PRIMS Full-text transcription (HTML)
Von Deutſcher Art und Kunſt.
Einige fliegende Blaͤtter.
[figure]
Hamburg,1773. BeyBode.

I. Auszug aus einem Briefwechſel uͤber Oſſian und die Lieder alter Voͤlker.

AI. Aus -

I. Auszug aus einem Briefwechſel uͤber Oſſian und die Lieder alter Voͤlker.

Auch ich bin, wie Sie, uͤber die Ueberſetzung Oſſians fuͤr unſer Volk und unſre Sprache, eben ſo ſehr als uͤber ein Epiſches Original entzuͤckt. Ein Dichter, ſo voll Hoheit, Unſchuld, Ein - falt, Thaͤtigkeit, und Seligkeit des menſchli - chen Lebens, muß, wenn man in faca Ro - muli an der Wuͤrkſamkeit guter Buͤcher nicht ganz verzweifeln will, gewiß wuͤrken und Her - zen ruͤhren, die auch in der armen Schotti - ſchen Huͤtte zu leben wuͤnſchen, und ſich ihre Haͤuſer zu ſolchem Huͤttenfeſt einweihen Auch Denis Ueberſetzung verraͤth ſo viel Fleiß und Geſchmack, theils gluͤcklichen Schwung der Bilder, theils Staͤrke der deutſchen Spra - che, daß ich auch ſie gleich unter die Lieblings - buͤcher meiner Bibliothek geſtellt, und Deutſch - land zu einem Barden Gluͤck gewuͤnſcht, denA 2der4der ſchottiſche Barde nur gewecket Aber Sie, der vorher ſo halsſtarrig an der Wahr - heit und Authenticitaͤt des ſchottiſchen Oſſians zweifelte, hoͤren Sie jetzt mich den Verthei - diger, nicht halsſtarrig zweifeln, ſondern be - haupten, daß Trotz alles Fleiſſes und Ge - ſchmacks und Schwunges und Staͤrke der deutſchen Ueberſetzung unſer Oſſian gewiß nicht der wahre Oſſian mehr ſey. Der Raum fehlt mir, das jetzt zu beweiſen: ich muß alſo meine Behauptung nur, wie ein tuͤrkiſcher Mufti, ſein Fetwa hinſetzen, und hier der Name des Mufti

Meine Gruͤnde gegen den deutſchen Oſſian ſind nicht blos, wie Sie guͤtigſt waͤhnen, Eigenſinn gegen den deut - ſchen Hexameter uͤberhaupt: denn was trauen Sie mir fuͤr Empfindung, fuͤr Ton und Harmonie der Seele zu, wenn ich z. E. den Kleiſtiſchen, den Klopſtockiſchen Hexame - ter nicht fuͤhlen ſollte? aber freylich, weil Sie doch Einmal ſelbſt darauf gekommen ſind, der Klopſtockſche Hexameter bey Oſſian? freylich auch hinc illæ lacrimæ! Haͤtte der Herr D. die eigentliche Manier Oſſians nur etwas auch mit dem innern Ohre uͤberlegt Oſſianſo5ſo kurz, ſtark, maͤnnlich, abgebrochen in Bil - dern und Empfindungen Klopſtocks Ma - nier, ſo ausmalend, ſo vortreflich, Empfin - dungen ganz ausſtroͤmen, und wie ſie Wellen ſchlagen, ſich legen und wiederkommen, auch die Worte, die Sprachfuͤgungen ergieſſen zu laſſen welch ein Unterſchied? und was iſt nun ein Oſſian in Klopſtocks Hexameter? in Klopſtocks Manier? Faſt kenne ich keine zwo verſchiednere, auch Oſſian ſchon wuͤrklich wie Epopaͤiſt betrachtet.

Aber das iſt er nun nicht, und ſehen Sie, das wollte ich Jhnen nur ſagen, von jenem hat ſchon, wie mich duͤnkt, eine Kritiſche Bi - bliothek geredet, und das geht mich nichts an. Jhnen wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß Oſſians Gedichte Lieder, Lieder des Volks, Lieder eines ungebildeten ſinnlichen Volks ſind, die ſich ſo lange im Munde der vaͤterlichen Tradition haben fortſingen koͤn - nen ſind ſie das in unſrer ſchoͤnen epiſchen Geſtalt geweſen? haben ſies ſeyn koͤnnen? mein Freund, wenn ich mich zuerſt gegen Jhre zweifelnde Halsſtarrigkeit gegen die Urſpruͤng - lichkeit Oſſians auf Nichts ſo ſehr, als auf inneres Zeugniß, auf den Geiſt des Werks ſelbſt berief, der uns mit weiſſagender Stim - me zuſagte: ſo etwas kann Macpherſon un - moͤglich gedichtet haben! ſo was laͤßt ſich inA 3unſerm6unſerm Jahrhunderte nicht dichten! mit eben dem innern Zeugniß rufe ich jetzt eben ſo laut: das laͤßt ſich wahrhaftig nicht ſingen! in ſolchem Ton von einem wilden Bergvolke wahrhaftig nicht fortſingen und erhalten folg - lich iſts nicht Oſſtan, der da ſang, der ſo lan - ge fortgeſungen wurde! Was ſagen Sie zu meinem innern Beweiſe? naͤchſtens fuͤlle ich Jhnen vielleicht damit Seiten!

So eigenſinnig fuͤr Jhren deutſchen Oſſian haͤtte ich Sie doch nicht ge - glaubt! Es mir durch Zergliederungen und einzelne Vergleichungen abzwingen zu wollen, daß er gewiß ſo gut, als der Engliſche ſey! Jn Sachen der bloſſen, ſchnellen Empfindung, was laͤßt ſich da nicht aus zergliedern? was nicht durch ein gruͤbeln des Zerlegen heraus be - weiſen, was wenigſtens die vorige ſchnelle Empfindung gewiß nicht iſt. Haben Sie es wohl diesmal bedacht, was Sie ſo oft, oft, und taͤglich fuͤhlen, was die Auslaſſung Eines, der Zuſatz eines andern, die Umſchreibung und Wiederholung eines dritten Worts; was mir andrer Accent, Blick, Stimme der Rede durchaus fuͤr anderen Ton geben koͤnne? Jch will den Sinn noch immerblei -7bleiben laſſen; aber Ton? Farbe? die ſchnel - leſte Empfindung von Eigenheit des Orts, des Zwecks? Und beruht nicht auf dieſen alle Schoͤnheit eines Gedichts, aller Geiſt und Kraft der Rede? Jhnen alſo immer zuge - geben, daß unſer Oſſian, als ein poetiſches Werk ſo gut, ja beſſer, als der Engliſche ſey eben weil er ein ſo ſchoͤnes poetiſches Werk iſt, ſo iſt er der alte Barde, Oſſian, nicht mehr; das will ich ja eben ſagen?

Nehmen Sie doch Eins der alten Lieder, die in Shakeſpear, oder in den engliſchen Sammlungen dieſer Art vorkommen, und ent - kleiden Sies von allem Lyriſchen des Wohl - klanges, des Reims, der Wortſetzung, des dunkeln Ganges der Melodie: laſſen Sie ihm blos den Sinn, ſo ſo, und auf ſolche und ſolche Weiſe in eine andre Sprache uͤbertra - gen; iſts nicht, als wenn Sie die Noten in einer Melodie von Pergoleſe, oder die Let - tern auf einer Blattſeite umwuͤrfen? wo blie - be der Sinn der Seite? wo bliebe Pergoleſe? Mir faͤllt eben das Liedchen aus Shakeſpears Twelfth-Night in die Haͤnde, bey welchem der Liebeſieche Herzog von hinnen ſcheiden will:

that old and antik ſong
Me thought it did relieve my paſſion
much
A 4More8
More than light airs and recollected terms
Of theſe moſt briſk and giddy paced times
it is old and plain
The Spinſters and the Knitlers in the Sun
And the free Maids that weave their
Thread with Bones
Do uſe to chant it: it is ſitly ſoath
And daillies with the innocence of Love
Like the old Age

Nun, werden Sie bey ſolchem Lobe nicht ſo begierig, wie der verliebte Ritter ſelbſt? Auf! uͤberſetzen Sies flugs in Denisſche Hexame - ter:

Song.
Come away, come away, death!
And in ſad cypreſs let me be laid!
Fly away, fly away, breath!
I am ſlain by a fair cruel Maid!
My Shrowd of white ſtuck all with yew
Oh prepare it
My Part of death, no one ſo true
Did ſhare it!
Not a Flow’r, not a Flow’r ſweet
On my black Coffin let there be ſtrown
Not a Friend, not a Friend greet
My poor Corps, where my Bones
ſhall be thrown.
A thouſand thouſand Sighs to ſave
Lay me o where
True Lover never find my Grave
To weep there.
Der9

Der ſollte nicht mein Freund ſeyn, der bey dieſem ſo einfaͤltigen, Nichtsſagenden Liede, inſonderheit lebendig geſungen, nichts mit fuͤhlte! Jndeſſen, wenn es uͤberſetzt wuͤrde (Wieland hat es, ſo wie die Meiſten dieſer Art, nicht uͤberſetzt!) wenn der Einige faſt, dem ich hiezu Biegſamkeit zutraue, der Saͤn - ger des Skaldengeſanges und der Grabſchrift Aſpaſiens, und des griechiſchen Schnitterlied - chens und der ſuͤſſen Naͤnie auf Wachtel und das Schnittermaͤdchen des Himmels, und auf die Herzensangſt jenes guten Pfarrers wenn dieſer Dichter, der ſo Mancherley, und dies Mancherley ſo vortreflich ſeyn kann, es uͤberſetzte, wie anders erhaͤlt er den Abdruck der innern Empfindung, als durch den Ab - druck des Aeuſſern, des Sinnlichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Geſange ſtromweiſe in die Seele flieſſet. Schlagen Sie die Dodslei’ſchen Reliques of ancient Poetry auf, von Einem Ende zum Andern; uͤberſetzen Sie was und wie ſchoͤn Sie es wollen, aber auſſer dem Ton des Ge - ſanges, und ſehen Sie denn, was Sie ha - ben werden!

Sie kennen doch die liebe, ſuͤſſe Romanze, von der ich mich wundere, daß ſie ſich in denA 5Dods -10Dodsleiſchen Reliques nicht finde: Heinrich und Kathrine

In ancient times in Britain Iſſe Lord Henry was well knowne

ein engliſcher Schulrector, ſeines Namens Samuel Biſhop, hat gewiſſe Ferias poeti - cas gefeyret: i. e. Carmina Anglicana Elegiaci plerumque argumenti (ich ſchrei - be Jhnen den verdienſtvollen Titel) latine reddita geſchrieben, und in dieſen Carmi - nibus Anglicanis latine redditis iſt auch unſre Romanze Elegiaci argumenti, und alſo auch Elegiaco verſu, ſchoͤn ſkandirt und phraſeologiſirt, die ſich alſo anhebt:

Angliacos inter proceres innotuit olim Henricus priſcæ nobilitatis honos!

und wo iſt nun die Romanze? Daß es mit Oſſian kaum anders ſey, ſehen Sie nur einmal die ſchoͤne Macferlanſche Ueber - ſetzung von Temora. Der Verf. ſelbſt ein Schotte? der Oſſian ſingen gehoͤrt? ihn doch alſo fuͤhlen muß? Sehen Sie nun, was un - ter den Haͤnden des guten, flinken Lateiners aus der ruͤhrenden Stelle geworden iſt, da Oſcar faͤllt, und der Dichter ploͤtzlich abbre - chend, ſich an ſeine Geliebte wendet Jn der N. Bibl. der ſch. W. Band 9. St. 2. S. 344. ſind die Ueberſetzungen aus Mac -ferſon11ferſon Macferlan, und Denis neben ein - ander. Sie koͤnnen nachſchlagen und ſe - hen!

Jhre Einwuͤrfe ſind ſonderbar. Bey alten Gothiſchen Geſaͤngen, wie Sie ſie zu nennen belieben, bey Reimgedich - ten, Romanzen, Sonnets und dergleichen ſchon kuͤnſtlichen oder gar gekuͤnſtelten Stan - zen, geben Sie mir nach; aber bey alten unge - kuͤnſtelten Liedern, wilder, ungeſitteter Voͤl - ker wilder ungeſitteter Voͤlker? ich kann ihre Stelle kaum ausſchreiben. So gehoͤrte ihr Oſſian und ſein edler, groſſer Fingal ſo ſchlechthin zu einem wilden ungeſitteten Volk? und wenn jener auch alles idealiſirt haͤtte, wer ſo idealiſiren konnte, und wem ſo idealiſirt, dergleichen Bilder, dergleichen Geſchichte, der Traum des Nachts, und das Vorbild des Tags, Gemuͤthserholung und beſte Her - zensluſt ſeyn konnte; der war wildes Volk? Wohin man doch abgerathen kann, um nur ſeine Lieblingsmeinung zu retten.

Wiſſen Sie alſo, daß je wilder, d. i. je le - bendiger, je freywirkender ein Volk iſt, (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!) deſto wilder, d. i. deſto lebendiger, freyer, ſinnlicher, lyriſchhan -12handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat, ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher, wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let - ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben - digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan - ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zuſammenhange und gleichſam Noth - drange des Jnhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man - chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch - und Na - tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin - den davon, und davon allein haͤngt das Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent - zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb - und Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht - niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll, deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See - lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte trotzen wohin wendet ſich nun die Sache?

Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde -res13res rauheres Volk, als die weich idealiſirten Schotten: mir iſt von jenen kein Gedicht be - kannt, wo ſanfte Empfindung ſtroͤme: ihr Tritt iſt ganz auf Felſen und Eis und gefrorner Erde, und in Abſicht auf ſolche Bearbeitung und Kul - tur iſt mir von ihnen kein Stuͤck bekannt, das ſich mit den Oſſianſchen darinn vergleichen laſſe. Aber ſehen ſie einmal im Worm, im Bar - tholin, im Periſtiold, und Verel ihre Ge - dichte an wie viel Sylbenmaaſſe! wie ge - nau jedes unmittelbar durch den fuͤhlbaren Takt des Ohrs beſtimmt! aͤhnliche Anfangsſyl - ben mitten in den Verſen ſymmetriſch aufge - zaͤhlt, gleichſam Loſungen zum Schlage des Takts, Anſchlaͤge zum Tritt, zum Gange des Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuchſtaben zum Anſtoß, zum Schallen des Bardengeſan - ges in die Schilde! Diſticha und Verſe ſich ent - ſprechend! Vokale gleich! Sylben Conſon wahrhaftig eine Rythmik des Verſes, ſo kuͤnſt - lich, ſo ſchnell, ſo genau, daß es uns Buͤcherge - lehrten ſchwer wird, ſie nur mit den Augen auf - zufinden; aber denken Sie nicht, daß ſie jenen lebendigen Voͤlkern, die ſie hoͤrten und nicht la - ſen, von Jugend auf hoͤrten und mit ſangen, und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten, eben ſo ſchwer geweſen ſey. Nichts iſt ſtaͤrker und ewiger, und ſchneller, und feiner, als Ge - wohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wielange14lange behaͤlt daſſelbe! Jn der Jugend, mit dem Stammlen der Sprache gefaßt, wie leb - haft kommt es zuruͤck, und ſo ſchnell mit allen Erſcheinungen der lebendigen Welt verbun - den, wie reich und maͤchtig kommt es wie er. Aus Muſik, Geſang und Rede koͤnnt ich Jh - nen eine Menge ſonderbarer Phaͤnomene an - fuͤhren, wenn ich einmal pſychologiſiren wollte!

Denken Sie nicht, daß ich uͤbertreibe. Un - ter 136 Rhythmusarten der Skalden, habe ich nur Einen, den Saugbaren, in Worm naͤher ſtudirt (denn ihre eigentliche Proſodie, der zwei - te Theil der Edda iſt meines Wiſſens noch nicht erſchienen!) und was denken Sie, wenn in dieſem Rythmus von 8 Reihen nicht blos 2 Diſticha, ſondern in jedem Diſtichon 3 An - fangaͤhnliche Buchſtaben, 3 conſone Woͤrter und Schaͤlle, und dieſe in ihren Regionen wie - der ſo metriſch beſtimmt ſind, daß die ganze Strophe gleichſam eine proſodiſche Runentex - tur geworden iſt und alles waren Schaͤlle, Laute eines lebenden Geſanges, Wecker des Takes und der Erinnerung, alles klopfte, und ſtieß und ſchallte zuſammen! Machen Sie nun die Probe, und ſtudiren Reyner Lod - brogs Sterbegeſang in den Runen des Worms, und leſen denn die feine, zierliche Ueberſetzung, die wir davon im Dentſchen, in ganz anderm Ton und ganz anderm Sylben -maaſſe15maaſſe haben der verzogenſte Kupferſtich von einem ſchoͤnen Gemaͤlde! Nun komme je - mand und mache aus dem Schlachtgeſang der Dyſen, aus dem Zaubergeſpraͤch Odins am Thor der Hoͤlle, aus dem juͤngſten Gericht der Eddagoͤtter ein ſchoͤnes Heldengedicht in He - xametern, oder ſchoͤne griechiſche Sylben - maaſſe, wie Herr Denis aus dem Geſpraͤch Gauls und Mornis, Fingals und Ros - kranen gemacht hat; aus Evind Skalda - ſpillers Trauerlied auf Hako eine Elegie im Ton der Rothſchildsgraͤber was wuͤrde Va - ter Odin und der alte Skaldaſpiller ſagen? Daß ſich nun dieſe Skaldiſche Rhytmik nicht auf Jsland und Skandinavien eingeſchraͤnkt, koͤnnen ſie aus Hickes, und andern; am neue - ſten noch in den Dodslei’ſchen reliques aus der Vorabhandlung von dem complaint of conſcience (Th. 2. B. 3. S. 277.) ſehen, wo aus dem Angelſaͤchſiſchen dergleichen mehr als Eine Probe angefuͤhrt wird.

Aber noch mehr. Gehen Sie die Gedichte Oſſians durch. Bey allen Gelegenheiten des Bardengeſanges ſind ſie einem andern Volk ſo aͤhnlich, das noch jetzt auf der Erde lebet, ſin - get, und Thaten thut; in deren Geſchichte ich alſo ohne Vorurtheil und Wahn die Geſchichte Oſſians und ſeiner Vaͤter mehr als Einmal le - bendig erkannt habe. Es ſind die fuͤnf Na -tionen16tionen in Nordamerika: Sterbelied und Kriegsgeſang, Schlacht - und Grablied, hiſto - riſche Lobgeſaͤnge auf die Vaͤter und an die Vaͤ - ter alles iſt den Barden Oſſians und den Wilden in Nordamerika gemein; der letzten Marter - und Rachelied nehme ich aus, dafuͤr die ſanften Kaledonier ihre Geſaͤnge mit dem ſanften Blut der Liebe faͤrbten. Nun ſehen Sie einmal, was alle Reiſebeſchreiber, Char - levoix und Lafiteau, Roger, und Cad - wallader Colden vom Ton, vom Rythmus, von der Macht dieſer Geſaͤnge auch fuͤr Ohren der Fremdlinge ſagen. Sehen Sie nach, wie viel nach allen Berichten darinn auf lebende Bewegung, Melodie, Zeichen ſprache und Pan - tomime ankoͤmmt, und wenn nun Reiſende, die die Schotten kannten, und mit den Ameri - kanern ſo lange gelebt hatten, Kapt. Timber - lake z. B. die offenbare Aehnlichkeit der Geſaͤnge beyder Nationen anerkannten ſo ſchlieſſen Sie weiter. Bey Denis ſtehen wir ſteif und feſt auf der Erde: hoͤren etwa Sinn und Jn - halt in eigner, guter poetiſcher Sprache, aber nach der Analogie aller wilden Voͤlker kein Laut, kein Ton, kein lebendiges Luͤftchen von den Huͤ - geln der Kaledonier, das uns hebe und ſchwinge, und den lebendigen Ton ihrer Lieder hoͤren laſ - ſen: wir ſitzen, wir leſen, wir kleben ſteif und feſt an der Erde.

Als17

Als eine Reiſe nach England noch in meiner Seele lebte o Freund, Sie wiſſen nicht, wie ſehr ich damals auch auf dieſe Schotten rechnete! Ein Blick, dachte ich, auf den oͤf - fentlichen Geiſt, und die Schaubuͤhne, und das ganze lebende Schauſpiel des engliſchen Volks, um im Ganzen die Jdeen mir aufzu - klaͤren, die ſich im Kopf eines Auslaͤnders in Geſchichte, Philoſophie, Politik und Sonder - barkeiten dieſer wunderbaren Nation, ſo dun - kel und ſonderbar zu bilden und zu verwirren pflegen. Alsdenn die groͤßte Abwechſelung des Schauſpiels, zu den Schotten! zu Macferſon! Da will ich die Geſaͤnge eines lebenden Volks lebendig hoͤren, ſie in alle der Wuͤrkung ſehen, die ſie machen, die Oerter ſehen, die allenthal - ben in den Gedichten leben, die Reſte dieſer alten Welt in ihren Sitten ſtudiren! eine Zeit - lang ein alter Kaledonier werden und denn nach England zuruͤck, um die Monumente ihrer Litteratur und ihre zuſammengeſchleppten Kunſt - worte und das Detail ihres Charakters mehr zu kennen wie freute ich mich auf den Plan! und als Ueberſetzer haͤtte ich gewiß auf andern Wegen aͤhnliche Schritte thun wollen, die jetzt Denis nicht gethan hat! Fuͤr ihn iſt ſelbſt die Macpherſonſche Probe der Urſprache ganz vergebens abgedruckt geweſen.

B Sie18

Sie lachen uͤber meinen Enthuſias - mus fuͤr die Wilden beynahe ſo, wie Voltaire uͤber Rouſſeau, daß ihm das Gehen auf Vieren ſo wohl gefiele: Glauben Sie nicht, daß ich deswegen unſre ſittlichen und geſitteten Vorzuͤge, worinn es auch ſey, verachte. Das menſchliche Geſchlecht iſt zu einem Fortgange von Scenen, von Bildung, von Sitten beſtimmt: wehe dem Menſchen, dem die Scene mißfaͤllt, in der er auftreten, han - deln und ſich verleben ſoll! Wehe aber auch dem Philoſophen uͤber Menſchheit und Sitten, dem Seine Scene die Einzige iſt, und der die Erſte immer, auch als die Schlechteſte, verkennet! Wenn alle mit zum Ganzen des fortgehenden Schauſpiels gehoͤren: ſo zeigt ſich in jeder eine neue, ſehr merkwuͤrdige Seite der Menſch - heit und nehmen Sie ſich nur in Acht, daß ich Sie nicht naͤchſtens mit einer Philologie aus den Gedichten Oſſians heimſuche. Die Jdeen wenigſtens dazu liegen tief und le - bendig genug in meiner Seele, und ſie wuͤrden manches Sonderbare leſen!

Fuͤr jetzt. Wiſſen Sie, warum ich ein ſolch Gefuͤhl theils fuͤr Lieder der Wilden, theils fuͤr Oſſian inſonderheit habe? Oſſian zuerſt, habe ich in Situationen geleſen, wo ihn diemeiſten,19meiſten, immer in buͤrgerlichen Geſchaͤften, und Sitten und Vergnuͤgen zerſtreute Leſer, als blos amuſante, abgebrochene Lecture, kaum leſen koͤnnen. Sie wiſſen das Aben - theuer meiner Schiffahrt; aber nie koͤnnen Sie ſich die Wuͤrkung einer ſolchen, etwas langen Schiffahrt ſo denken, wie man ſie fuͤhlt. Auf Einmal aus Geſchaͤften, Tumult und Ranges - poſſen der buͤrgerlichen Welt, aus dem Lehn - ſtuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Geſellſchaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerſtreuungen, Buͤcherſaͤle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, uͤber Einem Brette, auf ofnem allweiten Meere, in einem kleinen Staat von Menſchen, die ſtrengere Geſetze haben, als die Republik Lykurgus, mitten im Schauſpiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwiſchen Abgrund und Him - mel ſchwebend, taͤglich mit denſelben endloſen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Kuͤſte, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend nun die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfuͤllet, an den Orten, da ſie geſchahen hier die Klippen Olaus vorbey, von denen ſo viele Wunderge - ſchichte lauten dort dem Eilande gegenuͤber, das jene Zauberoſe, mit ihren vier maͤchtigen Sternebeſtirnten Stieren abpfluͤgte, dasB 2 Meer20 Meer ſchlug, wie Platzregen, in die Luͤfte empor, und wo ſich, ihren ſchweren Pflug ziehend, die Stiere wandten, glaͤnzten 8 Sterne vor ihrem Haupte uͤber dem Sand - lande hin, wo vormals Skalden und Vikinge mit Schwerdt und Liede auf ihren Roſſen des Erdeguͤrtels (Schiffen) das Meer durchwan - delten, jetzt von fern die Kuͤſten vorbey, da Fingals Thaten geſchahen, und Oſſians Lieder Wehmuth ſangen, unter eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille glauben Sie, da laſſen ſich Skalden und Barden anders leſen, als neben dem Katheder des Profeſſors. Wood mit ſeinem Homer auf den Truͤmmern Tro - ja’s, und die Argonauten, Odyſſeen und Luſia - den unter wehendem Segel, unter raſſelndem Steuer: Die Geſchichte Uthals und Nina - thoma im Anblick der Jnſel, da ſie geſchahe; wenigſtens fuͤr mich ſinnlichen Menſchen ha - ben ſolche ſinnliche Situationen ſo viel Wuͤr - kung. Und das Gefuͤhl der Nacht iſt noch in mir, da ich auf ſcheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Fluth mehr bewegte, mit Meer beſpuͤlt, und mit Mitternachtwind um - ſchauert, Fingal las und Morgen hofte Verzeihen Sie es alſo wenigſtens einer altern - den Einbildung, die ſich auf Eindruͤcke dieſer Art, als auf alte bekannte und innige Freunde ſtuͤtzet.

Aber21

Aber auch das iſt noch nicht eigentlich Ge - neſis des Enthuſiasmus, uͤber welchen Sie mir Vorwuͤrfe machen: denn ſonſt waͤre er vielleicht nichts als individuelles Blendwerk, ein bloſſes Meergeſpenſt, das mir erſcheinet. Wiſſen Sie alſo, daß ich ſelbſt Gelegenheit gehabt, lebendige Reſte dieſes alten, wilden Geſanges, Rhytmus, Tanzes, unter lebenden Voͤlkern zu ſehen, denen unſre Sitten noch nicht voͤllig Sprache und Lieder und Gebraͤuche haben neh - men koͤnnen, um ihnen dafuͤr etwas ſehr Ver - ſtuͤmmeltes oder Nichts zu geben. Wiſſen Sie alſo, daß, wenn ich einen ſolchen alten Geſang mit ſeinem wilden Gange gehoͤrt, ich faſt immer, wie der franzoͤſiſche Marcell ge - ſtanden: que de choſes dans un menuet! oder vielmehr, was haben ſolche Voͤlker durch Umtauſch ihrer Geſaͤnge gegen eine verſtuͤm - melte Menuet, und Reimleins, die dieſer Me - nuet gleich ſind, gewonnen?

Sie kennen die beyden lettiſchen Lieder - chen, die Leßing in den Litteraturbrie - fen aus Ruhig anzog, und wiſſen, wie viel ſinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem We - ſen liegen mußte; laſſen Sie mich itzt ein paar Peruaniſche aus Garcilaſſo di Vega zie - hen, die ich nach Worten, Klang, und Rhyth - mus ſo viel moͤglich uͤbertragen; Sie werden aber gleich ſelbſt ſehen, wie weit ſie ſich uͤbertra - gen laſſen.

B 3Das22

Das Erſte iſt die Serenate eines Liebhabers in der Abenddaͤmmerung:

Schlummre, ſchlummr, o Maͤdchen,
Sanft in meine Lieder,
Mitternachts, o Maͤdchen,
Weck ich dich ſchon wieder!

Was laͤßt ſich ſeinem Maͤdchen mehr und ſuͤſſer ſagen? Das andre iſt ein bloſſes Bild, eine Fiktion ihrer Mythologie von Donner und Blitz. Jn den Wolken iſt eine Nymphe mit einem Waſſerkruge in der Hand, beſtellet, um zu gehoͤriger Zeit der Erde Regen zu geben. Unterlaͤßt ſies, laͤßt ſie die Erde in Duͤrre ſchmach - ten, ſo koͤmmt ihr Bruder, zerſchlaͤgt ihren Krug, das giebt Blitz und Donner, und denn zugleich Regen. Wenn die Dichtung vom Ungewitter in der Duͤrre, mit Regen be - gleitet, Jhnen als ſinnlich, als anſchauend ge - gefaͤllt: ſo hoͤren ſie das Lied oder Gebet an ſie, wie Sie wollen:

Schoͤne Goͤttin,
Himmelstochter!
Mit dem vollen
Waſſerkruge,
Den dein Bruder
Jetzt zerſchmettert
Daß es wettert
Ungewitter,
Blitz und Donner!
Schoͤne23
Schoͤne Goͤttin,
Koͤnigstochter!
Und nun traͤufelſt
Du uns Regen,
Milden Regen!
Doch oft ſtreueſt
Du auch Flocken
Und auch Schloſſen!
Denn ſo hat dir
Er der Weltgeiſt!
Er der Weltgott!
Virakocha!
Macht gegeben
Amt gegeben!

Als Weisheit habe ich das Liedchen nicht angefuͤhrt: denn Sie wiſſen, in welchem Ruf die dummen Peruaner ſtehen? ich rede von Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren, und da arbeitet meine Nachbildung dem Ori - ginal ſo matt und ſchwach nach.

Sie kennen das Kleiſtiſche Lied eines Lapplaͤnders, und die Hand dieſes braven Man - nes konnte fuͤr uns gewiß nicht anders, als verſchoͤnern: aber wenn ich Jhnen nun den ro - hen Lapplaͤnder gaͤbe? wenigſtens aus der dritten Hand, denn ich habe Scheffer nicht bey mir:

O Sonne, dein helleſter Schimmer beglaͤnze
den Orra See!
Jch wuͤrde den Fichtengipfel erſteigen, koͤnnt ich
ſchauen den Orra-See!
B 4Jch24
Jch wuͤrd ihn erſteigen, den Gipfel, meine
Blumenfreundinn zu ſehn!
Jch wuͤrd ihn beſcheeren, ihm alle Zweige, ſeine
gruͤnen Zweige ſtuͤmmeln
Haͤtt ich Fluͤgel, zu dir zu fliegen, Fluͤgel der
Kraͤhen
Dem Laufe der Wolken folgt ich, ziehend zum
Orra-See!
Aber mir mangeln die Fluͤgel! Entefluͤgel!
Fuͤſſe der Ente!
Rudernde Fuͤſſe der Gaͤnſe, die mich zu dir
bringen!
O du haſt lange gewartet, ſo viel Tage!
ſchoͤne Tage,
Du mit erquickenden Augen, mit deinem freund -
lichen Herzen!
Was iſt ſtaͤrker, als Flechte Sehnen! als eiſene,
maͤchtige Ketten
So feſſelt uns die Liebe, die Umſchafferinn Sinns
und Willens:
Denn der Wille des liebenden Juͤnglings iſt
Windesgang
Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken!
Folgt ich ihnen allen, ich irrte vom rechten
Weg ab.
Drum bleibt mir Ein Entſchluß, die ſichre Bahn
zu gehn!

Es iſt, wie geſagt, aus der dritten Hand, die - ſes lapplaͤndiſche Lied Aber noch immer, wie natuͤrlich, wie ſehnlich ſinnet der junge, begehrende Lapplaͤnder, dem ſein Weg zu lange wird, dem Alles, was er ſieht, Sonne und Wipfel und Wolke und Kraͤhe und Ruderfuͤſſeſich25ſich zum Orraſee, auf ſein Maͤdchen beziehen muß! Der auf die Schnelle und Langſam - keit ſeines Weges, auf ſein Hineilen der Seele, auf ſeine vorwandernde Gedanken, auf ſeine Luſt, Richtſteige zu ſuchen, wie natuͤrlich! wie ſehnlich zuruͤck kommt! Que de choſes dans un menuet! und ich liefre Jhnen doch nur die ſtammlendſten, zerriſſenſten Reſte.

