Nichts will ich mit dieſer Zueignung, als mir den angenehmen Gedanken verſchaffen: — — „ Der liebenswuͤrdige Landgraf von Heſſen-Homburg „ lieſt dieſen Band in Stunden, die ihm wichtigere Geſchaͤffte uͤbrig laſſen, „ an der Seite ſeiner aufmerkſamen Gemahlinn, mit lebhafterer Vergegen - „ waͤrtigung meiner; laͤßt ſich ſeyn — Er habe Tafel nach Tafel in der Hand, „ und Lavater ſitze vor ihm und leſ’ ihm Fragment fuͤr Fragment vor “— Mehr will ich nicht! Nur um ſo viel naͤher moͤcht’ ich Jhnen einige Stun - den ſcheinen — da ich’s nicht ſeyn kann — wann einmal wieder ſeyn? — Jn Homburg vor der Hoͤhe? Jn Zuͤrich? oder — in jener Welt,a 3wohinwohin wir mit ſchneller Eile eilen — weiß unſer Vater im Himmel. Jch kuͤß’ Jhnen, beſter Fuͤrſt, im Geiſte die Hand — ruh’ einige Augenblicke ſchweigend an der edeln Hand und liſple — „ Ermuͤden Sie nicht, alle Jhre „ wichtigen Tage mit edeln Thaten zu bezeichnen — und laſſen Sie mich dann „ und wann ein Wort Jhrer edeln unverdienten Liebe hoͤren. “—
Zuͤrich, den 7. Oct. 1776. Johann Caſpar Lavater, Pfarrer am Wayſenhauſe.
„ Wir waren im Begriffe auszugehen, als wir eben einen Beſuch empfiengen, den wir gar nicht „ erwarteten; es waren fuͤnf oder ſechs irrlaͤndiſche Officiere von dem Regiment Mahoni. „ Zween von dieſen Herren waren an Land gekommen, bevor ich abgeſegelt hatte. Nachdem ſie „ mich lange und aufmerkſam betrachtet hatten, redte der Eine von ihnen engliſch mit mir. Und da „ ich ihm auf italiaͤniſch zu verſtehen gab, daß ich dieſer Sprache unkundig waͤre, gab er mir zur „ Antwort: daß er druͤber erſtaunen muͤſſe, da es doch meine Mutterſprache waͤre. Nein, ſagt’ ich, „ ich bin ein gebohrner Franzoſe. Ja, erwiederte er, in Frankreich ſind Sie gebohren; aber Jhr „ Vater und Jhre Mutter waren beyde Jrrlaͤnder, und Sie haben hier einen Bruder, Hauptmann „ von unſerm Regimente, der entzuͤckt ſeyn wird, Sie zu ſehen. — Jch wußte nicht, wohin das fuͤh - „ ren moͤchte, und fragte bloß: wie er mich erkannt haͤtte? — Nichts, verſetzte er, war leichter; Sie „ ſehen Jhrem Bruder in allen Theilen vollkommen ſo aͤhnlich, daß man ſich hierinn unmoͤglich irren „ kann. Sie duͤrften nur die Kleider wechſeln, und Sie wuͤrden uns betriegen koͤnnen, obgleich „ wir Jhren Bruder alle Tage ſehen. — Jſt er von Jhren Freunden? fragte ich — Freylich, ant - „ worteten ſie. Er hat die groͤßten Verdienſte, und wir hoffen bald, daß er unſer Obriſtlieutenant „ werden ſoll. — Nun dann, wenn dem ſo iſt, meine Herren — ich freue mich ungemein, einen ſol - „ chen Bruder zu haben, und ich werde mich befleißen, an der Stelle, wohin die goͤttliche Fuͤrſehung „ mich geſetzt hat, ihm an Verdienſten aͤhnlich zu werden. Dieſe Herren nun, begleitet von drey „ andern, fuͤhrten mir Morgens drauf meinen vorgegebenen Bruder zu. Die Aehnlichkeit zwiſchen „ ihm und mir war ſo ganz, und ſo vollkommen — Taille, Geſicht, Haare, Farbe der Augen, Ge - „ ſichtsfarbe, Pockennarben, Gang, Ton der Stimme, Laune ſogar — und ich koͤnnte ſagen, die „ Gedanken waren ſo ganz die einen und ebendieſelben mit den meinigen, ſo genau, daß, je mehr wir „ einander anſahen, deſto aͤhnlicher fanden wir uns. Wir umarmten uns mehrmals, und wir „ wurden in einem Augenblicke die genaueſten Freunde. “ Voyage du P. Lubus en Eſpagne & en Italie. T. V. p. 88.
Je weiter wir kommen, deſto langweiliger fuͤr die Leſer, fuͤr die ich eigentlich nicht ſchreibe; deſto lehrreicher, hoff’ ich, deſto unterhaltender fuͤr die, denen dieſe Verſuche beſtimmt ſind.
Jch muß, ich muß zuſammendraͤngen; mich anſchließen; mir weniger Lauf laſſen; mein Werk wuͤrde ſonſt unermeßlich — und ich ſehne mich nach Ruh und Ziel! der Weg iſt noch lang genug und ſteil genug, den ich gehen muß. Alſo Nebenwege, ſo wenig, als moͤglich. Jn dieſem Bande beſonders ſo wenig Allgemeines, wie moͤglich! deſto mehr Beſonderes, woraus ſich fuͤr den Denker freylich wieder genug Allgemeines ergiebt.
Es iſt oft ſchwer, anzufangen, aber noch ſchwerer oft, aufzuhoͤren. Jch hab ein Werk angefangen, deſſen Ende unmoͤglich iſt. Man mag uͤber die Phyſiognomik ſchreiben, ſo viel man will; man hat immer ſo viel, als Nichts daruͤber geſchrieben. Jedes Menſchengeſicht — ein unerſchoͤpfliches Meer! Was wird eine Nation ſeyn? Ein lebendes Menſchengeſchlecht? Was die ganze Menſchheit? — Alſo! Ein heißer Seufzer — und wieder die Hand an den Pflug!
Jch wiederhole es: Jch bin unausſprechlich unbeſcheiden, daß ich uͤber Phyſiognomik ſchrei - be — aber, ich weiß noch Niemanden, der druͤber, wie ich’s wuͤnſche, ſchreiben wuͤrde — wohl manchen, der’s koͤnnte — darum muß ich geben, was ich empfangen habe, ſo gut ich aus mei - ner taͤglich mich mehr druͤckenden Armuth geben kann.
Eines noch — Menſchenfreunde! Literatoren! Buͤcherrichter! Juͤnglingslehrer! — ver - huͤtets doch, ſo viel Jhr koͤnnt, daß uns ungeuͤbte phyſiognomiſche Schwaͤtzer, die nichts ſehen,Phyſ. Fragm. III Verſuch. Aoder2Einleitung. oder nur halb, oder ſchief ſehen, denen man nicht auf jedes Wort mit der Empfindung nach - treten kann — daß dieſe durch ihr Gewaͤſch uns nicht die gute, goͤttliche Wahrheit der Phy - ſiognomik verderben! Nicht verwandeln ihre Herrlichkeit in unvernuͤnftige Viehheit! und ſeyd um deßwillen auch zehnmal ſtrenger und ſchaͤrfer gegen mich; daß mein Beyſpiel Licht ſey und nicht Jrrwiſch!
Auch nur ein Fragment, verſteht ſich’s! Sonſt wuͤrde auch daraus allein wieder ein Buch — Doch, wollen wir thun, ſo viel als moͤglich iſt, alle Fehler gut zu machen — hier und dort Miß - verſtand zu verhuͤten — ein wenig mehr Licht einfallen zu laſſen; noch eine Beſtimmung, Ein - ſchraͤnkung, Anmerkung beyzufuͤgen — dem Leſer nuͤtzlich, und der Wahrheit befoͤrderlich zu ſeyn — Mein innigſter Wunſch iſt, aus allen Unvollkommenheiten, die von mir herruͤhren, was Gutes herzuleiten — Und mein Glaube iſt’s — was ich in dieſer Abſicht nicht kann — kann und wird der thun, deſſen einziges ewiges Geſchaͤfft’ es iſt, alles Boͤſe in Gutes zu verwandeln, und aus allen Fehlern ſeiner Geſchoͤpfe Vortheile fuͤr die Schoͤpfung herzuleiten.
Jch mache den Anfang mit der Vorrede.
Kein Wort uͤber alle die Erfahrungen, die meinen in der Vorrede geaͤußerten Erwartungen voll - kommen entſprechen — Vergeſſenheit decke ſie! Sie ſind der Anregung nicht werth. „ Jſt Baal „ Gott, ſo raͤche er ſich ſelbſt — Jſt die Phyſiognomik Wahrheit, ſo raͤche ſie ſich ſelbſt! “— Ja! Sie wird ſich raͤchen, und die Geſtalt ihres Angeſichts wird die Weisheit ihrer Hohnlacher ver - rathen ..
Seite 15.
„ Es iſt keines Menſchen, keiner Akademie, keines Jahrhunderts Werk, eine Phyſiogno - „ mik zu ſchreiben. “— Wertheſter Herr Loßius! *)Hannibal, ein phyſiognomiſches Fragment.Jch bitte Sie, nicht zu eilen! Gott weiß, taͤglich mach’ ich neue Beobachtungen, die mich ſichrer machen. Und dennoch ſcheint’s mir taͤg - lich unmoͤglicher, eine Phyſiognomik zu ſchreiben. Man koͤnnte noch zehen Quartanten mit ein - zeln Beobachtungen und Zeichnungen fuͤllen — Und man waͤre noch nicht an der aͤußerſten Graͤnze von Moͤglichkeit, eine Phyſiognomik zu ſchreiben, die dieſen Namen verdiente. Jch geſtehe auf - richtig, daß ich, aus innigſter Ueberzeugung und Wahrheitsliebe, es nicht leicht, ſondern ſchwer machen moͤchte, recht ſchwer, itzt ſchon eine Phyſiognomik zu ſchreiben; zu ſchnelle Produkte von Syſtemen ſind von den ſchaͤdlichſten Folgen.
Ungeachtet es wahr iſt, „ daß der Menſch, der ſich in die große Welt geſetzt ſieht — ſich „ eine kleine drinn nach ſeinem Bilde ausſtafiert. “— So iſt’s doch nicht gemeynt; daß man z. E. wie jemand ſich geaͤußert hat — „ aus dem bloßen Profil eines Menſchen nicht mehr auf ſeinen in - „ nern Charakter ſchließen koͤnne, als — aus ſeinem Kleide “— So charakteriſtiſch auch oft dasA 3Kleid6I. Fragment. Kleid ſeyn mag; im Kleide iſt das Geſicht gewiß ſelten ſo leſerlich, als im Geſichte das Kleid.
Seite 18.
