine Schulweisheit mit der Kunſt eines alten Weibes zu vergleichen, welches blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeiti - gen Frucht zu Huͤlfe kommt, und beyden Handreichung thut.

Die Kraft der Traͤgheit und die ihr ent - gegengeſetzt ſcheinende Kraft des Stolzes, die man durch ſo viel Erſcheinungen und Beob - achtungen veranlaſſet worden in unſerm Wil - len anzunehmen, bringen die Unwiſſenheit, und die daraus entſpringende Jrrthuͤmer und Vorurtheile nebſt allen ihren ſchweſter - lichen Leidenſchaften hervor. Von dieſerSei -30Seite ahmte alſo Sokrates ſeinen Vater nach, einen Bildhauer, der, indem er wegnimmt und hauet, was am Holze nicht ſeyn ſoll, eben dadurch die Form des Bildes foͤr - dert. *)Worte unſers Kirchenvaters, Martin Luthers, bey deſſen Namen ein richtig und fein denken - der Schwaͤrmer juͤngſt uns erinnert hat, daß wir von dieſem groſſen Mann nicht nur in der deutſchen Sprache, ſondern uͤberhaupt nicht ſo viel gelernt als wir haͤtten ſollen und koͤnnen.Daher hatten die groſſen Maͤnner ſeiner Zeit zureichenden Grund uͤber ihn zu ſchreyen, daß er alle Eichen ihrer Waͤlder faͤlle, alle ihre Kloͤtzer verderbe, und aus ihrem Holze nichts als Spaͤne zu machen verſtuͤnde.

Sokrates wurde vermuthlich ein Bild - hauer, weil ſein Vater einer war. Daß er in dieſer Kunſt nicht mittelmaͤſſig geblieben, hat man daraus geſchloſſen, weil zu Athen ſeine drey Bildſaͤulen der Gratien aufgeho - ben worden. Man war ehmals gewohntgewe -31geweſen dieſe Goͤttinnen zu kleiden; den alt - vaͤteriſchen Gebrauch hatte Sokrates nach - geahmt, und ſeine Gratien wiederſprachen der Cuſtome des damaligen Goͤtterſyſtems und der ſich darauf gruͤndenden ſchoͤnen Kuͤn - ſte. Wie Sokrates auf dieſe Neuerung ge - kommen; ob es eine Eingebung ſeines Ge - nius, oder eine Eitelkeit ſeine Arbeiten zu un - terſcheiden, oder die Einfalt einer natuͤrli - chen Schaamhaftigkeit geweſen, die einem andaͤchtigen Athenienſer wunderlich vorkom - men muſte; weiß ich nicht. Es iſt aber nur gar zu wahrſcheinlich, daß dieſe neuge - kleideten Gratien ſo wenig ohne Anfechtung werden geblieben ſeyn als die neugekleideten Gratien unſerer heutigen Dichtkunſt.

Hier iſt der Ort die Ueberſichtigkeit einiger gegen das menſchliche Geſchlecht und deſſen Aufkommen gar zu witzig geſinnter Patrioten zu ahnden, die ſich die Verdienſte des Bild -hauers32hauers im Sokrates ſo groß vorſtellen, daß ſie den Weiſen daruͤber verkennen, die den Bildhauer vergoͤttern um deſto fuͤglicher uͤber des Zimmermanns Sohn ſpotten zu koͤn - nen. Wenn ſie in Ernſt an Sokrates glau - ben; ſo ſind ſeine Spruͤche Zeugniſſe wieder ſie. Dieſe neuen Athenienſer ſind Nachkom - men*)Progeniem vitioſiorem nennt ſie Horaz Ode 6. Buch 3. ſeiner Anklaͤger und Giftmiſcher, ab - geſchmacktere Verlaͤumder und grauſamere Moͤrder dann ihre Vaͤter.

Bey der Kunſt, in welcher Sokrates er - zogen worden, war ſein Auge an der Schoͤn - heit und ihren Verhaͤltniſſen ſo gewohnt und geuͤbt, daß ſein Geſchmack an wohlge - bildeten Juͤnglingen uns nicht befremden darf. Wenn man die Zeiten des Heyden - thums**)Roͤm. I. kennt, in denen er lebte; ſo iſt es eine thoͤrichte Muͤhe ihn von einem Laſterweiß33weiß zu brennen, das unſere Chriſtenheit an Sokrates uͤberſehen ſollte, wie die artige Welt an einem Toußaint die kleinen Roma - ne ſeiner Leidenſchaften, als Schoͤnfleck - chen ſeiner Sitten. Sokrates ſcheint ein aufrichtiger Mann geweſen zu ſeyn, deſſen Handlungen von dem Grund ſeines Herzens, und nicht von dem Eindruck, den andere da - von haben, beſtimmt worden. Er leugnete nicht, daß ſeine verborgene Neigungen mit den Entdeckungen des Geſichtdeuters ein - traͤfen; er geſtand, daß deſſen Brille recht geſehen haͤtte. Ein Menſch, der uͤberzeugt iſt, daß er nichts weiß, kann, ohne ſich ſelbſt Luͤgen zu ſtrafen, kein Kenner ſeines guten Herzens ſeyn. Daß er das ihm beſchuldig - te Laſter gehaßt, wiſſen wir aus ſeinem Ey - fer gegen daſſelbe, und in ſeiner Geſchichte ſind Merkmale ſeiner Unſchuld, die ihn bey nahe loßſprechen. Man kann keine lebhafteCFreund -34Freundſchaft ohne Sinnlichkeit fuͤhlen, und eine metaphyſiſche Liebe ſuͤndigt vielleicht groͤber am Nervenſaft, als eine thieriſche an Fleiſch und Blut. Sokrates hat alſo ohne Zweifel fuͤr ſeine Luſt an einer Harmonie der aͤuſſerlichen und innerlichen Schoͤnheit, in ſich ſelbſt leiden und ſtreiten muͤſſen. Ueber - dem wurden Schoͤnheit, Staͤrke des Leibes und Geiſtes nebſt dem Reichthum an Kin - dern und Guͤtern in dem jugendlichen Alter der Welt fuͤr Sinnbilder goͤttlicher Eigen - ſchaften und Fußſtapfen goͤttlicher Gegen - wart erklaͤrt. Wir denken ietzt zu abſtrakt und maͤnnlich die menſchliche Natur nach dergleichen Zufaͤlligkeiten zu beurtheilen. Selbſt die Religion lehrt uns einen Gott, der kein Anſehen der Perſon hat; ohngeach - tet der Misverſtand des Geſetzes die Juden an gleiche Vorurtheile hierinn mit den Hey - den gebunden hielt. Jhre geſunde Vernunft,wor -35woran es den Juden und Griechen ſo wenig fehlte als unſern Chriſten und Muſelmaͤn - nern, ſtieß ſich daran, daß der Schoͤnſte unter den Menſchenkindern ihnen zum Erloͤſer verſprochen war, und daß ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Strie - men, der Held ihrer Erwartung ſeyn ſollte. Die Heyden waren durch die klugen Fabeln ihrer Dichter an dergleichen Wiederſpruͤchen gewohnt; bis ihre Sophiſten, wie unſere, ſolche als einen Vatermord verdammten, den man an den erſten Grundſaͤtzen der menſch - lichen Erkenntnis begeht.

