PRIMS Full-text transcription (HTML)
Hamburgiſche Dramaturgie.
[figure]
Erſter Band.
Hamburg. In Commiſſion bey J. H. Cramer,in Bremen.

Hamburgiſche Dramaturgie. Ankuͤndigung.

Es wird ſich leicht errathen laſſen, daß die neue Verwaltung des hieſigen Theaters die Veranlaſſung des gegenwaͤrtigen Blattes iſt.

Der Endzweck deſſelben ſoll den guten Abſich - ten entſprechen, welche man den Maͤnnern, die ſich dieſer Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beymeſſen kann. Sie haben ſich ſelbſt hinlaͤnglich daruͤber erklaͤrt, und ihre Aeuſſerun - gen ſind, ſowohl hier, als auswaͤrts, von dem feinern Theile des Publikums mit dem Beyfalle aufgenommen worden, den jede freywillige Be - foͤrderung des allgemeinen Beſten verdienet, und zu unſern Zeiten ſich verſprechen darf.

*Frey -

Freylich giebt es immer und uͤberall Leute, die, weil ſie ſich ſelbſt am beſten kennen, bey jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabſichten erblicken. Man koͤnnte ihnen dieſe Beruhigung ihrer ſelbſt gern goͤnnen; aber, wenn die ver - meinten Nebenabſichten ſie wider die Sache ſelbſt auf bringen; wenn ihr haͤmiſcher Neid, um jene zu vereiteln, auch dieſe ſcheitern zu laſſen, be - muͤht iſt: ſo muͤſſen ſie wiſſen, daß ſie die ver - achtungswuͤrdigſten Glieder der menſchlichen Geſellſchaft ſind.

Gluͤcklich der Ort, wo dieſe Elenden den Ton nicht angeben; wo die groͤßere Anzahl wohlge - ſinnter Buͤrger ſie in den Schranken der Ehr - erbietung haͤlt, und nicht verſtattet, daß das Beſſere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotiſche Abſichten ein Vorwurf ihres ſpoͤttiſchen Aberwitzes werden!

So gluͤcklich ſey Hamburg in allem, woran ſeinem Wohlſtande und ſeiner Freyheit gelegen: denn es verdienet, ſo gluͤcklich zu ſeyn!

Als Schlegel, zur Aufnahme des daͤniſchen Theaters, (ein deutſcher Dichter des daͤniſchenThea -Theaters!) Vorſchlaͤge that, von welchen es Deutſchland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht wor - den, ſie zur Aufnahme des unſrigen zu thun: war dieſes der erſte und vornehmſte, 〟daß man 〟den Schauſpielern ſelbſt die Sorge nicht uͤber - 〟laſſen muͤſſe, fuͤr ihren Verluſt und Gewinnſt 〟zu arbeiten. (*)Werke, dritter Theil, S. 252.Die Principalſchaft unter ihnen hat eine freye Kunſt zu einem Handwerke herabgeſetzt, welches der Meiſter mehrentheils deſto nachlaͤßiger und eigennuͤtziger treiben laͤßt, je gewiſſere Kunden, je mehrere Abnaͤhmer, ihm Nothdurft oder Luxus verſprechen.

Wenn hier alſo bis itzt auch weiter noch nichts geſchehen waͤre, als daß eine Geſellſchaft von Freunden der Buͤhne Hand an das Werk ge - legt, und nach einem gemeinnuͤtzigen Plane arbeiten zu laſſen, ſich verbunden haͤtte: ſo waͤre dennoch, blos dadurch, ſchon viel gewonnen. Denn aus dieſer erſten Veraͤnderung koͤnnen, auch bey einer nur maͤßigen Beguͤnſtigung des Publikums, leicht und geſchwind alle andere* 2Ver -Verbeſſerungen erwachſen, deren unſer Theater bedarf.

An Fleiß und Koſten wird ſicherlich nichts geſparet werden: ob es an Geſchmack und Ein - ſicht fehlen duͤrfte, muß die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in ſeiner Gewalt, was es hierinn mangelhaft finden ſollte, abſtellen und verbeſſern zu laſſen? Es komme nur, und ſehe und hoͤre, und pruͤfe und richte. Seine Stimme ſoll nie geringſchaͤtzig verhoͤret, ſein Urtheil ſoll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur daß ſich nicht jeder kleine Kritikaſter fuͤr das Publikum halte, und derjenige, deſſen Er - wartungen getaͤuſcht werden, auch ein wenig mit ſich ſelbſt zu Rathe gehe, von welcher Art ſeine Erwartungen geweſen. Nicht jeder Lieb - haber iſt Kenner; nicht jeder, der die Schoͤn - heiten Eines Stuͤcks, das richtige Spiel Eines Acteurs empfindet, kann darum auch den Werth aller andern ſchaͤtzen. Man hat keinen Ge - ſchmack, wenn man nur einen einſeitigen Ge - ſchmack hat; aber oft iſt man deſto partheyiſcher. DerDer wahre Geſchmack iſt der allgemeine, der ſich uͤber Schoͤnheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuͤgen und Ent - zuͤcken erwartet, als ſie nach ihrer Art gewaͤhren kann.

Der Stuffen ſind viel, die eine werdende Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchſteigen hat; aber eine verderbte Buͤhne iſt von dieſer Hoͤhe, natuͤrlicher Weiſe, noch weiter entfernt: und ich fuͤrchte ſehr, daß die deutſche mehr dieſes als jenes iſt.

Alles kann folglich nicht auf einmal geſchehen. Doch was man nicht wachſen ſieht, findet man nach einiger Zeit gewachſen. Der Langſamſte, der ſein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geſchwinder, als der ohne Ziel herum irret.

Dieſe Dramaturgie ſoll ein kritiſches Regiſter von allen aufzufuͤhrenden Stuͤcken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunſt, ſowohl des Dichters, als des Schauſpielers, hier thun wird. Die Wahl der Stuͤcke iſt keine Kleinig - keit: aber Wahl ſetzt Menge voraus; und wenn* 3nichtnicht immer Meiſterſtuͤcke aufgefuͤhret werden ſollten, ſo ſieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indeß iſt es gut, wenn das Mittelmaͤßige fuͤr nichts mehr ausgegeben wird, als es iſt; und der unbefriedigte Zuſchauer wenigſtens daran urtheilen lernt. Einem Menſchen von geſundem Verſtande, wenn man ihm Geſchmack beybringen will, braucht man es nur aus einan - der zu ſetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewiſſe mittelmaͤßige Stuͤcke muͤſſen auch ſchon darum beybehalten werden, weil ſie gewiſſe vorzuͤgliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur ſeine ganze Staͤrke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine muſikaliſche Kompoſition, weil der Text dazu elend iſt.

Die groͤßte Feinheit eines dramatiſchen Rich - ters zeiget ſich darinn, wenn er in jedem Falle des Vergnuͤgens und Mißvergnuͤgens, unfehlbar zu unterſcheiden weiß, was und wie viel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schau - ſpielers, zu ſetzen ſey. Den einen um etwas tadeln, was der andere verſehen hat, heißt beyde verderben. Jenem wird der Muth benommen, und dieſer wird ſicher gemacht.

Be -

Beſonders darf es der Schauſpieler verlan - gen, daß man hierinn die groͤßte Strenge und Unpartheylichkeit beobachte. Die Rechtferti - gung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; ſein Werk bleibt da, und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunſt des Schauſpielers iſt in ihren Werken tranſitoriſch. Sein Gutes und Schlim - mes rauſchet gleich ſchnell vorbey; und nicht ſelten iſt die heutige Laune des Zuſchauers mehr Urſache, als er ſelbſt, warum das eine oder das andere einen lebhaftern Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine ſchoͤne Figur, eine bezaubernde Mine, ein ſprechendes Auge, ein reitzender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodiſche Stimme: ſind Dinge, die ſich nicht wohl mit Worten aus - druͤcken laſſen. Doch ſind es auch weder die einzigen noch groͤßten Vollkommenheiten des Schauſpielers. Schaͤtzbare Gaben der Natur, zu ſeinem Berufe ſehr noͤthig, aber noch lange nicht ſeinen Beruf erfuͤllend! Er muß uͤberall mit dem Dichter denken; er muß da, wo demDich -Dichter etwas Menſchliches wiederfahren iſt, fuͤr ihn denken.

Man hat allen Grund, haͤufige Beyſpiele hiervon ſich von unſern Schauſpielern zu ver - ſprechen. Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht hoͤher ſtimmen. Beide ſcha - den ſich ſelbſt: der zu viel verſpricht, und der zu viel erwartet.

Heute geſchieht die Eroͤffnung der Buͤhne. Sie wird viel entſcheiden; ſie muß aber nicht alles entſcheiden ſollen. In den erſten Tagen werden ſich die Urtheile ziemlich durchkreuzen. Es wuͤrde Muͤhe koſten, ein ruhiges Gehoͤr zu erlangen. Das erſte Blatt dieſer Schrift ſoll daher nicht eher, als mit dem Anfange des kuͤnftigen Monats erſcheinen.

[1]

Hamburgiſche Dramaturgie. Erſtes Stuͤck.

Das Theater iſt den 22ſten vorigen Monats mit dem Trauerſpiele, Olint und So - phronia, gluͤcklich eroͤfnet worden.

Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutſchen Originale anfangen, welches hier noch den Reitz der Neuheit habe. Der innere Werth dieſes Stuͤckes konnte auf eine ſolche Ehre keinen Anſpruch machen. Die Wahl waͤre zu tadeln, wenn ſich zeigen lieſſe, daß man eine viel beſſere haͤtte treffen koͤnnen.

Olint und Sophronia iſt das Werk eines jun - gen Dichters, und ſein unvollendet hinterlaſſenes Werk. Cronegk ſtarb allerdings fuͤr unſere Buͤhne zu fruͤh; aber eigentlich gruͤndet ſich ſeinARuhm2Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urtheile ſeiner Freunde, fuͤr dieſelbe noch haͤtte leiſten koͤnnen, als was er wirklich geleiſtet hat. Und welcher dramatiſche Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haͤtte in ſeinem ſechs und zwan - zigſten Jahre ſterben koͤnnen, ohne die Kritik uͤber ſeine wahren Talente nicht eben ſo zweifel - haft zu laſſen?

Der Stoff iſt die bekannte Epiſode beym Taſſo. Eine kleine ruͤhrende Erzehlung in ein ruͤhrendes Drama umzuſchaffen, iſt ſo leicht nicht. Zwar koſtet es wenig Muͤhe, neue Verwickelungen zu erdenken, und einzelne Empfindungen in Scenen auszudehnen. Aber zu verhuͤten wiſſen, daß dieſe neue Verwickelungen weder das Intereſſe ſchwaͤchen, noch der Wahrſcheinlichkeit Eintrag thun; ſich aus dem Geſichtspunkte des Erzehlers in den wahren Standort einer jeden Perſon ver - ſetzen koͤnnen; die Leidenſchaften, nicht beſchrei - ben, ſondern vor den Augen des Zuſchauers ent - ſtehen, und ohne Sprung, in einer ſo illuſori - ſchen Stetigkeit wachſen zu laſſen, daß dieſer ſym - pathiſiren muß, er mag wollen oder nicht: das iſt es, was dazu noͤthig iſt; was das Genie, ohne es zu wiſſen, ohne es ſich langweilig zu erklaͤren, thut, und was der blos witzige Kopf nachzu - machen, vergebens ſich martert.

Taſſo3

Taſſo ſcheinet, in ſeinem Olint und Sophronia, den Virgil, in ſeinem Niſus und Euryalus, vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in dieſen die Staͤrke der Freundſchaft geſchildert hatte, wollte Taſſo in jenen die Staͤrke der Liebe ſchildern. Dort war es heldenmuͤthiger Dienſt - eifer, der die Probe der Freundſchaft veran - laßte: hier iſt es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit giebt, ſich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bey dem Taſſo nur das Mittel iſt, wodurch er die Liebe ſo wirkſam zeiget, iſt in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieſer, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbeſſerung weiter aber auch nichts, als fromm! Denn ſie hat ihn ver - leitet, was bey dem Taſſo ſo ſimpel und natuͤr - lich, ſo wahr und menſchlich iſt, ſo verwickelt und romanenhaft, ſo wunderbar und himmliſch zu machen, daß nichts daruͤber!

Beym Taſſo iſt es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Chriſt noch Mahomedaner iſt, ſondern ſich aus beiden Religionen einen eigenen Aber - glauben zuſammengeſponnen hat, welcher dem Aladin den Rath giebt, das wunderthaͤtige Marienbild aus dem Tempel in die Moſchee zu bringen. Warum machte Cronegk aus dieſem Zauberer einen mahomedaniſchen Prieſter? A 2Wenn4Wenn dieſer Prieſter in ſeiner Religion nicht eben ſo unwiſſend war, als es der Dichter zu ſeyn ſcheinet, ſo konnte er einen ſolchen Rath unmoͤg - lich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moſcheen. Cronegk verraͤth ſich in mehrern Stuͤcken, daß ihm eine ſehr unrichtige Vorſtellung von dem mahomedaniſchen Glauben beygewohnet. Der groͤbſte Fehler aber iſt, daß er eine Religion uͤberall des Polytheismus ſchul - dig macht, die faſt mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moſchee heißt ihm 〟ein Sitz der falſchen Goͤtter, und den Prieſter ſelbſt laͤßt er ausrufen:

〟So wollt ihr euch noch nicht mit Rach und Strafe ruͤſten, 〟Ihr Goͤtter? Blitzt, vertilgt, das freche Volk der Chriſten!

Der ſorgſame Schauſpieler hat in ſeiner Tracht das Coſtume, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten geſucht; und er muß ſolche Unge - reimtheiten ſagen!

Beym Taſſo koͤmmt das Marienbild aus der Moſchee weg, ohne daß man eigentlich weiß, ob es von Menſchenhaͤnden entwendet worden, oder ob eine hoͤhere Macht dabey im Spiele ge - weſen. Cronegk macht den Olint zum Thaͤter. Zwar verwandelt er das Marienbild in 〟einBild5Bild des Herrn am Kreuz; aber Bild iſt Bild, und dieſer armſelige Aberglaube giebt dem Olint eine ſehr veraͤchtliche Seite. Man kann ihm unmoͤglich wieder gut werden, daß er es wagen koͤnnen, durch eine ſo kleine That ſein Volk an den Rand des Verderbens zu ſtellen. Wenn er ſich hernach freywillig dazu bekennet: ſo iſt es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Groß - muth. Beym Taſſo laͤßt ihn blos die Liebe die - ſen Schritt thun; er will Sophronien retten, oder mit ihr ſterben; mit ihr ſterben, blos um mit ihr zu ſterben; kann er mit ihr nicht Ein Bette beſteigen, ſo ſey es Ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den nehmlichen Pfahl gebun - den, beſtimmt, von dem nehmlichen Feuer ver - zehret zu werden, empfindet er blos das Gluͤck einer ſo ſuͤßen Nachbarſchaft, denket an nichts, was er jenſeit dem Grabe zu hoffen habe, und wuͤnſchet nichts, als daß dieſe Nachbarſchaft noch enger und vertrauter ſeyn moͤge, daß er Bruſt gegen Bruſt druͤcken, und auf ihren Lip - pen ſeinen Geiſt verhauchen duͤrfe.

Dieſer vortreffliche Kontraſt zwiſchen einer lieben, ruhigen, ganz geiſtigen Schwaͤrmerinn, und einem hitzigen, begierigen Juͤnglinge, iſt beym Cronegk voͤllig verlohren. Sie ſind beide von der kaͤlteſten Einfoͤrmigkeit; beide haben nichts als das Maͤrterthum im Kopfe; und nichtA 3genug,6genug, daß Er, daß Sie, fuͤr die Religion ſterben wollen; auch Evander wollte, auch Se - rena haͤtte nicht uͤbel Luſt dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragiſchen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrift das Trauerſpiel uͤberhaupt. Wenn heldenmuͤthige Geſinnungen Bewunde - rung erregen ſollen: ſo muß der Dichter nicht zu verſchwenderiſch damit umgehen; denn was man oͤfters, was man an mehrern ſieht, hoͤret man auf zu bewundern. Hierwider hatte ſich Cronegk ſchon in ſeinem Codrus ſehr verſuͤndi - get. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum frey - willigen Tode fuͤr daſſelbe, haͤtte den Codrus allein auszeichnen ſollen: er haͤtte als ein einzel - nes Weſen einer ganz beſondern Art da ſtehen muͤſſen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Eleſinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? ſind alle gleich bereit, ihr Leben dem Va - terlande aufzuopfern; unſere Bewunderung wird getheilt, und Codrus verlieret ſich unter der Men - ge. So auch hier. Was in Olint und Sophronia Chriſt iſt, das alles haͤlt gemartert werden und ſterben, fuͤr ein Glas Waſſer trinken. Wir hoͤren dieſe frommen Bravaden ſo oft, aus ſo verſchie - denem Munde, daß ſie alle Wirkung verlieren.

Die7

Die zweyte Anmerkung betrift das chriſtliche Trauerſpiel insbeſondere. Die Helden deſſelben ſind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der geſun - den Vernunft zu laut erſchallet, als daß jeder Raſender, der ſich muthwillig, ohne alle Noth, mit Verachtung aller ſeiner buͤrgerlichen Oblie - genheiten, in den Tod ſtuͤrzet, den Titel eines Maͤrtyrers ſich anmaßen duͤrfte. Wir wiſſen itzt zu wohl, die falſchen Maͤrtyrer von den wah - ren zu unterſcheiden; wir verachten jene eben ſo ſehr, als wir dieſe verehren, und hoͤchſtens koͤn - nen ſie uns eine melancholiſche Thraͤne uͤber die Blindheit und den Unſinn auspreſſen, deren wir die Menſchheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er - blicken. Doch dieſe Thraͤne iſt keine von den angenehmen, die das Trauerſpiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu ſei - nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lauterſten und triftigſten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit ſetze, den Schritt zu thun, durch den er ſich der Gefahr blos ſtellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich ſuchen, nicht hoͤhniſch ertrotzen laſſe! Sonſt wird uns ſein frommer Held zum Abſcheu, und die Religion ſelbſt, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe ſchon beruͤhret, daß es nur ein eben ſo nichtswuͤrdiger Aberglaube ſeyn konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach -ten,8ten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moſchee wieder zu entwenden. Es entſchul - diget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben, wo ein ſolcher Aberglaube allgemein war, und bey vielen guten Eigenſchaften beſtehen konnte; daß es noch Laͤnder giebt, wo er der frommen Einfalt nichts befremdendes haben wuͤrde. Denn er ſchrieb ſein Trauerſpiel eben ſo wenig fuͤr jene Zeiten, als er es beſtimmte, in Boͤh - men oder Spanien geſpielt zu werden. Der gute Schriftſteller, er ſey von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht blos ſchreibet, ſeinen Witz, ſeine Gelehrſamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchteſten und Beſten ſeiner Zeit und ſei - nes Landes in Augen, und nur was dieſen ge - fallen, was dieſe ruͤhren kann, wuͤrdiget er zu ſchreiben. Selbſt der dramatiſche, wenn er ſich zu dem Poͤbel herablaͤßt, laͤßt ſich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu beſſern; nicht aber ihn in ſeinen Vorurtheilen, ihn in ſeiner unedeln Denkungsart zu beſtaͤrken.

Ham -[9]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zweytes Stuͤck.

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das chriſt - liche Trauerſpiel betreffend, wuͤrde uͤber die Bekehrung der Clorinde zu machen ſeyn. So uͤberzeugt wir auch immer von den un - mittelbaren Wirkungen der Gnade ſeyn moͤgen, ſo wenig koͤnnen ſie uns doch auf dem Theater gefal - len, wo alles, was zu dem Charakter der Perſonen gehoͤret, aus den natuͤrlichſten Urſachen entſprin - gen muß. Wunder dulden wir da nur in der phyſikaliſchen Welt; in der moraliſchen muß alles ſeinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moraliſchen Welt ſeyn ſoll. Die Bewegungsgruͤnde zu jedem Ent - ſchluſſe, zu jeder Aenderung der geringſten Ge - danken und Meynungen, muͤſſen, nach Maaß - gebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegen einander abgewogen ſeyn, und jene muͤſſen nie mehr hervorbringen, als ſie nach derBſtreng -10ſtrengſten Wahrheit hervor bringen koͤnnen. Der Dichter kann die Kunſt beſitzen, uns, durch Schoͤnheiten des Detail, uͤber Mißverhaͤltniſſe dieſer Art zu taͤuſchen; aber er taͤuſcht uns nur einmal, und ſobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beyfall, den er uns abgelau - ſchet hat, zuruͤck. Dieſes auf die vierte Scene des dritten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haͤtte bewegen koͤnnen, aber viel zu unvermoͤgend ſind, Bekeh - rung an einer Perſon zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthuſiasmus hat. Beym Taſſo nimmt Clorinde auch das Chriſtenthum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erſt, nachdem ſie kurz zuvor erfahren, daß ihre Aeltern dieſem Glauben zugethan geweſen: feine, erhebliche Umſtaͤnde, durch welche die Wirkung einer hoͤ - hern Macht in die Reihe natuͤrlicher Begeben - heiten gleichſam mit eingeflochten wird. Nie - mand hat es beſſer verſtanden, wie weit man in dieſem Stuͤcke auf dem Theater gehen duͤrfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beyſpiel und Bitten, durch Großmuth und Ermahnungen beſtuͤrmet, und bis in das Innerſte erſchuͤttert worden, laͤßt er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er ſo viel Großes ſieht, mehr vermu - then, als glauben. Und vielleicht wuͤrde Vol -taire11taire auch dieſe Vermuthung unterdruͤckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zufchauers etwas haͤtte geſchehen muͤſſen.

Selbſt der Polyeukt des Corneille iſt, in Ab - ſicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es ſeine Nachahmungen immer mehr ge - worden ſind, ſo duͤrfte die erſte Tragoͤdie, die den Namen einer chriſtlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten ſeyn. Ich meyne ein Stuͤck, in welchem einzig der Chriſt als Chriſt uns intereſſiret. Iſt ein ſolches Stuͤck aber auch wohl moͤglich? Iſt der Charakter des wah - ren Chriſten nicht etwa ganz untheatraliſch? Streiten nicht etwa die ſtille Gelaſſenheit, die unveraͤnderliche Sanftmuth, die ſeine weſent - lichſten Zuͤge ſind, mit dem ganzen Geſchaͤfte der Tragoͤdie, welches Leidenſchaften durch Leiden - ſchaften zu reinigen ſucht? Widerſpricht nicht etwa ſeine Erwartung einer belohnenden Gluͤck - ſeligkeit nach dieſem Leben, der Uneigennuͤtzigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Buͤhne unternommen und vollzogen zu ſehen wuͤnſchen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie - rigkeiten es zu uͤberſteigen vermag, dieſe Bedenk - lichkeiten unwiderſprechlich widerlegt, waͤre alſo mein Rath: man lieſſe alle bisherige chriſt - liche Trauerſpiele unaufgefuͤhret. Dieſer Rath,B 2wel -12welcher aus den Beduͤrfniſſen der Kunſt herge - nommen iſt, welcher uns um weiter nichts, als ſehr mittelmaͤßige Stuͤcke bringen kann, iſt dar - um nichts ſchlechter, weil er den ſchwaͤchern Ge - muͤthern zu Statten koͤmmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn ſie Geſin - nungen, auf die ſie ſich nur an einer heiligern Staͤte gefaßt machen, im Theater zu hoͤren be - kommen. Das Theater ſoll niemanden, wer es auch ſey, Anſtoß geben; und ich wuͤnſchte, daß es auch allem genommenen Anſtoße vorbeugen koͤnnte und wollte.

Cronegk hatte ſein Stuͤck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uͤbrige hat eine Feder in Wien dazu gefuͤget; eine Feder denn die Arbeit eines Kopfes iſt dabey nicht ſehr ſichtbar. Der Ergaͤnzer hat, allem Anſehen nach, die Geſchichte ganz anders geendet, als ſie Cronegk zu enden Willens gewe - ſen. Der Tod loͤſet alle Verwirrungen am beſten; darum laͤßt er beide ſterben, den Olint und die Sophronia. Beym Taſſo kommen ſie beide davon; denn Clorinde nimmt ſich mit der uneigennuͤtzigſten Großmuth ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freylich ſchwer zu errathen, wie er zwey Nebenbuhlerinnen aus einander ſetzen wollen, ohne den Tod zu Huͤlfe zu rufen. In einem an - dern noch ſchlechtern Trauerſpiele, wo eine vonden13den Hauptperſonen ganz aus heiler Haut ſtarb, fragte ein Zuſchauer ſeinen Nachbar: Aber woran ſtirbt ſie denn? Woran? am fuͤnften Akte; antwortete dieſer. In Wahrheit; der fuͤnfte Akt iſt eine garſtige boͤſe Staupe, die manchen hinreißt, dem die erſten vier Akte ein weit laͤngeres Leben verſprachen.

Doch ich will mich in die Kritik des Stuͤckes nicht tiefer einlaſſen. So mittelmaͤßig es iſt, ſo ausnehmend iſt es vorgeſtellet worden. Ich ſchweige von der aͤußern Pracht; denn dieſe Ver - beſſerung unſers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Kuͤnſte, deren Huͤlfe dazu noͤthig iſt, ſind bey uns in eben der Vollkommenheit, als in jedem andern Lande; nur die Kuͤnſtler wol - len eben ſo bezahlt ſeyn, wie in jedem andern Lande.

Man muß mit der Vorſtellung eines Stuͤckes zufrieden ſeyn, wenn unter vier, fuͤnf Perſonen, einige vortrefflich, und die andern gut geſpielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaͤnger oder ſonſt ein Nothnagel, ſo ſehr beleidiget, daß er uͤber das Ganze die Naſe ruͤmpft, der reiſe nach Utopien, und beſuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick iſt.

Herr Eckhof war Evander; Evander iſt zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indeß mag dieſer Mann eine Rolle machen, welche er will;B 3man14man erkennet ihn in der kleinſten noch immer fuͤr den erſten Akteur, und betauert, auch nicht zu - gleich alle uͤbrige Rollen von ihm ſehen zu koͤn - nen. Ein ihm ganz eigenes Talent iſt dieſes, daß er Sittenſpruͤche und allgemeine Betrach - tungen, dieſe langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anſtande, mit einer Innigkeit zu ſagen weiß, daß das Trivialſte von dieſer Art, in ſeinem Munde Neuheit und Wuͤrde, das Froſtigſte Feuer und Leben erhaͤlt.

Die eingeſtreuten Moralen ſind Cronegks beſte Seite. Er hat, in ſeinem Codrus und hier, ſo manche in einer ſo ſchoͤnen nachdruͤcklichen Kuͤrze ausgedruͤckt, daß viele von ſeinen Verſen als Sentenzen behalten, und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider ſucht er uns nur auch oͤfters gefaͤrbtes Glas fuͤr Edel - ſteine, und witzige Antitheſen fuͤr geſunden Verſtand einzuſchwatzen. Zwey dergleichen Zei - len, in dem erſten Akte, hatten eine beſondere Wir - kung auf mich. Die eine,

〟Der Himmel kann verzeihn, allein ein Prieſter nicht.

Die andere,

〟Wer ſchlimm von andern denkt, iſt ſelbſt ein Boͤſewicht.

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allge - meine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zubemer -15bemerken, durch welches ſich der Beyfall aus - druͤckt, wenn ihn die Aufmerkſamkeit nicht gaͤnz - lich ausbrechen laͤßt. Theils dachte ich: Vor - trefflich! man liebt hier die Moral; dieſes Par - terr findet Geſchmack an Maximen; auf dieſer Buͤhne koͤnnte ſich ein Euripides Ruhm erwer - ben, und ein Sokrates wuͤrde ſie gern beſuchen. Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie ſchielend, wie falſch, wie anſtoͤßig dieſe vermeinten Maxi - men waͤren, und ich wuͤnſchte ſehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meiſten Antheil moͤge gehabt haben. Es iſt nur Ein Athen geweſen, es wird nur Ein Athen bleiben, wo auch bey dem Poͤbel das ſittliche Gefuͤhl ſo fein, ſo zaͤrtlich war, daß einer unlautern Moral wegen, Schauſpieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgeſtuͤrmet zu werden! Ich weiß wohl, die Geſinnungen muͤſſen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Per - ſon, welche ſie aͤußert, entſprechen; ſie koͤnnen alſo das Siegel der abſoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn ſie poetiſch wahr ſind, wenn wir geſtehen muͤſſen, daß dieſer Charakter, in dieſer Situation, bey dieſer Leidenſchaft, nicht anders als ſo habe urtheilen koͤnnen. Aber auch dieſe poetiſche Wahrheit muß ſich, auf einer andern Seite, der abſoluten wiederum naͤhern, und der Dichter muß nie ſo unphiloſophiſch den - ken, daß er annimmt, ein Menſch koͤnne dasBoͤſe16Boͤſe, um des Boͤſen wegen, wollen, er koͤnne nach laſterhaften Grundſaͤtzen handeln, das La - ſterhafte derſelben erkennen, und doch gegen ſich und andere damit prahlen. Ein ſolcher Menſch iſt ein Unding, ſo graͤßlich als ununterrichtend, und nichts als die armſelige Zuflucht eines ſcha - len Kopfes, der ſchimmernde Tiraden fuͤr die hoͤchſte Schoͤnheit des Trauerſpieles haͤlt. Wenn Iſmenor ein grauſamer Prieſter iſt, ſind darum alle Prieſter Iſmenors? Man wende nicht ein, daß von Prieſtern einer falſchen Religion die Rede ſey. So falſch war noch keine in der Welt, daß ihre Lehrer nothwendig Unmenſchen ſeyn muͤſſen. Prieſter haben in den falſchen Religionen, ſo wie in der wahren, Unheil ge - ſtiftet, aber nicht weil ſie Prieſter, ſondern weil ſie Boͤſewichter waren, die, zum Behuf ihrer ſchlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemißbraucht haͤtten.

Wenn die Buͤhne ſo unbeſonnene Urtheile uͤber die Prieſter uͤberhaupt ertoͤnen laͤßt, was Wunder, wenn ſich auch unter dieſen Unbeſon - nene finden, die ſie als die grade Heerſtraße zur Hoͤlle ausſchreyen?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stuͤckes, und ich wollte von dem Schauſpieler ſprechen.

Ham -[17]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drittes Stuͤck.

Und wodurch bewirkt dieſer Schauſpieler, (Hr. Eckhof) daß wir auch die gemeinſte Moral ſo gern von ihm hoͤren? Was iſt es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in ſolchem Falle eben ſo un - terhaltend finden ſollen?

Alle Moral muß aus der Fuͤlle des Herzens kommen, von der der Mund uͤbergehet; man muß eben ſo wenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen ſcheinen.

Es verſtehet ſich alſo von ſelbſt, daß die mo - raliſchen Stellen vorzuͤglich wohl gelernet ſeyn wollen. Sie muͤſſen ohne Stocken, ohne den geringſten Anſtoß, in einem ununterbrochenen Fluſſe der Worte, mit einer Leichtigkeit geſpro - chen werden, daß ſie keine muͤhſame Auskrah - mungen des Gedaͤchtniſſes, ſondern unmittelbareCEin -18Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen ſcheinen.

Eben ſo ausgemacht iſt es, daß kein falſcher Accent uns muß argwoͤhnen laſſen, der Akteur plaudere, was er nicht verſtehe. Er muß uns durch den richtigſten, ſicherſten Ton uͤberzeugen, daß er den ganzen Sinn ſeiner Worte durchdrun - gen habe.

Aber die richtige Accentuation iſt zur Noth auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit iſt der Akteur, der eine Stelle nur verſteht, noch von dem entfernt, der ſie auch zugleich empfin - det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man ſich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat, laſſen ſich ſehr richtig herſagen, auch indem ſich die Seele mit ganz andern Dingen beſchaͤftiget; aber alsdann iſt keine Empfindung moͤglich. Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig ſeyn; ſie muß ihre Aufmerkſamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu ha - ben ſcheinen. Die Empfindung iſt uͤberhaupt immer das ſtreitigſte unter den Talenten eines Schauſpielers. Sie kann ſeyn, wo man ſie nicht erkennet; und man kann ſie zu erkennen glauben, wo ſie nicht iſt. Denn die Empfin - dung iſt etwas Inneres, von dem wir nur nach ſeinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen. Nun19Nun iſt es moͤglich, daß gewiſſe Dinge in dem Baue des Koͤrpers dieſe Merkmale entweder gar nicht verſtatten, oder doch ſchwaͤchen und zwey - deutig machen. Der Akteur kann eine gewiſſe Bildung des Geſichts, gewiſſe Minen, einen gewiſſen Ton haben, mit denen wir ganz andere Faͤhigkeiten, ganz andere Leidenſchaften, ganz andere Geſinnungen zu verbinden gewohnt ſind, als er gegenwaͤrtig aͤußern und ausdruͤcken ſoll. Iſt dieſes, ſo mag er noch ſo viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er iſt mit ſich ſelbſt im Widerſpruche. Gegentheils kann ein anderer ſo gluͤcklich gebauet ſeyn; er kann ſo entſcheidende Zuͤge beſitzen; alle ſeine Muſkeln koͤnnen ihm ſo leicht, ſo geſchwind zu Gebothe ſtehen; er kann ſo feine, ſo vielfaͤltige Abaͤnderungen der Stimme in ſeiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem ſo hohen Grade begluͤckt ſeyn, daß er uns in den - jenigen Rollen, die er nicht urſpruͤnglich, ſon - dern nach irgend einem guten Vorbilde ſpielet, von der innigſten Empfindung beſeelet ſcheinen wird, da doch alles, was er ſagt und thut, nichts als mechaniſche Nachaͤffung iſt.

Ohne Zweifel iſt dieſer, ungeachtet ſeiner Gleichguͤltigkeit und Kaͤlte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeaͤffet hat, haben ſich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihmC 2ge -20geſammelt, nach denen er ſelbſt zu handeln an - faͤngt, und durch deren Beobachtung (zu Folge dem Geſetze, daß eben die Modificationen der Seele, welche gewiſſe Veraͤnderungen des Koͤr - pers hervorbringen, hinwiederum durch dieſe koͤrperliche Veraͤnderungen bewirket werden,) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorſtel - lung kraͤftig genug iſt, etwas von den nicht frey - willigen Veraͤnderungen des Koͤrpers hervorzu - bringen, aus deren Daſeyn wir faſt allein auf das innere Gefuͤhl zuverlaͤßig ſchlieſſen zu koͤnnen glauben. Ein ſolcher Akteur ſoll z. E. die aͤußerſte Wuth des Zornes ausdruͤcken; ich nehme an, daß er ſeine Rolle nicht einmal recht verſtehet, daß er die Gruͤnde dieſes Zornes weder hinlaͤnglich zu faſſen, noch lebhaft genug ſich vorzuſtellen vermag, um ſeine Seele ſelbſt in Zorn zu ſetzen. Und ich ſage; wenn er nur die allergroͤbſten Aeußerungen des Zornes, einem Akteur von urſpruͤnglicher Empfindung abgeler - net hat, und getreu nachzumachen weiß den haſtigen Gang, den ſtampfenden Fuß, den rau - hen bald kreiſchenden bald verbiſſenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirſchen der Zaͤhne u. ſ. w. wenn er, ſage ich, nur dieſe Dinge, die ſich nachmachenlaſſen,21laſſen, ſobald man will, gut nachmacht: ſo wird dadurch unfehlbar ſeine Seele ein dunkles Gefuͤhl von Zorn befallen, welches wiederum in den Koͤrper zuruͤckwirkt, und da auch diejenigen Veraͤnderungen hervorbringt, die nicht blos von unſerm Willen abhangen; ſein Geſicht wird gluͤhen, ſeine Augen werden blitzen, ſeine Muſkeln werden ſchwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu ſeyn ſcheinen, ohne es zu ſeyn, ohne im geringſten zu begreifen, warum er es ſeyn ſollte.

Nach dieſen Grundſaͤtzen von der Empfindung uͤberhaupt, habe ich mir zu beſtimmen geſucht, welche aͤußerliche Merkmale diejenige Empfin - dung begleiten, mit der moraliſche Betrachtun - gen wollen geſprochen ſeyn, und welche von die - ſen Merkmalen in unſerer Gewalt ſind, ſo daß ſie jeder Akteur, er mag die Empfindung ſelbſt haben, oder nicht, darſtellen kann. Mich duͤnkt Folgendes.

Jede Moral iſt ein allgemeiner Satz, der, als ſolcher, einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er will alſo mit Gelaſſenheit und einer gewiſſen Kaͤlte geſagt ſeyn.

Allein dieſer allgemeine Satz iſt zugleich das Reſultat von Eindruͤcken, welche individuelle Umſtaͤnde auf die handelnden Perſonen machen; er iſt kein bloßer ſymboliſcher Schluß; er iſt eineC 3ge -22generaliſirte Empfindung, und als dieſe will er mit Feuer und einer gewiſſen Begeiſterung ge - ſprochen ſeyn.

Folglich mit Begeiſterung und Gelaſſenheit, mit Feuer und Kaͤlte?

Nicht anders; mit einer Miſchung von bei - den, in der aber, nach Beſchaffenheit der Situa - tion, bald dieſes, bald jenes, hervorſticht.

Iſt die Situation ruhig, ſo muß ſich die Seele durch die Moral gleichſam einen neuen Schwung geben wollen; ſie muß uͤber ihr Gluͤck, oder ihre Pflichten, blos darum allgemeine Be - trachtungen zu machen ſcheinen, um durch dieſe All - gemeinheit ſelbſt, jenes deſto lebhafter zu genieſſen, dieſe deſto williger und muthiger zu beobachten.

Iſt die Situation hingegen heftig, ſo muß ſich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verſtehe) gleichſam von ihrem Fluge zuruͤckholen; ſie muß ihren Leidenſchaften das Anſehen der Vernunft, ſtuͤrmiſchen Ausbruͤchen den Schein vorbedaͤcht - licher Entſchlieſſungen geben zu wollen ſcheinen.

Jenes erfodert einen erhabnen und begeiſter - ten Ton; dieſes einen gemaͤßigten und feyerlichen. Denn dort muß das Raiſonnement in Affekt ent - brennen, und hier der Affekt in Raiſonnement ſich auskuͤhlen.

Die meiſten Schauſpieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen dieall -23allgemeinen Betrachtungen eben ſo ſtuͤrmiſch her - aus, als das Uebrige; und in ruhigen, beten ſie dieſelben eben ſo gelaſſen her, als das Uebrige. Daher geſchieht es denn aber auch, daß ſich die Moral weder in den einen, noch in den andern bey ihnen ausnimmt; und daß wir ſie in jenen eben ſo unnatuͤrlich, als in dieſen langweilig und kalt finden. Sie uͤberlegten nie, daß die Stuͤcke - rey von dem Grunde abſtechen muß, und Gold auf Gold brodiren ein elender Geſchmack iſt.

Durch ihre Geſtus verderben ſie vollends alles. Sie wiſſen weder, wenn ſie deren dabey machen ſollen, noch was fuͤr welche. Sie machen gemeiniglich zu viele, und zu unbedeutende.

Wenn in einer heftigen Situation die Seele ſich auf einmal zu ſammeln ſcheinet, um einen uͤberlegenden Blick auf ſich, oder auf das, was ſie umgiebt, zu werfen; ſo iſt es natuͤrlich, daß ſie allen Bewegungen des Koͤrpers, die von ih - rem bloßen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelaſſener; die Glieder alle gerathen in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruͤcken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um ſich ſchauen kann. Mit eins tritt der fortſchreitende Fuß feſt auf, die Arme ſinken, der ganze Koͤrper zieht ſich in den wagrechten Stand; eine Pauſe und dann die Reflexion. Der Mann ſteht da, in einer feyerlichen Stille, als ob er ſich nicht ſtoͤhren wollte, ſich ſelbſt zu hoͤren. Die Reflexion iſt aus, wie -24wieder eine Pauſe und ſo wie die Reflexion ab - gezielet, ſeine Leidenſchaft entweder zu maͤßigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los, oder ſetzet allmaͤlig das Spiel ſeiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Geſichte bleiben, waͤhrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Mine und Auge ſind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Mine und Auge nicht ſo urploͤtzlich in unſerer Gewalt, als Fuß und Hand. Und hierin dann, in dieſen ausdruͤckenden Minen, in dieſem entbrannten Auge, und in dem Ruheſtande des ganzen uͤbrigen Koͤrpers, beſtehet die Miſchung von Feuer und Kaͤlte, mit welcher ich glaube, daß die Moral in heftigen Situationen ge - ſprochen ſeyn will.

Mit eben dieſer Miſchung will ſie auch in ruhi - gen Situationen geſagt ſeyn; nur mit dem Unter - ſchiede, daß der Theil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kaͤltere, und welcher dort der kaͤltere war, hier der feurige ſeyn muß. Nehmlich: da die Seele, wenn ſie nichts als ſanfte Empfindun - gen hat, durch allgemeine Betrachtungen dieſen ſanften Empfindungen einen hoͤhern Grad von Leb - haftigkeit zu geben ſucht, ſo wird ſie auch die Glie - der des Koͤrpers, die ihr unmittelbar zu Gebothe ſtehen, dazu beytragen laſſen; die Haͤnde werden in voller Bewegung ſeyn; nur der Ausdruck des Ge - ſichts kann ſo geſchwind nicht nach, und in Mine und Auge wird noch die Ruhe herrſchen, aus der ſie der uͤbrige Koͤrper gern heraus arbeiten moͤchte.

Ham -[25]

Hamburgiſche Dramaturgie. Viertes Stuͤck.

Aber von was fuͤr Art ſind die Bewegungen der Haͤnde, mit welchen, in ruhigen Si - tuationen, die Moral geſprochen zu ſeyn liebet?

Von der Chironomie der Alten, das iſt, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Haͤnde vorgeſchrieben hat - ten, wiſſen wir nur ſehr wenig; aber dieſes wiſſen wir, daß ſie die Haͤndeſprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der ſich aus dem, was unſere Redner darinn zu leiſten im Stande ſind, kaum die Moͤglichkeit ſollte begreifen laſ - ſen. Wir ſcheinen von dieſer ganzen Sprache nichts als ein unartikulirtes Geſchrey behalten zu haben; nichts als das Vermoͤgen, Bewe - gungen zu machen, ohne zu wiſſen, wie dieſen Bewegungen eine fixirte Bedeutung zu geben, und wie ſie unter einander zu verbinden, daß ſieDnicht26nicht blos eines einzeln Sinnes, ſondern eines zuſammenhangenden Verſtandes faͤhig werden.

Ich beſcheide mich gern, daß man, bey den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schau - ſpieler vermengen muß. Die Haͤnde des Schau - ſpielers waren bey weiten ſo geſchwaͤtzig nicht, als die Haͤnde des Pantomimens. Bey dieſem vertraten ſie die Stelle der Sprache; bey jenem ſollten ſie nur den Nachdruck derſelben vermeh - ren, und durch ihre Bewegungen, als natuͤr - liche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verſchaffen helfen. Bey dem Pantomimen waren die Be - wegungen der Haͤnde nicht blos natuͤrliche Zei - chen; viele derſelben hatten eine conventionelle Bedeutung, und dieſer mußte ſich der Schau - ſpieler gaͤnzlich enthalten.

Er gebrauchte ſich alſo ſeiner Haͤnde ſparſa - mer, als der Pantomime, aber eben ſo wenig vergebens, als dieſer. Er ruͤhrte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verſtaͤrken konnte. Er wußte nichts von den gleichguͤl - tigen Bewegungen, durch deren beſtaͤndigen einfoͤrmigen Gebrauch ein ſo großer Theil von Schauſpielern, beſonders das Frauenzimmer, ſich das vollkommene Anſehen von Dratpuppen giebt. Bald mit der rechten, bald mit der lin - ken Hand, die Haͤlfte einer krieplichten Achte, abwaͤrts vom Koͤrper, beſchreiben, oder mitbeiden27beiden Haͤnden zugleich die Luft von ſich weg - rudern, heißt ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewiſſen Tanzmeiſtergrazie zu thun geuͤbt iſt, o! der glaubt, uns bezaubern zu koͤnnen.

Ich weiß wohl, daß ſelbſt Hogarth den Schau - ſpielern befiehlt, ihre Hand in ſchoͤnen Schlan - genlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen moͤglichen Abaͤnderungen, deren dieſe Linien, in Anſehung ihres Schwun - ges, ihrer Groͤße und Dauer, faͤhig ſind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um ſich zum Agiren dadurch geſchickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reitzes ge - laͤufig zu machen; nicht aber in der Meinung, daß das Agiren ſelbſt in weiter nichts, als in der Beſchreibung ſolcher ſchoͤnen Linien, immer nach der nehmlichen Direktion, beſtehe.

Weg alſo mit dieſem unbedeutenden Porte - bras, vornehmlich bey moraliſchen Stellen weg mit ihm! Reitz am unrechten Orte, iſt Affektation und Grimaſſe; und eben derſelbe Reitz, zu oft hinter einander wiederholt, wird kalt und end - lich eckel. Ich ſehe einen Schulknaben ſein Spruͤchelchen aufſagen, wenn der Schauſpieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand giebt, mir zureicht, oder ſeine Moral gleichſam vom Rocken ſpinnet.

D 2Jede28

Jede Bewegung, welche die Hand bey mora - liſchen Stellen macht, muß bedeutend ſeyn. Oft kann man bis in das Mahleriſche damit ge - hen; wenn man nur das Pantomimiſche vermei - det. Es wird ſich vielleicht ein andermal Gele - genheit finden, dieſe Gradation von bedeutenden zu mahleriſchen, von mahleriſchen zu pantomi - miſchen Geſten, ihren Unterſchied und ihren Gebrauch, in Beyſpielen zu erlaͤutern. Itzt wuͤrde mich dieſes zu weit fuͤhren, und ich merke nur an, daß es unter den bedeutenden Geſten eine Art giebt, die der Schauſpieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben ertheilen kann. Es ſind dieſes, mit einem Worte, die individualiſirenden Geſtus. Die Moral iſt ein allgemeiner Satz, aus den beſondern Umſtaͤnden der handelnden Perſonen gezogen; durch ſeine Allgemeinheit wird er gewiſſermaßen der Sache fremd, er wird eine Ausſchweifung, deren Be - ziehung auf das Gegenwaͤrtige von dem weniger aufmerkſamen, oder weniger ſcharfſinnigen Zu - hoͤrer, nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel giebt, dieſe Bezie - hung ſinnlich zu machen, das Symboliſche der Moral wiederum auf das Anſchauende zuruͤck - zubringen, und wann dieſes Mittel gewiſſe Geſtus ſeyn koͤnnen, ſo muß ſie der Schauſpieler ja nicht zu machen verſaͤumen.

Man29

Man wird mich aus einem Exempel am beſten verſtehen. Ich nehme es, wie mir es itzt bey - faͤllt; der Schauſpieler wird ſich ohne Muͤhe auf noch weit einleuchtendere beſinnen. Wenn Olint ſich mit der Hofnung ſchmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, daß er ſo grauſam mit den Chriſten nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: ſo kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrieg - lichkeit unſrer Hofnungen zu Gemuͤthe fuͤhren.

〟Vertraue nicht, mein Sohn, Hofnungen, die betriegen!〟

Sein Sohn iſt ein feuriger Juͤngling, und in der Jugend iſt man vorzuͤglich geneigt, ſich von der Zukunft nur das Beſte zu verſprechen.

〟Da ſie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Ju - gend oft.

Doch indem beſinnt er ſich, daß das Alter zu dem entgegen geſetzten Fehler nicht weniger ge - neigt iſt; er will den unverzagten Juͤngling nicht ganz niederſchlagen, und faͤhret fort:

〟Das Alter quaͤlt ſich ſelbſt, weil es zu wenig hoft.

Dieſe Sentenzen mit einer gleichguͤltigen Aktion, mit einer nichts als ſchoͤnen Bewegung des Ar - mes begleiten, wuͤrde weit ſchlimmer ſeyn, als ſie ganz ohne Aktion herſagen. Die einzige ihnen angemeſſene Aktion iſt die, welche ihreD 3All -30Allgemeinheit wieder auf das Beſondere ein - ſchraͤnkt. Die Zeile,

〟Da ſie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend ſich〟

muß in dem Tone, mit dem Geſtu der vaͤterli - chen Warnung, an und gegen den Olint ge - ſprochen werden, weil Olint es iſt, deſſen uner - fahrne leichtglaͤubige Jugend bey dem ſorgſamen Alten dieſe Betrachtung veranlaßt. Die Zeile hingegen,

〟Das Alter quaͤlt ſich ſelbſt, weil es zu wenig hoft〟

erfordert den Ton, das Achſelzucken, mit dem wir unſere eigene Schwachheiten zu geſtehen pflegen, und die Haͤnde muͤſſen ſich nothwendig gegen die Bruſt ziehen, um zu bemerken, daß Evander dieſen Satz aus eigener Erfahrung habe, daß er ſelbſt der Alte ſey, von dem er gelte.

Es iſt Zeit, daß ich von dieſer Ausſchweifung uͤber den Vortrag der moraliſchen Stellen, wieder zuruͤckkomme. Was man Lehrreiches darinn findet, hat man lediglich den Beyſpielen des Hrn. Eckhof zu danken; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abſtrahiren geſucht. Wie leicht, wie angenehm iſt es, einem Kuͤnſtler nachzufor - ſchen, dem das Gute nicht blos gelingt, ſondern der es macht!

Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henſeln geſpielt, die ohnſtreitig eine von den beſten Aktricen iſt, welche das deutſche Theaterjemals31jemals gehabt hat. Ihr beſonderer Vorzug iſt eine ſehr richtige Deklamation; ein falſcher Ac - cent wird ihr ſchwerlich entwiſchen; ſie weiß den verworrenſten, holprichſten, dunkelſten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Praͤciſion zu ſagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichſte Erklaͤrung, den vollſtaͤndigſten Commentar er - haͤlt. Sie verbindet damit nicht ſelten ein Raf - finement, welches entweder von einer ſehr gluͤck - lichen Empfindung, oder von einer ſehr richtigen Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser - klaͤrung, welche ſie dem Olint thut, noch zu hoͤren:

Erkenne mich! Ich kann nicht laͤnger ſchweigen; 〟Verſtellung oder Stolz ſey niedern Seelen eigen. 〟Olint iſt in Gefahr, und ich bin außer mir 〟Bewundernd ſah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir; 〟Mein Herz, das vor ſich ſelbſt ſich zu entdecken ſcheute, 〟War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite. 〟Dein Ungluͤck aber reißt die ganze Seele hin, 〟Und itzt erkenn ich erſt wie klein, wie ſchwach ich bin. 〟Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, haſſen, 〟Da du zur Pein beſtim̃t, von jedermann verlaſſen, 〟Verbrechern gleich geſtellt, ungluͤcklich und ein Chriſt, 〟Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend biſt: 〟Itzt wag ichs zu geſtehn: itzt kenne meine Triebe!

Wie frey, wie edel war dieſer Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunſt beſeelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberſtroͤ -mung32mung des Herzens ſprach ihr Mitleid! Mit welcher Entſchloſſenheit ging ſie auf das Bekenntniß ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie uͤberraſchend brach ſie auf einmal ab, und veraͤnderte auf einmal Stimme und Blick, und die ganze Haltung des Koͤrpers, da es nun darauf ankam, die duͤrren Worte ihres Bekenntniſſes zu ſprechen. Die Au - gen zur Erde geſchlagen, nach einem langſamen Seufzer, in dem furchtſamen gezogenen Tone der Verwirrung, kam endlich,

〟Ich liebe dich, Olint,

heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiß, ob die Liebe ſich ſo erklaͤrt, empfand, daß ſie ſich ſo erklaͤren ſollte. Sie entſchloß ſich als Heldinn, ihre Liebe zu geſtehen, und geſtand ſie, als ein zaͤrtliches, ſchamhaftes Weib. So Kriegerinn als ſie war, ſo gewoͤhnt ſonſt in allem zu maͤnnlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Ober - hand. Kaum aber waren ſie hervor, dieſe der Sitt - ſamkeit ſo ſchwere Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freymuͤthigkeit wieder da. Sie fuhr mit der ſorgloſeſten Lebhaftigkeit, in aller der unbe - kuͤmmerten Hitze des Affekts fort:

Und ſtolz auf meine Liebe, 〟Stolz, daß dir meine Macht dein Leben retten kann, 〟Bieth ich dir Hand und Herz, und Kron und Pur - pur an.

Denn die Liebe aͤußert ſich nun als großmuͤthige Freundſchaft: und die Freundſchaft ſpricht eben ſo dreiſt, als ſchuͤchtern die Liebe.

Ham -[33]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fuͤnftes Stuͤck.

Es iſt unſtreitig, daß die Schauſpielerinn durch dieſe meiſterhafte Abſetzung der Worte,

〟Ich liebe dich, Olint,

der Stelle eine Schoͤnheit gab, von der ſich der Dichter, bey dem alles in dem nehmlichen Fluſſe von Worten daher rauſcht, nicht das geringſte Verdienſt beymeſſen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen haͤtte, in dieſen Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht beſorgte ſie, den Geiſt des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht ſcheute ſie den Vorwurf, nicht das, was der Dichter ſagt, ſondern was er haͤtte ſagen ſollen, geſpielt zu haben. Aber welches Lob koͤnnte groͤßer ſeyn, als ſo ein Vorwurf? Freylich muß ſich nicht jeder Schauſpieler einbil - den, dieſes Lob verdienen zu koͤnnen. Denn ſonſt moͤchte es mit den armen Dichtern uͤbel ausſehen.

ECro -34

Cronegk hat wahrlich aus ſeiner Clorinde ein ſehr abgeſchmacktes, widerwaͤrtiges, haͤßliches Ding gemacht. Und dem ohngeachtet iſt ſie noch der einzige Charakter, der uns bey ihm in - tereßiret. So ſehr er die ſchoͤne Natur in ihr verfehlt, ſo thut doch noch die plumpe, unge - ſchlachte Natur einige Wirkung. Das macht, weil die uͤbrigen Charaktere ganz außer aller Natur ſind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von Weibe, als mit himmelbruͤtenden Schwaͤrmern ſympathiſiren. Nur gegen das Ende, wo ſie mit in den begeiſterten Ton faͤllt, wird ſie uns eben ſo gleichguͤltig und eckel. Alles iſt Widerſpruch in ihr, und immer ſpringt ſie von einem Aeußerſten auf das andere. Kaum hat ſie ihre Liebe erklaͤrt, ſo fuͤgt ſie hinzu:

〟Wirſt du mein Herz verſchmaͤhn? Du ſchweigſt? Entſchlieſſe dich; 〟Und wenn du zweifeln kannſt ſo zittre!

So zittre? Olint ſoll zittern? er, den ſie ſo oft, in dem Tumulte der Schlacht, unerſchrocken unter den Streichen des Todes geſehen? Und ſoll vor ihr zittern? Was will ſie denn? Will ſie ihm die Augen auskratzen? O wenn es der Schauſpielerinn eingefallen waͤre, fuͤr dieſe un - gezogene weibliche Gaſconade 〟ſo zittre!〟 zu ſagen: ich zittere! Sie konnte zittern, ſo viel ſie wollte, ihre Liebe verſchmaͤht, ihren Stolz beleidiget zu finden. Das waͤre ſehr natuͤrlichgewe -35geweſen. Aber es von dem Olint verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Meſſer an der Gurgel, fodern, das iſt ſo unartig als laͤcherlich.

Doch was haͤtte es geholfen, den Dichter einen Augenblick laͤnger in den Schranken des Wohlſtandes und der Maͤßigung zu erhalten? Er faͤhrt fort, Clorinden in dem wahren Tone einer beſoffenen Marquetenderinn raſen zu laſſen; und da findet keine Linderung, keine Bemaͤnte - lung mehr Statt.

Das einzige, was die Schauſpielerinn zu ſei - nem Beſten noch thun koͤnnte, waͤre vielleicht dieſes, wenn ſie ſich von ſeinem wilden Feuer nicht ſo ganz hinreiſſen lieſſe, wenn ſie ein wenig an ſich hielte, wenn ſie die aͤußerſte Wuth nicht mit der aͤußerſten Anſtrengung der Stimme, nicht mit den gewaltſamſten Gebehrden aus - druͤckte.

Wenn Shakeſpear nicht ein eben ſo großer Schauſpieler in der Ausuͤbung geweſen iſt, als er ein dramatiſcher Dichter war, ſo hat er doch wenigſtens eben ſo gut gewußt, was zu der Kunſt des einen, als was zu der Kunſt des an - dern gehoͤret. Ja vielleicht hatte er uͤber die Kunſt des erſtern um ſo viel tiefer nachgedacht, weil er ſo viel weniger Genie dazu hatte. We - nigſtens iſt jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komoͤdianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel fuͤr alle Schau -E 2ſpieler,36ſpieler, denen an einem vernuͤnftigen Beyfalle gelegen iſt.

〟Ich bitte Euch,

laͤßt er ihn unter andern zu dem Komoͤdianten ſagen,

〟ſprecht die 〟Rede ſo, wie ich ſie Euch vorſagte; die Zunge 〟muß nur eben daruͤber hinlaufen. Aber wenn 〟ihr mir ſie ſo heraushalſet, wie es manche von 〟unſern Schauſpielern thun: ſeht, ſo waͤre mir 〟es eben ſo lieb geweſen, wenn der Stadtſchreyer 〟meine Verſe geſagt haͤtte. Auch durchſaͤgt 〟mir mit eurer Hand nicht ſo ſehr die Luft, ſon - 〟dern macht alles huͤbſch artig; denn mitten in 〟dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, 〟ſo zu reden, in dem Wirbelwinde der Leiden - 〟ſchaften, muͤßt ihr noch einen Grad von Maͤßi - 〟gung beobachten, der ihnen das Glatte und Ge - 〟ſchmeidige giebt.

Man ſpricht ſo viel von dem Feuer des Schau - ſpielers; man zerſtreitet ſich ſo ſehr, ob ein Schau - ſpieler zu viel Feuer haben koͤnne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweiſe anfuͤhren, daß ein Schauſpieler ja wohl am unrechten Orte heftig, oder wenigſtens heftiger ſeyn koͤnne, als es die Umſtaͤnde erfodern: ſo haben die, welche es leugnen, Recht zu ſagen, daß in ſolchem Falle der Schauſpieler nicht zu viel Feuer, ſon - dern zu wenig Verſtand zeige. Ueberhaupt koͤmmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verſtehen. Wenn Geſchrey und Kontorſionen Feuer ſind, ſo iſt es wohl un -ſtreitig,37ſtreitig, daß der Akteur darinn zu weit gehen kann. Beſteht aber das Feuer in der Geſchwin - digkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stuͤcke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu bey - tragen, um ſeinem Spiele den Schein der Wahr - heit zu geben: ſo muͤßten wir dieſen Schein der Wahrheit nicht bis zur aͤußerſten Illuſion getrie - ben zu ſehen wuͤnſchen, wenn es moͤglich waͤre, daß der Schauſpieler allzuviel Feuer in dieſem Verſtande anwenden koͤnnte. Es kann alſo auch nicht dieſes Feuer ſeyn, deſſen Maͤßigung Shake - ſpear, ſelbſt in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenſchaft verlangt: er muß blos jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meynen; und der Grund iſt leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringſte Maͤßigung beobachtet hat, dennoch der Schauſpieler ſich in beiden Stuͤcken maͤßigen muͤſſe. Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer aͤußerſten Anſtrengung nicht widerwaͤrtig wuͤr - den; und allzu ſchnelle, allzu ſtuͤrmiſche Bewe - gungen werden ſelten edel ſeyn. Gleichwohl ſollen weder unſere Augen und unſere Ohren beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bey Aeuſ - ſerung der heftigen Leidenſchaften alles vermei - det, was dieſen oder jenen unangenehm ſeyn koͤnnte, haben ſie das Glatte und Geſchmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen ver - langt, wenn ſie den hoͤchſten Eindruck machen,E 3und38und ihm das Gewiſſen verſtockter Frevler aus dem Schlafe ſchrecken ſollen.

Die Kunſt des Schauſpielers ſtehet hier, zwiſchen den bildenden Kuͤnſten und der Poeſie, mitten inne. Als ſichtbare Mahlerey muß zwar die Schoͤnheit ihr hoͤchſtes Geſetz ſeyn; doch als tranſitoriſche Mahlerey braucht ſie ihren Stel - lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunſtwerke ſo imponirend macht. Sie darf ſich, ſie muß ſich das Wilde eines Tempeſta, das Freche eines Bernini oͤfters erlauben; es hat bey ihr alle das Ausdruͤckende, welches ihm eigenthuͤmlich iſt, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Kuͤnſten durch den permanenten Stand erhaͤlt. Nur muß ſie nicht allzulang darinn verweilen; nur muß ſie es durch die vorhergehenden Bewegungen all - maͤlig vorbereiten, und durch die darauf folgen - den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl - anſtaͤndigen aufloͤſen; nur muß ſie ihm nie alle die Staͤrke geben, zu der ſie der Dichter in ſei - ner Bearbeitung treiben kann. Denn ſie iſt zwar eine ſtumme Poeſie, aber die ſich unmittel - bar unſern Augen verſtaͤndlich machen will; und jeder Sinn will geſchmeichelt ſeyn, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebet, unverfaͤlſcht uͤberliefern ſoll.

Es koͤnnte leicht ſeyn, daß ſich unſere Schau - ſpieler bey der Maͤßigung, zu der ſie die Kunſtauch39auch in den heftigſten Leidenſchaften verbindet, in Anſehung des Beyfalles, nicht allzuwohl be - finden duͤrften. Aber welches Beyfalles? Die Gallerie iſt freylich ein großer Liebhaber des Lermenden und Tobenden, und ſelten wird ſie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Haͤnden zu erwiedern. Auch das deutſche Parterr iſt noch ziemlich von dieſem Geſchmacke, und es giebt Akteurs, die ſchlau genug von dieſem Ge - ſchmacke Vortheil zu ziehen wiſſen. Der Schlaͤf - rigſte raft ſich, gegen das Ende der Scene, wenn er abgehen ſoll, zuſammen, erhebet auf einmal die Stimme, und uͤberladet die Aktion, ohne zu uͤberlegen, ob der Sinn ſeiner Rede dieſe hoͤhere Anſtrengung auch erfodere. Nicht ſelten widerſpricht ſie ſogar der Verfaſſung, mit der er abgehen ſoll; aber was thut das ihm? Genug, daß er das Parterr dadurch erinnert hat, aufmerkſam auf ihn zu ſeyn, und wenn es die Guͤte haben will, ihm nachzuklatſchen. Nach - ziſchen ſollte es ihm! Doch leider iſt es theils nicht Kenner genug, theils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, fuͤr die That.

Ich getraue mich nicht, von der Aktion der uͤbrigen Schauſpieler in dieſem Stuͤcke etwas zu ſagen. Wenn ſie nur immer bemuͤht ſeyn muͤſ - ſen, Fehler zu bemaͤnteln, und das Mittel - maͤßige geltend zu machen: ſo kann auch derBeſte40Beſte nicht anders, als in einem ſehr zweydeuti - gen Lichte erſcheinen. Wenn wir ihn auch den Verdruß, den uns der Dichter verurſacht, nicht mit entgelten laſſen, ſo ſind wir doch nicht auf - geraͤumt genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu erweiſen, die er verdienet.

Den Beſchluß des erſten Abends machte der Triumph der vergangenen Zeit, ein Luſtſpiel in einem Aufzuge, nach dem Franzoͤſiſchen des le Grand. Es iſt eines von den drey kleinen Stuͤcken, welche le Grand unter dem allgemei - nen Tittel, der Triumph der Zeit, im Jahr 1724 auf die franzoͤſiſche Buͤhne brachte, nach - dem er den Stoff deſſelben, bereits einige Jahre vorher, unter der Aufſchrift, die laͤcherlichen Verliebten, behandelt, aber wenig Beyfall da - mit erhalten hatte. Der Einfall, der dabey zum Grunde liegt, iſt drollig genug, und einige Situationen ſind ſehr laͤcherlich. Nur iſt das Laͤcherliche von der Art, wie es ſich mehr fuͤr eine ſatyriſche Erzaͤhlung, als auf die Buͤhne ſchickt. Der Sieg der Zeit uͤber Schoͤnheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung eines ſechszigjaͤhrigen Gecks und einer eben ſo alten Naͤrrinn, daß die Zeit nur uͤber ihre Reitze keine Gewalt ſollte gehabt haben, iſt zwar laͤcherlich; aber dieſen Geck und dieſe Naͤrrinn ſelbſt zu ſehen, iſt eckelhafter, als laͤcherlich.

Ham -[41]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechſtes Stuͤck.

Noch habe ich der Anreden an die Zuſchauer, vor und nach dem großen Stuͤcke des erſten Abends, nicht gedacht. Sie ſchrei - ben ſich von einem Dichter her, der es mehr als irgend ein anderer verſteht, tiefſinnigen Ver - ſtand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernſte die gefaͤllige Mine des Scherzes zu geben. Womit koͤnnte ich dieſe Blaͤtter beſſer auszieren, als wenn ich ſie meinen Leſern ganz mittheile? Hier ſind ſie. Sie beduͤrfen keines Commentars. Ich wuͤnſche nur, daß manches darinn nicht in den Wind geſagt ſey!

Sie wurden beide ungemein wohl, die erſtere mit alle dem Anſtande und der Wuͤrde, und die andere mit alle der Waͤrme und Feinheit und einſchmeichelnden Verbindlichkeit geſprochen, die der beſondere Inhalt einer jeden erfoderte.

FPro -42

Prolog. (Geſprochen von Madame Loͤwen.)

Ihr Freunde, denen hier das mannichfache Spiel Des Menſchen, in der Kunſt der Nachahmung gefiel: Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, beſſern Seelen, Wie ſchoͤn, wie edel iſt die Luſt, ſich ſo zu quaͤlen; Wenn bald die ſuͤße Thraͤn, indem das Herz er - weicht, In Zaͤrtlichkeit zerſchmilzt, ſtill von den Wangen ſchleicht, Bald die beſtuͤrmte Seel, in jeder Nerv erſchuͤttert, Im Leiden Wolluſt fuͤhlt, und mit Vergnuͤgen zittert! O ſagt, iſt dieſe Kunſt, die ſo Eur Herz zerſchmelzt, Der Leidenſchaften Strom ſo durch Eur Inners waͤlzt, Vergnuͤgend, wenn ſie ruͤhrt, entzuͤckend, wenn ſie ſchrecket, Zu Mitleid, Menſchenlieb, und Edelmuth erwecket, Die Sittenbilderinn, die jede Tugend lehrt, Iſt die nicht Eurer Gunſt, und Eurer Pflege werth?

Die Fuͤrſicht ſendet ſie mitleidig auf die Erde, Zum Beſten des Barbars, damit er menſchlich werde; Weiht ſie, die Lehrerin der Koͤnige zu ſeyn, Mit Wuͤrde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;Heißt43Heißt ſie, mit ihrer Macht, durch Thraͤnen zu er - goͤtzen, Das ſtumpfeſte Gefuͤhl der Menſchenliebe wetzen; Durch ſuͤße Herzensangſt, und angenehmes Graun Die Bosheit baͤndigen, und an den Seelen baun; Wohlthaͤtig fuͤr den Staat, den Wuͤthenden, den Wilden, Zum Menſchen, Buͤrger, Freund, und Patrioten bilden.

Geſetze ſtaͤrken zwar der Staaten Sicherheit, Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit: Doch deckt noch immer Liſt den Boͤſen vor dem Richter, Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boͤſe - wichter. Wer raͤcht die Unſchuld dann? Weh dem gedruͤckten Staat, Der, ſtatt der Tugend, nichts, als ein Geſetzbuch hat! Geſetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen, Geſetze, die man lehrt des Haſſes Urtheil ſprechen, Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Partheylichkeit Fuͤr eines Solons Geiſt, den Geiſt der Druͤckung leiht! Da lernt Beſtechung bald, um Strafen zu entgehen, Das Schwerdt der Majeſtaͤt aus ihren Haͤnden drehen: Da pflanzet Herrſchbegier, ſich freuend des Verfalls Der Redlichkeit, den Fuß der Freyheit auf den Hals. F 2Laͤßt44Laͤßt den, der ſie vertritt, in Schimpf und Banden ſchmachten, Und das blutſchuld’ge Beil der Themis Unſchuld ſchlachten!

Wenn der, den kein Geſetz ſtraft, oder ſtrafen kann, Der ſchlaue Boͤſewicht, der blutige Tyrann, Wenn der die Unſchuld druͤckt, wer wagt es, ſie zu decken? Den ſichert tiefe Liſt, und dieſen wafnet Schrecken. Wer iſt ihr Genius, der ſich entgegen legt? Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geiſſel traͤgt, Die unerſchrokne Kunſt, die allen Mißgeſtalten Strafloſer Thorheit wagt den Spiegel vorzuhalten; Die das Geweb enthuͤllt, worin ſich Liſt verſpinnt, Und den Tyrannen ſagt, daß ſie Tyrannen ſind; Die, ohne Menſchenfurcht, vor Thronen nicht er - bloͤdet, Und mit des Donners Stimm ans Herz der Fuͤrſten redet; Gekroͤnte Moͤrder ſchreckt, den Ehrgeitz nuͤchtern macht, Den Heuchler zuͤchtiget, und Thoren kluͤger lacht; Sie, die zum Unterricht die Todten laͤßt erſcheinen, Die große Kunſt, mit der wir lachen, oder weinen.

Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb, und Lehrbegier; In Rom, in Gallien, in Albion, und hier. Ihr,45Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Thraͤnen floſſen, Mit edler Weichlichkeit, die Euren mit vergoſſen; Habt redlich Euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint, Und ihr aus voller Bruſt den Beyfall zugeweint: Wie ſie gehaßt, geliebt, gehoffet, und geſcheuet, Und Eurer Menſchlichkeit im Leiden Euch erfreuet. Lang hat ſie ſich umſonſt nach Buͤhnen umgeſehn: In Hamburg fand ſie Schutz: hier ſey denn ihr Athen! Hier, in dem Schooß der Ruh, im Schutze weiſer Goͤnner, Gemuthiget durch Lob, vollendet durch den Kenner; Hier reifet ja ich wuͤnſch, ich hoff, ich weiſſag es! Ein zweyter Roſcius, ein zweyter Sophokles, Der Graͤciens Kothurn Germaniern erneure: Und ein Theil dieſes Nuhms, ihr Goͤnner, wird der Eure. O ſeyd deſſelben werth! Bleibt Eurer Guͤte gleich, Und denkt, o denkt daran, ganz Deutſchland ſieht auf Euch!

F 3Epi -46

Epilog. (Geſprochen von Madame Henſel.)

Seht hier! ſo ſtandhaft ſtirbt der uͤberzeugte Chriſt! So lieblos haſſet der, dem Irrthum nuͤtzlich iſt, Der Barbarey bedarf, damit er ſeine Sache, Sein Anſehn, ſeinen Traum, zu Lehren Gottes mache. Der Geiſt des Irrthums war Verfolgung und Ge - walt, Wo Blindheit fuͤr Verdienſt, und Furcht fuͤr An - dacht galt. So konnt er ſein Geſpinſt von Luͤgen, mit den Blitzen Der Majeſtaͤt, mit Gifft, mit Meuchelmord beſchuͤtzen. Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut: Die Wahrheit uͤberfuͤhrt, der Irrthum fodert Blut. Verfolgen muß man die, und mit dem Schwerdt bekehren, Die anders Glaubens ſind, als die Ismenors lehren. Und mancher Aladin ſieht Staatsklug oder ſchwach, Dem ſchwarzen Blutgericht der heilgen Moͤrder nach, Und muß mit ſeinem Schwerdt den, welchen Traͤu - mer haſſen, Den Freund, den Maͤrtyrer der Wahrheit wuͤrgen laſſen,Ab -47Abſcheultchs Meiſterſtuͤck der Herrſchſucht und der Liſt, Wofuͤr kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos iſt! O Lehre, die erlaubt, die Gottheit ſelbſt miß - brauchen, In ein unſchuldig Herz des Haſſes Dolch zu tauchen, Dich, die ihr Blutpanier oft uͤber Leichen trug, Dich, Greuel, zu verſchmaͤhn, wer leiht mir einen Fluch! Ihr Freund, in deren Bruſt der Menſchheit edle Stimme Laut fuͤr die Heldinn ſprach, als Sie dem Prieſter Grimme Ein ſchuldlos Opfer ward, und fuͤr die Wahrheit ſank: Habt Dank fuͤr dies Gefuͤhl, fuͤr jede Thraͤne Dank! Wer irrt, verdient nicht Zucht des Haſſes oder Spottes: Was Menſchen haſſen lehrt, iſt keine Lehre Gottes! Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind, Zwar Schwaͤchere vielleicht, doch immer Menſchen ſind. Belehret, duldet ſie; und zwingt nicht die zu Thraͤnen, Die ſonſt kein Vorwurf trift, als daß ſie anders waͤhnen! Rechtſchaffen iſt der Mann, den, ſeinem Glauben treu, Nichts zur Verſtellung zwingt, zu boͤſer Heucheley; Der fuͤr die Wahrheit gluͤht, und, nie durch Furcht gezuͤgelt, Sie freudig, wie Olint, mit ſeinem Blut verſiegelt. Solch48Solch Beyſpiel, edle Freund, iſt Eures Beyfalls werth: O wohl uns! haͤtten wir, was Cronegk ſchoͤn gelehrt, Gedanken, die ihn ſelbſt ſo ſehr veredelt haben, Durch unſre Vorſtellung tief in Eur Herz gegraben! Des Dichters Leben war ſchoͤn, wie ſein Nachruhm iſt; Er war, und o verzeiht die Thraͤn! und ſtarb ein Chriſt. Ließ ſein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten, Um ſie was kann man mehr? noch todt zu un - terrichten. Verſaget, hat Euch itzt Sophronia geruͤhrt, Denn ſeiner Aſche nicht, was ihr mit Recht gebuͤhrt, Den Seufzer, daß er ſtarb, den Dank fuͤr ſeine Lehre, Und ach! den traurigen Tribut von einer Zaͤhre. Uns aber, edle Freund, ermuntre Guͤtigkeit; Und haͤtten wir gefehlt, ſo tadelt; doch verzeiht. Verzeihung muthiget zu edelerm Erkuͤhnen, Und feiner Tadel lehrt, das hoͤchſte Lob verdienen. Bedenkt, daß unter uns die Kunſt nur kaum beginnt, In welcher tauſend Quins, fuͤr einen Garrick ſind; Erwartet nicht zu viel, damit wir immer ſteigen, Und doch nur Euch gebuͤhrt zu richten, uns zu ſchweigen.