„ Wie leiſe und ſchwach iſt die Stimme aller Maͤnner von entſcheidendem Anſehn, fuͤr die „ Wahrheit und Wuͤrde der Phyſiognomik! “—
Noch itzt erfahr’ ich’s beynahe taͤglich. Verſtaͤndige, Einſichtsvolle Leſer — die ſo gar Bewunderer ſeyn wollen, glauben viel zuzugeben, wenn ſie allgemeinen Ausdruck der menſch - lichen Geſichtsbildung zugeben. Alle in dieſem Werke vorgelegte hundertfache Beweiſe von der Charakteriſtik einzelner Theile und Zuͤge — umſonſt ſcheint alles; umſonſt; auch wenn man ih - nen in freundſchaftlich vertraulicher Unterredung — Beſonderheiten vorlegt, ſie vergleichen und ur - theilen laͤßt, ſie laut geſtehen muͤſſen — „ Ja — dieſe einzeln betrachtete Naſe iſt verſtaͤndiger, als „ jene einzeln betrachtet — dieſer kleine Zug veraͤndert den ganzen Charakter, macht einen weſent - „ lich verſchiednen Eindruck “— — Das alles hilft nichts; man geht wieder fort, und behauptet in derſelben Stunde noch — „ Ja! wohl uͤberhaupt iſt die Phyſiognomie wahr — wohl alles „ zuſammengenommen — aber einzelne Zuͤge fuͤr ſich allein ſind von keiner Bedeutung. “— Nicht, daß ich jemanden beleidigen wolle; aber fragen muß ich doch — „ Jſt das gerader Menſchen - „ ſinn? philoſophiſcher Geiſt? Mannskraft? “—
Seite 23. unter die bibliſchen Zeugniſſe fuͤr die Phyſiognomik, gehoͤrt auch noch die Stelle Jeſaiaͤ III. 9. v. „ Die Geſtalt ihres Angeſichtes verraͤth ſie; und ſie kuͤndigen ihre Suͤn - „ den ſelbſt aus, wie die von Sodoma, und verbergen ſie nicht. “—
Das fuͤnfte Fragment des erſten Bandes uͤber die menſchliche Natur ſcheint den mei - ſten Leſern von bedenklicher und furchtſamer Gemuͤthsart — die beſonders ein ſehr feines Senſorium fuͤr jede theologiſche oder philoſophiſche Heterodoxie haben, am anſtoͤßigſten geweſen zu ſeyn. Jch habe mir’s alſo zur Pflicht gemacht — Zeile fuͤr Zeile, Wort fuͤr Wort mehrmals mit dem ſchaͤrfſten Nachdenken, wie’s mir nur immer moͤglich war, durchzuleſen — und ich habe nichtsgefunden,7Reviſion des erſten Bandes. gefunden, das einer naͤhern Beſtimmung, Erlaͤuterung, Berichtigung beduͤrfte, als folgendes — Seite 34. heißt’s:
„ Wenn wir bloße Beobachter unſrer Natur ſind, ſo werden wir finden, daß der Sitz der „ Denkenskraft in unſerm Haupte, und zwar innerhalb der Stirne, der Sitz der Begierden, „ das Verlangen, mithin des Willens im Herzen, und der Sitz unſrer Kraft im ganzen Koͤr - „ per, und vornehmlich in der Hand und im Munde iſt. “—
Jn Anſehung der Denkenskraft und Wuͤrkungskraft, iſt die Sache keinem Zweifel ausgeſetzt. Jn Anſehung des Willens bedarf ſie noch einiger Erlaͤuterung. Es iſt ein Unterſchied zwiſchen Wollen und Begehren. Begierde und Willen, ſo nahe ſie verwandt, ſo ſehr ſie zu - ſammen zu fließen ſcheinen — ſind wuͤrklich wenigſtens ſo verſchieden, wie imaginiren und den - ken. Wollen iſt der Brennpunkt — des Begehrens — iſt Begehren mit Kraft. Was ich will, das geſchieht — aber es geſchieht nicht alles, was ich begehre. Jch geſunder will meine Hand bewegen, und bewege ſie; ich lahmer begehre, wuͤnſche ſie zu bewegen, und bewege ſie nicht. Begierde ſcheint den Sitz im Herzen — verſtehe im phyſiſchen Herzen zu haben — Ob in der Syſtole oder Diaſtole? .. Antwort! Jſt deine denkende Kraft deßwegen nicht in der phyſi - ſchen Gegend zwiſchen den Augenbraunen — weil du den unmittelbaren phyſiſchen Punkt nicht weißt, der ſich am erſten und tiefſten regt — beym Denken? Nicht weißt, ob in der pia oder dura Mater? Jm phyſiſchen Herzen bewegt ſich Liebe und Haß — Verlangen nach Dingen, die unſere Empfindungswerkzeuge in eine ſolche Bewegung ſetzen, deren Fortdauer wir wuͤnſchen oder nicht wuͤnſchen. Wird die Liebe oder der Haß zum Willen, ſo ſcheint ſich die Bewegung des Herzens, wo nicht zu vermindern, doch mit der Bewegung gewiſſer phyſiſcher Faden, Nerven, Jn - ſtrumente, des Gebluͤts im Haupte, in der Stirne merkbarer zu vereinigen — oder die aus Jma - ginationen gleichſam zuſammengeſchmolzene Empfindung, wobey das phyſiſche Herz ſich ſchneller und merklicher bewegte, ſcheint ſich wieder mehr in anſchaubare Bilder aufzuloͤſen, wenigſtens ſchei - nen ſich die Farben der Bilder wieder lebhafter zu ſcheiden — und im Momente der Handlung ſelber ſcheint Kopf und Herz Ein Brennpunkt zu werden. Jch rede phyſiſch, weil die phyſiſche Em - pfindung ſo iſt. Es iſt Unſinn und Bloͤdigkeit: — Empfindungen der menſchlichen Natur nicht ſagen zu duͤrfen. Folge daraus, was folgen will! — Nicht Philoſophen, nicht Maͤnner ſolltenſich8I. Fragment. ſich beſchweren, legt man Fakta der Natur dem Philoſophen vor — denn was iſt ein Philoſoph anders, als ein Naturforſcher — alſo ... u. ſ. w.
Genug — Es iſt ſchlechterdings unlaͤugbar; es iſt ein dreyfaches Leben im Menſchen vor - handen, welches ganz verſchiedener Nahrung bedarf.
Wie man aber aus dieſer Behauptung Materialismus folgern konnte, weiß ich nicht. Jn unzaͤhligen Stellen der Phyſiognomik und aller meiner Schriften hab’ ich ſo oft das moͤglichſte Gegentheil des Materialismus behauptet. Nirgends entſcheidender, als gerade in dieſem V. Fragmente.
„ Jeder Zweig dieſes dreyfachen Lebens ruͤhrt von Einem Geiſte her. Wie oft unter - „ ſcheid’ ich das Belebende und das Belebte — Geiſt und Materie! “
Wahr iſt’s, ich ſage Seite 35. 36. „ Jedes von dieſen Leben entſteht und vergeht mit dem „ ihm angewieſenen Organum — Alles an dem Menſchen iſt, bloßen, klaren Beobachtungen zu - „ folge — phyſiſch. Der Menſch iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen Theilen, nach allen ſeinen „ Kraͤften und Eigenſchaften, ein bloß phyſiſches Weſen — aber ich ſetze hinzu: Jn ſo fern er „ beobachtet werden kann .. Setze hinzu — So weit naͤmlich unſere bisherigen Beobach - „ tungen reichen; ich ſage Beobachtungen, denn, was philoſophiſche Vermuthungen, oder „ goͤttliche Offenbarungen uns weiter hieruͤber mehr oder weniger klar und beſtimmt ſagen, das laͤßt „ der bloß beobachtende Naturforſcher als ſolcher auf der Seite. “— Jch bitte um nichts, als um redliche Anfuͤhrung meiner Worte — um ganzes Anhoͤren. Uebrigens geſteh’ ich gern, daß ich nicht an irgend einen bisher bekannten Begriff — oder angenommenes Syſtem von der Seele glaube; daß mir alles — der Materialismus — und der ganze Wolfianismus hieruͤber ge - rade gleich abgeſchmackt vorkommen; daß ich unter keinem von dieſen beyden waͤhlen moͤchte; noch mehr, daß ich gar kein Syſtem hieruͤber habe, und keines haben will, und es fuͤr ſchlechterdings unmoͤglich halte, ein wahres haben zu koͤnnen. So wenig das Auge ſich ſelber unmittelbar und ohne Spiegel ſehen kann; ſo wenig glaub’ ich, kann mein unſichtbares Jch von ſich ſelbſt, ſeiner metaphyſiſchen Natur, den mindeſten wahren Begriff haben! Es kann ſich nur empfinden — nur mit andern Weſen vergleichen; nur ſagen — „ ich — bin nicht das Auge, das Ohr; ich bin noch, „ wenn man mir Aug’ und Ohr, Hand und Fuß nimmt “— Jch bin feſt uͤberzeugt, daß keinMenſch,9Reviſion des erſten Bandes. Menſch, und wenn alle Wolfe und Leibnitze, alle Carteſiuſſe und Bonnets, alle Euler und Neutone in ihm vereinigt waͤren — niemals wird entſcheiden koͤnnen — was innere Geiſtesna - tur — innere Koͤrpernatur iſt — Und ſo lange ſie davon nichts ganz gewiſſes wiſſen, davon keine anſchauende Erkenntniß haben — halt’ ich’s fuͤr Vermeſſenheit und Traͤumerey, uͤber die Natur der Seele und des Koͤrpers, ihre Vereinigung und Jneinanderwuͤrkung, metaphyſiſche Syſte - me zu bauen. —
Auch ſcheu ich mich nicht zu ſagen — daß, wenn mir der Materialismus an ſich vernuͤnf - tiger vorkaͤme, als irgend ein ander Syſtem, ich Materialiſt ſeyn und es zu ſeyn bekennen wuͤrde. Was iſt, oder mir als ſeyend vorkoͤmmt; was alſo fuͤr mich — iſt — darf als ſeyend angezeigt und bezeugt werden — in ſo fern ein Philoſoph mit Philoſophen ſpricht.
Endlich fuͤg’ ich auch noch dieß bey — daß, beym Glauben an eine goͤttliche Offenba - rung — deren Hauptinnhalt ein lebendiger Gott iſt, der alle Dinge durch Jeſum Chriſtum lebendig macht, ein denkender Menſch vom Materialismus keinen Nachtheil hat. Warum? weil er, ohne wiſſen zu duͤrfen, wie? und wie moͤglich? ſich an Gottes ſimple Offenbarungen haͤlt; keiner einfachen Subſtanzen zu ſeinem Glauben an Unſterblichkeit bedarf — und ſich vor einem materialiſchen Weſen nicht fuͤrchtet — wenn ein allbelebender Gott iſt — der in einem einzigen Au - genblick eine lebendige Materie — darſtellen konnte. Was Gott — (das muß der Philoſoph der Natur ſchon ſagen) was Gott einen Augenblick kann, kann er zween; und was er zween kann, vier — u. ſ. f.
Schon der Philoſoph, der lebt, und wenn der Materialismus wahr waͤre, ja um nichts minder leben und denken wuͤrde — ſchon der Philoſoph ſollt’ um des Materialismus willen — an der Moͤglichkeit des Lebens, der Lebensfortdauer — der Auferſtehung, nicht zweifeln. Aber, ſo iſt’s nun einmal — Es iſt ſelten ein Theologe ſeiner Theologie, ein Philoſoph ſeiner Philoſophie treu — Alle nur bis auf einen gewiſſen Punkt — und druͤber hinaus ſind alle gleichrichtige Conſe - quenzen — Umwahrheit!
Genug; ich bin kein Materialiſt, ich unterſcheide im Menſchen ein unſichtbares, beleben - des, ſich ſelbſt im Koͤrper als Herr des Koͤrpers empfindendes Weſen. — Obgleich ich dieſes We - ſen fuͤr ſchlechterdings unerforſchlich, alle Bemuͤhungen, das Weſen dieſes lebendigmachendenPhyſ. Fragm. III Verſuch. BGeiſtes10I. Fragment. Geiſtes zu erforſchen, fuͤr Thorheit halte — Dieſe Bezeugung wird man an dieſer Stelle darum nicht fuͤr uͤberfluͤßig achten, weil wackere Maͤnner, die mich lieben, und die ich liebe, oͤffentlich Be - ſorgniſſe aͤuſſerten, daß ich dem groben Materialismus das Wort rede ...
VI. Fragment. Vom Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkom - menheiten uͤberhaupt. Seite 43.
Ueber dieſes Fragment weiß ich weiter nichts zu ſagen, als uͤber die letzte Zeile:
„ Und in einer Welt, wie die unſrige iſt, guter Gott! wer kann Unvollkommenheiten be - „ kannt machen, ohne mehr zu ſchaden als zu nuͤtzen. “—
Es giebt eine Weiſe, ich hoffe ſie zum Theil gelernt zu haben, von Unvollkommenheiten zu reden, die — nicht nur nicht ſchaͤdlich, die nuͤtzlich iſt — Nur ſey’s allemal des Herzens Drang — nuͤtzlich zu ſeyn! wer will, der kann — nicht freylich auſſer ſich wuͤrken, was er will; aber in ſich ... Nicht ſo, daß, was er von der guten oder fehlerhaften Seite anderer ſagt — nicht miß - braucht werden koͤnne — aber ſo, daß er keine Schuld hat, wenn es mißbraucht wird.
Ueber das VII. und VIII. Fragment, Wahrheit der Phyſiognomik; Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft, hab’ ich itzo kein Wort hinzu, keines davon zu thun.
