Kronhelm war lange, wie betaͤubt; Er ſah aus dem Kutſchenſchlag hinaus, und doch ſah er nichts, und fuͤhlte nichts von dem Reiz der Ge - gend, uͤber der ſich nach und nach der Himmel aufklaͤrte, und die, vom Regen erquickt, nun in hellerm Gruͤn prangte, und den ſuͤſſen Duft der Pflanzen und der Blumen rings umher ver - breitete; Siegwart war auch traurig, und wollte ſeinen Freund nicht ſtoͤren. Endlich fieng dieſer ſelbſt zu ſprechen an, und gieng die ſchoͤnen Ta - ge wieder durch, die ſie mit einander durchlebt hatten. Deine Schweſter, ſagte er, uͤbertrifft doch alle Maͤdchen, die ich noch geſehen habe! Wenn ſie mir nur fleiſſig ſchreibt! Sonſt wird mir der Aufenthalt in der Stadt unertraͤglich werden. — Sie ſtiegen wieder in dem Dorf, und vor dem Wirthshaus ab, wo ſie neulich geweſen waren. Ein Werber ſaß drinn, der eben einen Bauerkerl angeworben hatte. Dieſer machte groſſen Lerm, und war betrunken; ſchimpfte auf ſeine Mutter, die ihm ſein Maͤdchen nicht habe laſſen wollen; dann trank er auf die Geſundheit428 des Kayſers, der Kayſerin und ſeiner Kathrine, und ſchmiß das Glas beym Fenſter hinaus. End - lich kam ſeine Mutter mit groſſem Geſchrey: Hanns, iſts wahr, daß du Soldat worden biſt? Du Teufelskind, was haſt du jetzt getrieben? Wer hat dir den verfluchten Einfall eingegeben?
Hanns. Du ſelbſt, Mutter! haͤtteſt mir nur meine Dirne laſſen duͤrfen! Jch hab dirs immer geſagt. Nun iſts zu ſpaͤt. Vivat der Kayſer und die Kayſerin! Da trink auch mit!
Mutter. Geh mir weg mit dem Glas! Mir thuts Noth, zu trinken! Du gottloſer Bub! Laͤßt mich nun allein ſitzen und ſcharren. Wer ſoll nun ’s Feld bauen, und mich ernaͤhren hel - fen? Gelt! nun ſoll ich verderben und Hunger leiden? O, ich elendes, g’ſchlagnes Weib!
Hanns. ’s Jammern hilft nun nichts mehr, Mutter! Jch hab dir’s vorher geſagt; Aber wollteſt immer nichts hoͤren, wenn ich von Kathrinen anfieng! Da hatteſt du den Kopf drauf geſetzt, und lachteſt mich nur aus, wenn ich vom Soldatenleben ſprach! Gelt, nun bin ichs?
Mutter. Nun, ſo komm nur, Hanns! Sollſt ſie ja haben, wenns nicht anders ſeyn kann? Komm nur mit mir heim!
429Hanns. Ja, wenns der Herr haben woll - te, bin ichs ſchon zufrieden.
Werber. Ey, das bitt ich mir aus! Du muſt da bleiben, Hanns, haͤtteſt du das ein paar Stunden eher bedacht! Jetzt gehts nicht mehr an.
Mutter. Was? Jhr wollt mir meinen Sohn nicht laſſen? Jſt das auch erlaubt? Er muß mirs Feld bauen! Jch bin ein armes Weib!
Werber. Ja, das geht mich nichts an. Er iſt ſelbſt zu mir gekommen, und muß mit mir fort.
Mutter. Jch will ihm ja ſeine Kathrine laſſen! Er ſoll ſie noch heut haben! Komm nur!
Werber. Fort! oder ich will euch was anders ſagen! Er ſoll mit in Krieg!
Mutter. Jn den Krieg, wo man d’ Leute todt ſchlaͤgt? Nein, das thu ich nicht! Es iſt mein einziger Sohn. Hab ſonſt keinen Men - ſchen auf der Welt!
Hanns. Laß ſeyn, Mutter! ’s hilft nichts. Jch muß halt ſchon mit fort!
Mutter. Nein, du ſollſt nicht! ſag ich. Jch will dich loskaufen. Was muß ich fuͤr ihn geben?
430Werber. Hundert Thaler, und ’n andern Kerl dazu, von ſeiner Groͤſſe!
Mutter. Hundert Thaler? Lieber Gott! hab keine hundert Kreuzer! wenn ich auch mein Aeckerlein verkaufen wollte, wuͤrd ich doch keine 70 Gulden draus loͤſen. Ach lieber Herr Feld - waibel! hab er doch Mitleiden mit einer armen Frau! Jch will ja gerne hundert Roſenkraͤnze fuͤr ihn beten.
Werber. Was hilft mir das? Und, wenn ihr zweyhundert fuͤr mich betet! Wir muͤſſen Leut haben, und da iſt uns euer Sohn eben recht. Er gibt ’n guten Fluͤgelmann.
Mutter. Ach du lieber himmliſcher Vater! Jſt denn gar keine Barmherzigkeit mehr auf der Welt? — Hanns, Hanns! das wird mich noch vor der Zeit ins Grab bringen.
[Hanns]. Nun, Mutter, mach mir ’s Herz nicht weich! Ein Soldat muß Kourage ha - ben! ’s thut mir leid; aber du haſts nicht anders haben wollen. Gruͤß mir Kathrinen! Jch werd ſie doch nicht mehr ſehen. Das arme Ding wird ſich wol zu todt heulen. Aber ohne ſie haͤtt ich doch nicht im Dorf leben koͤnnen. Jetzt iſts beſſer, ’n Kugel vor den Kopf! — So gehts,431 wenn ihr Leut alles beſſer wiſſen wollt! — Da haſt zwoͤlf Gulden von meinem Handgeld. Ver - brauchs g’ſund!
Jndem kam Kathrine mit Heulen und Schreyen in die Stube, und fiel ihrem Hanns um den Hals. Hanns! Gelt, ’s iſt nicht wahr? Wirſt nicht Soldat? Kannſt mich nicht verlaſſen? — Was? haſt ’n Federbuſch ſchon aufm Hut? Geh! wirf ihn zum Teufel! Du biſt mein, und ſollſt mein bleiben! — Lieber Hanns! ſieh mich doch an! Gelt du bleibſt hier?
Hanns. Ja, Kathrine, ich wollts gern! Aber ’s geht nun nicht mehr an.
Kathrine. Was ſagſt? ’s geh nun nicht mehr an? Nun, ſo geh ich mit dir, wo du hin gehſt! Ohne dich kann ich nicht ſeyn! Wir wollen uns mit einander todt ſchieſſen laſſen.
Werber. Das geht auch nicht an. Jhr muͤßt hier bleiben! Macht nur bald ein End! Wir muͤſſen weiter; muͤſſen dieſen Morgen noch nach Guͤntzburg!
Kathrine. So? Jhr wollt mich nicht mit - nehmen? Wollt mir meinen Hanns nicht laſ - ſen? — Jch kann auch Soldat werden! kann auch ’n Flint tragen, und mich todt ſchlagen laſſen! Jch432 muß mit! Oder ich kratz dir die Augen aus, du alter, ſchwarzer Kerl!
Kronhelm (gieng zum Werber, und ſagte) O, ich bitte Sie, Herr Sergeant! Seyn Sie doch auch menſchlich! Laſſen Sie das arme Maͤd - chen mit!
Werber. Ja, Herr! ich wollt ſchon; aber was hilfts? Wenn wir zum Hauptmann kommen, ſo laͤßt er ſie wieder fortjagen. Wir koͤnnen im Feld nicht ſo viel Bagage brauchen. Unſer Haupt - mann iſt gar ſtreng.
Kathrine. Sey ers auch! Er wird doch ein Menſch ſeyn! Und wenn er auch ein Tyger waͤr, ich wollt ihm ’s Herz weich machen.
Werber. Nun, meintwegen wohl! Bis nach Guͤntzburg koͤnnt ihr ſchon mitlaufen. Moͤgt dann ſehn, wies weiter geht!
Kathrine. Ja, ja! Das will ich ſchon ſehn! — O, Hanns! Nun iſt mir wieder wohl. Hoͤr! nun will ich g’ſchwind zu meinem Bauren, und mir meinen Lohn geben laſſen, und mein Biſ - ſel Sach’ einpacken! (Sie gieng weg.)
Werber. (ihr nachrufend) Macht nur kurz! Jn einer Viertelſtunde muͤßt ihr wieder da ſeyn! 433Wir muͤſſen fort! — Der Hauptmann wird ihrs ſchon ſagen! —
Kronhelm. Jch kenn’ Jhren Hauptmann auch, und komm noch heut nach Guͤntzburg; da will ich gleich mit ihm reden.
Werber. Ja, wenn Sie ein Vorwort ein - legen, dann kanns gehen, aber ſonſt nicht!
Hanns (zu Kronhelm) O Herr, vergeſſen Sies ja nicht, und gehn Sie heut zum Haupt - mann! Sie ſind auch gar zu brav! — Heh, Mutter! ’s Weinen hilft nun nichts. Bet fleiſ - ſig fuͤr mich! Vielleicht komm ich doch einmal wieder! Jch hab nur auf 5 Jahr akkordirt.
Mutter. Ja, da werd ich wol im Grab ſeyn! Das Herzeleid haͤtteſt mir nicht anthun ſollen, Hanns! Gott verzeih dirs! Wenn das dein Vater dacht haͤtt! — Jch war auch ver - blendet, daß ich dir das Maͤdel mit Gewalt nicht laſſen wollt; aber ich dacht eben nicht, daß du gleich ſo oben ’naus ſeyn wuͤrdeſt. — Jch hab ſchon viel Kreutz g’habt, aber das iſt ’s groͤßt, das ich wol nicht uͤberleben werd. — Haͤtteſt ſo ruhig in unſerm Huͤttlein leben koͤnnen! Nun muß ich allein drinn ſchmachten! — O Hanns, Hanns! Wenn ihr Leute daͤchtet, was ihr euren Eltern434 fuͤr Kummer macht! ’s iſt ein Elend, eine Mut - ter zu ſeyn! —
Sie jammerte noch immer ſo fort; Endlich kam Kathrine mit einem Buͤndel Kleider. Der Werber fuͤhrte Hanns bald darauf fort, weil er fuͤrchtete, die Bauren moͤchten zuſammen laufen; die Mutter hieng ſich ihrem Sohn an den Hals, und wollte ihn nicht loslaſſen. Endlich mußte ſie; heulte jaͤmmerlich, und ſchlug die Haͤnd uͤber dem Kopf zuſammen. Sie wollte noch mit vors Dorf hinaus, aber der Werber, der den Laͤrm fuͤrchtete, gab es nicht zu. Kronhelm verſprach es Hanns noch einmal, beym Hauptmann fuͤr ihn und ſeine Kathrine zu ſprechen. —
Nach einer halben Stunde fuhren Kronhelm und Siegwart auch wieder weiter. Sie ſpra - chen viel uͤber den Rekruten, und ſeine Mutter. Das muß ein ſchreckliches Leben fuͤr die beyden ſeyn, ſagte Kronhelm, wenn ſie getrennt waͤren, und das Maͤdchen keinen Augenblick wuͤßte, ob nicht ihrem Hanns der Kopf geſpaltet, oder eine Kugel ins Herz geſchoſſen wuͤrde? So iſt ſie doch um ihn, und kann ihn warten, wenn er verwun - det wird. Der Hauptmann laͤßt ſie gewiß bey - ſammen, ich kenne ihn von meinem Vater her;435 und der Kerl iſt groß; denen ſieht man ſchon nach, wenn ſie Weiber haben; ſie gehen dann auch weniger durch. —
Nach anderthalb Stunden trafen ſie den Hauptmann auf einem Spatzierritt an. Kron - helm trug ihm ſogleich ſeine Bitte wegen Hanns vor. Jch habe den Kerl dort angetroffen, und ſein Menſch auch, ſagte der Hauptmann. Sie fiel mir gleich zu Fuͤſſen, und bat, daß ſie mit in Krieg duͤrfte. Jch verſprach ihr nichts Gewiſſes, denn man ſieht die Weibsleute im Feld nicht gern; ſie hindern nur auf dem Marſch. Aber zuweilen macht man wol eine Ausnahme; und weil Sie auch fuͤr den Kerl bitten, und er ſchoͤn und groß iſt, ſo will ichs ſo mit hingehen laſſen. Wenn ich einmal auf Jhr Schloß komme, ſo beding’ ich mir eine Bouteille Burgunder dafuͤr aus. Herzlich gerne, ſagte Kronhelm, und nahm von dem Hauptmann Abſchied. — Er war nun recht froh, daß er et - was zur Vereinigung dieſer beyden Leute mit bey - getragen hatte, und dachte nun mit deſto groͤſſerm Vergnuͤgen, aber auch mit groͤßrer Wehmuth an ſeine Thereſe. Siegwart mußte ihm tauſenderley kleine Geſchichten von Thereſens Kindheit erzaͤh -436 len; manche gefielen ihm ſo wohl, daß er ſie ſich zwey - und dreymal erzaͤhlen ließ.