Ham -[49]

Hamburgiſche Dramaturgie. Siebendes Stuͤck.

Der Prolog zeiget das Schauſpiel in ſeiner hoͤchſten Wuͤrde, indem er es als das Supplement der Geſetze betrachten laͤßt. Es giebt Dinge in dem ſittlichen Betragen des Menſchen, welche, in Anſehung ihres unmit - telbaren Einflußes auf das Wohl der Geſell - ſchaft, zu unbetraͤchtlich, und in ſich ſelbſt zu veraͤnderlich ſind, als daß ſie werth oder faͤhig waͤren, unter der eigentlichen Aufſicht des Ge - ſetzes zu ſtehen. Es giebt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faͤllt; die in ihren Triebfedern ſo unbegreiflich, in ſich ſelbſt ſo ungeheuer, in ihren Folgen ſo unermeß - lich ſind, daß ſie entweder der Ahndung der Ge - ſetze ganz entgehen, oder doch unmoͤglich nach Verdienſt geahndet werden koͤnnen. Ich will es nicht unternehmen, auf die erſtern, als auf Gattungen des Laͤcherlichen, die Komoͤdie; undGauf50auf die andern, als auf auſſerordentliche Erſchei - nungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erſtaunen, und das Herz in Tu - mult ſetzen, die Tragoͤdie einzuſchraͤnken. Das Genie lacht uͤber alle die Grenzſcheidungen der Kritik. Aber ſo viel iſt doch unſtreitig, daß das Schauſpiel uͤberhaupt ſeinen Vorwurf entweder diſſeits oder jenſeits der Grenzen des Geſetzes waͤhlet, und die eigentlichen Gegenſtaͤnde deſſel - ben nur in ſo fern behandelt, als ſie ſich entweder in das Laͤcherliche verlieren, oder bis in das Ab - ſcheuliche verbreiten.

Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt - lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha - raktere des Trauerſpiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unuͤberlegt, in einem Stuͤcke, deſſen Stoff aus den ungluͤcklichen Zeiten der Kreutzzuͤge genom - men iſt, die Toleranz predigen, und die Abſcheu - lichkeiten des Geiſtes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedaniſchen Religion zeigen zu wollen. Denn dieſe Kreutzzuͤge ſelbſt, die in ihrer Anlage ein politiſcher Kunſtgriff der Paͤbſte waren, wurden in ihrer Ausfuͤhrung die unmenſchlichſten Verfolgungen, deren ſich der chriſtliche Aberglaube jemals ſchuldig gemacht hat; die meiſten und blutgierigſten Iſmenors hatte damals die wahre Religion; und einzelnePer -51Perſonen, die eine Moſchee beraubet haben, zur Strafe ziehen, koͤmmt das wohl gegen die unſelige Raſerey, welche das rechtglaͤubige Eu - ropa entvoͤlkerte, um das unglaͤubige Aſien zu verwuͤſten? Doch was der Tragicus in ſeinem Werke ſehr unſchicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auf - faſſen. Menſchlichkeit und Sanftmuth verdie - nen bey jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlaß dazu kann ſo entfernt ſeyn, den wenigſtens unſer Herz nicht ſehr natuͤrlich und dringend finden ſollte.

Uebrigens ſtimme ich mit Vergnuͤgen dem ruͤh - renden Lobe bey, welches der Dichter dem ſeligen Cronegk ertheilet. Aber ich werde mich ſchwer - lich bereden laſſen, daß er mit mir, uͤber den poe - tiſchen Werth des kritiſirten Stuͤckes, nicht eben - falls einig ſeyn ſollte. Ich bin ſehr betroffen geweſen, als man mich verſichert, daß ich ver - ſchiedene von meinen Leſern durch mein unver - hohlnes Urtheil unwillig gemacht haͤtte. Wenn ihnen beſcheidene Freyheit, bey der ſich durchaus keine Nebenabſichten denken laſſen, mißfaͤllt, ſo laufe ich Gefahr, ſie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Abſicht gehabt, ihnen die Leſung eines Dichters zu verleiden, den unge - kuͤnſtelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterſte Moral empfehlen. Dieſe Eigenſchaf -G 2ten52ten werden ihn jederzeit ſchaͤtzbar machen, ob man ihm ſchon andere abſprechen muß, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewiſſe Jahre erfordern, weit unter welchen er ſtarb. Sein Codrus ward von den Verfaſſern der Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen - ſchaften gekroͤnet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stuͤck, ſondern als das beſte von denen, die damals um den Preis ſtritten. Mein Urtheil nimmt ihm alſo keine Ehre, die ihm die Kritik damals ertheilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, ſo bleibt der, welcher von ihnen zuerſt an das Ziel koͤmmt, doch noch ein Hin - kender.

Eine Stelle in dem Epilog iſt einer Mißdeu - tung ausgeſetzt geweſen, von der ſie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter ſagt:

〟Bedenkt, daß unter uns die Kunſt nur kaum beginnt, 〟In welcher tauſend Quins, fuͤr einen Garrick ſind.

Quin, habe ich darwider erinnern hoͤren, iſt kein ſchlechter Schauſpieler geweſen. Nein, gewiß nicht; er war Thomſons beſonderer Freund, und die Freundſchaft, in der ein Schauſpieler mit einem Dichter, wie Thomſon, geſtanden, wird bey der Nachwelt immer eingu -53gutes Vorurtheil fuͤr ſeine Kunſt erwecken. Auch hat Quin noch mehr, als dieſes Vorur - theil fuͤr ſich: man weiß, daß er in der Tragoͤdie mit vieler Wuͤrde geſpielet; daß er beſonders der erhabenen Sprache des Milton Genuͤge zu leiſten gewußt; daß er, im Komiſchen, die Rolle des Falſtaff zu ihrer groͤßten Vollkommenheit ge - bracht. Doch alles dieſes macht ihn zu keinem Garrick; und das Mißverſtaͤndniß liegt blos darinn, daß man annimmt, der Dichter habe dieſem allgemeinen und auſſerordentlichen Schau - ſpieler einen ſchlechten, und fuͤr ſchlecht durch - gaͤngig erkannten, entgegen ſetzen wollen. Quin ſoll hier einen von der gewoͤhnlichen Sorte be - deuten, wie man ſie alle Tage ſieht; einen Mann, der uͤberhaupt ſeine Sache ſo gut weg - macht, daß man mit ihm zufrieden iſt; der auch dieſen und jenen Charakter ganz vortrefflich ſpie - let, ſo wie ihm ſeine Figur, ſeine Stimme, ſein Temperament dabey zu Huͤlfe kommen. So ein Mann iſt ſehr brauchbar, und kann mit allem Rechte ein guter Schauſpieler heiſſen; aber wie viel fehlt ihm noch, um der Proteus in ſeiner Kunſt zu ſeyn, fuͤr den das einſtimmige Geruͤcht ſchon laͤngſt den Garrick erklaͤret hat. Ein ſol - cher Quin machte, ohne Zweifel, den Koͤnig im Hamlet, als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoͤdie waren;(*)Theil VI. S. 15. und der Rebhuhne giebtG 3es54es mehrere, die nicht einen Augenblick anſtehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. 〟Was? ſagen ſie, Garrick der groͤßte Akteur? Er ſchien ja nicht uͤber das Geſpenſt erſchrocken, ſondern er war es. Was iſt das fuͤr eine Kunſt, uͤber ein Geſpenſt zu erſchrecken? Gewiß und wahr - haftig, wenn wir den Geiſt geſehen haͤtten, ſo wuͤrden wir eben ſo ausgeſehen, und eben das gethan haben, was er that. Der andere hin - gegen, der Koͤnig, ſchien wohl auch, etwas ge - ruͤhrt zu ſeyn, aber als ein guter Akteur gab er ſich doch alle moͤgliche Muͤhe, es zu verbergen. Zu dem ſprach er alle Worte ſo deutlich aus, und redete noch einmal ſo laut, als jener kleine unan - ſehnliche Mann, aus dem ihr ſo ein Aufhebens macht!〟

Bey den Englaͤndern hat jedes neue Stuͤck ſeinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfaſſer ſelbſt, oder ein Freund deſſelben, ab - faſſet. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoͤrer von verſchiedenen Dingen zu un - terrichten, die zu einem geſchwindern Verſtaͤnd - niſſe der zum Grunde liegenden Geſchichte des Stuͤckes dienen, dazu brauchen ſie ihn zwar nicht. Aber er iſt darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wiſſen hunderterley darinn zu ſagen, was das Anditorium fuͤr den Dichter, oder fuͤr den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und un -billigen55billigen Kritiken, ſowohl uͤber ihn als uͤber die Schauſpieler, vorbauen kann. Noch weniger bedienen ſie ſich des Epilogs, ſo wie ſich wohl Plautus deſſen manchmal bedienet; um die voͤl - lige Aufloͤſung des Stuͤcks, die in dem fuͤnften Akte nicht Raum hatte, darinn erzehlen zu laſ - ſen. Sondern ſie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen uͤber die geſchilderten Sitten, und uͤber die Kunſt, mit der ſie geſchildert worden; und das alles in dem ſchnurrigſten, launigſten Tone. Dieſen Ton aͤndern ſie auch nicht ein - mal gern bey dem Trauerſpiele; und es iſt gar nichts ungewoͤhnliches, daß nach dem blutigſten und ruͤhrendſten, die Satyre ein ſo lautes Gelaͤch - ter aufſchlaͤgt, und der Witz ſo muthwillig wird, daß es ſcheinet, es ſey die ausdruͤckliche Abſicht, mit allen Eindruͤcken des Guten ein Geſpoͤtte zu treiben. Es iſt bekannt, wie ſehr Thomſon wider dieſe Narrenſchellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wuͤnſchte, daß auch bey uns neue Ori - ginalſtuͤcke, nicht ganz ohne Einfuͤhrung und Empfehlung, vor das Publikum gebracht wuͤrden, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß bey dem Trauer - ſpiele der Ton des Epilogs unſerm deutſchen Ernſte angemeſſener ſeyn muͤßte. Nach dem Luſtſpiele koͤnnte er immer ſo burleſk ſeyn, als er wollte. Dryden iſt es, der bey den Englaͤn -dern56dern Meiſterſtuͤcke von dieſer Art gemacht hat, die noch itzt mit dem groͤßten Vergnuͤgen geleſen werden, nachdem die Spiele ſelbſt, zu welchen er ſie verfertiget, zum Theil laͤngſt vergeſſen ſind. Hamburg haͤtte einen deutſchen Dryden in der Naͤhe; und ich brauche ihn nicht noch ein - mal zu bezeichnen, wer von unſern Dichtern Moral und Kritik mit attiſchem Salze zu wuͤr - zen, ſo gut als der Englaͤnder verſtehen wuͤrde.

Ham -[57]

Hamburgiſche Dramaturgie. Achtes Stuͤck.

Die Vorſtellungen des erſten Abends, wur - den den zweyten wiederhohlt.

Den dritten Abend (Freytags, den 24ſten v. M.) ward Melanide aufgefuͤhret. Dieſes Stuͤck des Nivelle de la Chauſſee iſt bekannt. Es iſt von der ruͤhrenden Gattung, der man den ſpoͤttiſchen Beynamen, der Weinerlichen, gegeben. Wenn weinerlich heißt, was uns die Thraͤnen nahe bringt, wobey wir nicht uͤbel Luſt haͤtten zu weinen, ſo ſind verſchiedene Stuͤcke von dieſer Gattung etwas mehr, als weinerlich; ſie koſten einer empfindlichen Seele Stroͤme von Thraͤnen; und der gemeine Praß franzoͤſiſcher Trauerſpiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen ſie es ungefaͤhr ſo weit, daß unsHwird,58wird, als ob wir haͤtten weinen koͤnnen, wenn der Dichter ſeine Kunſt beſſer verſtanden haͤtte.

Melanide iſt kein Meiſterſtuͤck von dieſer Gat - tung; aber man ſieht es doch immer mit Ver - gnuͤgen. Es hat ſich, ſelbſt auf dem franzoͤſiſchen Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerſt geſpielt ward. Der Stoff, ſagt man, ſey aus einem Roman, Mademoiſelle de Bon - tems betittelt, entlehnet. Ich kenne dieſen Ro - man nicht; aber wenn auch die Situation der zweyten Scene des dritten Akts aus ihm genom - men iſt, ſo muß ich einen Unbekannten, anſtatt des de la Chauſſee, um das beneiden, weßwegen ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben, wuͤnſchte.

Die Ueberſetzung war nicht ſchlecht; ſie iſt unendlich beſſer, als eine italieniſche, die in dem zweyten Bande der theatraliſchen Bibliothek des Diodati ſtehet. Ich muß es zum Troſte des groͤßten Haufens unſerer Ueberſetzer anfuͤhren, daß ihre italieniſchen Mitbruͤder meiſtentheils noch weit elender ſind, als ſie. Gute Verſe indeß in gute Proſa uͤberſetzen, erfodert etwas mehr, als Genauigkeit; oder ich moͤchte wohl ſagen, etwas anders. Allzu puͤnktliche Treue macht jede Ueberſetzung ſteif, weil unmoͤglich alles, was in der einen Sprache natuͤrlich iſt, es auch in der andern ſeyn kann. Aber eine Ueberſetzung aus Verſen macht ſie zugleich waͤß -rig59rig und ſchielend. Denn wo iſt der gluͤckliche Verſificateur, den nie das Sylbenmaaß, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, fruͤher oder ſpaͤter, ſagen lieſſe, als er es, frey von dieſem Zwange, wuͤrde geſagt haben? Wenn nun der Ueberſetzer dieſes nicht zu unterſcheiden weiß; wenn er nicht Geſchmack, nicht Muth genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulaſſen, da ſtatt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu ſetzen, dort eine Ellipſis zu ergaͤnzen oder anzubringen: ſo wird er uns alle Nachlaͤßigkeiten ſeines Originals uͤberliefert, und ihnen nichts als die Entſchul - digung benommen haben, welche die Schwierig - keiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundſprache fuͤr ſie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice geſpielet, die nach einer neunjaͤhrigen Entfernung vom Theater, aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erſchien, die Ken - ner und Nichtkenner, mit und ohne Einſicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loͤwen verbindet mit dem ſilbernen Tone der ſonoreſten lieblichſten Stimme, mit dem offenſten, ruhigſten und gleichwohl aus - druckfaͤhigſten Geſichte von der Welt, das feinſte ſchnellſte Gefuͤhl, die ſicherſte waͤrmſte Empfindung, die ſich, zwar nicht immer ſo leb - haft, als es viele wuͤnſchen, doch allezeit mitH 2An -60Anſtand und Wuͤrde aͤußert. In ihrer Dekla - mation accentuirt ſie richtig, aber nicht merklich. Der gaͤnzliche Mangel intenſiver Accente verur - ſacht Monotonie; aber ohne ihr dieſe vorwerfen zu koͤnnen, weiß ſie dem ſparſamern Gebrauche derſelben durch eine andere Feinheit zu Huͤlfe zu kommen, von der, leider! ſehr viele Akteurs ganz und gar nichts wiſſen. Ich will mich er - klaͤren. Man weiß, was in der Muſik das Mouvement heißt; nicht der Takt, ſondern der Grad der Langſamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt geſpielt wird. Dieſes Mou - vement iſt durch das ganze Stuͤck einfoͤrmig; in dem nehmlichen Maaße der Geſchwindigkeit, in welchem die erſten Takte geſpielet worden, muͤſſen ſie alle, bis zu den letzten, geſpielet werden. Dieſe Einfoͤrmigkeit iſt in der Muſik nothwen - dig, weil Ein Stuͤck nur einerley ausdruͤcken kann, und ohne dieſelbe gar keine Verbindung verſchiedener Inſtrumente und Stimmen moͤglich ſeyn wuͤrde. Mit der Deklamation hingegen iſt es ganz anders. Wenn wir einen Periodeu von mehrern Gliedern, als ein beſonderes mu - ſikaliſches Stuͤck annehmen, und die Glieder als die Takte deſſelben betrachten, ſo muͤſſen dieſe Glieder, auch alsdenn, wenn ſie vollkommen gleicher Laͤnge waͤren, und aus der nehmlichen Anzahl von Sylben des nehmlichen Zeitmaaßes beſtuͤnden, dennoch nie mit einerley Geſchwin -digkeit61digkeit geſprochen werden. Denn da ſie, weder in Abſicht auf die Deutlichkeit und den Nach - druck, noch in Ruͤckſicht auf den in dem ganzen Perioden herrſchenden Affekt, von einerley Werth und Belang ſeyn koͤnnen: ſo iſt es der Natur gemaͤß, daß die Stimme die geringfuͤgi - gern ſchnell herausſtoͤßt, fluͤchtig und nachlaͤßig daruͤber hinſchlupft; auf den betraͤchtlichern aber verweilet, ſie dehnet und ſchleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchſtaben, uns zuzaͤhlet. Die Grade dieſer Verſchieden - heit ſind unendlich; und ob ſie ſich ſchon durch keine kuͤnſtliche Zeittheilchen beſtimmen und gegen einander abmeſſen laſſen, ſo werden ſie doch auch von dem ungelehrteſten Ohre unter - ſchieden, ſo wie von der ungelehrteſten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durch - drungenen Herzen, und nicht blos aus einem fer - tigen Gedaͤchtniſſe fließet. Die Wirkung iſt unglaublich, die dieſes beſtaͤndig abwechſelnde Mouvement der Stimme hat; und werden vol - lends alle Abaͤnderungen des Tones, nicht blos in Anſehung der Hoͤhe und Tiefe, der Staͤrke und Schwaͤche, ſondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, ſo - gar des Holprichten und Geſchmeidigen, an den rechten Stellen, damit verbunden: ſo entſtehet jene natuͤrliche Muſik, gegen die ſich unfehlbar unſer Herz eroͤfnet, weil es empfindet, daß ſieH 3aus62aus den Herzen entſpringt, und die Kunſt nur in ſo fern daran Antheil hat, als auch die Kunſt zur Natur werden kann. Und in dieſer Muſik, ſage ich, iſt die Aktrice, von welcher ich ſpreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu verglei - chen, als Herr Eckhof, der aber, indem er die intenſiven Accente auf einzelne Worte, worauf ſie ſich weniger befleißiget, noch hinzufuͤget, blos dadurch ſeiner Deklamation eine hoͤhere Vollkommenheit zu geben im Stande iſt. Doch vielleicht hat ſie auch dieſe in ihrer Gewalt; und ich urtheile blos ſo von ihr, weil ich ſie noch in keinen Rollen geſehen, in welchen ſich das Ruͤh - rende zum Pathetiſchen erhebet. Ich erwarte ſie in dem Trauerſpiele, und fahre indeß in der Geſchichte unſers Theaters fort.

Den vierten Abend (Montags, den 27ſten v. M.) ward ein neues deutſches Original, betittelt Julie, oder Wettſtreit der Pflicht und Liebe, auf - gefuͤhret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfaſſer, der uns ſagt, daß bereits zwey andere Stuͤcke von ihm, den Beyfall des dortigen Publi - kums erhalten haͤtten. Ich kenne ſie nicht; aber nach dem gegenwaͤrtigen zu urtheilen, muͤſſen ſie nicht ganz ſchlecht ſeyn.

Die Hauptzuͤge der Fabel und der groͤßte Theil der Situationen, ſind aus der Neuen Heloiſe des Rouſſeau entlehnet. Ich wuͤnſchte, daß Hr. Heu - feld, ehe er zu Werke geſchritten, die Beurthei -lung63lung dieſes Romans in den Briefen, die neueſte Lit - teratur betreffend,(*)Theil X. S. 255 u. f. geleſen und ſtudiert haͤtte. Er wuͤrde mit einer ſicherern Einſicht in die Schoͤn - heiten ſeines Originals gearbeitet haben, und viel - leicht in vielen Stuͤcken gluͤcklicher geweſen ſeyn.

Der Werth der Neuen Heloiſe iſt, von der Seite der Erfindung, ſehr gering, und das Beſte darinn ganz und gar keiner dramatiſchen Bearbeitung faͤhig. Die Situationen ſind alltaͤglich oder unna - tuͤrlich, und die wenig guten ſo weit von einander entfernt, daß ſie ſich, ohne Gewaltſamkeit, in den en - gen Raum eines Schauſpiels von drey Aufzuͤgen nicht zwingen laſſen. Die Geſchichte konnte ſich auf der Buͤhne unmoͤglich ſo ſchlieſſen, wie ſie ſich in dem Romane nicht ſowohl ſchließt, als verlieret. Der Liebhaber der Julie mußte hier gluͤcklich wer - den, und Hr. Heufeld laͤßt ihn gluͤcklich werden. Er bekoͤmmt ſeine Schuͤlerinn. Aber hat Hr. Heufeld auch uͤberlegt, daß ſeine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rouſſeau iſt? Doch Julie des Rouſ - ſeau, oder nicht: wem liegt daran? Wenn ſie nur ſonſt eine Perſon iſt, die intereßiret. Aber eben das iſt ſie nicht; ſie iſt nichts, als eine kleine verliebte Naͤrrinn, die manchmal artig genug ſchwatzet, wenn ſich Herr Heufeld auf eine ſchoͤne Stelle im Rouſſeau beſinnet. 〟Julie, ſagt der Kunſtrichter, deſſen Urtheils ich erwaͤhnet habe, ſpielt in der Ge - ſchichte eine zweyfache Rolle. Sie iſt Anfangs ein ſchwaches und ſogar etwas verfuͤhreriſches Maͤd -chen,64chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muſter der Tugend, alle, die man jemals erdich - tet hat, weit uͤbertrift. Dieſes letztere wird ſie durch ihren Gehorſam, durch die Aufopferung ih - rer Liebe, durch die Gewalt, die ſie uͤber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen dieſen in dem Stuͤcke nichts zu hoͤren und zu ſehen iſt: was bleibt von ihr uͤbrig, als, wie geſagt, das ſchwache ver - fuͤhreriſche Maͤdchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat?

Den St. Preux des Rouſſeau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund ſchmecket bey uns ziemlich nach dem Domeſtiquen. Ich wuͤnſchte, daß unſere dramatiſchen Dichter auch in ſol - chen Kleinigkeiten ein wenig geſuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerkſamer ſeyn wollten. St. Preux ſpielt ſchon bey dem Rouſſeau eine ſehr ab - geſchmackte Figur. 〟Sie nennen ihn alle, ſagt der an - gefuͤhrte Kunſtrichter, den Philoſophen. Den Philo - ſophen! Ich moͤchte wiſſen, was der junge Menſch in der ganzen Geſchichte ſpricht oder thut, dadurch er die - ſen Namen verdienet? In meinen Augen iſt er der al - bernſte Menſch von der Welt, der in allgemeinen Aus - rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt, und nicht den geringſten Funken davon beſitzet. In ſeiner Liebe iſt er abentheuerlich, ſchwuͤlſtig, aus - gelaſſen, und in ſeinem uͤbrigen Thun und Laſſen findet ſich nicht die geringſte Spur von Ueberlegung. Er ſetzet das ſtolzeſte Zutrauen in ſeine Vernunft, und iſt den - noch nicht entſchloſſen genug, den kleinſten Schritt zu thun, ohne von ſeiner Schuͤlerinn, oder von ſeinem Freunde an der Hand gefuͤhret zu werden. Aber wie tief iſt der deutſche Siegmund noch unter dieſen St. Preux!

Ham -[65]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neuntes Stuͤck.

In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, ſeinen auf - geklaͤrten Verſtand zu zeigen, und die thaͤ - tige Rolle des rechtſchaffenen Mannes zu ſpielen. Aber Siegmund in der Komoͤdie iſt weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus ſei - ner Schwachheit eine Tugend macht, und ſich ſehr bele diget findet, daß man ſeinem zaͤrtlichen Herzchen nicht durchgaͤngig will Gerechtigkeit wiederfahren laſſen. Seine ganze Wirkſamkeit laͤuft auf ein Paar maͤchtige Thorheiten heraus. Das Buͤrſchchen will ſich ſchlagen und erſtechen.

Der Verfaſſer hat es ſelbſt empfunden, daß ſein Siegmund nicht in genugſamer Handlung erſcheinet; aber er glaubt, dieſem Einwurfe da - durch vorzubeugen, wenn er zu erwaͤgen giebt:

〟daß ein Menſch ſeines gleichen, in einer Zeit von vier und zwanzig Stunden, nicht wie einJKoͤnig,66Koͤnig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten koͤnne. Man muͤſſe zum voraus annehmen, daß er ein rechtſchaffener Mann ſey, wie er beſchrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clariſſe, Eduard, lauter rechtſchaffene Leute, ihn dafuͤr erkannt haͤtten.

Es iſt recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen ſetzt; wenn man dem Zeugniſſe, das ſich ehrliche Leute unter einander ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf uns der dramatiſche Dichter mit dieſer Regel der Billigkeit abſpeiſen? Gewiß nicht; ob er ſich ſchon ſein Geſchaͤft dadurch ſehr leicht machen koͤnnte. Wir wollen es auf der Buͤhne ſehen, wer die Menſchen ſind, und koͤnnen es nur aus ihren Thaten ſehen. Das Gute, das wir ihnen, blos auf anderer Wort, zutrauen ſollen, kann uns unmoͤglich fuͤr ſie intereſſiren; es laͤßt uns voͤllig gleichguͤltig, und wenn wir nie die geringſte eigene Erfahrung davon erhalten, ſo hat es ſo - gar eine uͤble Ruͤckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen ſollen. Weit gefehlt alſo, daß wir deßwegen, weil Julie, ihre Mutter, Clariſſe, Eduard, den Siegmund fuͤr den vortrefflichſten, vollkommenſten jungen Menſchen erklaͤren, ihn auch dafuͤr zu erkennen bereit ſeyn ſollten: ſofan -67fangen wir vielmehr an, in die Einſicht aller dieſer Perſonen ein Mißtrauen zu ſetzen, wenn wir nie mit unſern eigenen Augen etwas ſehen, was ihre guͤnſtige Meinung rechtfertiget. Es iſt wahr, in vier und zwanzig Stunden kann eine Privatperſon nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinſten kann ſich der Charakter ſchildern; und nur die, welche das meiſte Licht auf ihn werfen, ſind, nach der poetiſchen Schaͤtzung, die groͤßten. Wie traf es ſich denn indeß, daß vier und zwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwey aͤußerſten Narrheiten Gelegenheit zu ſchaffen, die einem Menſchen in ſeinen Umſtaͤnden nur immer einfallen koͤnnen? Die Gelegenheiten ſind auch darnach; koͤnnte der Verfaſſer antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moͤchten aber noch ſo natuͤrlich herbeygefuͤhret, noch ſo fein behandelt ſeyn: ſo wuͤrden darum die Narrhei - ten ſelbſt, die wir ihn zu begehen im Begriffe ſehen, ihre uͤble Wirkung auf unſere Idee von dem jungen ſtuͤrmiſchen Scheinweiſen, nicht ver - lieren. Daß er ſchlecht handele, ſehen wir: daß er gut handeln koͤnne, hoͤren wir nur, und nicht einmal in Beyſpielen, ſondern in den all - gemeinſten ſchwankendſten Ausdruͤcken.

Die Haͤrte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da ſie einen andern von ihm zumJ 2Ge -68Gemahle nehmen ſoll, als den ihr Herz gewaͤh - let hatte, wird beym Rouſſeau nur kaum be - ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden ſtoßen. Ich war um die Ausfuͤhrung dieſer Aktion be - ſorgt. Aber vergebens; unſere Schauſpieler hatten ſie ſo wohl concertiret; es ward, von Sei - ten des Vaters und der Tochter, ſo viel Anſtand dabey beobachtet, und dieſer Anſtand that der Wahrheit ſo wenig Abbruch, daß ich mir geſte - hen mußte, dieſen Akteurs koͤnne man ſo etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver - langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf - gehoben wird, ſich in ihrem Geſichte Blut zeigen ſoll. Es kann ihm lieb ſeyn, daß dieſes unter - laſſen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn in ſolchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu ſehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich ſehen.

Die darauf folgende Scene iſt die hervor - ragendſte des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem Rouſſeau. Ich weiß ſelbſt nicht, welcher Un - wille ſich in die Empfindung des Pathetiſchen miſchet, wenn wir einen Vater ſeine Tochter fußfaͤllig um etwas bitten ſehen. Es beleidiget, es kraͤnket uns, denjenigen ſo erniedriget zu er -blicken,69blicken, dem die Natur ſo heilige Rechte uͤber - tragen hat. Dem Rouſſeau muß man dieſen auſſerordentlichen Hebel verzeihen; die Maſſe iſt zu groß, die er in Bewegung ſetzen ſoll. Da keine Gruͤnde bey Julien anſchlagen wollen; da ihr Herz in der Verfaſſung iſt, daß es ſich durch die aͤußerſte Strenge in ſeinem Entſchluſſe nur noch mehr befeſtigen wuͤrde: ſo konnte ſie nur durch die ploͤtzliche Ueberraſchung der unerwar - teſten Begegnung erſchuͤttert, und in einer Art von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge - liebte ſollte ſich in die Tochter, verfuͤhreriſche Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorſam verwandeln; da Rouſſeau kein Mittel ſahe, der Natur dieſe Veraͤnderung abzugewinnen, ſo mußte er ſich entſchlieſſen, ihr ſie abzunoͤthigen, oder, wenn man will, abzuſtehlen. Auf keine andere Weiſe konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß ſie den inbruͤnſtigſten Liebhaber dem kaͤlteſten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da dieſe Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, ſondern der Vater iſt, der endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen - dung nicht ein wenig lindern ſollen, durch die Rouſſeau blos das Befremdliche jener Aufopfe - rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der - ſelben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in Sicherheit ſetzen wollte? Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethanJ 3haͤtte,70haͤtte, ſo wuͤrden wir um eine Scene gekommen ſeyn, die, wenn ſie ſchon nicht ſo recht in das Ganze paſſen will, doch ſehr kraͤftig iſt; er wuͤrde uns ein hohes Licht in ſeiner Copie ver - mahlt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiß, wo es herkoͤmmt, das aber eine treffliche Wirkung thut. Die Art, mit der Herr Eckhof dieſe Scene ausfuͤhrte, die Aktion, mit der er einen Theil der grauen Haare vors Auge brach - te, bey welchen er die Tochter beſchwor; waͤren es allein werth geweſen, eine kleine Unſchicklich - keit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunſtrichter, bey Zergliederung des Planes, merklich wird.

Das Nachſpiel dieſes Abends war, der Schatz; die Nachahmung des Plautinſchen Trinummus, in welcher der Verfaſſer alle die komiſchen Sce - nen ſeines Originals in einen Aufzug zu concen - triren geſucht hat. Er ward ſehr wohl geſpielt. Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomiſchen ſo noth - wendig erfodert wird. Wenn ein halbſchieriger Einfall, eine Unbeſonnenheit, ein Wortſpiel, langſam und ſtotternd vorgebracht wird; wenn ſich die Perſonen auf Armſeligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten ſetzen ſollen, noch erſt viel beſinnen: ſo iſt die Langeweile unver - meidlich. Poſſen muͤſſen Schlag auf Schlaggeſagt71geſagt werden, und der Zuhoͤrer muß keinen Augenblick Zeit haben, zu unterſuchen, wie witzig oder unwitzig ſie ſind. Es ſind keine Frauenzimmer in dieſem Stuͤcke; das einzige, welches noch anzubringen geweſen waͤre, wuͤrde eine froſtige Liebhaberinn ſeyn; und freylich lie - ber keines, als ſo eines. Sonſt moͤchte ich es niemanden rathen, ſich dieſer Beſondernheit zu befleißigen. Wir ſind zu ſehr an die Unter - mengung beider Geſchlechter gewoͤhnet, als daß wir bey gaͤnzlicher Vermiſſung des reitzendern, nicht etwas Leeres empfinden ſollten.

Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzoſen Destouches, das nehmliche Luſtſpiel des Plautus wieder auf die Buͤhne gebracht. Sie haben beide große Stuͤcke von fuͤnf Aufzuͤgen daraus gemacht, und ſind daher genoͤthiget geweſen, den Plan des Roͤ - mers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heißt, die Mitgift, und wird vom Riccoboni, in ſeiner Geſchichte des italieni - ſchen Theaters, als eines von den beſten alten Luſtſpielen deſſelben empfohlen. Das vom Des - touches fuͤhrt den Titel, der verborgne Schatz, und ward ein einzigesmal, im Jahre 1745, auf der italieniſchen Buͤhne zu Paris, und auch dieſes einzigemal nicht ganz bis zu Ende, aufge - fuͤhret. Es fand keinen Beyfall, und iſt erſtnach72nach dem Tode des Verfaſſers, und alſo ver - ſchiedene Jahre ſpaͤter, als der deutſche Schatz, im Drucke erſchienen. Plautus ſelbſt iſt nicht der erſte Erfinder dieſes ſo gluͤcklichen, und von mehrern mit ſo vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes geweſen; ſondern Philemon, bey dem es eben die ſimple Aufſchrift hatte, zu der es im Deutſchen wieder zuruͤckgefuͤhret worden. Plau - tus hatte ſeine ganz eigne Manier, in Benen - nung ſeiner Stuͤcke; und meiſtentheils nahm er ſie von dem allerunerheblichſten Umſtande her. Dieſes z. E. nennte er Trinummus, den Drey - ling; weil der Sykophant einen Dreyling fuͤr ſeine Muͤhe bekam.

Ham -[73]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zehntes Stuͤck.

Das Stuͤck des fuͤnften Abends (Dienſtags, den 28ſten April,) war, das unvermu - thete Hinderniß, oder das Hinderniß ohne Hinderniß, vom Destouches.

Wenn wir die Annales des franzoͤſiſchen Thea - ters nachſchlagen, ſo finden wir, daß die luſtig - ſten Stuͤcke dieſes Verfaſſers, gerade den aller - wenigſten Beyfall gehabt haben. Weder das gegenwaͤrtige, noch der verborgene Schatz, noch das Geſpenſt mit der Trommel, noch der poeti - ſche Dorfjunker, haben ſich darauf erhalten; und ſind ſelbſt in ihrer Neuheit, nur wenige - mal aufgefuͤhret worden. Es beruhet ſehr viel auf dem Tone, in welchem ſich ein Dichter an - kuͤndiget, oder in welchem er ſeine beſten Werke verfertiget. Man nimmt ſtillſchweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, ſich von dieſem Tone niemals zu entfernen; undKwenn74wenn er es thut, duͤnket man ſich berechtiget, daruͤber zu ſtutzen. Man ſucht den Verfaſſer in dem Verfaſſer, und glaubt, etwas ſchlechters zu finden, ſobald man nicht das nehmliche findet. Destouches hatte in ſeinem verheyratheten Phi - loſophen, in ſeinem Ruhmredigen, in ſeinem Verſchwender, Muſter eines feinern, hoͤhern Komiſchen gegeben, als man vom Moliere, ſelbſt in ſeinen ernſthafteſten Stuͤcken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunſtrichter, die ſo gern klaßificiren, dieſes zu ſeiner eigenthuͤmlichen Sphaͤre; was bey dem Poeten vielleicht nichts als zufaͤllige Wahl war, erklaͤrten ſie fuͤr vor - zuͤglichen Hang und herrſchende Faͤhigkeit; was er einmal, zweymal, nicht gewollt hatte, ſchien er ihnen nicht zu koͤnnen: und als er es nunmehr wollte, was ſieht Kunſtrichtern aͤhnlicher, als daß ſie ihm lieber nicht Gerechtigkeit wiederfahren lieſſen, ehe ſie ihr voreiliges Urtheil aͤnderten? Ich will damit nicht ſagen, daß das Niedrig - komiſche des Destouches mit dem Molieriſchen von einerley Guͤte ſey. Es iſt wirklich um vie - les ſteifer; der witzige Kopf iſt mehr darinn zu ſpuͤren, als der getreue Mahler; ſeine Narren ſind ſelten von den behaͤglichen Narrren, wie ſie aus den Haͤnden der Natur kommen, ſondern mehrentheils von der hoͤlzernen Gattung, wie ſie die Kunſt ſchnitzelt, und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie uͤber -ladet;75ladet; ſein Schulwitz, ſein Maſuren, ſind da - her froſtiger als laͤcherlich. Aber dem ohnge - achtet, und nur dieſes wollte ich ſagen, ſind ſeine luſtigen Stuͤcke am wahren Komiſchen ſo geringhaltig noch nicht, als ſie ein verzaͤrtelter Geſchmack findet; ſie haben Scenen mit unter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen anſehnlichen Rang unter den komiſchen Dichtern verſichern koͤnnten.

Hierauf folget ein neues Luſtſpiel in einem Aufzuge, betittelt, die neue Agneſe.

Madame Gertrude ſpielte vor den Augen der Welt die fromme Sproͤde; aber insgeheim war ſie die gefaͤllige feurige Freundinn eines gewiſſen Bernard. Wie gluͤcklich, o wie gluͤcklich machſt du mich, Bernard! rief ſie einſt in der Ent - zuͤckung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragt das liebe einfaͤltige Maͤd - chen: Aber, Mamma, wer iſt denn der Bernard, der die Leute gluͤcklich macht? Die Mutter merkte ſich verrathen, faßte ſich aber geſchwind. Es iſt der Heilige, meine Tochter, den ich mir kuͤrzlich gewaͤhlt habe; einer von den groͤßten im Paradieſe. Nicht lange, ſo ward die Tochter mit einem gewiſſen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in ſeinem Umgange recht viel Ver - gnuͤgen; Mamma bekoͤmmt Verdacht; Mamma beſchleicht das gluͤckliche Paar; und da bekoͤmmt Mamma von dem Toͤchterchen eben ſo ſchoͤneK 2Seuf -76Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngſt von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er - grimmt, uͤberfaͤllt ſie, tobt. Nun, was denn, liebe Mamma? ſagt endlich das ruhige Maͤd - chen. Sie haben ſich den H. Bernard gewaͤhlt; und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? Dieſes iſt eines von den lehrreichen Maͤrchen, mit welchen das weiſe Alter des goͤttlichen Vol - taire die junge Welt beſchenkte. Favart fand es gerade ſo erbaulich, als die Fabel zu einer komi - ſchen Oper ſeyn muß. Er ſahe nichts anſtoͤßiges darinn, als die Namen der Heiligen, und die - ſem Anſtoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platoniſche Weiſe, eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter den Namen und in der Geſtalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau beſucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und ſo weiter. Kurz, es entſtand die Operette, Iſabelle und Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche die Grundlage zur neuen Agneſe iſt. Man hat die Sitten darinn, den unſrigen naͤher zu brin - gen geſucht, man hat ſich aller Anſtaͤndigkeit befliſſen; das liebe Maͤdchen iſt von der reitzendſter, verehrungswuͤrdigſten Unſchuld; und durch das Ganze ſind eine Menge gute komiſche Einfaͤlle verſtreuet, die zum Theil dem deutſchen Ver - faſſer eigen ſind. Ich kann mich in die Veraͤn -derun -77derungen ſelbſt, die er mit ſeiner Urſchrift ge - macht, nicht naͤher einlaſſen; aber Perſonen von Geſchmack, welchen dieſe nicht unbekannt war, wuͤnſchten, daß er die Nachbarinn, anſtatt des Vaters, beybehalten haͤtte. Die Rolle der Agneſe ſpielte Mademoiſelle Felbrich, ein jun - ges Frauenzimmer, das eine vortrefliche Ak - trice verſpricht, und daher die beſte Aufmunte - rung verdienet. Alter, Figur, Mine, Stim - me, alles koͤmmt ihr hier zu ſtatten; und ob ſich, bey dieſen Naturgaben, in einer ſolchen Rolle ſchon vieles von ſelbſt ſpielet: ſo muß man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugeſtehen, die Vorbedacht und Kunſt, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verriethen, als ſich an einer Agneſe verrathen darf.

Den ſechſten Abend (Mittwochs, den 29ſten April) ward die Semiramis des Hrn. von Vol - taire aufgefuͤhret.

Dieſes Trauerſpiel ward im Jahre 1748 auf die franzoͤſiſche Buͤhne gebracht, erhielt großen Beyfall, und macht, in der Geſchichte dieſer Buͤhne, gewiſſermaaßen Epoche. Nachdem der Hr. von Voltaire ſeine Zayre und Alzire, ſeinen Brutus und Caͤſar geliefert hatte, ward er in der Meinung beſtaͤrkt, daß die tragiſchen Dichter ſeiner Nation die alten Griechen in vie - len Stuͤcken weit uͤbertraͤfen. Von uns Fran - zoſen, ſagt er, haͤtten die Griechen eine geſchick -K 3tere78tere Expoſition, und die große Kunſt, die Auf - tritte unter einander ſo zu verbinden, daß die Scene niemals leer bleibt, und keine Perſon we - der ohne Urſache koͤmmt noch abgehet, lernen koͤnnen. Von uns, ſagt er, haͤtten ſie lernen koͤnnen, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerin - nen, in witzigen Antitheſen, mit einander ſpre - chen; wie der Dichter, mit einer Menge erhabner, glaͤnzender Gedanken, blenden und in Er - ſtaunen ſetzen muͤſſe. Von uns haͤtten ſie lernen koͤnnen O freylich; was iſt von den Franzoſen nicht alles zu lernen! Hier und da moͤchte zwar ein Auslaͤnder, der die Alten auch ein wenig geleſen hat, demuͤthig um Erlaubniß bitten, anderer Meinung ſeyn zu duͤrfen. Er moͤchte vielleicht einwenden, daß alle dieſe Vorzuͤge der Franzoſen auf das Weſentliche des Trauerſpiels eben keinen großen Einfluß haͤtten; daß es Schoͤnheiten waͤren, welche die einfaͤltige Groͤße der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er ſpricht und man glaubt. Ein einziges ver - mißte er bey ſeiner Buͤhne; daß die großen Mei - ſterſtuͤcke derſelben nicht mit der Pracht aufge - fuͤhret wuͤrden, deren doch die Griechen die klei - nen Verſuche einer erſt ſich bildenden Kunſt ge - wuͤrdiget haͤtten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem ſchlechteſten Geſchmacke, wo ſich in einem ſchmutzi -gen79gen Parterre das ſtehende Volk drengt und ſtoͤßt, beleidigte ihn mit Recht; und beſonders belei - digte ihn die barbariſche Gewohnheit, die Zu - ſchauer auf der Buͤhne zu dulden, wo ſie den Akteurs kaum ſo viel Platz laſſen, als zu ihren nothwendigſten Bewegungen erforderlich iſt. Er war uͤberzeugt, daß blos dieſer Uebelſtand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bey einem freyern, zu Handlungen bequemern und praͤchtigern Theater, ohne Zweifel gewagt haͤtte. Und eine Probe hiervon zu geben, ver - fertigte er ſeine Semiramis. Eine Koͤniginn, welche die Staͤnde ihres Reichs verſammelt, um ihnen ihre Vermaͤhlung zu eroͤffnen; ein Ge - ſpenſt, das aus ſeiner Gruft ſteigt, um Blut - ſchande zu verhindern, und ſich an ſeinem Moͤr - der zu raͤchen; dieſe Gruft, in die ein Narr her - eingeht, um als ein Verbrecher wieder heraus - zukommen: das alles war in der That fuͤr die Fran - zoſen etwas ganz Neues. Es macht ſo viel Ler - men auf der Buͤhne, es erfordert ſo viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt iſt. Der Dichter glaubte das Muſter zu einer ganz beſondern Gattung gege - ben zu haben; und ob er es ſchon nicht fuͤr die franzoͤſiſche Buͤhne, ſo wie ſie war, ſondern ſo wie er ſie wuͤnſchte, gemacht hatte: ſo ward es dennoch auf derſelben, vor der Hand, ſo gut geſpielet, als es ſich ohngefaͤhr ſpielen ließ. Bey80Bey der erſten Vorſtellung ſaßen die Zuſchauer noch mit auf dem Theater; und ich haͤtte wohl ein altvaͤtriſches Geſpenſt in einem ſo galanten Zirkel moͤgen erſcheinen ſehen. Erſt bey den fol - genden Vorſtellungen ward dieſer Unſchicklich - keit abgeholfen; die Akteurs machten ſich ihre Buͤhne frey; und was damals nur eine Aus - nahme, zum Beſten eines ſo auſſerordentlichen Stuͤckes, war, iſt nach der Zeit die beſtaͤndige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur fuͤr die Buͤhne in Paris; fuͤr die, wie geſagt, Se - miramis in dieſem Stuͤcke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch haͤufig bey der alten Mode, und will lieber aller Illuſion, als dem Vorrechte entſagen, den Zayren und Me - ropen auf die Schleppe treten zu koͤnnen.

Ham -[81]

Hamburgiſche Dramaturgie. Eilftes Stuͤck.

Die Erſcheinung eines Geiſtes war in einem franzoͤſiſchen Trauerſpiele eine ſo kuͤhne Neuheit, und der Dichter, der ſie wag - te, rechtfertiget ſie mit ſo eignen Gruͤnden, daß es ſich der Muͤhe lohnet, einen Augenblick da - bey zu verweilen.

Man ſchrie und ſchrieb von allen Seiten,

ſagt der Herr von Voltaire,

daß man an Ge - ſpenſter nicht mehr glaube, und daß die Erſchei - nung der Todten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindiſch ſeyn koͤnne. Wie?

verſetzt er dagegen;

das ganze Alterthum haͤtte dieſe Wunder geglaubt, und es ſollte nicht vergoͤnnt ſeyn, ſich nach dem Alterthume zu richten? Wie? unſere Religion haͤtte der - gleichen auſſerordentliche Fuͤgungen der Vorſicht geheiliget, und es ſollte laͤcherlich ſeyn, ſie zu erneuern?
LDieſe82

Dieſe Ausrufungen, duͤnkt mich, ſind rheto - riſcher, als gruͤndlich. Vor allen Dingen wuͤnſchte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu laſſen. In Dingen des Geſchmacks und der Kritik, ſind Gruͤnde, aus ihr genommen, recht gut, ſeinen Gegner zum Stillſchweigen zu brin - gen, aber nicht ſo recht tauglich, ihn zu uͤber - zeugen. Die Religion, als Religion, muß hier nichts entſcheiden ſollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Alterthums, gilt ihr Zeug - niß nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugniſſe des Alterthums gelten. Und ſo nach haͤtten wir es auch hier, nur mit dem Alterthume zu thun.

Sehr wohl; das ganze Alterthum hat Ge - ſpenſter geglaubt. Die dramatiſchen Dichter des Alterthums hatten alſo Recht, dieſen Glau - ben zu nutzen; wenn wir bey einem von ihnen wiederkommende Todte aufgefuͤhret finden, ſo waͤre es unbillig, ihm nach unſern beſſern Ein - ſichten den Proceß zu machen. Aber hat darum der neue, dieſe unſere beſſere Einſichten theilende dramatiſche Dichter, die nehmliche Befugniß? Gewiß nicht. Aber wenn er ſeine Geſchichte in jene leichtglaͤubigere Zeiten zuruͤcklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatiſche Dichter iſt kein Geſchichtſchreiber; er erzehlt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geſchehen, ſon -dern83dern er laͤßt es vor unſern Augen nochmals ge - ſchehen; und laͤßt es nochmals geſchehen, nicht der bloßen hiſtoriſchen Wahrheit wegen, ſondern in einer ganz andern und hoͤhern Abſicht; die hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht ſein Zweck, ſon - dern nur das Mittel zu ſeinem Zwecke; er will uns taͤuſchen, und durch die Taͤuſchung ruͤhren. Wenn es alſo wahr iſt, daß wir itzt keine Ge - ſpenſter mehr glauben; wenn dieſes Nichtglau - ben die Taͤuſchung nothwendig verhindern muͤß - te; wenn ohne Taͤuſchung wir unmoͤglich ſym - pathiſiren koͤnnen: ſo handelt itzt der dramatiſche Dichter wider ſich ſelbſt, wenn er uns dem ohn - geachtet ſolche unglaubliche Maͤhrchen ausſtaffi - ret; alle Kunſt, die er dabey anwendet, iſt ver - loren.

Folglich? Folglich iſt es durchaus nicht er - laubt, Geſpenſter und Erſcheinungen auf die Buͤhne zu bringen? Folglich iſt dieſe Quelle des Schrecklichen und Pathetiſchen fuͤr uns vertrock - net? Nein; dieſer Verluſt waͤre fuͤr die Poeſie zu groß; und hat ſie nicht Beyſpiele fuͤr ſich, wo das Genie aller unſerer Philoſophie trotzet, und Dinge, die der kalten Vernunft ſehr ſpoͤt - tiſch vorkommen, unſerer Einbildung ſehr fuͤrch - terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Vorausſetzung wird nur falſch ſeyn. Wir glauben keine GeſpenſterL 2mehr?84mehr? Wer ſagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es ſo viel: wir ſind endlich in unſern Einſichten ſo weit gekommen, daß wir die Unmoͤglichkeit davon erweiſen koͤnnen; ge - wiſſe unumſtoͤßliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Geſpenſter im Widerſpruche ſtehen, ſind ſo allgemein bekannt worden, ſind auch dem gemeinſten Manne immer und beſtaͤndig ſo ge - genwaͤrtig, daß ihm alles, was damit ſtreitet, nothwendig laͤcherlich und abgeſchmackt vorkom - men muß? Das kann es nicht heiſſen. Wir glauben itzt keine Geſpenſter, kann alſo nur ſo viel heiſſen: in dieſer Sache, uͤber die ſich faſt eben ſo viel dafuͤr als darwider ſagen laͤßt, die nicht entſchieden iſt, und nicht entſchieden wer - den kann, hat die gegenwaͤrtig herrſchende Art zu denken den Gruͤnden darwider das Ueberge - wicht gegeben; einige wenige haben dieſe Art zu denken, und viele wollen ſie zu haben ſcheinen; dieſe machen das Geſchrey und geben den Ton; der groͤßte Haufe ſchweigt und verhaͤlt ſich gleich - guͤltig, und denkt bald ſo, bald anders, hoͤrt beym hellen Tage mit Vergnuͤgen uͤber die Ge - ſpenſter ſpotten, und bey dunkler Nacht mit Grauſen davon erzehlen.

Aber in dieſem Verſtande keine Geſpenſter glauben, kann und darf den dramatiſchen Dich - ter im geringſten nicht abhalten, Gebrauch da -von85von zu machen. Der Saame, ſie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haͤufigſten, fuͤr die er vornehmlich dichtet. Es koͤmmt nur auf ſeine Kunſt an, dieſen Saamen zum Kaͤu - men zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe, den Gruͤnden fuͤr ihre Wirklichkeit in der Ge - ſchwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er dieſe in ſeiner Gewalt, ſo moͤgen wir in gemei - nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muͤſſen wir glauben, was Er will.

So ein Dichter iſt Shakeſpear, und Shake - ſpear faſt einzig und allein. Vor ſeinem Ge - ſpenſte im Hamlet richten ſich die Haare zu Ber - ge, ſie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that gar nicht wohl, ſich auf dieſes Geſpenſt zu be - rufen; es macht ihn und ſeinen Geiſt des Ni - nus laͤcherlich.

Shakeſpears Geſpenſt koͤmmt wirklich aus jener Welt; ſo duͤnkt uns. Denn es koͤmmt zu der feyerlichen Stunde, in der ſchaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duͤſtern, geheimnißvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Geſpenſter zu erwarten und zu denken gewohnt ſind. Aber Voltairens Geiſt iſt auch nicht ein - mal zum Popanze gut, Kinder damit zu ſchrecken;L 3es86es iſt der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts hat, nichts ſagt, nichts thut, was es wahr - ſcheinlich machen koͤnnte, er waͤre das, wofuͤr er ſich ausgiebt; alle Umſtaͤnde vielmehr, unter welchen er erſcheinet, ſtoͤren den Betrug, und verrathen das Geſchoͤpf eines kalten Dichters, der uns gern taͤuſchen und ſchrecken moͤchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen ſoll. Man uͤberlege auch nur dieſes einzige: am hellen Ta - ge, mitten in der Verſamlung der Staͤnde des Reichs, von einem Donnerſchlage angekuͤndiget, tritt das Voltairiſche Geſpenſt aus ſeiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau haͤtte ihm nicht ſagen koͤnnen, daß die Geſpen - ſter das Sonnenlicht ſcheuen, und große Geſell - ſchaften gar nicht gern beſuchten? Doch Vol - taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu furchtſam, zu eckel, dieſe gemeinen Umſtaͤnde zu nutzen; er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſeyn; und durch dieſe edlere Art verdarb er alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Geſpenſtern ſind, duͤnket mich kein rechtes Geſpenſt zu ſeyn; und alles, was die Illuſion hier nicht befoͤrdert, ſtoͤret die Il - luſion.

Wenn87

Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haͤtte, ſo wuͤrde er auch von einer andern Seite die Unſchicklichkeit em - pfunden haben, ein Geſpenſt vor den Augen einer großen Menge erſcheinen zu laſſen. Alle muͤſſen auf einmal, bey Erblickung deſſelben, Furcht und Entſetzen aͤußern; alle muͤſſen es auf verſchiedene Art aͤußern, wenn der Anblick nicht die froſtige Symmetrie eines Ballets haben ſoll. Nun richte man einmal eine Heerde dumme Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das gluͤcklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man, wie ſehr dieſer vielfache Ausdruck des nehmli - chen Affekts die Aufmerkſamkeit theilen, und von den Hauptperſonen abziehen muß. Wenn dieſe den rechten Eindruck auf uns machen ſollen, ſo muͤſſen wir ſie nicht allein ſehen koͤnnen, ſon - dern es iſt auch gut, wenn wir ſonſt nichts ſehen, als ſie. Beym Shakeſpear iſt es der einzige Hamlet, mit dem ſich das Geſpenſt einlaͤßt; in der Scene, wo die Mutter dabey iſt, wird es von der Mutter weder geſehen noch gehoͤrt. Alle unſere Beobachtung geht alſo auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruͤtteten Gemuͤths wir an ihm ent - decken, deſto bereitwilliger ſind wir, die Er - ſcheinung, welche dieſe Zerruͤttung in ihm ver - urſacht, fuͤr eben das zu halten, wofuͤr er ſie haͤlt. Das Geſpenſt wirket auf uns, mehrdurch88durch ihn, als durch ſich ſelbſt. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns uͤber, und die Wirkung iſt zu augenſcheinlich und zu ſtark, als daß wir an der auſſerordentlichen Urſache zweifeln ſollten. Wie wenig hat Voltaire auch dieſen Kunſtgriff verſtanden! Es erſchrecken uͤber ſeinen Geiſt viele; aber nicht viel. Se - miramis ruft einmal: Himmel! ich ſterbe! und die andern machen nicht mehr Umſtaͤnde mit ihm, als man ohngefehr mit einem weit entfernt ge - glaubten Freunde machen wuͤrde, der auf ein - mal ins Zimmer tritt.

Ham -[89]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwoͤlftes Stuͤck.

Ich bemerke noch einen Unterſchied, der ſich zwiſchen den Geſpenſtern des engliſchen und franzoͤſiſchen Dichters findet. Vol - tairs Geſpenſt iſt nichts als eine poetiſche Ma - ſchine, die nur des Knotens wegen da iſt; es intereſſirt uns fuͤr ſich ſelbſt nicht im geringſten. Shakeſpears Geſpenſt hingegen iſt eine wirklich handelnde Perſon, an deſſen Schickſale wir An - theil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

Dieſer Unterſchied entſprang, ohne Zweifel, aus der verſchiedenen Denkungsart beider Dich - ter von den Geſpenſtern uͤberhaupt. Voltaire betrachtet die Erſcheinung eines Verſtorbenen als ein Wunder; Shakeſpear als eine ganz na - tuͤrliche Begebenheit. Wer von beiden philo - ſophiſcher denkt, duͤrfte keine Frage ſeyn; aber Shakeſpear dachte poetiſcher. Der Geiſt desMNi -90Ninus kam bey Voltairen, als ein Weſen, das noch jenſeit dem Grabe angenehmer und unange - nehmer Empfindungen faͤhig iſt, mit welchem wir alſo Mitleiden haben koͤnnen, in keine Be - trachtung. Er wollte blos damit lehren, daß die hoͤchſte Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu beſtrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Geſetzen mache.

Ich will nicht ſagen, daß es ein Fehler iſt, wenn der dramatiſche Dichter ſeine Fabel ſo ein - richtet, daß ſie zur Erlaͤuterung oder Beſtaͤti - gung irgend einer großen moraliſchen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf ſagen, daß dieſe Einrichtung der Fabel nichts weniger als noth - wendig iſt; daß es ſehr lehrreiche vollkommene Stuͤcke geben kann, die auf keine ſolche einzelne Maxime abzwecken; daß man Unrecht thut, den letzten Sittenſpruch, den man zum Schluſſe ver - ſchiedener Trauerſpiele der Alten findet, ſo an - zuſehen, als ob das Ganze blos um ſeinetwillen da waͤre.

Wenn daher die Semiramis des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienſt haͤtte, als dieſes, worauf er ſich ſo viel zu gute thut, daß man nehmlich daraus die hoͤchſte Gerechtigkeit vereh - ren lerne, die auſſerordentliche Laſterthaten zu ſtrafen, auſſerordentliche Wege waͤhle: ſo wuͤrde Semiramis in meinen Augen nur ein ſehr mittel - maͤßiges Stuͤck ſeyn. Beſonders da dieſe Moralſelbſt91ſelbſt nicht eben die erbaulichſte iſt. Denn es iſt ohnſtreitig dem weiſeſten Weſen weit anſtaͤndi - ger, wenn es dieſer auſſerordentlichen Wege nicht bedarf, und wir uns die Beſtrafung des Guten und Boͤſen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken.

Doch ich will mich bey dem Stuͤcke nicht laͤn - ger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu ſagen, wie es hier aufgefuͤhret worden. Man hat alle Urſache, damit zufrieden zu ſeyn. Die Buͤhne iſt geraͤumlich genug, die Menge von Perſonen ohne Verwirrung zu faſſen, die der Dichter in verſchiedenen Scenen auftreten laͤßt. Die Verzierungen ſind neu, von dem beſten Ge - ſchmacke, und ſammeln den ſo oft abwechſelnden Ort ſo gut als moͤglich in einen.

Den ſiebenden Abend (Donnerſtags, den 30ſten April,) ward der verheyrathete Philo - ſoph, vom Destouches, geſpielet.

Dieſes Luſtſpiel kam im Jahr 1727 zuerſt auf die franzoͤſiſche Buͤhne, und fand ſo allgemeinen Beyfall, daß es in Jahr und Tag ſechs und dreyßigmal aufgefuͤhret ward. Die deutſche Ueberſetzung iſt nicht die proſaiſche aus den zu Berlin uͤberſetzten ſaͤmtlichen Werken des Des - touches; ſondern eine in Verſen, an der mehrere Haͤnde geflickt und gebeſſert haben. Sie hat wirklich viel gluͤckliche Verſe, aber auch viel harte und unnatuͤrliche Stellen. Es iſt unbe -M 2ſchreib -92ſchreiblich, wie ſchwer dergleichen Stellen dem Schauſpieler das Agiren machen; und doch wer - den wenig franzoͤſiſche Stuͤcke ſeyn, die auf irgend einem deutſchen Theater jemals beſſer aus - gefallen waͤren, als dieſes auf unſerm. Die Rollen ſind alle auf das ſchicklichſte beſetzt, und beſonders ſpielet Madame Loͤwen die launigte Celiante als eine Meiſterinn, und Herr Acker - mann den Geront unverbeſſerlich. Ich kann es uͤberhoben ſeyn, von dem Stuͤcke ſelbſt zu reden. Es iſt zu bekannt, und gehoͤrt unſtreitig unter die Meiſterſtuͤcke der franzoͤſiſchen Buͤhne, die man auch unter uns immer mit Vergnuͤgen ſehen wird.

Das Stuͤck des achten Abends (Freytags, den 1ſten May,) war das Kaffeehaus, oder die Schottlaͤnderinn, des Hrn. von Voltaire.

Es lieſſe ſich eine lange Geſchichte von dieſem Luſtſpiele machen. Sein Verfaſſer ſchickte es als eine Ueberſetzung aus dem Engliſchen des Hume, nicht des Geſchichtſchreibers und Philo - ſophen, ſondern eines andern dieſes Namens, der ſich durch das Trauerſpiel, Douglas, be - kannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der Kaffeeſchenke des Goldoni etwas Aehnliches; beſonders ſcheint der Don Marzio des Goldoni, das Urbild des Frelon geweſen zu ſeyn. Was aber dort blos ein boͤsartiger Kerl iſt, iſt hier zugleich ein elen - der Scribent, den er Frelon nannte, damit dieAus -93Ausleger deſto geſchwinder auf ſeinen geſchwor - nen Feind, den Jurnaliſten Freron, fallen moͤchten. Dieſen wollte er damit zu Boden ſchlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich verſetzt. Wir Auslaͤn - der, die wir an den haͤmiſchen Neckereyen der franzoͤſiſchen Gelehrten unter ſich, keinen An - theil nehmen, ſehen uͤber die Perſoͤnlichkeiten dieſes Stuͤcks weg, und finden in dem Frelon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bey uns nicht fremd iſt. Wir haben unſere Frelons ſo gut, wie die Franzoſen und Englaͤnder, nur daß ſie bey uns weniger Aufſehen machen, weil uns unſere Litteratur uͤberhaupt gleichguͤltiger iſt. Fiele das Tref - fende dieſes Charakters aber auch gaͤnzlich in Deutſchland weg, ſo hat das Stuͤck doch, noch außer ihm, Intereſſe genug, und der ehrliche Freeport allein, koͤnnte es in unſerer Gunſt er - halten. Wir lieben ſeine plumpe Edelmuͤthig - keit, und die Englaͤnder ſelbſt haben ſich dadurch geſchmeichelt gefunden.

Denn nur ſeinetwegen haben ſie erſt kuͤrzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich ver - pflanzt, auf welchem er ſich gewachſen zu ſeyn ruͤhmte. Colman, unſtreitig itzt ihr beſter ko - miſcher Dichter, hat die Schottlaͤnderinn, unter dem Titel des Engliſchen Kaufmanns, uͤberſetzt, und ihr vollends alle das nationale Colorit gege -M 3ben,94ben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So ſehr der Herr von Voltaire die engliſchen Sitten auch kennen will, ſo hatte er doch haͤufig dagegen verſtoſſen; z. E. darinn, daß er ſeine Lindane auf einem Kaffeehauſe wohnen laͤßt. Colman miethet ſie dafuͤr bey einer ehrlichen Frau ein, die moͤblirte Zimmer haͤlt, und dieſe Frau iſt weit anſtaͤndiger die Freundinn und Wohl - thaͤterinn der jungen verlaſſenen Schoͤne, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman fuͤr den engliſchen Geſchmack kraͤftiger zu machen ge - ſucht. Lady Alton iſt nicht blos eine eiferſuͤch - tige Furie; ſie will ein Frauenzimmer von Ge - nie, von Geſchmack und Gelehrſamkeit ſeyn, und giebt ſich das Anſehen einer Schutzgoͤttinn der Litteratur. Hierdurch glaubte er die Ver - bindung wahrſcheinlicher zu machen, in der ſie mit dem elenden Frelon ſtehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphaͤre von Thaͤtigkeit bekommen, und er nimmt ſich des Vaters der Lindane eben ſo eifrig an, als der Lindane ſelbſt. Was im Franzoͤſiſchen der Lord Falbridge zu deſſen Begnadigung thut, thut im Engliſchen Freeport, und er iſt es allein, der alles zu einem gluͤcklichen Ende bringet.

Die engliſchen Kunſtrichter haben in Colmans Umarbeitung die Geſinnungen durchaus vor - trefflich, den Dialog fein und lebhaft, und die Charaktere ſehr wohl ausgefuͤhrt gefunden. Aberdoch95doch ziehen ſie ihr Colmans uͤbrige Stuͤcke weit vor, von welchen man die eiferſuͤchtige Ehefrau auf dem Ackermanniſchen Theater ehedem hier geſehen, und nach der diejenigen, die ſich ihrer erinnern, un - gefehr urtheilen koͤnnen. Der engliſche Kauf - mann hat ihnen nicht Handlung genug; die Neu - gierde wird ihnen nicht genug darinn genaͤhret; die ganze Verwickelung iſt in dem erſten Akte ſichtbar. Hiernaͤchſt hat er ihnen zu viel Aehn - lichkeit mit andern Stuͤcken, und den beſten Si - tuationen fehlt die Neuheit. Freeport, meynen ſie, haͤtte nicht den geringſten Funken von Lieben gegen die Lindane empfinden muͤſſen; ſeine gute That verliere dadurch alles Verdienſt u. ſ. w.

Es iſt an dieſer Kritik manches nicht ganz un - gegruͤndet; indeß ſind wir Deutſchen es ſehr wohl zufrieden, daß die Handlung nicht reicher und verwickelter iſt. Die engliſche Manier in dieſem Punkte, zerſtreuet und ermuͤdet uns; wir lieben einen einfaͤltigen Plan, der ſich auf einmal uͤberſehen laͤßt. So wie die Englaͤnder die fran - zoͤſiſchen Stuͤcke mit Epiſoden erſt vollpfropfen muͤſſen, wenn ſie auf ihrer Buͤhne gefallen ſol - len; ſo muͤßten wir die engliſchen Stuͤcke von ihren Epiſoden erſt entladen, wenn wir unſere Buͤhne gluͤcklich damit bereichern wollten. Ihre beſten Luſtſpiele eines Congreve und Wycherley wuͤrden uns, ohne dieſen Aushau des allzu wol - luͤſtigen Wuchſes, unausſtehlich ſeyn. Mitihren96ihren Tragoͤdien werden wir noch eher fertig; dieſe ſind zum Theil bey weiten ſo verworren nicht, als ihre Komoͤdien, und verſchiedene haben, ohne die geringſte Veraͤnderung, bey uns Gluͤck gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komoͤdien zu ſagen wuͤßte.

Auch die Italiener haben eine Ueberſetzung von der Schottlaͤnderinn, die in dem erſten Theile der theatraliſchen Bibliothek des Diodati ſtehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, ſo wie die deutſche; nur eine Scene zum Schluſſe hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire ſagte, Frelon werde in der engliſchen Ur - ſchrift am Ende beſtraft; aber ſo verdient dieſe Beſtrafungen ſey, ſo habe ſie ihm doch dem Hauptintereſſe zu ſchaden geſchienen; er habe ſie alſo weggelaſſen. Dem Italiener duͤnkte dieſe Entſchuldigung nicht hinlaͤnglich, und er er - gaͤnzte die Beſtrafung des Frelons aus ſeinem Kopfe; denn die Italiener ſind große Liebhaber der poetiſchen Gerechtigkeit.

Ham -[97]

Hamburgiſche Dramaturgie. Dreyzehntes Stuͤck.

Den neunten Abend (Montags, den 4ten May,) ſollte Cenie geſpielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Haͤlfte der Schauſpieler, durch einen epidemiſchen Zufall, auſſer Stand geſetzet zu agiren; und man mußte ſich ſo gut zu helfen ſuchen, als moͤglich. Man wiederholte die neue Agneſe, und gab das Singſpiel, die Gouvernante.

Den zehnten Abend (Dienſtags, den 5ten May,) ward der poetiſche Dorfjunker, vom Destouches, aufgefuͤhrt.

Dieſes Stuͤck hat im Franzoͤſiſchen drey Auf - zuͤge, und in der Ueberſetzung fuͤnfe. Ohne dieſe Verbeſſerung war es nicht werth, in die deutſche Schaubuͤhne des weiland beruͤhmten Herrn Profeſſor Gottſcheds aufgenommen zu werden, und ſeine gelehrte Freundinn, die Ueber - ſetzerinn, war eine viel zu brave Ehefrau, alsNdaß98daß ſie ſich nicht den kritiſchen Ausſpruͤchen ihres Gemahls blindlings haͤtte unterwerfen ſollen. Was koſtet es denn nun auch fuͤr große Muͤhe, aus drey Aufzuͤgen fuͤnfe zu machen? Man laͤßt in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man ſchlaͤgt einen Spatziergang im Garten vor; und wenn Noth an den Mann gehet, ſo kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und ſagen: Meine Damen und Herren, treten ſie ein wenig ab; die Zwiſchenakte ſind des Putzens wegen er - funden, und was hilft ihr Spielen, wenn das Parterr nicht ſehen kann? Die Ueberſetzung ſelbſt iſt ſonſt nicht ſchlecht, und beſonders ſind der Fr. Profeſſorinn die Knittelverſe des Ma - ſuren, wie billig, ſehr wohl gelungen. Ob ſie uͤberall eben ſo gluͤcklich geweſen, wo ſie den Einfaͤllen ihres Originals eine andere Wendung geben zu muͤſſen geglaubt, wuͤrde ſich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbeſſerung dieſer Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich dem ohngeachtet auf - mutzen hoͤren. In der Scene, wo Henriette die alberne Dirne ſpielt, laͤßt Destouches den

Maſuren zu ihr ſagen: Sie ſetzen mich in Er - ſtaunen, Mademoiſell; ich habe Sie fuͤr eine Virtuoſinn gehalten. O pfuy! erwiedert Hen - riette; wofuͤr haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Maͤdchen; daß Sie es nur wiſ - ſen. Aber man kann ja, faͤllt ihr Maſuren ein,bei -99beides wohl zugleich, ein ehrliches Maͤdchen und eine Virtuoſinn, ſeyn. Nein, ſagt Henriette; ich behaupte, daß man das nicht zugleich ſeyn kann. Ich eine Virtuoſinn! Man erinnere

ſich, was Madame Gottſched, anſtatt des Worts, Virtuoſinn, geſetzt hat: ein Wun - der. Kein Wunder! ſagte man, daß ſie das that. Sie fuͤhlte ſich auch ſo etwas von einer Virtuoſinn zu ſeyn, und ward uͤber den ver - meinten Stich boͤſe. Aber ſie haͤtte nicht boͤſe werden ſollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Perſon einer dummen Agneſe, ſagt, haͤtte die Frau Profeſſorinn immer, ohne Maulſpitzen, nachſagen koͤnnen. Doch viel - leicht war ihr nur das fremde Wort, Virtuoſinn, anſtoͤßig; Wunder iſt deutſcher; zudem giebt es unter unſern Schoͤnen funfzig Wunder gegen eine Virtuoſinn; die Frau wollte rein und ver - ſtaͤndlich uͤberſetzen; ſie hatte ſehr recht.

Den Beſchluß dieſes Abends machte die ſtumme Schoͤnheit, von Schlegeln.

Schlegel hatte dieſes kleine Stuͤck fuͤr das neuerrichtete Kopenhagenſche Theater geſchrie - ben, um auf demſelben in einer daͤniſchen Ueber - ſetzung aufgefuͤhret zu werden. Die Sitten darinn ſind daher auch wirklich daͤniſcher, als deutſch. Dem ohngeachtet iſt es unſtreitig unſer beſtes komiſches Original, das in Verſen ge - ſchrieben iſt. Schlegel hatte uͤberall eine ebenN 2ſo100ſo fließende als zierliche Verſification, und es war ein Gluͤck fuͤr ſeine Nachfolger, daß er ſeine groͤßern Komoͤdien nicht auch in Verſen ſchrieb. Er haͤtte ihnen leicht das Publikum verwoͤhnen koͤnnen, und ſo wuͤrden ſie nicht allein ſeine Lehre, ſondern auch ſein Beyſpiel wider ſich gehabt ha - ben. Er hatte ſich ehedem der gereimten Ko - moͤdie ſehr lebhaft angenommen; und je gluͤckli - cher er die Schwierigkeiten derſelben uͤberſtiegen haͤtte, deſto unwiderleglicher wuͤrden ſeine Gruͤnde geſchienen haben. Doch, als er ſelbſt Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unſaͤgliche Muͤhe es koſte, nur einen Theil derſelben zu uͤberſteigen, und wie wenig das Vergnuͤgen, welches aus dieſen uͤberſtiegenen Schwierigkeiten entſtehet, fuͤr die Menge klei - ner Schoͤnheiten, die man ihnen aufopfern muͤſ - ſe, ſchadlos halte. Die Franzoſen waren ehe - dem ſo eckel, daß man ihnen die proſaiſchen Stuͤcke des Moliere, nach ſeinem Tode, in Verſe bringen mußte; und noch itzt hoͤren ſie ein proſaiſches Luſtſpiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen koͤnne. Den Englaͤnder hingegen wuͤrde eine gereimte Komoͤdie aus dem Theater jagen. Nur die Deutſchen ſind auch hierinn, ſoll ich ſagen billiger, oder gleichguͤl - tiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorſetzt. Was waͤre es auch, wenn ſie itzt ſchon waͤhlen und ausmuſtern wollten?

