PRIMS Full-text transcription (HTML)
[figure]
[1]
Plaſtik.
Einige Wahrnehmungen uͤber Form und Geſtalt aus Pygmalions bildendem Traume.
Τι καλλος; ερωτημα τυφλ〈…〉〈…〉.
Riga, beyJohann Friedrich Hartknoch. 1778.
[2][3]
Geſchrieben groͤßtentheils in den Jahren 1768-70. Der unvollkommene Anfang zu aͤhnlichen Verſuchen einer Anaglyphik, Optik, Akuſtik u. f.
en! ille in nubibus arcus mille trahit varios aduerſo ſole colores. Virg.
A 2[4]
[5]

Erſter Abſchnitt.

1.

Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk - tea)Lettre ſur les aveugles etc. , ſtellte ſich den Sinn des Geſichts wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die fuͤhlende Hand. Ein Spiegel duͤnkte ihm eine Maſchiene, Koͤrper im Relief außer ſich zu wer - fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief ſich nicht fuͤhlen laſſe, und glaubte, daß ein Mittel, eine zweite Maſchiene moͤglich ſeyn muͤſſe, den Betrug der erſten zu zeigen. Sein ſeines rich - tiges Gefuͤhl erſetzte ihm, in ſeiner Meinung, das Geſicht voͤllig. Er unterſchied bei der Haͤrte und Glaͤtte eines Koͤrpers nicht minder fein, als beim Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far - ben. Er beneidete uns alſo auch unſer Geſicht, von dem er keine Vorſtellung hatte, nicht; wars ihm ja um eine Vermehrung ſeiner Sinne zu thun, ſo wuͤnſchte er ſich etwa laͤngere Arme, um in den Mond gewiſſer und ſichrer zu fuͤhlen, als wir hinein ſaͤhen.

A 3So6

So romantiſch und zu philoſophiſch dieſer Be - richt ſcheint: ſo wird er doch im Grunde von An - dern beſtaͤrkt, die nicht durch Diderots Auge ſahen. Der blinde Saunderſon wuſte, Trotz ſeiner Ma - thematik, ſich von Bildern auf der Flaͤche keinen Begriff zu machen, ſie wurden ihm nur durch Maſchienen begreiflich. Mit ſolchen rechnete er ſtatt Zahlen: Linie und Figuren der Geometrie erſetzte er ſich durch fuͤhlbare Koͤrper. Selbſt die Sonnenſtralen wurden in ſeiner Optik ihm feine fuͤhlbare Staͤbe; und bei dem Bilde, was ſie machten, was durch ſie auf einer Flaͤche ſichtbar ward, dachte er nichts, er nahms als den Huͤlfs - begriff eines fremden Sinnes, einer andern Welt an. Das Schwerſte der Geometrie, das Ganze der Koͤrper, ward ihm in der Demonſtration leicht; was Sehenden das Leichteſte und Anſchaulichſte iſt, Figuren auf der Flaͤche, ward ihm das Muͤh - ſamſte: er muſte auf fremde ungefuͤhlte Begriffe bauen, muſte zu Sehenden reden als waͤren ſie Blinde. Sich den Wuͤrfel als ſechs zuſammen - ſchlagende Pyramiden zu denken, war ihm leicht; ſich ein Achteck auf der Flaͤche vorzuſtellen, ward ihm nur durch ein koͤrperliches Achteck moͤglich.

Am merkbarſten ward dieſer Unterſchied zwi - ſchen Geſicht und Gefuͤhl, Flaͤchen - und Koͤrper - begriffen an dem Blinden, dem Cheſelden das Geſicht gab. Schon in ſeiner reifen Staarblind -heit7heit hatte er Licht und Dunkel, und bei ſtarkem Licht Schwarz, Weiß, Hellroth unterſcheiden koͤn - nen; aber ſein Geſicht war nur Gefuͤhl. Es waren Koͤrper, die ſich auf ſein geſchloſſenes Auge bewegten, nicht Eigenſchaften der Flaͤche, nicht Farben. Nun ward ihm ſein Auge geoͤfnet, und ſein Geſicht erkannte nichts, was er voraus durchs Gefuͤhl gekannt hatte. Er ſah keinen Raum, unterſchied auch die verſchiedenſten Gegenſtaͤnde nicht von einander; vor ihm ſtand, oder vielmehr auf ihm lag eine große Bildertafel. Man lehrte ihn unterſcheiden, ſein Gefuͤhl ſichtlich erkennen, Figuren in Koͤrper, Koͤrper in Figuren verwan - deln; er lernte und vergaß. Das iſt Katze! das iſt Hund! ſprach er, wohl, nun kenne ich euch, und ihr ſollt mir nicht mehr entwiſchen ! ſie entwiſchten ihm noch oft, bis ſein Auge Fertig - keit erhielt, Figuren des Raums als Buchſtaben voriger Koͤrpergefuͤhle anzuſehen, ſie mit dieſen ſchnell zuſammen zu halten, und die Gegenſtaͤnde um ſich zu leſen. Wir glaubten, er verſtuͤnde ſogleich was die Gemaͤlde vorſtellten, die wir ihm zeigten; aber wir fanden, daß wir uns ge - irret hatten, denn eben zwei Monathe, nachdem der Staar ihm war geſtochen worden, machte er ploͤtzlich die Entdeckung, daß ſie Koͤrper, Er - hoͤhungen und Vertiefungen vorſtellten. Er hatte ſie bisher nur als buntſcheckige FlaͤchenA 4 ange -8 angeſehen, aber auch alsdenn war er nicht wenig erſtaunt, daß ſich die Gemaͤlde nicht anfuͤhlten, wie ſie ausſahen, daß die Theile, welche durch Licht und Schatten rauh und uneben ausſahen, ſich glatt wie die uͤbrigen anfuͤhlen ließen. Er fragte: welcher von beiden Sinnen der Betruͤger ſei, ob das Geſicht oder das Gefuͤhl? Man zeigte ihm ſeines Vaters Bild in einem Uhr - gehaͤnge, und fragte ihn, was es ſei? Er erkannte eine Aehnlichkeit, wunderte ſich aber ungemein, daß ſich ein großes Geſicht in einem kleinen Raum vorſtellen ließe, welches ihm ſo unmoͤglich wuͤrde geſchienen haben, als einen Scheffel in eine Metze zu bringen. Erſt konnte er gar nicht viel Licht vertragen, und hielt Alles, was er ſah, fuͤr ſehr groß; als er aber groͤßere Sachen ſah, hielt er die vorhin geſe - henen fuͤr kleiner, und konnte ſich keine Linien, außer den Grenzen, die er ſah, vorſtellen. Er ſagte: daß das Zimmer, in dem er ſich befinde, ein Theil des Hauſes ſei, wiſſe er wohl; aber er konnte nicht begreifen, daß das Haus groͤßer ausſehe, als das Zimmer. Er kannte von keiner Sache die Geſtalt, er unterſchled auch keine Sache von der andern, ſie mochte noch ſo verſchiedne Geſtalt und Groͤße haben; ſondern, wenn man ihm ſagte, was das fuͤr Sachen ſeyn, die er zuvor durchs Gefuͤhl gekannt hatte: ſo betrach -9 betrachtete er ſie ſehr aufmerkſam, um ſie wie - der zu kennen. Weil er aber auf einmal zu viel neue Sachen lernen muſte, vergaß er immer wieder welche, und lernte, wie er ſagte, in einem Tage tauſend Dinge kennen, die er wieder ver - gaß u. f. b)Smiths Optik..

2.

Was lehren dieſe ſonderbaren Erfahrungen? Etwas, was wir taͤglich erfahren koͤnnten, wenn wir aufmerkten, daß das Geſicht uns nur Geſtalten, das Gefuͤhl allein, Koͤrper zeige: daß Alles, was Form iſt, nur durchs taſtende Gefuͤhl, durchs Geſicht nur Flaͤche, und zwar nicht koͤrperliche, ſondern nur ſichtliche Lichtflaͤche erkannt werde. Der Satz wird einigen pa - radox, andern gemein ſcheinen; wie er aber auch ſcheine, iſt er wahr, und wird große Folgerun - gen geben.

Was kann das Licht in unſer Auge mahlen? Was ſich mahlen laͤßt, Bilder. Wie auf der weißen Wand der dunklen Kammer, ſo faͤllt auf die Netzhaut des Auges ein Stralenpinſel von allem, was vor ihm ſtehet, und kann nichts, alsA 5was10was da ſteht, eine Flaͤche, ein Nebeneinander aller und der verſchiedenſten ſichtbaren Gegenſtaͤnde zeichnen. Dinge hinter einander, oder ſolide, maſſive Dinge als ſolche dem Auge zu geben, iſt ſo unmoͤglich, als den Liebhaber hinter der dicken Tapete, den Bauer innerhalb der Windmuͤhle ſingend zu mahlen.

Die weite Gegend, die ich vor mir ſehe, was iſt ſie mit allen ihren Erſcheinungen, als Bild, Flaͤche? Jener ſich herab ſenkende Himmel und jener Wald, der ſich in ihn verliert, und jenes hingebreitete Feld, und dies naͤhere Waſſer, und dieſer Rahme von Ufer, die Handhabe des ganzen Bildes ſind Bild, Tafel, ein Continuum neben einander. Jeder Gegenſtand zeigt mir gerade ſo viel von ſich, als der Spiegel von mir ſelbſt zeigt, das iſt, Figur, Vorderſeite; daß ich mehr bin, muß ich durch andre Sinnen erken - nen, oder aus Jdeen ſchließen.

Warum ſolls alſo Wunder ſeyn, daß Blinde, denen ihr Geſicht gegeben wurde, nichts als ein Bilderhaus, eine gefaͤrbte Flaͤche richt vor ſich ſahen? ſehen wir doch alle nichts mehr, wenn wirs nicht auf andern Wegen faͤnden. Ein Kind ſieht Himmel und Wiege, Mond und Amme neben einander, es greift nach dem Monde, wie nach der Amme, denn alles iſt ihm Bild auf EinerTafel.11Tafel. Aus dem Schlafe fahrend, ehe wir unſer Urtheil ſammeln, iſt uns in der Daͤmmerung der Nacht, Wald und Baum, Nah und Fernes auf Einem Grunde: nahe Rieſen, oder entfernte Zwer - ge, und ſich auf uns bewegende Geſpenſter, bis wir aufwachen und unſer Urtheil ſammeln. So - dann ſehen wir erſt, wie wir durch Gewohnheit, aus andern Sinnen, und inſonderheit durchs taſtende Gefuͤhl ſehen lernten. Ein Koͤrper, den wir nie durchs Gefuͤhl als Koͤrper erkannt haͤtten, oder auf deſſen Leibhaftigkeit wir nicht durch bloße Aehnlichkeit ſchließen, bliebe uns ewig eine Hand - habe Saturns, eine Binde Jupiters, d. i. Phaͤ - nomenon, Erſcheinung. Der Ophthalmit mit tauſend Augen, ohne Gefuͤhl, ohne taſtende Hand, bliebe Zeitlebens in Platons Hoͤle, und haͤtte von keiner einzigen Koͤrpereigenſchaft, als ſolcher, eigentlichen Begriff.

Denn alle Eigenſchaften der Koͤrper, was ſind ſie, als Beziehungen derſelben auf unſern Koͤr - per, auf unſer Gefuͤhl? Was Undurchdringlich - keit, Haͤrte, Weichheit, Glaͤtte, Form, Geſtalt, Rundheit ſei? davon kann mir ſo wenig mein Auge durchs Licht, als meine Seele durch ſelbſt - ſtaͤndig Denken einen leibhaften, lebendigen Be - griff geben. Der Vogel, das Pferd, der Fiſch hat ihn nicht; der Menſch hat ihn, weil er nebſt ſeiner Vernunft auch die umfaſſende, taſtendeHand12Hand hat. Und wo er ſie nicht hat, wo kein Mit - tel war, daß er ſich von einem Koͤrper durch koͤr - perliches Gefuͤhl uͤberzeugte: da muß er ſchließen und rathen und traͤumen und luͤgen, und weiß eigentlich nichts recht. Je mehr er Koͤrper, als Koͤr - per, nicht angaffte und betraͤumte, ſondern erfaßte, hatte, beſaß, deſto lebendiger iſt ſein Gefuͤhl, es iſt, wie auch das Wort ſagt, Begriff der Sache.

Kommt in die Spielkammer des Kindes, und ſehet, wie der kleine Erfahrungsmenſch faſ - et, greift, nimmt, waͤgt, taſtet, mißt mit Haͤn - den und Fuͤßen, um ſich uͤberall die ſchweren, erſten und nothwendigſten Begriffe von Koͤrpern, Ge - ſtalten, Groͤße, Raum, Entfernung u. dgl. treu und ſicher zu verſchaffen. Worte und Lehren koͤn - nen ſie ihm nicht geben; aber Erfahrung, Ver - ſuch, Proben. Jn wenigen Augenblicken lernt er da mehr und alles lebendiger, wahrer, ſtaͤrker, als ihm in zehntauſend Jahren Angaffen und Wort - erklaͤren beibringen wuͤrde. Hier, indem er Ge - ſicht und Gefuͤhl unaufhoͤrlich verbindet, eins durchs andre unterſucht, erweitert, hebt, ſtaͤrket formt er ſein erſtes Urtheil. Durch Fehlgriffe und Fehlſchluͤſſe kommt er zur Wahrheit, und je ſolider er hier dachte und denken lernte, deſto beſ - ſere Grundlage legt er vielleicht auf die complexe - ſten Urtheile ſeines Lebens. Wahrlich das erſte Muſeum der mathematiſch-phyſiſchen Lehrart.

Es13

Es iſt erprobte Wahrheit, daß der taſtende unzerſtreute Blinde ſich von den koͤrperlichen Ei - genſchaften viel vollſtaͤndigere Begriffe ſammelt, als der Sehende, der mit einem Sonnenſtral hin - uͤber gleitet. Mit ſeinem umfangenen, dunkeln, aber auch unendlich geuͤbtern Gefuͤhl, und mit der Methode, ſich ſeine Begriffe langſam, treu und ſicher zu ertaſten, wird er uͤber Form und lebendige Gegenwart der Dinge viel feiner urtheilen koͤnnen, als dem Alles nur, wie ein Schatte, fliehet. Es hat blinde Wachsbildner gegeben, die die Sehen - den uͤbertrafen, und ich habe noch nie vom Bei - ſpiel Eines fehlenden Sinnes gehoͤrt, der ſich nicht durch andre erſetzt haͤtte, Geſicht durchs Gefuͤhl, der Mangel an Lichtfarben durch tiefgepraͤgte dau - rende Geſtalten. Es bleibt alſo wahr: der Koͤrper, den das Auge ſieht, iſt nur Flaͤche, die Flaͤche, die die Hand taſtet, Koͤrper .

Nur da wir von Kindheit auf unſre Sinne in Gemeinſchaft und Verbindung brauchen: ſo ver - ſchlingen und gatten ſich alle, inſonderheit der gruͤndlichſte und der deutlichſte der Sinne, Gefuͤhl und Geſicht. Die ſchweren Begriffe, die wir uns langſam und mit Muͤhe ertappen, werden von Jdeen des Geſichts begleitet: dies klaͤrt uns auf, was wir dort nur dunkel faßten, und ſo wird uns endlich gelaͤufig, das mit einem Blick weg zu haben, was wir uns Anfangs langſam ertaſtenmuſten.14muſten. Als der Koͤrper unſrer Hand vorkam, ward zugleich das Bild deſſelben in unſer Auge geworfen: die Seele verband beide, und die Jdee des ſchnellen Sehens laͤuft nachher dem Begriff des langſamen Taſtens vor. Wir glauben zu ſehen, wo wir nur fuͤhlen und fuͤhlen ſollten; wir ſehen endlich ſo viel und ſo ſchnell, daß wir nichts mehr fuͤhlen, und fuͤhlen koͤnnen, da doch dieſer Sinn unaufhoͤrlich die Grundveſte und der Ge - waͤhrsmann des vorigen ſeyn muß. Jn allen die - ſen Faͤllen iſt das Geſicht nur eine verkuͤrzte Formel des Gefuͤhls. Die volle Form iſt Figur, die Bildſaͤule ein flacher Kupferſtich worden. Jm Geſicht iſt Traum, im Gefuͤhl Wahrheit.

Daß dem ſo ſei, ſehen wir in Faͤllen, wo ſich beide Sinne ſcheiden und ein neu Medium oder eine neue Formel eintritt, nach der ſie ſich gatten ſollten. Wenn der Stab im Waſſer gebro - chen ſcheint und man greift darnach an unrechter Stelle; ſo iſt wohl hier von keinem Truge der Sinnen die Frage: denn nach einem Stralen - bilde, als ſolchem, muß ich nicht greifen. Was ich alſo ſah, war wahr, wuͤrkliches Bild auf wuͤrk - licher Flaͤche; nur, wornach ich griff, war nicht wahr: denn wer wird nach einem Bilde auf einer Flaͤche faſſen? Weil nun aber unſer Geſicht und Gefuͤhl, als Schweſtern, zuſammen erzogenwur -15wurden, und von Jugend auf Eine der andern die Arbeit tragen half oder ſie gar allein uͤbernahm: ſo geſchahe es auch hier, und Schweſter verfehlte die Schweſter. Sie hatten ſich ſonſt auf der Erde verſucht; nun iſt der Fall im Waſſer, einem andern Element der Stralenbrechung, wo ſie ſich nicht gegen einander geuͤbt hatten. Ein Waſſer - mann wuͤrds beſſer getroffen haben.

Abermals ein Beiſpiel der vorigen Geſchichte. Cheſeldens Blinder ſah am Gemaͤhlde nur ein Farbenbrett; da ſich die Figuren lostrennten und er ſie erkannte, griff er darnach als nach Koͤrpern . Es ſcheint ſonderbar, iſt aber ſehr natuͤrlich, und der Fall geſchieht oͤfters. Ein Kind, ein rohes Auge ſieht am Gemaͤhlde das Farben - brett oͤfter, als man denket: es kann ſich, ſo lange die Figur ihm am Brett klebt, jenen Schatten, dieſen Streif nicht erklaͤren; es gaffet. Nun aber fangen die Figuren an, ſich zu beleben; iſts nicht, als ob ſie hervorgingen und wuͤrden Geſtalten? Man ſieht ſie gegenwaͤrtig, man greift um ſie, der Traum wird Wahrheit. Die hoͤchſte Liebe und Entzuͤckung macht alſo gerade das, was dort die Unwiſſenheit that, und eben das iſt der Triumph des Mahlers! Durch ſeinen Zaubertrug ſollte Geſicht Gefuͤhl werden, ſo wie bei ihm das Gefuͤhl Geſicht ward.

3. Jch16

3.

Jch glaube wohl nicht mehr Exempel haͤufen zu doͤrfen, zum Erweiſe eines Satzes, der ſo augenſcheinlich iſt: daß fuͤrs Geſicht eigentlich nur Flaͤchen, Bilder, Figuren eines Plans ge - hoͤren, Koͤrper aber und Formen der Koͤrper vom Gefuͤhl abhangen . Laſſet uns ſehen, warum wir der Spekulation ſo lange nachhiengen? und wozu denn endlich der ganze Unterſchied hilft?

Mich duͤnkt, zu manchem. Denn ein Grund - geſetz und abgeſchiednes Reich der Wuͤrkung zweier verſchiednen und ſich verwirrenden Sinne kann nie leere Spekulation ſeyn. Waͤren alle un - ſre Begriffe in Wiſſenſchaften und Kuͤnſten auf ihren Urſprung zuruͤckgefuͤhrt, oder koͤnnten ſie dahin zuruͤckgefuͤhrt werden; da wuͤrden ſich Ver - bindungen ſondern und Sonderungen binden, wie man ſie in der großen Verwirrung aller Dinge, die wir Leben nennen, nicht ordnet. Da alle unſre Begriffe vom Menſchen ausgehen oder auf ihn kommen: ſo muß nahe dieſem Mittelpunkt und der Art, wie er ſpinnt und wuͤrkt, die Quelle der groͤſten Jrrthuͤmer und der ſichtlichſten Wahr - heit aufgeſpuͤrt werden, oder ſie iſt nirgend. Jch bleibe hier nur bei zwei Sinnen und bei Ei - nem Begriff derſelben Schoͤnheit.

Schoͤn -17

Schoͤnheit hat von Schauen, von Schein den Namen, und am leichteſten wird ſie auch durchs Schauen, durch ſchoͤnen Schein erkannt und geſchaͤtzet. Nichts iſt ſchneller, klaͤrer, uͤber - leuchtender als Sonnenſtral und unſer Auge auf ſeinen Fluͤgeln: eine Welt außer und neben ein - ander wird ihm auf Einen Blick offenbar. Und da dieſe Welt nicht wie Schall voruͤbergeht, ſon - dern bleibt und gleichſam ſelbſt zur Beſchauung einladet, da der feine Sonnenſtral ſo ſchoͤn faͤrbt und ſo deutlich zeiget; was Wunder, daß unſre Seelenlehre am liebſten von dieſem Sinne Namen borget? Jhr Erkennen iſt Sehen, ihr beſtes Angenehme Schoͤnheit.

Es iſt nicht zu laͤugnen, daß von dieſer Hoͤhe nicht Viel ſollte uͤberſehen und Vieles des Vielen ſehr klar, licht und deutlich gemacht werden koͤn - nen. Das Geſicht iſt der kuͤnſtlichſte, philoſo - phiſchte Sinn. Es wird durch die feinſten Ue - bungen, Schluͤſſe, Vergleichungen gefeilt und be - richtigt, es ſchneidet mit einem Sonnenſtrale. Haͤtten wir alſo auch nur aus dieſem Sinne eine rechte Phaͤnomenologie des Schoͤnen und Wah - ren: ſo haͤtten wir viel.

Jndeſſen haͤtten wir mit ihr nicht alles, am wenigſten das Gruͤndlichſte, Einfachſte, Erſte. Der Sinn des Geſichts wuͤrkt flach, er ſpielt undBglei -18gleitet auf der Oberflaͤche mit Bild und Farbe um - her; uͤberdem hat er ſo Vieles und ſo Zuſammen - geſetztes vor ſich, daß man mit ihm wohl nie auf den Grund kommen wird. Er borgt von andern und baut auf andre Sinne: ihre Huͤlfsbegriffe muͤſſen ihm Grundlage feyn, die er nur mit Licht umglaͤnzet. Dringe ich nun nicht in dieſe Be - griffe andrer Sinne, ſuche ich nicht Geſtalt und Form, ſtatt zu erſehen, urſpruͤnglich zu erfaſſen, ſo ſchwebe ich mit meiner Theorie des Schoͤnen und Wahren aus dem Geſichte ewig in der Luft, und ſchwimme mit Seifenblaſen. Eine Theorie ſchoͤner Formen aus Geſetzen der Optik iſt ſo viel als eine Theorie der Muſik aus dem Geſchmacke. Die rothe Farbe, ſagte jener Blinde, nun be - greife ich ſie, ſie iſt wie der Schall einer Trom - pete ; und gerade das ſind viele Abhandlungen der Aeſthetik aus andern in andre Sinne, daß man zuletzt nicht weiß, wo oder wie man dran iſt?

Man klaſſificirt die ſchoͤnen Kuͤnſte ordent - lich unter zwei Hauptſinne, Geſicht und Gehoͤr; und dem erſten Hauptmanne gibt man alles, was man will, aber er nicht fodert, Flaͤchen, For - men, Farben, Geſtalten, Bildſaͤulen, Bret - ter, Spruͤnge, Kleider. Daß man Bildſaͤu - len ſehen kann, daran hat niemand gezweifelt; ob aber aus dem Geſicht ſich urſpruͤnglich beſtim - men laſſe, was ſchoͤne Form iſt? ob dieſer Be -griff19griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung und Oberrichter erkenne? das laͤßt ſich nicht blos bezweifeln, ſondern gerade verneinen. Laſſet ein Geſchoͤpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun - dert Augen hundert Jahr eine Bildſaͤule beſehen und von allen Seiten betrachten: iſt er nicht ein Geſchoͤpf, das Hand hat, das einſt taſten und wenigſtens ſich ſelbſt betaſten konnte; ein Vogel - auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit - tig und Klaue, wird nie von dieſem Dinge als Vogelanſicht haben. Raum, Winkel, Form, Rundung lerne ich als ſolche in leibhafter Wahr - heit nicht durchs Geſicht erkennen; geſchweige das Weſen dieſer Kunſt, ſchoͤne Form, ſchoͤne Bil - dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor - tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens, ſondern dargeſtellte, taſtbare Wahrheit iſt. Die ſchoͤne Linie, die hier immer ihre Bahn ver - aͤndert, ſie, die nie gewaltſam unterbrochen, nie widrig vertrieben ſich mit Pracht und Schoͤne um den Koͤrper waͤlzet, und nimmer ruhend und im - mer fortſchwebend in ihm den Guß, die Fuͤlle, das ſanft verblaſene entzuͤckende Leibhafte bildet, das nie von Flaͤche, nie von Ecke oder Winkel weiß; dieſe Linie kann ſo wenig Geſichtsflaͤche, ſo wenig Tafel und Kupferſtich werden, daß gerade mit dieſen Alles an ihr hin iſt. Das Geſicht zer - ſtoͤrt die ſchoͤne Bildſaͤule, ſtatt daß es ſie ſchaffe:B 2es20es verwandelt ſie in Ecken und Flaͤchen, bei denen es viel iſt, wenn ſie nicht das ſchoͤnſte Weſen ihrer Jnnigkeit, Fuͤlle und Runde in lauter Spiegel - ecken verwandle; unmoͤglich kanns alſo Mutter dieſer Kunſt ſeyn.

Seht jenen Liebhaber, der tiefgeſenkt um die Bildſaͤule wanket. Was thut er nicht, um ſein Geſicht zum Gefuͤhl zu machen, zu ſchauen als ob er im Dunkeln taſte? Er gleitet umher, ſucht Ruhe und findet keine, hat keinen Geſichts - punkt, wie beim Gemaͤhlde, weil tauſende ihm nicht gnug ſind, weil, ſo bald es eingewurzelter Geſichtspunkt iſt, das Lebendige Tafel wird, und die ſchoͤne runde Geſtalt ſich in ein erbaͤrm - liches Vieleck zerſtuͤcket. Darum gleitet er: ſein Auge ward Hand, der Lichtſtral Finger, oder vielmehr ſeine Seele hat einen noch viel feinern Finger als Hand und Lichtſtral iſt, das Bild aus des Urhebers Arm und Seele in ſich zu faſſen. Sie hats! die Taͤuſchung iſt geſchehn: es lebt, und ſie fuͤhlt, daß es lebe; und nun ſpricht ſie, nicht, als ob ſie ſehe, ſondern taſte, fuͤhle. Eine Bildſaͤule kalt beſchrieben, gibt ſo wenig Jdeen als eine gemahlte Muſik; lieber laß ſie ſtehen und gehe voruͤber.

Wenn ich Einem Menſchen ſeine Begeiſte - rung vergebe, ſo iſts dem Liebhaber der Kunſt,dem21dem Kuͤnſtler: denn ohne ſie war kein Liebhaber, kein Kuͤnſtler. Der elende Tropf, der vorm Mo - dell ſitzt und alles platt und flach ſiehet, der Arme, der vor der lebenden Perſon ſteht und nur ein Far - benbrett an ihr gewahr wird, ſind Klecker, nicht Kuͤnſtler. Sollen die Figuren von der Leinwand vortreten, wachſen, ſich beſeelen, ſprechen, han - deln; gewiß ſo muſten ſie dem Kuͤnſtler auch ſo erſcheinen und von ihm gefuͤhlt ſeyn. Phidias, der den Donnergott bildete, als er im Homer las und vom Haupte Jupiters, von ſeiner fallenden Locke ihm Kraft herabſank, dem Gotte naͤher zu treten und ihn zu umfangen in Majeſtaͤt und Liebe: Apollonius Neſtorides, der den Herkules mach - te und den Rieſenbezwinger in Bruſt, in Huͤften, in Armen, im ganzen Koͤrper fuͤhlte: Agaſias, als er den Fechter ſchuf und in allen Sehnen ihn taſtete und in allen Kraͤften ihn hingab; wenn dieſe nicht begeiſtert ſprechen dorften, wer darfs denn? Sie ſprachen durch ihr Werk und ſchwiegen: der Liebhaber fuͤhlt, ſchafft ihnen nach und ſtammlet im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er - greifet. Ueberhaupt, je naͤher wir einem Ge - genſtande kommen, deſto lebendiger wird unſre Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her fuͤhlen, deſto beſchwerlicher wird uns der trennen - de Raum, deſto mehr wollen wir zu ihm. Wehe dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe ſeine Ge -B 3liebte22liebte von fern als ein flaches Bild anſieht und gnug hat! wehe dem Apollo - dem Herkulesbild - ner, der nie einen Wuchs Apollo’s umſchlang, der eine Bruſt, einen Ruͤcken Herkules auch nie im Traume fuͤhlte. Aus Nichts kann wahr - lich nichts anders als Nichts, und aus dem unfuͤhlenden Sonnenſtral nie warme ſchaffende Hand werden.

