PRIMS Full-text transcription (HTML)
Siegwart. Eine Kloſtergeſchichte.
Zweyter Theil.
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Leipzigin der Weygandſchen Buchhandlung. 1776.
[427]

Kronhelm war lange, wie betaͤubt; Er ſah aus dem Kutſchenſchlag hinaus, und doch ſah er nichts, und fuͤhlte nichts von dem Reiz der Ge - gend, uͤber der ſich nach und nach der Himmel aufklaͤrte, und die, vom Regen erquickt, nun in hellerm Gruͤn prangte, und den ſuͤſſen Duft der Pflanzen und der Blumen rings umher ver - breitete; Siegwart war auch traurig, und wollte ſeinen Freund nicht ſtoͤren. Endlich fieng dieſer ſelbſt zu ſprechen an, und gieng die ſchoͤnen Ta - ge wieder durch, die ſie mit einander durchlebt hatten. Deine Schweſter, ſagte er, uͤbertrifft doch alle Maͤdchen, die ich noch geſehen habe! Wenn ſie mir nur fleiſſig ſchreibt! Sonſt wird mir der Aufenthalt in der Stadt unertraͤglich werden. Sie ſtiegen wieder in dem Dorf, und vor dem Wirthshaus ab, wo ſie neulich geweſen waren. Ein Werber ſaß drinn, der eben einen Bauerkerl angeworben hatte. Dieſer machte groſſen Lerm, und war betrunken; ſchimpfte auf ſeine Mutter, die ihm ſein Maͤdchen nicht habe laſſen wollen; dann trank er auf die Geſundheit428 des Kayſers, der Kayſerin und ſeiner Kathrine, und ſchmiß das Glas beym Fenſter hinaus. End - lich kam ſeine Mutter mit groſſem Geſchrey: Hanns, iſts wahr, daß du Soldat worden biſt? Du Teufelskind, was haſt du jetzt getrieben? Wer hat dir den verfluchten Einfall eingegeben?

Hanns. Du ſelbſt, Mutter! haͤtteſt mir nur meine Dirne laſſen duͤrfen! Jch hab dirs immer geſagt. Nun iſts zu ſpaͤt. Vivat der Kayſer und die Kayſerin! Da trink auch mit!

Mutter. Geh mir weg mit dem Glas! Mir thuts Noth, zu trinken! Du gottloſer Bub! Laͤßt mich nun allein ſitzen und ſcharren. Wer ſoll nun ’s Feld bauen, und mich ernaͤhren hel - fen? Gelt! nun ſoll ich verderben und Hunger leiden? O, ich elendes, g’ſchlagnes Weib!

Hanns. ’s Jammern hilft nun nichts mehr, Mutter! Jch hab dir’s vorher geſagt; Aber wollteſt immer nichts hoͤren, wenn ich von Kathrinen anfieng! Da hatteſt du den Kopf drauf geſetzt, und lachteſt mich nur aus, wenn ich vom Soldatenleben ſprach! Gelt, nun bin ichs?

Mutter. Nun, ſo komm nur, Hanns! Sollſt ſie ja haben, wenns nicht anders ſeyn kann? Komm nur mit mir heim!

429

Hanns. Ja, wenns der Herr haben woll - te, bin ichs ſchon zufrieden.

Werber. Ey, das bitt ich mir aus! Du muſt da bleiben, Hanns, haͤtteſt du das ein paar Stunden eher bedacht! Jetzt gehts nicht mehr an.

Mutter. Was? Jhr wollt mir meinen Sohn nicht laſſen? Jſt das auch erlaubt? Er muß mirs Feld bauen! Jch bin ein armes Weib!

Werber. Ja, das geht mich nichts an. Er iſt ſelbſt zu mir gekommen, und muß mit mir fort.

Mutter. Jch will ihm ja ſeine Kathrine laſſen! Er ſoll ſie noch heut haben! Komm nur!

Werber. Fort! oder ich will euch was anders ſagen! Er ſoll mit in Krieg!

Mutter. Jn den Krieg, wo man d Leute todt ſchlaͤgt? Nein, das thu ich nicht! Es iſt mein einziger Sohn. Hab ſonſt keinen Men - ſchen auf der Welt!

Hanns. Laß ſeyn, Mutter! ’s hilft nichts. Jch muß halt ſchon mit fort!

Mutter. Nein, du ſollſt nicht! ſag ich. Jch will dich loskaufen. Was muß ich fuͤr ihn geben?

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Werber. Hundert Thaler, und ’n andern Kerl dazu, von ſeiner Groͤſſe!

Mutter. Hundert Thaler? Lieber Gott! hab keine hundert Kreuzer! wenn ich auch mein Aeckerlein verkaufen wollte, wuͤrd ich doch keine 70 Gulden draus loͤſen. Ach lieber Herr Feld - waibel! hab er doch Mitleiden mit einer armen Frau! Jch will ja gerne hundert Roſenkraͤnze fuͤr ihn beten.

Werber. Was hilft mir das? Und, wenn ihr zweyhundert fuͤr mich betet! Wir muͤſſen Leut haben, und da iſt uns euer Sohn eben recht. Er gibt ’n guten Fluͤgelmann.

Mutter. Ach du lieber himmliſcher Vater! Jſt denn gar keine Barmherzigkeit mehr auf der Welt? Hanns, Hanns! das wird mich noch vor der Zeit ins Grab bringen.

[Hanns]. Nun, Mutter, mach mir ’s Herz nicht weich! Ein Soldat muß Kourage ha - ben! ’s thut mir leid; aber du haſts nicht anders haben wollen. Gruͤß mir Kathrinen! Jch werd ſie doch nicht mehr ſehen. Das arme Ding wird ſich wol zu todt heulen. Aber ohne ſie haͤtt ich doch nicht im Dorf leben koͤnnen. Jetzt iſts beſſer, ’n Kugel vor den Kopf! So gehts,431 wenn ihr Leut alles beſſer wiſſen wollt! Da haſt zwoͤlf Gulden von meinem Handgeld. Ver - brauchs g’ſund!

Jndem kam Kathrine mit Heulen und Schreyen in die Stube, und fiel ihrem Hanns um den Hals. Hanns! Gelt, ’s iſt nicht wahr? Wirſt nicht Soldat? Kannſt mich nicht verlaſſen? Was? haſt ’n Federbuſch ſchon aufm Hut? Geh! wirf ihn zum Teufel! Du biſt mein, und ſollſt mein bleiben! Lieber Hanns! ſieh mich doch an! Gelt du bleibſt hier?

Hanns. Ja, Kathrine, ich wollts gern! Aber ’s geht nun nicht mehr an.

Kathrine. Was ſagſt? ’s geh nun nicht mehr an? Nun, ſo geh ich mit dir, wo du hin gehſt! Ohne dich kann ich nicht ſeyn! Wir wollen uns mit einander todt ſchieſſen laſſen.

Werber. Das geht auch nicht an. Jhr muͤßt hier bleiben! Macht nur bald ein End! Wir muͤſſen weiter; muͤſſen dieſen Morgen noch nach Guͤntzburg!

Kathrine. So? Jhr wollt mich nicht mit - nehmen? Wollt mir meinen Hanns nicht laſ - ſen? Jch kann auch Soldat werden! kann auch ’n Flint tragen, und mich todt ſchlagen laſſen! Jch432 muß mit! Oder ich kratz dir die Augen aus, du alter, ſchwarzer Kerl!

Kronhelm (gieng zum Werber, und ſagte) O, ich bitte Sie, Herr Sergeant! Seyn Sie doch auch menſchlich! Laſſen Sie das arme Maͤd - chen mit!

Werber. Ja, Herr! ich wollt ſchon; aber was hilfts? Wenn wir zum Hauptmann kommen, ſo laͤßt er ſie wieder fortjagen. Wir koͤnnen im Feld nicht ſo viel Bagage brauchen. Unſer Haupt - mann iſt gar ſtreng.

Kathrine. Sey ers auch! Er wird doch ein Menſch ſeyn! Und wenn er auch ein Tyger waͤr, ich wollt ihm ’s Herz weich machen.

Werber. Nun, meintwegen wohl! Bis nach Guͤntzburg koͤnnt ihr ſchon mitlaufen. Moͤgt dann ſehn, wies weiter geht!

Kathrine. Ja, ja! Das will ich ſchon ſehn! O, Hanns! Nun iſt mir wieder wohl. Hoͤr! nun will ich g’ſchwind zu meinem Bauren, und mir meinen Lohn geben laſſen, und mein Biſ - ſel Sach einpacken! (Sie gieng weg.)

Werber. (ihr nachrufend) Macht nur kurz! Jn einer Viertelſtunde muͤßt ihr wieder da ſeyn! 433Wir muͤſſen fort! Der Hauptmann wird ihrs ſchon ſagen!

Kronhelm. Jch kenn Jhren Hauptmann auch, und komm noch heut nach Guͤntzburg; da will ich gleich mit ihm reden.

Werber. Ja, wenn Sie ein Vorwort ein - legen, dann kanns gehen, aber ſonſt nicht!

Hanns (zu Kronhelm) O Herr, vergeſſen Sies ja nicht, und gehn Sie heut zum Haupt - mann! Sie ſind auch gar zu brav! Heh, Mutter! ’s Weinen hilft nun nichts. Bet fleiſ - ſig fuͤr mich! Vielleicht komm ich doch einmal wieder! Jch hab nur auf 5 Jahr akkordirt.

Mutter. Ja, da werd ich wol im Grab ſeyn! Das Herzeleid haͤtteſt mir nicht anthun ſollen, Hanns! Gott verzeih dirs! Wenn das dein Vater dacht haͤtt! Jch war auch ver - blendet, daß ich dir das Maͤdel mit Gewalt nicht laſſen wollt; aber ich dacht eben nicht, daß du gleich ſo oben ’naus ſeyn wuͤrdeſt. Jch hab ſchon viel Kreutz g’habt, aber das iſt ’s groͤßt, das ich wol nicht uͤberleben werd. Haͤtteſt ſo ruhig in unſerm Huͤttlein leben koͤnnen! Nun muß ich allein drinn ſchmachten! O Hanns, Hanns! Wenn ihr Leute daͤchtet, was ihr euren Eltern434 fuͤr Kummer macht! ’s iſt ein Elend, eine Mut - ter zu ſeyn!

Sie jammerte noch immer ſo fort; Endlich kam Kathrine mit einem Buͤndel Kleider. Der Werber fuͤhrte Hanns bald darauf fort, weil er fuͤrchtete, die Bauren moͤchten zuſammen laufen; die Mutter hieng ſich ihrem Sohn an den Hals, und wollte ihn nicht loslaſſen. Endlich mußte ſie; heulte jaͤmmerlich, und ſchlug die Haͤnd uͤber dem Kopf zuſammen. Sie wollte noch mit vors Dorf hinaus, aber der Werber, der den Laͤrm fuͤrchtete, gab es nicht zu. Kronhelm verſprach es Hanns noch einmal, beym Hauptmann fuͤr ihn und ſeine Kathrine zu ſprechen.

Nach einer halben Stunde fuhren Kronhelm und Siegwart auch wieder weiter. Sie ſpra - chen viel uͤber den Rekruten, und ſeine Mutter. Das muß ein ſchreckliches Leben fuͤr die beyden ſeyn, ſagte Kronhelm, wenn ſie getrennt waͤren, und das Maͤdchen keinen Augenblick wuͤßte, ob nicht ihrem Hanns der Kopf geſpaltet, oder eine Kugel ins Herz geſchoſſen wuͤrde? So iſt ſie doch um ihn, und kann ihn warten, wenn er verwun - det wird. Der Hauptmann laͤßt ſie gewiß bey - ſammen, ich kenne ihn von meinem Vater her;435 und der Kerl iſt groß; denen ſieht man ſchon nach, wenn ſie Weiber haben; ſie gehen dann auch weniger durch.

Nach anderthalb Stunden trafen ſie den Hauptmann auf einem Spatzierritt an. Kron - helm trug ihm ſogleich ſeine Bitte wegen Hanns vor. Jch habe den Kerl dort angetroffen, und ſein Menſch auch, ſagte der Hauptmann. Sie fiel mir gleich zu Fuͤſſen, und bat, daß ſie mit in Krieg duͤrfte. Jch verſprach ihr nichts Gewiſſes, denn man ſieht die Weibsleute im Feld nicht gern; ſie hindern nur auf dem Marſch. Aber zuweilen macht man wol eine Ausnahme; und weil Sie auch fuͤr den Kerl bitten, und er ſchoͤn und groß iſt, ſo will ichs ſo mit hingehen laſſen. Wenn ich einmal auf Jhr Schloß komme, ſo beding ich mir eine Bouteille Burgunder dafuͤr aus. Herzlich gerne, ſagte Kronhelm, und nahm von dem Hauptmann Abſchied. Er war nun recht froh, daß er et - was zur Vereinigung dieſer beyden Leute mit bey - getragen hatte, und dachte nun mit deſto groͤſſerm Vergnuͤgen, aber auch mit groͤßrer Wehmuth an ſeine Thereſe. Siegwart mußte ihm tauſenderley kleine Geſchichten von Thereſens Kindheit erzaͤh -436 len; manche gefielen ihm ſo wohl, daß er ſie ſich zwey - und dreymal erzaͤhlen ließ.

Endlich kamen ſie auf ihrer Schule wieder an. Kronhelm gab dem Kutſcher ein paar Zei - len mit, die an den Amtmann und an Thereſen zugleich gerichtet waren, und blos die Nachricht von ihrer gluͤcklichen Ankunft, und Dankſagungen fuͤr die viele genoſſene Freundſchaft enthielten. Sie giengen dann ſogleich zu ihrem lieben P. Philipp, der ſich herzlich uͤber ihre Ankunft freute. Sie mußten ihm ſehr viel von ihrer Landluſt erzaͤhlen. Kronhelm vermied es ſorgfaͤltig, Thereſens Na - men zu nennen, oder nur entfernt von ihr beſon - ders zu reden, weil er ſich zu verrathen fuͤrchtete; denn die erſte Liebe iſt mehrentheils ſehr furchtſam und zuruͤckhaltend. Nach etlichen Tagen fiel aber P. Philipp ſelbſt auf die Vermuthung, daß er verliebt ſey; denn er war ſo ſtill, und verfiel oft auf Einmal in ein tiefes Nachdenken, und ſah aus, als ob er weinen wollte. Unſerm Kronhelm muß was wichtiges begegnet ſeyn, ſagte er, und wandte ſich zu Siegwart; Er iſt ſeit der Reiſe ganz veraͤndert. Jch weis nicht, antwortete Xa - ver; und Kronhelm ward feuerroth. Nein, es fehlt mir nichts, ſagte er; ich weis nicht, wie437 Sie darauf kommen? Aber gewiß, es fehlt mir nichts! Nun, nun, ich hab auch kein Recht zu Jhren Geheimniſſen, ſagte P. Philipp; wenns nur nichts ſchlimmes iſt, was die Veraͤnderung hervorbrachte. Kronhelm ward ſo verwirrt, und entſchuldigte ſich ſo viel, daß er ſich zuletzt ſelbſt verrieth, und mit vielen Umſtaͤnden und weit hergeholten Wendungen dem Pater das ganze Ge - heimnis entdeckte. Das iſt ja was gutes, und un - ſchuldiges, ſagte Philipp, und braucht der Be - ſchoͤnigungen gar nicht. Ja, ich weis wohl, ſagte Kronhelm; aber es wird mir ſo ſonderbar zu Muth, wenn man davon ſpricht. Es iſt ge - wiß um die Liebe die unſchuldigſte Sache, der man ſich mehr zu ruͤhmen, als zu ſchaͤmen Urſache hat; aber es haͤlt einen immer ſo was zuruͤck. Das kommt von der Erziehung her, ſagte Phi - lipp. Nun, ich wuͤnſch ihm von Herzen Gluͤck; denn ich hoffe, daß er nicht ſo auf Gerathewohl gewaͤhlt hat; und was ich bisher von Thereſen gehoͤrt habe, bringt mir die beſte Meynung von ihr bey. Sie muß ein frommes, unſchuldiges und liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf ſeyn, das vor Tauſen - den den Vorrang hat. Nur Eine wohlgemeynte Warnung kann ich nicht zuruͤckhalten, und Er438 wird mir ſie nicht uͤbel nehmen! Mach Er die Liebe nicht zur Haupttriebfeder ſeiner Handlun - gen, und vergeß Er ſeine uͤbrige Beſtimmung nicht druͤber! Dieß iſt der gewoͤhnliche Fehler bey jun - gen Leuten. Sie glauben nur fuͤr ihr Maͤdchen allein geſchaffen zu ſeyn, und gegen die uͤbrige Welt weiter keine Pflicht zu haben. Bey Jhm fuͤrcht ich das nun weniger. Die Liebe ſollte uns am meiſten zur Vervollkommung unſrer ſelbſt an - treiben. Denn je mehr Vorzuͤge und innre Voll - kommenheiten wir haben, deſto gluͤcklicher koͤnnen wir einſt den geliebten Gegenſtand machen. Durch Kenntniſſe und Wiſſenſchaften bahnen wir uns den Weg zu Ehrenſtellen, anſehnlichen Aemtern und Beſoldungen; und dann koͤnnen wir erſt mit gutem Gewiſſen einem Frauenzimmer unſre Hand anbieten. Er kann zwar auch ohne Aemter le - ben; aber es iſt doch beſſer, wenn man zu allem geſchickt iſt. Kronhelm dankte fuͤr den Rath, und verſprach, ihn zu beſolgen. Er fuͤhle ſich jetzt, ſagte er, zu allem ſtaͤrker; alles ſey ihm leichter. Er liebe die Menſchen mehr. Sein Herz ſey weicher und mitleidiger geworden, und das Schick - ſal eines jeden Menſchen, beſonders eines leiden - den lieg ihm weit naͤher am Herzen, als ſonſt.

439

Gleich den Tag nach ſeiner Ankunft hatte Kronhelm einen ziemlich weitlaͤuftigen Brief an Thereſen, und auch einen an ihren Vater geſchrie - ben, und ihn dem Bothen mitgegeben. Er war - tete nur mit Verlangen auf den Sonnabend, da der Bothe wieder kommen ſollte. Er zaͤhlte alle Stunden bis dahin, und lief am Sonnabend ſo - gleich nach dem Hauſe, wo die Briefe gewoͤhn - lich abgegeben wurden. Der Bothe war da geweſen, und hatte keinen Brief mitgebracht. Der ſonſt gelaßne Kronhelm ward durch dieſe Nachricht wie raſend, knirſchte mit den Zaͤhnen, und ſtampfte auf den Boden. Nun ſo wollt ich, daß ich die Welt zertruͤmmern koͤnnte! rief er, und alles, was drinn und drauf iſt! Keinen Brief? Und ſie hat mirs ſo theuer ver - ſprochen? Nun ſo trau mir einer mehr den Menſchen, und zumal den Maͤdchen! Alles, alles iſt nichts! Jſt Tand! Jſt abſcheulicher Betrug! O ich Thor, daß ich ſo drauf bau - te! Den Kopf moͤcht ich mir einrennen! Das verfluchte Geſchlecht!

So tobte er, und lief, ohne zu wiſſen, war - um? vors Thor hinaus. Alles, was ihm be - gegnete, war ihm zuwider. Die ganze Welt440 kam ihm vor, wie ein Narrenhaus, und Zucht - haus. Jeder war ihm ein Narr, oder Boͤſe - wicht! Er kam an die Donau; ſetzte ſich ans Ufer nieder; ſcharrte den Sand mit ſeinem Stock auf, und ſtaͤubte ihn ins Waſſer. Gott! dachte er, auch Thereſe untreu! Auch die, auf die ich alles gebaut haͤtte! O, wir Maͤn - ner ſind doch rechte Narren! Er dach - te hin und her, was ſie ſo ſchnell auf andre Ge - danken koͤnnte gebracht haben? Es war ihm un - begreiflich; und doch hielt ers fuͤr ausgemacht gewiß. Er fand tauſend Urſachen, und verwarf ſie wieder. Endlich hub er ſich wieder auf, und gieng nach Haus. Siegwart war ausgegangen, um ihn aufzuſuchen. Nach einer Stunde kam er wieder; Da iſt ein Brief von meiner Schwe - ſter, ſagte er. Was? rief Kronhelm; Willſt du mich auch fuͤr einen Narren halten? Jch hab ſchon nach dem Bothen gefragt! Er hat nichts! Da[lies] nur ſelber; ſagte Siegwart. Der Bothe hat mir den Brief ſelbſt eingehaͤn - digt, weils meine Schweſter haben wollte. Kron - helm brach den Brief mit Zittern auf, und riß ihn vor Ungeduld faſt entzwey. Thereſe ſchrieb ſo:

441
Beſter, theureſter Freund!

Der vergnuͤgteſte Abend nach Jhrer Abreiſe war mir der, da ich Jhren lieben Brief erhielt; vielen, vielen herzlichen Dank dafuͤr, mein beſter Freund! Gottlob, daß Sie gluͤcklich wieder ange - kommen ſind! Meine beſten Wuͤnſche begleiteten Sie auf Jhrer ganzen Reiſe; aber beſonders mach - te mir der fatale Weg, und der ſtarke Regen viele Sorge. Jch freute mich recht fuͤr Sie, als der Regen wieder nachließ.

Alſo ſind Jhre Lehrer nicht boͤſe, wegen Jh - res etwas laͤngern Ausbleibens? Nun, das iſt mir ſehr lieb; mir war ſchon recht bange dafuͤr, und ich dachte, Sie koͤnntens gar daruͤber bereuen, daß Sie laͤnger hier blieben; das wollt ich doch nicht gerne!

Ach, mein theureſter Freund! oft denk ich noch an den traurigen Scheidetag und an die letzte trauri - ge Nacht. Dann ſeh ich noch immer den, mit ſchwar - zen Wolken umgebenen Mond, der uns gegenuͤber ſtand; dann hoͤr ich noch immer den rollenden Don - ner, und ſeh die ſchnellen Blitze. Alles war ſo feyerlich! Erſt ſinds acht Tage, und mir duͤnkts ſchon ſo lange! F f442Jetzt ſind wir ganz einſam, und alles iſt ſo ſtille, nun Sie nicht mehr hier ſind!

Am Tage nach Jhrer Abreiſe ſchrieb ich ein paar Lieder aus Kleiſt ab; hernach hab ich im Hagedorn geleſen, den Sie mir geſchenkt haben. Jch fand vieles drinn, was mir gefiel; aber fuͤr mein Herz, das jetzt ſo viel verlangt, hats zu we - nig Nahrung. Sonſt hab ich nichts geleſen. Theils hatt ich nicht Zeit dazu, theils nicht Luſt; und dann haben Sie mich ſo ganz verwoͤhnt, daß ich faſt nichts mehr allein leſen mag.

Einmal hab ich Beſuch gegeben bey meiner Freundin, der Poſtverwalterstochter; und den Abend gieng ich am kleinen Bach ſpatzieren, mit meinem Vater, der ſo ganz fuͤr Sie iſt. Wir ſprachen recht viel von Jhnen. Vorgeſtern war Hauptmann Northern, aber nur allein, hier. Wir kamen oft auf Sie zu ſprechen; er haͤlt ſehr viel auf Sie, und ich bin ihm deswegen noch ein - mal ſo gut. Wenn er nur oft kaͤme, und von Jh - nen ſpraͤche! Mir iſt ſo wohl dabey, und ſo bang. Jch wuͤnſchte immer, daß man davon anfienge; und faͤngt man an, ſo wuͤnſcht ich wieder, daß ich weit davon waͤre! Aber nachher freu ich mich doch immer recht druͤber.

443

Von unangenehmen Dingen ſpricht man nicht gern; ſonſt koͤnnt ich Jhnen viel ſagen, von den Spoͤttereyen und Sticheleyen, die ich von mei - ner Schwaͤgerin anhoͤren muß; doch ſo etwas iſt zu gering, ſich daruͤber zu aͤrgern. Jch kann Jh - nen nicht mehr ſchreiben, weil ich recht viel wegen der Habererndte zu thun habe; aber wenn das vor - bey iſt, ſo werd ichs gewiß nachholen. Jch habe Jhnen noch ſo viel zu ſagen, ſo viel! Aber ein Brief iſt immer nur eine halbe Unterredung.

Leben Sie ſo gluͤcklich, mein Theureſter, als es mein ſtuͤndlicher Wunſch iſt! Meine Seele iſt oft bey Jhnen.
Th. Siegwart.

Als Kronhelm dieſen Brief geleſen hatte, gieng er ans Fenſter, und die hellen Zaͤhren ſtuͤrzten ihm aus den Augen. Sein Herz machte ihm tauſend Vorwuͤr - fe. Gott! Was iſt das fuͤr ein himmliſches Maͤdchen! dachte er; und was bin ich fuͤr ein Kerl! Lauter Zaͤrt - lichkeit und Liebe! Und ich that dem Engel Unrecht! That ihm teufliſches Unrecht! O vergib, vergib, Engel, wenn ichs werth bin! Jch habe vorhin recht geraſt, ſagte er zu Siegwart. Das iſt was Entſetzliches um die Liebe, wie ſie444 mit dem Menſchen umgeht, und ſo alles aus ei - nem macht, was ſie will! Da wollt ich dir den Brief holen; es hieß, der Bothe hab keinen mit - gebracht, und da wars, als ob ich auf Einmal ein ganz andrer Menſch wurde. Jch raſte, und haͤtt einen umbringen koͤnnen, der mir in Weg gekommen waͤre! Jch ſah und hoͤrte nichts; oder, was ich ſah, das war mir aͤrgerlich. Jch lief, wie ein Unſinniger beym Thor hinaus; fluchte bey mir ſelbſt, und haͤtte darauf geſchworen, deine Schweſter hab mich ſchon vergeſſen! Und nun ſchreibt ſie mir da einen ſo herrlichen und lieben Brief. O ich moͤchte mich vor den Kopf ſchlagen, daß ich ſo ein Tollkopf bin, und ihr ſo Unrecht that! Da ſiehſt du, ſagte Siegwart, daß der P. Philipp Recht hat: Man ſoll ſich von der Lie - be nicht ſo ganz beherrſchen laſſen! Du biſt ſeit der Zeit viel ungeduldiger und auffahrender. Alles aͤrgert dich, wenns nicht immer gleich nach Wunſch geht. Freylich; ſagte Kronhelm; aber hab nur Geduld mit mir, Bruder! Jch will mich war - lich beſſern! Deine Schweſter iſt ſo ein ſanftes, nachgiebiges Maͤdchen; ſie weis ſich in alles ſo zu ſchicken; und ich bin ſo ein aufbrauſender Kerl[,]der gleich mit dem Kopf durch die Wand will. O445 ſie ſoll mich noch Gelaſſenheit und Sanftmuth leh - ren, oder ich waͤr ihrer Liebe nicht werth! Schreib ihr nur nichts davon! Jch muͤßt mich ſchaͤmen! Da kannſt du ihren Brief leſen. Es iſt der Wie - derſchein ihrer Seele. Die Zaͤrtlichkeit hat ihr ihn ſelbſt eingegeben. Siegwart ließ ihn auch den Brief leſen, den ſie ihm geſchrieben hatte. Es iſt herrlich, wie das Maͤdchen ſchreibt! ſagte Kronhelm; ſo natuͤrlich und ſo wahr! Man ſieht doch gleich, was Natur iſt!

Kronhelm und Siegwart ſchrieben nun wie - der an Thereſen und an ihren Vater. Kronhelm ward oft ſehr bewegt, und mußte inne halten, ſo gegenwaͤrtig ſtellte er ſich das Maͤdchen vor. Er konnte es nicht ganz laſſen, und ſchrieb ihr doch einiges von ſeiner Ungeduld, in die er uͤber ihr vermeyntes Schreiben gerathen war. Auf den Nachmittag ſchickten ſie die Briefe fort.

Den Sonntag darauf beſuchten ſie den jungen Gruͤnbach, und erzaͤhlten ihm von ihrer Reiſe. Seine Schweſter Sophie kam, unter dem Vor - wand, Muſikalien zu holen, auch aufs Zimmer, und blieb uͤber eine Stunde da. Das arme Maͤd - chen hieng mit ihren Augen immer an Siegwart, und litt recht viel dabey, daß er ſo wenig auf ſie446 zu achten ſchien. Die Juͤnglinge ſprachen viel von Klopſtock, und als ſie Siegwarten mit ſolcher Waͤrme von ihm ſprechen hoͤrte, bat ſie ſich den Meſſias von ihrem Bruder zum Leſen aus. Jhr Vater kam, und ſie mußte in den Laden hinab. Der alte Gruͤnbach erkundigte ſich mit vielen Um - ſtaͤnden bey Siegwart nach dem Befinden ſeines Vaters und ſeiner Familie.

Die Schulſtunden wurden nun wieder angefan - gen, und die beyden Juͤnglinge beſchaͤftigten ſich mehrentheils mit den Buͤchern; zumal, da man bey den unbeſtaͤndigen und rauhen Herbſttagen wenig mehr aufs freye Feld hinaus konnte. Kronhelm liebte zwar die Wiſſenſchaften ſehr, und brannte vor Begierde, ſeine Kenntniſſe zu vermehren; aber der Gedanke an Thereſen uͤberraſchte ihn alle Au - genblicke uͤber den Buͤchern, und dann wars ihm unmoͤglich, weiter zu leſen. Er fieng an zu phan - taſiren, ſtellte ſich ihr Bild ganze Stunden ganz lebendig vor, und hielt, wenn er allein war, laute Geſpraͤche mit ihr. Sie ſchrieb ihm, wo nicht alle 8 Tage, doch wenigſtens alle 14 Tage gewiß. Sie wurden, auch in der Entfernung, immer noch ge - nauer mit einander verbunden. Sie lieſſen ihre Seele in den Briefen reden; ſagten ſich ihre in -447 nerſten Gedanken, und ſo entdeckte eines immer mehr Vorzuͤge und Vollkommenheiten an dem an - dern. Kurz, ſie waren das gluͤcklichſte Paar, weil Tugend und Weisheit ihre Seelen an einander kettete, und immer feſter mit einander verband. Der alte Siegwart wurde, ohngeachtet der Verſchie - denheit der Jahre, Kronhelms warmer und ver - trauter Freund. Er hielt alles auf ihn, und wuͤnſch - te nur, daß kein Ungluͤck ihn von ſeiner Tochter trennen moͤchte! Unſre Liebende vergaſſen der Ge - fahr, ſo bald ſie ihnen aus den Augen verſchwand; freuten ſich nur ihrer Liebe, und ſahen nichts, als einen heitern, unbewoͤlkten Himmel vor ſich.

Siegwart, der auf der Schule, wegen ſeines Fleiſſes, immer weiter fortruͤckte, ließ ſich dieſe Aufmunterung nur deſto mehr anſpornen, und vermehrte ſeine Kenntniſſe mit jedem Tage. Ti - bull und Properz, die man in der Schule las, verfeinerten ſein ohnedies zartes und richtiges Ge - fuͤhl; er las ſie ſehr fleiſſig, und ſchaͤtzte beſonders den Properz; aber nicht, wie gemeiniglich geſchieht, auf Koſten der Neuern. Er ſah wohl, daß die Deutſchen eben ſo gut, und in den meiſten Faͤchern weit beſſere Dichter aufzuſtellen haben, wie die Roͤmer; beſonders in Dingen, die mehr die Em -448 pfindung, als die Kunſt betreffen. P. Philipp lehrte ihn auf ſeinem Zimmer aus Freundſchaft das Griechiſche, das auf der Schule nicht getrie - ben wurde, und las mit ihm das neue Teſtament, die Fabeln des Aeſop und den Anakreon. Auf den Winter, verſprach er, mit ihm den Herodot, vielleicht auch den Homer zu leſen. Auch lieh er ihm einen Livius, und erklaͤrte ihm die ſchweren Stellen, uͤber die er ihn befragte. Kurz, Sieg - wart war auf dem rechten Wege, ein vernuͤnftiger Gelehrter zu werden.

Den Abend brachten ſie entweder allein zu, und da muſte Xaver mit Kronhelm fleiſſig von Thereſen ſprechen; oder ſie giengen zu P. Phi - lipp, deſſen Umgang ihnen immer der liebſte und lehrreichſte war; Sie laſen, oder zeichneten mit ihm, oder ſprachen abwechſelnd uͤber ernſthafte und muntre Gegenſtaͤnde. Oder ſie machten mit Gruͤnbach Muſik, und kamen durch die Uebung merklich weiter. Siegwart beſuchte auch noch oft die L. Frauenkirche, und hoͤrte da die Nonnen ſin - gen. Oft traf er auch Sophien da an. Die ſchoͤne Andaͤchtige gefiel ihm wohl. Er ſchaͤtzte ſie wegen ihrer Andacht nur noch hoͤher; aber449 doch fuͤhlte er nicht das gegen ſie, was ſie gegen ihn fuͤhlte.

Jn der Mitte des Winters, als Kronhelm einſt an einem heitern Tage mit Siegwart ſpa - zieren gegangen, und nach dem langen Stubenhuͤ - ten auſſerordentlich vergnuͤgt geweſen war, fand er, bey ſeiner Nachhauſekunft auf des P. Philipps Zimmer einen Brief, den ſein Vater durch einen eignen Bothen hereingeſchickt hatte, folgenden Jnhalts:

Verfluchter Son!

Hol Dich der Teufel mit Deinem ganzen Hu - renpack! Da haſt Du ’n rechten Hundeſtreich ge - macht. Biſt denn gar ein Narr? Was treibſt mit des Amtmanns Maͤdel, der unadelichen nichts - nutzigen Kanale? Hoͤr Kerl, Du biſt keinen Schuß Pulver wehrt hol mich dieſer und je - ner, Mann ſollt Dich todtſchlagen, wie einen Dags. Jch hab mir g’aͤrgert, daß ichs Zibberlein kruͤgen thaͤt, ſonſt waͤr ich ſelbſt komen, und haͤtt Dich todtg’ſchlagen. Jnvamer Kerl, daß Du Dich ſo wegwerfen thuſt, als ob Du von einer Buͤrgers - hur herkommen thaͤteſt! Jch muß mich ja ob Dir ſchamen wo ich hinkomm. Aber ich ſchwoͤr Dir450 bei Godd, daß, wenn Du mir noch Augenblikk an das Burgersmaͤdel denken thuſt, ſo reit ich weck, und wenn ich keinen Fuß haͤtt, und ſchieß Dir nie - der, und ſchlag Dich dann mitn Flintenkolben fol - lendts tod. Laß Dirs nur nit einfallen, daß Du noch ’n Buchſtaben an ſie ſchreibſt, oder Du biſt, meiner Seel! des Teufels. Jch habs ’m Amt - man dem Kerl ſchon g’ſagt, und ſeiner Dirn auch, ’s koſtet Dir und ihm und ihr ’s Leben. Solang ich auf Godds Erdboden bin, ſollſt Du nicht mit ihr z’ſamen kommen, und wenns die ganz Welt hahn wollt. Jch reiſſ euch von ein - ander, und ſollts mit den Zaͤhnen ſein. Da haſt Du mein Wort. So wahr ich ’n alter Edelmann, und ſie ’n kahle Amtmansdirn iſt. Verteufelter Son, das heiſſt ’m alten Vater Herzleid anthun. So hats noch keiner g’macht ſeit vil dauſend Jah - ren, ſeit ’s Kronehelm geben hat, und Du mueſt grad anfangen, und willt doch mein Son ſein? Ja ’n Teufelskerl biſt, und kein Gaballiers Son. Jch ſag Dirs, wenn Du noch a Zeil ſchreiben thuſt, ſo muſt Du ſterben, und wenn Du auch am Hi - mel hangen thaͤteſt, Du muſt mir runter; und ’s Maͤdel zerreiſſ ich mit den Naͤgeln, das merk Dir! Laß mir ja kein Wort hoͤren, und wenn Du nur451 Mukker gegen mir thuſt, ſo ſchick ich drey Kerl zu Dir, die ſollen Dich lebendig oder tot zu mich bringen. Da ſollt Du Deine liebe Not haben. Braten will ich Dich, wie ’n Haſen, Lauskerl Du! Jch hab meine Spijon, Einen Buochſtaben, und Du biſt hin, und Deine Hur auch. Jch hab mir g’aͤrgert, daß ich nicht mer ſchreiben kan. Du weiſt noch nit, wie ich bin, wenn ich wild werd. Schwoͤr mir heilig, daß Du nit mer an ſie den - cken, und noch minder ſchreiben willt, ſonſt ſind auf d Woch die drey Kerl bey Dir, und holen Dich, und ich laß Dich ſchlieſſen, und beym Maͤ - del forbey fuͤhren, und ſie mit der Kugel vor den Kopf brennen, daß ſie verrecken muß, wie ’n ang’ſchoßnes Thier. Schreib mirs nur gleich, oder du lebſt keine 6 Taͤg mehr, das ſchwoͤr ich dir bey allen Teufeln.

Veit Kronehelm.

Kronhelm ſtand, wie vom Blitz getroffen da, als er dieſen Brief geleſen hatte. Er ward blaß, und zitterte an allen Gliedern. Da, lies! ſagte er zu Siegwart, gieng einigemal auf und ab; blieb oft ploͤtzlich ſtehen, als ob er nach - daͤchte, und konnte doch keinen Gedanken halb ausdenken. Haſts geleſen? Nicht wahr[,]452es iſt ſchoͤn? Jch bin ein rechtes Gluͤckskind! O ich wollte! der verdammte, hoͤlliſche Adel! Aber, ich wollte nicht nachgeben! Sprich! Was denkſt du denn? Stehſt ja da, wie ein Klotz!

Siegwart. Jch weiß nicht, was ich ſagen ſoll? Es iſt ſchrecklich! Jch bedaure dich von ganzem Herzen.

Kronhelm. So? Weiter nichts?

Siegwart. Was kann ich ſonſt thun?

Kronhelm. Was weiß ich? Mir rathen! Oder mich todtſchlagen, wenn du willſt.

Siegwart. Jch bitt dich um Gotteswillen, Kronhelm! Du muſt dich maͤſſigen!

Kronhelm. Du biſt ein Narr! Aber, halt, Siegwart! Nicht wahr? ich thu dir Un - recht?

Siegwart. Ja, das daͤcht ich auch.

Kronhelm. Nu, ſo verzeih mir! Du weiſt ſchon, wie’s iſt; ich kann nicht dafuͤr. Sag, Bruͤderchen, was muß ich anfangen? Sags doch! Jch weiß ja nicht

Siegwart. Du muſt deinem Vater ſchreiben, denk ich.

453

Kronhelm. Nun ja, ſchreiben! Und was denn?

Siegwart. Daß du mit meiner Schweſter nichts mehr

Kronhelm. Was?

Siegwart. Daß du nichts mehr mit ihr zu thun haben wolleſt.

Kronhelm. Biſt du vom Teufel, Kerl?

Siegwart. Beſſers weiß ich nichts.

Kronhelm. Nun, ſo pack dich zu allen Hen - kern! Den Rath kann mir nur mein Tod - feind geben! Aufſetzen will ich mich, und zu mei - nem Vater hinausreiten! Das will ich thun, Kerl!

Siegwart. Jch kann dirs nicht rathen.

Kronhelm. Und warum nicht, Memme? Glaubſt, er werd mich gleich niederſchießen? Laß ihn nur! Das waͤr mir eben recht! So kaͤm ich auf einmal von der verdammten Welt weg!

Siegwart (ſchwieg, und ſah ſeinen Freund mitleidig an.)

Kronhelm. Gefaͤllt dir das nicht? Was ſoll ich denn thun?

Siegwart. Jch habs ſchon geſagt.

454

Kronhelm. Schreiben? Aber denk: Mein eignes Todesurtheil!

Siegwart. Traurig iſts genug! Du kennſt aber deinen Vater, und haſt ſeinen Brief noch nicht genug geleſen.

Kronhelm. Ja, ich habs! Sonſt waͤr ich nicht ſo raſend! Jeſus, Maria! Was ſoll ich anfangen? Gibts denn gar kein andres Mittel? Sag doch! Biſt mir ja ſonſt im - mer gut geweſen.

Siegwart. Bins auch noch; mehr als du glaubſt. Aber ich weiß nichts beſſers. Be - denks nur ſelber!

Kronhelm. Ja, was bedenken? Jch kann nicht, ſag ich dir! Und ſo ſollt ich meinem Vater ſchreiben? Sollt Thereſen aufgeben? Gott, wie kann ich das?

Siegwart. Es kann ſich aͤndern.

Kronhelm. Was, aͤndern! Es kann nicht, ſag ich! Thereſe! Thereſe! Dich aufge - ben? Und wie kann ſichs aͤndern? Sprich doch!

Siegwart. Dein Vater koͤnnte ſterben; oder ſonſt ſo etwas

455

Kronhelm. Ja, der ſtirbt nicht! Groſſer Gott! was ich da fuͤr Gedanken habe! Ja, wenn er ſtuͤrbe! Wenn er aber auch nicht ſtuͤrbe ?

Siegwart. Du haſt doch indeſſen eine Aus - flucht. Sonſt haſt du gar keine.

Kronhelm. Gar keine! Das iſt ſchreck - lich! Bey Gott! ſchrecklich! Kann ich ihm denn ſonſt gar nichts ſchreiben?

Siegwart. Jch weiß nichts, wenn du ſei - nem Zorn entgehen willſt, und wenns nicht mei - ne Schweſter und mein Vater mit entgelten ſollen.

Kronhelm. Wie das?

Siegwart. Er droht ja, daß er ſie umbrin - gen will. Haſts nicht geleſen?

Kronhelm. Ja, das iſt wahr! Ja, ich muß ſchreiben; Siegwart, ich muß!

Siegwart. Aber nur behutſam, Bruder! ich bitte dich. Wenn du trotzen willſt, ſo gehts nicht. Jetzt muſt du nachgeben, ſo viel du kannſt.

Kronhelm. Ja, wenn man nur ſo koͤnnte. Denk einmal, in ſo was nachgeben! Haͤtt er nur nicht Thereſen gedroht! Mir moͤcht er dro - hen wie er wollte! Jch achte nichts. Aber ich weiß, wie er iſt; ſie waͤr nicht ſicher vor ihm. 456 O ich weiß nicht, was ich noch anfange? Waͤrs nur nicht mein Vater! Gott! was wird deine Schweſter ſagen! Jch halts nicht aus, Bruder. Sterben, oder mein ſeyn! Ja, ich will ihm ſchreiben, daß ich nicht mehr an ſie ſchreiben will. Das kann ich wohl. Sie iſt ja doch mein; ich ja doch ihr. Ja, ich will ihm ſchreiben. Gib nur Dinte her! Wo iſt der Schandbrief? Gott verzeih mirs! Aber ’s iſt ſo! Gib nur her Papier und Dinte.

Siegwart. Bruder, du kommſt mir ganz ſon - derbar vor. Jetzt auf einmal ſo nachgiebig, und eben vorher noch ſo heftig! Jch kann mich in dich nicht finden.

Kronhelm. Jch mich auch nicht, gib nur her!

Siegwart. Aber du muſt mich den Brief erſt ſehen laſſen. Nicht?

Kronhelm. Ja freylich! Gib nur her! (Er ſchreibt) Lieber Papa! Ja, es iſt nicht wahr. Jhr nicht mehr ſchreiben will. Das iſt fuͤrch - terlich! Da! Jch kann nichts beſſers ſchrei - ben. [Lies] nur! Nun, gefaͤllt dirs? Kann ichs anders machen?

Siegwart. Nein; es iſt gut. Jch hoffe, das ſoll ihn beruhigen!

457

Kronhelm. Ja, ihn! Aber auch mich! Solls auch mich beruhigen? Gib her! Jch wills wie - der zerreiſſen, den verdammten Wiſch!

Siegwart. Laß doch, Bruder! Du kannſt Ein - mal nichts anders ſchreiben. Denk, daß du The - reſen dabey ſchonſt!

Kronhelm. Nun ſo ſeys! Siegl es zu! Jch mag mit dem Quark nicht laͤnger umgehn!

Siegwart ſiegelte den Brief zu, und erbot ſich, ihn des Junker Veits Bedienten zu bringen; denn er fuͤrchtete, Kronhelm moͤchte den Brief wieder zerreiſſen. Dieſer blieb indeſſen allein auf dem Zimmer, und verwuͤnſchte ſein Schickſal. Bald war er wild und heftig, bald wieder wehmuͤthig, und zum tiefſten Schmerz herabgebeugt, wenn er an Thereſen dachte. Siegwart kam bald wieder, und nun beſprachen ſie ſich uͤber die traurige Geſchichte; Kronhelm war nun aͤuſſerſt beſorgt, was Thereſe zu ſeinem Betragen denken, und ob ſie ihn nicht verachten werde, wenn ſie hoͤre, daß er ſeinem Vater verſprochen habe, ihr nicht mehr zu ſchreiben? Siegwart beruhigte ihn aber wieder, indem er ver - ſprach, ihr die Sache im Zuſammenhang zu ſchrei - ben, und ſie zu uͤberzeugen, daß er, nach Erforder -G g458niß der Umſtaͤnde ſo habe ſchreiben muͤſſen. Sie wird es ſelber einſehen, ſagte er, da ſie nun deinen Vater ſelbſt kennt. Und deswegen, daß du verſpro - chen haſt, ihr nicht mehr zu ſchreiben, kannſt du auch ziemlich unbeſorgt ſeyn, da ich ihr alle Wochen ſchreibe; da kannſt du mir ja alles in die Feder ſa - gen, was du an ſie geſchrieben haben willſt; und ſo kann ſie’s wieder in den Briefen an mich ma - chen, dieß beruhigte zwar Kronhelm etwas, aber doch nicht viel; und er zitterte vor Thereſens naͤch - ſtem Briefe. P. Philipp, dem ſie die Geſchichte auch erzaͤhlten, arbeitete ſehr daran, unſerm Kron - helm einen geſetzten Muth beyzubringen, denn er befuͤrchtete nicht ohne Grund noch traurigere Auf - tritte. Er hielt ihm, mit der groͤßten Ruͤhrung, die Pflichten vor, die er ſeinem Vater, der Welt, The - reſen und ſich ſelber ſchuldig ſey. Jch will, ſagte er, das Verfahren ſeines Vaters nicht entſchuldigen; aber ganz Unrecht hat er doch auch nicht, daß er ſich einer Verbindung widerſetzt, die ohne ſein Vorwiſ - ſen, und (wie Er vorauswiſſen konnte) ohne ſeine Bewilligung mit einer Perſon eingegangen wor - den iſt, die ſein Vater nicht kennt, und die von ei - nem andern Stand iſt, als er. Zwar an ſich be - trachtet, iſt der Stand nichts, aber in unſre jetzige459 buͤrgerliche Verfaſſung hat er Einfluß, und man kann ihn nicht ganz aus den Augen ſetzen. Mach er ſich auf alles gefaßt, und bedenk er dieß zuerſt, daß man durch Heftigkeit und Unbeſonnenheit im - mer am wenigſten ausrichtet. Wenn er das gethan hat, was ihm moͤglich war, und was er, ohne ſeine Pflichten zu verletzen, thun konnte, dann uͤberlaß er das Uebrige der Vorſehung, die nie ohne weiſe Guͤte handelt, wenn man ſich ihr nicht ſelbſt wider - ſetzt. Es kann, ſo unglaublich es ihm jetzt auch vorkommt, ſein Gluͤck ſeyn, wenn er Thereſen nicht kriegt. Wenn ihr Beſitz ſein wahres Gluͤck iſt, ſo bekommt er ſie gewiß. Stell er ſich im Voraus al - les, auch das aͤrgſte, was ihm begegnen kann, vor! So kommt ihm nichts unerwartet, und ſein Herz wird weniger erſchuͤttert. Jch ſage nicht, daß er die Hofnung ganz ſinken laſſen ſoll. Hofnung naͤhrt das Herz des Menſchen, und iſt nur dann ſchaͤdlich, wenn wir ſie zu tief wurzeln laſſen, und Gewiß - heit aus ihr machen wollen. Kronhelm hoͤrte zu; er fuͤhlte, daß der Pater Recht hatte, aber die Wahrheiten waren ihm zu traurig; doch hielten ſie ihn von der allzugroſſen Heftigkeit zuruͤck.

460

Zween Tage darauf kamen Briefe von Thereſen und ihrem Vater. Kronhelm erbrach ſie mit Zit - tern und dem baͤngſten Herzklopfen. Sie ſchrieb ihm folgendes:

Theureſter Freund!

Jch ſchreib Jhnen mit dem kummervollſten Her - zen, und mit naſſen Augen den letzten Brief in meinem Leben. Der vergangene Montag iſt fuͤr mich der traurigſte und fuͤrchterlichſte Tag geweſen. Jhr Vater, den ich noch nicht kannte, kam mit einem Edelmann und zween Jaͤgern in unſern Hof angeſprengt. Jch hoͤrte ihn mit Ungeſtuͤm nach meinem Vater fragen, und ſah aus dem Fenſter. Biſt du die Hur? rief er zu mir herauf. Jch wußte nicht, was ich aus dem Mann machen ſoll - te? und lief zitternd zu meinem Vater. Als wir hinunter wollten, kam Jhr Vater uns ſchon auf der Treppe mit dem Edelmann entgegen. Jſt Er der Amtmann Siegwart? fragte er. Ja, mein Herr! antwortete mein Vater, was befehlen Sie? Nichts befehlen! rief Jhr Vater, und kam die Treppe vollends herauf. Er iſt ein Schurke, daß Ers weis! Er will meinen Sohn verfuͤhren! Das iſt wohl das ſaubre Menſch da, (indem er ſich461 zu mir wandte) an der er den Narren gefreſſen hat? Ein ſaubres Thierchen! Mein Seel! Und ſo fuhr er fort, und gab mir und meinem Va - ter Reden, die ich mich ſchaͤmen wuͤrde, niederzu - ſchreiben. Kurz, er begegnete uns auf die groͤbſte, beleidigendſte Weiſe; ſprach immer vom Einſetzen, Verfuͤhrungen, Lumpen - und Hurenpack, und droh - te mit Mord und Todſchlag, wenn ich mir einfal - len laſſen wollte, ſeinen Sohn ferner zu infamiren, wie ers nannte. Jch ſtand da, und dachte, ich muͤß - te in die Erde ſinken. Einigemal konnt ich mich nicht enthalten, ihm grobe Reden zu geben, als er meine Unſchuld das einzige, worauf ich ſtolz bin angrif. Der Junker, der mit Jhrem Vater kam, iſt der niedertraͤchtigſte Menſch, der mir auf die ſchimpflichſte Art begegnete, und mich immer nur Kanaille, und buͤrgerliche Gaſſenhure nannte. Mein Vater, der auch hitzig ſeyn kann, wenn man ihn erſt aufbringt, ſagte Jhrem Vater, er moͤchte ſich in Acht nehmen, und mit ſolchen Beſchimpfun - gen einhalten. Er ſey ein ehrlicher Mann, und ich ein ehrlich Maͤdchen; ich korreſpondire zwar mit ſeinem Sohn, aber auf die erlaubteſte Art; er koͤnn die Briefe ſelber ſehen u. ſ. w. Jhr Vater wollte von dem allen nichts hoͤren, ſchimpfte unauf -462 hoͤrlich fort, und drohte, Sie und mich, und meinen Vater zu erſchieſſen, wenn wir nur noch eine Zeile an einander ſchrieben, oder einen Gedanken auf ein - ander haben wollten. Mein Vater ſagte, das woll er wol verſprechen, daß ich nicht mehr an Sie ſchrei - ben, und weiter keine Gemeinſchaft mit Jhnen ha - ben ſoll; aber die uͤbrigen Beleidigungen woll er ſich auch inskuͤnftige verbitten. Der andre Junker ſchlug ein lautes Gelaͤchter auf. Jhr Vater aber ſagte: Nu Jobſt, laß uns weiter! Vorjetzt hab ich gnug; aber noch ein Brief, und hier zog er eine Piſtole hervor die erſte Kugel gehoͤrt dir, Maͤdel! und die zweyte ihm, Monſieur Amtmann! Merk er ſichs! Mit dieſen Worten gieng er wieder die Treppe hinunter, ſetzte ſich aufs Pferd, und ritt mit ſeinen Jaͤgern davon.

Sie koͤnnen ſich vorſtellen, Theurer Freund! wie mir ſeit der Zeit zu Muthe ſeyn muß. Das ganze Leben iſt mir verhaßt, die ganze Welt eine Einoͤde. Jch ſchreib Jhnen dieſen Brief auf Befehl meines Vaters, ders bey Jhrem Vater verantworten will, wenn ers erfahren ſollte. Jch ſoll von Jhnen Ab - ſchied nehmen auf ewig! Gott, von Jhnen! und doch muß es ſeyn! Jch habe Sie geliebt, Theu - rer, aber verkennen Sie mich nicht! Nicht aus463 Stolz, weil Sie von Adel ſind. Um des Adels Jhres Herzens willen, liebt ich Sie; lieb ich Sie noch! Das darf ich ſagen, denn ich ſags ohne Ab - ſicht auf Jhre Hand. Jch hab auf ewig alle Hofnung von mir weggebannt. Es muß ſeyn! Leben Sie gluͤcklich! Sie verdienen es. Bleiben Sie mein Freund in Jhrem Herzen! Denken Sie zuweilen an das Maͤdchen, das bald ſterben wird! Jch habe mein Herz in Thraͤnen ausgeſchuͤt - tet, und komme nochmals, Jhnen das letzte Lebe - wohl zu ſagen. Kuͤnftig kann ich keine Zeile mehr von Jhnen annehmen. Jch werd Jhnen jeden Brief unerbrochen zuruͤck ſchicken. Das hab ich zugeſagt. Leben Sie denn wohl, auf ewig wohl, mein Theureſter! Gott ſtaͤrke Sie, und belohne Jhre Tugend! .. Betruͤben Sie ſich nicht zu ſehr! Sie muͤſſen andre Menſchen, und ein beſſeres Maͤdchen gluͤcklich machen, als ich bin… Sagen Sie ihr einſt, daß ich edel dachte, und Sie darum liebte… Meine Freundin kann ſie auf dieſer Welt nicht mehr werden, denn bis dahin bin ich todt… Jch murre nicht gegen die Vorſicht; aber ich kann dieſe Laſt nicht tragen. Mein Herz muß drunter brechen. Leb wohl, Edelſter und Beß - ter! Jm Himmel ſehen wir uns wieder, und freuen464 uns, daß wir geduldet haben… Leb wohl! Siehſt Du einſt mein Grab, ſo wein drauf! Jch ver - diens! Der Engel der Liebe ſey Dein Schutzgeiſt! oder ich werds… Mein Herz ſchlaͤgt gewaltiger. Hier faͤllt eine Thraͤne hin, kuͤß die Stelle! .. Schreib mir keine Zeile! Du wuͤrdeſt mich betruͤ - ben… Nun das letzte Wort, das ich an Dich ſchreibe.

Leb ewig wohl, Geliebteſter! und denk an Deine ungluͤckliche
Thereſe.

Was Kronhelm bey Leſung dieſes Briefs em - pfunden hat, laͤßt ſich nicht beſchreiben. Jedes zaͤrtliche und liebevolle Herz, das auch einmal ge - litten hat, denke ſich noch Einmal in ſein Ungluͤck zuruͤck! Fuͤhle noch Einmal die Leiden ſeiner Liebe, und wein unſerm Edeln, mit mir, eine mitleidige Zaͤhre! .. Er lehnte ſich ans Fenſter, huͤllte ſein Geſicht ein, und war ſprach - und thraͤnenlos. Siegwart weinte, und hatte den Brief, den ſeine Schweſter ihm geſchrieben hatte, in der Hand. Kronhelm drehte ſich ſchnell um, ſah ihn mit un - beſchreiblicher Wehmuth an; drauf warf er ſich aufs Bette, huͤllte ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und blieb ſo eine Viertelſtunde unbeweglich liegen. Laß465 uns vors Thor hinaus, ſagte er, ich muß Luft krie - gen! Siegwart gieng mit ihm, ob es gleich ſtark ſchneyte. Kronhelm waͤlzte ſich im Schnee, und wollte da bleiben. Aber Siegwart riß ihn mit Gewalt auf. Endlich fieng er an bitterlich zu weinen. Siegwart ſprach kein Wort, und weinte mit. Nun iſt mir wohl, ſagte Kronhelm, herzlich wohl. Jch dachte, ich koͤnne nicht mehr weinen… Bruder, Bruder! Jn mir tobt mehr, als Hoͤllen - qual. Thereſe iſt hin fuͤr mich. Weiſt dus ſchon! Ja, ſie hat mirs geſchrieben, ſagte Siegwart. Hat ſie das? Mir hat ſies auch geſchrieben. O, der Engel iſt verloren! Aber meynſt du, daß das lange waͤhren ſoll? Jch kann auch ſterben, Bruder! Bey Gott! ich kanns auch! Jhr ſeyd rechte Troͤſter, du und Philipp! Aber, ich brauch ja kei - nen Troſt! Der Tod hat ſo viel Troſt; wird mir auch wohl welchen geben! O, der Engel iſt verlo - ren! So ſprach er immerfort, ohne daß Sieg - wart ihm ein Wort antworten konnte, als daß er ihn zuweilen mit Thraͤnen und einſylbichten Woͤr - tern bedauerte. Sie giengen wieder nach Haus. Siegwart bat in der Stille den P. Philipp auf ſein Zimmer, weil er ſich zu ſchwach fuͤhlte, jetzt bey ſei - nem Freund allein zu ſeyn. Philipp wußte ihm466 ſelbſt wenig zu ſeinem Troſt zu ſagen. Sein eig - nes Herz litt zu viel bey den Qualen ſeines jungen Freundes. Er hatte ſelbſt einmal ungluͤcklich ge - liebt; und die Erinnerung aller ſeiner vorigen Lei - den kehrte wieder in ſein Herz zuruͤck. Kronhelm ſprach wenig; er ſah immer mit ſeinen Blicken ſtarr auf Einen Ort, und ſchien gar nichts mehr zu fuͤhlen. Zuweilen nur ward ſein Koͤrper durch einen hervorbrechenden Seufzer ungewoͤhnlich ſtark erſchuͤttert. Die ganze Nacht aͤchzte er, und Sieg - wart, der nicht ſchlafen konnte, aber doch ſich ſtell - te, als ob er ſchliefe, hoͤrte ihn oft mit ſich ſelbſt, aber immer abgebrochen, ſprechen. Er litt bey den Leiden ſeines Freundes, und bey den Qualen ſeiner Schweſter, deren tieffuͤhlendes Herz er kann - te, unendlich viel. Den andern Morgen ſaß Kronhelm immer auf der Stube, und ſchrieb; denn es war ein Sonntag. Siegwart ſtoͤrte ihn nicht, und ſchrieb indeſſen an ſeine Schweſter. Endlich gab ihm Kronhelm ein Blatt, und ſagte: Jch will deiner Schweſter keinen Brief mehr ſchrei - ben, ſie hat mirs verboten. Aber nur um Eine Wohlthat fleh ich dich; die muſt du mir gewaͤh - ren. Schreib dieſes Blatt ab, es iſt kein Brief, was ich geſchrieben habe. Es iſt mein letztes Ver -467 maͤchtnis an Thereſen. Schreib es ab, und legs in deinen Brief, ohn ein Wort davon zu ſchrei - ben! Verſag mir dieſe letzte traurige Wohlthat nicht! Siegwart wagte es nicht, ſeinem Freund zu widerſprechen, und ſchrieb folgendes ab:

Stirb nur, Engel! Jch flehe Gott darum, und folg dir bald nach. Dieſe Welt iſt viel zu klein fuͤr Liebende. Wenn ich die Stern am Himmel funkeln ſeh, ſo denk ich: Einer von den Sternen allen wird doch einen Wohnplatz fuͤr die Liebe ha - ben. Du Gott, kannſt dein Kind, dein herrliches Geſchoͤpf, nicht ganz aus deinem Weltgebaͤu ver - bannen. Ja, ſie lachen mir lieblicher die Sterne. Dieſer Stern dort mit dem blaͤulichen und reinen Lichte winkt mir. Stirb nur Engel! ſieh, er lacht uns. Fall in Staub dahin, du ſchwa - che Huͤtte! denn du haſt genug geduldet. Hat dich nicht der Sturm des Lebens gnug erſchuͤttert? Auf mein Geiſt! und ſchuͤttle deine Thraͤnen ab. Auf zum Stern mit dem blaͤulichen und reinen Lichte! Die Natur iſt todt; ſie iſt geſtor - ben. Willſt du laͤnger hier im Thal des Todes weilen? Ach, Thereſe, laß uns eilen an den Ort, wo keine Menſchen ſind! Denn der Menſch iſt hart und grauſam. Weine nicht, du Theu -468 re! Dieſe Nacht im Traume hab ich ihn geſehn, den Tod. Er iſt ein hellleuchtender Engel, und hat Palmen in der Hand zum Troſt der Liebenden… Und du weinft noch? Sieh, ich laͤchle ja; der En - gel mit den Palmen hat uns zugewinket, dir und mir. Wohlauf, ihr Menſchen, raubt mir mei - ne Liebe! Unter Engeln wohn ich. Raubt mir meine Liebe! .. Warum wein ich denn, du Theu - re? Kann doch die Natur nicht weinen. Schau hinaus! Sie iſt verſteinert. Auch der Bach, der immer weinte; auch die Donau ſteht verſteinert da. Weine doch, o Donau, daß ich einen Geſpielen ha - be meiner Thraͤnen! .. Wenig Tage noch, ſo ſind wir hingewandelt, ins Gefild der Liebe… Duld, o meine Liebe! Sey getreu bis an das En - de! Sieh! ich will getreu ſeyn, bis ans Ende! Und du willſt mir eine Freundin geben? Duld, o meine Liebe! ſey getreu bis an das Ende! Amen!

Kronhelms Seele verſank in die tiefſte, duͤſterſte Melancholie; ſein ganzer Karakter bekam eine an - dere Wendung. Er ward heftig, und auffahrend, und uͤber alles aͤrgerlich. Sein natuͤrlich ſanftes und gefaͤlliges Weſen verwandelte ſich in eine muͤr - riſche, verdruͤßliche Laune. Alles, was er ſah und hoͤrte, und die ganze Welt ward ihm zuwider. Er469 verachtete das ganze Menſchengeſchlecht; nur den P. Philipp und ſeinen Siegwart nicht. Aber der letztere ſtand doch ſehr viel bey ihm aus. Er konn - te ihm nichts recht machen; jede Bewegung, die er auf dem Zimmer vornahm, konnte ſeinen Freund verdruͤßlich machen, und er verzog die Minen dar - uͤber. Wenn er lachte, war ihms nicht recht; wenn er traurte, auch nicht. Siegwart trug alles mit der groͤßten Geduld, und gab ſeinem Freund in allem nach. Zuweilen uͤberfiel ſeinen Kronhelm ſchnell die Wehmuth, daß er weinen konnte; dann ſprach er von Thereſen. Siegwart konnte ihm we - nig von ihr ſagen, denn ſie ſchrieb nichts mehr von Kronhelm, aber immer traurig und wehmuͤthig. Einmal ſchrieb ſie ihm: Die Urſache meiner Leiden iſt unſre Schwaͤgerin. Sie war einmal bey uns, als ein Brief von dir kam. Jch uͤbereilte mich, und brach ihn auf. Ein verſiegelter Brief von Kronhelm lag darinn. Jch ſteckte ihn ſchnell ein, und ward roth. Das hat ſie vermuthlich gemerkt, und an Kronhelms Vater geſchrieben; denn ſie ſagte gleich: Sie korreſpondiren ja auch mit dem jungen Herrn von Kronhelm? Jch konnte meine Verwirrung nicht verbergen, noch es ganz verheh - len. Kronhelm fieng von neuem an zu toben;470 daß eine ſolche Kleinigkeit an ſeinem Ungluͤck Schuld haben ſollte. P. Philipp ſuchte ihn auf alle moͤg - liche Weiſe zu zerſtreuen; aber es half wenig. Er nahm ihn oft, mitten im Winter, mit ſpatzieren. Das traurige Stillſchweigen der Natur naͤhrte nur ſeine Traurigkeit. Er las in ſeinen Buͤchern nichts, als duͤſtre, wehmuͤthige Stellen. Die Muſik er - goͤtzte ihn auch nicht mehr. Nur zuweilen phanta - ſirte er in lauter Diſſonanzen und wimmernden Toͤnen. Die Einſamkeit war ihm das liebſte, und ſie lobte er allein. Oft pries er unſern Siegwart wegen des Entſchluſſes ſelig, die Welt zu verlaſſen, und ſich in ein Kloſter zu verſchlieſſen. Das war gewiß ein weiſer und ungluͤcklicher Mann, ſagte er, der wie ich geliebt hat, der zuerſt den Einfall hatte, in eine Einſiedeley zu ziehen, oder ſich durch Mau - ren vom unſeligen Menſchengeſchlecht abzuſondern. Man muß aufhoͤren, ein Menſch zu ſeyn, wenn man gluͤcklich werden will! Jch wollte, daß ich alle meine Leiden mit dir in einer Zelle vergraben koͤnnte!

Dieſe Reden, und das ganze Schickſal ſeines Freundes machte bey unſerm Siegwart den Gedan - ken ans Kloſterleben aufs neue wieder zum allein - herrſchenden und angenehmſten. Er ſah die Liebe471 als die groͤßte Feindin des Menſchengeſchlechts an, und glaubte, ſich nicht ſtark und fruͤh genug vor ihr verwahren zu koͤnnen. Er dachte ſich nur ſeinen P. Anton und die andern Paters, wie ruhig und zufrieden die in ihren Zellen lebten. Er glaubte, die Liebe koͤnne ſich der Kloſtereinſamkeit nicht na - hen, und ſchmachtete recht darnach, bald in dieſem ſichern Hafen einzuſchiffen.

Oſtern ruͤckte nun heran, an dem Kronhelm die Schule verlaſſen, und nach Jngolſtadt ziehen ſollte. Er waͤre gern noch laͤnger in der Nachbarſchaft Thereſens geblieben, ob ihn dieſes gleich nichts half, und hatte deswegen auch an ſeinen Onkel in Muͤn - chen geſchrieben; aber dieſer fand nicht fuͤr gut, es ihm zu erlauben; denn er hatte durch ſeinen Bru - der Veit die Liebe ſeines Neffen erfahren. Ob er gleich von Vorurtheilen ziemlich frey war, ſo konn - te er doch Kronhelms Wahl nicht beguͤnſtigen, denn er hielt ſeine Liebe fuͤr eine voruͤbergehende, aufbrau - ſende Leidenſchaft, und kannte auch das Maͤdchen gar nicht, das er gewaͤhlt hatte. Die Entfernung, hoffte er, wuͤrde die beſte Arzeney fuͤr ſein krankes Herz ſeyn, und ihm bald ſeine vorige Heiterkeit und Ruhe wieder geben.

472

Kronhelm reiſte alſo an Oſtern ab. Sein Va - ter hatte zwar gewollt, er ſollte ihn vorher noch in Steinfeld beſuchen, aber dieß war ihm unmoͤg - lich. Er ſah alle die Vorwuͤrfe voraus, die ihm ſein Vater wegen Thereſen machen wuͤrde, und wußte, daß er dazu unmoͤglich ſtill ſchweigen koͤnn - te. Er verachtete auch ſeinen Vater wegen ſeiner rohen, unmenſchlichen Seele, und wegen ſeines Be - tragens gegen ihn zu ſehr, als daß er nicht ſeine Geſellſchaft ſoviel, als moͤglich, haͤtte vermeiden ſol - len. Bey dem herannahenden Abſchied von ſei - nem innigſten und erſten Freunde, von dem Bru - der ſeiner ewiggeliebten Thereſe, erwachte ſein gan - zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit uͤber, da er die Vorbereitungen zur Abreiſe machte, war er wie betaͤubt; alles war todt um ihn herum; dann uͤberfiel ihn ploͤtzlich wieder eine Aengſtlichkeit; er lief in einen Winkel, um allein zu ſeyn, und ſeine Thraͤnen auszuſchuͤtten. Er erſchrack, wenn er allein war, und Siegwart ungefaͤhr aufs Zim - mer kommen ſeh, und Zaͤhren ſchoſſen ihm in die Augen. Den Tag vor ſeiner Abreiſe gieng er zu Gruͤnbach, um von ihm Abſchied zu nehmen. So viel er auch auf ihn hielt; ſo fuͤhlte er doch nichts da - bey, und ward nicht im mindeſten bewegt. Unten in473 der Thuͤre ſtand Sophie, um ihm auch ihr Lebe - wohl zu ſagen; ſie weinte, und nun weinte er auf einmal mit, weil ihm ſeine Thereſe mit aller Leb - haftigkeit einfiel. Er lief, ſo ſchnell er konnte, uͤber die Straſſe. Dann nahm er von ſeinen Leh - rern Abſchied. Beym P. Johann ward er ſehr bewegt. Der kraͤnkliche Mann wuͤnſchte ihm mit der herzlichſten Ruͤhrung allen Segen des Him - mels. Kronhelm dankte ihm fuͤr ſeinen Unter - richt. Jch wuͤnſche, ſagte Johann, daß meine Leh - ren auch bey Jhm Frucht bringen, und Jhn, wie mich, in Freud und Leid erquicken moͤgen. Sie floſſen aus reinem Herzen, und nie ohne vorher - gehendes Gebeth, daß Gott ſie ſegnen moͤge! Jch wuͤnſchte ſo gern alle Menſchen, und beſonders meine Schuͤler, am meiſten aber Jhn, mein lie - ber Herr von Kronhelm gluͤcklich, weil er ſo ſitt - ſam und rechtſchaffen iſt; und das wird man am erſten durch Religion. Vergeß Er alſo Gottes Wort und meine Lehren nicht! Jch werd oft an Jhn denken, und fuͤr Jhn beten. Denk Er auch zuweilen an mich, und bet Er, daß mich Gott fer - ner treu und geduldig in der Leidenszeit erhalte, die wol nicht mehr lange waͤhren wird. Leb ErH h474wohl! Gott ſegn Jhn! Hier gab er unſerm Kron - helm die Hand; dieſer kuͤſte ſie mit heiſſer Jnn - brunſt, und ließ ſeine Thraͤnen drauf fallen. Der Abend ward auf P. Philipps Zimmer ſehr traurig zugebracht. Kronhelm ſprach faſt gar nichts, und Siegwart auch nur wenig, denn auf beyden lag die Laſt der nahen Trennung ſchwer. Phi - lipp, der nun drey Jahre ſchon unſern Kronhelm gekannt, und ſeine Seele taͤglich unter ſeiner An - fuͤhrung ſich hatte vervollkommen ſehen; der ihn, ob er wol ſein Schuͤler war, wie ſeinen Freund liebte, der jetzt alle ſeine Leiden kannte, und vor - aus ſah, daß ſie ſich nach der Trennung von ſei - nen Freunden noch verdoppeln wuͤrden, war ſelbſt von allen dieſen Vorſtellungen danieder gedruͤckt, und hatte Muͤhe, ſeinen tiefen Kummer zu ver - bergen, um nicht ſeine jungen Freunde noch weh - muͤthiger zu machen. Er noͤthigte ſie, etwas mehr Wein zu trinken, um ihre Traurigkeit in etwas zu zerſtreuen, und ſie wurden wirklich um ein gu - tes munterer. Aber mit den Lebensgeiſtern wach - te bey Kronhelm das Andenken an Thereſen auch wieder lebhafter auf; er nahm ein Glas; ſtand auf; brachte Thereſens Geſundheit aus; und trank; und Thraͤnentropfen fielen ihm in den Wein. Alle475 Hinderniſſe, ſie jemals zu erhalten, ſchwanden vor ihm weg. Er fuͤhlte ſich zu allem ſtark, und ſagte, kein Menſch ſolle ſie ihm rauben. P. Philipp hatte ſich dieſer Wendung nicht verſehen; er war geſinnt geweſen, ihm noch etwas Lehren auf den Weg zu geben, ſich in ſein Schickſal zu finden, und nach und nach ihr Bild aus ſeinem Herzen zu entfernen; aber er ſah wohl, daß dieſes jetzt uͤbel angebracht ſeyn, und ſeine Leidenſchaft mehr erhiz - zen wuͤrde; er beſchloß alſo, ihm lieber davon zu ſchreiben, da ohnedieß Brieſe mehr Eindruck ma - chen, als Reden, weil man ſie oͤfter leſen, und die darin enthaltenen Ermahnungen mehr uͤberdenken kann. Er bat Kronhelm, ihm zuweilen zu ſchrei - ben, und verſprach, es auch zu thun. Kronhelm nahm dieſen Antrag mit Freuden und Dankbar - keit an. Um zehn Uhr nahmen ſie von einan - der Abſchied. Beyde ſprachen wenig, weil Thraͤ - nen ihre Reden erſtickten. Gott ſey mit dir, mein Sohn! ſagte Philipp, und umarmte Kronhelm. Dieſer ſah ſeinen Freund und Lehrer noch einmal an, druͤckte ihm mit unausſprechlicher Empfindung die Hand, und gieng mit Siegwart ſchweigend weg. Als er auf ſein Zimmer kam, ſtand er ans Fenſter, ſah ſtillſchweigend den Mond, und476 die Donau, die in ſeinem Glanz dahin tanzte; und uͤberdachte alle das Gute, was er hier im Kloſter, beſonders von ſeinem lieben P. Philipp genoſſen hatte. Siegwart ſtand am andern Fen - ſter, und weinte. Endlich fieng Kronhelm ſchwei - gend an, das noch noͤthige zu packen. Siegwart half ihm. Es lag noch ein Buch auf dem Tiſch. Willſt du das nicht auch einpacken? ſagte Sieg - wart. Nein, es gehoͤrt dir, ſagte Kronhelm, nimms zum Andenken! Siegwart ſchlug es auf. Es waren Geßners Jdyllen. Vorne ſtand drinn:

Denk, o Lieber! Deines armen Freundes!
Stark, und heiß, und treu, wie Geßners
Schaͤfer, hat ſein Herz geliebt;
Aber weine, Freund!
Jch werde ſterben!
Denn ich liebte ſtark, und heiß, und treu!
Ach die Zeiten ſind dahin,
Da ich gluͤcklich war, wie Geßners Schaͤfer!
Weine, Freund! und denke meiner!

