PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Kritiſche Waͤlder.
Oder Betrachtungen uͤber die Wiſſenſchaft und Kunſt des Schoͤnen.
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Zweites Waͤldchen
uͤber einige Klotziſche Schriften.
1769.
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Analytiſcher Jnhalt.

  • I. Ueber Hrn. Klotz homeriſche Briefe.
    • 1. Warum es nicht ſo leicht ſey, in unſrer Zeit Homer, in Abſicht auf ſeine Sprache und ſeine Menſchen, zu be - urtheilen? Ob Homer das Maaß des menſchlichen Gei - ſtes? und ob es aus ſeinem Zeitalter wahrſcheinlich ſey, daß er das Laͤcherliche affektiren wollen?
    • 2. Hrn. Klotzens Tadel auf Homer iſt laͤngſt bekannt, und kein Tadel. Ekphraſe der Epifode Vulkans, zum Be - weiſe, daß er kein Poſſenreißer ſeyn wolle.
    • 3. Ein Blick auf Therſites und Jrus in Homer. Rettung des Lope di Vega und Milton, in Abſicht auf ihre Lach - ſucht. Kann eine epiſche Hauptperſon laͤcherlich ſeyn? Nein! Rettung des Homeriſchen Ulyſſes. Darf ſie la - chen? Warum nicht?
    • 4. Unterſchiede, die Hr. Klotz uͤberſehen. An ſich iſt laͤ - cherlich und belachenswerth; Haupt - und Nebenperſo - nen; die Theile eines Gedichts, und das Ganze; eine ſich in andre aufloͤſende Empfindung, und das Hauptge - fuͤhl der Epopee, nicht einerlei.
    • 5. Kann man Mythologie in Religionsgebichte miſchen? Zuerſt: merkliche Schwierigkeiten in der lateiniſchen Sprache. Zeiten und Laͤnder unterſcheiden noch mehr. Sonderbarkeit der Dichter, die in Jtalien bei Wieder -A 2auſle -[4]auflebung der Wiſſenſchaften ſangen. Der poetiſche Ge - brauch der Mythologie muß alles entſcheiden. Rettung der Mythologie in Milton.
    • 6. Einfchraͤnkung und Auseinanderſetzung der ganzen Ma - terie. Poetiſche Grenzen der Mythologie in Religions - gedichten. Ob ein geiſtlicher Dichter der Dogmatik zu gut ſchreibe?
    • 7. Proben der großen Wirkung heidniſcher Jdeen in Gedichten unſrer Religion. Pruͤfung der neuen Vor - ſchlaͤge, auf was Art die Mythologie fuͤr unſre Reli - gion zu brauchen ſey?
    • 8. Und fuͤr unſre Kunſt. Ueber die Stralen, die Fluͤgel, und den Donnerſtral in der Kunſtvorſtellung unſres Got - tes. Pruͤfung der Vorſchlaͤge hieruͤber nach Alterthums - und Religionsbegriffen. Jſts was Unerhoͤrtes, daß chriſtliche Dichter Gott auf einem Donnerwagen ſchildern?
    • 9. Von der Mythologie in Profangedichten unſrer Zeit. Ob ſie durch Entdeckungen der Naturlehre, und der Geographie, oder gar durch Allegorie erſetzt werde? Ueber Ramlers Liebe zur poetiſchen Allegorie.
    • 10. Kritik uͤber den Reſt, und Urtheil uͤber das Ganze der homeriſche Briefe.
  • II. Ueber die Schamhaftigkeit Virgils.
    • 1. Jſt die Keuſchheitsviſitation eines Dichters der poetiſche Zweck deſſelben? Muß man die bona fama eines Poe -ten,[5]ten nach ſeinen Verſen beurtheilen? Ungereimthei - ten hieraus, und ein Wint auf die wahre Grenzſchei - dung daruber.
    • 2. Grund der Schamhaftigkeit in der menſchlichen Natur. Das das κακοφατον ein ſchlechter Zeuge derſelben ſey. Rettung der homeriſchen Epiſode des Paris.
    • 3. Unterſuchung der mancherlei Schambegriffe, bei der Lie - be, bei dem Nackenden, bei geſellſchaftlichen Ehrbarkei - ten. Unterſchied zwiſchen der natuͤrlichen, geſellſchaftli - chen und moraliſchen Schamhaftigkeit.
    • 4. Unterſchied dieſer Empfindungen bei verſchiednen Na - tionen, Morgenlaͤndern, Griechen und Roͤmern gezei - get. Rettung der griechiſchen Freiheiten hierinn.
    • 5. Darlegung des Plans im ganzen Klotziſchen libello. Voll Allgemeinoͤrter, ohne philoſophiſche Beſtimmung, ohne nationelle Unterſcheidung.
    • 6. Und ohne charakteriſtiſche Beleuchtung Virgils. Wie ungewiß ihn Hr. Kl. rette, und wie unpaſſend mit Ho - mer vergleiche?
    • 7. Ueber die perſoͤnliche Schamhaftigkeit Virgils. Ob, und wie ſie gerettet werden koͤnne? Abhoͤrung des Do - natus, Servius, Martialis und Apulejus daruͤber. Lob, der heiniſchen Ausgabe Virgils.
A 3III. Ueber[6]
  • III. Ueber einige horaziſche Rettungen und Erlaͤuterungen.
    • 1. Seltne Art Hrn. Klotzens, mit Harduin Krieg zu fuͤh - ren. Wie Harduin wiederlegt werden ſollte?
    • 2. Vom Klotziſchen Commentar uͤber Horaz. Wie ſehr er den Ton der horaziſchen Poeſie verfehle? an der erſten Ode Horaz gezeigt. Auch andre haben den Ton dieſer Ode nicht getroffen. Von dem poetiſchen Wortbaue des Choriamben.
    • 3. Auch aus dem Tone der zweiten Ode erlaͤutert uns Hr. Klotz ſicher weg. Pruͤfung einiger andrer ſo genannter neuer Erlaͤuterungen Horazens.
    • 4. Wie wenig Hr. Kl. bisher zum horaziſchen Geſchmacke beigetragen? Zweifel gegen die Erlaͤuterungsmethode Ho - razens, nach Batteur Manier. Wie ſehr dieſe die ho - raziſche Ode zerſtuͤcke und zerlege? Klotzens Begriff von den Digreſſionen, und dem Charakter Pindars.
    • 5. Ueber die Parallelenmacherei bei einem Dichter. Ueber den Gemmengeſchmack bei Leſung deſſelben. Ueber den Misbrauch gelehrter Commentare. Geßners ſchaͤtzbares Zeugniß daruͤber.
    • 6. Meine Art, Horaz und neue Horaze zu leſen.
    • 7. Nachſchrift und Enderklaͤrung.
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Zweites Waͤldchen uͤber einige Klotziſche Schriften.

1.

Jch habe mich anheiſchig gemacht, auf mehrere klotziſche Anmerkungen uͤber Homer zu merken, und ich muß mein Wort erfuͤllen. Der Tadel ſowohl, als das Lob, das auf den Erſten der Dichter faͤllt, trifft auf den Mittelpunkt der griechiſchen Litteratur, und hat immer auch auf entferntere Punkte im Kreiſe der Gelehrſamkeit einen Einfluß. Es wird alſo lohnen, mit den homeriſchen Briefena)Epiſt. Homer. Altenb. 1764. in der Hand ein Luſtwaͤldchen der alten griechiſchen Mu - ſen zu beſuchen.

Wie muß ich mich aber durch ſuͤße Freund - ſchaftsbezeigungen, und lange Vorbereitungen durch -A 4winden8Kritiſche Waͤlder. winden und durchdraͤngena)p. 5 24., um nur erſt auf eine Materie zu kommen. Hr. Klotz irret in dieſen Briefen ſo herum, daß ſeine Muſe wohl nichts min - der, als eine Schweſter der homeriſchen Muſe, ſeyn kann, die ſtatt vom trojaniſchen Kriege, und vom Ey der Leda anzufangen, lieber gleich mitten in die Handlung hinein greift μηνιν αειδε ϑεα, κ. τ. λ. Der homeriſche Briefſteller nimmt ſich zu erſt recht ſehr Zeit, ſeinen Freund und Goͤn - ner zu umarmenb)p. 5. 6., die ſehr mittelmaͤßigen Verſe deſſelben, die von ganz Deutſchland fuͤr mittelmaͤ - ßig erkannt ſind, himmelhoch zu erhebenc)p. 6. 7. conf. Act. litter. Vol. I. p. 245 49., uns auf dem Landgute deſſelbend)p. 8. 9. (wie Boileau von gewiſſen Wortmalern ſagt) von Terraſſe zu Terraſſe zu fuͤhren, das Landlebene)p. 10 12., und die unehelichen Kinderf)p. 12. 13. zu loben, uͤber die Haͤrte der Regina Pe - cuniag)p. 13. 14., und uͤber die Undankbarkeit unſers Jahr - hunderts gegen Poetenh)p. 15. 16. zu klagen, einen großen Mi - niſter, der faſt durch ein ſolches Lob erniedrigt wird, deßwegeni)p. 16. 17. zu ruͤhmen, weil er ihm erlaubt, auf dem Lande einige Zeit zuzubringen. Er faͤhrt fort, alle ſelige Vergnuͤgungen daſelbſtk)p. 18. uns lieb - koſend vorzuzeigen: die Buͤcher, die er mit ſich ge - nommen, und endlichl)p. 18. Wie aber die Dich - ter9Zweites Waͤldchen. ter vom Zevs, ſo will ich vom Homer be - ginnen.

Noch ſind wir nicht in der Materie. Hr. Kl. zeigt erſt, daß er mit ſeinem homeriſchen Tadel nicht zu ungelehrten Veraͤchtern Homers gehoͤrea)p. 19., daß niemand in der Welt die alten Schriftſteller mit mehr Bewunderung und Entzuͤcken leſe, als er, daß Homer bei allen dieſen Fehlern, die Hr. Klotz ihm zeigen will, noch immer groß bleibeb)p. 20 23., daß und dies alles in ſo erregendem Tone, mit ſo viel, ob gleich laͤngſt bekannten, Beiſpielen und Allgemeinſaͤtzen, daß man keinen andern, als jenen eykliſchen Dichterc)Fortunam Priami cantabo. Horat. A. P. lieſt, und jedes Blatt mit der bewundernden Frage umſchlaͤgt: was will aus dem Maͤnnlein werden? Was hat dieſer große Mann dem fehlerhaften Homer Unerhoͤrtes zu zeigen, das ſo viel Vorbereitung und Aufmerkſamkeit verdiente?

Vielleicht iſt mein Leſer ſo ungeduldig, als ich, und auf mich unwillig, daß ich den neuen Home - romaſtix noch nicht ſelbſt reden laſſe; allein, wenn Hr. Kl. zween Bogen lang vorbereitet, wie wuͤrde es denn dem Tone meines Werks entſprechen, nicht auch vorzubereiten? Jch muß alſo Schritt halten: ſonſt kommen wir alle drei, Hr. Klotz, der Leſer und ich aus dem Takte.

A 5Wie10Kritiſche Waͤlder

Wie nun? Jſts wohl ſo leicht, Homer zu ta - deln? ich meyne ſo leicht fuͤr uns, in unſrer Zeit, Denkart und Sprache? Es ſollte ſcheinen. Denn ſind wir nicht in Gelehrſamkeit und Wiſſenſchaft, und Stuffe der Cultur ungleich hoͤher, als das Zeit - alter Homers? Jſt die Welt nicht drei tauſend Jahr aͤlter, und alſo auch vielleicht drei tauſendmal erfahr - ner und kluͤger geworden? Kniet alſo nicht der Alt - vater Homer vor dem Geſchmacke und Urtheile un - ſers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des juͤngſten Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorſitzer und geheimen Rathe deſſelben? Jch ſollte faſt glau - ben! oder beinahe nicht glauben: denn unſer Jahr - hundert mag in allem, was Gelehrſamkeit heißt, ſo hoch gekommen ſeyn, als es will und iſt; ſo iſts doch in allem, was zur poetiſchen Beurtheilung Homers gehoͤrt, nicht hoͤher; ja ich behaupte, daß es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die Homers Zeitgenoſſen, oder wenigſtens Landsleute und Bruͤder einer Sprache mit ihm waren, weit hinten nach ſey. Wir ſind nicht nur nicht hoͤher hin - auf, wir ſind gewiſſer maßen aus der Welt hinaus geruͤckt, in der Homer dichtete, ſchilderte und ſang.

Homers Sprache iſt nicht die unſre. Er ſang; da dieſelbe noch blos in dem Munde der artikulirt ſprechenden Menſchen, wie er ſie nennet, lebte, noch keine Buͤcher, noch keine grammatiſche, und amwenig -11Zweites Waͤldchen. wenigſten eine wiſſenſchaftliche Sprache war. Er bequemte ſich alſo den Artikulationen der Zunge ſei - ner Menſchen, den Beugungen, und dem Wortge - brauche der lebenden Welt, in aller Unſchuld und Einfalt ſeines Zeitalters. Wer kann ihn nun hoͤ - ren, als ob er ſpraͤche? Tauſend Woͤrter haben ih - ren Sinn allmaͤlich umwandeln, oder ſich in ihrem Gebrauche ſeitwaͤrts biegen und verfeinern muͤſſen. Muͤſſen, ohne daß es jemand wollte, und bemerk - te; denn der Geiſt der Geiſt der Zeit veraͤnderte ſich. Man behielt immer das Wort, man glaubte auch im - mer, denſelben Begriff zu haben; denn in der ge - meinen Sprache des Umganges wechſelt man klare, und nicht deutliche Jdeen: und doch ſo, wie ſich Le - bensart, und der Geiſt des Jahrhunderts aͤnderte, ſo hatte ſich auch der inwohnende Geiſt vieler Woͤr - ter veraͤndert. Sehr ſpaͤt endlich ward die Spra - che wiſſenſchaftlich. Der Woͤrterſammler, der die Be - griffe aus einander ſetzen, deutlich machen ſollte, fand einige vielleicht ſchon gar nicht in ſeiner leben - den Sprache; er mußte rathen, und die Muſe ge - be, daß er unter hunderten nur einmal uͤbel gerathen haͤtte. Bei einem andern definirte er nach dem Be - griffe ſeiner Zeit: wie aber, wenn dieſer blos ein juͤngerer, ein abſtammender Begriff geweſen waͤre? Bei einem dritten nahm er vielleicht gar nur eine verfeinernde Bedeutung des Philoſophen, eine Ne - benbeſtimmung dieſer und jener Schule, Provinz,Sekte,12Kritiſche Waͤlder. Sekte, Menſchengattung, und trug ſie ein. Nun komme nach drei tauſend Jahren ein Menſch aus ei - ner fremden Sprache, aus einer ganz andern Welt, urtheile und richte, und maͤckle Woͤrter, ſicherer wuͤr - de er die Buͤcher der cumaͤiſchen Sybille in Ord - nung bringen!

Wer mir nicht glaubt, leſe hieruͤber die Vorre - de des arbeitſamen Johnſons zu ſeinem engliſchen Woͤrterbuche, und er wird vor einer Kritik zittern, die ihn drei tauſend Jahre zuruͤck, in einen ſo fruͤ - hen Zeitpunkt der griechiſchen Sprache, als in wel - chem der Dichter ihrer Jugend Homer ſang, wer - fen will. Wenn ſchon zur Zeit Ariſtoteles gebohr - ne Griechen uͤber einzelne Woͤrter Homers zweifel - haft waren: werden wir alsdenn nicht weit oͤfter, wenn es inſonderheit auf Wuͤrde der Woͤrter an - kommt, in der Sprache des ehrlichen Sancho Pan - ſa ſagen muͤſſen: Gott weiß, wie Homer haͤtte dichten ſollen. Jch rede nicht von dem Sinne deſſelben, ſondern von dem Gefuͤhle ſeiner epiſchen Wuͤrde in der Sprache: und zum Behufe des letztern reichen die vielen Huͤlfsmittel unter den Griechen ſelbſt da zu, Homer beurtheilen zu wollen?

