PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Geſchichte des Fraͤuleins von Sternheim.
Von einer Freundin derſelben aus Original - Papieren und andern zuverlaͤßigen Quellen gezogen.
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Erſter Theil.
Leipzig,bey Weidmanns Erben und Reich. 1771.
[II][III]
An D. F. G. R. V. *******

Er ſchrecken Sie nicht, meine Freundin, anſtatt der Hand - ſchrift von Jhrer Sternheim eine ge - druckte Copey zu erhalten, welche Jh - nen auf einmal die ganze Verraͤtherey entdeckt, die ich an Jhnen begangen habe. Die That ſcheint beym erſten Anblick unverantwortlich. Sie ver - trauen mir unter den Roſen der Freund - ſchaft ein Werk Jhrer Einbildungs - kraft und Jhres Herzens an, welches bloß zu Jhrer eigenen Unterhaltung aufgeſetzt worden war. Jch ſende esa 2 JhnenIV Jhnen, (ſchreiben Sie mir) damit Sie mir von meiner Art zu empfinden, von dem Geſichtspunct, woraus ich mir angewoͤhnt habe, die Gegenſtaͤn - de des menſchlichen Lebens zu beur - theilen, von den Betrachtungen, wel - che ſich in meiner Seele, wenn ſie leb - haft geruͤhrt iſt, zu entwickeln pfle - gen, Jhre Meynung ſagen, und mich tadeln, wo Sie finden, daß ich un - recht habe. Sie wiſſen, was mich veranlaßt hat, einige Nebenſtunden, die mir von der Erfuͤllung weſentli - cher Pflichten uͤbrig blieben, dieſer Gemuͤths-Erhohlung zu wiedmen. Sie wiſſen, daß die Jdeen, die ich in dem Charakter und in den Hand - lungen des Fraͤuleins von Sternheim und ihrer Aeltern auszufuͤhren geſucht habe, immer meine Lieblings-Jdeen geweſen ſind; und womit beſchaͤfftigt man ſeinen Geiſt lieber als mit dem, was man liebt? Jch hatte Stunden, woV wo dieſe Beſchaͤfftigung eine Art von Beduͤrfniß fuͤr meine Seele war. So entſtund unvermerkt dieſes kleine Werk, welches ich anfieng und fortſetz - te, ohne zu wiſſen, ob ich es wuͤrde zum Ende bringen koͤnnen; und deſſen Un - vollkommenheiten ſie ſelbſt nicht beſ - ſer einſehen koͤnnen als ich ſie fuͤhle. Aber es iſt nur fuͤr ſie und mich und, wenn Sie, wie ich hoffe, die Art zu denken und zu handeln dieſer Toch - ter meines Geiſtes gutheiſſen, fuͤr unſre Kinder beſtimmt. Wenn dieſe durch ihre Bekanntſchaft mit jener in tugendhaften Geſinnungen, in ei - ner wahren, allgemeinen, thaͤtigen Guͤte und Rechtſchaffenheit geſtaͤrket wuͤrden, welche Wolluſt fuͤr das Herz Jhrer Freundin; So ſchrieben Sie mir, als Sie mir Jh - re Sternheim anvertrauten; und nun, meine Freundinn, laſſen Sie uns ſehen, ob ich Jhr Vertrauen beleidiget,a 3obVIob ich wirklich ein Verbrechen began - gen habe, da ich dem Verlangen nicht widerſtehen konnte, allen tugendhaf - ten Muͤttern, allen liebenswuͤrdigen jungen Toͤchtern unſrer Nation ein Ge - ſchenke mit einem Werke zu machen, welches mir geſchickt ſchien, Weisheit und Tugend, die einzigen großen Vorzuͤge der Menſchheit, die einzigen Quellen einer wahren Gluͤckſeligkeit unter Jhrem Geſchlechte, und ſelbſt unter dem meinigen, zu befoͤrdern.

Jch habe nichts vonnoͤthen, Jhnen von dem ausgebreiteten Nutzen zu ſpre - chen, welchen Schriften von derjeni - gen Gattung, worunter Jhre Stern - heim gehoͤrt, ſtiften koͤnnen, wofern ſie gut ſind. Alle Vernuͤnftigen ſind uͤber dieſen Punct Einer Meynung, und es wuͤrde ſehr uͤberfluͤßig ſeyn, nach allem, was Richardſon, Fielding und ſo viele Andere hieruͤber geſagt ha - ben, nur ein Wort zur BeſtaͤtigungeinerVIIeiner Wahrheit, an welcher niemand zweiſelt, hinzu zu ſetzen. Eben ſo ge - wiß iſt es, daß unſre Nation noch weit entfernt iſt, an Original-Werken die - ſer Art, welche zugleich unterhaltend und geſchickt ſind, die Liebe der Tu - gend zu befoͤrdern, Ueberfluß zu ha - ben. Sollte dieſe gedoppelte Be - trachtung nicht hinlaͤnglich ſeyn, mich zu rechtfertigen? Sie werden, hoffe ich, verſucht werden, dieſer Meynung zu ſeyn, oder wenigſtens mir deſto leichter verzeihen, wenn ich Jhnen ausfuͤhrlicher erzaͤhle, wie der Gedan - ke, Sie in eine Schriftſtellerin zu verwandeln, in mir entſtanden iſt.

Jch ſetzte mich mit allem Phlegma, welches Sie ſeit mehrern Jahren an mir kennen, hin, Jhre Handſchrift zu durchleſen. Das Sonderbare, ſo Sie gleich in den erſten Blaͤttern der Mutter Jhrer Heldin geben, war, meinem beſondern Geſchmack nach,a 4geſchick -VIIIgeſchickter mich wider ſie als zu ihrem Vortheil einzunehmen. Aber ich las fort, und alle meine kaltbluͤtige Phi - loſophie, die ſpaͤte Frucht einer viel - jaͤhrigen Beobachtung der Menſchen und ihrer grenzenloſen Thorheit, konn - te nicht gegen die Wahrheit und Schoͤnheit Jhrer moraliſchen Schilde - rungen aushalten; mein Herz er - waͤrmte ſich; ich liebte Jhren Stern - heim, ſeine Gemahlin, ſeine Tochter, und ſogar ſeinen Pfarrer, einen der wuͤrdigſten unter allen Pfarrern, die ich jemals kennen gelernt habe. Zwanzig kleine Mißtoͤne, welche der ſonderbare und an das Enthuſiaſtiſche angrenzende Schwung in der Den - kungsart Jhrer Sternheim mit der meinigen macht, verlohren ſich in der angenehmſten Uebereinſtimmung ihrer Grundſaͤtze, ihrer Geſinnungen und ihrer Handlungen mit den beſten Em - pfindungen und mit den lebhafteſtenUeber -IXUeberzeugungen meiner Seele. Moͤch - ten doch, ſo dacht ich bey hundert Stellen, moͤchten meine Toͤchter ſo denken, ſo handeln lernen, wie So - phie Sternheim! Moͤchte mich der Himmel die Gluͤckſeligkeit erfahren laſſen, dieſe ungeſchminkte Aufrichtig - keit der Seele, dieſe ſich immer glei - che Guͤte, dieſes zarte Gefuͤhl des Wahren und Schoͤnen, dieſe aus ei - ner innern Quelle ſtammende Ausuͤ - bung jeder Tugend, dieſe ungeheuchel - te Froͤmmigkeit, welche anſtatt der Schoͤnheit und dem Adel der Seele hinderlich zu ſeyn, die der ihrigen ſelbſt die ſchoͤnſte und beſte aller Tugen - den iſt, dieſes zaͤrtliche, mitleidsvolle, wohlthaͤtige Herz, dieſe geſunde, un - verfaͤlſchte Art von den Gegenſtaͤnden des menſchlichen Lebens und ihrem Werthe, von Gluͤck, Anſehen und Vergnuͤgen zu urtheilen, Kurz, alle Eigenſchaften des Geiſtes unda 5Her -XHerzens, welche ich in dieſem ſchoͤnen moraliſchen Bilde liebe, dereinſt in dieſen liebenswuͤrdigen Geſchoͤpfen aus - gedruͤckt zu ſehen, welche ſchon in ih - rem kindiſchen Alter die ſuͤßeſte Wolluſt meiner itzigen, und die beſte Hoffnung meiner kuͤnftigen Tage ſind; Jndem ich ſo dachte, war mein erſter Einfall, eine ſchoͤne Abſchrift von Jhrem Ma - nuſcripte machen zu laſſen, um in ei - nigen Jahren unſrer kleinen Sophie (denn Sie ſind ſo guͤtig, ſie auch die Jhrige zu nennen) ein Geſchenke da - mit zu machen; und wie erfreute mich der Gedanke, die Empfindungen unſrer vieljaͤhrigen, wohlgepruͤften und immer lauter befundenen Freundſchaft auch durch dieſes Mittel auf unſre Kin - der fortgepflanzt zu ſehen! An dieſen Vorſtellungen ergoͤtzte ich mich eine Zeitlang, als mir, eben ſo na - tuͤrlicher weiſe, der Gedanke aufſtei - gen mußte: Wie manche Mutter, wiemancherXImancher Vater lebt itzt in dem weiten Umfange der Provinzen Germaniens, welche in dieſem Augenblicke aͤhn - liche Wuͤnſche zum Beſten eben ſo zaͤrtlich geliebter, eben ſo hoff - nungsvoller Kinder thun! Wuͤr - de ich dieſen nicht Vergnuͤgen ma - chen, wenn ich ſie an einem Gute, welches durch die Mittheilung nichts verliehrt, Antheil nehmen ließe? Wuͤrde das Gute, welches durch das tugendhafte Beyſpiel der Familie Sternheim gewuͤrkt werden kann, nicht dadurch uͤber Viele ausgebreitet werden? Jſt es nicht unſre Pflicht, in einem ſo weiten Umfang als moͤg - lich Gutes zu thun? Und wie viele edelgeſinnte Perſonen wuͤrden nicht durch dieſes Mittel den wuͤrdigen Cha - racter des Geiſtes und des Herzens meiner Freundin kennen lernen, und, wenn Sie und ich nicht mehr ſind, ihr Andenken ſegnen! Sagen Siemir,XIImir, meine Freundin, wie haͤtte ich, mit dem Herzen, welches Sie nun ſo viele Jahre kennen, und unter allen meinen aͤußerlichen und innerlichen Veraͤnderungen immer ſich ſelbſt gleich befunden haben, ſolchen Vorſtellungen widerſtehen koͤnnen? Es war al - ſo ſogleich bey mir beſchloſſen, Co - peyen fuͤr alle unſre Freunde und Freundinnen, und fuͤr alle, die es ſeyn wuͤrden, wenn ſie uns kennten, ma - chen zu laſſen; ich dachte ſo gut von unſern Zeitgenoſſen, daß ich eine große Menge ſolcher Copeyen noͤthig zu ha - ben glaubte; und ſo ſchickte ich die meinige an meinen Freund Reich, ihm uͤberlaſſend, deren ſo viele zu ma - chen, als ihm ſelbſt belieben wuͤrde. Doch nein! So ſchnell gieng es nicht zu. Bey aller Waͤrme meines Her - zens blieb doch mein Kopf kalt genug, um alles in Betrachtung zu ziehen, was vermoͤgend ſchien, mich von mei -nemXIIInem Vorhaben abzuſchrecken. Nie - mals, daß ich wuͤßte, hat mich das Vorurtheil fuͤr diejenige, die ich liebe, gegen ihre Maͤngel blind gemacht. Sie kennen dieſe Eigenſchaft an mir, und ſie ſind eben ſo wenig faͤhig zu er - warten, oder nur zu wuͤnſchen, daß man ihnen ſchmeicheln ſoll, als ich ge - neigt bin, gegen meine Empfindung zu reden. Jhre Sternheim, ſo lie - benswuͤrdig ſie iſt, hat als ein Werk des Geiſtes, als eine dichteriſche Com - poſition, ja nur uͤberhaupt als eine deutſche Schrift betrachtet, Maͤngel, welche den Auspfeiffern nicht verbor - gen bleiben werden. Doch dieſe ſind es nicht, vor denen ich mich in Jhrem Namen fuͤrchte. Aber die Kunſtrich - ter auf der einen Stite, und auf der andern die ekeln Kenner aus der Claſſe der Weltleute, ſoll ich Jhnen ge - ſtehen, meine Freundin, daß ich nicht gaͤnzlich ohne Sorgen bin, wenn ichdaranXIVdaran denke, daß Jhre Sternheim durch meine Schuld dem Urtheil ſo vieler Perſonen von ſo unterſchiedli - cher Denkensart ausgeſtellt wird? Aber hoͤren Sie, was ich mir ſelbſt ſagte, um mich wieder zu beruhigen. Die Kunſtrichter haben es, in Abſicht alles deſſen, was an der Form des Werkes und an der Schreibart zu ta - deln ſeyn kann, lediglich mit mir zu thun. Sie, meine Freundin, dachten nie daran, fuͤr die Welt zu ſchreiben, oder ein Werk der Kunſt hervorzubrin - gen. Bey aller Jhrer Beleſenheit in den beſten Schriftſtellern verſchiedener Sprachen, welche man leſen kann oh - ne gelehrt zu ſeyn, war es immer Jhre Gewohnheit, weniger auf die Schoͤn - heit der Form als auf den Werth des Jnhalts aufmerkſam zu ſeyn; und ſchon dieſes einzige Bewußtſeyn wuͤrde Sie den Gedanken fuͤr die Welt zu ſchreiben allezeit haben verbannen heiſ -ſen.XVſen. Mir, dem eigenmaͤchtigen Her - ausgeber Jhres Manuſcripts, waͤre es alſo zugekommen, den Maͤngeln abzu - helfen, von denen ich ſelbſt erwarte, daß ſie den Kunſtrichtern, wo nicht an - ſtoͤßig ſeyn, doch den Wunſch, ſie nicht zu ſehen, abdringen koͤnnten. Doch, indem ich von Kunſtrichtern rede, den - ke ich an Maͤnnern von feinem Ge - ſchmack und reifem Urtheil; an Rich - ter, welche von kleinen Flecken an ei - nem ſchoͤnen Werke nicht beleidiget werden, und zu billig ſind, von einer freywillig hervorgekommenen Frucht der bloßen Natur und von einer durch die Kunſt erzogenen, muͤhſam gepfle - geten Frucht (wiewohl, was den Ge - ſchmack anbetrifft, dieſe nicht ſelten jener den Vorzug laſſen muß) einerley Voll - kommenheit zu fodern. Solche Ken - ner werden vermuthlich, eben ſo wohl wie ich, der Meynung ſeyn, daß eine moraliſche Dichtung, bey welcher esmehrXVImehr um die Ausfuͤhrung eines gewiſ - ſen lehrreichen und intereſſanten Haupt - charakters, als um Verwicklungen und Entwicklungen zu thun iſt, und wobey uͤberhaupt die moraliſche Nuͤtzlichkeit der erſte Zweck, die Ergoͤtzung des Le - ſers hingegen nur eine Nebenabſicht iſt, einer kuͤnſtlichen Form um ſo eher entbehren koͤnne, wenn ſie innerliche und eigenthuͤmliche Schoͤnheiten fuͤr den Geiſt und das Herz hat, welche uns wegen des Mangels eines nach den Regeln der Kunſt ausgelegten Plans und uͤberhaupt alles deſſen, was unter der Benennung Autors-Kuͤn - ſte begriffen werden kann, ſchadlos halten. Eben dieſe Kenner werden, (oder ich muͤßte mich ſehr betruͤgen) in der Schreibart des Fraͤuleins von Sternheim eine gewiſſe Originalitaͤt der Bilder und des Ausdrucks und eine ſo gluͤckliche Richtigkeit und Ener - gie des letztern, oft gerade in Stellen,mitXVIImit denen der Sprachlehrer vielleicht am wenigſten zufrieden iſt, bemerken, welche die Nachlaͤßigkeit des Stils, das Ungewoͤhnliche einiger Redensar - ten und Wendungen, und uͤberhaupt den Mangel einer vollkommnern Ab - glaͤttung und Rundung, einen Mangel, dem ich nicht anders als auf Unkoſten deſſen, was mir eine weſent - liche Schoͤnheit der Schreibart meiner Freundin ſchien, abzuhelfen gewußt haͤtte, reichlich zu verguͤten ſchei - nen. Sie werden die Beobachtung machen, daß unſre Sternheim, un - geachtet die Vortheile ihrer Erziehung bey aller Gelegenheit hervorſchim - mern, dennoch ihren Geſchmack und ihre Art zu denken, zu reden und zu handeln, mehr der Natur und ihren eigenen Erfahrungen und Bemerkun - gen, als dem Unterricht und der Nach - ahmung zu danken habe; daß es eben daher komme, daß ſie ſo oft anders denkt und handelt als die meiſten Per -bſonenXVIIIſonen ihres Standes; daß dieſes Ei - gene und Sonderbare ihres Chara - cters, und vornehmlich der individuelle Schwung ihrer Einbildungskraft na - tuͤrlicher weiſe auch in die Art ihrer Ge - danken einzukleiden oder ihre Empfin - dungen auszudruͤcken einen ſtarken Einfluß haben muͤſſe; und daß es eben daher komme, daß ſie fuͤr einen Ge - danken, den ſie ſelbſt gefunden hat, auch ſelbſt auf der Stelle einen eigenen Ausdruck erfindet, deſſen Staͤrke der Lebhaftigkeit und Wahrheit der an - ſchauenden Begriffe angemeſſen iſt, aus welchen ſie ihre Gedanken entwi - ckelt: und ſollten die Kenner nicht geneigt ſeyn mit mir zu finden, daß eben dieſe voͤllige Jndividualiſirung des Charakters unſrer Heldin einen der ſeltenſten Vorzuͤge dieſes Werkes aus - macht, gerade denjenigen, welchen die Kunſt am wenigſten, und gewiß nie ſo gluͤcklich erreichen wuͤrde, als es hier, wo die Natur gearbeitet hat,geſchehenXIXgeſchehen iſt? Kurz, ich habe eine ſo gute Meynung von der ſeinen Empfin - dung der Kunſtrichter, daß ich ihnen zutraue, ſie werden die Maͤngel, wo - von die Rede iſt, mit ſo vielen, und ſo vorzuͤglichen Schoͤnheiten verwebt finden, daß ſie es mir verdenken wuͤr - den, wenn ich das Privilegium der Damen, welche keine Schriftſtellerin - nen von Profeſſion ſind, zum Vor - theil meiner Freundin geltend machen wollte. Und ſollten wir uns etwan vor dem feinen und verwoͤhnten Ge - ſchmacke der Weltleute mehr zu fuͤrch - ten haben als vor den Kunſtrichtern? Jn der That, die Singularitaͤt unſrer Heldin, ihr Enthuſiasmus fuͤr das ſittliche Schoͤne, ihre beſondern Jdeen und Launen, ihre eine wenig eigenſinni - ge Praͤdilection fuͤr die Milords und alles was ihnen gleich ſieht und aus ihrem Lande kommt, und, was noch aͤrger iſt als dies alles, der beſtaͤn - dige Contraſt, den ihre Art zu em -b 2pfinden,XXpfinden, zu urtheilen und zu handeln mit dem Geſchmack, den Sitten und Gewohnheiten der großen Welt macht, ſcheint ihr nicht die guͤnſtig - ſte Aufnahme in der letztern vorherzu - ſagen. Gleichwohl gebe ich noch nicht alle Hoffnung auf, daß ſie nicht, eben darum, weil ſie eine Erſcheinung iſt, unter dem Namen der liebenswuͤrdi - gen Grillenfaͤngerin, anſehnliche Er - oberungen ſollte machen koͤnnen. Jn der That, bey aller ihrer moraliſchen Sonderlichkeit, welche zuweilen nahe an das Uebertriebene, oder was einige Pedanterey nennen werden, zu gren - zen ſcheint, iſt ſie ein liebenswuͤrdiges Geſchoͤpfe; und wenn auf der einen Seite ihr ganzer Charakter mit allen ih - ren Begriffen und Grundſaͤtzen als eine in Handlung geſetzte Satyre uͤber das Hofleben und die große Welt angeſehen werden kann: ſo iſt auf der andern eben ſo gewiß, daß man nicht billiger und nachſichtlicher von den Vorzuͤgen undvonXXIvon den Fehlern der Perſonen, welche ſich in dieſem ſchimmernden Kreiſe be - wegen, urtheilen kann als unſre Heldin. Man ſieht, daß ſie von Sachen ſpricht, welche ſie in der Naͤhe geſehen hat, und daß die Schuld weder an ihrem Verſtand noch an ihrem Herzen liegt, wenn ſie in dieſem Lande, wo die Kunſt die Natur gaͤnzlich verdrungen hat, alles unbegreiflich findet, und ſelbſt allen unbegreiflich iſt.