Als dieß Siegwart geleſen hatte, druͤckte er ſei - nen Freund mit heftiger Bewegung an ſein Herz, und weinte. O es muß dir wohl gehen; ſagte477 er. Bleib nur ſtandhaft, und verzag nicht! Dank dir, Lieber! fuͤr das Andenken! Aber ſter - ben muſt du nicht! Schon dich, Lieber! Glaub, es kann dir nicht ungluͤcklich gehen. Jch will dulden, ſagte Kronhelm, ſchreibs auch Thereſen, daß ſie dulde! Hoͤr! Jch kann dirs nicht ver - ſchweigen, was ich vorhab! Jch fahre durch dein Dorf. Es iſt nur zwo Stunden Umweg. Viel - leicht ſeh ich meinen Engel, und werd auf Jahre lang geſtaͤrkt! Um Gottes und Maria willen, nicht! ſagte Siegwart. Willſt du ſie und dich ganz ungluͤcklich machen? Jhr wuͤrdet wieder dop - pelt leiden, wenn ihr aufs neu einander ſaͤhet. Und wenns meine Schwaͤgerin erfaͤhrt, und ſchreibts deinem Vater? Auch meinem Vater wuͤrd es ſehr mißfallen. Thu’s um Gottes wil - len nicht! Nein, ich wills nicht thun, ſag - te Kronhelm weinend. Es war nur ſo ein Ein - fall, der mir erſt geſtern Abend kam. Du haſt Recht; ich kanns nicht thun. Gruͤß den Engel! Segn ihn tauſendmal in meinem Namen! Schreib ihm: Sey getreu bis an das Ende! Hier brach ihm wieder das Herz, daß er nicht weiter ſpre - chen konnte. Siegwart uͤberredete hierauf ſeinen Freund, ſich drey oder vier Stunden nie -478 derzulegen; denn um fuͤnf Uhr war der Mieth - kutſcher beſtellt, der ihn nach Jngolſtadt fuͤhren ſollte. Anfangs wollt es Kronhelm nicht thun, weil er doch nicht ſchlafen koͤnne; aber endlich gab er ſeines Freundes Bitten nach. Siegwart ſah indeſſen die vom Monde blaßerhellte Gegend, war voll tiefer Wehmuth, und ſchrieb in ihr dieſe Ver - ſe nieder:

An meinen Kronhelm, als Er mich verließ.
Die bange Scheideſtunde naht
Mit allen ihren Qualen;
Der Mond beleuchtet ihren Pfad
Mit blaſſen Todesſtralen.
Wo nehm ich Muth, zu ſcheiden, her,
Daß nicht das Herz mir breche?
Schau du, o Gott, vom Himmel her,
Und blick auf meine Schwaͤche!
Leb wohl, du Theurer! Ach, ich kann
Dir keinen Segen geben.
Geh! Leb als Chriſt, und duld als Mann,
Und blick ins beßre Leben!
Vielleicht, daß dir nach langer Nacht
Noch hier ein Morgen glaͤnzet;
479 Vielleicht daß Liebe noch dir lacht,
Und dich mit Freuden kraͤnzet.
Jetzt ſcheiden unter Seufzern wir,
Und treuen Herzenszaͤhren;
Jetzt muß ich ohne Troſt von dir,
Allein, zuruͤcke kehren.
Doch kurze Zeit, ſo werd ich dich,
Geliebter, neu umfangen;
O moͤchteſt du getroͤſtet mich
Und froher dann empfangen!

Siegwart ſchrieb das Gedicht unter Thraͤnen ab, und legte es auf den Tiſch, hierauf las er etwas im Geßner. Um vier Uhr wachte Kronhelm wie - der auf. Einigemal gieng er ſchweigend im Zim - mer auf und ab. Das Gedicht fiel ihm in die Au - gen, er las es, und ſank an die Bruſt ſeines Freun - des. Wie kann ich dir dafuͤr danken, Xaver? ſagte er. Nimms zum Andenken! antwortete Siegwart; ich hab nichts beſſers. Sey ſtandhaft, Lieber! Jn einem Jahr bin ich wieder bey dir. Dann ſolls beſſer mit dir ſtehen, hoff ich. Ach, wie kann das? ſagte Kronhelm. Wenn du nur gleich mit mir reiſteſt! Wie werd ich das allein aus - halten koͤnnen? Gruͤß mir Thereſen! Segne ſie480 tauſendmal! Sag ihr, daß ich ewig ihr gehoͤre, wenn ich ſie auch niemals wiederſehe! Sprich ihr Muth ein und Geduld! Wie viel iſt die Glocke? Jch werd wohl bald fort muͤſſen? Siegwart ſagte, daß es noch eine halbe oder dreyviertel Stunden anſtehen koͤnne. Sie giengen mit einander auf und ab; und ſprachen wenig. Endlich kam der Thorwart, und ſagte, der Fuhrmann ſey da. Nun leb wohl, Liebſter, Beſter! ſagte Kronhelm, und um - armte Xavern. Vergiß mich nicht! Schreib mir oft! Sie hiengen lang an einander, und ſprachen nichts. Als ſie an P. Philipps Zimmer vorbey - giengen, ſagte Kronhelm: Gruͤß mir den lieben Mann tauſendmal! Segn ihn tauſendmal fuͤr alle ſeine Liebe! An der Kutſche umarmten ſie ſich noch einmal und ſchieden.

Siegwart eilte auf ſein Zimmer zuruͤck, um ſei - nem Schmerz freyen Lauf zu laſſen. Er konnte ſich kaum maͤſſigen, rang die Haͤnde, ſprach und weinte laut. Endlich warf er ſich auf ſeine Knie nieder: Gott, du Vater aller! Segn ihn! Troͤſt ihn! Staͤrk ihn! Er iſt der edelſte, der beſte Menſch. Segn ihn! Staͤrk ihn! Troͤſt ihn! Jhn und mei - ne Schweſter! Mach die beyden gluͤcklich! Ach, be - lohn ihm alle Freundſchaft, die er mir erwieſen hat! 481Vergib mir alle Kraͤnkungen, die ich ihm vielleicht, wider Willen, anthat! Gott, vergib mir ſie, und ſegn ihn! O mein Freund, du Theurer! War - um muſt du mich verlaſſen? Gib mir ihn bald wie - der, Gott! Laß mich ihn bald wieder ſehen! Endlich warf ſich Siegwart, vom Wachen und vom Schmerz ermuͤdet, in den Kleidern aufs Bette, um noch ein paar Stunden zu ſchlafen.

Den andern Tag war die ganze Welt ihm oͤde, und ein unausfuͤllbares Leere war in ſeinem Her - zen. Er vermißte ſeinen Kronhelm immer, und wollte alle Augenblick mit ihm reden. Des Abends vergaß er ſich oft ſelbſt, und dachte, ſo oft er je - mand auf dem Gang vor ſeinem Zimmer gehen hoͤrte, ſein Freund komme nun. Dann ſah er ſei - nen Jrrthum; es fiel ihm ein, daß er ferne ſey, und ſeine Wehmuth erwachte ſtaͤrker. Er gieng auf P. Philipps Zimmer, um ihm das letzte Le - bewohl ſeines Freundes zu ſagen; die beyden bra - chen in ſein Lob aus, erzaͤhlten alles, was an ihm vortreflich war, mit Lebhaftigkeit nach einander her, und bedaurten dann gemeinſchaftlich ihren Verluſt. Siegwart zeigte dem Pater den Geßner, den ihm ſein Freund geſchenkt, und was er vorne hinein ge - ſchtieben hatte. Jch bedaure den armen Kron -482 helm, ſagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz unendlich viel gelitten. Er iſt ganz veraͤndert, und ſo ungeſtuͤm und heftig geworden. Man ſieht, daß er doch vieles von ſeines Vaters Temperament ha - ben muß. Seine Einbildungskraft, die ſonſt zu ſchlummern ſchien, iſt ſchrecklich aufgewacht. Das traurigſte iſt, daß er alles ſo tief fuͤhlt, und ſo feſt in ſeinem Herzen verſchlieſt. Die Liebe hat ihm eine tiefe Wunde geſchlagen, und ich fuͤrchte, daß ſie eher nicht, als durch den Beſitz Thereſens geheilt werden wird; aber dieſes iſt ſo weitausſehend und unwahrſcheinlich, daß er vorher druͤber zu Grund gehen kann. Ja, und meine Schweſter kanns auch, ſagte Siegwart. Das arme Maͤdchen leidet ſo viel. Alles, was ſie ſchreibt, iſt ſo duͤſter und ſchwermuͤthig. Und dann ſchrieb ſie mir auch neu - lich, daß ſie kraͤnkle und den Tod hoffe. Jch durf - te das Kronhelm nicht ſagen; er wuͤrde mit ihr ſterben. Ach, die Liebe iſt was fuͤrchterliches, ſagte Philipp. Sie verzehrt die edelſten und beſten See - len. Unter hundert Juͤnglingen und Maͤdchen, welche ſterben, wuͤrde man immer, wenn man ihre Krankengeſchichten wuͤßte, zehen finden, die die Lie - be getoͤdtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe naͤher gebracht hat. Huͤt er ſich, mein lieber Xa -483 ver! ſo viel als moͤglich, vor dem Umgang mit Frauenzimmern! Man muß vorher Vorſicht ge - brauchen. Wenn man ſchon zu lieben anfaͤngt, dann iſt alle Flucht zu ſpaͤt. Huͤt er ſich, da er, nach ſeiner Beſtimmung, nie gluͤcklich lieben kann und darf!

Siegwart gieng auch wirklich deswegen weniger zu Gruͤnbach, weil Sophie allemal aufs Zimmer kam, wenn er da war. Doch glaubte er, hier, von ſeiner Seite ſicher genug zu ſeyn, denn er fuͤhlte keine Neigung zu dem Maͤdchen, ob er ſie gleich ihrer ſittſamen Beſcheidenheit, und ihrer tiefen, richtigen Empfindung wegen, ſehr hochſchaͤtzte. Die Einſamkeit, ſo ſehr er ſie auch liebte, war ihm doch zuweilen unertraͤglich, weil ſie ihn oft gar zu leb - haft und zu traurig an ſeinen Kronhelm erinner - te; und die Liebe zur Muſik, die er jetzt allein we - nig treiben konnte, rief ihn manchen Abend zu Gruͤn - bach. Sophie ſaß oft ganze Stunden lang in einem Winkel da, hoͤrte ihnen zu, und ward im Jnnerſten bewegt. Siegwart ſchrieb das der Muſik zu, was die Liebe bey ihr that. Doch war ſie dabey ſo aͤngſtlich und zuruͤckhaltend, daß ſie ihm nie einen deutlichen und redenden Beweis ihrer Liebe gab. Sie litt in der Stille, verzehrte ſich in ſich ſelbſt,484 und vertraute ihre Seufzer und Thraͤnen nur der Einſamkeit. Sie erlaubte ſich nur ſelten einen Blick auf Siegwart, und zog ihn gleich wieder erſchrocken zuruͤck, wenn er ſie anſah. Er ſelbſt war in der Liebe noch zu unerfahren, als daß ers haͤtte mer - ken ſollen. Wenn ſie am Klavier ſpielte und ſang, ſo bebte ihre Stimme, weil ſie ſich durch zu vielen Ausdruck zu verrathen fuͤrchtete. Zuweilen war ihr Ton ſo wehmuͤthig und ſchmelzend, daß Sieg - wart innigſt dadurch geruͤhrt wurde, und da glaubte ſie, er ſey gegen ſie nicht ganz gleichguͤltig; und dieß naͤhrte ihre Liebe.

Acht oder zehen Tage nach Kronhelms Abreiſe bekam Siegwart folgenden Brief von ihm:

Einziger und liebſter Freund!

Frag mich nicht, wie ich lebe? Dein eignes Herz muß Dir antworten: bang und elend. O Lieber! was iſt doch des Menſchen Leben? Schon ſo elend oft im Arm des Freundes! Was iſts ohne Freund? Wenn ich nicht eine Religion haͤtte, die mich dul - den lehrte, weil ſie dem Dulder Kronen zeigt, ſo ſucht ich einen Ausweg. Dank Dir fuͤr Dei - nen lieben Vers, den ich hundertmal auf dem Weg hieher wiederholte:485

Geh! Leb als Chriſt! und duld als Mann!
Und blick ins beßre Leben!

Jch wuͤrde hier in Jngolſtadt unzufrieden ſeyn, wenn ich auch ein geſunderes Herz mitgebracht haͤt - te. Die Lage des Orts iſt verdruͤßlich und ber - gicht. Jn der Stadt ſind lauter Miſthaufen. Wir ſind bisher immer in ſtinkende und ungeſunde Ne - bel eingehuͤllt geweſen. Man ſoll leicht Krankhei - ten davon kriegen. Das waͤre noch das beſte, wenn mich eine ſuchen, und es enden mit mir wollte! Aber man ſagt, der Tod ſey der Ungluͤckli - chen Freund nicht. Die Geſellſchaften unter den Studenten hier ſind ekel, elend und mehr als ein - ſchlaͤfernd. Die Leute koͤnnen kaum deutſch. Er - baͤrmliches Kuͤchenlatein wird uͤberall geſprochen. Laß dichs ja nicht merken, wenn Du hier biſt, daß Du deutſche Verſe, noch weniger von einem Pro - teſtanten leſeſt. Dieß waͤre ſchon genug, Dich laͤ - cherlich zu machen, und zum Ketzer. Jch waͤre bald um meine deutſche Buͤcher und um meinen Klopſtock gekommen. Ein Student, der mich be - ſuchte, ſah, daß vorn auf dem Titel: Halle ſtand. Das iſt ja wohl bey den Ketzern, ſagte er. Ja, antwortete ich, Halle iſt ein proteſtantiſcher Ort im Preuſſiſchen. So laſſen Sie ja das Buch nicht486 oͤffentlich ſehen! ſagte er ganz aͤngſtlich; das wuͤrd Jhnen gleich weggenommen werden. Man iſt hier gar ſcharf. So, ſagte ich, denket man hier ſo? und ſchnitt das Titelblatt heraus; und ſo hab ichs auch mit meinen andern Buͤchern gemacht. Brauch dieſe Vorſicht auch, mein Lieber! Du kannſt aus dieſem wenigenſehen, wies hier ausſieht? Beym alten und beym jungen Herrn von Jckſtatt hab ich Aufwartung gemacht; das ſind noch Leute, die bil - lig und vernuͤnftig denken. Aber der junge Herr hat auch auf einer reformirten Univerſitaͤt, ich denk, in Marpurg ſtudirt.

Wann nur Du hier waͤreſt, Lieber! dann waͤr mir jeder Ort noch ertraͤglich; aber ſo kann ichs kaum aushalten. Jch irre allein auf den Bergen herum, ſpreche mit mir ſelber laut, und wein um Thereſen und uͤber mein Schickſal. Was macht der Engel? Das wollt ich Dich zuerſt fragen. Jch hab ihren Namen in Buchen eingeſchnitten und in Felſen geritzt an der Donau. Schreib ihr, daß ich dulde, und getreu ſey! Jch ſah den Himmel, der ihr Dorf umzieht, und weinte. Damals konnt ich beten; noch ſelten konnt ichs. Mein Vater hat mir geſchrieben, und mir fuͤrchterlich gedroht. Jch lache ſeiner Drohungen. Mir kann nichts487 mehr ſchaden auf der Welt. Vor zwey Tagen war ich etwas unpaß. Jch dachte, der Tod wuͤrde kommen, aber er wars nicht. Jch habe Thereſen geſehen im Traum, ſie hatte ein hellleuchtendes Ge - wand an, und lachte. So ſeh ich ſie nun immer vor mir. OLieber! ich duld unausſprechlich viel; ſo allein, und ſo elend! komm doch bald! Nicht wahr? Thereſe ſchreibt Dir nichts von mir? Warum thut ſies nicht? Bin ichs nicht werth? O Gott, du weiſt, daß ichs bin. Hier leg ich einen Brief bey, an den rechtſchaffnen P. Philipp. Gruͤnbach muſt Du gruͤſſen! Jch kann nicht ſchreiben. Jch bin nie ſo unthaͤtig geweſen. Zu nichts kann ich mich entſchlieſſen. Thereſens Namen kritzl ich auf jedes Papier, in jeden Tiſch, und loͤſch ihn wie - der aus. Gruͤß den Engel tauſendmal, und ſchreib mir von ihm! Komm bald und hilf mir meine Lei - den tragen! Sie ſind ſchwer.

Dein
Kronhelm.

Siegwart antwortete ſeinem Freund ſogleich, und ſuchte ihn, ſo viel als moͤglich war, zu troͤſten. We - gen Thereſen ſchrieb er ihm wenig, und weiter nichts, als: ſie habe ſich nach ihm erkundigt, und488 ſcheine, nach Umſtaͤnden, ziemlich ruhig. Dieß ſchrieb er nur, um ſeinen Freund zu ſchonen. Aber im Grunde war Thereſe ſehr elend. Sie hatte ihm kuͤrzlich, in Abſicht auf Kronhelm, folgendes geſchrieben:

Jch kann Jhn nicht vergeſſen. Tag und Nacht ſchwebt er mir vor Augen: Das Andenken an die ſeligſten von allen Tagen quaͤlt mich ganze Naͤchte durch, und raubt mir den Schlaf, die ein - zige Wohlthat, die der Leidende hienieden bat. Jch fuͤhls durch mein ganzes Weſen, daß nur Er, der Einzige, mich meiner Qual entreiſſen, und mich wieder gluͤcklich machen koͤnnte. Aber ich kann und will ihn nicht beſitzen! Jch wuͤrde ſeine Hand aus - ſchlagen, wenn er ſie mir heut anboͤte, denn er ſoll durch mich nicht auf ſein ganzes Leben ungluͤcklich werden. Jch weis, ſein Vater und ſeine Verwand - ten wuͤrden ihn durch Spott und Verachtung zu Tode quaͤlen. Jch waͤr eine Schlange an ſeinem Buſen, die er mit ſeinem eignen Leben naͤhrte. Schreib ihm, aber nicht gerade zu, daß er alle Hofnung aufgiebt! Jch will nie die Seinige wer - den! Er ſoll mich vergeſſen! Gott! wie iſt das Wort ſo hart! Aber ſchreib ihms doch! Vielleicht thut ers, und das wollt ich, denn es wuͤrd mich489 toͤdten… Unſer redlicher Vater leidet mit mir, und zehrt ſich ab. Das iſt mein groͤſter Schmerz. Jch verberg ihm meine Qual, ſo viel ich kann; Schlieſſe ſie in meinen Buſen ein, und ich fuͤhls, daß ſie ſchon mein Herz angefreſſen hat. Es wird bald brechen. Wuͤnſch mir Gluͤck dazu, Bruder! Es iſt Wohlthat. Jch leid jetzt doppelt. Jn - nerlich tobt verzehrende Glut, und auſſen kalte, ſpoͤttiſche Verhoͤhnung. Salome iſt hier, und bringt unſre Schwaͤgerin, die wieder aus dem Wochenbett aufgeſtanden iſt, taͤglich ins Haus. Da hoͤr ich nichts als Spoͤttereyen und muß dazu ſchweigen. Das kraͤnkt mehr als alles! Und doch unterſtuͤtzt mich Gott! Jch hab oft heitre Stunden, kann ſogar zuweilen hoffen, aber freylich nur wie Abadonna, auf Begnadi - gung. Klopſtock iſt auch ein Freund der Leiden - den; er erquickt mich oft. Nun kann ich ihn erſt ganz ſchaͤtzen. Denn im Leiden ſieht man, was ein Freund iſt; und das iſt er uͤber alle Maaßen, Gott und Er! Auch Hauptmann Northern bedauert mich, und der alte Pfarrer. Northern meynt, Kronhelm ſoll in ſeines Koͤnigs Dienſte treten, und mich mitnehmen. Er will ihn em -J i490pfehlen. Aber ich wills nicht, obs gleich Troſt waͤre. Kronhelm ſoll ganz gluͤcklich werden! Mit mir kann ers nicht. Jch beſchwoͤre dich bey allen Heiligen, Bruder! ſag ihm nicht ein Wort davon! Gruͤß ihn nicht von mir! Er wuͤrde hoffen, und betrogene Hoffnung toͤdtet. Leb wohl, theurer Bruder! Bitt fuͤr mich um Geduld und Erloͤ - ſung!

Siegwart folgte dem Rath ſeiner Schweſter, und ſchrieb ſeinem Freund nur einzelne Worte von Thereſen. Kronhelm haͤrmte ſich daruͤber ſehr ab, und ſein innrer Gram nahm immer zu.

Der alte Gruͤnbach hatte dieſes Fruͤhjahr einen Garten gekauft, in dem ſein Sohn und Siegwart ſich ſehr viel aufhielten. Sie ſpielten nun auch die Floͤte, und brachten damit manchen ſchoͤnen Fruͤh - lingsabend hin. Sophie nahm ihre Arbeit mit hinaus, ſaß bey ihnen im Gruͤnen, hoͤrte ihrer Muſik zu, und ſang zuweilen eine Arie. Oft blieben ſie des Abends noch da; ſpielten im Mond - ſchein; die Nachtigall ſang dazwiſchen; und Sophie weinte. Oft lud ſie auch die ſtille Nacht zu ver - traulichen und halb melancholiſchen Geſpraͤchen ein. Sie unterhielten ſich ſehr oft von Kronhelm. So - phie hatte ſeine tiefe Traurigkeit vom erſten Augen -491 blick an bemerkt, und ſogleich die Urſache davon er - rathen. Denn die Liebe macht ſcharfſichtig; und Liebende erkennen ſich, ſo wie edle Seelen, meh - rentheils beym erſten Anblick. Sie fuͤhlte tiefes, inniges Mitleid mit ihm; dieſes lehrt die Liebe.

Kronhelm muß recht ungluͤcklich ſeyn, fieng der junge Gruͤnbach einmal an; ſeine Briefe ſind ſo duͤſter. Jch moͤchte wohl wiſſen, was ihm fehlt? Siegwart war auſſerordentlich gewiſſenhaft in der Freundſchaft. Er glaubte ſeinen Freund zu beleidigen, wenn er eine Sache, um die er gefragt wuͤrde, verſchwiege, oder ſie nicht zu wiſſen, vorgaͤ - be. Dieß machte ihn, ſobald er mit einem Freund allein war, ſehr offenherzig; wozu noch ſeine edle Denkungsart kam, die ihn von den meiſten gut den - ken, und faſt jeden nach ſich beurtheilen lehrte. Er war alſo auch dießmal auf Gruͤnbachs Frage ziem - lich offenherzig, und ſagte: Jch fuͤrchte, daß der ar - me Kronhelm ungluͤcklich liebt; er ließ mich eini - gemal etwas davon merken. Dann bedaur ich ihn von Herzen, ſagte Sophie, und ſuchte bey die - ſen Worten einen Seufzer zu unterdruͤcken. Weichherziges Geſchoͤpf! ſagte Gruͤnbach.

Siegwart. Wie, Bruder? Das iſt doch kein Tadel?

492

Gruͤnbach. Tadel nicht. Aber es ſteht doch auch nicht fein, gleich ſo weinerlich zu thun. Freylich, Maͤdchen muß man das verzeihen.

Siegwart. Ja, wenn Mitleid Fehler iſt. Aber ich halts fuͤr einen Vorzug des weiblichen Ge - ſchlechts. Wir thun oft ſo hart und rauh; und doch wuͤrden wirs einem Freund uͤbel auslegen, der nicht Antheil dran naͤhme, wenn uns ein Ungluͤck, oder eine Krankheit zuſtoͤßt.

Sophie. Jch will mich meines Mitleids eben nicht ruͤhmen, denn man iſt immer etwas eigen - nuͤtzig dabey, weil man ſelbſt Vergnuͤgen daruͤber fuͤhlt, und ſich beym Mitleid wohlgefaͤllt; aber ich halte dieſes Gefuͤhl fuͤr eine Wohlthat Gottes; und einen ungluͤcklich Liebenden zu bedauren, halt ich fuͤr die erſte Pflicht, weil ſein Leiden wirklich groß ſeyn muß.

Siegwart. Ja, gewiß groß, Jungfer Sophie! Jch habs bey meinem Freund erfahren. Ach, wenn er ſo des Abends bey mir ſaß im Mondſchein, oder in der Daͤmmerung; mir meine Hand druͤck - te, und dann ſchwer aufſeufzte, da fuͤhlt ichs ganz, welche Qual in ihm toben mußte.

493

Gruͤnbach. Ja das ſind ſo Empfindungen, die man zuweilen hat; aber Kronhelm ſollte ſelbſt mehr Mann ſeyn.

Siegwart. Mann ſeyn? Haͤltſt du Liebe gar fuͤr eine Schwachheit? Jch liebe ſelbſt nicht, Gruͤn - bach! Wuͤnſch auch nie zu lieben; aber das weis ich, daß die edelſten und groͤßten Menſchen auch geliebt haben.

Gruͤnbach. Geliebt; das will ich nicht leugnen. Nur nicht klagen ſoll man, wenns nicht gehen will!

Siegwart. Als ob man nicht ſchon uͤber koͤrperli - che Leiden klagte! Und Seelenleiden ſind doch wohl noch groͤſſer. Ein vollkommenes Geſchoͤpf zu ſehen, deſſen man ſich werth fuͤhlt, und von ihm verkannt, oder misverſtanden zu werden, das muß ſchmerzen. Und noch groͤſſer muß der Schmerz ſeyn, wenn man gekannt, verſtanden und geliebt wird; wenn man fuͤhlt, daß man im Beſitz dieſes Geſchoͤpfes das ſeligſte Leben koſten koͤnnte, und nun macht uns Vorurtheil, oder unnatuͤrliches Verhaͤltniß in der Welt, oder Eigenſinn der Eltern und Verwandten den Beſitz dieſer Seligkeit unmoͤglich. Jſt es da noch Schwachheit, wenn man leidet; ſeine Leiden nicht ganz verbergen kann, und zuweilen in unge - duldige Klagen ausbricht? Kronhelm hat ſonſt ge -494 wiß maͤnnliches genug! Aber ich glaube, je zarter und richtiger und tiefer einer fuͤhlt, und je mehr er ſeinen eignen Werth kennt, deſto mehr muß ihn un - gluͤckliche, verſchmaͤhte, oder durch Lumpenumſtaͤnde zernichtete Liebe kraͤnken. Nein! ich bedaure meinen Freund im Jnnerſten der Seele, und ſchaͤtz ihn nur noch hoͤher, ſeit ich geſehen habe, wie er mit ſich ſelbſt ringt, und doch ſeinen Schmerz ſo bekaͤmpft, daß er niemals ganz verzagt.

Sophie. Hat denn der Herr von Kronhelm gar keine Hofnung, daß er in ſeiner Liebe jemals gluͤcklich werden wird?

Siegwart. Wenig, oder keine, Jungfer Sophie!

Sophie. Das iſt traurig! Wenn ich an ſeiner Stelle waͤr, ich gieng ins Kloſter. Ueberhaupt halt ich viel vom Kloſterleben. Man kann da all ſein Leid in der Stille ſo verſeufzen, und wird von Men - ſchen nicht geſtoͤrt. Die Einſamkeit iſt des Men - ſchen beſte Freundin, und die wohnt im Kloſter.

Siegwart. O, da haben Sie vollkommen recht, Jungfer Sophie. Ja, das Kloſterleben geht vor allem andern. Jch weis, wie es da ſo gut iſt, und kanns kaum erwarten, bis ich da bin.

Jndem ſetzte ſich eine Nachtigall nahe bey ihnen auf einen bluͤhenden Apfelbaum, und fieng an, aus495 voller Kraft zu ſchlagen. Auf Einmal ſchwiegen die jungen Leute, horchten zu, ſahn einander oft mit Verwunderung an, und nickten ſich laͤchelnd zu, wenn die Saͤngerin mit ihren Toͤnen auf den hoͤch - ſten Gipfel ſtieg, dann wieder langſam und weh - klagend ihren Ton herabſenkte. Oft druͤckte ſie die ganze Sehnſucht und das Schmachten aus, mit dem Sophiens Seele an Siegwarts ſeiner hieng. Das arme Maͤdchen mußte weggehn, und weinen, Sie gieng einen Heckengang hinauf, und blieb alle Augenblicke ſtehen. Siegwart kam durch einen an - dern Weg, oben in den Gang herunter. Er ſtand auch ſtill, und hoͤrte den Geſang der Nachtigall, die nun nahe bey ihm auf den Zweigen ſaß. Dann gieng er allmaͤhlig auf Sophien zu, nahm ſie in der Entzuͤckung bey der Hand. Ach, Sophie, ſagte er, das iſt himmliſch! Sie ſind auch bewegt. Es geht ihnen wohl wie mir; ich denk immer an ei - nen ſolchen Abend, wenn die Nachtigall ſo ſingt, und die Sterne hell blinken, an Perſonen, die ich liebe, oder an Verſtorbne. Ach das Bild mei - ner Mutter ſchwebt halbſichtbar um mich her, und ich preiſe ſie ſelig, daß ſie ſchon bey Gott iſt. Auch ich, ſagte Sophie, denk an See - len, die ich liebe. Verzeihn ſie, daß ich ſo bewegt496 bin! Ach, ich hatt einſt eine Schweſter, die iſt nun bey Gott. Die war mein Alles, meine innigſte, vertrauteſte Freundin. Sie ſtarb in meinem Arm; ach, wenn ich nur ſchon bey ihr waͤre! Sie iſt gluͤcklich, uͤber alles gluͤcklich! Und auf Erden kann mans nicht ſeyn. Hier ſah ſie unſern Siegwart mit einer Wehmuth an, die ihm durchs Herz drang. Wir werdens auch einſt; ſagte er; druͤckte ihr, ohne daß ers wußte, die Hand, und wiſchte ſich die Augen. Sophie blickte auf die Seite, und Thraͤnen fielen aufs junge Gras.

Seit dieſem Abend ward Sophie immer duͤſtrer und ſchwermuͤthiger. Die Worte Siegwarts: Jch liebe ſelbſt nicht; wuͤnſch auch nie zu lieben waren wie ein Dolch in ihre Seele gedrungen. Sie hatt es bisher nur halb geglaubt, daß er in ein Kloſter gehen wolle; nun hatte ſie’s aus ſeinem eignen Mun - de gehoͤrt. Alle Hofnung war nunmehr fuͤr ſie verſchwunden; ſie gab ſie ſelbſt auf, und nahm ſich ſehr in Acht, ihn zu ſehen. Ganze Tage lang war ſie auf ihrem Zimmer eingeſchloſſen, ſeufzte, betete, ſtickte traurige Geſchichten auf die Leinwand, oder verlohr ſich in wehmuͤthigen und ſchwaͤrmeriſchen Phantaſien am Klavier. Oft ſchrieb ſie auf ein Papier, das ſie ſorgfaͤltig verſchloß. Alle Morgen497 gieng ſie ins Frauenkloſter in die Fruͤhmeſſe, und naͤhrte da ihre Phantaſie, bey der feyerlichen Mu - ſik, die die Nonnen machten, mit Bildern von uͤber - irrdiſcher Liebe und himmliſcher Seelenfreundſchaft. Seit ſie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloſter gehen wuͤrde, war es auch bey ihr feſtgeſetzt, ſich einkleiden zu laſſen. Der Gedanke hatte tauſend Reiz fuͤr ſie, ſich eben ſo wie der, den ihre Seele liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben ſo, wie er, in der Stille, und von der Welt abgeſondert, ſich mit dem Heiland zu vermaͤhlen; und einſt als eine keuſche Braut dem, den ſie hier umſonſt liebte, als ihrem Braͤutigam entgegen zu gehen. Sie er - hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das Leſen einiger myſtiſchen und andaͤchtigſchwaͤrmeri - ſchen Buͤcher. Jhr Herz ward mit einer anſchei - nenden Verachtung der Welt erfuͤllt, die an ſich mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be - trogner Hofnung herruͤhrte. Wenn ſie Siegwart Einmal wieder ſah, ſo war ihre Seele wieder ganz aus ihrer Faſſung gebracht; die Welt zog ſie wieder an ſich, und ſie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei - tende Phantaſie ſie aufs neu in den taͤuſchenden Schlummer wiegte. Oft glaubte ſie, ganz ruhig und ganz gluͤcklich zu ſeyn; aber der innre Gram ver -498 ſchmaͤhter Liebe nagte unſichtbar an ihrem Leben; ihre Kraͤfte verzehrten ſich allmaͤhlig: ihre Wangen bleichten ab; ihre Augen verlohren das lebhafte Feuer, und die zarte Pflanze welkte hin. Jhr Va - ter und ihre Mutter merkten endlich die Veraͤnde - rung, und wurden ſehr bekuͤmmert druͤber. Sie drangen oft mit Bitten in ſie, ihnen die Urſache ihres Kummers zu entdecken, aber Sophie ant - wortete nur mit Thraͤnen, gab die Urſach ihrer Krankheit fuͤr eine natuͤrliche Auszehrung aus, und entdeckte ihren Eltern den Wunſch, den Reſt ih - res Lebens im Kloſter zubringen zu koͤnnen. Die Eltern wollten lange nicht daran, weil dadurch alle die ſchoͤnen Hofnungen vereitelt wurden, die ſie ſich einſt von ihrer Tochter verſprachen, aber endlich gaben ſie nach, weil ihr Beichtvater, dem Sophie ihren Wunſch anvertraut hatte, auch ſehr daran ar - beitete, und es ihnen zur Gewiſſensſache machte, wenn ſie ihre Tochter von einem ſo heilſamen Ent - ſchluß abhielten, und Gott und dem Himmel eine Seele zu ſtehlen ſuchten. Sophie erhielt endlich die Erlaubnis von ihren Eltern, auf Michaelis das Noviziat bey den Nonnen anzutreten.

Siegwart erzaͤhlte das alles ſeinem P. Phi - lipp, der ſogleich die Urſache von Sophiens trau -499 rigem Zuſtand errieth. Er ſuchte daher Xavern ſo viel als moͤglich abzuhalten, daß er nicht viel in Gruͤnbachs Haus oder Garten gieng, weil er ver - muthete, Sophie wuͤrde mehr leiden, je oͤfter ſie ihn ſaͤhe. Daher lud er den jungen Gruͤnbach oͤf - ters zu ſich, oder gieng mit den beyden Juͤnglingen ſpatzieren, und machte Anſtalt, daß der junge Pa - ter oft im Kloſter ein Konzert anſtellte, damit ſie doch die Muſik forttreiben koͤnnten. Um dieſe Zeit ſtarb P. Johann ploͤtzlich. Man traf ihn Mor - gens mit gefalteten Haͤnden in ſeinem Bette todt an. Der gute Mann ward allgemein bedauert; am mei - ſten aber von P. Philipp und von Siegwart. Bey - de giengen mit ſeiner Leiche auf den Kirchhof, ſahn den Redlichen in die Ruheſtaͤtte legen, und ſegne - ten ſein Andenken mit tauſend Thraͤnen. P. Hya - cinth ward nun an ſeine Stelle zum Lehrer der The - ologie ernannt, und nun ſah Siegwart den Unter - ſchied erſt recht zwiſchen einem redlichen Mann, der die Lehren der Religion aus Ueberzeugung und mit Waͤrme, weil er ihre Kraft ſelbſt ſo oft an ſich gefuͤhlt hat, andern vortraͤgt; und zwiſchen einem Eiferer, der den Religionsunterricht als Handwerk anſieht, und ſein Gedaͤchtnis blos mit Worten oh - ne Saft und Kraft, und mit der Geſchichte von500 nichtswuͤrdigen Streitigkeiten und Zaͤnkereyen an - gefuͤllt hat. Dieſer trockne und muͤrriſche Mann entleidete unſerm Siegwart, der nur Leben und Waͤrme, beſonders in der Religion ſuchte, den Auf - enthalt auf dem Kloſter ziemlich. Er ſehnte ſich nach ſeinem lieben Kronhelm, der ihm viele, aber immer die klaͤglichſten und ſchwermuͤthigſten Brie - fe ſchrieb, und ihn aufs herzlichſte bat, ja recht bald nach Jngolſtadt zu kommen!

Thereſe ſchrieb ihm auch noch immer traurig, aber doch gelaſſen. Jhr Schmerz daurte zwar be - ſtaͤndig fort, aber ſie gewoͤhnte ſich nach und nach daran, und klagte weniger. Ungefaͤhr in der Mit - te des Sommers ließ ſie ihren Bruder einmal drey Wochen lang auf Briefe warten. Er ward ver - druͤßlich druͤber, und konnte ſich die Urſache ihres Schweigens nicht erklaͤren. Als er an einem Sonnabend wieder einmal vergeblich gewartet hat - te, ſo ſchlug ihm P. Philipp auf den Nachmittag einen Spatziergang vor. Sie giengen zwiſchen den Kornfeldern hin, und ein Bettelbube bat ſie wei - nend um ein Allmoſen. Ach, liebe geiſtliche Herren, ſagt er, mir iſt ſo gar uͤbel g’fehlt! Vor drey Ta - gen iſt mein Vater g’ſtorben, und nun hab ich kei - nen Menſchen auf der Welt mehr. Siegwart griff501 hurtig in die Taſchen, gab ihm reichlich, und ſag - te dann zu P. Philipp: Lieber Gott! was iſt das traurig, wenn man ſich an gar keinen Menſchen auf der Welt halten kann!

P. Philipp. Ja wohl hat man Gott zu danken, wenn man ſeine Eltern und Verwandte hat; man kann nie genug thun, um ihnen das Leben ange - nehm zu machen und ſie nicht zu kraͤnken.

Siegwart. Das hab ich auch immer bey mei - nem Vater gedacht. Ach, ich wuͤſte nicht, was ich anfangen ſollte, wenn er ſtuͤrbe.

P. Philipp. Und doch muͤſt Er Gott danken, daß er ihn Jhm ſo lang erhalten hat. Er hat doch ſeine Erziehung ganz genoſſen, und kann ſich ſchon eher ſich ſelbſt auf der Welt fort bringen.

Siegwart. Das wohl, Gottlob! Aber es waͤr doch fuͤr mich das groͤſte Ungluͤck!

P. Philipp. Und doch muß Ers mit Gelaſſen - heit annehmen, die Nachricht moͤchte heut oder morgen kommen. Sein Herr Vater kann doch nicht ſo jung mehr ſeyn?

Siegwart. Neun und funfzig, glaub ich, wird er auf den Herbſt alt werden.

P. Philipp. Sieht Er, das iſt doch ſchon ein Al - ter, bey dem man ein bischen Sorge haben kann. 502Mach Er ſich auf alle Faͤlle gefaßt! Es koͤnnte bald eine ſchlimme Nachricht einlaufen.

Siegwart. (Sah den Pater aͤngſtlich an) Herr Profeſſor ich fuͤrchte

P. Philipp. Ach, mein lieber Siegwart! Es thut mir leid .. aber ich muß ihms ſagen

Siegwart. Was! Jſt er todt? Gott im Himmel!

P. Philipp. Todt nicht, mein Lieber! Aber

Siegwart. Aber krank! Ja, ſagen Sies nur! Jch ſehs Jhnen an.

P. Philipp. Nur gelaſſen! Und bedenk Er, daß Er ein Chriſt iſt! Jch hab wuͤrklich heute Nach - richt bekommen, daß ſein Vater gar nicht wohl iſt.

Siegwart. Lieber, lieber Gott! Ach das iſt ja ſchroͤcklich! Wie wird mirs gehn?

P. Philipp. Jch hab ihn ſchon gebeten, etwas gelaſſener zu ſeyn. Vielleicht iſt noch Hofnung da.

Siegwart. Ja damit wirds wohl vorbey ſeyn!

P. Philipp. Das weiß er ja noch nicht. Er weiß noch keine Umſtaͤnde. Wenn er ſich erſt etwas ge - ſaßt hat, ſo will ich ihm einen Brief geben.

Siegwart. O ich bin ſchon gefaßt! Lieber Herr Pater! Geben Sie mir nur den Brief her!

503

P. Philipp. Er iſt ſchon gefaßt? Hoͤr er mich erſt an! Seine Schweſter hat mir geſchrieben, und mich himmelhoch gebeten, ihm erſt Muth ein - zuſprechen. Jch glaub, er iſt nun vorbereitet. Sieht er, ſein Vater iſt ſchnell krank geworden; es ſieht mislich mit ihm aus; aber man kann noch nichts gewiſſes wiſſen; der Arzt iſt erſt aus der Stadt ge - holt worden. Halt Er ſich an Gott; es mag gehen, wie es will! Bedenk er, daß es Gott noch nie boͤs mit ihm gemeynt hat! Da kann er nun den Brief ſelber leſen.

Siegwart las ein kleines Briefchen von There - ſen hurtig und zitternd durch; die Thraͤnen ſtuͤrzten ihm aus den Augen; er ſteckte es ſchweigend ein. Das iſt fuͤrchterlich! ſagte er nach einer langen Pau - ſe; Gott ſteh mir bey, und helf mirs tragen! Jch hab mir tauſendmal gewuͤnſcht, eher zu ſterben, als mein Vater, um den Schmerz nicht zu erleben; und nun kommts doch

P. Philipp. Seiner Zaͤrtlichkeit und kindlichen Liebe macht das ſehr viel Ehre, mein lieber, bra - ver Xaver! Aber denk er nur, wenn all unſre Wuͤnſche erſuͤllt wuͤrden, zumal ſolche

Siegwart. Jſt der Wunſch etwa ungerecht?

504

P. Philipp. Mir deuchts ſo. Wenn alle Soͤh - ne vor den Vaͤtern ſtuͤrben, wo kaͤm eine Nachwelt her? Der Menſch muß ſich in einer Welt, die der Veraͤnderung ſo unterworfen iſt, im Voraus und in frohen Tagen auf alles Widrige gefaßt machen. Jch fuͤrchte, daß ihm bey ſeinem gefuͤhlvollen Her - zen noch groͤſſere Pruͤfungen und Leiden bevor - ſtehen.

Siegwart. Groͤßre Leiden kanns nicht geben, wie dieſes iſt!

P. Philipp. So muß er jezt auch denken. Aber alles kommt auf die Lage an, in der uns ein Lei - den trift; je, nachdem wir geſtimmt ſind; nach - dem’s eine Saite unſers Herzens trift. Jch tadl ihn gar nicht, daß er jezt ſo niedergeſchlagen iſt. Der Tod ſeines Vaters bleibt fuͤr ihn immer ein Ungluͤck.

Siegwart. Ja wohl! und das groͤſte, denk ich! Groſſer Gott! Einen ſolchen Vater zu verlieren! Und wenns auch moͤglich waͤr, mich dabey zu vergeſſen, wie wirds meiner Schweſter, meiner armen Schweſter gehen? (Hier weinte er heftiger.)

P. Philipp (weinte auch mit) Seiner Schwe - ſter Auch dieſer wird Gott ſich erbarmen;505 Wird fuͤr ſie auch Troſt haben. Wir wollen fuͤr ſie beten… Ach, ich weis, wies mir gieng! Jch war in Freyburg, als mein Vater ſtarb; wir waren ſieben Waiſen. Aber Gott hat keins von uns verlaſſen; keins! und mich am wenigſten… Faß er ſich, mein lieber Siegwart! Vielleicht hilft Gott noch… Hoff ers zu dem Vater aller Waiſen!

Sie kehrten nun wieder nach der Stadt zuruͤck. Siegwart ſprach wenig, und ſchluchzte nur zuweilen. Der Betteljunge ſtand wieder am Wege. Da haſt du noch was, ſagte Siegwart, und gab ihm einen Sechsbaͤtzner. Jn der Stadt lief er ſogleich zum Arzt, um ſich nach ſeines Vaters Umſtaͤnden zu er - kundigen. Der Arzt zuckte die Achſeln. Es iſt ſo ſo, ſagte er. Jch ward aus dem Haus ihres Vaters auf ein andres Dorf geholt zu einem Predi - ger, und konnte die Kriſin nicht abwarten. Wir muͤſſen ſehen. Uebermorgen komm ich wieder hin - aus. O lieber Herr Doktor, ſagte Siegwart, Mor - gen! Jch bitte Sie bey allem, was heilig iſt, reiten Sie doch Morgen hinaus! Thun Sie, was ſie koͤnnen! Retten Sie, retten Sie meinen Vater! Der Doktor machte Entſchuldigungen, daß er Morgen viel zu thun habe; verſprach aber doch, gegen Abend hinaus zu rei -K k506ten. Siegwart verſchloß ſich nun auf ſein Zim - mer; gieng auf und ab; rang die Haͤnde; fieng zu - weilen ein Gebeth an; ward vom Schmerz wieder vom Gebeth ab, in Labyrinthe hineingeriſſen, wo er keinen Ausweg ſah; nahm ein Buch; wollte le - ſen; warf es wieder weg; ſank auf die Knie; ſprang wieder auf, und fand nirgends keine Ruhe. Er gieng in den kleinen Garten am Kloſter; da erblick - te er eine hohe Sonnenroſe, die von einem Wurm angefreſſen war, und zu welken anfieng. Gott! rief er, und Thraͤnen ſchoſſen ihm in die Augen; denn er dachte ſich ſeinen Vater. Alles erinnerte ihn jetzt an den Tod; jede Blume ward fuͤr ihn ein Bild der Verweſung. Zuweilen dachte er ſich alles Gute, was er ſeinem Vater zu verdanken hatte, und nun ſchauerte er zuruͤck, und wollte vergehen. Die ganze Nacht ward von ihm durchweint; ſeine kurzen Schlummer waren aͤngſtlich; oft war ihms, als ob ſein Vater ihm zuliſpelte und Abſchied naͤhme, und dann fuhr er auf und aͤchzte. Den andern Tag war er wie betaͤubt; er gieng noch ein - mal zum Doktor, und bat ihn, ja gewiß zu ſeinem Vater hinaus zu reiten. Er gab ihm ein kleines Briefchen mit an ſeinen Vater, und ein kleines an Thereſen, das er mit der heftigſten Bewegung ge -507 ſchrieben hatte; worinn er ſeinem Vater fuͤr alle ſei - ne Wohlthaten dankte, und halb Abſchied von ihm nahm. Seine Schweſter ſuchte er zu troͤſten, ob er gleich ſelbſt troſtlos war. P. Philipp gieng den Nachmittag mit ihm ſpatzieren, und floͤßte ihm durch ſeine ſanfte liebreiche Lehren, die immer mit dem zaͤrtlichſten Mitleid untermiſcht waren, eine ziemliche Gelaſſenheit und Ergebung in den goͤttli - chen Willen ein. Vorher hatte es in Siegwarts Seele ungeſtuͤm geſtuͤrmt, jetzt folgte dem Sturm ein ſanfter Regen, und ſein Schmerz goß ſich in Thraͤnen aus. Der Doktor kam den andern Tag wieder zuruͤck. Siegwart war wohl zehnmal in ſeinem Hauſe geweſen; und nun dachte er gewiß, ſein Vater ſey geſtorben, oder in den letzten Zuͤgen. Er beweinte ihn als todt. Sein Schmerz war unendlich groß, aber doch gemaͤſſigter und ruhiger, wie vorher. Die Angſt, ein theures Gut zu verlie - ren, erſchuͤttert mehr, und ſchlaͤgt die Seele ſchreck - licher danieder, als der wirkliche Verluſt des Gutes. Der Doktor war den folgenden Morgen wie - der in die Stadt gekommen; muſte aber nach einer Stunde gleich wieder fort, eh ihn Siegwart ſpre - chen konnte. Er hatte nur die Nachricht fuͤr ihn hinterlaſſen: Er moͤchte ſich auf alles gefaßt ma -508 chen! Nun zweifelte Siegwart gar nicht mehr am Tode ſeines Vaters. P. Philipp zuckte auch die Achſeln, und hielt es fuͤr wahrſcheinlich, oder gar gewiß.

Siegwart ſetzte ſich in ſeinem ganzen Schmerz nieder, um ſeinem Kronhelm zu ſchreiben. Unter anderm ſchrieb er: Sag mehr, du ſeyſt allein un - gluͤcklich auf der Welt! Jch bins auch, mehr als du. Mein Vater o wie kann ichs ſchreiben? mein Vater iſt geſtorben. Schreckliches, banges Wort! ich ſchreibe dir zum erſtenmal und mit Zittern: Jch bin ein Vater - und Mut - terloſer Waiſe. Gott! ein Waiſe! Aber du biſt noch mein Vater! Wenn ich dich nicht haͤtte, o was waͤr ich! Sieh, Kronhelm, ſo kanns Men - ſchen gehen. Biſt du nun allein elend? Noch iſt der Todesbote nicht gekommen; aber Thorheit waͤr es, noch zu hoffen. Alle Umſtaͤnde predigen mir Tod. Tod! O du ſuͤſſes Wort. Wenns von mir auch gaͤlte! u. ſ. w.

Den folgenden Morgen ſchrieb er wieder an eben dieſem Briefe. Man klopfte an die Thuͤr, und ein Bauer aus ſeinem Dorfe trat herein. Sieg - wart wagte es nicht, ihn zu fragen; er nahm den Brief an, gieng auf die Seite, brach ihn zitternd509 auf, konnt ihn kaum halten, und las ihn durch. Wie erſchrack er! Es war die Handſchrift ſeines todtgeglaubten Vaters:

Liebſter Sohn!

Du wirſt in tauſend Aengſten meinethalben ſeyn, und du hatteſt es auch Urſach. Jch war dem To - de nah, aber Gott rief mich noch einmal zuruͤck. Der Arzt verſichert mich, ich ſey jetzt auſſer aller Gefahr. Wir koͤnnen Gott nicht genug dafuͤr lo - ben; denn es waͤr mir ſchwer geweſen, unverſorgte Kinder zu verlaſſen, beſonders Dich und Thereſen. Das arme Maͤdchen hat unendlich viel an mir ge - than, und unendlich viel gelitten. Gott belohn es ihr! Sie gruͤßt Dich herzlich. Bin noch matt, und kann nicht allzuviel ſchreiben. Muß nun eine Brunnenkur brauchen. Laß Dir dieſen Zufall zur Warnung dienen, Dich nicht zu ſehr auf Men - ſchen zu verlaſſen! So lang ich lebe, thu ich fuͤr Dich, was ich kann, wenn Du brav biſt. Aber nach meinem Tode muſt Du Dir groͤſtentheils ſelbſt helfen. Leb wohl, mein liebſter Sohn! Jch bin

Dein getreuer Vater,
Johann Maria Siegwart.
510

Nun Gott Lob und Dank! ſagte Siegwart, und wandte ſich zu dem Bauren. Ja, Herr, das war ein Schrecken, den wir hatten; ſagte dieſer. Das ganze Dorf war in Aengſten; habs mein Lebetag nicht ſo geſehen, und bin doch ſchon ein alter Mann. Alle Leut liefen in die Kirche. Wenns der Lands - herr waͤre, koͤnnts nicht aͤrger ſeyn. Aber ſo ’n Herrn kriegen wir halt nicht wieder; das ſagen alle Leut, alt und jung; wenn ſchon der junge Herr auch ein braver Herr iſt. Euer Vater hat ’s prae vor allen, das iſt nur gewiß. Wenn ich denk, was die arme Leut, und Wittwen, und Waiſen an ihm verlohren haͤtten, d Augen gehen mir uͤber. ’s iſt halt ’ne ſchoͤne Sach um ’n braven Mann! und hier wiſchte ſich der ehrliche Bauer die Augen.

Siegwart ſchrieb ein kleines Briefchen an ſeinen Vater, und gab dem Bauer ſechs Batzen. Der gutherzige Schwabe wollt es lang nicht nehmen. Nein, Herr! ſagte er, mit ſo einer Nachricht waͤr ich Euch bis Wien umſonſt gelaufen. ’s haͤtt mir weh gethan, wenn man’s einem andern auftragen haͤtt. Bin ſchon zwanzig Jahr ’n Tagwerker in ’s Vaters Haus; darfs nicht nehmen, warlich511 nicht! Siegwart aber ließ nicht nach, bis er’s nahm.

Er warf ſich nun auf ſeine Knie, dankte Gott; ſchrieb etliche Worte an Kronhelm, daß ſein Vater noch lebe; und lief dann in ſeiner Freude auf P. Philipps Zimmer, der an ſeiner Freude herzlichen Antheil nahm. Thereſe ſchrieb ihm acht Tage dar - auf wieder, daß ihr Vater ſich taͤglich mehr beßre, und ſchon eine halbe Stunde in den Garten habe gehn koͤnnen. Siegwart war nun wieder wie neu - gebohren, und nahm aufs neu an allem Antheil, was um ihn vorgieng. Einmal gieng er mit Gruͤnbach in ſeinen Garten; Sophie war auch da, um ſich bey der ſchoͤnen Witterung etwas zu erho - len, weil ſie ſchon etliche Wochen ſich zu Haus auf - gehalten hatte. Sie erſchrack, als ſie unſern Sieg - wart eroͤlickte. Er erſchrack auch, denn das ſchoͤne bluͤhende Maͤdchen ſah blaß und eingefallen aus. Jn ihren Augen ſaß eine tiefe ſchweigende Schwer - muth. Jch werd Jhnen noch zuvor kommen, ſagte ſie; auf Michaelis geh ich ſchon ins Kloſter. Werden Sie wohl auch zuweilen noch an mich den - ken? Jch werd es oft thun. Jch warlich auch, ſagte Siegwart. Der guten Seelen ſind doch ſo wenig. Ja, ich werd oft an die Stunden denken,512 die wir am Klavier, und hier in der Daͤmmerung zubrachten. Sie waren ſo heilig und ſo ſuͤß! Ja wohl, ſuͤß und heilig! ſagte Sophie ſeufzend. Werden Sie aber auch noch an mich denken wenn ich todt bin? Auch da noch oft! antwortete Xaver. Jch werde dann an die Zeit denken, da wir uns begluͤckter wieder ſehen werden, an die Zeit im Himmel. O, das iſt ſuͤß und troͤſtend! ſagte das Maͤdchen. Jch werd bald im Himmel ſeyn; folgen Sie mir bald nach! Jhr Auge glaͤnzte, als ſies ſprach, und Siegwart war auch tief bewegt.

Nun wurden wieder die Rollen zu dem kuͤnfti - gen Schuldrama ausgetheilt. Der Pater, der es machte, waͤhlte den Thomas Aquinas zum Hel - den ſeines Singſpiels, und zwar den Theil ſeines Lebens, da Thomas, wider den Wunſch ſeiner An - verwandten, und beſonders ſeiner Mutter, zu Nea - pel unter die Dominikaner geht. Der Kampf des Juͤnglings war nicht uͤbel geſchildert; da er auf der Einen Seite die zaͤrtlichen Bitten ſeiner Anver - wandten, die Thraͤnen ſeiner Mutter, die Lockſpei - ſen, die man ihm vorhaͤlt, in der Welt zu bleiben, beſonders ein ſchoͤnes junges Maͤdchen, gegen das ſein Herz nicht ganz gleichguͤltig iſt, ſieht; und auf513 der andern Seite den Ruf ins Kloſter, den er fuͤr goͤttlich haͤlt, den Traum von Verdienſtlichkeit und Heiligkeit, und alles, was eine lebhafte Einbildungs - kraft, von einem guten Herzen unterſtuͤtzt, reizendes am Kloſterleben findet. Dieſe Rolle war nun ganz fuͤr unſern Siegwart gemacht, und er bekam ſie auch, weil ſie die ſtaͤrkſte und ſchwerſte zum Singen war. Er war davon ganz bezaubert, und dachte ſich, ohne viele Muͤhe, ganz in die Rolle, und die Lage des h. Thomas hinein. Er uͤbte ſich Tag und Nacht im Singen, und taͤuſchte ſich oft dabey ſo ſehr, daß er nicht mehr Siegwart, ſondern der h. Thomas ſelbſt zu ſeyn glaubte. Unter The - reſen, die ihm auch einmal vom Kloſter abgerathen hatte, dachte er ſich die Mutter ſeines Helden, und wendete alle Umſtaͤnde genau auf ſich an. Dieſer Umſtand feſſelte ſein Herz aufs neue wieder ſo feſt ans Kloſter, daß ihm die ganze Welt zuwider und ekelhaft wurde. Oft ward er dem jungen Gruͤn - bach, der die Rolle der Mutter hatte, ganz im Ernſt boͤſe, wenn ſie ihre Arien zuſammen probirten.

Als das Stuͤck ſelbſt wirklich aufgefuͤhrt wurde, ruͤhrte er durch ſein empfindungsvolles Spiel, und ſeinen ausdruͤckenden, herzlichen Geſang faſt alle Zuſchauer, und beſonders alle Maͤdchen, bis zu Thraͤ -514 nen. Jn allen jungen Herzen ſtieg der Wunſch auf, auch ins Kloſter zu gehen. Sophie ſaß, im Jnnerſten bewegt, da; jeder Ton drang ihr ans Herz; ſie war auf dem Scheideweg zwiſchen Him - mel und Erde; hier das Kloſter, das ihr lieber Juͤngling mit aller Staͤrke der Beredſamkeit, und dem Zauber des Geſangs abſchilderte dort die Welt und Er, der reizende und ſanfte Juͤngling ſelbſt. Jhr Herz ward zerriſſen; endlich hub die Staͤrke der Muſik ſie uͤber alles weg; und als Thomas uͤber alle Ueberredungen und Hinderniſſe ſiegte, riß auch ſie ſich von allem los, und flog in ihrem Geiſt dem Kloſter und dem Himmel zu. Drey oder vier Wochen darauf gieng ſie, ungeach - tet aller Bitten ihrer Eltern als Novize ins Klo - ſter. Den Tag vorher nahm ſie noch von Sieg - wart Abſchied. Sie hatte ein ſchneeweiſſes Kleid mit ſchwarzen Schleifen an. Jch bin eine Braut des Himmels und des Todes, ſagte ſie. Jch habe Freuden von der Welt gehofft, und ſie gab mir Thraͤnen. Leben Sie wohl, mein Theurer, ewig theu - rer Freund! Ach, Sie wiſſen nicht, wie theuer ſie mir ſind; aber, wenn ich todt bin, ſollen Sies er - fahren. Siegwart war ſehr geruͤhrt bey ihrem Abſchied; er beweinte ſie und ihr Geſchick, ohne zu515 wiſſen, daß er ſelbſt die Urſache davon ſey. Keine Seele wußte ſie, als P. Philipp, der aber weiter nichts, als muthmaßte. Das ungluͤckliche Maͤd - chen ſchloß ſich und ihren Gram in die Zelle. Jh - re Tage waren zwiſchen Thraͤnen und Gebeth ge - theilt. Der Tod war ihr einziger Freund, und die Gedanken an ihn waren ihr die ſuͤſſeſten. Sie wurde taͤglich mit ihm vertrauter, und fuͤhlte ſeine nahe Ankunft taͤglich mehr. Jhre Kloſterpflichten beobachtete ſie genau; man ſah ſie vor Anbruch des Tages immer zuerſt im Chor; oft kniete ſie mit blaſſem, abgehaͤrmtem Geſicht allein am Al - tar; ihre Thraͤnen floſſen hinter dem Schleyer an den Fuß des Altars nieder; ſie betete laut und bruͤn - ſtig, und war oft durch gluͤhende Andacht ſo ermuͤ - det, daß ſie kaum allein wieder aufſtehen konnte. Beym Eſſen ſprach ſie gar nichts, und ſah blos ihre Schweſtern, eine nach der andern an, und bemerk - te in ihren Geſichtern den verſchiednen Ausdruck des mannigfachen Kummers, der in ihren Seelen wohnte. Sie hatte keine ganz vertraute Freundin; nur Caͤcilia, ein zwanzigjaͤhriges Maͤdchen, ſaß oft bey ihr auf der Zelle, denn ſie hatte auch Gram im Herzen, und das Ungluͤck ſucht Geſellſchaft. Es ſchien, daß die beyden Seelen einen gemeinſchaftli -516 chen Kummer hatten, aber ſie wagten’s nicht, ihn einander zu entdecken. Oft ſahn ſie ſich Stunden - lang ſtillſchweigend an; druͤckten ſich die Haͤnde, kuͤßten ſich, und blickten dann weg, um ihre Thraͤ - nen zu verbergen. Wenn Sophie allein war, ſo kniete ſie vor ihrem Krucifix, bat um ihren Tod, und ſetzte ſich dann hin, um Stickereyen, oder Agnus Dei zu machen. Sie ſtickte Blumen, aber immer nur mit blaſſen Farben, oder halbverwelkte. Oft zeichnete ſie einen Grabhuͤgel aufs Papier, und Cypreſſen drum herum. Auf den Grab - ſtein ſchrieb ſie ihren Namen; dann weinte ſie aufs Papier, und zerriß es wieder. Sieg - warts Bildnis ſchwebte unter tauſenderley verſchie - denen Vorſtellungen immer ihr vor Augen; der Ge - danke an ihn miſchte ſich in ihre Andacht, und in alles, was ſie vornahm. Oft betruͤbte ſie ſich dar - uͤber, und machte ſich ein Gewiſſen draus, an ihn zu denken. Sie wollte ihn vergeſſen; aber alles, alles erinnerte ſie wieder an den theuren Juͤngling. Jn dem Augenblick, da ſie Gott um Vergebung bat, daß ſie noch ſo ſehr an der Welt haͤnge, und ſo viel an Siegwart denke, in dem Augenblick ſtellte ihr die Liebe ſein Bild wieder dar, und ſie hieng ſich ihm in Gedanken an ſeinen Arm. Unter die -517 ſen fortwaͤhrenden Kaͤmpfen, und der unaufhoͤrli - chen Arbeit ihrer Seele zehrte ſich ihr Leben ab; ihre Saͤfte vertrockneten, wie ein Quell in der Sonnenhitze; ſie ward taͤglich ſchwaͤcher, und muß - te oft auf ihrer Zelle bleiben. Oft ſchrieb ſie gan - ze Stunden lang, muſte dann, wegen ihrer haͤufig flieſſenden Thraͤnen aufhoͤren, und ſchloß das Pa - pier ein. Alle Wochen ſprach ſie zweymal mit ih - rer Mutter und andern Verwandten am Sprach - gitter. Jhre Mutter ſuchte ſie mit Thraͤnen zu bereden, wieder in die Welt zuruͤckzukehren, aber alle Thraͤnen und Bitten halfen nichts. Endlich ward ſie ganz bettlaͤgerig; Caͤcilia war beſtaͤndig um ſie. Einſt, in einer ſchlafloſen Nacht, erzaͤhlte ihr Sophie ihre ganze Geſchichte, und die Liebe zu Siegwart. Aber, ſagte ſie, verſchleuß mein Ver - trauen in dich, und nimms ins Grab mit! Belei - dige deine todte Freundin nicht durch Untreue! Sonſt koͤnnen wir uns im Himmel nicht mit Freu - den entgegen gehn. Hier hab ich ein verſiegeltes Packet an Siegwart. Gibs meiner Mutter, wenn ich todt bin, daß ſies ihm einhaͤndige! Dank ihr in meinem Namen tauſendmal fuͤr ihre Liebe, und meinem Vater auch! Kuͤß ihre Hand, wie ich die deinige kuͤſſe; eben ſo heiß und bruͤnſtig! Sag ihr,518 daß ich gluͤcklich werde! Sie ſoll ſich nicht zu ſehr betruͤben! Noch wenig Schritte denn was ſind Jahre in dieſem Leben anders? ſo werden wir uns widerſehn, und ohne Seufzer, ohne Thraͤnen wiederſehn. Auch du haſt groſſe Leiden, liebe Schweſter! Trag ſie mit Geduld! Jhre Frucht wird Freude ſeyn. Folg mir bald nach! Caͤ - cilia weinte; ſie erzaͤhlte Sophien auch ihre Ge - ſchichte. Sie war traurig; ungluͤckliche Liebe war ihr Jnhalt. Sophie weinte viel, legte ſich auf die Seite; huͤllte ihr Geſicht ins Bett, ſchlummerte ein, und wachte den andern Morgen kraftlos auf. Jhre Stimme war gebrochen; man konnte ſie kaum mehr verſtehen. Ein Kapuziner gab ihr die letzte Oelung. Gegen Abend ward ſie noch einmal mun - ter; betete eine halbe Stunde laut, und mit der groͤſten Jnbrunſt; dann entgieng ihr die Sprache wieder; ein paarmal ſah ſie Caͤcilien an, machte einen Zug mit ihrem Finger auf das Bette, der ein S, vermuthlich Siegwarts Namen, vorſtellte; dann ſtarb ſie.

Caͤcilia gab den andern Tag ihrer troſtloſen Mutter das Packet, auf welchem Siegwarts Na - me ſtand. Er brach es mit Zittern auf. Es ent - hielt eine Art von Tagebuch, das an ihn gerichtet519 war. Einige Stuͤcke daraus wollen wir denen, die es fuͤhlen koͤnnen, mittheilen. Erſt die Einleitung:

An den lieben frommen Siegwart.

Wenn das Grab mich deckt; wenn meine Seel in Gottes Hand iſt; wenn ich unter Engeln wand - le, und der Leiden dieſer Zeit vergeſſe: dann, mein Auserwaͤhlter, wirſt Du dieſe Blaͤtter leſen, und weinen. Laß ſie Dir erzaͤhlen, was mein Herz ge - litten hat, um deinetwillen, weils mein Mund nie durfte! Wein in meine Leiden! Das Bild der Thraͤnen, die Du mir vergieſſen wirſt, troͤſtet mich in truͤben Stunden. Betruͤb Dich nicht zu ſehr, Juͤngling! und mach Dir keine Vorwuͤrfe! Nicht Du bift die Urſache meines Jammers; mein zu fuͤhlendes, zu weiches Herz iſts. Jch will Deinem Auge keine Thraͤnen erpreſſen, als Thraͤnen des Mitleids, und auch die ſollen ſuͤß ſeyn. Denk, daß meine Leiden, wenn Du ſie erfaͤhrſt, voruͤber; daß alle Thraͤnen, die die Liebe weinte, abgetrocknet ſind; daß ich ausgerungen habe jeden Kampf, und geklei - det bin ins glaͤnzende Gewand des Glaubens, und geſchmuͤckt mit Siegerpalmen. O Du Theurer! Weine nicht! Blick auf! Jch bin bey Gott, und bey der hochgelobten Jungſrau. Sieh, ſie nennt520 mich Schweſter und Tochter, weil ich ausgeduldet habe meinen ſchweren Kampf; weil mein Mund nicht murrte, da die Laſt mir ſchwer ward. Troͤ - ſte Dich, mein Auserwaͤhlter! Jch will um Dich ſeyn bey Deinen Thraͤnen, will Dir Ruhe herab - liſpeln aus den Luͤften, wenn Dirs truͤbe wird im Herzen; will im Traume Dir erſcheinen, und Dir ſagen, daß ich nicht mehr leide.

Vergib mir, daß ich Dich geliebt habe! Gott vergibt mirs auch. Jch kaͤmpfte lang, aber Du biſt gar zu fromm und lieb. Waͤrſt Du wild und leichtſinnig, wie die Jugend, ich haͤtte Dich nicht geliebt; aber Du biſt gut, und fromm, und ſanft. Mein Herz iſt keuſch, und rein, und kennt keine wilde Flamme. Vergib, daß ich Dich geliebt habe!

Vergib, daß ich an Dich ſchreibe! Jch habe lang gelitten, und meinen Mund nicht aufgethan. Laß mich nach dem Tode zu Dir reden! Gott weis, daß ich Dich nicht kraͤnken wollte; wie koͤnnt ich Dich kraͤnken, Du Geliebter? [Lies] und lerne Troſt aus meinem Schreiben! Lerne dulden, wie einſt ich that, wenn das Ungluͤck einbricht! Lerne, Gott Dich widmen, wie ich Jhm mich widme! Blick auf zu den Sternen, und zu mir, wenn die Welt,521 dir oͤd und ekel wird! Lern aus meinem Schick - ſal, und du wirſt mich ſegnen.

Vom dritten May (als ſie Abends im Garten zu - ſammen geweſen waren).

Jch liebe ſelbſt nicht; wuͤnſch auch nie zu lie - ben! So haſt du ſelbſt geſagt, du Theurer, den ich uͤber alles liebe. Faſſe dich, meine Seele! Er liebt nicht, wuͤnſcht auch nie zu lieben. Alſo ſind die Hofnungen geſunken, die die Liebe baute. Alſo wirſt du nie geliebt werden, armes, liebekrankes Herz! O ihr Heiligen, erbarmet euch mein, und troͤſtet mich! Nicht geliebt werden, und lieben, ach ſo heiß und innig lieben iſt ein harter Kampf, den ein armes ſchwaches Maͤdchen ohne Gott nicht kaͤmpfen kann; Gott, du wirſt mich nicht verlaſ - ſen! Komm, Gedanke des Todes! Komm, und kuͤſſe mich ſtatt ſeiner! Hauche mich kalt an, daß ich hinſink und ſterbe! Ach, du liebſt mich nicht, Erwaͤhlter, und ich liebe dich doch uͤber alles. Singt mir ein Todtenlied, ihr Geſpie - linnen der Jugend! Jhr Vertraute meiner Kin - derjahre, kommt und haͤngt den Flor um, und ſingt: Sie liebte, wurde nicht geliebt, und ſtarb. L l522Horch! das Kaͤuzlein ruft herab vom Kirchthurm! Hu! ich zittre. Schoͤn war der Abend, mein Erwaͤhlter! Deine Floͤte klang ſuͤß, wie das Lied der Liebe. Hell ſchien der Mond, aber traurig. Ach, ich ſah ihn wohl, wie er hinter eine Wolke trat und weinte. Aber du haſts nicht geſehen, wie ich mit ihm weinte. Lieblich ſang die Nachtigall, aber traurig. Jch hoͤrt es wohl, und dachte, der arme Vogel liebt wie ich; aber, du Erwaͤhlter, dach - teſt’s nicht. Wehmuͤtig warſt du, wie ein Lieben - der, und liebteſt nicht. Thraͤnen floſſen dir vom Aug, und Liebe hieß ſie nicht flieſſen. Sagen wollt ichs dir, daß ich dich liebe. Meine Stimme zitterte und ward ein Seufzer. O ein Engel Got - tes hielt das Wort zuruͤck, das dich betruͤbt, mich nichts geholfen haͤtte, denn du liebſt nicht; wuͤn - ſcheſt nie zu lieben.

Jns Kloſter willſt du gehn, mein Auserwaͤhl - ter, willſt ein Heiliger werden, und biſt ſchon ſo heilig. Aber ich bins nicht; Liebe flammt in mei - nem Herzen. Gott du weiſt es, fromme Liebe; aber dennoch Liebe, und er liebt nicht. Nun ſo will ich dann hingehn, wo mein Auserwaͤhlter hin - geht! will vor Gott treten, und mich heiligen. Nimm mich an um ſeinetwillen, weil er heilig iſt,523 o Gott! Suͤſſer Troſt des Kloſters und der Ein - ſamkeit! traͤufle herab in mein Herz; erfuͤll es ganz! O wie will ich ſitzen in der Einſamkeit und weinen, bis der Tag kommt der Erloͤſung! Du biſt heilig; ich will heilig werden, daß ich dei - ne Braut ſey, wenn der Tag kommt der Erloͤſung.

Jm Auguſt.

Lang hab ich dich ſchon nicht geſehen, mein Er - waͤhlter, und doch biſt du ſchoͤn, wie die Liebe, und mein Herz haͤngt feſt an dir, und ewig. Aber ich will dulden in der Stille, und dich Gott nicht rauben, dem du dienen willſt im Kloſter. Jm Him - mel will ich deine Braut ſeyn, und mich heiligen auf Erden. Schoͤn biſt du, mein Geliebter; bluͤhſt wie die Roſe, die am Morgen aufwacht im Thau. Blaß bin ich, und welke, wie die Roſe, die des Abends hin ſinkt in der Sonnenhitze, und ihre Blaͤtter flattern aus einander, wenn der Sturm kommt. Moͤcht er bald aufſtehn, und meinen Staub zerſtreuen! Aber noch nicht ganz reif iſt die Frucht; noch nicht gnug getroffen vom heiſſen Stral der Liebe.

Schoͤn biſt du, mein Braͤutigam! Deine Wan - gen ſind roſenroth; blau dein Auge, wie der Mit -524 tagshimmel; mild dein Laͤcheln, wie die Abendſon - ne; golden ſind deine Locken, wie die goldbeſaͤum - ten Wolken, wenn die Sonne ſinkt. Der du jezt ſchon ſo lieblich biſt, wie wirſt du einſt geſchmuͤckt ſeyn in den Tagen der Belohnung! Wie einher - gehn unter Engeln und Gerechten!

Jch bin blaß geworden wie die Lilie des Gar - tens, und mein Haupt ſenkt ſich zur Erde. Meine Mutter weint und traurt: Ach meine Tochter, war - um biſt du blaß geworden, wie die Lilie des Gar - tens? Warum ſenket ſich dein Haupt zur Erden? Ach meine Mutter, laß mich ſchweigen, und mein Leid nicht kund thun! Ach, ich kann nicht reden; laß mich ſchweigen, Mutter! Bringt die welke Blum in Schatten, daß ſie wieder aufleb in der kuͤhlen Daͤmmerung des Kloſters! Warum willſt du trauren, meine Tochter, in der Einſamkeit des Kloſters? Warum ſoll ich einſam ſeyn mit deinem Vater, und nicht bluͤhen ſehen deine Schoͤnheit, daß ſich unſer Herz daran ergoͤtze!

Ach, mein Vater, meine Mutter trauren, und ich darf nicht reden. Meine Schoͤnheit kann nicht bluͤhen vor euren Augen. Seht ihr nie die Roſe, wie ſie welkte, weil ein Wurm in ihrem Buſen525 nagte? Meine Schoͤnheit kann nicht bluͤhn vor euren Augen.

Jch will eine Braut des Himmels werden, und flehen meinen Braͤutigam, daß er Ruhe ſende mei - nem Vater, und dem Herzen meiner Mutter! Ger - ne will ich leiden, wenn nur ſie getroͤſtet werden. Aber, Mutter, ich kann nicht reden!

Jm September.

Geſegnet ſeyſt du, mein Erwaͤhlter, daß du heu - te freundlich geſprochen haſt mit meiner Seele; daß du wahrgenommen meine bleichen Wangen, und geſeufzt haſt uͤber meine Blaͤſſe! O, wie war mir ſo wohl, als ich an deiner Seite gieng im Garten, als ich dacht ans Paradies, wo ich auch einſt mit dir gehen, und dir ſagen werde, daß ich dein war auf der Welt, und um deinetwillen duldete. Du lobteſt mich, Geliebter, daß ich auch ins Kloſter geh, wie du. Ach, dein Lob iſt mir ſo lieb, du Auserwaͤhlter, und ich durft es dir nicht ſagen. Al - les, alles will ich dir im Paradieſe ſagen. Dann wird meine Stimme nicht mehr beben; meine Wange nicht mehr gluͤhen. Meine Seele wird dir ſagen, daß ſie dein iſt; daß ſie Gott zur Freundin ſchuf, fuͤr dich.

526

Am 26ſten September.