Endlich kamen ſie auf ihrer Schule wieder an. Kronhelm gab dem Kutſcher ein paar Zei - len mit, die an den Amtmann und an Thereſen zugleich gerichtet waren, und blos die Nachricht von ihrer gluͤcklichen Ankunft, und Dankſagungen fuͤr die viele genoſſene Freundſchaft enthielten. Sie giengen dann ſogleich zu ihrem lieben P. Philipp, der ſich herzlich uͤber ihre Ankunft freute. Sie mußten ihm ſehr viel von ihrer Landluſt erzaͤhlen. Kronhelm vermied es ſorgfaͤltig, Thereſens Na - men zu nennen, oder nur entfernt von ihr beſon - ders zu reden, weil er ſich zu verrathen fuͤrchtete; denn die erſte Liebe iſt mehrentheils ſehr furchtſam und zuruͤckhaltend. Nach etlichen Tagen fiel aber P. Philipp ſelbſt auf die Vermuthung, daß er verliebt ſey; denn er war ſo ſtill, und verfiel oft auf Einmal in ein tiefes Nachdenken, und ſah aus, als ob er weinen wollte. Unſerm Kronhelm muß was wichtiges begegnet ſeyn, ſagte er, und wandte ſich zu Siegwart; Er iſt ſeit der Reiſe ganz veraͤndert. Jch weis nicht, antwortete Xa - ver; und Kronhelm ward feuerroth. — Nein, es fehlt mir nichts, ſagte er; ich weis nicht, wie437 Sie darauf kommen? Aber gewiß, es fehlt mir nichts! — Nun, nun, ich hab auch kein Recht zu Jhren Geheimniſſen, ſagte P. Philipp; wenns nur nichts ſchlimmes iſt, was die Veraͤnderung hervorbrachte. Kronhelm ward ſo verwirrt, und entſchuldigte ſich ſo viel, daß er ſich zuletzt ſelbſt verrieth, und mit vielen Umſtaͤnden und weit hergeholten Wendungen dem Pater das ganze Ge - heimnis entdeckte. Das iſt ja was gutes, und un - ſchuldiges, ſagte Philipp, und braucht der Be - ſchoͤnigungen gar nicht. — Ja, ich weis wohl, ſagte Kronhelm; aber es wird mir ſo ſonderbar zu Muth, wenn man davon ſpricht. Es iſt ge - wiß um die Liebe die unſchuldigſte Sache, der man ſich mehr zu ruͤhmen, als zu ſchaͤmen Urſache hat; aber es haͤlt einen immer ſo was zuruͤck. — Das kommt von der Erziehung her, ſagte Phi - lipp. Nun, ich wuͤnſch ihm von Herzen Gluͤck; denn ich hoffe, daß er nicht ſo auf Gerathewohl gewaͤhlt hat; und was ich bisher von Thereſen gehoͤrt habe, bringt mir die beſte Meynung von ihr bey. Sie muß ein frommes, unſchuldiges und liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf ſeyn, das vor Tauſen - den den Vorrang hat. Nur Eine wohlgemeynte Warnung kann ich nicht zuruͤckhalten, und Er438 wird mir ſie nicht uͤbel nehmen! Mach Er die Liebe nicht zur Haupttriebfeder ſeiner Handlun - gen, und vergeß Er ſeine uͤbrige Beſtimmung nicht druͤber! Dieß iſt der gewoͤhnliche Fehler bey jun - gen Leuten. Sie glauben nur fuͤr ihr Maͤdchen allein geſchaffen zu ſeyn, und gegen die uͤbrige Welt weiter keine Pflicht zu haben. Bey Jhm fuͤrcht ich das nun weniger. Die Liebe ſollte uns am meiſten zur Vervollkommung unſrer ſelbſt an - treiben. Denn je mehr Vorzuͤge und innre Voll - kommenheiten wir haben, deſto gluͤcklicher koͤnnen wir einſt den geliebten Gegenſtand machen. Durch Kenntniſſe und Wiſſenſchaften bahnen wir uns den Weg zu Ehrenſtellen, anſehnlichen Aemtern und Beſoldungen; und dann koͤnnen wir erſt mit gutem Gewiſſen einem Frauenzimmer unſre Hand anbieten. Er kann zwar auch ohne Aemter le - ben; aber es iſt doch beſſer, wenn man zu allem geſchickt iſt. Kronhelm dankte fuͤr den Rath, und verſprach, ihn zu beſolgen. Er fuͤhle ſich jetzt, ſagte er, zu allem ſtaͤrker; alles ſey ihm leichter. Er liebe die Menſchen mehr. Sein Herz ſey weicher und mitleidiger geworden, und das Schick - ſal eines jeden Menſchen, beſonders eines leiden - den lieg ihm weit naͤher am Herzen, als ſonſt.
439Gleich den Tag nach ſeiner Ankunft hatte Kronhelm einen ziemlich weitlaͤuftigen Brief an Thereſen, und auch einen an ihren Vater geſchrie - ben, und ihn dem Bothen mitgegeben. Er war - tete nur mit Verlangen auf den Sonnabend, da der Bothe wieder kommen ſollte. Er zaͤhlte alle Stunden bis dahin, und lief am Sonnabend ſo - gleich nach dem Hauſe, wo die Briefe gewoͤhn - lich abgegeben wurden. Der Bothe war da geweſen, und hatte keinen Brief mitgebracht. Der ſonſt gelaßne Kronhelm ward durch dieſe Nachricht wie raſend, knirſchte mit den Zaͤhnen, und ſtampfte auf den Boden. Nun ſo wollt’ ich, daß ich die Welt zertruͤmmern koͤnnte! rief er, und alles, was drinn und drauf iſt! — Keinen Brief? Und ſie hat mirs ſo theuer ver - ſprochen? — Nun ſo trau mir einer mehr den Menſchen, und zumal den Maͤdchen! — Alles, alles iſt nichts! Jſt Tand! Jſt abſcheulicher Betrug! — O ich Thor, daß ich ſo drauf bau - te! Den Kopf moͤcht ich mir einrennen! — Das verfluchte Geſchlecht!
So tobte er, und lief, ohne zu wiſſen, war - um? vors Thor hinaus. Alles, was ihm be - gegnete, war ihm zuwider. Die ganze Welt440 kam ihm vor, wie ein Narrenhaus, und Zucht - haus. Jeder war ihm ein Narr, oder Boͤſe - wicht! Er kam an die Donau; ſetzte ſich ans Ufer nieder; ſcharrte den Sand mit ſeinem Stock auf, und ſtaͤubte ihn ins Waſſer. Gott! dachte er, auch Thereſe untreu! Auch die, auf die ich alles gebaut haͤtte! O, wir Maͤn - ner ſind doch rechte Narren! — Er dach - te hin und her, was ſie ſo ſchnell auf andre Ge - danken koͤnnte gebracht haben? Es war ihm un - begreiflich; und doch hielt ers fuͤr ausgemacht gewiß. Er fand tauſend Urſachen, und verwarf ſie wieder. Endlich hub er ſich wieder auf, und gieng nach Haus. Siegwart war ausgegangen, um ihn aufzuſuchen. Nach einer Stunde kam er wieder; Da iſt ein Brief von meiner Schwe - ſter, ſagte er. — Was? rief Kronhelm; Willſt du mich auch fuͤr einen Narren halten? Jch hab ſchon nach dem Bothen gefragt! Er hat nichts! — Da[lies] nur ſelber; ſagte Siegwart. Der Bothe hat mir den Brief ſelbſt eingehaͤn - digt, weils meine Schweſter haben wollte. Kron - helm brach den Brief mit Zittern auf, und riß ihn vor Ungeduld faſt entzwey. Thereſe ſchrieb ſo:
441Der vergnuͤgteſte Abend nach Jhrer Abreiſe war mir der, da ich Jhren lieben Brief erhielt; vielen, vielen herzlichen Dank dafuͤr, mein beſter Freund! Gottlob, daß Sie gluͤcklich wieder ange - kommen ſind! Meine beſten Wuͤnſche begleiteten Sie auf Jhrer ganzen Reiſe; aber beſonders mach - te mir der fatale Weg, und der ſtarke Regen viele Sorge. Jch freute mich recht fuͤr Sie, als der Regen wieder nachließ.
Alſo ſind Jhre Lehrer nicht boͤſe, wegen Jh - res etwas laͤngern Ausbleibens? Nun, das iſt mir ſehr lieb; mir war ſchon recht bange dafuͤr, und ich dachte, Sie koͤnntens gar daruͤber bereuen, daß Sie laͤnger hier blieben; das wollt ich doch nicht gerne!
Ach, mein theureſter Freund! oft denk ich noch an den traurigen Scheidetag und an die letzte trauri - ge Nacht. Dann ſeh ich noch immer den, mit ſchwar - zen Wolken umgebenen Mond, der uns gegenuͤber ſtand; dann hoͤr ich noch immer den rollenden Don - ner, und ſeh die ſchnellen Blitze. Alles war ſo feyerlich! Erſt ſinds acht Tage, und mir duͤnkts ſchon ſo lange! F f442Jetzt ſind wir ganz einſam, und alles iſt ſo ſtille, nun Sie nicht mehr hier ſind!
Am Tage nach Jhrer Abreiſe ſchrieb ich ein paar Lieder aus Kleiſt ab; hernach hab ich im Hagedorn geleſen, den Sie mir geſchenkt haben. Jch fand vieles drinn, was mir gefiel; aber fuͤr mein Herz, das jetzt ſo viel verlangt, hats zu we - nig Nahrung. Sonſt hab ich nichts geleſen. Theils hatt’ ich nicht Zeit dazu, theils nicht Luſt; und dann haben Sie mich ſo ganz verwoͤhnt, daß ich faſt nichts mehr allein leſen mag.
Einmal hab ich Beſuch gegeben bey meiner Freundin, der Poſtverwalterstochter; und den Abend gieng ich am kleinen Bach ſpatzieren, mit meinem Vater, der ſo ganz fuͤr Sie iſt. Wir ſprachen recht viel von Jhnen. Vorgeſtern war Hauptmann Northern, aber nur allein, hier. Wir kamen oft auf Sie zu ſprechen; er haͤlt ſehr viel auf Sie, und ich bin ihm deswegen noch ein - mal ſo gut. Wenn er nur oft kaͤme, und von Jh - nen ſpraͤche! Mir iſt ſo wohl dabey, und ſo bang. Jch wuͤnſchte immer, daß man davon anfienge; und faͤngt man an, ſo wuͤnſcht ich wieder, daß ich weit davon waͤre! Aber nachher freu ich mich doch immer recht druͤber.
443Von unangenehmen Dingen ſpricht man nicht gern; ſonſt koͤnnt ich Jhnen viel ſagen, von den Spoͤttereyen und Sticheleyen, die ich von mei - ner Schwaͤgerin anhoͤren muß; doch ſo etwas iſt zu gering, ſich daruͤber zu aͤrgern. Jch kann Jh - nen nicht mehr ſchreiben, weil ich recht viel wegen der Habererndte zu thun habe; aber wenn das vor - bey iſt, ſo werd ichs gewiß nachholen. Jch habe Jhnen noch ſo viel zu ſagen, ſo viel! Aber ein Brief iſt immer nur eine halbe Unterredung.
Als Kronhelm dieſen Brief geleſen hatte, gieng er ans Fenſter, und die hellen Zaͤhren ſtuͤrzten ihm aus den Augen. Sein Herz machte ihm tauſend Vorwuͤr - fe. Gott! Was iſt das fuͤr ein himmliſches Maͤdchen! dachte er; und was bin ich fuͤr ein Kerl! Lauter Zaͤrt - lichkeit und Liebe! Und ich that dem Engel Unrecht! That ihm teufliſches Unrecht! — O vergib, vergib, Engel, wenn ichs werth bin! — Jch habe vorhin recht geraſt, ſagte er zu Siegwart. Das iſt was Entſetzliches um die Liebe, wie ſie444 mit dem Menſchen umgeht, und ſo alles aus ei - nem macht, was ſie will! Da wollt ich dir den Brief holen; es hieß, der Bothe hab keinen mit - gebracht, und da wars, als ob ich auf Einmal ein ganz andrer Menſch wurde. Jch raſte, und haͤtt einen umbringen koͤnnen, der mir in Weg gekommen waͤre! Jch ſah und hoͤrte nichts; oder, was ich ſah, das war mir aͤrgerlich. Jch lief, wie ein Unſinniger beym Thor hinaus; fluchte bey mir ſelbſt, und haͤtte darauf geſchworen, deine Schweſter hab mich ſchon vergeſſen! — Und nun ſchreibt ſie mir da einen ſo herrlichen und lieben Brief. O ich moͤchte mich vor den Kopf ſchlagen, daß ich ſo ein Tollkopf bin, und ihr ſo Unrecht that! — Da ſiehſt du, ſagte Siegwart, daß der P. Philipp Recht hat: Man ſoll ſich von der Lie - be nicht ſo ganz beherrſchen laſſen! Du biſt ſeit der Zeit viel ungeduldiger und auffahrender. Alles aͤrgert dich, wenns nicht immer gleich nach Wunſch geht. — Freylich; ſagte Kronhelm; aber hab nur Geduld mit mir, Bruder! Jch will mich war - lich beſſern! Deine Schweſter iſt ſo ein ſanftes, nachgiebiges Maͤdchen; ſie weis ſich in alles ſo zu ſchicken; und ich bin ſo ein aufbrauſender Kerl[,]der gleich mit dem Kopf durch die Wand will. O445 ſie ſoll mich noch Gelaſſenheit und Sanftmuth leh - ren, oder ich waͤr ihrer Liebe nicht werth! Schreib ihr nur nichts davon! Jch muͤßt mich ſchaͤmen! — Da kannſt du ihren Brief leſen. Es iſt der Wie - derſchein ihrer Seele. Die Zaͤrtlichkeit hat ihr ihn ſelbſt eingegeben. Siegwart ließ ihn auch den Brief leſen, den ſie ihm geſchrieben hatte. — Es iſt herrlich, wie das Maͤdchen ſchreibt! ſagte Kronhelm; ſo natuͤrlich und ſo wahr! Man ſieht doch gleich, was Natur iſt! —
Kronhelm und Siegwart ſchrieben nun wie - der an Thereſen und an ihren Vater. Kronhelm ward oft ſehr bewegt, und mußte inne halten, ſo gegenwaͤrtig ſtellte er ſich das Maͤdchen vor. Er konnte es nicht ganz laſſen, und ſchrieb ihr doch einiges von ſeiner Ungeduld, in die er uͤber ihr vermeyntes Schreiben gerathen war. Auf den Nachmittag ſchickten ſie die Briefe fort.
Den Sonntag darauf beſuchten ſie den jungen Gruͤnbach, und erzaͤhlten ihm von ihrer Reiſe. Seine Schweſter Sophie kam, unter dem Vor - wand, Muſikalien zu holen, auch aufs Zimmer, und blieb uͤber eine Stunde da. Das arme Maͤd - chen hieng mit ihren Augen immer an Siegwart, und litt recht viel dabey, daß er ſo wenig auf ſie446 zu achten ſchien. Die Juͤnglinge ſprachen viel von Klopſtock, und als ſie Siegwarten mit ſolcher Waͤrme von ihm ſprechen hoͤrte, bat ſie ſich den Meſſias von ihrem Bruder zum Leſen aus. Jhr Vater kam, und ſie mußte in den Laden hinab. Der alte Gruͤnbach erkundigte ſich mit vielen Um - ſtaͤnden bey Siegwart nach dem Befinden ſeines Vaters und ſeiner Familie.