4.

Jſts einmal erlaubt, uͤber Werk zu reden und uͤber Kunſt zu philoſophiren: ſo muß die Philoſophie wenigſtens genau ſeyn, und wo moͤg - lich zu den erſten einfachſten Begriffen reichen. Als das Philoſophiren uͤber ſchoͤne Kunſt einmal noch Mode war, ſuchte ich lange uͤber dem eigent - lichen Begriff, der ſchoͤne Formen und Far - ben, Bildnerei und Mahlerei trenne, und fand ihn nichtc)Falkonets Gedanken von der Bildhauerkunſt, (uͤberſ. N. Bibl. d. ſch. W. B. 1. St. 1.) ſind die trefliche Vorlefung eines Kuͤnſtlers, deſſen Zweck es gar nicht iſt, die Grenzen zweener Kuͤnſte phi - loſophiſch zu ſondern.. Jmmer Mahlerei und Bild - hauerei in einander, unter Einem Sinne, alſo unter Einem Organ der Seele, das Schoͤne inbeiden23beiden zu ſchaffen und zu empfinden: alſo auch dies Schoͤne voͤllig auf Eine Art, durch Einerlei natuͤrliche Zeichen, in einem Raume neben ein - ander wuͤrkend, nur Eins in Formen, das andre auf der Flaͤche. Jch muß ſagen, ich begriff da - bei wenig. Zwo Kuͤnſte im Gebiet Eines Sin - nes muͤſſen auch geradezu ſubjektiv Einerlei Ge - ſetze des Wahren und Schoͤnen haben, denn ſie kommen zu Einer Pforte hinein, wie ſie beide zu Einer heraus gingen, und ja nur fuͤr Einen Sinn da ſind. Die Mahlerei muß alſo ſo ſehr ſkulptu - riren, die Skulptur ſo viel mahlen koͤnnen, als ſie will, und es muß ſchoͤn ſeyn: ſie dienen ja Einem Sinne, regen Einen Punkt der Seele; und nichts iſt doch unwahrer, als dies. Jch ver - folgte beide Kuͤnſte und fand, daß kein einziges Geſetz, keine Bemerkung, keine Wuͤrkung der Einen, ohn Unterſchied und Einſchraͤnkung auf die andre paſſe. Jch fand, daß gerade je eigner Etwas Einer Kunſt ſei und gleichſam als einhei - miſch derſelben in ihr große Wuͤrkung thue, deſto weniger laſſe es ſich platt anwenden und uͤbertra - gen, ohne die entſetzlichſte Wuͤrkung. Jch fand arge Beiſpiele davon in der Ausfuͤhrung, aber noch ungleich aͤrgere in der Theorie und Philoſo - phie dieſer Kuͤnſte, die oft von Unwiſſenden der Kunſt und Wiſſenſchaft geſchrieben, alles ſeltſam durch einander gemiſcht, beide nicht als zwo Schwe -B 4ſtern24ſtern oder Halbſchweſtern, ſondern meiſtens als ein doppelt Eins betrachtet und keinen Plunder an der Einen gefunden haben, der nicht auch der andern gebuͤhre. Daher nun jene erbaͤrmliche Kritiken, jene armſelige, verbietende und ver - engernde Kunſtregeln, jenes bitterſuͤße Geſchwaͤtz vom allgemeinen Schoͤnen, woran ſich der Juͤn - ger verdirbt, das dem Meiſter ekelt und das doch der kenneriſche Poͤbel als Weisheitsſpruͤche im Munde fuͤhret. Endlich kam ich auf meinen Begriff, der mir ſo wahr, der Natur unſrer Sinne, beider Kuͤnſte und hundert ſonderbaren Erfahrungen ſo gemaͤß ſchien, daß er, als der eigentliche ſubjektive Grenzſtein, beide Kuͤnſte und ihre Eindruͤcke und Regeln auf die lindeſte Weiſe ſcheidet. Jch gewann einen Punkt, zu ſehen, was jeder Kunſt eigen oder fremde, Macht oder Beduͤrfniß, Traum oder Wahrheit ſei, und es war, als ob mir ein Sinn wuͤrde, die Natur des Schoͤnen da furchtſam von ferne zu ahnden, wo doch ich plaudre zu fruͤhe und zu viel. Hier iſt der nackte Umriß, wie ich glaube, daß die Kuͤnſte des Schoͤnen ſich zu einander ver - halten:

Einen Sinn haben wir, der Theile außer ſich neben einander, einen andern, der ſie nach ein - ander, einen dritten, der ſie in einander erfaſſet. Geſicht, Gehoͤr und Gefuͤhl.

Theile25

Theile neben einander geben eine Flaͤche: Theile nach einander am reinſten und einfachſten ſind Toͤne. Theile auf einmal in - neben - bei einander, Koͤrper oder Formen. Es gibt alſo in uns einen Sinn fuͤr Flaͤchen, Toͤne, Formen, und wenns dabei aufs Schoͤne ankommt, drei Sinne fuͤr drei Gattungen der Schoͤnheit, die unterſchieden ſeyn muͤſſen, wie Flaͤche, Ton, Koͤrper. Und wenns Kuͤnſte gibt, wo jede in Einer dieſer Gattungen arbeitet, ſo kennen wir auch ihr Gebiet von außen und innen, Flaͤche, Ton, Koͤrper, wie Geſicht, Gehoͤr, Gefuͤhl. Dies ſind ſodann Grenzen, die ihnen die Natur anwies und keine Verabredung; die alſo auch keine Verabredung aͤndern kann, oder die Natur raͤchet. Eine Tonkunſt, die mahlen, und eine Mahlerei die toͤnen, und eine Bildnerei die faͤrben, und eine Schilderei die in Stein hauen will, ſind lauter Abarten, ohne oder mit falſcher Wuͤrkung. Und alle Drei verhalten ſich zu einander, als Flaͤche, Ton, Koͤrper, oder wie Raum, Zeit und Kraft, die drei groͤſten Medien der allweiten Schoͤpfung, mit denen ſie alles faſſet, alles umſchraͤnket.

Laſſet uns ſogleich Ein Zwei Folgerungen ſehen, wie ſich Bild - und Mahlerei im Ganzen verhalten.

Jſt dieſe die Kunſt fuͤrs Auge, und iſts wahr, daß das Auge nur Flaͤche, und Alles wie Flaͤche,B 5wie26wie Bild empfindet: ſo iſt das Werk der Mahlerei tabula, tavola, tableau, eine Bildertafel, auf der die Schoͤpfung des Kuͤnſtlers wie Traum da ſteht, in der Alles alſo auf dem Anſchein, auf dem Nebeneinander beruhet. Hievon alſo muß Erfindung und Anordnung, Einheit und Mannich - faltigkeit (und wie die Litanei von Kunſtnamen weiter heiße) ausgehen, darauf zuruͤckkommen, und iſt, wie viele Kapitel und Baͤnde davon gefuͤllt werden, dem Kuͤnſtler ſelbſt aus einem ſehr ein - fachen Grundſatze, der Natur ſeiner Kunſt, mehr als ſichtbar. Dieſe iſt ihm das Eine Koͤ - nigsgeſetz, außer dem er keines kennet, die Goͤt - tin, die er verehret. Jn der treuen Behandlung ſeines Werks muß ihm alle Philoſophie daruͤber in Grund und Wurzel, und als etwas ſo Ein - faches erſcheinen, deſſen alle das vielfache Ge - ſchwaͤtz nicht werth iſt.

Die Bildnerei arbeitet in einander, Ein lebendes, Ein Werk voll Seele, das da ſei und daure. Schatte und Morgenroth, Blitz und Don - ner, Bach und Flamme kann ſie nicht bilden, ſo wenig das die taſtende Hand greifen kann; aber warum ſoll dies deshalb auch der Mahlerei verſagt ſeyn? Was hat dieſe fuͤr ein ander Geſetz, fuͤr andre Macht und Beruf, als die große Tafel der Natur mit allen ihren Erſcheinungen, in ihrer großen ſchoͤnen Sichtbarkeit zu ſchildern? undmit27mit welchem Zauber thut ſies! Die ſind nicht klug, die die Landſchaftsmahlerei, die Naturſtuͤcke des großen Zuſammenhanges der Schoͤpfung verachten, herunter ſetzen, oder gar dem Kuͤnſtler Affenernſtlich unterſagen. Ein Mahler, und ſoll kein Mahler ſeyn? Ein Schilderer, und ſoll nicht ſchildern? Bildſaͤulen drechſeln ſoll er mit ſeinem Pinſel und mit ſeinen Farben geigen, wie’s ihrem aͤchten antiken Geſchmacke behagt. Die Tafel der Schoͤpfung ſchildern, iſt ihnen unedel; als ob nicht Himmel und Erde beſſer waͤre und mehr auf ſich haͤtte, als ein Kruͤppel, der zwiſchen ihnen ſchleicht, und deſſen Konterfeyung mit Gewalt einzige wuͤr - dige Mahlerei ſeyn ſoll.

Bildnerei ſchafft ſchoͤne Formen, ſie draͤngt in einander und ſtellt dar; nothwendig muß ſie alſo ſchaffen, was ihre Darſtellung verdient, und was fuͤr ſich da ſteht. Sie kann nicht durch das Nebeneinander gewinnen, daß Eins dem Andern aushelfe und doch alſo Alles ſo ſchlecht nicht ſey: denn in ihr iſt Eins Alles und Alles nur Eins. Jſt dies unwuͤrdig, leblos, ſchlecht, nichts ſagend; Schade um Meißel und Marmor! Kroͤte und Froſch, Fels und Matratze zu bilden, war der Rede nicht werth, wenn ſie nicht etwa einem hoͤhern Werk als Beigehoͤrde dienen, und alſo nicht Hauptwerk ſeyn wollen. Wo Seele lebt und einen edlen Koͤr - per durchhaucht und die Kunſt wetteifern kann. Seele28Seele im Koͤrper darzuſtellen, Goͤtter, Menſchen und edle Thiere, das bilde die Kunſt und das hat ſie gebildet. Wer aber mit hoher idealiſcher Strenge dies Geſetz abermals den Schilderern, den Mahlern der großen Naturtafel aufbuͤrdet, der greife ja nach ſeinem Kopfe, wie Er etwa zu ſchildern waͤre.

Endlich die Bildnerei iſt Wahrheit, die Mah - lerei Traum: jene ganz Darſtellung, dieſe er - zaͤhlender Zauber, welch ein Unterſchied! und wie wenig ſtehen ſie auf Einem Grunde! Eine Bild - ſaͤule kann mich umfaſſen, daß ich vor ihr knie, ihr Freund und Geſpiele werde, ſie iſt gegenwaͤr - tig, ſie iſt da. Die ſchoͤnſte Mahlerei iſt Roman, Traum eines Traumes. Sie kann mich mit ſich verſchweben, Augenblicke gegenwaͤrtig werden und wie ein Engel in Licht gekleidet, mich mit ſich fort - ziehn; aber der Eindruck iſt anders als er dort war. Der Lichtſtral weicht hin, es iſt Glanz, Bild, Gedanke, Farbe. Jch kann mir kei - nen Theoriſten, der Menſch iſt, vorſtellen, und ſich die zwo Sachen auf Einem Grunde denket.

Laſſet uns einige andere Fragen ſehen, die als Alterkationen zwiſchen beiden Kuͤnſten oft aufge - worfen, zum Theil ſchlecht beantwortet ſind und ſich aus unſerm Geſichtspunkt ſonnenklar ergeben.

Zwei -29

Zweiter Abſchnitt.

1.

Bildhauerkunſt und Mahlerei, warum beklei - den ſie nicht mit Einem Gluͤcke, nicht auf Einerlei Art?

  • Antwort. Weil die Bildnerei eigentlich gar nicht bekleiden kann und die Mahlerei im - mer kleidet.

Die Bildnerei kann gar nicht bekleiden; denn offenbar verhuͤllet ſie gleich unter dem Kleide, es iſt nicht mehr ein menſchlicher Koͤrper, ſondern ein langgekleideter Block. Kleid als Kleid kann ſie nicht bilden, denn dies iſt kein Solidum, kein Voͤlliges, Rundes. Es iſt nur Huͤlle unſres Koͤrpers der Nothwendigkeit wegen, eine Wolke gleichſam die uns umgibt, ein Schatte, ein Schleier. Je mehr es in der Natur ſelbſt druͤckend wird und dem Koͤrper Wuchs, Geſtalt, Gang, Kraft nimmt: deſto mehr fuͤhlen wir die fremde, unweſentliche Laſt. Und nun in der Kunſt iſt ein Gewand von Stein, Erz, Holz ja im hoͤch -ſten30ſten Grade druͤckend! Es iſt kein Schatte, kein Schleier, gar kein Gewand mehr: es iſt ein Fels voll Erhoͤhung und Vertiefung, ein herabhangen - der Klumpe. Thue die Augen zu und taſte, ſo wirſt du das Unding fuͤhlen.

Jn keinem Lande konnte daher die Bildnerei gedeihen, wo ſolche Steinklumpen nothwendig waren, wo der Kuͤnſtler, ſtatt ſchoͤner und edler Koͤrper, Matratzen bilden muſte. Jn Morgen - lande, wo man aus ſehr guten Gruͤnden die Ver - huͤllung des Koͤrpers liebte, wo man ihn als Ge - heimniß betrachtete, von dem nur das Antlitz und ſeine Boten, Haͤnde und Fuͤße, ſichtbar waͤren, in ihm war keine Bildnerei moͤglich, ja im juͤdiſchen Lande gar nicht erlaubt. Bei den Aegyptern ging ſie daher, Trotz des hohen Mechaniſchen der Kunſt, einen ganz andern Weg, ſeitwaͤrts ab vom Schoͤ - nen. Bei den Roͤmern konnte ſie auch wegen der Toga und Tunica, Thorax und Paludament ſich der Nation nie einverleiben, um hoͤher zu ſteigen: ſie blieb Griechiſch, oder ging zuruͤck. Jn der Geſchichte der Moͤnche und Heiligen konnte ſie keine Fortſchritte thun, denn Moͤnch und Nonne waren verſchleiert, der Kuͤnſtler hatte ſtatt Koͤr - per faltige Steindecken zu bilden. Sowohl der Spaniſchen als unſrer Tracht mag ſich etwa die Mahlerei, aber wahrlich nicht die Bildſaͤule er - freuen. Wir haben die Spaniſche zur Ritter -Prieſter -31Prieſter - und Narrentracht gemacht; die unſre, mit Lappen und Flicken, Spitzen und Ecken, Schnitten und Taſchen muͤſte in Marmor ein wah - res Goͤttergewand werden. Ein Held in ſeiner Uniform, allenfalls noch die Fahne in der Hand und den Hut auf ein Ohr gedruͤckt, ſo ganz in Stein gebildet, wahrlich das muͤſte ein Held ſeyn! Der Kuͤnſtler, der ihn machte, waͤre wenigſtens ein ſchoͤner Kommißſchneider. Betaſte die Statue in dunkler Nacht, du wirſt an Form und Schoͤn - heit Wunderdinge in ihr fuͤhlen.

Wie anders die Griechen! Sie, die gebohr - nen Kuͤnſtler des Schoͤnen. Erzhuͤllen und Stein - decken warfen ſie ab, und bildeten, was gebildet werden konnte, ſchoͤne Koͤrper. Apollo, vom Siege Pythonsd)Winkelmanns Geſch. der K. S. 392., kam er unbekleidet? zerbrach der Kuͤnſtler ſich den Kopf, um doch hier einer Arm - ſeligkeit des Ueblichen treu zu bleiben? Nichts! er ſtellte den Gott, den Juͤngling, den Ueberwin - der mit ſeinen ſchoͤnen Schenkeln, freier Bruſt und jungen Baumeswuchſe nackt dar; die Laſt des Kleides wurde zuruͤckgeſchoben, wo ſie am wenig - ſten verbarg, wo ſie den Gang des Edlen nicht hindert, wo ſie vielmehr ſeinem hochmuͤthigen Stande wohl thut und auch nur als die leichte Beute des Ueberwinders ſchwebet. Laokoon,der32der Mann, der Prieſter, der Koͤnigsſohn, bei einem Opfer, vor dem verſammleten Volke, war er nackt? ſtand er unbekleidet da, als ihn die Schlangen umfielen? Wer denkt daran, wenn er jetzt den Laokoon der Kunſt ſiehet? wer ſoll dar - an denken? Wer an die vittas denken, ſanie, atroque cruore madentes, da die hier nichts thaͤ - ten, als ſeine leidende Stirn voll Seufzen und Todtenkampfes zum prieſterlichen Steinpflaſter zu machen? wer an ein Opfergewand denken, das dieſe arbeitende Bruſt, dieſe giftgeſchwollenen Adern, dieſe ringenden und ſchon ermattenden Vaterhaͤnde zu todtem Fels ſchuͤffe? O der Pe - danten des Ueblichen, des Wohlanſtaͤndigen, des ſchoͤnbeſchreibenden Virgils, die ja nur Prieſter - figuren im Holzmantel ſehen moͤgen! und im - mer nur ſolche ſehen ſollten!

Es war vom Griechen Spruͤchwort, daß er lieber Fuͤlle als Huͤlle gab, das iſt, ſchoͤne Fuͤlle, denn ſonſt bekleidete er auch. Philoſophen, Cybelen, hundertjaͤhrige Matronen konnten immer bekleidet da ſtehn; auch wo es Gottesdienſt, und Zweck und Eindruck der Bildſaͤule foderte oder ertrug. Ein Philoſoph iſt ja nur immer Kopf - oder Bruſt - bild: wenn er alſo auch nur, wie Zeno, ſein Haupt uͤber der Steinhuͤlle zeiget! er muß nicht, als Juͤngling oder Fechter da ſtehn. Eine Niobe, dieſe ungluͤckliche Mutter in Mitte ihrer ungluͤck -lichen33lichen Kinder, die huͤlflos um ſie jammern und alle in ihren Schoos fliehen moͤchten, wie es die Juͤngſte thut ſie kniet weit - und reichbeklei - det da, denn ſie iſt Mutter, und ihr Todesſtar - res, gen Himmel gewandtes Geſicht, ſammt der Tochter in ihrem Schooße, iſt Ausdruck genug, auf den der Kuͤnſtler hier wuͤrkte und nicht auf kalte nackte Koͤrperſchoͤnheit. Eine Juno Matro - na unbekleidet, waͤre dem entgegen, was ſie iſt, was ſie ſelbſt vor Paris war; Ehrfurcht ſoll ſie einfloͤßen, nicht Liebe. Das Haupt der Nym - phen und Veſtalinnen, die unſterblich ſchoͤne Diana, muß bekleidet ſeyn, wie es ihr Stand und Cha - rakter gebietet, und die Kunſt es zulaͤßt. Aber eine Geſtalt der Schoͤnheit, der Liebe, des Reizes, der Jugend, Bacchus und Apollo, Charis und Aphrodite, unter einem Mantel von Stein waͤre Alles, was ſie ſind, was ſie hier durch den Kuͤnſtler ſeyn ſollten, verſchleiert und verlohren. Und man kann uͤberhaupt den Grund - ſatz aunehmen, daß wo der Griechiſche Kuͤnſtler auf Bildung und Darſtellung eines ſchoͤnen Koͤr - pers ausgieng, wo ihm nichts Religioͤſes oder Charakteriſtiſches im Wege ſtand, wo feine Fi - gur ein freies Geſchoͤpf der Muſe, ein ſub - ſtanzielles Kunſtbild, kein Emblem, keine hiſtoriſche Gruppe, ſondern Bild der Schoͤn - heit ſeyn ſollte, da bekleidete er nie, da ent -C huͤllte34 huͤllte er, was er Trotz dem Ueblichen enthuͤl - len konnte .

Wir betrachten hier nicht, was dies Nackte auf die Sitten der Griechen fuͤr Einfluß hatte, denn mit ſolchen Spruͤngen von einem Felde ins andere kommt man nicht weit. Nichts iſt feinerer Natur, als Zucht und das Wohlanſtaͤn - dige oder Aergerliche des Auges: es kommt da - bey ſo viel auf Himmelsſtrich, Kleidungsart, Spiele, fruͤhe Gewohnheit und Erziehung, auf den Stand, den beyde Geſchlechter gegen ein - ander haben, inſonderheit auf den Abgrund von Sonderbarkeiten an, den man Charakter der Nation nennt, daß die Unterſuchung deſſen ein eigenes Buch werden duͤrfte. Es konnte den Gothen, die aus Norden kamen, die wuͤrklich zuͤchtiger und unter ihrem Himmelsſtrich an dich - tere Kleider gewoͤhnt waren, bey denen das weib - liche Geſchlecht zum maͤnnlichen uͤberhaupt an - ders ſtand als bei den Griechen, und die uͤberdem die Statuen unter einem verderbten Volke fan - den, das vielleicht ſeinen Untergang mit von ihnen herhatte; ich ſage, dieſen Gothen konnte (auch ihre neue Religion unbetrachtet,) der An - blick der Statuen mit Recht ſehr widrig ſeyn, da - her die meiſten auch ſo ein ungluͤckliches Ende nah - men, ohne daß man deshalb von Gothen auf Griechen geradezu ſchließen muͤſte. Wenn un -ter35ter uns dies nackte Reich der Statuen ploͤtzlich auf Weg und Steg gepflanzet wuͤrde, wie einige neuere Schoͤndenker nicht undeutlich angerathen haben: ſo muß man von dem Eindruck, den ſie da und dem Poͤbel (dem Poͤbel von und ohne Stande) inſonderheit zuerſt, machen wuͤrden, nicht ſo fort auf ein fremdes Volk ganz andrer Sitten und Erziehung ſchließen. Ueberhaupt iſt zuͤchtig ſeyn und geaͤrgert werden, Tugend ausbreiten und die Kunſt haſſen, ſchrecklich verſchieden, wie die Folge noch mehr zeigen wird. Hier iſt auch dieſe Ausſchweifung ſchon zu lang; wir reden hier von Kunſt und von Griechen, nicht von Sitten und Deutſchen. Jch fahre fort.

Wo auch der Grieche bekleiden muſte, wo es ihm ein Geſetz auflegte, den ſchoͤnen Koͤrper, den er bilden wollte, und den die Kunſt allein bilden kann und ſoll, hinter Lumpen zu ver - ſtecken; gabs kein Mittel, dem fremden Drucke zu entkommen, oder ſich mit ihm abzufinden? zu bekleiden, daß doch nicht verhuͤllt wuͤrde? Gewand anzubringen, und der Koͤrper doch ſeinen Wuchs, ſeine ſchoͤne runde Fuͤlle behielte? Wie wenn er durchſchiene? Jn der Bildnerei, bey einem Solido kann nichts durchſcheinen: ſie ar - beitet fuͤr die Hand und nicht fuͤrs Auge. Und ſiehe, eben fuͤr die Hand erfanden die feinen Grie -C 2chen36chen Auskunft. Jſt nur der taſtende Finger be - trogen, daß er Gewand und zugleich Koͤrper taſte; der fremde Richter, das Auge, muß folgen. Kurz, es ſind der Griechen naſſe Gewaͤnder.

Es iſt uͤber ſie ſo viel und ſo viel falſches ge - ſagt, daß man ſich faſt mehr zu ſagen ſcheuet. Jedermann wars auffallend, daß ſie in der Bild - hauerei ſo viel, in der Mahlerei keine Wuͤrkung thun. Und zugleich ſchienen ſie ſo unnatuͤrlich ſo unnatuͤrlich und doch ſo wirkſam? ſo wahr und ſchoͤn in der Kunſt, und in der Natur ſo haͤßlich? alſo ſchoͤn und haͤßlich, wahr und falſch wer giebt Auskunft? Winkel - mann ſagt, daß ſie nichts als Nachbildung der alten Griechiſchen Tracht in Leinwand ſeyn; ich weiß nicht, ob die Griechen je naſſe, an der Haut klebende Leinwand getragen? und hier war eigentlich die Frage, warum ſie der Kuͤnſtler ſo kleben ließ und nicht trocknete? fuͤhren wir ſein Werk, ſeine Kunſt, auf ihren rechten Sinn zu - ruͤck, ſo antwortet die Sache. Es war nehm - lich einzige Auskunft, den taſtenden Finger und das Auge, das jetzt nur als Finger taſtet, zu betruͤgen: ihm ein Kleid zu geben, das doch nur gleichſam ein Kleid ſei, Wolke, Schleier, Nebel doch nein, nicht Wolke und Nebel, denn das Auge hat hier nichts zu nebeln; naſſesGewand37Gewand gab er ihm, das der Finger durch - fuͤhle! Das Weſen ſeiner Kunſt blieb der ſchlan - ke Leib, das runde Knie, die weiche Huͤfte, die Traube der jugendlichen Bruſt, und dem aͤußern Erforderniſſe kam man doch auch nach. Es war gleichſam ein Kleid, wie die Goͤtter Homers gleichſam Blut haben; die Fuͤlle des Koͤrpers, die kein Gleichſam, die Weſen der Kunſt iſt, war und blieb Hauptwerk.

Ganz anders verhaͤlt ſichs mit der Mahle - rei, die, wie geſagt worden, nichts als Kleid iſt, das iſt, ſchoͤne Huͤlle, Zauberei mit Licht und Farben zur ſchoͤnen Anſicht. Sie wuͤrkt auf Flaͤche und kann nichts als Oberflaͤche ge - ben; zu der gehoͤren auch Kleider. Fuͤr unſer Auge ſind dieſe die taͤglichen Erſcheinungen der Wahrheit, des Ueblichen, der Pracht, der Zierde. Eben der Farbe, des Putzes, des ſchoͤ - nen Anſcheins wegen werden ſie oft gewaͤhlt und gemuſtert, ſind der ſchauenden ſchoͤnen Welt ſo viel mehr als Beduͤrfniß warum ſollten ſies nicht auch der ſchauenden ſchoͤnen Kunſt ſeyn? Mahlerei kann Kleid, als das edelſte, was es iſt, bearbeiten, als ein gebrochenes Licht, ein Zauberduft fuͤrs Auge, der alles erhoͤhet, als Nebel und ſchoͤne Farbe; warum ſollte ſies alſoC 3nicht38nicht thun? Warum muͤſte ſie den Vorzug ihres Sinnes dem Mangel eines fremden Sinnes auf - opfern, mit dem ſie nichts gemein hat? Wuͤrde unter den Haͤnden des Bildners ein Kleid das, was es unter ihren Haͤnden, unter dem Zauber - finger des Lichts iſt, ſo waͤre er Thor, wenn ers nicht brauchte.

Es ſind alſo ungemein feine Koͤpfe, die der Mahlerei die nackten Fleiſchmaſſen und wohl gar die naſſen Gewaͤnder anrathen, weil ſie damit ihrer aͤltern lieben Schweſter, Bildhauerkunſt, naͤher komme, und wohl gar antikiſch wuͤrde. Nackt und ſteif und haͤßlich kann ſie freilich damit werden, ohne ein Gutes zu erbeuten, was ihre aͤltere Schweſter mit Naktheit und Naͤſſe erreichet. Das Beduͤrfniß einer fremden Kunſt zum Weſen der Seinigen zu machen und daruͤber die Vor - theile der Seinigen verlieren ſo etwas kommt meiſtens aus dem lieben Modeln und Vergleichen. Juͤngſte Gerichte voll Fleiſch, wie Heu; und Dianenbaͤder wie Fleiſchmaͤrkte! Nichts iſt laͤ - cherlicher, als Statuen aufs Brett zu kleben, und da Kleider gar zu netzen, wo alles bluͤhn und duften ſoll.

