PRIMS Full-text transcription (HTML)
Ueber die neuere Deutſche Litteratur.
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Zwote Sammlung von Fragmenten.
Eine Beilage zu den Briefen, die neueſte Litteratur betreffend.
1767.

Vorrede.

Dieſe Fragmente ſollen nichts min - der, als eine Fortſezzung der Lit - teraturbriefe ſeyn: man darf al - ſo uͤber ihren Titel nicht erſchrecken. Es ſind Beitraͤge, Beilagen zu denſelben, nach dem Schluß aller ihrer 24 Theile.

Ein Werk von 24 Theilen, das die Litteratur eines ganzen Volkes zu beur - theilen ſich uͤbernahm, das in dieſem Ur - theile, wie Cato, bey den Großen zu - erſt anfing; das die Augen von ganz Deutſchland auf ſich richtete, und was noch mehr iſt, auch bis an ſein Ende auf ſich erhielt; das den Geſchmack beſſern wollte, und ihn auch merklich* 2ge -gebeſſert hat: ein ſolches Werk verdient ja nach ſeiner Vollendung vorzuͤglich ein Denkmal ſeiner Verdienſte.

Jch ſezze mich alſo, da ich 24 Baͤn - de durchlaufen bin, auf den lezten Graͤnzſtein*Der 24. Theil der Briefe, der das Regiſter iſt. nieder, der mit Zahlen von Verdienſten, und Bemuͤhungen; hie und da aber auch mit einigen Nullen menſchlicher Fehler pranget: hier ſitze ich wie Marius auf den Truͤmmern Car - thagos, da er die Schickſale Roms und Phoͤniciens uͤberdachte, oder wie ein alter ehrlicher Markgraf, der uͤber ſein Deutſches Vaterland denkt.

Jch ſehe eine Geſellſchaft Reiſende, mit unausſprechlichen Namen, mit großen Berichten aus dem Laͤndchen: Deutſche Litteratur! mit Memoirs, die ich gerne in eine Geſchichte der Littera - tur verwandelt wiſſen wollte. Meine Zweifel - Frag - und Erklaͤrungsſucht oder ruͤhmlicher zu reden, meine Pa - triotiſche Neugierde legt mir Fragenanan ſie in den Mund vielleicht Fra - gen, wie jene eines Deutſchen Arabers, die hier und da nicht ſollten, und nicht werden beantwortet werden.

Jch werfe mich indeſſen nicht zu ei - nem Richter im Namen des Publikum auf, ein Amt, wozu ich mir nicht Be - ruf genug zutraue. Unpartheiiſch koͤnn - te ich ſeyn, weil ich ſelbſt weder unter ihrem Buchſtaben des Lebens A. noch unter dem Zeichen des Todes K. geſtan - den: allein das beſte fehlt mir: das Milchhaar kann mich nicht mehr begei - ſtern, ein Daniel fuͤr die Suſanne ge - gen abgelebte Hypokritiſche Richter zu ſeyn? Wirklich ein Beruf, der heut zu Tage im Reiche der Litteratur ſo Canoniſch geworden iſt, als er uns in der Bibel Apokryphiſch duͤnkt.

Daher ſtrecke ich meine Faſces, und ſchleiche zu den Privaturtheilern, um nichts mehr, als meine Stimme, zu ge - ben. Aber warum denn am Ende der Briefe? Es iſt immer mißlich,* 3eineneinen beruͤhmten Kunſtrichter uͤber ein Volk von Schriftſtellern in der Rede zu ſtoͤren. Wie gieng es jenem Ther - ſites, da er dem Koͤnige der Voͤlker ent - gegen redete? Der goͤttliche Ulyſſes ſah ihn grimmig an, und brachte ihn durch die Staͤrke ſeines Koͤniglichen Scepters und ſeiner Drohungen zum Stillſchwei - gen: da kruͤmmte er ſeinen Ruͤcken, und eine heiße Thraͤne entfloß ſeinem Auge; aber von dem goldnen Scepter entſtand eine blutige Strieme auf der Schulter: niedergeſchlagen ſaß er, mit feigem Antlitz, und trocknete ſeine Thraͤne; aber die Griechen, mitten in ihrem Mißvergnuͤgen, fingen herzlich uͤber ihn an zu lachen. So ſchildert Homer*Homers Jliade. den Therſites; wer wollte auch nur von weitem ſich zum Heer unſrer Therſite in Deutſchland geſellen?

Aber nach geendigtem Werke ur - theile man; alsdenn tritt der unum - ſchraͤnkte Diktator ſelbſt vor die Schran - ken als Buͤrger; alsdenn miſcht ſich derSchau -Schauſpieler unter die Zuſchauer, und hoͤrt das Urtheil derer am liebſten, die waͤhrend der Rolle weder klatſchen noch pfeifen mochten; alsdenn iſt das Aegy - ptiſche Todtenurtheil gerecht, und fuͤr die Wahrheit der Geſchichte nuͤzzlich, inſonderheit wenn muͤndige Verwand - te leben, die ſich vertheidigen koͤnnen; alsdenn kan man fuͤglich zu 24 Theilen Litteraturbriefe einige kleine Beilagen machen.

Aber keinen bloßen Auszug! Dieſer iſt fuͤr die leicht, die aus dem Realre - giſter ſich ein Collektaneenbuch machen wollen; aber fuͤr mich wirklich ſchwer, und in der That auch nachtheilig. Juſtinus ſpielte den Trogus und Ori - genes den Celſus durch Auszuͤge in den Fluß der Vergeſſenheit, und unſer Deutſches Publikum braucht die Litte - raturbriefe noch recht ſehr, ſo wie ſie da ſind.

Jch will mich blos, nach ihrem Leit - faden, von der Litteratur meines Va -* 4ter -terlandes unterrichten, und ein Gemaͤl - de derſelben in den lezten 6 Jahren, im Schatten entwerfen. Jch weiß, dies Gemaͤlde wird einigen kleinlich, andern dunkel, den uͤbrigen ſo ungeheuer vor - kommen, als jene Statue der Minerve, die Phidias fuͤr die Hoͤhe des Altars gemacht hatte, dem Athenienſiſchen Volke unten am Boden vorkam. Jhn wollte man ſteinigen, und das unerfahr - ne, aber reizende Bild des Alkamenes behielt den Preis, blos weil es ihnen beſſer in die Augen fiel.

Jch ſammle die Anmerkungen der Briefe, und erweitere bald ihre Aus - ſichten, bald ziehe ich ſie zuruͤck, oder lenke ſie ſeitwaͤrts. Jch zerſtuͤcke und naͤhe zuſammen, um vielleicht das be - wegliche Ganze eines Pantins zu ver - fertigen. Dazu habe ich Freiheit, wie ich glaube: denn wenn die Briefe ſich durch das Fruchtland anderer Wege bahnten, ſo kann ich ja zum Vortheil des Beſitzers dieſen Weg wieder uͤberpfluͤ -gen.gen. Wenn ſie in manche Wuͤſten Stroͤme leiteten, ſo kann ich ja dieſe Stroͤme beſchiffen. Wenn ſie hie und dort im Meere Jnſeln entdeckten: ſo kann ich ja nach dem veſten Lande um - herſchauen. Jmmer aber ſage ich mit jenem Alten, der uͤber die Litteratur ſeiner Zeit um Rath gefragt wurde: Kaum wagte ichs, eine ſo ſchwere Fra - ge zu uͤbernehmen: ob es an unſern Faͤhigkeiten liege, daß wir nicht koͤn - nen oder an unſerm Geſchmack, daß wir die Alten nicht erreichen wollen? Jch wagte es kaum, meine Meinung zu ſagen, wenn ich nicht die Beobach - tungen der groͤßten Maͤnner unſrer Zeit blos aus dem Gedaͤchtniß anzu - fuͤhren haͤtte; fein ausgedachte, und ſchoͤn geſagte Gedanken, die ich ſchon als Juͤngling von ihnen lernte.*De oratorib. dialog.

Und dieſen Schuzzengeln der Littera - tur widme ich auch meine vier Fragmen - te: ein kleiner Lorbeerkranz, der demOlym -Olympiſchen Sieger unbemerkt von einem Fremden zufliegt, der ſich aus Stolz und Beſcheidenheit unter das Volk verſteckt. Moͤchte dieſer Kranz jener Roſe Anakreons gleichen, welcher er ſein ſchoͤnſtes Lied*Anakr. μελ. 53. geweiht hat. Als das Meer die Goͤttin der Schoͤnheit und Jupiters Haupt die Pallas erzeug - te: rang auch die Erde zu gebaͤren, und es erſchien die Roſe:

Πολυδαιδαλον λοχευμα. Μακαρων Θεων δ ομιλος, Ροδον ως γενοιτο, νεκταρ Επιτεγξας, ανετειλεν Αγερωχον εξ ακανϑης Φυτον αμβροτον Λυαιου.
Jnhalt

Jnhalt der zweiten Sammlung.

  • I. Vorlaͤufiger Diſcours: von dem Urſprunge der Kunſtrichter, und den Geſichtspunkten, in denen er erſcheint: Pruͤfung der Litteraturbriefe hier - nachS. 183
  • II. Einleitung in die Fragmente: uͤber die Mittel zur Erweckung der Genies in Deutſchland. 200
  • III. Vergleichung unſrer Orientaliſchen Dichtkunſt mit ihren Originalen;
    • 1. in der ſchoͤnen Natur, die beide ſchildern: Ur - theil uͤber die Juͤdiſchen Schaͤfergedichte. 207
    • 2. in der Vaterlandsgeſchichte der Morgenlaͤnder: Von einigen Dankpſalmen. 212
    • 3. in ihren Nationalmythologien: Von dem Ge - brauch Orient. Machinen und Fiktionen. 215
    • 4. in dem Geiſte ihrer Religion: Von chriſtlichen Liedern in Orient. Geſchmack. 223
    • 5. in ihrer ganzen Poetiſchen Sphaͤre. 229
    • 6. Sprache und Poetiſchem Sinne. Von der Nach - ahmung der Choͤre, und Bilder. 231
    • 7. daher die elende Nachahmungen widerrathen, und Erklaͤrungen zuerſt angerathen werden. 236
    • Geſpraͤch zwiſchen einem Rabbi und Chriſten uͤber Klopſtocks Meßias. 243
  • IIII. Von der Griechiſchen Litteratur in Deutſch - land.
    • A. Wie weit wir die Griechiſchen Dichter kennen! Plan aus ihnen eine Aeſthetik zu ſammlen: Vorſchlaͤge zur Ueberſezzung Homers: Ein Ur - theil des Geſchmacks uͤber Steinbruͤchels Ue - berſezzungen: Entwurf zu einer Winkelmanni - ſchen Geſchichte der Griechiſchen Poeſie:258
    • B. Wie weit haben wir ſie nachgebildet?
      • 1. Klopſtock mit Homer verglichen: war Ho - mer ſo unbekannt unter den Griechen, als K. unter den Deutſchen? Hat Wieland oder ſein Gegner bei καλος κ αγαϑος Recht? 276
      • 2. Pindar und der Dithyrambiſt: Ueber daß Urtheil der Litteraturbriefe von den Dithyram - ben: Hypotheſe von dem Antiken Geiſt der Di - thyramben: Pruͤfung der neuern Gedichte dieſes Namens: Ein Trinklied daruͤber. S. 298
      • 3. Anakreon und Gleim: Ein Liedchen an Ana - kreons Taube338
      • 4. Tyrtaͤus und der Grenadier: er iſt mehr als Tyrtaͤus345
      • 5. Theokrit und Geßner: Von der beliebten Unterſcheidung zwiſchen Ekloge und Jdylle. Hat Theokrit ein hoͤchſtverſchoͤnertes Jdeal? Großer Unterſchied zwiſchen Theokrit und Geßner. 349
      • 6. Alciphron und Gerſtenberg. 369
      • 7. Sappho und Karſchin: zwo Antipoden: Ob Sappho und Corinna wegen ihrer Buh - lerei verloren gegangen? ein Urtheil der Litte - raturbriefe370
  • Nachſchrift an Leſer, Schriftſteller und Kunſtrich - ter378
Ueber

Ueber die neuere deutſche Litteratur. Zweite Sammlung.

N

Vorlaͤufiger Diſcours.

(Von dem Urſprunge, und den Geſichtspunkten, in denen der Kunſtrichter erſcheinet: Pruͤfung der Litteraturbriefe hiernach.)

Der erſte Kunſtrichter, war nichts mehr, als ein Leſer von Empfindung, und Geſchmack. Er weidete ſich an den Schoͤn - heiten und den Erfindungen ſeiner Vorgaͤn - ger, den Bienen aͤhnlich, die den Saft und das Blut der Blumen trinken, ohne doch wie die Raupen, und Heuſchrecken, kunſt - richteriſche Gerippe der Pflanzen zuruͤckzulaſ - ſen. Er war jenem unſchuldigen Paare gleich, dem ſich im Garten des Vergnuͤgens jede Frucht des Schoͤnen und Guten darbot, ehe es vom Philoſophiſchen Erkaͤnntnißbaum ge - naſcht hatte. Es hat in der Litteratur auch ein Alter gegeben, da die Weisheit noch nicht Wiſſenſchaft, und Schriftſtellerei; die Wahr - heiten noch nicht Syſteme; die Erfahrungen noch nicht Verſuche waren: ſtatt zu lernen, was andre gedacht, erhob man ſich ſelbſt zumN 2Den -184Denken vielleicht verdient dies auch den Namen eines goldenen Zeitalters.

Ein andrer dachte dem Gefallen und dem Eindruck nach, den Schoͤnheit und Wahr - heit auf ihn machte; und fing an die Wahr - heit ſeines Schriftſtellers in den Leib ihrer Mutter, Erfahrung, und die Schoͤnheit in die Lenden ihres Vaters, des Vergnuͤgens, und Gefuͤhls zuruͤckzuleiten. Vielleicht fuͤhl - te er ſich ſelbſt zu unfruchtbar, um Vater zu ſeyn, daß er alſo wie die Tuͤrkiſche Verſchnit - tene ein Kenner und Beobachter der feinen Reize zu werden ſuchte, die jezt blos fuͤr ſein Auge, nicht fuͤr den Genuß waren. So ward aus dem Mann von Gefuͤhl ein Phi - loſoph.

Der Philoſoph hatte bald das Ungluͤck, Werke zu ſehen, die die Erſtgeburt ihrer Ori - ginale nicht erreichten; er muſte alſo auf die Urſachen dieſer Unfruchtbarkeit denken. Bald das noch groͤßere Ungluͤck, voͤllig ſchlechte Werke zu ſehen; und jezt fieng er an, die Vorzuͤge der erſten auf dieſe anzuwenden: er pruͤfte, lehrte und beſſerte. Das war der eigentliche Kunſtrichter. Jſt es nichtbei -185beinahe wahr, daß er ſo entſtanden iſt, als ſich nach der aͤlteſten und neueſten Philoſophie das Lebendige gebiert, aus einer gaͤhrenden Fettigkeit: es ſei dieſe der Nilſchlamm, oder Chaldaͤens rothe Erde, das Chaos des Epi - kurs, oder Needhams faulender Tropfen.

Das bleibt noch immer ein Plan fuͤrs Den - ken: wie aus dem, der bisher blos empfand, ein Denker; und aus dem Genie ein Wei - ſer wurde? wie weit jedes von dieſen dem andern entgegen geſezt ſey, und wie weit dieſe ſich einander ſchwaͤchenden Kraͤfte zu - ſammen kommen muͤſſen, um die Tempe - ratur des Virtuoſen auszumachen? wie aus der Natur Kunſt, aus der Kunſt Kuͤn - ſtelei, und aus dieſer wieder Barbarey hat entſtehen koͤnnen? Die allgemeinen Phi - loſophiſchen Beobachtungen hieruͤber wuͤrden ein Maͤrchen von Kritiſchen Troglodyten, nach Art des Montesquieu hervorbringen, und dies Maͤrchen koͤnnte man denn in Ge - ſchichte verwandeln und aus Voͤlkern und Sprachen beſtaͤtigen.

Nun erſcheint der eigentliche Kunſtrich - ter in welchem Geſichtspunkt? GegenN 3Le -186Leſer, gegen Schriftſteller, und gegen das ganze Reich der Litteratur uͤberhaupt.

Dem Leſer erſt Diener, denn Vertrauter, denn Arzt. Dem Schriftſteller erſt Diener, denn Freund, denn Richter; und der ganzen Litteratur entweder als Schmelzer, oder als Handlanger, oder als Baumeiſter ſelbſt.

Dem Leſer ſezzet er die Speiſen in ihrer Luͤſternheit und Anmuth vor, und ſucht durch ſeinen eigenen Appetit ihren Geſchmack zu erregen: dies ſind die Auszuͤge, die gemei - nen Tagebuͤcher. Der Leſer iſt ſchwach im Verdauen; er gibt ihm Wein zur Staͤrkung; er hat einen verdorbnen Geſchmack; daher braucht er jezt ordentliche Cur. Dies ſind die Kritiſchen Anmerkungen, die dem Leſer Geſichtspunkte (im Leſen darlegen, die ihm) Erlaͤuterungen, Pruͤfungen, Anwendungen darlegen und dieſes Talent gehoͤrt immer nothwendig zum wahren Kritiſchen Geiſt. Du ſchreibſt, als wenn du fuͤr dich ſchriebeſt: nein! Kunſtrichter! du ſchreibſt fuͤr Leſer: dieſe nie aus den Augen zu laſſen, dich nach ihren Schwaͤchen, nicht aber Fehlern zu be - quemen, dich nach der Verſchiedenheit ihrer -hig -187higkeit, Luſt und Abſicht zu richten; die Stum - men ſprechen, die Blinden ſehen, und die Tauben verſtehen zu lehren; die Seuche eines falſchen Geſchmacks mit Gegengift zu heilen, oder ihr zuvorzukommen; kurz! Leute von rich - tigem Gefuͤhl, von Einſicht, von Geſchmack zu bilden das iſt dein großer Zweck.

Dem Schriftſteller, was ſoll der Kunſt - richter ſeyn? Sein Diener, ſein Freund, ſein unpartheiiſcher Richter! Suche ihn kennen zu lernen, und als deinen Herrn auszuſtudi - ren; nicht aber dein eigner Herr ſeyn zu wol - len. *Litt. Br. Th. 17. p. 107. Unſer Geiſt nimmt oft eine gewiſſe Unbiegſamkeit an, die uns hindert, in die Gedanken andrer uns gleichſam hineinden - ken zu wollen, und folglich ſehr oft die unſere dadurch zu verbeſſern. Man bemerkt die - ſes nicht an ſich ſelbſt, wenn man einen an - dern uͤber eine Materie lieſet, uͤber die man ſelbſt noch nicht gedacht hat. Jſt aber dies leztere geſchehen: ſo faͤngt die Steifigkeit an, ſich zu zeigen, die vermuthlich aus eben dieſer Urſache, auch außer andern, bei altenN 4 Leu -188 Leuten haͤufiger angetroffen wird, als bei jungen. Es gehoͤrt entweder eine beſondre Gabe des Himmels, oder eine anhaltende Kreuzigung des Fleiſches dazu, um weich und beugſam gnug zu bleiben, und wenn vol - lends der, welcher Buͤcher lieſet, um ſie zu be - urtheilen, unverdorben bleibt: ſo hat er ge - wiß eben ſo viel Lob verdient, als der heil. Aldhelmus, der ſich nackt und blos zu jun - gen Maͤdchen ins Bette legte, und doch der Empoͤrung der Sinne ſiegreich widerſtand. Es iſt ſchwer, aber billig, daß der Kunſtrich - ter ſich in den Gedankenkreis ſeines Schrift - ſtellers verſezze, und aus ſeinem Geiſt leſe; allein wie wenige Schriftſteller haben den Stab des Popilius, um uns in dieſen Kreis einzuſchließen. Jſt der Verfaſſer von der Art, daß wir ihm nachdenken muͤſſen; ſo vergißt der Kritikus immer, daß er mit dem Griffel in der Hand lieſet; laͤßt er uns aber die Freiheit, mit ihm zur Seite zu den - ken; ſo fuͤhlt der Kunſtrichter, er habe einer - lei Polhoͤhe; und wird alſo ſein Rathgeber und Beurtheiler. Wenn endlich, wie in den meiſten Deutſchen Buͤchern, die VorredenEnt -189Entſchuldigungen und demuͤthige Komplimente enthalten; ſo wird der Kritikus Richter und Geſezgeber. Er darf nicht den Autor einho - len; mit ihm in einer R[eih]e gehen, will er nicht; er geht alſo zuv[or]und commandiret.

Endlich hat der Kunſtrichter eine Bezie - hung auf das Reich der Wiſſenſchaften, als Mitbuͤrger. Gemeiniglich hat er ſchon als Schriftſteller geleſen, und zeichnet bei den Re - cenſtonen die Schattenlaͤnge ſeiner unterge - henden Autorſchaft. Oft reißet er nieder, um die Ausſicht zu verbeſſern; oft ſpringt er, wie Remus uͤber die Mauer ſeines Bruders, um ſeine Eiferſucht zu verewigen: oft laͤuft er mit ihm in die Wette, um zuerſt vom Ziele den Kranz zu erwiſchen; oft wuͤhlet er in Truͤmmern verfallner und hingeworfner Arbeit, um ſelbſt einen Tempel zu errichten: und kann er dieſen Bau zu Ende bringen und mit dem Kranze eines vollkommenen Syſtems, ſo wird er auf Rechnung vieler das Orakel. Nicht Kolom, der hier eine Jnſel und dort eine erfand, ſondern der ans veſte Land trat, gab der neuen Welt ſeinen Namen.

N 5Ein190

Ein Kritiſches Werk, das in allen dieſen drei Abſichten groß bliebe: was waͤre das fuͤr ein Schazz einer Nation! Die reichſte Abwechſelung ſtatt der gewoͤhnlichen Kriti - ſchen Monotonie m[uͤſ]te entſtehen, wenn der Kunſtrichter allen dieſen Geſichtspunkten auf - lauerte; bald Leſer von verdorbnem Ge - ſchmack, bald ſolche, die nicht zu leſen wiſ - ſen, erwiſchte und ſie zu denen fuͤhrte, die mit ihm leſen; wenn er nicht als Deſpot, ſondern als Freund und Gehuͤlfe des Verfaſ - ſers lieſet, mit ihm, oder ihm nach, oder ihm vordenket, und alles mit der Sorgfalt lieſet, als wenn er es ſelbſt ſchriebe. Jch glaube, es iſt Shaftesburi in einer ſeiner leider! noch unuͤberſezten Abhandlungen, der von ſich ſchreibt, daß ihm beſtaͤndig ein Freund, oder ein Bild der Einbildungskraft vor Augen ſchweben, und ihn als Muſe be - geiſtern muͤſſe Dieſe Dulcinea hat ein Kunſtrichter mehr als irgend jemand noͤthig.

Aber es ſchleicht dem Kritikus ein Gauk - ler nach, der ſeinen Charakter parodirt: er gibt uns, an ſtatt ein Buch bis auf Herz und Nieren zu zergliedern, kruͤppelhafte und todteGe -191Gerippe von Auszuͤgen: ſtatt ein Pygmalion ſeines Autors zu werden, ſchlaͤgt er ihm, wie Claudius den Statuen Roms, das Haupt ab, und ſezzt das ſeinige darauf: als ein zweiter Pluto bewacht er altes angeerbtes Geraͤth, und ehrwuͤrdigen Auskehricht der Litteratur: er eifert in den petites maiſons der Gelehr - ſamkeit gegen elende Ueberſezzer: die Brille eines Compendiums oder das Fernglas eines Syſtems in der Hand, naͤhert er jezt dieſe Wahrheit, jezt entfernt er jene, um das Schat - tenſpiel ſeiner Lieblingsbegriffe nur beſtaͤndig zu erblicken; und eben dies iſt ein Kunſtrich - ter[n]ach dem gewoͤhnlichen Geſchmack: er wird ſeinen Leſern ſo unentbehrlich, als die Zeichen und Wetterprophezeiungen im Kalen - der den Tagewaͤhlerinnen ſind: er wird gele - ſen, gelobt und vergeſſen: ſeine Ephemeriden, gleich den Jnſekten dieſes Namens, haben ei - ne Woche, einen Monat, eine Meſſe, ein Jahr zu ihrem Lebenslauf.

Leſer! mit dem ich jezt ſpreche, folge dieſen Winken, die nicht Einfaͤlle ſondern oft und leider! bei den beſten Werken gemachte Beob - achtungen ſind. Jch laſſe dich los, um dieviele192viele Deutſche Journaͤle, die die Modekrankheit unſrer Zeit ſind, in dieſen Ausſichten zu betrach - ten, und wie du es fuͤr gut findeſt, in der Stille zu ordnen. Jn der Stille! denn alle unſre Kritici ſind Richter; jedes Journal reimt ſich mit Tribunal: hierinn iſt die Deut - ſche Litteratur ihrem Vaterlande aͤhnlich; viele Fuͤrſten und kein gebietender Oberherr! Man muß alſo noch ſo lange in der Stille ur - theilen, bis man die Kunſtrichter auch als Schriftſteller anſehen lernt. Jch re - de von den Litteraturbriefen, und thue mir darauf zu gut, daß ich von ihnen als von Muſtern meiſtens reden kann!

Beinahe ein Gemaͤlde der Deutſchen Lit - teratur in den lezten fuͤnf Jahren! *ſ. Schluß der Litt. Br.Bei - nahe! nur was lohnt es mir omiſſa anzu - bringen. Haͤtten ſich die Berfaſſer weniger durch Streitigkeiten hinreißen laſſen; haͤtten ſie es nicht oͤfters vergeſſen, daß ſie mit dem Publikum ſpraͤchen: ſo waͤre dies Gemaͤldevoll -193vollſtaͤndiger und gleichmaͤßiger in ſeinen Thei - len gerathen. Und uͤberhaupt hat ſich im ganzen Werk der Geiſt zu ſehr geaͤndert. Jm Anfange Nachrichten an einen kranken Offi - cier Zuͤchtigungen der Ueberſezzer Urtheile uͤber die vornehmſten Deutſchen Schriftſteller, die in Poſitur ſtanden Jezt Ausſichten uͤber verſchiedne Felder der Littera - tur endlich Diktatoriſche Urtheile:

amphora co[e]pit
Inſtitui, currente rota cur vrceus exit.

Feurig ſtieß Fll. an; der Philoſophiſche D. griff ins Rad, um es im Schwunge zu maͤßigen; der Planenvolle B. brachte es nach einigem Stocken hin und wieder aufs neue in den Lauf; bis es, wie es mir vorkommt, in den drei lezten Theilen ſchon ablaufen will. Das Urtheil geraͤth oſt einſeitig; Schreib - art faͤllt oft nachlaͤßig zu Boden; der Ton verliert bisweilen Anſtand und Staͤrke die lezte Wallungen eines Lichts, das erloͤ - ſchen will.

Vorzuͤglich Kunſtrichter fuͤr die Schrift - ſteller! *Litt. Br. Th. 1. p. 92.Und nach welchen Geſezzen? Die194Die beſte Art, einen Autor zu beurtheilen, iſt ſein eigner Plan: dieſer iſt zu pruͤfen, zu beſ - ſern und auszumalen. Dieſe Arbeit cha - rakteriſirt und bildet Genies; ſchwer und nuͤtzlich zugleich! So beurtheilten die Littera - turbriefe Suͤßmilchs Ordnung, Haugens Zuſtand von Schwaben; Meiers Gedan - ken uͤber die gelehrte Sprache u. ſ. w.

Pruͤft man blos den Plan allgemein, und ſagt ſeine Gedanken druͤber, ohne den V. nach ſeinem Plan zu pruͤfen: ſo thut man weder dem Ehrgeiz, noch der Demuth deſſelben Gnuͤge. Man haͤlt ihn zu ſehr fuͤr Kind, wenn man ſein Ganzes verwirft, und zu we - nig fuͤr Kind, wenn man ſein Probſtuͤck nicht anſehen will: corrige ſodes! hieß es bei den Schulhandlungen, und Dithyramben.

Bei mittelmaͤßigen V. deren freilich die meiſte ſind, verſtehe man die Kunſt, die So - krat bei Heraklits Schriften anwandte: ein Taͤucher zu ſeyn, um Perlen heraufzuholen. So machten es die Litteraturbriefe nach Ros - kommons Rathe, bei dem Sonderling, den Zerſtreuungen und andern ſehr mittelmaͤßi -gen195gen Schriften; bei ſchlechten haͤtten ſie es mehr thun ſollen und koͤnnen.

Die entgegen geſezte Straße iſt, Stellen herausnehmen, um an ihnen zum Ritter zu werden: Oerter zu ſuchen, wo man ſeine Lieblingsgedanken ausſchuͤttet. Dies unter - haͤlt; aber oft auf Koſten des Autors. War - um gab aber der Nordiſche Aufſeher z. E. Bloͤßen, wo man ihn angreifen konnte? So wird der Vertheidiger, aber nicht der Angeta - ſtete, fragen.

Man muß mehr Kunſtrichter uͤber Fehler, als Schoͤnheiten ſeyn! inſonderheit Schrift - ſteller auszubilden. So lange man nicht Werke liefert, bei denen es ſelbſt ſchwer war, zwei Fehler zu erwiſchen, bei denen wenigſtens die Schoͤnheiten uͤberwiegend ſind, bei denen kein falſcher Geſchmack zu merken oder zu fuͤrchten iſt: ſo kann der Kunſtrichter immer ſich die leichtere Arbeit waͤhlen, Fehler zu be - merken: eine Arbeit, die ihm uͤberdem Wuͤr - de gibt. Und das ſelbſt bei guten Ver - faſſern! Wo viele Schoͤnheiten ſind, muß ich auch die kleinſten Fehler ruͤgen: die Schoͤn - heiten findet das Genie ſelbſt, und der Kunſt -rich -196richter entfaltet nur die feinſten, die dem Au - ge ſelbſt des Genies entwiſchen koͤnnten; die Fehler muß man auch an Cramers ruͤgen, wenn nicht ihrer, doch der Baſedows*Litt. Br. Th. 5. p. 289. we - gen; damit wer nicht Genie iſt, gewarnt werde:

Ne ſumat maculas, quas aut incuria fudit
Aut humana parum cauit natura

Je mehr der Kritikus ſich vertheidigen muß, deſto minder wird ſeine Gerechtigkeit unwiderſprechlich. Der alte Syrus hat wohl nicht Unrecht: Lobe die Freunde oͤf - fentlich und tadle ſie insgeheim! man gab dies auch den Litteraturbriefen Schuld; aber wie? wenn ihre Freunde wirklich den Koͤnigl. Mittelweg zwiſchen Schweizern und Gottſchedianern gegangen waͤren? Und denn! haben ſie nicht bloße Nachahmer und knechtiſche Anbeter eben aus Liebe recht merk - lich gezuͤchtigt?

Und wer wird bei der Wahrheit Frei - heit tadeln? Eine Freiheit, bald im Engli - ſchen; bald im Franzoͤſiſchen Geſchmack? We -197Wenigſtens ſticht ſie doch immer in den Litte - raturbriefen vom Magiſterton Akademiſcher Zeitungen*Th. 6. p. 241. ab, und es laͤßt dem Kunſtrichter ſo anſehnlich, wenn er uns daran erinnert, als wenn die alten Koͤnige bei Scepter und Bart ſchwuren. Allein wenn die Kri - tik, Wieland den Menſchen**Th. 1. p. 35. beurtheilt, ich meine nicht, Wieland den Schriftſtel - ler, (ſo wie man dieſem Manne in mehrern Journaͤlen in Abſicht der Metamorphoſe ſei - ner Denkart zu nahe getreten iſt:) wenn ſie einige Schriftſteller nicht blos zu Boden wirft, ſondern auch wie Achilles den Hektor im Staube ſchleifet, wie vielleicht Duſch, Pauli, Lindner, Treſcho und der Verfaſ - ſer der Lyriſchen und Epiſchen Gedichte ſich beklagen koͤnnten: ſo muß man beinahe an das Wort Deutſch, oder an die Titelvignette denken wie ſehr wird aber ein Schul - meiſter nicht betreten, wenn ſein Homer ſich manchmal vergißt und ſchnarcht!

Frei -O198

Freilich richtet ſich die Echo nach der Stimme, die ſie aufrief; und das Kriegs - recht erlaubet aber die Antwort des Plato an den baͤuriſchen Xenokrates hat immer mehr Wuͤrde: bringe den Gratien ein Opfer! Doch wenn der Verfaſſer der Anmerkungen zum Gebrauche Deut - ſcher Kunſtrichter*Th. 13. und 18. mich nicht ſo verſteht, wie Xenokrates den Plato? Wohl! ſo hoͤrt und verſtehet ihn auch nicht das Attiſche Publikum, und wer wird ſich unter Boͤotier miſchen?

Hi modo quid tentent dicere, furfur erit!

Ueberhaupt ſchlechten Schmierern von Nachtgedanken, Schilderungen, hoͤhern Weltweisheiten ꝛc. ihre Fehler weit - laͤuftig ſagen, iſt ihnen unnuͤtz, und Leſern verdrießlich: man lege den heiligen Fluch der Muſe auf ſie:

Tu cuncta invita dicas faciasue Minerua!

Was Jſokrates ſich zum Muſter nahm: ſtumpfes Eiſen zu wezzen! das iſt auch derZweck199Zweck der Kunſtrichter gegen Schriftſteller, und das Verdienſt der Litteraturbr. Haben ſie nicht das Fuͤllhorn der Gratie ganz ausgeſchuͤttet: vnde parentur opes; ſo haben ſie doch Blu - men geſtreuet um den Altar der Goͤttin Litte - ratur falls nicht ſchlechte Schriftſtellet in gute umſchaffen koͤnnen; doch die elenden etwas zur Furcht und Behutſamkeit gebracht. Die Quelle des guten Geſchmacks iſt geoͤfnet: man komme und trinke!

O 2Ein -200

Einleitung.

