Alle allgemeine Urtheile uͤber die Littera - tur eines ganzen Landes ſind ſchwer, und unſicher. Wo ſoll man ſtehen, um ſie zu uͤber - ſehen: hoch uͤber ihr; oder in ihrer Sphaͤre? Ueber ihr: wer kann ſich dahin heben? auſ - ſer der Denkart eines Volks von ihr richtig urtheilen? Wer mag es wagen, die Erde, ſeine Mutter und Naͤhrerinn, zu verlaſſen, und mit Fluͤgeln, die uns die Natur nicht gab, ſich in eine luſtige Wolke beraufzuſezzen, um ein kritiſches Meteor vorzuſtellen? — Und iſt man ſelbſt ein Punkt des Kreiſes: wie kann man, wenn man nicht der Mittelpunkt iſt, den ganzen Cirkel uͤberſehen: er vertieft ſich uns in Schatten, die Ausſtcht wird ſchief und unvollſtaͤndig: warum? man ſtand ſelbſt in der Reihe, uͤber die man urtheilen wollte:A 2man4man war ſelbſt nach der Form ſolcher Denk - art gebildet: man haͤtte, wie Archimedes, einen Punkt außer der Welt haben muͤſſen, um die ganze Welt zu bewegen.
Ein Vernuͤnftiger geht alſo zu ſolchen Be - trachtungen uͤber das Allgemeine mit einer Art von Bloͤdigkeit: er gibt ſeine Ausſichten fuͤr nichts als Erſcheinungen an: er geber - det ſich nicht wie auf einem Richterthrone in den Wolken des Himmels; er tritt aber auch nicht in eine Hoͤhle, um mit knechtiſcher Be - wunderung heraufzublicken: ſonſt koͤnnen frei - lich alle ſeine Beobachtungen, Geſichte eines verruͤckten Kopfs ſcheinen.
Aber er bittet ſeine Leſer, als Freunde, auf einen benachbarten Huͤgel: entdeckt ihnen, was er gewahr wird: befragt ſie um das Urtheil ihrer Augen; ſehen ſie nicht einerley, ſo wird der Weiſe uͤber dieſe Verſchiedenheit des Anblicks ſich wundern, und das unterſu - chen, woher der Jrrthum komme: aber ſchlechthin verlachen, oder fuͤr Thoren ſchel - ten, das thun nur die, ſo die Sprache des Kuckuks lieben. — Wer je die Wahrheit ei -ner5nes der ſchoͤnſten Bilder aus dem Lukrez er - fahren, da er ſein zweites Buch anfaͤngt:
Suaue mari magno turbantibus aequora ventisE terra magnum alterius ſpectare laborem ‒ ‒Suaue etiam belli certamina magna tueriPer campos inſtructa tua ſine parte pericli:Sed nil dulcius eſt, bene quam munita tenereEdita doctrina ſapientum templa ſerenaDeſpicere vnde queas alios, paſſimque videreErrare, atque viam palantes quaerere vitaeCertare ingenio, contendere nobilitateNoctes atque dies niti praeſtante laboreAd ſummas emergere opes, rerumque potiri. ‒ ‒
Wer dazu gebauet iſt, um die Schoͤnheit, nicht dieſer Beſchreibung, ſondern dieſes An - blicks zu fuͤhlen; dem wird mein erſtes Frag - ment Gelegenheit geben, uͤber ſeinen Jnhalt ſelbſt mehr nachzudenken.
Die Litteratur der neuern Zeiten hat ſich im Jnnern ſo ſehr nach einer lateiniſchen Form gebildet: daß, wenn wir, auch in Deutſch -A 3land,6land, auf einige Augenblicke, als Fremde ei - ner andern Zeit und Denkart ſehen wollen, wir dieſe Roͤmiſche Geſtalt nicht verkennen koͤnnen.
Nehmet den hiſtoriſchen Faden der Welt - begebenheiten, ſo wie er ſich in unſerm en - gen Geſichtskraiſe fortgeleitet, durchflochten, verwickelt, und endlich halb entwickelt, halb zerriſſen hat: — und nun ſehet! an welchem Ende hat Deutſchland ihn gefaſſet; an wel - cher Stelle haͤlt es noch bis jetzt? — Leſer! laß die Geſchichte reden: Der feine Grie - chiſche Geſchmack in Sprache, Wiſſen - ſchaften, und Kuͤnſten, muß erſt unter dem Roͤmiſchen Himmel halb verbleichen, und ſeinen Duft verhauchen: Wahrheit und Schoͤnheit halb verwelkt trau - ret, wie eine ſinkende Blume — und nun kommen Nordiſche Horden, dieſe Blume ganz zu zertreten. Die verdorbne Roͤ - miſche Litteratur miſcht ſich mit den ro - hen Begriffen ihrer Ueberwinder: Roͤ - mer und Barbarn vermiſchen ihre Denk - art: ein heiliger Orientaliſch-Helleniſti - ſcher Geſchmack koͤmmt dazu, um ihr eineneue7neue Richtung zu geben. So gaͤren Griechiſch-Roͤmiſch-Nordiſch-Orienta - liſch-Helleniſtiſche Daͤmpfe ganze Jahr - hunderte: ſie brauſen gewaltig auf: die Hefen ſinken endlich langſam, und nun! was iſt ausgegaͤhret? ein neuer Moder - ner Geſchmack in Sprachen, Wiſſen - ſchaften und Kuͤnſten. Habe ich wider die Geſchichte geredet? — Nein! — Und waͤre es alſo nicht eine nuͤtzliche Bemuͤhung fuͤr ei - nen Hiſtoriſch-Philoſophiſchen Scheidekuͤnſt - ler, dieſen Geſchmack in ſeine Theile auf - zuloͤſen: und fuͤr eine ganze Nation das ſchwe - re Geſchaͤffte zu uͤbernehmen: eine Geſchichte des menſchlichen Verſtandes zu liefern — uͤber das ganze Menſchliche Geſchlecht? — wer kennet dies? — nur uͤber die Voͤlker, die auf uns einen wirklichen Einfluß gehabt! — und uͤber ihren ganzen Geiſt? Auch nicht! Er forſche nur, wie nach den verſchiednen Wanderungen und Verwandlungen der Geiſt der Litteratur ſeine gegenwaͤrtige Geſtalt an - genommen. Solch ein Werk wuͤrde den ent - weiheten Namen: hiſtoire de l’eſprit hu -A 4main8main und Geſchichte des Menſchlichen Ver - ſtandes wieder adeln.
Uns befremdet dieſe Geſtalt nicht, oder wir werden ſie gar nicht mehr gewahr, da wir ihrer gewohnt ſind: aber was wuͤrde ein alter Weiſer aus Orient oder Athen in einem großen Theile der Wiſſenſchaften erblicken? — Jſt das wunderſame Bild ein Traum, das ich in meiner Einbildung vor mir ſehe, und das auf ſeiner Stirn den Namen traͤgt: Neuere Litteratur der Voͤlker? Es iſt ein großer Coloſſus: ſein Haupt von Orien - taliſchem Golde, das meinen Blick toͤdtet, weil es die Stralen der Sonne zuruͤckwirft: ſeine hochgewoͤlbte Bruſt glaͤnzt von Griechi - ſchem Silber: ſein Bauch und Schenkel ve - ſtes Roͤmiſches Erz: ſeine Fuͤße aber ſind von Nordiſchem Eiſen mit Galliſchem Thon ver - mengt — ein ungeheures Wunderwerk der Welt: die Anbetung eines Volks, das Ge - ſchoͤpf langer Jahrhunderte und Geſchlechter: ein praͤchtiger unabſehbarer Anblick: ſein Haupt raget uͤber die Wolken: mein Auge erhebet ſich kaum bis an ſeine Bruſt, undfaͤllt9faͤllt matt zum Boden zuruͤck: ich falle nieder und bete an! ‒ ‒ ‒
Wer da will, erklaͤre dieſes Traumbild auch von der ganzen Form unſerer Litteratur in Deutſchland: ich eile zu meinem Zweck. — Die alten Deutſchen nannten die Sprache der Roͤmer, eine barbariſche, fuͤrchterliche und hochmuͤthige Sprache, weil das Volk ſie re - dete, das zum Herrſchen uͤber die Welt ge - bohren zu ſeyn glaubte. Sie war das un - gluͤckliche Werkzeug, das freien Nationen De - ſpotiſche Geſetze gab: durch ſie machten die Roͤmer zu Geiſeln die Kinder und die Vaͤter zu Sklaven: durch ſie und durch die Wiſſen - ſchaften, die mit ihr eingefuͤhret wurden, wan - den ſie tapfern Nationen das Schwert aus der Hand, daß ſie den Arm entnervt ſinken ließen, und den Becher der Ueppigkeit annah - men; durch ſie ſuchten die Roͤmer, die Haine der Deutſchen Tapferkeit, Freiheit und Auf - richtigkeit zu zerſtoͤren, die Bewohner dieſer Waͤlder in Staͤdte und Schulen zu zwingen, und ſie mit Gelehrſamkeit und Ungluͤck zu be - ſchenken. Daher ſchauderten die Deutſchen vor dieſer Sprache, und fochten gegen ſie un -A 5uͤber -10uͤberwindlich — arme Helden! tapfre Vaͤter! ihr ſtrittet vergebens: eure Urenkel nahmen endlich dieſe Feſſel der Freiheit halb gezwun - gen, halb willig an, als eine Feſſel der Ehre — am Altar!
Wir ſehen dieſe dunkle Zeit oft aus einem viel zu einſeitigen Geſichtspunkt an: Karl der große wird als ein Ruhmwuͤrdiger und ver - dienſtvoller Monarch angeprieſen, der die Deutſche Sprache und Dichtkunſt geliebt, die lateiniſche Sprache und mit ihr die Wiſſen - ſchaften, die Religion, und mit ihr das Gluͤck ausgebreitet haͤtte. — Betrachtet ihn naͤher, und ſein Verdienſt ſinkt, wenn ſein Ruhm bil - lig pranget: er ward ein ungluͤcklicher Mann, der als ein Geſchoͤpf von Rom, ein Sohn des Pabſtes, ein Eiferer bis zur Menſchenfeind - ſchaft, ein Vertilger der Bardiſchen Littera - tur, der Vater eines ungluͤcklichen Geſchlechts, blos eine neue Epoche voll Unruhe, Unheil und nie zu erſtattenden Schadens anfing — und das alles ohne Schuld und meiſtens wi - der ſeinen Willen.
Moͤnche und Fraͤnkiſche Prieſterhorden fuͤhr - ten, das Schwert in der einen, und das Kreuzin11in der andern Hand, den Goͤtzendienſt des Pabſtes, die ſchlechteſten Truͤmmern der Roͤ - miſchen Wiſſenſchaften, und den niedrigſten Gaſſen - und Kloſter-Dialekt der Roͤmiſchen Sprache in Deutſchland ein: drei Schwe - ſtern der Barbarei und des Ungluͤcks, die mit verſchlungenen Haͤnden triumphirend einzo - gen, und das Joch uͤber eine Nation warfen, der es ſchwer fiel, es zu tragen, die unter allen Laͤndern Europens am meiſten darunter gelitten und vielleicht noch leidet. Die La - teiniſche Religion lehrte gedankenloſe Hart - naͤckigkeit im Behaupten, die Lateiniſche Litte - ratur erſtickte den Geiſt, und ſchnitzelte den Geſchmack an Spekulationen und Unſinn, die Moͤnchsſprache fuͤhrte ewige Barbarei in der Sprache des Landes ein. — Und dieſe Suͤnd - fluth muß viele Jahrhunderte durch in fauler Ruhe ſtehen, bis ſie ſich in das Mark der Lit - teratur einzog, den Geiſt der Nation vergif - tete, und in Gelehrſamkeit und Sprache und dem aͤußern Zuſtande, der die Form zur Bil - dung iſt, ewige und unausloͤſchbare Eindruͤ - cke nachließ. So bildet in dem zarten weiſ - ſen Leim der Toſcaniſchen Marmorbruͤche einefaule12faule Sumpfader ewige Figuren: ſie haͤrten ſich, werden polirt, ihnen wird nachgeholfen, und nun findet ein Thor in ihnen, weiſe Spie - le der Natur, vortreffliche Riſſe der Kunſt, Schoͤnheiten, die zum wirklichen Weſen des Marmors gehoͤren ſollen.
Wie aber? Jſt nicht dies Labyrinth durch die chriſtliche Barbarei immer noch ein Richt - ſteig geweſen zum Tage, zur Mittagsſonne? Wie wenn Deutſchland ſeinem natuͤrlichen Fortgange der Kultur uͤberlaſſen geblieben waͤre, ſollte es denn durch ſich ſelbſt, in ſo kurzer Zeit, ſo hoch gekommen ſeyn, als es iſt? Die fremde Zumiſchung von Hefen war eben ein Gaͤhrungsmittel, es zu reini - gen: haͤtte es ſich ſelbſt klaͤren ſollen, es ſtuͤnde noch truͤbe. — „ Jch habe ſo wenig Macht, alles dies voͤllig zu laͤugnen, als der andre, es voͤllig zu behaupten: Weißt du denn, ob die Roͤmiſche Barbarei dir in Betracht der Bardiſchen Barbarei, raubte, oder zubrachte: ob ſie mehr niederriß, oder beſſer bauete? — Und ſiehe! ſie hat dir alles ſo weit geraubt, daß du nicht einmal urtheilen kannſt: indeſ - ſen beſiehe die einzelnen Ueberbleibſel einigerbenach -13benachbarten Barbarei, welche der Roͤmiſchen Wuth entronnen ſind: ſo wirſt du vielleicht dieſe Bardiſche Barbarei mit andern Augen anzuſehen anfangen, als du ſie gemeiniglich ſaheſt: du wirſt zweifeln!
Jetzt denke weiter! Kein groͤßerer Schade kann einer Nation zugefuͤget werden, als wenn man ihr den Nationalcharakter, die Eigenheit ihres Geiſtes, und ihrer Sprache raubt: uͤberdenke dies, und du wirſt den un - erſezlichen Schaden ſehen. Nun ſuche in Deutſchland den Charakter der Nation, den ihnen eignen Ton der Denkart, die wahre Laune ihrer Sprache: wo ſind ſie? — Lies Tacitus, da findeſt du ihren Charakter: „ die „ Voͤlker Deutſchlands, die ſich durch keine „ Vermiſchung mit andern entadelt, ſind eine „ eigne, unverfaͤlſchte originale Nation, die „ von ſich ſelbſt das Urbild iſt. Selbſt die „ Bildung ihres Koͤrpers, iſt in einer ſo groſ - „ ſen Menge Volks, noch bei allen gleich: „ u. ſ.w. „ Nun ſiehe dich um, und ſage: „ die „ Voͤlker Deutſchlands ſind durch die Vermi - „ ſchung mit andern entadelt, haben durch „ eine langwierige Knechtſchaft im Denken,„ ganz14„ ganz ihre Natur verloren: ſind, da ſie lange „ Zeit mehr als andre ein tyranniſches Urbild „ nachgeahmt, unter allen Nationen Euro - „ pens, am ungleichſten ſich ſelbſt. „ Mit ihren Waͤldern iſt ihre Freyheit ausgehauen; den Winden und fremden Sitten ein Durch - zug verſchaffet: fuͤr Sonnenſtralen und frem - de Gewaͤchſe Raum gemacht: der Aberglaube erniedrigte die Denkart in den Staub, die ſubtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiſte ver - unſtaltende Kruͤmmung: die Sprache erlag. Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert? Das zaͤhle ein Weiſer nach, der den Paͤbſti - ſchen Aberglauben mit der alten rauhen Tu - gend, die Politiſchen Unruhen mit der alten rauhen Stille, den Auskehricht der Moͤnchs - gelehrſamkeit mit der alten Bardiſchen Ar - muth, die ſogenannte baͤuriſche Roͤmiſche Sprache mit der Altdeutſchen zuſammenwaͤ - gen koͤnnte: Waͤre Deutſchland blos von der Hand der Zeit, an dem Faden ſeiner eignen Kultur fortgeleitet: unſtreitig waͤre unſere Denkart arm, eingeſchraͤnkt; aber unſerm Boden treu, ein Urbild ihrer ſelbſt, nicht ſo misgeſtaltet und zerſchlagen.
Wer15Wer die Geſchichte kennet, wird die Ur - ſachen wiſſen, warum Deutſchland mehr als andre Nationen in dieſer Paͤbſtiſchen Barbarei gelitten, und unter den meiſten Voͤlkern ſeine hohe und edle Originaldenkart ſich hat muͤſſen rauben laſſen: weil ſeine Lage, ſeine Politi - ſche Verfaſſung u. ſ. w. es feſſelte, und ſelbſt bei der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften feſſelte. O waͤre es in dieſen Zeitpunkten eine Britanniſche Jnſel geweſen!
Der Lauf der Dinge, der Wurf der Zu - faͤlle iſt freilich nicht zu aͤndern: wie aber? wenn Europa eine Sklavinn von dem Grie - chiſchen Konſtantinopel geweſen waͤre, ſtatt vom lateiniſchen Rom? — Jmmer lieber und beſſer in Abſicht auf Religion, Gelehr - ſamkeit und Sprache. Dieſe Hypotheſe koͤn - nen die uͤberdenken, die da glauben, es ſey nothwendig eine Wolke der Unwiſſenheit da - zu noͤthig, daß hinter ihr eine Juno ent - ſtehe. Wie? wenn es eine Denkungsart und einen Geſchmack im Allgemeinen gibt, der ſich, trotz aller Umwandelungen der menſchlichen Natur und der Voͤlker der Welt, aufrecht erhaͤlt, und wieder erhebet:ſo16ſo unterſuchet bey dieſer großen ungeheuren Behauptung, auch die kleinere Hypotheſe: ob es der Denkart des Ganzen vortheilhafter ge - weſen waͤre, unter Rom oder Griechenland zu ſtehen.
Sollte es nicht verdienen, daß man dem Leitfaden in den dunkeln Zeiten ſorgfaͤltig nachginge, wie ſich allmaͤlich der alte Geiſt der Deutſchen verlohren, und der neue Geiſt gebildet habe? — Sollten es nicht die Zei - ten der ſchwaͤbiſchen Kaiſer verdienen, daß man ſie mehr in ihr Licht der Deutſchen Denkart ſezzte: wir ſind den Schweizern al - len Dank ſchuldig, daß ſie durch die Aus - gabe einiger Denkmaͤler dieſes Zeitalters ei - nen etwas hellern Stral auf die Litterarſeite dieſes Jahrhunderts geworfen. — Sollte es nun nicht Friedrich der zweite aus dieſem Hauſe inſonderheit verdienen, daß ein Ken - ner der mittlern Geſchichte ihn mehr in ſein Licht ſetzte, da er jetzt blos in der Dunkelheit hervorſchimmert. Dieſer Mann, den der Schutzgeiſt Deutſchlands brauchen wollte, um der Wiederherſteller der Griechiſchen und Morgenlaͤndiſchen Litteratur, der aͤchten Roͤ -miſchen17miſchen Sprache, der Weltweisheit und Na - turkunde zu ſeyn, der ſelbſt ein Kenner voll Gelehrſamkeit und Geſchmack war, der aber, ohngeachtet aller ſeiner Muͤhe, nichts als der Maͤrtrer ſeiner Zeit wurde: dieſer Ruhm - wuͤrdige Kaiſer hat nicht einmal das leidige Verdienſt, von unſrer Zeit, als der Morgen - ſtern eines beſſern Tages in allem ſeinem Lichte betrachtet zu werden. — Die Wolke, die auf dieſer Zeit lag, muſte jeden Keim der Weisheit erſticken: jeder Fromme war Bar - bar und Knecht, und jeder, der ſich unterſtand, weiſe zu ſeyn, heißt in der Geſchichte ein Dummer, und Gottloſer, oder ward gar ein Ungluͤcklicher. — Sollte es alſo Ru - dolph von Habspurg auch blos aus Un - wiſſenheit gethan haben, daß er die Mutter - ſprache Deutſchlandes ſo weit einzufuͤhren ſuchte, als er konnte: — man haͤtte dies lange vor ihm thun ſollen. Jedoch ich ſchreibe keine Geſchichte uͤber dieſe Zeit, da Deutſch - land an Geiſt und Koͤrper unterdruͤcket, durch Zwietracht, Unwiſſenheit und Bosheit ent - nervt, voͤllig ſeinen Charakter verlohren.
Fragm. III S. BNon18Non ſum, qui bellum Troianum orditur ab ovo; Semper ad eventum feſtino atque in medias res Non ſecus ac notas, auditorem rapio ‒ ‒
Es kam endlich der Zeitpunkt, da alles eine neue Bildung bekam: Denkart und Re - ligion, Geſetze und Sitten: es kam die Zeit, da die Gaͤhrungen ganzer Jahrhunderte ſich ſenkten, die in Staub geſunknen Nationen ſich erhoben, und ein Land nach dem andern die Finſterniſſe zerſtreuete, und ſich zu einem neu anfgehenden Lichte draͤngete: es kam die Zeit, da die Wiſſenſchaften wieder auflebten, und ſich die Natur der Menſchen umſchuf. — Darf ich weiter ſchreiben? —
Nein! ich darf nicht: ſo bald ich die Maͤhrchen von goldnen Zeitaltern der Wiſ - ſenſchaften als hiſtoriſche Wahrheiten betrach - ten muß: ſo bald die herrſchende Meinung ein unumſtoͤßlicher Grundſatz wird: daß nach einer langen Barbarei ſich auf einmal eine allgemeine, und vollkomne Weisheit her - vordraͤnge, daß auf einmal eine Wiederher - ſtellung moͤglich ſey, da ganze Nationen ihre ganze Denkart voͤllig aͤndern, ein allgemeines Nachdenken die Verirrten aus den tiefſtenWuͤſten19Wuͤſten voͤllig zu der richtigſten Straße nicht hinfuͤhre, ſondern durch ein Wunder hin - werfe: daß jede falſche Farbe abgeſtrichen, der falſche Geſchmack voͤllig umgeſchmolzen, die ganze Bildung umgeſchaffen werde, ſo bald drei glaͤnzende Muſter erſcheinen: kurz! wenn jene wunderbare Umwandelungen Statt finden, die die Mitternacht zum Mittage ma - chen: ich ſage, ſo bald dieſe glaͤnzende Poe - tiſche Maͤhrchen die Merkſtaͤbe ſind, zu denen man in der Geſchichte des menſchlichen Ver - ſtandes alles hinleitet, und alles ableitet: ſo kann ich nicht ſchreiben.
Faͤnde ich aber einen Leſer, der dieſe wun - derbare ploͤtzliche Revolutionen unmoͤglich findet: der mit mir uͤberdenket, wie ſie ihrem Jnnern nach dem menſchlichen Verſtande, und der Analogie aller Begebenheiten, zuwi - der ſeyn; wie ſelbſt die Verderbungen und Suͤndfluthen uͤber Gelehrſamkeit und Ge - ſchmack, die doch weit eher hinreißen, nicht durchaus auf die letzte Stuffe mit einem mal ſinken, ſondern ſich allmaͤlich neigen, und endlich zuletzt, mit einer beſchleunigten Kraft in den Abgrund ſtuͤrzen; wer ſich Zeit nimmt,B 2die20die Urſache zu uͤberdenken, woher ſo ein ploͤtz - licher Morgenſtral uns in entferntern Zeital - tern wie eine Mittagsſonne ſcheine; der wird meine folgende Anmerkungen nicht ſchlechthin verwerfen, und ſie vielleicht wahr und nuͤtzlich finden.
Das weiß man, daß die Griechiſchen Mu - ſen nach Jtalien fluͤchteten, daß die Apolls dieſer Muſen, die von Medicis, unſterbliche Verdienſte um die Erweckung der Litteratur haben: daß von hieraus die Reformation der Wiſſenſchaften in die uͤbrigen Laͤnder ausge - gangen. Weiß man nun die Geſchichte dieſes Zeitpunktes genau: ſo pruͤfe man folgendes:
Jſts nicht Schade, daß die Wiſſenſchaf - ten ihren Lauf dergeſtalt nahmen, daß ſie ſich ſo gleich in eine neuroͤmiſche Kleidung einhuͤllten, und in dieſer Geſtalt den Voͤlkern erſchienen? Statt, daß man die Alten haͤtte erwecken ſollen, um ſich nach ihnen zu bilden,und21und gleich den zarten erſten Eindruck darauf richten ſollen, um von ihnen den Geiſt ſich einhauchen zu laſſen, den man braucht, um nach ſeiner Zeit, und in ſeinem Lande, wahre Groͤße zu erreichen: ſo blieb man bei der aͤußern Schale ſtehen, lernte was die Alten gedacht, ſtatt wie ſie zu denken, lernte die Sprache, in der ſie geſprochen, ſtatt wie ſie ſprechen zu lernen. Man weiß, wie wenig originalen Geiſt man in dieſen uͤbrigens ſehr verdienten Philologen antrift: und man muß uͤber die Schwaͤche des menſchlichen Geiſtes die Achſeln zucken, wenn man ſieht, wie das Denken unter der Laſt der Gelehrſamkeit er - liegt, wie die Erfindung ſich bei dem kuͤnſtli - chen Nachahmen zerſtreuet, und die ſchoͤne fremde Sprache den Dialekt des Landes zaͤumet.
Dazu koͤmmt noch, daß die großen Wie - derherſteller der Wiſſenſchaften oft, ſo wie die, ſo ploͤtzlich voll Bewunderung ſtaunen, und auf das erſte, das beſte ihr Auge heften, nicht immer das Wichtigſte durchforſchet, und nicht immer den aͤchten griechiſchen Geiſt gekoſtet. Uebermannet und betaͤubt vom Vor -B 3urtheile22urtheile des Anſehens fiel der ermuͤdete Blick auf Nebenzuͤge, die da eher verwirrten, als zum Ziel fuͤhrten. Urtheile, mein Leſer, der du dies Zeitalter kenneſt: wie nutzet Mar - ſilius dem Plato in ſeiner Ueberſezzung und Erlaͤuterung? Hat nicht Politianus den Homer, wie es ſcheint, romaniſiret? Und wenn Poggius ſich mit ſeinem Quintilian, Gaſparion, Valla, Manutius, Bem - bus u. ſ. w. ſich ſo mit ihrem Cicero um - huͤllten, daß ſie blos mit ihm dachten, ſahen und ſprachen — gab dies nicht immer dem ganzen Gebaͤude der Wiederherſtellung eine Roͤmiſche Richtung. Man verſtrickte ſich in gelehrten Geiz zu ſammten, der ſehr leicht aus dem Gefuͤhl der Armuth und Noth ent - ſpringt, und vergaß, ſich in den Stand zu ſetzen, etwas zu verdienen, weil man vom Raube leben konnte, oder ſich zum Selbſt - verdienen zu ſchwach fuͤhlte.
Auf dieſen Fuß gingen die Verbeſſerungen in die Laͤnder Europens. Der Spaniſche Vives und Sanktius, die Wiederher - ſteller der Litteratur in Frankreich und Eng - land; in Deutſchland die Agrikola’s, Re -giomon -23giomontans u. ſ. w. was waren ſie? Philo - logen, die in Jtalien meiſtens gezogen, latei - niſch dachten, und die Wiſſenſchaften, die ſich zur neuen Form gebaren, mit lateiniſchem Waſſer tauften. Die lateiniſche Form hat ſich von dieſem zarten Alter an ſehr erhalten: der Zuſchnitt der Gelehrſamkeit, die Stiftung und Einrichtung der Akade - mien, die Zunftgeſezze der Litteratur, die Schulen und die Bildung im Ganzen ward Roͤmiſch — und iſt es noch.
Jn Deutſchland hat Luther in dieſem Ge - ſichtspunkt unendlich Verdienſt. Er iſts, der die deutſche Sprache, einen ſchlafenden Rie - ſen, aufgewecket, und losgebunden: er iſts, der die ſcholaſtiſche Wortkraͤmerei, wie jene Wechſelertiſche, verſchuͤttet: er hat durch ſeine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefuͤhl erhoben. Laß es alſo ſeyn, daß ihm der feinſte Pedant, den vielleicht die Welt geſehen, Eraſmus, Schuld gab; er thaͤte der lateiniſchen Litteratur Abbruch — Dieſer Vorwurf bringt ihm keine Schande, und man darf ihn alſo nicht wider die Geſchichte laͤugnen: denn lateiniſche Religion, ſchola -B 4ſtiſche24ſtiſche Gelehrſamkeit und Roͤmiſche Sprache waren zu ſehr verwebt in einander.
Das ſeltſame Urtheil des ſeel. Chriſts iſt nur dem erſten Anblick nach ſelten: die deut - ſche Sprache habe ſeit dem 16 ten Jahrhundert viel von ihrer Vortreflichkeit verlohren. Be - trachtet man es naͤher, und hat wahres Ge - fuͤhl von der innern Staͤrke einer Sprache: und vermag die wichtigen Vortheile der Schwaͤbiſchen Saͤnger, und die koͤrnichte Sprache deutſcher Schriftſteller voriger Zei - ten; oder auch nur den Vater Opitz in ſei - ner Proſe und Poeſie zu ſchmecken: ſo muß man bei der Ruͤckkehr zu unſrer neueren Sprache, man muß ausrufen: das iſt ganz ander Deutſch! Jenes hat ganz andre Feh - ler und ganz andre Schoͤnheiten; der Geiſt hat ſich veraͤndert. Alsdenn werden freilich die Reulinge unſere junge Mundart loben, und ſie haben Recht; denn unſtreitig iſt ſie gelaͤufiger und runder im Perioden, artiger in Beſtimmung der Wortwuͤrde, und kuͤnſt - licher geworden. Aber ein aͤchter Deutſcher wird ſich aus dieſer rauhen und einfaͤltigen Sprache unendlich viel zuruͤckwuͤnſchen; erwird25wird ſich die Muͤhe nicht verdrießen laſſen, in dem Kothe der alten deutſchen Ennius Gold zu ſuchen: er wird alsdenn denen flu - chen, die uns dieſe Sprache entwandt; er wird dem Eigenſinne des guten Chriſts wenigſtens voͤllig Recht geben, da er erſt uͤber ihn lachte. Kommet her, ihr neuern ſchoͤnen Geiſter, ihr Franzoͤſirenden Wizzlinge, ihr Proſaiſch - Poetiſche Stolperer, ihr beruͤhmten Wochen - ſchriftſteller, ihr gelehrten Weiſen im akade - miſchen Paragraphenſtil, ihr erbaulichen Redner im Kanzelſtil: verſucht es doch, aus euren reichen Vorrathskammern ein Buch unſres Jahrhunderts zu ſuchen, das in Ab - ſicht der Schreibart die Wuͤrde der Bibel - uͤberſetzung des Luthers erreichte. Verſucht es, dieſe arme, ſimple, veraltete Bibeluͤber - ſetzung, uͤber die mancher Neuling am Ge - ſchmack ſpottet, mit einigen neuern Verbeſſe - rungen zuſammen zu halten. Leſet Luther, und denn den Wertheimer in ſeinem Para - graphenſtil, mit Wolfiſchen Kunſtausdruͤ - cken verbraͤmt; ihr werdet ſolch einen Unter - ſcheid finden, als zwiſchen dem Griechiſchen Homer, und dem Deutſchen Homer, wennB 5er26er in der Sammlung alter Reiſebeſchrei - bungen, als ein reiſender Schulmeiſter in Paragraphen uͤberſezzt iſt. Und doch iſt der Wertheimer in ſeiner Vorrede ein wirkliches Muſter der Schreibart: was ſoll man nun ſagen, wenn man Dammiſche Ueberſezzun - gen, oder Akademiſche Paraphraſen lieſet — ich rede hier blos von der Schreibart nach ihrer innern Staͤrke.
Die Litt. Br. fuͤhrten aus Lohenſtein*Litt. Br. Th. 21. p. 139. ein Muſter des Proſaiſchen Styls an: wir koͤnnten aus vielen Schriftſtellern der vorigen Jahrhunderte noch mehr Beiſpiele geben, daß der gute koͤrnichte Vortrag nicht ſo fremde geweſen, als man meynt. Die deutſche Sprache aber kroch meiſtens unter akademi - ſchen oder homiletiſchen Feſſeln: ſie hatte keinen Glanz, keine Reinigkeit, aber innere Staͤrke mangelte ihr nicht. Der ganze Schade war: man ſahe ſie als keine gelehrte Sprache an, denn dazu war allein die Latei - niſche gekroͤnt: man achtete ſie blos als die Sprache des gemeinen Volks, und unterließihre27ihre Cultur. Wer dies Jahrhundert kennet, wird mir Recht geben, daß blos die lateini - ſche Sprache die unſrige zuruͤckgehalten, weil man bei den gelehrten Zaͤnkereyen, die mit zum herrſchenden Ton des Ganzen gehoͤren, theils der ſcholaſtiſchen Handwerksſprache, theils der ſchoͤnen lateiniſchen Sprache noͤthig hatte. Man gehe die beſten Schriftſteller dieſer Zeit durch: entweder Roͤmiſch - oder Akademiſch Latein iſt ihre Mundart: die Mutterſprache ward als eine Mundart der Muͤtter, der Weiber und der Ungelehrten angeſehen. Jſts nicht eine wahre Schande dieſer Zeit, daß es große und ſchoͤnlateini - ſche Schriftſteller dieſer Zeit gibt, die in ihrer Sprache Barbarn waren, daß es Maſore - then der Priſciane gab, die jede deutſche Zeile laͤcherlich machte, die die Proſodie Anakreons verbeſſerten, und ihre Sprache in Schlacken ließen: Deutſche Roͤmer, die der genius ſeculi in ſeiner genealogia criticorum ſo ziemlich herzaͤlet.
Endlich fing man an, beſchaͤmt von den Nachbarn ringsumher, die Sprache zu beſ - ſern, — aber wie? — als eine gelehrteSpra -28Sprache, um vielleicht die ſcholaſtiſche La - teiniſche einzuſchraͤnken? nein! denn das haͤtte von Akademien geſchehen muͤſſen, und hier regierte noch Ariſtoteles! — als eine ge - lehrte Sprache, um uns, ſtatt des ſchoͤnen Lateiniſchen Stils, einen ſchoͤnen Deutſchen Buͤcherſtil zu geben? — das haͤtte von Schulen aus geſchehen muͤſſen, und da herrſch - ten noch Roͤmiſche Monarchen! Wie denn? — Großer Gott! als eine Politiſche, als eine Galante, als eine Reimreiche Sprache ſuchte man ſie zu bilden: war das nicht am umgekehrten Ende? Und wer unternahm dieſe Schoͤpfung zum Politiſchen, zum Galanten Stil? Etwa Hofleute — nein! treufleißige Schulrektors, Uhſens, und Weiſens, und Huͤbners (von welchem letztern ich hier nicht weiter, als in Bildung der Sprache, urtheile.) Und wie bildeten ſie ihn denn Galant? nach Franzoſen, durch eine Suͤndfluth franzoͤſi - ſcher Woͤrter: nun kamen die Menantes und Talanders und zehn andre Anders: ſo war die deutſche Sprache von einer andern Seite gemißhandelt.
Gott -29Gottſched erſchien, und „ der hat doch „ aus der Sprache gewiß alles Latein und „ Franzoͤſiſch ſo gluͤcklich weggeſchwemmt, daß „ einem wackern Deutſchen kein Lateiniſches „ Wort mehr in die Feder kommen muß! „ Ja, das hat er gethan! Er hat als ein ruhm - wuͤrdiger Goldfinder (nach der Bedeutung dieſes Worts im Engliſchen) den Stall des Augias mit Herkuliſcher Hand durchwaͤſſert und gereinigt, und hat mit eben ſo tapferer Hand ſeinen Ruhm an jedes Fenſter des ge - reinigten Pallaſtes geſchrieben und ſchreiben laſſen: Dies iſt ſein Verdienſt — Aber dazu braucht man ja auch blos geſunde Augen und einen guten Kopf, zu ſehen, daß er die Deutſche Sprache viel zu Lateiniſch be - handelt, wie es ihm Heinze und andre mit Recht geſagt. Und ſo ward ſie waͤßericht, und wenigſtens die deutſche Grammatik wie - der nach lateiniſchem Leiſten: man verachtete die alte deutſche Kernſprache*Zum unſterblichen Ruhm des Hrn. D. Tril - lers muß ich, damit ich nicht zu den „ unbaͤn - „ digen und gallſuͤchtigen Muͤckenſeigern,zu. SeineNach -30Nachfolger, und zum Theil Gegner, ſuchten ſie fruchtbar zu machen, wodurch? — Durch Nachforſchen in altdeutſchen Woͤrtern, in den Zeiten ihrer Nervenvollen Staͤrke, wie es der natuͤrlichſte Weg geweſen waͤre, um ihr Charakter auf ihrem Boden zu geben? Nein! denn die langen lateiniſchen Zeiten hat - ten dieſe Denkmaͤler theils weggebracht, theils war die Arbeit zu muͤhſam: was that man alſo? man uͤberſezzte: und bildete ſie inſon - derheit nach der Franzoͤſiſchen: durch die ſie freilich unglaublich viel gewonnen, und ſich gebildet, aber nicht zum Urbilde ihrer ſelbſt: wie es haͤtte ſeyn muͤſſen, wenn man aus ihren vorigen verlebten Zeitaltern, ihr die abgegangnen Kraͤfte haͤtte zu erſetzen geſucht.
Unſre*„ zu einigen großen und breiten Kunſtrichtern, „ zu elenden und ſchwindſuͤchtigen Fuͤchſen, ſon - „ dern zu vernuͤnftigen und hoͤflichen Leſern „ gehoͤre, ſeine ſtattlichen Verbeſſerungen des Opitz „ nach loͤblicher chriſtlicher Gewohnheit „ edelmuͤthig „ loben, als mit welcher er ſich um den Opitz ſelbſt und deſſen Leſer nach Ver - moͤgen verdient zu machen geſucht: wie in ſeiner Vorrede mit mehrerm zu erſehen.
31Unſre Sprache iſt alſo jetzt gebildet und verſchoͤnert, aber nicht zu dem erhabnen Gothiſchen Gebaͤude, das ſie zu Luthers Zeiten, (etwas Moͤnchsſprache ausgenom - men) und nochmehr zu den Zeiten der Schwaͤbiſchen Kaiſer war: ſondern zu einem neumodiſchen Gebaͤude, das mit frem - den Zierrathen uͤberladen, bei ſeiner Groͤße, klein und unanſehnlich ins Auge faͤllt. — Dies beobachten nun am eheſten die, welche unter den Sprachen der Alten wandeln, und dies iſt der Grund, warum die Geßners, und Chriſte, und noch neuerlich Heinze*Litt. Br. Th. 13. p. 118. 119., „ uͤber das Neumodiſche und Glaͤnzende in „ unſrer Sprache klagen, das durch die vie - „ len Morgenlaͤndiſchen, Griechiſchen, Engli - „ ſchen und Franzoͤſiſchen Redensarten einge - „ fuͤhret wuͤrde. „ Wenn Heinze mehr als Worte verſteht: ſo hat er nicht Unrecht, und ſein Recenſent wuͤrde zugeben, daß, wenn durch die Aufnahme fremder Buͤrger ein Staat allein bevoͤlkert wird, ſo werde dieſe Bevoͤl - kerung leicht ſchaͤdlich; denn ſie verdraͤngenbald32bald die Eingebohrnen, und der Charakter des Staats geht alſo verloren, wenn ſie auch eben nicht neue Geſezze einfuͤhren.
Aber warum laͤßt Heinze unter den An - koͤmmlingen, denen er den Eintritt verſagt, wohlbedaͤchtig die lateiniſche Redarten, und Wortfuͤgungen aus? verliert ſich durch ſie nicht das alte reine Deutſche, das er erhalten will? Mehr, als durch alles Vorige: denn das Morgenlaͤndiſche iſt ſeit Jahrhunderten mit unſrer Religionsſprache verwebt, und wird ſich nie, dem herrſchenden Tone nach, trennen: das Engliſche iſt mit unſrer Sprache ſehr verwandt: das Franzoͤſiſche hat ſich mit einem Theil unſrer neuern Cultur heruͤberge - tragen; dieſe beiden Stuͤcke ſind alſo auch nicht immer zu trennen; vom Griechiſchen iſt noch wenig angewandt; aber vom Lateini - ſchen, das faſt mehr, als alle vorigen Spra - chen, vom Genie der unſrigen abgehet, und ihr ſo lange hinderlich geweſen, von ihm hat ſie am meiſten unter dieſen zu beſorgen.
Daher ſchreibt Heinze zwar rein Deutſch; aber auch naiv koͤrnicht Deutſch? — Jch habe ſein Soliloquium: quo conſilio geni -tus33tus ſit homo? in ſeinem ſchoͤnen Latein mit Vergnuͤgen geleſen; (ob es aͤcht Roͤmiſch iſt, kann keiner in unſrer Zeit, ſondern bloß ein Roͤmer, beurtheilen.) Aber haͤtte ein Roͤmer dies Soliloquium geſchrieben, und Heinze es uͤberſezzt: waͤre alsdenn der ſtarke, und nachdruͤckliche Vortrag erſchienen, der in Spaldings Beſtimmung des Menſchen ſpricht? Wenn ich ſeine Ueberſezzungen aus dem Lateiniſchen kenne, und ein Gefuͤhl von der Eigenheit unſrer Sprache habe: ſo glaube ich dies ſchwerlich.
Der deutſche Periode iſt gemeiniglich die Klippe derer, die ihre Denkart nach dem La - tein gebildet: „ denn hier ſind die Genies „ beider Sprachen ſehr verſchieden. Jm „ Deutſchen iſt ein Styl ſchon periodiſch, wenn „ auch die Bindewoͤrter der Lateiner nicht ſo „ genau dazwiſchen geſtellet, und die Abſaͤzze „ ſo gekettet an einander gehaͤnget ſind. Die „ Roͤmer muſten dies wegen der Kuͤrze ihrer „ Worte thun, wenn ſie nicht in den abge - „ ſchnittenen Styl verfallen wollten. Jm „ Deutſchen aber, welcher Unterſchied! Wenn „ wir die Perioden nicht ſchleppen wollen, muͤſ -Fragm. III S. C„ ſen34„ ſen wir ſie manchmal trennen; und wenn „ wir nicht ganz zuruͤckbleiben wollen, muͤſſen „ wir unſrer Sprache Huͤlfe geben*Litt. Br. Th. 13. p. 120.. „ So ſchleppet ſich, wenn ich nicht irre, auch in Klotzens ſchoͤner Schrift: uͤber das Stu - dium des Alterthums, der Periode manch - mal, und der große Joh. Matth. Geßner empfand dies ſehr wohl, da er in der Vor - rede zu ſeinen Deutſchen Schriften hier - uͤber ein ungeheucheltes Bekaͤnntniß ablegt, das der Beſcheidenheit dieſes Mannes Ehre macht. Das wahre Deutſch unſrer Vaͤter geht auch zu ſehr von dem Latein ab; als daß ſie neben einander ſeyn koͤnnten. Unſre Seele bauet, mit Montagne zu reden, dieſe Stockwerke uͤber einander, und welches ſoll das unterſte von allen, und die Grundlage ſeyn? — Eine fremde, oder die Mutterſprache? — Die letztere ohne Zweifel; oder ſie muß das Joch der Lateiniſchen tragen.
Wenn man nun dieſe Winke verfolgt, und die Geſchichte der deutſchen Sprache durch - gehet: ſollte es ſo gar fremde ſeyn, daß ſiedurch35durch die lateiniſche Sprache gelitten, und ihren Charakter verloren? —
Aber man blicke etwas weiter: wenn die lateiniſche Sprache, es ſey die mittlere, oder alte ſogar unſre Bildung feſſelt, ſtatt ſie zu erheben; ja dieſelbe Jahrhunderte durch ge - feſſelt hat: ſollte denn der Schade unbedeu - tend ſeyn?
So bald man es zu einem letzten Zweck macht, Lateiniſch zu lernen; und dieſe an ſich ſo angenehme und nuͤtzliche Sprache nicht blos als Mittel gebraucht, um durch ſie Geſchichte zu lernen, in den Geiſt großer Maͤnner zu blicken, und gleichſam das ganze Gebiet einer ausgebildeten vortreflichen Spra - che ſich zu eigen zu machen: ſo wird den Mu - ſen Latiums zu viel Raum in den Schulen, und zu viel Antheil an der Erziehung gelaſ - ſen. Jch dehne dies bis auf einzelne Stuͤcke aus: ſo bald die Erklaͤrung eines Autors, oder der Autor ſelbſt, der Jugend nichts alsC 2Worte36Worte und mechaniſchen Styl zu lernen gibt: ſo bald die Methode eines Lehrers oder die Materie der vorgegebenen Uebungen, auch nur zum Hauptzweck hat, die Wahl und Stellung der Worte Grammatiſch genau ein - zupraͤgen: und wenn ſo gar in dem ganzen Plan einer Schule oder einer Unterweiſung ein gewiſſer lateiniſcher Geiſt herrſcht, der auf der andern Seite die groͤſten Maͤngel nach ſich ziehen muß: ſo opfert man der lateini - ſchen Sprache, ſie ſey ſo ſchoͤn und nuͤtzlich, als ſie wolle, zu viel auf*Wer von unſern Philologen iſt ein Geßner, an Kaͤnntniß und Liebhaberei der Roͤmer; und wie ſehr er den lateiniſchen Geiſt in un - ſern Schulen haſſet, das moͤgen ſeine kleine Deutſche Schriften beweiſen: das macht aber, Geßner war nicht blos ein roͤmiſcher Philolog: er war ein Schulmann, der wahre Unterweiſung kannte..
Zu viel von Seiten der Jugend. Es iſt gewiß, daß das Gedaͤchtniß unſrer bluͤhenden Jahre allein faͤhig iſt, Sprachen in ihrem gan - zen Umfange zu erlernen; und daß man die - ſe Zeit alſo, die zu den nothwendigen Sprachendie37die einzige iſt, nicht verſaͤumen muͤſſe. Jch gebe es auch gerne zu, daß jede Methode, die das Gedaͤchtniß in dieſem Fruͤhlinge un - fruchtbar und muͤßig liegen laͤßt, es auf eine ganze Lebenszeit ſehr verderbe, weil es wie ein unbeſaͤter wilder Acker durch unzeitiges Schonen untauglich und ausgemergelt wird (man erlaube mir dies Wort.) Aber das gebe man mir doch auch zu, was ich nur gar zu oft aus Erfahrung gelernt, und nicht gnug uͤberdenken kann: daß unſre Seele bei ihrem unendlichen Durſt nach Wahrheiten, doch nie eine unendliche Menge derſelben faſſen kann: daß ſie uns ſehr bald wie ein beſchrieb - nes Blatt vorkomme, wo man am Rande und zwiſchen die Reihen freilich noch vieles nuͤtzliche zuſchreiben kann; aber der ganze Anblick des Blattes iſt beſchrieben; ungluͤck - lich! wenn man ſagen muß, es iſt beſchmie - ret, oder verſchwendet: alsdenn laͤßt frei - lich der Reſt es zu, zu beſſern und auszuſtrei - chen; aber im Ganzen iſt der Schade unerſezlich.
Es iſt eine Wahrheit, die mehr als eines Schulprogramms werth waͤre: daß mancheC 3Wiſ -38Wiſſenſchaft, manche Geſchicklichkeit kein an - dres Opfer, als die Erſtlinge unſrer Jahre, unſrer Munterkeit, und unſrer Begierde, an - nehmen koͤnne; daß zu gewiſſen Bildern und Begriffen ein gewiſſer erſter Adlersblick noͤthig ſey, die man, wenn dieſer fehlt, nach - her nie im gehoͤrigen Lichte ſieht, nie mit der gehoͤrigen Macht empfindet, nie mit dem wahren Feuer denket, und im ganzen Um - fange umfaſſet. Es kam auf den erſten all - maͤchtigen Eindruck an; iſt dieſer verfehlet, ſo iſt alles verloren: verloren der erſte unerklaͤr - liche Scharfſinn, der nie durch Geduld und Fleiß erſezzt wird: verloren das große inner - liche Gefuͤhl eines Bewußtſeyns, daß man das Ganze habe; verloren das Hausherren - und Eigenthumsrecht, mit dieſen Begriffen ſchalten und walten zu koͤnnen; kurz verlo - ren, das was man Genie nennt. — Nachher kann man freilich viel lernen, aber nicht mehr mit der kuͤhnen und muntern Anwendung auf ſein Jch, daß man es, mit allem Nach - drucke, koͤnnte faſſen, nennen: man kann al - lerdings viel andern nachdenken lernen, al - lein mit ihnen mitdenken, oder ihnen garvor -39vordenken, wird man niemals mehr: kurz! man wird noch viel wiſſen, aber nicht mit dem Lichte der Anſchauung und Selbſtgefuͤhl, daß dies Wiſſen auch bildete: ein Wort, das in unſrer Erziehung ſo oft genannt, aber wenig durchdacht, und noch weniger aus - geuͤbt wird.
Jch muß dieſe Samenkoͤrner einer aͤußerſt wichtigen und reichen Materie nur im Vor - beigehen hinwerfen, und mich zuruͤckfinden. Wenn die lateiniſche Sprache Hauptzweck wird: ſo wird der Blick des Juͤnglings von allen dieſen Ausſichten abgewandt, und mit dem grammatiſchen Zepter, wie mit einem gluͤhenden Eiſen, auf einmal geblendet. Seine Wange wird zu Runzeln eines grammati - ſchen Sophiſten gewoͤhnt: Falten, die er aͤuſ - ſerſt ungern annimmt, und die nachher nie voͤllig und ohne Merkmal verſchwinden koͤn - nen. Die erſte Farbe, die unſrer Denkart aufgetragen wird, verliert ſich nie; wehe uns! wenn ſie uns unangenehm, oder gar verunzie - rend iſt. Seufzen muß der Menſchenfreund, wenn er ſieht, wie in den Schulen, die mit dem Namen: Lateiniſche Schulen prangen,C 4die40die erſte junge Luſt ermuͤdet, die erſte friſche Kraft zuruͤckgehalten, das Talent in Staub vergraben, das Genie aufgehalten wird, bis es, wie eine gar zu lange zuruͤckgehaltne Fe - der ſeine Kraft verliert. Wer ſollte je auf den Gedanken fallen, daß die Methode der Sprachenerziehung*Unter den vielen neuern Schriften uͤber die Schulen nenne ich die kleinſte und vielleicht beſte: Millers Hoffnung beſſerer Schu - len. Es wuͤrde hier zu weitlaͤuftig ſeyn, alle brauchbare Gedanken dieſes deutſchen Rollins anzufuͤhren: es hat mich unendlich vergnuͤgt, daß mein Embryon vom Plan mit den Ge - danken eines ſo erfahrnen Mannes uͤberein - ſtimmet, aber wie mich duͤnkt, verwechſelt er hier und da die lateiniſche Sprache, mit der ganzen Philologie, urtheilet uͤber die Mytho - logie aus einem fremden theologiſchen Geſichts - punkte, und ſchreibt vielleicht aus chriſtlichem Eifer: „ Die enthuſiaſtiſche Dacier hat ihrem „ Goͤttlichen Homer alle Pflichten gegen ihre „ Seele und die Geſellſchaft aufgeopfert — „ wer die erloͤſeten Seelen des Heilandes liebt, „ wird ſich nie verleiten laſſen, die verfuͤhre - „ riſchen Reize in Uz Lyriſchen und andern Ge -dichten fuͤr die Jugend paßlich ſey: wenn man ſich nur einmal aus unſrerDenk -41Denkart hinausſezt; allein wie ſchwer wirds ſich da hinaus zu ſezzen? Und denn kann eine Betrachtung, wenn man ſie auch als wahr erkennen ſollte, von Jugend auf eingewurzelte Vorurtheile zerſtoͤren, die den Erziehern zur andern Natur geworden? Kann eine kalte Wahrheit einem fuͤhlloſen Eigenſinne Gefuͤhl geben? Kann ſie Pedantenſeelen ſo ergreifen, daß ſie, wenn ſie ſich auch in allem Lichte zeiget, ihnen auch den Willen einfloͤßt, nach ihr handeln zu wollen, die Kraft einfloͤßt, nach ihr handeln zu koͤnnen, die Menſchenguͤte einfloͤßt, wider Gewohnheit und Beiſpiel nach ihr zu handeln? ‒ ‒ Unterdruͤckte Genies! Maͤrtrer einer blos lateiniſchen Erziehung! o koͤnntet ihr alle laut klagen! —
„ Was iſt denn aber an Genies gelegen? „ deſto mehr liegt uns an brauchbaren Maͤn - nern. Zu dieſen wird eine gluͤckliche Tem - peratur von Gaben und GeſchicklichkeitenC 5erfo -*„ dichten zu erklaͤren. „ u. ſ. w. Uebrigens ſchaͤzze ich dieſen Verdienſtvollen Mann, und wuͤnſche, daß einige ſeiner Hoffnungen bald Erfuͤllungen wuͤrden.42erfodert: eine gewiſſe Mittelmaͤßigkeit, die ſich nicht zu Genies und Geiſtſchoͤpfern he - bet, und nicht zu dummen Dorfteufeln her - abſinket: eine mitlere Groͤße, die eben den Punkt der Nutzbarkeit trift. Von dieſem Punkt aus werden die Linien zu Realſchulen gezogen, die dieſen Hauptzweck haben, brauch - bare und tuͤchtige Maͤnner zu bilden, und den vorigen Plan zum Schattenriſſe ihres ganzen Gebaͤudes haben: eine gewiſſe Tem - peratur, die die gemeinſte, brauchbarſte und gluͤcklichſte iſt.
Realſchulen muͤſſen ſich zuerſt nach den meiſten Subjekten richten; von da koͤnnen ſie am fuͤglichſten auf beide Seiten auslen - ken: zu Genies und Blindgebohrnen. Sie muͤſſen ſich nach den meiſten Zwecken der Brauchbarkeit richten, von denen die meiſte weder ein Maximum noch Minimum fo - dern, und leiden koͤnnen. Sie muͤſſen ſich nach der Mehrheit der Werkzeuge richten, die da bilden ſollen, weil wieder das recht hohe und recht tiefe gleich ſelten und gleich unbrauchbar iſt. — Wenn nun dieſe gluͤckli - che Miſchung das Meiſterſtuͤck bei Erziehungund43und Unterricht iſt (wie es einem jeden, der die Welt, die menſchliche Seele kennet, uͤberlaſſen wird zum Nachdenken), ſo kommt alles aus ſeinem Gleichgewichte, wenn wir fuͤr Latium erzogen werden, und die lateini - ſche Sprache der herrſchende Ton des Ganzen wird. Die Welt braucht hundert tuͤchtige Maͤnner und einen Philologen: hundert Stel - len, wo Realwiſſenſchaften unentbehrlich ſind; einer, wo eine gelehrte und grammatiſche Kaͤnntniß des alten Roms gefodert wird.