Die101

Die Rolle der ſtummen Schoͤne hat ihre Be - denklichkeiten. Eine ſtumme Schoͤne, ſagt man, iſt nicht nothwendig eine dumme, und die Schauſpielerinn hat Unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels ſtumme Schoͤnheit iſt allerdings dumm zugleich; denn daß ſie nichts ſpricht, koͤmmt daher, weil ſie nichts denkt. Das Feine dabey wuͤrde alſo dieſes ſeyn, daß man ſie uͤberall, wo ſie, um artig zu ſcheinen, denken muͤßte, unartig machte, dabey aber ihr alle die Artigkeiten lieſſe, die blos mechaniſch ſind, und die ſie, ohne viel zu den - ken, haben koͤnnte. Ihr Gang z. E. ihre Ver - beugungen, brauchen gar nicht baͤuriſch zu ſeyn; ſie koͤnnen ſo gut und zierlich ſeyn, als ſie nur immer ein Tanzmeiſter lehren kann; denn warum ſollte ſie von ihrem Tanzmeiſter nichts gelernt haben, da ſie ſogar Quadrille gelernt hat? Und ſie muß Quadrille nicht ſchlecht ſpielen; denn ſie rechnet feſt darauf, dem Papa das Geld abzu - gewinnen. Auch ihre Kleidung muß weder alt - vaͤtriſch, noch ſchlumpicht ſeyn; denn Frau Praat - gern ſagt ausdruͤcklich:

Biſt du vielleicht nicht wohl gekleidet? Laß doch ſehn! Nun! dreh dich um! das iſt ja gut, und ſitzt galant. Was ſagt denn der Phantaſt, dir fehlte der Verſtand?
N 3In102

In dieſer Muſterung der Fr. Praatgern uͤber - haupt, hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Aeuſſerliche ſeiner ſtummen Schoͤne zu ſeyn wuͤnſche. Gleichfalls ſchoͤn, nur nicht reitzend.

Laß ſehn, wie traͤgſt du dich? Den Kopf nicht ſo zuruͤcke!

Dummheit ohne Erziehung haͤlt den Kopf mehr vorwaͤrts, als zuruͤck; ihn zuruͤck halten, lehrt der Tanzmeiſter; man muß alſo Charlotten den Tanzmeiſter anſehen, und je mehr, je beſſer; denn das ſchadet ihrer Stummheit nichts, viel - mehr ſind die zierlich ſteifen Tanzmeiſtermanieren gerade die, welche der ſtummen Schoͤnheit am meiſten entſprechen; ſie zeigen die Schoͤnheit in ihrem beſten Vortheile, nur daß ſie ihr das Leben nehmen.

Wer fragt: hat ſie Verſtand? der ſeh nur ihre Blicke.

Recht wohl, wenn man eine Schauſpielerinn mit großen ſchoͤnen Augen zu dieſer Rolle hat. Nur muͤſſen ſich dieſe ſchoͤne Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke muͤſſen langſam und ſtier ſeyn; ſie muͤſſen uns, mit ihrem unbeweg - lichen Brennpunkte, in Flammen ſetzen wollen, aber nichts ſagen.

Geh doch einmal herum. Gut! hieher! Neige dich! Da haben wirs, das fehlt. Nein, ſieh! So neigt man ſich.
Dieſe103

Dieſe Zeilen verſteht man ganz falſch, wenn man Charlotten eine baͤuriſche Neige, einen dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt ſeyn, und wie geſagt, ihrem Tanzmeiſter keine Schande machen. Frau Praat - gern muß ſie nur noch nicht affektirt genug fin - den. Charlotte verbeugt ſich, und Frau Praat - gern will, ſie ſoll ſich dabey zieren. Das iſt der ganze Unterſchied, und Madame Loͤwen be - merkte ihn ſehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern ſonſt eine Rolle fuͤr ſie iſt. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewiſſen Geſichtern wollen nichtswuͤrdige Hand - lungen, dergleichung die Vertauſchung einer Tochter iſt, durchaus nicht laſſen.

Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten May,) ward Miß Sara Sampſon aufgefuͤhret.

Man kann von der Kunſt nichts mehr verlan - gen, als was Madame Henſeln in der Rolle der Sara leiſtet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt ſehr gut geſpielet. Es iſt ein wenig zu lang, und man verkuͤrzt es daher auf den meiſten Thea - tern. Ob der Verfaſſer mit allen dieſen Ver - kuͤrzungen ſo recht zufrieden iſt, daran zweifle ich faſt. Man weiß ja, wie die Autores ſind; wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh - men will, ſo ſchreyen ſie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freylich iſt der uͤbermaͤßigen Laͤnge eines Stuͤcks, durch das bloße Weglaſſen, nuruͤbel104uͤbel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Scene verkuͤrzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu aͤndern. Aber wenn dem Ver - faſſer die fremden Verkuͤrzungen nicht anſtehen; ſo mache er ſelbſt welche, falls es ihm der Muͤhe werth duͤnket, und er nicht von denjenigen iſt, die Kinder in die Welt ſetzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen.

Madame Henſeln ſtarb ungemein anſtaͤndig; in der mahleriſchſten Stellung; und beſonders hat mich ein Zug auſſerordentlich uͤberraſcht. Es iſt eine Bemerkung an Sterbenden, daß ſie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Dieſe Bemerkung machte ſie ſich auf die gluͤcklichſte Art zu Nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, aͤuſ - ſerte ſich auf einmal, aber nur in den Fingern des erſtarrten Armes, ein gelinder Spasmus; ſie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder ſank: das letzte Auf - flattern eines verloͤſchenden Lichts; der juͤngſte Strahl einer untergehenden Sonne. Wer dieſe Feinheit in meiner Beſchreibung nicht ſchoͤn findet, der ſchiebe die Schuld auf meine Beſchreibung: aber er ſehe ſie einmal!

Ham -[105]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vierzehntes Stuͤck.

Das buͤrgerliche Trauerſpiel hat an dem fran - zoͤſiſchen Kunſtrichter, welcher die Sara ſeiner Nation bekannt gemacht,(*)Journal Etranger, Decembre 1761. einen ſehr gruͤndlichen Vertheidiger gefunden. Die Franzoſen billigen ſonſt ſelten etwas, wovon ſie kein Muſter unter ſich ſelbſt haben.

Die Namen von Fuͤrſten und Helden koͤnnen einem Stuͤcke Pomp und Majeſtaͤt geben; aber zur Ruͤhrung tragen ſie nichts bey. Das Un - gluͤck derjenigen, deren Umſtaͤnde den unſrigen am naͤchſten kommen, muß natuͤrlicher Weiſe am tiefſten in unſere Seele dringen; und wenn wir mit Koͤnigen Mitleiden haben, ſo haben wir es mit ihnen als mit Menſchen, und nicht als mit Koͤnigen. Macht ihr Stand ſchon oͤfters ihre Unfaͤlle wichtiger, ſo macht er ſie darumnichtO106nicht intereſſanter. Immerhin moͤgen ganze Voͤlker darein verwickelt werden; unſere Sym - pathie erfodert einen einzeln Gegenſtand, und ein Staat iſt ein viel zu abſtrakter Begriff fuͤr unſere Empfindungen.

Man thut dem menſchlichen Herze Unrecht,

ſagt auch Mormontel,

man verkennet die Na - tur, wenn man glaubt, daß ſie Titel beduͤrfe, uns zu bewegen und zu ruͤhren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Gelieb - ten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menſchen uͤberhaupt: dieſe ſind pathetiſcher, als alles; dieſe behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geſchlechtsname, die Geburt des Ungluͤck - lichen iſt, den ſeine Gefaͤlligkeit gegen unwuͤr - dige Freunde, und das verfuͤhreriſche Beyſpiel, ins Spiel verſtricket, der ſeinen Wohlſtand und ſeine Ehre daruͤber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefaͤngniſſe ſeufzet, von Scham und Reue zerriſſen? Wenn man fragt, wer er iſt; ſo antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu ſeiner Marter iſt er Gemahl und Vater; ſeine Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird, ſchmachtet in der aͤußerſten Beduͤrfniß, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thraͤnen geben. Man zeige mir in der Ge - ſchichte der Helden eine ruͤhrendere, moraliſchere, mit einem Worte, tragiſchere Situation! Undwenn107wenn ſich endlich dieſer Ungluͤckliche vergiftet; wenn er, nachdem er ſich vergiftet, erfaͤhrt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet dieſem ſchmerzlichen und fuͤrchterlichen Augen - blicke, wo ſich zu den Schreckniſſen des Todes marternde Vorſtellungen, wie gluͤcklich er habe leben koͤnnen, geſellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoͤdie wuͤrdig zu ſeyn? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet ſich denn nicht dieſes Wunderbare genug - ſam in dem ploͤtzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unſchuld zum Verbre - chen, von der ſuͤßeſten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem aͤußerſten Ungluͤcke, in das eine bloße Schwachheit geſtuͤrzet?

Man laſſe aber dieſe Betrachtungen den Fran - zoſen, von ihren Diderots und Mormontels, noch ſo eingeſchaͤrft werden: es ſcheint doch nicht, daß das buͤrgerliche Trauerſpiel darum bey ihnen beſonders in Schwang kommen werde. Die Nation iſt zu eitel, iſt in Titel und andere aͤußer - liche Vorzuͤge zu verliebt; bis auf den gemein - ſten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Geſellſchaft mit ſeines gleichen, iſt ſo viel als ſchlechte Geſellſchaft. Zwar ein gluͤckliches Genie vermag viel uͤber ſein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und ſie er - wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der ſie in aller ihrer Wahrheit und Staͤrke zu zeigenO 2ver -108verſtehet. Der Verſuch, den ein Ungenannter in einem Stuͤcke gemacht hat, welches er das Gemaͤhlde der Duͤrftigkeit nennet, hat ſchon große Schoͤnheiten; und bis die Franzoſen daran Geſchmack gewinnen, haͤtten wir es fuͤr unſer Theater adoptiren ſollen.

Was der erſtgedachte Kunſtrichter an der deutſchen Sara ausſetzet, iſt zum Theil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver - faſſer wird lieber ſeine Fehler behalten, als ſich der vielleicht ungluͤcklichen Muͤhe einer gaͤnzli - chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er - innert ſich, was Voltaire bey einer aͤhnlichen Gelegenheit ſagte:

Man kann nicht immer alles ausfuͤhren, was uns unſere Freunde ra - then. Es giebt auch nothwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von ſeinem Buckel heilen wollte, muͤßte man das Leben nehmen. Mein Kind iſt bucklicht; aber es befindet ſich ſonſt ganz gut.

Den zwoͤlften Abend (Donnerſtags, den 7ten May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf - gefuͤhret.

Dieſes Stuͤck iſt ohne Zweifel das beſte, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buͤhne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anſpruch. Er beklagte ſich, daß ihm Reg - nard die Anlage und verſchiedene Scenen geſtoh -len109len habe; Regnard ſchob die Beſchuldigung zu - ruͤck, und itzt wiſſen wir von dieſem Streite nur ſo viel mit Zuverlaͤßigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius geweſen. Wenn es Regnard war, ſo muͤſſen wir es ihm wohl noch dazu dan - ken, daß er ſich uͤberwinden konnte, die Ver - traulichkeit ſeines Freundes zu mißbrauchen; er bemaͤchtigte ſich, blos zu unſerm Beſten, der Materialien, von denen er voraus ſahe, daß ſie verhunzt werden wuͤrden. Wir haͤtten nur einen ſehr elenden Spieler, wenn er gewiſſen - hafter geweſen waͤre. Doch haͤtte er die That eingeſtehen, und dem armen Du Freny einen Theil der damit erworbnen Ehre laſſen muͤſſen.

Den dreyzehnten Abend (Freytags, den 8ten May,) ward der verheyrathete Philoſoph wie - derholet; und den Beſchluß machte, der Liebha - ber als Schriftſteller und Bedienter.

Der Verfaſſer dieſes kleinen artigen Stuͤcks heißt Cerou; er ſtudierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu ſpie - len gab. Es faͤllt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (Montags, den 11ten May) wurden die coquette Mutter vom Quinault, und der Advocat Patelin aufgefuͤhrt.

Jene wird von den Kennern unter die beſten Stuͤcke gerechnet, die ſich auf dem franzoͤſiſchen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es iſt wirklich viel gutes KomiſchesO 3darinn,110darinn, deſſen ſich Moliere nicht haͤtte ſchaͤmen duͤrfen. Aber der fuͤnfte Akt und die ganze Auf - loͤſung haͤtte weit beſſer ſeyn koͤnnen; der alte Sklave, deſſen in den vorhergehenden Akten ge - dacht wird, koͤmmt nicht zum Vorſcheine; das Stuͤck ſchließt mit einer kalten Erzehlung, nach - dem wir auf eine theatraliſche Handlung vorbe - reitet worden. Sonſt iſt es in der Geſchichte des franzoͤſiſchen Theaters deswegen mit merk - wuͤrdig, weil der laͤcherliche Marquis darinn der erſte von ſeiner Art iſt. Die coquette Mutter iſt auch ſein eigentlichſter Titel nicht, und Quinault haͤtte es immer bey dem zweyten, die veruneinigten Verliebten, koͤnnen bewenden laſſen.

Der Advocat Patelin iſt eigentlich ein altes Poſſenſpiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu ſeiner Zeit auſſerordentlichen Beyfall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Luſtigkeit, und des guten Komiſchen, das aus der Handlung ſelbſt und aus der Situation der Perſonen entſpringet, und nicht auf bloßen Ein - faͤllen beruhet. Bruegs gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwaͤrtig aufgefuͤhret wird. Hr. Eckhof ſpielt den Patelin ganz vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (Dienſtags, den 12ten May,) ward Leßings Freygeiſt vorge - ſtellt.

Man111

Man kennet ihn hier unter dem Titel des be - ſchaͤmten Freygeiſtes, weil man ihn von dem Trauerſpiele des Hrn. von Brave, das eben dieſe Aufſchrift fuͤhret, unterſcheiden wollen. Ei - gentlich kann man wohl nicht ſagen, daß derje - nige beſchaͤmt wird, welcher ſich beſſert. Adraſt iſt auch nicht einzig und allein der Freygeiſt; ſondern es nehmen mehrere Perſonen an dieſem Charakter Theil. Die eitle unbeſonnene Hen - riette, der fuͤr Wahrheit und Irrthum gleich - guͤltige Liſidor, der ſpitzbuͤbiſche Johann, ſind alles Arten von Freygeiſtern, die zuſammen den Titel des Stuͤcks erfuͤllen muͤſſen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorſtel - lung alles Beyfalls wuͤrdig war. Die Rollen ſind ohne Ausnahme wohl beſetzt; und beſonders ſpielt Herr Boͤck den Theophan mit alle dem freundlichen Anſtande, den dieſer Charakter er - fordert, um dem endlichen Unwillen uͤber die Hartnaͤckigkeit, mit der ihn Adraſt verkennet, und auf dem die ganze Kataſtrophe beruhet, da - gegen abſtechen zu laſſen.

Den Beſchluß dieſes Abends machte das Schaͤferſpiel des Hrn. Pfeffels, der Schatz.

Dieſer Dichter hat ſich, außer dieſem kleinen Stuͤcke, noch durch ein anders, der Eremit, nicht unruͤhmlich bekannt gemacht. In den Schatz hat er mehr Intereſſe zu legen geſucht, als gemeiniglich unſere Schaͤferſpiele zu habenpfle -112pflegen, deren ganzer Inhalt taͤndelnde Liebe iſt. Sein Ausdruck iſt nur oͤfters ein wenig zu geſucht und koſtbar, wodurch die ohnedem ſchon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoͤchſt ſtudiertes Anſehen bekommen, und zu nichts als froſtigen Spielwerken des Witzes werden. Dieſes gilt beſonders von ſeinem Eremiten, welches ein kleines Trauerſpiel ſeyn ſoll, das man, anſtatt der allzuluſtigen Nachſpiele, auf ruͤhrende Stuͤcke koͤnnte folgen laſſen. Die Ab - ſicht iſt recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaͤhnen uͤbergehen.

Ham -[113]

Hamburgiſche Dramaturgie. Funfzehntes Stuͤck.

Den ſechszehnten Abend (Mittewochs, den 13ten May,) ward die Zayre des Herrn von Voltaire aufgefuͤhrt.

Den Liebhabern der gelehrten Geſchichte,

ſagt der Hr. von Voltaire,

wird es nicht unan - genehm ſeyn, zu wiſſen, wie dieſes Stuͤck ent - ſtanden. Verſchiedene Damen hatten dem Ver - faſſer vorgeworfen, daß in ſeinen Tragoͤdien nicht genug Liebe waͤre. Er antwortete ihnen, daß, ſeiner Meynung nach, die Tragoͤdie auch eben nicht der ſchicklichſte Ort fuͤr die Liebe ſey; wenn ſie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben muͤßten, ſo wolle er ihnen welche machen, ſo gut als ein anderer. Das Stuͤck ward in acht - zehn Tagen vollendet, und fand großen Beyfall. Man nennt es zu Paris ein chriſtliches Trauer -Pſpiel,114ſpiel, und es iſt oft, anſtatt des Polyeukts, vor - geſtellet worden.

Den Damen haben wir alſo dieſes Stuͤck zu verdanken, und es wird noch lange das Lieblings - ſtuͤck der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwuͤrfig; ein ſtolzer Sieger, nur von der Schoͤnheit beſiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freyen zugaͤnglichen Sitz einer unumſchraͤnkten Gebieterinn verwandelt; ein verlaſſenes Maͤd - chen, zur hoͤchſten Staffel des Gluͤcks, durch nichts als ihre ſchoͤnen Augen, erhoͤhet; ein Herz, um das Zaͤrtlichkeit und Religion ſtreiten, das ſich zwiſchen ſeinen Gott und ſeinen Abgott theilet, daß gern fromm ſeyn moͤchte, wenn es nur nicht aufhoͤren ſollte zu lieben; ein Eifer - ſuͤchtiger, der ſein Unrecht erkennet, und es an ſich ſelbſt raͤchet: wenn dieſe ſchmeichelnde Ideen das ſchoͤne Geſchlecht nicht beſtechen, durch was ließe es ſich denn beſtechen?

Die Liebe ſelbſt hat Voltairen die Zayre diktirt: ſagt ein Kunſtrichter artig genug. Richtiger haͤtte er geſagt: die Galanterie. Ich kenne nur eine Tragoͤdie, an der die Liebe ſelbſt arbeiten helfen; und das iſt Romeo und Juliet, vom Shakeſpear. Es iſt wahr, Voltaire laͤßt ſeine verliebte Zayre ihre Empfindungen ſehr fein,ſehr115ſehr anſtaͤndig ausdruͤcken: aber was iſt dieſer Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaͤhlde aller der kleinſten geheimſten Raͤnke, durch die ſich die Liebe in unſere Seele einſchleicht, aller der unmerklichen Vortheile, die ſie darinn gewinnet, aller der Kunſtgriffe, mit der ſie jede andere Lei - denſchaft unter ſich bringt, bis ſie der einzige Tyrann aller unſerer Begierden und Verab - ſcheuungen wird? Voltaire verſtehet, wenn ich ſo ſagen darf, den Kanzeleyſtyl der Liebe vor - trefflich; das iſt, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn ſie ſich auf das behutſamſte und gemaͤſſenſte aus - druͤcken will, wenn ſie nichts ſagen will, als was ſie bey der ſproͤden Sophiſtinn und bey dem kalten Kunſtrichter verantworten kann. Aber der beſte Kanzeliſte weiß von den Geheimniſſen der Regierung nicht immer das meiſte; oder hat gleichwohl Voltaire in das Weſen der Liebe eben die tiefe Einſicht, die Shakeſpear gehabt, ſo hat er ſie wenigſtens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht iſt weit unter dem Dichter ge - blieben.

Von der Eiferſucht laͤßt ſich ohngefehr eben das ſagen. Der eiferſuͤchtige Orosmann ſpielt, gegen den eiferſuͤchtigen Othello des Shakeſpear, eine ſehr kahle Figur. Und doch iſt Othello of - fenbar das Vorbild des Orosmann geweſen. P 2Cib -116Cibber ſagt,(*)From Engliſh Plays, Zara’s French author fir’d Confeſſ’d his Muſe, beyond herſelf, in - ſpir’d; From rack’d Othello’s rage, he raiſ’d his ſtyle And ſnatch’d the brand, that lights this tragic pile. Voltaire habe ſich des Brandes bemaͤchtiget, der den tragiſchen Scheiterhaufen des Shakeſpear in Gluth geſetzt. Ich haͤtte ge - ſagt: eines Brandes aus dieſem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und waͤrmet. Wir hoͤren in dem Orosmann einen Eiferſuͤchtigen reden, wir ſehen ihn die raſche That eines Eifer - ſuͤchtigen begehen; aber von der Eiferſucht ſelbſt lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wußten. Othello hingegen iſt das voll - ſtaͤndigſte Lehrbuch uͤber dieſe traurige Raſerey; da koͤnnen wir alles lernen, was ſie angeht, ſie erwecken und ſie vermeiden.

Aber iſt es denn immer Shakeſpear, werden ei - nige meiner Leſer fragen, immer Shakeſpear, der alles beſſer verſtanden hat, als die Franzo - ſen? Das aͤrgert uns; wir koͤnnen ihn ja nicht leſen. Ich ergreife dieſe Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorſetz - lich vergeſſen zu wollen ſcheinet. Wir habeneine117eine Ueberſetzung vom Shakeſpear. Sie iſt noch kaum fertig geworden, und niemand be - kuͤmmert ſich ſchon mehr darum. Die Kunſt - richter haben viel Boͤſes davon geſagt. Ich haͤtte große Luſt, ſehr viel Gutes davon zu ſagen. Nicht, um dieſen gelehrten Maͤnnern zu wider - ſprechen; nicht, um die Fehler zu vertheidigen, die ſie darinn bemerkt haben: ſondern, weil ich glaube, daß man von dieſen Fehlern kein ſolches Aufheben haͤtte machen ſollen. Das Unterneh - men war ſchwer; ein jeder anderer, als Herr Wieland, wuͤrde in der Eil noch oͤftrer verſtoßen, und aus Unwiſſenheit oder Bequemlichkeit noch mehr uͤberhuͤpft haben; aber was er gut gemacht hat, wird ſchwerlich jemand beſſer machen. So wie er uns den Shakeſpear geliefert hat, iſt es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schoͤnheiten, die es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es ſie liefert, ſo beleidigen, daß wir nothwendig eine beſſere Ueberſetzung haben muͤßten.

Doch wieder zur Zayre. Der Verfaſſer brachte ſie im Jahre 1733 auf die Pariſer Buͤh - ne; und drey Jahr darauf ward ſie ins Engliſche uͤberſetzt, und auch in London auf dem Theater in Drury-Lane geſpielt. Der Ueberſetzer war Aaron Hill, ſelbſt ein dramatiſcher Dichter,P 3nicht118nicht von der ſchlechteſten Gattung. Voltaire fand ſich ſehr dadurch geſchmeichelt, und was er, in dem ihm eigenen Tone der ſtolzen Beſcheiden - heit, in der Zuſchrift ſeines Stuͤcks an den Eng - laͤnder Fackener, davon ſagt, verdient geleſen zu werden. Nur muß man nicht alles fuͤr voll - kommen ſo wahr annehmen, als er es ausgiebt. Wehe dem, der Voltairens Schriften uͤber - haupt nicht mit dem ſkeptiſchen Geiſte lieſet, in welchen er einen Theil derſelben geſchrieben hat!

Er ſagt z. E. zu ſeinem engliſchen Freunde:

Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der ſich ſelbſt Addiſon(*)Le plus ſage de vor ecrivains, ſetzt Voltaire hinzu. Wie waͤre das wohl recht zu uͤberſetzen? Sage heißt, weiſe: aber der weiſeſte unter den engliſchen Schriftſtellern, wer wuͤrde den Ad - diſon dafuͤr erkennen? Ich beſinne mich, daß die Franzoſen auch ein Maͤdchen ſage nennen, dem man keinen Feyltritt, ſo keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieſer Sinn duͤrfte vielleicht hier paſſen. Und nach dieſem koͤnnte man ja wohl gerade zu uͤberſetzen: Addiſon, derjenige von euern Schriftſtellern, der uns harmloſen, nuͤchternen Franzoſen am naͤchſten koͤmmt. unterworfen; denn Gewohn - heit iſt ſo maͤchtig als Vernunft und Geſetz. Dieſe gar nicht vernuͤnftige Gewohnheit beſtand darinn, daß jeder Akt mit Verſen beſchloſſen werden mußte, die in einem ganz andern Ge - ſchmacke waren, als das Uebrige des Stuͤcks;und119und nothwendig mußten dieſe Verſe eine Ver - gleichung enthalten. Phaͤdra, indem ſie ab - geht, vergleicht ſich ſehr poetiſch mit einem Rehe, Cato mit einem Felſen, und Cleopatra mit Kin - dern, die ſo lange weinen, bis ſie einſchlafen. Der Ueberſetzer der Zayre iſt der erſte, der es gewagt hat, die Geſetze der Natur gegen einen von ihr ſo entfernten Geſchmack zu behaupten. Er hat dieſen Gebrauch abgeſchaft; er hat es empfun - den, daß die Leidenſchaft ihre wahre Sprache fuͤh - ren, und der Poet ſich uͤberall verbergen muͤſſe, um uns nur den Helden erkennen zu laſſen.

Es ſind nicht mehr als nur drey Unwahrheiten in dieſer Stelle; und das iſt fuͤr den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr iſt es, daß die Englaͤnder, vom Shakeſpear an, und vielleicht auch von noch laͤnger her, die Gewohnheit ge - habt, ihre Stuͤcke in ungereimten Verſen mit ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß dieſe gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, daß ſie nothwendig Vergleichungen enthalten muͤſſen, das iſt grundfalſch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Englaͤnder, von dem er doch glauben konn - te, daß er die tragiſchen Dichter ſeines Volkes auch geleſen habe, ſo etwas unter die Naſe ſagen koͤnnen. Zweytens iſt es nicht andem, daß Hill in ſeiner Ueberſetzung der Zayre von dieſer Gewohn - heit abgegangen. Es iſt zwar beynahe nicht glaub -lich120lich, daß der Hr. von Voltaire die Ueberſetzung ſei - nes Stuͤcks nicht genauer ſollte angeſehen haben, als ich, oder ein anderer. Gleichwohl muß es ſo ſeyn. Denn ſo gewiß ſie in reimfreyen Verſen iſt, ſo gewiß ſchließt ſich auch jeder Akt mit zwey oder vier gereimten Zeilen. Vergleichungen enthalten ſie freylich nicht; aber, wie geſagt, unter allen der - gleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shake - ſpear, und Johnſon, und Dryden, und Lee, und Otway, und Rowe, und wie ſie alle heiſſen, ihre Aufzuͤge ſchlieſſen, ſind ſicherlich hundert gegen fuͤnfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill alſo beſonders? Haͤtte er aber auch wirk - lich das Beſondere gehabt, das ihm Voltaire lei - het: ſo waͤre doch drittens das nicht wahr, daß ſein Beyſpiel von dem Einfluſſe geweſen, von dem es Voltaire ſeyn laͤßt. Noch bis dieſe Stunde erſchei - nen in England eben ſo viel, wo nicht noch mehr Trauerſpiele, deren Akte ſich mit gereimten Zeilen enden, als die es nicht thun. Hill ſelbſt hat in kei - nem einzigen Stuͤcke, deren er doch verſchiedene, noch nach der Ueberſetzung der Zayre, gemacht, ſich der alten Mode gaͤnzlich entaͤußert. Und was iſt es denn nun, ob wir zuletzt Reime hoͤren oder keine? Wenn ſie da ſind, koͤnnen ſie vielleicht dem Orche - ſter noch nutzen; als Zeichen nehmlich, nach den Inſtrumenten zu greifen, welches Zeichen auf dieſe Art weit ſchicklicher aus dem Stuͤcke ſelbſt abge - nommen wuͤrde, als daß es die Pfeiffe oder der Schluͤſſel giebt.

Ham -[121]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechszehntes Stuͤck.

Die engliſchen Schauſpieler waren zu Hills Zeiten ein wenig ſehr unnatuͤrlich; be - ſonders war ihr tragiſches Spiel aͤußerſt wild und uͤbertrieben; wo ſie heftige Leidenſchaf - ten auszudruͤcken hatten, ſchrien und gebehrdeten ſie ſich als Beſeſſene; und das Uebrige toͤnten ſie in einer ſteifen, ſtrotzenden Feyerlichkeit daher, die in jeder Sylbe den Komoͤdianten verrieth. Als er daher ſeine Ueberſetzung der Zayre auf - fuͤhren zu laſſen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zayre einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragoͤdie geſpielt hatte. Er urtheilte ſo: dieſes junge Frauenzimmer hat Ge - fuͤhl, und Stimme, und Figur, und Anſtand; ſie hat den falſchen Ton des Theaters noch nicht an - genommen; ſie braucht keine Fehler erſt zu ver - lernen; wenn ſie ſich nur ein Paar Stunden uͤberreden kann, das wirklich zu ſeyn, was ſieQvor -122vorſtellet, ſo darf ſie nur reden, wie ihr der Mund gewachſen, und alles wird gut gehen. Es gieng auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, daß nur eine ſehr ge - uͤbte, ſehr erfahrene Perſon einer ſolchen Rolle Genuͤge leiſten koͤnne, wurden beſchaͤmt. Dieſe junge Aktrice war die Frau des Komoͤdianten Colley Cibber, und der erſte Verſuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meiſterſtuͤck. Es iſt merkwuͤrdig, daß auch die franzoͤſiſche Schau - ſpielerinn, welche die Zayre zuerſt ſpielte, eine Anfaͤngerinn war. Die junge reitzende Made - moiſell Goſſin ward auf einmal dadurch beruͤhmt, und ſelbſt Voltaire ward ſo entzuͤckt uͤber ſie, daß er ſein Alter recht klaͤglich betauerte.

Die Rolle des Orosmann hatte ein Anver - wandter des Hill uͤbernommen, der kein Komoͤ - diant von Profeßion, ſondern ein Mann von Stande war. Er ſpielte aus Liebhaberey, und machte ſich nicht das geringſte Bedenken, oͤffent - lich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das ſo ſchaͤtzbar als irgend ein anders iſt. In Eng - land ſind dergleichen Exempel von angeſehenen Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnuͤgen einmal mitſpielen, nicht ſelten.

Alles was uns dabey befremden ſollte,

ſagt der Hr. von Voltaire,

iſt dieſes, daß es uns befremdet. Wir ſollten uͤberlegen, daß alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Derfran -123franzoͤſiſche Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernſpielern getanzt; und man hat weiter nichts beſonders dabey gefunden, als daß dieſe Art von Luſtbarkeit aus der Mode gekommen. Was iſt zwiſchen den beiden Kuͤnſten fuͤr ein Un - terſchied, als daß die eine uͤber die andere eben ſo weit erhaben iſt, als es Talente, welche vor - zuͤgliche Seelenkraͤfte erfodern, uͤber bloß koͤr - perliche Fertigkeiten ſind?

Ins Italieniſche hat der Graf Gozzi die Zayre uͤberſetzt; ſehr genau und ſehr zierlich; ſie ſtehet in dem dritten Theile ſeiner Werke. In welcher Sprache koͤnnen zaͤrtliche Klagen ruͤhrender klin - gen, als in dieſer? Mit der einzigen Freyheit, die ſich Gozzi gegen das Ende des Stuͤcks ge - nommen, wird man ſchwerlich zufrieden ſeyn. Nachdem ſich Orosmann erſtochen, laͤßt ihn Vol - taire nur noch ein Paar Worte ſagen, uns uͤber das Schickſal des Nereſtan zu beruhigen. Aber was thut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Tuͤrken ſo gelaſſen weg - ſterben zu laſſen. Er legt alſo dem Orosmann noch eine Tirade in den Mund, voller Ausru - fungen, voller Winſeln und Verzweiflung. Ich will ſie der Seltenheit halber unter den Text ſetzen. (*)Queſto mortale orror che per le vene Tutte mi ſcorre, omai non è dolore,Che

Q 2Es124

Es iſt doch ſonderbar, wie weit ſich hier der deutſche Geſchmack von dem welſchen entfernet! Dem Welſchen iſt Voltaire zu kurz; uns Deut - ſchen iſt er zu lang. Kaum hat Orosmann ge - ſagt verehret und gerochen; kaum hat er ſich den toͤdtlichen Stoß beygebracht, ſo laſſen wir den Vorhang niederfallen. Iſt es denn aber auch wahr, daß der deutſche Geſchmack dieſes ſo haben will? Wir machen dergleichen Verkuͤr - zung mit mehrern Stuͤcken: aber warum machen wir ſie? Wollen wir denn im Ernſt, daß ſich ein Trauerſpiel wie ein Epigramm ſchlieſſen ſoll? Im -(*)Che baſti ad appagarti, anima bella. Feroce cor, cor diſpietato, e miſero, Paga la pena del delitto orrendo. Mani ciudeli oh Dio Mani, che ſiete Tinte del ſangue di ſì cara donna, Voi voi dov è quel ferro? Un altra volta In mezzo al petto Oimè, dov è quel ferro? In acuta punta Tenebre, e notte Si fanno intorno Perchè non poſſo Non poſſo ſpargere Il ſangue tutto? , ſì, lo ſpargo tutto, anima mia, Dove ſei? piu non poſſo oh Dio! non poſſo Vorrei vederti io manco, io manco, oh Dio! 125Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher koͤmmt uns gelaſſenen, ernſten Deutſchen die flatternde Ungeduld, ſobald die Execution vorbey, durch - aus nun weiter nichts hoͤren zu wollen, wenn es auch noch ſo wenige, zur voͤlligen Rundung des Stuͤcks noch ſo unentbehrliche Worte waͤren? Doch ich forſche vergebens nach der Urſache einer Sache, die nicht iſt. Wir haͤtten kalt Blut ge - nug, den Dichter bis ans Ende zu hoͤren, wenn es uns der Schauſpieler nur zutrauen wollte. Wir wuͤrden recht gern die letzten Befehle des großmuͤthigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nereſtan noch theilen: aber wir ſollen nicht. Und warum ſollen wir nicht? Auf dieſes warum, weiß ich kein darum. Sollten wohl die Orosmannsſpie - ler daran Schuld ſeyn? Es waͤre begreiflich ge - nug, warum ſie gern das letzte Wort haben wollten. Erſtochen und geklatſcht! Man muß Kuͤnſtlern kleine Eitelkeiten verzeihen.

Bey keiner Nation hat die Zayre einen ſchaͤr - fern Kunſtrichter gefunden, als unter den Hol - laͤndern. Friedrich Duim, vielleicht ein An - verwandter des beruͤhmten Akteurs dieſes Na - mens auf dem Amſterdamer Theater, fand ſo viel daran auszuſetzen, daß er es fuͤr etwas klei - nes hielt, eine beſſere zu machen. Er machteQ 3auch126auch wirklich eine andere,(*)Zaire, bekeerde Turkinne. Treurſpel. Am - ſterdam 1745. in der die Be - kehrung der Zayre das Hauptwerk iſt, und die ſich damit endet, daß der Sultan uͤber ſeine Liebe ſieget, und die chriſtliche Zayre mit aller der Pracht in ihr Vaterland ſchicket, die ihrer vor - gehabten Erhoͤhung gemaͤß iſt; der alte Luſignan ſtirbt vor Freuden. Wer iſt begierig, mehr da - von zu wiſſen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragiſchen Dichters iſt dieſer, daß er uns kalt laͤßt; er intereſſire uns, und mache mit den kleinen mechaniſchen Regeln, was er will. Die Duime koͤnnen wohl tadeln, aber den Bogen des Ulyſſes muͤſſen ſie nicht ſelber ſpannen wollen. Dieſes ſage ich darum, weil ich nicht gern zuruͤck, von der mißlungenen Verbeſſerung auf den Un - grund der Kritik, geſchloſſen wiſſen moͤchte. Duims Tadel iſt in vielen Stuͤcken ganz gegruͤn - det; beſonders hat er die Unſchicklichkeiten, deren ſich Voltaire in Anſehung des Orts ſchuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genug - ſam motivirten Auftreten und Abgehen der Per - ſonen, ſehr wohl angemerkt. Auch iſt ihm die Ungereimtheit der ſechſten Scene im dritten Akte nicht entgangen.

Orosmann,

ſagt er,

koͤmmt, Zayren in die Moſchee abzuholen; Zayre wei - gert ſich, ohne die geringſte Urſache von ihrer Weigerung anzufuͤhren; ſie geht ab, und Oros -mann127mann bleibt als ein Laffe (als eenen lafharti - gen) ſtehen. Iſt das wohl ſeiner Wuͤrde ge - maͤß? Reimet ſich das wohl mit ſeinem Cha - rakter? Warum dringt er nicht in Zayren, ſich deutlicher zu erklaͤren? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin fol - gen?

Guter Duim! wenn ſich Zayre deut - licher erklaͤret haͤtte: wo haͤtten denn die andern Akte ſollen herkommen? Waͤre nicht die ganze Tragoͤdie daruͤber in die Bilze gegangen? Ganz Recht! auch die zweyte Scene des dritten Akts iſt eben ſo abgeſchmackt: Orosmann koͤmmt wieder zu Zayren; Zayre geht abermals, ohne die geringſte naͤhere Erklaͤrung, ab, und Orosmann, der gute Schlucker, (dien goeden hals) troͤſtet ſich desfalls in einer Monologe. Aber, wie geſagt, die Verwickelung, oder Un - gewißheit, mußte doch bis zum fuͤnften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Kataſtrophe an einem Haare haͤngt, ſo haͤngen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem ſtaͤrkern.

Die letzterwaͤhnte Scene iſt ſonſt diejenige, in welcher der Schauſpieler, der die Rolle des Oros - mann hat, ſeine feinſte Kunſt in alle dem beſchei - denen Glanze zeigen kann, in dem ſie nur ein eben ſo ſeiner Kenner zu empfinden faͤhig iſt. Er muß aus einer Gemuͤthsbewegung in die an - dere uͤbergehen, und dieſen Uebergang durch das ſtumme Spiel ſo natuͤrlich zu machen wiſſen, daßder128der Zuſchauer durchaus durch keinen Sprung, ſondern durch eine zwar ſchnelle, aber doch da - bey merkliche Gradation mit fortgeriſſen wird. Erſt zeiget ſich Orosmann in aller ſeiner Groß - muth, willig und geneigt, Zayren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen ſeyn ſollte, Falls ſie nur aufrichtig genug iſt, ihm laͤnger kein Geheimniß davon zu machen. Indem er - wacht ſeine Leidenſchaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung ſeines Nebenbuhlers. Er wird zaͤrtlich genug, ſie unter dieſer Bedingung aller ſeiner Huld zu verſichern. Doch da Zayre auf ihrer Unſchuld beſtehet, wider die er ſo offenbar Beweiſe zu haben glaubet, bemeiſtert ſich ſeiner nach und nach der aͤußerſte Unwille. Und ſo geht er von dem Stolze zur Zaͤrtlichkeit, und von der Zaͤrtlichkeit zur Erbitterung uͤber. Alles was Remond de Saint Albine, in ſeinem Schauſpieler,(*)Le Comedien, Partie II. Chap. X. p. 209. hierbey beobachtet wiſſen will, leiſtet Hr. Eckhof auf eine ſo vollkommene Art, daß man glauben ſollte, er allein koͤnne das Vor - bild des Kunſtrichters geweſen ſeyn.

Ham -[129]

Hamburgiſche Dramaturgie. Siebzehntes Stuͤck.

Den ſiebzehnten Abend (Donnerſtags, den 14ten May,) ward der Sidney, vom Greſſet, aufgefuͤhret.

Dieſes Stuͤck kam im Jahre 1745 zuerſt aufs Theater. Ein Luſtſpiel wider den Selbſtmord, konnte in Paris kein großes Gluͤck machen. Die Franzoſen ſagten: es waͤre ein Stuͤck fuͤr Lon - don. Ich weiß auch nicht; denn die Englaͤnder duͤrften vielleicht den Sidney ein wenig uneng - liſch finden; er geht nicht raſch genug zu Werke; er philoſophirt, ehe er die That begeht, zu viel, und nachdem er ſie begangen zu haben glaubt, zu wenig; ſeine Reue koͤnnte ſchimpflicher Klein - muth ſcheinen; ja, ſich von einem franzoͤſiſchen Bedienten ſo angefuͤhrt zu ſehen, moͤchte von manchen fuͤr eine Beſchaͤmung gehalten werden, die des Haͤngens allein wuͤrdig waͤre.

RDoch130

Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn - teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach - theilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen:

Kaum kann ich es glauben Roſalia! Hamilton! und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.

Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt, die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge - hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich - ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig - ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;und131und dann wuͤrde ich mich gegen Roſalien, und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zuruͤckkommen. Es ſey uns immer angelegener, Menſchlichkeit zu zeigen, als Lebensart!

Herr Eckhof ſpielt den Sidney ſo vortreff - lich Es iſt ohnſtreitig eine von ſeinen ſtaͤrk - ſten Rollen. Man kann die enthuſiaſtiſche Me - lancholie, das Gefuͤhl der Fuͤhlloſigkeit, wenn ich ſo ſagen darf, worinn die ganze Gemuͤthsver - faſſung des Sidney beſtehet, ſchwerlich mit mehr Kunſt, mit groͤßerer Wahrheit ausdruͤcken. Welcher Reichthum von mahlenden Geſten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichſam Figur und Koͤrper giebt, und ſeine innerſten Empfindungen in ſichtbare Gegenſtaͤnde ver - wandelt! Welcher fortreiſſende Ton der Ueber - zeugung!

Den Beſchluß machte dieſen Abend ein Stuͤck in einem Aufzuge, nach dem Franzoͤſiſchen des l’Affichard, unter dem Titel: Iſt er von Fami - lie? Man erraͤth gleich, daß ein Narr oder eine Naͤrrinn darinn vorkommen muß, der es haupt - ſaͤchlich um den alten Adel zu thun iſt. Ein jun - ger wohlerzogener Menſch, aber von zweifelhaf - tem Herkommen, bewirbt ſich um die Stieftoch - ter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter haͤngt von der Aufklaͤrung dieſes Punkts ab. Der junge Menſch hielt ſich nur fuͤr den Pflegeſohn eines gewiſſen buͤrgerlichen Liſanders,R 2aber132aber es findet ſich, daß Liſander ſein wahrer Va - ter iſt. Nun waͤre weiter an die Heyrath nicht zu denken, wenn nicht Liſander ſelbſt ſich nur durch Unfaͤlle zu dem buͤrgerlichen Stande her - ablaſſen muͤſſen. In der That iſt er von eben ſo guter Geburt, als der Marquis; er iſt des Mar - quis Sohn, den jugendlichen Ausſchweiffungen aus dem vaͤterlichen Hauſe vertrieben. Nun will er ſeinen Sohn brauchen, um ſich mit ſeinem Vater auszuſoͤhnen. Die Ausſoͤhnung gelingt, und macht das Stuͤck gegen das Ende ſehr ruͤh - rend. Da alſo der Hauptton deſſelben ruͤhren - der, als komiſch, iſt: ſollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieſes erwarten laſſen? Der Titel iſt eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal haͤtte ich ihn von dem einzigen laͤcherlichen Cha - rakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erſchoͤpfen; aber er ſollte doch auch nicht irre fuͤhren. Und dieſer thut es ein wenig. Was iſt leichter zu aͤndern, als ein Titel? Die uͤbrigen Abweichungen des deutſchen Verfaſſers von dem Originale, gerei - chen mehr zum Vortheile des Stuͤcks, und geben ihm das einheimiſche Anſehen, das faſt allen von dem franzoͤſiſchen Theater entlehnten Stuͤcken mangelt.

Den achtzehnten Abend (Freytags, den 15ten May,) ward das Geſpenſt mit der Trommel ge - ſpielt.

Dieſes133

Dieſes Stuͤck ſchreibt ſich eigentlich aus dem Engliſchen des Addiſon her. Addiſon hat nur eine Tragoͤdie, und nur eine Komoͤdie gemacht. Die dramatiſche Poeſie uͤberhaupt war ſein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiß ſich uͤberall aus dem Handel zu ziehen; und ſo haben ſeine beiden Stuͤcke, wenn ſchon nicht die hoͤchſten Schoͤnheiten ihrer Gattung, wenigſtens andere, die ſie noch immer zu ſehr ſchaͤtzbaren Werken machen. Er ſuchte ſich mit dem einen ſowohl, als mit dem andern, der franzoͤſiſchen Regel - maͤßigkeit mehr zu naͤhern; aber noch zwanzig Addiſons, und dieſe Regelmaͤßigkeit wird doch nie nach dem Geſchmacke der Englaͤnder werden. Begnuͤge ſich damit, wer keine hoͤhere Schoͤn - heiten kennet!

Destouches, der in England perſoͤnlichen Um - gang mit Addiſon gehabt hatte, zog das Luſtſpiel deſſelben uͤber einen noch franzoͤſiſchern Leiſten. Wir ſpielen es nach ſeiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und natuͤrlicher, aber auch manches kalter und kraftloſer geworden. Wenn ich mich indeß nicht irre, ſo hat Madame Gott - ſched, von der ſich die deutſche Ueberſetzung her - ſchreibt, das engliſche Original mit zur Hand genommen, und manchen guten Einfall wieder daraus hergeſtellet.

R 3Den134

Den neunzehnten Abend (Montags, den 18ten May,) ward der verheyrathete Philoſoph, vom Destouches, wiederholt.

Des Regnard Demokrit war das jenige Stuͤck, welches den zwanzigſten Abend (Dienſtags, den 19ten May,) geſpielet wurde.

Dieſes Luſtſpiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch gefaͤllt es. Der Kenner lacht dabey ſo herzlich, als der Unwiſ - ſendſte aus dem Poͤbel. Was folgt hieraus? Daß die Schoͤnheiten, die es hat, wahre allge - meine Schoͤnheiten ſeyn muͤſſen, und die Fehler vielleicht nur willkuͤhrliche Regeln betreffen, uͤber die man ſich leichter hinausſetzen kann, als es die Kunſtrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Uebliche aus den Augen geſetzt: im - merhin. Sein Demokrit ſieht dem wahren De - mokrit in keinem Stuͤcke aͤhnlich; ſein Athen iſt ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl, ſo ſtreiche man Demokrit und Athen aus, und ſetze blos erdichtete Namen dafuͤr. Reg - nard hat es gewiß ſo gut, als ein anderer, ge - wußt, daß um Athen keine Wuͤſte und keine Ti - ger und Baͤre waren; daß es, zu der Zeit des Demokrits, keinen Koͤnig hatte u. ſ. w. Aber er hat das alles itzt nicht wiſſen wollen; ſeine Ab - ſicht war, die Sitten ſeines Landes unter frem -den135den Namen zu ſchildern. Dieſe Schilderung iſt das Hauptwerk des komiſchen Dichters, und nicht die hiſtoriſche Wahrheit.

Andere Fehler moͤchten ſchwerer zu entſchuldi - gen ſeyn; der Mangel des Intereſſe, die kahle Verwickelung, die Menge muͤßiger Perſonen, das abgeſchmackte Geſchwaͤtz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeſchmackt, weil es der Idee widerſpricht, die wir von dem Demokrit haben, ſondern weil es Unſinn in jedes andern Munde ſeyn wuͤrde, der Dichter moͤchte ihn ge - nannt haben, wie er wolle. Aber was uͤberſieht man nicht bey der guten Laune, in die uns Strabo und Thaler ſetzen? Der Charakter des Strabo iſt gleichwohl ſchwer zu beſtimmen; man weiß nicht, was man aus ihm machen ſoll; er aͤndert ſeinen Ton gegen jeden, mit dem er ſpricht; bald iſt er ein feiner witziger Spoͤtter, bald ein plumper Spaßmacher, bald ein zaͤrtlicher Schulfuchs, bald ein unverſchaͤmter Stutzer. Seine Erken - nung mit der Cleanthis iſt ungemein komiſch, aber unnatuͤrlich. Die Art, mit der Made - moiſell Beauval und la Thorilliere dieſe Scenen zuerſt ſpielten, hat ſich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern fortge - pflanzt. Es ſind die unanſtaͤndigſten Grimaſ - ſen; aber da ſie durch die Ueberlieferung bey Franzoſen und Deutſchen geheiliget ſind, ſokoͤmmt136koͤmmt es niemanden ein, etwas daran zu aͤndern, und ich will mich wohl huͤten zu ſagen, daß man ſie eigentlich kaum in dem niedrigſten Poſſen - ſpiele dulden ſollte. Der beſte, drolligſte und ausgefuͤhrteſte Charakter, iſt der Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, ſchalkiſch und ge - rade zu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetiſchen Seite betrachtet, nichts weni - ger als epiſodiſch, ſondern zu Aufloͤſung des Kno - ten eben ſo ſchicklich als unentbehrlich iſt. (*)Hiſtoire du Theatre François. T. XIV. p. 164.

Ham -[137]

Hamburgiſche Dramaturgie. Achtzehntes Stuͤck.

Den ein und zwanzigſten Abend (Mittewochs, den 20ſten May,) wurde das Luſtſpiel des Marivaux, die falſchen Vertraulich - keiten, aufgefuͤhrt.

Marivaux hat faſt ein ganzes halbes Jahr - hundert fuͤr die Theater in Paris gearbeitet; ſein erſtes Stuͤck iſt vom Jahre 1712, und ſein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von zwey und ſiebzig. Die Zahl ſeiner Luſtſpiele belaͤuft ſich auf einige dreyßig, wovon mehr als zwey Drit - theile den Harlekin haben, weil er ſie fuͤr die italieniſche Buͤhne verfertigte. Unter dieſe ge - hoͤren auch die falſchen Vertraulichkeiten, die 1763 zuerſt, ohne beſondern Beyfall, geſpielet, zwey Jahre darauf aber wieder hervorgeſucht wurden, und deſto groͤßern erhielten.

Seine Stuͤcke, ſo reich ſie auch an mannich - faltigen Charakteren und Verwicklungen ſind,Sſehen138ſehen ſich einander dennoch ſehr aͤhnlich. In allen der nehmliche ſchimmernde, und oͤfters allzu - geſuchte Witz; in allen die nehmliche metaphyſi - ſche Zergliederung der Leidenſchaften; in allen die nehmliche blumenreiche, neologiſche Sprache. Seine Plane ſind nur von einem ſehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides ſei - ner Kunſt, weiß er den engen Bezirk derſelben mit einer Menge ſo kleiner, und doch ſo merklich abgeſetzter Schritte zu durchlaufen, daß wir am Ende einen noch ſo weiten Weg mit ihm zu - ruͤckgelegt zu haben glauben.

Seitdem die Neuberinn, ſub Auſpiciis Sr. Magnificenz, des Herrn Prof. Gottſcheds, den Harlekin oͤffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutſche Buͤhnen, denen daran gele - gen war, regelmaͤßig zu heiſſen, dieſer Verban - nung beyzutreten geſchienen. Ich ſage, geſchie - nen; denn im Grunde hatten ſie nur das bunte Jaͤckchen und den Namen abgeſchaft, aber den Narren behalten. Die Neuberinn ſelbſt ſpielte eine Menge Stuͤcke, in welchen Harlekin die Hauptperſon war. Aber Harlekin hieß bey ihr Haͤnnschen, und war ganz weiß, anſtatt ſcheckigt, gekleidet. Wahrlich, ein großer Triumph fuͤr den guten Geſchmack!

Auch die falſchen Vertraulichkeiten haben ei - nen Harlekin, der in der deutſchen Ueberſetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberinn iſttodt,139todt, Gottſched iſt auch todt: ich daͤchte, wir zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. Im Ern - ſte; wenn er unter fremdem Namen zu dulden iſt, warum nicht auch unter ſeinem? Er iſt ein auslaͤndiſches Geſchoͤpf; ſagt man. Was thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Auslaͤnder waͤren! Er traͤgt ſich, wie ſich kein Menſch unter uns traͤgt: ſo braucht er nicht erſt lange zu ſagen, wer er iſt. Es iſt widerſinnig, das nehmliche Individuum alle Tage in einem andern Stuͤcke erſcheinen zu ſehen. Man muß ihn als kein Individuum, ſondern als eine ganze Gattung betrachten; es iſt nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen im Falken, uͤbermorgen in den falſchen Vertrau - lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gaſſen, vorkoͤmmt; ſondern es ſind Harlekine; die Gat - tung leidet tauſend Varietaͤten; der im Timon iſt nicht der im Falken; jener lebte in Griechen - land, dieſer in Frankreich; nur weil ihr Cha - rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen einerley Namen gelaſſen. Warum wollen wir eckler, in unſern Vergnuͤgungen waͤhliger, und gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender ſeyn, als ich will nicht ſagen, die Franzoſen und Italiener ſind ſondern, als ſelbſt die Roͤmer und Griechen waren? War ihr Paraſit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch ſeine eigene, beſondere Tracht, in der er in ei -S 2nem140nem Stuͤcke uͤber dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mußten, ſie mochten ſich nun in die Geſchichte des Stuͤcks ſchicken oder nicht?

Harlekin hat, vor einigen Jahren, ſeine Sache vor dem Richterſtuhle der wahren Kritik, mit eben ſo vieler Laune als Gruͤndlichkeit, ver - theidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moͤſer uͤber das Groteske-Komiſche, allen meinen Leſern, die ſie noch nicht kennen; die ſie kennen, deren Stimme habe ich ſchon. Es wird darinn beylaͤufig von einem gewiſſen Schriftſteller geſagt, daß er Einſicht genug be - ſitze, dermaleins der Lobredner des Harlekin zu werden. Itzt iſt er es geworden! wird man denken. Aber nein; er iſt es immer geweſen. Den Einwurf, den ihm Herr Moͤſer wider den Harlekin in den Mund legt, kann er ſich nie ge - macht, ja nicht einmal gedacht zu haben er - innern.

Auſſer dem Harlekin koͤmmt in den falſchen Vertraulichkeiten noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrigue fuͤhret. Beide wurden ſehr wohl geſpielt; und unſer Theater hat uͤberhaupt, an den Herren Henſel und Merſchy, ein Paar Akteurs, die man zu den Be - dientenrollen kaum beſſer verlangen kann.

Den141

Den zwey und zwanzigſten Abend (Don - nerſtags, den 21ſten May,) ward die Zelmire des Herrn Du Belloy aufgefuͤhret.

Der Name Du Belloy kann niemanden unbe - kannt ſeyn, der in der neuern franzoͤſiſchen Litte - ratur nicht ganz ein Fremdling iſt. Des Ver - faſſers der Belagerung von Calais! Wenn es dieſes Stuͤck nicht verdiente, daß die Franzoſen ein ſolches Lermen damit machten, ſo gereicht doch dieſes Lermen ſelbſt, den Franzoſen zur Ehre. Es zeigt ſie als ein Volk, das auf ſeinen Ruhm eiferſuͤchtig iſt; auf das die großen Thaten ſeiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werthe eines Dichters und von dem Einfluſſe des Theaters auf Tugend und Sit - ten uͤberzeugt, jenen nicht zu ſeinen unnuͤtzen Gliedern rechnet, dieſes nicht zu den Gegenſtaͤn - den zaͤhlet, um die ſich nur geſchaͤftige Muͤßig - gaͤnger bekuͤmmern. Wie weit ſind wir Deutſche in dieſem Stuͤcke noch hinter den Franzoſen! Es gerade herauszuſagen: wir ſind gegen ſie noch die wahren Barbaren! Barbariſcher, als unſere barbariſchſten Voraͤltern, denen ein Liederſaͤnger ein ſehr ſchaͤtzbarer Mann war, und die, bey aller ihrer Gleichguͤltigkeit gegen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Baͤrfellen und Bernſtein handelt, der nuͤtzlichere Buͤrger waͤre? ſicherlich fuͤr die Frage eines Narren gehalten haͤtten! IchS 3mag142mag mich in Deutſchland umſehen, wo ich will, die Stadt ſoll noch gebauet werden, von der ſich erwarten lieſſe, daß ſie nur den tauſendſten Theil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutſchen Dichter haben wuͤrde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer fuͤr franzoͤſiſche Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu ſo einer Eitelkeit faͤhig ſeyn werden! Was Wunder auch? Unſere Ge - lehrte ſelbſt ſind klein genug, die Nation in der Geringſchaͤtzung alles deſſen zu beſtaͤrken, was nicht gerade zu den Beutel fuͤllet. Man ſpreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Kuͤnſtler; man aͤußere den Wunſch, daß eine reiche bluͤhende Stadt der anſtaͤndigſten Erho - lung fuͤr Maͤnner, die in ihren Geſchaͤften des Tages Laſt und Hitze getragen, und der nuͤtzlich - ſten Zeitverkuͤrzung fuͤr andere, die gar keine Ge - ſchaͤfte haben wollen, (das wird doch wenigſtens das Theater ſeyn?) durch ihre bloße Theilneh - mung aufhelfen moͤge: und ſehe und hoͤre um ſich.

Dem Himmel ſey Dank,

ruft nicht blos der Wucherer Albinus,

daß unſere Buͤrger wich - tigere Dinge zu thun haben!

Eu! Rem poteris ſervare tuam!

Wichtigere? Eintraͤglichere; das gebe ich zu! Eintraͤglich iſt freylich unter uns nichts, wasim143im geringſten mit den freyen Kuͤnſten in Ver - bindung ſtehet. Aber,

hæc animos ærugo et cura peculî Cum ſemel imbuerit

Doch ich vergeſſe mich. Wie gehoͤrt das alles zur Zelmire?

Du Belloy war ein junger Menſch, der ſich auf die Rechte legen wollte, oder ſollte. Sollte, wird es wohl mehr geweſen ſeyn. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus bey Seite, und ward Komoͤ - diant. Er ſpielte einige Zeit unter der franzoͤſi - ſchen Truppe zu Braunſchweig, machte ver - ſchiedene Stuͤcke, kam wieder in ſein Vaterland, und ward geſchwind durch ein Paar Trauerſpiele ſo gluͤcklich und beruͤhmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrſamkeit haͤtte machen koͤnnen, wenn er auch ein Beaumont geworden waͤre. Wehe dem jungen deutſchen Genie, daß dieſen Weg einſchlagen wollte! Verachtung und Betteley wuͤrden ſein gewiſſeſtes Loos ſeyn!

Das erſte Trauerſpiel des Du Belloy heißt Ti - tus; und Zelmire war ſein zweytes. Titus fand keinen Beyfall, und ward nur ein einzigesmal geſpielt. Aber Zelmire fand deſto groͤßern; es ward vierzehnmal hinter einander aufgefuͤhrt, und die Pariſer hatten ſich noch nicht daran ſatt geſehen. Der Inhalt iſt von des Dichters eige - ner Erfindung.

Ein144

Ein franzoͤſiſcher Kunſtrichter(*)Journal Encyclopédique. Juillet 1762. nahm hiervon Gelegenheit, ſich gegen die Trauerſpiele von dieſer Gattung uͤberhaupt zu erklaͤren:

Uns waͤre,

ſagt er,

ein Stoff aus der Geſchlchte weit lieber geweſen. Die Jahrbuͤcher der Welt ſind an beruͤchtigten Ver - brechen ja ſo reich; und die Tragoͤdie iſt ja ausdruͤck - lich dazu, daß ſie uns die großen Handlungen wirk - licher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorſtellen ſoll. Indem ſie ſo den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Aſche ſchuldig iſt, befeuert ſie zu - gleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Be - gierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur Geburthen der Erdichtung waͤren. Die Namen der beiden erſten ſind erdichtet, aber der Grund der Be - gebenheiten iſt hiſtoriſch. Es hat wirklich Kreutz - zuͤge gegeben, in welchen ſich Chriſten und Tuͤrken, zur Ehre Gottes, ihres gemeinſchaftlichen Vaters, haßten und wuͤrgten. Bey der Eroberung von Mexico haben ſich nothwendig die gluͤcklichen und erhabenen Contraſte zwiſchen den europaͤiſchen und amerikaniſchen Sitten, zwiſchen der Schwaͤrmerey und der wahren Religion, aͤußern muͤſſen. Und was den Mahomet anbelangt, ſo iſt er der Auszug, die Quinteſſenz, ſo zu reden, aus dem ganzen Leben dieſes Betruͤgers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das ſchoͤnſte philoſophiſchſte Gemaͤhlde, das jemals von dieſem gefaͤhrlichen Ungeheuer gemacht worden.
Ham -[145]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neunzehntes Stuͤck.

Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eigenen Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich, ſich von ſeinem eigenen Geſchmacke Rechen - ſchaft zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge - meinheit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtig - keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren Geſchmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren - zen des forſchenden Liebhabers herausgehen, und ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber aufwer - fen. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schriftſteller faͤngt mit einem beſcheidenen,

Uns waͤre lieber geweſen

an, und geht zu ſo allgemein verbin - denden Ausſpruͤchen fort, daß man glauben ſollte, dieſes Uns ſey aus dem Munde der Kritik ſelbſt gekommen. Der wahre Kunſtrichter fol - gert keine Regeln aus ſeinem Geſchmacke, ſon - dern hat ſeinen Geſchmack nach den RegelnTge -146gebildet, welche die Natur der Sache erfo - dert.

Nun hat es Ariſtoteles laͤngſt entſchieden, wie weit ſich der tragiſche Dichter um die hiſto - riſche Wahrheit zu bekuͤmmern habe; nicht wei - ter, als ſie einer wohleingerichteten Fabel aͤhn - lich iſt, mit der er ſeine Abſichten verbinden kann. Er braucht eine Geſchichte nicht darum, weil ſie geſchehen iſt, ſondern darum, weil ſie ſo geſchehen iſt, daß er ſie ſchwerlich zu ſeinem gegenwaͤrtigen Zwecke beſſer erdichten koͤnnte. Findet er dieſe Schicklichkeit von ohngefehr an einem wahren Falle, ſo iſt ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geſchichtbuͤcher erſt lange darum nachzuſchlagen, lohnt der Muͤhe nicht. Und wie viele wiſſen denn, was geſchehen iſt? Wenn wir die Moͤglichkeit, daß etwas geſchehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es ge - ſchehen iſt: was hindert uns, eine gaͤnzlich er - dichtete Fabel fuͤr eine wirklich geſchehene Hi - ſtorie zu halten, von der wir nie etwas gehoͤrt haben? Was iſt das erſte, was uns eine Hiſtorie glaubwuͤrdig macht? Iſt es nicht ihre innere Wahrſcheinlichkeit? Und iſt es nicht einerley, ob dieſe Wahrſcheinlichkeit von gar keinen Zeug - niſſen und Ueberlieferungen beſtaͤtiget wird, oder von ſolchen, die zu unſerer Wiſſenſchaft noch nie gelangt ſind? Es wird ohne Grund angenom -men,147men, daß es eine Beſtimmung des Theaters mit ſey, das Andenken großer Maͤnner zu erhalten; dafuͤr iſt die Geſchichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater ſollen wir nicht lernen, was dieſer oder jener einzelne Menſch gethan hat, ſon - dern was ein jeder Menſch von einem gewiſſen Charakter unter gewiſſen gegebenen Umſtaͤnden thun werde. Die Abſicht der Tragoͤdie iſt weit philoſophiſcher, als die Abſicht der Geſchichte; und es heißt ſie von ihrer wahren Wuͤrde herab - ſetzen, wenn man ſie zu einem bloßen Panegyri - kus beruͤhmter Maͤnner macht, oder ſie gar den Nationalſtolz zu naͤhren mißbraucht.

Die zweyte Erinnerung des nehmlichen fran - zoͤſiſchen Kunſtrichters gegen die Zelmire des Du Belloy, iſt wichtiger. Er tadelt, daß ſie faſt nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wun - derbarer Zufaͤlle ſey, die in den engen Raum von vier und zwanzig Stunden zuſammenge - preßt, aller Illuſion unfaͤhig wuͤrden. Eine ſeltſam ausgeſparte Situation uͤber die andere! ein Theaterſtreich uͤber den andern! Was ge - ſchieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo ſich die Begebenheiten ſo dren - gen, koͤnnen ſchwerlich alle vorbereitet genug ſeyn. Wo uns ſo vieles uͤberraſcht, wird uns leicht manches mehr befremden, als uͤberraſchen.

Warum muß ſich z. E. der Tyrann dem Rham -T 2nes148nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm ſeine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht gleichſam vom Himmel? Iſt die Gemuͤthsaͤnde - rung des Rhamnes nicht viel zu ſchleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor erſticht, nimmt er an den Verbrechen ſeines Herrn auf die entſchloßenſte Weiſe Theil; und wenn er ein - mal Reue zu empfinden geſchienen, ſo hatte er ſie doch ſogleich wieder unterdruͤckt. Welche geringfuͤgige Urſachen giebt hiernaͤchſt der Dich - ter nicht manchmal den wichtigſten Dingen! So muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt, und ſich wiederum in dem Grabmahle verbergen will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und der Dichter muß uns ſorgfaͤltig dieſen kleinen Umſtand einſchaͤrfen. Denn wenn Polidor an - ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Geſicht, anſtatt den Ruͤcken zuwendete: ſo wuͤrde ſie ihn erkennen, und die folgende Scene, wo dieſe zaͤrtliche Tochter unwiſſend ihren Vater ſeinen Henkern uͤberliefert, dieſe ſo verſtechende, auf alle Zuſchauer ſo großen Eindruck machende Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht weit natuͤrlicher geweſen, wenn Polidor, indem er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur ein Wink gegeben haͤtte? Freylich waͤre es ſo natuͤrlicher geweſen, als daß die ganzen letzten Akte ſich nunmehr auf die Art, wie Polidorgeht,149geht, ob er ſeinen Ruͤcken dahin oder dorthin kehret, gruͤnden muͤſſen. Mit dem Billet des Azor hat es die nehmliche Bewandtniß: brachte es der Soldat im zweyten Akte gleich mit, ſo wie er es haͤtte mitbringen ſollen, ſo war der Tyrann entlarvet, und das Stuͤck hatte ein Ende.

Die Ueberſetzung der Zelmire iſt nur in Proſa. Aber wer wird nicht lieber eine koͤrnichte, wohl - klingende Proſa hoͤren wollen, als matte, gera - debrechte Verſe? Unter allen unſern gereimten Ueberſetzungen werden kaum ein halbes Dutzend ſeyn, die ertraͤglich ſind. Und daß man mich ja nicht bey dem Worte nehme, ſie zu nennen! Ich wuͤrde eher wiſſen, wo ich aufhoͤren, als wo ich anfangen ſollte. Die beſte iſt an vielen Stellen dunkel und zweydeutig; der Franzoſe war ſchon nicht der groͤßte Verſifikateur, fondern ſtuͤm - perte und flickte; der Deutſche war es noch we - niger, und indem er ſich bemuͤhte, die gluͤcklichen und ungluͤcklichen Zeilen ſeines Originals gleich treu zu uͤberſetzen, ſo iſt es natuͤrlich, daß oͤf - ters, was dort nur Luͤckenbuͤſſerey, oder Tavto - logie, war, hier zu foͤrmlichem Unſinne werden mußte. Der Ausdruck iſt dabey meiſtens ſo niedrig, und die Konſtruction ſo verworfen, daß der Schauſpieler allen ſeinen Adel noͤthig hat, jenen aufzuhelfen, und allen ſeinen VerſtandT 3brau -150brauchet, dieſe nur nicht verfehlen zu laſſen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran iſt vollends gar nicht gedacht worden!

Aber verlohnt es denn auch der Muͤhe, auf franzoͤſiſche Verſe ſo viel Fleiß zu wenden, bis in unſerer Sprache eben ſo waͤßrig korrecte, eben ſo grammatikaliſch kalte Verſe daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetiſchen Schmuck der Franzoſen in unſere Proſa uͤber - tragen, ſo wird unſere Proſa dadurch eben noch nicht ſehr poetiſch werden. Es wird der Zwit - terton noch lange nicht daraus entſtehen, der aus den proſaiſchen Ueberſetzungen engliſcher Dichter entſtanden iſt, in welchen der Gebrauch der kuͤhn - ſten Tropen und Figuren, außer einer gebunde - nen cadenſirten Wortfuͤgung, uns an Beſof - fene denken laͤßt, die ohne Muſik tanzen. Der Ausdruck wird ſich hoͤchſtens uͤber die alltaͤgliche Sprache nicht weiter erheben, als ſich die thea - traliſche Deklamation uͤber den gewoͤhnlichen Ton der geſellſchaftlichen Unterhaltungen erhe - ben ſoll. Und ſo nach wuͤnſchte ich unſerm pro - ſaiſchen Ueberſetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, daß das Syloͤenmaaß uͤberhaupt ein kindiſcher Zwang ſey, dem ſich der dramatiſche Dichter am wenigſten Urſache habe zu unterwer - fen. Denn hier koͤm̃t es blos darauf an, unter zweyUebeln151Uebeln das kleinſte zu waͤhlen; entweder Ver - ſtand und Nachdruck der Verſifikation, oder dieſe jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war ſeine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metri - ſche der Poeſie nur Kitzelung der Ohren iſt, und zur Verſtaͤrkung des Ausdrucks nichts beytra - gen kann; in der unſrigen hingegen iſt es etwas mehr, und wir koͤnnen der griechiſchen ungleich naͤher kommen, die durch den bloßen Rhytmus ihrer Versarten die Leidenſchaften, die darinn ausgedruͤckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoͤſiſchen Verſe haben nichts als den Werth der uͤberſtandenen Schwierigkeit fuͤr ſich; und freylich iſt dieſes nur ein ſehr elender Werth.

Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers ungemein wohl geſpielt; mit aller der Beſonnen - heit und Heiterkeit, die einem Boͤſewichte von großem Verſtande ſo natuͤrlich zu ſeyn ſcheinen. Kein mißlungener Anſchlag wird ihn in Verle - genheit ſetzen; er iſt an immer neuen Raͤnken unerſchoͤpflich; er beſinnt ſich kaum, und der unerwarteſte Streich, der ihn in ſeiner Bloͤße darzuſtellen drohte, empfaͤngt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch feſter aufdruͤckt. Dieſen Charakter nicht zu verderben, iſt von Seiten des Schauſpielers das getreueſte Ge - daͤchtniß, die fertigſte Stimme, die freyeſte,nach -152nachlaͤßigſte Aktion, unumgaͤnglich noͤthig. Hr. Borchers hat uͤberhaupt ſehr viele Talente, und ſchon das muß ein guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr ihn erwecken, daß er ſich in alten Rollen eben ſo gern uͤbet, als in jungen. Dieſes zeiget von ſeiner Liebe zur Kunſt; und der Kenner unter - ſcheidet ihn ſogleich von ſo vielen andern jungen Schauſpielern, die nur immer auf der Buͤhne glaͤnzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, ſich in lauter galanten liebenswuͤrdigen Rollen be - gaffen und bewundern zu laſſen, ihr vornehm - ſter, auch wohl oͤfters ihr einziger Beruff zum Theater iſt.

Ham -[153]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwanzigſtes Stuͤck.

Den drey und zwanzigſten Abend (Freytags, den 22ſten May,) ward Cenie aufgefuͤh - ret.

Dieſes vortreffliche Stuͤck der Graffigny mußte der Gottſchedinn zum Ueberſetzen in die Haͤnde fallen. Nach dem Bekenntniſſe, wel - ches ſie von ſich ſelbſt ablegt,

daß ſie die Ehre, welche man durch Ueberſetzung, oder auch Ver - fertigung theatraliſcher Stuͤcke, erwerben koͤnne, allezeit nur fuͤr ſehr mittelmaͤßig gehalten habe,

laͤßt ſich leicht vermuthen, daß ſie, dieſe mittel - maͤßige Ehre zu erlangen, auch nur ſehr mittel - maͤßige Muͤhe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit wiederfahren laſſen, daß ſie einige luſtige Stuͤcke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wie viel leichter iſt es, eine Schnurre zu uͤberſetzen, als eine Em - pfindung! Das Laͤcherliche kann der WitzigeUund154und Unwitzige nachſagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es iſt ganz um ſie ge - ſchehen, ſobald man dieſe verkennt, und ſie da - fuͤr den Regeln der Grammatik unterwerfen, und ihr alle die kalte Vollſtaͤndigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logiſchen Satze verlangen. Z. E. Do - rimond hat dem Mericourt eine anſehnliche Ver - bindung, nebſt dem vierten Theile ſeines Ver - moͤgens, zugedacht. Aber das iſt das wenigſte, worauf Mericourt geht; er verweigert ſich dem großmuͤthigen Anerbieten, und will ſich ihm aus Uneigennuͤtzigkeit verweigert zu haben ſcheinen.

Wozu das?

ſagt er.

Warum wollen Sie ſich ihres Vermoͤgens berauben? Genießen Sie ih - rer Guͤter ſelbſt; ſie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekoſtet. J’en jouirai, je vous rendrai tous heureux:

laͤßt die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten.

Ich will ihrer genießen, ich will euch alle gluͤcklich machen.

Vortrefflich! Hier iſt kein Wort zu viel! Die wahre nachlaͤßige Kuͤrze, mit der ein Mann, dem Guͤte zur Natur geworden iſt, von ſeiner Guͤte ſpricht, wenn er davon ſprechen muß! Seines Gluͤckes genießen, andere gluͤcklich machen: beides iſt ihm nur eines; das eine iſt ihm nicht blos eine Folge des andern, ein Theil des andern; das eine iſt ihm ganz das andere:und155und ſo wie ſein Herz keinen Unterſchied darunter kennet, ſo weiß auch ſein Mund keinen darunter zu machen; er ſpricht, als ob er das nehmliche zweymal ſpraͤche, als ob beide Saͤtze wahre tav - tologiſche Saͤtze, vollkommen identiſche Saͤtze waͤren; ohne das geringſte Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fuͤhlt, dem ſie eine Partikel erſt fuͤhlbar machen ſoll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die Gottſchedinn jene acht Worte uͤberſetzt hat?