Aber die alten großen Mahler ahmten doch Bildſaͤulen nach: von Raphael hat man ja ſo manche Maͤhrchen, daß er das ahmtenſie39ſie aber nicht nach, was nicht aufs Brett gehoͤrt, ohne daß es dadurch dreimal Brett wurde. Eben jene alte große Mahler, welch großes Gefuͤhl hatten ſie vom Wurf der Kleider! wie eben hier die Mahlerei in ihrem Zauberlande des ſchoͤ - nen Truges, in der Werkſtaͤte ihrer Allmacht mit Licht und Farbe ſei. Daß dieſes Kleid rauſche und jenes dufte und ſchwebe; daß man hier in die Falten des Gewandes greift und glaubt, da es doch nur Flaͤche iſt, ſo tief zu greifen: daß dieſe Farbe, dieſer Grund jene Figuren ſo himm - liſch mache, ſo hoͤhe und hebe; jener Wurf, je - ner Wechſel dem Ganzen Lieblichkeit, Anmuth, Mannichfaltigkeit gewaͤhre was ich hier ſo allgemein, ſo unbeſtimmt ſage, welcher Liebha - ber, welcher Meiſter hats nicht in tauſend einzel - nen Faͤllen, mit tauſend Kunſtgriffen und Mei - ſterzuͤgen erprobet? Mahlerei iſt Repraͤſenta - tion, eine Zauberwelt mit Licht und Farben fuͤrs Auge; dem Sinne muß ſie folgen, und was ihr der Sinn fuͤr Zauberſtaͤbe gewaͤhrt, darf ſie nicht wegwerfen.

Selbſt im Reizbaren zur Verfuͤhrung iſt das Nackte in beiden Kuͤnſten gar nicht daſſelbe. Eine Statue ſteht ganz da, unter freiem Himmel, gleichſam im Paradieſe: Nachbild eines ſchoͤnen Geſchoͤpfs Gottes und um ſie iſt Unſchuld. Win - kelmann ſagt recht, daß der Spanier ein ViehC 4gewe -40geweſen ſeyn muß, den die Statue jener Tugend zu Rom luͤſtete, die nun die Decke traͤgt; die reinen und ſchoͤnen Formen dieſer Kunſt koͤnnen wohl Freundſchaft, Liebe, taͤgliche Sprache, nur beym Vieh aber Wolluſt ſtiften. Mit dem Zauber der Mahlerei iſts anders. Da ſie nicht koͤrperliche Darſtellung, ſondern nur Schilde - rung, Phantaſie, Repraͤſentation iſt, ſo oͤfnet ſie auch der Phantaſie ein weites Feld und lockt ſie in ihre gefaͤrbte, duftende Wolluſtgaͤrten. Die kranken Schlemmer aller Zeiten fuͤllten ihre Kabinette der Wolluſt immer lieber mit unzuͤch - tigen Gemaͤhlden als Bildſaͤulen: denn in dieſen, ſelbſt in ſchlummernden Hermaphroditen, iſt ei - gentlich keine Unzucht. Die Chaͤreen alt und neu, erbauen ſich lieber an Gemaͤhlden des Schwans mit der Leda, als an ganzen Vorſtel - lungen deſſelben. Die Phantaſie will nur Duft, Schein, lockende Farbe haben; mit der treuen Natur der ganzen Wahrheit ſind ihr die Fluͤgel gebunden, es ſtehet zu wahr da. Die Bild - ſaͤule bleibt immer nackt ſtehen, aber die ſchoͤne Danae von Titian muß weislich ein Vorhaͤng - chen decken: es iſt die Zaubertafel fuͤr einen ver - dorbenen Sinn, der, verlockt, gar keine Gren - zen kennet.

Auch hieraus ergiebt ſich, warum die Neuen den Alten in ſchoͤner Form weiter nachbleiben,als41als im ſchoͤnen Anſchein. Schoͤner Anſchein kann manches werden, was gerade nicht ſchoͤne Form und die tiefgefuͤhlte, treue, nackte Wahr - heit iſt: zu dieſer zu gelangen ſind unſtreitig jetzo viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann hats unverbeſſerlich geſagt, was unter dem ſchoͤnen Griechiſchen Himmel, in ihrer Frei - und Froͤhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver - huͤlleten Taͤnzen, Kampf - und Wettſpielen das Auge des Kuͤnſtlers gewann. Nur die Formen koͤnnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben, die ſich uns alſo mittheilen, die durch den leben - digen Sinn in uns leben. Es iſt bekannt, daß einige der groͤßten neuern Mahler nur immer ihre geliebte Tochter, oder ihr Weib ſchilderten, un - ſtreitig, weil ſie nichts anders in Seele und Sin - nen beſaßen. Raphael war reich an lebendigen Geſtalten, weil ſeine Neigung, ſein warmes Herz ihn hinriß und alle dieſe, erfuͤhlt und genoſ - ſen, ſein eigen waren. Er gerieth dabei auf Abwege endete ſich ſein unerſetzliches Leben und manche Troͤdelkoͤpfe koͤnnen es gar nicht be - greifen, wie der himmliſche Raphael irrdiſche Maͤdchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht ſeine Umriſſe, ſeine warmen lebendigen Formen; vom Himmel und kalten Statuen allein wuͤrde er ſie nicht bekommen haben. Und doch war Ra - phael noch kein Praxiteles, kein Liſyppus, derC 5ohne42ohne Zweifel dieſe Formen ſo urſpruͤnglich erkennen muſte, als Bildhauerei nicht ſchildert, ſondern ſchafft und darſtellt. So lange alſo nicht das Griechiſche Zeitalter der Knaben - und Maͤdchen - liebe in ſeiner offnen Jugendunſchuld, als Spiel und Freude zuruͤckkehrt: ſo lange der Kuͤnſtler ſteife Modelle von Fiſchbeinroͤcken und Schnuͤr - bruͤſten ſieht, und ja nichts weiter; ſo iſts nur Thorheit, Griechiſche Bildkunſt erwarten oder hervorbringen zu wollen. Sein Sinn verſagt ihm; ſoll er Engelsformen, Apollos - und Hou - risgeſtalten aus der Luft greifen? daher gegriffen ſind ſie Schaumblaſen, die zergehen, ehe er ſie der Hand, vielweniger dem Stein einverleibet. Mit einem großen Theil der Mahlerei, freilich nicht mit dem, der auch ſchoͤne Formen enthaͤlt und als lebendiger Traum zunaͤchſt an jene wa - chende Wahrheit graͤnzet, iſts anders*)Ein neuer, ſehr denkender Kuͤnſtler, Falconet, hat manches fuͤr die reiche und (kurz zu ſagen) mahleriſche Bekleidung der Bildſaͤulen geſagt, was in unſern Zeiten, da den meiſten Anſchauen - den die Bildnerkunſt ſelbſt nur Mahlerei iſt, wahr ſeyn kann; mich duͤnkt indeſſen, es gelte nur als Ausnahme und Huͤlfe, weil wir zur nackten Fuͤlle der Alten nicht mehr kommen koͤnnen, und uns alſo dieſen Mangel durch den Wurf der Klei - der erſetzen moͤgen, die in der Bildnerei doch nie mehr Kleider ſind..

2. Warum43

2.

Warum wird die Bildſaͤule durch Faͤrbung nach der Natur und aͤhnliche Anwuͤrfe nicht ſchoͤn, ſondern haͤßlich? da doch in der Mahlerei Farbe ſo große Wuͤrkung thut.

  • Antwort. Weil Farbe nicht Form iſt, weil ſie alſo dem verſchloßnen Auge und taſten - den Sinne nicht merkbar wird, oder merk - bar ſogleich die ſchoͤne Form hindert. Sie iſt Sandkorn, Tuͤnche, fremder Anwuchs, worauf wir ſtoßen, und der uns vom rei - nen Gefuͤhl deſſen, was die Natur ſeyn ſollte, wegzeucht.

Die obengeſetzte und oft aufgeworfene Frage iſt bisher meiſtens anders beantwortet wor - den: durch Farbe werde die Aehnlichkeit zu groß, die Aehnlichkeit zu aͤhnlich, gar identiſch mit der Natur, das ſie nicht ſeyn ſoll. Man koͤnne die bemahlte Statue in der Entfernung gar fuͤr einen lebendigen Menſchen halten, darauf zugehen, u. d. g. . Wer von dieſen Urſachen etwas verſteht, oder ſich mit ihnen befriedigen kann, dem beneide ich ſeine Zufriedenheit nicht.

Man44

Man hat ebenmaͤßig gefraget: ob Myrons Kuh mehr gefallen wuͤrde, wenn man ſie mit Haaren bekleidete ? und es ſcharfſinnig vernei - net, weil ſie ſodann einer Kuh zu aͤhnlich waͤre. Kuh einer Kuh zu aͤhnlich? das iſt Kuh, aber zu ſehr Kuh? ich antworte gerade hin, weil ſie ſodann fuͤr die Kunſt gar nicht mehr Kuh, ſon - dern ein ausgeſtopfter Haarbalg waͤre. Schleuß das Auge und fuͤhle: da iſt weder Form noch Ge - ſtalt mehr, geſchweige ſchoͤne Form, ſchoͤne Ge - ſtalt. Wenn dort der Hirte, Myrons eherne Kuh wegtreiben wollte, ſo wird dieſe weder Hirte noch Kuͤnſtler beruͤhren, denn ſie iſt einer Kuh gar zu aͤhnlich und doch nicht Kuh , das iſt, Popanz.

Viel feinere Sachen, als Tuͤnche und Kuh - haut muͤſſen von der Statue wegbleiben, weil ſie dem Gefuͤhl widerſtehen, weil ſie dem taſten - den Sinn keine ununterbrochene ſchoͤne Form ſind. Dieſe Adern an Haͤnden, dieſe Knorpel an Fingern, dieſe Knoͤchel an Knien muͤſſen ſo geſchont, und in Fuͤlle des Ganzen verkleidet werden; oder die Adern ſind kriechende Wuͤrme, die Knorpel aufliegende Gewaͤchſe dem ſtillen dun - keltaſtenden Gefuͤhl. Nicht ganze Fuͤlle Eines Koͤrpers mehr, ſondern Abtrennungen, losge - loͤſte Stuͤcke des Koͤrpers, die ſeine Zerſtoͤrung weiſſagen, und ſich eben daher ſchon ſelbſt ent -fernten.45fernten. Dem Auge ſind die blauen Adern un - ter der Haut nur ſichtbar: ſie duften Leben, da wallet Blut; als Knorpel und Knochen ſind ſie uns fuͤhlbar und haben kein Blut und duften kein Leben mehr, in ihnen ſchleicht der lebendige Tod. Ganz anders, wie ſich die Adern der Bildſaͤule beleben, wenn ſie unter den Haͤnden des Kuͤnſtlers und Liebhabers weicher, lebendiger Thon wird. Es iſt, als regten ſie ſich und wallen und leben, aber nicht in aufgelaufenen Stricken; ein himm - liſcher Geiſt, ſagt Winkelmann, der ſich wie ein ſanfter Strom ergoſſen, hat den Umfang der Geſtalt erfuͤllet. Alles alſo lebet, und der ruhige Sinn in ſeiner dunkeln Umſchraͤnktheit kann, je weniger er losgebunden und zertheilt fuͤhlet, ſo mehr im großen Ganzen ahnden.

Die alten Kuͤnſtler ſind in Bildung der Haare ſehr beruͤhmt und geprieſen; mehr aber von Kuͤnſtlern und Literatoren geprieſen als von Theoriſten verſtanden. Wo und wie haben ſie Haare gebildet? wo und wie ſie ſich bilden und auch vom Blinden als Zierde der ſchoͤnen Form taſten ließen. Das zierende Haupthaar der Goͤtter und Goͤttinnen (denn ein kahlkoͤpfiger Roͤmer iſt immer ein duͤrftiges uͤberaltes Ge - ſchoͤpf) machten ſie zum Koͤrper, ohne daß es Steinklumpe wuͤrde: es faͤllt in ſchoͤnen ſchweren Locken herab, oder iſt bey Weibern, wo es zar -ter46ter ſeyn muſte, aufs Haupt gebunden und nicht um den Kopf fliegend. Keiner Bacchante flat - terts, denn es kann ja nicht flattern: dem ſchnell - gehenden zornigen Apollo iſts wie die zarten und fluͤßigen Schlingen edler Weinreben, gleichſam von einer ſanften Luft bewegt, das Haupt um - ſpielend . Bey andern liegts wie eine ſchoͤne Decke (εξομσια) hinauf, bei andern in tiefen Fur - chen hinunter. Nie aber faͤhrts, wie einer ge - mahlten Eva, laͤngelang hinunter, der Geſtalt den Ruͤcken zu rauben, und ſelbſt bei einer Aphro - dite aus Muſchel oder Bade, faͤllets, obwohl naß und Klettenweiſe, doch wohlgeordnet und nicht waldicht hinab: denn dem Gefuͤhl muͤſſen die Haare nie Wald, ſondern ſanfte, nachge - bende Maſſe werden, die ſich endlich ſelbſt ver - liert. Der Mahlerei ſind ſie Farbe, Schatte, Schattierung, die kann ſie ſchon freier ordnen.

Es iſt bekannt, mit welcher Feinheit die Griechiſchen Kuͤnſtler die Augenbranen ihrer Statuen angedeutet haben; angedeutet, in einem feinen, ſcharfen Faden, und nicht in abgetrenn - ten Haaren oder Haarkluͤmpgen gebildet. Win - kelmann haͤlt dieſe Andeutung fuͤr Augenbranen der Gratien und ich halte ſie auch dafuͤr in der Kunſt nehmlich. Jn der Natur iſt der nackte, ſcharfe Faden ganz etwas anders, und auch Griechiſche Natur war und iſts nicht, wiekein47kein Reiſebeſchreiber berichtet oder geſagt hat. Gnug, in der Kunſt ſind ſie Augenbranen der Gratien, dem ſanften ſtillen Gefuͤhl. Was ſollten da die Buͤſche (Stupori) oder die ſich ſtraͤu - benden Bogen? Wer hat nicht geſehen, wie bey abgenommenen erſten Gipsabdruͤcken eines Ge - ſichts jedes einzelne Haar ſo widrig und unſanft thut, als jede Pockengrube oder jede fatale Un - ebenheit und Lostrennung vom Antlitz. Die ein - zelnen Haͤrchen ſchauern uns durch, es iſt wie eine Scharte im Meſſer, nur etwas was die Form hindert und nicht zu ihr gehoͤrt. Der Griechiſche Kuͤnſtler deutet alſo nur an: er ſatzte fuͤrs Ge - fuͤhl die Grenze zwiſchen Stirn und Auge, wie eine ſanfte Schneide hin, und ließ dem Sinn, der daruͤber gleitet, das Uebrige ahnden.

Einige Statuen haben Augapfel. Wo es ertraͤglich ſeyn ſoll, muß er nur angedeutet ſeyn, und die meiſten und beſten haben keinen. Es war ſchlimmer Geſchmack der letzten Jahrhun - derte, da man, ſtatt ſchoͤn zu machen, reich machte und Glas oder Silber hineinſetzte. Eben ſo wars Jugend der Kunſt, die noch aus hoͤl - zernen Denkmalen hervorging, da man die Sta - tuen faͤrbte. Jn den ſchoͤnſten Zeiten brauchten ſie weder Roͤcke noch Farben, weder Augapfel noch Silber, die Kunſt ſtand, wie Venus, nackt da und das war ihr Schmuck und Reichthum.

Daß48

Daß fuͤr die Mahlerei dies alles anders ſei, ſieht jeder. Die iſt fuͤrs Auge und ſpricht fuͤrs Auge: denn Farbe iſt nur der getheilte Lichtſtral, die Augenſprache. Jn ihr kann das Haar ſchwe - ben und duften, und wie Seide ſpielen und ſchlin - gen und ſich umwinden. Die Werke der Mah - lerei ſind nicht blind, ſie ſchauen und ſprechen: das allgegenwaͤrtige Licht kann Einen hellen Punkt zum Auge, das in die Seele geht, bele - ben; es iſt ja Farben-Zauber - und Licht - tafel.

3.

Wie weit kann die Bildnerei Haͤßlichkeiten bilden? und die Mahlerei Haͤßlich - keiten mahlen?

  • Antwort. So weit jeder Kunſt es ihr Sinn erlaubet, das Geſicht dem Gemaͤhlde, dem Bilde das Gefuͤhl. Beide aber ſtehn mit nichten auf Einem Grunde.

Jener Mahler, der einen verweſenden Leich - nam ſo hinzauberte, daß, nicht wie in Poußins Gemaͤhlde, der Zuſchauer auf der Tafel, ſondern jeder leibhafte Zuſchauer ſelbſt,ſich49ſich die Naſe zuhalten mußte, (wenn anders das Maͤhrchen wahr iſt) war gewiß ein eckler Mahler. Der Bildner aber, der einen Leichnam, die ab - ſcheuliche Speiſe der Wuͤrmer, unſerm Gefuͤhl alſo grauſend vorbildete, daß dies in uns uͤber - gienge, uns zerriſſe und mit Eiter und Abſcheu ſalbte ich weiß fuͤr den Henker unſres Ver - gnuͤgens keinen Namen. Dort kann ich mein Auge wegwenden und mich an andern Gegenſtaͤn - den erholen; hier ſoll ich mich blind und langſam durchtaſten, daß alle mein Fleiſch und Gebein ſich zernagt fuͤhlet, und der Tod durch meine Nerven ſchauert!

Ariſtoteles entſchuldigt haͤßliche Vorſtellun - gen in der Kunſt durch die Neigung unſrer Seele ſich Jdeen zu erwecken und an der Nach - ahmung zu vergnuͤgen ; wo beydes geſchehen kann, und wo das Vergnuͤgen dieſer Jdeener - werbung das Gefuͤhl der Haͤßlichkeit uͤbergeht, mag die Entſchuldigung gelten. Nun aber wiſ - ſen wir alle, das Gefuͤhl iſt zu dieſer betrachten - den Contemplation und Jdeenweckung der dun - kelſte, langſamſte, traͤgſte Sinn; da er doch im Empfinden der ſchoͤnen Form der Erſte und Rich - ter ſeyn muß. Er, Jdeen und Nachahmung vergeſſend, fuͤhlt nur, was er fuͤhlt; dies regt ſeine innere Sympathie dunkel aber um ſo tiefer. Eine zerſtoͤrte, haͤßliche, mißgebildete Geſtalt,Dder50der zerfleiſchte Jtys, ein Hippolytus auf Eu - ripides Buͤhne, Medea in allen Verzerrungen ihrer Wuth, Philoktet in den aͤrgſten Zuckun - gen ſeiner Krankheit, gar ein Sterbender im Todeskampf, ein Verweſender im Kampf mit den Wuͤrmern grauſende Objecte fuͤr die langſame fuͤhlende Hand, die ſtatt Jdeen Ab - ſcheu und ſtatt Nachahmung deſſen, was iſt, ſchreckliche Zerruͤttung deſſen, was nicht mehr iſt, wahrnimmt. Grauſame Kunſt! gebildete Mißbildung! Wenn der heil. Bartholomaͤus da halbgeſchunden, mit hangender Haut und zer - fleiſchtem Koͤrper vor mich tritt, und mir zuruft: non me Praxiteles, ſed Marcus finxit Agrati! und ich ſoll ſeine ſchrecklich natuͤrliche Unnatur durchtaſten, durchfuͤhlen; grauſamer Ge - genſtand, ſchweig und weiche! Kein Praxiteles bildete dich, denn er wuͤrde dich nie haben bilden wollen. Dich, wie du biſt, aus dem Steine hervorzufuͤhlen, hervorzuſchinden, welcher Grie - che wuͤrde das vermocht haben?

Nur ſieht jedweder, daß, was von der Bildhauerei gilt, nicht ſofort von Mahlerei und von allen ſchoͤnen Kuͤnſten, ſelbſt wenns nur Gem - men und Muͤnzen waͤren, ſtatt habe. Einige neue eckle Herren haben uͤber dieſe ſo unterſchie - dene Dinge aus einem Kopfe das Loos geſchuͤttet, und zu Haͤßlichkeiten gezaͤhlt, was weder Gottnoch51noch Menſchen dafuͤr erkennen, was ihnen in ihrer Vornehmheit nur diesmal ſo duͤnkte. Loͤwe und Tiger, Schlange und Eidere, Nilpferd und Crocodil, ſind ſie deswegen haͤßlich, weil ſie ſchrecklich ſind, weil ſie uns Grauſen oder Furcht erregen? der Loͤwe, welch ein ſchoͤnes Thier iſt er, auch in der Kunſt des Bildners! die Schlan - ge, wie ſanft windet ſie ſich den Stab Aeſculaps hinauf, und die Schildkroͤte, iſt ſie ein unwuͤrdiges Fußgeſtell fuͤr Gott oder Goͤttin, da ja ſelbſt der Panzer der Minerva Furcht und Schrecken, Schlangen und Meduſen darſtellt? Niemand wirds in den Sinn kommen, ſolche Geſchoͤpfe fuͤr das Hauptwerk der Kunſt zu halten: der Menſch thront auf ihrem Altar, ihm iſt die Bild - ſaͤule heilig. Aber nun, als Beigeraͤth, als Ne - benwerk, als Fußſchemel, welcher Thor darf da verbieten und unterſagen, weil das Geſchoͤpf Gottes ihm haͤßlich duͤnkt und er ſich fuͤr der Spin - ne fuͤrchtet? Wie manches edle Pferd hat mehr die Statue verdient, als ſein Reuter! auch hat Pindar ihm oft und ja unſer Herr Gott ſelbſt ihm die praͤchtigſte Ehrenſaͤule geſtellete)Hiob 39, 19-25.. Aller - dings hat jedes Thier, von je ſchoͤnerer, unab - gebrochener Form es iſt, je mehr es ſich ſchlingt und windet, je naͤher es endlich Goͤttern und Menſchen kommt, und zu ihren Fuͤßen dienet,D 2auch52auch ſo mehr Unrecht auf Bildung von menſch - lichen Haͤnden; aber das verſteht ſich von ſelbſt, und ein treuer Hund, ein ſchoͤnes Pferd wird ohne Zweifel lieber und mehr gebildet werden, als ein gepanzertes Nilpferd oder der Knochen - berg vom Elephanten. Jhrer Natur nach und an ihrer Stelle iſt aber die Eidexe ſo unhaͤßlich als Leda’s Schwan oder der Delphin, der ſich um den Fuß der Meeresgoͤttin ſchmieget.

Auch hier unterſchieden die Begriffe der Al - ten feiner und wahrer. Ein Centaur, ein Mi - notaur, warum ſollte er nicht gebildet werden? Siehe, wie ſchoͤne Ueberſchriften die Griechiſche Anthologie auf beide liefert, wie maͤchtig ſchoͤn ihr der Menſch aus dem Pferde hervorgeht und der Menſch ſich mit dem Pferde baͤumetf)Anthol. l. IV. c. 7.! Si - lenen, Faunen, Satyrs, wir ecklen Neuern nennen ſie haͤßliche Mißgeburten, weil ſie keine Apollos ſind; die Alten nicht alſo. Jhnen war hier das Schwaͤnzchen, dort der Bockfuß, hier das Hoͤrnchen nicht eckel, wenn das Bild nur da ſtand, wohin es gehoͤrte; uns Neuern ſoll alles Altarblatt im Tempel der heiligen Theoria werden. Selbſt das Caledoniſche Schwein war gut und verdiente eine Jnſchrift, wenn es war, was es ſeyn ſollte.

Wo53

Wo die Alten Haͤßlichkeit vermieden, war, wo ſie vermieden werden muß, in Menſchlichen zumal Goͤttlichen Koͤrpern. Da haben Leſ - ſingg)Laokoon: S. 9. u. f. und Winkelmannh)Geſch. d. Kunſt S. 142. u. f. es gnug erwieſen wie ſie auch in Affekt, im Leiden, im Mißtoné ſo viel moͤglich, die Mißform vermieden. waͤhlten den beſten Augenblick, ſtimmten das Hoͤchſte zum Sanften hinunter, oder miſchten ein Fremdes als Linderung in die Zuͤge. So Medea, Niobe, Laokoon. Philoktet hinkte, aber noch ein Held, der auch alſo geſehen zu werden verdiente. Alexanders ſchiefen Hals wandte Li - ſyppus, daß er nach dem Himmel ſah und ſich als Herren der Welt fuͤhlte. Die Nachahmung εις το χειρον war bei Strafe verboten. Der Sieger mußte dreymal geſiegt haben, wenn ihm die Jkoniſche Statue erlaubt war; eine veredelte war ihm erlaubt beym erſten Siege. Mich duͤnkt, dies waren die beſten Wege und die beſten Schran - ken, Haͤßlichkeit der Formen zu vermeiden: eine Haͤßlichkeit, die leicht vermieden werden kann, weil ſie hervorzubringen, hervorzufuͤhlen Muͤhe koſtet, die aber auch, wenn ſie da iſt, ewig bleibt, ſich als Natur, als dargeſtellte Wahrheit unvermerkt eindruͤckt, und Geſchlech - terhinab Unheil anrichtet. Was Haͤßlichkeit inD 3For -54Formen fuͤr Wuͤrkung thue und ſelbſt leſend uns Nervenbau und Gehirn zerreiße, verſuche man an der Beſchreibung des angenehmſten Reiſe - beſchreibers von Sicilieni)Brydone. , in der er den Zauberpallaſt des wahnſinnigſten menſchlicher Daͤmone mittheilt.

Es waͤre hart, ein Geſetz, das ſich offenbar nur und zuerſt auf Form, ganze leibhafte Form beziehet, ſo fort auf jeden Anſchein, Schatten und Farbenwinkel einer andern Kunſt auszubrei - ten, die nichts von Form weiß. Mahlerei iſt eine Zaubertafel, ſo groß, als die Welt und die Geſchichte, in der gewiß nicht jede Figur eine Bildſaͤule ſeyn kann oder ſeyn ſoll. Auch ich liebe das Schoͤne mehr als das Haͤßliche, und mag Verzerrungen ſo wenig auf Tafel als in Geſtalt taͤglich vor den Augen haben; indeſſen ſehe ich doch ein, daß eine zu große Zaͤrtlichkeit, ein zu vornehmer Abſcheu uns endlich die Welt ſo enge macht, als unſer Zimmer und die neueſten, tief - ſten Quellen der Wahrheit, der Rege, der Kraft, zuletzt zur elenden Pfuͤtze austrocknet. Jm Ge - maͤhlde iſt keine einzelne Perſon Alles: ſind ſie nun alle gleich ſchoͤn, ſo iſt keine mehr ſchoͤn. Es wird ein mattes Einerley langſchenklichter, ge - radnaͤſiger, ſogenannter Griechiſchen Figuren,die55die alle daſtehn und paradiren, an der Handlung ſo wenig Antheil nehmen als moͤglich, und uns in wenigen Tagen und Stunden ſo leer ſind, daß man in Jahren keine Larven der Art ſehen mag. Jch gebe es gern zu, daß es beſſer ſei, wenn Gott die Hauptperſon oder Hauptperſonen des Gemaͤhldes ſchoͤn, als wenn er ſie haͤßlich gemacht hat; aber nun auch jede Nebenperſon? jeden Engel, der im Winkel oder hinter der Thuͤr ſteckt? Und nun, wenn dieſe Luͤge von Schoͤnheit ſogleich der ganzen Vorſtellung, der Geſchichte, dem Charakter der Handlung Hohn ſpricht, und dieſe jene offenbar als Luͤge zeihet? Da wird ein Miß - ton, ein Unleidliches vom Ganzen im Gemaͤhl - de, das zwar der Antikennarr nicht gewahr wird, aber der Freund der Antike um ſo weher fuͤhlet. Und endlich wird uns ja ganz unſre Zeit, die fruchtbarſten Sujets der Geſchichte, die leben - digſten Charaktere, alles Gefuͤhl von einzelner Wahrheit und Beſtimmtheit hinwegantikiſiret. Die Nachwelt wird an ſolchen Schoͤngeiſtereien von Werk und Theorie ſtehen und ſtaunen und wiſſen nicht, wie uns war? zu welcher Zeit wir lebten? und was uns denn auf den erbaͤrmlichen Wahn brachte, zu einer andern Zeit, unter ei - nem andern Volk und Himmelsſtrich leben zu wol - len, und dabei die ganze Tafel der Natur und Geſchichte aufzugeben oder jaͤmmerlich zu ver -D 4der -56derben. So viel vom großen Geſetz der haͤß - lichen Schoͤnheit in einer Kunſt, die Phan - taſie des Augenſcheins und eine Tafel der Welt iſt.