Nun ſchraͤnke ich mich drittens ſo gar auf die Sphaͤre eines Gelehrten ein; auch in ſei - ner Bildung kann der lateiniſche Geiſt feſſeln, ſo gut als in der Bildung des Genies und brauchbaren Mannes. Jch ſezze hier ſchon wahre Bildung voraus, daß man ihn nicht blos mit den Worten, den Gebraͤuchen und Alterthuͤmern; ſondern mit dem Sinn der Roͤmer bekannt mache, und dieſe ihm zum Muſter der Nachahmung vorhalte — ſelbſt hier ſezze ich eine kleine Einſchraͤnkung hinzu. Das iſt doch einmal gewiß, daß die Roͤmer auf einer andern Stufe der Cultur geſtan - den, als wir, daß wir ſie in einigen Stuͤckenhinter44hinter uns haben, und in andern, wo ſie vor uns ſind, nicht nachahmen koͤnnen. Die Ge - ſtalt unſrer Litteratur hat nicht blos eine an - dre Farbe, ſondern eine andre Bildung, als die altroͤmiſche; und es bleibt alſo nicht ſchlech - terdings ein Ruhm; dieſer Dichter ſingt wie Horaz, jener Redner ſpricht wie Cicero, die - ſer philoſophiſche Dichter iſt ein andrer Lu - krez; dieſer Geſchichtſchreiber iſt ein zweiter Livius. Jch ſage: nicht ſchlechterdings! aber das iſt ein großer, ein ſeltener, ein be - neidenswerther Ruhm, wenn es heißen kann: ſo haͤtte Horaz, Cicero, Lukrez, Livius ge - ſchrieben, wenn ſie uͤber dieſen Vorfall, auf dieſer Stufe der Cultur, zu der Zeit, zu dieſen Zwecken fuͤr die Denkart dieſes Volks, in dieſer Sprache geſchrieben haͤt - ten.
Das letzte heißt: einen Alten nachbilden, und ihm nacheifern; das erſte ihn kopiren, und ihm nachahmen. Das erſte iſt leider! ſehr ſelten, weil man dabei das beiderſeitige Genie zweier Sprachen, Denkarten und Zei - ten kennen, vergleichen, und ſo brauchen muß, daß keinem Zwang geſchieht. Dieſe Kunſtiſt45iſt bildend fuͤr das Genie; weil ſie es aber auch ſehr oft unterdruͤckt; weil die, ſo die Al - ten in ihrem Glanze kennen, oft auch von ih - nen geblendet werden; ſo hat Young in ſei - ner Schrift von Originalwerken*Jch fuͤhre dies Exempel an, weil man den gu - ten Young in Deutſchland foͤrmlich widerlegt hat: ſ. Rambachs Sendſchreiben uͤber die Fra - ge, ob das Leſen der Alten an dem Mangel der Originalſcribenten Schuld ſey. Recht, daß meiſtens das Leſen der Alten ſchaͤdlich wird; er hat Recht, ohne doch daß das Le - ſen der Alten auch nur im geringſten Stuͤcke deswegen abzuſchaffen waͤre. — Es erfordert noch eine eigne und ſorgfaͤltigere Betrachtung; ob dieſer Schade nicht unter ſo vielen großen Nutzen verſchwinde, ob wir denn Original - koͤpfe ſo noͤthig brauchen, wie fern ſie heute zu Tage moͤglich und zu hoffen ſind u. ſ. w.
So bald wir aber die Alten loben, anbe - ten, und knechtiſch nachahmen, weil ſie Alte ſind: ſo bald man von ihnen abborget, oder ſie beſtiehlt, weil man alsdenn eine neue An - tike, oder ein Moderner nach altem Geſchmack wird: ſo iſt die Nachahmung unleidlich: manbetrach -46betrachte dieſen gepluͤnderten Alten als einen Neuern und Fremden: ſo wird man das Zwangvolle ſehen. Und ſtuͤnde der Alte ſelbſt auf, lernte uns kennen, und ſaͤhe denn die Heerde Nachahmer, die ſich um ſeine Urne draͤngen: — uͤber Gewaltthaͤtigkeit, luͤber Straßenraub wuͤrde er ſchreyen, und das ſer - vum pecus von ſeiner Aſche vertreiben.
Meine Meinung von der deutſch-lateiniſchen Erziehung uͤberhaupt habe ich geſagt: daß ein lateiniſcher Geiſt in den Kern der Wiſ - ſenſchaften eingedrungen, laͤßt ſich, wie ich glaube, von ſelbſt einſehen. Man durchgehe die Lehrbuͤcher der meiſten Weltweisheiten: man wird eine wiſſenſchaftliche Sprache fin - den, in welche die Begriffe verwebt ſind.
Ganze Jahrhunderte durch war die latei - niſche Sprache das einzige vehiculum der Ariſtoteliſch-Scholaſtiſchen Philoſophie: man hat ſie als das allgemeine Band der Gelehr - ten in allen Laͤndern Europens angeſehen; ſiehat47hat auch zur lehrenden Sprache der Welt - weisheit unter allen Sprachen, die ich kenne, vielleicht die groͤßten Anrechte, wegen ihrer Kuͤrze, und des Nachdrucks in den philoſophi - ſchen Kunſtwoͤrtern, uͤber die man nur ſehr langweilig ſpottet: ſie iſt lange im Beſitz die - ſer Vorzuͤge: in ihr hat man die beſten Schriften dieſer Art, und ſie iſt dieſes philo - ſophiſchen Ranges doch immer ungleich wuͤr - diger, als die franzoͤſiſche, die jetzt neben ihr um den monarchiſchen Zepter der Litteratur buhlet.
Aber dieſe lange Regierung hat ihr eben eine Macht uͤber das Jnnere der Litteratur gegeben, die dieſer vielleicht nachtheilig iſt. Jch fuͤhre einige Beyſpiele, und laſſe einen je - den mehr ſuchen. — Jn der Schuloratorie und Schullogik beſtand bei vielen Schulen ein Theil der Weisheit darinn, wie man eini - ge rhetoriſche und logiſche Kunſtgriffe, Werk - zeuge und Spielwerke Lateiniſch benennen ſollte, und dieſe Terminologie verſchlingt man oft ſo begierig, als jener Kranke, nach Hudibras Ausdruck das Recept, ſtatt der dar - auf geſchriebenen Pillen. Dies bringt jeneduͤrre48duͤrre unfruchtbare Barbarei in die Methode, die ein Lexicon von Namen zu lernen aufgibt, und die Seele vom Denken zuruͤckhaͤlt. Hier haben einige neuere Weltweiſe mit Recht ge - ſagt, wie Sokrates, da er durch einen Jahr - markt voll Volk ging, zu ſeinem Begleiter: Freund! wie viel koͤnnen wir entbehren?
Dazu koͤmmt zweitens dies, daß eine jede Schule gewiſſe Lieblingswoͤrter ſich gewaͤhlet, die ſie als Spazziergaͤnge gebraucht, um die Materie nach Belieben zu betrachten. „ Man „ hat einige Grundfaͤden, die zu allen Schrif - „ ten dienen muͤſſen, und in die man nachher „ nur die veraͤnderten Figuren hineinwuͤrket. „ Hieraus entſteht eine gewiſſe Bequemlichkeit im Denken, man koͤnnte freilich von allen Seiten herumgehen, um den Gegenſtand aus allerlei Geſichtspunkten zu betrachten; allein man ſezzt ſich auf dies oder jedes Wort, als eine alte Ruheſtaͤte, und ſieht — was alle Menſchen vor uns ſahen und nach uns ſehen werden. Oder man ſchichtet ſeine Materie nach gewiſſen alten Eintheilungen, die ſich auf Schulen herunter erben, und ein Joch im Denken auflegen, weil der Zuhoͤrer nicht vorſich49ſich uͤber uns, ſondern mit uns oder uns nach denken ſoll.
Daher entſpringt der dritte Schade, der zu den boͤſen Krankheiten der Weltweisheit an ihren heimlichen Orten gehoͤrt: naͤmlich ein „ Lawiſcher Aktienhandel in Worten, da man „ keine Jdee, als nach dem Werthe der Wor - „ te, hat. „ *Litt. Br. Th. 17. p. 115.Der Kunſtrichter haͤlt dies faſt fuͤr nothwendig, und nennt es**p. 114. „ aͤſthetiſch „ Gewaͤſch, wo immer Gedanke vom Ausdruck „ abgeſondert, behandelt wird. „ Er ſieht aber doch dabei eine Schwierigkeit, die er nicht ausdruͤcken kann. Vielleicht gelingt es mir, ſie kurz und gut darzuſtellen, und we - nigſtens die Sache auf beiden Seiten zu be - trachten: wie fern es noͤthig und nuͤtzlich; und wie fern es unnoͤthig und ſchaͤdlich werde, daß der Gedanke am Ausdruck klebe — eine delikate Materie der philoſophiſchen Sprachkunſt! — Mein Spazziergang ent - fernt ſich, aber endlich muß er doch in den Weg einſchlagen, den ich verlaſſe.
Alles koͤmmt auf den Unterſchied an; ler - nen wir die Sprache, oder erfinden wir ſie uns ſelbſt. Schriebe ich von dem letztern, wie ohngefaͤhr bei den erſten Erfindern habe der Ausdruck am Gedanken kleben muͤſſen: ſo wuͤrde ich einen ganz andern Weg nehmen muͤſſen, als jetzt, da wir die Sprache ler - nen. Dort wuͤrde ich erſt die ganze Zeichen - ſprache des Menſchen erſchoͤpfen muͤſſen, die Beredſamkeit des Auges und des ſprechenden Antlitzes: die ganze unzaͤlige Menge unarti - kulirter Toͤne bey einem thieriſchen Menſchen, ſeine Mimiſche Sprache, — kurz, eine Menge von Sprachmitteln, die an ſich die kraͤftigſten, die erſten, und auf eine Zeit die einzigen muͤſ - ſen geweſen ſeyn — ehe der Menſch zur Spra - che ſeine Zuflucht nahm.
Uns iſt dieſer ganze Wald ein boͤhmiſcher Wald: wir verſtehen dieſe ganze Zeichenſpra - che nicht mehr, denn man laͤßt uns nicht eine Sprache erfinden, ſondern lehrt ſie uns: man laͤßt nicht das Thier ſich ſo lange entwickeln, bis es endlich dem Menſchen ſich von ſelbſtnaͤhert:51naͤbert: ſondern man erweckt eben Gedan - ken durch Worte: und dieſe erſte Woͤrter, die wir lallen, ſind die Grundſteine aller unſrer Erkaͤnntniß. Bei allen ſinnlichen Begriffen, bei den einfachen und Erfah - rungsideen verhaͤlt ſich „ der Ausdruck zum „ Gedanken, wie die Haut zum Koͤrper. „ Man verſuche es, die Methoden der Sprachen in Gedanken umzukehren: alles, wobei, wenn wir die Sprache erfaͤnden, der Aus - druck willkuͤhrlich waͤre, alles dies wird mei - ſtens, wenn wir die Sprache lernen, unzer - trennlich verknuͤpft. So waren in einer Juͤdiſchen Republik die Geſezze, die zur aͤuſ - ſern Beſtimmung ihres Staats gehoͤren, und andern willkuͤhrlich vorkommen muͤſſen, dro - hender und ſchwerer, als die Geſezze des all - gemeinen Naturrechts.
Da nun auf dieſem Wege die menſchliche Erkaͤnntniß fortſchreitet, mittelſt Sachen zu - gleich Worte zu lernen, ſo moͤchten zweitens, alle die Gegenſtaͤnde des Lebens, die ich ſinnlich klar unterſcheide, ohne mir des un - terſcheidenden Merkmals deutlich bewußt zu ſeyn, noch den Gedanken mit dem AusdruckD 2paa -52paaren. Wer kann ſich in der Sprache des gemeinen Lebens uͤber alle Gegenſtaͤnde, mit denen er durch die Erziehung familiaͤr gewor - den iſt, gelaͤufiger und triftiger ausdruͤcken, als der gemeine Mann von gutem geſunden Verſtande? Aber nun verſucht bei ihm den Gedanken vom Ausdruck zu ſondern: ihr verſtehet das Wort nicht, er ſoll euch ſeinen Begriff durch andre Worte erklaͤren (ich meine nicht ſinnliche Zeichen) ſo iſt fuͤr ihn keine groͤßere Muͤhe in der Welt; und fuͤr euch wirds ein laͤcherlicher Auftritt ſeyn, ei - nen Worterklaͤrenden Bauer zu ſehen: ſeine Seele und ſeine Sprache ſind zwo Schwe - ſtern, in Geſellſchaft erzogen, zu einander ge - woͤhnt, und unabtrennbarer, als Julie und Clare, fuͤr den philoſophirenden St. Preux, wenn er mit der einen allein buhlen wollte.
Drittens! die feinere Sprache des Um - ganges macht zwar die Zunge freier, und bin - det ſie mehr vom Gedanken los (ich meine hier nicht Moraliſch, ſondern Pſychologiſch), dadurch, daß ſie ſich zum Vernuͤnfteln bildet. Jn dem großen Reichthume von Ausdruͤcken uͤber „ die Vorfallenheiten des Lebens, uͤber„ Din -53„ Dinge, wobei abſtrakte Unterſuchungen weg - „ fallen, „ wechſeln wir mit Worten, wie mit Geldſtuͤcken: jedes ſoll ſeinen beſtimmten Werth haben: aber ob es ihn hat, und ob der andre weiß, wie viel es haben ſoll; das iſt eine ganz andre Frage. Ein Frauen - zimmer, das gut, nicht aber gelehrt, erzogen iſt, wird uͤber Dinge, die in ihrer Sphaͤre ſind, mit einer Gelaͤufigkeit, ungekuͤnſtelten Beſtimmtheit, und naiven Schoͤnheit ſpre - chen, daß ſie gefaͤllt; koͤmmt aber ein Schul - gelehrter, der ihre Worte waͤgen will: ſo wird ſie ſchuͤchtern werden; will er philo - ſophiſche Erklaͤrungen und Beſtimmun - gen; ſo wird ſie ſtammeln — nochmals ſtam - meln, und endlich daſſelbe Wort wiederholen; will er jetzt aber grammatiſche Zierlich - keiten lehren, wie ſie es beſſer haͤtte ſagen koͤnnen: ſo wird ſie ſich loswinden, und ihn von weiten anhoͤren:
Warum? ſie iſt gewohnt, uͤber ihre Welt klar, aber nicht logiſchdeutlich zu denken,D 3ver -54verſtaͤndlich und ſchoͤn, aber nicht gelehrt und abgezirkelt zu ſprechen.
Man erlaube mir hier ein Wort dazwi - ſchen von dieſer ſinnlichen Sprache: Der Weltweiſe darf auf ſie nicht ſchimpfen, und mit hoher Mine einen Zaun zwiſchen der ge - meinen, aͤſthetiſchen und gelehrten*ſ. Meiers gelehrte Sprache Litt. Br. Th. 17. p. 111. Spra - che machen: drei Woͤrter, die fuͤr mich im - mer unbegreiflich geweſen, wenn man ſie ne - ben einander ſtellet. Sie laufen in einan - der, ihre Zirkel durchſchneiden ſich, und ſie haben ganz und gar nicht einen gemeinſchaft - lichen Mittelpunkt: jede ihren Zweck, jede ihre ausſchließende Schoͤnheiten und Fehler: die Sprache des gemeinen Lebens die ihrige: die philoſophiſche Sprache die ihrige: die hoͤchſte Dichterſprache die ihrige. Sich alſo einen Ton auf Koſten eines ganz unſchuldigen Fremdlinges geben, der unter eine andere Obrigkeit gehoͤret, iſt widerrechtlich: und ein gelehrtes Gehege ziehen, worinn blos eine ge - lehrte Sprache gilt, die nach lateiniſchen Aus - druͤcken deutſch gemodelt iſt, wird oft laͤcher -lich.55lich. Der Erfinder der Aeſthetik, Baum - garten, vermuthete es vielleicht nicht, daß einige ſeiner Lieblingswoͤrter und Eintheilun - gen bei ſeinen Nachfolgern Wortſchranken werden ſollten, wie z. E. ſeine Horizonte der Erkaͤnntniß, Reichthum, Wahrheit, Groͤße, Licht, Gewißheit, Leben der Begriffe u. ſ. w.
Eine Anwendung des Geſagten koͤmmt hier vielleicht zu rechter Zeit. Wenn der ganze Schatz menſchlicher Begriffe durch Worte geſammlet wird: wenn in der ganzen Spra - che des gemeinen Lebens Gedanke am Aus - druck klebt: wenn ſelbſt in der Sprache des Umganges nicht eben haͤufig die Jdee ohne Wort gedacht wird — wie muß der Vortrag ſeyn, der ſich in dieſe Sphaͤre paſſen ſoll? Unmoͤglich anders als in Worten, die dieſer Mundart gelaͤufig ſind.
Alle Buͤcher, die in der Welt von Gegen - ſtaͤnden, Verrichtungen und Vorfaͤllen zu Hau - ſe gehoͤren, in welcher der gemeine Mann lebt, koͤnnen ſich nicht in einer neuen Sprache bruͤſten, oder ſie werden laͤcherlich, unver - ſtaͤndlich und unnuͤtz. — Wenn jene Frucht - bringende Geſellſchaft der Katze und demD 4Scher -56Schorſteine neue Namen geben wollte: ſo war ſie am Kopfe krank, und mancher Kluͤgling hat ſich uͤber ihre Krankheit beinahe ſelbſt krank gelacht. Aber wenn Halle uͤber Kuͤn - ſte und Handwerke*Litt. Br. Th. 14. p. 325. eine neue Sprache re - det: mit aͤſthetiſchen Umſchreibungen und ga - lanten Umſchweifen uns eine waͤchſerne Naſe dreht: wenn er die Geſchichte der Thiere nicht wie ein Lehrer der einfaͤltigen Natur uns erzaͤhlet, ſondern mit artigen und feinen Maͤnnchen uns bald dies, bald das, als ein Schattenſpiel an der Wand zeigt, damit wir ja die Brillanten an ſeinen Fingern ſehen ſol - len: ſo iſt das ein ſchoͤner Schriftſteller von Geſchmack. — Ferner: wenn im gemeinen Leben eine Großtante nach der alten Welt hoͤf - lich zu ſprechen glaubt, wenn ſie ſagt: meine Fuͤße mit Reſpekt zu ſagen! oder, die Straße iſt ſalua venia unrein! ſo lachen wir uͤber die gute Frau. Wir lachen uͤber das gute Maͤdchen, die Sachen umſchreibt, die ſie fuͤr unhoͤflich haͤlt, und ſich Clyſtier oder Bein - kleid zu ſagen ſchaͤmt. — Aber daruͤber la - chen wir nicht, wenn ein Schulgelehrter fuͤreinem57einem Barbariſmus zittert; wenn er vor jedes zweideutige Wort, vt ita dicam etc. ſetzt: wenn er in der Naturlehre der Er - fahrungen undeutlich umſchreibt, um nur zierlich thun zu koͤnnen. — Man wuͤrde la - chen, wenn eine Politiſche Zeitung in um - ſchreibendes Deutſch gekleidet, auf hochflie - genden Schwingen ſich ins Reich der Wolken huͤbe: aber daruͤber lacht man nicht, wenn in den lateiniſchen Titeln unterthaͤniger Zueig - nungsſchriften ein Quartblatt von Aemtern in ſeine Beſtandtheile aufgeloͤſet, in Fluß ge - bracht, und zu aͤchten reinen Phraſibus um - geſchmelzt wird, daß der gnaͤdige Goͤnner oft ſelbſt zu rathen hat, wozu ihn ſein Client macht! Heißt es hier nicht: Man muß ihn in die Schule ſchicken! Moͤchten doch Schriftſteller dieſer Art bedenken, woruͤber ſie ſchrieben, daß hier das Wort den Gedan - ken, nicht der Gedanke das Wort er - zeuge.
Zweitens: Ueberall wo ich zum gemeinen Mann rede: (ich meine hier jeden, der kein Buͤchergelehrter iſt) muß ich in ſeiner Sprache reden, und ihn zu meiner Spra -D 5che58che nur allmaͤhlich gewoͤhnen: ich muß nicht wie aus den Wolken zu ihm reden: ſondern auf ſeinen Grund und Boden treten, und ihn allgemach in meine Sphaͤre heben. Unter der großen Menge von Beiſpielen waͤhle ich die mir hier beifallen.
Der gemeine Mann lieſt wenig, und noch weniger iſt fuͤr ihn geſchrieben. Dies Wo - chenblatt*Eine der ſchoͤnſten neuern Wochenſchriften, der Hypochondriſt, hat uns wieder an den Ein - fall erinnert: wie eine Provinzialwochen - ſchrift, die dies in hohem Verſtande waͤre, ein originales Werk ſeyn koͤnnte, das blos mit den Sitten dieſer Provinz unterginge, und das Lieblingsbuch etlicher Zeitalter waͤre. ſoll fuͤr ihn geſchrieben ſeyn? — Unmoͤglich! denn es iſt voll Buͤcherwitz, voll gelehrter Gruͤndlichkeit, in einer Sprache, die die Buͤchermotten verſtehen moͤgen, aber nicht er, der ſtatt Buͤchern unter Menſchen wan - delt, ſie moͤgen ſeyn, von was Stande ſie wol - len. Der Menſch, der Mann, die Frau, der Geſellige, und wie der Leſer weiter will, iſt vor dem Pulte geſchrieben, und hat nicht die Sprache in ſeiner Gewalt, die jeder Leſer ſich von der Zunge geriſſen glaubt, in der erſeine59ſeine Worte und mit ihnen ſeine Jdeen wie - derfindet. Dies iſt ein Wochenblatt zum Beſten der Kinder? Sollen Kinder es le - ſen? Der Titel luͤgt, oder es iſt ihnen mit allen ſeinen Abhandlungen, und Fabeln, und Gedichten eine Quaal! Sollen Eltern es le - ſen? Haben ſie dazu Zeit? Jſt dies ihnen zu wiſſen noͤthig? Gibt es ihnen, worinn ſie Rath wollen und brauchen, kurz und gut, Rath? Spricht es die Sprache der Eltern, die ans Herz dringt? Nein! Fuͤr Hofmeiſter mag das ein Buch ſeyn, die langweilig, wie die Ver - faſſer, denken wollen! — Jch urtheile zu dreuſt? wohl! ſo ſchenke man mit mehrere Beiſpiele, uͤber die ich noch dreuſter ſchreiben wuͤrde: man leſe an verſchiednen Orten die Litteraturbriefe, und hoͤre, was ein Schrift - ſteller ſchreibt, den ich nicht genug leſen kann:*Abbt vom Verdienſte, p. 349.
„ Es hat ſich in der feinern Welt nach und „ nach eine Sprache aus der Metaphyſik und „ andern Wiſſenſchaften eingefuͤhrt; es haben „ ſich Redensarten aus andern Sprachen in „ die unſrige eingeſchlichen, die jeder ſinnrei -„ che60„ che Schriftſteller brauchen will, und brau - „ chen muß, die aber der gemeine Mann nicht „ verſteht, wenn er ſie auch zu verſtehen ſcheint. „ Er iſt immer noch achtzig, hundert Jahre „ zuruͤck; ſeine Bibel, ſein Katechiſmus, ſeine „ alte Buͤcher, ſein taͤglicher Gebrauch enthal - „ ten den ganzen Umfang der Begriffe und „ Ausdruͤcke, die ihm bekannt und gelaͤufig „ ſind. Was davon abgehet, iſt fuͤr ihn eine „ fremde Sprache, die er weder Geſchicke, „ noch Muße, noch Geduld hat, zu erlernen; – „ die ihm auch nicht noͤthig iſt. „ — Nun gehe man nach dieſem Geſichtspunkte die Wochenſchriften, die Erbauungsbuͤcher, die Predigten durch; alles ſoll fuͤr den ge - meinen Mann ſeyn, und wenig iſt fuͤr ihn. Hier empfehle ich jedem, der fuͤr den gemei - nen Mann ſchreiben will, den Artikel aus Abbts Buche vom Verdienſt zu leſen, der vom Verdienſt des Schriftſtellers handelt: ſeine Vorſchriften ſind guͤlden; aber wie ſchwer? — das kann dieſer große Mann zum Theil ſelbſt zeigen, der wohl nicht, ohngeach - tet ſeiner originalen Schreibart, den Ton al - ler derer getroffen, in deren Haͤnden ſeineSchrift61Schrift vielen Nutzen ſtiften koͤnnte. — O eine Schrift, die das iſt, was eine Er - bauungs - eine Bildungsſchrift fuͤr den groͤßten, nutzbarſten und ehrwuͤrdigſten Theil der Menſchen, das Volk, ſeyn ſoll: — ge - bet mir, wenn ich Alexander waͤre, einen gold - nen Kaſten her; ich weiß nichts beſſers in demſelben zu verwahren! — Doch nein! ich beſinne mich! Ein Schriftſteller der Art wird mich mit dieſer Ehre auslachen: er hat ei - nen ſchoͤnern Ort fuͤr ſein Buch: den armen Kleiderſchrank, und fuͤr die Lehren, die ſein Buch enthaͤlt, das Herz des redlichen Buͤr - gers, Frauenzimmers oder Landmannes, der ihn theuer haͤlt. Macht mich mit einer Schrift bekannt, die fuͤr den Menſchen, den Buͤrger, fuͤr ſeine Denkart und fuͤr ſein Herz, fuͤr ſeinen Stand und Beduͤrfniß geſchrieben: die das ſaget, was er immer ge - dacht, und doch nicht gedacht, was er thun wollte und muß, und doch nie gethan, wor - uͤber er Rath und Unterricht will, und wie er ihn will: die ihm in die Seele ſpricht, in der er ſich finde, die ihm ſeine Worte von der Zunge, ſeine Einwendungen und Wuͤn -ſche62ſche geraubt: die recht ein Buch fuͤr ihn iſt! Wo iſt ein Mann der Art:
Noch eine Anwendung! Das Frauenzim - mer gehoͤrt ohne Zweifel nicht in die Hoͤrſaͤle und Studirzimmer der Gelehrten, wenn es ſich bilden will zu ſeiner Beſtimmung, da - mit es ſeine Seele verſchoͤnere, und das Ver - gnuͤgen des maͤnnlichen Geſchlechts ſey: da - mit es die Wuͤrde der Buͤrgerinnen, und Haus - muͤtter, und Ehegatten, und Erzieherinnen er - reiche: damit es alle die Talente ausbilde, die ihm die Natur gab, und die Pflichten for - dern, das ſchoͤne Geſchlecht zu werden. Ohne allen Zweifel muß alſo ein Lehrbuch zu ihrer Bildung nicht nach maͤnnlichem, noch weniger nach gelehrtem Zuſchnitt ſeyn: es muß ſtatt eines Skeletts von Schurweis - heit ſich ihrem Verſtande bequemen: und weilin63in der Welt der Damen immer die Worte gleichſam die Huͤllen ſind, in denen ſie den - ken: ſo iſt es das ſicherſte Zeichen, daß man dies erreicht, wenn man in ihrem Bezirk mit ihnen ſprechen gelernt. Ob unſre Schul - methoden, unſre zerſtuͤckte Unterweiſun - gen, unſre Kathederſprache, unſre gelehrte Gruͤndlichkeit auf ihre Bildung (ich ſage nicht: Unterricht!) paſſe? — koͤnnen nichts, als Verſuche und Erfahrungen entſcheiden. Laſſet nun einen ehrlichen Schulrektor oder ge - lehrten akademiſchen Profeſſor ein Lehrer in dem werden, was ſie bilden ſoll und kann: gebet ihm die faͤhigſten Zuͤglinge: laſſet eine Frauen - zimmerakademie ihm zuhoͤren, die aber aus Gliedern beſtuͤnde, die ſelbſt verſtaͤndige, nicht aber gelehrte, und ja keine Daciers, ſeyn muͤſſen; nun gebet Acht: ſein gelehrter Vor - trag ermuͤdet, er gibt auf zu lernen, Wor - te, die nie in ihre Sphaͤre gehoͤren, Sachen, die ſie nie brauchen koͤnnen, Wahrheiten und Lehrſaͤtze, die nicht fuͤr ſie ſind. — Haben wir daher eine Encyklopaͤdie der Frauenzimmerwiſſenſchaften? — die ſich zu den bekannteſten Begriffen herablaͤßt, in de -nen64nen ſie erzogen worden, ſie uͤber Sachen un - terrichtet, die rings um ſie ſind, die Empfin - dungen entwickelt, die in ihren Herzen ſchla - fen, ihnen ihre ganze Beſtimmung und Zwe - cke ſtufenweiſe entwickelt: von der ganzen Ge - lehrſamkeit, Weltweisheit und ſchoͤnen Litte - ratur, von der Geſchichte und den ſchoͤnen Wiſſenſchaften ihnen nur ſo viel vorhaͤlt, als noͤthig iſt, ſie zur Schoͤnheit des Geiſtes zu bilden, ihnen es in der Ordnung vorhaͤlt, die ſie immer muntrer macht, und mit den Worten, die ihren Lippen entwandt, den Weg wiſſen, in ihre Seele und an ihr Herz zu ſchleichen: Haben wir im Deutſchen ein ſolches Buch zur Bildung? Jch zweifle gar, daß eine Mannsperſon es ſchreiben kann, und die franzoͤſiſchen Philoſophien in dieſer Art ſind als Bildungen fuͤr einen glaͤnzenden Witz in der Geſellſchaft, zum Zeitvertreibe fuͤr galante Toiletten, vortreflich: haben ſie aber fuͤr den guten geſunden Verſtand des Lebens, (ich will den bloßen Haus - und Kuͤchenver - ſtand nicht einmal nennen) geſchrieben ſeyn ſollen. Da nun die Franzoſen in der Cultur des Frauenzimmers nach ihrem Jdeal desgeſell -65geſellſchaftlichen Tons uns weit voraus ſind: – ihr Deutſche, wo haben wir ſie denn? Jch muß mich ja ſchaͤmen, einen Koͤſter neben Algarotti zu ſezzen!
Jetzt bitte ich einige Dichter etwas beyſeit; mit denen ich ein Wort zu ſprechen habe. Wenn bei ſinnlichen Begriffen, bei Er - fahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten, und in der klaren Sprache des natuͤrlichen Lebens der Gedanke am Ausdrucke ſo ſehr klebt: ſo wird fuͤr den, der meiſtens aus die - ſer Quelle ſchoͤpfen muß, fuͤr den, der gleich - ſam der Oberherr dieſer Sphaͤre geweſen, (wenigſtens in der alten ſinnlichen Zeit der Welt) fuͤr ihn, muß der Gedanke zum Aus - drucke ſich verhalten, nicht wie der Koͤrper zur Haut, die ihn umziehet; ſondern wie die Seele zum Koͤrper, den ſie bewohnet: und ſo iſts fuͤr den Dichter. Er ſoll Empfin - dungen ausdruͤcken: — Empfindungen durchFragm. III S. Eeine66eine gemahlte Sprache in Buͤchern iſt ſchwer, ja an ſich unmoͤglich. Jm Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichenſprache des Koͤrpers — ſo ſpricht die Empfindung ei - gentlich, und uͤberlaͤßt den todten Gedanken das Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! und du ſollſt deine Empfindungen aufs Blatt mahlen, ſie durch einen Kanal ſchwarzen Safts hinſtroͤmen, du ſollſt ſchrei - ben, daß man es fuͤhlt, und ſollſt dem wah - ren Ausdrucke der Empfindung entſagen; du ſollſt nicht dein Papier mit Thraͤnen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du ſollſt deine ganze lebendige Seele in todte Buchſtaben hinmah - len, und parliren, ſtatt auszudruͤcken. — Hier ſieht man, daß bei dieſer Sprache der Empfindungen, wo ich nicht ſagen, ſondern ſprechen muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht ſchreiben, ſondern in die Seele reden muß, daß es der andre fuͤhlt: daß hier der eigentliche Ausdruck unabtrennlich ſey. Du mußt den natuͤrlichen Ausdruck der Em - pfindung kuͤnſtlich vorſtellen, wie du einen Wuͤrfel auf der Oberflaͤche zeichneſt; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in demPerio -67Perioden, in der Lenkung und Bindung der Woͤrter ausdruͤcken: du mußt ein Gemaͤlde hinzeichnen, daß dies ſelbſt zur Einbildung des andern ohne deine Beihuͤlfe ſpreche, ſie erfuͤlle, und durch ſie ſich zum Herzen grabe: du mußt Einfalt, und Reichthum, Staͤr - ke und Kolorit der Sprache in deiner Gewalt haben, um das durch ſie zu bewuͤrken, was du durch die Sprache des Tons und der Ge - berden erreichen willſt — wie ſehr klebt hier alles am Ausdrucke: nicht in einzelnen Wor - ten, ſondern in jedem Theile, im Fortgange derſelben und im Ganzen. Daher ruͤhrt die Macht der Dichtkunſt in jenen rohen Zeiten, wo noch die Seele der Dichter, die zu ſpre - chen, und nicht zu plappern gewohnt war, nicht ſchrieb, ſondern ſprach, und auch ſchreibend lebendige Sprache toͤnete: in jenen Zeiten, wo die Seele des andern nicht las, ſondern hoͤrte, und auch ſelbſt im Leſen, zu ſehen und zu hoͤren wußte, weil ſie jeder Spur des wahren und natuͤrlichen Aus - drucks offen ſtand: daher ruͤhren jede Wun - der, die die Dichtkunſt geleiſtet, uͤber die wir ſtaunen und faſt zweifeln; die aber unſreE 2ſuͤße68ſuͤße Herren verſpotten, und naͤrriſch finden: daher ruͤhrt alles Leben der Dichtkunſt, was ausſtarb, da der Ausdruck nichts als Kunſt wurde, da man ihn von dem, was er aus - druͤcken ſollte, abtrennete: der ganze Ver - fall der Dichterei, daß man ſie der Mutter Ratur entfuͤhrte, in das Land der Kunſt brach - te, und als eine Tochter der Kuͤnſtelei anſah: der Fluch, der auf dem Leſen der Alten ru - het, wenn wir blos Worte lernen, oder den Jnhalt hiſtoriſch durchwandern, oder Aeſthe - tiſche Regeln ſuchen, oder Beiſpiele ausklau - ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor - te in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das ſchoͤpferiſche Ohr haben, das die Empfindung in ſeinem Ausdrucke, in vollem Tone hoͤret; nicht jenes dichteriſche Auge haben, das den Ausdruck als einen Koͤrper erblickt, in wel - chem ſein Geiſt denket und ſpricht und handelt. „ Daher ruͤhrt das Aeſthetiſche Gewaͤſche, wo „ immer Gedanke, vom Ausdrucke abgeſondert, „ behandelt wird*Litt. Br. Th. 17. p. 114.: „ daher ruͤhrt jener Un - ſegen, daß es uns ſchwer wird, wie die Al - ten zu denken, weil man das Denken ohneAus -69Ausdruck erhaſchen wollte, und wie die Alten zu ſprechen, weil man wiederum den Aus - druck vom Gedanken abgeſondert betrachtete. Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man es fuͤr nuͤzzlich, ja fuͤr nothwendig habe hal - ten koͤnnen, in Poeſten Gedanke und Ausdruck unverbunden zu behandeln, in Poeticken un - verbunden zu lehren, und in Alten unverbun - den zu zergliedern: deſto fremder koͤmmt mir dieſe Zerreißung vor.
Gedanke und Ausdruck! verhaͤlt er ſich hier wie ein Kleid zu ſeinem Koͤrper*Litt. Br. Th. 17. p. 114.? Das beſte Kleid iſt bey einem ſchoͤnen Koͤrper blos Hinderniß. — Verhaͤlt er ſich, wie die Haut zum Koͤrper**p. 114.? Auch noch nicht gnug: die Farbe und glatte Haut macht nie die Schoͤn - heit vollkommen aus. Wie eine Braut bei ihrem Geliebten, wenn derſelbe ſeinen Arm um ſie geſchlungen, an ihrem Munde hanget: Wie zwei zuſammen Vermaͤlte, die ſich ein - ander mittheilen; ein Paar Zwillinge, die zuſammen gebildet und erzogen, ſich lieben und begleiten wie Shakeſpears Freundin - nen? Dieſe Bilder ſind bedeutend, aber wieE 3mich70mich duͤnkt, noch nicht vollſtaͤndig. — Wohl! es faͤllt mir ein Platoniſches Maͤhrchen ein, wie der ſchoͤne Koͤrper ein Geſchoͤpf, ein Vote, ein Spiegel, ein Werkzeug einer ſchoͤnen Seele ſey, wie in ihm die Gegen - wart der Goͤtter wohne, und die himmliſche Schoͤnheit einen Abdruck in ihn geſenkt, der uns an die obere Vollkommenheit erinnert: ich ſezze dieſe ſchoͤne Sokratiſche Bilder zuſam - men, und zeige meinen Leſern ein Bild, daß Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck ſich zu einander verhalten, wie Platons Seele zum Koͤrper.
Wenn einer von meinen Leſern, der bei den Werken der Alten, in das Jahrhundert der goldnen Zeit und einfachen Natur entzuͤckt geweſen iſt, ſich bei meiner Erzaͤlung deſſen erinnert, was er hier in dieſem Elyſium fuͤr Gedanken geſehen, fuͤr Ausdruͤcke gehoͤrt, und wie beide in einander gefloſſen ſind: wie wuͤr - de ich mich freuen, wenn einer von dieſen mir Recht gaͤbe, und damit mich ſchadlos hielte, daß zehn ſchoͤne Geiſter, die ſich in das ſchoͤne Kleid, und den Putz des Coſtume, in die ſchoͤ - nen Fingerſpitzen der Chineſerſchoͤnheiten, indas71das blendende Teint franzoͤſiſcher Wendungen, oder in das oft uͤberladene Kolorit brittiſcher Bilder verliebt haben, mich fuͤr einen Traͤu - mer und Enthuſiaſten ſchelten werden.
Aus dem ſeeligen Reich der Goͤtter ward die Empfindung, wie die Seele des Plato, heruntergeſandt in den Schoos der irrdiſchen einfaͤltigen Natur. Jn dem Schoos dieſer geſunden, und ſtarken und fruchtbaren Mutter ſollte die Bewohnerinn des Himmels einen ſchoͤnen und bluͤhenden Koͤrper ſich zum Wohn - hauſe bereiten: daher nahm ſie das zarteſte und feinſte Gebluͤt ihrer Mutter zur ſanften Huͤlle, und ward die Schoͤpferinn des Gebaͤu - des rings um ſich. Kein Sturm widriger Wallungen und kein Blizſtral von ungeſun - den Zuckungen hinderte ihr Gewebe, in wel - ches ſie, ohne Gefuͤhl gewaltſamer Stoͤrun - gen ihr Bild voll ruhiger Stille eintrug: als das Bild, einer Freundinn der Goͤtter und Geſpielinn der Goͤttinnen. Sie vollendete ihre Schoͤpfung: ſie brachte die Frucht zur Reife: ſie vollfuͤhrte den Pallaſt ihrer Woh - nung: ihr gelang das Bild ihrer ſelbſt, das von ihr zeugen ſollte. (Kurz! der himmli -E 4ſche72ſche Gedanke formte ſich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfaͤltigen Natur war, ſie aber in den ſchoͤnſten Jahren ſeiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewalt - ſame Gaͤhrungen, und mit einer ſtillen Groͤße vollendet. Er wand ſich ſeiner Gebaͤhrerinn ſanft vom Herzen, und bei ſeiner Geburt be - gluͤckten ihn die Grazien und Goͤttinnen laͤchel - ten ihn an.)
Nun ſteht dieſer Koͤrper vor dir: willſt du ihn, als ein todtes Kunſtſtuͤck betrachten, blos ſeine Farbe lieben, blos ſeinen Puzz anbeten, ſeine Naͤgel an den Fuͤßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildſaͤule: willſt du im Ausdrucke ohne Gedanken Schoͤnheit finden! – Dann biſt du ein elender, kurzſichtiger, fuͤhl - loſer Betrachter! — Nein! Siehe dieſen Koͤr - per an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos ſo viel koͤrperliche Reize gab, als erfo - dert wurden, um ihn deinen irrdiſchen Augen ſichtbar und ſchoͤn darzuſtellen. — (Begnuͤge dich alſo nicht mit grammatiſcher Schoͤnheit, der Woͤrterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythums; denn wenn du da trockne Richtigkeit ſucheſt, woSchoͤn -73Schoͤnheit dich erfuͤllen ſoll: ſo lieſeſt du wie ein Meßkuͤnſtler und Handwerker, oder Tage - loͤhner.)
Aber ſieheſt du den Ausdruck als ein Ge - ſchoͤpf, das ſich die Empfindung geſchaffen, als ein Sinnbild, in dem ſich ihr Bildniß abdrucket; ſieheſt du den ganzen Ausdruck als einen Voten des Gedankens, und als den Pallaſt, den ſeine ganze Groͤße erfuͤllet: ſo wirſt du mit den Augen ſehen, mit denen Plato ſah, wenn er ſich der unkoͤrperlichen Schoͤn - heit aus dem Reiche der Geiſter erinnerte, mit denen Winkelmann ſiehet, wenn er bei dem Apoll im Belvedere, oder dem Herkules im Torſo oder dem Laokoon, oder der Niobe ins Reich unkoͤrperlicher Jdeen ge - raͤth, du wirſt mit dem Auge deine Hand leiten, mit welchem Mengs die Schoͤnheit ſiehet.
Jch rede nicht von einzelnen Stuͤcken, ſon - dern von dem vollendeten Ausdrucke eines ganzen Werks der aͤlteſten Zeiten, wo ich Gedanken und Rede eines Schriftſtellers, mir zu einem Ganzen bilde, und es meinen Leſern vor Augen ſtelle. Wenn hier die Staͤrke der Gedanken ſich mit dem ſtarkenE 5Aus -74Ausdrucke paaret: ſo ſteht ein Bild vor mir, wo der einfoͤrmige Umriß des Koͤrpers fuͤr mich blos ein Zeuge jenes Gedankens iſt, der ſich denſelben formte: die aͤußere Geſtalt der wohlgebildeten Form erinnert mich des bil - denden Gedankens, der ſich hier in ſeinem Werke ſpiegelt: die freye Stellung redet von dem Werkmeiſter, der dies Werkzeug ſo leicht zu brauchen wußte: die Macht, die nichts leeres uͤbrig laͤßt, iſt eine Huͤlle des großen Bewohners: alles wird ein Gegenſchein von ſeinem Urbilde, und eine Morgenroͤthe, die ſich in Stralen der Sonne gekleidet. Wenn ich auf die Art Ausdruck und Gedanke zuſammen betrachte: ſoll ich jenen allein bemerken? — einen Koͤrper ohne Seele; dieſen allein? — eine Seele ohne Koͤrper. — Und wohnt ſie in einem wuͤſten ungeſtalten Hauſe, wo ſie wie aus einem dunkeln, unregelmaͤßigen Ker - ker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke, und Adern wie unreine Kanaͤle ſich erheben, und ſichtbar fortlaufen: wo ein duͤrftiges mißgebohrnes ſchmachtendes Werk uns Zit - tern, oder Ekel, oder Abſcheu erwecket: ſo muß uns der Traum des Plato beifallen: indieſes75dieſes Gefaͤngniß ward der Gedanke geſandt, zur Strafe fuͤr die in der in der Oberwelt begangne Verbrechen. — So wenig iſt in der wahren Dichtkunſt, Gedanke und Ausdruck von ein - ander zu trennen: und es iſt beinahe immer ein Kennzeichen einer mittelmaͤßigen Poeſie, wenn ſie gar zu leicht zu uͤberſezzen iſt.
Jch thue noch einen Schritt: wenn in der Poeſie der Gedanke und Ausdruck ſo veſt an einander kleben: ſo muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiſte An - ſehen, und Gewalt uͤber die Worte, die groͤßeſte Kaͤnntniß derſelben, oder wenigſtens eine Gewißheit habe, daß meine Dreuſtigkeit noch nicht Geſezzloſigkeit werde: und ohne Zweifel iſt dies die Mutterſprache. Sie druckte ſich uns zuerſt, und in den zarteſten Jahren ein, da wir mittelſt Worte in unſre Seele die Welt von Begriffen und Bildern ſammleten, die dem Dichter eine Schazzkam - mer wird. Jn ihr muß er alſo mit dergroͤßten76groͤßten Leichtigkeit nachſinnen, und Aus - druͤcke finden: in ihr den Reichthum von Bil - dern und Farben finden, der einem Dichter unumgaͤnglich noͤthig iſt: in ihr die Donner - keulen und Blizzſtrale finden, die er als Bote der Goͤtter wirft: in ſie iſt unſre Denkart gleichſam gepflanzet, und unſre Seele und Ohr und Organen der Sprache ſind mit ihr gebildet — wo werde ich mich alſo beſſer ausdruͤcken, als in der Mutterſprache? Sie uͤbertrift, ſo wie das Vaterland, an Reiz alle uͤbrige Sprachen, in den Augen deſſen, der der Sohn ihres Herzens, der Saͤugling ihrer Bruſt, der Zuͤgling ihrer Haͤnde geweſen, jetzt die Freude ihrer beſten Jahre iſt, und die Hoffnung und Ehre ihres Alters ſeyn ſoll. —
Die Sprache, in der ich erzogen bin, iſt meine Sprache: denn ſo wie nach Mon - tesquieu Anmerkung alle unſre Begriffe von Schoͤnheit ſich auf den erſten maͤchtigen Ein - druck beziehen, auf den die Seele nachher jedes Bild, das ſie gewahr wird, ſchnell zu - ruͤckfuͤhrt, und oft ein Gruͤbchen im Kinn, ein ſchoͤnes Liſpeln, wie Alcibiades ſprach, und dergleichen liebenswuͤrdigen Eigenſinn ſchoͤnfindet,77findet, weil es mit dem Urbilde uͤbereinſtim - met, zu dem ſie ſich formte — ſo iſt auch die Mutterſprache ſelbſt mit ihren Jdiotismen voll Eigenſinn, und mit ihren kleinen Schwach - heiten der Liebe fuͤr uns ein Bild der Schoͤn - heit. So wie ein Kind alle Bilder und neue Begriffe mit dem vergleicht, was es ſchon wußte: ſo paſſet unſer Geiſt insgeheim alle Mundarten der Mutterſprache an: ſie behaͤlt er auf der Zunge, um nachher deſto tiefer in den Unterſchied der Sprachen einzudringen: ſie behaͤlt er im Auge, um wenn er dort Luͤ - cken und Wuͤſten; hier Reichthum und Ueber - fluß in fremden Sprachen entdecket; er den Reichthum der ſeinigen liebgewinnen, und ihre Armuth, wo es ſeyn kann, mit fremden Schaͤzzen bereichere: ſie iſt der Leitfaden, ohne den er ſich im Labyrinth vieler fremder Spra - chen verirrt: ſie iſt die Rinde, die ihn auf dem unermaͤßlichen Ocean fremder Mundar - ten vor dem Sinken bewahret: ſie bringt in die ſonſt verwirrende Mannichfaltigkeit der Sprachen Einheit. Nicht um meine Spra - che zu verlernen, lerne ich andre Sprachen, nicht um die Sitten meiner Erziehung umzu -tauſchen,78tauſchen, reiſe ich unter fremde Voͤlker; nicht um das Buͤrgerrecht meines Vaterlandes zu verlieren, werde ich ein naturaliſirter Frem - der: denn ſonſt verliere ich mehr, als ich ge - winne. Sondern ich gehe blos durch fremde Gaͤrten, um fuͤr meine Sprache, als eine Verlobte meiner Denkart, Blumen zu holen: ich ſehe fremde Sitten, um die meinigen, wie Fruͤchte, die eine fremde Sonne gereift hat, dem Genius meines Vaterlandes zu opfern. Wenn ich mich meiner Heimath entziehe, und mich in fremden Sprachen weide, ahme ich Kleiſts Bienen nach,
Jch ſezze zwei Schriftſteller zuſammen, von denen der eine in ſeiner Sprache, der an - dere in einer fremden todten Sprache ſchreibt: wer von ihnen kann groͤßer werden?
Zuerſt der in einer fremden Sprache ſchreibt, muß doch eine Mutterſprache haben,in79in der er erzogen iſt. Verachtet er dieſe Mut - ter: ſo muß er von ihr uͤbel erzogen ſeyn, daß die erſten Eindruͤcke der Bildung gar nicht bei ihm zur Reife gekommen; denn ſonſt ſind die Spuren dieſes fruͤhen Gepraͤges der Seele unausloͤſchlich. — Wie viel ver - liert ein Schriftſteller hiebei, deſſen Geiſt nicht durch ſeine Sprache maͤchtig geformt iſt! alle ſein ſpaͤteres Lernen bemahlt die Oberflaͤche der Denkart: er irret in fremden Gegenden, ohne Vaterland und Hausgoͤtter: er kann nie ein Originalſchriftſteller werden, bei dem Gedanke und Ausdruck ſich zuſammen draͤngen, um ein vollſtaͤndiges Bild ſeiner Seele zu ſeyn.
Ein Originalſchriftſteller im hohen Sin - ne der Alten, iſt, wenige Beiſpiele ausgenom - men, beſtaͤndig ein Nationalautor. Ein Mann, deſſen Seele, von Gedanken ſchwan - ger, zu gebaͤren ringet, denket nie darauf, wie ein Aeſthetiſcher Regelnſchmid einſt an ihm ſizzen wird, um Beiſpiele des Ausdrucks zu ſeinen Schulgeſezzen auszuklauben: und es wird ihm alſo unmoͤglich, den Ausdruck abgeſondert vom Gedanken zu behandeln,zu80zu ordnen, zu waͤhlen. Er bildet ſich das Ganze des Gedankens in ſeinem Geiſte, ſtellet jeden Theilbegriff ſchnell an ſeinen Platz, in ſein gehoͤriges Licht, zu ſeinem eigenthuͤmli - chen Zweck, in allem erforderlichen Gleich - maaße: das Bild ſchaffet ſich in ſeinem Kopf und Tritt, vollſtaͤndig an Gliedmaaßen, und geſund an der Farbe, mit glaͤnzenden Waf - fen geruͤſtet, hervor, und wird Ausdruck. Dieſer iſt eine ſichtbare Wohnung, in die ſich der Gedanke mit Gewalt draͤngete, ihn ganz einnahm, alles an ihm belebte, und zuſam - menfuͤgte. Da ſteht er nun ſichtbar und hoͤrbar, wie ihn der andre unſichtbar dachte: ſoll ich den Ausdruck aͤndern, ſo ſchwindet der Gedanke: habe ich den Gedanken gefaſ - ſet, und will ihn ſagen: da ſteht wieder das Wort! Der Schriſtſteller dachte Worte, und ſpricht Gedanken. Er wollte ſich nicht um den Ausdruck allein bekuͤmmern, ihr ſeine beurtheilende Schulmeiſter: er hat nicht ge - ſchrieben, um euch ein Exempel-Magazin zu liefern: er goͤnnt euch die Freude, ihm hier unſichtbare Fehler des Stils abzulauern; er goͤnnet euch, ihr Groß - und Kleinmeiſter derSchreib -81Schreibart, die Ehre, an ihm beruͤhmt zu werden, und ihn nach allen Regeln der Gram - matik hochmuͤthig zu verdammen, und nach allen Privilegien der Poetik und Rhetorik groß - muͤthig loszuſprechen; er gibt allen kurz - und langweiligen Nachrichtern der Gelehrſamkeit die Macht, ihn hier der Dunkelheit, und wo das Licht durchblickt, der Groͤße, ihn dort der fremden Anſpielungen, und wo ihr ſie verſteht, des Nachdrucks, ihn hier des Zwanges, und wo ihr ſeinen Zweck erreicht, des Nahrhaften, kurz aller gegen ein ander laufenden Fehler des Ausdrucks, und Tugenden der Gedanken zu tadeln und zu ruͤhmen: er dachte, und der Gedanke formte den Ausdruck: mit dieſem hadert! Jura negat ſibi data ‒ ‒
Aber man ſiehet, daß wenn dieſer Schrift - ſteller nicht ganz mißrathen will: ſo muß er in ſeiner Mutterſprache ſchreiben; denn wenn der Gedanke den Ausdruck formen ſoll: muß der ganze Umfang der Sprache ſo unter mir ſeyn, als das Feld von Gedanken: ſonſt druͤcke ich mich entweder nicht aus, oder ſuͤndige unaufhoͤrlich wider die Sprache. Jch will dieſen großen Gedanken in ſeiner unge -Fragm. III S. Fheuren82heuren Geſtalt zeigen: ſchreibe ich in meiner Sprache, ſo ſtoͤßt er ſich ſelbſt in einen Aus - druck dahin; aber in einer fremden Sprache wird er vielleicht ein Barbariſmus, bei dem die Ohren gellen. Dieſer neue Gedanke draͤngt ſich in meiner eignen Sprache in alle ſein Licht, daß er geſehen werden muß un - ter einem fremden Volk hat er nicht die Frei - heit, oder paaret ſich vielleicht mit einem derben Soloͤciſmus. Dieſer fruchtbare Ge - danke will mit allen ſeinen Nebenbegriffen auf einmal in die Seele: meine Mutterſprache ſteht ihm mit ihrer ganzen Fuͤlle zu Gebot; aber in einer todten Sprache muß er betteln, trift vielleicht arme Huͤtten an, und wird bei reichen Pallaͤſten zuruͤckgewieſen, oder heraus - geſtoßen. Kurz! ſeiner Seele den Zuͤgel, und den Gedanken den Lauf laſſen, ohne auf eine bekannte und ſichere Mutter Erde ſich verlaſſen zu koͤnnen; macht mißrathene Schrift - ſteller, die in einer Gegend ſich verirren, in die ſie nicht zu Hauſe gehoͤren; der Gedanke war groß, aber unfoͤrmlich ſein Ausdruck.