Alsdenn werde ich meiner Guͤter erſt recht ge - nießen, wenn ich euch beide dadurch werde gluͤck - lich gemacht haben.

Unertraͤglich! Der Sinn iſt vollkommen uͤbergetragen, aber der Geiſt iſt verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn er - ſtickt. Dieſes Alsdenn, mit ſeinem Schwanze von Wenn; dieſes Erſt; dieſes Recht; dieſes Dadurch: lauter Beſtimmungen, die dem Aus - bruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Ueberlegung geben, und eine warme Empfin - dung in eine froſtige Schlußrede verwandeln.

Denen, die mich verſtehen, darf ich nur ſa - gen, daß ungefehr auf dieſen Schlag das ganze Stuͤck uͤberſetzt iſt. Jede feinere Geſinnung iſt in ihren geſunden Menſchenverſtand paraphra - ſirt, jeder affektvolle Ausdruck in die todten Be - ſtandtheile ſeiner Bedeutung aufgeloͤſet worden. Hierzu koͤmmt in vielen Stellen der haͤßliche Ton des Ceremoniels; verabredete Ehrenbenennun -U 2gen156gen contraſtiren mit den Ausrufungen der ge - ruͤhrten Natur auf die abſcheulichſte Weiſe. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft ſie:

Frau Mutter! o welch ein ſuͤßer Name!

Der Name Mutter iſt ſuͤß; aber Frau Mutter iſt wahrer Honig mit Citronenſaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung ſich oͤffende Herz wieder zuſammen. Und in dem Augen - blicke, da ſie ihren Vater findet, wirft ſie ſich gar mit einem

Gnaͤdiger Herr Vater! bin ich Ihrer Gnade werth!

ihm in die Arme.

Mon pere!

auf deutſch:

Gnaͤdiger Herr Vater.

Was fuͤr ein reſpectuoͤſes Kind! Wenn ich Dor - ſainville waͤre, ich haͤtte es eben ſo gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieſer Anrede.

Madame Loͤwen ſpielt die Orphiſe; man kann ſie nicht mit mehrerer Wuͤrde und Empfindung ſpielen. Jede Mine ſpricht das ruhige Be - wußtſeyn ihres verkannten Werthes; und ſanfte Melancholie auszudruͤcken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.

Cenie iſt Madame Henſel. Kein Wort faͤllt aus ihrem Munde auf die Erde. Was ſie ſagt, hat ſie nicht gelernt; es koͤmmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag ſprechen, oder ſie mag nicht ſprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wuͤßte nur einen einzigen Fehler; aber es iſt ein ſehr ſeltner Feh - ler; ein ſehr beneidenswuͤrdiger Fehler. DieAktrice157Aktrice iſt fuͤr die Rolle zu groß. Mich duͤnkt einen Rieſen zu ſehen, der mit dem Gewehre eines Cadets exerciret. Ich moͤchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen koͤnnte.

Herr Eckhof in der Rolle des Dorimond, iſt ganz Dorimond. Dieſe Miſchung von Sanft - muth und Ernſt, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in ſo einem Manne wirk - lich ſeyn, oder ſie iſt es in keinem. Wann er zum Schluſſe des Stuͤcks vom Mericourt ſagt:

Ich will ihm ſo viel geben, daß er in der großen Welt leben kann, die ſein Vaterland iſt; aber ſehen mag ich ihn nicht mehr!

wer hat den Mann gelehrt, mit ein Paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das fuͤr ein Land iſt, dieſes Vaterland des Me - ricourt? Ein gefaͤhrliches, ein boͤſes Land!

Tot linguæ, quot membra viro!

Den vier und zwanzigſten Abend (Freytags, den 25ſten May,) ward die Amalia des Herrn Weiß aufgefuͤhret.

Amalia wird von Kennern fuͤr das beſte Luſt - ſpiel dieſes Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Intereſſe, ausgefuͤhrtere Cha - raktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als ſeine uͤbrige komiſche Stuͤcke. Die Rollen ſind hier ſehr wohl beſetzt; beſondersU 3macht158macht Madame Boͤck den Manley, oder die ver - kleidete Amalia, mit vieler Anmuth und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig ſehr unwahrſcheinlich finden wuͤrden, ein junges Frauenzimmer ſo lange ver - kannt zu ſehen. Dergleichen Verkleidungen uͤberhaupt geben einem dramatiſchen Stuͤcke zwar ein romanenhaftes Anſehen, dafuͤr kann es aber auch nicht fehlen, daß ſie nicht ſehr komi - ſche, auch wohl ſehr intereſſante Scenen veran - laſſen ſollten. Von dieſer Art iſt die fuͤnfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde ei - nige allzu kuͤhn croquirte Pinſelſtriche zu lindern, und mit dem Uebrigen in eine ſanftere Haltung zu vertreiben, wohl rathen moͤchte. Ich weiß nicht, was in der Welt geſchieht; ob man wirk - lich mit dem Frauenzimmer manchmal in dieſem zudringlichen Tone ſpricht. Ich will nicht un - terſuchen, wie weit es mit der weiblichen Be - ſcheidenheit beſtehen koͤnne, gewiſſe Dinge, ob - ſchon unter der Verkleidung, ſo zu bruͤſquiren. Ich will die Vermuthung ungeaͤußert laſſen, daß es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art ſey, eine Madame Freemann ins Enge zu trei - ben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl haͤtte feiner anfangen koͤnnen; daß man uͤber einen ſchnellen Strom nicht in gerader Linie ſchwimmen zu wollen verlangen muͤſſe; daß Wie geſagt, ich will dieſe Vermuthungen unge -aͤußert159aͤußert laſſen; denn es koͤnnte leicht bey einem ſolchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem nehmlich die Gegenſtaͤnde ſind; ob - ſchon alsdenn noch gar nicht ausgemacht iſt, daß diejenige Frau, bey der die eine Art fehl geſchla - gen, auch allen uͤbrigen Arten Obſtand halten werde. Ich will blos bekennen, daß ich fuͤr mein Theil nicht Herz genug gehabt haͤtte, eine dergleichen Scene zu bearbeiten. Ich wuͤrde mich von der einen Klippe, zu wenig Erfahrung zu zeigen, eben ſo ſehr gefuͤrchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verrathen. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crebillonſchen Faͤ - higkeit bewußt geweſen waͤre, mich zwiſchen beide Klippen durchzuſtehlen: ſo weiß ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeſchlagen waͤre. Beſonders da ſich dieſer andere Weg hier von ſelbſt oͤffnet. Man - ley, oder Amalia, wußte ja, daß Freemann mit ſeiner vorgeblichen Frau nicht geſetzmaͤßig verbunden ſey. Warum konnte er alſo nicht dieſes zum Grunde nehmen, ſie ihm gaͤnzlich ab - ſpaͤnſtig zu machen, und ſich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um fluͤchtige Gunſtbezeigun - gen zu thun, ſondern als einen ernſthaften Lieb - haber anzutragen, der ſein ganzes Schickſal mit ihr zu theilen bereit ſey? Seine Bewerbungen wuͤrden dadurch, ich will nicht ſagen unſtraͤflich, aber doch unſtraͤflicher geworden ſeyn; er wuͤrde,ohne160ohne ſie in ihren eigenen Augen zu beſchimpfen, darauf haben beſtehen koͤnnen; die Probe waͤre ungleich verfuͤhreriſcher, und das Beſtehen in der - ſelben ungleich entſcheidender fuͤr ihre Liebe gegen Freemann geweſen. Man wuͤrde zugleich einen ordentlichen Plan von Seiten der Amalia dabey abgeſehen haben; anſtatt daß man itzt nicht wohl errathen kann, was ſie nun weiter thun koͤnnen, wenn ſie ungluͤcklicher Weiſe in ihrer Verfuͤh - rung gluͤcklich geweſen waͤre.

Nach der Amalia folgte das kleine Luſtſpiel des Saintfoix, der Finanzpachter. Es beſteht ungefehr aus ein Dutzend Scenen von der aͤußer - ſten Lebhaftigkeit. Es duͤrfte ſchwer ſeyn, in einen ſo engen Bezirk mehr geſunde Moral, mehr Charaktere, mehr Intereſſe zu bringen. Die Manier dieſes liebenswuͤrdigen Schriftſtellers iſt bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres nied - licheres Ganze zu machen gewußt, als Er.

Den fuͤnf und zwanzigſten Abend (Dienſtags, den 26ſten May,) ward die Zelmire des Du Belloy wiederholt.

Ham -[161]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und zwanzigſtes Stuͤck.

Den ſechs und zwanzigſten Abend (Freytags, den 29ſten May) ward die Muͤtterſchule des Nivelle de la Chauſſee aufgefuͤhret.

Es iſt die Geſchichte einer Mutter, die fuͤr ihre partheyiſche Zaͤrtlichkeit gegen einen nichts - wuͤrdigen ſchmeichleriſchen Sohn, die verdiente Kraͤnkung erhaͤlt. Marivaux hat auch ein Stuͤck unter dieſem Titel. Aber bey ihm iſt es die Geſchichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes gehorſames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung laͤßt: und wie geht es damit? Wie man leicht errathen kann. Das liebe Maͤd - chen hat ein empfindliches Herz; ſie weiß keiner Gefahr auszuweichen, weil ſie keine Gefahr ken - net; ſie verliebt ſich in den erſten in den beſten, ohne Mamma darum zu fragen, und Mamma mag dem Himmel danken, daß es noch ſo gut ab -Xlaͤuft.162laͤuft. In jener Schule giebt es eine Menge ernſthafte Betrachtungen anzuſtellen; in dieſer ſetzt es mehr zu lachen. Die eine iſt der Pen - dant der andern; und ich glaube, es muͤßte fuͤr Kenner ein Vergnuͤgen mehr ſeyn, beide an ei - nem Abende hinter einander beſuchen zu koͤnnen. Sie haben hierzu auch alle aͤußerliche Schicklich - keit; das erſte Stuͤck iſt von fuͤnf Akten, das andere von einem.

Den ſieben und zwanzigſten Abend (Montags, den 1ſten Junius,) ward die Nanine des Herrn von Voltaire geſpielt.

Nanine? fragten ſogenannte Kunſtrichter, als dieſes Luſtſpiel im Jahre 1749 zuerſt er - ſchien. Was iſt das fuͤr ein Titel? Was denkt man dabey? Nicht mehr und nicht weniger, als man bey einem Titel denken ſoll. Ein Titel muß kein Kuͤchenzettel ſeyn. Je weniger er von dem Inhalte verraͤth, deſto beſſer iſt er. Dich - ter und Zuſchauer finden ihre Rechnung dabey, und die Alten haben ihren Komoͤdien ſelten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drey oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten, oder etwas von der Intrigue verrie - then. Hierunter gehoͤret des Plautus Miles glorioſus. Wie koͤmmt es, daß man noch nicht angemerket, daß dieſer Titel dem Plautus nur zur Haͤlfte gehoͤren kann? Plautus nannte ſeinStuͤck163Stuͤck blos Glorioſus; ſo wie er ein anderes Truculentus uͤberſchrieb. Miles muß der Zu - ſatz eines Grammatikers ſeyn. Es iſt wahr, der Prahler, den Plautus ſchildert, iſt ein Soldat; aber ſeine Prahlereyen beziehen ſich nicht blos auf ſeinen Stand, und ſeine kriegeriſche Thaten. Er iſt in dem Punkte der Liebe eben ſo groß - ſprecheriſch; er ruͤhmt ſich nicht allein der tapfer - ſte, ſondern auch der ſchoͤnſte und liebenswuͤr - digſte Mann zu ſeyn. Beides kann in dem Worte Glorioſus liegen; aber ſobald man Miles hinzufuͤgt, wird das glorioſus nur auf das erſtere eingeſchraͤnkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der dieſen Zuſatz machte, eine Stelle des Cicero(*)De Officiis Lib. I. Cap. 38. verfuͤhrt; aber hier haͤtte ihm Plautus ſelbſt, mehr als Cicero gelten ſollen. Plautus ſelbſt ſagt:

Alazon Græce huic nomen eſt Co - mœdiæ Id nos latine glorioſum dici - mus

und in der Stelle des Cicero iſt es noch gar nicht ausgemacht, daß eben das Stuͤck des Plautus gemeinet ſey. Der Charakter eines großſpreche - riſchen Soldaten kam in mehrern Stuͤcken vor. Cicero kann eben ſowohl auf den Thraſo des Terenz gezielet haben. Doch dieſes beylaͤufig. X 2Ich164Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komoͤdien uͤberhaupt, ſchon einmal ge - aͤußert zu haben. Es koͤnnte ſeyn, daß die Sache ſo unbedeutend nicht waͤre. Mancher Stuͤmper hat zu einem ſchoͤnen Titel eine ſchlechte Komoͤdie gemacht; und blos des ſchoͤnen Titels wegen. Ich moͤchte doch lieber eine gute Ko - moͤdie mit einem ſchlechten Titel. Wenn man nachfragt, was fuͤr Charaktere bereits bearbei - ten worden, ſo wird kaum einer zu erdenken ſeyn, nach welchem, beſonders die Franzoſen, nicht ſchon ein Stuͤck genannt haͤtten. Der iſt laͤngſt da geweſen! ruft man. Der auch ſchon! Die - ſer wuͤrde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet ſeyn! Entlehnet? Das koͤmmt aus den ſchoͤnen Titeln. Was fuͤr ein Eigenthums - recht erhaͤlt ein Dichter auf einen gewiſſen Cha - rakter dadurch, daß er ſeinen Titel davon herge - nommen? Wenn er ihn ſtillſchweigend gebraucht haͤtte, ſo wuͤrde ich ihn wiederum ſtillſchweigend brauchen duͤrfen, und niemand wuͤrde mich dar - uͤber zum Nachahmer machen. Aber ſo wage es einer einmal, und mache z. E. einen neuen Miſanthropen. Wann er auch keinen Zug von dem Molierſchen nimmt, ſo wird ſein Miſan - throp doch immer nur eine Copie heiſſen. Ge - nug, daß Moliere den Namen zuerſt gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr ſpaͤ - ter lebet; und daß die Sprache fuͤr die unendli -chen165chen Varietaͤten des menſchlichen Gemuͤths nicht auch unendliche Benennungen hat.

Wenn der Titel Nanine nichts ſagt; ſo ſagt der andere Titel deſto mehr: Nanine, oder das beſiegte Vorurtheil. Und warum ſoll ein Stuͤck nicht zwey Titel haben? Haben wir Menſchen doch auch zwey, drey Namen. Die Namen ſind der Unterſcheidung wegen; und mit zwey Namen iſt die Verwechſelung ſchwerer, als mit einem. Wegen des zweyten Titels ſcheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit ſich geweſen zu ſeyn. In der nehmlichen Ausgabe ſeiner Werke heißt er auf einem Blatte, das be - ſiegte Vorurtheil; und auf dem andern, der Mann ohne Vorurtheil. Doch beides iſt nicht weit aus einander. Es iſt von dem Vorurtheile, daß zu einer vernuͤnftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich ſey, die Rede. Kurz, die Geſchichte der Nanine iſt die Geſchichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil ſchon einige Jahre vorher ein Paar Stuͤcke unter dieſem Namen erſchienen waren, und eben kein großes Gluͤck gemacht hatten. Die Pamela des Boiſſy und des De la Chauſſee ſind auch ziemlich kahle Stuͤcke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu ſeyn, etwas weit Beſſeres zu machen.

X 3Na -166

Nanine gehoͤrt unter die ruͤhrenden Luſtſpiele. Es hat aber auch ſehr viel laͤcherliche Scenen, und nur in ſo fern, als die laͤcherlichen Scenen mit den ruͤhrenden abwechſeln, will Voltaire dieſe in der Komoͤdie geduldet wiſſen. Eine ganz ernſthafte Komoͤdie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal laͤchelt, wo man nur immer weinen moͤchte, iſt ihm ein Ungeheuer. Hin - gegen findet er den Uebergang von dem Ruͤhren - den zum Laͤcherlichen, und von dem Laͤcherlichen zum Ruͤhrenden, ſehr natuͤrlich. Das menſch - liche Leben iſt nichts als eine beſtaͤndige Kette ſolcher Uebergaͤnge, und die Komoͤdie ſoll ein Spiegel des menſchlichen Lebens ſeyn.

Was iſt gewoͤhnlicher,

ſagt er,

als daß in dem nehm - lichen Hauſe der zornige Vater poltert, die ver - liebte Tochter ſeufzet, der Sohn ſich uͤber beide aufhaͤlt, und jeder Anverwandte bey der nehm - lichen Scene etwas anders empfindet? Man verſpottet in einer Stube ſehr oft, was in der Stube neben an aͤußerſt bewegt; und nicht ſel - ten hat eben dieſelbe Perſon in eben derſelben Viertelſtunde uͤber eben dieſelbe Sache gelacht und geweinet. Eine ſehr ehrwuͤrdige Matrone ſaß bey einer von ihren Toͤchtern, die gefaͤhr - lich krank lag, am Bette, und die ganze Fa - milie ſtand um ihr herum. Sie wollte in Thraͤ - nen zerfließen, ſie rang die Haͤnde, und rief: O Gott! laß mir, laß mir dieſes Kind, nur die -ſes;167ſes; magſt du mir doch alle die andern dafuͤr neh - men! Hier trat ein Mann, der eine von ihren uͤbrigen Toͤchtern geheyrathet hatte, naͤher zu ihr hinzu, zupfte ſie bey dem Aermel, und fragte: Madame, auch die Schwiegerſoͤhne? Das kalte Blut, der komiſche Ton, mit denen er dieſe Worte ausſprach, machten einen ſolchen Ein - druck auf die betruͤbte Dame, daß ſie in vollem Gelaͤchter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und lachte; die Kranke ſelbſt, als ſie es hoͤrte, waͤre vor Lachen faſt erſtickt.
〟Homer,

ſagt er an einem andern Orte,

laͤßt ſogar die Goͤtter, indem ſie das Schickſal der Welt entſcheiden, uͤber den poßirlichen Anſtand des Vulkans lachen. Hektor lacht uͤber die Furcht ſeines kleinen Sohnes, indem Andro - macha die heiſſeſten Thraͤnen vergießt. Es trift ſich wohl, daß mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuers - brunſt, oder ſonſt eines traurigen Verhaͤng - niſſes, ein Einfall, eine ungefehre Poſſe, Trotz aller Beaͤngſtigung, Trotz alles Mitleids, das unbaͤndigſte Lachen erregt. Man befahl, in der Schlacht bey Speyern, einem Regimente, daß es keinen Pardon geben ſollte. Ein deut - ſcher Officier bat darum, und der Franzoſe, den er darum bat, antwortete: Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen; nur das Leben nicht;da -168damit kann ich unmoͤglich dienen! Dieſe Naive - taͤt ging ſogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komoͤdie das Lachen auf ruͤhrende Empfin - dungen folgen koͤnnen? Bewegt uns nicht Alk - mene? Macht uns nicht Soſias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Er - fahrung ſtreiten zu wollen.

Sehr wohl! Aber ſtreitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernſthafte Komoͤdie fuͤr eine eben ſo fehler - hafte, als langweilige Gattung erklaͤret? Viel - leicht damals, als er es ſchrieb, noch nicht. Damals war noch keine Cenie, noch kein Haus - vater vorhanden; und vieles muß das Genie erſt wirklich machen, wenn wir es fuͤr moͤglich erkennen ſollen.

Ham -[169]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und zwanzigſtes Stuͤck.

Den acht und zwanzigſten Abend (Dienſtags, den 2ten Junius,) ward der Advokat Pa - telin wiederholt, und mit der kranken Frau des Herrn Gellert beſchloſſen.

Ohnſtreitig iſt unter allen unſern komiſchen Schriftſtellern Herr Gellert derjenige, deſſen Stuͤcke das meiſte urſpruͤnglich Deutſche haben. Es ſind wahre Familiengemaͤlde, in denen man ſogleich zu Hauſe iſt; jeder Zuſchauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Muͤhmchen aus ſeiner eigenen Verwandtſchaft darinn zu er - kennen. Sie beweiſen zugleich, daß es an Ori - ginalnarren bey uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein wenig ſelten ſind, denen ſie ſich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unſere Thor - heiten ſind bemerkbarer, als bemerkt; im gemei - nen Leben ſehen wir uͤber viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben ſichYunſere170unſere Virtuoſen an eine allzuflache Manier ge - woͤhnet. Sie machen ſie aͤhnlich, aber nicht hervorſpringend. Sie treffen; aber da ſie ihren Gegenſtand nicht vortheilhaft genug zu beleuch - ten gewußt, ſo mangelt dem Bilde die Run - dung, das Koͤrperliche; wir ſehen nur immer Eine Seite, an der wir uns bald ſatt geſehen, und deren allzuſchneidende Außenlinien uns gleich an die Taͤuſchung erinnern, wenn wir in Gedanken um die uͤbrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren ſind in der ganzen Welt platt und froſtig und eckel; wann ſie beluſtigen ſollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muß ſie nicht in ihrer All - tagskleidung, in der ſchmutzigen Nachlaͤßigkeit, auf das Theater bringen, in der ſie innerhalb ihren vier Pfaͤhlen herumtraͤumen. Sie muͤſſen nichts von der engen Sphaͤre kuͤmmerlicher Um - ſtaͤnde verrathen, aus der ſich ein jeder gern her - ausarbeiten will. Er muß ſie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verſtand leihen, das Arm - ſelige ihrer Thorheiten bemaͤnteln zu koͤnnen; er muß ihnen den Ehrgeitz geben, damit glaͤnzen zu wollen.

Ich weiß gar nicht, ſagte eine von meinen Bekanntinnen, was das fuͤr ein Paar zuſam - men iſt, dieſer Herr Stephan, und dieſe Frau Stephan! Herr Stephan iſt ein reicher Mann, und ein guter Mann. Gleichwohl muß ſeinege -171geliebte Frau Stephan um eine lumpige Adrienne ſo viel Umſtaͤnde machen! Wir ſind freylich ſehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein ſo gar großes Nichts nicht. Eine neue Adrienne! Kann ſie nicht hinſchicken, und aus - nehmen laſſen, und machen laſſen. Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muß ja wohl.

Ganz gewiß! ſagte eine andere. Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter ſchrieb zu den Zeiten unſerer Muͤtter. Eine Adrienne! Welche Schneidersfrau traͤgt denn noch eine Adrienne? Es iſt nicht erlaubt, daß die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte ſie nicht Roberonde, Bene - dietine, Reſpectueuſe, (ich habe die andern Na - men vergeſſen, ich wuͤrde ſie auch nicht zu ſchreiben wiſſen,) dafuͤr ſagen! Mich in einer Adrienne zu denken; das allein koͤnnte mich krank machen. Wenn es der neueſte Stoff iſt, wornach Madame Stephan lechzet, ſo muß es auch die neueſte Tracht ſeyn. Wie koͤnnen wir es ſonſt wahrſcheinlich finden, daß ſie daruͤber krank geworden?

Und ich, ſagte eine dritte, (es war die gelehr - teſte,) finde es ſehr unanſtaͤndig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib ge - macht worden. Aber man ſieht wohl, was den Verfaſſer zu dieſer wie ſoll ich es nennen? Verkennung unſerer Delicateſſe gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertigY 2ſeyn;172ſeyn; die Stephan ſollte es noch anziehen; und in vier und zwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja er durfte ſich nicht einmal zu einem kleinen Nachſpiele vier und zwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Ariſtoteles ſagt Hier ward meine Kunſtrichterinn unter - brochen.

Den neun und zwanzigſten Abend (Mitte - wochs, den 3ten Junius,) ward nach der Me - lanide des De la Chauſſee, der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, geſpielet.

Der Verfaſſer dieſes Stuͤcks iſt Herr Hippel, in Danzig. Es iſt reich an drolligen Einfaͤllen; nur Schade, daß ein jeder, ſobald er den Titel hoͤrt, alle dieſe Einfaͤlle vorausſieht. National iſt es auch genug; oder vielmehr provincial. Und dieſes koͤnnte leicht das andere Extremum werden, in das unſere komiſchen Dichter ver - fielen, wenn ſie wahre deutſche Sitten ſchildern wollten. Ich fuͤrchte, daß jeder die armſeligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er gebohren worden, fuͤr die eigentlichen Sitten des gemein - ſchaftlichen Vaterlandes halten duͤrfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wie vielmal im Jahre man da oder dort gruͤnen Kohl ißt?

Ein Luſtſpiel kann einen doppelten Titel ha - ben; doch verſteht ſich, daß jeder etwas anders ſagen muß. Hier iſt das nicht; der Mann nachder173der Uhr, oder der ordentliche Mann, ſagen ziemlich das nehmliche; außer daß das erſte ohn - gefehr die Karrikatur von dem andern iſt.

Den dreyßigſten Abend (Donnerſtags, den 4ten Junius,) ward der Graf von Eſſex, vom Thomas Corneille, aufgefuͤhrt.

Dieſes Trauerſpiel iſt faſt das einzige, wel - ches ſich aus der betraͤchtlichen Anzahl der Stuͤcke des juͤngern Corneille, auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutſchen Buͤhnen noch oͤfterer wiederholt, als auf den franzoͤſiſchen. Es iſt vom Jahre 1678, nach - dem vierzig Jahre vorher bereits Calprenede die nehmliche Geſchichte bearbeitet hatte.

〟Es iſt gewiß,

ſchreibt Corneille,

daß der Graf von Eſſex bey der Koͤniginn Eliſabeth in beſondern Gnaden geſtanden. Er war von Na - tur ſehr ſtolz. Die Dienſte, die er England geleiſtet hatte, blieſen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beſchuldigten ihn eines Verſtaͤndniſſes mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irrland zu ihrem Haupte erwaͤhlet hatten. Der Verdacht, der dieſerwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verur - theilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25ſten Februar, 1601, ent -Y 3hauptet.174hauptet. So viel hat mir die Hiſtorie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Laſt legt, daß ich ſie in einem wichtigen Stuͤcke ver - faͤlſcht haͤtte, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Koͤniginn dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Be - gnadigung, falls er ſich jemals eines Staatsver - brechens ſchuldig machen ſollte, gegeben habe: ſo muß mich dieſes ſehr befremden. Ich bin verſichert, daß dieſer Ring eine Erfindung des Calprenede iſt, wenigſtens habe ich in keinem Geſchichtſchreiben das geringſte davon geleſen.

Allerdings ſtand es Corneillen frey, dieſen Um - ſtand mit dem Ringe zu nutzen, oder nicht zu nutzen; aber darinn ging er zu weit, daß er ihn fuͤr eine poetiſche Erfindung erklaͤrte. Seine hiſtoriſche Richtigkeit iſt neuerlich faſt außer Zweifel geſetzt worden; und die bedaͤchtlichſten, ſkeptiſchſten Geſchichtſchreiber, Hume und Ro - bertſon, haben ihn in ihre Werke aufgenom - men.

Wenn Robertſon in ſeiner Geſchichte von Schottland von der Schwermuth redet, in wel - che Eliſabeth vor ihrem Tode verfiel, ſo ſagt er:

〟Die gemeinſte Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrſcheinlichſte, war dieſe, daß dieſes Uebel aus einer betruͤbten Reue wegen des Grafen von Eſſer entſtanden ſey. Sie hatte eine ganz auſſerordentliche Achtung fuͤr das An -denken175denken dieſes ungluͤcklichen Herrn; und wiewohl ſie oft uͤber ſeine Hartnaͤckigkeit klagte, ſo nannte ſie doch ſeinen Namen ſelten ohne Thraͤnen. Kurz vorher hatte ſich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zaͤrtlichkeit belebte, und ihre Betruͤbniß noch mehr vergaͤllte. Die Graͤfinn von Notthingham, die auf ihrem Tod - bette lag, wuͤnſchte die Koͤniginn zu ſehen, und ihr ein Geheimniß zu offenbaren, deſſen Ver - hehlung ſie nicht ruhig wuͤrde ſterben laſſen. Wie die Koͤniginn in ihr Zimmer kam, ſagte ihr die Graͤfinn, Eſſex habe, nachdem ihm das To - desurtheil geſprochen worden, gewuͤnſcht, die Koͤniginn um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majeſtaͤt ihm ehemals ſelbſt vorgeſchrieben. Er habe ihr nehmlich den Ring zuſchicken wollen, den ſie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Verſicherung geſchenkt, daß, wenn er ihr denſelben, bey einem etwanigen Un - gluͤcke, als ein Zeichen ſenden wuͤrde, er ſich ihrer voͤlligen Gnaden wiederum verſichert hal - ten ſollte. Lady Scroop ſey die Perſon, durch welche er ihn habe uͤberſenden wollen; durch ein Verſehen aber ſey er, nicht in der Lady Scroop, ſondern in ihre Haͤnde gerathen. Sie habe ih - rem Gemahl die Sache erzehlt, (er war einer von den unverſoͤhnlichſten Feinden des Eſſex,) und der habe ihr verbothen, den Ring weder der Koͤniginn zu geben, noch dem Grafen zuruͤck zuſen -176ſenden. Wie die Graͤfinn der Koͤniginn ihr Ge - heimniß entdeckt hatte, bath ſie dieſelbe um Ver - gebung; allein Eliſabeth, die nunmehr ſowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einſahe, daß ſie ihn im Verdacht eines unbaͤndigen Eigenſinnes gehabt, antwortete: Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr! Sie verließ das Zimmer in großer Entſetzung, und von dem Augenblicke an ſanken ihre Lebensgeiſter gaͤnzlich. Sie nahm weder Speiſe noch Trank zu ſich; ſie ver - weigerte ſich allen Arzeneyen; ſie kam in kein Bette; ſie blieb zehn Tage und zehn Naͤchte auf einem Polſter, ohne ein Wort zu ſprechen, in Gedanken ſitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geſchlagenen Augen; bis ſie endlich, von innerlicher Angſt der Seelen und von ſo langem Faſten ganz entkraͤftet, den Geiſt aufgab.
Ham -[177]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und zwanzigſtes Stuͤck.

Der Herr von Voltaire hat den Eſſex auf eine ſonderbare Weiſe kritiſirt. Ich moͤchte nicht gegen ihn behaupten, daß Eſſex ein vorzuͤglich gutes Stuͤck ſey; aber das iſt leicht zu erweiſen, daß die Fehler, die er daran tadelt, Theils ſich nicht darinn finden, Theils unerheb - liche Kleinigkeiten ſind, die ſeiner Seits eben nicht den richtigſten und wuͤrdigſten Begriff von der Tragoͤdie vorausſetzen.

Es gehoͤrt mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein ſehr profunder Hiſtorikus ſeyn will. Er ſchwang ſich alſo auch bey dem Eſſex auf dieſes ſein Streitroß, und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, daß alle die Thaten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht werth ſind, den er erregt.

ZTho -178

Thomas Corneille hat ihm von der engliſchen Geſchichte nur wenig gewußt; und zum Gluͤcke fuͤr den Dichter, war das damalige Publikum noch unwiſſender. Itzt, ſagt er, kennen wir die Koͤniginn Eliſabeth und den Grafen Eſſex beſſer; itzt wuͤrden einem Dichter dergleichen grobe Verſtoßungen wider die hiſtoriſche Wahr - heit ſchaͤrfer aufgemutzet werden.

Und welches ſind denn dieſe Verſtoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Koͤniginn damals, als ſie dem Grafen den Proceß machen ließ, acht und ſechzig Jahr alt war. Es waͤre alſo laͤcherlich, ſagt er, wenn man ſich einbilden wollte, daß die Liebe den geringſten Antheil an dieſer Begebenheit koͤnne gehabt haben. War - um das? Geſchieht nichts Laͤcherliches in der Welt? Sich etwas Laͤcherliches als geſchehen denken, iſt das ſo laͤcherlich?

〟Nachdem das Urtheil uͤber den Eſſex abgegeben war,

ſagt Hume,

fand ſich die Koͤniginn in der aͤußerſten Unruhe und in der grauſamſten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuͤr ihre eigene Sicherheit und Bekuͤm - merniß um das Leben ihres Lieblings, ſtritten unauf hoͤrlich in ihr: und vielleicht, daß ſie in dieſem quaͤlenden Zuſtande mehr zu beklagen war, als Eſſex ſelbſt. Sie unterzeichnete und wiederrufte den Befehl zu ſeiner Hinrichtungein -179einmal uͤber das andere; itzt war ſie faſt ent - ſchloſſen, ihn dem Tode zu uͤberliefern; den Au - genblick darauf erwachte ihre Zaͤrtlichkeit aufs neue, und er ſollte leben. Die Feinde des Grafen ließen ſie nicht aus den Augen; ſie ſtell - ten ihr vor, daß er ſelbſt den Tod wuͤnſche, daß er ſelbſt erklaͤret habe, wie ſie doch anders keine Ruhe vor ihm haben wuͤrde. Wahrſcheinlicher Weiſe that dieſe Aeußerung von Reue und Ach - tung fuͤr die Sicherheit der Koͤniginn, die der Graf ſonach lieber durch ſeinen Tod befeſtigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als ſich ſeine Feinde davon verſprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenſchaft, die ſie ſo lange fuͤr den ungluͤcklichen Gefangnen genaͤhret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhaͤrtete, war die vermeintliche Hals - ſtarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie verſahe ſich dieſes Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, ließ ſie dem Rechte endlich ſei - nen Lauf.

Warum ſollte Eliſabeth nicht noch in ihrem acht und ſechzigſten Jahre geliebt haben, ſie, die ſich ſo gern lieben ließ? Sie, der es ſo ſehr ſchmeichelte, wenn man ihre Schoͤnheit ruͤhmte? Sie, die es ſo wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen ſchien? Die Welt muß in dieſemZ 2Stuͤcke180Stuͤcke keine eitlere Frau jemals geſehen haben. Ihre Hoͤflinge ſtellten ſich daher alle in ſie ver - liebt, und bedienten ſich gegen Ihro Majeſtaͤt, mit allem Anſcheine des Ernſtes, des Styls der laͤcherlichſten Galanterie. Als Raleigh in Un - gnade fiel, ſchrieb er an ſeinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weiſen ſollte, in welchem ihm die Koͤniginn eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl war dieſe Goͤttinn damals ſchon ſechzig Jahr alt. Fuͤnf Jahr darauf fuͤhrte Heinrich Unton, ihr Abgeſandter in Frankreich, die nehmliche Sprache mit ihr. Kurz, Cor - neille iſt hinlaͤnglich berechtiget geweſen, ihr alle die verliebte Schwachheit beyzulegen, durch die er das zaͤrtliche Weib mit der ſtolzen Koͤniginn in einen ſo intereſſanten Streit bringet.

Eben ſo wenig hat er den Charakter des Eſſex verſtellet, oder verfaͤlſchet. Eſſex, ſagt Vol - taire, war der Held gar nicht, zu dem ihn Cor - neille macht: er hat nie etwas merkwuͤrdiges ge - than. Aber, wenn er es nicht war, ſo glaubte er es doch zu ſeyn. Die Vernichtung der ſpani - ſchen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihn Voltaire wenig oder gar kein Theil laͤßt, hielt er ſo ſehr fuͤr ſein Werk, daß er es durch - aus nicht leiden wollte, wenn ſich jemand die ge - ringſte Ehre davon anmaßte. Er erbot ſich, esmit181mit dem Degen in der Hand, gegen den Grafen von Notthingham, unter dem er kommandirt hatte, gegen ſeinen Sohn, gegen jeden von ſei - nen Anverwandten, zu beweiſen, daß ſie ihm allein zugehoͤre.

Corneille laͤßt den Grafen von ſeinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, ſehr veraͤchtlich ſprechen. Auch das will Voltaire nicht gut heiſſen. Es iſt nicht er - laubt, ſagt er, eine ſo neue Geſchichte ſo groͤb - lich zu verfaͤlſchen, und Maͤnner von ſo vorneh - mer Geburt, von ſo großen Verdienſten, ſo unwuͤrdig zu mißhandeln. Aber hier koͤmmt es ja gar nicht darauf an, was dieſe Maͤnner waren, ſondern wofuͤr ſie Eſſex hielt; und Eſſex war auf ſeine eigene Verdienſte ſtolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuraͤumen.

Wenn Corneille den Eſſex ſagen laͤßt, daß es nur an ſeinem Willen gemangelt, den Thron ſelbſt zu beſteigen, ſo laͤßt er ihn freylich etwas ſagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire haͤtte darum doch nicht ausrufen muͤſſen:

〟Wie? Eſſex auf dem Thro - ne? mit was fuͤr Recht? unter was fuͤr Vor - wande? wie waͤre das moͤglich geweſen?〟

Denn Voltaire haͤtte ſich erinnern ſollen, daß Eſſex von muͤtterlicher Seite aus dem Koͤnigli -Z 3chen182chen Hauſe abſtammte, und daß es wirklich An - haͤnger von ihm gegeben, die unbeſonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zaͤhlen, die Anſpruͤche auf die Krone machen koͤnnten. Als er daher mit dem Koͤnige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das erſte ſeyn, ihn zu verſichern, daß er ſelbſt der - gleichen ehrgeitzige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von ſich ablehnte, iſt nicht viel we - niger, als was ihn Corneille vorausſetzen laͤßt.

Indem alſo Voltaire durch das ganze Stuͤck nichts als hiſtoriſche Unrichtigkeiten findet, be - geht er ſelbſt nicht geringe. Ueber eine hat ſich Walpole(*)Le Chateau d’Otrante, Pref. p. XIV. ſchon luſtig gemacht. Wenn nehmlich Voltaire die erſtern Lieblinge der Koͤ - niginn Eliſabeth nennen will, ſo nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leiceſter. Er wußte nicht, daß beide nur eine Perſon waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Vol - taire zu zwey verſchiedenen Perſonen machen koͤnnte. Eben ſo unverzeihlich iſt das Hyſteron - proteron, in welches er mit der Ohrfeige verfaͤllt, die die Koͤniginn dem Eſſex gab. Es iſt falſch, daß er ſie nach ſeiner ungluͤcklichen Expedition in Irrland bekam; er hatte ſie lange vorher be - kommen; und es iſt ſo wenig wahr, daß erda -183damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge - ringſte Erniedrigung zu beſaͤnftigen geſucht, daß er vielmehr auf die lebhafteſte und edelſte Art muͤndlich und ſchriftlich ſeine Empfindlichkeit daruͤber ausließ. Er that zu ſeiner Begnadi - gung auch nicht wieder den erſten Schritt; die Koͤniginn mußte ihn thun.

Aber was geht mich hier die hiſtoriſche Un - wiſſenheit des Herrn von Voltaire an? Eben ſo wenig als ihn die hiſtoriſche Unwiſſenheit des Corneille haͤtte angehen ſollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieſer gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragoͤdie des Corneille ſey ein Ro - man: wenn er ruͤhrend iſt, wird er dadurch we - niger ruͤhrend, weil der Dichter ſich wahrer Namen bedienet hat?

Weßwegen waͤhlt der tragiſche Dichter wahre Namen? Nimmt er ſeine Charaktere aus dieſen Namen; oder nimmt er dieſe Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geſchichte beylegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei - gen ſich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meiſten Trauerſpiele vielleicht entſtanden ſind, ſondern wie ſie eigentlich entſtehen ſollten. Oder, mich mit der gewoͤhnlichen Praxi derDich -184Dichter uͤbereinſtimmender auszudruͤcken: ſind es die bloßen Facta, die Umſtaͤnde der Zeit und des Ortes, oder ſind es die Charaktere der Per - ſonen, durch welche die Facta wirklich gewor - den, warum der Dichter lieber dieſe als eine an - dere Begebenheit waͤhlet? Wenn es die Cha - raktere ſind, ſo iſt die Frage gleich entſchieden, wie weit der Dichter von der hiſtoriſchen Wahr - heit abgehen koͤnne? In allem, was die Cha - raktere nicht betrift, ſo weit er will. Nur die Charaktere ſind ihm heilig; dieſe zu verſtaͤrken, dieſe in ihrem beſten Lichte zu zeigen, iſt alles, was er von dem Seinigen dabey hinzuthun darf; die geringſte weſentliche Veraͤnderung wuͤrde die Urſache aufheben, warum ſie dieſe und nicht andere Namen fuͤhren; und nichts iſt anſtoͤßiger, als wovon wir uns keine Urſache geben koͤnnen.

Ham -[185]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und zwanzigſtes Stuͤck.

Wenn der Charakter der Eliſabeth des Cor - neille das poetiſche Ideal von dem wah - ren Charakter iſt, den die Geſchichte der Koͤniginn dieſes Namens beylegt; wenn wir in ihr die Unentſchluͤßigkeit, die Widerſpruͤche, die Beaͤngſtigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein ſtolzes und zaͤrtliches Herz, wie das Herz der Eliſabeth, ich will nicht ſagen, bey die - ſen und jenen Umſtaͤnden wirklich verfallen iſt, ſondern auch nur verfallen zu koͤnnen vermuthen laſſen, mit wahren Farben geſchildert finden: ſo hat der Dichter alles gethan, was ihm als Dichter zu thun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, unterſuchen; ihn vor den Richterſtuhl der Geſchichte fuͤhren, um ihn da jedes Datum, jede beylaͤufige Erwaͤhnung, auch wohl ſolcher Perſonen, uͤber welche die Ge - ſchichte ſelbſt in Zweifel iſt, mit Zeugniſſen be -A alegen186legen zu laſſen: heißt ihn und ſeinen Beruff ver - kennen, heißt von dem, dem man dieſe Verken - nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicaniren.

Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es leicht weder Verkennung noch Chicane ſeyn. Denn Voltaire iſt ſelbſt ein tragiſcher Dichter, und ohnſtreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei - ſter in einer Kunſt ſeyn, und doch falſche Begriffe von der Kunſt haben koͤnnte. Und was die Chi - cane anbelangt, die iſt, wie die ganze Welt weiß, ſein Werk nun gar nicht. Was ihr in ſeinen Schriften hier und da aͤhnlich ſieht, iſt nichts als Laune; aus bloßer Laune ſpielt er dann und wann in der Poetik den Hiſtorikus, in der Hiſtorie den Philoſophen, und in der Phi - loſophie den witzigen Kopf.

Sollte er umſonſt wiſſen, daß Eliſabeth acht und ſechzig Jahr alt war, als ſie den Grafen koͤpfen ließ? Im acht und ſechzigſten Jahre noch verliebt, noch eiferſuͤchtig! Die große Naſe der Eliſabeth dazu genommen, was fuͤr luſtige Ein - faͤlle muß das geben! Freylich ſtehen dieſe luſti - gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra - goͤdie; alſo da, wo ſie nicht hingehoͤren. Der Dichter haͤtte Recht zu ſeinem Commentator zu ſagen: 〟Mein Herr Notenmacher, dieſe Schwaͤnke gehoͤren in eure allgemeine Geſchichte, nicht un -ter187ter meinen Text. Denn es iſt falſch, daß meine Eliſabeth acht und ſechzig Jahr alt iſt. Weiſet mir doch, wo ich das ſage. Was iſt in meinem Stuͤcke, das Euch hinderte, ſie nicht ungefehr mit dem Eſſex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr ſagt: Sie war aber nicht von gleichem Al - ter: Welche Sie? Eure Eliſabeth im Rapin de Thoyras; das kann ſeyn. Aber warum habt ihr den Rapin de Thoyras geleſen? Warum ſeyd ihr ſo gelehrt? Warum vermengt ihr dieſe Eliſabeth mit meiner? Glaubt ihr im Ernſt, daß die Erinnerung bey dem und jenem Zu - ſchauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal geleſen hat, lebhafter ſeyn werde, als der ſinn - liche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren beſten Jahren auf ihn macht? Er ſieht ja meine Eliſabeth; und ſeine eigene Augen uͤber - zeugen ihn, daß es nicht eure achtzigjaͤhrige Eli - ſabeth iſt. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als ſeinen eignen Augen?〟

So ungefehr koͤnnte ſich auch der Dichter uͤber die Rolle des Eſſex erklaͤren. 〟Euer Eſſex im Rapin de Thoyras, koͤnnte er ſagen, iſt nur der Embryo von dem meinigen. Was ſich jener zu ſeyn duͤnkte, iſt meiner wirklich. Was jener, unter gluͤcklichern Umſtaͤnden, fuͤr die Koͤniginn vielleicht gethan haͤtte, hat meiner gethan. Ihr hoͤrt ja, daß es ihm die Koͤniginn ſelbſt zuge - ſteht; wollt ihr meiner Koͤniginn nicht eben ſoA a 2viel188viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Eſſex iſt ein verdienter und großer, aber ſtolzer und unbiegſamer Mann. Eurer war in der That weder ſo groß, noch ſo unbiegſam: deſto ſchlimmer fuͤr ihn. Genug fuͤr mich, daß er doch immer noch groß und unbiegſam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe ſeinen Namen zu laſſen.

Kurz: die Tragoͤdie iſt keine dialogirte Ge - ſchichte; die Geſchichte iſt fuͤr die Tragoͤdie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewiſſe Charaktere zu verbinden ge - wohnt ſind. Findet der Dichter in der Ge - ſchichte mehrere Umſtaͤnde zur Ausſchmuͤckung und Individualiſirung ſeines Stoffes bequem: wohl, ſo brauche er ſie. Nur daß man ihm hier - aus eben ſo wenig ein Verdienſt, als aus dem Gegentheile ein Verbrechen mache!

Dieſen Punkt von der hiſtoriſchen Wahrheit abgerechnet, bin ich ſehr bereit, das uͤbrige Ur - theil des Herrn von Voltaire zu unterſchreiben. Eſſex iſt ein mittelmaͤßiges Stuͤck, ſowohl in Anſehung der Intrigue, als des Stils. Den Grafen zu einem ſeufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht ſeyn kann, als aus edel - muͤthigem Stolze, ſich nicht zu Entſchuldigun - gen und Bitten herab zu laſſen, auf das Schaf - fot zu fuͤhren: das war der ungluͤcklichſte Ein -fall,189fall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzoſe wohl haben mußte. Der Stil iſt in der Grundſprache ſchwach; in der Ueber - ſetzung iſt er oft kriechend geworden. Aber uͤberhaupt iſt das Stuͤck nicht ohne Intereſſe, und hat hier und da gluͤckliche Verſe; die aber im Franzoͤſiſchen gluͤcklicher ſind, als im Deut - ſchen.

〟Die Schauſpieler,

ſetzt der Herr von Voltaire hinzu,

beſonders die in der Provinz, ſpielen die Rolle des Eſſex gar zu gern, weil ſie in einem geſtickten Bande unter dem Knie, und mit einem großen blauen Bande uͤber die Schul - ter darinn erſcheinen koͤnnen. Der Graf iſt ein Held von der erſten Klaſſe, den der Neid ver - folgt: das macht Eindruck. Uebrigens iſt die Zahl der guten Tragoͤdien bey allen Nationen in der Welt ſo klein, daß die, welche nicht ganz ſchlecht ſind, noch immer Zuſchauer an ſich zie - hen, wenn ſie von guten Akteurs nur aufge - ſtutzet werden.

Er beſtaͤtiget dieſes allgemeine Urtheil durch verſchiedene einzelne Anmerkungen, die eben ſo richtig, als ſcharfſinnig ſind, und deren man ſich vielleicht, bey einer wiederholten Vorſtellung, mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte. Ich theile die vorzuͤglichſten alſo hier mit; in der feſten Ueber - zeugung, daß die Kritik dem Genuſſe nicht ſcha - det, und daß diejenigen, welche ein Stuͤck am ſchaͤrfeſten zu beurtheilen gelernt haben, immerA a 3die -190diejenigen ſind, welche das Theater am fleißig - ſten beſuchen.

〟Die Rolle des Cecils iſt eine Nebenrolle, und eine ſehr froſtige Nebenrolle. Solche krie - chende Schmeichler zu mahlen, muß man die Farben in ſeiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narciſſus geſchildert hat.
〟Die vorgebliche Herzoginn von Irton iſt eine vernuͤnftige tugendhafte Frau, die ſich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Eliſabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heyra - then wollen. Dieſer Charakter wuͤrde ſehr ſchoͤn ſeyn, wenn er mehr Leben haͤtte, und wenn er zur Verwickelung etwas beytruͤge; aber hier vertritt ſie bloß die Stelle eines Freundes. Das iſt fuͤr das Theater nicht hinlaͤnglich.
〟Mich duͤnket, daß alles, was die Perſonen in dieſer Tragoͤdie ſagen und thun, immer noch ſehr ſchielend, verwirret und unbeſtimmet iſt. Die Handlung muß deutlich, der Knoten ver - ſtaͤndlich, und jede Geſinnung plan und natuͤr - lich ſeyn: das ſind die erſten, weſentlichſten Regeln. Aber was will Eſſex? Was will Eli - ſabeth? Worinn beſteht das Verbrechen des Grafen? Iſt er ſchuldig, oder iſt er faͤlſchlich angeklagt? Wenn ihn die Koͤniginn fuͤr un - ſchuldig haͤlt, ſo muß ſie ſich ſeiner annehmen. Iſt er aber ſchuldig: ſo iſt es ſehr unvernuͤnftig, die Vertraute ſagen zu laſſen, daß er nimmer -mehr191mehr um Gnade bitten werde, daß er viel zu ſtolz dazu ſey. Dieſer Stolz ſchickt ſich ſehr wohl fuͤr einen tugendhaften unſchuldigen Hel - den, aber fuͤr keinen Mann, der des Hochver - raths uͤberwieſen iſt. Er ſoll ſich unterwerfen: ſagt die Koͤniginn. Iſt das wohl die eigentliche Geſinnung, die ſie haben muß, wenn ſie ihn liebt? Wenn er ſich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Eliſabeth darum von ihm mehr geliebt, als zu - vor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich ſelbſt: ſagt die Koͤniginn. Ah, Madame; wenn es ſo weit mit Ihnen gekommen iſt, wenn Ihre Leidenſchaft ſo heftig geworden: ſo unter - ſuchen Sie doch die Beſchuldigungen Ihres Ge - liebten ſelbſt, und verſtatten nicht, daß ihn ſeine Feinde unter Ihrem Namen ſo verfolgen und unterdruͤcken, wie es durch das ganze Stuͤck, obwohl ganz ohne Grund, heißt.
〟Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er ihn fuͤr ſchuldig oder fuͤr unſchuldig haͤlt. Er ſtellt der Koͤniginn vor, daß der Anſchein oͤfters betriege, daß man alles von der Partheylichkeit und Ungerechtigkeit ſeiner Richter zu beſorgen habe. Gleichwohl nimmt er ſeine Zuflucht zur Gnade der Koͤniginn. Was hatte er dieſes noͤthig, wenn er ſeinen Freund nicht ſtraf bar glaubte? Aber was ſoll der Zuſchauer glau -ben?192ben? Der weiß eben ſo wenig, woran er mit der Verſchwoͤrung des Grafen, als woran er mit der Zaͤrtlichkeit der Koͤniginn gegen ihn iſt.
〟Salisbury ſagt der Koͤniginn, daß man die Unterſchrift des Grafen nachgemacht habe. Aber die Koͤniginn laͤßt ſich im geringſten nicht einfallen, einen ſo wichtigen Umſtand naͤher zu unterſuchen. Gleichwohl war ſie als Koͤniginn und als Geliebte dazu verbunden. Sie ant - wortet nicht einmal auf dieſe Eroͤffnung, die ſie doch begierigſt haͤtte ergreifen muͤſſen. Sie er - wiedert bloß mit andern Worten, daß der Graf allzu ſtolz ſeyn, und daß ſie durchaus wolle, er ſolle um Gnade bitten.
〟Aber warum ſollte er um Gnade bitten, wenn ſeine Unterſchrift nachgemacht war?〟
Ham -[193]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fuͤnf und zwanzigſtes Stuͤck.

Eſſex ſelbſt betheuert ſeine Unſchuld; aber warum will er lieber ſterben, als die Koͤ - niginn davon uͤberzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er kann ſie mit einem ein - zigen Worte zu Boden ſchlagen; und er thut es nicht. Iſt das dem Charakter eines ſo ſtolzen Mannes gemaͤß? Soll er aus Liebe zur Irton ſo widerſinnig handeln: ſo haͤtte ihn der Dichter durch das ganze Stuͤck von ſeiner Leidenſchaft mehr bemeiſtert zeigen muͤſſen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entſchuldigen; aber in die - ſer Heftigkeit ſehen wir ihn nicht.
〟Der Stolz der Koͤniginn ſtreitet unauf hoͤr - lich mit dem Stolze des Eſſex; ein ſolcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieſer Stolz ſie handeln laͤßt, ſo iſt er bey der Eliſa - beth ſowohl, als bey dem Grafen, bloßer Ei - genſinn. Er ſoll mich um Gnade bitten; ichB bwill194will ſie nicht um Gnade bitten: das iſt die ewige Leyer. Der Zuſchauer muß vergeſſen, daß Eli - ſabeth entweder ſehr abgeſchmackt, oder ſehr un - gerecht iſt, wenn ſie verlangt, daß der Graf ſich ein Verbrechen ſoll vergeben laſſen, welches er nicht begangen, oder ſie nicht unterſucht hat. Er muß es vergeſſen, und er vergißt es wirklich, um ſich bloß mit den Geſinnungen des Stolzes zu beſchaͤftigen, der dem menſchlichen Herze ſo ſchmeichelhaft iſt.
〟Mit einem Worte: keine einzige Rolle die - ſes Trauerſpiels iſt, was ſie ſeyn ſollte; alle ſind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo - her dieſes Gefallen? Offenbar aus der Situa - tion der Perſonen, die fuͤr ſich ſelbſt ruͤhrend iſt. Ein großer Mann, den man auf das Schaffot fuͤhret, wird immer intereßiren; die Vorſtellung ſeines Schickſals macht, auch ohne alle Huͤlfe der Poeſie, Eindruck; ungefehr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit ſelbſt machen wuͤrde.

So viel liegt fuͤr den tragiſchen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch dieſe allein, koͤnnen die ſchwaͤchſten verwirrteſten Stuͤcke eine Art von Gluͤck machen; und ich weiß nicht, wie es koͤmmt, daß es immer ſolche Stuͤcke ſind, in welchen ſich gute Akteurs am vortheilhafteſten zeigen. Selten wird ein Meiſterſtuͤck ſo meiſter - haft vorgeſtellt, als es geſchrieben iſt; das Mit -tel -195telmaͤßige faͤhrt mit ihnen immer beſſer. Viel - leicht, weil ſie in dem Mittelmaͤßigen mehr von dem Ihrigen hinzuthun koͤnnen; vielleicht, weil uns das Mittelmaͤßige mehr Zeit und Ruhe laͤßt, auf ihr Spiel aufmerkſam zu ſeyn; viel - leicht, weil in dem Mittelmaͤßigen alles nur auf einer oder zwey hervorſtechenden Perſonen beru - het, anſtatt, daß in einem vollkommenern Stuͤcke oͤfters eine jede Perſon ein Hauptakteur ſeyn muͤßte, und wenn ſie es nicht iſt, indem ſie ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die uͤbrigen verderben hilft.

Beym Eſſex koͤnnen alle dieſe und mehrere Urſachen zuſammen kommen. Weder der Graf noch die Koͤniginn ſind von dem Dichter mit der Staͤrke geſchildert, daß ſie durch die Aktion nicht noch weit ſtaͤrker werden koͤnnten. Eſſex ſpricht ſo ſtolz nicht, daß ihn der Schauſpieler nicht in jeder Stellung, in jeder Gebehrde, in jeder Mine, noch ſtolzer zeigen koͤnnte. Es iſt ſogar dem Stolze weſentlich, daß er ſich weniger durch Worte, als durch das uͤbrige Betragen, aͤußert. Seine Worte ſind oͤfters beſcheiden, und es laͤßt ſich nur ſehen, nicht hoͤren, daß es eine ſtolze Beſcheidenheit iſt. Dieſe Rolle muß alſo noth - wendig in der Vorſtellung gewinnen. Auch die Nebenrollen koͤnnen keinen uͤbeln Einfluß auf ihn haben; je ſubalterner Cecil und Salisbury geſpielt werden, deſto mehr ragt Eſſex hervor. B b 2Ich196Ich darf es alſo nicht erſt lange ſagen, wie vor - trefflich ein Eckhof das machen muß, was auch der gleichguͤltigſte Akteur nicht ganz verderben kann.

Mit der Rolle der Eliſabeth iſt es nicht voͤllig ſo; aber doch kann ſie auch ſchwerlich ganz ver - ungluͤcken. Eliſabeth iſt ſo zaͤrtlich, als ſtolz; ich glaube ganz gern, daß ein weibliches Herz beides zugleich ſeyn kann; aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorſtellen koͤnne, das begreife ich nicht recht. In der Natur ſelbſt trauen wir einer ſtolzen Frau nicht viel Zaͤrtlichkeit, und einer zaͤrtlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr nicht zu, ſage ich: denn die Kennzeichen des einen widerſprechen den Kennzeichen des an - dern. Es iſt ein Wunder, wenn ihr beide gleich gelaͤufig ſind; hat ſie aber nur die einen vorzuͤg - lich in ihrer Gewalt, ſo kann ſie die Leidenſchaft, die ſich durch die andern ausdruͤckt, zwar em - pfinden, aber ſchwerlich werden wir ihr glauben, daß ſie dieſelbe ſo lebhaft empfindet, als ſie ſagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen, als die Natur? Iſt ſie von einem majeſtaͤtiſchen Wuchſe, toͤnt ihre Stimme voller und maͤnnli - cher, iſt ihr Blick dreiſt, iſt ihre Bewegung ſchnell und herzhaft: ſo werden ihr die ſtolzen Stellen vortrefflich gelingen; aber wie ſteht es mit den zaͤrtlichen? Iſt ihre Figur hingegen weniger imponirend; herrſcht in ihren MinenSanft -197Sanfmuth, in ihren Augen ein beſcheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlkang, als Nachdruck; iſt in ihrer Bewegung mehr An - ſtand und Wuͤrde, als Kraft und Geiſt: ſo wird ſie den zaͤrtlichen Stellen die voͤlligſte Genuͤge leiſten; aber auch den ſtolzen? Sie wird ſie nicht verderben, ganz gewiß nicht; ſie wird ſie noch genug abſetzen; wir werden eine beleidigte zuͤr - nende Liebhaberinn in ihr erblicken; nur keine Eliſabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hauſe zu ſchicken. Ich meyne alſo, die Aktri - cen, welche die ganze doppelte Eliſabeth uns gleich taͤuſchend zu zeigen vermoͤgend waͤren, duͤrften noch ſeltner ſeyn, als die Eliſabeths ſel - ber; und wir koͤnnen und muͤſſen uns begnuͤgen, wenn eine Haͤlfte nur recht gut geſpielt, und die andere nicht ganz verwahrloſet wird.

Madame Loͤwen hat in der Rolle der Eliſa - beth ſehr gefallen; aber, jene allgemeine An - merkung nunmehr auf ſie anzuwenden, uns mehr die zaͤrtliche Frau, als die ſtolze Mo - narchinn, ſehen und hoͤren laſſen. Ihre Bil - dung, ihre Stimme, ihre beſcheidene Aktion, ließen es nicht anders erwarten; und mich duͤnkt, unſer Vergnuͤgen hat dabey nichts verloren. Denn wenn nothwendig eine die andere verfin - ſtert, wenn es kaum anders ſeyn kann, als daß nicht die Koͤniginn unter der Liebhaberinn, oderB b 3dieſe198dieſe unter jener leiden ſollte: ſo, glaube ich, iſt es zutraͤglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Koͤniginn, als von der Liebhaberinn und der Zaͤrtlichkeit, verloren geht.

Es iſt nicht bloß eigenſinniger Geſchmack, wenn ich ſo urtheile; noch weniger iſt es meine Abſicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Mei - ſterinn in ihrer Kunſt ſeyn wuͤrde, wenn ihr dieſe Rolle auch gar nicht gelungen waͤre. Ich weiß einem Kuͤnſtler, er ſey von meinem oder dem andern Geſchlechte, nur eine einzige Schmei - cheley zu machen; und dieſe beſteht darinn, daß ich annehme, er ſey von aller eiteln Empfindlich - keit entfernt, die Kunſt gehe bey ihm uͤber alles, er hoͤre gern frey und laut uͤber ſich urtheilen, und wolle ſich lieber auch dann und wann falſch, als ſeltner beurtheilet wiſſen. Wer dieſe Schmei - cheley nicht verſteht, bey dem erkenne ich mich gar bald irre, und er iſt es nicht werth, daß wir ihn ſtudieren. Der wahre Virtuoſe glaubt es nicht einmal, daß wir ſeine Vollkommenheit ein - ſehen und empfinden, wenn wir auch noch ſo viel Geſchrey davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefuͤhl fuͤr ſeine Schwaͤche haben. Er ſpottet bey ſich uͤber jede uneingeſchraͤnkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich199

Ich wollte ſagen, daß ſich Gruͤnde anfuͤhren laſſen, warum es beſſer iſt, wenn die Aktrice mehr die zaͤrtliche, als die ſtolze Eliſabeth aus - druͤckt. Stolz muß ſie ſeyn, das iſt ausge - macht: und daß ſie es iſt, das hoͤren wir. Die Frage iſt nur, ob ſie zaͤrtlicher als ſtolz, oder ſtolzer als zaͤrtlich ſcheinen ſoll; ob man, wenn man unter zwey Aktricen zu waͤhlen haͤtte, lieber die zur Eliſabeth nehmen ſollte, welche die be - leidigte Koͤniginn, mit allem drohenden Ernſte, mit allen Schrecken der raͤcheriſchen Majeſtaͤt, auszudruͤcken vermoͤchte, oder die, welcher die eiferſuͤchtige Liebhaberinn, mit allen kraͤnkenden Empfindungen der verſchmaͤhten Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem theuern Frevler zu ver - geben, mit aller Beaͤngſtigung uͤber ſeine Hart - naͤckigkeit, mit allem Jammer uͤber ſeinen Ver - luſt, augemeſſener waͤre? Und ich ſage: dieſe.

Denn erſtlich wird dadurch die Verdopplung des nehmlichen Charakters vermieden. Eſſex iſt ſtolz; und wenn Eliſabeth auch ſtolz ſeyn ſoll, ſo muß ſie es wenigſtens auf eine andere Art ſeyn. Wenn bey dem Grafen die Zaͤrtlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet ſeyn kann, ſo muß bey der Koͤniginn die Zaͤrtlichkeit den Stolz uͤberwiegen. Wenn der Graf ſich eine hoͤhere Mine giebt, als ihm zukoͤmmt; ſo muß die Koͤniginn etwas weniger zu ſeyn ſchei - nen, als ſie iſt. Beide auf Stelzen, mit derNaſe200Naſe nur immer in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um ſie iſt, her - abblicken laſſen, wuͤrde die eckelſte Einfoͤrm gkeit ſeyn. Man muß nicht glauben koͤnnen, daß Eliſabeth, wenn ſie an des Eſſex Stelle waͤre, eben ſo, wie Eſſex, handeln wuͤrde. Der Aus - gang weiſet es, daß ſie nachgebender iſt, als er; ſie muß alſo auch gleich von Anfange nicht ſo hoch daherfahren, als er. Wer ſich durch aͤußere Macht empor zu halten vermag, braucht weniger Anſtrengung, als der es durch eigene innere Kraft thun muß. Wir wiſſen darum doch, daß Eliſabeth die Koͤniginn iſt, wenn ſich gleich Eſſex das koͤniglichere Anſehen giebt.

Zweytens iſt es in dem Trauerſpiele ſchickli - cher, daß die Perſonen in ihren Geſinnungen ſteigen, als daß ſie fallen. Es iſt ſchicklicher, daß ein zaͤrtlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als daß ein ſtolzer von der Zaͤrtlich - keit ſich fortreiſſen laͤßt. Jener ſcheint, ſich zu erheben; dieſer, zu ſinken. Eine ernſthafte Koͤ - niginn, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles ſcheu und zitternd macht, mit einem Tone der Stimme, der allein ihr Gehorſam verſchaffen koͤnnte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird, und nach den kleinen Beduͤrfniſſen ihrer Lei - denſchaft ſeufzet, iſt faſt, faſt laͤcherlich. Eine Ge - liebte hingegen, die ihre Eiferſucht erinnert, daß ſie Koͤniginn iſt, erhebt ſich uͤber ſich ſelbſt, und ihre Schwachheit wird fuͤrchterlich.

Ham -[201]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und zwanzigſtes Stuͤck.

Den ein und dreyßigſten Abend (Mittewochs, den 10ten Junius,) ward das Luſtſpiel der Madame Gottſched, die Hausfran - zoͤſinn, oder die Mammſell, aufgefuͤhret.

Dieſes Stuͤck iſt eines von den ſechs Origina - len, mit welchen 1744, unter Gottſchediſcher Geburthshuͤlfe, Deutſchland im fuͤnften Bande der Schaubuͤhne beſchenkt ward. Man ſagt, es ſey, zur Zeit ſeiner Neuheit, hier und da mit Beyfall geſpielt worden. Man wollte verſu - chen, welchen Beyfall es noch erhalten wuͤrde, und es erhielt den, den es verdienet; gar keinen. Das Teſtament, von eben derſelben Verfaſſerinn, iſt noch ſo etwas; aber die Hausfranzoͤſinn iſt ganz und gar nichts. Noch weniger, als nichts: denn ſie iſt nicht allein niedrig, und platt, und kalt, ſondern noch oben darein ſchmutzig, eckel, und im hoͤchſten Grade beleidigend. Es iſt mirC cunbe -202unbegreiflich, wie eine Dame ſolches Zeug ſchrei - ben koͤnnen. Ich will hoffen, daß man mir den Beweis von dieſem allen ſchenken wird.

Den zwey und dreyßigſten Abend (Don - nerſtags, den 11ten Junius,) ward die Semi - ramis des Herrn von Voltaire wiederhohlt.

Da das Orcheſter bey unſern Schauſpielen gewiſſermaßen die Stelle der alten Choͤre ver - tritt, ſo haben Kenner ſchon laͤngſt gewuͤnſcht, daß die Muſik, welche vor und zwiſchen und nach dem Stuͤcke geſpielt wird, mit dem Inhalte deſſelben mehr uͤbereinſtimmen moͤchte. Herr Scheibe iſt unter den Muſicis derjenige, wel - cher zuerſt hier ein ganz neues Feld fuͤr die Kunſt bemerkte. Da er einſahe, daß, wenn die Ruͤh - rung des Zuſchauers nicht auf eine unangenehme Art geſchwaͤcht und unterbrochen werden ſollte, ein jedes Schauſpiel ſeine eigene muſikaliſche Be - gleitung erfordere: ſo machte er nicht allein be - reits 1738 mit dem Polyeukt und Mithridat den Verſuch, beſondere dieſen Stuͤcken entſpre - chende Symphonien zu verfertigen, welche bey der Geſellſchaft der Neuberinn, hier in Ham - burg, in Leipzig, und anderwaͤrts aufgefuͤhret wurden; ſondern ließ ſich auch in einem beſon - dern Blatte ſeines kritiſchen Muſikus(*)Stuͤck 67. um - ſtaͤndlich daruͤber aus, was uͤberhaupt der Kom -poniſt203poniſt zu beobachten habe, der in dieſer neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle.

〟Alle Symphonien,

ſagt er,

die zu einem Schauſpiele verfertiget werden, ſollen ſich auf den Inhalt und die Beſchaffenheit deſſelben be - ziehen. Es gehoͤren alſo zu den Trauerſpielen eine andere Art von Symphonien, als zu den Luſtſpielen. So verſchieden die Tragoͤdien und Komoͤdien unter ſich ſelbſt ſind, ſo verſchieden muß auch die dazu gehoͤrige Muſik ſeyn. Ins - beſondere aber hat man auch wegen der verſchie - denen Abtheilungen der Muſik in den Schau - ſpielen auf die Beſchaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abtheilung gehoͤrt, zu ſehen. Daher muß die Anfangsſymphonie ſich auf den erſten Aufzug des Stuͤckes beziehen; die Sym - phonien aber, die zwiſchen den Aufzuͤgen vor - kommen, muͤſſen Theils mit dem Schluſſe des vorhergehenden Aufzuges, Theils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges uͤbereinkom - men; ſo wie die letzte Symphonie dem Schluſſe des letzten Aufzuges gemaͤß ſeyn muß.
〟Alle Symphonien zu Trauerſpielen muͤſſen praͤchtig, feurig und geiſtreich geſetzt ſeyn. In - ſonderheit aber hat man den Charakter der Hauptperſonen, und den Hauptinhalt zu bemer - ken, und darnach ſeine Erſindung einzurichten. Dieſes iſt von keiner gemeinen Folge. Wir fin - den Tragoͤdien, da bald dieſe, bald jene Tu -C c 2gend204gend eines Helden, oder einer Heldinn, der Stoff geweſen iſt. Man halte einmal den Po - lyeukt gegen den Brutus, oder auch die Alzire gegen den Mithridat: ſo wird man gleich ſehen, daß ſich keinesweges einerley Muſik dazu ſchicket. Ein Trauerſpiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden, oder die Heldinn, in allen Zufaͤllen begleiten, erfordert auch ſolche Symphonien, die gewiſſermaßen das Praͤchtige und Ernſthafte der Kirchenmuſik beweiſen. Wenn aber die Großmuth, die Tapferkeit, oder die Standhaftigkeit in allerley Ungluͤcksfaͤllen im Trauerſpiele herrſchen: ſo muß auch die Muſik weit feuriger und lebhafter ſeyn. Von dieſer letztern Art ſind die Trauerſpiele Cato, Brutus, Mithridat. Alzire aber und Zaire erfordern hingegen ſchon eine etwas veraͤnderte Muſik, weil die Begebenheiten und die Cha - raktere in dieſen Stuͤcken von einer andern Be - ſchaffenheit ſind, und mehr Veraͤnderung der Affekten zeigen.
〟Eben ſo muͤſſen die Komoͤdienſymphonien uͤberhaupt frey, fließend, und zuweilen auch ſcherzhaft ſeyn; insbeſondere aber ſich nach dem eigenthuͤmlichen Inhalte einer jeden Komoͤdie richten. So wie die Komoͤdie bald ernſthafter, bald verliebter, bald ſcherzhafter iſt, ſo muß auch die Symphonie beſchaffen ſeyn. Z. E. die Komoͤdien, der Falke und die beyderſeitige Un -be -205beſtaͤndigkeit, wuͤrden ganz andere Symphonien erfordern, als der verlohrne Sohn. So wuͤr - den ſich auch nicht die Symphonien, die ſich zum Geitzigen, oder zum Kranken in der Einbildung, ſehr wohl ſchicken moͤchten, zum Unentſchluͤßi - gen, oder zum Zerſtreuten, ſchicken. Jene muͤſſen ſchon luſtiger und ſcherzhafter ſeyn, dieſe aber verdrießlicher und ernſthafter.
〟Die Anfangsſymphonie muß ſich auf das ganze Stuͤck beziehen; zugleich aber muß ſie auch den Anfang deſſelben vorbereiten, und folglich mit dem erſten Auftritte uͤbereinkommen. Sie kann aus zwey oder drey Saͤtzen beſtehen, ſo wie es der Komponiſt fuͤr gut findet. Die Symphonien zwiſchen den Aufzuͤgen aber, weil ſie ſich nach dem Schluſſe des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten ſollen, werden am natuͤrlichſten zwey Saͤtze haben koͤnnen. Im erſten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweyten aber mehr auf das Folgende ſehen. Doch iſt ſolches nur allein noͤthig, wenn die Affekten einander allzu ſehr entgegen ſind; ſonſt kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehoͤrige Laͤnge erhaͤlt, damit die Beduͤrfniſſe der Vorſtellung, als Lichtputzen, Umklei - den u. ſ. w. indeß beſorget werden koͤnnen. Die Schlußſymphonie endlich muß mit dem Schluſſe des Schauſpiels auf das genaueſteC c 3uͤber -206uͤbereinſtimmen, um die Begebenheit den Zu - ſchauern deſto nachdruͤcklicher zu machen. Was iſt laͤcherlicher, als wenn der Held auf eine un - gluͤckliche Weiſe ſein Leben verlohren hat, und es folgt eine luſtige und lebhafte Symphonie darauf? Und was iſt abgeſchmackter, als wenn ſich die Komoͤdie auf eine froͤhliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Sym - phonie darauf?〟
〟Da uͤbrigens die Muſik zu den Schauſpielen bloß allein aus Inſtrumenten beſtehet, ſo iſt eine Veraͤnderung derſelben ſehr noͤthig, damit die Zuhoͤrer deſto gewiſſer in der Aufmerkſamkeit er - halten werden, die ſie vielleicht verlieren moͤch - ten, wenn ſie immer einerley Inſtrumente hoͤren ſollten. Es iſt aber beynahe eine Nothwendig - keit, daß die Anfangsſymphonie ſehr ſtark und vollſtaͤndig iſt, und alſo deſto nachdruͤcklicher ins Gehoͤr falle. Die Veraͤnderung der Inſtru - menten muß alſo vornehmlich in den Zwiſchen - ſymphonien erſcheinen. Man muß aber wohl urtheilen, welche Inſtrumente ſich am beſten zur Sache ſchicken, und womit man dasjenige am gewiſſeſten ausdruͤcken kann, was man aus - druͤcken ſoll. Es muß alſo auch hier eine ver - nuͤnftige Wahl getroffen werden, wenn man ſeine Abſicht geſchickt und ſicher erreichen will. Sonderlich aber iſt es nicht allzu gut, wenn man in zwey auf einander folgenden Zwiſchenſympho -nien207nien einerley Veraͤnderung der Inſtrumente an - wendet. Es iſt allemal beſſer und angenehmer, wenn man dieſen Uebelſtand vermeidet.