Vergeben Sie mir, meine Freundin, daß ich Jhnen ſo viel uͤber einen Punct, woruͤber Sie Urſache haben ſehr ruhig zu ſeyn, vorſchwatze. Es giebt Per - ſonen, bey denen gar niemals eine Frage ſeyn ſoll, ob ſie auch gefallen werden; und ich muͤßte mich außeror - dentlich irren, wenn unſre Heldin nicht in dieſe Claſſe gehoͤrte. Die naive Schoͤnheit ihres Geiſtes, die Reinigkeit, die unbegrenzte Guͤte ihres Herzens, die Richtigkeit ihres Ge - ſchmacks, die Wahrheit ihrer Urtheile,b 3dieXXIIdie Scharfſinnigkeit ihrer Bemerkun - gen, die Lebhaftigkeit ihrer Einbildungs - kraft und die Harmonie ihres Ausdrucks mit ihrer eigenen Art zu empfinden und zu denken, kurz, alle ihre Talente und Tugenden ſind mir Buͤrge dafuͤr, daß ſie mit allen ihren kleinen Fehlern ge - fallen wird; daß ſie Allen gefallen wird, welche dem Himmel einen ge - ſunden Kopf und ein gefuͤhlvolles Herz zu danken haben; und wem woll - ten wir ſonſt zu gefallen wuͤnſchen? Doch der liebſte Wunſch unſrer Hel - din iſt nicht der Wunſch der Eitelkeit; nuͤtzlich zu ſeyn, wuͤnſchte ſie; Gutes will ſie thun; und Gutes wird ſie thun, und dadurch den Schritt recht - fertigen, den ich gewaget habe, ſie ohne Vorwiſſen und Erlaubniß ihrer liebenswuͤrdigen Urheber in in die Welt einzufuͤhren. Jch bin, u. ſ. w.

Der Herausgeber.

Geſchichte
[1]

Geſchichte des Fraͤuleins von Sternheim.

Sie ſollen mir nicht danken, meine Freundinn, daß ich ſo viel fuͤr Sie abſchreibe. Sie wiſſen, daß ich das Gluͤck hatte, mit der vortrefflichen Dame erzogen zu werden, aus deren Le - bensbeſchreibung ich Jhnen Auszuͤge und Abſchriften von den Briefen mittheile, welche Mylord Seymour von ſeinen en - gliſchen Freunden und meiner Emilia ſam - melte. Glauben Sie, es iſt ein Vergnuͤ - gen fuͤr mein Herz, wenn ich mich mit etwas beſchaͤfftigen kann, wodurch dasAgehei -2geheiligte Andenken der Tugend und Guͤte einer Perſon, welche unſerm Geſchlechte und der Menſchheit Ehre gemacht, in mir erneuert wird.

Der Vater meiner geliebten Lady Sidney war der Oberſte von Stern - heim, einziger Sohn eines Profeſſors in W., von welchem er die ſorgfaͤltigſte Er - ziehung genoß. Edelmuth, Groͤße des Geiſtes, Guͤte des Herzens, waren die Grundzuͤge ſeines Charakters. Auf der Univerſitaͤt L. verband ihm die Freund - ſchaft mit dem juͤngern Baron von P. ſo ſehr, daß er nicht nur alle Reiſen mit ihm machte, ſondern auch aus Liebe zu ihm mit in Kriegsdienſte trat. Durch ſeinen Umgang und durch ſein Beyſpiel wurde der vorher unbaͤndige Geiſt des Barons ſo biegſam und wohldenkend, daß die ganze Familie dem jungen Mann dank - te, der ihren geliebten Sohn auf die Wege des Guten gebracht hatte. Ein Zufall trennte ſie. Der Baron mußte nach dem Tode ſeines aͤltern Bruders die Kriegs - dienſte verlaſſen, und ſich zu Ueberneh -mung3mung der Guͤther und Verwaltung derſel - ben geſchickt machen. Sternheim, der von Officiren und Gemeinen auf das voll - kommenſte geehrt und geliebt wurde, blieb im Dienſte, und erhielt darinn von dem Fuͤrſten die Stelle eines Oberſten, und den Adelſtand. Jhr Verdienſt, nicht das Gluͤck hat Sie erhoben, ſagte der General, als er ihm im Namen des Fuͤrſten in Gegenwart vieler Perſonen, das Oberſten-Patent und den Adelsbrief uͤberreichte; und nach dem allgemeinen Zeugniſſe waren alle Feldzuͤge Gelegen - heiten, wo er Großmuth, Menſchenliebe und Tapferkeit in vollem Maaß ausuͤbte.

Bey Herſtellung des Friedens war ſein erſter Wunſch, ſeinen Freund zu ſe - hen, mit welchem er immer Briefe gewech - ſelt hatte. Sein Herz kannte keine an - dere Verbindung. Schon lange hatte er ſeinen Vater verlohren; und da dieſer ſelbſt ein Fremdling in W. geweſen war, ſo blieben ſeinem Sohne keine nahe Ver - wandte von ihm uͤbrig. Der Oberſte von Sternheim gieng alſo nach P., umA 2daſelbſt4daſelbſt das ruhige Vergnuͤgen der Freund - ſchaft zu genießen. Der Baron P., ſein Freund, war mit einer liebenswuͤrdigen Dame vermaͤhlt, und lebte mit ſeiner Mutter und zwoen Schweſtern auf den ſchoͤnen Guͤthern, die ihm ſein Vater zu - ruͤck gelaſſen, ſehr gluͤcklich. Die Fami - lie von P., als eine der angeſehenſten in der Gegend, wurde von dem zahlreichen benachbarten Adel oͤfters beſucht. Der Baron P. gab wechſelsweiſe Geſellſchaft und kleine Feſte; die einſamen Tage wur - den mit Leſung guter Buͤcher, mit Be - muͤhungen fuͤr die gute Verwaltung der Herrſchaft, und mit edler anſtaͤndiger Fuͤhrung des Hauſes zugebracht.

Zuweilen wurden auch kleine Concerte gehalten, weil die juͤngere Fraͤulein das Clavier, die aͤltere aber die Laute ſpielte, und ſchoͤn ſang, wobey ſie von ihrem Bruder mit etlichen von ſeinen Leuten accompagnirt wurde. Der Gemuͤthszu - ſtand des aͤltern Fraͤuleins ſtoͤrte dieſes ruhige Gluͤck. Sie war das einzige Kind, welches der Baron P. mit ſeiner erſtenGemahlin5Gemahlin, einer Layd Watſon, die er auf einer Geſandtſchaft in England geheu - rathet, erzeugt hatte. Dieſes Fraͤulein ſchien zu aller ſanften Liebenswuͤrdigkeit einer Englaͤnderin, auch den melancholi - ſchen Charakter, der dieſe Nation bezeich - net, von ihrer Mutter geerbt zu haben. Ein ſtiller Gram war auf ihrem Geſichte verbreitet. Sie liebte die Einſamkeit, verwendete ſie aber allein auf fleißiges Le - ſen der beſten Buͤcher; ohne gleichwohl die Gelegenheiten zu verſaͤumen, wo ſie, ohne fremde Geſellſchaft, mit den Perſo - nen ihrer Familie allein ſeyn konnte.

Der Baron, ihr Bruder, der ſie zaͤrt - lich liebte, machte ſich Kummer fuͤr ihre Geſundheit, er gab ſich alle Muͤhe, ſie zu zerſtreuen, und die Urſache ihrer ruͤh - renden Traurigkeit zu erfahren.

Etlichemal bat er ſie, ihr Herz einem treuen zaͤrtlichen Bruder zu entdecken. Sie ſah ihn bedenklich an, dankte ihm fuͤr ſeine Sorge, und bat ihn mit thraͤ - nenden Augen, ihr ihr Geheimniß zu laſſen, und ſie zu lieben. Dieſes machteA 3ihn6ihn unruhig. Er beſorgte, irgend ein be - gangener Fehler moͤchte die Grundlage dieſer Betruͤbniß ſeyn; beobachtete ſie in allem auf das genauſte, konnte aber kei - ne Spur entdecken, die ihn zu der ge - ringſten Beſtaͤrkung einer ſolchen Beſorg - niß haͤtte leiten koͤnnen.

Jmmer war ſie unter ſeinen oder ih - rer Mutter Augen, redete mit niemand im Hauſe, und vermied alle Arten von Umgang. Einige Zeit uͤberwand ſie ſich, und blieb in Geſellſchaft; und eine ruhige Munterkeit machte Hoffnung, daß der melancholiſche Anfall voruͤber waͤre.

Zu dieſem Vergnuͤgen der Familie kam die unvermuthete Ankunft des Ober - ſten von Sternheim, von welchem dieſe ganze Familie ſo viel reden gehoͤrt, und in ſeinen Briefen die Vortrefflichkeit ſei - nes Geiſtes und Herzens bewundert hatte. Er uͤberraſchte ſie Abends in ihrem Gar - ten; die Entzuͤckung des Barons, und die neugierige Aufmerkſamkeit der uͤbrigen, iſt nicht zu beſchreiben. Es waͤhrte auch nicht lange, ſo floͤßte ſein edles liebrei -ches7ches Betragen dem ganzen Hauſe eine gleiche Freude ein.

Der Oberſte wurde als ein beſonderer Freund des Hauſes bey allen Bekannten vom Adel aufgefuͤhrt, und kam in alle ihre Geſellſchaften.

Jn dem Hauſe des Barons machte er die Erzaͤhlung ſeines Lebens, worinn er ohne Weitlaͤuftigkeit das Merkwuͤrdige und Nuͤtzliche was er geſehen, mit vieler Anmuth und mit dem maͤnnlichen Tone, der den weiſen Mann und den Menſchen - freund bezeichnet, vortrug. Jhm wurde hingegen das Gemaͤhlde vom Landleben gemacht, wobey bald der Baron von den Vortheilen, welche die Gegenwart des Herrn den Unterthanen verſchafft, bald die alte Dame von demjenigen Theil der laͤndlichen Wirthſchaft, der die Familien - mutter angeht, bald die beyden Fraͤulein von den angenehmen Ergoͤtzlichkeiten ſpra - chen, die das Landleben in jeder Jahrs - zeit anbietet. Auf dieſe Abſchilderung folgte dieſe Frage:

A 4Mein8

Mein Freund, wollten Sie nicht die uͤbrigen Tage ihres Lebens auf dem Lan - de zubringen?

Ja, lieber Baron! aber es muͤßte auf meinen eignen Guͤthern und in der Nach - barſchaft der Jhrigen ſeyn.

Das kann leicht geſchehen, denn es iſt eine kleine Meile von hier ein artiges Guth zu kaufen; ich habe die Erlaubniß hinzugehen, wenn ich will; wir wollen es Morgen befehen.

Den Tag darauf ritten die beyden Herren dahin, in Begleitung des Pfar - rers von P., eines ſehr wuͤrdigen Man - nes, von welchem die Damen die Be - ſchreibung des ruͤhrenden Auftritts erhiel - ten, der zwiſchen den beyden Freunden vorgefallen war.