Seitdem der Nationalſtolz einer gewiſſen, Schule in Deutſchland ſich etwas ge - beuget hat: unſer Deutſchland doͤrfe kei - nem Volk, es ſey alt oder neu, wenn es nur Undeutſch iſt, an Werken der Einbildungs - kraft etwas nachgeben ſeitdem die Nach - ahmungsſucht einer andern Sekte auch etwas kalt geworden: man muͤſſe, was nur Orien - taliſch, Griechiſch und Brittiſch hieße, durch rauhe Kopien auf Halbdeutſchen Boden ver - pflanzen; ſeitdem Kunſtrichter, durch bei - de Abwege gewarnt, die Mittelſtraße waͤhl - ten, und auf den Truͤmmern Gottſchediſcher Originalwerke und Schweizeriſcher Nachah - mungen, die Deutſche Litteratur uͤberſahen: ſeit der Zeit iſt keine Klage lauter, und haͤu - figer,*Litt. Br. Th. 1-24. als uͤber den Mangel von Origina - len, von Genies, von Erfindern Be - ſchwerden uͤber die Nachahmungs - und gedan - kenloſe Schreibſucht der Deutſchen.

Die Litteraturbriefe unterſchieden ſich gleich vom Anfange durch den eifernden Tonhier -201hieruͤber; man konnte es merken, daß ſie uͤber jedes Feld der Deutſchen Litteratur ihre Ausſichten ausbreiten wollten; und da ſchon das Cirkelrad von Fehlern beinahe herumge - trieben war: da Schweizer und Gottſchedia - ner einander moͤglichſt widerſtanden, und gleichſam durch ihre gegenſeitige Kraͤfte, die in einander wirkten, eine gewiſſe ruhige Denkart hervorbringen muſten: ſo foderte es die Zeit, daß Kunſtrichter, die beider Par - theien Ausſchweifung ſahen, eine mittlere Schwaͤche inne werden muſten: und auf dieſen Zeitpunkt trafen die Briefe.

Bloßer Tadel macht kleinmuͤthig; beſtaͤn - dige Klagen endlich verdroſſen, und ewige Vorſchriften matt und gezwungen: kommt es nun noch dazu, daß der Tadel nicht immer gruͤndlich, die Klagen wiederholt, und die Vorſchriften zu einſchraͤnkend ſind: ſo ſieht man den Schulmeiſter, der nach der bekannten Fabel, dem Kinde im Waſſer eine Strafpre - digt haͤlt, den Philoſophen dem Hungrigen vor - predigen: ſey nicht hungrig! und den Arzt dem Kranken zurufen: ſey geſund!

O 3Um202

Um alſo mehr zu thun, als zu klagen: kann man dreierlei verſuchen. Zuerſt als Weltweiſer, das Genie, und Original - geiſt, und Erfindung zergliedern, ſeine Jn - gredienzien aufloͤſen und bis auf den feinſten Grund zu dringen ſuchen. Jch wuͤnſche unſrer Zeit zu dieſen feinen Unterſuchungen Gluͤck; ſie ſind ein neuer Begrif unſerer Weltweisheit: ſie ſind von großem Nuzzen in der Geiſterlehre, und es iſt ein Vergnuͤgen, viele Deutſche gemeinſchaftlich in einerlei Goldader, aber an verſchiednen Oertern gra - ben zu ſehen. Sulzers*Litt. Br. Th. 6. und 22. Abhandlung in den Schriften der Berlinſchen Akademie: die Unterſuchungen zweier Ungenannten in der Sammlung vermiſchter Schriften, und in den Breslauer Sammlungen wetteifern, um dieſen Begrif ins Licht der Sonne zu ſtellen.

Allein zur Erweckung der Genies traͤgt dies Zergliedern nichts bei: bei aller Muͤhe bleibt die viuida vis animi ſo unangetaſtet, als der rector Archaeus bei den Scheide -kuͤnſt -203kuͤnſtlern: Erde und Waſſer bleibt ihnen; die Flamme verflog, und der Geiſt blieb un - ſichtbar; allen ihren Chymiſchen Zuſammen - ſezzungen koͤnnen ſie nach dem, was ſie bei der Scheidekunſt gewahr wurden, zwar Farbe, Geruch und Geſchmack, nie aber die Kraft der Natur geben. Je mehr Seelenkraͤfte der Weltweiſe herzaͤhlet, die zum Genie gehoͤren; je mehr Jngredienzien er in dieſem Salboͤl der Geiſter antrift, je mehr kann ich zweiflen, ob mir nicht eine davon entging: und niemand war groß, der an ſeiner Groͤße zweifelte, und jemand hoͤher, als ſich, ſchaͤzzte. Je feiner die Regeln ſind, die du aus der Natur des Genies herleiteſt: deſto furchtſamer wird der Berſuch, der ſich endlich nichts hoͤhers vorſezzt, als Fehlerlos zu ſeyn.

Jener Baumeiſter im Plutarch, ſagte hinter den praͤchtigen Entwuͤrfen ſeines Vor - gaͤngers: alles, was er geſagt hat, will ich thun! Und der kann zuerſt ein Mei - ſter in Jſrael werden, der andern vorarbei - tet: die armen Stuͤmper, quibus peiore ex luto finxit praecordia Titan, werden ihm gern nachfolgen. Woher gluͤhet uns belO 4der204der Youngiſchen Schrift uͤber die Origi - nale, ein gewiſſes Feuer an, das wir bei blos gruͤndlichen Unterſuchungen nicht ſpuͤren? Weil der Youngiſche Geiſt drinn herrſcht, der aus ſeinem Herzen gleichſam ins Herz; aus dem Genie in das Genie ſpricht; der wie der Elektriſche Funke ſich mittheilt.

Man kann ſagen, daß hiezu mehr Beob - achtung, und zu dem erſten mehr Spekulation erfodert wird: bei dieſer ſchraͤnket man ſich mehr ein, bei der Beobachtung breitet man ſich mehr aus. Jſt man ſelbſt Genie, ſo kann man durch Proben die meiſte Aufmunterung geben, und den ſchlafenden Funken tief aus der Aſche herausholen, wo ihn der andre nicht ſucht. Man wird auch eher auf die Hinderniſſe dringen, di[e]das Genie und den Erfindungsgeiſt aufhalten, weil man ſie aus eigner Erfahrung kennet. Und endlich wird man den Thoren am beſten die Originalſucht ausreden koͤnnen: wenn man mit der großen Stimme des Beiſpiels ſie zuruͤckſcheucht. Durch feine Spekulationen iſt nie der Geiſt einer Nation geaͤndert: aber durch großeBei -205Beiſpiele allemal; und neben dieſer Hoheit, ein Muſter werden zu koͤnnen, braucht man blos ein gutes Auge, andre zu ſehen, und einen guten Willen, ſich mittheilen zu wollen.

Weil es aber gefaͤhrlich iſt, als ein zwei - ter Prometheus, den Elektriſchen Funken vom Himmel ſelbſt zu holen; weil es ſchwerer iſt, Kuͤnſtler, als ein Sophiſt uͤber die Kunſt zu ſeyn; weil das Kunſtrichteranſehen immer Verminderung befuͤrchtet, wenn es ſich ſelbſt der Beurtheilung unterziehen ſoll: ſo iſt der Mittelweg die gewoͤhnliche Straße: man be - trachtet die Werke der Andern, um durch ſie aufzumuntern. Und dies iſt die drit - te und uͤblichſte Art, zu der ein gutes Auge zu ſehen und zu vergleichen, Aehnlichkeit und Unterſchied zu bemerken, und ein guter Ver - ſtand gehoͤrt, rathen zu koͤnnen.

Jch will alſo die Deutſchen Nachahmun - gen mit ihren Originalen vergleichen; ihren Werth gegen einander abwaͤgen, und fragen: warum Apoll den Deutſchen noch immer ſa - gen kann, was er dort durchs Orakel denO 5Aegi -206Aegiaͤern ſagte: υμεις Αιγυιες, ουτε τριτοι, ουτε τεταρτοι. Jch ſelbſt bin zwar nicht ein Vertrauter des Apollo; allein Homer fuͤhrt den Achill dort redend ein: Wohlan! laßt uns einen Wahrſager, oder Prieſter, oder Traumdeuter fragen: warum Phoͤbus Apollo auf uns ſo ſehr zuͤrne? denn wahr - lich, auch der Traum kommt vom Jupiter! Kalchas ſagte die Wahrheit, und fand folglich den Widerſpruch, auf den er ſich ge - faßt machte. Agamemnon hieß ihn einen Wahrſager des Ungluͤcks; aber Luͤgenprophet getraute ſich ſelbſt Agamemnon nicht zu ſagen. *Jliade B. 1. V. 64. ꝛc.

Von207

Von den Deutſch - Orientaliſchen Dichtern.

1.

Ein Theil unſrer beſten Gedichte iſt halb Morgenlaͤndiſch: ihr Muſter iſt die ſchoͤne Natur des Orients: ſie borgen den Mor - genlaͤndern Sitten und Geſchmack ab und ſo werden ſie Originale. Wenn nicht neue; ſo liefern ſie doch wenigſtens fremde Bilder, Geſinnungen und Erdichtungen. Darf man ſie pruͤfen? Es iſt mißlich; denn wie oft vermengt man aus Dummheit oder Bosheit, das, was man an Dichtern tadelt, mit dem, was man in andern Geſichtspunkten gern annehmen will: das, was wir nachah - men, mit demjenigen, was wir glauben. Jndeß wage ichs; und kann es wagen, da inſonderheit ein großer Mann in Deutſchland, der Morgenlaͤndiſche Philologie und dichte - riſchen Geſchmack genug beſitzt, um hievon zu urtheilen, in einigen Stuͤcken oͤffentlich Bahn gebrochen hat.

Koͤ[n]-208

Koͤnnen wir die Morgenlaͤnder nachahmen? Koͤnnen wir ihnen in der Dichtkunſt gleich - kommen? So frage ich, und leite blos den Leſer auf Wege, die er ſelbſt fortſezzen, oder nach Belieben vorbeigehen kann.

Die ſchoͤne Natur des Orients iſt nicht voͤllig die unſrige. Wenn David von den brauſenden Tiefen des Jordans nahe an ſei - nen Ufern ein Trauerlied ſinget: ſo wird ſo ein karakteriſtiſches Ganze draus, als Michae - lis im 42ſten Pſalm zeiget. Wenn die bibli - ſchen Dichter von den Schneeguͤſſen des Li - banon; vom Thau des Hermon; von den Eichen Baſans; vom praͤchtigen Libanon, und angenehmen Carmel reden; ſo geben ſie Bilder, die ihnen die Natur ſelbſt vorgelegt hat: wenn unſre Dichter ihnen dieſe Bilder entwenden, ſo zeichnen ſie nicht unſre Natur, ſondern reden ihren Originalen einige Worte nach, die wir kaum nur halb verſtehen. Das vortrefliche Buch Hiob! woher nimmt es alle ſeine Schaͤzze der Schoͤnheit? Aus inlaͤndiſchen, aus Egyptiſchen Bildern, Er - dichtungen und Gegenſtaͤnden! Nun ſage man, wie einer unſrer Dichter, der Egy -pten209pten oft nicht einmal aus Reiſebeſchreibungen kennt, vom Leviathan und Behemoth ſingen darf? Wie manches Lob Gottes in Deutſchen Gedichten koͤnnte ich anfuͤhren, wo die groͤßten Bilder ſo uͤbel zuſammenge - ſezt ſind, das ein praͤchtiges, neues, unge - woͤhnliches Unding herauskommt: o uͤber - ließen doch unſre Dichter dergleichen einigen Kanzelrednern, die es ſehr gut zu brauchen wiſſen.

Und wenn wir dieſe Bilder auch endlich verſtehen erklaͤren, und aus den lebhaf - teſten hiſtoriſchen und geographiſchen Be - ſchreibungen ihre Schoͤnheiten ganz fuͤhlen lernen; nie haben dieſe hiſtoriſche Beſchrei - bungen, Auslegungen, Erklaͤrungen ſo viel Eindruck in uns, als die ſinnliche Gegen - wart dieſer Oerter; nie das Leben der An - ſchauung, als wenn wir ſie ſelbſt ſaͤhen; als wenn unſere Seele durchs Auge brennende Pfeile empfaͤnde, als wenn uns die Muſe wirklich ergriffe und weckte; als wenn wir μουσοληπτοι oder μουσοπατακτοι wuͤrden; und ſo waren es die Poeten des Orients: Jch bin der Nede ſo voll, daß mich der Othem210 Othem in meinem Bauch aͤngſtiget: ich muß reden, daß ich Othem hole: ich muß meine Lippen aufthun und antworten! So muß es jeder großer Dichter ſeyn:

Poſcere fata
Tempus erit. Deus! ecce Deus!

Nie iſt die geſunde Einbildungskraft ſo lebhaft, als die Erfahrung, und die ideale Gegenwart der ſinnlichen gleich.

Der Verfaſſer der Juͤdiſchen Schaͤfer - gedichte, dem ſonſt Anlage zur Dichtkunſt nicht fehlt, hat meine Warnung durch ſeinen ungluͤcklichen Flug beſtaͤtigt. Dieſe ſowohl, als ſeine Schilderungen beruͤhmter Ge - genden des Alterthums, haben lange nicht die Gewalt, uns in dieſe Gegenden zu verſezzen: ſeine Einbildungskraft kaͤmpft, um lauter alte Zuͤge zu wiederholen, Norden nach Orient zu verpflanzen; alles, was er geſehen und ge - leſen, aufzubieten; alle vier Welttheile zu vereinigen, um etwas Unbeſtimmtes, und Schlechtes zu liefern. Seine Einbildungs - kraft und ſeine Sprache alles ſichert ihn vor dem Verdachte, beſchnitten zu ſeyn: er verlaͤßt ſein Land, um in der Fremde zu bet -teln.211teln. Die Poetiſchen Gemaͤlde aus der heiligen Geſchichte*Th. 6. p. 247. verlieren in dieſem Betracht immer viel von dem ungeheuren Bei - fall, den ihnen einige gegeben: indeſſen ziehen ſie ſich unter Poetiſche Empfindungen zuruͤck, und als ſolche mag ich ſie nicht betrachten.

Singen wir uͤberdem Occidentaliſche Ge - genſtaͤnde, und mit Toͤnen dem Morgenlande entwandt: ſo wird ein ſolch Gemiſch daraus, als jeder in Horazens Bilde auslachet Und doch lachen wenige, wenn der Jordan und Hermon, und Cherubs u. d. gl. neben dem Rhein und dem Harz ſtehen: wenn ſich die Orientaliſchen Tiger mit unſern Laͤmmern gatten. Wir koͤnnen Ver - gleichungen mit dieſen Gegenſtaͤnden aller - dings untzen! Wir koͤnnen Bilder borgen, um ſie fuͤr uns anzuwenden, aber uns nicht durchgaͤngig ihnen uͤberlaſſen, nicht in dieſer fremden Bilderſprache durchgaͤngig reden: nicht ſie mit der unſern ungeſchickt vermi - ſchen: nicht uns den Glanz der Mittagsſonne rauben, um den Schein einer Lampe zu genieſ - ſen; oder dieſe gar in das Sonnenlicht tragen.

Kaͤme212

Kaͤme es nur erſt ſo weit, daß niemand ſchriebe, was er nicht verſtuͤnde: befleißigten wir uns mehr, den Orient zu beſchauen, die heiligen Gedichte zu verſtehen, und wirklich erklaͤren zu koͤnnen: ſo wuͤrden wir es gewiß verlernen, mit Orientaliſchen Maſtkaͤlbern zu pfluͤgen; wir wuͤrden uns, wenn wir ihre Kunſt nur ganz einſehen, zu Schilderern unſrer eige - nen Natur au[s]bilden. Nicht Armuth, ſon - dern Unſchicklichkeit oder Bequemlichkeit hin - dern uns daran, unſere Schaͤzze zu brauchen, und lieber, wie Caͤſar ſagt, pauperes noſtro in aere zu ſeyn.

2.

Auch die Vaterlandsgeſchichte der Mor - genlaͤnder iſt nicht unſere. So ſehr ſich im - mer Voltaire, und die ſeines Theils ſind, beklagen, daß wir ein eckles dummes Volk aus einem Winkel der Erde, ſo ſehr erheben; ſo wahr es iſt, daß ihre Geſchichte allerdings mehr Plazz in unſerer Hiſtorie und Aufmerk -[ſ]a[m]keit einnimmt, als ſie an ſich verdienenmoͤch -213moͤchte: ſo fehlt uns doch noch immer zu viel, unſern dichteriſchen Stoff bis auf klei - ne Nuancen aus ihrer Geſchichte zu borgen. Unſer Publikum, das die Juden blos aus ei - nem Huͤbner oder Jken kennet, wird einen ewigen Commentar noͤthig haben, und Schoͤn - heiten, die fuͤr das Auge daſtehen, mit dem Fernglaſe anſehen muͤſſen. Und der Dichter ſelbſt wird Muͤhe genug haben, in den Orien - taliſchen Gedichten die beſtaͤndigen feinen An - ſpielungen auf ihre Rettungen von Feinden, auf ihre Urvaͤter, auf die Aegyptiſche Erret - tung, auf ihre Reiſe durch die Wuͤſte u. ſ. w. nur uͤberall bemerken zu koͤnnen; nur hoͤch - ſtens die Haͤlfte von ihnen zu verlieren. Sie ganz beſitzen zu wollen, ihre Schilderung ſelbſt zu uͤbernehmen das thut nur der, ſo das Laͤcherliche einer halbgetroffenen Nachah - mung nicht einſieht. Wer haͤtte uns eher den Moſes im Heldengedichte ſingen koͤnnen, als Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen, nach der weiſen Horaziſchen Regel:

Si quae deſperas tractata niteſcere poſſe --- relinque. ()PKoͤnn -214

Koͤnnten wir doch nur erſt ihre Gedichte aus ihrer Nationalgeſchichte ganz erklaͤren; alsdenn uͤberſezzt und ahmt nach! Was iſt z. E. der 68ſte Pſalm, wenn ihn der Ausle - ger des Lowth erklaͤrt, und was iſt er bei Cramer?

Geſezt, wir koͤnnten alles dies wiſſen; ſin - gen wir denn fuͤr Juden? die ſich fuͤr das ein - zige Volk Gottes hielten? die von dem feu - rigſten Nationalſtolz belebt wurden? Jedem Volk gießet bei ſeiner erſten Bildung der Pa - triotismus Flammen in die Adern bei kei - nem aber hat er dies gaͤhrende Blut laͤnger er - halten, als bei dieſem. Von allen Voͤlkern der Erde abgeſondert, brachte es ſeinem Schus - gott Nationalgeſaͤnge; erloͤſet von Feinden, die ſie anſpieen, ſangen[ſi]e Triumphslieder, die ihr Patriotiſcher Geiſt belebte: entfernt von Fremden, die ihnen unrein waren, ſangen ſie bei Nationalfeſten wer kann ihnen nach - ſingen? Unſer GOtt iſt ein Vater der Men - ſchen, nicht eines Volks, ein GOtt der Chri - ſten, nicht einer chriſtlichen Religion! Aber werden einem Juden dieſe Gegenſtaͤn - de nicht eben ſo alt geworden ſeyn, als uns?215 uns? Jch gebe es zu: und habe doch nicht meine Parallele verlohren. Jhnen ward es mit der Zeit gleichguͤltiger; aber uns noch ungleich eher und ſtaͤrker; weil alle dieſe Ge - ſchichte fuͤr uns fremder und entfernter ſind. Man ſey unpartheiiſch; wer kann wohl bei uns den beſten Crameriſchen Dankpſalm mit der Entzuͤckung ſingen, wenn er National - wohlthaten betrift, als Jſrael in ſeinem Hei - ligthum? Wer ſingt die Cantate des Za - chariaͤ mit eben der Theilnehmung, als Mir - jam und Moſes die ihrige am rothen Meere? Es kann immer ſeyn, daß ein Genie im Talmud ſeine voͤllige Nahrung finden koͤnne, als in einer Wiſſenſchaft *Litter. Br. Th. 2. p. 256. aber ein Poe - tiſches Genie, das nach Materialien zur Dichtkunſt graͤbt? Schwerlich! wenn es un - ſerm National - oder Seculargeiſt ſich beque - men will.

3.

Mit dieſem Nationalgeiſt ſind auch die Na - tionalvorurtheile ſehr genau verbunden;P 2Mei -216Meinungen des Volks, uͤber gewiſſe ihnen un - erklaͤrliche Dinge: Fabeln, die ſie ſogleich mit dem Stammlen der Sprache von ihren Er - ziehern lernen, die ſich alſo aus den aͤlteſten Zeiten von den Stammvaͤtern herunter erben: die ſich bei einem ſinnlichen Volk, das ſich ſtatt der Weisheit und Wiſſenſchaften, mit dem Hirtenleben, dem Ackerbau, und den Kuͤn - ſten abgiebt, ſehr lange Zeit erhalten koͤnnen, und dem Dichter alſo vielen Stoff darreichen, zu Erdichtungen, die das Herz des ſinnlichen Volks ſinnlich ruͤhren koͤnnen. Er weckt das auf, was in ihnen ſchlaͤft, er greift ihre Seele bei der ſchwaͤchſten Seite an, und erinnert ſie an ihre Begriffe der Erziehung, mit denen ſich ihre Einbildungskraft gleichſam zuſammen ge - formt hat: an die Traditionen ihrer Vaͤter, die alſo auch ihre Lieblingsvorurtheile gewor - den ſind, weil ſie ſich nach dem Naturell ih - res Denkens, ihres Clima und ihrer Sprache richten. Daraus entſtehet alsdenn fuͤr die Dichter eine heilige Mythologie: die Na - tional iſt, und ihnen jederzeit eine Zauberquel - le war, um Fiktionen zu ſchoͤpfen, und Bil - der zu erheben, in die ſie, die zu den erſtenZeiten217Zeiten des Volks, auch Propheten und Rich - ter waren, ihre ſinnreiche Weltweisheit, Tu - gend - und Lobſpruͤche einkleideten.

Alle Morgenlaͤnder haben an dieſen geerb - ten Maͤhrchen einen ſehr reichen Ueberfluß, wie alle Reiſebeſchreibungen zeigen; ihre Dich - ter bedienen ſich deſſelben alſo ſo ſorgfaͤltig, als Homer und Virgil ſich bekanntermaßen auf alte Sagen und Ueberlieferungen gruͤnde - ten. Die Juden, ein ſinnliches Volk, hatten auch keinen Mangel daran, und warum ſoll - ten ſich ihre Dichter nicht dieſer unſchuldigen Kunſt bedienen, um uͤber ſie zu ſiegen? Ein großer Glaube uͤber Traͤume, Zaubereien, Er - ſch[e]i[n]ungen und Beſizzungen iſt dem Dichter ſo vortheilhaft, als er dem Weltweiſen ein Dorn im Auge iſt; und mit welcher Muͤhe ſuchte GOtt dieſen in Judaͤa auszurotten? Beſchwoͤrungen, Zaubereien durch Schlangen; dieſe Meinung hatten ſie mit den Morgen - laͤndiſchen Voͤlkern gemein, wie die oͤftern Stellen ihrer Dichter bezeigen. Aus Aegy - pten hatten ſie einen ganzen Schatz dieſerNa - tionalmeinungen heruͤbergeholt: von denen Michaelis einige, wie aus einem Herkuleum, gezogen hat.

P 3Fuͤr218

Fuͤr uns ſind dieſe Fabeln halbverloren, oder fremde, oder todt; da unſere mehr wiſſenſchaftliche und denkende Lebensart ſie ausgetilget, oder gelaͤutert hat. Die ſchrecklichen Donnerwetter, die an dem Mee - re aufſtiegen, und uͤber ihr Land nach Ara - bien hinzogen, waren in ihren Augen Don - nerpferde, die den Wagen Jehovahs durch die Wolken zogen; ihnen hat David alſo ſo viel große Bilder, und inſonderheit den vor - treflichen 29ſten Pſalm geweihet. Bei uns ſind die Cherubim nicht eigentlich mehr leben - de Jdole der Phantaſie; noch glauben zwar Kinder und Weiber das, was unſer Dichter ſingt: GOtt faͤhrt in den Wolken, um Don - nerkeule zu ſchleudern; der Weltweiſe aber und ſein Bruder, der Philoſophiſche Dichter, wird, ſeitdem Prometheus den Elektriſchen Funken vom Himmel ſtahl, eher den Elektri - ſchen Blitzfunken, als ſo oft wiederholte Bil - der ſingen. Wo iſt bei uns der Engel des Todes, mit ſeinem flammenden Schwert, deſſen Gefolge und Verrichtungen jene ſo gut kannten? Er iſt entweder ein Unding, oder nach den Jdolen unſers Poͤbels ein Gerippe! Wo219Wo ſind die Engel des Herrn, auf Fluͤgeln der Winde, und auf den Flammen des Feuers? Es ſind Diener der Natur, die unſere Ein - bildungskraft ſelten perſonificirt! Was iſt die Veſte des Himmels, wo der Thron Gottes ruhet? Luft! Was der Regenbogen, der ſich zu ſeinen Fuͤßen woͤlbet? Bei den alten Skal - dern die Bruͤcke, auf der die Rieſen den Him - mel ſtuͤrmen wollten, die noch jetzt, ein flam - mender Weg, zum Schrecken erſcheint; aber fuͤr unſern Dichter, ein Farbenſpiel. Sol - cher Nationalvorurtheile koͤnnte ich eine große Menge anfuͤhren; und die meiſten haben ſich entweder in unſerer erleuchtetern Zeit ſchon verlohren, oder verfeinert, oder ſind nach dem Unterſchiede unſers Klima und unſrer Denkart ganz anders. Die Religion der Skalder,*Mallet Geſchichte v. Daͤnnem. Th. 1. die Odin aus den Morgenlaͤn - dern brachte; wie ſehr veraͤnderte ſie ſich auf dem rauhen Scandinaviſchen Grund und Bo - den? Jhr Himmel und ihre Hoͤlle, ihre Welt - entſtehung durch Froſt, und ihre Rieſen, ihr großer Wolf, und der Baͤndiger deſſelben, ih - re Zaubereien und Heldenthaten ſind mit ſol -P 4chen220chen Localfarben aus Norden gemahlet, als in verſchiedenen andern Gegenden hier Dra - chen und dort Elephanten, das Paradies und die Hoͤlle der Araber, die Bruͤcke Poul-Serra der Perſer, und die Schildkroͤtengeſchichten der Amerikaner gezeichnet ſind. Es waͤre ein angenehmer und nuͤtzlicher Verſuch, dieſe Nationalvorurtheile vieler Voͤlker zu ſammlen, zu vergleichen, und zu erklaͤren.

Fuͤr den Dichter ſind dieſes Nationalvor - theile, die ihm nicht immer entwandt wer - den koͤnnen, ohne ungereimt, oder laͤcherlich zu werden. Miltons Bruͤcke uͤber das Chaos mag freilich im Munde eines Arabers, des Sadi, beſſer klingen, als in dem ſeinigen: Klopſtocks Oefnungen am Nordpol, ſeine aͤthe - riſchen Wege, ſeine Sonnen im Mittelpunkte der Erde doͤrften vielleicht zu ſehr die Wir - belwelt der Leſer verruͤcken, ſie moͤgen ehrlich Ptolomaͤiſch, oder Copernikaniſch denken; die - ſe Erdichtungen ſcheinen ſelbſt einer ſinnlichen Denkart entgegen. Und uͤberſiebt man uͤber - dem die Erdichtungen, die die Schweizer in ihre Morgenlaͤndiſche Gedichte eingewebet; (vom Blute des unſchuldigen Abels, bis aufdas221das Blut des Zacharias, Baraͤchiaͤ Sohn) ſo kann man ſich bei ihren Engeln und Teufeln, und Schlangen und Ungeheuern oft, wenn man gleich nicht als Philoſoph leſen will, kaum jener Frage erwehren, die der Cardinal von Eſte an ſeinen Arioſt that: mein lie - ber Ludwig, wo habt ihr alle das naͤr - riſche Zeug herbekommen?

Moͤchte man doch bedenken, daß der Ge - ſchmack der Voͤlker, und unter einem Vol - ke der Geſchmack der Zeiten ſehr genau ſeinen Fortgang mit Denkart und Sitten ha - be: daß alſo, um ſich dem Geſchmack ſeines Volks zu bequemen, man ihren Wahn und die Sagen der Vorfahren ſtudiren muͤſſe; und um auch dem Gott der Zeit ein Opfer zu brin - gen, man dieſe und fremde Meinungen nach der herrſchenden Hoͤhe des ſinnlichen Verſtan - des paſſen muͤſſe. Von beiden gebe ich ein Exempel. Der Romaniſche Geſchmack der Spanier und Jtaliaͤner iſt ein Zweig von dem Aberglauben der Morgenlaͤnder, den man ziemlich genau dort aus der Mauriſchen und hier aus der Saraceniſchen Ueberſchwem - mung herleiten kann. Er ward in beidenP 5Laͤn -222Laͤndern gemein: in beiden vermiſchte er ſich mit dem Gothiſchen Ritter - und Rieſen - geſchmack: nachher miſchte ſich der Katholi - ſche Hang zu Kreuzzuͤgen, und heiligen Aben - theuren dazu! und nun ſehet! wie ſehr Lopez di Vega, Pulci, Arioſt und Taſſo dieſes Gemiſch zu brauchen gewuſt; aber freilich zu nichts mehr, und minder, als Na - tionalſtuͤcken. Wer es alſo beklagen moͤchte, daß keine ſolche Morgenlaͤndiſche Jnvaſion nicht auch bei uns den Saamen Poetiſcher Fa - beln geſtreut; dem rathe ich, dieſe dichteri - ſche Schweißtropfen der Cultur ſeines Bo - dens zu widmen. Er durchreiſe als ein Prophet in Ziegenfellen, die Mythologien der alten Skalder und Barden ſowohl, als ſeiner eignen ehrlichen Landsleute. Unter Scythen und Slaven, Wenden und Boͤhmen, Ruſſen, Schweden und Polen gibt es noch Spuren von dieſen Fußſtapfen der Vorfah - ren. Wuͤrde man, jeder nach ſeinen Kraͤf - ten, ſorgſam ſeyn, ſich nach alten National - liedern zu erkundigen; ſo wuͤrde man nicht blos tief in die Poetiſche Denkart der Vor - fahren dringen, ſondern auch Stuͤcke bekom -men,223men, die, wie die beide Lettiſche Dainos, die die Litteraturbriefe*ſ. Litt. Br. Th. 2. anfuͤhrten, den oft ſo vortreflichen Ballads der Britten, den Chan - ſons der Troubadoren, den Romanzen der Spanier, oder gar den feierlichen Sago - liuds der alten Skalder beikaͤmen; es mo̊ch - ten nun dieſe Nationalgeſaͤnge Lettiſche Dai - nos, oder Coſakiſche Dummi, oder Peru - aniſche, oder Amerikaniſche Lieder ſeyn. Will aber jemand dies nicht thun, wohl! der beque - me ſich nach ſeiner Zeit, da das Licht der Phi - loſophie die heiligen Schatten der Dichterei ver - trieben, und ſinge fuͤr unſern reinen Verſtand.

4.

Der Geiſt der Religion hat ſich veraͤn - dert. Jn den Zeiten, da die Dichtkunſt bluͤ - hete, herrſchte noch eine gewiſſe wilde Ein - falt, nach der Gott auch die Religion einrich - tete, die die Baͤndigerin der damaligen Zeiten war. Jch zeige hiezu nur drei Geſichtspunkte. Sie begriff mehr unter ſich, ſie hatte einenandern224andern Zweck, ſie gieng einen andern Weg, als unſere.

Sie begriff mehr unter ſich:) Es iſt be - kannt gnug, daß ſie ſich ins Detail dev klein - ſten Geſezze, Veranſtaltungen und Ceremonien einließ: daß ſie eben ſowohl auf den Maͤrkten, als in dem Heiligthum die Theokratie eines Schutzgottes regierte, der Propheten und Dichter und Richter in einer Perſon auf - weckte, und begeiſterte. Daher waren alle ihre Poeſien heilig; ſie mochten Puophe - tiſche Geſaͤnge, oder Laſten von Fluͤchen, oder Troſtlieder, oder Geſezze und Spruͤche ent - halten. Unſere Religion hingegen ſondert ſich von der Politiſchen Regierung und den Richterſtuͤhlen ab: ſie iſt nichts minder, als Theokratiſch, und der Prophetiſche Geiſt ſchweigt.

Jene hatte einen andern Zweck:) ein wildes ungebildetes Volk im Zaum zu halten, das uͤber den Acker und Landweiden wenig ſeinen Geiſt er - hob. Hier war eine ſinnliche Dichtkunſt das Mittel, ihre Seele etwas auf merkſam zu machen. Geſaͤnge von zeitlichem Gluͤck und Ungluͤck ſchall - ten von jenen Bergen Griſim und Ebal: dergroͤßte225groͤßte Theil der Pſalmen beſchaͤftigt ſich mit dem zeitlichen Zuſtande des Volks und kann mei - ſtens blos durch erbauliche Accommodationen und Katachreſen etwas geiſtliches bedeuten. Unſere Religion hingegen iſt geiſtig, und mit den erhabenſten Zwecken auf eine gluͤckliche Ewigkeit.

Jene war ſinnlich und lange nicht ſo mo - raliſch, als die unſere.) Das Volk war noch nicht zu der feinen Moralitaͤt tuͤchtig, die un - ſere Religion fodert; es muſte alſo mit ſinn - lichen Gebraͤuchen unterhalten werden. Rei - nigungen und Opfer, Gebraͤuche und Sazzungen, Prieſter und Tempel; al - les beſchaͤftigte ihr Auge, alles fuͤllete ihre Gedichte mit Anſpielungen, die ſie darauf zie - hen ſollten. Die ganze Sprache hat ſich alſo veraͤndert, und beinahe auch die ganze Reihe von Begriffen. Jhr Engel des Todes war nicht unſer Teufel: es war ein unmoraliſches Weſen, das GOtt ſandte; die andern Engel hatten nicht ſo unabtrennbar einen Begriff der Moraliſchen Guͤte mit ſich: ihr GOtt ſelbſt muſte ihnen in den ſtaͤrkſten Leidenſchaften ge - ſchildert werden, damit er ſie ruͤhrte; ſie ſa -hen226hen auch bei ihren heiligen Gedichten nicht immer darauf, ob jedes Gleichniß tugendhaft und wohlanſtandig waͤre; wenn es nur ſchil - derte Unſere Religion hingegen iſt keine Tochter der Einbildungskraft, ſondern eine Schweſter der Vernunft und Moraliſchen Guͤte.