Von ſolchem Wiederſpruch finden wir ein Beyſpiel an dem Delphiſchen Orakel, das denjenigen fuͤr den weiſeſten erkannte, der gleichwol von ſich geſtand, daß er nichts wiſſe. Strafte Sokrates das Orakel Luͤgen, oder das Orakel ihn? Die ſtaͤrkſten Geiſter unſerer Zeit haben fuͤr diesmal die Prieſte -C 2rinn36rinn fuͤr eine Wahrſagerinn gehalten, und ſich innerlich uͤber ihre Aehnlichkeit mit dem Vater Sokrates gefreut, der es fuͤr gleich anſtaͤndig hielt einen Jdeoten zu ſpielen oder Goͤttern zu glauben. Jſt uͤbrigens der Ver - dacht gegruͤndet, daß ſich Apoll nach den Menſchen richte, weil dieſe zu dumm ſind ſich nach ihn zu richten: ſo handelt er als ein Gott, dem es leichter faͤllt zu philippiſi - ren oder zu ſokratiſiren, als uns Apollos zu ſeyn.

Die Ueberlieferung eines Goͤtterſpruches will aber ſo wenig als ein Komet ſagen fuͤr einen Philoſophen von heutigem Geſchmack. Wir muͤſſen nach ſeiner Meynung in dem Buche, welches das thoͤrichſte Volk auf uns gebracht, und in den Ueberbleibſeln der Grie - chen und Roͤmer, ſo bald es auf Orakel, Er - ſcheinungen, Traͤume und dergleichen Me - teoren ankommt, dieſe Maͤhrchen unſererKin -37Kinder und Ammen (denn Kinder und Am - men ſind alle verfloßne Jahrhunderte gegen unſer lebendes in der Kunſt zu erfahren und zu denken)*)Das heiſt, Eßays und Penſees der Loiſirs zu ſchreiben. abſondern, oder ſelbige als die Schnoͤrkel unſerer Alpendichter be - wundern. Geſetzt, dieſes wuͤrde alles ſo reichlich eingeraͤumt; als man unverſchaͤmt ſeyn koͤnte es zu fordern: ſo wird Bayle, einer ihrer Propheten, zu deſſen Fuͤſſen dieſe Kretenſer mit ſo viel Anſtand zu gaͤh - nen gewohnt ſind, weil ihr Gamaliel**)Bayle eyferte fuͤr die Reli - gionsduldung wie dieſer Phariſaͤer Act. V. gaͤhnt, dieſen Zweiflern antworten; daß, wenn alle dieſe Begebenheiten mit dem Ein - fluß der Geſtirne in gleichem Grade der Falſchheit ſtehen, wenn alles gleichartig er - logen und erdacht iſt, dennoch der Wahn, die Einbildung und der Glaube daran zu ihrer Zeit und an ihrem Ort wuͤrklich groͤſſereC 3Wun -38Wunder veranlaßt habe und veranlaſſen koͤnne, als man den Kometen, Orakelſpruͤ - chen und Traͤumen ſelbſt jemals zugeſchrieben hat noch zuſchreiben wird. Jn dieſem Ver - ſtande ſollten aber die Zweifler mehr Recht als unſere Empyriker behalten, weil es menſchlicher und Gott anſtaͤndiger ausſieht, und durch unſere eigene Grillen und Hirnge - ſpinſte, als durch eine ſo entfernte und koſt - bare Maſchinerey, wie das Firmament und die Geiſterwelt unſere bloͤden Augen vor - kommt, zu ſeinen Abſichten zu regieren.

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Zwey -[39]

Zweyter Abſchnitt.

Ein Mann, der Geld zu verlieren hatte, und vermuthlich auch Geld zu verlie - ren verſtand, dem die Geſchichte Kriton nennt, ſoll die Unkoſten getragen haben un - ſern Bildhauer in einen Sophiſten zu ver - wandeln. Wer der etymologiſchen Mine ſeines Namens traut, wird dieſen Anſchlag einem weitſehenden Urtheilsgeiſt, ein leicht - glaͤubiger Schuͤler der taͤglichen Erfahrung hingegen einem blinden Geſchmack an So - krates zu ſchreiben.