Der Baron hatte dem Oberſten das ganze Guth gewieſen, und fuͤhrte ihn auch in das Haus, welches gleich an dem Garten und ſehr artig gelegen war. Hier nahmen ſie das Fruͤhſtuͤck ein.

Der Oberſte bezeugte ſeine Zufrieden - heit uͤber alles was er geſehen, und fragteden9den Baron: ob es wahr ſey, daß man dieſes Guth kaufen koͤnne?

Ja, mein Freund; gefaͤllt es Jhnen?

Vollkommen; es wuͤrde mich von nichts entfernen, was ich liebe.

O wie gluͤcklich bin ich, theurer Freund, ſagte der Baron, da er ihn um - armte; ich habe das Guth ſchon vor drey Jahren gekauft, um es Jhnen anzubie - ten; ich habe das Haus ausgebeſſert, und oft in dieſem Cabinette fuͤr Jhre Erhal - tung gebetet. Nun werde ich den Fuͤh - rer meiner Jugend zum Zeugen meines Lebens haben!

Der Oberſte wurde außerordentlich geruͤhrt; er konnte ſeinen Dank und ſeine Freude uͤber das edle Herz ſeines Freun - des nicht genug ausdruͤcken; er verſicher - te ihn, daß er ſein Leben in dieſem Hauſe zubringen wuͤrde; aber zugleich verlangte er zu wiſſen, was das Guth gekoſtet habe. Der Baron mußte es ſagen, und es auch durch die Kaufbriefe beweiſen. Der Er - trag belief ſich hoͤher, als es nach dem An - kaufsſchilling ſeyn ſollte. Der BaronA 5ver -10verſicherte aber, daß er nichts als ſeine eigne Auslage annehmen wuͤrde.

Mein Freund, (ſagte er) ich habe nichts gethan, als ſeit drey Jahren alle Einkuͤnfte des Guths auf die Verbeſſe - rung und Verſchoͤnerung deſſelben verwen - det. Das Vergnuͤgen des Gedankens: du arbeiteſt fuͤr die Ruhetage des Beſten der Menſchen; hier wirſt du ihn ſehen, und in ſeiner Geſellſchaft die gluͤcklichen Zeiten deiner Jugend erneuern; ſein Rath, ſein Beyſpiel, wird zu der Zufrie - denheit deiner Seele und dem Beſten dei - ner Angehoͤrigen beytragen Dieſe Gedanken haben mich belohnt.

Wie ſie nach Hauſe kamen, ſtellte der Baron den Oberſten als einen neuen Nachbar ſeiner Frau Mutter und ſeinen Schweſtern vor. Alle wurden ſehr froh uͤber die Verſicherung, ſeinen angenehmen Umgang auf immer zu genießen.

Er bezog ſein Haus ſogleich, als er Beſitz von der kleinen Herrſchaft genom - men hatte, die nur aus zweyen Doͤrfern beſtund. Er gab auch ein Feſtin fuͤr diekleine11kleine Nachbarſchaft, fieng gleich darauf an zu bauen, ſetzte noch zween ſchoͤne Fluͤ - gel an beyden Seiten des Hauſes, pflanzte Alleen und einen artigen Luſtwald, alles in engliſchem Geſchmack. Er betrieb die - ſen Bau mit dem groͤßten Eifer. Gleich - wohl hatte er von Zeit zu Zeit eine duͤſtre Miene, die der Baron wahrnahm, ohne anfangs davon etwas merken zu laſſen, bis er in dem folgenden Herbſt einer Ge - muͤthsveraͤnderung des Oberſten uͤberzeugt zu ſeyn glaubte, bey welcher er nicht laͤn - ger ruhig ſeyn konnte. Sternheim kam nicht mehr ſo oft, redete weniger, und gieng bald wieder weg. Seine Leute be - dauerten die ungewoͤhnliche Melancholie, die ihren Herrn befallen hatte.

Der Baron wurde um ſo viel mehr bekuͤmmert, als ſein Herz von der zuruͤck - gefallnen Traurigkeit ſeiner aͤltern Schwe - ſter beklemmt war. Er gieng zum Ober - ſten, fand ihn allein und nachdenkend, umarmte ihn mit zaͤrtlicher Wehmuth, und rief aus: O mein Freund! wie nichtig ſind auch die edelſten, die lauter -ſten12ſten Freuden unſers Herzens! Lange fehlte mir nichts als Jhre Gegenwart; nun ſeh ich Sie; ich habe Sie in meinen Armen, und ſehe Sie traurig! Jhr Herz, Jhr Vertrauen iſt nicht mehr fuͤr mich; haben Sie vielleicht der Freundſchaft zu viel nachgegeben, indem Sie hier einen Wohnſitz nehmen? Liebſter beſter Freund! quaͤlen Sie ſich nicht; Jhr Ver - gnuͤgen iſt mir theurer als mein eignes, ich nehme das Guth wieder an; es wird mir werth ſeyn, weil es mir Jhr ſchaͤtz - bares Andenken, und ihr Bild an allen Orten erneuern wird.

Hier hielt er inne; Thraͤnen fuͤllten ſein Auge, welches auf dem Geſicht ſeines Freundes geheftet war Er ſah die groͤßte Bewegung der Seele in demſelben ausgedruͤckt.

Der Oberſte ſtund auf, und umfaßte den Baron. Edler P. glauben Sie ja nicht, daß meine Freundſchaft, mein Vertrauen gegen Sie vermindert ſey; noch weniger denken Sie, daß mich die Entſchließung gereue, meine Tage in Jh -rer13rer Nachbarſchaft hinzubringen. O Jhre Nachbarſchaft iſt mir lieber, als Sie ſich vorſtellen koͤnnen! Jch habe eine Leidenſchaft zu bekaͤmpfen, die mein Herz zum erſtenmal angefallen hat. Jch hoffte, vernuͤnftig und edelmuͤthig zu ſeyn; aber ich bin es noch nicht in aller der Staͤrke, welche der Zuſtand meiner Seele erfodert. Doch iſt es nicht moͤglich, daß ich mit Jh - nen davon ſpreche; mein Herz und die Ein - ſamkeit ſind die einzigen Vertrauten, die ich haben kann.

Der Baron druͤckte ihn an ſeine Bruſt; ich weiß, ſagte er, daß Sie in allem wahrhaft ſind, ich zweifle alſo nicht an den Verſicherungen Jhrer alten Freund - ſchaft. Aber warum kommen Sie ſo ſel - ten zu mir? warum eilen Sie ſo kalt wieder aus meinem Hauſe?

Kalt, mein Freund! Kalt eile ich aus Jhrem Hauſe? O P.; Wenn Sie das brennende Verlangen kennten, das mich zu Jhnen fuͤhrt; das mich Stunden lang an meinem Fenſter haͤlt, wo ich das geliebte Haus ſehe, in welchem alle meinWuͤnſchen14Wuͤnſchen, all mein Vergnuͤgen wohnt; Ach P.!

Der Baron P. wurde unruhig, weil ihm auf einige Augenblicke der Gedanke kam, ſein Freund moͤchte vielleicht ſeine Gemahlin lieben, und meide deswegen ſein Haus, weil er ſich zu beſtreiten ſuche. Er beſchloß, achtſam und zuruͤckhaltend zu ſeyn. Der Oberſte hatte ſtill geſeſſen, und der Baron war auch aus ſeiner Faſ - ſung. Endlich fieng der letztere an: Mein Freund, Jhr Geheimniß iſt mir hei - lig; ich will es nicht aus Jhrer Bruſt er - preſſen. Aber Sie haben mir Urſache gegeben zu denken, daß ein Theil dieſes Geheimniſſes mein Haus angehe: Darf ich nicht nach dieſem Theile fragen?

Nein! Nein, fragen Sie nichts, und uͤberlaſſen Sie mich mir ſelbſt Der Baron ſchwieg, und reiſte traurig und tiefſinnig fort.

Den andern Tag kam der Oberſte, bat den Baron um Vergebung, daß er ihn geſtern ſo trocken heimreiſen laſſen, und ſagte, daß es ihn den ganzen Abend ge -quaͤlt15quaͤlt haͤtte. Lieber Baron, ſetzte er hin - zu, Ehre und Edelmuth binden meine Zunge! Zweifeln Sie nicht an meinem Herzen, und lieben Sie mich!

Er blieb den ganzen Tag in P., Fraͤulein Sophie und Fraͤulein Charlotte wurden von ihrem Bruder gebeten, alles zu Ermunterung ſeines Freundes beyzu - tragen. Der Oberſte hielt ſich aber mei - ſtens um die alte Dame und die Gemah - lin des Barons auf. Abends ſpielte Fraͤulein Charlotte die Laute, der Baron und zween Bediente accompagnirten ſie, und Fraͤulein Sophie wurde ſo inſtaͤndig gebeten, zu ſingen, daß ſie endlich nach - gab.

Der Oberſte ſtellte ſich in ein Fenſter, wo er bey halb zugezogenem Vorhang das kleine Familien-Concert anhoͤrte, und ſo eingenommen wurde, nicht wahrzuneh - men, daß die Gemahlin ſeines Freundes nahe genug bey ihm ſtund, um ihn ſagen zu hoͤren: O Sophie, warum biſt du die Schweſter meines Freundes? warum beſtreiten die Vorzuͤge deiner Geburt dieedle16edle, die zaͤrtliche Neigung meines Her - zens!

Die Dame wurde beſtuͤrzt; und um die Verwirrung zu vermeiden, in die er gerathen ſeyn wuͤrde, wenn er haͤtte den - ken koͤnnen, ſie habe ihn gehoͤrt, entfernte ſie ſich; froh, ihrem Gemahl die Sorge benehmen zu koͤnnen, die ihn wegen der Schwermuth des Oberſten plagte. So bald alles ſchlafen gegangen war, re - dete ſie mit ihm von dieſer Entdeckung. Der Baron verſtund nun, was ihm der Oberſte ſagen wollte, da er ſich wegen des vermeynten Kaltſinns vertheidigte, deſſen er beſchuldigt wurde. Waͤre Jh - nen der Oberſte als Schwager eben ſo lieb, wie er es Jhnen als mein Freund iſt? fragte er ſeine Gemahlin.

Gewiß, mein Liebſter! Sollte denn das Verdienſt des rechtſchaffnen Mannes nicht ſo viel Werth haben, als die Vor - zuͤge des Namens und der Geburt!

Werthe edle Helfte meines Lebens, rief der Baron, ſo helfen Sie mir dieVor -17Vorurtheile bey meiner Mama, und bey Sophien uͤberwinden!

Jch fuͤrchte die Vorurtheile nicht ſo ſehr, als eine vorgefaßte Neigung, die unſre liebe Sophie in ihrem Herzen naͤhrt. Jch kenne den Gegenſtand nicht, aber ſie liebt, und liebt ſchon lange. Kleine Aufſaͤtze von Betrachtungen, von Kla - gen gegen das Schickſal, gegen Tren - nung, die ich in ihrem Schreibetiſche gefunden habe, uͤberzeugten mich davon. Jch habe ſie beobachtet, aber weiter nichts entdecken koͤnnen. Jch will mit ihr re - den, ſagte der Baron, und ſehen, ob ihr Herz nicht durch irgend eine Luͤcke auszu - ſpaͤhen iſt.

Den Morgen darauf gieng der Ba - ron zu Fraͤulein Sophie, und nach vielen freundlichen Fragen um ihre Geſund - heit, nahm er ihre Haͤnde in die ſeinigen. Liebe theure Sophie, ſprach er, du giebſt mir Verſicherung deines Wohlſeyns; aber warum bleibt dir die leidende Miene? warum der Ton des Schmerzens; warumBder18der Hang zur Einſamkeit! warum ent - fliehen dieſem edeln guͤtigen Herzen ſo viele Seufzer? O wenn du wuͤßteſt; wie ſehr du mich dieſe lange Zeit deiner Me - lancholie durch bekuͤmmert haſt; du wuͤr - deſt mir dein Herz nicht verſchloſſen haben!

Hier wurde ihre Zaͤrtlichkeit uͤberwaͤl - tiget. Sie zog ihre Haͤnde nicht weg, ſie druͤckte ihres Bruders ſeine an ihre Bruſt, und ihr Kopf ſank auf ſeine Schul - ter. Bruder, du brichſt mein Herz! ich kann den Gedanken nicht ertragen, dir Kummer gemacht zu haben! Jch liebe dich wie mein Leben; ich bin gluͤcklich, ertrage mich, und rede mir niemals vom Hey - rathen.

Warum das, mein Kind? Du wuͤrdeſt einen rechtſchaffenen Mann ſo gluͤcklich machen!

Ja, ein rechtſchaffener Mann wuͤr - de auch mich gluͤcklich machen; aber ich kenne Thraͤnen hinderten ſie, mehr zu ſagen.

O Sophie hemme die aufrichtige Bewegung deiner Seele nicht; ſchuͤtteihre19ihre Empfindungen in den treuen Buſen deines Bruders aus Kind! ich glau - be, es giebt einen Mann, den du liebſt, mit dem dein Herz ein Buͤndniß hat.

Nein, Bruder! mein Herz hat kein Buͤndniß

Jſt dieſes wahr, meine Sophie?

Ja, mein Bruder, ja

Hier ſchloß ſie der Baron in ſeine Arme. Ach wenn du die entſchloßne, die wohlthaͤtige Seele deiner Mutter haͤt - teſt!

Sie erſtaunte. Warum, mein Bru - der? was willſt du damit? bin ich uͤbel - thaͤtig geweſen?

Niemals, meine Liebe, niemals aber du koͤnnteſt es werden, wenn Vor - urtheile mehr als Tugend und Vernunft bey dir gaͤlten.

Bruder, du verwirreſt mich! in was fuͤr einem Falle ſollte ich der Tugend und Vernunft entſagen?

Du mußt es nicht ſo nehmen! Der Fall, den ich denke, iſt nicht wider Tu - gend und Vernunft; und doch koͤnntenB 2beyde20beyde ihre Anſpruͤche bey dir verlieh - ren?

Bruder, rede deutlich; ich bin ent - ſchloſſen nach meinen geheimſten Empfin - dungen zu antworten.

Sophie, die Verſicherung, daß dein Herz ohne Buͤndniß ſey, erlaubt mir, dich zu fragen: was du thun wuͤrdeſt, wenn ein Mann, voll Weisheit und Tu - gend, dich liebte, um deine Hand baͤte, aber nicht von altem Adel waͤre?

Sie gerieth bey dieſem letzten Wort in Schrecken, ſie zitterte, und wußte ſich nicht zu faſſen. Der Baron wollte ihr Herz nicht lange quaͤlen, ſondern fuhr fort: wenn dieſer Mann der Freund waͤre, dem dein Bruder die Guͤte und Gluͤckſe - ligkeit ſeines Herzens zu danken haͤtte, Sophie; was wuͤrdeſt du thun?

Sie redete nicht, ſondern ward nach - denkend und wechſelsweiſe roth und blaß.

Jch beunruhige dich, meine Schwe - ſter; der Oberſte liebt dich. Dieſe Lei - denſchaft macht ſeine Schwermuth; denn er zweifelt, ob er werde angenommen wer -den.21den. Jch bekenne dir freymuͤthig, daß ich wuͤnſchte, alle ſeine mir erwieſne Wohlthaten durch dich zu vergelten. Aber wenn dein Herz darwider iſt, ſo ver - giß alles was ich dir ſagte.

Das Fraͤulein bemuͤhete ſich einen Muth zu faſſen; ſchwieg aber eine gute Weile; endlich fragte ſie den Baron: Bruder, iſt es gewiß, daß der Oberſte mich liebt? Der Baron erklaͤrte ihr hierauf alles was er durch ſeine Unterre - dungen mit dem Oberſten, und endlich durch die Wuͤnſche, welche ſeine Gemah - lin gehoͤrt hatte, von ſeiner Liebe wußte.