Dieſes ſind die wichtigſten Regeln, um auch hier die Tonkunſt und Poeſie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe ſie lieber mit den Worten eines Tonkuͤnſtlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der ſich die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunſtrichter bekommen nicht ſelten von den Muſicis den Vorwurf, daß ſie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunſt zu leiſten im Stande ſey. Die mehreſten muͤſſen es von ihren Kunſtverwandten erſt hoͤren, daß die Sache zu bewerkſtelligen iſt, ehe ſie die geringſte Aufmerkſamkeit darauf wen - den.

Zwar die Regeln ſelbſt waren leicht zu machen; ſie lehren nur was geſchehen ſoll, ohne zu ſagen, wie es geſchehen kann. Der Ausdruck der Lei - denſchaften, auf welchen alles dabey ankoͤmmt, iſt noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es ſchon Tonkuͤnſtler giebt und gegeben, die bis zur Bewunderung darinn gluͤcklich ſind, ſo man - gelt es doch unſtreitig noch an einem Philoſophen, der ihnen die Wege abgelernt, und allgemeine Grundſaͤtze aus ihren Beyſpielen hergeleitet haͤtte. Aber je haͤufiger dieſe Beyſpiele werden, je mehr ſich die Materialien zu dieſer Herleitungſam -208ſammeln, deſto eher koͤnnen wir ſie uns verſpre - chen; und ich muͤßte mich ſehr irren, wenn nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkuͤnſtler in dergleichen dramatiſchen Sympho - nien geſchehen koͤnnte. In der Vokalmuſik hilft der Text dem Ausdrucke allzuſehr nach; der ſchwaͤchſte und ſchwankendſte wird durch die Worte beſtimmt und verſtaͤrkt: in der Inſtru - mentalmuſik hingegen faͤllt dieſe Huͤlfe weg, und ſie ſagt gar nichts, wenn ſie das, was ſie ſagen will, nicht rechtſchaffen ſagt. Der Kuͤnſtler wird alſo hier ſeine aͤußerſte Staͤrke anwenden muͤſſen; er wird unter den verſchiedenen Folgen von Toͤnen, die eine Empfindung ausdruͤcken koͤnnen, nur im - mer diejenigen waͤhlen, die ſie am deutlichſten aus - druͤcken; wir werden dieſe oͤfterer hoͤren, wir wer - den ſie mit einander oͤfterer vergleichen, und durch die Bemerkung deſſen, was ſie beſtaͤndig gemein ha - ben, hinter das Geheimniß des Ausdrucks kom̃en.

Welchen Zuwachs unſer Vergnuͤgen im Theater da - durch erhalten wuͤrde, begreift jeder von ſelbſt. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unſers Theaters, hat man ſich daher nicht nur uͤberhaupt bemuͤht, das Orcheſter in einen beſſern Stand zu ſetzen, ſondern es haben ſich auch wuͤrdige Maͤnner bereit finden laſſen, die Hand an das Werk zu legen, und Muſtere in dieſer Art von Kompoſition zu machen, die uͤber alle Erwar - tung ausgefallen ſind. Schon zu Cronegks Oliut und Sophronia hatte Herr Hertel eigue Symphonien ver - fertiget; und bey der zweyten Auffuͤhrung der Semira - mis wurden dergleichen, von dem Herrn Agricola in Berlin, aufgefuͤhrt.

Ham -[209]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und zwanzigſtes Stuͤck.

Ich will es verſuchen, einen Begriff von der Muſik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen; denn je lebhafter und feiner ein ſinnliches Ver - gnuͤgen iſt, deſto weniger laͤßt es ſich mit Wor - ten beſchreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobſpruͤche, in unbeſtimmte Ausrufungen, in kreiſchende Bewunderung da - mit verfallen, und dieſe ſind eben ſo ununterrich - tend fuͤr den Liebhaber, als eckelhaft fuͤr den Virtuoſen, den man zu ehren vermeinet; ſon - dern bloß nach den Abſichten, die ihr Meiſter dabey gehabt, und nach den Mitteln uͤberhaupt, deren er ſich, zu Erreichung derſelben, bedienen wollen.

Die Anfangsſymphonie beſtehet aus drey Saͤtzen. Der erſte Satz iſt ein Largo, nebſt den Violinen, mit Hoboen und Floͤten; derD dGrund -210Grundbaß iſt durch Fagotte verſtaͤrkt. Sein Ausdruck iſt ernſthaft; manchmal gar wild und ſtuͤrmiſch; der Zuhoͤrer ſoll vermuthen, daß er ein Schauſpiel ungefehr dieſes Inhalts zu er - warten habe. Doch nicht dieſes Inhalts allein; Zaͤrtlichkeit, Reue, Gewiſſensangſt, Unter - werfung, nehmen ihr Theil daran; und der zweyte Satz, ein Andante mit gedaͤmpften Vio - linen und concertirenden Fagotten, beſchaͤftiget ſich alſo mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermiſchen ſich die beweg - lichen Tonwendungen mit ſtolzen; denn die Buͤhne eroͤfnet ſich mit mehr als gewoͤhnlicher Pracht; Semiramis nahet ſich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie dieſe Herrlichkeit das Auge ſpuͤren muß, ſoll ſie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter iſt Allegretto, und die Inſtru - mente ſind wie in dem erſten, außer daß die Ho - boen, Floͤten und Fagotte mit einander einige beſondere kleinere Saͤtze haben.

Die Muſik zwiſchen den Akten hat durch - gaͤngig nur einen einzigen Satz; deſſen Ausdruck ſich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweyten, der ſich auf das Folgende bezoͤge, ſchei - net Herr Agricola alſo nicht zu billigen. Ich wuͤrde hierinn ſehr ſeines Geſchmacks ſeyn. Denn die Muſik ſoll dem Dichter nichts verder - ben; der tragiſche Dichter liebt das Unerwar - tete, das Ueberraſchende, mehr als ein anderer;er211er laͤßt ſeinen Gang nicht gern voraus verrathen; und die Muſik wuͤrde ihn verrathen, wenn ſie die folgende Leidenſchaft angeben wollte. Mit der Anfangsſymphonie iſt es ein anders; ſie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch ſie nur den allgemeinen Ton des Stuͤcks angeben, und nicht ſtaͤrker, nicht be - ſtimmter, als ihn ungefehr der Titel angiebt. Man darf dem Zuhoͤrer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn fuͤhren will, aber die verſchiede - nen Wege, auf welchen er dahin gelangen ſoll, muͤſſen ihm gaͤnzlich verborgen bleiben. Dieſer Grund wider einen zweyten Satz zwiſchen den Akten, iſt aus dem Vortheile des Dichters her - genommen; und er wird durch einen andern, der ſich aus den Schranken der Muſik ergiebt, beſtaͤrkt. Denn geſetzt, daß die Leidenſchaften, welche in zwey auf einander folgenden Akten herrſchen, einander ganz entgegen waͤren, ſo wuͤrden nothwendig auch die beiden Saͤtze von eben ſo widriger Beſchaffenheit ſeyn muͤſſen. Nun begreife ich ſehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenſchaft zu der ihr entgegen - ſtehenden, zu ihrem voͤlligen Widerſpiele, ohne unangenehme Gewaltſamkeit, bringen kann; er thut es nach und nach, gemach und gemach; er ſteiget die ganze Leiter von Sproſſe zu Sproſſe, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringſten Sprung zu thun. Aber kann dieſesD d 2auch212auch der Muſikus? Es ſey, daß er es in Einem Stuͤcke, von der erforderlichen Laͤnge, eben ſo wohl thun koͤnne; aber in zwey beſondern, von einander gaͤnzlich abgeſetzten Stuͤcken, muß der Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stuͤr - miſche, aus dem Zaͤrtlichen in das Grauſame, nothwendig ſehr merklich ſeyn, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder ploͤtzliche Uebergang aus einem Aeußerſten in das andere, aus der Finſterniß in das Licht, aus der Kaͤlte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt zerſchmelzen wir in Wehmuth, und auf einmal ſollen wir raſen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, fuͤr den unſere Seele ganz mit - leidiges Gefuͤhl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Muſik nicht beſtimmen; ſie laͤßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unſerer Em - pfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie im Traume; und alle dieſe unordentliche Em - pfindungen ſind mehr abmattend, als ergoͤtzend. Die Poeſie hingegen laͤßt uns den Faden unſerer Empfindungen nie verlieren; hier wiſſen wir nicht allein, was wir empfinden ſollen, ſondern auch, warum wir es empfinden ſollen; und nur dieſes Warum macht die ploͤtzlichſten Uebergaͤnge nicht allein ertraͤglich, ſondern auch angenehm. In der That iſt dieſe Motivirung der ploͤtzli - chen Uebergaͤnge einer der groͤßten Vortheile,den213den die Muſik aus der Vereinigung mit der Poeſie ziehet; ja vielleicht der allergroͤßte. Denn es iſt bey weitem nicht ſo nothwendig, die allgemeinen unbeſtim̃ten Empfindungen der Mu - ſik, z. E. der Freude, durch Worte auf einen gewiſſen einzeln Gegenſtand der Freude einzu - ſchraͤnken, weil auch jene dunkeln ſchwanken Empfindungen noch immer ſehr angenehm ſind; als nothwendig es iſt, abſtechende widerſpre - chende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewaͤhren koͤnnen, zu verbinden, um ſie durch dieſe Verbindung in ein Ganzes zu verweben, in welchem man nicht allein Mannich - faltiges, ſondern auch Uebereinſtimmung des Mannichfaltigen bemerke. Nun aber wuͤrde, bey dem doppelten Satze zwiſchen den Akten ei - nes Schauſpiels, dieſe Verbindung erſten hinten nach kommen; wir wuͤrden es erſt hinten nach erfahren, warum wir aus einer Leidenſchaft in eine ganz entgegen geſetzte uͤberſpringen muͤſſen: und das iſt fuͤr die Muſik ſo gut, als erfuͤhren wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal ſeine uͤble Wirkung gethan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einſehen, daß er uns nicht haͤtte beleidigen ſollen. Man glaube aber nicht, daß ſo nach uͤberhaupt alle Symphonien verwerflich ſeyn muͤßten, weil alle aus mehrern Saͤtzen beſtehen, die von einander unterſchieden ſind, und deren jeder etwas andersD d 3aus -214ausdruͤckt, als der andere. Sie druͤcken etwas anders aus, aber nicht etwas verſchiednes; oder vielmehr, ſie druͤcken das nehmliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verſchiednen Saͤtzen verſchiedne, ſich widerſprechende Leidenſchaften ausdruͤckt, iſt ein muſikaliſches Ungeheuer; in Einer Symphonie muß nur Eine Leidenſchaft herrſchen, und jeder beſondere Satz muß eben dieſelbe Leidenſchaft, bloß mit verſchiednen Abaͤnderungen, es ſey nun nach den Graden ihrer Staͤrke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherley Vermiſchungen mit an - dern verwandten Leidenſchaften, ertoͤnen laſſen, und in uns zu erwecken ſuchen. Die Anfangs - ſymphonie war vollkommen von dieſer Beſchaf - fenheit; das Ungeſtuͤme des erſten Satzes zer - fließt in das Klagende des zweyten, welches ſich in dem dritten zu einer Art von feyerlichen Wuͤrde erhebet. Ein Tonkuͤnſtler, der ſich in ſeinen Sym - phonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verſchiednen Affekt anzuheben, und auch dieſen fahren laͤßt, um ſich in einen dritten eben ſo verſchiednen zu werfen; kann viel Kunſt, ohne Nutzen, verſchwendet haben, kann uͤber - raſchen, kann betaͤuben, kann kitzeln, nur ruͤh - ren kann er nicht. Wer mit unſerm Herzen ſpre - chen, und ſympathetiſche Regungen in ihm er - wecken will, muß eben ſowohl Zuſammenhangbe -215beobachten, als wer unſern Verſtand zu unter - halten und zu belehren denkt. Ohne Zuſammen - hang, ohne die innigſte Verbindung aller und jeder Theile, iſt die beſte Muſik ein eitler Sand - haufen, der keines dauerhaften Eindruckes faͤhig iſt; nur der Zuſammenhang macht ſie zu einem feſten Marmor, an dem ſich die Hand des Kuͤnſt - lers verewigen kann.

Der Satz nach dem erſten Akte ſucht alſo le - diglich die Beſorgniſſe der Semiramis zu unter - halten, denen der Dichter dieſen Akt gewidmet hat; Beſorgniſſe, die noch mit einiger Hofnung ver - miſcht ſind; ein Andante meſto, bloß mit ge - daͤmpften Violinen und Bratſche.

In dem zweyten Akte ſpielt Aſſur eine zu wich - tige Rolle, als daß er nicht den Ausdruck der darauf folgenden Muſik beſtimmen ſollte. Eine Allegro aſſai aus dem G dur, mit Waldhoͤrnern, durch Floͤten und Hoboen, auch den Grundbaß mitſpielende Fagotte verſtaͤrkt, druckt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch ſich wieder erhohlenden Stolz dieſes treu - loſen und herrſchſuͤchtigen Miniſters aus.

In dem dritten Akte erſcheint das Geſpenſt. Ich habe, bey Gelegenheit der erſten Vorſtel - lung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire dieſe Erſcheinung auf die Anweſenden machen laͤßt. Aber der Tonkuͤnſtler hat ſich, wie billig, daran nicht gekehrt; er hohlt es nach,was216was der Dichter unterlaſſen hat, und ein Allegro aus dem E moll, mit der nehmlichen Inſtrumentenbe - ſetzung des vorhergehenden, nur daß E-Hoͤrner mit G-Hoͤrnern verſchiedentlich abwechſeln, ſchildert kein ſtummes und traͤges Erſtaunen, ſondern die wahre wilde Beſtuͤrzung, welche eine dergleichen Erſcheinung unter dem Volke verurſachen muß.

Die Beaͤngſtigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unſer Mitleid; wir betauern die Reuende, ſo ſchuldig wir auch die Verbrecherinn wiſſen. Betauern und Mitleid laͤßt alſo auch die Muſik ertoͤnen; in einem Larghetto aus dem A moll, mit gedaͤmpften Violinen und Bratſche, und einer concertirenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fuͤnften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, naͤchſt den Violinen und der Bratſche, mit Hoͤrnern, mit verſtaͤrkenden Hoboen und Floͤten, und mit Fagotten, die mit dem Grundbaſſe gehen. Der Ausdruck iſt den Perſonen des Trauerſpiels angemeſſene, und ins Erhabene gezogene Betruͤbniß, mit einiger Ruͤck - ſicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde eben ſo wuͤrdig als maͤch - tig erhebt.

Die Abſichten eines Tonkuͤnſtlers merken, heißt ihm zugeſtehen, daß er ſie erreicht hat. Sein Werk ſoll kein Raͤthſel ſeyn, deſſen Deutung eben ſo muͤhſam als ſchwankend iſt. Was ein geſundes Ohr am geſchwinde - ſten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er ſa - gen wollen; ſein Lob waͤchſt mit ſeiner Verſtaͤndlichkeit; je leichter, je allgemeiner dieſe, deſto verdienter je - nes. Es iſt kein Ruhm fuͤr mich, daß ich recht gehoͤrt habe; aber fuͤr den Hrn. Agricola iſt es ein ſo viel groͤſ - ſerer, daß in dieſer ſeine Compoſition niemand etwas anders gehoͤrt hat, als ich.

Ham -[217]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und zwanzigſtes Stuͤck.

Den drey und dreyßigſten Abend (Freytags, den 12ten Junius,) ward die Nanine wiederholt, und den Beſchluß machte, der Bauer mit der Erbſchaft, aus dem Franzoͤ - ſiſchen des Marivaux.

Dieſes kleine Stuͤck iſt hier Waare fuͤr den Platz, und macht daher allezeit viel Vergnuͤgen. Juͤrge koͤmmt aus der Stadt zuruͤck, wo er einen reichen Bruder begraben laſſen, von dem er hun - dert tauſend Mark geerbt. Gluͤck aͤndert Stand und Sitten; nun will er leben wie vornehme Leute leben, erhebt ſeine Liſe zur Madame, fin - det geſchwind fuͤr ſeinen Hanns und fuͤr ſeine Grete eine anſehnliche Partie, alles iſt richtig, aber der hinkende Bothe koͤmmt nach. Der Makler, bey dem die hundert tauſend Mark ge - ſtanden, hat Banquerot gemacht, Juͤrge iſt wieder nichts wie Juͤrge, Hanns bekoͤmmt denE eKorb,218Korb, Grete bleibt ſitzen, und der Schluß wuͤrde traurig genug ſeyn, wenn das Gluͤck mehr nehmen koͤnnte, als es gegeben hat; ge - ſund und vergnuͤgt waren ſie, geſund und ver - gnuͤgt bleiben ſie.

Dieſe Fabel haͤtte jeder erfinden koͤnnen; aber wenige wuͤrden ſie ſo unterhaltend zu machen ge - wußt haben, als Marivaux. Die drolligſte Laune, der ſchnurrigſte Witz, die ſchalkiſchſte Satire, laſſen uns vor Lachen kaum zu uns ſelbſt kommen; und die naive Bauernſprache giebt allem eine ganz eigene Wuͤrze. Die Ueberſetzung iſt von Kriegern, der das franzoͤſiſche Patois in den hieſigen platten Dialekt meiſterhaft zu uͤbertragen gewußt hat. Es iſt nur Schade, daß verſchiedene Stellen hoͤchſt fehlerhaft und verſtuͤmmelt abgedruckt werden. Einige muͤßten nothwendig in der Vorſtellung berichtiget und ergaͤnzt werden. Z. E. folgende, gleich in der erſten Scene.

Juͤrge,

He, he, he! Giv mie doch fief Schil - link kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dah - lers.

Liſe.

He, he, he! Segge doch, heſt du Schrul - len med diene fief Schillink kleen Geld? wat wiſt du damed maaken?

Juͤrge.

He, he, he, he! Giv mie fief Schil - link kleen Geld, ſeg ik die.

Liſe.

Woto denn, Hans Narr?

Juͤrge.219
Juͤrge.

Foͤr duͤſſen Jungen, de mie mienen Buͤndel op dee Reiſe bed in unſe Doͤrp dragen hed, un ik buͤn ganß licht un ſacht hergahn.

Liſe.

Buͤſt du to Foote hergahn?

Juͤrge.

Ja. Wielt’t veel cummoder is.

Liſe.

Da heſt du een Maark.

Juͤrge.

Dat is doch noch reſuabel. Wo veel maakt’t? So veel is dat. Een Maark hed ſe mie dahn: da, da is’t. Nehmt hen; ſo is’t richdig.

Liſe.

Un du verdeihſt fief Schillink an een Jun - gen, de die dat Pak dragen hed?

Juͤrge.

Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven.

Valentin.

Sollen die fuͤnf Schilling fuͤr mich, Herr Juͤrge?

Juͤrge.

Ja, mien Fruͤnd!

Valentin.

Fuͤnf Schilling? ein reicher Erbe! fuͤnf Schillinge? ein Mann von ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele?

Juͤrge.

O! et kumt mie even darop nich an, jy doͤrft’t man ſeggen. Maake Fro, ſmiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man ſo.

Wie iſt das? Juͤrge iſt zu Fuße gegangen, weil es kommoder iſt? Er fordert fuͤnf Schillin - ge, und ſeine Frau giebt ihm ein Mark, die ihm fuͤnf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau ſoll dem Jungen noch einen Schilling hin - ſchmeiſſen? warum thut er es nicht ſelbſt? Von dem Marke blieb ihm ja noch uͤbrig. Ohne dasE e 2Fran -220Franzoͤſiſche wird man ſich ſchwerlich aus dem Hanfe finden. Juͤrge war nicht zu Fuße ge - kommen, ſondern mit der Kutſche: und darauf geht ſein 〟Wielt’t veel cummoder is. Aber die Kutſche gieng vieleicht bey ſeinem Dorfe nur vorbey, und von da, wo er abſtieg, ließ er ſich bis zu ſeinem Hauſe das Buͤndel nachtragen. Dafuͤr giebt er dem Jungen die fuͤnf Schillinge; das Mark giebt ihm nicht die Frau, ſondern das hat er fuͤr die Kutſche bezahlen muͤſſen, und er erzehlt ihr nur, wie geſchwind er mit dem Kutſcher daruͤber fertig geworden. (*)Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq ſols de monnoye, je n’ons que de groſſes piéces. Claudine. (le contrefaiſant) Eh! eh! eh! di donc, Nicaiſe, avec tes cinq ſols de monnoye, qu’eſt-ce que t’en veux faire? Blaise. Eh! eh! eh! baille moi cinq ſols de monnoye, te dis-je. Claudine. Pourquoi donc, Nicodeme? Blasie. Pour ce garçong qui apporte mon paquet depis la voiture jusqu’à cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et à mon aiſe. Claudine. T’es venu dans la voiture? Blaise. Oui, parce que cela eſt plus com - mode. Claudine. T’a baillé un écu? Blaise. Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un écu, ce m’a-t-onfait

Den221

Den vier und dreyßigſten Abend (Montags, den 29ſten Junius,) ward der Zerſtreute des Regnard aufgefuͤhrt

Ich glaube ſchwerlich, daß unſere Großvaͤter den deutſchen Titel dieſes Stuͤcks verſtanden haͤt - ten. Noch Schlegel uͤberſetzte Diſtrait durch Traͤumer. Zerſtreut ſeyn, ein Zerſtreuter, iſt lediglich nach der Analogie des Franzoͤſiſchen ge - macht. Wir wollen nicht unterſuchen, wer das Recht hatte, dieſe Worte zu machen; ſondern wir wollen ſie brauchen, nachdem ſie einmal ge - macht ſind. Man verſteht ſie nunmehr, und das iſt genug.

Regnard brachte ſeinen Zerſtreuten im Jahre 1697 aufs Theater; und er fand nicht den ge - ringſten Beyfall. Aber vier und dreyßig Jahr darauf, als ihn die Komoͤdianten wieder vor - ſuchten, fand er einen ſo viel groͤßern. Wel - ches Publikum hatte nun Recht? Vielleicht hat - ten ſie beyde nicht Unrecht. Jenes ſtrenge Publi - kum verwarf das Stuͤck als eine gute foͤrmliche Komoͤdie, wofuͤr es der Dichter ohne ZweifelE e 3aus -(*)fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ça. Claudine. Et tu dépenſes cinq ſols en porteurs de paquets? Blaise. Oui, par maniere de recreation. Arlequis. Eſt-ce pour moi les cinq ſols; Monſieur Blaiſe? Blaise. Oui, mon ami. &c. 222ausgab. Dieſes geneigtere nahm es fuͤr nichts mehr auf, als es iſt; fuͤr eine Farce, fuͤr ein Poſſenſpiel, das zu lachen machen ſoll; man lachte, und war dankbar. Jenes Publikum dachte:

non ſatis eſt riſu diducere rictum Auditoris

und dieſes:

& eſt quædam tamen hic quoque virtus.

Auſſer der Verſification, die noch dazu ſehr fehlerhaft und nachlaͤßig iſt, kann dem Regnard dieſes Luſtſpiel nicht viel Muͤhe gemacht haben. Den Charakter ſeiner Hauptperſon fand er bey dem La Bruyere voͤllig entworfen. Er hatte nichts zu thun, als die vornehmſten Zuͤge Theils in Handlung zu bringen, Theils erzehlen zu laſ - ſen. Was er von dem Seinigen hinzufuͤgte, will nicht viel ſagen.

Wider dieſes Urtheil iſt nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralitaͤt faſſen will, deſto mehr. Ein Zerſtreuter ſoll kein Vowurf fuͤr die Komoͤdie ſeyn. Warum nicht? Zerſtreut ſeyn, ſagt man, ſey eine Krankheit, ein Ungluͤck; und kein Laſter. Ein Zerſtreuter verdiene eben ſo wenig ausgelacht zu werden, als einer der Kopfſchmerzen hat. Die Komoͤdie muͤſſe ſich nur mit Fehlern abgeben, die ſich verbeſſern laſ -ſen.223ſen. Wer aber von Natur zerſtreut ſey, der laſſe ſich durch Spoͤttereyen eben ſo wenig beſſern, als ein Hinkender.

Aber iſt es denn wahr, daß die Zerſtreuung ein Gebrechen der Seele iſt, dem unſere beſten Bemuͤhungen nicht abhelfen koͤnnen? Sollte ſie wirklich mehr natuͤrliche Verwahrloſung, als uͤble Angewohnheit ſeyn? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meiſter unſerer Auf - merkſamkeit? Haben wir es nicht in unſerer Ge - walt, ſie anzuſtrengen, ſie abzuziehen, wie wir wollen? Und was iſt die Zerſtreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unſerer Aufmerkſam - keit? Der Zerſtreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, ſeinen itzigen ſinnlichen Ein - druͤcken zu Folge, denken ſollte. Seine Seele iſt nicht entſchlummert, nicht betaͤubt, nicht auſſer Thaͤtigkeit geſetzt; ſie iſt nur abweſend, ſie iſt nur anderwaͤrts thaͤtig. Aber ſo gut ſie dort ſeyn kann, ſo gut kann ſie auch hier ſeyn; es iſt ihr natuͤrlicher Beruff, bey den ſinnlichen Ver - aͤnderungen ihres Koͤrpers gegenwaͤrtig zu ſeyn; es koſtet Muͤhe, ſie dieſes Beruffs zu entwoͤhnen, und es ſollte unmoͤglich ſeyn, ihr ihn wieder ge - laͤufig zu machen?

Doch es ſey; die Zerſtreuung ſey unheilbar: wo ſteht es denn geſchrieben, daß wir in der Ko - moͤdie nur uͤber moraliſche Fehler, nur uͤber ver - beſſerliche Untugenden lachen ſollen? Jede Un -ge -224gereimtheit, jeder Kontraſt von Mangel und Realitaͤt, iſt laͤcherlich. Aber lachen und ver - lachen iſt ſehr weit auseinander. Wir koͤnnen uͤber einen Menſchen lachen, bey Gelegenheit ſeiner lachen, ohne ihn im geringſten zu verla - chen. So unſtreitig, ſo bekannt dieſer Unter - ſchied iſt, ſo ſind doch alle Chicanen, welche noch neuerlich Rouſſeau gegen den Nutzen der Komoͤdie gemacht hat, nur daher entſtanden, weil er ihn nicht gehoͤrig in Erwaͤgung gezogen. Moliere, ſagt er z. E., macht uns uͤber den Miſanthropen zu lachen, und doch iſt der Mi - ſanthrop der ehrliche Mann des Stuͤcks; Mo - liere beweiſet ſich alſo als einen Feind der Tu - gend, indem er den Tugendhaften veraͤchtlich macht. Nicht doch; der Miſanthrop wird nicht veraͤchtlich, er bleibt wer er iſt, und das Lachen, welches aus den Situationen entſpringt, in die ihn der Dichter ſetzt, benimmt ihm von unſerer Hochachtung nicht das geringſte. Der Zer - ſtreute gleichfalls; wir lachen uͤber ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir ſchaͤtzen ſeine uͤbrige guten Eigenſchaften, wie wir ſie ſchaͤtzen ſollen; ja ohne ſie wuͤrden wir nicht einmal uͤber ſeine Zerſtreuung lachen koͤnnen. Man gebe dieſe Zerſtreuung einem boshaften, nichtswuͤr - digen Manne, und ſehe, ob ſie noch laͤcherlich ſeyn wird? Widrig, eckel, haͤßlich wird ſie ſeyn; nicht laͤcherlich.

Ham -[225]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und zwanzigſtes Stuͤck.

Die Komoͤdie will durch Lachen beſſern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, uͤber die ſie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen ſich dieſe laͤcherliche Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen ſelbſt; in der Uebung unſerer Faͤhigkeit das Laͤcherliche zu bemerken; es unter allen Be - maͤntelungen der Leidenſchaft und der Mode, es in allen Vermiſchungen mit noch ſchlimmern oder mit guten Eigenſchaften, ſogar in den Runzeln des feyerlichen Ernſtes, leicht und geſchwind zu bemerken. Zugegeben, daß der Geitzige des Moliere nie einen Geitzigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebeſſert habe; ein - geraͤumet, daß das Lachen dieſe Thoren gar nicht beſſern koͤnne: deſto ſchlimmer fuͤr ſie, aber nicht fuͤr die Komoͤdie. Ihr iſt genug, wenn ſieF fkeine226keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Geſunden in ihrer Geſundheit zu befeſtigen. Auch dem Freygebigen iſt der Geitzige lehrreich; auch dem, der gar nicht ſpielt, iſt der Spieler unterrichtend; die Thorheiten, die ſie nicht ha - ben, haben andere, mit welchen ſie leben muͤſ - ſen; es iſt erſprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Colliſion kommen kann; er - ſprießlich, ſich wieder alle Eindruͤcke des Bey - ſpiels zu verwahren. Ein Preſervatif iſt auch eine ſchaͤtzbare Arzeney; und die ganze Moral hat kein kraͤftigers, wirkſamers, als das Laͤ - cherliche.

Das Raͤthſel, oder, Was den Damen am meiſten gefaͤllt, ein Luſtſpiel in einem Aufzuge von Herr Loͤwen, machte dieſen Abend den Be - ſchluß.

Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzeh - lungen und Maͤhrchen geſchrieben haͤtten, ſo wuͤrde das franzoͤſiſche Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren muͤſſen. Am mei - ſten hat ſich die komiſche Oper aus dieſen Quel - len bereichert. Des letztern Ce qui plait aux Dames gab den Stoff zu einem mit Arien un - termengten Luſtſpiele von vier Aufzuͤgen, welches, unter dem Titel La Feé Urgele, von den ita - lieniſchen Komoͤdianten zu Paris, im December17652271765 aufgefuͤhret ward. Herr Loͤwen ſcheinet nicht ſowohl dieſes Stuͤck, als die Erzehlung des Voltaire ſelbſt, vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bey Beurtheilung einer Bildſaͤule mit auf den Marmorblock zu ſehen hat, aus wel - chem ſie gemacht worden; wenn die primitive Form dieſes Blockes es zu entſchuldigen ver - mag, daß dieſes oder jenes Glied zu kurz, dieſe oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: ſo iſt die Kritik auf einmal abgewieſen, die den Herrn Loͤwen wegen der Einrichtung ſeines Stuͤcks in Anſpruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmaͤhrchen etwas Wahrſcheinli - chers, wer da kann! Herr Loͤwen ſelbſt giebt ſein Raͤthſel fuͤr nichts anders, als fuͤr eine kleine Platſanterie, die auf dem Theater gefal - len kann, wenn ſie gut geſpielt wird. Ver - wandlung und Tanz und Geſang concurriren zu dieſer Abſicht; und es waͤre bloßer Eigenſinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo iſt zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur duͤnkt mich, daß ein Waffen - traͤger oder Stallmeiſter, der das Abgeſchmackte und Wahnſinnige der irrenden Ritterſchaft ein - ſieht, ſich nicht ſo recht in eine Fabel paſſen will, die ſich auf die Wirklichkeit der Zauberey gruͤn - det, und ritterliche Abentheuer als ruͤhmliche Handlungen eines vernuͤnftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie geſagt, es iſtF f 2eine228eine Plaiſanterie; und Plaiſanteriern muß man nicht zergliedern wollen.

Den fuͤnf und dreyßigſten Abend (Mitte - wochs, den 1ſten Julius,) ward, in Gegen - wart Sr. Koͤnigl. Majeſtaͤt von Daͤnemark, die Rodogune des Peter Corneille aufgefuͤhrt.

Corneille bekannte, daß er ſich auf dieſes Trauerſpiel das meiſte einbilde, daß er es weit uͤber ſeinen Cinna und Cid ſetze, daß ſeine uͤbrige Stuͤcke wenig Vorzuͤge haͤtten, die in dieſem nicht vereint anzutreffen waͤren; ein gluͤcklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, ſtarke Verſe, ein gruͤndliches Raiſonnement, heftige Leiden - ſchaften, ein von Akt zu Akt immer wachſendes Intereſſe.

Es iſt billig, daß wir uns bey dem Meiſter - ſtuͤcke dieſes großen Mannes verweilen.

Die Geſchichte, auf die es gebauet iſt, erzehlt Appianus Alexandrinus, gegen das Ende ſei - nes Buchs von den ſyriſchen Kriegen.

〟De - metrius, mit dem Zunamen Nicanor, unter - nahm einen Feldzug gegen die Parther, und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Koͤniges Phraates, mit deſſen Schweſter Rodogune er ſich vermaͤhlte. In -zwi -229zwiſchen bemaͤchtigte ſich Diodotus, der den vorigen Koͤnigen gedienet hatte, des ſyriſchen Thrones, und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter deſſen Na - men er als Vormund anfangs die Regierung fuͤhrte. Bald aber ſchafte er den jungen Koͤnig aus dem Wege, ſetzte ſich ſelbſt die Krone auf, und gab ſich den Namen Tryphon. Als An - tiochus, der Bruder des gefangenen Koͤnigs, das Schickſal deſſelben, und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs, zu Rhodus, wo er ſich aufhielt, hoͤrte, kam er nach Syrien zuruͤck, uͤberwand mit vieler Muͤhe den Tryphon, und ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er ſeine Waffen gegen den Phraates, und foderte die Befreyung ſeines Bruders. Phraates, der ſich des Schlimmſten beſorgte, gab den Deme - trius auch wirklich los; aber nichts deſto weni - ger kam es zwiſchen ihm und den Antiochus zum Treffen, in welchem dieſer den kuͤrzern zog, und ſich aus Verzweiflung ſelbſt entleibte. Deme - trius, nachdem er wieder in ſein Reich gekehret war, ward von ſeiner Gemahlinn, Cleopatra, aus Haß gegen die Rhodogune, umgebracht; obſchon Cleopatra ſelbſt, aus Verdruß uͤber dieſe Heyrath, ſich mit dem nehmlichen Antio - chus, ſeinem Bruder, vermaͤhlet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwey Soͤhne, wovon ſie den aͤlteſten, mit Namen Seleucus, der nachF f 3dem230dem Tode ſeines Vaters den Thron beſtieg, ei - genhaͤndig mit einem Pfeile erſchoß; es ſey nun, weil ſie beſorgte, er moͤchte den Tod ſeines Va - ters an ihr raͤchen, oder weil ſie ſonſt ihre grau - ſame Gemuͤthsart dazu veranlaßte. Der juͤngſte Sohn hieß Antiochus; er folgte ſeinem Bruder in der Regierung, und zwang ſeine abſcheuliche Mutter, daß ſie den Giftbecher, dem ſie ihm zugedacht hatte, ſelbſt trinken mußte.

In dieſer Erzehlung lag Stoff zu mehr als einem Trauerſpiele. Es wuͤrde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekoſtet haben, einen Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius, einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm, eine Rodogune daraus zu erſchaffen, koſtete. Was ihn aber vorzuͤglich darinn reitzte, war die beleidigte Ehefrau, welche die uſurpirten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grauſam genug raͤchen zu koͤnnen glaubet. Dieſe alſo nahm er heraus; und es iſt unſtreitig, daß ſo nach ſein Stuͤck nicht Rodogune, ſondern Cleopatra heiſ - ſen ſollte. Er geſtand es ſelbſt, und nur weil er beſorgte, daß die Zuhoͤrer dieſe Koͤniginn von Syrien mit jener beruͤhmten letzten Koͤniginn von Aegypten gleiches Namens verwechſeln duͤrften, wollte er lieber von der zweyten, als von der erſten Perſon den Titel hernehmen.

〟Ich glaubte mich,

ſagt er,

dieſer Freyheit umſo231ſo eher bedienen zu koͤnnen, da ich angemerkt hatte, daß die Alten ſelbſt es nicht fuͤr nothwen - dig gehalten, ein Stuͤck eben nach ſeinem Hel - den zu benennen, ſondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Theil hat, und weit epiſodiſcher iſt, als Rodogune; ſo hat z. E. Sophokles eines ſeiner Trauerſpiele die Trachinerinnen genannt, welches man itzi - ger Zeit ſchwerlich anders, als den ſterbenden Herkules nennen wuͤrde.

Dieſe Bemerkung iſt an und fuͤr ſich ſehr richtig; die Alten hielten den Titel fuͤr ganz unerheblich; ſie glaubten im geringſten nicht, daß er den Inhalt angeben muͤſſe; genug, wenn dadurch ein Stuͤck von dem andern unterſchieden ward, und hiezu iſt der kleinſte Umſtand hinlaͤnglich. Allein, gleich - wohl glaube ich ſchwerlich, daß Sophokles das Stuͤck, welches er die Trachinerinnen uͤber - ſchrieb, wuͤrde haben Deianira nennen wollen. Er ſtand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verfuͤhreriſchen Titel zu geben, einen Titel, der unſere Auf - merkſamkeit auf einen falſchen Punkt richtet, deſſen moͤchte er ſich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Beſorgniß des Corneille gieng hiernaͤchſt zu weit; wer die aͤgyptiſche Cleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten iſt, weiß, daß mehr Koͤnige und Koͤniginneneiner -232einerley Namen gefuͤhrt haben; wer aber jene nicht kennt, kann ſie auch mit dieſer nicht ver - wechſeln. Wenigſtens haͤtte Corneille in dem Stuͤck ſelbſt, den Namen Cleopatra nicht ſo ſorg - faͤltig vermeiden ſollen; die Deutlichkeit hat in dem erſten Akte darunter gelitten; und der deut - ſche Ueberſetzer that daher ſehr wohl, daß er ſich uͤber dieſe kleine Bedenklichkeit wegſetzte. Kein Scribent, am wenigſten ein Dichter, muß ſeine Leſer oder Zuhoͤrer ſo gar unwiſſend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken: was ſie nicht wiſſen, das moͤgen ſie fragen!

Ham -[233]

Hamburgiſche Dramaturgie. Dreyßigſtes Stuͤck.

Cleopatra, in der Geſchichte, ermordet ihren Gemahl, erſchießt den einen von ihren Soͤhnen, und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und ſie hatten alle im Grunde nur eine und eben dieſelbe Quelle. Wenigſtens laͤßt es ſich mit Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß die einzige Eiferſucht ein wuͤthendes Ehe - weib zu einer eben ſo wuͤthenden Mutter machte. Sich eine zweyte Gemahlinn an die Seite geſtel - let zu ſehen, mit dieſer die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu theilen, brachte ein empfindliches und ſtolzes Herz leicht zu dem Entſchluſſe, das gar nicht zu beſitzen, was es nicht allein beſitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, weil er fuͤr Cleopatra nicht allein leben will. Der ſchuldige Gemahl faͤllt; aber in ihm faͤllt auch ein Vater, der raͤchende SoͤhneG ghinter -234hinterlaͤßt. An dieſe hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenſchaft nicht gedacht, oder nur als an Ihre Soͤhne gedacht, von deren Ergeben - heit ſie verſichert ſey, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Aeltern waͤhlen muͤßte, ohnfehlbar ſich fuͤr den zuerſt beleidigten Theil erklaͤren wuͤrde. Sie fand es aber ſo nicht; der Sohn ward Koͤnig, und der Koͤnig ſahe in der Cleopatra nicht die Mutter, ſondern die Koͤnigs - moͤrderinn. Sie hatte alles von ihm zu fuͤrch - ten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eiferſucht in ihrem Her - zen; noch war der treuloſe Gemahl in ſeinen Soͤhnen uͤbrig; ſie fieng an alles zu haſſen, was ſie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbſterhaltung ſtaͤrkte dieſen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidi - gerinn fertiger, als der Beleidigte; ſie begieng den zweyten Mord, um den erſten ungeſtraft begangen zu haben; ſie begieng ihn an ihrem Sohne, und beruhigte ſich mit der Vorſtellung, daß ſie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beſchloſſen habe, daß ſie eigentlich nicht morde, daß ſie ihrer Ermordung nur zuvor - komme. Das Schickſal des aͤltern Sohnes waͤre auch das Schickſal des juͤngern geworden; aber dieſer war raſcher, oder war gluͤcklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das ſie ihm bereitet hat; ein unmenſchliches Verbre -chen235chen raͤchet das andere; und es koͤmmt bloß auf die Umſtaͤnde an, auf welcher Seite wir mehr Verabſcheuung, oder mehr Mitleid empfinden ſollen.

Dieſer dreyfache Mord wuͤrde nur eine Hand - lung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nehmlichen Leidenſchaft der nehmlichen Perſon haͤtte. Was fehlt ihr alſo noch zum Stoffe einer Tragoͤdie? Fuͤr das Genie fehlt ihr nichts: fuͤr den Stuͤmper, alles. Da iſt keine Liebe, da iſt keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwiſchenfall; alles geht ſeinen natuͤrlichen Gang. Dieſer natuͤrliche Gang reitzet das Genie; und den Stuͤmper ſchrecket er ab. Das Genie koͤn - nen nur Begebenheiten beſchaͤftigen, die in ein - ander gegruͤndet ſind, nur Ketten von Urſachen und Wirkungen. Dieſe auf jene zuruͤck zu fuͤh - ren, jene gegen dieſe abzuwaͤgen, uͤberall das Ungefehr auszuſchlieſſen, alles, was geſchieht, ſo geſchehen zu laſſen, daß es nicht anders ge - ſchehen koͤnnen: das, das iſt ſeine Sache, wenn es in dem Felde der Geſchichte arbeitet, um die unnuͤtzen Schaͤtze des Gedaͤchtniſſes in Nahrun - gen des Geiſtes zu verwandeln. Der Witz hin - gegen, als der nicht auf das in einander Gegruͤn - dete, ſondern nur auf das Aehnliche oder Un - aͤhnliche gehet, wenn er ſich an Werke waget,G g 2die236die dem Genie allein vorgeſparet bleiben ſollten, haͤlt ſich bey Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß ſie zugleich geſchehen. Dieſe mit einander zu verbinden, ihre Faden ſo durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befrem - dung in die andere geſtuͤrzt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Aus der beſtaͤn - digen Durchkreutzung ſolcher Faͤden von ganz verſchiednen Farben, entſtehet denn eine Contex - tur, die in der Kunſt eben das iſt, was die We - berey Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht ſagen kann, ob er blau oder roth, gruͤn oder gelb iſt; der beydes iſt, der von dieſer Seite ſo, von der andern anders erſcheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gauckelputz fuͤr Kin - der.

Nun urtheile man, ob der große Corneille ſeinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieſer Beurtheilung weiter nichts, als die An - wendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Ver - wicklung.

Cleopatra bringt, in der Geſchichte, ihren Gemahl aus Eiferſucht um. Aus Eiferſucht? dachte237dachte Corneille: das waͤre ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Cleopatra muß eine Heldinn ſeyn, die noch wohl ihren Mann gern verlohren haͤtte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr Mann Rodogunen liebt, muß ſie nicht ſo ſehr ſchmerzen, als daß Rodogune Koͤniginn ſeyn ſoll, wie ſie; das iſt weit erhabner.

Ganz recht; weit erhabner und weit un - natuͤrlicher. Denn einmal iſt der Stolz uͤber - haupt ein unnatuͤrlicheres, ein gekuͤnſtelteres Laſter, als die Eiferſucht. Zweytens iſt der Stolz eines Weibes noch unnatuͤrlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur ruͤſtete das weibliche Geſchlecht zur Liebe, nicht zu Gewalt - ſeligkeiten aus; es ſoll Zaͤrtlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur ſeine Reitze ſollen es maͤchtig machen; nur durch Liebkoſungen ſoll es herr - ſchen, und ſoll nicht mehr beherrſchen wollen, als es genieſſen kann. Eine Frau, der das Herrſchen, bloß des Herrſchens wegen, gefaͤllt, bey der alle Neigungen dem Ehrgeitze unterge - ordnet ſind, die keine andere Gluͤckſeligkeit ken - net, als zu gebiethen, zu tyranniſiren, und ihren Fuß ganzen Voͤlkern auf den Nacken zu ſetzen; ſo eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich geweſen ſeyn, aber ſie iſt dem ohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme ſchildert, ſchildert ohnſtreitigG g 3das238das minder Natuͤrliche. Die Cleopatra des Corneille, die ſo eine Frau iſt, die, ihren Ehr - geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, ſich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit machiavelliſchen Maximen um ſich wirft, iſt ein Ungeheuer ihres Geſchlechts, und Medea iſt gegen ihr tugendhaft und liebenswuͤrdig. Denn alle die Grauſamkeiten, welche Medea begeht, begeht ſie aus Eiferſucht. Einer zaͤrtlichen, eiferſuͤchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; ſie iſt das, was ſie ſeyn ſoll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus uͤberlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten veruͤbet, em - poͤrt ſich das ganze Herz; und alle Kunſt des Dichters kann ſie uns nicht intereſſant machen. Wir ſtaunen ſie an, wie wir ein Monſtrum an - ſtaunen; und wenn wir unſere Neugierde geſaͤt - tiget haben, ſo danken wir dem Himmel, daß ſich die Natur nur alle tauſend Jahre einmal ſo verirret, und aͤrgern uns uͤber den Dichter, der uns dergleichen Mißgeſchoͤpfe fuͤr Menſchen verkaufen will, deren Kenntniß uns erſprieß - lich ſeyn koͤnnte. Man gehe die ganze Geſchichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maͤnner vom Throne geſtuͤrzet und ermordet haben, iſt kaum eine, von der man nicht beweiſen koͤnnte, daß nur beleidigte Liebe ſie zu dieſem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus bloßem Stolze das Scepter ſelbſt zu fuͤhren,wel -239welches ein liebreicher Ehemann fuͤhrte, hat ſich ſchwerlich eine ſo weit vergangen. Viele, nach - dem ſie als beleidigte Gattinnen die Regierung an ſich geriſſen, haben dieſe Regierung hernach mit allem maͤnnlichen Stolze verwaltet: das iſt wahr. Sie hatten bey ihren kalten, muͤrri - ſchen, treuloſen Gatten alles, was die Unter - wuͤrfigkeit kraͤnkendes hat, zu ſehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der aͤußerſten Gefahr erlangte Unabhaͤngigkeit nicht um ſo viel ſchaͤtz - barer haͤtte ſeyn ſollen. Aber ſicherlich hat keine das bey ſich gedacht und empfunden, was Cor - neille ſeine Cleopatra ſelbſt von ſich ſagen laͤßt; die unſinnigſten Bravaden des Laſters. Der groͤßte Boͤſewicht weiß ſich vor ſich ſelbſt zu ent - ſchuldigen, ſucht ſich ſelbſt zu uͤberreden, daß das Laſter, welches er begeht, kein ſo großes Laſter ſey, oder daß ihn die unvermeidliche Nothwendigkeit es zu begehen zwinge. Es iſt wider alle Natur, daß er ſich des Laſters, als Laſters ruͤhmet; und der Dichter iſt aͤußerſt zu tadeln, der aus Begierde etwas Glaͤnzendes und Starkes zu ſagen, uns das menſchliche Herz ſo verkennen laͤßt, als ob ſeine Grundneigungen auf das Boͤſe, als auf das Boͤſe, gehen koͤnn - ten.

Dergleichen mißgeſchilderte Charaktere, der - gleichen ſchaudernde Tiraden, ſind indeß beykei -240keinem Dichter haͤufiger, als bey Corneillen, und es koͤnnte leicht ſeyn, daß ſich zum Theil ſein Beyname des Großen mit darauf gruͤnde. Es iſt wahr, alles athmet bey ihm Heroismns; aber auch das, was keines faͤhig ſeyn ſollte, und wirklich auch keines faͤhig iſt: das Laſter. Den Ungeheuern, den Gigantiſchen haͤtte man ihn nennen ſollen; aber nicht den Großen. Denn nichts iſt groß, was nicht wahr iſt.

Ham -[241]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und dreyßigſtes Stuͤck.

In der Geſchichte raͤchet ſich Cleopatra blos an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte ſie ſich nicht raͤchen. Bey dem Dichter iſt jene Rache laͤngſt vorbey; die Ermor - dung des Demetrius wird blos erzehlt, und alle Handlung des Stuͤcks geht auf Rodogunen. Corneille will ſeine Cleopatra nicht auf halbem Wege ſtehen laſſen; ſie muß ſich noch gar nicht geraͤchet zu haben glauben, wenn ſie ſich nicht auch an Rodogunen raͤchet. Einer Eiferſuͤchti - gen iſt es allerdings natuͤrlich, daß ſie gegen ihre Nebenbuhlerinn noch unverſoͤhnlicher iſt, als gegen ihren treuloſen Gemahl. Aber die Cleo - patra des Corneille, wie geſagt, iſt wenig oder gar nicht eiferſuͤchtig; ſie iſt bloß ehrgeitzig; und die Rache einer Ehrgeitzigen ſollte nie der Rache einer Eiferſuͤchtigen aͤhnlich ſeyn. Beide Lei - denſchaften ſind zu ſehr unterſchieden, als daßH hihre242ihre Wirkungen die nehmlichen ſeyn koͤnnten. Der Ehrgeitz iſt nie ohne eine Art von Edelmuth, und die Rache ſtreitet mit dem Edelmuthe zu ſehr, als daß die Rache des Ehrgeitzigen ohne Maaß und Ziel ſeyn ſollte. So lange er ſeinen Zweck verfolgt, kennet ſie keine Grenzen; aber kaum hat er dieſen erreicht, kaum iſt ſeine Lei - denſchaft befriediget, als auch ſeine Rache kaͤlter und uͤberlegender zu werden anfaͤngt. Er pro - portioniert ſie nicht ſowohl nach dem erlittenen Nachtheile, als vielmehr nach dem noch zu be - ſorgenden. Wer ihm nicht weiter ſchaden kann, von dem vergißt er es auch wohl, daß er ihm ge - ſchadet hat. Wen er nicht zu fuͤrchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der iſt weit unter ſeiner Rache. Die Eiferſucht hingegen iſt eine Art von Neid; und Neid iſt ein kleines, kriechendes Laſter, das keine andere Befriedi - gung kennet, als das gaͤnzliche Verderben ſeines Gegenſtandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann ſie verſoͤhnen; da die Beleidigung, die ſie erwecket hat, nie aufhoͤret, die nehmliche Beleidigung zu ſeyn, und immer waͤchſet, je laͤnger ſie dauert: ſo kann auch ihr Durſt nach Rache nie erloͤſchen, die ſie ſpat oder fruͤh, im - mer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade ſo iſt die Rache der Cleopatra beym Cor - neille; und die Mißhelligkeit, in der dieſe Rache alſo mit ihrem Charakter ſtehet, kann nicht andersals243als aͤußerſt beleidigend ſeyn. Ihre ſtolzen Ge - ſinnungen, ihr unbaͤndiger Trieb nach Ehre und Unabhaͤngigkeit, laſſen ſie uns als eine große, erhabne Seele betrachten, die alle unſere Be - wunderung verdienet. Aber ihr tuͤckiſcher Groll; ihre haͤmiſche Rachſucht gegen eine Per - ſon, von der ihr weiter nichts zu befuͤrchten ſtehet, die ſie in ihrer Gewalt hat, der ſie, bey dem ge - ringſten Funken von Edelmuthe, vergeben muͤß - te; ihr Leichtſinn, mit dem ſie nicht allein ſelbſt Verbrechen begeht, mit dem ſie auch andern die unſinnigſten ſo plump und geradehin zumuthet: machen ſie uns wiederum ſo klein, daß wir ſie nicht genug verachten zu koͤnnen glauben. End - lich muß dieſe Verachtung nothwendig jene Be - wunderung aufzehren, und es bleibt in der gan - zen Cleopatra nichts uͤbrig, als ein haͤßliches ab - ſcheuliches Weib, das immer ſprudelt und raſet, und die erſte Stelle im Tollhauſe verdienet.

Aber nicht genug, daß Cleopatra ſich an Ro - dogunen raͤchet: der Dichter will, daß ſie es auf eine ganz ausnehmende Weiſe thun ſoll. Wie faͤngt er dieſes an? Wenn Cleopatra ſelbſt Ro - dogunen aus dem Wege ſchaft, ſo iſt das Ding viel zu natuͤrlich: denn was iſt natuͤrlicher, als ſeine Feindinn hinzurichten? Gienge es nicht an, daß zugleich eine Liebhaberinn in ihr hinge - richtet wuͤrde? Und daß ſie von ihrem LiebhaberH h 2hin -244hingerichtet wuͤrde? Warum nicht? Laßt uns erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius noch nicht voͤllig vermaͤhlet geweſen; laßt uns erdichten, daß nach ſeinem Tode ſich die beiden Soͤhne in die Braut des Vaters verliebt haben; laßt uns erdichten, daß die beiden Soͤhne Zwil - linge ſind, daß dem aͤlteſten der Thron gehoͤret, daß die Mutter es aber beſtaͤndig verborgen ge - halten, welcher von ihnen der aͤlteſte ſey; laßt uns erdichten, daß ſich endlich die Mutter ent - ſchloſſen, dieſes Geheimniß zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, ſondern an deſſen Statt denjenigen fuͤr den aͤlteſten zu erklaͤren, und ihn dadurch auf den Thron zu ſetzen, wel - cher eine gewiſſe Bedingung eingehen wolle; laßt uns erdichten, daß dieſe Bedingung der Tod der Rodogune ſey. Nun haͤtten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen ſind in Rodogu - nen ſterblich verliebt; wer von beiden ſeine Geliebte umbringen will, der ſoll regieren.

Schoͤn; aber koͤnnten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Koͤnnten wir die guten Prinzen nicht noch in groͤßere Verlegenheit ſetzen? Wir wollen verſuchen. Laßt uns alſo weiter erdichten, daß Rodogune den Anſchlag der Cleo - patra erfaͤhrt; laßt uns weiter erdichten, daß ſie zwar einen von den Prinzen vorzuͤglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch ſonſt keinemMen -245Menſchen es bekannt hat, noch bekennen will, daß ſie feſt entſchloſſen iſt, unter den Prinzen weder dieſen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen duͤrfte, zu ihrem Gemahle zu waͤhlen, daß ſie allein den waͤhlen wolle, wel - cher ſich ihr am wuͤrdigſten erzeigen werde; Ro - dogune muß geraͤchet ſeyn wollen, muß an der Mutter der Prinzen geraͤchet ſeyn wollen; Ro - dogune muß ihnen erklaͤren: wer mich von euch haben will, der ermorde ſeine Mutter!

Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intri - gue! Dieſe Prinzen ſind gut angekommen! Die ſollen zu thun haben, wenn ſie ſich herauswickeln wollen! Die Mutter ſagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde ſeine Geliebte! Und die Geliebte ſagt: wer mich haben will, er - morde ſeine Mutter! Es verſteht ſich, daß es ſehr tugendhafte Prinzen ſeyn muͤſſen, die ein - ander von Grund der Seele lieben, die viel Reſpekt fuͤr den Teufel von Mamma, und eben ſo viel Zaͤrtlichkeit fuͤr eine liebaͤugelnde Furie von Gebietherinn haben. Denn wenn ſie nicht beide ſehr tugendhaft ſind, ſo iſt die Verwick - lung ſo arg nicht, als es ſcheinet; oder ſie iſt zu arg, daß es gar nicht moͤglich iſt, ſie wieder auf - zuwickeln. Der eine geht hin und ſchlaͤgt die Prinzeßinn todt, um den Thron zu haben: da - mit iſt es aus. Oder der andere geht hin undH h 3ſchlaͤgt246ſchlaͤgt die Mutter todt, um die Prinzeßinn zu haben: damit iſt es wieder aus. Oder ſie gehen beide hin, und ſchlagen die Geliebte todt, und wollen beide den Thron haben: ſo kann es gar nicht auswerden. Oder ſie ſchlagen beide die Mutter todt, und wollen beide das Maͤdchen haben: und ſo kann es wiederum nicht auswer - den. Aber wenn ſie beide fein tugendhaft ſind, ſo will keiner weder die eine noch die andere todt ſchlagen; ſo ſtehen ſie beide huͤbſch und ſperren das Maul auf, und wiſſen nicht, was ſie thun ſollen: und das iſt eben die Schoͤnheit davon. Freylich wird das Stuͤck dadurch ein ſehr ſonder - bares Anſehen bekommen, daß die Weiber darinn aͤrger als raſende Maͤnner, und die Maͤnner weibiſcher als die armſeligſten Weiber handeln: aber was ſchadet das? Vielmehr iſt dieſes ein Vorzug des Stuͤckes mehr; denn das Gegentheil iſt ſo gewoͤhnlich, ſo abgedroſchen!

Doch im Ernſte: ich weiß nicht, ob es viel Muͤhe koſtet, dergleichen Erdichtungen zu ma - chen; ich habe es nie verſucht, ich moͤchte es auch ſchwerlich jemals verſuchen. Aber das weiß ich, daß es einem ſehr ſauer wird, derglei - chen Erdichtungen zu verdauen.

Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen ſind; weil nicht die mindeſte Spur in der Geſchichtedavon247davon zu finden. Dieſe Bedenklichkeit haͤtte ſich Corneille immer erſparen koͤnnen.

〟Viel - leicht,

ſagt er,

duͤrfte man zweifeln, ob ſich die Freyheit der Poeſie ſo weit erſtrecket, daß ſie unter bekannten Namen eine ganze Geſchichte erdenken darf; ſo wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzehlung im erſten Akte, welche die Grundlage des Folgenden iſt, bis zu den Wirkungen im fuͤnften, nicht das geringſte vor - koͤmmt, welches einigen hiſtoriſchen Grund haͤtte. Doch, faͤhrt er fort, mich duͤnkt, wenn wir nur das Reſultat einer Geſchichte beybehal - ten, ſo ſind alle vorlaͤufige Umſtaͤnde, alle Ein - leitungen zu dieſem Reſultate in unſerer Ge - walt. Wenigſtens wuͤßte ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausuͤbung der Alten iſt voͤllig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles mit der Elektra des Euripides, und ſehe, ob ſie mehr mit einander gemein haben, als das bloße Reſultat, die letzten Wirkungen in den Begeg - niſſen ihrer Heldinn, zu welchen jeder auf einem beſondern Wege, durch ihm eigenthuͤmliche Mit - tel gelanget, ſo daß wenigſtens eine davon noth - wendig ganz und gar die Erfindung ihres Ver - faſſers ſeyn muß. Oder man werfe nur die Au - gen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Ari - ſtoteles zum Muſter einer vollkommenen Tragoͤ - die giebt, und die doch ſehr darnach ausſieht,daß248daß ſie weiter nichts als eine Erdichtung iſt, in - dem ſie ſich bloß auf das Vorgeben gruͤndet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem ſie geopfert werden ſollte, entruͤckt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge - ſchoben habe. Vornehmlich aber verdient die Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo ſowohl die Haupthandlung, als die Epiſoden, ſowohl der Knoten, als die Aufloͤſung, gaͤnzlich erdichtet ſind, und aus der Hiſtorie nichts als die Namen haben.

Allerdings durfte Corneille mit den hiſtori - ſchen Umſtaͤnden nach Gutduͤnken verfahren. Er durfte, z. E. Rodogunen ſo jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat ſehr Unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geſchichte nachrechnet, daß Rodogune ſo jung nicht koͤnne geweſen ſeyn; ſie habe den Demetrius geheyra - thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig - ſtens zwanzig Jahre haben muͤßten, noch in ihrer Kindheit geweſen waͤren. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme - trius gar nicht geheyrathet; ſie war ſehr jung, als ſie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel aͤlter, als ſich die Soͤhne in ſie verliebten. Vol - taire iſt mit ſeiner hiſtoriſchen Controlle ganz un - leidlich. Wenn er doch lieber die Data in ſeiner all - gemeinen Weltgeſchichte dafuͤr verificiren wollte!

Ham -[249]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und dreyßigſtes Stuͤck.

Mit den Beyſpielen der Alten haͤtte Cor - neille noch weiter zuruͤck gehen koͤnnen. Viele ſtellen ſich vor, daß die Tragoͤdie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des An - denkens großer und ſonderbarer Begebenheiten erfunden worden; daß ihre erſte Beſtimmung alſo geweſen, genau in die Fußtapfen der Ge - ſchichte zu treten, und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber ſie irren ſich. Denn ſchon Theſpis ließ ſich um die hiſtoriſche Richtigkeit ganz unbekuͤmmert. (*)Diogenes Laertius Libr. I. §. 59. Es iſt wahr, er zog ſich daruͤber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu ſagen, daß Solon ſich beſſer auf die Geſetze des Staats, als der Dichtkunſt verſtanden: ſo laͤßt ſich den Fol - gerungen, die man aus ſeiner Mißbilligung zie -henJ i250hen koͤnnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunſt bediente ſich unter dem Theſpis ſchon aller Vorrechte, als ſie ſich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht wuͤrdig erzeigen konnte. Theſpis erſann, erdichtete, ließ die bekannteſten Perſonen ſagen und thun, was er wollte: aber er wußte ſeine Erdichtungen vielleicht weder wahrſcheinlich, noch lehrreich zu machen. So - lon bemerkte in ihnen alſo nur das Unwahre, ohne die geringſte Vermuthung von dem Nuͤtz - lichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne ſein Gegengift mit ſich zu fuͤhren, leicht von uͤbeln Folgen ſeyn koͤnnte.

Ich fuͤrchte ſehr, Solon duͤrfte auch die Er - dichtungen des großen Corneille nichts als lei - dige Luͤgen genannt haben. Denn wozu alle dieſe Erdichtungen? Machen ſie in der Geſchich - te, die er damit uͤberladet, das geringſte wahr - ſcheinlicher? Sie ſind nicht einmal fuͤr ſich ſelbſt wahrſcheinlich. Corneille prahlte damit, als mit ſehr wunderbaren Anſtrengungen der Erdich - tungskraft; und er haͤtte doch wohl wiſſen ſol - len, daß nicht das bloße Erdichten, ſondern das zweckmaͤßige Erdichten, einen ſchoͤpfriſchen Geiſt beweiſe.

Der Poet findet in der Geſchichte eine Frau, die Mann und Soͤhne mordet; eine ſolche That kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt ſich vor, ſie in einer Tragoͤdie zu behan -deln.251deln. Aber die Geſchichte ſagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieſes iſt eben ſo graͤßlich als auſſerordentlich. Es giebt hoͤchſtens drey Scenen, und da es von allen naͤhern Um - ſtaͤnden entbloͤßt iſt, drey unwahrſcheinliche Scenen. Was thut alſo der Poet?

So wie er dieſen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrſchein - lichkeit oder die magere Kuͤrze der groͤßere Man - gel ſeines Stuͤckes ſcheinen.

Iſt er in dem erſtern Falle, ſo wird er vor allen Dingen bedacht ſeyn, eine Reihe von Urſachen und Wirkungen zu erfinden, nach wel - cher jene unwahrſcheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geſchehen muͤſſen. Unzufrieden, ihre Moͤglichkeit blos auf die hiſtoriſche Glaub - wuͤrdigkeit zu gruͤnden, wird er ſuchen, die Cha - raktere ſeiner Perſonen ſo anzulegen; wird er ſu - chen, die Vorfaͤlle, welche dieſe Charaktere in Handlung ſetzen, ſo nothwendig einen aus dem andern entſpringen zu laſſen; wird er ſuchen, die Leidenſchaften nach eines jedem Charakter ſo genau abzumeſſen; wird er ſuchen, dieſe Leiden - ſchaften durch ſo allmaͤliche Stuffen durchzu - fuͤhren: daß wir uͤberall nichts als den natuͤr - lichſten, ordentlichſten Verlauf wahrnehmen; daß wir bey jedem Schritte, den er ſeine Perſo - nen thun laͤßt, bekennen muͤſſen, wir wuͤrden ihn, in dem nehmlichen Grade der Leidenſchaft,J i 2bey252bey der nehmlichen Lage der Sachen, ſelbſt ge - than haben; daß uns nichts dabey befremdet, als die unmerkliche Annaͤherung eines Zieles, von dem unſere Vorſtellungen zuruͤckbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigſten Mit - leids gegen die, welche ein ſo fataler Strom da - hin reißt, und voll Schrecken uͤber das Bewußt - ſeyn befinden, auch uns koͤnne ein aͤhnlicher Strom dahin reiſſen, Dinge zu begehen, die wir bey kaltem Gebluͤte noch ſo weit von uns entfernt zu ſeyn glauben. Und ſchlaͤgt der Dichter dieſen Weg ein, ſagt ihm ſein Genie, daß er darauf nicht ſchimpflich ermatten wer - de: ſo iſt mit eins auch jene magere Kuͤrze ſeiner Fabel verſchwunden; es bekuͤmmert ihn nun nicht mehr, wie er mit ſo wenigen Vorfaͤl - len fuͤnf Akte fuͤllen wolle; ihm iſt nur bange, daß fuͤnf Akte alle den Stoff nicht faſſen werden, der ſich unter ſeiner Bearbeitung aus ſich ſelbſt immer mehr und mehr vergroͤßert, wenn er ein - mal der verborgnen Organiſation deſſelben auf die Spur gekommen, und ſie zu entwickeln ver - ſtehet.

Hingegen dem Dichter, der dieſen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Verſifikateur iſt, dem, ſage ich, wird die Unwahrſcheinlichkeit ſeines Vorwurfs ſo wenig anſtoͤßig ſeyn, daß er vielmehr eben hierinn das Wunderbare deſſelbenzu253zu finden vermeinet, welches er auf keine Weiſe vermindern duͤrfe, wenn er ſich nicht ſelbſt des ſicherſten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß ſo we - nig, worinn eigentlich dieſes Schrecken und die - ſes Mitleid beſtehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht ſonderbare, unerwartete, un - glaubliche, ungeheure Dinge genug haͤufen zu koͤnnen glaubt, und um dieſes zu erwecken, nur immer ſeine Zuflucht zu den auſſerordentlichſten, graͤßlichſten Ungluͤcksfaͤllen und Frevelthaten, nehmen zu muͤſſen vermeinet. Kaum hat er alſo in der Geſchichte eine Cleopatra, eine Moͤrderinn ihres Gemahls und ihrer Soͤhne, aufgejagt, ſo ſieht er, um eine Tragoͤdie daraus zu machen, weiter nichts dabey zu thun, als die Luͤcken zwi - ſchen beiden Verbrechen auszufuͤllen, und ſie mit Dingen auszufuͤllen, die wenigſtens eben ſo befremdend ſind, als dieſe Verbrechen ſelbſt. Alles dieſes, ſeine Erfindungen und die hiſtori - ſchen Materialien, knaͤtet er denn in einen fein langen, fein ſchwer zu faſſenden Roman zuſam - men; und wenn er es ſo gut zuſammen geknaͤtet hat, als ſich nur immer Heckſel und Mehl zuſam - men knaͤten laſſen: ſo bringt er ſeinen Teig auf das Dratgerippe von Akten und Scenen, laͤßt erzehlen und erzehlen, laͤßt raſen und reimen, und in vier, ſechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder ſaurer ankoͤmmt, iſt dasJ i 3Wun -254Wunder fertig; es heißt ein Trauerſpiel, wird gedruckt und aufgefuͤhrt, geleſen und angeſe - hen, bewundert oder ausgepfiffen, beybe - halten oder vergeſſen, ſo wie es das liebe Gluͤck will. Denn & habent ſua fata libelli.

Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich ſie noch lange zu machen? Nach dem geheimnißvollen Schickſale, welches die Schriften ſo gut als die Menſchen haben, iſt ſeine Rodogune, nun laͤnger als hundert Jahr, als das groͤßte Meiſterſtuͤck des groͤßten tragi - ſchen Dichters, von ganz Frankreich, und gele - gentlich mit von ganz Europa, bewundert wor - den. Kann eine hundertjaͤhrige Bewunderung wohl ohne Grund ſeyn? Wo haben die Menſchen ſo lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hambur - giſchen Dramaturgiſten auf behalten, Flecken in der Sonne zu ſehen, und ein Geſtirn auf ein Meteor herabzuſetzen?

O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte ſaß einmal ein ehrlicher Hurone in der Baſtille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er ſchon in Paris war; und vor langer Weile ſtudierte er die franzoͤſiſchen Poeten; dieſem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach leb - te, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, ir - gendwo in Italien, ein Pedant, der hatte denKopf255Kopf von den Trauerſpielen der Griechen und ſeiner Landesleute des ſechszehnten Seculi voll, und der fand an der Rodogune gleichfals vieles auszuſetzen. Endlich kam vor einigen Jahren ſogar auch ein Franzoſe, ſonſt ein gewaltiger Verehrer des Corneilleſchen Namens, (denn, weil er reich war, und ein ſehr gutes Herz hatte, ſo nahm er ſich einer armen verlaßnen Enkelinn dieſes großen Dichters an, ließ ſie unter ſeinen Augen erziehen, lehrte ſie huͤbſche Verſe machen, ſammelte Allmoſen fuͤr ſie, ſchrieb zu ihrer Aus - ſteuer einen großen eintraͤglichen Commentar uͤber die Werke ihres Großvaters u. ſ. w.) aber gleichwohl erklaͤrte er die Rodogune fuͤr ein ſehr ungereimtes Gedicht, und wollte ſich des Todes verwundern, wie ein ſo großer Mann, als der große Corneille, ſolch widerſinniges Zeug habe ſchreiben koͤnnen. Bey einem von dieſen iſt der Dramaturgiſt ohnſtreitig in die Schule gegan - gen; und aller Wahrſcheinlichkeit nach bey dem letztern; denn es iſt doch gemeiniglich ein Fran - zoſe, der den Auslaͤndern uͤber die Fehler eines Franzoſen die Augen eroͤffnet. Dieſem ganz gewiß betet er nach; oder iſt es nicht dieſem, wenigſtens dem Welſchen, wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn daß ein Deutſcher ſelbſt daͤchte, von ſelbſt die Kuͤhnheit haͤtte, an der Vortrefflichkeit eines Franzoſen zu zweifeln, wer kann ſich das einbilden?

Ich256

Ich rede von dieſen meinen Vorgaͤngern mehr, bey der naͤchſten Wiederholung der Rodogune. Meine Leſer wuͤnſchen aus der Stelle zu kom - men; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Ueberſetzung, nach welcher dieſes Stuͤck aufgefuͤhret worden. Es war nicht die alte Wolfenbuͤttelſche vom Breſſand, ſondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch unge - druckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf ſich gegen die beſte von dieſer Art nicht ſchaͤ - men, und iſt voller ſtarken, gluͤcklichen Stellen. Der Verfaſſer aber, weiß ich, hat zu viel Ein - ſicht und Geſchmack, als daß er ſich einer ſo undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu uͤberſetzen, muß man beſſere Verſe machen koͤnnen, als er ſelbſt.

Ham -[257]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und dreyßigſtes Stuͤck.

Den ſechs und dreyßigſten Abend (Freytags, den 3ten Julius,) ward das Luſtſpiel des Herrn Favart, Solimann der Zweyte, ebenfals in Gegenwart Sr. Koͤnigl. Majeſtaͤt von Daͤnemark, aufgefuͤhret.

Ich mag nicht unterſuchen, wie weit es die Geſchichte beſtaͤtiget, daß Solimann II. ſich in eine europaͤiſchen Sklavinn verliebt habe, die ihn ſo zu feſſeln, ſo nach ihrem Willen zu lenken gewußt, daß er, wider alle Gewohnheit ſeines Reichs, ſich foͤrmlich mit ihr verbinden und ſie zur Kaiſerinn erklaͤren muͤſſen. Genug, daß Mar - montel hierauf eine von ſeinen moraliſchen Er - zehlungen gegruͤndet, in der er aber jene Sklavinn, die eine Italienerinn ſoll geweſen ſeyn, zu einer Franzoͤſinn macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrſcheinlich gefunden, daß irgend eine an - dere Schoͤne, als eine Franzoͤſiſche, einen ſoK kſelt -258ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten koͤnnen.

Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er - zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret, und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind; von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt. Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch, weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt?

Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol - luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt - lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft: dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma - gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken; bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge -ſun -259ſunden Magen Abſcheu erwecken wuͤrde, auf faule Eyer, auf Rattenſchwaͤnze und Raupen - paſteten; die ſchmecken ihm. Die edelſte, be - ſcheidenſte Schoͤnheit, mit dem ſchmachtendſten Auge, groß und blau, mit der unſchuldigſten empfindlichſten Seele, beherrſcht den Sultan, bis ſie gewonnen iſt. Eine andere, majeſtaͤti - ſcher in ihrer Form, blendender von Colorit, bluͤhende Svada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Toͤne, eine wahre Muſe, nur verfuͤhreriſcher, wird genoſſen, und vergeſſen. Endlich er - ſcheinet ein weibliches Ding, fluͤchtig, unbe - dachtſam, wild, witzig bis zur Unverſchaͤmtheit, luſtig bis zum Tollen, viel Phyſiognomie wenig Schoͤnheit, niedlicher als wohlgeſtaltet, Taille aber keine Figur; dieſes Ding, als es den Sul - tan erblickt, faͤllt mit der plumpeſten Schmeiche - ley, wie mit der Thuͤre ins Haus:

Graces au ciel, voici une figure humaine!

(Eine Schmeicheley, die nicht blos dieſer Sultan, auch mancher deutſcher Fuͤrſt, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hoͤren bekommen, und mit der unter zehnen neune, ſo gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beſchimpfung, die ſie wirk - lich enthaͤlt, zu fuͤhlen.) Und ſo wie dieſes Ein - gangscompliment, ſo das Uebrige

Vous eres beaucoup mieux, qu’il n’appartientK k 2à260à un Turc: vous avez même quelque choſe d’un François En vérité ces Turcs ſont plaiſans Je me charge d’apprendre à vivre à ce Turc Je ne déſeſpére pas d’en faire quelque jour un François.

Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und ſchilt, es droht und ſpottet, es liebaͤugelt und mault, bis der Sultau, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Serraglio eine neue Geſtalt gegeben zu haben, auch Reichsgeſetze abaͤndern, und Geiſtlichkeit und Poͤbel wieder ſich aufzubringen Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr eben ſo gluͤcklich ſeyn will, als ſchon der und jener, wie ſie ihm ſelbſt bekennet, in ihrem Va - terlande mit ihr geweſen. Das verlohnte ſich wohl der Muͤhe!

Marmontel faͤngt ſeine Erzehlung mit der Be - trachtung an, daß große Staatsveraͤnderungen oft durch ſehr geringfuͤgige Kleinigkeiten veran - laßt worden, und laͤßt den Sultan mit der heim - lichen Frage an ſich ſelbſt ſchlieſſen: wie iſt es moͤglich, daß eine kleine aufgeſtuͤlpte Naſe die Geſetze eines Reiches umſtoſſen koͤnnen? Man ſollte alſo faſt glauben, daß er blos dieſe Be - merkung, dieſes anſcheinende Mißverhaͤltniß zwiſchen Urſache und Wirkung, durch ein Exem - pel erlaͤutern wollen. Doch dieſe Lehre waͤre unſtreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede ſelbſt, daß er eine ganz andere undweit261weit ſpeciellere dabey zur Abſicht gehabt.

〟Ich nahm mir vor, ſagt er, die Thorheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An - ſehen und Gewalt zur Gefaͤlligkeit bringen wol - len; ich waͤhlte alſo zum Beyſpiele einen Sultan und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der Herrſchaft und Abhaͤngigkeit.

Allein Mar - montel muß ſicherlich auch dieſen ſeinen Vorſatz waͤhrend der Ausarbeitung vergeſſen haben; faſt nichts zielet dahin ab; man ſieht nicht den ge - ringſten Verſuch einiger Gewaltſamkeit von Seiten des Sultans; er iſt gleich bey den erſten Inſolenzen, die ihm die galante Franzoͤſinn ſagt, der zuruͤckhaltendſte, nachgebendſte, gefaͤlligſte, folgſamſte, unterthaͤnigſte Mann,

la meilleure pâte de mari,

als kaum in Frankreich zu finden ſeyn wuͤrde. Alſo nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieſer Erzehlung des Marmontel, oder es iſt die, auf welche ich, oben bey dem Charakter des Sultans, gewieſen: der Kaͤfer, wenn er alle Blumen durchſchwaͤrmt hat, bleibt endlich auf dem Miſte liegen.

Doch Moral oder keine Moral; dem drama - tiſchen Dichter iſt es gleich viel, ob ſich aus ſei - ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laͤßt oder nicht; und alſo war die Erzehlung des Mar - montel darum nichts mehr und nichts weniger geſchickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das that Favart, und ſehr gluͤcklich. IchK k 3rathe262rathe allen, die unter uns das Theater aus aͤhn - lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa - vartſche Ausfuͤhrung mit dem Marmontelſchen Urſtoffe zuſammen zu halten. Wenn ſie die Gabe zu abſtrahiren haben, ſo werden ihnen die geringſten Veraͤnderungen, die dieſer gelitten, und zum Theil leiden muͤſſen, lehrreich ſeyn, und ihre Empfindung wird ſie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation wohl unentdeckt geblieben waͤre, den noch kein Kritikus zur Regel generaliſiret hat, ob er es ſchon verdiente, und der oͤfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stuͤck bringen wird, als alle die mechaniſchen Geſetze, mit denen ſich kahle Kunſtrichter herumſchlagen, und deren Beobach - tung ſie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein - zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama machen moͤchten.

Ich will nur bey einer von dieſen Veraͤnde - rungen ſtehen bleiben. Aber ich muß vorher das Urtheil anfuͤhren, welches Franzoſen ſelbſt uͤber das Stuͤck gefaͤllt haben. (*)Journal Encyclop. Janvier 1762.Anfangs aͤußern ſie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels.

〟Solimann der Zweyte,

ſagen ſie,

war einer von den groͤßten Fuͤrſten ſeines Jahrhunderts; die Tuͤrken haben keinen Kaiſer, deſſen Andenken ihnen theurer waͤre, als dieſes Solimanns; ſeine Siege, ſeine Talente undTu -263Tugenden, machten ihn ſelbſt bey den Feinden verehrungswuͤrdig, uͤber die er ſiegte: aber welche kleine, jaͤmmerliche Rolle laͤßt ihn Mar - montel ſpielen? Roxelane war, nach der Ge - ſchichte, eine verſchlagene, ehrgeitzige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuͤhnſten, ſchwaͤr - zeſten Streiche faͤhig war, die den Sultan durch ihre Raͤnke und falſche Zaͤrtlichkeit ſo weit zu bringen wußte, daß er wider ſein eigenes Blut wuͤthete, daß er ſeinen Ruhm durch die Hinrich - tung eines unſchuldigen Sohnes befleckte: und dieſe Roxelane iſt bey dem Marmontel eine kleine naͤrriſche Coquette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als boͤſe. Sind dergleichen Ver - kleidungen, fragen ſie, wohl erlaubt? Darf ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch noch ſo viel Freyheit verſtattet, dieſe Freyheit wohl bis auf die allerbekannteſten Charaktere er - ſtrecken? Wenn er Facta nach ſeinem Gutduͤn - ken veraͤndern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt, und einen Sokrates galant ſchildern?〟

Das heißt einem mit aller Beſcheidenheit zu Leibe gehen. Ich moͤchte die Rechtfertigung des Hrn. Mar - montel nicht uͤbernehmen; ich habe mich vielmehr ſchon dahin geaͤußert,(*)Oben S. 184. daß die Charaktere dem Dich - ter weit heiliger ſeyn muͤſſen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, dieſe, inſo - fern ſie eine Folge von jenen ſind, von ſelbſt nicht viel anders ausfallen koͤnnen; da hingegen einerley Factum ſich aus ganz verſchiednen Charakteren herleiten laͤßt. Zwey -264Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, ſondern in der Erkenntniß beſtehet, daß dieſe Charaktere unter dieſen Umſtaͤnden ſolche Facta her - vor zu bringen pflegen, und hervor bringen muͤſſen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europaͤiſche Skla - vinn gegeben, die ſich zur geſetzmaͤßigen Gemahlinn des Kaiſers zu machen gewußt: das iſt das Factum. Die Charaktere dieſer Sklavinn und dieſes Kaiſers beſtim - men die Art und Weiſe, wie dieſes Factum wirklich ge - worden; und da es durch mehr als eine Art von Cha - rakteren wirklich werden koͤnnen; ſo ſteht es freylich bey dem Dichter, als Dichter, welche von dieſen Arten er waͤhlen will; ob die, welche die Hiſtorie beſtaͤtiget, oder eine andere, ſo wie der moraliſchen Abſicht, die er mit ſeiner Erzehlung verbindet, das eine oder das andere gemaͤßer iſt. Nur ſollte er ſich, im Fall daß er andere Charaktere, als die hiſtoriſchen, oder wohl gar dieſen voͤllig entgegen geſetzte waͤhlet, auch der hiſtori - ſchen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Perſonen das bekannte Factum beylegen, als bekann - ten Perſonen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unſere Kenntniß, oder ſcheinet ſie wenigſtens zu vermehren, und iſt dadurch angenehm. Dieſes widerſpricht der Kenntniß, die wir bereits ha - ben, und iſt dadurch unangenehm. Die Facta betrach - ten wir als etwas zufaͤlliges, als etwas, das mehrern Perſonen gemein ſeyn kann; die Charaktere hingegen als etwas weſentliches u. eigenthuͤmliches. Mit jenen laſſen wir den Dichter umſpringen, wie er will, ſo lange er ſie nur nicht mit den Charakteren in Widerſpruch ſetzet; dieſe hingegen darf er wohl ins Licht ſtellen, aber nicht veraͤndern; die geringſte Veraͤnderung ſcheinet uns die Individulitaͤt aufzuheben, und andere Perſo - nen unterzuſchieben, betruͤgeriſche Perſonen, die frem - de Namen uſurpiren, und ſich fuͤr etwas ausgeben, was ſie nicht ſind.

Ham -[265]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und dreyßigſtes Stuͤck.

Aber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge - waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte - hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver - goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum aus;(*)Pindarus Olymp. II. ſtr. 5. v. 10. was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent - weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nichtwiſſen,L l266wiſſen, als inſofern es in ſeinen Kram taugt; es verſtoͤßt alſo, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorſatz, ſo oft, ſo groͤblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug daruͤber verwundern koͤnnen; wir ſtehen und ſtaunen und ſchlagen die Haͤnde zuſammen und rufen:

〟Aber, wie hat ein ſo großer Mann nicht wiſſen koͤnnen! wie iſt es moͤglich, daß ihm nicht beyfiel! uͤberlegte er denn nicht?〟

O, laßt uns ja ſchweigen; wir glauben ihn zu de - muͤthigen, und wir machen uns in ſeinen Augen laͤcherlich; alles, was wir beſſer wiſſen, als er, beweiſet blos, daß wir fleißiger zur Schule ge - gangen, als er; und das hatten wir leider noͤ - thig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoͤpfe bleiben wollten.

Marmontels Solimann haͤtte daher meinet - wegen immer ein ganz anderer Solimann, und ſeine Roxelane eine ganz andere Roxelane ſeyn moͤgen, als mich die Geſchichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden haͤtte, daß, ob ſie ſchon nicht aus dieſer wirklichen Welt ſind, ſie dennoch zu einer andern Welt gehoͤren koͤnnten; zu einer Welt, deren Zufaͤlligkeiten in einer andern Ord - nung verbunden, aber doch eben ſo genau ver - bunden ſind, als in dieſer; zu einer Welt, in welcher Urſachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all - gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz,zu267zu der Welt eines Genies, das (es ſey mir erlaubt, den Schoͤpfer ohne Namen durch ſein edelſtes Geſchoͤpf zu bezeichnen!) das, ſage ich, um das hoͤchſte Genie im Kleinen nachzuahmen, die Theile der gegenwaͤrtigen Welt verſetzet, ver - tauſcht, verringert, vermehret, um ſich ein ei - genes Ganze daraus zu machen, mit dem es ſeine eigene Abſichten verbindet. Doch da ich dieſes in dem Werke des Marmontels nicht finde, ſo kann ich es zufrieden ſeyn, daß man ihm auch jenes nicht fuͤr genoſſen ausgehen laͤßt. Wer uns nicht ſchadlos halten kann, oder will, muß uns nicht vorſetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es ſey nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.

Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, ſind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet, oder ſich ſchaffet, Ueberein - ſtimmung und Abſicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden.

Uebereinſtimmung: Nichts muß ſich in den Charakteren widerſprechen; ſie muͤſſen immer einfoͤrmig, immer ſich ſelbſt aͤhnlich bleiben; ſie duͤrfen ſich itzt ſtaͤrker, itzt ſchwaͤcher aͤußern, nach dem die Umſtaͤnde auf ſie wirken; aber keine von dieſen Umſtaͤnden muͤſſen maͤchtig genug ſeyn koͤnnen, ſie von ſchwarz auf weiß zu aͤndern. L l 2Ein268Ein Tuͤrk und Deſpot muß, auch wenn er ver - liebt iſt, noch Tuͤrk und Deſpot ſeyn. Dem Tuͤrken, der nur die ſinnliche Liebe kennt, muͤſ - ſen keine von den Raffinements beyfallen, die eine verwoͤhnte Europaͤiſche Einbildungskraft damit verbindet.

〟Ich bin dieſer liebkoſenden 〟Maſchinen ſatt; ihre weiche Gelehrigkeit hat 〟nichts anzuͤgliches, nichts ſchmeichelhaftes; ich 〟will Schwierigkeiten zu uͤberwinden haben, 〟und wenn ich ſie uͤberwunden habe, durch neue 〟Schwierigkeiten in Athem erhalten ſeyn:

ſo kann ein Koͤnig von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es iſt wahr, wenn man einem Sultan dieſe Denkungsart einmal giebt, ſo koͤmmt der Deſpot nicht mehr in Betrachtung; er entaͤußert ſich ſeines Deſpotismus ſelbſt, um einer freyern Liebe zu genieſſen; aber wird er deßwegen auf einmal der zahme Affe ſeyn, den eine dreiſte Gaucklerinn kann tanzen laſſen, wie ſie will? Marmontel ſagt: Solimann war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angele - genheiten ſeines Serraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeſchaͤfte haͤtte treiben ſollen. Sehr wohl; aber ſo haͤtte er auch am Ende wichtige Staatsgeſchaͤfte nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten ſeines Serraglio treiben muͤſ - ſen. Denn zu einem großen Manne gehoͤrt bei - des: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wich - tige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er269Er ſuchte, wie ihn Marmontel ſelbſt ſagen laͤßt, freye Herzen, die ſich aus bloſſer Liebe zu ſeiner Perſon die Sklaverey gefallen lieſſen; er haͤtte ein ſolches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zaͤrtliche Elmire wird von einer wolluͤſtigen Delia verdrengt, bis ihm eine Unbeſonnene den Strick uͤber die Hoͤrner wirft, der er ſich ſelbſt zum Sklaven machen muß, ehe er die zweydeutige Gunſt genieſſet, die bisher immer der Tod ſeiner Begierden ge - weſen. Wird ſie es nicht auch hier ſeyn? Ich muß lachen uͤber den guten Sultan, und er ver - diente doch mein herzliches Mitleid. Wenn El - mire und Delia, nach dem Genuſſe auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzuͤckte: was wird denn Roxelane, nach dieſem kritiſchen Au - genblicke, fuͤr ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Kroͤnung, noch der Muͤhe werth halten, ihr dieſes Opfer gebracht zu ha - ben? Ich fuͤrchte ſehr, daß er ſchon den erſten Morgen, ſobald er ſich den Schlaf aus den Au - gen gewiſcht, in ſeiner verehelichten Sultane weiter nichts ſieht, als ihre zuverſichtliche Frech - heit und ihre aufgeſtuͤlpte Naſe. Mich duͤnkt, ich hoͤre ihn ausrufen: Beym Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!

Ich leugne nicht, daß bey alle den Widerſpruͤ - chen, die uns dieſen Solimann ſo armſelig und veraͤchtlich machen, er nicht wirklich ſeyn koͤnnte? L l 3Es270Es giebt Menſchen genug, die noch klaͤglichere Widerſpruͤche in ſich vereinigen. Aber dieſe koͤnnen auch, eben darum, keine Gegenſtaͤnde der poetiſchen Nachahmung ſeyn. Sie ſind un - ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es waͤre denn, daß man ihre Widerſpruͤche ſelbſt, das Laͤcherliche oder die ungluͤcklichen Folgen der - ſelben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bey ſeinem Solimann zu thun offenbar weit entfernt geweſen. Einem Cha - rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die

Abſicht. Mit Abſicht handeln iſt das, was den Menſchen uͤber geringere Geſchoͤpfe erhebt; mit Abſicht dichten, mit Abſicht nachahmen, iſt das, was das Genie von den kleinen Kuͤnſtlern unterſcheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen, die ſich mit dem geringen Vergnuͤgen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden iſt, die dieſe Mittel zu ihrer ganzen Abſicht machen, und verlangen, daß auch wir uns mit dem eben ſo geringen Vergnuͤgen befriedigen ſollen, welches aus dem Anſchauen ihres kunſtreichen aber abſicht - loſen Gebrauches ihrer Mittel entſpringet. Es iſt wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun - gen faͤngt das Genie an, zu lernen; es ſind ſeine Voruͤbungen; auch braucht es ſie in groͤßern Werken zu Fuͤllungen, zu Ruhepunkten unſererwaͤr -271waͤrmern Theilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung ſeiner Hauptcharaktere verbin - det es weitere und groͤßere Abſichten; die Abſicht uns zu unterrichten, was wir zu thun oder zu laſſen haben; die Abſicht uns mit den eigentli - chen Merkmahlen des Guten und Boͤſen, des Anſtaͤndigen und Laͤcherlichen bekannt zu machen; die Abſicht uns jenes in allen ſeinen Verbindun - gen und Folgen als ſchoͤn und als gluͤcklich ſelbſt im Ungluͤcke, dieſes hingegen als haͤßlich und ungluͤcklich ſelbſt im Gluͤcke, zu zeigen; die Ab - ſicht, bey Vorwuͤrfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abſchreckung fuͤr uns Statt hat, wenigſtens unſere Begeh - rungs - und Verabſcheuungskraͤfte mit ſolchen Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen, die es zu ſeyn verdienen, und dieſe Gegenſtaͤnde jederzeit in ihr wahres Licht zu ſtellen, damit uns kein falſcher Tag verfuͤhrt, was wir begehren ſollten zu ver - abſcheuen, und was wir verabſcheuen ſollten zu begehren.

Was iſt nun von dieſen allen in dem Charakter des Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich ſchon geſagt habe: Nichts. Aber von manchem iſt ge - rade das Gegentheil darinn; ein Paar Leute, die wir verachten ſollten, wovon uns das eine Eckel und das andere Unwille eigentlich erregen muͤßte, ein ſtum - pfer Wolluͤſtling, eine abgefaͤumte Buhlerinn, wer - den uns mit ſo verfuͤhreriſchen Zuͤgen, mit ſo lachenden Farben geſchildert, daß es mich nicht wundern ſollte, wenn mancher Ehemann ſich daraus berechtiget zu ſeynglaubte,272glaubte, ſeiner rechtſchaffen und ſo ſchoͤnen als gefaͤlli - gen Gattinn uͤberdruͤßig zu ſeyn, weil ſie eine Elmire und keine Roxelane iſt.

Wenn Fehler, die wir adoptiren, unſere eigene Feh - ler ſind, ſo haben die angefuͤhrten franzoͤſiſchen Kunſt - richter Recht, daß ſie alle das Tadelhafte des Marmon - telſchen Stoffes dem Favart mit zur Laſt legen. Dieſer ſcheinet ihnen ſogar dabey noch mehr geſuͤndiget zu ha - ben, als jener.

〟Die Wahrſcheinlichkeit,

ſagen ſie,

auf die es vielleicht in einer Erzehlung ſo ſehr nicht an - koͤmmt, iſt in einem dramatiſchen Stuͤcke unumgaͤng - lich noͤthig; und dieſe iſt in dem gegenwaͤrtigen auf das aͤußerſte verletzet. Der große Solimann ſpielet eine ſehr kleine Rolle, u. es iſt unangenehm, ſo einen Helden nur immer aus ſo einem Geſichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans iſt noch mehr verunſtal - tet; da iſt auch nicht ein Schatten von der unum - ſchraͤnkten Gewalt, vor der alles ſich ſchmiegen muß. Man haͤtte dieſe Gewalt wohl lindern koͤnnen; nur ganz vertilgen haͤtte man ſie nicht muͤſſen. Der Cha - rakter der Roxelane hat wegen ſeines Spiels gefallen; aber wenn die Ueberlegung daruͤber koͤmmt, wie ſieht es dann mit ihm aus? Iſt ihre Rolle im geringſten wahr - ſcheinlich? Sie ſpricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariſer Buͤrger; ſie tadelt alle ſeine Gebraͤuche; ſie widerſpricht in allen ſeinem Geſchmacke, und ſagt ihm ſehr harte, nicht ſelten ſehr beleidigende Dinge. Viel - leicht zwar haͤtte ſie das alles ſagen koͤnnen; wenn ſie es nur mit gemeſſenern Ansdruͤcken geſagt haͤtte. Aber wer kann es aushalten, den großen Solimann von ei - ner jungen Landſtreicherinn ſo hofmeiſtern zu hoͤren? Er ſoll ſogar die Kunſt zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verſchmaͤhten Schnupftuche iſt hart; und der mit der weggeworfenen Tabackspfeife ganz uner - traͤglich.
Ham -[273]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fuͤnf und dreyßigſtes Stuͤck.

Der letztere Zug, muß man wiſſen, gehoͤrt dem Favart ganz allein; Marmontel hat ſich ihn nicht erlaubt. Auch iſt der erſtere bey dieſem feiner, als bey jenem. Denn beym Favart giebt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; ſie ſcheinet es der Delia lieber zu goͤnnen, als ſich ſelbſt; ſie ſchei - net es zu verſchmaͤhen: das iſt Beleidigung. Beym Marmontel hingegen laͤßt ſich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben, und giebt es der Delia in ſeinem Namen; ſie beuget damit einer Gunſtbezeigung nur vor, die ſie ſelbſt noch nicht anzunehmen Willens iſt, und das mit der uneigennuͤtzigſten, gutherzigſten Mine: der Sul - tan kann ſich uͤber nichts beſchweren, als daß ſie ſeine Geſinnungen ſo ſchlecht erraͤth, oder nicht beſſer errathen will.

M mOhn274

Ohne Zweifel glaubte Favart durch derglei - chen Ueberladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinen - zen ſahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verſchlagen, beſon - ders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieſer Perſon nehmen wollte. Denn ohngeachtet, daß ſeine Roxelane noch un - bedachtſamere Streiche macht, noch plumpern Muthwillen treibet, ſo hat er ſie dennoch zu ei - nem beſſern und edlern Charaktere zu machen gewußt, als wir in Marmontels Roxelane er - kennen. Und wie das? warum das?

Eben auf dieſe Veraͤnderung wollte ich oben(*)S. 262. kommen; und mich duͤnkt, ſie iſt ſo gluͤcklich und vortheilhaft, daß ſie von den Fran - zoſen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient haͤtte.

Marmontels Roxelane iſt wirklich, was ſie ſcheinet, ein kleines naͤrriſches, vermeſſenes Ding, deſſen Gluͤck es iſt, daß der Sultan Ge - ſchmack an ihm gefunden, und das die Kunſt ver - ſteht, dieſen Geſchmack durch Hunger immer gie - riger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedi - gen, als bis ſie ihren Zwecke erreicht hat. Hin - ter Favarts Roxelane hingegen ſteckt mehr, ſie ſcheinet die kecke Buhlerinn mehr geſpielt zu ha - ben, als zu ſeyn, durch ihre Dreiſtigkeiten denSul -275Sultan mehr auf die Probe geſtellt, als ſeine Schwaͤche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat ſie den Sultan dahin gebracht, wo ſie ihn haben will, kaum erkennt ſie, daß ſeine Liebe ohne Grenzen iſt, als ſie gleichſam die Larve ab - nimmt, und ihm eine Erklaͤrung thut, die zwar ein wenig unvorbereitet koͤmmt, aber ein Licht auf ihre vorige Auffuͤhrung wirft, durch wel - ches wir ganz mit ihr ausgeſoͤhnet werden.

〟Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimſte Triebfedern, er - forſcht; es iſt eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tu - gend entzuͤckt mich! Aber lerne nun auch, mich kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte, nimm meine Freyheit zuruͤck; ſey mein Sultan, mein Held, mein Gebiether! Ich wuͤrde dir ſonſt ſehr eitel, ſehr ungerecht ſcheinen muͤſſen. Nein, thue nichts, als was dich dein Geſetz zu thun berechtiget. Es giebt Vorurtheile, denen man Achtung ſchuldig iſt. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erroͤthen darf; ſieh hier in Roxelanen nichts, als deine un - terthaͤnige Sklavinn.(*)
Sultan, j’ai pénetré ton ame; J’en ai demêlé les reſſorts. Elle eſt grande, elle eſt fiere, & la gloire l’enflame,Tant

So ſagt ſie, undM m 2uns276uns wird auf einmal ganz anders; die Coquette verſchwindet, und ein liebes, eben ſo vernuͤnf - tiges als drolligtes Maͤdchen ſteht vor uns; So - limann hoͤret auf, uns veraͤchtlich zu ſcheinen, denn dieſe beſſere Roxelane iſt ſeiner Liebe wuͤr - dig; wir fangen ſogar in dem Augenblicke an zu fuͤrchten, er moͤchte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu ſehr zu lieben ſchien, er moͤchte ſie bey ihrem Worte faſſen, der Liebha - ber moͤchte den Deſpoten wieder annehmen, ſo - bald ſich die Liebhaberinn in die Sklavinn ſchickt, eine kalte Dankſagung, daß ſie ihn noch zu rechter Zeit von einem ſo bedenklichen Schritte zuruͤck halten wollen, moͤchte anſtatt einer feu - rigen Beſtaͤtigung ſeines Entſchluſſes erfolgen, das gute Kind moͤchte durch ihre Großmuth wieder auf einmal verlieren, was ſie durch muth - willige Vermeſſenheiten ſo muͤhſam gewonnen: doch dieſe Furcht iſt vergebens, und das Stuͤck ſchließt ſich zu unſerer voͤlligen Zufriedenheit.

Und

(*)Tant de vertus excitent mes tranſports. A ton tour, tu vas me connoitre: Je t’aime, Soliman; mes tu l’as mérité. Reprends tes droits, reprends ma liberté; Sois mon Sultan, mon Heros & mon Maitre. Tu me ſoupçonnerois d’injuſte vanité. Va, ne fais rien, que ta loi n’autoriſe; Il eſt des préjugés qu’on ne doit point trahir, Et je veux un Amant, qui n’ai point à rougir: Tu vois dans Roxelane une Eſclave ſoumiſe.

277

Und nun, was bewog den Favart zu dieſer Veraͤnderung? Iſt ſie blos willkuͤhrlich, oder fand er ſich durch die beſondern Regeln der Gat - tung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel ſeiner Er - zehlung dieſen vergnuͤgendern Ausgang? Iſt das Gegentheil von dem, was dort eine Schoͤnheit iſt, hier ein Fehler?

Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterſchied ſich zwiſchen der Handlung der aeſopiſchen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moraliſchen Erzehlung, welche die Abſicht hat, einen allgemeinen moraliſchen Satz zur Intuition zu bringen. Wir ſind zufrieden, wenn dieſe Abſicht erreicht wird, und es iſt uns gleichviel, ob es durch eine vollſtaͤndige Hand - lung, die fuͤr ſich ein wohlgeruͤndetes Ganze ausmacht, geſchiehet oder nicht; der Dichter kann ſie abbrechen, wo er will, ſobald er ſich an ſeinem Ziele ſieht; wegen des Antheils, den wir an dem Schickſale der Perſonen nehmen, durch welche er ſie ausfuͤhren laͤßt, iſt er unbekuͤmmert, er hat uns nicht intereſſiren, er hat uns unter - richten wollen; er hat es lediglich mit unſerm Verſtande, nicht mit unſerm Herzen zu thun, dieſes mag befriediget werden, oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hin - gegen macht auf eine einzige, beſtimmte, ausM m 3ſeiner278ſeiner Fabel fließende Lehre, keinen Anſpruch; es gehet entweder auf die Leidenſchaften, welche der Verlauf und die Gluͤcksveraͤnderungen ſeiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermoͤ - gend ſind, oder auf das Vergnuͤgen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewaͤhret; und beides erfordert eine gewiſſe Vollſtaͤndigkeit der Handlung, ein gewiſſes befriedigendes Ende, welches wir bey der moraliſchen Erzehlung nicht vermiſſen, weil alle unſere Aufmerkſamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derſelben ein ſo einleuchtendes Beyſpiel giebt.

Wenn es alſo wahr iſt, daß Marmontel durch ſeine Erzehlung lehren wollte, die Liebe laſſe ſich nicht erzwingen, ſie muͤſſe durch Nachſicht und Gefaͤlligkeit, nicht durch Anſehen und Gewalt erhalten werden: ſo hatte er Recht ſo aufzuhoͤ - ren, wie er aufhoͤrt. Die unbaͤndige Roxe - lane wird durch nichts als Nachgeben gewon - nen; was wir dabey von ihrem und des Sultans Charakter denken, iſt ihm ganz gleichguͤltig, moͤgen wir ſie doch immer fuͤr eine Naͤrrinn und ihn fuͤr nichts beſſers halten. Auch hat er gar nicht Urſache, uns wegen der Folge zu beruhi - gen; es mag uns immer noch ſo wahrſcheinlich ſeyn, daß den Sultan ſeine blinde Gefaͤlligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefaͤlligkeit uͤber dasFrauen -279Frauenzimmer uͤberhaupt vermag; er nahm alſo eines der wildeſten; unbekuͤmmert, ob es eine ſolche Gefaͤlligkeit werth ſey, oder nicht.

Allein, als Favart dieſe Erzehlung auf das Theater bringen wollte, ſo empfand er bald, daß durch die dramatiſche Form die Intuition des moraliſchen Satzes groͤßten Theils verlohren gehe, und daß, wenn ſie auch vollkommen er - halten werden koͤnne, das daraus erwachſende Vergnuͤgen doch nicht ſo groß und lebhaft ſey, daß man dabey ein anderes, welches dem Drama weſentlicher iſt, entbehren koͤnne. Ich meine das Vergnuͤgen, welches uns eben ſo rein ge - dachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaͤh - ren. Nichts beleidiget uns aber, von Seiten dieſer, mehr, als der Widerſpruch, in welchem wir ihren moraliſchen Werth oder Unwerth mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß ſich dieſer entweder ſelbſt damit betrogen hat, oder uns wenigſtens damit betrie - gen will, indem er das Kleine auf Stelzen he - bet, muthwilligen Thorheiten den Anſtrich hei - terer Weisheit giebt, und Laſter und Ungereimt - heiten mit allen betriegeriſchen Reitzen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausſtaffiret. Je mehr unſere erſten Blicke dadurch geblendet werden, deſto ſtrenger verfaͤhrt unſere Ueberlegung; das haͤßliche Geſicht, das wir ſo ſchoͤn geſchminkt ſehen, wird fuͤr noch ein -mal280mal ſo haͤßlich erklaͤrt, als es wirklich iſt; und der Dichter hat nur zu waͤhlen, ob er von uns lieber fuͤr ein Giftmiſcher oder fuͤr einen Bloͤdſin - nigen will gehalten ſeyn. So waͤre es dem Fa - vart, ſo waͤre es ſeinen Charakteren des Soli - manns und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er dieſe Charaktere nicht von Anfang aͤndern konnte, ohne ſich eine Menge Theaterſpiele zu verderben, die er ſo voll - kommen nach dem Geſchmacke ſeines Parterrs zu ſeyn urtheilte, ſo blieb ihn nichts zu thun uͤbrig, als was er that. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnuͤgt zu haben, was wir nicht auch hochachten koͤnnten; und zugleich befriediget dieſe Hochachtung unſere Neugierde und Beſorgniß wegen der Zukunft. Denn da die Illuſion des Drama weit ſtaͤrker iſt, als einer bloßen Erzeh - lung, ſo intereſſiren uns auch die Perſonen in jenem weit mehr, als in dieſer, und wir begnuͤ - gen uns nicht, ihr Schickſal bloß fuͤr den gegen - waͤrtigen Augenblick entſchieden zu ſehen, ſon - dern wir wollen uns auf immer desfalls zufrieden geſtellet wiſſen.

Ham -[281]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und dreyßigſtes Stuͤck.

So unſtreitig wir aber, ohne die gluͤckliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane giebt, ihre dar - auf folgende Kroͤnung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den laͤcherli - chen Triumph einer Serva Padrona, wuͤrden betrachtet haben; ſo gewiß, ohne ſie, der Kaiſer in unſern Augen nichts als ein klaͤglicher Pim - pinello, und die neue Kaiſerinn nichts als eine haͤß - liche, verſchmitzte Serbinette geweſen waͤre, von der wir voraus geſehen haͤtten, daß ſie nun bald dem armen Sultan, Pimpinello dem Zweyten, noch ganz anders mitſpielen werde: ſo leicht und natuͤrlich duͤnkt uns doch auch dieſe Wendung ſelbſt; und wir muͤſſen uns wundern, daß ſie, dem ohngeachtet, ſo manchem Dichter nicht bey - gefallen, und ſo manche drollige und dem An - ſehen nach wirklich komiſche Erzehlung, in derN ndra -282dramatiſchen Form daruͤber verungluͤcken muͤſ - ſen.

Zum Exempel, die Matrone von Epheſus. Man kennt dieſes beiſſende Maͤhrchen, und es iſt unſtreitig die bitterſte Satyre, die jemals gegen den weiblichen Leichtſinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tauſendmal nach erzehlt; und da es ſelbſt in der ſchlechteſten Copie noch immer gefiel, ſo glaubte man, daß es ein eben ſo gluͤcklicher Stoff auch fuͤr das Theater ſeyn muͤſſe. Houdar de la Motte, und andere, mach - ten den Verſuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefuͤhl, wie dieſer Verſuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzeh - lung ein nicht unangenehmes hoͤhniſches Laͤcheln uͤber die Vermeſſenheit der ehelichen Liebe er - weckt, wird in dem Drama eckel und graͤßlich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren ſich der Soldat gegen ſie bedienet, bey weitem nicht ſo fein und dringend und ſiegend, als wir ſie uns dort vorſtellen. Dort bilden wir uns ein em - pfindliches Weibchen ein, dem es mit ſeinem Schmerze wirklich Ernſt iſt, das aber den Ver - ſuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwaͤche duͤnkt uns die Schwaͤche des gan - zen Geſchlechts zu ſeyn; wir faſſen alſo keinen beſondern Haß gegen ſie; was ſie thut, glauben wir, wuͤrde ungefehr jede Frau gethan haben; ſelbſt ihren Einfall, den lebendigen Liebhaberver -283vermittelſt des todten Mannes zu retten, glau - ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beſon - nenheit wegen, verzeihen zu muͤſſen; oder viel - mehr eben das Sinnreiche dieſes Einfalls bringt uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zuſatz des haͤmiſchen Erzehlers ſey, der ſein Maͤhrchen gern mit einer recht giftigen Spitze ſchlieſſen wollen. Aber in dem Drama findet dieſe Vermuthung nicht Statt; was wir dort nur hoͤren, daß es geſchehen ſey, ſehen wir hier wirklich geſchehen; woran wir dort noch zweifeln koͤnnen, davon uͤberzeugt uns unſer ei - gener Sinn hier zu unwiderſprechlich; bey der bloßen Moͤglichkeit ergoͤtzte uns das Sinnreiche der That, bey ihrer Wirklichkeit ſehen wir bloß ihre Schwaͤrze; der Einfall vergnuͤgte unſern Witz, aber die Ausfuͤhrung des Einfalls empoͤrt unſere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Buͤhne den Ruͤcken, und ſagen mit dem Lykas beym Petron, auch ohne uns in dem beſondern Falle des Lykas zu befinden:

Si juſtus Impe - rator fuiſſet, debuit patrisfamiliæ corpus in monimentum referre, mulierem ad - figere cruci.

Und dieſe Strafe ſcheinet ſie uns um ſo viel mehr zu verdienen, je weniger Kunſt der Dichter bey ihrer Verfuͤhrung ange - wendet; denn wir verdammen ſodann in ihr nicht das ſchwache Weib uͤberhaupt, ſondern ein vorzuͤglich leichtſinniges, luͤderliches Weibs -N n 2ſtuͤck284ſtuͤck insbeſondere. Kurz, die petroniſche Fa - bel gluͤcklich auf das Theater zu bringen, muͤßte ſie den nehmlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; muͤßte die Matrone ſo weit ge - hen, und auch nicht ſo weit gehen. Die Er - klaͤrung hieruͤber anderwaͤrts!

Den ſieben und dreyßigſten Abend (Sonna - bends, den 4ten Julius,) wurden Nanine und der Advokat Patelin wiederholt.

Den acht und dreyßigſten Abend (Dienſtags, den 7ten Julius,) ward die Merope des Herrn von Voltaire aufgefuͤhrt.

Voltaire verfertigte dieſes Trauerſpiel auf Veranlaſſung der Merope des Maffei; ver - muthlich im Jahr 1737, und vermuthlich zu Cirey, bey ſeine Urania, der Marquiſe du Chatelet. Denn ſchon im Jenner 1738 lag die Handſchrift davon zu Paris bey dem Pater Bru - moy, der als Jeſuit, und als Verfaſſer des Theatre des Grecs, am geſchickteſten war, die beſten Vorurtheile dafuͤr einzufloͤſſen, und die Erwartung der Hauptſtadt dieſen Vorur - theilen gemaͤß zu ſtimmen. Brumoy zeigte ſie den Freunden des Verfaſſers, und unter andern mußte er ſie auch dem alten Vater Tournemine ſchicken, der, ſehr geſchmeichelt, von ſeinem lie - ben Sohne Voltaire uͤber ein Trauerſpiel, uͤber eine Sache, wovon er eben nicht viel verſtand,um285um Rath gefragt zu werden, ein Briefchen vol - ler Lobeserhebungen an jenen daruͤber zuruͤck - ſchrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunſtrichtern zur Lehre und zur Warnung, je - derzeit dem Stuͤcke ſelbſt vorgedruckt worden. Es wird darinn fuͤr eines von den vollkommen - ſten Trauerſpielen, fuͤr ein wahres Muſter er - klaͤrt, und wir koͤnnen uns nunmehr ganz zu - frieden geben, daß das Stuͤck des Euripides gleichen Inhalts verlohren gegangen; oder viel - mehr, dieſes iſt nun nicht laͤnger verlohren, Vol - taire hat es uns wieder hergeſtellt.

So ſehr hierdurch nun auch Voltaire beru - higet ſeyn mußte, ſo ſchien er ſich doch mit der Vorſtellung nicht uͤbereilen zu wollen; welche erſt im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von ſei - ner ſtaatsklugen Verzoͤgerung auch alle die Fruͤchte, die er ſich nur immer davon verſpre - chen konnte. Merope fand den auſſerordentlich - ſten Beyfall, und das Parterr erzeigte dem Dich - ter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille ſehr vorzuͤglich; ſein Stuhl auf dem Theater ward beſtaͤndig frey gelaſſen, wenn der Zulauf auch noch ſo groß war, und wenn er kam, ſo ſtand jedermann auf; eine Diſtinction, deren in Frank - reich nur die Prinzen vom Gebluͤte gewuͤrdiget werden. Corneille ward im Theater wie in ſei -N n 3nem286nem Hauſe angeſehen; und wenn der Hausherr erſcheinet, was iſt billiger, als daß ihm die Gaͤſte ihre Hoͤflichkeit bezeigen? Aber Voltairen wie - derfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr ward begierig den Mann von Angeſicht zu ken - nen, den es ſo ſehr bewundert hatte; wie die Vorſtellung alſo zu Ende war, verlangte es ihn zu ſehen, und rufte, und ſchrie und lermte, bis der Herr von Voltaire heraustreten, und ſich begaffen und beklatſchen laſſen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet haͤtte, ob die kindiſche Neugierde des Publikums, oder die eitele Gefaͤlligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dich - ter ausſieht? Nicht wie andere Menſchen? Und wie ſchwach muß der Eindruck ſeyn, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Au - genblicke auf nichts begieriger iſt, als die Figur des Meiſters dagegen zu halten? Das wahre Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤllet uns ſo ganz mit ſich ſelbſt, daß wir des Urhebers daruͤber vergeſſen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Weſens, ſondern der allgemei - nen Natur betrachten. Young ſagt von der Sonne, es waͤre Suͤnde in den Heiden geweſen, ſie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieſer Hy - perbel liegt, ſo iſt es dieſer: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne iſt ſo groß, ſo uͤber - ſchwenglich, daß es dem rohern Menſchen zuver -287verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz ſey, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Urſache, warum wir ſo wenig Zuverlaͤßi - ges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden des Homers wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol - len es nicht wiſſen, wir finden unſere Rechnung dabey, es zu vergeſſen, daß Homer, der Schul - meiſter in Smyrna, Homer, der blinde Bett - ler, eben der Homer iſt, welcher uns in ſeinen Werken ſo entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt - ter und Helden; wir muͤßten in dieſer Geſell - ſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thuͤrſteher ſo genau zu erkundigen, der uns hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr ſchwach ſeyn, man muß wenig Natur, aber deſto mehr Kuͤnſteley empfinden, wenn man ſo neugierig nach dem Kuͤnſtler iſt. So wenig ſchmeichelhaft alſo im Grunde fuͤr einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Perſon zu kennen, ſeyn muͤßte: (und was hat er dabey auch wirklich vor dem erſten dem beſten Murmelthiere voraus, welches der Poͤbelgeſe -288geſehen zu haben, eben ſo begierig iſt?) ſo wohl ſcheinet ſich doch die Eitelkeit der franzoͤſiſchen Dichter dabey befunden zu haben. Denn da das Pariſer Parterr ſahe, wie leicht ein Vol - taire in dieſe Falle zu locken ſey, wie zahm und geſchmeidig ſo ein Mann durch zweydeutige Ca - reſſen werden koͤnne: ſo machte es ſich dieſes Vergnuͤgen oͤftrer, und ſelten ward nachher ein neues Stuͤck aufgefuͤhrt, deſſen Verfaſſer nicht gleichfalls hervor mußte, und auch ganz gern hervor kam. Von Voltairen bis zum Marmon - tel, und vom Marmontel bis tief herab zum Cor - dier, haben faſt alle an dieſem Pranger geſtan - den. Wie manches Armeſuͤndergeſichte muß darunter geweſen ſeyn! Der Poſſe gieng endlich ſo weit, daß ſich die Ernſthaftern von der Nation ſelbſt daruͤber aͤrgerten. Der ſinnreiche Einfall des weiſen Polichinell iſt bekannt. Und nur erſt ganz neulich war ein junger Dichter kuͤhn genug, das Parterr vergebens nach ſich rufen zu laſſen. Er erſchien durchaus nicht; ſein Stuͤck war mit - telmaͤßig, aber dieſes ſein Betragen deſto braver und ruͤhmlicher. Ich wollte durch mein Bey - ſpiel einen ſolchen Uebelſtand lieber abgeſchaft, als durch zehn Meropen ihn veranlaßt haben.

Ham -[289]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und dreyßigſtes Stuͤck.

Ich habe geſagt, daß Voltairens Merope durch die Merope des Maffei veranlaſſet worden. Aber veranlaſſet, ſagt wohl zu wenig: denn jene iſt ganz aus dieſer entſtanden; Fabel und Plan und Sitten gehoͤren dem Maffei; Voltaire wuͤrde ohne ihn gar keine, oder doch ſicherlich eine ganz andere Merope geſchrieben haben.

Alſo, um die Copie des Franzoſen richtig zu beurtheilen, muͤſſen wir zuvoͤrderſt das Original des Italieners kennen lernen; und um das poeti - ſche Verdienſt des letztern gehoͤrig zu ſchaͤtzen, muͤſſen wir vor allen Dingen einen Blick auf die hiſtoriſchen Facta werfen, auf die er ſeine Fabel gegruͤndet hat.

Maffei ſelbſt faſſet dieſe Facta, in der Zueig - nungsſchrift ſeines Stuͤckes, folgender Geſtalt zuſammen.

〟Daß, einige Zeit nach der Erobe -O orung290rung von Troja, als die Herakliden, d. i. die Nachkommen des Herkules, ſich in Peloponne - ſus wieder feſtgeſetzet, dem Kreſphont das Meſ - ſeniſche Gebiete durch das Loos zugefallen; daß die Gemahlinn dieſes Kreſphonts Merope ge - heiſſen; daß Kreſphont, weil er dem Volke ſich allzu guͤnſtig erwieſen, von den Maͤchtigern des Staats, mit ſammt ſeinen Soͤhnen umgebracht worden, den juͤngſten ausgenommen, welcher auswaͤrts bey einem Anverwandten ſeiner Mut - ter erzogen ward; daß dieſer juͤngſte Sohn, Na - mens Aepytus, als er erwachſen, durch Huͤlfe der Arkader und Dorier, ſich des vaͤterlichen Reiches wieder bemaͤchtiget, und den Tod ſeines Vaters an deſſen Moͤrdern geraͤchet habe: dieſes erzehlet Pauſanias. Daß, nachdem Kreſphont mit ſeinen zwey Soͤhnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Ge - ſchlechte der Herakliden war, die Regierung an ſich geriſſen; daß dieſer die Merope gezwungen, ſeine Gemahlinn zu werden; daß der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen laſſen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieſes berichtet Apollodorus. Daß Merope ſelbſt den gefluͤch - teten Sohn unbekannter Weiſe toͤdten wollen; daß ſie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, daß der, den ſie fuͤr den Moͤrderihres291ihres Sohnes halte, ihr Sohn ſelbſt ſey; daß der nun erkannte Sohn bey einem Opfer Gele - genheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieſes meldet Hyginus, bey dem Aepytus aber den Namen Telephontes fuͤhret.

Es waͤre zu verwundern, wenn eine ſolche Geſchichte, die ſo beſondere Gluͤckswechſel und Erkennungen hat, nicht ſchon von den alten Tra - gicis waͤre genutzt worden. Und was ſollte ſie nicht? Ariſtoteles, in ſeiner Dichtkunſt, gedenkt eines Kreſphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da ſie im Begriffe ſey, ihn als den vermeinten Moͤrder ihres Sohnes umzu - bringen; und Plutarch, in ſeiner zweyten Ab - handlung vom Fleiſcheſſen, zielet ohne Zweifel auf eben dieſes Stuͤck,(*)Dieſes vorausgeſetzt, (wie man es denn wohl ſicher vorausſetzen kann, weil es bey den alten Dichtern nicht gebraͤuchlich, und auch nicht erlaubt war, einander ſolche eigene Situatio - nen abzuſtehlen,) wuͤrde ſich an der angezoge - nen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden, welches Joſua Barnes nicht mitgenommen haͤtte, und ein neuer Heraus - geber des Dichters nutzen koͤnnte. wenn er ſich auf die Bewegung beruft, in welcher das ganze Theater gerathe, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuſchauer befalle, daß der Streich geſchehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen koͤnne. O o 2Ariſto -292Ariſtoteles erwaͤhnet dieſes Kreſphonts zwar ohne Namen des Verfaſſers; da wir aber, bey dem Cicero und mehrern Alten, einen Kreſphont des Euripides angezogen finden, ſo wird er wohl kein anderes, als das Werk dieſes Dichters ge - meinet haben.

Der Pater Tournemine ſagt in dem obge - dachten Briefe:

〟Ariſtoteles, dieſer weiſe Ge - 〟ſetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Me - 〟rope in die erſte Klaſſe der tragiſchen Fabeln 〟geſetzt (a mis ce ſujet au premier rang 〟des ſujets tragiques.) Euripides hatte ſie 〟behandelt, und Ariſtoteles meldet, daß, ſo oft 〟der Kreſphont des Euripides auf dem Theater 〟des witzigen Athens vorgeſtellet worden, die - 〟ſes an tragiſche Meiſterſtuͤcke ſo gewoͤhnte 〟Volk ganz auſſerordentlich ſey betroffen, ge - 〟ruͤhrt und entzuͤckt worden.

Huͤbſche Phra - ſes, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret ſich in beiden Punkten. Bey dem letztern hat er den Ariſtoteles mit dem Plutarch vermengt, und bey dem erſtern den Ariſtoteles nicht recht verſtanden. Jenes iſt eine Kleinigkeit, aber uͤber dieſes verlohnet es der Muͤhe, ein Paar Worte zu ſagen, weil mehrere den Ariſtoteles eben ſo unrecht verſtanden haben.

Die Sache verhaͤlt ſich, wie folget. Ari - ſtoteles unterſucht, in dem vierzehnten Kapitel ſeiner Dichtkunſt, durch was eigentlich fuͤr Be -geben -293gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer - de. Alle Begebenheiten, ſagt er, muͤſſen ent - weder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichguͤltigen Perſonen vorgehen. Wenn ein Feind ſeinen Feind toͤdtet, ſo erweckt weder der Anſchlag noch die Ausfuͤhrung der That ſonſt weiter einiges Mitleid, als das all - gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz - lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden iſt. Und ſo iſt es auch bey gleichguͤltigen Per - ſonen. Folglich muͤſſen die tragiſchen Begeben - heiten ſich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru - der muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toͤdten, oder toͤdten wollen, oder ſonſt auf eine empfindliche Weiſe mißhandeln, oder mißhan - deln wollen. Dieſes aber kann entweder mit, oder ohne Wiſſen und Vorbedacht geſchehen; und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht vollfuͤhrt werden muß: ſo entſtehen daraus vier Klaſſen von Begebenheiten, welche den Abſich - ten des Trauerſpiels mehr oder weniger entſpre - chen. Die erſte: wenn die That wiſſentlich, mit voͤlliger Kenntniß der Perſon, gegen welche ſie vollzogen werden ſoll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn ſie wiſſentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die That unwiſſend, ohne Kenntniß des Gegenſtandes, unternom -O o 3men294men und vollzogen wird, und der Thaͤter die Perſon, an der er ſie vollzogen, zu ſpaͤt kennen lernet. Die vierte: wenn die unwiſſend unter - nommene That nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Perſonen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von dieſen vier Klaſſen giebt Ariſtoteles der letztern den Vor - zug; und da er die Handlung der Merope, in dem Kreſphont, davon zum Beyſpiele anfuͤhret: ſo haben Tournemine, und andere, dieſes ſo angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieſes Trauerſpiels uͤberhaupt von der vollkommenſten Gattung tragiſcher Fabeln zu ſeyn erklaͤre.

Indeß ſagt doch Ariſtoteles kurz zuvor, daß eine gute tragiſche Fabel ſich nicht gluͤcklich, ſon - dern ungluͤcklich enden muͤſſe. Wie kann dieſes beides bey einander beſtehen? Sie ſoll ſich un - gluͤcklich enden, und gleichwohl laͤuft die Bege - benheit, welche er nach jener Klaſſification allen andern tragiſchen Begebenheiten vorziehet, gluͤck - lich ab. Widerſpricht ſich nicht alſo der große Kunſtrichter offenbar?

Victorins, ſagt Dacier, ſey der einzige, welcher dieſe Schwierigkeit geſehen; aber da er nicht ver - ſtanden, was Ariſtoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: ſo habe er auch nicht einmal den geringſten Verſuch gewagt, ſie zu heben. Ariſtoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel uͤberhaupt, ſondern wolle nur lehren, auf wie mancherley Art der Dichter tragiſche Begeben -heiten295heiten behandeln koͤnne, ohne das Weſentliche, was die Geſchichte davon meldet, zu veraͤndern, und welche von dieſen Arten die beſte ſey. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemneſtra durch den Oreſt, der Inhalt des Stuͤckes ſeyn ſollte, ſo zeige ſich, nach dem Ariſtoteles, ein vierfacher Plan, dieſen Stoff zu bearbeiten, nehmlich entweder als eine Begeben - heit der erſtern, oder der zweyten, oder der dritten, oder der vierten Klaſſe; der Dichter muͤſſe nun uͤber - legen, welcher hier der ſchicklichſte und beſte ſey. Dieſe Ermordung als eine Begebenheit der erſtern Klaſſe zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil ſie nach der Hiſtorie wirklich geſchehen muͤſſe, und durch den Oreſt geſchehen muͤſſe. Nach der zwey - ten, darum nicht: weil ſie zu graͤßlich ſey. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemneſtra dadurch abermals gerettet wuͤrde, die doch durchaus nicht gerettet werden ſolle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klaſſe uͤbrig.

Die dritte! Aber Ariſtoteles giebt ja der vierten den Vorzug; und nicht blos in einzeln Faͤllen, nach Maasgebung der Umſtaͤnde, ſondern uͤberhaupt. Der ehrliche Dacier macht es oͤftrer ſo: Ariſtoteles behaͤlt bey ihm Recht, nicht weil er Recht hat, ſon - dern weil er Ariſtoteles iſt. Indem er auf der einen Seite eine Bloͤße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben ſo ſchlimme. Wenn nun der Gegner die Beſonnenheit hat, anſtatt nach jener, in dieſe zu ſtoſſen: ſo iſt es ja doch um die Untruͤglichkeit ſeines Alten geſchehen, an der ihm, im Grunde, noch mehr als an der Wahrheit ſelbſt zu liegen ſcheinet. Wenn ſo viel auf die Ueberein - ſtimmung der Geſchichte ankoͤmmt, wenn der Dich - ter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gaͤnzlich veraͤndern darf: wird es unter die -ſen296ſen nicht auch ſolche geben, die durchaus nach dem erſten oder zweyten Plane behandelt werden muͤſ - ſen? Die Ermordung der Klytemneſtra muͤßte ei - gentlich nach dem zweyten vorgeſtellet werden; denn Oreſtes hat ſie wiſſentlich und vorſetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten waͤhlen, weil die - ſer tragiſcher iſt, und der Geſchichte doch nicht ge - radezu widerſpricht. Gut, es ſey ſo: aber z. E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einſchlagen, als den zweyten? Denn ſie muß ſie umbringen, und ſie muß ſie wiſſentlich umbringen; beides iſt aus der Ge - ſchichte gleich allgemein bekannt. Was fuͤr eine Rangordnung kann alſo unter dieſen Planen Statt finden? Der in einem Falle der vorzuͤglichſte iſt, koͤmmt in einem andern gar nicht in Betrachtung. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: ſo mache man die Anwendung, nicht auf hiſtoriſche, ſondern auf blos erdichtete Begebenheiten. Geſetzt, die Ermordung der Klytemneſtra waͤre von dieſer letztern Art, und es haͤtte den Dichter frey geſtan - den, ſie vollziehen oder nicht vollziehen zu laſſen, ſie mit oder ohne voͤllige Kenntniß vollziehen zu laſ - ſen. Welchen Plan haͤtte er dann waͤhlen muͤſſen, um eine ſo viel als moͤglich vollkommene Tragoͤdie daraus zu machen? Dacier ſagt ſelbſt: den vierten; denn wenn er ihm den dritten vorziehe, ſo geſchaͤhe es blos aus Achtung gegen die Geſchichte. Den vierten alſo? Den alſo, welcher ſich gluͤcklich ſchließt? Aber die beſten Tragoͤdien, ſagt eben der Ariſtote - les, der dieſem vierten Plane den Vorzug vor allen ertheilet, ſind ja die, welche ſich ungluͤcklich ſchlieſſen? Und das iſt ja eben der Widerſpruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn alſo gehoben? Beſtaͤtiget hat er ihn vielmehr.

Ham -[297]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und dreyßigſtes Stuͤck.

Ich bin es auch nicht allein, dem die Ausle - gung des Dacier keine Genuͤge leiſtet. Unſern deutſchen Ueberſetzer der Ariſtote - liſchen Dichtkunſt,(*)Herrn Curtius. S. 214. hat ſie eben ſo wenig be - friediget. Er traͤgt ſeine Gruͤnde dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier beſtreiten, aber ihn doch ſonſt erheblich genug duͤnken, um ſeinen Autor lieber gaͤnzlich im Stiche zu laſſen, als einen neuen Verſuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten ſey.

〟Ich uͤberlaſſe,

ſchließt er,

einer tiefern 〟Einſicht, dieſe Schwierigkeiten zu heben; ich 〟kann kein Licht zu ihrer Erklaͤrung finden, und 〟ſcheinet mir wahrſcheinlich, daß unſer Philo - 〟ſoph dieſes Kapitel nicht mit ſeiner gewoͤhnli - 〟chen Vorſicht durchgedacht habe.
IchP p298

Ich bekenne, daß mir dieſes nicht ſehr wahr - ſcheinlich ſcheinet. Eines offenbaren Wider - ſpruchs macht ſich ein Ariſtoteles nicht leicht ſchuldig. Wo ich dergleichen bey ſo einem Manne zu finden glaube, ſetze ich das groͤßere Mißtrauen lieber in meinen, als in ſeinen Ver - ſtand. Ich verdoppele meine Aufmerkſamkeit, ich uͤberleſe die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er ſich widerſprochen, als bis ich aus dem ganzen Zuſammenhange ſeines Syſtems er - ſehe, wie und wodurch er zu dieſem Widerſpruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten koͤnnen, was ihm dieſen Wider - ſpruch gewiſſermaaßen unvermeidlich machen muͤſſen, ſo bin ich uͤberzeugt, daß er nur anſchei - nend iſt. Denn ſonſt wuͤrde er dem Verfaſſer, der ſeine Materie ſo oft uͤberdenken muͤſſen, ge - wiß am erſten aufgefallen ſeyn, und nicht mir ungeuͤbterm Leſer, der ich ihn zu meinem Unter - richte in die Hand nehme. Ich bleibe alſo ſtehen, verfolge den Faden ſeiner Gedanken zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und ſage mir immer: Ariſtoteles kann irren, und hat oft ge - irret; aber daß er hier etwas behaupten ſollte, wovon er auf der naͤchſten Seite gerade das Ge - gentheil behauptet, das kann Ariſtoteles nicht. Endlich findet ſichs auch.

Doch ohne weitere Umſtaͤnde; hier iſt die Er - klaͤrung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. Auf299Auf die Ehrr einer tiefern Einſicht mache ich des - falls keinen Anſpruch. Ich will mich mit der Ehre einer groͤßern Beſcheidenheit gegen einen Philoſophen, wie Ariſtoteles, begnuͤgen.

Nichts empfiehlt Ariſtoteles dem tragiſchen Dichter mehr, als die gute Abfaſſung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern geſucht, als eben dieſe. Denn die Fabel iſt es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Ge - ſinnungen und Ausdruck werden zehnen gera - then, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich iſt. Er erklaͤrt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, πϱαξεως und eine Handlung iſt ihm eine Verknuͤpfung von Begebenheiten, συνϑεσις πραγματων. Die Handlung iſt das Ganze, die Begebenheiten ſind die Theile dieſes Ganzen: und ſo wie die Guͤte eines jeden Ganzen, auf der Guͤte ſeiner einzeln Theile und deren Verbindung beruhet, ſo iſt auch die tragiſche Handlung mehr oder we - niger vollkommen, nach dem die Begebenheiten, aus welchen ſie beſtehet, jede fuͤr ſich und alle zuſammen, den Abſichten der Tragoͤdie mehr oder weniger entſprechen. Nun bringt Ariſto - teles alle Begebenheiten, welche in der tragi - ſchen Handlung Statt haben koͤnnen, unter drey Hauptſtuͤcke: des Gluͤckswechſels, πεϱιπετειας der Erkennung, ἀναγνωϱισου; und des Lei -P p 2dens,300dens, παϑους. Was er unter den beiden erſtern verſteht, zeigen die Worte genugſam; unter dem dritten aber faßt er alles zuſammen, was den handelnden Perſonen verderbliches und ſchmerzliches wiederfahren kann; Tod, Wun - den, Martern und dergleichen. Jene, der Gluͤckswechſel und die Erkennung, ſind das, wodurch ſich die verwickelte Fabel, μυϑος πε - πλεγμενος, von der einfachen, ἁπλω, unter - ſcheidet; ſie ſind alſo keine weſentliche Stuͤcke der Fabel; ſie machen die Handlung nur man - nichfaltiger, und dadurch ſchoͤner und intereſ - ſanter; aber eine Handlung kann auch ohne ſie ihre voͤllige Einheit und Rundung und Groͤße haben. Ohne das dritte hingegen laͤßt ſich gar keine tragiſche Handlung denken; Arten des Lei - dens, παϑη, muß jedes Trauerſpiel haben, die Fabel deſſelben mag einfach oder verwickelt ſeyn; denn ſie gehen geradezu auf die Abſicht des Trauerſpiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Gluͤcks - wechſel, nicht jede Erkennung, ſondern nur ge - wiſſe Arten derſelben dieſe Abſicht erreichen, ſie in einem hoͤhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachtheilig als vortheilhaft ſind. Indem nun Ariſtoteles, aus dieſem Geſichts - punkte, die verſchiednen unter drey Hauptſtuͤcke gebrachten Theile der tragiſchen Handlung, jeden insbeſondere betrachtet, und unterſuchet, wel -ches301ches der beſte Gluͤckswechſel, welches die beſte Erkennung, welches die beſte Behandlung des Leidens ſey: ſo findet ſich in Anſehung des er - ſtern, daß derjenige Gluͤckswechſel der beſte, das iſt, der faͤhigſte, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befoͤrdern, ſey, welcher aus dem Beſſern in das Schlimmere geſchieht; und in Anſehung der letztern, daß diejenige Behand - lung des Leidens die beſte in dem nehmlichen Ver - ſtande ſey, wenn die Perſonen, unter welchen das Leiden bevorſtehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieſes Leiden zur Wirklichkeit gelangen ſoll, einander kennen lernen, ſo daß es dadurch unterbleibt.

Und dieſes ſoll ſich widerſprechen? Ich ver - ſtehe nicht, wo man die Gedanken haben muß, wenn man hier den geringſten Widerſpruch fin - det. Der Philoſoph redet von verſchiedenen Theilen: warum ſoll denn das, was er von die - ſem Theile behauptet, auch von jenem gelten muͤſſen? Iſt denn die moͤglichſte Vollkommen - heit des einen, nothwendig auch die Vollkom - menheit des andern? Oder iſt die Vollkommen - heit eines Theils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Gluͤckswechſel und das, was Ariſtoteles unter dem Worte Leiden be - greift, zwey verſchiedene Dinge ſind, wie ſie es ſind, warum ſoll ſich nicht ganz etwas Verſchie - denes von ihnen ſagen laſſen? Oder iſt es unmoͤg -P p 3lich,302lich, daß ein Ganzes Theile von entgegen geſetz - ten Eigenſchaften haben kann? Wo ſagt Ariſto - teles, daß die beſte Tragoͤdie nichts als die Vor - ſtellung einer Veraͤnderung des Gluͤckes in Un - gluͤck ſey? Oder, wo ſagt er, daß die beſte Tra - goͤdie auf nichts, als auf die Erkennung deſſen, hinauslaufen muͤſſe, an dem eine grauſam wider - natuͤrliche That veruͤbet werden ſollen? Er ſagt weder das eine noch das andere von der Tragoͤdie uͤberhaupt, ſondern jedes von einem beſondern Theile derſelben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Gluͤckswechſel kann ſich mitten in dem Stuͤcke eraͤugnen, und wenn er ſchon bis an das Ende fortdauert, ſo macht er doch nicht ſelbſt das Ende: ſo iſt z. E. der Gluͤcks - wechſel im Oedip, der ſich bereits zum Schluſſe des vierten Akts aͤußert, zu dem aber noch man - cherley Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen ſich eigentlich das Stuͤck ſchlieſſet. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stuͤcke zur Voll - ziehung gelangen ſollen, und in dem nehmlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, ſo daß durch dieſe Erkennung das Stuͤck nichts weniger als geendet iſt; wie in der zwey - ten Iphigenia des Euripides, wo Oreſtes, auch ſchon in dem vierten Akte, von ſeiner Schweſter, die ihn auſzuopfern im Begriffe iſt, erkanntwird.303wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ - giſchſte Gluͤckswechſel mit der tragiſchſten Be - handlung des Leidens ſich in einer und eben der - ſelben Fabel verbinden laſſe, kann man an der Merope ſelbſt zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß ſie nicht auch die erſtere ha - ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem ſie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu ſchuͤtzen, entweder ihr eigenes oder dieſes geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte? Warum koͤnnte ſich dieſes Stuͤck nicht eben ſo - wohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen ſchlieſſen? Warum ſollte es einem Dichter nicht frey ſtehen koͤnnen, um unſer Mit - leiden gegen eine ſo zaͤrtliche Mutter auf das hoͤchſte zu treiben, ſie durch ihre Zaͤrtlichkeit ſelbſt ungluͤcklich werden zu laſſen? Oder warum ſollte es ihm nicht erlaubt ſeyn, den Sohn, den er der frommen Rache ſeiner Mutter entriſſen, gleichwohl den Nachſtellungen des Tyrannen unterliegen zu laſſen? Wuͤrde eine ſolche Me - rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden Eigenſchaften des beſten Trauerſpiels verbinden, die man bey dem Kunſtrichter ſo widerſprechend findet?

Ich merke wohl, was das Mißverſtaͤndniß ver - anlaſſet haben kann. Man hat ſich einen Gluͤcks - wechſel aus dem Beſſern in das Schlimmere nichtohne304ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhin - derte Leiden nicht ohne Gluͤckswechſel denken koͤn - nen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere ſeyn; nicht zu erwaͤhnen, daß auch nicht bei - des eben die nehmliche Perſon treffen muß, und wenn es die nehmliche Perſon trift, daß eben nicht beides ſich zu der nehmlichen Zeit eraͤugnen darf, ſondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verurſachet werden kann. Ohne dieſes zu uͤberlegen, hat man nur an ſolche Faͤlle und Fabeln gedacht, in welchen beide Theile entweder zuſammen flieſſen, oder der eine den andern nothwendig aus - ſchließt. Daß es dergleichen giebt, iſt unſtreitig. Aber iſt der Kunſtrichter deswegen zu tadeln, der ſeine Regeln in der moͤglichſten Allgemeinheit ab - faßt, ohne ſich um die Faͤlle zu bekuͤmmern, in wel - chen ſeine allgemeinen Regeln in Colliſion kommen, und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine ſolche Colliſion mit ſich ſelbſt in Widerſpruch? Er ſagt: dieſer Theil der Fabel, wenn er ſeine Vollkommenheit haben ſoll, muß von dieſer Beſchaffenheit ſeyn; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er geſagt, daß jede Fabel dieſe Theile alle nothwendig haben muͤſſe? Genug fuͤr ihn, daß es Fabeln giebt, die ſie alle haben koͤnnen. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieſer gluͤcklichen nicht iſt; wenn ſie euch nur den beſten Gluͤckswechſel, oder nur die beſte Behandlung des Leidens erlaubt: ſo unterſuchet, bey welchem von beiden ihr am beſten uͤberhaupt fahren wuͤrdet, und waͤhlet. Das iſt es alles!

Ham -[305]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und dreyßigſtes Stuͤck.

Am Ende zwar mag ſich Ariſtoteles wider - ſprochen, oder nicht widerſprochen haben; Tournemine mag ihn recht verſtanden, oder nicht recht verſtanden haben: die Fabel der Merope iſt weder in dem einen, noch in dem an - dern Falle, ſo ſchlechterdings fuͤr eine vollkom - mene tragiſche Fabel zu erkennen. Denn hat ſich Ariſtoteles widerſprochen, ſo behauptet er eben ſowohl gerade das Gegentheil von ihr, und es muß erſt unterſucht werden, wo er das groͤſ - ſere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er ſich aber, nach meiner Erklaͤrung, nicht widerſpro - chen, ſo gilt das Gute, was er davon ſagt, nicht von der ganzen Fabel, ſondern nur von ei - nem einzeln Theile derſelben. Vielleicht war der Mißbrauch ſeines Anſehens bey dem Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jeſuiterkniff, um uns mit guter Art zu verſtehen zu geben, daßQ qeine306eine ſo vollkommene Fabel von einem ſo großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, nothwendig ein Meiſterſtuͤck werden muͤſſen.

Doch Tournemine und Tournemine Ich fuͤrchte, meine Leſer werden fragen: 〟Wer iſt 〟denn dieſer Tournemine? Wir kennen keinen 〟Tournemine. Denn viele duͤrften ihn wirk - lich nicht kennen; und manche duͤrften ſo fragen, weil ſie ihn gar zu gut kennen; wie Montes - quieu. (*)Lettres familières.

Sie belieben alſo, anſtatt des Pater Tourne - mine, den Herrn von Voltaire ſelbſt zu ſubſti - tuiren. Denn auch er ſucht uns, von dem ver - lohrnen Stuͤcke des Euripides, die nehmlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er ſagt, daß Ariſtoteles in ſeiner unſterblichen Dichtkunſt nicht anſtehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der intereſſanteſte Augenblick der ganzen griechiſchen Buͤhne ſey. Auch er ſagt, daß Ariſtoteles dieſem Coup de Théatre den Vorzug vor allen andern ertheile. Und vom Plutarch verſichert er uns gar, daß er dieſes Stuͤck des Euripides fuͤr das ruͤhrendſte von allen Stuͤcken deſſelben gehalten habe. (**)Ariſtote, dans ſa Poëtique immortelle, ne balance pas à dire que la reconnoiſſance de Merope & de ſon fils étaient le moment le plus intereſſant de toute la ſcène Grec -que. Die -307Dieſes letztere iſt nun gaͤnzlich aus der Luft ge - griffen. Denn Plutarch macht von dem Stuͤcke, aus welchem er die Situation der Merope an - fuͤhrt, nicht einmal den Titel namhaft; er ſagt weder wie es heißt, noch wer der Verfaſſer deſ - ſelben ſey; geſchweige, daß er es fuͤr das ruͤh - rendſte von allen Stuͤcken des Euripides erklaͤre.

Ariſtoteles ſoll nicht anſtehen, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Soh - nes der intereſſanteſte Augenblick der ganzen griechiſchen Buͤhne ſey! Welche Ausdruͤcke: nicht anſtehen, zu behaupten! Welche Hyper - bel: der intereſſanteſte Augenblick, der ganzen griechiſchen Buͤhne! Sollte man hieraus nicht ſchlieſſen: Ariſtoteles gehe mit Fleiß alle intereſ - ſante Augenblicke, welche ein Trauerſpiel haben koͤnne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verſchiedenen Beyſpiele, die er von jedem insbeſondere bey allen, oder wenigſtens den vornehmſten Dichtern gefunden, unter ein -Q q 2an -(**)que. Il donnait à ce coup de Théatre la preferance ſur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple ſi ſenſible, fremiſſaient de crainte que le vieillard, qui devait arrêter le bras de Merope, n’ar - rivât pas aſſez-tot. Cette piéce, qu’on jouait de ſon tems, & dont il nous reſte tres peu de fragmens, lui paraiſſait la plus touchante de toutes les tragedies d’Euri - pide &c. Lettre à Mr. Maffeì. 308ander ab, und thue endlich ſo dreiſt als ſicher den Ausſpruch fuͤr dieſen Augenblick bey dem Euripides. Gleichwohl iſt es nur eine einzelne Art von intereſſanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beyſpiele anfuͤhret; gleichwohl iſt er nicht einmal das einzige Beyſpiel von dieſer Art. Denn Ariſtoteles fand aͤhnliche Beyſpiele in der Iphigenia, wo die Schweſter den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erſtern im Begriffe ſind, ſich gegen die andern zu vergehen.

Das zweyte Beyſpiel von der Iphigenia iſt wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermuthet, auch die Helle ein Werk die - ſes Dichtees geweſen: ſo waͤre es doch ſonder - bar, daß Ariſtoteles alle drey Beyſpiele von ei - ner ſolchen gluͤcklichen Erkennung gerade bey demjenigen Dichter gefunden haͤtte, der ſich der ungluͤcklichen Peripetie am meiſten bediente. Warum zwar ſonderbar? Wir haben ja geſehen, daß die eine die andere nicht ausſchließt; und obſchon in der Iphigenia die gluͤckliche Erken - nung auf die ungluͤckliche Peripetie folgt, und das Stuͤck uͤberhaupt alſo gluͤcklich ſich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine un - gluͤckliche Peripetie auf die gluͤckliche Erkennung folgte, und ſie alſo voͤllig in der Manier ſchloſ - ſen, durch die ſich Euripides den Charakter des tragiſchſten von allen tragiſchen Dichtern ver - diente?

Mit309

Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art moͤglich; ob es aber wirklich geſchehen, oder nicht geſchehen, laͤßt ſich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem Kreſphontes uͤbrig ſind, nicht ſchlieſſen. Sie enthalten nichts als Sittenſpruͤche und morali - ſche Geſinnungen, von ſpaͤtern Schriftſteller ge - legentlich angezogen, und werfen nicht das ge - ringſte Licht auf die Oekonomie des Stuͤckes. (*)Dasjenige, welches Dacier anfuͤhret, (Poeti - que d’Ariſtote, Chap. XV. Rem. 23.) ohne ſich zu erinnern, wo er es geleſen, ſtehet bey dem Plutarch in der Abhandlung, Wie man ſeine Feinde nuͤtzen ſolle.Aus dem einzigen, bey dem Polybius, welches eine Anrufung an die Goͤttinn des Friedens iſt, ſcheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem Meſ - ſeniſchen Staate noch nicht wieder hergeſtellet geweſen; und aus ein Paar andern ſollte man faſt ſchlieſſen, daß die Ermordung des Kreſphon - tes und ſeiner zwey aͤltern Soͤhne, entweder ei - nen Theil der Handlung ſelbſt ausgemacht habe, oder doch nur kurz vorhergegangen ſey; welches beides ſich mit der Erkennung des juͤngern Soh - nes, der erſt verſchiedene Jahre nachher ſeinen Vater und ſeine Bruͤder zu raͤchen kam, nicht wohl zuſammen reimet. Die groͤßte Schwie - rigkeit aber macht mir der Titel ſelbſt. WennQ q 3dieſe310dieſe Erkennung, wenn dieſe Rache des juͤngern Sohnes der vornehmſte Inhalt geweſen: wie konnte das Stuͤck Kreſphontes heiſſen? Kreſphon - tes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus, und nach andern Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte, und dieſes der angenommene Name war, den er in der Fremde fuͤhrte, um unerkannt und vor den Nachſtellungen des Polyphonts ſicher zu bleiben. Der Vater muß laͤngſt todt ſeyn, wenn ſich der Sohn des vaͤterlichen Reiches wie - der bemaͤchtiget. Hat man jemals gehoͤrt, daß ein Trauerſpiel nach einer Perſon benennet wor - den, die gar nicht darinn vorkoͤmmt? Corneille und Dacier haben ſich geſchwind uͤber dieſe Schwierigkeit hinweg zu ſetzen gewußt, indem ſie angenommen, daß der Sohn gleichfalls Kreſphont geheiſſen;(*)Remarque 22. ſur le Chapitre XV. de la Poet. d’Ariſt. Une Mere, qui va tuer ſon fils, comme Merope va tuer Creſphonte &c. aber mit welcher Wahr - ſcheinlichkeit? aus welchem Grunde?