Ein andres lapplaͤndiſches Liebeslied an ſein Rennthier wollte ich Jhnen auch mittheilen; aber es iſt verworfen, und wer mag Zettel ſu - chen? Dafuͤr ſtehe hier ein altes, recht ſchau - derhaftes Schottiſches Lied, fuͤr das ich ſchon mehr ſtehen kann, weil ichs unmittelbar aus der Urſprache habe. Es iſt ein Geſpraͤch zwi - ſchen Mutter und Sohn, und ſoll im Schotti - ſchen mit der ruͤhrendſten Landmelodie beglei - tet ſeyn, der der Text ſo viel Raum goͤnnet:

Dein Schwerdt, wie iſts von Blut ſo roth?
Edward, Edward! |
Dein Schwerdt, wie iſts von Blut ſo roth
Und gehſt ſo traurig da! O!
Jch hab geſchlagen meinen Geyer todt
Mutter, Mutter!
Jch hab geſchlagen meinen Geyer todt,
Und das, das geht mir nah! O!
Dein’s Geyers Blut iſt nicht ſo roth!
Edward, Edward!
Dein’s Geyers Blut iſt nicht ſo roth,
Mein Sohn, bekenn mir frey! O!
B 5Jch26
Jch hab geſchlagen mein Rothroß todt!
Mutter, Mutter!
Jch hab geſchlagen mein Rothroß todt!
Und’s war ſo ſtolz und treu! O!
Dein Roß war alt und haſts nicht noth!
Edward, Edward,
Dein Roß war alt und haſts nicht noth,
Dich druͤckt ein ander Schmerz! O!
Jch hab geſchlagen meinen Vater todt,
Mutter, Mutter!
Jch hab geſchlagen meinen Vater todt,
Und das, das quaͤlt mein Herz! O!
Und was wirſt du nun an dir thun!
Edward, Edward!
Und was wirſt du nun an dir thun?
Mein Sohn, bekenn mir mehr! O!
Auf Erden ſoll mein Fuß nicht ruhn!
Mutter, Mutter,
Auf Erden ſoll mein Fuß nicht ruhn!
Will wandern uͤber Meer! O!
Und was ſoll werden dein Hof und Hall,
Edward, Edward,
Und was ſoll werden dein Hof und Hall,
So herrlich ſonſt und ſchoͤn! O!
Ach! immer ſtehs und ſink und fall,
Mutter, Mutter,
Ach immer ſtehs und ſink und fall,
Jch werd es nimmer ſehn! O!
Und was ſoll werden dein Weib und Kind,
Edward, Edward?
Und was ſoll werden dein Weib und Kind,
Wann du gehſt uͤber Meer O!
Die Welt iſt groß! laß ſie betteln drinn,
Mutter, Mutter!
Die27
Die Welt iſt groß! laß ſie betteln drinn,
Jch ſeh ſie nimmermehr! O!
Und was ſoll deine Mutter thun?
Edward, Edward!
Und was ſoll deine Mutter thun?
Mein Sohn, das ſage mir! O!
Der Fluch der Hoͤlle ſoll auf Euch ruhn,
Mutter, Mutter!
Der Fluch der Hoͤlle ſoll auf Euch ruhn,
Denn ihr, ihr riethets mir! O.

Koͤnnte der Brudermord Kains in einem Po - pulaͤrliede mit grauſendern Zuͤgen geſchildert werden? und welche Wuͤrkung muß im leben - digen Rhytmus das Lied thun? und ſo, wie viele viele Lieder des Volks! Doch aus mei - nem Briefe ſoll kein Buch werden u. ſ. w.

Endlich werden Sie aufmerkſam, und mahnen mich um mehrere ſolche Volkslieder; ich aber beweiſe nun wieder ge - gen Sie Eigenſinn. Denn aus Jhrem vorletz - ten Briefe z. E. iſt mir noch ein Einwurf auf dem Herzen. Auch Herr D. habe ja ſo viel lyriſche Stuͤcke, und die ſo ſchoͤn waͤren!

Lyriſche Stuͤcke hat er, und ſchoͤn ſind ſie; aber wie viel lyriſche Stuͤcke, und wodurch ſind ſie ſchoͤn? Was iſt das andre im Original, was bey ihm nicht lyriſch iſt, der Grund des Ge -dichts,28dichts, auf dem ſeine Oden nur Blumen ſind, iſt das Hexameter? Und denn auch, wie? | wo - durch ſind ſie ſchoͤn? Durch ſchoͤne Roͤmiſche, Griechiſche Sylbenmaaſſe, und durch ſo ſchoͤne Anordnung in denſelben, daß ich ja eben des - wegen behauptet, ſie ſeyn die ſchoͤnen Barden - lieder Oſſians nicht mehr! Was macht Mac - pherſon faſt bey jedem ſolcher Stuͤcke fuͤr Aus - ruͤfe uͤber das Wilde, oder Sanfte, oder Feier - liche oder Kriegeriſche ihres Rhythmus, ihrer Melodien, ihrer Sylbenmaaſſe, das Seele des Geſangs ſey nun muß ich aber beken - nen, daß bey den meiſten Faͤllen ich weder Wahl, noch Veranlaſſung eben zu ſolchen Roͤmiſchen und Griechiſchen Sylbenmaaſſe; ja wenn ich von den Geſaͤngen der Wilden uͤberhaupt Ton habe, nirgends Veranlaſſung zu Einem ſol - cher Roͤmiſchen und Griechiſchen Sylbenmaaſſe ſehe. Jch mag mit Herr D. nicht wetteifern; er hat ſo viel poetiſchen Styl und Sprache in ſeiner Gewalt; aber ich wolte Ein Stuͤck bey ihm ſehen, das nicht in einem andern Sylben - maaſſe eben ſo gut, das iſt, eben ſo geziert, erſcheinen ſollte, und maches iſt, ohne Um - ſchweif, uͤbel gewaͤhlt.

Zur Probe davon ſehen Sie einmal den drit - ten Band durch. Da hat ihm, ich weiß nicht, welcher Kunſtrichter, den Rath gegeben, mehr des Skaldiſchen Sylbenmaaſſes zu gebrauchen,und29und nun ſehen Sie, wie es der Ueberſetzer miß - braucht hat. Die vortrefliche, ſo vielſaitige Goldharfe, die unter der Hand des daͤniſchen Skalden allen Zauber - und Macht-und Leyer - und Wunderton hat annehmen koͤnnen, ſo wie gegenſeitig den Ton der Liebe, der Freund - ſchaft, der Entzuͤckung, iſt in den Haͤnden des Ueber ſetzers eine hoͤlzerne Trommel mit zween Schlaͤgen geworden. Schade nur, daß eben dadurch die ſchoͤnen Lieder von Selma und das ſuͤſſe Carrikthura verunſtaltet ſind. Jm erſten Bande hat der Ueberſetzer gar eine Cantate in Reimen nach aller Form erfunden, und da ihm nun kaum zwey Reime gelingen, ſo ſinkt dies ganze Stuͤck faſt unter die Kritik hinab.

Wie ganz anders hat Klopſtock auch hier z. E. in der Sprache gearbeitet! Der ſonſt ſo ausflieſſende ausſtroͤmende Dichter, wie kurz! wie ſtark und abgebrochen! wie altdeutſch hat er ſich in ſeiner Hermanns-Schlacht zu ſeyn beſtrebt! Welche Proſe gleicht da wohl ſeinem Hexameter! welch lyriſches Sylbenmaaß ſeinen ſonſt ſo ſtroͤmenden griechiſchen Sylbenmaaſſen! Wenn in ſeinem Bardit wenig Drama iſt: ſo iſt wenigſtens das Lyriſche im Bardit, und im Lyriſchen mindſtens der Wortbau ſo Dra - matiſch, ſo Deutſch! Leſen Sie z. E. das edle, ſimple Stuͤckchen:

Auf Mooſ, am luftigen Bach ꝛc. ()und30

und ſo viele, ja faſt alle andre, und dann zeigen Sie mir Etwas in dem Bardenton in Denis. Da nun Klopſtock ſelbſt ſich ſo ſehr hat verlaͤug - nen koͤnnen, veraͤndern muͤſſen iſt dies Muß nicht eine groſſe Lehre? Sie ſchreiben mir neulich, da Sie Denis Sylbenmaaſſe prie - ſen, Jhnen ſey bey ſeinem Fingal und Ros - krane Klopſtocks Hermann und Thuſnel - de (in den Brem. Beytr.) eingefallen: deſto ſchlimmer, denn Klopſtocks neuerer Bardeton iſt wohl nicht ganz der in Hermann und Thu - ſnelde. Jch bins gewiß nicht allein, der die - ſen veraͤnderten, haͤrtern Bardeton im neuern Klopſtock empfindet, und ohne mich in das Beſſre oder Schlechtre einzulaſſen, gehe ich gern mit den Jahren des Dichters, und mit der Natur fort, und bin ſtolz darauf das Deut - ſche Bardenmaͤßige in ſeinem

Was that dir Thor, dein Vaterland.

und in allen neuern Stuͤcken, wo ſo viel kurzer, dramatiſcher Dialog und Wurf der Gedanken iſt, zu empfinden

Der Faden unſres Briefwechſels ver - vielfaͤltigt ſich ſo, daß ich kaum mehr weiß, wo ich ihn angreifen ſoll, um ihnfort -31fortzufuͤhren am beſten alſo, wo er mir in die Haͤnde faͤllt.

Die Anmerkungen, die Sie uͤber das Dra - matiſche in den alten Liedern dieſer Art machen, iſt ſo nach meinem Sinn, daß ichs mir immer mit unter dem Charakterſtuͤcken der Alten gedacht habe, die wir Neuere ſo wenig er - reichen, als ein todtes momentariſches Ge - maͤlde eine fortgehende, handelnde, lebendige Scene. Jenes ſind unſre Oden; dies die ly - riſchen Stuͤcke der Alten, inſonderheit wilder Voͤlker. Alle Reden und Gedichte derſelben ſind Handlung: Leſen Sie z. E. im Charle - voix ſelbſt die unvorbereitete Kriegs-und Frie - densrede des Eskimaux: es iſt alles in ihr Bild, Strophe, Scene! Was fuͤr Handlung in Odins Hoͤllenfahrt, im Webegeſange der Valkyriur, im Beſchwoͤrungsliede der Hervor, und bey Oſſian auf jeder Seite, in jedem Stuͤcke! Damit Sie nun nicht wie - der ſagen, daß ich Jhnen viel nenne und nichts gebe: ſo mache ich mit Abtragung meiner Schuld den Anfang, und lege Jhnen, zumal ich jetzt zu ſchreiben, nicht mehr Zeit habe, ein paar der genannten bey. Jch haͤtte ſie Jhnen ſo neu aufſtutzen und idealiſiren koͤnnen: denn blieben ſie ja aber nicht mehr, was ſie jetzt ſind, und eben | am Alengo der Bildſaͤule, am dun -keln,32keln, einfoͤrmigen, nordiſchen Zauberton der Stuͤcke, iſt Jhnen und mir ja gelegen:

Odins Hoͤllenfahrt.
Es erhub ſich Odin
Der Menſchen hoͤchſter!
Und nahm ſein Roß
Und ſchwang ſich aufs Roß
Und ritt hinunter
Zu der Hoͤllen Thor.
Da kam |ihm entgegen
Der Hoͤllenhund!
Blutbeſpritzt
War ſeine Bruſt!
Mit offnem Rachen,
Und ſcharfem Gebiß
Und Wuth und Schaum.
Und riß den Rachen
Und bellt entgegen
Dem Zaubervater Und bellte lang!
Und fort ritt Odin
Und die Erd erbebte.
Da kam er zum hohen
Hoͤllenſchloß,
Und ritt gen Aufgang
Zum Hoͤllenthor,
Wo die Seherin
Jm Grabe lag.
Und ſang der Weiſen
Todtenẽrweckenden
Graͤbergeſang:
Und ſah gen Rorden
Und legte Runen
Und33
Und beſchwur und fragt,
Und foderte Rede
Bis ſie zuͤrnend endlich
Sich erhub und begann
Todtenſtimme:
Wer iſt der Mann?
Jch kenn ihn nicht!
Der meine Ruhe
Zu ſtoͤren beginnt!
Jch lag mit Schnee
Und Eis bedeckt,
Und Regen befloſſen
Und Thau benetzt,
Und lag ſo lang!
Ein Wandrer bin ich,
Kriegersſohn.
Du ſollſt mir Kunde
Vom Hoͤllenreich geben.
Jch will ſie dir geben
Aus meiner Welt!
Jener goldne Sitz
Wem iſt er bereitet?
Jenes goldne Bette
Fuͤr wen ſtehts da?
Fuͤr Balder’n ſteht,
Sieh her! der Trank,
Der Honigtrank
Und der Schild liegt drauf!
Bald werden um ihn
Die Goͤtter trauren!
Unwillig red ich
Nun laß mich ruhn!
Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Jch forſche| weiter
CUnd34
Und laſſe nicht ab,
Bis ich Alles weiß! Sprich, wer wird Baldern
Den Tod bereiten?
Und Leben berauben Odins Sohn?
Hoder iſts,
Der wird dem Bruder
Den Tod bereiten
Und Leben berauben
Odins Sohn!
Unwillig red ich
Nun laß mich ruhn!
Noch ruh, nicht, Jungfrau!
Jch forſche weiter,
Und laſſe nicht ab,
Bis ich Alles weiß!
Sprich, wer wird Hodern
Den Haß vergelten
Und Balders Moͤrder
Zum Grabe ſenden?
Jn Weſten wird Rinda
Dem Odin zu Nacht
Einen Sohn gebaͤren,
Der kaum gebohren
Wird Waffen tragen,
Seine Hand nicht waſchen,
Sein Haar nicht kaͤmmen,
Bis er Balders Moͤrder
Zu Grabe gebracht.
Unwillig red ichs
Nun laß mich ruhn!
Noch35
Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Jch forſche weiter,
Und laß nicht ab
Bis ich Alles weiß.
Wer ſind die Jungfraun,
Die ſtumm dort weinen
Und Himmel an werfen
Jm Schmerz den Schley’r
Noch das ſprich mir
Eher ſollt du nicht ruhn!
O du kein Wandrer,
Wie ich erſt gewaͤhnt!
Du biſt Odin ſelbſt
Der Menſchen Hoͤchſter.
Und du keine Weiſe
Propheten Jungfrau;
Keine Seherin!
Drey-Rieſen-Mutter
Vielmehr biſt du!
Weg, Odin! wandre
Nachheim! hinweg!
Und ruͤhme daheim,
Daß Niemand der Menſchen
Wie du’s vermocht,
Forſchen wird,
Bis einſt der Arge
Die Ketten bricht
Und die Goͤtter fallen
Und die Welt zerfaͤllt
Und Nacht beginnt!
C 2Der36
Der Webegeſang der Valkyriur. (Der Schickſalsgoͤttinnen, vor der Schlacht, zu des Grafen Randvers Tod, und des Koͤnigs Siege)
Umher wirds dunkel
Von Pfeilgewoͤlken!
Sie breiten umher ſich
Wetterverkuͤndend!
Es regnet Blut!
Auf! knuͤpfet an Spieſſe
Das Schickſalsgewebe
Blutrothen Einſchlags,
Jhr Todesſchweſtern
Zu Randvers Tod.
Sie weben Gewebe
Von Menſchendaͤrmen!
Menſchenhaͤupter
Haͤngen ſie dran!
Bluttriefende Spieſſe
Schieſſen ſie durch
Und ſind mit Waffen
Und Pfeil geruͤſtet
Und dichten mit Schwerdter
Das Sieggarn veſt.
Sie kommen zu weben
Mit nackten Schwerdtern
Hild, Hiorthrimul, Sangrida, Svipul,
Eh die Sonne ſinkt
Werden Schilde ſpalten
Und Panzer brechen
Und37
Und Schwerdter treffen,
Daß die Helme toͤnen.
Wir weben, wir weben Schlachtgewebe!
Dies Schwerdt trug einſt
Ein Koͤnigs Sohn!
Hinaus, hinaus
An die Schaaren hinan,
Wo unſre Freunde
Jn Waffen ſchon gluͤhn!
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Hinaus, hinaus
Zum Koͤnig hinan!
Qudr, Qondula!
Da ſahen ſie ſchon
Schilde blutroth
Den Koͤnig decken!
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Hinaus, hinaus!
Wo die Waffen toͤnen
Und Helden fechten!
Wir wollen nicht fallen
Den Koͤnig laſſen!
Die Valkyriur walten
Ueber Leben und Tod!
Es ſoll gebiettn,
Dem Erdenkreis
Dies Volk der Wuͤſte!
Maͤchtiger Koͤnig
Jch verkuͤnde dir
Es naht in Pfeilen
C 3Ein38
Ein Tod heran!
Dein Feind iſt gefallen!
Und Jrrland wird
Trauer treffen,
Die ſeinen Soͤhnen
Nie ſchwinden wird!
Das Geweb iſt gewebt!
Das Schlachtfeld fließt
Von rothem Blut!
Der Krieg wird wuͤten
Noch Laͤnder hindurch!
Wie iſts nun ſchrecklich
Umherzuſchaun!
Blutwolken fliegen
Jn der Luft umher!
Ach! Kriegerblutes
Wird die Luft getuͤncht,
Eh unſre Stimmen
Erfuͤllt einſt ſind.
Singt all ihr Schweſtern
Dem Koͤnige Heil!
Und Siegeslieder!
Und Heil uns Schweſtern
Und unſerm Geſang!
Und wer ſie hoͤrt
Die Schlachtgeſaͤnge,
Der lern und ſinge
Sie den Kriegern vor.
Und reiten auf Roſſen
Jn der Luft hinweg:
Mit nackten Schwerdtern
Hinweg von hier!
Habe39

Habe ich denn je meine ſkaldiſche Ge - dichte in Allem fuͤr Muſter neuerer Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger! ſie moͤgen ſo einfoͤrmig, ſo trocken ſeyn: andre Nationen ſie ſo ſehr uͤbertreffen: ſie moͤgen fuͤr Nichts als Geſaͤnge, nordiſcher Meiſterſaͤnger oder Improviſatori gelten; was ich mit ihnen beweiſen will, beweiſen ſie. Der Geiſt, der ſie erfuͤllet, die rohe, einfaͤltige, aber groſſe, zaubermaͤßige, feyerliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes ſo ſtarkgeſagte Wort macht, und der freye Wurf, mit dem der Ein - druck gemacht wird nur das wolte ich bey den alten Voͤlkern, nicht als Seltenheit, als Muſter, ſondern als Natur anfuͤhren, und daruͤber alſo laſſen Sie mich reden.

Sie wiſſen aus Reiſebeſchreibungen, wie ſtark und feſt ſich immer die Wilden ausdruͤk - ken. Jmmer die Sache, die ſie ſagen wollen ſinnlich, klar, lebendig anſchauend: den Zweck, zu dem ſie reden, unmittelbar und genau fuͤh - lend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und ſymboliſchen Letternverſtand (von dem ſie in keinem Worte ihrer Sprache, da ſie faſt keine abſtracta haben, wiſſen) durch alle dies nicht zerſtreuet: noch minder durch Kuͤnſteleyen, ſklaviſche Erwartungen, furchtſamſchleichende Politik, und verwirrende Praͤmeditation ver - dorben uͤber alle dieſe Schwaͤchungen desC 4Gei -40Geiſtes ſeligunwiſſend, erfaſſen ſie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie ſchweigen entweder, oder reden im Moment des Jntereſſe mit einer un - vorbedachten Feſtigkeit, Sicherheit und Schoͤn - heit, die alle wohlſtudierte Europaͤer allezeit haben bewundern muͤſſen, und muͤſſen blei - ben laſſen. Unſre Pedanten, die alles vor - her zuſammen ſtoppeln, und auswendig lernen muͤſſen, um alsdenn recht methodiſch zu ſtam - meln; unſre Schulmeiſter, Kuͤſter, Halbge - lehrte: Apotheker, und alle, die den Gelehr - ten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten, als daß ſie endlich, wie Shakeſpear’s Laun - celots, Policeydiener, und Todtengraͤber un - eigen, unbeſtimmt, und wie in der letzten To - desverwirrung ſprechen dieſe gelehrte Leute, was waͤren die gegen die Wilden? Wer noch bey uns Spuren von dieſer Feſtigkeit fin - den will, der ſuche ſie ja nicht bey ſolchen; unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverſtande, mehr durch Thaͤ - tigkeit, als Spekulation gebildet, die ſind, wenn das, was ich anfuͤhrete, Beredſamkeit iſt, alsdenn die Einzigen und beſten Redner unſrer Zeit.

Jn der alten Zeit aber waren es Dichter, Skalden, Gelehrte, die eben dieſe Sicherheit und Feſtigkeit des Ausdrucks am meiſten mitWuͤrde41Wuͤrde, mit Wohlklang, mit Schoͤnheit zu paa - ren wußten; und da ſie alſo Seele und Mund in den feſten Bund gebracht hatten, ſich einan - der nicht zu verwirren, ſondern zu unterſtuͤtzen, beyzuhelfen: ſo entſtanden daher jene fuͤr uns halbe Wunderwerke von αοιδοισ, Saͤngern, Barden, Minſtrels, wie die groͤßten Dichter der aͤltſten Zeiten waren. Homers Rhapſo - dien und Oſſians Lieder waren gleichſam im promptus, weil man damals noch von Nichts als impromptus der Rede wußte: dem letz - tern ſind die Minſtrels, wiewohl ſo ſchwach und entfernt, gefolgt; indeſſen doch gefolgt, bis endlich die Kunſt kam und die Natur aus - loͤſchte. Jn fremden Sprachen quaͤlte man ſich von Jugend auf Quantitaͤten von Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fuͤhlen gibt: nach Regeln zu arbeiten, deren wenigſte, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; uͤber Gegenſtaͤnde zu dichten, uͤber die ſich nichts denken, noch weniger ſinnen, noch weniger imaginiren laͤßt; Leidenſchaften zu erkuͤnſteln, die wir nicht haben, Seelen - kraͤfte nachzuahmen, die wir nicht beſitzen und endlich wurde Alles Falſchheit, Schwaͤche, und Kuͤnſteley. Selbſt jeder beſte Kopf ward verwirret, und verlohr Feſtigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre LebhaftigkeitC 5und42und Wahrheit und Andringlichkeit. Alles ging verlohren. Die Dichtkunſt, die die ſtuͤr - mendſte, ſicherſte Tochter der menſchlichen Seele ſeyn ſollte, ward die ungewiſſeſte, lahmſte, wankendſte: die Gedichte fein oft corrigirte Kna - ben, und Schulexercitien. Und freylich, wenn das der Begriff unſrer Zeit iſt, ſo wollen wir auch in den alten Stuͤcken immer mehr Kunſt als Natur bewundern, finden alſo in ihnen bald zu viel, bald zu wenig, nachdem uns der Kopf ſteht, und ſelten was in ihnen ſingt, den Geiſt der Natur. Jch bin gewiß, daß Homer und Oſſian, wenn ſie aufleben und ſich leſen, ſich ruͤhmen hoͤren ſollten, mehr als zu oft uͤber das erſtaunen wuͤrden, was ihnen gegeben und ge - nommen, angekuͤnſtelt, und wiederum in ihnen nicht gefuͤhlt wird.

Freylich ſind unſre Seelen heut zu Tage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir ſehen und fuͤhlen kaum mehr, ſondern denken und gruͤb - len nur; wir dichten nicht uͤber und in leben - diger Welt, im Sturm und im Zuſammenſtrom ſolcher Gegenſtaͤnde, ſolcher Empfindungen; ſondern erkuͤnſteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar bey - des und haben uns das ſchon ſo lange, ſo oft, ſo von fruͤh auf erkuͤnſtelt, daß uns frey - lich jetzt kaum eine freye Ausbildung mehrgluͤcken43gluͤcken wuͤrde, denn wie kann ein Lahmer ge - hen? Daher alſo auch, daß unſern meiſten neuen Gedichten, die Feſtigkeit, die Beſtimmt - heit, der runde Contour ſo oft fehlet, den nur der erſte Hinwurf verleihet, und kein ſpaͤteres Nachzirkeln ertheilen kann. Einem Homer und Oſſian wuͤrden wir bey ſolchem poetiſchen Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als ei - nem Raphael oder Apelles, der durch Einen Umriß ſich als Apelles zeigt, der ſchwachhaͤn - dig, krizzelnde Lehrknabe u. ſ. w.

Als ob ich mit dem, was ich neulich vom erſten Wurfe eines Gedichts gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererey unſrer jungen Dichterlinge, auch nur im min - zu ſtatten kommen koͤnnte? Denn was iſt doch bey ihnen fuͤr ein Fehler ſichtbarer, als eben die Unbeſtimmtheit, Unſicherheit der Gedanken und der Worte, daß ſie nie wiſſen, was ſie ſa - gen wollen, oder ſollen? Weiß aber je - mand das nicht, wie kann ers durch alle Kor - rektur lernen? Durch Schnitzeley kann da je ein Bratſpieß zur marmornen Bildſaͤule Apolls werden?

Mich duͤnkt, nach der Lage unſrer gegenwaͤr - tigen Dichtkunſt ſind hierinn zwey Hauptfaͤllemoͤg -44moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See - lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend ſind, vorſtellende, erkennende Kraͤfte ſind: ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei - denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei - ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk - ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und bezaubert. Jm erſten Falle haben Milton, Haller, Kleiſt und andre gedichtet: ſie ſan - nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber, ſo wards und ſtand. Bey Milton wenige Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte, und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: Hal - ler, deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind: Leßing iſt, glaub ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk - ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl alle ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nichtdurch45durch ein Schnelles, ſo durch ein Tiefes und Beſtaͤndiges des Eindrucks aus. Sie dauren, und die Seele findet bey jedem neuen wieder - holten Eindruck gleichſam noch etwas Tiefers und Vollendetes, was ſie anfangs nicht be - merkte. Von der zweiten Art muß z. E. Klop - ſtock in den ausſtroͤmendſten Stellen ſeiner Gedichte ſeyn: Gleim, deſſen Gedichte ſo viel Sichtbares vom Erſten Wurf haben: Ja - cobi, deſſen Verſe Nichts, als ſanfte Unter - haltungen des Moments werden, und andre, die die Sache freylich nachher bis zu jeder Nach - laͤſſigkeit uͤbertrieben haben. Rammler, glaube ich, ſucht beyde Arten zu verbinden, ob freylich gleich die Erſte, die Ausgedachte, bey ihm ungleich ſichtbarer iſt. Wieland ſucht ſie zu verbinden, ob er gleich immer doch mehr, aus dem Fach der Weltkenntniß ſeines Herzens zu ſchreiben ſcheint, Gerſtenberg zu verbinden und uͤberhaupt verbindet ſie in gewiſſem Maaſſe jeder gluͤckliche Kopf: denn ſo entfernt beyde Arten im Anfange ſcheinen; ſo wenig Ein Genie ſich der Art des Andern aus dem Stegreife bemaͤchtigen kann: ſo kom - men ſie doch endlich beyde uͤberein; lange und ſtark und lebendig gedacht, oder ſchnell und wuͤrkſam empfunden im Punkt der Thaͤ - thigkeit wird beydes improptns, oder bekoͤmmt die, Feſtigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit undSicher -46Sicherheit deſſelben, und das nur das iſt, was ich ſagen wollte. Was lieſſen ſich aber auch nur aus dem fuͤr groſſe, reiche Wahrhei - ten der Erziehung, der Bildung, der Unter - weiſung ziehen! Was lieſſen ſich uͤberhaupt aus dieſer Proportion oder Disproportion des erkennenden und empfindenden Theils unſrer Seele fuͤr pſychologiſche und praktiſche Anmer - kungen machen! Aber Sie muͤſſen auf meine Pſychologie uͤber Oſſian warten!

Jch bleibe hier in meinem Felde. Da die Gedichte der alten, und wilden Voͤlker ſo ſehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittel - barer Begeiſterung der Sinne, und der Ein - bildung entſtehen, und doch ſo viel Wuͤrfe, ſo viel Spruͤnge haben: ſo hat mich dies laͤngſt, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedan - ken gebracht, die ich Jhnen hier zum freund - ſchaftlichen Gutachten mittheile. Zuerſt, ſol - ten alſo wohl fuͤr den ſinnlichen Verſtand, und die Einbildung, alſo fuͤr die Seele des Volks, die doch nur faſt ſinnlicher Verſtand und Ein - bildung iſt, dergleichen lebhafte Spruͤnge, Wuͤrfe, Wendungen, wie Sies nennen wollen, ſo eine fremde boͤhmiſche Sache ſeyn, als uns die Gelehrten und Kunſtrichter beybringen wol - len? Sie wiſſen die Einwuͤrfe, die man hier aus Klopſtocks Kirchenliedern, wie es immer gelautet hat, fuͤr gute Sache des ChriſtlichenVolks47Volks gemacht hat, laſſen ſie uns ſehen, was daran ſey?

Zuerſt muß ich Jhnen alſo, wenn es auf Erfahrung und Autoritaͤt ankommt, ſagen, daß Nichts in der Welt mehr Spruͤnge und kuͤhne Wuͤrfe hat, als Lieder des Volks, und eben die Lieder des Volks haben deren am mei - ſten, die ſelbſt in ihrem Mittel gedacht, erſon - nen, entſprungen und gebohren ſind, und die ſie daher mit ſo viel Aufwallung und Feuer ſingen, und zu fingen nicht ablaſſen koͤnnen. Mir iſt z. E. ein Jaͤgerlied bekannt, das ich wohl unterlaſſen werde, Jhnen ganz mitzuthei - len, weil ſich das Meiſte und Anziehendſte in ihm, auf lebendigen Ton und Melodie des Horns beziehet; aber bey allem Simpeln und Populaͤren iſt kein Vers ohne Sprung und Wurf des Dialogs, der in einem neuen Ge - dichte gewiß Erſtaunen machte, und uͤber den unſre lahme Kunſtrichter, als ſo unverſtaͤndlich, kuͤhn, dithyrambiſch ſchreyen wuͤrden. Ein Jaͤger hat Abends ſpaͤt das Netz geſtellt, und blaͤßt alleweil bey der Nacht, (welche Wort die Jaͤgerreſonanz ſind) mit ſeinem Horne das Wild aus dem Korn ins lange Holz: alleweil bey Nacht begegnet ihm alſo von fern eine Jungfrau ſtolz, und da hebt ſich dieſer Dia - log an:

Wo48
Wo aus? wo ein? du wildes Thier! Alleweil bey der Nacht! Jch bin ein Jaͤger, und fang dich ſchier, u. ſ. w. Biſt du ein Jaͤger, du faͤngſt mich nicht Alleweil bey der Nacht! Mein hohe Spruͤng, die weißt du nicht, u. ſ. w. Dein hohe Spruͤng, die weiß ich wohl, Weiß wohl, wie ich ſie dir ſtellen ſoll. u. ſ. w.

Und ſehen Sie, ploͤtzlich, ohne alle weitere Vor - bereitung erhebt ſich die Frage:

Was hat ſie an ihrem rechten Arm? ()

und ploͤtzlich, ohne weitere Vorbereitung die Antwort:

Nun bin ich gefangen, u. ſ. w.
Was hat ſie an ihrem linken Fuß?
Nun weiß ich, daß ich ſterben muß!

und ſo gehen die Wuͤrfe fort, und doch in einem ſo gemeinen, populaͤren Jaͤgerliede! und wer iſts, ders nicht verſtuͤnde, der nicht eben daher auf eine dunkle Weiſe, das lebendige Poeti - ſche empfaͤnde?

Alle alte Lieder ſind meine Zeugen! Aus Lapp - und Eſthland, Lettiſch und Pohlniſch, und Schottiſch und Deutſch, und die ich nur kenne, je aͤlter, je volkmaͤßiger, je lebendiger; deſto kuͤhner, deſto werfender. Wenn ihnen meine Skaldiſchen, und Lapp-und Schottlaͤndi - ſchen Lieder nicht genug ſind, hoͤren Sie ein - mal ein Andres, aus den Dodsleiſchen Re - liques: ich waͤhle ein ganz gemeines, derenwir49wir unter unſerm Volk gewiß hundert aͤhnliche, und wo nicht Lieder, doch Sager haben. Es iſt nichts in der Welt mehr, als Sweet Williams Ghoſt: und doch, wie wenig kann ich ihm in der Ueberſetzung, ſeinen Aerago, ſein Feier - liches Populaͤres laſſen.