Mein Bruder, ſprach Sophie, ich bin freymuͤthig, und du verdienſt alle mein Vertrauen ſo ſehr, daß ich nicht lange warten werde, dir zu ſagen, daß der Oberſte der einzige Mann auf Erden iſt, deſſen Gemahlin ich zu werden wuͤnſche.

Der Unterſchied der Geburt iſt dir al - ſo nicht anſtoͤßig?

Gar nicht; ſein edles Herz, ſeine Wiſſenſchaft, und ſeine Freundſchaft fuͤrB 3dich,22dich, erſetzen bey mir den Mangel der Ahnen.

Edelmuͤthiges Maͤdchen! du machſt mich gluͤcklich durch deine Entſchließung, liebſte Sophie! Aber warum bateſt du mich, dir nichts vom Heyrathen zu ſagen?

Weil ich fuͤrchtete, du redeteſt von einem andern ſagte ſie, mit leiſem Ton, indem ihr gluͤhendes Geſicht auf der Schulter ihres Bruders lag

Er umarmte ſie, kuͤßte ihre Hand; dieſe Hand, ſagte er, wird ein Segen fuͤr meinen Freund ſeyn! von mir wird er ſie erhalten! Aber, mein Kind, die Ma - ma und Charlotte werden dich beſtreiten; wirſt du ſtandhaft bleiben?

Bruder, du ſollſt ſehen, daß ich ein Englaͤndiſches Herz habe. Aber da ich alle deine Fragen beantwortete, ſo muß ich auch eine machen: Was dachteſt du von meiner Traurigkeit, weil du mich ſo oft fragteſt?

Jch23

Jch dachte, eine heimliche Liebe, und ich fuͤrchtete mich vor dem Gegenſtand, weil du ſo verborgen wareſt.

Mein Bruder glaubte alſo nicht, daß die Briefe ſeines Freundes, die er uns vorlas, und alles uͤbrige, was er von dem theuren Mann erzaͤhlte, einen Eindruck auf mein Herz machen koͤnnte?

Liebe Sophie, es war alſo das Ver - dienſt meines Freundes, was dich ſo be - unruhigte? Gluͤcklicher Mann, den ein edles Maͤdchen wegen ſeiner Tugend liebt! Gott ſegue meine Schweſter fuͤr ihre Aufrichtigkeit! nun kann ich das Herz meines Freundes von ſeinem nagen - den Kummer heilen.

Thu alles mein Bruder, was ihn be - friedigen kann; nur ſchone meiner dabey! du weiſt, daß ein Maͤdchen nicht unge - beten lieben darf.

Sey ruhig, mein Kind; deine Ehre iſt die meinige.

Hier verließ er ſie, gieng zu ſeiner Gemahlin und theilte ihr das Vergnuͤgen dieſer Entdeckung mit. Sodann eilte erB 4zum24zum Oberſten, welchen er traurig und ernſthaft fand. Mancherley Unterre - dungen, die er anfieng, wurden kurz beant - wortet. Eine toͤdtliche Unruhe war in allen ſeinen Gebehrden. Habe ich Sie geſtoͤrt, Herr Oberſter? ſagte der Baron mit der Stimme der zaͤrtlichſten Freund - ſchaft eines jungen Mannes gegen ſeinen Fuͤhrer, indem er den Oberſten zugleich bey der Hand faßte.

Ja, lieber Baron, Sie haben mich in der Entſchließung geſtoͤrt, auf einige Zeit weg zu reiſen.

Weg zu reiſen? und allein?

Lieber P., ich bin in einer Gemuͤths - verfaſſung, die meinen Umgang unange - nehm macht; ich will ſehen, was die Zer - ſtreuung thun kann.

Mein beſter Freund! darf ich nicht mehr in ihr Herz ſehen? kann ich nichts zu ihrer Ruhe beytragen?

Sie haben genug fuͤr mich gethan! Sie ſind die Freude meines Lebens. Was mir itzt mangelt, muß die Klugheit und die Zeit beſſern.

Stern -25

Sternheim, Sie ſagten letzt von ei - ner zu bekaͤmpfenden Leidenſchaft. Jch kenne Sie; Jhr Herz kann keine unan - ſtaͤndige, keine boͤſe Leidenſchaft naͤhren; es muß Liebe ſeyn, was die Quaal Jhrer Tage macht!

Niemals P., niemals ſollen Sie wiſ - ſen, was meinen itzigen Kummer ver - urſacht.

Rechtſchaffner Freund, ich will Sie nicht laͤnger taͤuſchen; ich kenne den Ge - genſtand Jhrer Liebe; Jhre Zaͤrtlichkeit hat einen Zeugen gefunden; ich bin gluͤck - lich: Sie lieben meine Sophie! Der Baron hielt den Oberſten, der ganz außer ſich war, umarmt; er wollte ſich loswin - den; es war ihm bange.

P., was ſagen Sie? was wollen Sie von mir wiſſen?

Jch will wiſſen; ob die Hand meiner Schweſter ein gewuͤnſchtes Gluͤck fuͤr Sie waͤre?

Unmoͤglich, denn es waͤre fuͤr Sie alle ein Ungluͤck.

B 5Jch26

Jch habe alſo Jhr Geſtaͤndniß; aber wo ſoll das Ungluͤck ſeyn?

Ja, Sie haben mein Geſtaͤndniß; Jhre Fraͤulein Schweſter iſt das erſte Frauenzimmer, welches die beſte Neigung meiner Seele hat; aber ich will ſie uͤber - winden; man ſoll Jhnen nicht vorwerfen, daß ſie Jhrer Freundſchaft die ſchuldi - ge Achtung fuͤr Jhre Voreltern aufge - opfert haben. Fraͤulein Sophie ſoll durch mich keinen Anſpruch an Gluͤck und Vorzug verliehren. Schwoͤren Sie mir, kein Wort mit ihr davon zu reden; oder Sie ſehen mich heute zum letztenmal!

Sie denken edel, mein Freund; aber Sie ſollen nicht ungerecht werden. Jhre Abreiſe wuͤrde nicht allein mich, ſondern Sophien und meine Gemahlin betruͤben. Sie ſollen mein Bruder ſeyn!

P., Sie martern mich mit dieſem Zuſpruch mehr, als mich die Unmoͤglich - keit marterte, die meinen Wuͤnſchen ent - gegen iſt.

Freund! Sie haben die freywillige, die zaͤrtliche Zuſage meiner Schweſter Sie27Sie haben die Wuͤnſche meiner Gemahlin und die meinige. Wir haben alles be - dacht, was Sie bedenken koͤnnen, ſoll ich Sie bitten der Gemahl von Sophien von P. zu werden?

O Gott! wie hart beurtheilen Sie mein Herz! Sie glauben alſo, daß es ei - genſinniger Stolz ſey, der mich unſchluͤſ - ſig macht?

Jch antworte nichts, umarmen Sie mich und nennen Sie mich ihren Bru - der! morgen ſollen Sie es ſeyn! Sophie iſt die Jhrige. Sehen Sie ſie nicht als das Fraͤulein von P., ſondern als ein lie - benswuͤrdiges und tugendhaftes Frauen - zimmer an, deſſen Beſitz alle Jhre kuͤnfti - gen Tage begluͤcken wird; und nehmen Sie dieſen Segen von der Hand Jhres treuen Freundes mit Vergnuͤgen an!

Sophie mein? mit einer freywilligen Zaͤrtlichkeit mein? Es iſt genug; Sie ge - ben alles; ich kann nichts thun, als auf alles freywillig entſagen?

Entſagen? nach der Verſiche - rung, daß Sie geliebt ſind? O mei -ne28ne Schweſter, wie uͤbel bin ich mit deinem vortrefflichen Herzen umgegangen!

P., was ſagen Sie! und wie koͤn - nen Sie mein Herz durch einen ſolchen Vorwurf zerreiſſen? Wenn Sie edelmuͤ - thig ſind: ſoll ich es nicht auch ſeyn? ſoll ich die Augen uͤber die Mienen des be - nachbarten Adels zuſchlieſſen?

Sie ſollen es, wenn die Frage von Jhrer Freude und Jhrem Gluͤck iſt.

Was wollen Sie dann, daß ich thun ſoll?

Daß Sie mich mit dem Auftrage zu - ruͤck reiſen laſſen, mit meiner Mutter von meinem Wunſche zu ſprechen, und daß Sie zu uns kommen wollen, wenn ich Jhnen ein Billet ſchicke.

Der Oberſte konnte nicht mehr reden; er umarmte den Baron. Dieſer gieng zuruͤck, gerade zu ſeiner Frau Mutter, bey welcher die beyden Fraͤulein und ſeine Gemahlin waren. Er fuͤhrte die aͤltere Fraͤulein in ihr Zimmer, weil er ihr den Bericht von ſeinem Beſuch allein machen wollte, und bat ſie, ihn eine Zeitlangbey29bey der Frau Mutter und Charlotten zu laſſen. Hier that er einen foͤrmlichen An - trag fuͤr ſeinen Freund. Die alte Dame wurde betroffen; er ſah es, und ſagte: Theure Frau Mutter! alle Jhre Bedenk - lichkeiten ſind gegruͤndet. Der Adel ſoll durch adeliche Verbindungen fortgefuͤhrt werden. Aber die Tugenden des Stern - heim ſind die Grundlagen aller großen Familien geweſen. Man hatte nicht un - recht zu denken, daß große Eigenſchaften der Seele bey Toͤchtern und Soͤhnen erb - lich ſeyn koͤnnten, und daß alſo jeder Vater fuͤr einen edlen Sohn eine edle Toch - ter ſuchen ſollte. Auch wollt ich, der Einfuͤhrung der Heyrathen außer Stand nicht gerne das Wort reden. Aber hier iſt ein beſonderer Fall; ein Fall, der ſehr ſelten erſcheinen wird: Stern - heims Verdienſte, mit dem Charakter ei - nes wirklichen Oberſten, der ſchon als adelich anzuſehen iſt, rechtfertigen die Hoffnung, die ich ihm gemacht habe.

Jn Wahrheit, mein Sohn, ich habe Bedenklichkeiten. Aber der Mann hatmeine30meine ganze Hochachtung erworben. Jch wuͤrde ihn gern gluͤcklich ſehen.

Meine Gemahlin: was ſagen Sie?

Daß bey einem Mann, wie dieſer iſt, eine gerechte Ausnahme zu machen ſey. Jch werde ihn gerne Bruder nennen.

Jch nicht, ſagte Fraͤulein Char - lotte.

Warum, meine Liebe?

Weil dieſe ſchoͤne Verbindung auf Un - koſten meines Gluͤcks gemacht wird.

Wie das, Charlotte?

Wer wird denn unſer Haus zu einer Vermaͤhlung ſuchen, wenn die aͤltere Toch - ter ſo verſchleudert iſt?

Verſchleudert? bey einem Mann von Tugend und Ehre, bey dem Freunde dei - nes Bruders?

Vielleicht haſt du noch einen Univer - ſitaͤtsfreund von dieſer Tugend, der ſich um mich melden wird, um ſeiner aufkei - menden Ehre eine Stuͤtze zu geben, und da wirſt du auch Urſachen zu deiner Ein - willigung bereit haben?

Char -31

Charlotte, meine Tochter! was fuͤr eine Sprache?

Jch muß ſie fuͤhren, weil in der gan - zen Familie niemand auf mich und ſeine Voreltern denkt.

So, Charlotte; und wenn man an die Voreltern denkt, muß man den Bru - der und einen edelmuͤthigen Mann belei - digen? ſagte die junge Frau von P.

Jch habe Jhre Ausnahme ſchon ge - hoͤrt, die Sie fuͤr den edelmuͤthigen Mann machen. Andre Familien werden auch Ausnahmen haben, wenn ihr Sohn Charlotten zur Gemahlin haben wollte.

Charlotte, wer dich um Sternheims willen verlaͤßt, iſt deiner Hand und einer Verbindung mit mir nicht werth. Du ſiehſt, daß ich auf die boͤſe juͤngere Schwe - ſter noch ſtolz bin, wenn ich ſchon die gu - te aͤltere an einen Univerſitaͤtsfreund ver - ſchleudere.

Freylich muß die juͤngere Schweſter boͤſe ſeyn, wenn ſie ſich nicht zum Schul - denabtrag will gebrauchen laſſen!

Wie32

Wie unvernuͤnftig boshaft meine Schweſter ſeyn kann! Du haſt nichts von meinen Antraͤgen zu beſorgen. Jch wer - de fuͤr niemand als einen Sternheim re - den, und fuͤr dieſen iſt ein Gemuͤthscha - rakter, wie der deinige, nicht edel genug, wenn du auch eine Fuͤrſtin waͤreſt.

Gnaͤdige Mama; Sie hoͤren zu, wie ich wegen des elenden Kerls gemißhandelt werde?

Du haſt die Geduld deines Bruders gemißbraucht. Kannſt du deine Einwen - dungen nicht ruhiger vorbringen?

Sie wollte eben reden; aber der Bru - der fiel ihr ins Wort: Charlotte, rede nicht mehr; der Ausdruck elender Kerl hat dir deinen Bruder genommen! Die Sachen meines Hauſes gehen dich nichts mehr an. Dein Herz entehrt die Ahnen, auf deren Namen du ſtolz biſt! O wie klein wuͤrde die Anzahl des Adels werden, wenn ſich nur die dazu rechnen duͤrften, die ihre Anſpruͤche durch die Tugenden der edlen Seele des Stifters ihres Hauſes beweiſen koͤnnten!

Lieber33

Lieber Sohn, werde nicht zu eifrig, es waͤre wuͤrklich nicht gut, wenn unſre Toͤchter ſo leicht geneigt waͤren, außer Stand zu heyrathen.

Das iſt nicht zu befuͤrchten. Es giebt ſelten eine Sophie, die einen Mann nur wegen ſeiner Klugheit und Großmuth liebt.

Fraͤulein Charlotte entfernte ſich.

Haſt du aber nicht ſelbſt einmal deine dir ſo lieben Englaͤnder angefuͤhrt, welche die Heyrath außer Stand den Toͤchtern viel weniger vergeben als den Soͤhnen, weil die Tochter ihren Namen aufgeben, und den von ihrem Manne tragen muß, folglich ſich erniedriget?

Diß bleibt alles wahr, aber in Eng - laud wuͤrde mein Freund tauſendmal von dieſem Grundſatz ausgenommen werden, und das Maͤdchen, das ihn liebte, wuͤrde den Ruhm eines edeldenkenden Frauen - zimmers erhalten.

Jch ſehe wohl, mein Sohn, daß dieſe Verbindung eine ſchon beſchloſſene Sache iſt. Aber haſt du auch uͤberlegt, daßCman34man ſagen wird, du opferſt deine Schwe - ſter einer uͤbertriebenen Freundſchaft auf, und ich handle als Stiefmutter, da ich mei - ne Einwilligung gebe?

Liebe Mama! laſſen Sie es immer geſchehen, unſer Beweggrund wird uns beruhigen, und das Gluͤck meiner Schwe - ſter wird, neben den Verdienſten meines Freundes, allein ſo deutlich in die Augen glaͤnzen, daß man aufhoͤren wird, uͤbel zu denken.

Hierauf wurde Fraͤulein Sophie von ihrem Bruder geholt. Sie warf ſich ih - rer Frau Mutter zu Fuͤßen; die gute Da - me umarmte ſie: Liebe Fraͤulein Tochter, ſprach ſie, Jhr Bruder hat mich verſichert, daß dieſes Band nach Jhren Wuͤnſchen waͤre, ſonſt haͤtte ich nicht eingewilliget. Es iſt wahr, es fehlt dem Manne nichts als eine edle Geburt. Aber, Gott ſegne Sie beyde!