Die Schulſtunden wurden nun wieder angefan - gen, und die beyden Juͤnglinge beſchaͤftigten ſich mehrentheils mit den Buͤchern; zumal, da man bey den unbeſtaͤndigen und rauhen Herbſttagen wenig mehr aufs freye Feld hinaus konnte. Kronhelm liebte zwar die Wiſſenſchaften ſehr, und brannte vor Begierde, ſeine Kenntniſſe zu vermehren; aber der Gedanke an Thereſen uͤberraſchte ihn alle Au - genblicke uͤber den Buͤchern, und dann wars ihm unmoͤglich, weiter zu leſen. Er fieng an zu phan - taſiren, ſtellte ſich ihr Bild ganze Stunden ganz lebendig vor, und hielt, wenn er allein war, laute Geſpraͤche mit ihr. Sie ſchrieb ihm, wo nicht alle 8 Tage, doch wenigſtens alle 14 Tage gewiß. Sie wurden, auch in der Entfernung, immer noch ge - nauer mit einander verbunden. Sie lieſſen ihre Seele in den Briefen reden; ſagten ſich ihre in -447 nerſten Gedanken, und ſo entdeckte eines immer mehr Vorzuͤge und Vollkommenheiten an dem an - dern. Kurz, ſie waren das gluͤcklichſte Paar, weil Tugend und Weisheit ihre Seelen an einander kettete, und immer feſter mit einander verband. Der alte Siegwart wurde, ohngeachtet der Verſchie - denheit der Jahre, Kronhelms warmer und ver - trauter Freund. Er hielt alles auf ihn, und wuͤnſch - te nur, daß kein Ungluͤck ihn von ſeiner Tochter trennen moͤchte! Unſre Liebende vergaſſen der Ge - fahr, ſo bald ſie ihnen aus den Augen verſchwand; freuten ſich nur ihrer Liebe, und ſahen nichts, als einen heitern, unbewoͤlkten Himmel vor ſich.
Siegwart, der auf der Schule, wegen ſeines Fleiſſes, immer weiter fortruͤckte, ließ ſich dieſe Aufmunterung nur deſto mehr anſpornen, und vermehrte ſeine Kenntniſſe mit jedem Tage. Ti - bull und Properz, die man in der Schule las, verfeinerten ſein ohnedies zartes und richtiges Ge - fuͤhl; er las ſie ſehr fleiſſig, und ſchaͤtzte beſonders den Properz; aber nicht, wie gemeiniglich geſchieht, auf Koſten der Neuern. Er ſah wohl, daß die Deutſchen eben ſo gut, und in den meiſten Faͤchern weit beſſere Dichter aufzuſtellen haben, wie die Roͤmer; beſonders in Dingen, die mehr die Em -448 pfindung, als die Kunſt betreffen. P. Philipp lehrte ihn auf ſeinem Zimmer aus Freundſchaft das Griechiſche, das auf der Schule nicht getrie - ben wurde, und las mit ihm das neue Teſtament, die Fabeln des Aeſop und den Anakreon. Auf den Winter, verſprach er, mit ihm den Herodot, vielleicht auch den Homer zu leſen. Auch lieh er ihm einen Livius, und erklaͤrte ihm die ſchweren Stellen, uͤber die er ihn befragte. Kurz, Sieg - wart war auf dem rechten Wege, ein vernuͤnftiger Gelehrter zu werden.
Den Abend brachten ſie entweder allein zu, und da muſte Xaver mit Kronhelm fleiſſig von Thereſen ſprechen; oder ſie giengen zu P. Phi - lipp, deſſen Umgang ihnen immer der liebſte und lehrreichſte war; Sie laſen, oder zeichneten mit ihm, oder ſprachen abwechſelnd uͤber ernſthafte und muntre Gegenſtaͤnde. Oder ſie machten mit Gruͤnbach Muſik, und kamen durch die Uebung merklich weiter. Siegwart beſuchte auch noch oft die L. Frauenkirche, und hoͤrte da die Nonnen ſin - gen. Oft traf er auch Sophien da an. Die ſchoͤne Andaͤchtige gefiel ihm wohl. Er ſchaͤtzte ſie wegen ihrer Andacht nur noch hoͤher; aber449 doch fuͤhlte er nicht das gegen ſie, was ſie gegen ihn fuͤhlte.
Jn der Mitte des Winters, als Kronhelm einſt an einem heitern Tage mit Siegwart ſpa - zieren gegangen, und nach dem langen Stubenhuͤ - ten auſſerordentlich vergnuͤgt geweſen war, fand er, bey ſeiner Nachhauſekunft auf des P. Philipps Zimmer einen Brief, den ſein Vater durch einen eignen Bothen hereingeſchickt hatte, folgenden Jnhalts:
Hol Dich der Teufel mit Deinem ganzen Hu - renpack! Da haſt Du ’n rechten Hundeſtreich ge - macht. Biſt denn gar ein Narr? Was treibſt mit des Amtmanns Maͤdel, der unadelichen nichts - nutzigen Kanale? Hoͤr Kerl, Du biſt keinen Schuß Pulver wehrt — hol mich dieſer und je - ner, Mann ſollt Dich todtſchlagen, wie einen Dags. Jch hab mir g’aͤrgert, daß ichs Zibberlein kruͤgen thaͤt, ſonſt waͤr ich ſelbſt komen, und haͤtt Dich todtg’ſchlagen. Jnvamer Kerl, daß Du Dich ſo wegwerfen thuſt, als ob Du von einer Buͤrgers - hur herkommen thaͤteſt! Jch muß mich ja ob Dir ſchamen wo ich hinkomm. Aber ich ſchwoͤr Dir450 bei Godd, daß, wenn Du mir noch Augenblikk an das Burgersmaͤdel denken thuſt, ſo reit ich weck, und wenn ich keinen Fuß haͤtt, und ſchieß Dir nie - der, und ſchlag Dich dann mitn Flintenkolben fol - lendts tod. Laß Dirs nur nit einfallen, daß Du noch ’n Buchſtaben an ſie ſchreibſt, oder Du biſt, meiner Seel! des Teufels. Jch habs ’m Amt - man dem Kerl ſchon g’ſagt, und ſeiner Dirn auch, ’s koſtet Dir und ihm und ihr ’s Leben. Solang ich auf Godds Erdboden bin, ſollſt Du nicht mit ihr z’ſamen kommen, und wenns die ganz Welt hahn wollt. Jch reiſſ euch von ein - ander, und ſollts mit den Zaͤhnen ſein. Da haſt Du mein Wort. So wahr ich ’n alter Edelmann, und ſie ’n kahle Amtmansdirn iſt. Verteufelter Son, das heiſſt ’m alten Vater Herzleid anthun. So hats noch keiner g’macht ſeit vil dauſend Jah - ren, ſeit ’s Kronehelm geben hat, und Du mueſt grad anfangen, und willt doch mein Son ſein? Ja ’n Teufelskerl biſt, und kein Gaballiers Son. Jch ſag Dirs, wenn Du noch a Zeil ſchreiben thuſt, ſo muſt Du ſterben, und wenn Du auch am Hi - mel hangen thaͤteſt, Du muſt mir runter; und ’s Maͤdel zerreiſſ ich mit den Naͤgeln, das merk Dir! Laß mir ja kein Wort hoͤren, und wenn Du nur451 Mukker gegen mir thuſt, ſo ſchick ich drey Kerl zu Dir, die ſollen Dich lebendig oder tot zu mich bringen. Da ſollt Du Deine liebe Not haben. Braten will ich Dich, wie ’n Haſen, Lauskerl Du! Jch hab meine Spijon, Einen Buochſtaben, und Du biſt hin, und Deine Hur auch. Jch hab mir g’aͤrgert, daß ich nicht mer ſchreiben kan. Du weiſt noch nit, wie ich bin, wenn ich wild werd. Schwoͤr mir heilig, daß Du nit mer an ſie den - cken, und noch minder ſchreiben willt, ſonſt ſind auf d’ Woch die drey Kerl bey Dir, und holen Dich, und ich laß Dich ſchlieſſen, und beym Maͤ - del forbey fuͤhren, und ſie mit der Kugel vor den Kopf brennen, daß ſie verrecken muß, wie ’n ang’ſchoßnes Thier. Schreib mirs nur gleich, oder du lebſt keine 6 Taͤg mehr, das ſchwoͤr ich dir bey allen Teufeln.
Kronhelm ſtand, wie vom Blitz getroffen da, als er dieſen Brief geleſen hatte. Er ward blaß, und zitterte an allen Gliedern. — Da, lies! ſagte er zu Siegwart, gieng einigemal auf und ab; blieb oft ploͤtzlich ſtehen, als ob er nach - daͤchte, und konnte doch keinen Gedanken halb ausdenken. — Haſts geleſen? Nicht wahr[,]452es iſt ſchoͤn? Jch bin ein rechtes Gluͤckskind! — O ich wollte! — — der verdammte, hoͤlliſche Adel! — Aber, ich wollte nicht nachgeben! — Sprich! Was denkſt du denn? Stehſt ja da, wie ein Klotz!
Siegwart. Jch weiß nicht, was ich ſagen ſoll? Es iſt ſchrecklich! Jch bedaure dich von ganzem Herzen.
Kronhelm. So? Weiter nichts?
Siegwart. Was kann ich ſonſt thun?
Kronhelm. Was weiß ich? Mir rathen! Oder mich todtſchlagen, wenn du willſt.
Siegwart. Jch bitt dich um Gotteswillen, Kronhelm! Du muſt dich maͤſſigen!
Kronhelm. Du biſt ein Narr! — Aber, halt, Siegwart! Nicht wahr? ich thu dir Un - recht?
Siegwart. Ja, das daͤcht ich auch.
Kronhelm. Nu, ſo verzeih mir! Du weiſt ſchon, wie’s iſt; ich kann nicht dafuͤr. — Sag, Bruͤderchen, was muß ich anfangen? Sags doch! Jch weiß ja nicht —
Siegwart. Du muſt deinem Vater ſchreiben, denk ich.
453Kronhelm. Nun ja, ſchreiben! Und was denn?
Siegwart. Daß du mit meiner Schweſter nichts mehr —
Kronhelm. Was?
Siegwart. Daß du nichts mehr mit ihr zu thun haben wolleſt.
Kronhelm. Biſt du vom Teufel, Kerl?
Siegwart. Beſſers weiß ich nichts.
Kronhelm. Nun, ſo pack dich zu allen Hen - kern! — Den Rath kann mir nur mein Tod - feind geben! Aufſetzen will ich mich, und zu mei - nem Vater hinausreiten! Das will ich thun, Kerl!
Siegwart. Jch kann dirs nicht rathen.
Kronhelm. Und warum nicht, Memme? Glaubſt, er werd mich gleich niederſchießen? Laß ihn nur! Das waͤr mir eben recht! So kaͤm ich auf einmal von der verdammten Welt weg!
Siegwart (ſchwieg, und ſah ſeinen Freund mitleidig an.)
Kronhelm. Gefaͤllt dir das nicht? — Was ſoll ich denn thun?
Siegwart. Jch habs ſchon geſagt.
454Kronhelm. Schreiben? — Aber denk: Mein eignes Todesurtheil!
Siegwart. Traurig iſts genug! Du kennſt aber deinen Vater, und haſt ſeinen Brief noch nicht genug geleſen.
Kronhelm. Ja, ich habs! Sonſt waͤr ich nicht ſo raſend! — Jeſus, Maria! Was ſoll ich anfangen? — Gibts denn gar kein andres Mittel? — Sag doch! Biſt mir ja ſonſt im - mer gut geweſen.
Siegwart. Bins auch noch; mehr als du glaubſt. — Aber ich weiß nichts beſſers. Be - denks nur ſelber!
Kronhelm. Ja, was bedenken? Jch kann nicht, ſag ich dir! — Und ſo ſollt ich meinem Vater ſchreiben? — Sollt Thereſen aufgeben? — Gott, wie kann ich das?
Siegwart. Es kann ſich aͤndern.
Kronhelm. Was, aͤndern! Es kann nicht, ſag ich! — Thereſe! Thereſe! Dich aufge - ben? — Und wie kann ſichs aͤndern? Sprich doch!
Siegwart. Dein Vater koͤnnte ſterben; oder ſonſt ſo etwas —
455Kronhelm. Ja, der ſtirbt nicht! — Groſſer Gott! was ich da fuͤr Gedanken habe! — Ja, wenn er ſtuͤrbe! — Wenn er aber auch nicht ſtuͤrbe …?
Siegwart. Du haſt doch indeſſen eine Aus - flucht. Sonſt haſt du gar keine.
Kronhelm. Gar keine! — Das iſt ſchreck - lich! — Bey Gott! ſchrecklich! — Kann ich ihm denn ſonſt gar nichts ſchreiben?
Siegwart. Jch weiß nichts, wenn du ſei - nem Zorn entgehen willſt, und wenns nicht mei - ne Schweſter und mein Vater mit entgelten ſollen.
Kronhelm. Wie das?
Siegwart. Er droht ja, daß er ſie umbrin - gen will. Haſts nicht geleſen?
Kronhelm. Ja, das iſt wahr! Ja, ich muß ſchreiben; Siegwart, ich muß!
Siegwart. Aber nur behutſam, Bruder! ich bitte dich. Wenn du trotzen willſt, ſo gehts nicht. Jetzt muſt du nachgeben, ſo viel du kannſt.
Kronhelm. Ja, wenn man nur ſo koͤnnte. Denk einmal, in ſo was nachgeben! — Haͤtt er nur nicht Thereſen gedroht! Mir moͤcht er dro - hen wie er wollte! Jch achte nichts. — Aber ich weiß, wie er iſt; ſie waͤr nicht ſicher vor ihm. 456— O ich weiß nicht, was ich noch anfange? — Waͤrs nur nicht mein Vater! — Gott! was wird deine Schweſter ſagen! — Jch halts nicht aus, Bruder. Sterben, oder mein ſeyn! — Ja, ich will ihm ſchreiben, daß ich nicht mehr an ſie ſchreiben will. Das kann ich wohl. Sie iſt ja doch mein; ich ja doch ihr. Ja, ich will ihm ſchreiben. Gib nur Dinte her! Wo iſt der Schandbrief? Gott verzeih mirs! Aber ’s iſt ſo! Gib nur her Papier und Dinte.
Siegwart. Bruder, du kommſt mir ganz ſon - derbar vor. Jetzt auf einmal ſo nachgiebig, und eben vorher noch ſo heftig! Jch kann mich in dich nicht finden.
Kronhelm. Jch mich auch nicht, gib nur her!
Siegwart. Aber du muſt mich den Brief erſt ſehen laſſen. Nicht?
Kronhelm. Ja freylich! Gib nur her! (Er ſchreibt) „ Lieber Papa! ‟ Ja, es iſt nicht wahr. — „ Jhr nicht mehr ſchreiben will. ‟ Das iſt fuͤrch - terlich! — Da! Jch kann nichts beſſers ſchrei - ben. [Lies] nur! — Nun, gefaͤllt dirs? Kann ichs anders machen?
Siegwart. Nein; es iſt gut. Jch hoffe, das ſoll ihn beruhigen! —
457Kronhelm. Ja, ihn! Aber auch mich! Solls auch mich beruhigen? — Gib her! Jch wills wie - der zerreiſſen, den verdammten Wiſch!
Siegwart. Laß doch, Bruder! Du kannſt Ein - mal nichts anders ſchreiben. Denk, daß du The - reſen dabey ſchonſt!
Kronhelm. Nun ſo ſeys! Siegl’ es zu! Jch mag mit dem Quark nicht laͤnger umgehn!