Jch habe deinen Freund geſehn im Traume, den beſcheidnen Kronhelm. Blaß war ſeine Wange, gleich der meinigen, und truͤb ſein Auge. Er klagte, daß ein Maͤdchen untreu ſey, daß er ſo heiß und treu geliebt hat; daß ſie ſich durch Menſchen len - ken laſſe, von ihm ab; daß ſie wanke von der Lie - be, die ihm ſtark ſchien, wie der Tod. Jſt das moͤglich, mein Erwaͤhlter, daß man weiche von der Liebe? Koͤnnt ich weichen von dir, du mein Braͤutigam? Alle Maͤdchen, ſagt er, waͤren ſchwach und unbeſtaͤndig; waͤren allzubieg - ſam; lieſſen ſich von jedem Winde lenken. Jſt das wahr, mein Lieber? Sind die Maͤdchen ſo? Bin ich nur allein treu bis ans Ende? O ſo will ich meine Schweſtern haſſen, wenn ſie falſch ſind; wenn ſie den betriegen koͤnnen, der ihr Herz liebt. Als er klagte, ſtand ein Maͤdchen in der Ferne, hatte Zuͤge faſt wie du, aber traurig wars, wie ich. Und dieß Maͤdchen, das ſo gut ſchien, dir ſo aͤhn - lich war, mein Theurer, koͤnnte falſch ſeyn? Sag ihr, daß ich treu ſey, ohne Hofnung!

527

Jm Anfang des Oktobers.

Bald werd ich hingehn ins Kloſter, eher noch als du. Die hochgelobte Jungfrau hat mir zuge - winkt, und einen Perlenkranz geflochten fuͤr mein Haupt. Als ich durch die goldnen Pforten ein - gieng, kamſt du, mein Erwaͤhlter, mir entgegen; wareſt angethan mit einem glaͤnzenden Gewand. Hier iſt gut ſeyn, mein Erwaͤhlter, laß uns Lau - ben flechten von den Lebensbaͤumen, und in ihrem Schatten wohnen!

Meine Mutter weint; mein Vater klagt. Trock - net eure Thraͤnen, ihr Geliebten! Denn ich wer - de wohnen bey dem Mann, den meine Seele liebt; werde mit ihm Huͤtten bauen, daß ihr wohnen moͤget an der Seite eurer Kinder!

Am 25ſten Oktober. (als das Schuldrama auf - gefuͤhrt worden)

Meine Seele dankt dir, o du Heiliger und Aus - erwaͤhlter, daß du mich verachten lehrteſt dieſe Welt mit ihren Freuden! Eine Braut des Himmels will ich werden, wie du wirſt ein Braͤutigam des Him - mels. Ach, wie haſt du heut mein Herz erſchuͤt - tert, als du da ſtandſt in aller deiner Lieblichkeit;528 als die Welt dich feſſeln wollte; als die Mutter weinte, und dir zeigte alle Reize dieſes Lebens; als Hilaria dich binden wollte mit dem Band der Liebe wie du da, du mehr als Thomas, nie - derſahſt mit hohem Aug auf alle goldne Feſſeln; wie du blickteſt nach dem Palmenzweig im Him - mel; ihn ergriffeſt mit entſchloſſener Hand! durch alle Reizungen hinweggiengſt nach dem Sitz des Friedens und der Ruhe!

Oefne dich, o Zelle, daß ich eingeh, wie mein Auserwaͤhlter, an den Ort der Stille, wo gerei - nigt wird das Herz, und geheiliget zur Braut des Himmels! Folg mir nach, o Bild des Auser - waͤhlten, den ich bald zum letztenmal erblicke, bis wir uns begegnen in den Thaͤlern Edens! Hei - liger Thomas, deſſen Bild mein Auserwaͤhlter iſt, bald erblick ich dich mit ihm, und ſinge Siegeslie - der! Wenig Tage noch, mein Braͤutigam, ſo wirſt du meinem Aug entriſſen, denn die Zelle hat ſich aufgethan; aber meine Seele ſoll dich ſehen, bis ich lieg und ſchlaf im Grabe.

Am 12ten November. (als ſie ins Kloſter ge - treten war.)

Jch bin eingegangen in den Ort der Ruhe; aber529 noch iſt keine Ruh in meinem Herzen. Geſtern hab ich dich zum letztenmal geſehn, mein Braͤuti - gam! Ach, zum letztenmal! Schoͤner warſt du mir, als jemals, weil du traurig warſt und wein - teſt. Heilig iſt der Ort, den ich bewohne. Heilig ſoll mein Herz ſeyn, und entfernt vom Jrr - diſchen. Aber ſollt ich dein nicht mehr gedenken, du Erwaͤhlter? Du biſt heilig, wie ein Tempel Gottes; ich gedenke deiner. Still und oͤd iſts um mich her; meine Schweſtern ſchlafen, aber mei - ne Seele wacht noch, und beſpricht ſich mit der deinigen. Moͤchteſt du zuweilen noch der Abge - ſchiedenen gedenken, die ſo heiß und heilig dich ge - liebt hat! Aber in dein Herz drang nie der Stral der Liebe; mich allein hat er entzuͤndet, daß ich brenne ſonder Nahrung.

Jch murre nicht, Geliebter! Wohl dir, daß du Ruhe haſt im Herzen, und den Sturm der Leidenſchaft nicht hoͤreſt! Doppelt wuͤrd ich lei - den, wenn auch deine Seele litte. Geh im Frie - den ein in deine Zelle! Schlummre ſanft, wie ich einſt ſchlummern konnte, eh ich dich erblickte! Wandle ruhig auf dem Pfad des Lebens, bis am Ziel du biſt, wo das Maͤdchen wartet, das gedul - det hat bis an ihr Ende!

530

Am 30ſten November.

Meine Kraft nimmt ab; mein Leben welkt da - hin; aber meine Liebe gruͤnt und waͤchſt. Ewig iſt ſie, wie das ewige Licht, das in der Lampe brennt im Chor. Der Hauch des Todes wird ſie nicht ausloͤſchen, oder meine Seele ſtuͤrbe mit. Wenn die Glocke mich erweckt zum Beten, ſo iſts, als ob mir deine Stimme rufte, du Erwaͤhl - ter. Du befeuerſt meine Andacht, und hebſt hoch mein Herz. Oft zittert meine Seele, daß ſie dich erblickt am Altar, wenn ſie betet; aber du biſt ja heilig, und darfſt wohl vor Gott erſcheinen. Meine Schweſtern fragen mich, warum ich blaß ſey? Sie bedauren mich, und weinen, daß ich nahe ſey dem Grabe. O, ſie wiſſen nicht, wie ſuͤß das Grab iſt; und ſehn doch ſo blaß aus; oder gibts noch andre Leiden, als den Schmerz troſtloſer Liebe?

Am erſten Jenner.

Jhr fangt in der Welt ein nenes Jahr an. Das alte gab mir Thraͤnen; wird das neue mir den Tod geben? Ja, ich hoff ihn, Lieber; denn mein Auge wird truͤb und matt; meine Kraͤfte531 ſchwinden, daß ich kaum mehr gehen kann ins Chor, fuͤr dich zu beten, und fuͤr mich. Meine Hand zittert, wenn ich an dich ſchreibe; meine Thraͤnen ſind vertrocknet. Sey mir willkom - men, Jahr des Friedens und des Todes! Sende Segen meinem Braͤutigam, daß er Freuden ernd - te an jedem deiner Tage! O du Lieber, Auser - waͤhlter, warum bin ich heut ſo traurig, da ich doch den Tod erwarte, meinen Freund?

Jm Februar. (zween Tage vor ihrem Tode.)

Endlich, endlich! Lieber, Theurer, auserwaͤhl - ter Braͤutigam, o du, den meine Seele liebet, wie iſt mir ſo wohl! Der Tod, mein Freund, mein Retter, der einſt dir mich wieder geben ſoll, iſt vor der Thuͤr, und hat ſchon angeklopft. Jch fuͤhls, in wenig Tagen werd ich ſchlummern in der Gruft der Todten. Leb wohl du Theurer! Ach, nun wird mirs ſchwer, die Welt zu laſſen, welche du bewohnſt! Aber deine Huͤtte wird einſt ſin - ken, und du wirſt hinuͤbergehen in die Wohnung der Gerechten, wo ich dich erwarte im Gewand des Lichts. Verſchweig, ich beſchwoͤre dich bey Gott, zu dem ich uͤbergehe, verſchweig meine Zaͤrt - lichkeit, und alles, was ich dir geſchrieben habe! 532Jch ſchaͤme mich nicht meiner Liebe; aber meine Mutter und mein Vater wuͤrden noch mehr trau - ren, wenn ſies wuͤſten, und dir minder gut ſeyn. Ach, du Theurer, nimm den letzten, letzten Se - gen, den mein Herz dir gibt! Lebe fromm, und folg mir bald nach! Mein Herz hat dich rein geliebt, und keuſch; ich kann ruhig ſterben, denn ich ſeh dich bald, und weine nicht mehr. Mei - ne Hand wird matt ich kann nicht mehr ſchreiben.

Leb wohl, komm bald! ich erwarte dich Bin deine Braut
Sophie.

Siegwart blieb einen halben Tag eingeſchloſſen, um das Tagebuch, von dem dieſes nur einige ab - gerißne Stuͤcke ſind, zu leſen. Er las es mit un - unterbrochner Ruͤhrung durch, und hoͤrte faſt nie - mals auf zu weinen. Nun klaͤrte ſich ihm auf Ein - mal ſo vieles auf, was ihm in Sophiens Betra - gen ſo ſonderbar und unbegreiflich vorgekommen war, denn er dachte zu beſcheiden von ſich ſelbſt, als daß er Liebe gegen ihn fuͤr die Urſache davon haͤtte halten ſollen. Anfangs machte ihm ſein zar - tes Herz Vorwuͤrfe, daß ſie ſeinetwillen ſo viel aus - geſtanden hatte; als er aber uͤber ſein Betragen533 nachdachte, fand er nichts, daß er ſich vorzuwer - fen haͤtte, und beruhigte ſich von dieſer Seite. Doch beſchaͤftigte ſich ſeine Seele lange mit den traurig - ſten Gedanken. Das Bild der leidenden Sophie begleitete ihn aller Orten hin, und erſchien ihm manche Nacht im Traum. Er bekam aufs neue die ſtaͤrkſte Abneigung vor der Liebe, die ſo vieles Ungluͤck auf der Welt anrichtet. Er vermied ſorg - faͤltig, viel in Gruͤnbachs Haus zu gehen, weil ihn da alles, beſonders die ſchwarze Kleidung ih - rer Eltern, zu lebhaft an Sophien erinnerte. Die Mutter wollte wiſſen, was das Packet ihrer Toch - ter an ihn enthalten habe? Er kam uͤber die Fra - ge in Verlegenheit, und ſagte: Es ſeyen ein paar Buͤcher drinn geweſen, die er Sophien geliehen habe.

Seine meiſte Zeit brachte er nun in der Einſamkeit auf ſeinem Zimmer, oder bey P. Philipp zu, mit dem er aber ſo wenig, als moͤglich, von Sophien ſprach. Kronhelm ſchrieb ihm fleißig, aber trau - rig, und erwartete mit aller Sehnſucht ſeine An - kunft in Jngolſtadt. Thereſe und ſein Vater ſchrie - ben ihm auch, daß er auf Oſtern dahin abreiſen koͤnne, welches ihm ſehr lieb war, da ihm die534 Einſamkeit immer trauriger und unertraͤglicher wurde.

Acht Tage vor Oſtern bekam er von ſeinem Va - ter einen Wechſel, Reiſegeld, und einen Brief an den Hofrath Fiſcher in Jngolſtadt, dem er, als ſeinem alten Freunde, ſeinen Sohn empfahl. Sieg - wart brachte ſeine Sachen in Ordnung, um gleich nach Oſtern abgehen zu koͤnnen. Er ſchrieb auch ſeinem Kronhelm, daß er ihm, wo moͤglich, ein paar Stunden weit entgegen kommen moͤchte. Der Abſchied wurd ihm blos um des P. Philipps, und einigermaſſen um der Gruͤnbachiſchen Fami - lie willen ſchwer. Ein paar Tage vor der Reiſe gieng er noch in das Nonnenkloſter, wo Sophie geſtorben war. Er beſuchte ihr Grab, und weihte dem Andenken des ungluͤcklichen Maͤdchens ſeine Zaͤhren. Leb wohl, theurer Staub, ſagte er bey ſich, beym Weggehn! Leb wohl, Ueberreſt So - phiens! Jhr Beyſpiel ſoll mich dulden lehren, wenn ich leiden muß. Jch will dir treu ſeyn, und dein Braͤutigam im Himmel werden. Hier - auf gieng er nach Haus, und las ihr Tagebuch wieder mit zwiefacher Ruͤhrung durch. Den an - dern Tag nahm er von ihren Eltern, und von ihrem Bruder Abſchied. Sein Herz ward ſehr535 bewegt, und er muſte eilen, um die armen El - tern nicht zu weich zu machen. Der junge Gruͤn - bach verſprach ihm, in einem Jahr nach Jngol - ſtadt nachzukommen.

Den lezten Abend brachte er bey ſeinem lieben P. Philipp zu. Dieſer theilte ihm noch viel gu - te Lehren mit, und zeigte ihm alle die Behutſam - keit, die ein Neuling auf einer hohen Schule zu beobachten hat, wo Verfuͤhrung, Reizung und Betruͤgereyen ſo gewoͤhnlich ſind. Wegen Kron - helms ſagte er ihm auch verſchiedenes, wie er glaub - te, daß ſein krankes Herz am beſten geheilt wer - den koͤnnte. Er rieth ihm, ihn ſo viel als moͤg - lich zu zerſtreuen; Thereſens Briefe vor ihm ge - heim zu halten, und wenig, oder nichts mit ihm von ihr zu ſprechen! Er wird mir doch zuweilen Nachricht von ſich geben, und mich nicht ganz vergeſſen? ſagte er. Ach Gott! Wie koͤnnt ich Sie vergeſſen? antwortete Siegwart, und wein - te. Wenn ich Jhnen nur ſchreiben darf, ich werds gewiß oft thun. Jhnen hab ich ja alles zu verdanken. Nichts zu verdanken, lieber Xaver! Was ich that, geſchah aus willigem und gutem Herzen; weil ich wuſte, daß es bey ihm wohl angewendet iſt. Siegwart wollte ihm hier536 die Hand kuͤſſen, aber P. Philipp gab ihm einen Kuß auf den Mund. Da will ich ihm ein kleines Andenken auf den Weg geben, ſagte er, und gab ihm die Berliner Ausgabe vom Virgil. Siegwart wuſte nicht, was er vor Ruͤhrung und Dankbarkeit ſagen ſollte? Vorn hatte P. Philipp ſeinen Namen eingeſchrieben. Der Famulus brachte unſerm Siegwart ein ſehr guͤnſtiges Teſti - monium, das alle ſeine Lehrer unterſchrieben hat - ten. Als ers las, gingen ihm die Augen uͤber. Das iſt zu viel! ſagte er. Nein, mein Lieber! antwortete P. Philipp; er verdients; er hat ſich brav gehalten; bleib er ferner brav, ſo wird ihms wohl gehen. Als es zehn Uhr ſchlug, ſtund Sieg - wart auf, ohne ein Wort zu ſagen; gieng ans Fenſter, und weinte, und ſagte endlich: ja, nun muß ich gehen. Weiter ließ ihn der Schmerz nicht reden. Philipp gab ihm ſeinen Segen, kuͤßte ihn, und ſie ſchieden.

Siegwart weinte auf ſeinem Zimmer noch ei - ne Stunde lang. Den Virgil packte er nicht ins Koffre, ſondern ſteckte ihn zu ſich. Das Ge - ſchenk war ihm gar zu lieb. Endlich, als er ſich ganz muͤde geweint hatte, warf er ſich aufs Bette, um noch einige Stunden zu ſchlafen.

537

Des Morgens um halb ſechs Uhr kam der Thor - wart, um ihn aufzuwecken. Der Mann war ſehr geſchaͤftig, ihm das noch uͤbrige einpacken zu helfen. Als Siegwart eben gehen wollte, ſtand er in einer Ecke des Zimmers, ſah zur Erde hin, und auf Einmal ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen aus den Augen. Er druͤckte unſerm Siegwart die Hand mit der groͤſten Treuherzigkeit, und kuͤſte ſie. Ja, Sie ſind ſo gar ein braver Herr, ſagte er, und es geht mir recht nah, daß Sie fortreiſen. Es muß Jhnen gewiß wohl gehen! Siegwart war daruͤber ſehr geruͤhrt, gab ihm noch ein Trinkgeld; der Mann wollte es nicht nehmen. Sie haben mir ſchon ſo viel Guts gethan, und Sie brauchens jezt auf Jhrer Reiſe, ſagte er in ſeiner Einfalt. Siegwart legte das Geld aufs Geſimſe, und gieng mit ſchwerem Herzen weg.

Nach ſieben Uhr gieng der Poſtwagen ab. Die Reiſenden waren ein junger baierſcher Offizier, ein Jude, und der Kondukteur, ein dicker, ſtar - ker Mann, dem ſeine grobe baieriſche Ausſprache recht drollicht ließ. Siegwart war die erſte Stun - de ganz betaͤubt. Er dachte an den P. Philipp, und an alles, was er ihm, und dem ganzen Klo -M m538ſter zu verdanken hatte. Der Offizier, und der Kondukteur fiengen an, den armen Juden auf alle Art zu necken. Keine halbe Stunde durfte er auf ſeiner Stelle ſitzen bleiben. Bald fiels dem Offizier ein, vorwaͤrts, bald wieder ruͤckwaͤrts zu fahren. Der Jude ließ ſich alles gefallen, und ſetzte ſich ſtillſchweigend hin, wohin mans wollte. Endlich fiel dem Kondukteur ein, daß er ein wildes Schwein auf dem Wagen habe. Er ſagte dem Juden, er ſoll ſich weiter hinten hin im Poſtwagen ſetzen. Der Jude thats. Hierauf fieng der Kondukteur mit dem Offizier ein lautes Gelaͤchter an. Mauſchel, Mauſchel, haſt du Geluſt zu Schweinefleiſch? Seht mir doch, da ſetzt er ſich neben die Bache hin! Jndem zog der Kondukteur die Decke weg, unter der das Schwein lag. Der Jude ſprang mit groſſem Geſchrey aus dem Poſtwagen: O weh, o weh! Jch bin verunreinigt! Bin ein armer Mann! Unſerm Siegwart that das in der Seele weh. Man ſollt ihn doch in Ruhe laſſen! ſagte er, und wurde feuerroth im Geſicht, weil er noch ziemlich erſchreckt war. Ey was! junger Herr, ſagte der Offizier. Er verſteht das nicht! Das iſt Poſtwagenrecht. Siegwart ſchwieg, weil er das grimmige Geſicht des Offiziers fuͤr Tapferkeit539 hielt. Der Jude war nicht mehr zu bewegen, in die Kutſche zu ſitzen. Er ſetzte ſich von auſſen hin, ungeachtet es heftig regnete. Auf der Station der Jude nichts als trockenes ungeſaͤuertes Brod, das er bey ſich hatte, weil der Jude nichts von Chriſten Zubereitetes genieſſen darf. Sieg - wart bedaurte recht von Herzen das Schickſal die - ſer armen Leute, und ſah den Juden oft mitleidig von der Seite an, der zuweilen bey ſich ſelbſt ſeufzte. Der Offizier, mit dem Siegwart , ſprach ihm immer zu, brav zu trinken, vermuth - lich in der Abſicht, ihn betrunken zu machen; aber unſer Xaver nahm ſich ſehr vor ihm in Acht. Eh der Poſtwagen abgieng, kam ein Amtmann mit ſeinem Sohn, und der ganzen Familie, die den jungen Herrn begleitete, der auch auf die Uni - verſitaͤt nach Jngolſtadt gehen ſollte. Die Mutter, und zwo Schweſtern ſtanden unaufhoͤrlich um den jungen Menſchen herum, und weinten, als ob ſie auf ewig von einander Abſchied nehmen ſollten. Sie ſteckten ihm die Taſchen voll mit Le - kerbißchen, und Arzneyglaͤſern. Der Amtmann, der gehoͤrt hatte, daß Siegwart auch nach Jngol - ſtadt gehe, ſetzte ſich zu ihm; ließ eine Bouteille Burgunder kommen; trank tapfer drauf los, ſetz -540 te unſerm Siegwart auch brav zu, und empfahl ihm ſeinen Sohn mit tauſend Fluͤchen und Betheurun - gen, daß er ein rechtſchaffener Kerl werden muͤſſe, weil er ſchon dreyhundert Gulden an ihn gewen - det habe. Mitmachen darf mein Kaſpar alles! ſagte er. Es will mir gar nicht eingehn, daß meine Amtmaͤnnin ſo ein Ammenſoͤhnchen aus ihm ziehen will. Sakrebleu! ich hab ihm einen Degen angeſchafft, mit dem er ſich herum hauen kann, daß es eine Luſt iſt. Er ſoll mir kein Hundsfott werden! Eine Schramme im Geſicht mehr oder weniger! Mit Maͤdels mag ers auch zu thun haben! Nur vor liederlichen Nickeln ſoll er ſich in Acht nehmen! Da koͤmmt nichts Gutes hinterher. He! Kaſpar! was greinſt wieder, wie eine alte Hure? Komm her! trink! Vivat die Univerſitaͤt! Jch ſag dirs; werd mir ein braver Kerl! Laß dir keinen zu nah kommen! Oder ſtich ihn nieder! Hoͤr ich einen ſchlechten Streich von dir; ſo ſollſt du deine liebe Noth haben. Da, das iſt ein rechter Herr, (auf Siegwart deutend) der ſticht jeden uͤbern Haufen, der ihm auf die Zaͤhne fuͤhlen will. Siehſt, was er fuͤr einen Schlaͤger an hat? Der hat gewiß ſchon Blut geſehen. Nicht wahr, Herr? Siegwart ſagte, daß er ihn erſt vor541 zwey Tagen neu gekauft habe. Ja, ja, ſo ſagt man! antwortete der Amtmann; indem bließ der Poſtillion zum Abfahren. Die Amtmaͤnnin er - ſchrack, ward todtblaß, und eilte mit ihren Toͤch - tern herzu, ihrem Knaben Filzſchuhe, ein dickes Halstuch, und einen Ueberrock anzulegen. Der Amtmann trank hurtig ſeine Bouteille aus, und ſprang mit den uͤbrigen an den Wagen. Die Amtmaͤnnin herzte und druͤckte ihren Sohn; hub ihn in den Wagen, fieng ein groſſes Geheul an, und wollte den Schlag, der ſchon zu war, wieder aufreiſſen, um ihren Sohn noch einmal zu umar - men. Fahr zu, Schwager! ſchrie der Amt - mann, und ſchlug mit ſeinem Stock auf die Pfer - de zu. Der Wagen fuhr fort.

Siegwart ſaß bey dem Officier. Jhm gegen - uͤber der junge Kaſpar, neben dem Juden. Er weinte wie ein Kind, und wollte immer aus dem Schlag gucken, um ſeine Mutter noch einmal zu ſehen; aber der Wagen gieng zu ſchnell, und ſchmiß ihn immer wieder zuruͤck, wenn er auf - ſtehen wollte. Der Jude, der die Geſchwaͤtzigkeit mit ſeiner ganzen Nation im hohen Grad gemein hatte, plauderte beſtaͤndig mit dem jungen Kaſpar; erzaͤhlte ihm alle ſeine Familienumſtaͤnde, daß er ei -542 nen Sohn habe, der ſo alt ſey, wie er; daß ihm ſeine Rebekka vor zwey Jahren geſtorben ſey u. ſ. w. Seine Neugierde wollte aus Kaſpar eine gleiche Vertraulichkeit herauslocken; aber dieſer ſagte immer nur: So! und Ja, und Nein. Der Offizier und der Kondukteur ſpotteten beſtaͤndig uͤber den Ju - den, fragten ihn verſchiedenes; und wenn er zu erzaͤhlen anfieng, lachten ſie uͤber ihn. Der Offi - zier rief alle Maͤdchen an, die den Wagen vorbey giengen, und rief ihnen Zoten zu. Wenn ein Bettler an den Wagen kam, ſo ſtellte er ſich, als ob er etwas Muͤnze herauswuͤrfe; die armen Leu - te ſuchten lang umſonſt im Koth herum, und der Offizier lachte recht aus vollem Halſe uͤber ſeinen, wie er glaubte, gluͤcklichen Einfall. Als ſie auf die naͤchſte Station kamen, und den Poſtillion be - zahlen ſollten, kannte Kaſpar keine Muͤnze, und wollte dem Schwager ſtatt ſechs Kreuzern einen Sechsbaͤzner geben. Siegwart nahm ſich ſeiner an, und zahlte fuͤr ihn aus, ſonſt waͤr er in kurzer Zeit um all ſein Geld gekommen. Nun ſetzte ſich auch ein junges Maͤdchen von Donauwerth in den Poſtwagen, an das ſich der Offizier ſogleich mach - te. Er brachte ſo grobe Zoten und Zweydeutigkei - ten vor, daß Siegwart die Augen zuthat, als ob543 er ſchliefe, ſo aͤrgerlich war ihm das Geſchwaͤtz. Er wurde durch ein groſſes Geplapper aufgeweckt, indem eine Wallfahrt, die ein halbes Dorf ausmach - te, und nach Koͤniginbild im Burgauiſchen gieng, am Wagen vorbey kam. Der Offizier rief ihnen zu: Sie moͤchten doch auch fuͤr ihn beten! denn er ſey ein groſſer Suͤnder. Hieruͤber ſchlug er ein lautes Gelaͤchter auf. Gegen Abend wurde der Jude, der ſein Abendgebeth verrichten wollte, von dem Offizier unaufhoͤrlich ſo geneckt, daß er ſich end - lich, ungeachtet des aͤrgſten Regens, aus dem Wagen hinausſetzte, und die ganze Nacht da ſitzen blieb. Jn Donauwerth giengen alle vom Poſtwagen ab, ausgenommen der junge Kaspar und der Kondukteur. Dagegen traten drey Stu - denten von Jngolſtadt ein, die auf der Vakanz ge - weſen waren. Sie ſprachen mehrentheils lateiniſch, und Siegwart miſchte ſich in ihr Geſpraͤch. Kas - par aber konnte mit dem Lateiniſchen nicht fort - kommen. Er beklagte ſich ſehr uͤber die Kaͤlte, un - geachtet die Witterung ziemlich gelinde war; zog ſeine Leckerbißchen hervor, und zehrte eins nach dem andern auf. Sie fuhren auf eine Anhoͤhe, und ſahn unten eine Ueberſchwemmung, die die Do - nau machte. Es ſah traurig aus. Die Felder la -544 gen unter Waſſer; nur zuweilen ragte eine Anhoͤ - he, oder ein Geſtraͤuch hervor. Tannen und Ei - chen hiengen halb ausgewurzelt uͤber’s Waſſer. Oben, wo ſie fuhren, ſtand ein gutgeſatteltes Pferd, ohne Reuter, das der Poſtillion mitnahm. Gan - ze Doͤrfer waren vom Waſſer, das wild und laut unten hinrauſchte, umzingelt. Halbe Scheunen und Haͤuſer, oder losgeriſſene Balken nahm die Flut mit fort. Die Bauren ſtanden, zum Theil nur halb gekleidet, mit Weib und Kindern, und ihrem Vieh auf der Hoͤhe; ſahen ſtillſchweigend ins Thal hinab; oder ſtreckten die Haͤnde aus, und fiengen ein lautes Wehklagen an, wenn ihre Huͤt - ten einſtuͤrzten. Siegwart uͤberſah die Scene mit Thraͤnen; einer von den Studenten kramte witzi - ge Einfaͤlle aus. Auf Einmal ward er blaß, und ſchwieg. Es erhub ſich ein groſſes Geſchrey. Der Wagen, der ſich bisher immer auf der Hoͤhe gehal - ten hatte, muſte nach dem Dorf, wo die Station war, ins Thal hinabfahren. Du kannſt hier nicht durch, riefen alle Bauren dem Poſtillion zu. Jch muß durch! ſagte dieſer, und peitſchte auf die Pfer - de los. Ploͤtzlich blieb der Wagen ſtecken, und das Waſſer ſtroͤmte wild drum herum. Zween Bau - ren ſprangen, ungeachtet ſie, wegen des Feyertags,545 gut gekleidet waren, ins Waſſer, und huben die Raͤder in die Hoͤhe, daß der Wagen wieder fort konnte. Drauſſen rief ein altes Weib ihrem Sohn aͤngſtlich zu, der faſt unter’s Rad kam, als es ſich zu drehen anfieng. Der Poſtillion fluchte, und lachte die Bauren aus, als er aus dem Waſſer heraus war. Siegwart warf ihnen zween Drey - baͤzner zu.

Herr Gott! Das iſt unſers Herrn Gaul! rief eine Magd; und gleich drauf ſprang die Verwal - terin aus ihrem Haus heraus, und rief: halt, Schwager, halt! Wo iſt mein Mann? Das iſt ſein Schimmel. Schwager, Schwager, ſag um Gottes willen, wo er iſt? Das weis ich nicht, ſagte der Poſtillion ganz kalt. Da habt ihr den Gaul, wenn er euer iſt. Jndem ließ er das Pferd gehen, das ſogleich ſeinem Stall zulief. Die Ver - walterin lief dem Wagen nach ins Poſthaus; zwey Kinder ſprangen heulend hintennach. Sie wand - te ſich an Siegwart, um zu fragen, wo ihr Mann ſey? Auf ſeine Antwort: Daß ſie das Pferd, zwo Stunden vor dem Dorf drauſſen, ohne Reu - ter angetroffen haben, fiel ſie in eine Ohnmacht, und ward in ihr Haus getragen. Nach zwey546 Stunden fuhr der Wagen weiter, nachdem die Reiſenden erſt verſichert worden waren, daß ſie von der Ueberſchwemmung nichts mehr zu befuͤrch - ten haͤtten, weil man immer auf der Hoͤhe fah - ren koͤnne. Als die drey Studenten drauf von Jngol - ſtadt ſprachen, ward Siegwart ſehr aufmerkſam. Sie muſterten die Jngolſtadter Maͤdchen. Die Korn - feldin iſt eben ein fideles Menſch, ſagte der Eine, mit der man einen wahren Jokus haben kann. Sapperluft, ſie ſieht ſo friſch aus, wie ein Bor - ſtorferapfel, und das Beſt iſt, daß ſie einem nichts uͤbel nimmt. Weiſt du, Kirner, wie wir letzt bey ihr waren, als wir die Muſikanten hatten? Narr, warum wirſt roth druͤber? Man ſieht dir noch recht den Fuchs an; darfſt dich ja nicht ſchaͤmen; Man weis wohl. Auf dem Billard gehts auch noch an; die Franzel macht noch wohl ſo was mit; aber um das andre Geſchmeiß geb ich all zuſam - men keinen Heller! Was verziehſt das Maul ſo, Gutfried? ſteckt dir wieder deine Fiſcherin im Kopf, der Zieraffe? Jhr moͤcht ſagen, was ihr wollt, antwortete Gutfried; die Fiſcherin iſt ein trefliches Frauenzimmer; aber ſie iſt euch zu gut; ihr wollt nur leichte Waare, wo man wenig Um - ſtaͤnde machen darf. Das iſts eben, ſagte Bo -547 ling; die Fiſcherin iſt ein ſtolzes Menſch, die ſo juͤngferlich thut, als ob ſie nicht fuͤnfe zaͤhlen koͤnn - te, und einen ehrlichen Kerl uͤber die Achſel an - ſieht. Schoͤn iſt ſie, das kann man ihr nicht neh - men; aber eben deswegen ſollte ſie mehr mit unſer einem umgehn. Narr! ſie hat doch auch Fleiſch und Blut! Aber du ſiehſt ſie immer als einen Engel an. Wenn ein Maͤdel nicht mit Studenten um - geht, ſo wird ihr Lebetag nichts rechts aus ihr! Schoͤne Moral! ſagte Gutfried. Moral hin, Moral her! verſetzte Kirner, um der Moral wil - len bin ich nicht nach Jngolſtadt gegangen. Das kanſt du doch nicht leugnen, Gutfried, daß die Fiſcherin mit all ihrem glatten runden Geſicht ein dummes, hoffaͤrtiges Ding iſt! Jch wollte letzt - hin mit ihr im Schlitten fahren; da zog ſie die Naſe in die Hoͤhe, und ſagte, ſie muͤſſ es ſich ver - bitten. Verbitt du den Henker und ſeine Groß - mutter! Gelt, wenn der feine Herr von Kronhelm kommt, da reicht ſie gleich ihr Pfoͤtchen her, weil er eine goldbeſchlagene Jack an hat. Das ſind mir die rechten Menſcher! Jch bekuͤmmre mich viel um ihre feine Haut.

Das Maͤdel lob ich mir allein,
Das Leib und Seele kann erfreun:
548
Dem Tag und Nacht zu jeder Friſt
Der Purſche fein willkommen iſt!

Als die beyden Herren ausgeſungen hatten denn Gutfried ſang nicht mit ſo fragte Sieg - wart, ob ſie den Herrn von Kronhelm kennen? O ja! ſagte Boling, er hoͤrt mit mir das Ius Ca - nonicum. Es iſt ein trocknes eingebildetes Buͤrſch - chen, das immer ausſieht, als obs weinen wollte. Der Kerl iſt mir recht fatal, weil er immer allein auf der Stube ſitzt, und ſich viel zu gut duͤnkt, mit andern ehrlichen Kerls umzugehen. Er iſt doch ſehr artig in Geſellſchaft, ſagte Gutfried; ich hab ihn ein paarmal im Konzert beym Hofrath Fiſcher geſprochen. Er iſt nichts weniger als ſtolz. Ein Bißchen ſchwermuͤthig ſcheint er wol zu ſeyn. Es muß ihm etwas fehlen. Sonſt aber iſt er ſehr artig, und hat viele Lebensart. Er iſt mein vertrauter Freund, ſagte Siegwart zu Gutfried; ich habe zwey Jahre auf der Schule mit ihm zu - ſammen gelebt; wir wurden Ein Herz und Eine Seele. Jch glaube, daß er mir entgegen kom - men wird. Das ſoll mir lieb ſeyn, antworte - te Gutfried; ich habe ſchon laͤngſt gewuͤnſcht, ge - nauer mit ihm bekannt zu werden; aber es wollte ſich nicht ſchicken: vielleicht geſchiehts jetzt. Ein549 paar Buͤcher hab ich durch die dritte Hand von ihm zu leſen bekommen, die ſehr ſchoͤn waren. Das Eine hieß der Meſſias, und im andern ſtund ein groſſes Gedicht, der Fruͤhling. O, die kenn ich wohl, die hab ich ſelbſt auch, ſagte Siegwart. Sie leſen wol gern ſolche Buͤcher, mein Herr Gutfried? Auſſerordentlich gern! antwortete dieſer; wenn man nur in Jngolſtadt dergleichen auch bekommen koͤnnte! Die beyden Juͤnglinge fiengen nun ein vertrauteres Geſpraͤch uͤber dieſe Materie an; denn nichts macht vertrauter, als die gemeinſchaftliche Liebe zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften. Sie beſchaͤf - tigt ſich mit der Empfindung, und da begegnet man ſich alle Augenblick auf Einem Wege. Da hat er nun einmal den rechten Mann gefunden, ſagte Boling zu Kirner, vor dem er ſein Herz ausſchuͤtten kann. Wir muͤſſen immer hoͤren, daß wir von nichts, als Studentenmaͤhrchen reden koͤn - nen. Es iſt auch wahr, fiel ihm Gutfried ein, ihr bekuͤmmert euch um nichts, was geſchrieben wird. Um Vergebung! ſagte Boling; wir le - ſen doch den Triller und den Guͤnther. Das iſt wol ein herrlich Lied im Guͤnther: Jhr Schoͤnen hoͤret an ꝛc.

550

Jndem kam ein Kapuziner an den Poſtwagen, und bat den Schwager, ihn doch einzunehmen, weil er ſehr ermuͤdet, und von der langen Reiſe halb krank ſey. Meinetwegen wol, ſagte der Poſt - knecht, wenns die Herren da zufrieden ſind. So - gleich machte Siegwart den Schlag auf, und ließ den Kapuziner ein. Er ſetzte ſich neben Kaſpar, der ſich aͤngſtlich vor ihm zuruͤck zog. Bleib er ſitzen, junger Herr! ſagte Siegwart, und ſchlag er ſei - nen Mantel mit um den Ehrwuͤrdigen Herrn her - um! Er ſieht ja, daß er halb erfroren iſt. Kas - par thats halb unwillig, und der Kapuziner ſah unſern Siegwart dankbar an. Wo geht denn die Reiſe bey den jungen Herren hin? fragte er. Nach Jngolſtadt, war die Antwort. So? da - hin will ich auch. Will Gott recht danken, wenn ich da bin; denn nun marſchir ich ſchon ſeit fuͤnf Tagen aus dem Frankenland heraus. Jch glaubt oft, ich koͤnnt’s kaum mehr aushalten. War - um gehn Sie denn bey dieſer veraͤnderlichen Jahrs - zeit ſo weit, Herr Pater? fragte Siegwart. Ach, was thut man nicht um des lieben Gehor - ſams willen! antwortete er. Jch habe Geſchaͤfte fuͤr meinen Provinzial gehabt. Freylich kommt michs hart an, da ich ſchon ſeit Jahr und Tag551 nicht recht geſund bin. Jch hoffte aber auch, mei - ne Leut im Aichſtaͤttiſchen noch einmal zu ſehen. Lieber Gott! wie ich da vor meines Vaters Haus komm, und denk, ich will dem alten Mann eine Freude machen, daß er mich nach 20 Jahren wieder einmal ſieht; da find ich alles ganz und gar ver - aͤndert; lauter fremde Geſichter; und als ich frag, da weis kein Menſch nichts von meinen Leuten. Die ſind ſeit zehen Jahren weg, und geſtorben, hieß es das drang mir durch Mark und Bein, daß ich nicht mehr wuſte, wo ich war? Hei - lige Mutter Gottes! ſagt ich; ſind ſie alle geſtor - ben? Hier ſtuͤrzten dem ehrlichen Kapuziner die Thraͤnen aus den Augen. Siegwart und Gut - fried weinten mit. Was iſt denn das fuͤr ein Kerl da? rief Kirner zum Poſtillion, als ſie bey einem Rad vorbey fuhren, auf dem ein kuͤrzlich hingerichteter Menſch lag. Ja, das war ein feiner Geſelle! Herr! antwortete der Schwager. Er iſt auf der Muͤhle dort Knecht geweſen. Der hat ſeinem Herrn die Kaſten aufgebrochen, und das Geld herausgenommen, und dann ſeine Tochter mit dem Beil umgebracht, weil ſies ſah, und ih - rem Vater ſagen wollte. Meynen Sie, er habe gebetet, als man ihn raͤderte? Geflucht und ge -552 ſungen hat er, bis man ihn aufs Rad legte. Jch ſtand nah dabey, dort auf dem Huͤgel, und hab alles recht mit angeſehen. Das war ein Teufels - kerl! Aber er hat auch ſein Lebtag nichts ge - than, als geſoffen und geſpielt, und mit Menſchern ganze Naͤchte zugebracht. Jch hab ihm oft geſagt: Hans, ſo wirſt dus nicht weit bringen. Das iſt mir doch ganz unbegreiflich, ſagte der Kapuzi - ner, wie ein Menſch die Bosheit ſo weit treiben, und ſich vom Teufel ſo verblenden laſſen kann! Jch wuͤrds nicht glauben, wenns der Schwager da nicht ſelbſt ſagte. Daß man einem etwas nimmt, wenn man ſich nicht mehr zu helfen weis, und Hungers ſterben muͤſte, das laͤſt ſich wohl noch denken, obs gleich auch grauſig iſt; aber wie man einen umbringt, das geht uͤber meinen Verſtand hinaus. Ueber meinen auch, ſagte Siegwart; ich haͤtte nie geglaubt, daß es ſo verdorbne Men - ſchen gibt. Wohl euch, edle, unſchuldsvolle Seelen, denen das Laſter unbegreiflich, und der Gang einer boshaften Seele unerforſchlich iſt! Moͤchtet ihr immer bey eurer unwiſſenden Einfalt bleiben!

Der Kapuziner unterhielt ſich noch viel mit Siegwart, und erzaͤhlte ihm von ſeiner eigenen553 Geſchichte, und vom Kloſter; zuweilen ſeufzte er, aber nur verſtohlen, und furchtſam, uͤber die Stren - ge ſeines Ordens. Die liebenswuͤrdige Einfalt, und die faſt kindiſche Unerfahrenheit im Lauf der Welt, beſonders in der Bosheit der Menſchen, die der Pater alle Augenblick aͤuſſerte, nahm un - ſern Siegwart, der ſeine idealiſche Vorſtellungen hier ſo lebendig vor ſich ſah, ſehr fuͤr ihn ein. Mit Gutfried, an dem er ſehr viel edles fand: ward er auch bald Freund.

Den andern Tag, als ſie noch drittehalb Stun - den weit von Jngolſtadt entfernt waren, kam Kronhelm hergeritten. Seine, und Siegwarts Freude war unbeſchreiblich. Jeder fuͤhle ſie mit mir, der ſeinen Freund, den er ſo zaͤrtlich liebt, wie Siegwart ſeinen Kronhelm, nach einer Jahr - langen Trennung wieder umarmt, und nun wie - der ganz ſein iſt! Boling erbot ſich, zu reiten, und Kronhelm ſetzte ſich in den Wagen. Anfangs ſprachen ſie wenig, und hielten ſich nur bey der Hand feſt. Sie fragten ſich tauſend Dinge, be - antworteten die Fragen nur halb, und fiengen ſo - gleich wieder eine neue an. Als ſie einander ſteif, und mit dem ſeelenvollſten Ausdruck anſahen,N n554erſchrack Siegwart auf Einmal, weil er jetzt erſt wahrnahm, wie blaß und mager Kronhelm ausſah. Du biſt doch geſund? ſagte er. So ziemlich; war die Antwort. Und nun ſtunden dem armen Kronhelm die Thraͤnen in den Augen, denn er dachte ſich ſei - ne Thereſe lebhaft, und erkannte ſie in den Zuͤgen ihres Bruders ganz wieder. Haſt du mir nichts mitgebracht? ſagte er. Nichts als Gruͤſſe von dort her, und vom P. Philipp. Kronhelm ſchwieg eine Zeitlang, und verſank in tiefe Wehmuth.

Gutfried miſchte ſich nun auch ins Geſpraͤch. Kronhelm wunderte ſich, daß ſie ſich nicht ſchon fruͤher haͤtten genauer kennen lernen, da er ſo viel Gleichheit in ihrer Denkungsart wahrnahm, und da dieſes Siegwart noch mehr beſtaͤtigte. Er bat ihn zu ſich, und verſprach, ihn oͤfters zu beſuchen, und ihm alle Buͤcher zu leihen, die er haͤtte. Kir - ner haͤnſelte indeſſen den jungen Kaſpar, der ſich alles gefallen ließ, und nun froh war, daß er das Ende der Reiſe vor ſich ſah. Der Kapuziner freu - te ſich innerlich recht herzlich uͤber die Freundſchaft der beyden Juͤnglinge, und uͤber die Freude, die ſie an einander hatten. Das iſt ſchoͤn, ſagte er, wenn man einander ſo recht gut iſt. Jch weis, daß mein P. Jgnatz auch viel Freude haben wird,555 wenn ich wieder komme. Wir ſind Herzensfreun - de zuſammen. Eine Viertelſtunde vor der Stadt gieng der ehrliche Pater vom Poſtwagen ab, und dankte Siegwart noch beſonders, daß er ſich ſeiner ſo angenommen, und fuͤr ihn geſorgt habe. Sieh, dort an dem mittlern Thurm, ſagte Kron - helm zu Siegwart, indem er nach der Stadt wies, iſt mein Zimmer, gleich in dem Hauſe rechter Hand. Du kannſt erſt bey mir ſeyn, bis wir um eine Wohnung fuͤr dich ſehen; ich glaub, daß in mei - nem Haus noch ein Zimmer ledig wird. Das waͤr herrlich, ſagte Siegwart; aber koͤnnten wir nicht auf Einem Zimmer beyſammen wohnen, wie im Kloſter? Nein, Bruder, antwortete Kronhelm; aber ich kann dir jetzt nicht ſagen, warum?

Endlich kamen ſie in der Stadt an, und giengen gleich auf Kronhelms Zimmer. Hier umarmten ſie ſich erſt mit herzlicher, bruͤderlicher Liebe. Sieg - wart bemerkte gleich beym Eintritt in die Stube ein unter dem Spiegel haͤngendes Portrait, das ihm ſehr bekannt deuchte. Wen ſoll das vorſtel - len? fragte er. Kennſt du das nicht! antwortete Kronhelm. Es iſt Thereſe. Ja wahrhaftig! Recht gut und aͤhnlich! Fiel mirs doch nicht gleich ein. Aber, wo haſt du’s denn her? Wer hats556 gemacht? Aus mir ſelber hab ichs; ich habs ge - macht. Das war dir eine Freude, als ichs fertig hatte. O Bruder, ich kann nichts anders thun und denken! Du daurſt mich, armer Junge! Jch hoffte, die Zeit wuͤrd es aͤndern. Da kennſt du die Liebe recht. Wer einmal liebt, liebt ewig. Hierauf erkundigte er ſich mit Aengſtlichkeit nach Thereſen. Siegwart wich ſeinen Fragen aus, ſo gut er konnte, und antwortete immer nur ins Allgemeine. Bey Kronhelm wachte der ganze, etwas eingeſchlummerte Schmerz wieder auf. Alles war ihm wieder neu. Es kam ihm vor, als ob er Thereſen erſt geſtern geſehen, und ver - lohren haͤtte. Alle Bilder der Vergangenheit ſtell - ten ſich ihm wieder dar. Er betrachtete ſeinen Siegwart genau, eilte dann zum Portrait hin, und brachte ſogleich einen Zug drinn an, den The - reſe mit ihrem Bruder gemein hatte. Das hat noch gefehlt, ſagte er, das konnt ich nicht treffen; nun iſts noch aͤhnlicher. Und wirklich hatte die Aehnlichkeit des Bildes durch dieſe Aenderung ſehr gewonnen.

Sieh, das Zimmer waͤre groß genug, ſagte Kronhelm, daß wir bey einander wohnen koͤnnten. Aber ich habs beſſer uͤberlegt. Du haſt in der letz -557 ten Zeit im Kloſter ſehr viel von mir ausgeſtanden; ich war ſo wunderlich und verdruͤßlich. Seit der Zeit bin ichs noch mehr geworden. Oft iſt mirs ſo zu Muthe, daß ich keinen Menſchen, nicht ein - mal meinen beſten Freund um mich leiden kann. Wenn du hier im Hauſe wohnſt, ſo kannſt du doch immer bey mir auf dem Zimmer ſeyn; aber wenn ichs zu arg mache, kannſt du ausweichen. Mir iſts leid, daß ich ſo bin; aber ich kanns nicht aͤn - dern. Siegwart machte erſt Einwendungen, aber endlich ließ er ſichs gefallen.

Den andern Tag beſahen ſie die Stadt mit ein - ander. Sie gefiel unſerm Siegwart beſſer, als ſeinem Freunde, der, bey ſeinem Eintritt, alles in die Farbe der Melancholie gekleidet geſehen hatte. Siegwart erkundigte ſich bey ihm nach dem Hof - rath Fiſcher, und erfuhr, daß es eben der ſey, von dem die Studenten auf dem Poſtwagen geſprochen hatten. Er wird dir nicht ſehr gefallen, ſagte Kronhelm, denn er iſt ziemlich ſtolz; aber ſeine Tochter, denk ich, wird dir mehr gefallen; es iſt ein herrliches Maͤdchen. Mir wirſt du dieſes Lob um ſo mehr glauben, da ich ſo ganz unpartheyiſch bin, und nur fuͤr Thereſen allein lebe. Meinetwe - gen mag ſie ſeyn, wie ſie will! verſetzte Sieg -558 wart, was gehen mich die Maͤdchen an? Jch bring einmal dem Hofrath meines Vaters Brief, und damit aus! Wenn er ſtolz iſt, ſo bin ichs auch! Nun, wir wollen ſehen, ſagte Kron - helm laͤchelnd. Den Nachmittag waren ſie zu Gutfried gebeten, der ihnen ſehr gefiel, und mit dem ſie Freundſchaft errichteten, und eine woͤchent - liche Zuſammenkunft ausmachten, weil er die Floͤte recht gut ſpielte. Es war auch ein Sohn vom Hofrath Fiſcher da, dem Gutfried gegenuͤber wohn - te. Dieſer junge Menſch ſtudierte, und war un - baͤndig ſtolz. Er gab ſich mit Kronhelm etwas, und mit Siegwart gar nicht ab, ob ihm dieſer gleich ſagte, ſein Vater habe ehedem das Gluͤck gehabt, ein Freund des ſeinigen zu ſeyn. Alle Augenblicke beſah er ſich im Spiegel, und bewun - derte ſein glattes, karmeſinrothes Geſicht. Den andern Tag gieng Siegwart zum Kanzler, der ihm hoͤflich begegnete, und von da zum Hofrath Fiſcher, dem er ſeines Vaters Brief brachte. Der Hofrath empfieng ihn in ſeinem damaſtenen Schlaf - rock ſehr kalt und ſtolz, und noͤthigte ihn nicht ein - mal zum Sitzen. Als er den Brief durchgeleſen hatte, ſagte er: Alſo lebt ſein Vater noch? Jch dachte, er waͤre ſchon laͤngſt geſtorben. Nun, Nun! 559Wenn ich ihm gelegentlich worinn dienen kann, ſo komm er wieder zu mir! Er kann auch ſeinen Vater von mir gruͤſſen, wenn er an ihn ſchreibt. Siegwart buͤckte ſich, und nahm ſeinen Abſchied. Der Hofrath gieng bis an die Thuͤre mit, und klingelte dem Bedienten, der ihn die Treppe hinab begleitete. Voll Unmuths gieng nun Siegwart zu Hauſe, und ſchimpfte unterwegs bey ſich ſelbſt auf den kalten Weltton, und das ſtolze, veraͤnderliche, menſchliche Herz. Der kriegt mich gewiß nicht wieder! ſagte er zu Kronhelm; das iſt ein rechter Hofmann. Haͤtt ich das gewuſt, er haͤtte weder mich, noch den Brief geſehen! Meinem Vater darf ich das nicht ſchreiben, der wuͤrde ſich zu ſehr druͤber aͤrgern. O Kronhelm, wenn ich denke, daß einer von uns einmal ſo werden koͤnnte, ich moͤchte toll werden! Wie kannſt du auch ſo was denken? ſagte Kronhelm, Haſt du aber ſeine Tochter nicht geſehen? Nein! antwortete Siegwart halb unwillig; was willſt du nur im - mer mit ſeiner Tochter? Jch mag ſie gar nicht ſehen!

Nach ein paar Tagen ward in dem Haus ein Zimmer leer, das Siegwart ſogleich miethete und bezog, ob er gleich ſeine meiſte Zeit auf Kronhelms560 Zimmer zubrachte. Dieſer ſprach beſtaͤndig nur von Thereſen. Siegwart muſte ganze Abende durch mit ihm von ihr reden, ohngeachtet er jetzt ſelbſt wenig von ihr wuſte; denn ſie ſchrieb ſeltener, als ſonſt, vermuthlich um Kronhelms willen. Sieg - wart haͤtte ſo gern ſeinem Freund eine Neigung ausgeredet, die allem Anſchein nach nie einen gluͤck - lichen Ausgang nehmen konnte; aber wenn er ſich nur von fern etwas dergleichen merken ließ, ſo ward Kronhelm boͤſe oder traurig, und argwohn - te, daß er nicht ſein Freund mehr ſey. Zerſtreuen ließ er ſich auch wenig, denn er ſaß bey den ſchoͤn - ſten Fruͤhlingstagen faſt immer zu Hauſe, und wollte nicht einmal gern Muſik machen, wenn Gutfried kam. Gieng Siegwart einmal allein aus, und kam er nicht ſogleich wieder heim, ſo ward er druͤber unruhig und unzufrieden. Er wollte den Bruder ſeiner Thereſe beſtaͤndig um ſich haben, und ſagte ihm oft, daß die Freundſchaft ſo wohl eifer - ſuͤchtig ſey, als die Liebe. Siegwart, der ihn ſo unausſprechlich liebte, fuͤgte ſich ganz in ſeine Laune, bedaurte ihn in der Stille, und that ihm alles zu Gefallen.

Nun giengen auch die Kollegia an: Siegwart, der auf der Schule durch ſeinen Fleiß ſchon ſo weit561 gekommen war, hoͤrte die Philoſophie, und die Phyſik. Der junge Jckſtatt, der die Wolfiſche Philoſophie inne hatte, und uͤberhaupt ſehr aufge - klaͤrt dachte, gefiel ihm vorzuͤglich, und machte ihm das philoſophiſche Studium ſehr angenehm. Sei - ne andern Lehrer, die groͤſtentheils Jeſuiten waren, gefielen ihm ſchon weniger. Kronhelm hatte blos eine Stunde bey Jckſtatt, und eine andre auf der Reitbahn. Die ganze uͤbrige Zeit brachte er zu Haus in der Einſamkeit zu. Gutfried war faſt ihr einziger Geſellſchafter. So gieng der Fruͤhling und der Sommer hin, ohne daß Siegwart Ein - mal in eine eigentliche Studentengeſellſchaft kam, wobey er freylich blutwenig verlohr. Sein Ver - ſtand ward durch die Wiſſenſchaften und den Vor - trag ſeiner Lehrer immer mehr aufgeklaͤrt; ſein Herz durch das Leſen der Alten, und beſonders der Geſchichtſchreiber, immer maͤnnlicher und fe - ſter; und ſeine Empfindung durch das Leſen der alten und neuen Dichter, durch fleiſſige Uebung in der Muſik, und genaue Beobachtung der Natur immer feiner, richtiger, und reizbarer. Oft fuͤhlte er in ſich ein gewiſſes Leere, und ein Verlangen, wovon er den Gegenſtand nicht kannte. Sein Herz war oft, beſonders in der Daͤmmerung, ungewoͤhn -562 lich weich; oft floſſen ihm Thraͤnen aus den Au - gen, ohne daß er wuſte, warum? Er hielts fuͤr eine Sehnſucht nach dem Kloſter, und fuͤr einen goͤttlichen Aufruf, ſich zu dieſem Stande recht vor - zubereiten; daher ſtudierte er auch unaufhoͤrlich, oft bis in die tiefe Nacht hinein. Wenn ſein Herz recht weich, und er allein war, ſo erhub ſich ſeine Seele zu hoher Andacht; er betete mit groſſer Jnbrunſt, und heiligte ſich Gott ganz. Das Le - ſen der Bibel machte ihn taͤglich vollkommener und beſſer, und jeder groſſen Handlung ſaͤhig. Seine Liebe zur Tugend, und ſeine Gewiſſenhaftigkeit ward beynahe ſchwaͤrmeriſch. Ein paarmal traf er von ungefaͤhr bey Gutfried andre Studenten an, beſonders Boling und Kirner, welche ziemlich frey und leichtſinnig ſprachen. Dieß that ihm ſo weh, und brachte ihn ſo auf, daß er ganz freymuͤthig ſein Misfallen druͤber an den Tag legte, und faſt in Ungelegenheit und Streit kam. Das rohe und verderbte Weſen, das er unter den Studenten wahrnahm, machte ihn beynah zum Einſiedler und zum Menſchenfeind, ſo daß er bey keinem Men - ſchen gern war, als bey Kronhelm und Gutfried. Das Andenken an Sophien, und ihr Tagebuch, worinn er fleiſſig las, erhoͤhten ſeine Schwaͤrmerey563 noch mehr. Thereſens traurige Briefe, und ſei - nes Kronhelms duͤſtre Denkungsart lehrten ihn die Welt, die den beſten Seelen ſo wenig Freude ge - waͤhrt, und ſie in ſo tiefen Kummer ſtuͤrzt, immer mehr gering ſchaͤtzen. Dabey war ihm bey ſeiner halbfanatiſchen Denkungsart ſo wohl, daß er ſich in keine andre Lage wuͤnſchte.

Die Kirchen, und beſonders die Frauenkloſter - kirche beſuchte er alle Sonn - und Feyertage, und naͤhrte da ſeine Phantaſie noch mehr durch das heilige Gepraͤnge, und die feyerliche Muſik. Ein - mal ſah er ein Maͤdchen neben ſich knien, uͤber deſſen Anblick er erſchrack. Es hatte die Augen andachtsvoll gen Himmel gerichtet, und warf, als er es anblickte, einen Blick auf ihn, der ſein Jnnerſtes umkehrte. Er war auf einmal aus aller Faſſung, und konnte, ohngeachtet aller Bemuͤhung, ſeine Andacht nicht mehr ſammeln. Es uͤberfiel ihn ein ſolches Zittern und Beben, daß er ſich kaum mehr auf den Knien halten konnte. Noch Einmal blickte er hinuͤber; ſie ließ eben ein Kuͤgelchen an ihrem Noſenkranz fallen, ſah ihn wieder an, und ſein Blick fuhr wie der Blitz zuruͤck. Nach etli - chen Minuten ſtand ſie auf; er hoͤrte ihr Gewand rauſchen, wagte es aber nicht, nach ihr hinum zu564 blicken. Er wollte wieder beten, aber er konnte nicht vier Worte zuſammen bringen. Drauf mach - te er ein Kreuz, ſchlug ſich auf die Bruſt, ſtund auf, und, indem er ſich umwendete, ſah er das ſchlanke Geſchoͤpf mit langſamem, majeſtaͤtiſchem Gang der Kirchenthuͤre zugehn, ſich mit Wieh - waſſer beſprengen, und aus ſeinen Augen verſchwin - den. Er kam aus der Kirche, ohne ſelbſt zu wiſſen, wie? Gutfried ſtand in einem Seiten - ſtuhle, und gruͤſte ihn; aber er nahm ihn nicht wahr. Als er vor die Kirche kam, ſah er das Maͤdchen nicht mehr, und wuſte nicht, wo er ſich hin wenden ſollte? Gott! Was iſt das? dachte er. War das ein Engel, oder wars Maria? Seine ganze Empfindung war ihm unerklaͤrlich. Es war ihm nicht wohl, und auch nicht weh! Seine See - le war immer auſſer ihm, und er wuſte doch nicht, wo? Er ſah nur das, gen Himmel gehobene Au - ge, und die ſchlanke Geſtalt, wie ſie majeſtaͤtiſch vor ihm hin ſchwebte. Ein paar Stunden lang gieng er, ohne ſich ſeiner bewuſt zu ſeyn, auf ſei - nem Zimmer auf und ab. Er wollte beten, wollte leſen; aber ſeine Gedanken waren immer anders - wo. Zuweilen ſeufzte er, und huſtete, um vor ſich ſelbſt den Seufzer zu verbergen. Kronhelm hatte565 ſchon eine halbe Stunde mit dem Eſſen auf ihn gewartet. Als er nicht kam, gieng er zu ihm auf ſein Zimmer. Siegwart fuhr zuſammen. Was treibſt du denn, Xaver? Jch warte ſchon uͤber eine Stunde auf dich. Das Eſſen ſteht ſchon eine hal - be Stunde auf dem Zimmer; es wird ganz kalt. So? iſts denn ſchon Eſſenszeit? Das kann ja kaum ſeyn! Je freylich! antwortete Kron - helm; ſieh nur nach der Uhr! Es iſt ſchon halb Eins. Siegwart gieng ſchweigend mit ihm auf ſein Zimmer, und ſprach waͤhrend dem Eſſen faſt kein Wort; auch er wenig. Kronhelm, der mit ſeinen Gedanken bey Thereſen war, merkte davon nichts. Nach Tiſche gieng Siegwart auf ſein Zimmer, unter dem Vorwand, daß er Briefe nach Haus zu ſchreiben habe. Kronhelm trug ihm einen Gruß an Thereſen auf. Siegwart ſchrieb nicht, ſondern gieng nur hin und her. Er wollte das Maͤdchen und ihren andaͤchtigen Blick wieder vergeſſen, dachte an tauſend verſchiedne Dinge, aber immer am Ende wieder an ſie. Zuweilen phantaſirte er auf ſeiner Violine; gleich war ihms wieder entleidet, und er hieng ſie wieder auf. Um halb vier Uhr holte ihn Kronhelm ab, um zu Gutfried zu gehen, wo ſie ein woͤchentliches566 Privatkonzert hatten. Siegwart zog ſich an, und gieng mit ihm. Als ſie ſchon unter der Hausthuͤre waren, ſagte Kronhelm: Nimmſt du denn deine Violine nicht mit? Ach, das iſt wahr! die haͤtt ich bald vergeſſen! ant - wortete Siegwart, und ſprang die Treppe wie - der hinauf. Als das Band, an dem die Violine hieng, ſich am Nagel verwickelt hatte, riß er es mit Gewalt entzwey. Jm Konzert ſpielte er ohne alle Aufmerkſamkeit mit, und hoͤrte endlich, als ein andrer kam, der die erſte Violine ſpielte, gar auf, weil er vorgab, es ſey ihm nicht recht wohl. Er ſetzte ſich in eine Ecke, hielt die Hand vors Geſicht, verſank in Wehmuth, und dachte nichts, als das ſchoͤne andaͤchtige Maͤdchen. Zuweilen konnte er ſich ihr Geſicht nicht mehr deutlich vor - ſtellen; es ſchwebte blos ſein Umriß vor ihm her - um, und da ward er auf ſich ſelbſt boͤſe, und gab ſich alle Muͤhe, ſich das ganze Bild wieder zuruͤck zu rufen. Kronhelm merkte wohl, als er mit ihm nach Haus gieng, daß ihm etwas ſehlte, aber er beruhigte ſich wieder, als er hoͤrte, daß es nur von Kopfſchmerzen herruͤhre. Siegwart blieb wohl noch drey Stunden auf, ſprach oft mit ſich ſelbſt, ſang zuweilen etwas, betete, und flehte Gott um Ruhe567 und Vergebung, denn er hielt, aus zu genauer Gewiſſenhaftigkeit, ſeine Empfindung fuͤr Suͤnde. Er wuſte nicht, war es Liebe, oder was es war? Endlich legte er ſich zu Bette. Lang bemuͤhte er ſich umſonſt, einzuſchlafen. Wenn er die Augen zumachte, ſo ſtand das Maͤdchen lebendiger, als ers ſich den Tag uͤber hatte vorſtellen koͤnnen, ihm vor Augen. Den andern Morgen wachte er fruͤh auf; die eben aufgehende Sonne ſchien in ſeine Kammer; eine Thraͤne ſchoß ihm in die Augen, denn ſein erſter Gedanke war das Maͤdchen. Jhr gen Himmel gehobnes Auge gab ſeiner Andacht Schwingen. Er ſtand auf, ſtreckte die Arme aus, als ob er ſie umfangen wollte, und betete ſo feu - rig, als er faſt noch nie gebetet hatte. Gott! Gott! ſeufzte er: Jch kenne mich ſelbſt nicht mehr! Was will ich? Was fehlt mir? Warum denk ich immer an den Engel? Wenn es Suͤnde iſt, o Gott! ſo vergib mir! Du haſt ihn erſchaffen! Jch kann nicht anders. Jch bin immer bey ihm! Ach, wo mag ſie ſeyn, die Heilige, die unaus - ſprechlich Holde? Ach, wo mag ſie ſeyn, dann betete er wieder. Aber immer ſchien ihms, als ob ſie ſich zwiſchen Gott und ihn ſtellte, oder mit ihm betete. Er gieng ins Kollegium. Auch da568 war ſie immer um ihn. Er hoͤrte nichts, was der Lehrer ſagte. Er zwang ſich, aufzumerken, aber nur vergeblich. So gieng die ganze Woche hin. Zuweilen dachte er minder lebhaft an ſie; aber tau - ſenderley Dinge zogen ihn wieder zu ihr zuruͤck. Wenn er in Geſellſchaft ſie auf einige Augenblicke vergaß, ſo wachte er ploͤtzlich wieder, wie vom Schlummer, auf. Wenn er nur das Wort: Maͤd - chen, ausſprechen hoͤrte, ſo ſtand ſein Maͤdchen wie - der vor ihm. Nie war ſein Geiſt in der Geſell - ſchaft ſeiner Freunde ganz gegenwaͤrtig; immer ſchwebte er in der Kirche vor dem Altar, oder er wuſte ſelbſt nicht, wo? Er war immer zu Thraͤ - nen geſtimmt, und muſte oft aufſtehn, um ſeine Wehmuth vor ſeinen Freunden zu verbergen. Sie riethen hin und her, was ihm fehlen moͤchte? Auf Liebe fielen ſie gar nicht, da er bey jeder Gelegen - heit dagegen eiferte. Endlich wuſten ſie ſeiner Zer - ſtreuung keine andere Urſach zu geben, als ſein lan - ges Aufſitzen bey Nacht. Kronhelm bat ihn ſehn - lich, es zu unterlaſſen, und ſeine Geſundheit zu ſchonen! Er war uͤber die zaͤrtliche Beſorgniß ſei - nes Freundes ſehr geruͤhrt, und verſprach, es zu thun. Den kuͤnftigen Sonntag konnte er kaum erwarten. Da dachte er, das Maͤdchen wieder in569 der Kirche zu ſehen. Hundertmal des Tags ſah er nach ſeinem Wandkalender, wie viel Tage es noch dahin bis ſey? Jmmer vergaß ers wieder, und rechnete oft einen Tag weniger. Zuletzt zaͤhlte er ſogar die Stunden. Er ſtellte ſich vor, was er thun, wo und wie er ſich anſtellen wolle? wenn ſie in die Kirche komme. Als der Sonntag kam, wachte er fruͤh auf, kraͤuſelte ſeine Haare ſehr ſorgfaͤltig, und kleidete ſich praͤchtiger und netter, wie gewoͤhnlich. Jn der Fruͤhmeſſe traf er das Maͤdchen nicht. Sein Herz erhub ſich zu Gott mit ſchwaͤrmeriſcher Andacht; ſeine Einbildungskraft drang bis an den Thron der Gottheit; ſein Geiſt war auſſer dem Leibe, und unmittelbar im Himmel. Auf Einmal uͤberfiel ihn wieder eine aͤuſſerliche Beklemmung; ſein Herz klopfte laut und ſichtbar. Alle Augen - blicke, dacht er, kann ſie kommen, und neben mir niederknien. Er bebte vor dem Augenblick, und wuͤnſchte ihn doch ſo ſehnlich herbey. Jn die Predigt kam das Maͤdchen auch nicht. Sein Au - ge ſuchte aͤngſtlich umher, verweilte auf jedem gut - gekleideten Frauenzimmer, und wandte ſich unwil - lig wieder weg, weil es nicht fand, was es ſuchte. So oft die Kirchenthuͤre aufgieng, blickte er hin,O o570und zitterte. Sie kam nicht. Nach der Predigt gieng er in den Chor, kniete auf die Stelle nie - der, wo ſie gekniet, und die er ſich ſo genau gemerkt hatte. So oft er etwas hinter ſich gehen, oder ein ſeidenes Gewand rauſchen hoͤrte, ward ihm bange; aͤngſtlich blickte er dann um ſich, weil er fuͤrchtete, jedermann bemerke ihn: Einmal ſah er ein Maͤdchen mit einem Flor vor dem Ge - ſicht ihm zur Rechten niederknien. Es hatte die ſchlanke Geſtalt ſeines Maͤdchens. Sein Geſicht gluͤhte, er zitterte, ſein Gebet ward laut; er glaub - te zu vergehen und zu ſinken. Schwankend ſtand er auf. Das Maͤdchen war nicht das ſeini - ge. Heilige Mutter Gottes! dachte er, wo iſt ſie? Schnell ſteckte er den Roſenkranz ein, gieng aus der Kirche, ohne das Weihwaſſer zu nehmen, und nach der obern Stadtkirche. Hier fand er ſie wieder nicht. Nun uͤberfiel ihn tiefe Wehmuth. Tauſenderley traurige Vorſtellungen bekaͤmpften ſich in ſeiner Bruſt: Jſt ſie krank? Jſt ſie todt? Hab ich ſie durch meinen Blick erzuͤrnt? Haͤtt ich ſie doch nie geſehen! Stuͤrb ich doch auch! O ich bin der ungluͤcklichſte Menſch auf Gottes Erdboden! Er gieng heim, und weinte, rang die Haͤnde und betete. Kronhelm kam zu ihm571 aufs Zimmer. Jndem erhielt er einen Brief von Thereſen mit der Nachricht, daß ihr Vater ſich von neuem nicht ganz wohl befinde, doch ſey er ſchon wieder auf dem Weg der Beſſerung. Waͤh - rend dem Leſen ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen aus den Augen. Kronhelm fragte ihn um die Urſache da - von. Er konnte ſie vor Wehmuth kaum erzaͤhlen. Nun weinten beyde Freunde. Siegwart konnte nun einen Grund fuͤr ſeine Traurigkeit angeben, und Kronhelm argwohnte deſto weniger eine andre Urſache. Der doppelte Schmerz beſtuͤrmte nunmehr Siegwarts Seele mit aller Gewalt. Er dachte ſich die beyden theuren Perſonen immer zuſam - men, und wuͤnſchte ſich nichts als den Tod, das einzige Ende ſeines Jammers, das er vor ſich ſah. Den Nachmittag ſchrieb er an ſeine Schweſter und an ſeinen Vater einen bangen und ſchwermuͤthigen Brief. Unter andern ſchrieb er an Thereſen: Jch ſehe wohl, daß die Welt keine Freuden hat. Jeder Tag hat ſeine Plage, und mit jedem Tage ſteigt ſie. Moͤcht ich doch bald dieſe Welt verlaſſen, und im Grab von allem Kummer ausruhen! O meine Schweſter, es gibt viele Leiden, die du noch nicht kennſt. Sterben, ſterben iſt das Beſte! Und wenn dieſes Ziel vom Schoͤpfer noch nicht geſetzt572 iſt, iſt es dann nicht Weisheit, der Welt ſo viel abzuſterben, als man kann und darf? Du verſtehſt mich; der Eintritt ins Kloſter iſt ein Bild des Todes. Duͤrft ich ihn doch morgen thun! ꝛc.

Dießmal war das Konzert auf Kronhelms Zim - mer. Siegwart ſpielte nicht mit, ſondern ſaß in einem Winkel, und weinte. Seine Phantaſie ward durch die Muſik aufs aͤuſſerſte geſpannt. Zuwei - len irrte er durch Nacht und Graͤber; ſah ſei - nen Vater mit dem Tode ringen, ſchauerte zuruͤck, und ſtand haſtig auf. Dann ward er wieder in das ſuͤſſe, heilige Gefuͤhl der Liebe verſenkt; ſah ſein andaͤchtiges Maͤdchen vor dem Altar knien; ſah ſie wehmuͤthig und traurig; bildete ſich ein, ſie laͤchl ihm zu. Dann ſchwand ſie ihm wieder aus den Augen. Er ſah kein Mittel, ſie jemals zu ſprechen. Jch werde ſie nie, nie ſehen! dachte er. Sie flieht mich; ſie muß mich verachten; Jch bin nichts, gar nichts gegen ſie! Sie iſt ein En - gel, und ich bin ein Suͤnder, ein Verworfener! O warum hab ich ſie geſehen? Warum all mei - ne Ruhe ſo auf Einmal verlohren?

Ploͤtzlich ward er aufmerkſam, als eine wild - ſchwaͤrmeriſche Symphonie von Fils geſpielt wurde. 573Er ſtand auf, nahm ſeine Violine, und ſpielte mit. Von wem iſt das Stuͤck? fragte er, als es ausgeſpielt war. Von Fils, antwortete einer. Das war ein herrlicher Kerl! Seine beſten Stuͤ - cke hat er in der raſendſten Liebe gemacht; und als es ihm nicht nach Wunſch gieng, er Glas, und ſtarb dran. Das iſt vortreflich, ſagte Sieg - wart, wir wollen das Stuͤck noch einmal ſpielen! Sie ſpieltens wieder. Bey einem Quatuor von Boccherini verſank er wieder in die tiefſte Schwer - muth, in der er den ganzen Abend blieb. Die ganze Woche ſtrich ihm traurig hin. Die Unruhe uͤber die Krankheit ſeines Vaters verdrang das Bild des Maͤdchens etwas aus ſeinem Herzen, oder uͤberzog es vielmehr nur mit einer Art von Schley - er. Oft ſtand es wieder frey, und in allem ſeinem Reiz vor ihm da. Er lief alle Straſſen der Stadt durch, ob er ſein geliebtes Maͤdchen nirgends ent - decke? Aber nirgend ſah ers. Jn die Kirchen konnte er die Woche uͤber nicht gehen, weil er ſeine Kollegia gewiſſenhaft beſuchte. Er und Kronhelm machten nun eine traurige Figur zuſammen. Kei - ner konnte den andern troͤſten. Sie weideten ſich an ihrem wechſelſeitigen Schmerz, und vereinigten ihre Klagen, obwol Siegwart viel zu furchtſam574 und zaͤrtlich war, ſeinem Freunde das Geringſte von dem Maͤdchen zu entdecken. Ganze Stunden ſaſſen ſie in der Daͤmmerung, ohne Licht, beyſam - men; ſeufzten und klagten mit einander, oder ſpiel - ten wehklagende Stuͤcke. Am Sonnabend bekam Siegwart einen Brief von Thereſen, und die Verſicherung, daß ihr Vater wieder ganz hergeſtellt ſey. Dieß war ihm ein groſſer Troſt, aber ganz freuen konnte er ſich nicht. Gott! ich danke dir, ſagte er. Du biſt guͤtig und barmherzig. Nur verzeihe mir meine Schwachheit! Ach, ich kann mich nur halb freuen. Du weiſts, ich bin nicht undankbar! Mein Jammer iſt dir nicht verborgen! Von einer Seite haſt du mich geheilet; aber von der andern friſt der Schmerz immer tiefer! Gott! wenn ichs wuͤrdig bin, ach, wenn ichs wuͤrdig bin, ſo er - barm dich meiner! Laß mich ſie ſehen, oder laß mich ſterben! Nun dachte er wieder ſie nur ganz allein. Morgen, morgen, rief er, Leben oder Tod! Er gieng auf Kronhelms Zimmer, und brachte ihm die Nachricht von der Geneſung ſeines Vaters. Und von Thereſen haſt du mir nichts? ſagte Kronhelm wehmuͤthig. Nichts, mein Lieber, als einen Gruß. Ach du daureſt mich unendlich. Jch kann dirs nicht ſagen, wie tief ich deine Leiden fuͤhle! Gott weis, ich575 kanns nicht! Und nun ſchwiegen ſie lang. Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub Kronhelm wieder an. Wenn ſie mich vergeſſen, mir untreu werden koͤnnte. Und doch! ſoll ſie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we - nigſtens ohne Gewißheit, ſogar ohne Wahrſchein - lichkeit: O, mein Leiden iſt das groͤſte! Duld und harre! ſagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt ſind mancherley. Jch bin auch nicht gluͤcklich. Er wollte reden; aber eine ploͤtzliche Aengſtlichkeit hielt ihn wieder zuruͤck.

Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei - dete ſich gut, und gieng voll banger Ahndung in die Kirche. Er ſetzte ſich in einen Stuhl, von dem er die ganze Kirche uͤberſehen konnte. Das Maͤd - chen war noch nicht da. Er ward verwirrt druͤber; dankte aber doch Gott fuͤr die Geneſung ſeines Va - ters bruͤnſtig. Nach einer halben Stunde oͤfnete ſich die Kirchenthuͤre, und das Maͤdchen trat her - ein, ſchwarz gekleidet, mit einer etwas bejaͤhrten Frau von angenehmer und ſanfter Geſichtsbildung. Sein Herz ſchlug ungeſtuͤm. Sie ſetzte ſich ihm gegenuͤber in einen vergitterten Stuhl, an dem aber das Gitter zuruͤckgeſchoben war. Sie ſetzte ſich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei -576 len erhub ſie ihr ſchoͤnes nußbraunes Auge zum Himmel; drey - oder viermal glaubte er, ſie ſeh ihn aufmerkſam an; und ihm ward bald warm, bald kalt in der Bruſt. Er hieng mit ganzer Seele an ihr; ſein Blick ruhte auf ihrem Geſicht, wie auf dem Antlitz einer Heiligen. Er konnte den unendli - chen Reiz nicht faſſen, der ſich uͤber das Ganze verbreitete. Alles um ſich her vergaß er, Himmel und Erde, und wuſte nicht mehr, daß er in der Kirche war. Er dachte nichts; ſein ganzes Weſen war Gefuͤhl. Sie ſah ihn an; Er ſchlug die Au - gen nieder, als ob ein Blitz ihn blendete. Gleich ſah er wieder auf; ſie war verſchwunden. Ein breitſchultriger Mann mit einer groſſen Peruͤcke hatte ſich vor ſie hingeſetzt, und ihm den Anblick des himmliſchen Geſichts benommen. Nur zuwei - len, wenn der Mann ſich buͤckte, ſah er ſie auf ei - nen Augenblick. Der Mann ward ihm auf Ein - mal unausſprechlich zuwider. Er knirſchte mit den Zaͤhnen, und haͤtt ihn gern mit den Fuͤſſen wegge - ſtoſſen. Der dumme, kalte Kerl! dachte er, mit dem abſcheulichen Alltagsgeſicht! Jch wollte, daß er hundert Meilen weit von hier waͤre! Nach der Meſſe ſtund das Maͤdchen, mit der Frau auf; gieng in den Chor vor den Altar und577 kniete nieder. Jm Hingehn warf ſie einen Blick auf Siegwart, der ihm durch die Seele drang. Er ſah ſie langſam, und andaͤchtig vor ſich hin gehn, und wuſte nicht, ob er ihr folgen, oder bleiben ſollte? Er zitterte, daß die Kuͤgelchen an ſeinem Roſenkranze klapperten. Sie kniete ſchon etliche Minuten, da ſchlich er ſich aͤngſtlich und zoͤgernd nach dem Chor. Sie kniete im vorderſten Reihen, unter denen, die das Abendmahl genieſſen wollten. Er kniete ſich an der Seitenwand der Kir - che ihr faſt gegenuͤber nieder. Die Muſik, die in dem Augenblick gemacht wurde, war ihm ſein ganzes Leben durch die liebſte, und ruͤhrte, ſobald ſie angeſtimmt wurde, alle Saiten ſeines Herzens. Der Prieſter, der die Hoſtie austheilte, gieng um - her, und kam zu ihr. Jn dem Augenblick haͤtt er alles hingegeben, um der Prieſter, oder einer von den Knaben zu ſeyn., die das Tuch unterhiel - ten. So oft er nachher einen von den Knaben ſah, ſtellte ſich ihm die ganze feyerliche Handlung wieder lebendig dar, und ſeine Seele gluͤhte. Er liebte die Knaben, und war doch eiferſuͤchtig auf ſie. Als ein dritter ihr den Spuͤhlkelch reichte, da bebte ſeine Seele vor Verlangen, nach ihr aus dem Kelch zu trinken. Er beneidete das Maͤdchen,578 das neben ihr kniete, und aus dem Kelch trank. Nun betete ſie, und ſeine Seele flog mit ihr zum Himmel. Gott! ach Gott, laß ſie mein ſeyn! Sey ihr gnaͤdig, und erhoͤre mein Gebet! Wei - ter konnte er nichts denken.

Noch lag er auf den Knien, in der Abſicht, zu warten, bis ſie weg gienge, und zu erfahren, in wel - ches Haus ſie gehoͤre? als er auf Einmal durch einen Stoß, den ihm jemand, neben ihm, gab, aus ſeiner Schwaͤrmerey aufgeweckt wurde. Kronhelm, den er nicht wahrgenommen hatte, ſtand neben ihm, und winkte, mit ihm weg zu gehen. Er ſtand un - willig auf, und ſuchte ſeine Verwirrung ſeinem Freunde zu verbergen. So boͤs er druͤber war, ſo durft er es doch ſeinen Freund nicht merken laſſen, und gieng mit ihm aus der Kirche. Laß uns etwas ſpatzieren gehen! ſagte Kronhelm; der Tag iſt ſo ſchoͤn. Meinetwegen! antwortete Sieg - wart.

Sie giengen mit einander durch die Stadt, ohne ein Wort zu ſprechen. Siegwart war ganz in Ge - danken verlohren, und bey ſeinem lieben Maͤdchen in der Kirche. Es ſchmerzte ihn tief, daß er ſo von ihr weggeriſſen worden war, und ihre Wohnung nicht hatte erfahren koͤnnen. Sich nach ihr bey579 Kronhelm zu erkundigen, wagte er gar nicht. Als ſie auſſerhalb der Stadt waren, ſo fieng Kronhelm an: Du biſt ja ganz auſſer dir geweſen in der Kir - che, und haſt mich nicht bemerkt, ob ich gleich eine halbe Viertelſtunde neben dir kniete. Wer? Jch? ſtotterte Siegwart. Recht! ich war ſo in der Andacht; weil ich an meinen Vater dachte… Weil er geſund worden iſt… Und da dankt ich Gott und da konnt ich dich nicht ſehen… Ja, ich war ganz vertieft… Hab dich warlich nicht bemerkt. Es kam gewiß nur daher… u. ſ. w.

Der helle Herbſtmorgen machte auf ſein ofnes Herz den tiefſten Eindruck. Die bleichgelben Blaͤt - ter, deren eins nach dem andern von den Baͤumen herabfiel; das Rauſchen der verdorrten Blaͤtter im Geſtraͤuch; der halb durchſichtige Hain; die einzeln drinn herum fliegenden Voͤgel; die, auf der Wieſe ſparſam zerſtreuten Herbſtbluͤmchen; alles brachte ihm das ſuͤſſe Bild des Todes in die Seele. Er fuͤhlte eine dunkle Sehnſucht, ſich hinzulegen und zu ſterben. Sein Herz ward erweitert, und Thraͤ - nen ſtunden ihm in den Augen. Kronhelm hatte eben dieſes Gefuͤhl; beyde ſchwiegen. Noch nie hab ich ſo lebhaft und ſo ruhig an Thereſen gedacht, fieng endlich Kronhelm an; Noch nie eine ſo ſuͤſſe580 Melancholie gefuͤhlt. Mir iſt ſo wohl, und ſo weh - muͤthig! Mir auch, Bruder! ſagte Siegwart mit bebender Stimme. Sie ſetzten ſich an das, etwas erhoͤhte Donauufer hin, blickten den Wellen nach, und dachten nichts. Wie alles ſo geſchwind geht! ſagte Kronhelm, nach einer langen Pauſe. Nur das Leben geht ſo langſam, wenn man ungluͤck - lich iſt. Ach Bruder, das Waſſer kommt von dei - nem Dorfe her. Wenn jetzt Thereſe auch ſo da ſaͤſſe, und an mich daͤchte! Vielleicht thut ſies. Meynſt du nicht, Siegwart? Ja, vielleicht, Bruder, antwortete Xaver. Jch wuͤnſch es dir. Nun ſchwiegen beyde wieder. Jndem ſchwamm ein todter Menſch in der Donau herunter. Herr Jeſus! rief Siegwart, ſieh! dort! Jn dem An - genblick ſprang er nach der nah gelegnen Fiſcherhuͤt - te, und rief dem Fiſcher, der ſogleich in ſeinem Kahn hinausfuhr, und den Leichnam auffieng. Es war ein junges Maͤdchen, das nicht uͤbel ausſah, von neunzehn oder zwanzig Jahren. Der Kleidung nach wars ein Dienſtmaͤdchen. Ueber eine Stunde konnte ſie noch nicht im Waſſer gelegen haben, denn ſie ſah noch friſch und roth im Geſicht, und ihre Fingergelenke waren noch nicht einmal ſteif. Der Fiſcher ſtuͤrzte ſie auf den Kopf, in der ver -581 kehrten Meynung, daß das Waſſer ihr aus dem Mund und aus den Ohren laufen moͤchte. Allein, wenn ein Ertkunkener noch nicht ganz todt iſt, ſo muß er durch dieſes Mittel ſterben. Das fluͤſſige Blut ſtroͤmt nach dem Kopf zu, und ein Schlagfluß iſt faſt unvermeidlich. Sie iſt todt, ſagte der Fiſcher, gibt kein Anzeichen mehr und dann legte er ſie wieder nieder, und fieng an, ſie genauer zu betrachten. ’s iſt meiner Seel, kein unfeines Ding; fieng er an; ſeht mir nur einmal die vollen Backen, und das glatte weiſſe Kinn! Der hats ge - wiß um ’n Mann gefehlt, oder ’s hat ſie einer an - g’fuͤhrt. Hab ſchon mehr dergleichen Exempel er - lebt. Erſt vorigen Sommermarkt hab ich auch ſo ’n Maͤdel raus zogen. Schaut mir einmal an, was ſie fuͤr ’n ſchoͤnen Fingerring hat! Er iſt, mei - ner Six, Silber; den will ich mir zu Gemuͤth fuͤh - ren. Er iſt gut fuͤr meine Thrine, paßt ihr grad. Jndem zog er den Ring vom Finger. Muß doch auch ſehen, was ſie im Sack hat? ’n Ro - ſenkranz! Hat doch auch noch ’n Vaterunſer und ein Ave betet! Und da gar ’n Buͤchel! ’s iſt ein Pſalter. Nu, nu, ſie hat ſich doch vorbereitet. Gott ſey der armen Seel gnaͤdig! Will auch ein Ave fuͤr ſie beten. Da ſteckt ja gar ’n Papier582 im Buch. ’s iſt g’ſchrieben Kann nicht G’ſchriebnes leſen. Da, Herr! (zu Siegwart) le - ſets Jhr! Siegwart las den Brief, der ſehr un - leſerlich und unrichtig geſchrieben war. Hier iſt er in deutlicherer Schreibart; ſonſt iſt er unver - aͤndert.

Du haſt mirs arg gemacht, Joſeph. Haſt mir die Eh verſprochen im Namen der heiligen Jung - frau, und nimmſt nun ein anders Maͤdel. Jch weis mir nicht mehr zu helfen; muß mir ſelber was zu Leid thun. Gott verzeih mirs! mit dem ichs red - lich gemeynt hab mein Lebetag. Jch wollt mir ſchon einmal die Kehle abſchneiden, aber das war mir zu grauſig. Jn der Donau haben ſchon viel ihr Grab gefunden; ich werds auch finden. Gib Acht, wenn du mich ſiehſt, daß ich mich nicht noch einmal um - dreh, und dir den Ring zeig, den ich von dir am Finger trag zum Trauring. Lieber Gott! Ein rechter Trauring! Das hat mir noch am weheſten gethan, daß du mein noch ſpotteſt, und letzthin des Abends bey meinem Haus vorbeygiengſt mit dei - nem Maͤdel. Jch dacht, ich muͤſt dich umbringen! 583Aber das Leben wird dir doch nicht hell werden, weil dus ſo gemacht haſt mit mir. Lieber Gott! ich war dir ſo herzlich gut, und haͤtt gern mein Le - ben fuͤr dich hingegeben! Und du ſagteſt mir ſo oft, du meyneſt’s treu; Nun haſt du auf den Montag Hochzeit. Hoͤr, Joſeph! auf den Sonntag ſpring ich ins Waſſer. Es kann nicht anders ſeyn, Jo - ſeph! Aber gib Acht! Jch lade dich ins Thal Jo - ſaphat auf den Erſten Tag im neuen Jahr. So lange haſt du noch Zeit zur Buſſe. Bedenks, Jo - ſeph, und bekehre dich! Jch wollte nicht, daß du ins Fegfeuer, und von dar in die Hoͤlle kaͤmeſt; denn ich hab dich noch lieb, aber in dieſem Leben kann ich dir nicht mehr gut ſeyn. Mir iſts ſchauerhaft zu Muth! Jeſus und Maria mag ſich mein erbar - men! Aber laͤnger leben kann ich nicht. Denk an den Erſten Tag im Jahr! Hab Acht, und bekeh - re dich!

Das iſt| meiner Seel recht herzbrechend, ſagte der Fiſcher, und wiſchte ſich die Augen. Der Joſeph moͤcht ich nicht ſeyn um tauſend Gulden! Jch denk, ich ſteck ihr den Ring wieder an Finger. Jch mag ihn nicht, weils ein Trauring iſt, der iſt heilig. 584 Hierauf ſteckte er dem Maͤdchen den Ring wieder an den Finger.

Kronhelm und Siegwart giengen ſchweigend und traurig weg. So ein Tod iſt doch der ſchreck - lichſte, ſagte Siegwart; Gott ſey dem armen Maͤd - chen gnaͤdig! Sie giengen nun wieder der Stadt und ihrem Hauſe zu. Siegwart konnte lang das Bild des Maͤdchens nicht aus ſeinem Herzen brin - gen, uud dafuͤr das Bild ſeines Maͤdchens drein zuruͤckrufen. Endlich war er wieder ganz bey ihr, und verſetzte ſich ganz in die Kirche. Als er zu Hauſe angekommen war, gieng er auf ſein Zimmer, uͤberſah die ganze Scene in der Kirche wieder, be - tete zu Gott um ſein Maͤdchen, ſprach oft laut, und warf endlich dieſe Verſe, die mehr Gebet ſind, als Gedicht, aufs Papier hin.

Sieh, o Gott der Liebe!
Wie ein armes Herz, das du erſchufeſt,
Aus der Tiefe ſeiner Leiden
Sich zu dir hinaufſchwingt!
Heut, an deinem Altar
Sah ich ſie, in Andacht hingegoſſen,
Die du auch, wie mich, erſchufeſt;
Ach, um die mein Herz bebt!
585
Kuͤhn erhubs zu dir ſich.
Auf den Fluͤgeln ihrer reinen Andacht
Schwebt es, wagte, minder zitternd,
Dieſen Wunſch: Erhoͤr ihn, Schoͤpfer!
Leg in deine Wagſchaal
Meine Tage, die noch kommen ſollen!
Laß, wenn ſie mich liebt, ſie ſinken!
Steigen, wenn ſie nicht liebt!

Es war ihm recht wohl, als er dieſes Gedicht ge - macht hatte. Er las es mehrmals durch; es gefiel ihm, denn er hatte ſeiner Empfindung doch eini - germaſſen ein Gewand und Worte gegeben; ob er gleich unendlich mehr hatte ſagen wollen. Er ſchrieb das Gedicht rein ab, und ergoͤtzte ſich noch lange dran, bis ihn Kronhelm zum Eſſen rief. Da ſchloß ers ſchnell und aͤngſtlich in ſein Pult ein. Gutfried nun gewoͤhnlich auch mit ihnen. Sie erzaͤhlten ihm die Geſchichte mit dem ertrunkenen Maͤdchen, und den Jnhalt des Briefes. Er ſeufzte dabey, und ſagte: Gekraͤnkte oder unbelohnte Liebe iſt al - les zu thun im Stande! Mit dieſen Worten ſah er Kronhelm an, der in ſeiner Liebe zu des Hof - rath Fiſchers Tochter ſein Vertrauter geworden war. P p586Alle drey Juͤnglinge wurden uͤber dieſen Ausruf noch trauriger. Gutfried erzaͤhlte nun ein paar ſchreckliche Geſchichten von Perſonen, die ſich aus ungluͤcklicher Leidenſchaft ſelbſt entleibt hatten. Sie bedaurten ihr Schickſal, und wuͤnſchten ihnen, durch ihre Seufzer, ein gluͤcklicheres Schickſal, als ſie in dieſem Leben gehabt hatten. Gutfried ſchlug ihnen zur Zerſtreuung von dem anhaltenden Studieren einen Spatzierritt auf ein, zwo Stunden von Jn - golſtadt, gelegnes Dorf, vor. Sie nahmen den Vorſchlag an, und ritten hin. Siegwart dachte auf dem ganzen Wege an ſein liebes Maͤdchen. Es ſchmerzte ihn im Jnnerſten, die Stadt, in der ſie lebte, nur auf einige Stunden zu verlaſſen. Er glaubte, weis nicht wieviel, zu verſaͤumen, ob er gleich nicht die geringſte Hofnung hatte, ſie zu ſpre - chen, oder nur zu ſehen. Was mag ſie jetzt machen? dachte er beſtaͤndig. Jetzt wird der En - gel wohl beten; jetzt wird er vor Gott knien u. ſ. w. Moͤcht ich ſie nur einen Augenblick erblicken! Moͤchte ſie nur einen Augenblick an mich denken! Aber, ach, wie kann ſie das? Wer weis, ob ſie mich bemerkt hat? Vielleicht iſt ein andrer bey ihr! Solche und aͤhnliche Vorſtellungen ſtuͤrzten ihn in die tiefſte Traurigkeit, aus der ihn faſt nichts her -587 ausreiſſen konnte. Auf dem Dorfe hatten ſie we - nig Vergnuͤgen, und konnten nicht einmal zuſam - men ſprechen, denn die vielen andern Studenten, die da waren, machten mit Geſang und Zank beym Spiel einen ſolchen Lerm, daß man kaum ſein eig - nes Wort verſtand. Gegen Abend ritten ſie in der Daͤmmerung wieder zuruͤck. Alle drey Lieben - de waren jetzt noch wehmuͤthiger; jeder dachte ſich zu ſeinem Maͤdchen hin. Als ſie gegen die Stadt hin ritten, begegnete ihnen ein Scharfrich - ter, der auf ſeinem Karren das ertrunkne Maͤdchen fuhr. Der Ungluͤcklichliebende, ſagte Kronhelm, der ſich mit der ganzen Schwere ſeines Jammers bela - den, ſelber in die Grube ſtuͤrzt, hat alſo einerley Schickſal mit dem Boͤſewicht, der ſich im Kerker umbringt, um dem Galgen zu entgehen; oder mit dem Betruͤger, der, weil er ſeinen Glaͤubigern nicht mehr entgehen kann, ſich dem Tod in den Rachen wirft? Wie wenig ſehn doch die meiſten buͤrgerli - chen Geſetze auf das Moraliſche an einer Handlung! Laß ſie ruhen! ſagte Siegwart; ihr iſts einerley, wo ihr Koͤrper liegt. Das wohl! antwortete Kronhelm; aber das Ungluͤck verdiente doch eine beſſere Behandlung, als die Bosheit!

588

Sie hielten nun noch zu Haus ein kleines Kon - cert, das, weil alle gleich traurig geſtimmt waren, groͤſtentheils aus wehmuͤthigen Trios beſtand. Nach - dem Siegwart ſich den ganzen Abend nach dem Koncert mit dem Gedanken an ſeine himmliſche Unbekannte beſchaͤftiget hatte, ſo wuͤnſchte er nichts mehr, als von ihr zu traͤumen, und ſie wenigſtens im Traum zu ſehen. Aber dieſe Wohlthat ward ihm nicht zu Theil. Er wuͤnſchte ſie ſich ſo oft, und immer umſonſt. Zu lebhafte und gegenwaͤrti - ge Vorſtellungen kommen ſelten im Traume wieder; ſie muͤſſen mehrentheils erſt mit dem Flor der Ver - gangenheit umzogen ſeyn.

Als Siegwart ein paar Tage drauf des Nach - mittags um drey Uhr aus dem Kollegio gieng, da ſah er, etliche Haͤuſer vor ihm, ſein geliebtes Maͤd - chen gehen. Das Herz ſchlug ihm, und er eilte, was er konnte. Sie gieng in ein gutgebautes Haus hinein. Wer wohnt hier? ſagte er in der Ver - wirrung zu einem kleinen zwoͤlfjaͤhrigen Maͤdchen, und erſchrack gleich ſelbſt wieder uͤber ſeine Frage. Es wohnt ein reicher Herr da, ſagte das Maͤdchen; man nennt ihn nur Herr Spiegel. Jetzt wuſte er ſo viel, wie vorhin, und wagte es doch nicht, ſonſt jemand um den Herrn Spiegel zu fragen;589 weil er fuͤrchtete, jeder werde ſogleich die Abſicht ſeiner Frage muthmaſſen. Er gieng alle Tage zwey - oder dreymal bey dem Hauſe vorbey; ſah aber ſeine Holde nie am Fenſter. Die ganze Wo - che verfloß ihm unter Seufzern nach dem Sonn - tag, weil er da gewiß wieder ſein liebes Maͤdchen in der Kirche zu ſehen hoffte. Viele Stunden, ja halbe Tage lang beſprach er ſich in Gedanken mit ihr, klagte ihr ſeine Leiden vor, und ließ ſie zaͤrtlich wieder antworten. Er ſann ganze Romanen aus, und dachte ſich in Lagen hinein, in denen ſie noth - wendig ſein werden muſte. Oft wuͤnſchte er ſie in Lebensgefahr; daß Feuer in ihrem Hauſe auskom - men moͤchte, und er ſie befreyen koͤnnte. Er dach - te ſie in Waſſergefahr, rettete ſie, und nun gab ſie ihm zur Dankbarkeit ihre Hand. Aufs lebhafteſte fuͤhlte er die Wonne, mit der er ſie an ſein Herz druͤckte; den Blick der Dankbarkeit und Liebe, den ſie auf ihn warf; dann eilte er zu ihrem Vater, zeigte ihm die befreyte Tochter, und ward ihr Braͤutigam. Nur ein Liebender, wie unſer Sieg - wart, kann ſich die ſchwaͤrmeriſchen und zaͤrtlichen Geſpraͤche denken, die dann ſeine Seele mit ihr fuͤhrte. Aber Seufzer, und Bangigkeit, und590 Thraͤnen waren immer das Ende dieſer ſuͤſſen Traͤu - mereyen.

Den naͤchſten Sonntag kam er erſt um neun Uhr in die Kirche. Sein Kronhelm war zu ihm aufs Zimmer gekommen, um von Thereſen zu ſprechen; und wenn er von ihr anfieng, ſo konnte er nicht aufhoͤren. Siegwart war mit ſeiner Seele abwe - ſend, und antwortete verwirrt, aber Kronhelm merk - te es nicht. Ein paarmal ſah er auf die Uhr. Jede Minute ward ihm zu einer Stunde. Dieß war das erſtemal, daß ihm ſein Freund zur Laſt fiel; aber er ließ ſich doch vorſetzlich nicht das geringſte merken. Endlich gieng Kronhelm. Siegwart eil - te, was er konnte, und kam ganz athemlos vor die Kirche. Als die Thuͤre aufgieng kam eben ſein Maͤdchen mit der Frau, die er fuͤr ihre Mutter hielt, ihm entgegen. Er war, wie vom Donner geruͤhrt. Sein Geſicht gluͤhte. Er gieng ſchnell an ihr vorbey, und machte in der Angſt kaum eine Verbeugung. Sie gruͤſte ihn freundlich. Er eilte, ohne ſich ſeiner bewußt zu ſeyn, nach dem naͤchſcen Stuhl, und ſah ſich um. Jn dem Augenblick gieng die Thuͤre zu. Sein Herz klopfte laut. Er woll - te wieder umkehren; beſann ſich aber ploͤtzlich, daß man ſeine Abſicht merken wuͤrde. Er war Kron -591 helm, ſich ſelbſt, und der ganzen Welt boͤſe, daß er zu ſpat gekommen war. Es war ihm unmoͤglich - lang da zu bleiben. Nach etlichen Minuten eilte er wieder weg, und der Straſſe zu, wo ihr Haus war, aber er ſah ſie nicht mehr. Er wollte nach Hauſe; aber vor der Thuͤre fiel ihm wieder ein, Kronhelm wuͤrde aus ſeiner ploͤtzlichen Zuruͤck - kunft etwas folgern. Er gieng alſo wieder weg, rannte noch einige Straſſen durch, und wuſte nicht, wo er bleiben ſollte? Endlich gieng er aus einem Thor; rannte weit ins Feld hinaus, ohne die Na - tur um ſich her zu bemerken, und kam nach einer Stunde wieder nach Haus zuruͤck. Gutfried war ſchon bey Kronhelm auf dem Zimmer. Sie laſen mit einander Leſſings Sara, die ein junger Herr von Dahlmund an Gutfried geliehen hatte. Da haben wir was herrliches, ſagte Kronhelm zu Sieg - wart; ſieh einmal! Leſſings vermiſchte Schriften. Das iſt gut! ſagte Siegwart ganz zerſtreut. Jch hab eben angeſangen zu leſen, fiel Gutfried ein; es iſt Miß Sara Sampſon. Jch kann ihnen mit ein paar Worten ſagen, was vorhergieng; wenn ſie wollen, les ich weiter. Ganz wohl, antworte - te Siegwart; ſetzte ſich in eine Ecke des Fenſters, und ſtuͤtzte die Hand an den Kopf. Er hoͤrte faſt592 nichts, und war mit ſeinen Gedanken weit weg; nur, wenn die andern eine Stelle lobten, ſagte er auch: das iſt vortreflich! ohne zu wiſſen, wovon die Rede war; nach dem Eſſen laſen ſie weiter fort, und als das Stuͤck geendigt war, ſagten ſie einander ihre Meynung druͤber. Als Siegwart die ſeinige auch ſagen wollte, ſo wuſte er gar nichts, oder urtheilte ganz verkehrt. Wo waren ſie denn mit ihren Gedanken? fragte Gutfried. Jch weis nicht, was ihm fehlt? fiel ihm Kronhelm ein. Er iſt eine Zeit her ganz zerſtreut. Siegwart wur - de feuerroth druͤber, und ſah nach dem Fenſter. Den ganzen Tag war er auſſerordentlich traurig und verdrießlich.

Die folgende Woche floß ihm wieder unter Thraͤnen, Seufzern und ſchwaͤrmeriſchen Traͤumereyen hin. Kronhelm merkte die Veraͤnderung, die in ſeinem gan - zen Weſen vorgieng; er ſpielte oft drauf an; aber doch nahm er ſich Acht, weiter deswegen in ihn zu dringen, theils, weil er merkte, daß ihm Siegwart auf alle moͤgliche Art auswich, theils, weil er ſelbſt ei - ne ungluͤckliche Liebe muthmaſte, und aus ſeiner eigenen Erfahrung wuſte, wie hart es einem an - komme, ſeine Leidenſchaft einem andern, auch ſei - nem beſten Freunde zu entdecken. Der Sonntag,593 den ſich Siegwart ſo ſehnlich herbeygewuͤnſcht hat - te, kam endlich wieder. Er eilte, noch vor ſieben Uhr, auf den Fluͤgeln der Liebe, nach der Kirche. Sein Maͤdchen war ſchon da, ſchoͤn und heiter, wie ein Engel Gottes. Siegwart ſaß gegenuͤber, und zerfloß faſt vor Wonne in dem Anblick ihrer Schoͤnheit. So genau hatte er ſie noch nie betrach - tet. Er ſah erſt jetzt den ganzen Glanz ihrer un - ausſprechlichen Anmuth; ihr groſſes, kaſtanienbrau - nes, mit Feuer und edelm Stolz belebtes Auge, uͤber dem ſich die ſchwarzen Augenbraunen maje - ſtaͤtiſch woͤlbten; die hohe, offne, heitre Stirne; die ſo regelmaͤſſig gebildete Naſe; den ſanfteſten, anmuthsvollſten Mund; die friſchrothen glaͤnzenden Lippen; das runde, weiſſe, weiche Kinn, von dem ſich zwo zarte blaue Adern nach dem weiſſeſten und ſchoͤnſten Hals hinabſchlaͤngelten; das lieblichſte Farbengemiſch von Weiß und Roth auf den zarten Wangen; und die nicht zu beſchreibende Ueberein - ſtimmung aller dieſer Zuͤge; und die himmli - ſche Anmuth, die uͤber das Ganze ausgegoſſen war, und die die Schoͤnheit erſt zur Schoͤnheit macht; und das, nicht kuͤnſtlich, aber ſchoͤn aufgethuͤrmte blonde Haar; und das Ebenmaaß der Glieder, und den ſchlanken hohen Wuchs, und alles, alles,594 was man ſich von einer regelmaͤſſigen und be - lebten Schoͤnheit denken kann. Hiezu kam die Andacht, die jede Schoͤnheit noch verſchoͤnert, und die offene Freundlichkeit, mit der ſie jeden, der bey ihrem Stuhl vorbeygieng, gruͤſte. Jhre Kleidung war geſchmackvoll, regelmaͤſſig, ſchoͤn, und doch nicht praͤchtig. Jn ihren Haaren ſteckten Blumen, die Vergißmeinnichtchen vorſtellten; ihr Buſen war mit Sittſamkeit verſchleyert; ihr Gewand von himmelblauer Seide. Sie ſah unſern auſſer ſich gebrachten Siegwart zu verſchiednenmalen, und ſchlug die Augen nieder, wenn ers merkte. Er ward traurig, ſobald ſie eine Zeitlang nicht nach ihm blickte, und wandte doch ſein Auge von ihr weg, ſobald ſie’s that. Er machte traurige Gebaͤrden, in der Abſicht, daß ſies merken, und Mitleid mit ihm haben ſollte. Als ſie weggieng, gieng er auch, und folgte ihr, ungefaͤhr 20 oder 30 Schritt weit, hinter ihr nach. Sie gieng in des Hofrath Fi - ſchers Haus. Er erſchrack druͤber. Gott! wenn der Hofrath ihr Vater iſt, dachte er, ſo iſt mein Ungluͤck vollkommen. Wenn der ſtolze Mann ihr Vater iſt, was fang ich an? Er gieng zu Gutfried, der, wie ſchon geſagt, dem Hofrath ge - genuͤber wohnte, und eben aus dem Fenſter ſah,595 und ihn hinaufrief. Gutſried, der die Fiſcherin auch liebte, blieb im Fenſter liegen, als Siegwart auf das Zimmer kam, und rief ihn, um neben ihm hinaus zu ſehen. Das iſt die Fiſcherin, ſagte er, und ſeufzte, indem ſie eben in der Stube nah am Fenſter ſtand, und ihre Kirchenkleider auszog. Sie warf einen Blick heruͤber, und gieng weg, indem ſie die beyden Juͤng - linge erblickte. Siegwart zitterte, ward feuerroth, und konnte kein Wort ſprechen. Nun wards ihm erſt auf Einmal wichtig, und ein Stachel im Herzen, was er ſchon ſo lang gewuſt hatte, daß ſein Freund des Hofraths Tochter liebe. Er gieng einigemal im Zimmer auf und ab, wollte gern noch mehr von ihr erfahren, und hielt hundertmal die Frage, die ihm ſchon auf der Zunge lag, wie - der zuruͤck. Endlich ſtieß er haſtig und erſchrocken die Frage heraus: Es iſt wohl ein gutes Maͤdchen, die Fiſcherin? und lehnte ſich ans Fenſter, damit ſein Freund ſein Geſicht nicht ſehen moͤchte, denn es gluͤhte. O, ſie iſt ein auſſerordentliches Frau - enzimmer, ſagte Gutfried, zu deren Lob man ei - gentlich nichts ſagen ſollte, weil man doch immer nur zu wenig ſagt, und ich kanns am wenigſten. Jch kenne ſie nun uͤber zwey Jahre, und jeden Tag wird ſie artiger und ſchoͤner. Sie hat das596 Herz eines Engels, das iſt alles, was ich ſagen kann. Beyde ſchwiegen nun wieder eine Zeit - lang, und ſahn aus dem Fenſter. Sie kam wie - der in ihr Zimmer, weiß gekleidet mit roſenrothen Baͤndern, ſtellte ſich ans Fenſter, und ſah ein paarmal heruͤber. Dann gieng ſie an ihr Klavier, und ſpielte. Alles, was Siegwart hoͤren konnte, war bezaubernd ſchoͤn. Er glaubte im Paradies zu ſeyn, und Harmonien der Engel anzuhoͤren. Sie ſpielt ja himmliſch! ſagte Siegwart. O, bey Nacht ſollten Sies erſt hoͤren, verſetzte Gutfried, wenn alles ſtill iſt; da weis man nicht mehr, ob man im Himmel, oder auf der Welt iſt? Zu - mal, wenn ſie ſingt. Das iſt ein Silberton! Ein ein Ach, man kanns nicht ſagen! Sie ſingt auch zuweilen im Konzert, da koͤnnen Sie ſie hoͤren. Wo? fragte Siegwart haſtig. Jn ihrem Hauſe, war die Antwort. Jhr Va - ter hat im Winter alle Wochen Konzert, es wird nun bald wieder anfangen. Kann man da auch drein gehen? fragte Siegwart. O ja, ant - wortete Gutfried, wenn man nur den Hofrath drum erſucht; zumal wenn man ſelbſt zuweilen mit - ſpielt. Kronhelm und ich gehen auch drein. Aber der Hofrath iſt ſo ein ſtolzer Mann, erwie -597 derte Siegwart. Je nu, das muß man uͤber - ſehn! verſetzte Gutfried.

Und nun hoͤrten ſie dem Spiel Marianens ſo hieß die Fiſcherin wieder zu, und ſchwam - men beyde in uͤberirdiſchem Entzuͤcken, und wol - luſtreicher Wehmuth. Mariane trat wieder ans Fenſter; die beyden zaͤrtlichen Liebhaber traten zu - ruͤck, um ſie nicht zu beleidigen, und blickten nur halb durch die Vorhaͤnge durch. Marianens Bru - der kam nun auch ans Fenſter. Der ſchlaͤgt ſei - nem Vater nach, ſagte Gutfried, und uͤbertrift ihn noch ein Gutes an Stolz und Hochmuth. Der Menſch iſt ſo in ſich vernarrt, als ich noch nicht leicht einen geſehen habe. Auf ſein rundes, auf - gedunſenes Geſicht thut er ſich unendlich viel zu gut. Er bildet ſich ein, er ſey ein groſſer Violin - ſpieler, und auf der Floͤte gar ein Virtuoſe, und doch iſt er auf beyden Jnſtrumenten kaum mittelmaͤſſig. Dabey iſt er noch auf eine ſchaͤndliche Art filzig. Was ich ihm aber am wenigſten vergeben kann, iſt, daß er ſeiner Schweſter allen moͤglichen Ver - druß anthut. Jmmer neckt er ſie und plagt ſie. Jch habs ſchon hundertmal von hier mit angeſehn Einmal hat er, mit Huͤlfe ſeines Bruders, ſeinen Vater ſchon ſo weit gebracht, daß das Maͤdchen598 ins Kloſter ſollte, aber ſie wehrte ſich ritterlich, und ward von ihrer Mutter, die eine trefliche Frau iſt, unterſtuͤtzt. Sehen Sie, da kommt die Mutter eben auch. Dacht ichs nicht? Da faͤngt er ſchon wieder einen Zank mit ſeiner Schwe - ſter an. Der verteufelte Kerl! Aber warum gehn Sie denn mit ihm um? Jch traf ihn ja ſchon ein paarmal bey Jhnen an, ſagte Siegwart. Gutfried zuckte die Achſeln. Was muß man nicht alles in der Welt thun, wenn man Abſichten erreichen will? Es iſt hundsfuͤtiſch genug, daß man ſich mit ſolchen Kerls abgeben und ihrer Gnade leben muß! Siegwart merkte wohl, wo das hinaus wollte, und ſuchte das Geſpraͤch abzulenken. Und wo iſt denn der andre Bruder? ſagte er. Hier in Jngolſtadt, verſetzte Gutfried; dort droben wohnt er, an der Ecke. Er iſt bey einem Kollegio ſo viel, als Sekretair, und an ſich ſo toll nicht, wie ſein Bruder; aber dafuͤr hat er ein Weib, von dem er ſich regieren laͤſt; und das Weib iſt nicht einen Hel - ler werth; ein bigottes Ding, das immer fromm ſeyn will, und es meiner Seel! nicht iſt. Da iſt ſie immer hinter den Hofrath drein, und will, er ſoll ſeine Tochter ins Kloſter ſtecken, und iſt doch ſelbſt nicht drein gegangen. Der verfluchte Aber -599 glauben mit dem Kloſter! Es iſt, auf meine Ehre! nur auf das Geld angeſehen, das Mariane kriegen ſoll; das moͤchten die feinen Herren Bruͤder thei - len. O, ich hab ſo viel Mitleid mit dem armen Maͤdchen, daß ich oft toll werden moͤchte. Sie ſteht erſtaunlich viel aus; mich wundert nur, wie ſies aushalten kann! Aber ſie hat auſſerordentlich viel Standhaftigkeit, und iſt bey all ihrem ſanften Weiberweſen doch ein halber Mann. Koͤnnt ich ſie auf meine Seite bringen, ich wollts den Kerls ſchon ſagen! Aber .... und hier ſeufzte Gut - fried, und gieng auf die Seite. Es wird Eſſens - zeit ſeyn, ſagte Siegwart. Gutfried ſah auf der Uhr nach, und ſie giengen mit einander auf Kron - helms Zimmer.

Beym Eſſen wurde Siegwart durch allerley an - dre Geſpraͤche etwas zerſtreut, und von dem Ge - danken an ſeine Mariane abgezogen; aber oft ſtralte das Bild von ihr wieder, wie ein Blitz, in ſeine Seele, und machte ihn verwirrt, und weh - muͤthig.

Sie waren zum Herrn von Dahlmund gebeten, und blieben den Nachmittag und Abend bey ihm. Dieſes war ein junger Edelmann von vielen Kennt - niſſen, der, waͤhrend ſeines Aufenthalts in Augſpurg600 viel mit dem jungen Buchhaͤndler umgegangen war, der unſerm Siegwart und Kronhelm die Buͤcher zugeſchickt hatte. Durch ſeinen Umgang, und in ſeinem Laden war er mit unſern beſten proteſtanti - ſchen Schriftſtellern, und beſonders Dichtern be - kannt geworden, und hatte auch die meiſten mit nach Jngolſtadt gebracht. Als er bey Gutfried von Kronhelm und Siegwart, und ihrer Liebe zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften hoͤrte, ſo war er nach ih - rer Bekanntſchaft ſehr begierig; denn ſie waren unter den Studenten die einzigen, die in dieſem Stuͤcke aufgeklaͤrt dachten. Alle andre Studenten waren roh und unwiſſend, und groͤſtentheils im tiefſten Aberglauben verſunken, worinn die meiſten Profeſſors, und die Jeſuiten am vorzuͤglichſten, ſie zu erhalten ſich beſtrebten. Er hatte viele Buͤcher, die Siegwart und Kronhelm nicht hatten. Alſo konnten ſie hierinn einander aushelfen. Er hatte auch ſonſt ſo viel Gutes an ſich, und war ſo geſittet und tugendhaft, daß unſre vier Juͤnglinge ſehr bald Freunde wurden, und eine woͤchentliche Zuſammen - kunft ausmachten, wovon hauptſaͤchlich die ſchoͤnen Wiſſenſchaften der Gegenſtand waren. Sein Zim - mer lag ſehr angenehm, gegen die Donau hinaus. Er bewirthete ſeine Geſellſchaft dießmal mit Wein,601 der unſre Juͤnglinge ziemlich luſtig und offenherzig machte. Siegwarts erhitzte Einbildungskraft brach - te ihn mit der groͤſten Lebhaftigkeit zu ſeiner Ma - riane. Die Thraͤnen ſtanden ihm oft in den Au - gen. Als Gutfried anfieng, mit Enthuſiasmus ſie zu loben, muſte er weggehn, um ſeine Bewegung zu verbergen. Er legte ſich ins Fenſter, und uͤber - ſah die Donau, die im hellen Mondſchein dahin - rollte. Das mannigfaltige Spiel der Wellen, die da, wo ſie auf den Kieſeln huͤpften, lauter goldne Sternchen bildeten, erhitzte ſeine Einbildungskraft, und brachte tauſenderley Vorſtellungen hervor, die ſich alle auf Marianen bezogen. Kronhelm kam zu ihm; ſchlang ſeinen Arm um ſeinen Arm, ſah weh - muͤthig mit ihm hinaus, und kuͤſte ihn ein paarmal mit naſſen und bethraͤnten Wangen. Siegwarts Zaͤhren floſſen auch. Ach Bruder, ſagte Kronhelm, weiſt, an wen ich denke? Was mag jetzt un - ſre Thereſe machen? Denkt ſie wohl jetzt auch an dich und mich? Ja, ſie denkt noch oft an dich, ſagte Siegwart; ſie kann dich nicht vergeſſen! Du biſt ihr zu tief ins Herz gegraben. Jch hoffe, daß du noch mit ihr gluͤcklich werden wirſt. Trage nur Geduld! Ohne Hofnung und Geduld muͤſtenQ q602wir vergehen. Hier ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen haͤufiger von den Augen. Er ſah ſeinen Kron - helm ein paarmal mit unausprechlicher Zaͤrtlichkeit an. Es war ihm, als ob er dießmal reden, und ſein Herz ausſchuͤtten muͤſte. Aber Furchtſamkeit hielt ihn immer wieder wie eine geheime, unſichtbare Gewalt zuruͤck. Gutfried und Dahlmund kamen, und riefen ſie wieder zum Trinken. Wir wol - len eins ſingen! ſagte Dahlmund, und fieng das Lied von Kleiſt an: Freund, verſaͤume nicht zu le - ben ꝛc. Endlich ſangen ſie auch das Studenten - lied: Was den Muſen ſoll gefallen ꝛc. das ſich ſchlieſt: Vivat deine hoch! wo zwiſchen den zwey letzten Worten jeder den Namen eines Maͤdchens ſingen muß. Dahlmund ſang: Eliſe; Kronhelm: Thereſe; und Gutfried: Mariane. Nun kam die Reihe auch an Siegwart. Er ſtund an, und wuſte nicht, welchen Namen er ſingen ſoll - te? Er entſchuldigte ſich, er habe ja kein Maͤd - chen. Ey, du muſt eins haben, ſagte Kronhelm, du biſt ja unaufhoͤrlich traurig. Siegwart erroͤthe - te, und wollte ſich entſchuldigen. Nun, ſchon gut! verſetzte Kronhelm, wir wiſſens ja! Sing, was du willſt: Suſanne, oder Kunigunde! Sieg - wart ſang: Suſanne! Dieſe Rede Kronhelms603 machte unſern Siegwart noch furchtſamer und zu - ruͤckhaltender. Beym Nachhauſegehen begleiteten ſie Gutfried, und giengen alſo bey des Hofrath Fi - ſchers Haus vorbey, wo noch Licht war. Sieg - wart blickte mit banger Sehnſucht hinauf, und hoͤrte Marianen Klavier ſpielen und | ſingen. Er waͤre ſo gern ſtehen geblieben, und haͤtte dem Ge - ſang zugehoͤrt, aber ſeine Schuͤchternheit erlaubte ihm nicht, ſeinen Kronhelm den Vorſchlag zu thun. Er gieng alſo ſchweres Herzens mit ihm nach Haus.

Den andern Tag konnte er erſt uͤber alle das nachdenken, was er den Tag vorher gehoͤrt hatte. Der Umſtand, daß Mariane des Hofrath Fiſchers Tochter war, machte ihn ſehr traurig; denn da er aus eigener Erfahrung, den ſtolzen Karakter dieſes Mannes kannte, ſo ſah er alle Schwierigkeiten vor - aus, die er haben wuͤrde, Marianen kennen zu ler - nen; und doch war ihm der Gedanke unertraͤglich, ſie, die Vollkommenſte, die ſein Herz ſo ſehr liebte, nie zu ſprechen. Jns Konzert ſah er auch keine Gelegenheit, zu kommen; er war theils zu ſtolz, dem Mann, der ihn das erſtemal ſo veraͤchtlich be - gegnet hatte, noch gute Worte deswegen zu geben; theils war er auch, wenn die Liebe dieſen Stolz604 noch uͤberwunden haͤtte, viel zu ſchuͤchtern in der Liebe, und haͤtte tauſendmal gefuͤrchtet, die Abſicht, warum er ins Koncert zu kommen wuͤnſchte, moͤch - te verrathen werden. Auch Gutfrieds Liebe zu Marianen machte ihn aͤuſſerſt unruhig, obwohl Gutfried bey ihr nicht gluͤcklich zu ſeyn ſchien. Aber eben dieſes erregte bey ihm auch die Beſorgnis, es koͤnnte ihm eben ſo gehen. Auf der andern Seite freute ihn das viele Gute, was er von Ma - rianens Denkungsart gehoͤrt hatte, auſſerordentlich, und feſſelte ſeine ganze Seele nur noch mehr an ſie. Von allen dieſen verſchiednen Empfindungen ward ſein Herz immer mehr zerriſſen, und die ſchmerz - hafte Wunde immer tiefer, ſo daß er in eine dun - kele und verdrießliche Melancholie verfiel, die ihm oft die ganze Welt, und ſich ſelbſt zuwider machte. Jn andern Stunden machte er wieder Entwuͤr - fe auf Entwuͤrfe, und baute ein Luftſchloß nach dem andern auf.

Gegen das Ende der Woche erhielt er einen Brief von P. Philipp. Der rechtſchaffene Mann fragte ihn darinn unter andern nach ſeinen theolo - giſchen Studien, ob er noch Geſchmack daran finde, und ſich gewiſſenhaft aufs Kloſter vorbereitete? Dieſe Frage gab unſerm Siegwart einen Stich605 durchs Herz. Seit dem Anfang ſeiner Liebe hatte er zwar ſeine theologiſche Kollegia immer fleiſſig beſucht, aber zu Hauſe hatte er ſich weniger mit den Wiſſenſchaften, und beſonders den theologiſchen ab - gegeben. Das Andenken an ſein Maͤdchen beſchaͤf - tigte ihn allein. Er dachte ungern ans Kloſter, und entfernte den Gedanken von ſich, ſo bald er ſich ihm aufdringen wollte. Jetzt ward er ſo unvorbe - reitet dran erinnert, daß er davor zuruͤckſchauerte. Sein voriger Enthuſiasmus fuͤr das Kloſter; die Geluͤbde, die er ſo oft bey ſich ſelbſt Gott gethan hatte, dahin zu gehen; P. Anton; ſein Vater alles fiel ihm auf Einmal ein, und beſtuͤrmte ſein Herz. Gott! in welchem Jrrgang bin ich! dachte er. Was fang ich an? Was unternehm ich? Dir ungetreu? Dir, dem ich mich widmete? Und die Welt ſoll mich feſſeln? Die Welt, die ich ſchon ſo verachtete? Gott! Gott! Nein, ich muß es halten, mein Geluͤbde! Muß ins Kloſter! Mariane! Mariane! (indem er umher gieng, und die Haͤnde rang) Welt! Welt! Dich verlaſſen! Dich und alles! Dich und Marianen! So dachte er wild und ſtuͤrmiſch hin und her; fuͤhlte ſich von allem losgeriſſen; wuſte nicht, woran er ſich halten ſollte? Bald betete er, widmete ſich606 ganz Gott; bat ihn um Vergebung, daß er ihm ſo lang ſein Herz entzogen habe! Bald war ſeine ganze Seele wieder bey Marianen, hieng an ihrem Blick, und fuͤhlte es, daß nichts auf der Welt im Stande ſey, ſie von ihr loszureiſſen. P. Phi - lipps Brief ſchloß er ein, damit er ihm nicht zu Ge - ſichte kommen moͤchte; er wollte nicht dran den - ken, und dachte doch immer dran. Es graute ihm ſchon von fern vor der Beantwortung des Brie - fes; aber auch daran mochte er noch nicht denken. So tief wehmuͤthig, wie jetzt, war er vorher noch nie geweſen. Alle Schwierigkeiten, die ſich ſeiner Liebe haͤtten widerſetzen koͤnnen, waren ihm leicht vorgekommen; aber dieſe letzte, gegen die er ſich bisher immer eingeſchlaͤfert hatte, ſchien ihm jetzt unuͤber - windlich. Er wuſte wohl, daß er, um ſeines Va - ters willen, nicht ſchlechterdings gezwungen ſey, ins Kloſter zu gehen; aber die Verpflichtung, die er Gott ſchuldig zu ſeyn glaubte, erſchreckte ihn. Er glaubte eine Untreue an ihm zu begehen, wenn er die Welt der Zelle vorzoͤge. Einigemal beſchloß er feſt, alle Gelegenheit, Marianen zu ſehen, zu vermeiden, und ſo wenig, als moͤglich, an ſie zu denken. Nur noch Einmal, dachte er dann wieder, muß ich mich an ihrem Anblick weiden,607 und auf ewig von ihr Abſchied nehmen. Nur noch Einmal will ich in die Kirche! Jn andern Stunden dacht er wieder: Sehen kann ich ſie doch wohl; das iſt keine Suͤnde; nur nie ſprechen muß ich ſie, und den Gedanken aus der Seele bannen, mich um ihre Liebe zu bewerben, oder auch nur ſie zu wuͤnſchen. Nun ward er ruhig, und glaubte, einen herrlichen Ausweg gefunden zu haben; aber, wie wenig kannte er ſich ſelbſt! Kaum ſah er Marianen am Sonntag wieder, ſo waren alle ſeine Entſchluͤſſe umgeſtoſſen, und er dachte nichts, als ſie. Jch kann, ich kann nicht anders! dach - te er; Gott vergeb mirs! Jch bin nicht mein eig - ner Herr mehr! Die Antwort an P. Philipp machte ihm bey ſeiner zarten Gewiſſenhaftigkeit wieder neuen Kummer. Er wollte ihm nicht ſchrei - ben, daß er noch eben ſo eifrig und enthuſiaſtiſch ans Kloſtergehen denke, wie vor Zeiten; und noch weniger konnte er ihm ſeine Abneigung davon, und die Urſache dieſer Abneigung melden. Er ſchrieb alſo etwas zweydeutig: Die Theologie gefall ihm wohl, aber er hoͤre jetzt noch mehr philoſophiſche Kollegia, als theologiſche; und das war auch im Grunde wahr. Jetzt vergaß er wieder alles, und ward, von dieſer Seite, ruhig.

608

Die Woche drauf kam des Hofrath Fiſchers Be - dienter zu Kronhelm, als Siegwart eben bey ihm auf dem Zimmer war, und lud ihn zum kuͤnftigen Winterkonzert ein. Koͤnnen Sie mir nicht ſagen, ſetzte er hinzu, wo Herr Siegwart wohnt? Jch ſoll auch zu ihm. O ja, antwortete Kronhelm; hier iſt Herr Siegwart ſelbſt. Der Bediente richtete eine Empfehlung an ihn vom Hofrath Fiſcher aus, und ſagte ihm, der Herr Hofrath wuͤrde ihn auch gern im Koncert ſehen, weil er gehoͤrt habe, daß er die Violine und die Floͤte ſpiele. Siegwart wuſte nicht, was er in der Verwirrung antworten ſollte? Machte viele Komplimente, und ſagte zu. Als der Bediente weg war, ſagte er zu Kronhelm. Es iſt mir nur halb lieb, daß ich zugeſagt habe; der Hof - rath moͤchte glauben, er erweiſe mir eine groſſe Gnade, und Gnaden nehm ich eben nicht gern an. Kronhelm zeigte ihm, daß das Grillen waͤren; man muͤſte in der Welt nicht alles ſo genau neh - men ꝛc. und beruhigte ihn. Jm Grunde freute ſich Siegwart uͤber den Antrag ſehr; er wollte ſich nur recht gleichguͤltig bey der Sache ſtellen, um de - ſto weniger entdeckt zu werden. Am Sonntag ſah er ſeine Mariane in der Kirche wieder; ſie ent - zuͤckte ihn immer mehr, und einigemal glaubte er609 zu bemerken, daß ſie Antheil an ihm nehme. We - nigſtens waren ihre Blicke oft auf ihn geheftet - und, wenn er bey Gutfried war, ſah ſie fleiſſig aus dem Fenſter.

Am Mittewoch nahm das Konzert ſeinen An - fang. Siegwart gieng mit ſchwerem Herzen hin, nachdem er ſich vorher ſehr ſorgfaͤltig angekleidet hatte. Als er in den Saal trat, machte er dem Hofrath ein verwirrtes Kompliment. Dieſer war ſehr hoͤflich, freute ſich, ihn wieder in ſeinem Hauſe zu ſehen, ſagte, daß er viel Gutes von ſei - nem Violin - und Floͤtenſpielen gehoͤrt habe, und ſtellte ihn dann ſeiner Frau, und ſeiner Tochter, die an der Seite ſtanden, mit den Worten vor: Das iſt der junge Herr Siegwart, deſſen Vater ein alter Freund von mir iſt. Die Mutter, eine Frau von der angenehmſten Bildung, machte ihm ein ſehr verbindliches Kompliment. Mariane ver - neigte ſich ſtillſchweigend. Siegwart gluͤhte im Geſicht, und buͤckte ſich, ohne ein Wort zu ſpre - chen, ſehr tief. Drauf ſtellte ihn der Hofrath der uͤbrigen Geſellſchaft vor, und bat ihn, bey der Symphonie die zweyte Violine mit zu ſpielen. Siegwart war froh, daß er etwas auf die Seite gehen, und Luft ſchoͤpfen konnte. Er ſtimmte ſeine610 Violine, und konnte ſie, in der Angſt, kaum zu Stande bringen. Endlich gieng das Konzert an. Mariane ſaß unſerm Siegwart gegenuͤber. Er machte in ſeinem Spiel tauſend Fehler, und ward noch verwirrter, weil er fuͤrchtete, die Zuhoͤrer moͤchten es merken. Endlich erholte er ſich etwas von ſeiner Verwirrung, und ſpielte ordentlicher. Bey einem Floͤtenkonzerte, das Gutfried machte, ruhte er, und lehnte ſich an die Wand, Maria - nen gegenuͤber. Er glaubte, bey der ſchmelzenden Muſik, und dem Anblick ſeines Maͤdchens, das er noch nie ſo nah bey ſich geſehen hatte, zu ver - gehen. Sie ſaß, in aller ihrer Anmuth, aufs niedlichſte und kunſtloſeſte gekleidet, da; ihre Seele war ganz auf die zaͤrtliche Muſik gerichtet; ſie ſchien jeden wahren Ton im Jnnerſten zu fuͤh - len, und druͤckte oft ihren Beyfall durch eine kleine Bewegung aus. Oft hub ſie ihr ſchoͤnes Aug in die Hoͤhe, und richtete es dann auf Siegwart, der, in uͤberirdiſche Entzuͤckungen verſunken, da ſtand, und vor lauter Empfindung nichts von dem fuͤhl - te, was um ihn herum vorgieng. Zuweilen drang ſich ihm ein tiefer Seufzer aus der Bruſt, den er aͤngſtlich zu verbergen ſuchte. Selten wagte ers, ſie lange anzuſehen, weil er von tauſend Augen be -611 merkt zu werden glaubte. Mariane ſang dießmal nicht; ein paar andre Frauenzimmer aus der Stadt ſangen ziemlich artig. Als das Konzert zu Ende war, ſo wurden einige Solos und Konzerte auf die kuͤnftige Woche ausgetheilt; Kronhelm uͤber - nahm eins, und auch Dahlmund; aber unſern Siegwart traf noch keins. Eh man auseinander gieng, ſprach Kronhelm mit Marianen ziemlich bekannt. Dieß that unſerm Siegwart weh, ob er ihm gleich ſo herzlich gut war.

Sonſt aber wars ihm, als ob er neu gebohren waͤre. Nun ſah er einen frohen, wonnevollen Winter vor ſich. Sie alle Wochen Einmal, und des Sonntags in der Kirche zu ſehen, war fuͤr ihn ein Gluͤck, das er jetzt nicht groͤſſer wuͤnſchte. Jhre Blicke ſchienen ihm auch viel Gutes zu prophezeihen, und das freundli - che Betragen des Vaters fuͤllte ihn mit tauſend Hofnungen. Als ſie zu Hauſe waren, ſagte Kron - helm: Nun, wie gefaͤllt dir die Fiſcherin? Jſt ſie nicht ein herrliches Geſchoͤpf, und zum Anbeten ſchoͤn? Von Auſſehen gefaͤllt ſie mir recht wohl, antwortete Siegwart ganz kalt. Das glaub ich, ſagte Kronhelm; aber ihr Herz ſollteſt du erſt ken - nen! Wart, ich will ſchon machen, daß du noch genauer mit ihr bekannt wirſt. Da ſollſt du deine612 Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge - muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em - pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The - reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will. Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt alles aus gutem Herzen.

Siegwart legte ſich voll froher Vorſtellungen ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne - volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane von Gluͤckſeligkeit. Zwey - oder dreymal gieng er unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft zu ſehen, und ſie ſtand oft eine Viertelſtunde lang am Fenſter, und blickte oft heruͤber. Jn der Kir -613 che ſah er ſie auch wieder, und erhoͤhte ſeine An - dacht durch die ihrige.

Den naͤchſten Mittewoch eilte er wieder ins Kon - zert. Sie ſang bald zu Anfang eine Arie; er ſtellte ſich, fern von ihr, in die andere Ecke des Saals, um unbemerkt ihren Engelston zu hoͤren. Seine ganze Seele war auſſer ſich, ſobald ſie an - ſtimmte. Eine ſolche Empfindung hatte er in ſei - nem Leben nicht gehabt. Jch kann ſie nicht be - ſchreiben. Mitten in dem ſchmelzenden Geſang machte ihr Bruder, der ihr auf dem Fluͤgel akkom - pagnirte, ſolche Fehler im Spielen, daß ſie ploͤtzlich abbrach, vom Pult weggieng, und ſich unwillig auf ihren Stuhl niederſetzte. Unſerm Siegwart wars, als ob er aus dem hellſten Sonnenſchein mit Einem - mal in die tiefſte ſchauervollſte Gruft herabſtuͤrzte. Der Bruder ſprang haſtig auf, lief zu ihr hin, verzerrte ſein Geſicht, und machte ihr die kraͤnkendſten Vorwuͤrfe. Sie ward roth, und unwillig. Noch nie hatte ſie unſerm Siegwart ſo gefallen; auf den Bruder warf er einen Blick voll Verachtung, und haͤtt ihn in dem Augenblick vor die Stirne ſchlagen koͤnnen. Endlich kam der Hofrath und ſeine Frau, und beſaͤnftigten den Bruder; aber Mariane ließ ſich nicht mehr bewegen, fort zu ſin -614 gen. Sie ſaß, immer noch roth im Geſicht, mit hingeſenktem Blick da, und konnte die Zaͤhren des Unwillens kaum zuruͤck halten. Hierauf ſpielten Kronhelm, Dahlmund, und ein paar andre, noch Konzerte. Siegwart hieng mit ſchmachtendem Blick an Marianens niedergeſchlagenen Augen. Der Verdruß und Schmerz, der aus ihren Mienen blickte, drang ihm durch die Seele, und lockte ihm auch Thraͤnen in die Augen.

Bey Endigung des Konzerts ward unſerm Sieg - wart auf den kuͤnftigen Mittewoch ein Violinkon - zert aufgetragen; er uͤbernahm es, ob ihm gleich bange war, ſich vor Marianen hoͤren zu laſſen. Heut hatte er auf Gutfrieds Betragen ſorgfaͤltig Acht gegeben. Er hatte ſeine Blicke wohl bemerkt, wie ſie ſchmachtend an ihr hiengen, aber Mariane ſah ihn nur Ein - oder Zweymal, und dabey ziem - lich gleichguͤltig an. Noch einen andern Menſchen, der ſchon in den dreyſſigen zu ſeyn ſchien, und den man Rath nannte, ſah er oft, und zaͤrtlich nach ihr blicken; aber dieſen ſchien ſie noch weniger zu bemerken. Dagegen ward er wegen ſeines Kron - helms unruhiger, mit dem ſie vor dem Weggehen wieder, und, wie er glaubte, ſehr vertraulich, ſprach. Auch war ihm kein Blick entgangen, den615 ſie auf ihn| richtete; und, als er ſein Konzert aus - geſpielt hatte, bemerkte er genau, wie ſie ihm Bey - fall zuklatſchte. Er kaͤmpfte zwar lang gegen ſich ſelbſt, ihr und ſeinem Freunde nicht Unrecht zu thun, zumal da er von dem letzten ſo gewiß uͤber - zeugt war, daß ſeine Seele nur allein an There - ſen hange. Er machte ſich ſelbſt Vorwuͤrfe, daß er gegen ſeinen liebſten Freund nur der geringſten Argwohn hegen, und nur einen Augenblick unzu - frieden auf ihn ſeyn konnte; aber ſeine Empfindung ließ ſich nicht unterdruͤcken; ſie widerſetzte ſich ſei - ner Vernunft und Ueberzeugung, und beunruhigte ihn ſehr. Wenigſtens, dachte er, kann doch Ma - riane etwas fuͤr ihn fuͤhlen, wenn gleich er nichts fuͤr ſie fuͤhlt.

Zu Hauſe ſprachen er und Kronhelm noch uͤber das Konzert. Kronhelm ſchimpfte ſehr auf Ma - rianens Bruder, und beſtaͤtigte alles das, was Gut - fried ſchon von ihm unſerm Siegwart erzaͤhlt hat - te. Das Mitleiden, das Kronhelm mit Marianens Schickſal hatte, und das Lob auf ſie, in das er aufs Neue ausbrach, machte unſern Siegwart noch unruhiger. Er mochte ſich ſelber dagegen ſa - gen, was er wollte, ſo ließ ſich doch ſein Herz nicht uͤberreden, billiger zu denken. Er fuͤhlte an -616 ders, als er glaubte. Am Sonntag drauf gieng Kronhelm mit ihm in die Kirche. Auch das kam ihm verdaͤchtig vor. Aber Mariane kam dießmal nicht. Halb war ihms lieb, halb ſchmerzlich. Den Montag drauf ward eine Schlittenfahrt angeſtellt, und nach dieſer ein Ball. Kronhelm ſagte zu Sieg - wart: Du muſt auch mit machen, Xaver. Wenn du willſt, ſo will ich bey des Regierungsraths, Os - walds Tochter fuͤr dich anhalten. Sie iſt eine Freundin von Marianen. Jch muß die Fiſcherin fahren; ich hab ihrs ſchon im Herbſt zugeſagt. Ein neuer Donnerſchlag fuͤr den liebekranken, ſchon halb eiferſuͤchtigen Siegwart. Nun ward ers ganz. Nichts war im Stande, ihn zu uͤberreden, die Schlittenfahrt mitzumachen. Kronhelm drang lang in ihn, aber endlich ließ er nach. Die Schlitten fuhren bey ſeinem Haus vorbey. Er ſah hinaus. Kronhelm lachte freundlich zu ihm herauf. Ma - riane ſah auch herauf, und gruͤſte freundlich. Aber dießmal ruͤhrte ihn ihr Gruß nicht; er ſchlug das Fenſter zu, zog ſich an, und lief aufs Feld hin - aus. Hier irrte er lang im hohen Schnee herum; zeichnete mit ſeinem Stock ihren Namen in den Schnee, zernichtete ihn wieder, und ſprach viel mit ſich ſelber. Er war halb erfroren, eh ers617 merkte. Gegen Abend, als er wieder in die Stadt kam, traf er gerade auf die Schlitten. Kronhelm flog an ihm vorbey; er und Mariane gruͤſten. Siegwart nahm den Hut trotzig ab, und ſetzte ihn wieder tief ins Geſicht. Er gieng auf eine halbe Stunde zu Gutfried, der ſich nicht recht wohl befand. Aber er konnte nicht lang an einem Orte bleiben, und gieng wieder nach Haus. Gutfried hatte ihn nach der Schlittenfahrt gefragt; er ſagte aber, er wuͤſte nichts davon. Der ganze Abend, und die Nacht war ihm eine der traurigſten und quaͤlendſten. Er machte ſich tauſend ungeheure Vor - ſtellungen, die, ſo unwahrſcheinlich ſie auch waren, ſeine aufgebrachte Leidenſchaft fuͤr wahr hielt. Jetzt tanzt ſie, dachte er; iſt von Stutzern und abgeſchmackten Kerls umgeben; denkt an ihren ar - men Freund, der hier im Stillen um ſie traurt, nicht einen Augenblick; reicht vielleicht meinem gluͤcklichern Freund die Hand, blickt ihn liebeſchmach - tend an! Gott ich kanns nicht aushalten! Mach ein Ende mit mir! So quaͤlte er ſich uͤber eine Stunde mit den ſchrecklichſten Gedanken. Endlich lehnte er ſich matt in ſeinen Lehnſtuhl zuruͤck und ſchlief ein. Erſt nach drey Stunden,R r618um halb zwoͤlf Uhr wachte er wieder auf. Sein Licht war ausgegangen. Der Mond ſchien hell ins Zimmer. Er legte ſich ins Fenſter, ſah ihn trau - rig an, wie er bald hell und klar am Himmel lief, bald wieder hinter leichte Woͤlkchen ſich verſteckte, und ſie golden machte. Eine unausſprechliche Weh - muth uͤberfiel ihn; ploͤtzlich machte er Licht, und ſchrieb folgendes Gedicht nieder:

An den Mond.
Heiliger, keuſcher Mond!
Sieh herab auf meine Leiden!
Habe Mitleid, und erbarm dich meiner!
Weinend und todtenbleich
Seh ich dich, du Kind des Himmels,
Ringe meine Haͤnd, und ſchmacht in Jammer.
Heiliger, keuſcher Mond!
Ach, ich lieb, ich lieb ein Maͤdchen,
Und ſie weis es nicht, daß ich ſie liebe!
Heilig und keuſch, wie du,
Brennt ihr meine ganze Seele,
Alle Heilige und Engel wiſſens!
619
Aber Sie weis es nicht!
Gott im Himmel, laß mich ſterben,
Wenn du nicht fuͤr mich den Engel ſchufeſt!

Noch zwey Stunden blieb er auf, und verfiel aufs neu in aͤngſtliche Zweifel wegen ſeiner Mariane. Er glaubte, er muͤſte Kronhelm noch erwarten; aber endlich ward ſein Zimmer zu kalt, und er legte ſich zu Bette. Kein Schlaf kam in ſeine Augen, jede Viertelſtunde hoͤrte er ſchlagen. Seine Phantaſie arbeitete fuͤrchterlich. Um vier Uhr hoͤrte er endlich die Hausthuͤre oͤffnen, und ſeinen Kronhelm kom - men. Ein kalter Schauer lief ihm uͤber ſeine Glie - der. Gott! der Gluͤckliche! dachte er; huͤll - te ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und weinte. End - lich kam ein kurzer und unruhiger Schlummer. Den andern Morgen, als er ins Kollegium gieng, ſchlief Kronhelm noch; um eilf Uhr gieng er bey Marianens Haus vorbey. Das Haus war ein Eckhaus; ſie ſah in die Straſſe, durch die Sieg - wart gieng; und als er ſich in die andre wendete, ſah ſie auf der andern Seite auch heraus, ihm nach. Dieß bemerkte er nachher immer, und ſchloß mit Recht viel Gutes draus. Aber heut war ihm al - les gleichguͤltig, und er fuͤhlte nichts, als Gram und620 Eiferſucht wegen des geſtrigen Tages. Zu Haus kam Kronhelm auf ſein Zimmer, und that ganz freundlich. Siegwart konnt ihn kaum anſehen, ſo viel quaͤlende und ſchmerzende Gedanken bemaͤch - tigten ſich auf Einmal ſeiner Seele. O Bruder - fieng Kronhelm an, geſtern waren wir recht froͤlich! Seit ich hier bin, war mirs nie ſo wohl. Du haͤt - teſt auch dabey ſeyn ſollen! Jch dachte hundertmal an dich. Die Fiſcherin hat mich zweymal nach dir gefragt; ſie glaubte ganz gewiß, du wuͤrdeſt auch kommen. Du darfſt dir recht was drauf zu gut thun, Bruder! Sie lobte dein Violinſpielen ſehr, und freut ſich auf den Mittewoch, wenn du Kon - zert ſpielſt. Jch ſagt ihr auch, du ſingeſt gut. Das haͤtteſt du wohl bleiben laſſen koͤnnen, ſagte Siegwart haſtig und verwirrt. Es liegt mir viel dran, was die Maͤdchen von mir denken! Und nun gieng er ſchneller auf und ab. Jmmer noch der alte Weiberfeind? ſagte Kronhelm. Und nun muß ichs gar entgelten, wenn ich Gutes von dir ſpreche. Du biſt ein wunderlicher Menſch! Hier brach unſerm Siegwart das Herz. Verzeih mir, Bru - der! ſagte er, ich bin heut in uͤbler Laune. Es war nicht ſo boͤs gemeynt. Jch weis nicht, das beſtaͤn - dige Stubenſitzen macht mich ganz hypochondriſch. 621Es war warlich nicht ſo boͤs gemeynt! Bey mir auch nicht, Bruder, ſagte Kronhelm, und nahm ſeinen Freund bey der Hand. Wir ſind ja Freun - de, und du weiſt, was ich auf dich halte. Du haͤt - teſt mir auch ſchon vieles uͤbel nehmen muͤſſen. Laß die Grillen fahren! Jch weis am beſten, daß man nicht immer aufgeraͤumt iſt. Aber ein Wort muſt du mir erlauben, Xaver! Jch ſeh wohl, daß das Stubenſitzen dir nicht taugt; du ſollteſt dich zerſtreuen! drum wollt ich eben, daß du geſtern mit geweſen waͤreſt! Gelt, bey mir haſt du wenig Aufmunterung, dich zu zerſtreuen? Jch weis wohl, und es thut mir leid. Aber wer kann fuͤr ſein Schickſal? Wenn man ſo viel Gram im Herzen hat, wie ich, wie kann man da noch froh und mun - ter ſeyn? Mach dir zuweilen eine Veraͤnderung! Gut, ich wills thun, Kronhelm! ſagte Siegwart zaͤrtlich. Bey der naͤchſten Schlittenfahrt will ich auch ſeyn! Du muſt Geduld mit mir haben! Viel - leicht wirds bald beſſer! Er gieng auf die Sei - te, und wiſchte ſich die Augen. Kronhelm konnte nichts ſprechen, und gieng nach etlichen Minuten auf ſein Zimmer, unter dem Vorwand, ſich anzu - kleiden, denn ſie aſſen jetzt auf Gutfrieds Zimmer, weil er krank war. Siegwarts Schmerz brach622 nun in lautes Schluchzen aus, als Kronhelm weg war. Gott! was bin ich fuͤr ein Scheuſal! dachte er; wie hab ich meinem beſten liebſten Kron - helm Unrecht gethan! Er iſt ein Engel, und ich bin ein Teufel! Ach, ich bin ſeiner Liebe nicht werth! Vergib mir, Gott! Vergib mir, Kronhelm! Ach, ich bin ein Teufel! .. Er meynts ſo redlich mit mir, und ich bin ſo treu - los! Bin ſo ſcheuslich undankbar! Vergib mir, Lieber, wenn dirs moͤglich iſt! Mariane hat nach mir gefragt! Das iſt mehr, als ich verdiene! .. Ach, daß ich ſo ein ſchaͤndli - cher Kerl bin! .. Vergib mir, Gott! Ma - riane, Mariane! O du Engel! .. Wenn ich dei - ner werth waͤre! .. O vergib mir, Gott, daß ich ſo hart war gegen meinen lieben, ſanften, freund - ſchaftlichen Kronhelm!

Jndem kam Kronhelm wieder aufs Zimmer, und ſahs noch, wie ſein Freund ſich die Augen wiſchte. Er umarmte ihn ſtillſchweigend. Arm in Arm, und Bruſt an Bruſt, blieben ſie lang ſo ſtehen, und giengen endlich mit einander zu Gutfried. Sie trafen ihn ſehr beſtuͤrzt an. Er hatte einen Brief vor ſich liegen, und lehnte ſich, mit weinenden Au - gen, uͤber ihn hin. Nun ſoll ich fort! ſagte er. 623Mein Vater hat mir heut geſchrieben. Er iſt ſehr boͤſe, daß ich ſchon uͤber die Zeit ausgeblieben bin, und droht, mich zu enterben, wenn ich nicht zwi - ſchen heut und drey Wochen zu Hauſe ſey. Das koſtet mich, bey Gott! mein Leben; ich fuͤhls ſchon. Jch kann an keinem andern Ort ſeyn, als wo ſie iſt! Das weis mein Vater, und ich ſoll doch fort. O, ich moͤchte raſend werden uͤber das verwuͤnſchte Schickſal, das mich hieher brachte! Seit ich Ma - rianen ſah, hatt ich keinen, ganz frohen, Augenblick, und das dauert nun ſchon ins zweyte Jahr. Nun ſoll ich gar ſie nicht mehr ſehen. Das einzige, was mich bisher noch erhalten hat; ſonſt waͤre ich laͤngſt todt. Sagt, was fang ich nun an? Beydes iſt gleich ſchrecklich: Ohne ſie ſeyn, und von ſeinem Va - ter enterbt und verflucht werden. Er haͤlt Wort; ich kenn ihn ſchon. Nun rathet mir! Sieg - wart und Kronhelm zuckten die Achſeln; keiner wu - ſte, was er ſagen ſollte? Nicht wahr, ſagte er, ihr koͤnnt mir auch nicht rathen? Und wie ſolls nun ich? Das beſte iſt, daß es nicht mehr lang waͤhrt! Es ſteckt mir ſo ſchon etlich Tage her ein Schelm im Leib. Nur das Weggehn, davor graut mir! Jch wollt mir lieber jetzt gleich eine Kugel vor den Kopf ſchieſſen laſſen; ſo waͤrs doch624 mit Einemmal aus! Gleich in drey Wochen weg! Das laͤſt ſich kaum denken, geſchweige thun.