Wenn es indeß mit einer Entdeckung ſeine Richtigkeit hat, mit der ſich Maffei ſchmeichelte: ſo koͤnnen wir den Plan des Kreſphontes ziemlich genau wiſſen. Er glaubte ihn nehmlich bey dem Hyginus, in der hundert und vier und achtzig -ſten311ſten Fabel, gefunden zu haben. (*) Queſta ſcoperta penſo io d’aver fatta, nel leggere la Favola 184 d’Igino, la quale a mio credere altro non è, che l’Ar - gomento di quella Tragedia, in cui ſi rap - preſenta interamente la condotta di eſſa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch io feci già in quell Autore, mi apparve ſubito nella mente, altro non eſſere le più di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di ciò col confrontarne alcune poche con le Trage - die, che ancora abbiamo; e appunto in queſti giorni, venuta a mano l’ultima edi - zione d’Igino, mi è ſtato caro di vedere in un paſſo addotto, coma fu anche il Reineſio di tal ſentimento. Una miniera è però queſta di Tragici Argomenti, che ſe foſſe ſtata nota a Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir ſoggetti a lor fan - taſia: io la ſcoprirò loro di buona voglia, perchè rendano col loro ingegno alla no - ſtra età ciò, che dal tempo invidioſo le fu rapito. Merita dunque, almeno per queſto capo, alquanto più di conſiderazione quell Operetta, anche tal qual l’abbiamo, che da gli Eruditi non è ſtato creduto: e quan - to al diſcordar tal volta dagli altri Scrit - tori delle favoloſe Storie, queſta avertenza ce ne addita la ragione, non avendole coſtui narrate ſecondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uſo conver - tendole, le avean ridotte. Denn er haͤlt die Fabeln des Hyginus uͤberhaupt, groͤßtenTheils312Theils fuͤr nichts, als fuͤr die Argumente alter Tra - goͤdien, welcher Meinung auch ſchon vor ihm Rei - neſtus geweſen war; und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in dieſem verfallenen Schachte nach alten tragiſchen Fabeln zu ſuchen, als ſich neue zu erdichten. Der Rath iſt nicht uͤbel, und zu befolgen. Auch hat ihn mancher be - folgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wiſſen, daß er ihn gegeben. Herr Weiß hat den Stoff zu ſeineni Thyeſt aus dieſer Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verſtaͤndiges Auge. Nur moͤchte es nicht der groͤßte, ſondern vielleicht gerade der allerkleinſte Theil ſeyn, der in dieſer Abſicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch dar - um gar nicht aus den Argumenten der alten Tra - goͤdien zuſammen geſetzt zu ſeyn; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, gefloſſen ſeyn, zu welchen die Tragoͤdienſchreiber ſelbſt ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer ſonſt die Compilation gemacht, ſcheinet ſelbſt, die Tragoͤdien als abgeleitete verdorbene Baͤche betrachtet zu haben; indem er an verſchiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwuͤr - digkeit eines tragiſchen Dichters vor ſich hatte, ausdruͤcklich von der alten aͤchtern Tradition ab - ſondert. So erzehlt er, z. E. die Fabel von der Ino, und die Fabel von der Antiopa, zuerſt nach dieſer, und darauf in einem beſondern Abſchnitte, nach der Behandlung des Euripides.

Ham -[313]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vierzigſtes Stuͤck.

Damit will ich jedoch nicht ſagen, daß, weil uͤber der hundert und vier achtzigſten Fa - bel der Name des Euripides nicht ſtehe, ſie auch nicht aus dem Kreſphont deſſelben koͤnne gezogen ſeyn. Vielmehr bekenne ich, daß ſie wirklich den Gang und die Verwickelung eines Trauerſpieles hat; ſo daß, wenn ſie keines ge - weſen iſt, ſie doch leicht eines werden koͤnnte, und zwar eines, deſſen Plan der alten Simpli - citaͤt weit naͤher kaͤme, als alle neuere Meropen. Man urtheile ſelbſt: die Erzehlung des Hygi - nus, die ich oben nur verkuͤrzt angefuͤhrt, iſt nach allen ihren Umſtaͤnden folgende.

Kreſphontes war Koͤnig von Meſſenien, und hatte mit ſeiner Gemahlinn Merope drey Soͤhne, als Polyphontes einen Aufſtand gegen ihn er - regte, in welchem er, nebſt ſeinen beiden aͤlteſten Soͤhnen, das Leben verlohr. Polyphontes be - maͤchtigte ſich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche waͤhrend dem AufruhreR rGe -314Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, Namens Telephontes, zu einem Gaſtfreunde in Aetolien in Sicherheit bringen zu laſſen. Je mehr Telephontes heranwuchs, deſto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte ſich nichts Gu - tes von ihm gewaͤrtigen, und verſprach alſo dem - jenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege raͤumen wuͤrde. Dieſes erfuhr Telephon - tes; und da er ſich nunmehr faͤhig fuͤhlte, ſeine Rache zu unternehmen, ſo machte er ſich heimlich aus Aetolien weg, ging nach Meſſenien, kam zu dem Tyrannen, ſagte, daß er den Telephon - tes umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafuͤr ausgeſetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf, und befahl, ihn ſo lange in ſei - nem Pallaſte zu bewirthen, bis er ihn weiter aus - fragen koͤnne. Telephontes ward alſo in das Gaſtzimmer gebracht, wo er vor Muͤdigkeit ein - ſchlief. Indeß kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechſelſeiti - gen Bothſchaften gebraucht, weinend zu Mero - pen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Aeto - lien weg ſey, ohne daß man wiſſe, wo er hinge - kommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, weßen ſich der angekom - mene Fremde ruͤhme, mit einer Axt nach dem Gaſtzimmer, und haͤtte ihn im Schlafe unfehl - bar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt, und die Mutter an der Frevelthatver -315verhindert haͤtte. Nunmehr machten beide ge - meinſchaftliche Sache, und Merope ſtellte ſich gegen ihren Gemahl ruhig und verſoͤhnt. Po - lyphontes duͤnkte ſich aller ſeiner Wuͤnſche ge - waͤhret, und wollte den Goͤttern durch ein feyer - liches Opfer ſeinen Dank bezeigen. Als ſie aber alle um den Altar verſammelt waren, fuͤhrte Te - lephontes den Streich, mit dem er das Opfer - thier faͤllen zu wollen ſich ſtellte, auf den Koͤnig; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Beſitze ſeines vaͤterlichen Reiches. (*)In der 184ſten Fabel des Hyginus, aus wel - cher obige Erzehlung genommen, ſind offen - bar Begebenheiten in einander gefloſſen, die nicht die geringſte Verbindung unter ſich ha - ben. Sie faͤngt an mit dem Schickſale des Pentheus und der Agave, und endet ſich mit der Geſchichte der Merope. Ich kann gar nicht begreifen, wie die Herausgeber dieſe Verwirrung unangemerkt laſſen koͤnnen; es waͤre denn, daß ſie ſich blos in derjenigen Aus - gabe, welche ich vor mir habe, (Joannis Schefferi, Hamburgi 1674) befaͤnde. Dieſe Unterſuchung uͤberlaſſe ich dem, der die Mittel dazu bey der Hand hat. Genug, daß hier, bey mir, die 184ſte Fabel mit den Worten, quam Licoterſes excepit, aus ſeyn muß. Das uͤbrige macht entweder eine beſondere Fabel, von der die Anfangsworte verlohren gegangen; oder gehoͤret, welches mir das wahrſcheinlichſte iſt, zu der 137ſten, ſo daß, beides mit einander verbunden, ich die ganze Fabel von der Merope, man mag ſie nun zuder

R r 2Auch316

Auch hatten, ſchon in dem ſechszehnten Jahr - hunderte, zwey italieniſche Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Ponponio Torelli, den Stoff zu ih - ren Trauerſpielen, Kreſphont und Merope, aus dieſer Fabel des Hyginus genommen, und waren ſonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des Euripides getreten, ohne es zu wiſſen. Doch dieſer Ueberzeugung ohngeachtet, wollte Maffei ſelbſt, ſein Werk ſo wenig zu einer bloßen Di - vination uͤber den Euripides machen, und den verlohrnen Kreſphont in ſeiner Merope wieder aufleben laſſen, daß er vielmehr mit Fleiß vonver -(*)der 137ſten oder zu der 184ſten machen wol - len, folgendermaaßen zuſammenleſen wuͤrde. Es verſteht ſich, daß in der letztern die Wor - te, cum qua Polyphontes, occiſo Creſ - phonte, regnum occupavit, als eine unnoͤ - thige Wiederholung, mit ſammt dem darauf folgenden ejus, welches auch ſo ſchon uͤber - fluͤßig iſt, wegfallen muͤßte. Merope. Polyphontes, Meſſeniæ rex, Creſphon - tem Ariſtomachi filium cum interfeciſſet, ejus imperium & Meropem uxorem poſſe - dit. Filium autem infantem Merope ma - ter, quem ex Creſphonte habebat, abs - conſe ad hoſpitem in Ætoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum induſtria quærebat, aurumque pollicebatur, ſi quis eum necaſſet. Qui poſtquam ad puberem ætatem venit, capit conſilium, ut exequa - tur patris & fratrum mortem. Itaquevenit317verſchiednen Hauptzuͤgen dieſes vermeintlichen Euripidiſchen Planes abging, und nur die ein - zige Situation, die ihn vornehmlich darinn ge - ruͤhrt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen ſuchte.

Die Mutter nehmlich, die ihren Sohn ſo feurig liebte, daß ſie ſich an dem Moͤrder deſſel - ben mit eigner Hand raͤchen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die muͤtterliche Zaͤrtlichkeit uͤberhaupt zu ſchildern, und mit Ausſchlieſſung aller andern Liebe, durch dieſe einzige reine und tugendhafte Leidenſchaft ſein ganzes Stuͤck zu beleben. Was dieſer Abſicht alſo nicht vollkom -R r 3men(*)venit ad regem Polyphontem, aurum pe - titum, dicens ſe Creſphontis interfeciſſe filium & Meropis, Telephontem. Interim rex eum juſſit in hoſpitio manere, ut am - plius de eo perquireret. Qui cum per laſ - ſitudinem obdormiſſet, ſenex qui inter matrem & filium internuncius erat, flens ad Meropem venit, negans eum apud ho - ſpitem eſſe, nec comparere. Merope cre - dens eum eſſe filii ſui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum cum ſecuri venit, inſcia ut filium ſuum interficeret, quem ſenex cognovit, & matrem a ſcelere retraxit. Merope poſtquam invenit, oc - caſionem ſibi datam eſſe, ab inimico ſe ulciſcendi, redit cum Polyphonte in gra - tiam. Rex lætus cum rem divinam face - ret, hoſpes falſo ſimulavit ſe hoſtiam per - cuſſiſſe, eumque interfecit, patriumque regnum adeptus eſt. 318men zuſprach, ward veraͤndert; welches beſon - ders die Umſtaͤnde von Meropens zweyter Ver - heyrathung und von des Sohnes auswaͤrtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlinn des Polyphonts ſeyn; denn es ſchien dem Dichter mit der Gewiſſenhaftigkeit einer ſo frommen Mutter zu ſtreiten, ſich den Umarmungen eines zweyten Mannes uͤberlaſſen zu haben, in dem ſie den Moͤrder ihres erſten kannte, und deſſen eigene Erhaltung es erfor - derte, ſich durchaus von allen, welche naͤhere Anſpruͤche auf den Thron haben koͤnnten, zu be - freyen. Der Sohn mußte nicht bey einem vor - nehmen Gaſtfreunde ſeines vaͤterlichen Hauſes, in aller Sicherheit und Gemaͤchlichkeit, in der voͤlligen Kenntniß ſeines Standes und ſeiner Beſtimmung, erzogen ſeyn: denn die muͤtterliche Liebe erkaltet natuͤrlicher Weiſe, wenn ſie nicht durch die beſtaͤndigen Vorſtellungen des Unge - machs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abweſender Gegenſtand gerathen kann, ge - reitzet und angeſtrenget wird. Er mußte nicht in der ausdruͤcklichen Abſicht kommen, ſich an dem Tyrannen zu raͤchen; er muß nicht von Me - ropen fuͤr den Moͤrder ihres Sohnes gehalten werden, weil er ſich ſelbſt dafuͤr ausgiebt, ſon - dern weil eine gewiſſe Verbindung von Zufaͤllen dieſen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er ſeine Mutter, ſo iſt ihre Verlegenheit bey der erſten muͤndlichen Erklaͤrung aus, und ihr ruͤh -ren -319render Kummer, ihre zaͤrtliche Verzweiflung hat nicht freyes Spiel genug.

Und dieſen Veraͤnderungen zu Folge, kann man ſich den Maffeiſchen Plan ungefehr vorſtellen. Polyphon - tes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fuͤhlet er ſich auf dem Throne noch nicht befeſtiget genug. Denn das Volk iſt noch immer dem Hauſe ſeines vorigen Koͤ - niges zugethan, und rechnet auf den letzten geretteten Zweig deſſelben. Die Mißvergnuͤgten zu beruhigen, faͤllt ihm ein, ſich mit Meropen zu verbinden. Er traͤgt ihr ſeine Hand an, unter dem Vorwande einer wirkli - chen Liebe. Doch Merope weiſet ihn mit dieſem Vor - wande zu empfindlich ab; und nun ſucht er durch Dro - hungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn ſeine Ver - ſtellung nicht verhelfen koͤnnen. Eben dringt er am ſchaͤrfeſten in ſie; als ein Juͤngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landſtraße uͤber einem Morde ergriffen hat. Aegisth, ſo nañte ſich der Juͤngling, hatte nichts gethan, als ſein eignes Leben gegen einen Raͤu - ber vertheidiget; ſein Anſehen verraͤth ſo viel Adel und Unſchuld, ſeine Rede ſo viel Wahrheit, daß Merope, die noch auſſerdem eine gewiſſe Falte ſeines Mundes be - merkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den Koͤnig fuͤr ihn zu bitten; und der Koͤnig be - gnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ih - ren juͤngſten Sohn, den ſie einem alten Diener, Na - mens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als ſein eige - nes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuͤr ſei - nen Vater haͤlt, heimlich verlaſſen, um die Welt zu ſe - hen; aber er iſt nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmſte; auf der Landſtraße iſt jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn geweſen waͤre? So denkt ſie, und wird in ihrer bangen Vermuthung durch verſchiedene Umſtaͤnde, durch die Bereitwilligkeit des Koͤnigs, den Moͤrder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einenRing320Ring beſtaͤrket, den man bey dem Aegisth gefunden, u. von dem ihr geſagt wird, daß ihn Aegisth dem Erſchla - genen abgenommen habe. Es iſt dieſes der Siegelring ihres Gemahls, den ſie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhaͤndigen, wenn er erwach - ſen, und es Zeit ſeyn wuͤrde, ihm ſeinen Stand zu ent - decken. Sogleich laͤßt ſie den Juͤngling, fuͤr den ſie vor - her ſelbſt gebeten, an eine Saͤule binden, und will ihm das Herz mit eigner Hand durchſtoſſen. Der Juͤngling erinnert ſich in dieſem Augenblicke ſeiner Aeltern; ihm entfaͤhrt der Name Meſſene; er gedenkt des Verbots ſeines Vaters, dieſen Ort ſorgfaͤltig zu vermeiden; Merope verlangt hieruͤber Erklaͤrung: indem koͤmmt der Koͤnig dazu, und der Juͤngling wird befreyet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrthums war, ſo tief verfaͤllt ſie wiederum darein zuruͤck, als ſie ſiehet, wie hoͤhniſch der Koͤnig uͤber ihre Verzweiflung trium - phirt. Nun iſt Aegisth unfehlbar der Moͤrder ihres Sohnes, u. nichts ſoll ihn vor ihrer Rache ſchuͤtzen. Sie erfaͤhrt mit einbrechender Nacht, daß er in dem Vor - ſaale ſey, wo er eingeſchlafen, u. koͤm̃t mit einer Axt, ihn den Kopf zu ſpalten; und ſchon hat ſie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der ſich kurz zuvor in eben den Vorſaal eingeſchlichen, und den ſchlafen - den Aegisth erkañt hatte, in die Arme faͤllt. Aegisth er - wacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Moͤrder ihres Soh - nes. Sie will ihm nach, und wuͤrde ihn leicht durch ihre ſtuͤrmiſche Zaͤrtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn ſie der Alte nicht auch hiervon zuruͤck gehalten haͤtte. Mit fruͤhem Morgen ſoll ihre Vermaͤhlung mit dem Koͤnige vollzogen werden; ſie muß zu dem Altare, aber ſie will eher ſterben, als ihre Einwilligung erthei - len. Indeß hat Polydor auch den Aegisth ſich keñen ge - lehrt; Aegisth eilet in den Tempel, drenget ſich durch das Volk, und das Uebrige wie bey dem Hyginus.

Ham -[321]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und vierzigſtes Stuͤck.

Je ſchlechter es, zu Anfange dieſes Jahrhun - derts, mit dem italieniſchen Theater uͤber - haupt ausſahe, deſto groͤßer war der Bey - fall und das Zujauchzen, womit die Merope des Maffei aufgenommen wurde.

Cedite Romani ſcriptores, cedite Graii, Neſcio quid majus naſcitur Oedipode:

ſchrie Leonardo Adami, der nur noch die erſten zwey Akte in Rom davon geſehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Carneval hin - durch, faſt kein anderes Stuͤck geſpielt, als Me - rope; die ganze Welt wollte die neue Tragoͤdie ſehen und wieder ſehen; und ſelbſt die Operbuͤh - nen fanden ſich daruͤber verlaſſen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in ſechszehn Jahren (von 1714 1730) ſind mehr als drey - ßig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. S sSie322Sie ward ins Franzoͤſiſche, ins Engliſche, ins Deutſche uͤberſetzt; und man hatte vor, ſie mit allen dieſen Ueberſetzungen zugleich drucken zu laſſen. Ins Franzoͤſiſche war ſie bereits zwey - mal uͤberſetzt, als der Herr von Voltaire ſich nochmals daruͤber machen wollte, um ſie auch wirklich auf die franzoͤſiſche Buͤhne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieſes durch eine eigent - liche Ueberſetzung nicht geſchehen koͤnnte, wovon er die Urſachen in dem Schreiben an den Mar - quis, welches er nachher ſeiner eignen Merope vorſetzte, umſtaͤndlich angiebt.

〟Der Ton, ſagt er, ſey in der italieniſchen Merope viel zu naif und buͤrgerlich, und der Ge - ſchmack des franzoͤſiſchen Parterrs viel zu fein, viel zu verzaͤrtelt, als daß ihm die bloße ſimple Natur gefallen koͤnne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewiſſen Zuͤgen der Kunſt ſe - hen; und dieſe Zuͤge muͤßten zu Paris weit an - ders als zu Verona ſeyn.

Das ganze Schrei - ben iſt mit der aͤußerſten Politeſſe abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle ſeine Nach - laͤßigkeiten und Maͤngel werden auf die Rech - nung ſeines Nationalgeſchmacks geſchrieben; es ſind wohl noch gar Schoͤnheiten, aber leider nur Schoͤnheiten fuͤr Italien. Gewiß, man kann nicht hoͤflicher kritiſiren! Aber die verzweifelte Hoͤflichkeit! Auch einem Franzoſen wird ſie gar bald zu Laſt, wenn ſeine Eitelkeit im geringſtenda -323dabey leidet. Die Hoͤflichkeit macht, daß wir liebenswuͤrdig ſcheinen, aber nicht groß; und der Franzoſe will eben ſo groß, als liebenswuͤr - dig ſcheinen.

Was folgt alſo auf die galante Zueignungs - ſchrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewiſſen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei eben ſo viel Grobheiten ſagt, als ihm Voltaire Verbindliches geſagt hatte. Der Stil dieſes de la Lindelle iſt ziemlich der Voltai - riſche Stil; es iſt Schade, daß eine ſo gute Fe - der nicht mehr geſchrieben hat, und uͤbrigens ſo unbekannt geblieben iſt. Doch Lindelle ſey Voltaire, oder ſey wirklich Lindelle: wer einen franzoͤſiſchen Januskopf ſehen will, der vorne auf die einſchmeichelndſte Weiſe laͤchelt, und hinten die haͤmiſchſten Grimaſſen ſchneidet, der leſe beide Briefe in einem Zuge. Ich moͤchte keinen geſchrieben haben; am wenigſten aber beide. Aus Hoͤflichkeit bleibet Voltaire diſſeits der Wahrheit ſtehen, und aus Verkleinerungs - ſucht ſchweifet Lindelle bis jenſeit derſelben. Je - ner haͤtte freymuͤthiger, und dieſer gerechter ſeyn muͤſſen, wenn man nicht auf den Verdacht ge - rathen ſollte, daß der nehmliche Schriftſteller ſich hier unter einem fremden Namen wieder ein - bringen wollen, was er ſich dort unter ſeinem eigenen vergeben habe.

S s 2Vol -324

Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un - ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt - lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent - ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt, daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr - lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver - wicklung darbieten, von den unſtudierten wah - ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par - terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will;(*)Je n’ai pu me ſervir come Mr. Maffei d’un anneau, parce que depuis l’anneau royal dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres, cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre. wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun - den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr denSohn325Sohn gemeiner Aeltern haͤlt, und in dem Lande auf Abentheuer ganz allein herumſchweift, nach - dem er einen Mord veruͤbt, dem ohngeachtet nicht ſoll fuͤr einen Raͤuber gehalten werden duͤr - fen, weil es voraus ſieht, daß er der Held des Stuͤckes werden muͤſſe;(*)Je n’oſerais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur, quoique la circon - ſtance ou il ſe trouve autoriſe cette mepriſe. wenn es beleidiget wird, daß man einen ſolchem Menſchen keinen koſtbarem Ring zutrauen will, da doch kein Faͤhndrich in des Koͤnigs Armee ſey, der nicht de belles Nippes beſitze. Das Pariſer Par - terr, ſage ich, hat in dieſen und aͤhnlichen Faͤl - len Unrecht: aber warum muß Voltairen auch in andern Faͤllen, wo es gewiß nicht Unrecht hat, dennoch lieber ihm, als dem Maffei Unrecht zu geben ſcheinen wollen? Wenn die franzoͤſiſche Hoͤflichkeit gegen Auslaͤnder darinn beſteht, daß man ihnen auch in ſolchen Stuͤcken Recht giebt, wo ſie ſich ſchaͤmen muͤßten, Recht zu haben, ſo weiß ich nicht, was beleidigender und einem freyen Menſchen unanſtaͤndiger ſeyn kann, als dieſe franzoͤſiſche Hoͤflichkeit. Das Geſchwaͤtz, welches Maffei ſeinem alten Polydor von luſti - gen Hochzeiten, von praͤchtigen Kroͤnungen, de - nen er vor dieſen beygewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Intereſſe aufs hoͤchſte geſtiegen und die Einbil -S s 3dungs -326dungskraft der Zuſchauer mit ganz andern Din - gen beſchaͤftiget iſt: dieſes Neſtoriſche, aber am unrechten Orte Neſtoriſche, Geſchwaͤtz, kann durch keine Verſchiedenheit des Geſchmacks un - ter verſchiedenen cultivirten Voͤlkern, entſchul - diget werden; hier muß der Geſchmack uͤberall der nehmliche ſeyn, und der Italiener hat nicht ſeinen eignen, ſondern hat gar keinen Geſchmack, wenn er nicht eben ſowohl dabey gaͤhnet und dar - uͤber unwillig wird, als der Franzoſe.

〟Sie 〟haben,

ſagt Voltaire zu dem Marquis,

〟in 〟Ihrer Tragoͤdie jene ſchoͤne und ruͤhrende Ver - 〟gleichung des Virgils:
Qualis populea mœrens Philomela ſub umbra Amiſſos queritur fœtus
〟uͤberſetzen und anbringen duͤrfen. Wenn ich 〟mir ſo eine Freyheit nehmen wollte, ſo wuͤrde 〟man mich damit in die Epopee verweiſen. Denn 〟Sie glauben nicht, wie ſtreng der Herr iſt, 〟dem wir zu gefallen ſuchen muͤſſen; ich meine 〟unſer Publikum. Dieſes verlangt, daß in 〟der Tragoͤdie uͤberall der Held, und nirgends 〟der Dichter ſprechen ſoll, und meinet, daß bey 〟kritiſchen Vorfaͤllen, in Rathsverſammlungen, 〟bey einer heftigen Leidenſchaft, bey einer drin - 〟genden Gefahr, kein Koͤnig, kein Miniſter 〟poetiſche Vergleichungen zu machen pflege.

Aber verlangt denn dieſes Publikum etwas un -rech -327rechtes? meinet es nicht, was die Wahrheit iſt? Sollte nicht jedes Publikum eben dieſes verlan - gen? eben dieſes meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient dieſen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italieniſche Publi - kum zu ſo einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freymuͤthigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu ſagen, daß er hier und an meh - rern Stellen luxurire, und ſeinen eignen Kopf durch die Tapete ſtecke? Auch unerwogen, daß ausfuͤhrliche Gleichniſſe uͤberhaupt ſchwerlich eine ſchickliche Stelle in dem Trauerſpiele finden koͤnnen, haͤtte er anmerken ſollen, daß jenes Virgiliſche von dem Maffei aͤußerſt gemißbrau - chet worden. Bey dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu iſt es eigentlich ge - ſchickt; bey dem Maffei aber iſt es in dem Munde desjenigen, der uͤber das Ungluͤck, wovon es das Bild ſeyn ſoll, triumphiret, und muͤßte nach der Geſinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wich - tigere, und auf das Ganze noch groͤßern Ein - fluß habende Fehler ſcheuet ſich Voltaire nicht, lieber dem Geſchmacke der Italiener uͤberhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Laſt zu legen, und duͤnkt ſich von der allerfeinſten Le - bensart, wenn er den Maffei damit troͤſtet, daß es ſeine ganze Nation nicht beſſer verſtehe, als er; daß ſeine Fehler die Fehler ſeiner Nation waͤren; daßaber328aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Feh - ler waͤren, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und fuͤr ſich gut oder ſchlecht ſey, ſondern was die Nation dafuͤr wolle gelten laſſen.

〟Wie haͤtte ich es 〟wagen duͤrfen,

faͤhrt er mit einem tiefen Buͤcklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Ta - ſche, gegen den Marquis fort,

〟bloße Nebenperſonen 〟ſo oft mit einander ſprechen zu laſſen, als Sie gethan 〟haben? Sie dienen bey Ihnen die intereſſanten Sce - 〟nen zwiſchen den Hauptperſonen vorzubereiten; es 〟ſind die Zugaͤnge zu einem ſchoͤnen Pallaſte; aber 〟unſer ungeduldiges Publikum will ſich auf einmal in 〟dieſem Pallaſte befinden. Wir muͤſſen uns alſo ſchon 〟nach dem Geſchmacke eines Volks richten, welches 〟ſich an Meiſterſtuͤcken ſatt geſehen hat, u. alſo aͤußerſt 〟verwoͤhnt iſt.

Was heißt dieſes anders, als: 〟Mein Herr Marquis, Ihr Stuͤck hat ſehr, ſehr viel kalte, langweilige, unnuͤtze Scenen. Aber es ſey fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen ſollte! Behuͤte der Himmel! ich bin ein Franzoſe; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes un - ter die Naſe reiben. Ohne Zweifel haben Sie dieſe kal - ten, langweiligen, unnuͤtzen Scenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiſſe gemacht; weil ſie gerade ſo ſind, wie ſie ihre Nation braucht. Ich wuͤnſchte, daß ich auch ſo wohlfeil davon kommen koͤnnte; aber leider iſt meine Nation ſo weit, ſo weit, daß ich noch viel weiter ſeyn muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation ſo ſehr uͤber - ſieht〟 Weiter darf ich meine Paraphraſis wohl nicht fortſetzen; denn ſonſt, Deſinit in piſcem mulier formoſa ſuperne: aus der Hoͤflichkeit wird Perſifflage, (ich brauche die - ſes franzoͤſiſ. Wort, weil wir Deutſchen von der Sache nichts wiſſen) und aus der Perſifflage, dummer Stolz.

Ham -[329]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und vierzigſtes Stuͤck.

Es iſt nicht zu leugnen, daß ein guter Theil der Fehler, welche Voltaire als Eigen - thuͤmlichkeiten des italieniſchen Geſchmacks nur deswegen an ſeinem Vorgaͤnger zu entſchul - digen ſcheinet, um ſie der italieniſchen Nation uͤberhaupt zur Laſt zu legen, daß, ſage ich, die - ſe, und noch mehrere, und noch groͤßere, ſich in der Merope des Maffei befinden. Maffei hatte in ſeiner Jugend viel Neigung zur Poeſie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verſe, in allen verſchiednen Stilen der beruͤhmteſten Dichter ſeines Landes: doch dieſe Neigung und dieſe Leichtigkeit beweiſen fuͤr das eigentliche Genie, welches zur Tragoͤdie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er ſich auf die Geſchichte, auf Kritik und Alterthuͤmer; und ich zweifle, ob dieſe Studien die rechte Nahrung fuͤr das tragi - ſche Genie ſind. Er war unter KirchenvaͤterT tund330und Diplomen vergraben, und ſchrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf geſellſchaft - liche Veranlaſſung, ſeine Merope vor die Hand nahm, und ſie in weniger als zwey Monaten zu Stande brachte. Wenn dieſer Mann, unter ſolchen Beſchaͤftigungen, in ſo kurzer Zeit, ein Meiſterſtuͤck gemacht haͤtte, ſo muͤßte er der auſ - ſerordentlichſte Kopf geweſen ſeyn; oder eine Tragoͤdie uͤberhaupt iſt ein ſehr geringfuͤgiges Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem klaſſiſchen Geſchmacke, der ſo etwas mehr fuͤr eine Erholung als fuͤr eine Arbeit anſieht, die ſeiner wuͤrdig waͤre, leiſten kann, das leiſtete auch er. Seine Anlage iſt geſuchter und aus - gedrechſelter, als gluͤcklich; ſeine Charaktere ſind mehr nach den Zergliederungen des Moraliſten, oder nach bekannten Vorbildern in Buͤchern, als nach dem Leben geſchildert; ſein Ausdruck zeigt von mehr Phantaſie, als Gefuͤhl; der Litterator und der Verſificateur laͤßt ſich uͤberall ſpuͤren, aber nur ſelten das Genie und der Dichter.

Als Verſificateur laͤuft er den Beſchreibun - gen und Gleichniſſen zu ſehr nach. Er hat ver - ſchiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaͤhlde, die in ſeinem Munde nicht genug bewundert wer - den koͤnnten; aber in dem Munde ſeiner Perſo - nen unertraͤglich ſind, und in die laͤcherlichſten Ungereimtheiten ausarten. So iſt es, z. E. zwar ſehr ſchicklich, daß Aegisth ſeinen Kampfmit331mit dem Raͤuber, den er umgebracht, umſtaͤnd - lich beſchreibet, denn auf dieſen Umſtaͤnden be - ruhet ſeine Vertheidigung; daß er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu haben bekennet, alle, ſelbſt die allerkleinſten, Phaͤnomena mahlet, die den Fall eines ſchweren Koͤrpers ins Waſſer begleiten, wie er hinein ſchießt, mit welchem Geraͤuſche er das Waſſer zertheilet, das hoch in die Luft ſpritzet, und wie ſich die Fluth wieder uͤber ihn zuſchließt:(*)Atto I. Sc. III. In core Pero mi venne di lanciar nel fiume Il morto, ò ſemivivo; e con fatica (Ch inutil era per riuſcire, e vana) L’alzai da terra, e in terra rimaneva Una pozza di ſangue: a mezo il ponte Portailo in fretta, di vermiglia ſtriſcia Sempre rigando il ſuol; quinci cadere Col capo in giù il laſciai: piombò, e gran tonfo S’udì nel profondarſi: in alto ſalſe Lo ſpruzzo, e l’onda ſopra lui ſi chiuſe. das wuͤrde man auch nicht einmal einem kalten ge - ſchwaͤtzigen Advokaten, der fuͤr ihn ſpraͤche, verzeihen, geſchweige ihm ſelbſt. Wer vor ſei - nem Richter ſtehet, und ſein Leben zu vertheidi - gen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als daß er in ſeiner Erzehlung ſo kindiſch genau ſeyn koͤnnte.

T t 2Als332

Als Litterator hat er zu viel Achtung fuͤr die Simplicitaͤt der alten griechiſchen Sitten, und fuͤr das Coſtume bezeigt, mit welchem wir ſie bey dem Homer und Euripides geſchildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht ſa - gen veredelt, ſondern unſerm Coſtume naͤher gebracht werden muß, wenn es der Ruͤhrung im Trauerſpiele nicht mehr ſchaͤdlich, als zutraͤg - lich ſeyn ſoll. Auch hat er zugefliſſendlich ſchoͤne Stellen aus den Alten nachzuahmen geſucht, ohne zu unterſcheiden, aus was fuͤr einer Art von Werken er ſie entlehnt, und in was fuͤr eine Art von Werken er ſie uͤbertraͤgt. Neſtor iſt in der Epopee ein geſpraͤchiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragoͤdie ein alter eckler Saalbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides haͤtte folgen wollen: ſo wuͤrde uns der Litterator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er haͤtte es ſodann fuͤr ſeine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kreſphontes uͤbrig ſind, zu nutzen, und ſeinem Werke getreulich einzuflechten. (*)Non eſſendo dunque ſtato mio penſiero di ſeguir la Tragedia d’Euripide, non ho cer - cato per conſequenza di porre nella mia que ſentimenti di eſſa, che ſon rimaſtiqua,Wo er alſo geglaubt haͤtte, daß ſie ſich hinpaßten, haͤtte er ſie als Pfaͤhle aufgerichtet, nach welchen ſich derWeg333Weg ſeines Dialogs richten und ſchlingen muͤſ - ſen. Welcher pedantiſche Zwang! Und wozu? Sind es nicht dieſe Sittenſpruͤche, womit man ſeine Luͤcken fuͤllet, ſo ſind es andere.

Dem ohngeachtet moͤchten ſich wiederum Stellen finden, wo man wuͤnſchen duͤrfte, daß ſich der Litterator weniger vergeſſen haͤtte. Z. E. Nachdem die Erkennung vorgegangen, und Me - rope einſieht, in welcher Gefahr ſie zweymal ge - weſen ſey, ihren eignen Sohn umzubringen, ſo laͤßt er die Iſmene, voller Erſtaunen ausrufen:

〟Welche wunderbare Begebenheit, wunderba - 〟rer, als ſie jemals auf einer Buͤhne erdichtet 〟worden!〟
Con così ſtrani avvenimenti uom forſe Non vide mai favoleggiar le ſcene.

Maffei hat ſich nicht erinnert, daß die Geſchichte ſeines Stuͤcks in eine Zeit faͤllt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Ho - mer, deſſen Gedichte den erſten Saamen des Drama ausſtreuten. Ich wuͤrde dieſe Unacht - ſamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der ſich in der Vorrede entſchuldigen zu muͤſſen glaubte, daß er den Namen Meſſene zu einer Zeit brau -T t 3che,(*)qua, e ; avendone tradotti cinque verſi Cicerone, e recati tre paſſi Plutarco, e due verfi Gellio, e alcuni trovandoſene ancora, ſe la memoria non m’inganna, preſſo Stobeo. 334che, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieſes Namens geweſen, weil Homer keiner erwaͤhne. Ein Dichter kann es mit ſolchen Kleinigkeiten halten, wie er will: nur verlangt man, daß er ſich immer gleich bleibet, und daß er ſich nicht einmal uͤber etwas Bedenken macht, woruͤber er ein andermal kuͤhnlich weggeht; wenn man nicht glauben ſoll, daß er den Anſtoß vielmehr aus Unwiſſenheit nicht geſehen, als nicht ſehen wollen. Ueberhaupt wuͤrden mir die angefuͤhr - ten Zeilen nicht gefallen, wenn ſie auch keinen Anachroniſmus enthielten. Der tragiſche Dich - ter ſollte alles vermeiden, was die Zuſchauer an ihre Illuſion erinnern kann; denn ſobald ſie daran erinnert ſind, ſo iſt ſie weg. Hier ſchei - net es zwar, als ob Maffei die Illuſion eher noch beſtaͤrken wollen, indem er das Theater ausdruͤcklich außer dem Theater annehmen laͤßt; doch die bloßen Worte, Buͤhne und erdichten, ſind der Sache ſchon nachtheilig, und bringen uns geraden Weges dahin, wovon ſie uns ab - bringen ſollen. Dem komiſchen Dichter iſt es eher erlaubt, auf dieſe Weiſe ſeiner Vorſtellung Vorſtellungen entgegen zu ſetzen; denn unſer Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Taͤuſchung nicht, den unſer Mitleiden erfor - dert.

Ich habe ſchon geſagt, wie hart de la Lin - delle dem Maffei mitſpielt. Nach ſeinem Ur -theile335theile hat Maffei ſich mit dem begnuͤgt, was ihm ſein Stoff von ſelbſt anbot, ohne die geringſte Kunſt dabey anzuwenden; ſein Dialog iſt ohne alle Wahrſcheinlichkeit, ohne allen Anſtand und Wuͤrde; da iſt ſo viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Poſſenſpiele, in der Bude des Harlekins zu dulden waͤre; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulſchnitzern.

〟Mit 〟einem Worte,

ſchließt er,

das Werk des Maf - 〟fei enthaͤlt einen ſchoͤnen Stoff, iſt aber ein ſehr 〟elendes Stuͤck. Alle Welt koͤmmt in Paris 〟darinn uͤberein, daß man die Vorſtellung deſ - 〟ſelben nicht wuͤrde haben aushalten koͤnnen; 〟und in Italien ſelbſt wird von verſtaͤndigen 〟Leuten ſehr wenig daraus gemacht. Verge - 〟bens hat der Verfaſſer auf ſeinen Reiſen die 〟elendeſten Schriftſteller in Sold genommen, 〟ſeine Tragoͤdie zu uͤberſetzen; er konnte leichter 〟einen Ueberſetzer bezahlen, als ſein Stuͤck ver - 〟beſſern.

So wie es ſelten Komplimente giebt, ohne alle Luͤgen, ſo finden ſich auch ſelten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stuͤcken wider den Maffei Recht, und moͤchte er doch hoͤflich oder grob ſeyn, wenn er ſich be - gnuͤgte, ihn blos zu tadeln. Aber er will ihn unter die Fuͤße treten, vernichten, und gehet mit ihm ſo blind als treulos zu Werke. Er ſchaͤmt ſich nicht, offenbare Luͤgen zu ſagen, au -gen -336genſcheinliche Verfaͤlſchungen zu begehen, um nur ein recht haͤmiſches Gelaͤchter aufſchlagen zu koͤnnen. Unter drey Streichen, die er thut, geht immer einer in die Luft, und von den an - dern zweyen, die ſeinen Gegner ſtreifen oder treffen, trift einer unfehlbar den zugleich mit, dem ſeine Klopffechterey Platz machen ſoll, Vol - tairen ſelbſt. Voltaire ſcheinet dieſes auch zum Theil gefuͤhlt zu haben, und iſt daher nicht ſaum - ſelig, in der Antwort an Lindellen, den Maffei in allen den Stuͤcken zu vertheidigen, in welchen er ſich zugleich mit vertheidigen zu muͤſſen glaubt. Dieſer ganzen Correſpondenz mit ſich ſelbſt, duͤnkt mich, fehlt das intereſſanteſte Stuͤck; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch dieſe der Hr. von Voltaire haͤtte mittheilen wol - len. Oder war ſie etwa ſo nicht, wie er ſie durch ſeine Schmeicheley zu erſchleichen hofte? Nahm ſich Maffei etwa die Freyheit, ihm hin - wiederum die Eigenthuͤmlichkeiten des franzoͤſi - ſchen Geſchmacks ins Licht zu ſtellen? ihm zu zeigen, warum die franzoͤſiſche Merope eben ſo wenig in Italien, als die italieniſche in Frank - reich gefallen koͤnne?

Ham -[337]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und vierzigſtes Stuͤck.

So etwas laͤßt ſich vermuthen. Doch ich will lieber beweiſen, was ich ſelbſt geſagt habe, als vermuthen, was andere ge - ſagt haben koͤnnten.

Lindern, vors erſte, ließe ſich der Tadel des Lindelle faſt in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, ſo hat er doch nicht immer ſo plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er ſagt z. E., Aegisth, wenn ihn Merope nun - mehr erſtechen wolle, rufe aus: O mein alter Vater! und die Koͤniginn werde durch dieſes Wort, alter Vater, ſo geruͤhret, daß ſie von ihrem Vorſatze ablaſſe und auf die Vermuthung komme, Aegisth koͤnne wohl ihr Sohn ſeyn. Iſt das nicht, ſetzt er hoͤhniſch hinzu, eine ſehr gegruͤndete Vermuthung! Denn freylich iſt es ganz etwas ſonderbares, daß ein junger Menſch einen alten Vater hat!

〟Maffei,

faͤhrt er fort,U u〟hat338

〟hat mit dieſem Fehler, dieſem Mangel von 〟Kunſt und Genie, einen andern Fehler ver - 〟beſſern wollen, den er in der erſtern Ausgabe 〟ſeines Stuͤckes begangen hatte. Aegisth rief 〟da: Ach, Polydor, mein Vater! Und dieſer 〟Polydor war eben der Mann, dem Merope ih - 〟ren Sohn anvertrauet hatte. Bey dem Na - 〟men Polydor haͤtte die Koͤniginn gar nicht mehr 〟zweifeln muͤſſen, daß Aegisth ihr Sohn ſey; 〟und das Stuͤck waͤre aus geweſen. Nun iſt 〟dieſer Fehler zwar weggeſchaft; aber ſeine 〟Stelle hat ein noch weit groͤberer eingenom - 〟men.

Es iſt wahr, in der erſten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor ſeinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben iſt von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Koͤniginn ſtutzt blos bey dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das Meſſeni - ſche Gebiete zu ſetzen. Sie giebt auch ihr Vor - haben darum nicht auf; ſie fodert blos naͤhere Erklaͤrung; und ehe ſie dieſe erhalten kann, koͤmmt der Koͤnig dazu. Der Koͤnig laͤßt den Aegisth wieder los binden, und da er die That, weßwegen Aegisth eingebracht worden, billiget und ruͤhmet, und ſie als eine wahre Heldenthat zu belohnen verſpricht: ſo muß wohl Merope in ihren erſten Verdacht wieder zuruͤckfallen. Kann der ihr Sohn ſeyn, den Polyphontes eben dar - um belohnen will, weil er ihren Sohn umge -bracht339bracht habe? Dieſer Schluß muß nothwendig bey ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß ſie eines bloßen Namens wegen, den ja wohl mehrere fuͤhren koͤnnen, mit der Vollziehung ihrer Rache gezau - dert habe;

Che dubitar? miſera, ed io da un nome Trattenere mi laſciai, quaſi un tal nome Altri aver non poteſſe

und die folgenden Aeußerungen des Tyrannen koͤnnen ſie nicht anders als in der Meinung vol - lends beſtaͤrken, daß er von dem Tode ihres Soh - nes die allerzuverlaͤßigſte, gewiſſeſte Nachricht haben muͤſſe. Iſt denn das alſo nun ſo gar ab - geſchmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich geſtehen, daß ich die Verbeſſerung des Maffei nicht einmal fuͤr ſehr noͤthig halte. Laßt es den Aegisth immerhin ſagen, daß ſein Vater Poly - dor heiſſe! Ob es ſein Vater oder ſein Freund war, der ſo hieſſe, und ihn vor Meſſene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede, das fuͤr wahr - ſcheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da ſie weiß, daß er ihrem Sohne ſo lange, ſo eifrig nachgeſtellt, als das, was ſie aus der bloßen Uebereinſtimmung eines Na - mens ſchlieſſen koͤnnte. Freylich, wenn ſie wuͤß -U u 2te,340te, daß ſich die Meinung des Tyrannen, Aegisth ſey der Moͤrder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermuthung gruͤnde: ſo waͤre es etwas anders. Aber dieſes weiß ſie nicht; vielmehr hat ſie allen Grund zu glauben, daß er ſeiner Sache werde gewiß ſeyn. Es verſteht ſich, daß ich das, was man zur Noth entſchul - digen kann, darum nicht fuͤr ſchoͤn ausgebe; der Poet haͤtte unſtreitig ſeine Anlage viel feiner machen koͤnnen. Sondern ich will nur ſagen, daß auch ſo, wie er ſie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund han - delt; und daß es gar wohl moͤglich und wahr - ſcheinlich iſt, daß Merope in ihrem Vorſatze der Rache verharren, und bey der erſten Gelegen - heit einen neuen Verſuch, ſie zu vollziehen, wagen koͤnnen. Woruͤber ich mich alſo beleidi - get finden moͤchte, waͤre nicht dieſes, daß ſie zum zweytenmale, ihren Sohn als den Moͤrder ihres Sohnes zu ermorden, koͤmmt: ſondern dieſes, daß ſie zum zweytenmale durch einen gluͤcklichen ungefehren Zufall daran verhindert wird. Ich wuͤrde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gruͤnden der groͤßern Wahrſcheinlichkeit ſich be - ſtimmen ließe; denn die Leidenſchaft, in der ſie iſt, koͤnnte auch den Gruͤnden der ſchwaͤchern das Uebergewicht ertheilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er ſich ſo viel Freyheitmit341mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder - baren deſſelben ſo verſchwenderiſch iſt, als mit den gemeinſten ordentlichſten Begebenheiten. Daß der Zufall Einmal der Mutter einen ſo frommen Dienſt erweiſet, das kann ſeyn; wir wollen es um ſo viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraſchung gefaͤllt. Aber daß er zum zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die nehmliche Weiſe, verhindern werde, das ſieht dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieſelbe Ueber - raſchung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraſchung zu ſeyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben ſo abentheurlich, aber nicht eben ſo mannichfaltig zu ſeyn weiß, als der Zufall.

Von den augenſcheinlichen und vorſetzlichen Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey anfuͤhren.

〟Der vierte Akt,

ſagt er,

faͤngt 〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi - 〟ſchen dem Tyrannen und der Vertrauten der 〟Merope an; hierauf begegnet dieſe Vertraute, 〟ich weiß ſelbſt nicht wie, dem jungen Aegisth, 〟und beredet ihn, ſich in dem Vorhauſe zur 〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeſchla - 〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch - 〟lichkeit umbringen koͤnne. Er ſchlaͤft auch 〟wirklich ein, ſo wie er es verſprochen hat. O 〟ſchoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten - 〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun -U u 3〟gen342〟gen Menſchen umzubringen, der ausdruͤcklich 〟deswegen ſchlaͤft. Dieſe nehmliche Situation, 〟zweymal wiederholt, verraͤth die aͤußerſte Un - 〟fruchtbarkeit; und dieſer Schlaf des jungen 〟Menſchen iſt ſo laͤcherlich, daß in der Welt 〟nichts laͤcherlicher ſeyn kann.

Aber iſt es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu die - ſem Schlafe beredet? Das luͤgt Lindelle. (*)Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle ſagt; enſuite cette ſui - vante rencontre le jeune Egiſte, je ne ſais comment, & lui perſuade de ſe repoſer dans le veſtibule, afin que, quand il ſera endormi, la reine puiſſe le tuer tout à ſon aiſe: ſondern auch der Hr. von Voltaire ſelbſt: la confidente de Mérope engage le jeune Egiſte à dormir ſur la ſcene, afin de donner le tems à la reine de venir l’y aſſaſ ſiner. Was aus dieſer Uebereinſtimmung zu ſchlieſſen iſt, brauche ich nicht erſt zu ſagen. Selten ſtimmt ein Luͤgner mit ſich ſelbſt uͤberein; und wenn zwey Luͤgner mit einander uͤbereinſtim - men, ſo iſt es gewiß abgeredete Karte.Aegisth trift die Vertraute an, und bittet ſie, ihm doch die Urſache zu entdecken, warum die Koͤniginn ſo ergrimmt auf ihn ſey. Die Ver - traute antwortet, ſie wolle ihm gern alles ſagen; aber ein wichtiges Geſchaͤfte rufe ſie itzt wo an - ders hin; er ſolle einen Augenblick hier verzie - hen; ſie wolle gleich wieder bey ihm ſeyn. Al - lerdings hat die Vertraute die Abſicht, ihn derKoͤ -343Koͤniginn in die Haͤnde zu liefern; ſie beredet ihn zu bleiben, aber nicht zu ſchlafen; und Aegisth, welcher, ſeinem Verſprechen nach, bleibet, ſchlaͤft, nicht ſeinem Verſprechen nach, ſondern ſchlaͤft, weil er muͤde iſt, weil es Nacht iſt, weil er nicht ſiehet, wo er die Nacht ſonſt werde zubringen koͤnnen, als hier. (*)Atto IV. Sc. II. Egi. di tanto furor, di tanto affanno Qual ebbe mai cagion? . Iſm. Il tutto Scoprirti io non ricuſo; egli è d’uopo Che qui t’arreſti per brev ora: urgente Cura or mi chiama altrove. Egi. Io volontieri T’attendo quanto vuoi. Iſm. non partire E non for ſì, ch quà ritorni indarno. Egi. Mia in pegno; e dove gir do - vrei? Die zweyte Luͤge des Lindelle iſt von eben dem Schlage.

〟Merope,

ſagt er,

nachdem ſie der alte Poly - 〟dor an der Ermordung ihres Sohnes verhin - 〟dert, fragt ihn, was fuͤr eine Belohnung er 〟dafuͤr verlange; und der alte Narr bittet ſie, 〟ihn zu verjuͤngen.

Bittet ſie, ihn zu ver - juͤngen?

〟Die Belohnung meines Dienſtes,

antwortet der Alte,

iſt dieſer Dienſt ſelbſt; iſt dieſes, daß ich dich vergnuͤgt ſehe. Was koͤnn - teſt du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines moͤchte ich mir wuͤn - ſchen; aber das ſtehet weder in deiner, noch inirgend344irgend eines Sterblichen Gewalt, mir zu ge - waͤhren; daß mir die Laſt meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert wuͤrde, u. ſ. w. (*)
Atto IV. Sc. VII. Mer. Ma quale, ô mio fedel, qual potro io Darti già mai mercè, che i merti agguagli? Pol. Il mio ſteſſo ſervir fu premio; ed ora M’è, il vederti contenta, ampia mercede. Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro Sol mi ſaria ciò, ch altridar non puoto. Che ſcemato mi foſſe il grave incarco De gli anni, che mi ſtà ſù’l capo, e à terra Il curva, e preme ſi, che parmi un monte

Heißt das: erleichtere Du mir dieſe Laſt? gieb Du mir Staͤrke und Jugend wieder? Ich will gar nicht fagen, daß eine ſolche Klage uͤber die Ungemaͤchlichkeiten des Alters hier an dem ſchick - lichſten Orte ſtehe, ob ſie ſchon vollkommen in dem Charakter des Polydors iſt. Aber iſt denn jede Unſchicklichkeit, Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und ſein Dichter, im eigentlich - ſten Verſtande wahnwitzig ſeyn, wenn dieſer jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anluͤgt. Anluͤgt! Luͤgen! Ver - dienen ſolche Kleinigkeiten wohl ſo harte Wor - te? Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wich - tig genug war, darum zu luͤgen, ſoll das einem dritten nicht wichtig genug ſeyn, ihm zu ſagen, daß er gelogen hat?

Ham -[345]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und vierzigſtes Stuͤck.

Ich komme auf den Tadel des Lindelle, wel - cher den Voltaire ſo gut als den Maffei trift, dem er doch nur allein zugedacht war.

Ich uͤbergehe die beiden Punkte, bey welchen es Voltaire ſelbſt fuͤhlte, daß der Wurf auf ihn zuruͤckpralle. Lindelle hatte geſagt, daß es ſehr ſchwache und unedle Merkmale waͤren, aus welchen Merope bey dem Maffei ſchlieſſe, daß Aegisth der Moͤrder ihres Sohnes ſey. Vol - taire antwortet:

〟Ich kann es Ihnen nicht ber - 〟gen; ich finde, daß Maffei es viel kuͤnſtlicher 〟angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu 〟machen, daß ihr Sohn der Moͤrder ihres Soh - 〟nes ſey. Er konnte ſich eines Ringes dazu be - 〟dienen, und das durfte ich nicht; denn ſeit dem 〟koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in ſeinen 〟Satyren ſpottet, wuͤrde das auf unſerm Thea - 〟ter ſehr klein ſcheinen.

Aber mußte dennX xVol -346Voltaire eben eine alte Ruͤſtung anſtatt des Rin - ges waͤhlen? Als Narbas das Kind mit ſich nahm, was bewog ihn denn, auch die Ruͤſtung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachſen waͤre, ſich keine neue Ruͤſtung kaufen duͤrfe, und ſich mit der alten ſeines Vaters behelfen koͤnne? Der vor - ſichtige Alte! Ließ er ſich nicht auch ein Paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geſchah es, damit Aegisth einmal an dieſer Ruͤ - ſtung erkannt werden koͤnne? So eine Ruͤſtung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Fa - milienruͤſtung, die Vulkan ſelbſt dem Großgroß - vater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Ruͤſtung? Oder wenigſtens mit ſchoͤnen Figuren und Sinnbildern verſehen, an welchen ſie Euri - kles und Merope nach funfzehn Jahren ſogleich wieder erkannten? Wenn das iſt: ſo mußte ſie der Alte freylich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Urſache, ihm verbunden zu ſeyn, daß er unter den blutigen Verwirrungen, bey welchen ein anderer nur an das Kind gedacht haͤtte, auch zugleich an eine ſo nuͤtzliche Moͤbel dachte. Wenn Aegisth ſchon das Reich ſeines Vaters verlor, ſo mußte er doch nicht auch die Ruͤſtung ſeines Vaters verlieren, in der er jenes wieder erobern konnte. Zweytens hatte ſich Lindelle uͤber den Polyphont des Maffei aufge - halten, der die Merope mit aller Gewalt hey -rathen347rathen will. Als ob der Voltairiſche das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher:

〟Weder Maffei, noch ich, haben die Urſachen 〟dringend genug gemacht, warum Polyphont 〟durchaus Meropen zu ſeiner Gemahlinn ver - 〟langt. Das iſt vielleicht ein Fehler des Stof - 〟fes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen ſol - 〟chen Fehler fuͤr ſehr gering halte, wenn das 〟Intereſſe, welches er hervor bringt, betraͤcht - 〟lich iſt.

Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in dieſem Umſtande eben hat Maffei den Stoff veraͤndert. Was brauchte Voltaire dieſe Veraͤnderung anzunehmen, wenn er ſeinen Vortheil nicht dabey ſahe?

Der Punkte ſind mehrere, bey welchen Vol - taire eine aͤhnliche Ruͤckſicht auf ſich ſelbſt haͤtte nehmen koͤnnen: aber welcher Vater ſieht alle Fehler ſeines Kindes? Der Fremde, dem ſie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht ſcharf - ſichtiger zu ſeyn, als der Vater; genug, daß er nicht der Vater iſt. Geſetzt alſo, ich waͤre die - ſer Fremde!

Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er ſeine Scenen oft nicht verbinde, daß er das Theater oft leer laſſe, daß ſeine Perſonen oft ohne Urſache auftraͤten und abgiengen; alles weſentliche Feh - ler, die man heut zu Tage auch dem armſelig - ſten Poeten nicht mehr verzeihe. Weſentliche Fehler dieſes? Doch das iſt die Sprache derX x 2fran -348franzoͤſiſchen Kunſtrichter uͤberhaupt; die muß ich ihm ſchon laſſen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So weſentlich oder unweſentlich ſie aber auch ſeyn moͤgen; wol - len wir es Lindellen auf ſein Wort glauben, daß ſie bey den Dichtern ſeines Volks ſo ſelten ſind? Es iſt wahr, ſie ſind es, die ſich der groͤßten Regelmaͤßigkeit ruͤhmen; aber ſie ſind es auch, die entweder dieſen Regeln eine ſolche Ausdeh - nung geben, daß es ſich kaum mehr der Muͤhe verlohnet, ſie als Regeln vorzutragen, oder ſie auf eine ſolche linke und gezwungene Art beobach - ten, daß es weit mehr beleidiget, ſie ſo beobach - tet zu ſehen, als gar nicht. (*)Dieſes war, zum Theil, ſchon das Urtheil unſers Schlegels. 〟Die Wahrheit zu geſte - 〟hen,ſagt er in ſeinen Gedanken zur Aufnah - me des daͤniſchen Theaters,〟beobachten die 〟Englaͤnder, die ſich keiner Einheit des Ortes 〟ruͤhmen, dieſelbe großentheils viel beſſer, 〟als die Franzoſen, die ſich damit viel wiſſen, 〟daß ſie die Regeln des Ariſtoteles ſo genau 〟beobachten. Darauf koͤmmt gerade am al - 〟lerwenigſten an, daß das Gemaͤhlde der Sce - 〟nen nicht veraͤndert wird. Aber wenn keine 〟Urſache vorhanden iſt, warum die auftreten - 〟den Perſonen ſich an dem angezeigten Orte 〟befinden, und nicht vielmehr an demjenigen 〟geblieben ſind, wo ſie vorhin waren; wenn 〟eine Perſon ſich als Herr und Bewohner eben 〟des Zimmers auffuͤhrt, wo kurz vorher eine〟an -Beſonders iſtVol -349Voltaire ein Meiſter, ſich die Feſſeln der Kunſt ſo leicht, ſo weit zu machen, daß er alle Freyheit behaͤlt, ſich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er ſich oft ſo plump und ſchwer, und macht ſo aͤngſtliche Verdrehungen, daß man meinen ſollte, jedes Glied von ihm ſey an ein beſonderes Klotz geſchmiedet. Es koſtet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus die - ſem Geſichtspunkte zu betrachten; doch da es, bey der gemeinen Klaſſe von Kunſtrichtern, nochX x 3ſo(*)〟andere, als ob ſie ebenfalls Herr vom Hauſe 〟waͤre, in aller Gelaſſenheit mit ſich ſelbſt, 〟oder mit einem Vertrauten geſprochen, oh - 〟ne daß dieſer Umſtand auf eine wahrſchein - 〟liche Weiſe entſchuldiget wird; kurz, wenn 〟die Perſonen nur deswegen in den angezeig - 〟ten Saal oder Garten kommen, um auf die 〟Schaubuͤhne zu treten: ſo wuͤrde der Ver - 〟faſſer des Schauſpiels am beſten gethan ha - 〟ben, anſtatt der Worte, 〟der Schauplatz iſt 〟ein Saal in Climenens Hauſe, unter das 〟Verzeichniß ſeiner Perſonen zu ſetzen: 〟der 〟Schauplatz iſt auf dem Theater. Oder im 〟Ernſte zu reden, es wuͤrde weit beſſer gewe - 〟ſen ſeyn, wenn der Verfaſſer, nach dem Ge - 〟brauche der Englaͤnder, die Scene aus dem 〟Hauſe des einen in das Haus eines andern 〟verlegt, und alſo den Zuſchauer ſeinem Hel - 〟den nachgefuͤhret haͤtte; als daß er ſeinem 〟Helden die Muͤhe macht, den Zuſchauern zu 〟gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er 〟nichts zu thun hat. 350ſo ſehr Mode iſt, es faſt aus keinem andern, als aus dieſem, zu betrachten; da es der iſt, aus wel - chem die Bewunderer des franzoͤſiſchen Theaters, das lauteſte Geſchrey erheben: ſo will ich doch erſt genauer hinſehen, ehe ich in ihr Geſchrey mit einſtimme.

1. Die Scene iſt zu Meſſene, in dem Pallaſte der Merope. Das iſt, gleich Anfangs, die ſtrenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundſaͤtzen und Beyſpielen der Alten, ein He - delin verlangen zu koͤnnen glaubte. Die Scene muß kein ganzer Pallaſt, ſondern nur ein Theil des Pallaſtes ſeyn, wie ihn das Auge aus einem und eben demſelben Standorte zu uͤberſehen faͤ - hig iſt. Ob ſie ein ganzer Pallaſt, oder eine ganze Stadt, oder eine ganze Provinz iſt, das macht im Grunde einerley Ungereimtheit. Doch ſchon Corneille gab dieſem Geſetze, von dem ſich ohnedem kein ausdruͤckliches Gebot bey den Al - ten findet, die weitere Ausdehnung, und woll - te, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend ſey. Wenn er ſeine beſten Stuͤcke von dieſer Seite rechtfertigen wollte, ſo mußte er wohl ſo nachgebend ſeyn. Was Corneillen aber erlaubt war, das muß Voltairen Recht ſeyn. Ich ſage alſo nichts dagegen, daß eigent - lich die Scene bald in dem Zimmer der Koͤniginn, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vor - hofe, bald nach dieſer bald nach einer andernAus -351Ausſicht, muß gedacht werden. Nur haͤtte er bey dieſen Abwechſelungen auch die Vorſicht brauchen ſollen, die Corneille dabey empfahl: ſie muͤſſen nicht in dem nehmlichen Akte, am wenigſten in der nehmlichen Scene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts iſt, muß durch dieſen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in eben derſelben Scene abaͤn - dern, oder auch nur erweitern oder verengern, iſt die aͤußerſte Ungereimtheit von der Welt. Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen Platze, unter einem Saͤulengange, oder in ei - nem Saale ſpielen, in deſſen Vertiefung das Grabmahl des Kreſphontes zu ſehen, an wel - chem die Koͤniginn den Aegisth mit eigner Hand hinrichten will: was kann man ſich armſeliger vorſtellen, als daß, mitten in der vierten Scene, Eurikles, der den Aegisth wegfuͤhret, dieſe Vertiefung hinter ſich zuſchlieſſen muß? Wie ſchließt er ſie zu? Faͤllt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhaͤngen uͤber - haupt ſagt, gepaßt hat, ſo iſt es auf dieſen;(*)On met des rideaux qui ſe tirent & retirent, pour faire que les Acteurs paroiſſent & diſparoiſſent ſelon la neceſſité du Sujet ces rideaux ne ſont bons qu à faire des cou - vertures pour berner ceux qui les ont in - ventez, & ceux qui les approuvent. Pra - tique du Theatre Liv. II. chap. 6. be -352beſonders wenn man zugleich die Urſache erwegt, warum Aegisth ſo ploͤtzlich abgefuͤhrt, durch dieſe Maſchinerie ſo augenblicklich aus dem Ge - ſichte gebracht werden muß, von der ich hernach reden will. Eben ſo ein Vorhang wird in dem fuͤnften Akte aufgezogen. Die erſten ſechs Sce - nen ſpielen in einem Saale des Pallaſtes: und mit der ſiebenden erhalten wir auf einmal die offene Ausſicht in den Tempel, um einen todten Koͤrper in einem blutigen Rocke ſehen zu koͤnnen. Durch welches Wunder? Und war dieſer An - blick dieſes Wunders wohl werth? Man wird ſagen, die Thuͤren dieſes Tempels eroͤffnen ſich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einſicht in denſelben. Ich verſtehe; dieſer Tempel war Ihro verwittweten Koͤnigli - chen Majeſtaͤt Schloßkapelle, die gerade an den Saal ſtieß, und mit ihm Communication hatte, damit Allerhoͤchſtdieſelben jederzeit trockes Fußes zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur ſollten wir ſie dieſes Weges nicht allein her - auskommen, ſondern auch hereingehen ſehen; wenigſtens den Aegisth, der am Ende der vier - ten Scene zu laufen hat, und ja den kuͤrzeſten Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf, ſeine That ſchon vollbracht haben ſoll.

Ham -[353]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fuͤnf und vierzigſtes Stuͤck.

2. Nicht weniger bequem hat es ſich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke ſich einmal al - les das, was er in ſeiner Merope vorgehen laͤßt, an Einem Tage geſchehen; und ſage, wie viel Ungereimtheiten man ſich dabey denken muß. Man nehme immer einen voͤlligen, natuͤrlichen Tag; man gebe ihm immer die dreyßig Stun - den, auf die Corneille ihn auszudehnen erlau - ben will. Es iſt wahr, ich ſehe zwar keine phy - ſikaliſche Hinderniſſe, warum alle die Begeben - heiten in dieſem Zeitraume nicht haͤtten geſche - hen koͤnnen; aber deſto mehr moraliſche. Es iſt freylich nicht unmoͤglich, daß man innerhalb zwoͤlf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet ſeyn kann; beſonders, wenn man es mit Gewalt vor den Prieſter ſchleppen darf. Aber wenn es geſchieht, ver -Y ylangt354langt man nicht eine ſo gewaltſame Beſchleuni - gung durch die allertriftigſten und dringendſten Urſachen gerechtfertiget zu wiſſen? Findet ſich hingegen auch kein Schatten von ſolchen Urſa - chen, wodurch ſoll uns, was blos phyſikaliſcher Weiſe moͤglich iſt, denn wahrſcheinlich werden? Der Staat will ſich einen Koͤnig waͤhlen; Po - lyphont und der abweſende Aegisth koͤnnen al - lein dabey in Betrachtung kommen; um die An - ſpruͤche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter deſſelben heyrathen; an eben demſel - den Tage, da die Wahl geſchehen ſoll, macht er ihr den Antrag; ſie weiſet ihn ab; die Wahl geht vor ſich, und faͤllt fuͤr ihn aus; Polyphont iſt alſo Koͤnig, und man ſollte glauben, Aegisth moͤge[nunmehr][erſcheinen], wenn er wolle, der neuerwaͤhlte Koͤnig koͤnne es, vors erſte, mit ihm anſehen. Nichtsweniger; er beſtehet auf der Heyrath, und beſtehet darauf, daß ſie noch deſ - ſelben Tages vollzogen werden ſoll; eben des Tages, an dem er Meropen zum erſtenmale ſeine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Koͤnige ausgerufen. Ein ſo alter Soldat, und ein ſo hitziger Freyer! Aber ſeine Freyerey, iſt nichts als Politik. Deſto ſchlim - mer; diejenige, die er in ſein Intereſſe ver - wickeln will, ſo zu mißhandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht Koͤnig war, als ſie glauben mußte, daß ihn ihreHand355Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen ſoll - te; aber nun iſt er Koͤnig, und iſt es geworden, ohne ſich auf den Titel ihres Gemahls zu gruͤn - den; er wiederhole ſeinen Antrag, und viel - leicht giebt ſie es naͤher; er laſſe ihr Zeit, den Abſtand zu vergeſſen, der ſich ehedem zwiſchen ihnen befand, ſich zu gewoͤhnen, ihn als ihres gleichen zu betrachten, und vielleicht iſt nur kurze Zeit dazu noͤthig. Wenn er ſie nicht ge - winnen kann, was hilft es ihn, ſie zu zwingen? Wird es ihren Anhaͤngern unbekannt bleiben, daß ſie gezwungen worden? Werden ſie ihn nicht auch darum haſſen zu muͤſſen glauben? Werden ſie nicht auch darum dem Aegisth, ſo - bald er ſich zeigt, beyzutreten, und in ſeiner Sache zugleich die Sache ſeiner Mutter zu betreiben, ſich fuͤr verbunden achten? Vergebens, daß das Schickſal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr ſonſt ſo bedaͤchtlich zu Werke gegangen, dieſen Aegisth nun ſelbſt in die Haͤnde liefert, und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Anſpruͤche zu beſitzen, anbietet, das weit kuͤrzer, weit unfehlbarer iſt, als die Verbin - dung mit ſeiner Mutter: es ſoll und muß gehey - rathet ſeyn, und noch heute, und noch dieſen Abend; der neue Koͤnig will bey der alten Koͤ - niginn noch dieſe Nacht ſchlafen, oder es geht nicht gut. Kann man ſich etwas komiſcheres denken? In der Vorſtellung, meine ich; dennY y 2daß356daß es einem Menſchen, der nur einen Funken von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau - chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak - tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo - dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach - tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver - letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich - keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge - reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen merklich, welche den Abſtand des einen Ortes von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen;aber357aber alle Menſchen koͤnnen es an ſich ſelbſt mer - ken, zu welchen Handlungen man ſich Einen Tag, und zu welchen man ſich mehrere nehmen ſollte. Welcher Dichter alſo die phyſiſche Ein - heit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moraliſchen zu beobachten verſtehet, und ſich kein Bedenken macht, dieſe jener aufzuopfern, der verſtehet ſich ſehr ſchlecht auf ſeinen Vortheil, und opfert das Weſentlichere dem Zufaͤlligen auf. Maffei nimmt doch wenigſtens noch eine Nacht zu Huͤlfe; und die Vermaͤhlung, die Po - lyphont der Merope heute andeutet, wird erſt den Morgen darauf vollzogen. Auch iſt es bey ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron beſteiget; die Begebenheiten preſſen ſich folglich weniger; ſie eilen, aber ſie uͤbereilen ſich nicht. Voltairens Polyphont iſt ein Epheme - ron von einem Koͤnige, der ſchon darum den zweyten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den erſten ſeine Sache ſo gar albern und dumm anfaͤngt.

3. Maffei, ſagt Lindelle, verbinde oͤfters die Scenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heut zu Tage auch den gering - ſten Poeten nicht verzeihe.

〟Die Verbindung 〟der Scenen,

ſagt Corneille,

iſt eine große 〟Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns 〟von der Stetigkeit der Handlung beſſer verſi - 〟chern, als die Stetigkeit der Vorſtellung. SieY y 3〟iſt358〟iſt aber doch nur eine Zierde, und keine Regel; 〟denn die Alten haben ſich ihr nicht immer unter - 〟worfen u. ſ. w.

Wie? iſt die Tragoͤdie bey den Franzoſen ſeit ihrem großen Corneille ſo viel vollkommener geworden, daß das, was dieſer blos fuͤr eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler iſt? Oder haben die Fran - zoſen ſeit ihm das Weſentliche der Tragoͤdie noch mehr verkennen gelernt, daß ſie auf Dinge einen ſo großen Werth legen, die im Grunde keinen ha - ben? Bis uns dieſe Frage entſchieden iſt, mag Cor - neille immer wenigſtens eben ſo glaubwuͤrdig ſeyn, als Lindelle; und was, nach jenem, alſo eben noch kein ausgemachter Fehler bey dem Maffei iſt, mag gegen den minder ſtreitigen des Vol - taire aufgehen, nach welchem er das Theater oͤf - ters laͤnger voll laͤßt, als es bleiben ſollte. Wenn z. E., in dem erſten Akte, Polyphont zu der Koͤniginn koͤmmt, und die Koͤniginn mit der dritten Scene abgeht, mit was fuͤr Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Koͤniginn ver - weilen? Iſt dieſes Zimmer der Ort, wo er ſich gegen ſeinen Vertrauten ſo frey herauslaſſen ſollte? Das Beduͤrfniß des Dichters verraͤth ſich in der vierten Scene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir nothwendig wiſſen muͤſſen, nur daß wir ſie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haͤt - ten.

4. Maf -359

4. Maffei motivirt das Auftreten und Abge - hen ſeiner Perſonen oft gar nicht: und Vol - taire motivirt es eben ſo oft falſch; welches wohl noch ſchlimmer iſt. Es iſt nicht genug, daß eine Perſon ſagt, warum ſie koͤmmt, man muß auch aus der Verbindung einſehen, daß ſie darum kommen muͤſſen. Es iſt nicht genug, daß ſie ſagt, warum ſie abgeht, man muß auch in dem Folgenden ſehen, daß ſie wirklich darum abge - gangen iſt. Denn ſonſt iſt das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand, und keine Urſache. Wenn z. E. Eurikles in der dritten Scene des zweyten Akts abgeht, um, wie er ſagt, die Freunde der Koͤ - niginn zu verſammeln; ſo muͤßte man von dieſen Freunden und von dieſer ihrer Verſammlung auch hernach etwas hoͤren. Da wir aber nichts davon zu hoͤren bekommen, ſo iſt ſein Vorgeben ein ſchuͤlerhaftes Peto veniam exeundi, mit der erſten beſten Luͤgen, die dem Knaben einfaͤllt. Er geht nicht ab, um das zu thun, was er ſagt, ſondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu koͤnnen, die der Poet durch keinen andern ertheilen zu laſſen wußte. Noch ungeſchickter geht Voltaire mit dem Schluſſe ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten ſagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feyerlichen Verbindung ſchon alles bereit ſey; und ſo gehter360er mit einem

Venez, Madame

ab. Madame aber folgt ihm nicht, ſondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Couliſſe hinein; worauf Polyphont den vierten Akt wieder an - faͤngt, und nicht etwa ſeinen Unwillen aͤußert, daß ihm die Koͤniginn nicht in den Tempel ge - folgt iſt, (denn er irrte ſich, es hat mit der Trau - ung noch Zeit,) ſondern wiederum mit ſeinem Erox Dinge plaudert, uͤber die er nicht hier, uͤber die er zu Hauſe in ſeinem Gemache, mit ihm haͤtte ſchwatzen ſollen. Nun ſchließt auch der vierte Akt, und ſchließt vollkommen wie der dritte. Polyphont citirt die Koͤniginn nochmals nach dem Tempel, Merope ſelbſt ſchreyet,

Courons tous vers le temple ou m’attend mon outrage;

und zu den Opferprieſtern, die ſie dahin abholen ſollen, ſagt ſie,

Vous venez à l’autel entrainer la victime.

Folglich werden ſie doch gewiß zu Anfange des fuͤnften Akts in dem Tempel ſeyn, wo ſie nicht ſchon gar wieder zuruͤck ſind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergeſſen, und koͤmmt noch einmal wieder, und ſchickt auch die Koͤniginn noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwiſchen dem dritten und vierten, und zwiſchen dem vierten und fuͤnften Akte geſchieht dem - nach nicht allein das nicht, was geſchehen ſollte; ſon - dern es geſchieht auch, platter Dings, gar nichts, und der dritte u. vierte Akt ſchlieſſen blos, damit der vierte und fuͤnfte wieder anfangen koͤnnen.

Ham -[361]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und vierzigſtes Stuͤck.

Ein anderes iſt, ſich mit den Regeln abfinden; ein anderes, ſie wirklich beobachten. Je - nes thun die Franzoſen; dieſes ſcheinen nur die Alten verſtanden zu haben.