Jch gebe ein Beiſpiel, das ich brauchen wer - de. Das Wort γελοιιον hieß in den Zeiten der al - ten griechiſchen Einfalt, uͤberhaupt, was Freude, was Lachen erwecket, ohne daß dies Lachen der Freu - de noch ein Gelaͤchter des Spottes ſeyn dorfte. Dasγελοι -13Zweites Waͤldchen. γελοιον in einem Menſchen war der Charakter ei - nes ſuͤßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war An - nehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieſer un - ſchuldigen Einfalt abwichen; deſto mehr wurde der Begriff des Laͤcherlichen daraus. Das γελοιον in einem menſchlichen Charakter ward das Pic - quante des Witzlinges und endlich ganz die Nar - renkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Auf - tritte ward das Laͤcherliche, und endlich das Bela - chenswuͤrdige. Welche Umwandlung von Jde - en! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt das γελοιον allemal fuͤr eine Poſſenreißerei nehmen will, weil etwa in der lateiniſchen Ueberſetzung ri - diculum ſteht, und darnach einen Menſchencha - rakter in Homer laͤngelang beurtheilen, und tadeln, und verdammen wollte, der koͤnnte freilich ſein Woͤr - terbuch, und ſeine Ueberſetzung, und die Meinung einiger alten Grammatiker auf ſeiner Seite haben, nicht aber darum auch den urſpruͤnglichen Homer. Ueber den muß man nicht aus Ueberſetzung und Woͤrterbuche, ſondern aus dem lebendigen Gebrau - che ſeiner Zeit urtheilen, oder das ſicherſte Wort waͤhlen: ουκ οιδα!

Zweitens. Wenn die todte, die koͤrperliche Na - tur, die Homer malet, ſich ſeit ihm ſchon ſehr ver - aͤndert hat, wie viel mehr die Natur der Menſchen, die Manier der Charaktere, die Nuͤancen, in denenſich14Kritiſche Waͤlder. ſich Leidenſchaften aͤußern! Eine griechiſche Seele war gewiß von andrer Geſtalt und Bauart, als ei - ne Seele, die unſre Zeit bildet. Wie verſchieden die Eindruͤcke der Erziehung, die Triebfedern des Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung des Lebens, der Anſtrich des Umganges! Wie ver - ſchieden alſo das Urtheil uͤber die Wuͤrde der Menſch - heit, uͤber die Beſchaffenheit des Patrioten, uͤber die Natur der Goͤtter, uͤber die Erlaubniſſe des Ver - gnuͤgens, uͤber Anſtand und Zucht wie verſchieden damals und jetzt! So weit Athen von Berlin, ſo weit muͤſſen ſich die Jugendeindruͤcke Homers hieruͤber von dem Urtheile eines ſeiner heu - tigen Kunſtrichter entfernen. Wer die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes in allen Zwiſchenzeiten zwiſchen Homer und uns kennet, wer den Umwand - lungen und Vermiſchungen der Begriffe von menſchlicher Natur, Religion, Gelehrſamkeit, buͤr - gerlichem Jntereſſe, Sittſamkeit und Wohlſtande in allen dieſen Zeiten nachgeſpuͤret, wer Augen hat, um den Ort zu ſehen, auf welchen ihn die zuſam - men geſetzten Kraͤfte ſo vieler Zwiſchenjahrhunderte geworfen haben, der wird in allem, was Charakter einer Menſchenſeele iſt, ungemein ruͤckhaltend ſeyn. Er wird Homer, den Schoͤpfer menſchlicher Charak - tere, ſtudiren; er wird in den Zeiten deſſelben nach der damaligen Geſtalt dieſer ſo wichtigen Be -griffe15Zweites Waͤldchen. griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin - ſtern urtheilen? Kaum!

Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie - lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt - ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen unſrer Zeit zu urtheilen. Jetzt will ich nur fra - gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel - chen er ſich denn haͤtte richten ſollena)Epiſt. Homer. p. 24.?

Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit vor ihm bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be - griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl - ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig - keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed - le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen.

Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude: Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit. Die Vorſtellun - gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho - mer, und anders konnte er nicht ſingen EinBar -16Kritiſche Waͤlder. Barde voriger Zeiten fuͤr ſeine Zeit. Wer ſich in dieſe zuruͤck ſetzen kann, in Erziehung und Sit - ten, und Leidenſchaften und Charaktere, und Spra - che und Religion fuͤr den ſingt Homer, fuͤr keinen andern.

Es iſt laͤcherlich, vom Homer fodern, daß er ſich nach den Sitten einer kuͤnftigen Zeit haͤtte rich - ten ſollen. Dazu gehoͤrt Gabe der Weiſſagung, und noch was mehr, die Gabe unmoͤgliche Dinge zu thun. Wenn wir fodern, daß Homer fuͤr unſre Zeit und Denkart haͤtte ſchreiben ſollen, ſo haͤtte es ein alter Jndianer und Perſer, der auch Homeren in ſeiner Sprache las, fodern koͤnnen! So auch ein ſcholaſtiſcher Moͤnch des funfzehenten Jahrhun - derts, wenn er uͤber Homer kam! ſo auch ein hot - tentottiſcher Kunſtrichter, wenn einmal der Genius der Wiſſenſchaften Europa verlaſſen, und mit Ho - meren in der Hand nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung ziehen wird! ſo auch ein jeder Thor von Einſiedler, der auf einer Saͤule, wie Simon der Stylite, alt und grau wurde! Alle werden als - denn im vereinigtem Chore mit unſerm lateiniſchen Perrault anſtimmen koͤnnena)Epiſt. Homer. p. 24.: Homerum dormi - taſſe aliquoties, apparet. Quod iis in locis in - primis patere exiſtimo, ubi Tuæ ætatis mo - ribus inſeruit nondum politis ſatis, & cum ſim - plicitate ruſticum aliquid & aſperum habentibus. Und17Zweites Waͤldchen. Und was wuͤrde aus Homer, wenn er ſich nach je - dem Kunſtrichter haͤtte richten wollen?

Nein! mein Homer ſoll ſich nicht nach mei - nem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des ſeini - gen moͤgen ſo weit abgehen, als ſie wollen. Jch bin zu beſcheiden, ihn ſummam vim & menſuram in - genii humani zu nennena)p. 19. Jch weis dieſen Ausdruck, als gewoͤhnliche la - teiniſche Phraſis; allein ich mag keine Phraſis, die eſ urſpruͤnglich nicht war, die keine Wahrheit hinter ſich hat.: denn wer bin ich, daß ich die geſammten Kraͤfte der Natur waͤgen, und das Maaß erfaſſen wollte, das die Menſur des menſchlichen Geiſtes enthaͤlt? Wer bin ich, daß ich die Linie ziehen koͤnnte: ſo hoch reicht Homer, und ſo hoch kann der menſchliche Geiſt reichen! So ſehr ich ihn, als die edle Erſtgeburt der ſchoͤnen dichteri - ſchen Natur in Griechenland, liebe; ſo gern ich ihn, als den Vater aller griechiſchen Dichter, vereh - re: ſo bloͤde bin ich, ihn, als den Umfang, als das Maaß des menſchlichen Geiſtes, zu betrachten: ſo bloͤde, es abwaͤgen zu wollen, wie auch nur die dich - teriſche Natur ihre Kraͤfte in ihm erſchoͤpfet. So lange mir Apollo nicht den Wunſch erfuͤllet, die Me - tamorphoſen des menſchlichen Geiſtes auch in einer ſolchen Metamorphoſe meines Geiſtes durchwan - deln und durchleben zu koͤnnen: ſo lange ich nichtmitB18Kritiſche Waͤlder. mit den Ebraͤern ein Ebraͤer, mit den Arabern ein Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde, weſentlich, und durch eine Um - wandlung meiner ſelbſt geworden bin, um Moſes und Hiob, und Oſſian in ihrer Zeit und Natur zu fuͤhlen: ſo lange zittere ich vor dem Urtheile: Ho - mer iſt die hoͤchſte Maße geſammelter Kraͤfte des poetiſchen Geiſtes, das hoͤchſte Maaß der dichte - riſchen Natur. Und iſt ſchon bei Einer einzi - gen Seite der Natur, und des menſchlichen Geiſtes, als dichteriſches Genie iſt, iſt da dies Urtheil ſchon ſo ſchwer: wie kann ich den Umfang geſammter Gei - ſteskraͤfte, das Maaß der ganzen Menſchennatur in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur bei Bildung eines Alcibiades und Perikles, und Demoſthenes, als Geſchoͤpfe ihrer Zeit, betrachtet, ſich nicht mehr erſchoͤpft, als bei Homer? Wo weiß ich, ob ein Plato, ein Baco, ein Newton,

das Ziel erſchaffner Geiſter,

dieſer bildenden Mutter nicht mehr in ihrer Art ge - koſtet, als Homer in der ſeinigen? Ein ſolcher Lob - ſpruch geht ins Ungeheure; und wenn Homer ſum - ma vis, & quaſi menſura ingenii humani iſt, ſo wird der, ſo ihn noch beurtheilen und tadeln kann, ein voͤlliger Uebermenſch! hervorragend uͤber die Schranken des menſchlichen Geiſtes. Da trete ich zuruͤck, um den kritiſchen Gott anzubeten.

Jch19Zweites Waͤldchen.

Jch betrachte Homer blos, als den gluͤcklich - ſten poetiſchen Kopf ſeines Jahrhunderts, ſeiner Nation, dem keiner von allen, die ihn nachahmen wollten, gleich kommen konnte; aber die Anlagen zu ſeinem gluͤcklichen Genie ſuche ich nicht außer ſei - ner Natur, und dem Zeitalter, das ihn bildete. Je mehr ich dieſes kennen lerne, deſto mehr lerne ich mir Homer erklaͤren, und deſto mehr ſchwindet der Gedanke, ihn, als einen Dichter aller Zeiten und Voͤlker, nach dem Buͤrgerrechte meiner Zeit und Nation, zu beurtheilen. Nur gar zu ſehr ha - be ichs gelernt, wie weit wir in einem Zeitraume zweier Jahrtauſende von der poetiſchen Natur ab - gekommen, eine gleichſam buͤrgerliche Seele erhalten, wie wenig, nach den Eindruͤcken unſrer Erziehung, griechiſche Natur in uns wirke! wie weit Juden und Chriſten uns umgebildet haben, um nicht aus eingepflanzten Begriffen der Mythologie auch uͤber Homers Goͤtter zu denken! wie weit Morgenlaͤnder, Roͤmer, Franzoſen, Britten, Jtaliener und Deut - ſche, wenn ich den rouſſeauſchen Ausdruck wagen darf, unſer Gehirn von der griechiſchen Denkart weggebildet haben moͤgen, wenn wir uͤber die Wuͤr - de der menſchlichen Natur, uͤber Heldengroͤße, uͤber die Ernſthaftigkeit der Epopee, uͤber Zucht und An - ſtand denken! Wie gelehrt muß alſo ein Auge ſeyn, um Homer ganz in der Tracht ſeines Zeitalters ſe - hen: wie gelehrt ein Ohr, ihn in der Sprache ſeinerB 2Na -20Kritiſche Waͤlder. Nation ſo ganz hoͤren: und wie biegſam eine See - le, um ihn in ſeiner griechiſchen Natur durchaus fuͤhlen zu koͤnnen. Am ſicherſten, mein Urtheil uͤber ihn ſey nicht voreilend, damit ich ihm das nicht fuͤr einen Fehler anrechne, was Tugend ſeiner Zeit war.

Nun mag Hr. Kl. die unten geſetztea)p. 24. &c. Einlei - tung zu ſeinem homeriſchen Tadel rechtfertigen; ich finde den einen Theil derſelben am unrechten Orte; den andern Theil ſehr zweifelhaft. Am unrechten Orte ſteht die Betrachtungb)p. 21 23., daß Homer ein Menſch ſey, Fehler habe, daß die Fehler der groͤße - ſten Genies, eines Homer und Shakeſpear, ihrer Groͤße nichts benehmen, u. ſ. w. Fuͤr unſern Zweck waͤre die Betrachtung geweſen: ob Homers Fehler, (als griechiſcher Dichter ſeiner Zeit, und nicht als Menſch betrachtet,) von uns, und zu allererſt von uns eingeſehen, und diktatoriſch beurtheilt werden koͤnnen? Und ſo zweifelhaft dies: ſo ungewiß wird mir das Folgendec)p. 24. 25.: daß Homer ſein Gedicht mit nicht leichten Flecken beſudelt, weil er ſich entweder nach den Sitten ſeiner Zeit gerichtet, (das mußte er thun, und wenn ers thut, iſts kein Fehler,) oder weil es ſchwer faͤllt, zuruͤck zu halten, was dem Leſer Lachen erwecken koͤnnte, oder aus ei - nem Fehler ſeiner Beurtheilungskraft; kurz alſo, daß21Zweites Waͤldchen. daß er ſich zu dem herab laͤßt, wovon ich, Chr. Ad. Kl. achte, es ſchicke ſich fuͤr die Wuͤrde, und den Ernſt des epiſchen Gedichts ganz und gar nicht. Die erſte Urſache iſt unpaſſend: die zweite ſehr unwahrſcheinlich: die dritte zweifelhaft: und die Folge ſelbſt, wie ich zu beweiſen hoffe, falſch.

Unpaſſend die erſte Urſache: daß Homer mit nicht leichten Flecken ſein Gedicht beſudelt, weil er ſich den Sitten ſeiner Zeit bequemt. Ho - mer mußte ſich ihnen, und der Zeit ſeiner Helden be - quemen; nicht aber der Zeit der Kapuciner, oder dem Jahrhunderte Ludwigs des vierzehenten, oder dem kritiſchen Jahrhunderte, das Hr. Kl. in Deutſch - land ſchaffen will. Es iſt keine Suͤnde, zu behaup - ten, daß Homer an dies, und an die ſeligen Moh - ren in Afrika mit ſeinen Goͤttern, und mit ſeinem Unanſtaͤndigen gar nicht gedacht habe.

Hoͤchſt unwahrſcheinlich die zweite Urſache: Ho - mer habe ſich zu dem herab gelaſſen, wovon ich halte, daß es ſich fuͤr die Wuͤrde, und den Ernſt des epiſchen Gedichts ganz und gar nicht ſchicke, weil es ſchwer wird, das zuruͤck zu halten, wovon wir glauben, daß es dem Leſer Lachen erwecken werde. Denn wenn Hr. Kl. das Zeitalter Homers, und ſei - ner Helden kennet, wird er hoffentlich zugeben, daß demſelben nichts fremder ſey, als eine Sucht des Laͤcherlichen. Die Verfaſſer gewiſſer Bibliothe - ken moͤgen mit dem Marktausruffe vortreten:

B 3Jocos22Kritiſche Waͤlder.
Iocos ridiculos vendo: agite licitemini!

der epiſche Dichter Homer weiß von ſolchen laͤcher - lichen Grazien nichts. Das Zeitalter, das er be - ſingt, war die Zeit der Heldengroͤße, eines hohen Ernſtes nach griechiſcher Natur: und die Zeit, in der er lebte und ſang, der Anfang des buͤrger - lichen Jahrhunderts, und alſo eines geſitteten Ernſtes in edler Einfalt. So wie in der erſten der Held, der Tapfre, der groͤßeſte Mann war; ſo in der zweiten der Weiſe und Gute in beiden war an den lachenden, oder Lachen erregen - den Witzling nicht wohl zu gedenken; ſonſt waͤre ſtatt homeriſcher Epopeen nichts, als crebillonſche Ro - mane, oder komiſche Epopeen, die Erſtgeburt der griechiſchen Muſe geworden. Bei Homer alſo, wenn er keinen Margites, ſondern eine Helden Jlia - de ſchreibt, bin ich vor dem unzeitigen, unwuͤrdigen Lachen ſo ſicher, als ichs bei den ſchoͤnen und artigen Schriftſtellern unſrer Tage wohl nicht bin: und das vermoͤge des homeriſchen Zeitalters.