IX. Fragment. Von der Harmonie moraliſcher und koͤrperlicher Schoͤnheit. Seite 62.
„ Ein jeder vielmals wiederholter Zug, eine jede oftmalige Lage, Veraͤnderung des Ge - „ ſichtes, macht endlich einen bleibenden Eindruck auf den weichen Theilen des Angeſichts. Je „ ſtaͤrker der Zug, und je oͤfter er wiederholt wird, deſto ſtaͤrkern, tiefern, unvertilgbarern Eindruck „ (und wie unten wird erwieſen werden, ſelbſt auf die knochigten Theile von fruͤher Jugend an) „ macht er. “
Hieruͤber einige naͤhere Beſtimmung. — Wenn wir von Eindruͤcken auf die Knochen re - den; ſo verſteht ſich’s nicht ſo, daß bey einem erwachſenen Menſchen, deſſen Knochen ſchon die voll - kommenſte Haͤrte haben — bloße Aufwallungen voruͤbergehender Leidenſchaften ſehr merkbareFußſtapfen11Reviſion des erſten Bandes. Fußſtapfen zuruͤcklaſſen. Nur ſo viel ſagen wir: daß nicht nur die Knochen auf die Muskeln; ſon - dern auch die Muskeln auf die Knochen — beſonders in jugendlichen Koͤrpern wuͤrken — und alſo auch durch gewiſſe oͤftere ſo und ſo beſtimmte Muskelbewegungen — an der Form, am Umriſſe der Stirn einigermaßen merkbare Veraͤnderungen bewuͤrkt werden koͤnnen.
Auch darf noch beygefuͤgt werden: daß ich bey großen Denkern und Planmachern beynahe von Jahr zu Jahr eine Verſchaͤrfung und Verhaͤrtung des Knochenumriſſes, wenigſtens in der Gegend uͤber den Augen bis gegen die Schlaͤfe, wahrgenommen habe. So, bey ſehr Zornmuͤthi - gen und in Haͤrte, Grauſamkeit, Unempfindlichkeit maͤchtig wachſenden Menſchen haͤrtet, vereckigt, ſcheint ſich das Knochenhafte der Stirn auch um etwas zuſammen zu draͤngen.
Seite 63.
„ Schoͤne Laſterhafte? Laſterhafte mit ſchoͤnen Farben? Schoͤnem Fleiſche, oder ſchoͤnen „ Dingen “— Sollte heißen: „ Schoͤnen Zuͤgen; ſchoͤnen von aller Schiefheit reinen Mienen? “
Seite 65.
„ An einem jaͤhrigen Kinde „ — Leſet: zweyjaͤhrigen.
Seite 68.
„ Doch von Verſchoͤnerung und Verſchlimmerung der Phyſiognomie ein eignes Frag - „ ment! “— Sokrates im II. Bande enthaͤlt bereits einige Jdeen davon.
Seite 69.
Jn der vorletzten Zeile leſet ſtaͤte ſtatt ſpaͤte.
An allem uͤbrigen dieſes IX. Fragmentes von der Harmonie phyſiſcher und morali - ſcher Schoͤnheit weiß ich nebſt dem, was unten in einem beſondern Fragmentchen uͤber Raphaeln geſagt werden wird — weiter nichts zu aͤndern — nichts hinzuzuſetzen, als das: „ Bey mir iſt’s „ taͤgliche gewiſſe Erfahrung, daß Froͤmmigkeit und Tugend unmittelbar verſchoͤnert; Leidenſchaft „ und Laſter unmittelbar verhaͤßlicht. “ Gerade vor oder nach einer edlen, gerade nach oder unmit - telbar vor einer ſchaͤndlichen That — hat derſelbe Menſch eine ganz andere Phyſiognomie — wie Moſes Angeſicht im Umgange mit der Gottheit, oder einem himmliſchen Symbol der Gottheit zuB 2leuchten12I. Fragment. leuchten anfieng — ſo verſchoͤnert ſich gewiß jedes Menſchen Angeſicht — es ſey ſchoͤn oder haͤßlich, unmittelbar in den Stunden reiner, bruͤnſtiger, himmelſtrebender Andacht. Vom innern Geiſte des Menſchen, der ſich im Gefuͤhle der Gottheit — oder in lebendigen Trieben uneigennuͤtziger Menſchenliebe regt, quillen Farben und geiſtige Bewegungen der zaͤrtlichen Muskeln, die uͤber das menſchliche Angeſicht ſolche Annehmlichkeiten verbreiten, wie die untergehende Sonne liebliche Abendroͤthe uͤber zarte zerſtreute Wolken.
Mir iſt’s nichts als hoͤherer Grad oder mehreres Maaß phyſiognomiſcher Salbung — oder wenn dieſer Ausdruck unſern unſinnlichen Philoſophen nicht recht iſt, natuͤrliche Wuͤrkung — natuͤrlicher Urſache, daß Stephanus Angeſicht ward wie das Angeſicht eines Engels; die vom Geiſte des Himmels geſalbte Seele duftete ihre Wohlgeruͤche durch alle Punkte ihres Angeſichtes, in dem ſie ſich regte. So iſt mir, wenn die Geſchichte wahr iſt, der Lichtſchein und der Wohlge - ruch Thaddaͤus vor Abgarus, dem Koͤnige zu Edeßa, begreiflich, wenigſtens als Poeſie der Phyſiognomik. — So iſt mir ſo gar die Verklaͤrung unſers Herrn auf Tabor, phyſiognomiſch er - klaͤrbar — Wenigſtens moͤcht’ ich einen im Geiſte Jeſu Nachtdurchwachenden Beter ſehen, auf dem kein daͤmmernder Stral ſeiner Verklaͤrung ruhte. Gewiß an meiner Exiſtenz werd’ ich zwei - feln, wenn ich daran zweifeln werde. Tugend und Religion verſchoͤnern das menſchliche Ange - ſicht in demſelben Grade — wie Laſter und Jrreligion daſſelbe verhaͤßlichen.
IX. Fragment. 2. Zugabe. Judas nach Hohlbein. Seite 80.
„ So ein Geſicht kann’s keine Woche in Chriſtus Geſellſchaft aushalten “— Nicht etwa, wie abgeſchmackter Spottgeiſt es laͤcherlich auslegt — „ wegen gewiſſer heterogeniſcher Ausfluͤſſe „ aus Chriſtus. “ Daran dachte ich hierbey ganz und gar nicht. Sondern ich rede ganz phyſiogno - miſch. Es iſt die auffallendſte weltbekannteſte Sache, die zu laͤugnen ſchlechtweg Unverſchaͤmtheit iſt; gewiſſe Geſichter koͤnnen neben gewiſſen Geſichtern nicht freywillig lange coexiſtieren. Jch we - nigſtens wuͤrde gewiß in der Geſellſchaft eines lebendigen Geſichtes, wie unſers Judas iſt, keine Viertelſtunde aushalten koͤnnen, ohne ohnmaͤchtig zu werden; und es begegnet mir wenigſtens alle Jahre dreymal, daß ich mich von gewiſſen Geſichtern wegwenden, und wenn ich in einem Zimmermit13Reviſion des erſten Bandes. mit ihnen bin, hinaus gehen und friſche Luft ſchoͤpfen muß; nicht etwa um heterogener Ausduͤn - ſtungen willen, (wiewohl das auch nicht unmoͤglich waͤre) auch nicht gerade deßwegen, weil dieſe Geſichter die ſchlimmſten ſind. Sie koͤnnen beſſer ſeyn, als meines. Sie ſind an ihrem Orte und nach ihrer Beſtimmung unerſetzbar — Warum meinem Auge dann in die Laͤnge unertraͤglich? Ganz einfaͤltig wegen der erweisbaren Heterogenitaͤt der Geſichter, und ich werde in den phyſiogno - miſchen Linien und Umriſſen, wenn Gott das Leben erhaͤlt, Geſichter und Profile vorzeichnen, die ſo wenig ſich mit einander vertragen koͤnnen, als Chriſtus und Belial.
Seite 102.
„ Das zweyte Geſicht zur Rechten “— Leſet: zur Linken! „ ebenfalls nicht ganz Profil. “— Einige Zeilen beſſer unten .. „ Seinen Parallelisme “— in der letzten Zeile — „ unvortheilhaft „ ſtatt vortheilhaft. “
Seite 114.
„ Wer ein Original von Raphael geſehen hat, wird die beſte Copey kaum mehr ertraͤglich „ finden, und dennoch hat die ſchlechteſte, (leſet: Eine ſehr mittelmaͤßige) Copey von ihm groͤßten - „ theils noch große Vorzuͤge vor den beſten (leſet: Sehr guten) Originalen, — (ſetzet hinzu:) an - „ derer nicht gemeiner Meiſter. “
Seite 116.
„ Jn der Chriſtus Naſe von Raphael Tab. XIV. fand ich zu viel menſchliches. “ Jch haͤtte ſagen ſollen: „ viel goͤttliches — nur nicht die hoͤchſte Goͤttlichkeit. “
Jch ließ dieſen merkwuͤrdigen Kopf nochmals vergroͤßert zeichnen — die Stirn verlor durch eine kaum um ein Haar verſtaͤrkte Gebogenheit — von dem Ausdrucke der Erhabenheit — Jn dem Auge iſt etwas großes und etwas ſchiefes; der obere Umriß des obern Augenliedes iſt, wie die Augenbraun, zu unbeſtimmt. Jn dem Umriſſe der Naſe iſt viel Adel, Kraft und Groͤße. Das Nasloch iſt gemein; und der Umriß des untern Theiles der Naſe noch gemeiner — obgleich nichtB 3ganz14I. Fragment. ganz gemein — der Mund, obgleich ihn noch einige Spuren raphaeliſcher Groͤße zu umſchweben ſcheinen, iſt durch offenbare Schiefheit und Unbeſtimmtheit — ſehr erniedrigt.
Seite 118.
„ Uebergewicht von Kraft — umgeben von Schwachheit, zeugt Boͤſewichter. “— Naͤher beſtimmt: „ Uebergewicht von Kraft, umgeben mit furchtſamen, ſchwachen, klugen, gefuͤrchteten „ Menſchen — zeugt Boͤſewichter. “
Seite 118.
Die ſechszehnte Zugabe iſt beynahe ganz von Goͤthe. Der Pferdekopf in der Vignette — iſt von einem falſchen Pferde. Der Ausdruck davon vornehmlich im ſeitwaͤrts ſchielenden Auge.
Seite 122.
„ Der Menſch iſt das perfektibelſte und das korruptibelſte aller Geſchoͤpfe Gottes “— Setze hinzu um der Wortklauber willen, — „ die unſern Sinnen bekannt ſind. “
Seite 123.
Der Pferdekopf iſt eines traͤgen und tuͤckiſchen Pferdes.
IX. Fragment. Neunzehnte Zugabe. Seite 124.
„ Die Stirn des erſten iſt nichts außerordentliches “— Jn gewiſſem Sinne iſt ſie’s doch, weil die meiſten Stirnen nur Einen Einbug, und zwo Erhoͤhungen haben; dieſe hingegen zwo Hoͤhlungen und drey Hoͤhen — Nicht außerordentlich — iſt ſie alſo nur in dem Sinne — daß ſie nicht außerordentliche Geiſtesgroͤße anzeigt.
IX. Fragment. 21. Zugabe. Seite 132.
Die Anmerkung uͤber den Winkelmannſchen Ausdruck: Unkoͤrperliche Schoͤnheit wer - de weggeſtrichen. An ſich wahr, aber ſie trifft nicht Winkelmann, der, wie ich, auch ohne Herrn Nikolais richtige Erinnerung, haͤtte ſehen ſollen, dadurch bloß idealiſche, nicht wuͤrklich in der Koͤrperwelt vorhandene Schoͤnheiten verſteht. Daß es uͤbrigens auf Eins hinauskomme, ſoll ein beſonderes Fragment zeigen, das bald folgen wird.
Zu dem XI. Fragmente von den Schwierigkeiten der Phyſiognomik.