Und nun! ſind alle Gedichte, die bei ihnen Stuͤcke der Religion waren, es auch fuͤr uns? Jch glaube nicht! Und wenn man ſie alſo nachahmen wollte? So muͤſte es ſeyn, als wenn David z. E. chriſtliche Pſalmen ſchrei - ben wuͤrde Freilich iſt dies der Zweck, der bei Klopſtocks Liedern in der Vorrede ſteht, den aber im Gauzen ſeine Lieder nicht errei - chen moͤchten. Wirklich etwas zu viel Orienta - liſcher Schaum, und chriſtliche Gegenſtaͤnde Orientaliſch behandelt Und worinn denn? Jch ſchaͤzze dieſe Lieder ſehr, denn ſie wirken mehr auf das Herz, als einige andere. Und dar - nach beurtheile ich den Werth eines Liedes. Aber zu viel Morgenlaͤndiſche, Bibliſche Spra - che, als daß ſie immer nach unſern Jdeen be - ſtimmt gnug ſeyn ſollte: gewiſſe Morgen - laͤndiſche Wiederholungen, die ſtatt zu ſeufzenjaͤhnen227jaͤhnen machen: und denn nicht die gehoͤrigen Beweggruͤnde und Reizungen zu den Em - pfindungen, die ſie erwecken ſollen. Klop - ſtock, der ſelbſt eine Empfindungsvolle See - le zeigt, hat ſich gewiſſe Gegenſtaͤnde der Re - ligion, inſonderheit bei den Martern des Er - loͤſers einige Nuancen ſo eingedruͤckt, daß, wenn er auf ſie geraͤth, er ſich verweilt, und in Empfindungen ausbricht, die er bei dem Leſer nicht gnug vorbereitet hat: und bei denen alſo mancher nichts empfindet. Wenn unſre ganze Einbildungskraft in Arbeit iſt: ſo kann ſich aus dem ganzen ruͤhrenden Ge - maͤlde ein Zug (nicht immer der bedeutendſte) am tiefſten eindrucken, der nachher jedesmal das ganze Gemaͤlde zuruͤckbringt, und alſo auch durch die Einbildungskraft die ganze Em - pfindung wieder aufregt aber dies lezte geſchieht bei einem fremden Leſer, nicht durch den einzelnen Zug, ſondern durch das treue Ganze, das man ihm alſo vormalen muß. Um dies mit einem Beiſpiel zu beweiſen: ſo ha - be ich einen frommen redlichen Greis ge - kannt, der in ſeinen lezten ſchwachen Jah - ren bei ſeinem Unterricht und Gebeten nie ſoſehr228ſehr bewegt wurde, als wenn er auf den Zug im Leiden Jeſu ſtieß: er hieng (nach ſeinen Provinzialismen) Mutter-Faden-nackt am Kreuz: bei dieſem an ſich unwichtigen Um - ſtande, der ſich aber ſeiner Phantaſie in den erſten Jahren vorzuͤglich eingedruckt hatte, ſtand er ſtille, ergoͤtzte und beruhigte er ſich, da ſein Zuhoͤrer indeſſen jaͤhnte. Uebrigens weiß Klopſtock die menſchliche Seele genau zu treffen; manche Geſaͤnge ſind Muſter einer ſtillen andaͤchtigen Empfindung, inſonderheit wenn ſie zu den ſanften gehoͤrt, und nichts gluͤckt ihm mehr, als ſeine Todesbetrach - tungen.

Es iſt mir lieb, daß ich uͤber viele aͤltere bibliſche Gedichte nicht urtheilen darf; was hat man nicht aus vielen Charakteren gemacht? Em voͤlliges laͤcherliches Unding, das dem Charakter ſeines Volks, ſeiner Zeit, und ſei - ner Religion widerſpricht. Gerade, wie diejenigen, die eine ganze Straße niederreiſſen, um darauf einen einzigen Pallaſt zu bauen; die nichts darnach fragen, wie viel andre ſie umbringen; zufrieden, wenn ſie ohne alle Ruͤck - ſicht auf Muͤtter, Weiber und Kinder, aufNation229Nation, Zeit, und Geſchmack einen Menſchen darſtellen koͤnnen.

Compos’d of many ingredient Valours Juſt like the Manhood of nine Taylors, wie Hudibras ſingt.

5.

Ueberhaupt hat ſich die ganze Poetiſche Sphaͤre bei beiden Nationen geaͤndert. Die geſittete Freiheit, in der wir leben, laͤßt Kuͤnſte und Wiſſenſchaften bluͤhen; die et - was rauhere, die mit Gaͤhrungen des Staats, und mit Unterdruͤckungen kaͤmpft, laͤßt, wie bei den Roͤmern und Griechen, die Beredſamkeit ihre Wunder thun; aber wilde Einfalt iſt das Feld der Dichter. Jn dieſer haben die Hebraͤer ſehr lange gelebt, beſtaͤndig treu dem Ackerbau und der Vieh - zucht, den ſinnlichen Begriffen, und ihrem Vaterlande: nie hat alſo die Zeit der Be - redſamkeit ihre Bluͤthe erreichen; ja die Periode der Weltweisheit kaum anbrechen koͤnnen.

QDaß230

Daß die Hebraͤer nie große Redner ge - habt haben, beweiſet der Herausgeber des Lowth in ſeiner Vorrede; der uͤberhaupt durch ſeine Roten und Epimetre mehr als Lowth ſelbſt geworden, und viele Dinge hin - geworfen hat, die durchaus verdienen ange - wandt, erklaͤrt und fruchtbarer gemacht zu werden. Wir koͤnnen alſo nach einem Je - ſaias ohnmo̊glich unſre große Redner bilden.

Nie haben ſie alſo auch einen voͤllig ausgebildeten Rednerperioden gehabt; ihre Poeſie hat einen Rhythmus, den die Choͤre und Jubelſpruͤnge gebohren haben, der von zu ſtarker Declamation war, als ein Syl - benmaas zu halten, der durch Muſik und Tanz belebt wurde. Welch ein Unterſchied iſt es nun, in einer durchaus Proſaiſchen und Philoſophi - ſchen Sprache, deren Accente lange nicht ſo toͤ - nend ſind, wo man ſchreibt, geleſen zu wer - den, wo, wenn die Muſik ſich mit der Poeſie verbindet, jene die herrſchende wird, in die - ſer Sprache eine Orientaliſche Poeſie durch Poetiſche Proſe nachzuahmen; die unſrer Sprache Gewalt anthut. Inter mulierum ſaltantium choros adoleuit poeſis orienta -lis:231lis: çarmina rarius ſcribebantur, recita - bantur cantabanturque frequentius. Inter ſaltantium choros, non ſemper pios, natam poeſin Hebraicam dixerim, cum motum corporis canticis haecque illi ac - comodarent: cui poeſis origini verſuum parallelismos acceptos fero. Nun bleibt es doch wohl immer unnatuͤrlich, Lieder, die dort nach lermenden Choͤren eingerichtet wa - ren, wie ſie ſind, nachahmen zu wollen, und ſein eigues Chor zu ſeyn.

6.

Jn der Poeſie wird vieles von der Spra - che beſtimmt: und ich glaube, aus dieſem Unperiodiſchen Melodiſchen der Hebraͤiſchen Gedichte zum Theil den kurzen Paraboliſchen Ton erklaͤren zu koͤnnen, der Weisheit in ein Bild kleidet, ohne dies Bild auszupuzzen, und Periodiſch ordnen zu wollen. Nein! kuͤhne Vergleichungen, und wenig ausgefuͤhr - te Gleichniſſe; aber deſto oͤftere Wiederho - lung deſſelben Bildes, deſſelben Gleichniſſes. Q 2Jn232Jn keiner hohen Ebraͤiſchen Ode findet man den abgemeßnen Schwung, der eine Griechi - ſche, und noch mehr eine Roͤmiſche charakte - riſirt: in keiner die ausgemalten Pindariſchen Bilder, die hier immer Stuͤckweiſe erſcheinen, abbrechen und wieder kommen: in keiner Ele - gie, die daͤmmernde Stimme, die durch ihren ſterbenden Fall, und anhaltendes Wimmern, allmaͤhlich ruͤhrt: uͤberall mehr der wie - derholte Schlag, der eine Saite des Herzens nach der andern plo̊zlich trift, und eilt, um eine andre zu treffen. Man hat dieſen innern Charakter aus ihrer Hizze der Einbil - dungskraft herleiten wollen; allein ein Hu - rone in einer unperiodiſchen Sprache muß ſo, wie ſie, ſingen.

Wir aber, in einer Periodiſchen Sprache. Wir muͤſſen alſo jene zerſtuͤckte Bilder, die ſich wiederholen, zu einem Ganzen ordnen, und ſie in einem gebildeten Poetiſchen Perio - den mehr in der Perſpektiv eines Gleichniſſes zeichnen; der uns eigne Poetiſche Ton malt uͤberdem ſonſt mehr Begriffe als Bilder, und unſre ſelbſt Dichteriſche Gleichniſſe zeigen ſich, nach jenen zu rechnen, mehr in dem Licht ei -nes233nes Beweiſes. Ein Muſter der Nachahmung hierinn iſt der Klopſtockiſche Pſalm auf den Koͤnig von Daͤnnemark. Wirklich die Hebraͤi - ſche Zerſtuͤckung der Sprache, und doch die Griechiſche Zuſammenſezzung der Bilder; hie und da kleine Waſſerfaͤlle; doch aber bleibts immer ein ſanfter Strom, der uͤber klare Steine rollet. Ein Gemaͤlde, ein Wort ent - wickelt ſich aus dem andern, und macht es vollkommner; Vielleicht Klopſtocks ſchaͤz - barſtes Lyriſches Stuͤck! Eben ſo weiß er, in ſeinen Kirchenliedern oft den Orientaliſchen Parenthyrſus zu Kirchencadenzen herunter zu ſtimmen, und im Meßias iſt ſein Wechſelge - ſang zwiſchen Mirjam und Debora ſchoͤn; Orientaliſch in Sprache und Bildern; und Deutſch in der Anordnung derſelben.

Man erinnere ſich aus meinem vorigen Fragmente, daß der Reichthum einer Spra - che ſich gleichſam mit der Haushaltung der Menſchen veraͤndere, daß uns unſer Wohl -[ſtand]viele Freiheiten entzogen, die jene ge -[noſſen]; daß unſer Stadtleben es nothwendig verhindert, daß unſre Poeſie nicht Botaniſch ſeyn kann, wie Michaelis die MorgenlaͤndiſcheQ 3nen -234nennet, daß unſere Politiſche Woͤrterbuͤcher unſerer ſinnlichen Sprache Wuͤrde entzogen haben u. ſ. w. man erinnere ſich deſſen, und vergleiche den Charakter unſrer Sitten und Zeiten mit jenen, ſo wird man finden:

Der Poetiſche Sinn iſt nicht mehr derſelbe. Jener wirkte ſchnell und heftig; nicht aber eben zart und dauerhaft. Die Saite ihrer Empfindung des Poetiſch Schoͤnen (ich will nicht wie Montesquieu bis auf ihr Faſern - gewebe, und auf das Temperament ihres Kli - ma zuruͤckgehen) wird ihren Sitten und Zeit gemaͤß heftig getroffen, und bald verlaſſen. Unſer Poetiſcher Sinn iſt mehr langſam und uͤberlegend, als brauſend. Selbſt das ſanfte Griechiſche Gefuͤhl wird unter unſerm Him - mel nicht reif; wie ſollte er denn die uͤber - maͤßig fruͤhzeitigen Fruͤchte der Morgenlaͤn - der reifen? Unſre Saite der Poetiſchen Em - pfindung giebt nach: wir bleiben kaͤ[l]ter, als die Griechen mit zarten, oder die Morgen - laͤnder mit heftigen Sinnen: wir bleiben ſelbſt im Poetiſchen Fluge, wie die Strauße dem Boden des Wahren treuer, und kommenzur235zur Ruͤhrung oft durch den Weg der Ueber - legung.

Ahmen wir alſo nach, wie es uns gefaͤllt: ſo wird vielleicht ein unpartheiſcher Frem - der, der den Orient kennet, ohne ihn von Jugend auf, blos als ein Erbſtuͤck der Reli - gion zu kennen, der Geſchmack gnug hat, um unſre Nachahmungen mit jenen Origina - len zu vergleichen, vielleicht folgenden Cha - rakter angeben:

Die Morgenlaͤndiſchen Werke des Genies zeichnen ſich aus, durch den hohen Ausdruck einer Einbildung, die Erdichtungen liebt, Sittenſpruͤche in Figuren, Bilder und Schat - ten einhuͤllet, die nicht blos auf Fluͤgeln der Morgenroͤthe bis an die Graͤnzen der Natur aufſchwinget, ſondern ſich oft uͤber dieſe Graͤnzen wagt, und im Reich des Unnatuͤr - lichen, aber wunderbaren Chaos umherirret. Die kaͤltern vernuͤnftigen Deutſchen haben dieſer brennenden Phantaſie ſich nachſchwin - gen wollen, mit Fluͤgeln, die ihnen die Na - tur nicht gab, wie Horaz vom Daͤdalus ſin - get: ſie zeichnen fremde, oft unverſtandne, und wenigſtens zu entfernte Bilder: ihreQ 4 ge -236 geborgte Erdichtungen ſind Geſchoͤpfe ohne Erde: ihre nachgeahmte Empfindungen keine Empfindungen: der Ausdruck erreicht ſein Original oft nur, wo es ſich dem Uebertriebe - nen naͤhert. Jch habe viel geſagt; den Be - weis uͤberlaſſe ich einem jeden, der Morgen - laͤndiſche Gedichte zu leſen weiß.

7.

Elend nachahmen ſollen wir alſo gar nicht, und ein Hudemann iſt in ſeinem Lucifer und in ſeinem Tode Abels der Bemerkung und der Aergerniß unwuͤrdig aber wie koͤnnen wir uns von ſolchen Hudemanns befreien? Wenn wir uns aufmuntern, die Morgenlaͤndiſchen Gedichte, als Gedichte zu ſtudiren, erklaͤren zu lernen und bekannt zu machen. Unmoͤglich koͤnnen wir ſie uͤberſez - zen, und nachahmen, ehe wir ſie verſtehen, und die Morgenlaͤndiſche Philologie, die in unſerm Deutſchlande ſeit einiger Zeit bluͤhet, wird, wenn ſie ſich mit Geſchmack vereinigt, ſchlechte und dumme Nachahmer zerſtreuen.

Der237

Der beſte Ueberſezzer muß der beſte Erklaͤ - rer ſeyn; waͤre dieſer Sazz auch umgekehrt wahr: und waͤren beide verbunden: ſo wuͤr - den wir bald ein Buch hoffen koͤnnen, das ſo hieße: Poetiſche Ueberſezzung der Morgen - laͤndiſchen Gedichte; da dieſe aus dem Lan - de, der Geſchichte, den Meinungen, der Re - ligion, dem Zuſtande, den Sitten, und der Sprache ihrer Nation erklaͤrt, und in das Genie unſrer Zeit, Denkart und Sprache verpflanzt werden. Jn der Vorrede wuͤr - de man mit Recht ſagen koͤnnen: Dieſe Ueberſezzung hat nothwendig das ſchwerſte und muͤhſamſte Werk ſeyn muͤſſen, zu dem in der Erklaͤrung, die Bemerkungen einiger wenigen Philologen von Geſchmack, und in der Ueberſezzung die Cramerſchen Pſalmen nichts als kleine Beitraͤge haben ſeyn koͤn - nen, oft um uns zu helfen, Geſichtspunkte zu zeigen und behutſam zu machen. Allein wir halten es auch fuͤr eine Originalarbeit, die mehr Einfluß auf unſere Litteratur ha - ben kann, als zehn Originalwerke. Sie unterſcheidet die Graͤnzen fremder Voͤlker von den unſrigen, ſo verwirrt ſie auch laufenQ 5 moͤ -238 moͤgen: ſie macht uns mit den Schoͤnhei - ten und dem Genie einer Nation bekannter, die wir ſehr ſchief anſahen, und doch von Geſicht kennen ſollten: ſie iſt ein Muſter einer Nachahmung, die Original bleibt. Sollte ſie alſo auch nicht das Gluͤck haben, neue und wirklich neue Genies zu erwecken: ſo wird ſie doch wenigſtens den Nach - und Nebenbuhlern auslaͤndiſcher Goͤtzen eine Wand von Dornen vorziehen, daß ſie ih - ren Steig nicht finden. Sie wird ſie er - greifen, zuruͤckreißen, und ſagen: Siehe hier deine Natur, und Geſchichte, deine Goͤtzen und Welt, deine Denkart und Spra - che: nach dieſem bilde dich, um der Nach - ahmer dein ſelbſt zu werden. Und willſt du von einer der vorzuͤglichſten Nationen ihre Schaͤzze nuͤzzen: ſiehe hieher! Jch ſuche dich mit der Kunſt bekannt zu machen, wie ſie Geſchichte und Religion in Gedichte zu wandeln wuſten; raube ihnen nicht das Er - fundne, ſondern die Kunſt zu erfinden, zu erdichten, und einzukleiden!

Wo iſt ein Ueberſezzer, der zugleich Philo - ſoph, Dichter und Philolog iſt: er ſoll derMor -239Morgenſtern einer neuen Epoche in unſrer Litteratur ſeyn! Aber leider! Arabiſche Wur - zeln wachſen gern auf duͤrrem Grund und Boden: ich werde vielleicht ein pium deſide - rium hingeſchrieben haben. Es ſey! Vor - theil gnug, wenn dies mein Fragment nur ei - nem einzigen Schriftſteller die Feder aus den Haͤnden windet, wenn er uns neue Heldenge - dichte im Orientaliſchen Geſchmack liefern will! Vortheil gnug, wenn es einen einzigen Hexa - metriſten vermoͤchte, ſein Gedicht nach den vorgelegten Geſichtspunkten zu verbeſſern; Auch ſchon Vortheils gnug, wenn es einen Kunſtrichter bildete, uͤber Werke dieſer Art beſſer zu urtheilen.

Jch kann nicht wichtiger ſchließen, als wenn ich das erhabenſte Orientaliſch - Deut - ſche Werk: den Meßias, Kritiſch pruͤfe, uͤber den man, wie ich glaube, noch nicht eine ſo genaue Unterſuchung hat, als es dieſes große Stuͤck verdient. Einige haben nicht uͤber ein Fragment*Th. 19. p. 155 ꝛc. urtheilen wollen, weil es noch kein Ganzes waͤre! Wunderbar! Kann240Kann ich denn nicht uͤber den Geiſt der Theile, uͤber jede Erdichtung in demſelben, als uͤber ein Ganzes urtheilen, ohne ein Prophet ſeyn zu duͤrfen, oder dem Verfaſſer Unrecht zu thun?

Ueber Fragmente, denke ich, ſoll man am erſten urtheilen, um dem Verfaſſer zu helfen, oder wenigſtens ſeine Stimme auch zu geben; dadurch, und dadurch allein arbeitet ein Kuͤnſt - ler vor den Augen des Publikum: er hat ein unvollendetes Tagewerk hingeſtellt, und ſteht hinter demſelben, um nach den Urtheilen der Kenner begangene Fehler zu verbeſſern, und kuͤnftigen zuvorzukommen. Haͤtte Klopſtock, gleich im Anfange, ſtatt eines poſaunenden Lobredners, einen Kritiſchen Freund gefun - den: haͤtte er nicht gleich ſo viel blinden Bei - fall, und noch blindere Nachahmung geſehen: vielleicht wuͤrde manches in ſeinem vortrefli - chen Gedicht noch vortreflicher ſeyn.

Aber ſo gehts! Ueber kleine Geiſter, uͤber Lehrlinge und Geſellen, die Verſuche machen, ſind Kunſtrichter gleich in Menge da; ſie ſind Fliegengoͤtter, auf die auch immer die Va - riante dieſes Namens (Beelzebub und Beel - zebul) paſſen mag! Aber es tritt ein Genieauf,241auf, wie Pallas aus dem Gehirn des Jupi - ters! Sogleich erbebt von ihrem maͤchtigen Geſchrei der Himmel und die Mutter Erde: Apoll, der Erleuchter der Menſchen, be - fielt ihnen das nuͤtzliche Geſchaͤft an, der Goͤttin zuerſt einen Altar zu bauen, und durch ein heiliges Opfer den Vater Zevs und ſeine gewafnete Tochter zu ergoͤtzen!

Freilich urtheilten auch viele, wie jener Schuſter am Bilde Apelles: allein die rechne ich nicht: ſie haͤtten ſchweigen ſollen: auch Klopſtock hat ſie nicht gerechnet. Und wird er deine Anmerkungen rechnen? Das weiß ich nicht: aber menſchlich und billig aufnehmen, das wird er. Jeder urtheilt, was ſeine Augen ſehen. *Th. 1. 10. 13. 16. 17.Die meiſten aber ſehen doch einerlei. Sollte alſo auch mancher Klopſtockianer mir entgegen ru - fen, was Nicomachus dort zu jenem ſagte, der das Bild der Helena, von Zevxes gemalt, tadelte: Nimm meine Augen: und ſie wird dir eine Goͤttin ſchei - nen! Jch ſchreibe doch, vielleicht, was viele bei ſich gedacht, oder gar ein Genie,das242das ſich bei Klopſtocks Meßias ſo findet, als Alexander am Bilde Achills, was dies Genie ſchon dunkel in ſeiner Seele fuͤhlet.

Wer koͤnnte die Juͤdiſche Seite dieſes Ge - dichts am beſten beurtheilen? Ein Rabbi, der fuͤr ſein Volk Patriotismus, Kaͤnntniß ſeiner Gebraͤuche, und eine Morgenlaͤndiſche Einbildungskraft haͤtte! Und wer die Chriſt - liche Seite? Ohne Zweifel ein Chriſt, der fuͤr ſeine Religion Patriotismus, Kaͤnntniß ihres Umfanges, und Chriſtliche warme Empfindungen beſaͤße! Beide koͤnnen ſich widerſprechen, von entgegengeſetzten Seiten die Sache betrachten, um das Urtheil einiger - maſſen vollſtaͤndig zu machen. Jch laſſe ſie ſprechen!

Geſpraͤch243

Geſpraͤch zwiſchen einem Rabbi und einem Chriſten uͤber Klopſtocks Meßias.

Der Rabbi.

Jch habe Jhr Verlangen erfuͤllt, und Klop - ſtock geleſen! Jch habe ihn zweimal und mit neuem Vergnuͤgen geleſen. Kaum haͤtte ich einem Noͤrdlichen Deutſchen die reiche Morgenlaͤndiſche Einbildungskraft zugetrauet, die er bewieſen.

Der Chriſt. Nun! habe ich alſo nicht Recht, daß er auf Deutſcher Erde ein Ori - entaliſches Denkmal gebauet hat, das die Ehre unſerer Nation waͤre, wenn es vollen - det wuͤrde?

Rabbi. Allerdings: und daß er ſich uͤber die Mythologie der Griechen ſo gluͤcklich zu ſchwingen gewußt: fodert viel Genie!

Chriſt. Und daß er uͤberall aus ſich ſelbſt die Luͤcken hat ausfuͤllen koͤnnen, um aus ei - ner kurzen Geſchichte, Gedicht, Epopee, undeine244eine chriſtliche Epopee zu machen fodert noch mehr!

Rabbi. Nicht ganz aus ſich hat er ſie ausgefuͤllet: die Heilige Geſchichte liefert ja dazu Stof gnug; ich wuͤnſchte alſo, daß er dieſen Stof mehr gebraucht haͤtte; auch ei - nige Rabbiniſche Zuͤge hat er gluͤcklich anzu - wenden gewußt und

Chriſt. Nur nicht, daß dieſe Anwendung auf Koſten ſeiner Originalerfindung gehe. Auch aus Milton hat er Zuͤge genommen: wer ſie aber ſo gluͤcklich wie er nimmt, und anwendet, hat ſie ſelbſt erfunden.

Rabbi. Wir ſcheinen ohngeachtet unſers verſchiedenen Geſichtpunktes ſo ziemlich aͤhn - lich zu ſehen; einmal haben ſie ſchon mein: ich wuͤnſchte! gehoͤrt, das zweitemal es unterbrochen wollen wir uns nicht naͤher unſre Zweifel ſagen?

Chriſt. Eben das habe ich von Jhnen er - wartet: bei einem Meßias muß man ſich nicht blos vergnuͤgen, ſondern auch unter - richten. Dazu hat der Verfaſſer ſeine Ab - handlung von der heiligen Poeſie voraus - geſchickt.

Rabbi. 245

Rabbi. Nicht voͤllig dazu! wenn wir ſie zum Maasſtabe des Meßias annehmen muͤß - ten, ſo haͤtten wir die Richtigkeit dieſes Maas - ſtabes vorher ſelbſt zu pruͤfen. Klopſtock ſagt ſo hier, als in allen ſeinen Proſaiſchen Diſcourſen viel; aber immer bleiben auch Unterſcheidungen, Beſtimmungen, Zuſaͤzze fuͤr den Leſer uͤbrig.

Chriſt. Gut! ſo wollen wir die Pruͤfung frei vornehmen: begegnen wir uns mit dem Verfaſſer manchmal: um ſo viel beſſer! ha - ben wir etwas gegen ihn, den Kritiker: ſo wollen wirs auch nicht verſchweigen.

Rabbi. Nun dann! Kommt Jhnen ein Meßias, wie der ſeinige, wohl als ein recht - behandeltes Sujet zur Tragiſchen Epopee vor? Mir nicht! Die Wuth ſeiner Feinde waͤre ein Unding, wenn er in dem Glanze voͤllig gewandelt haͤtte, in dem ihn K. erblicket. Haͤtte er ihn nicht in Umſtaͤnde ſezzen ſollen, wo man ſein Verhalten gegen die Feinde ſelbſt ſaͤhe? aus dem ſie, ſeiner Unſchuld unbe - ſchadet, einigen Schein zur Wuth gegen ihn,Rum246um das ganze Volk anfzubringen, ziehen koͤnnten. Was Jeſus ihnen aͤrgerliches ge - than hat, wird erzaͤhlt, nicht aber im An - fange des Gedichts handelnd zum Grunde ge - legt: ſo ſehen wir Effekt, ohne die Urſache ſelbſt geſehen zu haben: der Epopee entgeht etwas an Poetiſcher Wahrſcheinlichkeit.

Chriſt. Jch gebe Jhnen einigen Beifall, aber aus andern Gruͤnden. Der Meßias erſcheint nach den Weißagungen des A. und den Erzaͤlungen des N. Teſtaments viel menſchlicher, als ihn K. malet. Die Epopee fodert nicht ein Jdeal, was uͤber - menſchlich waͤre, ſondern was die hoͤchſte Ruͤhrung verurſacht: nun entgeht aber dem Gedichte des K. viel von dieſem Leben, weil wir den Heiland zu wenig menſchlich ſehen; und es bleibt doch immer wahr; nichts be - wegt eine menſchliche Seele, als was ſelbſt in ihr vorgehen kann. Saͤhen wir oͤfter unſern Bruder, den groͤſten Menſchenfreund: ſo wuͤrde dies eher das Ziel erreichen, die ganze Seele zu bewegen und jede Saite der Empfindung zu treffen.

Rabbi. 247

Rabbi. Wie? wenn unſer Jeſaias den Meßias geſungen haͤtte? Warum hat K. nicht mehr den erhabnen Propheti - ſchen Ton ins Epiſche umgeſtimmt? Hat er wohl durchgaͤngig den Geiſt, der die Haushaltung des ganzen A. Teſtaments belebte, angewandt, da Jeſus doch einem Volke erſchien, das ihn unter dieſen Bildern erwartete? Geſezt, ſein Meßias waͤre der Vorausverkuͤndigte; ſo zeige ihn auch K. in dieſem ganzen Lichte.

Chriſt. Haͤtte unſer Johannes, der ihn biſ an ſeinen Tod begleitete, und ſein Plato ward, mit dem feurigen Pinſel der Apoka - lypſe ihn ſchildern wollen; ſo haͤtte er ihm ſo viel individuale Beſtimmung gegeben, daß jeder ruffen muͤſte: das iſt er! Johan - nes hat ihn geſehen! Nun hat ihn freilich K. nicht geſehen; aber als Schoͤpfer haͤtte er ihm Weſen und Leben geben ſollen: Der Dichter ſtudirt den Grundriß ſeiner Ge - ſchichte, malt ihn nach den Hauptzuͤgen aus, die er in ihm gefunden zu haben glaubt, und muß uns durch ſeine maͤchti - gen Kuͤnſte dahin bringen, daß ich zu derR 2 Zeit,248 Zeit, da ich ihn leſe, und auch noch laͤn - ger, vergeſſe, daß es ein Gedicht iſt.

Rabbi. Wenn der Schauplatz und die meiſten Auftritte in einem Chriſtlichen Ge - dichte nicht recht Juͤdiſch ſind: ſo wundere ich mich nicht eben; ein Chriſt, wie die meiſten ſind, halten unſern Staat, Sitten und Gebraͤuche fuͤr zu niedrig, als ſie zu ſtu - diren, und ſie muͤſſen doch ſtudirt werden, weil ſie von dem Geiſt der heutigen Zeit ſich ſo weit entfernen. Aber Klopſtock, der wi - der dies Juͤdiſche Coſtume nie offenbar han - delt, und der es oft in feinen Zuͤgen bemerkt, dieſem wuͤnſchte ich, daß er Nationalgeiſt und Juͤdiſche Laune durchgaͤngig in ſein Ganzes gebracht haͤtte. Dazu gehoͤrt viel, aber das zeigt von Genie und zaubert uns mitten unter andre Voͤlker.

Chriſt. Mir iſt eure Puͤnktlichkeit und euer Talmudiſcher Stolz in Cerimonien zu fremde, um daruͤber urtheilen zu koͤnnen; aber was ſollte ſein Meßias eher und wuͤr - diger ſeyn: als ein Lied des Urſprunges unſrer Religion. Jeder Chriſt fodert es, und kann es fodern, daß ſein Meßias alsein249ein Geſandter Gottes erſcheine, der ganz und gar mit dem großen Gedanken ſich beſchaͤftigt, uͤber die Voͤlker zu herrſchen; daß ſein Er - loͤſer als ein Prophet erſcheine, der der Welt Licht und Freiheit und Seligkeit gebracht hat, der jetzt ſeine angefeindete Lehre mit Maͤr - tirerblut beſiegelt, und mit dieſem Blut des neuen Bundes in den Himmel geht, um Koͤ - nig uͤber ein neues Reich der Gnade zu ſeyn. Bei ſeinen lezten Augenblicken ſollte es ihm mehr am Herzen liegen: was ſeine Heerde, ſeine Bruͤder, ſeine Familie um ihn und fuͤr ihn leiden wuͤrden! Wenn der heilige Dichter in ſeiner Art das thut, was ein andrer thut, der aus den nicht hiſtoriſchen Wahrheiten der Religion, Folgen herleitet; wenn unſre Lehrbuͤcher aus der Religion ein Gerippe gemacht haben:*ſ. Klopſt. Abhandl. von der heil. Poeſie. ſo ſollte jener der Offenbarung folgen, um ſie in einem geſunden maͤnnlichen Koͤrper darzuſtellen. Alsdenn muß Klopſtocks Meßias die Pflan - zung der Kirche, mit ihren Schickſalen und Wanderungen mehr im Auge behalten, alsR 3Vir -250Virgil die Gruͤndung des Roͤmiſchen Volks und Kaiſerthrones behalten konnte: dadurch eben bekam es bei einem Roͤmer, bei einem Auguſt und Oktavia Jntereſſe.

Rabbi. Und denn haͤtte K. ſeine Apoſtel nicht ſowohl nath ſeinem weichen Herzen, als liebe gute Juͤnglinge malen ſollen: ſondern ihnen mehr mit großen Fehlern auch das Große goͤttlicher Propheten geben

Chriſt. Oder ſie wenigſtens als Schwa - che malen ſollen, die einſt zu Saͤulen der Kirche beſtimmt ſind, und bei denen er we - nigſtens die Anlage zu ihrer kuͤnftigen Groͤße im Vorgrunde zeichnen ſollte.

Rabbi. Aber uͤberhaupt! iſt in ſeiner Evopee zu viel Geruͤſt und zu wenig Ge - baͤude; zu viel Rede und zu wenig Hand - lung. Wie vieles davon kann man weg - nehmen, ohne Schaden, ja vielleicht zur Schoͤnheit des Ganzen. Euer Jeſus wird entweder uͤber der Menſchheit geſchildert, oder mit dem vollen weichen Herzen, das da ſpricht, und duldet, aber zu wenig han - delt. Wer ihn nicht zum Voraus aus den Evangeliſten kennet: wird ihn aus dieſemGedicht251Gedicht nicht in ſeiner ganzen Groͤße ken - nen lernen.

Chriſt. Vielleicht haben Sie noch zu viel Geſchmack an dem Parenthyrſus in Bildern, den man Jhrer Nation vorwirft; vielleicht iſt die Hoheit Jeſu mehr eine ſtille Groͤße! Nur freilich doͤrfte ſich dieſe mehr im Antlitz, in Minen und Geſpraͤchen, als in den menſch - lichen charakteriſtiſchen Handlungen zeigen, die eben nicht Wunder ſeyn doͤrfen.