Die Reyhe der Lehrmeiſter und Lehrmei - ſterinnen, die man dem Sokrates giebt, und die Kriton ohne Zweifel beſolden muſte, iſt anſehnlich genung; und doch blieb Sokrates unwiſſend. Das freche Geſtaͤndniß darin war gewiſſermaſſen eine Beleidigung, die manC 4aber40aber dem aufrichtigen Klienten und Kandi - daten ſcheint vergeben zu haben, weil ſie auf ihn ſelbſt am ſchwerſten zuruͤck fiel. Das Loos der Unwiſſenheit und die Bloͤße derſel - ben macht eben ſo unverſoͤhnliche Feinde als die Ueberlegenheit an Verdienſten und die Schau davon. War Sokrates wirklich un - wiſſend, ſo muſte ihm auch die Schande un - wiſſend ſeyn, die vernuͤnftige Leute ſich er - gruͤbeln, unwiſſend zu ſcheinen.

Ein Menſch, der nichts weiß und der nichts hat, ſind Zwillinge eines Schickſals. Der Fuͤrwitzige und Argwoͤhniſche zeichnen und foltern den erſten als einen Betruͤger; wie der Glaͤubiger und Raͤuber dem letzten, unter - deſſen der Bauerſtolz des reichen Mann und Polyhiſtors beyde verachtet. Eben daher bleibt die philoſophiſche Goͤttin des Gluͤcks eine bewaͤhrte Freundinn des Dummen, und durch ihre Vorſorge entgehen die Einfaͤlle desAr -41Armen den Motten laͤnger als blanke Klei - der und rauſchende Schlafroͤcke, als die Hy - potheſen und Formeln der Kalender-Syſtem - und Projektmacher ſamt den Akten der Stern - und Staatsſeher.

Sokrates ſcheint von ſeiner Unwiſſenheit ſo viel geredt zu haben als ein Hypochon - driaker von ſeiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Uebel ſelbſt kennen muß um einen Milzſuͤchtigen zu verſtehen und aus ihm klug zu werden; ſo gehoͤrt vielleicht eine Sym - pathie der Unwiſſenheit dazu, von der ſokra - tiſchen ein Begrif zu haben.

Erkenne dich Selbſt! ſagte die Thuͤr jenes beruͤhmten Tempels allen denen, die hereingiengen dem Gott der Weisheit zu opfern und ihn uͤber ihre kleinen Haͤndel um Rath zu fragen. Alle laſen, bewunderten und wuſten auswendig dieſen Spruch. Man trug ihn wie der Stein, in den er gegrabenC 5war,42war, vor der Stirn, ohne den Sinn davon zu begreifen. Der Gott lachte ohne Zweifel unter ſeinen guͤldenen Bart, als ihm die kuͤzliche Aufgabe zu Sokrates Zeiten vorge - legt wurde: Wer der weiſeſte unter allen da - mals lebenden Menſchen waͤre? Sopho - kles und Euripides wuͤrden nicht ſo groſ - ſe Muſter fuͤr die Schaubuͤhne, ohne Zerglie - derungskunſt des menſchlichen Herzens, ge - worden ſeyn. Sokrates uͤbertraf ſie aber beyde an Weisheit, weil er in der Selbſter - kenntnis weiter als jene gekommen war, und wuſte, daß er nichts wuſte. Apoll antwor - tete jedem ſchon vor der Schwelle; wer wei - ſe waͤre und wie man es werden koͤnne? jetzt war die Frage uͤbrig: Wer Sich Selbſt er - kenne? und woran man ſich in dieſer Pruͤ - fung zu halten haͤtte? Geh, Chaͤrephon, lern es von Deinem Freunde. Kein Sterb - licher kann die Achtſamkeit und Entaͤuſſerungeines43eines Lehrmeiſters ſittſamer treiben, als wo - mit Apoll ſeine Anbeter zum Verſtande ſei - ner Geheimniße gaͤngelte. Alle dieſe Winke und Bruchſtuͤcke der aͤlteſten Geſchichte und Tradition beſtaͤtigen die Beobachtung, wel - che Paulus und Barnabas den Lykaoniern vorhielten, daß Gott auch unter ihnen ſich ſelbſt nicht unbezeuget gelaſſen, auch ihnen vom Himmel Regen und fruchtbare Zei - ten gegeben. *)Apoſtelgeſch. XIV. Mit wie viel Wahrheit ſing - te alſo nicht unſere Kirche:

Wohl uns des feinen HErren!

Ein ſorgfaͤltiger Ausleger muß die Natur - forſcher nachahmen. Wie dieſe einen Koͤrper in allerhand willkuͤhrliche Verbindungen mit andern Koͤrpern verſetzen und kuͤnſtliche Er - fahrungen erfinden, ſeine Eigenſchaften aus - zuholen; ſo macht es jener mit ſeinem Tex - te. Jch habe des Sokrates Spruͤchwortmit44mit der Delphiſchen Ueberſchrift zuſammen gehalten; jetzt will ich einige andere Verſuche thun, die Energie deſſelben ſinnlicher zu ma - chen.

Die Woͤrter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo ſie ſtehen, und ihre Begriffe ſind in ihren Beſtimmungen und Verhaͤltniſſen, gleich den Muͤnzen, nach Ort und Zeit wandelbar. Wenn die Schlan - ge der Eva beweiſet: Jhr werdet ſeyn wie Gott, und Jehova weiſſagt: Siehe! Adam iſt worden als Unſer einer; wenn Salo - mo ausruft: Alles iſt eitel! und ein alter Geck es ihm nachpfeift: ſo ſieht man, daß einerley Wahrheiten mit einem ſehr entgegen geſetzten Geiſt ausgeſprochen werden koͤnnen.