Kronhelm und Siegwart troͤſteten ihn, ſo gut ſie konnten; aber alles half nichts. Er war viel zu heftig. Jhr ſeyd nicht klug, ſagte er, wenn ihr mit Worten etwas auszurichten glaubt! Da, da, (auf die Bruſt zeigend) ſitzt es. Jhr muͤſt mir erſt dieſes Herz aus dem Leibe reiſſen; dann wirds beſſer! Jch weis, was ich ſchon ſeit Jahren her um ſie geduldet habe, da ſie mich nicht Einmal an - ſah, wie ichs wuͤnſchte. Blos an ihrem Anblick hab ich mich geweidet; der erhielt mich noch; aber nun iſts aus mit mir. Zwar bleib ich hier, das hab ich ſchon beſchloſſen; aber der Fluch meines Vaters, den ich lieb und ehre denn er iſt ein braver Mann der wird mich toͤdten. Und ich wette, er laͤſt mich mit Gewalt wegholen, wenn ich nicht komme; er wollts ſchon vor einem halben Jahr thun, da hielt ihn meine Mutter noch zuruͤck. Nun iſt ſie todt, und kein Menſch auf Erden kann ihn halten. O, ich bin ein Ungluͤckskind! Mit dieſen Worten ſchlug er ſich vor die Stirne, daß es wiederhallte. So raſend hab ich dich noch nie geſehen; ſagte Kronhelm; mir iſt bang fuͤr dich. Mir auch; fiel Gutfried ein. So toll wars aber625 auch noch nie! Jch weis, wie mirs war an Oſtern, als ich nur acht Tage von ihr weg war; und nun auf mein ganzes Leben! O, ich halt es nicht aus! Wenn nur das Gift, das ich in mir fuͤhl, bald um ſich griffe, und Mark und Knochen aufzehrte! Es waͤr ja Wohlthat, wenn gleich das Sterben ohne ſie auch ſchrecklich iſt. Aber nach dem Tod hoff ich doch Linderung.

Kronhelm und Siegwart redeten ihm zu, ſich doch ſelbſt zu ſchonen, und kein Selbſtmoͤrder zu wer - den! Das werd ich auch nicht, ſagte er, dazu hab ich zu viel Chriſtenthum, und weis, daß es Suͤnde iſt. Aber, lieben Leute! ich hab mir ja den Schmerz, der mich aufzehrt, nicht ſelbſt ge - macht! Jch ſtritt lang, und wollte ſie vergeſſen, als ſie gar nichts von mir hoͤren wollte. Aber der verſchloßne Gram wuͤthete nur heftiger in mir, und leckte allen Lebensſaft hinweg. Jetzt kannſt du aber nicht reiſen, ſagte Kronhelm; du ſiehſt gar zu elend aus. Jch will deinem Vater ſchreiben, daß du krank biſt, oder ſelber die acht Meilen zu ihm reiten. Vielleicht ſieht ers doch ein, und gibt nach. Thu das, Bruͤderchen! ſagte Gutfried; Gott ſegne dich fuͤr dieſen Einfall, und fuͤr deine viele Freundſchaft! Jch werd dirs nicht mehr lang626 verdanken koͤnnen; aber einſt im Himmel will ichs thun, wenn mir Gott barmherzig iſt, und mich zu ſich nimmt. Kronhelm verſprach, morgen hin - zureiten, wenns nicht beſſer werde. Und nun ward Gutfried etwas ruhiger. Doch er nicht mit, und beklagte ſich uͤber innerliche Hitze. Siegwart hatte mit ſeinem Zuſtand vieles Mitleid, und zit - terte vor gleichem Schickſal. Nach Tiſche muſte er ins Kollegium gehen. Gegen Abend kam er wieder hin. Gutfried beklagte ſich ſehr uͤber Kopf - weh, und innre Hitze, und muſte ſich zu Bette le - gen. Kronhelm, der Gefahr befuͤrchtete, erbot ſich, dieſe Nacht bey ihm zu bleiben und zu wachen. Siegwart kann dann morgen da bleiben, wenns noͤthig iſt, ſagte er, weil ich morgen weg reite. Siegwart gieng nach Haus, und machte ſich wegen ſeines Betragens gegen Kronhelm neue Vorwuͤrfe. Er weinte uͤber ſeine Thorheit, die ihn auf ſeinen beſten Freund eiferſuͤchtig machte, und zu einem ſo liebloſen Betragen verleitete. Nach vielen Seuf - zern entſchloß er ſich recht feſt, ſich kuͤnftig vor die - ſem ſchrecklichen und thoͤrichten Verdacht in Acht zu nehmen, und weder ſich, noch ſeinen edeldenkenden Freund mit einem ſo ungegruͤndeten Verdacht zu quaͤlen.

627

Dann uͤberließ er ſich ganz dem ſuͤſſen, und ſchmei - chelnden Gedanken, daß ſich Mariane nach ihm erkundigt habe, und zog tauſend gute Vorbedeu - tungen draus her. Er aͤrgerte ſich, daß er aus bloſſem Eigenſinn und naͤrriſcher Verblendung den Ball und die Schlittenfahrt nicht mit gemacht hat - te, und wuͤnſchte ſehnlich eine ſo herrliche Gelegen - heit, Marianen kennen zu lernen, bald wieder.

Den andern Morgen kam Kronhelm nach Haus, und ſagte, daß ihm Gutfried gar nicht gefalle. Es ſcheine eine ſchwere Krankheit im Anzug zu ſeyn. Siegwart fand ihn auch am Mittag um ein gutes kraͤnker, als geſtern. Den Nachmittag ritt Kronhelm weg, und verſprach, in hoͤchſtens vier Tagen wie - der zu kommen. Siegwart blieb bis fuͤnf Uhr bey Gutfried. Dann gieng er nach Haus, um ſich anzukleiden, und ſein Konzert noch vorher zu ſpie - len. Nach dem Konzert, verſprach er, wieder zu kommen, und bey ihm zu wachen.

Er gieng mit ziemlichem Herzklopfen ins Kon - zert, weil ihm bange war, ſich vor Marianen hoͤ - ren zu laſſen. Sie ſaß ihm gegenuͤber. Anfangs ſpielte er ſehr aͤngſtlich; aber der Beyfall, den ſie ihm durch ihre Aufmerkſamkeit, und einige Be - wegungen mit dem Kopf zu geben ſchien, befeuer -628 te ihn auf einmal, daß er beym Allegro wild in ſeine Saiten ſtuͤrmte, und die Herzen aller Zuhoͤ - rer zur Bewunderung hinriß. Er ſah ihr die Freude und das Wohlgefallen an, das ſie druͤber hatte, und trieb die Kunſt immer hoͤher. Auf Einmal ſank er, im Adagio, in den tiefſten Klage - ton herab. Seine Violine ſprach; jeder Ton ward eine Sylbe. Sein ganzes Spiel ward die ruͤhrendſte Klage, und das wehmuͤthigſte Selbſtgeſpraͤch. Sein eignes, liebekrankes Herz ſchien, es zu halten. Alles lauſchte auf dem Saal, kein Laut ward ge - hoͤrt; jeder hielt den Athem an ſich; aus jedem Herzen wollt ein Seufzer aufſteigen, der nur muͤhſam zuruͤck gehalten wurde. Mariane ſaß in tieſer Wehmuth da; ſenkte ihr thraͤnenvolles Aug zur Erde, blickte ſchmachtend wieder auf, und ward vor heftiger Empfindung blaß. Dann warf ſie einen Blick, aus dem die ganze Seele ſah, auf Siegwart; er fieng ihn auf, ſtieg in einem Lauf bis auf die hoͤchſte Hoͤhe, daß die Seele mit hin - auf ſtieg, und ſtaunte; ſenkte ſich herab, und preſte aus jeder Bruſt ein Ach! voll Schmerz und Be - wunderung. Jede Hand war aufgehoben, ihm den waͤrmſten Beyfall zuzuklatſchen; Mariane war die erſte, die es that. Er verneigte ſich gegen ſie,629 und gegen die uͤbrige Geſellſchaft, und gieng auf die Seite, um ſich wieder zu erholen, und den Schweiß vom gluͤhenden Geſicht zu wiſchen. Jm ganzen Saal entſtand ein freudiges Gemurmel; jedes Herz theilte dem andern ſeine ſtaunende Be - wunderung mit; jeder Zuhoͤrer ſah auf ihn, und war bewegt. Der Hofrath Fiſcher kam, druͤckte ihm die Hand, und dankte ihm. Auch der Engel Mariane kam ihr Siegwart zitterte. Sie habens unausſprechlich gut gemacht, ſagte ſie; ich dank Jhnen aus dem vollſten Herzen. Sie brin - gen Toͤne aus der Violine, die ich niemals drinn geſucht haͤtte. O, Jhr Adagio war goͤttlich! Hier ſah ſie ihn mit einem unbeſchreiblich zaͤrtlichen Blick an; er ward feuerroth, ſchlug die Augen nieder, und wagt es nicht, ſie anzuſehen. Er ſtund da, und konnte ſich kaum halten; jedes Auge, glaubte er, bemerk ihn. Wo haben ſie denn heut den Herrn von Kronhelm gelaſſen? fieng ſie wieder an. Dieſe Frage riß ihn wieder etwas aus der ſchrecklichen Verlegenheit, in der er ſich gewiß verrathen haͤtte. Er iſt .. ſagte er, und hub die Augen wieder auf; er iſt ausgeritten .. weil Herr Gutfried krank iſt weil ers ſeinem Va - ter ſagen will. Drauf erkundigte ſie ſich nach630 Gutfrieds Umſtaͤnden. Werden Sie nicht auch einmal eine Schlittenfahrt mitmachen? fragte ſie endlich. O ja! war ſeine Antwort, ſobald wieder Gelegenheit da iſt ploͤtzlich fuhr der Gedanke, wie ein Blitz, durch ſeine Seele: Sollt ich ſie wol bitten, mit mir zu fahren? Jndem er noch zweifelte, und eben etwas ſagen wollte, kam Ma - rianens Mutter, machte ihm ein auſſerordentlich ver - bindliches Kompliment, und lobte ihn mit vieler Waͤr - me wegen ſeines Spiels. Jndem kamen noch andre, die ihn auch mit Lobſpruͤchen uͤberhaͤuften; man hielt ſein Erroͤthen fuͤr Beſcheidenheit, und er konn - te nun Marianen, die noch bey ihm ſtand, weit freyer anſehn, und ihre unausſprechlich regelmaͤſſige Zuͤge, ihr hellglaͤnzendes Aug, und die feinſte weiße Haut bewundern. So wohl und bang, wie in dieſem Augenblick, war ihm noch nie geweſen.

Waͤhrend daß noch jedermann um den begluͤck - ten Siegwart herum ſtand, klopfte endlich Maria - nens Bruder, der ſchon laͤngſt vor Eiferſucht ge - gluͤht hatte, voll Verdruß auf die Violine, um die Spieler zuſammen zu rufen, und fieng ein Kon - zert zu ſpielen an. Er machte es nicht ganz ſchlecht; aber nach Siegwart konnte man ihn kaum mehr hoͤren. Als er ausgeſpielt hatte, klatſchte niemand631 Beyfall. Dieß verdroß den ſtolzen Knaben ſehr, und machte ihn unſerm Siegwart, den er ſchon vorher beneidet hatte, noch aufſaͤtziger.

Nach dem Konzert gieng Siegwart nach Haus, um ſich umzukleiden. Anfangs wuſte er ſich vor Freuden uͤber Marianens Beyfall kaum zu faſſen. Nach und nach kamen ihm wieder Grillen und aͤngſtliche Gedanken. Er dachte: Das alles konnte ſie wol ſagen, ohne dich zu lieben. Sie ſprach nur mit dir, um ſich nach Kronhelm zu erkundi - gen. Sie kann ihn lieben, wenn ers auch nicht weis. Er iſt unſchuldig, aber was hab ich davon? So lang ſie ſich nicht deutlicher erklaͤrt, und von meiner Liebe weis, ſo lang iſts nichts, u. ſ. w. Un - ter ſolchen traurigen Gedanken, die die erſte Liebe, ſolang ſie nicht Gewißheit hat, tauſendmal in der Bruſt des Liebenden erzeugt, gieng er zu Gut - fried, um bey ihm die Nacht uͤber zu wachen. Er war jetzt etwas muntrer. Dieſen Abend, ſagte er, hatt ich einen harten Kampf. Jch be - kam eine Art von Fieber, und die ſchrecklichſten Phantaſien aͤngſtigten mich wol eine Stunde lang. Jetzt iſt mirs ganz leicht. Setzen ſie ſich zu mir her, ans Bette! Siegwart thats.

632

Was macht denn Mariane? fuhr er fort. Ha - ben Sie ſie heut geſehen? Hat ſie geſungen? Geſehen hab ich ſie, antwortete Siegwart; aber geſungen hat ſie nicht. Sie erkundigte ſich bey mir nach Jhnen. Hat ſie das? rief Gutfried haſtig, und richtete ſich im Bett auf. O der En - gel! Jch muß ſie anbeten, ob ich gleich gewiß weis, daß ſie ewig nicht die meine wird. Er legte ſich langſam wieder nieder, und fuhr fort: Alles, lieber Siegwart! alles hab ich ihr zu ver - danken! Jch war ein liederlicher Kerl, eh ich ſie habe kennen lernen. Gott vergeb es mir! Jch ward verfuͤhrt. Als ich hieher kam, wuſt ich noch gar nichts von der Welt. Sechs Jahre hatt ich in einem Jeſuiterkloſter geſteckt; muſte da die Religion als ein Handwerk treiben, und ganze Stunden lang, ohne Andacht, beten. Das, wozu mich meine Lehrer anhielten, ſah ich ſie ſelber mit den Fuͤſſen treten. Wie ein Sklave war ich einge - ſchraͤnkt, und durfte keinen Schritt thun, ohne Vorwiſſen meiner Lehrer. Wenn ich nun einmal in die Welt hinaus kam, ſo hielt ich alles, was ich ſah, fuͤr wuͤnſchenswuͤrdig, und ſchmachtete in meinem Kaͤficht wieder deſto mehr darnach. Als ich nun hier ankam, und der Freyheit ganz genoß,633 nach der ich mich ſo laͤngſt geſehnt hatte, da glaubt ich, um mich ſchadlos zu halten, und das Verſaͤum - te wieder einzuholen, muͤſſ ich nun der Freyheit ganz genieſſen, und alles mitmachen. Freyheit und Ausgelaſſenheit hielt ich fuͤr einerley. Alles, was ich ſah, war mir neu, und reizte mich; ich fiel drauf hin, wie ein Geyer auf den Raub, und glaubte mich nie ſaͤttigen zu koͤnnen. Sie wiſſen, wozu der naͤrriſche Begriff von Univerſitaͤtsfrey - heit verleitet. Zu allem Ungluͤck waren damals hier die allerſchaͤndlichſten Geſellſchaften, in denen Gewiſſen und Vernunft durch Zoten und Unflaͤ - thereyen uͤbertaͤubt, und durch unmaͤſſiges Saufen geſchwaͤcht, oder gar getoͤdtet wurden. Da gieng ein jeder hin, und that, was ihm gefiel. Mein Troſt iſt noch, daß ich niemals Freundesblut ver - goſſen, und nie eine Unſchuld verfuͤhrt habe. Da - vor hat mich Gottes Gnade noch bewahrt; mir hab ichs nicht zuzuſchreiben. Jch waͤr bey meinem tollen, heftigen Temperament, und bey meinen Grundſaͤtzen zu allem faͤhig geweſen. Zweymal ward ein Freund in meiner Gegenwart erſtochen; ich ſeh noch ihr Blut mit Schrecken rauchen. Dem Boling, der ſonſt noch weit ſchlechter war, wieS ſ634jetzt, hab ich zweymal das Leben gerettet. Der Um - gang mit liederlichen Menſchern entkraͤftete mich ſo, daß ichs jetzt noch fuͤhle; und ich haͤtte mich zuletzt ganz zu Schanden gerichtet, wenn nicht der Engel Mariane, wie vom Himmel herab, gekom - men waͤre. Das erſtemal ſah ich ſie auf einem Ball wo mich Dahlmund mit Gewalt hinſchleppte; denn es gieng mir da viel zu ehrbar zu. Sie ſehn, und weg ſeyn, war Eins! Aber, Gott! was das fuͤr eine Empfindung war! Jch bebte, wie ein Suͤn - der, der vor Gott ſteht, und ſchaͤmte mich vor mir ſelbſt. Anfangs wagt ichs kaum, ſie anzuſehen, denn es war, als ob ſie mich durchblickte, und den ſchlechten Kerl in mir entdeckte. Aber weg war ich ganz, und konnt auf der Welt an nichts mehr denken, als an ſie. Alles war mir ekelhaft; ich haͤtt in das Lumpengeſind und meine liederlichen Saufbruͤder ſpucken moͤgen! Sie lachten mich aus, als ich nicht mehr mitmachte, ich ließ ſie la - chen. Jch blieb allein, aͤrgerte mich uͤber mein ver - gangnes Leben, und ſchmachtete um Marianen. Daß ſie mich lieben ſollte, konnt ich noch nicht wuͤnſchen, denn ich kannte mich ſelbſt zu gut, was ich fuͤr ein Kerl geweſen war; ob gleich jetzt jeder Schatten von Begierde aus mir weg wich. 635 Aber ſie war doch fuͤr mich zu heilig; ich ſah zu ihr hinauf, wie zu der Mutter Gottes, und wuͤnſchte nichts, als einen einzigen Gnadenblick von ihr. Jch kriegte ſie ſelten zu Geſicht. Einmal ſah ich ſie, an Allerheiligen, in der Kirche. Jhr Aug und Herz betete voll Andacht. Nun wagt ichs auch zum er - ſtenmal wieder, meine Augen aufzuheben, und Gott um Erbarmung anzuflehen. Jhre Andacht gab der meinen Muth und Fluͤgel. Es war mir, als ob ein Stral von goͤttlicher Barmherzigkeit ſich in mein Herz herab ſenkte, und es ſtaͤrkte. Mir ward ſo wohl, daß ich weinen konnte. Dieſer Augenblick bleibt mir unvergeßlich; er iſt der Anfang meines wahren Gluͤcks. Jch ward nun wirklich fromm, denn ich handelte nach Grundſaͤtzen. Zu Haus warf ich mich nun nieder, und zerfloß in Thraͤnen. Das Gefuͤhl der goͤttlichen Begnadigung goß ſich wieder durch mein Herz; ich las auch in der Bi - bel, und ganz anders, als im Kloſter ehmals. Jhre Kraft, und der heilige Gedank an Marianen unter - druͤckte, oder maͤſſigte meinen wilden, unbaͤndigen Karakter; obgleich noch das weis der liebe Gott unendlich viel davon zuruͤck blieb; denn oft will es wieder in mir aufbrauſen, und ich habe gnug mit mir zu kaͤmpfen. Mit meiner Beſſerung636 keimte auch der Wunſch auf, Marianens Herz zu gewinnen. Jch konnte mich ihr nun eher ohne Zittern nahen, denn ich fuͤhlt es, daß ich beſſer war. Jm Konzert hatt ich Gelegenheit, mit ihr bekannt zu werden. Sie begegnete mir immer freundlich und gefaͤllig; aber niemals hab ich einen Funken von Liebe an ihr wahrgenommen. Jch fuͤrchte, ſie weis meinen vorigen Lebenswandel, und kann des - wegen kein rechtes Zutrauen zu mir haben. O Freund, dieß iſt die groͤſte Strafe meiner ſchaͤndli - chen Verblendung! Dieſe, und daß ich einen aus - gemergelten Koͤrper davon getragen habe, der mich wohl in wenig Wochen oder Tagen ins Grab ſtuͤr - zen wird. Daß mir Gott vergeben habe, hoff ich um der Leiden ſeines Sohnes willen, ſonſt muͤſt ich gar verzweifeln. Jch beſchwoͤre Sie um Gottes willen, theurer Freund! Sie ſind noch jung, und mancherley Verfuͤhrungen ausgeſetzt. O behalten Sie ihr Herz rein! Sie wiſſen nicht, was das fuͤr ein Kleinod iſt, denn ich hoffe, daß Sies nie verloh - ren haben. Glauben Sie mir, daß beym Laſter nichts als Unruh iſt, und Hoͤllenreue hintennach. Jch ſchwoͤr Jhnen, daß ich nicht nur jetzt ſo rede, weil ich krank bin, und den Tod naͤher vor Augen ſeh, als Sie. Jch hab in geſunden Tagen eben ſo637 gedacht, und bin wahrhaſtig uͤberzeugt, daß nichts auf der Welt ganz gluͤcklich macht, als Kenntniß und Ausuͤbung unſrer heiligen Religion, und Recht - ſchaffenheit, und Reinigkeit des Herzens. Jch hab alles verſucht, bin alles geweſen, Religionsveraͤch - ter, Spoͤtter, Zweifler, Taugenichts, und Chriſt, und nichts hat mich beruhigt, als das letzte. Noch einmal, ich beſchwoͤre Sie, Freund! bleiben Sie auf dem guten Wege, auf dem Jhnen ſo wohl iſt! Bleiben Sie ein rechtſchaffener Mann, ein Chriſt! Denken Sie an meine Worte! Jch bin jetzt gluͤcklich, und waͤrs noch mehr, waͤr ich immer gut geblie - ben.

Hier konnte der geruͤhrte und entkraͤftete Juͤng - ling nicht mehr reden. Ein heiſſer Strom von Thraͤnen ſtuͤrzte ihm aus den Augen, er ſchluchzte, und verhuͤllte ſein Geſicht ins Kiſſen. Siegwart konnte ſich nicht laͤnger halten; das Herz brannte ihm im Leibe. Thraͤnen ſchoſſen uͤber ſeine Wan - gen; er lief weg ans Fenſter, und ſchluchzte laut. Gott, erhalt mich fromm und rein! Mehr konnte er nicht ſeufzen; aber ihm wars, als ob er Gott von Angeſicht zu Angeſicht erblickte, und gewiß waͤre, daß er bleiben wuͤrd in ſeiner Reinigkeit und Unſchuld.

638

Erſt nach etlichen Minuten gieng er wieder aus Krankenbette. Gutfried gab ihm ſeine Hand. Lieber Freund, ſagte er mit ſanfter Stimme, wir koͤnnten ſo viel reine Freuden auf der Welt genieſ - ſen, daß wir ſolcher Ausſchweifungen nicht noͤthig haͤtten. Wie viel frohe himmliſche Abende gab uns, dieſes letzte halbe Jahr, die Freundſchaft! Gott! wie ſaſſen wir oft ſo vergnuͤgt zuſammen, und fuͤhl - tens erſt am Ende, daß die Zeit ſo ſchnell verſtri - chen war. Welche reine, unverfaͤlſchte Freuden gab uns die Muſik! Wie erhub ſie unſer Herz zu himm - liſchen Empfindungen; zu Entſchluͤſſen, etwas Groſ - ſes und Edles fuͤr die Welt zu thun. Wie erquick - te ſie uns nach unſerm Studieren! Am Abend wars uns, als ob wir den ganzen Tag in reiner Wolluſt zugebracht haͤtten. Und die ſchoͤnen Wiſ - ſenſchaften! Jhnen verdank ich, naͤchſt der Liebe zur Tugend und zu Marianen, mein verfeinertes, veredeltes Gefuͤhl am meiſten. Jch liebte Maria - nen, und durch ſie, die Tugend ſchon eine geraume Zeit; aber in meinem aͤuſſerlichen Weſen war im - mer noch viel Rohes und Unbehagliches. Nun ſah ich bey ihr einmal ein Buch von Kronhelm liegen; es waren Kleiſts Werke. Jch ſah hinein; und es gefiel mir. Mariane lehnte mir das Buch mit639 Kronhelms Vorwiſſen. Freund! wie war mir das ſo neu! Wie viele, vorher nie gefuͤhlte Empfin - dungen fuͤllten da mein Herz! Wie ward es oft zur Anbetung des Schoͤpfers hingeriſſen! Jch ſah nun die Natur mit ganz andern Augen an. Jede Blume, jeder Vogel, jede ſchoͤne Gegend ward mir wichtiger, und lehrte mich den Schoͤpfer im Geſchoͤpf bewundern. Mein Herz ward reizbarer und em - pfindlicher fuͤrs Gute und fuͤrs Schoͤne. Jch ſah die Harmonie der Schoͤpfung, trug ſie auf meine Handlungen uͤber; ſchaͤtzte ſie im Leben und der Denkungsart andrer Menſchen mehr; ſah bey mir ſelbſt mehr auf aͤuſſerlichen Anſtand; und ward ge - gen jedes Elend mitleidig.

Sein Geſpraͤch ward durch die Ankunft Bolings unterbrochen. Dieſer erbot ſich, mit Siegwart zu wachen, damit der Eine etwas ſchlafen koͤnnte, waͤh - rend daß der andre wachte. Unſer Siegwart er - waͤhlte die Vormitternacht zum Wachen, denn er ſah beym Hofrath Fiſcher Licht, und hoffte, ſeine Mariane noch einmal zu ſehen. Als Gutfried etwas einſchlummerte, ſetzte ſich Boling in den Lehnſtuhl, um zu ſchlafen, und Siegwart legte ſich ins Fenſter, ob er Marianen nicht erblicke? Ein paarmal ſah er etwas am Fenſter hin und her640 gehn, aber er konnte nicht genau unterſcheiden, ob es ſie ſey, oder ihre Mutter? Er war halb freudig, und bald traurig; bald fuͤrchtete er alles Traurige, und hoffte dann auf Einmal wieder nichts als Gu - tes. So ſtand er, in ſuͤſſer Wehmuth, und voll ſchwaͤrmeriſcher Entwuͤrfe eine ganze Stunde da. Endlich hoͤrte er das Klavier anſtimmen, riß das Fenſter eilig auf, und lauſchte, daß er kaum zu ath - men wagte. Erſt ſpielte Mariane eine ernſthafte, langſam gehende Phantaſie; dann eine ſchmelzend zaͤrtliche Sonate, und endlich einen feyerlichandaͤch - tigen Choral, und ſang dazu. Siegwart kam uͤber den empfindungsvollen Ton ihrer Silberſtimme ganz auſſer ſich, daß er kaum mehr wuſte, wo er war. Er hatte tauſend Empfindungen, deren er ſich kaum ſelbſt bewuſt war, und die ſich erſt nach und nach entwickelten, als ſie lange ſchon ſchwieg. Er lag noch lang im Fenſter, als ob er ihr zuhorchte, ob ſie gleich ſchon das Licht ausgeloͤſcht hatte. Endlich ward er wehmuͤthig, ſetzte ſich an den Tiſch, und ſchrieb, als er Dinte und Papier vor ſich ſah, folgen - des Gedicht nieder:

641
Alles ſchlaͤft! Nur ſilbern ſchallet
Marianens Stimme noch!
Gott! von welcher Regung wallet
Mein gepreßter Buſen hoch!
Zwiſchen Wonn und bangem Schmerz
Schwimmt mein liebekrankes Herz.
Schwind, o Erde! Laß mich fliegen
Zu des Hochgelobten Thron;
Mich mit ihr im Staube liegen,
Seufzen mit in ihren Ton:
Gott, du hoͤrſt es, was ſie fleht;
Acht auch mit auf mein Gebet!
Daß ich lang um ſie mich quaͤle,
Jſt der Holden unbewuſt;
Send, o Gott, der frommen Seele,
Lieb und Mitleid in die Bruſt!
Waͤr ihr nur mein Leid bekannt,
Waͤr auch meine Qual verbannt.
Gott! ich ſeh den Himmel offen!
Freud und Leben winken mir!
Daß mein Herz darf wieder hoffen,
Mariane, dank ich Dir.
Sing, und zaubr, o Saͤngerin,
Ganz ins Paradies mich hin!
642

Siegwart ſaß noch eine Stunde da, und uͤber - ließ ſich ſeiner Phantaſie, als endlich Boling auf - wachte, um ihn abzuloͤſen. Gutfried ſchlief ſehr aͤngſtlich, und unruhig; fuhr oft auf, und ſprach oft mit ſich ſelbſt. Sie befuͤrchteten den Ausbruch eines hitzigen Fiebers, das der Arzt den Abend vorher ziemlich deutlich vorausgeſagt hatte. Bo - ling verſprach, unſern Siegwart ſogleich zu wecken, wenn die Krankheit ſteigen ſollte, und nun ſchlief er im Lehnſtuhl ein. Vor Tag weckte ihn Boling durch einen heftigen Schrey auf; denn Gutfried hatte angefangen, zu phantaſiren, war aus dem Bett geſprungen, und hielt ihn an der Kehle feſt. Laß mich los! rief Gutfried, reiß mich nicht von Marianen, Vater! ſonſt erwuͤrg ich dich! Sieg - wart ſprang hinzu, und riß ihn endlich mit aller Gewalt von Boling weg. Sie hatten Muͤhe, ihn ins Bett zu bringen; ſeine Augen funkelten und roll - ten fuͤrchterlich; der weiſſe Schaum ſtand ihm zwi - ſchen den Zaͤhnen; er klammerte ſich mit den Haͤn - den feſt an, wenn er was zu faſſen kriegte, und hatte faſt uͤbermenſchliche Staͤrke. Endlich brach - ten ſie ihn doch wieder aufs Lager. Er ſprach un - aufhoͤrlich fort, zankte ſich mit ſeinem Vater, glaub - te zuweilen, den boͤſen Feind vor ſich zu ſehen,643 lachte fuͤrchterlich laut, und weinte dann wieder, wie ein Kind. Sein Zuſtand drang ſeinen beyden Freunden tief ins Herz, daß ſie ſich mit Thraͤnen, und mit Seufzern anſahen. Einmal hielt er ein langes, ruͤhrendes Gebeth an die Mutter Gottes, richtete ſich auf, hub die Haͤnde in die Hoͤhe, nann - te ſie zuweilen Mariane, und ſank entkraͤftet wieder aufs Bett zuruͤck. Siegwart und Boling wuſten ſich kaum mehr zu helfen. Nach dem Arzt konn - ten ſie nicht gehen, weil keiner ſich, allein bey ihm zu bleiben, getraute, und im Hauſe ſchlief noch je - dermann. Sie warteten mit Sehnſucht auf den Morgen. Endlich brach er an. Sie ſchickten ei - ligſt nach dem Arzt. Dieſer zuckte die Achſeln, verordnete eine Aderlaͤſſe, und verſprach wenig Hofnung. Nach dem Aderlaſſen ward der Kranke etwas ruhiger, und ſchlummerte ein wenig ein. Zwey Stunden nachher wachte er mit groſſem Schreyen wieder auf, riß die Binde von der Ader weg, und verblutete ſich, eh man ihm beykommen konnte, ſo, daß er in eine Ohnmacht ſank. Der Arzt, der herbeygerufen wurde, brachte ihn, nach vieler Muͤhe wieder zu ſich ſelbſt. Er war ſo matt, daß er kaum reden konnte. So lag er den ganzen Tag da, und erholte ſich erſt gegen Abend644 wieder etwas. Siegwart kam keine Viertelſtunde von ſeinem Bette. Auf ſein Verlangen muſte er ihm die letzten Reden Jeſu im Johannes, und Se - midas Selbſtgeſpraͤch im vierten Geſang der Meſ - ſiade vorleſen. Beyde waren ſehr geruͤhrt. Der Kranke hub ſeine Augen in die Hoͤhe, und ſagte: Segen dem Manne, der die Heiligkeit der Liebe ſo tief gefuͤhlt hat! Wohl dem, der, wie er, fuͤhlt! Dann betete er ſtill zu Gott; rief einigemal laut: Gnade mir, Erbarmer! und dann weinte er. Seg - ne Marianen! ſprach er leiſer. Gib ihr einen Mann, der fromm und rein liebt!

Den ganzen Tag uͤber lag er matt da; ſeine Kraͤfte nahmen ſichtbar ab. Gegen Abend ſchien ſein Ende nahe. Lieber Siegwart, ſagte er: Ver - ſichern Sie meinen Vater meiner Liebe, meines Danks, und meiner Reue! Sagen Sie ihm, daß ich Marianen liebte; daß ich durch ſie fromm ward, und nun freudiger zu Gott geh! Jch wollt ihn durch mein Auſſenbleiben nicht betruͤben. Eine innre, unbekannte Kraft hielt mich zuruͤck. Es war mehr, als Liebe. Jhr zu widerſtehen, war mir unmoͤglich. Sagen Sie ihm alles, alles!

Nach einigem Schweigen fuhr er fort: Noch einmal, um Gottes willen, lieber Siegwart, be -645 wahr das im Herzen, was ich geſtern ſagte! .. Laß dich nicht verfuͤhren! Bleibe dir und Gott treu! Sags auch Kronhelm! Dank ihm!

Siegwart konnte nichts, als weinen. Auf Ein - mal entſtand im Haus unten ein Lerm. Das will ich ſehen, obs ſo ſchlecht iſt? rief eine rauhe Stim - me. Er ſoll und muß mit mir fort, der Unge - rathene! Jndem ſtuͤrzte Gutfrieds Vater in das Zimmer, Kronhelm hinter ihm drein, und aufs Bette zu. Heh! Kerl! rief der Vater, und ſchuͤttelte ſeinen Sohn. Ploͤtzlich, als er ſeinen Sohn im Todesſchweiſſe ſah, blieb er wie erſtarrt ſtehn. Mit der einen Hand hielt er ſeinen Sohn, und die andre hub er in die Hoͤhe. Was iſts? ſagte er, mit zerſtoͤrten Blicken, zu Siegwart. Will er ſterben, oder iſt er ſchon? Karl! und nun ſchuͤttelte er ihm die Hand; um Gottes willen, Karl! du lieber Karl! Was iſts? Der jun - ge Gutfried hub ſeine Augen auf; eine Thraͤne glaͤnzte drinn, und ſchloß es wieder zu. Der kalte Todesſchweiß ſtund ihm auf der Stirne. Er lag unbeweglich da. Der Vater ließ ſeine Hand un - willig fahren, gieng weg, ſah gen Himmel, ſeufzte tief, und ſprach: Nun iſts aus mit mir! Deine646 Mutter, deine Mutter! Gott! ich habs verſchul - det! Karl! Karl! Sie hat mirs geſagt. Nun warf er ſich ſtumm uͤber ſeinen Sohn her, kuͤſte ihm den letzten Athem aus dem Mund; der Sohn war todt. Der Vater ſetzte ſich ans Bette, ſah den Sohn lang und ſtarr an. Endlich mur - melt er: Gott! ſobald mit deinen ſchrecklichen Ge - richten! Hat er mir geflucht? Sie ge - ſegnet, ſagte Siegwart. Gut! ich habs doch nicht verdient! verſetzte der Vater. Hab doch ſei - ne Mutter ins Grab gebracht, durch Untreu! Aus dem Haus ſoll ſie mir, der Hund! Jch kann keine Hure ſehn! Jch bin ein Ehebrecher! Lieber Karl! Biſt du bey der Mutter? Ach, ver - klag mich nicht! Verklag mich nicht! Nun ſtuͤrzte er ſich wild uͤber ſeinen todten Sohn her, und kuͤſte ihn, daß er ihm die Lippen aufbiß. Der Bube war doch fromm? Nicht? Nun, ſo mag er fuͤr mich bitten! Aber, ach, nun hab ich keinen Sohn mehr! habe keine Freunde mehr im Alter! Ach, nun moͤcht ich ſterben, weil er todt iſt! Du lieber, todter Sohn! Eine Hure hat dir deines Vaters Herz geſtohlen! Und du biſt geſtorben; konnteſts laͤnger nicht mehr an - ſehn! Sags deiner Mutter nicht, Karl! Um Got -647 tes willen nicht! Ach, daß du ſo fruͤh geſtor - ben biſt! Die Hure ſoll mirs buͤſſen! Siehſt wie deine Mutter aus, als ſie geſtorben war! Hat er mich geſegnet, Herr? Mein Weib hats auch gethan! Aber kann beym Ehebruch auch Se - gen wohnen? Daß du mich geſegnet haſt, das hat dich deine Mutter wohl gelehrt; wenn ſie mit dir weinte in der Kammer. Nun ſprang er auf: Aber, lieben Herren, ſagts der Welt nicht! Jch will ſelber meine Schande aufdecken! Lie - ber Karl! Jch kann dich nicht mehr anſehn. Es iſt gar zu fuͤrchterlich!

Jndem kam der Arzt herein mit Boling. Der Vater gieng in einen Winkel, ſah beſtaͤndig ſtarr auf einen Platz, und ſchwieg, ſolang der Arzt da war. Nachher ſagte er zu Kronhelm: Laſſen Sie meinen Karl begraben! Jch kann nichts thun.

Kronhelm machte Anſtalten, daß ſein Freund in zwey Tagen begraben wurde. Der Vater verſchloß ſich groͤſtentheils auf dem Zimmer ſeines Sohnes, und ließ ſich nur von Siegwart und von Kron - helm ſprechen. Sie muſten ihm ſeine ganze Ge - ſchichte erzaͤhlen. Er hoͤrte ſtillſchweigend, und mit niedergeſchlagnen Augen zu. Nur zuweilen ſeufzte648 er tief auf, oder klagte ſich ſelber, wegen ſeines Betragens gegen ihn, an. Jch vermuthete, ſagte er, daß ihn etwas anders auf der Univerſitaͤt zu - ruͤckhielte, ſo wie mirs ehemals gieng. Wenn man ſchlechte Streiche macht, ſo vermuthet man ſie bey andern auch. An eine ſo heilige und keu - ſche Liebe, wie die gegen Marianen war, dacht ich gar nicht. War denn gar keine Hofnung da, daß ihn das Maͤdchen wieder lieben werde? Wenig, oder keine; antwortete Kronhelm. Eben jetzt ſagte mir Boling, ſie werd einen hieſigen Aſſeſſor heyrathen. Siegwart wurde uͤber dieſe Nach - richt ploͤtzlich blaß, und lief weg. Zu Haus ſank er in einen Stuhl, blieb eine Stunde lang ſo ſitzen, ſeufzte, weinte; und verwuͤnſchte ſein Ge - ſchick.

Den andern Tag wurde Gutfried begraben. Der Vater gieng ſtumm hinter dem Sarge drein. Es folgten die Freunde ſeines Sohnes; alle voll tiefen Grams. Siegwart war am meiſten bewegt. Der Gedanke an den Verluſt eines ſolchen Freun - des, und der Gedanke an ſein eignes truͤbes Schick - ſal zerfloß in ſeiner Seele in einen einzigen, und lag ſchwer auf ihm. Stumm und ſtarr ſah er auf den Sarg ins Grab hinab; bittre Thraͤnen floſſen649 drauf, und ſein Herz ward voll von dem Wunſch, wie ſein Freund zu ſterben; denn zuweilen that er, aus ſeinem kummervollen Leben einen Blick in die Wonne, der ſein Freund nun genoß. Den Abend drauf ſchrieb er aus dem kummervollſten Her - zen dieſe Verſe nieder:

An Gutfrieds Begraͤbnistage.
Wuͤrd ich doch, wie du, begraben!
Saͤnk ich auch in Todesnacht!
Zaͤrtlichkeit und Jammer haben
Mich dem Grab auch reif gemacht.
Deine Leiden ſind voruͤber,
Ausgeweinet hat dein Blick;
Aber trauriger und truͤber
Wird mir jeder Augenblick.
Stimmet keine Trauerlieder
Auf des Freundes Huͤgel an!
Segnet ſein Geſchick, ihr Bruͤder!
Er betrat des Lebens Bahn.
Wißt: Der ſchoͤnſte Tag des Lebens
Jſt der naͤchſte an der Gruft.
Ach, daß doch mein Wunſch vergebens
Jhn, herbeyzueilen, ruft!
T t650

Kronhelm hielt den Kummer ſeines Freundes fuͤr Schmerz uͤber Gutfrieds Tod, und vereinte ſich mit ihm zu klagen. Den naͤchſten Sonntag ſah Siegwart ſeine Mariane in der Kirche. Sie gruͤß - te ihn freundlich, und ſah heiter aus. Er hielt dieſe Heiterkeit fuͤr Freude uͤber ihre nahe Verbin - dung, und ward daruͤber noch unruhiger, und trauriger. Jm naͤchſten Konzert merkte er wohl, daß ſie ihn ſehr fleiſſig beobachtete, aber ſeine Furcht ließ ihn auf nichts vortheilhaftes ſchlieſſen. Sie ſang eine obligate Arie, und bat Kronhelm, ihr dabey zu akkompagniren. Dieß brachte ihn noch mehr auf, und erfuͤllte ihn mit dem baͤngſten Schmerz. Der halbverborgene Funken von Eiferſucht glimmte wieder friſch in ihm auf. Seine Ver - nunft mochte ihm ſagen, was ſie wollte; ſein Herz ſtritt dagegen. Er merkte kaum auf ihren himm - liſchen Geſang, und fuͤhlte nichts von der herz - ſchmelzenden Zaͤrtlichkeit, mit der ſie ſang. Jn - dem er ſo, von tauſend kaͤmpfenden Leidenſchaften beſtuͤrmt, in einem Winkel ſtand, und nicht be - merkte, daß die Arie ausgeſungen war, trat Ma - riane zu ihm, und bat, er moͤchte ihr bey einer zweyten Arie akkompagniren. Er ſtund da, wie vom Grab erweckt, in der ſtaunendſten Bewegung;651 neigte ſich gegen ſie, und nahm zitternd ſeine Vio - line. Seine Toͤne rangen mit den ihrigen um den Vorrang des Ausdrucks; endlich ſtroͤmten ſie in einander, wie die Empfindung zwoer Seelen, die ſich nun zum erſtenmal ihr Gefuͤhl entdecken, und es ganz in Seufzer und in Worte ausflieſſen laſſen. Als er ausgeſpielt hatte, verneigte ſie ſich tief vor ihm, mit einem Laͤcheln und einem Ausdruck ihres Auges, der durch ſein ganzes Weſen eine, nie ge - fuͤhlte Waͤrme ausgoß. Jn dem Augenblick ver - gaß er aller Zweifel, aller Schwierigkeiten; ſie war ganz ſein. Es fuͤhlt er wohl, und wuſt es nicht, wie Klopſtock ſagt.

Sie bat ihn nun im naͤchſten Konzert ein Duett mit ihr zu ſingen. Er ſtotterte was her: Er ſey im Singen ſo geuͤbt nicht, um mit ihr zu ſingen u. ſ. w. Sie ſagte aber: Sie wiſſe, durch Herrn von Kronhelm, ſchon das Gegentheil, und rief Kronhelm ſelbſt zum Zeugen auf. Dieſer verſicher - te, daß ſein Freund nur aus uͤbergroſſer Beſchei - denheit ſo rede. Drauf ſprachen ſie von Gutfried. Mariane bedaurte ſeinen Tod mit dem herzlichſten Antheil, ſo daß unſerm Siegwart die Thraͤnen in die Augen ſchoſſen. Tauſend Empfindungen draͤngten ſich in ſeiner Seele. Gutfried, ſagte ſie, hatte652 ſehr viel Gutes, viel Empfindung, und das iſt das Beſte. Seine Freundſchaft war mir werth und ſchaͤtzbar. Jch haͤtt ihm ein laͤngeres Leben ge - wuͤnſcht. Doch nun iſt ihm auch wohl. Hier wandte ſie ſich auf die Seite, um ſich eine Thraͤne aus dem Auge zu wiſchen. Unſre beyden Juͤng - linge ſahn ſich an, und weinten auch. Von ſeiner heftigen Liebe gegen ſie ſchien ſie nichts gemerkt zu haben. Dieß ruͤhrte unſern Siegwart noch mehr. Die Hofrath Fiſchern ſtellte ſich auch zu ihnen, und beſprach ſich, beſonders mit Siegwart, uͤber Gut - frieds Tod. Mariane ſprach indeſſen mit Kron - helm, und ſah mehrmals unſern Siegwart ſeit - waͤrts ſehr bedeutend an. Sein Herz ward ihm durch jeden ſolcher Blicke ſehr erleichtert, und Hof - nung nahm die Stelle der Furcht ein. Kronhelm hub zu Hauſe an: Hoͤr! Xaver, Mariane will den Geßner leſen, und ich hab ihn nicht, willſt du mir ihn wohl fuͤr ſie leihen?

Siegwart. O von Herzen gerne! Sie kann alle Buͤcher von mir haben.

Kronhelm. Nun, das heiſſ ich mir einmal vernuͤnftig geſprochen! Nicht wahr, du gibſt mir nun auch zu, daß die Fiſcherin ein vortrefliches Maͤdchen iſt! Sie gefaͤllt dir doch?

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Siegwart. Jch habe nie nichts gegen ſie ge - habt; warum ſollte ſie mir nicht gefallen, wie ein andres braves Maͤdchen auch?

Kronhelm. Alſo mehr gefaͤllt ſie dir doch nicht? Was du nicht geheimnißvoll ſeyn kannſt!

Siegwart. Geheimnißvoll, Kronhelm? Jch weis gar nicht, was das heiſſen ſoll?

Kronhelm. Gut, ſo weis ichs auch nicht! Jch dachte nur, daß ich dir niemals Urſache gegeben ha - be, gegen mich ſo zuruͤckhaltend zu ſeyn, da ichs doch nicht gegen dich bin. Und in dieſer Sache koͤnnt ich dir vielleicht mehr nuͤtzen, als ſchaden. Aber, glaub ja nicht, daß ich neugierig bin, oder jemand ſeine Heimlichkeiten abdringen will. Sieh, dieß Blatt Papier haſt du geſtern, als du deine Brieftaſche durchſuchteſt, bey mir auf dem Tiſche liegen laſſen. Die Verſe ſind wohl an Marianen? Sie hat doch wohl Klavier geſpielt, als du bey Gutfried wachteſt?

Siegwart zitterte, ward roth und blaß, und fiel endlich ſeinem Kronhelm um den Hals. Du haſt Recht, ſagte er, ich war ein mistrauiſcher Narr, der ſo einen Freund, wie du biſt, nicht verdient! Aber, Kronhelm, wenn du in mein Herz ſehen koͤnnteſt; wenn du wuͤſteſt, was ich ausgeſtanden654 habe, daß ich ſchweigen muſte! Denn ich muſte ſchweigen. O ich weis, du wuͤrdeſt mir verge - ben. Du kennſt die Liebe, Kronhelm! Weiſt, wie’s einem iſt. Ach, vergib mir, Bruder! War - lich, wenn ichs Einem Menſchen haͤtte ſagen koͤn - nen, du waͤrſt der erſte auf der Welt geweſen; warlich!

Kronhelm. Sey ruhig, Bruder! Jch war boͤſe, und das muſt du mir vergeben! Aber jetzt iſts ſchon vorbey. Jch will glauben, daß du mehr um deinetwillen ſchweigeſt, als um meinetwillen. Laß es gut ſeyn! Jch wills auch thun. Freunde muͤſ - ſen ſich ſo was nicht uͤbel nehmen!

Siegwart umarmte ſeinen Freund noch feuri - ger, und geſtund ihm nun ſeine Liebe zu Maria - nen offenherzig. Es war ihm unausſprechlich wohl dabey, daß er ſein, ſchon ſo lang gepreſtes, volles Herz ausſchuͤtten konnte. Kronhelm billigte ſeine Wahl aufs aͤuſſerſte, und machte ihm nicht gerin - ge Hofnung, daß er Marianen gar nicht gleich - guͤltig ſey. Zugleich verſprach er, ſie noch mehr auszuholen, und ihm Gelegenheiten zu verſchaffen, genauer mit ihr bekannt zu werden. Dieß Ver - ſprechen war unſerm Siegwart auſſerordentlich an - genehm, nur bat er, ſeiner angebohrnen Schuͤch -655 ternheit gemaͤß, ſeinen Kronhelm ſehr, recht be - hutſam drein zu gehen, und ſich und ihn auf keine Weiſe zu verrathen. Zu ſeiner groͤſten Freude erfuhr er auch, daß ihre Verbindung mit dem Aſ - ſeſſor eine falſche Nachricht ſey, und ſich bloß auf einen Misverſtand von Bolings Seite gegruͤndet habe.

Die beyden Freunde verlohren ſich nun in ſuͤſſe Traͤumereyen uͤber das kuͤnftige Gluͤck ihrer Liebe; Kronhelm ſprach von ſeiner Thereſe, und Siegwart von ſeiner Mariane mit dem waͤrmſten Enthuſias - mus. Jeder lobte das Maͤdchen des andern mit Begeiſterung, um eben ſolches Lob auf das ſeinige zu hoͤren. Sie blieben bis um Mitternacht bey - ſammen, und konnten ſich kaum trennen; denn immer fiel, bald dem einen, bald dem andern et - was neues ein. Kronhelm meynte, Siegwart ſoll - te Thereſen etwas von ſeiner Liebe ſchreiben, aber Siegwart wollte ſich dazu ſchlechterdings nicht ver - ſtehen, denn er war in dieſem Punkt uͤbermaͤſſig furchtſam und zuruͤckhaltend, und zaͤrtlich.

Taͤglich ſprachen ſie nun ganze Stunden lang von ihrer beyderſeitigen Liebe. Siegwart ſah nun ein, wie unrecht er ſeinem Freund mit ſeiner un - gegruͤndeten Eiferſucht gethan habe, und ward taͤg -656 lich offenherziger. Er entdeckte ihm ſo gar ſeine ehemaligen Grillen, und auch Sophiens ungluͤckli - che Liebe zu ihm. Sie machten mit einander aus, ſo bald wieder ein Schnee fiele, eine Schlittenſahrt und einen Ball anzuſtellen, wobey Siegwart ſeine Mariane bedienen ſollte. Dieſer machte zwar an - fangs tauſenderley Einwendungen, die ihm ſeine Schuͤchternheit eingab, aber Kronhelm zerſtreute ſeine Zweifel und aͤngſtliche Bedenklichkeiten.

Den naͤchſten Sonntag gieng Kronhelm mit Siegwart in die Kirche, und wollte in Marianens Blicken und Betragen viele Theilnehmung an Siegwarts Perſon bemerkt haben. Siegwart machte ihm tauſend Einwuͤrfe, um ſie nur widerlegt zu ſehen. Jm folgenden Konzert ſang er mit Ma - rianen das Duett zum Erſtaunen aller Zuhoͤrer. Jhre Stimmen waren wie das Liſpeln der Liebe; ſtiegen mit einander in den Himmel, und wieder mit einander in das Grab herab, und klagten. Je - des Herz fuͤhlte Zaͤrtlichkeit und Liebe, doch das ih - rige am meiſten. Man haͤtte wenig ſcharfſinnig ſeyn duͤrfen, um zu hoͤren und zu fuͤhlen, daß weit mehr aus ihnen ſang, als Kunſt. Bey einem Tril - ler ſah ſie unſern Siegwart ſo ſchmachtend und be - weglich an, daß ihm Thraͤnen in die Augen kamen,657 und ſein Herz im ſeligſten Gefuͤhl ſchwamm. Die ganze Geſellſchaft klatſchte noch ſo lang, als ſonſt ge - woͤhnlich, als die beyden ausgeſungen hatten. Sie lobte ſeinen richtigen Geſang und ſeinen tiefen Ausdruck mehr mit Blicken, als mit Worten. Wir muͤſſen oͤfter ſingen, ſagte ſie. Jch ſang noch nie mit ſolchem Erfer und mit ſolchem Antheil. Jch gewiß auch nie! ſagte Siegwart, und ſeufzte. Kronhelm kam dazu, und ſagte: Hab ich nicht Recht, Jungfer Fiſcherin, daß er gut ſingt? O, ſie haben mir nicht halb ſo viel geſagt, war ihre Antwort. Herr Siegwart ſingt auſſerordentlich Endlich ward das Geſpraͤch, durch andre, die dazu kamen, allgemeiner.

Siegwart war nun ſo froh, daß er alles um ſich her vergaß. Er glaubte nun ſelber, daß ihn Ma - riane liebe, und wuͤnſchte nur bald Gelegenheit, ſie allein zu ſprechen, und ihr ſein Herz ganz entdecken zu koͤnnen! Beym Weggehen, als er von ihr Ab - ſchied nahm, ſah ſie ihn mit dem zaͤrtlichſten ſchmach - tendſten Blick, in dem eine Thraͤne ſchwamm, an. Zu Haus machte er ſogleich in ſeiner Freude fol - gendes Gedicht:658

Der Blick der Liebe.
War das nicht ein Blick der Liebe,
Der aus ihrem Auge ſprach?
Sah es nicht bethraͤnt, und truͤbe
Mir mit ſtiller Sehnſucht nach?
Ja, bey Gott! Sie muß es wiſſen,
Daß ich ſo verwundet bin;
Muß, von Mitleid hingeriſſen,
Auch fuͤr mich im Stillen gluͤhn!
O ihr Liebesengel, ruͤhret
Euch das Flehn des Leidenden,
O ſo ſteigt herab, und fuͤhret,
Mich zu meiner Heiligen!
Daß ich ihr zu Fuͤſſen ſinke,
Meine Leiden ihr geſteh,
Und durch Einen ihrer Winke
Mich zu euch erhoben ſeh!

Mit dieſem Gedichte gieng er gleich zu ſeinem Kron - helm, der damit zufrieden war, und ſagte: Die Zeit, die du dir in dieſen Verſen wuͤnſcheſt, kann bald kommen. Sie liebt dich, daran zweifle ich gar nicht mehr; und bey der erſten Schlittenfahrt659 ſollſt du mit ihr fahren, und den Abend drauf beym Ball kannſt du ihr dein Herz entdecken. Sieg - wart war uͤber dieſe Hofnung und das Verſpre - chen ſeines Freundes ganz auſſer ſich. Er gieng nun taͤglich mehr als zwanzigmal zu ſeinem Baro - meter, ob der Merkurius drinn noch nicht falle, und Schnee verkuͤndige? Er blickte immer nach dem Himmel, ob noch kein Gewoͤlk ſich aufziehe? und freute ſich uͤber jedes aufſteigendes Woͤlkchen, das ihm Schnee zu tragen ſchien.

Endlich umzog ſich am Sonnabend der Himmel ganz, und in der Nacht drauf fiel ein tiefer Schnee. Als er am Sonntag Morgens aufwachte, und al - les weiß ſah, da wars ihm ſo wohl, als ob der Fruͤh - ling angebrochen waͤre.

Auf den folgenden Tag ward ſogleich eine Schlit - tenfahrt feſt geſetzt. Kronhelm gieng zu Maria - nen und ihren Eltern, um anzuhalten, ob Siegwart ſie fahren duͤrfe? Denn dieſer war zu furchtſam, um ſelbſt anzuhalten. Mariane, nebſt ihren El - tern, willigten mit Freuden in den Antrag. Sieg - wart, dem ſein Freund dieſe Nachricht brachte, war daruͤber ganz auſſer ſich. Doch klopfte ihm das Herz, je naͤher die Zeit kam, da er Marianen abholen ſollte. Er wuͤnſchte oft den ſo ſehnlich er -660 ſeufzten Augenblick weit weg, und zoͤgerte, als die Stunde kam, mit dem Schlitten vor ihr Haus zu fahren. Endlich muſte er doch hinfahren. Zitternd gieng er die Treppe hinauf in ihr Zimmer; mach - te vor ihr und ihren Eltern eine tiefe Verbeugung, und tauſend Entſchuldigungen, die man aber nicht verſtehen konnte, ſo leiſe und verwirrt ſprach er. Der Hofrath Fiſcher und ſeine Frau waren gegen ihn ſehr hoͤflich, und Mariane that gegen ihn ſehr offenherzig und freundlich. Mit bangem Zittern ergriff er ihre Hand, und fuͤhrte ſie die Treppe hinunter. Jn der freyen Luft ward ihm wieder wohl, und er fuhr zu der uͤbrigen Geſellſchaft. Mariane ſagte ihm im Fahren: Es ſey ihr ſehr angenehm, in ſeiner Geſellſchaft zu ſeyn. Er ſtotterte: Jhm ſeys noch angenehmer, und er habe ſich ſchon lange die - ſes Vergnuͤgen gewuͤnſcht ꝛc. Nachdem die Geſell - ſchaft in der Stadt herum gefahren war, ſo fuhr man auf ein benachbartes Dorf. Siegwart wuſte nichts zu ſprechen; er lobte nur das Wetter, und die angenehme Wintergegend, und freute ſich, daß ein ſo ſchoͤner Schnee gefallen ſey. Es aͤrgerte ihn, daß er ſo den Stummen ſpielen ſollte; er beſann ſich hin und her, was er ſagen wollte? Es fiel ihm nichts ein, und doch war ihm das Herz661 ſo voll. Endlich kam er aufs Konzert zu ſprechen. Er fuͤhlte, daß ſein Geſpraͤch kalt und gleichguͤltig ſey; er wollte was anders anfangen, und unter - hielt ſich doch davon ganz allein mit ihr, bis ſie an das beſtimmte Dorf kamen. Hier blieben ſie nur eine kleine Stunde, und bedienten das Frauen - zimmer mit Kaffee. Die Studenten trunken ein Glas Wein. Dieſes machte, daß Siegwart auf der Ruͤckfahrt etwas minder ſchuͤchtern war. Er fuͤhr - te ſeine Mariane an den Schlitten, und wagte es, ein paarmal ihr die Hand zu druͤcken. Sie ſah ihn an, und laͤchelte mit einer Wehmuth, die ſchnell, wie ein Blitz, in ſeine Seele uͤbergieng, und ihn die Augen niederzuſchlagen zwang. Der Abend war der ſchoͤnſte. Die ganze Gegend war ins weiſſe ſchweigende Gewand des Winters eingehuͤllt, und ſtimmte die Seele zum wehmuͤthigfeyerlichen. Die Sonne gieng, wie das reinſte, durchſichtigſte Gold am Horizont hinab, und breitete am Himmel eine unbeſchreib - liche Heiterkeit aus. Als ſie, am ſchwarzen Wald hinab, tiefer in die Duͤnſte ſank, ward ſie blutroth, und faͤrbte durch ihren Wiederſchein den halben Him - mel mit Violet und Roſenroth. Marianens Ge - ſicht glaͤnzte in dem ſanften Wiederſchein des Him -662 mels. Jhre Miene war voll Heiterkeit, und ihr helles braunes Auge voll ſuͤſſer Wehmuth. Ein paarmal ſah ſie ſich nach Siegwart um, der, in ihrem Anſchaun ganz verſunken, faſt vergaß, ſein Pferd zu lenken. Alles war ihm ſo feyerlich; die ganze Flur umher ſchien ihm ein Tempel. Ein paarmal ſah er gen Himmel, und ſein Blick, und die Thraͤne drinn, ward ein Gebeth um Maria - nens Liebe. Anfangs ſprach er wenig. Nur zu - weilen rief er aus: Was das doch alles ſchoͤn iſt! Sehn Sie dort am Schloß die Fenſter! Wie ſie glaͤnzen, als obs Gold waͤr! Sehn Sie das herr - liche, uͤberherrliche Abendroth! Und die Waldung dort im Golde! Und das Dunkel dort am Berg! Und die Stille! O, der ſchoͤnſte Tag in meinem Leben! Kronhelm, der vor ihm fuhr, und ſich ein paarmal nach ihm umſah, merkte ihm die Freude an, wie ſie ihm aus den Augen blitzte, und in jeglichem Geſichtszuge ſich ausdruͤckte. Er freute ſich im Jnnerſten daruͤber, und ſah ihn mit einem vielbedeutenden Laͤcheln an.

Jn der Stadt fuhr die Geſellſchaft noch einmal die Hauptſtraſſen durch, und dann nach dem Hau - ſe, wo der Ball gehalten wurde. Mariane ließ ſich erſt nach Hauſe fuͤhren, um ſich umzukleiden. 663Siegwart fuͤhrte den Schlitten weg, und eilte auch nach Haus, um ein andres Kleid, und ſeid - ne Struͤmpfe anzulegen. Er war vor Freuden uͤber Marianens Betragen ganz auſſer ſich, huͤpfte hin und her, ſang laut, und ſprach mit ſich ſelber. Als Kronhelm, der ſein Frauenzimmer auch nach Haus gefuͤhrt hatte, kam; ſprang er ihm entgegen, druͤckte ihn feſt an ſich, daß er haͤtte ſchreyen moͤgen, und frohlockte gegen ihn uͤber ſein Gluͤck und uͤber ſeine Mariane. Bruder, Bruder! ſagte er, das iſt ein Engel, wie es keinen gibt! Nun fang ich erſt recht zu leben an. Vorher war es alles nichts! Wenn ſie ſo bleibt, ſo bin ich ganz im Himmel! Meynſt du nicht, ſie ſey mir gut? Ganz unſtreitig, ſagte Kronhelm! O die Liebe laͤſt ſich gar nicht lang verbergen, zumal vor einem Lieben - den. Mach deine Sachen nun klug! Sey nicht allzuſchuͤchtern! Sie muß es merken, was du fuͤr ſie fuͤhlſt! Siegwart machte wieder einige Einwen - dungen: Sie koͤnn es uͤbel nehmen, und ihm boͤſe werden, wenn er ſo gerade zu geh, u. ſ. w. Kron - helm aber fiel ihm in die Rede; Da kennſt du die Maͤdchen ſchlecht, wenn du glaubſt, ſie nehmen ſo etwas uͤbel. Warum ſollten ſies auch thun? Es ſchmeichelt ihnen ja, und muß ſie freuen, wenn664 ein braver Kerl ſie ins Auge faſt. Du nimmſt’s ja auch nicht uͤbel, wenn du einem Maͤdchen wohl - gefaͤllſt, zumal wenns von Liebe von der rechten Art herkommt. Fang nur keine Grillen! Das iſt bey der Liebe, und zumal im Anfang ſo gewoͤhn - lich. Wenn du Marianen, wie ich glaube, wirk - lich wohlgefaͤllſt, ſo kann ihr dein Geſtaͤndniß nicht misfallen. Wart nur den rechten Zeitpunkt ab, und ſprich mit ihr aus dem Herzen!

Siegwart verſprach, zu thun, was er koͤnnte, und gieng nun, Marianen zum Ball abzuholen. Er gieng aufs Wohnzimmer, wo ihre Eltern wa - ren, die ihm beyderſeits ſehr hoͤflich begegneten. Die Mutter that beſonders auſſerordentlich freund - ſchaftlich, und bat ihn, ſie und ihren Mann und ihre Tochter zuweilen am Abend zu beſuchen. Wenn Sie den Herrn von Kronhelm mitbringen, und mein Joſeph (ſo hieß Marianens juͤngſter Bruder, der auch im Zimmer war) zu Haus iſt, ſo koͤn - nen Sie, wenn es Jhnen gefaͤllig iſt, zuweilen ein kleines Privatkonzert machen. Siegwart nahm den Antrag mit Freuden und einer tiefen Ver - beugung an. Der Hofrath Fiſcher ſagte eben die - ſes, und war uͤberhaupt ungewoͤhnlich hoͤflich, er - kundigte ſich ſehr forgfaͤltig nach ſeinem Vater, trug665 ihm ein hoͤfliches Kompliment an ihn auf, und bedaurte, daß er noch nicht Zeit gehabt, ſelbſt an ihn zu ſchreiben. Marianens Bruder, Joſeph, war ſo hoͤflich nicht; er aͤrgerte ſich, daß ſeine Eltern dem Siegwart, ſeines Violinſpielens we - gen, ſo hoͤflich begegneten; Er hielt es fuͤr eine Verachtung ſeiner ſelbſt, und hatte es noch nicht vergeſſen, daß Siegwart einmal im Koncert ihn mit ſeinem Spiel ſo verdunkelt hatte. Daher ſprach er ſehr wenig mit Siegwart, blickte ſtolz auf ihn herab, und ließ allerley ſpoͤttiſche und zweydeutige Reden fallen. Siegwart merkte es, that aber doch ſehr freundſchaftlich gegen ihn, und gab ſich Muͤhe, ihm eine guͤnſtigere Geſinnung gegen ſich einzufloͤſſen. Der Bruder ſagte Ma - rianen, es werde nicht gut ſtehen, wenn ſie wie - der ſo ſpaͤt nach Hauſe komme, wie das letztemal; Man ſpreche von ſolchen Maͤdchen nicht zum Beſten, u. ſ. w. Mariane, die mit ihrem Anzug beſchaͤftigt war, that, als ob ſie ſeine Hofmeiſte - rey nicht hoͤrte.

Als ſie fertig war, gieng ſie mit Siegwart nach dem Ball. Auf dem Weg dahin beſchwerte ſie ſich uͤber ihren Bruder. Es iſt ein fatalerU u666Menſch, ſagte ſie, dem man nichts recht machen kann; er will alles beſſer wiſſen. Sie wiſſen ſich gut in ihn zu ſchicken, und das gefaͤllt mir, u. ſ. w. Siegwart war uͤber ihre Offenherzigkeit ganz be - zaubert, und zog tauſend guͤnſtige Schluͤſſe daraus.

Als ſie auf den Tanzſaal kamen, ward alles auf Marianen aufmerkſam. Sie hatte ein Kleid von roſenrothem Tafft an, und glich in ihrer Hei - terkeit und der friſchen Geſichtsfarbe der Goͤttin der Morgenroͤthe. Kronhelm hatte an der Tafel ſchon einen Platz fuͤr ſie neben ſich belegt. Noch vor dem Eſſen muſte Siegwart eine Menuet mit ihr tanzen. Anfangs zitterte er, und machte faſt alle Schritte falſch. Nach und nach kam er in den Gang, und tanzte recht zierlich. Alle ihre Bewegungen hatten die groͤſte Leichtigkeit und Un - gezwungenheit, und den ſchoͤnſten Anſtand. Sie tanzte nicht aͤngſtlich nach dem Takte, ſondern mit Empfindung und Gefuͤhl, und machte viele Ab - aͤnderungen. Sie ſah unſerm Siegwart immer ins Geſicht, ſo daß er oft die Blicke wegwenden, oder niederſchlagen muſte. Bey Tiſch ward die Geſellſchaft aufgeraͤumt und munter. Man ſprach viel ins Allgemeine. Das Maͤdchen, das Kron - helm bediente, war eine luſtige, etwas vorlaute667 Bruͤnette, die ſehr oft zur Unzeit ihren Spaß anbrachte. Sie wollte immer aller Augen, und die Auſmerkſamkeit der ganzen Geſellſchaft auf ſich ziehen. Endlich ließ ſie ſich doch mit Dahl - mund, der ihr auf der andern Seite ſaß, und nicht gleichguͤltig gegen ſie zu ſeyn ſchien, allein in ein Geſpraͤch ein. Kronhelm unterhielt ſich nun mit Marianen, und mit Siegwart, der im Taumel ſeiner Liebe nicht wuſte, was er anfan - gen, oder reden ſollte? Kronhelm ſah eine Zeit - lang ſtarr und traurig vor ſich hin, holte einen tiefen Seufzer, grif endlich haſtig nach dem Glas, ſtieß an Siegwarts ſeines, und ſagte: There - ſe! O, das trink ich auch mit, ſagte Mariane, und ſtieß mit den beyden an. Kennen Sie ſie auch? ſagte Siegwart. O ja, gab ſie zur Ant - wort: Herr von Kronhelm hat mir viel von ihr erzaͤhlt. Jſts noch immer bey dem Alten? (indem ſie ſich zu Kronhelm wendete). Jmmer noch, erwiederte dieſer, mit einem tiefen Seuſzer. Das iſt traurig, ſagte ſie. Und Sie verdienten doch, ſo gluͤcklich zu ſeyn, und Thereſe gewiß auch. Jhr Schickſal hat mich ſchon manchen Seuſzer gekoſtet. Hier ſchoſſen unſerm Kronhelm die Thraͤnen in die Augen. Sie muͤſſen eine668 herrliche Schweſter haben, ſagte ſie zu Siegwart. Was ich von ihr hoͤrte, hat mich ganz fuͤr ſie eingenommen. Jch wuͤnſchte nichts mehr, als ſie von Perſon zu kennen. Ja, es iſt ein braves Maͤdchen, verſetzte Siegwart, und es waͤr ein Gluͤck fuͤr ſie, mit Jhnen bekannt zu ſeyn. Jch liebe ſie herzlich, und ihr Schickſal geht mir tief zu Herzen, denn es iſt gewiß ſehr traurig. Die Liebe hat ſie ganz ungluͤcklich gemacht. Jch hoff immer noch, es ſoll ein gutes Ende nehmen; ſagte Mariane. Herr von Kronhelm verdient ſie gar zu ſehr, und wuͤrde ſie gewiß gluͤcklich machen. Wenn Sie nur Geduld haben koͤnnen, Herr von Kronhelm! Jch habe Ahndungen Wollte Gott! ſie traͤfen ein! ſagte dieſer ſeufzend, nahm ein Glas, ſah gen Himmel und trank. Wir wollens auch mit trin - ken, ſagte ſie zu Siegwart, und ſah ihn mit einem ſehr bedeutenden Blick an, den ſein Herz verſtand. Er hub ſein feuchtes Auge gen Himmel, und trank. Nun iſt mirs um ein gutes leichter, ſagte Kronhelm.

Es war jetzt abgeſpeiſt, und ein Paar fieng an zu tanzen. Siegwart tanzte auch mit Maria - nen. Er merkte wieder, daß ſie ihm immer in die Augen ſah. Nachher gab er Acht, als ein an -669 drer mit ihr tanzte, ob ſie dieſem auch ſo ſcharf ins Geſicht ſehe? und zu ſeiner groͤſten Freude fand er das Gegentheil. Nachher ward ein Ge - ſellſchaftstanz mit der Promenade und der Chaine gemacht. Siegwart hatte Marianen zur Taͤnze - rinn. So oft er ſie bey der Hand faſte, fand er, zu ſeiner groͤſten Freude, daß ſie ihm die Hand weit ſtaͤrker druͤcke, als die uͤbrigen Maͤdchen; er freute ſich, ſo oft er ihr nahe kam, und bey je - dem ihrer Haͤndedruͤcke durchſchauerte ihn die an - genehmſte, unbeſchreiblichſte Empfindung. Jhr Auge ſah ihn oft auch bedeutend an, und ihre Bli - cke hatten eine Sprache, die mehr ausdruͤckte, als tauſend Worte. Er war immer da, wo ſie war. Sein Auge merkte ſie aus zwanzigen her - aus, und fand ſie, wenn ſie auch am aͤuſſerſten Ende des Saals ſtand. Mit andern Maͤdchen tanz - te er wenig; er ſtand immer da, wo ſeine Ma - riane tanzte. Einmal bemerkte er einen Menſchen, der oft, und immer lang mit ihr tanzte. Er ward daruͤber unruhig, biß ſich auf die Lippen und tanzte. Mit hingeſenktem, truͤbem Blick ſtand er in einer Ecke des Saals; alles war um ihn her verſchwun - den; er ſah und hoͤrte nichts. Mariane kam, oh - ne daß ers merkte, von der Seite auf ihn zu, nahm670 ihn bey der Hand, ſah ihn halblaͤchelnd an, und ſagte: Sie ſind ja ſo traurig und ſo nachdenklich? Wollen Sie nicht mit mir tanzen? Jch kann den Menſchen dort im gruͤnen Kleid gar nicht los werden, und das iſt mir ſo verdruͤßlich. Kommen Sie! Ein Schleifer! (So heiſt der eigentlich ſchwaͤ - biſche Tanz.) Siegwart kuͤßte ihr im feurigen Ent - zuͤcken die Hand, und huͤpfte mit ihr in den Rei - hen. Sie tanzte herrlich ſchwaͤbiſch. Alle Paare wurden muͤd, und hoͤrten auf. Aber das liebe Paar tanzte noch eine halbe Viertelſtunde allein, und die andern ſahen bewundernd, oder neidiſch zu. So iſts eine Freude, ſagte ſie, indem ſie den Tanz ſchloſſen. Sie tanzen ſo raſch und ſo leicht weg, daß man glaubt, man fliege. Er fuͤhr - te ſie an eine Seitenbank, und ſtand vor ihr. Sie ſind doch warm geworden, ſagte ſie, und kuͤhl - te ihm mit dem Faͤcher das Geſicht. Er nahm den Faͤcher, und kuͤhlte damit ſie und ſich. Sie ſah nach ihm auf, wie eine Heilige zum Himmel. Er nahm ihre Hand, und wendete das Geſicht weg, denn ſein Auge glaͤnzte. Sie druͤckte ihm die Hand; er kuͤſte ſie. Reden konnt er nicht, ob er gleich ſich hin und her beſann, was er ſagen wolle. Das iſt ein herrlicher Tag! fieng er end -671 lich an. Sind Sie auch vergnuͤgt? Wie ſollt ich nicht? war ihre Antwort, und ihr Auge ſagte noch mehr. Setzen Sie ſich doch! fuhr ſie fort; Sie werden muͤde ſeyn. Er ſetzte ſich, ob er gleich lie - ber ſo vor ihr geſtanden waͤre. Jch habe lange ſchon gewuͤnſcht fieng er an, und faſte ſie bey der Hand. Jndem kam ein Student, und zog ſie zum Tanz auf. Er blieb unbeweglich ſitzen, und ließ ſie von ſich. Mit ſchmachtendem, und halb - aufgeſchlagenem Auge ſah er das herrliche Maͤdchen vor ſich herumtanzen. Sein Auge folgte ihr, wohin ſie ſich wendete. Kronhelm kam, und ſetz - te ſich neben ihn. Wie iſt dir, Bruder? Du biſt doch vergnuͤgt? Siehſt ſo ſchmachtend aus, als ob du ſterben wollteſt. Nicht wahr? Mariane iſt dir hold? Jch weis nicht, antwortete Siegwart; Sie hat nichts geſagt. Ey, das glaub ich, ant - wortete Kronhelm; ſeit wann fangen denn die Maͤd - chen an, Liebeserklaͤrungen zu machen? Haſt du denn ihr Auge nicht geſehen, wie es ſpricht? Trink Wein, Bruder! Ein Glaͤschen kann nicht ſchaden, wenn du ſelber keinen Muth haſt. Du muſt heute weiter kommen! Ach, ich kann nicht! ſagte Siegwart. Ey, was, Poſſen? fiel ihm Kron - helm ein, nahm ihn bey der Hand, und fuͤhrte672 ihn zum Tiſch hin. Marianens Wohlſeyn! ſagte er, indem er zwey Glaͤſer eingeſchenkt hatte; und Thereſens! Was mag nur der Engel machen? Wenn ſie mich nur nicht vergißt! Nein, gewiß nicht, Bruder! ſagte Siegwart. Waͤre Mariane ſo gewiß mein, als ſie dein iſt, ich wuͤnſchte wei - ter nichts mehr! Nun, auf gute Hofnung! und hier fuͤllte er die Glaͤſer wieder. Schwager, ſag - te Kronhelm, wenn ſie mein wird, ſo ſoll Maria - ne dein ſeyn! Eher kann ich nicht ruhen. Wart! Jetzt will ich mit ihr tanzen. Sie iſt eben frey. Werd mir nur nicht eiferſuͤchtig! Siegwart ſah ihm nach, und trank noch ein Glas. Dahlmund kam, und fragte ihn, ob er nicht mit ihm und Kronhelm eine Menuet a ſix machen wolle? Sieg - wart nahm das erſte beſte Maͤdchen, und ſprang hin. Mariane druͤckte ihm allemal die Hand, wenn er ſie hinauf fuͤhrte. Er druͤckte die ihrige wieder, und ſah in ſeinem Sinn ſo ſtolz umher, als ob ihm die ganze Welt gehoͤrte. Sie machten eben dieſen Tanz auch deutſch, und giengen dann an den Tiſch. Darf ich wuͤrklich zuweilen in Jhr Haus kommen? fragte Siegwart Marianen. O Sie muͤſſen kommen! antwortete dieſe. Halten Sie ja bald Wort! Jch haͤtt es lange ſchon gewuͤnſcht;673 aber es wollte ſich nicht ſchicken. Kommen Sie doch ja bold! Lieber Engel! ſagte Siegwart gantz auſſer ſich, und kuͤßte ihr die Hand. Jch habe noch den Geßner von Jhnen, ſagte ſie, nach einiger Zeit; in drey oder vier Tagen ſollen Sie ihn haben. Jch habe viel herrliches drinn gefun - den. Beſonders hat mir ſein Daphnis wohl gefal - len. Unſchuld und Liebe, wenn man die ſo wahr geſchildert ſieht, da geht einem das Herz auf. Es iſt einem ſo wohl, daß man gleich ein Schaͤſerwer - den moͤchte. Jch habe ſolche Gemaͤhlde gern, wenn ſie gleich mehr ſchoͤne Traͤume, als Wuͤrklichkeiten darſtellen. Man ſieht doch, was die Menſchen ſeyn koͤnnten, und fuͤhlt ſich dabey. Jch wuͤrde gern recht viel ſolche Buͤcher leſen, aber ich behalte ſie immer ſo lang zuruͤck, denn mein Bruder faͤngt ſogleich an zu ſchmaͤlen, wenn ich etwas leſe, und da thu ichs nur, wenn er nicht zu Haus iſt. Wenn Sie wieder einmal ein Buch eine Zeitlang entbeh - ren koͤnnen, ſo wollt ich Sie wohl darum bitten. Siegwart war uͤber dieſe Bitte ſehr erfreut: und verſprach, ihr alle Buͤcher zu geben, die er von der Art haͤtte. Dann fragte ſie mit vielem Antheil nach Thereſen, und war bey ſeinen Erzaͤhlungen von ihr ſehr aufmerkſam. Das waͤr ein Frauen -674 zimmer fuͤr mein Herz, ſagte ſie, hier kann ich keine ſolche Freundin finden. Meine Vertrauteſte iſt jetzt aufs Land verheirathet, und da leb ich ſo in der Einſamkeit; und das iſt mir manchesmal ſehr traurig. Wenn ich nicht noch meine Mutter haͤtte, ſo waͤr ich hier ſehr ungern, aber ſie erſetzt mir alle Beduͤrfniſſe.