4.

Wie weit ſind die Formen der Skulptur oder die Geſtalten der Mahlerei einfoͤrmig und ewig, oder den Modebegriffen ver - ſchiedener Zeiten und Voͤlker un - terworfen und mit ihnen wandelnd?

  • Antwort. Die Formen der Skulptur ſind ſo einfoͤrmig und ewig, als die einfache reine Menſchennatur; die Geſtalten der Mahle - rei, die eine Tafel der Zeit ſind, wechſeln ab mit Geſchichte, Menſchenart und Zeiten.

Wenn ein ganzes Land geſpitzte Schnuͤrleiber und kleine Sineſiſche Fuͤße fuͤr ſchoͤn hielt, vor ihnen auf Ruhebetten und Sopha’s, wie vor Altaͤren des Reizes kniete; ſetzet die Fuͤße als Bildſaͤule aufs Poſtement, und wenn ihr wollet, die engen Schuhe und Stelzenabſaͤtzedrun -57drunter, und es darf kein Wort mehr uͤber ſie geſagt werden: ſie ſprechen ſelbſt. Und die ſpitze Schnuͤrbruſt und der heraufgezwaͤngte Buſen und der thurmhohe Kopfputz und der breite Zel - tenrock desgleichen. Jm gemeinen Leben kann Einiges von dieſen und wenn ihr wollt Alles, durch Nebenbegriffe, durch fruͤhe und alte oder neue Gewohnheit gewinnen. Das kleine Geſicht kann unter dem hohen Kopfputz, der Buſen uͤber dem Trichter vom Leibe, der kleine Fuß unter dem breiten Zelt wohl thun, das iſt, wie der große Montesquieu ſagt, die Jmagination aufwecken, daß ſie herab - oder herabſchluͤpfe, was doch von allen ſehr oft Zweck und Abſicht allein iſt. Nun ſtellet aber die ganze Figur mit Thurm, Zelt und umgekehrtem Kegel als Bildſaͤule dahin, und die Jmagination ſchluͤpft wahrlich nicht mehr. Es iſt ein haͤßliches Unthier von Luͤſternheit und Gothiſchem Zwange, das den Leib verunſtaltet und alle gute Formen vernichtet. Hat die Ge - ſtalt noch Reſt von Gefuͤhl, wie wird ſie ſich die grobe Taille oder den plumpen Silberfuß einer Griechiſchen Ceres oder Thetis wuͤnſchen!

Die Bildſaͤule ſteht alſo als Muſter der Wohlform da, und auch in dieſem Betracht iſt Polyklets Regel das bleibendſte Geſetz eines menſchlichen Geſetzgebers. So wie es einen Strich auf der Erde giebt, in dem die ſchoͤneD 5regel -58regelmaͤßige Bildung Natur iſt: ſo gab Gott Einem Volk dieſes Erdſtrichs Raum und Zeit und Muße, in ihrer Jugend und Lebensfreude das Werk, das aus ſeiner Hand kam, ganz und rein und ſchoͤn ſich zu ertaſten und in daurenden Denkmahlen fuͤr alle Zeiten und Voͤlker zu bilden. Dieſe Denkmahle ſind die klaſſiſchen Werke ihrer fuͤhlenden Hand, wie ihre Schriften des fein - fuͤhlenden menſchlichen Geiſtes: im ſtuͤrmigen Meer der Zeiten ſtehn ſie als Leuchtthuͤrme da und der Schiffer, der nach ihnen ſteuret, wird nie verſchlagen. Es iſt traurig und ewig uner - ſetzlich, aber vielleicht gut, daß die Barbaren viel von ihnen zerſtoͤret haben. Die Menge koͤnnte uns irre machen und unterdruͤcken, ſo wie in der Stadt, die noch jetzt die meiſten beſitzt, es vielleicht den wenigſten Geiſt giebt, der, ihrer werth, ſie umfange und verneue. Auch ſollen ſie nur Freunde ſeyn und nicht Gebieter: nicht unterjochen, ſondern, was auch ihr Name ſagt, Vorbild ſeyn, uns die Wahrheit alter Zeiten leibhaft darſtellen und uns in Uebereinſtimmung und Abweichung auf die Lebensgeſtalten der Un - ſern weiſen.

Zu bewundern iſt daher auch die große Ein - fachheit, mit der ſie daſtehn und ſelbſt dem dun - kelſten Sinne zeugen. Nichts iſt ungewiß fuͤr ihn gelaſſen, nichts verworren oder verſtuͤmmelt. Keine59Keine widrigen Attribute, keine Binde z. E. um den Mund, da der taſtende Sinn ſtatt Mundes ein Maultuch findet, keine Hunds - und Hirſch - koͤpfe, als Allegorien und Embleme, ſelbſt die nothwendigſten Attribute ſo abgetrennet und abge - ſetzt, als moͤglich. Herkules Loͤwenhaut iſt nicht um ihn, hoͤchſtens um ſeinen Arm geſchlun - gen, oder Er ſelbſt ſtatt Loͤwenfelles und Loͤwens. Die Goͤttin der Liebe ohne druͤckende Attribute: ſie ſelbſt iſt Goͤttin der Liebe, in nackte Reize ge - kleidet. Den Laokoon haben die Drachen um - ſchlungen, aber nicht wie’s Virgil beſchreibet, daß er um Hals und Bruſt und Bein dreimal umwunden, dem Gefuͤhl des Nichtſehenden mit ihnen zuſammengewachſen, ein grauſer Menſchen - und Schlangenkoͤrper erſcheine. Er ſtrebt nur mit Fuͤßen und Haͤnden und auch von dieſen iſt ſein linker Arm frei und faſſet den Drachen. So Er und ſeine Kinder: Vater und Sie ſind Ein Geſchlecht, die Drachen ſind ihre Feinde, die ſie jetzt nur alle zu Einem bin - den. Auch an kleinen Theilen des Koͤrpers (meiſtens verſtuͤmmelt oder gar nicht zu uns ge - kommen), ſind die Attribute abgeſetzt, beſtimmt und deutlich. Die Geſtalt der Goͤtter und Goͤt - tinnen war den alten Kuͤnſtlern ſo beſtimmt, daß keine Attribute noͤthig waren, und außer ihnen war den Bildſaͤulen meiſtens nur die aͤlteſte Hel -den -60den - und Fabelgeſchichte, inſonderhelt nach Ho - mer, heilig; das Uebrige mußte Sage und Zu - ſchrift ausrichten. Kurz, ſie gaben Umriß, Geſtalt und Charakter ſo beſtimmt und in ſo wenigen Zuͤgen an, daß es nur wie ein Stern - kreis von Goͤttern und Menſchen ſeyn ſollte, den die ſchreitende Sonne Jahrab Jahrein durchwan - dert. Heil euch, ihr Edeln, die dieſe Ruheſtaͤ - ten und Herbergen an die Veſte des Firmaments Menſchlicher Formen ſetzten: eure Aſche ruhe ſanft und eure Werke bleiben!

Es waͤre uͤbel, wenn es ſich mit der Mahlerei ſo einfoͤrmig verhielte, denn hier iſt nichts zu faſ - ſen und zu halten, ſie iſt die ganze Zauberwelt Gottes auf der Lichttafel. Nichts als das Licht macht ihre Einheit, aber große, unaus - ſprechliche Wundereinheit, bei allem Zauber des Neuen und Mannichfalten. Die Bildſaͤule hat kein Licht: ſie ſteht ſich unaufhoͤrlich ſelbſt im Licht, ſie iſt fuͤr einen andern umfaſſenden Sinn gearbeitet. Von Einem Lichtpunkt der flachen Tafel ergießt ſich ein Zaubermeer von allen Sei - ten, das jeden Gegenſtand, wie in neuer, eigner Schoͤpfung bindet. Jch weiß nicht, wie man - che Theoriſten ſo veraͤchtlich und zufaͤllig von dem, was Haltung, Lichtdunkel heißt, haben ſprechen koͤnnen; es iſt die Handhabe vom Genie eines jeden Schuͤlers und Meiſters, dasAuge,61Auge, mit dem er ſah, das Stralen - und See - lenmeer, mit dem er alles begoß, und von dem ja auch jeder Umriß, jedes geprieſene Angeſicht abhaͤngt. Wer fuͤr dies geiſtige Lichtmeer der Gottheit durch eines Menſchen Antlitz in Ge - maͤhlde oder Zeichnungen keinen Sinn hat, der laſſe ſein Kind ſich Farben klecken und ſchaue. Dies Eine, das Lichtorgan Gottes, die Zauber - welt der Haltung iſt in der Mahlerei, obwohl nach jedes neuen Meiſters Sinne, bleibend; das andre, ſofern es nicht von der fixen Bild - hauerkunſt und alſo von Todten borget, iſt eine Zaubertafel auch in der Verwandlung, ein Meer von Wellen, Geſchichten und Geſtalten, wo Eine die Andre abloͤſt. So muß es auch ſeyn und nur der Geiſt des Kuͤnſtlers und das Organ des ewigen Schoͤpfers bleibe!

Dritter62

Dritter Abſchnitt.

Es iſt ein angenommener Satz unter den Theoriſten der ſchoͤnen Kuͤnſte, daß nur die beiden feinern Sinne uns Jdeen des Schoͤnen gewaͤhren, daß es alſo auch nur fuͤr ſie, fuͤr Auge und Ohr, ſchoͤne Kuͤnſte gebe. Der Satz iſt demonſtrirt, folglich muß er wahr ſeyn, und da aus ihm ſo viel andre Saͤtze demonſtrirt ſind, und das Kartenhaͤuschen der Theorie aller ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaft doch ſo wohlbe - ſtallt daſteht, durch die Staͤbe der Schreiber ge - meſſen und geordnet :k)Richt. 5, 14. 4 Moſ. 21, 18. ſo ſoll mein Stab ihnen mindſtens nicht naͤher kommen, als der Bildſaͤule, die ich betrachte, Raum zu ſtehen Noth iſt.

Mich duͤnkt, P. Kaſtells Farbenklavier hat gnug gezeigt, was eine ſchoͤne Kunſt von Farben fuͤrs Geſicht ſei und was ſie fuͤr Wuͤrkung thue? Es ſind viel falſche oder Halbgruͤnde angefuͤhrt, warum dieſe Kunſt nicht gelang? der wahre, mindſtens der natuͤrlichſte iſt der, daß das Ge - ſicht ohne Beitrag weſentlicherer Sinne nur eine Licht - und Farbentafel, mithin das flachſte Ge -danken -63dankenloſeſte Vergnuͤgen gewaͤhre. Ein Schau - geſchoͤpf ohne Haͤnde, ohne Gefuͤhl von Formen und was ſich durch Formen aͤußert, kurz ein Vo - gelkopf kann ſich daran erbauen; niemand anders. Auch in der Mahlerei muͤſſen Formen der Dinge die Grundzuͤge, die Subſtanz der Kunſt wer - den; nur wie ſie das Licht zeigt, bindet und be - ſtralet. Da nun Formen aus einem andern Sinn ſind, ſo muß ja dieſer Sinn auch empfaͤngig ſeyn der Begriffe des Schoͤnen, weil ja ſelbſt der hellſte Sinn ohn ihn nichts vermag. Das Auge iſt nur Wegweiſer, nur die Vernunft der Hand; die Hand allein gibt Formen, Begriffe deſſen, was ſie bedeuten, was in ihnen wohnet. Der Blinde, ſelbſt der blindgebohrne Bildner waͤre ein ſchlechter Mahler, aber im Bilden gibt er dem Sehenden nicht nach und muͤßte ihn, gleich gegen gleich geſetzt, wahrſcheinlich gar uͤbertreffen

Aber Hogarths Linie der Schoͤnheit ? Dieſe Linie der Schoͤnheit mit Allem, was daraus ge - macht iſt, ſagt nichts, wenn ſie nicht in Formen und alſo dem Gefuͤhl erſcheinet. Kritzelt auf die Flaͤche zehntauſend Reiz - und Schoͤnheitslinien hin, ſind ſie an keiner Form und alſo in keiner Bedeutung, ſo thun ſie dem Auge um ein klein wenig mehr wohl, als jedes Kindergewirre. Und wenn ſie auch nur an Schnuͤrbruſt oder Topf er -ſchienen,64ſchienen, ſo erſcheinen ſie doch an Etwas: alſo einem andern Sinne, alſo urſpruͤnglich nicht dem Auge. Jch begreife es wohl, daß man die auf - ſchwebende Lichtflamme nicht taſten und das wal - lende Meer in jeder Welle nicht als Solidum um - faſſen kann; daraus folgt aber nicht, daß unſre Seele ſie nicht umfaſſe, nicht taſte. Kurz, ſo wie Flaͤche nur ein Abſtraktum vom Koͤrper und Linie das Abſtrakt einer geendeten Flaͤche iſt; ſo ſind beide ohne Koͤrper nicht moͤglich.

Es iſt ſonderbar, daß Hogarth, der die Reiz - und Schoͤnheitslinie, wie man ſagt, erfand, ſo wenig Reiz und Schoͤnheit mahlte. Seine Formen ſind meiſtens haͤßliche Carrikatur, aber voll Charakter, Leidenſchaft, Leben, Wahrheit, weil dieſe auf ihn drang, weil die ſein Genius le - bendig erfaßte. Er zeigte thaͤtlich, was die ge - ſunde Theorie noch mehr beſtaͤrkt, daß alle Um - riſſe und Linien der Mahlerei von Koͤrper und lebendigem Leben abhangen, und daß, wenn dieſe Kunſt nur Anſchein deſſen in einer Flaͤchen - figur giebt, dies nur daher komme, weil ſie nicht mehr geben kann. Jhr Sinn und ihr Medium, Geſicht und Licht verbieten, mehr zu geben; ſie kaͤmpft aber, ſo viel ſie kann, mit beiden, um die Figur vom Grunde zu reißen und der Phan - taſie Flug zu geben, daß ſie nicht mehr ſehe, ſondern genieße, taſte, fuͤhle. Folglich ſindalle65alle Reiz - und Schoͤnheitslinien nicht ſelbſtſtaͤn - dig, ſondern an lebendigen Koͤrpern, da ſind ſie her, da wollen ſie hin.

Jch mache nur Eine Anwendung. Was fuͤr ein Wagſtuͤck alſo, eine flache Linie hin zu mah - len und auf ſie Dinge zu bauen, die eigentlich nur aus dem treuſten Genuß und Gefuͤhl und Jn - newerden des leibhaften Koͤrpers entfpringen koͤnnen? Vorausgeſetzt, daß dieſe Linie treu iſt (und wie ſchwer es ſei, einen Koͤrper zur Flaͤche, ein ganzes Lebende in die Figur einer Linie zu bringen, weiß jeder, ders verſucht hat) gehoͤrt nun nicht noch immer der plaſtiſche Sinn dazu, die Linie wieder in Koͤrper, die platte Figur in eine runde lebende Geſtalt zu verwandeln? und wie wenige das koͤnnen, mag Gott und die Phy - ſiognomik wiſſen! Es koͤnnte uͤber und gegen das, was Silhouette, Sbozzo, bloßer Umriß, gleich - ſam ein gezeichnetes Nichts iſt, nie ſo viel Al - bernes geſagt ſeyn, wenn allen Sehern Sinn bei - wohnte, dies Nichts erſt in ein treues Etwas zu verwandeln, ihm gerade nie mehr zu ge - ben oder minder darinn zu vermuthen, als eben nur dieſer Umriß, das umſchraͤnkte Nichts zeigt. Denn eben dazu ſagts ſo wenig, um, was es ſa - gen ſoll, ſcharf, treu und ganz zu ſagen. Und eben das iſt das ſicherſte Kennzeichen, daß wir, was es ſagt, verſtehen, wenn wirs uns koͤrperlichEmachen66machen koͤnnen, daß die Silhouette als Buſte da ſteht, daß ſie lebe. Da dies aber ſo ſchwer iſt, da die Silhouetten ſo ſchrecklich untreu, nachlaͤßig und unwiſſend gezeichnet werden, da nicht jedes Geſicht im Profil gleich redend iſt, um eine gute Silhouette, d. i. gnug Glieder der Verhaͤltniß zu geben, aus denen die ganze lebende Form er - helle, da eine beſtochene, fliegende oder feindſelige Phantaſie im ſchwarzen oder weißen Fleck eines Schattenbildes eben ſo viel Spielraum findet, al - les hinein zu ſchreiben, was ihr gefaͤllet; ſo iſt wohl naͤchſt Gott und dem Gelde im letzten Lu - ſtrum unſers Jahrhunderts nichts, womit ſo viel Mißbrauch, Abgoͤtterei, Verlaͤumdung, Betrug und Thorheit geſpielt wird, als mit den Schat - tenbildern Menſchlicher Koͤpfe. Der erſte Ver - ſuch der Mahlerei, den ein liebendes Maͤdchen machte und der ewig nur liebhabenden Augen und Haͤnden uͤberlaſſen ſeyn ſollte, die Silhouette iſt jetzt den ſieben Soͤhnen Sceva’s Preis gegeben, die alle den Teufel haben, und (wie ſie ſagen, Lavatern nach, das iſt, ganz ohne ſeinen Blick, Geiſt und Herz) aus Silhouetten weiſſagen und richtenl)Apoſtg. 19, 13-16.. Gebt mir ein, auch nur leidlich treues leibhaftes Kopf - und Bruſtbild, ſo todt es uͤbrigens ſei (denn es iſt nur die Larve vom Todten), auch nur die merkbarſten Scherben davon, und meine lang -ſame67ſame Einfalt mag euch eure glorificirte Jdeale und Anubisgeſtalten, ausgemahlte Silhouetten und ſilhouettiſche Gemaͤhlde noch eine Zeitlang gern ſchenken.

Doch gnug geredet. Wir treten an eine Bild - ſaͤule, wie in ein heiliges Dunkel, als ob wir jetzt erſt den ſimpelſten Begriff und Bedeutung der Form und zwar der edelſten, ſchoͤnſten, reichſten Form, eines Menſchlichen Koͤrpers, uns erta - ſten muͤßten. Je einfacher wir dabei zu Werk gehen, und wie dort Hamlet ſagt, alle Alltags - Kopien und das Gemahl und Gekritzel von Buch - ſtaben und Zuͤgen aus unſerm Gehirn wegwi - ſchenm) all trivial fond records all ſaws of books, : deſto mehr wird das ſtumme Bild zu uns ſprechen und die heilige Kraftvolle Form, die aus den Haͤnden des groͤßten Bildners kam und von ſeinem Hauch durchwehet daſtand, ſich unter der Hand, unter dem Finger unſers innern Geiſtes beleben. Der Hauch deſſen, der ſchuf, wehe mich an, daß ich bei ſeinem Werk bleibe, treu fuͤhle und treu ſchreibe!

Was im Haupt, unter dem Schaͤdel eines Menſchen wohne, welche Hand kann es faſſen! E 2welch68welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab - grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er - tappen an der aͤußern Rinde! Die Gottheit ſelbſt hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem Hainen)Das Haar. bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ - pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch - ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him - mel Ymers Haupt und traͤumten ihn aus ſeinem Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand, der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim - men und der kleine Menſch Begrif und Auszug der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an - derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß - liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund wird, den nur Seine Hand umſpannet und Sein Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die Kraͤfte der Sinne und Lebensgeiſter naͤher ihren Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und derStirn;69Stirn; die ewigern Kraͤfte hingegen naͤher dem Mittelpunkt und endlich den Hintertheil des Haupts als die Wand fuͤhlten, die dem ganzen Spiel der Sinnen und Gedanken Ruͤckhalt ver - lieh und Mauer ſchaffte; obgleich Zufaͤlle und Krankheiten Vieles hievon zu beſtaͤtigen ſcheinen, ſo iſt doch offenbar dies innere Gewebe von zu ver - flochtner feiner Art, als daß man mit Huarteo)Exam. de ingenios. Cap. III. ein Conclave von Cardinalkraͤften zimmern, oder den innern Bau und Saft des Granatapfels nach ſeiner aͤußern Schale entwerfen koͤnnte. Ahnden laͤßt ſich allerdings vieles, und bei einem mit dem Beil zugehauenen, oder zum waͤßrigen Kuͤrbis hinaufgeſchoſſenen, oder zur leeren Dunſtkugel ge - platteten, oder zu einem ſpitzigen Therſiteshoͤcker hinaufgeſchrobnenp)Iliad. B. v. 219., oder endlich gar zur brennen - den Vulkanushoͤle cyklopiſirten Kopfe ahndet man mit Schauer. Mich duͤnkt indeſſen, das um - faſſende Gefuͤhl fliehe die Linien. Die kleinſte Wendung, das mindeſte Weiterhinfuͤhlen kann uns (ſehr entſchiedne Faͤlle ausgenommen,) den blos ſonderbaren Menſchen oft zum Gott, oder den Engel zum Teufel machen. Welcher Menſch weiß, was im Menſchen iſt, ohne der Geiſt des Menſchen, der in ihm iſt? Durch die kleineE 3Hoͤle,70Hoͤle, Ohr, und durch das, was nur Anſchein ei - ner Pforte iſt, Auge, kommen zwo Wunderwel - ten von Licht und Schall, von Wort und Bil - dern in unſern Himmel von Gedanken und Kraͤf - ten, die das wartende Meer deſſelben wunderbar durchweben, es erheben, ſcheiden und theilen, daß die aͤußere Huͤlle dieſes Schatzes, und waͤre ſie auch zart wie eine Seifenblaſe, nimmer ſtatt eines ſichern und ganzen Auslegers ſeyn kann. Wel - cher Pallaſt oder Kaſte voll Geheimniſſes hat auf - geſchrieben, was in ihm wohne? und wo das Jn - nere von der Natur iſt, daß es nicht aufgeſchrie - ben und von außen bemerkt werden konnte? Und was waͤre dies eher, als die Wohnung und Werk - ſtatt der geheimſten Goͤttlichen Kraͤfte? Das Geſicht iſt Tafel und ſpricht, was es ſprechen ſoll: was tiefer liegt, was die Gottheit ſelbſt mit Nacht bedeckte ſcrutari, ſcire nefas.

Wie bedeutend indeß ſelbſt der Hain dieſes Olymps, das Haupthaar, iſt, moͤgen uns die alten Kuͤnſtler in der ſo verſchiedenen Bearbei - tung deſſelben an ihren Goͤttern und Helden zei - gen. Ueber Phidias kam Jupiters himmliſcher Geiſt, als die Ambroſiſche Locke deſſelben im Ho - mer ſank und Erd und Himmel ſich bewegten. Wenn ein zornigſchreitender Apollo, der von den Gipfeln des Olymps kommt,

Χωομενος71
Χωομενος ϰηρ Τοξ̕ ωμοισιν εχων, αμφηρεφεα τε φαρετρην Εϰλαγξαν δ̛ αρ̕ οιςοι επ̕ ωμων χωομενοιο Αυτομ ϰινηϑεντος·

unmoͤglich das Haar Alcides, ſelbſt wenn dieſer eben ſo zornig mit ſeiner Kaͤule ſchritte; und ei - ne Diana niemals das Haar der Venus oder Rhea haben kann; ſo wuͤrde, wenn uns nicht durch elende Kunſt und Mode hier alle Natur und Anſicht derſelben genommen waͤre, der taͤg - liche Augenſchein dieſen reichen Text der alten Kuͤnſtler erklaͤren. So wie ich noch keinen har - ten Mann mit weichem Haar, und kein wolle - nes Schaaf mit Loͤwenmuthe geſehen habe, ſo wie beim jungen Hamlet, nach dem, was ſein Name ſagt, ſeine knotty ſoul bis in die Haare ſteigt und da die combined locks bildet, die nachher

As the ſleeping ſoldiers in th alarm His bedded hairs, like life in excrements Start up and ſtand on end ()

ſo iſt auch ihr natuͤrlicher Wuchs, das Fallen oder Scheiteln oder Wirbeln der Haare von ſonderbarer Bedeutung. Als Mahomed ins Paradies kam, ſahe er den Moſes mit Haaren wie Feuerflamme, den milden Jeſus, als ob Milch und Waſſer des Lebens ihm auf die Schultern floͤſſe. Der Vater aller Goͤtter undE 4Men -72Menſchen, mit krauſem Kopfe, waͤre laͤcherlich, nicht ehrwuͤrdig: da koͤnnte die ſchwere trefliche Locke, die vom erhabnen Scheitel herabfaͤllt, nicht mehr den Olymp erſchuͤttern. Wiederum gebe man einem Simſon, wenn er die Philiſter - naͤgel ausreißt, weiches fließendes Haar und ſie werden wohl ſtecken bleiben. Jch weiß nicht, welcher Philoſoph es bemerkt hat, daß die Men - ſchen mit vielen Wirbeln auch krauſer Gedanken ſind, die ſich nicht eher ordnen und zur Ruhe le - gen, bis das liebe Alter freilich auch ihr Haar, wie ihren Sinn, ſchlichtet. Das alte Spruͤch - wort, kurzer Sinn und langes Haar, iſt be - kannt, und iſt wahr, wie etwa ein Spruͤchwort wahr ſeyn kann. Was wiederum ein ausfal - lendes, ein fruͤhe bleichendes Haar fuͤr Ein - druck bei dem, der es hat und der es ſieht, ma - che, mag die Erfahrung zeigen. Wenn der Mandelbaum fruͤhe bluͤhet und die Hoͤhe ſich ſcheuet und kahl wird, ſo iſts wohl Krone, aber eine nur durch Sorgen errungene Krone. Oft gluͤhet die Hitze das Haar weg und das Haupt ſteht, wie ein Berg in den Wolken, der hoͤchſte und uͤber die andern wegſehend, aber nackt und traurig. Man ſehe Swifts fuͤrchterlich glaͤn - zende Glatze. Wie angenehm und bedeu - tend iſt an Kindern ihr Haupthaar. Wie bei Plato Sokrates mit Phaͤdons, ſo ſpielt, duͤnktmich,73mich, im Meſſias ein Engel mit Benoni’s Lo - cke. Bei Weibern iſt das Haar eine Decke der Zucht, die Schlingen und die Seidenbande der Amors, in deren jedem nach jenem alten orien - taliſchen Wahn, Myriaden der Engel wachen und wohnen.

Das Haupt ſteht auf dem Halſe: das iſt, der Olympus auf einer Hoͤhe, die Veſtigkeit und Freiheit, oder Schwanenſanftheit und Wei - che zeigt, wo ſie iſt, was ſie ſeyn ſoll: ein elfenbeinener Thurm, ſagt das aͤlteſte und wahreſte Lied der Liebe. Der Hals iſts, der ei - gentlich exſeriret, nicht was der Menſch in ſei - nem Haupt iſt, ſondern wie er ſein Haupt und Leben traͤget. Hier der freie, edle Stand, oder das geduldige Vorſtrecken, ein Opferlamm zu werden, oder die ſtarke Herkulesveſte, oder ſeine Misgeſtalten, ſeine Kruͤmmen und Verbergun - gen zwiſchen den Schultern, ſein Baͤrenfett, ſammt dem Calekutiſchen Unterkinne, und wil - den Schweinsroͤcheln ſind auch in Charakter, in That und Wahrheit unſaͤglich. Sowohl, was die Griechen den ſchoͤnen Nacken, als was die Ungriechen Gurgel und Adamsapfel nennen, iſt aͤußerſt bedeutend.

Jch komme zum Antlitz des Menſchen, zur Tafel Gottes und der Seele. Heilige Decke, ver - birg mir den Glanz und zeige mir Menſchheit.