Ueberdem leidet jeder Satz, wenn er auch aus einem Munde und Herzen quillt, unend - lich viel Nebenbegriffe, welche ihm die geben, ſo ihn annehmen, auf eben die Art als dieLicht -45Lichtſtrahlen dieſe oder jene Farbe werden nach der Flaͤche, von der ſie in unſer Auge zuruͤck fallen. Wenn Sokrates dem Kriton durch ſein: Nichts weiß ich! Rechenſchaft ablegte, mit eben dieſem Worte die gelehrten und neugierigen Athenienſer abwieß, und ſeinen ſchoͤnen Juͤnglingen die Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern, und ihr Ver - trauen durch ſeine Gleichheit mit ihnen zu gewinnen ſuchte: ſo wuͤrden die Umſchrei - bungen, die man nach dieſem dreyfachen Ge - ſichtspunkte von ſeinem Wahlſpruche ma - chen muͤſte, ſo ungleich einander ausſehen, als bisweilen drey Bruͤder, die Soͤhne eines leiblichen Vaters ſind.

Wir wollen annehmen, daß wir einem Un - bekannten ein Kartenſpiel anboͤthen. Wenn dieſer uns antwortete: Jch ſpiele nicht; ſo wuͤrden wir dies entweder auslegen muͤſſen, daß er das Spiel nicht verſtuͤnde, oder eineAbnei -46Abneigung dagegen haͤtte, die in oekonomi - ſchen, ſittlichen oder andern Gruͤnden liegen mag. Geſetzt aber ein ehrlicher Mann, von dem man wuͤſte, daß er alle moͤgliche Staͤrke im Spiel beſaͤſſe und in den Regeln ſo wohl als verbotenen Kuͤnſten deſſelben bewandert waͤre, der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines unſchuldigen Zeitver - treibes lieben und treiben koͤnnte, wuͤrde in einer Geſelſchaft von ſeinen Betruͤgern, die fuͤr gute Spieler gelten, und denen er von beyden Seiten gewachſen waͤre, zu einer Par - they mit ihnen aufgefordert. Wenn dieſer ſagte: Jch ſpiele nicht, ſo wuͤrden wir mit ihm den Leuten ins Geſicht ſehen muͤſſen, mit denen er redet, und ſeine Worte alſo ergaͤn - zen koͤnnen: Jch ſpiele nicht, naͤmlich, mit ſolchen als ihr ſeyd, welche die Geſetze des Spiels brechen und das Gluͤck deſſelben ſtehlen. Wenn ihr ein Spiel anbiethet; ſo iſt47 iſt unſer gegenſeitiger Vergleich den Eigen - ſinn des Zufalls fuͤr unſern Meiſter zu er - kennen, und ihr nennt die Wiſſenſchaft eu - rer geſchwinden Finger Zufall, und ich muß ihn dafuͤr annehmen, wenn ich will, oder die Gefahr wagen euch zu beleidigen, oder die Schande waͤhlen euch nachzuahmen. Haͤttet ihr mir den Antrag gethan mit ein - ander zu verſuchen, wer der beſte Taſchen - ſpieler von uns in Karten waͤre; ſo haͤtte ich anders antworten, und vielleicht mit - ſpielen wollen, um euch zu zeigen, daß ihr ſo ſchlecht gelernt habt Karten machen, als ihr verſteht die euch gegeben werden, nach der Kunſt zu brauchen . Jn dieſe rauhe Toͤne laͤßt ſich die Meynung des Sokrates aufloͤ - ſen, wenn er den Sophiſten, den Gelehrten ſeiner Zeit, ſagte: Jch weiß nichts. Da - her kam es, daß dies Wort ein Dorn in ih - ren Augen und eine Geiſſel auf ihren Ruͤ -cken48cken war. Alle Einfaͤlle des Sokrates, die nichts als Auswuͤrfe und Abſonderungen ſeiner Unwiſſenheit waren, ſchienen ihnen ſo fuͤrchterlich als die Haare an dem Haupte Meduſens, dem Nabel der Egide.

Die Unwiſſenheit des Sokrates war Em - pfindung. Zwiſchen Empfindung aber und einen Lehrſatz iſt ein groͤſſerer Unterſcheid als zwiſchen einem lebenden Thier und anatomi - ſchen Gerippe deſſelben. Die alten und neuen Skeptiker moͤgen ſich noch ſo ſehr in die Loͤwenhaut der ſokratiſchen Unwiſſenheit einwickeln; ſo verrathen ſie ſich durch ihre Stimme und Ohren. Wiſſen ſie nichts; was braucht die Welt einen gelehrten Be - weis davon? Jhr Heucheltrug iſt laͤcher - lich und unverſchaͤmt. Wer aber ſo viel Scharfſinn und Beredſamkeit noͤthig hat ſich ſelbſt von ſeiner Unwiſſenheit zu uͤber - fuͤhren, muß in ſeinem Herzen einen maͤch -tigen49tigen Wiederwillen gegen die Wahrheit der - ſelben hegen.

Unſer eigen Daſeyn und die Exiſtentz aller Dinge auſſer uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden. Was iſt gewiſſer als des Menſchen Ende, und von welcher Wahrheit gibt es eine all - gemeinere und bewaͤhrtere Erkenntnis? Nie - mand iſt gleichwol ſo klug ſolche zu glauben, als der, wie Moſes zuverſtehen giebt, von Gott ſelbſt gelehrt wird zu bedenken, daß er ſterben muͤſſe. Was man glaubt, hat daher nicht noͤthig bewieſen zu werden, und ein Satz kann noch ſo unumſtoͤßlich bewieſen ſeyn, ohne deswegen geglaubt zu werden.