Drittens endlich, duͤnkt mich die Urſache des beſchwerlich Laͤcherlichen in Homer eben ſo unge - wiß, daß er aus einem Fehltrite ſeiner Beurthei - lungskraft ſo unzeitig laͤcherlich, ſo lachſuͤchtig ge - worden: denn wer Homers Zeit kennet, wird zehn andre Fehltritte fuͤr wahrſcheinlicher halten, als doch warum ſo viel wahrſcheinliche oder unwahr -ſchein -23Zweites Waͤldchen. ſcheinliche Urſachen? Hr. Kl. komme nach vier und zwanzig Seiten einmal zum Beweiſe.

2.

Meine Meinung iſta)p. 24. 25. &c. , daß Homer manchmal an einem ſehr ungeſchickten Orte den Leſer zum Lachen bringen wollen, und damit ſeinem goͤttli - chen Gedichte nicht leichte Flecken angeſpruͤtzt, die demſelben eine nicht kleine Unfoͤrmlichkeit, und dem Leſer Verdruß erwecken. Hieher kann man in der Odyſſee den Streit der Jris mit Ulyſſes, und im erſten Buche der Jliade den Ort rechnen, wo er den Gott Vulkan einen Gaukler (hiſtrio - nem) ſpielen laͤßt denn was ſpielt er anders, als einen Gaukler, da er den Goͤttern Wein ein - ſchenket, und dieſe den hinkenden Mundſchenken mit großem Gelaͤchter begleiten. Noch mehr aber wird die Sache aus dem zweiten Buche erhel - len und nun kommt weit und breit die Geſchich - te von Therſites, die Hr. Kl. mal uͤber mal fuͤr un - anſtaͤndig, unſchicklich, ungereimt, unwuͤrdig er - klaͤrt, uud mit einem recht therſitiſchen Geraͤuſche voͤllig aus Homer verwirſt.

Nun wundre ich mich zuerſt uͤber die Verwun - derung, daß unter allen Feinden Homers noch niemand auf dieſe Geſchichte gefallen, daß, ſo ſehrB 4 man24Kritiſche Waͤlder. man alles zu ſeinem Tadel geſammlet, man nicht dieſen Ort angeklaget. Jch wundre mich, daß ſich Hr. Kl. ſo viel Muͤhe giebt, es zu unterſuchen, woher ſich alle haͤtten betriegen laſſen, dieſe Stelle nicht zu tadeln; daß er ſelbſt eine Gedankencita - tion von Vida anfuͤhret, wo dieſer wohl Therſites koͤnne im Sinne gehabt haben, und bei allem nicht den Franzoſen, dem er, Hr. Kl. ſo manches Maleranekdotchen, und zehen gegen Eins, auch die - ſen ganzen Tadel ſchuldig iſt, den er ſo unerhoͤrt, ſo weitlaͤuftig, ſo wichtig vorzeiget. Hr. Kl. wird doch ſeinen Leibautor, wenn es auf Malergeſchichtchen ankommt, den beruͤhmten d’Argenſona)Leben der Mahler Th. I. p. 81. Eben der Tadel, nur veraͤndert, iſt Voltaͤren und andern Franzoſen eigen, und Hr. Leſſing hat zu verſchiednen malen die Sache von der Seite des Drama in Beleuchtung genom - men; ſ. Dramaturg. 1. und 2. Band hin und wieder., nicht ver - kennen?

Der Franzoſe ſagt bei Gelegenheit ſeines Ju - lius Romanus, und des laͤcherlichen Zwerges im Gemaͤlde Konſtantins: es iſt wahr, daß ſich eine ſolche laͤcherliche Figur zu einem ſo ernſthaften Gegenſtande gar nicht ſchicket; man muͤßte denn dieſen Maler mit dem Homer entſchuldigen wol - len, der in der Jliade einen Vulkan, wor - uͤber die Goͤtter ſpotten, und einen von aller Welt verachteten Therſites anbringt, um den Helden ſeines Gedichts einen Contraſt zu geben. Der25Zweites Waͤldchen. Der Deutſche, oder vielmehr der Deutſchlateiner, braucht dieſe Worte eben in der naͤmlichen Abſicht, in demſelben Zuſammenhange, wie der Franzoſe, ſchmuͤckt ſie mit eben demſelben Beiſpiele von Ju - lius Romanus und andern bekannten Malern aus, die meiſtens d’Argenſon ſelbſt an ihrem Orte an - fuͤhrt, und doch wird unter ſeinen Haͤnden al - les Neu und Unerhoͤrt. Ja endlich truͤbet er ſo gar d’Argenſons beſſere Anfuͤhrung Homers. Die - ſer giebt dem Therſites einen von aller Welt ver - achteten Charakter, den ihm auch Homer giebt; Hr. Kl. macht ihn zum Poſſenreißer, was ein d’Ar - genſon ſich nicht einmal zu behaupten getrauete, und wovon Homer nichts weiß. Der Franzoſe laͤßt ihn und Vulkan vom Homer charakteriſiren, um den Hel - den ſeines Gedichts einen Contraſt zu geben; der Deutſche faͤhrt uͤber Homer her, daß er aus Ungeſchliffenheit ſeines Zeitalters, aus der eitlen Sucht, dem Leſer ein Lachen am unrechten Orte ab - zujagen, oder gar aus Mangel der Beurtheilungs - kraft, dem Gedichte ſo haͤßliche Flecken einbrenne, dem Leſer zur Laſt waͤre, ihm an unrechtem Orte ein unanſtaͤndiges Lachen abzwinge, die Wuͤrde ſeines Epos aufopfere Mit wem von beiden ließe ſich alſo vernuͤnftiger Homer unterſuchen, mit dem ver - nuͤnftig tadelnden Franzoſen, oder mit dem ſich bruͤſtenden Deutſchen? Leider muß ich mit dem letzten!

B 5Was26Kritiſche Waͤlder.

Was alſo Vulkan betrifft: wird jeder Kenner Homers wiſſen, daß das Jdeal ſeiner Goͤtter nichts weniger, als das Jdeal hoͤchſtvollkommener, geiſti - ger, allerhoͤchſter Weſen ſey. Sie haben alle ihren Charakter, der nach Koͤrper und Seele, nach Staͤrke und Denkart, nach Wuͤrde und Neigungen, nach Anſehen und Verrichtungen ſo beſtimmt iſt, als die Namen, die ſie fuͤhren, oder die Partei, die ſie im homeriſchen Gedichte nehmen. Wie alſo bei den alten Kuͤnſtlern die Bildung jedes Gottes ihr eigent - liches Jdeal, ihre Geſtalt bis auf Bart und Haupt - haar hatte: ſo ſind auch in Homer ihre Charaktere gleichſam eine Reihe von eigenthuͤmlichen Bruſt - bildern, von Weſen, wo jedes aus ſich, wo keins, wie ein drittes, handeln muß. Gegen Menſchen gerechnet haben freilich alle homeriſchen Goͤtter ihr eigenes Anſtaͤndige; aber unter ſich ſelbſt iſt wider ihre Wuͤrde, ihr Anſtand, ihre Art zu handeln ſo eigen beſtimmt, ſo ſonderbar, als eines jeden Koͤr - per und Name. Man ſtreiche in der ganzen Jlia - de alle Namen der Goͤtter und Goͤttinnen aus; ich will jedes von ihnen aus ihren Reden und Hand - lungen errathen: und es kann aus Hamer eine ſolche Gallerie von dichteriſchen Jdealen ſeiner Goͤt - ter erbauet werden, als Winkelmann ſeine Jdeale derſelben aus der Kunſt aufſtelleta)Geſchicht. der Kunſt und Anmerk. dazu, p. 42. etc. .

Hier27Zweites Waͤldchen.

Hier alſo an unſerm ſo unanſtaͤndig laͤcherlichen Ortea)Iliad. v. 595. was war geſchehen? Jupiter erſcheint mit aller Ehrfurcht der Goͤtter im Olymp, und die gebieteriſche Juno faͤngt uͤber ſeine geheimen Rath - ſchlaͤge zu zanken an. Der oberſte der Goͤtter ant - wortet zuerſt groß und unabhaͤngig, und als Juno fortfaͤhrt und ſeine Rathſchlaͤge offenbaret, zornig und maͤchtig drohend. Verſtummt vor Furcht, gebeugt in ihrem Herzen ſitzt die hohe Juno da, und alle Himmliſchen im Hauſe des Gottes verſammlet, erſeufzen. Eine ſchauderhafte Stille, eine unru - hige ſtumme Scene, wie vor einem Ungewitter, herrſcht im Olymp!

Wer ſoll ſie brechen? Soll Homer ſeinen Ge - ſang ſchließen, und den Leſer in einer bangen Be - ſorgniß laſſen, ob nicht auf dies Schaudervolle Verſtummen nachher wirklich ein Ungewitter erfol - get? ob nicht etwa die gebietende Juno den Streit erneuret, und alſo der maͤchtige Zevs ſeine Drohun - gen erfuͤllet? Unwuͤrdige Beſorgniß! der Hoheit des epiſchen Gedichts, und dem Zwecke der Homeri - ſchen Handlung entgegen! Homer, der nirgend ſeine Handlung abbricht, ſie mit jedem Worte wei - ter fortfuͤhrt, thaͤte doppelt Unrecht, in ſeinem erſten Geſange, bei der erſten Verſammlung der Alles lenkenden Goͤtter uns nicht das Ende ihres Raths wiſſen zu laſſen, und noch aͤrger uns auf ſein ganzesGedicht28Kritiſche Waͤlder. Gedicht hin eine Jdee von ſeinen ſeligen Goͤttern beizubringen, die uns wohl nicht den Zuſtand der - ſelben ſehr beneidenswerth vorſtellte.

Vollendet muß alſo der Auftritt werden, aber wie? und durch wen? Soll Juno ihren Zweck er - neuren, und vor unſern Augen ungluͤcklich werden? Unwuͤrdiger Anblick! Soll ſie fußfaͤllig abbitten? Ein niedriger Weg zum Frieden des Himmels, dazu ganz unjunoniſch! Eher ließe ſie ſich auf die gedrohete Art ſtrafen, lieber wollte ſie einer hoͤ - hern Tyrannei unterliegen, als ſo ihre weibliche Hoheit verlaͤugnen. Auf ſolche Bedingungen wird alſo kein Friede im Himmel!

Und wie denn? Es trete ein Friedensſtifter auf zwiſchen beiden! Doch wer? Einer, der durch ſein An - ſehen rechte, und durch die Wuͤrde ſeiner Perſon, als ein himmliſcher Neſtor, Jupiter und Juno zum Stillſchweigen bringe? Solch einer iſt nicht im ganzen Olympus! Der Streit iſt zwiſchen den hoͤchſten Goͤttern: er betrifft die Anſchlaͤge Jupi - ters, und die rechtmaͤßigen Drohungen ſeiner Macht: ſeine ganze Klugheit, ſein obergoͤttliches Recht, ſeine Gewalt alles iſt mit im Spiele. Wer ſoll nun auftreten, ihm zu widerſprechen, ihn ein beßres belehren zu wollen? Alle Anweſende ſind Unterordnungen, Unterthanen, Kinder! Selbſt die Goͤttinn der Rathſchlaͤge, Minerve, iſt die Tochter ſeines Haupts, und kennet ihren Vater zu gut, alsdaß29Zweites Waͤldchen. daß er ſich widerſprechen, belehren laſſe. Alle alſo, und ohne Ausnahme alle Goͤtter von Wuͤrde, von Ernſt handeln am beſten, wie ſie bei Homer handeln, ſtille ſitzen und ſchweigen.

Anders alſo, anders wird die Zwietracht im Himmel nicht geſtillt, als daß jemand Juno, die ſchwaͤchere, und noch dazu die unbillige Parthei des Streites, beſaͤnftige Wer ſoll dies thun? Etwa Einer, der Jupiter und Juno kenne, vielleicht bei - den angehe, nicht zu erhaben ſey, um beiden gute Worte zu geben, nicht zu anſehnlich ſey, um ſeine Wuͤrde dabei in Gefahr zu ſetzen Ein ſolcher ſeis, und hat er etwa in ſeiner Geſchichte, in ſeinem Charakter, in ſeiner Geſtalt Etwas, was June warne und beſaͤnftige, was die Macht Jupiters gleichſam redend, ſichtbar zeige, Jhm alſo auch Recht gebe, ihn damit auch beſaͤnftige iſt ein ſolcher da, ſo trete er auf, und gebe den Goͤttern heitern Tag wieder!

Und ſiehe da! ein Gott von minderm Anſe - hen, ein himmliſcher Handwerker; ein Gott, der Jupiter und Juno wohl gute Worte gaͤbe: ein Sohn beider; der in ſeiner Geſchichte Bei - ſpiel gnug von der Macht Jupiters ſeyn kann: Zevs hat ihn vom Himmel geworfen; der in ſei - ner Geſtalt Warnendes gnug fuͤr Juno habe: ſein noch hinkender, und ewig hinkender Fuß kurz! da iſt der ehrliche Vulkan. Vulkan alſofaͤngt30Kritiſche Waͤlder. faͤngt an im Namen aller himmliſchen Unter - maͤchte zu reden, daß ein ſolcher Krieg die Ruhe der ſeligen Goͤtter ſtoͤre, daß die Sache der Men - ſchen die beſten Gaſtmale der himmliſchen verderbe. Vulkan ſpricht als ein ehrlicher Handwerker, der ſeine Gruͤnde nicht weit herholet; aber ſeine Vor - ſtellungen ſind buͤndig, der Zeit und dem Orte an - gemeſſen, und ſo ſtark, als der Amboß, den er zu fuͤhren pflegt. Er und alle Goͤtter ſind ja zum Schmauſe erſchienen!

Er wendet ſich gegen die Mutter, ob er gleich wuͤßte, daß auch ſie verſtaͤndig waͤre der Ehr - liche, in deſſen Munde dieſe Worte ſo glaubwuͤrdig werden, als ſie es ſeyn ſollen: in deſſen Munde alſo auch die kindliche Anmahnung kein ſich bruͤſtender uͤberhobner Rath ſeyn wird.

Er erinnert ſie an die Macht des Donnergot - tes, der, wenn er wollte, alles vom Himmel werfen koͤnne der gute Vulkan redete aus Erfahrung, und wie ſein hinkender Fuß ihn nicht anders reden laͤßt. Sein Rath iſt alſo, Zevs abzubitten, und dem ganzen Himmel Heiterkeit wieder zu geben. Wo iſt bisher der Poſſenreißer, der hinkende Gaukler?

Aber abzubitten? dem Himmel Heiterkeit wie - der zu geben? Und Juno ſelbſt ſoll leiden, ſoll Un - recht behalten? O daß ſie nur nicht am Dorn - ſtrauche des letzten Worts hangen bleibe, und vonneuem31Zweites Waͤldchen. neuem zuͤrne! Siehe da, Vulkan! den Becher voll himmliſcher Freude, die Schaale voll Nektar! Tritt zur Juno, daß ſie dieſen letzten Zug nicht fuͤhle: troͤſte ſie uͤber ihre Traurigkeit und ihre Unterdruͤ - ckung: fuͤhre deine eigne ungluͤckliche Geſchichte an! Vulkan thuts, und ſiehe! da laͤchelt die Koͤ - niginn der Goͤtter: laͤchelnd nimmt ſie den Becher der Freude von der Hand ihres Sohnes.