E 5Das74

Das Leuchten des Angeſichts zeigt ſich in - ſonderheit auf der Stirn: da wohnet Licht, da wohnet Freude: da wohnt dunkler Kum - mer und Angſt und Dummheit und Unwiſſen - heit und Bosheit. Kurz, wenn wir Geſin - nung des Menſchen im reinſten Verſtande, (ſo fein ſie weder blos Sinn, noch ſchon Cha - rakter iſt) meinen, ſo iſt, glaube ich, dieſes die leuchtende eherne Tafel.

Jch bin zu einfaͤltig, um Philoſophiſche und Dichteriſche, Politiſch herrſchende oder Politiſch dienende Stirnen zu ſondern oder ins Kabinet zu reihen; aber das weiß ich nicht, wie je ei - nem Anblickenden Eine Stirn gleichguͤltig ſeyn kann. Hinter dieſer Spaniſchen Wand ſingen doch einmal alle Grazien oder hammern alle Cy - klopen, und ſie iſt von der Natur offenbar ſelbſt gebildet, daß ſie das Angeſicht ſolle leuchten laſſen oder verdunkeln. Jm obern Theile der Stirn zeigt ſich unſtreitig entweder jene Stiers - dummheit, die von Natur ein Brett hat und nachher ſo oft eherne Mauer genannt wird: jene Buckeln und Knoten, wie auf Cuchullins oder Achilles Schilde, nur daß er, vielleicht zwar ein geerbter Vaͤterſchild, aber nicht mit der Fi - gurenwelt Vulkanus prangen moͤchte: oft ein biceps Parnaſſus, auf dem leicht zu ſchlummern iſt, wenn man drauf iſt. Oder jene flache Auf -dachung,75dachung, die auf dem Schindeldach gen Him - mel ſteigt und der es nie an Syſtem mangelt. Oder endlich jene hohe Furchen Cronions oder Cronus, die Sorgenvoll uns oft zu Wolken heben, ohne zu wiſſen, was wir da thun und treiben ſollen. Oder endlich jene υλη, jenes re - pertorium univerſale, das ſich meiſtentheils ſelbſt nicht findet. Jch liebe mir die jugendliche Grie - chiſche Stirn, die den Himmel niederdruͤckt und ihn nicht ins Unermaͤßliche woͤlber. So wie der lieben Kindheit der Schleier der Haare uͤber die Stirn faͤllt, daß dahinter der Saame des Le - bens in Zucht und Friede und ſeliger Dumpfheit wachſe: ſo gehoͤrte ein Bernini dazu, die per - frictam frontem wieder hervorzubringen und auch den Statuen den Scheitel wegzureißen, der ja uns freilich minder als die ſeligen Goͤtter klei - det. Seit es den Klugen der Welt oft ſelbſt an Licht fehlt, haben ſie den Brettdurchbohren - den Blick noͤthig, es von der Stirn andrer zu leſen, die vielleicht gerade fuͤr ſie kein Licht ha - ben, und ſo hat ſich rechts und links die aufge - ſtriegelte glatte Mode tief hinunter verbreitet. Wer in einer Jllumination nicht viel Licht hat, thut am beſten, wenn er ſein Stuͤmpchen vors Fenſter ſtellet oder etwa gar ſein Caminfeuer da - hin traͤgt: ſo gehts oft mit dem Licht unſrer Stirnen. Sie glaͤnzen, daß man ſich daranweder76weder freuen noch waͤrmen kann, und das Licht der Johannswuͤrmer lieber haͤtte.

Wo ſich die Stirn herunterſenkt, ſcheint Sinn in den Willen uͤberzugehen. Als Juno den Herkules im Olymp ſahe, mußte ſie, duͤnkt mich, zuerſt von dem Knoten ſeiner Stirn ver - ſoͤhnt werden, den ſie ihm durch alle Sorgen und Gefahren und Kuͤmmerniſſe ihres weiblichen Verhaͤngniſſes da aufgeballt hatte. Hier iſts, wo ſich die Seele zuſammen zieht zum Wider - ſtande: das ſind die cornua addita pauperi, mit denen er entweder in ſeliger Dumpfheit blind ge - het und trift, oder wie jener Jndianiſche Goͤtze, das verſunkne Geſetz aus dem Schlamme des Abgrunds hinaufholet. Wenns auch nur Win - kelmanns Traum waͤre, daß der ſchoͤne Torſo des Herkules ſich da auf ſeine Keule ſenke und in die erheiterte Stirn den Traum des muͤhſeligen Erdenlebens ruffe, gewiß ſo iſts ein ſchoͤner Traum, und ich habe noch keinen Ochſen am Pfluge oder einen Herkules am Ruder des Staats geſehn, dem dieſe Stuͤtzen ſeiner Ruhe und dieſe Waffen ſeines Streits gemangelt haͤt - ten. Oft ſind ſie ſchon an Saͤuglingen da und praͤgen ihr Schickſal, von dem denn freilich das aufgeſchlagne Buch, die flache, lichte, runde, hellumgraͤnzte Stirn kein Wort weiß.

Unter77

Unter der Stirn ſteht ihre ſchoͤne Grenze, die Augenbrane: ein Regenbogen des Friedes, wenn ſie ſanft iſt, und der aufgeſpannte Bogen der Zwietracht, wenn ſie dem Himmel uͤber ſich Zorn und Wolken ſendet. Jn beidem Falle al - ſo Verkuͤndigerin der Geſinnung und Bote des Himmels zur Erde. Was vom Haar all - gemein geſagt wurde, gilt von dieſem Faden der Haare, ſie moͤgen Furie oder Grazie ſeyn, aus - zeichnend. Hier wohnen gewiß Engel in jedem friedlichen ſanften Haͤrchen; oder Flammen ſtei - gen auf ihnen empor. Was an ihnen die Halb - kugeln, die Jgelborſten, die Wirbel, die Grecq - Figuren fuͤr Eindruck machen, kann wohl keine Feder ſchreiben. Und wie ſchwimmt Gegen - theils Auge und Hand ſo ſanft die linde friedliche Augenbrane hinunter! ſie gleitet hinab, wie der Kahn des Lebens in ſchoͤner Morgen - oder Abendroͤthe. Jch weiß nicht, was fuͤr ein Wink dem Verſtaͤndigen angenehmer, anziehen - der ſeyn koͤnne, als hier ein ſcharfer, veſter und doch ſanfter Winkel zwiſchen Stirn und Auge. Er gibt dem Profil einen unausſprechlich intereſ - ſanten Zug und iſt der Huͤgel, auf dem ſich Ge - nien und Grazien ſonnen, um ſich in die Quel - le des Schattenumkraͤnzten lieblichen Auges zu tauchen.

Das78

Das Griechiſche Profil iſt ſo beruͤhmt, daß ich mich ſcheue, davon zu reden. Jeder Cou - noiſſeur weiß, daß es der gerade Schnitt von Stirn zu Naſe ſei, der, weil er Griechiſch iſt, wohl ſehr ſchoͤn ſeyn muͤſſe. Wenn er ihn nach - her an lebenden Perſonen ſieht und da nicht ſo ſchoͤn findet, ſo ſchreibt er etwa, wie jener Schneider in den Kalender, es ſich in ſeinen Volkmann oder Richardſon an: ſchoͤn; aber nur an Griechiſchen Statuen, weil ſie Stein ſind ; und damit hat ſeine Kennerſchaft ein Ende. Nothwendig muß in der lebenden Na - tur eine Urſache der Schoͤnheit liegen oder ſie iſt auch nicht in der todten; und wer verkennete ſie dort? Wer fuͤhlt nicht, daß eine Naſe mit ihrer Wurzel tief unter die Stirn gebogen, gleichſam einen duͤrftigen Anfang habe, und daß der Lebens - othem, der zur Seele kommen ſoll, ſich da wie durch Hoͤle und Abtritt winde? Wer fuͤhlt nicht Gegentheils die unzerſtuͤckte Form, und daß ſo fort unter der Stirn das ganze uͤbrige Geſicht Erhabenheit, Runde, großen Blick und veſtere Caͤlatur erhalte, wenn dieſer Bug der Naſe kein Grabenſprung iſt? endlich und ohn alle dieſe Kuͤnſtelei, wer hat noch nie das Thronmaͤßige einer Junoniſchen Naſe, oder das unendlich Freie, Vor ſich ſehende, Hinduftende einer Naſe des Apollo gemerket? Wie vielleicht nurEin79Ein Himmelsſtrich iſt, der dies Profil in Menge bildet, und der Welſchen Vorwurf nicht ſo ganz ohne Grund ſeyn mag, daß jenſeit der Alpen die Schoͤnheit der Form erliege, ob ichs gleich, wenn die Sache ſelbſt wahr waͤre, mehr auf Stammcharakter des Volks als auf Einwuͤr - kung des Landes und Clima gaͤbe: ſo halte ich doch dafuͤr, daß es bei dem Kuͤnſtler nicht ohne Veredlung dieſes Zuges abging, wieviel Anlage derſelbe im Volk um ſich her hatte. Die Naſe gibt dem ganzen Geſicht Haltung, ſie iſt die Linie der Veſtigkeit und gleichſam das Scheide - gebuͤrge an Thaͤlern zu beiden Seiten; die Kunſt muſte alſo bald gewahr werden, daß mit ihr fuͤr das Ganze Alles gewonnen oder verlohren ſei. Und da erhub ſich denn das Profil, das noch jetzt, nach jener Sprache des Hohenliedes, wie ein Luſtbau ſtehet, der von der Hoͤhe Libanus nach den ſchoͤnen Gegenden Damaskus ſchauet. Nicht der mindeſte Theil dieſes unedlen Gliedes, das Wir kaum zu nennen wagen, iſt unbedeu - tend. Die Wurzel der Naſe, ihr Ruͤcken, ihre Spitze, ihr Knorpel, die Oeffnungen, dadurch ſie Leben athmet, wie bedeutend fuͤr Geiſt und Charakter! Nur iſt auch hier das Hinſchreiben einzelner Zuͤge zu ſehr dem Mißbrauch und Miß - verſtande unterworfen; deute ſich ſelbſt, wer will und kann.

Die80

Die Augen betrachte ich hier nur taſtbar als Glaͤſer der Seele und Brunnen des Lichts und Lebens. Sie liegen zwiſchen Buͤſchen eingefaßt und geſchloſſen: und eben das blinde Gefuͤhl ent - deckts ſchon, daß ihre ſchoͤngeſchliffene Form nebſt Schnitt und Groͤße nicht gleichguͤltig ſei. Eben ſo merkwuͤrdig iſts, wie ſich unten der Aug - knoche ſtarr baͤume oder ſanft verliere? und ob die Schlaͤfen eingefallene Grabhoͤlen oder zarte Ruheſtaͤten ſind, auf denen der Finger des Bluts und Lebens ſchlage? Ueberhaupt iſt die Gegend, wie Augenbrane, Naſe und Auge ſich verhaͤlt, die Gegend des Winks der Seele in unſerm Geſicht, d. i. des Willens und prakti - ſchen Lebens.

Den edlen, tiefen, verborgenen Sinn des Gehoͤrs hat die Natur Seitwaͤrts geſetzt und halb verborgen; der Menſch ſollte nicht mit dem Antlitz fuͤr andre, ſondern mit dem Ohre fuͤr ſich hoͤren. Auch blieb dieſer Sinn, ſo wohlfoͤrmig er da ſteht, ungeziert: Zartheit, Ausarbeitung und Tiefe iſt ſeine Zierde; weh ihm, dem große Lappen des Elephanten zu beiden Seiten herab - hangen, oder weiſe Midasbrabevmen zu beiden Seiten gethuͤrmt ſind: der muß wohl hoͤren und urtheilen, denn ſeine Ohren ſind groß. Ue - brigens uͤberlaſſe ichs den Naturkundigen, ob dieſer Sinn durchs Anpreſſen und Nichtuͤbennicht81nicht ſo verlohren habe, wie das Geſicht durchs Stubenblinzeln und Brillenbrauchen. Jſt dies; ſo kann, was ſchaͤdlich iſt, niemals ſchoͤn ſeyn.

Endlich komme ich zum Untertheil des Ge - ſichts, den die Natur beim Maͤnnlichen Ge - ſchlecht abermal mit einer Wolke umgab, und mich duͤnkt nicht ohn Urſach. Hier ſind die Zuͤ - ge zur Nothdurft, oder (welches mit jenem ei - gentlich Eins iſt) die Buchſtaben der Sinnlich - keit im Geſicht, die bei dem Manne bedeckt ſeyn ſollten. Jedermann weiß, wie viel die Ober - lippe uͤber Geſchmack, Neigung, Luſt - und Liebesart eines Menſchen entſcheide: wie dieſe der Stolz und Zorn kruͤmme, die Feinheit ſpitze, die Gutmuͤthigkeit ruͤnde, die ſchlaffe Ueppigkeit welke: wie an ihr mit unbeſchreiblichem Zuge Liebe und Verlangen, Kuß und Sehnen hange und die Unterlippe ſie nur ſchließe und trage: ein Roſenkuͤſſen, auf dem die Krone der Herr - ſchaft ruhet. Wenn man Etwas artikulirt nen - nen kann, ſo iſts die Oberlippe eines Menſchen, wo und wie ſie den Mund ſchließt: und wenn dieſer von Ambroſia der Liebe und von Nektar der Svade duftet, ſo iſt jene gewiß das Zuͤng - lein der Waage, die ihm die Goͤtterſpeiſe zu - waͤgt.

Außerordentlich bedeutend iſts bei einem Menſchen, wie bei ihm die Zaͤhne fallen undFwie82wie ſich ſeine Backe ſchließt. Ob er ewig knir - ſche und grinſe? oder bei jeder Oefnung den ri - ctum leonis, das χασμ̕ οδοντων mache, das ei - ne unausſtehlich freundliche Zerrung iſt? oder alles ſchlaff hange, und ſtatt einer vollen Lieb - und Ueberredungduftenden Roſe, ein Mundlap - pe da ſei? Ein reiner, zarter Mund iſt vielleicht die ſchoͤnſte Empfehlung des gemeinen Lebens: denn, wie die Pforte, ſo glaubt man ſei auch der Gaſt, der heraus tritt, das Wort des Her - zens und der Seele. Der Ausdruck: an je - mandes Munde hangen; die zwo Purpurfaͤ - den des Hohenliedes, die ſuͤßen Duft athmen: das Spruͤchwort vom verſchloßnen und offnen Munde iſt, duͤnkt mich, lauter Phyſiſches Le - ben. Hier iſt der Kelch der Wahrheit, der Be - cher der Liebe und zarteſten Freundſchaft.

Die Unterlippe faͤngt ſchon an, das Kinn zu bilden, und der Kinnknochen, der von beiden Seiten herabkommt, beſchließt es. Es zeigt viel, wenn ich figuͤrlich reden darf, von der Wurzel der Sinnlichkeit im Menſchen, ob ſie veſt oder loſe, rund oder ſchwammig ſei? und mit welchen Fuͤßen er gleichſam im Erdreich ſte - he? Da das Kinn die ganze Ellypſe des Ange - ſichts ruͤndet, ſo iſts, wann es, wie bei den Griechen, nicht ſpitz, nicht gehoͤlt, ſondern un - unterbrochen, ganz und leicht herabfließt, deraͤchte83aͤchte Schlußſtein des Gebaͤudes, und die Miß - bildung an ihm iſt fuͤrchterlich anzuſchauen. Wenns hier vorgebogen ſteht, als ob die Natur den Kopf an dieſer Handhabe gebildet und nach - her zornig weggeworfen habe: wenn es hier nichts iſt und ſich verkriecht doch gnug, und ſchon zu viel uͤber dieſe Theile geſprochen, die, da ſie tiefe Sinnlichkeit reden, auch ſo wenig deutlicher Sprache faͤhig ſind. Die Natur um - huͤllete ſie beim Manne, und auch unſre Be - ſchreibung ſoll ſie weiter umhuͤllet laſſen.

Wir ſollten ſtatt deſſen beim Manne vom Bart reden, von dem wir jetzt aber nichts mehr reden koͤnnen, als etwa wie oft und ſehr er das Meſſer ſtumpf macht? Die Juden, in ihrem alten Buche Sohar, haben viel Geheimniſſe von ihm, von ſeinen Straßen, Wegen und Win - keln, hinter denen, wo es nicht mißdeuteter Buch - ſtabe der Schrift iſt, manches Phyſiſche ſtecken mag, das wir jetzt nicht verſtehen. Mode und Lebensart wollens, daß wir, wie die Weiber, am Kinn ewig Juͤnglinge und Kinder, nur mit einem Stoppelfelde maͤnnlicher Jahre und auf dem Haupt ewig gepuderte Greiſe oder kahle Grindkoͤpfe mit einer Haarmuͤtze ſeyn ſollen. Als wenn uns die Natur nicht ſo etwas haͤtte geben oder nehmen koͤnnen, wenn ſies gewollt haͤtte!

F 2Bei84

Bei den uͤbrigen Theilen des Menſchlichen Koͤrpers kann ich kuͤrzer ſeyn, denn das Geſicht war ſchon ihr Auszug. Wie auf der Stirn Geſinnung herrſchte, ſo birgt die Bruſt die edlern Eingeweide und iſt ihrer Zeuge. Ein Menſch von freier Bruſt wird in aller Welt fuͤr frei und edel gehalten: man traut ihm etwas zu, er kann doch athmen. Das pectus hirſu - tum, der eherne Panzer um die Seele iſt allen Nationen und Sprachen Spruͤchwort; dagegen die eingebogne, zuſammengeklemmte, keuchende, ſchon von Natur ſich verbergende Therſitesbruſt auch ein natuͤrliches Omen iſt von eingeſchloſſe - nem, zuſammengekruͤmmtem, kriechendem Mu - the. Oft hat der dennoch edle Mann vieles durch Grundſaͤtze uͤberwunden: Gott hat ihm, wie der Koran ſagt, Raum in der Bruſt ge - macht und Luft verſchafft vor ſeinen Draͤngern; noch oͤfter aber wird Muth ſimulirt und Politi - ſche Klugheit ſoll erſetzen, was uns an ihm un - erſetzlich fehlet. Da bekannt iſt, daß nichts hiezu ſo ſehr beitraͤgt, als das liebe Sitzleben, das arbeitende Kriechen auf der Bruſt und nicht einmal auf dem Bauche: ſo habens auch alle Barbaren, d. i. alle Nationen, die noch in freier Natur lebten, erkannt, was dies Leben auf Koͤr - per und Geiſt wuͤrke. Es verdumpft die Stim - me und ſtumpft das Auge, noch mehr aber Sinnund85und Seele. Zagend ſchwebt das Herz in ſeiner engen verdruͤckten Hoͤle, glaubt jeden Augenblick zertreten zu werden und kriecht nach Speiſe und Verlaͤumdung. Welcher Freund, der ſein Haupt an dieſe Bruſt lehnen und ſagen koͤnnte: du biſt mein Fels! welcher Huͤlfloſe Unterdruͤck - te, der ſich an ihr aufrichten koͤnnte und ſagen: hier wohnt Zuflucht! Deſto weiſer aber ſind wir im Haupt und geſchaͤftig mit Mund und Fingern.

Dem Weibe gab die Natur nicht Bruſt ſon - dern Buſen, ſchlang alſo, da hier Quellen der Nothdurft und Liebe fuͤr den zarten Saͤugling ſeyn ſollten, den Guͤrtel des Liebreizes um ſie und machte, wie’s ihre muͤtterliche Art iſt, aus Nothdurft Wolluſt. Des Mannes Bruſt iſt einfoͤrmiger, ſtaͤrker, edler, vollkommen: der Buſen des Weibes ward zarter, voͤlliger, ge - waſchen mit Milch der Unſchuld und gekroͤnt mit der Roſe der Liebe. So lange dieſe ein Knoͤſp - chen bluͤhet und der unreife Huͤgel zur Ernte waͤchſt, ſchlang die Grazie der Jungfrauſchaft ihren Guͤrtel um dieſelbe, in der, nach der Be - ſchreibung jenes Dichters Liebe und Verlangen wohnen. Wenn der Trank der Unſchuld berei - tet iſt und der Unmuͤndige an den Quellen der erſten Mutter - und Kindesfreude hanget, und ſeine kleine Hand ſich an ſie ſchmieget und tap -F 3pet86pet und gnug hat, und Mutter und Kind ſich Eins fuͤhlen am Baume des ſuͤßen Lebens: wel - cher Unmenſch, der hier nicht fuͤhle und ein ver - lohrnes Paradies der Unſchuld ahnde!

Wenn ſchon Winkelmann es beklagte, daß er nicht fuͤr Griechen ſchreibe und alſo vieles muͤſſe verſchweigen: ſo habe ich dieſe Vorſich - tigkeit leider! noch mehr noͤthig, kann alſo auch nur mit wenigen Zuͤgen reden. Wie die Bruſt die edlern Theile barg und ausdruckte, ſo iſt von den aͤlteſten Zeiten und Philoſophen an der Bauch als Sitz der Begierden betrachtet wor - den. Darauf beziehet ſich jene edle Beſchrei - bung Winkelmanns von dem, was Bauch des[Bacchus] heiße: die jugendliche Nuͤchternheit und Maͤßigkeit und ſanfte, wie aus einem ſchoͤ - nen Traum erwachte Fuͤlle, deren Gegentheil eine Form und ein Zuſtand iſt, der ſelbſt in der Beſchreibung widert. Es war dort Fluch der Ausſchweifung und Folge des Waſſers der Bit - terkeiten, daß der Bauch ſchwelle und die Len - den ſchwindenq)4. Moſ. 5, 21-27.; fuͤrs untreue, wohlluͤſtige Weib gewiß die groͤſte Strafe! Es iſt Beſchrei - bung des aͤlteſten Liedes der Unſchuld und Lieber)Hohelied 7, 2.: daß der Bauch ſei ein ſchwebender Weizenhuͤgel, der Nabel ein runder Becher, dems nimmer an Getraͤnk mangelt, der nimmer verlechzt undnimmer87nimmer uͤberſprudelt von Freude; ja die weiſe Maͤßigkeit und Furcht Gottes ſollte, wie aber - mals das aͤlteſte Sittenbuchs)Spruͤchw. 3, 8. ſagt, ſelbſt dem Nabel geſund ſeyn und erquicken die Gebeine. Wir hoͤnen jetzt uͤber dieſe Beſchreibungen der Einfalt, ſo wahr ſie ſind. Wir machen uns Schuͤrze von Feigenblaͤttern, wie jene Erſten, und meiſtens auch aus derſelben Urſach. Jch ſchweige alſo und ſpreche nur noch Ein Wort von Ruͤcken, Hand und Fuß.

Wie an allen, ſo haben die Griechen auch an dieſen Theilen das Schoͤnſte gekannt und gebil - det. Wenn der ſchoͤne Nacken bei Bacchus herabfleußt, und Venus aus dem Bade mit ih - rem gebognen Ruͤcken der Taube herauftritt, und der ſchoͤne Torſo da ſitzt und ſinnet doch wie kann ich beſchreiben? und was hilft beſchreiben, wenn man nicht ſelbſt ſieht und das ſchoͤne Ge - buͤrge hinabgleitet? Und wie uͤber der Huͤfte ſich der Ruͤcken in Weiche verlieret! Prometheus und Pygmalion, konnten ſie anders als umſchlin - gend das ſchoͤne Gebilde, das zarte Verfließen auf jeglicher Stelle gebildet haben? Und die Huͤften, nach der Sprache jenes alten Buches der Unſchuld, zwo Spangen von Meiſterhand, und die Schenkel Apollo’s als Marmorſaͤulen, und das Knie ohne Todgeloͤſete Knoͤchel, alsF 4waͤre88waͤre es aus weichem Ton geblaſen, und die Wa - de des Fußes weder hangend und angeklebet noch duͤrftig; ein ſtrebender Muskel voll Jugendtritt und Staͤrke. Der Fuß endlich, belebt bis zum kleinſten Gliede, nicht losgetrennt vom Ganzen und etwa als der Schuh eines Gewuͤrmes ange - zogen, ſondern Eins mit Allem, das Ganze auf ihn hinabfließend und er das Ganze tragend. Und wie die Schenkel zu Marmorſaͤulen, ſo wand Mutter Natur, die Arme zu zarten Cy - lindern und umſchlang ſie mit dem erſten Braut - kranz der Liebe. Und ſchonte die Spitze des Bogens, und ließ am Weibe die Hand ſanft hinabfließen, in kleine Cylinder. Und bepol - ſterte ſie von innen in jedem ſammetnen Maͤus - chen und in jedem Blumenbuſche der Fuͤhlbar - keit, der auf Gefuͤhl wartet, mit dem erſten Druck der Liebe. Und machte jedes Glied waͤch - ſern und beweglich und regſam, den Finger faſt zu einem Sonnenſtral, und die Milchgewaſche - ne Hoͤhe der Hand zum ungetheilten und Glie - dervollen Huͤgel voll Rege, voll umfaſſenden Le - bens. Und wie der Arm des Mannes ſtrebet! Muskeln ſeine Siegskraͤnze und Nerven ſeine Bande der Liebe. Maͤchtig und frey gehn ſie von den Schultern hervor, die Werkzeuge der Kunſt und Waffen der Tugend. Sie ſind da die Bruſt zu ſchuͤtzen, Geliebte, Freund undVater -89Vaterland zu umſchlingen, ans Herz zu druͤcken, und zu vertheidigen. Und die Hand ein Gebilde voll feinen Gefuͤhls und tauſendfoͤrmiger Orga - niſcher Uebung. Und wie edel der ganze Bau da ſteht: Angeſicht, Stirn und Bruſt zeigend und mit ſeinen Schenkeln ſchreitend. Schauer - lich groß ſind wir gebildett)Pſ. 139, 14., Kunſtreich unſer Gebein gezaͤhlt und gefuͤget, und unſre Nerven geflochten, und unſre Adern als Lebensſtroͤme geleitet. Aus Leim gemacht, und wie zarte Milch gemolken und wie Kaͤſe ſanft geronnen und mit Haut bekleidet und mit Othem Got - tes beſeeletu)Hiob 10, 9-11.. Gebildet (πεπλασμενοι) um und an, und unſer Gebilde (πλασμα) Form von regenden Lebenskraͤften des oberſten Bild - nersx)Hiob 33, 4-6.: kurz die Wahrheit des aͤlteſten Ora - kels uͤber unſern Urſprungz)1. Moſ. 2, 7.:

Επλασεν ο Θεος τον ανϑρωπον, χομν απο της γης. κα〈…〉〈…〉 ενεφυσησεν εις το προσωπον αυτομ πνοην ζωης, κα〈…〉〈…〉 εγενετο ο ανϑρωπος εις ψυχην ζωσαν.
F 5Vier -90

Vierter Abſchnitt.

Die Abſicht des Vorigen iſt wohl weder Lob - rede der Schoͤnheit, noch Beſchreibung der Antike, am wenigſten Phyſiognomik geweſen, da ich weder Kuͤnſtler, noch Antiquar noch Phyſiognom bin, und allgemeine unbe - ſtimmte Ausdruͤcke zu keinem von dreien etwas be - tragen. Der ſimple Satz war meine Abſicht: daß jede Form der Erhabenheit und Schoͤn - heit am menſchlichen Koͤrper eigentlich nur Form der Geſundheit, des Lebens, der Kraft, des Wohlſeyns in jedem Gliede die - ſes kunſtvollen Geſchoͤpfes, ſo wie hingegen Alles Haͤßliche nur Kruͤppel, Druck des Gei - ſtes, unvollkommene Form zu ihrem Endzweck ſei und bleibe . Die Wohlgeſtalt des Men - ſchen iſt alſo kein Abſtraktum aus den Wolken, kei - ne Kompoſition gelehrter Regeln oder willkuͤhr - licher Einverſtaͤndniſſe; ſie kann von jedem erfaßt und gefuͤhlt werden, der, was Form des Lebens, Ausdruck der Kraft im Gefaͤße der Menſchheit iſt, in ſich oder im andern fuͤhlet. Nur die Bedeutung innerer Vollkommenheit iſt Schoͤn - heit.