Eine der groͤßten iſt — wie ich bald auf allen Seiten angedeutet habe, und weiter andeu - ten muß, — der Mangel an Zeichnungsgabe — und die allergroͤßte, der Mangel an Sprache. Die meiſten Zeichner ſehen nicht; ſehen nur Nebel und Gewoͤlke; — und wenn ſie ſehen; ſo ſind ſie ſo gewohnt, nicht zu zeichnen, was ſie ſehen, ſondern was Modegeſchmack und Manier heißt, daß ich oft beynahe an dem Fortgange phyſiognomiſcher Kenntniſſe, Gefuͤhle, Handlungen, oder einer phyſiognomiſchen Weltreformation, phyſiognomiſchen Befoͤrderung des ſichtbaren und unſichtbaren Reichs unſers Herrn, dem alles, alles, jeder Pinſelzug, jeder Radirnadelpunkt dienen ſoll und muß, — verzage. Nur Juͤnglinge, unter großen phyſiognomiſchen Zeichnern elementariſch gebildet, koͤnnen nach und nach — die Phyſiognomik unglaublich erleichtern. Dieſe aber muͤßtenerſt16I. Fragment. erſt und lange lange nur zu den einfachſten Umriſſen, nur zum genauen copieren von Schattenriſſen gewoͤhnt, und bloß in reinen Schattenloſen Contours geuͤbt werden.
Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut moͤchte mir oft zu den Fingern heraus - ſpritzen, daß ich fuͤr die Charakteriſirung ſo gar der ſinnlichſten Zuͤge, der anſchaubarſten Linien — keine Worte, darſtellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern ſey’s, daß ich damit den wuͤrklichen Mangel eigner Sprachfaͤhigkeit entſchuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht! Selbſt mein mit Recht getadelter Wortreichthum iſt, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer Mangel. Oft koͤnnt’ ein anderer, der der Sprache maͤchtiger und gelehrter iſt, gewiß mit Einem Worte ſagen, was ich nur mit vieren ſagen, oder auch nicht ſagen kann. Jch wuͤnſchte daher, daß die, welche die Muͤhe nehmen, dieſe Fragmente zu beurtheilen, die Guͤtigkeit haben moͤchten, ſtatt aller leertoͤnenden Wehklagen, etwa hie und da einen Verſuch richtiger und kuͤrzer zu ſagen, was ich unrichtig und weitlaͤuftig ſage, vorzulegen; mir phyſiognomiſche Woͤrter aus unſerer und fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir alſo wuͤrklich bruͤderlich zu helfen.
XV. Fragment.
Seite 172. „ Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder haͤtte ſagen koͤnnen: Mir ſchei - „ nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterſchied bemerken — oder ſo was; der „ unterſtehe ſich nie uͤber die Phyſiognomie ein Wort zu reden “— Dieſe letztern Worte ſind uͤbereilt, zu hart, und wider die Wahrheit — Setzet dafuͤr: „ der iſt noch nicht auf dem Wege, „ ein guter Phyſiognomiſt zu werden. “—
Ueber die zween Koͤpfe von Raphael Seite 198-200. hat Goͤthe die meiſte. Wahrheit ausgegoſſen; ſo iſt auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.
XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anſtatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ... Reizbarkeit.
W. Seite 226. 2 ) „ Die Stirn ziemlich gemein. “ Setzet: „ die Stirn nicht ganz gemein “Es iſt hier No. 1. obgleich ſchon wieder um Ein Haar ſchwaͤcher, als im II. Bande. 3) hier 2. Setzet: „ Die Naſe verſtaͤndig. “— 5) hier 3. Die Stirn ganz brauchbarer, vielwiſſender Verſtand. Die Naſe buͤrgerlich — gemein. Untenher, beſonders hier, aͤußerſt ſchwach und wohllebiſch. Um Nachſchlagen zu erſparen, ſetze ich die drey Umriſſe wieder hieher; zugleich, um noch einen vergeß - nen Unterſchied der Geſichtsformen bemerken zu laſſen. — Die Form 1. laͤßt ſich durch 1; 2. durch 1; 3 durch 1 ausdruͤcken. Dieß leitet vielleicht die aufmerkſamen Leſer auf Verſuche, die Profile nach Hauptformen zu claſſifiziren. Wovon noch ein andermal.
XVII. Fragment. MM. Seite 259. ſteht die Vignette.
Ueber dieſe Silhouette wird geſagt: „ Ein außerordentlich geſchickter Mann, der mit er - „ ſtaunlicher Gelehrſamkeit ein maͤchtiges Genie verbindet, und die groͤßte Hoffnung, einer der ge - „ ſchickteſten und philoſophiſchten Aerzte zu werden, von ſich giebt. “—
Jch19Reviſion des erſten Bandes.Jch hatte das Vergnuͤgen, den Mann perſoͤnlich zu ſehen .. und ſeine wahre Silhouette zu ziehen — Hier iſt ſie. —
Und nun vergleiche man — Jch will es nicht bergen — Etwas rohes, hartes, nahe an ſtolze Verachtung graͤnzendes hatt’ ich aus der obern Silhouette, die man mir fuͤr kenntlich an - gab — vermuthet; dieſe Vermuthung aber, wie natuͤrlich, zu unterdruͤcken geſucht. Da ich ſo oft das ſchreckliche Mißvergnuͤgen habe, die Menſchen ſchlimmer zu finden, als ich ſie vermuthete, ſo erlaube man mir die Freude, — die ſo ſeltne, ſo koſtbare Freude — es auch anzuregen, wenn ich ein Geſicht beſſer gefunden, als das Gemaͤhlde, oder die Silhouette log — —
Wie ganz anders ſpricht die wahre — freylich die reine Wahrheit der Natur auch nicht ganz erreichende Silhouette? — wo iſt hier eine Spur von ſtolzer Verachtung, wie in den LippenC 2der20I. Fragment. der obern? Wie ganz anders ſowohl in Anſehung der Form als des Ausdruckes — das Kinn? — Kaͤlte hoͤchſtens in dieſem Untertheile des Geſichtes — aber nicht unedle Kaͤlte — Kaͤlte der Weis - heit, nicht Kaͤlte der Verachtung — Die Stirn, wie viel beſcheidner, lernender, aufnehmender! — Ueber das Geſicht ſelbſt kein Wort. Der unausſprechlich vielwiſſende und denkende und guthan - delnde Mann — er wird ſich der Welt noch zeigen — Aber Lehre ſoll mir das wieder ſeyn — ſo gar auch zuverlaͤßig geachteten Silhouetten nicht mehr zu trauen, bis ich die Perſon ſelber geſe - hen — und immer nur, was vorliegt, zu beurtheilen; denn dieſe zwo Silhouetten ſind bis zur Heterogenitaͤt verſchieden.
XVII. Fragment. N. N. Ein Religioſe. Seite 261. wird von der Naſe geſagt: „ Mehr „ des Redlichen als des Klugen! “— Das war Mangel an reiferer Kenntniß, und iſt wenigſtens nicht richtig, nicht beſtimmt genug geſagt. Hier iſt ſie wieder im Umriſſe, und ſie iſt, obgleich keine große weitwuͤrkſame Staatsnaſe — ganz unzweifelhaft nicht bloß des Redlichen, ſondern des ge - ſund-keck - und helldenkenden. Auch das ſagt’ ich von dem Manne, aber, daß dieſe Naſe, auch fuͤr ſich allein betrachtet, dieſen Ausdruck haͤtte, konnt’ ich damals noch nicht mit der entſcheiden - den Gewißheit ſagen, wie itzo.
XVII. Fragm. P. P. und der Beſchluß, Lied eines phyſiognomiſchen Zeichners, von Goͤthe.
Hier zum Beſchluſſe dieſes Fragmentes und zur Ausfuͤllung des leeren Raums — Eine wichtige etwas gewendete, um den Mund etwas mißzeichnete Silhouette eines ſehr feſten — war - men, tiefblickenden Mannes, von dem wir in dieſem Bande noch mehrmals zu reden Gelegen - heit haben werden. — Stirn, Linie kraftvollen Verſtandes, Naſe voll Feinheit und Kraft — die warme theilnehmende Empfindung iſt in dem untern etwas ſchief gezeichneten Theile des Ge - ſichtes nicht ſehr ſichtbar.
Einleitung Seite 3. ſtatt wiederhollt, leſet wiederhallt. Seite 13. in der 10. Zeile von 1. ſtatt gezeugt — leſet gebildet. Seite 33. Zugabe, in der ſiebenten Texteszeile ſtatt deßhalben, leſet: daſſelbe. — Seite 100. Textzeile 13. anſtatt hiezu leſet hinzu. Seite 208. N. 2. Zeile 5. ſtatt wartloſe, leſet wortloſe.
I. Fragment. Von der Allgemeinheit des phyſiognomiſchen Gefuͤhles; Seite 10. zu den phyſiognomiſchen Woͤrtern ſetzt noch: Ein offner Kopf; — ein finſter Geſicht; hartnaͤckig; auffahrend; Stocknarr; Abſcheu; (abſchauen, wegſchauen) Achtung; anſehnlich — auf - geraͤumt — unbefangen — ſich bruͤſten; Dickkopf. —
Seite 13. „ Jm Vorbeygehn zu ſagen: Faſt keine Art Leute ſind ſo ſchlecht gebildet, als „ die Schuſter, und faſt keine Art Leute, im Durchſchnitte genommen, ſo mißgeſtaltet, wie dieſe. „ Auch iſt nicht weniger anmerkenswerth, daß unter 80. Schuſterkindern in Zuͤrich nicht mehr als „ 6. bis 7. Knaben ſind “— (leſet: einmal waren; indem mir die itzt lebenden Schuſtermeiſter in Zuͤrich freundſchaftlich dargethan haben, daß ihre maͤnnliche Nachkommenſchaft zahlreicher, ihre Knaben und Maͤdchen beynahe in derſelben Proportion ſeyn — Einmal ſoll es ſich ſo befunden haben; durch welchen Zufall? iſt unbekannt. ) — „ Moͤchte — (mit dieſem Wunſche ſchloß ich die Anmerkung,) „ eine weiſe, menſchenfreundliche Akademie dieß in gemeinnuͤtzige Beherzigung „ nehmen! “—
Nicht allein die Schuſter, auch andere Profeſſioniſten, haben das Ungluͤck, durch ihre Profeſſion mißgebildet zu werden, mithin — Mißbildung, oder doch weniger ſchoͤne Bildung — und alle ſchlimme Folgen davon fortzupflanzen — ... Wehe mir, wenn ich durch die obige An - merkung beleidigen, wenn ich laͤcherlich machen, oder zum Lachen Anlaß geben wollte ... Men -ſchen23Reviſion des zweyten Bandes. ſchen Wohlfahrt will ich befoͤrdern, Gott weiß es. Jede menſchliche Mißgeſtalt ſoll den wohlge - bildeten Menſchen kraͤnken — jede Wohlgeſtalt ihm Freude machen. Alſo bitt’ ich Einerſeits — im Namen aller mißgebildeten Nebengeſchoͤpfe, oder vielmehr im Namen deſſen, der nach ſeinem un - erforſchlichen Wohlgefallen in des Einen Wohlgeſtalt ſeine Herrlichkeit offenbaret hat, und in des andern Mißgeſtalt, oder Schwachheit, wie ſeine Kraft ſchon itzt, ſo ſeine Herrlichkeit durch uͤber - ſchwengliche Verguͤtung noch kuͤnftig offenbaren wird, — Menſchen! lacht nicht unbruͤderlich eurer mißgebildeten Bruͤder! ... Wohlgebildete! habt Jhr Euch ſelber wohlgebildet? ... Jſt etwas in der Welt Gabe, Geſchenk, reines Geſchenk — wenn’s gute, edle, ſchoͤne Bildung nicht iſt? was habt ihr empfangen — wenn ihr das nicht empfangen habt? was ſeyd ihr, das ihr nicht durch den ſeyd, der alles in allen iſt? ... Und ihr, denen Wollen und Kraft gegeben iſt, auf die mo - raliſche und phyſiſche Bildung des Menſchen Einfluß zu haben — wahrhaftig! all Eure noch ſo glaͤnzende, und wenn ihr wollt, noch ſo nuͤtzliche Preisaufgaben von Korn und Oel und Moſt und Miſt, alten und neuen Voͤlkern, Sprachen und Zungen — der wahren Geſtalt des Erdballs und der wahren Parallaxe, u. ſ. w. reichen nicht an die Wichtigkeit und Gemeinnuͤtzigkeit der Unterſu - chung — „ Welche Profeſſionen, Handwerker, Kuͤnſte, muͤſſen, ſo wie ſie itzt geuͤbt und getrieben „ werden, viele tauſend Menſchen mißbilden? — Woher die Mißbildung? wie waͤre derſelben, un - „ beſchadet der Kunſt, vorzubeugen? “
Zum III. Fragment.