Jhr hohes Laͤcheln hat den Olymp aufgeklaͤrt: die Wolken ſind voruͤber. Die Ruhe, die himmliſche Freu - de beſucht die Wohnung der ſeligen Goͤtter wieder: der ſuͤße Nektar fließt fuͤr alle: bei allen findet ſich das unzerſtoͤrbare Vergnuͤgen, die unausloͤſchlich ewige Seligkeit wieder ein, und faͤngt an, da ſie Vulkan ſo geſchaͤftig zu ihrem Vergnuͤgen ſehen:

Ασ〈…〉〈…〉 εστος δ’ἀρ ενωρτο γελως μακαρεσσι Θεοισιν
Ως ιδον Ηφαιστον δια δωματα ποιπνυοντα.

So ſchmauſen ſie den ganzen Tag hinab bis zur untergehenden Sonne: ihr Herz begehrt nichts: ſie ſpeiſen Ambroſia des Himmels, ſie hoͤren die Zitter des Apollo, und den Wechſelgeſang der Muſen: ſie gehen endlich vergnuͤgt jeder in das himmliſche Ge - mach, das ihm der kuͤnſtliche arbeitſame Vulkan erbauet: Jupiter ſelbſt beſteigt ſein hohes koͤnigli - ches Bette, und neben ihm die auf goldnem Throne prangende Juno! Selige Goͤtter! ſelige Woh - nungen des Olympus!

Wie32Kritiſche Waͤlder.

Wie hat nun Vulkan ſeine Sache ausgerichtet? Stand er auf, um einen lahmen Gaukler zu ma - chen, und nichts mehr? Unwuͤrdige Vorſtellung, Homer erweckte ihn, um die Goͤtter aus einander zu bringen, um dem Olymp den Frieden zu geben. Erreichte er dieſen Zweck durch Poſſen, durch Gau - keleien? Noch unwuͤrdigere Vorſtellung: er ſpriche ſo anſtaͤndig, ſo charakteriſtiſch, als ein Vulkan nur ſprechen kann, und hier nur ſprechen ſollte. Laͤuft drittens der Auftritt auf ein poͤbelhaftes Ge - laͤchter hinaus, das ſich Bauch und Seiten ſtem - met, und ſo fortwaͤhret? Noch unwuͤrdigere Jdee, nicht werth, die ſeligen Freuden des Olymps auch nur von fern zu ſehen. Und endlich: war gar dies Poͤbelgelaͤchter Homers Endzweck? Jch werde unwillig: wer die ganze Epiſode durch an nichts als an Vulkans hinkendem Fuße, und an den artigen Grimaßen des Mundſchenken ſeine Au - gen weidet, wer nichts bei Homer als dies ſieht, wer alle Goͤtter hierinn nach ſich beurtheilt, dem koͤnnte es in dieſem Himmel, wie vormals dem Vulkan ſelbſt, gehen: der lache lieber in den Buſen!

Homerus loco admodum inepto, dum riſum lectorum captare voluit, non levibus carmen di - vinum maculis adſperſit, quae illi non exiguam deformitatem, lectorique moleſtiam concilient. Huc referre potes locum, vbi deum Vulcanum hiſtrionem agere iubet. Quid enim aliud agit,quando33Zweites Waͤldchen. quando diis vinum infundit, qui claudum hunc pincernam mag no riſu proſequuntur? etc. Hr. Kl. geſtehe bei dieſer Stellea)p. 25., entweder, daß er d’Ar - genſon, oder der lateiniſchen Ueberſetzung Homers ge - folget, oder wenigſtens Homer nicht in ſeinem gan - zen Sinne nehme. Die gemeine lateiniſche Ueberſe - tzung freilich, die weiß von einem immenſo riſu exci - tato, und einem Bitaube iſts auch zu vergeben, wenn er den ganzen Himmelsſaal von Gelaͤchter der Goͤtter uͤber das Laufen und Rennen Vulkans er - ſchallen laͤßt: (tous les Dieux, qui le voyant s’agi - ter et courir de tous côtés, font retentir d’un ri - re éclatant la voûte céleſte). Jn der Sprache Homers aber, und inſonderheit in der einfaͤltigen Sprache ſeines Zeitalters iſt der ασ〈…〉〈…〉 εστος γελως, der ſeligen Goͤtter kein unwuͤrdiger, unanſtaͤn - diger Ausdruck: er bezeichnet die ewige Heiterkeit, die unzerſtoͤrbare Freude, die ihre Stirn wieder ein - nahm, das ſelige Laͤcheln, das bei dem Anblicke des Nektarſchenkenden Gottes auf ihrem Antlitze ſchweb - te. Allerdings zugleich ein kleiner Zug von Luſtig - keit uͤber ſeine Geſtalt, und daß er ſeine Sache ſo wohl gemacht, miſchet ſich ein; durchaus aber kein unendliches Poͤbelgelaͤchter uͤber einen hinkenden, wackelnden Gaukler; durchaus tritt Vulkan nicht auf, einen ſolchen Narren vorzuſtellen, an dem manſichC34Kritiſche Waͤlder. ſich ſatt lachen ſolle. Wer iſt der Homeriſt, im Geiſte Homers, der ihn und ſeinen Vulkan, und ſeine Goͤtter zu ſolchem Poͤbel erniedrigen kann! a)Jch hoffe doch nicht, daß man mir Plato’s Urtheil (de Republ. 1. 3. ) dagegen anfuͤhren werde: denn Plato will hier, wie er, oder Sokrates in andern Stellen, keinen Ausleger Homers, ſondern den Mo - raliſten, den Staatslehrer ſeiner Zeit aus Homer ma - chen. Und ſchlimm gnug, wenn der Poͤbel der Grie - chen dieſe Stelle ſo nahm, wenn er die Goͤtter ſich hieraus als φιλογέλωτας dachte, und ihnen wenigſtens im Gelaͤchter nachſtreben wollte!

Jch wenigſtens nicht. Bei mir erreicht das Geſchaͤfte Vulkans, die Juno, und den Jupiter, und den Himmel zu beſaͤnftigen, ſeine Wirkung mit jedem neuen Verſe. Mit jedem fuͤhle ich gleichſam einen gelindern Grad von der Bewegung des Stur - mes, mit jedem einen neuen ſanften Abfall zur Ruhe des Olympus: bis durch alle Stuffen des ge - minderten Schwunges die ſelige Freude, das himmli - ſche Lachen der Goͤtter hervorbricht, und nun das frohe Ambroſiſche Feſt anfaͤngt. Vulkan war Friedens - ſtifter, Vulkan der Geber des Feſtes, und Homer erneuret noch das gute Andenken, das er ſich dieſen Tag geſtiftet, dadurch, daß bei dem Schluſſe deſſel - ben jeder der Gaͤſte in das Gemach geht, das ihnen Vulkan erbauet. Niemand kann ſich eine Seele geben, die Er nicht hat: aber mich duͤnkt, daß von jedem beſaͤnftigenden Verſe Ho -mers35Zweites Waͤldchen. mers, (nach Lucians Ausdruckea)Τι λείψανον ένδιατρί〈…〉〈…〉 ειν, καὶ περι〈…〉〈…〉 ομ〈…〉〈…〉 εῖν τὰ ἆτα κα - ϑάπερ ἠχώ τινα παρατείνουσαν τὴν ἀκρόασιν, καὶ ἴχνη τῶν λόγων μελιχρὰ ἄττα κ. τ. λ. Lucian. εικον. bei ſeinem Eben - bilde der Schoͤnheit,) eine honigſuͤße Spur in mir zuruͤck bleibe, daß mit jedem Worte ſich der Auf - ruhr der himmliſchen Unruhe mehr baͤndige, und endlich bei dem Ausbruche der ſeligen unzerſtoͤrbaren Freude bleibet ein Echo zuruͤck, das mich die Citter des Apollo und den Geſang der Muſen hoͤren laͤßt, und ſo ſchließe ich Homers erſten Geſang.

3.

Und ſo begleite ich ihn auch bei der Scene Therſites. Wenn Hr. Klotz dieſelbe nicht aus der lateiniſchen Ueberſetzung beurtheilte, ſo wuͤrde er kaum das γελοιονb)p. 31., ſondern das αισχρον zu ihrem Hauptcharakter machen: wenn er ſie nicht aus dem Zuſammenhange riſſe, ſo wuͤrde er finden, daß ſie nicht blos an ihrem Ort ſtehec)p. 31., ſondern auch, wel - ches noch kuͤhner iſt, nirgends anders ſtehen koͤnne: und wenn Hr. Kl. ſich auf die Zeiten Achills und Homers erinnerte: ſo wuͤrde er findend)p. 32., daß das Colorit des Niedertraͤchtigen, Poͤbelhaften, Haͤßli - chen im Therſites Original Griechiſch ſey, nach den Sitten der damaligen Zeit nicht anders, und nach dem epiſchen Zwecke Homers nicht ſchwaͤrzer, undC 2nicht36Kritiſche Waͤlder. nicht weißer ſeyn koͤnne. Hier muß ich alſo Hr. Klotzen verlaſſen; denn er redet mir bogenlang von einem Poſſenreißer, von einem unleidlichen Gaukler, von einem beſchwerlichen unanſtaͤndigen Lachenerwecker vor, den ich nicht kenne.

Beinahe eben ſo tief iſts, wenn er den Zank Ulyſſes und Jrus tadelta)p. 25.. Was dieſes Gezaͤnk in der Odyſſeeb)Odyſſ. L. 18. iſt, das ſind die Zaͤnkereien zwi - ſchen Achilles und Agamemnonc)Iliad. ά. in der Helden - iliade, nur nach Verſchiedenheit des Stoffes und der Menſchengattung: Zank bleibt an ſich Zank. Und was dieſer Hader unter Menſchen, iſt der Zank unter den Goͤttern, der ſich noch mehr und oͤfter auszeichnet. Und was dieſer; das ſind hundert Scenen, die alsdenn aus Homer wegmuͤſſen, wenn eine ſolche ehrbar feine Critik unſres Zeitgenoſſen gelten ſollte, kein Held der Jliade, die wenigſtens Auftritte der Odyſſee ſind alsdann fuͤr unſern Zoi - lus: denn heißt es aufs neue:

ibis, Homere, foras.

Wenn es darauf ankaͤme, koͤnnte ich Hr. Kl. ſelbſt noch eine Reihe unwuͤrdiger, unanſtaͤndiger, unar - tiger Zuͤge in Homer anfuͤhren, wo Homer ge - ſchlummert, als welches, ich glaube, aus den Oertern erhellet, wo er ſich den Sitten ſeiner Zeit bequemet, die noch nicht gnug gefeilt, bei ihrer Ein -37Zweites Waͤldchen. Einfalt etwas Baͤuriſches und Rauhes haben, wo er ſich zu dem herablaͤßt, was der Wuͤrde und Erhabenheit des epiſchen Gedichts, wie ich achte, gar nicht geziemet: wo er demſelben nicht leichte Flecken angeſpritzt, wo er es nicht auf eine gerin - ge Art verunſtaltet, wo er dem Leſer einen nicht kleinen Verdruß erwecket. Ueber alles koͤnnte ich mit vielen Beiſpielen aufwarten, und alsdenn im wuͤrdigen Ton auf Homer ſchmaͤhen; ob aber daraus homeriſche Briefe, oder eine Satyre wuͤr - de: mag der Kenner Homers urtheilen, und Gott Lob! daß Deutſchland wahre Kenner Ho - mers beſitzet!

Jetzt muß ich Homer verlaſſen, denn ich ſehe, daß Hr. Klotz, zornig, wie die Goͤttinn Ate bei Ho - mer, auf den Koͤpfen der groͤßeſten Genies aller Zei - ten und Voͤlker wandelt. a)p. 32. 33. Laͤcherliches mit dem Ernſthaften, mit dem Nachdrucke Scherz, und das Große mit dem Niedrigen vermiſchen, hat zu aller Zeit fuͤr unanſtaͤndig angeſehen werden ſollen, muß von jedem getadelt werden, es ſei denn, wer mit Lopez di Vega glaubt, es ſte - he ihm frei, mit Vernachlaͤßigung aller Regeln, was und wie ers wolle vorzubringen, und das Wahre mit der Fabel, die Komoͤdie mit dem Trauerſpiele, das Laͤcherliche mit dem Ernſthaften ſo zu vermiſchen, daß aller Unterſchied zwi -C 3 ſchen38Kritiſche Waͤlder. ſchen dem Soccus und Kothurn aufhoͤre. Und das ſollte Lopez di Vega geglaubt haben? Das kann Hr. Klotz von einem Manne ſchreiben, deſſen Namen ihm Ehrfurcht erwecken ſollte? Der ſpaniſche Dichter mag ſelbſt redena)Neue Bibl. d. ſch. W. 1 B. 2. St. p. 213., er wird doch beſſer wiſſen, was er glaube, oder nicht glaube, als Hr. Kl. Dem Himmel ſei gedankt, noch ehe ich voͤllig zehn Jahre geweſen bin, habe ich die Buͤcher durchgeleſen, die von den Regeln der dramatiſchen Dichtkunſt handeln. Als ich aber zu ſchreiben anfieng, fand ich die Komoͤ - die bei uns beſchaffen, nicht wie die Alten gedacht haben, daß man ſie nach ihnen einrichten wuͤrde; ſondern wie ſie viele Unwiſſende verunſtaltet, die dem Volke dieſen groben Geſchmack beigebracht haben. Dieſer ſchlechte Geſchmack iſt ſo ſehr eingeriſſen, daß derjenige, der es wagt, nach den Regeln zu arbeiten, in Gefahr ſteht, ohne Ruhm und Belohnung zu ſterben; denn unter Leuten, die ſich der Vernunft nicht bedienen wollen, vermag die Gewohnheit mehr, als alle Vorſtellungen. Es iſt wahr, daß ich zuweilen den Regeln der Kunſt, die ſo wenige kennen, gefolgt bin; ſo bald ich aber, auf der andern Seite, jene blendenden Ungeheuer, wozu das Volk ſchaa - renweiſe laͤuft, und welche das Frauenzimmer vergoͤttert; ſo bald ich dieſe auftreten ſehe, ſo kehre ich39Zweites Waͤldchen. ich ſogleich zu meiner barbariſchen Gewohnheit zuruͤck, und wenn ich eine Komoͤdie ſchreiben ſoll, verſchließe ich geſchwinde den Ariſtoteles und Horaz unter 5 Schloͤſſern, und lege den Te - renz und Plautus aus meiner Studierſtube weg, damit ſie nicht zu klagen anfangen: denn die Wahrheit ſchreit aus vielen Buͤ - chern laut hervor, u. ſ. w. Nur ein Hr. Klotz kann alſo ſchreibena)Epiſt. Hom. p. 33.: Lupum Felicem de Vega, Carpionem perſuaſum habuiſſe, licere ſibi, omni - bus pra[e]ceptis neglectis, quascunque res, quocun - que modo in ſcenam producere etc. vt omne ſocci et cothurni diſcrimen tollatur.