Nachdem die Frauenzimmer mit Kaffee und fremdem Wein bedient waren, wurde noch einmal deutſch getanzt. Endlich ſagte Mariane, nun muß ich doch wol nach Haus, mein Bruder macht ſonſt morgen groſſen Laͤrm. Es ſchien unſerm Sieg - wart noch viel zu fruͤh zu ſeyn, aber er wagte es doch nicht, ſie laͤnger aufzuhalten. Wie doch die Zeit ſo ſchnell verfliegt! ſagte er. Mir iſts, als ob wir erſt eine Stunde da waͤren. Mir iſts auch ſo, ſagte ſie, und druͤckte ihm ſanft die Hand. Jch bin noch nie ſo vergnuͤgt geweſen, wie heute. Moͤcht ich doch auch etwas dazu bey - getragen haben! ſagte er ſchmachtend. Vieles, vieles! ſagte ſie mit tiefem Ausdruck. Er ward wie von einer unſichtbaren Gewalt hingeriſſen, und kuͤßte ſie auf den Mund. Sie hielt willig ſtill. Jn dem Augenblick fuͤhlte er ſich uͤber alles erhaben. Welt und alles ſchwand vor ſeinen Blicken. Der675 fatale Menſch, der ſchon mehrmals mit ihr ge - tanzt hatte, wollte ſie wieder aufziehen. Jch tanze mit Herrn Siegwart, ſagte ſie, ſah ihn zaͤrtlich an, und druͤckte ihm die Hand. Er ſtuͤrmte mit ihr in den Reihen hinein, flog mit ihr herum, als ob ihn Wolken truͤgen. Alle andre hoͤrten auf, und ſahn unſerm Paar verwundernd zu. Hier und da ward ein Gelipſel: Da wird wohl ein Lie - beshandel draus werden; die ſind immer bey ein - ander, u. ſ. w. Endlich tanzte man den Kehraus, den Mariane und Siegwart anfuͤhrten, und die Geſellſchaft gieng groͤſtentheils auseinander.

Auf dem Heimweg kuͤſte Siegwart ſeine Maria - ne noch ein paarmal. Sie war auſſerordentlich vergnuͤgt uͤber dieſen Abend, dankte ihm fuͤr das viele Vergnuͤgen, das er ihr gemacht haͤtte; freute ſich, mit ihm genauer bekannt worden zu ſeyn, und bat ihn, ſie nur recht bald zu beſuchen. Er wuſte vor Entzuͤcken nicht, was er reden ſollte? Alle Worte fehlten ihm. Er druͤckte ihr nur die Hand, und gab ihr noch einmal einen heiligen Kuß zum Abſchied.

Als er aus ihrer Straſſe kam, huͤpfte und ſprang er mehr, als daß er gieng. Zu Haus blieb er noch eine halbe Stunde auf; Kronhelm war ſchon zu676 Bette gegangen. Alle Begebenheiten des vorigen Tags und des ſchoͤnſten Abends ſchwebten in glaͤn - zendem Gemiſch vor ihm herum. Wenn er ſich einen Umſtand beſonders denken wollte, ſo fielen ihm zwanzig andre ein. Es war ihm, als ob er ein buntes Tulpenbeet vor ſich ſaͤhe, deren jede ſchoͤn iſt, aber er konnte keine einzeln betrachten. Sein Geiſt irrte, wie ein Schmetterling von einer Blume zu der andern. Zuletzt ward ihms vor den Augen daͤmmerig. Er ſah nur noch Far - ben vor ſich. Alle floſſen in einander. Ma - riane war der Hauptgedanke, den er ſich unter tau - ſenderley Geſtalten dachte. Er wiederholte alle Geſpraͤche, die er mit ihr gefuͤhrt hatte, und aͤr - gerte ſich, daß er ſo wenig geſprochen hatte. Jetzt, dachte er, jetzt ſollte ſie da ſeyn! Jetzt wollt ich ihr alles ſagen, ihr mein ganzes Herz ausſchuͤtten, u. ſ. w.

Jm Bette konnte er nicht ſchlafen. Der Tanz, den er mit ihr zuerſt getanzt hatte, ſchallte ihm immer in den Ohren. Wenn er die Augen zumach - te, ſo war ihms, als ob er mit ihr im Kreis herum - floͤge, vor ihr ſtuͤnde, ihr ins Auge blickte, und ſie bey der Hand faßte. Aus dem leiſeſten Schlum - mer fuhr er wieder auf, denn es dauchte ihm, ein677 Geltſpel, wie Marianens Stimme, fluͤſtr ihm in die Ohren. Er hielt ganze lange Geſpraͤche mit ihr, ſtreckte ſeine Haͤnde nach ihr aus, wachte auf, und ſah ſich getaͤuſcht. Morgens um acht Uhr ſtand er, faſt muͤder, wieder auf, als er ſich niederge - legt hatte, und gieng auf Kronhelms Zimmer. Dieſer lachte ihm ſogleich entgegen, und wuͤnſchte ihm zu Marianens Liebe Gluͤck. Dann nun, ſagte er, wirſt du doch nicht mehr unglaͤubig ſeyn? Sie hat ſich zu viel verrathen. Siegwart ſagte ihm, er muͤſte mehr beobachtet haben, als er ſelbſt. Das hab ich auch, verſetzte Kronhelm. Jch bin in dieſer Schule laͤnger ſchon erfahren, und ein Dritter Unpartheyiſcher ſieht immer mehr. Aber, Bruder, du ſchieneſt mir ſo kalt zu ſeyn. Kalt? rief Siegwart voll Verwunderung aus. So muß die Sonne auch kalt ſeyn! Jch weis gar nicht, wie du ſo reden kannſt? Freylich, da haſt du Recht, reden konnt ich wenig; oder, wenns was war, ſo bracht ich dummes Zeug vor. Da hab ich mich ſchon gnug druͤber geaͤrgert. Jch weis nicht, wenn ich ſo allein bin, da haͤtt ich ihr tauſend Dinge zu ſagen; und kaum ſteh ich vor ihr, da iſts, als ob mir aller Sinn genommen waͤre. Geſtern auf dem Schlitten haͤtt ich nun nichts reden koͤn -678 nen, wenn ich mich Stunden lang beſonnen haͤtte. Sie wird mich wol fuͤr einen dummen Einfaltspin - ſel halten. Das gewiß nicht, Bruder! ſagte Kron - helm. Die Liebe hat ihre eigne Sprache; das Auge hat da mehr zu thun, als die Zunge. Und Mariane hat dich ganz gewiß verſtanden. Man haͤlt alles, was man ſpricht, fuͤr dummes Zeug, weil man fuͤhlt, daß man das noch lang nicht aus - druͤckt, was das Herz fuͤhlt. Man will lauter Empfindungen und Goͤtterſpruͤche ſprechen, und da iſt unſre Sprache viel zu arm dazu. Jedes Wort ſoll ſo voll und warm ſeyn, wie das Herz iſt, und das iſt unmoͤglich. Weil man nun doch ſprechen will, da kommt man auf allerley entfernte und gleichguͤltige Dinge, die nichts ſagen. Die Empfindung iſt einſylbig, oder ſtumm. Jch habe das bey Thereſen oft gefuͤhlt. Waren wir allein, ſo ſchwieg ich ganz; und wenn andre da waren, ſo macht ich Spaß; das iſt noch das Beſte. Mariane hat dich gewiß gefuͤhlt. Waͤrſt du wort - reich geweſen, ſo waͤrs mit deiner Liebe nichts. Redſeligkeit iſt Larve der Liebe, nicht die Liebe ſelbſt. Bruder, ſieh! wie die Sonne ſo hell aufgeht! Jch denke, wir gehen ſpatzieren. Mit deinen theo - logiſchen Kollegien hats nun doch wohl in En -679 de? Erinnre mich daran nicht! ſagte Sieg - wart. Aber, zieh dich nur an! Wir wollen ſpatzieren gehen.

Sie giengen mit einander aus. Als ſie an die Straſſe kamen, wo man nach Marianens Haus hinauf geht, da ſtellte ſich Kronhelm an, als ob er in ei - ne Seitenſtraſſe gehen wollte. Siegwart ſah ihn halb bittend an. Er laͤchelte, und gieng mit ihm bey Marianens Haus vorbey. Sie ſah erſt auf der Einen, und dann auf der andern Seite des Hauſes aus dem Fenſter, und gruͤſte unſre beyden Juͤnglinge ſehr freundlich. Siegwart ward auf Einmal wehmuͤthig. Wir wollen vor das Thor gehen, ſagte er, wo wir geſtern gefahren ſind. Hier erinnert er ſich an jede Rede, an jede Empfindung wieder, die er geſtern hier gehabt hatte. Kronhelm ſprach viel von Thereſen, und ſagte, daß er geſtern wieder beſonders lebhaſt an ſie gedacht habe. Er fuͤhle es mit jedem Tage mehr, daß er ohne ſie nicht leben koͤnne. Es ſey ihm unertraͤglich, daß er an ſie nicht ſchreiben duͤrfe, und nicht das ge - ringſte von ihr erfahre. Naͤchſtens wollt er wie - der an ſie ſchreiben, es moͤge daraus kommen, was wolle! u. ſ. w. Siegwart ſuchte ihn mit der Vorſtellung zu beruhigen, daß Thereſe ihm gewiß680 treu bleibe, ſie moͤge ſchreiben oder nicht. Es koͤnne nur einen neuen Laͤrm bey ſeinem Vater ab - geben, wenn er den Briefwechſel wieder anfange, u. ſ. w.

Nun kamen ſie auf die Wuͤrkungen der Liebe in dem Herzen eines Verliebten zu ſprechen. Sieg - wart ſagte: Jch bin, ſeit ich liebe, ein ganz an - drer Menſch. Jch glaubte vorher, gut zu ſeyn, aber die Liebe hat mich noch weit beſſer gemacht. Jch bin froͤmmer, andaͤchtiger, mitleidiger, und duldſamer geworden. Jch bin auf fremdes Elend aufmerkſamer, und fuͤhl es tiefer. Wenn ich ein blaſſes Geſicht, und ein truͤbes Auge ſehe, ſo ver - muth ich fogleich ungluͤckliche oder hoffnungsloſe Liebe, und nehme an dem Schickſal dieſer Perſon Antheil. Jch wuͤrde alles thun, um ihr eine Ge - faͤlligkeit zu erweiſen, die ihr Elend lindern, oder heben koͤnnte. Jeder Liebender, und Leidender wird auch mein Bruder. Jch theilte gern mit jedem Armen mein Vermoͤgen. Die Gluͤckſeligkeit aller Menſchen liegt mir nah am Herzen. Jch waͤre faͤhig, alles fuͤr andre zu thun. Jede Pflicht, und jede Tugend wird mir leichter. *)Wenn ich bete, ſo wird mein Herz weiter, wie gewoͤhnlich. Es hebt ſich leichter, undSo glaub ich681 auch, ſagte Kronhelm, und eben deswegen iſt es ungerecht und thoͤricht, auf die Liebe loszuziehen, wie viel hochgelahrte, ſich weiſe duͤnkende Leute thun. Es iſt Undank gegen Gott, einen Trieb, den er mit dem Leben uns ins Herz pflanzt, zu verdammen, und den Aufruf zu mancher hohen Tugend fuͤr Stimme der Sinnlichkeit, oder gar des Satans auszugeben. Daß die Liebe oft gemis - braucht, oder misverſtanden wird, ſoll doch wol nichts gegen ſie beweiſen? Denn ſonſt waͤre die Religion auch ein Uebel, die, wenn ſie misverſtan - den und gemisbraucht wird, oft groͤſſere Verwuͤ - ſtungen anrichtet, als misverſtandne Liebe. An - ſtatt daß man die Liebe mit Gewalt und ſtolzer Verachtung zu unterdruͤcken, und aus dem Herzen der Jugend zu verdraͤngen ſucht, ſollte man ſich nur beſtreben, ſie durch Vernunftgruͤnde zu leiten, und auf den rechten Gegenſtand zu lenken. Dieß*)naht ſich Gott mit groͤßrer Zuverſicht; nie bin ich andaͤchtiger geweſen: als wenn ich Ma - rianen in der Kirche beten ſah, oder gleich darauf zu Hauſe betete. Wenn ich erſt an ſie denke, dann wird mein Herz weich, und fuͤhlt ſich zur Andacht vorbereitet. Liebe iſt gewiß die Mutter der Menſchlichkeit, und groſſer Tugenden.X x682wuͤrde viele Leute beſſer machen, als ſie bey ihrer angenommenen, oder erzwungenen Kaͤlte ſind. Wer nicht lieben will, und veraͤchtlich von der Lie - be denkt, der ſchaͤmt ſich auch ein Menſch zu ſeyn; und wer ſie ſchlechterdings verdammt, der begeht einen Hochverrath gegen die Menſchheit, denn er will die Quelle der Empfindung und ſo vieler Tu - genden ableiten, oder austrocknen, und dafuͤr eine duͤrre Sandwuͤſte anlegen!

Um 11 Uhr kamen ſie wieder zu Haus an, und ſpielten miteinander auf der Violine. Den Nach - mittag ritten ſie mit Dahlmund ſpatzieren, der auch ſehr vergnuͤgt war, weil er ſeine Bruͤnette ziemlich kirr gemacht hatte. Er erzaͤhlte ihnen: Gutſrieds Va - ter ſey geſtorben. Als er nach Haus gekommen war, kuͤndigte er ſeiner Beyſchlaͤferin ſogleich an, ſie koͤn - ne ſich innerhalb zwey Tagen aus dem Hauſe packen. Das Menſch gab ihm ſpitzige Reden, begegnete ihm grob, und machte groſſe Forderungen an ihn. Er erzuͤrnte ſich daruͤber, und legte ſich den Abend drauf krank zu Bette. Er bekam eine hitzige Krank - heit, deren Samen er vermuthlich von ſeinem Sohn eingeſogen hatte, als er ihm den letzten Hauch von den Lippen kuͤſte. Vier Tage drauf ſtarb er, nachdem ihm die Metze drey Tage vor -683 her eine anſehnliche Summe Gelds, und ſeine be - ſten Koſtbarkeiten mitgenommen hatte. So gehts mit den Huren, ſagte Kronhelm.

Kronhelm und Siegwart legten ſich Abends bald zu Bette, weil ſie die vorige Nacht wenig, oder nichts geſchlafen hatten. Den folgenden Abend ſprach Mariane im Konzert viel mit Siegwart, und beſtaͤrkte ihn, durch ihr gefaͤlliges Betragen, immer mehr in der Hofnung, daß ſie ihn liebe. Er ſchwamm jetzt immer in einem Meer von Won - ne; nur zuweilen unterbrach ihn ein Anfall von Wehmuth in ſeiner Freude. Es ſtiegen ihm oft wieder Zweifel auf, ob ſie ihn auch wirklich liebe? Vor einiger Zeit waͤre ein Blick, wie ſie ihm jetzt viele gab, ſein groͤſter Wunſch, und der hoͤchſte Grad von Gluͤckſeligkeit fuͤr ihn geweſen; aber jetzt verlangte ſein Herz ſchon mehr; er wollte nun thaͤtige und muͤndliche Verſicherungen von ihrer Liebe haben. Sie weis vielleicht noch nicht, dach - te er, wie ſehr ich ſie liebe. Wie leicht koͤnnte ein andrer kommen, der mehr Kuͤhnheit, und viel - leicht auch groͤſſere Anſpruͤche hat, als ich, und den kleinen Funken von Liebe ausloͤſchen, der vielleicht fuͤr mich in ihrem Herzen glimmt. Bey ihren Vorzuͤgen kann es ihr nicht lang an Freyern feh -684 len. Jch habe nichts, keinen Stand, kein Ver - moͤgen, kein Amt, wenig aͤuſſerlich empfehlendes; warum ſollte ſie mich andern vorziehen? oder mich nicht alſobald vergeſſen, wenn ein, dem aͤuſſerlichen Scheine nach, beſſerer und vorzuͤglicherer Mann kommt, u. ſ. w.

So quaͤlte er ſich oft ganze Stunden lang, und thuͤrmte Berge von Zweifeln gegen ſeine eigne Ruhe auf. Aber wenn er Marianen wieder ſah, und ſie ihm mit dem Blick der Liebe begegnete, dann verſchwanden dieſe Zweifel wieder, wie Ne - belwolken vor der Sonne. Etliche Tage nach dem Konzert ſchickte ſie an Kronhelm den Geßner wieder, und ließ ihn, oder Siegwart um ein an - deres Buch bitten. Sigwart ſchickte ihr den Kleiſt, und ſprang mit dem Geßner auf ſein Zimmer, wo er ihn hundertmal an den Mund druͤckte und kuͤßte. Das Buch war ihm nun ganz heilig ge - worden. Er blaͤtterte es durch, und verweilte ſich bey jedem Blatt. Jegliches ſchien ihm zu glaͤnzen, weil ihr Auge drauf geruht hatte. Wie groß war ſeine Freude, als er ein klein Stuͤckchen blauer Seide drinn liegen fand, von der Farbe, wie ſie zuweilen ein Kleid trug. Dieſes Stuͤckchen war ihm mehr werth, als dem Aberglaͤubigen das685 Stuͤckchen vom Gewand eines Heiligen. Nachdem ers lange gnug betrachtet hatte, ſchloß ers ſorgfaͤl - tig in ſeinen Schreibpult; holte es aber alle Au - genblicke wieder heraus, um es von neuem wieder anzuſehen. Als er noch weiter blaͤtterte, fand er auch ein Schnippelchen Papier, auf welchem Marianens Name ſtand. Er ſprang hoch auf, hub es in die Hoͤhe, druͤckte es hundertmal an ſeinen Mund, und an ſein Herz, und betrachtete jeden Zug unzaͤhligemal.

Endlich entdeckte er auch ſeinem Kronhelm ei - nen Entwurf, den er ſchon lang bey ſich ſelbſt ge - macht hatte, ob ſie naͤmlich nicht Gutfrieds Zim - mer beziehen wollten? Er hatte ſchon Erfahrung eingezogen, daß in dem Hauſe noch ein andres Zim - mer ledig ſey, worauf alſo Kronhelm wohnen koͤn - ne. Es thut mir zwar leid, unſre Hausleute zu verlaſſen, ſagte er, weil es ehrliche und brave Leu - te ſind; aber ich will ihnen gern noch ein halb Jahr Hausmiethe bezahlen, um nur bald meiner Mariane naͤher zu kommen. Kronhelm, der ſei - nem Freund alles zu Gefallen that, willigte ſehr gern in dieſen Vorſchlag, und nach wenig Tagen bezogen ſie das Zimmer. Nun ſah Siegwart ſein geliebtes Maͤdchen taͤglich, und faſt ſtuͤndlich. Er686 hatte ſeinen Schreibepult am Fenſter ſtehen, und merk - te jede Bewegung, die auf Marianens Zimmer vorgieng; ſie ſtund auch ſehr oft am Fenſter, und ſetzte ſich, wenn ſie allein zu Hauſe war, ſo, daß er ſie, und ſie ihn ſehen konnte. Er ſah ſie ſtricken, naͤhen, Stickereyen machen, und alle haͤusliche Ge - ſchaͤfte verrichten. Oft ſtanden ihm Freudenthraͤ - nen in den Augen, wenn er das liebe Maͤdchen, ſo mit ſich vergnuͤgt, der Welt unbekannt, ſich in der Stille, in jeder Pflicht, in jeder Tugend uͤben ſah. Mit Thraͤnen blickte er zum Himmel. Gott! dachte er, welch ein Gluͤck iſt dem bereitet, dem du eine ſolche Gattin gibſt, die, mit jeder Anmuth ge - ziert, noch mehr fuͤr die Schoͤnheit ihrer Seele ſorgt, und ſich taͤglich innerlich vollkommener zu machen ſucht! Statt Eroberungen zu machen, und von hunderten begafft, und angeſtaunt, und bewun - dert zu werden, ſtatt ihre Eitelkeit zu naͤhren, ſitzt das fromme Maͤdchen da, von ihrem Engel, und von dem nur geſehen, der ſie ſo heiß und heilig liebt, und bildet ſich zu einer treuen Gattin, zu einer weiſen Hausfrau, und zu einer frommen Mutter. Gott! wenn ich es werth bin, ſo erbarm dich mein, und ſchenk mir dieſen Engel, daß ich in ihrer Gegenwart taͤglich beſſer, taͤglich heiliger, dir taͤg -687 lich angenehmer und meinem Nebenmenſchen nuͤtz - licher werde! Gott, du kannſt mich nicht verdam - men, wenn ich in der Welt bleibe; dieſe Welt iſt ja dein Tempel, und ich will dir dienen drinn mit dieſem Engel. So ward die Empfindung uͤber ihr Anſchauen oft bey ihm Gebeth. Einmal ſah er ſie ſpinnen. Dieſer Anblick ruͤhrte ihn unge - mein. Er erinnerte ſich aus ſeinem Homer, den er mit P. Philipp geleſen hatte, an die Toͤchter der Koͤnige, wie ſie ſpannen und Gewebe webten, und ſich nicht der gemeinſten Weberarbeit ſchaͤmten; er erinnerte ſich der Toͤchter der Patriarchen, die ſich auch zur laͤndlichen Arbeit nicht zu vornehm daͤuch - ten. Ein andermal ſah er ſie im Kleiſt leſen, und geruͤhrt zum Himmel blicken. Wie beneidenswuͤr - dig war ihm da das Loos des Dichters, der das fromme Herz eines Maͤdchens zur Bewunderung und zum Dank hinreiſt; ihre Seele zu zaͤrtlichen Geſinnungen erweicht, Thraͤnen in das ſchoͤnſte Au - ge lockt, und nach ſeinem Tode noch fuͤr ſeine from - men Lieder geſegnet wird. Des Abends hoͤrte er ſie oft noch am Klaviere ſingen, ward bald zu hoher Andacht mit ihr aufgehoben, und betete mit einer Jnnbrunſt, die er ſonſt nie erreicht hatte; bald ward er zu Seufzern und zu Thraͤnen herabge -688 ſtimmt, und zerſchmolz in ſuͤſſer Wehmuth. Kurz ſeine neue Wohnung machte ihm jeden Tag zu ei - nem Feſttag; alles um ihn her war feyerlich, denn alles erinnerte ihn an Marianen. Jm Konzert ſpielte er oft; fand ſie immer freundlich, und erhielt manchen liebenden und zaͤrtlichen Blick von ihr. Mit ihrem Bruder ſuchte er, ſo viel als moͤglich, Freundſchaft zu erhalten, und bat ihn zuweilen zu ſich. Der Menſch that aͤuſſerlich freundſchaftlich, aber die geheime Tuͤcke, die er auf Siegwart hatte, ließ ſich doch nicht ganz verbergen. Endlich wagte er es auch einmal, Marianen und ihre Eltern mit ſeinem Kronhelm zu beſuchen. Er ward aufs freundſchaftlichſte empfangen; man that ihm viele Ehre an, und Mariane ſah ſo heiter aus uͤber ſeine Ankunſt, wie der junge Tag, wenn die Sonne eben aufgeht. Siegwart und Kronhelm lieſſen ihre Violinen holen, und machten ein Konzert, bey wel - chem Mariane Klavier ſpielte, und himmliſch ſang. Beym Weggehen bat ſie unſern Siegwart, kuͤnftig nachbarlicher zu handeln, und ſie oͤfter zu beſuchen. Er kuͤßte ihr die Hand, und ſie druͤckte ihm die ſei - nige.

So wahrſcheinlich, und beynahe zuverſichtlich Siegwart nun hoffen durfte, daß ihn ſeine Maria -689 ne liebe, ſo ward ihm doch die ewige Entfernung, und die, doch immer nur halbe Gewißheit, taͤglich unertraͤglicher. Er ſchmachtete darnach, ſie einmal allein zu ſprechen, ihr Herz noch genauer auszufor - ſchen, und ihr das ſeinige mehr zu entdecken. Die groͤſſere Freymuͤthigkeit, die ſie jetzt gegen ihn, und er zum Theil auch gegen ſie beobachtete, erregte die - ſen Wunſch in ihm noch mehr. Nun, dachte er, wuͤrde er ihr alles ſagen, was ihm auf dem Herzen liege. Daher ſann er Tag und Nacht auf Gelegen - heit, ſie allein zu ſprechen. Seine Einbildungs - kraft kam ihm zu Huͤlfe. Er ſtellte ſich ſchon in Gedanken den kuͤnftigen Fruͤhling vor, wie er ſie auf einem Spatzierwege allein antreffe, ſich anbiete, ſie zu begleiten, ihr die Hand reiche, und im Schat - ten eines Waͤldchens ihr ſein ganzes Herz auf - ſchlieſſe. Er hielt in Gedanken lange zaͤrtliche Geſpraͤche, fuͤhrte ſie und ſich redend ein, ſank ihr endlich in den Arm, und empfieng mit dem erſten heiligen Kuß die Verſiegelung einer ewigen Liebe. Aber dieß waren alles nur Traͤume, und wenn ſie verflogen waren, ſehnte ſich ſein Herz deſto mehr nach der Wirklichkeit. Oft wollte er ſie beſuchen, wenn ſie allein zu Hauſe war, aber er fuͤrchtete, der Bruder moͤchte kommen, oder ſie moͤcht es690 uͤbel nehmen. Er ſah vorher, daß | er doch nicht wuͤrde reden koͤnnen, wenn die Sache ſo vorberei - tet waͤre, und dann wollte er auch allen Schein ei - ner heimlichen Zuſammenkunft vermeiden, woge - gen ſein zartes Gefuͤhl ſtritt. Oft dachte er, er woll ihr ſchreiben, aber wie ſollte er ihr den Brief beybringen?

Kurz, alle ſeine Entwuͤrfe zerfielen wieder von ſelbſt, bis ihm endlich ein Ungefaͤhr das Beſte in der Liebe ſeinen heiſſen Wunſch erfuͤllte. Wider alles Vermuthen, ſelbſt wider ſeine Hoff - nung und ein Liebender hofft doch gewiß nicht wenig fiel, noch kurz vor Oſtern, ein ſehr tie - fer Schnee, und zween Tage drauf ward eine Schlittenfahrt angeſtellt, bey welcher Siegwart Marianen fuhr.

Nun ſprach er ſchon mehr, und that minder ſchuͤchtern. Er und Mariane theilten ihre Freude mit einander uͤber die unvermuthete Gelegenheit, ei - nen Abend mit einander zuzubringen. Sie geſtand ihm frey, es haͤtt ihr nichts angenehmers begegnen koͤnnen, und ſah ihm dabey mit einem unausſprech - lichzaͤrtlichen Laͤcheln ins Geſicht. Er beugte ſich auf dem Schlitten vorwaͤrts, um ihr einen Kuß zu geben, und ſie hielt willig ſtill. Es iſt ſehr ſchoͤn,691 ſagte ſie, daß ſie nun auf Gutfrieds Zimmer woh - nen, ſo kann ich ſie doch oft Violine oder Floͤte ſpie - len hoͤren. Und ich Sie oft ſehen und oft hoͤ - ren, fiel ihr Siegwart ein. Dieſe Wohnung iſt mir mehr werth, als wenn man mir das ganze Schloß ſchenkte. Sie ſind gar zu guͤtig! ſagte ſie. Gar zu eigennuͤtzig, ſollten Sie ſagen, ver - ſetzte Siegwart. Sie ſprachen auf dem ganzen Weg hin nach dem Dorfe, und zwar ſo, als ob ſie mit einander voͤllig ausgemacht haͤtten, daß ſie ſich liebten; ſie nahmen es ſtillſchweigend fuͤr be - kannt an, und ſprachen vertrauter, als ſie ſelbſt zu wiſſen ſchienen. Auf dem Dorfe ließ er ihre Hand faſt niemals los, ſchenkte ihr Chokolade ein, und trank, weil Mangel dran war, mit ihr aus einer Schaale. Kron - helm ſelbſt muſte ſich uͤber die Herzhaftigkeit ſeines Freundes, und uͤber ihre Offenherzigkeit wundern, da ſie ſonſt etwas zuruͤckhaltend, und dem Scheine nach ſtolz war. So eine maͤchtige Veraͤnderung in ihrem beyderſeitigen Karakter hatte die Liebe, die ſtumme Augenſprache, und der Zwang, ſich einander nicht ent - decken zu duͤrfen, hervorgebracht. Auf dem Ruͤck - wege ſagte Siegwart: dieſer Abend iſt noch ſchoͤner, als der letztere; Sie ſind noch guͤtiger und freundli - cher. Sie ſind auch noch ungezwungener und692 munterer, ſagte ſie, und das lieb ich. Solche Tage muß man ganz der Freude weihen, denn ſie kom - men ſelten. Siegwart ließ ſich nun von ihr feyer - lich verſprechen, daß ſie auf den Abend laͤnger beym Ball bleiben wolle, und ſie that es gerne. So fuh - ren ſie im rothen Duft des Winterabends nach der Stadt. Vor ihnen ſtieg der Rauch von den Schorn - ſteinen ſaͤulengerad in die Hoͤhe, und ward von der, hinten untergehenden Sonne verguͤldet und geroͤthet. Das Geſicht der Liebenden war heitrer als der Abend. Sie ſahn zur Seite ſchon den Abendſtern blinken, zeigten ihn einander, und ſahn ihn mit heitern Blicken an: dann blickten ſie ein - ander wieder ins Geſicht, und laͤchelten mit na - menloſem Ausdruck. Das iſt der Stern der Liebe, ſagte Siegwart. Ein herrliches Geſtirn, ſagte Ma - riane, ſah ihren Juͤngling ſchmachtend an, und er kuͤßte ſie. Schade, daß nicht auch Thereſe bey uns iſt! ſagte ſie. Jch lieb ihre Schweſter ſehr, und wuͤnſchte ſie ſo gern gluͤcklich! Sie wirds werden, verſetzte Siegwart. Kronhelm meynt es ehrlich, und ſie liebt ihn treu. Das gute Maͤdchen muß noch gluͤcklich werden; ſie hat gar zu viel ge - litten. Wird man immer gluͤcklich, wenn man693 leidet? fragte Mariane, und ward wehmuͤthig. Siegwart ſchwieg, und ſah gen Himmel.

Sie kamen nun in der Stadt an. Beym Um - kleiden theilte Siegwart ſeine Freude mit Kronhelm auf die heftigſte Art. Jch bin alles, alles! Ewig! Unſterblich! Alles! ſagte er. Freu dich doch, Kron - helm! Du biſt ja ſo kalt. Denk, ſie iſt mein, auf ewig mein! Kannſt du nicht begreifen, was das iſt? Mein, mein! Wenn man doch ſagt, man ſey nicht gluͤcklich, und hat nur ſo Einen Augen - blick! Denk nur erſt den Abend! Die ganze lange Nacht mit ihr tanzen, mit ihr ſprechen! O ich moͤchte ſterben, ſo wohl iſt mir! Nun ſag mehr: Jch ſey nicht kuͤhn! Alles, alles ſoll ſie heut erfahren! Denk, auch Thereſen wuͤnſcht ſie her, und wuͤnſcht ſie gluͤcklich! Siehſt du, was der En - gel fuͤr ein Herz hat? Sey nur gutes Muths! Es muß euch auch noch gluͤcklich gehen! Kein Menſch kann auf der Welt ungluͤcklich ſeyn! Gott hat uns all zur Freud erſchaffen! So ſprach er in lauter Ausrufungen fort, bis es Zeit war, Ma - rianen wieder abzuholen.

Er fuͤhrte ſie im Triumph auf den Tanzſaal, und fieng gleich mit ihr zu tanzen an. Sie ſchweb - te, wie eine Goͤttin zwiſchen Himmel und Erde. 694Jhre Blicke waren immer auf ihn gerichtet. Er glaubte, in dem Saal der Seligen zu ſeyn. So oft er ſie bey der Hand faßte, gab ſie ihm einen Haͤnde - druck, der durch Mark und Knochen ſchauderte. Beym Eſſen ſprach ſie nur allein mit ihm, und zu - weilen mit Kronhelm, der in tiefer Wehmuth da ſaß, weil er an Thereſen dachte, und doch zwang er ſich, an dem Entzuͤcken ſeines Freundes Theil zu nehmen, und laͤchelte zuweilen wie die Fruͤhlings - ſonn im Regenſchauer. Mariane trank ihm The - reſens Geſundheit zu, und bat ihren Siegwart, es ſeiner Schweſter zu ſchreiben, daß ſie eine unbekann - te Freundin habe, die ihr Schickſal oft beſeufze, und fuͤr ſie bete. O dann muß ſie gluͤcklich werden, ſagte Siegwart, wenn ein Engel fuͤr ſie betet. Und beten ſie denn auch fuͤr mein Gluͤck, lieber En - gel? Wuͤrden Sie mich auch wol gluͤcklich machen? Ob ichs wuͤrde? ſagte ſie, und ſah ihn zaͤrtlich an. Koͤnnt ichs nur! O ſie koͤnnens! Bey Gott! Sie koͤnnens, wenn Sie mir nur gut ſind! Sind Sies, lieber Engel? Herzlich! Herzlich! ſagte ſie; mehr, als ichs ſagen kann! Er ſchwieg, und druͤckte ihr die Hand. Sie hatte ein Stuͤck Torte vor ſich auf dem Teller liegen. Er ſchnitts entzwey. Sie gab ihm ein Stuͤck davon, und 695 das andere. Suͤßre Koſt hatte Siegwart nie noch genoſſen. Er ſchlang ſeinen Arm um ſie, und ſah ſie ſeitwaͤrts an. Jhr Geſicht hatte eine Wehmuth, die uͤber Thraͤnen erhaben war. Zuweilen blickte ſie zu ihm herum, und ſchlug ſchnell das Auge nie - der. Seine Bruſt war | geſpannt, er athmete ſchwer, und konnte kaum den Seufzer zuruͤckhalten. Es war ihm nicht moͤglich, ein Wort hervorzubringen. Er ſah nichts mehr um ſich her. Jhr Geſicht zer - floß vor ihm, als ob nur ein leichter Roſenduft vor ihm ſchwebte. Sie druͤckte ihm mit unaus - ſprechlicher Zaͤrtlichkeit die Hand. Er konnte die Empfindung |nicht mehr zuruͤckhalten, und kuͤßte ſie, mit einem heiſſen Seufzer, auf die Wange. Jn - dem kam ein Student, und foderte ſie zum Tanz auf. Sie entzog ihm, nach einem ſanften Druck, die Hand, legte ihre Handſchuh an, ſah ihn an, und gieng, halb unwillig, mit dem Studenten weg. Er blieb unbeweglich, ruͤckwaͤrts an den Stuhl gelehnt, ſitzen. Endlich ſah er ſich nach ihr um; ſie tanz - te, und hatte ihr ſchoͤnes Auge immer auf ihn ge - heftet. Er konnts nicht aushalten; Thraͤnen ſchoſ - ſen ihm in das ſeinige; er eilte in die Vertieſung des Saals ans Fenſter, ſah durch die Scheiben nach dem hellen Mond, und weinte. Nach etlichen Mi -696 nuten kam ſie, ohne daß ers merkte, zu ihm, legte ihre Hand auf die ſeinige, ſah ihn an, und ſagte: Sie ſind traurig? Ja, vor Freuden, antwor - tete er. Lieber, lieber Engel, ſind Sie mein? Auf ewig! ſagte ſie, und ſank ihm mit dem Ge - ſicht an die Bruſt. Er kuͤßte ſie feurig, und em - pfieng von ihr den erſten heiligen Kuß der Liebe. Drauf folgte eine ſprachloſe Scene, die ſich nicht beſchreiben laͤſt. Erſt nach einiger Zeit giengen ſie, mit naſſen Augen, um eine Menuet zu tanzen. Dann giengen ſie wieder ans Fenſter, ſahn den Mond an, ſahn, wie er ſich ſpiegelte in ihren Thraͤnen, kuͤßten ſie ſich von den Wangen, und waren uͤber - ſchwenglich gluͤcklich. Siegwart tanzte faſt mit kei - nem Maͤdchen, als mit ihr. Wenn ſie mit einem andern tanzte, ſo ſtellte er ſich in eine Ecke, und hatte faſt immer Thraͤnen in den Augen, denn das Maaß der Freuden war fuͤr ihn zu groß. Sie kam immer, wenn ſie ausgetanzt hatte, wieder zu ihm hin, nahm ihn bey der Hand, und ſah ihn unaus - ſprechlich zaͤrtlich an. Nun muͤſſen Sie mich oft beſuchen, ſagte ſie. Meine Mutter liebt Sie, mein Vater iſt Jhnen gut, und mein Bruder denkt auch wieder beſſer von Jhnen, ſeit Sie auf ſein Spiel zu achten ſcheinen. Etwas behutſam muͤſſen Sie nur697 ſeyn, doch das ſind Sie ſelbſt. O, der heutige Tag iſt doch gar zu herrlich! Nicht wahr, Sie ſind auch vergnuͤgt, mein lieber Siegwart? Ein feuriger Kuß auf ihre Lippen gab ihr die Antwort. Wenn wir doch immer beyſammen ſeyn koͤnnten! fuhr ſie fort; das Tanzen iſt mir heut ganz verdruͤßlich. Kaum hatte ſie ausgeſprochen, ſo ward ſie wieder aufgezogen. Siegwart ging zu ſeinem Kronhelm, der in einer Ecke des Saals wehmuͤthig und nach - denklich da ſaß. Wenn nur du auch gluͤcklich waͤreſt! ſagte Siegwart; ich wollt Alles geben! Lieber Schwager! ſagte Kronhelm, und kuͤßte ihn. Da hab ich einen Gedanken, den ich, glaub ich, Morgen oder Uebermorgen ausfuͤhre. Jch will nach Muͤnchen zu meinem Onkel; du muſt auch mit! Und was da machen? Um Thereſen anhalten. Er kann und wird ſich meiner anneh - men! Von ihm kann ichs ganz allein erwarten. So halt ichs nicht laͤnger aus. Dein Gluͤck hat alle meine Empfindungen wieder aufgeweckt; ich fuͤhle meinen Verluſt wieder ſtaͤrker, und mein Zu - ſtand wird mir unertraͤglich. Nicht wahr, Bru - der, du gehſt mit mir? Du muſt bitten helfen. Er wird deine Schweſter auch um deinetwillenY y698ſchaͤtzen, wenn ich ſage: daß du ihr Ebenbild biſt. Wenn ich etwas dazu beytragen kann, ſagte Siegwart, ſo weiſt du ſchon, daß ich fuͤr dich ins Feuer ginge.

Sie erlaubens doch auch? ſagte Kronhelm zu Marianen, die eben zu ihnen kam, daß ich Herr Siegwart mitnehme? Wohin? fragte ſie raſch und aͤngſtlich, und ſah ihren Siegwart an. Nach Muͤnchen, antwortete Kronhelm; nur auf etliche Tage. Er kann mir einen großen Dienſt thun. Es betrifft mein und Thereſens Schickſal. Ja, wenn das iſt ſagte ſie, ſonſt Jch will bey meinem Onkel, dem geheimen Rath, anhalten, ſagte Kronhelm, ob ich Thereſen heirathen darf? und Siegwart ſoll meine Bitte unterſtuͤtzen. Er kann viel ausrichten, das weis ich. Nur auf vier, oder fuͤnf Tage. Tauſend, tauſend Gluͤck! ſagte Mariane, aber kommen Sie bald wieder! Und Sie, Herr Siegwart, Sie vergeſſen mich doch nicht? Gott im Himmel! koͤnnten Sie das glauben? rief Siegwart aus. O Sie kennen mich noch nicht! Jch werd an keine Seele denken, als an Sie. Ein Kuß verſiegelte das Verſprechen.

Sie war nun auch traurig, daß ſie ihren Sieg - wart ſo bald waͤrs auch nur auf einige Tage 699 verlieren ſollte. Sie ſaß traurig neben ihm, als ſie Kaffee tranken, und konnte die Thraͤnen nicht zuruͤckhalten. Er umſchlang ſie mit ſeinem Arm, lehnte ſein Geſicht an ihre Bruſt, und konnte vor Bewegung und Zaͤrtlichkeit nicht ſprechen. Er fuͤhlte das Schlagen ihres Herzens, blickte zuwei - len zu ihr hinauf; ſchmachtend ſah ihr Aug auf ihn herab, und eine Thraͤne fiel auf ſeine Stirne, die ſie wieder weg kuͤßte. Kronhelm ſah das edle, zaͤrt - liche Paar, und weinte vor Freuden. Moͤcht ich Sie einmal beyſammen ſehen! ſagte er; Sie und meine Thereſe! Sie waͤren gleich im Augenblick Ein Herz und Eine Seele.

Nun werd ich wol bald nach Hauſe gehen muͤſſen, ſagte endlich Mariane; es iſt uͤber zwey Uhr. Siegwart wollte das nicht glauben, bis ers ſelbſt auf ſeiner Uhr ſah. Noch ein paar Schlei - fer muͤſſen wir doch machen! ſagte er, und fing an, mit ihr zu tanzen. Mariane blieb noch uͤber drey Viertel Stunden. Endlich ſagte ſie: Jch muß, ich muß gehn, wenn ich gleich nicht will! Siegwart ſtund mit ihr noch eine halbe Stunde unter ihrem Haus, und empfing die zaͤrtlichſten Verſicherungen ihrer Liebe. Jch habe keinen noch geliebt, ſagte ſie, und will auch auſſer Jhnen keinen lieben. Mein700 Herz war unruhig, ſeit ich Sie erblickt habe. Sie muſtens oft an meinen Blicken merken, im Kon - cert und in der Kirche. Lieber Siegwart, ich bin nun ſo gluͤcklich; ſoll ichs ferner bleiben? Jſt Jhr Herz auch ganz mein? Ganz! ſo wahr als Gott lebt! ſagte er. Keiner Seele hats noch an - gehoͤrt, Gott iſt mein Zeuge! und ſoll Gott und Jh - nen nur gehoͤren ewig. Nun folgten wieder Kuͤſſe, die den Bund auf ewig ſchloſſen. Endlich trenn - ten ſie ſich mit Gewalt von einander. Da geht der Stern der Liebe wieder auf, ſagte er beym Schei - den. Geſtern hat er uns zum erſtenmal geglaͤnzt, und nun auf ewig. Nie will ich ihn anſehn, oh - ne dieſes Tags und Jhrer zu gedenken. Er ſoll das Sinnbild unſrer Liebe ſeyn, ewig rein, und ju - gendlich und ewig! Schlaf ſanft, lieber Engel, ſanft, ſanft, ſanft!

Er ging nach ſeinem Haus hinuͤber, und ſchloß auf. Andacht, und Entzuͤcken, und Dankbarkeit bebten durch ſein Herz. Er ſah aus dem Fenſter, ſie ſah noch eine Viertelſtunde heraus; endlich war - fen ſie ſich einen Kuß zu, und ſie loͤſchte ihr Licht aus. Haſtig ging er im Zimmer auf und ab. Mein, o mein iſt er, der Engel Gottes! ſagte er laut, ſetzte ſich nieder, und ſchrieb:701

Mein, o mein iſt er, der Engel Gottes!
Banges Herz, wie kannſt dus faſſen? Brich nur!
Schmelz in Thraͤnen hin! denn dein iſt
Die Erwaͤhlte Gottes.
O ich ſink in Staub vor Dir, Du Geber!
Alle Thraͤnen haſt Du weggetrocknet!
Freuden haſt Du mir erſchaffen,
Ewig, wie mein Herz liebt!
Rein und heilig iſt die Auserwaͤhlte!
Mach, o Gott! mein Herz, wie ſie, ſo heilig!
Daß ich werth ſey dieſes Kleinods,
Das vor allen ſchimmert!
O, Du Heilige! Sieh an dieß Streben,
Das, Dir gleich zu werden, hoch mein Herz hebt!
Sieh es an! Und, wann ich ſtrauchle,
Heb mich durch Dein Laͤcheln!
Kronen haͤtt ich nicht fuͤr Dich genommen!
Tauſend Kronen legt ich Dir zu Fuͤſſen!
Engel, ſieh, ich wein vor Freuden,
Daß Du ewig mein biſt!

Noch eine halbe Stunde blieb er auf, und ſagte dieſe Verſe oft zum Fenſter hinaus. Endlich leg - te er ſich zu Bette, aber es kam wenig Schlaf702 in ſeine Augen. Um halb ſieben Uhr weckte ihn das Morgenroth ſchon wieder. Er ſah hinaus, dachte nichts als Marianen, war im Jnnerſten bewegt, und dankte Gott mit ſolcher Jnbrunſt fuͤr ihre Liebe, daß ſein Herz mehr im Himmel, als auf Erden war. Sie war auch ſchon aufgeſtan - den, und laͤchelte mit Engelanmuth zu ihm her - uͤber. Seine Seele war ſo heiter, als ſie in ſei - nem Leben nie noch geweſen war. Kronhelm kam zu ihm aufs Zimmer, und ſagte, er habe dieſe Nacht nicht ſchlafen koͤnnen, und den Plan, zu ſeinem Onkel zu reiſen, vollends ausgedacht. Er ſey nun voͤllig entſchloſſen, morgen nach Muͤnchen zu reiten. Er habe alles uͤberlegt, und ſoviel ein Menſch voraus ſehen koͤnne, koͤnn es ihm nicht fehlen. Sein Onkel habe ihn und ſein Gluͤck viel zu lieb, und ſey zu frey von Vorurtheilen, als daß er ihm ſeine Einwilligung, Thereſen zu hei - rathen, verſagen koͤnne. Wenn er dieſe habe, dann ſey es ihm genug. Sein Vater werde ge - wiß nachgeben, denn ſein Onkel vermoͤge alles uͤber ihn, und er muͤſſ ihm nachgeben, weil er ſonſt fuͤrchten muͤſte, er vermache ſeine Guͤter einer an - dern Linie vom Kronhelmſchen Haus. Jch trage, ſetzte er hinzu, dieſen Plan ſchon lang im Herzen;703 aber noch nie fuͤhlte ich ſo vielen Muth, und ſo zu ſagen, innerlichen Beruf, ihn auszufuͤhren, wie jetzt. O Bruder, wenn Gott meine Wuͤnſche ſegnet; wer iſt dann begluͤckter, als wir beyde! Hierauf unter - richtete er ſeinen Freund, wie er ſeinem Onkel be - gegnen muͤſſe, um ſein Herz zu gewinnen. Nur geradezu, und frey! Das liebt er. Dein Charak - ter iſt ſo, wie ers wuͤnſcht. Zeig dich, wie du biſt! Dann kennt er Thereſen, und iſt ganz gewiß fuͤr meine Wahl. Er iſt ungeheuchelt fromm, und man darf mit ihm mehr von der Religion reden, als mit irgend einem Hofmann. Auch von mei - ner Schweſter hoff ich viel. Wenn ſie ſo iſt, wie ſie war, dann tritt ſie ganz gewiß auf meine Seite, und uͤber meinen Onkel vermag ſie alles. Nur vor meinem Schwager darf ich nichts ſagen; der iſt ganz Hofmann, und glaubt, zwiſchen den Buͤr - gerlichen und dem Adel muͤſſ eine ewige Kluft be - feſtigt ſeyn. Sieh, Bruͤderchen, ich denk, es geht gut. Wir wollen Gott drum bitten, und das Beſte hoffen! ſagte Siegwart. Niemand kann dir mehr einen gluͤcklichen Ausgang wuͤnſchen, als ich, denn ich liebe, nach Marianen, dich und meine Schweſter uͤber alles.

704

Sie gingen nun aus, um Pferde zu beſtellen. Dahlmund kam drauf zu ihnen, und klagte, daß ihm ſeine Bruͤnette geſtern ungetreu geworden ſey. Sie habe ſich mit einem ſchlechten Kerl abgegeben, der ſchon zwey - oder dreymal Schulden und lie - derlicher Streiche halben auf dem Karzer geſeſſen habe. Er that ganz verzweifelt und untroͤſtlich, ſchlug ſich vor die Stirne, knirſchte mit den Zaͤhnen, weinte vor Wuth, und ſagte endlich: Entweder ich muß ſterben, oder Er? Feder und Dinte her! Jch ſchick ihm eine Ausforderung. Kronhelm, du muſt mir ſekundiren!

Biſt du toll, Dahlmund? ſagte Kronhelm. Mit dem ſchlechten Kerl dich ſchlagen! Dein Leben an ihn ſetzen! Was haſt du davon, wenn du ihn nie - derſtichſt? Wird das Maͤdel dadurch beſſer? Moͤch - teſt du ſie dann wohl wieder haben? Du weiſt ſelbſt, daß jeder Zweykampf, den man ſelbſt ſucht, Thor - heit und Verbrechen iſt; wir haben ſchon einmal davon geſprochen. Aber hier trifft das doppelt ein. Der Kerl iſt ſchlecht, das ſagſt du ſelbſt. Alles, was noch Gutes an ihm iſt, das iſt ſein Leben, weil ers noch einmal dazu brauchen kann, ſich zu beſſern, der Welt etwas nutz zu werden, und dem Elend zu entgehen, das ihn in der Ewigkeit er -705 wartet. Darfſt du einem Menſchen den Weg zu ſeinem Gluͤck abſchneiden? Oder willſt du ſein Teu - fel werden, und ihn in die Hoͤlle jagen, und dir dadurch dein Leben auch zu einer Hoͤlle machen? Denk einmal, was ein Moͤrder fuͤr ein unſeliges Geſchoͤpf iſt? Fliehen muß er vor Menſchen und vor Gott; darf nicht mit ſich ſelber reden, denn es ruft aus ihm heraus: Du biſt ein Moͤrder. Blut ſieht er uͤberall, darf keinem Menſchen ins Geſicht ſehn, und hat Hoͤllenquaalen, auſſer ſich und in ſich. Das heiſt ſich warlich ſchoͤn geraͤcht, wenn man ſich ſelbſt einen Dolch ins Herz ſtoͤſt, daß es ewig blutet. Dem Teufel gibt man Sa - tisfaktion, und nicht ſich ſelbſt, wenn man ihm einen ſchlechten Kerl zuſchickt, und wohl ſelber nachfolgt. Und dann iſts ja ſo ausgemacht nicht, daß du ihn gerad niederſtichſt; er hat ja auch einen Degen, und kann eben ſo gut treffen, als du. Jſt der Kerl wol dein Leben werth, und dein Gluͤck in alle Ewigkeit? Darfſt du nur damit ſchalten und walten, wie du willſt? Du haſt brave El - tern, die ſo viel an dir thun, und Troſt und Freud im Alter von dir erwarten, und nun mit Gram und Kummer vor der Zeit ins Grab ſaͤnken; die nicht ohne Graus an dich denken koͤnnten, und706 im Tod einander ſagen muͤſten: Er hat uns um - gebracht, und nun treffen wir ihn doch nicht an. Heiſt das, ſeinen Eltern Freude machen, und ih - nen fuͤr das lohnen, was ſie an uns thaten? Heiſt das, ein ehrlicher Kerl ſeyn, geſchweige denn ein Chriſt? Das heiß ich mir recht auf Ehre halten, und ein Schurke gegen ſich und andre werden! Beſinn dich, lieber Dahlmund! Sieh, du biſt der Welt viel ſchuldig, haſt ſo gute Gaben, die dir Gott gab zur Verwaltung, daß du Menſchen ſegneſt, und ſie gluͤcklich machteſt. Sieh, du haſt uns, und wir ſind dir herzlich gut, und du biſt uns Freundſchaft ſchul - dig! Wirf dein Leben nicht einem ſchlechten Kerl hin. Handle nicht ſo gegen Gott, und dein eig - nes Gluͤck! Jch bitte dich um Gottes und um deinetwillen, komm wieder zu dir ſelbſt! Du biſt ſonſt ein Menſch und haſt Religion, und willſt nun alles das mit Fuͤſſen treten. Nicht wahr, du folgſt mir, Dahlmund? Jndem umarmte er ihn. Dahlmund ward geruͤhrt, und weinte. Vergebt mir, Bruͤder! rief er, daß ich ſo ein Narr war! Jch wills nicht thun! Lieber mag man mich fuͤr einen feigen Kerl halten!

Das biſt du deswegen doch nicht, ſagte Siegwart; du haſt dich letzthin maͤnnlich gewehrt, als dich die707 zween Studenten mit dem bloſſen Degen angriffen. Man kann Muth haben, ohne ihn zum Schaden andrer ohne Noth zu brauchen. Jch ſchlage mich gewiß nicht, aber deswegen komm mir keiner und necke mich! Jch will ihms zeigen, daß ich meine Fauſt und meinen Degen nicht umſonſt habe. Und bey den groben Schlaͤgern fehlts gar oft an Herz, wenns auf wirkliche Vertheidigung ankommt. Beym boͤſen Gewiſſen gibts keine wahre Herz - haftigkeit, und ein gutes Gewiſſen hat der niemals, der vorſetzlich, um einer Kleinigkeit willen, ſein Leben aufs Spiel ſetzt, oder nach dem Leben eines andern trachtet. Aber die Weiſſin iſt nun doch verloh - ren, ſagte Dahlmund, und das thut mir in der Seele weh! Kanns das wol mit Recht? ſagte Kronhelm. Sie hat ſich ſchlecht aufgeſuͤhrt, das muſt du ſelbſt bekennen, da ſie dir einen ſol - chen Menſchen vorzieht. Ein Maͤdchen, das auſ - ſer uns, noch mit einem andern, auch ſonſt guten Menſchen, liebelt, verdient warlich unſere Liebe nicht. Ganz und allein muß man ein Herz haben, das man ganz liebt. Wenn ich meinem Maͤdchen nicht Alles bin, ſo bin ich gar nichts, und nehm auch mein Herz zuruͤck. Du muſt ſtolz ſeyn, Dahl - mund, und den Flattergeiſt verachten koͤnnen. Du708 verdienſt ein ganz andres Maͤdchen. Es fehlt dir nichts, um ein Herz zu feſſeln, und gluͤcklich zu machen. Du ſiehſt gut aus; haſt Verſtand, Ver - moͤgen, Wiſſenſchaften, und ein edles Herz, das treu lieben, und daher wieder treue Liebe fodern kann. Sag einmal, moͤchteſt du ein Weib, wie die Weiſſin, das mit jedem Kerl buhlt, ſich von je - dem ſchmeichleriſchen Schurken die Haͤnde und den Mund belecken laͤſt; jedem Narren glaubt, und ſeine unverſchaͤmten Schmeicheleyen anhoͤrt, und ſich druͤber zur Ehebrecherin machen laͤſt? Moͤchteſt du ſo ein Weib? Und man muß kein Maͤdchen haben, das man nicht zum Weib machen will! Der Verdruß uͤber ihre Narrheiten wuͤrde dich umgebracht haben. Laß ſie nur nicht merken, daß es dir leid um ſie thut, ſie wuͤrde heimlich nur daruͤber jauchzen. Sey ein Mann, und wimmre nicht wie eine Memme um ein eitles falſches Maͤ - del! Warlich, ſie iſt dein nicht werth! Du haſt Recht, Bruder, ſagte Dahlmund, ich fuͤhl mich, daß ich etwas beſſers werth bin. Sie mag ſich zur alten Jungfer buhlen, oder noch was aͤrgers mit dem Kerl thun! Jch frag den Henker nach ihrem Paar ſchwarzen Augen, wenn ſie glaubt, die gan - ze Welt muͤſſe ſich drein vergaffen!

709

Den Abend drauf ging Siegwart mit Kron - helm zu dem Hofrath Fiſcher, unter dem Vorwand, ein Konzert zu machen. Aber ſeine wahre Abſicht war, ſeine Mariane noch einmal zu ſehen, und von ihr Abſchied zu nehmen. Der Hoſrath wur - de gegen Siegwart immer hoͤflicher, theils wegen ſeines guten Spielens, theils auch, und hauptſaͤch - lich, weil ſich Siegwart jetzt taͤglich gut kleidete, denn er ſah mehr auf aͤuſſerliche, als auf weſent - liche Vorzuͤge. Die Hofraͤthin liebte ihn ſeiner Artigkeit, ſeiner unbeſcholtnen Sitten, und ſeines edeln frommen Herzens wegen, taͤglich mehr, und ließ ihn ihre Achtung deutlich ſehen. Joſeph, Ma - rianens Bruder, that jetzt auch ſehr freundſchaft - lich, da er ſah, daß ihn Siegwart ſehr von an - dern unterſcheide. Ueber Marianens Geſicht ver - breitete ſich ſichtbar eine auſſerordentliche Heiterkeit, ſobald ihr Geliebter kam. Sie ſtand von ihrer Stickerey auf, wo ſie eben eine Schaͤferinn, und einen Schaͤfer, die im Graſe bey einander ruhten, gezeichnet hatte. Sie war ſehr beſchaͤſtigt, die lie - ben Gaͤſte zu bewirthen. Siegwart betrachtete in - deſſen mit Entzuͤcken ihre Stickerey. Sie trat hin - zu, ſah ſie ein paar Augenblicke an, und betrach - tete dann ſein Geſicht, das mit Wohlgefallen auf710 der Arbeit ruhte. Er ſah ſie an, ſie laͤchelte mit einem ſolchen Ausdruck, daß er Muͤhe hatte, ſich nicht vor dem Vater und der Mutter zu verrathen. Nachdem er dem Vater und der Mutter erſt von ſeiner vorhabenden Reiſe erzaͤhlt hatte, ſo ſpielten ſie ein kleines Konzert, bey welchem Mariane ſchoͤner und mit mehr Ausdruck ſang, als ſie noch je gethan hatte. Drauf ſpielte Joſeph ein Konzert auf dem Fluͤgel, und ward uͤber den Beyfall, den ihm Kronhelm und Siegwart gaben, ganz entzuͤckt. Siegwart ſang auch, und wurde von Marianen und ihren Eltern ſehr gelobt. Um ſechs Uhr mach - ten dieſe viele Entſchuldigungen, daß ſie weggehen muͤſten, weil ſie ſich bey ihrem aͤltern Sohn ver - ſprochen haͤtten. Kronhelm und Siegwart woll - ten auch weggehen, wurden aber ſehr gebeten, da zu bleiben. Mariane bat auch, und Siegwart willigte nur gar zu gern ein. Joſeph machte auch Entſchuldigungen, daß er zu ſeinem Zeichenmeiſter gehen muͤſſe. Er wolle um ſieben Uhr ſogleich wieder da ſeyn ꝛc. und unſre jungen Leute waren nun allein. Sie ſahn aus dem Fenſter, als die Eltern weggiengen, und merkten, daß der Wind ſich gedreht habe, und aus Mittag wehe, und Thauwetter bringe. Es fing auch bereits an et -711 was zu regnen. Seys! ſagte Mariane; wir haben nun doch noch die Schlittenfahrt gehabt. Vielleicht koͤnnen Sie auch morgen noch nicht rei - ſen. Kronhelm ſagte, ſie muͤſten, wo moͤglich, fort. Nun ſtellte ſich Mariane an den Fluͤgel, ſchlug, ohne hinzuſehen, ein paar Toͤne, ſah ihren Sieg - wart an, gab ihm die Hand, und ſank in ſeinen Arm. Seligkeit des Himmels ward um ihn herum, und noch mehr in ſeiner Seele. Du muſt ſpie - len, ſagte er zu Kronhelm, damit man unten und im Hauſe glaubt, wir machen Muſik. Kron - helm ſpielte ſich, ganz allein, auf ſeiner Violine recht muͤde; oft ganz wild, und heftig wie der Tau - mel der Liebe; dann wieder ſchmachtend und zaͤrtlich, gleich der Empfindung unſrer Liebenden. Sie ſaſ - ſen im Kanapee beyſammen, gluͤcklicher als alle Koͤnige der Erden. Jhre Zunge konnte nicht re - den; nur ihr Auge ſprach, und ihr Haͤndedruck. Liebes Maͤdchen! Lieber Engel! war alles, was zuweilen Siegwart ſagte. Dann lehnte ſie wieder ihr Geſicht an ſeine Bruſt. Er kuͤßte ſie auf ihre ſchoͤnen Augen. Sie ſah auf, erhub ſich etwas und kuͤßte ſeine offne, hochgewoͤlbte Stirne. Wenn ihre Blicke ſich begegneten, wenn ihr Auge ſcharf in ſeines ſah, dann ſchoß ihm eine Thraͤne drein,712 und er und ſie laͤchelten, und ihr Geſicht ſank wie - der an ſein Herz, das ſo laut ſchlug, daß ſies hoͤr - te. Morgen, morgen! ſagte Siegwart traurig. Sie hub ihr Geſicht langſam auf, ſah ihn ſchwei - gend, lang, und wehmuͤthig an! Ein Seufzer bebte ihre Bruſt herauf, und ſie verbarg ſich wieder an der ſeinigen. Traurig! traurig! rief ſie Kron - helm zu, der eben ein Allegro ſpielte. Auf Ein - mal ſank er ins Moll herab, in eine Duͤſternheit, daß den Liebenden ſchauerte. Gedenke meiner, ſagte Siegwart, wenn ich fern bin! Sie druͤckte ihren Mund feſt auf den ſeinigen; wendete ſich ei - lig weg, nahm ihr Schnupftuch, und wiſchte ſich das Auge. Nur etliche Tage! ſagte Siegwart. Kann ich Jhnen ſchreiben? Sie ſchuͤttelte ſtillſchwei - gend mit dem Kopf. Jch habe niemand, ſagte ſie nach einer Pauſe. Dann druͤckten ſie einander feſt ans Herz, und kuͤßten ſich, als ob ſie den Athem und die Seelen austauſchen wollten. Man laͤu - tete an der Glocke. Schon vorbey? ſagte Sieg - wart ſeufzend, und ſtand auf. Joſeph kam, und ſagte, daß das Wetter ſehr ſchlecht und ungeſtuͤm ſey. Man hoͤrte auch ſtark ſtuͤrmen, und der Re - gen wurde heftiger. Wenn es ſo fort macht, ſag - te Mariane, und ſah unſern Siegwart bittend an,713 ſo reiſen Sie morgen doch nicht! Jch bitte Sie. Kronhelm verſprach, noch einen Tag zu warten, wenn das Wetter ſich verſchlimmre. Um acht Uhr nahmen er und Siegwart Abſchied. Sie leuchtete ihnen hinunter. Der Wind loͤſchte das Licht aus. Sie ſtand noch einige Augenblicke bey ih - nen. Siegwart kuͤßte ſeinen Engel noch aufs zaͤrt - lichſte, nahm mit vielen Thraͤnen Abſchied, und verſprach, bald wieder zu kommen. Den andern Morgen ſtuͤrmte und regnete es noch ſo ſtark, und das Gewaͤſſer vom zerfloßnen Schnee war ſo haͤu - fig, daß ſie unmoͤglich wegreiten konnten. Auch am folgenden Tage wars noch ſo, und ſie konnten erſt am Anfange der Charwoche abreiſen.

Mariane ſah mit ihrer Mutter aus dem Fen - ſter, als ſie zu Pferd ſtiegen. Sie ſah traurig aus, und ſchmachtend. Siegwart blickte noch einmal zaͤrtlich hinauf, nahm den Hut ab, und ritt mit ſeinem Freund um die Ecke hinum. Mit ſchwerem Herzen kam er auf das Feld hinaus, und ſah ſich noch einigemal mit Thraͤnen nach der Stadt um, die ſeine Mariane einſchloß. Der Morgen war ſehr heiter, und die Sonne gieng golden auf. Der Schnee war groͤſtentheils zer -Z z714ſchmolzen, nur noch an den Rainen, und Hecken, und in den Graͤben lag ein wenig, wo die Son - ne nicht ſo frey hin ſcheinen konnte. Die Wie - ſen waren ſchon gruͤn, beſonders an den Quel - len; das junge Gras, und die Gaͤnſebluͤmchen keimten ſchon hervor. Die Lerchen ſchwangen ſich das erſtemal in dieſem Fruͤhjahr in die Luft, und ſangen. Es war, als ob ein himmliſches, uͤberirdiſches Konzert uͤber unſern beyden Juͤng - lingen ſchwebte. Jhre Seelen erweiterten ſich, und lebten in der friſchen Fruͤhlingsluft, die um ſie her ſpielte, wie neu auf. All ihr Gefuͤhl wur - de geſchaͤrft; jeder dachte an ſein Maͤdchen und ſchwieg. Um Mittag kamen ſie in ein Dorf, wo ſie ihre Pferde fuͤtterten, und aſſen. Ein Flei - ſcher ſaß in der Stube mit zwey großen Hunden. Er erzaͤhlte von einer Frau im naͤchſten Dorf, die naͤrriſch geworden ſey, und nun gebe man ihr Schuld, ſie habe ihren Mann umgebracht. Dann erzaͤhlte er von einem alten Mann von 73 Jah - ren, den man drauſſen im Bach todt gefunden habe. Vermuthlich ſey er ſelbſt hineingeſprungen, denn ſein Sohn, der nun auf ſeinem Handwerk ſey, und bey dem der Vater aus Gnad und Barmherzigkeit gewohnt habe, ſey ihm hart und715 grauſam begegnet, hab ihm taͤglich vorgeworfen: Er eſſe Gnadenbrod, ſey der Welt nichts mehr nuͤtz, und duͤrfe wol machen, daß er bald draus fort komme. Dieſen Morgen noch hab er ihn einen alten Narren geſcholten, ihm gedroht, er woll ihn noch aus dem Hauſe ſtoßen, und drauf habe der alte Mann geweint, und geſagt: Gott ſoll unter uns richten! Hab ſein altes zerriſſenes Wamms angezogen, ſey an ſeinem Stab aus dem Dorf gegangen, und habe ſich am Bach niedergeſetzt. Jch hab ihn ſelber angetroffen, ſagte der Metzger; er gab mir noch einen guten Morgen, und nahm die Muͤtze ab, daß ich ſeine handvoll weiſſer Haare und ſeine Glatze ſah, und bey mir ſelber dachte: Lieber Gott, was es doch um einen Alten fuͤr ein Elend iſt, wenn ſich niemand ſeiner annimmt, ſelbſt die Kinder nicht, die er groß gezogen hat! Da hat ſich eben der arme Mann hingeſetzt, halb kin - diſch war er, wuſte ſich ſelbſt nicht mehr zu helfen, und ſprang in das Waſſer. Gott verzeih es ihm, er war ſonſt ein guter Chriſt, der niemand nichts zu leid that. Aber ſo Kerls, wie ſein Sohn iſt, ließ ich ſpieſſen, die verdienen nicht zu leben, wenn ſie Leuten nicht das Leben goͤnnen, denen ſie doch alles zu verdanken haben. Das iſt ſo meine716 einfaͤltige Meynung. Hab ich Unrecht, Herr? Sieg - wart gab ihm voͤllig Recht. Kronhelm ſpielte in - deſſen mit einem von den Hunden. Das iſt ein treues Thier, Herr! ſagte der Fleiſcher. Der lieſ - ſe ſich eher todt ſchieſſen, als mir was thun. Nun erzaͤhlte er mit treuherziger Geſchwaͤtzigkeit die Ge - ſchichte und die Tugenden ſeiner beyden Hunde. Sehen Sie, ſagte er, die Thiere horchen auf, als ob ſies verſtuͤnden. Ja, es iſt ein geſcheides Thier um einen Hund. Siegwart liebkoſte ein paar Kinder mit einem offenen Geſicht, und groſſen blauen Augen. Er fragte ſie nach ihrem Alter, und nach ihrem Namen, und gab jedem einen Kreuzer. Die Kinder ſprangen mit dem Geld zu ihrer Mutter, wieſen es ihr, und dann wieder auf Siegwart, daß ers ihnen gegeben habe. Die Mutter kam zu ihm her, gab ihm die Hand, und ſagte: O Herr, warum machen Sie ſich Unkoſten? Das iſt gar zu viel. Drauf muſten ihm beyde Kinder die Hand kuͤſſen.

Jndem kam ein Bedienter in abgeſchabter Livree mit verweinten Augen ins Zimmer, und ſetzte ſich an den Ofen. Er machte einige Bewegungen mit der Hand, als ob er mit ſich ſelber ſpraͤche, und dann zaͤhlte er etwas an den Fingern ab. Was717 fehlt denn ihm, Marx? ſagte die Wirthin. Ey, was wird mir fehlen! antwortete er; ſie haben mich im Schloß fortgeſchickt, und nun kann ich betteln. Das iſt mir eine Haushaltung! Da iſt ein welſcher Hahn aus dem Schloſſe weggekommen, und weil ich nichts davon wiſſen wollte, und auch meiner Treu nichts wuſte; da geben ſie mir mei - nen Abſchied. Jſt das auch erlaubt? Aber ich weis ſchon wo das her kommt. Die gnaͤdige Frau kann mich eben nicht leiden, und das hat auch ſeine Urſachen. Moͤcht ich nur Haͤndel an - richten, und dem gnaͤdigen Herrn ein paar Stuͤck - chen vom Jaͤger und von ihr erzaͤhlen! Aber das mag ich ihm nicht zu leid thun. Er iſt ein kreuz - braver Herr, der ſo ſchon ſeine liebe Noth hat. Nur das iſt unverantwortlich und himmelſchreyend, daß man einem armen Dienſtbothen ſeinen Lohn nicht gibt. Jch hatte zwanzig Thaͤlerchen zu ſodern; da kam die gnaͤdige Frau mit ihrer großen Schreibtafel, und hatte, der Henker weiß, was all? drauf ge - ſchrieben. Da war Porcellain zerbrochen, das ich nie geſehen hatte, da war dieß und jenes am Sat - telzeug zerriſſen; ein Fuͤllen war geſtorben, und da ſollt alle ich Schuld dran ſeyn, und das Ding be - zahlen. Jch mochte ſagen, was ich wollt; es half718 alles nicht, ſie ſummirte, und ſiehe da: Summa ſummarum war 19 Thaler 46 Kreuzer, daß mir alſo gerad noch 44 Kreuzer heraustraſen. Jch dacht, ich haͤtte Blut weinen muͤſſen, wie ichs hoͤr - te. Jch wollt ihr zu Fuͤßen fallen, und ihr mei - ne Unſchuld darthun; aber ſie gab mir noch harte Reden, warf mir das Geld in lauter Zweyern hin, und ſchlug die Thuͤr zu. Jch wollt vor den gnaͤd - gen Herrn, und ihm meine Noth klagen, aber ſie ſtand bey ihm im Hof, und da durft ich nichts ſa - gen. Die Livree gehoͤrt auch noch uns, ſagte ſie. Ach, mein Schatz, laß ihm das, ſagte er; es iſt doch nicht viel mehr dran! Nun, ſo kann er ſich aus dem Schloßhof packen, rief ſie, und ſich nie mehr drinn erblicken laſſen! So hat man mirs gemacht, und Gott weiß, ich hab meinem Herrn treu gedient, das wißt ihr, Wirthin, und alle Leut im Dorf wiſſens. Nun weiß ich nicht wo naus. Auf dem Leib hab ich nichts als dieſen Kittel, an dem man alle Faͤden zaͤhlen kann. Kein Atteſtat hab ich auch nicht, darf mich nicht drum melden. Und ohne Atteſtat nimmt mich keine Herrſchaft an. Und, Gott weiß, meynts einer mit ſeiner Herr - ſchaft ehrlich, ſo thus ich. Jch wollte gleich mein Leben laſſen, wenn mein Herr in Gefahr kommt;719 Jch wollt ihm dienen, daß er mir wie ſeinem Kind trauen koͤnnte. Ehrlich waͤhrt am laͤngſten. Das hab ich noch von meinem Vater gelernt, der war auch Bedienter, bis er 70 Jahr alt war, und nicht mehr dienen konnte. Drauf zog er ſeine 44 Kreu - zer heraus, und zaͤhlte 32 davon ab, die er, wie er ſagte, noch dem Jaͤger ſchuldig war fuͤr ein Ge - bethbuch.