Zu Hannchens Thuͤr, da kam ein Geiſt,
Mit manchem Weh und Ach!
Und druͤckt am Schloß und kehrt am Schloß
Und aͤchzte traurig nach.
Jſts, Vater Philipp! der iſt da?
Biſts, Bruder! du, Johann?
Oder iſts Wilhelm, mein Braͤutigam!
Aus Schottland kommen an!
Dein Vater Philipp, der iſts nicht!
Dein Bruder nicht, Johann!
Es iſt Wilhelm, dein Braͤutigam,
Aus Schottland kommen an!
Hoͤr, ſuͤſſes Hannchen, hoͤre mich,
Hoͤr und willfahre mir!
Gib mir zuruͤck mein Wort und Treu,
Das ich gegeben Dir!
Dein Wort und Treu geb ich dir nicht
Geb’s nimmer wieder Dir!
Bis du zu meiner Kammer kommſt,
Mit Liebeskuß zu mir!
Zu deiner Kammer ſoll ich ein,
Und bin kein Menſch nicht mehr?
Und kuͤſſen deinen Roſenmund?
So kuͤß ich Tod dir her!
Nein ſuͤſſes Hannchen, hoͤre mich,
Hoͤr und willfahre mir.
Gib mir zuruͤck mein Wort und Treu
Das ich gegeben Dir!
D Dein50
Dein Wort und Treu geb ich dir nicht,
Geb’s nimmer wieder Dir!
Bis du mich fuͤhrſt zur Kirch hinan
Mit Treuering dafuͤr!
Und an der Kirche lieg ich ſchon
Und bin ein Todtenbein!
’S iſt, ſuͤſſes Hannchen, nur mein Geiſt,
Der hier zu dir kommt ein!
Ausſtreckt ſie ihre Liljenhand
Streckt bebend ſie ihm zu:
Da, Wilhelm, haſt du Wort und Treu,
Und geh, und geh zur Ruh!
Und ſchnell warf ſie die Kleider an
Und ging dem Geiſte nach,
Die ganze lange Winternacht
Ging ſie dem Geiſte nach.
Jſt, Wilhelm, Raum noch, dir zu Haupt,
Noch Raum zu Fuͤſſen dir?
Jſt Ranm zu deiner Seite noch,
So gib, o gib ihn mir!
Zu Haupt und Fuß iſt mir nicht Raum
Kein Raum zur Seite mir!
Mein Sarg iſt, ſuͤſſes Hannchen, ſchmal
Das ich ihn gebe Dir!
Da kraͤht der Hahn! da ſchlug die Uhr!
Da brach der Morgen fuͤr!
Ach, Hannchen, nun, nun kommt die Zeit,
Zu ſcheiden weg von Dir!
Der Geiſt und mehr, mehr ſprach er nicht
Und ſeufzte traurig drein
Und ſchwand in Nacht und Dunkel hin
Und ſie, ſie ſtand allein!
Bleib, treue Liebe! bleibe| noch
Dein Maͤdchen rufet dich!
Da brach ihr Blick! ihr Leib der ſank,
Und ihre Wang erblich!
Nun51

Nun ſagen Sie mir, was kuͤhn geworfner, abgebrochner und doch natuͤrlicher, gemeiner, volksmaͤſſiger ſeyn kann? Jch ſage volksmaͤſſi - ger: denn was die Braͤutigamsſitte betrift, leſen Sie die Gebraͤuche der Wilden, z. E. der Nordamerikaner; und das Koſtume der Er - ſcheinung, in ſeiner ganzen Natur, brauche ich Jhnen nicht zu erklaͤren kuͤnftig weiter!

Sie glauben, daß auch wir Deutſchen wohl mehr ſolche Gedichte haͤtten, als ich mit der ſchottiſchen Romanze angefuͤhret; ich glaube nicht allein, ſondern ich weiß es. Jn mehr als einer Provinz ſind mir Volkslie - der, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Nai - vetaͤt und Staͤrke der Sprache vielen derſelben gewiß nichts nachgeben wuͤrden; nur wer iſt der ſie ſammle? der ſich um ſie bekuͤmmre? ſich um Lieder des Volks bekuͤmmre? auf Straſſen, und Gaſſen und Fiſchmaͤrkten? im ungelehr - ten Rundgeſange des Landvolks? um Lieder, die oft nicht ſkandirt, und oft ſchlecht gereimt ſind? | wer wollte | ſie ſammlen wer fuͤr unſre Kritiker, die ja ſo gut Sylben zaͤhlen, und ſkandiren koͤnnen, drucken laſſen? Lieber leſen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unſreD 2neuere52neuere ſchoͤngedruckte Dichter Laß die Fran - zoſen ihre alte Chanſons ſammlen? Laß Eng - laͤnder ihre alte Songs und Balladen nnd Ro - manzen in praͤchtigen Baͤnden herausgeben! Laß in Deutſchland etwa der Einzige Leſſing ſich um die Logaus und Scultetus und Bardengeſaͤnge bekuͤmmern! Unſre neuen Dichter ſind ja beſſer gedruckt und ſchoͤner zu leſen; allenfalls laſſen wir noch aus Opitz, Flemming, Gryphius Stuͤcke abdrucken. Der Reſt der aͤltern, der wahren Volksſtuͤcke, mag mit der ſogenannten taͤglich verbreitetern Kultur ganz untergehen, wie ſchon ſolche Schaͤtze untergegangen ſind wir haben ja Metha - phyſik und Dogmatiken und Akten und traͤmen ruhig hin

Und doch, glauben Sie nur, daß wenn wir noch in unſern Provinzialliedern, jeder in ſei - ner Provinz nachſuchten, wir vielleicht noch Stuͤcke zuſammen braͤchten, vielleicht die Haͤlfte der Dodsleien Sammlung von Reliques, oder die derſelben beynahe an Werth gleich kaͤme! Bey wie vielen Stuͤcken dieſer Sammlung, in - ſonderheit den beſten ſchottiſchen Stuͤcken ſind mir deutſche Sitten, deutſche Stuͤcke beyge - fallen, die ich ſelbſt zum Theil gehoͤret ha - ben Sie Freunde in Elſaß, in der Schweitz, in Franken, in Tyrol, in Schwaben, ſo bit - te Sie aber zuerſt, daß ſich dieſe Freundeja53ja der Stuͤcke nicht ſchaͤmen; denn die dreuſten Englaͤnder haben ſich z. E. nicht ſchaͤmen wol - len und doͤrfen. Selbſt die Melodie des ihnen einmal angefuͤhrten: Come away, come away, death! erinnere ich mich einmal dun - kel gehoͤrt zu haben, und noch nicht vor langer Zeit erinnere ich mich eines Bettlerliedes, das an Jnhalt ſo gemiſcht und voll Spruͤnge war, und in ſeiner ſehr lyriſchen alten Melodie ſo traurig toͤnte. Unter ihrem Jammer kam die Saͤngerin, eine Penia felbſt, im halben Gebetston aufs Ende ihres Lebens, wenn ſie der bittre Tod uͤberwaͤnde, und ihr (ich glaube es iſt Gewohnheit oder Ausdruck) die Fuͤſſe baͤnde; endlich kaͤmen 4 oder 6 Leute, die ſie von Hauſe nnd Freunden weg, unter dem Schall der Todtenglocke, in ihr Grab trugen

Und wenn die Glocke verliert ihren Ton So haben meine Freunde vergeſſen mich ſchon!

ſagen Sie, iſt der Zug nicht elegiſch und ruͤhrend?

Da ich weiß, daß dieſer Brief keinem von den eckeln Herren unſrer Zeit in die Haͤnde kom - men wird, die uͤber einen veralteten Reim oder Ausdruck gleich rumpfen! Da ich weiß, daß Sie uͤberall mit mir mehr Natur, als Kunſt ſuchen: ſo trage ich kein Bedenken, Jhnen z. E. aus einer Sammlung ſchlechter Handwerks - lieder, ein ſehnend-trauriges Liebeslied hinzu -D 3ſetzen,54ſetzen, das, wenn es ein Gleim, Ramler oder Gerſtenberg nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern uͤbertraͤfe!

Der ſuͤſſe Schlaf, der ſonſt ſtillt Alles wohl
Kann ſtillen nicht mein Herz mit Trauren voll,
Das ſchafft allein, die mich erfreuen ſoll!
Kein Speiſ, kein Trank, mir Luſt, noch Nah - rung geit,
Kein Kurzweil iſt, die mir mein Herz erfreut,
Das ſchafft allein, die mir im Herzen leit!
Kein Geſellſchaft ich nicht mehr beſuchen mag,
Ganz einig ſitz in Unmuth Nacht und Tag,
Das ſchafft allein, die ich im Herzen trag.
Jn Zuverſicht allein an ihr ich hang
Und hoff, ſie ſoll mich nicht verlaſſen lang,
Sonſt fiel ich g’wiß ins bittern Todes Zwang.

Jſt das Sylbenmaaß nicht ſchoͤn, die Sprache nicht ſtark, der Ausdruck empfunden? Und, glauben Sie, ſo wuͤrden ſich in jeder Art meh - rere Stuͤcke ſinden, wenn nur Menſchen waͤ - ren, die ſie ſuchten!

Wir haben z. B. viele und vielerley neue Fabeln, was ſagen Sie demohngeachtet aber zu einer ſolchen alten Fabel im alten Ausdruck und Ton:

Kukuk und Nachtigall.
Einmal in einem tiefen Thal
Der Kukuk und die Nachtigal
Eine Wett thaͤten anſchlagen,
Zu ſingen um das Meiſterſtuͤck,
Wers55
Wers gewoͤnn aus Kunſt oder aus Gluͤck
Dank ſollt er davon tragen.
Der Kukuk ſprach: ſo dirs gefaͤllt
Hab der Sach einen Richter erwaͤhlt!
Und thaͤt den Eſel nennen.
Denn weil der hat zwey Ohren groß, |
So kann er hoͤren deſto baß
Und was recht iſt, erkennen!
Als ihm die Sach nun ward erzaͤhlt, (ver -
muthlich vertalt)
Und er zu richten hat Gewalt,
Schuf er: ſie ſolten ſingen!
Die Nachtigall ſang lieblich aus;
Der Eſel ſprach: Du machſt mirs kraus!
Jch kanns in Kopf nicht bringen.
Der Kukuk fing auch an und ſang
Wie er denn pflegt zu ſingen:
Kukuk! Kukuk! lacht fein darein!
Das gefiel dem Eſel im Sinne ſein.
Er ſprach: in allen Rechten
Will ich ein Urtheil ſprechen:
Haſt wohl geſungen, Nachtigal,
Aber! Kukuk! ſingt gut Choral!
Und haͤlt den Takt fein innen.
Das ſprech ich nach meinem hohen Verſtand,
Und ob es goͤlt ein ganzes Land
So laß ichs dich gewinnen

Was meinen Sie zu der Fabel? Nicht lieber zehn ſolche gemacht, als alle --- ſche? Laſſen Sie mich die Moral nicht dazu ſetzen, ſie iſt ſchlechter geſagt, neuer, und wie vieler - ley Moral kann ſich nicht jeder ſelbſt darausD 4zie -56ziehen, in Theilen und im Ganzen! Die Herrn, die ſo buͤrgerlich feiſt wohlmeinend achten, daß jener Titel und dieſer Kragen doch das Ding verſtehen muͤßte

Dieweil er hat zwey Ohren groß So kann er freylich hoͤren baß!

Die Herren, die aus Stumpfſinn, und Ge - dankenloſigkeit gleich uͤber jeden etwas gedraͤng - ten oder lebhaften Styl ſchreyen, ey nicht griechiſche Lauterkeit! Ciceroniſche Wohlberedt - heit im ellenlangen Deutſchlateiniſchen Perio - den! ſo voll Anſpielungen, voll Bilder, voll Gedanken ſonſt aber freylich --- kurz:

Der Eſel ſprach: du machſt mirs kraus, Jch kanns in Kopf nicht bringen Aber Kukuk ſingt gut Choral Und haͤlt den Tackt fein inne!

Was lieſſen ſich ſonſt noch vor Deutungen machen, wenn man etwas die Welt kennet? Aber zu unſerm Zweck: wie feſt und tief er - zaͤhlt! Ohne erzwungne Luſtigkeit und doch wie luſtig und ſtark und treffend in jedem Wort, in jeder Wendung! Aller guten Dinge ſind drey! und zu unſern Zeiten wird ſo viel von Liedern fuͤr Kinder geſprochen: wollen Sie ein aͤlteres Deutſches hoͤren? Es enthaͤlt zwar keine tranſcendente Weisheit und Mo - ral, mit der die Kinder zeitig genug uͤberhaͤuft werden es nichts als ein kindiſches

Fabel -57
Fabelliedchen.
Es ſah ein Knab ein Roͤßlein ſtehn
Ein Roͤßlein auf der Heiden.
Er ſah, es war ſo friſch und ſchoͤn
Und blieb ſtehn, es anzuſehen
Und ſtand in ſuͤſſen Freuden.

Jch ſupplire dieſe Reihe nur aus dem Gedaͤcht - niß, und nun folgt das kindiſche Ritornellbey jeder Strophe:

Roͤßlein, Roͤßlein, Roͤßlein roth,
Roͤßlein auf der Heiden!
Der Knabe ſprach: ich breche dich!
Roͤßlein ꝛc.
Das Roͤßlein ſprach: ich ſteche dich,
Daß du ewig denkſt an mich
Daß ichs nicht will leiden! Roͤßlein ꝛc.
Jedoch der wilde Knabe brach,
Das Roͤßlein ꝛc.
Das Roͤßlein wehrte ſich und ſtach,
Aber er vergaß darnach
Beym Genuß das Leiden! Roͤßlein ꝛc

Jſt das nicht Kinderton? Und noch muß ich Jhnen Eine Aenderung des lebendigen Geſan - ges melden. Der Vorſchlag thut bey den Liedern des Volks eine ſo groſſe und gute Wuͤr - kung, daß ich aus Deutſchen und Engliſchen alten Stuͤcken ſehe, wie viel die Minſtrels darauf gehalten: und der iſt nun noch im Deut - ſchen wie im Engliſchen in den Volksliedern meiſtens der dunkle Laut von the in beydem Geſchlecht (de Knabe) ’s ſtatt das (’s Roͤß -D 5lein) 58lein) und ſtatt ein ein dunkles a, und was man noch immer in Liedern der Art mit aus - druͤcken koͤnnte. Das Hauptwort bekommt auf ſolche Weiſe immer weit mehr poetiſche Subſtantialitaͤt und Perſoͤnlichkeit

  • Knabe ſprach
  • Roͤßlein ſprach, u. ſ. w.

in den Liedern mit mehr Accent, und endlich laſſen Sie mich noch mit einer weitern Anmer - kung hieraus ſchlieſſen. Jn ſchnellrollenden, gereimten komiſchen Sachen, und aus dem ent - gegen geſetzteſten Grunde in den ſtaͤrkſten, hef - tigſten Stellen der tragiſchen Leidenſchaft, dort inſonderheit in leichtſinnigen Liedern, hier am meiſten in den gedrungnen Blank-Verſen haben Sie es da nicht oft bemerkt, wie ſchaͤd - lich es uns Deutſchen ſey, daß wir keine Eli - ſionen haben, oder uns machen wollen? Unſre Vorfahren haben ſie haͤufig und zu haͤufig ge - habt: die Englaͤnder mit ihren Artikeln, mit den Vokalen bey unbedeutenden Woͤrtern, Par - tikeln u. ſ. w. haben ſie zur Regel gemacht: die innre Beſchaffenheit beyder Sprachen iſt in dieſem Stuͤcke ganz Einerley: uns quaͤlen dieſe ſchleppende Artikel, Partikeln u. ſ. w. oft ſo ſehr, und hindern den Gang des Sinns oder der Leidenſchaft aber wer unter uns wird zu elidiren wagen? Unſre Kunſtrichter zaͤhlen ja Sylben, und koͤnnen ſo gut ſkandiren! Siealſo,59alſo, der kein Kunſtrichter iſt, erlauben Sie alſo in dergleichen Faͤllen mir wenigſtens, mich freyherrlicher maaſſen des Zeichens () bedie - nen zu koͤnnen, nach beſtem Belieben u. ſ. w.

Und ſo fuͤhren Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: wo - her anſcheinend einfaͤltige Voͤlker ſich an der - gleichen kuͤhne Spruͤnge und Wendungen haben gewoͤhnen koͤnnen? Gewoͤhnen waͤre immer das Leichteſte zu erklaͤren: denn wozu kann man ſich nicht gewoͤhnen, wenn man nichts anders hat und kennet? Da wird uns im kur - zen die Huͤtte zum Pallaſt, und der Fels zum ebnen Wege aber darauf kommen? Es als eigne Natur ſo lieben koͤnnen? Das iſt die Frage, und die Antwont drauf ſehr kurz: weil das in der That die Art der Einbildung iſt, und ſie auf keinem engern Wege je fortgehen kann.

Alle Geſaͤnge ſolcher wilden Voͤlker weben um daſeyende Gegenſtaͤnde, Handlungen, Be - gebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach ſind da nun Umſtaͤnde, gegen - waͤrtige Zuͤge, Theilvorfaͤlle! Und alle hat das Auge geſehen! Die Seele ſtellet ſie ſich vor! Das ſetzt Spruͤnge und Wuͤrfe! Es iſt keinanderer60anderer Zuſammenhang unter den Theilen des Geſanges, als unter den Baͤumen und Gebuͤ - ſchen im Walde, unter den Felſen und Grot - ten in der Einoͤde, als unter den Scenen der Begebenheit ſelbſt. Wenn der Groͤnlaͤnder von ſeinem Seehundfange erzaͤhlt: ſo redet er nicht, ſondern mahlet mit Worten nnd Bewe - gungen, jeden Umſtand, jede Bewegung: denn alle ſind Theile vom Bilde in ſeiner Seele. Wenn er alſo auch ſeinem Verſtorbnen das Leichenlob und die Todtenklage haͤlt, er lobt, er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des Verſtorbnen ſelbſt, mit allen Wuͤrfen der Ein - bildung herbeygeriſſen, muß reden und bejam - mern. Jch entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu ſetzen; denn da es gewoͤhn - lich iſt, Spruͤnge und Wuͤrfe ſolcher Stuͤcke fuͤr Tollheiten der Morgenlaͤndiſchen Hitze, fuͤr Enthuſiasmus des Prophetengeiſtes, oder fuͤr ſchoͤne Kunſtſpruͤnge der Ode auszugeben, und man aus dieſen eine ſo herrliche Webertheorie vom Plan und den Spruͤngen der Ode recht regel - maͤßig ausgeſponnen hat: ſo moͤge hier ein kalter Groͤnlaͤnder faſt unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeiſt und Odentheorie, aus dem volles Bilde ſeiner Phantaſie reden. Alle Grabbegleiter und Freunde des Verſtorbnen ſitzen im Trauerhauſe, den Kopf zwiſchen die Haͤnde, die Arme aufs Knie geſtuͤtzt: die Wei -ber61ber auf dem Angeſicht und ſchluchzen und wei - nen in der Stille; und der Vater, Sohn oder naͤchſte Verwandte faͤngt mit heulender Stim - me an:

Wehe mir, daß ich deinen Sitz anſehen ſoll, der nun leer iſt! Deine Mutter bemuͤhet ſich vergebens, dir die Kleider zu trocknen!

Siehe! meine Freude iſt ins Finſtre ge - gangen, und in den Berg verkrochen.

Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich: ich ſtreckte meine Angen aus, und wartete auf dein Kommen.

Siehe du kamſt! du kamſt muthig ange - rudert mit Jungen und Alten.

Du kamſt nie leer von der See: dein Ka - jack war ſtets mit Seehunden oder Voͤgeln beladen.

Deine Mutter machte Feuer und kochte. Von dem Gekochten, das du erworben harteſt, ließ deine Mutter den uͤbrigen Leuten vorle - gen, und ich nahm mir auch ein Stuͤck.

Du ſaheſt der Schaluppe rothen Wimpel von weiten, und rufteſt: da kommt Lars (der Kaufmann.)

Du liefſt an den Strand und hieltſt das Vordertheil der Schaluppe.

Denn brachteſt du deine Seehunde hervor, von welchen deine Mutter den Speck abnahm, und dafuͤr bekamſt du Hemde und Pfeileiſen.

Aber62

Aber das iſt nun aus. Wenn ich an dich denke, ſo brauſet mein Eingeweide.

O daß ich weinen koͤnnte, wie ihr andern: ſo koͤnnte ich doch meinen Schmerz lindern.

Was ſoll ich mir wuͤnſchen? Der Tod iſt mir nun ſelbſt annehmlich worden, aber wer ſoll mein Weib und meine uͤbrigen kleinen Kinder verſorgen?

Jch will noch eine Zeitlang leben: aber meine Freude ſoll ſeyn in Enthaltung deſſen, was den Menſchen ſonſt ſo lieb iſt.

Der Groͤnlaͤnder befolgt die feinſten Geſetze vom Schweben der Elegie, die auch

irrt, doch nicht verwirret! ()

und von wem hat er ſie gelernet? Sollte es mit den Geſetzen der Ode, des Liedes nicht eben ſo ſeyn? und wenn ſie in der Natur der Einbildung liegen, wen ſind ſie noͤthig zu lehren? wem unmoͤglich zu faſſen, der nur die - ſelbe Einbildung hat? Alle Geſaͤnge des A. T., Lieder, Elegien, Orakelſtuͤcke der Pro - pheten ſind voll davon, und die ſollten doch kaum poetiſche Uebungen ſeyn.

Selbſt einen allgemeinen Satz, eine abge - zogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im Liede, im Geſange, nichts anders als auch ſo lebendig, und kuͤhn behandeln: es weiß von der Lehrart und dem Gange eines dogmatiſchen Locus nicht, und es ſchlaͤft gewiß ein, wenn esdenſel -63denſelben gefuͤhrt werden ſoll. Sehen Sie z. E. in den mehr angefuͤhrten Dodsleiiſchen Reliques die alten moraliſchen Stuͤcke an: My heart to me a kingdom is u. ſ. w. Sie brechen immer in ihren lyriſchen Gange nur die Blumen ihrer Moral, und kommen, da hier kein ſichtbarer Gegenſtand, keine an einander hangende Geſchichte und Handlung der Einbildung und dem Gedaͤchtniß vorſchwe - bet, jenem immer durch Anwendung, dieſem durch Symmetrie, Refrain des Verſes und zehn andre Mittel zu ſtatten. Hoͤren Sie ein - mal eine Probe der Art uͤber den allgemeinen Satz: Der Liebe laͤßt ſich nicht wider - ſtehen! Wie wuͤrde ein neuer analytiſcher, dogmatiſcher Kopf den Satz ausgefuͤhrt haben, und nun der alte Saͤnger?

Ueber die Berge!
Ueber die Quellen!
Unter den Graͤbern,
Unter den Wellen
Unter Tiefen und Seen
Jn der Abgruͤnde Steg
Ueber Felſen, uͤber Hoͤhen
Findt Liebe den Weg.
Jn Ritzen, in Falten,
Wo der Feurwurm nicht liegt!
Jn Hoͤhlen, in Spalten,
Wo die Fliege nicht kriecht!
Wo Muͤcken nicht fliegen,
Und ſchluͤpfen hinweg,
Kommt64
Kommt Liebe! Sie wird ſingen
Und finden den Weg!
Sprecht, Amor ſey nimmer
Zu fuͤrchten das Kind!
Lacht uͤber ihn immer
Als Fluͤchtling, als blind!
Und ſchließt ihn durch Riegel
Vom Tagſtrahl hinweg
Durch Schloͤſſer und Riegel
Find Liebe den Weg!
Wenn Phoͤnix und Adler
Sich unter euch beugt!
Wenn Drache und Tyger
Gefaͤllig ſich neigt!
Die Loͤwin laͤßt kriegen
Den Raub ſich hinweg.
Aber Liebe wird ſiegen
Und finden ſich Weg!

Konnte der Gedanke ſinnlicher, maͤchtiger, ſtaͤr - ker ausgefuͤhrt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Laſ - ſen Sie den dummſten Menſchen das Lied drey - mal hoͤren: er wirds koͤnnen, und mit Freude und Entzuͤckung ſingen; ſagen Sie ihm aber eben dieſelbe Sache auf einfoͤrmige, dogmati - ſche Art, in huͤbſch abgezaͤhlten Strophen, und ſeine Seele ſchlaͤft.

Alle unſre alte Kirchenlieder ſind voll dieſer Wuͤrfe und Jnverſionen: keine aber faſt mehr und maͤchtiger, als die von unſerm Luther. Welche Klopſtockſche Wendung in ſeinenLiedern65Liedern kommt wohl den Transgreſſionen bey, die in ſeinem Ein feſte Burg iſt unſer Gott! Gelobet ſeyſt du Jeſu Chriſt! Chriſt lag in Todesbanden! und der - gleichen vorkommen: und wie maͤchtig ſind dieſe Uebergaͤnge und Jnverſionen! Wahrhaftig nicht Nothfaͤlle einer ungeſchliffenen Muſe, fuͤr die wir ſie guͤtig annehmen: ſie ſind allen alten Liedern ſolcher Art, ſie ſind der urſpruͤnglichen, unentnervten, freyen und maͤnnlichen Sprache beſonders eigen: Die Einbildungskraft fuͤhret natuͤrlich darauf, und das Volk, das mehr Sinne und Einbildung hat, als der ſtudirende Gelehrte, fuͤhlt ſie, zumal von Jugend auf ge - lernt, und ſich gleichſam nach ihnen gebildet, ſo innig und uͤbereinſtimmend, daß ich mich z. E. wie uͤber zehn Thorheiten unſrer Liederver - beſſerung, ſo auch daruͤber wundern muß, wie ſorgfaͤltig man ſie wegbannet, und dafuͤr die ſchlaͤfrigſten Zeilen, die erkuͤnſteltſten Partikeln, die matteſten Reime hineinpropfet. Eben als wenn der groſſe ehrwuͤrdige Theil des Publi - cums, der Volk heißt, und fuͤr den doch die Geſaͤnge caſtigirt werden, eine von den ſchoͤ - nen Regeln fuͤhle, nach denen man ſie caſtigi - ret! Und Lehren in trockner, ſchlaͤfriger, dog - matiſcher Form, in einer Reihe todter, ſchlaf - trunken, nickender Reime mehr fuͤhlen, empfin - den und behalten werde, als wo ihm durchEBild66Bild und Feuer, Lehre und That auf Einmal in Herz und Seele geworfen wird.

Sie glauben doch nicht, daß ich hiemit eine Schutzſchrift etwa fuͤr die Klopſtockiſchen Lieder ſchreiben wolle? Jch glaube ſehr gerne, daß auch ſie nicht immer Lieder des Volks ſind, und daß ſie ſeltner ganze Gegenſtaͤnde, als kleine Zuͤge aus dieſen Gegenſtaͤnden, ſelt - ner ganze Pflichten, Thaten und Geſtalten des Herzens, als feine Nuͤancen, oft Mittelnuͤan - cen von Empfindungen beſingen, daß alſo ein ſehr ſympathetiſcher, und zu gewiſſen Vorſtel - lungen ſehr zugebildeter Charakter zum ganzen Saͤnger ſeiner Lieder gehoͤre. Aber dem ohn - geachtet iſt das, was viele ſonſt gegen ihn ſag - ten, und noch mehr, was man ihm entgegen ſtellet, ſo trocken, ſo mager, ſo unkundig der menſchlichen Seele, daß ich immer wetten will, das kuͤhnſte Klopſtockiſche Lied, voll Spruͤnge und Jnverſionen, einem Kinde beygebracht, und von ihm einigemal lebendig geſungen, werde mehr fuͤr ihn ſeyn, und tiefer und ewiger in ihm bleiben, als der dogmatiſchte Locus von Liede, wo ja keine Zwiſchenpartikel und Zwi - ſchengedanke ausgelaſſen iſt. Mein Gott! wie trocken und duͤrre ſtellen ſich doch manche Leute die menſchliche Seele, die Seele eines Kindes vor! Und was fuͤr ein groſſes, trefli - ches Jdeal waͤre mir dieſelbe, wenn ich michje67je an Lieder dieſer Art verſuchte! Eine ganze jugendliche, kindliche Seele zu fuͤllen, Geſaͤnge in ſie zu legen, die, meiſtens die Einzigen, le - benslang in ihnen bleiben, und den Ton der - ſelben anſtimmen, und ihnen ewige Stimme zu Thaten und Ruhe, zu Tugenden und zum Troſte ſeyn ſoll, wie Kriegs - Helden - und Vaͤ - terlieder in der Seele der alten, wilden Voͤl - ker welch ein Zweck! welch ein Wort! und wie viel wahrhafte Beſtrebungen zu ſolchem Werke haben wir denn? Reimgebetlein und Lehrverſe genug!

Wenn Luther uͤber jene beyde wegen der Religion verbrannte anſtimmt:

Die Aſche will nicht laſſen ab,
Sie ſtaͤubt in allen Landen
Hier hilft kein Bach und Grub und Grab,
Sie macht den Feind zu ſchanden!
Die er im Leben durch den Mord
Zu ſchreyen hat gezwungen,
Die muß er todt an allem Ort
Mit heller Stimm und Zungen
Gar froͤlich laſſen ſingen

oder wenn er ſchließt:

Die laß man liegen immerhin
Sie habens keinen Frommen!
Wir wollen danken Gott darinn
Sein Wort iſt wieder kommen,
Der Sommer iſt hart fuͤr der Thuͤt
Der Winter iſt vergangen.
Die Gartenblumen gehn herfuͤr,
E 2Der68
Der das hat angefangen
Der wird es auch vollenden

ſo wolte ich fragen, wie viele unſre neuern Lie - derdichter dergleichen Strophen, (ich ſage nicht dem Jnhalt, ſondern der Art nach) gemacht haben? und wie viele haben Luthern ver - beſſert?

Auch Sie beklagens, daß die Romanze dieſe urſpruͤnglich ſo edle und feyer - liche Dichtart bey uns zu Nichts, als zum Niedrigkomiſchen und Abentheuerlichen ge - braucht, oder vielmehr gemißbraucht werde ich beklage es gewiß mit: denn wie wahrer, tiefer und daurender iſt das Vergnuͤgen, das eine ſanfte oder ruͤhrende Romanze, des alten Englands oder der Provinzialen, und eine neuere Deutſche voll niedrigen abgebrauchten, poͤbelhaften Spottes und Wortwitzes nachlaͤßt. Aber noch ſonderbarer iſts, daß in dieſer letzten Geſtalt die Romanze uns faſt nur bekannt ge - worden zu ſeyn ſcheint.

Gleim ſang ſeine Marianne ſo ſchoͤn ich ſage, er ſang ſie ſchoͤn: denn eigentlich iſt das Stuͤck Zug vor Zug eine alte Franzoͤſiſche Romanze, die Sie, (wenn Sie das noch nicht wiſſen,) wie mich duͤnkt, auch in dem neuenchoix69choix des Romances anciennes & mo - dernes finden werden und ſo ſang man ihm nach. Seine beyden andern Stuͤcke neigten ſich ins Komiſche; die Nachſinger ſtuͤrzten ſich mit ganzem plumpen Leibe hinein, und ſo haben wir jetzt eine Menge des Zeugs, und Alle nach Einem Schlage, und alle in der uneigentlich - ſten Romanzenart, und faſt alle ſo gemein, ſo ſehr auf ein Einmaliges leſen daß, nach weniger Zeit, wir faſt Nichts wieder, als die Gleimſchen uͤbrig haben werden.

Dazu kommt nun noch das, daß die weni - gen fremden, die uͤberſetzt ſind, ſo ſchlecht uͤber - ſetzt ſind, (ich fuͤhre Jhnen nur die ſchoͤne Ro - ſemunde, und Alkanzor und Zaide an, welche letztere noch den Vorzug hat, zweymal elend uͤberſetzt zu ſeyn) und da der Ton nun Einmal gegeben iſt: ſo ſingt man fort, und verfehlt alſo den ganzen Nutzen, den fuͤr unſer jetziges Zeitalter dieſe Dichtart haben koͤnnte, nemlich unſre lyriſchen Geſaͤnge, Oden, Lieder, und wie man ſie ſonſt nennt, etwas zu einfaͤltigen, an einfachere Gegenſtaͤnde und edlere Behandlung derſelben zu gewoͤhnen, kurz uns von ſo manchem druͤckenden Schmuck zu befreyen, der uns jetzt faſt Geſetz geworden.

Sehen Sie einmal, in welcher gekuͤnſtel - ten, uͤberladnen, gothiſchen Manier die neu - ern ſogenannten Philoſophiſchen und Pinda -E 3riſchen70riſchen Oden der Englaͤnder ſind, die ihnen als Meiſterſtuͤcke gelten! Von Gray, von Aken - ſide, von Maſon u. ſ. w. ob wohl in ihren Sylbenmaaß, oder Jnnhalt, oder Einklei - dung die mindſte Odenwuͤrkung thun koͤnne? Sehen Sie, in welche gekuͤnſtelte horaziſche Manier wir Deutſche hie und da gefallen ſind Oſſian, die Lieder der Wilden, der Skalden Romanzen, Provinzialgedichte koͤnnten uns auf beſſern Weg bringen, wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wolten. Zum Ungluͤck aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebey ſte - hen, und da wird wieder Nichts. Jrre ich mich, oder iſts wahr, daß die ſchoͤnſten lyri - ſchen Stuͤcke, die wir ſchon jetzt haben, und laͤngſt gehabt haben, ſchon mit dieſem maͤnnli - chen, ſtarken, feſten deutſchen Ton uͤberein - kommen, oder ſich ihm naͤhern was waͤre nicht alſo von der Aufweckung mehrerer ſolcher zu hoffen!