„ Noch immer koͤnnte man fragen, (ſagt ein verſtaͤndiger Recenſent,) ob der, der von Kind - „ heit an eine ſehr uͤble Geſichtsbildung, die dem Phyſiognomiſten nichts Gutes von ſeinem Charak - „ ter ahnden laſſe — ob der ſich nicht ſeiner Bildung zu ſchaͤmen in Verſuchung kommen koͤnnte? “ Der Recenſent aͤußert bey dieſer Gelegenheit einige Gedanken, die angefuͤhrt zu werden verdienen. „ Schaͤmen, ſagt er, kann man ſich eigentlich keiner andern Sache, als die man verſchuldet hat — „ wuͤrde ich mich deſſen ſchaͤmen, wenn ich arm, wenn ich in der Huͤtte — nicht im Zimmer gebohren „ waͤre? Sollte ich mich denn einer Sache ſchaͤmen, die mir, ſo wie alles andere, ohne Vorſehung, und „ ohne den Wink des großen Bilders nicht haͤtte zufallen koͤnnen? “— — Antwort: wie nennet man die Unbehaglichkeit, in der ſich ein Menſch mit einem unverſchuldeten ekelhaften Leibesſchaͤden be -findet,24II. Fragment. findet, wenn er der Geſellſchaft beſchwerlich zu fallen fuͤrchtet? .. Schaͤmen nennt man’s — und doch haͤtt’ er eigentlich nicht Urſache, ſich zu ſchaͤmen — weil auch das nicht ohne Gottes Fuͤrſehung ihm wiederfaͤhrt. Nun iſt freylich offenbar — verſchuldete Mißbildung macht uns mehr Unbehag - lichkeit, als unverſchuldete — da inzwiſchen Schaam uͤberhaupt nichts anders iſt, als Furcht vor Entbloͤßung, vor Offenbarung ſeiner Schwachheit und Unvollkommenheit, ſo wer - den wir uns ſchwerlich erwehren koͤnnen, auch dem ohne ſeine Schuld mißgebildeten, ſo wenig er ſich vor Vernuͤnftigen zu ſchaͤmen Urſache hat, Schaam zuzuſchreiben. Nur muß hiebey das nie vergeſſen werden: daß die verworfenſte Phyſiognomie offenbare oder geheime Zugaben von Trefflichkeiten hat, die dem, was man fatal nennt, gewiſſermaßen das Gegenwicht halten — oder doch halten koͤnnten.
Der Recenſent faͤhrt fort: „ 2) Zuͤge des Geſichts ſind doch immer nur — wie bedeutungs - „ voll ſie auch ſeyn moͤgen, — Zuͤge des Koͤrpers “— (wenn ſie’s nicht der Seele ſind; ſo giebt’s keine Phyſiognomie!) „ Handlungen ſind Charaktere, untruͤgliche Charaktere der Seele. Wer „ durch That zeugt, daß ſeine Seele ſchoͤn ſey — ſollte der ſich ſchaͤmen, daß ſein Geſicht minder „ ſchimmere! “— Nein! Nein! mein lieber Bruder — behalt er nur, der edle Tugendhafte, ſein ſchlechteres Geſicht bey ſeiner weit uͤber ſein Geſicht emporfliegenden Tugend — „ Ueber ſein Geſicht „ emporfliegende Tugend? “— Auch das nicht! o die That ſey nur redlich! Quille nur rein aus reinem Herzen, gutem Gewiſſen und ungegleißnetem Glauben — Auf dem fatalen Geſichte wird ſich eine edle Miene verbreiten — ſtille Zeuginn der ſtillen That; um ſo viel mehr Ehre fuͤrs Ge - ſicht, weil ſie Siegeszeichen der uͤberwundenen Natur iſt — Man ſehe den folgenden Abſchnitt.
3) faͤhrt der edle Verfaſſer fort: „ Verſtellte Bildung zeigt Anlage zu dieſem oder jenem La - ſter “— in dem Sinne, wie der Verfaſſer von moraliſch ſchlimmen Anlagen redet. — „ Wo aber „ Anlagen in der Seele “— (mithin auch in der Bildung) „ ſind, da iſt die entgegengeſetzte Tugend „ deſto ſchwerer. Der Tugendhafte alſo, mit dem Geſichte voll unedler Anlagen, traͤgt an ſeiner Stir - „ ne “— (oder, wie ich lieber ſagen moͤchte, in ſeiner Geſichtsgeſtalt, und ſeinen beſondern Ge - ſichtszuͤgen) „ hoͤhern Charakter der Tugend, als der, deſſen ſchoͤne Bildung ſchon Beruf zum Gut - „ ſeyn — zu ſeyn ſchien. “— Vortrefflich! und Beſtaͤtigung unſers ſo eben geaͤußerten Ge - dankens.
Zu allen Fragmenten bis aufs achte, weiß ich nichts beyzufuͤgen: Zum achten uͤber So - krates — eine Stelle aus einer andern geiſtvollen und offenbar zu guͤtigen Recenſion des zweyten Bandes der phyſiognomiſchen Fragmente.
„ So wahr alles iſt, was der Verfaſſer nach gegebenen Bildern und uͤber das unbeſtimmte „ Wort Anlage, Anlage zum Boͤſen uͤberhaupt ſaget; ſo haͤlt’s doch ſchwer, Zopyrus, der das „ lebendige Geſicht Sokrates ſah, und deſſen Urtheil von Sokrates ſelbſt beſtaͤtiget ward, ſchlecht - „ hin des Jrrthums zu uͤberfuͤhren “... (Geſchahe das?) „ Die Silenbildung Sokrates iſt „ durchs ganze Alterthum bekannt, und war nicht bloß ein Einfall des jungen Alcibiades, der aber „ auch, ſchon allein genommen, hierinn treuer Zeuge waͤre; ſo gut Sokrates die Bildung ſeines „ Lieblings kennen mußte — ſo gut kannte der Geliebte gewiß die Bildung ſeines Liebhabers; da „ hingegen die Bildniſſe beruͤhmter Maͤnner, die aus dem Alterthume durch die Kunſt zu uns ge - „ kommen, ſchon alle in Kunſt gefaſſet, wo nicht idealiſirt, ſo doch einmarmorirt ſind und der - „ gleichen. Bey vielen ſind die Namen bloß Tradition: Tradition, die ſich nur bis ins Jahrhun - „ dert der wiedergefundenen Wiſſenſchaft hinaufzieht. Wie da ein oft ſehr kurzſichtiger Anti - „ quar den Kopf nannte, ſo blieb ihm der Name, ſo wurden andere darnach genannt. Ob wir nun „ dieſes gleich von Sokrateskopf am mindeſten geſagt, oder gezweifelt haben wollen; ſo iſt doch ſicht - „ bar, daß alle 11. oder 12. Sokrateskoͤpfe, die hier geſammelt ſind, eigentlich nur Ein und der - „ ſelbe, durch die Kunſt und Tradition gegebene, von jedem Kuͤnſtler veraͤnderte Sokrates „ ſey; folglich in dieſem Betracht Lavater an Materie zum Urtheil ungemein weit hinter Zopy - „ rus, Alcibiades, oder Sokrates ſelbſt ſtehe. — Sollten nun in der That nicht Bildungen „ moͤglich ſeyn, die uns nicht als Handleiterinnen zum Guten in gerader Linie, ſondern als druͤ - „ ckende Pfunde gegeben waͤren, den Geiſt und das Herz eben im Gegengewichte hinaufzuſpielen? „ Wenn ein Apoſtel ſagte: der ich zuvor war ein Laͤſterer, ein Schmaͤler, ein Verfolger, (o ich bin uͤberzeugt, unbekannter Weiſer! daß er auch Reſte genug davon noch in ſeinem Geſichte wird uͤbrig behalten haben?) „ aber itzt bin ich ein Beyſpiel und redendes Vorbild der „ Barmherzigkeit und Guͤte; konnte das nicht Sokrates eben auch ſagen und ſeyn? wuͤrklich „ geweſen ſeyn? Und wahrlich dem iſt alſo! Der Mann, der Athen und ſeine Zeit uͤberwand;Phyſ. Fragm. III Verſuch. Dmußte26II. Fragment. „ mußte gewiß zuerſt ſich ſelbſt uͤberwunden haben, oder er waͤre ſeiner Zeit gefolget. Der Mann, „ der die Weisheit ſo tief im Verborgenen ſuchte, aber uͤberall ſuchte, ſie immer mehr ahndete, „ unendlich tiefer ahndete, als fand, ſie aber dafuͤr uͤberall aufzuwecken ſtrebte; der Mann iſt mir „ in ſeiner Silenbildung eben nach dem Gleichniſſe des lieben Alcibiades, wahre Arzneykammer „ und Hieroglyphe. Er mußte ſo vieles an ſich ſelbſt durchgangen ſeyn, um ſo allgemein das Loos „ der Menſchlichkeit an ſeinen Bruͤdern zu fuͤhlen. Jn ſeinem Geſichte blieb der Suͤnder, „ und Barbar immer gegenwaͤrtig, damit die Lehre der Weisheit, wie eine neue Morgenroͤthe (dieſe Morgenroͤthe alſo war wenigſtens im lebendigen Angeſichte ſichtbar) „ uͤber Truͤmmern der „ Verweſung deſto mehr hervorglaͤnzte. Mich duͤnkt, in ſeinem Leben ſind hieruͤber Aeußerungen „ genug, obgleich weder Xenophon noch Plato ihn eigentlich in dieſer Tiefe geſchildert haben. „ Jeder zeichnet mehr, was er ſelbſt war; der erſte — den guten, klaren, edeln, weiſen Mann; „ der zweyte den Denker, den edeln Traͤumer, den Zerſtoͤrer der Vorurtheile und Sophismen; ohne „ Zweifel war Sokrates dieß, aber vielleicht mehr als dieß, und etwas anders. — So ein edles „ Seherohr die Phyſiognomik iſt, ſo iſt ſie uns, wie die ganze Natur — Handleiterinn, nach „ Gott zu tappen, ihn zu ſehen, und zu empfinden; die Fuͤhrungen im Leben ſind, wie die Of - „ fenbarung die wahre naͤhere Sprache, und das Bild Gottes im Spiegel, im Worte. — Viel - „ leicht giebt dieß kleine in die Thuͤr gebohrte Loͤchlein Blick in ein helles weites Gemach, das An - „ tiphyſiognomik, und zugleich die aufmunterndeſte, hoͤhere Phyſiognomik waͤre. Lavater und „ Zopyrus ſehen recht, und Sokrates war, was beyde in ihm ſehen, und nicht ſehen, aus einem „ hoͤhern Grunde, gleichſam in Morgenroͤthe einer zweyten hoͤhern Bildung. “
Eine vortreffliche Wahrheitreiche Stelle! herzlichen Dank dem ungenannten Verfaſſer! Jch will nichts beyfuͤgen, als ich ſehe nicht helle genug ein: — „ wie Fuͤhrung eines Menſchen „ mehr Offenbarung Gottes ſeyn koͤnne, als ſein Geſicht? “ Sollte nicht auch die Fuͤhrung eines Menſchen ganz offenbar — geoͤffneten Augen naͤmlich — in ſeinem aͤußern anſchaulich wer - den? Der von Gott auf den wilderſcheinenden Stamm eingepfropfte zaͤrtere Zweig — (wenn je dieß fuͤr moͤglich gehalten werden ſollte? wenn man’s nicht viel natuͤrlicher findet, daß alles gute goͤttliche aus dem Menſchen, und eigentlich nicht in den Menſchen komme) — ſollte der nicht im - mer noch ſichtbar ſeyn? — Aber Gras auf den Daͤchern verdorrend, ehe man’s ausrauft,iſt27Reviſion des zweyten Bandes. iſt doch wieder alles bloß durch Fuͤhrung hineingepflanzte, oder druͤbergeſtreute — was ſich nicht wieder aus der innerſten feſten Form ergab ... Wahr uͤbrigens kann’s ſeyn, daß Fuͤhrung ei - nes Menſchen Commentar ſeines Geſichtes iſt. Geſicht aber bleibt immer Text, in dem der Commentar ſchon mitbegriffen iſt.