Siegwart ſiegelte den Brief zu, und erbot ſich, ihn des Junker Veits Bedienten zu bringen; denn er fuͤrchtete, Kronhelm moͤchte den Brief wieder zerreiſſen. Dieſer blieb indeſſen allein auf dem Zimmer, und verwuͤnſchte ſein Schickſal. Bald war er wild und heftig, bald wieder wehmuͤthig, und zum tiefſten Schmerz herabgebeugt, wenn er an Thereſen dachte. Siegwart kam bald wieder, und nun beſprachen ſie ſich uͤber die traurige Geſchichte; Kronhelm war nun aͤuſſerſt beſorgt, was Thereſe zu ſeinem Betragen denken, und ob ſie ihn nicht verachten werde, wenn ſie hoͤre, daß er ſeinem Vater verſprochen habe, ihr nicht mehr zu ſchreiben? Siegwart beruhigte ihn aber wieder, indem er ver - ſprach, ihr die Sache im Zuſammenhang zu ſchrei - ben, und ſie zu uͤberzeugen, daß er, nach Erforder -G g458niß der Umſtaͤnde ſo habe ſchreiben muͤſſen. Sie wird es ſelber einſehen, ſagte er, da ſie nun deinen Vater ſelbſt kennt. Und deswegen, daß du verſpro - chen haſt, ihr nicht mehr zu ſchreiben, kannſt du auch ziemlich unbeſorgt ſeyn, da ich ihr alle Wochen ſchreibe; da kannſt du mir ja alles in die Feder ſa - gen, was du an ſie geſchrieben haben willſt; und ſo kann ſie’s wieder in den Briefen an mich ma - chen, dieß beruhigte zwar Kronhelm etwas, aber doch nicht viel; und er zitterte vor Thereſens naͤch - ſtem Briefe. P. Philipp, dem ſie die Geſchichte auch erzaͤhlten, arbeitete ſehr daran, unſerm Kron - helm einen geſetzten Muth beyzubringen, denn er befuͤrchtete nicht ohne Grund noch traurigere Auf - tritte. Er hielt ihm, mit der groͤßten Ruͤhrung, die Pflichten vor, die er ſeinem Vater, der Welt, The - reſen und ſich ſelber ſchuldig ſey. Jch will, ſagte er, das Verfahren ſeines Vaters nicht entſchuldigen; aber ganz Unrecht hat er doch auch nicht, daß er ſich einer Verbindung widerſetzt, die ohne ſein Vorwiſ - ſen, und (wie Er vorauswiſſen konnte) ohne ſeine Bewilligung mit einer Perſon eingegangen wor - den iſt, die ſein Vater nicht kennt, und die von ei - nem andern Stand iſt, als er. Zwar an ſich be - trachtet, iſt der Stand nichts, aber in unſre jetzige459 buͤrgerliche Verfaſſung hat er Einfluß, und man kann ihn nicht ganz aus den Augen ſetzen. Mach er ſich auf alles gefaßt, und bedenk er dieß zuerſt, daß man durch Heftigkeit und Unbeſonnenheit im - mer am wenigſten ausrichtet. Wenn er das gethan hat, was ihm moͤglich war, und was er, ohne ſeine Pflichten zu verletzen, thun konnte, dann uͤberlaß er das Uebrige der Vorſehung, die nie ohne weiſe Guͤte handelt, wenn man ſich ihr nicht ſelbſt wider - ſetzt. Es kann, ſo unglaublich es ihm jetzt auch vorkommt, ſein Gluͤck ſeyn, wenn er Thereſen nicht kriegt. Wenn ihr Beſitz ſein wahres Gluͤck iſt, ſo bekommt er ſie gewiß. Stell er ſich im Voraus al - les, auch das aͤrgſte, was ihm begegnen kann, vor! So kommt ihm nichts unerwartet, und ſein Herz wird weniger erſchuͤttert. Jch ſage nicht, daß er die Hofnung ganz ſinken laſſen ſoll. Hofnung naͤhrt das Herz des Menſchen, und iſt nur dann ſchaͤdlich, wenn wir ſie zu tief wurzeln laſſen, und Gewiß - heit aus ihr machen wollen. — Kronhelm hoͤrte zu; er fuͤhlte, daß der Pater Recht hatte, aber die Wahrheiten waren ihm zu traurig; doch hielten ſie ihn von der allzugroſſen Heftigkeit zuruͤck.
460Zween Tage darauf kamen Briefe von Thereſen und ihrem Vater. Kronhelm erbrach ſie mit Zit - tern und dem baͤngſten Herzklopfen. Sie ſchrieb ihm folgendes:
Jch ſchreib Jhnen mit dem kummervollſten Her - zen, und mit naſſen Augen den letzten Brief in meinem Leben. Der vergangene Montag iſt fuͤr mich der traurigſte und fuͤrchterlichſte Tag geweſen. Jhr Vater, den ich noch nicht kannte, kam mit einem Edelmann und zween Jaͤgern in unſern Hof angeſprengt. Jch hoͤrte ihn mit Ungeſtuͤm nach meinem Vater fragen, und ſah aus dem Fenſter. Biſt du die Hur? rief er zu mir herauf. Jch wußte nicht, was ich aus dem Mann machen ſoll - te? und lief zitternd zu meinem Vater. Als wir hinunter wollten, kam Jhr Vater uns ſchon auf der Treppe mit dem Edelmann entgegen. — Jſt Er der Amtmann Siegwart? fragte er. Ja, mein Herr! antwortete mein Vater, was befehlen Sie? — Nichts befehlen! rief Jhr Vater, und kam die Treppe vollends herauf. — Er iſt ein Schurke, daß Ers weis! Er will meinen Sohn verfuͤhren! — Das iſt wohl das ſaubre Menſch da, (indem er ſich461 zu mir wandte) an der er den Narren gefreſſen hat? Ein ſaubres Thierchen! Mein Seel! — Und ſo fuhr er fort, und gab mir und meinem Va - ter Reden, die ich mich ſchaͤmen wuͤrde, niederzu - ſchreiben. Kurz, er begegnete uns auf die groͤbſte, beleidigendſte Weiſe; ſprach immer vom Einſetzen, Verfuͤhrungen, Lumpen - und Hurenpack, und droh - te mit Mord und Todſchlag, wenn ich mir einfal - len laſſen wollte, ſeinen Sohn ferner zu infamiren, wie ers nannte. Jch ſtand da, und dachte, ich muͤß - te in die Erde ſinken. Einigemal konnt ich mich nicht enthalten, ihm grobe Reden zu geben, als er meine Unſchuld — das einzige, worauf ich ſtolz bin — angrif. Der Junker, der mit Jhrem Vater kam, iſt der niedertraͤchtigſte Menſch, der mir auf die ſchimpflichſte Art begegnete, und mich immer nur Kanaille, und buͤrgerliche Gaſſenhure nannte. — Mein Vater, der auch hitzig ſeyn kann, wenn man ihn erſt aufbringt, ſagte Jhrem Vater, er moͤchte ſich in Acht nehmen, und mit ſolchen Beſchimpfun - gen einhalten. Er ſey ein ehrlicher Mann, und ich ein ehrlich Maͤdchen; ich korreſpondire zwar mit ſeinem Sohn, aber auf die erlaubteſte Art; er koͤnn die Briefe ſelber ſehen u. ſ. w. Jhr Vater wollte von dem allen nichts hoͤren, ſchimpfte unauf -462 hoͤrlich fort, und drohte, Sie und mich, und meinen Vater zu erſchieſſen, wenn wir nur noch eine Zeile an einander ſchrieben, oder einen Gedanken auf ein - ander haben wollten. Mein Vater ſagte, das woll er wol verſprechen, daß ich nicht mehr an Sie ſchrei - ben, und weiter keine Gemeinſchaft mit Jhnen ha - ben ſoll; aber die uͤbrigen Beleidigungen woll er ſich auch inskuͤnftige verbitten. Der andre Junker ſchlug ein lautes Gelaͤchter auf. Jhr Vater aber ſagte: Nu Jobſt, laß uns weiter! Vorjetzt hab ich gnug; aber noch ein Brief, und — hier zog er eine Piſtole hervor — die erſte Kugel gehoͤrt dir, Maͤdel! und die zweyte ihm, Monſieur Amtmann! Merk er ſichs! Mit dieſen Worten gieng er wieder die Treppe hinunter, ſetzte ſich aufs Pferd, und ritt mit ſeinen Jaͤgern davon.
Sie koͤnnen ſich vorſtellen, Theurer Freund! wie mir ſeit der Zeit zu Muthe ſeyn muß. Das ganze Leben iſt mir verhaßt, die ganze Welt eine Einoͤde. Jch ſchreib Jhnen dieſen Brief auf Befehl meines Vaters, ders bey Jhrem Vater verantworten will, wenn ers erfahren ſollte. Jch ſoll von Jhnen Ab - ſchied nehmen auf ewig! Gott, von Jhnen! und doch muß es ſeyn! — Jch habe Sie geliebt, Theu - rer, aber verkennen Sie mich nicht! Nicht aus463 Stolz, weil Sie von Adel ſind. Um des Adels Jhres Herzens willen, liebt ich Sie; lieb ich Sie noch! Das darf ich ſagen, denn ich ſags ohne Ab - ſicht auf Jhre Hand. Jch hab auf ewig alle Hofnung von mir weggebannt. Es muß ſeyn! — Leben Sie gluͤcklich! Sie verdienen es. Bleiben Sie mein Freund in Jhrem Herzen! Denken Sie zuweilen an das Maͤdchen, das bald ſterben wird! … Jch habe mein Herz in Thraͤnen ausgeſchuͤt - tet, und komme nochmals, Jhnen das letzte Lebe - wohl zu ſagen. Kuͤnftig kann ich keine Zeile mehr von Jhnen annehmen. Jch werd Jhnen jeden Brief unerbrochen zuruͤck ſchicken. Das hab ich zugeſagt. Leben Sie denn wohl, auf ewig wohl, mein Theureſter! Gott ſtaͤrke Sie, und belohne Jhre Tugend! .. Betruͤben Sie ſich nicht zu ſehr! Sie muͤſſen andre Menſchen, und ein beſſeres Maͤdchen gluͤcklich machen, als ich bin… Sagen Sie ihr einſt, daß ich edel dachte, und Sie darum liebte… Meine Freundin kann ſie auf dieſer Welt nicht mehr werden, denn bis dahin bin ich todt… Jch murre nicht gegen die Vorſicht; aber ich kann dieſe Laſt nicht tragen. Mein Herz muß drunter brechen. — Leb wohl, Edelſter und Beß - ter! Jm Himmel ſehen wir uns wieder, und freuen464 uns, daß wir geduldet haben… Leb wohl! Siehſt Du einſt mein Grab, ſo wein drauf! Jch ver - diens! Der Engel der Liebe ſey Dein Schutzgeiſt! oder ich werds… Mein Herz ſchlaͤgt gewaltiger. Hier faͤllt eine Thraͤne hin, kuͤß die Stelle! .. Schreib mir keine Zeile! Du wuͤrdeſt mich betruͤ - ben… Nun das letzte Wort, das ich an Dich ſchreibe.
Was Kronhelm bey Leſung dieſes Briefs em - pfunden hat, laͤßt ſich nicht beſchreiben. Jedes zaͤrtliche und liebevolle Herz, das auch einmal ge - litten hat, denke ſich noch Einmal in ſein Ungluͤck zuruͤck! Fuͤhle noch Einmal die Leiden ſeiner Liebe, und wein’ unſerm Edeln, mit mir, eine mitleidige Zaͤhre! .. Er lehnte ſich ans Fenſter, huͤllte ſein Geſicht ein, und war ſprach - und thraͤnenlos. Siegwart weinte, und hatte den Brief, den ſeine Schweſter ihm geſchrieben hatte, in der Hand. Kronhelm drehte ſich ſchnell um, ſah ihn mit un - beſchreiblicher Wehmuth an; drauf warf er ſich aufs Bette, huͤllte ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und blieb ſo eine Viertelſtunde unbeweglich liegen. Laß465 uns vors Thor hinaus, ſagte er, ich muß Luft krie - gen! Siegwart gieng mit ihm, ob es gleich ſtark ſchneyte. Kronhelm waͤlzte ſich im Schnee, und wollte da bleiben. Aber Siegwart riß ihn mit Gewalt auf. Endlich fieng er an bitterlich zu weinen. Siegwart ſprach kein Wort, und weinte mit. Nun iſt mir wohl, ſagte Kronhelm, herzlich wohl. Jch dachte, ich koͤnne nicht mehr weinen… Bruder, Bruder! Jn mir tobt mehr, als Hoͤllen - qual. Thereſe iſt hin fuͤr mich. Weiſt dus ſchon! — Ja, ſie hat mirs geſchrieben, ſagte Siegwart. — Hat ſie das? Mir hat ſies auch geſchrieben. O, der Engel iſt verloren! Aber meynſt du, daß das lange waͤhren ſoll? Jch kann auch ſterben, Bruder! Bey Gott! ich kanns auch! — Jhr ſeyd rechte Troͤſter, du und Philipp! Aber, ich brauch ja kei - nen Troſt! Der Tod hat ſo viel Troſt; wird mir auch wohl welchen geben! O, der Engel iſt verlo - ren! — So ſprach er immerfort, ohne daß Sieg - wart ihm ein Wort antworten konnte, als daß er ihn zuweilen mit Thraͤnen und einſylbichten Woͤr - tern bedauerte. Sie giengen wieder nach Haus. Siegwart bat in der Stille den P. Philipp auf ſein Zimmer, weil er ſich zu ſchwach fuͤhlte, jetzt bey ſei - nem Freund allein zu ſeyn. Philipp wußte ihm466 ſelbſt wenig zu ſeinem Troſt zu ſagen. Sein eig - nes Herz litt zu viel bey den Qualen ſeines jungen Freundes. Er hatte ſelbſt einmal ungluͤcklich ge - liebt; und die Erinnerung aller ſeiner vorigen Lei - den kehrte wieder in ſein Herz zuruͤck. Kronhelm ſprach wenig; er ſah immer mit ſeinen Blicken ſtarr auf Einen Ort, und ſchien gar nichts mehr zu fuͤhlen. Zuweilen nur ward ſein Koͤrper durch einen hervorbrechenden Seufzer ungewoͤhnlich ſtark erſchuͤttert. Die ganze Nacht aͤchzte er, und Sieg - wart, der nicht ſchlafen konnte, aber doch ſich ſtell - te, als ob er ſchliefe, hoͤrte ihn oft mit ſich ſelbſt, aber immer abgebrochen, ſprechen. Er litt bey den Leiden ſeines Freundes, und bey den Qualen ſeiner Schweſter, deren tieffuͤhlendes Herz er kann - te, unendlich viel. Den andern Morgen ſaß Kronhelm immer auf der Stube, und ſchrieb; denn es war ein Sonntag. Siegwart ſtoͤrte ihn nicht, und ſchrieb indeſſen an ſeine Schweſter. Endlich gab ihm Kronhelm ein Blatt, und ſagte: Jch will deiner Schweſter keinen Brief mehr ſchrei - ben, ſie hat mirs verboten. Aber nur um Eine Wohlthat fleh ich dich; die muſt du mir gewaͤh - ren. Schreib dieſes Blatt ab, es iſt kein Brief, was ich geſchrieben habe. Es iſt mein letztes Ver -467 maͤchtnis an Thereſen. Schreib es ab, und legs in deinen Brief, ohn ein Wort davon zu ſchrei - ben! Verſag mir dieſe letzte traurige Wohlthat nicht! Siegwart wagte es nicht, ſeinem Freund zu widerſprechen, und ſchrieb folgendes ab:
Stirb nur, Engel! Jch flehe Gott darum, und folg dir bald nach. Dieſe Welt iſt viel zu klein fuͤr Liebende. Wenn ich die Stern’ am Himmel funkeln ſeh, ſo denk ich: Einer von den Sternen allen wird doch einen Wohnplatz fuͤr die Liebe ha - ben. Du Gott, kannſt dein Kind, dein herrliches Geſchoͤpf, nicht ganz aus deinem Weltgebaͤu ver - bannen. Ja, ſie lachen mir lieblicher die Sterne. Dieſer Stern dort mit dem blaͤulichen und reinen Lichte winkt mir. … Stirb nur Engel! ſieh, er lacht uns. … Fall in Staub dahin, du ſchwa - che Huͤtte! denn du haſt genug geduldet. Hat dich nicht der Sturm des Lebens gnug erſchuͤttert? … Auf mein Geiſt! und ſchuͤttle deine Thraͤnen ab. Auf zum Stern mit dem blaͤulichen und reinen Lichte! … Die Natur iſt todt; ſie iſt geſtor - ben. Willſt du laͤnger hier im Thal des Todes weilen? — Ach, Thereſe, laß uns eilen an den Ort, wo keine Menſchen ſind! Denn der Menſch iſt hart und grauſam. … Weine nicht, du Theu -468 re! Dieſe Nacht im Traume hab ich ihn geſehn, den Tod. Er iſt ein hellleuchtender Engel, und hat Palmen in der Hand zum Troſt der Liebenden… Und du weinft noch? Sieh, ich laͤchle ja; der En - gel mit den Palmen hat uns zugewinket, dir und mir. … Wohlauf, ihr Menſchen, raubt mir mei - ne Liebe! Unter Engeln wohn ich. Raubt mir meine Liebe! .. Warum wein’ ich denn, du Theu - re? Kann doch die Natur nicht weinen. Schau hinaus! Sie iſt verſteinert. Auch der Bach, der immer weinte; auch die Donau ſteht verſteinert da. Weine doch, o Donau, daß ich einen Geſpielen ha - be meiner Thraͤnen! .. Wenig Tage noch, ſo ſind wir hingewandelt, ins Gefild der Liebe… Duld, o meine Liebe! Sey getreu bis an das En - de! Sieh! ich will getreu ſeyn, bis ans Ende! Und du willſt mir eine Freundin geben? Duld, o meine Liebe! ſey getreu bis an das Ende! Amen!