Rabbi. Sind nicht ſeine Engel groͤſten - theils das im Gedichte, was ſie in den Ku - pfern ſind: weibiſche, zarte, liebe Knaben, die ſchweben, und umherflattern, ohne recht in den Kerninhalt des Stuͤcks eingeflochten zu ſeyn: Maſchinen, die ihr Poetiſcher Schoͤ - pfer nicht zu brauchen weiß. Wenig von dem Hohen, was ein E[n]gel hat, wenn er nach dem A. T. auch nur der Fuͤrſt eines Elements, der Regent eines Landes, und der Statthalter Gottes in einem wichtigen Auftrage iſt.

Chriſt. Freilich macht K. zwar einen Un - terſcheid, zwiſchen einem Gedicht, das aus gewiſſen Geſchichten des erſten Bundes ge -R 4 nom -252 nommen wuͤrde, und einem, ſo das Jnnre der Religion naͤher angeht, und zwar einen Unterſchied in Abſicht auf die Weltlichkeit, wie ers nennet: allein dem unbeſchadet kommt es mir vor, daß er bei dem Jnnern zu ſehr das Aeußere vergeſſen, und da er ſein Hauptaugenmerk nur immer auf Moralitaͤt gerichtet, es mit ſeinen Engeln manchmal vergißt, was er ſelbſt ſagt:*Nord. Auſſeh. Th. 3. St. 110. Ein Engel ſoll mehr als ein Jupiter ſeyn, der eben gedonnert hat.

Rabbi. Ueberhaupt hat K. das Syſtem des alten Bundes bei ſeinen Engeln bei - nahe ganz veraͤndert, und wirklich zum Scha - den eines ſinnlichen Gedichts, das ſich dem Orientaliſchen Geſchmack bequemen ſoll. Er meint, man muͤſſe der Religion, nicht aber der Schreibart der Offenbarung nach - ahmen; es ſei denn die Propheten, ſo fern ihre Werke Meiſterſtuͤcke der Bered - ſamkeit ſind. Sind ihre Werke Bered - ſamkeit ſo ſind ſie gewiß nicht Meiſter - ſtuͤcke; als Meiſterſtuͤcken alter Orientali - ſcher Gedichte haͤtte er ihnen nachahmen ſol -len,253len, ſonſt iſt ſein Geſichtspunkt ganz ver - werflich.

Chriſt. Und ſeine Hoͤlle! Jmmer wird es mir ſchwer, blos reine Geiſter zu gedenken (die wenigſtens nicht ſo ſinnlich als wir ſind), die aus einem innern giftigen Principio des Neides, gegen einen Gott, den ſie zu ſehr kennen, und gegen einen Meßias, von dem ſie zu wenig wiſſen, aus Grundſaͤzzen, ſo unvernuͤnftig und ohne wahrſcheinlich ge - machte Triebfedern ſo boshaft handeln wer - den. Alles, wozu er jetzt die Teufel braucht, haͤtte er aus der menſchlichen Seele und das mit mehrerer ſinnlichen Ruͤhrung hervor - wickeln koͤnnen.

Rabbi. Aber er wird ſie brauchen, um den Triumph Jeſu uͤber ſie zu zeigen. Aber um eben dieſen zu zeigen, haͤtte er ſie mehr ſollen unternehmen laſſen. Zu der Poeti - ſchen Bosheit, die er ihnen beilegt, gehoͤrt - auch mehr Klugheit und Sphaͤre zu wirken; Und die legt ihnen unſer Geſez auch immer bei. Das waͤre ein Triumph, wenn der Teufel mehr der Gott dieſer Welt, der Herr der Elemente, der GewalthaberR 5uͤber254uͤber Tod und Ungluͤck waͤre (wie ihn doch das A. T. und ſelbſt die Meinungen des da - maligen Zeitpunkts darſtellen), den nachher Jeſus uͤberwaͤnde.

Chriſt. Hier haͤtte kein Milton vor K. ſeyn ſollen; ſo waͤre die ganze Hoͤlle nach andrer Bauart angerichtet; nicht im Anfan - ge ſo praͤchtig eroͤfnet, um immer Epiſode zu bleiben; nicht ſo viel Himmel und Ge - ſandſchaften. K. zeigt gegen den Britten was ein Philoſoph mit Grunde behauptet: Wenn ein Englaͤnder und Deutſcher das Erhabne ſchildert; wird jener es furchtbar und ſchreckhaft zeichnen; dieſer aber auf die Pracht verfallen.

Rabbi. Ueberhaupt haͤtte Klopſtock ſich mehr nach Nationalmeinungen, dem Poetiſchen Sinn des A. T. und dem Ge - ſchmack der damaligen Zeit Muͤhe geben ſol - len. Befriedigen hat er eure Orthodoxie doch nicht koͤnnen, und warum hat er ſich denn nicht einige Schritte weiter von ihr ent - fernen wollen, der Poeſie wegen. Sagen Sie mir es, Chriſt! mit einem Worte: wozu leidet K. Meßias? mit einem Worte? Sie255Sie ſind wirklich in Verlegenheit! Sein Leiden vor Gott*ſ. Meßiade 5. Geſ. iſt mir nicht ſinnlich begreiflich gnug; und dies iſt doch der Mit - telpunkt ſeines Gedichts.

Chriſt. Das war freilich auf gut Juͤdiſch! Aber mein Heterodoxer Rabbi erinnern Sie ſich an jenes: Ne vltra! Es mag im - mer wahr ſeyn, daß K. oft das Erhabene und Moraliſche auf Koſten des Epiſch ruͤhrenden treibt; aber das iſt ſchon theils die Schwaͤche, theils die Mode unſrer Zeit,[o]der beides zuſammen. Wer kann davor, daß K. es fuͤr den lezten Endzweck der hoͤ - hern Poeſie haͤlt, nicht alle unſre ſinnliche Kraͤfte zu bewegen, ſondern die mora - liſche Schoͤnheit. Sie ſey das wahre Kennzeichen des Werths von jener.

Rabbi. Ja! des ſittlichen Praktiſchen, nicht aber des dichteriſchen Werths; ein Kennzeichen der Guͤte freilich; nicht aber der Schoͤnheit und der hoͤchſten Schoͤnheit. Ueberhaupt verdient in vielen Stuͤcken die Klopſtockiſche Abhandlung von der heiligenPoeſie256Poeſie gruͤndlich gepruͤft zu werden; und viel - leicht ſage ich Jhnen ein andermal meine Ge - danken daruͤber!

Chriſt. Und vielleicht zeige ich Jhnen kuͤnf - tig den Grundriß, den ich bei dem dritten Le - ſen des Meßias entworfen. Jezt haben wir nur immer Abwege oder Luͤcken, Fehler oder Schwaͤchen gezeigt; mehr kann die Kri - tik nicht; aber das Genie iſts, was jene Abwege und Fehler vermeiden, und auch Luͤ - cken und Schwaͤchen vollfuͤllen muß.

Rabbi. Deſto lieber fuͤr mich, wenn ich Jhren Embryon vom Plan ſehe! Vielleicht hat er mit den Fehlern auch die Schoͤnheiten K. vermieden, unter denen ſeine Fehler ganz verſchwinden. Nirgends iſt K. groͤßer, als wenn er, ein Kenner des menſchlichen Geiſtes, jezt einen Sturm von Gedanken und Empfin - dungen aus der Tiefe der Seele holt und ihn bis zum Himmel brauſen laͤßt: wenn er ei - nen Strudel von Zweifeln, Bekuͤmmerniſſen, und Aengſten erregt; wie Philo, der verzwei - felnde Jſcharioth, Petrus und inſonderheit das große Geſchoͤpf ſeiner Phantaſie Aban - donna zeigt.

Chriſt. 257

Chriſt. Und im Zaͤrtlichen ſieht man K. immer ſein Herz ſchildern: Benoni, La - zarus und Cidli, Maria und Porcia; Mirjam und Debora; alles vortrefliche und liebenswuͤrdige Scenen. Ueberhaupt wuͤr - de unſer Geſpraͤch, wenn es die Schoͤnheiten aus einander ſezzen wollte, ſehr ſpaͤt zu Ende kommen; alles, alles iſt bei K. in Theilen ſchoͤn ſehr ſchoͤn, nur im Ganzen nicht der rechte Epiſche Geiſt.

Rabbi. Mir ging es eben ſo! So lange ich las, hatte ich ſehr ſelten eine Kleinigkeit wi - der K. Haͤtten Sie mich damals um mein Ur - theil gefragt; ſo wuͤrde ich ſchwerlich haben richten koͤnnen, weil ich mich ergoͤzte, weil ich empfand. Freilich aber kam mir nach[h]er das Ganze

Chriſt. Wir vergeſſen aber, daß dies Ganze nur noch Fragment iſt.

Rabbi. Nun dann! ſo wuͤnſche ih ihm eine ſolche Vollendung, als der So[h]ar vom Liede der Lieder ſagt: an dem T[a]g, da es vollendet iſt, iſt die Vollkomm[en]heit und Schoͤnheit ſelhſt geboren!

Von258

Von der Griechiſchen Litteratur in Deutſchland.

1. (Wie weit kennen wir die Griechen?)

Die Griechen, die Lieblinge der Minerva, haben ſowohl in der Kunſt, als in den ſchoͤ - nen Wiſſenſchaften mit ſolchem Gluͤck gear - beitet, daß das Jdeal ihrer Werke und die ſchoͤne Natur ſelbſt, beinahe ein Bild ausma - chen ſollen. Wie Thucydides die Stadt Athen, das Muſeum und Prytaneum der Griechen nannte: ſo iſt aus Griechenland der Tempel und Hein der ſchoͤnen Natur ge - worden, aus dem die meiſten Nationen Eu - rope[n]s, die nicht Barbarn geblieben, Geſezze und Auſter bekommen haben.

Hier floß der Pieriſche Quell, aus dem Homer trank, und der Ungeweihten einen bloßen Shauder einjagt: hier rauſchten die Thyrſusſtche Dithyrambiſche Begeiſterung in die Vertra[u]ten des Dionyſius: hier tan -zen259zen Nymphen und Gratien um ihren Ana - kreon: Olympiſche Kraͤnze fliegen um die Scheitel der Sieger, und ihr Laub huͤpfet nach dem Doriſchen Saitenſpiel Pindars: hier wetteifern Theokrits Schaͤfer, und lauſchend entkleidet die ganze Natur ihre Schoͤnheit: hier tanzen die Choͤre des So - phokles: hier das Odeum, die Gefilde der Muſen

Odi profanum vulgus et arceo Fauete linguis! Carmina non prius Audita Muſarum ſacerdos Virginibus puerisque cantat! ()

Ja ſie ſind der Nachahmung werth, die Griechen mit ihrem feinen Poetiſchen Sinne: ſie, deren ſchoͤnes Jdeal ein Abglanz der Na - tur iſt, wie die Sonne ſich im klaren Bache ſpiegelt; deren dichteriſcher Grundriß von der Goͤttin Evnomia gezeichnet, und von ihrer Tochter, der himmliſchen Gratie, ausge - malet worden: deren Bilder ſich in den Glanz der Morgenroͤthe huͤllen: deren Mund Melodie ſpricht, und deren ſtolzes Ohr Bil - der ſiehet ſie ſind der Nachahmung werth.

Aber260

Aber ehe wir ſie nachahmen, muͤſſen wir ſie erſt kennen. Wo ſind die Lieblinge der Muſe, die die Griechiſchen Blumen und Fruͤchte auf den Boden Deutſchlands zu verpflanzen ſuchen? Welches ſind die Schutzengel der Griechiſchen Philologie? Der unſterbli - che Geßner: Erneſti: und Klozz: ich will nur dieſe drei nennen, die viele Verdienſte haben, die Griechen unter uns bekannter zu machen; aber meiſtens fuͤr das Große in Deutſchland, blos durch Ausgaben. Der erſte iſt Deutſchland leider entriſſen: der - zweite hat ſich nach den Fußſtapfen des er - ſtern, den Weg Kritiſcher Genauigkeit ge - waͤhlt; und arbeitet in andern Bezirken: der dritte, von dem Deutſchland noch weit mehr erwartet, als er geliefert hat, iſt ein fei - ner Kenner der Griechen, ein genauer Kunſt - richter, er hat Verdienſte durch ſeine Ausga - ben, und durch ſeine Urtheile; aber wie gerne wuͤnſchet man mehr eigne Arbeiten von ihm, uͤber die Griechen.

Wo iſt ein Schuzengel der Griechiſchen Lit - teratur in Deutſchland, der an der Spizze von allen, zeige, wie die Griechen von Deut -ſchen261ſchen zu ſtudiren ſind? Studiren heißt freilich zuerſt den Wortverſtand erforſchen, und das ſo gruͤndlich, als es zu folgenden Stuͤcken gehoͤrt: man ſuche aber auch mit dem Auge der Philoſophie in ihren Geiſt zu blicken: mit dem Auge der Aeſthetik die feinen Schoͤnheiten zu zergliedern, die den Kritikern ſonſt gemeiniglich nur im Uebermaas erſcheinen, und denn ſuche man mit dem Au - ge der Geſchichte Zeit gegen Zeit, Land ge - gen Land und Genie gegen Genie zu halten.

Diderot erdichtet ſich eine Geſellſchaft Menſchen, jedweder mit einem Sinn: und jeder iſt ein Narr des andern: ein Bild deſ - ſen, ſagt er, was taͤglich in der Welt ge - ſchieht! und am meiſten, kann ich dazu ſezzen, in der Kritiſchen Welt: jeder hat ei - nen Sinn und urtheilt vom Ganzen. Der Franzoſe zergliedert hoͤchſtens einige Schoͤn - heiten fluͤchtig, bildet ſeinen Autor nach dem Geſchmack ſeines Landes, und glaubt ſich als - denn ſchon als den beſten Kunſtrichter: den Wuſt Lateiniſcher Wortkritiken ſieht er fuͤr Schlamm an, wobei er ſich verekelt. Wie - derum der Hollaͤndiſche und Deutſche Wort -Sgelehr -262gelehrte ſieht jenes ſeine Franzoͤſirenden Anmerkungen fuͤr noch etwas aͤrgers als Schlamm an; der Franzoſe ſagt: ja, davon wuchſen Blumen und Fruͤchte! und der Deut - ſche: das meinige iſt nicht fruchtbar, aber rei - nigend! Jeder ſchließt nach ſeinem einzigen Sinn.

Aber warum hat man denn nur einen? Wie? wenn viele Wortrichter ſchon vorgear - beitet wenn die Franzoſen ihre Aeſtheti - ſche Bon-Mots nun denn oft genug wieder - holt, und durchgearbeitet wenn die Brit - ten die hiſtoriſche Seite in Erklaͤrung der Alten noch mehr werden erleuchtet haben; wird alsdenn nicht ein Zeitpunkt fuͤr die Phi - loſophiſchen Deutſchen kommen, die Vor - arbeiten aller dieſer zu nuzzen, und ein gan - zes Philoſophiſches Gemaͤlde uͤber ſie zu entwerfen? Jene haben ſchon viel vorgear - beitet; wir auf unſerm Geſchaͤfte, bleiben et - was nach: und vielleicht doͤrften folgende drei Bemuͤhungen uns naͤher bringen.

Wie? wenn uns jemand das Geheimniß der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, ſo aus den Griechen aufſchloͤſſe, als Baumgarten esaus263aus den Lateinern zu eroͤfnen anfing, und Home es aus ſeinen Englaͤndern gethan? Nicht blos die Veraͤnderung und Neuheit des Geſichtspunktes wuͤrde der Aeſthetik gewaltig nuͤzzen: ſondern der Verfaſſer wuͤrde auch, wenn dies Buch, in welchem die Baumgarten - ſche Aeſthetik ſehr genuͤzt werden koͤnnte, auf Akademien zum Grunde laͤge, viel zur Um - bildung des Geſchmacks beitragen: es wuͤrde die Lehrbuͤcher verbannen, die die Franzoͤſi - ſche oder Deutſche Scribenten zu ihren Grund - faden waͤhlen, durch die ſie Anmerkungen nach der Mode durchſchlagen: es wuͤrde eine Liebe zur Philologie einfloͤßen, auf den Grie - chiſchen Parnaß voͤllig aufzuklimmen, an deſſen Fuß man ſchon ſo ſchoͤne Blumen fin - det: es wuͤrde zu einem Philoſophiſchen Ge - ſchmack gewoͤhnen, der in Leſung der Alten ſehr nuͤzlich und nothwendig iſt.

Eine zweite hoͤhere Stuffe: wenn ſich Ue - berſezzer faͤnden, die nicht blos ihren Autor ſtudirten, um den Sinn der Urſchrift in unſre Sprache zu uͤbertragen: ſondern auch ſeinen unterſcheidenden Ton faͤnden, die ſich in den Charakter ſeiner Schreibart ſezzten, undS 2 uns264 uns die wahren unterſcheidenden Zuͤge, den A[u]sdruck und den Farbenton des fremden Originals, ſeinen herrſchenden Charakter, ſein Genie und die Natur ſeiner Dichtungs - art richtig ausdruͤckten. *Litt. Br. Th. 18. Dies iſt freilich ſehr viel; aber fuͤr mein Jdeal eines Ueberſezzers noch nicht gnug. Die meiſten Ueberſezzer wollen doch gern ein Wort mitre - den, in der Vorrede, in Kritiſchen Noten, oder im Leben ihres Autors, und die meiſten reden in der Vorrede Complimente, oder von den Ausgaben ihres Autors: in den Noten aber oft langweilige Erklaͤrungen, die dem Leſer keinen guten geſunden Hausverſtand zutrauen; oder Zaͤnkereien, die ihn noch weit weniger angehen, oder ein Kram von Philologiſcher Gelehrſamkeit. Endlich wird das Leben des Autors dazu uͤberſezzt: und ſo iſt ein Buch fertig: fuͤr den Ueberſezzer Tagelohn, fuͤr den Verleger Meßgut, fuͤr den Kaͤufer ein Buch in ſeine Bibliothek: fuͤr die Litteratur? nichts! oder Schade! Null oder negative Groͤße. Aber

Wenn265

Wenn uns jemand den Vater der Dicht - kunſt Homer uͤberſezzte: ein ewiges Werk fuͤr die Deutſche Litteratur, ein ſehr nuͤzli - ches Werk fuͤr Genies, ein ſchaͤzzbares Werk fuͤr die Muſe des Alterthums, und unſre Sprache, ja ſo wie Homer lange Zeit die Quelle aller goͤttlichen und menſchlichen Weisheit geweſen, ſo wie er der Mittelpunkt der Griechiſchen und Roͤmiſchen Litteratur wurde, auch das groͤſte Original fuͤr die un - ſere alles dies kann eine Homeriſche Ueberſezzung werden, wenn ſie ſich uͤber Ver - ſuche erhebt, gleichſam das ganze Leben ei - nes Gelehrten wird, und uns Homer zeigt, wie er iſt, und was er fuͤr uns ſeyn kann. Wie ſehr haben uns die Englaͤnder hier ſchon vor - gearbeitet? Thomas Blackwells Unter - ſuchung uͤber das Leben und die Schriſten Homers (und leider! iſt dies ſchaͤzzbare Buch, das in England ſo hoch aufgenommen ward, kaum halb ins Deutſche uͤberſezzt); eine Unterſuchung, die ſich den hohen Sazz auf - gibt: welch ein Zuſammenfluß von natuͤrli - chen Urſachen konnte den einzigen Homer her - vorbringen? die dieſen Sazz aus den Ge -S 3heim -266heimniſſen der Griechiſchen Litteratur und Geſchichte mit wahrem Kritiſchen Geiſt erklaͤrt, und zum Homer ein Schluͤſſel iſt Dieſe Abhandlung ſollte ſtatt Einleitung ſeyn: eine Einleitung, die faſt nie ſo nothwendig iſt, als wenn wir uns dem aͤlteſten, dem goͤttlich - ſten, dem unuͤberſezzbaren Homer naͤhern. Nun folgen die wichtigſten Unterſuchungen der Alten uͤber den Homer: und was er bei ihnen alles geworden iſt? Was er bei uns ſeyn kann und ſoll? Wie wir ihn, ohne Miß - brauch nuzzen muͤſſen, ohne doch jemals Ho - mere werden zu koͤnnen?

Dies iſt der Eingang und die Ueberſez - zung? Beileibe muß ſie nicht verſchoͤnert ſeyn, wie noch jezt die neue Bitaubéſche als ein Greuel der Verwuͤſtung daſtehet. Die Franzoſen, zu ſtolz auf ihren Nationalge - ſchmack, naͤhern demſelben alles, ſtatt ſich dem Geſchmack einer andern Zeit zu beque - men. Homer muß als Beſiegter nach Frank - reich kommen, ſich nach ihrer Mode kleiden, um ihr Auge nicht zu aͤrgern: ſich ſeinen ehr - wuͤrdigen Bart, und alte einfaͤltige Tracht abnehmen laſſen: Franzoͤſiſche Sitten ſoll eran267an ſich nehmen, und wo ſeine baͤuriſche Ho - heit noch hervorblickt, da verlacht man ihn, als einen Barbaren. Wir armen Deut - ſchen hingegen, noch ohne Publikum beinahe und ohne Vaterland, noch ohne Tyrannen eines Nationalgeſchmacks, wollen ihn ſehen, wie er iſt.

Und die beſte Ueberſezzung kann dies bei Homer nicht erreichen, wenn nicht Anmer - kungen und Erlaͤuterungen in hohem Kritiſchen Geiſt dazu kommen. Wir wollen gern mit dem Ueberſezzer dieſe Reiſe thun, wenn er uns nach Griechenland mitnaͤhme, und die Schaͤzze zeigte, die er ſelbſt gefunden. Als Leute, die dieſes Reiſens nicht ſehr gewohnt, zum Theil dran vereckelt ſind, mache er uns aufmerkſam, fuͤhre uns als Kundſchafter um - her, die ſich nicht um Schulgeſchichten und Wortklaubereien, ſondern um das ganze große Staatsgeheimniß der Griechiſchen Litteratur bemuͤhen. Man weiß, was Franzoͤſiſche An - merkungen des Geſchmacks uͤber die Alten ſind: meiſtens Zergliederungen einzelner, und oft unweſentlicher Schoͤnheiten, die ihrem Publikum zur Zerſtreuung, Erholung und Er -S 4goͤz -268goͤzzung geſchrieben ſind. Man weiß, wie Schulmaͤnner die Alten erlaͤutern. Man kennet die Grimmiſchen Noten zum Ana - kreon; und die Ebertſchen zu Young; man kann alſo aus einer Morgenroͤthe auf den voͤl - ligen Sonnenanbruch ſchließen, wie durch Ho - mer ein Publikum koͤnnte gebildet werden, nach Griechiſchem Geſchmack. Jch wuͤrde nicht gern Poeſie und Hexameter bei dieſer Ueberſezzung vermiſſen; aber Hexameter und Poeſie im Griechiſchen Geſchmack; ſollte es auch nur Gelegenheit geben, uns immer auf - merkſam zu machen, wie weit unſre Sprache, und Poeſie hinten bleibe. Es iſt viel, was ich aufgebe, aber durch alles dieſes wer - den die Schoͤnheiten kaum einigermaaßen er - ſezt, die im Homer unuͤberſezbar bleiben.

Um dies mehr ins Licht zu ſezzen, fuͤge ich ein Urtheil des Geſchmacks uͤber Stein - bruͤchels Ueberſezzung des Sophokles und Euripides dazu; ein Urtheil des Ge - ſchmacks, ein Urtheil nach der Gramma - tik*Litt. Br. Th. 20. p. 157. u. Th. 21. p. 3. 13. 81. haben ſchon die Litteraturbriefe ge -faͤllt!269faͤllt! Jch kann ſie nehmlich, um vollſtaͤndig davon zu urtheilen, jungen Tragiſchen Genies, Liebhabern der Griechen, und Deutſchen Sprachrichtern in die Haͤnde geben; was werden dieſe daruͤber urtheilen?

Den Genies, die blos Aetheriſch leſen, iſt ſie eine ſichere Handleiterin zu einer klaren Quelle. Sie ſehen den Tragiſchen Geiſt der Griechen, lernen das Eigenthuͤmliche ihrer Denkart und ihrer Ruͤhrung: koͤnnen ihre Einfalt und ihre Zuſammenſezzung, ihre An - lage und Fortleitung bis zur Erreichung des Zwecks verfolgen; aber wo wird in ihnen der Griechiſche Geiſt der Tragoͤdie aus ihren Patronymiſchen und Mythologiſchen Ge - ſchichten entwickelt? und wo iſt dies mehr noͤthig, als in den Choͤren, die ganz in die Griechiſche Laune verwebt ſind? Bei allem Schweizeriſchen Schwulſt hoͤrt ein Genie wohl die wahre Sprache des Griechiſchen Kothurns, in ihrer ganzen Schreibart, und in den Bindungen, die dem Poetiſchen Ohr im Griechiſchen ſo ſtark toͤnen, als ſie ſich im Deutſchen in die Proſe verlieren? Entgeht uns bei den Choͤren nicht das Colorit,S 5der270der Schwung, der Theatraliſche Tritt, die Muſikaliſche Harmonie ihrer Originalſprache voͤllig, von denen ſich noch eins und das andre durch das Klopſtockſche freie Sylben - maas haͤtte retten laſſen? Ein Deutſches Ge - nie verſuche es nach Steinbruͤchel, Tra - giſche Choͤre nachzubilden, werden ſie wohl im Griechiſchen Geiſt ſeyn? Jndeſſen gebe ichs zu, daß St. durch ſeine Ueberſezzung weit mehr Original iſt, da er Deutſchland mit den groͤßeſten Tragiſchen Poeten bekannt macht, als wenn er uns zehn mitleidige Schweizertragoͤdien nach Griechiſcher Manier gegeben haͤtte. Von den Griechen hat unſer Theater noch am wenigſten, oder lieber gar nichts gelernt.

Die Liebhaber der Griechiſchen Litte - ratur legen ihn aus der Hand! Man ſucht vergebens etwas, das uns das Genie der Griechen, ihres Theaters, und den Charak - ter ſeines Autors koſtet, und zu ſchmecken giebt.

Und die Sprache? iſt freilich in ihrem Dialekt unangenehm; nicht blos die Schwei - zerwoͤrter werden unausſtehlich: ſondern[d]asColo -271Colorit der Griechiſchen Einfalt ſoll durch eine uͤbermaͤßige Farbengebung, die oft den Perioden verzerrt, erſezzt werden: da bleibt Sophokles gewiß nicht mehr die Syrene Griechenlands, wie ihn das Orakel nannte. Aber die Kuͤhnheit des Ueberſezzers ver - dient Aufmunterung, die Griechiſche Wort - fuͤgungen unſrer Sprache anpaßt; nur muß ſie keine blinde Nachfolger haben, die ein Exempel ſogleich zur erlaubten Gewohn - heit machen; und gerechte Richter muͤſſen ſeyn, die das Claßiſche Anſehen ſolcher Ver - ſuche beurtheilen.

St. fahre alſo in ſeinen Bemuͤhungen fort, und laſſe ſich die Kritiken blos zur Huͤlfe dienen. Auch Pindar ein fuͤr die Deutſchen ſo verſchloßnes Buch, der den Griechiſchen Na - tionalgeiſt ſo ſehr in ſeiner Staͤrke zeigt, und fuͤr unſre Doriſche Sprache und Genies bildend gnug ſeyn koͤnnte auch Pindar*Litt. Br.! Th. 2. muntre ihn auf, ein großer Ueberſezzer, aber auchzugleich272zugleich im Griechiſchen Verſtande, ein Doll - metſcher deſſelben zu werden. In tantis vo - luiſſe, laboraſſe, ſudaſſe, ſat eſt. Ruͤhmlich kuͤhn iſt die Muſe,

Pindaricae fontis, quae non expalluit hauſtus. ()

Statt daß ich jetzt ein Verzeichniß hin - ſezzen ſollte: welche Griechen und aus wel - chen Gruͤnden ſie zu uͤberſezzen waͤren will ich lieber die Ueberſezzung des Tyrtaͤus,*Litt. Br. Th. 17. p. 11. und noch mehr Daphnis und Chloe aus dem Longus mit dem verdienten Lobe nen - nen. Auch mir thut es Leid, daß die un - genannten Ueberſezzer nicht darauf gefallen ſind, den Griechiſchen Text beidrucken zu laſſen. Man ſollte wirklich alle Gelegen - heit ergreifen, bei unſrer Nation, die faſt verloſchene Liebe zur Griechiſchen Sprache, deren Schriftſteller die reinſten Quellen des Geſchmacks ſind, in etwas wieder anzu - fachen. Wie ruͤhmlich waͤre es auf alle Art, wenn wir die Engliſche Nation lieber in dem Studio der Griechiſchen Sprache, als273 als in gewiſſen andern Dingen nachahmen wollten. *p. 16.

Wo iſt aber noch ein Deutſcher Winkel - mann, der uns den Tempel der Griechiſchen Weisheit und Dichtkunſt ſo eroͤfne, als er den Kuͤnſtlern das Geheimniß der Griechen von ferne gezeigt? Ein Winkelmann in Ab - ſicht auf die Kunſt konnte blos in Rom auf - bluͤhen; aber ein Winkelmann in Abſicht der Dichter kann in Deutſchland auch her - vortreten, mit ſeinem Roͤmiſchen Vorgaͤnger einen großen Weg zuſammen thun.

Dieſe Geſchichte der Griechiſchen Dicht - kunſt und Weisheit, zwei Schweſtern, die nie bei ihnen getrennt geweſen, ſoll den Ur - ſprung, das Wachsthum, die Veraͤnderun - gen und den Fall derſelben nebſt dem ver - ſchiedenen Stil der Gegenden, Zeiten und Dichter lehren, und dieſes aus den uͤbrig gebliebnen Werken des Alterthums durch Proben und Zeugniſſe beweiſen. Sie ſei keine bloße Erzaͤhlung der Zeitfolge, und der Veraͤnderungen in derſelben, ſondern das Wort Geſchichte behalte ſeine weitereGrie -274Griechiſche Bedeutung, um einen Verſuch eines Lehrgebaͤudes liefern zu wollen. Man unterſuche nach ihrem Weſen die Dichtkunſt der Griechen: ihren Unterſchied von den uͤbri - gen Voͤlkern: und die Gruͤnde ihres Vorzugs in Griechenland: hier wuͤrde ſich ein Ocean von Betrachtungen darbieten, wie fern ihr Himmel, ihre Verfaſſung, Freiheit, Leiden - ſchaften, Regierungs - Denk - und Lebensart, die Achtung ihrer Dichter und Weiſen, die Anwendung, das verſchiedne Alter, ihre Religion und ihre Muſik, ihre Kunſt, ihre Sprache, Spiele und Taͤnze u. ſ. w. ſie zu der hohen Stuffe erhoben haben, auf der wir ſie bewundern. Man zeige uns das wahre Jdeal der Griechen in jeder ihrer Dichtarten zur Nachbildung, und ihre Jn - dividuelle, National - und Localſchoͤnheiten, um uns von ſolchen Nachahmungen zu ent - woͤhnen, und uns zur Nachahmung unſrer ſelbſt aufzumuntern. Der Ausdruck, die Proportion, das Aeußere ihrer Werke werde erklaͤrt, und mit unſerm Stil verglichen. Alsdenn von den verſchiednen Zeiten der Griechiſchen Poeſie; wiederum mit einerPrag -275Pragmatiſchen Anwendung auf unſre Zeit: wie die Roͤmer von den Griechen gelernt ha - ben, und wie wir von ihnen lernen ſollen. Ein Ocean von Betrachtungen, in den ſich blos ein Kenner der Alten, ein Weltweiſer, ein Geſchmackvoller Kunſtrichter, und ich moͤchte beinahe ſagen, ſelbſt ein Dichter wa - gen kann: ein Ocean, aus dem die meiſte unſrer Weiſen nur Tropfen koſten; an dem die meiſten Dichter nur ſo trinken, als die zum Siege beſtimmte Streiter Gileads; und die Kunſtrichter? bringen dem Goͤtzen ihres Aeons mit demuͤthigem Stolze eine Handvoll Waſſer aus demſelben dar, wie je - ner Bettler dem Perſiſchen Monarchen.

Ein Werk von dieſer Art muß die Grie - chen unter uns bekannter machen, die wir ſo wenig kennen; es muß den Quell des guten Geſchmacks oͤfnen, und uns von elenden Nachahmern der Griechen befreyen: den gan - zen Knoten muß es entwickeln, wie weit ka - men ſie? und warum ſo weit? wie weit ſind wir ihnen nach? wie viel weiter koͤnnen und ſollen wir? was werden wir nie er - reichen? und warum nicht?

Zufolge276

Zufolge der Bemerkungen der Litteratur - briefe uͤber das Jdeal,*Litt. Br. Th. 7. p. 124. 125. Th. 9. p. 49. Th. 14. p. 258. und die vollkom - menen Dramatiſchen und Epiſchen Charaktere, (Bemerkungen, die ich ſehr ſchaͤzze) hatte ich hier eine Abhandlung uͤber das Jdeal der Griechen in jeder Dichtart eingeruͤckt, und mit dem Jdeal unſrer ausgearteten Zeit verglichen: bei der zweiten Umarbeitung mei - ner Fragmente vermehrte ich ſie; allein bei der dritten ließ ich ſie aus, weil ſie mir noch ſelbſt auf Seiten der Griechen zu wenig gnug that, und auf Seiten unſrer, nothwen - dig hie und da frei werden muſte. Jch fahre alſo lieber im Ton meiner Fragmente fort und frage:

2. (Wie weit haben wir ſie nachgebildet?)

Wie weit ſind wir denn im Nachbilden der Griechen? Vielleicht haben einige DeutſcheGenies277Genies in der Stille blos unter dem Angeſicht ihrer Muſe die Alten ſtudirt, vielleicht in der Stille ihnen Werke nachgebildet, die fuͤr uns Griechiſche Schoͤnheiten enthalten. Viel - leicht*Litt. Br. Th. 1. p. 34. iſt Bodmer unſer Homer, Gleim unſer Anakreon, Geßner unſer Theokrit, der Grenadier unſer Tyrtaͤus, Gerſtenberg ein Alciphron, Karſchin unſre Sappho, der Dithyrambenſaͤnger unſer Pindar! Se - het da! ein glaͤnzendes Siebengeſtirn, viel - leicht vortreflicher, als jenes am Hofe des Philadelphus. **Bit[a]ube in ſeiner Ueberſ. Home[rs].