Um91

Um Wiederholungen zu vermeiden, laſſet uns die vorhergezeigte Menſchengeſtalt in Hand - lung ſetzen, und wir werden gewahr, jedes Glied ſpreche und jemehr es ſeinem Zweck entſpricht, um ſo vollkommener und ſchoͤner ſei es. Bildet ei - nen Philoſophen und gebet ihm eine Stirn, die nicht denkt, einen Herkules und ſenkt ihm keine Kraft zwiſchen die Augenbranen, noch in den Hals, noch in die Bruſt, noch in den ganzen Koͤrper: eine Venus, und mit abſcheulichem Pro - fil, hangenden Bruͤſten und hangendem Mun - de: einen Bacchus der Alten, wie er auf unſern Weinfaͤſſern ſitzt; jedes gemeine Auge wird hier in Handlung fuͤhlen, was ein feiner Sinn in den Geſtalten an ſich, auch ohne Handlung, ge - fuͤhlt haͤtte, nehmlich, daß ſie ihrem Zweck nicht entſprechen, daß eine Goͤttin der Liebe ohne Reiz, eine Diana ohne keuſche Schnelle, ein Apollo ohne Jugendmuth und Stolz, ein Jupiter ohne Hoheit und Ehrfurcht abſcheuliche Geſchoͤpfe ſeyn. Was nun in einzelnen Charakteren und Hand - lungen zutrift, muß geſammlet auch allgemein wahr ſeyn: denn alles Allgemeine iſt nur im Be - ſondern, und nur aus allem Beſondern wird das Allgemeine. Schoͤnheit iſt alſo nur immer Durchſchein, Form, ſinnlicher Ausdruck der Vollkommenheit zum Zwecke, wallendes Leben, Menſchliche Geſundheit. Je mehr ein Glied be -deu -92deutet, was es bedeuten ſoll, deſto ſchoͤner iſts, und nur innere Sympathie, d. i. Gefuͤhl und Verſetzung unſeres ganzen menſchlichen Jchs in die durchtaſtete Geſtalt iſt Lehrerin und Hand - habe der Schoͤnheit.

Wir finden daher, daß jedesmal, wo Eine Form, Ein Glied vorzuͤglich bedeuten ſoll, da trete es natuͤrlich den andern etwas vor: es beut ſich gleichſam ſelbſt und zuerſt und vorzuͤglich der taſtenden Hand dar. Laſſet eine Figur denkend, ſinnend, da ſtehn; ſo gleich ſenkt ſich das Haupt, das iſt, die untern Theile des Ge - ſichts ziehen ſich, wie in den Schatten zuruͤck, und die Stirn wird Haupttheil. Auch ohne Fin - ger an der Naſe ſagt die Geſtalt: ich denke. Laßt einen Jmperator vor ſich ſehen, daß ſein Blick befehle; ſofort wird dieſer Blick das laute Wort des Geſichts, das Auge wird Haupttheil: da - her ſind auch an der Juno die Augen ſo ſchoͤn und groß gebildet, denn es iſt der Koͤnigliche Wink ihres Daſeyns aſt ego regina Deum Laßt einen Apollo Zorn fuͤhlen und ſchreiten: ſo fort treten die Theile ſeines Koͤrpers hervor, die edles Selbſtgefuͤhl und Gang zu ſeinem Zwecke andeuten: die Naſe weht lebenden Othem und macht Raum vor ſich her: die Bruſt, ein ſchoͤ - ner Panzer, woͤlbet ſich edel: die muthigen,laͤn -93laͤngern Schenkel ſchreiten: die andern Glieder ziehn ſich gleichſam beſcheiden zuruͤck, denn ſie ſind nicht in der Handlung. Eine Geſtalt ſoll verlangen, bitten, wuͤnſchen, flehen mit ihrem Munde; unvermerkt beugt dieſer ſich ſanft vor, daß auf ihm Hauch, Gebet, Verlangen, Wunſch, Kuß ſchwebe. Selbſt bis zum Ohre, wenn es horcht, erſtreckt ſich dieſe feine Bewegung und Andeutung. Die Form des handelnden Gliedes ſpricht immer: ich bin da, ich wuͤrke. Und iſt dies im ſeinen zarten Geſicht, um ſo mehr iſts im ganzen Koͤrper. Wie kann die Hand befehlen, ohne daß ſie ſich erhebe und ihr Amt andeute? wie kann die Bruſt ſich darbieten und ſchuͤtzen, ohne daß ſie unvermerkt vortrete und ſpreche: ich bin gewoͤlbet. Ein ſchoͤner Bauch blaͤhet ſich nicht: aber natuͤrlich ſinkt Bac - chus in eine ihm vortheilhafte Stellung: er lehnt ſich ſanft an mit dem Arme, daß ſeine ſchoͤne Weiblichkeit in Ruͤcken und Bruſt, in Bauch und Huͤften in ihrer bedeutenden Sprache rede. Und dies alles ſind keine Kunſtregeln, keine ſtu - dirte Uebereinkommniſſe, es iſt die natuͤrliche Sprache der Seele durch unſern ganzen Koͤrper, die Grundbuchſtaben und das Alphabet alle deſſen, was Stellung, Handlung, Cha - rakter iſt und wodurch dieſe nur moͤglich wer - den.

Alſo94

Alſo weiter. Hat die Natur unſre Menſch - heit nicht zum todten Meer, zum Stillſtande ei - ner ewigen Unthaͤtigkeit und Gefuͤhlloſen Goͤt - terruhe, ſondern zu einem bewegten, ewig ſich regenden Strome voll Kraft und Lebensgeiſtes machen wollen; ſo ſehen wir, auch von außen konnte ihr Werk keine plaſtiſche Larve und Maske einer ſchoͤnen ewigen Unthaͤtigkeit ſeyn, ſondern Lebenswind muſte die Formen beleben. So - fort wird die Schoͤnheit Kraft, Bedeutung in jedem Gliede. Statt des Abſtraks in Wolken, das kein Auge geſehn und kein Ohr gehoͤrt hat, wird ſie auch bey Goͤttern und Goͤttinnen Con - cret d. i. Charakter dieſes Gottes und keines andern. Jede ſchoͤne Form an ihm, wird von dem Lebensgeiſte beſtimmt, der ſein Schif an - wehet und treibet: mithin wird jedes Glied im hoͤchſten Maaſſe individuell bedeutend. Und nur ſo fern es alſo bedeutet, und der Daͤmon, der Charakter, der Eine Goͤttliche Lebensgeiſt ganz und allein in dieſem Bilde erſcheint, ſo fern iſts der ſchoͤne Apollo, die Glorreiche Juno und Aphrodite. Man darf hier abermals we - der in Buchſtaben noch in Wolken ſtudiren, ſon - dern nur ſeyn und fuͤhlen: Menſch ſeyn, blind empfinden, wie die Seele in jedem Charakter, in jeder Stellung und Leidenſchaft in uns wuͤrke,und95und denn taſten. Es iſt die laute Naturſprache, allen Voͤlkern, ja ſelbſt blinden und Tauben hoͤrbar.

Nireus, der ſchoͤnſte aller Griechen vor Tro - ja, thut in der ganzen Jliade nichts und kommt nicht, als im Verzeichniß der Schiffe, zum Vor - ſchein: alle, die darinn handeln, ſtehn als einzel - ne Charaktere, mit veſtbeſtimmten, nicht zer - fließenden, unwandelbaren Zuͤgen da und ſind, die ſie ſind. So der Goͤttliche Agamemnon, an Haupt und Blick dem Jupiter gleich, dem Mars im Gurte, an Bruſt dem Neptun: er ſtand, wie ein Stier da erhaben unter ſeiner Heerde ; aber nur im ruhigſten praͤchtigſten Theil der Jliade vor dem erſten Anfalle ſtand er ſo, nachher hat Homer nicht Zeit ſeine Schoͤne zu ſchildern: Agamemnon handelt. Priamus kann vom Thurm ihn ſchauen und bewundern: Helena preiſen, Homer preiſet nicht mehr. Vom ſchoͤnen Achilles, um den ſich das ganze Gedicht windet, hoͤren wir kein Lob der Schoͤnheit, wir ſollen ihn nur in ſeinem Zorne ſehen, auf die lieb - lichſte Weiſe mit Freundſchaft, Liebe, Vertrau - lichkeit und Saitenſpiel vermaͤhlet. Der Goͤtt - liche Ulyſſes mit ſeiner breiten Bruſt und Schul - tern, als Agamemnon, der als ein dickwol - liger Widder zwiſchen den Reihen der gelagerten Heerde auf und abgeht: Menelaus, der, wenn er96 er ſtand, mit breiten Schultern dem Ulyſſes vorragte, aber wenn beide ſaſſen, ſchien Ulyſſes der Anſehnlichere in ſolchen zwei Zuͤgen, vom muͤſſigen Thurm gezeichnet, ſtehen ſie leib - haft da und zeigen nachher nur die beſtimmte Form ihrer Glieder in beſtimmter einzelner Handlung. So Homer: und daß nicht blos der Epiſche Dichter alſo ſchildert, weil ihn die Handlung fortreißt, ſondern die Griechen ſich nie Schoͤnheit als in beſtimmter Form dachten, mag uns ſelbſt Anakreons Bathyllus lehren. Ein Liedchen der Wohlluſt, denkt man, kann doch wohl am erſten ein geſammleter Duft, ein ſchwe - bendes Gewebe, eine Blumenleſe ſeyn von man - cherlei Traumzuͤgen: es iſts und iſts nicht. Es ſaugt von vielen Blumen den Honig, aber zu einer ſehr beſtimmten Geſtalt: der Juͤngling verwandelt ſich ploͤtzlich in einen Apollo, oder vielmehr Apollo in den Juͤngling und die Statue ſteht da.

Ohne Zweifel hat dies außerordentlich Be - ſtimmte, treu Erfaßte in der Form jeder Stel - lung, jeder Leidenſchaft, jedes Charakters den Griechen zu der Hoͤhe der Kunſt geholfen, die ſeit der Zeit nicht mehr auf der Erde erſchienen iſt. Sie ſahen als Blinde und taſteten ſehend: durch keine Brille des Syſtems oder Jdeals, das et - wa ein ſchwebend Spinnengewebe der Herbſtluftzur97zur Seelenform eines Menſchlichen Koͤrpers haͤtte phantaſiren wollen. Kein Glied von Einem ihrer Goͤtter kann einen andern Gott, keine Stellung ihrer Handlung einen andern Charakter bedeuten, als da ſteht. Ein Geiſt hat ſich uͤber die Sta - tue ergoßen, hielt die Hand des Kuͤnſtlers, daß auch das Werk hielt, und Eins ward. Wer (um ſo gleich ein Schwerſtes anzufuͤhren) wer je am beruͤhmten Hermaphroditen ſtand und nicht fuͤhlte, wie in jeder Schwingung und Biegung des Koͤrpers, in allem, wo er beruͤhrt und nicht be - ruͤhrt, bacchiſcher Traum und Hermaphroditiſ - mus herrſchet, wie er auf einer Folter ſuͤßer Ge - danken und Wolluſt ſchwebt, die ihm, wie ein gelindes Feuer, durch ſeinen ganzen Koͤrper drin - get wer dies nicht fuͤhlte und in ſich gleichſam unwillkuͤhrlich den Nach - oder Mitklang deſſel - ben Saitenſpiels wahrnahm; dem koͤnnen meine nicht und keine Worte es erklaͤren. Eben das iſt das ſo ungemein Sichere und Veſte bei einer Bildſaͤu - le, daß, weil ſie Menſch und ganz durchlebter Koͤrper iſt, ſie als That, zu uns ſpricht, uns veſthaͤlt und durchdringend unſer Weſen, das ganze Saitenſpiel Menſchlicher Mitempfindung wecket.

Jch weiß nicht, ob ich ein Wort wagen und es Statik oder Dynamik nennen ſoll, was da von Menſchlicher Seele in den Kunſtkoͤrper ge -Ggoſſen,98goſſen, jeder Biegung, Senkung, Weiche, Haͤrte, wie auf einer Waage zugewogen, in jeder lebt und beinahe die Gewalt hat, unſre Seele in die naͤhmliche ſympathetiſche Stellung zu verſetzen. Jedes Beugen und Heben der Bruſt und des Knies, und wie der Koͤrper ruht und wie in ihm die Seele ſich darſtellt, geht ſtumm und unbegreiflich in uns hinuͤber: wir werden mit der Natur gleichſam verkoͤrpert oder dieſe mit uns beſeelet. Und daher fuͤhlen wir auch jede neue Ergaͤnzung doppelt widrig, die, ſo ſchoͤn ſie auch ſeyn mag, wenn ſie nicht vom Ganzen des Einen lebendigen Geiſtes beſeelt wird, uns mit Recht als ein fremdes Flickwerk vor - kommt. Nichts muß blos erſehen und als Flaͤ - che behandelt, ſondern vom zarten Finger des in - nern Sinnes und harmoniſchen Mitgefuͤhls durch - taſtet ſeyn, als ob es aus den Haͤnden des Schoͤ - pfers kaͤme.

Nichts preiſen daher die Zuſchriften der Griechiſchen Anthologie an den Statuen ſo ſehr, als dieſe ganze Haltung, dies Durch - und zu uns Leben, das aus ihnen gehet. Jch weiß nicht, ob es eine Zeichnung oder Schilderei erſe - tze, die nur Schatten auf der Flaͤche gibt und vom lebendigen Koͤrper doch auch nur entſpringen muſte; aber das weiß ich, daß, je mehr wir alle Dinge als Schatten, als Gemaͤhlde und voruͤber -ſtrei -99ſtreichende Gruppen anſehen, wir dieſer koͤrper - lichen Wahrheit immer um ſo ferner bleiben. Auch hier komme uns geiſtig das Gefuͤhl und die dunkle Nacht zu Huͤlfe, die mit ihrem Schwam - me alle Farben der Dinge ausloͤſcht und uns an das Haben und Halten Einer Sache heftet. Die Griechen wuſten wenig, aber das Wenige ganz und gut: ſie erfaßtens und konntens geben, daß es zu ewigen Zeiten lebe. So wie das Profil ihres Angeſichts gebildet und nicht gemahlt iſt, ſo ſinds auch ihre Werke.

Wie weit wir da hinter ihnen ſtehen, mag eine zukuͤnftige Zeit richten. Was iſt ſeltner in unſern Tagen, als einen Menſchlichen Charakter zu erfaſſen, wie er iſt, ihn treu und ganz zu hal - ten und fortzufuͤhren? Da muß uns immer die liebe Vernunft und Moral, wie das Licht und die Farbe, zu Huͤlfe kommen, weil er auf ſeinen Fuͤßen nicht ſtehen will und ſich von Seite zu Sei - te, wie ein Geſpenſt, veraͤndert. Das macht, wir ſehen ſo viel, daß wir gar nichts ſehen und wiſſen ſo viel, daß gar nichts mehr unſer, d. i. etwas iſt, was wir nicht gelernt haben konnten, was mit Tugenden und Fehlern aus unſerm Jch entſprang. Heilige Nacht, Mutter der Goͤtter und Menſchen, komme uͤber uns, uns zu er - quicken und zu ſammeln. Non multa, ſed mul - tum. Mit welchem tiefen Verſtande und ſtillenG 2Durch -100Durchgefuͤhle arbeiteten Raphael und Dome - nichino an ihren ewigen Werken. Nicht Ge - maͤhlde; Daͤdalus Bildſaͤulen ſind ſie, und wan - deln und leben.

Das wills alſo nicht thun, daß wir unſern Kindern etwa von Jugend auf, Wachs und Thon in die Hand geben, obgleich auch damit ſchon etwas gethan waͤre und vielleicht niemand zeichnen ſollte, der nicht als Kind lange gebildet und geſpielt hatte. Alle erſten Zeichnungen der Kinder ſind Gebilde auch auf dem Papier: Nachaͤffungen des ganzen lebendigen Dinges, ohne Licht und Schatten, den ſie vielmehr im An - fange gar nicht begreifen, noch einſehen koͤnnen, warum er da ſei und ihr ſchoͤnes Bild verderbe? Er iſt ihnen alſo in der Natur nicht: ihr Auge ſiehet, wie ihre Hand fuͤhlet. Die Natur geht noch immer mit jedem einzelnen Menſchen, wie ſie mit dem ganzen Geſchlecht ging, vom Fuͤhlen zum Sehen, von der Plaſtik zur Piktur. Das waͤre etwas, aber nicht Alles: denn was ſoll nun gebildet werden? Baͤume, Pflanzen, Skor - pionen, unſre Komplimente, unſre Kleider? Die Natur iſt von uns gegangen, und hat ſich verborgen, Kunſt und Staͤnde, und Mechaniſ - mus und Flickwerk ſind da; die ſind aber, duͤnkt mich, weder in Thon noch in Wachs zu bilden.

Gehe101

Gehe man jetzt auf unſre Maͤrkte, in unſre Kirchen und Gerichtsſtaͤten, Beſuchzimmer und Haͤuſer, und wolle bilden. Bilden? was? Stuͤhle oder Menſchen? Reifroͤcke oder Hand - ſchuh? Federwiſche auf Koͤpfen oder Cerimo - nien? Bilden? und wie? durch welchen Sinn? durchs Auge oder durch den Geruch? da ja kein Auge das Auge des Freundes, ge - ſchweige Wange die Wange, Mund den Mund, Hand die Hand kennet. Jn den Ritterzeiten verpanzerte man ſich, um auf einander zu ſtechen; wozu thut mans jetzt?

Griechiſche Spiele, Griechiſche Taͤnze, Griechiſche Feſte, Griechiſche Offenheit, Ju - gend und Freude, wo ſind ſie? wo koͤnnen ſie ſeyn? und wenn auch ſogleich ein Sereniſſimus regens, etwa der Stifter eines neuen Griechen - landes, (ſo wie die fuͤnfte Loge oben Paradies heißt) durch Edikte, ſchwarz auf weiß, und gar bey Trommelſchlag ſie allergnaͤdigſt anbefoͤh - len? Stellet Griechiſche Statuen hin, daß jeder Hund an ſie piſſet, und ihr koͤnnt dem Sklaven, der ſie taͤglich vorbeigeht, dem Eſel, der ſeine Buͤrde ſchleppt, kein Gefuͤhl geben, zu merken, daß ſie da ſei und er ihr gleich werde. So habt ihr alſo doch einen Zaunpfal hingeſetzt, an den er ſich lehne und etwa ſeinen geſchundenen Ruͤcken reibe! An einem beruͤhmten Orte DeutſchlandsG 3iſt102iſt der Paradeplatz mit Statuen umgeben, Grie - chiſche Helden, mit neuem ſpitzen Knie und der Trummel; ich weiß nicht, warum die Ka - maſchen und die Grenadiermuͤtze und das praͤſen - tirte Gewehr und der Kommißrock fehlen? Sonſt halte ichs fuͤr treflich, jeder Schildwache Statuen vorzuſetzen: das Geſchoͤpf hat Zeit, an ihnen Apollo und Jupiter zu werden.

O des erſtickenden edlen Dampfs, den manche neue Griechenlaͤnder ihren kargen Beſol - dern ums Taglohn darbringen! Als obs nicht mit Haͤnden zu faſſen waͤre, daß in niemand der Geiſt des andern uͤbergehen kann, der mit ihm nichts gemeinſchaftliches hat, ſo wenig als Le - ben in den Stein und Blut in die Pflanze? Je - der Juͤngling, der vor’m Griechiſchen Heroen ſtand, hatte in den ſchoͤnen Zeiten Griechenlands Weg und Hoffnung ſeine Statue zu erhalten. Goͤtter und Helden waren alle aus ihrem Ge - ſchlecht, ihre Vorfahren, ihres Gleichen. Ein Spiel, ein Kampf konnte den Juͤngling neben ihn ſtellen und der Kuͤnſtler arbeitete ſo dann fuͤr ſeine Stadt, fuͤr ſein Volk, fuͤr den ganzen Griechennamen. So ſang Pindar und ſetzte ſei - nen Geſang uͤber Statuenlob und Schoͤne. So ſahen, ſo hoͤrten die Griechen den Kuͤnſtler und den Dichter, und wie ſehen, wie hoͤren wir? Es iſt wunderſam, wie ſelten uns nur ein Menſcherſcheint,103erſcheint, und wie noch ſeltner Menſch einen Menſchen umfaſſet, und ihn ſo lieb gewinnt, daß er ihn mit ſich trage und ihn der Ewigkeit gebe. Jn einem beruͤhmten Garten ſind die National - produkte, Alongeperuͤcken, ich glaube mit Pan - zern, in Toͤpferton gebildet ohne Zweifel, das wahreſte Gebilde des Landes.

Doch wozu weiter die unnuͤtzen Klagen, die doch auch kein Griechenland ſchaffen werden? lie - ber zur lieben Schoͤnheitslinie zuruͤck, die ja ganz unter unſern fuͤhlbaren Formen zu verſchwin - den ſchien. Mit nichten verſchwand ſie, hier eben finden wir ſie wahr und koͤrperlich wieder. Mathematik iſt die wahrſte Wiſſenſchaft, nur durch Phyſik wird ſie lebendig, ſo wie Zahl nur in Dingen, die gezaͤhlet werden, da iſt. Und wenn es allerdings einen Mathematiſchen Grund geben muß, warum die Schoͤnheitslinie ſchoͤn iſt, wie doppelt angenehm wird es ſeyn, den abſtrak - ten Grund in jeder konkreteſten Form beſtaͤtigt zu ſehen.

Die gerade Linie naͤhmlich iſt die Linie der Veſtigkeit, das ſagt uns Sinn und Auge. Ein Theil ruhet auf dem andern, haͤngt am andern, unterſtuͤtzt und wird unterſtuͤtzt: ſo wohl ſenk - als waagerecht hat die Natur daher, wo ſie Veſtig -G 4keit104keit noͤthig hatte, dieſe Linie gewaͤhlet. So waͤchſt der Baum im Stamme, und ruhet ver - juͤngt auf ſich ſelbſt: das Vorbild der Veſtigkeit und der ſchoͤnen Saͤule. So liegt, wo Baſe noͤ - thig war, Stein, Erde und ſelbſt das Meer, in Gleiche. So iſt auch beim Menſchlichen Koͤr - per, wo Baſis noͤthig war, Fußſole: wo erhab - ne Veſtigkeit ſeyn ſollte, gerader Stand an Fuß, Schenkel, Hals, Arm und Haͤnden. Nichts ſieht uͤbler, als ein gebeugter Baum, oder eine krumme Saͤule: auch die Hand des Blinden will ſie aufrichten: denn ſie iſt gefallen und kann zer - ſchmettern. So iſt auch ein krummer Hals, krummer Ruͤcken und krumme Beine gerade das, was in der Menſchlichen Geſtalt den Eindruck des veſten Standes und der einfachen Erhabenheit am meiſten mindert. Der Haupttheil unſers Geſichts, der vortritt und die ganze Form deſſel - ben bildet, iſt eine gerade Linie, die Naſe, und die Schiefheit derſelben macht einen laͤcherlichen Eindruck. Man kann zu einem Geſicht mit ſchiefer Naſe faſt nicht reden.

Die Linie der Vollkommenheit iſt der Kreis, wo Alles aus Einem Mittelpunkt ſtralet und in ihn zuruͤckfaͤllt, wo kein Punkt dem andern gleich iſt und doch Alles zu Einem Kreiſe wallet. Wo es anging, hat die Natur die Linie der Richtig - keit mit dem Kreiſe der Vollkommenheit um -wunden.105wunden. So verjuͤngte ſie Pflanzen und Baͤu - me: ſo ſtralt die vollkommene Sonne, und es woͤlbt ſich der umfaſſende Himmel, und der Tropfe ruͤndet ſich, wie die Erde u. f. So hat ſie auch am Koͤrper die Linie der Veſtigkeit mit Rundheit umkleidet: Arm und Beine, Finger und Hals zuſammt dem Himmel, den er traͤgt, ſind geruͤndet: jeder Bruch, jede Ecke und Win - kel dieſer Theile ſind unertraͤglich.

Da aber die Gefaͤße hienieden der Vollkom - menheit nicht faͤhig ſind, und die Linie der rich - tigen Nothdurft ſie immer uͤberwaͤltigend zu ſich ziehet, ſiehe, ſo ward, wie im Weltgebaͤude durch den Streit zweier Kraͤfte die Ellypſe ward, in der ſich die Planeten, ſo hier die Linie der Schoͤnheit, in der ſich die Formen der Koͤrper winden. Sie entſtand, wie bei Plato die Liebe von Beduͤrfniß und Ueberfluß, aus der geraden Linie und Rundheit. Der Cirkel war fuͤr uns zu voll, nicht zu umſchauen, nicht zu umfaſſen; die gerade Linie zu duͤrftig, um den vielſeitigen Organiſmus zu geben, zu dem unſer Koͤrper da ſeyn ſollte. Sie ſchwebt alſo und neigt ſich, damit dies oder jenes uͤberwiege. Jn der ve - ſten Bruſt, im veſten Ruͤcken wenig Kruͤmme, nur Woͤlbung: dieſer iſt Mauer und Stuͤtze, jene Panzer. Der Unterleib, beim Weibe der Bu - ſen, die Glieder der Schwachheit wurden mitG 5Weiche106Weiche und dem Anſchein der Vollkommenheit bekleidet. Nur aber iſts Anſchein: denn ein Kugelbauch, wie ein Kugelkopf und Kugelwade, ſind uͤberfuͤllte Auswuͤchſe, in ihnen ſelbſt der Keim der Zerſtoͤrung.

Woher dies Letzte? Jch wiederhole, weil das Menſchliche Gefaͤß keiner Vollkommenheit und alſo auch keines Zeichens derſelben faͤhig iſt: denn Vollkommenheit iſt Ruhe, ſie aber ſoll wuͤrken, ſtreben. Die Kugelbaͤuche und Kugelkoͤpfe moͤ - gen viel Behaglichkeit, Satte und Allgnugſam - keit in ſich haben; zum Fortſchwunge im Ganzen ſind ſie um ſo minder: ſie tragen uͤber und vor ſich ihren eignen Atlas. Wie das Licht empor - wallet in der Flamme und das Meer aus ſeiner Ruhe in Wellen laͤuft, und die Sonne ſelbſt im Thierkreiſe den Erdkreis ſchlingend umwindet: ſo wird beim Menſchlichen Geſchoͤpf nur durch Be - wegung Reiz, und in Linien, Formen und Thaten iſt Reiz nichts als Schoͤne in Bewegung. Sie entfernt ſich von der Linie der Nothdurft, die ihr doch Baſis bleiben muß, und wallet zur Vollkom - menheit hin, ohne ſich in ſie zu verſenken. Zwi - ſchen dieſen beiden Aeußerſten ſchwebt das Men - ſchengeſchlecht und ſeine beiden Geſchlechte: der Mann auch in ſeinem Stande der Linie der ve - ſten Richtigkeit naͤher, das Weib mit ſchweben - der Schoͤnheit, die Reiz iſt, bekleidet.