Es giebt Beweiſe von Wahrheiten, die ſo wenig taugen als die Anwendung, die man von den Wahrheiten ſelbſt machen kann;*)Ein Philoſoph laß uͤber die Unſterblichkeit der Seelen ſo uͤberzeugend, daß ſeine Zuhoͤrer vor Freuden Selbſtmoͤrder wurden, wie uns Lactanz erzaͤhlt. D ja man kann den Beweiß eines Satzes glauben ohne dem Satz ſelbſt Beyfall zu geben. Die Gruͤnde eines Hume moͤgen noch ſo triftig ſeyn, und ihre Wiederlegungen immerhinClau -50lauter Lehnſaͤtze und Zweifel: ſo gewinnt und verliert der Glaube gleich viel bey dem geſchickteſten Rabuliſten und ehrlichſten Sach - walter. Der Glaube iſt kein Werk der Ver - nunft und kann daher auch keinem Angrif derſelben unterliegen; weil Glauben ſo we - nig durch Gruͤnde geſchieht als Schmecken und Sehen.

Die Beziehung und Uebereinſtimmung der Begriffe iſt eben daſſelbe in einer Demonſtra - tion, was Verhaͤltnis und Symmetrie der Linien, Schallwuͤrbel und Farben in der muſikaliſchen Compoſition und Malerey iſt. Der Philoſoph iſt dem Geſetz der Nachah - mung ſo gut unterworfen als der Poet. Fuͤr dieſen iſt ſeine Muſe und ihr Hieroglyphi - ſches Schattenſpiel ſo wahr als die Vernunft und das Lehrgebaͤude derſelben fuͤr jenen. Das Schickſal ſetze den groͤſten Weltweiſen und Dichter in Umſtaͤnde, wo ſie ſich beyde ſelbſt fuͤhlen; ſo verleugnet der eine ſeine Ver - nunft und entdeckt uns, daß er keine beſte Welt glaubt, ſo gut er ſie auch beweiſen kann, und der andere ſieht ſich ſeiner Muſe und Schutz - engel beraubt, bey dem Tode ſeiner Meta. Die51Die Einbildungskraft, waͤre ſie ein Sonnen - pferd und haͤtte Fluͤgel der Morgenroͤthe, kann alſo keine Schoͤpferinn des Glaubens ſeyn.

Jch weiß fuͤr des Sokrates Zeugnis von ſeiner Unwiſſenheit kein ehrwuͤrdiger Siegel und zugleich keinen beſſern Schluͤſſel als den Orakelſpruch des groſſen Lehrers der Hey - den:

Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω νυδεν εγνωκε καϑως δει γνωναι. Ει δε τις αγαπα τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον. So jemand ſich duͤnken laͤßt, er wiſſe etwas, der weiß noch nichts, wie er wiſſen ſoll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt. *)1 Kor. VIII.

wie Sokrates vom Apoll fuͤr ei - nen Weiſen. Wie aber das Korn aller un - ſerer natuͤrlichen Weisheit verweſen, in Un - wiſſenheit vergehen muß, und wie aus die - ſem Tode, aus dieſem Nichts das Leben und Weſen einer hoͤheren Erkenntniß her - vorkeimen und neugeſchaffen werde; ſo weit reicht die Naſe eines Sophiſten nicht. KeinD 2Maul -52Maulwurfshuͤgel, ſondern ein Thurn Li - banons muß es ſeyn, der nach Dameſek gaft. *)Hohelied Salom. VII.

Was erſetzt bey einen Homer die Unwiſ - ſenheit der Kunſtregeln, die ein Ariſtoteles nach ihm erdacht, und was einem Schakes - ſpear die Unwiſſenheit oder Uebertretung je - ner kritiſchen Geſetze? Das Genie iſt die einmuͤthige Antwort. Sokrates hatte alſo freylich gut unwiſſend ſeyn; er hatte einen Genius, auf deſſen Wiſſenſchaft er ſich ver - laſſen konnte, den er liebte und fuͤrchtete als ſeinen Gott, an deſſen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der E - gypter und Griechen, deſſen Stimme er glaub - te, und durch deſſen Wind, wie der erfahr - ne Doctor Hill uns bewieſen, der leere Ver - ſtand eines Sokrates ſo gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann.

Ob dieſer Daͤmon des Sokrates nichts als eine herrſchende Leidenſchaft geweſen und bey welchem Namen ſie von unſern Sitten - lehrern geruffen wird, oder ob er einen Fund ſeiner Staatsliſt; ob er ein Engel oder Ko -bold53bold, eine hervorragende Jdea ſeiner Einbil - dungskraft, oder ein erſchlichner und will - kuͤhrlich angenommener Begrif einer mathe - matiſchen Unwiſſenheit; ob dieſer Daͤmon nicht vielleicht eine Queckſilberroͤhre oder den Maſchinen aͤhnlicher geweſen, welchen die Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdan - ken haben; ob man ihn mit dem wahrſagen - dem Gefuͤhl eines nuͤchternen Blinden oder mit der Gabe aus Leichdornen und Narben uͤbelgeheilter Wunden die Revolutionen des Wolkenhimmels vorher zu wiſſen, am be - quemſten vergleichen kann: hieruͤber iſt von ſo vielen Sophiſten mit ſo viel Buͤndigkeit geſchrieben worden, daß man erſtaunen muß, wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß ſeiner Selbſt, auch hierinn ſo unwiſſend ge - weſen, daß er einem Sinnas darauf die Ant - wort hat ſchuldig bleiben wollen. Keinem Leſer von Geſchmack fehlt es in unſern Tagen an Freunden von Genie, die mich der Muͤhe uͤberheben weitlaͤuftiger uͤber den Genius des Sokrates zu ſeyn.