Kronhelm, der, wie Siegwart, von dem Schick - ſal des Bedienten ſehr geruͤhrt war, zog die Wir - thin auf die Seite, und erkundigte ſich bey ihr nach ihm. Sie gab ihm mit der gutherzigſten Miene, und mit vieler Waͤrme das Zeugniß eines frommen und rechtſchaffenen Menſchen. Drauf gieng Kron - helm zu dem Bedienten, der ihm, ſeiner guten, ehrlichen Bildung wegen, gleich gefallen hatte, frag - te ihn, was er monatlich fodre? und nahm ihn zu ſeinem Bedienten an. Der Kerl war vor Freu - den ganz auſſer ſich, und konnte kaum Worte fin - den, ſeine Dankbarkeit auszudruͤcken. Kronhelm ſagte ihm, er ſoll ſehen, daß er ein Pferd geliehen kriege, um nach Muͤnchen mitzureiten; in einer Viertelſtunde kam er mit einem Pferd wieder. Der Wirthin gab er das Geld fuͤr den Jaͤger, und bat ſie, alle gute Freund im Dorf noch einmal zu720 gruͤſſen. Als ſich Kronhelm die Zeche machen ließ, ſoderte die Wirthin ſo wenig, daß er ſie ausdruͤck - lich fragte, ob ſie nichts vergeſſen, oder zu niedrig angerechnet habe? Sie ſagte aber, Nein: ſie hab alles angerechnet; Sie ihn ſich nicht Unrecht, aber andern Leuten thu ſies auch nicht. Wie gewon - nen, ſetzte ſie hinzu, ſo zerronnen. Sie dankte auch Siegwart noch einmal fuͤr die 2 Kreuzer.

Auf dem Wege erzaͤhlte der neue Bediente, Marx, faſt ſeine ganze Lebensgeſchichte mit vielen Umſchwei - fen, und der, dem Schwaben ſo gewoͤhnlichen ge - wiſſenhaften Aufrichtigkeit. Man ſah ihms an, wie viel er auf ſeinen neuen Herrn halte; er war beſorgt, ſobald das Pferd ſtolperte, und ſtieg ab, ſobald es ſcheute. Neugierig war er auch, wie die meiſten Schwaben ſind, und fragte Kronhelm und Siegwart mit der treuherzigſten Einfalt, die ein Sachſe fuͤr Beleidigung halten wuͤrde, um alles, was ſie angieng.

Ziemlich ſpaͤt am Abend kamen ſie in Muͤnchen an, und ſtiegen, weil Kronhelm ſeinen Onkel und ſeine Schweſter nicht mehr uͤbetraſchen wollte, in einem Gaſthof ab. Marx war auſſerordentlich be - ſorgt, ſeine neue Herrſchaft und unſern Siegwart zu bedienen, und lauerte auf alle ihre Winke. 721Wenn einer nur eine Bewegung machte, ſo fragte er ſogleich, ob man etwas zu befehlen habe? und verrichtete jeden Auftrag mit der geſchwindeſten Ge - nauigkeit. Den folgenden Morgen ſchickte ihn Kronhelm ſogleich aus, ihn bey ſeinem Onkel zu melden. Marx kam bald wieder mit der Nach - richt zuruͤck, der geheime Rath ſey gegenwaͤrtig nicht in Muͤnchen. Kronhelm, der daruͤber ſehr betrof - fen war, gieng ſelbſt nach ſeinem Hauſe, und er - fuhr: ſein Onkel reiſe ſchon ſeit acht Tagen in Chur - fuͤrſtlichen Geſchaͤften im Land herum, und werde vor 14 Tagen nicht zuruͤckkommen. Kronhelm kam voll Unmuths wieder in den Gaſthof, erzaͤhlte Sieg - wart den verdrießlichen Umſtand, und ließ ſich nun bey ſeinem Schwager und ſeiner Schweſter melden. Als er angenommen wurde, gieng Siegwart in - deſſen aus, um die Stadt zu beſehen. Er erſtaun - te uͤber die vielen ſchoͤnen Haͤuſer und Pallaͤſte, und noch mehr uͤber die Volksmenge, die ihm auf al - len Straßen entgegen wimmelte. Alles, was er ſah, war ihm neu. Anfaͤnglich gefiels ihm, bald aber aͤrgerte er ſich, zu ſehen, wie hier immer ein Menſch dem andern im Wege ſteht; |wie ſich ſo viele tauſende zuſammenthun, ein jeder in der Ab - ſicht, von dem andern zu |zehren. Eine Bauren -722 huͤtte, dachte er, iſt mir lieber, wo ſein Beſitzer ruhig drinn ſitzt, ſich nur um ſich ſelbſt bekuͤmmert, von keines andern Huͤlf oder Gnade abhaͤngt, und im Frieden fuͤr ſich und ſeine Kinder ſein Feld baut. Am meiſten aͤrgerte er ſich uͤber die vielen Muͤſſiggaͤnger, die, wie Puppen, die Straſſen auf und ab tanzten, denen man den Muͤſſiggang anſah, und die, um den Muͤſſiggang noch zu ver - mehren, eben ſo groſſe Muͤſſiggaͤnger, als Bediente, hinter ſich drein gehen haben. Es ſchmerzte ihn, ſo viel Leute in zerlumpten Kleidern, mit ausge - hungerten Geſichtern, und muthloſen, niederge - ſchlagnen Mienen zu ſehen, die, von den goldbe - deckten Herren umbemerkt, wie Gewuͤrm unter den Fuͤſſen des Wanderers herum kriechen. Gott, dachte er, das ſind doch auch Menſchen, die auch Seelen haben, wie die Herren, und ſie werden nicht geachtet! Gibts denn keine Groͤße, und kein Gluͤck, wenn ihm nicht Niedrigkeit und Elend zur Seite ſteht? Hier vergißt man ja ſich ſelber vor dem ewigen Gelaͤrm der Kutſchen, und den ſtillen rechtſchaffenen Buͤrger muß man auch vergeſſen. Leute mit den frechſten Geſichtern und dem aufge - blaſenſten Weſen ſah er zwiſchen andern, und be - ſonders alten Muͤtterchen ſich bruͤſten, die mit der723 andaͤchtigſten, oft bigotteſten Miene, und dem Ro - ſenkranz in der Hand, nach den Kirchen zuſchli - chen. Aberglauben und Unglauben ſchien ſich hier ewig zu durchkreuzen. Als er eine Kirche vorbey - kam, gieng er hinein. Auf einmal dachte er an Marianen, gieng in einen Stuhl, warf ſich auf die Knie, und betete mit heiſſer Jnnbrunſt, und mit Thraͤnen in den Augen. Nun fuͤhlte er erſt ganz das Gluͤck der Ruhe und der Liebe, das er in ihrem Arm genoſſen hatte; und jetzt entbehren muſte. Mit ungewoͤhnlich ſtarker Sehnſucht ſehn - te er ſich nach ihr zuruͤck. Jn der Kirche ſah er noch mehr die große Kluft zwiſchen Andacht und Frechheit. Das gemeine Volk lag in tiefſter De - muth vor Gott, und die vornehmen jungen Herren und Frauenzimmer ſtunden frech in ihren goldnen oder ſeidnen Kleidern da, begafften ſich mit ſtolzer Selbſtzufriedenheit; warfen ſich, anſtatt zum Him - mel zu blicken, und in Demuth vor Gott zu er - ſcheinen, buhleriſche Blicke zu, und vergaſſen alle Ehrerbietung, die man in einem Gotteshauſe zei - gen ſollte. Siegwart gieng, mit einem ſchweren Seufzer aus der Kirche, und nach ſeinem Gaſthof zuruͤck.

724

Kronhelm ſchickte ſeinen Bedienten dahin, und ließ ihn zu ſeiner Schweſter zum Mittags - eſſen bitten. Er ward von ihr guͤtig aufgenommen. Sie war ein Frauenzimmer von 25 oder 26 Jah - ren, das in den Geſichtszuͤgen, das feine weibliche abgerechnet, ihrem Bruder ganz aͤhnlich ſah. Sie hatte viel Anmuth in der Miene, etwas ſchwaͤrme - riſches im Auge, und viele Lebhaftigkeit und Mun - terkeit in ihrem Weſen. Jhr Mann war auch da; er war ſchon in den dreyſſigen, hatte eine ziemlich angenehme Bildung, die er aber durch ein ange - nommnes, kaltes, ſteifes Weſen ſehr verſtellte. Sein Betragen gegen Siegwart war hoͤflich, aber doch von einer Feyerlichkeit und Entfernung begleitet, die alles Zutrauen verbannte. Vor Tiſch wurden die Kinder ins Zimmer gebracht, zwey Maͤdchen von 6 und 7 Jahren, und ein Knabe von 9 Jahren, die wie junge Engel ausſahen. Sie muſten etwas franzoͤſiſch plappern, aber mit Siegwart ſprach der Knabe deutſch, fragte ihn alles, wo er herkomme? wie er heiſſe: Ob er auch einen Papa, und auch eine liebe Mama habe? u. ſ.w. Dann erzaͤhlte er allerley Ge - ſchichten von ſich und ſeinen Schweſtern, von ih - ren Puppen, von ſeinen zinnernen Soldaten, die er herholte und in Schlachtordnung ſtellte. Sieg -725 wart wollte ihm auch helfen, aber er machte, nach ſeiner Meynung, alles unrecht; der Knabe lachte ihn aus, und belehrte ihn eines Beſſern. Dann holte er der Beaumont Magazin, las ihm daraus vor, und erzaͤhlte ihm ein Maͤhrchen. Siegwart muſte auch vorleſen, und ſich von dem kleinen Karl alle Augenblicke korrigiren laſſen. Er mach - te vorſetzlich Fehler, und ſtellte ſich bey den Be - lehrungen des Knaben ſehr aufmerkſam an, wel - ches dieſem auſſerordentlich gefiel. Die Maͤdchen unterhielten ſich mit ihrer Mama, und mit Kron - helm, dem ſie ihre Puppen zeigten, ihre ſchoͤnen Klei - der hererzaͤhlten, und von andern kleinen Maͤdchen unterhielten. Als die Kinder weggebracht werden ſoll - ten, bat der Knabe ſehr, man moͤcht ihn doch bey dem Herrn laſſen! Man verſprach ihm aber, daß er wieder kommen duͤrfte. Bleib ſein da! ſagte er zu Siegwart, als er weggieng.

Bey Tiſch war auch Kronhelms Bruder, ein etwas fluͤchtiger und leichtſinniger junger Menſch, der die witzigen Franzoſen, und beſon - ders Voltaͤrs Schriften ſtark las. Er ſpottete uͤber Univerſitaͤten, Profeſſoren, und gelehrte Wiſ - ſenſchaften, ſprach viel von der Hiſtorie, in der Voltaire ſeine Quelle war; ſagte, er wuͤnſche726 nichts mehr, als Paris zu ſehen; ſchimpfte auf die Steifigkeit der Deutſchen, nahm aber den Muͤnchnerhof davon aus; erzaͤhlte ein paar Hof - geſchichten, und gieng wieder weg, in eine ande - re Geſellſchaft.

Herr von Eller, ſo hieß Kronhelms Schwa - ger, der ſchon ernſthafter dachte, ſuchte ihm die Annehmlichkeiten des Hoflebens von einer andern Seite darzuſtellen, und ihm den Hang, auf dem Land zu leben, zu entleiden. Er ſtellte ihm das Gluͤck vor, um einen großen Herrn zu ſeyn, im - mer hoͤher zu ſteigen, und endlich vielleicht gar zu ſeinem Vertrauen zu gelangen, u. ſ. w. Fuͤr Kronhelm war dieſes kein Gluͤck, und er wich den Ueberredungen ſeines Schwagers mit Klug - heit und Beſcheidenheit aus. Um 3 Uhr muſte Hr. von Eller in eine Seſſion, und ſeine Gemahlin, Kronhelm und Siegwart blieben allein. Das Geſpraͤch ward nun vertraulicher. Die Frau von Eller fragte ihren Bruder, warum er ſo blaß und eingefallen ausſehe? Er ſey ſonſt viel munterer geweſen; jetzt hab er ſo viel Ernſt und Schwermuth in ſeinem Karakter; ſeine Seele muͤſſe eine große Veraͤnderung und tiefe Leiden erfahren haben. Er kenne die Freundſchaft, die727 ſie von jeher gegen ihn getragen, und den An - theil, den ſie immer an ſeinen Schickſalen genom - men habe; er moͤchte daher doch offenherzig gegen ſie ſeyn, und ihr alles offenbaren, was er, ohne Ver - letzung ſeiner Ruhe koͤnne! ꝛc. Kronhelm that es auch, erzaͤhlte ihr mit vieler Ruͤhrung und der groͤſten Aufrichtigkeit ſeine ganze traurige Geſchich - te mit Thereſen, und ſetzte hinzu: So lang ich von ihr getrennt leben muß, und ſie nicht bekommen kann, ſo lang kann ich auch nicht ruhig und nicht gluͤck - lich werden. Mein Herz wird ſie ewig lieben, und ewig um ſie trauren, wenn ich ſie nicht ganz beſitzen ſoll. Fuͤr mich iſt dann keine Ruhe, als im Grab! Seine Schweſter ſagte: |ſie habe von ihrem Onkel einen Theil ſeiner Geſchichte ſchon gewußt; ſie ha - be innerlich um ihn getraurt, ſeine Liebe und ſeine Leiden wuͤrden durch die Hinderniſſe, und durch die Zeit wieder verringert werden; nun erfahre ſie mit inniger Betruͤbniß das Gegentheil. Jch bin in der Abſicht hieher gereiſt, ſagte er, den Onkel auf meine Seite zu bringen; denn, wenn ich nur ſel - ber mit ihm von Thereſen reden, und ihm meinen Zuſtand ſchildern koͤnnte, ſo waͤr alles gut, aber nun iſt dieſes auch nichts. Seine Schweſter beru - higte ihn von dieſer Seite mit der Verſicherung, daß728 der Onkel ſeiner Wahl nicht ganz abgeneigt ſey; und jetzt, da er in Thereſens Gegend komme, ſich gewiß nach ihr erkundigen, oder den alten Hrn. Siegwart ſelbſt beſuchen werde. Der Onkel, ſetzte ſie hinzu, haͤlt alles auf dich, und iſt fuͤr dein Schick - ſal ſehr beſorgt. Er war mit dem Betragen un - ſers Vaters gegen dich nicht zufrieden, aber weil er deine Liebe nur fuͤr ein aufbrauſendes Feuer hielt, ſo glaubte er, behutſam drein gehen zu muͤſſen. Er hat ſich unter der |Hand fleiſſig nach dir erkundigt, beſonders bey einem Hofrath Fiſcher in Jngolſtadt (hier wurde Siegwart roth) und war oft ſehr be - kuͤmmert, wenn er hoͤrte, daß du ſo niedergeſchlagen ſeyeſt. Erſt noch neulich, als man von dir ſprach, ſagte er, ich will mich der Sache annehmen, ſobald ich kann. Und was ich dabey thun kann, Bru - der, das thu ich gewiß. |Davon brauch ich dir nicht erſt Verſicherung zu geben. Kronhelm war uͤber dieſe Nachricht aͤuſſerſt froh, und voll ſuͤſſer Hoffnungen. Er und Siegwart muſten nun der braven Frau viel von Thereſen erzaͤhlen. Sie er - kundigte ſich nach allen, ſie betreffenden Kleinigkei - ten ſehr genau. Kronhelm muſte ihr Thereſens ganzes Ausſehen beſchreiben. Er ſagte: in den meiſten Zuͤgen ſeh ſie ſeinem Siegwart ganz aͤhn -729 lich; nur eine feinere Haut hat ſie, ſagte er, iſt nicht ſo ernſthaft, hat hellere und dunkelblauere Augen, eine nicht ſo hoch gewoͤlbte Stirne. Die Frau von Eller that gegen unſern Siegwart recht vertraut, trank auf Thereſens Geſundheit, und war ganz mit ihm zufrieden. Kronhelm ſagte, auf den Karfreytag wollten ſie wieder zuruͤckreiten; aber ſie drang ſo lang in ſie, am Karfreytag noch in Muͤnchen zu bleiben, um die Prozeſſion zu ſehen, und den feyer - lichen Gottesdienſt und die Trauermuſik bey Nacht mit anzuhoͤren, bis ſie endlich nachgaben. Der kleine Karl kam wieder, und ſpielte mit Siegwart; die Maͤdchen wurden auch nach und nach zuthaͤti - ger und miſchten ſich mit in die Spiele. Sie er - zaͤhlten in der Reihe herum Maͤhrchen, und Sieg - wart muſte das ſeinige auch erzaͤhlen; aber er ſah, wie viel ihm dazu fehle, etwas auch den Kindern wahrſcheinliches, zu erzaͤhlen, denn ſie machten ihm alle Augenblicke Einwendungen und Fragen, die er nicht beantworten konnte. Der Herr von Eller kam auch wieder zuruͤck, und war gegen unſre bey - den Juͤnglinge ganz verbindlich; aber weil er um 6 Uhr mit ſeiner Frau in Geſellſchaft gehen muſte, ſo bat er ſie auf den andern Tag wieder zu Tiſch,A a a730und ſagte, uͤberhaupt, ſo lang ſie in Muͤnchen waͤ - ren, ſollten ſie immer bey ihm eſſen.

Den Abend aſſen Kronhelm und Siegwart in ih - rem Gaſthof in Geſellſchaft, aber ſie gingen bald wieder auf ihr Zimmer, denn in der Geſellſchaft, die aus gemiſchten Perſonen beſtand, wurden faſt lauter Spoͤttereyen uͤber die Religion, Anſpielun - gen auf die Begebenheit, die am bevorſtehenden Feſt gefeyert werden ſollte, und Zweydeutigkeiten vorgebracht, die in der ſogenannten groſſen Welt, wo der gute Ton herrſchen ſoll, ſo gewoͤhnlich ſind, und Leuten von Verſtand und Herz nicht gefallen koͤnnen. Marx erzaͤhlte ſeinem Herrn, nach ſeiner Art, die Merkwuͤrdigkeiten, die er in der Stadt ge - ſehen hatte. Er habe nicht geglaubt, ſagte er, daß ſo viel Menſchen in der Welt waͤren, als er heut angetroffen habe. Es ſey in ſeinem Dorf am Jahrmarkt nicht ſo voll, wie hier auf allen Straſ - ſen; und Junker hab er angetroffen, die weit ſchoͤn - re Kleider haben, als ſein vorger gnaͤdger Herr an hohen Feſten getragen habe, und doch ſeys jetzt nur ein Werktag; wie’s nun erſt am Sonntag ſeyn muͤſſe? Es geb in ſeinem Dorf nicht ſo viele Wagen, als er hier vergoldete Kutſchen angetroffen habe. Man hab ihm auch das Haus gezeigt, wo731 der Herr Kurfuͤrſt wohne. Unten ſey ein Herr geſtanden, von dem er gewiß geglaubt habe, er ſey der Kurfuͤrſt, denn er hat lauter Silber angehabt, aber, als er ſich ſehr tief gebuͤckt, hab des Herrn von Eller Bedienter ihn ausgelacht, und geſagt, das ſey nur ein Laͤufer. Auch in ein paar Kir - chen ſey er geweſen; da ſey ſo viel Gold, daß ei - nem die Augen davon weh thuen. Jn der Einen Kirche ſey das Wahrzeichen ein Stein zwiſchen zwey Pfeilern; wenn man auf dem Stein ſteh, ſo koͤnne man kein Fenſter in der ganzen Kirche ſe - hen. Er wiſſe nicht, wie das ſeyn koͤnn, aber es ſey ſo; er habs ſelbſt geſehen. Jn einer andern Kirche blas ein Engel die Poſaune, daß man glaub, er lebe, und doch ſey er nur von Holz. Es muß wohl Zauberwerk ſeyn, ſonſt koͤnn ers nicht begrei - fen. Jn den Kirchen ſey ſo ſchoͤne Muſik, daß er glaub, die Leute in Muͤnchen muͤſſen all in den Himmel kommen, weil man ihn ihnen ſo ſchoͤn und anmuthig vormale. Es ſey eine Luſt, da zu bethen. Das Herz werd einem ganz weit und leicht, und man glaub, Gott muͤſſ einem gnaͤdig ſeyn, wenn man ſo ſchoͤne Muſik hoͤre; auch glaub er nicht, daß man viel Boͤſes thun koͤnn, wenn man oft ſo was mit anhoͤre; das Herz werd einem ſo732 weich und mitleidig, daß man alles Boͤſe druͤber vergeſſe u. ſ. w. Kronhelm und Siegwart hoͤrten ſeiner Beſchreibung mit Vergnuͤgen zu. Kron - helm gab ihm Taſchengeld, und verſprach ihm auch, ihm in Jngolſtadt eine neue Livree machen zu laſ - ſen; der arme Kerl war ſo dankbar, daß er vor Freuden weinte, und ſagte: Er moͤchte nur wiſſen, wie er bey Gott ein ſo groſſes Gluͤck verdient habe?

Kronhelm ließ ihn weggehn, und theilte nun mit ſeinem Siegwart ſeine Freude uͤber die frohen Aus - ſichten, die er jetzt, in Abſicht auf Thereſen hatte. Er machte ſchon Entwuͤrfe, wie er ſein kuͤnftiges Leben einrichten wollte. Wenn mein Vater ſich nicht zu - frieden geben will, ſagte er, ſo zieh ich auf das Land - guth, wo wir mit unſrer ſeligen Mutter lebten. Jch weis, daß Thereſe ſich mit Wenigem vergnuͤgt, und mein Onkel wird ſchon auch fuͤr uns ſorgen. Wir ſind uns an jedem Ort genug, und brauchen keinen Ueberfluß, wenn uns nur die Liebe mit Zufrieden - heit ſegnet; und das wird ſie thun, ſo lang wir le - ben. Siegwart gab ihm voͤllig Beyfall, und ſagte, ſo denk er auch in Abſicht auf ſeine Mariane. Kronhelm mochte ihn noch nicht fragen, welchen Plan er ſich gemacht habe, und welche Lebensart er733 zu erwaͤhlen gedenke? Siegwart hatte auch im Taumel ſeiner Liebe daran noch nicht gedacht.

Den andern Morgen gingen ſie bey Zeiten wie - der zu Kronhelms Schwager. Dieſer wurde nach und nach vertraulicher, und legte den Hofton ziem - lich ab. Er fragte, ob ſie nicht die Merkwuͤrdig - keiten der Stadt beſehen wollten? und gab ihnen ſeinen Kammerdiener mit. Sie beſahen die Reſi - denz und beſonders den Prinzenhof, wo ſie die vie - len metallenen Bildſaͤulen, die zum Theil ſehr gut gearbeitet ſind, bewunderten; das Antiquarium, mit den vielen marmornen Bildſaͤulen der aͤltern roͤmiſchen Kaiſer, und die Kunſtkammer. Sie be - daurten nur, daß man alles nur ſo fluͤchtig beſehen kann, und von der Menge der Merkwuͤrdigkeiten mehr betaͤubt wird, als daß man das, ſich beſon - ders auszeichnende, ſtudiren, und ſeinem Gedaͤcht - niſſ einpraͤgen kann. Auch giengen ſie in einige Kirchen, wo die Menge von Gemaͤlden, Koſtbar - keiten und Schaͤtzen ſie blendete, und kamen um Ein Uhr zum Eſſen zuruͤck. Herr von Eller frag - te ſie nach verſchiedenem, was ſie geſehen hatten, und freute ſich, daß ſie auf die Alterthuͤmer und die roͤmiſchen Bildſaͤulen am aufmerkſamſten gewe - ſen waren, denn er ſelbſt war ein guter Alterthums -734 kenner, und ein Freund der alten Litteratur. Bey Tiſch ſprach er viel von roͤmiſchen und griechiſchen Schriftſtellern, und war uͤber die Einſichten, die Siegwart und ſein Schwager hatte, nicht wenig entzuͤckt. Er rieth ihnen, ſich in Jngolſtadt, we - gen des Griechiſchen, an den alten Jckſtadt zu wen - den, der es in dieſem Fach ausnehmend weit ge - bracht habe, und zuweilen privatiſſima uͤber den Homer, oder andre Griechen leſe. Auch ruͤhmte er ihnen den Prof. Lory (der jetzt geadelt und ge - heimer Rath zu Muͤnchen, auch Praͤſident uͤber die Univerſitaͤt Jngolſtadt iſt), als einen Mann, deſſen Herz und Verſtand, und Gelehrſamkeit gleich groß ſey. Jch kenn ihn ſehr genau, ſagte er, und hab in der Jugend mit ihm ſtudirt. Er war im Studiren unermuͤdet, forſchte ſelbſt, und pruͤfte al - les, was er hoͤrte. Jm Griechiſchen, Lateiniſchen, Jtaliaͤniſchen und Franzoͤſiſchen war er ſchon dazu - mal zu Hauſe, und ſetzte ſich noch immer mehr drinn feſt. Alles Wiſſenswuͤrdige machte er ſich zu eigen, und erweiterte nachher ſeine Kenntniſſe in den Wiſſenſchaften noch mehr zu Goͤttingen, wo er, auſſer den andern beruͤhmten Lehrern, ſich be - ſonders an den, in ſeinem Fache groſſen Puͤtter hielt, und ſich ſeine ganze Freundſchaft, die er jetzt noch735 durch Briefe unterhaͤlt, erwarb. Er iſt ein trefli - cher Mann, der alle Weisheit der Alten und der Neuen aus ihren Schriften ſammelt, und auf ſich und den Zuſtand ſeiner Mitbuͤrger anwendet, denn er iſt ein aͤchter deutſcher Patriot, der auf ſeinen Reiſen nach Frankreich und Jtalien nicht, wie ge - woͤhnlich, Thorheiten oder Laſter, ſondern Wiſſen - ſchaften, Menſchenkenntniß und Weltklugheit einge - erndtet hat, und ſie nun unter ſeine Mitbuͤrger und in ſeine Schriften ausſtreut. Er hat bey ſei - nem ſtandhaften, deutſchen, maͤnnlichen Karakter, die uneingeſchraͤnkteſte Menſchenliebe und Recht - ſchaffenheit. Kurz er iſt ein Mann, wie es heut zu Tage wenig mehr gibt. Machen Sie ihm nur eine Empfehlung von mir! Er wird Jhnen auch um meinet willen viele Freundſchaft erweiſen. Nach Tiſche zeigte Herr von Eller unſern Juͤnglin - gen ſeine anſehnliche Kupferſammlung, und ver - wunderte ſich uͤber den natuͤrlich guten Geſchmack, den ſie zeigten. Er war aufmerkſam, als er ſie mit ſo vieler Waͤrme von neuern deutſchen Schriftſtel - lern reden hoͤrte, und ließ ſich ſogleich einige Tratt - nerſche Nachdruͤcke von deutſchen Dichtern aus dem Buchladen holen.

736

Kronhelm und Siegwart blieben dieſen Abend bis zehn Uhr da, und giengen ſehr vergnuͤgt nach ihrem Gaſthof zuruͤck. Den andern Morgen, am Karfreytag, giengen ſie in die Jeſuiterkirche, wo ſie mit der groͤſten Andacht eine ſehr ſchoͤne und ruͤh - rende Trauermuſik anhoͤrten, und einen groſſen Theil des vornehmen Muͤnchner Adels ſahen. Sieg - wart wuͤnſchte nichts, als daß ſeine Mariane auch da ſeyn moͤchte, denn unter der Menge von Frauen - zimmern, die er ſah, konnte keine ſein Auge lange auf ſich ziehen. Er dachte nur, wie ſeine Mariane in ihrem ſchwarzen Kleid, und das himmliſche Ge - ſicht mit Flor bedeckt, jetzt auch im Chor knien, und uͤber die Leiden ihres Heilandes heilige und un - ſchuldsvolle Thraͤnen vergieſſen werde.

Nach dem Eſſen ſahen ſie die groſſe Prozeſſion, und die Kreuzigung, die das Jahr darauf auf kur - fuͤrſtlichen Befehl, zum Triumph der geſunden Ver - nunft, abgeſchafft worden iſt. Der Geißler und Buͤſſenden war eine faſt unzaͤhlige Menge. Ganz Muͤnchen, auch der Hof, war an Einem Ort ver - ſammelt, und die Buͤſſenden waren mehr zum Ge - praͤnge, als aus Andacht da. Marx ſagte nachher: das Geiſſeln hab ihm ſo wohl gefallen, daß er bey - nahe Luſt bekommen habe, auch mitzumachen, wenn737 er nur gleich ein leinenes Kleid und eine Geiſſel gehabt haͤtte.

Den Abend aſſen Siegwart und Kronhelm noch einmal beym Herrn von Eller. Kronhelm ſprach mit ſeiner Schweſter nochmals allein wegen There - ſen, und erhielt die wiederholte ernſtliche Verſiche - rung von ihr, ſie wolle ſich ſeiner aufs moͤglichſte annehmen, und gewiß ein kraͤftiges Vorwort bey ihrem Onkel einlegen. Um zehn Uhr nahmen die beyden Juͤnglinge Abſchied, denn ſie wollten den an - dern Morgen, mit dem Tag, wegreiten. Um 11 Uhr giengen ſie in die Frauenkirche, um die groſſe Trauermuſik, die zum Andenken der Kreuzigung des Erloͤſers aufgefuͤhrt wird, mit anzuhoͤren. Die ganze kurfuͤrſtliche Kapelle war zugegen. Der An - blick der Kirche war der feyerlichſte. Eine groſſe Menge von Wachslichtern erleuchtete die Dunkel - heit der Kirche. Oben im Gewoͤlbe ſchwebte der Weihrauchsdampf wie eine Wolke. An den Waͤn - den glaͤnzten die vergoldeten Altaͤre, Gemaͤlde und der Marmor. Die Volksmenge draͤngte ſich, und ihre Stimmen, und der Schall der Gehenden machten ein dumpfes, fuͤrchterliches Gemurmel. Die ſchwarze Kleidung der meiſten Frauenzimmer machte die Scene noch feyerlicher. Auf Einmal738 wurde das wehmuͤthige Miſerere von Allegri an - geſtimmt. Das Gemurmel ſchwieg; alle Geſichter wendeten ſich nach dem Chor hin, und glaͤnzten im Schein der Wachslichter. Jede Bruſt war von Bangigkeit beklommen. Aus allen Mienen ſprach allgemeine Wehmuth. Die Jnſtrumente klangen dumpf wie aus dem Grab. Die tiefe Demuth und die Traurigkeit der Singſtimmen ergoß ſich in jedes Herz. Ein allgemeines Sehnen nach Erbarmung athmete aus jeder Bruſt. Jn Siegwarts Seele wars wie das Sehnen nach der Auferſtehung. Er weinte, denn er dachte ſich die Liebe Chriſti, die fuͤr uns geſtorben iſt, dachte alle die unabſehlichen Fol - gen dieſes Todes, die in alle Ewigkeit fortſtroͤmen; ſah ſeinen Heiland am Kreuze hangen, und mit Hei - terkeit hinab ins Grab blicken; ſah die Augen aller auf ihn gerichtet, die im Elend ſchmachten; ſah die Dunkelheit der Graͤber, und das aͤngſtliche Har - ren der Kreatur nach der Erloͤſung und der Aufer - ſtehung; ſah auch ſeine Mariane mit ſchon halbge - brochnen Augen zu ihm aufblicken. Seine Seele bat zu ihm fuͤr ſie, fuͤr ſich, und alle Menſchen. Laß ſie Alle Eins werden! dacht er, mach ſie Alle ſelig! Zum Schluß ward noch ein herrliches739 Oratorium aufgefuͤhrt, das aller Herzen hob, und mit Ausſichten in die Ewigkeit erfuͤllte.

Marx ging mit Kronhelm und Siegwart heim. Er ſprach lange nichts. Endlich ſagte er: Er glau - be, im Himmel werde einſt lauter Muſik gemacht werden, denn ſchoͤners koͤnne man wol nichts er - denken. Siegwart und Kronhelm legten ſich noch in den Kleidern drey oder vier Stunden zu Bette, und mit Sonnenaufgang ritten ſie aus der Stadt weg. Siegwart freute ſich unausſprechlich, ſeine Mariane bald wieder zu ſehen. Sein Pferd lief ihm viel zu langſam, und er konnte den Abend kaum erwarten. Auf dem ganzen Wege fiel nichts wichtiges vor. Die beyden Freunde unterhielten ſich wechſelsweis von ihrem Gluͤck, und kamen, mit dem Bedienten, Abends ziemlich fruͤh in Jn - golſtadt an, weil Siegwart ſo ſehr getrieben hatte. Seine Mariane lag im Fenſter, und winkte ihm mit den Augen, daß er ſie beſuchen moͤchte. Er hatte auch kaum ſeine Reiſekleider ausgezogen, ſo gieng er mit Kronhelm hinuͤber. Der Hofrath Fiſcher war allein bey ſeiner Tochter im Zimmer, weil die Mutter zu der Schwiegertochter gegangen war, die ſich nicht recht wohl befand. Die Liebenden ſahn einander mit einer Sehnſucht an, als ob ſie740 ſich Jahre lang nicht geſehen haͤtten. Gern waͤren beyde einander in die Arme geflogen, und haͤtten ſich ans Herz gedruͤckt, wenn nicht die Gegenwart des Vaters ſie zuruͤckgehalten haͤtte. Kronhelm und Siegwart muſten viel von Muͤnchen, von der Prozeſſion, und der Trauermuſik erzaͤhlen. Ma - riane hieng an den Augen ihres Juͤnglings, wie die Seele eines Jnbruͤnſtigbetenden am Krucifix. Sie ſchenkte ihm Kaffee ein. Er bemerkte die Stelle, wo ſie die Schaale gehalten hatte, und druͤckte ſie, mit einem Blick auf ſeinen Engel, an den Mund. Nach einer halben Stunde gieng der Hofrath auch zu ſeiner Schwiegertochter, und ent - ſchuldigte ſich bey Kronhelm und Siegwart, daß er ſie allein laſſen muͤſſe. Mariane leuchtete ihrem Vater die Treppe hinunter. Als ſie wieder zuruͤck kam, ſah ſie ihren Siegwart zaͤrtlich an, gab ihm die Hand, und ſank in ſeinen Arm. Er konnte vor Entzuͤcken ſo wenig ſprechen, als ſie. Nur Kuͤſſe und ſeelenvolle Blicke druͤckten die Empfin - dungen ihrer Herzen aus. Haben Sie zuwei - len auch an mich gedacht? fragte Siegwart endlich. Jmmer, immer! gab ſie zur Antwort. Jch ſah hundertmal des Tags nach Jhrem Fenſter, ob ich Sie nicht ſehe? Und dann fiel mir erſt ein, daß741 Sie weit von hier waͤren, und da ward ich trau - rig und weinte. Vorgeſtern und geſtern Abend ſah ich unaufhoͤrlich aus dem Fenſter, ob Sie noch nicht kommen? und als ich mich in meiner Er - wartung betrogen fand, hatt ich tauſenderley trau - rige Vorſtellungen, daß Jhnen ein Ungluͤck be - gegnet ſeyn moͤchte. So oft ich in der Ferne ein Pferd kommen hoͤrte, fing mein Herz laut zu ſchlagen an, weil ich dachte, nun kommt er. Heut, als ich Sie kommen ſah, war ich ſo auſſer aller Faſſung, daß ich fuͤrchte, meine Mutter habe es gemerkt. Das Beſte iſt, daß ſie auch aus dem Fen - ſter ſah, und alſo meine Bewegung nicht wahr - nehmen konnte. Er ſchloß ſie feſter an ſein Herz, und belohnte mit dem heiſſen Kuß der Liebe ihre Zaͤrtlichkeit. Dann fragte ſie, was Kronhelm ausgerichtet habe? und freute ſich uͤber die frohen Ausſichten, die er hatte. Alles Gluͤck der Zaͤrtlichkeit ergoß ſich dieſen Abend uͤber unſre beyde Liebende. Sie empfanden die Seligkeit, ein - ander zu beſitzen, nun noch mehr, weil die kurze Trennung ſie gelehrt hatte, wie unentbehrlich eins dem andern ſey. Marianens Bruder kam ihnen nur allzufruͤh, nach Haus, und das Geſpraͤch ward gleichguͤltiger, auſſer daß die Liebenden ſich zuwei -742 weilen mit dem beredten Blick der Liebe ſeitwaͤrts anſahn. Die Hofraͤthin kam bald darauf auch nach Haus, und hatte eine herzliche Freude uͤber die gluͤck - liche Zuruͤckkunft unſrer Juͤnglinge. Beym Weg - gehn leuchtete Mariane ihrem Siegwart und ſeinem Freund die Treppe hinunter, und erzaͤhlte ihm, wie gut ihm ihre Mutter ſey, und wie vortheil - haft ſie ſehr oft von ihm ſpreche. Eine Nach - richt, die unſerm Siegwart auſſerordentlich ange - nehm war. Nach etlichen Kuͤſſen und Umarmungen trennten ſich die Liebenden, weil ſie fuͤrchteten, der Hofrath moͤchte bald zuruͤckkommen, und ſie in der Hausthuͤre uͤberraſchen.

Den andern Morgen, welches der Oſtertag war, ſah Siegwart ſeine Mariane in der Kirche. Jhre feſtliche Kleidung, ihr aufgeheitertes Geſicht, die hohe Andacht, die draus hervorleuchtete, bezau - berten ſein Herz mehr als jemals. Als er in ſei - ner Freude nach Hauſe gieng, und ſich im Taumel ſeiner Wonne kaum faſſen konnte, da ward er auf Einmal durch Kronhelms Anblick drinn geſtoͤrt. Dieſer kam ganz beſtuͤrzt, mit einem Brief in der Hand zu ihm aufs Zimmer. Jch muß fort! ſagte er, und warf den Brief auf den Tiſch. Siegwart743 ſah ihn betroffen und ſtillſchweigend an. Lies nur! ſagte Kronhelm. Siegwart las:

Lieber Son.

Daß Zibberlein hat mich abermalen hingeworfen, daß ich glauben thaͤt, es ſey aus. Es wirt mir gewiß noch einmal den Fang geben. Will mich in Goddes Nam̃en darauf vorbereiten thun, und mein Schloß beſtellen. Du muoſt darbey ſeyn, darum komm! haſt meiner Seel gnuog Gelt an das verdrakte Stuttieren verwendt, daß ich denk, es ſey genuog. Du weiſt wol, daß bey einem Jun - ker bey den Buͤchern nigs herauskommen thut. Pack alſo auf, und komm baͤlder als balt, oder ’s geht nicht guot. Wenn du kommen thuſt in fier Taͤgen, ſo bin ich dein gedreuer Vatter

Veit Kronehelm.

Was haͤltſt du von dem Brief? ſagte Kronhelm. Jch halt ihn fuͤr ſo ſchlimm nicht, antwortete Siegwart. Daß du fort muſt, das iſt freylich traurig, und fuͤr mich am meiſten, aber ſonſt ſeh ich nichts Boͤſes bey der ganzen Sache. Wenn dein Vater, wie es ſcheint, ſo ſchwach iſt, daß er bald ſterben koͤnnte, ſo wirſt du dein eigner Herr, und dann Schon gut, fiel hier Kronhelm ein;744 aber ich habe eine Ahndung Jch weis ſelbſt nicht. Mein Vater koͤnnte leicht andre Abſichten haben. Er wird wieder von Thereſen anfangen, und da zittr ich, wenn ich dran denke. Sieg - wart ſuchte ihn, ſo viel als moͤglich, zu beruhi - gen, und ihm allen Argwohn zu benehmen. Er ſuchte ihm groͤßre Hofnungen einzufloͤſſen, als er ſelber hatte, und ſprach ihm Muth ein, da es ihm doch ſelbſt daran gebrach; denn der Gedanke, ſei - nen beſten Freund ſo bald zu verlieren, beugte ihn tief nieder. Wenn alles fehlſchlaͤgt, ſagte er, ſo haſt du ja deinen Onkel, auf den du dich verlaſſen kannſt. Er wird ſich der Haͤrte deines Vaters ge - wiß widerſetzen, und ſich deiner annehmen. Durch dieſe und andre Vorſtellungen wurde Kronhelm etwas ruhiger, und beſchloß, gleich den andern Tag abzureiſen. Jch will meine meiſten Sachen hier laſſen, ſagte er; vielleicht komm ich wieder. Wenigſtens will ich alles thun, was ich kann; denn was ſoll ich bey meinem Vater machen, zumal wenn er krank und verdrießlich iſt?

Siegwart beſtellte fuͤr ſeinen Freund einen Miethkutſcher, und fuͤr ſich ein Pferd, um ihn einige Stunden weit zu begleiten. Er verbarg ſeine Traurigkeit ſorgfaͤltig, um ihm nicht den Abſchied745 ſchwerer zu machen, oder ſeine traurige Vorſtellun - gen und Ahndungen zu vergroͤſſern. Kronhelm packte indeſſen ſeine noͤthigſten Sachen zuſammen, und nahm dann beym Hofrath Fiſcher, und eini - gen wenigen Freunden Abſchied. Seine oͤkonomi - ſchen Umſtaͤnde waren bald in Richtigkeit gebracht, da er jedermann ſogleich bezahlte. Gegen Abend war er fertig, ohne daß er ſelber wuſte, wie er dazu gekommen war. Nun konnt er ſich erſt be - ſinnen, und an ſich ſelber denken. Nun fiel ihm erſt die nahe Trennung von ſeinem Siegwart ſchwer aufs Herz. Nun ſollte er zum zweyten - mal, und, Gott weis wie lange? ſich von ſeinem Herzensfreund, von dem Bruder ſeiner Thereſe, der ihm, nach ihr, alles auf der Welt war, tren - nen. Nun ſollt er einem Vater entgegen gehen, der wenig oder gar kein menſchliches Gefuͤhl hatte, der ihm das Kleinod ſeines Herzens rauben wollte. Er ſaß in der Daͤmmerung, ſah ſeinen Siegwart an, und verſank in die tiefſte Nacht des Kummers. Jn ſeiner Seele waͤlzten ſich tauſend Zweifel hin und her. Seine Phantaſie thuͤrmte Gefahren auf Gefahren vor ihm auf. Siegwarts Geſicht kam ihm in der Daͤmmerung wie Thereſens ihres vor. B b b746Die tiefe Traurigkeit, die drinn ſaß, ſchien ihm eine ewige Trennung anzukuͤndigen. Er konnte ſich nicht laͤnger halten, ſprang auf, druͤckte ſeinen Siegwart feſt ans Herz, und rief: Bruder, Bruder, was wird aus uns werden! Unſerm Siegwart ſtuͤrzten die Thraͤnen aus den Augen; er konnte nichts ſprechen, und ſchloß ſeinen Freund noch feſter ans Herz. Wir werden gar zu traurig, ſagte er endlich; laß uns etwas anders ſprechen, oder uns ein wenig ausgehen.

Jch kann zu keinem Menſchen gehen! ſagte Kronhelm; ich weis nicht, wie mir iſt? Jch bin fuͤr alle Geſellſchaft unbrauchbar. Das iſt ein erſchrecklicher Zuſtand! Jch ſeh nichts vor mir, als Trennung und Elend. Jndem ward an die Thuͤre geklopft, und Dahlmund kam. Jch konnte heut nicht genug mit dir reden, Kronhelm! ſagte er, weil jemand bey mir war. Dir und Siegwart hab ichs zu verdanken, daß ich von der Weiſſin los bin, und mit ihrem liederlichen Kerl mich nicht geſchlagen habe. Heut iſt er durchgegangen, und hat ein paar hundert Gulden Schulden hinterlaſ - ſen. Kuͤrzlich hat er noch beym Kaufmann etliche Ellen Stoff zu einem Kleid ausgenommen, und ihr verehrt. Nun will der Kaufmann von ihr747 die Bezahlung, oder ſeinen Stoff wieder, und druͤber wird ſie das Geſpraͤch der ganzen Stadt. O, ich bin ſo froh, daß ſie mich nicht mehr in ihren Klauen hat. Jhr habt brav an mir gehan - delt, daß ihr mich ſo von ihr losriſſet, und ich werd es nie vergeſſen. Es thut mir nur leid, Kronhelm, daß wir dich ſo bald verlieren ſollen. Siegwart lenkte das Geſpraͤch, mit Vorſatz, auf etwas anders, und Kronhelm ward nach und nach ziemlich zerſtreut, und, nach Umſtaͤnden, munter.

Dahlmund blieb noch ein paar Stunden da, und nahm von Kronhelm mit vieler Ruͤhrung Ab - ſchied. Siegwart bat ſeinen Freund, fruͤhzeitig zu Bett zu gehen, weil ſie morgen bald aufſtehen wollten. Er war beſorgt, ſie moͤchten beyde wie - der in den ſchwermuͤthigen Ton herab ſinken, und ſein Freund moͤchte Zweifel aufwerfen, die er nicht im Stand waͤre, umzuſtuͤrzen; denn er ſchloß wirk - lich aus dem Schreiben des Junker Veit wenig Gutes. Kaum war er allein auf ſeinem Zimmer, ſo brach ſein Schmerz mit aller Gewalt aus. Er fuͤhlte den Verluſt, den er leiden ſollte, in ſeinem ganzen Umfang. Es war ihm jetzt gedoppelt ſchmerzhaft, ſeinen einzigen und beſten Freund zu verlieren, da er kaum einen Vertrauten ſeiner Liebe748 entbehren konnte, und doch keinen Menſchen auf der Welt wuſte, dem er ſich ſo ganz anvertrauen koͤnnte, denn mit Dahlmund war er nicht vertraut genug. Nach vielen Thraͤnen, und tauſend aus - geſtoßnen Seufzern legte er ſich endlich zu Bette.

Um 4 Uhr weckte ihn Kronhelm wieder, und war ſo bewegt, daß er kein Wort ſprechen konnte. Sie tranken ſtillſchweigend mit einander Kaffee, packten das noch uͤbrige zuſammen, und reiſten um 5 Uhr ab. Mariane trat in ihrem Nachtzeug ans Fenſter, gruͤßte Kronhelm noch einmal halb freund - lich und halb traurig; auf ihren Siegwart warf ſie einen ſchmachtenden und liebevollen Blick. Vor dem Thor fragte Siegwart: Weis ſies, daß ich dich nur etliche Stunden weit begleite, und heut wieder zuruͤckkomme? Ja, ich hab ihrs geſtern geſagt, ant - wortete Kronhelm. Weil Siegwart im Reiten ne - ben der Kutſche nicht gut mit ſeinem Freunde ſpre - chen konnte, ſo ließ er den Marx auf ſein Pferd ſitzen, und ſetzte ſich zu ihm hinein, denn jetzt, in der freyen Luft, wurden ihre Herzen leichter, und ſie konnten eher mit einander ſprechen. Jhre Un - terhaltung war, wie natuͤrlich, traurig. Jhre Blicke ſprachen mehr, als ihre Zunge. Gruͤß Thereſen tauſendmal! ſagte Kronhelm; ſchreib mir alles, was749 du von ihr weiſt! Unſer Schickſal muß ſich nun bald entwickeln. Wenn ſie nur Muth genug hat, alles zu erwarten! Zwar ich hoffe viel; aber, Bru - der, unſer Schickſal ſteht in Gottes Hand; wir koͤnnen nichts thun, als ihm willig folgen ohne Murren. Jch habe doch bey allem, was mir noch bisher begegnete, erfahren, daß es nichts als weiſe Guͤte iſt, wodurch uns Gott regiert. Dieſer Grund - ſatz kann mich allein bey allen Widerwaͤrtigkeiten troͤſten. Laß ihn in dir leben und weben, und ſorg, daß ihn auch mein Engel ſich ganz zu eigen macht! Jch ſchreibe dir, ſobald als moͤglich. Lie - ber Freund, daß wir uns trennen muͤſſen, iſt ſehr hart, und doch werden wir noch einſehn, daß es auch weiſe Guͤte war, die uns trennte. Wir haͤtten uns weit beſſer genieſſen koͤnnen. Jeder Augenblick, der uns ungenoſſen hinfloh, ſchmerzt mich jetzt. Wie oft ſaſſen wir eine Stunde lang beyſammen, ohne zehn Worte zu ſprechen. O, wenn doch der Menſch die Zeit recht zu genieſſen wuͤſte! Aber hinter drein wird man weiſe. De - ſto beſſer, ſagte Siegwart, werden wir die Zeit be - nutzen, wenn uns Gott wieder zuſammen fuͤhren ſollte. O Freund, wird es wohl geſchehen? Ja, ich hoff es, hoff es, ſagte Kronhelm. Ohne750 dieſe Hoffnung waͤre mir die Trennung unertraͤg - lich. Aber ſchreib mir fleiſſig. Laß mich nicht in meiner Einſamkeit verſchmachten! Du mich auch nicht, Kronhelm! Du weiſt, wie ich ohnehin zur Schwermuth geneigt bin. Wenn ich dich nicht haͤtte, und es ginge mir in meiner Liebe widerwaͤr - tig! Bruder, Bruder, ſchreib mir! Du muſt gluͤcklich werden, ſagte Kronhelm, du, und Mariane! Wenn ein Menſch es werth iſt, ſo ſeyd ihrs. Aber, Bruder, du muſt dich bald entſchlieſſen, welche Le - bensart du waͤhlen willſt. Ein Geiſtlicher wirſt du nun doch nicht, und das iſt recht gut, ich war nie damit zufrieden. Aber, da Mariane weis, was du bisher ſtudirt haſt, ſo koͤnnte ſie leicht unruhig werden. Neiß ſie bald aus ihrer Unruhe! Jch wills thun, Bruder! verſetzte Siegwart. Es geht mir ſchon lang im Kopf herum, und quaͤlt mich heimlich. Jch bin ſelber noch nicht ſchluͤſſig; ſo bald ichs bin, ſchreib ich dir davon. Ein Geiſtli - cher kann ich freylich nicht werden. Gott wird mirs vergeben, und ich hoffe, mein Vater wird es auch zufrieden ſeyn. Jch muß mich erſt an The - reſen wenden. Thu es bald! ſagte Kronhelm du weiſt, wie der Engel denkt.

751

So fuhren ſie unter freundſchaftlich wehmuͤthi - gen Geſpraͤchen noch drey Stunden fort. Kron - helm fragte ſeinen Freund etlichemal, ob er nun nicht ausſteigen und umkehren wollte? Aber Sieg - wart wollte gar nichts davon hoͤren. Laß mir noch die Freude, ſagte er, dich ein paar Stunden laͤnger zu haben! Wer weis, wenn wir wieder ſo beyſam - men ſind. Zuletzt wagte Kronhelm nicht mehr, etwas zu ſagen, bis ſie endlich in ein Dorf, 5 Stun - den von Jngolſtadt kamen.

Hier hielt der Fuhrmann, um die Pferde zu fuͤt - tern. Siegwart und Kronhelm aſſen etwas weni - ges zuſammen, und ſprachen nur ſehr ſelten. Viel - leicht iſt dieß das letzte Mittagseſſen, ſagte Sieg - wart ſeufzend. Nicht ſo zaghaft, Bruder, ver - ſetzte Kronhelm; man ſieht ſich immer wieder, hat einmal ein weiſer Mann geſagt; ſeitdem iſt dieß mein Troſt bey jeder Trennung. Wer weis, ob ich nicht in wenig Wochen oder Tagen wieder in Jngolſtadt bin? Und dann ſind wir ja nicht ſo weit von einander. Hofnung iſt freylich das beſte, wenn man ſonſt nichts hat, ſagte Siegwart.

Endlich ſagte der Fuhrmann: Er habe ange - ſpannt. Kronhelm, der eben ein Glas Mallaga in der Hand hatte, und trinken wollte, ſtellte das752 Glas wieder hin, ohne einen Tropfen zu trinken, ſtand auf, legte ſeinen Ueberrock an, gab ſeinem Be - dienten ſeinen Stock und Degen, und umarmte ſeinen Siegwart. Keiner konnte ein Wort ſprechen. Sie gingen aus der Thuͤre, und und umarten ſich noch ein - mal. Gott ſey mit dir! ſagte jeder! Gruͤß The - reſen tauſendmal, und Marianen! Leb wohl, Bruder, vergiß meiner nicht, ſchreib mir fleißig, und ſey gluͤck - lich! Mit dieſen Worten ſtieg Kronhelm in den Wa - gen. Siegwart eilte, thraͤnenlos, an den Schlag, druͤck - te ſeinem Freunde noch einmal die Hand. Marx nahm den Hut weinend ab, und der Wagen ſchwand aus Siegwarts Augen.

Die Wirthsleute ſtunden da, und wiſperten zu - ſammen. Die Herren muͤſſen recht viel auf einan - der halten, ſagte die Wirthin; ſie machen, daß einem das Weinen ankommt. Ja, ja, das ſcheint ein braver Herr zu ſeyn, der da fortgefahren iſt. Er war ſo ſtill und freundlich, daß man ihm nicht boͤs ſeyn konnte. Nun, Gott geb ihm Gluͤck auf den Weg! Dieſe Rede voll Einfalt ruͤhrte unſern Siegwart ſo ſehr, daß ihm nun erſt die Thraͤnen in die Augen ſchoſſen. Er trank noch ein paar Glaͤſer Wein, bezahlte, und ritt fort.

753

Auf dem Wege brach ſein Herz ganz. Nun al - lein zuruͤck zu reiten, ſich mit jedem Schritte mehr von dem Freund ſeiner Seele zu entfernen, der Gedanke begleitete ihn unaufhoͤrlich. Gott ſegne ihn! war alles, was er denken konnte. Gott! ich hab ihn durch Mistrauen ſo beleidigt! O vergib mir, wenn es moͤglich iſt! Weiter fuͤhlte ſeine Seele nichts. An Marianens Buſen ſeinen Schmerz auszuweinen, war der Wunſch, der ihn befluͤgelte, daß er in drittehalb Stunden zu Jngol - ſtadt ankam. Der Hofrath Fiſcher ſah aus dem Fenſter, als er abſtieg, und fragte, ob er den Herrn von Kronhelm gluͤcklich verlaſſen habe? Jch komm hinuͤber, ſagte Siegwart, wenn Sie es er - lauben wollen. Nach einer halben Stunde gieng er hinuͤber, und brachte dem Hofrath tauſend Em - pfehlungen von Kronhelm. Der Hofrath lobte ihn ſehr. Mariane war nicht gegenwaͤrtig. Sieg - wart war daruͤber innerlich ſehr unruhig, aber ſei - ne Verwirrung ſchien von der Trennung von Kron - helm herzuruͤhren. Nach anderthalb Stunden wollte er wieder gehen. Der Hofrath ſagte aber, ob er nicht noch auf ſeine Tochter warten wolle? Sie muͤſſe alle Augenblicke von einem Beſuch bey einer Freundin zuruͤckkommen. Dieß war eine Herz - ſtaͤrkung fuͤr unſern kranken Juͤngling.

754

Nach einer Viertelſtunde kam ſein Engel. Ver - zeihn Sie! war ihr erſtes Wort. Jch vermuthe - te Sie hier, aber ich konnte mich nicht losreiſſen. Jſt er gluͤcklich fortgekommen? Tauſend Gruͤſſe, ſagte er; der Abſchied war unendlich ſchmerzlich fuͤr uns beyde. Ach, ich glaub es; verſetzte ſie, und ſeufzte. Nach einigen Erzaͤhlungen ging der Hof - rath auf ſein Zimmer, weil er Geſchaͤfte hatte. Siegwart ſank in Marianens Arm, und weinte. Eine Stunde lang konnte er nichts, als ſeufzen. Sein Mund hing feſt am ihrigen, und Thraͤnen miſchten ſich in ihre Kuͤſſe. Verzeihn Sie, Theu - re! ſagte er, ich kann heut nicht ſprechen. Gott weis, wie mir zu Muth iſt! Haͤtt ich Sie nicht, ich verginge. Sie ſtreichelte ihm die Thraͤnen von den Wangen, oder kuͤßte ſie weg. Nach einer halben Stunde hoͤrten ſie ein Geraͤuſch. Mariane ſprang ans Klavier und ſpielte eine Phantaſie. Es kam niemand auf das Geraͤuſch. Sie ſpielte eine traurige Opernarie von Haſſe. Es war ein Ab - ſchiedslied. Das Wort: Adio! war drinn auſſer - ordentlich ausgedruͤckt. Sie hatte ausgeſpielt, und ſah ihn an. Er wollte eben an ihr Herz ſinken, als der Hofrath wieder ins Zimmer kam. Nach755 einer Viertelſtunde ging Siegwart weg. Zu Hauſe machte er ein Lied:

Nach Kronhelms zweyten Abſchied.
Graͤnzt die Freude denn hienieden
Jmmer nur an Traurigkeit?
Jſt uns denn kein Gluͤck beſchieden,
Das ſich ohne Thraͤnen freut?
Kronhelm, ach, und du, Erwaͤhlte,
Schmerz und Wonne ſchafft ihr mir!
Kaum daß Liebe nicht mehr quaͤlte,
Quaͤlet Freundſchaft mich dafuͤr.
Kaum daß Sie dem wunden Herzen
Endlich Linderung ertheilt,
Wird mit neuen bangen Schmerzen
Die zerrißne Bruſt zertheilt.
An die Eine Seite ſinket
Das erflehte Maͤdchen hin;
Ach, und von der andern winket
Unerforſchte Schickung ihn.
Wandl, o Freund! nach tauſend Thraͤnen,
Dem erweinten Maͤdchen zu!
Erndte, nach ſo langem Sehnen,
Der erweichten Liebe Ruh!
756
Und Du, Mariane, eile,
Segen laͤchelnd, an mein Herz,
Und umarme mich, und heile
Der verlaßnen Freundſchaft Schmerz!

Den andern Tag gieng Siegwart traurig und niedergeſchlagen umher. Der Schmerz um ſeinen verlohrnen Freuud begleitete ihn aller Orten hin. Seine Mariane konnte er nur ſehen, aber nicht ſprechen. Abends fieng er einen ſehr wehmuͤthigen Brief an Kronhelm an. Den Tag drauf erhielt er folgenden Brief von Thereſen.

Allerliebſter Bruder!

Jch eile, dir die angenehmſte Nachricht zu ſchreiben. Vor drey Tagen ließ ſich ein fremder Herr bey unſerm theuren Vater melden. Wir machten uns ſo ſchnell als moͤglich auf ſeine An - kunft gefaßt. Er war ſehr hoͤflich, und bat ſich, auf eine angenehme Art, ſelbſt zu Gaſt. Er hatte aber ſeine eigne Kuͤche und drey Bediente bey ſich, die ihn Herr geheimer Rath nannten. Jch war in der Kuͤche, und machte einige Zuruͤſtungen. Er frug aber nach mir, und ſagte, daß ich nothwen - dig mit bey Tiſche ſeyn muͤſſe. Du kannſt dir nicht vorſtellen, wie leutſelig und herablaſſend der Herr757 war, und trug doch einen Stern auf der Bruſt. Aber ob er gleich ſo vornehm ausſah, ſo muſt ich ihn doch lieb haben, denn er hatte nicht den ge - ringſten Stolz an ſich. Mit mir gab er ſich viel ab, und fragte mich allerley aus. Sie ſind ja ſo blaß, liebes Jungferchen, ſagte er; in Jhrem Au - ge ſitzt ſo etwas; iſts vielleicht ungluͤckliche Liebe? Jch ward feuerroth, und konnt ihn lange nicht mehr anſehn. Er lobte mich auch gegen unſern l. Vater ſo, daß ich gern weit weg geweſen waͤre, ob mirs gleich im Herzen wohl that, von einem ſo braven Mann gelobt zu werden. Mit dem l. Va - ter gieng er auf einen recht vertraulichen Fuß um, daß dieſer ganz vergnuͤgt und offenherzig wurde. Einmal, als die Bedienten weg waren, wendete er ſich ſchnell zu mir, und ſagte: Kennen Sie nicht einen jungen Kronhelm? dabey ſah er mich ſo ſteif ins Auge, als ob er mir durchſehen wollte. Gott weis, wie mir da auf Einmal wurde? Mein Ge - ſicht brannte. Jch weis nicht, was ich zur Ant - wort gab? Jch glaub, ich ſagte: Ja, ich kenn ihn. Er iſt mein Neffe, ſagte er; ich heiß auch Kron - helm. Unſer Vater ſtand auf, weil der Herr ſehr viel in Muͤnchen gilt, und wollte ſich wegen ſei - ner Vertraulichkeit entſchuldigen. Er muſte aber758 gleich wieder nieder ſitzen. Wir ſind gute Freun - de, Herr Amtmann, ſagte er, und muͤſſen uns noch naͤher kennen lernen. Keine Komplimente! So kennt Sie meinen Neffen, gutes Maͤdchen, und liebt ihn auch? Nicht wahr? Scheuen Sie ſich nur nicht, es zu ſagen! Jch bins wohl zu - frieden! Er verdient Sie, und iſt Jhnen auch gewiß recht gut. Faſſen Sie ſich nur! Es iſt mir recht lieb. Mein Wort haben Sie. O liebſter Bru - der, es war mein Gluͤck, daß er ſo freundlich war, und daß ich weinen konnte; ſonſt waͤre mein Herz zerſprungen. Jch muſte mein Schnupftuch vors Geſicht halten, ſo ſehr weint ich. Dieſe Thraͤnen ſind alles werth, ſagte er; und dann zu unſerm Vater: Unſre Kinder ſind einander auch werth; nicht wahr, lieber Herr Amtmann? Mein Neffe hat eine gute Wahl getroffen. Ein ſolches Maͤdchen haͤtt ich in meiner Jugend auch geheira - thet, wenn ich eins gefunden haͤtte. Jhr ſollt mir an Kindesſtatt ſeyn! Sie lieben ihn doch noch recht herzlich? Hier nahm er mich bey der Hand. O Bruder, ich dacht, ich haͤlt in Thraͤnen zerflieſſen moͤgen. So ein Herr iſt mehr werth, als die ganze Welt! Unſer beſter Vater ſprach kein Wort, und ward ganz blaß. Mein Bruder759 iſt ein harter Mann, ſagte der geheime Rath. Jch will ernſtlich mit ihm reden. Morgen reis ich zu ihm. Wenn er nicht nachgiebt, ſo nehm ich mich meines Vetters an; ich kann ihm ſchon Vermoͤgen geben, denn ich habe keine Kinder. Dann redete er mit unſerm Vater allerley ab. Mir ſagte er, ich ſollte guten Muth faſſen, und mich gar nichts anfechten laſſen; ſein Vetter muͤſſe mein ſeyn! und was er ſonſt noch ſchoͤnes ſagte, das ich vor Freuden nicht alle merken konnte. Er verſprach, in etlich Wochen Richtigkeit zu machen, und dem lieben Vater, und mir ſelbſt zu ſchreiben. Gegen Abend fuhr er wieder weg. Unſern Vater umarmte er, wie ein Bruder den andern; und mich kuͤßte er auf die Backe, und ſagte: Mein Vetter wird doch nicht eiferſuͤchtig werden? Wir ſchickten ihm 1000 heiſſe Segenswuͤnſche nach.

O Bruder, ich kann dir nicht ſagen, was alles in mir vorgeht? Es iſt, als ob ich ein ganz neues Leben anfienge. Die Welt hat ſich um mich her veraͤndert. Die Thraͤnen ſtehen mir immer in den Augen, und ich kanns noch kaum glauben, was ſich mit mir zugetragen hat. Meinen Kron - helm, meinen ewig, ewig theuren Kronhelm ſoil ich wieder haben! Groſſer Gott! Meine Leiden760 waren zwar ſehr groß, aber dieſen Lohn, dieſes alles uͤberwiegende Gluͤck hab ich nicht verdient. O mach michs wuͤrdig! Mach michs wuͤrdig! Bruder, was iſt alles Leiden dieſer Zeit gegen ſo eine Stunde? Und doch iſt mir oft ſo bang! Jch habe ſo ſchwarze Ahndungen, ſo ſchwere Traͤume! Jch fuͤrcht immer noch, ich ver - lier es wieder. Groſſer Gott, vergib mir, wenn es Undank oder Mistrauen iſt? Hilf mein Gluͤck mir ertragen! Mir iſts noch zu ſchwer! Tau - ſend, tauſend Gruͤſſe und Umarmungen an meinen, meinen Kronhelm! Jch kann ihm noch nicht ſchreiben. Bruder, Gott weis, ich kann nicht! Mein Herz iſt noch gar zu voll. Hilf mir be - ten, und Gott danken! Unſer beſter Vater iſt wie neugebohren und gruͤßt tauſendmal. Gott! wie hat ſich alles mit uns veraͤndert! Jch weis, du nimmſt an meinem Gluͤck Antheil. O Bruder, Gott mache dich doch auch recht gluͤcklich! Schreib mir doch bald

deiner unausſprechlich gluͤcklichen Schweſter
Thereſe Siegwart.

Siegwart konnte ſich der Freudenthraͤnen nicht enthalten, als er dieſen Brief geleſen hatte. 761Gott, wie gut biſt du! rief er einigemal aus. Dank! Dank! Du kannſt mich auch nicht ver - laſſen! O mein Kronhelm, o mein Kronhelm, du biſt gluͤcklich! O meine Schweſter, meine Schweſter! Er warf ſich auf ſeine Knie. Gott! Barmherziger, Gnaͤdiger! O, auch mich, auch mich! Und Marianen! Der halbe Tag zerfloß ihm unter einem fortdaurenden Taumel. Bald ſchrieb er etliche Zeilen in dem Brief an Kronhelm! Bald gieng er wieder auf dem Zimmer auf und ab. Zuweilen grif er nach einem Buche, wollte drinn leſen, und ſchlug es wieder zu; ſeine Seele war viel zu zerſtreut, und ganz getheilt. Er ſehn - te ſich nach jemand, dem er ſeine Freude mitthei - len koͤnnte; aber, ach, er hatte niemand, und nun fuͤhlte er, mitten in ſeiner Freude, die Tren - nung von ſeinem Kronhelm doppelt wieder. Er ſah Marianen am Fenſter: er wuͤnſchte, ihr den Brief zeigen, und ſie an ſeiner Freude mit Antheil nehmen laſſen zu koͤnnen; aber er wagte es nicht, ſie wieder zu beſuchen, da er erſt vor zwey Tagen da geweſen war. Nach Tiſche ſah er ſie mit ihrem Bruder ausgehn, und vermuthete, da ſie einenC c c762Sonnenſchirm trug, daß ſie vor das Thor gehen werde.

Er zog ſich auch an, und gieng vor das naͤchſte beſte Thor, weil er nicht wuſte, wo ſie hingegan - gen war. Es war ſchon ein voͤlliger Fruͤhlingstag, die Sonne ſchien warm, alle Kraͤuter und Fruͤh - lingsblumen keimten ſchon hervor; die Lerchen ſan - gen in der Luft, und die Aemmerlinge, Zaunkoͤni - ge und andre Voͤgel im Gebuͤſch. Seine Seele ſchwang ſich mit den Lerchen auf, und freute ſich der reinen aufgehellten Luft. Freude und Weh - muth graͤnzten aneinander; er war bewegt, daß ſein Aug in Thraͤnen glaͤnzte. Er ſehnte ſich nach Marianen, aber ſie war nirgends. Von fern ſah er ein Frauenzimmer gehn; ſein Herz klopfte; er eilte, um ſie einzuholen; aber es war nicht ſein En - gel, und er ward noch wehmuͤthiger. An einer etwas erhoͤhten Stelle, die von einer Dornhecke geſchuͤtzt war, fand er endlich blaue Veilchen. Er ſchrie laut auf, als er ſie ſah, pfluͤckte, und band ſie mit einem Grashalm in ein Straͤuschen. Haͤtt euch Mariane! ſagte er halb laut; moͤchtet ihr an ihrem Buſen bluͤhn! O Kronhelm, waͤrſt doch du da! Aber du biſt gluͤcklich, und ich kann763 dich nicht beneiden! Singend, und mit ſich ſelber ſprechend gieng er wieder nach der Stadt zu.

Nur ſo allein, Herr Siegwart? rief eine Stim - me aus einem Gartenhaͤuschen. Stutzend ſah er auf, und erblickte Marianen. Sie rief ihm in den Garten. Sind Sie hier? ſagte er; ich habe Sie geſucht. Jch ſahs, daß ſie ausgiengen. Das iſt mein Garten, antwortete ſie. Jch haͤtts Jhnen gern wiſſen laſſen, daß ich hier bin, aber ich konn - te nicht. Wo iſt Jhr Bruder? fragte er. Auf die Jagd gegangen, war die Antwort. Das iſt ja erwuͤnſcht, daß Sie hier ſind. Was machen Sie? trauren Sie noch um Jhren Kronhelm? Hierauf erzaͤhlte er ihr die freudige Nachricht, die er heut von ſeiner Schweſter erhalten hatte, und gab ihr den Brief zu leſen. Sie nahm herzlichen Antheil daran, und freute ſich uͤber das Zutrauen ſehr, das ihr Juͤngling zu ihr hatte. Darf ihr Bruder mich hier antreffen? fragte nachher Sieg - wart O ja, antwortete ſie. Er iſt Jhnen jetzt recht gut. Man muß ſchon ein uͤbriges bey dem Menſchen thun. Wenn man nur ihm nicht im Wege ſteht, dann laͤſt er einen ſchon zufrieden. Mein Vater iſt Jhnen auch ſehr gut, und beſon - ders meine Mutter. Jch glaube, daß ſie etwas764 merkt, und wenn ſie mich drum fragen ſollte, ſo wuͤſt ich nicht, warum ich ein Geheimniß draus machen muͤſte, wenn nur Sie mir gut ſind. Er ſank in ihren Arm, kuͤßte ſie feurig, und ſchwur ihr ewig Liebe.

Der ganze Abend war fuͤr unſre Liebende ein heiliges Feſt. Der Bruder kam erſt nach zwo Stunden wieder, und war ſehr vergnuͤgt, weil er ein paar Haſen geſchoſſen hatte. Siegwart be - gleitete ſein Maͤdchen nach Haus, und hatte nie einen ſchoͤnern Fruͤhlingstag gehabt.

Zween Tage drauf kam der Miethkutſcher wie - der, der Kronhelm nach Haus gebracht hatte, und brachte von ihm folgendes Briefchen an Siegwart:

Liebſter Bruder!

Den Augenblick bin ich angekommen, und kann alſo noch nichts ſagen. Die Reiſe war mir trau - rig, ſo allein, und von dir getrennt, den ich ſo ſehr liebe! Mein Vater empfieng mich, nach ſeiner Art, freundlich, und iſt lange ſo krank nicht, als ich glaubte. Er konnte im Zimmer auf und abgehn, als ich ankam. Er fuͤrchtet eben den Tod, daher war er ſo beſorgt beym letztern Anfall. O Bruder, was werd ich hier anfangen unter ſolchen Leuten? 765Du verſtehſt mich. Warum muſten wir uns tren - nen? Mein Herz iſt voll von tauſend Dingen, aber jetzt kann ichs nicht ausſchuͤtten vor dir. Naͤch - ſtens einen großen Brief! Schreib mir ja bald! Was macht Mariane? Tauſend Gruͤſſe an den En - gel, und dem andern zehntauſend! Leb wohl, Be - ſter! Der Fuhrmann will weiter, und ich wollt ihn doch nicht leer fahren laſſen.

Ewig dein!
Kronhelm.

N. S. Mach uͤber deinen Brief an mich zwey Kouverte, und auf das aͤuſſere die Aufſchrift: Herrn Amtmann Friedrich. Der Brief wird mir richtig eingehaͤndigt.

Siegwart hatte nur auf dieſen Brief und Nach - richt von ſeinem Freund gewartet, um ſeinen Brief abſchicken zu koͤnnen; denn er hatte noch keine Adreſ - ſe gehabt. Nun ſchrieb er umſtaͤndlich und mit groſſen Freuden alles, was ihm Thereſe berichtet hatte, wuͤnſchte ſeinem Kronhelm tauſend Gluͤck und ſchickte den Brief ab. Das wird eine Freude ſeyn, dacht er, wenn er noch nichts weiß, und dieſen Brief erbricht! Nun wird er fuͤr alle ſeine Leiden getroͤſtet werden.

766

Zehn Tage lang wartete er mit der groͤſten Sehnſucht, aber nur vergeblich, auf neue Nach - richten. Endlich kam an einem Mittewochen, wel - ches nicht der gewoͤhnliche Poſttag war, folgen - der Brief:

Liebſter Bruder!

Seit drey Tagen bin ich hier, in der ſchrecklich - ſten Verfaſſung, die du dir denken kannſt. Alles, alles iſt verlohren! Meine Ruhe, meine Hoffnung, meine Thereſe, alles! O Bruder, es iſt aus mit mir! Zwey Tage war ich bey meinem Vater, da giengs an. Seine Krankheit war nur ein Vorge - ben, um mich her zu locken. Eines Abends war ich allein bey ihm auf dem Zimmer. Wie ſtehts mit deinem Menſchen? ſagte er; haͤngſt du ihr noch an? Jch weiß nicht, ob ſie die Jungfer Siegwart meynen? ſagte ich. Jch habe noch alle Urſache, ſie hochzuſchaͤtzen. Was? Canaille! rief er, und das wagſt du mir ins Geſicht zu ſagen? Daß dich alle Teufel holen! Jch zertrete dich, du Ra - benaas! Mit dieſen Worten kam er auf mich zu, packte mich bey der Kehle feſt, und wuͤrde mich er - wuͤrgt haben, wenn ich mich nicht vorgeſehn, und767 losgeriſſen haͤtte. Kaum konnt ich mich zuruͤckhal - ten, mich an ihm nicht zu vergreifen. Als ich los war, ſprang ich aus dem Zimmer aufs meinige, und ſchloß hinter mir zu. Jch hoͤrt ihn noch eine Stunde lang im Haus herum laͤrmen, und die Thuͤren zuſchlagen. Kurz vor Sonnenuntergang ritt er weg; ich wuſte nicht, wohin? Meine Schwe - ſter kam erſchrocken zu mir aufs Zimmer, weinte und ſchrie, und bat faſt auf den Knien, daß ich mich doch geben ſollte; ſonſt koͤnns kein Menſch mehr aushalten bey dem Vater. Schon ſeit vier - zehn Tagen ſey man nicht des Lebens bey ihm ſicher, ſeit mein Onkel weg ſey. Dieſer war nehmlich bey ihm hier, und da gabs groſſen Streit, ver - muthlich wegen meiner. Jch konnte nichts Gewiſ - ſes erfahren, denn ſie ſprachen allein miteinander. Meine Schweſter that gar klaͤglich, aber ich ſagt ihr: Jch koͤnn es nun nicht aͤndern; Thereſen koͤnn ich nicht aufgeben, wenn es auch mein Leben ko - ſten ſollte, u. ſ. w. Du weiſt das alle ſelbſt ſchon. Das Maͤdchen konnte mir nicht Unrecht geben, aber ſie ſagte nur: Jch ſtuͤrzte mich, und Thereſen, und ſie alle in Lebensgefahr. Kunigunde ſtecke dahinter, und regiere meinen Vater ganz. Er ſey wie ra - ſend, und koͤnn alles thun, u. ſ. w. Jch beſchloß768 alſo, wegzugehen; weiß der liebe Gott wohin? und machte meine Einrichtungen ſo, daß ich in drey oder vier Tagen auf die Jagd zu reiten, und nicht mehr zuruͤck zu kommen dachte. Aber es gieng anders.