Das iſt doch gewiß, daß eine todte Spra - che, die ich nach Regeln der Grammatiklerne,83lerne, nothwendig aͤußerſt einſchraͤnket, weil nach dieſen Geſezzen der Gedanke ſich richten muß, dagegen in lebendigen Sprachen ſchon eher das Geſezz ſich nach dem Gedanken richtet. Wenn in jener das Genie hervor - bricht: ſo iſts raſend, reißt alles nieder, und ſchreckt Gelehrte und Ungelehrte
Auf der andern Seite wird man es mir noch eher zugeben, daß, wenn nicht die fremde Sprache Gewalt leidet, ſie Gewalt anthue. Wie kann ich eine Sprache aus zehn oder zwoͤlf Schriftſtellern ganz, in ihrem ganzen Umfange, mit aller ihrer Staͤrke, Wuͤr - de und Reiz lernen? Man nehme doch zehn Schriftſteller unter uns, und ſage ob man aus ihnen die ganze Sprache lernen werde; ja, man nehme die ganze ungeheure Menge der unſrigen, laſſe unſre Sprache ſterben, und wecke ſie aus ihnen wieder auf? Vergebliche Arbeit, die zur Thorheit wuͤrde, und uns doch Weisheit duͤnkt, wenn wirF 2natu -84naturaliſirte Roͤmer ſehen, die in der lateini - ſchen Sprache ſo gar — ſchreiben; Gedichte ſchreiben und Horaziſche Oden ſchreiben: viel - leicht die hoͤchſte, ſchwerſte und kuͤnſtlichſte Art des Vortrages. Nun ſezze ich wuͤrklich ein Genie, von der Groͤße, als Horaz in ſeiner Sprache war: es haͤtte allen innern Reichthum, Fuͤlle, Groͤße, und Feuer der Gedanken in ſeinem Lande nach ſeiner Cultur, nach der eigenthuͤmlichen Wendung ſeines Geiſtes: dieſer Horaz von einem wuͤrdigen Gegenſtande aufgefodert, von der Muſe ge - ſalbet, von edlem Feuer durchdrungen, greift nach der Leyer des Venuſiſchen Dichters; er wuͤrde Horaz ſeyn, aber nun ſingt er in Ho - razens Sprache. Sogleich wird der Gedanke vom Ausdrucke gefeſſelt; das Bild ſoll in ſei - ner Schoͤnheit erſcheinen, und hat Flecken, die den Glanz beſchimpfen: es ſoll reich an Nebenbegriffen ſeyn, und dieſe Nebenideen erniedrigen es: es ſoll groß erſcheinen, und wird gezerret, es ſoll mit einem mal uͤber - raſchen, und ſchlaͤgt uns ins Antlitz: es wird mit Putz uͤberladen, und erſcheint klein: Ge - danke und Ausdruck ſind wie jene zuſammen -gewach -85gewachſene Misgeburt, die mit einem Haupt lachte, mit dem andern weinte, mit dem Ruͤcken an einander ſtieß, ſich fortzerrete, und auf einer Stelle blieb.
Wahrlich! der Dichter muß ſeinem Boden getreu bleiben, der uͤber den Ausdruck herr - ſchen will: Hieher kann er Machtwoͤrter pflan - zen, denn er kennet das Land: Hier kann er Blumen pfluͤcken; denn die Erde iſt ſein; hier kann er in die Tiefe graben, und Gold ſuchen, und Berge auffuͤhren, und Stroͤme leiten: denn er iſt Hausherr. Die wahre Laune drucket ſich blos in der Mutterſprache ab, und ich ſchaͤme mich nicht, die Schwaͤche meiner Seele zu geſtehen, daß ich mir Le - benslang nicht zutraue, mehr als eine ein - zige Sprache vollkommen faſſen zu koͤnnen: ich meine aber unter dem Wort vollkommen ſo viel, daß drei junge Herren, die vor mir ſtehen, und mir Franzoͤſiſch, Jtaliaͤniſch und Engliſch, und drei Schulmeiſter, die mir Lateiniſch und Griechiſch und Koptiſch, mit großer Gelaͤufigkeit vorſpraͤchen, mich noch nicht wiederlegten. Jch wuͤrde jedem Gluͤck wuͤnſchen, daß er vielleicht in drei SprachenF 3nichts86nichts ſagen koͤnne, als was andre vor ihnen, und vielleicht beſſer geſagt, und jeder andre nach ihm ſagen kann: wuͤrde ſie aber verlaſ - ſen, und den Daͤmon des unwiſſenden Sokra - tes citiren, um ihn zu fragen, ob jemand in mehr als einer Sprache ein gleich voll - kommner Homer, in einer todten Sprache ein Pindar oder Horaz, und in einer an - dern als ſeiner Mutterſprache, ein Shake - ſpear ſeyn koͤnne? — Alsdenn wuͤrde ich niederfallen, wie Brutus, und die Erde umarmen, die meine Mutter iſt, und ihre Sprache ſoll meine Muſe ſeyn!
Jch habe die Sache blos von einer Seite be - trachtet: daß in fremden todten Sprachen der Gedanke verliere; aber, wenn es Schrift - ſteller gibt, die von dieſer Hoͤhe herunter ſtei - gen, und blos durch den Ausdruck gewinnen wollen — blos durch den Ausdruck? wieder wird Ausdruck und Vortrag getrennet! doch ich will zuhoͤren:
Gewinnt87Gewinnt der Ausdruck, weil eine Spra - che an ſich ſchoͤner iſt? ſo denken blos die Schulmeiſter, die aus den Alten Phraſes auf - jagen, Lexicon und Grammatik pluͤndern, und ſich ein buntes Kleid zuſammen ſticken, mit vieler Muͤhe es verbraͤmen, um laͤcherliche Arlekins zu ſeyn. Aber wenn junge Zuͤg - linge aus den Alten Phraſes aufjagen, Lexi - con und Grammatik pluͤndern, und ſich von lateiniſchen Lappen mit vieler Muͤhe einen Arlekinsrock zuſammen flicken muͤſſen: ſo doͤrf - te man weinen. Ohne Zweck iſt die Lapp - laͤndiſche Sprache ſo gut, wie die Roͤmiſche.
Gewinnt der Ausdruck, weil die Sprache aͤlter iſt? — ſo denken blos die, ſo zweitau - ſend Jahr zu ſpaͤt gebohren ſind, und auf ei - ne allgemeine Wiederauflebung warten, um dem Horaz und Properz ihre Centonen auf - weiſen zu koͤnnen. Nun bin ich zwar kein blinder Wahrſager des juͤngſten Gerichts, wie andre groͤßere Leute; aber doch moͤchte ich nicht dabei ſeyn, wenn Horaz unſern Roller’s und andern Schulpoeten ihre Exercitien cor - rigiren muͤßte zur Ehre der deutſchen Na - tion — Eben weil die Sprache ſo olt undF 4ver -88verlebt iſt: ſo wuͤßte ich nicht, ob die Roͤmi - ſche Sprache nicht immer germaniſirt, we - nigſtens in eine deutſche Denkart eingekleidet werde.
Gewinnt der Ausdruck, weil er Beleſen - heit zeigt? — Es kann ſeyn, aber je mehr Schriftſteller ich geleſen: je mehr ich aus ih - nen Nahrung gezogen: deſto unbeſtimmter muß meine Schreibart werden, und ihren Charakter verlieren! Wenn ich hier einen Kernausdruck von Tacitus in einen Perioden des Cicero flechte, dort Blumen aus Ho - raz, Virgil und Juvenal breche und dazwi - ſchen knuͤpfe: ſo kann dies freilich ein Kranz werden, der mich als einen Kenner des Al - terthums bezeichnet; aber was wieder ein alter Roͤmer ſpraͤche, wenn er einen ſo un - gleichen holprichten Styl erblickte, kann ich nicht ſagen. Mir iſts freilich, wenn ich ei - nen alten Autor eine Zeitlang geleſen, und ſchnell einen neuern erwiſcht, manchmal vor - gekommen, als wenn ich die hiſtorias ſele - ctas laͤſe: aber ich kann mich vielleicht, ge - blendet vom Vorurtheil des Alterthums, truͤ - gen, und kann uͤberhaupt uͤber eine todteSpra -89Sprache nicht ſo dreuſt urtheilen, als andre. Waͤre ich ein lateiniſcher Dichter; mir wuͤr - de jenes Virgilianiſche Mistrauen eindruͤcklich ſeyn: „ Auch mich nennen die Hirten einen „ Dichter; aber ſo leicht glaube ich ihnen „ nicht; noch ſcheinen mir meine Arbeiten „ nicht eines Varus oder Cinna wuͤrdig; „ vielleicht klingt mein Geſang, wie unter „ Schwaͤnen das Schnattern der Gaͤnſe. „
Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei - niſch einen Lateiner beſſer nachahmen kann, als Deutſch? Es ſcheint! aber was heißt beſſer nachahmen? Mit ſeinen eignen Worten; das heißt, Grammatiſch! Aus - druͤcke zuſammen faͤdeln, iſt alsdenn blos Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht in das Woͤrterbuch eines Schriftſtellers ein - kerkern kann, ohne aͤußerſten Zwang, ſo muß ich wieder fuͤrchten, ſelbſt in der Schreibart ungleich zu werden. — Aber nachahmen, um den Ton eines Alten zu lernen? Dieſe Nachahmung iſt ſchon hoͤher, und eine Arbeit des Geiſtes. Wenn man einen Autor mit dem Feuer lieſet, mit dem er geſchrieben hat, ſo muß er uns ſo beſeelen, daß wir eine Zeit -F 5lang90lang gleichſam verzuͤckt in ſeine Sphaͤre der Gedanken ſind: ſein Ton ſchallt noch in un - ſern Ohren; wir ſehen mit ſeinen Augen; wir athmen in ſeiner Denkart wie in unſrem Elemente: die Saite der poetiſchen Empfin - dung toͤnt in uns, erweckt von der ſeinigen, mit ihr zuſammen: die Worte formen ſich nach der Wendung ſeines Geiſtes: wir leſen uſque ad ſcribendi ſollicitudinem — und ſchreiben. Nun lebt noch ſeine Sprache in uns: ſein Rhythmus toͤnt noch in unſerm Ohr: die Reihe ſeiner Bilder ſteht noch vor unſerm Auge: wir ahmen in ſeiner Sprache, in ſeinem Sylbenmaaß, in ſeiner Compoſi - tion der Gemaͤlde nach, und zeigen uns alſo als Virtuoſen.
Nun ſezze ich noch dazu: ſein Feuer facht unſern Geiſt an, wir ſchaffen in ſeine Bilder neue Zuͤge, und praͤgen ſeine Jdeen um, wir bilden uns nach ſeiner Form neue Figuren, ein Ausdruck gelingt uns vor ihm; eine Wen - dung glaͤnzt hervor; ein Gleichniß mahlen wir beſſer aus — wir werden mehr als Nach - ahmer, wir werden Nacheiferer. Unſere Nachbildungen werden fuͤr uns angenehmeDenk -91Denkmaale, die uns an die ſuͤße Stunde der Begeiſterung zuruͤck erinnern, da die Muſe eines alten Schriftſtellers vor uns ſtand, und auf den Fluͤgeln ſeiner Jdeen uns in die Ge - filde ihrer Lieblinge fuͤhrte. Fuͤr das Pu - blikum ſind dieſe Stuͤcke Pfaͤnder von dem Werthe eines Mannes, der ſich ſo vorzuͤglich nach den Alten gebildet, der ſo viel von ih - rem Geiſte kennet, der den Geſchmack der antiken Schoͤnheit in ſich geſogen, den man bewundern muß, von dem man viel hoffen kann — ſie ſind alſo als Mittel zu gewiſſen Zwecken vortreffliche Dinge; aber als Zwecke? —
Als vollendete Werke des Zwecks reichen dieſe Stuͤcke wohl an die Alten? Der Spra - che nach? — Wollt ihr dies wiſſen, ſo
nach jenem Knuͤttelliede, und fragt die Alten! – Reichen ſie an die Alten, als Kunſtſtuͤcke? – Nicht ſo recht! Denn es iſt immer ſchwer, ſich mit einem zu meſſen, mit dem man nicht auf gleichem Boden ſtehet! Da bei den Denk - maͤlern der Alten uns viele Dinge unbekanntſind,92ſind, worauf Horaz vielleicht hiemit gezielet, auf wen er dort angeſpielet, was in ſeiner Zeit den Leſern hiebei beifallen mußte, was dort fuͤr verdeckte Zuͤge hervorſchimmern, was hier fuͤr viele reiche Nebenideen ſich zuſam - mengeſellen — kurz! die ganze Seite, die ſich auf einzelne Faͤlle gruͤndet, auf ſeine Gele - genheit und Umſtaͤnde beziehet, ſie einem Roͤ - mer vorzuͤglich ſchaͤzzbar macht, dieſe ganze Seite iſt fuͤr uns oft dunkel: und die beſte Horaziſche Satyre laͤuft Gefahr, von ihrem Urbilde vieles auf eine unerlaubte Art zu bor - gen, unpaſſend zuſammen zu ſezzen, und alſo als Kunſtſtuͤck betrachtet, weit hinter dem Originale zu ſtehen. — Jetzt vollends als Dichterei, als ein Werk des Genies? Hier entfernen ſich die Parallelſtriche immer mehr. Mit einer todten Sprache iſt uns alles ausgeſtorben, was der Dichtkunſt Leben und Nerven gibt. — Zuerſt die Lage von Vorfaͤllen, uͤber die jener ſchrieb, aus de - nen ſein Gedicht allen Saft zog, die es bis auf die kleinſten Umſtaͤnde nutzte, durch wel - che es ſich ſeinen Leſern ſo ſehr empfahl, ſo unvergeßlich machte, ſo nahe in ihre Seeleging93ging — iſt ausgeſtorben. Was hilft es mir, daß meine Gelegenheit im Ganzen mit des Horaz Vorfall ſtimmet? Stimmet ſie auch in Theilen, daß ich dies und jenes Bild hier mit dem Nachdrucke brauche, als mein Vorgaͤnger? Jhn lehrte ein Vorfall dich - ten; und er ſang in ſeiner Sprache, um ganz dieſen Vorfall zu nuzzen; ich ſinge uͤber einen ganz veraͤnderten Umſtand, und muß mit meiner Sprache die kleinen Zuͤge ver - lieren, die mein Gedicht beſtimmt machen; ich ſinge aus Horaz ſtatt aus mir zu ſingen! Jch wollte gern einen Commentar uͤber Horaz leſen, und mit ganzer Seele durchſtudiren, wo er nicht als ein claſſiſcher Autor behan - delt, ſein Gedanke langweilig und unge - faͤhr beſtimmt, ſein Ausdruck abgetrennt vom Gedanken zergliedert und verdolmetſchet, wo er mit den Regeln neuerer Ariſtarche vergli - chen wird, die man doch aus ihm abgezogen, die oft eigenſinnig genug ſind, und nie ſeine Schoͤnheiten erſchoͤpfen oder ſichtbar machen. Einen Commentar wollte ich wuͤnſchen, wo man ihn als einen lebenden Dichter betrach - tete, der uͤber dieſen Vorfall zu dieſemZwe -94Zwecke ſo ſchrieb, und ſchreiben mußte, wo er als ein Hoͤfling erſchiene, der voll feiner und galanter Scherze, Gedanken und An - ſpielungen iſt, die gleichſam ihre Welt ha - ben muͤſſen, in der ſie leben, aus der ſie ihre Reize nehmen, ohne die ſie todt ſind. Das hieße Horaz erwecken, ſeine Gedichte in ſei - ne Perſon verwandeln, und muͤndlich von ihm lernen: das hieße, den Ausdruck aus dem Gedanken, den Gedanken aus der vorlie - genden Sache erklaͤren: und alle drei be - leben! — So lange das aber ein Projekt, bei allen Werken des Alterthums ſchwer, und bei einigen unmoͤglich bleibt: ſo lange man die Alten als todte Maͤnner behandelt, die als Schulmeiſter ſchrieben, damit ſie einſt in den eiſenharten Haͤnden eines Schulmeiſters claſ - ſiſche Autoren wuͤrden: ſo kann man ſie frei - lich ungeſtoͤrt und zum Lobe claſſiſch nachah - men! Wie vieles ſtirbt außerdem mit einer Sprache? Zwiſchen dieſen Woͤrtern iſt ein Unterſchied in der Wuͤrde; er iſt verloh - ren; ich brauche eins fuͤrs andre, und ein Roͤmer muß vielleicht uͤber die ernſthafteſte Stelle lachen! — Zwiſchen dieſen iſt ein Un -terſchied95terſchied in der Bedeutung; ich ſage das ſchielend, was der Roͤmer ganz ſagte! — Hier gehoͤrte ein ganz ander Wort hin, das mir aber nicht beifiel, oder das nicht in die - ſem Autor ſteht, oder das ich gar nicht in einem Autor finde. — Und denn? wo ha - ben wir das griechiſche oder roͤmiſche Ohr zur Lenkung des Perioden? Wir ordnen ihn nach grammatiſchen Regeln, oder halten ihn, welches noch aͤrger iſt, fuͤr ganz und gar frei und willkuͤhrlich? — Und wo haben wir den lebendigen Wohllaut in unſrer Gewalt, die wir nach proſodiſchen Regeln ſchreiben, bald es fuͤr Kunſt halten, ohne Eliſionen, bald es fuͤr erlaubt halten, mit den haͤrteſten Eliſionen zu ſchreiben, nicht den hohen Wohl - klang hoͤren, in dem die Alten ſangen, und ihn alſo auch nie ſo genau treffen koͤnnen, nicht das Geheimniß des proſaiſchen und poeti - ſchen Perioden verſtehen koͤnnen, weil wir blos aus todten Buchſtaben lernen, nicht die ſtolze Anordnung der Bilder verſtehen, die Leben in die Sprache bringt. Wuͤrde ſich nicht oft ein Roͤmer quaͤlen muͤſſen, um unſern neuern Perioden zu leſen, unſern nachge -ahmten96ahmten Rhythmus ſchoͤn zu finden, und unſre juͤngere Bildercompoſitionen in ſei - ner Sprache zu bewundern. Sollte ich zu eigen ſeyn: ſo weiſe man es mir; aber nicht durch entſcheidende Ausſpruͤche: ſondern durch eine gruͤndliche Unterſuchung der ſchweren Frage: was geht mit dem Leben einer Sprache verlohren, und was bleibt? Was bleibt, um ſie verſtehen, beurtheilen und nachahmen zu koͤnnen?
So doͤrfte alſo der Ausdruck leiden muͤſ - ſen, und ihm opfert man doch bei dieſer Art von Gedichten den Gedanken auf? — ihn ſahe man als die Hauptſchoͤnheit an? — „ man „ glaubte, in dieſer Sprache etwas ſo ſchoͤn „ ſagen zu koͤnnen, als es in andern Spra - „ chen nicht anginge: „ dieſem Glauben zu gut glaubte man das zweite: „ daß die Alten alle „ Schoͤnheiten dieſer Art erſchoͤpfet haͤtten; „ dieſem Glauben folgte noch ein ſchwererer:„ daß97„ daß alle dieſe erſchoͤpfte Schoͤnheiten auf uns „ gekommen, daß ſie in einigen Buͤchern vor „ uns liegen, daß wir aus dieſen wenigen Buͤ - „ chern den ganzen Umfang einer todten Spra - „ che in unſere Gewalt bekommen haͤtten! „ und dieſem endlich der ſchwerſte von allen: „ daß es wohl anginge, wenn man ihren Aus - „ druck nur gefaſſet, auch ihren Geiſt, ihren „ ganzen Geiſt zu haben, und ſollte uns von „ dieſem auch etwas entgangen ſeyn: ſo halte „ uns jener fuͤr dieſen Verluſt ſchadlos! „ — Und nun entſchloß man ſich, des Ausdrucks wegen in der Sprache der Alten zu ſchreiven: natuͤrlich wars, daß, da dieſer der Haupt - vortheil und der Hauptzweck war, daß man alles Unclaſſiſche vermied, um nicht von den Alten abzuweichen: alſo entſagte man ſeiner Eigenheit, man opferte alles auf, das uns den Namen Claſſiſch ſtreitig machen koͤnnte; und ward ein claſſiſcher Nachahmer! — O das verwuͤnſchte Wort: Claſſiſch! Es hat uns den Cicero zum claſſiſchen Schulredner; Horaz und Virgil zu claſſiſchen Schulpoeten; Caͤ - ſar zum Pedanten, und Livius zum Wort - kraͤmer gemacht. Das Wort: Claſſiſch! Fragm. III S. Giſts98iſts geweſen, das den Ausdruck vom Gedan - ken, und den Gedanken von der ihn erzeugen - den Gelegenheit geſondert, das uns gewoͤhnet hat, nach Horaz Exercitien zu machen, und ihn in ſeiner Sprache uͤbertreffen zu wollen. Dies Wort wars, das alle wahre Bildung nach den Alten, als nach lebenden Muſtern, verdraͤngete, und den leidigen Ruhm aufbrach - te: ein Kenner der Alten, ein Artiſt zu ſeyn, ohne daß man damit hoͤhere Zwecke erreichen doͤrfte: dies Wort hat manches Genie unter einen Schutt von Worten vergraben, ſeinen Kopf zu einem Chaos von fremden Ausdruͤ - cken gemacht, und auf ihn die Laſt einer tod - ten Sprache, wie einen Muͤhlſtein gewaͤlzet: es hat dem Vaterlande bluͤhende Fruchtbaͤu - me entzogen, da ſtehen ſie nun auf fremdem Boden, und trauren mit halbverwelkter Bluͤ - the und ſinkenden Blaͤttern: ſtatt daß ſie uns Baͤume haͤtten ſeyn ſollen, unter denen ihr Geſchlecht wohnen koͤnnte:
Will ich die Sprachengelehrſamkeit ver - laͤumden? der lateiniſchen Sprache etwas von ihrer Schoͤnheit oder Verdienſten abſpre - chen? Gar nicht! Sie ſoll unſre gelehrte Sprache bleiben, die ein Band der Nationen iſt; — ſie ſoll die Sprache der Forſcher des Alterthums bleiben, weil es ein wun - derbarer Anblick ſeyn wuͤrde, einen griechi - ſchen oder lateiniſchen Autor mit deutſchen Noten und einer deutſchen Vorrede in die Buͤ - cherſaͤle der Gelehrten zu ſenden: ſie ſoll die akademiſche Sprache der Gelehrſamkeit blei - ben, weil ſonſt eine allgemeine Barbarei er - folgen wuͤrde, da wir uns auf andre verlaſ - ſen, und es blos einem Triumvirat von Schrift - ſtellern in einem ganzen Lande aufgeben, die lateiniſche Sprache zu erhalten: ſie ſoll in allen Sachen ihre Stimme haben, wo die Alten erklaͤrt, ausgelegt, und in ihren Schoͤn - heiten vorgezeigt werden: kurz! ſie ſoll das Werkzeug der Gelehrſamkeit bleiben, das ſeit ſo vielen Jahrhunderten dieſe Ehre gehabt, und mit dem ſo große Dinge ausgefuͤhret worden ſind.
G 2Aber100Aber die eigentliche Sprache des Ge - ſchmacks, der Kuͤnſte, der Schoͤnheit muß ſie nicht werden; nicht einer Nation die Ori - ginalſchriftſteller in ihrer eignen Mundart rauben: nicht die Ehre ſich anmaßen, auf dem Throne der Dichtkunſt zu thronen, und die Sprache der Poeten, der wahrhaftig ſchoͤnen Schriftſteller, oder derer zu werden, die mit ihren Schriften bilden wollen. Dieſe ſollen vom Sokrates lernen, Patrioten zu ſeyn, und Nebenabſichten dem Hauptzwecke aufzuopfern: denn dieſer wußte es genau zu unterſcheiden:
Sie ſollen aus verungluͤckten Beiſpielen ſe - hen, daß, wenn man den Ausdruck ungluͤck - licher Weiſe vor dem Gedanken behandelt; alsdenn leicht jene todte Bildſaͤule des Styls daraus werde, die ohne Fehler und ohne wahr - haftig eigne Schoͤnheiten, ohne Leben und oh - ne Charakter daſteht, fuͤr langweilige Leſer eine Augenweide: die Bewunderung des re - gelmaͤßigen Dummen; allein der Kluge gehtvor -101voruͤber. Sie ſollen aus Beiſpielen ſehen, daß, wenn man ſich begnuͤgt, was zehn an - dre vor uns geſagt, auf eine ſo Gott will! ſchoͤne Art zu ſagen, ein Alltagsgeſicht dar - aus werde, — eine Alltagscompoſition von hundert huͤbſchen Stellen und Gedanken und Flickgen, die nicht helfen noch ſchaden, aber doch ins Auge fallen: — daß, wenn man ſein vornehmſtes Verdienſt in den ſchoͤnen Aus - druck einer fremden Sprache ſezzt; zuerſt unſre Denkart, nachher ſelbſt unſre Sprache, und wenn dieſer Geſchmack herrſchend wird, endlich die Denkart und die Sprache der gan - zen Nation zuruͤckbleibe. Alsdenn wird viel - leicht einſt ein unpartheiiſcher Nachkomme uns die Grabſchrift ſezzen:
Jn der Sprache der ſinnlichen Welt, uͤber - all, wo ich blos klar denken muß, ohne doch immer des Unterſchiedes mir bewußt ſeyn zu doͤrfen; vorzuͤglich in der Dichtkunſt, wo der ſinnlich lebhafte Ausdruck alles iſt: klebt alſo der Gedanke ſehr am Worte — aber jetzt tre - ten wir auf ein ganz ander Feld, wo ſich al - les veraͤndert zeigt. Die Weltweisheit: wiefern kann und muß in ihr Gedanke am Ausdruck haften. Fragmente liefern keine Abhandlungen, ich zeichne alſo Geſichts - punkte hin.
1. Man kann zu einem Begriffe kommen, ſinnlich, wo man mit dem anſchauenden Blicke zugleich den Namen verbindet: dieſer Weg, zu Begriffen zu gelangen, iſt offenbar nicht die Straße der Philoſophie: ſie verirrt ſich unter qualitates occultas, wenn ſie mit dem Verſtande empfinden will, und das Em - pfundene mit einem von ihm unabtrennbaren Namen umgibt. Jch weiß nicht, ob ich mich deutlich genug erklaͤre: damit man nicht glau - be, ich wollte die Weltweisheit, dem Bodender103der Beobachtung, entwenden. Jch ſage nur; jeder Begriff, den ich glaube, anſchauend zu erkennen, da er doch blos eine Wuͤrkung der Abſtraktion iſt, iſt ein Scheinbegriff in der Philoſophie: und wenn ich ihn mit einem Na - men gatte: ſo iſt dies ein leerer Name, den ich nicht entwickeln, und der andre alſo ſich nicht erklaͤren kann; auf gut Gluͤck annimmt, und ein Wort ſpricht, dabei er nichts deutlich denkt. Ein großer Theil der ſcholaſtiſchen Wortkraͤmerei kam daher, weil ſie abſtrakte Begriffe, wie anſchauende Gedanken, ſich vor - bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten, was ſie ſchloſſen, und ſich unter unerklaͤrli - che allgemeine Namen verſteckten. Wenn eine neuere Philoſophie fortfaͤhrt, die Wahr - heit wie eine Farbe anzuſehen, und es zum obern Grundſatz des Denkens nimmt: was ich nicht anders, als wahr oder falſch denken kann, das iſt wahr oder falſch — wenn man den Grundbegriff der ganzen Aeſthetik, die Schoͤnheit, in ein Jch weiß nicht was? des Geſchmacks verwandelt: und die Grund - lage der Moral in ein Gefuͤhl, oder Gewiſ - ſensempfindung, oder gar in einen ange -G 4bohr104bohrnen Gehorſamstrieb ſezzet, um es zu be - ſtimmen, was gut iſt: — ich ſage, wenn die - ſer Weg die philoſophiſche Methode wird: ſo ſind wir wieder in dem Labyrinth unerklaͤr - licher Worte, wo der Gedanke am Ausdruck haftet, aus welchem uns Baco, Locke und Leibnitz haben erretten wollen.
2. Man kann zu einem Begriffe kommen, woͤrtlich, wenn der Name genetiſch und aus dem Weſen der Sache hergenommen iſt. So ſind aber blos Worterklaͤrungen, wo ich will - kuͤhrlich zuſammengeſezzte Gedanken gemei - niglich auch durch einen Ausdruck gleichſam darſtelle. Dies iſt noch nicht die eigentlich philoſophiſche Methode, zu Begriffen zu ge - langen: denn es ſind wenige Namen in der Philoſophie, die ihren Begriffen zu gut erfun - den ſind, weil bei dieſer Art der Verbindung zwiſchen Gedanke und Wort beide unter der Gewalt ihres Erfinders ſtehen muͤſſen, der ſie beide ſchuf und paarte. So ſind nicht die Worte des gemeinen Lebens; denn die Erfin - der der Sprache waren ſelten Philoſophen, ſondern meiſtens die eigentlichen Kunſtwoͤr - ter, die daher offenbar als Zwecke nichts gel -ten;105ten; weil der Erfinder nichts anders im Sin - ne hatte, als mit ihnen, wie mit Werkzeugen, hoͤhere Endzwecke zu erreichen. Jſt alſo eine Weltweisheit mit ſolchen Kunſtwoͤrtern uͤber - laden, ohne daß man dieſe Kunſtwoͤrter an - ders gebrauchet, als zum Beſchauen: ſo ver - wandelt ſich mit einemmal das, was bei den Erfindern eine Ruͤſtkammer zum Gebrauch ge - weſen war, in eine Galanteriebude, wo man eins nach dem andern beſieht, auskramet, und hoͤchſtens hier und dar etwas puzzet. So iſt die gemeine Art, Philoſophie zu lehren, die eine abgezaͤhlte Menge philoſophiſcher Worte hat, ſie ihren Schuͤlern vorzeigt, erklaͤrt, und dieſelbe hoͤchſtens mit einigen Exempeln und Veraͤnderungen bereichert. Der eigentliche Geiſt der Weltweisheit aber, iſt nicht, wie ich glaube, zu wiſſen, was andre vor uns gedacht und geſagt: ſondern es ſich eigen zu machen, wie ſie es gedacht und geſagt. Wer Philo - ſophie verſteht, erlaͤutert und vortraͤgt, iſt viel - leicht noch kein Philoſoph, und einen jungen Kopf blos auf dieſem Wege fortfuͤhren, heißt noch nicht ihn denken, ſondern andern nach - denken lehren. So viel halte ich von einerG 5Metho -106Methode, die da glaubt: Gedanke klebt am Ausdruck; und ſich zum einzigen Zweck nimmt, Worte zu erklaͤren, damit man Gedanken blos verſtehe: das heißt, Weltweisheit lerne.
3. An grammatiſche Entzieferungen der Worte lohnt es hier kaum zu denken; denn ſie ſind gewiß nur am Rande der Philoſophie. Richt, wie ein Ausdruck ſich etymologiſch her - leiten, und analytiſch beſtimmen laͤßt: ſon - dern wie er gebraucht wird, iſt die Frage. Urſprung und Gebrauch ſind oft ſehr verſchie - den, und die Unterſuchung des erſten iſt nichts, als ein Mittel, den letztern genauer zu erfor - ſchen.
Wie klebt nun in der Philoſophie Gedan - ke am Wort? ſo wie ich im gemeinen Le - ben mit dem Worte den Gedanken ſinnlich klar erkenne, und an dieſer klaren Erkaͤnnt - niß gnug habe? — Nein! denn ihr Geſchaͤffte iſt ſinnlich klar, aber verworren mit den Worten uns uͤberlieferte Begriffe deutlich zu machen. Dies iſt der erſte Geſichtspunkt.
Klebt der Gedanke am Wort techniſch, damit, wenn ich Worte in ihrer Bedeutung lerne, ich zugleich die Gedanken lerne? Die107Die Gedanken wohl, aber denken zu lernen, wird dieſe techniſche Verbindung blos zu ei - nem Werkzeuge.
Klebt der Gedanke am Wort bildlich, wie in der Mathematik das Wort Quadrat im Anſchauen ſeiner Figur? Noch weniger! denn grammatiſche Aufloͤſungen eines Worts ſind ſelten der Art, daß ſie die Begriffe uns eben damit vorbilden: weder wie ſie entſtan - den ſind, noch wie ſie zuſammen ein Ganzes bilden. — Nun wende ich an:
1. Wir haben durch die Sprache denken ge - lernt: ſie iſt alſo ein Schatz von Begriffen, die ſinnlich klar an den Worten kleben, und vom gemeinen Verſtande nie getrennet wer - den. Nun koͤmmt die Weltweisheit, um die Beſchaffenheit der Dinge zu erforſchen; das iſt, ſie macht die in der gemeinen Spra - che gegebenen Worte deutlich, und mit ihnen werden die Gedanken entwickelt. Wenn alſo eine philoſophiſche Methode unſrer Erziehungund108und Bildung analogiſch ſeyn ſoll: ſo nimmt ſie die Gegenſtaͤnde, die wir ſchon durch Huͤlfe der Worte ſinnlich klar kennen, ſezzt die be - kannteſten Jdeen auseinander, die in ihnen liegen, jeder begreifen und niemand laͤugnen kann, ſteigt zu denen immer feinern, bis ſie endlich zur Definition koͤmmt: jetzt erken - nen wir in dem Begriffe jeden Theilbegriff, und da wir vorher blos unterſchieden, ſo fern wir mit dem Wort einen klaren Begriff ver - banden: ſo erkennen wir jetzt den Unterſchied, weil wir uns der Merkmaale bewußt ſind, die beide Sachen unterſchieden.
Die wahre und einzige Methode der Phi - loſophie iſt alſo die analytiſche: dieſe muß nothwendig die Begriffe des geſunden Ver - ſtandes zum Grunde legen, und von hier ſich zu Hoͤhen der abſtrahirenden Vernunft erhe - ben. Alle wahrhaftig philoſophiſchen Be - griffe ſind dem Weltweiſen gegeben; er kann ſie alſo nicht in einem Verſtande nehmen, wie er will, und willkuͤhrliche Worterklaͤrungen von Raum, Zeit, Geiſt, Tugend u. ſ. w. vorausſetzen, oder er oͤffnet die Quelle zu allen Wortgezaͤnken. Sie ſind ihm ſinnlich klargege -109gegeben, und jeder gute geſunde Verſtand muß alſo durch die Philoſophie gleichſam hoͤ - her geleitet werden. Sie ſind ihm aber ver - worren gegeben, er ſoll ſie durch die Abſtrak - tion deutlich darſtellen, und zergliedert ſie alſo, ſo weit er kann.
Man ſieht bei dem erſten Anblick, daß alle Weltweisheit ertoͤdtet werde, wenn man ſich begnuͤgt, den Gedanken implicite mit eben dem Ausdruck zu denken. Eben von ihm muß ich ihn abſondern, ihn in andre kleinere Beſtimmungen aufloͤſen, ihn immer in ver - ſtaͤndlichen, aber nach und nach in vernuͤnf - tigern Worten zeigen, bis die Seele ſich endlich gleichſam erinnert, was ſie mit dem Worte gedacht hat, und vorher nicht ſagen konnte, was ſie in Platons Reich der Gei - ſter ſahe, und jetzt nochmals ſiehet, was in ihr ſchlummerte, und jetzt erwachet. — Wenn wir nie ohne Worte Deutlich denken koͤnnen: ſo iſts eben der Zweck der Weltweis - heit, die blos verſtaͤndlichen Worte ſo lan - ge umzuſezzen, und zu wechſeln, bis ſie deut - lich werden; der Unterſchied dieſer beiden Ausdruͤcke iſt eben dadurch geſchwaͤcht, daßwir110wir im gemeinen Leben verstaͤndlich und deut - lich fuͤr einerlei halten, weil wir vom letztem in ihm wenig wissen.
Die Weltweisheit also, die von eigensin - nigen Bestimmungen anfaͤngt, sich hernach so gleich hinter barbarische Kunstwoͤrter ver - steckt, um ihren vorangesetzten Eigensinn zu beweisen, ist nicht meine Muse, denn sie ver - achtet den gemeinen Verstand, dessen Wor - te sie verwirft: sie hat sich aus der Sphaͤre des Lebens in die Atmosphaͤre der Katheder versezzt. Bildend ist sie nicht, und wenn sie auch wahr waͤre, unnuͤtzlich. — Aber die Weltweisheit ist die Abgoͤttinn meines Her - zens, die zuerst den sinnlichen Verstand lei - tet, sich zu seiner Sprache herablaͤßt, mit ihm gehet, ihn nach und nach mehr erhebet, und ihm endlich in der Sphaͤre der Vernunft mit allem Glanz der Deutlichkeit erschei - net, und verschwindet.
Daß diese Art zu philosophirn schwer sey, ist offenbar, denn sie kann nicht mit Worten spielen, wie die Arithmetik mit Zeichen, wo - bei man die bezeichnete Sache vergessen kann. Sie soll den Begriff eben von seiner Huͤlle ab -ſondern,111ſondern, in der man ihn zu ſehen gewoͤhne iſt, und von Jugend auf zu ſehen gewohnt war. Er ſtraͤubt ſich, und wenn wir ihn mit Gewalt entkleiden: ſo entwiſcht er, und laͤßt uns das Kleid in der Hand; oder wir verunſtalten ihn, haben ihm mit ſeinem Ge - wande zugleich ſeine Haut zerriſſen: da ſteht er unkenntlich und verwundet in philoſophiſch - barbariſchen Huͤllen. Jn der That, die Muͤhe iſt nicht ſo leicht, immer den Gedanken zum Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder ſpricht: das iſt er! und genau ſagen kann: warum ers iſt?
Man ſieht auch, daß dieſer Weg zu phi - loſophiren Schranken habe: denn es muß end - lich unzergliederliche Begriffe geben, die von den einfachſten Worten nicht mehr zu tren - nen ſind, und deren muß es vermuthlich mehr als einen geben. Eine Schule der Weltwei - ſen glaubt, daß ſich alles auf Gedanke, und ſelbſt der Begriff des Seyns dahin zuruͤck - leiten laſſe: dies ſind ohnſtreitig die Grund -ſteine112ſteine unſrer Erkenntniß. Allein, unter dem Begriffe des Seyns ſtehen vielleicht gleich unmittelbar drei unzergliederliche Begriffe: Raum und Zeit und Kraft: das iſt, neben, nach und durch einander. Fuͤr mich wird es alſo ſchwer, es zu begreifen, daß, wo et - was iſt, ein anders neben ihm ſey? wenn etwas iſt, ein anders nach ihm ſey? wie et - was iſt, das andre durch daſſelbe ſey? Jch ſage begreifen: nicht aber mit Worten zu ſpie - len, daß eins im andern enthalten ſey, daß dieſe Begriffe verwandt ſind u. ſ. w. — Eben ſo iſts fuͤr mich einer der groͤßten Kno - ten, den Begriff des Schoͤnen, und des Gu - ten auf den Begriff des Gedankens zu re - duciren, daß ich aus ihm begreifen koͤnne; wie das Anſchauen des Einen im Mannich - faltigen, das iſt, der Begriff der Schoͤnheit, Vergnuͤgen, und die Erkaͤnntniß der Voll - kommenheit, Wollen wuͤrke. — Jch fuͤh - re einige der wichtigſten Grundbegriffe an, die ſich nicht weiter entwickeln laſſen: „ hier „ muß der Gedanke am Ausdruck endlich kle - „ ben bleiben. „ Aber dies hier und dies endlich kann man nicht nach Belieben hin -ſezzen,113ſezzen, wohin man will: ſonſt verfaͤllt man in eine Philoſophie der Faulen.
2. Jch habe jetzt die Materie der Philo - ſophie erwogen, von der Form kann ich kuͤr - zer ſeyn. Will man jene Metaphyſik nennen, ſo gibt es eine Grundwiſſenſchaft der Phyſik, Mathematik, Logik und Moral, die die Be - griffe dieſer Wiſſenſchaften von ihrer klaren Verſtaͤndlichkeit bis zur einfachſten Deutlich - keit fortfuͤhrt, und alſo ein Schatz deutlicher Begriffe iſt. Die formelle Philoſophie hat es zum Zweck, daß, indem wir nach und nach zu jenem Schatz gelangen, wir ſelbſt den - ken, und da wir nie ohne Worte denken, uns ausdruͤcken lernen. Hier wird es ſchon ein - leuchtender, daß ich dies auf keine andre Art lerne, als wenn ich mit großen Meiſtern mit; daß ich aber auf keine Art ſo leicht dieſen Zweck verfehle, als wenn ich ihnen blos nach denke. Mit dem erſten rechtfertigen ſich auf einmal die Kunſtwoͤrter der Philoſophie gegen alle Spoͤttereien der Unwiſſenden: ſie ſind noͤ - thig und nuͤtzlich, denn an ihnen klebt der Gedanke großer Philoſophen, in deren Geiſt ich mich durch dieſe Worte ſezze, mit ihnenFragm. III S. Hdenke,114denke, ſchließe, beweiſe, eintheile, und alſo denken, ſchließen, beweiſen, eintheilen lerne. Aber Zwecke muͤſſen ſie nicht ſeyn; daß ich blos dieſe Worte verſtehen, und ausdruͤcken koͤnne: wer dies zu ſeinem Ziel erwaͤhlt, kann allerdings ein guter Jnterpres der Philoſophie, ein brauchbarer Mann, angenehm in Schrif - ten, und beruͤhmt im Vortrage ſeyn; aber im ſchaͤrfſten Verſtande ſo wenig ein Philo - ſoph, als Warburton und Johnſon Poe - ten ſind, weil ſie uͤber Pope und Shake - ſpear commentiren. Reiflich erwogen iſt der Name eines wahren Weltweiſen, eines Er - finders in der Philoſophie ſo eine Seltenheit, als der Name eines wahren Dichters: nur daß freilich unſre Zeit geſchickter iſt, jenen, als dieſen, hervorzubringen. „ Die nemlichen Ur - „ ſachen erzeigen beiderlei Arten von Gewuͤr - „ me, elende Dichter und elende Philoſophen. „ Es ſind immer Worte ohne Geiſt, Methode „ ohne innere Erleuchtung, Redensarten ohne „ Gefuͤhl, die ſie von ihren Meiſtern auf gu - „ ten und blinden Glauben annehmen, aus de - „ ren Vermiſchung nimmermehr ein begeiſter - „ tes Ganze entſtehen kann. Zu WolfensZeiten115„ Zeiten fuhr die Demonſtrirſucht in die ſeich - „ ten Koͤpfe, bis ſie traͤumten, ſie waͤren Me - „ taphyſiker; jetzt fuͤhret ſie der Schwindel - „ geiſt der Empfindungen ſo lange im Zirkel „ herum, bis ſie hinfallen, und ſich begeiſtert „ glauben. Aber es gilt hier, was die Alten „ von ihren Begeiſterten zu ſagen pflegten: „〈…〉〈…〉 ισι γαρ δη ναρϑηκοφοροι πολλοι, βακ - „ χοι δε γε παυροι, welches Plato ſchon „ zu ſeiner Zeit auch auf die Weltweiſen an - „ gewendet haben wollte*Litt. Br. Th. 13. p. 18.. „ Und noch eher auf unſre Zeit, da ſelbſt unter den Deutſchen ihre Mutter, die Philoſophie, ſo fremde gewor - den, daß man hoͤchſtens einige akademiſche Thyrſustraͤger ſieht, die ſich Bacchus zu ſeyn glauben. Sie lernen Worte und glau - ben: „ mit ihnen haben ſie Gedanken. „
Gnug! in der Weltweisheit Ausdruck ſtatt Gedanken nehmen, iſt verderblich; den Gedanken blos im Vehikulum des Aus - drucks verſchlingen, iſt unnuͤtzlich; aber Be - griffe aus den gegebenen Worten entwickeln, und deutlich machen: das iſt Philoſophie. — Nun ſollte ich mein Fragment mit den wah -H 2ren116ren und gruͤndlichen Bemerkungen unſers phi - loſophiſchen D. kroͤnen, ob wir ohne Wor - te denken koͤnnen? —*Litt. Br. Th. 9. p. 43. von der Noth - wendigkeit der ſymboliſchen Kaͤnntniß —**Th. 13. p. 21. von Leibnitzens allgemeiner philoſophi - ſchen Schrift und Sprache***Th. 4. p. 234. und andre Materien, die ich in einer Abhandlung vor - ausſchicken muͤßte, aber in Fragmenten von dieſer Art blos citiren darf: denn vielleicht ſind mehrere, die mit mir von dieſem Welt - weiſen denken, was dort Antimachus zum Plato ſagte, da dieſer ſeinen ganzen Lehrſaal fuͤllte: Plato iſt mir ſtatt vieler! Die werden hier meine Fragmente aus der Hand legen und die citirten Stellen leſen.
Jch habe in einem Labyrinth von verſchied - nen Ausſichten umhergeſchwaͤrmt; jetzt koͤmmt mir mein Leitfaden wieder in die Hand, und ich knuͤpfe ihn an meine vorige Materie an:daß117daß die lateiniſche Sprache einigen Ein - druck in das Jnnere des wiſſenſchaftli - chen, inſonderheit philoſophiſchen Vor - trages gemacht habe, und daß hier der Ausdruck oft den Gedanken beherrſche.
Ob ſich gleich jede Wahrheit, die ich doch, um ſie deutlich zu denken, nicht ohne Worte denken kann, in jeder ausgebildeten Sprache muß ſagen laſſen; ſo daß es nachher blos die Pflicht der Sprachweiſen iſt, die Sprache da - zu zu ſchaffen, daß ſie jede Wahrheit leicht und ganz und nachdruͤcklich ſage: ſo rede ich hievon doch jetzt gar nicht. Jch ver - werfe bei Lehrbuͤchern nicht nur nicht die la - teiniſche Sprache: ſondern wuͤnſche ihr aus guten Urſachen, die Ehre wieder zu erobern, die Sprache wahrer Syſteme, und das all - gemeine Band der Gelehrſamkeit zu ſeyn. Seit dem man von ihr abgewichen: ſo ſind jene neumodiſche Lehrbuͤcher erſchienen, die aͤſthetiſche Kapriolen ſchneiden, wo ſie mit veſtem philoſophiſchen Tritt einhergehen ſoll - ten. Jch gebe es alſo zu, daß, wenn ein blos dogmatiſches Buch, durch eine lateini - ſche Ueberſezzung viel von ſeinem Jnnern ver -H 3liert:118liert: ſo ſey das Abgegangene gewiß Schla - cken, ſie moͤgen ſo glaͤnzen und locken, als ſie wollen. Jch gebe es zu, daß jeder Lehrer ſeinen Lehrbegriff in aller Kuͤrze und Strenge uͤberſchauen muͤſſe, und wenn die lateiniſche Sprache zu dieſer Kuͤrze und Strenge hilft und bildet: ſo muͤſſe er ſie ganz in ſich geſo - gen haben. Jch gebe es zu, daß wir uns unſre Gelehrſamkeit weitlaͤuftiger und ſchwe - rer machen, wenn jede Nation, allgemeine dogmatiſche Wahrheiten in ihrer Mutter - ſprache ſchreibt, und daß, wenn die Litteratur auf dieſem Wege fortgeht, wir bald nicht blos Franzoͤſiſch, Engliſch und Jtaliaͤniſch, ſondern auch Schwediſch, Daͤniſch, Hollaͤn - diſch, Spaniſch, Rußiſch u. ſ. w. werden lernen muͤſſen, wenn wir die Erfindungen werden wiſſen wollen, die dem ganzen Markt der Gelehrſamkeit zugehoͤren. Jch ſage alſo mit Geßner: An vti Germanica lingua convenit in praelectionibus Academicis? Serum eſt interrogare. Quaeramus po - tius, an non in aliquam partem honoris ſui reſtitui poſſit Latina?
Hie -119Hievon rede ich nicht; ſondern frage: ob dieſe Sprache auch uͤber Begriffe, uͤber Reihen von Wahrheiten, uͤber Beweiſe, uͤber Eintheilungen und Unterſchiede, ja gar uͤber Methode und Denkart eine Zauber - kraft habe? Waͤre dies, ſo kann man in rei - nem Deutſch doch Lateiniſch denken, ſeinen Vortrag doch nach dieſer Sprache modeln, und alſo noch immer Gefahr laufen, Worte ſtatt Sachen, Lehren ſtatt Wahrheiten, Kathederwiſſenſchaft ſtatt Weisheit, und Ausdruck ſtatt Gedanken, auf gute Treu und Glauben zu verkaufen.
Unſere Wiſſenſchaften wachſen ſaͤmtlich und beſonders nicht auf unſerm Grund und Bo - den: Jahrhunderte durch ſind ihre Wurzeln in die Abgruͤnde und Adern der lateiniſchen Sprache verwachſen: wir muͤſſen die Denk - maͤler der Weltweisheit in ihr ſtudiren, unſere Gelehrſamkeit weit und breit zuſammenholen: und nun begeben wir uns zu ſchreiben – Es ſey eine Sprache, welche es wolle, wir wer - den etwas von dieſem Zwange in ſie bringen. Wer kann es alſo einem gelehrten und ſehr verdienten Gottesgelehrten, wenn man nichtH 4ſelbſt120ſelbſt ein Schwaͤtzer iſt, denn ſo bitter ver - argen, wenn ſein Vortrag ſich unter eine Laſt lateiniſcher Litteratur gekruͤmmt, ſich muͤh - ſam fortziehet. Freilich waͤre ſeine Ge - ſchichte der Glaubenslehren ein andres Werk, wenn man ſie in das natuͤrliche Deutſch einer Winkelmannſchen Geſchichte der Kunſt uͤberſezzte: aber beklaget ſie vielmehr, die Baumgartens, die Semler, die Heil - manns, daß ſie nach der Lage der Gelehr - ſamkeit zu ihrer Groͤße kaum gelangen konn - ten, ohne einigen Zwang von ihren weitlaͤuf - tigen Wanderungen anzunehmen. Man ſpot - tet ſo haͤufig uͤber den akademiſchen Styl in Paragraph langen Perioden: man hat Recht, ihn zu tadeln: aber die eiſernen Ketten, unter denen er einherſchleicht, ſind freilich oft ge - ſchraubte Muͤhſamkeit, oft aber offenbar aus dem Lateiniſchen uͤbertragen.
Ferner: es ſind in dem Anblick der Wiſ - ſenſchaften und der Weltweisheit vielleicht fremde Vorſtellungsarten, und Geſichtspunkte, aus fernen Voͤlkern, Zeiten, und Situa - tionen: die uns nicht mehr wundern, weilman121man uns gleich von Anfange der Unterwei - ſung in ſie gleichſam eintaucht, die aber ei - nem Kopfe, der die Litteratur als Fremdling ſtudiret, ſo fremde und buntſchaͤckig vorkom - men, als in dem altgalanten Stil die lateini - ſchen Woͤrter. Dieſe entfernte und veraltete Vorſtellungsarten geben dem Ganzen des Vortrages die Mine des Gelernten: ſie oͤffnen dem gelehrten Pſittaciſmus die Thuͤre, der ſich ihnen bequemt, und Worte nachplau - dert. Sie ſinds eben, die den Buͤcherphi - loſophen von der Weisheit des Lebens getrennt, da er ſich doch auf ſie maͤchtig ſtuͤzzen, und jederzeit von ihr ausgehen ſollte, um nachher ſeine eigne Sphaͤre zeitig genug zu finden. Sie ſinds, die den philoſophiſchen Magiſterton aufgebracht, der Ballaſt, ſtatt Gold fuͤhret, und von Weisheit ſtrotzet, die nicht eine ein - ladende Mine hat. Welch ein Unterſchied zwiſchen einem Moſes und Koͤlbele.
Ohne Zweifel iſt auch ſelbſt zu Lehrbuͤchern die Sprache des geſunden Verſtandes die beſte, die ſich gelegentlich der wiſſenſchaftli - chen Vernunft mitzutheilen weiß. Es fuͤhretH 5hier -122hierinn aber ein beruͤhmter Mann*Michaells Vorrede zu ſeinem Compendio theologiae dogmaticae. das Wort ſtatt meiner ſchwachen Stimme, deſſen gruͤnd - liche Betrachtungen auf den wiſſenſchaftlichen Vortrag im Ganzen angewandt werden koͤn - nen: ſo wie man uͤberhaupt dem Lobe beiſtim - men**Puͤtters Geſchichte der Akademie zu Goͤt - tingen. muß: „ wenn es dem Reiche der Wiſ - „ ſenſchaften zutraͤglich geweſen, einem mit „ willkuͤhrlichen Begriffen, Hypotheſen und „ Schluͤſſen offenbar zu weit getriebenen und „ zuletzt nur in bloße Schalen einer kernloſen „ Methode verwickelten philoſophiſchen Ge - „ ſchmacke ſich entgegen zu fetzen: ſo hat Goͤt - „ tingen Antheil an der Ehre eines gebeſſer - „ ten oder geretteten Geſchmacks. „
Von hieraus gehe ich, wie ich glaube, den ſicherſten Weg einer Materie entgegen, die in einer der neueſten und feinſten critiſchen Schriften*Klotz, Epiſtol. Homer. Epiſt. 11. unter uns von neuem rege ge - macht iſt: wie weit wir die Mythologie nachahmen koͤnnen, und muͤſſen? Klotz nehmlich in ſeinen Epiſtolis Homericis un - terſucht dieſe Frage im Vorbeigehen, und ſo wie dieſer Verfaſſer uͤberhaupt in ſeinen Pa - rentheſen unterhaltender ſeyn moͤchte, als in den Sachen, die er zweckmaͤßig abhandelt: ſo gebe ich auch der Exempelreichen Abhand - lung, daß die Mythologie nicht in geiſtliche Gedichte der Chriſten zu miſchen ſey, meinen ungetheilten Beifall.
Aber wie fern uns die Mythologie im Ganzen, erlaubt, nuͤtzlich, ja nothwen -dig124dig zu brauchen ſeyn moͤchte: hier ſcheint ſeine Calliope, die er vor dieſer Betrachtung anruft*Epiſt. Hom. p. 123., ihn etwas zu weit verfuͤhrt zu ha - ben; oder er iſt undankbar gegen ſeine Fuͤh - rerinn, die ebenfalls zur Mythologie gehoͤrt, und ihren Schuͤler alſo verlaſſen mußte, da er der Mythologie zu nahe trat. Wir wollen ihm nachſchleichen, und ihn etwas zuruͤck zu locken ſuchen.
„ Warum, fraͤgt er, iſt Neptun ein Gott „ des Meers, Pluto der Hoͤlle u. ſ. w. man „ kann nichts bei allen dieſen Fabeln zur Urſa - „ che angeben, als weil es den Griechen und „ Roͤmern ſo gefiel**Ibid. p. 124.! „ Freilich, der Name iſt willkuͤhrlich! und meinetwegen mag ſtatt Jupiter, Neptun und Pluto, auch Per - kunos, Pikollos und Potrimpos, oder Odin, Thor und Locke ſtehen, nur muͤſſen dieſe Namen, ſo durchgaͤngig bekannt, mit ſo hohen poetiſchen Begriffen gleichſam ver - knuͤpft, und unſrer Sprache ſo angemeſſen ſeyn, als die griechiſchen und roͤmiſchen Namen der Goͤtter. Alsdenn iſt uns nichtsdaran125daran gelegen, ob ſie von den Griechen, oder Scandinaviern, den Roͤmern, oder alten Deutſchen erfunden ſind. Nur, ich wieder - hole es nochmals, ſie muͤſſen ſo durchgaͤngig bekannt, mit ſo vielen dichteriſchen Erzaͤ - lungen ausgeſchmuͤckt, und an Toͤnen nicht rauh ſeyn. Der Dichter und Artiſt braucht, um ſeine vollkommen ſinnliche Schoͤnheit zu erreichen, oft ſolche perſonificirte Stuͤcke der Natur: hier einen Waſſer-dort unterirr - diſchen Gott, wo der Begrif von Meer nicht paßlich, und die Jdee vom Teufel nicht edel gnug war. Hier hat der Verfaſſer die Urſache, warum ein Neptun und Pluto noͤthig waren, blos als poetiſche Geſchoͤpfe, nicht Namen.