II. Sha -[71]

II. Shakeſpear.

E 4[72]73

II. Shakeſpear.

Wenn bey einem Manne mir jenes unge - heure Bild einfaͤllt: hoch auf einen Felſengipfel ſitzend! zu ſeinen Fuͤſſen, Sturm, Ungewitter und Brauſen des Meers; aber ſein Haupt in den Strahlen des Himmels! ſo iſts bey Shakeſpear! Nur freylich auch mit dem Zuſatz, wie unten am tiefſten Fuſſe ſeines Felſenthrones Haufen murmeln, die ihn erklaͤren, retten, verdammen, entſchuldigen, anbeten, verlaͤumden, uͤber - ſetzen und laͤſtern! und die Er alle nicht hoͤret!

Welche Bibliothek iſt ſchon| uͤber fuͤr und wider ihn geſchrieben! die ich nun auf keine Weiſe zu vermehren Luſt habe. Jch moͤchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen Kreiſe, wo dies geleſen wird, es niemand mehr in den Sinn komme, uͤber fuͤr und wider ihn zu ſchreiben: ihn weder zu entſchul - digen, noch zu verlaͤumden; aber zu erklaͤren, zu fuͤhlen wie er iſt, zu nuͤtzen, und woE 5moͤg -74moͤglich! uns Deutſchen herzuſtellen. Truͤge dies Blatt dazu etwas bey!

Die kuͤhnſten Feinde Shakeſpears haben ihn unter wie vielfachen Geſtalten! be - ſchuldigt und verſpottet, daß er, wenn auch ein groſſer Dichter, doch kein guter Schau - ſpieldichter, und wenn auch dies, doch wahr - lich kein ſo klaſſiſcher Trauerſpieler ſey, als Sophokles, Euripides, Korneille und Voltaire, die alles Hoͤchſte und Ganze dieſer Kunſt erſchoͤpft. Und die kuͤhnſten Freun - de Shakeſpears haben ſich meiſtens nur be - gnuͤget, ihn hieruͤber zu entſchuldigen, zu retten: ſeine Schoͤnheiten nur immer mit Anſtoß gegen die Regeln zu waͤgen, zu kom - penſiren; ihm als Angeklagten das abſolvo zu erreden, und denn ſein Groſſes deſto mehr zu vergoͤttern, je mehr ſie uͤber Fehler die Achſel ziehen muſten. So ſtehet die Sache noch bey den neueſten Herausgebern und Kommentatoren uͤber ihn ich hoffe, dieſe Blaͤtter ſollen den Geſichtspunkt veraͤndern, daß ſein Bild in ein volleres Licht kommt.

Aber iſt die Hoffnung nicht zu kuͤhn? gegen ſo viele, groſſe Leute, die ihn ſchon behandelt, zu anmaſſend? ich glaube nicht. Wenn ich zeige, daß man von beyden Seiten blos auf ein Vorurtheil, auf Wahn gebauet, der nichts iſt, wenn ich alſo nur eine Wolke vonden75den Augen zu nehmen, oder hoͤchſtens das Bild beſſer zu ſtellen habe, ohne im minde - ſten etwas im Auge oder im Bilde zu aͤndern: ſo kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall gar ſchuld ſeyn, daß ich auf den Punkt ge - troffen, darauf ich den Leſer nun feſt halte, hier ſtehe! oder du ſieheſt nichts als Karri - katur! Wenn wir den groſſen Knaul der Gelehrſamkeit denn nur immer auf - und ab - winden ſolten, ohne je mit ihm weiter zu kom - men welches traurige Schickſal um dies hoͤlliſche Weben!

Es iſt von Griechenland aus, da man die Woͤrter Drama, Tragoͤdie, Komoͤdie geerbet, und ſo wie die Letternkultur des menſchlichen Geſchlechts auf einen ſchmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die Tradition genommen, ſo iſt in dem Schooſſe und mit der Sprache dieſer, natuͤr - lich auch ein gewiſſer Regelnvorrath uͤberall mitgekommen, der von der Lehre unzertrenn - lich ſchien. Da die Bildung eines Kindes doch unmoͤglich durch Vernunft geſchehen kann und geſchieht; ſondern durch Anſehen, Eindruck, Goͤttlichkeit des Beyſpiels und der Gewohnheit: ſo ſind ganze Nationen in Al - lem, was ſie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern wuͤrde ohne Schlaube nicht wach -ſen,76ſen, und ſie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, ſelbſt wenn ſie von die - ſer ganz keinen Gebrauch machen koͤnnten. Es iſt der Fall mit dem griechiſchen und nor - diſchen Drama.

Jn Griechenland entſtand das Drama, wie es in Norden nicht entſtehen konnte. Jn Griechenland wars, was es in Norden nicht ſeyn kann. Jn Norden iſts alſo nicht und darf nicht ſeyn, was es in Griechenland ge - weſen. Alſo Sophokles Drama und Sha - keſpears Drama ſind zwey Dinge, die in ge - wiſſem Betracht kaum den Namen gemein haben. Jch glaube dieſe Saͤtze aus Griechen - land ſelbſt beweiſen zu koͤnnen, und eben da - durch die Natur des nordiſchen Drama, und des groͤſten Dramatiſten in Norden, Shakeſpears ſehr zu entziffern. Man wird Geneſe Einer Sache durch die Andre, aber zugleich Ver - wandlung ſehen, daß ſie gar nicht mehr Die - ſelbe bleibt.

Die griechiſche Tragoͤdie entſtand gleich - ſam aus Einem Auftritt, aus dem Jmprom - ptus des Dithyramben, des mimiſchen Tan - zes, des Chors. Dieſer bekam Zuwachs, Umſchmelzung: Aeſchylus brachte ſtatt Ei - ner handelnden Perſon zween auf die Buͤhne, erfand den Begriff der Hauptperſon, undver -77verminderte das Chormaͤſſige. Sophokles fuͤgte die dritte Perſon hinzu, erfand Buͤhne aus ſolchem Urſprunge, aber ſpaͤt, hob ſich das griechiſche Trauerſpiel zu ſeiner Groͤſſe empor, ward Meiſterſtuͤck des menſchlichen Geiſtes, Gipfel der Dichtkunſt, den Ariſto - teles ſo hoch ehret, und wir freylich nicht tief gnug in Sophokles und Euripides be - wundern koͤnnen.

Man ſiehet aber zugleich, daß aus dieſem Urſprunge gewiſſe Dinge erklaͤrlich werden, die man ſonſt, als todte Regeln angeſtaunet, erſchrecklich verkennen muͤſſen. Jene Sim - plicitaͤt der griechiſchen Fabel, jene Nuͤchternheit griechiſcher Sitten, jenes fort ausgehaltne Kothurnmaͤſſige des Ausdrucks, Muſik, Buͤhne, Einheit des Orts und der Zeit das Alles lag ohne Kunſt und Zauberey ſo natuͤrlich und weſentlich im Urſprunge griechiſcher Tra - goͤdie, daß dieſe ohne Veredlung zu alle Je - nem nicht moͤglich war. Alles das war Schlaube, in der die Frucht wuchs.

Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit zuruͤck: Simplicitaͤt der Fabel lag wuͤrk - lich ſo ſehr in dem, was Handlung der Vorzeit, der Republik, des Vaterlan - des, der Religion, was Heldenhandlung hieß, daß der Dichter eher Muͤhe hatte, indieſer78dieſer einfaͤltigen Groͤſſe Theile zu entdecken, Anfang, Mittel und Ende dramatiſch hinein - zubringen, als ſie gewaltſam zu ſondern, zu verſtuͤmmeln, oder aus vielen, abgeſonder - ten Begebenheiten Ein Ganzes zu kneten. Wer jemals Aeſchylus oder Sophokles geleſen, muͤſte das nie unbegreiflich finden. Jm Erſten was iſt die Tragoͤdie als oft ein allegoriſch-mythologiſch-halb epiſches Gemaͤlde, faſt ohne Folge der Auftritte, der Geſchichte, der Empfindungen, oder gar, wie die Alten ſagten, nur noch Chor, dem ei - nige Geſchichte zwiſchengeſetzt war Konnte hier uͤber Simplicitaͤt der Fabel die geringſte Muͤhe und Kunſt ſeyn? Und wars in den meiſten Stuͤcken des Sophokles anders? Sein Philoktet Ajax, vertriebner Oedipus u. ſ. w. naͤhern ſich noch immer ſo ſehr dem Ein - artigen ihres Urſprunges, dem dramatiſchen Bilde mitten im Chor. Kein Zweifel! es iſt Geneſis der griechiſchen Buͤhne.

Nun ſehe man, wie viel aus der ſimpeln Bemerkung folge. Nichts minder als: das Kuͤnſtliche ihrer Regeln war keine Kunſt! war Natur! Einheit der Fabel war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit - Vaterlands - Religions - Sittenumſtaͤnden, nicht anders als ſolch ein Eins ſeyn konnte. Einheit des Orts war79war Einheit des Orts; denn die Eine, kurze feierliche Handlung ging nur an Einem Ort, im Tempel, Pallaſt, gleichſam auf einem Markt des Vaterlandes vor: ſo wurde ſie im Anfange, nur mimiſch und erzaͤhlend nach - gemacht und zwiſchengeſchoben: ſo kamen end - lich die Auftritte, die Scenen hinzu aber alles natuͤrlich noch Eine Scene. Wo der Chor Alles band, wo der Natur der Sache wegen Buͤhne nie leer bleiben kounte u. ſ. w. Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natuͤrlich mitging welchem Kinde brauchte das bewieſẽ zu werdẽ? Alle dieſe Din - ge lagen damals in der Natur, daß der Dich - ter mit alle ſeiner Kunſt ohne ſie nichts konnte!

Offenbar ſiehet man alſo auch: die Kunſt der griechiſchen Dichter nahm ganz den ent - gegen geſetzten Weg, den man uns heut zu Tage aus ihnen zuſchreyet. Jene ſimpli - ficirten nicht, denke ich, ſondern ſie verviel - faͤltigten: Aeſchylus den Chor, Sopho - kles den Aeſchylus, und man darf nur die kuͤnſtlichſten Stuͤcke des letztern, und ſein groſſes Meiſterſtuͤck, den Oedipus in Thebe gegen den Prometheus, oder gegen die Nachrichten vom alten Dithyramb halten: ſo wird man die erſtaunliche Kunſt ſehen, die ihm dahinein zu bringen gelang. Aber niemals Kunſt aus Vielen ein Eins zu ma -chen,80chen, ſondern eigentlich aus Einem ein Vieles, ein ſchoͤnes Labyrinth von Scenen, wo ſeine groͤſte Sorge blieb, an der verwickeltſten Stelle des Labyrinths ſeine Zuſchauer mit dem Wahn des vorigen Einen umzutauſchen, den Knaͤuel ihrer Empfindungen ſo ſanft und allmaͤhlig los zu winden, als ob ſie ihn noch immer ganz haͤtten, die vorige Dithyram - biſche Empfindung. Dazu zierte er ihnen die Scene aus, behielt ja die Choͤre bey, und machte ſie zu Ruheplaͤtzen der Handlung, er - hielt Alle mit jedem Wort im Anblick des Ganzen, in Erwartung, in Wahn des Werdens, des Schonhabens, (was der lehrreiche Euripides nachher ſogleich, da die Buͤhne kaum gebildet war, wieder verab - ſaͤumte!) Kurz, er gab der Handlung (eine Sache, die man ſo erſchrecklich mißverſtehet) Groͤſſe.

Und daß Ariſtoteles dieſe Kunſt ſeines Genies in ihm zu ſchaͤtzen wuſte, und eben in Allem, faſt das Umgekehrte war, was die neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt ha - ben, muͤſte Jedem einleuchten, der ihm ohne Wahn und im Standpunkte ſeiner Zeit ge - leſen. Eben daß er Theſpis und Aeſchylus verließ, und ſich ganz an den vielfach dich - tenden Sophokles haͤlt, daß er eben von dieſe ſeiner Neuerung ausging, in ſie dasWeſen81Weſen der neuen Dichtgattung zu ſetzen, daß es ſein Lieblingsgedanke ward, nun einen neuen Homer zu entwickeln, und ihn ſo vor - theilhaft mit dem Erſten zu vergleichen; daß er keinen unweſentlichen Umſtand vergaß, der nur in der Vorſtellung ſeinen Begriff der Groͤſſe habenden Handlung unterſtuͤtzen konnte. Alle das zeigt, daß der groſſe Mann auch im groſſen Sinn ſeiner Zeit phi - loſophirte, und nichts weniger, als an den verengernden kindiſchen Laͤppereyen ſchuld iſt, die man aus ihm ſpaͤter zum Papier geruͤſte der Buͤhne machen wollen. Er hat offenbar, in ſeinem vortreflichen Kapitel vom Weſen der Fabel in keine andre Regeln gewußt und an - erkannt, als den Blick des Zuſchauers, Seele, Jlluſion! und ſagt ausdruͤcklich, daß ſich ſonſt die Schranken ihrer Laͤnge, mithin noch weniger Art oder Zeit und Raum des Baues durch keine Regeln beſtimmen laſſen. O wenn Ariſtoteles wieder auf lebte, und den falſchen, widerſinnigen Gebrauch ſeiner Re - geln bey Drama’s ganz andrer Art ſaͤhe. Doch wir bleiben noch lieber bey der ſtillen, ruhigen Unterſuchung.

Wie ſich Alles in der Welt aͤndert: ſo muſte ſich auch die Natur aͤndern, die eigent - lich das griechiſche Drama ſchuf. Welt -Fver -82verfaſſung, Sitten, Stand der Republi - ken, Tradition der Heldenzeit, Glaube, ſelbſt Muſik, Ausdruck Maas der Jlluſi - on wandelte: und natuͤrlich ſchwand auch Stoff zu Fabeln, Gelegenheit zu der Bearbeitung, Anlaß zu dem Zwecke. Man konnte zwar das Uralte, oder gar von andern Nationen ein Fremdes herbey holen, und nach der ge - gebnen Manier bekleiden: das that Alles aber nicht die Wuͤrkung: folglich war in Allem auch nicht die Seele: folglich wars auch nicht (was ſollen wir mit Worten ſpielen?) das Ding mehr. Puppe, Nachbild, Affe, Sta - tuͤe, in der nur noch der andaͤchtigſte Kopf den Daͤmon finden konnte, der die Statuͤe belebte. Laſſet uns gleich (denn die Roͤmer waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild und unmaͤſſig, um ein voͤllig graͤciſirendes Theater zu errichten) zu den neuen Athenien - ſern Europens uͤbergehen, und die Sache wird, duͤnkt mich, offenbar.

Alles was Puppe des griechiſchen Thea - ters iſt, kann ohne Zweifel kaum vollkomm - ner gedacht und gemacht werden, als es in Frankreich geworden. Jch will nicht blos an die ſogenannten Theaterregeln denken, die man dem guten Ariſtoteles beymißt, Einheit der Zeit, des Orts, der Handlung, Bin - dung der Scenen, Wahrſcheinlichkeitdes83des Brettergeruͤſtes, u. ſ. w. ſondern wuͤrk - lich fragen, ob uͤber das gleiſſende, klaſſiſche Ding, was die Korneille, Racine und Voltaire gegeben haben, uͤber die Reihe fchoͤner Auftritte, Geſpraͤche, Verſe und Reime, mit der Abmeſſung, dem Wohl - ſtande, dem Glanze etwas in der Welt moͤglich ſey? Der Verfaſſer dieſes Aufſatzes zweifelt nicht bloß daran, ſondern alle Ver - ehrer Voltairs und der Franzoſen, zumal dieſe edlen Athenienſer ſelbſt, werden es ge - radezu laͤugnen habens ja auch ſchon gnug gethan, thuns und werdens thun, uͤber das geht nichts! das kann nicht uͤbertroffen werden! Und in den Geſichtspunkt des Uebereinkommniſſes geſtellt, die Puppe aufs Bretterngeruͤſte geſetzt haben ſie recht, und muͤſſens von Tag zu Tage je mehr man ſich in das Gleiſſende vernarrt, und es nach - aͤffet, in allen Laͤndern Europens mehr be - kommen!

Bey alle dem iſts aber doch ein druͤckendes unwiderſtrebliches Gefuͤhl das iſt keine grie - chiſche Tragoͤdie! von Zweck, Wuͤrkung, | Art, Weſen kein griechiſches Drama! und der partheyiſchte Verehrer der Franzoſen kann, wenn er Griechen gefuͤhlt hat, das nicht laͤug - nen. Jch wills gar nicht Einmal unterſuchen ob ſie auch ihren Ariſtoteles den Regeln nachF 2ſo84ſo beobachten, wie ſies vorgeben, wo Leſſing gegen die lauteſten Anmaaſſungen neulich ſchreckliche Zweifel erregt hat. Das Alles aber auch zugegeben, Drama iſt nicht daſſelbe, warum? weil im Jnnern nichts von ihm Daſſelbe mit Jenem iſt, nicht Handlung, Sitten, Sprache, Zweck, nichts und was huͤlfe alſo alles Aeuſſere ſo genau erhaltne Einerley? Glaubt denn wohl jemand, daß Ein Held des groſſen Corneille ein roͤmiſcher oder franzoͤſiſcher Held ſey? Spaniſch-Sene - kaſche Helden! galante Helden, abentheur - lich tapfere, großmuͤthige, verliebte, grau - ſame Helden alſo dramatiſche Fiktionen, die auſſer dem Theater Narren heiſſen wuͤrden, und wenigſtens fuͤr Frankreich ſchon damals halb ſo fremde waren, als ſies jetzt bey den meiſten Stuͤcken ganz ſind das ſind ſie. Racine ſpricht die Sprache der Empfindung allerdings nach dieſem Einen zugegebnen Uebereinkommniſſe iſt nichts uͤber ihn; aber auſſer dem auch wuͤſte ich nicht, wo Eine Empfindung ſo ſpraͤche? Es ſind Gemaͤlde der Empfindung von dritter fremder Hand; nie aber oder ſelten die unmittelbaren, erſten, ungeſchminkten Regungen, wie ſie Worte ſuchen und endlich finden. Der ſchoͤne Vol - taͤrſche Vers, ſein Zuſchnitt, Jnhalt, Bil - derwirthſchaft, Glanz, Witz, Philoſophie iſt85iſt er nicht ein ſchoͤner Vers? Allerdings! der ſchoͤnſte, den man ſich vielleicht denken kann, und wenn ich ein Franzoſe waͤre, wuͤrde ich verzweifeln, hinter Voltaͤr Einen Vers zu machen aber ſchoͤn oder nicht ſchoͤn, kein Theatervers! fuͤr Handlung, Sprache, Sit - ten, Leidenſchaften, Zweck eines (anders als Franzoͤſiſchen) Drama, ewige Schulchrie, Luͤge und Galimathias. Endlich Zweck des Allen? durchaus kein griechiſcher, kein tragiſcher Zweck! Ein ſchoͤnes Stuͤck, wenn es auch eine ſchoͤne Handlung waͤre, auf die Buͤhne zu bringen! eine Reihe artiger, wohl - gekleideter Herrn und Dames ſchoͤne Reden, auch die ſchoͤnſte und nuͤtzlichſte Philoſophie in ſchoͤnen Verſen vortragen zu laſſen! ſie alleſamt auch in eine Geſchichte dichten, die einen Wahn der Vorſtellung giebt, und alſo die Aufmerkſamkeit mit ſich fortzieht! endlich das alles auch durch eine Anzahl wohlgeuͤbter Herrn und Dames vorſtellen laſſen, die wuͤrk - lich viel auf Deklamation, Stelzengang der Sentenzen und Auſſenwerke der Empfindung, Beyfall und Wohlgefallen anwenden das Alles koͤnnen vortrefliche und die beſten Zwecke zu einer lebendigen Lecture, zur Uebung im Ausdruck, Stellung und Wohlſtande, zum Gemaͤlde guter oder gar heroiſcher Sitten, und endlich gar eine voͤllige Akademie derF 3Na -86Nationalweißheit und Decence im Leben und Sterben werden, (alle Nebenzwecke uͤbergan - gen) ſchoͤn! bildend! lehrreich! vortreflich! durchaus aber weder Hand noch Fuß vom Zweck des griechiſchen Theaters.

Und welches war der Zweck? Ariſtoteles hats geſagt, und man hat gnug daruͤber ge - ſtritten nichts mehr und minder, als eine gewiſſe Erſchuͤtterung des Herzens, die Erregung der Seele in gewiſſem Maaß und von gewiſſen Seiten, kurz! eine Gat - tung Jlluſion, die wahrhaftig! noch kein franzoͤſiſches Stuͤck zuwege gebracht hat, oder zuwege bringen wird. Und folglich (es heiſſe ſo herrlich und nuͤtzlich, wie es wolle) grie - chiſches Drama iſts nicht! Trauerſpiel des Sophokles iſts nicht. Als Puppe ihm noch ſo gleich; der Puppe fehlt Geiſt, Leben, Na - tur, Wahrheit mithin alle Elemente der Ruͤhrung mithin Zweck und Erreichung des Zwecks iſts alſo daſſelbe Ding mehr?

Hiemit wuͤrde noch nichts uͤber Werth und Unwerth entſchieden, es waͤre nur blos von Verſchiedenheit die Rede, die ich mit dem Vorigen ganz auſſer Zweifel geſetzt glaube. Und nun gebe ichs jedem anheim, es ſelbſt auszumachen, ob eine Kopirung fremder Zeiten, Sitten und Handlungen in Halb -wahr -87wahrheit, mit dem koͤſtlichen Zwecke, ſie der zweyſtaͤndigen Vorſtellung auf einem Bret - terngeruͤſte faͤhig und aͤhnlich zu machen, wohl einer Nachbildung gleich oder uͤberge - ſchaͤtzt werden koͤnne, die in gewiſſem Be - tracht die hoͤchſte Nationalnatur war? ob eine Dichtung, deren Ganzes eigentlich (und da wird ſich jeder Franzoſe winden oder vor - bey ſingen muͤſſen) gar keinen Zweck hat das Gute iſt nach dem Bekaͤnntniß der beſten Philoſophen nur eine Nachleſe im Detail ob die einer Landesanſtalt gleichgeſchaͤtzt wer - den kann, wo in jedem kleinen Umſtande Wuͤrkung, hoͤchſte, ſchwerſte Bildung lag? Ob endlich nicht eine Zeit kommen muͤſte, da man, wie die meiſten und kuͤnſtlichſten Stuͤcke Corneillens ſchon vergeſſen ſind, Krebil - lon und Voltaire mit der Bewundrung an - ſehen wird, mit der man jetzt die Aſtraͤa des Hrn. von Urfe, und alle Clelien und Aſpa - ſien der Ritterzeit anſieht, voll Kopf und Weisheit! voll Erfindung und Arbeit! es waͤre aus ihnen ſo viel! viel zu lernen aber Schade! daß es in der Aſtraͤa und Klelia iſt. Das Ganze ihrer Kunſt iſt ohne Natur! iſt abentheuerlich! iſt eckel! Gluͤcklich wenn wir im Geſchmack der Wahr - heit ſchon an der Zeit waͤren! Das ganze franzoͤſiſche Drama haͤtte ſich in eine Samm -F 4lung88lung ſchoͤner Verſe, Sentenzen, Sentimens verwandelt aber der groſſe Sophokles ſtehet noch, wie er iſt!

Laſſet uns alſo ein Volk ſetzen, das aus Umſtaͤnden, die wir nicht unterſuchen moͤgen, Luſt haͤtte, ſich ſtatt nachzuaͤffen und mit der Wallnußſchaale davon zu laufen, ſelbſt lieber, ſein Drama zu erfinden: ſo iſts, duͤnkt mich, wieder erſte Frage: wenn? wo? unter welchen Umſtaͤnden? woraus ſolls das thun? und es braucht keines Beweiſes, daß die Erfindung nichts als Reſultat dieſer Fragen ſeyn wird und ſeyn kann. Holt es ſein Drama nicht aus Chor, aus Dithyramb her: ſo kanns auch nichts Chormaͤſſiges Dithy - rambiſches haben. Laͤge ihm keine ſolche Sim - plicitaͤt von Faktis der Geſchichte, Tradi - tion, Haͤußlichen, und Staats - und Re - ligionsbeziehungen vor natuͤrlich kanns nichts von Alle dem haben. Es wird ſich, wo moͤglich, ſein Drama nach ſeiner Ge - ſchichte, nach Zeitgeiſt, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurtheile, Traditionen, und Liebhabereyen, wenn auch aus Faſtnachts - und Marionettenſpiel (eben, wie die edlen Griechen aus dem Chor) erfinden und das Erfundne wird Drama ſeyn, wenn esbey89bey dieſem Volk dramatiſchen Zweck erreicht. Man ſieht, wir ſind bey den toto diviſis ab orbe Britannis und ihrem groſſen Shakeſpear.

Daß da, und zu der und vor der Zeit kein Griechenland war, wird kein pullulus Ariſto - telis laͤugnen, und hier und da alſo griechiſches Drama zu fodern, daß es natuͤrlich (wir reden von keiner Nachaͤffung) entſtehe, iſt aͤrger, als daß ein Schaaf Loͤwen gebaͤren ſolle. Es wird allein erſte und letzte Frage: wie iſt der Boden? worauf iſt er zubereitet? was iſt in ihn geſaͤet? was ſollte er tragen koͤnnen? und Himmel! wie weit hier von Griechenland weg! Geſchichte, Tradi - tion, Sitten, Religion, Geiſt der Zeit, des Volks, der Ruͤhrung, der Sprache wie weit von Griechenland weg! Der Leſer kenne beyde Zeiten viel oder wenig, ſo wird er doch kei - nen Augenblick verwechſeln, was nichts Aehnli - ches hat. Und wenn nun in dieſer gluͤcklich oder ungluͤcklich veraͤnderten Zeit, es eben Ein Alter, Ein Genie gaͤbe, daß aus ſeinem Stoff ſo natuͤrlich, groß, und original eine drama - tiſche Schoͤpfung zoͤge, als die Griechen aus dem Jhren und dieſe Schoͤpfung eben auf den verſchiedenſten Wegen dieſelbe Abſicht erreichte, wenigſtens an ſich ein weit vielfach Einfaͤltiger und Einfachvielfaͤltiger alſoF 5(nach90(nach aller methaphyſiſchen Definition) ein vollkommenes Ganzes waͤre was fuͤr ein Thor, der nun vergliche und gar verdammte, weil dies Zweyte nicht das Erſte ſey? Und alle ſein Weſen, Tugend und Vollkommen - heit beruht ja darauf, daß es nicht das Erſte iſt: daß aus dem Boden der Zeit, eben die andre Pflanze erwuchs.

Shakeſpear fand vor und um ſich nichts weniger als Simolicitaͤt von Vaterlandsſitten, Thaten, Neigungen und Geſchichtstraditio - nen, die das griechiſche Drama bildete, und da alſo nach dem Erſten metaphyſiſchen Weis - heitsſatze aus Nichts Nichts wird, ſo waͤre Philoſophen uͤberlaſſen, nicht blos kein Grie - chiſches, ſondern wenns auſſerdem Nichts giebt, auch gar kein Drama in der Welt mehr geworden, und haͤtte werden koͤnnen. Da aber Genie bekanntermaaſſen mehr iſt, als Philoſophie, und Schoͤpfer ein ander Ding, als Zergliederer: ſo wars ein Sterb - licher mit Goͤtterkraft begabt, eben aus dem entgegen geſetzteſten Stoff, und in der ver - ſchiedenſten Bearbeitung dieſelbe Wuͤrkung hervor zu rufen, Furcht und Mitleid! und beyde in einem Grade, wie jener Erſte Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervor - zubringen vermocht! Gluͤcklicher Goͤtter - ſohn uͤber ſein Unternehmen! Eben das Neue,Erſte,91Erſte, ganz Verſchiedne zeigt die Urkraft ſeines Berufs.

Shakeſpear fand keinen Chor vor ſich; aber wohl Staats und Marionettenſpiele wohl! er bildete alſo aus dieſen Staats - und Marionettenſpielen, dem ſo ſchlechten Leim! das herrliche Geſchoͤpf, das da vor uns ſteht und lebt! Er fand keinen ſo einfachen Volks - und Vaterlandscharakter, ſondern ein Viel - faches von Staͤnden, Lebensarten, Geſin - nungen, Voͤlkern und Spracharten der Gram um das Vorige waͤre vergebens ge - weſen; er dichtete alſo Staͤnde und Men - ſchen, Voͤlker und Spracharten, Koͤnig und Narren, Narren und Koͤnig zu dem herrli - chen Ganzen! Er fand keinen ſo einfachen Geiſt der Geſchichte, der Fabel, der Hand - lung: er nahm Geſchichte, wie er ſie fand, und ſetzte mit Schoͤpfergeiſt das Verſchieden - artigſte Zeug zu einem Wunderganzen zuſam - men, was wir, wenn nicht Handlung im griechiſchen Verſtande, ſo Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (evenement) groſſes Eraͤugniß nennen wollen o Ariſtoteles, wenn du erſchieneſt, wie wuͤrdeſt du den neuen Sophokles homeriſiren! wuͤrdeſt ſo eine eigne Theorie uͤber ihn dichten, die jetzt ſeine Lands - leute, Home und Hurd, Pope und John -ſon92ſon noch nicht gedichtet haben! Wuͤrdeſt dich freuen, von Jedem Deiner Stuͤcke, Hand - lung, Charakter, Meinungen, Aus - druck, Buͤhne, wie aus zwey Punkten des Dreyecks Linien ziehen zu koͤnnen, die ſich oben in Einem Punkte des Zwecks, der Vollkommenheit begegnen! Wuͤrdeſt zu Sophokles ſagen: mahle das heilige Blatt dieſes Altars! und du o nordiſcher Barde alle Seiten und Waͤnde dieſes Tempels in dein unſterbliches Fresko!

Man laſſe mich als Ausleger und Rhap - ſodiſten fortfahren: denn ich bin Shakeſpear naͤher als dem Griechen. Wenn bey dieſem das Eine einer Handlung herrſcht: ſo ar - beitet Jener auf das Ganze eines Eraͤugniſ - ſes einer Begebenheit. Wenn bey |Je - nem Ein Ton der Charaktere herrſchet, ſo bey dieſem alle Charaktere, Staͤnde und Le - bensarten, ſo viel nur faͤhig und noͤthig ſind, den Hauptklang ſeines Concerts zu bilden. Wenn in Jenem Eine ſingende feine Spra - che, wie in einem hoͤhern Aether thoͤnet, ſo ſpricht dieſer die Sprache aller Alter, Men - ſchen und Menſcharten, iſt Dollmetſcher der Natur in all ihren Zungen und auf ſo verſchiedenen Wegen beyde Vertraute Einer Gottheit? Und wenn jener Griechen vorſtellt und lehrt und ruͤhrt und bildet, ſolehrt,93lehrt, ruͤhrt und bildet Shakeſpear nordiſche Menſchen! Mir iſt, wenn ich ihn leſe, Theater, Akteur, Kouliſſe verſchwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten we - hende Blaͤtter aus dem Buch der Begeben - heiten, der Vorſehung der Welt! ein - zelne Gepraͤge der Voͤlker, Staͤnde, Seelen! die alle die verſchiedenartigſten und abgetrenn - teſt handelnden Maſchinen, alle was wir in der Hand des Weltſchoͤpfers ſind un - wiſſende, blinde Werkzeuge zum Ganzen Eines theatraliſchen Bildes, Einer Groͤſſe habenden Begebenheit, die nur der Dichter uͤberſchauet. Wer kann ſich einen groͤſſern Dichter der nordiſchen Menſchheit und in dem Zeitalter! denken!

Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauſchen, ſo tritt vor ſeine Buͤhne. Die Auftritte der Natur ruͤk - ken vor und ab; wuͤrken in einander ſo di - ſparat ſie ſcheinen; bringen ſich hervor, und zerſtoͤhren ſich, damit die Abſicht des Schoͤ - pfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung geſellet zu haben ſchien, erfuͤllt werde dunkle kleine Symbole zum Son - nenriß einer Theodicee Gottes. Lear der raſche, warme, edelſchwache Greis, wie er da vor ſeiner Landcharte ſteht, und Kronen wegſchenkt und Laͤnder zerreißt, in derErſten94Erſten Scene der Erſcheinung traͤgt ſchon allen Saamen ſeiner Schickſale zur Ernte der dunkelſten Zukunft in ſich. Siehe! der gutherzige Verſchwender, der raſche Unbarm - herzige, der kindiſche Vater wird es bald ſeyn auch in den Vorhoͤfen ſeiner Toͤchter bit - tend, betend, bettelnd, fluchend, ſchwaͤr - mend, ſegnend, ach, Gott! und Wahn - ſinn ahndend. Wirds ſeyn bald mit blaſſem Scheitel unter Donner und Blitz, zur unter - ſten Klaſſe von Menſchen herabgeſtuͤrzt, mit einem Narren und in der Hoͤle eines tollen Bettlers Wahnſinn gleichſam pochend vom Himmel herab. Und nun iſt wie ers iſt, in der ganzen leichten Majeſtaͤt ſeines Elends und Verlaſſens; und nun zu ſich kommend, angeglaͤnzt vom letzten Strahle Hoffnung, damit dieſe auf ewig, ewig erloͤſche! Gefan - gen, die todte Wohlthaͤterin, Verzeiherin, Kind, Tochter auf ſeinen Armen! auf ihrem Leichnam ſterbend, der alte Knecht dem alten Koͤnige nachſterbend Gott! welch ein Wechſel von Zeiten, Umſtaͤnden, Stuͤrmen, Wetter, Zeitlaͤuften! und alle nicht blos Eine Geſchichte Helden und Staatsak - tion, wenn du willt! von Einem Anfange zu Einem Ende, nach der ſtrengſten Regel deines Ariſtoteles; ſondern tritt naͤher, und fuͤhle den Menſchengeiſt, der auch jede Perſonund95und Alter und Charakter und Nebending in das Gemaͤlde ordnete. Zween alte Vaͤter und alle ihre ſo verſchiedne Kinder! Des Einen Sohn gegen einen betrognen Vater ungluͤcklich dankbar, der andre gegen den gutherzigſten Vater ſcheuslich undankbar und abſcheulich gluͤcklich. Der gegen ſeine Toͤchter! dieſe gegen ihn! ihre Gemal, Freyer und alle Helfers - helfer im Gluͤck und Ungluͤck. Der blinde Gloſter am Arm ſeines unerkannten Sohnes, und der tolle Lear zu den Fuͤſſen ſeiner ver - triebnen Tochter! und nun der Augenblick der Wegſcheide des Gluͤcks, da Gloſter un - ter ſeinem Baume ſtirbt, und die Trompete rufet alle Nebenumſtaͤnde, Triebfedern, Cha - ractere und Situationen dahin eingedichtet Alles im Spiel! zu Einem Ganzen ſich fort - wickelnd zu einem Vater - und Kinder - Koͤnigs - und Narren - und Bettler - und Elend-Ganzen zuſammen geordnet, wo doch uͤberall bey den Diſparatſten Scenen Seele der Begebenheit athmet, wo Oerter, Zeiten, Umſtaͤnde ſelbſt moͤchte ich ſagen, die heidniſche Schickſals - und Sternenphi - loſophie, die durchweg herrſchet, ſo zu die - ſem Ganzen gehoͤren, daß ich Nichts veraͤn - dern, verſetzen, aus andern Stuͤcken hieher oder hieraus in andre Stuͤcke bringen koͤnnte. Und das waͤre kein Drama? Shakeſpearkein96kein dramatiſcher Dichter? Der hundert Auf - tritte einer Weltbegebenheit mit dem Arm umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der Ei - nen durchhauchenden, Alles belebenden Seele erfuͤllet, und nicht Aufmerkſamkeit; Herz, alle Leidenſchaften, die ganze Seele von An - fang bis zu Ende fortreißt wenn nicht mehr, ſo ſoll Vater Ariſtoteles zeugen, die Groͤſſe des lebendigen Geſchoͤpfs darf nur mit Einem Blick uͤberſehen werden koͤnnen und hier Himmel! wie wird das Ganze der Begebenheit mit tiefſter Seele fortgefuͤhlt und geendet! Eine Welt dramatiſcher Geſchichte, ſo groß und tief wie die Natur; aber der Schoͤpfer giebt uns Auge und Ge - ſichtspunkt, ſo groß und tief zu ſehen!

Jn Othello, dem Mohren, welche Welt! welch ein Ganzes! lebendige Geſchichte der Entſtehung, Fortgangs, Ausbruchs, traurigen Endes der Leidenſchaft die - ſes Edlen Ungluͤckſeligen! und in welcher Fuͤlle, und Zuſammenlauf der Raͤder zu Einem Werke! Wie dieſer Jago, der Teu - fel in Menſchengeſtalt, die Welt anſehn, und mit allen, die um ihn ſind, ſpielen! und wie nun die Gruppe ein Caſſio und Rodrich, Othello und Desdemone in den Charakteren, mit dem Zunder von Empfaͤnglichkeiten ſeiner Hoͤllenflamme, um ihn ſtehen muß, und jedesihm97ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht, und Alles zum traurigen Ende eilet. Wenn ein Engel der Vorſehung menſchliche Leidenſchaften gegen einander abwog, und Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen Anlaͤſſe, wo Jedes im Wahn des Freyen handelt, zufuͤhrt, und er ſie alle mit dieſem Wahne, als mit der Kette des Schickſals zu ſeiner Jdee leitet ſo war der menſchliche Geiſt, der hier entwarf, ſann, zeichnete, lenkte.

Daß Zeit und Ort, wie Huͤlſen um den Kern immer mit gehen ſollte nicht einmal er - innert werden duͤrfen, und doch iſt hieruͤber eben das helleſte Geſchrey. Fand Shakeſpear den Goͤttergriff Eine ganze Welt der diſpa - rateſten Auftritte zu Einer Begebenheit zu erfaſſen; natuͤrlich gehoͤrte es eben zur Wahr - heit ſeiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit jedesmal zu idealiſiren, daß ſie mit zur Taͤu - ſchung beytruͤgen. Jſt wohl jemand in der Welt zu einer Kleinigkeit ſeines Lebens Ort und Zeit gleichguͤltig? und ſind ſies inſonder - heit in den Dingen, wo die ganze Seele ge - regt, gebildet, umgebildet wird? in der Ju - gend, in Scenen der Leidenſchaft, in allen Handlungen aufs Leben! Jſts da nicht eben Ort und Zeit und Fuͤlle der aͤuſſern Umſtaͤnde, die der ganzen Geſchichte Haltung, Dauer,GExſi -98Exſiſtenz geben muß, und wird ein Kind, ein Juͤngling, ein Verliebter, ein Mann im Felde der Thaten ſich wohl Einen Umſtand des Lokals, des Wie? und Wo? und Wann? wegſchneiden laſſen, ohne daß die ganze Vor - ſtellung ſeiner Seele litte? Da iſt nun Sha - keſpear der groͤſte Meiſter, eben weil er nur und immer Diener der Natur iſt. Wenn er die Begebenheiten ſeines Drama dachte, im Kopf waͤlzte, wie waͤlzen ſich jedesmal Oerter und Zeiten ſo mit umher! Aus Sce - nen und Zeitlaͤuften aller Welt findet ſich, wie durch ein Geſetz der Fatalitaͤt. eben die hieher, die dem Gefuͤhl der Handlung, die kraͤftigſte, die idealſte iſt; wo die ſonderbar - ſten, kuͤhnſten Umſtaͤnde am meiſten den Trug der Wahrheit unterſtuͤtzen, wo Zeit - und Ort - wechſel, uͤber die der Dichter ſchaltet, am lauteſten rufen: hier iſt kein Dichter! iſt Schoͤpfer! iſt Geſchichte der Welt!

Als z. E. der Dichter den ſchrecklichen Koͤ - nigsmord, Trauerſpiel Macbeth genannt, als Faktum der Schoͤpfung in ſeiner Seele waͤlzte biſt du, mein lieber Leſer, ſo bloͤde geweſen, nun in keiner Scene, Scene und Ort mit zu fuͤhlen wehe Shakeſpear, dem verwelkten Blatte in deiner Hand. So haſt du nichts von der Eroͤfnung durch die Zaube - rinnen auf der Haide unter Blitz und Donner! nichts99nichts nun vom blutigen Manne mit Mac - beths Thaten zur Bothſchaft des Koͤniges an ihn, nichts wider die Scene zu brechen, und den prophetiſchen Zaubergeiſt zu eroͤfnen, und die vorige Bothſchaft nun mit dieſem Gruſſe in ſeinem Haupt zu miſchen gefuͤhlt! Nicht ſein Weib mit jener Abſch iſt des Schick - ſalsbriefes in ihrem Schloſſe wandern ſehen, die hernach wie grauerlich anders wandern wird! Nicht mit dem ſtillen Koͤnige noch zu guter letzt die Abendluft ſo ſanft gewittert, rings um das Haus, wo zwar die Schwalbe ſo ſicher niſtet, aber du o Koͤnig das iſt im unſichtbaren Werk! dich deiner Moͤr - dergrube naͤherſt. Das Haus in unruhiger, gaſtlicher Zubereitung, und Macbeth in Zu - bereitung zum Morde! Die bereitende Nacht - ſcene Bankos mit Fackel und Schwerdt! Der Dolch! der ſchauerliche Dolch der Vi - ſion! Glocke kaum iſts geſchehen und das Pochen an der Thuͤr! Die Entdek - kung, Verſammlung man trabe alle Oerter und Zeiten durch, wo das zu der Ab - ſicht, in der Schoͤpfung, anders als da und ſo geſchehen koͤnnte. Die Mordſcene Bankos im Walde; das Nachtgaſtmahl und Bankos Geiſt nun wieder die Hexenhaide (denn ſeine erſchreckliche Schickſalsthat iſt zu Ende!) Nun Zauberhoͤle, Beſchwoͤrung, Prophe -G 2zeyung,100zeyung, Wuth und Verzweiflung! Der Tod der Kinder Macdufs unter den Fluͤgeln ihrer einſamen Mutter! und jene zween Vertriebne unter dem Baum, und nun die grauerliche Nachtwanderin im Schloſſe, und die wun - derbare Erfuͤllung der Prophezeyung der heranziehende Wald Macbeths Tod durch das Schwerdt eines Ungebohrnen ich muͤßte alle, alle Scenen ausſchreiben, um das idealiſirte Lokal des unnennbaren Gan - zen, der Schickſals-Koͤnigsmords - und Zauberwelt zu nennen, die als Seele das Stuͤck, bis auf den kleinſten Umſtand von Zeit, Ort, ſelbſt ſcheinbarer Zwiſchenver - wirrung, belebt, Alles in der Seele zu Ei - nem ſchauderhaften, unzertrennlichen Gan - zen zu machen und doch wuͤrde ich mit Allem nichts ſagen.

Dies Jndividuelle jedes Stuͤcks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schoͤpfung durch alle Stuͤcke. Leſſing hat einige Umſtaͤnde Hamlets in Verglei - chung der Theaterkoͤnigin Semiramis ent - wickelt wie voll iſt das ganze Drama die - ſes Lokalgeiſtes von Anfang, zu Ende. Schloß - platz und bittre Kaͤlte, abloͤſende Wache und Nachterzaͤhlungen, Unglaube und Glaube der Stern und nun erſcheints! Kann Jemand ſeyn, der nicht in jedem Wort undUm -101Umſtaͤnde Bereitung und Natur ahnde! So weiter. Alles Koſtume der Geiſter erſchoͤpft! der Menſchen zur Erſcheinung erſchoͤpft! Hahnkraͤh und Paukenſchall, ſtummer Wink und der nahe Huͤgel, Wort und Unwort welches Lokal! welches tiefe Eingraben der Wahrheit! Und wie der erſchreckte Koͤnig kniet, und Hamlet vorbeyirrt in ſeiner Mut - ter Kammer vor dem Bilde ſeines Vaters! und nun die andre Erſcheinung! Er am Grabe ſeiner Ophelia! der ruͤhrende good Fellow in allen den Verbindungen mit Horaz Ophelia, Laertes, Fortinbras! das Ju - gendſpiel der Handlung, was durchs Stuͤck fortlaͤuft und faſt bis zu Ende keine Handlung wird wer da Einen Augenblick Brettern - geruͤſte fuͤhlt und ſucht, und Eine Reihe ge - bundner artiger Geſpraͤche auf ihm ſucht, fuͤr den hat Shakeſpear und Sophokles, kein wahrer Dichter der Welt gedichtet.

Haͤtte ich doch Worte dazu, um die ein - zelue Hauptempfindung, die alſo jedes Stuͤck beherrſcht, und wie eine Weltſeele durchſtroͤmt, zu bemerken. Wie es doch in Othello wuͤrk - lich mit zu dem Stuͤcke gehoͤrt, ſo ſelbſt das Nachtſuchen wie die fabelhafte Wunderliebe, die Seefahrt, der Seeſturm, wie die brau - ſende Leidenſchaft Othellos, die ſo ſehr ver - ſpottete Todesart, das Entkleiden unter demG 3Ster -102Sterbeliedchen und dem Windesſauſen, wie die Art der Suͤnde und Leidenſchaft ſelbſt ſein Eintritt, Rede ans Nachtlicht u. ſ. w. waͤre es moͤglich, doch das in Worte zu faſ - ſen, wie das Alles zu Einer Welt der Trauer - begebenheit lebendig und innig gehoͤre aber es iſt nicht moͤglich. Kein elendes Far - bengemaͤlde laͤßt ſich durch Worte beſchreiben oder herſtellen, und wie die Empfindung Ei - ner lebendigen Welt in allen Scenen, Um - ſtaͤnden und Zaubereyen der Natur. Gehe, mein Leſer, was du willt, Lear und die Ri - chards, Caͤſar und die Heinrichs, ſelbſt Zauberſtuͤcke und Divertiſſements, inſonder - heit Romeo, das ſuͤſſe Stuͤck der Liebe, auch Roman in jedem Zeitumſtande, und Ort und Traum und Dichtung gehe es durch, ver - ſuche Etwas der Art wegzunehmen, zu tau - ſchen, es gar auf ein franzoͤſiſches Brettern - geruͤſte zu ſimplificiren eine lebendige Welt mit allem Urkundlichen ihrer Wahrheit in dies Geruͤſte verwandelt ſchoͤner Tauſch! ſchoͤne Wandlung! Nimm dieſer Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze ſie in die Luft: nimm dieſem Menſchen Ort, Zeit, individuelle Beſtandheit du haſt ihm Othem und Seele genommen, und iſt ein Bild vom Geſchoͤpf.

Eben103

Eben da iſt alſo Shakeſpear Sophokles Bruder, wo er ihm dem Anſchein nach ſo unaͤhnlich iſt, um im Jnnern, ganz wie Er, zu ſeyn. Da alle Taͤuſchung durch dies Ur - kuͤndliche, Wahre, Schoͤpferiſche der Ge - ſchichte erreicht wird, und ohne ſie nicht blos nicht erreicht wuͤrde, ſondern kein Element mehr (oder ich haͤtte umſonſt geſchrieben) von Shakeſpears Drama und dramatiſchem Geiſt bliebe: ſo ſieht man, die ganze Welt iſt zu dieſem groſſen Geiſte allein Koͤrper: alle Auftritte der Natur an dieſem Koͤrper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu dieſem Geiſte Zuͤge und das Ganze mag jener Rieſengott des Spinoſa Pan! Univerſum! heiſſen. Sophokles blieb der Natur treu, da er Eine Handlung Eines Orts und Einer Zeit bearbeitete: Shake - ſpear konnt ihr allein treu bleiben, wenn er ſeine Weltbegebenheit und Menſchenſchickſal durch alle die Oerter und Zeiten waͤlzte, wo ſie nun, wo ſie geſchehen: und Gnade Gott, dem kurzweiligen Franzoſen, der in Shakeſpears fuͤnften Aufzug kaͤme, um da die Ruͤhrung in der Quinteſſenz herunter zu ſchlucken. Bey manchen franzoͤſiſchen Stuͤk - ken mag dies wohl angehen, weil da Alles nur fuͤrs Theater verſificirt und in Scenen Schaugetragen wird; aber hier geht er ebenG 4ganz104ganz leer aus. Da iſt Weltbegebenheit ſchon vorbey: er ſieht nur die letzte, ſchlechteſte Folge, Menſchen, wie Fligen fallen: er geht hin und hoͤhnt: Shakeſpear iſt ihm Aerger - niß und ſein Drama die dummeſte Thorheit.

Ueberhaupt waͤre der ganze Knaͤuel von Ort - und Zeitquaͤſtionen laͤngſt aus ſeinem Ge - wirre gekommen, wenn ein philoſophiſcher Kopf uͤber das Drama ſich die Muͤhe haͤtte nehmen wollen, auch hier zu fragen: was denn Ort und Zeit ſey? Solls das Bret - terngeruͤſte, und der Zeitraum eines Diver - tiſſements au theatre ſeyn: ſo hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maaß der Zeit und der Scenen, als die Franzoſen. Die Griechen bey ihrer hohen Taͤuſchung, von der wir faſt keinen Begriff haben bey ihren Anſtalten fuͤr das Oeffentliche der Buͤh - ne, bey ihrer rechten Tempelandacht vor der - ſelben, haben an nichts weniger als das je gedacht. Wie muß die Taͤuſchung eines Menſchen ſeyn, der hinter jedem Auftritt nach ſeiner Uhr ſehen will, ob auch So Was in So viel Zeit habe geſchehen koͤnnen? und dem es ſodann Hauptelement der Herzens - freude wuͤrde, daß der Dichter ihn doch ja um keinen Augenblick betrogen, ſondern aufdem105dem Geruͤſte nur eben ſo viel gezeigt hat, als er in der Zeit im Schneckengange ſeines Le - bens ſehen wuͤrde welch ein Geſchoͤpf, dem das Hauptfreude waͤre! und welch ein Dichter, der darauf als Hauptzweck arbei - tete, und ſich denn mit dem Regelnkram bruͤ - ſtete wie artig habe ich nicht ſo viel und ſo viel ſchoͤne Spielewerke! auf den engen ge - gebnen Raum dieſer Brettergrube, theatre François genannt, und in dengegebnen Zeit - raum der Viſite dahin eingeklemmt und ein - gepaßt! die Scenen filirt und enfilirt! alles genau geflickt und geheftet elender Ce - remonienmeiſter! Savogarde des Theaters, nicht Schoͤpfer! Dichter! dramatiſcher Gott! Als ſolchem ſchlaͤgt dir keine Uhr auf Thurm und Tempel, ſondern du haſt Raum und Zeitmaaſſe zu ſchaffen, und wenn du eine Welt hervorbringen kannſt, und die nicht anders, als in Raum und Zeit erſiſtiret, ſiehe, ſo iſt da im Jnnern dein Maaß von Friſt und Raum; dahin du alle Zuſchauer zaubern, daß du Allen auf dringen mußt, oder du biſt was ich geſagt habe, nur nichts weniger, als dramatiſcher Dichter.

Sollte es denn jemand in der Welt brau - chen demonſtrirt zu werden, daß Raum und Zeit eigentlich an ſich nichts, daß ſie die rela - tiveſte Sache auf Daſeyn, Handlung, Lei -G 5den -106denſchaft, Gedankenfolge und Maaß der Aufmerkſamkeit in oder auſſerhalb der Seele ſind? Haſt du denn, gutherziger Uhrſteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben ge - habt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; Gegentheils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden ſind? Haſt du keine Si - tuationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele Einmal ganz auſſer dir wohnte, hier in dieſem romantiſchen Zimmer deiner Ge - liebten, dort auf jener ſtarren Leiche, hier in dieſem Druͤckenden aͤuſſerer, beſchaͤmen - der Noth jetzt wieder uͤber Welt und Zeit hinausflog, Raͤume und Weltgegenden uͤberſpringet, alles um ſich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen deſſen biſt, deſſen Exſiſtenz du nun empfindeſt? Und wenn das in deinem traͤgen, ſchlaͤfrigen Wurm - und Baumleben moͤglich iſt, wo dich ja Wur - zeln gnug am todten Boden deiner Stelle feſthalten, und jeder Kreis, den du ſchleppeſt, dir langſames Moment gnug iſt, deinen Wurmgang auszumeſſen nun denke dich Einen Augenblick in Eine andre, eine Dich - terwelt nur in einen Traum? Haſt du nie gefuͤhlt, wie im Traum dir Ort und Zeit ſchwinden? was das alſo fuͤr unweſentliche Dinge, fuͤr Schatten gegen das was Hand -lung,107lung, Wuͤrkung der Seele iſt, ſeyn muͤſſen? wie es blos an dieſer Seele liege, ſich Raum, Welt und Zeitmaaß zu ſchaffen, wie und wo ſie will? Und haͤtteſt du das nur Ein - mal in deinem Leben gefuͤhlt, waͤreſt nach Einer Viertheilſtunde erwacht, und der dunkle Reſt deiner Traumhandlungen haͤtte dich ſchwoͤren gemacht, du habeſt Naͤchte hinweg geſchlafen, getraͤumt und gehandelt! duͤrfte dir Mahomeds Traum, als Traum, noch Einen Augenblick ungereimt ſeyn! und waͤre es nicht eben jedes Genies, jedes Dich - ters, und des dramatiſchen Dichters inſon - derheit Erſte und Einzige Pflicht, dich in Einen ſolchen Traum zu ſetzen? Und nun denke, welche Welten du verwirreſt, wenn du dem Dichter deine Taſchenuhr, oder dein Viſitenzimmer vorzeigeſt, daß er dahin und darnach dich traͤumen lehre?

Jm Gange ſeiner Begebenheit, im ordine ſucccſſivorum und ſimultaneorum ſeiner Welt, da liegt ſein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreiſſe? wenn er dich nur dahin reißt, da iſt ſeine Welt. Wie ſchnell und langſam er die Zeiten folgen laſſe; er laͤßt ſie folgen; er druͤckt dir dieſe Folge ein: das iſt ſein Zeitmaaß und wie iſt hier wieder Shakeſpear Meiſter! langſam und ſchwer - faͤllig fangen ſeine Begebenheiten an, in ſei -ner108ner Natur wie in der Natur: denn er giebt dieſe nur im verjuͤngten Maaſſe. Wie muͤ - hevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen! je mehr aber, wie laufen die Scenen! wie kuͤrzer die Reden und gefluͤgelter die Seelen, die Leidenſchaft, die Handlung! und wie maͤchtig ſodann|dieſes Laufen, das Hinſtreuen gewiſſer Worte, da niemand mehr Zeit hat. Endlich zuletzt, wenn er den Leſer ganz ge - taͤuſcht und im Abgrunde ſeiner Welt und Leidenſchaft verlohren ſieht, wie wird er kuͤhn, was laͤßt er auf einander folgen! Lear ſtirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es iſt gleichſam Ende ſeiner Welt, juͤngſter Tag da, da Alles auf einander rollet und hinſtuͤrzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fal - len; das Maaß der Zeit iſt hinweg. Freylich wieder nicht fuͤr den luſtigen, mun - tren Kaklogallinier, der mit heiler friſcher Haut in den fuͤnften Akt kaͤme, um an der Uhr zu meſſen, wie viel da in welcher Zeit ſterben? aber Gott, wenn das Kritik, Thea - ter, Jlluſion ſeyn ſoll was waͤre denn Kritik? Jlluſion? Theater? was bedeute - ten alle die leeren Woͤrter.

Nun finge eben das Herz meiner Unter - ſuchung an, wie? auf welche Kunſt und Schoͤ -109 Schoͤpferweiſe Shakeſpear eine elende Romanze, Novelle und Fabelhiſtorie zu ſolch einem lebendigen Ganzen habe dichten koͤnnen? Was fuͤr Geſetze unſrer hiſtori - ſchen, philoſophiſchen, dramatiſchen Kunſt in Jedem ſeiner Schritte und Kunſt - griffe liege? Welche Unterſuchung! wie viel fuͤr unſern Geſchichtbau, Philoſophie der Menſchenſeelen und Drama. Aber ich bin kein Mitglied aller unſrer hiſtoriſchen, philoſophiſchen und ſchoͤnkuͤnſtlichen Akade - mien, in denen man freylich an jedes Andre eher, als an ſo etwas denkt! Selbſt Shake - ſpears Landsleute denken nicht daran. Was haben ihm oft ſeine Kommentatoren fuͤr hi - ſtoriſche Fehler gezeihet! der fette Warbur - ton z. E. welche hiſtoriſche Schoͤnheiten Schuld gegeben! und noch der letzte Verfaſ - ſer des Verſuchs uͤber ihr hat er wohl die Lieblingsidee, die ich bey ihm ſuchte: wie hat Shakeſpear aus Romanzen und No - vellen Drama gedichtet? erreicht? Sie iſt ihm wie dem Ariſtoteles dieſes Brittiſchen Sophokles, dem Lord Home kaum eingefallen.

Alſo nur Einen Wink in die gewoͤhnlichen Klaſſificationen in ſeinen Stuͤcken. Noch neuerlich hat ein Schriftſteller,(*)Briefe uͤber Merkw. der Litter. 3te Samml. der gewißſeinen110ſeinen Shakeſpear ganz gefuͤhlt hat, den Einfall gehabt, jenen ehrlichen Fiſhmonger von Hofmann, mit grauen Bart und Run - zelgeſicht, triefenden Augen und ſeinem plen - tiful lak of wit together with weak Hams, das Kind Polonius zum Ariſtoteles des Dichters zu machen, und die Reihe von Alt und Cals, die er in ſeinem Geſchwaͤtz weg - ſprudelt, zur ernſten Claſſification aller Stuͤcke vorzuſchlagen. Jch zweifle. Shakeſpear hat freylich die Tuͤcke, leere locos commu - nes, Moralen und Claſſificationen, die auf hundert Faͤlle angewandt, auf alle und keinen recht paſſen, am liebſten Kindern und Nar - ren in den Mund zu legen; und eines neuen Stobæi und Florilegii, oder Cornu co - piæ von Shakeſpears Weisheit, wie die Englaͤnder theils ſchon haben und wir Deut - ſche Gottlob! neulich auch haͤtten haben ſol - len deren wuͤrde ſich ſolch ein Polonius, und Launcelot, Arlequin und Narr, bloͤder Richard, oder aufgeblaſner Ritter - koͤnig am meiſten zu erfreuen haben, weil jeder ganze, geſunde Menſch bey ihm nie mehr zu ſprechen hat, als er aus Mund in Hand braucht, aber doch zweifle ich hier noch. Po - lonius ſoll hier wahrſcheinlich nur das alte Kind ſeyn, das Wolken fuͤr Kameele und Kameele fuͤr Baßgeigen anſieht, in ſeinerJu -111Jugend auch einmal den Julius Caͤſar ge - ſpielt hat, und war ein guter Akteur, und ward von Brutus umgebracht, und wohl weiß

why Day iſ Day, Night Night and Time is Time

alſo auch hier einen Kreiſel theatraliſcher Worte drehet wer wollte aber darauf bauen? oder was haͤtte man denn nun mit der Eintheilung? Tragedy, Comedy, Hiſtory, Paſtoral, Tragical-Hiſtorical, und Hiſtorical-Paſtorell, und Paſtorical - Comical und Comical-Hiſtorical-Paſto - ral, und wenn wir die Calls noch hundertmal miſchen, was haͤtten wir endlich? kein Stuͤck waͤre doch griechiſche Tragedy, Comedy und Paſtoral, und ſollte es nicht ſeyn. Je - des Stuͤck iſt Hiſtory im weitſten Verſtande, die ſich nun freylich bald in Tragedy, Co - medy, u. ſ. w. mehr oder weniger nuan - cirt. Die Farben aber ſchweben da ſo ins Unendliche hin, und am Ende bleibt doch jedes Stuͤck und muß bleiben, was es iſt. Hiſtorie! Helden - und Staats - aktion zur Jlluſion mittlerer Zeiten! oder (wenige eigentliche Plays und Diver - tiſſemens ausgenommen) ein voͤlliges Groͤſſe habende Eraͤugniß einer Weltbegeben - heit, eines menſchlichen Schickſals.

Trau -112

Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieſergroſſe Schoͤpfer von Geſchichte und Weltſeele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeit - alter, wie ein Herbſt von Blaͤttern welken und abſinken, wir ſchon jetzt aus dieſen groſ - ſen Truͤmmern der Ritternatur ſo weit heraus ſind, daß ſelbſt Garrik, der Wiedererwek - ker und Schutzengel auf ſeinem Grabe, ſo viel aͤndern, auslaſſen, verſtuͤmmeln muß, und bald vielleicht, da ſich alles ſo ſehr ver - wiſcht und anders wohin neiget, auch ſein Drama der lebendigen Vorſtellung ganz un - faͤhig werden, und eine Truͤmmer von Ko - loſſus, von Pyramide ſeyn wird, die Jeder anſtaunet und keiner begreift. Gluͤcklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bey dieſem Leſen erken - neſt und fuͤhlſt, und den ich vor ſeinem heili - gen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo du noch den ſuͤſſen und deiner wuͤrdigen Traum haben kannſt, ſein Denkmal aus unſern Ritterzeiten in unſrer Sprache, unſerm ſo weit abgearteten Vaterlande her - zuſtellen. Jch beneide dir den Traum, und dein edles deutſches Wuͤrken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und ſollteſt du alsdenn auch ſpaͤter ſehen, wie unter deinemGe -113Gebaͤude der Boden wankt, und der Poͤbel umher ſtill ſteht und gafft, oder hoͤhnt, und die daurende Pyramide nicht alten aegypti - ſchen Geiſt wieder aufzuwecken vermag. Dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab ſuchen, und mit an - daͤchtiger Hand dir ſchreiben, was das Leben faſt aller Wuͤrdigen der Welt geweſen: voluit! quieſcit!

Nachſchrift.

Ja Nachſchrift! wo keine Schrift, wo lau - ter Unrede rings um das leider! halb erloſchne und entſtellte Schauſtuͤck der menſch - lichen Natur Oſſian, iſt, oder es hoͤchſtens ewige Vorrede wird, zu dem was kommen will und kommen ſoll und nie kommt. Laſſen Sie uns alſo, m. Fr., da die Sache einmal ſo liegt, dem kluͤgern? oder bloͤdern? Theil des Publikum wenigſtens ein favete linguis ins Ohr liſpeln, wie nichtig es mit Einklei - dung des Briefwechſels, der verſprochnen Pſychologie Oſſians, (wenn der Druckfehler anzumerken werth iſt) die Fabelreiſe zu ſeinen Jnſeln voͤllig zu geſchweigen, ſtehen muͤſſe! wie untreu eine Skandinaviſche UeberſetzungHſey,114ſey, wo der Autor nur aus Ueberſetzung und hoͤchſtens Wortanſicht translatirte, zumal endlich wie ſolch Geſchwaͤtz, auſſer dem viel - leicht, was es hie und da ſage, ſo wenig Mu - ſter ſeyn koͤnne und wolle, wie etwas der Art in der Welt zu ſagen ſey? Ueberhaupt ſchien damals die lyriſche Natur, zu der auch Oſſian gebrochne Endtoͤne liefert, dem Briefwechs - ler, noch ſo fernher zu toͤnen, daß er na - tuͤrlich in die Mine des Lauſchers fallen muſte, der zu hoͤren glaubt, wo andre vielleicht nichts hoͤren, oder das ſauſende Kind der Luͤfte.

Gluͤcklich, daß er alle ſeinen kritiſchen Wahn - und Ahndungsglauben jetzt durch Ei - ne Erſcheinung(*)Oden, bey Bode 1771. Die vorigen Flicke vom Aufſatz waren Jahre vorher dem Verf. entkommen. uͤbertroffen ſieht, der er mit Pindariſchem Schwunge ſeinen Kranz zuwerfen wollte, wenn der Kranz nicht dahin verdorrte. Kein kritiſcher Schoͤpfeimer, und alle Faͤſſer der Danaiden geben Waſſer, wo kein Quell iſt und es iſt und wird ewig allein jener wunderthaͤtige Huf des Fluͤgel - roſſes von Genie bleiben, der anſchlaͤgt und der ſiebenfache Quell ſtroͤmet.