Bodmer und Homer! Nein ich wage es nicht, uͤber zwei ſo ehrwuͤrdige Greiſe zu urtheilen; Noah mag heiliger ſeyn, er mag moraliſcher ſeyn; ich finde doch nicht Antrieb, ihn in irgend etwas mit Homer zu vergleichen; und zum Gluͤck beſinne ich mich, daß er aͤlter ſey, als der Zeitpunkt, uͤber den ich ſchreibe.

Aber Homer und Klopſtock! Wo hat K. ein Homer ſeyn wollen? Nach ſeiner Abhandlung von der heiligen Poeſie, ſcheinterT278er mehr vom Virgil zu machen, und iſt auch eher Virgilianiſch als Homeriſch. Vielleicht beſingt er, als ein heiliger Virgil, die Gegenſtaͤnde des Orients; und vielleicht reizt eben dieſes Virgilianſche mehr, als das Seltene in ſeinem Gedichte. Aber Ho - mer? Ja! wenn ich Klopſtocks Jnhalt der Geſaͤnge laͤſe; ſo denke ich (wer wird dies nicht fuͤr wunderlich halten) bei den Summa - rien denke ich noch an den Rhapſodiſten; aber bei dem Gedichte ſelbſt nicht mehr. Der große Reichthum von Worten, von ſchoͤnem Ausdruck, von Malereien auf der Oberflaͤche; von ausgefuͤhrten Gleichniſſen, reißt mich fort, daß ich nicht Auffodrung gnug habe, jenen Griechiſchen Saͤnger in ihm zu ſuchen, der arm an Worten und reich an Handlung war; der jede Schoͤnheit ſeiner Bildung tief eindruͤckt, und ſeine Jdeen nicht malt, ſon - dern mit lebendigen Koͤrpern umhuͤllet, die von Morgenroͤthe ſtralen. Vielleicht iſt es fuͤr K. die groͤſte Ehre, wie ich deßhalb an das Zeugniß eines Franzoſen mich erinnere, gar kein Homeriſches Bild gebraucht zu ha - ben: vielleicht iſt es unſrer geiſtigern Zeitgemaͤßer,279gemaͤßer, daß er ſeine Bilder, gleichſam un - ſichtbar in die Seele malet, ſo wie die ſinn - lichen Griechen ſich an ihrem ſinnlichen Ho - mer ergoͤtzten; vielleicht uͤbertrift das Mo - raliſche im K. alles ſchoͤne Sinnliche im Homer; ja vielleicht iſt ſein großes Talent, die Seele zu ſchildern, mehr werth, als alles im alten Griechen alles dieſes vielleicht ſey meinethalben gewiß; eine ſo nuͤzliche Un - terſuchung mag eine Poetiſche Bibliothek zur Chre der Deutſchen anſtellen. *Littr. Br. Th. 19. p. 155. 156.

Jch ſchweife hier lieber auf den Macht - ſpruch eines Kunſtrichters aus: Homer ward eben ſo wenig von allen Griechen verſtanden, als K. von allen Deutſchen! **Litter. Br. Th. 1. p. 49.Die wahren Kenner der Dichtkunſt ſind zu allen Zeiten in allen Laͤndern eben ſo rar, als die Dicht[er] ſelbſt geweſen! So iſt es wirklich! Ohn - geachtet dieſes Wirklich hier als ein Amen ſtehet; ſo will ich doch eben nicht im zweiten Chor antworten: Amen! ſondern etwas ausnehmen.

Daß alle Griechen den Homer verſtanden, wer wird dies behaupten, der jemals die Grie -T 2chen280chen auch nur von ferne geſehen? der da weiß, daß jede Sprache alle Viertheil Jahrhunderte ſich merklich veraͤndert, und der die Zeit des Homers kennt, wo die Griechiſchen Staa - ten ſich erſt zu bilden anſiengen, und alſo nothwendig mehr und wichtigere Veraͤnde - rungen in der Sprache erfuhren, als wir in einer gebildeten Sprache, und einem ruhigen Staat. Man muß alſo nothwendig eine Zeit feſtſezzen, wenn wurde der Homer ſo und ſo wenig verſtanden? Wie er ſang? Nun! da ſang er als αοιδος, und nothwendig alſo, wenn es damals καλους κ’αγαϑους gab, die gute huͤbſche Leute bedeuteten, dieſen verſtaͤndlich. Jſt das Leben Homers wahr, das man dem Herodot zuſchreibt: ſo zog er umher; fand in einigen Staͤdten Beifall auf den Maͤrkten, und Ehre in den Staaten: ſeine Sprache war goͤttlich, neu; aber im Ganzen verſtaͤnd - lich; weil damals noch nicht ein Unterſchied zwiſchen der Sprache der Weiſen und des Volks, zwiſchen der Denkart der Vornehmen und Geringen war; was Homer ſang, war die Sprache der Goͤtter und zugleich eine ver - edelte Sprache des Poͤbels. Nur in einigenRepubli -281Republiken, wo die Mundart ſchon mehr Po - litiſch geworden war, da war ſeine Sprache fremde, ungewoͤhnlich, und in Athen, wo er nachher ſo viel galt, koſtete ihm ſeine Ra - ſerei 50 Drachmen. Jn dieſer Poetiſchen Zeit betrachtet, mo̊chte alſo das eben ſo we - nig, das der Kunſtrichter behauptet, nicht ge - nau eintreffen: damals war ſeine Sprache eben die Sprache des Volks, die Kenner der Dichtkunſt waren haͤufiger, und die Dichter ſelbſt wer die Dichterei der alten ραψω - δων und αοιδων kennet, wird ihre Dichtkunſt unmoͤglich mit der unſrigen vergleichen.

Meint aber der Kunſtrichter, die Zeit, da Homer geleſen wurde: ſo trift es eben ſo we - nig ein. Die Glieder des Dichters wurden erſt in der 61. Olympiade geſamlet, da er doch nach der gemeinſten Rechnung immer vor den Olympiaden gelebt hat. Hier muß man nun ausmachen, wer waren die alle, die den Ho - mer verſtehen ſollten? Jch nehme eine mitle - re Groͤße an: laß es gute huͤbſche Leute ge - weſen ſeyn (καλοι κ’αγαϑοι)! Nun! weiß ja aber, wer im Plato auch nur bis in die Mitte ſeines erſten Geſpraͤchs gekommen, daßT 3Hip -282Hipparchus, der Sohn des Piſiſtratus, u[n]- ter vielen andern Proben der Wetsheit, auch des Homers Buͤcher zuerſt nach Athen ge - bracht, und die Rhapſodiſten angetrleben, ſie bei den oͤffentlichen Spielen zu leſen; eine Ge - wohnheit, die bis an Platons Zeiten relchte. Wo ſind nun die Panathenaͤa, wo unſer Ho - mer unſerm Volk vorgeleſen und erklaͤret wird? Jch ſage: erklaͤrt ward: benn dies zeigt Platons ganzes Geſpraͤch: Jo eine Unterredung, deren Name ſchon gnug iſt, daß jeder, der ſie geleſen, das vorige eben ſo wenig einſchraͤnken wird. Mit welchem Enthuſiaſmus ſprach Jo, im Namen aller Rhapſodiſten vom Homer? Konnte er ihn nicht bis auf ein Wort auswendig? War es nicht alle ſeine Arbeit, ſein ganzer Lebenslauf vor dem Tode, und auf dem Leichenſteine, die - ſer hat den Homer auswendig gewuſt, am beſten deklamiren, am gruͤndlichſten erklaͤren koͤnnen! Was richtete nicht ſeine Rhapſodie bei dem Volke aus? Und das alles, oh - ne Homer mehr zu verſtehen, als unſer Volk den Klopſtock? Jch glaube, die Parallelli -[n]ien neigen ſich von einander; und ſie ent -fernen283fernen ſich merklicher. Daß Homer in den Schulen bei den Griechen geleſen wurde: ſagt Xenophon, doch nein! hier ftoße ich auf ei - ne Stelle, die vielleicht zwiſchen Wieland und Fll. Gelegenheit zum Streit uͤber καλος κ’α - γαϑος gegeben; ich ſezze alſo lieber das Zeug - niß eines Griechiſchen Rammlers hin, des ſorgfaͤltigen Jſokrates: οιμαι δε και την Ομηρȣ ποι03B7; σιν μειζω λαϐειν δοξαν, οτι καλως τους πολεμησαντας τοις ϐαρϐαροις ενεκωμιασε. Και δια τουτο ϐουληϑηναι τους προγονους ημων εντιμον αυτου ποιησαι την τεχνην, εντε τοις της μουσικης αϑλοις, και τη παιδευσει των νεωτερων. Ινα πολλα - κις ακουοντες των επων εκμανϑανωμεν την εχϑραν την προς αυτους υπαρχουσαν. *Iſocrates in Panegyr.

Wo wird nun in unſern Schulen unſer Homer in dieſent Zwecke geleſen? Das Ge - ſchichtchen vom alten Homer weiß ein Kna - be wohl aus ſeinen hiſtoriis ſelectis, daß Alcibiades jenem Schulmeiſter eine Ohrfei - ge gab, der nicht den Homer in der Schu - le hatte: Dummkopf, ſagte er, auch deineT 4Schuͤ -284Schuͤler willſt du zu Dummkoͤpfen machen? *Plutarch. in vit. Alcibiad. Dies Geſchichtchen, hat nun wohl eln Knabe geleſen, aber Deutſche Homere? Viel eher, ſa - ge ich, in der Angſt, den Griechiſchen ſelbſt. Und noch weniger gilt der Einwurf, den der Kunſtrichter wider die Bekanntſchaft Homers aus dem Xenophon macht, und wie ich faſt dazuſezzen kann, Myopiſch macht. Man warf dem Sokrates vor: er habe Stellen aus dem Homer angefuͤhrt, nicht die an ſich gefaͤhr - liche Lehren enthielten, ſondern die er in ei - nem fuͤr den damaligen Athenienſiſchen Staat gefaͤhrlichen Zweck angefuͤhrt. Nicht, als haͤtte ihn Sokrates Grammatiſch oder Poetiſch miß - gedeutet; ſondern Politiſch uͤbel angewendet. Daß ich nicht nach meinem lieben Eigenſinn deute; ſondern daß es Xenophon ſelbſt ſagt, zeigen ſeine Worte augenſcheinlich: Sokra - tes, ſo ſagte ſein Anklaͤger, pflegt auch oft Homers Gedichte anzufuͤhren: daß z. E. Ulyſſes den Vornehmern mit freundlichen Worten zugeſprochen, wenn ſich aber ein Geringerer unnuͤtz machte: ſo ſchlug er ihn mit ſeinem Scepter und befahl ihm ruhig zu285 zu ſeyn. Dies hat er ſo ausgelegt, als wollte der Poet, man ſollte die Geringern blos mit Schlaͤgen ziehen; allein ſezt Xenophon dazu, das hat Sokrates gar nicht gemeinet: ſondern ꝛc. *Jm erſt. Buch der Denkio. Reden.Und was folgt hieraus? Daß Homer Lehren wider den Staat enthiel - te? Gar nicht! ſondern daß Sokrates ſeine Lehren wider den Staat aus einem bei dem Volk ſo viel geltenden Dichter zu beſtaͤtigen ſuche? Sagt der Anklaͤger, daß Homer die geringern und aͤrmern Leute zu ſchlagen ra - the? Nicht! ſondern Homer mache dieſes den geringern und armen Leuten glaubend!

Dieſen geringern und aͤrmern Leuten konnte ja ein Sokrates leicht was glaubend machen, und Melitus muſte als ein Vereh - rer des Homers eben dagegen am meiſten eifern, daß Sokrates, ſeine Lieblinge, die Dichter ſo mißbrauchte. Die aufgebrachten Richter verurtheilten, ohne daß ſie im Homer nachſahen, ob dies der wahre Verſtand ſey (das that hier ja nichts zur Sache); ſondern weil er den Staat ſtoͤrte: wenn ſie auch Leu - te geweſen waͤren, mit denen man in der Ju -T 5gend286gend den Homer geleſen, ſo betraf es ja hier keine Moraliſche Lehre, und noch weniger Poetiſche Schoͤnheit; ſondern eine Politiſche Situation. Und ich kann noch weiter gehen, wenn ich den fruchtbaren Folgerungen, die diefer Fll. bei ſeinen Kritiſchen Streitigkeiten ſonſt reichlich bewieſen hat, nachahme: eben weil die Richter den Lieblingsdichter ihrer Jugend in Sokrates Munde ſo gemißhandelt ſahen; eben weil ſie viel von dem Anſehen eines Poeten zu befuͤrchten hatten, den jeder fuͤr goͤttlich hielt, den die καλοι κ’αγαϑοι auswendig wuſten ſo nahmen ſie die Sa - che ſo ernſthaft.

Ueberhaupt zeigt dieſer ganze Proreß, daß wir keinen Homer mehr haben koͤnnen, dem die Ehrennamen: Vater der Weis - heit, der Tapferkeit, der Dichtkunſt, im hohen Griechiſchen Sinne zukommen koͤnn - ten; keinen Homer, der fuͤr uns ſo ein Ori - ginal nach Sprache, Sitten, Geſchichte, Fa - beln und Melodie ſeyn kann, als es jener fuͤr die Griechen war: jene liebten Heldenerzaͤh - lungen von ihren Vorfahren aus einer alten Sage: Mythologien von Goͤttern, die ihreVaͤter,287Vaͤter, die Haͤupter ihrer Familien, die Stif - ter ihrer Staaten, und die Ueberwinder ih - rer Erbfeinde waren Unſere Leſer der Deutſchen Homere gehen vermuthlich in Bein - kleidern oder langen Roͤcken nach Franzoͤſi - ſchem Schnitt: ſie leſen ſtatt Mythologien Gellertſche Fabeln, und ſtatt Hexameter und Rhapſodien ſingen ſie Kirchenlieder. Nach der Bekanntſchaft und Bildung des Geſchmacks iſt entweder Gellert unſer Homer; oder er ſoll noch geboren werden. Denen, die daruͤber ſtaunen, wie Gellert und Homer zuſammen kommt, ſchreibe ich eine Stelle ab, die richtig gnug iſt:*Abbt vom Verdienſt p. 367. 77.

Fuͤr ganz Deutſchland iſt es ohne Wider - ſpruch Gellert, deſſen Fabeln wirklich dem Geſchmack der ganzen Nation eine neue Huͤlfe gegeben haben. (Fragt die erſte, die beſte Landpredigertochter nach Gellerts Fa - beln? die kennt ſie nach den Werken andrer unſrer beruͤhmten Dichter? kein Wort. ) Nach und nach haben ſie ſich in die Haͤuſer eingeſchlichen. Dadurch iſt das Gute in der Dichtkunſt in Exempeln und nicht in Re - geln288 geln bekannt, und das Schlechte veraͤchtlich gemacht worden. Denn der Geiſt und der Geſchmack einer Nation ſind nicht unter ihren Gelehrten und Leuten von vornehmer Erziehung zu ſuchen. Dieſe beiden Ge - ſchlechter gehoͤren gleichſam keinem Lande eigen. Aber unter dem Theile der Nation lie - gen ſie, der von fremden Sitten und Gebraͤu - chen und Kenntniſſen noch nichts zur Nach - ahmung ſich bekannt gemacht hat. Das iſt nun Gellert in Abſicht des Geſchmacks aber was war Homer in Abſicht der Religion, der Kuͤnſtler, der Dichter, der Redner, der Weiſen, der Sprache, der Sitten, der Erziehung, fuͤr die καλους κ’αγαϑους der Griechen?

Dies boͤſe Griechiſche Wort verfolgt mich, ſo ſehr ich vor ihm fliehe, und mein Knoten iſt nicht eher aufgeloͤſet, bis es beſtimmt iſt. Denn ſo fragt der Kunſtrichter:*Litter. Br. Th. 1. p. 46. Jſt es wahr, daß die alten Griechen ihre Jugend aus dem Homer Weisheit lehrten? Und wurde Homer auch nur von allen denen verſtan - den, welchen das Beiwort καλοι κ’αγαϑοι zukam?289 zukam? Seine Frage iſt ſo viel als Nein! meine Antwort aber Ja! Aemilius Scaurus leugnet; Valerius bejahet; wem von beiden glaubt ihr Roͤmer?

Auſſer dem, was ich ſchon angefuͤhrt, kann ich mein erſtes Ja mit folgender Stelle aus Xenophons Schmauſe guͤltig machen: Mein Vater, ſagt Niceratus, der mich zum tuͤchtigen redlichen Mann (αγαϑος) machen wollte, hielt mich an, alle Gedichte Homers auswendig zu lernen, ſo daß ich noch jetzt die ganze Jliade und Odyſſee her - ſagen kann. Hier war ein guter huͤbſcher Mann, der ſeinen Sohn auch dazu machen wollte, und ließ ihn alſo Homer lernen: ſo wurde alſo Homer mit der Jugend getrieben: ſo wurde er gewiß von denen verſtanden, die gute huͤbſche Leute waren, denn ſie waren durch ihn dazu gebildet.

Aber heißt καλος κ’αγαϑος ein guter huͤbſcher Mann, oder iſt es ein Schweizer - Virtuoſe? Beide Partheien koͤnnen Recht behalten, wenn ſie ſich anhoͤren wollen, und wenn ſie Staub unter die Augen ſtreuen,*Litt. Br. Th. 1. p. 52.hat290hat es vielleicht keiner von beiden. Mehr als ein guter huͤbſcher Mann, und weit weniger als ein Shaftsburiſcher Virtuoſo, nach dem ho - hen Geſchmack unſrer Zeit. Jch erinnere mich die Abhandlung eines Grammatikers uͤber dies Wort geſehen zu haben; und weil ich nicht gern thun mag, was ein andrer vor mir gethan, ſo will ich nicht ein Regiſter von den Stellen machen, wo dies Wort vor - kommt. Jch ſchreibe aus dem Gedaͤchtniß.

Jn jeder Sprache muͤſſen ſich alle Woͤrter veraͤndern, die den eigentlichen Charakter des Zeitalters ausdruͤcken, und eben dies duͤnkt mich von καλος κ’αγαϑος. Jn den aͤlteſten Griechen erinnere ich mich nicht, es geleſen zu haben: es iſt ein Wort aus dem Zeitalter der ſchoͤnen Proſe und der feinen Politiſchen Sitten. Jn den Zeiten, da αρετη, Tugend, noch allein Tapferkeit des Koͤrpers und Gei - ſtes bedeutete: galt blos ein braver Mann αγαϑος. So wiſſen im Homer die Helden kein beſſer Wort ihrer Wuͤrde, als wenn ſein Agamemnon oft gnug ſagt: αγαϑος γαρ ει - μι. So wenig hier das αγαϑος eine Mo - raliſche Guͤte bedeutet, zu einer Zeit, woTapfer -291Tapferkeit uͤber alles galt: ſo wenig litte die - ſes Zeitalter καλους κ’αγαϑους im feinen Ver - ſtande des Shaftesbury. Auch das Wort καλος hat dieſen Urſprung gehabt: und wur - de von den ανδρασιν αγαϑοις geſagt, die in der Schlacht ευ und καλως (tapfer) ſtrit - ten: Aber mit der Zeit verfeinerte ſich der Geiſt der Sitten: das Wort αρετη hieß Brauchbarkeit: das Wort αγαϑος und κα - λος hieß ein tuͤchtiger Mann in Geſchaͤften, und ſelbſt der Ehrenname ανηρ verlor etwas von ſeiner Mannheit. Weil in der damali - gen Zeit die Weisheit auch noch allein eine Dienerin des Staats war: ſo uͤbernahmen es ſich alſo die Weiſen, ſolche brauchbare Maͤn - ner zu bilden, die redliche Menſchen und tuͤchtige Buͤrger waren: ſo fraͤgt Xeno - phon den Sokrates im Diogenes Laer - tius: ſage mir, wie kann man ein καλος κ’αγαϑος werden? und dieſer fuͤhrt ihn in ſeinen Unterricht. So ſagt Nicerat in der angefuͤhrten Stelle: mein Vater, der mich zum tuͤchtigen Mann (αγαϑος) machen wollte; ließ mich den Homer lernen. So trugen es die Athenienſer, die vorzuͤglich nachdieſer292dieſer Politiſchen Cultur ſtrebten, beſtaͤndig im Munde (καλος κ’αγαϑος); und es war bei ih - nen, wie ein Scholiaſt ſagt: ſumma omnis laudationis! Und alſo gewiß nothwendig mehr, als ein guter huͤbſcher Mann bei uns.

Der Recenſent will auch nur einen einzigen Beweis, daß καλος κ’αγαϑος etwas mehr als dies bedeute? Wohl! es ſei eben die Stelle,*Litter, Br. Th. 1. p. 52. in der er nichts als den guten huͤbſchen Mann finden will; Schade, daß ich mehr dar - inn finde, und eben die Beſchreibung des κα - λου κ’αγαϑου. Sokrates fraͤgt den jungen Theages im Plato: τι ουν; ουκ εδιδαξατο σε ο πατηρ και επαιδευσεν απερενϑαδε οι αλλοι παιδευονται, οι των καλων κᾳγα - ϑων πατερων υιεες; οιον γραμματα τε, και κιϑαριζειν, και παλαιειν, και την αλ - λην αγωνιαν; Koͤnnen hier καλοι κᾳγαϑοι fuͤglich gute huͤbſche Leute bedeuten, wie wir dies Wort brauchen? Nein! ſie ließen ihre Soͤhne, um ſie auch zu καλοις κᾳγα - ϑοις zu machen, Wiſſenſchaften (nicht blos das A B C leſen und ſchreiben), die Muſik, die nach der Griechiſchen Denkart weit mehrſchoͤ -293ſchoͤne Kunſt, als bei uns, und von der Dicht - kunſt unzertrennlich war: und ſchoͤne Leibes - uͤbungen erlernen. Wer alſo ſeinen Verſtand, ſeinen ſchoͤnen Geſchmack und ſeinen Koͤr - per ausgebildet hatte: der war ein Attiſcher καλοκᾳγαϑος: er war weder ein Weiſer, noch Dichter, noch Fechter; aber Anlage hatte er, Weiſer, Dichter und Olympiſcher Sieger zu werden. Wer einen Griechiſchen καλος κ’αγαϑος in ſeinem ganzen Glanze ſehen will: der leſe, obgleich nicht das Wort ſelbſt als Ueberſchrift druͤber ſtehet, einige Pindariſche Oden auf ſeine Griechiſche Juͤng - linge, die doch mehr als gute huͤbſche Jun - gens waren.

Aber freilich auch nicht Virtuoſen im Wie - landiſchen hohen Guſto! oder lieber gleich im Geſchmack des Shaftersbury: dem Wie - land nicht blos den Begrif des Virtuoſen, ſon - dern auch die Analogie mit καλος κ’αγαϑος abborgt. Dieſer Weltweiſe, der den Plato - nismus nach dem Modegeſchmack ſeiner Zeit einkleidet, und endlich auch in Griechenland die - ſen Lieblingsgeſchmack findet, beſtimmt ſeineUVir -294Virtuoſen ſo:*Characteriſtiks Vol. 3. Miſcell. Reflex. p. 156, 182. the real fine Gentlemen, the Lovers of Art and Ingenuity; ſuch as have ſeen the World, and informed them - ſelves of the Manners and Cuſtoms of the ſeveral Nations of Europe, ſearch’d in - to their Antiquitys and Records; conſider’d their Police, Laws and Conſtitutions, ob - ſerv’d the Situation, Strength and Orna - ments of their Citys, their principal Arts, Studys and Amuſements; their Architectu - re, Sculpture, Painting, Muſick, and their Faſte in Poetry, Learning, Language and Converſation. Mit dieſem Begriffe ver - gleicht er nachher das honeſtum, pulcrum, καλον der Alten, und philoſophirt in ſeiner liebenswuͤrdigen Laune Seiten fort. Ob es nun gleich in Athen freilich auch ein Zeit - alter gab, da die Liebhaberei der Kuͤnſte, der Geſchmack an Dichtkunſt, und den ſchoͤnen Wiſſenſchaften, der feine Ton im Umgange, und der Urtheilsgeiſt uͤber Policey und Alterthů - mer, die herrſchende Mode war: ſo kann ich mich doch nie uͤberreden, daß die καλο〈…〉〈…〉 κ’αγαϑοι in dem weiten Verſtande des Shaf -tesbury295tesbury damals gebluͤhet. Es ſcheint viel - mehr dieſer Philoſoph ſich ſelbſt zu malen, und den Geſchmack, der damals am Hofe Carls des zweiten galt, bis zu einem gewiſſen Jdeal zu erhoͤhen und verfeinern, das immer in den neuen Zeiten ein Muſter eines brauch - baren, geſchickten, angenehmen Mannes ſeyn kann, aber den Begrif des Griechiſchen Worts immer umbilden muß, ſelbſt wie es Plutarch und die neuern Griechen brauchen. Shaf - tesbury fodert zu ſeinem Virtuoſen, wenn er in Griechenland exſiſtirte, freilich das Leſen des Homers, und das zwar als das er - ſte A B C; aber ein Moraliſches Leſen des Homers? Ein Him melweiter Unterſchied!

Wozu aber ſo viel uͤber ein Wort? Ueber ein Wort, das immer der Ausdruck ihres Charakters, und der Gipfel ihrer Lobſpruͤche war, kann man nie zu viel ſagen: die Er - klårung ſolcher Woͤrter ſchließt uns Denkart und Policey, Laune und Sitten, kurz das Na - tionalgeheimniß auf, ohne das wir immer von einem Volke, ſchief urtheilen, ſchief lernen, und unleidlich nachahmen. Jch wuͤrde es als einen Beitrag zur Griechiſchen und Roͤ -U 2miſchen296miſchen Geſchichte der Litteratur einem Mann von Philologie, Geſchichtkaͤnntniß und Ge - ſchmack empfehlen, der Metamorphoſe genau nachzuſpuͤren, die im Griechiſchen die Worte: ανηρ, ανϑρωπος, αγαϑος, καλος, φιλο - καλος, καλοκᾳγαϑος, κακος, επιχειραγα - ϑος: im Lateiniſchen: vir, homo, bonus und melior und optimus, honeſtus, pulcher und liberalis, ſtrenuus und dergleichen Na - tionalnamen erlitten haben, die die Ehre oder Schande ihres Zeitalters waren, und ſich mit demſelben aͤnderten So lernt man Voͤlker kennen, und nuzzen.

Jch will es hier nicht unterſuchen, wie weit einige Schweizer z. E. Wieland, Jſelin, Wegelin, Mably, uns wirklich Griechen zeichnen;*Litter. Br. Th. 1. p. 44. 50. wenn ſie ihre Erziehung und Po - litik uns anpreiſen. Beinahe vom Diogenes dem Laertier an, findet man in den Griechen, was man in ihnen finden will: verſchoͤnerte Geſichter, unertraͤgliche Jdole, halb Jdeal, halb Griechiſch, halb nach neuerer Form. Freilich Ko̊nnen wir den Griechen vieles ablernen; freilichſie297ſie zum Muſter nehmen; aber Nachbildungen unſrer Zeit gemaͤß machen: ſonſt wird alles Carikatur! Schon Plato und Xeno - phon malen uns den Sokrates verſchieden; aber man muß beinahe ausſpeien, wenn Wieland*Litter, Br. Th. 7. auftritt und ſagt: Seht! den Kopf des Sokrates! Hier kann man wie Marcell dreuſt antworten: Wie? das iſt Sokrates? jener liebenswuͤrdige Wider - ſprecher, jener ehrwuͤrdige Unwiſſende, jener feine Jroniſche Geiſt, und der redlichſte Buͤr - ger, kurz! der Weiſeſte unter den Weiſen Griechenlands das ſollte ihr Sokrates ſeyn? Nein! mein Herr! dieſer unausſtehli - che Diſputirer mit vollem Munde, dieſer laͤ - cherliche Weisheit - und Tugendkraͤmer, dieſer grobe Zaͤnker, und Miſanthropiſche Schim - pfer iſt ein Geſchoͤpf neuerer Zeit, ein Weiſer aus Schweizeriſchen Republiken. Und doch hat W. ja wirklich die Griechen gele - ſen? quid fures faciant, audeant cum talia domini? So ſehr die Griechen ihren Homer nuzten, ſo wenig brauchten ſieU 3ihn298ihn auf Wielandſche Art: denn Shaftes - buris Geiſt und Schriften herrſchten damals wahrſcheinlich noch nicht bei der Moraliſchen Bildung der Jugend; und die Art, wie Sokrates aus dem Homer lehrt, und man ihn bei der Bildung der Helden und brauch - baren Juͤnglinge anwandte, iſt ja augen - ſcheinlich ganz was anders! und in vielen Stuͤcken was anders, als wir heut nach - ahmen koͤnnen, wenn wir auch Homere haͤtten?

2. Pindar und der Dithyrambenſaͤnger.

Homere do̊rften wir alſo nicht eben haben, aber einen Pindar? Die Zeit hat dem Pin - dar ſeine beſten Kronen, und unter andern auch den ſiebenfachen Epheukranz der Dithy - ramben geraubt einer von unſern Dich - tern ſezt ſich ſelbſt dies Siegeszeichen auf, und ruft: Macht Raum, Mo̊naden! Jſt er der Vater Bacchus, oder traͤgr er blos den Thyrſusſtab, um es zu ſeyn?

Zum299

Zum Voraus ein Wort in einer Pa - rentheſe. Jch glaube, wenige Beurtheilun - gen der Litteraturbriefe ſind ſo ſchielend, und gebrechlich, als dieſe,*Litt. Br. Th. 21. p. 37. die einem Lehrmei - ſtertone ſich naͤhert: die bei dem Geraͤuſche arm, bei aller Pracht von Beleſenheit und Kritiſcher Einſicht kurzſichtig, und bei allen Planen und Vorſchlaͤgen duͤrre ſeyn moͤchte. Die angebohrne Lebhaftigkeit des Recenſ. ver - ſpricht dem Dithyrambendichter ſcharf zuzu - ſezzen, und zuckt jedesmal zuruͤck, um ſich in Praͤceptorpredigten zu verlieren. Was ſoll die Frage heiſſen: Kann man Deutſche Di - thyramben machen? Kann man nicht Deut - ſche, ſo kann man auch keine Malabariſche Dithyramben machen, was die Sprache be - trifft; und bei Dithyramben doͤrfte dieſe nur zulezt in Betracht kommen. Was darf es der Recenſ. mit ſo vieler Gelehrſamkeit be - weiſen, daß wir keine Dithyramben uͤbrig ha - ben? der Verfaſſer doͤrfte dieſes ja aus dem lieben E. Schmid allenfalls wiſſen! Und womit beweiſet es der Kunſtrichter denn,U 4daß300daß wir nach den uͤberbliebenen Nachrichten keine Dithyramben machen koͤnnen; hoͤchſtens! daß der Verfaſſer keine gemacht. Womit behauptet er es, daß jeder neue Ge - ſchmack verkehrt ſeyn muß, der von den Re - geln des weiſen Alterthums abgeht? Warum iſt ein Deutſches Heldengedicht, eine Ode, eine Dithyrambe ohne Griechiſche und Latei - niſche Muſter denn an ſich unmoͤglich? Was thun die Pindariſchen Oden des Leipziger Pro - feſſors hier zur Sache? Auf welcher Claſſe muß denn der Dithyrambiſt ſizzen, wenn er den Pindar intus et in cute kennen lernen, den gan - zen Poeten in ſuccum et ſanguinem verti - ren, und abſolut erſt nach 20 Jahren Jmi - tationen nach der Pindariſchen Digreßion uͤber den Berg Aetna machen ſoll? Welch ein Schulton herrſcht ſo durchgaͤngig, ſo inſonder - heit S. 59 - 61. Welche Sammlung von Pindariſchen Beiwoͤrtern ſoll man (p. 70.) Friedrich geben? Wie lange muß noch der Dithyrambiſt Mythologie lernen, um nicht ihr Syſtem niederreiſſen zu wollen? Jſt es wahr, daß Pindar ſich keine Jnverſionen des Fabelſyſtems erlaubt, und alles ſo ſtehen laͤßt,wie301wie es ihm vom Praͤceptor diktirt worden iſt? Und nun endlich die beſte und geiſtigſte Anmerkung wider die windichten, eitlen, jun - gen Menſchen, die ihrem Maͤdchen zu gut Ge - dichte herausgeben wobei freilich der Be - weis mangelt, daß der Verfaſſer der Dithy - ramben ſo ein windichter, eitler, junger Menſch ſey, der eine Strafpredigt uͤber ſein Maͤdchen 6 Seiten lang anhoͤren muß. Womit kann es der Recenſ. beweiſen, daß Pindar in ſeinen verlohr - nen Hyporchematen und Dithyramben in einem ernſthaften Philoſophiſchen Ton trunken gera - ſet? Wie mag ein Compliment laſſen, das man nicht aus freiem Willen, ſondern aus Muß im Vorbeigehen macht? Und wie viel nimmt der Recenſent fuͤr ein Collegium, darinn er zeigt, wie man Pindars ganze Manier zu malen bis auf ſeinen Adler lernen ſoll, da - mit unſer Deutſcher Horaz auch fuͤr den Di - thyrambiſten eine Ode weihen muͤſte? Meine Parentheſe wird lang; aber dem Re - cenſenten wuͤrde die Antwort auf meine Fragen noch laͤnger ſeyn, die ich auch, aus einer mir angebohrnen Lebhaftigkeit, thue; nicht als Kritiken, ſondern als eine kleine Huͤlfe, michU 5 ſelbſt302 ſelbſt auf den Weg zu bringen, und was ich denke, zu ſagen.