Von einem Herkules gehts zum andern, vom ſpaniſchen Homer zum brittiſchen: von Lopez zum Miltonb)p. 34. 35.. So wie in großen Vorzuͤgen, ſo iſt auch hierin Milton dem Homer gleich: ich ſehe ihn ſcherzen und ſpotten, wo er ernſthaft und nach - druͤcklich ſeyn ſollte. Nun werden Stellen an - gefuͤhrt, die laͤngſt in England ſelbſt beſſere Tadler und zugleich ihre Vertheidiger gefunden, der Streit Gabriels mit dem Satan, der bittre Spott im Munde Satans, der Limbus der Eitelkeit u. ſ. w. Hr. Kl. ſchlage Addiſon, oder die erſte beſte engli - ſche Ausgabe Miltons mit Anmerkungen, oder auch nur unſere aͤltere gute Schweizeruͤberſetzung auf: er wird finden, daß ſeine Vorwuͤrfe wieder -C 4holt,40Kritiſche Waͤlder. holt, mit Gruͤnden vorgetragen, und mit Gruͤnden widerlegt veraltet ſind.

Mit Gruͤnden veraltet: und er hat geglaubt, Gruͤnde nicht anfuͤhren zu duͤrfen. Der Satz ſelbſt: in einem epiſchen Gedichte will man ernſthaft ſeyn, folglich ſoll man nicht lachen, folglich ſoll ſich auch keine Spur des Laͤcherlichen einſtehlen, duͤnkte ihm Grund gnug: er wiederholt ihn alſo als ein Axiom, das wohl gar ein Hauptgeſetz der Epopee werden koͤnnte. Ein ſolches furchtbares Hauptgeſetz uͤber die hoͤchſte Dichtungsart deſ menſchlichen Geiſtes verdient doch, ehe es ſo unbe - ſtimmt eingefuͤhrt wuͤrde, eine Berathſchlagung.

Deutlich unterſchieden hat das Problem ver - ſchiedne Seiten. Fodert es die Proprietaͤt des epiſchen Gedichts, und die Congruenz aller Theile deſſelben, daß kein Zug des Laͤcherlichen erſcheine? Oder fodert es meine Empfindung, jede Bewegung meiner Seele, die ſich zum Lachen neiget, zu unter - druͤcken, um nicht die epiſche Wirkung in mir zu ſchwaͤchen? Fodert es die Wuͤrde epiſcher Perſonen, daß ſie nicht lachen, oder daß ich nicht uͤber ſie lache? Mir ſcheint die letzte Frage die faßlichſte: Laſſet uns alſo die Sache am leichteſten Ende angreifen.

Fodert es die Wuͤrde epiſcher Perſonen, daß ich nicht uͤber ſie lache? durchweg lache, ſo lache, daß dies der Ton meiner Empfindung bleibe wer kann noch fragen? Aus der Epopee wird alsdenneine41Zweites Waͤldchen. eine Burleske, ein komiſches Gedicht: oder wenn der Dichter es eigentlich nicht einmal zum Zwecke hatte, Lachen zu erregen, und erregt es doch: ſo ſchafft er Ekel, Verachtung, Misvergnuͤgen. Wuͤr - dig ſey der epiſche Held; nicht aber ſeinem Haupt - charakter nach laͤcherlich.

Davon alſo war die Rede nicht; aber kann der Held nicht hie und da eine Bloͤße verrathen, die laͤ - cherlich ſey? Jch bitte hier den Unterſchied zwiſchen laͤcherlich und belachenswerth zu beobachten. So bald der Held auch nur in einer Handlung eine Sei - te giebt, die nicht anders, als belachenswerth, ſeyn kannn; aber belachenswerth nach Grundſaͤtzen, und mit Rechte: freilich ſo hat ſich der Dichter mit dieſem Zuge ſelbſt geſchadet; denn nichts hebt die Wuͤrde ſeiner Perſon ſo ſehr auf, als dieſer An - ſtrich. Den Belachenswerthen verachten wir zu - gleich: er duͤnkt uns niedrig: und wie viel verliert ein epiſches Subjekt, eine epiſche Handlung, die dies waͤre?

Hieher der Vorfall Ulyſſes mit Jrusa)Odyſſ. σ v. 1 106. waͤre er wirklich niedertraͤchtig und unwuͤrdig von Seiten Ulyſſes, verminderte er die Hochachtung, die wir fuͤr den alten, weit gereiſeten, abgehaͤrteten Mann haben, muͤßten wir in der Folge verwuͤn - ſchen, ihn in dieſer Situation gekannt zu haben; allerdings unterſchreibe ich alsdenn: Iri cum UlyſſeC 5con -42Kritiſche Waͤlder. concertatio epici carminis gravitatem minime de - cet. Wer aber, der Homer auch nur aus der Ue - berſetzung kennet, wird dies finden? Der arme Ulyſſes, ſo weit herunter gekommen, daß er vor ſei - ner eignen Thuͤre in Jthaka endlich, als ein elender zerlumpter Bettler, anlanget: und, ſiehe da! ſtoͤßt ihm ein andrer Bettler in den Weg; ein Bettler von einer ganz andern Art, der fraͤßige, nichtswuͤr - dige Jrus. Dieſer Luͤderliche will jenen ehrwuͤr - digen Greis von der Thuͤre wegdraͤngen, wegſtoßen, wegſchrecken; und Ulyſſes, jetzt nichts, als ein Bett - ler, antwortet ihm ſo ruhig, ſo unneidiſch, aber auch mit ſolcher geſetzten Faſſung, daß der andre, wie es auch bei gelehrten Bettlern gewoͤhnlich iſt, nur zu Schimpf - und Scheltworten ſeine Zuflucht nimmt. Der anweſende Antinous hoͤrt den Bett - lergoliath, freut ſich nach ſeinem Charakter daruͤ - ber, erzaͤlts den Freiern der Penelope, und hat den luſtigen Einfall: der Junge und Alte ſollten kaͤm - pfen freilich ein Einfall, den nur die Seele eines Antinous fuͤr ſchoͤn halten, und nur Schwel - ger, wie ſeine Mitgenoſſen, billigen konnten. Der unerkannte Greis redet wider die Unbilligkeit des Vorſchlages, den man ihm, einem alten Manne, thue; aber, da hier die Sache ſeiner Ehre, als Bettler betrachtet, und als ein Hungriger die Sache ſeines Magens im Spiele iſt: ſo faſſet er Entſchluß. Er guͤrtet ſich, und ſelbſt die uͤppigenZuſchau -43Zweites Waͤldchen. Zuſchauer bewundern den Bau ſeines Heldenkoͤrpers. Er erwaͤget, ob Ein Schlag ſeinem zitternden, ſchwa - chen, und aus Fraͤßigkeit entnervten Gegner den Tod geben ſolle; und ſeine Großmuth ſpricht das mildere Urtheil. Er ſchont des Elenden: ein Ba - ckenſtreich iſt zu ſeinem Siege, zu der Entwaffnung ſeines unwuͤrdigen Feindes gnug: da liegt der jaͤm - merliche Menſch blutend und ohnmaͤchtig. Ulyſſes richtet ihn an die Wand auf, und giebt ihm ſeinen Bettlerſtab in die Hand, um Hunde weg zu weh - ren, nicht um uͤber Bettler den Herrn ſpielen zu wollen.

Was iſt nun in der Geſchichte Unwuͤrdiges, Unanſtaͤndiges fuͤr den Ulyſſes? Daß er zum Bett - ler herunter gekommen? So muß man den gan - zen Lauf der Odyſſee, das Subjekt des ganzen Ge - dichts aͤndern. So muß die Muſe Homers gar nicht den beſingen, den ſie beſingen wollte:

ανδρα πολυτροπον ος μαλα πολλα
κλαγχϑη
Πολλων δ ανϑρωπων ιδεν αστεα, και νοον εγνω
Πολλα δ ογ εν ποντω παϑεν αλγεα ον κατα ϑυμον
Λρνυμενος ην τε ψυχην

So ſchreib〈…〉〈…〉 an eine beſſere, anſtaͤndigere, artige - re Odyſſee, die ihren Helden im Wohlſtande laſſe, ihn in dem Arme einer Goͤttinn nach Jthaka trage, auf ein weiches Polſter ſetze, und was man mehr fuͤrDecenz44Kritiſche Waͤlder. Decenz hinein zu bringen wiſſe. Jch mag ſie nicht leſen, kein Grieche wird ſie leſen wollen.

Oder iſts unanſtaͤndig, daß Ulyſſes ſich dem unverſchaͤmten Bettler nicht gleich, als Herr des Hauſes, als Ulyſſes, als Koͤnig entdecket wahr - lich! eine wuͤrdige, ſehr gelegene, ſehr glaubwuͤrdi - ge, ſehr epiſche Entdeckung!

Oder, daß Ulyſſes den Freiern bei ſeiner Pe - nelope ſich nach ihrem Zumuthen mit einmal verra - the? Wieder ein wuͤrdiger Verrath, der nichts mehr, als den ganzen Lauf der Odyſſee, ſtoͤrt.

Oder, daß er keinem Bettler begegne? So wird aber in der ſich naͤhernden Entdeckung eine Luͤ - cke; und ein Hauptaugenmerk Homers verſchwin - det, daß der ανηρ πολυτροπος ſich auch in dieſer tiefſten Situation, als ein Ulyſſes πολυτροπος zei - gen ſollte.

Jn dem ſich zubereitenden Ausgange geſchieht ein Sprung und ich mag dieſen Sprung nicht. Jch will gerne den Ulyſſes, als einen Bettler, ſehen, wenn er auch nur in dieſen Kleidern meine Achtung, als Ulyſſes, ſich zu erwerben weiß; und wie ſehr weiß er dieſes? So, wie bei ſeiner Guͤrtung und Entbloͤßung, ſeine Heldenhuͤfte, ſeine erhabne Bruſt, ſeine ſtarken Arme, ſein veſter Ruͤcke[n]den Helden auch im Bettlersrocke verrathena)Odyſſ. ς v. 65. &c. : ſo ſoll dieſer Sieg vor der Schwelle, und vor den Augen ſeinerſchwel -45Zweites Waͤldchen. ſchwelgeriſchen Feinde das Vorzeichen ſeyn von groͤ - ßern Thaten im Hauſe, von unerwartetern Entwi - ckelungen. Nichts iſt, was den großmuͤthigen und tapfern Ulyſſes auch hier erniedrigt; vielmehr wuͤrde mit Auslaſſung dieſes Auftrittes, die Stei - gerung ſeiner Enthuͤllung, und der ſanfte allmaͤhli - ge Fortfluß der ganzen Odyſſee gehemmet.

Wo iſt nun das Belachenswerthe, das Unan - ſtaͤndige? wo iſts inſonderheit, nach den Sitten Ulyſſes, nach den Zeiten, nach dem Zwecke Homers? Jch wollte, daß es Hr. Kl. zeige.

Eben ſo wenig finde ich die Reden in dem Munde Gabriels, auch nur einem Zuge nach, be - lachenswerth und unwuͤrdig ſeiner Groͤße: denn eben die veraͤchtliche Begegnung gegen den dumm ſpottenden Satan iſt die Mine ſeiner Hoheit

the warlike Angel mov’d,
Disdainfully half ſmiling thus reply’d &c.

Jch fuͤhle in ſeinem Betragen ſo wenig Her - vorſpringendes, und ſo viel charakteriſtiſchen Gegen - ſatz zwiſchen ihm, und ſeinem Gegenparte, daß ich mit Addiſon gern dieſen Wortwechſel fuͤr einen der charakteriſtiſchten im ganzen Milton halte.

Der Charakter Achilles ſey ſo groß in ſeinen Fehlern, als in ſeinen Tugenden; dieſe Fehler ge - hoͤren zu einer griechiſchen Heldenſeele, zu einem Achilles; aber wahrhaftig belachenswerth, un -wuͤr -46Kritiſche Waͤlder. wuͤrdig, unanſtaͤndig ſey er nicht, und wo iſt ers? Nur nehme man ihn, und jeden Helden ei - ner Epopee nach den Begriffen ſeines Landes, und ſeiner Zeit; ſonſt kann freilich ein ehrbarer, feiner und ernſthafter Kunſtrichter einen hoͤhern Aether zum Athemholen noͤthig haben, um einen Ulyſſes, wie einen aus der Canaille in Bettlerskleidern, und nicht in einem anſehnlichen Caroſſelle etwa, oder mit praͤchtiger Equipage, zu ſehen

Doch ich kehre um: wenn eine wuͤrdige epiſche Perſon nicht belachenswerth ſeyn muß, darf ſie auch ſelbſt nicht lachen? Welche Frage! welche Verwir - rung der Begriffe! Muß ein Held die Wuͤrde ſei - nes epiſchen Charakters dadurch behaupten, daß er, wie ein Karthaͤuſer, nur ſein memento mori! ernſt - haft und ſauertoͤpfiſch grunze? Vergeben die Goͤtter dadurch ihrer himmliſchen Hoheit, daß ſie lachen? Stoͤrt Homer damit die feierliche Harmonie ſeines Gedichts, daß ſeine Griechen uͤber den haͤßlichen Therſites nach ſeiner Zuͤchtigung lachen? O die abentheuerliche Moͤnchsfeierlichkeit! So wollen wir das Wort γελαειν, mit allen ſeinen Abkoͤmmlingen, aus Homer ausſtreichen: ſo wollen wir die Mine des Disdainfully half - ſmiling von dem Antlitze des herrlichen miltoniſchen Engels wegwiſchen, und in tiefe kritiſche Runzeln verwandeln: ſo ſoll aus der ganzen Jliade ein gothiſches Kloſter, und aus ſeinen Helden eine Reihe feierlicher Praͤlaten werden, de -nen47Zweites Waͤldchen. nen der Ernſt haͤßliche Falten in die Stirne geknif - fen, und die, wie der vortreffliche Hudibras

a Knight he was, whoſe very Sight wou’d
Entitle him Mirrour of Knighthood
That neverbow’d his ſtubborn Knee
To any Thing but Chivalry
His tawny Beard was th equal Grace
Both of his Wisdom and his Face

Alsdenn, alsdenn wollen wir dieſe hochanſehn - lichen Perſonen, die Geſchoͤpfe unſrer Ehrbarkeit, mit dem zufriednen Blicke anſehen, als unſer Homeriſt, da er den Therſites aus Homer, in einer gluͤcklichen Stunde ſeines Kopfs, auswerfen wollte, und zu ſich ſelbſt ſpracha)p. 31.: wie aber, wenn wir dieſen Menſchen hinaus wuͤrfen, und alle Verſe weg - ſchnitten, die von ihm handeln; laß ſehen, ob wir nicht ernſthaft bleiben werden? nonne retinebi - mus animi gravitatem? Herrlicher Ein - fall! wer lachen will, ſoll in einer Satyre und Komoͤdie auftreten, nicht in einer Epopee in gravi ridere, quis decere exiſtimat? herrlicher Einfall!

Jch thue es ungern, daß ich Hrn. Kl. epiſchen Verboten ſo etwas Schuld geben muß; aber wie kann ich anders? Er fuͤhrt ja Beiſpiele, wo kaum das Wort Lachen im Texte Homers ſteht, ohne zuunter -48Kritiſche Waͤlderunterſuchen, ob wir, ob der Leſer lache? ob eine Perſon ſey, mit der wir Theil nehmend lachen? ob wir uns nicht vielmehr uͤber das Lachen deſſelben aͤrgern? ob dieſer Unwille nicht eben die Abſicht des Dichters geweſen? Nichts von allem! Die Schwel - ger bei der Penelope lachen; Ulyſſes und Jrus ge - ben dazu Anlaß in der Epopee ſoll keiner la - chen: Ulyſſes und Jrus aus der Odyſſee hin - weg! Die Teufel in Milton ſpotten und lachen: ſie beweiſen zwar dadurch nichts anders, als daß ſie Teufel, dumme Boͤſewichter ſind, und lachen ſo charakteriſtiſch, als ſie nicht reden koͤnnten aber doch lachen ſie, und in der Epopee ſoll keiner la - chen weg damit!