Jndeſſen war der Baron fort, er holte den Oberſten, welcher halb außer ſich in das Zimmer trat, aber gleich zu der alten Dame gieng, ihr mit gebognem Knie dieHaͤnde35Haͤnde kuͤßte, und mit maͤnnlichem An - ſtand ſagte:

Gnaͤdige Frau! glauben Sie immer, daß ich Jhre Einwilligung als eine herab - laſſende Guͤte anſehe; bleiben Sie aber auch verſichert, daß ich dieſer Guͤte nie - mals unwuͤrdig ſeyn werde.

Sie war ſo liebreich zu ſagen: Es er - freuet mich, Herr Oberſter, daß Jhre Verdienſte in meinem Hauſe eine Beloh - nung gefunden haben. Er kuͤßte hierauf die Haͤnde der Gemahlin ſeines Freundes; wie viel Dank und Verehrung, rief er aus, bin ich der großmuͤthigen Vorſpre - cherin der Angelegenheiten meines Her - zens ſchuldig?

Nichts, Herr Oberſter! ich bin ſtolz, zu dem Gluͤck Jhres Herzens etwas bey - zutragen; Jhre bruͤderliche Freundſchaft ſoll meine Belohnung ſeyn.

Er wollte mit ſeinem Freunde reden; aber dieſer wieß ihn an Fraͤulein Sophie. Bey dieſer kniete er ſtillſchweigend, und endlich ſprach der edle Mann: GnaͤdigesC 2Fraͤulein!36Fraͤulein! mein Herz iſt zu Verehrung der Tugend gebohren; wie war es moͤglich, eine vortreffliche Seele wie die Jhrige mit allen aͤuſſerlichen Annehmlichkeiten beglei - tet zu ſehen, ohne daß meine Empfindun - gen lebhaft genug wurden, Wuͤnſche zu machen? Jch haͤtte dieſe Wuͤnſche erſtickt; aber die treue Freundſchaft Jhres Bru - ders hat mir Muth gegeben, um Jhre Zuneigung zu bitten. Sie haben mich nicht verworfen. Gott belohne Jhr lieb - reiches Herz, und laſſe mich die Tugend niemals verliehren, die mir Jhre Achtung erworben hat!

Fraͤulein Sophie antwortete nur mit einer Verbeugung, und reichte ihm die Hand mit dem Zeichen aufzuſtehen; dar - auf naͤherte ſich der Baron, und fuͤhrte beyde an ſeinen Haͤnden zu ſeiner Frau Mutter.

Gnaͤdige Mama, ſagte er, die Natur hat Jhnen an mir einen Sohn gegeben, von welchem Sie auf das Vollkommenſte geehrt und geliebt werden; das Schickſalgiebt37giebt Jhnen an meinem Freunde einen zweyten Sohn, der aller Jhrer Achtung und Guͤte wuͤrdig iſt. Sie haben oft gewuͤnſcht, daß unſre Sophie gluͤcklich ſeyn moͤge. Jhre Verbindung mit dem geiſt - vollen rechtſchaffenen Mann wird dieſen muͤtterlichen Wunſch erfuͤllen. Legen Sie Jhre Hand auf die Haͤnde Jhrer Kinder; ich weiß, daß der muͤtterliche Segen ih - ren Herzen heilig und ſchaͤtzbar iſt.

Die Dame legte ihre Hand auf, und ſagte: Meine Kinder! wenn Euch Gott ſo viel Gutes und Vergnuͤgen ſchenkt, als ich von ihm fuͤr Euch erbitten wer - de, ſo wird Euch nichts mangeln. Und nun umarmte der Baron den Ober - ſten als ſeinen Bruder, und auch die gluͤckliche Braut, welcher er fuͤr die Ge - ſinnungen, die ſie gegen ſeinen Freund bezeugt hatte, zaͤrtlich dankte. Der Oberſte ſpeiſte mit ihnen. Fraͤulein Charlotte kam nicht zur Tafel. Die Trauung geſchah ohne vieles Gepraͤnge.

C 3Etliche38

Etliche Tage nach der Hochzeit ſchrieb Frau von Sternheim an Jhre Frau Mutter.

Da mich das ſchlimme Wetter und eine kleine Unpaͤßlichkeit abhalten, meiner gnaͤ - digen Mama ſelbſt aufzuwarten, ſo will ich doch meinem Herzen das edle Vergnuͤ - gen nicht verſagen, mich ſchriftlich mit Jhnen zu unterhalten.

Die Geſellſchaft meines theuren Ge - mahls und die Ueberdenkung der Pflich - ten, welche mir in dem neuen Kreiſe mei - nes Lebens angewieſen ſind, halten mich in Wahrheit fuͤr alle andre Zeitvertreibe und Vergnuͤgungen ſchadlos; aber ſie er - neuern auch mit Lebhaftigkeit alle uͤbri - gen edlen Empfindungen, die mein Herz jemals genaͤhrt hat. Unter dieſe gehoͤrt auch die dankvolle Liebe, welche Jhre Guͤte ſeit ſo vielen Jahren von mir ver - dient hat, da ich in Jhrer vortrefflichen Seele alle treue und zaͤrtliche Sorgfaltgefunden39gefunden habe, die ich nur immer von meiner wahren Mutter haͤtte genießen koͤn - nen. Und doch muß ich bekennen, daß Jhre gnaͤdige Einwilligung in mein Buͤnd - niß mit Sternheim die groͤßte Wohlthat iſt, die Sie mir erzeigt haben. Da - durch iſt das ganze Gluͤck meines Lebens befeſtiget worden; welches ich in nichts anderm ſuche noch erkenne, als in Um - ſtaͤnden zu ſeyn, worinn man nach ſeinem eignen Charakter und nach ſeinen Neigun - gen leben kann. Dieſes war mein Wunſch, und dieſen hab ich von der Vorſehung erhalten. Einen nach ſei - nem Geiſt und Herzen aller meiner Vereh - rung wuͤrdigen Mann; und mittelmaͤßi - ges, aber unabhaͤngiges Vermoͤgen, deſ - ſen Groͤße und Ertrag hinreichend iſt, un - ſer Haus in einer edlen Genuͤgſamkeit und ſtandesgemaͤß zu erhalten, dabey aber auch unſern Herzen die Freude giebt, viele Familien des arbeitſamen Landmanns durch Huͤlfe zu erquicken, oder durch kleine Gaben aufzumuntern.

C 4Erlau -40

Erlauben Sie, daß ich eine Unterre - dung wiederhole, welche der theure Mann mit mir gehalten, deſſen Namen ich trage.

Nachdem meine gnaͤdige Mama, mein Bruder, meine Schweſter und meine Schwaͤgerin abgereiſet waren, empfand ich ſo zu ſagen das erſte mal die ganze Wichtigkeit meiner Verbindung.

Die Veraͤnderung meines Nahmens zeigte mir zugleich die Veraͤnderung mei - ner Pflichten, die ich alle in einer Reyhe vor mir ſah. Dieſe Betrachtungen, wel - che meine ganze Seele beſchaͤfftigten, wur - den, denke ich, durch die aͤußerlichen Ge - genſtaͤnde lebhafter. Ein anderer Wohn - platz; alle, mit denen ich von jugendauf gelebt, von mir entfernt; die erſte Be - wegung uͤber ihre Abreiſe u. ſ. w.

Alles dieſes gab mir, ich weiß nicht welch ein ernſthaftes Anſehen, das dem Auge meines Gemahls merklich wurde.

Er kam mit dem Ausdruck einer ſanf - ten Freudigkeit in ſeinem Geſichte zu mir in mein Cabinett, wo ich gedankenvoll ſaß; blieb in der Mitte des Zimmers ſte -hen,41hen, betrachtete mich mit zaͤrtlicher Un - ruhe, und ſagte:

Sie ſind nachdenklich, liebſte Gemah - lin! darf ich Sie ſtoͤren?

Jch konnte nicht antworten, reichte ihm aber meine Hand. Er kuͤßte ſie, und nachdem er ſich einen Stuhl zu mir geruͤckt hatte, fieng er an:

Jch verehre Jhre ganze Familie; doch muß ich ſagen, daß mir der Tag lieb iſt, wo alle Geſinnungen meines Herzens al - lein meiner Gemahlin gewidmet ſeyn koͤn - nen. Goͤnnen Sie mir Jhr Vertrauen, ſo wie Sie mir Jhre Hochachtung ge - ſchenkt haben; und glauben Sie, daß Sie mit dem Mann, den Sie andern ſo edelmuͤthig vorgezogen haben, nicht un - gluͤcklich ſeyn werden. Jhr vaͤterlich Haus iſt nicht weit von uns entfernt, und in dieſem hier wird Jhr wohlgeſinntes Herz ſein Vergnuͤgen finden, mich, meine und Jhre Bediente, meine und Jhre Un - terthanen gluͤcklich zu machen. Jch weiß, daß Sie ſeit vielen Jahren bey Jhrer Frau Mutter die Stelle einer Hauswirthin ver -C 5ſehen42ſehen haben. Jch werde Sie bitten, die - ſes Amt, mit allem was dazu gehoͤrt, auch in dieſem Hauſe zu fuͤhren. Sie werden mich dadurch ſehr verbinden; indem ich geſinnet bin, alle meine Muße fuͤr das Beſte unſrer kleinen Herrſchaft zu verwen - den. Jch ſetze dieſes nicht allein darinn, Guͤte und Gerechtigkeit auszuuͤben, ſon - dern auch in der Unterſuchung: ob nicht die Umſtaͤnde meiner Unterthanen in an - drer Austheilung der Guͤther, in Beſor - gung der Schulen, des Feldbaues und der Viehzucht zu verbeſſern ſeyen? Jch habe mir von allen dieſen Theilen einige Kenntniß erworben; denn in dem gluͤckli - chen Mittelſtande der menſchlichen Geſell - ſchaft, worinn ich gebohren wurde, ſieht man die Anbauung des Geiſtes, und die Ausuͤbung der meiſten Tugenden nicht nur als Pflichten, ſondern auch als den Grund unſers Wohlergehens an; und ich werde mich dieſer Vortheile allezeit dankbarlich erinnern, weil ich Jhnen das unſchaͤtz - bare Gluͤck Jhrer Liebe ſchuldig bin. Waͤ - re ich mit dem Rang und Vermoͤgen ge -bohren43bohren worden, die ich itzt beſitze, ſo waͤ - re vielleicht mein Eifer, mir einen Nah - men zu machen, nicht ſo groß geweſen. Was ich aber in dem Schickſal meiner verfloßnen Jahre am meiſten liebe, iſt der Vater, den es mir gab; weil es gewiß in andern Umſtaͤnden keinen ſo treuen und weiſen Fuͤhrer meiner Jugend gehabt haͤt - te, als er fuͤr mich war. Er verbarg mir aus weiſer Ueberlegung und Kenntniß meines Gemuͤths, (vielleicht des ganzen menſchlichen Herzens uͤberhaupt) den groͤß - ten Theil ſeines Reichthums; einmal um der Nachlaͤſſigkeit vorzubeugen, mit wel - cher einzige und reiche Soͤhne den Wiſſen - ſchaften obliegen; und dann die Verfuͤh - rung zu vermeiden, denen dieſe Art jun - ger Leute ausgeſetzt iſt; und weil er dach - te, wann ich einmal die Kraͤfte meiner Seele, fuͤr mich und Andere, wohl zu ge - brauchen gelernt haͤtte, ſo wuͤrde ich einſt auch von den Gluͤcksguͤthern einen klu - gen und edeln Gebrauch zu machen wiſſen. Daher ſuchte mich mein Vater zuerſt, durch Tugend und Kenntniſſe, moraliſch gutund44und gluͤcklich zu machen, ehe er mir die Mittel in die Haͤnde gab, durch welche man alle Gattungen von ſinnlichem Wohl - ſtand und Vergnuͤgen fuͤr ſich und Andre erlangen und austheilen kann. Die Lie - be und Uebung der Tugend und der Wiſ - ſenſchaften, ſagte er, geben ihrem Be - ſitzer eine von Schickſal und Menſchen unabhaͤngige Gluͤckſeligkeit, und machen ihn zugleich durch das Beyſpiel, das ſei - ne edle und gute Handlungen geben, durch den Nutzen und das Vergnuͤgen, das ſein Rath und Umgang ſchaffen, zu einem moraliſchen Wohlthaͤter an ſeinen Neben - menſchen. Durch ſolche Grundſaͤtze und eine darauf gegruͤndete Erziehung machte er mich zu einem wuͤrdigen Freund Jhres Bruders; und wie ich mir ſchmeichle, zu dem nicht unwuͤrdigen Beſitzer Jhres Her - zens. Die Haͤlfte meines Lebens iſt vor - bey. Gott ſey Dank, daß ſie weder mit ſonderbaren Ungluͤcksfaͤllen noch Verge - hungen wider meine Pflichten bezeichnet iſt! Der geſegnete Augenblick, wo das edle guͤtige Herz der Sophie P., zumeinem45meinem Beſten geruͤhrt war, iſt der Zeit - punkt, in welchem der Plan fuͤr das wah - re Gluͤck meiner uͤbrigen Tage vollfuͤhrt wurde. Zaͤrtliche Dankbarkeit und Ver - ehrung wird die ſtete Geſinnung meiner Seele fuͤr Sie ſeyn.

Hier hielt er inne, kuͤßte meine beyden Haͤnde, und bat mich um Vergebung, daß er ſo viel geredet haͤtte.

Jch konnte nichts anders als ihn ver - ſichern, daß ich mit Vergnuͤgen zugehoͤrt, und ihn baͤte fortzufahren, weil ich glaub - te, er haͤtte mir noch mehr zu ſagen.

Jch moͤchte Sie nicht gerne ermuͤden, liebſte Gemahlin; aber ich wuͤnſche, daß Sie mein ganzes Herz ſehen koͤnnten. Jch will alſo, weil Sie es zu wuͤnſchen ſcheinen, nur noch einige Punkte beruͤhren.

Jch habe mir angewoͤhnt, in allen Stuͤcken, die ich in Erlernung der Wiſſen - ſchaften oder in meinen Militaͤr-Dienſten zu erſteigen hatte, mich ſorgfaͤltig nach allen Pflichten umzuſehen, die ich darinn in Abſicht auf mich ſelbſt, meine Obern und die uͤbrigen zu erfuͤllen verbundenwar.46war. Nach dieſer Kenntniß theilte ich meine Aufmerkſamkeit und meine Zeit ab. Mein Ehrgeiz trieb mich, alles was ich zu thun ſchuldig war, ohne Aufſchub und auf das Vollkommenſte zu verrichten. War es geſchehen, ſo dachte ich auch an die Vergnuͤgungen, die meiner Gemuͤths - art die gemaͤßeſten waren. Gleiche Ueber - legungen habe ich uͤber meine itzigen Um - ſtaͤnde gemacht; und da finde ich mich mit vierfachen Pflichten beladen. Die er - ſte, gegen meine liebenswuͤrdige Gemah - lin, welche mir leicht iſt, weil immer mein ganzes Herz zu ihrer Ausuͤbung be - reit ſeyn wird. Die zwote gegen Jhre Familie und den uͤbrigen Adel, denen ich, ohne jemals ſchmeichleriſch und unterwuͤr - fig zu ſeyn, durch alle meine Handlungen den Beweis zu geben ſuchen werde, daß ich der Hand von Sophien P., und der Aufnahme in die freyherrliche Claſſe nicht unwuͤrdig war. Die dritte Pflicht geht die Perſonen von demjenigen Stande an, aus welchem ich herausgezogen bin. Dieſe will ich niemals zu denken veran -laſſen,47laſſen, daß ich meinen Urſprung vergeſſen habe. Sie ſollen weder Stolz noch nie - dertraͤchtige Demuth bey mir ſehen. Viertens treten die Pflichten gegen meine Untergebene ein, fuͤr deren Beſtes ich auf alle Weiſe ſorgen werde, um ihrem Herzen die Unterwuͤrfigkeit, in welche ſie das Schickſal geſetzt hat, nicht nur ertraͤglich, ſondern angenehm zu machen, und mich ſo zu bezeugen, daß ſie mir den Unterſchied, welchen zeitliches Gluͤck zwiſchen mir und ihnen gemacht hat, gerne goͤnnen ſollen.