Seite 100. 3. leſet: „ die Stirn, wie kontraſtirend mit 3. und 4. “—
Seite 116. iſt uͤber eine Vignette, nicht ganz richtig geurtheilt. Jch ſetze ſie alſo wieder her — obgleich — ſchon wieder, beſonders um den Mund, noch mehr verzeichnet. Ueber dieß Geſicht (es iſt das zweyte) ward geſagt:
„ Nur der Mund etwas verzeichnet; ſonſt voll Weisheit, Adel, Gefuͤhl und Kraft; ohne „ alles gemein weibliche, und hart maͤnnliche. “ Jch denke faſt, es geſchah eine Verwechſelung zwoer Schweſtern ... Hier iſt die — von der dieß Urtheil wahrer iſt.
Die Stirn nachſtehender Silhouette hingegen — (das Original kenn’ ich nicht) iſt — zwar auch nicht gemein, vornehmlich in Ruͤckſicht ihrer Lage — Die Naſe, obwohl auch die Ver - tiefung unten zu ſtark iſt, einer zarten guten — aber beydes eben nicht einer vorzuͤglich weiſenD 2Seele.28II. Fragment. Seele. Der Mund, wie geſagt, ſehr verzeichnet — So, wie er da und gewiß nicht in der Natur iſt, gut, leichtſinnig, und unuͤberlegt.
Seite 125. 126. Die Einleitung 137. 138. auch das XIII. Fragment von Thierſchaͤ - deln von Goͤthe.
Seite 161. uͤber Nationalgeſichter und Schaͤdelform, will’s Gott, im folgenden Bande — wenigſtens in den phyſiognomiſchen Linien und Umriſſen etwas beſtimmteres.
Seite 261. Die Vignette iſt Claus, Narr. So viel als Schiefheit, Schalkheit, Trutz — Hohnſprache — in einem Menſchengeſichte beyſammen ſeyn kann, iſt in dieſem fatalen Geſichte zu - ſammen gekleckt.
Seite 285. H .... nn. Man hat uͤber die Dunkelheit dieſes Blattes geklagt — und mit Recht. So keine Seite mehr — hier Erklaͤrung.
Ein29Reviſion des zweyten Bandes.„ Ein Knoten voll Kampfes “— Drang der Muskeln, Ausdruck von Arbeit und Wi - derſtand.
„ Das Aug’ iſt gediegner Lichtſtral. “— Das iſt, unfluͤchtiger, feſter, durchdringender Lichtſtral! durchblickend — „ was es ſieht, ſieht’s durch, ohne muͤhſame Meditation und Jdeen - „ reihung. “—
„ Jſt es dir nicht, beym Blicke und Buge des Augenbrauns, als ob es ſeitwaͤrts, oder „ von untenher ſchaue? “— (dieß ſcheint mir klar) „ und ſich ſeinen eignen Anblick gebe “? — eine ganz eigene Art und Gabe, die Sachen anzuſehen, beſitze? — „ Jſt’s nicht, als kreuzten ſich ſeine „ Stralen und der Brennpunkt liege tief hin? “— als wenn beyde Blicke den Gegenſtand nahe zu - ſammen faßten?
„ Was die Naſe anweht, ſtark, nahe, weht ſie’s an. “— Nimmt an nichts fremdem Theil; aber recht denn an dem, was fuͤr ihn gehoͤrt.
Seite 288. Die Vignette iſt Fenelon ... Offenbar eines der ſanften, feinen, tief be - leuchtenden, unvordringlichen, traulichen, geiſtreichen Geſichter.
Ohne weitere Stellen aus oͤffentlichen Beurtheilungen anzufuͤhren — verſpreche ich nun mehr kalte Belehrung — und gerade dieſer Band wird durchgehends, hoff’ ich, darthun, wie wich - tig mir billige Erinnerungen ſind, und wie gern ich nachgebe, wo ich nachgeben kann ... Ohne doch jemals der unbilligen Forderung entſprechen zu koͤnnen oder zu wollen — „ Nicht mehr zu ſeyn, „ was ich bin — oder anders zu reden, als ich denke “Jch hoffe — daß nun „ gemeinnuͤtzige „ Deutlichkeit auf der Einen, und die kaͤltere Unterſuchung auf der andern Seite, “in dieſem Bande herrſchender ſey — und „ daß ich meiner Einbildungskraft weniger freyen Lauf laſſe, we - „ nigſtens der ungeuͤbtern, die unmoͤglich dieſem Fluge folgen koͤnnen, ſchone. “
Jm XIII. Fragmente Seite 160. des erſten Bandes heißt’s: „ Die Phyſiognomik reißt Herzen „ zu Herzen; ſie allein ſtiftet die dauerhafteſten, die goͤttlichſten Freundſchaften; auf keinem unum - „ ſtoͤßlichern Grunde, keinem feſtern Felſen kann die Freundſchaft ruhen, als auf der Woͤlbung „ einer Stirne, dem Ruͤcken einer Naſe, dem Umriſſe eines Mundes, dem Blicke eines Auges! “
Wenn ein Menſch, der ſchlechterdings nicht an die Phyſiognomik glaubt — nichts von Harmonie zwiſchen dem innern und aͤußern Menſchen wiſſen will, dieſe Behauptung laut weghoͤhnt, oder leiſe weglaͤchelt; — ganz natuͤrlich! Aber an die Phyſiognomik glauben — Freund, Verthei - diger davon ſeyn — und dennoch das, was hier behauptet wird, als Unſinn und wahrheitloſen Enthuſiasmus — verwerfen — das ſcheint, mir wenigſtens, ſchlechterdings unbegreiflich. Ja und Nein ſind nicht widerſprechender, als dieſe Denkensart.
Wie viele tauſend Geſichter ließen ſich zeichnen, die keine Menſchenſeele zur Freundſchaft reitzen werden, die keiner Freundſchaft faͤhig zu ſeyn ſcheinen, weder aktifer noch paſſifer? — und wie viele Dutzende, auf deren Treue, Guͤte und Liebenswuͤrdigkeit man ſich ſo ſicher, wie auf ſich ſelber verlaſſen kann!
Wenn die feſtern Theile eines Menſchen das Maaß ſeiner Kraft — die Umriſſe ſeiner Faͤ - higkeiten, die beweglichen — den Gebrauch, den er von beyden zu machen pflegt, zeigen — und wenn aus allem zuſammen — das Verhaͤltniß zu meiner Kraft, meiner Reizbarkeit, Beweg - ſamkeit, Empfindſamkeit, Faͤhigkeit offenbar wird .... Sollte ſich daraus nicht die wei - ſeſte Wahl der Freunde herleiten laſſen? —
Warum gefallen uns gewiſſe Leute beym erſten Anblicke — und immer mehr, je mehr wir ſie anſehen? —
Warum ſtreben wir von gewiſſen Leuten auf den erſten Anblick zuruͤck — und immer mehr, je mehr wir ſie anſehen?
Warum31Phyſiognomik, Pfeiler der Freundſchaft und Achtung.Warum gefallen oder mißfallen uns gewiſſe Leute auf zehen Schritte, und nicht auf vier?
Alles — um der Phyſiognomie willen, und um des Verhaͤltniſſes, oder Mißverhaͤltniſſes willen, in welchem ihre Phyſiognomie mit der unſrigen ſteht.
Wenn ich Verſtand, wenn ich Kunſtfaͤhigkeit, wenn ich maͤnnlichen Muth, wenn ich Empfindung, wenn ich Kaltſinn und Feſtigkeit, wenn ich Unſchuld und Guͤte — ſuche, mich an Eines von dieſen anlehnen will, anlehnen muß; — und dieſe begegnen mir? — begegnen mir in den entſchiedenſten, leſerlichſten Zuͤgen? — (und wenn dieſe Eigenſchaften keine entſcheidende, le - ſerliche Charaktere haben — ſo giebt’s gewiß ganz und gar keine Phyſiognomik und keine Phyſiogno - mie, und keinen Unterſchied der Dinge) — dieſe Eigenſchaften begegnen mir alſo in unverkennbaren Zuͤgen! — Jch erkenne ſie — und es ſollte mich nicht freuen, gefunden zu haben, was ich ſuche? Jch ſollte nicht gewiß ſeyn koͤnnen: „ Hier iſt’s, wo ich ausruhen will und kann! “
Zeiget mir, Zweifler — ein Paar wuͤrklich vertraute, und nicht nur vertraute — wuͤrklich ſich liebende — mit einander leidende, nach einander ſich ſehnende Menſchen — die ihre Thaten wie ihre Worte, ihre Erkenntniſſe wie ihre Empfindungen ſich einander mittheilen — und — hete - rogeniſch gebildet ſind!
Heterogeniſch? was iſt das? Schnurgerade — und zirkelrunde Linien! gewaltig vordringende — und tief eingedruͤckte Profile! ..
Warum konnte Karl der XII. die Frauensperſonen nicht leiden? warum bewunderten ſeine Feinde ſeine Tapferkeit? war’s nicht aufm breiten Bogen, der ſich von ſeiner Naſenwurzel heraushob; nicht auf ſeiner Heere beherbergenden Stirne — wo dieſe hohe Mannheit ſaß, die Weiber wegſchreckte, und Maͤnnern Achtung einfloͤßte? —
Freylich ſind die Menſchen ſo gebaut, daß kaum Einer iſt, der nicht wenigſtens einen faͤnde, mit dem er harmoniren kann — aber nicht jeder iſt fuͤr jeden ... Jeder hat ein beſonde - res Auge zu ſehen — und erſcheint in einem beſondern Lichte, in welchem allein er geſehen werden kann. Wenn nun mein Aug an einem Menſchen, (und wie ſchneller, leichter, natuͤrlicher, ſiche - rer, als durch ſein Aeußerliches? ſein Sichtbares? ſeine Phyſiognomie?) ſolche Kraͤfte, Eigen - ſchaften, Zeichen erblickt, die meinen Ahndungen und Beduͤrfniſſen zu entſprechen ſcheinen; wenn ich in ſeiner Atmoſphaͤre frey athmen kann — oder, damit dieß nicht wieder myſtiſch oder ſchl ... ſchverſtanden32III. Fragment. verſtanden oder mißverſtanden werde — wenn wir nicht heterogen gebildet ſind, kein ſichtbares, ſpuͤrbares Mißverhaͤltniß zwiſchen unſern Bildungen und Kraͤften iſt — ſo naͤhern wir uns, wuͤn - ſchen nicht bloß aus voruͤbergehenden, gekuͤnſtelten, conventionellen Urſachen, uns einander zu naͤ - hern. Alle Freundſchaften, die ſich bloß auf conventionelle Beduͤrfniſſe gruͤnden — (im Kleinen, was die Freundſchaften großer Staaten, die ſich verbuͤnden) — dauren nur ſo lange, als das con - ventionelle Beduͤrfniß — Nicht ſo die Freundſchaft, die ſich auf phyſiognomiſche Gleichartigkeit gruͤndet. Die bleibet ſo lange, ſo lange die Geſichter bleiben.
Daher hilft zur eigentlichen wahren Freundſchaft, zur perſoͤnlichen unmittelbaren Herzens - freundſchaft kein Bitten und Flehen; und es iſt immer ſicherlich ein Zeichen, daß ein Menſch ent - weder den wahren Sinn des Wortes Freundſchaft oder die menſchliche Natur nicht kennt, der einen andern um ſeine Freundſchaft bittet; um Liebe kann ich bitten; aber nicht um Freund - ſchaft! Liebe bin ich Menſch der Menſchheit ſchuldig, Freundſchaft laͤßt ſich nur dem mitfuͤhlenden geben. Einen um Freundſchaft bitten, heißt eben ſo viel, als den andern bitten — „ leihe mir „ deine Naſe! “— oder — „ erweiſe mir die Gefaͤlligkeit, andere Augen zu haben, als du haſt! “
Soll und darf denn niemand den andern um ſeine Freundſchaft bitten? oder ihm ſeine Freundſchaft antragen? — Niemand kann’s mit Weisheit und Wahrheit thun, als der Phyſiogno - miſt. Nur Er kann um Freundſchaft bitten und Freundſchaft antragen. Wohl verſtanden, wir ſprechen nicht von der allgemeinen Menſchenliebe, Bruderliebe, Buͤrgerliebe — die ſich auf die all - gemeine Menſchennatur, unſere haͤuslichen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe gruͤndet, wir ſprechen von Freundſchaft. Wohlverſtanden ferner; wir ſprechen nicht von uns ſelber, oder dieſem und jenem beſondern Phyſiognomiſten — wir ſprechen vom wohlgeuͤbten und gepruͤften phyſiognomiſchen Ge - nie. Nur das, oder bisweilen auch reines zartes phyſiognomiſches Gefuͤhl, kann allenfalls Freund - ſchaft verlangen und geben, kann ſagen: „ wir harmoniren “— kann den andern auf dieſe Harmo - nie aufmerkſam machen, ihm ſie aufſchließen — wie der Apoſtel durch Auflegung der Haͤnde Geiſtesgaben, wie er Glauben fordern, uud geben, oder erwecken konnte. Ein Gedanke, der nach einiger Entwickelung werth zu ſeyn ſcheint.