Siebenfacher Quell! Wenn deutſches Ohr noch mehr als Wortklanges und Sylbenbaues faͤhig iſt! wenns kein Maͤhrchen vom erſten April ſeyn und bleiben darf, daß die Goͤttin Harmonie

des115 des griechiſchen Himmels Kind ()

noch Einmal mit der Aſtraͤa oder Uraniſchen Venus unſer tiefes Cimmerien beſuchen wuͤr - de. Am meiſten aber, wenn die volle, geſunde, bluͤhende Weltjugend wieder hergeſtellt wer - den kann und ſoll, daß in Ode und Tiſchgebet, Kirchen - und Liebsgeſange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil ſtatt unſer, ſprechen duͤrfe eine Goͤtterer - ſcheinung auf dem Blumenguͤrtel der Grazien und Genien des menſchlichen Geſchlechts darf ſo wenig Aus - und Zurufs, als ſie den Augen ſolcher Hinzugerufnen auch nur ſichtbar ſeyn kann

vulgus & arceo! ()

Allerdings wars nur immer, lyriſchen Stabs Ende! wie unſre Lehrbuͤcher ſich zeither mit Ode, Hymne, Pſalm, Elegie, und womit nicht? getragen! Gemaͤlde zu liefern, ohne Subjekt, blos des kuͤnſtlich angelegten und ſo wohl unterhaltnen Geſichtspunkts, Kompoſitionsgeiſtes, Kolorits und alles an - dern feinern Details wegen! Dies allein aus der Autoritaͤt Eines fremden Vorbildes zu lernen, bey dem doch hundert conventionelle Befremdniſſe eben der Schleyer ſind, in dem wirs zuerſt und zuletzt ſehen, es mit deutſchem Kopf, Fleiß, Gluͤck und Ehrlichkeit zu ſtudiren, und ſich ihm aufzuopfern; endlich gar den Wohl - klang nur in Sylbenbau, Strophenbau, undH 2Regi -116Regionen der Perioden Deklamation zu ſetzen, und Alles durch die Kunſt zu heben,

die wie die Floͤte toͤnet, oder uͤber die Floͤte ſich hebt. ()

Aus Alle dieſem muß nur immer ein Rem - brand werden, und obgleich Rembrand ein groſſer Meiſter

Heil uns, m. Fr. zu unſerm wie ſoll ich ſagen? Guido, Corregio oder Raphael! Aber Engelgeſichte hat er gemalt in Menſchen - geſtalt! Siehe dies Bild! welche Wahrheit! Leben! tiefe Seele! wie heben ſich die Figuren von der Leinwand hervor, und ſprechen (nicht mit uns! uns ſehen ſie nicht an! denn ſie ſind nicht fuͤr uns gemahlt!) aber unter ſich, wie han - deln, wie ſprechen ſie, und umhuͤllen uns Geſicht und Seele. Wehe, der hier ausruft: das war noch Einmal geſungen! ſondern der es ſtill fuͤhlt, das muß ſo empfunden geweſen ſeyn, oder

Ode! ſie wird wieder, was ſie war! Ge - fuͤhl ganzer Situation des Lebens! Geſpraͤch menſchlichen Herzens mit Gott! mit ſich! mit der ganzen Natur.

Wohlklang! er wird was er war. Kein aufgezaͤhltes Harmonienkunſtſtuͤck! Bewe - gung! Melodie des Herzens! Tanz! Jn Feh - lern und Eigenheiten, wie iſt ein Genie noch uͤberall lehrend!

Daß117

Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi - tion uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh - lingsfeyer und dergl. hoͤrten! oder viel - mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ - ge wiedergegeben haͤtten, was ſie ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen.

Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung? Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder Schweſtern herrſche oder diene ihr Pieri - den und Kaſtalinnen, wo?

Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte, das beruͤhmteſte von Allen, Ramlers Tod Jeſu, als Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes, (ſ. v. v.) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener Simon von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren wer ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, locus com - munis in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! undH 3von118von einer zur andern mit den ſonderbarſten Spruͤn - gen! Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fort - gehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks R. Tod Jeſu iſt ein erbauliches, nuͤtz - liches Werk, das ich in ſolchem Betracht tauſend - mal beneidet habe! Jede Arie iſt faſt ein ſchoͤnes Ganze! Viele Recitative auch aber als poeti - ſches Werk des Genies fuͤr die Muſik! Hr. R. hat ſelbſt ein viel zu feines Gefuͤhl, als daß er das nicht weit inniger bemerke.

Seine Hirten bey der Krippe! Welche Poeſie fuͤr die Muſik? welch ein Plan? welch ein Ganzes? Das Vordere zu hinterſt, und es iſt faſt noch im̃er derſelbe Eindruck! Johlleneindruck, wo lauter Schaͤferbilder und Worte und von Anfang bis zu Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenſeele iſt! bloß eine Maſke Jeſaias, Virgils und Pope in Schaͤfer - kleidern! Und endlich Poeſie zur Muſik wo im ganzen Stuͤck nur Bilder, und keine Empfindung! Bilder fuͤr die Leinwand, (da die Lanze z. E. Zeilen hindurch in die Erde wurzelt, empor ſtrebt, ſteht, gruͤnt, wird ein Palmbaum u. ſ. w.) durchaus nicht fuͤr den Tonſchoͤpfer! So weiterhin und was waͤre von ſeiner Auferſtehung zu ſagen?

Und nun, wie bearbeiten unſre Tonkuͤnſtler das Alles nach dem einmal hergebrachten Leiſten? Da doch eben der Urſprung dieſes Leiſtens, die Um - ſtaͤnde, unter welchen er entſtanden u. ſ. w. wo nicht Jedermann, ſo doch gewiß uns Deutſchen zurufen muͤſte: nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hin - ten! und es wird ewig Schande ſeyn, einen Muͤn - ter an Metaſtaſio zu meſſen! Was das aber nun fuͤr eine Gattung Poeſie ſey, die wahre Mit - telgattung zwiſchen Gemaͤlde und Muſik! und was das fuͤr eine Gattung Muſik ſey, die uͤber Poeſie nicht herrſchet

III. [119]

III. Von Deutſcher Baukunſt.

D. M. Ervini a Steinbach.

1773.

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Von Deutſcher Baukunſt.

D. M. Ervini a Steinbach.

1773.

Als ich auf deinem Grabe herumwandelte, edler Erwin, und den Stein ſuchte, der mir deuten ſollte: Anno domini 1318. XVI. Kal. Febr. obiit Magiſter Ervinus, Guberna - tor Fabricæ Eccleſiæ Argentinenſis, und ich ihn nicht finden, keiner deiner Landsleute, mir ihn zeigen konnte, daß ſich meine Verehrung deiner, an der heiligen Staͤtte ergoſſen haͤtte; da ward ich tief in die Seele betruͤbt, und mein Herz, juͤnger, waͤrmer, thoͤriger und beſſer als jetzt, gelobte dir ein Denkmal, wenn ich zum ruhigen Genuß meiner Beſitzthuͤmer gelangen wuͤrde, von Marmor oder Sand - ſteinen, wie ichs vermoͤgte.

H 5Was122

Was brauchts dir Denkmal! Du haſt dir das herrlichſte errichtet; und kuͤmmert die Ameiſen, die drum krabein, dein Name nichts, haſt du gleiches Schickſal mit dem Baumei - ſter, der Berge aufthuͤrmte in die Wolken.

Wenigen ward es gegeben, einen Babelge - danken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, und bis in den kleinſten Theil nothwendig ſchoͤn, wie Baͤume Gottes; wenigern, auf tauſend bietende Haͤnde zu treffen, Felſen - grund zu graben, ſteile Hoͤhen drauf zu zau - bern, und dann ſterbend ihren Soͤhnen zu ſa - gen: ich bleibe bey euch, in den Wolken mei - nes Geiſtes, vollendet das begonnene in die Wolken.

Was brauchts dir Denkmal! und von mir! Wenn der Poͤbel heilige Namen ausſpricht, iſts Aberglaube oder Laͤſterung. Dem ſchwa - chen Geſchmaͤckler wirds ewig ſchwindlen an deinem Coloß, und ganze Seelen werden dich erkennen ohne Deuter.

Alſo nur, trefflicher Mann, eh ich mein geflicktes Schiffchen wieder auf den Ocean wage, wahrſcheinlicher dem Tod als dem Ge - winnſt entgegen, ſiehe hier in dieſem Hain, wo ringsum die Namen meiner Geliebten gruͤnen, ſchneid ich den deinigen, in eine dei - nem Thurm gleich ſchlankaufſteigende Buche, haͤnge an ſeinen vier Zipfeln dies Schnupftuchmit123mit Gaben dabey auf Nicht ungleich jenem Tuche, das dem heil. Apoſtel aus den Wolken herab gelaſſen ward, voll reiner und unreiner Thiere; ſo auch voll Blumen, Bluͤthen, Blaͤt - ter, auch wohl duͤrres Gras und Moos und uͤber Nacht geſchoßne Schwaͤmme, das alles ich auf dem Spaziergang durch unbedeutende Gegenden, kalt zu meinem Zeitvertreib bota - niſirend eingeſammelt, dir nun zu Ehren der Verweſung weihe.

Es iſt im kleinen Geſchmack, ſagt der Jta - liaͤner, und geht vorbey. Kindereyen lallt der Franzoſe nach, und ſchnellt triumphirend auf ſeine Doſe a la Greque. Was habt ihr gethan, daß ihr verachten duͤrft?

Hat nicht der, ſeinem Grab entſteigende Genius der Alten, den deinen gefeſſelt, Wel - ſcher! Krochſt an den maͤchtigen Reſten Ver - haͤltniſſe zu betteln, flickteſt aus den heiligen Truͤmmern dir Luſthaͤuſer zuſammen, und haͤltſt dich fuͤr Verwahrer der Kunſtgeheim - niſſe, weil du auf Zoll und Linien von Rie - ſengebaͤuden Rechenſchaft geben kannſt. Haͤt - teſt du mehr gefuͤhlt als gemeſſen, waͤre der Geiſt der Maſſen uͤber dich gekommen, die du anſtaunteſt, du haͤtteſt nicht ſo nur nach - geahmt, weil ſie’s thaten und es ſchoͤn iſt; nothwendig und wahr haͤtteſt du deine Planegeſchaf -124geſchaffen, und lebendige Schoͤnheit waͤre bildend aus ihnen gequollen.

So haſt du deinen Beduͤrfniſſen einen Schein von Wahrheit und Schoͤnheit auf - getuͤncht. Die herrliche Wirkung der Saͤu - len traf dich, du wollteſt auch ihrer brauchen und mauerteſt ſie ein, wollteſt auch Saͤulen - reihen haben, und umzirkelteſt den Vorhof der Peterskirche mit Marmorgaͤngen, die nirgends hin noch her fuͤhren, daß Mutter Natur, die das ungehoͤrige und unnoͤthige verachtet und haßt, deinen Poͤbel trieb, ihre Herrlichkeit zu oͤffentlichen Kloacken zu proſti - tuiren, daß ihr die Augen wegwendet und die Naſen zuhaltet vorm Wunder der Welt.

Das geht nun ſo alles ſeinen Gang, die Grille des Kuͤnſtlers dient dem Eigenſinne des Reichen, der Reiſebeſchreiber gafft, und unſre ſchoͤne Geiſter, genannt Philoſophen, erdrechſeln aus protoplaſtiſchen Maͤhrchen, Principien und Geſchichte der Kuͤnſte bis auf den heutigen Tag, und aͤchte Menſchen er - mordet der boͤſe Genius im Vorhof der Ge - heimniſſe.

Schaͤdlicher als Beyſpiele ſind dem Genius Principien. Vor ihm moͤgen einzelne Men - ſchen, einzelne Theile bearbeitet haben. Er iſt der erſte aus deſſen Seele die Theile, in Ein ewiges Ganze zuſammen gewachſen, her -vor -125vortreten. Aber Schule und Principium feſſelt alle Kraft der Erkenntniß und Thaͤtig - keit. Was ſoll uns das, du neufranzoͤſcher philoſophirender Kenner, daß der erſte zum Beduͤrfniß erfindſame Menſch, vier Staͤmme einrammelte, vier Stangen druͤber verband, und Aeſte und Moos drauf deckte? Daraus entſcheideſt du das gehoͤrige unſrer heutigen Beduͤrfniſſe, eben als wenn du dein neues Babylon, mit einfaͤltigem Patriarchaliſchem Hausvaterſinn regieren wollteſt.

Und es iſt noch dazu falſch, daß deine Huͤtte die erſtgebohrne der Welt iſt. Zwey an ihrem Gipfel ſich kreuzende Stangen vornen, zwey hinten und eine Stange queer uͤber zum Forſt, iſt und bleibt, wie du alltaͤglich, an Huͤtern der Felder und Weinberge erkennen kannſt, eine weit primaͤvere Erfindung, von der du doch nicht einmal Principium fuͤr deine Schweinſtaͤlle abſtrahiren koͤnnteſt.

So vermag keiner deiner Schluͤſſe ſich zur Region der Wahrheit zu erheben, ſie ſchwe - ben alle in der Atmoſphaͤre deines Syſtems. Du willſt uns lehren, was wir brauchen ſol - len, weil das, was wir brauchen, ſich nach deinen Grundſaͤtzen nicht rechtfertigen laͤßt.

Die Saͤule liegt dir ſehr am Herzen, und in andrer Weltgegend waͤrſt du Prophet. Du ſagſt: Die Saͤule iſt der erſte, weſent -liche126liche Beſtandtheil des Gebaͤudes, und der ſchoͤnſte. Welche erhabene Eleganz der Form, welche reine mannigfaltige Groͤſſe, wenn ſie in Reihen da ſtehn! Nur huͤtet euch ſie un - gehoͤrig zu brauchen; ihre Natur iſt, freyzu - ſtehn. Wehe den Elenden, die ihren ſchlan - ken Wuchs, an plumpe Mauern geſchmiedet haben!

Und doch duͤnkt mich, lieber Abt, haͤtte die oͤftere Wiederholung dieſer Unſchicklichkeit des Saͤuleneinmauerns, daß die Neuern ſogar antiker Tempel Jnterkolumnia mit Mauer - werk ausſtopften, dir einiges Nachdenken er - regen koͤnnen. Waͤre dein Ohr nicht fuͤr Wahrheit taub, dieſe Steine wuͤrden ſie dir gepredigt haben.

Saͤule iſt mit nichten ein Beſtandtheil un - ſrer Wohnungen; ſie widerſpricht vielmehr dem Weſen all unſrer Gebaͤude. Unſre Haͤu - ſer entſtehen nicht aus vier Saͤulen in vier Ecken; ſie entſiehen aus vier Mauern auf vier Seiten, die ſtatt aller Saͤulen ſind, alle Saͤulen ausſchlieſſen, und wo ihr ſie anflickt, ſind ſie belaſtender Ueberfluß. Eben das gilt von unſern Pallaͤſten und Kirchen. We - nige Faͤlle ausgenommen, auf die ich nicht zu achten brauche.

Eure Gebaͤude ſtellen euch alſo Flaͤchen dar, die, je weiter ſie ſich ausbreiten, je kuͤhner ſiegen127gen Himmel ſteigen, mit deſto unertraͤgliche - rer Einfoͤrmigkeit die Seele unterdruͤcken muͤſ - ſen! Wohl! wenn uns der Genius nicht zu Huͤlfe kaͤme, der Erwinen von Steinbach eingab: vermannigfaltige die ungeheure Mau - er, die du gen Himmel fuͤhren ſollſt, daß ſie aufſteige gleich einem hocherhabnen, weit ver - breiteten Baume Gottes, der mit tauſend Aeſten, Millionen Zweigen, und Blaͤttern wie der Sand am Meer, rings um, der Gegend verkuͤndet, die Herrlichkeit des Herrn, ſeines Meiſters.

Als ich das erſtemal nach dem Muͤnſter gieng, hatte ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntniß guten Geſchmacks. Auf Hoͤren - ſagen ehrt ich die Harmonie der Maſſen, die Reinheit der Formen, war ein abgeſagter Feind der verworrnen Willkuͤhrlichkeiten go - thiſcher Verzierungen. Unter die Rubrik Gothiſch, gleich dem Artikel eines Woͤrter - buchs, haͤufte ich alle ſynonimiſche Mißver - ſtaͤndniſſe, die mir von unbeſtimmtem, un - geordnetem, unnatuͤrlichem, zuſammengeſtop - peltem, aufgeflicktem, uͤberladenem, jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht ge - ſcheider als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbariſch nennt, hieß alles gothiſch, was nicht in mein Syſtem paßte, von demgedrech -128gedrechſelten, bunten, Puppen - und Bilder - werk an, womit unſre buͤrgerliche Edelleute ihre Haͤuſer ſchmuͤcken, bis zu den ernſten Reſten der aͤlteren deutſchen Baukunſt, uͤber die ich, auf Anlaß einiger abentheuerlichen Schnoͤrkel, in den allgemeinen Geſang ſtimm - te: Ganz von Zierrath erdruͤckt! und ſo graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborſtigen Ungeheuers.

Mit welcher unerwarteten Empfindung uͤberraſchte mich der Anblick, als ich davor trat. Ein, ganzer, groſſer Eindruck fuͤllte meine Seele, den, weil er aus tauſend harmo - nirenden Einzelnheiten beſtand, ich wohl ſchmecken und genieſſen, keineswegs aber er - kennen und erklaͤren konnte. Sie ſagen, daß es alſo mit den Freuden des Himmels ſey, und wie oft bin ich zuruͤckgekehrt, dieſe himm - liſch-irrdiſche Freude zu genieſſen, den Rie - ſengeiſt unſrer aͤltern Bruͤder, in ihren Wer - ken zu umfaſſen. Wie oft bin ich zuruͤckge - kehrt, von allen Seiten, aus allen Entfer - nungen in jedem Lichte des Tags, zu ſchauen ſeine Wuͤrde und Herrlichkeit. Schwer iſt’s dem Menſchengeiſt, wenn ſeines Bruders Werk ſo hoch erhaben iſt, daß er nur beugen, und anbeten muß. Wie oft hat die Abend - daͤmmerung mein durch forſchendes Schauen ermattetes Aug, mit freundlicher Ruhe ge -letzt,129letzt, wenn durch ſie die unzaͤhligen Theile, zu ganzen Maſſen ſchmolzen, und nun dieſe, einfach und groß, vor meiner Seele ſtanden, und meine Kraft ſich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genieſſen und zu erkennen. Da offenbarte ſich mir, in leiſen Ahndungen, der Genius des groſſen Werkmeiſters. Was ſtaunſt du, liſpelt er mir entgegen. Alle dieſe Maſſen waren nothwendig, und ſiehſt du ſie nicht an allen aͤlteren Kirchen meiner Stadt. Nur ihre willkuͤhrlichen Groͤſſen hab ich zum ſtimmenden Verhaͤltniß erhoben. Wie uͤber dem Haupteingang, der zwey kleinere zu’n Seiten beherrſcht, ſich der weite Kreis des Fenſters oͤffnet, der dem Schiffe der Kirche antwortet, und ſonſt nur Tageloch war, wie, hoch druͤber der Glockenplatz die kleineren Fenſter forderte! das all war nothwendig, und ich bildete es ſchoͤn. Aber ach, wenn ich durch die duͤſtern erhabnen Oeffnungen hier zur Seite ſchwebe, die leer und vergebens dazu ſtehn ſchei - nen. Jn ihre kuͤhne ſchlanke Geſtalt hab ich die geheimnißvollen Kraͤfte verborgen, die jene beyden Thuͤrme hoch in die Luft heben ſollten, deren, ach, nur einer traurig da ſteht, ohne den fuͤnfgethuͤrmten Hauptſchmuck, den ich ihm beſtimmte, daß ihm und ſeinem koͤniglichen Bruder die Provinzen umher huldigten. Und ſo ſchied er von mir, und ich verſank in theil -Jneh -130nehmende Traurigkeit. Bis die Voͤgel des Morgens, die in ſeinen tauſend Oeffnungen wohnen, der Sonne entgegen jauchzten, und mich aus dem Schlummer weckten. Wie friſch leuchtet er im Morgenduftglanz mir entgegen, wie froh konnt ich ihm meine Arme entgegen ſtrecken, ſchauen die groſſen harmo - niſchen Maſſen, zu unzaͤhlig kleinen Theilen belebt; wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringſte Zaͤſerchen, alles Geſtalt, und alles zweckend zum Ganzen; wie das feſtgegruͤndete ungeheure Gebaͤude ſich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch fuͤr die Ewigkeit. Deinem Unterricht dank ich’s, Genius, daß mirs nicht mehr ſchwindelt an deinen Tiefen, daß in meine Seele ein Tropfen ſich ſenkt, der Wonneruh des Geiſtes, der auf ſolch eine Schoͤpfung herab - ſchauen, und gottgleich ſprechen kann, es iſt gut!

Und nun ſoll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutſche Kunſtgelehrte, auf Hoͤrenſagen neidiſcher Nachbarn, ſeinen Vorzug verkennt, dein Werk mit dem unver - ſtandnen Worte gothiſch verkleinert. Da er Gott danken ſollte, laut verkuͤndigen zu koͤnnen, das iſt deutſche Baukunſt, unſre Baukunſt, da der Jtaliaͤner ſich keiner eignenruͤhmen131ruͤhmen darf, vielweniger der Franzos. Und wenn du dir ſelbſt dieſen Vorzug nicht zuge - ſtehen willſt, ſo erweis uns, daß die Gothen ſchon wirklich ſo gebaut haben, wo ſich einige Schwuͤrigkeiten finden werden. Und, ganz am Ende, wenn du nicht darthuſt, ein Ho - mer ſey ſchon vor dem Homer geweſen, ſo laſſen wir dir gerne die Geſchichte kleiner ge - lungner und mißlungner Verſuche, und tre - ten anbetend vor das Werk des Meiſters, der zuerſt die zerſtreuten Elemente, in Ein leben - diges Ganze zuſammen ſchuf. Und du, mein lieber Bruder im Geiſte des Forſchens nach Wahrheit und Schoͤnheit, verſchließ dein Ohr vor allem Wortgeprahle uͤber bildende Kunſt, komm, genieſſe und ſchaue. Huͤte dich, den Namen deines edelſten Kuͤnſtlers zu entheiligen, und eile herbey, daß du ſchaueſt ſein trefliches Werk. Macht es dir einen widrigen Eindruck, oder keinen, ſo gehab dich wohl, laß einſpannen, und ſo weiter nach Paris.

Aber zu dir, theurer Juͤngling, geſell ich mich, der du bewegt da ſtehſt, und die Wi - derſpruͤche nicht vereinigen kannſt, die ſich in deiner Seele kreuzen, bald die unwiderſteh - liche Macht des groſſen Ganzen fuͤhlſt, bald mich einen Traͤumer ſchiltſt, daß ich da Schoͤn - heit ſehe, wo du nur Staͤrke und Rauheit ſiehſt. Laß einen Mißverſtand uns nicht tren -J 2nen,132nen, laß die weiche Lehre neuerer Schoͤnhei - teley, dich fuͤr das bedeutende Rauhe nicht verzaͤrteln, daß nicht zuletzt deine kraͤnkelnde Empfindung nur eine unbedeutende Glaͤtte ertragen koͤnne. Sie wollen euch glauben machen, die ſchoͤnen Kuͤnſte ſeyen entſtanden aus dem Hang, den wir haben ſollen, die Dinge rings um uns zu verſchoͤnern. Das iſt nicht wahr! Denn in dem Sinne, darin es wahr ſeyn koͤnnte, braucht wohl der Buͤr - ger und Handwerker die Worte, kein Phi - loſoph.

Die Kunſt iſt lange bildend, eh ſie ſchoͤn iſt, und doch, ſo wahre, groſſe Kunſt, ja, oft wahrer und groͤſſer, als die Schoͤne ſelbſt. Denn in dem Menſchen iſt eine bildende Na - tur, die gleich ſich thaͤtig beweiſt, wann ſeine Exiſtenz geſichert iſt. Sobald er nichts zu ſorgen und zu fuͤrchten hat, greift der Halb - gott, wirkſam in ſeiner Ruhe, umher nach Stoff, ihm ſeinen Geiſt einzuhauchen. Und ſo modelt der Wilde mit abentheuerlichen Zuͤ - gen, graͤßlichen Geſtalten, hohen Farben, ſeine Cocos, ſeine Federn, und ſeinen Koͤr - per. Und laßt dieſe Bildnerey aus den will - kuͤhrlichſten Formen beſtehn, ſie wird ohne Geſtaltsverhaͤltniß zuſammen ſtimmen, denn Eine Empfindung ſchuf ſie zum karackteriſti - ſchen Ganzen.

Dieſe133

Dieſe karackteriſtiſche Kunſt, iſt nun die einzige wahre. Wenn ſie aus inniger, eini - ger, eigner, ſelbſtſtaͤndiger Empfindung um ſich wirkt, unbekuͤmmert, ja unwiſſend alles Fremden, da mag ſie aus rauher Wildheit, oder aus gebildeter Empfindſamkeit geboh - ren werden, ſie iſt ganz und lebendig. Da ſeht ihr bey Nationen und einzelnen Men - ſchen dann unzaͤhlige Grade. Jemehr ſich die Seele erhebt zu dem Gefuͤhl der Verhaͤlt - niſſe, die allein ſchoͤn und von Ewigkeit ſind, deren Hauptakkorde man beweiſen, deren Geheimniſſe man nur fuͤhlen kann, in denen ſich allein das Leben des gottgleichen Genius in ſeeligen Melodien herumwaͤlzt; jemehr dieſe Schoͤnheit in das Weſen eines Geiſtes eindringt, daß ſie mit ihm entſtanden zu ſeyn ſcheint, daß ihm nichts genugthut als ſie, daß er nichts aus ſich wirkt als ſie, deſto gluͤck - licher iſt er, deſto tiefgebeugter ſtehen wir da und beten an den Geſalbten Gottes.

Und von der Stufe, auf welche Erwin geſtiegen iſt, wird ihn keiner herabſtoſſen. Hier ſteht ſein Werk, tretet hin, und erkennt das tiefſte Gefuͤhl von Wahrheit und Schoͤn - heit der Verhaͤltniſſe, wuͤrkend aus ſtarker, rauher, deutſcher Seele, auf dem eingeſchraͤnk - ten duͤſtern Pfaffenſchauplatz des medii aevi.

J 3Und134

Und unſer aevum? hat auf ſeinen Ge - nius verziehen, hat ſeine Soͤhne umher ge - ſchickt, fremde Gewaͤchſe zu ihrem Verder - ben einzuſammeln. Der leichte Franzoſe, der noch weit aͤrger ſtoppelt, hat wenigſtens eine Art von Witz, ſeine Beute zu Einem Ganzen zu fuͤgen, er baut jetzt aus griechiſchen Saͤulen und deutſchen Gewoͤlbern ſeiner Magdalene einen Wundertempel. Von ei - nem unſrer Kuͤnſtler, als er erſucht ward, zu einer alt deutſchen Kirche ein Portal zu erfinden, hab ich geſehen ein Model fertigen, ſtattlichen antiken Saͤulenwerks.

Wie ſehr unſre geſchminkte Puppenmah - ler mix verhaßt ſind, mag ich nicht deklami - ren. Sie haben durch theatraliſche Stel - lungen, erlogne Teints, und bunte Kleider die Augen der Weiber gefangen. Maͤnnli - cher Albrecht Duͤrer, den die Neulinge an - ſpoͤtteln, deine holzgeſchnitzteſte Geſtalt iſt mir willkommner.

Und ihr ſelbſt, trefliche Menſchen, denen die hoͤchſte Schoͤnheit zu genieſſen gegeben ward, und nunmehr herabtretet, zu verkuͤn - den eure Seeligkeit, ihr ſchadet dem Genius. Er will auf keinen fremden Fluͤgeln, undwaͤren’s135waͤren’s die Fluͤgel der Morgenroͤthe, empor gehoben und fortgeruͤckt werden. Seine eigne Kraͤfte ſind’s, die ſich im Kindertraum entfalten, im Juͤnglingsleben bearbeiten, bis er ſtark und behend, wie der Loͤwe des Ge - buͤrges auseilt auf Raub. Drum erzieht ſie meiſt die Natur, weil ihr Paͤdagogen ihm nimmer den mannigfaltigen Schauplatz er - kuͤnſteln koͤnnt, ſtets im gegenwaͤrtigen Maaß ſeiner Kraͤfte zu handeln und zu ge - nieſſen.

Heil dir, Knabe! der du mit einem ſchar - fen Aug fuͤr Verhaͤltniſſe gebohren wirſt, dich mit Leichtigkeit an allen Geſtalten zu uͤben. Wenn denn nach und nach die Freude des Lebens um dich erwacht, und du jauch - zenden Menſchengenuß nach Arbeit, Furcht und Hofnung fuͤhlſt; das muthige Geſchrey des Winzers, wenn die Fuͤlle des Herbſts ſeine Gefaͤſſe anſchwellt, den belebten Tanz des Schnitters, wenn er die muͤßige Sichel hoch in den Balken geheftet hat; wenn dann maͤnnlicher, die gewaltige Nerve der Be - gierden und Leiden in deinem Pinſel lebt, du geſtrebt und gelitten genug haſt, und genug genoſſen, und ſatt biſt irrdiſcher Schoͤn - heit, und werth biſt auszuruhen in dem Arme der Goͤttinn, werth an ihrem Buſen zu fuͤh -J 4len,136len, was den vergoͤtterten Herkules neu ge - bahr; nimm ihn auf, himmliſche Schoͤnheit, du Mittlerinn zwiſchen Goͤttern und Men - ſchen, und mehr als Prometheus leit er die Seeligkeit der Goͤtter auf die Erde. (*)Der folgende Aufſatz, der beynahe das Gegen - gentheil und auf die entgegen geſetzteſte Weiſe behauptet, iſt beygeruͤckt worden, um vielleicht zu einem dritten mittlern Anlaß zu geben: wo durch Data unterſucht werde, wo? wann? und wie eigentlich gothiſche Baukunſt entſtanden? was in ihr nordiſches Beduͤrfniß und Ausnahme von der Regel groͤſſerer Schoͤnheit, oder etwa ſelbſt groͤſ - ſerer Plan einer neuen Art von Schoͤnheit ſey, u. ſ. w.

IV. Ver -[137]

IV. Verſuch uͤber die Gothiſche Baukunſt. Livorno, 1766.

Aus dem Jtalieniſchen des Friſi.

J 5[138]139

IV. Verſuch uͤber die Gothiſche Baukunſt.

Aus dem Jtalieniſchen.

Gerade und kreislaufende Linien ſind die einzigen, deren Vitruv in ſeinem Werke uͤber die Baukunſt erwaͤhnt, und die man von den roͤmiſchen und griechiſchen Architekten in ihren Tempeln und Pallaͤſten angebracht ſieht. Man verband in jenen Zeiten die Pracht mit der Einfalt, und man glaubte, daß die Baukunſt die Einfalt der Geometrie, die die zuſammengeſetzten Linien verlaͤßt, wenn ſich die Aufgaben mit geraden und kraislau - fenden aufloͤſen laſſen, beybehalten muͤſſe. Man brauchte in Boͤgen, Gewoͤlben, Gie - beln u. d. niemals jene krummen Linien, welche ſeit den Zeiten des Boromini ſo haͤufig bey Gebaͤuden angebracht worden ſind, und ſelbſt die Schnecken an den Knaͤufen machte man nur aus Halbkraiſen von verſchiedenen Verhaͤltniſſen. Palladio und Jones ſindden140den Alten in dieſer Einfalt, ſo wie in der Majeſtaͤt, Feſtigkeit und Sparſamkeit in der Verzierung ihrer Werke am getreueſten ge - blieben.