Der rechtſchaffene Pfarrer in P. will mir einen wackern jungen Mann zum Seelſorger in meinem Kirchſpiele ſchaffen, mit welchem ich gar gerne einen ſchon lang gemachten Wunſch fuͤr einige Abaͤnderun - gen in der gewoͤhnlichen Art, das Volk zu unterrichten, veranſtalten moͤchte. Jch habe mich gruͤndlich von der Guͤte und dem Nutzen der großen Wahrheiten un - ſrer Religion uͤberzeugt; aber die wenige Wirkung, die ihr Vortrag auf die Herzen der groͤßten Anzahl der Zuhoͤrer macht, gab mir eher einen Zweifel in die Lehrart,als48als den Gedanken ein, daß das menſchliche Herz durchaus ſo ſehr zum Boͤſen geneigt ſey, als manche glauben. Wie oft kam ich von Anhoͤrung der Canzelrede eines beruͤhmten Mannes zuruͤck, und wenn ich dem moraliſchen Nutzen nachdachte, den ich daraus gezogen, und dem, welchen der gemeine Mann darinn gefunden haben koͤnnte, ſo fand ich in Wahrheit viel Lee - res fuͤr den letztern dabey; und derjenige Theil, welchen der Prediger dem Ruhme der Gelehrſamkeit oder dem ausfuͤhrlichen aber nicht allzuverſtaͤndlichen Vortrag mancher ſpeculativer Saͤtze gewldmet hatte, war fuͤr die Beſſerung der mei - ſten verlohren, und das gewiß nicht aus boͤſem Willen der letztern.

Denn wenn ich, der von Jugend auf meine Verſtandskraͤfte geuͤbt hatte, und mit abſtracten Jdeen bekannt war, Muͤhe hatte, nuͤtzliche Anwendungen davon zu machen; wie ſollte der Handwerksmann und ſeine Kinder damit zu rechte kommen? Da ich nun weit von dem unfreundlichen Stolz entfernt bin, der unter Perſonenvon49von Gluͤck und Rang den Satz erdacht hat, man muͤſſe dem gemeinen Mann weder aufgeklaͤrte Religionsbegriffe geben, noch ſeinen Verſtand erweitern; ſo wuͤnſche ich, daß mein Pfarrer, aus wahrer Guͤte gegen ſeinen Naͤchſten, und aus Empfin - dung des ganzen Umfangs ſeiner Oblie - genheiten, zuerſt bedacht waͤre, ſeiner an - vertrauten Gemeine das Maaß von Er - kenntniß beyzubringen, welches ihnen zu freudiger und eifriger Erfuͤllung ihrer Pflichten gegen Gott, ihre Obrigkeit, ihren Naͤchſten und ſich ſelbſt noͤthig iſt. Der geringe Mann iſt mit der nehm - lichen Begierde zu Gluͤck und Vergnuͤgen gebohren, wie der groͤßere, und wird, wie dieſer, von den Begierden oft auf Ab - wege gefuͤhrt. Daher moͤchte ich ihnen auch richtige Begriffe von Gluͤck und Vergnuͤgen geben laſſen. Den Weg zu ihren Herzen, glaube ich, koͤnne man am eheſten durch Betrachtungen uͤber die phyſicaliſche Welt finden, von der ſie am erſten geruͤhrt werden, weil jeder Blick ihrer Augen, jeder Schritt ihrer Fuͤße ſie dahinDleitet.50leitet. Waͤren erſt ihre Herzen durch Erkaͤnntniß der wohlthaͤtigen Hand ihres Schoͤpfers geoͤffnet, und durch hiſtoriſche Vergleichungen von ihrem Wohnplatz und ihren Umſtaͤnden mit dem Aufenthalt und den Umſtaͤnden andrer Menſchen, die eben ſo, wie ſie, Geſchoͤpfe Gottes ſind, zufrieden geſtellt; ſo zeigte man ihnen auch die moraliſche Seite der Welt, und die Verbindlichkeiten, welche ſie darinn zu einem ruhigen Leben fuͤr ſich ſelbſt, zum Beſten der ihrigen, und zur Verſicherung eines ewigen Wohlſtandes zu erfuͤllen ha - ben. Wenn mein Pfarrer nur mit dem guten Bezeugen der letzten Lebenstage ſei - ner Pfarrkinder zufrieden iſt, ſo werde ich ſehr unzufrieden mit ihm ſeyn. Und wenn er die Beſſerung der Gemuͤther nur durch ſo genannte Geſetz - und Strafpredig - ten erhalten will, ohne den Verſtand zu oͤffnen und zu uͤberzeugen, ſo wird er auch nicht mein Pfarrer ſeyn. Wenn er aufmerkſamer auf den Fleiß im Kirchen - gehen iſt, als auf die Handlungen des taͤglichen Lebens; ſo werde ich ihn fuͤr kei -nen51nen wahren Menſchenfreund und fuͤr kei - nen guten Seelſorger halten.

Auf die Schule, die gute Einrichtung derſelben, und die angemeſſene Belohnung des Schulmeiſters, werde ich alle Sorge tragen; mit der noͤthigen Nachſicht ver - bunden, welche die Schwachheit des kind - lichen Alters erfodert. Es ſoll darinn ein doppelter Catechismus gelehrt werden; nehmlich der von den Chriſtenpflichten, wie er eingefuͤhrt iſt, und bey jedem Hauptſtuͤck eine deutliche, einfache An - wendung dieſer Grundſaͤtze auf ihr taͤgli - ches Leben; und dann ein Catechismus von gruͤndlicher Kenntniß des Feld - und Gartenbaues, der Viehzucht, der Beſor - gung der Gehoͤlze und Waldungen, und dergleichen, als Pflichten des Berufs und der Wohlthaͤtigkeit gegen die Nachkom - menſchaft. Ueberhaupt wuͤnſche ich, mei - ne Unterthanen erſt gut gegen ihren Naͤchſten zu ſehen, ehe ſie einen An - ſpruch an das Lob der Froͤmmigkeit machen.

D 2Dem52

Dem Beamten, den ich hier angetrof - fen, werde ich ſeinen Gehalt und die Be - ſorgung der Rechnung laſſen; aber zur Juſtitzverwaltung und Aufſicht auf die Befolgung der Geſetze und auf Policey und Arbeitſamkeit, werde ich den wackern jungen Mann gebrauchen, deſſen Bekannt - ſchaft ich in P. gemacht habe. Dieſem, und mir ſelbſt will ich ſuchen, das Ver - trauen meiner Unterthanen zu erwerben, um alle ihre Umſtaͤnde zu erfahren, und als wahrer Vater und Vormuͤnder ih - re Angelegenheiten beſorgen zu koͤnnen. Guter Rath, freundliche Ermah - nung, auf Beſſerung, nicht auf Un - terdruͤckung abzielende Strafen, ſollen die Huͤlfsmittel dazu ſeyn; und mein Herz muͤßte ſich in ſeiner liebreichen Hoffnung ſehr traurig betrogen finden, wenn die ſorg - faͤltige Ausuͤbung der Pflichten des Herrn auf meiner, und eine gleiche Bemuͤhung des Pfarrers und der Beamten auf ihrer Seite, nebſt dem Beyſpiel der Guͤte und Wohl - thaͤtigkeit, nicht einen heilſamen Einfluß auf die Gemuͤther meiner Untergebenen haͤtte.

Hier53

Hier hoͤrte er auf, und bat mich um Vergebung, ſo viel und ſo lange geredt zu haben.

Sie muͤſſen muͤde worden ſeyn, theure Sophie, ſagte er, indem er einen ſeiner Arme um mich ſchlang.

Was blieb mir in der vollen Regung meines Herzeus uͤbrig zu thun, als ihn mit Freudenthraͤnen zu umarmen?

Muͤde, mein liebſter Gemahl? Wie koͤnnte ich muͤde werden, uͤber die gluͤck - liche Ausſicht in meine kuͤnftigen Tage, die von Jhrer Tugend und Menſchenliebe bezeichnet ſeyn werden?

Geliebte Frau Mutter, wie geſegnet iſt mein Looß? Gott erhalte Sie noch lan - ge, um ein Zeuge davon zu ſeyn.

Niemand war gluͤcklicher als Sternheim und ſeine Gemahlin, deren Fußtapfen von ihren Unterthanen verehrt wurden. Gerechtigkeit und Wohlthaͤtigkeit wurde in dem kleinen Umkreis ihrer Herrſchaft in gleichem Maaße ausgeuͤbt. Alle ProbenD 3von54von Landbau-Verbeſſerung wurden auf herrſchaftlichen Guͤthern zuerſt gemacht; alsdann den Unterthanen gelehrt, und dem Armen, der ſich am erſten willig zur Veraͤnderung zeigte, der noͤthige Aufwand umſonſt dazu gereicht; weil Herr von Sternheim wohl einſah, daß der Land - mann auch das Nuͤtzlichſte, wenn es Geld - auslagen, und die Miſſung eines Stuͤcks Erdreichs erforderte, ohne ſolche Auf - munterungen niemals eingehen werde. Aber was ich ihnen Anfangs gebe, ſagte er, traͤgt mir mit der Zeit der vermehrte Zehnte ein, und die guten Leute werden durch die Erfahrung am beſten uͤberzeugt, daß es wohl mit ihnen gemeynt war.

Jch kann nicht umhin (ungeachtet es mich von dem Hauptgegenſtand meiner Erzaͤhlung noch weiter entfernt) Jhnen zu einer Probe der gemeinnuͤtzlichen und wohlthaͤtigen Veranſtaltungen, in deren Erfindung und Ausfuͤhrung dieſes vor - treffliche Paar einen Theil ſeiner Gluͤck - ſeligkeit ſetzte, einige Nachricht von dem Armenhauſe zu S** zu geben, welchesnach55nach meinem Begriff ein Muſter guter Einrichtung iſt; und ich kann es nicht beſſer thun, als indem ich Jhnen einen Auszug eines Schreibens des Baron von P., an ſeine Frau Mutter uͤber dieſen Gegenſtand mittheile.

Wie getreu erfuͤllt mein Freund das Ver - ſprechen, welches ich Jhnen fuͤr das Gluͤck unſrer Sophie gemacht haͤbe! Wie angenehm iſt der Eintritt in dieſes Haus, worinn die edelſte Einfalt und ungezwun - genſte Ordnung der ganzen Einrichtung ein Anſehn von Groͤße geben! Die Bedienten mit freudiger Ehrerbietung und Emſigkeit auf Ausuͤbung ihrer Pflichten bedacht! Der Herr und die Frau mit dem Ausdruck der Gluͤckſeligkeit, die aus Guͤte und Klug - heit entſpringt; beyde, mich fuͤr meine entſchloſſene Verwendung fuͤr ihr Buͤnd - niß ſegnend! Und wie ſehr unterſcheiden ſich die zwey kleinen Doͤrfer meines Bru - ders von allen groͤßern und volkreichern, die ich bey meiner Zuruͤckreiſe von HofeD 4geſehen56geſehen habe! Beyde gleichen durch die muntre und emſige Arbeitſamkeit ihrer Einwohner, zween wohlangelegten Bie - nenſtoͤcken; und Sternheim iſt reichlich fuͤr die Muͤhe belohnt, die er ſich gegeben, eine ſchicklichere Eintheilung der Guͤther zu machen, durch welche jeder von den Un - terthanen juſt ſo viel bekommen hat, als er Kraͤfte und Vermoͤgen hatte anzubauen. Aber die Verwendung des neu erkauften Hofguths von dem Grafen A., welches ge - rade zwiſchen den zweyen Doͤrfern liegt, diß wird ein ſegensvoller Gedanke in der Ausfuͤhrung ſeyn!

Er iſt zu einem Armenhauſe fuͤr ſeine Unterthanen zugerichtet worden. Auf ei - ner Seite; unten, die Wohnung fuͤr ei - nen wackern Schulmeiſter, der zu alt ge - worden, dem Unterricht der Kinder noch nuͤtzlich vorzuſtehen, und nun zum Ober - aufſeher uͤber Ordnung und Arbeit beſtellt wird; oben, die Wohnung des Arztes, welcher fuͤr die Kranken des Armenhauſes und der beyden Doͤrfer ſorgen muß. Arbeiten ſollen alle nach Kraͤften, zurSommers -57Sommerszeit in einer nahe daran ange - legten Saͤmerey und einem dazu gehoͤri - gen Gemuͤsgarten. Beyder Ertrag iſt fuͤr die Armen beſtimmt. An Regen - und Wintertagen ſollen die Weibsleute Flachs, und die dazu taugliche Maͤnner, Wolle ſpinnen, welche auch fuͤr ihr und anderer Nothleidenden Leinen und Kleidung ver - wandt wird. Sie bekommen gut gekoch - tes geſundes Eſſen. Der Hausmeiſter be - tet Morgens und Abends mit ihnen. Die Weibesperſonen arbeiten in einer, und die Mannsperſonen in der andern Stube, welche beyde durch Einen Ofen erwaͤrmt werden. Jn der von den Weibsleuten ißt man; denn weil dieſe den Tiſch decken, und fuͤr die Naͤharbeit und die Waͤſche ſorgen muͤſſen, ſo iſt ihre Stube groͤßer. Diejenige arme Wittwe, oder alte ledige Weibsperſon, welche das beſte Zeugniß von Fleiß und gutem Wandel in den Doͤr - fern hatte, wird Oberaufſeherin und An - ordnerin, ſo wie es der arme Mann, der ein ſolches Zeugniß hat, unter den Maͤn - nern iſt. Zu ihrem Schlafplatz iſt derD 5obere58obere Theil des Hauſes in zween verſchied - ne Gaͤnge durch eine volle Mauer getheilt, auf deren jedem fuͤnf Zimmer ſind, jedes mit zween Betten, und allen Nothduͤrf - tigkeiten fuͤr jedes insbeſondere; auf einer Seite gegen den Garten, die Maͤnner; und auf der gegen das Dorf, die Weiber; je zwey in einem Gemach, damit, wenn einem was zuſtoͤßt, das andere Huͤlfe lei - ſten oder ſuchen kann. Von der Mitte des Fenſters an, geht eine hoͤlzerne Schied - wand von der Decke bis auf den Boden, etliche Schuh lang uͤber die Laͤnge der Bettſtellen, ſo daß beyde auf eine gewiſſe Art allein ſeyn koͤnnen, und auch, wenn eines krank wird, das Andre ſeinen Theil geſunde Luft beſſer erhalten kann. Auf dieſe zween Gaͤnge fuͤhren zwo verſchiedne Stiegen, damit keine Unordnung entſte - hen moͤge.

Unter dem guten Hausmeiſter ſtehen auch die Knechte, die den Bau des Feld - guths beſorgen muͤſſen; und da ihnen ein beſſerer Lohn, als ſonſt wo beſtimmt iſt, ſo nimmt man auch die beſten und desFeld -59Feldbaues verſtaͤndigſten Arbeiter, wobey zugleich auf ſolche, die einen guten Ruf haben, vorzuͤglich geſehen wird.