Ehe nun ein ſo feierliches Gebot gegeben wird, ſoll voraus ausgemacht werden: ob das Lachen ein wirklich entehrender Zug eines Menſchen - eines Hel - den - eines Goͤtterantlitzes ſey? Ob es nicht Faͤlle geben koͤnne, da das Hohnlaͤcheln ſowohl, als das Hohnlachen, und das Laͤcheln der Freude ſowohl, als das Freudengelaͤchter, den epiſchen Zweck mit be - foͤrdern muß? Ob nicht ein hohnlachender Satan, und ein erhaben laͤchelnder Engel, ſelig laͤchelnde Goͤtter, und naͤrriſch lachende Wolluͤſtlinge, und ſchadenfroh lachende Griechen zum ganzen epiſchen Gemaͤlde unentbehrliche Gruppen ausmachen koͤn - nen? Ob der Ton jeder Epopee gleich hoch geſtim - met ſey, und auch die Concente des Ernſts in glei -chem49Zweites Waͤldchen. chem Maaße haben muͤſſen? Ob alle Perſonen, die im Epos erſcheinen, wie in der Jliade, bis auf einen Therſites; wie im Paradieſe Miltons, bis auf den Sa - tan; wie in der Odyſſee, bis auf die Freier; wie im Olymp, bis auf Vulkan; wie auf dem Theater, bis auf den Lichterputzer, gleich ernſthaft, groß, heldenmaͤßig, wunderwuͤrdig ſeyn ſollen? Sind dieſe Fragen aus - gemacht, ſo kann das obige Gebot gegeben werben: ſo lange will ich mich indeſſen mit Triſtram Shan - dy erholen, und veſt verſichert ſeyn, daß dies kur - ze Leben nur dadurch etwas verlaͤngert wird, wenn man beſtaͤndig auſgeraͤumt iſt; und noch mehr, wenn man lachet. Wenigſtens lache ich ſo lan - ge fuͤr mich, und fuͤr keine epiſche Perſon im Hei - den - Chriſten - und Judenthume.

4.

Doch ich ſollte ernſthaft reden: wohlan alſo! wir wollen ernſthaftern Ueberſchlag machen.

Kann die epiſche Wuͤrde mit einem belachenswer - then Charakter beſtehen, wenn dieſer Hauptcharakter der Epopee ſeyn ſoll? Nein, und wenn er auch nur ei - nige Unwuͤrde in einzelnen Faͤllen haͤtte, noch nein! Aber kann ein wuͤrdiger epiſcher Charakter auch la - chen? Wenn am rechten Orte, wenn im gehoͤrigen Maaße, wenn zu Erreichung des epiſchen Zwecks warum nicht? Der erſte Unterſchied, den Hr. Kl. nicht beobachtet: Lachen und Laͤcher -Dlich50Kritiſche Waͤlder. lich ſeyn, d. i. zum Lachen da ſtehen welch ein Unterſchied!

Zweitens: die Wuͤrde der epiſchen Hauptper - ſon, gebuͤhrt die auch jeder Figur, die in der Epo - pee auſtritt? Unmoͤglich! und eben bei keinen zwo - en Perſonen muß dieſe Wuͤrde ganz gleich ſeyn. Ei - nige muͤſſen, eben um die Wuͤrde epiſcher Helden ins Licht zu ſetzen, mit ihnen kontraſtiren, und Unhel - den ſeyn: Unkraut unter dem Weizen, und Sata - ne um der Engel willen. Wenn es alſo Einen Achilles geben kann, den Tapferſten der Maͤnner vor Troja, wenn mit ihm tauſend Helden, die ſtuf - fenweiſe an Tapferkeit herunter ſteigen; warum nicht auch einen feigen Therſites. Wenn ſo viel edle, ſchoͤne, wuͤrdige Seelen; warum nicht auch eine, die haͤßlichſte unter allen, die vor Troja gekommen waren? Dieſe, das Bild der Un - edlen unter den Griechen, kann mit der gehoͤrigen epiſchen Erhoͤhung ſo gut und zweckmaͤßig im Ge - dichte erſcheinen, als unter den Griechen vor Troja die Unedlen. Wenn in einem Trauerſpiele ſchon nicht lauter Helden ſeyn muͤſſen; ſo konnte in der weit groͤßern Welt von Menſchen, die Homer in der Jliade ſchuff, auch ein Therſites ſeyn muͤſſen. Wird ſeine Einwirkung mit den uͤbrigen Gewichten der Jliade nur zuſammen gewogen: erſcheint er an Orte und Stelle: nicht ohne Nutzen, mit Zwecke: vortrefflich! Dies iſt der zweite verſaͤumteUn -51Zweites Waͤldchen. te Unterſchied. Die Wuͤrde der Epopee faͤllt auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel - ne, inſonderheit jede Nebenperſon nur in dem Maaße, in welchem ſie zum Ganzen beitraͤgt: ſo muß gravitas epici carminis berechnet werden.

Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro - prietaͤt, die Eigenheit des epiſchen Werks im Gan - zen nichts weniger, als das Laͤcherliche, zum Haupt - tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei - nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehoͤren, und ein Therſites, ein Daͤmon mit zur Harmonie des Werks einſtimmen? Nichts iſt hier ſo ſonder - bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be - trachten, wie ſie mitten im Verfolge ſich ausnimmt, oder, beſſer zu ſagen, ſich fortdraͤnget, ſich aus an - dern entwickelt, und andere vorbringet, ſo, daß ſie nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan - zen bleibet. Ein Therſites an ſich ſey, was er wol - le, was iſt er zum Ganzen der Jliade? Was iſt er in ſeinem Verfolge? Miſchen ſich in ihm Homers Succeſſionen der Auftritte, daß ihre Farben ſchnei - dend werden, daß der poetiſche Maler ſie nicht ver - ſchmolzen, daß ſie in ihrer Succeſſion nicht Ton hal - ten, daß das Auge des Leſers keine Ruheſtatt finde, nicht weiter gehen wolle? Wer kann das ſagen?

Drittens endlich: die ſicherſte Kritik eines Ge - dichts iſt die Reihe meiner Empfindungen; und in Abſicht auf dieſe iſt das Laͤcherliche ſehr verſchieden. D 2Ent -52Kritiſche Waͤlder. Entweder ſo, daß ich lache, und es der Endzweck des Dichters war, mein Lachen zu erregen, er thue es ernſthaft, oder ſcherzhaft; oder daß ich etwas Belachenswerthes erblicke, und veraͤchtlich lache, mich aͤrgere. So ſind mir die uͤppig laͤchelnden Zu - ſchauer bei dem vorgedachten Auftritte zwiſchen Ulyſſes und Jrus zuwider: ſie lachen; aber kaum lache ich mit ihnen. So wird der haͤßliche Therſi - tes den Griechen belachenswerth; drum aber iſt er nicht, um ihnen laͤcherlich zu ſeyn. So freuen ſich die Goͤtter im Olymp, und der ſympathetiſche Leſer ſoll ſich mit ihnen freuen. Auf die Art wechſeln die Empfindungen unſrer Seele die Laͤnge eines Gedichts herab, und nur der kann das Ganze beurtheilen, der die ganze Reihe dieſer Succeſſionen ſich auf einmal anſchauend machen koͤnnte. Da dies aber unmoͤglich iſt: ſo ſchwimme ich ſanft den Strom herab, und folge dem Dichter, der Ein Ge - fuͤhl nach dem andern in mir aufrufft, Jedes mit dem andern verſchmelzet, und die Misklaͤnge in ein - ander aufloͤſet: ſo wird der harmoniſche Einklang des Ganzen.

Jſt dieſe Harmonie bei einer Epopee aber nicht Bewunderung? Freilich! Niemand aber denke, daß dieſe Hauptempfindung die Einzige, eine ganze Epopee hin, ſeyn muͤſſe: denn wer kann einen lan - gen ſtarren Blick in die Hoͤhe ertragen? Mitleiden und Schrecken, und Abſcheu und Zorn, und Ver -druß53Zweites Waͤldchen. druß und Verachtung, alles kann nach einander, an ſeinem Orte, erreget werden, wenn ſich nur jede Empfindung ſo aus einer andern, in eine dritte ergießet und verlieret, daß zu letzt ein Echo, wie die Stimme der Muſen in meiner Seele, bleibe, das Bewunderung ſey. Dieſen Hauptunterſchied hat Hr. Kl. nicht beobachtet: ob ich lache, oder mich uͤber ein Lachen aͤrgere; freudig oder hoͤniſch lache ob ich etwas laͤcherlich oder belachenswerth fuͤh - le alles iſt ihm einerlei, wenn nur vom Lachen die Rede iſt.

Und wer iſts wohl, der die Empfindungen der Seele beſſer und natuͤrlicher auf einander folgen laſſe, als Homer? Kann denn ein Leſer von griechi - ſchem Gefuͤhle, der Muſik der Seele hat, es bei Homer unempfunden gelaſſen haben, wie er einen Ton der Seele aus dem andern entwickelt, und in einen andern aufloͤſet wie keine Stimmung bei ihm uͤber die andern vorſchreien, mehr als ſie zum Ganzen Eindruck nachlaſſen ſoll. Wer dies em - pfunden, wer dies als eine ſtetige Kraft der homeri - ſchen Muſe gefuͤhlt: wie ſollte der nicht zittern, den Tadel nieder zu ſchreiben; Homer weicht oft aus der Gravitaͤt und Dignitaͤt des epiſchen Geſanges: Homer wirds ſchwer, zuruͤck zu halten, was Lachen erregen koͤnnte, und bringts am ungeſchickteſten Orte an: Homer hat, durch ſolche Unartigkeit, ſein Gedicht nicht wenig entſtellt: er macht denD 3 Leſer54Kritiſche Waͤlder. Leſer unwillig, verdruͤßlich: man muß Stellen, Seiten aus ihm wegwerfen, um im Tone ſeines Gedichts zu bleiben. O goͤttlicher Saͤnger! wenn du auflebeſt, ſo gieb doch erſt deinen Leſern Ohr: gieb ihnen Muſik der Seele!

Die Kritik uͤber den ehrwuͤrdig laͤcherlichen Pa - ter Ceva mit ſeinem Jeſuskindleina)p. 36. &c. kann ich uͤber - gehen; ſie gehoͤrt nicht hieher, denn Ceva wollte ſchon ſo ein heroiſchkomiſches Gedicht, oder lieber ein Nar - rengemiſche, ſchreiben: und welche Ehre! wenn ein Ceva zwiſchen Homer und Lope di Vega und Milton ſtehet! So kann ich auch die lange Schuldeklamation wider die geſchmackloſen Ken - ner der Altenb)p. 44-55. uͤberſchlagen: die Gelegenheit, die ſie an dieſen Ort gebracht, ſcheint ſie doch wer will deuten? Ein Gluͤck iſts, in einem Buche, wie die homeriſchen Briefe, wieder zwoͤlf Seiten weg ſchlagen koͤnnen; und ſiehe! es war Nichts! Nichts fuͤr Homer; fuͤr Wiſſenſchaft, fuͤr Geſchmack Nichts!

5.

Statt uns homeriſche Betrachtungen mitzu - theilen, ſchuͤttet Hr. Kl. einen locum communem aus ſeinem Collektaneenbuche: ob es uns frei ſtehe, heidniſche Mythologien in Gedichten zu adopti -ren55Zweites Waͤldchen. rena)p. 55.? und, nach ſeinen Vorbereitungen zu achten, iſt dieſe Abhandlung ſehr wichtig.

Zu erſt von der Mythologie in geiſtlichen Ge - dichten. Nonnus, Sannazaro, Claudian, (wie der nach Ordnung und Zuſammenhangb)Jch weiß, ohne die allſehende Muſe noͤ - thig zu haben, daß Hr. Klotz Parentheſen liebt, in Ei - ner wieder Eine, und in dieſer noch eine, und in der drit - ten zur Noth noch eine vierte machen kann; iſt das aber Anordnung? Zu dem, damit ich auch eine Paren - theſe mache, gebe ich dem ſeligen Geßner vor Hrn. Klotz, wenigſtens bei mir, Recht, daß Ovids Proſerpine zu nahe dem Kindiſchen ſey, (nimis puella) ohne daß daruͤber ein uͤberladnes Gericht Claudianſcher Mytholo - gie gelobt werde. hieher kommt, wiſſe die allſehende Muſe) Camo - ens, Dante, Petrarca, Arioſto, Marino, Taſſo, Milton, Friſchlin, Heinſius welch Gemenge von Namen! werden uͤber der pro - fanen Mythologie in ihren Gedichten ſcharf, und, nach der Reihe hin, getadelt. Jch glaube nicht, daß eine Kritik, die auf Dichter ſo verſchiedner Zei - ten und Gegenden mit einerlei Machtſpruche faͤllt, ſo gruͤndlich, ſo pruͤfend ſey, als ſie uͤber Maͤnner von ſo verſchiedner Zeit, und ſo verſchiednem Wer - the ſeyn ſollte.

Einige von dieſen haben lateiniſch gedichtet: ein Punkt, der die Sache ſehr veraͤndert; denn wer kann genau ein Haar zwiſchen ziehen, wo die latei - niſche Sprache aufhoͤre, und die Uſurpation der roͤ -D 4miſchen56Kritiſche Waͤlder. miſchen Denkart anfange. Jch weiß, Hr. Kl. hat die Sache bei Gelegenheit der Recenſion eines gruͤndlich lateiniſchen Buches ſehr leicht entſchie - dena)Act. liter. Vol. I. P. III. p. 250. &c. Funccii de lectione auctor. claſſicor. P. II. : eine ſpashafte Verwunderung uͤber furcifer, ein paar Unterſcheidungen, und einige Gegencita - tionen ſo iſt der Knoten geloͤſet, und Alexan - der iſt Sieger des Orients. Aber nachdenkende Liebhaber der lateiniſchen Sprache werden bei man - chen Worten und Ausdruͤcken noch ſehr zweifelhaft bleiben; ſie werden mit einem Goldgewichte abwaͤ - gen, wie weit manche nichts, als lateiniſche Phra - ſes, andere ſchon Vehikula der roͤmiſchen Denkart ſind: ſie werden alſo auf die jetzige lateiniſche Poe - ſie ein Mistrauen ſetzen, daß ſie uns nicht, ſtatt roͤ - miſchgroßer Gedanken, einen Teppich von roͤmi - ſchen Wortblumen ſticke, daß man alſo vielleicht von mehrern neulateiniſchen Versmachern das Ur - theil faͤllen koͤnne, was Hr. Kl. uͤber Sannazaro faͤlletb)Epiſt. Hom. p. 58. : Præter ſermonis Latini elegantiam, ni - hil in iis carminibus, quod multa laude dignum ſit, invenio. Parum aut nihil potius finxit: complu - res verſus Horatio ſurripuit: ſimilis Horatio, ſed ut ſimia homini &c.

Und allerdings iſt auch bei der Mythologie fuͤr mich der Unterſchied oft zweifelhaft gnug, wo dieRed -57Zweites Waͤldchen. Redart aufhoͤre, und ein Gedanke anfange? Es hat Hrn. Kl. gefallena)ibid. p. 83. 84. , bei Vida ſo gar zu billi - gen, daß das heilige Brot Ceres heißen koͤnne, und daß, der poetiſchen Phraſis wegen, zu billigen, daß Chriſtus dem Volke liba Cerealia ausgetheilet, bloß der Nachahmung Virgils wegen; und gilt das, was ſollte nicht gelten? So wird mich immer die unmythologiſche Sprache platt, gemein, unpoetiſch duͤnken koͤnnen; und ſo wird endlich ein lateiniſches Gedicht eine Seifenblaſe, wo viel ſchoͤne Farben in der Sonne mir vorſpielen; ich greife darnach, und ſie ſind nichts! Es waren lateiniſche Phraſes.