Kronhelms Seele verſank in die tiefſte, duͤſterſte Melancholie; ſein ganzer Karakter bekam eine an - dere Wendung. Er ward heftig, und auffahrend, und uͤber alles aͤrgerlich. Sein natuͤrlich ſanftes und gefaͤlliges Weſen verwandelte ſich in eine muͤr - riſche, verdruͤßliche Laune. Alles, was er ſah und hoͤrte, und die ganze Welt ward ihm zuwider. Er469 verachtete das ganze Menſchengeſchlecht; nur den P. Philipp und ſeinen Siegwart nicht. Aber der letztere ſtand doch ſehr viel bey ihm aus. Er konn - te ihm nichts recht machen; jede Bewegung, die er auf dem Zimmer vornahm, konnte ſeinen Freund verdruͤßlich machen, und er verzog die Minen dar - uͤber. Wenn er lachte, war ihms nicht recht; wenn er traurte, auch nicht. Siegwart trug alles mit der groͤßten Geduld, und gab ſeinem Freund in allem nach. Zuweilen uͤberfiel ſeinen Kronhelm ſchnell die Wehmuth, daß er weinen konnte; dann ſprach er von Thereſen. Siegwart konnte ihm we - nig von ihr ſagen, denn ſie ſchrieb nichts mehr von Kronhelm, aber immer traurig und wehmuͤthig. Einmal ſchrieb ſie ihm: Die Urſache meiner Leiden iſt unſre Schwaͤgerin. Sie war einmal bey uns, als ein Brief von dir kam. Jch uͤbereilte mich, und brach ihn auf. Ein verſiegelter Brief von Kronhelm lag darinn. Jch ſteckte ihn ſchnell ein, und ward roth. Das hat ſie vermuthlich gemerkt, und an Kronhelms Vater geſchrieben; denn ſie ſagte gleich: Sie korreſpondiren ja auch mit dem jungen Herrn von Kronhelm? Jch konnte meine Verwirrung nicht verbergen, noch es ganz verheh - len. — Kronhelm fieng von neuem an zu toben;470 daß eine ſolche Kleinigkeit an ſeinem Ungluͤck Schuld haben ſollte. P. Philipp ſuchte ihn auf alle moͤg - liche Weiſe zu zerſtreuen; aber es half wenig. Er nahm ihn oft, mitten im Winter, mit ſpatzieren. Das traurige Stillſchweigen der Natur naͤhrte nur ſeine Traurigkeit. Er las in ſeinen Buͤchern nichts, als duͤſtre, wehmuͤthige Stellen. Die Muſik er - goͤtzte ihn auch nicht mehr. Nur zuweilen phanta - ſirte er in lauter Diſſonanzen und wimmernden Toͤnen. Die Einſamkeit war ihm das liebſte, und ſie lobte er allein. Oft pries er unſern Siegwart wegen des Entſchluſſes ſelig, die Welt zu verlaſſen, und ſich in ein Kloſter zu verſchlieſſen. Das war gewiß ein weiſer und ungluͤcklicher Mann, ſagte er, der wie ich geliebt hat, der zuerſt den Einfall hatte, in eine Einſiedeley zu ziehen, oder ſich durch Mau - ren vom unſeligen Menſchengeſchlecht abzuſondern. Man muß aufhoͤren, ein Menſch zu ſeyn, wenn man gluͤcklich werden will! Jch wollte, daß ich alle meine Leiden mit dir in einer Zelle vergraben koͤnnte!
Dieſe Reden, und das ganze Schickſal ſeines Freundes machte bey unſerm Siegwart den Gedan - ken ans Kloſterleben aufs neue wieder zum allein - herrſchenden und angenehmſten. Er ſah die Liebe471 als die groͤßte Feindin des Menſchengeſchlechts an, und glaubte, ſich nicht ſtark und fruͤh genug vor ihr verwahren zu koͤnnen. Er dachte ſich nur ſeinen P. Anton und die andern Paters, wie ruhig und zufrieden die in ihren Zellen lebten. Er glaubte, die Liebe koͤnne ſich der Kloſtereinſamkeit nicht na - hen, und ſchmachtete recht darnach, bald in dieſem ſichern Hafen einzuſchiffen.
Oſtern ruͤckte nun heran, an dem Kronhelm die Schule verlaſſen, und nach Jngolſtadt ziehen ſollte. Er waͤre gern noch laͤnger in der Nachbarſchaft Thereſens geblieben, ob ihn dieſes gleich nichts half, und hatte deswegen auch an ſeinen Onkel in Muͤn - chen geſchrieben; aber dieſer fand nicht fuͤr gut, es ihm zu erlauben; denn er hatte durch ſeinen Bru - der Veit die Liebe ſeines Neffen erfahren. Ob er gleich von Vorurtheilen ziemlich frey war, ſo konn - te er doch Kronhelms Wahl nicht beguͤnſtigen, denn er hielt ſeine Liebe fuͤr eine voruͤbergehende, aufbrau - ſende Leidenſchaft, und kannte auch das Maͤdchen gar nicht, das er gewaͤhlt hatte. Die Entfernung, hoffte er, wuͤrde die beſte Arzeney fuͤr ſein krankes Herz ſeyn, und ihm bald ſeine vorige Heiterkeit und Ruhe wieder geben.
472Kronhelm reiſte alſo an Oſtern ab. Sein Va - ter hatte zwar gewollt, er ſollte ihn vorher noch in Steinfeld beſuchen, aber dieß war ihm unmoͤg - lich. Er ſah alle die Vorwuͤrfe voraus, die ihm ſein Vater wegen Thereſen machen wuͤrde, und wußte, daß er dazu unmoͤglich ſtill ſchweigen koͤnn - te. Er verachtete auch ſeinen Vater wegen ſeiner rohen, unmenſchlichen Seele, und wegen ſeines Be - tragens gegen ihn zu ſehr, als daß er nicht ſeine Geſellſchaft ſoviel, als moͤglich, haͤtte vermeiden ſol - len. — Bey dem herannahenden Abſchied von ſei - nem innigſten und erſten Freunde, von dem Bru - der ſeiner ewiggeliebten Thereſe, erwachte ſein gan - zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit uͤber, da er die Vorbereitungen zur Abreiſe machte, war er wie betaͤubt; alles war todt um ihn herum; dann uͤberfiel ihn ploͤtzlich wieder eine Aengſtlichkeit; er lief in einen Winkel, um allein zu ſeyn, und ſeine Thraͤnen auszuſchuͤtten. Er erſchrack, wenn er allein war, und Siegwart ungefaͤhr aufs Zim - mer kommen ſeh, und Zaͤhren ſchoſſen ihm in die Augen. Den Tag vor ſeiner Abreiſe gieng er zu Gruͤnbach, um von ihm Abſchied zu nehmen. So viel er auch auf ihn hielt; ſo fuͤhlte er doch nichts da - bey, und ward nicht im mindeſten bewegt. Unten in473 der Thuͤre ſtand Sophie, um ihm auch ihr Lebe - wohl zu ſagen; ſie weinte, und nun weinte er auf einmal mit, weil ihm ſeine Thereſe mit aller Leb - haftigkeit einfiel. Er lief, ſo ſchnell er konnte, uͤber die Straſſe. Dann nahm er von ſeinen Leh - rern Abſchied. Beym P. Johann ward er ſehr bewegt. Der kraͤnkliche Mann wuͤnſchte ihm mit der herzlichſten Ruͤhrung allen Segen des Him - mels. Kronhelm dankte ihm fuͤr ſeinen Unter - richt. Jch wuͤnſche, ſagte Johann, daß meine Leh - ren auch bey Jhm Frucht bringen, und Jhn, wie mich, in Freud und Leid erquicken moͤgen. Sie floſſen aus reinem Herzen, und nie ohne vorher - gehendes Gebeth, daß Gott ſie ſegnen moͤge! Jch wuͤnſchte ſo gern alle Menſchen, und beſonders meine Schuͤler, am meiſten aber Jhn, mein lie - ber Herr von Kronhelm gluͤcklich, weil er ſo ſitt - ſam und rechtſchaffen iſt; und das wird man am erſten durch Religion. Vergeß Er alſo Gottes Wort und meine Lehren nicht! Jch werd oft an Jhn denken, und fuͤr Jhn beten. Denk Er auch zuweilen an mich, und bet Er, daß mich Gott fer - ner treu und geduldig in der Leidenszeit erhalte, die wol nicht mehr lange waͤhren wird. Leb ErH h474wohl! Gott ſegn Jhn! Hier gab er unſerm Kron - helm die Hand; dieſer kuͤſte ſie mit heiſſer Jnn - brunſt, und ließ ſeine Thraͤnen drauf fallen. — Der Abend ward auf P. Philipps Zimmer ſehr traurig zugebracht. Kronhelm ſprach faſt gar nichts, und Siegwart auch nur wenig, denn auf beyden lag die Laſt der nahen Trennung ſchwer. Phi - lipp, der nun drey Jahre ſchon unſern Kronhelm gekannt, und ſeine Seele taͤglich unter ſeiner An - fuͤhrung ſich hatte vervollkommen ſehen; der ihn, ob er wol ſein Schuͤler war, wie ſeinen Freund liebte, der jetzt alle ſeine Leiden kannte, und vor - aus ſah, daß ſie ſich nach der Trennung von ſei - nen Freunden noch verdoppeln wuͤrden, war ſelbſt von allen dieſen Vorſtellungen danieder gedruͤckt, und hatte Muͤhe, ſeinen tiefen Kummer zu ver - bergen, um nicht ſeine jungen Freunde noch weh - muͤthiger zu machen. Er noͤthigte ſie, etwas mehr Wein zu trinken, um ihre Traurigkeit in etwas zu zerſtreuen, und ſie wurden wirklich um ein gu - tes munterer. Aber mit den Lebensgeiſtern wach - te bey Kronhelm das Andenken an Thereſen auch wieder lebhafter auf; er nahm ein Glas; ſtand auf; brachte Thereſens Geſundheit aus; und trank; und Thraͤnentropfen fielen ihm in den Wein. Alle475 Hinderniſſe, ſie jemals zu erhalten, ſchwanden vor ihm weg. Er fuͤhlte ſich zu allem ſtark, und ſagte, kein Menſch ſolle ſie ihm rauben. P. Philipp hatte ſich dieſer Wendung nicht verſehen; er war geſinnt geweſen, ihm noch etwas Lehren auf den Weg zu geben, ſich in ſein Schickſal zu finden, und nach und nach ihr Bild aus ſeinem Herzen zu entfernen; aber er ſah wohl, daß dieſes jetzt uͤbel angebracht ſeyn, und ſeine Leidenſchaft mehr erhiz - zen wuͤrde; er beſchloß alſo, ihm lieber davon zu ſchreiben, da ohnedieß Brieſe mehr Eindruck ma - chen, als Reden, weil man ſie oͤfter leſen, und die darin enthaltenen Ermahnungen mehr uͤberdenken kann. Er bat Kronhelm, ihm zuweilen zu ſchrei - ben, und verſprach, es auch zu thun. Kronhelm nahm dieſen Antrag mit Freuden und Dankbar - keit an. — Um zehn Uhr nahmen ſie von einan - der Abſchied. Beyde ſprachen wenig, weil Thraͤ - nen ihre Reden erſtickten. Gott ſey mit dir, mein Sohn! ſagte Philipp, und umarmte Kronhelm. Dieſer ſah ſeinen Freund und Lehrer noch einmal an, druͤckte ihm mit unausſprechlicher Empfindung die Hand, und gieng mit Siegwart ſchweigend weg. — Als er auf ſein Zimmer kam, ſtand er ans Fenſter, ſah ſtillſchweigend den Mond, und476 die Donau, die in ſeinem Glanz dahin tanzte; und uͤberdachte alle das Gute, was er hier im Kloſter, beſonders von ſeinem lieben P. Philipp genoſſen hatte. Siegwart ſtand am andern Fen - ſter, und weinte. Endlich fieng Kronhelm ſchwei - gend an, das noch noͤthige zu packen. Siegwart half ihm. Es lag noch ein Buch auf dem Tiſch. Willſt du das nicht auch einpacken? ſagte Sieg - wart. Nein, es gehoͤrt dir, ſagte Kronhelm, nimms zum Andenken! — Siegwart ſchlug es auf. Es waren Geßners Jdyllen. Vorne ſtand drinn:
Als dieß Siegwart geleſen hatte, druͤckte er ſei - nen Freund mit heftiger Bewegung an ſein Herz, und weinte. O es muß dir wohl gehen; ſagte477 er. Bleib nur ſtandhaft, und verzag nicht! — Dank dir, Lieber! fuͤr das Andenken! Aber ſter - ben muſt du nicht! Schon dich, Lieber! Glaub, es kann dir nicht ungluͤcklich gehen. — Jch will dulden, ſagte Kronhelm, ſchreibs auch Thereſen, daß ſie dulde! Hoͤr! Jch kann dirs nicht ver - ſchweigen, was ich vorhab! Jch fahre durch dein Dorf. Es iſt nur zwo Stunden Umweg. Viel - leicht ſeh ich meinen Engel, und werd auf Jahre lang geſtaͤrkt! Um Gottes und Maria willen, nicht! ſagte Siegwart. Willſt du ſie und dich ganz ungluͤcklich machen? Jhr wuͤrdet wieder dop - pelt leiden, wenn ihr aufs neu einander ſaͤhet. Und wenns meine Schwaͤgerin erfaͤhrt, und ſchreibts deinem Vater? Auch meinem Vater wuͤrd es ſehr mißfallen. Thu’s um Gottes wil - len nicht! — Nein, ich wills nicht thun, ſag - te Kronhelm weinend. Es war nur ſo ein Ein - fall, der mir erſt geſtern Abend kam. Du haſt Recht; ich kanns nicht thun. Gruͤß den Engel! Segn’ ihn tauſendmal in meinem Namen! Schreib ihm: Sey getreu bis an das Ende! Hier brach ihm wieder das Herz, daß er nicht weiter ſpre - chen konnte. — Siegwart uͤberredete hierauf ſeinen Freund, ſich drey oder vier Stunden nie -478 derzulegen; denn um fuͤnf Uhr war der Mieth - kutſcher beſtellt, der ihn nach Jngolſtadt fuͤhren ſollte. Anfangs wollt es Kronhelm nicht thun, weil er doch nicht ſchlafen koͤnne; aber endlich gab er ſeines Freundes Bitten nach. Siegwart ſah indeſſen die vom Monde blaßerhellte Gegend, war voll tiefer Wehmuth, und ſchrieb in ihr dieſe Ver - ſe nieder:
Siegwart ſchrieb das Gedicht unter Thraͤnen ab, und legte es auf den Tiſch, hierauf las er etwas im Geßner. Um vier Uhr wachte Kronhelm wie - der auf. Einigemal gieng er ſchweigend im Zim - mer auf und ab. Das Gedicht fiel ihm in die Au - gen, er las es, und ſank an die Bruſt ſeines Freun - des. Wie kann ich dir dafuͤr danken, Xaver? ſagte er. Nimms zum Andenken! antwortete Siegwart; ich hab nichts beſſers. Sey ſtandhaft, Lieber! Jn einem Jahr bin ich wieder bey dir. Dann ſolls beſſer mit dir ſtehen, hoff ich. — Ach, wie kann das? ſagte Kronhelm. Wenn du nur gleich mit mir reiſteſt! Wie werd ich das allein aus - halten koͤnnen? Gruͤß mir Thereſen! Segne ſie480 tauſendmal! Sag ihr, daß ich ewig ihr gehoͤre, wenn ich ſie auch niemals wiederſehe! Sprich ihr Muth ein und Geduld! — Wie viel iſt die Glocke? Jch werd wohl bald fort muͤſſen? Siegwart ſagte, daß es noch eine halbe oder dreyviertel Stunden anſtehen koͤnne. — Sie giengen mit einander auf und ab; und ſprachen wenig. Endlich kam der Thorwart, und ſagte, der Fuhrmann ſey da. Nun leb wohl, Liebſter, Beſter! ſagte Kronhelm, und um - armte Xavern. Vergiß mich nicht! Schreib mir oft! Sie hiengen lang an einander, und ſprachen nichts. Als ſie an P. Philipps Zimmer vorbey - giengen, ſagte Kronhelm: Gruͤß mir den lieben Mann tauſendmal! Segn’ ihn tauſendmal fuͤr alle ſeine Liebe! — An der Kutſche umarmten ſie ſich noch einmal und ſchieden.
Siegwart eilte auf ſein Zimmer zuruͤck, um ſei - nem Schmerz freyen Lauf zu laſſen. Er konnte ſich kaum maͤſſigen, rang die Haͤnde, ſprach und weinte laut. Endlich warf er ſich auf ſeine Knie nieder: Gott, du Vater aller! Segn’ ihn! Troͤſt ihn! Staͤrk ihn! Er iſt der edelſte, der beſte Menſch. Segn’ ihn! Staͤrk ihn! Troͤſt ihn! Jhn und mei - ne Schweſter! Mach die beyden gluͤcklich! Ach, be - lohn ihm alle Freundſchaft, die er mir erwieſen hat! 481Vergib mir alle Kraͤnkungen, die ich ihm vielleicht, wider Willen, anthat! Gott, vergib mir ſie, und ſegn’ ihn! — O mein Freund, du Theurer! War - um muſt du mich verlaſſen? Gib mir ihn bald wie - der, Gott! Laß mich ihn bald wieder ſehen! — Endlich warf ſich Siegwart, vom Wachen und vom Schmerz ermuͤdet, in den Kleidern aufs Bette, um noch ein paar Stunden zu ſchlafen.
Den andern Tag war die ganze Welt ihm oͤde, und ein unausfuͤllbares Leere war in ſeinem Her - zen. Er vermißte ſeinen Kronhelm immer, und wollte alle Augenblick mit ihm reden. Des Abends vergaß er ſich oft ſelbſt, und dachte, ſo oft er je - mand auf dem Gang vor ſeinem Zimmer gehen hoͤrte, ſein Freund komme nun. Dann ſah er ſei - nen Jrrthum; es fiel ihm ein, daß er ferne ſey, und ſeine Wehmuth erwachte ſtaͤrker. Er gieng auf P. Philipps Zimmer, um ihm das letzte Le - bewohl ſeines Freundes zu ſagen; die beyden bra - chen in ſein Lob aus, erzaͤhlten alles, was an ihm vortreflich war, mit Lebhaftigkeit nach einander her, und bedaurten dann gemeinſchaftlich ihren Verluſt. Siegwart zeigte dem Pater den Geßner, den ihm ſein Freund geſchenkt, und was er vorne hinein ge - ſchtieben hatte. — Jch bedaure den armen Kron -482 helm, ſagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz unendlich viel gelitten. Er iſt ganz veraͤndert, und ſo ungeſtuͤm und heftig geworden. Man ſieht, daß er doch vieles von ſeines Vaters Temperament ha - ben muß. Seine Einbildungskraft, die ſonſt zu ſchlummern ſchien, iſt ſchrecklich aufgewacht. Das traurigſte iſt, daß er alles ſo tief fuͤhlt, und ſo feſt in ſeinem Herzen verſchlieſt. Die Liebe hat ihm eine tiefe Wunde geſchlagen, und ich fuͤrchte, daß ſie eher nicht, als durch den Beſitz Thereſens geheilt werden wird; aber dieſes iſt ſo weitausſehend und unwahrſcheinlich, daß er vorher druͤber zu Grund gehen kann. — Ja, und meine Schweſter kanns auch, ſagte Siegwart. Das arme Maͤdchen leidet ſo viel. Alles, was ſie ſchreibt, iſt ſo duͤſter und ſchwermuͤthig. Und dann ſchrieb ſie mir auch neu - lich, daß ſie kraͤnkle und den Tod hoffe. Jch durf - te das Kronhelm nicht ſagen; er wuͤrde mit ihr ſterben. Ach, die Liebe iſt was fuͤrchterliches, ſagte Philipp. Sie verzehrt die edelſten und beſten See - len. Unter hundert Juͤnglingen und Maͤdchen, welche ſterben, wuͤrde man immer, wenn man ihre Krankengeſchichten wuͤßte, zehen finden, die die Lie - be getoͤdtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe naͤher gebracht hat. Huͤt er ſich, mein lieber Xa -483 ver! ſo viel als moͤglich, vor dem Umgang mit Frauenzimmern! Man muß vorher Vorſicht ge - brauchen. Wenn man ſchon zu lieben anfaͤngt, dann iſt alle Flucht zu ſpaͤt. Huͤt er ſich, da er, nach ſeiner Beſtimmung, nie gluͤcklich lieben kann und darf!
Siegwart gieng auch wirklich deswegen weniger zu Gruͤnbach, weil Sophie allemal aufs Zimmer kam, wenn er da war. Doch glaubte er, hier, von ſeiner Seite ſicher genug zu ſeyn, denn er fuͤhlte keine Neigung zu dem Maͤdchen, ob er ſie gleich ihrer ſittſamen Beſcheidenheit, und ihrer tiefen, richtigen Empfindung wegen, ſehr hochſchaͤtzte. Die Einſamkeit, ſo ſehr er ſie auch liebte, war ihm doch zuweilen unertraͤglich, weil ſie ihn oft gar zu leb - haft und zu traurig an ſeinen Kronhelm erinner - te; und die Liebe zur Muſik, die er jetzt allein we - nig treiben konnte, rief ihn manchen Abend zu Gruͤn - bach. Sophie ſaß oft ganze Stunden lang in einem Winkel da, hoͤrte ihnen zu, und ward im Jnnerſten bewegt. Siegwart ſchrieb das der Muſik zu, was die Liebe bey ihr that. Doch war ſie dabey ſo aͤngſtlich und zuruͤckhaltend, daß ſie ihm nie einen deutlichen und redenden Beweis ihrer Liebe gab. Sie litt in der Stille, verzehrte ſich in ſich ſelbſt,484 und vertraute ihre Seufzer und Thraͤnen nur der Einſamkeit. Sie erlaubte ſich nur ſelten einen Blick auf Siegwart, und zog ihn gleich wieder erſchrocken zuruͤck, wenn er ſie anſah. Er ſelbſt war in der Liebe noch zu unerfahren, als daß ers haͤtte mer - ken ſollen. Wenn ſie am Klavier ſpielte und ſang, ſo bebte ihre Stimme, weil ſie ſich durch zu vielen Ausdruck zu verrathen fuͤrchtete. Zuweilen war ihr Ton ſo wehmuͤthig und ſchmelzend, daß Sieg - wart innigſt dadurch geruͤhrt wurde, und da glaubte ſie, er ſey gegen ſie nicht ganz gleichguͤltig; und dieß naͤhrte ihre Liebe.
Acht oder zehen Tage nach Kronhelms Abreiſe bekam Siegwart folgenden Brief von ihm:
Frag mich nicht, wie ich lebe? Dein eignes Herz muß Dir antworten: bang und elend. O Lieber! was iſt doch des Menſchen Leben? Schon ſo elend oft im Arm des Freundes! Was iſts ohne Freund? Wenn ich nicht eine Religion haͤtte, die mich dul - den lehrte, weil ſie dem Dulder Kronen zeigt, ſo ſucht’ ich einen Ausweg. — Dank Dir fuͤr Dei - nen lieben Vers, den ich hundertmal auf dem Weg hieher wiederholte:485
Jch wuͤrde hier in Jngolſtadt unzufrieden ſeyn, wenn ich auch ein geſunderes Herz mitgebracht haͤt - te. Die Lage des Orts iſt verdruͤßlich und ber - gicht. Jn der Stadt ſind lauter Miſthaufen. Wir ſind bisher immer in ſtinkende und ungeſunde Ne - bel eingehuͤllt geweſen. Man ſoll leicht Krankhei - ten davon kriegen. Das waͤre noch das beſte, wenn mich eine ſuchen, und es enden mit mir wollte! Aber man ſagt, der Tod ſey der Ungluͤckli - chen Freund nicht. Die Geſellſchaften unter den Studenten hier ſind ekel, elend und mehr als ein - ſchlaͤfernd. Die Leute koͤnnen kaum deutſch. Er - baͤrmliches Kuͤchenlatein wird uͤberall geſprochen. Laß dichs ja nicht merken, wenn Du hier biſt, daß Du deutſche Verſe, noch weniger von einem Pro - teſtanten leſeſt. Dieß waͤre ſchon genug, Dich laͤ - cherlich zu machen, und zum Ketzer. Jch waͤre bald um meine deutſche Buͤcher und um meinen Klopſtock gekommen. Ein Student, der mich be - ſuchte, ſah, daß vorn’ auf dem Titel: Halle ſtand. Das iſt ja wohl bey den Ketzern, ſagte er. Ja, antwortete ich, Halle iſt ein proteſtantiſcher Ort im Preuſſiſchen. — So laſſen Sie ja das Buch nicht486 oͤffentlich ſehen! ſagte er ganz aͤngſtlich; das wuͤrd Jhnen gleich weggenommen werden. Man iſt hier gar ſcharf. So, ſagte ich, denket man hier ſo? und ſchnitt das Titelblatt heraus; und ſo hab ichs auch mit meinen andern Buͤchern gemacht. Brauch dieſe Vorſicht auch, mein Lieber! — Du kannſt aus dieſem wenigenſehen, wies hier ausſieht? Beym alten und beym jungen Herrn von Jckſtatt hab ich Aufwartung gemacht; das ſind noch Leute, die bil - lig und vernuͤnftig denken. Aber der junge Herr hat auch auf einer reformirten Univerſitaͤt, ich denk, in Marpurg ſtudirt.