Jch bin nichts minder, als der Verfaſſer oder der Vertheidiger der Dithyramben; ich habe ſelbſt mehr wider ſie, als die Litteratur - briefe, aber wie ich hoffe, aus andern Gruͤn - den, und mit weniger Schulton. Ohnmoͤg - lich kann dieſe Beurtheilung von einem Ver - faſſer der Litteraturbriefe ſeyn; vermuthlich iſt ſie eingeſchickt; weil ihr Ton gewiß zu merklich abweicht. Aber gnug! meine Parentheſe iſt zu Ende.) Koͤnnen wir Di - thyramben machen, Griechiſche Dithyram - ben im Deutſchen machen? Originaldithyram - den machen?

Woher mag der Dithyrambe bei den Grie - chen entſtanden ſeyn? Darf ich eine Hypo - theſe verſuchen? Hypotheſen muß man verſuchen, wo man keine Nachrichten hat: waͤre Demoſthenes περι διϑυραβοποιων, oder Ariſtotels groͤßter Theil der Dichtkunſt nicht verloren, ſo wuͤrden wir wiſſen, ſtatt zu rathen.

Ein303

Ein Volk in ſeiner Wildheit iſt in Spra - che, Bildern und Laſtern ſtark: Trunkenheit und Gewaltthaͤtigkeit ſind die Lieblingslaſter einer Nation, die noch Mannheit (αρετη) fuͤr Tugend, und trunkne Raſerei fuͤr Vergnuͤ - gen haͤlt. Alle die feine Schwachheiten wa - ren damals noch nicht, die heut zu Tage un - ſere Guͤte und Fehler, unſer Gluͤck und Un - gluͤck bilden, die uns fromm und feige, liſtig und zahm, gelehrt und muͤßig, mitleidig und uͤppig machen. Dieſe Trunkenheit ge - bar wilde Vergnuͤgen, den ungezaͤhmten Tanz, eine rohe Muſik, und nach der damaligen un - gebildeten Sprache auch einen rohen Ge - ſang.

Nicht an Altaͤren, ſondern in wilden Freu - dentaͤnzen entſprang alſo die Dichtkunſt, und ſo wie man die Gewaltthaͤtigkeit mit den ſchaͤrf - ſten Geſetzen baͤndigte, ſo ſuchte man die trunknen Neigungen der Menſchen, die jenen entwiſchten, durch Religion zu erhaſchen. Jh - re Goͤtter trugen damals Keulen und Blitze: die ſanften Gratien waren noch nicht gebo - ren; man verehrte die Kraͤfte der Natur: rauh war ihr Gottesdienſt, wie ihre Natur,durch304durch Opfer und Trunkenheit und unter den aͤlteſten Goͤttern war immer auch ein Oeno - trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man wolle.

Jezt wurde alſo die trunkne Dichtkunſt an die Altaͤre zur Entſuͤndigung gefuͤhrt. Hier befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte ſich alſo wieder der Religion: ihr Geſang war voll von der thieriſchſinnlichen Sprache des Weins, und der Wein erhob ſich wieder zu einer gewiſſen Myſtiſchſinnlichen Spra - che der Goͤtter: ein heiliger Geſang in dop - peltem Verſtande. Die Prieſter, zugleich Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio - nalſagen eine Mythologie zuſammen, die ſich zu ihren rauhen Geſaͤngen bildete, mit denen ſie als mit einem Zaume, mit einem Stuͤck des Gottesdienſtes, mit einem Zeitvertreibe und Vergnuͤgen das Volk lenkten.

Linus, den wir im fernſten Schatten als den Vater der Dichtkunſt erblicken, ſchrieb noch mit Pelasgiſchen Buchſtaben, den Feldzug des Bac - chus. Anthes der Boͤotier ſang Bacchiſche Hymnen: Orpheus, der Bezaͤhmer der Grie -chen305chen durch Geſezze und Gottesdienſt, weihte die Trunkenheit in ſeine Eleuſiniſchen Heilig - thuͤmer ein, um ſie zu bezaͤhmen, daher er auch ihr Opfer wurde. Muſaͤus und ſein Sohn Eumolpus ſangen ebenfalls den Bac - chus Kurz die aͤlteſten Namen der Dich - ter, die beynahe ſelbſt Fabeln ſind, alle ha - ben ſich mit Bacchus beſchaͤftigt.

Wozu ſage ich alles dieſes? Um zu zeigen, daß der Dithyrambe aus den Zeiten der Wildheit und Trunkenheit ſeinen Ur - ſprung und Leben ziehe, daß wir alſo von ihm auch nach Beſchaffenheit dieſes Zeit - alters urtheilen muͤſſen. Entſprungen unter berauſchten Taͤnzen des Volks fuͤhrte man ihn in die Tempel, um ihn zu zaͤhmen. Sein Jnhalt, ſeine Sprache, Sylbenmaas, Bearbeitung, Muſik, Deklamation, alles zeigt von der Zeit, die ihn hervorge - bracht hat: er mag nun in Thebe, oder dem wolluͤſtigen Korinth von einem oder dem andern erfunden ſeyn: gnug, es war noch eine Zeit, da ſich die Delphine von dem Arion, dem angegebenen*Wie Herodot anfuͤhrt, den ich fuͤr mehr, als Fabelſchreiber halte. Erfinder, bezaubern lieſ -ſen.306ſen. Jch ſage: ſein Jnhalt: denn da er den Vater des Weins, von ſeinem Blitzſtrale getroffen, mir brauſendem Munde ſang, und in einer ehrwuͤrdigen heiligen Trunkenheit ſang: ſo paßt er am meiſten auf den Abgrund der Zeiten, da man aus Aberglauben die Kraft einer goͤttlichen Gegenwart fuͤhlte, da man mit ſtarken ſinnlichen Empfindungen begabt, den Eindruck der Jugendlehren und Rational - ſagen beinahe zu einer wirklichen Anſchauung erhob, da man aus Unwiſſenheit nicht blos die Fabelgeſchichten als Wahrheiten glaubte, ſondern mit der Einbildungskraft ſie bis zum Leben ausmalte, und alſo die Begeiſterung ſchmeckte, die Apoll uͤber die Pythiſſe, Ju - piter uͤber die Sibyllen, Cybele uͤber die Gal -[l]er, und Bacchus uͤber die Dithyramben - ſaͤnger ausgoß. Daher naheten ſich die lez - tern der Entzuͤckung, die einer Raſerei glich, Διονυσοιο ανακτος καλον εξαρξαι μελος οιδα διϑυραμβον, οινω συνκεραυνωϑεις φρενας: daher fing er gemeiniglich mit dem begeiſterten: αμφι μοι αναξ, an: daher je - ne Ausbreitung der Seele, die im Parenthyr - ſus der Trunkenheit und der Beſchauung himm - liſcher Dinge ausrief:

Auditis307Auditis an me ludit amabilis Infania? Audire et videor pios Errare per lucos: ()

daher iene goͤttliche Wuth:

immanis in antro Bacchatur vates, mag num ſi pectore poſſit Excuſſiſſe Deum: tanto magis illa fatigat Os rabidum, fera corda domans, fingitque premendo. ()

Und von dieſer ſinnlichen Begeiſterung wurde die ganze Bearbeitung ſo belebt, daß Pla - to dem Dithyramben ſogar die Nachah - mung abſprechen will. Voll kuͤhner Bilder und großer Anſpielungen folgte er keinem wei - tern Plan, als den innerlich die Einbildungs - kraft malte, aͤußerlich zum Theil das Auge ſahe, und der Tanz foderte: und ſo ward er ein Gemaͤlde der Einbildungskraft aus der Bacchiſchen Geſchichte, des Bacchiſchen Got - tesdienſtes, und des Tanzes: wo nuͤchterne Seelen wenig Verbindung, viel Uebertriebenes, und alles Ungeheur finden muſten. Und die - ſe Bearbeitung, welcher Zeit war ſie am ange - meſſenſten? Vermuthlich jener, da die Saty -ren308ren Poſſenſtuͤcke, die Komoͤdien Satyren, und Oden und Tragoͤdien noch nicht geboren wa - ren. Vor den regelmaͤßigen Stuͤcken im ſchoͤ - nen Stil muſte das große wuͤſte Unregel - maͤßige voran gehen.

Und eben dieſem Zeitalter iſt auch die Di - thyrambiſche Sprache gemaͤß, die in Worten neu, kuͤhn und unfoͤrmlich; in Conſtru - ctionen verflochten und unregelmaͤßig war: eine Sprache, wie ſie vor ihrer Ausbildung iſt. Alsdenn hat noch jeder Saͤnger das Recht, neue Worte zu machen, weil man von ihnen noch keine gehoͤrige Anzahl hat; ſie koͤn - nen kuͤhn zuſammengeſezt ſeyn, weil Form und Lenkung nicht gnug beſtimmt iſt. Hin - gegen eine voͤllig gebildete Sprache iſt nicht Dithyrambiſch, ſondern vernuͤnftig und mit Geſezzen umſchraͤnkt.

So auch das Sylbenmaas: Geſezlos, wie ihr Tanz und die Toͤne der Sprache; aber nothwendig deſto Polymetriſcher, toͤnender und abwechſelnder.

So auch die Muſik: Die Phrygiſche Mu - ſik, die raſend machte, die Steine belebte,zum309zum Treffen und Siege reif, und Empoͤrun - gen in der Bruſt anrichtete; die nachher ab - geſchafft wurde, weil ſie die Muſik verdarb, die Plato aus ſeinem Staat und Ariſtoteles aus ſeiner Entziehung verbannte Kurz! die aͤlteſte und roheſte Tonkunſt.

Alles alſo, was zum Διϑυραμβωδες ge - hoͤrte, Jnhalt und Form, und Sprache und Muſik und Sylbenmans traͤgt Spuren des ſinnlichen Zeitalters mit ſich, wo alles dies, und dies allein bey dem rohen Volke ſeinen Zweck erreichte, und hier iſt die Erklaͤrung des Proklus: Διϑυραμβος εστι κεκυννημενοι και πολυ του εουσιωδες μελα χορειας εμ - φαιναν, εις παϑη κατας κυαζωμενος, τα μαλιστα οικεια τω Θεου.

So war der Dithyrambe, ehe er voͤllig Nachahmung wurde. Als aber die Griechen in ein geſittetes Zeitalter uͤbergiengen; ſo ward ihre Religion uͤber das Sinnliche mehr erho - ben: ihre Begeiſterung ſank: ihre mehr ge - bildete Sprache entfernte ſich von Dithyram - biſchen Freiheiten: ihr Sylbenmaas ward beſtimmter und gebundener: ihre Muſik Do -Xriſch.310riſch. Das wahre Διϑυραμϐωδες war alſo vorbei, und man ſuchte es nachzuahmen. Daher kann Ariſtoteles den Dithyramben un - ter die Nachahmende Poeſie ſezzen, ohne doch dem Plato zu widerſprechen, der das Ge - gentheil, wiewohl in ganz andrer Verbindung, ſagt. Es blieb noch immer ein feſtliches Vergnuͤgen, ſich in ihre Vaͤterzeiten zuruͤck - zuſezzen, und die Sprache, das Sylbenmaas, die Muſik, die Denkart eines oder einiger er - lebten Zeitalter zu gebrauchen.

Jn dieſer mittlern Zeit, da ſich das Di - thyrambiſche gemildert hatte, mag es alſo die beſten Gedichte dieſer Art gegeben haben, die daher die Anfangsſtuͤcke verdraͤngten. Nachher aber trieben die folgenden die Kuͤhn - heit immer hoͤher, um ihre Vorgaͤnger uͤber - treffen zu koͤnnen; ſie miſchten, (nach Pla - tons Zeugniß in ſeiner Republik), alles un - ter einander: und gingen verloren, weil die damaligen Zeitalter zu ſehr den Geſchmack der Dichtkunſt, den Geiſt der Religion, die Stuffe der Sitten und Sprache veraͤndert hatten.

Da -311

Daher legten ſich auch, nach der wahr - ſcheinlichſten Lesart im Cicero, die Roͤmer weit minder (minus) auf die Dithyramben; bei denen der Atys des Catulls nur ein weit - laͤuftiger Verwandte der Dithyrambenkuͤhn - heit iſt. Der Himmel der Roͤmer war nicht eigentlich mehr fuͤr dieſe Dichtungsart: ihre Religion war geiſtiger und Politiſcher: ihr Bacchus lange nicht der maͤchtige Koͤnig der Griechen: ja ſelbſt ihre k[aͤlt]ere Adern fuͤhlten nicht mehr ſo ſtark den Blizſtral des Weins: ſie ließen alſo die Reſte der Dithyramben un - tergehen. Ariſtoteles beſtaͤtigt meine ganze Hypotheſe, durch die wenigen Worte, die er in ſeiner Dichtkunſt vom Dithyramben ein - miſcht, in deſſen Stelle die Tragoͤdien getre - ten ſeyn ſollen.

Sollen wir alſo die Dithyramben zuruͤck - finden? Erſt beantworte man die kleine Fra - ge: Koͤnnten wir denn Dithyramben machen, wenn wir die Griechiſchen noch haͤtten? Von dieſer Kleinigkeit haͤngt, wie ich glaube, alles ab; und ein Kenner der Griechen wuͤr - de daruͤber den Kopf noch ziemlich ſchuͤtteln. Wo iſt bei uns eine Religion, die BacchusX 2zum312zum Gott und ſeine Geſaͤnge ehrwuͤrdig, hei - lig, goͤttlich macht? Der Griechiſche Diony - ſius wuͤrde die Trauben unſres Landes, und unſre Dithyramben wegwerfen, und ausru - fen: procul profani! Wo iſt bei uns der Geiſt eines Zeitalters, da eine Bacchiſche Begeiſterung durch Wein und Aberglauben ſinnlich gewiß, oder wenigſtens wahrſchein - lich wuͤrde? Die Begeiſterung der Muſe konnte bei einem Griechen ſo maͤchtig ſeyn, als ſie bei uns oft ſo laͤcherlich wird, than Jugglers talking to Familiar. Wo ſind unſere Bacchiſche Gegenſtaͤnde, die Heldenge - ſchichten, die bei den Griechen von Jugend an, durch Unterricht, und Gedichte und Ge - ſaͤnge und Denkmale ihre Seele belebten? Unſere Trinker wird der Rauſch auf ganz andre Gegenſtaͤnde fuͤhren, als auf eine My - thologie vom Bacchus, die fuͤr uns das Große, das Poetiſchwahre, das dem Nationalgeiſt eigne, und darf ich dazu ſezzen, faſt ganz das Licht der Anſchauung verlohren hat! Wo iſt die Bilderwelt, die Welt, voll Leidenſchaften, die Griechenland in ſeiner Jugend um ſich ſahe? Wir wandeln in einer PolitiſchenWuͤ -313Wuͤſte. Wo iſt die Dithyrambenſpra - che? Die unſre iſt viel zu Philoſophiſch alt - klug, zu eingeſchraͤnkt unter Geſezze, und zu abgemeſſen, als daß ſie jene neue, unregel - maͤßige, vielſagende Sprache wagen koͤnnte. Wo die Dithyrambiſchen Sylbenmaaße? da unſre Sprache und alle neuere ſelbſt zum He - xameter, noch minder zu den Sylbenmaaßen des Pindars und der Choͤre vieltrittig gnug iſt, und gegen Griechifche Dithyramben voͤl - lig ungelenkig laſſen muͤſte. Wo ſind denn bei uns die Taͤnze, die trunknen Bacchus - ſpruͤnge, an Frendenfeſten? Der Dithyrambe gehoͤrte ja ſo wohl zur Mimiſchen als Lyriſchen Poeſie: und wie koͤnnten wir ihn alſo nach - machen, da wir die hohe Tanzkunſt der Alten nicht haben, nicht kennen, und ſo gar ſelbſt bei allen Nachrichten der Alten, nicht durch - gehends begreifen koͤnnen Und von ihr bekam er doch Geiſt und Leben.

Aber wenn wir ihn alsdenn blos als eine Sache der Nachahmung betrachteten, bei der wir zwar nicht eben die Urſache, Zwecke, und Huͤlfsmittel des Originals haͤtten, aber doch eine neue, eine beſſere Art der GedichteX 3be -314bekaͤmen? Kaum! Dithyramben, nach dem Griechiſchen Geſchmack nachgeahmt, blei - ben fuͤr uns fremde. Das trunkne Sinn - liche, was bei ihnen entzuͤckte, waͤre viel - leicht fuͤr unſre feine und artige Welt ein Aer - gerniß; das Raſende in ihnen waͤre uns al - lerdings dunkel, verworren und oft unſinnig, weil der Dithyrambiſt, der Weißager und Unſinnige mit zuſammengeſchlungenen Haͤn - den zu gehen ſcheinen, und ein Elektriſcher Funke nach ihren verſchiednen Koͤrpern auch unterſchiedne Wirkungen hervorbringt. Jhre Ungebundenheit wuͤrde fuͤr unſere Gram - matiſche, und Aeſthetiſche Geſezgeber Verbre - chen wider die Regeln ſcheinen: die Einbil - dungskraft wuͤrde der geſunden Vernunft und dem Sens - commun unſres lieben Zeitalters Eintrag thun Vielleicht trug alles dies dazu bei, daß die Dithyramben verloren gin - gen; und gaͤbe es Dithyrambenſaͤnger zu unſrer Zeit wir wuͤrden ihnen einen Stier geben, um ihre ϐοηλαταν zu bezahlen und ſie reiſen zu laſſen. Weß aber ſollte der Stier ſeyn, den wir ihm geben? Des Volks nicht, denn er ſchriebe ja Dithyram -ben315ben nicht zu Tanzen und Mimiſiren; ſon - dern zu leſen! Der Grammatiker auch nicht; die wuͤrden vielmehr wider ihn ſchreyen! Der ſchoͤnen Geiſter auch nicht; deren ſchoͤnes Jdeal moͤchte dadurch verlezt werden! Der ernſthaften Kunſtrichter auch nicht Er mache ſich alſo fertig, ohne Stier nach Hauſe zu reiſen.

Aber wie? er ſinge nach dem Geſchmack ſeiner Zeit, mit einem kaͤltern Feuer, ohne Gott Bacchus, ohne die Dithyrambiſche Kuͤhnheit und Sprache, Deutſche Dithyram - ben? Deutſche Dithyramben ſind ein Unding, gegen die Griechen betrachtet; und gegen unſre ſchon bekannte Dichtarten nichts neues! Ein ſolcher Dithyrambe nach dem richtigen Geſchmack unſrer Zeit, ohne Bacchus, ohne Tanz, ohne Begeiſterung, ohne Dithyrambi - ſche Sprache, in eingezognen Sylbenmaaßen gehoͤrt ſo wenig in den Bacchustempel, als jene Geſchenke in den Tempel des Mars nach einem Griechiſchen Sinngedicht:*ſ. Anthol. 1. B. Wer hing dieſe glaͤnzende Schilde, dieſe BlutloſeX 4 Waf -316 Waffen, dieſe unverſehrte Helme hier auf? Dem Menſchenwuͤrger Mars ſolchen haͤßli - chen Schmuck? Will ihn nicht jemand aus meinem Tempel werfen? Jch erro̊the ganz! Solche Verzierung gehoͤrt in eine Braut - kammer, an den Hof, in die Trinkſaͤle fei - ger Saͤufer; nicht an den Altar des Mars! Blutige Waffen, zerbrochne Schilde, durch - ſtochne Helme, die ſind mein Vergnuͤgen! Alsdenn ſind ſolche Deutſche Dithyramben nach einem feinen Jdeal unſrer Zeit ent - weder hohe Oden der Einbildungskraft oder begeiſterte Trinklieder; ſie mo̊gen ſeyn, wie ſie wollen. Alsdenn ſind Uz, Leßing, Weiße, Gerſtenberg in ſeinem Gedicht: Cypern: Schmid in ſeinem Noah, dem Weinerfinder: der Verfaſſer der erſten Cantate zum Scherz und Vergnuͤgen unſre Dithyrambendichter; oder vielmehr unſre alte Trinkbruͤder, die ſich einen will - kuͤhrlichen Namen geben.

Jch verzweifle alſo beinahe an Dithyram - ben, ſelbſt wenn wir die Griechiſche haͤtten nun aber iſt alles bis auf die wenigen Nach - richten verloren, die nicht einmal einen unter -ſchei -317ſcheidenden Begrif von ihnen beſtimmen. Ein Scholiaſt hat den andern ausgeſchrieben, denn je weniger man weiß, deſto mehr wiederholt man das wenige und ertappet vielleicht den Dithyrambendichter, ſo wie den Cometen, blos in ſeiner groͤſten Eccentricitaͤt. Horaz in ſeiner Ode uͤber Pindar hat ja keine De - finition geben wollen, und gewiß daran gar nicht gedacht, daß jemand einmal jedes von ſeinen Worten auffaͤdeln, und ſich aus ſeiner Strophe einen Plan abzirkeln, einen Grund - riß abzaͤunen wuͤrde, um in ihm kuͤnſtlich zu raſen, nuͤchtern zu taumeln, bei Waſſer ein regelmaͤßiges Evan! zu rufen. Die meiſten Poetikenſchreiber halten ſich bei der πολυπλοκια der Worte auf, gleich als wenn dies ein Hauptſtuͤck und nicht eine nothwendi - ge Folge des Dithyrambengeiſtes waͤre.

Und uͤberhaupt, da es ſchou eine kalte Be - geiſterung iſt, die blos aus Beiſpielen auf - gewaͤrmt wird: ſo iſts laͤcherlich, ſich ohne Beiſpiele, durch Regeln; oder vielmehr ohne Regeln durch kleine Nachrichten, entzuͤcken zu wollen; uͤber Flicknachrichten ſich einen Weg zur Begeiſterung bahnen, ausX 5Lapp -318Lappland uͤber Zembla nach dem Pindus rei - ſen: da hat der Dithyrambiſche Hegeſan - der recht:

μειρακιεξαπαται, και συλλαϐοπευσελαϐηται Δοξοματαιοσοφοι, ζηταρετησιαδαι.

Gnug von dieſen Dithyrambiſchen Anmer - kungen. Jch muß hier den Plan eines Freun - des verrathen, der zu Chriſtlichen und Deut - ſchen Dithyramben Riſſe und Verſuche ge - macht hatte, die er aus dem Jnnern unſrer Religion und Nation gezogen, die trunkne Geſaͤnge einer heiligen Religions - und Staatsbegeiſterung ſeyn ſollten. Es er - ſchienen unvermuthet Dithyramben: die zwar gar nicht in ſeinen Plan fallen: die ihm aber doch Gelegenheit zur Pruͤfung gaben, und ihm bei ſeinen Arbeiten das nonum prematur in annum riethen. Jch liefere alſo von dieſem Freunde nicht ſeine parado - xen Dithyramben: ſondern ſein Urtheil uͤber die erſchienenen eines Ungenannten: es iſt frei, aber nirgends hinterhaltend.

Das319

Das Titelblatt verſpricht uns Dithyram - ben: die Vorrede verſpricht ſie nur halb: und das Buch ſelbſt liefert gar keine.

Zuerſt: Der Kunſtgrif, uns ſeine Samm - lung von Liedern, als ein Ganzes in die Haͤnde zu ſpielen, geht von der Einfalt der alten Dithyrambiſten voͤllig ab. Und von der Wahrheit ſelbſt: denn ſind dieſe Stů - cke Theile zum Ganzen, weil ſie auf einander folgen? So iſt ja alles, was ich in einen Band binden laſſe, auch ein Ganzes; aber kein Oden ganzes. Jch glaube doch nicht, daß um einen Sprung zu thun, Sicilien mit Johann Sobieski und dieſer mit Pe - ter graͤnzet. Der ſoll mein großer Apoll ſeyn, der mir zwiſchen dieſen Stuͤcken Zuſam - menhang nach Zeit, oder Ort, oder Jnhalt, oder nach den Geſezzen der Einbildungskraft, findet. Vermuthlich aber nach den Geſezzen der Einbildungskraft denn die erſte Di - thyrambe ſoll die Begeiſterung wohrſcheinlich machen. Nun! ſo haͤtte ſie auch an die Jung - fer Maria gerichtet ſeyn koͤnnen, um (alles zugegeben,) die folgenden Gegenſtaͤnde zu be - ſingen. Dies waͤre noch wenigſtens ein er -bau -320baulicher Standpunkt geweſen, um nachher Kirchenſeufzer, an die heilige Mutter zu ſchi - cken aber jezt iſt es widerſinnig, daß eine trunkne Moͤnade an dem Wagen Bacchus jezt Erdbeben, jezt eine Entſezzung der Ve - ſtung, jezt die Schoͤpfung eines Reichs, jezt Krieg, jezt Frieden finget, 9 Uhrwerke ab - laufen laͤßt, und alsdenn vom Bacchus hoͤf - lich Abſchied nimmt. Folgt es wohl, aus der Begeiſterung des Bacchus, Krieg und Helden, bald dies, bald jenes zu ſingen, was oft gar nicht in den Mund eines Saͤufers ge - hoͤrt? Die Moͤnade wird abentheuerlich, die ſich jezt an den Wagen des Bacchus draͤnget, den Augenblick am Hebrus und Rhodope, den Augenblick drauf bei Naxos iſt, wo ſie, (die Weitſehende!) Tokay und den Rhein ſieht, wo ſie ſchwaͤrmt, wo ſie ſingen will hochfahrend, wie die Schwingen der Winds - braut, wo ſie vom Bacchus begeiſtert, aus - ruft: hoͤrt! und an ihren Begeiſterer und an ſeinen Wagen nachher niemals denkt, kaum an ihn einmal im Vorbeigehen denkt, da er durch einen Zufall eben uͤber Meißens Ge - buͤrge ſpazieren faͤhrt, bis ſie ſich ihm endlichem -321empfielt, und mit ihrer Daphne forteilt: nun Vater! Bacchus hilf! eine Moͤnade mit der Daphne! eine Liebe zwiſchen zwei Maͤd - chen! die gute Moͤnade muß ſich ovr dem Namen eines Bacchanten ſchaͤmen.

Kein Ganzes alſo! und noch weniger ein Bacchiſches Ganzes! Das begeiſterte αμφι μοι αναξ der alten Dithyramben, ſchallt nie in unſern Ohren; nie ſingt die Mo̊nade, als waͤre ſie am Wagen des Weingotts: gar kein Standpunkt, den die erſte Dithyrambe ange - ben will, in allen Stuͤcken. Jſt es Bacchus, der da begeiſtert, oder biſt du liebe Muſe,

Thou that with Ale, or viler Liquors Didſt inſpire Wythers, Pryn and Vickars And force them, tho it was in ſpite Of Nature, and their Stars, to write Who, as we find in ſullen Writs And croſſ-grain’d Works of modern Wits With Vanity, Opinion, Want The Wonder of the Ignorant The Praiſes of the Author, penn’d B himſelf, or Wit inſuring Friend Canſt make a Poet, ſpite of Fate ()

Der Bacchus dieſer Mo̊nade, iſt nicht der wahre Bacchus; nicht jener ſchoͤne Griechi -ſche322ſche Knabe*Winkelm. Geſch. der Kunſt Th. 2. der die Graͤnzen des Lebens betritt, bei dem die Regung der Wolluſt, wie eine zarte Spizze der Pflanze, zu keimen an - faͤngt, der, wie zwiſchen Schlummer und Wachen, in einen entzuͤckenden Traum halb verſenkt, die Bilder deſſelben zu ſammlen und ſich wahr zu machen anfaͤngt, deſſen Zuͤge voll Suͤßigkeit ſind, dem aber die froͤliche Seele nicht ins Geſicht tritt Dieſer ſchwindelt im Wagen: ihm gluͤht die Wange: er verſchuͤttet den Becher: er lacht: er ſchlurft Tropfen! Ein beſoffner Sa - tyr kann das ſeyn, nicht aber der Griechiſche Bacchus! Jch rathe der Moͤnade, ihm nicht zu folgen, damit es ihr nicht wie der Rhea gehe, die einen Kriegsknecht ſtatt des Mars umarmte. Und daß das gute Maͤdchen ihn wirklich verkannt habe: ſehen wir aus der Dithyrambe: die Himmelsſtuͤrmer! hier, hofften wir, hier wird im Streit Dionyſius eine Hauptperſon machen: wir werden ihn im ganzen Lichte ſehen:

Διο -323
Διονυσον εριϐρουον, ευαςηρα Πρωτογονον, διφυη, τριγονον, Βακχειον ανακτα Αγριον, αρρητον, κρυφιον, δικερωτα, διμορφον Κιϐσοϐρυον, ταυρωπον, αρηιον, ευιον, αγνον Ωμαδιον, τριετη, ϐοτρυφορον, ερνεσιπεπλον.

Hier werden wir, wenn wir ihn mitten im Kampf erblicken, wie ihn die Alten ma - len, nicht ausrufen doͤrfen, wie jener Schif - fer im Homer,*Hymne auf Bacchus. da er ihn anſahe: Ent - weder Zevs iſt er, oder der Apoll mit dem ſilbernen Bogen, oder Neptun: denn den ſterblichen Menſchen iſt er nicht aͤhnlich, ſondern den Goͤttern im Olymp! ſondern als den Allmaͤchtigen, als den Baͤndiger der Rieſen und Ungeheuer, werden wir ihn ſehen, oder wenn alles mißgluͤckt: ſo kennen wir we - nigſtens ſeinen tapfern Eſel, deſſen Geſchrei diesmal Siegbringend iſt. So hofften wir, aber alles vergebens! Die Rieſen ſind im Himmel; ſeine Zofe ſieht zu: und ruft endlich mit offnem Munde:

Welch ein Streit, o Liber! Sind Goͤtter im Kampf mit Goͤttern!
Bac -324

Bacchus ermuntert ſich aus ſeiner Schlaf - trunkenheit: reibt ſich die Augen, will nicht ins Feuer: endlich ſehen wir ihn im Loͤwen - panzer, (den er vermuthlich lange geſucht ha - ben muß) aber dem ſchlaͤfrigen Helden zum Gluͤck redet Zevs Gewitter, und Evan erſcheint nicht eher, bis die Feinde weg ſind! So unnuͤz iſt er durchgaͤngig: da - her fraͤgt die Moͤnade auch ſo wenig nach ihm, es ſey denn, wenn er einmal Friedrich begegnet, und ausruft: das iſt er, das iſt er! daher gibt ſie ihm auch den Abſchied:

Fahr hin, fahre hin, du Loͤwenbezwinger, Fahr hin, ich folge nicht mehr!

Nichts ſchlaͤgt mehr fehl, als wenn man die Bilderreihe, die Folge von Auftritten verfolgt, die innerlich die Begeiſterung und aͤußerlich das Auge leiten, die das voll - kommene Dichteriſche Ganze bilden, was ein Gemaͤlde weit uͤbertrift, was vom Tonkuͤnſtler Melodie borgt, um ſich zu be - leben, was vom hohen Mimiſchen Taͤnzer gleichſam Bewegung annimmt: kurz, was Handlung heißt, das wahre Kennzeichen des Bacchiſchen Propheten!

Jch325

Jch nehme das beſte und einzige Dithy - rambiſche Sujet in dieſer Sammlung: die Himmelsſtuͤrmer! um dies fortgehende Ge - maͤlde aufzuſuchen. Jm Anfange gar kein Standort, und kein Geſichtspunkt, den Pin - dar doch ſeinen verworrenſten Oden ſo ſorg - faͤltig, und wenigſtens am Anfange und Ende einwebt, aus dem er ſie berfuͤhrt, eini - ge mal zuruͤckleitet und auf dem er ſie kroͤnet.

Mit guͤldenen Saͤulen wollen wir, wie am praͤchtigen Pallaſte, den veſterrichteten Eingang ſtuͤzzen: Denn wer ein Werk beginnet, der mache vortreflich den Anblick. *Pindar. ειδ 6. Olymp.

Machen alle Dithyramben ein Ganzes aus: ſo taumelt die Moͤnade, nach dem Ende der vorigen Dithyrambe an Bacchus Wa - gen: und

o Wunder! ſie taumelt zuruͤck in die Kindheit der Welt! entſchlafne Aeonen vorbei.

So fiel jener Gaſcogner aus dem Fenſter ein Maas von drei Jahren herunter! JndieY326die Kindheit der Welt zuruͤcktaumeln! Ob Bacchus mit ſeinem Gefolge nicht ſelbſt in die Kindheit der Welt gehoͤrt? Jſt das Standort? Bachcus ſoll ja ſelbſt im Treffen ſeyn: die Mo̊nade ſoll ja den Sturm ſelbſt ſehen, nicht in Gedanken bis in die Kind - heit der Welt zuruͤcktaumeln: ſoll uns nicht etwas aus alten Aeonen erzaͤlen, ſondern vormalen, ſo vormalen, daß wir nicht ihr Gemaͤlde, ſondern die Handlung ſelbſt ſe - hen. So macht es ſchon Pindar der Oden - dichter und Pindar der Dithyrambiſt?

Die Handlung geht an: die Mo̊nade ſieht den Aetna rauchen; beſinnet ſich aber geruhig, daß vormals ein Himmelsſturm geweſen: ſie macht uns alſo davon eine Er - zaͤhlung nuͤchtern, ohne Feuer und Gleich - maas: taumelt zwiſchen dem Praͤſens und Jmperfectum: malt bald gegenwaͤrtig, bald aus weiten Aeonen: ganz undithyrambiſch ſchwankt ſie zwiſchen der Jdealiſchen und ſinn - lichen Gegenwart. Jezt ſieht ſie: der wur - zelt den Caucaſus aus; den Augenblick vorher: ich ſah die Himmelsſtuͤrmer! denAugen -327Augenblick brauf: ſie erthuͤrmten ſich Stuf - fen, ſie keichten, ſie ſchnoben und ploͤzzlich:

Welch ein Streit, o Liber! Sind Goͤtter im Kampf mit Goͤttern? Die Aegis klingt Und du Lyaͤus im Loͤwenpanzer!

Nun kommen wir endlich ins Feld, aber Schade! der Bacchante beſinnt ſich, daß Zevs Gewitter geredet habe, daß die Gebuͤr - ge gekracht! Ploͤzzlich befaͤllt ihn wieder der Paroxismus: und ihr, und ihr? wo ſey[d] ihr? Antwort: ſie heulen ihm tief im Bauche. Elend! wie kann der Bacchante ſei - nem Bacchus Triumph zuruffen, deſſen große Thaten er gar nicht geſehen? Hat er das denn in ſeinem Geſange gezeigt, was er nachher auf - kreiſcht: Sie waren, ſie kriegten, ſie ſind nicht mehr!