Aus dieſer ſokratiſchen Unwiſſenheit fluͤſſen als leichte Folgen die Sonderbarkeiten ſeinerD 3Lehr -54Lehr - und Denkart. Was iſt natuͤrlicher, als daß er ſich genoͤthigt ſahe immer zu fra - gen um kluͤger zu werden; daß er leichtglaͤu - big that, jedes Meynung fuͤr wahr annahm, und lieber die Probe der Spoͤtterey und gu - ten Laune als eine ernſthafte Unterſuchung anſtellte; daß er alle ſeine Schluͤſſe ſinnlich und nach der Aehnlichkeit machte; Einfaͤlle ſagte, weil er keine Dialectick verſtand; gleich - guͤltig gegen das, was man Wahrheit hieß, auch keine Leidenſchaften, beſonders diejeni - gen nicht kannte, womit ſich die Edelſten un - ter den Athenienſern am meiſten wuſten; daß er, wie alle Jdeoten, oft ſo zuverſichtlich und entſcheidend ſprach, als wenn er, unter al - len Nachteulen ſeines Vaterlandes, die ein - zige waͤre, welche der Minerva auf ihrem Helm ſaͤße Es hat den Sokraten un - ſers Alters, den kanoniſchen Lehrern des Publicums und verdienſtreichen Patronen des menſchlichen Geſchlechts noch nicht gluͤ - cken wollen, ihr Muſter in allen ſuͤſſen Feh - lern zu erreichen. Weil ſie von der Urkunde ſeiner Unwiſſenheit unendlich abweichen; ſo muß man alle ſinnreichen Leſearten und Gloſ -ſen55ſen ihres antiſokratiſchen Daͤmons uͤber ihres Meiſters Lehren und Tugenden als Schoͤn - heiten freyer Ueberſetzungen bewundern; und es iſt eben ſo mislich ihnen zu trauen als nachzufolgen.

Jetzt fehlt es mir an dem Geheimniſſe der Palingeneſie, das unſere Geſchichtſchreiber in ihrer Gewalt haben, aus der Aſche jedes gegebenen Menſchen und gemeinen Weſens eine geiſtige Geſtalt heraus zu ziehen, die man einen Charakter oder ein hiſtoriſch Ge - maͤlde nennt. Ein ſolches Gemaͤlde des Jahrhunderts und der Republik, worinn So - krates lebte, wuͤrde uns zeigen, wie kuͤnſt - lich ſeine Unwiſſenheit fuͤr den Zuſtand ſeines Volkes und ſeiner Zeit, und zu dem Ge - ſchaͤfte ſeines Lebens ausgerechnet war.*)Parrhaſius verfertigte, wie es ſcheint, ein ho - garthſches Gemaͤlde, welches das Publicum zu Athen vorſtellen ſollte, und worin uns fol - gender Kupferſtich oder Schattenriß in Plinius uͤbrig geblieben? Pinxit & δημον Athenien - ſium, argumento quoque ingenioſo. Volebar namque varium, iracundum, iniuſtum, inconſtan - tem: eundem exorabilem, clementem, miſericor - dem, excelſum, glorioſum, humilem, fcrocem, fuga - cemque & omnia pariter oſtendere. Hiſt. Nat. Lib. XXXV. Cap. X. JchD 4kann56kann nichts mehr thun als der Arm eines Wegweiſers und bin zu hoͤlzern meinen Le - ſern in dem Laufe ihrer Betrachtungen Ge - ſellſchaft zu leiſten.

Die Athenienſer waren neugierig. Ein Unwiſſender iſt der beſte Arzt fuͤr dieſe Luſt - ſeuche. Sie waren, wie alle neugierige, ge - neigt mitzutheilen es muſte ihnen alſo ge - fallen, gefragt zu werden. Sie beſaſſen aber mehr die Gabe zu erfinden und vorzutragen, als zu behalten und zu urtheilen; daher hat - te Sokrates immer Gelegenheit ihr Gedaͤcht - nis und ihre Urtheilskraft zu vertreten, und ſie fuͤr Leichtſinn und Eitelkeit zu warnen. Kurz, Sokrates lockte ſeine Mitbuͤrger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophiſten zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit, und von den Goͤtzenaltaͤren ihrer andaͤchtigen und ſtaats - klugen Prieſter zum Dienſt eines unbekan - ten Gottes. Plato ſagte es den Athenien - ſern ins Geſichte, daß Sokrates ihren Arm den Goͤttern gegeben waͤre ſie von ihren Thor - heiten zu uͤberzeugen und zu ſeiner Nachfolge in der Tugend aufzumuntern. Wer den So - krates unter den Propheten nicht leiden will, den muß man fragen: Wer der Propheten Vater ſey? und ob ſich unſer Gott nicht ei - nen Gott der Heyden genannt und erwie - ſen?

Drit -[57]

Dritter Abſchnitt.

Sokrates ſoll drey Feldzuͤge mitgemacht haben. Jn dem erſten hatte ihm ſein Alcidiades die Erhaltung des Lebens und der Waffen zu danken, dem er auch den Preis der Tapferkeit, welcher ihm ſelbſt zu - kam, uͤberließ. Jn dem zweyten wich er wie ein Parther, fiel ſeine Verfolger mitten im Weichen an, theilte mehr Furcht aus, als ihm eingejagt wurde und trug ſeinen Freund Xenophon, der vom Pferde gefallen war, auf den Schultern aus der Gefahr des Schlachtfeldes. Er entgieng der groſſen Nie - derlage des dritten Feldzuges eben ſo gluͤck - lich wie der Peſt, die zu ſeiner Zeit Athen zweymal heimſuchte.