Wann nur Du hier waͤreſt, Lieber! dann waͤr mir jeder Ort noch ertraͤglich; aber ſo kann ichs kaum aushalten. Jch irre allein auf den Bergen herum, ſpreche mit mir ſelber laut, und wein’ um Thereſen und uͤber mein Schickſal. Was macht der Engel? Das wollt ich Dich zuerſt fragen. Jch hab ihren Namen in Buchen eingeſchnitten und in Felſen geritzt an der Donau. Schreib ihr, daß ich dulde, und getreu ſey! — Jch ſah den Himmel, der ihr Dorf umzieht, und weinte. Damals konnt ich beten; noch ſelten konnt ichs. — Mein Vater hat mir geſchrieben, und mir fuͤrchterlich gedroht. Jch lache ſeiner Drohungen. Mir kann nichts487 mehr ſchaden auf der Welt. — Vor zwey Tagen war ich etwas unpaß. Jch dachte, der Tod wuͤrde kommen, aber er wars nicht. Jch habe Thereſen geſehen im Traum, ſie hatte ein hellleuchtendes Ge - wand an, und lachte. So ſeh ich ſie nun immer vor mir. — OLieber! ich duld unausſprechlich viel; ſo allein, und ſo elend! komm doch bald! — Nicht wahr? Thereſe ſchreibt Dir nichts von mir? Warum thut ſies nicht? Bin ichs nicht werth? — O Gott, du weiſt, daß ichs bin. — Hier leg ich einen Brief bey, an den rechtſchaffnen P. Philipp. Gruͤnbach muſt Du gruͤſſen! Jch kann nicht ſchreiben. Jch bin nie ſo unthaͤtig geweſen. Zu nichts kann ich mich entſchlieſſen. — Thereſens Namen kritzl’ ich auf jedes Papier, in jeden Tiſch, und loͤſch ihn wie - der aus. Gruͤß den Engel tauſendmal, und ſchreib mir von ihm! Komm bald und hilf mir meine Lei - den tragen! Sie ſind ſchwer.
Siegwart antwortete ſeinem Freund ſogleich, und ſuchte ihn, ſo viel als moͤglich war, zu troͤſten. We - gen Thereſen ſchrieb er ihm wenig, und weiter nichts, als: ſie habe ſich nach ihm erkundigt, und488 ſcheine, nach Umſtaͤnden, ziemlich ruhig. Dieß ſchrieb er nur, um ſeinen Freund zu ſchonen. Aber im Grunde war Thereſe ſehr elend. Sie hatte ihm kuͤrzlich, in Abſicht auf Kronhelm, folgendes geſchrieben:
— Jch kann Jhn nicht vergeſſen. Tag und Nacht ſchwebt er mir vor Augen: Das Andenken an die ſeligſten von allen Tagen quaͤlt mich ganze Naͤchte durch, und raubt mir den Schlaf, die ein - zige Wohlthat, die der Leidende hienieden bat. Jch fuͤhls durch mein ganzes Weſen, daß nur Er, der Einzige, mich meiner Qual entreiſſen, und mich wieder gluͤcklich machen koͤnnte. Aber ich kann und will ihn nicht beſitzen! Jch wuͤrde ſeine Hand aus - ſchlagen, wenn er ſie mir heut anboͤte, denn er ſoll durch mich nicht auf ſein ganzes Leben ungluͤcklich werden. Jch weis, ſein Vater und ſeine Verwand - ten wuͤrden ihn durch Spott und Verachtung zu Tode quaͤlen. Jch waͤr eine Schlange an ſeinem Buſen, die er mit ſeinem eignen Leben naͤhrte. Schreib ihm, aber nicht gerade zu, daß er alle Hofnung aufgiebt! Jch will nie die Seinige wer - den! Er ſoll mich vergeſſen! Gott! wie iſt das Wort ſo hart! Aber ſchreib ihms doch! Vielleicht thut ers, und das wollt ich, denn es wuͤrd mich489 toͤdten… Unſer redlicher Vater leidet mit mir, und zehrt ſich ab. Das iſt mein groͤſter Schmerz. — Jch verberg ihm meine Qual, ſo viel ich kann; Schlieſſe ſie in meinen Buſen ein, und ich fuͤhls, daß ſie ſchon mein Herz angefreſſen hat. Es wird bald brechen. Wuͤnſch mir Gluͤck dazu, Bruder! Es iſt Wohlthat. — Jch leid’ jetzt doppelt. Jn - nerlich tobt verzehrende Glut, und auſſen kalte, ſpoͤttiſche Verhoͤhnung. Salome iſt hier, und bringt unſre Schwaͤgerin, die wieder aus dem Wochenbett aufgeſtanden iſt, taͤglich ins Haus. Da hoͤr ich nichts als Spoͤttereyen und muß dazu ſchweigen. Das kraͤnkt mehr als alles! Und doch unterſtuͤtzt mich Gott! Jch hab oft heitre Stunden, kann ſogar zuweilen hoffen, aber freylich nur wie Abadonna, auf Begnadi - gung. Klopſtock iſt auch ein Freund der Leiden - den; er erquickt mich oft. Nun kann ich ihn erſt ganz ſchaͤtzen. Denn im Leiden ſieht man, was ein Freund iſt; und das iſt er uͤber alle Maaßen, Gott und Er! — Auch Hauptmann Northern bedauert mich, und der alte Pfarrer. Northern meynt, Kronhelm ſoll in ſeines Koͤnigs Dienſte treten, und mich mitnehmen. Er will ihn em -J i490pfehlen. Aber ich wills nicht, obs gleich Troſt waͤre. Kronhelm ſoll ganz gluͤcklich werden! Mit mir kann ers nicht. Jch beſchwoͤre dich bey allen Heiligen, Bruder! ſag ihm nicht ein Wort davon! Gruͤß ihn nicht von mir! Er wuͤrde hoffen, und betrogene Hoffnung toͤdtet. Leb wohl, theurer Bruder! Bitt fuͤr mich um Geduld und Erloͤ - ſung!
Siegwart folgte dem Rath ſeiner Schweſter, und ſchrieb ſeinem Freund nur einzelne Worte von Thereſen. Kronhelm haͤrmte ſich daruͤber ſehr ab, und ſein innrer Gram nahm immer zu.
Der alte Gruͤnbach hatte dieſes Fruͤhjahr einen Garten gekauft, in dem ſein Sohn und Siegwart ſich ſehr viel aufhielten. Sie ſpielten nun auch die Floͤte, und brachten damit manchen ſchoͤnen Fruͤh - lingsabend hin. Sophie nahm ihre Arbeit mit hinaus, ſaß bey ihnen im Gruͤnen, hoͤrte ihrer Muſik zu, und ſang zuweilen eine Arie. Oft blieben ſie des Abends noch da; ſpielten im Mond - ſchein; die Nachtigall ſang dazwiſchen; und Sophie weinte. Oft lud ſie auch die ſtille Nacht zu ver - traulichen und halb melancholiſchen Geſpraͤchen ein. Sie unterhielten ſich ſehr oft von Kronhelm. So - phie hatte ſeine tiefe Traurigkeit vom erſten Augen -491 blick an bemerkt, und ſogleich die Urſache davon er - rathen. Denn die Liebe macht ſcharfſichtig; und Liebende erkennen ſich, ſo wie edle Seelen, meh - rentheils beym erſten Anblick. Sie fuͤhlte tiefes, inniges Mitleid mit ihm; dieſes lehrt die Liebe.
Kronhelm muß recht ungluͤcklich ſeyn, fieng der junge Gruͤnbach einmal an; ſeine Briefe ſind ſo duͤſter. Jch moͤchte wohl wiſſen, was ihm fehlt? — Siegwart war auſſerordentlich gewiſſenhaft in der Freundſchaft. Er glaubte ſeinen Freund zu beleidigen, wenn er eine Sache, um die er gefragt wuͤrde, verſchwiege, oder ſie nicht zu wiſſen, vorgaͤ - be. Dieß machte ihn, ſobald er mit einem Freund allein war, ſehr offenherzig; wozu noch ſeine edle Denkungsart kam, die ihn von den meiſten gut den - ken, und faſt jeden nach ſich beurtheilen lehrte. Er war alſo auch dießmal auf Gruͤnbachs Frage ziem - lich offenherzig, und ſagte: Jch fuͤrchte, daß der ar - me Kronhelm ungluͤcklich liebt; er ließ mich eini - gemal etwas davon merken. — Dann bedaur ich ihn von Herzen, ſagte Sophie, und ſuchte bey die - ſen Worten einen Seufzer zu unterdruͤcken. — Weichherziges Geſchoͤpf! ſagte Gruͤnbach.
Siegwart. Wie, Bruder? — Das iſt doch kein Tadel?
492Gruͤnbach. Tadel nicht. Aber es ſteht doch auch nicht fein, gleich ſo weinerlich zu thun. — Freylich, Maͤdchen muß man das verzeihen. —
Siegwart. Ja, wenn Mitleid Fehler iſt. Aber ich halts fuͤr einen Vorzug des weiblichen Ge - ſchlechts. Wir thun oft ſo hart und rauh; und doch wuͤrden wirs einem Freund uͤbel auslegen, der nicht Antheil dran naͤhme, wenn uns ein Ungluͤck, oder eine Krankheit zuſtoͤßt.
Sophie. Jch will mich meines Mitleids eben nicht ruͤhmen, denn man iſt immer etwas eigen - nuͤtzig dabey, weil man ſelbſt Vergnuͤgen daruͤber fuͤhlt, und ſich beym Mitleid wohlgefaͤllt; aber ich halte dieſes Gefuͤhl fuͤr eine Wohlthat Gottes; und einen ungluͤcklich Liebenden zu bedauren, halt ich fuͤr die erſte Pflicht, weil ſein Leiden wirklich groß ſeyn muß.
Siegwart. Ja, gewiß groß, Jungfer Sophie! Jch habs bey meinem Freund erfahren. — Ach, wenn er ſo des Abends bey mir ſaß im Mondſchein, oder in der Daͤmmerung; mir meine Hand druͤck - te, und dann ſchwer aufſeufzte, da fuͤhlt ichs ganz, welche Qual in ihm toben mußte.
493Gruͤnbach. Ja das ſind ſo Empfindungen, die man zuweilen hat; aber Kronhelm ſollte ſelbſt mehr Mann ſeyn.
Siegwart. Mann ſeyn? Haͤltſt du Liebe gar fuͤr eine Schwachheit? Jch liebe ſelbſt nicht, Gruͤn - bach! Wuͤnſch auch nie zu lieben; aber das weis ich, daß die edelſten und groͤßten Menſchen auch geliebt haben.
Gruͤnbach. Geliebt; das will ich nicht leugnen. Nur nicht klagen ſoll man, wenns nicht gehen will!
Siegwart. Als ob man nicht ſchon uͤber koͤrperli - che Leiden klagte! Und Seelenleiden ſind doch wohl noch groͤſſer. Ein vollkommenes Geſchoͤpf zu ſehen, deſſen man ſich werth fuͤhlt, und von ihm verkannt, oder misverſtanden zu werden, das muß ſchmerzen. Und noch groͤſſer muß der Schmerz ſeyn, wenn man gekannt, verſtanden und geliebt wird; wenn man fuͤhlt, daß man im Beſitz dieſes Geſchoͤpfes das ſeligſte Leben koſten koͤnnte, und nun macht uns Vorurtheil, oder unnatuͤrliches Verhaͤltniß in der Welt, oder Eigenſinn der Eltern und Verwandten den Beſitz dieſer Seligkeit unmoͤglich. Jſt es da noch Schwachheit, wenn man leidet; ſeine Leiden nicht ganz verbergen kann, und zuweilen in unge - duldige Klagen ausbricht? Kronhelm hat ſonſt ge -494 wiß maͤnnliches genug! Aber ich glaube, je zarter und richtiger und tiefer einer fuͤhlt, und je mehr er ſeinen eignen Werth kennt, deſto mehr muß ihn un - gluͤckliche, verſchmaͤhte, oder durch Lumpenumſtaͤnde zernichtete Liebe kraͤnken. — Nein! ich bedaure meinen Freund im Jnnerſten der Seele, und ſchaͤtz ihn nur noch hoͤher, ſeit ich geſehen habe, wie er mit ſich ſelbſt ringt, und doch ſeinen Schmerz ſo bekaͤmpft, daß er niemals ganz verzagt.
Sophie. Hat denn der Herr von Kronhelm gar keine Hofnung, daß er in ſeiner Liebe jemals gluͤcklich werden wird?
Siegwart. Wenig, oder keine, Jungfer Sophie!
Sophie. Das iſt traurig! Wenn ich an ſeiner Stelle waͤr, ich gieng ins Kloſter. Ueberhaupt halt ich viel vom Kloſterleben. Man kann da all ſein Leid in der Stille ſo verſeufzen, und wird von Men - ſchen nicht geſtoͤrt. Die Einſamkeit iſt des Men - ſchen beſte Freundin, und die wohnt im Kloſter.
Siegwart. O, da haben Sie vollkommen recht, Jungfer Sophie. Ja, das Kloſterleben geht vor allem andern. Jch weis, wie es da ſo gut iſt, und kanns kaum erwarten, bis ich da bin. —
Jndem ſetzte ſich eine Nachtigall nahe bey ihnen auf einen bluͤhenden Apfelbaum, und fieng an, aus495 voller Kraft zu ſchlagen. Auf Einmal ſchwiegen die jungen Leute, horchten zu, ſahn einander oft mit Verwunderung an, und nickten ſich laͤchelnd zu, wenn die Saͤngerin mit ihren Toͤnen auf den hoͤch - ſten Gipfel ſtieg, dann wieder langſam und weh - klagend ihren Ton herabſenkte. Oft druͤckte ſie die ganze Sehnſucht und das Schmachten aus, mit dem Sophiens Seele an Siegwarts ſeiner hieng. Das arme Maͤdchen mußte weggehn, und weinen, Sie gieng einen Heckengang hinauf, und blieb alle Augenblicke ſtehen. Siegwart kam durch einen an - dern Weg, oben in den Gang herunter. Er ſtand auch ſtill, und hoͤrte den Geſang der Nachtigall, die nun nahe bey ihm auf den Zweigen ſaß. Dann gieng er allmaͤhlig auf Sophien zu, nahm ſie in der Entzuͤckung bey der Hand. Ach, Sophie, ſagte er, das iſt himmliſch! Sie ſind auch bewegt. Es geht ihnen wohl wie mir; ich denk immer an ei - nen ſolchen Abend, wenn die Nachtigall ſo ſingt, und die Sterne hell blinken, an Perſonen, die ich liebe, oder an Verſtorbne. Ach das Bild mei - ner Mutter ſchwebt halbſichtbar um mich her, und ich preiſe ſie ſelig, daß ſie ſchon bey Gott iſt. — Auch ich, ſagte Sophie, denk an See - len, die ich liebe. Verzeihn ſie, daß ich ſo bewegt496 bin! Ach, ich hatt einſt eine Schweſter, die iſt nun bey Gott. Die war mein Alles, meine innigſte, vertrauteſte Freundin. Sie ſtarb in meinem Arm; ach, wenn ich nur ſchon bey ihr waͤre! Sie iſt gluͤcklich, uͤber alles gluͤcklich! Und auf Erden kann mans nicht ſeyn. — Hier ſah ſie unſern Siegwart mit einer Wehmuth an, die ihm durchs Herz drang. Wir werdens auch einſt; ſagte er; druͤckte ihr, ohne daß ers wußte, die Hand, und wiſchte ſich die Augen. Sophie blickte auf die Seite, und Thraͤnen fielen aufs junge Gras.