Er faͤhrt fort*pag. 125.: „ die Mythologie beruht „ auf nichts, als dem Jrrthum und dem Aber - „ glauben der Alten! „ gut! Religions-Be - griffe, Bilder der Wahrheit muß ſie alſo uns nicht geben; aber wir nuzzen ſie auf einer an - dern Seite, der ſinnlichen Schoͤnheit we - gen. Wenn ich mythologiſche Jdeen und Bil - der gebrauche, ſo fern gewiſſe moraliſche,oder126oder allgemeine Wahrheiten durch ſie ſinnlich erkannt werden: ſo ſind mir ja mythologiſche Perſonen erlaubt, die durch - gaͤngig unter einem beſtimmten und dazu ſehr poetiſchen Charakter bekannt ſind, oder in der Fabel Aeſops, muͤßten die Thiere nicht mehr ſprechen, und in keiner Fiktion muͤßte ich erdichtete Perſonen gebrauchen koͤnnen — warum? weil ſie der Wahrheit entgegen ſind. — Der Wahrheit wegen brauche ich ſie auch nicht; aber ihrer poetiſchen Be - ſtandheit: und wenn es perſonificirte Din - ge ſind; der ſinnlichen Anſchauung wegen. Freilich, die die mythologiſchen Namen blos „ als leere Schaͤlle*pag. 126. gebrauchen, „ die koͤn - nen ihrer entrathen; ſind das aber Dichter? Weiter: „ es iſt ein ſehr mittelmaͤßiger Kopf, „ der nichts ſelbſt in Vorrath hat, ſondern „ hundertmal wiederholte Bilder wiederholen „ muß**pag. 127.! „ nicht blos ein mittelmaͤßiger, ſondern ein ſchlechter Kopf iſt, der nichts im Vorrath hat, der blos wiederholt; aber wer hundertmal auf einerlei Art gebrauchte Bilder, auf eine neue Art braucht, werhundert -127hundertmal gebrauchte Perſonen zu Machinen einer im Ganzen neuen Fiktion braucht, wer in hundertmal geſehene Koͤrper, einen neuen Geiſt hauchet, daß ſie ihm zu großen Zwe - cken dienen, und in einer neuen Sphaͤre, ih - rem Charakter gemaͤß, Poetiſchſchoͤn han - deln: der iſt mehr als mittelmaͤßiger Kopf. Nicht darinn beſteht ſein Verdienſt, daß er ſie brauchet, (weil er damit ſeine Kaͤnntniß zeiget) nicht darinn, daß er die Schwuͤrigkei - ten ihres abgenutzten Alters zu uͤberwinden wußte, denn warum lies ers, wenn dies ſein einziges Verdienſt war, nicht gar bleiben? ſondern weil er ſie zu ſchoͤnen poetiſchen Zwecken ſchoͤn zu brauchen wußte.
Jch will ein Zeugniß anfuͤhren, dem der Verfaſſer vielleicht glauben wird: es erlaubt zwar allein den Kuͤnſtlern die Mythologie: wenn ſie der Dichter aber zu eben den Zwe - cken brauchen kann, und noͤthig hat; warum ſollen wir hart, oder eigenſinnig ſeyn, und ſie ihm denn verſagen? Jch ſezze meines Zeu - gen eigne Worte her, damit der Leſer nichts vom ſchoͤnen Ausdruck verliere, oder ich un - treu wuͤrde: artificum ratio huius diſputa -tionis128tionis ſeveritatem refugere videtur. Nam vt in ſermone verba, ſic in pictura ſigna quaedam ſunt, ab antiquis temporibus, atque ex mythologia profana repetita, quae quaſi verborum ſermonisque vim nacta ſint. — Porro harum allegorica - rum figurarum ope illud commodi nan - ciſcuntur artifices, vt in vna tabula com - plures res exponere queant, quarum ſin - gulae ſingulas tabulas poſtularent, ſi ab hac ratione recederent. — Praeterea res, quae in ſenſus non cadunt, hoc modo ante oculos ponuntur, et obmuteſcenti quaſi hiſtoriae ſuccurrit allegoria: attentio igitur conſeruatur, et dum omnia vide - mus, laetamur. — Wozu braucht ſie alſo der Kuͤnſtler? Zuerſt wegen ihres beſtimm - ten Charakters, da ſie bedeutungsvolle Worte ſind: ferner durch den Reichthum von Jdeen, der ſie begleitet; drittens, ſie mahlt abſtrakte Begriffe ſinnlich. Nun! und wenn ſie zu dem allen der Dichter brauchen kann, und muß: um ihrer allgemeinen Beſtand - heit, um ihrer hohen poetiſchen Neben - begriffe, um ihres Lichts der ſinnlichenAn -129Anſchauung willen: damit er allen ver - ſtaͤndlich, damit er poetiſch edel, reich und ſchoͤn, damit er fuͤr die anſchauende Phan - taſie rede: wer ſoll ſie ihm verwehren? Unſer Verfaſſer nicht, denn er erlaubt ſie ja deswe - gen dem Kuͤnſtler; ich auch nicht, da ich fuͤr ſie rede, der Verfaſſer der homeriſchen Briefe auch nicht: denn das angefuͤhrte Zeugniß iſt ſein eignes*ſ. Epiſt. Homer. 2. p. 129., aus demſelben Briefe, und in derſelben Sache. Jch habe ihn durch ſich ſelbſt zuruͤckgefuͤhrt: vorher hat er blos die Mythologie zu einſeitig an - geſehen. Nicht wie Griechen, und Roͤmer ſie brauchen**pag. 132., (als Religions - und Hiſto - rienwahrheiten,) nicht, wie ſie die Reforma - toren nach der Barbarei oft beibehielten***pag. 125., (als eine heilige Antike, aus einem Vorur - theile des Anſehens,) nicht, wie ſie gehirnloſe Koͤpfe brauchen†pag. 126., (als einen leeren Schall) nicht, wie ſie elende Schwaͤtzer brauchen††pag. 127., (um neun und neunzig mal gebrauchte Gleich -niſſe,Fragm. III S. J130niſſe, ſtatt eines neuen, das Kopfbrechens macht, hinzuſtellen) ſondern mit einer neuen ſchoͤpferiſchen, fruchtbaren, und kunſtvol - len Hand — und zwar blos wenn er ſie noͤthig hat, und zu den angezeigten großen Zwecken gebrauchen kann.
Ganz nothwendig fuͤr einen jeden Dichter ſchlechthin, iſt die Mythologie gar nicht. Jch ſehe die Urſache, womit ein Kunſtrichter*ſ. Deutſche Bibl. 1. B. 1. St. p. 203. Klotzens Meinung begegnet, fuͤr gar keine urſache an: „ der Dichter uͤberzeugt uns durch „ ſeine Mythologie, daß er mehr als bloße „ Verſe machen kann; er gibt einen uͤberzeu - „ genden Beweis, daß er ein Gelehrter iſt, „ der ſich in den Werken des Alterthums um - „ geſehen hat, oder noch umſehen kann, wel - „ ches unſre Poeten als was ziemlich Ueber - „ fluͤßiges anzuſehen anfangen. „ Der Re - cenſent, deſſen dies Urtheil iſt, will uns da -mit131mit vielleicht uͤberzeugen, „ daß er mehr, als „ bloße (d. i. nackte) Recenſionen ſchreiben „ kann; er will uns damit einen uͤberzeugen - „ den Beweis geben, daß er ein Gelehrter „ iſt, der ſich in den Werken des Alterthums „ umgeſehen hat, oder NB. noch umſehen kann, „ welches unſre Recenſenten als was ziemlich „ Ueberfluͤßiges anzuſehen anfangen. „ Deſſen hat er mich auch uͤberzeugt, aber nichts mehr. Durch den Gebrauch der Mythologie lernt man nicht gleich mehr, als bloße Verſe ma - chen: wer ein Compendium der Mythologie durchgeleſen, iſt noch kein Gelehrter, der ſich in den Werken des Alterthums umgeſehen haben muß: ein Gelehrter iſt noch kein Dich - ter, und ein Alterthumskenner kann ſich eben, wenn er ſich im Staube der Alten umſieht, das poetiſche Auge verderben: und denn um ſich in den Alten umſehen zu koͤnnen, lieber Gott! dazu braucht man ja nicht mytholo - giſche Gedichte gemacht zu haben; ſo wenig als der Recenſ. mythologiſche Gedichte darf vertheidigt haben, um ſich in den Werken der Alten umſehen zu koͤnnen.
J 2Aber132Aber noch eine Urſache von ihm*ſ. Deutſche Bibl. 1. B. 1. St. p. 204.: „ wenn „ die Mythologie aus der pindariſchen oder „ horaziſchen Ode verwieſen werden ſollte: ſo „ ſehe ich gar nicht, wie ſie den Namen einer „ pindariſchen oder horaziſchen Ode verdienen „ koͤnnte. Der Begriff von beider Art Oden „ involvirt die Mythologie, ohne ſelbige iſt „ es nicht moͤglich, einen vollſtaͤndigen Be - „ griff davon zu geben, oder wenn Sie das „ nicht zugeſtehen wollen, Herr Klotz: ſo muͤſ - „ ſen Sie ꝛc. „ O ja, lieber Herr Praͤceptor, auch ich will Jhnen alles zugeſtehen, wenn Sie mir etwas, was fuͤr mich ſehr ſchwer faͤllt, den Begriff, den vollſtaͤndigen Be - griff einer pindariſchen oder horaziſchen Ode geben, und ſich herablaſſen, mir in ihm die Mythologie zu evolviren, die Sie involvirt haben. An meinem ſchwachen Verſtande liegts vermuthlich, daß ich dieſen Begriff noch nicht vollſtaͤndig aus einander ſetzen kann, ſo genau ich ihn zu bemerken und mindſtens zu empfinden geſucht; daß ich nicht ſo ent - ſcheidend behaupten kann, dies gehoͤrt zur pindariſchen und horaziſchen Ode weſentlich,und133und dies zufaͤllig; dies muß, und jenes darf nicht nachgeahmt werden, in einer fremden Sprache, bei einer ganz verſchiednen Reli - gion, auf einer ganz verſchiednen Stuffe der Litteratur, unter ganz andern Umſtaͤnden und zu ganz andern Zwecken. Jch habe nach dieſer ſchwachen Bloͤdigkeit endlich geglaubt, daß der Charakter Pindars und Horazens am ſicherſten, nicht in dem, was, ſondern wie ſie es ſingen, ertappet werde, daß es nicht darauf ankomme, ob ſie eben dieſe Materia - lien zu ihren Farben naͤhmen, ſondern, daß hier die Manier zu mahlen in Betracht komme. Jch habe geglaubt, daß man, um ihren Geiſt zu erforſchen, genau drauf Ach - tung geben muͤſſe: wie ſie die Umſtaͤnde ihres Helden oder Vorfalls nuͤzzen, wie ſie in der Anlage des Plans, in der Fortfuͤhrung der Jdeen, der Art, Gleichniſſe zu mahlen, und ſie zu ſtellen u. ſ. w. ſich charakteriſirten. Jch glaube, daß eine Nachbildung ſchon den Na - men einer pindariſchen oder horaziſchen Ode verdiene, (etwas, was ein Roͤmer oder Grieche allein entſcheiden muͤßte, der uns kennete,) die, damit ich das Gleichniß von einem Ge -J 3baͤude134baͤude gebrauche, die Materialien, die ſie gebrauchen koͤnnte, nach der Bauart, Form, den Theilen, und der aͤußern und innern Zier - lichkeit einer griechiſchen oder roͤmiſchen, auf - richtete: ich glaubte dies nicht allein, ſon - dern ein audrer*Litt. Br. Th. 19. p. 97., der ſchon ſeinen Mann beſſer kennet, ſagt ſo gar: „ ſeit dem Homer „ hat man geglaubt, daß die Zuſammenſetzung „ der Hauptzuͤge eines beſtimmten Subjekts „ nach den Regeln der Uebereinſtimmung, und „ nach der Beſchaffenheit des Zwecks, den „ man hat, den Plan eines ſchoͤnen Werks „ ausmachten, ſo wie die Grundriſſe der Zeich - „ nung und die Stellung der Figuren gegen „ einander den Plan eines Gemaͤldes darle - „ gen. „ Alles dies glaubte ich, und wuͤnſchte alſo unſern Homers, Pindaren und Horazen mehr die Art, wie jene die Mythologie nuzzten, anwandten und zum Theil er - fanden, um dieſes Namens wuͤrdig zu ſeyn, als die Mythologie ſelbſt; Aber —
Nun hoͤre ich ſo viel Ausſpruͤche neuerer Kunſtrichter, die mein ganzes Ohr fuͤhlet,und135und meine Zunge kaum nachſtammelt: z. E.*Litt. Br. Th. 21. p. 45. „ Machen Sie mir doch einmal ein Helden - „ gedicht, ein Deutſches, aber nach keinem „ griechiſchen oder lateiniſchen Maaßſtabe. „ Oder eine Ode; aber das verſteht ſich, we - „ der nach griechiſchen noch lateiniſchen Mu - „ ſtern. Jch moͤchte dergleichen wohl ſehen! „ Hier lief mir ein Schauder uͤber den Leib, und meine Haͤnde ſanken. Mir ſtrichen zwar Fingal, und Regner Lodbrog und die Skaldriſchen, und Bardengeſaͤnge, und die Pſalmen Davids, und arabiſche Ge - dichte, durch die Seele, aber in der Angſt ſchnell und verworren. Jch wagte nichts hervorzubringen, denn das gravitaͤtiſche Kopf - nicken des Praͤceptors, bei den Worten: „ ich moͤchte das wohl ſehen! ſchreckte mich. „ Ei! dachte ich, dieſe Leute haben vielleicht „ die Punkte, welche die Alten feſtgeheftet, „ vielleicht unwiſſentlich aus einander geriſſen, „ und dies iſt alsdenn ein neuer Geſchmack, „ der nothwendig verkehrt ſeyn muß, — weil er „ von den Regeln des weiſen Alterthums ab - „ geht**Ebendaſ. p. 44.. „ Nun entfiel mir aller Muth zuJ 4hoffen,136hoffen, daß, da wir Helden haben, groͤßer als die Helden Pindars, und Koͤnige, groͤſ - ſer als die Mecaͤne des Horaz, wir weit leich - ter, und paßlicher Stoff zu Oden fuͤr Pin - dars und Horaze haͤtten, als fuͤr Homere und Virgile: mir entfiel der Muth, es zu verſu - chen, ob nicht eine pindariſche neuere Ode ſich ſo unter die Heldenthaten und Vorfahren eines Koͤniges verirren koͤnnte, wie der alte Thebaner in ſeine Mythologie, die National und verwandt mit ſeinen Helden war; ich gab alles auf, und entſchloß mich zum ſicher - ſten, meinem Lehrer die Oden Pind. und Hor. ſelbſt zu zeigen, ohne an Nachbildungen zu denken, und da war es freilich wahr: „ wenn „ die Mythologie aus ihnen verwieſen werden „ ſollte, ſo ſind ſie freilich (p. princ. con - „ trad. ) nicht mehr ohne Mythologie, was ſie „ mit Mythologie waren, pindariſche und hora - „ ziſche Oden. Q. E. D.
Jch finde mich zum Verf. der Homer. Br. zuruͤck. Jch glaube, erwieſen zu haben, daß der Gebrauch der Mythologie an ſich nicht ganz verwerflich ſey: nun bleibt die große Frage uͤbrig: iſt er denn ſo nuͤzzlich?
Es iſt eine leere Furcht, ohne alte Mytho - logie werde man ſchlechtere und froſtigere Verſe machen: Tantam rerum, quae ho - die eſt, facies ſententiarum novarum et imaginum copiam praebet, vt homini ingenioſo, numquam deeſſe poſſint, qui - bus exornet carmina*Epiſt. Homer. p. 126. . Hier muß ich erſt wiſſen, was fodert die Dichtkunſt; und wie weit kann ich ohne Mythologie dies erreichen? Man denke nicht, daß ich aus der Erklaͤrung der Poeſie das Jdeal im Allgemeinen beſtim - men werde; ich ſehe blos die Foderungen der Poeſie an, ſo fern ſie mit der Mythologie graͤnzen, oder nicht. So bald es in der Dichtkunſt auf mehr ankoͤmmt, als auf Verſe machen, und fließend reimen: ſo kann ſie entweder fuͤr den Verſtand reden, oder fuͤr die Einbildungskraft: fuͤr dieſe, um ſie blos kalt zu vergnuͤgen, oder zu ruͤhren, und gleichſam zu taͤuſchen. Dies, glaube ich, iſt die pſychologiſche Eintheilung derſelben.
J 5Wenn138Wenn die Dichtkunſt fuͤr Vernunft redet: ſo iſt das Ganze ihres Jnhalts Wahrheit: was ſie dazu thut, ſind blos kleine Auszie - rungen, und Schnitzwerk: das Allgemeine iſt ihrem Gebiet gleichſam entnommen. Da ich unſre geiſtliche Gedichte gleich ausgeſchloſ - ſen: ſo bleiben mir hier philoſophiſche Lehr - gedichte uͤbrig; in dieſen kann nie die My - thologie mehr als Schmuck und Erlaͤute - rung ſeyn, ohne zur Bildung des Ganzen was beitragen zu wollen. Allein, in dem an - gezeigten engen Geſichtspunkte, wer wollte ſie ausſchließen? Wird ſie blos zu verdun - kelnden Anſpielungen angewandt; ſo iſt ſie verwerflich — aber zu Beiſpielen, zu Vergleichungen, zu einzelnen Bildern, da betrachte ich ſie auf dem Rande der Ge - ſchichte, als eine Quelle von poetiſchen Exempeln: (wuͤrde ich hiſtoriſche Wahrheit immer verlangen; ſo koͤnnte ich ja auch we - nig aus der alten Geſchichte, die immer halb Fabel iſt, anfuͤhren,) praͤchtigen Farben, und redenden Bildern: und hier laſſe ich ſie mir nicht nehmen.
Wenn139Wenn die Dichtkunſt fuͤr den Verſtand redet, durch die Fabel, von der Aeſop der Urheber iſt: ſo kann ja die Mythologie han - delnde Subjekte liefern, die uns in einem einzelnen Fall, der als wuͤrklich vorgeſtel - let wird, einen gewiſſen allgemeinen Satz anſchauend erkennen laſſen: und warum ſollte ſie nicht die Quelle mancher Fabeln ſeyn koͤnnen. Wenn man einige Geſchichten aus Bacons Weisheit der Alten von der gar zu vielen Kunſt entkleidete, die er tief - ſinnig in ſie legte — wenn man ſie aus der Demmerung der Allegorie, in der ſie bei ihm ſtehen, mit dem Licht einer Geſchichte voͤllig bekleidete: ſo wuͤrden doch wohl einige ſo ſchoͤne Fabeln daraus, als Leßings 5te im Iſten Buche, ſeine 10te 18te 23ſte 28ſte im zweiten: und dieſe ſo ſchoͤne Fabeln will mir der Kunſtrichter rauben, die unter den Leſ - ſingſchen gewiß zu den beſten gehoͤren? wie viele werden wir aus Gellert, Gleim, Hage - dorn, Lichtwehr verlieren? Hier ſind ja die mythologiſchen Perſonen nicht leere Schaͤlle, ſondern handelnde Weſen, nicht bloße Na - men, ſondern Weſen von einem beſtaͤndigenChara -140Charakter, nicht gedankenloſe Wiederholun - gen, ſondern ein kuͤnſtlicher Gebrauch edler Perſonen, die mir einen allgemeinen Satz han - delnd zeigen: kurz! alles was nur der ſtrengſte Kunſtrichter der Fabel von ihr fodern kann.
Hier ſteht die artige Fiktion des Sanna - zars an ihrer Stelle, die K. angreift*Epiſt., Homer. p. 130-132., ſie laͤßt einen allgemeinen Satz: Venedig uͤber - trifft Rom anſchauend erkennen, und waͤre Handlung in ihr: ſo gaͤbe ich ihr (nicht wie der Venetianiſche Rath Geldſaͤcke: denn dies war mehr fuͤr die Materie, als die Form,) ſondern einen ungehinderten Platz unter Fa - beln. Jetzt iſt ſie blos Epigramm, da ihr das Fortſchreitende der Handlung fehlt: aber kann ich wie Trapp ausrufen: vbi hic acu - men? quid ſalſum, quid facetum? ne vmbra quidem ingenii! Das acumen und ſalſum und facetum liegt hier darinn, daß der allgemeine Sazz, der Venedig ſo ſchmei - chelte, gleichſam in die Morgenroͤthe einer Fiktion eingekleidet, und anſchauend darge - ſtellet wird. — Kann ich wie Klotz aus -rufen:141rufen: in his verſibus nil eſt, praeter inanem verborum ſonum, quibus nulla ſubiecta ſententia! Auch nicht! denn eben dazu iſt ja das Epigramm erfunden, um hinter bekann - te, und poetiſchanſehnliche Perſonen eine Sen - tenz unterzuſchieben. Freilich waͤre zu Ho - raz und Virgils Zeiten dies Epigramm paſ - ſender geweſen, aber warum? aus einer Ne - benurſache, weil Jupiter und Neptun da - mals Goͤtter waren, denen man glaubte, und die man durchgaͤngig kannte: das Epigramm haͤtte damals alſo Religions - und hiſtoriſche Wahrheit erhalten, und waͤre feierlicher ge - weſen, weil jeder Leſer viele hohe poetiſche Nebenbegriffe ſich dachte. Jetzt wird freilich Neptun und Jupiter verlacht, ſo bald ſie als Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren Ausſpruch eben ſo wenig, als dem Sannazar ſelbſt. Was thut aber dies hier? legt San - nazar dies den Goͤttern in den Mund, um ſeinem Sazze durch ihren Ausſpruch Ge - wicht der Glaubwuͤrdigkeit zu geben: ſo iſt er ein Narr! bezahlte ihn Venedig ſo theuer, weil es glaubte, ihre Groͤße wuͤrde in dem Munde der Goͤtter unwiderſprechlich:ſo142ſo zahlte es freilich ſo albern, als eine Mut - ter das Lob ihres Kindes in einer gelognen elenden Leichenpredigt: aber betrachtet man das Epigramm an ſich, ſo iſts ja artig, und (inſonderheit damals, da die Mythologie, als poetiſches Baugeruͤſte bekannter, und mehr in Ruf war, als jetzt,) poetiſch. Jſts aber ſo viel Geld werth? Das weiß ich nicht! wer kann Liebhaberei, und Lobgedichte taxi - ren, als der Liebhaber, und der Gelobte ſelbſt?
Jch trete eine kleine Stufe hoͤher! Zu den Oden! Eine Ode, die wirklich Empfindun - gen ſingt, und in mir erregen will, muß ſich in das Labyrinth der Mythologie gar nicht, oder nur ſelten verlieren. Jn einem Empfindungsvollen klopſtockiſchen Gedicht, oder in Hallers Ode auf die Mariane wuͤrde es ohne Zweifel fremde und geſucht ſeyn, Bil - der, die bei uns nicht ſo nahe an den Kam - mern des Herzens liegen, zu brauchen, um an das Herz des andern zu klopfen. Aber eine Ode, wenn ich ſie als eine poetiſche Ausbildung eines lebhaften Gedanken anſehe, die die Einbildungskraft des an - dern bis zur ſinnlichen Anſchauung erre -gen,143gen, und bis zur Jlluſion beſchaͤftigen ſoll: ſo erlaubt ſie die Mythologie als eine Quelle ſehr lebhafter Bilder anzuſehen, aus der ich welche herausheben kann, um meinen Gedanken gleichſam in ſie zu klei - den, daß er ſinnlich anſchauend erſcheine, die Aufmerkſamkeit bis zur Taͤuſcherei beſchaͤfti - ge, und durch die Jlluſion reizze. Man ſiehet, daß ich die Mythologie als Werkzeug, und nicht als Zweck empfehle, um pindariſch und horaziſch zu ſeyn. Hat die horaziſche und pindariſche Ode nicht hoͤhere Zwecke, hoͤhere Verdienſte, und Vollkommenheiten, als My - thologie: ſo kann ja ein Feind der letztern ſagen: wohlan! koͤnnt ihr nicht horaziſch und pindariſch ſingen, ohne Mythologie; ſo laßt auch jenes meinetwegen nach, lernt von die - ſen guten Alten in andern Stuͤcken, oder gar nicht: und laßt den Vogel ſingen, nach dem deutſchen Spruͤchwort, wie ihm der Schna - bel gewachſen iſt. —
Es iſt bei der Ode auch ferner nur immer ein Nebenzweck, oder vielmehr blos ein Mit - tel zu Zwecken, woraus einige neuere Kunſt - richter ſo viel machen, eine Anordnung undStel -144Stellung der Ode nach gewiſſen Muſtern und Sazzungen. Koͤnnte ichs doch laut rufen, daß, ſo wie ein regelmaͤßiges aubi - gnacſches Theaterſtuͤck ein elendes Werk ſeyn kann, dagegen ein Shakeſpearſcher Lear oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck des Trauerſpiels erreicht, dramatiſch zu ruͤhren; ſo ſey es ganz und gar nicht die Hauptvollkommenheit einer Ode, ſo und ſo, nach dieſen und jenen Muſtern, mit der und jener Kunſt angelegt zu ſeyn, daß ſie die ſchoͤne Einheit, und die ſchoͤne Unordnung, die ſchoͤne Kuͤrze und die ſchoͤne Methode habe, und was dergleichen ſchoͤne Regeln mehr ſind, die nichts gelten, wenn man, um ſie zu beob - achten, ſchoͤne, kuͤnſtliche und froſtige Oden, macht. Koͤnnte ichs doch laut genug rufen, daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah - men, und ein ſchoͤnes, regelmaͤßiges, kuͤnſtli - ches, und gelehrtes Gerippe ſeiner Oden dar - zuſtellen, noch kein Horaz ſey, wenn er nicht den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf - ten Gedanken ſinnlich darzuſtellen, daß jeder Zug der horaziſchen Mythologie, die es fuͤr ihn thun konnte, aber fuͤr uns nichts zudie -145dieſem Zweck beitraͤgt, der Ode zuwider, un - natuͤrlich und Hinderniß ſey; kurz, daß eine Ode, die blos durch Gelehrſamkeit, Kunſt und Regelmaͤßigkeit ſchaͤzzbar iſt, keine Ode ſey, weil ſie ihren Zweck nicht erreicht, wohl aber eine Sammlung kuͤnſtlicher und ſchoͤner Verſe heißen koͤnne. Jch ſehe es alſo nicht als einen Hauptgrund zur Vertheidigung an, wenn der vorige Rec. ſagt: „ wenn der Poet, „ der mythologiſchen Bildern einen Standort „ gibt, von dem ſie, ſo zu reden, die gluͤckliche „ Aehnlichkeit, die darinn liegt, von ſelbſt „ zeigen: ſo zeigt er ſich von der Seite des „ Artiſten*Deutſche Bibl. 1. B. 1. St. p. 204.. „ Am Artiſten iſt uns Gottlob! im Gedicht nichts gelegen, wenn er nicht durch ſeine Kuͤnſteley ſich als wahrer Dich - ter zeigt.
Nun ſollte ich mich auf das weite Feld des Drama und der Epopee wagen — un - ermaͤßlich und blos durch ſich begraͤnzt, liegt es vor mir: ich wage es alſo nicht, ein Ge - ſezzgeber zu ſeyn, und zu ſagen: „ ein Helden - „ gedicht, ein Drama ohne griechiſchen und„ roͤmi -Fragm. III S. K146„ roͤmiſchen Schnitt iſt unmoͤglich. „ Da wuͤrde Shakeſpear und alle unſre ungebohrne Shakeſpears, die wir fuͤr unſre Buͤhne hof - fen, da wuͤrde Oßian, und Klopſtock, und alle Oßians und Klopſtocks, die wir noch hoffen, wider mich ſchreyen. Jch wage es aber auch nicht, ihnen Mythologie zu verbie - ten, ſie auch der Oper zu verbieten, und ſie blos dem Epigramm*Epiſt. Homer. p. 132. zu erlauben; hier mag jedes Genie ſelbſt ſehen, was es zu machen, und der Kunſtrichter weiß in dieſen Faͤchern, auch ſchon mehr, was er zu urtheilen habe.
Herr Klotz ſcheint uͤberall blos einen Ge - brauch der Mythologie zu meynen, der in leeren Anſpielungen, bloßen Wortblumen, aufgedunſenen Vergleichungen, in Einkleidun - gen nach ſchiefem Geſchmack, und in gelehr - ter Bilderkraͤmerei beſtehet. Alsdenn geben wir ihm voͤllig recht: ſo bald aber die An - ſpielung vielſagend, die Wortblume ein Schmuck der Materie, die Vergleichung na - tuͤrlich und belebend, die Einkleidung poetiſch, taͤuſchend und ſchoͤpferiſch, die Fuͤlle der Bil - der redend, lebhaft und beſchaͤftigend iſt: ſoiſt147iſt die Mythologie nicht Zweck, ſondern Mit - tel zu großen Abſichten — wer ſie uns un - terſagt, gebe uns andere.
Der Verf. gibt uns einige; aber Schade, daß ſie nicht voͤllig ſeyn koͤnnen, was jene ſind: er empfielt uns Allegorie*Epiſt. Hom. p. 128.: man ſoll Tugenden und Laſter, die Affekten der Seele u. ſ. w. z. E. Scham, Fruchtbarkeit, Gluͤck, Treu, Wahrheit, Neid, Wolluſt, Zorn, Un - einigkeit, Gerechtigkeit, Ueberfluß, Zeit u. ſ. w. in Leiber huͤllen, und wie der Kuͤnſtler, ſie auch poetiſch gebrauchen. — Wie Dichter und Kuͤnſtler in dem Gebrauch derſelben un - terſchieden ſind, hat Leßing in ſeinem Lao - koon**Leßings Laokoon p. 113. ꝛc. im Vorbeigehen beruͤhret; ob ſie dem Dichter aber zu den großen Zwecken, zu de - nen er die Mythologie anwenden kann, die - nen — Dies moͤchte hier am unrechten Ort eine zu lange Parentheſe einſchalten. Es gehoͤret, ſo wie der andre Vorſchlag, die neuern Entdeckungen, und die Merkwuͤr - digkeiten der Natur in neuerfundnen Laͤn -K 2dern148dern an die Stelle, da ich von dem neuen Wege rede, den wir einzuſchlagen glauben, oder einſchlagen koͤnnen, um Originale zu ſeyn.
Jch will jetzt mit einigen freyen Gedanken von den Graͤnzen in dem Gebrauche der My - thologie beſchlieſſen, die ich nicht als kuͤnſtli - ches Gebaͤude zum Anſchauen hinſtelle, ſon - dern als Materialien hinwerfe: voruͤberge - hender Leſer! brauchſt du etwas fuͤr dich, ſo ſtecke es bei dich, ohne daß ich dich nament - lich rufe: Jetzt treffe ich mehr mit dem Ver - faſſer der homeriſchen Briefe zuſammen, und vielleicht erklaͤre ich ſeine Gedanken.
Man muß die Mythologie blos als Werk - zeug brauchen, nicht als Zweck, um ſich von der Seite des Gelehrten, oder Artiſten zu zeigen: Die Erſtern erinnern mich an die Worte in Vida Poetik:
‒ ‒ ‒ Sunt, qui, vt ſe plurima noſſeOſtentent, pateatque ſuarum opulentia rerumQuidquid opum congeſſerunt, ſine more, ſine arteIrriſi effundunt, et verſibus omnia aceruant.
Die zweiten, die durch die Stellung der My - thologie ſich als Artiſten zeigen wollen, brin - gen mir den Maler des Horaz in den Sinn, der allen Fleiß auf Raͤgel und Zaͤhen wandte:
Sobald nun die Mythologie blos poeti - ſches Werkzeug wird: ſo muß man nicht durchgaͤngig in einer mythologiſchen Spra - che reden, gleich als wenn unſre Denkart mit ihr umkraiſet waͤre: ſonſt verirret man ſich in Anſpielungen, und Orakelſpruͤche aus den Alten.
Man muß die Mythologie von der Sei - te anſehen, auf die jedes geſunde Auge na - tuͤrlich und zuerſt faͤllt. Viele leſen die Al - ten, aber weiß Gott! wozu? denn was ſie daraus behalten und anwenden, das bemerkt ſich kein ander ehrlicher Mann. Von die - ſem Alten fuͤhren ſie ſo einen unbedeutenden Nebenzug aus ſeinem Gemaͤlde an, daß da ſie ihn fuͤr den Leſer unbeſtimmt laſſen, ſie auch die Ehre haben, ihre Anwendung allein zu verſtehen. Dieſe Anmerkung erſtreckt ſich auch auf die alte Geſchichte, wo manche kei - ne Kleinigkeit wollen umſonſt geleſen haben. K 3So150So ſagt ein neuerer Schriftſteller: „ ich er - „ kannte Sie, ob ich gleich kein Marcell bin! „ Warum denn Marcell? Als ein raſcher, dreuſter, feuriger Held iſt mir Marcell zwar bekannt, als der Erbauer des Tempels der Tugend und Ehre auch: aber was thut das hier? Endlich fand ich, Marcell habe einmal nicht aus Rom ausreiſen wollen, weil er auf Zeichen gehalten: nun verſtand ichs, aber das hatte ich aus meinem Plutarch laͤngſt vergeſſen.
Man muß die Mythologie nicht außer ih - rem Zweck brauchen: dahin gehoͤrt, wenn man ihr einigen Religionswerth beizulegen ſcheint. Man legt etwas in den Mund eines Gottes, damit es Gewicht der Glaubwuͤrdigkeit und Wahrheit bekomme: oder man thut Wuͤnſche, an dieſen oder jenen Gott, von ganzem einfaͤl - tigen Herzen. Dies iſt laͤcherlich, es ſey denn, daß dieſe Weſen perſonificirte Dinge der Welt, oder allegoriſche Perſonen ſind; als ſolche muͤſſen ſie aber offenbar auftreten: ſonſt ruͤckt man ſie aus der dichteriſchen Sphaͤre, in das Gebiet der ſtrengen Wahrheit, und da ſind ſie nicht zu Hauſe.
Man151Man vermeide bei der Mythologie alles, was gleichſam lebloſe Schoͤnheit iſt: wohin die topographiſchen Beſchreibungen gehoͤren, die unſern Dichtern oft an unrechtem Ort ſo heilig ſind, wenn ſie von Maͤandriſchen Kruͤmmungen, von Skamander, und der Tiber, vom Helikon und Pindus, dem Caſta - liſchen Brunnen und der Hypokrene, dem Daͤdaliſchen Labyrinthe u. ſ. w. blos gelehrt, und wie ſie meinen, poetiſch zu reden, ohne einen geiſtigen Sinn dieſen anderthalb Schuh langen Worten zu geben.
Man vermeide allen Uebelſtand, und huͤte ſich vor Maſchinen, denen die Veraͤnderung der Zeit und Denkart gleichſam Flecken und verkleinernde Nebenbegriffe angehaͤnget. Wenn man Helden unſrer Zeit, die mehr durch den Geiſt, als Koͤrper, Helden ſind, immer und immer mit jenen Giganten und Herkuls ver - gleicht, alsdenn Beſchreibungen aus den Alten haͤuft, und fuͤr ekle Ohren nicht gnug die Ne - benbegriffe des alten Poͤbelhaften entfernt: ſo kann man ſich freilich mit der Ode des Horaz an ſeinen Druſus ſchuͤzzen; aber wenn man ſich blos ſchuͤzzt, erobert man nicht.
K 4Wenn152Wenn man mythologiſche Geſchichte er - zaͤlt, blos weil ſie die Alten erzaͤlt: ſo fehlt wieder der Zweck des Neuen; ich nehme die - ſen aber nicht blos im Geſichtspunkt der Mo - ral, ſondern der Poeſie; ſonſt wuͤrde ich alles einſchraͤnken. Soll etwas nicht Ueberſezzung ſeyn: ſo muß es fuͤr uns einen Zweck haben, und wo moͤglich im Ganzen. Man moͤchte dies letzte an Wielands komiſchen Erzaͤ - lungen vermiſſen, allein, die Art der Erzaͤlung gibt ihm in allen Theilen Zweck und Neuheit gnug. Wenn im Ganzen nicht gnug Haupt - zweck und Hauptton herrſchen doͤrfte: ſo ſind die komiſchen Nebenzuͤge unterhaltend.
Man huͤte ſich vor der Mythologie, die durch einzelne Bilder ſpricht; denn entweder kann man dieſer entrathen, als eines uͤber - fluͤßigen Puzzes; oder, wenn man ſie zu poe - tiſchen Zwecken braucht, ſo wird leicht ſpie - lende und gezwungne Allegorie draus. Hin - gegen bediene man ſich ihrer in Handlung, dann wird ſie nie erſcheinen, als wenn ſie un - entbehrlich iſt, und wo ſie erſcheint, wird ſie als poetiſche Fiktion, gleichſam in dem Ge - wande der Fabel ſich zeigen. Jn dieſem Ge -wande153wande muß ſie reizen und illudiren, und als - denn iſt ſie eine Vertraute Apolls und der Muſen. Dieſer letzte Rath verdient vorzuͤg - lich die Aufmerkſamkeit meiner Leſer.
Jetzt will ich mich einigen praktiſchen Be - trachtungen uͤberlaſſen, wie wir die Mytho - logie zur Bildung unſrer Erfindungskraft nuzzen koͤnnen, um uns den Alten mehr an Geiſt, als durch Nachahmen, zu naͤhern.
Was war die Mythologie bey den Alten? Theils Geſchichte, theils Allegorie, theils Re - ligion, theils blos poetiſches Geruͤſte! Wie ſind ſie zu ihr gekommen? wie haben ſie ſie verſchoͤnert? genutzt? veraͤndert? Und koͤn - nen wir in alle dieſem was von ihnen lernen?
Was fuͤr eine griechiſche Einbildungskraft gehoͤrte dazu, um ſtarke Bauerknechte zu Her - kuls, zu Helden, zu Halbgoͤttern zu erheben, ſie in allen den Reichthum der poetiſchen Wuͤr - de zu kleiden; die Fahrt der Argonauten,K 5die154die Belagerung von Troja, die Himmels - ſtuͤrmerei, und alle jene Fabeln, die in der Geſchichte ihren Urſprung haben, ſo ſchoͤpfe - riſch in poetiſche Leiber zu huͤllen, und ihnen dichteriſchen Geiſt einzuhauchen. Was iſt Skamander, und Olymp, und alle die heilige Oerter und Geſchichte, die der Stoff zu ih - rer Mythologie urſpruͤnglich geweſen? Jch beſehe ſie in den Reiſebeſchreibungen, ich ziehe in der alten Geſchichte ihren poetiſchen Schmuck aus, was ſind ſie? — Himmel! das habe ich alles in meinem Lande, in mei - ner Geſchichte, rings um mich liegt der Stoff zu dieſem poetiſchen Gebaͤude; aber eins fehlt: poetiſcher Geiſt. Bewundern muͤſſen wir euch, ihr Alten, und die Augen niederſchla - gen: ihr erhobt Kleinigkeiten aus dem Stau - be, zu einer glaͤnzenden Hoͤhe; wir laſſen die ganze Schoͤpfung um uns, oͤde und wuͤſt trau - ren, um euch nur zu pluͤndern, und das Ge - pluͤnderte elend anzuwenden.
Wenn Horaz ſich einen Auguſtus unſrer Zeit waͤhlte: wuͤrde er wohl unter den Truͤm - mern alter mythologiſchen Geſchichte ſich ver - irren, oder iſts wahrſcheinlicher, er wuͤrdeauf155auf das Lob und glaͤnzende Beiſpiel ſeiner Vor - fahren, auf Jndividualfaͤlle ſeiner Regierung, auf einzelne Umſtaͤnde ſeiner Reiche und Laͤn - der ſich ausbreiten: er wuͤrde inſonderheit die Umſtaͤnde und Seiten der Materie nuzzen, uͤber die er ſingt, daß ſein Geſang individual fuͤr ſeine Perſon, national fuͤr ſein Land, pa - triotiſch fuͤr ſeinen Helden, caſual fuͤr den Vorfall, ſekular fuͤr ſein Zeitalter, und idio - tiſch fuͤr ſeine Sprache waͤre.
Wenn der griechiſche Pindar ſeinen Hel - den auch nur von ſeiner Vaterſtadt lobet: wie weiß er jede merkwuͤrdige Begebenheit die - ſer Stadt, von ihrer Stiftung an, zu nuzzen: er zeichnet das Charakteriſtiſche derſelben, ihre Vorzuͤge vor andern, die Vorfahren aus der Familie ſeines Helden: wo es das ehrwuͤrdi - ge Alter und die Wuͤrde der Perſon erlaubt, kleidet er dieſen und jenen Vorfahren und Stammvater in die Stralen Olymps, ſchlingt die genealogiſche Kette bis an den Thron ei - nes Gottes, oder macht einen Ort gleichſam dadurch heilig, daß hier vormals Goͤtter ge - wandelt: ſo wird ſeine Ode vell Mythologie, aber warum? um ſich als Gelehrter, als Ar -tiſt156tiſt zu zeigen, um eine mythologiſche Ode ge - macht zu haben? — Ganz und gar nicht! ſeine Mythologie iſt Geſchichte des Vater - landes, Geſchichte der Vaterſtadt, Fa - milien - und Ahnenſtolz ſeines Helden, Ur - ſprung des Vorfalls, den er beſingt. Und was wird alſo ſein Geſang, ein heiliges National-Sekular - und Patronymiſches Lied, das werth war, in dem Tempel des Gottes, und in den Archiven der Stadt, die er ſang, mit goldnen Buchſtaben geſchrie - ben, aufbewahret zu werden; ein Familien - ſtuͤck fuͤr ein Geſchlecht, und mehr als eine Bildſaͤule fuͤr den Helden, wie der edle Stolz des Pindars ſelbſt wußte.
Haben wir zu unſrer Zeit ſolche Dichter, die das fuͤr den Vorfall, die Perſon, das Zeit - alter, fuͤr welches ſie ſingen, ſind und ſeyn werden? Ein andrer antworte fuͤr mich; aber — was iſt die Pindariſche Ode auf den Tod des Kaiſers Franz gegen eine Pindari - ſche auf einen Juͤngling, der blos gut laufen konnte? Nichts!
Zweitens: ein großer Theil der Mytholo - gie iſt Allegorie! perſonificirte Natur, oderein -157eingekleidete Weisheit! Hier belauſche man die Griechen, wie ihre dichteriſche Einbildung zu ſchaffen, wie ihre ſinnliche Denkart, ab - ſtrakte Wahrheit in Bilder zu huͤllen wußte, wie ihr ſtarrendes Auge Baͤume als Men - ſchen erblickte, Begebenheiten zu Wundern hob, und Philoſophie auf die Erde fuͤhrte, um ſie in Handlung zu zeigen. Und, da wir eine neue Welt von Entdeckungen um uns haben: ihr Dichter unter uns, ſo koſtet von jenem maͤchtigen Honig der Alten, damit ihr eure Augen wacker macht, um auch ſo viel Spuren der wandelnden Muſe zu erblicken — Lernet von ihnen die Kunſt, euch in eurer ganz verſchiednen Sphaͤre eben ſo einen Schatz von Bildern verdienen zu koͤnnen. Statt, daß ihr, nach jenem ekelhaften Gemaͤlde, das, was Homer geſpieen hat, euch belieben laſſet: ſo ſtaͤrkt euer Haupt, um aus dem Ocean von Erfindungen und Beſonderheiten, der euch umfließt, zu trinken, ohne davon zu erblaſſen. Jch meyne, ſtatt daß ihr aus den Alten Alle - gorien klaubet, oft wo ſie gewiß daran nicht gedacht; ſo lernt von ihnen die Kunſt zu alle -gori -158goriſiren, vom philoſophiſchen Homer, und vom dichteriſchen Plato.
Kurz! als poetiſche Hevriſtik wollen wir die Mythologie der Alten ſtudiren, um ſelbſt Erfinder zu werden. Eine Goͤtter - und Hel - dengeſchichte in dieſem Geſichtspunkt durch - arbeitet, — einige der vornehmſten alten Schriftſteller auf dieſe Weiſe zergliedert, — das muß poetiſche Genies bilden, oder nichts in der Welt. Aber wie groß muß der Mann ſeyn, der uns dieſen Gradum ad Parnaſſum, dieſes Cornu copiae, dieſe hylen inuentio - num poeticarum, dieſe aurifodinam my - thologicam, (oder wie die hochtrabenden Titel einiger ſpaniſchen Bettler mehr heißen) lieferte.
Da dieſe Erfindungskunſt aber zwei Kraͤf - te vorausſezzt, die ſelten beyſammen ſind, und oft gegen einander wuͤrken: den Reduktions - und den Fiktionsgeiſt: die Zergliederung des Philoſophen und die Zuſammenſezzung des Dichters: ſo ſind hier viele Schwierigkeiten, uns gleichſam eine ganz neue Mythologie zu ſchaffen. — Aber aus der Bilderwelt der Alten gleichſam eine neue uns zu finden wiſ -ſen,159ſen, das iſt leichter; das erhebt uͤber Nach - ahmer, und zeichnet den Dichter. Man wen - de die alten Bilder und Geſchichte auf naͤhere Vorfaͤlle an: legt in ſie einen neuen poeti - ſchen Sinn, veraͤndert ſie hier und da, um einen neuen Zweck zu erreichen; verbindet und trennet, fuͤhrt fort und lenket ſeitwaͤrts, geht zuruͤck, oder ſteht ſtille, um alles blos als Hausgeraͤth zu ſeiner Nothdurſt, Bequemlich - keit und Auszierung nach ſeiner Abſicht, und der Mode ſeiner Zeit, als Hausherr und Be - ſitzer zu brauchen.
Was? hoͤre ich hier einen Kunſtrichter ent - gegen rufen: „ daraus werden mythologiſche „ Unwahrheiten: z. E. nun darf Syſiphus „ ſchlafen, Tantalus trinken u. ſ. w. Dieſe „ Fabeln haben in der Mythologie einmal ih - „ ren gewiſſen Standpunkt, und ihn umdre - „ hen wollen, heißt das Syſtem der Mytho - „ logie niederreißen. Sie werden an keinem„ ein -160„ einzigen Ort im Pindar eine ſolche Jnver - „ ſion finden; er laͤßt, wie alle Poeten, dieſe „ Dinge ſo ſtehen, wie ſie das Fabelſyſtem „ diktirt hat*Litt. Br. Th. 21. p. 73. 74.. „ Hier wollte ich zwar ein - fallen: „ Das moͤchten auch mythologiſche „ Unwahrheiten ſeyn. Sobald Sie die Alten „ in Jhrem Scholiaſteneifer nicht ganz vergeſ - „ ſen wollen: ſo werden Sie wiſſen, daß die „ Alten nie ein Fabelſyſtem gekannt, das ſie „ wie Luthers Catechiſmus hergebetet. Sie „ werden wiſſen, daß ſo viele mythologiſche „ Widerſpruͤche, Ungereimtheiten und Poſſen „ blos daher entſtanden, weil die Goͤtterlehre „ nie ganz geweſen. Sie werden wiſſen, daß „ es eine neue und alte Mythologie gegeben, „ daß jeder Poet es fuͤr erlaubt gehalten, Zu - „ ſaͤzze und Veraͤnderungen zu machen, und die „ folgenden Zeitalter endlich alles verunſtaltet. „ Oder wenn Sie mehr als dies wiſſen und „ behaupten: daß Pindar, ſo wie alle Poe - „ ten, alles hat ſtehen laſſen, wie es ihm dik - „ tirt iſt; haben Sie es etwa ihm und allen „ Poeten diktirt? Wie viele, viele Jnver -„ ſionen161„ ſionen hat Pindar gegen die Alten, und ſei - „ ne erſte Ode ſpricht gewiß vom Tantalus „ mit Delikateſſe, Sorgfalt und Wahl, die „ er auch in einem Fabelſyſtem, wie es zu ſei - „ ner Zeit ausgeſehen, noͤthig hatte. „ Dies wollte ich ſagen, und dachte dem traurigen Gedanken nach: „ wie mißlich es ſey, ſich „ auf ſein Gedaͤchtniß zu verlaſſen — „ wie mißlich, einem Kunſtrichter zu trauen, der bei jeder Gelegenheit tadeln will, und in vie - len Perioden Non-ſens ſagt (es doͤrfte dies viele nicht eben eine ungeheure Hyperbel ſeyn).
Aber ich dachte, haͤtte dieſer Mann Recht; wer biſt du, daß du es wagſt, „ die Punkte „ zu verruͤcken, die die Alten feſtgeheftet, und „ einen neuen Geſchmack einzufuͤhren, der „ nothwendig verkehrt ſeyn muß, weil er von „ den Regeln des Alterthums abgeht? „ *Litt. Br. Th. 21. p. 44.„ Wie? wenn du alsdenn einſt im Reich der „ Todten vor dem δικαστηριον**Litt. Br. Th. 22. p. 4. 5. der Alten „ erſcheinen ſollſt, und du ſollſt mit dem ar - „ men Treſcho auf den Richtplatz: du magſt„ Predi -Fragm. III S. L162„ Prediger oder Amtsſchreiber, oder Holzin - „ ſpektor oder Kuͤſter, oder Schulmeiſter ge - „ weſen ſeyn: denn wird man die erſchreck - „ liche Angſt auf deinem Geſichte abgemalt fin - „ den, die dich innerlich peinigt, und dir alle „ die Unordnung vorhaͤlt, die du unbedacht - „ ſam in das Fabelſyſtem eingefuͤhret. Jetzt „ biſt du noch ein vermeßner und ſorgenloſer „ Knabe, dem der morgende Tag keinen Kum - „ mer erweckt: aber einſt vor der σκυταλη „ des Gerichts! zittre! da wirſt du nicht wie - „ der durchkommen. Lucian (der, wenn er „ das Gluͤck gehabt, eine lange Zeit ſpaͤter ge - „ bohren zu werden, gewiß die Ehre haͤtte ha - „ ben ſollen, ein Mitarbeiter der Litter. Br.*Litt. Br. Th. 20. p. 6. „ zu werden, weil er ſchon an ſeinen Vor - „ ſchriften ein wuͤrdiges Probſtuͤck geliefert, „ das faſt verdient, ein Berlin. Litt. Br. zu „ ſeyn, und es auch wurde) dieſer Lucian, „ und Longin, und der Kunſtrichter werden „ den Minos, Aeacus und Rhadamanth vor - „ ſtellen. Nun ruft der dritte**Jch muß mich hier zur niedrigen Satyre wi - der Willen herablaſſen, um mit ihren eignenWorten von ihnen:„ Nur163„ Nur heran, Miſſethaͤter! ‒ ‒ ‒ Guten Tag! „ Warum haſt du nicht den 14. Abſchnitt aus „ meinem Herrn Collegen Longin herausge - „ ſchnitten, und auf das Pult, wo du ordinair „ deine Muſe ſizzen hatteſt, angenagelt, um „ jederzeit die großen Muſter des Alterthums „ vor dir zu haben? Warum die alte Mytho - „ logie verruͤckt? Wohlan! hoͤre deinen Na - „ men griechiſch von der σκυταλη leſen: „ .. ρδ .. προτερος εξιϑι! denn du haſt „ einen verkehrten Geſchmack einfuͤhren wol - „ len. „
Dies juͤngſte Gericht ging mir lange durch die Seele: ich entſchloß mich in der Angſt, nicht blos den 14ten Abſchnitt aus dem Lon - gin, ſondern die ganze Mythologie, damit kein Punkt in ihr verruͤckt werde, feſt anzu - ſchlagen, an das Pult, wo ordinair meineL 2Muſe**Worten etwas von der uͤbelanſtehenden Leb - haftigkeit zu zeigen, mit der einige von den letz - ten Recenſionen der Litt. Br. ſich wegwerfen. Vielleicht waͤre es zur Ehre des Werks gewe - ſen, wenn nach dem 17. Theile der 24. gefolgt, oder einige Br. (z. E. 288. 91. 92. 95. 216. u. a.) weggeblieben, oder dieſe Theile durchgaͤngig nahrhafter gemacht waͤren.164Muſe ſitzt, oder noch ſicherer, dieſe, und wenn es ſich thun laͤßt, alle neun Muſen des Alter - thums anzuſchlagen. — Allein, wie es mit allen Angſtentſchluͤſſen geht! ſie ſind ſchwer und verfliegen! Jch beſann mich, daß als - denn alle alte und neue Dichter und Kunſt - richter muͤßten in die Acht erklaͤrt werden; daß ſich denn auch Lucian, der große Ver - ehrer der Mythologie, meiner wohl annehmen wuͤrde — ja endlich faͤllt mir ein: daß der boͤſe Leßing eine aͤhnliche Kuͤhnheit begangen, und einen hevriſtiſchen Gebrauch der Fabel vorgeſchlagen! —*Leß. Fabeln 5te Abhandl. Und nun ſchreibe ich ge - troſt fort von meinem hevriſtiſchen Gebrauch der Mythologie.
Kann man einen neuen Vorfall durch eine Fiktion aus der alten Mythologie erklaͤren! – der ſchoͤnſte Gebrauch, „ wenn man ſeine „ Grillen zu Orakelſpruͤchen einer goͤttlichen Er - „ ſcheinung zu machen weiß. „ Jene allerliebſteLeßing -165Leßingſche Fabel: Zevs und das Pferd,*1 B. 5 Fabel. die vor unſern Augen das Kameel ſchaffet: jene**2 B. Fab. 10., die den Eſeln zum Troſt die harte Haut anzieht, jene***2 B. Fab. 18., die es uns aus dem Rath der Goͤtter erklaͤrt, warum das Schaaf unbewaffnet iſt, woher den Ziegen der Bart entſtanden****2 B. Fab. 24. u. ſ. w. ſind kleine Anekdoten eines Dichters, der gleichſam ein Zeuge und Bote der Goͤtter, und Erklaͤrer der Natur iſt. So erzaͤlt uns Gerſtenberg den Urſprung des Kuſſes, der Syrene, und des Baͤrt - chens, welches letztere aber die Litterat. Br. gluͤcklich von dem Munde der Schoͤnen weg - gekuͤſſet haben. So ſind Ovids Verwandlun - gen in dieſem Betracht voll poetiſches Erfin - dungsgeiſtes. Kurz! aus der alten Mytho - logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei - ne Begebenheit, poetiſch wahrſcheinlich und poetiſch ſchoͤn zu erklaͤren — dieſes iſt, wie ich glaube, der am meiſten dichteriſche Ge - brauch der Fabellehre, und der Quell zu den ſchoͤnſten und reizendſten Fiktionen.