Wie die Apoſtel, nur nach ihrer Gabe, die Geiſter zu pruͤfen, Geiſtesgaben austheilten, ſo der Phyſiognomiſt, in ſeiner Entfernung, Freundſchaft und Achtung!
Was33Phyſiognomik, Pfeiler der Freundſchaft und Achtung.Was that der Apoſtel? — Er blickte in die Seele hinein — er ahndete die ſchlummern - den Kraͤfte — erleuchtet vom Geiſte der Wahrheit — ſah’ er die Gabe, die ſchon in dem Men - ſchen war — wie der kuͤnftige Engel bereits in ihm iſt — und — weckte ſie nur durch Aufle - gung ſeiner Haͤnde — oder durch irgend ein anderes Zeichen, das dem Taͤufling, oder dem Chri - ſten verſicherte — „ das lieg’ in ihm! dazu ſey er beſtimmt! “ Eigentlich gab er ihm nichts — nur in ſo fern gab er ihm, als er ihm den Schatz aufſchloß, der in ihm lag. Ohne dieſen Aufſchluß waͤre der Schatz ihm nichts geweſen. Aber der Mann voll heiligen Geiſtes, und goͤttlichen Anſe - hens, der vor ihm ſtand — den er mit Gottes Weisheit ſprechen hoͤrte, und mit Gotteskraft han - deln ſahe — der verdiente ſeinen ganzen Glauben! Dieſer Glaube — lebendig gemacht durch die Gegenwart und das feyerliche Haͤndauflegen des Gottesmannes — erweckte die Gottesgabe, die in ihm war — das heißt: Er empfieng den heiligen Geiſt. Oder noch mit andern Wor - ten: „ Die Gottheit fieng an, auf eine neue Weiſe in dem Menſchen ſich zu regen, und zu wuͤr - „ ken — gemaͤß der Organiſation und der Beſtimmung deſſelben — und, um nun gerade auf dieſe „ Weiſe in ihm wuͤrken zu koͤnnen — waren einerſeits praͤordinirte Anlagen, anderſeits aͤuſ - „ ſerlich erweckende Umſtaͤnde noͤthig — wie zu allem, allem in der Welt — was immer auf - „ leben und auf eine neue Weiſe wuͤrken ſoll “— Denn alles, alles in der Welt ſteht unter derſelben Regel und Ordnung — das leiblichſte, das geiſtlichſte, das, was wir natuͤrlich, und was wir uͤbernatuͤrlich nennen.
Da half nun kein Bitten und Flehen um dieſe oder jene beſondere Wundergabe — ſo wenig ſich itzt aus einem kaltdenkenden Kopfe ein poetiſches Genie umbitten oder umbilden laͤßt. Es kam auf die urſpruͤngliche Organiſation, aber auch nicht auf dieſe allein; ſondern zugleich auf aͤußere Veranlaſſung, Erweckung, Ausbildung an. Dieſe aͤußere Veranlaſſung und Erweckung aber konnte ſich ſchlechterdings nach nichts anderm, als nach der Anlage, nach der Urfaͤhigkeit des Objektes richten. So mit allem Lehren und Lernen in der Welt — ſo mit den goͤtt - lichſten Geiſtesgaben. So — mit der Freundſchaft — — Der Phyſiognomiſt entdeckt Ver - haͤltniſſe und Zuſammenſtimmungen — zwiſchen Menſchen und Menſchen, zwiſchen Menſchen und ſich — die andere nicht ſo leicht, nicht ſo ſchnell, ſo beſtimmt, ſo gewiß entdecken — Dieſe zeigt er an — und ſchließt alſo, wie der handauflegende Apoſtel, nur auf, was verſchloſſen da iſt. Phyſ. Fragm. III Verſuch. EEr34III. Fragment. Er kann nichts hinein bringen — nur herausbringen — ſo wie uͤberhaupt niemand nichts in den Menſchen eigentlich hinein bringen kann. Nur herausbringen, nur entwickeln, was da iſt. So wenig ſich ein neues Glied in das Ganze des menſchlichen Koͤrpers hinein - pfropfen laͤßt — ſo wenig eine neue Geiſteskraft! Was da iſt, iſt da! Was da iſt, iſt der Bearbeitung, Entwickelung, Zeitigung, und eines erſtaunlichen Wachsthums faͤhig — aber was nicht da iſt, kann weder entwickelt, noch reif, noch auch hineingebracht werden. Alſo iſt Kennt - niß deſſen, was da iſt — Fingerzeige der Erziehung und Bildung des Menſchen — Fingerzeige der Achtung und Freundſchaft.
Nun das Unſichtbare im Menſchen zeigt ſich in ſeinem Sichtbaren — wie der Schoͤpfer in der Schoͤpfung! — Wenn alſo Phyſiognomie nicht Achtung und Freundſchaft zeugen kann, was dann? Wenn das Anziehende und Zuruͤckſtoßende keine Zeichen hat — (wodurch ſonſt zuruͤckſtoßend und anziehend?) — was hat’s dann?
Aber giebt’s keine Ausnahmen? Jch habe noch keine geſehen .. Das heißt: „ Jch kenne, „ itzt wenigſtens, keine Geſichter, denen ich meine Seele vertrauen moͤchte, von denen ich nicht ge - „ wiß bin: Meine Seele iſt bey Jhnen wohl vertraut. “ Wenn ich mich aber auch noch irrte, was waͤre das? Bewieſe das? — — — Genug — wenn uͤberall eine Phyſiognomie in der Natur iſt; ſo muß der Menſch eine haben — und wenn der Menſch eine hat, ſo muß der der Freund - ſchaft, der Achtung — wuͤrdige Menſch eine haben. Und wenn er eine hat, die ihn von dem Achtungsunwuͤrdigen unterſcheidet, ſo muß dieſe erkennbar ſeyn — und je gekannter, deſto lie - benswuͤrdiger; je liebenswuͤrdiger, deſto geſuchter, geliebter.
Es kann Geſichter geben, die, wie die Gottheit, ihre Liebe leuchten laſſen uͤber Gute und Boͤſe, und Thraͤnen der Freude und des Mitleids haben fuͤr Gerechte und Ungerechte — die alle lieben, und von allen geliebt werden — Selten ſind ſie, aber unmoͤglich ſcheinen ſie nicht. Es kann Geſichter geben, die nur wenigen verſtehbar und genießbar ſind; aber dieſen dann ganz; die - ſen wenigen dann alles ſind. Geſichter — die allen Achtung und Ehrfurcht einfloͤßen — und keine zutrauliche Liebe — Geſichter, die nur Liebe, und keine Hochachtung einfloͤßen; und ſolche, die beydes genau vereinigen.
Kraft35Phyſiognomik, Pfeiler der Freundſchaft und Achtung.Kraft zu wuͤrken floͤßt Achtung; Weisheit zu wuͤrken, Hochachtung; Staͤrke zu leiden, Hochachtung mit Mitleiden — Begierde zu geben und Freude zu machen — Liebe — ein — und alles dieſes, naͤmlich Kraft und Weisheit, und Staͤrke und Wohlwollen haben offenbar ihre untruͤglichen Kennzeichen — Alſo auch Freundſchaftlichkeit, die ſich auf ein beſtimmtes Maaß und Verhaͤltniß aller dieſer Dinge gegen mich — gruͤndet!
Was wuͤrkt alſo Freundſchaft? Gleichgeſinntheit? Nicht allemal! nicht durchaus! Was dann? — Verhaͤltniß meiner Beſitzthuͤmer zu den Beduͤrfniſſen — meiner Beduͤrfniſſe zu den Be - ſitzthuͤmern des andern — Je geiſtiger, innwohnender, je tiefer gewurzelt in meiner und des an - dern Natur dieſe Beſitzthuͤmer und dieſe Beduͤrfniſſe ſind — deſto inniger, feſter, unzerſtoͤrbarer, phyſiognomiſcher die Freundſchaft.
Wo ſie rein phyſiognomiſch iſt, ganz unwiſſend aller andern Verhaͤltniſſe, als der Verhaͤltniſſe der Geſichtszuͤge, und der Geſichtsform — da iſt ſie ſo unzertrennlich wie die Vereinigung der Glie - der Eines Leibes — das iſt, nur zertrennbar durch Tod und aͤußere fremde Gewaltthaͤtigkeit.
Jch bin langſam, immer langſam, einen Menſchen um ſeine Freundſchaft zu bitten — oder auch ihn meine Freundſchaft nehmen zu laſſen, oder ſie ihm anzubieten, aber ich glaube, wenn ich ſie bloß aus reinem phyſiognomiſchen Gefuͤhle — oder Beobachtung unſerer phyſiognomiſchen Verhaͤltniſſe nehmen laſſe, oder anbiete, oder weſſen Freundſchaft ich um deßwillen ſuche — — Himmel und Erde werden eher ſich mit einander zerſtoßen, als eine ſolche Freundſchaft. Daher es nunmehr einer meiner heiligſten Grundſaͤtze iſt — „ Mit keinem Menſchen, wie menſchlich oder uͤber - „ menſchlich er auch heißen, wie beruͤhmt immer ſeine Tugend und wie ſchimmernd ſeine Religion ſeyn „ moͤchte, Freundſchaft zu machen, (im hohen reinſten Sinne dieſes Wortes) bis ich ihn — oder „ zuverlaͤßig — aͤhnliche Portraͤte und Silhouetten von ihm geſehen — und vorher, auch keinem, „ und wenn gleich die ſchlimmſten Dinge von ihm mit der groͤßten Zuverſicht erzaͤhlt wuͤrden, meine „ Freundſchaft ſchlechterdings zu verſchließen. “
O Anſchaun, Anſchaun der Menſchheit! wie verſchlingſt du auf einmal alle unwahre, halb - wahre, ſchiefe Urtheile uͤber einen guten oder boͤſen Menſchen! — Der beſte Menſch kann aus Ue - bereilung eine laſterhafte That thun — ſo gar einer ſchlimmen Leidenſchaft eine Zeitlang nachhaͤn - gen — der ſchlimmſte Menſch — eine gute Handlung allenfalls mit oder nachmachen. Aber ſeinE 2Geſicht,36III. Fragment. Geſicht, wenigſtens das Weſentlichſte deſſelben, und die Form des Ganzen kann er nicht aͤndern — Dieſe iſt nicht Frucht, ſondern Stamm und Wurzel der Frucht — und ob’s gleich wahr iſt, daß man aus der Frucht den Baum erkennt, iſt’s doch auch mitbeſtehende Wahrheit — Aus dem Stamme und Baume laͤßt ſich noch ſicherer auf die Frucht ſchließen. Es kann ſeyn, daß dieß mehr Uebung im Beobachten erfordert und vorausſetzt. Aber wo dieſe einmal vorhanden iſt, o ſie wird nicht nur die zufaͤlliger Weiſe ſchlechten Fruͤchte, (denn auch der geſundeſte Baum kann von Jnſekten von außenher fruchtlos gemacht werden) — nicht nur dieſe zu den Datis der Entſcheidung machen — nicht was iſt, nur einmal iſt, ſehen — ſondern auch, was ſeyn kann — wenn der Stamm nur gegen Jnſekten von außen — geſichert wird. Der vom geuͤbten Phyſiogno - men rein phyſiognomiſcher Weiſe gewaͤhlte Freund — wird Freund bleiben — und wenn ihn auch alle Welt um einiger Fehler oder Laſter willen verdammte.