Die Alten pflegten in ihren Gallerien, Baſiliken, Vortempeln u. d. die Gewoͤlbe nie gerade auf die Knaͤufe der freyſtehenden Saͤulen aufzufuͤhren, ſondern ſie zogen, wie ſchon Vaſari(*)Le Vite di Pittori. Tom. I. p. 20. im 3. Kap. ſeiner Baukunſt bemerkt, allezeit Architrabe darunter. Aber die Gothen in Jtalien und die Mauren in Spanien thaten es, ja ſie entfernten ſich uͤber - haupt von den Alten in den Regeln, Formen und Verhaͤltniſſen der Saͤulen und Knaͤufe. Das erſte Beyſpiel von dergleichen auf frey - ſtehenden Saͤulen aufgefuͤhrten Gewoͤlben findet man in der Kirche des heil. Vitalis, die in Ravenna gegen 541 unter der Regie - rung der Amalaſunta angefangen worden iſt: doch ſind die Boͤgen noch alle kraisrund, und jeder iſt nur aus einem Mittelpunkte be - ſchrieben. So ſind alle Boͤgen in den Ge - baͤuden der Mauren, wovon uns Kolmenar die Zeichnungen geliefert hat, als in dem alten Pallaſte der Mauren, in Granada, in dem Dome zu Toledo, in dem Pallaſte und Dome zu Seviglia, u. ſ. w. Die deutſchen Bau - kuͤnſtler fingen gegen das dreyzehnte Jahr -hundert141hundert an, ſich aller der Freyheiten der Go - then und Saracenen zu bedienen. Sie ver - banden mit den kleinen wunderlichen Verzie - rungen, den hohen Gewoͤlben, den widerſin - nigen Saͤulenkoͤpfen, die ſpitzigen Boͤgen, ohne dabey jedoch von der Kruͤmmung der Kraislinie gaͤnzlich abzugehn, denn ſie ver - zeichneten dieſe Boͤgen nach den Durchſchnitts - punkten zwoer Kraislinien, die die Mitte der Saͤulenſpitze insgemein zum Mittelpunkte und die Saͤulenweite zum Halbmeſſer hatten. Und auf dieſe Weiſe fuͤhrten ſie die Bauart ein, welche man die gothiſche genannt hat. Die groſſe Kirche zu Strasburg, die zu Rheims, die Peterskirche zu Yorck, die Ab - tey zu Weſtmuͤnſter, die Stephanskirche zu Wien u. d. ſind ſo, wie die Kirche zu Clair - vaux, die Johannskirche zu Monza, die Cer - toſa zu Pavia, der groſſe Dom zu Mayland, welchen der Herzog Johann Galeazo Visconti gegen das Jahr 1386. anfangen laſſen, kurz nachdem die Kirche zu Monza geendigt, und nicht lange vorher, als die Certoſa zu Pavia angefangen worden war alle die ſind in dieſem gothiſchen Geſchmacke aufgefuͤhrt. Caeſar Caeſarini, welcher den Vitruv in das Jtalieniſche uͤberſetzt, und 1521. mit einem Kommentar zu Komo herausgegeben hat, ſagt in den Anmerkungen zum zweyten Ab -ſchnitte142ſchnitte des erſten Buchs, daß das gothiſche Gewoͤlbe im Schluſſe ſtark und feſt genung ſey, eine groſſe Laſt zu tragen, aber von da an, nach den Seiten zu, reiſſe es leicht. Blon - del merkt in ſeinem Cours d’Architecture an, daß der gothiſche Bogen ſchwaͤchere Wi - derlagen brauche, weil er gerade herab auf die Saͤulen druͤcke, und daß man ſich deſſel - ben nicht mehr bediene, geſchaͤhe aus keiner andern Urſache, als weil er ein haͤßliches An - ſehn habe. Dieſer Meynung iſt auch Kraft in der Abhandlung uͤber einige Aufgaben aus der Baukunſt (in dem erſten Tome der neuen Kommentarien der Akademie zu Petersburg.) Belidor hat eine Anweiſung gegeben, den waagrechten Druck der roͤmiſchen und gothi - ſchen Gewoͤlbe auf die Unterlagen zu berech - nen. Dabey fuͤhrt er ausdruͤcklich an, daß man keine gothiſche Gewoͤlbe uͤber Magazinen anbringen ſolle, weil ſie die Bomben nicht aushalten koͤnnten. Wir wiſſen auch wirk - lich aus Beyſpielen, daß die roͤmiſchen Ge - woͤlbe bey Belagerungen den Bomben wider - ſtanden haben, nicht aber die gothiſchen.

Jch koͤnnte hier eine ganze geometriſche Ab - handlung uͤber die Staͤrke und den Wider - ſtand der Gewoͤlbe aus Halbkraiſen und Spitzboͤgen liefern. Jch will mich aber be - gnuͤgen. nur das einfache Reſultat davonanzu -143anzufuͤhren, damit ich dieſen Verſuch nicht mit Demonſtrationen und Figuren zu verwir - ren noͤthig habe. Erſtlich iſt es eine ausge - machte Wahrheit, daß bey allen Arten von Kuppeln und Gewoͤlben ein Theil von der Wirkung der aufliegenden Laſt in der Haͤlfte, oder dem dritten und vierten Theile der Kruͤm - mung dadurch verlohren geht, daß ſie auf die darunter angebrachten Saͤulen oder Ge - woͤlbe waagrecht druͤckt. Zweytens iſt der waagrechte Druck eines halbkraiſigten Bo - gens auf die Unterlage dem halben Drucke, wel - cher auf den Schluß wirkt, gleich, z. B. wenn man ein Gewicht von 300000 Pfund auf den Schluß des Bogens legte, ſo wuͤrde der Druck auf die Unterlagen gleich 150000 Pf. ſeyn. Endlich wenn man zween Bogen von gleicher Weite, einen halbk eiſigten und einen gothiſchen Spitzbogen annimmt, und auf den einen ſo viel Gewicht als auf den andern legt, ſo wird der waagrechte Druck auf die Spitze des erſten gegen den, welchen die Stuͤtze des zweyten auszuhalten hat, beynahe wie 15 zu 13 ſeyn: in der Mitte, zwiſchen dem Schluſſe und den Stuͤtzen zweener ſolcher Bogen, wird ſich dieſer Druck eines gleichen Gewichts bey dem einen gegen den andern wie 5 zu 7 erhal - ten; im dritten Theile hingegen wie 4 zu 5; und zwiſchen der Haͤlfte und dem dritten Theileder -144derſelbe bey dem gothiſchen Bogen der halben Laſt gleich werden, und folglich eben ſo wie bey einem halbkraiſigten Bogen ſeyn. Da - her hat die Widerlage beym gothiſchen Bo - gen mehr Sicherheit als beym roͤmiſchen; hergegen in der Mitte zwiſchen der Wider - lage und dem Schluſſe verhaͤlt ſich’s umge - kehrt, z. B. wenn man auf den Schluß des gothiſchen Bogens ein Gewicht von 300000 Pfund legen wollte, ſo wuͤrde der waagrechte Druck gegen den dritten Theil des Bogens ungefehr gleich 150000 Pfund ſeyn, beym roͤmiſchen hingegen nur 120000 Pf. Nun nehmen de la Hire und Belidor als einen Er - fahrungsſatz an, daß die Boͤgen und Gewoͤlbe insgemein zwiſchen dem Schluſſe und der Widerlage reiſſen: daher pflegt man auch die eiſernen Klammern gegen den dritten Theil des Bogens zu, anzubringen. Da nun der gothiſche Bogen zwiſchen dem Schluſſe und der Widerlage ſchwaͤcher iſt, wo doch die Gefahr zu reiſſen groͤſſer, ſo kann man ihn dem roͤmiſchen nicht vorziehn, und die deut - ſchen Baukuͤnſtler haben alſo damit nicht nur der Schoͤnheit, ſondern auch der Staͤrke und Feſtigkeit der Gebaͤude Eintrag gethan. Ja ſie gaben nicht nur den Bogen uͤberhaupt eben nicht ihre ſchoͤnſte und angenehmſte Geſtalt, ſondern ſie waren noch dazu darinnen unvor -ſichtig,145ſichtig, daß ſie ſie beſchwerten, ohne vorher zu befeſtigen und hinreichend zu ſichern. Die roͤmiſchen Architekten waren hingegen in dieſem Stuͤcke ungemein beſorgt. Nach dem Vitruv muͤſſen die Saͤulen der Winkel und Seiten eines Tempels alſo eingerichtet werden, daß ſie inwendig, nach der Mauer der Tempelcelle zu, bleyrecht ſtehn, und ſich nur von auſſen oberwaͤrts einziehen. Philander ſagt, die nur von auſſen angebrachte Einziehung der Saͤulen aufwaͤrts nach dem Knaufe zu, koͤnne, beſonders wenn es darauf ankomme, einen Seitendruck zu unterſtuͤtzen, in der Ausuͤbung von groſſen Nutzen ſeyn, ob ſie gleich vielleicht dem Auge mißfallen moͤge. Hierinnen waren auch St. Gallo und die beſten Baukuͤnſtler ſeiner Zeit mit ihm einerley Meinung. Pal - ladio fuͤhrt an, die Saͤulen im antiken Tem - pel zu Tivoli, der nach der gemeinen Meinung der Veſta gewidmet geweſen, haben dieſe Ei - genſchaft gehabt. Beym Tambur der Kup - pel der Peterskirche, welchen Buonarotti angegeben hat, ſcheint eben dieſe Regel zum Grunde zu liegen.

Mit dieſen ſo einfachen Kautelen waaten’s daher die alten Baukuͤnſtler ihre Gewoͤlbe aufzufuͤhren. Das Gewoͤlbe des Pantheons war in der Mitte offen, die uͤbrigen Tempel mit runden und geſchloſſenen Daͤchern hattenKim146im Schluſſe eine Blume, ſo groß als der Knauf auf den Saͤulen, ohne die Pyramide. (Vitruv 4. B. 7. K.) Die Tempel von die - ſer Art hatten daher wenigſtens ein abgeſtutz - tes oder halbes Gewoͤlbe. Da ſich Vitruv aber nicht weiter daruͤber erklaͤrt hat, ſo kann man nicht eigentlich ſagen, was die Blume und die Pyramide geweſen ſey. Dem ungeachtet hat der Marcheſe Galiani die Py - ramide als einen kleinen Zierrath abzeichnen laſſen, der die Mitte der Blume ausfuͤllte, weil er vielleicht einige Spuren davon auf Schaumuͤnzen angetroffen haben mochte. Die Baumeiſter der Sophienkirche und andrer alten Kirchen in Konſtantinopel haben die Kuppeln geſchloſſen gelaſſen, und nicht noch mit andern Laſten in der Mitte beſchwert. Jn der Rotonda, die zu Theodorichs Zeiten zu Ravenna erbauet worden, iſt die Kuppel zwar ganz in einem Stuͤcke, aber es iſt doch keine Kuppoline darauf angebracht worden. Vor tauſend Jahren fingen die griechiſchen Baumeiſter erſt an, oben auf die Kuppel der Marcuskirche zu Venedig einige Werke in Geſtalt von kleinen Kuppolinen zu ſetzen. Beym Dome zu Piſa, dem zu Siena und den Kirchen des Antonius und Juſtinus zu Padua, wie auch in vielen andern, welche gleichfalls vor tauſend Jahren erbauet worden ſind, en -digen147digen ſich die Kuppeln in einen Knopf und kleine Zierrathen. Jn neuern Zeiten hat Bramantes die Kuppel der Peterskirche mit keinen kleinern beſchwert. Einige Kup - peln von gothiſcher Banart, z. B. die auf der Johanniskirche zu Monza, ſchlieſſen ſich in der Mitte in antikem Geſchmacke. Die zu Clairvaux, welche achtwinkelicht iſt, und 16½ Elle in der Laͤnge, und 14 in die Breite hat, traͤgt einen Thurm von Mauerwerk von Ellen Laͤnge, und 9 Ellen Breite. Die - ſer Thurm hat 31 Ellen zur Hoͤhe und 1 Elle zur Dicke der Mauer, und endigt ſich endlich in eine Pyramide von 18 Ellen Hoͤhe. Es iſt in der That ſehr ſeltſam, daß man auf einem ſo ſchwachen Theil des Gebaͤudes, als die Oefnung einer Kuppel im Schluſſe iſt, noch einen Thurm aufgefuͤhrt hat. Wofern ſich aber auch der Eigenſinn des Baumeiſters in dieſer Beſonderheit nicht entſchuldigen lieſſe: ſo muß man ihm doch fuͤr die Geſchick - lichkeit, vermoͤge welcher er mit dem Durch - meſſer des Thurms nicht mehr als ein Drit - theil vom Durchmeſſer der Kuppel ausge - fuͤllet hat, wiederum Gerechtigkeit wiederfah - ren laſſen. Denn auf dieſe Art wird der waagrechte Druck auf die untern Punkte viel kleiner, als wenn die ganze Laſt des Thurms einen kleinen Theil der Kuppel zur Baſe haͤtte:K 2ein148ein Satz, der eben ſo gut als alles vorherge - hende zu beweiſen ſtuͤnde. Brunelliſcht und Buonarotti wolten der groſſen Kuppel zu Rom und Florenz mit verhaͤltnißmaͤſſigen Laternen, die nach ihrem Tode auch wuͤrklich noch aufgefuͤhrt worden ſind, mehr Licht ge - ben. Vaſari ſchreibt in Brunelliſchi’s Le - ben, dieſer Baumeiſter habe in ſeinem letzten Willen verordnet, man ſolle die Laternen des Doms in Florenz vollenden, oder das ganze Gebaͤude zu Grunde richten. Denn da das Gewoͤlbe ſpitzig, ſo ſey es ſchlechterdings noͤ - thig, daß noch eine Laſt daruͤber aufgefuͤhrt werde, wodurch es ſeine Veſtigkeit erhalte. Darauf gruͤndet ſich das Vorurtheil das einige haben, daß die Laſt der Laterne die Veſtigkeit der Kuppel verſtaͤrke, Die drey Mathematiker aber, welche uͤber die Kuppel der Peterskirche geſchrieben haben, haben bereits bemerkt, es ſey eine ausgemachte Wahrheit, daß die Laternen in allen Arten von Kuppeln den Seitendruck und folglich die Gefahr des Einſturzes betraͤchtlich vermeh - ren. Aus der Erfahrung wiſſen wir auch, wie die Kuppel zu Florenz und die uͤber der Peterskirche ſchon wuͤrklich gelitten haben, imgleichen wie noch zwoͤlf andre Kuppeln in Rom von der Laſt der Laternen beſchaͤdigt worden ſind; da man hingegen doch nicht er -fahren149fahren hat, daß die Kuppel von St. Peter in Montorio, worauf Bramantes keine La - terne geſetzt, irgend etwas gelitten habe. Aepinus hat in den Schriften der berliniſchen Akademie der Wiſſenſchaften von 1755. die vortheilhafteſte Figur einer Unterlage, welche ſich auswaͤrts mit einer geraden Linie endigt, beſtimmt, und bey dieſer Gelegenheit die Grundſaͤtze angegeben, woraus ſich erweiſen laͤßt, daß Michael Angelo der Kuppel auf der Peterskirche dadurch eine groſſe Feſtig - keit verſchaft, daß er ſie auf eine Atticke ge - ſtuͤtzt, die Atticke aber auf ein weites ausge - dehntes Gewoͤlbe, welches auf einer noch groͤſſern Baſe ruht, und 16 Widerlagen, jede aus 2 Saͤulen, hat. Ja es erhellet, daß dieſe Feſtigkeit viel groͤſſer iſt, als bey irgend einer gothiſchen Kuppel. Denn da die gothiſchen Kuppeln mehr als die auf St. Peter beſchwert ſind, dabey aber weder Flanken noch Wiederlagen haben, und ſich gegen die Grundflaͤche zu mehr einwaͤrts ge - ben: ſo darf man ſich gar nicht wundern, daß dieſe Kuppeln viele Riſſe haben, wovon manche durch viele aͤuſſere Steine von der Hoͤhe in die Tiefe gehn, daß ſelbſt einige Steine in kleine waagrechte Stuͤcke zerbro - chen ſind, und daß bisweilen gegen den dritten Theil der gothiſchen Boͤgen, wo der waag -K 3rechte150rechte Druck groͤſſer iſt, einige Klammern aus einander gehn.

Belidor und de la Hire haben in den an - gezeigten Stellen die Gruͤnde zur Berechnung aller Momente des Drucks und Widerſtands in jeder Art von Gewoͤlben aus einander ge - ſetzt. Sie erwaͤgten naͤmlich, daß ein Ge - woͤlbe nur in 3 Stellen reiſſen koͤnnte, als entweder in der Baſe, wenn ſich die innere Seite der Widerlage auswaͤrts beugte, oder da wo es aufliegt, indem ſich daſelbſt das ganze Gewoͤlbe aus einander gaͤbe, oder ge - gen die Spitze indem ſich der Schluß loͤſete, und die Laterne ſenkte. Doch laͤßt ſich’s nur auf die Gewoͤlbe von gemeinem Mauerwerke einſchraͤnken, und die muͤſſen davon ausge - nommen werden, welche aus keilfoͤrmig ge - hauenen Steinen aufgefuͤhrt ſind. Ob dabey nun gleich auch nach der Unterlage zu ein Riß moͤglich iſt, ſo laͤßt ſich derſelbe doch duͤrch einen geringen Druck von innen gegen die Keile, welche von auſſen anfangen muͤſſen, ſich aus einander zu geben, verhindern. Der Stein laͤßt ſich ſeiner Natur nach freylich einigermaaſſen zuſammen druͤcken. Aus Muſchenbroecks Erfahrungen ſieht man, daß ſich derſelbe in der Waͤrme ausdehnt, und in der Kaͤlte wieder zuſammen zieht. Auch aus Mariotte’s Beobachtungen ergiebt ſichdieſe151dieſe Eigenſchaft des Steins. Als man ſtei - nerne Kugeln auf Amboſſen, die man mit Talg beſtrichen hatte, unter den Hammer brachte, ſpreiteten ſie ſich und lieſſen auf der Oberflaͤche des Talgs weite kraisrunde Ein - druͤcke. Nach den Bemerkungen der drey bereits angefuͤhrten beruͤhmten Mathematiker glaubt man, daß der Bogen und die Atticke von St. Peter aus keiner andern Urſache ge - borſten ſeyn, als weil die Steine zu ſehr zu - ſammengedruckt worden. Freylich aber laͤßt ſich dem ungeachtet aus dieſer Eigenſchaft des Steins keine Ausnahme wider das Sy - ſtem des Belidor und de la Hire machen. Als dieſe Mathematiker fanden, daß der Widerſtand zehnmal groͤſſer ſeyn muͤßte als der Druck, wofern ſich der Bogen von St. Peter oberwaͤhnter Maaſſen gegen den aͤuſſern Winkel der Baſe haͤtte drehen ſollen, dennoch aber der Augenſchein ergab, wie ſehr die Kup - pel gelitten hatte: ſo geriethen ſie auf die Vermuthung, daß vielleicht neue Riſſe da ſeyn koͤnnten, wobey der innere Winkel haͤtte unbeweglich bleiben, und ſich der Druck doch nach den aͤuſſern Winkel neigen koͤnnen, und der Bogen aus einander gehn muͤſſen. Auf dieſe Art waͤren die Riſſe freylich viel leichter als auf die erſte. Denn im Falle der Mittel - punkt der Bewegung im aͤuſſern WinkelK 4waͤre,152waͤre, ſo muͤßte der Schwerpunkt des Bogens ſteigen, im entgegen geſetzten Falle aber ſich ſenken, und es waͤre alſo im zweiten Falle viel weniger Kraft noͤthig als im erſten. Wenn man nun dieſe zwote Hypotheſe zum Grunde legt, und demnach annimmt, daß ſich uͤbri - gens alle Widerlagen des Bogens der Kup - pel von St. Peter losgegeben haͤtten, ſo waͤre der Widerſtand doch nur um einen Drittheil geringer als der Druck. Andere Schriftſtel - ler bemerken darum vortreflich, ſo eine Ba - lance des Drucks und Widerſtands muͤſſe in dieſem Falle nicht die Urſache warum ſich die Widerlagen losgegeben haͤtten, ſondern eine Folge davon geweſen ſeyn; das iſt, dieſe Balance muͤſſe erſt erfolgt ſeyn, nachdem ſich die Widerlagen losgegeben. Nach der an - dern Hypotheſe hingegen muͤßte der Wider - ſtand, wenn die Widerlagen noch mit dem Bogen verbunden geweſen, groͤſſer, und alle Bewegungen gegen den aͤuſſern Winkel der Baſe unmoͤglich geweſen ſeyn. Und deswe - gen waren ſie der Meinung, man muͤſſe noch eine dritte ganz andere Hypotheſe annehmen, woraus der Riß der Widerlagen und die er - ſten Verletzungen der Kuppel uͤberhaupt zu erklaͤren waͤren.

Jch, meiner ſeits, halte dafuͤr, daß Kuppeln und Gewoͤlbe auf tauſend andre Arten leidenkoͤnnen.153koͤnnen. Belidor faͤngt in ſeiner Jngenieur - wiſſenſchaft Nr. 13. B. 1. dieſe Lehre damit an, daß er Mauren annimmt, deren Theile in ſich mit einander verbunden und ſo unzer - trennlich ſind, daß man zwar die Mauer ſelbſt durch irgend eine Kraft umſtuͤrzen, aber nicht von einander reiſſen kann. Von da aus geht er in ſeiner Betrachtung zu dem Falle, wor - auf de la Hire ſeine Hypotheſe gruͤndet, fort, daß ſich nemlich die ganze Unterlage um den aͤuſſern Winkel der Baſe drehe. Jch muß aber hier bemerken, daß eine zu groſſe Laſt die Steine zerdruͤckt und in Stuͤcken ſprengt, wie man an uͤberladenen Kuppeln ſieht. Mit zunehmenden Drucke breiten ſich die zerbro - chenen Steine aus, und die Stuͤcke verviel - faͤltigen ſich noch auf tauſenderley Weiſe; und dermaaſſen kann eine Kuppel bald ſo, bald ſo, leiden. Belidor’s und de la Hire’s Hypo - theſen ſind dem Widerſtande der Gewoͤlbe ſehr guͤnſtig, und ihnen zufolge kan man freylich leicht beweiſen, daß einige gothiſche Kuppeln ſo ſchwache Widerlagen haben, ſo ſehr gegen die Baſe eingezogen und beſonders im Schluſſe ſo uͤberladen ſind, daß jedes Moment des horizontalen Drucks, indem es mit ſeiner ganzen Laſt auf den dritten, ihm zur Unterlage dienenden, Theil des gothiſchen Bogens wirkt, groͤſſer iſt, als jedes Moment des Widerſtands;K 5und154und man ſich daher gar nicht zu verwundern hat, daß dadurch auch manche Klammer ge - borſten iſt und man ſo oft Riſſe und Spalten ſieht.

Man muß freylich nicht glauben, daß die vielen dicken eiſernen Klammern, womit das gothiſche Mauerwerk in das Kreuz und in die Quere befeſtigt wird, die Schwaͤche der Bogen hinreichend erſetze, oder wohl gar noch groͤſſere Laſten erhalten kann. Denn erſtlich zieht die Kaͤlte das Eiſen zuſammen und die Waͤrme dehnt es aus; und denn muͤſ - ſen ſolche Klammern, die ſchon geſpannt und ſehr beſchwert ſind, allein wegen der Veraͤn - derung der Witterung nachgeben. Davon koͤnnte ich viele Beyſpiele anfuͤhren. Zwey - tens gruͤnden ſich die Rechnungen uͤber die Staͤrke der Klammern auf zuverlaͤßig irrige Grundſaͤtze: denn man nimmt an, daß die Staͤrke des Eiſens in Verhaͤltniß zu ſeiner Dicke zunehme, da doch nach van Muſchen - broecks Verſuchen zu Eiſendrathen von 1, 2, 3, 4. Dicke die Gewichte 130, 230, 310, 450. erfordert wurden, und folglich in geringern Verhaͤltniß als die Dicke zunahmen. Und endlich iſt es immer auch ſehr unſchicklich, daß die Theile eines groſſen Gebaͤudes von eiſernen Drathen und Klammern zuſammen gehalten werden ſollen.

Jch155

Jch kann hier einen ſchoͤnen Ausſpruch des Vignola nicht mit Stillſchweigen uͤber - gehn. Pellegrini hatte einen Taufſtein in viereckigter Geſtalt mit vier Saͤulen von wei - chem Steine auf erhabenen Piedeſtalen uͤber zwoͤlf Model weit von einander auffuͤhren laſſen. Martin Baſſo warf ihm daruͤber vor, daß ſo groſſe Saͤulenweiten wider alle Lehre Vitruvs und wider alle Beyſpiele lie - fen, die man noch an den Tempeln Apolls, Dianens, Vulkans u. d. ſehen koͤnnte. Pel - legrini ſah den Fehler ein und ſchlug daher vor, den Taufſtein durch eiſerne Klammern, durch die er eine Saͤule mit der andern ver - binden wollte, ſicher zu ſtellen. Die beruͤhm - teſten Architeckte gaben dem Baſſo Recht. Palladio meynte, man muͤſſe den Taufſtein achteckigt oder kraisrund machen; dazu koͤnn - ten die Saͤulen von joniſcher, nicht aber ko - rinthiſcher Ordnung ſeyn. Vignola hielt die Zuflucht zu Klammern nicht fuͤr gut; denn ſie hoͤbe den wahren Fehler nicht, urtheilte er, ſondern ſie gaͤben nur eine ſcheinbare Staͤrke. Bey dieſer Gelegenheit ſagte er, wohl angelegtes Mauerwerk muͤſſe ſich ſelbſt tragen und nicht angehaͤngt werden. Eben dieſe Architeckten und Baſſo mißbilligten auch Pellegrins Gedanken, den Boden des Chors im Dom zu Mayland etwa vier Ellen uͤberden156den Boden der Kirche zu erhoͤhen, und ſchief und abhaͤngend zu machen. Auch waren ſie wider die Jdee von einem unterirdiſchen Tem - pel, der an Geſtalt, Ordnung und Diſpoſi - tion dem uͤbrigen nicht entſpraͤche, ſondern kralsrund ſeyn und acht Kolonnen Doriſcher Ordnung nahe gegen den Mittelpunkt zu, von den Kolonnen aber bis zum Umfange einen Raum, der eben ſo breit als hoch waͤre, ha - ben ſollte. Baſſo war unſtreitig ein vortref - licher Architeckt. Er hat in Mayland unge - meine Gebaͤude und beſonders die St. Lorenz - kirche hinterlaſſen. Dieſe wird man gewiß jederzeit mit Erſtaunen betrachten, ob ſie gleich auch nicht ohne alle Fehler iſt, als z. B. daß die Kuppel acht ungleiche Seiten hat. Die gothiſchen Kuppeln ſind in dieſem Stuͤcke meiſtens fehlerhaft, ſie ſind ordinair achtwinkligt und ruhen auf einer quadrati - ſchen Baſe von vier Gewoͤlben, daher kor - reſpondiren auch die acht Winkel des Achtecks mit dem leeren Raum der vier untern Ge - woͤlbeboͤgen und die Fenſteroͤfnungen mit den Tafeln der Saͤulen.

Caͤſar Caͤſarini mißbilligt die Jdee, ein Oktogon auf ein Quadrat zu ſetzen, gaͤnzlich. (ſ. die Anmerk. zu Vitruvs erſtem Buche, 2ten Abſchn.) Der Jngenieur Buſka hat daruͤber bereits 1597 in einer Schrift aller -ley157ley ſchoͤne Betrachtungen angeſtellt. Wer gut und ſicher bauen will, muß alles bley - recht uͤber den wahren und veſten Grund auf - fuͤhren: ſonſt werden ſeine Anlagen in der That keinen Grund haben. Die Ribben, Nerven und Knochen eines Gewoͤlbes ſind nichts anders als Aeſte von Baͤumen, welche ſich in der Mitte zuſammen geben. Ob ſie ſich nun gleich woͤlben, ſo ruht und druͤckt ein jeder doch allein auf den Stamm, woraus er hervor gewachſen iſt. Jedermann ſieht frey - lich die Wahrheit dieſes Satzes ein und den - noch weiß ſich Niemand darnach zu richten. Alle gruͤnden die Kuppeln ohne Urſache und wider alle gute Regeln und Beyſpiele der Al - ten in die Luft. Und das kommt insgemein daher, daß man einen quadratiſchen Grund macht und darauf doch ein rundes oder acht - ſeitiges Gebaͤude errichten will. Es iſt eben ſo, als wenn man uͤber einen runden Grund ein quadratiſches Gebaͤude auffuͤhren wollte. Die Winkel oder die Seiten muͤſſen daher nothwendig uͤber den Grund herausgehn. Die meiſten Kuppeln u. ſ. w. Man ſieht alſo, daß die gothiſche Baukunſt weder fuͤr die wahre noch fuͤr die ſcheinbare Feſtigkeit hinreichend geſorgt hat, ſonſt haͤtte ſie das Volle uͤber dem Vollen und das Leere unter dem Leeren anbringen muͤſſen.

Eben158

Eben dieſer Fehler faͤllt auch bey allen wunderlichen kleinen gothiſchen Zierrathen, die die Witterung allein ſchon verdirbt, und bey den Statuͤen, die uͤber den obern Fenſter - bogen, wie in der Luft haͤngen, in das Au - ge. Der einzige Werth, den man dieſen Ge - baͤuden noch zugeſtehn koͤnnte, wuͤrde in ih - rer ungeheuren Groͤſſe, in der Weite der Boͤgen, im Verbauen der Ribben der Schiffe und in den guten Verhaͤltniſſen der vornehm - ſten Glieder der Pfeiler, Saͤulen und Logen beſtehn: die Saͤulenweiten ſind hingegen ins - gemein zu groß, ſo wie man Beyſpiele in den remplis diaſtylis der Alten antrift, als im Tempel des Apoll und der Diana. Jn dem Dome zu Mayland verdient noch der Fußbo - den und die Vorderſeite vieles Lob. Sie iſt von Pellegrini gezeichnet und vom H. Karl genehmigt worden; der Kardinal Friedrich hat angefangen, ſie unter des Baſſo Aufſicht bauen zu laſſen. Pellegrini hat dabey gerade das Mittel zwiſchen der gothiſchen und grie - chiſchen Manier getroffen; eben ſo wie Vig - nola und Julio Romano die Vorderſeite zu St. Petron zu Bologna und Bramante zu Certoſa zu Padua gezeichnet hatten. Mit dieſen Gruͤnden laſſen ſich die verſchiedenen Urtheile der Baumeiſter und Reiſenden uͤber dieſes erſtaunliche Gebaͤude vereinigen. Caͤ -ſar159ſar Caͤſarini (bey der Anmerk. zum 2ten Ab - ſchn. des erſten B. von Vitruv) hat den Grundriß und Aufriß des Doms zu Mayland und der Vorderſeite, die die erſten Architeckte dazu beſtimmt hatten, aufbehalten. Er fin - det den Grundriß den guten Regeln gemaͤß, und ſagt, dies iſt gleichſam die Regel, deren ſich die deutſchen Architeckte bey der Kirche Baricefala zu Mayland bedient haben. Der Ritter Georg Vaſari ſchreibt im Leben des Nikkolo und Joannes aus Piſa: Viele legten ſich zu Nikkolo’s Zeiten aus edler Eiferſucht mit vielem Fleiſſe auf die Bildhauerey. Das, was vorhin nicht geſchehn. Jn Mayland fieng ſichs beſonders an. Denn dahin waren viele lombardiſche und deutſche Kuͤnſtler zur Erbauung des Doms zuſammen gekommen, die ſich aber nachher wegen der Jrrungen zwi - ſchen dem Kaiſer Friedrich und den Maylaͤn - dern in Jtalien umher zerſtreueten. Nun - mehr fiengen die Kuͤnſtler an, mit einander ſowohl in der Bildhauerey als in der Bau - kunſt zu wetteifern.

Jm 6ten Abſchnitte des 1ſten Theils im 1ſten Buche des Stamozzi heißt es: Gegen die beſſere Zeit des 15ten Jahrhunderts trat Bramante von Urbino auf und fieng an, die Fehler zu ruͤgen, die Bernardino und Caͤſare Caͤſarini beym Dome zu Mayland begangenhat -160hatten. (Ferner im 18ten Abſchn.) Konnte wohl ein Koͤnig und ſelbſt ein Kaiſer etwas Groͤſſers unternehmen, als 1387, nachdem Jtalien wieder zur Freyheit gelanget, Joann Galeazzo, Herzog von Mayland, unternahm, ich meyne die Erbanung des Doms, der an Groͤſſe, Vortreflichkeit der Steine, Menge der Bildhauerey und des Schnitzwerks, jedem an - dern Tempel, den irgend die Griechen oder Roͤ - mer aufgefuͤhrt haben, gleich geachtet werden kann? Aber er ſieht doch nicht anders aus, als ein durchbrochenes Gebirge von Steinen und andern Bauzeuge, das zugerichtet, aber unor - dentlich durch einander zuſammen gethuͤrmt worden iſt; denn es mangelt der Erfindung an Schoͤnheit und allgemeiner Form, an Harmo - nie, den Theilen und Gliedern an Verbindung; alles iſt ſchwach und, gleich als ob es nicht zu - ſammen gehoͤrte, von einander getrennt. Da - her iſt es auch unmoͤglich geweſen, ſowohl die Vorderſeite als den uͤbrigen Theil des Gebaͤu - des bis zum Dache und die Kuppel auf eine nur ertraͤgliche Weiſe auszufuͤhren. Zwar fanden noch Pelegrini und Baſſi am Ende ein Mittel, die Vorderſeite zu Stande zu bringen.

Blondel ſagt im 1ſten Abſchnitte ſeiner Ar - chitecktur S. 1. die gute Architecktur ſey nach den Einfaͤllen der Barbaren lange Zeit unter den Ruinen der alten Gebaͤude verborgen ge -blie -161blieben, und habe jener ungeheuern unertraͤg - lichen Manier, die noch zu unſerer Vaͤter Zei - ten unter dem Namen der gothiſchen Baukunſt gewoͤhnlich geweſen, Platz gelaſſen. Jm 16ten Abſchnitte des 5ten Theils im 5ten B. bemerkt er, die gothiſchen Gebaͤude haͤtten, im Ganzen genommen, doch lauter Verhaͤltniſſe nach den Regeln der Kunſt, und man koͤnne mitten unter den vielen kleinen ſchlechten Zierrathen, womit ſie uͤberhaͤuft waͤren, dennoch ihre Symmetrie nicht verkennen. Zum Beweiſe fuͤhrt er im fol - genden Abſchnitte die alte Zeichnung der Vor - derſeite, welche von Caͤſarini erhalten worden iſt, an.