Jſt107

Jſt alſo kein Reiz ohne Bewegung; ſo zeigt dieſe, die Morgenroͤthe zur Handlung aber - mals und ſelbſt dem dunkeltaſtenden Sinne: wo - her nur die anbrechende oder gemaͤßigte Leiden - ſchaft und Handlung Reiz verleihe? Jn dieſem Schweben naͤhmlich allein iſt ſie zwiſchen den bei - den Aeußerſten, Nacht und Sonne, zwiſchen Steife und uͤbergieſſender Fuͤlle. Man beruͤhre jedes Glied in ſeinem hoͤchſten Tone, wie kurz iſts zu ertragen! Die emporgezogne Stirn und das grinſende Lieblaͤcheln, das die Augen ſchließt und den Mund verzerret, ein ſich zum Kropf ſenken - des Kinn und die ſich zur Tonne bruͤſtende Bruſt, und der uͤberſtreckte ſpitze Arm und der zu ſcharf angeſtrengte oder verworfene Fuß man taſte alle dieſe Glieder, und man wird Mechaniſch, wie geiſtig, das Abweichen von aller ſchoͤnen Form und Handlung fuͤhlen. Ein ſchreiender Mund iſt der fuͤhlenden Hand eine Hoͤle: das La - chen der Wange eine Runzel. Die ewigen Ge - ſetze der menſchlichen Schoͤnheit ſind alſo Meta - phyſiſch und Phyſiſch, Moraliſch und Plaſtiſch voͤllig dieſelbe. Ein Menſch im Morgen des Jahrs wie des Lebens, im Fruͤhlinge der Be - wegung wie der Handlung, iſt immer Ein ana - loges Geſchoͤpf, die ſchoͤne Mitte zweier Extre - me. Der Schwan, der ſich um die Leda ſchlingt, und Leda, wie ſie ihm zuwallet, Danae, wie ſieden108den Regen erwartet, nicht wie beide von beiden die Frucht zeigen, bilden Linien des Reizes. Fuͤr ihr theuerſtes Beduͤrfniß ſparte die Natur alſo ihre reichſten Schaͤtze auf, und wie jener heilige Schriftſteller ſagt, die Glieder der Unehre ſchmuͤcket man am meiſten. Jch habe noch Ein Wort uͤber das, was Stand oder Fall des Koͤrpers iſt, zu ſagen. Allen ſteht der Kopf auf Schultern; aber nicht allen ſteht er darauf gleich. Bei allen iſt im Mittelpunkt der Schwerpunkt, aber gewiß faͤllt bei allen das Gliedergebaͤu nicht gleich auf denſelben. Wir ſtehn alle auf den Fuͤßen; großer Unterſchied aber, wie der Koͤrper auf ſie faͤllt, auf ihnen ruhet, wie ſich der Fuß - tritt druͤckt. Dieſer ganze Stand und Fall des Koͤrpers iſt ungemein bedeutend. Er zeigt ganz natuͤrlich, die Glieder, die hervortreten oder ſich verbergen, die wie von Natur und unwillkuͤhr - lich gleichſam zuerſt ſprechen, oder die da ſchwei - gen, als waͤren ſie gar nicht. Hiernach beſtimmt ſich der Gang des Menſchen, der fuͤr Phyſiogno - miſten und Antiphyſiognomiſten ſo karakteriſtiſch iſt: hiernach, wie ein Menſch auftritt und ſich zeigt, oder ſitzt und ruhet. An Goͤttern und Faunen, Helden und Satyren, bewieſen auch hierinn die alten Kuͤnſtler unendlich feine Cha - rakterkenntniß, wie weitlaͤuftig gezeigt werden koͤnnte. Ueberhaupt iſt nichts untruͤglicher, alswas109was vom ganzen Koͤrper ſpricht, wenn es ſogar dem Gefuͤhl redet. An einzelnen Theilen kann man ſich irren, aber die Stimme des Allgemei - nen iſt auch hier Gottes Stimme. Sie wapnet uns gegen Traum und Deutelei, inſonderheit ge - gen das partheiiſche Hangen an Einer Form, an Einem Zuge, das uns ſo weit wegbringen kann von Wahrheit. Das beſcheidene Gefuͤhl ta - ſtet langſam, aber unpartheiiſch: es findet viel - leicht wenig, aber was da iſt. Es urtheilt nicht, bis es ganz erfaßt hat.

Es iſt wunderbar, welchen Blick hierinn, wie in Allem, die beiden Geſchlechter gegen einander haben, wie tief der Mann das Weib und das Weib den Mann kennet. Jedes kann ſeinem Geſchlechte Unrecht thun und thut ihm oft, nicht eben aus Neid, Unrecht; aber ſein Urtheil uͤber das Andre iſt, wo es nicht Leidenſchaft verblendet, ſondern Leidenſchaft wapnet, wunderbar ſtrenge. Die Liebe holt das wahre Jdeal, den Engel; Haß, den Teufel aus uns hervor, der in uns liegt, und den wir oft ſelbſt nicht zu ſehen oder zu finden vermoͤgen. Die Urſache iſt klar. Zum allgemein Menſchlichen Gefuͤhle kam noch ein Geſchlechtsgefuͤhl hinzu, das wir ja auch bei den erhabenſten Urtheilen uͤber das, was Menſch iſt, nicht ganz verlaͤugnen. Der Mann muß im - mer, er mag dichten oder regieren, Menſchen oderStatuen110Statuen ſchaffen, als Mann, das Weib im - mer als Weib fuͤhlen.

Endlich kann ich nicht umhin, noch mit Ei - nem Laute die Symmetrie zu preiſen, die ſich, auch ſelbſt dem dunkelſten Sinne ſchon, am Menſchlichen Koͤrper leicht und herrlich offenba - ret. Die Natur waͤhlte immer das leichteſte Verhaͤltniß, Eins und Zwei: ſetzte ſie uͤber und gegen einander und immer die Glieder zuſammen und in vertrauliche Naͤhe, die gemeinſchaftlich ſprechen ſollten. Das edle Eine Haupt ſteht auf dem freien feſten Halſe zwiſchen zwo Schultern, als den Balken des Gliedervollen Gebaͤudes, das es beherrſcht und uͤberſiehet. Es hat die ſchoͤne Ovallinie zur Form und traͤgt das Angeſicht vor ſich. Wie das Haupt auf den Schultern, ſo ru - het im Angeſichte die Stirn auf den beiden Bo - gen der Augenbrane, wie ein Gedankenhimmel allein und oben. Zwiſchen den Augenbranen tritt Seele und Stirn auf einen Punkt, und zu beiden Seiten woͤlbt ſich der edelſte Sinn, das Auge, abermals in der ſchoͤnſten Linie der Ellypſe. So ſteht die Naſe und der Mund abermal zwiſchen zwei Blumengelaͤndern, den Wangen, bis die Ellypſe des Haupts ſich mit dem veſten Kinne ſchließt kurz, man kann ſich mit den Sieben Buchſtaben, die unſer heiliges Antlitz bilden, kei - nen Stand und kein Verhaͤltniß denken, wasleichter111leichter zu faſſen, zu ſammlen, zu ordnen waͤre, und zugleich ſo viel Mannichfaltigkeit und Ver - ſchiedenheit darboͤte, als das ſchoͤne Zuſammen - ſtralen und Abwechſeln der Stirn und der Augen, der Naſe und der Wangen, des Mundes endlich, der auf dem Kinne ruhet. Eins unter - ſtuͤtzt, hebt, traͤgt das andre, faſt wirds dem ta - ſtenden Gefuͤhle ſchon, was es durchs Licht dem Auge ſo unendlich mehr iſt, Antlitz. Offenbar nach eben dem Bau und den Gliedern derſelben Verhaͤltniß iſt der ganze Koͤrper gebildet: daher die Wilden ſich abermals auf Bruſt und Knie ein Menſchenantlitz mahlen. Die beiden War - zen der Bruſt uͤber dem Nabel, der Unterleib uͤber den Fuͤßen, wie die Bruſt unter den Fittigen der Arme, ſind Ein Verhaͤltniß: jedes gehoͤrt zum andern, als Eins oder Paar, und ſpricht zu und mit ihm, was es ſprechen ſoll. Die Anzahl und Bildung der Finger, die wir aus einem halben Kreiſe geſchnitten, in einer Ordnung, die nicht vermehrt und vermindert, nicht verſetzt noch ver - ſtuͤmmelt werden kann, daſtehn, beſtaͤtigt daſſelbe; kurz, uͤberall eine einfache und harmoniſche Weis - heit, die in und fuͤr uns gefuͤhlt, gemeſſen, geord -net,112net, Umfang und Fuͤlle beſchraͤnkt hat. Sie goß die Seele in ein tauſendfach organiſirtes aber ſehr einfach begraͤnztes, leicht zu umfaſſendes Maas, und machte Punkte der Vereinigung, wo und wie oft, und auf wie zarterer Stelle ſie ſie machen konnte. So findet Auge das Auge, ſo druͤckt ſich Mund an Mund und Bruſt an Bruſt, und blickt und ſaugt in ſich Othem der Liebe. Man verruͤcke die Zuͤge des Geſichts, man verpflanze und wechsle Glieder; mit und ohne Auge muß man grauſen, wie immer die kleinſte Mißbildung zeiget. Was wir in der Optik und in den anordnenden Kuͤnſten uͤberhaupt von feinen Ge - ſetzen des Wohlſtandes und der Wohlgeſtalt des Eben - und Unebenmaaßes entdecken werden, findet ſein groͤßtes Vorbild in dem edeln Werke, das uͤberall, wie es ſcheint, der großen Mutter Liebling und Augenmerk war, in der Menſchen - geſtalt und Menſchenſchoͤne.

Fuͤnfter113

Fuͤnfter Abſchnitt.

Jch fragte eine Blindgebohrne*)Jm Jahr 1770.: welcher Tiſch, welches Gefaͤß ihr lieber ſei? das eckige oder runde ? Sie antwor - tete: das Runde, den dies ſei ſanft und wohl zu faſſen, und am runden Tiſch ſtoße man ſich nicht. Vielleicht iſt dies Alles, was uͤber die Linie der Schoͤnheit ſo ſimpel geſagt werden kann. Warum ein runder Arm, eine ſchlanke Taille ihr wohlgefiele ? weil ſie geſund, rege und leicht iſt. Geſpenſt ſtellte ſie ſich als einen kalten Hauch vor, der ſie verfolge, und Lieblichkeit ſuchte ſie in ſchoͤner veſter Stimme, Zuthulichkeit, gefaͤlligem Duft und ſanfter Waͤrme: gerade wie Saunder - ſon und andre Beiſpiele. Jch reichte ihr eine Statue, ſie kannte und nannte jeden Theil und fand ihn gut; als ſie ans Kleid kam, ſtutzte ſie und wußte nicht, was es ſei: denn es war die erſte Statue, die ſie faßte. Sonſt machte ſie mein Stand zu furchtſam, und die Entfernung ih - res Orts, verſagte mir weitere Nachforſchung. Sie hatte in ihrer Sprache alle Ausdruͤcke desHSin -114Sinnes, den ſie nicht beſaß, nur ſie verſtand kei - nen: es war aufgeſchnapptes Papageienweſen, wie ein großer Theil der Sprache bei uns Men - ſchen mit fuͤnf Sinnen immer fort iſt. Uebri - gens halte ich Maͤngel von dieſer Art fuͤr die ein - zige ſicherſte Quelle, unſre Sprache und Begriffe der ſo verflochtnen Sinnlichkeit zu ſcheiden und jedem Sinne wiederzugeben, was ſein iſt. Wenn je eine praktiſche Vernunftlehre, ein philoſophi - ſches Lexicon der Sprache, Sinne und ſchoͤnen Kuͤnſte geſchrieben wird, wo jedes Wort, jeder Begriff ſeinen Urſprung finde, und wo den Gaͤn - gen nachgeſpuͤrt werde, wie er ſich von Sinn zu Sinn, von Sinn zu Seele uͤbertrage? ſo, duͤnkt mich, muͤſſen Verſuche der Art Leitfaden ſeyn, oder alles bleibt Labyrinth und Vernunftgewaͤſche, wie es jetzt iſt.

Jn dieſem Buche iſt uͤber Einen Sinn, und aus Einer Kunſt und Klaſſe von Begriffen eine kleine Anfangsprobe. Honny ſoit qui mal y penſe, und der, was aufrichtiges Tappen nach Wahrheit, Richtigkeit, Einfalt war, was zuͤchti - ges Gefuͤhl bedeutungsvoller Formen der Schoͤ - pfung Gottes und nicht Unzuchtbegriffe wecken ſollte, mit Anmerkungen eines Gecken, oder An - wendungen eines Buben entehret. Das Beſte kann zuerſt gemißbraucht werden, eben weil an ihm etwas zu mißbrauchen iſt; ja die Wahrheit,die115die nicht auf der Gaſſe liegt, muß ſich eben vom Sprachgebrauch manchmal entfernen. Nur iſts noch keinem Aſtronom eingefallen, ſeine Theorie vom Weltſyſtem deßhalb zu aͤndern, weil der Sprachgebrauch anders redet. Kann ers erklaͤ - ren, warum der ſo reden mußte? ſo iſt Alles ge - than und ſeine Gruͤnde gelten. Jſts ein Meta - phyſiſch - und Phyſiſch erwieſener Satz, daß nur koͤrperliches Gefuͤhl uns Formen gebe , ſo muͤſſen die Ableitungen deſſelben in jeder Kunſt und Wiſſenſchaft wahr ſeyn, geſetzt, daß ſie auch nicht ſo manche neue Berichtigung und Erlaͤute - rung gaͤben, als, mich duͤnkt, dieſe der Bemer - kung erfahrnerer Forſcher gewiß noch geben koͤn - nen. Verſuche es der Schuͤler der Kunſt, und wo ſeinem Geſicht in der Form etwas dunkel, wi - derſinnig und zweifelhaft ſcheinet, oder wo er zu flattern und uͤberhin zu gleiten befuͤrchtet: er ver - ſuche und lege den Finger ſeines innern Sinnes an, um nach Geſtalt des Geiſtes in dieſer Form zu tappen, wo er nicht erkennen konnte: iſt ſeine Seele rein und ſtill und ſein Sinn zart, ſo wird er bald Aufſchluß des untruͤglichen ſtummen Ora - kels hoͤren und ſeine Hand wird, wie von ſelbſt, ſtreben, nachzubilden, was er erfaßt hat.

Jch koͤnnte meinen Satz durch die Geſchich - te der Kunſt fuͤhren und uͤber das Wort PlaſtikH 2und116und Torevtik, uͤber αγαλμα und ſignum, το - ρευμα und caelaturam, βαιτυλια, ξοανα, βρετη u. f. treflich metagraboliſiren. Jch koͤnnte zei - gen, daß die Bildhauerkunſt uͤberall nur ſo habe entſtehen koͤnnen, wie ſie bei unſern Kindern ent - ſteht, in deren Haͤnden ſich Wachs, Brot, Ton ſelbſt bildet: zeigen, daß die Griechen in ihren Modellen dem Urſprunge der Kunſt treu blieben, ſo fern ſie ihm treu bleiben mußten, und daß die Methode zu modelliren, die Michael Angelo gebrauchte und Winkelmann ſo ſehr ruͤhmeta)Gedanken uͤber die Nachahmung. S. 28. f., nichts als das ſei, wovon wir reden. Naͤmlich das jeder Form und Beugung ſich ſanft an - ſchleichende und anplaͤtſchernde Waſſer wird dem Auge des bildenden Kuͤnſtlers der zarteſte Finger , der durch den Wiederſchein gleich - ſam an mehrerer Runde, ſchwebendem Zauber und Lieblichkeit viel gewinnet. Jch koͤnnte ſa - gen, daß die ſo natuͤrliche Vielfoͤrmigkeit der Griechiſchen Bilde, da jeder Muſkel ſchwebt, da nichts Tafel wird und keine Seite, keine Vier - theilſeite des Geſichts, wie die andre, folglich auch nie durch Kupferſtiche, Zeichnungen, Ge - maͤhlde darzuſtellen oder zu erſetzen iſt, uns Zug fuͤr Zug und faſt unwillkuͤhrlich auf jede weiche Stelle, jede zarte Form taſtend ziehe u. dergl. Wozu117Wozu aber Alles, was ſich, wenn mein Satz wahr iſt, jeder ſelbſt ſagen kann und wird.

Jch ſchließe mit einigen allgemeinen Anmer - kungen uͤber mißverſtandne, folglich ſcharfbeſtrit - tene Gegenden der Kunſtgeſchichte.

1. Die bildende Kunſt, ſobald ſie Kunſt wird und ſich von ſignis, d. i. religioͤſen Zeichen und Denkmahlen, Kloͤtzen, Hoͤlzern, Steinhaufen, Pfeilern, Saͤulen entfernt, muß nothwendig zu - erſt ins Große, Erhabene und Ueberſpannte gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe und Mitgefuͤhl erreget. Bei Kindern, Blin - den, und Sehendwerdenden iſts noch alſo, und wird, was auch die Philoſophie predige, immer alſo bleiben. Jener Blindgeweſene ſah Men - ſchen, als ſaͤhe er Baͤume: Cheſeldens Blindem Lagen alle Figuren als eine ungeheure Bilderta - fel ſich bewegend dicht vorm Auge: aller erſte Anblick und Eindruck, den Kinder und Unerfahr - ne von einer Statue haben, iſt gerade wie Daͤ - dals Saͤulen beſchrieben werden. Ehrfurcht, die beinah Schrecken wird und Schauer, Ge - fuͤhl, als ob ſie wandelten und lebten, ſo gera - de und viereckt ſie dem Auge des Kuͤnſtlers da - ſtehn moͤgen, ſind die erſten Eindruͤcke der Kunſt, zumal bei einem halbwilden, d. i. noch ganz le -H 3bendi -118bendigen, nur Bewegung und Gefuͤhl ahndenden Volke. Bei allen Wilden oder Halbwilden ſind daher die Statuen belebt, Daͤmoniſch, voll Gottheit und Geiſtes, zumal wenn ſie in Stille, in heiliger Daͤmmerung angebetet werden, und man ihre Stimme und Antwort erwartet. Noch jetzt wandelt uns ein Gefuͤhl der Art an in jedem ſtillen Muſeum oder Coliſeum voll Goͤtter und Helden: unvermerkt, wenn man unter ihnen al - lein iſt und wie voll Andacht an ſie gehet, bele - ben ſie ſich, und man iſt auf ihrem Grunde in die Zeiten geruͤckt, da ſie noch lebten und das Alles Wahrheit war, was jetzt als Mythologie und Statue daſtehet. Der Gott Jſraels wußte ſein ſinnliches Volk vor Bildern und Statuen nicht gnug zu bewahren: war das Bild da, ſo war auch ſeinen Sinnen der Daͤmon da, ders belebte, und die Abgoͤtterei unvermeidlich. Wir Vernunftleute leſen jetzt die eifrigen und bewei - ſenden Stellen der Propheten gegen die Abgoͤtte - rei mit Verwunderung und faſt mit Befremden; die Geſchichte des Volks aber und aller Voͤlker beweiſets, wie noͤthig ſie waren. Nichts haͤlt die Sinnlichkeit ſtaͤrker an ſich, als ein Abgott, er ſei lebendig oder todt, gnug, daß er da iſt und man zu ihm gehen kann und von ihm Gluͤck und Ungluͤck erwarten. Er hoͤrt ja unſre Gebete, er nahm ja unſre Opfer an: warum ſollts nicht ſein gewe -119 geweſen ſeyn, was uns auf unſer Gebet ward. Es ward uns ja auf daſſelbe, und ungezweifelt hat Er, Baal, es uns gegeben . Daher auch die uͤbeln Begegnungen der Heiden gegen die Bildſaͤulen ihrer Goͤtter, die uns jetzt nicht minder befremden. Kinder, Menſchen in Wuth und Leidenſchaft machens noch jetzt alſo, und die Sinnlichkeit machts nie anders. Sie ſchlagen die Puppe und behandeln ſie als leben - dig-ungluͤcklich Liebende, zumal Weiber, zer - ſchlagen das Geſchenk des Untreuen oder raͤchen ſich an Papier, Boten, Stelle und Denkmahl. Wenn Nordlaͤnder die Bildſaͤulen Jtaliens zer - ſchlugen, ſo ſchimpfen wir ſie Barbaren: als ſolche aber konnten ſie auch nicht anders. Jhre Augen ſahen den Daͤmon in ihnen, und alſo mu - ſten ſie anbeten oder zerſchmettern. Haͤtten ſie Jahrhunderte bei ihnen gewohnt, wuͤrde, wie es die Geſchichte Jtaliens zeigt, ihr uͤberſpann - tes hohes Gefuͤhl ſich Zeit genung in Kunſt, Kunſt in Geſchmack, Geſchmack in Eckel und Vernachlaͤßigung aufgeloͤſt haben.

Dies iſt auch die Geſchichte der Kunſt bei allen Voͤlkern. Vom Himmel entſprang ſie: Ehrfurcht, Liebe, ein Funke der Goͤtter brach - te ſie hinunter, ſchuf ihr irrdiſche Form an, und erhielt ſie einige, wiewohl kurze Zeit lebend. Nun ward ſie Abgoͤtterei, ſodann Kunſt, ſo -H 4dann120dann Handwerk, und endlich, die Grundſuppe von Allem, Kennerei, Troͤdelkram und Kunſt - gewaͤſche. Die Daͤdalus und Phidias gehen vor, die Praxiteles, Myrons und Liſyppe folgen; ſodann wirds Nachklang oder Nachſchmack oder noch etwas Aergers. Niemals gelingts uns hier, die Zeiten umzukehren, und es iſt thoͤ - richt, die Daͤdale in Lyſippen umſchaffen zu wol - len. Sind jene erſt da, ſo werden dieſe kom - men, denn ohne jene konnten dieſe nicht wer - den. Die gerade Linie bleibt immer die er - ſte und Hauptlinie, um die ſich der Reiz nur ſchwinget.

2. Koloſſaliſche Figuren ſind der bildenden Kunſt nicht fremde und unnatuͤrlich, ſondern vielmehr gerade ihr eigen, ihres Urſprungs und Weſens. Die Bildſaͤule ſteht in keinem Lichte, ſie gibt ſich ſelbſt Licht; in keinem Raume, ſie gibt ſich ſelbſt Raum. Folglich ſollte man ſie hier mit der Mahlerei auch nur nicht verglei - chen, die ja auf der Flaͤche, auf einer gegeb - nen, uͤberſehbaren Lichttafel, und ja alles nur aus Einem Geſichtspunkt ſchildert. Die bil - dende Kunſt hat keinen Geſichtspunkt: ſie erta - ſtet ſich Alles Glieder - und Formenweiſe im Dunkel; gleich viel alſo, ob ſie etwas langſamer und laͤnger taſte. Ja nicht blos gleich viel; ſon - dern der Eindruck von Groͤße, Ehrfurcht, undunuͤber -121unuͤberſehbarer, nur von außen und gleichſam nie ganz zu ertaſtender Geſtalt iſt ja das ei - gentliche Bild ihrer Goͤtter und Herren, wie es ſich nachher nicht die Hand, ſondern der Geiſt, die erſchuͤtterte, durchregte Einbildungskraft ſammlet. Alles Unendliche duͤnkt uns erha - ben, und jedes Erhabne muß gewiſſermaaße Unendlichkeit, ein Nachbild jener Erſcheinung gewaͤhren, da der Geiſt vorbei ging, und die Haare grauſeten, ein Bild ſtand dem Schauen - den vor Augen, und er kannte deſſen Geſtalt nicht und hoͤrte eine Stimme . Bramma verlang - te das Haupt des hoͤchſten Gottes Jxora zu ſe - hen, und flog ſo hoch er konnte. Da begegne - ten ihm drei Blumen von Jxoras Haupt und fragten ihn, wohin er wollte? Er ſagte, daß er gehe, Jxoras Haupt zu ſehen und die Blumen antworteten ihm: mache dir keine vergebliche Muͤhe, denn ob wir wohl noch dreimal ſo lang geflogen waͤren, von der Stunde an da wir von Jxoras Haupt niederfuhren, ſo wuͤrden wir nicht ſo weit ſeyn, daß wir ſeine Fuͤße ſehen moͤchten. Und Bramma ließ ab und bat die Blumen, Jxora zu ſagen, wie ihn ſchwindle, hoͤher zu fliegen. Viſtnum begehrte ſeine Fuͤße zu ſehen und grub ſo tief in die Erde, bis er zur großen Schlange des Abgrunds kam und Schreckenvoll zuruͤckkehren muſte, und alſo bei -H 5de122de Goͤtter mit lauter Stimme bekannten, daß niemand ſei, der ſein Haupt und Fuͤße zu ſe - hen vermoͤge. So erzaͤhlt Jndien, und konnte nun Griechenland ſeinen Jupiter anders als Koloſſaliſch bilden, wenn, ſo weit es die Form zuließ, er nur einigermaaſſen die Jdee des Unendlichen erwecken ſollte? Als Phidias alſo hinaufgeruͤckt ward, Jupiter zu ſehen, kam aus ſeiner Seele das Bild deſſen, den, ob er wohl in Tempeln thront, kein Tempel umfaſ - ſet. Es war ein elender Spott, daß, wenn ſein Jupiter aufſtuͤnde, ſein Haupt die Decke des Tempels aufheben muͤſſe: eben das war Phidias Gefuͤhl und dunkler Gedanke. He above the reſt, ſagt Milton vom Helden ſeines Gedichts

Jn ſhape and geſture proudly eminent Stand lixe a towr ()

und alle Homeriſche und alle aͤlteſte Erzaͤhlungen von Goͤttern und Helden ſind alſo. Der alte Kuͤnſtler muſte alſo das Gefuͤhl haben und aus - druͤcken, oder es waren nicht die Goͤtter mehr, und wenn es Lyſippus ſelbſt an ſeinem kleinen zierlichen Herkules, Einen Fuß hoch, ausdruͤck - te, daß der begeiſterte Statius ſchreiet:

Deus, ille Deus, ſeſeque videndum Jndulſit, Lyſippe, tibi, parvusque videri Sentirique ingens, et cum mirabilis intra Stet menſura pedem, tamen exclamare licebitSi123Si viſus per membra feras: hoc pectora preſſus Vaſtator Nemaees

und alſo Lyſippus Fußlange Figur in Statius Seele oder Munde Koloſſus ward, ja, um Her - kules zu ſeyn, es werden muſte; welche Blume von Jrorens Haupt will es denn dem Kuͤnſtler verbieten, ſtatt Eines Einige Fuͤße zu nehmen, wenn er damit dem umfaſſenden taſtenden Auge hoͤheres Gefuͤhl gibt? Ueberhaupt duͤnkt uns al - les groͤßer, was unſre Hand taſtet, als was das Auge ſchnell, wie der Blitz, auf einmal und nach taͤglicher Weiſe ſiehet. Die Hand taſtet nie ganz, kann keine Form auf einmal faſſen, als die Form der Ruhe und zuſammengeſenkter Vollkommenheit, die Kugel. Auf der ruhet auch ſie und die Kugel in ihr; ſonſt aber, bei artikulirten Formen und am meiſten im Gefuͤhl eines Menſchlichen Koͤrpers, ſelbſt wenn er das kleinſte Crucifix waͤre, iſt ſie nie ganz, nie zu Ende, ſie taſtet gewiſſermaaſſe immer unend - lich. Das Koloſſaliſche iſt alſo ihrem Gefuͤhl ſo nah und natuͤrlich, als es dem Farbenbrett aus Einem Lichtpunkt fremd iſt. Dies muß, und gewiſſermaaſſe auf Einmal, uͤberſehen wer - den koͤnnen, oder es ſteht uͤberwaͤltigend vor uns, eine Gigantiſche, abſcheulichgezerrte, uns er - druͤckende Larvenmauer. Rechnen wir nun noch hinzu, daß unſrer taſtenden Hand das Leb -loſe124loſe groͤßer duͤnkt, als das Belebte, wo jede Durchregung des Hauches der Seele uns Glie - der und Unterſchiede darſtellt: (denn eine abge - hauenkalte Hand duͤnkt unſerm Gefuͤhl und ſelbſt unſerm Auge groͤßer, als da ſie Glied am Koͤr - per war und Leben ſie durchwallte). Und neh - men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in der der Sinn taſtet, die langſam erfuͤhlte Ein - heit und Unbezeichnung, die ein ſolches Bild verleihet, den Begrif von Macht und Fuͤlle, langſamem und ſtarkem Willen, der in dem Ge - baͤu wohnet: ſo kann nicht blos, ſo muß gleich - ſam jeder hohe und ſtarke Gott, jede Goͤttin der Erhabenheit und Ehrfurcht, unſrer Einbildung Koloſſaliſch und wenigſtens uͤbermenſchlich wer - den uͤber unſre Zwergengroͤße. Die bildende Kunſt tritt hier in die Mitte zwiſchen Dichter und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen, als die ihm der Flug ſeiner Phantaſie und die Schoͤpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen. Sein Auge wie der unendliche Shakeſpear ſagt:Jn a fine frenzy rolling Doth glance from heav’n to earth, from earth to heav’n, And as imagination bodies forth The forms of things unknown, the poets pen Turns them to ſhape and gives to aiery nothing A local habitation and a name ja,125ja, was ſonderbar iſt, um die ſimpelſte Kindes - erzaͤhlung, nach Morgenlaͤndiſcher Art, wo al - les ohne Beiwoͤrter und Schoͤnfaͤrbung, in un - endlicher Einfalt und ſchlichter Unbezeichnung daſteht, hat ſie den meiſten Spielraum. Der Mahler hat auch ſeine Unendlichkeit, aber nur Unendlichkeit eines Continuum, einer flachen Lichttafel. Er kann Himmel und Erde, Mei - lenweit hingeworfne Gegenden und Gebiete der Einbildung mahlen, aber keine Koloſſalfiguren: denn Formen ſind ihm aus einem fremden Sin - ne. Er muß ſie darſtellen, wie es der Rahm ſeines Bildes, die Geſetze der Lichtbrechung und Farbengabe, kurz ſein Sinn und Medium fo - dern. Der Bildner ſteht im Dunkel der Nacht und ertaſtet ſich Goͤttergeſtalten. Die Erzaͤh - lungen der Dichter ſind vor und in ihm: er fuͤhlt Homers Minerva, die den gewaltigen Stein ergreift, an dem einſt ſo viel Rieſen der Vorzeit trugen: fuͤhlt ihr gewaltiges Haupt, deſſen Helm ſo viel Krieger birgt, als hundert Staͤte ins Feld zu ſtellen vermoͤgen: fuͤhlt den Schritt Neptuns, die Bruſt Alcides, den Wink der Augenbranen Jupiters; kann, was in dieſem Gefuͤhl aus ſeiner Hand kommt, klein oder klein - lich ſeyn? Jeder Raum iſt ihm nun gleichguͤl - tig, wo er nur dieſe Formenſchwangre Gefuͤhle hinlegen oder ausdruͤcken kann. Sei JupiterEiner126Einer Elle oder ſechs Ellen hoch; umfaſſet ihn nur ſein Sinn und der Sinn des Schauenden in Majeſtaͤt und Wuͤrde, das iſt ſein Raum und ſeine Grenze.