Und dies iſt noch in Abſicht auf die Oeko - nomie des μυϑος der beſte Geſang: Leſer! ich bereite dich blos, ſie auch in andern zu ſuchen, und du wirſt ſie ſelten durchgefuͤhrt finden zu einem lebenden Ganzen. Sieht wohl die Mo̊nade die Abreiſſung Siciliens? Silen lehrte es ihr: jezt (im Jahr 1766.) Y 2 liegt328 liegt Trinakrien auf ihnen mit einem ſolchen Worte verliert die ganze Dithyrambe. Pin - dar iſt ſeiner Sache gewiſſer: er will darauf vor allen Muſen einen großen Eid thun. *Pind. Od. 6. Olymp.

Ου φιλονεικος εων ουτ ων δυσερις τις αγαν και μεγαν ὁρκον ομοσσας τουτογε οι σαφεως μαρτωρη - σω: μελιφϑογγοι δ επιτρεψοντι Μοισαι.

Und hat der Bacchante wirklich die edle Begeiſterung gefuͤhlt, die ſtets nach der hoͤchſten Bluͤte greift, doch ohne Verzerrung des Arms. So wie ſein Bacchus im Pa - renthyrſus der Trunkenheit ſich als den Lerm - macher zeigt: ſo ahmt ſein Prieſter ihm nach, und macht uͤberall ein Geſchrey, das die Kaͤlte erzeugt, die es verjagen ſoll.

Welche Trunkenheit! Eleleu! welche Trunkenheit!

Jſt dies je die Sprache des Gefuͤhls, der Trunkenheit, die ſich nicht trunken fuͤhlt!

Heiliger Schauer! Schauer durchwuͤhlet die Bruſt. Wie ſie ſchwillt!
Wer329

Wer bricht je in dieſe Worte aus, der, ſich ſelbſt entriſſen, empfindet und ſieht! Wenn man eine Sammlung unnatuͤrlicher Ausrufungen leſen will: ſo hat man ſie hier zuſammen: bei Krieg und Frieden, bei Hel - den und Geſchichten! Nein! immer bleibt es doch wahr: das Feuer der Alten brennt: der Glanz der Neuern blendet hoͤchſtens, oder betriegt im Dunkeln, wie kaltes todtes, aber leuchtendes Holz.

Alle vortrefliche Dichter ſingen nicht durch Kuͤnſteley: ſondern durch goͤttliche Begeiſterung; wie die Corybanten nicht mit kalter Seele tanzen: ſo ſingen ſie auch nicht mit kalter Seele; ſondern ſo bald ſie in die verſchlungenen Labyrinthe der Harmonie gerathen: ſo raſen ſie, ſchwaͤrmen gleich den unſinnigen Bacchanten, die in ihrer Be - geiſterung Milch und Honig aus Baͤchen trinken Auch die Dichter ſchoͤpfen aus Honigquellen, und brechen, wie die Bienen ihren Honig aus Blumen ſaugen, ihre Ge - ſaͤnge von den gruͤnenden Huͤgeln der Muſen. Wahrlich, ein Dichter iſt ein fluͤchtiges, ein heiliges Geſchoͤpf, das nicht eher ſingenY 3 kann,330 kann, bis es von einem Gott ergriffen, außer ſich geſezt wird. Alsdenn ſingt je - ner Lobgeſånge, dieſer Dithyramben. *Platons Jo. Jn der That! ich wollte lieber dieſe wenige Worte gefuͤhlt, als alle zehn Dithyramben geſungen haben: und doch fand der ſo begei - ſterte Sokrates, ſich blos tuͤchtig Aeſo - piſche Fabeln zu ſchreiben: alſo mo̊chte man - cher Dithyrambiſt auch in das Feld geho̊ren, mittelmaͤßige Dialogiſche Fabeln zu ſchreiben, aber vom Verfaſſer der Dithyramben.

Aus der Vereinigung der beiden beruͤhr - ten Stuͤcke, der Begeiſterung, die eine Fol - ge von Gemaͤlden leitet, entſpringt das, was man im Pindar, als Unordnung bewundert, was man zu ſeinem Schwunge, und den Spruͤngen ſeiner Ode rechnet. Es iſt im - mer ein beſonderer Einfall,**de logica Pindari: ein Programm von eben dem Verf. den Einfall des großen Youngs von ſeiner Hoͤhe abzubrechen, und im Pindar eine Ariſtoteliſche Logik zu ſuchen. Pindars Gang iſt der Schritt der begeiſterten Einbildungskraft, die, was ſieſiehet,331ſiehet, und wie ſie es ſieht, ſingt; aber die Ordnung der Philoſophiſchen Methode, oder der Vernunft, iſt der entgegengeſezte Weg, da man, was man denkt, aus dem, was man ſieht, beweiſet. Dieſe lezte im Pin - dar zu finden, iſt noch wunderbarer, als die Ordnung, die Ruͤckersfelder und E. Schmid in ihm fanden; ſie aber, wenn ſie auch in Pindariſchen Oden waͤre, auf Dithyramben anwenden zu wollen, verunziert viele Stuͤcke, wo das hiſtoriſche Thema viel zu ſehr durchſchimmert, als das ſtattliche Gebaͤude zu ſeyn, womit Pindar ſeinen Odenplan vergleicht. Wer auch nur von einigen Pin - dariſchen Oden ſich ſelbſt voͤllige Rechenſchaſt zu geben weiß: wird das beſtaͤndige Hůpfen und ruͤckweiſe Fliegen unſers Dithyramben - ſaͤngers doch nicht mit dem gewaltigen Zuge des Pindariſchen Adlers vergleichen, der ſich nicht auf Noten und Phraſes ſtuͤzzt, der nicht zuruͤckſieht, ob man ihn auch erreiche: ſondern

er gluͤht, er gluͤht, wenn er zur Sonne zielt, und in ihr Feuer ſieht mit ſtarkem unverwandten hellen Blicke, bis er am Thron des Zevs die ſiebenſache Laſt der Donner maͤchtig faßt.
Y 4Wenn332

Wenn Pindar ſich von ſeinem Punkte in der Einbildungskraft zu verlieren ſcheint: ſo findet er ſich mit deſto groͤßerem Pomp, hier mit einem allgemeinen hohen Spruche, dort mit einer Anrufung an die Muſe ꝛc. zuruͤck: So fließt ein majeſtaͤtiſcher Strom, reich um Arme auszulaſſen, und ſparſam, ſie wie - der an ſich zu ziehen, in ſeinem breiten Bette fort, und waͤlzt ſich mit hundert Haͤnden brauſend vom Felſen herab, um ſich im Thale zuſammen zu finden: ein großer gewaltiger Strom, der Name ſeiner Gegend; aber ein Regenguß, der ſich aus den Wolken auf Sand ergoß, zerfließt mit hundert Aeſten ohne Stamm im Sande: er verliert ſich Namenlos und iſt nicht mehr.

Und wo iſt des Dithyramben Sylbenmaas? Er ſpielt auf einer Pfeife mit zwei und einem halben Ton: wo iſt die Sprache? Wo ver - raͤth er die Freudentoͤne, die ein allmaͤchti - ger Griechiſcher Tanz belebte, der dem Bac - chus nacheiferte, der die hoͤchſte Muſik, die ſtaͤrkſte Deklamation, die groͤßte Dichterei vereinigte? dazu ſind gar keine Gegen -ſtaͤnde333ſtaͤnde und Anlagen, und dem einzigen Jo - hann Sobieski ſchenken wir ſeinen Tanz.

O Marſyas! ſo rief die Dithyrambiſche Floͤte vom Munde, die dich wie den Alcibi - ades verunziert: erſt lerne von den Griechen Bacchiſche Gegenſtaͤnde waͤhlen, draͤnge dich zu ihren Choͤren, Feſten und Taͤnzen: lerne den Vater des Weins, in ſeiner ganzen γενεσι und in ſeinen Thaten kennen: koſte, aus den Dichtern, und aus dem Dichteri - ſchen Plato etwas von dem heiligen Trank der Corybanten; ſtatt dich bey elenden Com - mentatoren aufzuhalten, die einander ausge - ſchrieben, lerne vom Pindar nichts ſterbli - ches zu ſagen, und pruͤfe deine Verſuche nachher nach dem, was uns Lucian noch zu guter lezt von den Griechen verrathen hat.

Το διδαξασϑαι δε τοι ειδοτι ραϊτερον. Αγνω - μον δε, το μη προμαϑειν. Κουφοτεραι γαρ. απειρατων φρενες. *Olymp. Od. 〈…〉〈…〉8. p. 216. nach der Schmid. Ausgabe.

Jch rufe dies unverdeutſcht dem Verf. zu, dem ich aus vielen Urſachen wuͤnſche, Pin -Y 5dar334dar zu ſeyn: theils weil wir ein gemeinſchaft - liches verſchrieenes Boͤotien haben: theils weil in ihm allerdings Genie hervorleuch - tet zwei Urſachen, weswegen Pindar ſei - nem Landsmanne zurief:*Od. 6. Olymp. p. 160. 61.

Δοξαν εχω τιν επι Γλοσσᾳ ακονας λιγυρας, α μ εϑελοντα προσελκει καλλιροοισι πνοαις. Ματρομα - τωρ εμα Στυμφαλις ευανϑης Μεετωπα. Οτρυνον νυν εταιρους γνωναι τ επȣιτ, αρχειον ονειδος αλα - ϑεσι λογοις ει φευγωμεν, Βοιωτιαν υν. Εσσι γαρ αγγελος ορϑος ηυκομων σκυταλα Μοισαν, γλυκυς κρητηρ αγαφδεγκτων αοιδαν.

Wuͤrde ich die Himmelsſtuͤrmer ſingen: ſo finge ich an, wo jezt die Dithyrambe aufho̊rt, bey dem Triumphsliede nach der Schlacht. Hier wuͤrde ich als Bacchante, mit meinen Schweſtern, den Moͤnaden, alle Thaten unſers Ko̊niges und ſeines Silens, den Siegbecher in der Hand, ſo herjauchzen, als Gerſtenberg in ſeinen Proſaiſchen Ge -dichten335dichten bey einem Mahl im Himmel die Goͤt - ter ſingen laͤßt. Alles muͤſte Bacchiſch ſeyn: der Nektar die Urſache des Anfalls, und der Nektar die Folge und der Nuzze des Siegs. Den großen Peter wuͤrden Moͤna - den ſingen, die bei dem erſten Bacchusfeſte zu Aſtrakan, die Thaten dieſes Noah, und alsdenn auch die ganze Schoͤpfung Rußlands mit einer vergnuͤgten Redſeligkeit preiſen. Meine Dithyrambe auf den Krieg wuͤrde einen Weinberg zum Standort haben: in der Naͤhe eine Schlacht: Bacchus erſcheint: die Schwerter werden Thyrſusſtaͤbe, die Berge voll Blut, Huͤgel mit Stroͤmen von Blut der Trauben. Die Friedensdithy - rambe wuͤrde auch anders: und Peter Feodorowitz und Sobieski und Friedrich auch: Sicilien fiele weg und im Detail muͤſte ſich alles aͤndern, wenn nicht der Titel ſine vitulo, ohne den Preis der Dithyram - ben bleiben ſoll.

Jch beſchließe, da meine Beurtheilung ſchon eine Rhapſodie Pindariſcher Stellen geweſen, fuͤr die Leſer, die ſich an ſo viel Griechiſchen Worten geaͤrgert, mit einemDidakti -336Didaktiſchen Trinkliede, das freilich nicht ſo ſehr vom Trinkliede abweichen moͤchte, als die Dithyramben von ihren Originalen. Es hat zwar*ſ. Litt. Br. Th. 21. p. 79. immer eine Schwachheit an ſich, der die mehreſten unſrer Poeten unter - worfen ſind (daher ſind ſie auch windichte, eitle, junge Menſchen. Es vertauſcht offen - bar den maͤnnlichen ernſthaf[t]en Lehrton ge - gen einen taͤndelnden;) aber wer kann ſich helfen, es ſagt doch die Dithyrambiſche Mei - nung eines Freundes ůber Griechiſche Dithy - ramben.

Dithyramben ſoll ich ſingen,
hier bei Deutſchem Wein?
Nein! hier ſoll kein Griechiſch Lied erklingen,
Deutſcher Vater Bacchus! Nein!
Haben dieſe Trinkpokaͤle
Dith[y]rambenmaas?
Und daß ich Geſang des Bacchus waͤhle,
reichſt du wohl, mein kleines Glas?
Um mich tanzt wohl eine Schoͤne
Dithyrambentanz?
Und erſaͤngen mir Epodentoͤne
dieſen Kuß und dieſen Kranz?
O ſo337
O ſo moͤgen Epheukronen
und ein hagrer Stier,
Alter Pindar! dir Geſaͤnge lohnen;
doch nicht Weiße, Uz und mir.
Deine Dithyrambenkraͤnze
hat die Zeit geraubt.
Sieh! Entkraͤnzter! ſieh! wie friſch ich glaͤnze
ganz mit Roſenduft umlaubt.
Denn was gehn mich Tuͤrkenkrieger
1)ſ. die Dithyramben.
1)
Himmelsſtuͤrmer
2)ſ. die Dithyramben.
2) an?
Peter
3)ſ. die Dithyramben.
3) pflanzte Wein! ha! nicht der Sieger,
Er als Noah iſt mein Mann!
Daß der Krieg
4)ſ. die Dithyramben.
4) die Hoͤlle mehre
ſeufzt ein Kirchenlied!
Nur daß er auch Berge Wein verheere,
Darauf flucht mein heilig Lied!
Jmmer ſinge Friedrichs
5)ſ. die Dithyramben.
5) Thaten,
braver Grenadier!
Eins nur! den Regierer ſeiner Staaten,
den Champagner, laß er mir.
Jmmer raſ auf Pindars Leyer
hohe Dichterwuth!
Mich mich hizzt des Rheinweins edles Feuer
bis zu eines Trinklieds Glut.
Wenn denn dies mir von den Sproͤden
Kuß und mehr erzwingt;
Wenns denn den vom Wein entſchwornen Bloͤden
zitterndkuͤhn zum Kelchglas bringt:
O ſo338
O ſo koͤnnt ihr raſend machen,
die ihr raſend ſingt
Laßt uns, Bruͤder! trinken, ſingen, lachen!
Da mein Lied den Becher ſchwingt!

3. Anakreon und Gleim.

Zwei Vergleichungen ſind mißlungen; aber der Tejiſche Saͤnger, milder und herab - laſſender, macht mich kuͤhn, ihn mit unſerm Anakreon, dem lieblichen Gleim, zu ver - gleichen. Wir haben mehr Anakreontiſche Dichter, als ihn, wenn wir das Anakreontiſch nennen, was von Liebe und Wein ſinget: wenn wir aber das μελος des Anakreons im Auge behalten, das meiſtens ein klein Ge - maͤlde von Liebe und Schoͤnheit enthaͤlt: ſo wird man gleich die Liebes - und Weinlie - der des Leßings, Weiße, Uz, Hagedorns und ſelbſt einige Gleimiſche als eine beſon - dere Claſſe Anakreontiſcher Gedichte anſehen. Jch nehme alſo nur von Gleim ſeine zwo erſte Sammlungen, und die ſieben Ge -dichte339dichte nach Anakreons Manier zur Ver - gleichung. Es iſt eine feine Kritik noͤthig, um bei ſolchen liebenswuͤrdigen Kleinigkeiten den Charakter des Saͤngers zu ertappen; und eine noch feinere, zwei aus ſo verſchiednen Ge - genden und Altern zu vergleichen einigen wird meine Parallele kindiſch vorkommen; aber dieſe einige ſind meiſtens ſolche, die es zu ihrer Beruhigung gar fuͤr unnuͤz halten, uͤber Poſſen zu denken.

Anakreons Bilderchen naͤhern ſich meiſtens einem kleinen Jdeal von Schoͤnheit und Lie - be; und wenn ſie dies nicht erreichen wollen, ſo ſieht man ein feines Portraͤt, nach dem ſchoͤnen Eigenſinn eines Vorfalles, oder Ge - genſtandes gebildet: ein allerliebſtes Griechi - ſches Liedchen, das die Gelegenheit charakte - riſirt, die es gebar. Die erſte Gattung ſchwingt ſich auf zur feinen Jdee der Wohl - luſt uͤberhaupt; die zweite, die in die Um - ſtaͤnde eines Jndividualfalls graͤbt, naͤhert ſich der erſten, und wo ſie ihr nachbleibt, giebt ſie ſich eine Art von Beſtimmtheit, Spuren der Menſchlichkeit, die wie ein Gruͤbchen im Kinn, der Eindruck des Fingers der Liebe,wie340wie das Liſpeln des Alcib[i]ades ſelbſt mit zur Schoͤnheit wird

Unſere gemeine Anakreontiſten ſind Fleder - maͤuſe, die in der mitlern Region vleiben, das Jdeal nicht erreichen, nd bei Andeu - tung des Vorfalls niedrig werden. Aber Gleim iſt hier der Vergleichung werth: er verſchoͤnert mehr, als die Franzoͤſiſchen Ana - kreontiſten, weil er die Rei e der Natur blos zu erheben ſucht; nur ſteht er dem Tejer nach. Ein Drittheil ſeiner Liederchen ſind ſchoͤne Portraͤte, bei denen der Vorfall durch - blikt; zwei Drittheile aber kaͤmpfen zwiſchen dem eignen Ton und der Annaͤherung zum Griechen: erhaben uͤber die Aehnlichkeit, und noch entfernt vom Allgemeinen. Nun weiß man aber, daß die Griechen ihre gute Urſa - chen hatten, bei ihren Olympiſchen Saͤulen lieber auf Schoͤnheit, als Aehnlichkeit, zu ſehen.

Daher iſt im Alten mehr Einfalt: Ein - falt, die ſein Ganzes gebildet hat, und die ich an Theilen nicht bemerken durf. Jm Neuen herrſcht ſie mehr im Detail, und im Ganzen iſt oft ſtatt der ſchoͤnen Einfalt, Kunſt bemerk - bar. Man vergleiche Anakreons Taubeund341und Gleims Moͤpschen, Gleims Maler und Anakreons Maler, Anakreons Chryſos und Gleims Suͤnde u. ſ. w. bei nachgebil - deten Stuͤcken faͤllt der Geiſt beider Kuͤnſt - ler in ſeinem Unterſcheide am erſten in die Augen. Der Alte kennet ſich gleichſam min - der; der Neuere laͤßt uns ſein Scho̊nes durch Vorbereitungen und Folgerungen empfinden, und ſchließt oft ein Lied voll Griechiſcher Ein - falt, mit einem Franzo̊ſiſchwizzigen Ein - fall, der ein Opfer fuͤr unſern wizzigen Ge - ſchmack iſt.

Beide Dichter ſind Soͤhne der Grazie, und Gleims Bild ſteht nicht ohne Bedeu - tung vor der Winkelmannſchen Abhandlung uͤber die Grazie; allein der Grieche malet uns doch mehr eigentlichen Reiz; dieſer oͤfter Schoͤnheit: jener zeigt den Reiz in Hand - lung, und die Empfindung in Wirkung; dieſer aber alles mehr in Worten, und Be - ſchreibung. Daher ruͤhrt bei dem Deutſchen der Reichthum an Worten und Wendungen, die die Oberflaͤche verſchoͤnern; das Erlaͤu - ternde, das dem Leſer gleichſam helfen will, daruͤber oft die Kuͤrze verliert, und aus demZCon -342Contour weichet. Das ſchoͤne Stuͤck: der Tod einer Nachtigall, doͤrfte in allem dieſem leiden; und durchgaͤngig mehr todte Kunſt, als lebende Natur in unſerm Lands - mann anzutreffen ſeyn.

So wie Anakreon fuͤr einen Griechen durch ſeine kleine Umſtaͤnde, Neuheit gnug hatte: ſo unterſcheidet ſich der unſrige am meiſten durch einen gewiſſen geiſtigen Reiz, den er vor dem Griechen ſeinen Liedern er - theilet. *Die Lieder nach dem Anakreon von Gleim ſind, nachdem ich dies geſchrieben, erſchienen; ich glaube aber, ſie beſtaͤtigen meine ganze Parallele ſehr augenſcheinlich, wenn ich ſie als Nachbildungen, nicht Ueberſezzungen, betrachte.Da dieſer Unterſchied nun feiner iſt: ſo faͤllt auch die Mannichfaltigkeit min - der in die Augen, und ſeine gemeinen Nach - ahmer werden daher ſo bald einfoͤrmig, daß man von ihren Stuͤcken ſagen kanm, was je - ner von den Franzoſen behauptet: wer drei kennet, hat ſie alle geſehen.

Jch habe in allgemeinen Beobachtungen geredt, und erwarte von Gleim bei derneuen343neuen Ausgabe ſeiner Gedichte vielleicht eine weit beſſere Praktiſche Beſtaͤtigung, als ich habe zeigen koͤnnen: um ihn Anakreon zu nennen. Jch habe dieſen Namen von der Taube des alten Griechen gehoͤrt, die ich unver - muthet antraf.

Anakreons Taube.
Woher du, liebe Taube?
Woher ſo reich an Salben,
in, deren Duft du ſchwimmeſt
und ſanft die Fluͤgel ſchlaͤgſt
Wohin gilt deine Reiſe?
Du kennſt mich nicht, mehr, Alter!
Anakreons Geſpielin,
die mit ihm trank und lachte
und ſich aus ſeinen Haͤnden
die goldnen Koͤrner raubte
und ſchlief auf ſeiner Leyer
und vor der Morgenſonne
ihn in den ſchoͤnſten Traͤumen
mit ihren Fluͤgeln deckte
Kennſt du mich noch nicht, Alter?
Ach! ich hab ihn verloren!
um deſſen Grab die Amors
und Grazien einen Hain
Z 2von344
von Roſ und Myrth gepflanzet;
hier hab ich lang und immer
vergebens! meinen Herren
beſeufzet und gegirret!
Zwar ſchenkte mich Cythere
ſtatt ſeines ſchoͤnen Sperlings
bald einem ihrer Knaben:
*Catull.
*
der gab mir viel zu fliegen,
zu eſſen und zu trinken
und doch muſt ich entfliehen!
Und habe lang auf Bergen,
auf Feld und Baum gewohnet,
und mich ſchon alt gendhret,
bis mich fuͤr meine Treue
Cythere einem zweiten
Anakreon jezt ſchenket,
Dem hat ſie mich geſchmuͤcket,
dem wieder jung geſalbet,
dem ſchickt ſie dieſes Kraͤnzchen,
der wird mich willig pflegen.
Nun Wandrer, weiſt du alles
von deiner alten Freundin.
Faſt iſt mein Duft verflogen,
faſt machteſt du mich ſchwazzhaft,
wie S.
*Catull.
* und P. ** Spazzen.
4. Tyr -345

4. Tyrtaͤus und der Grenadier.

Aber Gleim gilt bei mir in einem andern Geſichtspunkt noch mehr er iſt unſer Grenadier. *Litt. Br. Th. 17. p. 6. 7.Tyrtaͤus und der Grena - dier ich glaube bei dieſer Vergleichung eine zuverſichtliche Mine annehmen zu koͤnnen. Jener war das Geſchenk des Orakels fuͤr Sparta, wie dieſer fuͤr den Ruhm Deutſch - lands: ich ſage nicht, fuͤr den Ruhm ſeines Heers, weil dieſes vielleicht einen Tyrtaͤus nicht ſo noͤthig hatte, als das muthloſe Spar - ta. Daß der Deutſche nicht durch ſeine Lie - der eben daſſelbe Verdienſt, und eben denſel - ben Lohn hat erlangen koͤnnen: liegt nicht an ſeinen Geſaͤngen, ſondern an unſrer unpoeti - ſchen Zeit, in der man nicht mehr, wie in Griechenland den Muſen, vor der Schlacht opfert. Dort waͤren ſeine Lieder unter Pau - ken - und Trompetenſchall erklungen: ſie haͤtten die Fahnen voll Muth empor geſchwungen, die Schwerter entbloͤßt, dem Feinde PaniſchesZ 3Schre -346Schrecken zugetoͤnt: ſie waͤren, wie Juſtin es vom Tyrtaͤus ſagt, hortamenta virtutis, damnorum ſolatia, belli conſilia geweſen: tantum ardorem militibus inieciſſent, vt non de ſalute, ſed de ſepultura ſolliciti, teſſeras inſculptis ſuis et patrum nomini - bus, dextro bracchio deligerunt, vt ſi omnes aduerſum proelium conſumſiſſet, et tem - poris ſpatio confuſa corporum lineamen - ta eſſent, ex indicio titulorum tradi ſepul - turae poſſent. Sie haͤtten Sparta den Sieg, dem Saͤnger das ſtolze Buͤrgerrecht in Sparta, und das noch ſtolzere Geſchenk: die Unſterblichkeit, gegeben. Wenn Gleim es haͤtte dahin bringen koͤnnen, daß die Kriegeslieder des Preußiſchen Grena - diers in des gemeinen Soldaten Haͤnde ge - kommen waͤren: ſo muͤſte er in den Preußi - ſchen Staaten unter den Dichtern den er - ſten Rang nach den erbaulichen haben. *Abbt vom Verdienſt p. 367.Jn Abſicht auf ſein Verdienſt; jezt hat er wenigſtens das Verdienſt um die Ehre ſei - ner Nation, daß er Nationalgeſaͤnge ge -ſungen,347ſungen, die keiner unſrer Nachbarn hat, keiner unſrer Nachbarn uns entwenden kann, und die vielleicht mehr als Tyrtaͤiſch ſind.

Sie ſind Nationalgeſaͤnge: voll des Preußiſchen Patriotiſmus, ſtuͤzzen ſie ſich auf die jedesmaligen Umſtaͤnde ihrer Gelegenheit. Der Grenadier redet von großen bekannten Begebenheiten, die jedermann aufmerkſam machen: die Heroiſchen Geſinnungen, der Geiz nach Gefahren, der Stolz fuͤr das Vater - land zu ſterben, iſt ſeine einzige Begeiſterung: hier hat einmal ein Deutſcher Dichter uͤber ſein Deutſches Vaterland aͤcht und brav Deutſch geſungen: ohne an andre Nationen ſein Genie zu verpachten.

Und ſolchen Grenadier hat vielleicht kei - ne Ration von unſern Nachbarn. Jch habe viele Franzoͤſiſche Gedichte im vorigen Kriege geleſen, die auch den Ton des Patriotiſmus gegen die Englaͤnder angeſtimmet haben: al - lein wenn wir viele Grenadiers haͤtten,

So ſchlagen wir ſie mit Geſang Wie Friedrich mit dem Schwert.
Z 4Das348

Das Geſpraͤch mit der Deutſchen Muſe redet hier an meiner ſtatt gegen die Franzo - ſen; und von den Engliſchen Dichtern iſt mir in den neuern Zeiten kein Stuͤck bekannt, das ſo viel als die Kriegslieder wiegen ſollte; die alten Ballads nehme ich aus, mit denen wir uns freilich nicht meſſen koͤnnen.

Und die beſte ſeiner Schoͤnheiten ſind dazu unuͤberſezbar. *Litter. Br. Th. 16. p. 50.Die edle Einfalt, die Deutſche rauhe Staͤrke, die Hoheit und Kuͤr - ze ſeiner Bilder, Schwung und Kolorit, alles iſt ſo ſehr in die Laune, und in den Wohllaut unſrer Sprache eingetaucht, daß dieſe wenige Stuͤcke gleichſam ein Graͤnzſtein ſeyn koͤnnen, wo unſre Dichtkunſt an Franzoſen und Eng - laͤnder graͤnzt. Die Sprache des Grenadiers kann, ohne zu verlieren, weder in Franzoͤ - ſiſche Proſe noch Poeſie uͤbergerragen werden, und von der Engliſchen Poeſie, die von Bei - woͤrtern und Bildern ſtrozzet,**Kleiſts Werke: 2ter Th. Proſ. Aufſaͤtze. unterſcheidet ſie ſich eben ſo gluͤcklich. Dieſe Sprache iſt die wahre Deutſche Nationallaune; ihr Deut -ſche!349ſche! muͤßt ihr ſchon nachahmen, ſo ahmt lieber eure Landesleute nach, als fremde Nationen, um laͤcherlich oder veraͤchtlich zu werden.

Wir haben alſo wirklich einen Tyrtaͤus, und wenn wir den Plan der Stuͤcke, und ein - zelne Theile betrachten, noch mehr, als ihn. Plato wuͤrde unſerm Landsmann den Titel ei - nes Goͤttlichen nicht abgeſchlagen haben, und wenn die unwiſſende Zeit ſeine Werke ſo un - gerecht verzehren ſollte, als die meiſten des Tyrtaͤus: ſeine eilf Kriegslieder haben mehr Anrecht auf die Unſterblichkeit, als die Grie - chiſchen viere.

5. Theokrit und Geßner.

Von allen Werken des Schweizeriſchen Geß - ners liebe ich ſeine Jdyllen am meiſten, und will ſie mit den Jdyllen des Theokrits ver - gleichen: ſie verdienen dies mehr, als die Jdyllen des Fontenelle und Pope. JchZ 5will350will den feinen Bemerkungen des Kunſtrich - ters*Litter. Br. Th. 16. p. 113. folgen, ſo fern ſie zu meiner Verglei - chung gehoͤren, und ſo fern ich ihnen beiſtim - men kann.

Man kann entweder die Beſchaͤftigun - gen und die Lebensart, oder die Empfin - dungen und Leidenſchaften der kleinen Geſellſchaften betrachten. Sowohl die Lebensart, als die Empfindungen, koͤnnen entweder der Natur gemaͤß, gleichſam portraͤtirt, oder nach dem Jdeal ver - ſchoͤnert werden. Hier iſt in wenig Wor - ten die Beſchreibung von viererlei Arten von Gedichten, die alle zu einer Hanptklaſſe, den Landgedichten uͤberhaupt, gehoͤren. 1) Die Beſchaͤftigungen von kleinern Geſellſchaften nach der Natur. 2) Eben dieſelbe nach dem Jdeal. 3) Die Empfindungen und Leiden - fchaften der kleinern Geſellſchaften nach der Natur. 4) Eben dieſelbe nach dem Jdeal. Die erſte iſt das eigentliche Landgedicht: die zweite kommt mit der Beſchreibung des goldnen Weltalters uͤberein: die dritte iſt ei - ne351 ne Art von Landekloge, die nicht ganz zu verwerfen iſt: die vierte iſt die wahre Jdylle Theokrits, Virgils und Geßners. Was iſt nunmehr die Jdylle? Nichts als der ſinnlichſte Ausdruck der hoͤchſt verſchoͤ - nerten Leidenſchaften und Empfindun - gen ſolcher Menſchen, die in kleinern Gefellſchaften zuſammen leben. *p. 124. 125. Der ſinnreiche D. mag als Beobachter Recht haben, in der Anwendung finde ich einige Bedenklichkeiten.

Zuerſt: Landgedicht, Ekloge und Jdyl - le: der Sache nach mag ihr Unterſchied weſentlich und nothwendig ſeyn; wer aber gibt den Worten den allgemeinen Werth: du ſollſt eben das bedeuten! Unſer Kunſt - richter glaubt mit Schlegel einerlei unter Landgedicht zu verſtehen, und es iſt zwi - ſchen ihnen doch ein Unterſchied. Schlegel verſteht darunter blos ein Landſchafts - ſtuͤck, eine Schilderung der Gegenſtaͤn - de der Natur; D. meint ja ſchon Beſchaͤf - tigungen darunter, und alſo wirklich Hand -lung,352lung, was jener doch ſchon zur Ekloge rech - net: der Franzoſe verſteht wieder was er will, unter Jdylle und Ekloge: wenn auch nur 10 Stuͤcke von Theokrit und Virgil als - denn noch Eklogen ſeyn koͤnnten; gnug wenn er nur ſeinen Fontenelle behaͤlt; ein Deut - ſcher wirft den Fontenelle. heraus, wenn er nur ſeinen Geßner behaͤlt So beſtimmt ein jeder willkuͤhrlich, und weil kein geſezge - beriſcher Ariſtoteles vorgearbeitet hat, ohne Einheit.

Was iſt zu thun? Theokrit, Moſchus und Bion haben Jdyllen geliefert: aus ih - nen abſtrahire man alſo den Begriff der Jdylle. Virgil hat ſeine: Eklogen: genannt; um den Unterſchied der Namen zu beſtimmen, be - ſtimme man den Unterſchied der Werke. Nun vergleiche man die Neuern mit den Alten: wie ſind ſie von ihnen unterſchieden, um neue Klaſſen zu formiren? wie viel Gattungen gaͤ - be es, die noch ungebraucht ſind? Und was iſt endlich das Landgedicht uͤberhaupt?

Zuerſt alſo! Wenn es vier Arten von Land - gedicht gibt, welche iſt die aͤlteſte? Portraͤte,und353und ſchlechte Portraͤte ſind eher, als Jdeale, als ho̊chſt verſcho̊nerte Jdeale; ſo muͤſſen auch die erſte Landgedichte geweſen ſeyn. Koͤnnte dies nicht eine Urſache ſeyn, (wenn gegen den Eigenſinn der Zeit noch muthmaßliche Urſa - chen gelten,) warum vor Theokrit alle Land - dichter verloren gegangen ſind, warum ſelbſt die meiſten Gedichte ſeines Lehrers, Bions, verloren gegangen ſind: weil ſie vielleicht die Natur noch zu gemein portraͤtirt haben? Nur Theokrit, ein ſpaͤter Dichter, wurde der er - ſte Anfaͤnger einer goldnen Epoche, weil er eben den Zeitpunkt in den Landgedichten er - reichte, daß ſeine verſchoͤnerte Natur auch fei - nen Zeitaltern gefallen konnte.