Fremden Armen ſoll ein maͤßiges All - moſen abgereicht, und dabey Arbeit ange - boten werden, wofuͤr ſie Taglohn bekom - men, und eine Stunde fruͤher aufhoͤren duͤrfen, um das naͤchſte fremde Dorf, ſo fuͤnf viertel Stunden davon liegt, noch bey Tag erreichen zu koͤnnen. Sternheim hat auf ſeine Koſten einen ſchnurgeraden Weg mit Baͤumen umpflanzt dahin machen laſ - ſen: ſo wie er auch von dem einen ſeiner Doͤrfer zum andern gethan hat. Nachts muͤſſen die beſtellten Waͤchter der beyden Ortſchaften wechſelsweiſe bis ans Ar - menhaus gehen, und die Stunden aus - rufen. Meine Schweſter will ein klein Findelhaus fuͤr arme Waiſen dabey ſtif - ten, um Segen fuͤr das Kind zu ſam - meln, welches ſie unter ihrem liebreichen wohlthaͤtigen Herzen traͤgt. Mein Ge - danke, gnaͤdige Mama, iſt, in meiner groͤßern und weitlaͤuftigern Herrſchaft auch eine ſolche Armenanſtalt zu machen,und60und wo moͤglich, mehrere Edelleute, ein gleiches zu thun, zu uͤberreden.

Fremde und einheimiſche Bettler be - kommen bey keinem Bauren nichts. Dieſe geben bloß nach Vermoͤgen und freyem Willen, nach jeder Erndte ein All - moſen in das Haus, und ſo werden alle Armen menſchlich und ohne Mißbrauch der Wohlthaͤter verſorgt. Auf Saͤufer. Spieler, Ruchloſe und Muͤßiggaͤnger, iſt eine Strafe, theils an Frohnarbeit, theils an Geld gelegt, welches zum Nu - tzen des Armenhauſes beſtimmt iſt. Kuͤnftigen Monat werden vier Manns - und fuͤnf Weibsperſonen das Haus bezie - hen, meine Schweſter faͤhrt alle Tage hin, um die voͤllige Einrichtung zu machen. Jn der Sonntagspredigt wird der Pfar - rer uͤber die Materie von wahrem Allmo - ſen und von wuͤrdigen Armen eine Rede halten, und der ganzen Gemeinde die Stiftung und die Pflichten derer, welche darinn aufgenommen werden, vorleſen. Sodann ruft er die Angenommene mit ih - ren Namen vor dem Altar, und redt ihnenins61ins beſondere zu, uͤber die rechte Anwen - dung dieſer Wohlthat, und ihr Verhalten in den letzten und ruhigen Tagen ihres Le - bens gegen Gott und ihren Naͤchſten; dem Hausmeiſter, dem Arzt und der Hausmei - ſterin desgleichen, uͤber ihre obliegenden Pflichten. Zu dieſem Vorgang werden wir alle von P. aus kommen, ich bins gewiß.

Der benachbarte Adel ehrte und liebte den Oberſten Sternheim ſo ſehr, daß man ihn bat auf einige Zeit junge Edelleute in ſein Haus zu nehmen, welche von ihren Reiſen zuruͤck gekommen waren, und nun vermaͤhlt werden ſollten, um den Stamm fortzufuͤhren. Da wollte man ſie die wahre Landwirthſchaft eines Edelmanns einſehen und lernen laſſen. Unter dieſen war der junge Graf Loͤbau, welcher in dieſem Hauſe die Gelegenheit hatte, das endlich ruhig gewordene Fraͤulein Char - lotte P. kennen zu lernen und ſich mit ihr zu verbinden.

Herr62

Herr von Sternheim nahm die edle Beſchaͤfftigung, dieſen jungen Herren rich - tige Begriffe von der Regierung der Unter - thanen zu geben, recht gerne auf ſich. Seine Menſchenliebe erleichterte ihm dieſe Muͤhe durch den Gedanken: vielleicht gebe ich ihnen den ſo noͤthigen Theil von Mit - leiden gegen Geringe und Ungluͤckliche, deren hartes muͤhſeliges Leben durch die Unbarmherzigkeit und den Stolz der Groſ - ſen ſo oft erſchwert und verbittert wird. Ueberzeugt, daß das Beyſpiel mehr wuͤrkt, als weitlaͤuftige Geſpraͤche, nahm er ſeine junge Leute uͤberall mit ſich, und, wie es der Anlaß erfoderte, handelte er vor ihnen. Er machte ihnen die Urſachen begreiflich, warum er dieſes verordnet, jenes verboten, oder dieſe, oder jene an - dere Entſcheidung gegeben; und je nach der Kenntniß, die er von den Guͤthern eines jeden hatte, fuͤgte er kleine Anwen - dungen fuͤr ſie ſelbſt hinzu. Sie waren Zeugen von allen ſeinen Beſchaͤfftigungen, und nahmen Antheil an ſeinen Ergoͤtzlich - keiten; bey Gelegenheit der letztern, bater63er ſie oft inſtaͤndig, die Jhrigen ja nie - mals auf Unkoſten ihrer armen Untertha - nen zu ſuchen; wozu vornehmlich die Jagd einen großen Anlaß gebe. Er nannte ſie ein anſtaͤndiges Vergnuͤgen, welches aber ein liebreicher, menſchlicher Herr allezeit mit dem Beſten ſeiner Unterthanen zu verbinden ſuche. Auch die Liebe zum Leſen war eine von den Neigungen, die er ihnen zu geben ſuchte, und beſonders gab ihm die Geſchichte Gelegenheit von der mora - liſchen Welt, ihren Uebeln und Veraͤnde - rungen zu reden, die Pflichten der Hof - und Kriegsdienſte auszulegen, und ihren Geiſt in der Ueberlegung und Beurtheilung zu uͤben. Die Geſchichte der moraliſchen Welt, ſagte er, macht uns geſchickt mit den Menſchen umzugehen, ſie zu beſſern, zu tragen und mit unſerm Schickſal zufrie - den zu ſeyn; aber die Beobachtung der phyſicaliſchen Welt macht uns zu guten Geſchoͤpfen, in Abſicht auf unſern Urhe - ber. Jndem ſie uns unſre Unmacht zeigt, hingegen ſeine Groͤße, Guͤte und Weis - heit bewundern lehrt, lernen wir ihn aufeine64eine edle Art lieben und verehren; außer dem, daß uns dieſe Betrachtungen ſehr gluͤcklich uͤber mancherley Kummer und Verdruͤßlichkeiten troͤſten und zerſtreuen, die in der moraliſchen Welt uͤber dem Haupte des Großen und Reichen oft in groͤßerer Menge gehaͤuft ſind, als in der Huͤtte des Bauren, den nicht viel mehr Sorgen, als die fuͤr ſeine Nahrung druͤcken.

So wechſelte er mit Unterredungen und Beyſpiel ab. Jn ſeinem Hauſe ſahen ſie, wie gluͤcklich die Vereinigung eines recht - ſchaffenen Mannes mit einer tugendhaften Frau ſeye. Zaͤrtliche, edle Achtung war in ihrem Bezeugen; und die Dienerſchaft ehrfurchtsvoll, und bereit, ihr Leben fuͤr die eben ſo gnaͤdige als ernſtliche Herr - ſchaft zu laſſen.

Sternheim hatte auch die Freude, daß alle dieſe junge Herren erkenntliche und er - gebene Freunde von ihm wurden, welche in ihrem Briefwechſel ſich immer bey ihm Raths erholten. Der Umgang mit dem verehrungswuͤrdigen Baron P., der Jh -nen65nen oͤfters kleine Feſte gab, hatte viel zu ihrer Vollkommenheit beygetragen.

Seine Gemahlin hatte ihm eine Toch - ter gegeben, welche ſehr artig heran wuchs und von ihrem neunten Jahr an (da Sternheim das Ungluͤck hatte, ihre Mut - ter in einem Wochenbette zugleich mit dem neugebohrnen Sohne zu verliehren) der Troſt ihres Vaters und ſeine einzige Freu - de auf Erden war, nachdem auch der Baron P. durch einen Sturz vom Pferde in ſo ſchlechte Geſundheitsumſtaͤnde gera - then, daß er wenige Monate darauf ohne Erben verſtorben war. Dieſer hatte in ſeinem Teſtamente nicht nur ſeine vortreff - liche Frau wohl bedacht, ſondern nach den Landesrechten, die Graͤfin von Loͤbau ſeine juͤngere Schweſter, und die junge So - phie von Sternhein, als die Tochter der aͤltern Schweſter, zu Haupterben eingeſetzt; welches zwar dem Grafen und der Graͤ - fin als unrecht vorkam, aber dennoch Be - ſtand hatte.

Die alte Frau von P., von Kummer uͤber den fruͤhen Tod ihres Sohnes bey -Enahe66nahe ganz niedergedruͤckt, nahm ihren Wohnplatz bey dem Herrn von Sternheim, und diente dem jungen Fraͤulein zur Auf - ſicht. Der Oberſte machte ihr durch ſeine ehrerbietige Liebe und ſein Beyſpiel der ge - duldigſten Unterwerfung viele Erleichte - rung in ihrem Gemuͤthe. Der edel - denkende Pfarrer und ſeine Toͤchter waren beynahe die einzige Geſellſchaft, in welcher ſie Vergnuͤgen fanden. Gleich - wohl genoß das Fraͤulein von Stern - heim die vortrefflichſte Erziehung fuͤr ih - ren Geiſt und fuͤr ihr Herz. Eine Toch - ter des Pfarrers, die mit ihr gleiches Alter hatte, wurde ihr zugegeben, theils einen Wetteifer im Lernen zu erregen, theils zu verhindern, daß die junge Dame nicht in ihrer erſten Jugend lauter duͤſtre Eindruͤcke ſammeln moͤchte; welches bey ihrer Großmutter und ihrem Vater leicht haͤtte geſchehen koͤnnen. Denn beyde weinten oft uͤber ihren Verluſt, und dann fuͤhrte Herr von Sternheim das zwoͤlf jaͤh - rige Fraͤulein bey der Hand zu dem Bild - niß ihrer Mutter, und ſprach von ihrer Tu -gend67gend und Guͤte des Herzens mit ſolcher Ruͤh - rung, daß das junge Fraͤulein knieend bey ihm ſchluchzte, und oft zu ſterben muͤnſchte, um bey ihrer Frau Mutter zu ſeyn. Dieſes machte den Oberſten fuͤrchten, daß ihre em - pfindungsvolle Seele einen zu ſtarken Hang zu melancholiſcher Zaͤrtlichkeit bekommen, und durch eine allzuſehr vermehrte Reiz - barkeit der Nerven unfaͤhig werden moͤch - te, Schmerzen und Kummer zu ertragen. Daher ſuchte er ſich ſelbſt zu bemeiſtern und ſeiner Tochter zu zeigen, wie man das Ungluͤck tragen muͤſſe, welches die Beſten am empfindlichſten ruͤhrt; und weil das Fraͤulein eine große Anlage von Verſtand zeigte, beſchaͤftigte er dieſen mit der Philoſophie, nach allen ihren Theilen, mit der Geſchichte und den Sprachen, von denen ſie die engliſche zur Vollkommenheit lernte. Jn der Muſik brachte ſie es, auf der Laute und im Singen, zur Vollkom - menheit. Das Tanzen, ſo viel eine Da - me davon wiſſen ſoll, war eine Kunſt, welche eher von ihr eine Vollkommenheit erhielt, als daß ſie dem Fraͤulein welcheE 2haͤtte68haͤtte geben ſollen; denn, nach dem Aus - ſpruch aller Leute, gab die unbeſchreib - liche Anmuth, welche die junge Dame in allen ihren Bewegungen hatte, ihrem Tan - zen einen Vorzug, den der hoͤchſte Grad der Kunſt nicht erreichen konnte.

Neben dieſen taͤglichen Uebungen, er - lernte ſie mit ungemeiner Leichtigkeit, alle Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem ſechszehnten Jahre an, bekam ſie auch die Fuͤhrung des ganzen Hauſes, wobey ihr die Tag - und Rechnungsbuͤcher ihrer Frau Mutter zum Muſter gegeben wur - den. Angebohrne Liebe zur Ordnung und zum thaͤtigen Leben, erhoͤht durch ei - ne enthuſiaſtiſche Anhaͤnglichkeit fuͤr das Andenken ihrer Mutter, deren Bild ſie in ſich erneuern wollte, brachten ſie auch in dieſem Stuͤcke zu der aͤußerſten Voll - kommenheit. Wenn man ihr von ihrem Fleiß und von ihren Kenntniſſen ſprach, war ihre beſcheidene Antwort: willige Faͤhigkeiten, gute Beyſpiele und liebreiche Anfuͤhrung haben mich ſo gut gemacht, als tauſend andre auch ſeyn koͤnnten,wenn69wenn ſich alle Umſtaͤnde ſo zu ihrem Be - ſten vereinigt haͤtten, wie bey mir.

Uebrigens war zu allem, was Englaͤn - diſch hieß, ein vorzuͤglicher Hang in ihrer Seele, und ihr einziger Wunſch war, daß ihr Herr Vater einmal eine Reiſe dahin machen, und ſie den Verwandten ihrer Großmutter zeigen moͤchte.

So bluͤhte das Fraͤulein von Stern - heim bis nach ihrem neunzehnten Jahre fort, da ſie das Ungluͤck hatte, ihren wuͤrdigen Vater an einer auszehrenden Krankheit zu verliehren, der mit kum - mervollem Herzen ſeine Tochter dem Gra - fen Loͤbau und dem vortrefflichen Pfarrer in S., als Vormuͤndern empfahl. An den letztern hat er einige Wochen vor ſeinem Tode folgenden Brief geſchrieben.

Herr von St. an den Pfarrer zu S**.