Die Einheit der Handlung war das erſte dra - matiſche Geſetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichſam nur Folgen aus jener, die ſie ſchwerlich ſtrenger be - obachtet haben wuͤrden, als es jene nothwendig erfordert haͤtte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen waͤre. Da nehmlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen ha - ben mußten, und dieſe Menge immer die nehm - liche blieb, welche ſich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch laͤnger aus denſel - ben wegbleiben konnte, als man gewoͤhnlicher - maaßen der bloßen Neugierde wegen zu thunZ zpflegt:362pflegt; ſo konnten ſie faſt nicht anders, als den Ort auf einen und eben denſelben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben denſel - ben Tag einſchraͤnken. Dieſer Einſchraͤnkung unterwarfen ſie ſich denn auch bona fide; aber mit einer Biegſamkeit, mit einem Verſtande, daß ſie, unter neunmalen, ſiebenmal weit mehr dabey gewannen, als verloren. Denn ſie lieſ - ſen ſich dieſen Zwang einen Anlaß ſeyn, die Handlung ſelbſt ſo zu ſimplifiiren, alles Ueber - fluͤßige ſo ſorgfaͤltig von ihr abzuſondern, daß ſie, auf ihre weſentlichſten Beſtandtheile ge - bracht, nichts als ein Ideal von dieſer Hand - lung ward, welches ſich gerade in derjenigen Form am gluͤcklichſten ausbildete, die den we - nigſten Zuſatz von Umſtaͤnden der Zeit und des Ortes verlangte.

Die Franzoſen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geſchmack fanden, die durch die wilden Intriguen der ſpaniſchen Stuͤcke ſchon verwoͤhnt waren, ehe ſie die grie - chiſche Simplicitaͤt kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, ſondern als fuͤr ſich zur Vorſtellung einer Handlung unumgaͤngliche Er - forderniſſe, welche ſie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpaſſen muͤßten, als es nur immer der Gebrauchdes363des Chors erfordern koͤnnte, dem ſie doch gaͤnz - lich entſagt hatten. Da ſie aber fanden, wie ſchwer, ja wie unmoͤglich oͤfters, dieſes ſey: ſo trafen ſie mit den tyranniſchen Regeln, welchen ſie ihren voͤlligen Gehorſam aufzukuͤndigen, nicht Muth genug hatten, ein Abkommen. Anſtatt eines einzigen Ortes, fuͤhrten ſie einen unbe - ſtimmten Ort ein, unter dem man ſich bald den, bald jenen, einbilden koͤnne; genug, wenn dieſe Orte zuſammen nur nicht gar zu weit aus einan - der laͤgen, und keiner eine beſondere Verzierung beduͤrfe, ſondern die nehmliche Verzierung un - gefehr dem einen ſo gut als dem andern zukom - men koͤnne. Anſtatt der Einheit des Tages ſchoben ſie die Einheit der Dauer unter; und eine gewiſſe Zeit, in der man von keinem Auf - gehen und Untergehen der Sonne hoͤrte, in der niemand zu Bette ging, wenigſtens nicht oͤfterer als einmal zu Bette ging, mochte ſich doch ſonſt noch ſo viel und mancherley darinn eraͤugnen, ließen ſie fuͤr Einen Tag gelten.

Niemand wuͤrde ihnen dieſes verdacht haben; denn unſtreitig laſſen ſich auch ſo noch vortreff - liche Stuͤcke machen; und das Sprichwort ſagt, bohre das Bret, wo es am duͤnnſten iſt. Aber ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren laſſen. Ich muß ihm nicht immer nur die dicke - ſte Kante, den aſtigſten Theil des Bretes zei -Z z 2gen,364gen, und ſchreyen: Da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren! Gleichwohl ſchreyen die franzoͤſiſchen Kunſtrichter alle ſo; beſonders wenn ſie auf die dramatiſchen Stuͤcke der Eng - laͤnder kommen. Was fuͤr ein Aufhebens ma - chen ſie von der Regelmaͤßigkeit, die ſie ſich ſo unendlich erleichtert haben! Doch mir eckelt, mich bey dieſen Elementen laͤnger aufzuhalten.

Moͤchten meinetwegen Voltairens und Maf - feis Merope acht Tage dauern, und an ſieben Orten in Griechenland ſpielen! Moͤchten ſie aber auch nur die Schoͤnheiten haben, die mich dieſe Pedanterieen vergeſſen machen!

Die ſtrengſte Regelmaͤßigkeit kann den klein - ſten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeſchmackt Polyphont bey dem Maffei oͤfters ſpricht und handelt, iſt Lindellen nicht entgangen. Er hat Recht uͤber die heilloſen Maximen zu ſpotten, die Maffei ſeinem Tyran - nen in den Mund legt. Die Edelſten und Be - ſten des Staats aus dem Wege zu raͤumen; das Volk in alle die Wolluͤſte zu verſenken, die es entkraͤften und weibiſch machen koͤnnen; die groͤß - ten Verbrechen, unter dem Scheine des Mit - leids und der Gnade, ungeſtraft zu laſſen u. ſ. w. wenn es einen Tyrannen giebt, der dieſen un - ſinnigen Weg zu regieren einſchlaͤgt, wird erſich365ſich deſſen auch ruͤhmen? So ſchildert man die Tyrannen in einer Schuluͤbung; aber ſo hat noch keiner von ſich ſelbſt geſprochen. (*)Atto III. Sc. II. Quando Saran da poi ſopiti alquanto, e queti Gli animi, l’arte del regnar mi giovi. Per mute oblique vie n’andranno a Stige L’alme piu audaci, e generoſe. A i vizi Per cui vigor ſi abbatte, ardir ſi toglie Il freno allargherò. Lunga clemenza Con pompa di pieta farò, che ſplenda Su i delinquenti; a i gran delitti invito, Onde reſtino i buoni eſpoſti, e paghi Renda gl iniqui la licenza; ed onde Poi fra ſe diſtruggendoſi, in crudeli Gare private il lor furor ſi ſtempri. Udrai ſovence riſonar gli editti, E raddopiar le leggi, che al ſovranoGiovan Es iſt wahr, ſo gar froſtig und wahnwitzig laͤßt Voltaire ſeinen Polyphont nicht deklamiren; aber mit unter laͤßt er ihn doch auch Dinge ſa - gen, die gewiß kein Mann von dieſer Art uͤber die Zunge bringt. Z. E.

Des Dieux quelquefois la longue patience Fait ſur nous à pas lents deſcendre la vengence
Z z 3Ein366

Ein Polyphont ſollte dieſe Betrachtung wohl machen; aber er macht ſie nie. Noch weniger wird er ſie in dem Augenblicke machen, da er ſich zu neuen Verbrechen aufmuntert:

Eh bien, encore ce crime!

Wie unbeſonnen, und in den Tag hinein, er gegen Meropen handelt, habe ich ſchon beruͤhrt. Sein Betragen gegen den Aegisth ſieht einem eben ſo verſchlagenen als entſchloſſenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange ſchildert, noch weniger aͤhnlich. Aegisth haͤtte bey dem Opfer gerade nicht erſcheinen muͤſſen. Was ſoll er da? Ihm Gehorſam ſchwoͤren? In den Augen des Volks? Unter dem Geſchrey ſeiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehl - bar geſchehen, was er zuvor ſelbſt beſorgte? (*)Acte I. Sc. 4. Si ce fils, tant pleuré, dans Meſſene eſt produit, De quinze ans de travaux j’ai perdu tout le fruit. Croi -Er(*)Giovan ſervate, e transgredite. Udrai Correr minaccia ognor di guerra eſterna; Ond io n’andrò ſu l’atterita plebe Sempre creſcendo i peſi, e peregrine Milizie introdurrò. 367Er hat ſich fuͤr ſeine Perſon alles von dem Aegisth zu verſehen; Aegisth verlangt nur ſein Schwerdt wieder, um den ganzen Streit zwiſchen ihnen mit eins zu entſcheiden; und dieſen tollkuͤh - nen Aegisth laͤßt er ſich an dem Altare, wo das erſte das beſte, was ihm in die Hand faͤllt, ein Schwerdt werden kann, ſo nahe kommen? Der Polyphont des Maffei iſt von dieſen Ungereimt - heiten frey; denn dieſer kennt den Aegisth nicht, und haͤlt ihn fuͤr ſeinen Freund. Warum haͤtte Aegisth ſich ihm alſo bey dem Altare nicht naͤ - hern duͤrfen? Niemand gab auf ſeine Bewe - gungen Acht; der Streich war geſchehen, und er zu dem zweyten ſchon bereit, ehe es noch ei - nem Menſchen einkommen konnte, den erſten zu raͤchen.

〟Me -

(*)Croi-moi, ces prejugés de ſang & de naiſ - ſance Revivrons dans les cœurs, y prendront ſa defenſe. Le ſouvenir du pere, & cent rois pour ayeux, Cet honneur pretendu d’être iſſu de nos Dieux; Le cris, & le deſeſpoir d’une mere eplo - rée, Detruiront ma puiſſance encor mal aſ - ſurée.

368
〟Merope,

ſagt Lindelle,

wenn ſie bey dem 〟Maffei erfaͤhrt, daß ihr Sohn ermordet ſey, 〟will dem Moͤrder das Herz aus dem Leibe reiſ - 〟ſen, und es mit ihren Zaͤhnen zerfleiſchen. (*)
Atto II. Sc. 6. Quel ſcelerato in mio poter vorrei Per trarne prima, ſ’ebbe parte in queſto Aſſaſſinio il tiranno; io voglio poi Con una ſcure ſpalancargli il petto Voglio ſtrappargli il cor, voglio co denti Lacerarlo, e ſbranarlo
〟Das heißt, ſich wie eine Kannibalinn, und 〟nicht wie eine betruͤbte Mutter ausdruͤcken; 〟das Anſtaͤndige muß uͤberall beobachtet wer - 〟den.

Ganz recht; aber obgleich die franzoͤ - ſiſche Merope delikater iſt, als daß ſie ſo in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beiſſen ſollte: ſo duͤnkt mich doch, iſt ſie im Grunde eben ſo gut Kannibalinn, als die Italieni - ſche.

Ham -[369]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und vierzigſtes Stuͤck.

Und wie das? Wenn es unſtreitig iſt, daß man den Menſchen mehr nach ſeinen Tha - ten, als nach ſeinen Reden richten muß; daß ein raſches Wort, in der Hitze der Leiden - ſchaft ausgeſtoſſen, fuͤr ſeinen moraliſchen Cha - rakter wenig, eine uͤberlegte kalte Handlung aber alles beweiſet: ſo werde ich wohl Recht ha - ben. Merope, die ſich in der Ungewißheit, in welcher ſie von dem Schickſale ihres Sohnes iſt, dem bangſten Kummer uͤberlaͤßt, die immer das Schrecklichſte beſorgt, und in der Vorſtellung, wie ungluͤcklich ihr abweſender Sohn vielleicht ſey, ihr Mitleid uͤber alle Ungluͤckliche erſtrecket: iſt das ſchoͤne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da ſie den Verluſt des Gegenſtandes ihrer Zaͤrtlichkeit erfaͤhrt, von ih - rem Schmerze betaͤubt dahin ſinkt, und ploͤtzlich, ſobald ſie den Moͤrder in ihrer Gewalt hoͤret,A a awieder370wieder aufſpringt, und tobet, und wuͤthet, und die blutigſte ſchrecklichſte Rache an ihm zu voll - ziehen drohet, und wirklich vollziehen wuͤrde, wenn er ſich eben unter ihren Haͤnden befaͤnde: iſt eben dieſes Ideal, nur in dem Stande einer gewaltſamen Handlung, in welchem es an Aus - druck und Kraft gewinnet, was es an Schoͤn - heit und Ruͤhrung verlohren hat. Aber Me - rope, die ſich zu dieſer Rache Zeit nimmt, An - ſtalten dazu vorkehret, Feyerlichkeiten dazu an - ordnet, und ſelbſt die Henkerinn ſeyn, nicht toͤdten ſondern martern, nicht ſtrafen ſondern ihre Augen an der Strafe weiden will: iſt das auch noch eine Mutter? Freylich wohl; aber eine Mutter, wie wir ſie uns unter den Kani - balinnen denken; eine Mutter, wie es jede Baͤrinn iſt. Dieſe Handlung der Merope gefalle wem da will; mir ſage er es nur nicht, daß ſie ihm gefaͤllt, wenn ich ihn nicht eben ſo ſehr verachten, als verabſcheuen ſoll.

Vielleicht duͤrfte der Herr von Voltaire auch dieſes zu einem Fehler des Stoffes machen; viel - leicht duͤrfte er ſagen, Merope muͤſſe ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze Coup de Théatre, den Ariſto - teles ſo ſehr anpreiſe, der die empfindlichen Athe - nienſer ehedem ſo ſehr entzuͤckt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire wuͤrde ſich wieder - um irren, und die willkuͤhrlichen Abweichungendes371des Maffei abermals fuͤr den Stoff ſelbſt neh - men. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß ſie es mit aller Ueberlegung thun muß. Und ſo ſcheinet ſie es auch bey dem Euripides nicht gethan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuͤr den Auszug ſeines Stuͤcks annehmen duͤrfen. Der Alte koͤmmt und ſagt der Koͤniginn weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte ſie ge - hoͤrt, daß ein Fremder angelangt ſey, der ſich ruͤhme, ihn umgebracht zu haben, und daß die - ſer Fremde ruhig unter ihrem Dache ſchlafe; ſie ergreift das erſte das beſte, was ihr in die Haͤnde faͤllt, eilet voller Wuth nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er - kennung geſchieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geſchehen ſollte. Das war ſehr ſimpel und natuͤrlich, ſehr ruͤhrend und menſch - lich! Die Athenienſer zitterten fuͤr den Aegisth, ohne Meropen verabſcheuen zu duͤrfen. Sie zitterten fuͤr Meropen ſelbſt, die durch die gut - artigſte Uebereilung Gefahr lief, die Moͤrderinn ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich blos fuͤr den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich ſo ungehalten, daß ich es ihr faſt goͤnnen moͤchte, ſie vollfuͤhrte den Streich. Moͤchte ſie es doch haben! Kann ſie ſich Zeit zur Rache nehmen, ſo haͤtte ſie ſich auchA a a 2Zeit372Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver - zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in - tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf - richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen O pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren, oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden.

Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly - phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me - rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. (*)Oben S. 347.Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly - phont Meropen gleich nach der Ermordung des Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub - lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an - genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht? Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beymVol -373Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu ge - ben,(*)Acte II. Sc. 1. Mer. Non, mon fils ne le ſouffrirait pas. L’exil, ou ſon enfance a langui condamnée Lui ſerait moins affreux que ce lâche hy - menée. Eur. Il le condamnerait, ſi, paiſible en ſon rang, Il n’en croyait ici que les droits de ſon ſang; Mais ſi par les malheurs ſon ame etait in - ſtruite, Sur ſes vrais intérêts s’il réglait ſa con - duite, De ſes triſtes amis s’il conſultait la voix, Et la neceſſité ſouveraine des loix, Il verrait que jamais ſa malheureuſe mere Ne lui donna d’amour une marque plus chère. Me. haͤtten ſie auch vor funfzehn Jahren dazu vermoͤgen koͤnnen. Es war ſehr in der Denkungsart der alten griechiſchen Frauen, daß ſie ihren Abſcheu gegen die Moͤrder ihrer Maͤn - ner uͤberwanden und ſie zu ihren zweyten Maͤn - ner annahmen, wenn ſie ſahen, daß den Kin - dern ihrer erſten Ehe Vortheil daraus erwachſen koͤnne. Ich erinnere mich etwas aͤhnliches in dem griechiſchen Roman des Charitons, den d’Orville herausgegeben, ehedem geleſen zu ha - ben, wo eine Mutter das Kind ſelbſt, welchesA a a 3ſie374ſie noch unter ihren Herzen traͤgt, auf eine ſehr ruͤhrende Art daruͤber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angefuͤhrt zu wer - den; aber ich habe das Buch nicht bey der Hand. Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire ſelbſt in den Mund legt, hinreichend geweſen waͤre, die Auffuͤhrung ſeiner Merope zu recht - fertigen, wenn er ſie als die Gemahlinn des Po - lyphonts eingefuͤhret haͤtte. Die kalten Scenen einer politiſchen Liebe waͤren dadurch weggefal - len; und ich ſehe mehr als einen Weg, wie das Intereſſe durch dieſen Umſtand ſelbſt noch weit lebhafter, und die Situationen noch weit intri - guanter haͤtten werden koͤnnen.

Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es ei -nen(*)Me. Ah que me dites-vous?Eur. De dures vérités Qui m’arrachent mon zéle & vos calamités.Me. Quoi! Vous me demandez que l’interet ſurmonte Cette invincible horreur que j’ai pour Po - lifonte! Vous qui me l’avez peint de ſi noires cou - leurs! Eur. Je l’ai peint dangereux, je connais ſes fureurs; Mais il eſt tout-puiſſant; mais rien ne lui reſiſte; Il eſt ſans héritier, & vous aimez Egiſte. 375nen beſſern geben koͤnne, daß dieſer beſſere eben der ſey, der ſchon vor Alters befahren worden, ſo beguuͤgte er ſich auf jenem ein Paar Sand - ſteine aus dem Gleiſſe zu raͤumen, uͤber die er meinet, daß ſein Vorgaͤnger faſt umgeſchmiſſen haͤtte. Wuͤrde er wohl ſonſt auch dieſes von ihm beybehalten haben, daß Aegisth, unbekannt mit ſich ſelbſt, von ungefehr nach Meſſene ge - rathen, und daſelbſt durch kleine zweydeutige Merkmahle in den Verdacht kommen muß, daß er der Moͤrder ſeiner ſelbſt ſey? Bey dem Euri - pides kannte ſich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdruͤcklichen Vorſatze, ſich zu raͤchen, nach Meſſene, und gab ſich ſelbſt fuͤr den Moͤr - der des Aegisth aus; nur daß er ſich ſeiner Mutter nicht entdeckte, es ſey aus Vorſicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was ſonſt fuͤr Urſa - che, an der es ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln laſſen. Ich habe zwar oben(*)S. 318. dem Maffeini einige Gruͤnde zu allen den Ver - aͤnderungen, die er mit dem Plane des Euripi - des gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gruͤnde fuͤr wich - tig, und die Veraͤnderungen fuͤr gluͤcklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder Tritt, den er aus den Fußtapfen des Griechen zu thun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß ſich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefehrnach376nach Meſſene koͤmmt, und per combinazione d’ac - cidenti (wie Maffei es ausdruͤckt) fuͤr den Moͤrder des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der ganzen Geſchichte ein ſehr verwirrtes, zweydeutiges und romanenhaftes Anſehen, ſondern ſchwaͤcht auch das Jutereſſe ungemein. Bey dem Euripides wußte es der Zuſchauer von dem Aegisth ſelbſt, daß er Aegisth ſey, und je gewiſſer er es wußte, daß Me - rope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, deſto groͤßer mußte nothwendig das Schrecken ſeyn, das ihn daruͤber befiel, deſto quaͤlender das Mitleid, welches er voraus ſahe, Falls Merope an der Voll - ziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuͤrde. Bey dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuthen wir es nur, daß der vermeinte Moͤrder des Sohnes der Sohn wohl ſelbſt ſeyn koͤnne, und unſer groͤßtes Schrecken iſt auf den einzigen Augenblick verſparet, in welchem es Schrecken zu ſeyn aufhoͤret. Das ſchlimmſte dabey iſt noch dieſes, daß die Gruͤnde, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuthen laſſen, eben die Gruͤnde ſind, aus welchen es Merope ſelbſt vermuthen ſollte; und daß wir ihn, beſonders bey Voltairen, nicht in dem allergeringſten Stuͤcke naͤher und zuverlaͤßiger ken - nen, als ſie ihn ſelbſt kennen kann. Wir trauen alſo dieſen Gruͤnden entweder eben ſo viel, als ih - nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben ſo viel, ſo halten wir den Juͤngling mit ihr fuͤr einen Betrieger, und das Schickſal, das ſie ihm zugedacht, kann uns nicht ſehr ruͤhren. Trauen wir ihnen mehr, ſo tadeln wir Meropen, daß ſie nicht beſſer darauf merket, und ſich von weit ſeichtern Gruͤnden hinreiſſen laͤßt. Beides aber taugt nicht.

Ham -[377]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und vierzigſtes Stuͤck.

Es iſt wahr, unſere Ueberraſchung iſt groͤſ - ſer, wenn wir es nicht eher mit voͤlliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth iſt, als bis es Merope ſelbſt erfaͤhrt. Aber das armſelige Vergnuͤgen einer Ueberraſchung! Und was braucht der Dichter uns zu uͤberraſchen? Er uͤberraſche ſeine Perſonen, ſo viel er will; wir werden unſer Theil ſchon davon zu nehmen wiſſen, wenn wir, was ſie ganz unvermuthet treffen muß, auch noch ſo lange vorausgeſehen haben. Ja, unſer Antheil wird um ſo lebhafter und ſtaͤrker ſeyn, je laͤnger und zuverlaͤßiger wir es vorausgeſehen haben.

Ich will, uͤber dieſen Punkt, den beſten franzoͤ - ſiſchen Kunſtrichter fuͤr mich ſprechen laſſen.

〟In den verwickelten Stuͤcken,

ſagt Diderot,

(*)In ſeiner dramatiſchen Dichtkunſt, hinter dem Hausvater S. 327. d. Uebſ.iſtdasB b b378das Intereſſe mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stuͤcken hingegen iſt es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß ſich das Intereſſe beziehen? Auf die Perſonen? Oder auf die Zu - ſchauer? Die Zuſchauer ſind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß. Folglich ſind es die Perſonen, die man vor Augen haben muß. Ohnſtreitig! Dieſe laſſe man den Knoten ſchuͤr - zen, ohne daß ſie es wiſſen; fuͤr dieſe ſey alles undurchdringlich; dieſe bringe man, ohne daß ſie es merken, der Aufloͤſung immer naͤher und naͤher. Sind dieſe nur in Bewegung, ſo wer - den wir Zuſchauer den nehmlichen Bewegungen ſchon auch nachgeben, ſie ſchon auch empfinden muͤſſen. Weit gefehlt, daß ich mit den mei - ſten, die von der dramatiſchen Dichtkunſt ge - ſchrieben haben, glauben ſollte, man muͤſſe die Entwicklung vor dem Zuſchauer verbergen. Ich daͤchte vielmehr, es ſollte meine Kraͤfte nicht uͤberſteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorſetzte, wo die Entwicklung gleich in der erſten Scene verrathen wuͤrde, und aus dieſem Um - ſtande ſelbſt das allerſtaͤrkeſte Intereſſe entſpraͤn - ge. Fuͤr den Zuſchauer muß alles klar ſeyn. Er iſt der Vertraute einer jeden Perſon; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen iſt; und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts beſſers thun kann, als daß man ihm gerade vor -aus -379ausſagt, was noch vorgehen ſoll. O ihr Ver - fertiger allgemeiner Regeln, wie wenig verſteht ihr die Kunſt, und wie wenig beſitzt ihr von dem Genie, das die Muſter hervorgebracht hat, auf welche ihr ſie bauet, und das ſie uͤbertreten kann, ſo oft es ihm beliebt! Meine Gedanken moͤgen ſo paradox ſcheinen, als ſie wollen: ſo viel weiß ich gewiß, daß fuͤr Eine Gelegenheit, wo es nuͤtzlich iſt, dem Zuſchauer einen wichtigen Vor - fall ſo lange zu verhehlen, bis er ſich eraͤugnet, es immer zehn und mehrere giebt, wo das In - tereſſe gerade das Gegentheil erfodert. Der Dichter bewerkſtelliget durch ſein Geheimniß eine kurze Ueberraſchung; und in welche anhal - tende Unruhe haͤtte er uns ſtuͤrzen koͤnnen, wenn er uns kein Geheimniß daraus gemacht haͤtte! Wer in Einem Augenblicke getroffen und nieder - geſchlagen wird, den kann ich auch nur Einen Augenblick betauern. Aber wie ſteht es als - denn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich ſehe, daß ſich das Ungewitter uͤber mei - nem oder eines andern Haupte zuſammenziehet, und lange Zeit daruͤber verweilet? Meinet - wegen moͤgen die Perſonen alle einander nicht kennen; wenn ſie nur der Zuſchauer alle ken - net. Ja, ich wollte faſt behaupten, daß der Stoff, bey welchem die Verſchweigungen noth - wendig ſind, ein undankbarer Stoff iſt; daß der Plan, in welchem man ſeine Zuflucht zu ih -B b b 2nen380nen nimmt, nicht ſo gut iſt, als der, in wel - chem man ſie haͤtte entuͤbrigen koͤnnen. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen be - ſchaͤftigen muͤſſen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich ſind. Das ganze Gedicht wird ein Zuſammenhang von kleinen Kunſtgrif - fen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraſchung hervorzubringen vermag. Iſt hingegen alles, was die Perſonen angeht, bekannt: ſo ſehe ich in dieſer Vorausſetzung die Quelle der allerheftigſten Bewegungen. Warum haben gewiſſe Monologen eine ſo große Wirkung? Darum, weil ſie mir die geheimen Anſchlaͤge einer Perſon vertrauen, und dieſe Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfuͤllet. Wenn der Zuſtand der Perſonen unbekannt iſt, ſo kann ſich der Zu - ſchauer fuͤr die Handlung nicht ſtaͤrker intereſ - ſiren, als die Perſonen. Das Intereſſe aber wird ſich fuͤr den Zuſchauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat, und es fuͤhlet, daß Hand - lung und Reden ganz anders ſeyn wuͤrden, wenn ſich die Perſonen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten koͤnnen, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was ſie wirklich ſind, mit dem, was ſie thun oder thun wollen, vergleichen kann.
Dieſes381

Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di - derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu - ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt; oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das ganze Stuͤck

〟zu einem Zuſammenhange von kleinen Kunſtgriffen〟

macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering - fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn - det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden. Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor - gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun - gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol - ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken der Alten abgeſehen hatten.

B b b 3Un -382

Unter dieſen war beſonders Euripides ſeiner Sache ſo gewiß, daß er faſt immer den Zu - ſchauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er ſie fuͤhren wollte. Ja, ich waͤre ſehr geneigt, aus dieſem Geſichtspunkte die Vertheidigung ſeiner Prologen zu uͤbernehmen, die den neuern Kriticis ſo ſehr mißfallen.

〟Nicht genug,

ſagt Hedelin,

daß er meiſtentheils alles, was vor der Handlung des Stuͤcks vorhergegangen, durch eine von ſeinen Hauptperſonen den Zuhoͤrern ge - radezu erzehlen laͤßt, um ihnen auf dieſe Weiſe das Folgende verſtaͤndlich zu machen: er nimmt auch wohl oͤfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen muͤſſen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geſchehen iſt, ſondern auch alles, was noch geſchehen ſoll, uns kund macht. Wir erfahren ſonach gleich Anfangs die Entwicklung und die ganze Kataſtrophe, und ſehen jeden Zufall ſchon von weiten kom - men. Dieſes aber iſt ein ſehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beſtaͤndig herrſchen ſollen, gaͤnzlich zuwider iſt, und alle Annehmlichkeiten des Stuͤckes vernichtet, die faſt einzig und al - lein auf der Neuheit und Ueberraſchung beru - hen. (*)Pratique du Théatre Lib. III. chap. 1.

Nein: der tragiſchſte von allen tragiſchen Dichtern dachte ſo geringſchaͤtzig von ſeiner Kunſt nicht; er wußte, daß ſie einer weithoͤ -383hoͤhern Vollkommenheit faͤhig waͤre, und daß die Ergetzung einer kindiſchen Neugierde das geringſte ſey, worauf ſie Anſpruch mache. Er ließ ſeine Zuhoͤrer alſo, ohne Bedenken, von der bevorſtehenden Handlung eben ſo viel wiſ - ſen, als nur immer ein Gott davon wiſſen konn - te; und verſprach ſich die Ruͤhrung, die er her - vorbringen wollte, nicht ſowohl von dem, was geſchehen ſollte, als von der Art, wie es ge - ſchehen ſollte. Folglich muͤßte den Kunſtrich - tern hier eigentlich weiter nichts anſtoͤßig ſeyn, als nur dieſes, daß er uns die noͤthige Kenntniß des Vergangnen und des Zukuͤnftigen nicht durch einen feinern Kunſtgriff beyzubringen ge - ſucht; daß er ein hoͤheres Weſen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Antheil nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieſes hoͤ - here Weſen ſich geradezu an die Zuſchauer wen - den laſſen, wodurch die dramatiſche Gattung mit der erzehlenden vermiſcht werde. Wenn ſie aber ihren Tadel ſodann blos hierauf einſchraͤnk - ten, was waͤre denn ihr Tadel? Iſt uns das Nuͤtzliche und Nothwendige niemals willkom - men, als wenn es uns verſtohlner Weiſe zuge - ſchanzt wird? Giebt es nicht Dinge, beſonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wiſſen kann? Und wenn das In - tereſſe auf ſolchen Dingen beruht, iſt es nicht beſſer, daß wir ſie durch die Darzwiſchenkunfteines384eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermiſchung der Gattungen uͤberhaupt? In den Lehrbuͤchern ſondre man ſie ſo genau von einander ab, als moͤglich: aber wenn ein Genie, hoͤherer Abſich - ten wegen, mehrere derſelben in einem und eben demſelben Werke zuſammenflieſſen laͤßt, ſo ver - geſſe man das Lehrbuch, und unterſuche blos, ob es dieſe hoͤhere Abſichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob ſo ein Stuͤck des Euripides weder ganz Erzehlung, noch ganz Drama iſt? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieſer Zwitter mehr vergnuͤgt, mehr er - bauet, als die geſetzmaͤßigſten Geburten eurer correkten Racinen, oder wie ſie ſonſt heiſſen. Weil der Mauleſel weder Pferd noch Eſel iſt, iſt er darum weniger eines von nutzbarſten laſt - tragenden Thieren?

Ham -[385]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und vierzigſtes Stuͤck.

Mit einem Worte; wo die Tadler des Eu - ripides nichts als den Dichter zu ſehen glauben, der ſich aus Unvermoͤgen, oder aus Gemaͤchlichkeit, oder aus beiden Urſachen, ſeine Arbeit ſo leicht machte, als moͤglich; wo ſie die dramatiſche Kunſt in ihrer Wiege zu fin - den vermeinen: da glaube ich dieſe in ihrer Voll - kommenheit zu ſehen, und bewundere in jenem den Meiſter, der im Grunde eben ſo regelmaͤßig iſt, als ſie ihn zu ſeyn verlangen, und es nur dadurch weniger zu ſeyn ſcheinet, weil er ſeinen Stuͤcken eine Schoͤnheit mehr ertheilen wollen, von der ſie keinen Begriff haben.

Denn es iſt klar, daß alle die Stuͤcke, deren Prologe ihnen ſo viel Aergerniß machen, auch ohne dieſe Prologe, vollkommen ganz, und vollkommen verſtaͤndlich ſind. Streichet z. E. vor dem Jon den Prolog des Merkurs, vor derC c cHe -386Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen ſogleich mit der Morgenandacht des Jon, und dieſe mit den Klagen der Hekuba anfangen: ſind beide darum im geringſten verſtuͤmmelt? Woher wuͤrdet ihr, was ihr weggeſtrichen habt, vermiſſen, wenn es gar nicht da waͤre? Behaͤlt nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen Zuſammenhang? Bekennet ſogar, daß die Stuͤcke, nach eurer Art zu denken, deſto ſchoͤ - ner ſeyn wuͤrden, wenn wir aus den Prologen nicht wuͤßten, daß der Jon, welchen Kreuſa will vergiften laſſen, der Sohn dieſer Kreuſa iſt; daß die Kreuſa, welche Jon von dem Altar zu einem ſchmaͤhlichen Tode reiſſen will, die Mut - ter dieſes Jon iſt; wenn wir nicht wuͤßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte ungluͤckliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er - fahren ſolle. Denn alles dieſes wuͤrde die trefflichſten Ueberraſchungen geben, und dieſe Ueberraſchungen wuͤrden noch dazu vorbereitet genug ſeyn: ohne daß ihr ſagen koͤnntet, ſie braͤchen auf einmal gleich einem Blitze aus der helleſten Wolke hervor; ſie erfolgten nicht, ſon - dern ſie entſtuͤnden; man wolle euch, nicht auf einmal etwas entdecken, ſondern etwas aufhef - ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man - gel der Kunſt vor? Vergebt ihm doch immereinen387einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen iſt. Einen wolluͤſtigen Schoͤßling ſchneidet der Gaͤrtner in der Stille ab, ohne auf den geſunden Baum zu ſchelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen, es iſt wahr, es heißt ſehr viel annehmen, daß Euripides vielleicht eben ſo viel Einſicht, eben ſo viel Geſchmack koͤnne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um ſo viel mehr, wie er bey dieſer großen Einſicht, bey dieſem feinen Geſchmacke, dennoch einen ſo groben Fehler begehen koͤnnen: ſo tretet zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides ſahe es ſo gut, als wir, daß z. E. ſein Jon ohne den Prolog beſtehen koͤnne; daß er, ohne den - ſelben, ein Stuͤck ſey, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zuſchauers, bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieſer Ungewiß - heit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuſchauer erſt in dem fuͤnf - ten Akte, daß Jon der Sohn der Kreuſa ſey: ſo iſt es fuͤr ihn nicht ihr Sohn, ſondern ein Fremder, ein Feind, den ſie in dem dritten Akte aus dem Wege raͤumen will; ſo iſt es fuͤr ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher ſich Jon in dem vierten Akte raͤchen will, ſondern blos die Maͤuchelmoͤrderinn. Wo ſollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? C c c 2Die388Die bloße Vermuthung, die ſich etwa aus uͤber - eintreffenden Umſtaͤnden haͤtte ziehen laſſen, daß Jon und Kreuſa einander wohl naͤher angehen koͤnnten, als ſie meinen, wuͤrde dazu nicht hin - reichend geweſen ſeyn. Dieſe Vermuthung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhoͤrer dieſe Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht moͤglich war, daß er ſie einer von den handelnden Perſonen ſelbſt zu dan - ken haben konnte: war es nicht immer beſſer, daß der Dichter ſie ihm auf die einzige moͤgliche Weiſe ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieſer Weiſe, was ihr wollt: genug, ſie hat ihn ſein Ziel erreichen helfen; ſeine Tragoͤdie iſt dadurch, was eine Tragoͤdie ſeyn ſoll; und wenn ihr noch unwillig ſeyd, daß er die Form dem Weſen nach - geſetzet hat, ſo verſorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuͤcken, wo das Weſen der Form aufgeopfert iſt, und ihr ſeyd belohnt! Immer - hin gefalle euch Whiteheads Kreuſa, wo euch kein Gott etwas vorausſagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verſchlagne Zigeunerinn ausfragt, im - merhin gefalle ſie euch beſſer, als des Euripides Jon: und ich werde euch nie beneiden!

Wenn Ariſtoteles den Euripides den tragiſch - ſten von allen tragiſchen Dichtern nennet, ſo ſahe er nicht blos darauf, daß die meiſten ſeiner Stuͤcke eine ungluͤckliche Kataſtrophe haben; obich389ich ſchon weiß, daß viele den Stagyriten ſo ver - ſtehen. Denn das Kunſtſtuͤck waͤre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stuͤmper, der brav wuͤrgen und morden, und keine von ſeinen Per - ſonen geſund oder lebendig von der Buͤhne kom - men lieſſe, wuͤrde ſich eben ſo tragiſch duͤnken duͤrfen, als Euripides. Ariſtoteles hatte un - ſtreitig mehrere Eigenſchaften im Sinne, wel - chen zu Folge er ihm dieſen Charakter ertheilte; und ohne Zweifel, daß die eben beruͤhrte mit dazu gehoͤrte, vermoͤge der er nehmlich den Zu - ſchauern alle das Ungluͤck, welches ſeine Per - ſonen uͤberraſchen ſollte, lange vorher zeigte, um die Zuſchauer auch dann ſchon mit Mitlei - den fuͤr die Perſonen einzunehmen, wenn dieſe Perſonen ſelbſt ſich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. Sokrates war der Leh - rer und Freund des Euripides; und wie man - cher duͤrfte der Meinung ſeyn, daß der Dichter dieſer Freundſchaft des Philoſophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichthum von ſchoͤnen Sittenſpruͤchen, den er ſo verſchwendriſch in ſei - nen Stuͤcken ausſtreuet. Ich denke, daß er ihr weit mehr ſchuldig war; er haͤtte, ohne ſie, eben ſo ſpruchreich ſeyn koͤnnen; aber vielleicht wuͤrde er, ohne ſie, nicht ſo tragiſch geworden ſeyn. Schoͤne Sentenzen und Moralen ſind uͤberhaupt gerade das, was wir von einem Philoſophen, wie Sokrates, am ſeltenſten hoͤren; ſein Lebens -C c c 3wan -390wandel iſt die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menſchen, und uns ſelbſt kennen; auf unſere Empfindungen aufmerkſam ſeyn; in allen die ebenſten und kuͤrzeſten Wege der Natur aus - forſchen und lieben; jedes Ding nach ſeiner Ab - ſicht beurtheilen: das iſt es, was wir in ſeinem Umgange lernen; das iſt es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ernſten in ſeiner Kunſt machte. Gluͤcklich der Dichter, der ſo einen Freund hat, und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rathe ziehen kann!

Auch Voltaire ſcheinet es empfunden zu ha - ben, daß es gut ſeyn wuͤrde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich Anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung, daß der liebenswuͤrdige ungluͤckliche Juͤngling, den Merope erſt in Schutz nimmt, und den ſie bald darauf als den Moͤrder ihres Aegisths hin - richten will, der nehmliche Aegisth ſey, ſofort koͤnne ausſetzen laſſen. Aber der Juͤngling kennt ſich ſelbſt nicht; auch iſt ſonſt niemand da, der ihn beſſer kennte, und durch den wir ihn koͤnnten kennen lernen. Was thut alſo der Dichter? Wie faͤngt er es an, daß wir es gewiß wiſſen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft? O, das faͤngt er ſehr ſinnreich an! Auf ſo einen Kunſtgriff konnte ſich nur ein Vol - taire beſinnen! Er laͤßt, ſobald der unbekannteJuͤng -391Juͤngling auftritt, uͤber das erſte, was er ſagt, mit großen, ſchoͤnen, leſerlichen Buchſtaben, den ganzen, vollen Namen, Aegisth, ſetzen; und ſo weiter uͤber jede ſeiner folgenden Reden. Nun wiſſen wir es; Merope hat in dem Vor - hergehenden ihren Sohn ſchon mehr wie einmal bey dieſem Namen genannt; und wenn ſie das auch nicht gethan haͤtte, ſo duͤrften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichniß der Perſonen nach - ſehen; da ſteht es lang und breit! Freylich iſt es ein wenig laͤcherlich, wenn die Perſon, uͤber deren Reden wir nun ſchon zehnmal den Namen Ae - gisth geleſen haben, auf die Frage:

Narbas vous eſt connu? Le nom d’Egiſte au moins jusqu’à vous eſt venu? Quel était votre état, votre rang, votre père?

antwortet:

Mon père eſt un vieillard accablé de miſère; Policlete eſt ſon nom; mais Egiſte, Narbas, Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas.

Freylich iſt es ſehr ſonderbar, daß wir von die - ſem Aegisth, der nicht Aegisth heißt, auchkeinen392keinen andern Namen hoͤren; daß, da er der Koͤniginn antwortet, ſein Vater heiſſe Polyklet, er nicht auch hinzuſetzt, er heiſſe ſo und ſo. Denn einen Namen muß er doch haben; und den haͤtte der Herr von Voltaire ja wohl ſchon mit erfinden koͤnnen, da er ſo viel erfunden hat! Leſer, die den Rummel einer Tragoͤdie nicht recht gut verſtehen, koͤnnen leicht daruͤber irre werden. Sie leſen, daß hier ein Burſche ge - bracht wird, der auf der Landſtraße einen Mord begangen hat; dieſer Burſche, ſehen ſie, heißt Aegisth, aber er ſagt, er heiſſe nicht ſo, und ſagt doch auch nicht, wie er heiſſe: o, mit dem Burſchen, ſchlieſſen ſie, iſt es nicht richtig; das iſt ein abgeſaͤumter Straßenraͤuber, ſo jung er iſt, ſo unſchuldig er ſich ſtellt. So, ſage ich, ſind unerfahrne Leſer zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernſte, daß es fuͤr die erfahrnen Leſer beſſer iſt, auch ſo, gleich An - fangs, zu erfahren, wer der unbekannte Juͤng - ling iſt, als gar nicht. Nur daß man mir nicht ſage, daß dieſe Art ſie davon zu unterrichten, im geringſten kuͤnſtlicher und feiner ſey, als ein Prolog, im Geſchmacke des Euripides!

Ham -[393]

Hamburgiſche Dramaturgie. Funfzigſtes Stuͤck.

Bey dem Maffei hat der Juͤngling ſeine zwey Namen, wie es ſich gehoͤrt; Ae - gisth heißt er, als der Sohn des Poly - dor, und Kreſphont, als der Sohn der Mero - pe. In dem Verzeichniſſe der handelnden Per - ſonen wird er auch nur unter jenem eingefuͤhrt; und Becelli rechnet es ſeiner Ausgabe des Stuͤcks als kein geringes Verdienſt an, daß dieſes Ver - zeichniß den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrathe. (*)Fin ne i nomi de Perſonaggi ſi è levato quell errore, comuniſſimo alle ſtampe d’ogni drama, di ſcoprire il ſecreto nel premettergli, e per conſeguenza di levare il piacere a chi legge, overo aſcolta, eſſen - doſi meſſo Egiſto, dove era, Cresfonte ſotto nome d’Egiſto. Das iſt, die ItalienerſindD d d394ſind von den Ueberraſchungen noch groͤßere Lieb - haber, als die Franzoſen.

Aber noch immer Merope! Wahrlich, ich betaure meine Leſer, die ſich an dieſem Blatte eine theatraliſche Zeitung verſprochen haben, ſo mancherley und bunt, ſo unterhaltend und ſchnurrig, als eine theatraliſche Zeitung nur ſeyn kann. Anſtatt des Inhalts der hier gang - baren Stuͤcke, in kleine luſtige oder ruͤhrende Romane gebracht; anſtatt beylaͤufiger Lebens - beſchreibungen drolliger, ſonderbarer, naͤrriſcher Geſchoͤpfe, wie die doch wohl ſeyn muͤſſen, die ſich mit Komoͤdienſchreiben abgeben; anſtatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig ſkandaloͤſer Anekdoten von Schauſpielern und beſonders Schauſpielerinnen: anſtatt aller dieſer artigen Saͤchelchen, die ſie erwarteten, bekommen ſie lange, ernſthafte, trockne Kritiken uͤber alte be - kannte Stuͤcke; ſchwerfaͤllige Unterſuchungen uͤber das, was in einer Tragoͤdie ſeyn ſollte und nicht ſeyn ſollte; mit unter wohl gar Erklaͤrun - gen des Ariſtoteles. Und das ſollen ſie leſen? Wie geſagt, ich betauere ſie; ſie ſind gewaltig angefuͤhrt! Doch im Vertrauen: beſſer, daß ſie es ſind, als ich. Und ich wuͤrde es ſehr ſeyn, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Geſetze machen muͤßte. Nicht daß ihre Erwartungen ſehr ſchwer zu erfuͤllen waͤren; wirklich nicht; ich wuͤrde ſie vielmehr ſehr bequem finden, wennſie395ſie ſich mit meinen Abſichten nur beſſer vertragen wollten.

Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein - mal wegzukommen ſuchen. Ich wollte eigent - lich nur erweiſen, daß die Merope des Voltaire im Grunde nichts als die Merope des Maffei ſey; und ich meine, dieſes habe ich erwieſen. Nicht ebenderſelbe Stoff, ſagt Ariſtoteles, ſondern ebendieſelbe Verwicklung und Aufloͤ - ſung machen, daß zwey oder mehrere Stuͤcke fuͤr ebendieſelben Stuͤcke zu halten ſind. Alſo, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge - ſchichte behandelt hat, ſondern weil er ſie mit ihm auf ebendieſelbe Art behandelt hat, iſt er hier fuͤr weiter nichts, als fuͤr den Ueberſetzer und Nachahmer deſſelben zu erklaͤren. Maffei hat die Merope des Euripides nicht blos wieder hergeſtellet; er hat eine eigene Merope gemacht: denn er ging voͤllig von dem Plane des Euripi - des ab; und in dem Vorſatze ein Stuͤck ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Intereſſe blos aus der muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit entſpringe, ſchuf er die ganze Fabel um; gut, oder uͤbel, das iſt hier die Frage nicht; genug, er fchuf ſie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze ſo umgeſchaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly - phont nicht vermaͤhlt iſt; er entlehnte von ihm die politiſchen Urſachen, aus welchen der Tyrann,D d d 2nun396nun erſt, nach funfzehn Jahren, auf dieſe Ver - maͤhlung dringen zu muͤſſen glaubet; er ent - lehnte von ihm, daß der Sohn der Merope ſich ſelbſt nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieſer von ſeinem vermeinten Vater entkoͤmmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Moͤrder nach Meſſene bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung, durch die er fuͤr den Moͤrder ſeiner ſelbſt gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regun - gen der muͤtterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erſtenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Haͤnden ſterben ſoll, die Entdeckung ſeiner Mitſchuldi - gen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Aufloͤſung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bey welchem Polyphont umgebracht werden ſollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feyer, und vielleicht, daß er, blos darum, ſeinen Tyrannen itzt erſt auf die Verbindung mit Meropen fallen ließ, um die - ſes Opfer deſto natuͤrlicher anzubringen. Was Maffei erfand, that Voltaire nach.

Es iſt wahr, Voltaire gab verſchiedenen von den Umſtaͤnden, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. Z. E. Anſtatt daß, beymMaffei,397Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regie - ret hat, laͤßt er die Unruhen in Meſſene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat ſo lange in der unwahrſcheinlichſten Anarchie verharren. Anſtatt daß, beym Maffei, Aegisth von einem Raͤuber auf der Straße angefallen wird, laͤßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwey Unbekannten uͤberfallen werden, die es ihm uͤbel nehmen, daß er den Herkules fuͤr die Herakliden, den Gott des Tempels fuͤr die Nachkommen deſſel - ben, anfleht. Anſtatt daß, beym Maffei, Ae - gisth durch einen Ring in Verdacht geraͤth, laͤßt Voltaire dieſen Verdacht durch eine Ruͤ - ſtung entſtehen, u. ſ. w. Aber alle dieſe Ver - aͤnderungen betreffen die unerheblichſten Kleinig - keiten, die faſt alle außer dem Stuͤcke ſind, und auf die Oekonomie des Stuͤckes ſelbſt keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich ſie Voltai - ren noch gern als Aeußerungen ſeines ſchoͤpferi - ſchen Genies anrechnen, wenn ich nur faͤnde, daß er das, was er aͤndern zu muͤſſen vermeinte, in allen ſeinen Folgen zu aͤndern verſtanden haͤt - te. Ich will mich an dem mittelſten von den angefuͤhrten Beyſpielen erklaͤren. Maffei laͤßt ſeinen Aegisth von einem Raͤuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er ſich mit ihm auf dem Wege allein ſieht, ohnfern ei - ner Bruͤcke uͤber die Pamiſe; Aegisth erlegt den Raͤuber, und wirft den Koͤrper in den Fluß,D d d 3aus398aus Furcht, wenn der Koͤrper auf der Straße gefunden wuͤrde, daß man den Moͤrder verfol - gen und ihn dafuͤr erkennen duͤrfte. Ein Raͤu - ber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, iſt fuͤr mein feines, edles Parterr ein viel zu nie - driges Bild; beſſer, aus dieſem Raͤuber einen Mißvergnuͤgten gemacht, der dem Aegisth als einem Anhaͤnger der Herakliden zu Leibe will. Und warum nur Einen? Lieber zwey; ſo iſt die Heldenthat des Aegisths deſto groͤßer, und der, welcher von dieſen zweyen entrinnt, wenn er zu dem aͤltrern gemacht wird, kann hernach fuͤr den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von dieſen Mißver - gnuͤgten erlegt hat, was thut er alsdenn? Er traͤgt den todten Koͤrper auch ins Waſſer. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landſtraße in den nahen Fluß; das iſt ganz be - greiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß, dieſes auch? War denn außer ihnen niemand in dieſem Tempel? Es ſey ſo; auch iſt das die groͤßte Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe ſich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maf - feis Aegisth traͤgt den Koͤrper in den Fluß, weil er ſonſt verfolgt und erkannt zu werden fuͤrchtet; weil er glaubt, wenn der Koͤrper bey Seite ge - ſchaft ſey, daß ſodann nichts ſeine That verra -then399then koͤnne; daß dieſe ſodann, mit ſammt dem Koͤrper, in der Fluth begraben ſey. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nim - mermehr; oder der zweyte haͤtte nicht entkom - men muͤſſen. Wird ſich dieſer begnuͤgen, ſein Leben davon getragen zu haben? Wird er ihm nicht, wenn er auch noch ſo furchtſam iſt, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit ſei - nem Geſchrey verfolgen, bis ihn andere feſthal - ten? Wird er ihn nicht anklagen, und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Moͤrder alſo, das Corpus delicti weggebracht zu haben? Hier iſt ein Zeuge, welcher es nachweiſen kann. Dieſe vergebene Muͤhe haͤtte er ſparen, und dafuͤr eilen ſollen, je eher je lieber uͤber die Grenze zu kom - men. Freylich mußte der Koͤrper, des Folgen - den wegen, ins Waſſer geworfen werden; es war Voltairen eben ſo noͤthig als dem Maffei, daß Merope nicht durch die Beſichtigung deſſel - ben aus ihrem Irrthume geriſſen werden konnte; nur daß, was bey dieſem Aegisth ſich ſelber zum Beſten thut, er bey jenem blos dem Dichter zu gefallen thun muß. Denn Voltaire corrigirte die Urſache weg, ohne zu uͤberlegen, daß er die Wirkung dieſer Urſache brauche, die nunmehr von nichts, als von ſeiner Beduͤrfniß abhaͤngt.

Eine einzige Veraͤnderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbeſſerung. Die nehmlich, durch welche erden400den wiederholten Verſuch der Merope, ſich an dem vermeinten Moͤrder ihres Sohnes zu raͤchen, unter - druͤckt, und dafuͤr die Erkeunung von Seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geſchehen laͤßt. Hier erkenne ich den Dichter, und beſonders iſt die zweyte Scene des vierten Akts ganz vortreff - lich. Ich wuͤnſchte nur, daß die Erkennung uͤber - haupt, die in der vierten Scene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu muͤſſen das Anſehen hat, mit mehrerer Kunſt haͤtte getheilet werden koͤnnen. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggefuͤhret wird, und die Vertiefung ſich hinter ihm ſchließt, iſt ein ſehr gewaltſames Mittel. Es iſt nicht ein Haar beſſer, als die uͤbereilte Flucht, mit der ſich Aegisth bey dem Maffei rettet, und uͤber die Voltaire ſeinen Lindelle ſo ſpotten laͤßt. Oder vielmehr, dieſe Flucht iſt um vieles natuͤrlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zu ammen gebracht, und uns nicht gaͤnzlich die erſten ruͤhrenden Ausbruͤche ihrer beiderſeitigen Empfindungen gegen einander, vorenthalten haͤtte. Vielleicht wuͤrde Voltaire die Erkennung uͤberhaupt nicht getheilet haben, wenn er ſeine Materie nicht haͤtte dehnen muͤſſen, um fuͤnf Akte damit vollzu - machen. Er jammert mehr als einmal uͤber cette longue carriére de cinq actes qui eſt prodigieu - ſement difficile à remplir ſans epiſodes Und nun fuͤr dieſesmal genug von der Merope!

Ham -[401]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und funfzigſtes Stuͤck.

Den neun und dreyßigſten Abend (Mitte - wochs, den 8ten Julius,) wurden der verheyrathete Philoſoph und die neue Agneſe, wiederholt. (*)S. den 5ten und 7ten Abend, Seite 75 und 91.

Chevrier ſagt,(**)L’Obſervateur des Spectacles T. II. p. 135. daß Destouches ſein Stuͤck aus einem Luſtſpiele des Campiſtron geſchoͤpft habe, und daß, wenn dieſer nicht ſeinen Jaloux deſabuſé geſchrieben haͤtte, wir wohl ſchwerlich einen verheyratheten Philoſophen haben wuͤrden. Die Komoͤdie des Campiſtron iſt unter uns we - nig bekannt; ich wuͤßte nicht, daß ſie auf irgend einem deutſchen Theater waͤre geſpielt worden; auch iſt keine Ueberſetzung davon vorhanden. Man duͤrfte alſo vielleicht um ſo viel lieber wiſ -ſenE e e402ſen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier ſey.

Die Fabel des Campiſtronſchen Stuͤcks iſt kurz dieſe: Ein Bruder hat das anſehnliche Ver - moͤgen ſeiner Schweſter in Haͤnden, und um die - ſes nicht herausgeben zu duͤrfen, moͤchte er ſie lieber gar nicht verheyrathen. Aber die Frau dieſes Bruders denkt beſſer, oder wenigſtens anders, und um ihren Mann zu vermoͤgen, ſeine Schweſter zu verſorgen, ſucht ſie ihn auf alle Weiſe eiferſuͤchtig zu machen, indem ſie ver - ſchiedne junge Mannsperſonen ſehr guͤtig auf - nimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, ſich um ihre Schwaͤgerinn zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die Liſt gelingt; der Mann wird eiferſuͤchtig; und williget endlich, um ſei - ner Frau den vermeinten Vorwand, ihre An - beter um ſich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung ſeiner Schweſter mit Clitandern, einem Anverwandten ſeiner Frau, dem zu ge - fallen ſie die Rolle der Coquette geſpielt hatte. Der Mann ſieht ſich beruͤckt, iſt aber ſehr zu - frieden, weil er zugleich von dem Ungrunde ſei - ner Eiferſucht uͤberzeugt wird.

Was hat dieſe Fabel mit der Fabel des ver - heyratheten Philoſophen aͤhnliches? Die Fabel nicht das geringſte. Aber hier iſt eine Stelle aus dem zweyten Akte des Campiſtronſchen Stuͤcks, zwiſchen Dorante, ſo heißt der Eifer -ſuͤch -403ſuͤchtige, und Dubois, ſeinem Sekretair. Dieſe wird gleich zeigen, was Chevrier gemeinet hat.

Dubois.

Und was fehlt Ihnen denn?

Dorante.

Ich bin verdruͤßlich, aͤrgerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit iſt weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht auf - hoͤren wird, mich zu martern, zu peinigen

Dubois.

Und wer iſt denn dieſer Tyrann, dieſer Henker?

Dorante.

Meine Frau.

Dubois.

Ihre Frau, mein Herr?

Dorante.

Ja, meine Frau, meine Frau. Sie bringt mich zur Verzweiflung.

Dubois.

Haſſen Sie ſie denn?

Dorante.

Wollte Gott! So waͤre ich ru - hig. Aber ich liebe ſie, und liebe ſie ſo ſehr Verwuͤnſchte Quaal!

Dubois.

Sie ſind doch wohl nicht eiferſuͤchtig?

Dorante.

Bis zur Raſerey.

Dubois.

Wie? Sie, mein Herr? Sie eifer - ſuͤchtig? Sie, der Sie von je her uͤber alles, was Eiferſucht heißt,

Dorante.

Gelacht, und geſpottet. Deſto ſchlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der großen Welt ſo hinreiſſen zu laſſen! In das Geſchrey der Narren einzuſtimmen, die ſich uͤber die Ordnung und Zucht unſerer ehrli - chen Vorfahren ſo luſtig machen! Und ich ſtimmteE e e 2nicht404nicht blos ein; es waͤhrte nicht lange, ſo gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was fuͤr albernes Zeug habe ich nicht geſprochen! Eheliche Treue, beſtaͤndige Liebe, pfuy, wie ſchmeckt das nach dem kleinſtaͤdiſchen Buͤrger! Der Mann, der ſeiner Frau nicht allen Willen laͤßt, iſt ein Baͤr! Der es ihr uͤbel nimmt, wenn ſie auch andern gefaͤllt und zu gefallen ſucht, gehoͤrt ins Tollhaus. So ſprach ich, und mich haͤtte man da ſollen ins Tollhaus ſchicken.

Dubois.

Aber warum ſprachen Sie ſo?

Dorante.

Hoͤrſt du nicht? Weil ich ein Geck war, und glaubte, es ließe noch ſo galant und weiſe. Inzwiſchen wollte mich meine Familie ver - heyrathet wiſſen. Sie ſchlugen mir ein junges, unſchuldiges Maͤdchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, ſoll es gute Wege haben; die ſoll in meiner Denkungsart nicht viel aͤndern; ich liebe ſie itzt nicht beſonders, und der Beſitz wird mich noch gleichguͤltiger gegen ſie machen. Aber wie ſehr habe ich mich betrogen! Sie ward taͤglich ſchoͤ - ner, taglich reitzender. Ich ſah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich ſo verliebt, ſo verliebt in ſie

Dubois.

Nun, das nenne ich gefangen wer - den!

Dorante.

Denn ich bin ſo eiferſuͤchtig! Daß ich mich ſchame, es auch nur dir zu beken - nen. Alle meine Freunde ſind mir zuwider und405und verdaͤchtig; die ich ſonſt nicht ofte genug um mich haben konnte, ſehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben ſie auch in meinem Hauſe zu ſuchen? Was wollen die Muͤßiggaͤnger? Wozu alle die Schmeicheleyen, die ſie meiner Frau ma - chen? Der eine lobt ihren Verſtand; der andere er - hebt ihr gefaͤlliges Weſen bis in den Himmel. Den entzuͤcken ihre himmliſchen Augen, und den ihre ſchoͤnen Zaͤhne. Alle finden ſie hoͤchſt reitzend, hoͤchſt anbetenswuͤrdig; und immer ſchließt ſich ihr verdammtes Geſchwaͤtze mit der verwuͤnſchten Be - trachtung, was fuͤr ein gluͤcklicher, was fuͤr ein beneidenswuͤrdiger Mann ich bin.

Dubois.

Ja, ja, es iſt wahr, ſo geht es zu.

Dorante.

O, ſie treiben ihre unverſchaͤmte Kuͤhnheit wohl noch weiter! Kaum iſt ſie aus dem Bette, ſo ſind ſie um ihre Toilette. Da ſollteſt du erſt ſehen und hoͤren! Jeder will da ſeine Auf - merkſamkeit und ſeinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeſchmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spoͤtterey die andere, ein kuͤtzelndes Hiſtoͤrchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Minen, mit Liebaͤugeleyen, die meine Frau ſo leutſelig anuimmt, ſo verbindlich erwiedert, daß daß mich der Schlag oft ruͤhren moͤchte! Kannſt du glauben, Dubois? ich muß es wohl mit anſehen, daß ſie ihr die Hand kuͤſſen.

Dubois.

Das iſt arg!

E e e 3Do -406
Dorante.

Gleichwohl darf ich nicht muchſen. Denn was wuͤrde die Welt dazu ſagen? Wie laͤ - cherlich wuͤrde ich mich machen, wenn ich meinen Verdruß auslaſſen wollte? Die Kinder auf der Straaße wuͤrden mit Fingern auf mich weiſen. Alle Tage wuͤrde ein Epigramm, ein Gaſſenhauer auf mich zum Vorſcheine kommen u. ſ. w.

Dieſe Situation muß es ſeyn, in welcher Chevrier das Aehnliche mit dem verheyratheten Philoſophen gefunden hat. So wie der Eifer - ſuͤchtige des Campiſtron ſich ſchaͤmet, ſeine Ei - ferſucht auszulaſſen, weil er ſich ehedem uͤber dieſe Schwachheit allzuluſtig gemacht hat: ſo ſchaͤmt ſich auch der Philoſoph des Destouches, ſeine Heyrath bekannt zu machen, weil er ehe - dem uͤber alle ernſthafte Liebe geſpottet, und den eheloſen Stand fuͤr den einzigen erklaͤrt hat - te, der einem freyen und weiſen Manne anſtaͤn - dig ſey. Es kann auch nicht fehlen, daß dieſe aͤhnliche Schaam ſie nicht beide in mancherley aͤhnliche Verlegenheiten bringen ſollte. So iſt, z. E., die, in welcher ſich Dorante beym Cam - piſtron ſiehet, wenn er von ſeiner Frau verlangt, ihm die uͤberlaͤſtigen Beſucher von Halſe zu ſchaffen, dieſe aber ihn bedeutet, daß das eine Sache ſey, die er ſelbſt bewerkſtelligen muͤſſe, faſt die nehmliche mit der bey dem Destouches, in welcher ſich Ariſt befindet, wenn er es ſelbſtdem407dem Marquis ſagen ſoll, daß er ſich auf Meliten keine Rechnung machen koͤnne. Auch leidet dort der Eiferſuͤchtige, wenn ſeine Freunde in ſeiner Gegenwart uͤber die Eiferſuͤchtigen ſpot - ten, und er ſelbſt ſein Wort dazu geben muß, ungefehr auf gleiche Weiſe, als hier der Philo - ſoph, wenn er ſich muß ſagen laſſen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorſichtig ſey, als daß er ſich zu ſo einer Thorheit, wie das Heyrathen, ſollte haben verleiten laſſen.

Dem ohngeachtet aber ſehe ich nicht, warum Destouches bey ſeinem Stuͤcke nothwendig das Stuͤck des Campiſtron vor Augen gehabt haben muͤßte; und mir iſt es ganz begreiflich, daß wir jenes haben koͤnnten, wenn dieſes auch nicht vor - handen waͤre. Die verſchiedenſten Charaktere koͤnnen in aͤhnliche Situationen gerathen; und da in der Komoͤdie die Charaktere das Haupt - werk, die Situationen aber nur die Mittel ſind, jene ſich aͤußern zu laſſen, und ins Spiel zu ſetzen: ſo muß man nicht die Situationen, ſondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man beſtimmen will, ob ein Stuͤck Original oder Co - pie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt iſt es in der Tragoͤdie, wo die Charaktere weniger weſentlich ſind, und Schrecken und Mitleid vor - nehmlich aus den Situationen entſpringt. Aehn - liche Situationen geben alſo aͤhnliche Tragoͤdien, aber nicht aͤhnliche Komoͤdien. Hingegen gebenaͤhn -408aͤhnliche Charaktere aͤhnliche Komoͤdien, anſtatt daß ſie in den Tragoͤdien faſt gar nicht in Erwaͤ - gung kommen.

Der Sohn unſers Dichters, welcher die praͤchtige Ausgabe der Werke ſeines Vaters beſorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbaͤnden aus der Koͤniglichen Druckerey zu Paris erſchien, meldet uns, in der Vorrede zu dieſer Ausgabe, eine beſondere dieſes Stuͤck betreffende Anekdote. Der Dichter nehmlich habe ſich in England verheyrathet, und aus ge - wiſſen Urſachen ſeine Verbindung geheim halten muͤſſen. Eine Perſon aus der Familie ſeiner Frau aber habe das Geheimniß fruͤher ausge - plaudert, als ihm lieb geweſen; und dieſes habe Gelegenheit zu dem verheyratheten Philoſophen gegeben. Wenn dieſes wahr iſt, und warum ſollten wir es ſeinem Sohne nicht glauben? ſo duͤrfte die vermeinte Nachahmung des Cam - piſtron um ſo eher wegfallen.

Ham -[409]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und funfzigſtes Stuͤck.

Den vierzigſten Abend (Donnerſtags, den 9ten Julius,) ward Schlegels Tri - umph der guten Frauen, aufgefuͤhret.

Dieſes Luſtſpiel iſt unſtreitig eines der beſten deutſchen Originale. Es war, ſo viel ich weiß, das letzte komiſche Werk des Dichters, das ſeine fruͤhern Geſchwiſter unendlich uͤbertrift, und von der Reife ſeines Urhebers zeiget. Der ge - ſchaͤftige Muͤßiggaͤnger war der erſte jugendliche Verſuch, und fiel aus, wie alle ſolche jugend - liche Verſuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen, und raͤche ſich nie an ihnen, die allzuviel Witz darinn gefunden haben! Er enthaͤlt das kalteſte, langweiligſte Alltagsgewaͤſche, das nur immer in dem Hauſe eines Meißniſchen Pelz - haͤndlers vorfallen kann. Ich wuͤßte nicht, daß er jemals waͤre aufgefuͤhrt worden, und ich zweifle, daß ſeine Vorſtellung duͤrfte auszuhal -F f ften410ten ſeyn. Der Geheimnißvolle iſt um vieles beſ - ſer; ob es gleich der Geheimnißvolle gar nicht geworden iſt, den Moliere in der Stelle geſchil - dert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß zu dieſem Stuͤcke wollte genommen haben. (*)Miſantrope Acte II. Sc. 4. C’eſt de la tête aux pieds, un homme tout miſtere, Qui vous jette, en paſſant, un coup d’oeil egaré, Et ſans aucune affaire eſt toujours affairé. Tout ce qu’il vous debite en grimaces abonde. A force de façons il aſſomme le monde. Sans ceſſe il a tout bas, par rompre l’en - tretien. Un ſecret à vous dire, & ce ſecret n’eſt rien. De la moindre vetille il fait une merveille Et juſques au bon jour, il dit tout à l’oreille. Moliers Geheimnißvoller iſt ein Geck, der ſich ein wichtiges Anſehen geben will; Schlegels Geheimnißvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs ſpielen will, um von den Woͤlfen nicht gefreſſen zu werden. Daher koͤmmt es auch, daß er ſo viel aͤhnliches mit dem Charakter des Mißtrauiſchen hat, den Cronegk hernach auf die Buͤhne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des nehmlichen Charakters, koͤnnen nicht anders als in einer ſo kleinen und armſeligen, oder ſo menſchenfeindli - chen und haͤßlichen Seele ſich finden, daß ihreVor -411Vorſtellungen nothwendig mehr Mitleiden oder Abſcheu erwecken muͤſſen, als Lachen. Der Ge - heimnißvolle iſt wohl ſonſt hier aufgefuͤhret wor - den; man verſichert mich aber auch durchgaͤngig, und aus der eben gemachten Betrachtung iſt mir es ſehr begreiflich, daß man ihn laͤppiſcher ge - funden habe, als luſtig.

Der Triumph der guten Frauen hingegen hat, wo er noch aufgefuͤhret worden, und ſo oft er noch aufgefuͤhret worden, uͤberall und jederzeit, einen ſehr vorzuͤglichen Beyfall erhalten; und daß ſich dieſer Beyfall auf wahre Schoͤnheiten gruͤnden muͤſſe, daß er nicht das Werk einer uͤberraſchenden blendenden Vorſtellung ſey, iſt daher klar, weil ihn noch niemand, nach Leſung des Stuͤcks, zuruͤckgenommen. Wer es zuerſt geleſen, dem gefaͤllt es um ſo viel mehr, wenn er es ſpielen ſieht: und wer es zuerſt ſpielen ge - ſehen, dem gefaͤllt es um ſo viel mehr, wenn er es lieſet. Auch haben es die ſtrengeſten Kunſt - richter eben ſo ſehr ſeinen uͤbrigen Luſtſpielen, als dieſe uͤberhaupt dem gewoͤhnlichen Praſſe deutſcher Komoͤdien vorgezogen.

〟Ich las,

ſagt einer von ihnen,(*)Briefe, die neueſte Litteratur betreffend. Th. XXI. S. 133.

den ge - ſchaͤftigen Muͤßiggaͤnger: die Charaktere ſchie -F f f 2nen412nen mir vollkommen nach dem Leben; ſolche Muͤßiggaͤnger, ſolche in ihre Kinder vernarrte Muͤtter, ſolche ſchalwitzige Beſuche, und ſolche dumme Pelzhaͤndler ſehen wir alle Tage. So denkt, ſo lebt, ſo handelt der Mittelſtand unter den Deutſchen. Der Dichter hat ſeine Pflicht gethan, er hat uns geſchildert, wie wir ſind. Allein ich gaͤhnte vor Langeweile. Ich las darauf den Triumph der guten Frauen. Wel - che Unterſchied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, aͤch - ten Witz in ihren Geſpraͤchen, und den Ton ei - ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan - ge.

Der vornehmſte Fehler, den ebenderſelbe Kunſtrichter daran bemerkt hat, iſt der, daß die Charaktere an ſich ſelbſt nicht deutſch ſind. Und leider, muß man dieſen zugeſtehen. Wir ſind aber in unſern Luſtſpielen ſchon zu ſehr an frem - de, und beſonders an franzoͤſiſche Sitten ge - woͤhnt, als daß er eine beſonders uͤble Wirkung auf uns haben koͤnnte.

〟Nikander,

heißt es,

iſt ein franzoͤſiſcher Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachſtellt, keinem im Ern - ſte gewogen iſt, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu ſtuͤrzen, aller Frauen Verfuͤhrer und allerMaͤn -413Maͤnner Schrecken zu werden ſucht, und der bey allem dieſen kein ſchlechtes Herz hat. Die herrſchende Verderbniß der Sitten und Grund - ſaͤtze ſcheinet ihn mit fortgeriſſen zu haben. Gott - lob! daß ein Deutſcher, der ſo leben will, das verderbteſte Herz von der Welt haben muß. Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wo - chen nach der Hochzeit verlaſſen, und nunmehr in zehn Jahren nicht geſehen hat, koͤmmt auf den Einfall ihn aufzuſuchen. Sie kleidet ſich als eine Mannsperſon, und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Haͤuſer nach, wo er Avanturen ſucht. Philint iſt witziger, flat - terhafter und unverſchaͤmter als Nikander. Das Frauenzimmer iſt dem Philint mehr gewogen, und ſobald er mit ſeinem frechen aber doch arti - gen Weſen ſich ſehen laͤßt, ſtehet Nikander da wie verſtummt. Dieſes giebt Gelegenheit zu ſehr lebhaften Situationen. Die Erfindung iſt artig, der zweyfache Charakter wohl gezeich - net, und gluͤcklich in Bewegung geſetzt; aber das Original zu dieſem nachgeahmten Petit - maitre iſt gewiß kein Deutſcher.
〟Was mir,

faͤhrt er fort,

ſonſt an dieſem Luſtſpiele mißfaͤllt, iſt der Charakter des Age - nors. Den Triumph der guten Frauen voll - kommen zu machen, zeigt dieſer Agenor den Ehe - mann von einer gar zu haͤßlichen Seite. ErF f f 3ty -414tyranniſiret ſeine unſchuldige Juliane auf das unwuͤrdigſte, und hat recht ſeine Luſt ſie zu quaͤ - len. Graͤmlich, ſo oft er ſich ſehen laͤßt, ſpoͤt - tiſch bey den Thraͤnen ſeiner gekraͤnkten Frau, argwoͤhniſch bey ihren Liebkoſungen, boshaft genug, ihre unſchuldigſten Reden und Hand - lungen durch eine falſche Wendung zu ihrem Nachtheile auszulegen, eiferſuͤchtig, hart, un - empfindlich, und, wie ſie ſich leicht einbilden koͤnnen, in ſeiner Frauen Kammermaͤdchen ver - liebt. Ein ſolcher Mann iſt gar zu verderbt, als daß wir ihm eine ſchleunige Beſſerung zu - trauen koͤnnten. Der Dichter giebt ihm eine Nebenrolle, in welcher ſich die Falten ſeines nichtswuͤrdigen Herzens nicht genug entwickeln koͤnnen. Er tobt, und weder Juliane noch die Leſer wiſſen recht, was er will. Eben ſo wenig hat der Dichter Raum gehabt, ſeine Beſſerung gehoͤrig vorzubereiten und zu veran - ſtalten. Er mußte ſich begnuͤgen, dieſes gleich - ſam im Vorbeygehen zu thun, weil die Haupt - handlung mit Nikander und Philinten zu ſchaf - fen hatte. Kathrine, dieſes edelmuͤthige Kam - mermaͤdchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, ſagt gar recht am Ende des Luſtſpiels: Die geſchwindeſten Bekehrungen ſind nicht alle - mal die aufrichtigſten! Wenigſtens ſo lange die - ſes Maͤdchen im Hauſe iſt, moͤchte ich nicht fuͤr die Aufrichtigkeit ſtehen.
Ich415

Ich freue mich, daß die beſte deutſche Ko - moͤdie dem richtigſten deutſchen Beurtheiler in die Haͤnden gefallen iſt. Und doch war es viel - leicht die erſte Komoͤdie, die dieſer Mann be - urtheilte.

Ende des erſten Bandes.

[416]

Druckfehler.

  • S. 119. Z. 7. iſt auſtatt Geſetze zu leſen Rechte.
  • S. ebd. Z. 17. Stuͤcke Aufzuͤge.
  • S. 151. Z. 16. des Polydors des Antenors.
  • S. 177. Z. 5. daß die Fehler daß viele von den Fehlern.

Nachricht.

Den Titel zu dieſem Bande werden die Leſer am Ende des zweyten Bandes, zum Schluſſe des Jah - res, auf Oſtern, erhalten.

[417][418][419][420][421][422]

About this transcription

TextHamburgische Dramaturgie
Author Gotthold Ephraim Lessing
Extent436 images; 78521 tokens; 11729 types; 544597 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationHamburgische Dramaturgie Erster Band Gotthold Ephraim Lessing. . [5] Bl., 415 S. ; 8° CramerHamburgBremen1769.

Identification

HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Lo 4579:1Dig: http://diglib.hab.de/drucke/lo-4579-1b/start.htm

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationWissenschaft; Literaturwissenschaft; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:32:40Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryHAB Wolfenbüttel
ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Lo 4579:1
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.