Die Ehrfurcht gegen das Wort in ſeinem Herzen, auf deſſen Laut er immer aufmerk - ſam war, entſchuldigte ihn Staatsverſamm - lungen beyzuwohnen. Als er lange genung glaubte gelebt zu haben, bot er ſich ſelbſt zu einer Stelle im Rath an, worinn er als Mit - glied, Aeltermann*)Prytan. und Oberhaupt**)Proſtata. ge - ſeſſen, und wo er ſich mit ſeiner Unſchicklich - keit in Sammlung der Stimmen und andern Gebraͤuchen laͤcherlich, auch mit ſeinem Ei -D 5gen -58genſinn, den er dem unrechten Verfahren ei - ner Sache entgegen ſetzen muſte, als ein Auf - ruͤhrer verdaͤchtig gemacht haben ſoll.

Sokrates wurde aber kein Autor, und hierinn handelte er uͤbereinſtimmig mit ſich ſelbſt. Wie der Held vor der Schlacht bey Marathon keine Kinder noͤthig hatte; ſo wenig brauchte Sokrates Schriften zu ſei - nem Gedaͤchtniſſe. Seine Philoſophie ſchick - te ſich fuͤr jeden Ort und zu jedem Fall. Der Markt, das Feld, ein Gaſtmal, das Ge - faͤngnis waren ſeine Schulen; und das er - ſte das beſte Quodlibet des menſchlichen Le - bens und geſellſchaftlichen Umganges diente ihm den Saamen der Wahrheit auszuſtreuen. So wenig Schulfuͤchſerey er in ſeiner Lebens - art beſchuldigt wird, und ſo gut er auch die Kunſt verſtand die beſten Geſellſchaften ſelbſt von jungen rohen Leuten zu unterhalten, er - zaͤhlt man gleichwol von ihm, daß er ganze Tage und Naͤchte unbeweglich geſtanden, und einer ſeiner Bildſaͤulen aͤhnlicher als ſich ſelbſt geweſen. Seine Buͤcher wuͤrden alſo viel - leicht wie dieſe ſeine Soliloquien und Selbſt - Geſpraͤche ausgeſehen haben. Er lobte ei - nen Spatziergang als eine Suppe zu ſeinem Abendbrodt; er ſuchte aber nicht wie ein Peripatetiker die Wahrheit im Herumlaufen und hin - und hergehen.

Daß59

Daß Sokrates nicht das Talent eines Scribenten gehabt, lieſſe ſich auch aus dem Verſuche argwohnen, den er in ſeinem Ge - faͤngniſſe auf Angabe eines Traums in der lyriſchen Dichtkunſt machte. Bey dieſer Ge - legenheit entdeckte er in ſich eine Trockenheit zu erfinden, den er mit den Fabeln des Aeſops abzuhelfen wuſte. Gleichwol gerieth ihm ein Geſang auf den Apoll und die Diana.

Vielleicht fehlte es ihm auch in ſeinem Hau - ſe an der Ruhe, Stille und Heiterkeit, die ein Philoſoph zum Schreiben noͤthig hat, der ſich und andere dadurch lehren und ergoͤtzen will. Das Vorurtheil gegen Xantippe, das durch den erſten Claßiſchen Autor unſerer Schulen auſteckend und tief eingewurzelt worden, hat durch die Acta Philoſophorum nicht ausge - rottet werden koͤnnen, wie es zum Behuf der Wahrheit und Sittlichkeit zu wuͤnſchen waͤ - re. Unterdeſſen muͤſſen wir faſt ein Haus - ereutz von dem Schlage annehmen, um einen ſolchen Weiſen als Sokrates zu bilden. Die Reitzbarkeit ſeiner Einfaͤlle konnte vielleicht aus Mangel und Eckel daran von Xantippen nicht behaͤnder erſtickt werden als durch Grob - heiten, Beleidigungen und ihren Nachtſpiegel: Einer Frau, welche die Haushaltung eines Philoſophen fuͤhren, und einem Mann, der die Regierungsgeſchaͤfte unvermoͤgenderGroß -60Großviziern verwalten ſoll, iſt freylich die Zeit zu edel, Wortſpiele zu erſinnen und verbluͤmt zu reden. Mit eben ſo wenig Grunde hat man auch als einer Verlaͤumdung einer aͤhn - lichen Erzaͤhlung von Sokrates Heftigkeit ſelbſt wiederſprochen, mit der er ſich auf dem Markte bisweilen die Haare aus dem Hau - pte gerauft und wie auſſer ſich ſelbſt geweſen ſeyn ſoll. Gab es nicht Sophiſten und Prie - ſter zu Athen, mit denen Sokrates in einer ſolchen Vorſtellung ſeiner ſelbſt reden muſte? Wuͤrde nicht der ſanftmuͤthigſte und herzlich demuͤthige Menſchen Lehrer gedrungen ein Wehe uͤber das andere gegen die Gelehr - ten und frommen Leute ſeines Volkes aus - zuſtoſſen?

Jn Vergleichung eines Xenophons und Platons wuͤrde vielleicht der Styl des So - krates nach den Meiſſel eines Bildhauers aus - geſehen haben und ſeine Schreibart mehr pla - ſtiſch als maleriſch geweſen ſeyn. Die Kunſt - richter waren mit ſeinen Anſpielungen nicht zufrieden, und tadelten die Gleichniſſe ſeines muͤndlichen Vortrages bald als zu weit her - geholt, bald als poͤbelhaft. Alcibiades aber verglich ſeinen Parabel gewiſſen heiligen Bil - dern der Goͤtter und Goͤttinnen, die man nach damaliger Mode in einem kleinen Gehaͤuſe trug, auf denen nichts als dieGe -61Geſtalt eines ziegenfuͤßigen Satyrs zu ſe - hen war.