Eben dies innere Gefuͤhl mißt ihm auch jede Spanne des Koloſſus mit Weisheit des Ein - drucks und Standorts zu, auf den er ſein Werk richtet. Der Juͤngling Apollo darf ein uͤber - menſchlich ſtolzes Gewaͤchs ſeyn, aber kein Ko - loſſus; denn er iſt nicht Jupiter, und die Schlanke und Schnelligkeit ſeiner Glieder wuͤr - de in einer Thurmgeſtalt erliegen. Was von einer Juno, oder der Mutter aller Goͤtter gilt, gilt nicht von der lieblichen Aphrodite. Un - ſaͤgliche Weisheit, die die Griechen auch bei der Groͤße bewieſen, die ſie jedem ihrer Himmels - und Erdengewaͤchſe zuwogen. Dieſe Weisheit ſpricht uns noch, da ſie alle als kahle Mythologie und Akademiſche Wachparade dahin gepflanzt ſind auf Einen Grund und Boden; und wie muß ſie geſprochen haben, als jede Statue an ihrem Ort ſtand, in ihrer Hoͤhe und heiligen Entfernung! Unter den Roͤmern ging dies weiſe Gefuͤhl verlohren: Flora oder ein Conſul und Jmperator konnte Koloſſus werden, nachdem der Kuͤnſtler Stein hatte oder der Jmperator Metall aufwenden wollte. Die Kunſt war un - ter ihnen Griechenhandwerk.

3. Und127

3. Und endlich. Was hat die Allegorie mit der bildenden Kunſt zu ſchaffen? Wie weit kann dieſe allegoriſiren?

Die Frage iſt ſehr verwirret worden, weil man alle Kuͤnſte, ja gar (horribile dictu!) alle Wiſſenſchaften mit ihnen auf Einerlei Grunde betrachtet hat, ohne einzuſehen, daß dieſe im Gebrauch keines Zwirnsfadens und keiner Nadel - ſpitze Eins ſind. Ueber Winkelmanns Werk, das die Allegorie im weitlaͤuftigſten Sinne nimmt und, da es den erſten Anfang einer Ruͤſt - kammer fuͤr alle Kuͤnſte des Schoͤnen geben woll - te, nothwendig ſo allgemein ſeyn muſte, uͤber dies Werk, ſage ich, iſt viel ſeltner und halb - wahrer Tadel vorgebracht worden, durch den weder dem Kuͤnſtler noch Weiſen Gnuͤge ge - ſchiehet. Die Hauptfrage bleibt: was iſt Al - legorie? und was iſt ſie hier? Durch welche Mittel wuͤrkt, auf welchem Boden ſteht ſie? und da ergibt ſich, jede Kunſt muß voͤllig ihre eigne haben, oder es gibt gar keine.

Jener weiſe Alte machte daher den Begriff der Allegorie ſo groß: ſie bedeutet Eins durchs Andere, αλλο durch αλλο. Wie ſie das be - deute? von welcher Art das αλλο und αλλο ſei? das kann nicht die allgemeine Theorie, das muß Stand, Abſicht, Kunſt, kurz der einzel - ne, hier beſtimmte Gebrauch lehren.

Jch128

Jch kann ſagen, daß bildende Kunſt eine beſtaͤndige Allegorie ſei, denn ſie bildet Seele durch Koͤrper, und zwei groͤßere αλλα kanns wohl nicht geben, inſonderheit wenn man die Philoſophen der Gelegenheit und der praͤſtabi - lirten Harmonie um Rath fraͤgt. Der Kuͤnſt - ler hat das Vorbild von Geiſt, Charakter, Seele in ſich und ſchafft dieſem Fleiſch und Gebein: er allegoriſirt alſo durch alle Glieder. Verhaͤltniß iſt ihm nur das Nichtohne, die Bedingung, nie aber das Weſen ſeiner Kunſt oder die Urſache ihrer Wuͤrkung. Dies iſt Seele, die ſich Form ſchafft, und wo beide, Form und Seele, vom Verhaͤltniß gelinde ab - zuweichen befehlen, kann er nicht blos, ſon - dern muß abweichen, wie bei Apollo’s laͤngern Schenkeln, bei Herkules dickerm Halſe, u. f. Ueberhaupt Verhaͤltniß in der Kunſt zum Haupt - werk machen, und fuͤr Antinous und Mars, Jupiter und den Faun Ein und daſſelbe feſtſe - tzen, heißt, jedem Perioden und Gliede einer Allegorie Ein Maas vorſchreiben, oder aus der Algebra Muſik komponiren. Leibhafte Form iſt der Tempel und Geiſt die Gottheit, die ihn durchhauchet: da nun nicht jeder Gott und jeder Tempel gleicher Art iſt, ſo koͤnnen bis auf jedes Winkelchen in ihm unmoͤglich dieſelbe Ver - haͤltniſſe gelten.

Und129

Und hier iſts abermal beſonders, daß, je we - niger ein Glied Antheil an Geiſt, inſonderheit an Bewegung und Leben hat, deſto mehr iſt ſein Verhaͤltniß beſtimmt, und darf nicht ab - geaͤndert werden. So iſts z. B. mit dem Un - terleibe: verlaͤngert oder verkuͤrzt ihn, er wird gleich unfoͤrmlich. Aber in den Gliedern, wo Rege, Leben, Bewegung ſpricht und jetzt dies Glied vorſpricht, da muß der Geiſt, der uͤberm Kuͤnſtler ſchwebt, ihm im feinſten Schwunge der Form allein Auskunft geben. Es iſt ge - bildete Allegorie eines geiſtigen Sinnes, der ſich hier in den Stein ſenkte.

So kann man von der bildenden Allegorie ſprechen; allein ich begreife ſehr wohl, daß das nur uneigentlich geſprochen heißt, weil wir, die ſo wenig im Gefuͤhl der Plaſtik leben, dem Worte Allegorie gerade die Bedeutung gegeben haben, die nicht in ihr, ſondern in andern, leichtern Kuͤnſten und Wiſſenſchaften vorkommt. Und in deren Sinne kann jene freilich nicht alle - goriſiren. Bloßen Witz, eine feine Bezie - hung zwiſchen zweien Begriffen, oder das Ab - ſtraktum eines fliegenden Dufts und eines ver - fliegenden Schmetterlings in den Stein zu ſen - ken, und denſelben daraus wiederum zu erta - ſten; dazu iſt der Stein zu ſchwer und die Hand zu grob, und die Arbeit lohnt nicht der Muͤhe. JMoͤgen130Moͤgen andre Kuͤnſte dies bemerken und inſon - derheit der Hauch, die Rede, den fluͤchtigen Schmetterling von Witz und Abſtraktion ha - ſchen; die Statue iſt dazu zu Wahr, zu Ganz, zu ſehr Eins, zu Heilig.

Die bildende Natur haſſet Abſtracta: ſie gab nie Einem Alles und jedem das Seinige auf die[feineſte] Weiſe. Die bildende Kunſt, die ihr nacheifert, muß es auch thun, oder ſie iſt ihres Namens nicht werth. Sie bildet nicht Abſtrakta, ſondern Perſonen; jetzt die Per - ſon, in dem Charakter, und den Charakter in jedem Gliede und in Ort und Stellung als ob ſie nur der Zauberſtab beruͤhrt und lebend in Stein geſenkt haͤtte. Es iſt nicht die abſtrakte Liebe, die daſteht, ſondern der Gott, die Goͤttin der Liebe: nicht die Frau Gottheit und die Jungfrau Tugend, ſondern Minerva, Juno, Venus, Apollo und wie die hoͤchſtbe - ſtimmten Namen, Gebilde und Perſonen fer - ner lauten. Dem muͤßigen Kopf, der den Red - ner, den Dichter, den Mahler allegoriſirt, kann ichs vergeben; der mir aber hier bei der Bild - ſaͤule, wo im hoͤchſten Grad alles ſubſtanziell, wahr und beſtimmt iſt, Fledermaͤuſe haſcht, die nicht Kunſt ſind noch Dichtkunſt, weder Seele noch Koͤrper; dem mags von den allego - riſirten Goͤttern ſelbſt vergeben werden.

Wenn131

Wenn Eine Kunſt uns bei Subſtanz und Wuͤrklichkeit veſtzuhalten vermag, iſts dieſe: und wird ſie Geſpenſt, was ſollte nicht Geſpenſt werden? Der alte Kuͤnſtler konnte Verſchiede - nes an Verſchiednem ſtudiren (und nur einem Neuern hats fremde geduͤnkt, wie er ſo etwas konnte und muſte?). Aber wenn er nun ſchuf, ſo ward das Verſchiedene ein Eins, mit Hal - tung und Seele aus ſeiner Seele. Er ſprach zum Felſen: wandle, ſei die Perſon, lebe. So ſah alle Abgoͤtterei die Kunſt an. Der einzelne beſtimmte Gott war gegenwaͤrtig und hoͤrte. So nannten die Griechen die Statuen. Es war nicht mehr Apollo allgemein, geſchwei - ge die liebe Sonne, oder die perſonificirte Dicht - kunſt; es war der Apollo, Smintheus, De - lius, Pythius, Αγρευς, wie es Ort und Attribut ſagte. Dieſe Attribute waren ſo we - nig Allegorie (wie wir nach der Poetik das Wort nehmen), als Herkules Kaͤule oder die Naſe unſers Angeſichts; hiſtoriſche, individuel - le Kennzeichen warens, dieſen Gott und jetzt und hier zu bezeichnen. Sie bedeuteten, aber keine Abſtraktion; ein Jndividuum deuteten ſie an, wie’s ohne Schrift angedeutet werden konnte. Man gehe die Statuen der Goͤtter und die aus ihnen geſammleten Allegorien durch; man wird ſie ſaͤmmtlich dieſer Art finden.

J 2Es132

Es iſt hier nicht der Ort, zu unterſuchen, ob und wie die Griechen ihre Bildnerei von ei - nem fremden Volk erhielten? ſondern was ſie aus ihr machten und wozu ſie, da ſich die Kunſt formte, dieſelbe geſchaffen glaubten? Jupiters drittes Auge vor der Stirn blieb in den Zeiten der Kunſt weg, denn es war ein Allegoriſches und kein natuͤrliches Auge. Die Geſtalt ſelbſt muſte Jupiter ſeyn: das uͤbrige konnte Dichter, Prieſter oder jeder dazu ſagen, ders wollte.

Wenn alſo die Ausleger und Zeichendeuter mit Deutung der Attribute ſo fein und reich ſind: ſo laſſe ichs zwar als Witz und Poem gel - ten; zweifle aber, ob der Griechiſche Kuͤnſtler oder Prieſter oder Anbeter das dabei dachten? Es war meiſtens ein hiſtoriſcher Umſtand, der dem Gott einen eignen Namen gab und den nun dies eigne Attribut bezeichnen ſollte. Du biſt nicht Jupiter, du, ſondern mein, unſer Ju - piter, der du da warſt ! alſo eigentlich ein Abgott. Je feiner meiſtens die Auslegung der Allegorie, deſto unwahrer.

Freilich war um einen Gott und Helden ſo leicht nichts, was nicht Gedanken erweckte, und bei den Griechen warens treffende, natuͤrliche Gedanken; nur nicht aus Abſtrakten, nicht aus gedichteter Allegorie, ſondern aus Um -ſtaͤn -133ſtaͤnden der Geſchichte. Der Charakter des Gottes und Helden (Allegorie genug) war dem Kuͤnſtler gegeben: den druͤckte er aus, das uͤbri - ge war ihm Unterſtuͤtzung und Aufklaͤrung deſſel - ben, oder hiſtoriſche, Lokal - und Tempel - deutung.

So war denn den Griechen die Allegorie zuwider ? Nichts minder, ſie war nur nicht uͤberall ihr Hauptwerk. Der Grieche fuͤhlte es zu gut, daß, um Allegoriſche Perſonen tanzen zu laſſen, man kein Theater bauen, kein Epos dich - ten und keinen Marmorfels aushoͤlen doͤrfe. Er fuͤhlte es zu gut, daß, wenn eine Allegorie ſchoͤn und lieb ſeyn ſoll, muͤſte ſie klein, ſimpel, ſchmal umruͤndet werden, ein Edelſtein im Ringe kurz nicht den Koloſſus, ſondern die Gemme, die Muͤnze, die Urne, das Bas-relief wid - mete man ihr, und da war ſie an Stelle.

Gibt mir die Goͤttin Tyche (denn es iſt bil - lig, daß ich uͤber die Allegorie auch allegoriſi - re) gibt ſie mir Muße und Luſt und Liebe, die mehr als Muße iſt, meine Flicke hingeworfner Gedanken uͤber die Anaglyphik zu ſammeln; ich freue mich, wenn ich an die Stunden denke, die mir die ſimpelſte Gruppe der Welt, die Griechiſche Allegorie, einſt verlieh. Da werden wir Griechengeiſt in der niedlichſten Bil - derſprache entdecken; hier, befuͤrchte ich, iſtsJ 3zu134zu fruͤh. Ein Jupiter, Herkules und Apollo, ein Laokoon und Alexander ſind zu große oder zu beſtimmte Weſen als daß Allegorie ſie um - flattern ſollte. Was Hand und Geiſt an ih - nen erfaſſet, iſt Allegorie gnug, d. i. Sinn und Geiſt eines gegenwaͤrtigen himmliſchen Weſens. Sie waren auf beſtimmte Tradition und Kin - desgeſchichte gebauet; die zu beſtimmen, wo ſie wankte, ſie auf Einem Punkt Perſoͤnlichen Da - ſeyns veſtzuhalten, war des Kuͤnſtlers Werk; nicht ſie mit Allegorie zu behaͤngen und in Luft zu verduften.

Statt deſſen trete man an eine in Stein gehauene Tugend, die Dame Gerechtigkeit etwa oder die Jungfrau Froͤmmigkeit, Liebe u. d. gl. was hat man an ihnen? Nichts! Eine in Stein gehauene Seifenblaſe. Was ich bei ihren Attributen denken ſoll, weiß ich etwa; aber bei ihnen ſelbſt? daß ſie liebe gute Damen ſind, die ein Wort, eine abſtrakte Redart her - vorbrachte, und die meiſtens deren auch werth ſind. Wollen ſie das Hoͤchſte ausdruͤcken, was ſie bedeuten, (und das ſollen ſie doch!) ſo werden ſie unleidlich: denn die angeſtrengteſte Gerechtig - keit die allergnaͤdigſte Gnade, die allerzerfloſſen - ſte Andacht, die weichſte Barmherzigkeit, die lachendſte Liebe kann weder Menſch noch Stein tragen. Und ewig ertragen? in dem unna -tuͤr -135tuͤrlichen, krallen oder aufgeloͤſten Zuſtande ſteht ſie immer da, und nichts kann ihr helfen? Hinweg, Grimaſſe von Stein, und verwandle dich zu dem, was du einſt wareſt, ein Wort, eine Sylbe!

Nun aber ſchwang ſich auch meiſtens der Kuͤnſtler nicht ſo hoch: er wollte ſeinen Block nicht anſtrengen, den hoͤchſten Ton aller Gerechten d. i. die Gerechtigkeit, den Jnbe - grif aller Andaͤchtigen, die Andacht, ewig und unuͤberſchwungen zu toͤnen; er blieb alſo in der ſeligen Mittelmaͤßigkeit, und ſo ſaget er gar nichts. Jſt die Pietas hoͤchſtens nur etwa eine pia, die Caritas etwa eine cara, beide unbeſtimmt und ohne Jndividualformen; Schade, lieber Kuͤnſtler, um Marmor, und Meißel und Zeit und Muͤhe. Haͤtteſt du lieber eine beſtimmte pia und cara genommen, ſo ſtuͤnde die doch leb - haft da, und dein heiliger Vater waͤre mindſtens von einigen guten Weibern in Stein beweint und betrauert worden, ſtatt deren jetzt nur ein geſchaffenes Nichts, Allegoriſche Tugenden, um ihn trauren!

Bei Grab - und Denkmahlen indeß laſſe ich die Allegorie noch gelren: denn oft vertreten jene doch nur die Stelle der Bas-reliefs auf dem Monumente, und etwa der Gemmen und Muͤnzen, ſie ſind kein freies Kunſtbild. AuchJ 4die136die Griechen konnten wohl auf ein Grabmahl Pſyche und Amor, halb als Allegorie (ſie waren aber mehr als ſolche, ſie waren Geſchichte) ſtellen und ließen das ſchoͤne Paar, jetzt in neuer Be - kanntſchaft, ſich ſchweſterlich kuͤſſen und umar - men. Jſt irgend ein Ort, da man einen her - abgeſunknen Engel erwartet, ſo iſts am Grabe, uͤber der lieben Aſche unſrer Todten, wo Alles ſo ſtill iſt, wo kein Laut aus jener Welt hin - uͤbertoͤnet und wo wir doch ſo gern mehr als Aſche faͤnden. Hier iſt alſo auch wohl eine weinende oder troͤſtende Tugend zu ertragen, wenn ſie, ihres Namens werth, nur als ein weiblicher Engel daſteht. Kann der Verſtorbne oder die Verſtorbne ſelbſt in oder neben ihr gebildet wer - den, wie wirs erwarten, ſo iſts freilich um ſo beſſer. Koͤnnen wuͤrkliche Kinder, eine Ge - liebte, ein Weib daneben gebildet werden, ſo kehrt fuͤr Kunſt und Denkmahl Wahrheit in die Zuͤge, und alſo beſſer. Aber wehe, wenn dieſe Grabengel, die man der Menſchlichkeit, als Denkmahl der Liebe und milde Gabe zuließ, nun Hauptwerk der Kunſt werden ſollen und gar gelehrte Abſtraktionen und Allegorien, wie Geſpenſter, alles verſcheuchen! Jſts ſodenn nicht offenbares Zeichen der groͤßten Duͤrftig - keit und Armuth, daß man nichts als ſolche habe? oder nur ſolche zu bilden vermoͤge?

Wie137

Wie weit iſts mit der Kunſt der leibhaften Wahrheit gekommen, wenn ſie keine leibhafte Wahrheit mehr hat, wenn ſie ſtatt des großen Einen Seeledurchwebten Ganzen nach einem Schmetterlinge von Witz, von Bedeutung, haſcht, der um, oder neben oder uͤber ihr ſchwebe! Und den ſie doch auch, ſo klein der Preis waͤre, nicht einmal zu erreichen, nicht auszudruͤcken vermag, denn zu aller litterariſchen und moraliſchen Allegorie gehoͤrt Gruppe, und im eigentlichſten Verſtande hat die die Bildne - rei nicht.

Nicht? die Bildnerei keine Gruppe? Und Laokoon, Niobe, die beiden Bruͤder Jch weiß das Alles und mehr als das. Jch weiß, daß ein Franzoſe noch neulich hoch - geruͤhmt hat, ſeine Nation habe das Gruppi - ren der Bildſaͤulen nagelneu erfunden, ſie habe zuerſt Bildſaͤulen maleriſch gruppiret, wie nie ein Alter gruppirt hat Die Bild - ſaͤulen maleriſch gruppiren? ſiehe, da ſchnarrt ſchon das Pfeifchen, denn eigentlich geredt, iſts Widerſpruch: Bildſaͤulen maleriſch gruppiren. Jede Bildſaͤule iſt Eins und ein Ganzes: Jede ſteht fuͤr ſich allein da. Was der Gedachte alſo an den Alten tadelt, war ihnen ausgeſuchte Weis - heit, naͤhmlich nicht zu gruppiren, und woJ 5Gruppe138Gruppe ſeyn muſte, ſie ſelbſt, ſo viel moͤglich zu zerſtoͤren.

Daher muſten Laokoons Kinder ſo klein ſeyn, ob ſie wohl Maͤnner waren: nicht, wie Hogarth meint, ſeiner Schoͤnheitslinie wegen, daß, wenn uͤber alle drei ein Transportkaſte geſchlagen wuͤr - de, er in Form der Pyramide oder Lichtflamme da ſtuͤnde; an ſolche Zimmerarbeit hat wahrlich der Kuͤnſtler nicht gedacht. Woran er dachte und denken muſte, war, daß die Jungen dem Alten, zu ſeiner Groͤße erhoben, auch bei dunkler Nacht im Licht ſtuͤnden, daß das Ganze ſofort Drei und nicht Eins, mithin der Geiſt des erhabnen Vater - und Todesleidens weg - und ſcheußlich zertheilt waͤre, wenn alle drei da ſtaͤnden und ſchrien und vergeblich mit den Schlangen raͤngen. Da er die zwei alſo nicht wegſchaffen konnte, um ſein herrliches Bild allein zu geben: ſo verkleinte er ſie wenigſtens und erniedrigte ſie zu halben Nebenwerken, riß dem einen Jungen das Maul auf (wie jeder feine Kenner der Griechiſchen Kunſt es mit Schrecken ſehen kann) verflocht ſie in das Gebiet der Schlangen und der Quaal, damit der erhabene Vater in ihrer Mitte allein ſtehe und als Held und Ringer ſein Leiden dem Himmel klage.

Die Gruppe Niobe, wo ſtand ſie? und wie wenig iſt ſie Gruppe! wie fern und zerſtreuet liegen die Jhrigen um ſie her! und die Juͤngſtein139in ihren Schoos geflohen, beugt ſich und verbirgt ſich, damit eben durch ſie nur die Mutter allein und erhaben und als Mutter ſolcher Kinder erſchiene.

Zwei bruͤderliche Freunde, die ſich in der einfachſten Stellung auf einander lehnen; ein Paar, das ſich in der einfachſten Stellung mit einem Kuß verſchwiſtert, ſind ſo wenig, Grup - pe zu nennen, als Leda und der Schwan, Ju - piter und ſein Adler. Der Kuͤnſtler fuͤhlte das ewige Geſetz, das Weſen ſeiner Kunſt, die nur Eins gibt, und in dem Einen Alles! die, je mehr ſie zerſtuͤcket, theilt, gruppirt, haͤufet, um ſo aͤrmer wird und zuletzt eine Taube noͤthig hat, die uͤber der ganzen Gruppe ſchwebe und mit einem Steinzettel im Schnabel ſage: was der Stein - wald bedeute? denn weder dem ſehenden Blick noch der taſtenden Hand bedeutet jede einzelne Statue nun Etwas.

Tretet einmal her an dieſe noble Gruppe: Arria und Paͤtus, nebſt Kammerfrauen und Bedienten. Wo ſollt ihr ſtehen? welcher Per - ſon im Ruͤcken? denn die Gruppe ſteht frei von allen Seiten mit mahleriſchem Anſtande. Und wenn ihr gar euer Gefuͤhl zu Huͤlfe nehmen woll - tet, wo anfangen? wo aufhoͤren? und wo iſt nun der Geiſt? des Bildes Eine ganze Seele? Alle in Schmerz, alle in Heldenmuth, alle daszaͤrt -140zaͤrtliche Woͤrtlein noͤthig habend, der Arria aus dem Munde: non dolet Paete! das denn frei - lich die Hand weder ertappen kann noch mag. Wie ſimpel ſteht dagegen der Paͤtus der Alten, und Arria ſinkt ihm zu Fuͤßen und er haͤlt ſie und endet ſein Lebtn. Alſo wiederum keine mah - leriſche Gruppe.

Kann nun eine Geſchichte in der Bildhaue - rei nicht Gruppe werden, weil jedes fuͤr ſich auf ſeinem Grunde, in ſeiner Welt ſtehet; liebe Allegorie, wie wirds mit dir ſeyn, wenn du, als Schmetterling oder Taube, aus vielen Per - ſonen oder Figuren, jede fuͤr ſich ganz gebildet, und doch nicht ganz gebildet, (nur fuͤr dich, Allegoria, gebildet!) hervorfliegen ſollt? Jch fuͤrchte, du bleibſt wo du biſt, dem Kuͤnſtler im muͤßigen Kopfe, denn in die arbeitende Hand war kein Weg, und aus ihr in den zertheilten Felſen, der nur in ſeinem Kopf Eins iſt, noch minder.

Endlich warum wollen wir der Natur wi - derſtreben und nicht jede Kunſt thun laſſen, was ſie allein und am beſten thun kann? Wo Ein Grund iſt, auf Gemme, Muͤnze, Tafel, da bindet die Natur ſchon durch das Continuum Einer Flaͤche. Gemme, Muͤnze, Bas-Relief, Denkmahl, kann nicht viel mehr als eine Allegorie geben, dazu ſind ſie da und die geben ſie unnach -ahmlich141ahmlich. Warum ſie von da wegreißen? mit ihr die großen Bilder der Wahrheit, Goͤtter - und Heldengeſtalten, oder die Zaubertafel hiſto - riſcher Wahrheit, das Gemaͤhlde, verwirren und zu Schatten verſcheuchen? Eine Epopee, worinn Allegorien handeln, und ein Drama, worinn Abſtraktionen agiren, und eine Geſchich - te, worinn ſie Pragmatiſch tanzen, und ein Staat, worinn ſie Jdealiſch ordnen, ſind herr - liche Meiſterſtuͤcke; kaum aber herrlicher, als eine bildende Kunſt, die ſie in Fels gehauen, hinſtellt, damit ſie doch ja nicht aus der Welt verſchwinden.

[142]

Leipzig, gedruckt in der Breitkopfiſchen Buchdruckerey. 1778. [143]Verbeſſerungen.

  • S. 6. Z. 11. 12. was lies das.
  • 9. 19. auf der l. auf die.
  • 17. 16. nicht Viel l. Viel.
  • 32. 9. Todtenkampfes l. Todeskampfes.
  • 37. 2. blieb der l. blieb, der.
  • 41. 21. endete ſich l. endete fruͤh.
  • 54. 1. und ſelbſt l. und wie ſie ſelbſt.
  • 57. 13. herab oder l. herauf oder.
  • 63. 15. Blinde l. blinde.
  • 76. 1. und das l. und oft das.
  • 94. 11. Abſtraks l. Abſtrakts.
  • 95. 2. blinden l. Blinden.
  • 102. 9. edlen l. eklen.
  • 108. 6. bei Jch habe, einen neuen Abſchnitt.
  • 117. 17. Lagen l. lagen.
  • 119. 10. lebendig-ungluͤckliche l. lebendig. Ungluͤckliche.
  • 121. 3. Herren l. Heroen.

About this transcription

TextPlastik
Author Johann Gottfried von Herder
Extent146 images; 26292 tokens; 6128 types; 178871 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationPlastik Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume Johann Gottfried von Herder. . 141 S., [1] Bl. HartknochBreitkopfRigaLeipzig1778.

Identification

UB Heidelberg UB Heidelberg, C 6750-25 RES

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Altertumskunde; Wissenschaft; Altertumskunde; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:31Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryUB Heidelberg
ShelfmarkUB Heidelberg, C 6750-25 RES
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.