Auch Hrn. Kl. ſo genannte horaziſche Odenb)Klotz Opuſc. Poet. Car - mina omnia, und bei welchem Titel ihrer Titel man ſie ſonſt nennen will. ſind nicht ohne Mythologie: ſie reden vom Gra - divus, und von der Venus, von Muſis und Ca - moenis, vom pater Lyaeus, dem ein ganzer Di - thyrambe mythologiſch geſungen wird, von Faunen und Dryaden, von Nymphen und Najaden, von Pierinnen, von Diis und Deabus, vom Phœbus, und vom Pindus, von Mavors und Bellona, von Cynthia und Flora, ein ganzes Heer allegoriſcher Perſonen ungerechnet. Fragt man mich, was al - le dieſe Namen hier ſollen? nach der Manier Hrn. Kl. in ſeinen homeriſchen Briefen muß ich entweder ſa -D 5gen:58Kritiſche Waͤlder. gen: unſchicklich, eitle Gelehrſamkeit, verdruͤßli - ches, fremdes Geſchwaͤtz: oder ich ſage: ſchoͤne poetiſche Phraſes! Nun danke, mein lieber Leſer!

Als die ſchoͤne lateiniſche Poeſie nach jener lan - gen Barbarei wieder erwachte: als die Sannazars und Vida’s, und Bembo’s und Fracaſtor’s, geweckt vom Geiſte der wieder aufgelebten Roͤmer, ſangen: welcher Phoͤbus Apollo haͤtte ihnen damals das Ohr zupfen koͤnnen? Dieſer Ausdruck iſt zu my - thologiſch, dieſes roͤmiſche Bild hat noch nicht gnug durch den Gebrauch, und durch die Ge - wohnheit ſeine mythologiſche Natur abgelegt weg damit! Aber hier mein lieber Vida! ſtehe Ceres ſtatt panis; dort Muſa ſtatt poetica facul - tas: Neptunus pro mari: Vulcanus pro igne: Lyaeus pro vino. In his licet originem ſuam ſu - perſtitioni debeant, tamen amiſſa fere eſt, ut ita dicam, prima vis & abolita: carmini vero La - tino non exiguam elegantiam eadem conci - lianta)Epiſt. Hom. p. 82. 83. ! Oder artige Phoͤbus Apollo! Wenn dieſe aberglaͤubiſchen Woͤrter ihre erſte Kraft ver - lohren haben, wenn ſie ihre Natur ausgezogen, wenn ihr Gewicht weg iſt; ſo moͤgen alle ſol - che elegantiæ non exiguæ in den Orkus! Sie ſind ein elender Flitterſtaat, eine poetiſche Sprache ohne poetiſchen Sinn, ein Schulgeſchwaͤtz. Jſt nur dann ein mythologiſcher Ausdruck brauchbar,wenn59Zweites Waͤldchen. wenn ihm die Gewohnheit, der alltaͤgliche Gebrauch ſeine urſpruͤngliche bildvolle Bedeutung entnommen: ſo iſt er ein Redezierrath ohne Weſen; und vor ſol - cher Poeſie behuͤt uns liebe himmliſche Muſe!

Nein! fuͤr ſchulmaͤßige Phraſesjaͤger will ich die Erwecker der lateiniſchen Dichtkunſt nicht neh - men; aber um ſo ſchwerer wird mir die Entſcheidung: wie weit kann eine wirklich popetiſche, und in ihren Horaz und Virgil verzuckte Seele, in ihrer poeti - ſchen Begeiſterung, auch gleichſam an ſeine Goͤt - ter und geiſtigen Weſen glaͤubig werden? Wie weit kann ſich die horaziſche Laune, der virgiliani - ſche Geiſt, inſonderheit, wenn ich in ihrer Spra - che ſinge, einſtellen, daß ich Mythologie von ihrer Dichtungsart unabgetrennet und unabtrennlich er - blicke, daß ich, indem ich, wie ſie, ſingen will, auch mit ihrer Mythologie ſinge. Wer kann hier aus dem Stegreife antworten? wer kann in der Seele derer, die wirklich mit Enthuſiaſmus dichte - ten, Grenzen ziehen, wie roͤmiſche Begeiſterung, Begeiſterung aus den Roͤmern geſchoͤpft, Begeiſte - rung, die ſich ſelbſt in roͤmiſche Sprache ergoß, hie und da einen Schritt weiter im Ausdrucke zu - ruͤck bleiben, hie und da etwas vorſichtiger in der Mythologie ſeyn ſollten: denn ſie dichteten doch Hei - lig. Nun ja denn! immerhin heilig; aber Vi - da und ſeine Mitgefaͤhrten dichteten auch latei - niſch, und, zum Ungluͤcke, wollten ſie auch roͤ -miſch60Kritiſche Waͤlder. miſch dichten; nun ſtehen wir vor einer dreifachen Wegeſcheidung wer kann alle drei mit einmal gehen, ohne auf keiner zu weit hin zu wanken?

Jch ſehe keinen andern Rath, als daß man uͤber ein heiliges Sujet niemals Latein, ich mei - ne roͤmiſch Latein, gedichtet haͤtte! denn immer iſt eine Miſchung von Sprach - und Denkarten unver - meidlich. Der Orient ſoll ſich in den Occident ſtuͤrzen, Geiſt der Religion, und der altroͤmiſchen Poeſie ſollen ſich umarmen; ein ſeltnes Paar! aus Cicero ſoll ein Compendium der Theologie geſchoͤpft, und doch kein roͤmiſcher Begriff dahin uͤbertragen, und keinem Begriffe der Orthodoxie etwas von ſei - ner ſyſtematiſchen Strenge benommen werden ſchwere Verbindung! Sannazaro will de partu Virginis ſchreiben, und zugleich nie ſeinen Virgil verlaſſen: Buchanan einen Baptiſtes ſchreiben, und doch ſeine Juden roͤmiſch ſprechen laſſen widrige Vermiſchung! Ueberlaͤßt ſich der Dich - ter dem Geiſte ſeiner Religion; ſo wird er Juͤdiſch - ſo wird er Chriſtlichlatein zu ſprechen in Gefahr kom - men; folgt er dem Geiſte der roͤmiſchen Poeſie, Denkart und Sprache; wie weit von Judaͤa ab wird der ihn hinfuͤhren! Will er, als ein Helleniſte, auf beiden Wegen gehen, und Gleichgewicht hal - ten unwuͤrdige, ermattende Wachſamkeit! druͤ - ckendes Joch des Geiſtes, der in der Poeſie nichts ſo ſehr, als Freiheit, liebet. Der furchtſame matteDich -61Zweites Waͤldchen. Dichter wird an der Erde kriechen, und nie ſich auf - ſchwingen koͤnnen: denn er ſchrieb fuͤr die Cenſur zweier Jnquiſitionen, eine chriſtliche (oder juͤdiſche) und eine roͤmiſche! Mein Rath alſo, daß man nie den Bogen der roͤmiſchen Poeſie nach ſo weit von Rom entlegnen Gegenſtaͤnden ſpannen wollte, wenn man auch Pindariſche Pfeile haͤtte: man trifft nicht!

Es verſteht ſich, daß die Dichtungsarten nicht alle gleiche Schwierigkeiten haben. Eine Hymne, ein Lehrgedicht, eine Cantate iſt eher geiſtlich und doch lateiniſch zu liefern; als ein Trauerſpiel, ei - ne Dichtung, ein Luſtſpiel, eine Epopee. Bucha - nans Juden treten als Juden auf; lateiniſche, roͤmiſche Juden in Galilaͤa! Friſchlins Jſmael in Meſopotamien, und daſelbſt mit Claſſenlatein! Sannazars Cerberus, Centauren, Hydern, Proteus, im Stalle zu Bethlehem! bei einem Trauerſpiele, Luſtſpiele, Heldengedichte, welche Disharmonie, und doch faſt wie unvermeidlich! Hr. Kl. alſo haͤtte uͤber alle dieſe Dichter nicht bloß ſein kritiſches Urtheil vom Throne hinunter ſprechen, das von andern ſchon ſo oft geſprochen iſt, ſondern lieber auf die Urſachen dringen ſollen, die dieſen Maͤnnern Zwang auflegten. Ohne dieſes iſt ſeine Kritik eine gute lange Claſſenlektiona)p. 58-86., und wem iſt da - mit gedient?

Zwei -62Kritiſche Waͤlder.

Zweitens, auch die Zeiten und Laͤnder muß man unterſcheiden, in denen ein Dichter lebte, in denen und fuͤr welche er ſchrieb. Die meiſten der geruͤgten Poeten ſind Jtaliener, aus dem Lande der Alterthuͤmer alſo, aus oder vor den Zeiten, da der Geſchmack des alten Graͤciens und Latiums wieder auflebte: Wer wird nun einen Dante, Petrarca, Sannazar, Vida, Arioſto, Taſſo, Marino aus allen dieſen Zeitverbindungen ruͤcken, und ſo ſchlecht - hin vor das Gericht einer fremden Zeit, eines frem - den Landes fodern; daß ſie das Heilige mit dem Unheiligen vermiſchet? Der Geiſt der alten griechi - ſchen Mythologie, aus ſeinem Vaterlande vertrieben, floh nach Jtalien: Jtalien gab er die Denkmaale ſeiner Groͤße in Poeſie und Kunſt und Weisheit: in Jtalien erwachte er wieder; erwachend aber fand er ein Land, mit einer fremden, der chriſtlichen Religion bedeckt. Jndeſſen ſtrebte er in die Hoͤhe, ſchaffte ſich Bewunderer, Anbeter und Nachahmer; Nachahmer, die in den Begriffen einer andern Re - ligion, Denkart, und Sprache erzogen waren: was anders alſo, als eine Vermiſchung zweener fremder Stroͤme, die gegen einander brauſeten, und end - lich zuſammen floſſen. Der chriſtliche Kuͤnſtler, dem Apollo profan war, fiel doch vor ihm, als vor dem hoͤchſten Denkmaale der Kunſt, nieder: die Statuen der Goͤtter waren Geſchoͤpfe des Aberglau - bens, aber auch Geſchoͤpſe der ſchoͤnſten griechiſchenKunſt:63Zweites Waͤldchen. Kunſt: Horaz und Virgil waren Dichter einer fremden Religion; zugleich aber Dichter der edel - ſten Natur, der vortrefflichſten Sprache: die My - thologie eine Sammlung von Fratzenmaͤrchen; aber auch eine Welt voll ſehr poetiſcher Jdeen. Unter ſolchen alſo lebten damals Dichter und Kuͤnſtler: ſie wandelten unter heidniſchen Statuen, und heidni - ſchen Dichtern, und heidniſchen Sprachen: das Neue, die Morgenroͤthe des Geſchmacks, hatte drei - fach ſtaͤrkere Wirkung auf ſie: ſie wurden ſelbſt roͤmiſche Dichter, und neugriechiſche Kuͤnſtler und chriſtliche Heiden. Der Cardinal der roͤmiſchen Kirche war ein heidniſcher Bembo, der neue Horaz Vida Biſchof von Cremona: das Kind mit chriſtli - chem Waſſer getauft, ward mit heidniſchen Begrif - fen des Schoͤnen genaͤhret: die Vermiſchung ward Geſchmack der Zeit und des Landes. Leo der zehnte vergab chriſtliche Suͤnden, und wandte die heiligen Summen auf das unheilige Schoͤne der Heiden: in die Tempel Jtaliens kam David und Apollo, Chri - ſtus und Belial neben einander, und die Geſchichte Jupiters und Leda auf die Thuͤre des heil. roͤmiſch - katholiſchen Peters.

Wer kann nun ohne Ruͤckſicht auf Zeit, Land, und Sprache Sannazar und Vida, Dante und Pe - trarca, Ariofto und Taſſo, und wen weiß ich mehr? tadelna)p. 73 75. etc. ohne ſie zu erklaͤren, ohne uns auf ihreJahr -64Kritiſche Waͤlder. Jahrhunderte aufmerkſam zu machen, da die ſcho - laſtiſche Wortgruͤblerei, und die Sprache der Moͤnchsandacht der Geiſt der Religion war, da das Land von dieſer Seite unter Nacht und Dunkel lag, oder da der hellere Geſchmack an den Antiken in Poeſie, Kunſt und Sprache uͤberwand, ſich in Alles hineindraͤngen, und dem Ganzen der ſchoͤnen Litte - ratur ſeine neue Bildung geben mußte. Da alſo konnte Dante in ſeiner goͤttlichen Komoͤdie Chriſten, Juden und Heiden, Goͤtter, Engel und Teufel durch einander miſchen: da konnte Arioſt

le Donne, i Cavalier, l’arme, gli amori
le corteſie, l’audaci impreſe
che furo al tempo, che paſſaro i Mori
d’Africa il mare u. ſ.w.

beſingen, und mitten inne auch des Styx und Ache - rons erwaͤhnen. So unbillig die brittiſchen Proſe - Critiks dem Spenſer ſeine Feen, und Shakeſpear ſeine Hexen vorgeruͤckt: ſo unbillig alte Jtaliener und Portugieſen, und Englaͤder nach dem Zeitbe - griffe meiner Religion und Wiſſenſchaft beurtheilen auf die Weiſe wird alles ein Chaos.

Klopſtock (ich weiß keine hoͤhere Jnſtanz!) Klopſtock ſang dem Meſſias ſeinen ewigen Geſang im Geiſte der Religion ſeiner Zeit, nach den Geſichts - punkten ſeines Horizonts, nach den Eindruͤcken ſei - nes Herzens; wer einerlei Natur, einerlei Mittelder65Zweites Waͤldchen. der Bildung, Seiten der Anſchauung, Ein Herz und Eine Seele mit ihm hat, wird ihn aus ganzer Seele leſen. Einem Oeſt, z. E. werden ſchon viele Vorſtellungsarten thalmudiſch duͤnken; einem chriſtlichen Schuͤler des Korans werden manche aus Arabien entlehnt vorkommen: einem Foſter oder Sterne in England, und auch das ſind Chriſten! werden manche noch weit befremdender erſcheinen; und endlich einem orthodoxen Chriſten des zwoͤlften oder zwanzigſten Jahrhunderts? deſſen Urtheil uͤber den Meſſias moͤchte ich leſen. Wie? wenn nun ein ſolcher nach ſeiner Zeit fromm und ſelig ur - theilte? Unbilliger Richter! er ſollte ſich in unſre Zeit zuruͤckzuſetzen, aus ihr denken und ſprechen: er ſollte mehr als des Nikomachus Auge haben, um Helena anzuſchauen. So wie der oberſte Richter allwiſſend ſeyn muß um gleichſam die eigenthuͤm - liche Moralitaͤt eines jeden Herzens zu kennen: ſo ſei (man erlaube mir die kleine Blasphemie vom Gleichniſſe!) ſo ſei der Richter uͤber Zeiten und Voͤl - ker, auch des Geſchmacks dieſer Zeiten und Voͤlker kundig, oder er greift blind in den Loostopf der Jahrhunderte, um nichts als ein mageres kritiſches Regelchen herauszulangen.