L 3Die -166Dieſem koͤmmt ein zweiter Gebrauch nahe: aus der neuern Zeit und ihren Sitten der al - ten Mythologie einen neuen Zug ſo gluͤcklich andichten zu koͤnnen, daß das Neue ehrwuͤr - dig und das Alte verjuͤngt wird. So weiß Rammler ſeinen alten Hymen durch das Brautband zu verjuͤngen und in unſre Zei - ten zu pflanzen.
Hiemit iſt eine dritte Freiheit verwandt, in die alten Fabeln einen gewiſſen geiſtigern Sinn zu legen, ohne den ſie uns minder ge - fallen. Da unſre hoͤhere Stufe der Cultur ſo viel am Denken gewinnt, als ſie an dem ſinnlichen Erkennen verlieren moͤchte: ſo ſu - che man einen neuern Geiſt in die Fabeln zu hauchen, daß Goͤtter und Helden nicht als ſtarke, wilde Maͤnner ihrer Zeit gemaͤß han - deln; ſondern einen Zweck durchſchimmern laſſen, der ſich fuͤr uns paſſet. Baco be - trachtet die Mythologie als eine politiſche Bildergallerie, weil ſein Auge politiſch zu ſe - hen gewohnt war: andre haben ſie als ein chymiſch und alchymiſtiſch Laboratorium durchtraͤumet: andre ſie mit hiſtoriſchemAuge167Auge angeſehen, andre die Naturlehre der Alten in ihr ſtudirt — der philoſophiſche Dichter hauche in ſie einen neuen poetiſchen Sinn, daß ſie reizen. Hier waͤre am beſten, zu zeigen, wie ungeſtalt alles wird, wenn man die Fabeln der Alten vorzeigt in ihren Fellen, die die rauhe Seite nach oben tragen, ſtatt ſie einzukehren; aber da kaͤme es wie - der auf das verwuͤnſchte Anfuͤhren ſchlechter Exempel an, und das iſt beſchwerlich.
Endlich einen neuern Vorfall auf einen alten zuruͤck zu fuͤhren, in denſelben ihn zu kleiden, daß er von ihm Wuͤrde, Reich - thum, Anſtand und Reiz borge: dies iſt das gluͤckliche Kunſtſtuͤck unſers Rammlers, in allen ſeinen Gedichten. — Sein meiſter Gebrauch der Mythologie iſt hier Beyſpiel, obwohl mir noch der kleine Zweifel uͤbrig bleibt, ob ſeine Oden, ohne dieſe Mytholo - gie, nicht uoch ſchoͤner ſeyn wuͤrden. Ein dichteriſcher Kopf, wie er, der in Tempeln und Pallaͤſten ausgehoͤlte Ruͤcken der Vorgebuͤrge, und in den Statuen der Kuͤnſtler, die Steine Deukalions ſieht,L 4wie168wie ſie ſich beleben — ein ſolcher Dichter koͤunte, nach meinem vorigen Traume, der erſte ſeyn, der ſich eine politiſche Mythologie ſchuͤffe, wie einige neuere Dichter ſich eine theologiſche zu ſchaffen angefangen. So lange aber, als niemand dieſes wagt, ſo iſts das leichtere und ſichere, die Mythologie der Alten zu brauchen, die ſchon ein gefundnes Baugeruͤſte der Dichtkunſt iſt, und bei einer ungezwungnen und feſſelloſen Nachbildung noch freilich viel Dichtergeiſt und poetiſches Verdienſt zulaͤßt.
Jch betrachte jetzt einige lateiniſche Nach - bildungen und Nachahmungen: tritt naͤher heran, Leſer, der du dir nicht die Augen ge - blendet, um eine roͤmiſche Brille zu gebrau - chen: tritt an die Bruſtbilder unſrer Roͤmer, um ſie zu bewundern, zu ſtudiren, und als Vorbilder zu betrachten. Und wenn du in dieſem Vorgemach voll Bilder der Vorfah - ren wandelſt: ſo belebe dich, wenn du einige abgeſchlagne Koͤpfe der Deinen ſieheſt, der Geiſt des jungen Cato, da er wider Sullafuͤr169fuͤr ſein Vaterland ergrimmte. Jhr Schul - meiſter aber, die ihr, wie der Paͤdagog des Cato, vor ſolchem heilloſen Anſchlage, vom roͤmiſchen Joche frcy zu ſeyn, zittert: ent - fernet euch:
Welche Altaͤre ſind dem Horaz gebauet: und wie viel Verehrung hat er auf ihnen genoſſen: ſollten wir wohl auf dieſe Altaͤre die Bruſt - bilder einiger deutſchen Dichter ſezzen doͤr - fen? — Auf der andern Seite, wie viel deutſche Horaze gibt es nicht, die dieſen Na - men bei einem Publikum, das oft nicht Rom iſt, gepachtet haben, und ihn vor ſich her ausſchreien laſſen! — Ein Ding in vierzei - lichten Strophen, voll Strohfeuers oder todtes Feuers, voll verworrener Conſtruktio - nen, die uͤber das Ende der Strophe laufen, untermiſcht mit hinkenden Reimen heißt eine – horaziſche Ode. Pindar kennt man zum Gluͤck nicht: ſonſt wuͤrde man noch aͤrgereMis -171Misgeburten hervorbringen: die mit dem drei - fachen Haupt des Cerberus, der Strophe, Antiſtrophe und Epode, aus neun Rachen Un - ſinn bellen, und ſich nennen — pindariſche Oden. —
Rammler, Klopſtock, Uz und Lange, vier Genies von ſo verſchiedenen Talenten, ſollten die nicht einem Horaz gleichwiegen? Rammler in ſeiner Kunſt, das Ganze einer horaziſchen Ode zu bauen: Klopſtock im fortgehenden Strom ſeiner Empfindung, Uz im Ton der philoſophiſchen Ode, Lange in der Zuſammenſezzung horaziſcher Gemaͤlde — Habe ich die Rollen recht vertheilt? recht fuͤr die Dichter? fuͤr den Horaz? fuͤr die Leſer? — Jch werde die Stimmen ſammlen.
Von Rammler haben wir eine laͤngſt er - wartete Ausgabe ſeiner Gedichte, die klein an der Zahl, aber ſtark an innerem Gewichte ſind. Wir wollen ſeine Muſe beſchleichen, um ihr ihre Kunſtgriffe abzulernen, und viel - leicht ſind dies die vornehmſten: Erſtlich: Sie zaubert Sujets unſrer Zeit in entferntere Zeitalter zuruͤck, um ſie eingekleidet in die Morgenroͤthe einer antiquen Allegorie, unsent -172entgegenzufuͤhren. Beſonders weiß ſie ei - nen horaziſchen Odenplan ſo geſchickt auf ei - nen neuern Vorfall zuruͤckzufuͤhren, daß ſich ſeine Wendungen, Bilder, und Ausdruͤcke, genau auf denſelben anpaſſen. Und denn iſt auch der feine Wohlklang und die genaue Verſifikation der aͤußere Schmuck, der Rammler zu einem deutſchen Horaz macht.
Fiktionen machen das ſchoͤnſte Ganze der Ode, und der reichſte Quell zu dieſen Fiktio - nen iſt ohnſtreitig das Alterthum. Das Alterthum iſt voll von poetiſchen Erdichtun - gen, Bildern und Farben; wer dieſe mit einer Meiſterhand zu brauchen weiß, macht ſeinen Gegenſtand dadurch neu, ehrwuͤrdig, und ſinnlich, und wie hoch ſteht eine Ode, die dies thun kann. Daher haben die groͤſten Genies aus dieſem Quell der Muſen, der Allegorie, wenn ich dies Wort im weiteſten Verſtande nehme, getrunken: die kleinen Geiſter ſchaudern vor dieſem Trank, weil Kaͤnntniß und Geſchmack des Alterthums, ja faſt ein dramatiſches Genie dazu gehoͤrt. „ Die hoͤchſte poetiſche Kunſt, ſagt vielleicht„ eben173„ eben dieſer Dichter*Crit. Nachr. aus dem Reich der Gelehrſ. St. 1., iſt, die Allegorie in „ ſeiner Gewalt zu haben. „
Seine Nymphe Perſanteis**Litt. Br. Th. 23. p. und Sprea***Litt. Br. Th. 23. p. 92. verdient den Zuruf:
Sein Ptolomaͤus und Berenice, ein edles hymenaͤiſches Geſpraͤch, das unter den Epi - thalamien vielleicht gleich nach dem Doppel - geſang des Catulls: Veſper adeſt, juvenes! folgt, hat die Naivetaͤt durchaus, die im horaziſchen Geſpraͤch: — Donec gratus eram tibi — herrſcht: ja vielleicht laͤßt ſie ſich hin und wieder zu einer kleinen Nach - laͤßigkeit herunter, wie vielleicht wenn Be - renice von ihrer Locke ſagt:
— Die funfzehn oder ſechzehn Jahr Die Zierde meiner Scheitel war.
Die Ode an die Goͤttinn Concordia†Eben daſelbſt. iſt des Altars im Janustempel wuͤrdig: nur doͤrfte die Goͤttinn Ate vielleicht zu altgrie -chiſch,174chiſch, oder altroͤmiſch ſeyn, da ſie freilich gegen die wilden Anfaͤlle auch ſelbſt in Frie - denszeiten ſich mit Drat und Beil waffnen mußte; wir bitten eine Concordia vom Him - mel, die die Ate von der Erde abloͤſe, nicht vor ſich gehen habe. — Die Ode an die Feinde des Koͤniges verliert ſich gluͤcklich, aber vielleicht zu weit in jene herkuliſche Zei - ten, da die Goͤtter dieſer Welt zugleich Un - geheuer heißen konnten, wenn die Allegorie es ſchoͤn fand: in die poetiſche Zeiten, da weder Tapferkeit noch Verfolgung in dem Geſichtspunkt des Moraliſchen vom Dichter durften angeſehen werden. — Die Ode an Hymen*Litt. Br. Th. 23. p. 90. iſt werth, daß Hymen,
wenn ihn noch ein feſtlich Liedherab vom Himmel ziehet —
auch dem Saͤnger ſelbſt erſcheine,
— zwei Ring’ an einer Handund um die Schlaͤfe Myrthenund um den Arm ein goldnes Band,ihm eine Braut zu guͤrten.
Sein Lied an Fabius iſt ein feiner Ge - danke, der aber nicht zu einer Allegorie hatdurch -175durchgefuͤhrt werden koͤnnen*Jch glaube, dies iſts, was dieſem artigen, ſchoͤnen, ſinnreichen Gedichtchen zur Ode fehlt; nicht aber die Odenwendnng (ſ. Litt. Br. Th. 8. p. 388.) Denn nicht jede Ode darf ja eben den kuͤhnen Flug der Muſe haben, die ſich wirrt, doch nie verirret — Jch finde auch, nach dem, was ich vom Fa - bius weiß, nichts zu beißendes in dieſer Ode.: denn eben durch ſein Zaudern ward Fabius Roms Ret - ter, und vielleicht durch dies Zaudern allein, das blos der Poͤbel in Rom, der junge hitzige Marcell und der Eiſenfreſſer Varro, zur ſpaͤ - ten Reue tadeln konnte. Statt eines beißen - den Tadels waͤre alſo die Ode ein feines Lob geworden, wenn ſie den Einfall fortgeſezzt haͤtte: denn ſo kann Sonnenfels auf den Tod dieſes Generals ſingen:
Der Held — Rom wagt von ſeinem FabiusZu kuͤhn ein Urtheil, Wien von Jhm.Den Zauderer rechtfertigt AnnibalUnd Daunen Friederich.
Man denke aber nicht, daß Rammler blos in der Wahl ſeines Hauptgedankens ſo gluͤck - lich ſey: ſein allegoriſcher Genius verlaͤßt ihn nie, und oft ſind in Theilen der Ode dieErdich -176Erdichtungen ſo ſchoͤn, daß ſie wieder zu ei - nem Ganzen Gelegenheit geben koͤnnen. Die Ode an einen Granatapfel, in Berlin ge - wachſen, hat hierinne viele vorzuͤgliche Bei - ſpiele, und weil ich in einer ſeltengewordnen Wochenſchrift*Critiſche Nachrichten aus dem Reiche der Ge - lehrſ. Berl. bei Haude und Sp. 1750. St. 6. Erlaͤuterungen finde, die nicht blos die Ode erklaͤren; ſondern uns auf die feinſten Schoͤnheiten aufmerkſam, und mit den Jdeen der poetiſchen Kunſt ver - traut machen, nach welchen der Dichter ar - beitete: ſo mache ich meinen Leſern und mir ein Vergnuͤgen, wenn ich ſie herſetze:
O die du dich zur Koͤniginu der Fruͤchtemit deinem eignen Laube kroͤnen mußt,Aurorens Kind1)Sie waͤchſt im heißen Orient und verirrt ſich nach Norden.1), an welchem SonnenlichteZerſpalteſt du die Purpurrothe Bruſt,Die Proſerpinen2)Proſerpine ward vom Pluto entfuͤhrt. Ceres bekam die Erlaubniß, ihre Tochter wieder zuholen,2) ihre KoͤrnerJm Tartarus zu koſten triebund177Und machte, daß ſie fernerJn Plutons Armen blieb.
Der Erdball aͤndert ſich3)Die großen Veraͤnderungen der Erde durch Zuruͤcktretung des Meeres, wie zu den Zeiten des Tiberius, oder durch Erdbeben und Ver - ſchuͤttung der Berge, werden mit den frucht - baren Veraͤnderungen der ſonſt ſo ſandigen Mark verglichen. Auf die botaniſchen Gaͤr - ten wird durch das Wort: alle Blumen ge - zielet: mit geſunknen Aehren bringt uns die neueſten Bemuͤhungen um den Ackerbau in den Sinn.: das Meer entfliehet
Und deckt uns Wunder auf, der Fels ſinkt ein;Und, o Berlin, dein duͤrrer Boden bluͤhet;Pomona fuͤllt ihr Horn in dir allein:Und Flora muß auf dein BegehrenAus allen Blumen Kraͤnze drehn,Und mit geſunknen AehrenDie blonde CeresUnd2)holen, wofern ſie noch nichts in der Hoͤlle ge - noſſen haͤtte. Sie ward verrathen, daß ſie einige Granatenkoͤrner gekoſtet habe, und ihre Mutter kehrte einſam wieder zuruͤck.Fragm. III S. M1784)Pomona iſt die Goͤttinn der Gartenfruͤchte, Flora der Blumen, Ceres des Getraides.4) gehn.Und zarte Baͤume traͤgt, ihr Hauptumſchoren,Der Gott Sylvan5)Sylvan iſt ein Waldgott. Teneram ab radice ferens, Sylvane, Cupreſſum. Virg. Das Haupt umſchoren. Hier bemerken wir eine griechiſche Wortfuͤgung, welche die lateiniſchen Poeten gleichfalls angenommen ha - ben: Et teneras arbores portat, circum - tonſas caput, Deus Sylvanus.5) und zieht ein Laby -rinth6)Zwiſchen Berlin und Tharlottenburg iſt ein Jrrgarten von jungen gerade geſchornen Fichtenbaͤumen angelegt, und mit Statuen geſchmuͤckt.Selbſtirrend auf vor deinen offnen Thoren,Die nicht umſonſt den Kuͤnſten offen ſind.Die Kuͤnſte nehmen Daͤdals Federn7)Daͤdalus war ein großer mechaniſcher Kuͤnft - ler, welchen Minos, der Koͤnig von Creta, nicht von ſich laſſen wollte, er machte ſich aber Fluͤgel und entkam: die ſchoͤnſten Ge - werke und Manufacturen kommen zu uns heruͤber.7)Und kommen uͤber Meer und LandMit Hebezeug und RaͤdernJn ihrer harten Hand.Wer179Wer hat allhier der Vorgebuͤrge RuͤckenZu Tempeln und Pallaͤſten ausgehoͤlt8)Man bauet nach einer großen und edlen Bau - art. Einfalt und Pracht ſind beiſammen. Das Opernhaus, das Jnvalidenhaus, die Akademie, der neue Dohm ſind Zeugen da - von, und koͤnnen deswegen mit einem glatten Felſen verglichen werden, den man inwendig mit großer Arbeit ausgehoͤlt hat.8),Die rund umher der Pyrrha9)Pyrrha und Deukalion blieben nach der Suͤndfluth allein uͤbrig, und warfen, nach dem gottlichen Orakel, mit verhuͤlltem Ange - ſicht Steine hinter ſich, woraus Menſchen in die Hoͤhe wuchſen. Ein ſchmeichelhaftes Gleich - niß fuͤr einen Bildhauer, wenn ſeine Statue mit einem Menſchen verglichen wird, in dem Zeitpunkte, wo er aufhoͤrt, Stein zu ſeyn, und anfaͤugt, lebendig zu werden!9) Wunderſchmuͤcken,Noch halb den Steinen gleich u. halb beſeelt?Jhr Goͤtter! praͤchtig aus RuinenErhebt ſich euer Pantheon10)Pantheon, ein Haus, worinn alle Goͤtter wohnen, aus welchen jeder Prieſter ſich einenSchutz -10);Die Weiſen alle dienen,Die Voͤlker lernen ſehon.M 2Sagt180Sagt Sterbliche! den Sphaͤren ihreZahlenUnd lehrt dem tollen Winde ſeinen Lauf,Und waͤgt den Mond und ſpaltet Sonnen -ſtralen11)Hier werden Sachen, die die Gelehrten noch nicht gnug beſtimmet haben, und vielleicht nie beſtimmen werden, mit ſolchen zuſammengeſezt, die ſchon mehr bekannt ſind, dergleichen die Zerſtreuung der Sonnenſtralen durch ein Prisma iſt. Ein artiger Betrug! Alle dieſe Aufgaben haben eine Art von Wunderbarem an ſich: doch ſo unmoͤglich ſie dem erſten An - blick nach ſcheinen, ſo wiſſen wir doch, daß die gelehrte Welt ſich ſchon an alle gewagt hat.,Deckt die Geburt des alten Goldes aufUnd18110)Schutzgott waͤhlen kann, der etwa uͤber ein Theil der Natur, uͤber Luft, Feuer, unter - irrdiſche Schaͤtze, Waͤlder, Meere, Mond, Sonne ꝛc. herrſcht, oder der eine Kunſt und Wiſſenſchaft erfunden hat. Dieſes Pantheon bedeutet ohnfehlbar das neue Akademiehaus, welches auf die Brandſtaͤte des alten Stalles und der alten Mahler und Bildhauer Aka - demie gebauet, und mit Goͤtterbildern gezie - ret iſt.10)Und ſteiget an der Weſen Kette12)Das mineraliſche Reich haͤngt endlich mit dem Pflanzenreiche zuſammen: der ſtaudichte Stein hat an beiden ſein Antheil. Auch die Pflanzen und Thiere graͤnzen an einander. Hier zieht ſich das fuͤhlende amerikaniſche Kraut zuſammen, ſo bald es angeruͤhrt wird, dort ſproßt der Polypus wie ein abgeſchnittner Zweig. Ja alle drei Reiche gehen durch ein - ander, und knuͤpfen ſich an tauſend Enden zu - ſammen. Laß uns einmal unter den Menſchen fortgehen bis zum Affen: dieſer und der be - haarte wilde Menſch, wie ſind ſie unterſchie - den? Der vortreflichſte Menſch, und ‒ ‒ ‒ hier fehlt uns die Kette, die bis zum Stuhle Jupiters geht. Aber der groͤßeſte Weiſe ſieht von dieſer Kette nur zerriſſene Glieder.12)Bis dahin, wo der hoͤchſte RingAn Jovis RuhebetteSeit Chaos Aufruhr hing13)Seit der Erſchaffung, da ſich das Getuͤmmel der Elemente legte.13).Die Zwietracht, die mit Gift ihr Lebennaͤhrte,Verliert den Hydrakopf14)Die Hydra Lernaͤa war ein vielkoͤpfichtesUnge -14) durch einenStreichM 3Von182Von der Gerechtigkeit beflamtem Schweꝛte15)Die ſchnelle Endigung der Proceſſe iſt be - kannt, und ſchon ein Muſter der Nachahmung.15);Der Aberglaube kaͤmpft und flieht zugleich:Wie vor den kuͤhnen SonnenpferdenDie blinde Nacht voll Selbſtvertraun;Denn tauſend Staͤdte werdenJhm einen Altar baun.Wohl dir, o du, durch meinen Freundregieret,An Kuͤnſten reich, und groß wie Spartawar16)Sparta oder Lacedaͤmon war zum Krie - ge geboren und verbannete die Kuͤnſte: eine gewiſſe Stadt liebt die Kuͤnſte, und iſt dennoch wie Sparta. Man weiß, daß die Sparta - ner unter dem Schall einer wohlgeſezten Muſik, ihre Haare mit großer Sorgfalt aufgebunden,gegen:Es zog vom Schall der Floͤte ſchoͤn verfuͤhretJn ſeinen Tod mit wohlgeſchmuͤcktem Haar,Und18314)Ungeheuer, welches Herkules umbringen wollte. Allein, wenn er einen Schlangekopf herunter hieb, wuchſen zwei an deſſen Stelle. Endlich nahm er ein gluͤhendes Eiſen, brannte nach, und toͤdtete die Hydra.14)Und alle, die den Kampf verloren,Beſtaͤtigten durch einen Eid:Die Stadt17)Wird von Sparta geſagt, und deucht un - ſerm Dichter ſchoͤner, als wenn es gerade zu von Berlin geſagt wuͤrde: weil man die Ei - genſchaften von Sparta ſonſt nicht erfuͤhre, weil der Geiſt die angenehme Beſchaͤftigung bekoͤmmt, es auf Berlin zu deuten, weil ein folches Lob zugleich feiner iſt, und weil kein lyriſcher Schwung darinn ware, wenn der Poet in eben der Conſtruction fortfuͤhre: Du zogſt vom Schall ꝛc.17) ſei nur geborenZu Waffen und zum Streit.So ſang Calliope18)Calliope, die Muſe, beſingt, wenn man ihr ein beſondres Amt geben will, die Helden am liebſten. Dieſes deutet auch ihr Ehren - zeichen, die Drommete, an.18), die voll EntzuͤckenUmhaͤngt mit ihrer goldnen Tuba kam,Und nicht geſehn von ungeweihten Blicken,Den Weg zum Tempel des Apollo nahmM 4Wo19)Apollo iſt der Gott der Muſen, oder der Erfinder der freien Kuͤnſte. Unſer Opern -haus19),18416)gegen den zahlreichſten Feind gingen und ſiegten. Man unterſuche die genaue Aehn - lichkeit ſelber.16)Wo mit dem Pinſel und mit SaitenJn Larven und im LorbeerkranzDie Muſen ſich bereitenZum ſchoͤnſten Reihentanz.
Eine Ode von dieſer Art iſt mehr fuͤr ein Odengenie, als ein ſchlechtes poetiſches Col - legium: faſt jede Nummer zeigt „ die hoͤchſte poetiſche Kunſt des Dichters, die Allegorie in ſeiner Gewalt zu haben: „ auf die Art be - ſtrebe ich mich, den Pindar und Horaz mir ſelbſt zu erklaͤren: und ſo erklaͤre man ſich, jede Ode Rammlers, um ihre ſinnlichen Bil - der in aller ihrer bedeutungsvollen Schoͤnheit zu erblicken. — Jch ſollte meinen Leſern dieſe Ode jetzt von einer andern Seite zeigen, um ſie nach ihrer ganzen Anordnung und Bauart zu betrachten, die Ordnung, Ver - bindung und Ausſchmuͤckung ihrer Theile zubemer -19)haus fuͤhrt die roͤmiſche Aufſchrift: Fridericus Rex Apollini et Muſis. Der Schluß des Liedes bezeichnet es deutlicher: denn aus Poeſie, Muſik, Decorationen, und Balletten erwachſt die Oper.185bemerken: da dies aber zu weitlaͤuftig iſt, und bey andern Oden von ihm fuͤglicher ge - ſchehen kann: ſo kann ich nicht umhin, meine Leſer wenigſteus auf den feinen Wohlklang dieſer Ode aufmerkſam zu machen. Jch rede nicht ſelbſt, ſondern ſchreibe aus dem angefuͤhrten Wochenblatt folgende Bemer - kungen hin:
Mit deinem eignen Laube kroͤnen muß ſcheint den Kranz herum zu flechten. Und lehrt dem tollen Windeſeinen Lauf laͤuft wie der Sturmwind.
Die Proſerpinen ihre Koͤrner — Pomona fuͤllt ihr Horn in dir allein — Jn ihrer harten Hand — Die Weiſen alle dienen — So ſang Calliope, die voll Entzuͤcken —
So ſtolz hoͤret ein feines lyriſches Ohr, und ſollten auch einige dieſer Schoͤnheiten wirklich verfliegen, wenn man ſie zu Regeln macht: ſollten ſie auch, ſo bald als ſie Ge - ſezze werden, Hinderniſſe ſeyn: ſo muß manum188um ſo mehr den Dichter bewundern, der dieſen Zwang hat uͤberwinden und zur Schoͤn - heit machen koͤnnen. Ein ſo feines Ohr muß auch von einer Zunge begleitet ſeyn, die eben ſo ſtolz deklamirt; denn ſo wie die lyriſche Poeſie, nach Klopſtocks gerechter Bemerkung, des meiſten Wohlklanges faͤhig iſt: ſo naͤhert ſich auch die lyriſche Deklamation der Muſik am meiſten. Und wuͤrde alſo auch nicht der allgemeine Ruf von Rammlers Deklamation voll ſeyn: ſo wuͤrde ſchon ſein feiner Wohl - klang in mir den Wunſch erregen, ihn dekla - miren hoͤren zu koͤnnen.
Nicht blos Allegorie und Wohlklang: die Anordnung zum Ganzen der Ode iſt der Vorzug, weswegen der Name Horaziſch ſeinen Oden zukoͤmmt. Oft arbeitet er uͤber Horaziſche Plane bei aͤhnlichen Gegenſtaͤn - den: ſein Paͤan an die Concordia folgt dem Gange der Ode des Flaccus an das Gluͤck, ſo gar bis auf das Bild der Nothwendigkeit
Te ſemper anteit ſaeva neceſſitasClavos trabales et euneos manuGeſtans ahena, nec ſeverusUncus abeſt liquidumque plumbum ‒ ‒
Jch bin mit Rammler darinnen wohl zu - frieden, daß er dies uͤberladne Bild, das ſchon Sanadon und noch neuerlich Leßing fuͤr froſtig erklaͤrt, abgekuͤrzt; nur ſcheint der Periode, nach ſeiner ſinnlichen Jnverſion betrachtet, etwas mißrathen zu ſeyn. Die Ode an ſeinen Arzt bringt uns die horazi - ſchen Zurufe an ſeinen Weinknaben in den Sinn, und iſt mit Geiſt und Koͤrper nach dem Flaccus gebildet. Seine Ode an die Kanonenkugel bringt uns die an den un - gluͤcklichen Baum: die Ode an Hrn. Krauſe eine aͤhnliche uͤber ſich, und am allermeiſten die Lobgeſaͤnge auf den Koͤnig, das Lob in den Sinn, das Flaccus dem Auguſtus und Mecaͤnas opferte.
Jn einzelnen Bildern, Conſtruktionen, und Wendungen findet Horaz noch haͤufiger das Seinige wieder, und uͤberhaupt kenne ich keine deutſche Oden, die leichter und ſchwerer ins Lateiniſche zu uͤberſetzen waͤren, als dieſe — Leichter: weil man Jdiotismen, Periode und Wohlklang nach dem Lateiniſchen abge - zirkelt, gleichſam vor ſich findet: ſchwerer, um der Fuͤlle, Kuͤrze und Wohlklangekeinen190keinen Eintrag zu thun. Was Leßing mit dem Anfange des Meßias verſuchte, probire man mit Rammlers Ode an den Arzt, an die Kugel u. ſ. w.
Was iſt nun von dieſer horaziſchen Nach - bildung zu urtheilen? Es iſt nicht zu ver - muthen, daß Rammler blos horaziſche Vor - faͤlle waͤhle, um horaziſch ſingen zu koͤnnen; wenn wir ihn blos in dieſem Geſichtspunkt betrachten: ſo doͤrften die beſten horaziſchen Oden nicht alle von ihm nachgebildet ſeyn, und erreicht? — vielleicht keine. Alsdenn iſt er Geſchmack - und Kunſtvoller Nachahmer. Aber er iſt mehr, — und hat es bewieſen, daß er ohne horaziſche Plane und Bilder horaziſch ſingen koͤnne, und dies erhebt ihn in meinen Augen zum Dichter, jenes zeigt ihn als einen feinen Kenner des Alterthums, und einen Artiſten von Geſchmack.
Vielleicht hat Rammler den Grundſatz mit einem andern großen Genie gemein: daß Horaz alle Muſter aller Oden geliefert, und ſo zu ſagen, jede Schoͤnheit derſelben er - ſchoͤpft: vielleicht ſind die erſten Eindruͤcke von den Poeſien des Roͤmers bei ihm ſo maͤch -tig,191tig, und in ihren Spuren-ſo ewig geweſen, daß ſich leicht alles, ſelbſt Originalgedanken nach dieſen Eindruͤcken modeln; denn in der That! unſer Genie und Geſchmack nimmt die Bildung von dem an, was vorzuͤglich und zuerſt auf dieſelben wirkte: vielleicht ſehe ich nicht alle die Reize ein, die gewiſſe mytholo - giſche Bilder noch in unſrer Zeit haben koͤn - nen — aber ich ſage nichts, als meine Mei - nung. Fefſelt nicht Horaz dies große Genie oft zu ſehr? — Mir koͤmmt, damit ich ein paar Beiſpiele anfuͤhre, in der Ode an die Kugel, die Beſchreibung der Hoͤlle etwas fremde*Si quaedam nimis antique, ſi pleraque dure — — credi dicta — — Et ſapit et mecum facit et Ioue iudicat aequo. Hor. L. 2. Ep. I. an dieſen Ort:
— ganz nahe war ich ſchon dem Styx, ganz naheDem giftgeſchwollnen Cerberus.Jch hoͤrte ſchon das Rad Jxions raſſeln, ſaheDie Brut des DanausVerbannt zum Spott bei bodenloſen Faͤſſern —Und Minos Antlitz und das FeldElyſiens.
Horaz ſelbſt iſt kuͤrzer und anſchließender, obgleich dieſes Bilder ſeiner Religion waren: hier ſind ſie aber zu bekannt, zu allgemein, und zu wenig aus dem Jndividualfall genom - men; die folgenden ſind es ſchon mehr:
— Den großen Ahnherrn eines groͤßernUrenkels und ſein ZeltVoll tapfrer Brennen ſah ich! Jhre LiederJhr Feſt bei jedem Nektarmaliſt Er. — —Schon ſaͤng ich ſeine juͤngſte That —Alcaͤus wuͤrde jetzt mein Lied beneidenSchon ſaͤh ich Caͤſarn lauſchend nahnMit ihm den weiſen Antonin, und den vonGefeyrten Julian.(beiden
Bei dem letzten Ausdruck haben die Litte - raturbriefe*Th. 8. p. 388. dem Hrn. Prof. Rammler einen hoͤflichen Verweis gegeben, daß er es aus der Kaiſerhiſtorie vergeſſen haͤtte, wenn Julian gelebt: und trauen ihm beinahe eine tuͤrkiſche Chronologie zu, daß Caͤſar und Antonin den Julian haben feiren koͤnnen. Allein, ſie vergeſſen, daß dies im Reich der Todten vorgeht, und daß ja alle drei Fried - rich feiren ſollen. Jn Rammlers Oden iſtviel -193vielleicht weniger ein Ausdruck zu vermuthen, quem incuria fudit; als in den Littera - turbriefen.
Bielleicht moͤchte in der Ode an die Feinde des Koͤnigs die herkuliſche Beſchrei - bung eben die Note verdienen, die ich bei der Hoͤlle gemacht, daß ihre Bilder zu bekannt, zu antik, und etwas zu unedel ſeyn moͤchten.
Abſtrahirt von dieſem horaziſchen: iſt Rammler ein vollkommenes Muſter der Ode: jedes Wort abgewogen, abgemeſſen, abgezaͤhlt: jede Conſtruktion gewaͤhlt, geordnet, gewaff - net: jede Freiheit nicht blos Licenz, ſondern Muſter: ſeine undeutſche Redarten bereichern die Sprache: ſeine fremden Worte verdienen das Buͤrgerrecht: der Zwang in ſeiner Perio - de iſt von der Gewalt und dem hinreißenden Sttom der Ode verurſacht: eiu Werk des Vorſazzes und Fleißes, nicht der Noth und des Unvermoͤgens: ſein Mangel an der Caͤ - ſur bisweilen, und ſein ſchwerer Reim durch ein Beiwort ſind Boten des lebendigen Lauts, um Nachdruck anzukuͤndigen. Alle Borwuͤrfe, die man ſeinen Oden von dieſer Seite macht, ſind kurzſichtig, und eigenſinnig.
Fragm. III S. NZum194Zum Schluß will ich die Theorie von der Ode*Litt. Br. Th. 17. p. 149. ꝛc; herſezzen, die ſich am beſten aus Rammlers Oden erklaͤren laͤßt:
„ Die wahre Critik erkennet in der Ode „ eine hoͤhere Ordnung, die zwar verſteckt „ ſeyn, aber niemals vernachlaͤßigt werden „ darf. Es gibt mancherlei Ordnungen, in „ welchen die Gedanken unſrer Seele auf ein - „ ander folgen koͤnnen. Die Ordnung der „ Zeit, des Raums, der Vernunft, des „ Witzes, der Scharfſinnigkeit u. ſ. w. „ die Ode verwirft alle dieſe Ordnungen. „ Sie ſchreibt nicht hiſtoriſch, wie der „ epiſche, nicht topiſch, wie der maleriſche „ Dichter: ſie folgt auch nicht der Ordnung „ der Vernunft, wie etwa der Lehrdichter. „ Die Ordnung, die ihr weſentlich iſt, kann „ die Ordnung der begeiſterten Einbil - „ dungskraft genannt werden. Eine einzige „ ganze Reihe hoͤchſtlebhafter Begriffe, „ wie ſie nach dem Geſezz einer begeiſterten „ Einbildungskraft auf einander folgen, iſt „ eine Ode. Die Mittelbegriffe, welche „ die Glieder mit einander verbinden, aber „ ſelbſt nicht den hoͤchſten Grad der Lebhaftig -„ keit195„ keit beſitzen, werden von dem Odendichter „ uͤberſprungen, und daraus entſteht die an - „ ſcheinende Unordnung, die man der Ode „ zuſchreibt. Durch dieſe Betrachtung laͤßt „ ſich auch entſcheiden, in welcher Gattung „ von Oden ausgemahlte Bilder und Gleich - „ niſſe, oͤfters auch Digreßionen und Neben - „ betrachtungen erlaubt ſind, und in welcher „ die Bilder und Gleichniſſe, nur mit großen „ Pinſelſtrichen zu beruͤhren, und die Aus - „ ſchweifungen von dem Hauptgegenſtande „ ſorgfaͤltig zu vermeiden ſind. Aus dieſen „ Begriffen kann man die Regeln herleiten, „ wo die Ode anfangen und ſchließen muß. „
„ Da die Anlegung des Plans zu einem „ Gedichte, und alſo auch zur Ode kein Werk „ der Begeiſterung, ſondern des Nachdenkens „ und der uͤberlegenden Vernunft iſt: ſo muß „ der Plan der Ode dem Dichter ungemeine „ Schwierigkeiten machen: denn hier muß die „ Vernunft uͤberdenken, was die feurige Be - „ geiſterung fuͤr einen Weg nehmen wuͤrde. „ Man muß durch Nachdenken und Vernunft - „ ſchluͤſſe ergruͤnden, welche Jdeen die lebhaf - „ teſten ſeyn, und in welcher Ordnung ſie nachN 2„ dem196„ dem Geſetz der Einbildungskraft auf einan - „ der folgen werden. Der Dichter muß ſich „ alſo in beide Verfaſſungen zugleich ſezzen: „ er muß nachdenken und empfinden, und man „ ſiehet leicht, was ihm dies fuͤr Schwierig - „ keit machen muß. Ueberlaͤßt er ſich ganz „ ohne Plan dem Strome der Begeiſterung „ und dichtet: ſo wird er zwar eine Folge von „ ſehr lebhaften Begriffen hervorbringen koͤn - „ nen; aber dieſe Folge wird ſelten ein Gan - „ zes ausmachen, ſelten ein beſtimmtes Sub - „ jekt, und nur durch ein Ungefaͤhr die gehoͤ - „ rige Einheit und angemeßne Kuͤrze haben, „ vermoͤge welcher fie den kuͤrzeſten Weg zu „ ihrem Ziel eilet. Dieſes geſchieht, wenn die „ Gemuͤthsbewegung, als die Urſache der Be - „ geiſterung, ſehr heftig iſt. Alsdenn eilet der „ Strom der Gedanken ſeinen Weg, unauf - „ haltſam und ſicher, und die bloße Natur er - „ fuͤllet alle Beduͤrfniſſe der Kunſt. Wenn „ aber ein gemaͤßigter Affekt herrſchen ſoll: „ als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit, „ ſtille Freude ꝛc. ſo iſt die Natur ohne Leit - „ faden der Kunſt eine mißliche Fuͤhrerinn. „ Sie fuͤhrt den Dichter auf Abwege, ſie er -„ laubt197„ laubt ihm zu ſchwaͤrmen, wo er den kuͤrze - „ ſten Weg nehmen ſollte: ſie verbindet Ge - „ danken, die eine allzugeringe Beziehung auf „ einander haben, und bringt alſo Poetiſche „ Phantaſien hervor, aber keine Oden. „
Dies Fragment einer kritiſchen Betrach - tung uͤber die Ode bringt mir den Wunſch in die Feder, daß endlich ein philoſophiſcher Kopf eine vollſtaͤndige Theorie von der Ode liefere, die unter den ſchon gelieferten Beitraͤ - gen zur angewandten Aeſthetik uns noch am meiſten fehlt. Denn da Ariſtoteles Poetik in dieſem Theil verlohren gegangen: ſo ha - ben ſich wenige an eine Arbeit wagen wollen, in der ihnen niemand unter den Alten vorge - arbeitet hat, und die Wenigen, die ſich dar - an gewagt, wiegen zuſammen nicht ſo viel, als der einzige Ariſtoteles wiegen wuͤrde. Die Poetikenſchreiber — die ſchoͤnen Geiſter unter den Franzoſen, La Motte, St. Mard, Batteux, Racine, Fontenelle, und noch neuerlich Marmontel und Garnier — un - ter den Deutſchen, die Abhandlung in den Breslauiſchen Beitraͤgen zur Philoſophie mit ihrer Recenſion in der Allgem. Bibl.,N 3das198das angefuͤhrte Fragment, einige Klopſtocki - ſche, Rammleriſche im Batteux, und das mittelmaͤßige Gemiſch von Anmerkungen in den epiſchen, lyriſchen und dramatiſchen Gedichten ſind Fußtapfen gnug, fuͤr einen, der aus ihnen eine Landſtraße zu machen weiß.
Jch habe eine Geſchichte des lyriſchen Geſanges angekuͤndigt geleſen; vielleicht wird der Verf. den Charakter deſſelben unter Ebraͤern, Arabern, Griechen und Roͤmern be - ſtimmen, und aus der Denkart, Zeit, und den aͤußerlichen Huͤlfsmitteln, der Sprache und Muſik erklaͤren: vielleicht wird er das Genie jedes großen Originals unter den lyriſchen Dichtern entwickeln, ihre Hauptwerke aͤſthe - tiſch nach Plan und Compoſition, nach den Schoͤnheiten des Details*„ Vielleicht wird er von dem Unterſchiede der „ griechiſchen, roͤmiſchen und orientaliſchen Ode „ handeln. Er wird zeigen, warum die Hora - „ ziſche Ode mehr ausgefuͤhrte Gleichniſſe ver - „ traͤgt, als die Pindariſche, und dieſe mehr, als „ die Davidiſche, und aus eben demſelben Grun - „ de erklaͤren, warum der heilige Dichter an „ Kuͤhnheit der Metaphern jene weit hinter„ ſich, dem Lichtund199und Schatten, den Wendungen und Bildern und Verſifikation und Sprache zergliedern: vielleicht wird er die Nachbildungen aus den Alten gegen ihr Original und ihre Nebenge - maͤlde halten, und den großen Zweck ausfuͤh - ren: ein Odengenie in die magiſche Werkſtatt des Apolls, und in den Geiſt ſeiner Muſter einzufuͤhren; ja vielleicht wird er endlich aus dieſen verſchiednen Gattungen Hauptbegriffe des Schoͤnen in dieſer Dichtungsart heraus - ziehen, ſie zu Regeln erhoͤhen, dieſe Regeln in unſere Seele zuruͤckfuͤhren, und alſo einen philoſophiſchen Begriff der Ode feſtſezzen, aus welchem man auf ein weites Feld der Aefthe - tik ſichere und kuͤhne Blicke wird thun koͤnnen.
Plaudamus amici!
*„ ſich laͤßt. Er wird ferner zeigen, wie der „ Odendichter von einem Gleichniß in das an - „ dre uͤbergeht, und wenn er ſich denn von ſei - „ nem Gegenſtande zu ſehr entfernt hat, ploͤtz - „ lich abbricht. Er wird ferner auseinander - „ ſezzen, in welchem Fall es dem Dichter er - „ laubt ſey, von dem Gleichniſſe zuruͤck zu keh - „ ren, und den Faden ſeiner Empfindungen wie - „ der zu ergreifen, oder wo ſein Feuer mitten im „ Gleichniß, wie ein Blitz verſchwinden muß. „ Litt. Br. Th. 9. p. 184.
200Sollte dieſer Plan mit dem ſeinigen uͤber - einſtimmen: ſo wuͤrde er durch die Ausfuͤh - rung Creditio gnug gezeigt haben, daß er auch folgende Zugabe zu ſeinem Werke thun koͤnn - te: daß er die zerſtreuten Oden der Deut - ſchen ſammlete, ſich uͤber alle fließende Rei - me im lyriſchen Sylbenmaaß erhuͤbe, und blos den Geiſt der antiquen Ode zum Rath - geber ſeiner Wahlmachte: ein maͤßiges Baͤnd - chen, das aber alsdenn die fliegenden Stuͤcke dieſer Dichtart der Zeit rauben koͤnnte. Wenn Rammler es fuͤr gut geachtet, die Lieder der Deutſchen zu ſammlen: ſo waͤren „ ernſt - hafte und erhabne Geſaͤnge unſrer lyri - ſchen Poeten, die ſich beſſer deklamiren, als ſingen laſſen: die wenigen Oden der Deut - ſchen, die ſich durch Anlage und Schwung und Wohlklang empfehlen, „*ſ. Vorrede zu den Liedern der Deutſchen bei Winter, Berl. 1766. dieſer Samm - lung eben ſo wuͤrdig; ja vielleicht noch wuͤr - diger, weil meiſtens ein Jndividualfall der Zeit ſie gebiert, ſie auf ſeinem Fluͤgel umher - wirft, und ſehr leicht verfliegen macht. Man muͤßte Stuͤcke waͤhlen, die keine Ausbeſſerungnoͤthig201noͤthig hatten, oder uns wenigſtens die Aus - beſſerung als eine Note und Marginalgloſſe geben: denn alle fremde Correktur iſt mißlich und bei einer Ode faſt unmoͤglich. — Wie fehr muß ich aber befuͤrchten, daß mein Vorſchlag nicht flugs von einem Sammler aufgefangen werde, der uns vielleicht ſchon folgende Meſſe: auserleſene Stuͤcke aus den beſten deut - ſchen Odendichtern*Braunſchweig bei ‒ ‒ ‒ ungekaut und unver - dauet auftrage.
Jch kann Horaz und Rammler nicht verlaſſen, ohne den Wunſch zu wiederholen, daß der letztere uns den erſtern endlich in ei - nem deutſchen Kleide liefern moͤge: alsdenn werden wir den Franzoſen ihre Sanadons, Dacier und Batteux nicht beneiden doͤrfen.
Klopſtock hat in feinen Oden weniger ho - taziſche Zuͤge: ſeine Ode an Friedrich vor dem Meßias, ſcheint im Anfange das: quem tu, Melpomene, ſemel nachzubilden; allein, bald erhebt ſie ſich zur Welt der GedankenN 5und202und Empfindungen*Litt. Br. Th. 8. p. 229., zu der ihm eignen Kunſt, die Seele des Menſchen und Chriſten zu ſchildern, worinn er eben mit Horaz nicht zu vergleichen iſt. Alle ſeine Oden ſind mei - ſtens Selbſtgeſpraͤche des Herzens: ſein Pſalm laͤßt Empfindungen, eine nach der andre fortrauſchen; wir hoͤren Welle uͤber Welle ſchlagen: eine wird die hoͤchſte, und es erfolgt eine Stille: wir ſtehen in Gedan - ken, bis ploͤtzlich eine neue Folge von Jdeen uns mit einer ſuͤßen gedankenvollen Betaͤu - bung berauſcht. — Seine meiſten lyriſchen Arbeiten naͤhern ſich dem Hymnus: in eini - gen Stuͤcken, die der Sammlung vermiſch - ter Schriften eingeruͤckt ſind, ſind freilich vortreffliche Horaziſche Zuͤge, inſonderheit in der Ode auf den Zuͤrcherſee; allein nie das Ganze, nie der Hauptton, nie der Wohl - klang des Horaz. Jch moͤchte alſo Klop - ſtock aus ſeiner Sphaͤre reißen, wenn ich ihn hier gegen Horaz ſezzte; und doch — iſt cs nicht Klopſtock, der in einem Stuͤck des Nor - diſchen Aufſehers dieſe wunderbare Gedan - ken ſagt:
„ Faſt203„ Faſt allen neuern Oden fehlt etwas von „ dem Haupttone, den die Ode haben ſoll. „ Horaz hat den Hauptton der Ode, ich ſage „ nicht, des Hymnus, durch die ſeinigen, bis „ auf jede ſeiner feinſten Wendungen beſtimmt. „ Er erſchoͤpft alle Schoͤnheiten, deren die „ Ode faͤhig iſt. Man wird alſo den Werth „ einer Ode am beſten ausmachen koͤnnen, wenn „ man ſich fragt: wuͤrde Horaz dieſe Mate - „ rie ſo ausgefuͤhret haben? Aber man muͤßte „ ein wenig ſtrenge bei Beantwortung dieſer „ Frage ſeyn. Denn ſonſt bekommen wir zu „ viel Horaze unſrer Zeiten. — Jch erklaͤre „ mich hiedurch gar nicht gegen die Anſpruͤche, „ die beſonders der lyriſche Dichter auf einen „ Originalcharakter hat. Jch rede nur von „ der Biegſamkeit, mit der ſich ſelbſt ein Ori - „ ginalgenie dem Weſentlichen, was die lyri - „ ſche Poeſie fodert, unterwerfen muß. Und „ dieſes Weſentliche, behaupte ich, hat Horaz „ durch ſeine Muſter veſtgeſezzt „*Nord. Aufſ. 2 B. St. 105.. Ueber - haupt iſt dies ganze Stuͤck im zweiten Bande ſo ausnehmend, als das 26te des erſten.
Jch204Jch werde von Uz und Lange kuͤrzer ſeyn koͤnnen. Des erſtern ſein philoſophiſcher Odengeiſt iſt bekannt, und von den Litterat. Br.*Th. 8. p. 214. wuͤrdig geprieſen worden: er iſt der einzige, der ſo viel Weisheit mit ſo vielem Schwunge ſagen kann. — Von Lange doͤrf - te es heißen: die Erſten werden die Letzten ſeyn; und nach meiner Meinung hat er mehr Horaziſch geſungen, als uͤberſezzt. Die be - ſten Oben des Horaz leiden bei ihm, ſeines Fleißes, Genies, und einiger gluͤcklichen Stel - len ohngeachtet: uͤberall verfehlte Stellen, verlohrner Nachdruck, unſchickliche Einklei - dung, an Kolorit und Wohlklang nicht zu denken: quid faciant hoſtes capta crudelius vrbe. — Jn ſeinen eignen Oden bat er in - ſonderheit in der Anordnung der Bilder, in der Wahl der Beiwoͤrter, und gleichſam dem Zuſchnitt zum Wohlklange, den Horaziſchen Ton getroffen. —**Darf ich hier Gelegenheit nehmen, Klotzens Vindicias Horatii auch denen Liebhabern desHoraz
Ob205Ob wir Deutſche Katulls haben? moͤgen die Lieder der Deutſchen beantworten: un - ter allen hat vielleicht Leßing zu ſeinem Haupt - zuge die meiſte Katulliſche Schalkheit. Ob**Horaz anzupreiſen, die ſich nicht mit dem Pat. Harduin ſtreiten wollen. Sie ſind voll von feinen Anmerkungen, Verglei - chungen, Erklaͤrungen, die man aber mitten unter Rettungen findet, zu denen ſich der Verf. nicht haͤtte herablaſſen ſollen, weil die meiſten Harduinſchen Anſchuldigungen kei - ne Antwort verdienen. Von Anmerkungen gefaͤllt mir die critiſche Muthmaßung, (p. 16.) in welcher Ordnung Horaz ſeine Gedichte ge - ſchrieben: wie weit er gegen die Griechen ſich Original ſchaͤtze (p. 25-30. ) von ſeinem Wohl - klange und ſeiner Kuͤhnheit (p. 51-58. ) von ſei - nem Urteil uͤber Plautus (p. 272. 273. ) und viele andre. Vergleichungen verſchiedner Dichter voll Beleſenheit und Geſchmack ſind haͤufig, z. E. uͤber das Talent des Horaz zur Dichtkunſt (p. 18-25. ) uͤber den Flug der Muſe (p. 95-103. ) uͤber Muſa potens lyrae (p. 104-106. ) uͤber den, der ſeine große Seele verſchwendend hingab, den Patrioten, Aemi - lius Paullus (p. 119-123. ) uͤber die curas laqueata circum tecta volantes (p. 175-177. ) uͤber die Blanduſiſche Quelle (p. 207-210.) und206Ob wir Ovidianiſche Verwandlungen ha - ben? Dies werden blos die behaupten, die in einem Journal den Titel geleſen: Zacha - riaͤ Verwandlungen, oder Verwandlun - gen in den Bremiſchen Beitraͤgen, und blos nach dieſem Titel urtheilen. Ob Wieland unſer Lukrez ſey? Dieſe Frage iſt alter, als die Periode, uͤber die ich ſchreibe. Jch nehme aber Gelegenheit, etwas von dem Lukrezi - ſchen Lehrgedicht zu ſagen.
„ Jch weiß nicht, was heutiges Tages ein „ Skribent fuͤr Beifall erhalten wuͤrde, der es „ wagte, nach dem Beiſpiele des Lukrez, die „ Lehren einer Schule mit, trocknen Worten„ vor -**und dann uͤber die Kuͤſſe der Venus, Tu - pido und die Gratien (p. 125. 249-255. ) — Erklaͤrungen und Erlaͤuterungen des Ho - raz ſind haͤufig und einige neu, inſonderheit aus den Werken der Kunſt und Denkmaͤlern des Alterthums. 207„ vorzutragen, und etwa hie und da durch „ eine poetiſche Stelle aufzuputzen? Gewiß iſt „ es, daß er in Reimen und in der gewoͤhnli - „ chen Versart ganz unertraͤglich ſeyn wuͤrde. „ Dieſe Art des Vortrags hat, wenigſtens im „ Deutſchen, eine gewiſſe Feyerlichkeit, die ſo „ wohl mit dem Aufgeweckten des Theaters, „ als mit dem Trocknen der Schute einen ſelt - „ ſamen Contraſt macht. „ —*Th. 8. p. 216. Jch weiß nicht, wie mir dieſe Stelle in die Feder koͤmmt, eben da ich Wieland unſern Lukrez genannt: auch er hat die Lehren einer Schule, in Rei - men, in der gewoͤhnlichen Versart vorgetra - gen, ziemlich trocken, und freilich ſchoͤn auf - geſtutzt mit poetiſchen Stellen — und doch hat er Beifall gefunden? — Je nun! es iſt offenbar mehr des letztern, als des erſtern we - gen geweſen. Jch ſchlage alſo zuruͤck:**Th. 8. p. 163 ꝛc.
„ Unſere Schriftſteller haben ſich in der all - „ gemeinen betrachtenden Weltweisheit unge - „ mein hervorgethan; aber in der beſondern „ ausuͤbenden Sittenlehre moͤchte der Deut - „ ſche eher uͤber Mangel zu klagen haben — „ Unſre Lehrdichter ſind vortrefflich, wenn„ ſie208„ ſie die Syſteme der Weltweiſen vortragen, „ wenn ſie ſich in die Hoͤhen des Unermaͤßli - „ chen emporſchwingen, wenn ſie den Schoͤ - „ pfer und ſeine Werke beſingen; hingegen „ ſinken ſie unter das Mittelmaͤßige, ſo bald „ ſie ſich zu den Sitten der Menſchen herab - „ laſſen. Popens Eſſay on man moͤchte man „ einem Deutſchen weit eher zutrauen, als ei - „ nem Franzoſen; aber ſeine Moral Eſſays „ verrathen eine ſo feine Kaͤnntniß des menſch - „ lichen Herzens, als noch nie ein deutſcher „ Schriftſteller gezeigt. „ — Dieſe beide ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich den deutſchen Dichtern die philoſophiſche Dich - tungsart des Lukrez, als ein gluͤckliches und reizendes Feld anpreiſe: doch mit einiger Ein - ſchraͤnkung. — Lukrez iſt in meinen Augen nach dem Feuer ſeiner Bilder einer der erſten Genies unter den Roͤmern. Wenn man die trockne Philoſophie ſieht, mit der er kaͤmpfen mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er ſtritte — — propter egeſtatem linguae ac rerum nouitatem — — und die er doch uͤberwand, die Strenge, mit der er ſeiner Schule gnug thut, und die herrlichen Gemaͤldeund209und Ausſchweifungen, die er einſtreuet: ſo muß man erwarten, daß unſere Lukreze in einer zur Weltweisheit ausgebildeten Sprache, in einer weit bequemern und bieg - ſamern Materie, mit einerlei Genie, um ſo viel hoͤher vor dem Roͤmer ſtehen muͤſſen, je hoͤhere Vorzuͤge ſie nach der Cultur ihrer Werkzeuge haben. — Betrachten wir dies, ſo bleiben von allen unſern deutſchen Lukre - zen*Jch ſondre hier gleich die moraliſchen Lehr. dichter ab, Hagedorn, Duſch, Wieland u. ſ. w. vielleicht nur drei noch, die dieſen Na - men verdienen; die uͤbrigen koͤnnen gute Lehr - dichter ſeyn, allein Lukreze ſind ſie nicht, wenn Lukrez zu unſrer Zeit gelebt haͤtte. Haller — Witthof und Creuz, drei Dichter auf drey verſchiednen Stufen! — Nimm Hallers Ge - dicht auf die Ewigkeit, und auf den Ur - ſprung des Uebels, und zeige mir im Lu - krez, du, der du ſein Anbeter, und vielleicht ein zweiter Creech biſt, zeige mir im Lukrez ſo hohe, wahre und dringende philoſophiſche Wahrheiten in ſo reelle und kurze Bilder ein -gehuͤllt.Fragm. III S. O210gehuͤllt. Hallers Geiſt iſt in zween Dichter getheilt, in Witthof und Creuz. Jener hat die nachdrucksvolle Kuͤrze in Sentiments und Beobachtungen oft bis zum Neide in ſeiner Gewalt; dieſer hat zu viel Talent zur ſchwer - muͤthigen Malerei eines Weiſen, als daß man ihn unter den G ... anern vergeſſen ſollte. *Die Litt. Br. haben nie an ihn gedacht, ob - gleich ſeine Graͤber auf ihre Zeit treffen, wie mich duͤnkt.Jener weiß abſtrakte Jdeen in poetiſche Koͤr - per zu kleiden; dieſer, abſtrakten Jdeen poeti - ſche Farben zu geben: jener iſt gluͤcklich im Ausdruck der menſchlichen Denkart, ſo fern man ſie aus einer genauen Weltweisheit ken - nen kann: dieſer in der dichteriſchen Abbil - dung einiger metaphyſiſchen Hypotheſen. Bei - de wuͤrde ich wegwerfen, wenn ich jenen blos als Dichter nach dem Aeußern, und dieſen als Metaphyſikus nach dem Jnnern allein be - urtheilen muͤßte.