Seit dieſem Abend ward Sophie immer duͤſtrer und ſchwermuͤthiger. Die Worte Siegwarts: Jch liebe ſelbſt nicht; wuͤnſch auch nie zu lieben waren wie ein Dolch in ihre Seele gedrungen. Sie hatt’ es bisher nur halb geglaubt, daß er in ein Kloſter gehen wolle; nun hatte ſie’s aus ſeinem eignen Mun - de gehoͤrt. — Alle Hofnung war nunmehr fuͤr ſie verſchwunden; ſie gab ſie ſelbſt auf, und nahm ſich ſehr in Acht, ihn zu ſehen. Ganze Tage lang war ſie auf ihrem Zimmer eingeſchloſſen, ſeufzte, betete, ſtickte traurige Geſchichten auf die Leinwand, oder verlohr ſich in wehmuͤthigen und ſchwaͤrmeriſchen Phantaſien am Klavier. Oft ſchrieb ſie auf ein Papier, das ſie ſorgfaͤltig verſchloß. Alle Morgen497 gieng ſie ins Frauenkloſter in die Fruͤhmeſſe, und naͤhrte da ihre Phantaſie, bey der feyerlichen Mu - ſik, die die Nonnen machten, mit Bildern von uͤber - irrdiſcher Liebe und himmliſcher Seelenfreundſchaft. Seit ſie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloſter gehen wuͤrde, war es auch bey ihr feſtgeſetzt, ſich einkleiden zu laſſen. Der Gedanke hatte tauſend Reiz fuͤr ſie, ſich eben ſo wie der, den ihre Seele liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben ſo, wie er, in der Stille, und von der Welt abgeſondert, ſich mit dem Heiland zu vermaͤhlen; und einſt als eine keuſche Braut dem, den ſie hier umſonſt liebte, als ihrem Braͤutigam entgegen zu gehen. Sie er - hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das Leſen einiger myſtiſchen und andaͤchtigſchwaͤrmeri - ſchen Buͤcher. Jhr Herz ward mit einer anſchei - nenden Verachtung der Welt erfuͤllt, die an ſich mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be - trogner Hofnung herruͤhrte. Wenn ſie Siegwart Einmal wieder ſah, ſo war ihre Seele wieder ganz aus ihrer Faſſung gebracht; die Welt zog ſie wieder an ſich, und ſie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei - tende Phantaſie ſie aufs neu in den taͤuſchenden Schlummer wiegte. Oft glaubte ſie, ganz ruhig und ganz gluͤcklich zu ſeyn; aber der innre Gram ver -498 ſchmaͤhter Liebe nagte unſichtbar an ihrem Leben; ihre Kraͤfte verzehrten ſich allmaͤhlig: ihre Wangen bleichten ab; ihre Augen verlohren das lebhafte Feuer, und die zarte Pflanze welkte hin. Jhr Va - ter und ihre Mutter merkten endlich die Veraͤnde - rung, und wurden ſehr bekuͤmmert druͤber. Sie drangen oft mit Bitten in ſie, ihnen die Urſache ihres Kummers zu entdecken, aber Sophie ant - wortete nur mit Thraͤnen, gab die Urſach ihrer Krankheit fuͤr eine natuͤrliche Auszehrung aus, und entdeckte ihren Eltern den Wunſch, den Reſt ih - res Lebens im Kloſter zubringen zu koͤnnen. Die Eltern wollten lange nicht daran, weil dadurch alle die ſchoͤnen Hofnungen vereitelt wurden, die ſie ſich einſt von ihrer Tochter verſprachen, aber endlich gaben ſie nach, weil ihr Beichtvater, dem Sophie ihren Wunſch anvertraut hatte, auch ſehr daran ar - beitete, und es ihnen zur Gewiſſensſache machte, wenn ſie ihre Tochter von einem ſo heilſamen Ent - ſchluß abhielten, und Gott und dem Himmel eine Seele zu ſtehlen ſuchten. Sophie erhielt endlich die Erlaubnis von ihren Eltern, auf Michaelis das Noviziat bey den Nonnen anzutreten.
Siegwart erzaͤhlte das alles ſeinem P. Phi - lipp, der ſogleich die Urſache von Sophiens trau -499 rigem Zuſtand errieth. Er ſuchte daher Xavern ſo viel als moͤglich abzuhalten, daß er nicht viel in Gruͤnbachs Haus oder Garten gieng, weil er ver - muthete, Sophie wuͤrde mehr leiden, je oͤfter ſie ihn ſaͤhe. Daher lud er den jungen Gruͤnbach oͤf - ters zu ſich, oder gieng mit den beyden Juͤnglingen ſpatzieren, und machte Anſtalt, daß der junge Pa - ter oft im Kloſter ein Konzert anſtellte, damit ſie doch die Muſik forttreiben koͤnnten. — Um dieſe Zeit ſtarb P. Johann ploͤtzlich. Man traf ihn Mor - gens mit gefalteten Haͤnden in ſeinem Bette todt an. Der gute Mann ward allgemein bedauert; am mei - ſten aber von P. Philipp und von Siegwart. Bey - de giengen mit ſeiner Leiche auf den Kirchhof, ſahn den Redlichen in die Ruheſtaͤtte legen, und ſegne - ten ſein Andenken mit tauſend Thraͤnen. P. Hya - cinth ward nun an ſeine Stelle zum Lehrer der The - ologie ernannt, und nun ſah Siegwart den Unter - ſchied erſt recht zwiſchen einem redlichen Mann, der die Lehren der Religion aus Ueberzeugung und mit Waͤrme, weil er ihre Kraft ſelbſt ſo oft an ſich gefuͤhlt hat, andern vortraͤgt; und zwiſchen einem Eiferer, der den Religionsunterricht als Handwerk anſieht, und ſein Gedaͤchtnis blos mit Worten oh - ne Saft und Kraft, und mit der Geſchichte von500 nichtswuͤrdigen Streitigkeiten und Zaͤnkereyen an - gefuͤllt hat. Dieſer trockne und muͤrriſche Mann entleidete unſerm Siegwart, der nur Leben und Waͤrme, beſonders in der Religion ſuchte, den Auf - enthalt auf dem Kloſter ziemlich. Er ſehnte ſich nach ſeinem lieben Kronhelm, der ihm viele, aber immer die klaͤglichſten und ſchwermuͤthigſten Brie - fe ſchrieb, und ihn aufs herzlichſte bat, ja recht bald nach Jngolſtadt zu kommen!
Thereſe ſchrieb ihm auch noch immer traurig, aber doch gelaſſen. Jhr Schmerz daurte zwar be - ſtaͤndig fort, aber ſie gewoͤhnte ſich nach und nach daran, und klagte weniger. Ungefaͤhr in der Mit - te des Sommers ließ ſie ihren Bruder einmal drey Wochen lang auf Briefe warten. Er ward ver - druͤßlich druͤber, und konnte ſich die Urſache ihres Schweigens nicht erklaͤren. Als er an einem Sonnabend wieder einmal vergeblich gewartet hat - te, ſo ſchlug ihm P. Philipp auf den Nachmittag einen Spatziergang vor. Sie giengen zwiſchen den Kornfeldern hin, und ein Bettelbube bat ſie wei - nend um ein Allmoſen. Ach, liebe geiſtliche Herren, ſagt’ er, mir iſt ſo gar uͤbel g’fehlt! Vor drey Ta - gen iſt mein Vater g’ſtorben, und nun hab ich kei - nen Menſchen auf der Welt mehr. Siegwart griff501 hurtig in die Taſchen, gab ihm reichlich, und ſag - te dann zu P. Philipp: Lieber Gott! was iſt das traurig, wenn man ſich an gar keinen Menſchen auf der Welt halten kann!
P. Philipp. Ja wohl hat man Gott zu danken, wenn man ſeine Eltern und Verwandte hat; man kann nie genug thun, um ihnen das Leben ange - nehm zu machen und ſie nicht zu kraͤnken.
Siegwart. Das hab ich auch immer bey mei - nem Vater gedacht. Ach, ich wuͤſte nicht, was ich anfangen ſollte, wenn er ſtuͤrbe.
P. Philipp. Und doch muͤſt Er Gott danken, daß er ihn Jhm ſo lang erhalten hat. Er hat doch ſeine Erziehung ganz genoſſen, und kann ſich ſchon eher ſich ſelbſt auf der Welt fort bringen.
Siegwart. Das wohl, Gottlob! Aber es waͤr doch fuͤr mich das groͤſte Ungluͤck!
P. Philipp. Und doch muß Ers mit Gelaſſen - heit annehmen, die Nachricht moͤchte heut oder morgen kommen. Sein Herr Vater kann doch nicht ſo jung mehr ſeyn?
Siegwart. Neun und funfzig, glaub ich, wird er auf den Herbſt alt werden.
P. Philipp. Sieht Er, das iſt doch ſchon ein Al - ter, bey dem man ein bischen Sorge haben kann. 502Mach Er ſich auf alle Faͤlle gefaßt! Es koͤnnte bald eine ſchlimme Nachricht einlaufen.
Siegwart. (Sah den Pater aͤngſtlich an) Herr Profeſſor … ich fuͤrchte …
P. Philipp. Ach, mein lieber Siegwart! Es thut mir leid .. aber ich muß ihms ſagen …
Siegwart. Was! Jſt er todt? Gott im Himmel! —
P. Philipp. Todt nicht, mein Lieber! Aber …
Siegwart. Aber krank! … Ja, ſagen Sies nur! Jch ſehs Jhnen an.
P. Philipp. Nur gelaſſen! Und bedenk Er, daß Er ein Chriſt iſt! Jch hab wuͤrklich heute Nach - richt bekommen, daß ſein Vater gar nicht wohl iſt.
Siegwart. Lieber, lieber Gott! — Ach das iſt ja ſchroͤcklich! Wie wird mirs gehn?
P. Philipp. Jch hab ihn ſchon gebeten, etwas gelaſſener zu ſeyn. Vielleicht iſt noch Hofnung da.
Siegwart. Ja damit wirds wohl vorbey ſeyn!
P. Philipp. Das weiß er ja noch nicht. Er weiß noch keine Umſtaͤnde. Wenn er ſich erſt etwas ge - ſaßt hat, ſo will ich ihm einen Brief geben.
Siegwart. O ich bin ſchon gefaßt! Lieber Herr Pater! Geben Sie mir nur den Brief her!
503P. Philipp. Er iſt ſchon gefaßt? — Hoͤr er mich erſt an! Seine Schweſter hat mir geſchrieben, und mich himmelhoch gebeten, ihm erſt Muth ein - zuſprechen. Jch glaub, er iſt nun vorbereitet. Sieht er, ſein Vater iſt ſchnell krank geworden; es ſieht mislich mit ihm aus; aber man kann noch nichts gewiſſes wiſſen; der Arzt iſt erſt aus der Stadt ge - holt worden. Halt Er ſich an Gott; es mag gehen, wie es will! Bedenk er, daß es Gott noch nie boͤs mit ihm gemeynt hat! — Da kann er nun den Brief ſelber leſen.
Siegwart las ein kleines Briefchen von There - ſen hurtig und zitternd durch; die Thraͤnen ſtuͤrzten ihm aus den Augen; er ſteckte es ſchweigend ein. — Das iſt fuͤrchterlich! ſagte er nach einer langen Pau - ſe; Gott ſteh mir bey, und helf mirs tragen! Jch hab mir tauſendmal gewuͤnſcht, eher zu ſterben, als mein Vater, um den Schmerz nicht zu erleben; und nun kommts doch —
P. Philipp. Seiner Zaͤrtlichkeit und kindlichen Liebe macht das ſehr viel Ehre, mein lieber, bra - ver Xaver! Aber denk er nur, wenn all unſre Wuͤnſche erſuͤllt wuͤrden, zumal ſolche …
Siegwart. Jſt der Wunſch etwa ungerecht? —
504P. Philipp. Mir deuchts ſo. Wenn alle Soͤh - ne vor den Vaͤtern ſtuͤrben, wo kaͤm eine Nachwelt her? Der Menſch muß ſich in einer Welt, die der Veraͤnderung ſo unterworfen iſt, im Voraus und in frohen Tagen auf alles Widrige gefaßt machen. Jch fuͤrchte, daß ihm bey ſeinem gefuͤhlvollen Her - zen noch groͤſſere Pruͤfungen und Leiden bevor - ſtehen.
Siegwart. Groͤßre Leiden kanns nicht geben, wie dieſes iſt! …
P. Philipp. So muß er jezt auch denken. Aber alles kommt auf die Lage an, in der uns ein Lei - den trift; je, nachdem wir geſtimmt ſind; nach - dem’s eine Saite unſers Herzens trift. Jch tadl’ ihn gar nicht, daß er jezt ſo niedergeſchlagen iſt. Der Tod ſeines Vaters bleibt fuͤr ihn immer ein Ungluͤck.
Siegwart. Ja wohl! und das groͤſte, denk ich! — Groſſer Gott! Einen ſolchen Vater zu verlieren! … Und wenns auch moͤglich waͤr, mich dabey zu vergeſſen, wie wirds meiner Schweſter, meiner armen Schweſter gehen? (Hier weinte er heftiger.)
P. Philipp (weinte auch mit) Seiner Schwe - ſter … Auch dieſer wird Gott ſich erbarmen;505 Wird fuͤr ſie auch Troſt haben. Wir wollen fuͤr ſie beten… Ach, ich weis, wies mir gieng! Jch war in Freyburg, als mein Vater ſtarb; wir waren ſieben Waiſen. — Aber Gott hat keins von uns verlaſſen; keins! und mich am wenigſten… Faß er ſich, mein lieber Siegwart! Vielleicht hilft Gott noch… Hoff ers zu dem Vater aller Waiſen! —
Sie kehrten nun wieder nach der Stadt zuruͤck. Siegwart ſprach wenig, und ſchluchzte nur zuweilen. Der Betteljunge ſtand wieder am Wege. Da haſt du noch was, ſagte Siegwart, und gab ihm einen Sechsbaͤtzner. Jn der Stadt lief er ſogleich zum Arzt, um ſich nach ſeines Vaters Umſtaͤnden zu er - kundigen. Der Arzt zuckte die Achſeln. Es iſt ſo ſo, ſagte er. Jch ward aus dem Haus ihres Vaters auf ein andres Dorf geholt zu einem Predi - ger, und konnte die Kriſin nicht abwarten. Wir muͤſſen ſehen. Uebermorgen komm ich wieder hin - aus. O lieber Herr Doktor, ſagte Siegwart, Mor - gen! Jch bitte Sie bey allem, was heilig iſt, reiten Sie doch Morgen hinaus! Thun Sie, was