Man erlaube mir, hier eine hieher gehoͤrige Tafel von zwanzig Koͤpfen vorzulegen, die alle leicht in Einem Kreiſe coexiſtiren koͤnnen; davon jeder fuͤr jeden viel trauliches und anziehendes haben kann und hat. Es iſt unter allen dieſen Geſichtern, wovon freylich manches in der Verkleinerung von ſeiner Kraft und Beſtimmtheit merklich verloren hat, nicht Eines, das mit dem andern ſo he - terogen ſey, daß nicht wechſelſeitige Achtung und Zutraulichkeit, und wenigſtens ein gewiſſer Grad von innerer phyſiognomiſcher Freundſchaft moͤglich waͤre. Alle ohne Ausnahme kommen darinn uͤberein, daß ein jeder von dieſen 20, die uͤbrigen 19. achtet und liebt — freylich jeder in beſon - derm Grade und mit einer eigenen Art der Liebe — Etwa 9. ausgenommen, iſt kein ſchwacher Kopf drunter — und keiner ohne beſonders vorzuͤgliche Talente, manche außerordentliche und allgemein anerkannte Genies. Alle haͤngen durch einen gewiſſen Grad von Bonhomie zuſammen.
Nur das fuͤg’ ich noch bey, daß gerade heute, da ich dieß ſchreibe, mir eine hellreine Stirn, ein Verſtandreiches Aug’ erſchienen, oder vielmehr das erſtemal recht nahe offenbar worden iſt — dem ich alle meine, aus bloßen Erzaͤhlungen und Uebereilungen beygebrachte Vorurtheile — mit herzlicher Freude zu Fuͤßen legte ... Nun moͤchte man von dem Manne ſagen, was man wollte, ja — er moͤchte ſo gar wider mich thun, was er wollte ..... Seine Stirn und ſein Auge waͤ - ren dem meinigen feſter Grundpfeiler wo nicht von Freundſchaft — doch von Achtung, und Ach - tung, nicht ohne Liebe.
Daß die Kunſt hoͤheres, reineres, edleres noch nichts erfunden und ausgearbeitet hat, als die alten griechiſchen Bildſaͤulen aus der beſten Zeit — kann vors erſte als ausgemachte Wahrheit angenommen bleiben! — Nun entſteht die Frage: woher dieſe hohe, wie man ſagt, uͤberirrdiſche Schoͤnheit? .. Die Antwort iſt zweyfach; entweder — „ die Kuͤnſtler hatten hoͤhere Jdeale! ſie „ imaginirten ſich vollkommenere Menſchen! ihre Kunſtwerke waren bloß neue Geſchoͤpfe ihrer ed - „ lern Dichterkraft — oder: ſie hatten eine vollkommenere Natur um ſich, und dadurch ward es „ ihnen moͤglich, ihre Jmagination ſo hoch zu ſtimmen — und ſolche Bilder darzuſtellen. “—
Die Einen alſo ſehen dieſe Werke als neue Schoͤpfungen, die Andern bloß als dichteri - ſche Nachahmungen ſchoͤnerer Natur an.
Jch bin von der letztern Meynung, und ich bin gewiß, wie ich’s von einer Sache in der Welt ſeyn kann, daß ich recht habe. Die Sache iſt wichtig, und verdiente, von einem Gelehrten — welches ich nicht bin, demonſtrirt zu werden. Jch glaube: ſie iſt der Demonſtration ſo faͤhig, als es etwas ſeyn kann.
Nur ſo viel geb’ ich der Ueberlegung aller denkenden anheim — Ganz erſchaffen kann der Menſch uͤberall nichts. Es iſt ewiges, eigenthuͤmliches, unmittheilbares Vorrecht des Weſens aller Weſen, „ dem, das da nicht iſt, zu rufen, als ob es ſey! “— Nachahmen iſt des Menſchen ewiges Thun und Laſſen; ſein Leben und Weben; ſeine Natur und ſeine Kunſt. Vom Anfange ſeines Menſchenlebens an bis an ſein Ende iſt alles, alles Nachahmung .. Das gemeinſte und das trefflichſte, was er thut — und wenn’s noch ſo ſehr ſein Werk, Geſchoͤpf ſeiner Haͤnde, und Gemaͤcht ſeines Geiſtes zu ſeyn ſcheint. Kein Menſch erſchafft ſich eine Sprache. Alle Sprache iſt Nachahmung — Kein Menſch erſchafft ſich eine Schrift. Alle Schrift iſt Nachah - mung — kein Menſch erſchafft ein Bild — alle ſeine Bilder ſind Nachahmungen.
Das41Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.Das Kind des Franzoſen lernt Franzoͤſiſch, des Deutſchen deutſch. Jeder Schuͤler eines Mahlers ahmt gluͤcklicher oder ungluͤcklicher die Manier oder den Styl ſeines Meiſters nach.
Es ließe ſich durch die vollkommenſte Jnduktion unwiderſprechlich darthun: daß jeder Mah - ler ſeinen oder — ſeine Meiſter — die um ihn lebende Natur ſeines Zeitalters, und ſich ſelbſt kopiert hat. So jeder Bildhauer; ſo jeder Schriftſteller; ſo jeder Patriot. Die eigene Manier eines Genies in der Kunſt, Wiſſenſchaft und Tugend iſt bloß, die durch ſeine beſondere Lage modi - fizirte Nachahmung ſeines Helden.
Eine Wahrheit von ſo millionenfachen Beweiſen — darf ſie ohne Unverſchaͤmtheit — darf ſie im Ernſte in Zweifel gezogen werden? — Jch glaub’ es nicht! Man nenne ſich nur die Namen Raphael, Rubens, Rembrand, Vandyk — Oßian, Homer, Milton, Klopſtock — man laſſe ſich ihre Werke nur durch den Kopf laufen — die herrlichſten Originale — und dennoch nur Kopiſten — ihrer Meiſter, der Natur, und ihrer ſelbſt. Sie ſahen nur individuell die Natur, durch das Medium der Werke ihrer Meiſter und Vorbilder — das machte ſie zu Originalen und Genies. Der ungenialiſche Nachahmer — ahmt nur den Meiſter oder die Natur nach, ohne Theil - nehmung, ohne Tinktur ſeiner Verſchwiſterung mit der nachgeahmten Sache; er zeichnet eigent - lich nur durch. Nicht ſo, wer Original iſt, das Genie. Er ahmt zwar auch nach — aber er zeichnet nicht durch — er ſetzt ſeine Nachahmungen nicht wie ein Flickwerk zuſammen. Er ſchmilzt ſie durch einen Zuſatz ſeiner theilnehmenden Jndividualitaͤt zu einem homogenen Ganzen — und dieß homogene Ganze iſt ſo neu, ſo von allen andern Zuſammenflickungen ſeines Zeitalters ver - ſchieden, daß man’s neues Geſchoͤpf, Jdeal, Erfindung heißt. Nur ſo, wie der Chymiſt Schoͤpfer der Metalle iſt — nur ſo der Mahler der Gemaͤhlde; — der Bildhauer ſeiner Bilder.
Schoͤne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunſt ſind alſo immer ganz zuverlaͤßi - ges Siegel und Pfand — ſchoͤnerer Urbilder, ſchoͤnerer Natur — und eines Auges, das gebildet war, von dieſen Schoͤnheiten affizirt und hingeriſſen zu werden. Was Aug’ ohne Licht iſt, was Weib ohne Mann — iſt Genie ohne affizirende Sinnlichkeit außer ſich. Es wird von ſeinem Zeit - alter eben ſo ſehr geſtimmt, als es hinwieder ſein Zeitalter weckt und ſtimmt. Es giebt nur umge - ſchmolzen, zuſammengeſchmolzen ſeinem Zeitalter zuruͤck, was es an einfachen Jngredienzen er - hielt. — Welcher ſeichte Kopf — oder welcher Philoſoph von Profeſſion und Praͤtenſion — wirdPhyſ. Fragm. III Verſuch. Funs42IV. Fragment. uns denn bereden: „ Die griechiſchen Kuͤnſtler haben nicht nach der Natur gearbeitet, nicht aus der „ wuͤrklichen Koͤrperwelt, die ſie umgab, ihre Sinnen unmittelbar affizirte, geſchoͤpft — ſondern „ ihre Werke ſeyen ihre eigenen Geſchoͤpfe? Ganz Geſchoͤpfe ihrer gluͤcklichern Einbildungskraft? „ Sie haben gleichſam Erſcheinungen aus hoͤhern Welten zu ihren Muſtern genommen? “... Gut; wenn ſie ſo uͤbermenſchlich, ſo goͤttlich aus ſich ſelber, ohne Beyhuͤlfe wuͤrklicher Weſen außer ſich erſchaffen konnten — oder wenn ſie gar Goͤttererſcheinungen gewuͤrdigt wurden ... Jch denke, ſo werden wenigſtens ſie, dieſe Gluͤcklichen, dieſe außerordentlichſten Menſchen, von nicht ganz ge - meiner, niedriger Bildung geweſen ſeyn? .. Denn ſicherlich — von Hogarths Carrikaturen kei - ne — konnte den Apoll erſchaffen! ... O! was ich mich ſchaͤmen muß, das zu ſagen! ... Jm Ernſte! woher dieſe Erſcheinungen aus der idealiſchen Welt? aus dem Geiſterreiche „ unkoͤrperli - „ cher Schoͤnheiten? “.... Gerade daher, woher alle Traͤume aller Traͤumenden! — alle Werke aller Wachenden! — Aus der Welt, die ſie umgab! aus den Meiſtern, die ihnen vorgiengen! aus ihrer individuellen Organiſation, die durch die beyden vorhergehenden Dinge ſo und ſo affizirt wurde! — Warum kamen ihnen dieſe Erſcheinungen? und warum kommen ſie uns nicht? — Ganz einfaͤltig deßwegen, weil ſie ſchoͤnere Menſchen vor ſich hatten; wir hingegen bloß die Bild - ſaͤulen dieſer edlern Geſchoͤpfe! — Schoͤnere Menſchen, um und an ſich, wo ſie ſtunden und gien - gen; nicht bloß eine artige Beyſchlaͤferinn, wie bald ein jeder Kuͤnſtler hat; oder eine Tochter, wie Carl Maratti, der doch ſchon mit dem ſteten Anſchauen ihrer Schoͤnheit, welche noch die Vater - liebe reinigte und erhoͤhete, ſeine himmliſchen Marienbilder ſchuff — Schoͤnere Menſchen! und — ſchoͤner, woher! ... Nicht nur ſag’ ich: „ Frage den, der ſie ſchuff! “ſondern — „ ſieh auf Kli - „ ma! gluͤckliche und abhaͤrtende Zeiten! Lebensart! “— Noch itzt, ſagt Winkelmann — — doch wir wollen ihn hieruͤber im folgenden Fragmente hoͤren.
Jeder, der die Schwelle der Philoſophie betritt, weiß, und wenn er’s nicht wuͤßte, waͤr’s drum nicht weniger wahr — „ Nichts koͤmmt in die Jmagination, als vermittelſt der Sinne. “— Gemeinplatz — aber ewig wahrer Gemeinplatz! Jedes Jdeal, ſo hoch es uͤber unſere Kunſt, Jma - gination, Gefuͤhl erhaben ſeyn mag, iſt doch nichts, als Zuſammenſchmelzung von geſehenen Wuͤrklichkeiten. Jmmer und ewig richtet ſich die Kunſt allein nach der Natur — und nach dem, was ſie geſehen und gehoͤret hat. Sie iſt nichts, als uͤbel - oder wohllautender Wiederhall der inuns43Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung. uns zu einer Empfindung zuſammentreffenden ſinnlichen Wahrnehmungen deſſen, was außer uns iſt.
Es iſt ſo fern, daß die Kunſt, ohne und außer der Natur, idealiſiren koͤnne — daß ich keck behaupte — „ ſie kann’s nicht einmal bey und vor der Natur! “— Furchtbares Paradox! Mahler, Bildhauer und Dichter — werdet ihr nicht uͤber mich herfallen? — Dennoch iſt’s durchaus nicht Begierde, etwas ſonderbares zu ſagen — wie uns alle, die nichts ſonderbares zu ſagen wiſſen, und alles vorgeſprochne nur nachſprechen, vorgeſchriebne ehrerbietig und ſklaviſch nachſchreiben, un - aufhoͤrlich nach aller Jahrhunderte Schulmode, vorwerfen