Bald werde ich mit der beſten Haͤlfte meines Lebens wieder vereinigt werden. E 3Mein70Mein Haus und die Gluͤcksumſtaͤnde mei - ner Sophie ſind beſtellt; diß war das letzte und geringſte, was mir fuͤr ſie zu thun uͤbrig geblieben iſt. Jhre gute und geſegnete Erziehung, als die erſte und wichtigſte Pflicht eines treuen Vaters, habe ich nach dem Zeugniß meines Her - zens niemals verabſaͤumt. Jhre mit der Liebe zur Tugend gebohrne Seele laͤßt mich auch nicht befuͤrchten, daß Sie, in mei - ne Stelle eintretender vaͤterlicher Freund, den Sorgen und Verdruͤßlichkeiten ausge - ſetzt ſeyn werden, welche gemeindenkende Maͤdchen in ihren Familien machen. Be - ſonders wird die Liebe, bey aller der Zaͤrt - lichkeit, die ſie von ihrer wuͤrdigen Mut - ter geerbt hat, wenig Gewalt uͤber ſie er - halten; es muͤßte denn ſeyn, daß das Schickſal einen nach ihrer Phantaſie tu - gendhaften Mann*)Der Verfolg und der ganze Zuſammenhang dieſer Geſchichte giebt die Auslegung uͤber dieſen Ausdruck. Er ſoll ohne Zweiſel nichts anders ſagen, als einen Mann, der dem be - ſondern Jdeal von Tugend und moraliſcherVoll - in die Gegend ihresAufent -71Aufenthalts fuͤhrte. Was ich Sie, mein theurer Freund, zu beſorgen bitte, iſt, daß das edeldenkende Herz des beſten Maͤd - chens durch keine Scheintugend hinge - riſſen werde. Sie faßt das Gute an ih - rem Nebenmenſchen mit ſo vielem Eifer auf, und ſchluͤpft dann uͤber die Maͤngel mit ſo vieler Nachſicht hinweg, daß ich nur daruͤber mit Schmerzen auf ſie ſehe. Ungluͤcklich wird keine menſchliche Seele durch ſie gemacht werden; denn ich weiß, daß ſie dem Wohl ihres Naͤchſten tau - ſendmal das Jhrige aufopfern wuͤrde, ehe ſie nur ein minutenlanges Uebel auf andre legte, wenn ſie auch das Gluͤck ih - res ganzen eignen Lebens damit erkau - fen koͤnnte. Aber da ſie lauter Empfin - dung iſt, ſo haben viele, viele, die elen - de Macht, ſie zu kraͤnken. Jch habe bis itzt meine Furcht vor dem Gemuͤths - charakter der Graͤfin Loͤbau geheim gehal - ten; aber der Gedanke, meine SophieE 4bey*)Vollkommenheit, welches ſich in ihrer Seele ausgebildet hatte, bis auf die kleinſten Zuͤge aͤhnlich waͤre. A. d. H.72bey ihr zu wiſſen, macht mich ſchaudern; Die aͤußerliche Sanftmuth und Guͤte die - ſer Frau, ſind nicht in ihrem Herzen; der bezaubernd angenehme Witz, der fei - ne gefaͤllige Ton, den ihr der Hof gegeben, verbergen viele moraliſche Fehler Jch wollte meiner Tochter niemals Mißtrauen in dieſe Dame beybringen, weil ich es fuͤr unedel, und auch, ſo lang ich meiner Geſundheit genoß, fuͤr unnoͤthig hielt. Aber wenn meine theure Frau Schwieger - mutter auch unter der Laſt von Alter und Kummer erliegen ſollte, ſo nehmen Sie meine Sophie in ihren Schutz! Gott wird Jhnen dieſe Sorge erleichtern helfen, indem ich hoffe, daß er das letzte Gebet eines Vaters erhoͤren wird, der fuͤr ſein Kind nicht Reichthum, nicht Groͤße, ſon - dern Tugend und Weisheit erbittet. Vorſehen und verhindern kann ich nichts mehr. Alſo uͤbergebe ich ſie der goͤttli - chen Guͤte, und der treuen Hand eines verſuchten Freundes. Doch trenne ich mich leichter von der ganzen Erde als von dem Gedanken an meine Tochter. Jch er -innere73innere mich hier an eine Unterredung zwi - ſchen uns, von der Staͤrke der Eindruͤcke, die wir in unſrer Jugend bekommen. Jch empfinde wuͤrklich ein Stuͤck davon mit aller der Macht, die die Umſtaͤnde dazu beytragen. Mein Vater hatte mir zwo Sachen ſehr eingepraͤgt, nehmlich die Ge - wißheit des Wiedervergeltungsrechts und den Lehrſatz der Wohlthaͤtigkeit unſers Beyſpiels. Die Gruͤnde, welche er dazu anfuͤhrte, waren ſo edel, ſein Unterricht ſo liebreich, daß es nothwen - diger Weiſe in meiner empfindlichen Seele haften mußte. Von dem erſten bin ich ſeit langer Zeit wieder eingenommen, weil er mir oft ſagte, daß der Kummer oder das Vergnuͤgen, die ich ihm geben wuͤrde, durch meine Kinder an mir wuͤrde geraͤcht oder belohnt werden; Gott ſey Dank, daß ich durch meine Auffuͤhrung gegen meinen ehrwuͤrdigen Vater den Segen verdient habe, ein gehorſames tugend - volles Kind zu beſitzen, welches mich an dem Ende meines Lebens das Gluͤck der Erinnerung genießen laͤßt, daß ich dieE 5letzten74letzten Tage meines Vaters mit dem voll - kommenſten Vergnuͤgen gekroͤnt habe, das ein treues vaͤterliches Herz empfinden kann, nehmlich zu ſagen Du haſt mich durch keine boͤſe Neigung, durch keinen Ungehorſam jemals gekraͤnkt, deine Liebe zur Tugend, dein Fleiß, dei - nen Verſtand zu uͤben und nuͤtzlich zu machen, haben mein Herz, ſo oft ich dich anſah, mit Freude erfuͤllt. Gott ſegne dich dafuͤr; und belohne dein Herz fuͤr die Erquickung, die dein Anblick deinem ſterbenden Vater durch die Verſicherung giebt, daß ich meinen Nebenmenſchen an meinem Sohn einen rechtſchaffnen Mit - buͤrger zuruͤcklaſſe. Dieſes Vergnuͤgen, mein Freund, fuͤhle ich itzt auch, indem ich meiner Tochter das nehmliche Zeu - gniß geben kann, in der ich noch eine traurige Gluͤckſeligkeit mehr genoſſen ha - be. Jch ſage, traurige Gluͤckſeligkeit, weil ſie als das wahre Bild meiner ſeligen Gemahlin, das Andenken mei - ner hoͤchſtgluͤcklichen Tage und den Schmerz ihres Verluſts bey jedem Anblickin75in mir erneuerte. Wie oft riß mich der Jammer von dem Tiſch oder aus der Ge - ſellſchaft fort, wenn ich in den zwey letz - tern Jahren (da ſie den ganzen Wuchs ihrer Mutter hatte, und Kleider nach mei - nem Willen trug) den eignen Ton der Stimme, die Gebehrden, die ganze Guͤte und liebenswuͤrdige Froͤhlichkeit ihrer Mutter an ihr ſah!

Gott gebe, daß dieſes Beyſpiel des Wiedervergeltungsrechts von meiner Toch - ter bis auf ihre ſpaͤteſte Enkel fortgepflanzt werde; denn ich habe ihr eben ſo viel da - von geſprochen, als mein Vater mir!

Mit lebhafter Wehmuth erinnere ich mich der letzten Stunden dieſes edeln Mannes, und ſeiner Unterredungen waͤh - rend den Tagen ſeiner zunehmenden Krank - heit. Das theure Fraͤulein konnte wenig weinen, ſie lag auf ihren Knieen neben dem Bette ihres Vaters; aber der Aus - druck des tiefſten Schmerzens, war in ih -rem76rem Geſicht und in ihrer Stellung. Die Augen ihres Vaters auf ſie geheftet eine Hand in den Jhrigen; ein Seufzer des Vaters Meine Sophie! und dann die Arme des Fraͤuleins gegen den Himmel ausgebreitet, ohne einen Laut aber eine troſtloſe bittende Seele in allen ihren Zuͤgen! O dieſer Anblick des feyer - lichen Schmerzens, der kindlichen Liebe, der Tugend, der Unterwerfung, zerriß uns allen das Herz.

Sophie, die Natur thut uns kein Un - recht, ſechzig Jahre ſind nicht zu fruͤh. Der Tod iſt kein Uebel fuͤr mich; er ver - einigt meinen Geiſt mit ſeinem liebreichen Schoͤpfer, und mein Herz mit deiner wuͤrdigen Mutter ihrem! Goͤnne mir dieſes Gluͤck auf Unkoſten des Vergnuͤ - gens, das dir das laͤngere Leben deines Vaters gegeben haͤtte.

Sie uͤberwand ihren Kummer; ſie ſelbſt war es, welche ihren Herrn Vater aufs ſorgfaͤltigſte und ruhigſte pflegte. Er ſah dieſe Ueberwindung, und bat ſie, ihm in den letzten Tagen den Troſt zu geben,77ben, die Frucht ſeiner Bemuͤhungen fuͤr Sie in der Faſſung ihrer Seele zu zeigen. Sie that alles. Beſter Vater! Sie ha - ben mich leben gelernt, Sie lernen mich auch ſterben; Gott mache Sie zu mei - nem Schutzgeiſt, und zum Zeugen aller meiner Handlungen und Gedanken! Jch will Jhrer wuͤrdig ſeyn!

Wie er dahin war, und ſein ganzes Haus voll weinender Unterthanen, ſein Sterbezimmer voll knieender ſchluchzender Hausbedienten waren, das Fraͤulein vor ſeinem Bette die kalten Haͤnde kuͤſſend nichts ſagen konnte, bald knieend, bald ſich erhebend die Haͤnde rang O meine Freundin! wie leicht grub ſich das Andenken dieſes Tages in mein Herz! Wie viel Gutes kann eine empfindende Seele an dem Sterbebette des Gerechten ſam - meln!

Mein Vater ſah ſtillſchweigend zu; er war ſelbſt ſo ſtark geruͤhrt, daß er nicht gleich reden konnte. Endlich nahm er das Fraͤulein bey der Hand: Gott laſſe Sie die Erbin der Tugend Jhres HerrnVaters78Vaters ſeyn, zu deren Belohnung er nun gegangen iſt! Erhalten Sie in dieſen ge - ruͤhrten Herzen (wobey er auf uns wies) das geſegnete Andenken Jhrer verehrungs - wuͤrdigen Aeltern, durch die Bemuͤhung in ihren Fußſtapfen zu wandeln!

Die alte Dame war auch da, und die - ſer bediente ſich mein Vater zum Vor - wand, das Fraͤulein aus dem Zimmer zu bringen, indem er ſie bat, ihre Frau Großmutter zur Ruhe zu fuͤhren. Wie das Fraͤulein anfieng zu gehen, machten wir alle Platz. Sie ſah uns an, und Thraͤneu rollten uͤber ihre Backen; da draͤngten ſich alle, und kuͤßten ihre Haͤnde, ihre Kleider; und gewiß, es war nicht die Bewegung ſich der Erbin zu empfehlen, ſondern eine Bezeugung der Ehrfurcht fuͤr den Ueberreſt des beſten Herrn, den wir in ihr ſahen.

Mein Vater und der Beamte ſorgten fuͤr die Beerdigung.

Niemals iſt ein ſolches Leichbegaͤngniß ge - weſen. Es war vom Herrn von Sternheim befohlen, daß es Nachts und ruhig ſeynſollte:79ſollte: weil er ſeine Sophie mit der Mar - ter verſchonen wollte, ihn beyſetzen zu ſe - hen. Aber die Kirche war voller Leute; alle feyerlich angezogen, der Chor be - leuchtet, wie es die traurige Urſache er - foderte; alle wollten ihren Herrn, ihren Wohlthaͤter noch ſehen. Greiſe, Juͤng - linge, weinten, ſegneten ihn, und kuͤßten ſeine Haͤnde und Fuͤße, das Leichentuch, den Deckel des Sarges, und erbaten von Gott, er moͤchte an der Tochter alles das Gute, ſo ihnen der Vater bewieſen, belohnen!

Noch lange Zeit hernach war alles traurig zu S., und das Fraͤulein ſo ſtill, ſo ernſthaft, daß mein Vater ihrenthal - ben in Sorgen gerieth; beſonders da auch die alte Dame, welche gleich geſagt hatte, daß ihr dieſer Fall das Herz gebrochen haͤtte, von Tag zu Tag ſchwaͤchlicher wurde. Das Fraͤulein wartete ſie mit einer Zaͤrtlichkeit ab, welche die Dame ſagen machte: Sophie, die Sanftmuth, die Guͤte deiner Mutter, iſt ganz in dei - ner Seele! Du haſt den Geiſt deines Va - ters,80 ters, du biſt das gluͤckſeligſte Geſchoͤpf auf der Erde, weil die Vorſicht die Tu - genden deiner Aeltern in dir vereiniget hat! Du biſt nun dir ſelbſt uͤberlaſſen, und faͤngſt den Gebrauch deiner Unab - haͤngigkeit mit Ausuͤbung der Wohlthaͤ - tigkeit an deiner Großmutter an. Denn es iſt eine edlere Wohlthat, das Alter zu beleben, und liebreich zu beſorgen, als den Armen Gold zu ſchenken.

Sie empfahl ſie auch dem Grafen und der Graͤfin von Loͤbau auf das eifrigſte, als ſie von ihnen noch vor ihrem Ende ei - nen Beſuch erhielt. Dieſe beyden Perſo - nen waren dem Anſehen nach, gegen das Fraͤulein ſehr verbindlich, und wollten ſie ſogleich mit ſich nehmen; aber ſie bat ſich aus, ihr Trauerjahr in unſerm Hauſe zu halten.

Jn dieſer Zeit bildete ſich die vertraute Freundſchaft, welche ſie in der Folge alle - zeit mit meiner Schweſter Emilia unter - hielt. Mit dieſer gieng ſie oft in die Kir - che zum Grabſtein ihrer Aeltern, knieete da, betete, redete von ihnen. Jch habe81 habe keine Verwandten mehr, als dieſe Gebeine, ſagte ſie. Die Graͤfin Loͤbau iſt nicht meine Verwandtin; ihre Seele iſt mir fremde, ganz fremde, ich liebe ſie nur, weil ſie die Schweſter meines Oheims war. Mein Vater ſuchte ihr dieſe Abneigung, als eine Ungerechtigkeit, zu benehmen, und war uͤberhaupt bemuͤht, alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er - neuern, und beſonders auch ihr Talent fuͤr die Muſik zu unterhalten. Er ſagte uns oft: Daß es gut und wahr waͤre, daß die Tugenden alle an einer Kette gien - gen, und alſo die Beſchaffenheit auch mit dabey ſey. Und was wuͤrde auch aus der Fraͤulein von Sternheim geworden ſeyn, wenn ſie ſich aller ihrer Vorzuͤge in der Vollkommenheit bewußt geweſen waͤre, worinn ſie ſie beſaß?

Der Sternheimiſche Beamte, ein recht - ſchaffener Mann, heyrathete um dieſe Zeit meine aͤlteſte Schweſter; und ſein Bruder, ein Pfarrer, der ihn beſuchte, nahm meine Emilia mit ſich; mit dieſer fuͤhrte unſer Fraͤulein einen Briefwechſel,Fwelcher82welcher mir Gelegenheit geben wird, ſie kuͤnftig oͤfter ſelbſt reden zu laſſen.

Aber vorher muß ich Jhnen noch das Bild meiner jungen Dame mahlen. Sie muͤſſen aber keine vollkommene Schoͤnheit erwarten. Sie war etwas uͤber die mitt - lere Groͤße; vortrefflich gewachſen; ein laͤnglich Geſicht voll Seele; ſchoͤne brauue Augen, voll Geiſt und Guͤte, einen ſchoͤ - nen Mund, ſchoͤne Zaͤhne. Die Stirne hoch, und, um ſchoͤn zu ſeyn, etwas zu groß, und doch konnte man ſie in ihrem Geſichte nicht anders wuͤnſchen. Es war ſo viel Anmuth in allen ihren Zuͤgen, ſo viel edles in ihren Gebehrden, daß ſie, wo ſie nur erſchien, alle Blicke auf ſich zog. Jede Kleidung ließ ihr ſchoͤn, und ich hoͤrte Milord Seymour ſagen, daß in jeder Falte eine eigne Grazie ihren Wohn - platz haͤtte. Die Schoͤnheit ihrer licht - braunen Haare, welche bis auf die Erde reichten, konnte nicht uͤbertroffen werden. Jhre Stimme war einnehmend, ihre Aus -druͤcke83druͤcke fein, ohne geſucht zu ſcheinen. Kurz, ihr Geiſt und Charakter waren, was ihr ein unnachahmlich edles und ſanftreizendes Weſen gab. Denn ob ſie gleich bey ihrer Kleidung die Beſcheiden - heit in der Wahl der Stoffe auf das aͤußer - ſte trieb, ſo wurde ſie doch hervorgeſucht, wenn die Menge von Damen noch ſo groß geweſen waͤre.

So war ſie, als ſie von ihrer Tante an den Hof nach D. gefuͤhret wurde.

Unter den Zubereitungen zu dieſer Rei - ſe, wozu ſie mein Vater mit bereden half, muß ich nur eine anmerken. Sie hatte die Bildniſſe ihres Herrn Vaters und ih - rer Frau Mutter in Feuer gemahlt, und zu Armbaͤndern gefaßt, welche ſie nie - mals von den Haͤnden ließ. Dieſe wollte ſie umgefaßt haben, und es mußte ein Goldarbeiter kommen, mit welchem ſie ſich allein deredete.

Die Bildniſſe kamen wieder mit Bril - lianten beſetzt, und zween Tage vor der Abreiſe nahm ſie meine Emilia, und gieng zum Grab ihrer Altern, wo ſie einen fey -F 2erlichen84erlichen Abſchied von den geliebten Gebei - nen nahm, Geluͤbde der Tugend erneuer - te, und endlich ihre Armbaͤnder loß mach - te, an welchen ſie die Bildniſſe hatte hohl faſſen laſſen, ſo daß ſie mitten ein verbor - genes Schloß hatten. Dieſes machte ſie auf, und fuͤllte den kleinen Gaum mit Erde, die ſie in der Gruft zuſammen faß - te. Thraͤnen rollten uͤber ihre Wangen, indem ſie es that, und meine Emllia