Barattieri ſchrieb 1651 in ſeiner Abhand - lung von der Verzierung des Doms: der Er - finder habe in ſeinem Gehirne ein Chaos gothi - ſcher Bizarrerie erſchaffen. Faſt gleichergeſtalt behauptet der beruͤhmte Vanritelli, es ſey un - ter allen Leuten von geſundem Urtheile ausge - macht, daß die gothiſche Manier, ſowohl in An - ſehung der Kapitaͤle als der Saͤulen ſelbſt und aller andern Verzierungen allein von dem Ver - fall der guten Baukunſt ihren Urſprung habe, und waͤre die gute Baukunſt nicht verfallen, ſo wuͤrde man gewiß auch den Dom nicht haben.

Aber von den Mathematikern auf Reiſebe - ſchreiber zu kommen, muß ich anfuͤhren, daß Miſſon, Pomponne und viele andre den Bo -Lden162den im Dom weit uͤber den in St. Peter erhe - ben. Addiſon erzaͤhlt, dieſes erſtaunliche Ge - baͤude ſey bis auf den Giebel von Marmor, und ſelbſt der wuͤrde davon gemacht worden ſeyn, wenn man den Stein nicht fuͤr zu ſchwer dazu gehalten haͤtte. Freylich iſt dieſe Nachricht mit noch einigen andern Nebendingen ganz aus dem Nartiniere genommen. Mit der Stelle aus der Reiſe eines beruͤhmten Schweitzers will ich ſchlieſſen: Viele Theile, ſagt er, ver - fallen vor Alter ſchon wieder, da doch die an - dern noch nicht einmal fertig ſind. Man ver - zoͤgert auf das Portal zu denken und arbeitet einſtweilen an ungeheuren durchbrochenen Py - ramiden, die man auf jeden Pfeiler anbringen will, man macht Statuͤen und das Gebaͤude hat ihrer doch ſchon innen und auſſen viele tauſend, man macht kleine Genien und Ver - zierungen fuͤr gewiſſe Oeffnungen, wodurch ſich die obern Theile kommuniciren, mit eben der Feinheit, von welcher die auserleſene Goldſchmiedearbeit iſt, welche man wider alle Erwartung hier antrift. Bis auf u. ſ. w.

V. Deut -[163]

V. Deutſche Geſchichte.

L 2[164]165

V. Deutſche Geſchichte. *)Vom Herrn Juſtitzrath Moͤſer.

Die Geſchichte von Deutſchland hat mei - nes Ermeſſens eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigen - thuͤmer, als die wahren Beſtandtheile der Na - tion durch alle ihre Veraͤnderungen verfolgen; aus ihnen den Koͤrper bilden und die groſſen und kleinen Bediente dieſer Nation als boͤſe oder gute Zufaͤlle des Koͤrpers betrachten. Wir koͤnnen ſodenn dieſer Geſchichte nicht al - lein die Einheit, den Gang und die Macht der Epopee geben, worinn die Territorialho - heit und der Deſpotismus zuletzt die Stelle einer gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Aufloͤ - ſung vertritt; ſondern auch den Urſprung, den Fortgang und das unterſchiedliche Ver - haͤltniß des Nationalcharakters unter allen Beraͤnderungen mit weit mehrerer Ordnung und Deutlichkeit entwickeln, als wenn wir blos das Leben und die Bemuͤhungen der Aerzte beſchreiben, ohne des Kranken Koͤr - pers zu gedenken. Der Einfluß, welchen Geſetze und Gewohnheiten, Tugenden undL 3Feh -166Fehler der Regenten, falſche oder gute Maaß - regeln, Handel, Geld, Staͤdte, Dienſt, Adel, Sprachen, Meynungen, Kriege und Ver - bindungen auf jenen Koͤrper und auf deſſen Ehre und Eigenthum gehabt; die Wendun - gen, welche die geſetzgebende Macht, oder die Staatseinrichtung uͤberhaupt bey dieſen Ein - fluͤſſen von Zeit zu Zeit genommen; die Art, wie ſich Menſchen, Rechte und Begriffe al - maͤhlich gebildet; die wunderbaren Engen und Kruͤmmungen, wodurch der menſchliche Harg die Territorialhoheit empor getrieben und die gluͤckliche Maͤßigung, welche das Chriſter - thum, das deutſche Herz, und eine der Frey - heit guͤnſtige Sittenlehre gewuͤrket hat, wuͤrde ſich, wie ich glaube, ſolchergeſtalt in ein voll - kommenes fortgehendes Gemaͤhlde bringen laſſen und dieſem eine ſolche Fuͤllung geben, daß der Hiſtorienmahler alle uͤberfluͤßige Grouppen entbehren koͤnnte.

Dieſe Geſchichte wuͤrde vier Hauptperioden haben. Jn der erſten und guͤldnen war noch mehrentheils jeder deutſcher Ackerhof mit ei - nem Eigenthuͤmer oder Wehren beſetzt; kein Knecht oder Leut auf dem Heerbannsgute ge - feſtet; alle Freyheit, als eine ſchimpfliche Ausnahme von der gemeinſamen Vertheidi - gung verhaßt; nichts als hohe und gemeine Ehre in der Nation bekannt; niemand auſſerdem167dem Leut oder Knechte einem Herrn zu folgen verbunden; und der gemeine Vorſteher ein Erwaͤhlter Richter, welcher bloß die Urtheile beſtaͤtigte, ſo ihm von ſeinen Rechtsgenoſſen zugewieſen wurden. Dieſe guͤldne Zeit dau - rete noch guten Theils, wiewohl mit einer auf den Hauptzweck ſchaͤrfer anziehenden Ein - richtung unter Carln dem Groſſen. Carl war aber auch der einzige Kopf zu dieſem an - tiken Rumpfe.

Die zweyte Periode ging allmaͤhlig unter Ludewig dem Frommen und Schwachen an. Jhm, und den unter ihm entſtandenen Par - theyen war zu wenig mit Bannaliſten, die bloß ihren Heerd und ihr Vaterland bey eig - ner Koſt und ohne Sold vertheidigen wollten, gedienet. Er opferte aus Einfalt, Andacht, Noth und falſcher Politik ſeine Gemeinen den geiſtlichen Bedienten und Reichsvoͤgten auf. Der Biſchoff, welcher vorhin nur zwey Heer - maͤnner ad latus behalten durfte, und der Graf oder Oberſte, der ihrer vier zum Schutze ſeines Amts und ſeiner Familie beurlauben konnte, verfuhren mit dem Reichsgute nach Gefallen, beſetzten die erledigten manſos mit Leuten und Knechten, und noͤthigten die Wehren, ſich auf gleiche Bedingungen zu er - geben. Henrich der Vogler ſuchte zwar bey der damaligen allgemeinen Noth das Reichs -L 4eigen -168eigenthum wieder auf; und ſtellete den Heer - bann mit einigen Veraͤnderungen wieder her. Allein Otto der Groſſe ſchlug einen ganz an - dern Weg ein und gab das gemeine Guth denjenigen Preiß, die ihm zu ſeinen auswaͤr - tigen Kriegen einige glaͤnzende und wohlge - uͤbte Dienſtleute zufuͤhrten. Jhm war ein Ritter, der mit ihm uͤber die Alpen zog, lie - ber als tauſend Wehren, die keine Auflagen bezahlten, und keine andre Dienſtpflicht, als die Landesvertheidigung kannten. Seine Groͤſſe, das damalige Anſehn des Reichs und der Ton ſeiner Zeiten machten ihn ſicher genug zu glauben, daß das deutſche Reich ſeines Heerbanns niemals weiter noͤthig ha - ben wuͤrde. Und ſo wurde derſelbe voͤllig verachtet, gedruckt und verdunkelt. Der Miſſus oder Heerbannscommiſſarius, wel - cher unter Carln den Groſſen allein die Ur - laubspaͤſſe fuͤr die Heermaͤnner zu ertheilen hatte, verlohr ſein Amt und Controlle. Com - miſſariat und Commando kam zum groͤßten Nachtheil der Landeigenthuͤmer und der erſten Reichsmatrikel in eine Hand.

Jn der dritten Periode, welche hierauf folgte, iſt faſt alle gemeine Ehre verſchwun - den. Sehr wenige ehrnhafte Gemeinen haben noch einiges Reichsguth in domino quiritario. Man verliert ſogar den Namenund169und den wahren Begriff des Eigenthums, und der ganze Reichsboden verwandelt ſich uͤberall in Lehn-Pacht-Zins - und Bauerguth, ſo wie es dem Reichsoberhaupte, und ſeinen Dienſtleuten gefaͤllt. Alle Ehre iſt im Dienſt; und der ſchwaͤbiſche Friedrich bemuͤhet ſich vergeblich, der Kaiſerlichen Krone, worin ehe - dem jeder gemeiner Landeigenthuͤmer ein Klei - nod war, durch bloſſe Dienſtleute ihren alten Glanz wieder zu geben. Die verbundene Staͤdte und ihre Pfalbuͤrger geben zwar der Nation Hoffnung zu einem neuen gemeinen Eigenthum. Allein die Haͤnde der Kaiſer ſind zu ſchwach und ſchluͤpfrich, und anſtatt dieſe Bundesgenoſſen mit einer magna Charta zu begnadigen, und ſich aus allen Buͤrgen und Staͤdten ein Unterhaus zu er - ſchaffen, welches auf ſichere Weiſe den Un - tergang der ehmaligen Landeigenthuͤmer wie - der erſetzt haben wuͤrde, muͤſſen ſie gegen ſol - che Verbindungen und alle Pfalbuͤrgerſchaft ein Reichsgeſetze uͤbers andre machen. Ru - dolph von Habsburg ſieht dieſen groſſen Staatsfehler wohl ein, und iſt mehr als ein - mal darauf bedacht, ihn zu verbeſſern. Al - lein Carl der IV. arbeitet nach einem dem vo - rigen ganz entgegengeſetzten Plan, indem er die mittlere Gewalt im Staat wieder beguͤn - ſtiget, und Wenzels groſſe Abſichten, welcheL 5den170den Reichsfuͤrſten nicht umſonſt verhaßt wa - ren, werden nie mit gehoͤriger Vorſicht, oft durch gehaͤßige Mittel, und insgemein nur halb ausgefuͤhrt. Alle ſind nur darauf be - dacht, die Dienſtleute durch Dienſtleute zu bezaͤhmen, und waͤhrender Zeit in Daͤnne - mark der Landeigenthum ſich wieder unter die Krone fuͤget; in Spanien der neue Heer - bann, oder die Hermandad der mittlern Ge - walt mit Huͤlfe der klugen Jſabelle das Gleich - gewichte abgewinnt; und in der Schweiz drey Bauren gemeine Ehre und Eigenthum wie - der herſtellen, wurde die Abſicht des Bund - ſchuhes und andrer nicht undeutlich bezeichne - ter Bewegungen von den Kaiſern kaum em - pfunden. Sigismund thut etwas, beſon - ders fuͤr die Frieſen; und Maximilian ſucht mit allen ſeinen guten und groſſen An - ſtalten wohl nichts weniger, als die Gemei - nen unter der mittlern Gewalt wieder hervor und naͤher an ſich zu ziehen. Allein ſo fein und neu auch die Mittel ſind, deren er ſich bedient: ſo ſcheinet doch bey der Ausfuͤhrung nicht allemal der Geiſt zu wachen, der den Entwurf eingegeben hatte.

Mehr als einmal erforderte es in dieſer Pe - riode die allgemeine Noth, alles Lehn-Pacht - Zins - und Bauerweſen von Reichswegen wie - der aufzuheben, und von jedem Manſo denEi -171Eigenthuͤmer zur Reichsvertheidigung aufzu - mahnen. Denn nachdem die Lehne erblich geworden, fielen ſolche immer mehr und mehr zuſammen. Der Kriegsleute wurden alſo weniger. Sie waren zum Theil erſchoͤpft; und wie die auswaͤrtigen Monarchien ſich auf die gemeine Huͤlfe erhoben, nicht im Stande, ihr Vaterland dagegen allein zu vertheidigen. Allein eine ſo groſſe Revolution waͤre das Werk eines Bundſchuhes geweſen. Man mußte alſo auf einem fehlerhaften Plan fort - gehn, und die Zahl der Dienſtleute mit un - belehnten, unbeguͤterten und zum Theil ſchlech - ten Leuten vermehren, allerhand Schaaren von Knechten errichten, und den Weg ein - ſchlagen, worauf man nachgehends zu den ſte - henden Herren gekommen iſt. Eine Zeitlang reichten die Kammerguͤter der Fuͤrſten, wel - che ihre Macht auf dieſe Art vermehrten, zu den Unkoſten hin; man wußte von keinen ge - meinen Steuren; und in der That waren auch keine ſteuerbare Unterthanen vorhanden, weil der Bauer als Paͤchter ſich lediglich an ſeinen Contrakt hielte, und ſein Heer frey war, wenn er als Guthsherr fuͤrs Vater - land, und als Vaſall fuͤr ſeinen Lehnsherrn den Degen zog. Die Kammerguͤter wurden aber bald erſchoͤpft, verpfaͤndet oder verkauft. Und man mußte nunmehr ſeine Zuflucht zuden172den Lehnleuten und Guthsherren nehmen, um ſich von ihnen eine auſſerordentliche Bey - huͤlfe zu erbitten; und weil dieſe wohl einſa - hen, daß es ihre Sicherheit erforderte, ſich unter einander und mit einem Hauptherrn zu verbinden: ſo entſtanden endlich Landſtaͤnde und Landſchaften; wozu man die Staͤdte, welche damals das Hauptweſen ausmachten, auf alle Weiſe gern zog.

Alle noch uͤbrige Geſetze aus der guͤldnen Zeit, worin die Reichs Manſi mit Eigen - thuͤmern beſetzt geweſen waren, verſchwanden in dieſer Periode gaͤnzlich; wozu die Staͤdte, dieſe anomaliſchen Koͤrper, welche die Sach - ſen ſo lange nicht hatten dulden wollen, nicht wenig beytrugen, indem ſie die Begriffe von Ehre und Eigenthum, worauf ſich die Saͤch - ſiſche Geſetzgebung ehedem gegruͤndet hatte, verwirreten und verdunkelten. Die Ehre verlohr ſogleich ihren aͤuſſerlichen Werth, ſo - bald das Geldreichthum das Landeigenthum uͤberwog; und wie die Handlung der Staͤdte unſichtbare heimliche Reichthuͤmer einfuͤhrte, konnte die Wehrung der Menſchen nicht mehr nach Gelde geſchehen. Es mußten alſo Leib - und Lebensſtrafen eingefuͤhrt, und der obrig - keitlichen Willkuͤhr verſchiedene Faͤlle zu ahn - den uͤberlaſſen werden, worauf ſich die alten Rechte nicht mehr anwenden, und bey einerun -173unſichtbaren Verhaͤltniß keine neue finden laſſen wollten. Die Freyheit litt dadurch un - gemein, und der ganze Staat arbeitete einer neuen Verfaſſung entgegen, worin allmaͤhlig jeder Menſch, eben wie unter den ſpaͤtern roͤ - miſchen Kaiſern, zum Buͤrger oder Rechts - genoſſen aufgenommen, und ſeine Verbind - lichkeit und Pflicht auf der bloſſen Eigenſchaft von Unterthanen gegruͤndet werden ſollte. Eine Verfaſſung, wobey Deutſchland haͤtte gluͤcklich werden koͤnnen, wenn es ſeine Groͤſſe immerfort auf die Handlung gegruͤndet, dieſe zu ſeinem Hauptintereſſe gemacht und dem per - ſoͤnlichen Fleiſſe und baaren Vermoͤgen in be - ſtimmten Verhaͤltniſſen gleiche Ehre mit dem Landeigenthum gegeben haͤtte, indem alsdann die damals verbundene und maͤchtige Staͤdte das Nationalintereſſe auf dem Reichstage mehrentheils allein entſchieden, Schiffe, Volk und Steuren bewilligt, und die Zerreiſſung in ſo viele kleine Territorien, deren eins im - mer ſeinen Privatvortheil zum Nachtheil des andern ſucht, wohl verhindert haben wuͤrden.

Der vierten Periode haben wir die gluͤck - liche Landeshoheit oder vielmehr nur ihre Vollkommenheit zu danken. Jhr erſter Grund lag in der Reichsvogtey, welche ſich nach dem Maaſſe erhob und ausdehnte, als die Karo - lingiſche Grafſchaft, wovon uns keine einzigeuͤbrig174uͤbrig geblieben, ihre Einrichtung, Befugniß und Unterſtuͤtzung verlohr. Aus einzelen Reichsvogteyen waren edle Herrlichkeiten er - wachſen. Wo ein edler Herr ihrer mehrer zuſammen gebracht und vereiniget hatte, war es ihm leicht gelungen, dieſe Sammlung zu einer neuen Grafſchaft erheben zu laſſen und ſich damit die Obergerichte in ſeinen Vogteyen zu erwerben. Vornehmlich aber hatten Bi - ſchoͤfe, Herzoge, Pfalzgrafen und andre Kai - ſerliche Repreſentanten in den Provinzien die in ihren Sprengeln gelegne Vogteyen an ſich gebracht, und ſich daruͤber mit dem Grafen - bann, und auch wohl um alle fremde Ge - richtsbarkeit abzuwenden, mit dem Freyher - zogthum und der Freygrafſchaft belehnen laſ - ſen. Der Adel, die Kloͤſter und die Staͤdte, welche nicht unter der Vogtey geſtanden, hat - ten ſich zum Theil gutwillig den Kaiſerlichen Repreſentanten unterworfen, und der Kaiſer zu einer Zeit, da noch keine Genecalpacht er - laubt und bekannt war, ſich ein Vergnuͤgen daraus gemacht, die mit vielen Beſchwerden und mit wenigen Vortheil begleitete Aus - uͤbung der Regalien, wozu er ſonſt eigne Lo - calbeamte haͤtte beſtellen muͤſſen, den hoͤch - ſten Obrigkeiten jedes Landes zu uͤberlaſſen, und ſolchergeſtalt ſein eignes Gewiſſen zu be - ruhigen. Hiezu war die Reformation ge -kom -175kommen und hatte allen Landesherren oͤftere Gelegenheit gegeben, diejenigen Rechte, wel - che ſich aus obigen leicht folgern lieſſen, in ihrer voͤlligen Staͤrke auszuuͤben; insbeſon - dere aber die Schranken, welche ihnen ihrer Laͤnder eigne von der Kaiſerlichen Gnade un - abhaͤngige Verfaſſung entgegen geſetzt hatte, ziemlich zu erweitern, indem ſie die Vollmacht theils von der Noth entlehnten, theils von dem Haſſe der ſtreitenden Religionspartheyen gutwillig erhielten. Und ſo war es endlich kein Wunder, wenn beym Weſtphaͤliſchen Frieden, nachdem alles lange genug in Ver - wirrung geweſen, diejenigen Reichsſtaͤnde, welche nach und nach die Vogtey, den Gra - fenbann, das Freyherzogthum und die ganze Vollmacht des Miſſi in ihrem Lande erlangt hatten, die Beſtaͤtigung einer vollkommenen Landeshoheit; andre hingegen, welche nur die Vogtey gehabt, jedoch ſich der hoͤhern Reichsbeamten erwehret hatten, die Unmittel - barkeit und in Religionsſachen eine nothwen - dige Unabhaͤngigkeit erhielten.

Wenn man auf die Anlage der deutſchen Verfaſſung zuruͤck gehet: ſo zeigen ſich vier Hauptwendungen, welche ſie haͤtte nehmen koͤnnen. Entweder waͤre die erſte Controlle der Reichsbeamte per miſſos geblieben; oder aber jede Provinz haͤtte einen auf LebenszeitMſtehen -176ſtehenden Statthalter zum Controlleur und Oberaufſeher aller Reichsbeamten erhalten; oder ein neues Reichsunterhaus haͤtte den Kronbedienten die Wage halten muͤſſen, wenn man den vierten Fall, nemlich die Territorial - hoheit nicht haͤtte zulaſſen wollen. Die erſte Wendung wuͤrde uns reiſende und pluͤndernde Baſſen zugezogen haben, oder alle Kaiſer haͤt - ten das Genie von Carln dem Groſſen zu ei - nem beſtaͤndigen Erbtheil haben muͤſſen. Jn der andern wuͤrden wir mit der Zeit, wie die Franzoſen, das Opfer einer ungeheuren Men - ge von Reichs-Generalpaͤchtern geworden ſeyn. Schwerlich wuͤrden auch unſre Schul - tern die dritte ertragen haben, oder die ver - bundnen Handelsſtaͤdte in Ober - und Nieder - deutſchland haͤtten uns zugleich die Handlung durch die ganze Welt, ſo wie ſie ſolche hat - ten, behaupten und das ganze Reichs-Krie - ges - und Steuerweſen unter ihrer Bewilli - gung haben muͤſſen. Und ſo iſt die letztere, worin jeder Landesfuͤrſt, die ihm anvertraue - ten Reichsgemeinen als die ſeinigen betrach - tet, ſein Gluͤck in dem ihrigen findet und we - nigſtens ſeinem Hauſe zu Gefallen nicht alles auf einmal verzehrt, allenfalls aber an dem al - lerhoͤchſten Reichsoberhaupte noch einigen Wi - derſtand hat, gewiß die beſte geweſen, nachdem einmal groſſe Reiche entſtehen, und die Landei -gen -177genthuͤmer in jedem kleinen Striche, Staͤdte und Feſtungen unter ſich dulden, geldreiche Leute an der Geſetzgebung Theil nehmen laſſen und nicht mehr beſugt bleiben ſollten, ſich ſelbſt einen Richter zu ſetzen und Recht zu geben.

Dabey war es ein Gluͤck, ſowohl fuͤr den ca - tholiſchen als evangeliſchen Reichsfuͤrſten, daß der Kaiſer ſich der Reformation nicht ſo bedie - net hatte, wie es wohl waͤre moͤglich geweſen. Luthers Lehre war der gemeinen Freyheit guͤn - ſtig. Eine unvorſichtige Anwendung derſelben haͤtte hundert Thomas Muͤnzers erwecken, und dem Kaiſer die vollkommenſte Monarchie zu - wenden koͤnnen, wenn er die erſte Bewegung recht genutzt, alles Pacht - Lehn - und Zinswe - ſen im Reiche geſprengt, die Bauern zu Landei - genthuͤmern gemacht, und ſich ihres wohlge - meynten Wahns gegen ihre Landes Gerichts - und Guthoherrn bedienet haͤtte. Allein er dach - te zu groß dazu; und eine ſolche Unternehmung wuͤrde, nachdem der Ausſchlag geweſen waͤre, die groͤßte oder treuloſeſte geweſen ſeyn.

Jndeſſen verlohr ſich in dieſer Periode der alte Begriff des Eigenthums voͤllig; man fuͤhl - te es kaum mehr, daß einer Rechtsgenoß ſeyn muͤſſe, um ein echtes Eigenthum zu haben. Eben ſo gieng es ſowohl der hohen als gemeinen Ehre. Erſtere verwandelte ſich faſt durchge - hends in Freyheit; und von der letztern: ho -M 2nore178nore quiritario: haben wir kaum noch Ver - muthungen, ohnerachtet ſie der Geiſt der deut - ſchen Verfaſſung geweſen, und ewig bleiben ſollen. Religion und Wiſſenſchaften hoben im - mer mehr den Menſchen uͤber den Buͤrger, die Rechte der Menſchheit ſiegten uͤber alle bedun - gene und verglichene Rechte. Eine bequeme Philoſophie unterſtuͤtzte die Folgerungen aus allgemeinen Grundſaͤtzen beſſer, als diejenigen, welche nicht ohne Gelehrſamkeit und Einſicht gemacht werden konnten. Und die Menſchen - liebe ward mit Huͤlfe der chriſtlichen Religion eine Tugend, gleich der Buͤrgerliebe, derge - ſtalt, daß es wenig fehlte oder die Reichsgeſetze ſelbſt haͤtten die ehrloſeſten Leute, aus chriſtli - cher Liebe, ehrenhaft und zunftfaͤhig erklaͤrt.

Die Schickſale des Reichsguthes waren noch ſonderbarer. Erſt hatte jeder Manſus ſei - nen Eigenthuͤmer zu Felde geſchickt; hernach einen Baner aufgenommen, der den Dienſt - mann ernaͤhrte; und zuletzt auch ſeinen Bauer unter die Vogelſtange geſtellet. Jetzt aber mußte es zu dieſen Laſten auch noch einen Soͤld - ner ſtellen, und zu deſſen Unterhaltung eine Landſteuer uͤbernehmen, indem die Territorial - hoheit zu ihrer Erhaltung ſtaͤrkere Nerven, und das Reich zu ſeiner Vertheidigung groͤſſere An - ſtalten erfoderte, nachdem Frankreich ſich nicht wie Deutſchland in einer Menge von Territo -rien179rien aufgeloͤſet, ſondern unter unruhigen Her - ren vereiniget hatte. Von nun an war es zu ei - ner allgemeinen Politik das Reichseigenthum ſo viel moͤglich wieder aufzuſuchen, und zur ge - meinen Huͤlfe zu bringen. Der Kaiſer unter - ſtuͤtzte in dieſem Plan die Fuͤrſten. Dieſe unter - ſuchten die Rechte der Dienſtleute, der Geiſtli - chen und der Staͤdte, in Anſehung des Reichs - eigenthums; und bemuͤheten ſich ſo viel moͤg - lich, ſolches auf eine oder andre Art wieder zum Reichs-Land-Kataſter zu bringen. Der Rechts - gelehrſamkeit fehlte es an genugſamer Kennt - niß der alten Verfaſſung, und vielleicht auch an Kuͤhnheit, die Grundſaͤtze wieder einzufuͤh - ren, nach welcher, wie in England, von dem ganzen Reichsboden eine gemeine Huͤlfe erfor - dert werden mogte. Das Steuerweſen gieng alſo durch unendliche Kruͤmmungen und quere Proceſſe in ſeinem Laufe fort. Geiſtliche, Edel - leute und Staͤdte verlohren vieles von demjeni - gen, was ſie in der mittlern Zeit und bey andern Vertheidigungsanſtalten wohl erworben und verdient hatten. Der Landesherr ward durch die Nutzung des gemeinen Reichseigenthums maͤchtiger. Ehrgeitz, Eiferſucht und Fantaſie verfuͤhrten ihn zu ſtehenden Heeren; und die Noth erfoderte ſie anfaͤnglich. Der Kaiſer ſahe ſie aus dem groſſen Geſichtspunkte der all - gemeinen Reichsvertheidigung gern, erſt ohneM 3ſie180ſie nach einem ſichern Verhaͤltniß beſtimmen zu wollen, und bald, ohne es zu koͤnnen.

Jedoch ein aufmerkſamer Kenner der deut - ſchen Geſchichte wird dieſes alles fruchtbarer einſehen, und leicht erkennen, daß wir nur als - denn erſt eine brauchbare und pragmatiſche Ge - ſchichte unſers Vaterlandes erhalten werden, wenn es einem Manne von gehoͤriger Einſicht gelingen wird, ſich auf eine ſolche Hoͤhe zu ſe - tzen, wovon er alle dieſe Veraͤnderungen, welche den Reichsboden und ſeine Eigenthuͤmer be - troffen, mit ihren Urſachen und Folgen in den einzelnen Theilen des deutſchen Reichs uͤberſe - hen, ſolche zu einem einzigen Hauptzwecke ver - einigen, und dieſes in ſeiner ganzen Groͤſſe umgemahlt und umgeſchnitzt, aber ſtark und rein aufſtellen kann. Wie vieles wird aber ein Gatterer noch mit Recht fodern, ehe ein Ge - ſchichtſchreiber jene Hoͤhe beſteigen und ſein ganzes Feld im vollkommenſten Lichte uͤberſe - hen kann?

Jndeſſen bleibt ein ſolches Werk dem deut - ſchen Genie und Fleiſſe noch immer angemeſſen, und belohnt ihm die Muͤhe. Der maͤchtige und reiſſende Hang groſſer Voͤlkervereinigungen zur Monarchie und die unſaͤgliche Arbeit der Ehre oder nach unſer Art zu reden der Freyheit, womit ſie jenem Hange begegnen, oder ihrer jetzt fallenden Saͤule einen bequemen Fall hatver -181verſchaffen wollen, iſt das praͤchtigſte Schau - ſpiel, was dem Menſchen zur Bewunderung und zur Lehre gegeben werden kann; die Be - rechnung der auf beyden Seiten wuͤrkenden Kraͤfte und ihre Reſultate ſind fuͤr den Philoſo - phen die erheblichſten Wahrheiten: und ſo viele groſſe Bewegungsgruͤnde muͤſſen uns aufmun - tern, unſrer Nation dieſe Ehre zu erwerben. Sie muͤſſen einen jeden reitzen, ſeine Provinz zu erleuchten, um ſie dem groſſen Geſchicht - ſchreiber in dem wahren Lichte zu zeigen. Das Coſtume der Zeiten, der Stil jeder Verfaſ - ſung, jedes Geſetzes und ich moͤchte ſagen jedes antiken Worts, muß den Kunſtliebenden ver - gnuͤgen. Die Geſchichte der Religion, der Rechtsgelehrſamkeit, der Philoſophie, der Kuͤnſte und ſchoͤnen Wiſſenſchaften iſt auf ſichere Weiſe von der Staatsgeſchichte unzer - trennlich und wuͤrde ſich mit obigen Plan vor - zuͤglich gut verbinden laſſen. Von Meiſterhaͤn - den verſteht ſich. Der Stil aller Kuͤnſte, ja ſelbſt der Depeſchen und Liebesbriefe eines Her - zogs von Richelieu, ſteht gegen einander in eini - gem Verhaͤltniß. Jeder Krieg hat ſeinen eige - nen Ton und die Staatshandlungen haben ihr Colorit, ihr Coſtume und ihre Manier in Ver - bindung mit der Religion und den Wiſſenſchaf - ten. Rußland giebt uns davon taͤglich Bey - ſpiele; und das franzoͤſiſche eilfertige Genie zeigt ſich in Staatshandlungen wie im Roman. Man182Man kann es ſogar unter der Erde an der Linie ken - nen, womit es einen reinen Erzgang verfolgt und ſich zuwuͤhlt. Der Geſchichtſchreiber wird dieſes fuͤhlen, und allemal ſo viel von der Geſchichte der Kuͤnſte und Wiſſenſchaften mitnehmen, als er ge - braucht, von den Veraͤnderungen der Staatsmo - den Rechenſchaft zu geben.

Zur Geſchichte des weſtphaͤliſchen Friedens ge - hoͤrt eine groſſe Kenntniß der Grundſaͤtze, welche ſeine Verfaſſer hegten. Man wird von einer ſpaͤ - tern Wendung in den oͤffentlichen Handlungen kei - ne Rechenſchaft geben koͤnnen, ohne einen Thoma - ſius zu nennen; und ohne zu wiſſen, wie unvorſich - tig er ſeine Zeiten zum Raiſonniren |gefuͤhret habe. Der Stil des letztern Krieges iſt daran kenntbar, daß alle Partheyen ſich wenig auf den Grotius be - rufen, ſondern ſich immer an eine bequeme Philo - ſophie, welche kurz vorher in der gelehrten Welt herrſchte, gehalten haben. Die neue Wendung, welche ein Strube der deutſchen Denkungsart da - durch giebt, daß er wie Grotius Geſchichtskunde, Gelehrſamkeit und Philoſophie maͤchtig verknuͤpft, iſt auch an verſchiedenen Staatshandlungen merk - lich. Das oͤffentliche Vertrauen der Hoͤfe beruhet auf ſolchen Grundſaͤtzen und ſolchen Maͤnnern, und ihr Name mag wohl mit den groͤßten Feldherren ge - nannt werden. Brechen endlich Religionsmeynun - gen in buͤrgerliche Kriege aus: ſo wird ihre Ge - ſchichte dem Staate vollends erheblich. Die Eigen - liebe opfert Ehre und Eigenthum fuͤr ihre Rechtha - bung auf. Der Sieger gewinnt allezeit zu viel; er feſſelt, wie in Frankreich, zuletzt Katholiken und Reformirte an ſeinen Wagen .... Aber wehe dem Geſchichtsſchreiber, dem ſich dergleichen Ein - miſchungen nicht in die Haͤnde draͤngen; und bey dem ſie nicht das Reſultat wohlgenaͤhrter Kraͤfte ſind!

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TextVon Deutscher Art und Kunst
Author Johann Gottfried von Herder
Extent188 images; 30554 tokens; 7657 types; 214122 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationVon Deutscher Art und Kunst Einige fliegende Blätter Johann Gottfried von Herder. . [1] Bl., 182 S. BodeHamburg1773.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Lo 2882Dig: http://diglib.hab.de/drucke/lo-2882/start.htm

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Sprachwissenschaft; Wissenschaft; Sprachwissenschaft; core; ready; china

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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Lo 2882
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