Hier iſt ein Beyſpiel davon. Sokrates verglich ſich mit einem Arzte, der in einem ge - meinen Weſen von Kindern die Kuchen - und Zuckernaͤſchereyen verbiethen wollte. Wenn dieſe Kunſtverwandten, ſagte er, den Arzt vor einem Gerichte verklagen moͤchten, das aus lauter Kindern beſtuͤnde: ſo waͤre ſein Schickſal entſchieden. Man machte zu Athen ſo viel Anſchlaͤge an dem Gluͤck der Goͤtter Theil zu nehmen, und gleich ihnen weiſe und gluͤcklich zu werden, als man heut zu Tage macht nach Brodt - und Ehren-Stellen. Je - der neue Goͤtzendienſt war eine Finanzgrube der Prieſter, welche das oͤffentliche Wohl vermehren ſollte; jede neue Secte der So - phiſten verſprach eine Encyclopedie der geſun - den Vernunft und Erfahrung. Dieſe Pro - jecte waren die Naͤſchereyen, welche Sokra - tes ſeinen Mitbuͤrgern zu vereckeln ſuchte.

Athen, das den Homer als einen Raſen - den zu einer Geldbuſſe verdammt haben ſoll, verurtheilte den Sokrates als einen Miſſe - thaͤter zum Tode.

Sein erſtes Verbrechen war, daß er die Goͤtter nicht geehrt und neue haͤtte einfuͤhren wollen. Plato laͤßt ihn gleichwol in ſeinen Geſpraͤchen oͤfterer bey den Goͤttern ſchwoͤrenals62als ein verliebter Stutzer bey ſeiner Seele oder ein irrender Ritter bey den Furien ſei - ner Ahnen luͤgt. Jn den letzten Augenblicken ſeines Lebens, da Sokrates ſchon die Kraͤfte des Geſundbrunnens in ſeinen Gliedern fuͤhl - te, erſuchte er noch aufs inſtaͤndigſte ſeinen Kriton einen Hahn fuͤr ihn zu bezahlen und in ſeinen Namen dem Aeſkulap zu opfern. Sein zweytes Verbrechen war ein Verfuͤhrer der Tugend geweſen zu ſeyn, durch ſeine freye und anſtoͤſſige Lehren.

Sokrates antwortete auf dieſe Beſchuldi - gungen, mit einem Ernſt und Muth, mit ei - nem Stolz und Kaltſinn, daß man ihn nach ſeinem Geſichte eher fuͤr einen Befehlshaber ſeiner Richter, wie ein Alter bemerkt, als fuͤr einen Beklagten haͤtte anſehen ſollen.

Sokrates verlor, ſagt man, einen giftigen Einfall,*)Er dictirte ſich im Scherz ſelbſt die Strafe auf Unkoſten des Staats zu Tode gefuͤttert zu werden. und die gewiſſenhaften Areopagu - ten die Gedult. Man wurde alſo hierauf bald uͤber die Strafe einig, der er wuͤrdig waͤre, ſo wenig man ſich vorher daruͤber hat - te vergleichen koͤnnen.

Ein Feſt zu Athen, an dem es nicht erlaubt war ein Todesurtheil zu vollziehen, legte den Sokrates die ſchwere Vorbereitung eines dreyſ - ſigtaͤgigen Gefaͤngniſſes zu ſeinem Tode auf.

Nach63

Nach ſeinem Tode ſoll er noch einem Chier, Namens Kyrſas erſchienen ſeyn, der ſich un - weit ſeines Grabes niedergeſetzt hatte und daruͤber eingeſchlafen war. Die Abſicht ſei - ner Reiſe nach Athen beſtand, Sokrates zu ſehen, der damals nicht mehr lebte; nach die - ſer Unterredung alſo mit deſſelben Geſpenſte, kehrte er in ſein Vaterland zuruͤck, das bey den Alten wegen ſeines herrlichen Weins be - kannt iſt.

Plato macht die freywillige Armuth des Sokrates zu einem Zeichen ſeiner goͤttlichen Sendung. Ein groͤſſeres iſt ſeine Gemein - ſchaft an dem letzten Schickſale der Prophe - ten und Gerechten. *)Matth. XXIII. 29.Ein Bildſaͤule von Lyſippus war das Denkmal, das die Athe - nienſer ſeiner Unſchuld und dem Frevel ihres eigenen Blutgerichts ſetzen lieſſen.

Schlußrede.

Wer nicht von Broſamen und Allmoſen, noch vom Raube zu leben, und fuͤr ein Schwert alles zu entbehren weiß, iſt nicht geſchickt zum Dienſt der Wahrheit; Der wer - de fruͤhe! ein vernuͤnftiger, brauchbarer, ar -tiger64tiger Mann in der Welt, oder lerne Buͤcklin - ge machen und Teller lecken: ſo iſt er fuͤr Hunger und Durſt, fuͤr Galgen und Rad ſein Lebenlang ſicher.

Jſt es wahr, daß GOtt Selbſt, wie es in dem guten Bekenntniſſe lautet, das er vor Pilatus ablegte; iſt es wahr, ſage ich, daß Gott Selbſt, dazu ein Menſch wurde und dazu in die Welt kam, daß er die Wahr - heit zeugen moͤchte: ſo brauchte es keine Allwiſſenheit vorher zu ſehen, daß er nicht ſo gut wie ein Sokrates von der Welt kom - men, ſondern eines ſchmaͤhlichern und grau - ſameren Todes ſterben wuͤrde, als der Va - termoͤrder des allerchriſtlichſten Koͤniges, Ludwich des Vielgeliebten, der ein Ur - enkel Ludwich des Groſſen iſt.

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About this transcription

TextSokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publicums
Author Johann Georg Hamann
Extent74 images; 7254 tokens; 2607 types; 52178 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationSokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publicums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween Johann Georg Hamann. . 64 S. HartungKönigsberg1759.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Lo 2543.1Dig: http://diglib.hab.de/drucke/lo-2543-1/start.htm

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Gebrauchsliteratur; Philosophie; core; ready; china

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Lo 2543.1
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