Und Milton! Wer Milton mit allen vo - rigen Miſchern der Religionen in einen gluͤhenden Ofen zuſammen werfen willa)Epiſt. Homer. p. 79. hat nicht bedacht,daßE66Kritiſche Waͤlder. daß bei ihm dieſe mythologiſchen Vorſtellungsarten nicht weſentlich zum Baue ſeines Gedichts, ſondern nur zur Auszierung deſſelben gehoͤren. Er bringt ſie nicht (wenigſtens nie offenbar!) in die Zeit, aus welcher, ſondern in die Zeit, fuͤr welche er ſinget[:]und ſo werden ſie Gleichniſſe, Schmuck, Verzie - rung ſeiner Gegenſtaͤnde; nicht eigentlich Gegen - ſtaͤnde ſelbſt. Er ſingt fuͤr ſeine Zeit; dieſer ſchwe - ben unter andern auch aus heidniſchen Schriftſtel - lern Vorſtellungen im Gedaͤchtniſſe, die ſeine heilige Vorſtellung zehnfach verſtaͤrken, und einpraͤgen einpraͤgen, daß es kaum in ſeiner heiligen Geſchichte ſolche ſtarke und Nachdrucksvolle Huͤlfvorſtellungen gaͤbe warum alſo ſollte er jene wartende Jdeen in der Seele ſeiner Leſer nicht wecken? warum ſie nicht aufruffen, um ſeinen heiligen Gedanken deſto tiefer in die Seele zu praͤgen? Und das thut Milton!

Er thuts an weit mehr Stellen, als mein la - teiniſcher Autor anfuͤhret; doppelt aber aͤrgerts mich, daß er eben die ſuͤßeſten im ganzen Milton tadelt, aus einem Buchea)Parad. loſt B. IV. das die groͤßeſten Gegner deſ - ſelben mit Lobſpruͤchen haben uͤberhaͤufen muͤſſen; naͤmlich die ſelige Liebe der Stammvaͤter des Men - ſchengeſchlechts in Eden. Auch Winkelmann, der in griechiſche Schoͤnheiten entzuͤckt, die Milto -niſchen67Zweites Waͤldchen. niſchen Beſchreibungen fuͤr ſchoͤngemalte Gorgonen erklaͤrte, nimmt dieſe Scene von ſeinem zu griechi - ſchen Urtheil aus,a)Geſch. d. Kunſt, p. 28. und in der Sprache Miltons inſonderheit ſelbſt herrſchet hier eine Suͤßigkeit, eine Anmuth, die uns in das Paradies ſelbſt verſetzet und ſiehe! in dieſem Paradieſe eben zeigt ſich eine kalte hand des Kritikus, um uns einige der ſchoͤn - ſten Fruͤchte Todbringend zu beruͤhren.

Milton hat ſein Eden mit aller Pracht und Schoͤnheit geſchildert: Baͤume, Fluͤſſe, Quellen, Luſtwaͤlder, murmelnde Waſſerfaͤlle, das Chor der Voͤgel, der Hauch der Fruͤhlingsluͤfte, der Geruch der Wieſen und Waͤlder eins nach dem andern fließt wie Balſam in unſre Seele: meine Phantaſie iſt erfuͤllet: mein Auge, Ohr, und alle Sinne ge - ſaͤttigt: ich ſchwimme im Traume der Wolluſt. Und Milton will mich in dieſem Traum erhalten! Da meine Sinne geſaͤttigt ſind; ſo ſpricht er zu meiner Seele: er rufft alle Jdeen ſchoͤner Gegen - den und Luſtoͤrter, die in meiner Einbildungs - kraft ſchlafen, auf: und wo giebt es mehr, als aus Griechenland und ſeinen Dichtern des Vergnuͤgens? Dieſe ſollen mich in meinem Traume fortwiegen, ich ſoll die Freude der Wiederſehung genießen, und ſo nachdem auf ſanften und unmerklichen Stuffen meine Seele von dem Lebloſen ſich immer lebender hin, aufgeſchwungen, und jetzt in dem muſikaliſchenE 2Chore68Kritiſche Waͤlder. Chore der Voͤgel und der Luͤfte, und der zitternden Waͤlder ſchwebet: ſo faͤngt ſie, wie aus einem ſanften Schlaf erwacht, an, die holden Bilder voriger Zei - ten, die Erinnerungen der Jugend zu ſammlen:a)Parad. loſt. Book IV. v. 266.

while univerſal Pan
Knit with the Graces and the Hours in dance
Led on th’eternal ſpring. Not that fair field
Of Enna, where Proſerpin gathering flowers
Herſelf a fairer flowr etc.
nor that ſweed grove
Of Daphne by Orontes, and th inſpir’d
Caſtalian ſpring, might with this Paradiſe
Of Eden ſtrive; nor that Nyſcian ile
Girt with the river Triton etc.

So ſchwebt unſre berauſchte Einbildungskraft wei - ter, und kommt endlich vom Berge Amara aus Aethiopien zuruͤck, um im Paradieſe unendlich mehr, als in allen dieſen Zaubergegenden zu finden. Jſt dies eine Entheiligung des Gedichts? ſo iſts eine Entheiligung des Hoͤchſten unter den Propheten, des poetiſchen Jeſaias, Jehovah einen Gott der Goͤtter zu nennen, und ihn Geſaͤnge lang mit die - ſen heidniſchen Kloͤtzen zu vergleichen! aber wie erhaben!

Milton hat uns das erſte Paar bis zum Ent - zuͤcken geſchildert, den Bau ihrer Glieder, und ihrever69Zweites Waͤldchen. vergnuͤgte Mahlzeit, und ihre Liebkoſungen, und die holde Umarmung der Eva und Das Lieb - laͤcheln Adamsa)B. IV. v. 499.

as Jupiter
On Juno ſmiles, when he impregns the clouds
That ſhed May ſlow’rs

Welch ein Bild! Jſts Erniedrigung fuͤr Adam, in ihm den kuͤſſenden Jupiter zu ſehen? Adam fuͤhrt Eva zur Brautlaube, und da unſre Seele durch den ſichtbaren Anblick derſelben mit Freude und Ehrfurcht gleichſam erfuͤllet worden; da das Auge nicht mehr ſprechen kann: ſiehe! ſo ſpricht die Phantaſie, gleichſam in einen Traum voriger Zeiten verſenketb)B. IV. v. 705.

in ſhadier bower
More ſacred and ſequeſter’d, though but feign’d
Pan or Sylvanus never ſlept, nor Nymph
Nor Faunus haunted.

So dichtet Milton: ſeine profanen Gleichniſſe ſind nichts als Huͤlfsvorſtellungen zum Dienſte ſeiner heiligen Vorſtellungen: er nimmt zu ihnen ſeine Zuflucht, wenn Worte innerhalb dem Kreiſe ſeiner Religion nicht Triebfedern geben, ſeine Jdee ſo hoch zu ſpielen, als er ſie haben will: und nur dann irret ſeine Phantaſie in dieſe Zaubergegenden der griechiſchen Dichtung, wenn er ſchon unſre SinneE 3er -70Kritiſche Waͤlder. erfuͤllet, und jetzt der Seele Zeit laͤßt, die Bilder ihrer Jugend zu ſammlen. Konnte er dies nicht thun, als Dichter? Eben dadurch ſchlaͤgt er ja an unſern Geiſt, daß er gleichſam ſich ſelbſt dichte. Oder etwa nicht als Dichter der Religion? Was iſt der Religion wuͤrdiger, als ſolche Vergleichungen zu ihrer Erhoͤhung? Die Bibel, ja Jehovah ſelbſt in ihr ſpricht alſo.

Nichts, nichts wundert mich ſo ſehr, als daß ein compilirter Tadel, der in Britannien laͤngſt ver - lacht, und verachtet iſt, den nur die Lauder’s und Magni’s und Voltaire’s gegen Milton haben auf - bringen koͤnnen, und laͤngſt damit zur Ruhe gegan - gen, daß dieſer, ohne Gruͤnde und Urſachen, wieder aufgewaͤrmt, in Deutſchland angehoͤrt werden koͤn - ne! Einem Kritikus, der Milton blos aus ausge - riſſenen Allegationen kennen mag, kann ſo etwas er - wartet kommen, dem aber mag ich keinen beſſern Lohn fuͤr ſeinen Tadel wuͤnſchen, als daß er ihn nie im Zuſammenhange kennen lerne!a)Daß Hr. Kl. ihn ſchwerlich ſo gekannt, koͤnnte ich aus der offenbar ungerechten Anſchuldigung beweiſen. Milton ſage hier nicht einmal ſein Salva Venia: vt eſt in fabulis, vt poetae aiunt, aut alia eiusmo - di, quibus excuſari illa poſſunt. Zwar, wenn ers auch nicht ſagte? Nun aber muß ja Hr. Kl. v. 705. das though but feign’d nicht geleſen haben, und wer wird eine Stelle anfuͤhren, die man nicht gele - ſen hat?

Schade,71Zweites Waͤldchen.

Schade, daß unſerm lateiniſchen Homeriſten die bibliſchen Epopeen, die wir in unſrer Sprache haben, z. E. ein Noah, Jakob, u. ſ. f. unbekannt oder nicht in ſeiner Compilation angefuͤhrt geweſen: welch ein gelehrtes Regiſter mythologiſcher Herrlich - keiten wuͤrde er da excerpirt haben, zur Freude aller frommen Chriſten, und zur Lehre der Maͤnner in Zuͤrich!

6.

Man ſiehet, wie wenig Ueberzeugung das kahle Verbot ins Allgemeine hin: kein mythologiſcher Name komme in ein geiſtliches Gedicht! fuͤr mich habe: ich muß mich alſo ſchon ſelbſt nach Graͤnzen der Mythologie und eines chriſtlichen Ge - dichts umſehen.

Zuerſt rechne ich, wie geſagt, die lateiniſche Sprache nicht mit: denn ſchwer iſts, zu beſtimmen, wo der lateiniſche Ausdruck aufhoͤre, und der natio - nalroͤmiſche, der mythologiſche z. E. anfange. Noch ſchwerer iſts, uͤber ſo fremde Gegenſtaͤnde, als ein heiliger Geſang liefert, Lateiniſch, und im Geiſte der Roͤmer zu dichten; denn entweder wird der Jude und Chriſt romaniſiren, oder der Nachfolger Vir - gils und Horaz judaiſiren, helleniſiren muͤſſen.

Zweitens rechne ich die Zeiten nicht mit, da die Mythologie gleichſam die zweite Mutter des poeti - ſchen Geiſtes war: und dies iſt die WiederauflebungE 4der -72Kritiſche Waͤlder. derſelben in Jtalien. Jn der Kunſt ſprachen die ſchoͤnſten mythologiſchen Jdeen dem Auge; in der wieder erſtandnen Poeſie dem Ohre: ſtatt des trock - nen Ariſtoteles ward der mythologiſche, allegoriſche Plato der Lieblingsweiſe Jtaliens: ſolche Begriffe fuͤllten die Seele. Entweder waͤhlte man die latei - niſche Sprache dazu, und in ihr ſchien gleichſam die Mythologie ſchon eingewebt, und unabtrennlich; oder man waͤhlte doch mythologiſche Dichter zum Einzigen Vorbilde; wie konnte ſich nun der begei - ſterte Nachahmer ſagen: ſiehe! hier hoͤrt die Ma - nier des Dichters auf, und da faͤngt ſeine Religion an! Und wer ſich dies auch haͤtte ſagen koͤnnen, der wollte ſichs nicht ſagen, denn aͤcht Latein, aͤcht Roͤ - miſch zu dichten, war ja nach dem Zeitbegriffe, der einzige, der hoͤchſte Zweck ſeiner Muſe. Solche Zeiten alſo ſoll man erklaͤren, ein allgemeiner Tadel koſtet wenig.

Drittens ſchreibe ich auch nicht von den Zeiten, da die Religion, ſo wie ſie damals herrſchend war, kein reines heiliges Gedicht geben konnte: da die Be - grifſe von ihr viel zu dunkel, unbeſtimmt, gebro - chen und aberglaͤubiſch waren, als daß ein Gedicht, das fuͤr den herrſchenden Verſtand geſchrieben waͤre, fuͤr uns orthodox, wie ein Gebethbuch, ſeyn koͤnne. So z. E. die Zeiten des Dante, Arioſts, Taſſo, Camoens u. ſ. w. Wenn dieſe Dichter in dem elenden Geſchmacke ihrer Zeit poetiſches Geraͤth, oderwenig -73Zweites Waͤldchen. wenigſtens Freiheit fanden, mit dieſem und jenem Stabe des Aberglaubens poetiſche Wunder zu thun, warum nicht? Das Heldengedicht eines Moͤnchs aus Padua auf ſeinen heiligen Antonius, oder eines Maylaͤnders auf ſeinen heil. Karl Borromaͤus ſei immer den Legenden ſeines Ordens, ſeiner Stadt, ſeiner Zeit, ſeiner eignen Erziehung angemeſſen: denn anders kann der ehrwuͤrdige Pater nicht dich - ten. Und wo werde ich an einen Rieſen, an ein Geſchoͤpf ſeines Jahrhunderts, mit einem Zwerg - maaße meiner Zeit, mit einem kritiſchen Regelchen, hinzutreten, ohne daß mich ſeine Groͤße nicht be - ſchaͤme!

Alſo blos von einem in der Religion erleuch - teten Zeitpunkte: und wo weiß der Kritikus, wenn dieſer Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen - deſchein des Lichts iſt? wo ſoll ers, als Kritikus, wiſſen? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi - kus entſcheiden; nicht der poetiſche Kunſtrichter. Der Dichter nimmt den herrſchenden Religionsge - ſchmack, oder beſſer, ſein eignes Religionsgefuͤhl, wie er dazu gebildet worden, ſeinen eignen Horizont von Religionsausſichten, und dichtet. Und ſo muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er abſo - lute Wahrheit ſuche, nicht daß er frage, ob dieſe und jene Religionsvorſtellung auch rechtglaͤubig ge - nau, exegetiſch richtig, philoſophiſch erwieſen; ſon - dern ob ſie wahrſcheinlich ſey, ob ſie koͤnne poetiſchE 5geglaubt,74Kritiſche Waͤlder. geglaubt, gefuͤhlt, beherzigt werden. Das iſt bei einem juͤdiſchchriſtlichen Gedichte nicht ſchlechthin die Frage: ob hiſtoriſch genau, der Jude ſeine Af - fekten ſo gemahlt oder nicht; auf den Fuß waͤre vielleicht kein Tod Adams, und kein Tod Abels moͤglich; ſondern ob ſie, nach gewiſſen allgemein angenommenen Vorausſetzungen, ſo haben ſpre - chen koͤnnen. Jch folge alſo dem Religionsbe - griffe meiner Zeit, ohne weitere Umwege: wie - fern vertraͤgt er ſich mit mythologiſchen Jdeen?

  • 1. Jn jedem Poem, wo Dichtung herrſcht, wo Perſonen der Dichtung auftreten, koͤnnen frei - lich nicht Weſen der heidniſchen und chriſtlichen Religion neben einander handelnd vorgeſtellet wer - den; nicht mit einander gleich weſentliche Sub - ſtanzen zur Handlung des Gedichts ſeyn. Wenn die Muſe und der heil. Geiſt, ein Gabriel und ein Apollo, eine Maria aus den Gegenden des Him - mels, und eine Diane zugleich, auf einerlei Art poetiſche Exſiſtenz, poetiſche Handlung auf dem Schauplatze eines heiligen Gedichtes bekommen; ſo ſtoßen ſie ſich in unſerer Seele. Jhre poetiſchen Subſtanzen heben einander auf: mein Auge faͤhrt uͤber ihre beiderſeitige Gegenwart zuruͤck: die Taͤu - ſchung geht verlohren, und mit ihr der ganze Zweck ihrer poetiſchen Erſcheinung. Ein Trauerſpiel ſol - cher Art mag vielleicht noch in einem Winkel vonJta -75Zweites Waͤldchen. Jtalien,