Aber welche Natur hat er verſcho̊nert? Beſchaͤftigungen? Oder Empfindungen und Leidenſchaften? Der Anfang der Dicht - kunſt iſt wahrſcheinlich eher von Leidenſchaf - ten, als bloßen Beſchaͤftigungen geweſen; dieſe waren theils nicht werth, theils nicht hin - reichend gnug, um Dichterei hervorzubrin - gen. Dies beſtaͤtigen die aͤlteſten Beiſpiele, und die Kaͤnntniß der erſten Zeiten noch mehr. Erſt354Erſt Leidenſchaft, denn Empfindung, denn Beſchaͤftigungen, und endlich todte Malerey: ſo iſt der Gegenſtand der Dichtkunſt nach ver - ſchiedenen Zeitaltern geſunken. Eben derſel - be Schritt, wie aus der Jdylle, der Schaͤ - ferdichterei, eine Ekloge, ein Landgemaͤlde entſtanden, hat eine andere Veraͤnderung zur Pa - rallele, wie aus der Homeriſchen Jliade, eine Aeneide, aus dem ειδος des Pindars, eine Ode des Horaz, aus dem μελος des Ana - kreons, eine Taͤndelei Catulls geworden: je - ne redeten durch Ausdruck und Handlung, dieſe redeten durch Worte und Schilderungen: jene bewegten durch das, was ſie zeigten, durch Empfindung; bei dieſen kam es ſehr in Betracht, auf was Art ſie es vorzeig - ten Kurz! wenn Jdylle das Landge - dicht iſt, das Leidenſchaften und Empfindun - gen kleiner Geſellſchaften auf die ſinnlichſte Art ausdruͤckt, ſo iſt Theokrit ein Jdyllen - dichter, und zwar der vollkommenſte unter allen, die ich kenne.

Aber Empfindungen und Leidenſchaften nach dem Jdeal?*p. 124. 125. HoͤchſtverſchoͤnerteLeiden -355Leidenſchaften und Empfindungen? Eine Lei - denſchaft, eine Empfindung hoͤchſt ver - ſcho̊nert, hoͤrt auf, Leidenſchaft, Empfin - dung zu ſeyn: zweitens, ſie hat keinen ſinn - lichen Ausdruck: das hoͤchſte Schoͤne hat kein Bild. Wir wollen dieſe zwei Urſachen ſehen! Ein Schaͤfer mit hoͤchſt verſchoͤnerten Empfindungen hoͤrt auf, Schaͤfer zu ſeyn; er wird ein Poetiſcher Gott: das iſt nicht mehr ein Land der Erde, ſondern ein Elyſium der Goͤtter: er handelt nicht mehr, ſondern be - ſchaͤftigt ſich hoͤchſtens, um ſeine Jdealgroͤße zu zeigen: er wird aus einem Menſchen ein Engel: ſeine Zeit ein gewiſſes Figment der goldnen Zeit. Und profitirt der Dichter dabei? Ohnmoͤglich! Uns ruͤhrt-nichts, was nicht mehr Menſch iſt: Goͤtter, die nicht menſchlich werden, bewundern wir hoͤch - ſtens mit kalter Bewunderung: ſo entgehk dem Dichter viel von ſeinem Zweck: und noch mehr von der Mannichfaltigkeit ſeiner Cha - raktere. Wenn ich immer die hoͤchſt ver - ſcho̊nerte Schaͤferlarve ſehe, ſo verliere ich die Verſchiedenheit menſchlicher Geſichts - zuͤge: dem Dichter entgehen zehn Situatio -nen;356nen; dem Leſer zehnerlei Vergnuͤgen. Kurz! aus eben den Urſachen, warum derſelbe Kunſt - richter von der Buͤhne und aus der Epopee*Litter. Br. Th. 7. und 9. das Jdeal der Vollkommenheit verbannen will, verbanne ichs aus Arkadien; es ſchafft Un - fruchtbarkeit, Einfoͤrmigkeit, und ſchraͤnkt die Erfindung ein.

Jch will aber keine Abhandlung uͤber das Schaͤfergedicht ſchreiben: ſondern nur den Charakter der Theokritſchen und Geßner - ſchen Jdyllen beſtimmen, und eben dies hat mich ſo weit gefuͤhrt. Der Kunſtrichter ſagt, Empfindung und Leidenſchaften nach dem Jdeal: das iſt die wahre Jdylle Theokrits, Virgils und Geßners. Wie? dachte ich, alle drei nach einem Jdeal? alle drei hoͤchſt verſchoͤnert? Der Kunſtrichter raubt mir mit ſeiner Eintheilung allen Un - terſchied, den ich ſo oft zwiſchen allen dreien empfunden, und Empfindung laͤßt ſich nicht ſogleich rauben.

Die Leidenſchaften, die Theokrit ſeinen Schaͤfern gibt, ſind durchaus menſchlich,und357und nach ihren kleinen Geſellſchaften, nach ihrem Zuſtande, nicht aber Moraliſch un - ſchuldig: Daphnis und ſein Maͤdchen faͤllt jedem hiebei zuerſt ein: iſt die Liebe der Zauberin zu ihrem Geliebten wohl hoͤchſt ver - ſchoͤnert? Platoniſch vollkommen denkt, em - pfindet und liebt kein Schaͤfer in ihm. Er uͤberlaͤßt ſie ihrer Natur, die nach ihrem Zeit - alter und nach ihrer Geſellſchaft unſchuldig iſt. Seine Schaͤferhelden ſind nicht jenem Philoſophiſchen Helden gleich,

Qui metus omnes et inexorabile fatum Subiecit pedibus ()

alsdenn waͤren ſie unertraͤglich. Seine Liebe wird ſtuͤrmiſch, wird Raſerei bis zum Tode: ſelbſt ſeine Grazien ſind nichts weniger als hoͤchſt verſchoͤnerte Jdeale. Aus jeder Jdylle muß ich Proben hiervon anfuͤhren koͤn - nen, weil ich dies eben fuͤr das Charakter. ſtuͤck derſelben halte.

Der Kunſtrichter verwirret ſich ſelbſt in ſeinem eigenen Gewebe, wenn er auf die nie - drigen Zuͤge ſtoͤßt, die die Franzoſen imA aTheo -358Theokrit nicht ausſtehen koͤnnen; und loͤſet dies Raͤthſel ſo auf: weil in der Jdylle Lei - denſchaften und Empfindungen bis auf den hoͤchſten Grad veredelt werden, ſo thue der Dichter wohl, daß er ihre Lebensart nicht zugleich mit idealiſiret. *Litter. Br. Th. s. p. 134. 135. Jch glaube, der Dichter thut nicht gar zu wohl dran, denn je hoͤher das eine veredelt wird, deſto mehr muß das andre verekelt werden. Die Lebensart, ſagt er, gehoͤret nicht mit zu ſei - ner Abſicht; allerdings! hat er nicht kurz vorher ſelbſt eine Eklogenart fuͤr die Landbe - ſchaͤftigungen ausgemacht: und was ja ei - ne ganze Ekloge abgeben kann, ſollte das als Theil bei dem andern ſo unbetraͤchtlich ſeyn? Aber durch dieſen Kunſtgrif wird der Leſer aus der Jrre der Jdealiſchen Welt auf die Natur zuruͤckgefuͤhrt? leider! ja, aber auch zu dem Seufzer gebracht: warum hat mich der Dichter in die aͤrgerliche Jrre gefuͤhrt? haͤtte er nicht dieſen Jdealiſchen Traum ge - habt; alsdenn haͤtten ſeine Charaktere an Mannichfaltigkeit und Beſtimmtheit gewon -nen?359nen? Der Kunſtrichter ſiehet ſich nach Bei - ſpielen um, ſeinen Gedanken zu erlaͤutern, und ich zu widerlegen. Theokrit iſt Bei - ſpiel genug! Man flechte in irgend eine Geß - nerſche Jdylle einen Theokritſchen niedrigen Zug ein; er wird unausſtehlich: im Theokrit aber ohne verwoͤhnte Ohren nicht. Wie kommt das? Geßners groͤſtes Verdienſt iſt, daß er die Schranken der Veredelung ſo ge - nau zu treffen gewuſt. Und Theokrit nicht ſo genau? Und hat doch ſein Jdeal hoͤchſt verſchoͤnert? Gehorſamer Diener! Der Kunſtrichter hat ſich blos in das Jdeal ſeiner Eintheilung und Erklaͤrung wegen verliebt; ſo bald er ſein Deſtniren vergißt, bekennt er ſelbſt:*p. 134. Man hat die Empfindungen des Land - mannes verſchoͤnert, dem Jdeal naͤher ge - bracht, doch ſo daß ſie ihre Natur nicht ab - legen! Nun ſind wir ſchon mehr Freunde, doch nicht voͤllig: wenn das Jdeal die hoͤchſte Schoͤnheit bleibt: ſo ſteht Virgil uͤber Theo - krit, Geßner uͤber Virgil, und Fontenelle uͤber Geßner; und ich rangire umgekehrt.

A a 2Das360

Das Jdeal des Schaͤfergedichts iſt: wenn man Empfindungen und Leidenſchaften der Menſchen in kleinen Geſellſchaften ſo ſinnlich zeigt, daß wir auf den Augen - blick mit ihnen Schaͤfer werden, und ſo weit verſchoͤnert zeigt, daß wir es den Au - genblick werden wollen; kurz bis zur Jl - luſion und zum hoͤchſten Wohlgefallen erhebt ſich der Zweck der Jdylle, nicht aber bis zum Ausdruck der Vollkommenheit, oder zur Moraliſchen Beſſerung.

Aus dieſer Bemerkung, die ich anderswo beweiſen will, folgt vieles zu meiner Paral - lele: je naͤher ich der Natur bleiben kann, um doch dieſe Jlluſion und dies Wohlgefallen zu erreichen; je ſchoͤner iſt meine Jdylle: Je mehr ich mich uͤber ſie erheben muß, deſto Moraliſcher, deſto feiner, deſto artiger kann ſie werden, aber deſto mehr verliert ſie an Poetiſcher Jdyllenſchoͤnheit. Dies iſt der Unterſchied zwiſchen Theokrits und Geß - ners Charakter.

Theokrit ſchildert durchgaͤngig Leiden - ſchaft; Geßner, um nicht ſeinem Jdeal zunahe361nahe zu treten, iſt hierinn weit bloͤder. So wie uns unſer Wohlſtand zu einer Schwaͤche gebildet, die nur fuͤr uns ſchoͤn laͤßt, ſo ſchmeck - te vieles dem Geſchmack der Griechen, was uns zu ſtark iſt. Seine Schaͤferleidenſchaft bleibt immer mehr ſchleichende Neigung: die weiche, zaͤrtliche Liebe, zu druͤcken, zu herzen, zu kuͤſſen; dies iſt die Farbe, die man uͤber - all ſieht. Amyntas, ein Schaͤfer, der ſich des Baums erbarmte, laͤßt uns, wie Ram - ler*ſ. ſeinen Batteux. ſagt, ſchließen was wird nicht ein groͤßerer Vorfall bei ihm wuͤrken? ſo ſchlieſſen, glaube ich, kann wan im Geßner oft; aber es ſehen? ſelten!

Theokrit ſchildert kleinere menſchliche Ge - ſellſchaften, nicht wie ſie der Weltweiſe in der Oekonomik Moraliſch betrachtet**ſ. Litter. Br. im angef. Theil. ſondern wie er ſie als Dichter von ſeiner Zeit abſtrahiren konnte, um finnlich zu reizen und zu uͤberreden. Seine Sittlichkeit iſt alſo auch nichts minder als Moraliſch, ſondernA a 3Poli -362Politiſch, dieſen kleinen Geſellſchaften ſo fern angemeſſen, damit ſie reizen und illudiren. Das ganze goldene Weltalter, in welches die Schweizer die alten Schaͤfer ſezzen, iſt alſo ei - ne ſchoͤne Grille: Die Griechiſchen Jdyllen - dichter wiſſen von einer vollkommen goldnen Zeit nur im ſeligen Elyſium der Goͤtter, und in der Jugend der Welt, wo die Helden leb - ten: da ſchoͤpften die Corybanten aus Milch - ſtroͤmen ihre Begeiſterung; aber Theokrits Schaͤfer ſchoͤpfen klares Waſſer: ja auch da nicht einmal waren die Helden den ſeligen Goͤttern gleich: und Theokrits Schaͤfer ſollten es ſeyn? Jſt Alcimadure, iſt Battus, iſt Polyphem, iſt der arme Fiſcher, denn in dem gluͤcklichen, reizenden Alter, wie man das goldne mahlt? Aber was gewinnt Theokrit dabei? Er kann wirkliche Sitten ſchildern. Da er ſein Gemaͤlde aus dem Leben portraͤ - tirte, und bis auf einen gewiſſen Grad erboͤ - hete; ſo konnte er auch Leben in daſſelbe bringen.

Aber Geßner und die Neuern? Wir, die von dieſem Zeitalter der Natur ſo weit ent -fernt363fernt ſind, daß wir faſt niemals wahre menſchliche Sitten, ſondern Politiſche Le - bensart erblicken, muͤſſen entweder einem ganz abgezogenen Jdeal folgen, oder wenn wir unſre Lebensart verfeinern wollen, Artig - keit malen. Das lezte that Fontenelle; er, der in ſeiner Nation nichts erblickte, nichts anders erblicken wollte, und endlich ſelbſt an alten Schaͤfern nichts anders erblicken konnte, ſchilderte, was er ſahe und ſehen wollte: Ge - wohnheiten und Umgang und Artigkeit und Hofmanieren, die endlich einem Franzo - ſen gefallen koͤnnen, aber einem Griechen veraͤchtlich und ekelhaft ſeyn muͤſſen. Geß - ner, der von den Griechen ſeine Weisheit er - lernt hat und ſeiner Zeit ſie bequemte, nahm ſich alſo ein gewiſſes Moraliſches Jdeal, und was verliert er dabei?

Erſtlich die Beſtimmtheit der Charak - tere. Seine Schaͤfer ſind alle unſchuldig, nicht weil die Unſchuld aus ihrer Bildung folgt: ſondern weil ſie im Stande der Un - ſchuld leben: lauter Schaͤferlarven, keine Geſichter: Schaͤfer, nicht Menſchen. StattA a 4zu364zu handeln, beſchaͤftigen ſie ſich, ſingen und kuͤſſen, trinken und pflanzen Gaͤrten. Worinn iſt Geßner gluͤcklicher, als in die - ſen Kuͤchen - und Landſchaftsſtuͤcken, wo er die Natur oft als eine Nymphe an ihrem Nachtſchleyer unvermuthet erhaſcht. Geß - ner iſt hierinn noch vortreflich, und miſcht dieſe Schilderungen nur ein; aber wenn ſeine Nachfolger mittelmaͤßige Schilderun - gen zum Hauptwerk,*ſ. Juͤd. Schaͤferged. zu ihrem ganzen Ge - ſchaͤfte machen; ſo weicht dies ja ganz von den Alten ab. Sie malen das, worinn ih - nen der Maler es zuvor thun kann, nur ſelten, nur als ein Nebenwerk, nur kurz: wenn aber Breitenbauchs Juͤdiſche Schaͤfergedichte nichts als malen: ſo koͤnnen ſie blos durch die Kunſt des Malers ſchaͤzzbar werden, und ſchlaͤgt die fehl ſo iſt alles verloren.

Die Mannichfaltigkeit leidet bei dieſem Jdeal noch mehr. Nicht von innen aus der Seele, ſondern meiſtens nach Umſtaͤnden wird ſie beſtimmt. Geßners Jdyllen ſind oft al -ler -365lerliebſte Schaͤfertaͤndeleien, hier uͤber ein fliegendes Roſenblatt, dort uͤber einen zerbro - chenen Krug, hier uͤber einen Baum, dort uͤber das Schnaͤbeln der Tauben; hier redet der Vater Menalkas, hier der Sohn Myrtill uͤber ſeinen ſchlummernden Vater; hier der neunzigjaͤhrige Palaͤmon: hier der Liebhaber, dort die Schoͤne; immer aber derſelbe Schaͤ - fer, nur in einer andern Situation.

So moͤchte Geßner gegen Theokrit ſeyn. Jch weiß nicht, ob ich mit Rammler ſa - gen kann: er hat im wahren Geiſt des Theokrits gedichtet. Man findet hier glei - che Suͤßigkeit, gleiche Naivete, gleiche Un - ſchuld in Sitten. Die Suͤßigkeit des Grie - chen iſt noch ein klarer Waſſertrank aus dem Pieriſchen Quell der Muſen; der Trank des Deutſchen iſt verzuckert. Jenes Naivete iſt eine Tochter der einſaͤltigen Natur; die Naivete im Geßner iſt von der Jdealiſchen Kunſt geboren; jenes Unſchuld redet in Sit - ten des Zeitalters; die Unſchuld des lezren erſtreckt ſich bis auf die Geſinnungen, Nei - gungen, und Worte. Kurz! Theokrit maltA a 5Leiden -366Leidenſchaften und Empfindungen nach einer verſchoͤnerten Natur: Geßner Em - pfindungen und Beſchaͤftigungen nach ei - nem ganzverſchoͤnerten Jdeal: Natur - ſcenen kann ich noch dazu ſezzen; nur Lei - denſchaften? nicht ſo leicht. Wo er ſie ſchildern muß z. E. in ſeinem Tode Abels, und in ſeinem Daphnis mißrathen ſie oft: Abel zu fromm: Cain zu uͤbertrieben, und unwahrſcheinlich: Daphnis fuͤr die Erde zu himmliſch und fuͤr das Reich der Hebe zu irrdiſch. Seine Schaͤferſpiele man fuͤh - re ſie auf: und man wird Puppen ſehen: man leſe ſie, und es ſind ergoͤzzende Puppen. Aber ein Schaͤferſpiel wirklich in Theokrit - ſchem Geiſt, das muß, eben ſo wohl ruͤhren, als ein Griechiſches Heldenſpiel.

Jch entziehe Geßner hiemit nichts von ſeinen gerechten Lobſpruͤchen: ich kann aus Rammlers Batteux mit willigen Fingern hinzuſezzen: Seine Erfindungen ſind (im Detail) mannichfaltig: ſeine Plane regel - maͤßig: nichts iſt ſchoͤner als ſein Colorit: ſeine Proſe iſt ſo wohlklingend, daß wir den Theo -367 Theokritſchen Vers nur ſehr wenig ver - miſſen. Jch preiſe ihn allen Dentſchen an, von ihm Weisheit im Plan, Schoͤnheit in der Auszierung, die leichteſte Staͤrke im Ausdruck, und die ſchoͤne Nachlaͤßigkeit zu ler - nen, womit er die Natur malet.

Aber Theokrit kann er uns nicht ſeyn. Jm Geiſt der Jdyllen muß er nicht unſer Lehrer, unſer Original, und noch weniger un - ſer einziges Original ſeyn! Und das aus drei Gruͤnden: Zuerſt wuͤrden dadurch blos arme trockne Nachahmungen erzeugt, an ſtatt daß aus Theokrit noch neben ihm Originale gebil - det werden koͤnnen, die eine neue und eigenthuͤm - liche Art der Verſchoͤnerung nach dem Ge - ſchmack unſrer Zeit haben koͤnnen, wenn ſie Genies ſind. Die Natur, der Theokrit naͤher iſt, kann als eine Mutter mit vielen Bruͤſten, noch viele Geiſter traͤnken, und wer trinkt nicht lieber aus der Quelle, als aus ei - nem Bach?

Zweitens: was ein Genie bildet, iſt vorzuͤglicher im Theokrit: Leidenſchaft, und Empfindung; was uns Geßner zeigenkann,368kann, iſt mehr Kunſt und Feinheit: Schil - derung und Sprache. Ahmen wir nun blos dem leztern nach, ſo entſtehet ein peior pro - genies von Landdichtern, die ewig ſchildern und langweilig ſchwazzen: wie Geßner vie - le ſolche ſchon hervorgebracht.

Drittens: Da unſere Laune mehr das Denken, als Beobachten iſt: ſo verſaͤumen wir bei der bloßen Nachahmung der Neuern ſehr leicht das lezte, und vertiefen uns in Jdealiſche Traͤume, ſtatt wie der Griechiſche Zevxes wirkliche Naturbilder zu ſtudiren. Zu ſchwach alsdenn, das hoͤchſte zu erfliegen, und zufrieden, wenn wir ſtatt eines Griechi - ſchen Gefuͤhls lieber Franzoͤſiſchen leichten Geſchmack haben: bringen wir Misge - burten zur Welt, die ausſchweifend auf der einen, und ohne Jntereſſe auf der andern Seite ſind: unbeſtimmte Mittelarten zwiſchen Engeln und ſinnlichen Geſchoͤpfen. Aber de - ſto mehr Liebhaber finden ſie oft: weil ein frommer lieber Leſer, und ein unreifer feuriger Juͤngling ſie beide umarmen, ob ſie gleich der Kenner verwirft.

End -369

Endlich ſchreibt Geßner zwar, gegen ei - nen Athenienſer Doriſch, aber gegen ande - re Schweizer, wie Theokrit gegen Pindar: er iſt ein Sohn derſelben Grazie, die den Theokrit ſalbete, und kann ſich in Deutſchland das Lob geben, was ſich der beſcheidene Theo - krit gab: ich habe mich nie fremder Muſen bedienet!

6. Alciphron und Gerſtenberg.

Zwiſchen Alciphron und Gerſtenberg*Litter. Br. Th. 2. p. 228. kann ich ſagen: ſiehe! hier iſt mehr, als Alciphron. Seine Taͤndeleien ſind artige Spiele der Liebe: dieſes ſchoͤn wie ein Kuß, jenes wie ein duftender Blumenſtraus: ein andres, wie das ſchalkhafte Laͤcheln eines Maͤd - chens: dies, wie ein freundſchaftlicher Haͤnde - druck; jenes, wie ein ſuͤſſer Schauder bei der Thraͤne eines andern: ſie ſchwimmen auf dem Meere des Wohllauts. Wir wollen dieſeGedichte370Gedichte der Grazie weihen, wie Orpheus ſein 59ſtes ϑυμιαμα; und ihm die Ode des Pindars zueignen, die er dem Aſopichus ſang, einem jungen olympiſchen Saͤnger, der mit den Charitinnen am ſilbernen Ce - pheus geboren war.

7. Sappho und Karſchin.

Die Muſe will, daß ich mit einer Dichte - rin beſchließen ſoll, die ſich oft und manch - mal am unrechten Ort den Namen Sappho gibt. Jch wuͤrde dieſen Frauenzimmereinfall nicht zur maͤnnlichen Wahrheit machen: wenn nicht die Beſtimmtheit, mit der ſie auf ſich zeigt, es verriethe; einige ihrer Verehrer haben vielleicht ihre Beſcheidenheit in dieſen ſuͤßen Traum gewieget.

Wenn man die Gedichte der Mad. Kar - ſchin auch nur als Gemaͤlde der Einbildungs - kraft betrachtet: ſo haben ſie wegen ihrer vie - len Originalen Zuͤge mehr Verdienſt um dieErwe -371Erweckung Deutſcher Genies, als viele Oden nach regelmaßigem Schnitt; ich will ihr auch ſo gar mehr einraͤumen, als ihr die Lit - teraturbriefe geſtatten;*Litter. Br. Th. 17. p. 123. dem ohngeachtet aber kann ich doch fragen: iſt ſie Sappho?

Nach den zwei Fragmenten, die uns von der Griechin uͤbrig geblieben, wuͤrde ich ihren Charakter ohngefaͤhr beſtimmen: eine Saͤn - gerin, die in der Anordnung ihrer Geſaͤnge, ihrer Bilder und Worte; in der zarten Glut, die alles fortſchmilzt und in einer fei - nen Wahl der wohlklingendſten Aus - druͤcke eine zehnte Muſe geworden.

Sollte auch in der Anordnung ihrer Geſaͤnge Dionyſius aus Halikarnaſſus mehr gefunden haben, als ſie hineingelegt: ſo ſind doch die Karſchiſchen Gedichte damit nicht zu vergleichen, die ohne Plan im Ganzen, ohne Oekonomie der Bilder, oh - ne Kaͤnntniß des Lyriſchen Perioden, hin - geworfene Geburten einer reichen dichteriſchen Einbildungskraft ſind.

Von372

Von dem ſanften Sapphiſchen Feuer iſt Longin, Catull und alle ihre Erklaͤrer, nur nicht der boͤſe Phaon, durchdrungen gewe - ſen; und Longin, der Erhalter dieſes Stuͤcks, hat das Kunſtſtuͤck des Baumgartens vor - treflich gewuſt. ſeine Regeln vom hohen Em - pfindungsvollen in ſein Beiſpiel ſelbſt einzu - weben; allein die Deutſche Sappho, in ihrem Feuer mehr wild als ſanft, mehr ſtuͤrmiſch als ſchmelzend, doͤrfte eher in ihren Werken Androgyne ſeyn, als eine zaͤrtliche Freundin der Venus, wie die Griechin war.

Endlich die Wahl ihres Wohlklanges hat den Horaz zum Nachfolger erweckt, aber weit hinter ſich gelaſſen: werden aber wohl Deutſche Horaze unſre Karſchin zum Mu - ſter nehmen wollen? Doͤrfte die Griechiſche Sappho nicht zu ihr ſagen, was ſie nach ei - nem ihrer Fragmente ihrem Maͤdchen ſagt: Du haſt ja nie Roſen gepfluͤckt, auf den Pieriſchen Bergen, wo die Muſen und Gra - zien wohnen.

Jch wuͤnſche unſrer Dichterin indeſſen nichts ſo ſehr, als nicht das Gegenbild derSappho373Sappho zu ſeyn, in Anordnung, Feuer und Wohlklang; wie es beinahe jezt iſt: und nichts wuͤnſche ich ihren Gedichten minder, als das Schickſal, das die Sapphiſchen hat - ten: ſie giengen unter, oder geriethen unter die unerbittliche Verſtuͤmmelung Kritiſcher Kipper und Wipper; wie leicht koͤnnten ſich Kunſtrichter des lezten bei den Karſchiſchen Ge - dichten anmaßen, wenn es die Verfaſſerin nicht ſelbſt thun will?

Wie mag es aber gekommen ſeyn, daß Sap - pho unterging? Du wirſt vielleicht ſagen: wer kann wider Gott und Novogrod? Allein! ein Kunſtrichter, der vermuthlich - Offenba - rung gehabt, wird dir dieſen Jrrthum beneh - men:*Litter. Br. Th. 21. p. 75. Korinna und Sappho, die unmaͤſ - ſig und ausgelaſſen waren, muſten dafuͤr buͤßen: ihre Verſe gingen unter, und ihr Name blieb zwar, doch mit dem ſchandba - ren Nachklange, daß ſie verbuhlte Dirnen geweſen.

SoB b374

So wenig ich mich daruͤber einlaſſen will, warum faſt keine Griechiſche Oden zu uns ge - kommen: ſo wenig wird der Verfaſſer dieſes Urtheils eine Apologie unter folgendem Titel ſchreiben:

Vertheidigung des gerechten Avto da Fe, das die Griechiſchen Pfaffen an den ſchandbaren Liebesliedern des Menan - ders, Diphilus, Apollodors, Phile - mons, Alexis, der Sappho, Korin - na, Anakreons (den man aber aus Gna - de noch verſchonte, weil er weiſe gelebt hat - te,) Minermus, Bions, Alcmanns, Alcaͤus u. ſ. w. heilſam und gottſelig veruͤbet, weil die meiſten von ihnen un - maͤßig und ausgelaſſen gelebt, und den ſchaͤndlichen Nachklang gelaſſen, daß ſie verbuhlt geweſen; wogegen man aber die Gedichte des gottſeligen Nazian - zenus chriſtlich und wohlbedaͤchtig einge - fuͤhrt.

Hat der Verfaſſer dazu Luſt, ſo wird er dies Verfahren noch mit vielen Beiſpielen rechtfer - tigen koͤnnen:

1) Wie375
  • 1) Wie chriſtlichfromm jener Eifer ge - weſen, der alle ſchwarze Statuen zer - ſchlug, weil ſie Werke des leidigen Teufels waren.
  • 2) Aus welch heilſamen Abſichten die Go - then aus Rom die Heidniſchen Buͤcher wegſchleppten.
  • 3) Welch einen buͤndigen zweihoͤrnichten Vernunftſchluß jener Kaliphe Omar machte, da er die Alexandriniſche Bi - bliothek in Brand ſtecken ließ: entwe - der ſagſt du, was im Koran ſteht, oder
  • 4) Und welche feine und genaue Auswahl der Pfarrer zu Mancha mit dem Bar - bier Niklas anſtellte, ehe die Haus - haͤlterin ihres gnaͤdigen Herrn Biblio - thek zum Fenſter herausſchickte.
  • 5) Wird um einige kleine Antworten ge - beten: ob Livius wegen ſeiner vielen aberglaͤubiſchen Geſchichte meiſtens un - tergegangen, dahingegen die Priapeia gerettet worden, weil ſie der keuſcheB b 2Virgil376Virgil geſammlet hatte? ob der from - me Treſcho mehr Gewalt gegen die Zeit haben wird, als die ſchandbaren Dichter, die von Liebe und Wein ſin - gen?

Jch wuͤnſche in der That, aus Liebe zu den Litteraturbriefen, daß dieſe und einige andre Hypochondriſche Einfaͤlle morgen aus meinem Exemplar verſchwunden waͤren. Hat ſich nicht der Kunſtrichter erinnert, daß man der ſchandbaren Sapphyo zu Ehren Muͤnzen ge - ſchlagen?

Jch ſchließe meine Parallele: 7 Statuen habe ich auf Deutſchem Grund und Boden gefunden, als ein ehrlicher Deutſcher ſie ge - gen die Griechiſchen Antiken geſtellt: Wan - drer! urtheile ſelbſt, oder ſchaffe ſelbſt mehre - re Bildſaͤulen her, oder arbeite ſelbſt welche aus. Jch gehe fort, und mit einem zuruͤck - geworfenen Liebesblick ſeufze ich: O ihr Deut - ſche Griechen, wenn das Schickſal eurer Ur - bilder auf euch kommen ſollte: wie viel wer - den eurer nach 2000 Jahren uͤbrig ſeyn? Wird377Wird alsdenn noch ein Volk von Deutſchen Antiken wiſſen? wird ein Richter ſie alsdenn noch mit den Griechen vergleichen? Warum will man der lebenden Welt das Urtheil verbie - ten, da die Nachwelt deſto ſchaͤrfer richten wird?

B b 3Beſchluß.378

Beſchluß.

Nachſchrift an den Leſer.) Wer die Fort - ſezzung dieſer Parallele wuͤnſcht; der erwar - te im dritten Theil etwas von unſern Roͤ - mern, Englaͤndern und Franzoſen: und nachdem alle Schulden abgetragen ſind, wol - len wir unſer eignes Kapital berechnen, und fragen: wozu wirs anwenden koͤnnten. Der 4te Theil ſoll von der Aeſthetik, Geſchichte und Weltweisheit reden, wenn dieſe weite Materie nicht das Maas eines Theils uͤber - geht. Obgleich meine Fragmente kein Ge - baͤude, ſondern blos Materialien ſind: ſo muß man doch auch die Anfuͤhrung derſelben zu vollenden ſuchen.

An die Schriftſteller, uͤber die ich gere - det.) Ob man gleich in Deutſchland noch immer uͤber ſeine Urtheile das Sentiment des Pindars ſezzt: Wer es wagt von Goͤttern zu reden, der thue es mit Ehrfurcht; denn der Seligen einen zu tadeln iſt Unſinn: ſo habe ich doch das Zutrauen zu denen, die ſich nicht uͤber Mitbuͤrger der Litteratur erhe -ben379ben wollen; ſie werden auch ein freies Ur - theil auf dem Markte uͤber ſich nicht ungern ſehen. Jch ſage mit dem Achilles im Ho - mer: mir haben die Trojaner nichts ge - than; nie mein Vieh weggetrieben, nie auf dem fetten und volkreichen Pthya meine Fruͤchte beſchaͤdigt; denn viel ſchattichte Berge ſind zwiſchen uns, und das wiederſchal - lende Meer. Der ganze Plan meiner Fragmente zeigt, daß ich blos von den Haupt - geſtirnen unſrer neuern Litteratur reden woll - te; die Sterne der 5ten Groͤße moͤgen eben ſo große Sonnen ſeyn; fuͤr uns Erdbewohner aber nicht.

An die Kunſtrichter.) Darf ein Verfaſ - ſer ſelbſt den Geſichtspunkt angeben, aus dem er betrachtet ſeyn will: ſo bin ich zufrieden; wenn ich das Genie unſrer Sprache, ihren Zuſtand, die Febler und Schoͤnheiten unſrer Schriftſteller, und die Mittel, von einan - der zu lernen gezeigt; wenn ich zur Kaͤnntniß und Nachbildung der Griechen angemuntert; wenn ich die Graͤnzen der Morgenlaͤndiſchen Nachahmung beſtimmt, und fuͤr Schriftſtel -ler,380ler, Leſer und Kunſtrichter nur etwas nuͤz - lich geweſen bin. Zweitens! Darf ein Verfaſ - ſer die Kunſtrichter angeben, mit denen er ſich uͤber ſeine Schriften, wie durch ein oͤf - fentlich Commerz, gern beſprechen moͤchte; ſo wuͤnſchte er ſich, ohne andern zu nahe zu tre - ten, vorzuͤglich das Urtheil eines Michaelis, Moſes, Abbt, Klozz und Ramlers, in der allgemeinen und Neuen Bibl. in den Actis litterar. und Goͤtting. Zeitungen, oder anderswo.

About this transcription

TextUeber die neuere Deutsche Litteratur
Author Johann Gottfried von Herder
Extent212 images; 30392 tokens; 7216 types; 217135 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationUeber die neuere Deutsche Litteratur Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend Zwote Sammlung von Fragmenten Johann Gottfried von Herder. . [2] Bl., S. [181] - 380. HartknochRiga1767.

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Staatsbibliothek München BSB München, H.lit.p. 223-1/3

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Sprachwissenschaft; Wissenschaft; Sprachwissenschaft; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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