Jn der That, um ein guter Lehrdichter zu ſeyn, wird weder ein Stern von der erſtenphilo -211philoſophiſchen noch dichteriſchen Groͤße er - fodert. Der wahre Geiſt der Weltweis - heit an ſich leidet kein beinahe Wahres, kein halbgruͤndliches; und unſere philoſophi - ſche Wizlinge, die uns Schaum der Welt - weisheit mit dem Goldſchaum der Aeſthetik uͤberdeckt, verkaufen, ſehen zwar, daß ihre Philoſophie im Anfange ſiedet, und von Kin - dern und Narren, (die aber diesmal nicht die Wahrheit reden,) gelobt wird – aber Schaum und Philoſophie zergeht, und iſt nicht mehr! – Laß dieſe das philoſophiſche Lehrgedicht waͤh - len, den Reihn zwiſchen Philoſophie und Einbildungskraft: ſie werden vielleicht gut werden! — Auf der andern Seite gibt es ſchoͤne Geiſter, die zu viel Philoſophie an unrechtem, und zu wenig poetiſches Genie an rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und Erzaͤhlungen, in traurigen Luſt - und erbaͤrm - lichen Trauerſpielen mit ſeichter Weltweisheit quaͤlen — auch dieſen gebe man das Lehr - gedicht vor: denn die Epopee, das Drama, die Ode, und jede Erdichtung fodert Schoͤ - pfungsgeiſt im Ganzen, und kann kein bei - nahe Schoͤnes leiden; aber das LehrgedichtO 2leidet212leidet noch zuerſt die Lieblingswendung ſo vie - ler deutſchen Vorreden:
Dies fodert die wenigſte Einbildungskraft, iſt am wenigſten an Regeln gebunden, und vielleicht iſt das freieſte und leichteſte Syl - benmaaß auch das angemeſſenſte und einzige fuͤr das Lehrgedicht — ich meine nicht das Alexandriniſche, ſondern das ſogenannte Recitativmetrum, das ſich am meiſten der Proſa naͤhert, die meiſten Formen annehmen kann, ſich jeder Materie am beſten anſchlieſ - ſet, und die Aufmerkſamkeit am fuͤglichſten erhaͤlt.
Bisher habe ich einige Dichterlein mit dem Lehrgedicht abzufertigen, und im Vorhofe der Poeſie aufzuhalten geſucht, damit ſie, als Un - geweihte ſich nicht ins Heilige wagten: jetzt lege ich einen Gegenſtand vor, der ins Aller - heiligſte der Dichtkunſt gehoͤrt, und wie ich glaube, wuͤrdig iſt, die ganze Seele eines Ge - nies allgnugſam auszufuͤllen: es iſt zwar blosein213ein Lehrgedicht, aber ein Lehrgedicht, dem ſelbſt die epiſche, dramatiſche und lyriſche Muſe zujauchzen wuͤrde. Laß es ſeyn, daß die deutſchen Lehrdichter unter das Mittel - maͤßige herabſinken, ſo bald ſie ſich zu den Sitten der Laͤnder und der einzelnen Menſchen herablaſſen. „ Laß es ſeyn, daß ſie nicht Kennt - niß des menſchlichen Herzens gnug haͤtten, um Moral Eſſays zu ſchreiben: „ ich zeige ihnen ein Eſſay on Man an, wo ſie ſich in die Hoͤ - hen des Unermaͤßlichen emporſchwingen, und im zwiefachen Verſtande Geiſtſchoͤpfer durch ſich ſelbſt werden koͤnnen.
Man weis es, daß die deutſche Weltwei - ſen, wenn in einem Stuͤcke der Philoſophie, ſo in der Pſychologie vorzuͤglich, gleichſam auf eignen Grund und Boden ſind, weil ſie die kuͤhnen Blicke, die Plato, Baco und Locke in die menſchliche Seele gethan, weiter verfolgt, oder wenigſtens die Erfahrungen dieſer drei Maͤnner wiſſenſchaftlicher ge - macht. Sie haben wenigſtens Kunſt und Muͤhe angewandt, um die Materialien frem - der Nationen zu einem Gebaͤude zu erheben, deſſen Bauart das merkwuͤrdigſte Phoͤnome -O 3non214non der neuern Zeiten bleibt. — Und was kann ich hieraus folgern? — Dies, daß ein poetiſches Gebaͤude von dieſer Art eben - falls auch das Denkmaal unſres Volks und unſrer Zeit ſeyn koͤnnte. Jn dem eigentlichen Spekulativen der Weltweisheit iſt der Dichter immer ein Fremdling; man ſage, was man will, er bleibt ein Gileaditer, der ſich in dieſe platoniſche Republik einſtiehlet, um Holz - hauer und Waſſertraͤger zu ſeyn. Das Dich - teriſche, was der Lehrdichter, der Syſteme reimt, behalten kann, um den Weltweiſen nicht gleich fuͤr den Kopf zu ſtopfen, ſind alte Schuh, und verſchimmelt Brodt: und allen den Nutzen, den er dem Philoſophen gibt, iſt, daß er ſo viel von dem philoſophiſchen Geiſt ihm raubt, als er ihm dichteriſchen gibt: eigentliche Buͤrger koͤnnen ſie nie zuſammen werden.
Aber die philoſophiſchen Erſahrungen, Muthmaßungen und Hypotheſen uͤber die menſchliche Seele; — die ſind aller Staͤr - ke der Dichtkunſt faͤhig, und aller ihrer Reize werth. An der Faͤhigkeit wird niemand zweifeln, und wenn zehn feige Kunſtrichterzitter -215zitterten und Einwuͤrfe machten, und Boll - werke bauten, und Schlingen legten: ſo fuͤhle ichs doch, daß alle ihre Warnungen zu klein ſind, um ein Genie zitternd zu machen: groß - muͤthig wuͤrde es ſie verachten, und ſehr gern eine Ausnahme machen, wenn ſeine Ausnah - me nur Meiſterſtuͤck iſt. Wenn da, wo der Weltweiſe nur von fern furchtſam lauſchen muß, der Dichter, als Bote der Goͤtter, als Vertrauter der Geheimniſſe des Geiſtes, mit kuͤhnen Schritten fortginge, um in das Heili - ge zu dringen: was wuͤrde er ſehen? Von keinem Auge geſehene Dinge! Was wuͤrde er hoͤren? Heilige und geweihte Worte, die nie - mand gehoͤret! Und was ſprechen? Gefluͤgelte Spruͤche, die keine Zunge vor ihm wagte. — Jch will mich erklaͤren. Wenn die Erfahrun - gen, die man uͤber und in der menſchlichen Seele angeſtellet, zu poetiſchen Koͤrpern um - geſchaffen wuͤrden: wenn die Muthmaßun - gen des Weltweiſen vom Dichter, nach der ihm verliehenen Freiheit, ſinnliche Gewiß - heit bekaͤmen: wenn die Hypotheſen zu dich - teriſchen Fiktionen ſich umbildeten: wenn jede große pſychologiſche Wahrheit ſinnlichesO 4Leben216Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt der menſchlichen Seele ins Licht des poeti - ſchen Glanzes traͤte, deſſen ſie faͤhig iſt: — welch ein Gedicht! — Wenn der Dichter die ganze Ausdehnung der menſchlichen Seele ihre Hoͤhen und Tiefen, mit ſeiner maͤchtigen Hand umſpannte: wenn er zu der Groͤße, deren eine menſchliche Seele faͤhig iſt, ſich er - heben, die Staͤrke des Geiſtes umfaſſen, und die Guͤte des Herzens, wie einen pieriſchen Quell, koſten koͤnnte, da ſeine Jdeen ſo hoch, ſeine Wahrheiten ſo ſtark, und ſeine Em - pfindungen ſo bezaubernd waͤren, als der groͤßte Geiſt, die ſtaͤrkſte Seele, das beſte Herz: — und er hiezu alle Macht der Dicht - kunſt aufboͤte — wie lebhaft hat nicht ſchon Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht ſchildern; der inſonderheit lehren, nicht ruͤh - ren wollte, der vorzuͤglich die Geſchichte zu ſeiner Gehuͤlfinn machte, da dem Dichter al - les zu Befehl ſteht.
Der Dichter wuͤrde da anfangen, wo der Philoſoph aufhoͤret: er wuͤrde von ſeiner goͤtt - lichen Hoͤhe den ganzen dunkeln Grund der Seele uͤberſchauen, aus dieſem Chaos alle dieJdeen217Jdeen aufrufen, die in ihm ſchlummern, aus dieſem Ocean alle die Gedankenſchaͤtze heben, die der Zoll der ganzen Schoͤpfung ſind, und in ihm verſenkt liegen: auf dieſem ungeheu - ren Felde alle Leichname mit Lebensgeift be - ſeelen, ſo wie dort Rieſen aus der Saat des Jaſons entſtanden. Wenn er alle Faͤhigkei - ten des menſchlichen Geiſtes: die Schoͤpfungs - kraft ſeiner Einbildung, die Zauberquelle zu Erdichtungen, die inſonderheit in den ju - gendlichen Zeiten der Welt ſo reich geweſen, die Hypotheſen von der Goͤttlichkeit der See - le im Schlaf und Traͤumen, den Enthu - ſiaſmus der Leidenſchaften und der Raſerei, die Staͤrke, die ſie anwenden muß, um Ab - ſtraktionen gegen die ganze ſinnliche Welt, die auf ſie ſtuͤrmet, zu vertheidigen, ihre Fein - heit in Zergliederung, und ihre Schnelligkeit in Zuſammenſezzung der Begriffe: ihr Ner - vengebaͤude, in Abſicht des vergnuͤgenden und moraliſchen Gefuͤhls; die Macht ihrer Triebe, und alle Wirkungen ihrer Leiden - ſchaften: die Freiheit ihrer Beſtimmung, die ſich uͤber Schmerz und Plage und Tod er - hebt — wenn er alle dieſe Seiten uns gegen -O 5waͤrtig218waͤrtig machte, und alles, was er in der Seele ſiehet, ſelbſt fuͤhlte, und ſelbſt in uns zu wirken wuͤßte; ſo waͤre dies ein Gedicht, was alle Saiten des menſchlichen Herzens treffen muͤßte, da Epopee und Drama nur immer eine oder wenige anruͤhren kann. Unſere ganze Seele wuͤrde ihm entgegen arbeiten, wenn wir theils ſeine ganze Seele in Aufruhr ſehen, theils ſein Objekt, eben auch die menſchliche Seele, in aller ihrer Wirkſamkeit erblickten. Wenn er ſie uns, eingehuͤllt in die Stralen Apolls, in dem Schmuck der Dichtkunſt, von Muſen umgeben und von Grazien begleitet, als eine Braut des Himmels, eine zweite Eva, unſere Haͤlfte, entgegen fuͤhrte: wie Adam wuͤrden wir auf ſie zueilen, und ihrer Umar - mung entgegen jauchzen: das iſt Fleiſch von meinem Fleiſch! Das ganze ſympathetiſche Saitengewebe unſrer Empfindungen wuͤrde in dieſen Zuruf nachſchallen; denn nie ruͤhrt uns das, wo wir nicht unſer Bild erblicken: dies waͤre der hoͤchſte und kuͤhnſte Weg uͤber die unbetretnen Hoͤhen der Vernunft in das Ge - biet der Leidenſchaften: es waͤre vielleicht die groͤßte Hoͤhe des poetiſchen Genies in unſrerStufe219Stufe der Cultur: und die originalſte Aus - gabe der menſchlichen Seele. — Wie wuͤrde ich mich freuen, wenn etwa ein Genie, indent es dieſes laͤſe, erwachte, ſich fuͤhlte, ſeine Schwingen wiegte, um von ihnen den Staub der Syſteme abzuſchuͤtteln, und alsdenn ſei - nen Flug zur Sonne naͤhme. Eine neue Sonnenbahn wuͤrde ſich alsdenn eroͤffnen; Zaunkoͤnige auf ſeine Fluͤgel ſezzen, um ihn ruckweiſe zu uͤberholen; keichend der Neid ihm nachſtreben, und zuruͤckfallen: wir aber wuͤrden, mit einem Fernglaſe in der Hand, ihm nachſchauen, und ihn bewundern. — Sollte jemand ſo ungluͤcklich ſeyn, zu denken, daß das Probſtuͤck, die Pſychologie in Reime zu bringen, ihn ſo hoch bringe: der wuͤrde alsdenn die Fledermaus vorſtellen, die von Nachtphiloſophen, und von den ſchoͤnen Gei - ſtern des Tagelichts, den Sperlingen, gleich verfolgt wird.
Wie weit hat es Akenſide gebracht, da er blos eine Seite der menſchlichen Seele, die Vergnuͤgen der Einbildungskraft, be - ſang: mit welcher Staͤrke beſingt Young blos einige Widerſpruͤche des menſchlichenHer -220Herzens: wie ruͤhrt Shakeſpear in ſeinen Monologen, wenn blos eine Leidenſchaft kaͤmpft: wie gefaͤllt ein einziges Klopſtocki - ſches Gleichniß aus der menſchlichen Em - pfindung gehoben! — Wenn nun alle Sei - ten, und alle Widerſpruͤche, und alle Leiden - ſchaften, und alle Empfindungen aufwachten, die zuſammen ſeyn, und auf einander folgen koͤnnen — welch ein ſchoͤner Aufruhr! —
Es iſt eine eigne Sache mit den Elegien. Man kann nicht immer ohne Unverſchaͤmtheit fodern, daß das Publikum ſich ſoll Klagen vorwinſeln laſſen. — Und wenn es vollends Klagen eines Verliebten ſind! — Mir hat esimmer221immer geſchienen, daß die Aufmerkſamkeit, die ſich die alten Dichter durch ihre verlieb - ten Elegien erworben haben, mehr durch unſre Neugier, als durch derſelben innere Kraft, her - vorgebracht worden. Man iſt gleichſam nach den Anekdoten eines ſolchen Mannes begierig, und will von ſeinen beſondern Angelegenhei - ten Nachricht haben. Man betrachtet ſeine Elegien als einen kleinen Roman, darinn die Geliebte erſt ſproͤde, dann erweicht, dann ei - ferſuͤchtig und ungetreu wird; und der Un - terſchied zwiſchen dieſem Roman und den an - dern Romanen iſt der, daß in dem letztern die Urſache dieſer Erfolge weitlaͤuftig, in der verliebten Elegie aber nur die Wirkungen, die ſie auf das Gemuͤth des verliebten Dich - ters hervorgebracht haben, erzaͤhlet werden. Die Kunſt des Dichters beſteht nun darinn, daß er dieſe Wirkungen ruͤhrend und ange - nehm beſchreibe. Und hieraus laͤßt ſich zu - gleich erklaͤren, warum dem geliebten Gegen - ſtande eine Elegie am beſten gefalle. Es iſt nehmlich ſchmeichelhaft fuͤr ihn, Wirkungen beſchrieben zu ſehen, davon er ganz allein die Urſache iſt. Andre Leſer, deren Eigenliebenicht222nicht ſo gut ins Spiel gebracht wird, werden vielleicht gar daruͤber aufgebracht, wenigſtens des Leſens uͤberdruͤßig, weil der Verſtand bei der Erforſchung der Urſach und ihrer Ver - bindung mit den Wirkungen gar nichts zu ſchaffen hat*Alles dies dachte ich auch bei der Mad. Klopſtock hinterlaſſenen Schriften; und demohngeachtet traͤumte ich ſie ſo angenehm durch, weil uͤberall das Gewand des Außer - ordentlichen und Empfindungsvollen mich auf - merkſam machte: ich las ſie, nicht wie ein Juͤngling an der Brautkammer der Verliebten lauſcht, ſondern wie ein Fremder, der als Freund in das Haus eines Ehepaares gefuͤhrt wird, das er aus Hochachtung zu ſehen wuͤnſchte. Wie verſchieden iſt das Denkmal, das ein K. und ein Gottſched ſeiner Gattinn aufrichtet..
Die meiſten Dichter ſcheinen den Begriff der Elegien allzuſehr eingeſchraͤnkt zu haben**So wie man auch den Begriff der Ode, wie ich glaube, immer zu ſehr einſchraͤnkt.. Man koͤnnte ſie uͤberhaupt erklaͤren, als die ſinnlich vollkommene Beſchreibung unſrer vermiſchten Empfindungen. Was ſie mit andern Gedichten gemein hat, iſt das ſinnlich vollkommene: der Gegenſtand nur, den ſiebear -223bearbeitet, unterſcheidet ſie von den uͤbrigen Arten. Jch habe dazu die vermiſchten Em - pfindungen*Von denen man in der Rhapſodie des Verf. der Phil. Schr. Th. 2. ſcharſſinnige Gedan - ken findet. angegeben; und glaube, ſo viel ich jetzt ſehe, Recht zu haben. Die reinen, oder richtiger, die merklich reinen Empfin - dungen der Luſt, gehoͤren, ſo wie ihr Gegen - theil, wenn ſie die Seele nicht ganz uͤberman - net, und ihr zum Ausdruck gleichſam den Athem benommen haben, fuͤr die Ode. Alle Arten der Empfindungen und Handlungen, die in einem Geſellſchaftlichen, das weder Zwang noch Verbrechen kennet, entſtehen, ge - hoͤren fuͤr das Schaͤfergedicht; wenn die ele - giſchen Dichter ſich hieran erinnert haͤtten: ſo wuͤrden ſie einem der gewoͤhnlichſten Vor - wuͤrfe, daß ſie nehmlich unnatuͤrlich werden, entgangen ſeyn. Allerdings iſt es widerſin - niſch, bei einem großen Schmerzen ſich ge - ſchwaͤtzig zu zeigen. Wenn dieſer die Seele auf einmal an allen Orten angreift, wenn ihre Kraͤfte durch den ploͤtzlichen Anſtoß nie - dergeriſſen werden, und der Schmerz ſie alſogleich224gleich den Fluthen des Meeres uͤberſchwem - met: ſo ſind alle ihre ſchoͤne Auswuͤchſe von angenehmen Bildern, alle Fruͤchte nuͤtzlicher Ueberlegungen auf einmal verdecket*Hieraus glaube ich, geht man der Frage entgegen, die unter einigen neuen Kunſtrichtern, bald verneint, bald bejahet iſt: ob die Ode wahre Empfindung, oder Nachahmung ſey? Spielt man nicht mit der ganzen Frage: ſo muß man theilen, und fragen: iſt die Ode ein wirk - licher Ausbruch von Leidenſchaft und Empfindung? unmoͤglich, wenn ich eine Ode nach der gewoͤhnliehen Bedeutung ver - ſtehe, ſo iſt ſie ſchon immer kuͤnſtliche Sprache. Kann die Ode ein poetiſcher Ausdruck einer wahren Empfindung ſeyn? Ja, und billig ſollte ſie es durchaus ſeyn. Kann der poetiſche Ausdruck einer wahren Empfindung Nachahmung heißen? Mei - netwegen! nur den poetiſchen Ausdruck be - trift das Nachahmende allein; die Empfindung bleibt die wahre, nur ſie iſt ſchon ſo gelindert, daß die Einbildungskraft gleichſam ihren natuͤr - lichen Ausdruck in einen Ausdruck der Kunſt uͤbertraͤgt.. Man erblickt nichts, als eine traurige Flaͤche, und hoͤrt nichts, als das wilde Rauſchen der Weh - muth. Es gibt Seelen, welche beſſer ver -wahrt,225wahrt, und gleichſam mit friſchen Daͤmmen umgeben ſind: an dieſe prallen die Wellen an und zerſchellen. Dieſe Seelen brechen bei ei - nem großen Schmerz nicht in Klagen: ſon - dern in Rechtfertigungen, in Vorwuͤrfe, in Drohungen, in unerwartete Entſchluͤſſe aus. Ein ſolcher Schmerz zeigt ſich im Trauer - ſpiele; er kann aber auch in der Ode vorge - ſtellt werden. Von der Empfindung der Luſt laſſen ſich eben die Anmerkungen machen. Dem elegiſchen Dichter bleiben alſo nur Em - pfindungen uͤbrig, die durch die gegenſeitigen ſchon gemildert ſind: Empfindungen, die in der Seele nach und nach entſtehen, nicht im Sturm der heftigen Leidenſchaft; ſondern wenn ſie dieſelben erhaͤlt: ſo iſts bei ihr oͤfters nur
— ein Fruͤhlingstag,der durch ein Woͤlkchen lacht.
Es verſteht ſich, daß es dabei auch auf die Verſchiedenheit der Seelen ſelbſt ankomme.
Die vermiſchten Empfindungen koͤnnen entweder*Von hier faͤngt, wie ich glaube, die wahre Abhandlung an, da das vorige, wie fern ſichElegie aus der Betrachtung des menſch -lichenFragm. III S. P226lichen Zuſtandes uͤberhaupt, oder dieſer und jener Geſellſchaft eines beſondern Stan - des, einer einzelnen Perſon entſtehen, und bei der letztern werden die verſchiedenen Zu - ſtaͤnde in Erwegung gezogen, die dergleichen Empfindungen nothwendig hervorbringen muͤſſen. Der Satyrenſchreiber betrachtet auch den Zuſtand der Menſchen uͤberhaupt, bricht zuweilen in eine bittre Klage aus: aber dieſe Klage entwiſcht ihm nur aus Ungeduld, wenn er die Ungereimtheiten ſo gehaͤuft ſieht, daß faſt alle Huͤlfsmittel dagegen mangeln. Der elegiſche Dichter hingegen uͤberlaͤßt ſich mehr einer mitleidigen und jammernden Em - pfindung. Das Elend, das er vor ſich ſieht, ruͤhrt ihn bis zur Klage, ohne daß er es unterſucht, wo die Urſachen dazu liegen, und da die Gegenſtaͤnde nicht nahe gnug ſind, um ſein Mitleiden in eine ganz unan - genehme Empfindung zu erhoͤhen: ſo genießter*Elegie von den andern Gedichtarten pſycho - logiſch und aus der Natur der Seele un - terſcheidet, ſich nicht eben uͤber alle Einwen - dungen erheben moͤchte.227er des Vergnuͤgens, das ihm die Maͤßigung deſſelben darreicht*Daß Elegien uͤber den Zuſtand der Men - ſchen uͤberhaupt, moͤglich ſind – wer wird das laͤugnen, der es zugibt, daß es leider! zu viel Uebel gibt, welche die Menſchheit druͤ - cken und Klagen erpreſſen koͤnnen — Aber daß dieſe Klagen nicht ſo oſt in Elegien zer - fließen, daß eine ſo allgemeine und philoſo - phiſche Elegie ſo ungebraucht iſt — woher mag dies kommen? Wenn ich recht rathe, ſo beſtimme ich zugleich dieſe Art der Elegien beſſer, oder vielmehr, ich ſchraͤnke ſie ein! Zuerſt: Betrachtungen uͤber das Elend des ganzen menſchlichen Zuſtandes graͤnzen zu ſehr in das Gebiet des philoſophiſchen Gedichts, um blos Elegie zu werden. Das Elend des ganzen menſchlichen Geſchlechts liegt blos im Einzeln vor uns: klagen wir uͤber dieſe ein - zelnen Fußſtapfen: ſo iſts nicht mehr die Elegie uͤber das allgemeine Elend, die der Verf. vorzeichnet. Soll dieſe letztere wuͤrklich werden: ſo iſts beinahe unmoͤglich, „ zu klagen, „ ohne daß man unterſucht, wo die Urſachen „ dazu liegen. „ Der allgemeine Gegenſtand kann nicht anders in unſrer Seele lebendig werden, als durch ein abgezognes Bild. Dieſes kann ſich uns nicht ganz darſtellen, ohnedaß.
P 2Wenn228Wenn die Schickſale einer beſondern Ge - ſellſchaft dergleichen Empfindungen erregenſollen;*daß die Urſachen gleichſam die einzeln Zuͤge vereinigen — und ſo wird ein philoſophiſches Gedicht daraus, das zwar in einzelnen Toͤ - nen elegiſch wird, (wie in vielen Stuͤcken unſrer philoſophiſchen Dichter,) aber nicht den Hauptton der Elegie annehmen kann, weil dieſer dem Gegenſtande nach fremde iſt. Und er iſts auch zweitens nach der Wuͤr - kung, die der Gegenſtand auf uns macht. Jch ſezze zum Voraus, daß er unſern Em - pfindungen nahe gnug liege, denn ſonſt kann die Poeſie bildervoll und tieſſinnig, aber ganz und gar nicht elegiſch werden. Jch nehme an, daß er in dem Geſichtspunkt betrachtet werde, daß er uns intereßirt, daß er auf un - ſer Herz wuͤrkt: — was wird geſchehen? Voll Gefuͤhl uͤber die Unvollkommenheiten der Menſchheit wird der Dichter in Klagen aus - brechen, die eher ein tragiſches Selbſtgeſpraͤch als Elegie werden: ſo ſind die ruͤhrenden Selbſtgeſpraͤche Hamlets, die nicht eigentlich voll Leidenſchaft, ſondern als Ausbruͤche einer duͤſtern Laune zu betrachten ſind. Jch muͤßte die ganze dritte Scene: Oh that this too too ſolid fleſh would melt u. ſ. w. die das Selbſtgeſpraͤch, da ihm der Geiſt er -ſchienen,229ſollen; ſo muͤſſen mir eine beſondre Neigung fuͤr dieſelbe haben: ſie betreffen alsdenn ent -P 3weder*ſchienen, und welches mit dem Denkwort: remember thee, ſo launiſch ſpielt: der ruͤh - rende Kampf mit ſich, od er ſeyn, oder nicht ſeyn ſoll, und das darauf folgende Geſpraͤch mit der Ophelia, ſeine Unzufriedenheit mit ſich, bei Gelegenheit des Fortimbras, ſeine vertrauten Unterredungen mit Horatio, ſeine Betrachtungen uͤber die Hirnſchaͤdeln am Grabe, kurz, ſeine miſanthropiſche Geſinnun - gen, die er lebend und ſterbend aͤußert, her - ſetzen: ſie ſind uͤber den Zuſtand der Menſchheit; ſie ſind nicht Satyre, wenn ich das Geſpraͤch mit der Ophelia ausnehme: ſie ſind nicht ſchlagende Donner der Ode: ſondern von fern her dumpf murmelnde Ge - witterwolken — aber doch nicht Elegien. Denn ſolche Klagen uͤber das Allgemeine muͤſſen doch durch einzelne Vorfaͤlle veran - laßt werden, und da erheben ſie ſich immer eher zu einem Tone, der unzufrieden mit ſich, oder der Welt, jetzt mit ſeinem Selbſt, und jetzt mit dem Schickſal hadert. Oder wem das Verderben, und die Suͤnde als Mutter des Elends erſcheint, (denn wer kann die eine ſehen, ohne Widerwillen an die andre zu denken): ſo wirſt ſich der klagendeDichter,230weder unſer Vaterland, oder unſre Geburts - ſtadt, oder das Land unſrer Vorfahren, oderſonſt*Dichter, der jetzt die Geißel des Satyrs ver - achtet, auf dieſe Furie mit dem Grimme der ſchaͤumenden Pythiſſe. Er ſieht die Erde rings um ſich, als ein weites Grabmaal, entweiht, von Verbrechen rauchend, von Bruͤderblut und Frevel bedeckt, von einer giſtigen ſchwar - zen Atmoſphaͤre umfloſſen, ein großer Garten voll Unkraut, und giſtiger vielklauichten Pla - gethiere, die unter demſelben kriechen, eine Einoͤde, wo die Sonne, wie Apoll unter den Griechen, mit jedem feurigen Stral einen Pfeil des Verderbens ſendet, wo das Geſchrei der Laſter die hinuͤberziehenden Donnerwolken herunterzicht, daß ſie treffen — Bei dieſem Elende wirſt der Dichter ſeine thraͤnende ſanft - wimmernde Leyer weg, ſein Helikon wird ein Ebal des Fluchs: ſeine Klagen werden ſo ſchwere Lieder, wie die Laſten der propheti - ſchen Weißagungen im alten Teſtament, wie die Klagen Youngs an verſchiednen Orten, wie die Strafoden z. E. das Ende der dritten horaziſchen: audax omnia perpeti u. ſ. w. — Kurz! die Ausſicht uͤber das allgemeine Elend iſt entweder zu kalt, um Elegien zu weinen; oder ſie wird von einzelnem Elende erzeugt, und unterhalten, und der Schmerzmuß231ſonſt ein Volk, fuͤr welches wir beſonders eingenommen ſind. Wenn alſo ein Krieg das Vaterland verwuͤſtet, die Wuth der Feinde eine Vaterſtadt in die Aſche legt; Laͤn - der, wo die Muſen ſonſt gewohnt haben, durch Barbarei entheiligt ſind: ſo koͤnnen derglei - chen Empfindungen entſtehen; nur muß dieP 4Zeit*muß wahrhaſtig mehr als elegiſch ſeyn, der von mir Klagen uͤber das allgemeine Elend erpreßt, der es mich als Ungluͤck fuͤhlen laͤßt, daß ich ein Menſch und der Mitbuͤrger in einem Thale voll Thraͤnen bin. Daher iſt dieſe Elegie ſelten; aber nicht unmoͤglich, wenn ich einen mittlern Standpunkt annehme, wo mich nicht mein Ungluͤck uͤber den allgemei - nen Jammer klagen lehrt; noch auch meine Betrachtung ſtoiſche Ausſicht iſt, und dieſer Standpunkt iſt — das Ungluͤck anderer. So kann bei der Wiege eines Neugebohrnen, und an dem Sarge eines Junggeſtorbnen eine Ele - gie angeſtimmt werden, wie ohngefaͤhr das Geburtslied und Grablied unſres Kleiſts iſt: ſo kann vor dem Anblick eines Hoſpitals voll Armen, und Abgelebten, eines Schlachtfeldes voller Leichen und Sterbenden, eines Lazare - thes voller Kranken ꝛc. eine Elegie Thraͤnen weinen, die die Ehre der Menſchlichkeit ſind.232Zeit den Bildern ihre allzugroße Lèbhaftigkeit geraubt haben: die ſchwarzen Formen muͤſſen nicht mehr ſo gedraͤngt ſtehen, daß die Erin - nerung nicht zugleich einige angenehme da - zwiſchen ſtellen koͤnnte. Eine Mutter, die ihr einziges Kind verloren hat, ſieht in den erſten Tagen nichts vor ſich, als den erblaßten Leichnam, nichts als eine Zukunft ohne Troſt, ein Alter ohne Stuͤtze, Hoffnungen, die ver - gangen ſind, Feinde, die ſich freuen, und iſt betaͤubt ohne Sprache, ohne Thraͤnen: — ſo bald ſie ſich erſt wider erinnert, wie viel Witz ihr Kind ſchon gezeigt habe, was fuͤr lebhafte Antworten es gegeben, wie artig es ſich ſchon in Geſellſchaften bezeiget: ſo loͤſet ſich der Schmerz in Thraͤnen auf: die Em - pfindung wird vermiſcht und zur Elegie weich genug*Von der Elegie uͤber die Schickſale einer be - ſondern Geſellſchaft gelten beinahe die vori - gen Einſchraͤnkungen, damit ſie weder pracht - volle aber empfindungsloſe Malereien, noch Ausruͤfe eines patriotiſchen Enthuſiaſmus wer - den. Von dem erſten ſieht man bei jedem oͤffentlichen Ungluͤck einer Stadt und einesLan -. Zu dieſer Gattung gehoͤrt der 137tePſalm233Pſalm in dem Kirchenliede: „ An Waſſer - „ fluͤſſen Babylons, „ den auch der Aufſe - her nach Sidneys Ueberſezzung gegeben hat. Die Klagelieder Jeremiaͤ werden ohne mein Erinnern hieher gerechnet werden.
P 5Die*Landes leider! nur zu oft Spuren: ſo daß, wenn alle Goͤtter ihren Zorn wider Stadt und Land ausgeleeret, man es fuͤr die letzte Zorn - ſchale anzuſehen hat, wenn nachher Apoll elende Dichter weckt, die unſer Schrecken und Wehmuth in Ekel zu verwandeln wiſſen, oder uns durch ihre Schilderungen, ſtatt eine elegi - ſche Thraͤne abzulocken, einen ſanſten Schlum - mer zutroͤpfeln, und den dunkelgrauen Mantel des Schlafs, (wie Sancho Panſa ſich aus - druckt) uͤber unſer Antlitz leiſe und troͤſtlich verbreiten, daß wir die Scenen des Jammers nicht mehr ſehen. — Auf der andern Seite ſtehen die begeiſterten Oden uͤber oͤſfentliche Trauerfaͤlle von Patrioten geſungen: ſie moͤgen ſtrafen, oder lehren. So hat vielleicht Aleaͤus geſungen: ſo ſingt Horaz zum roͤmi - ſchen Volk uͤber das Verderben Roms, in der 6ten Ode des 3ten Buchs, die uns Hage - dorn uͤberſezzt, und inſonderheit in der praͤch - tigen ſiedenten und 16ten Epode: ſo ſind Uz Oden an Deutſchland, die dritte, neunteund
234Die beſondern Staͤnde unter den Menſchen koͤnnen auch zu ſolchen Empfindungen Anlaß geben; beſonders denjenigen, welchen eine Art von Ungerechtigkeit von den Gegenſeitigen wiederfaͤhrt. Die Elegie auf dem Gottes - acker in einem Dorfe, welche Dodsley in London bekannt gemacht hat*Jch glaube, ſie in einem Theile der Erweite - rungen uͤberſezzt geleſen zu haben; allein wie weit ſtaͤrkern Eindruck empfand ich, da ich ſie in den Dodsleyiſchen Sammlungen an der Seite eines Freundes las, der mit mir die ſtille Staͤrke im Ausdruck des Originals em - pfand! Vielleicht werden viele mit mir wuͤn - ſchen, daß ein Ebert oder Meinhard aus dieſen Sammlungen einige der vortreflichſten Gedichte uns mittheilte, unter denen mir jetzt vorzuͤglich einige ſchoͤne Stuͤcke von Dyer im Andenken ſchweben, mit denen uns die Briefe zur Bildung des Geſchmacks nicht be - kannt gemacht haben., iſt hierin einMeiſter -*und 14te in der neuen Ausgabe der Klotziſchen Gedichte, und wie mich duͤnkt, ganze Buͤcher von den Gedichten mittleter lat. Dichter. Die Elegie ſteht mitten inne, und die Klaglieder Jeremiaͤ und andre Stuͤcke der Propheten ſind in dieſer Gattung die beſten Beiſpiele, die ich kenne.235Meiſterſtuͤck. Dieſes Dichters Empfindun - gen entſtehen aus der Betrachtung, daß man - cher brauchbare Mann, manches Genie, das auf einem hoͤhern Poſten einen lichten Glanz, erquickende Waͤrme rings um ſich wuͤrde ver - breitet haben, auf dieſem Gottesacker unbe - kannt und unerwaͤhnt liege. Weil ich jetzt dies Muſter in Gedanken habe; ſo will ich ſo gleich ein paar Anmerkungen, die ich da - bei machen kann, hier mit nehmen.
Zeit, Ort und Umſtaͤnde ſind dem elegiſchen Dichter nicht ganz einerlei. Die Stunden, darum der einſame Vogel der Nacht aus ſei - nem philoſophiſchen Schlummer ſich erhebt, und durch das mitternaͤchtliche Echo ſeinen Flug ankuͤndigen laͤßt, ſind fuͤr ihn am be - quemſten. Nicht allemal muß es eben ein Gottesacker auf dem Lande*Mir faͤllt hiebei einer der beſten Gellertſchen Briefe ein, der ſeine Gedanken auf einem Landkirchhofe erzaͤhlet. — Jch glaube, daß eben ſo Zeit, Ort und Umſtaͤnde dem Leſer der Elegien nicht ganz einerlei ſind. Nie habe ich Youngs Klagen und Creuzens Graͤber mit ſo gleichgeſtimmten Ton der Seele geleſen,als ſeyn, ob ichgleich236gleich geſtehe, daß zu der von dem Engellaͤn - der ausgefuͤhrten Materie nicht leicht ein gluͤcklicherer Ort haͤtte erwaͤhlet werden koͤn - nen. Aber Einſamkeit muß immer herrſchen; die Lage ſelbſt muß ſolche vermiſchte Empfin - dungen erwecken koͤnnen. Daher ſind ein - ſame Zellen und Creuzgaͤnge, wo Eloiſe ihre Briefe geſchrieben: Ufer, wo ein Strom traurig dahinrauſcht, (wo der iſraelitiſche Dichter ſeine Elegie verfertiget,) Waͤlder*Wem faͤllt hier nicht jener hallerſche Eingang zu ſeinem Gedicht uͤber die Ewigkeit ein, wo,erFelſen,*als in einigen Sommernaͤchten, unter einem beſtirnten Himmel, in der ſchweigenden Laube eines Gaͤrtchen, das an einen Kirchhof ſtieß, wo alte heillge Linden, vom Hauche der Nacht beſeelt, Schauder in die Seele rauſchten, und aus den etwas entferntern Truͤmmern eines ſinkenden ritterlichen Schloſſes, und aus ihren Wohnungen im alten gothiſchen Kirchthurme die philoſophiſche Eule ihre hole Accente manch - mal darunter ſties — Alsdenn findet man ſich in einer Lage, da die Stuͤrme von Gedanken herabbrauſen und ruhn, und die Seele wird ſtille, wie eine ſtille See in der Sommernacht, und hoͤrt gleichſam die Stimmen aus den Graͤ - bern der Todten, und praͤget ſie in ihr Jnnerſtes.237Felſen, wo die Ausſicht und Stille in der Seele die Vorſtellung der Gefahr und das Bewußtſeyn der Sicherheit wechſelsweiſe her - vorbringen, meiſtens dazu erwaͤhlt worden. Ein einſames Zimmer*Nur nicht die einſame Stube eines Poeten, drey Treppen hoch, unter dem offnen Dach, bei zerſchlagnen Fenſterſcheiben, wo Schnee und Kaͤlte durchzeucht, weil hier ſo viel ſaty - tyriſche Nebenzuͤge ſich aus den Dichtern und witzigen Koͤpfen mit in unſre Seele ſtehlen. — Jndeſſen hat der Verfaſſer des Drama: das Gemaͤlde der Duͤrftigkeit ſich einiger dieſer Zuͤge gluͤcklich zu bedienen gewußt. kann aber auch dazudienen;*er uns in dunkle Waͤlder, an rauſchende Fluͤſſe, in ein einſames Gehoͤlz, in hole Felſen fuͤhrt, ploͤtzlich den Schatten ſeines Freundes vor unſern verwirrten Blick ſtellet, ſeine letz - ten Worte und das unbekannte Gebiet der Ewigkeit in unſre Seele leitet — und jetzt in dieſer ehrwuͤrdigen Faſſung unſern Geiſt erwiſcht. Dies iſt das Kunſtſtuͤck, das der Genfiſche Buͤrger vorzuͤglich gebraucht, um ſeine Lehren einzudrucken, und der gute Sa - voyiſche Vikar wuͤrde ſeinen Schuͤler oft Jaͤh - nen gemacht haben, wenn nicht ihre Situa - tion ſo lebhaft vorbereitete.238dienen; beſonders wenn noch aͤußere Dinge dazu kommen, von denen die Seele etwas leidet. Ein truͤber Himmel, ein aufſteigen - des Gewitter, rauſchende Winde*Das Klopſtockiſche Stuͤck im nordiſchen Aufſeher (Th. 2. St. 94.) das ſeine Em - pfindungen aus einigen ruͤhrenden Naturſce - nen nimmt, draͤngt ſich immer an ein gefuͤhl - volles Herz, das auf dieſe Nuancen Acht hat, und etwas anders ſucht, als Malereien oder Non-ſens von geiſtlichen Empfindungen., zitternde Fenſter, eine Leiche, die voruͤbergetragen wird, das Gelaͤute der Sterbeglocken, eine Trauermuſik**Die brittiſche Trauerſpiele haben ſich ſolcher aͤußern Mittel der Ruͤhrung ſehr bedienet, wie einem jeden das Grab und der Leichenzug im Hamlet, die Todtenglocke und Ausfuͤhrung zum Gericht im Kaufmann von London, und dergl. beifallen. Jn den Trauerſpielen des Rowe ſoll dieſes Aeußere den Mangel des Jnnern ruͤhrenden erſetzen. — Jn vielen Ge - genden wird der Sterbenstag des Erloͤſers durch ſolche Zeichen ehrwuͤrdig gemacht, und vielleicht iſts ſolchen fruͤhen Eindruͤcken zuzu - ſchreiben, daß ich in einer Stadt unter dem gemeinen Manne die herrſchende Meinung ge -funden,. — Ja, wenn von derglei -chen239chen Umſtaͤnden mehrere auf einmal zuſam - menkommen: ſo kann die Seele auch in der groͤßeſten Verſammlung in dieſen Zuſtand der vermiſchten Empfindungen geſetzt werden. Man muß ſich aber huͤten, alle dieſe aͤußre Sachen ſo ſchwarz zu machen, daß dadurch eher Schrecken, als ſuͤße Melancholey, in der Seele entſtehen wuͤrde. So wuͤrde es wider - ſinniſch ſeyn, wenn jemand an einem Ort, wo er ſich wuͤrklich vor Geſpenſtern fuͤrchtet, eine Elegie machen wollte. Die Schild - wache im Hammlet war gewiß nicht dazu aufgelegt. Die Seele wird alsdenn von ei - ner ganz unangenehmen Empfindung, dem Schrecken, bemeiſtert.
Alle dieſe Regeln leiden einige Abaͤnderun - gen*Warum leiden ſie Abaͤnderungen? weil der Verf. in der Parentheſe von Zeit, Ort undUmſtaͤn -, wenn die vermiſchten Empfindungenaus**funden, daß von den Zeiten ihrer Vaͤter und Urvaͤter her, dieſer Tag traure, der Himmel meiſtens voll dunkler Wolken ſey, und in den Sterbeſtunden gegen Abend eine Stille zu herrſchen pflege, die dieſem Tage den Namen: ſtiller Freitag gegeben. —240aus der Betrachtung unſres eignen Zuſtan - des*Dies iſt die Reſidenz der Elegie, und alles vorige wird blos dadurch das Gebiet der Elegie: ſo fern es ſich unſerm Selbſt naͤhert, ſo fern wir Antheil daran nehmen. Fehlt dieſe Beziehung auf uns ſelbſt: ſo kann die Elegie ein ſchoͤnes Exercitium ſtili werden; aber nie ein Meiſterſtuͤck. Und hat man nicht Elegien gnug, die offenbar in fremden Namen ſind? — Du darfſt nicht rathen, mein Leſer! ſiehe die Heldenbriefe an, die Ovid in Gang gebracht: ein Dichter, der in mehr als einer Abſicht mit der Poeſie geſpielt hat. Betrachte dieſe Heroiden als ruͤhrende Situationen: ſo ſind ſie eine dramatiſche Uebung, die fuͤr junge Dichter nuͤtzlich ſeyn koͤnnen: aber hoͤher ſtelleſie entſtehen. Natuͤrliches oder von derEin -*Umſtaͤnden ſich von dem Elegiſchklagenden auf das Schreckhaſtruͤhrende zu weit eingelaſſen. So ſehr die Empfindungen von Mitleiden, Schrecken, Zorn, Furcht u. ſ. w. in einander zuſammen flieſſen: ſo muß doch in der Elegie das ſanfte Gefuͤhl, nicht aber Schauder der herrſchende Ton ſeyn. Jndeſſen als Vorberei - tung und Nebenſache betrachtet: hilft eins dem andern, und ich bin dem Verfaſſer auf ſeinem Spatziergange unbekuͤmmert nachge - ſchlichen.241Einbildung geſchaffenes Ungluͤck kann alsdenn in der Elegie angetroffen werden. Mitleiden mit uns ſelbſt oder mit einem andern kann darinn herrſchen. Es wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn,alle*ſie nicht, als unter Uebungen, denn ſie bor - gen fremde Situationen und leyern im Gan - zen ungefuͤhlte Empfindungen, und zeichnen ungeſehene Charaktere. Sie rauben alſo der Dichtkunſt alle ihre Wuͤrde, eine Dollmetſche - rinn unſrer ſelbſt zu ſeyn, wie ſie es bei den Alten war, und verpachten unſre Talente in fremde Zeiten, Umſtaͤnde und Perſonen. Da - durch gewoͤhnet man ſich an jene erkuͤnſtelte Sprache der Leidenſchaften, die mit Worten ſpielt, mit erdichteten Sentiments um ſich wirft, und ſich uͤbt, von beiden Seiten Linſen durch ein Nadeloͤhr zu werfen. Wird aber ſo gar dieſer Geſchmack an Heroiden der herr - ſchende Geſchmack einer Nation und einer Zeit: ſo verfaͤllt man auf unwichtige Situationen, auf ſpielenden Witz, und zeichnet aus fernen Zeiten nach dem Geſchmack ſeiner Nation Charaktere, die von Herzen ſchief, und nach aller Kunſt albern ſind. Sollte man dies nicht von der jetzt in Frankreich herrſchenden Mode ſagen, wo man ſchon den Adam an die Eva, und Kain an Mehala, und Philomele an Procris, und Procris an Philomele u. ſ. w. hat,Fragm. III S. Q242alle verſchiedne Faͤlle aus einander zu ſezzen. Die verliebten Klagen*Woher ſind dieſe ſo allgemein fuͤr den einzigen Gegenſtand der Elegie gehalten? Rathe ich recht, ſo moͤchten drei Urſachen ſeyn. Zuerſt die lieben Alten, z. E. Ovid, Tibull und Pro - perz haben ſich meiſtens in dieſe Gattung ein - geſchraͤnket, und ihr Beiſpiel hat meiſtens Ne - gel abgeben muͤſſen. — Ferner die verliebte Empfindung iſt der Elegie am paßlichſten: das ſtille Feuer in ihr, das ſelten ſtuͤrmende Lei - denſchaft wird; aber deſto mehr durch die Glie - der ſchleicht, wie die Sappho in ihrem zwei - ten αισματε aus Erfahrung ſinget, und Kleiſt ſeine Phyllis an Damon ſingen laͤßt; dieſe ſtille Glut erhaͤlt ſich am beſten in dem Maaſſe, das die Elegie fodert. Drittens iſt auch kein Misvergnuͤgen uns ſo angenehm, als die ver -liebte gehoͤren zu dieſer Gattung, und faſt ſcheint es, daß außerdieſen*hat, und naͤchſtens die Sonne an den Mond, und den lieben Mond an die liebe Sonne wird ſchreiben laſſen. Daß viele unter ihnen nicht ſchoͤne Stellen haben, wer wollte das laͤugnen, der z. E. Dorats Poeſie kennet; aber daß alle ſeine Nachahmer ſchoͤn, daß dieſes Feld einer Hauptbeſchaͤftigung wuͤrdig ſey, daß das Gedichte dieſer Art vorzuͤglich nutzbar ſeyn, wer wollte das behaupten!243dieſen und den Todesfaͤllen die meiſten keinen andern Gegenſtand der Elegie kennen*Hier kommen die Elegien uͤber Thiere, oder lebloſe Sachen, die uns lieb geweſen, zu ſte - hen: Catulls Liedchen auf den Tod ſeines Sperlings, und Gleims ſterbende Nach - tigall, der Mad. Karſchinn Klagen uͤber einen Canarienvogel u. ſ. w. Obgleich die Zeit ziemlich vergangen, da die Helden Homers mit ihren Pferden ſprechen, und dieſe uͤber den Tod ihrer Herren, „ erſtarret ſtehen, wie ein „ Leichenſtein uͤber dem Grabe eines verſtorb -„ nen. Jch will nur noch dieſes anmerken. Auch ohneQ 2das*liebte Traurigkeit. Wenn ein andrer Schmerz bis zum Verdruß, ein andrer Verluſt bis zur Verzweiflung, ein andrer Zorn bis zur Feind - ſchaft, ein andres Schrecken bis zum Entſetz - lichen, ein andrer Unwille bis zum Ekel uͤber - geht: ſo unterhaͤlt uns der verliebte Schmerz noch mit Annehmlichkeit: der verliebte Verluſt macht uns nicht untroͤſtlich: der verliebte Zorn iſt ein kleines Woͤlkchen in der Morgenroͤthe, der verliebte Schrecken laͤßt uns die Zunge zu ſprechen, und die Hand zu ſchreiben frei: der verliebte Unwille wird erneuerte Liebe. Daher fließt dieſe bitterſuͤße Empfindung in jene hin - kende Verſe aus, die halb ſich, halb den andern rechtfertigt, haſſet, liebet und ergoͤtzet.244das Zuthun aͤußerer Zufaͤlle kann jeder zuwei - len in die Gemuͤthsverfaſſung etwa bei einem einſamen Spatziergange geſezzt werden, daß er ſein ganzes Leben zuſammenrechnet, das Gute und Boͤſe darinn uͤberdenkt, und ſich denen daraus entſtehenden Empfindungen uͤber - laͤßt. Mit einem Worte, die Seele muß ſich in der Gelaſſenheit befinden, wo ihr we - der die bittre Thraͤne des Leides ausgepreſſet, noch der tiefe Seufzer der Angſt entriſſen, noch das roͤchelnde Schluchzen der Wehmuth abgezwungen wird. Wenn ja die Thraͤnen fließen: ſo moͤgen ſie ſo milde fließen, undwenn*„ nen Menſchen, die, da ſie die Haͤupter ſin - „ ken laſſen, und heiße Thraͤnen fließen ihnen „ unter Seufzern uͤber die Wangen zur Erde „ nieder: und die ſchoͤne Maͤhne ſinkt aus den „ Locken herab, und waͤlzt ſich im Staube: „ Jch ſage, ob dieſe Zeit, da ſich Thiere und Menſchen noch mehr kannten und verſtanden und liebten, ziemlich vorbei iſt: ſo doͤrfte doch eine Elegie auf ein treues und geliebtes Thier oft verdienter und herzlicher ſeyn, als man - ches ſtattliche Trauergedicht auf einen Joſt: ich nehme an, daß jenes und dieſes nicht Satyre iſt.245wenn Seufzer gehoͤrt werden: ſo moͤgen ſie milde fließen, und wenn Seufzer gehoͤrt wer - den: ſo moͤgen ſie uns zum ſanften Mitleid ſtimmen, und nicht zur Bangigkeit quaͤlen.
Die Gedanken nun ſelbſt muͤſſen der Wuͤrde der Empfindungen angemeſſen*Oder vielmehr der Weisheit der Empfindun - gen. Hiezu gehoͤrt, daß er ſich ganz mit ſeinem Gegenſtande beſchaͤftige, doch ſo, daß ich ihn nicht mit einem feurigen unver - wandten Blicke anſehe, wie in der Ode, ſon - dern mit einem naſſen thraͤnenden Auge, das auf ſeine verſchiedne Seiten irret, und die genoßnen Zeiten, die Gegenwart und die Zu - kunft mit matten ſuchenden Blicken durchwan - dert, — Hiezu gehoͤrt zweitens, daß er den Gegenſtand nie anders, als in Beziehung auf ſich, betrachtet: dies iſt inſonderheit das Zeichen der wahren Empfindung; dies ruͤhrt, und iſt ſtatt aller beobachteten Regeln. ſeyn. Es wird dabei ein Geiſt vorausgeſezzt, der ſich weder durch den Verluſt eines ſchlechten Gutes dahin reißen laͤßt, noch auch jedem Verluſt friſch widerſteht. Folglich werden die erhabnen Gedanken**Wohl kann ſich unter die reichen Empfindun - gen hin und wieder ein Gedanke miſchen, indem aus der ElegieQ 3weg -246wegbleiben. Da die Seele ferner in einer Art von Erſchaffung iſt: ſo iſt ein geſchaͤrfter Witz, das Epigrammatiſche, das allzuweit -herge -**dem eine ſtarke Empfindung eingehuͤllet liegt. Nichts aber iſt der Elegie ſo entgegen, als der geſchraubte Witz. Eine von Thraͤnen er - ſchlaffete Saite toͤnt nicht hell, und macht keine Bockstriller. Da man das Nervengebaͤude der Empfindung ſehr treffend mit einem Sai - tenſpiel vergleichen kann: ſo merke ich hier an, daß wie eine Saite blos mit einer gleichge - ſtimmten harmoniſch toͤnet: ſo fodert das Wim - mern der Elegie gleichſam einen Leſer von gleichem Ton der Seele. Weil nun ganz gleiche Bildungen der Seele eben ſo unmoͤglich und ſelten ſind, als voͤllig gleiche Geſtalten des Geſichts: — welche eigne Dreuſtigkeit gehoͤrt dazu, das ganze Publikum fuͤr einen Abdruck ſeiner Seele anzuſehen, und jedem Fremden den ſympathetiſchen Zug zuzutrauen, ohne den unſre Klagen ihm langweilig, ekelhaft, oder laͤcherlich werden koͤnnen. Wenn man es bedenkt: daß wir zwar im Denken uns ein - ander ſo ziemlich aͤhnlich, aber im Empfinden gewaltig verſchieden ſind: ſo muß ich dem Troſte jenes Autors faſt recht geben, der zu ſich ſagte: „ ich bin mein eigner, einziger und „ beſter Leſer! „247hergeſuchte in der Elegie unnatuͤrlich. Hin - gegen finden Vergleichungen, kleine Geſchichte, Fabeln darinn ihren Platz. Denn die Ein - bildungskraft iſt bei einem ſolchen Zuſtande der Seele faſt allein beſchaͤftiget*Jch kann hierinn die Elegie nicht beſſer als mit einem Traume vergleichen: dieſe Verglei - chung ſagt vielleicht viel. Die ganze Bilder - reihe, die vor ihrem Auge vorbeiſtreichet, iſt in einen heiligen Schleyer halb verhuͤllt, der das dunkle Gewand der Traumgeſichte zu ſeyn pflegt: ſie iſt an ſich verbunden, ſo wie die Folgen der naͤchtlichen Gedanken, nur das Band iſt nicht ſo regelmaͤßig und ſichtbar, als im Wachen: dazu koͤmmt, daß in der Elegie, ſo wie im Traume, Einbildungskraft und Ge - genwart zuſammengemiſcht wird, und hieher gehoͤrt jetzt die vorige Einſchaltung mit, wie viel Macht, Zeit, Ort und Umſtaͤnde in die Elegie ſich eindraͤngen, nicht blos Gedanken naͤhren, ſondern auch erzeugen, die ſich als - denn unter die andren hinſtellen, anſchließen, und gleichſam elegiſch werden.. Sie ſucht alſo alle vergeſellſchaftete Bilder auf, die mit ihrer herrſchenden Empfindung uͤber - einſtimmen, um entweder ſich dadurch zuQ 4troͤſten,248troͤſten, oder noch mehr zu betruͤben*So wie jede Leidenſchaft ſich der ganzen Welt mittheilen will: ſo ſucht auch die Betruͤbniß uͤberall Zeugen und Begleiterinnen ihres Schmerzes: ſie will ſich nicht widerſprechen laſſen, und troͤſtet ſich, wenn man ihr Recht gibt.. Sie bleibt oͤfters bei einem einzigen Gedanken ſtehen und wiederholt ihn; ja macht unmit - telbar die Anwendung auf ſich. Daher koͤmmt die Wiederholung einerlei Worte am Ende des vorhergehenden, und im Anfange des folgenden Verſes, welche die Elegien - dichter oͤfters ſo gluͤcklich anbringen**So bald dieſe Wiederholungen regelmaͤßig, und bei dem dieſem Regelmaͤßig noch dazu ſchleppend, eintoͤnig und leer werden: ſo ermuͤ - den ſie, wie z. E. die Elegie Daphnis und Daphne in der Sammlung verm. Schr. — So verwirft auch die Elegie oft den Perioden, heftet ſich auf ein Wort, das ſie wiederholt, und ſich recht vors Auge ſtellet: hierinn iſt ſonſt Klopſtock ſehr gluͤcklich, nur in dem Trauergeſange Davids um Jonathan, den zwei Saͤnger ſeinem Salomo ſingen, und wie ich glaube, in ſeiner neuern Elegie: Roth - ſchilds Graͤber ſind einige Verſetzungen zugezwun -.
Alle249Alle Gedanken, die ins Groteske fallen*Wenn jener Elegienſaͤnger dem, der nicht mit ihm weint, den Cypreſſenſtrauch ins Geſicht werfen will: ſo muß man ſich vor ihm huͤten, weil, wenn unſre Augen ſich thraͤnend ſchlieſ - ſen, und unſre Thraͤnen ihm nur nicht kugel - rund gnug ſind, wir nicht vor einem Wurf ſicher ſeyn moͤchten., allzuhaͤufige O und Ach und Weh! Verwuͤn - ſchungen, die Abſcheu erregen, zu heftige Betheurungen ſeines Schmerzes toͤdten die Elegie. Die erſtern erwecken Gelaͤchter; die andern ſind entweder Zeichen einer allzuhefti - gen Traurigkeit, oder eines gaͤnzlichen Man - gels der Empfindung, die dritten bedeuten mehr Wuth und Kummer, und die letztern ſind entweder verdaͤchtig oder uͤberfluͤßig. Die Traurigkeit muß ſich durch die Reihe von Gedanken, auf die der Dichter verfaͤllt, an den Tag legen. Vor allen Dingen muß der elegiſche Dichter die kleinſten Umſtaͤnde**Man erinnere ſich hier an das Lied unter Langens Gedichten, da alles ein Zeuge vomVer -,Q 5die**gezwungen, einige Wiederholungen zu todt, und manches O und Ach! ein Aſteriſcus, der da ſagt: hier iſt zu gaͤhnen!250die mit ſeinem Gegenſtande verwandt geweſen, ſammlen und anfuͤhren. Dieſes zeigt, daß ſeine Einbildungskraft ganz damit angefuͤllt ſey, und nicht das Geringſte habe verloren gehen laſſen.
Der Ausdruck wird ſo wenig als moͤglich praͤchtig ſeyn doͤrfen. Reinlich und auch zierlich — ſine ſqualore aber auch auro absque ac gemmis. Je natuͤrlicher dieſe Empfindung iſt, je weniger ſind die Worte geſucht. Jch will eine kleine engliſche Elegie herſetzen, die ich irgendwo in Muſik geſezzt geſehen habe: es iſt die Anrede eines Maͤd - chens an ihren Geliebten:
Gentle Youth, o, tell me whyTears are ſtarting from my eye;When each night from You I partWhy the ſigh, that rends my heart?Gentle Youth, o, tell me true,Is it then the ſame with you?
**Verluſte wird, und jeder Umſtand das Bild des Freundes zuruͤckbringt.
251Die Naivetaͤt, welche hier herrſcht, hat einen ganz ungeputzten. Ausdruck erwaͤhlet; und gluͤcklich! — Wenn nur das Aeußerſte auf beiden Seiten vermiſcht waͤre: ſo wird die Verſchiedenheit der Materie den Ausdruck an die Hand geben.
Die verliebten Elegien*Eins der ſchoͤnſten Klagegedichte in dieſer Art iſt das Gleimiſche: Mich, o Doris, willſt du haſſen ꝛc. Uebrigens gefaͤllt es mir, daß der Kunſtrichter die Elegie in kein eigenſinniges Sylbenmaaß einkerkert: es kann elegiſche Oden in vielerlei Sylbenmaaß, elegiſche Eklo - gen u. ſ. w. geben, nur wenn einige das foͤrm - liche elegiſche Sylbenmaaß erwaͤhlt: ſo iſt der Pentameter, der freilich zu elegiſchen Wieder - holungen gebildet zu ſeyn ſcheint, mir immer im Deutſchen noch ſehr hart und gezwungen vorgekommen. — ſind fuͤr die we - nigſten Leſer. Wenn es ein dritter ſchon uͤberdruͤßig wird, dem Geſpraͤche zweier Verliebten zuzuhoͤren: was fuͤr eine Dreu - ſtigkeit gehoͤrt nicht dazu, ein ganzes Publi - kum in die Geſellſchaft zu bringen? Ueber - haupt ſind die Elegien eben nicht die Gedichte,die252die man zu allen Zeiten leſen kann. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß die Dichter auch daran daͤchten*Wenn einigen meine Anmerkungen langweilig geweſen, ſo denke man daran, daß ich uͤber die Elegie commentirt. — Elegiſche Noten, die ſich nicht zu aller Zeit leſen laſſen..
Noch immer iſt an mir die Reihe, die Hand auf den Mund zu legen, und zu ſchweigen. Unſerm Rabner habe ich es immer anzuſehen geglaubt, daß er aus Swifts Schule der erſte ſeiner Zuͤglinge ſey: hier iſt ein Schrift - ſteller, der uns in ſeinen Satyren mit der Ur - banitaͤt eines Horaz unterhaͤlt: der Verfaſ - ſer, der Mores Eruditorum, Genius ſeculi, Ridicula etc. geliefert. Jch urtheile nicht: ſondern ſchreibe ab:**Litt. Br. Th. 9. p. 82.
„ Es253„ Es iſt eben nichts neues, daß man den „ Juvenal vom Horaz unterſcheidet, daß „ man des letztern ridendo verum dicere, „ ſeine ſchalkhafte Verziehung des Mundes, „ ſeine vielbedeutende Mine, von den geißeln - „ den Streichen des erſtern, von ſeinem ent - „ flammten Geſicht, und von ſeinem zornigen „ Auge unterſcheidet. Aber was macht denn „ dieſen Unterſchied? — Die alte Komoͤdie „ brachte die Buͤrger mit ihren Sitten ganz, „ bis auf ihren Namen unveraͤndert, auf die „ Buͤhne; dies iſt Juvenal, wenn man noch „ dazu ſezt, daß er ſeine Mitbuͤrger nicht blos „ von der laͤcherlichen, ſondern auch von der „ laſterhaften Seite, und von dieſer oͤfter, als „ von jener zeigt. Sein lebhafter Blitz dringt „ in das Jnnerſte des Heuchlers; er reißt ihm „ die Maske ab, wenn auch ſein Geſicht dar - „ uͤber blutruͤnſtig werden ſollte, und gibt ihm „ nur einen andern Namen; aber niemand „ laͤßt ſich betriegen. Der iſt es, ruft man, „ nach dem Leben! — Zu dieſer Satyre ge - „ hoͤrt ſo viel Anlage nicht! Man darf nur „ aufmerkſam ſeyn, auf das, was um uns vor - „ gehet. Wenn ſie gut werden ſoll: ſo muß„ ich254„ ich merken, daß der Mann vom Herzen weg „ redet, und daß er bei allem Eifer, den er „ hatte, doch Beurtheilungskraft gnug beſeſ - „ ſen hat, mir unter den verſchiedenen Origi - „ nalen nur die wichtigſten, und an dieſen nur „ das Merkwuͤrdigſte zu ſchildern.
„ Mittelmaͤßige Koͤpfe fallen immer zuerſt „ auf das, wovon ſie bei ſich empfinden, daß „ ſie es vielleicht erreichen koͤnnten. Allein, „ weil es doch eine gefaͤhrliche Sache iſt, Nar - „ ren und Boͤſewichter kenntlich zu ſchildern: „ ſo vermeiden ſie dieſe Gefahr, und machen, „ daß das ganze Stuͤck nichts taugt. Sie „ mahlen uns platte Karaktere, die ekelhaft „ ſind, und an denen man weder genaue Zeich - „ nung, noch das lebhafte Colorit eines Ju - „ venals findet. Beiſpiele davon koͤnnen uns „ in unſern unzaͤhlbaren Wochenſchriften nicht „ mangeln. — Unter den Franzoſen iſt viel - „ leicht der einzige La Bruyere, der den Aus - „ weg eines Genies gefunden hat. Er hat ſei - „ ne Zeichnungen uͤbertrieben, um ſie nicht „ kenntlich zu machen. Aber fuͤr ſeine Zeit - „ genoſſen waren doch die Zuͤge nicht verſtellt,„ und255„ und fuͤr uns haben ſeine Farben noch nichts „ von ihrer Lebhaftigkeit verloren.
„ Die horaziſche Methode hingegen, eine „ Satyre zu ſchreiben! ich wollte wohl be - „ haupten, daß man mit dem Talent dazu „ muͤßte gebohren ſeyn. Vielleicht iſt dieſes „ ein Grund, warum der ſatyriſche Dichter „ auf dem Parnaß auch ſeine Stelle hat. „ Denn jene von der erſten Art ſind, deucht „ mir, in nichts von dem proſaiſchen Schrift - „ ſteller unterſchieden. — Dies Talent iſt „ nichts anders, als die Naivetaͤt, mit wel - „ cher der Dichter an ſich auf eine lebhafte „ Art zeigt, was er an andern laͤcherlich ge - „ funden hat, und es an ſeinem eignen ſonſt „ einfachen Karakter beſonders auszeichnet. „ Oder auch: er weiſet auf etwas, was laͤcher - „ lich iſt; aber ohne daß er es als ein ſolches „ zu kennen ſcheint — und eben weil es die - „ ſen ſonſt ſo ſimpeln Mann befremdet: ſo „ werden die uͤbrigen jetzt aufmerkſam, und „ entdecken das Laͤcherliche. Nicht daß der „ Dichter gar niemals ſeine ſatyriſche Geißel „ mit ſich fuͤhrte: auch Horaz, wenn er auf -„ gebracht256„ gebracht iſt, gibt ſeinem ineptus Fannius „ etwa einmal einen Hieb, und laͤßt ihn Diſcipulorum inter plorare cathedras. „ Aber es geſchieht ſelten. Der ſatyriſche „ Dichter iſt ſeinem Temperament nach cupi - „ dus pacis, und dies macht ihn eben zu die - „ ſer Naivetaͤt geſchickt. Keine ſtarke Leiden - „ ſchaft, welche tobend iſt, wohnt in der See - „ le, die einen naiven Gedanken ausdruͤcken, „ oder eine naive Handlung vornehmen ſoll. „ La Fontaine und Gellert haben nur dies „ ſatyriſche Talent, und ich vermuthe ſogar, „ daß ſie durch daſſelbe zu der Erzaͤhlungsart „ in ihren Fabeln ſind gebracht worden, die „ ihnen beliebt hat. Faſt allein ihre Aus - „ ſchweifungen, durch welche ſie von der aͤſo - „ piſchen Kuͤrze abweichen, und die unſre ein - „ faͤltige Nachahmerheerde fuͤr bloße Aus - „ ſchmuͤckungen der Erzaͤhlung gehalten hat, „ ſind ſatyriſche Zuͤge, die dem Dichter entwi - „ ſchen, und eben deswegen ſo ſehr gefallen, „ weil er ſich ſo bloͤde und unerfahren anſtellt. „ Ein Mann, der ſo unſchuldig iſt; wie koͤnn - „ te der mir Schaden thun, wenn er mir auch „ die Wahrheit ſaget? Er ſagt ſie in ſeiner„ Un -257„ Unſchuld. Dies iſt der Grund der man - „ nichfaltigen Erdichtungen, in welche ein gu - „ tes Genie ſeine Satyren einkleidet. Es muß „ ſich Situationen erfinden, in welchen er dieſe „ Naivetaͤt am beſten zeigen kann. — —
„ Die Mores Eruditorum und Genius „ ſeculi*Litt. Br. Th. 10. p. 197. zeigen auch dieſe Mannichfaltigkeit „ in Erfindungen, den feinen Spott, der aus „ der Unſchuld des Herzens zu kommen ſcheint; „ aber auch eine Art von Einſchraͤnkung auf „ eine gewiſſe Gattung von Gelehrten. — „ Jndeſſen gibt ihnen das lateiniſche Kleid „ eine Neuigkeit, in der ſie ſich uns zum Ver - „ gnuͤgen darſtellen. Was mag wohl die Ur - „ ſache davon ſeyn? Liegt es an dem Gedraͤng - „ ten der lateiniſchen Wendungen, an den „ Ausdruͤcken, die uns durch das Natuͤrliche, „ und durch einige ihnen anklebende Nebenbe - „ griffe anreizen; oder entſpringt dieſes An - „ genehme aus dem Vergnuͤgen, das wir uͤber „ die gluͤckliche Mittheilung der Gedanken un - „ ſers Verfaſſers in der Sprache der Roͤmer „ haben? Ein Schriftſteller, der dieſes un -„ gezwun -Fragm. III S. R258„ gezwungen erreicht, laͤßt uns gleichſam einen „ Zeitgenoſſen des Tullius hoͤren, der ſich uͤber „ unſre Sitten in ſeiner Sprache ausdruͤckt. „
Jch unterſchreibe im Ganzen das Bild, das man von Juvenal, Horaz, und unſerm Klozz mahlt: ohne aber auch die Naivetaͤt des Horaz durch Fragen affektiren zu wollen: muß ich doch folgendes fragweiſe dazuſezzen, weil ich mir ſelbſt nicht antworten will:
Sollte das Laͤcherliche der alten Komoͤdie, mit dem Laͤcherlichen des Juvenals einerlei ſeyn? Jch meine nicht das Belachenswer - the, was beide ſchildern, denn da verſteht es ſich von ſelbſt, daß dies mit den Sitten und Zeiten ſich ganz veraͤndert haben muß: ſondern nur das Laͤcherliche, wie beide es ſchildern? Jch will nicht an den Unterſchied denken, den ſchon die lehrende Satyre, und ein poͤbelhaftes Drama fodert: ſondern ich rede von dem charakteriſchen Ton beider, un - abhaͤngig von der aͤußern Einkleidung, blos an ſich gegen einander geſezt.
Sollte259Sollte Juvenal Sitten dergeſtalt in ſeine Satyre bringen, daß blos die Namen veraͤn - dert ſind: ſo daß nur Aufmerkſamkeit auf das menſchliche Leben, ein Eifer, der vom Her - zen weg ſpricht, und Beurtheilungskraft, das Wichtigſte und Merkwuͤrdigſte zu ſchil - dern, die Talente zur Juvenalſchen Satyre waͤren?
Waͤre Juvenals Charakter, daß er Nar - ren und Boͤſewichter kenntlich ſchildert; und er wuͤrde nicht bei dieſem Kaͤnntlichen ein Paſquillant? Sollte er von den ſchlechten Charakterſchmierern unſrer Wochenblaͤtter blos durch Genauigkeit und Kolorit unter - ſchieden ſeyn? Eine Satyre, die das Kaͤnnt - liche, das Genaue zu ihrem Hauptzuge hat, verdient die den Rang, den doch Juvenal mit Recht fodert?
„ Die horaziſche Methode in der Satyre - „ mit dem Talente muß man gebohren ſeyn! „ Muß denn das Juvenalſche Talent nicht an - gebohren ſeyn? — Sobald man das kindiſche Vorurtheil ablegt, die Einkleidung ſey das vornehmſte in der Satyre, ſo koͤmmt Juve - nal an Genie zur Satyre, immer uͤber Horaz.
R 2„ Juve -260„ Juvenal iſt ein proſaiſcher Schriftſtel - „ ler, und Horaz hat ſeine Stelle auf dem „ Parnaß, weil er mit dem Talen zur Sa - „ tyre gebohren worden. „ Doͤrfte ich n cht hingegen ſagen: Horaz iſt in ſeinen Sat ren ein proſaiſcher Schriftſteller, weil er vor uͤg - lich als Dichter zur Ode gebohren iſt: Ju - venal iſt nach ſeiner Kuͤhnheit, ſeinem Feuer, ſeinem Kolorit, und ſelbſt ſeinem Sylbenmaaß nach, ungleich mehr Dichter*Denn „ keine ſtarke Leidenſchaft wohnt in der „ Seele, die einen naiven Gedanken ausdruͤ - „ cken ſoll, „ heißt es auf der folgenden Seite, und Th. 18. p. 119. heißt es gar: „ Horaz muß den Misſtand, kleine Thorheiten mit dem Schwunge des Hexameters zu belachen, ſelbſt empfunden haben, weil er, der es ſo wohl ver - ſtand, einen recht wohlklingenden Hexameter zu machen, ihn gerade in ſeinen Satyren ſo nachlaͤßig bearbeitet, daß man glauben ſollte, er habe es mit Vorſatz gethan, um ihn dadurch ſeinem Jnhalt mehr zu naͤhern, und ihn mit dem Ton ſeiner Materie uͤbereinſtimmiger zu machen. „ — Dieſer Ton iſt naive Proſe, und eben wegen dieſer naiven Proſe ſoll Ho - raz ein groͤßerer Dichter ſeyn, als andre, die feuriger ſchildern? —.
Waͤre261Waͤre La Bruyere unter allen Franzo - ſen der einzige, der den Ausweg eines Ge - nies gefunden, in der Zeichnung der Charak - tere? Unter allen Franzoſen, die in der Zeichnung des Laͤcherlichen auf ſo viel Schrift - ſteller ſtolz ſeyn koͤnnen, von denen jeder eine eigne Art der Zeichnung hat — die vielleicht hierinn, und hierinn allein, Originale vor den Alten und Neuern ſind? — Und hier waͤre La Bruyere das einzige Genie? Und das einen Ausweg eben von der Juvenal - ſchen Zeichnungsart gefunden haͤtte, mit dem er doch gewiß am wenigſten gemein hat? — Der Kopf thut mir bei dieſen Fragen weh! Was muß ein Franzoſe denken, wenn er dies lieſet?
Doͤrfte nicht die Anmerkung uͤber La Fon - taine und Gellert wichtig ſeyn? Wer zwei - felt dran, daß ihre Ausſchweifungen ſatyriſch ſind? Und folgt hieraus, daß ſie in einer aͤſo - piſchen Fabel etwas mehr als Ausſchmuͤ - ckungen ſind, „ dafuͤr ſie die einfaͤltige Nach - ahmerheerde gehalten hat? „ Hat denn La Fontaine ſeine luſtige Schwatzhaftigkeit fuͤr etwas anders ausgegeben, als fuͤr Ausſchmuͤ -R 3ckung? 262ckung? Ja blos fuͤr eine kleine Schadlos - haltung gegen die Kuͤrze des Phaͤdrus?
Und dann? Doͤrfte Klozz, wenigſtens in einigen ſpaͤtern Schriften und Streitigkeiten, voͤllig frei vom Zorn des Juvenals, der ho - raziſchen Laune immer getreu bleiben, die ihm freilich eigner laͤßt. Jch ſage dies nicht, um ihn zu tadeln: denn freilich, zu unſrer Zeit, muß man oft ſagen, nicht blos aus Juvenal, ſondern auch mit ſeinem eifernden Tone: difficile eſt, ſatyram non ſcribere! — — und in den meiſten Stuͤcken geben wir der Klozziſchen Freimuͤthigkeit unſer geheimes und herzliches Plaudite. Ein Mann, wie er, der das Mark der lateiniſchen Denkart, und Sprache, inſonderheit der horaziſchen Laune, in ſich geſogen, der durch ſeine Abhandlungen und Gedichte, durch Ausgaben und Beurthei - lungen, die in Deutſchland ſo ſeltnen lateini - ſchen Muſen, bekannter und nutzender zu ma - chen ſucht: ſein Name beſchließe dieſe Frag - mente von lateiniſchen Dichtern.
Erſt muͤſſen wir Beredſamkeit und Wohl - „ redenheit unterſcheiden, und mit dem Ci - „ cero bei der erſtern diejenige, welche in der „ Feldſchlacht gegen die bloßen Schwerter an - „ ruͤckt, quae in acie verſatur et ferro, von „ der abſondern, die nur auf der Uebungs - „ bahn ſich zeiget. Die erſte mangelt uns, „ und wir koͤnnen keinen Redner haben, den „ wir mit Cicero oder Demoſthenes meſſen „ koͤnnten.
„ Wir haben keine politiſche Beredſam - „ keit; nicht einen Schatten davon, und koͤn - „ nen ſie auch nicht haben, weil unſre Staats - „ verfaſſungen gar nicht dazu eingerichtet ſind - „ Wo iſt das Volk? Wo ſind die verſammle - „ ten Provinzen? Wo ſind die angeklagten „ Feldherren und Fuͤrſten? wo iſt oͤffentliche „ Berathſchlagung uͤber Krieg und Frieden? „ Jn unſern Verfaſſungen bezahlt das Volk „ ſeine Abgaben, und wird uͤber den GebrauchR 4der -264„ derſelben nicht gefragt; die Vornehmen wer - „ den nicht angeklagt und vertheidigt, ſondern „ fallen in Ungnade: und im Kabinette ge - „ ſchieht der Ausſpruch: es ſoll Krieg ſeyn, „ weil wir es wollen, und Friede, weil wir „ nicht mehr koͤnnen — und der Unterthan „ hoͤrt es. Nun kommt zu Haufen, ihr De - „ moſthenen und Ciceronen. Nicht wahr, „ alles iſt euch fremde; — verlaßt den klei - „ nen Markt, und lernt — trockne Proceſſe.
„ Jch thue noch einen Schritt: die große „ Beredſamkeit kann nirgends, als in der ge - „ richtlichen Art zu reden angebracht werden. „ Das Forum iſt das einzige Treibhaus fuͤr „ ſie, und jeder andre Boden zu kalt. Wir „ wollen ſehen, was die gerichtliche Art fuͤr „ Vortheile habe; ob dieſe Vortheile die große „ Beredſamkeit zuwege bringen; und ob die „ andern Arten eben dieſe Vortheile ver - „ ſchaffen.
„ Die Materien bei der gerichtlichen Art „ ſind immer neu; immer hoͤchſtwichtig, „ ſelbſt nach der Meinung der Zuhoͤrer. Die „ Zeit zwiſchen der Ueberlegung und dem Er - „ folg iſt kurz. Dadurch draͤngen ſich die Gegen -„ ſtaͤnde265„ ſtaͤnde naͤher hinzu, und werden folglich groͤſ - „ ſer, ſinnlicher und lebhafter. Die Gruͤnde, „ deren ſie ſich bedient, ſind ganz aus dem „ Reiche der Wahrſcheinlichkeit. Ein unend - „ licher Vortheil! Denn aller Scharfſinn des „ Redners kann ſich dabei uͤben: alle ſeine Er - „ findung. Ferner; weil das Wahrſcheinli - „ che ſeine Huͤlfe von allen kleinen Umſtaͤnden „ zuſammen ſucht: ſo bereiten eben dieſe Um - „ ſtaͤnde, folglich ſchon die Beweisgruͤnde, die „ Leidenſchaften zu. Denn dieſe Umſtaͤnde lie - „ gen in den Seelen der Zuhoͤrer, ſo zu ſagen, „ neben andern verwandten, die dem Zunder zu „ vergleichen ſind. Der Redner darf ſie „ gleichſam nur ruͤhren, damit Luft hinein - „ komme, und alles faͤngt an zu gluͤhen. „ Blaͤſet er vollends an: ſo iſt alles eine „ Flamme.
„ Wenn Cicero einen Clodius verdaͤchtig „ macht: ſo geht er ſein ganzes voriges Leben „ durch. Wie viele Handlungen muͤſſen dar - „ inn nicht geweſen ſeyn, wodurch dieſem oder „ jenem von den Zuhoͤrern Unrecht geſchehen! „ Dieſe Erinnerung gibt in der Seele dieſes „ Mannes dem Beweiſe des Redners ſchonR 5„ ein266„ ein groͤßeres Gewicht. Einen Ariſtides „ ſelbſt wuͤrde es leicht geweſen ſeyn, anzukla - „ gen, weil die Beweiſe ſeiner vorgeblichen „ Schuld in den Herzen der meiſten ſchon vom „ Neide vergiftet lagen. Daher kam es auch, „ daß die meiſten großen Maͤnner ſich vor den „ Anklagen ſo ſehr fuͤrchten mußten. Gruͤn - „ de hingegen, welche auf die Gewißheit ge - „ hen, haben dieſe Vortheile nicht.
„ Endlich die Leidenſchaften. Alle kann „ der gerichtliche Redner im hoͤchſten Grade „ erregen. Er erweicht nicht blos zum Mit - „ leid, er ruͤhrt bis zum Schluchzen. Er bringt „ den Zorn nicht nur zum Kochen, er laͤßt ihn „ auch zur Wuth ausbrechen. Der Zuhoͤrer „ wird vom Schrecken nicht nur blaß: er laͤuft „ in der Angſt wie ein Unſinniger herum; „ kurz, er macht nicht, daß der Zuhoͤrer an - „ faͤngt zu uͤberlegen, ſondern daß er ſich auf „ der Stelle entſchließt. Jn dieſem Zeit - „ punkte ſteht er vor der beweglichen Menge „ faſt, wie ein Gott, da, der die Herzen der - „ ſelben, gleich den Waſſerbaͤchen in Haͤnden „ hat.
„ Nun267„ Nun wollen wir die uͤbrigen Redearten „ dagegen halten. Wie die Menſchen heut zu „ Tage von Homers Helden an Staͤrke ver - „ ſchieden ſind: ſo ſtehen auch die bei uns uͤbli - „ chen Redearten von der alten gerichtlichen „ Art ab. Bei den panegyriſchen und aka - „ demiſchen Reden erhellet es von ſelbſt. „ Was ſind die letztern? Abhandlungen ab - „ ſtrakter Saͤtze. Sie koͤnnen ſchoͤn vorgetra - „ gen werden: aber was iſt dieſer Schmuck „ gegen die Ruͤſtung auf das Schlachtfeld? „ Der Panegyrikus? O laß die Zeiten noch „ ſo heldenreich ſeyn: er iſt ſelten anzurathen. „ Hundert Biographen; aber hoͤchſtens einen „ Panegyriſten. Voſſuet unter den neuern „ iſt wohl das groͤßte Muſter hierinn, (denn „ Fleſchier iſt meiſtens nur wohlredend) aber „ einmal hat er nicht viel Lobreden geſchrie - „ ben: und denn wird ſie auch niemand mit „ den groͤßten Reden der Alten vergleichen. „ Wenn dieſe lobten: ſo war das Lob nie - „ mals ihre Hauptabſicht, ſondern nur ein „ Mittel zu derſelben: den Plinius ausge - „ nommen. Einiges Mitleid und Bewunde - „ rung ſind die einzigen Ruͤhrungen, die wir„ dabei268„ dabei fuͤhlen koͤnnen; und ehe uns der Red - „ ner dazu bringt, muß er bei einer einzigen „ Rede faſt alle ſeine Schaͤzze verſchwenden.
„ Nun bleiben noch unſre Kanzelreden uͤbrig. „ Ohne mich durch die Frage zu ſchuͤzzen: ob „ es nicht viel beſſer waͤre, auf der Kanzel „ Homilien als Reden zu machen? — ſey „ es einmal angenommen, daß wir alle Be - „ redſamkeit dabei anwenden ſollen, die in „ unſerm Vermoͤgen iſt. Jch laͤugne es, daß „ wir dieſelbe zu dem Grade der gerichtlichen „ erheben koͤnnen. —*Und ich laͤugne, daß ſie ſich mit der gerichtli - chen vergleichen laſſe, daß ſie dabei gar nichts verloͤre, wenn ſie ihr auch in allem folgenden nachſtaͤnde: eine wichtige Materie. Materie, Beweiſe „ und Affekten verweigern dem Redner ihre „ Huͤlfe, bis dahin zu ſteigen. Die Mate - „ rien des Kanzelredners ruͤhren wohl ſelten „ durch ihre Neuigkeit**Nie durch eine zum voraus anlockende Neuig - keit; aber ihre Art iſt auch eben die entgegen - geſetzte: ſo viel hineinzulegen, daß die Mate - rie neu werden muß., wenigſtens diejeni - „ gen gewiß nicht, die eine chriſtliche Erzie - „ hung genoſſen. Zu den Zeiten der Apoſtel„ und269„ und bei Voͤlkern, die erſt bekehrt werden ſol - „ len, iſt dies freilich ganz anders; daher laͤßt „ ſich auch menſchlicher Weiſe die Menge der „ Bekehrten in einem Tage begreifen. Allein, „ wie kann unter uns der Kanzelredner ſeine „ Materien neu machen? *Jch koͤnnte es dem Verf. mit einem Worte ſagen, wenn der Homilet nicht uͤber Worte, ſondern uͤber das menſchliche Leben ſpricht; allein dies eine Wort fordert zur Erklaͤrung viel andre.Es bleibt ihm „ alſo nur das Jntereſſe derſelben uͤbrig; und „ dies werde ich doch nicht laͤugnen? Nein. „ Ohne daß man mir es zu deklamirt, begreife „ ich wohl, daß die Entſcheidung uͤber unſer „ Wohl oder Elend auf eine Ewigkeit wichti - „ ger ſey, als die Entſcheidung uͤber Krieg „ und Frieden auf etliche Jahre. Jſt ſie es „ aber auch nach der Meinung aller Zuhoͤ - „ rer, und zwar in dem Grade der Lebhaftig - „ keit**Der geiſtliche Redner hat es ſelten zum Zweck, augenblickliche Thaten, Zeitentſchluͤſſe zu erwe - cken, wo er es zu ſeiner wirklichen Abſicht hat, kann ers auch erregen., welcher allein den Willen bewegen „ kann? Der Redner kann es vielleicht da -„ hin270„ hin bringen; aber er muß es erſt thun, wenn „ es fuͤr den gerichtlichen Sprecher ſchon ge - „ than iſt. —*Eben hier trennt ſich der politiſche vom geiſt - lichen Redner; dieſer faͤngt an, wo jener auf - hoͤrt: keiner erreichet ſeinen Zweck wenn ſie bei - de einen Weg nehmen. Deſto ſchlimmer fuͤr ſolche „ Weltkinder! — Zugeſtanden, und dieſe „ Weltkinder ſind der groͤßte Theil der Zuhoͤ - „ rer. Die meiſten Seelen entſchließen**Jmmer entſchließen! Jn einem Taumel von Entſchluͤſſen iſt der Zuhoͤrer endlich noch zu ſtuͤrzen; wenn das des Homileten Amt waͤre; aber vom Entſchluß zur That! die Kluft uͤberſpringt der Kunſtrichter, und ſie iſt die ſchaͤdlichſte. „ ſich nicht eher, bis aller Zwiſchenraum der „ Zeit von dem Entſchluſſe bis zur Wirkung „ gleichſam vernichtet iſt. Dieſe Traͤgheit hat „ ſogar dem beredten Apoſtel einen Triumph „ entriſſen. Felix und Druſilla entdeckten, „ daß ſie noch wahrſcheinlicher Weiſe Zeit haͤt - „ ten, neue Vorſaͤzze zu faſſen, und ſchickten den „ Redner von ſich. Dies liegt in der Natur der „ Sache ſelbſt, und keine blos menſchliche Kraft „ kann es bei dem undenkenden Haufen uͤber - „ wiegen.
Glei -271„ Gleiche Unbequemlichkeit entſteht fuͤr die „ Kanzel aus den Beweiſen. Die Ausſpruͤ - „ che der heil. Schrift, ſo bald es klar iſt, „ worauf ſie gehen, ſchneiden alle Erfindungs - „ kunſt ab. Gott hat es befohlen: hier iſt „ der ganze Beweis*Dieſe Worte ſind der ſchoͤnen Abhandlung ganz und gar unwuͤrdig: iſt das predigen, wenn man ſeine Materie mit einer Kette bibliſcher Spruchſtellen umflicht, und ſie ſo auffuͤhrt? Hier verkennt der Verf. die wahre Natur der geiſtlichen Beredſamkeit, und der menſchlichen Seele.. Nur ſelten zeigt ſich „ eine Schwierigkeit in der Anwendung auf „ einen beſondern Fall. Das freieſte Feld „ fuͤr den Kanzelredner verſchaft der Contraſt „ der Handlungen mit der Ueberzeugung von „ den Geſezzen; und zu dieſem Felde oͤffnet „ ihm das Geſchehene die Schranken. Da - „ her ſind unſre beſten geiſtlichen Reden uͤber „ dergleichen Materien geſchrieben. Bour - „ daloue, Maſſillon, Mosheim — man waͤh - „ le die beſten ihrer Reden, und man wird mir „ Recht geben.
„ Wie ſteht es nun mit den heiligen Affek - „ ten? Sie werden freilich eben ſo erregt, wie„ die272„ die uͤbrigen, aber nicht eben ſo leicht, nicht „ eben ſo ſtark*Wenn der politiſche Redner kein Akteur an Ruͤhrung ſeyn kann, ſo muß es der geiſtliche noch weniger ſeyn, wenn er nicht alle Zwecke verfehlen will: — Doch alles dies wuͤrde theo - logiſch!. Freude, Traurigkeit, „ Liebe, Haß, Bewundrung kann der Kan - „ zelredner erregen, aber nur in einem gewiſ - „ ſen Grade. Ja, die erſten werden vielmehr „ vermiſchte Empfindungen, und die letztere „ verliert ſich in ſtille Anbetung. Steigt er „ uͤber jenen Grad: ſo entgehen ihm die See - „ len ganz aus den Haͤnden, uͤberlaſſen ſich ih - „ ren ruhigen Empfindungen, und der uͤbrige „ Theil ſeiner Rede iſt verloren. Ja, je oͤfter „ einerlei Bild vorgebracht wird: deſto ſchwe - „ rer faͤllt es, die ihm zuſagende Leidenſchaft „ zu erwecken. Wie weit kann es alſo der „ geiſtliche Redner bringen? O wahrhaftig! „ Cicero koͤnnte wohl vielleicht der beſte Kan - „ zelredner unter uns ſeyn; aber ein Cicero „ wuͤrde er nicht ſeyn. Ja, wenn Cicero un - „ ter uns waͤre erzogen worden: hundert ge - „ gen eins, nach ſeiner herrſchenden Neigung„ der273„ der Eitelkeit wuͤrde er Gedichte herausgege - „ ben haben, und ganz gewiß ſchlechte Ge - „ dichte. Aber die Theile in den Reden der „ Alten ſind einerlei mit den unſrigen gewe - „ ſen, und auf einerlei Art gemacht worden? „ Was kann das helfen? Es koͤmmt auf den „ Gebrauch dieſer Theile an. Ein Haufen „ macht ſeine Kriegsuͤbungen ſo wie ein gan - „ zes Heer. Er ruͤckt fort, er lenkt ſich, er „ haͤlt zuſammen, jeder Soldat handelt. „ Wird deswegen ein Stadthauptmann in ei - „ ner Reichsſtadt, der ſeine Buͤrgerkompa - „ gnien muſtern kann, Feldherr ſeyn? Viel - „ leicht bis auf die zwo Kleinigkeiten, daß „ der Feldherr ein ganzes Heer in Bewegung „ ſetzt, und gegen einen Feind in Bewegung „ ſetzt — Unſern Rednern fehlt die Materie, „ ein ſolches Ganzes zu machen, und der „ Feind, den ſie uͤberwinden muͤſſen. Dies „ iſt der Unterſchied zwiſchen der acies und „ der palaeſtr2 des Cicero. „
Jch ſuche die bisher vorgezeichnete Ausſicht der Litter. Br. etwas weiter zu verfolgen. — Wenn wir auf unſern Rathhaͤuſern keine Ci - ceronen mehr haben, da jetzt das Urtheil einer wichtigen Sache nicht mehr vom Volk, und von dem Zuklatſchen ſeiner Haͤnde, nicht mehr von den Rednerſiguren eines Advokaten, nicht mehr von einer gluͤcklichen Viertelſtunde oder einem muntern Einfall abhaͤngt: ſondern von Richtern, bei denen Geſezze, Proceßformen, Rechtsgaͤnge, oder hoͤchſtens Schmeicheleyen, die die Hand, und nicht das Ohr kitzeln, ihr Urtheil beſtimmen: ſo iſt die Beredſamkeit, wie es ſcheint, in die Tempel geflohen, und auf den Kanzeln ſtehen noch viele Ciceronen.
Ciceronen koͤnnen ſie nicht ſeyn, und darf ich dazu ſezzen; ſie ſollen es auch nicht ſeyn: denn ſie ſinds am unrechten Orte. Zuerſt: da das Volk, dem ſie reden, nie das roͤmiſche Volk iſt: nie jene Quiriten von ſtolzem Ohr und feiner Empfindung,nie275nie jene verſammlete Curien und Centurien, der Ausſchuß von den Geſchlechtern Roms, ſondern nach der Menge zu rechnen, eine Ver - ſammlung von geſundem guten Verſtande iſt, ſo wie ihn die Natur gibt, eine mittlere Erziehung bildet, und denn das gemeine Leben beſchaͤftigt: ſo muß auch der innere Geiſt des Vortrags ſich nie uͤber dieſe Sphaͤre erheben. Es iſt eine ſehr alte Schwierigkeit, daß die Zuhoͤrer bei keiner Verſammlung ge - theilter und verſchiedner an Geſchmack und Cultur waͤren, als die Verſammlung des Kanzelredners, und bei vielen, inſonderheit jungen Rednern, hat ſie den Schaden gethan, daß ſie ihrem Vortrage die groͤßeſte Ungleich - heit gegeben: hier verliert er ſich in Wolken, dort ſchleicht er im Staube, um wie man ſich entſchuldigt, beiderlei Denkarten zu um - faſſen. Allein, eine mittlere Hoͤhe, die man zu treffen ſucht, iſt, nicht blos bequemer, ſon - dern auch wirklich die einzige, und beſte, und das iſt der populaire, freundſchaftliche und vertrauliche Ton, der ſich zur feinern Spra - che des gemeinen Lebens herablaͤßt, alle ſcharfe abſtrakte Jdeen lieber in fließende ſorg -S 2ſamere276ſamere Beſtimmungen aufloͤſet, alle das ſpitzige, aufgeſtutzte, und concentrirte All - gemeine, das ſich ſo oft hinter einzelne, willkuͤhrliche und wiſſenſchaftliche Worte verbirgt, zu dem glatten, ungeſchmuͤckten, und entwickelnden Tone herabſtimmet, der es vorausſezzt, aber nicht zeigt, daß man wiſſenſchaftlich dachte, daß man fuͤr die Kanzel dachte, daß man ſelbſt einer Buͤcher - ſprache gewohnt ſey. Dieſer Ton ſtielt ſich ſo wohl dem Gelehrten, als gemeinen Mann ins Herz, denn es iſt die Sprache des ge - ſunden Verſtandes, und fuͤhlenden Her - zens; weder die Sprache der niedrigern Sinne, noch die Sprache der hoͤhern Vernunft.
Zweitens: da der geiſtliche Redner nie mit den Ciceronen und Demoſthenen ei - nerlei Abſicht hat, ſo koͤnnen auch ihre Mittel nie einerlei ſeyn. Jene wollten das Volk eine Viertelſtunde uͤbertaͤuben; es war ihnen gnug, daſſelbe auf eine kleine Zeit zu bezaubern, und ihren Vortrag und Foderung gleichſam zu dem Element ihrer Gedanken und ihrer Entſchluͤſſe zu machen, ſo lange ſieſpra -277ſprachen: ſie ſchlugen alſo an jede Saite ih - rer Empfindungen, die mit ihrem Zwecke ein - toͤnig war: ſie weckten den Haß, die Liebe auf, die in ihren Herzen ſchlummerte, weil ſie ihnen vortheilhaft, nicht weil ſie mora - liſch gut war. Sie floͤßten ihnen Affekten ein, nicht weil ihre Seele in dieſem Feuer ſchoͤner und beſſer wuͤrde: ſondern weil dieſe, oft blinde, oft ſchaͤdliche, und immer kurze Hitze ihren Zweck befoͤrderte. Der Redner haͤtte in den wenigſten Faͤllen, die Entſchluͤſſe, die er wirkte, gleichſam zur beſtaͤndigen Ge - ſinnung, zur herrſchenden Denkart machen koͤnnen, theils weil die Entſchluͤſſe Zeitent - ſchluͤſſe waren, und die Affekten, die er auf - regte, oft unmoraliſch ſeyn mußten. — Welch eine ganz andre Bewandniß mit den geiſtlichen Ciceronen unſrer Zeit: Reden ſie um eine Viertelſtunde zu bezaubern, ſo pre - digen ſie ſicherlich nicht die Religion, ſondern ſich ſelbſt. Regen ſie die ganze Phantaſie der Zuhoͤrer auf: ſo bleibt ihr Verſtand um ſo viel kaͤlter: erfuͤllen ſie die ganze Atmoſphaͤre des Tempels mit Specereyen: ſo wird der Zuhoͤrer um ſo freier athmen, wenn er in dieS 3friſche278friſche Luft koͤmmt. „ Der Begrif der Bered - „ ſamkeit aus den Schriftſtellern des Alter - „ thums, nach welchen man ſich auch eine geiſtli - „ che Beredſamkeit ausgedacht, und derſelben „ ihren Sitz auf unſern ordentlichen Kanzeln „ angewieſen hat: ſcheint in ſeiner Anwen - „ dung ſo offenbar unrichtig, daß ich mich „ uͤber ihren Beifall und Eingang wundern „ muß. Der roͤmiſche und griechiſche Redner „ ſuchte gar nicht ſeine Buͤrger auf ihre Le - „ benszeit zu moraliſch guten Menſchen zu ma - „ chen, ſondern er wollte ſie nur fuͤr jetzo zu „ einem Entſchluſſe bringen, der durch erregte „ Gemuͤthsbewegungen am beſten gewirkt wer - „ den konnte. Wenn alſo auf jenen Ver - „ ſammlungsplaͤtzen nur ſo in die Seelen ge - „ donnert ward, daß dieſelben fuͤr dasmal „ nichts anders ſehen und denken konnten, als „ z. B. die Gefahr von einem macedoniſchen „ Philipp, oder einem Catilina: ſo hatte „ man alles, was man geſucht, und man „ ließ ihre uͤbrigen praktiſchen Grundſaͤzze ſo, „ wie ſie immer ſeyn mochten. Der chriſt - „ liche Prediger hingegen hat einen ganz an - „ dern Zweck, und muß ihn haben. Es„ koͤmmt279„ koͤmmt ihm darauf an, daß eine gewiſſe „ Denkungsart und Geſinnung bei dem Men - „ ſchen auf immer das regierende Principium „ ſeiner Handlungen und ſeines Lebens werde: „ und das iſt nicht das Werk einer bloßen „ Ruͤhrung. Es gehoͤren klare und gewiſſe „ Erkenntniſſe dazu, die in den ſtillen Stun - „ den des Nachdenkens eine jede Pruͤfung aus - „ halten. Dieſes Licht aber entſteht nicht „ aus der Hizze der Gemuͤthsbewegungen, ſon - „ dern erfodert eine kaͤltere Ueberzeugung. „ Dies ſind Worte eines Gottesgelehrten, der ſelbſt ein Kanzelredner iſt*ſ. Spaldings Werth der Gefuͤhle p. 195. 196..
Noch ein andres Zeugniß**Litt. Br. Th. 1. p. 70. aus den moral. Beobacht. und Urtheilen. Zuͤrich 1757., uͤber eine Sache, von der ich gern andre reden laſſe: Die Kunſt, die Affekten zu erregen, iſt bei den Gottesgelehrten ſo wohl, als bei den fa - natiſchen und enthuſiaſtiſchen Predigern, in großer Hochachtung, und man wendet vielen Fleiß darauf.
Die zwei großen Redner in Griechenland und Rom, Demoſthenes und Cicero, beideS 4Dema -280Demagogi in einer demokratiſch eingerichte - ten Republik, ſind dennoch in Ausuͤbung die - ſer Kunſt ſehr von einander unterſchieden. Der erſte, welcher mit einem politern, gelehr - tern und witzigern Volk zu thun hatte, ſetzte den groͤßten Nachdruck ſeiner Beredſamkeit in die Staͤrke ſeiner Beweisgruͤnde, und ſuchte alſo hauptſaͤchlich den Verſtand zu uͤberzeu - gen. Tullius hingegen ſahe mehr auf die Neigungen einer aufrichtigen, nicht ſo gelehr - ten und lebhaften Nation, und blieb deswe - gen bei der pathetiſchen Beredſamkeit, welche die Affekten erreget.
Allein, das Vornehmſte, das man hiebei beobachten muß, iſt, daß dieſe Reden in allen ihren Reden ein beſonderes Vorhaben hat - ten: und alles wurde gleich auf der Stelle ausgemacht, nachdem der Vortrag des Red - ners Beifall fand. Hier war es unumgaͤng - lich noͤthig, die Affekten der Zuhoͤrer entwe - der zu erregen, oder zu beſaͤnftigen, inſon - derheit zu Rom, wo Tullius war. Mit dieſes letzten Reden machen ſich junge Geiſt - liche, (ich meine die, welche Autores leſen. ) insgemein mehr bekannt, als mit des De -moſthe -281moſthenes ſeinen, welcher doch jenen in vie - len Stuͤcken uͤbertraf, was inſonderheit die Redekunſt anlanget. Allein, ich kann nicht ſehen, wie die Kunſt, die Affekten zu erregen, von großem Nutzen ſeyn koͤnne, wenn man die Chriſten unterrichtet, wie ſie ihren Wan - del gebuͤhrend anzuſtellen haben, wenigſtens in unſern noͤrdlichen Climatibus, wo ich ge - wiß verſichert bin, daß auch die groͤßeſte Beredſamkeit von dieſer Art wenig Eindruck in unſre Gemuͤther haben wird, ja nicht ein - mal ſo viel, daß die Wirkung davon ſich nur bis auf den andern Morgen erſtreckte. Jch glaube gewiß, daß die Prediger, welche in lauter Epiphonematibus predigen, wenn ſie ſich umſehen, einen großen Theil ihrer Zu - hoͤrer in der Unachtſamkeit, und einen großen Theil ſchlafend finden werden. Und es iſt auch kein Wunder, daß ein ſolches Mittel nicht allemal anſchlaͤgt, maſſen es ſo viel Kunſt und Geſchicklichkeit erfodert, wenn man es darinn zu einiger Vollkommenheit bringen will, als mancher nicht im Cicero findet, geſchweige aus ihm lernet.
S 5Drit -282Drittens: kaum doͤrften unſre Kanzel - redner mit Cicero die Redtheile gleich haben ſollen: wenigſtens iſt die Sprache bei beiden ſehr verſchieden. Jch fange vom kleinſten an: Man hoͤrt auf der Kanzel leider zu oft zu - ſammengeſchlungne, verkettete, und mit Bin - dewoͤrtern verpalliſadirte Perioden, die einige junge Redner und unwiſſende Lobredner cice - ronianiſche Perioden nennen; ſie haben aber mit Cicero nichts gemein, als den aͤußern Leiſten, und das dazu am ganz unrechten Ort. Wenn der Roͤmer in den aſiatiſchen Stil ſich ausbreitet: ſo iſt dies gemeiniglich eine Ueberſchwemmung, die ſeine Sprache geſtattet, das Ohr des Volks erlaubet, und ſeine Leidenſchaft fodert. „ Die Roͤmer „ muſten wegen der Kuͤrze ihrer Worte die „ periodiſche Theile ketten, wenn ſie nicht in „ den abgeſchnittenen Stil fallen wollten. Ohne „ Artikel, ohne Huͤlfswoͤrter, reich an Parti - „ cipien fuͤgte ſich ihre Sprache ſo an einan - „ der, daß immer ein Satz in wenigen Wor - „ ten da ſtand. Jm Deutſchen aber, welcher „ Unterſchied! Wenn wir die Perioden nicht „ ſchleppen wollen, muͤſſen wir ſie mannich -„ mal283„ mal trennen*Litt. Br. Th. 13. p. 120.. „ Wo ſchleppt ſich aber die Sprache mehr, als auf den Kanzeln? — Hier, wo man das Verſtaͤndliche des Vor - trages ſo oft darinn ſezzt, mit einem Schwall von Worten nichts zu ſagen, den Perioden in ſeine fuͤrchterliche Glieder zu ordnen, um ei - nen paniſchen Schauder einzujagen. Wie oft hoͤrt man einen Gedanken nach dieſem Zu - ſchnitt: „ Wenn wir um uns umherſchauen – „ wenn wir — wenn wir — weil es — — „ ſo werden wir gewahr, daß die Menſchen „ Suͤnder ſind: „ dies iſt die gewoͤhnliche homiletiſche Schlachtordnung, die Binde - woͤrter, und Beiwoͤrter, und Huͤlfswoͤrter und Synonymen, und periodiſche Theile in Ueberfluß hat: um den Mangel an Gedanken zu verbergen, die das Ohr uͤbertaͤubet, um nicht die Leere des Verſtandes zu zeigen; dies iſt der fließende Vortrag, der vor dem Eſſen heilſamen Appetit, und nach dem Eſſen einen ſanften Schlaf machet. — Aber nicht blos bei dieſen ſeichten Homileten, ſondern ſelbſt bei gluͤcklichen geiſtlichen Rednern muß man es oft beklagen, daß ihr Stil gleich von ſei -ner284ner zarten Jugend an, ſich nach dem Latein gebildet, daß der periodiſche Cerimonienzwang, der in Schulen von lateiniſchen zu deutſchen Chrien ſteiget, noch manchmal bei den beſten Gedanken durchblickt. „ Jm Deutſchen iſt „ ja ein Stil immer ſchon periodiſch, wenn „ auch die Bindewoͤrter der Lateiner nicht ſo „ genau dazwiſchen geſtellet, und die Abſaͤtze „ ſo gekettet an einander gehaͤnget ſind*Ebendaſelbſt.. „ So will es die deutſche Sprache, die von Huͤlfswoͤrtern und weſentlichen Beſtimmungs - woͤrtern ſo wimmelt, daß man die periodi - ſchen nicht noͤthig hat.
Und was will das Ohr der Zuhoͤrer, wenn es ſchon die Sprache an ſich ſo fodert. „ Weil bei den Roͤmern immer ein Satz mit „ wenig Worten daſtand, und die Seele alſo „ wenige Zeichen zu faſſen hatte: ſo konnten „ auch die folgenden Begriffe eher angehaͤnget „ werden, wenn nicht die Wichtigkeit der „ Betrachtung den Autor zwang, lieber dem „ Geiſt viel Ruheplaͤtze zu verſchaffen, als das „ Ohr zu fuͤllen. „ Aber bei unſern deutſchen Kanzelperioden, wie oft leidet da der Ver -ſtand!285ſtand! Leute von einem Geſchaͤft-nicht aber Buͤcherverſtande, wie koͤnnen die das ganze Gebaͤude eines ſolchen Perioden uͤberſehen, wenn es auch noch ſo ſtolz errichtet waͤre. Jhre Aufmerkſamkeit ermuͤdet durch den Zwang; da ſie nicht mit dem Gelehrten ei - nerlei Schaͤrfe des Auges, und wenigſtens nicht einerlei Sehepunkt haben: ſo ſind alle die Schoͤnheiten meiſtens fuͤr ſie verloren, ja das Ganze wird fuͤr ſie dunkel. Dieſe Wen - dung ſollte den Zuhoͤrer uͤberraſchen, und ver - wirrt ihn, jener Umſchweif ſoll ihm Gelegen - heit geben, ſelbſt einen Vorſprung zu thun, und macht ihn irre: dieſer kleine Schatten ſoll ſein Auge reizen, und macht es ſtumpf: dieſe Gradation ſoll ihn ſtufenweiſe hoͤher fuͤh - ren, und macht ihn matt; jene Jnverſion ſoll dem Gedanken einen Schwung geben, und macht den Zuhoͤrer ſchwindlich: wie viel rhe - toriſchen Wendungen des Cicero muß nicht alſo der geiſtliche Redner entſagen, um nicht ein toͤnend Erz zu ſeyn. — Und nun ſezze man dazu, daß unſre ganze Wortfuͤgung, nicht das periodiſche Bild erlaubt, das mit jedem Wort den Gedanken weiter fuͤhrt, beſſeraus -286ausmalt, und bei dem Schlußwort ein Siegel der Vollendung darauf druͤckt. Alle die fei - nen Kuͤnſte der Lateiner gehen verloren, die eine Saite nach der andern mit jedem neuen Wort treffen, und mit dem lezten, das ganze Ohr und die ganze Seele fuͤllen. Da nun die deutſche Sprache hierinn nie die lateini - ſche erreichen kann: warum entſagt ſie denn ihrer eignen Freiheit, um in roͤmiſchen Feſ - ſeln ſich periodiſch im Triumph auffuͤhren zu laſſen?
Hat der Cicero auf der Kanzel mit dem Roͤmer nichts aͤhnliches, als: „ viel Worte „ machen; einen kleinen Gedanken durch weit - „ ſchweifende Redensarten aufſchwellen, laby - „ rinthiſche Perioden flechten, bei welchen „ man dreimal Athem holen muß, ehe man „ einen ganzen Sinn faſſen kann*Litt. Br. Th. 3. p. 91.: „ ſo ver - kennet er Cicero ganz. „ Sein Stil iſt als - „ denn der ſchlechte Kanzelſtil eines ſeichten „ Homileten, der nur deswegen ſolche Pnev - „ mata herpredigt, damit die Zuhoͤrer, ehe „ ſie ans Ende derſelben kommen, den Anfang „ ſchon moͤgen vergeſſen haben, und ihn deut -„ lich287„ lich hoͤren koͤnnen, ohne ihn im geringſten „ zu verſtehen. — „ Wenn ſolche Perioden, „ die man geſchrieben oder gedruckt, durch „ alle ihre verſchraͤnkte und verſchraubte Glie - „ der und Einſchiebſel kaum mit dem Auge „ verfolgen kann, ohne ſchwindlicht zu wer - „ den — wenn ſolche Perioden uns von der „ bedaͤchtlichen langſamen Ausſprache eines „ Kanzelredners Wort vor Wort zugezaͤhlet „ werden; nimmermehr kann die feurigſte „ Aufmerkſamkeit, das beſte Gedaͤchtniß ſie „ in ihrem ganzen Zuſammenhange faſſen, und „ am Ende auf einmal uͤberſehen*Th. 6. p. 313.. Und im „ Grunde ſind dies nichts weniger, als cicero - „ nianiſche Perioden. Man ſuche die aller - „ laͤngſten aus den Reden des Roͤmers: man „ findet keinen einzigen, in welchem die „ Symmetrie in Gedanken und Worten ver - „ nachlaͤßigt iſt. Nur dieſe Symmetrie macht „ die langen zuſammengeſetzten Perioden er - „ traͤglich, beſonders wenn ſie ſelten einge - „ ſtreuet werden**p. 317.. „
Jch ſchreibe dieſe Anmerkungen mit Ver - gnuͤgen ab, weil ſie wahr, nach dem Zuſtandeunſe -288unſerer ciceronianiſchen Schuluͤbungen noͤthig, und wenn ſie auch nur einen einzigen ſchlech - ten Homileten, oder Schulrhetor uͤberzeugten, ſchon nuͤtzlich gnug waͤren. Jch habe ſie aber ſehr ausleſen muͤſſen, weil die Litt. Br. an dieſen Stellen manchmal ſelbſt in den weit - ſchweifigen homiletiſchen Stil*p. 313. unter homi - letiſchſtrenge Gruͤnde, und in homiletiſch lang - weilige Rechtfertigung**p. 321-347. ſich zu verirren ſcheinen. Das erſte und letzte citire ich un - ten; zu dem mittlern rechne ich die Worte: „ Welcher Prophet, welcher Apoſtel, welcher „ Kirchenlehrer hat je das Wort des Herrn „ in ciceronianiſchen Perioden verkuͤndigt? †p. 317.„ Antwort: und wenn kein Apoſtel, Prophet und Kirchenlehrer es ſo verkuͤndigt haͤtte: und der ciceronianiſche Periode waͤre nicht meiner Sprache, dem Licht, der Ordnung, dem Nachdruck einer Predigt entgegen; ja wenn er alles dies befoͤrderte — ſo iſt er immer erlaubt, und noͤthig, denn kein Apoſtel, Kir - chenlehrer und Prophet hat das Wort des Herrn deutſch, auf Kanzeln ſiebzehn hun - dert Jahr nach Chriſti Geburt, in Mantelund289und Kragen, fuͤr unſre Zuhoͤrer gepredigt. Und Paulus macht in ſeiner Sprache, nach ſeiner Denkart, zu ſeinem Zweck doch auch bisweilen Perioden, welche mit allen ihren Parentheſen nie von uns nachgeahmt werden koͤnnen. Eben ſo mag ein andrer unterſuchen: „ ob Cicero ſolche labyrinthiſche „ Perioden alsdenn geflochten, wenn er die „ Ohren einer unwiſſenden Menge kitzeln, „ wenn er gerichtliche Raͤnke brauchen wollte „ u. ſ. w.*Litt. Br. Th. 3. p. 317.. „ Jch weiß nicht, ob Cicero ſolch ein Sophiſt geweſen, ich breche gar vom Kanzelſtil ab, damit nicht, wenn dies waͤre, ein witziger Kopf, der gemeiniglich an der Homiletik zuerſt zum Ritter werden will, mir gar zu dieſem Stuͤck der Parallele ſalutire mit jenen Worten aus Ovids Verwandlungen:
Jch frage vielmehr: Haben denn die Al - ten — haben ſelbſt die Roͤmer — haben ſie ſelbſt in der politiſchen BeredſamkeitihrenFragm. III S. T290ihren Cicero als ſolch ein erhabnes Muſter angeſehen, in quo ingenii humani ſumma vis et quaſi menſura eluxit et conſtitit, und der das groͤßeſte Vorbild ſeyn muͤßte, ſich ihm nicht blos nachzubilden, ſondern ihm nachzuahmen, ihn zum Mittelpunkt der Nach - ahmung in allen Arten der Gelehrſamkeit zu machen — haben ſie ſo gedacht? Es kann ſeyn: aber folgende Worte ſtehen auch in ei - nem Roͤmer, die ſeine Meinung von der al - ten Beredſamkeit enthalten, und die ich gleich auf unſre Homilien deuten kann. „ Caßius Severus lenkte ſich zuerſt von jenem „ gebahnten Wege der alten Rednerei ab: „ aber ich behaupte, nicht aus Schwaͤche des „ Genies, nicht aus Mangel der Gelehrſam - „ keit, ſondern mit reifer Ueberlegung und mit „ Verſtand. Er ſahe nehmlich, daß mit dem „ Geiſte der Zeitalter, und mit der Veraͤnde - „ rung des Numerus fuͤr das Ohr (diuer - „ ſitate aurium) auch die Form und Gat - „ tung der Beredſamkeit ſich aͤndern muͤſſe. „ Damals konnte ein Volk, das unerfahren „ und ungebildet war, noch eine weitlaͤuftige „ Rede ausſtehen: ja ſelbſt das wurde dem„ Redner291„ Redner zum Lobe angerechnet, wenn er einen „ ganzen Tag mit ſeinem Vortrage hinbrachte. „ Daher konnten lange Eingaͤnge und Vor - „ bereitungen, eine Reihe hiſtoriſcher weit - „ hergeholter Umſtaͤnde, der praͤchtige Auf - „ zug mit vielen Eintheilungen, die Steige - „ rung von tauſend Beweiſen, und was es „ ſonſt vor Regeln in den trocknen ſtaubichten „ Buͤchern des Hermagoras und Apollodors „ gibt — alles konnte damals zur Ehre ge - „ reichen: und hatte der Redner noch dazu „ etwas von Weltweisheit genaſchet, und „ brachte aus ihr ein Stuͤck in ſeine Rede — „ o ſo wurde er zum Himmel erhoben! Und „ wer wird ſich hieruͤber wundern? Dies al - „ les war neu und unbekannt; ſelbſt die we - „ nigſten Redner ſahen die Vorſchriften der „ Redekuͤnſtler und die Saͤzze der Weltweiſen „ ein. Aber, mein Gott! jetzt, da alles dies „ bekannt iſt, da kaum jemand an der Kirchen - „ thuͤr ſtehet, (der Roͤmer ſagt in cortina) „ der nicht die Anfangsgruͤnde der Religion, „ (im lateiniſchen ſtudiorum) wenn nicht ver - „ dauet, ſo doch gekoſtet haͤtte: iſt da nicht „ eine neue Rednerbahn noͤthig, um dem OhrT 2„ nicht292„ nicht verdruͤßlich zu werden: inſonderheit „ vor einer Verſammlung, (der Roͤmer ſagt: „ vor Richtern, die nicht nach Geſezz und „ Recht, ſondern nach Gewalt und Anſehen „ ein Urtheil faͤllen,) die ſich nicht immer „ nach Gruͤnden und Pflicht, ſondern nach „ Bequemlichkeit und Neigung beſtimmet, die „ ſich nicht vom Redner Zeit vorſchreiben „ laͤßt, ſondern ſie ſich ſelbſt nimmt. „ So urtheilten die Roͤmer*De cauſſ. corrupt. eloquent. dial. , uͤber einerlei Rede - gattung, vor einerlei Volk, uͤber einerlei Materie, in einerlei Sprache, zu einerlei Zwe - cken; blos die Zeit hatte ſich geaͤndert — Und wir, in einer ganz verſchiednen Art von Beredſamkeit, vor andern Zuhoͤrern, uͤber andre Sache, in einer andern Sprache, zu andern Zwecken, wollen ihnen blind nach - ahmen? —
Jetzt hoͤre man des vorigen Roͤmers Ur - theil von Cicero, uͤber den er doch beſſer ur - theilen konnte, als wir: „ Cicero hat eben - „ falls der alten Beredſamkeit den Ausdruck „ ſeiner Zeit vorgezogen, und hat die Redner „ eines fruͤhern Zeitalters in nichts ſo ſehr„ uͤber -293„ uͤbertroffen, als in Urtheil. Er iſts, der „ die Rede zuerſt ausgebildet, zuerſt eine Aus - „ wahl in Worten, zuerſt Kunſt in Zuſam - „ menſezzung der Theile gezeigt: bluͤhendere „ Stellen verſucht, einige nachdruͤckliche „ Spruͤche erfunden — inſonderheit in ſeinen „ ſpaͤtern Reden, die er in ſeinem Alter auf - „ geſetzt, als er durch Uebung und Erfahrung „ es ſchon gelernt hatte, welches die beſte Art „ des redneriſchen Vortrages ſey. — Aber „ ſeine erſten Reden haben nicht ganz die Feh - „ ler der alten Beredſamkeit vermieden: er „ iſt in den Eingaͤngen ſchlaͤfrig, im Erzaͤhlen „ weitſchweifig, ſchweift muͤßig aus: koͤmmt „ ſpaͤt in Hitze, und ſelten wird dieſe Hitze „ Feuer u. ſ. w. „ Jch fuͤhre dieſe Stelle an, nicht als wenn wir die Fehler zu vermeiden haͤtten, die ihm Aper Schuld gibt, die muſte man damals vermeiden, da der Verfaſſer dies ſchrieb, und in Abſicht auf uns hat ſich dieſe juͤngere Beredſamkeit ohnſtreitig wider ſehr geaͤndert. Jch will nur das ungeheure Vorurtheil beſtuͤrmen: Cicero iſt ein Muſter der Beredſamkeit, ſchlechthin und ohne Ein - ſchraͤnkung: ihn nachahmen, heißt OriginalT 3ſeyn!294ſeyn! und zehn ſolche hochtrabende Ausdruͤ - cke, nach denen man in unſern Schulen, wie man ſich ruͤhmt, junge Ciceronen bildet, und ſie mit einem reinen gewaͤſſerten Stil zu einem lateiniſchen Perioden in ihrer lieben Mutter - ſprache gewoͤhnet. Erneſti in ſeiner nuͤtzli - chen Vorrede zu Cicero, und Klotz in ſeinem Genius ſeculi de Ciceronianis haben einige im Schwange gehende Fehler der woͤrtlichen Nachahmung geruͤget: wie weit der veraͤn - derte Geiſt der Zeiten und Situationen ſelbſt dem Geiſt der Beredſamkeit eine andre Ge - ſtalt gegeben — will ich nicht unterſuchen, ſondern kehre zu meinen geiſtlichen Cicero - nen zuruͤck. Mein folgendes Fragment be - trachtet die Homiletik nicht zunftmaͤßig und theologiſch: ſondern als ein Stuͤck der Litte - ratur; in dieſem Geſichtspunkt leſe man es*Da es hier unter lateiniſchen Schriftſtellern exuliren wuͤrde: ſo bleibts unter meinen Papieren.. Es geht den vorigen Vergleichungen der Briefe nach, und zeigt: daß die Homiletik eine ganz andre Beredſamkeit fodre: daßſie295ſie allemal bei Ausbildung nach der poli - tiſchen der Alten leiden muͤſſe: und an ſich ihrem wahren Begriffe nach ihr ganz und gar nicht nachſtehe.
Jch werde vielleicht nie mehr ſo nahe, an die Graͤnzen der Theologie ſtreifen; und nehme daher noch einen kleinen Ausweg.
Ob ich gleich in meinen Fragmenten nichts minder, als den Jnſekten aͤhnlich ſeyn will, die inſonderheit nach faulen Schaden hin - gezogen werden, ſich von der Faͤulniß naͤh - ren, und in ſie ihre Brut legen: ſo muß ich doch, der Verwandſchaft meiner Materie wegen, nachdem ich mich an ſo viel bluͤhen - den Stellen genaͤhrt und ergoͤtzet, und ſie vielleicht fruchtbar gemacht, auf Nuancen der Litt. Br. kommen: die ich vorbeigehenT 4wollte.296wollte. So ſiehet ein Geliebter in den Ge - heimniſſen ſeiner Schoͤne Verunſtaltungen, er will ſie nicht ſehen, und ſchlaͤgt die Augen nieder; aber er ſieht auch in dieſen Geheim - niſſen etwas Anſteckendes, das kann er eben aus Liebe zu ihr nicht verſchweigen.
Ein Kunſtrichter ſieht ſeinem Schriftſteller ins Geſicht, ohne nach ſeinem Herzen zu ſchie - len. Er irret; — warum mußte der Jrr - thum aus dem Herzen kommen? leite ihn in den Verſtand zuruͤck und beſſre ihn. Jſt der Jrrthum ſchaͤdlich; ohne den Jrrenden uͤber die Achſel verachtend anzuſehen, und zu eifern: zeige blos das Nicht-Nuͤtzliche in ſeinem Jrrthum; ſo wird ihn kein Menſch annehmen. Es gibt gewiſſe Seitenblicke, die mehr ſagen, als ein ganzes Geſpraͤch, die der, ſo ſie gethan, leicht wegſchwatzen kann; aber der, ſo ſie geſehen, laͤßt ſie ſich nicht wegſchwatzen. Ein Wort vergißt man; ein Blick bleibt in der Seele.
Jch habe Wielands Letzte der Sympa - thien in ſeinen proſaiſchen Schriften geleſen, und ſie iſt der Pendant zu der Recenſion*Litt. Br. Th. 1. p. 35. 36. 40. 62. 63. 64., dieihn297ihn nicht blos klein; ſondern ſchwarz macht: zwei ſehr verſchiedne Sachen. Wenn Wie - land zum Reformator ungeſchickt iſt, wie ichs gerne zugebe, warum muß er zu verſte - hen geben, daß er aus dem Jnhalt der Dog - matik ſich nichts mache, „ warum muͤſſen die „ Theologen aufgeboten werden, dies in Be - „ trachtung zu ziehen*Litt. Br. Th. 1. p. 63. 64., „ warum wird Shaftes - buri hier als der gefaͤhrlichſte Feind der Re - ligion ihm zur Seite geſtellt; es iſt ja uͤberall von Methode die Rede, und dieſe iſt ſchlecht; der Kunſtrichter kann ſie widerlegen: er kann das Unnuͤtze und Schaͤdliche ſeiner Vorſchlaͤ - ge zeigen: er ruft aber aus: Mordbrenner! ehe man recht weiß, wo es brennt.
Cramers Methode, einem Kinde Jeſum kennen zu lernen, mag untauglich ſeyn, „ weil „ ſie eine Entkraͤftung, nicht Erleichterung „ mit ſich fuͤhrt**Litt. Br. Th. 3. p. 59., „ aber warum muß man ſich†p. 65. wundern, wie der Aufſeher eine ſo heterodoxe Lehrart zur Nachahmung habe an - preiſen koͤnnen. Setzt dies nicht zum vor - aus: der Aufſeher ſollte orthodox ſeyn, ſiehtT 5ſeine298ſeine Lehrart heterodox an, und preiſet ſie, vielleicht aus Liebe zur neuern Heterodoxie, an: denn ſo heißen die folgende homiletiſche Er - eiferungen: „ aber wiſſen Sie denn nicht, daß „ jetzt ein guter Chriſt ganz etwas anders zu „ ſeyn anfaͤngt, als er noch vor dreyßig, „ funfzig Jahren war? Die Orthodoxie iſt „ ein Geſpoͤtte worden; man begnuͤgt ſich mit „ einer lieblichen Quinteſſenz, die man aus „ dem Chriſtenthum gezogen hat, und weicht „ allem Verdacht der Freidenkerei aus, wenn „ man von der Religion fein enthuſiaſtiſch zu „ ſchwatzen weiß. „ Wie waͤre es, wenn dieſe Worte in einer allgemeinen deutſchen Bibliothek gepruͤft worden waͤren?
Aber es kann alles dies ſeyn: das bleibt doch immer, daß es eben dieſer Recenſent nicht wiſſen, hier bei dem Aufſeher ſagen, und bei dieſer Gelegenheit am mindeſten ſa - gen durfte. Der Aufſeher irrt in der Er - ziehungsmethode ſeiner Kinder; iſt er darum ein Heterodox, nicht ſo ein guter Chriſt, als die Leute vor dreyßig Jahren; gehoͤrt er zu der Zeit, der die Orthodoxie ein Geſpoͤtte iſt u. ſ. w. Der Kunſtrichter darf freilich nichtalles299alles eben auf ihn gemeinet haben; aber wenn er mehr, als ein guter Chriſt, wie die Leute vor funfzig Jahren ſeyn will, ſo muß er uns nicht ungewiß laſſen, auf wen ers ſagt: er muß bedenken, daß er ein Brief - ſteller der Litteratur im Jahr 1759. ſeyn ſoll, den die Orthodoxie, das Chriſtenthum, der Verdacht der Freidenkerei, das fein enthuſia - ſtiſche Geſchwaͤtz, die Quinteſſenz u. ſ. w. nichts angeht; der hoͤchſtens daruͤber urthei - len ſoll, ob das Kind ein Socinianer wird; nicht aber daruͤber, ob es der Vater zum Socinianer machen wollte, ob ſeine Me - thode Lehrbegrif ſey, und ob es eben ſeine Abſicht ſey, dieſen Lehrbegrif, dieſe Quint - eſſenz mittheilen zu wollen; ob es ſein Zweck geweſen, die Wahrheit, die er er - leichtern wollte, zu entkraͤften, zu verſtuͤm - meln, herabzuſetzen: denn ſonſt iſt der ganze Eifer hier am unrechten Ort. Und uͤberhaupt dieſe orthodoxe Unterſuchung, gehoͤrt ſie zu „ liederlichen*Th. 4. p. 403. „ Briefen uͤber die neueſte Litte - ratur? — Doͤrfte es nicht, ſo fremde alsdie300die Ueberſchrift waͤre*Th. 5. p. 198.: „ Die goͤttliche Na - tur Jeſu vertheidiget von einem Berliner Ju - den, gegen den Hrn. Hofprediger Cramer „ eben ſo fremde laſſen: „ die Orthodoxie des Hrn. Hofpr. Cramers beſtritten in den Brie - fen uͤber die neuere Litteratur: „ und wenn auch die ganze Frage ſich darauf einſchraͤnkt: „ ob dieſe Art, ein Geheimniß beyzubringen, anzurathen ſey? „ ſo ſage ich lieber**Th. 5. p. 202.: „ daruͤber moͤgen unſre Theologen urtheilen! „ dem kranken Officier doͤrfte nicht eben ſo viel daran liegen.
Man ſieht; ich bin kein Vertheidiger des Hofpredigers, der von ihm eine Pfarre haben will! ich bin auch kein Rechthaber gegen die Litt. Briefe; denn ich weiß, daß wenn es aufs Entſchuldigen ankoͤmmt, jeder der beſte Erklaͤrer ſeiner Worte ſeyn wolle: ich bin auch kein gruͤndlicher orthodoxer Theolog, um die Streitfrage zu unterſuchen; aber wenn ich auch blos als ein ehrlicher Laye, der ſein grie - chiſch Teſtament verſteht, urtheile: ſo iſt die theologiſche Widerlegung des Recenſenten†Litt. Br. Th. 6. p. 357-368.geſucht,301geſucht, und ich wollte ihn gewiß nicht zu meinem Bibelerklaͤrer nehmen, wenn er die Bibel, wie Blifil lieſet, dem Thomas Jo - nes Pruͤgel zu verſchaffen.
Er will die Rede des Apoſtels vor den Athenienſern, vor Felix, vor Agrippa ret - ten: gerettet hat er ſie; denn auch ich finde durchaus die Crameriſche Methode nicht in ihnen; aber wie er weiter fortſchließt? — das iſt eine andre Frage. Das ſieht man doch bei dem erſten Anblick: daß Paulus ſich nach den Begriffen der Athenienſer beque - me, nicht um ihnen zu ſchmeicheln, ſondern ihre Neugierde, ihre Religioſitaͤt, ihren Altar des unbekannten Gottes, ihren Hoch - muth, daß ſie das erſte Volk waͤren, auf den Begriff des wahren Gottes, auf eine neue Zeitperiode der Sinnesaͤnderung, und auf große Erwartungen in der Zukunft zu lenken. Er ließ ſich in ihre Welt der Denkart herab, um ihnen das Charakteriſtiſche ſeiner Religion zu zeigen, wie es von der ihrigen abſtach: ihre. Neigung zum Wunderbaren und Reli - gioͤſen feſſelte, und ihre Jrrthuͤmer zerſtoͤrte. Jch ſehe alſo nicht, daß P. von Chriſtoſchweigt,302ſchweigt, um Hr. Cramers Methode zu be - weiſen: aber das weiß ich auch nicht, ob wenn P. „ noch ein zweites Wort geſprochen, es ohnfehlbar von der Gottheit dieſes Man - nes wuͤrde geweſen ſeyn. *Th. 6. p. 359.„ Wie weiß das der Kunſtr. ſo ohnfehlbar? das iſt immer ein barmherziger Schluß: das wuͤrde er ge - than haben, wenn er nicht unterbrochen waͤre! Daß P. ſo gewaltſam unterbrochen**p. 358. ſey, als wenn der Donner in unſre Kirche waͤh - rend einer Predigt ſchlaͤgt, wird der nicht ſa - gen, der den Markt zu Athen auch nur als Fremdling kennet, der die Worte im Griechi - ſchen geleſen, und der da weiß, daß dieſe gan - ze Rede ſich eher einem Diſcours nahe. — Beweiſen kann Cramer eigentlich nichts fuͤr ſich; aber ihn hieraus widerlegen auch nicht, und es wird laͤcherlich, wenn der Recenſ. ſich auf die neuen Goͤtter†p. 361. beruft, nach ſeiner Ueberſezzung. Auch der Jeſus der Socinianer iſt doch mehr, als die δαιμονια der Athenien - ſer, die blos glaubten, P. waͤre ein Bote fremder Schutzgoͤtter. (ξενων δαιμονιωνκαταγ -303καταγγελευς) Der Recenſ. will Cramern ſeinen Stab aus der Hand winden; darinn hat er recht; er will ihn aber mit dieſem ſei - nen eignen Stabe auch zuͤchtigen: das iſt zu viel.
Jch habe es ſchon geſagt: ich bin ein Laye; ich weiß alſo nicht, ob Heumanns exegeti - ſche Erklaͤrungen*Litt. Br. Th. 6. p. 361. ſo ganz außer Zweifel ge - ſetzt ſeyn moͤchten; ich habe weder Seb. Schmidt, noch Fabricius, noch Heumann geleſen, aber, wie ſie der Ret. anfuͤhrt**p. 362-364., ſo kann Schmidt und Fabricius Recht haben, daß P. ſich den Begriffen und der Sprache ſeiner Zuhoͤrer bequemt, und ſich vor den blos juͤdiſchen Ausdruͤcken und Vorſtellungsarten jetzt in Acht nimmt: und Heumann kann Recht haben, daß er deswegen keine Jeſuiti - ſche Bekehrungsklugheit bewieſen habe; und doch folgt nichts fuͤr und wider Cramer.
Dies gilt auch von der Rede vor Felix: nichts fuͤr Cramer: es iſt eine Schutzrede des Paulus! Nichts wider Cramer, denn die Worte: er hoͤrte ihn vom Glauben anChri -304Chriſtum*p. 366. (περι της εις χριστον πιστεως) ſind ja offenbar blos der Titel einer chriſtli - chen Predigt, der dem Lucas und andern ge - laͤufig iſt. Felix will von Paulus neuem Glauben was hoͤren, aus Neugier; P. aber lenkt, ſtatt dieſe zu ſtillen, den Vortrag dar - auf, um ihn zu beſſern. Wo weiß der Rec.**Ebendaſeldſt. daß „ Felix und ſeine Gemahlinn den Apoſtel „ von den unbegreiflichſten Geheimniſſen un - „ ſerer Religion gehoͤret; daß ſie uͤber dieſe „ unbegreifliche Geheimniſſe nicht erſchrocken „ ſind, daß dieſe unbegreifliche Geheimniſſe „ nicht Schuld hatten, daß ſie nicht Chriſten „ wurden — „ mein Gott! wo hat der Mann das alles her? —
So auch in der Schutzrede P. vor Agrip - pa! Sie iſt offenbar nichts, als Schutzrede vor einem Manne, der ein Jude war, in einem Geſichtspunkt, den er beurtheilen konnte, daß P. kein Veraͤchter der juͤdiſchen Religion, und worinn die chriſtliche von jener abgehe, noͤ - thig, und beſſer ſey. Hier alſo gar nichts fuͤr Cramer; aber wider ihn? auch nichts! wieſchwer305ſchwer ſind doch die Fragen, uͤber die der Recenſ. hinſpringt? *Th. 6. p. 367. 368.„ was dachten die Ju - den vom Meßias? was erwartete Agrippa in ihm? in wie weit konnte ſich P. ihnen be - quemen? und mußte ſie widerlegen? – „ Und war das nicht blos der letzte Nebenzweck, den der Rec. ſo gewiß zum Hauptzwecke macht: „ er mußte ihn uͤberfuͤhren, daß Jeſus der ver - ſprochene Meßias ſey! „
Gnug! damit nicht jemand von dieſer Streitigkeit bei mir ſage, was ich von dieſen ganzen weitlaͤuftigen Zaͤnkereyen in den Litt. Br. wuͤnſche: o waͤren ſie nicht! Es mag indeſſen, wer da will, das letzte Wort behal - ten — das fuͤhle ich: daß ich nicht eben wuͤn - ſche, dieſer Rec. zu ſeyn, um meiner ſelbſt willen: und wenn ganz Deutſchland voll von ihnen waͤre: ſo wuͤrden wir jenem Kriegs - heere aͤhnlich ſeyn, welches, da der Mond den Schatten der Feinde weit von ſich ſtreckte, auf dieſe Schatten ſeine Pfeile druͤckte. Frei - lich war dieſe Tapferkeit nuͤtzlich, um ſie warmundFragm. III S. U306und in Bewegung zu erhalten: aber uͤbrigens ſo viel, als Muͤßiggang.
Jch habe in dem erſten Stuͤck dieſer Sammlung den Gedanken mit dem Ausdruck zuſammen gepaſſet: dies iſt die beſte Seite, um an die ſchluͤpfrige Materie zu taſten, die Klopſtock wider ſeinen Willen darſtellte. Er ſagt, in ſeiner dritten Art uͤber Gott zu denken:*Nord. Aufſ. Th. 1. St. 25. „ Sich der oberſten Stufe naͤhern, „ nenne ich, wenn die ganze Seele von dem, „ den ſie denkt, ſo erfuͤllt iſt, daß alle ihre „ uͤbrigen Kraͤfte von der Anſtrengung ihres „ Denkens in eine ſolche Bewegung gebracht „ ſind, daß ſie zugleich und zu einem Endzwe - „ cke wuͤrken: wenn wir uns nicht enthalten „ koͤnnen, unſer Nachdenken durch irgend ei - „ nige kurze Ausrufungen der Anbetung zu un - „ terbrechen; wenn, wofern wir darauf kaͤ - „ men, das, was wir denken, durch Worte aus - „ zudruͤcken, die Sprache zu wenige und zu „ ſchwache Worte dazu haben wuͤrde. Wofern„ man307„ man im Stande waͤre, aus der Reihe, und „ daß ich ſo ſage, aus dem Gedraͤnge dieſer „ ſchnellfortgeſetzten Gedanken, dieſer Gedan - „ ken von ſo genauen Beſtimmungen, einige „ mit Kaltſinn herauszunehmen, und ſie in „ kurze Saͤzze zu bringen; was fuͤr neue Wahr - „ heiten von Gott wuͤrden oft darunter ſeyn! „ So Klopſtock, und ſein Recenſent:*Litt. Br. Th. 3. p. 78. „ Die „ Sprache kann alles ausdruͤcken, was wir „ deutlich denken; daß ſie aber alle Nuancen „ der Empfindung ſollte ausdruͤcken koͤnnen, „ das iſt eben ſo unmoͤglich, als es unnoͤthig „ ſeyn wuͤrde. Keine einzige neue Wahrheit „ laͤßt ſich im Taumel unſrer Empfindungen „ haſchen! Jch verdenke es dem Verf. ſehr, „ daß Er ſich bloß gegeben, ſo etwas auch „ nur vermuthen zu koͤnnen u. ſ. w. „ Jch will nicht weiter abſchreiben; der Rec, ſieht K. an der wahren Quelle aller fanatiſchen und enthuſiaſtiſchen Begriffe von Gott: ſieht dies als Jrrthuͤmer an, als den Weg, ein Schwaͤr - mer, ein Boͤhme, ein Pordage zu werden, ſieht eine Theorie, die den BeſchuldigungenU 2der308der Gottſchede und Hudemanns zu ſtatten koͤmmt. – – Himmel, was ſieht der Mann alles? Jch bin doch auch, ſagte jenes naive Maͤdchen bei Eulenſpiegels Malerei, die kein unaͤchtes Kind ſehen ſollte, ich bin doch auch kein Hurenkind, und ſehe nichts!
Wer hat es denn dem Kunſtrichter in den Kopf geſetzt: Klopſtock wolle philoſophi - ren! *Th. 6. p. 375. 377.Klopſtock philoſophiren? Die beſte Art zu denken, iſt ja nicht die logiſch beſte bei ihm: das ſagt er ja nirgends, und daß er ſich hievon zu ſchreiben nicht uͤbernimmt, zeigen ſeine oͤfters unbeſtimmte Ausdruͤcke, die ja nicht Philoſophie ſeyn koͤnnen. Und doch redet der Kunſtr. vom Philoſophiren be - ſtaͤndig; will Neues haben, wo K. an nichts Neues denkt: proteſtirt wider Jrrthuͤmer, ſpricht von der uͤblichen Sprache der Welt - weiſen, und ſieht uͤberall dies Stuͤck im Auf - ſeher, als ein Programm an, das im Namen eines Prof. der Metaphyſik am ſchwarzen Brette feierlich zu einem Collegio uͤber dienatuͤr -309natuͤrliche Gottesgelahrtheit einladet. Er lieſet als Philoſoph, und Klopſtock ſchrieb — wie kann Er auch anders ſchreiben? — als gefuͤhlvoller Menſch, Chriſt und Dichter. Haͤtte der Kunſtrichter dies nachdrucksvolle Er*Th. 6. p. 376. 377. bedacht: ſo wuͤrde er ihn haben erklaͤ - ren koͤnnen, nicht ankezzern doͤrfen.
Da iſt mit einem mal der graͤuliche Knote aufgeloͤſet, der K. mit Schwaͤrmern, mit Jrrgeiſtern, mit Enthuſiaſten, zuſammenknuͤ - pfen will. Die philoſophiſche Art von Gott zu denken iſt, aus einem menſchlichen Sehe - punkt betrachtet, daß eine blos kalte meta - phyſiſche Denkart der ganzen Beſtimmung des Menſchen, der ganzen Natur ſeiner See - le, und der ganzen Beſchaͤfftigung ſeines Lebens nicht angemeſſen ſeyn doͤrfte: und ſo fern hat er voͤllig Recht. — Die zweite Denkart iſt der Zuſtand chriſtlicher Em - pfindungen, wie ſelbſt der Rec. erkennet; und daß hier nichts ſchwaͤrmeriſches ſey, wird mir jeder zugeben, der einige ErbauungsſtuͤckeU 3dieſer310dieſer Art geleſen; ja ich kann hier einen Ver - faſſer nennen, der ſich doch gewiß nicht zu den Fanatikern verſteigen wird — es iſt Spal - ding. Man leſe ſeine Abhandlung: vom vernuͤnftigen Werth der Andacht, und man hat eine Schutzrede fuͤr K. geleſen: was kann man aber davor, wenn K. ſich nicht philoſophiſch ausdruͤckt, da ſein Rec. und ſein Vertheidiger Baſedow ſolche Ausdruͤcke ſelbſt in der erbaulichen Denkart an Gott ſuchen. — Nun die dritte Denkart! Alle ungeheure Schatten von Jrrthuͤmern ver - ſchwinden, wenn, (und was iſt bei K. ver - muthlicher als dies wenn?) wenn man ſie nennt, die Denkart eines gefuͤhlvollen chriſt - lichen Dichters! Eine poetiſche Einbil - dungskraft koͤmmt zu der menſchlichen Vor - ſtellungsart, und zu den chriſtlichen Empfin - dungen dazu, und ſiehe da! iſt Klopſtocks beſte Art uͤber Gott zu denken. Fuͤr K. die beſte Art? Ob fuͤr K. als den Nord. Aufſ. ? Ob fuͤr jeden Leſer des Aufſehers? Ob fuͤr jeden Chriſten? Schwere Fragen! aber die hat niemand erregt: gnug! es iſt die beſteArt311Art fuͤr K. als einen Dichter der Religion, und fuͤr jeden ſympathetiſchen Leſer.
Und kann K. nun nicht in einen Enthuſiaſ - mus gerathen, wo ihm ſchwer wird, was er denkt, durch Worte auszudruͤcken, wo die Sprache fuͤr ihn zu ſchwache, zu wenige Wor - te hat —? Allerdings! und wo bleibt nun die an ſich wahre Anmerkung des Recenſ. : „ Ja! das koͤmmt daher, daß du nicht deut - lich denkeſt. „ Jn dieſer poetiſchen Begei - ſterung konnte, und dorfte, und mußte ich auch nicht blos deutlich denken, ſonſt waͤre ich ein elender Tropf geworden. Wo bleibt der Machtſpruch: „ daß die Sprache alle Nuancen der Empfindung ſollte ausdruͤcken koͤnnen: das iſt eben ſo unmoͤglich, als es unnoͤthig ſeyn wuͤrde. „ Unmoͤglich? das wollte ich faſt ſagen: denn wer je etwas von der Begeiſterung geſchmeckt, da unſre Ein - bildungskraft ringet, um Bilder und Empfin - dungen, ungeſagte Bilder, und wahre, maͤch - tige, lebhafte Empfindungen auszudruͤcken, der wird die ſuͤße Muͤhe, die freudenvolle Geburtsſchmerzen kennen, in denen ein KindU 4des312des Genies zur Welt gebohren iſt. Eine Empfindung in ihren Nuancen auszudruͤcken, iſt alſo aͤußerſt ſchwer (man erinnere ſich an mein ſechſtes Fragment) aber unnoͤthig? Wie kann ich eine Empfindung ohne dieſe Nuancen erhaſchen, ausdruͤcken, wieder er - kennen? Der Kunſtrichter wird eigenſin - nig: ich appellire an das Publikum. — Haͤtte K. uns ſeine Empfindungen in allen ihren Nuancen zeichnen koͤnnen: ſo haͤtte derſelbe G. nicht ſo delikat ſagen doͤrfen: K. Lieder ſind ſo voll Empfindung, daß man nichts dabei empfindet! — Da das aber unmoͤglich iſt, eine Empfindung mit allen ihren Nuancen in einer Sprache der Ver - nunft zu zeichnen; ſo bin ich gerade der ge - genſeitigen Meinung: „ eine Empfindung muß mit ihren Nuancen ſich beſtmoͤglichſt aus - druͤcken; „ ſonſt erkennet man ſie nie wie - der: — „ man ſuche alſo die reichſten und triftigſten darunter, „ damit ſie auch wieder Empfindung wuͤrke. Das erſte Merkmaal hat K. uͤberall gezeigt, und er iſt in meiner Seele unſer groͤßte Dichter an Empfindung;das313das zweite hat er mannichmal verfehlt; aber das bleibt immer, daß einige Sticke aus ſei - nem Meßias, einige ſeiner proſaiſchen Oden, und einige ſeiner Lieder, gleichſam lebende Ausdruͤcke dieſer weichen, menſchlichen, chriſtlichen, dichteriſchen Einbildungskraft ſind. Jch ſage mit dem Wort, lebende Aus - druͤcke, ſo viel, als ich ſagen kann; nur man muß als Menſch, als Chriſt, als Dichter, nicht aber als ein genauer Philoſoph und ekler Kunſtrichter leſen: ſonſt nimmt man kei - ne dieſer Nuancen wahr, und empfindet da wenig oder nichts, wo der andre viel empfin - det. Freilich iſts bei dieſer Gattung des poetiſchen Ausdrucks wahr: niemand empfin - det ſo viel dabei, als der Dichter, da ers dachte; ſelbſt er, empfindet nicht voͤllig mehr ſo viel, wenn er es lieſet; und ein fremder Leſer mit einem andern Ton der Seele viel - leicht noch minder. Allein, da die Sprache eigentlich gar kein Ausdruck der Empfin - dung, ſondern mehr der Begriffe iſt: ſo ſchreibe ich auf meine kleine Scherbe willig auf: omne tulit punctum! wenn ein PoetU 5in314in ſeine Sprache nur einige lebhafte und ruͤh - rende Nuancen der Empfindung hineinkaͤm - pfen kann: und der geiſtliche Liederdichter iſt ohne Bedenken bei mir der groͤßeſte, der „ ein Lieblingsdichter aller alten Weiber „ iſt. Der ſpottende Kunſtrichter denkt da - mit K. herunter zu ſezzen*Litt. Br. Th. 6. p. 377.: ich aber beklage ihn, daß er dieſe Stufe nicht erreicht, und ich wuͤnſche ſie ihm vor andern kaͤltern Lie - derdichtern gewiß zum voraus.
Aber kann man auch in dieſem Taumel von Empfindungen neue Wahrheiten ha - ſchen? Neue, wirklich neue philoſophiſche Wahrheiten? Nein! und Klopſtock iſt ein Schwaͤrmer, wenn er eine einzige dieſer ſich hervordraͤngenden Gedanken in die Reihe der Wahrheiten ſezzt, die die natuͤrliche und geoffenbarte Theologie von Gott lehret. Aber das wird K. bei ſeinem unvorſichtigen Ansdruck: Wahrheiten, nicht haben ſagen wollen: denn man weiß ja, was einem dich - teriſchen Kopf Wahrheit iſt: poetiſch wahr - ſcheinliche Vermuthungen, ſinnlich lebhafteVor -315Vorſtellungsarten, moraliſch gewiſſe Empfin - dungen, die nur jenen Wahrheiten der Phi - loſophie und Offenbarung nicht widerſprechen doͤrfen und muͤſſen. Und wie reich iſt K. uͤberall an ſolchen neuen Gedanken, die ſeine poetiſche Empfindung hervorgedraͤnget, in die Sprache gezwungen, und die ſich in dieſer Geſtalt in unſer Herz lagern. Meine Ein - bildungskraft iſt viel zu kalt, um bei geſun - dem Verſtande je ein Schwaͤrmer zu werden; aber das weiß ich, daß manche einzelne Stel - len aus K. ſo tiefe Eindruͤcke in mich ge - macht, daß ſie Tagelang den Ton meiner Seele haben ſtimmen koͤnnen; und bei dem lebendigen Leſen dieſes Dichters — in dieſem Zuſtande allein iſts moͤglich, die Denkart ſich vorzuſtellen, da K. empfand und dachte, und erfand, und mit ſeiner Sprache kaͤmpfte, und ſprach. — —
Jch habe mich mit Fleiß ſtatt der philo - ſophiſchen Kunſtwoͤrter, mit denen alles frei - lich ungleich deutlicher wuͤrde, der ſtreitigen Ausdruͤcke ſelbſt bedient: nun laſſe ich einpaar316Paar andre gruͤndlichere Maͤnner auftreten: wohin wird ſich die Waage neigen?
„ Klopſtock unternahm es, die feinſten „ und unbemerkteſten Empfindungen dem An - „ ſchauen der Menſchen darzuſtellen, oder die „ ſtaͤrkſten und erſchuͤtterungsvolleſten Leiden - „ ſchaften nach der Natur zu ſchildern. Er „ mußte deswegen auf alle ihre Zuͤge und „ Wendungen, auf ihre mannichfaltigen Wir - „ kungen und Verhaͤltniſſe Achtung geben, „ und ſie von ihrer Geburt an, bis auf ihre „ hoͤchſte und feinſte Entwickelung, bis zu ih - „ rer tiefſten Entfernung in die Seele verfol - „ gen; das heißt: er mußte ſie anſchauend „ erkennen, ehe er ſie anſchauend darſtellen „ konnte. „ *Litt. Br. Th. 13. p. 15.Wenn K. nun dieſe Zuͤge und Wendungen und Verhaͤltniſſe zu dieſem an - ſchauenden Bilde, neue Wahrheiten nennt: ſo iſt er Genie: ein liebenswuͤrdiger poeti - ſcher, nicht aber ein irrender theologiſcher Schwaͤrmer: ein Enthuſiaſt, der ſeine Em - pfindungen zu einer außerordentlichen Hoͤhe aufſchwingt; nicht aber ein Fanatiker, derden317den phyſiſchen Einfluß eines hoͤhern Weſens zu fuͤhlen, und ſich von ihm mit neuen Wahrheiten beſchwaͤngert glaubt: — zwei unendlich verſchiedne Namen, die aber gar zu oft verwechſelt werden.
Jch habe gerettet, was K. hat ſagen wol - len: ohne mich daruͤber zu ſtreiten, was er geſagt. Jch habe es gerettet, ohne die Fra - ge zu beantworten: ob große Genies mit dem Verſtande empfinden koͤnnen? *Litt. Br. Th. 13. p. 27.Ein Einfall, den die philoſophiſche Laune des ſinnreichen D. ausgeboren, der das ſchmei - chelhafteſte Compliment fuͤr die Genies, und fuͤr K iſt, den ich ſo wenig, als D. beſtaͤti - gen kann, da ich auch ſagen muß: „ zu de - ren Mittel ich nicht gehoͤre! „ der aber aus der vorangefuͤhrten Klopſtockſchen Behan - ptung, vielleicht beſtaͤtigt wuͤrde: — viel - leicht und vielleicht auch nicht; ich habe ſei - ner nicht noͤthig.
Die Natur der menſchlichen Seele verken - net uͤberhaupt in ihren Wuͤrkungen die Ab - theilung der Kraͤfte, wie die Philoſophen ſiein318in ihr abgetrennet. Freilich bleiben es im - mer zwo verſchiedne, und ich doͤrfte faſt ſa - gen, einander entgegengeſetzte Seiten: leb - haft empfinden, und deutlich denken: an - ſchauend erkennen, und abſtrakte Jdeen bil - den; ſinnlich unterſcheiden, und das Merk - maal des Unterſchiedes vernuͤnftig wahrneh - men; hierinn hat D. dem Verf. des Ver - ſuchs uͤber das Genie ſeine Luͤcke, wie mich daͤucht, ſehr wahr gezeiget. Da aber eine jede Menſchenſeele dieſe beide Faͤhigkeiten, ge - meinſchaftlich, wiewohl nicht in gleichem Maaß und Ebenmaaß, ausgebildet: ſo koͤn - nen unſre anſchauende Kraͤfte, in dieſem Zu - ſtande der dichteriſchen Empfindungen, von der Vernunft gewiſſe Wahrheiten und Ge - genſtaͤnde borgen, ſie auf eine Zeitlang als Geſchoͤpfe ihrer Art behandeln, daß es faſt ſchiene, daß ſie mit der Vernunft empfaͤnden. Allein, dieſe kleinen Umtauſchungen verruͤcken nie dem Philoſophen die Graͤnzen, ob das Genie gleich dieſe ganz und gar niederreißt. Es iſt fuͤr mich eben ſo unbegreiflich: daß eine menſchliche Seele mit dem Verſtandeempfin -319empfinden koͤnne, und daß es philoſophiſch wahr waͤre: K. Einbildungskraft erfindet neue Wahrheiten — als es mir unbegreif - lich iſt: wie ein hoͤheres, voͤllig geiſtiges We - ſen ſich eine ſinnliche Empfindung rein und deutlich denken koͤnne. Jch weiß nicht, ob ich die Schwierigkeit helle gnug zeige: aber alsdenn koͤnnte ich ſie mir auch aufloͤſen.
Jndeſſen ſoll uns dieſe Bloͤdigkeit, mit wel - cher wir in die Seele ſchauen, auch bloͤde machen, von den Empfindungen andrer zu urtheilen. Was mir vielleicht blos eine Rah - rung des Verſtandes, oder eine Aufregung der Einbildungskraft duͤnkt: kann bei dem andern wirkſamer auf ſein Herz, oder mind - ſtens eine Folge von erregten Empfindungen ſeyn. Dieſe Entſchuldigung mag zum vor - aus der Einwendung begegnen: „ wie kann „ K. eine poetiſche Art uͤber Gott zu denken, „ jedem Chriſten als die beſte anpreiſen? „ —
„ Die beſte Art uͤber Gott zu denken iſt, „ die jeder Chriſt haben kann, und ſoll. Und „ von dieſer Art iſt die Klopſtockſche dritte „ eben nicht. Es kann aufs hoͤchſte die Denk -„ art320„ art eines Chriſten ſeyn, der zu gleicher Zeit „ ein Dichter iſt, und zwar ein Dichter, der „ ſeine Religion ungemein zu ehren glaubt, „ wenn er ihre Geheimniſſe zu Gegenſtaͤnden „ des ſchoͤnen Denkens macht. Gelingt es „ ihm nun hiemit: ſo wird er ſich in ſeine „ verſchoͤnerte Andacht verlieben, ein ſuͤßer „ Enthuſiaſmus wird ſich ſeiner bemeiſtern, „ und der erhitzte Kopf wird mit allem Ernſt „ anfangen, zu glauben, daß dieſer Enthuſiaſ - „ mus das wahre Gefuͤhl der Religion ſey. „ Jſt er es aber? Und iſt es wahrſcheinlich, „ daß ein Menſch, der die Allgegenwart Got - „ tes denkt, wirklich das dabei denkt, was er „ denken ſollte, wenn er ſeine Andacht auf „ die Fluͤgel des Klopſtockiſchen Hexameters „ ſetzt und anhebt:
Als ich das kleine Leben noch lebte u. ſ. w. „ Alles ſchoͤn! aber ſind das Empfindungen? „ Sind Ausſchweifungen der Einbildungskraft „ Empfindungen? — „ Dieſe Einwuͤrfe, die die Litterat Br. nicht ganz unrecht Wie - lands Empfindungen*Th. 1. p. 38. machten, koͤnntemir321mir jemand hier wiederholen. Jch will ſie ſo fern zugeben, daß K. beſte Art, uͤber Gott zu denken, nicht fuͤr jeden, zu aller Zeit, einzig und allein die beſte Art ſeyn koͤnne: daß bei Leuten von groben Begrif - fen die zweite vielleicht die beſſere ſey, daß ſelbſt der feurigſte Dichter nicht ohne. die erſte ſeyn muͤſſe: daß eine aufgeregte poe - tiſche Einbildung an ſich nicht die ſtille tau - melloſe Empfindung ſey, die die Religion fodert und die moraliſch uns beſſert, folg - lich ſo fern die zweite eine beſſere Art uͤber Gott zu denken iſt, als die poetiſche Aufwal - lung: daß K. uͤbel verſtanden, und uͤbel nachgeahmt, verfuͤhreriſch ſey u. ſ. w. alles dies gebe ich zu, und wuͤnſche alſo dies Blatt aus dem Nordiſchen Aufſeher weg; aber das getraue ich mir nicht zu ſagen, was der zuletzt angefuͤhrte Rec. predigt: „ wo die Ein - „ bildungskraft ſo geſchaͤfftig iſt, da iſt ganz „ gewiß das Herz leer, kalt: ſo wird die Re - „ ligion weggewizzelt u. ſ. w. „ *Th. 1. p. 40.Jch kannblosFragm. III S. X322blos wiſſen: „ ob die Gemaͤlde der Einbil - „ dungskraft bei mir Empfindung erregen? „ aber: „ ob ſie nicht bei dem andern Folgen „ und Begleiterinnen der Empfindungen „ ſind, die er uns nur nicht gut vorzeiget? „ das kann man nicht ſo durchaus entſcheiden! Einbildungskraft und Empfindung ſind zwo genaue, aber auch oft eigenſinnige Freundin - nen, zwiſchen welche ſich ein dritter behut - ſam miſchen muß.
Jch muß dieſe dritte Sammlung aus den Handen laſſen, ohne noch zu wiſſen, wie ihre beide aͤltern Schweſtern aufgenommen ſind; ich gebe ihr alſo einen Scheidebrief mit, den vielleicht ſchon die erſte haͤtte vorzeigen ſollen.
Jch wuͤrde lachen, wenn man die erſte Sammlung fuͤr eine ſehr unvollſtaͤndige deutſche Grammatik; die zweite fuͤr eine ſehr ungruͤndliche Bibelerklaͤrung, fuͤr eine ſehr mangelhafte Abbildung der griechiſchen Dicht - kunſt; und endlich dieſen dritten Theil fuͤr gar keine ſtandesmaͤßige Anpreiſung der Roͤmer, foͤrmlich und feierlich erklaͤrte. Das kann ein jeder ſehen, daß ich blos Stuͤckwerke von Materialien aufzeigen wollte, ſo fern die Ge - legenheit es erlaubte, und eine Stelle es fo - derte, um uͤber ſie urtheilen zu koͤnnen. Sagt man alſo: „ meine Geſichtspunkte ſind wahr, „ aber noch nicht einleuchtend gnug: ſie ſind „ nuͤtzlich, aber nicht vollſtaͤndig, ſie reizen,X 2„ aber324„ aber wir wuͤnſchen weiter zu ſehen! „ ſagt man dies, ſo lobt man mich, wie ich wuͤn - ſche, uͤber Fragmente gelobt zu werden.
Aber wenn man mich aus fremden Stand - prten anſaͤhe; das uͤberginge, was ich zuerſt nur von weitem zeige, ob man auch darauf merke? — auf das lobend oder tadelnd fiele, was ich hingeworfen; kurz! an mei - nem Bilde Fußzehen, Kolorit, und Falten - werfung betrachtete; alsdenn habe ich ver - gebens geſchrieben, und wie ſchmerzhaft iſt dies fuͤr den, der als Liebhaber, als Patriot ſchrieb, uͤber Sachen, von denen er weder Titel, noch Brot, noch Lohn hat.
Jch habe hier und da freie Urtheile ein - geſtreuet: wie ſie daſtehen, ſcheinen ſie leichtfertig, ich nehme dies Wort in ſeiner urſpruͤnglichen Bedeutung; aber wie ich ſie dachte, waren ſie peinlich. Wer da ſagt, daß ich um Beifall buhle; der hat mir nicht ins Geſicht geſehen: viele muͤßten ſich ſelbſt ablegen, wenn ſie von meinen ſchlechten Frag - menten blos unpartheiiſch urtheilen wollten. Waͤre325Waͤre unſer Buͤcherton in Deutſchland repu - blikaniſcher; wie manches haͤtte ich deutlich ſagen koͤnnen, wo ich jetzt, vielleicht dunkel, oder kuͤhn in Parabeln und Anſpielungen rede. Wer dieſe als Zwecke, und Schoͤnhei - ten meines Stils anſieht: der ſiehet mit mir nicht gleich; wer aber ſagt, daß ich blos um leichtſinnig zu tadeln, habe ſchreiben wollen, der thut mir Unrecht. Da die meiſten Schriftſteller, uͤber die ich rede, beruͤhmter ſind, als daß ich mit meiner ſchwachen Bruſt ihr Lob wuͤrdig ausrufen koͤnnte, wie ich dies mit voller Ueberzeugung hinſchreibe: ſo konnte ich von mir ſelbſt es nicht fodern, ſie im aka - demiſchen Leichenton zu loben: man nehme von einem Armen ein kleines herzliches Wort ſatt gleißender Complimente an. Jch rede blos von Schriften, die das Vergnuͤgen und die Beſchaͤftigung meiner Einſamkeit ausma - chen, die ich nicht gnug leſen kann, und de - ren Wuͤrde nicht in Fragmenten, ſondern in praͤchtigen Ehrenmaͤlern glaͤnzen muß.
Macht ſich indeß ein handveſter Kunſtrich - ter fertig, mich, wenn ich bisweiten geſchlum -X 3mert326mert haͤtte, bei einer guͤnſtigen Stunde, uͤber Bort zu werfen; armer Schlummernder!
Wo wird ein Aeneas ſeyn, der dein Grob - maal baue!
Jch werde kaum mehr, als den vierten Theil liefern, weil ich corpulente Autorſchaf - ten nicht liebe. Die Materien alſo, vor denen dieſe nur Vorlaͤufer haͤtten ſeyn ſollen, werden aufgeſchoben, oder aufgehoben: wie das Publikum will. Jch wollte ſie nennen; allein fuͤr wenige werden die Namen lockend ſcheinen: Philoſophie und Aeſthetik: die erſte iſt halb veraltet, die zweite hat man viel - leicht noch nicht geſehen.
Jetzt ſezze ich einige kleine Merkſtaͤbe hin, die vielleicht einigen, die meine Fragmento durchwandeln, oder durchlaufen wollen, nicht zum Anſtoß, ſondern zur bequemern Bahn dienen werden:
Sollte jemand meine dritte Sammlung der deutſchen Litteratur nachtheilig, und es nach ihrer gegenwaͤrtigen Lage fuͤr nothwen - diger halten, anzupreiſen, als abzuſchre - cken: der will mich nicht verſtehen. Will ich jemand von Kaͤnntniß der Alten abhalten, oder ihn in ihrem Studio ermuͤden, der werfe mein Buch ins Feuer.
Die Druckfehler, inſonderheit in den grie - chiſchen Stellen wird der Leſer dem Verf. nicht anrechnen, der 200. Meilen von ſeinem Druck - ort entfernt lebt. Sie machen meine Anfuͤh - rungen in dieſem Theil ſparſamer, weil ich um einige zu verbeſſern ſelbſt nicht die Autoren bey der Hand habe. Hier ſind einige Druck - fehler, ſo wie ſie mir ins Auge fallen.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
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