Den andern Morgen kam mein Vater wieder, that ganz freundlich, und ſtellte ſich, als obs ihm leid waͤre, daß er geſtern ſo mit mir umgegangen war. Auf den Nachmittag, ſagte er, wollen wir ein wenig auf die Jagd reiten, und das uͤbrige, zu ſeiner Zeit, im Frieden mit einander abthun. Jch konnte mich in ſein Betragen nicht finden, und vermuthete nichts Gutes; doch konnt ichs auch nicht abſchlagen, mit zu reiten. Wir ritten in einen Forſt, eine Stunde weit vom Dorf, nur mit Einem Jaͤger; und, nach einigen Schuͤſſen, ſagte er: wir wollen aufs naͤchſte Dorf zum Amtmann reiten; ich muß etwas trinken. Von der Sache ſprach er gar nichts.

Beym Amtmann war der Baron Striebel; wie es ſchien, ganz von ungefaͤhr. Der Amtmann ſah aus, wie ein Spitzbube, dem ich keinen Heller an - vertrauen moͤchte. Nach drey Viertelſtunden kam ein Wagen mit dem alten Seilberg, mit Regine Stellmann, und dem luͤderlichen Jobſt. Das769 kam mir bedenklich vor; aber ich merkte weiter nichts. Die Stellmann war mir jetzt mit ihrer buhleriſchen Freundlichkeit noch unausſtehlicher, weil ich von meiner Schweſter wuſte, was ſie ſeit der Zeit mit dem ſuͤſſen Silberling fuͤr einen aͤrgerlichen Liebeshandel gehabt hatte. Jch haͤtte ſie lieber an - ſpeyen, als viel mit ihr machen moͤgen, und doch war ſie ſo zuthaͤtig, daß ich nicht wuſte, wohin? Man ſprach mir ſtark zu, zu trinken, und im Aerger trank ich ziemlich. Nach und nach fielen von Seiten Jobſts und meines Vaters, und des Amtmanns allerley Anſpielungen vor: Wir gaͤben ſo ein huͤbſches Paar ab, u. ſ. w. daß ich wol merken konnte, es ſey abgekartet, und auf mich gemuͤnzt. Jch that aber, als ob ichs nicht hoͤrte, oder nicht verſtuͤnde. Jch ſah immer auf der Uhr, und ſehnte mich weit weg. Einmal gieng ich in den Stall hinunter, ſah nach meinem Pferd, und machte etwas am Gurt zurechte, das vorher auf der Jagd aufgegangen war. Jch hielt mich mit Fleiß lang auf, und kam erſt nach einer Viertel - ſtunde wieder aufs Zimmer. Da ſaſſen ſie all auf Einem Haufen, ſteckten die Koͤpfe zuſammen, und fuhren auseinander, als ich herein trat. Das machte mich nun noch ſtutziger. Mein Vater ſagte:770 Hoͤr, Karl, das Fraͤulein hier wollt ich dir eben wuͤnſchen! Sie iſt ſchoͤn, hat Geld, und iſt von ſteinaltem Adel. Verzeihen Sie, Papa, ſagt ich, und zuckte die Achſeln; Sie wiſſen Ey was? rief er, freylich weis ich! Aber, ſchlag mich der Donner, da wird nichts draus! Lieber zieh ich dir die Haut ab! Es leb Fraͤulein Stell - mann! Trinks mit! Jch konnts, ohne die Hoͤflichkeit zu beleidigen, nicht abſchlagen. So, Karl, das iſt brav! Jhr muͤſt ein Paar werden; nicht wahr, Fraͤulein? Sie ſah mir unverſchaͤmt ins Geſicht, lachte, und gab mir die Hand. Jch ließ es ſo geſchehen, weil ich dachte, hier wird doch nichts ausgemacht, und allein will ich ſchon mit ihm reden.

Schade, daß nicht gleich ein Pfaff bey der Hand iſt! ſagte mein Vater; man koͤnnt ſie gleich zuſammengeben. O, da iſt Rath vor, ſagte der Amtmann, hier iſt ſchon ein Pfarrer! indem machte er ein Seitenzimmer auf, und ein dicker Pfaffe trat heraus. Jch riß mich von der Stell - mann los, und ſprang auf. Papa, rief ich, iſt das Ernſt? Freylich, Kerl, rief er, und riegelte die Saalthuͤre zu. Man wird dich ſchon krie - gen, du vermaledeyte Beſtie! Jch ward in771 dem Augenblick wie raſend, und ſprang in das Zimmer hinter mir, das aus Verſehen offen ge - blieben war, und ſchlug die Thuͤre zu, daß das Schloß zuruͤckfuhr. Von da gieng eine Thuͤre nach dem aͤuſſern Saal; ich hinaus, die Treppe hinunter, in den Stall aufs Pferd, und beym Hof hinaus! Vom Fenſter herab geſchah ein Schuß, der mir nichts that. Nach! Nach! ſchrie mein Vater. Jch flog beym Dorf hinaus, wie der Blitz. Beym letzten Haus hoͤrt ich ſchon hinter mir her galoppiren. Mein Vater wars, mit 3 oder 4 andern Neutern. Sie waren mir ſchon ſo ganz nah auſ dem Hals, daß ich ihn fluchen hoͤren konnte. Ueber einen breiten tiefen Grafen ſetzt ich wie der Wind. Es geſchah noch einmal ein Schuß. Mein Pferd wendete ſeitwaͤrts. Auf Einmal entſtand ein ſchreckliches Geſchrey. Jch ſah mich um, und ſah eben noch meinen Vater in den Graben ſtuͤrzen. Jch nahm mir nicht Zeit, nochmals umzuſehn. Endlich, nach einer halben Viertelſtunde merkt ich keinen Menſchen mehr hinter mir. Vermuthlich waren ſie bey meinem Vater geblieben, um ihm aufzu - helfen. Jch ritt links in einen dicken Wald hinein. Nach einer guten halben Stunde fand772 ich einen Holzweg, auf dem ich gerade fort ritt. Es ward ſchon ſehr dunkel, und der Weg war mir gaͤnzlich unbekannt. Endlich kam ich aus dem Holz, und ungefaͤhr um eilf Uhr in ein Dorf, wo ich noch in einer Huͤtte Licht ſah und mich erkundigte, wo ich waͤre? Ein altes Muͤt - terchen ſagte mir, das Dorf heiſſe Reiſensburg, und lieg eine gute halbe Stunde von Guͤnzburg. Mit dem Namen: Guͤnzburg fuhr der Gedanke durch meine Seele, unter die kaiſerlichen Voͤlker zu gehen, und mich bey unſerm Hauptmann an - werben zu laſſen. Bey dem Gedanken ward mir auf Einmal wohl, denn ich ſah nun einen Aus - weg, da mirs vorher war, als ob ich in einem Jrrgang wandelte. Krieg und Tod war mir Eins; denn was kann ich anders wuͤnſchen, als den Tod? Jch ſpornte mein Pferd, und kam nach einer Viertelſtunde zu Guͤnzburg an. Jn der Krone ſtieg ich ab, weil ich wuſte, daß der Haupt - mann da logirt; und als ich hoͤrte, daß er noch nicht zu Bette ſey, ließ ich mich bey ihm melden, und trug ihm meine Abſicht vor. Er nahm mich mit Freuden auf, und nun geh ich in vier oder fuͤnf Tagen auf der Donau als Freywilliger mit dem Transport nach Schleſien, wo vermuthlich773 eine Kugel auf mich wartet, und meiner Qual ein Ende macht.

O Bruder, ſo weit iſts mit mir gekommen. Das ſind nun meine Hoffnungen! Gott, was wird aus Thereſen werden? Schick ihr dieſen Brief, wenn dus fuͤr gut haͤltſt, und ſchreib ihr das uͤbri - ge! Troͤſt ſie, wenn du kannſt! Jch bins nicht im Stand. An meinen Onkel hab ich vor 2 Tagen geſchrieben, daß er Sorge traͤgt, daß ihr mein Va - ter nichts thut, und daß er mir Geld ſchickt, denn ich hab nur 15 Gulden bey mir, und mein Pferd nehm ich mit. Der Hauptmann will mir indeſſen Geld auf den Weg mitgeben. Mein Onkel kann meinen Schritt unmoͤglich misbilligen; es war mir nichts anders uͤbrig. Jch gehe nicht aus dem Haus, um nicht entdeckt zu werden; ſonſt waͤr ich zum P. Philipp gegangen. Schreib mir unter der Adreſſe an den Hauptmann!

Jch kann dir nicht ſagen, wie mir iſt. An The - reſen darf ich kaum gedenken, und doch iſt ſie faſt mein einziger Gedanke. Sie auf ewig nun ver - lieren! Sie auf ewig nicht mehr ſehen! Und doch iſt dieß all mein Troſt, daß ich nun dem Tod ent - gegen gehe. Die Preuſſen ſchieſſen gut, und ich will mich immer dahin ſtellen, wo der Tod am774 naͤchſten iſt. O Bruder, ich kann nicht anders. Jch will meine Pflicht thun, als Soldat, aber dann muß der Tod mein Lohn ſeyn. Mein Va - ter mags bey Gott verantworten, daß er mich ſo weit gebracht hat! Troͤſte meinen Engel! Dieß iſt alles, was du thun kannſt. Leb wohl, Bruder, ewig wohl! Vielleicht kriegſt du bald den letzten Brief von mir. Hab Dank fuͤr alle deine viele Liebe! Gruͤß deine Mariane! Laß ſie mich bedau - ren! Gott bewahre dich vor einem ſo ſchrecklichen Schickſal, wie das meine iſt! Beth fuͤr mich, daß ich ſelig ſterbe! Jch muß abbrechen. Es wird mir baͤnger ums Herz. Troͤſte Thereſen, daß einſt Gott dich troͤſte! Leb ewig wohl, und bewein mich! Schreib ja bald! Der Hauptmann ſchickt mir den Brief nach.

Ewig, bis an meinen Tod der Deinige.
Kronhelm.

Jn dem Brief lag folgendes Blatt an Thereſen, unverſiegelt:

Was ſoll ich, ach, was ſoll ich der Geliebten meiner Seele ſchreiben? Auch der letzte, ſchwache Rohrſtab iſt zerbrochen, den die Hoffnung mir gereicht hatte. Dein Bruder, ewig Theure! mag775 mein Ungluͤck dir erzaͤhlen! Jch kanns nicht. Die - ſe blutigen Zaͤhren, die ich auf das Blatt hin wei - ne, ſind das Letzte, was ich dir in dieſem Leben weihen kann. Meine Seele iſt tief gebeugt zur Erden, und ſchmachtet nach dem Grabe. Dir zu leben, war der Wunſch, der mich bisher noch an den Leib feſſelte. Nun er hin iſt, kenn ich kei - nen Wunſch mehr, als fuͤr dich zu ſterben. Jch eile dahin, wo der Tod laurt. Jch will ihn aus ſeinem Hinterhalt herausweinen, daß er komm, und mich in ſeinen eiſernen Arm ſchließe. O Thereſe! Was ich wuͤnſchen kann fuͤr mich, iſt ei - ne Thraͤne, daß du ſie dem Juͤngling weineſt, der dich liebte, wie kein Sterblicher geliebt hat. Wei - ne ſie, und ſey dann gluͤcklich, wenn dus ſeyn kannſt ohne mich! Jch hab keinen Troſt fuͤr dich! Wie kann der troͤſten, der ſonſt keinen Freund hat, als den Tod! Bethen kann ich, wenn noch das Gebeth des Elends hilft. Gott! Nur ei - nen Tropfen Troſt fuͤr ſie! Jch will gerne durſten, bis mein Ende koͤmmt. Thereſe! Nicht wahr, ich quaͤle dich? Nun, verzeih! Jch wuſt es nicht; ſonſt haͤtt ich meine Hand gelaͤhmt, eh ich dieſes Blatt ſchrieb! Aber ich muſte noch zu dir reden. Leb denn wohl, Engel! und hab Dank fuͤr deine776 Liebe! Gott, warum muſte ſie doch ſo belohnt wer - den? Leb ewig wohl! Jch kann nichts ſchreiben. Meine Saͤfte ſtocken. Aber reden mußt ich. Wenn Du Bothſchaft hoͤrſt: Er iſt todt, dann jauchze laut auf, und ſag: Er iſt gluͤcklich. Ach The - reſe, wenn Du doch auch ſtuͤrbeſt! Es iſt ſo was ſuͤſſes um den Tod, und wir ſind ſo elend. Stuͤrbſt Du doch mit Deinem

Kronhelm.

Die Bewegung, in die unſer Siegwart durch dieſe beyden Briefe gerieth, kann man ſich mehr vorſtellen, als beſchreiben. Anfangs war er ganz betaͤubt, und konnte es kaum glauben; zuletzt brach ſein Schmerz in laute Klagen und in Thraͤnen aus. Nach der erſten heftigen Erſchuͤtterung fieng er an, Plane zu machen, ob ſein Freund nicht noch zu retten ſey? Erſt beſchloß er, nach Guͤnzburg zu reiten, und, wo moͤglich, ſeinen Freund noch zu - ruͤck zu halten. Aber, was ſollte er ihm ſagen? Welche Gruͤnde hatte er, durch die er ihn zuruͤck halten koͤnnte? Und der Weg war weit. Vie - leicht war ſein Freund indeſſen ſchon abgereiſt. Endlich, nach tauſend Entwuͤrfen, die im erſten Augenblick annehmlich ſchienen, und im zweyten777 wieder verworfen wurden, ſchien ihm dieſer noch der beſte zu ſeyn, nach Muͤnchen zu Kronhelms Onkel zu reiſen, ihm die Sache ſo dringend vorzu - ſtellen, als moͤglich, und ihn zu bewegen, ſich ſeines Vetters thaͤtig anzunehmen, ihn aufs ſchleunigſte zu retten, und entweder ſelbſt ſogleich nach Guͤnzburg zu reiſen, oder ihn mit genugſamer Vollmacht da - hin zu ſchicken. Er beſtellte ſich ſogleich ein Pferd, um weg zu reiten, und den andern Tag in Muͤn - chen zu ſeyn. Nur das lag ihm am Herzen, daß Mariane die Urſache ſeiner Reiſe erfahren moͤchte! Zu gutem Gluͤck traf er ihren Bruder an; erzaͤhlte ihm, daß er in Kronhelms Geſchaͤften ſchnell nach Muͤnchen reiſen muͤſte; und bat ihn, es ſeinen Eltern und ſeiner Schweſter zu erzaͤhlen, und ihnen ſeine vielfache Empfehlung zu machen.

Nach einer Stunde ritt er weg, und ſah, zu ſei - ner groͤſten Freude, ſeine Mariane noch im Fenſter, der er einen zaͤrtlichen Blick zuwarf.

Er ritt bis ſpaͤt in die Nacht hinein; ſchlief auf einem Dorf nur einige Stunden, und kam den an - dern Abend in Muͤnchen an; aber, weils ſchon ſpaͤt war, wagte er es nicht mehr, zum geheimen Rath zu gehen. Den folgenden Morgen ließ erD d d778ſich durch einen Miethbedienten nach dem Hauſe bringen und melden. Aber zu ſeiner groſſen Be - ſtuͤrzung hoͤrte er, der geheime Rath ſey nicht hier. Er erkundigte ſich bey einem Bedienten; dieſer gab ihm kurzen Beſcheid, und ſagte, ſein Herr ſey ſchon vor drey Tagen mit ſeinem Kammerdiener unver - muthet auf der Poſt abgereiſt, er wiſſe nicht, wo - hin? Mehr konnte Siegwart nicht erfahren. Jn der Betaͤubung lief er zu Kronhelms Schweſter, die ihn ſogleich vor ſich ließ. Er erzaͤhlte ihr, in der aͤuſſerſten Verwirrung, faſt ohne Zuſammen - hang die ganze Geſchichte ihres Bruders, ſagte, warum er nach Muͤnchen gekommen ſey, und frag - te ſie, wo der geheime Rath hingereiſt ſey? Sie war aufs aͤuſſerſte betroffen, und hatte, wie verſteinert, zugehoͤrt. Als ſie etwas von ihrem Staunen zuruͤckkam, und ſich durch Thraͤnen Luft gemacht hatte, ſagte ſie, ſie wiſſe vom geheimen Rath und ſeiner ploͤtzlichen Abreiſe nicht das min - deſte. Seit ſeiner Zuruͤckkunft habe ſie ihn nur Einmal geſehen, und mit ihm von ihrem Bruder geſprochen. Er habe ſie verſichert, daß es alles gut gehen werde. Er ſey bey ihrem Vater geweſen, dieſer nehme durchaus keine Gruͤnde an. Nun woll er ſich ſeines Vetters ernſtlich annehmen. Er779 kenne Thereſen; ſie hab ihm auſſerordentlich gefal - len, und ſein Neffe ſoll ſie haben. Dieſe Nach - richt habe ſie ganz beruhigt; ſie haͤtte wirklich ih - rem Bruder geſchrieben, und geſtern den Brief nach Jngolſtadt geſchickt; denn von ſeiner ploͤtzli - chen Abreiſe, und der vorgeblichen Krankheit ihres Vaters habe ſie nicht das geringſte gewußt.

Nun fieng ſie aufs neue an, ihren ungluͤcklichen Bruder zu beklagen, und bitterlich uͤber ſein Schick - ſal zu weinen. Endlich fing ſie ſich mit Siegwart zu berathſchlagen an, was nun zu thun waͤre? Er wollte ſelbſt nach Guͤnzburg reiten, aber ſie wider - rieth es ihm. Wahrſcheinlich, ſagte ſie, werden Sie meinen Bruder, nach ſeinem eignen Schreiben, nicht mehr da antreffen. Sollt er aber noch da ſeyn, ſo koͤnnen wir durch einen Brief, der ohne - dieß ſchneller hinkommt, eben das ausrichten. Wenn wir ihn verſichern koͤnnen, daß mein Onkel ſich ſei - ner ganz gewiß annehmen, und ihm Jhre Schwe - ſter geben will, ſo muß ihn das zuruͤckhalten! Wir wollen ihm jetzt augenblicklich ſchreiben; denn in einer Stunde geht die Poſt ab. Siegwart, der ſich ohnehin ſehr nach ſeiner Mariane zuruͤckſehnte, ließ ſich dieſen Vorſchlag gefallen, und gieng in ein Kabinet, wo er einen ſehr beweglichen Brief an780 ſeinen Kronhelm ſchrieb, und ihn um alles in der Welt willen bat, in Guͤnzburg zu bleiben, oder, wenn er ſchon abgegangen waͤre, ſogleich zuruͤckzu - kehren, weil er von den Bemuͤhungen ſeines On - kels alles hoffen, und gewiß mit Thereſen vereinigt werden koͤnne. Die Frau von Eller ließ ihn ihren auch ſehr ruͤhrenden Brief leſen, und ſchickte beyde augenblicklich auf die Poſt. Sie bat ihn zum Mittagseſſen. Er nahms an, ſagte aber, er wolle heut noch wegreiten, um noch eine gute Strecke Wegs zu machen. Jhrem Mann, bat ſie, moͤcht er nicht ſagen, warum er nach Muͤnchen gekommen ſey? Weil er noch nichts davon wiſſe, und leicht Hinderniſſe in den Weg legen koͤnnte. Unſerm Siegwart wurde nun wieder leichter ums Herz, weil er Einen Stral von Hoffnung fuͤr ſeinen un - gluͤcklichen Freund ſah. Er gieng in ſeinen Gaſt - hof, um ſein Pferd auf den Nachmittag zu beſtel - len; nach einer Stunde kam er wieder zu der Frau von Eller, die indeſſen von ihrem Schrecken ſich er - holt, und wegen ihres Bruders gute Hoffnung hat - te. Sie lobte unſern Siegwart ſehr, daß er fuͤr ſeinen Freund ſo viel thue, und die Reiſe uͤber - nommen habe. Jhre Schweſter, ſagte ſie, muß ein herrliches Maͤdchen ſeyn, wenn ſie Jhnen gleich781 iſt. Jch kann meinem Bruder keine beßre Gattin wuͤnſchen, und ſehne mich recht darnach, ſie bald meine Schwaͤgerin zu nennen. Wenn nur mein Onkel bald zuruͤckkommt, dann ſoll, hoff ich, alles noch gut gehen. Jndem kam ihr Mann, und em - pfieng unſern Siegwart freundlich. Er erkundigte ſich nach ſeinem Schwager, und verwunderte ſich uͤber ſeine ſo beſchleunigte Abreiſe von Jngolſtadt. Bey Tiſch wurde viel uͤber den Junker Veit ge - ſprochen. Sie beklagten ſich alle uͤber ſein rohes Weſen, und daß er ſich ſo von Kunigunden regie - ren laſſe.

Bald nach dem Eſſen empfahl ſich Siegwart, nachdem er erſt noch einige Augenblicke mit der Frau von Eller allein geſprochen hatte, und ritt wieder nach Jngolſtadt zuruͤck. Unterwegs dachte er nur an Kronhelm, an Thereſen, und an ſeine Mariane. Er dachte hin und her, ob er ſeiner Schweſter etwas von dem ungluͤcklichen Vorfall ſchreiben ſollte? und konnte nicht mit ſich einig werden. Den folgenden Tag kam er ſehr ſpaͤt wieder in Jngolſtadt an, denn er wollte nicht noch eine Nacht weg bleiben; der Gedanke, ſeiner Ma - riane nah zu ſeyn, hatte zu viel ſuͤſſes fuͤr ihn. Den andern Tag ſtund er etwas ſpaͤt auf, und ſah,782 nachdem er eine halbe Stunde vergeblich ausgeblickt hatte, ſeinen Engel endlich am Fenſter. Es war ihm, als ob ſie etwas traurig waͤre; dieſes beunru - higte ihn ſehr, und er ſehnte ſich nach dem Abend, da er ſie im Konzert ſehen, und vielleicht auch ſpre - chen wuͤrde; denn, ſeit Kronhelm weg war, wagte er es nicht, ſo oft hinuͤber zu gehen. Er hatte auch gehofft, vielleicht einen Brief von ſeinem Freund anzutreffen, aber vergeblich.

Des Abends im Konzert vermehrte ſich ſeine Un - ruhe noch mehr, als er ſeine Mariane ſehr nieder - geſchlagen fand. Erſt am Ende des Konzerts be - kam er Gelegenheit, ſie auf einige Augenblicke allein zu ſprechen. Mit etlichen Worten erzaͤhlte er ihr die Urſache ſeiner Reiſe, und von Kronhelms Ungluͤck. Sie ſeufzte, und ſagte: Jch haͤtt Jhnen auch viel Unangenehmes zu ſagen. Gehen Sie vielleicht morgen Nachmittags bey meinem Garten vorbey? Es waͤr moͤglich, daß ich da waͤre. Eh ſie weiter reden konnte, kam ein goldgeſtickter Herr dazu, der ſich mit abgeſchmackter Hoͤflichkeit nach ihrem Be - finden erkundigte.

Siegwart ſchlich ſich auf die Seite, denn er ward vom Schmerz zu heftig uͤberwaͤltigt, und lief fort, eh noch das Konzert geendigt war. Sein783 Zuſtand zu Hauſe war der grauſamſte. Gott, was iſt das? dachte er, und ſann hin und her, was ſich zugetragen haben moͤchte? Seine Einbildungs - kraft ſtellte ihm alles Fuͤrchterliche vor. Er ſah nichts als Trennung und Elend vor ſich. Maria - nen hielt er ſchon fuͤr verlohren; nur die Art, wie ſies waͤre? war ihm noch ein Raͤthſel. Die ganze Nacht konnte er nicht ſchlafen. Tauſend Schrecken ſtanden vor ihm; und, wenn er die Augen zuſchloß, ſah er Blut und Tod. Oft fuhr er auf, und ſchlug ſich vor die Stirne; waͤlzte ſich im Bette hin und her, ſtand auf, legte ſich wieder, und aͤchzte, wie ein Sterbender. Endlich erweichte ſich die er - muͤdete Natur zu Thraͤnen. Seine Seufzer wur - den nun Gebet und heiſſes Flehen. Mit dem Tag ſtand er wieder auf, und ſah aus dem Fenſter nach dem Wetter, ob es gut bleiben wuͤrde? Der Him - mel war etwas umzogen, aber nach und nach hellte er ſich auf, ſo daß er hoffen konnte, Marianen heut zu ſehen. Den ganzen Morgen ſann er wieder nach, woruͤber Mariane ſo beſtuͤrzt ſeyn moͤchte? Zuweilen dachte er an Kronhelm und ſeine Thereſe. Hier fand er wieder neuen Stoff zur Unruh. Er war noch nicht mit ſich einig, ob er ſeiner Schwe - ſter Kronhelms Brief ſchicken, oder ſie in ihrer fro -784 hen Hoffnung laſſen ſollte? Er wartete, da es heu - te Poſttag war, mit Sehnſucht auf Briefe; lief ſelbſt ein paarmal auf die Poſt, aber es war nichts fuͤr ihn da.

Der ſehnlich erwuͤnſchte Nachmittag kam. Ma - riane gieng um drey Uhr allein aus dem Haus. Eine halbe Stunde drauf gieng er mit bangem Zittern, und aͤngſtlicher Erwartung, bey einem an - dern Thor hinaus ihrem Garten zu. Wie er - ſchrack er, als der Garten und das Haͤuschen drinn noch zugeſchloſſen war! Mit banger Ahndung gieng er in das, nah daran ſtoſſende Waͤldchen, und warf ſich unter einer Eiche nieder. Alle Blumen um ihn her, und alles Gras riß er mit der Wurzel aus; die Voͤgel, die im Gebuͤſche zwitſcherten, ver - ſcheuchte er; ſprang wieder auf, draͤngte ſich durchs dichteſte Gebuͤſch durch, und machte ſich dann, ſeiner Ungeduld wegen, ſelbſt wieder Vor - wuͤrfe. Endlich gieng er wieder an den Garten; Mariane ſah aus dem Haͤuschen, und ſprang her - ab, ihm die Thuͤre aufzumachen. Jch kam ſpaͤt, ſagte ſie, ich muſte eine Freundin mit nehmen, es war nicht zu aͤndern. Wir koͤnnen aber doch al - lein reden. Sie weis ſchon davon. Jhre Freundin war ein Frauenzimmer, das Siegwart785 ſchon oft im Konzert geſehn, und ſingen gehoͤrt hatte. Sie ſprach mit ihm von der Muſik, und lobte ſein Spiel, und ſeine Stimme.

Nach einiger Zeit gieng ſie von ſelbſt in den Garten hinunter, und ließ unſre Liebenden allein. Siegwart ſah Marianen traurig an, und wagte kaum, eine Frage an ſie zu thun. Sie fragte erſt noch nach einigen Umſtaͤnden von Kronhelms und Thereſens Schickſal, und ſagte dann: Auch uns, lieber Siegwart, droht ein Ungluͤck. Unſre Liebe iſt ſo heimlich nicht mehr, als ich glaubte. Meine Schwaͤgerin weis davon, und vor ihr war ich immer am meiſten bange. Jch muß Jhnen nur geſtehen; meine Mutter hat mit mir druͤber geſprochen. Jch geſtund ihr alles. Sie iſt an ſich nicht unzufrie - den mit unſrer Liebe, aber ſie ſagt, daß ſie voller Angſt ſey, wenn mein Vater es erfahre, und das werde durch unſre Schwaͤgerin nur gar zu bald ge - ſchehen. Jch bedaure dich, meine Tochter, ſagte ſie. Jch habe eure Liebe lange ſchon gemerkt, und heim - lichen Gram im Herzen drob getragen. Jch weis nicht, wie dein Vater von Siegwart denkt, aber du kennſt ihn, daß man ſich in nichts, ohne ſein Vorwiſſen, einlaſſen ſoll; und ich kann dirs nicht verbergen, er hat Abſichten mit dem Hofrath Schra -786 ger (der geſtern zu mir kam, als ich mit Jhnen ſprach). Wenn nun unſers Theodors Frau, die ihm gut iſt, noch dazu kommt, dann weis ich nicht, wie es gehen wird? Pruͤf dich recht, meine Toch - ter, wie es um dein Herz ſteht; ob du den Antrag annehmen kannſt? Jch fiel ihr weinend um den Hals. Ach meine Mutter! ſagte ich. Jch weis wohl, meine Tochter, fiel ſie mir ein, und weinte mit; Siegwart waͤre beſſer. Aber denk, er iſt ein Student, und darauf ſieht dein Vater ſehr. Jch will thun, was ich kann; aber ich kann nichts verſprechen. Halt nur alles recht geheim, mit Siegwart! und vertrau auf Gott! das iſt das Beſte. Jch rathe dir, wenn dein Herz noch nicht ganz an ihm haͤngt, ſo reiß dich los! Denn ich ſehe nichts vor mir, als tauſend Kummer und Ver - druß. O Mutter, ſagt ich, thun Sie was Sie koͤnnen, und entfernen Sie den Hofrath! Denn er iſt mir unausſtehlich. Gott erbarm ſich meiner! Siegwart iſt allein der Mann. Gott weis, daß ich ohne ihn nicht leben kann. Hier ſank Sieg - wart weinend, und halb ohnmaͤchtig an ihr Herz. Sie werden mich verlaſſen, und mir untreu wer - den, ſagte er nach einiger Zeit. Nein, bey Gott nicht! war ihre Antwort. Lieber ſterben! Aber,787 Theurer, vorſichtig muͤſſen wir uͤber alles ſeyn! Sonſt ſind wir verlohren. Ach, es iſt doch um - ſonſt, ſagte Siegwart. Gott, wenn Sie ver - zweifeln wollen, fiel ſie ein, was ſoll dann ich an - fangen? Bey allen Heiligen verſprech ich Jhnen, daß ich ewig widerſtreben will. Dieſe Hand ſoll nie ein andrer haben! Mich ſoll niemand zwingen. Lieber bleib ich ewig, wie ich bin. Seyn Sie ſtark, und ſprechen Sie mir Muth ein! Meine Mutter wird mir beyſtehn, und Gott! Mein Va - ter iſt doch Vater, und ich bin ſein Kind. Meine Thraͤnen ſollen vor ihm flieſſen, bis ſein Herz er - weicht wird. Nur jetzt handeln Sie behutſam! Lieber jetzt auf eine Zeit getrennt, als ewig. Wenn Sie mich noch lieben, Siegwart, o ſo ſeyn Sie ſtark! Meiden Sie mich jetzt! Es kann nicht an - ders ſeyn. Jch geb ihnen Nachricht, wenn ich kann. Jch ſchwoͤrs, bey der Mutter Gottes, daß ich ſtandhaft bleibe. Bleiben Sie es auch! Aber gehn Sie jetzt! Wir ſind nicht ſicher. Kommen Sie das naͤchſtemal nicht ins Konzert! Er kuͤßte ſie noch einigemal mit feuervollen Kuͤſſen; konnte kaum vor Thraͤnen und vor Schluchzen reden, und nahm Abſchied. Um Gottes Willen, bat er, blei - ben Sie mir treu, und geben Sie mir Nachricht,788 ſonſt vergeh ich. Bleiben Sie mir treu! Mit dieſen Worten gieng er, und lief auf einer andern Seite weit ins Feld hinaus. Seine Seele war in der fuͤrchterlichſten Arbeit. Alles, was ſagen konn - te, war:

Verflucht ſeyſt du, betruͤgeriſche Liebe! Von dir allein ſtammt unſer Elend her!

Erſt in der ſpaͤten Daͤmmerung kam er zu - ruͤck. Sein Herz war jetzt wehmuͤthiger geworden, und ſein Schmerz goß ſich in Thraͤnen aus. Eine Stunde lang blieb er ohne Licht auf ſeinem Zim - mer, gieng ſchnell auf und ab, rang die Haͤnde, faltete ſie zuweilen, und betete. Endlich ſchrieb er mit der heftigſten Bewegung, und mit tauſend Thraͤnen dieſes Gedicht nieder:

Jm dunkeln Thale ſtand ich, und jammerte;
Der Seele bange Leiden umwoͤlkten mich;
Verkannter Liebe Schmerzen hiengen
Fuͤrchterlich uͤber mein mattes Haupt her!
Da brach ein Glanz aus Wolken, da ſchimmerte
Vor mir der Huͤgel; ſiehe, da ſtandeſt du,
O Hofnung, hell im Sonnenſtrale,
Winkteſt mir armen Verlaßnen freundlich.
789
Hinauf! Hinauf! Da wand ich durch Dornen mich;
Des Bluts nicht achtend; lachte die Schlangen an,
Die wuͤthig ziſchten; ſah den Glanz nur,
Und den eroͤfneten Arm der Hofnung!
O Goͤttin, Goͤttin! Sage, was wandelt dort?
Es kommt; es kommt! Es laͤchelt, o Goͤttin, mir!
Jſts Mariane? Mariane?
Birg mich, o Goͤttin! Es kommt; es lacht
mir!
Jn meinem Arm? Jch ſinke vor Seligkeit!
Am Herzen mir? O Heilige, ſteh mir bey!
Mein biſt Du? Gott, und Engel Gottes,
Helft mir die laſtende Freude tragen!
Wo bin ich, Engel? Wieder ins Thal geſtuͤrzt?
Umhuͤllt von neuer, daͤmmernder Traurigkeit?
Der Huͤgel wieder truͤb in Wolken?
Engel, und Menſchen! Wo bin ich, bin ich?

Ein Thraͤnenſtrom ſtuͤrzte auf das Blatt hin, als er dieſes ausgeſchrieben hatte. Seine ganze Seele ſchien ſich ausgieſſen zu wollen. Der Klang von Marianens Klavier riß ihn aus dieſer fuͤrch - terlichen Lage. Er legte ſich ins Fenſter, und lauſchte. Sie ſpielte wehmuͤthig. Er weinte; aber790 ruhiger; denn ihre ſanfte Stimme floß in ſeine Seele, wie das Lied der Nachtigall nach einem Sturm. Endlich ſang und ſpielte ſie ein Lied, voll Entſchloſſenheit, voll Hofnung, und Ergeben - heit in Gottes Willen. Ruh und Zuverſicht traͤu - felte, wie Abendthau in ſein Herz herab. Er ſah zum Himmel auf. Die goldnen Sterne blinkten hell. Gott, Gott! ſeufzte er; du Schoͤpfer aller! und du Vater aller! Jeder Stern in ſeiner Bahn! Jeden lenkeſt du, und ſiehſt du! Siehſt auch mich, und Marianen! Alles lebt, und jauchzt ob deiner Guͤte. Gott, du Vater aller! Sey auch mein, und Marianens Vater! Der du dieſe Sterne ſchufeſt; haſt auch mich, und ſie er - ſchaffen. Gott! Barmherziger! Gnaͤdiger! Maͤchtiger! Nein, du wirſt, du kannſt uns nicht verlaſſen! O, ich fuͤhls, du kannſt uns nicht ver - laſſen! Jn deine Haͤnde geb ich mein, und Ma - rianens Schickſal! Sey du unſer Vater! Send uns Muth, und Zuverſicht und Hofnung! Hilf uns alles tragen, was du ſendeſt! Sey du unſer Vater! Auf Einmal ward ſein Herz leicht. Er ſah in der ganzen Schoͤpfung nichts, als Selig - keit und Segen; fuͤhlte ganz von Gottes Guͤte ſich umfloſſen; war lebendig uͤberzeugt, daß Gott kein791 Geſchoͤpf ganz ungluͤcklich machen kann; daß alles, was er thut, zu unſerm Beſten abzweckt. Freu - denthraͤnen floſſen in die Thraͤne des Elends. Er dankte Gott fuͤr alles, was er ihm gegeben hatte, auch fuͤr ſeine Leiden. Voll ſichrer Zuverſicht und Hofnung gieng er ſchlafen; und ward durch einen ruhigen und milden Schlaf erquickt. Am Morgen, als er aufwachte, betete er mit heiſſer Jnbrunſt fuͤr Kronhelms und Thereſens Schickſal, und dann erſt fuͤr ſich und Marianen. Endlich bekam er auch um zehn Uhr einen dicken Brief von Kronhelm. Mit dem Zittern der Hofnung und Erwartung und der Angſt, brach er das Packet auf, und fand einen Brief von Thereſen und von Kronhelm. Erſt las er Kronhelms Brief:

Liebſter, beſter Schwager!

O daß ich endlich dieſen Namen ſchreiben darf mit zuverlaͤßigſter Gewißheit! Jauchze laut mit mir, Geliebter meines Herzens! Der Herr hat wegge - nommen meine Leiden, meinen bittern Jammer! Hat in Freude ſie verwandelt und Frohlocken. Hoch ſey er dafuͤr geprieſen bis in Ewigkeit! O Gelieb - ter, ſag, wo fang ich an die Geſchichte meiner groſſen Freude? Daß ſie mein iſt, daß ſie mein792 iſt! Das iſt alles, was ich ſagen, was ich preiſen kann.

Eben wollt ich fort in Guͤnzburg. Ein Trans - port Recruten, den wir noch erwarteten, hatt uns laͤnger aufgehalten. Da kam der Engel meiner Liebe, der mich retten ſollte, und mir Freude brin - gen uͤber Alles. Mein Onkel kam, der theure Gottesmann, und ſagte, daß ich nicht ſterben ſoll - te, ſondern leben; daß Thereſe mein ſey, daß die Leiden ſich geendigt haben mit dem Tode meines Vaters. Gott ſey ſeiner Seele gnaͤdig! Er warf Blut aus nach dem Sturz vom Pferd, und ſtarb. Daß Thereſe mein ſey, dieß, ſonſt nichts, konnt ich begreifen, und auch dieß nur wenig. Nach drey Tagen ſank ich ihr ans Herz, und glaubte zu ver - gehen. O Bruder, wenn du fuͤhlen kannſt, was das heiſſe: Das zu finden, was man ſchon verlohren gab, ſo fuͤhls! Jch weis nicht, ob ich lebe? Das nur weis ich, lieber, theurer Schwa - ger! daß ſie mein iſt.

Jn ſechs Tagen wird uns, die wir lang ſchon Eins ſind, auch des Prieſters Hand vereinigen. O Schwager, daß du hier waͤrſt, und mit uns dich freuen koͤnnteſt! Freue dich mit Marianen! Du wirſt auch gluͤcklich werden; denn es iſt nicht793 moͤglich, daß ein Menſch auf Erden ungluͤcklich ſey. Meine Thereſe wird |dir auch ſchreiben. Hier iſt ſchon ihr Brief. Jch kuͤſſ ihn tauſend - mal. Bruder, nun ſink ich wieder an ihr Herz. Sie ſieht mich an; dieß ſchreib ich in ihrem Arm.

Leb wohl, du Geliebteſter! Freund, Schwager, Al - les! Leb wohl! Jch bin ein Gott.
K. F. Kronhelm.

Thereſens Brief, der in den vorigen mit eingeſchloſſen war, iſt dieſer:

Mein Herz, o geliebteſter und beſter Bruder, iſt ſo voll von unausſprechlichem Entzuͤcken, daß ich dir mit Worten wenig, oder nichts ſagen kann. Mein Kronhelm iſt ſeit vier Tagen hier, und wird in ſechs Tagen ganz mein. Jn dieſem Wort, o Bru - der, liegt die Seligkeit von Jahrhunderten! Er kam an einem Abend, als ich mit dem beſten Vater in der Laube ſaß. Jch ward in ſeinem Arm ohn - maͤchtig, und ſah, als ich wieder zu mir ſelber kam, ihn und ſeinen theuren Onkel vor mir. Jch wuſte es ſchon, daß er nun auf ewig mein ſey, eh ſies ſagten. Erſt nach langer Zeit konnt ich dem vor - treflichſten von allen Menſchen, ſeinem beſten On -E e e794kel danken. Aber meine Worte waren nichts, ge - gen das, was mein Herz fuͤhlte. Mein ganzes Leben iſt nicht hinreichend, dieſem Mann zu ſagen, was ich ihm ſchuldig bin, und wie ich ihn uͤber alles ehre. Der ganze Abend war fuͤr mich, und fuͤr uns alle der wehmuͤthigſte, und ſeligſte. Nun erfuhr ich erſt, was mein Kronhelm noch um meinetwillen ausgeſtanden hatte. Gott! wie nah war ich dem Verderben, und ſo ruhig, weil ich nichts davon wuſte! Wenn doch wir Menſchen alles wuͤſten, welch ein Elend waͤrs um unſer Leben! Aber was der arme Juͤngling um mich ausgeſtanden hat! Gott im Himmel weis, ich bin ſo vieler Liebe nicht werth. Nur anbeten kann ich ihn, und danken, und meinem theuren Kronhelm all mein Leben, jeden Athemzug in meinem Leben widmen.

Koͤnnt ich ihn doch ſo gluͤcklich machen, als ers werth iſt! Keinen andern Wunſch trag ich Gott in meinem taͤglichen Gebet vor. Haͤtt ich das Un - gluͤck gewuſt, das unſrer Liebe drohte, ich lebte nicht mehr; denn der Uebergang von ſolcher Hofnung in das tiefſte Elend haͤtte mich getoͤdtet. Und nun bin ich ſo ganz, ſo uͤberſchwaͤnglich gluͤcklich. O Bruder, du haſt nie ein gluͤcklicheres Geſchoͤpf ge -795 kannt, als mich. Wuͤrdeſt du doch eben ſo gluͤck - lich mit deiner | Mariane! Jch kann dirs nicht verhehlen, daß ich um deine Liebe weis. Mein Kronhelm hat es mir erzaͤhlt.

Werd ihm druͤber nicht boͤſe, ich bitte dich, du wuͤrdeſt mich betruͤben. Er geſtand es mir in der zaͤrtlichen Vertraulichkeit, in der wir geſtern Abend in der Laube beyeinander ſaſſen! Er kann und darf mir nichts verhehlen; ich verhehl ihm auch nichts; und was er mir ſagte, war ja nur zu deinem Be - ſten. Doch du kannſt ihm nicht boͤſe werden; wer das koͤnnte, muͤſte ſelbſt boͤs ſeyn. Jch freue mich unendlich, liebſter Bruder, uͤber deine Liebe. Ma - riane muß, nach dem, was mir Kronhelm von ihr ſagte, ganz deiner Liebe werth, und ein Engel ſeyn. O ſey recht gluͤcklich mit ihr; mache ſie ganz gluͤck - lich, und laß deinen Traum vom Kloſterleben fah - ren! Du kannſt durch den geheimen Rath leicht ein gutes weltliches Amt im Baieriſchen kriegen. Wir wollen mit ihm druͤber reden. Wenn doch alle Welt ſo gluͤcklich waͤr, als ich und Kronhelm! Wenn doch du und Mariane es am erſten wuͤr - den! Er ſagte mir, Mariane ſey mir gut. Das freut mich unausſprechlich; ich bin ihrs gewiß auch herzlich; ſag es ihr, und kuͤſſe ſie in meinem Na -796 men, und erbitt mir ihre theure Freundſchaft! Vielleicht ſchreib ich einmal an ſie, wenn ich erſt aus dieſem Taumel von Seligkeit heraus bin; jetzt iſt mir mein Kronhelm Alles in Allem, und er ſoll es ewig bleiben. Eben gieng er vor mei - nem Zimmer vorbey. Mein Herz ſchlaͤgt ihm zu; ich muß aufhoͤren. Leb wohl, theurer Bruder! nach der Hochzeit ſchreib ich wieder. Unſer beſter Vater iſt ſo froͤhlich, als ich ihn in meinem Leben nie ſah. Er, und der vortrefliche Mann, der geheime Rath, ſind immer beyſammen, und begegnen ſich wie Bruͤder. Gott, wie gluͤcklich haſt du mich, und uns alle gemacht! Leb wohl, mein Geliebteſter! Jch bringe meinem Kronhelm dieſen Brief, und dann kuͤſſen wir uns wieder wie die Seligen und Heiligen im Himmel.

Leb wohl! Leb wohl!
Deine Thereſe.

Siegwart hatte bey dem Leſen dieſer Briefe hundertmal abſetzen muͤſſen, denn ſeine Freude war zu heftig, und die Freudenthraͤnen ſtuͤrzten ihm auf das Blatt hin. Eine Zeitlang vergaß er ſeiner eignen Leiden druͤber, und hielt ſich ſelbſt797 fuͤr gluͤcklich, weil es die waren, die er ſo unaus - ſprechlich liebte. Aber dann empfand er ſein eig - nes Ungluͤck nur wieder deſto ſtaͤrker, wenn er die Kluft ſah, die zwiſchen ihm und ſeinen Freunden war; wenn er die Donnerwolke ſah, die uͤber ihm und Marianen hieng, und ſchon herabzudonnern anfieng, und dort die Flur im hellen Sonnenſchein, auf der ſeine Lieben ruhig wandelten. Oft ward er etwas ungeduldig, und rief: Gott, warum ich allein mit Marianen elend, und die andern uͤberſchwenglich gluͤcklich? Dann machte er ſich ſel - ber wieder Vorwuͤrfe: Gott, vergib mir dieſen Un - muth! Ach, bewahre mich vor Ungeduld und Murren; vor Neid und Misgunſt! Laß mich uͤber meiner Freunde Gluͤck ſich freuen, wenn ich ſchon fuͤr mich nicht gluͤcklich bin! Dann ſchrieb er ihnen dieſen Brief:

Unausſprechlich theure Seelen!

Jhr vergebt mir, wenn ich nicht frohlocken kann. Meine Seele freut ſich Eures Gluͤcks, das wiſt Jhr; aber meine Freude iſt ſo duͤſter, wie mein Schick - ſal. O Geliebteſte, Gott ſegne Eure Liebe! Mach Euch zu den Gluͤcklichſten auf Erden! Jhr verdient es. Wohl Euch, daß der Herr die Thraͤnen798 abgetrocknet hat, die ich rinnen ſah! Freut euch nun der goldnen Tage, die die Liebe fuͤr euch auf - gehen heiſt! Roſen muͤſſen euch durchs ganze Leben bluͤhen, und euch taͤglich einen Kranz geben, euer Haar damit zu ſchmuͤcken. Euer Grab ſey in einem Roſenwaͤldchen, wo ihr unter lieblichen Geruͤchen einſchlummert! Mir iſt ein Cypreſſenwald gepflanzt, in dem ich weinen muß. Mich hat die Liebe we - nig Tage nur geſegnet. Jch habe wenig Tropfen ihres ſuͤſſen Zaubertranks gekoſtet; nun reicht ſie mir einen Becher dar voll Wehmuth. Vielleicht hat bald ein andrer Marianens Hand; nicht ihr Herz, denn das iſt mein, und dieß iſt der Stab, an dem ich mich im Thal der Leiden halte.

Seyd geſegnet, meine Lieben, ſeyd geſegnet! Dieß wuͤnſch ich Euch, mit Thraͤnen in den Augen. Moͤcht ichs einmal koͤnnen ohne Thraͤnen! Aber, wie der Herr will, der mir Freuden erſt gegeben hat, und mir nun Leiden gibt. Segne, liebſte Schweſter, unſern theuren Vater, aber ſag ihm nichts von meinen Leiden! daß nicht ſeine Freude duͤſter, und umwoͤlkt werde! Du biſt mein Schwa - ger, Kronhelm, und ich liebe dich, wie meine Seele. Du machſt meine Schweſter gluͤcklich, und ſie lohnet dir mit ihrer Liebe. Jch wollt euch ei -799 nen Brautgeſang ſingen; aber Brautgeſaͤnge ſollten freudig ſeyn. Jch ſchreib euch aber doch das Lied ab, ob ich gleich nicht ſagen konnte, was ich woll - te. Es kam doch aus bruͤderlichem Herzen. Jch will an eurem Hochzeittage fuͤr Euch beten, und mein Leid vergeſſen. Liebt Euch treu, und ſeyd geſegnet! Dieß iſt alles, was ich wuͤnſchen kann. Betet auch zuweilen in Eurem Gluͤck fuͤr Euren Bruder! Denn ich glaube, das Gebeth der Gluͤck - lichen vermag viel. Betruͤbt Euch nicht zu ſehr! Meine Leiden ſind nicht ewig, und ich glaub an einen Gott, der unſer aller Vater iſt, auch wenn Er zuͤchtiget. Hier iſt noch das Lied.

Jch bin ewig Euer Bruder
Xaver Siegwart.

Auf die Vermaͤhlung meiner theuren Schwe - ſter und meines theuren Kronhelms.

Keimen ſah ich Eure Liebe,
Wie den Weidenzweig am Quell;
Oft war Euch der Himmel truͤbe,
Oft ſchien Euch die Sonne hell.
Stuͤrme beugten oft Euch nieder,
Drohten Untergang und Tod,
Aber Jhr erhobt Euch wieder
Jm erhellten Abendroth.
800
Ach wie gern, Jhr Lieben, freute
Meine Seele ſich mit Euch!
Wenn nicht ein Geſchick mir draͤute,
Eurem, nun verfloßnen, gleich.
Drohende Gewitter draͤngen
Sich in ſchwarzer Nacht daher;
Dunkle Wetterwolken haͤngen
Ueber meine Scheitel her.
Mit der aͤngſtlichbangen Zaͤhre
Steigt ein Seufzer aus der Nacht:
Daß der Tag auf ewig waͤhre,
Der Euch jetzt ſo heiter lacht!
Blickt aus Eurem Sonnenſcheine
Mir den hellen Troſt herbey:
Daß mein Aug nicht ewig weine,
Und mich Lieb auch einſt erfreu!

Den andern Tag, als Siegwart ausgegangen war, ſagte man ihm bey ſeiner Nachhauſekunft, daß ein fremder Bedienter nach ihm gefragt ha - be, der in einer Stunde wiederkommen well - te. Siegwart konnte nicht begreifen, wer der Bediente ſeyn, und was er bey ihm zu thun haben muͤſſe? Er ſann hin und her, und machte ſich tauſenderley Einbildungen, aͤngſtliche und angenehme. Nach einer Stunde kam der Be -801 diente, und ſiehe da! Es war Marr, den Kronhelm angenommen hatte.

O daß ich Sie nur wieder einmal ſehe! fieng er an. Jch bin weit und breit im Land herumge - laufen; koͤnnen Sie mir nichts von meinem gnaͤd - gen Herrn ſagen? O ja, antwortete Siegwart. Er iſt wohl auf, und nimmt naͤchſtens eine Frau. Gott ſey Lob und Dank! rief der Kerl aus, und ſprang vor Freuden in die Hoͤhe. Hab ichs doch immer geſagt: ſo einem braven Herrn kanns nicht uͤbel gehen! Ja, Herr Siegwart, das war ein Jammer! Sie werden mirs kaum glauben. Da brachte man den alten Herrn auf einer Tragbahre heim. Das Blut lief aus Mund und Naſe, wie ein Roͤhrkaſten; und dabey ſchimpfte und fluchte er auf meinen gnaͤdgen Herrn, daß ich mich kreu - zigte und ſegnete. Es hieß, mein Herr ſey verlohren, und man wiſſ nichts von ihm. Man muͤſſ ihn uͤberall aufſuchen. Jch konnte das nun nicht begreifen, aber ich nahm den erſten beſten Gaul im Stall, und ritt, wo die Maͤhre hin wollte, denn ich wuſte Gott verzeih mirs! von meinem Herrn ſo wenig als der Gaul. Keine Seele wollt ihn geſehen haben, wo ich fragte. Jch rannte durch Hecken und Stauden, durch dick und802 duͤnn; alles nur umſonſt. Endlich ritt ich nach drey Tagen recht betruͤbt, mochte nichts eſſen und nichts trinken, in Gottes Namen wieder heim. Da war nun der Laͤrm erſt recht angegangen. Der alte Herr war abgeſegelt. Es ſoll entſetzlich anzuſehn geweſen ſeyn, wie er geſchimpft, dann wieder ge - bethet, dann geflucht hat, beſonders auf meinen unſchuldigen jungen Herrn. Die Augen ſoll er im Kopfe herum gedreht haben, wie ein Uhu. Er war ganz blau im Geſicht, und die Zung hieng ihm aus dem Mund heraus, ſechs Zoll lang, daß alle Menſchen im Dorf ſagten, der Boͤſe Gott ſey uns gnaͤdig hab ihn abgeholt. Ja, wie ich eben ſah, daß da nichts zu machen war; denn oh - ne meinen Herrn mocht ich gar nicht leben und daß alles drunter und druͤber gieng jeder packte ein, und die ſaubre Jungfer Kunigund am mei - ſten da nahm ich eben in Gottes Namen mei - nen Buͤndel auf den Ruͤcken. Jch haͤtt einen Gaul aus dem Stall mit nehmen koͤnnen, daß kein Hahn darnach gekraͤht haͤtt aber ich bedanke mich da - fuͤr! Unrecht Gut g’raͤth nie gut! und ehrlich will ich bleiben, es mag gehn wie’s will! Da gieng ich eben auf gut Gluͤck uͤberzwerch ins Land hinein, und dachte: ich will meinen Herrn ſchon finden,803 wenns Gotts Will iſt. Freylich giengs ein bißchen hart her. Die kaiſerlichen Werber wollten mich mit Gewalt wegnehmen, weil ich keinen Paß hatt, und mir ſechzig baare Thaler geben; aber ich rankte michz hinaus; und weil ich meinen Herrn nicht auftreiben konnte, da fiel mirs erſt ein, daß ich mich bey Jhnen Raths erholen wollte; Sie wuͤrden ſchon Beſcheid wiſſen. Gottlob! daß ich auf den Einfall kam. Nun bitt ich gar ſchoͤn, ſa - gen Sie mir gleich, wo er iſt? Daß ich mich morgen mit dem fruͤheſten auf den Weg machen kann.

Siegwart ſagte ihm, wo Kronhelm waͤre. Ey, Ey! ſagte er, das iſt ein bißchen weit ohne Paß. Jch haͤtte wohl eine Bitte, ob Sie mir ein kleines Briefchen mit gaͤben, wo drinn ſtuͤnde, daß ich ein ehrlicher Kerl ſey. Jch fuͤrchte die Soldaten, wie den Henker. Siegwart gab ihm einen kleinen Brief an Kronhelm, und ein offnes Zeugniß ſeines Wohlverhaltens. Der Kerl kuͤßte ihm die Hand Aber, fuhr er fort, und kratzte ſich hinter den Ohren. Nun haͤtt ich noch eine Bitte! Sie iſt zwar groß, ich weis nicht, ob Sies mir nicht abſchlagen? Sie wiſſen ſchon ſo, wie’s auf Reiſen geht! Das Geld804 iſt mir eben ausgegangen, und da wollt ich Gut, gut! rief Siegwart, wie viel braucht Er? O Herr, Sie ſind auch gar zu gut, ſagte Marr ganz bewegt. Jch daͤchte, wenn ich ſechszehn Batzen haͤtt. Jch wollts Jhnen in vier Wochen wieder ſchicken; da krieg ich meinen Monatslohn. Siegwart gab ihm zwey Gulden, und ſagte, daß er ſie ihm ſchenke. Der Kerl wollte das Geld nicht geſchenkt annehmen, und ließ ſich erſt da - durch beruhigen, daß ihm Siegwart ſagte: Er ſey ſeinem Herrn das Geld ſchuldig und wolle mit ihm abrechnen. Endlich nahm Marr mit Thraͤnen Abſchied.

Den folgenden Tag brachte Marianens Maͤd - chen unſerm Siegwart ſeinen Kleiſt wieder. Es war ein Papier um das Buch geſchlagen, und als ers wegnahm, fiel ihm dieſer Zettel in die Haͤnde:

Mein Allerliebſter!

Entreiſſen Sie ſich Jhrer Unruh! Es iſt wie - der Hofnung fuͤr uns da. Meine Mutter hat aufs neu mit mir geſprochen. Sie iſt ſehr fuͤr Sie, und verſprach mir, alles, was zu unſerm Beſten dienen koͤnnte, zu verſuchen. Sie hat805 bereits mit meinem Vater geſprochen, und ihn ſo weit gebracht, daß nun wegen des Hofraths nicht weiter in mich geſetzt werden ſoll. Nur ſollen wir behutſam ſeyn, und unſre Rechnung nicht zu gewiß machen! Meine Hand ſoll gewiß kein anderer bekommen; das hab ich Jhnen ſchon ſo oft geſagt, und ſag es hier auch ſchriftlich. Jch kann nicht glauben, daß Gott eine ſo reine und un - ſchuldige Liebe ungluͤcklich machen wird. Bleiben Sie nur Gott und der Hofnung treu, mein Al - lerliebſter! Jch wuͤnſche ſehr, Sie zu ſprechen, denn ich hab Jhnen mancherley zu ſagen. Mor - gen geh ich mit meiner Freundin in ihren Gar - ten, und da koͤnnten wir uns ſehen. Es iſt, wenn Sie bey meinem Garten ſich in das Gaͤß - chen rechter Hand ſchlagen, der fuͤnfte Garten auf der linken Seite, mit einem ſchwefelgelben Haͤuschen. Sie koͤnnen nicht leicht fehlen, und ich werd auch herausſehen. Schlag Drey gehen wir hinaus, wenn das Wetter gut iſt. Leben Sie wohl, mein Allertheureſter! Bauen Sie auf meine Liebe und auf meine Standhaftigkeit; am meiſten aber auf die Vorſehung, die unſre Her - zen ſo feſt vereinigt hat!

Jch bin ihre, bis in den Tod getreue
Mariane Fiſchern.
806

Siegwarts Seele war durch dieſen Brief, und die darinn enthaltne Hofnung wieder wie neu be - lebt. Er gieng den andern Tag um halb vier Uhr in den Garten, wo ſeine Mariane ſchon ſeiner wartete. Sie empfiengen ſich mit einem Entzuͤcken, als ob ſie Jahre lang getrennt geweſen waͤren. Mariane ſah wieder ſo heiter aus, wie der Fruͤh - lingshimmel. Sie pfluͤckte zwo Aurikeln von glei - cher Farbe; gab die Eine ihm, und ſteckte die an - dre an ihre Bruſt. Jn Gegenwart ihrer Freun - din war ſie bis zum Muthwillen luſtig, und hat - te tauſend muntre Einfaͤlle. Siegwart erzaͤhlte den beyden Maͤdchen Kronhelms und Thereſens gluͤck - liche Geſchichte, und meldete ſeinem Maͤdchen den Gruß ſeiner Schweſter. Mariane ward uͤber die - ſe Erzaͤhlung noch munterer, und ſagte, mit einem Blick auf Siegwart: Standhaftigkeit und treue Liebe bleibt doch ſelten unbelohnt. Mit dieſen Wor - ten gab ſie ihm ihre Hand, und gieng mit ihm durch die Johannisbeerhecken einer dunkeln Geiß - blattlaube zu. Jn ihrem Schatten ſank ſie an ſein Herz; er neigte ſich herab, kuͤßte ſie auf ihre Stir - ne, auf ihre ſchoͤne Augen, und auf ihren Mund. Freudenthraͤnen ſtunden ihm in den Augen, wann ſie ihren ſchmachtenden und liebevollen Blick zu807 ihm auſſchlug. Er laͤchelte; Sie auch, und fuhr ihm ſanft mit der Hand uͤber ſein Geſicht. Er umſchlang ſie. Lieber, lieber Engel, ſprach er, ſind Sie wieder mein? Wollen Sie mein bleiben? Sie lehnte ihr Geſicht an ſeine Bruſt, und druͤckte ſeine Hand ſanft. Oft ſaſſen ſie lange ſtillſchwei - gend da; Geſicht an Geſicht geſchmiegt; Er hoͤrte ihren Athem, wie er erſt langſam, nach und nach ſchneller und ſtaͤrker gieng, und zuletzt ein Seufzer ward. Dann druͤckte er ſie wieder feſter an ſein Herz, ſeinen Mund an ihren Mund; ſog ihren Kuß, und ihren ſanften, reinen Athem ein. Lieben Sie mich auch? fragte er ein paarmal ganz leiſe. O unendlich! antwortete ſie, und ihr Auge, das ſo zaͤrtlich und ſo frey ihn anſah, ſag - te, daß es wahr ſey.

Ein paarmal blickte Siegwart zum Himmel. Der ganze Ausdruck ſeines Blicks war Dank. Gott, ach Gott! dachte er; wie unendlich haſt du mich geſegnet! Alles, alles, was du meinem Wunſch auf Erden geben konnteſt, die ganze Welt in mei - nem Arm! Alles andre iſt mir nichts; iſt Staub! Laß mir nur Sie, nur Sie! Gott, ach Gott, nur Sie! Und dann druͤckte er ſie wieder feucrvoller an ſein Herz. Warlich! Eine ſolche Liebe muß die808 Freude Gottes, und die Luſt der Engel ſeyn! Laß zwey ſolche Liebende auf Erden auch getrennt wer - den! Jn der Ewigkeit eilen ſie ſich wieder zu, wo ewig keine Trennung ſeyn wird!

Lieben Sie mich auch? fragte ſie nach einiger Zeit, ganz bewegt. Ueber alles, uͤber alles! gab er ihr zur Antwort. Lieben Sie mich, Sieg - wart? fragte ſie bald darauf, noch bewegter wie - der. Warlich! wie mein Leben; mehr noch, als mein Leben! antwortete er, und ward trau - rig. Lieben Sie mich mehr noch, als das Klo - ſter? fragte ſie zum drittenmal. Thraͤnen ſtuͤrz - ten ihm hier aus den Augen; ja, bey Gott! auch mehr noch, als das Kloſter! rief er aus. Liebſtes, beſtes Maͤdchen! Jch will naͤchſtens meinem Va - ter druͤber ſchreiben; denn er weis noch nichts. Aber er hat nichts dagegen, davon bin ich uͤber - zeugt. Der geheime Rath von Kronhelm will mir helfen, und im Baierſchen ein Amt verſchaf - fen. Nun, das iſt ja herrlich! ſagte ſie; nun bin ich ruhig. Meine Mutter machte mir den Ein - wurf: Sie wuͤrden ja ein Geiſtlicher, und ich wuſte nichts darauf zu antworten. Er verſicherte ſie nochmals, daß er bald davon an ſeinen Vater ſchreiben werde. Und nun goß die Zaͤrtlichkeit von809 neuem ihre Freuden uͤber ſie in vollem Maas aus; jeder Kuß war ein Tropfen aus der Schaale der Liebe, die nur keuſchen Liebenden gereicht wird. Eine Nachtigall ſaß auf dem Zweig des naͤchſten Apfelbaums, und ſang ihnen noch mehr Wolluſt ins Herz. Endlich kam auch Marianens Freun - din zu ihnen. Dieß ſtoͤrte ſie in ihrer Freude nicht. Mariane gab ihrem Siegwart in ihrer Ge - genwart Kuͤſſe, und blickte ihn noch eben ſo zaͤrt - lich an; denn ihre Freundin war mit ihr aufs innigſte verbunden, und hatte ihr auch ehmals die Geſchichte ihres Herzens anvertraut. Sie ſagte ihrem Siegwart, er moͤchte das naͤchſtemal wieder ins Konzert kommen, zumal da es das vorletzte ſey. Jhre Schwaͤgerinn ſey wieder krank, und koͤnne alſo nicht auflauren. Dann ſprachen ſie wieder von Kronhelm und Thereſen; und endlich gieng Siegwart ſo ſelig und vergnuͤgt wieder nach der Stadt, als er ſeit langer Zeit nicht geweſen war.

Zu Haus fieng er ſogleich einen Brief an Kron - helm und ſeine Schweſter an, der aber, in ſei - ner Freude, ſo unzuſammenhaͤngend ward, daß er ihn wieder zerriß. Nun dachte er ernſtlich drauf,F f f810was er ſeinem Vater ſchreiben wollte? So feſt ers auch beſchloſſen hatte, ſo ungern gieng er doch dran, weil es ihm ſchwer fiel, ſeinem Vater ein Ge - ſtaͤndniß zu thun, das ſein zu zaͤrtliches und aͤngſt - liches Gefuͤhl lieber nie einer Seele eroͤffnet haͤtte. Daher ſchob er das Schreiben an ſeinen Vater von einem Tag zum andern auf. Oft hatte ers an einem Abend beſchloſſen, und unterließ es den andern Morgen, unter tauſend, ſelbſtgemachten, Entſchuldigungen wieder. Wenn er Marianen ſah, ſo dachte er, nun muß ich ſchreiben! Er fieng zu Hauſe an, war aber nie mit dem, was er ge - ſchrieben hatte, zufrieden, ſtrich hundertmal aus, und zerriß dann das ganze Blatt wieder. Er hat - te unendlich viele Bedenklichkeiten, daß er ſeinen Vater beleidigen, oder ſeine Gunſt verlieren moͤch - te, und machte ſich ſelbſt tauſend Zweifel, die nicht wirklich waren.

Nach etlich Tagen erhielt er dieſen Brief von Thereſen:

Zaͤrtlichſtgeliebter Bruder!

Endlich ſind alle Wuͤnſche meines Lebens ganz erfuͤllt, und ich bin die gluͤcklichſte Frau des Beſten aller Sterblichen. Vor zwey Tagen wurden wir811 getraut. O Bruder, Bruder, meine Freuden ſind zu groß, als daß eine Zunge, oder eine Feder ſie ausdruͤcken koͤnnte. Jch kann dir nicht den Schat - ten von dem zeigen, was ich fuͤhle. Genug, fuͤr mich hab ich keinen Wunſch mehr, als das Leben und die Ruhe meines Kronhelms. Und ich hoffe, daß ihn Gott mir lange erhalten werde, denn er iſt ein Segen der Welt. Taͤglich lern ich ihn mehr kennen, mehr bewundern und lieben. Taͤg - lich lern ich von ihm, und werde doch gewiß in dieſem Leben nie auslernen. Seine Zaͤrtlichkeit gegen mich iſt unbeſchreiblich. Unſre Seelen ſind aufs engeſte vereinigt und haben nur einen Wil - len. Doch, du kennſt ihn ja ſelbſt. Aber von feinem Lob moͤcht ich unaufhoͤrlich reden, und du faſſeſt ſo etwas am beſten.

Bey der Hochzeit waren einige Freunde unſers theuren Vaters, der unausſprechlich heiter war. Auch meinen ehrlichen Prediger in Windenheim hab ich bitten laſſen; er konnte aber, leider, wegen einer kleinen Unpaͤßlichkeit nicht kommen. Vor fuͤnf Tagen ſind wir, ich und mein Kronhelm, bey ihm geweſen. Der gute Mann hatte eine unbeſchreib - liche Freude, die hellen Zaͤhren ſtunden ihm in den Augen, und er gab uns einen ſo herzlichen Se -812 gen, daß ihn Gott gewiß erhoͤren muß. Der gehei - me Rath iſt mehr als mein zweyter Vater. Jch kann dir nicht ſagen, wie liebreich er mir begegnet! Er nennt mich immer ſeine Tochter, und das thut ſo wohl. Auch große, nur zu große Geſchenke hat er mir gemacht, an Juwelen, Diamanten, Perlen u. d. gl. Karl und ſeine Frau waren auch bey der Mahlzeit. Wie hat ſich doch alles hier ſo wunderlich geaͤndert! Sie wuͤnſchte mir ſo viel Gluͤck, ſchmeichelte mir ſo ſehr, daß ichs zuletzt faſt uͤberdruͤſſig wurde. Der geheime Rath will, der Papa ſoll mir gar kein Heyrathsgut mitgeben. Er will, wie er ſagt, Vatersſtelle bey mir vertreten, und bat den Papa, ihm dieſe Freude zu goͤnnen, da er keine eigne Kinder habe. Daruͤber iſt Karl ganz auſſer ſich vor Freuden.

Deinen Brief, liebſter Bruder, haben wir mit vielen Thraͤnen geleſen. Gott ſtehe dir bey, und mache dich mit deiner theuren Mariane gluͤcklich! Mich deucht, du biſt ein wenig zu furchtſam; we - nigſtens mein Kronhelm ſagt, du ſeyeſt viel zu aͤngſtlich. Faſſe doch Muth! Eine ſolche Liebe kann kaum ungluͤcklich werden. Denk an unſre Liebe; welche Leiden wir ausgeſtanden haben, und wie gluͤcklich wir nun ſind! Vielleicht iſt ſchon wie -813 der Hofnung fuͤr dich da. Gott geb es! Jch bitte taͤglich fuͤr dich. Tauſend Dank fuͤr dein Gedicht, wollte Gott, du haͤtteſt ein freudigeres ſingen koͤn - nen! Aber doch hat es uns ſehr gefallen. Gruͤß deine Mariane in meinem Namen herzlich! Jch will meinen Kronhelm fragen, ob er dir auch ſchreiben will? O Bruder, ich bin deine unaus - ſprechlich gluͤckliche Schweſter

Thereſe Kronhelm.

Am Schluß des Briefes war noch folgendes von Kronhelm geſchrieben:

Jch kann nicht ſchreiben, Bruder! Mein Herz iſt zu voll, und tobt vor Freuden. Jch bedaure dich, Gott weis es, herzlich. Aber faß Muth! Es wird ſich aͤndern. Marianens Herz iſt ſtark und ſtandhaſt. Bau darauf! Jch bitte dich, ſey nicht gar zu muthlos! Hier iſt alles Freude; und mich deucht, ich bin der Gluͤcklichſte von al - len. Koͤnnt ich dir nur den tauſendſten Theil von meinem Gluͤck geben; und du waͤrſt ſchon froh. Aber nur getroſt! Du muſt auch noch gluͤck - lich werden; du biſt gar zu brav. Uebermorgen reiſen wir mit meinem treflichen Onkel nach Stein - feld. Unſer Vater iſt gar ein vortreflicher Mann,814 den ich mit der groͤſten Ehrſurcht liebe. Sey ein Mann, Bruder, und kaͤmpf! Die Siegerkrone kann dir nicht fehlen. Du wirſt ſagen: der hat gut troͤſten, weil ihm nichts mehr auf Erden uͤbrig iſt, zu wuͤnſchen; und da haſt du freylich Recht.

Leb wohl, Beſter, und ſey gluͤcklich! Jch bin ganz
Dein treuer Schwager Kronhelm.

Siegwart war nun wieder von allen Seiten gluͤcklich. Die Wuͤnſche ſeiner liebſten Freunde wa - ren ganz erfuͤllt; er beſaß die Liebe ſeiner theuren Mariane ganz, und die Furcht, ſie zu verlieren, war wieder groͤſtentheils zerſtreut. Nur der Ge - danke an das Geſtaͤndniß, das er nun bald ſeinem Vater thun ſollte, truͤbte noch zuweilen ſeine Ruhe. Aber in den vielen Freuden, die er hatte, ſuchte er ihn zu betaͤuben und einzuſchlaͤfern; er ſchrieb an ſeinen Schwager und an ſeine Schweſter nach Steinſeld; theilte mit ihnen ihre große Freude, und erzaͤhlte ihnen auch die Hofnungen, die er fuͤr ſich und ſeine Liebe hatte. Jm naͤchſten Konzert ſang er mit Marianen ein paar Arien, die die Wiedervereinigung zweyer Liebenden zum Jnhalt hatten. Mit welchem Ausdruck ſie und er geſun - gen haben moͤgen, kann ſich jedes gefuͤhlvolle Herz vorſtellen. Jeder Zuhoͤrer war bewegt, und klatſch -815 te Beyfall. Ueber ſeinen Blicken wachte er ge - nau, um den Hofrath und den andern Anwe - ſenden keine Gelegenheit zum Argwohn zu geben. Der Hoſrath war ſehr hoͤflich, und lud am En - de des Konzerts alle, auch unſern Siegwart ein, nach dem naͤchſten Konzert, weiches das letzte ſeyn wuͤrde, zu einem Ball da zu bleiben. Sieg - wart ſprach zwiſchen dieſer Zeit ſein Maͤdchen ein - mal in dem Garten ihrer Freundin, und brach - te einen, der liebe heiligen Abend mit ihr zu. Sie verſicherte ihn wieder, daß ihre Mutter ganz fuͤr ihn ſey, und daß ſie wegen des Hofrath Schragers wenig, oder nichts mehr zu beſorgen habe.

Am naͤchſten Mittewochen ſpielte Siegwart noch einmal mit dem allgemeinſten Beyfall ein Kon - zert. Auch Marianens Bruder ſpielte eins mit ziemlichem Beyfall, weil er ſich, unter Sieg - warts Anfuͤhrung, ſehr darauf vorbereitet hatte. Dieſer Umſtand machte, daß auch er unſerm Siegwart ziemlich zugethan wurde. Nach dem Konzert gab der Hofrath Fiſcher ein Abendeſſen; nach demſelben eroͤſnete er, mit ſeiner Frau, den Ball. Siegwart tanzte zuerſt mit Marianen ei - ne Menuet, und dann einen Geſellſchaftstanz. 816Hierauf tanzte er mit ihrer Mutter, die auſſe - ordentlich freundſchaſtlich gegen ihn that. Sie ſetzte ſich nach dem Tanz mit ihm auf ein Ka - napee, und fieng von ihrer Tochter an, zu re - den. Es freut mich herzlich, ſagte ſie, daß Sie ſo viel Freundſchaft gegen meine Tochter tragen; ſie wird es Jhnen auch ſchon geſagt haben. Nur um der Leute, und hauptſaͤchlich um meines Mannes willen, muß ich Sie ſehr um Behut - ſamkeit bitten. Man iſt im Stillen weit gluͤck - licher, als wenn man vieles Auſſehen macht. Jch wurde ſchon von verſchiednen Seiten her gewarnt. Die Leute hier ſchlieſſen aus jeglicher Bekannt - ſchaft auf die engeſte Vertraulichkeit, und erdich - ten aus Langerweile tauſenderley Geſchichten. Sie ſehen ein, was mir daran liegt, daß mei - ne Tochter nicht in der Leute Mund kommt. Meine Schwiegertochter und mein Mann ſind gar wunderlich. Suchen Sie ein rechtſchaffner und geſchickter Mann zu werden; das Uebrige haͤngt von Gott und nicht von uns ab. Jch hoͤre, Sie wollten geiſtlich werden. Wird es Jhr Herr Vater wol zufrieden ſeyn, wenn Sie um - ſatteln? O ja, ganz gewiß! ſagte Siegwart; ich will ihm naͤchſter Tagen ſchreiben. Ein anderer,817 der die Hofraͤthin zum Tanz aufzog, machte dem Geſpraͤch ein Ende. Er blieb ſitzen, und ſah ſeine Mariane in einiger Entfernung von ihm, tanzen. Jhre Augen waren viel auf ihn gerichtet; oft, wenn ſie glaubte, daß es niemand merkte, laͤchelte ſie ihm zu. Jhm wars, wie wenn ein Sonnen - blick im Fruͤhling auf die Flur faͤllt.

Als der Student, mit dem Sie tanzte, ihr, beym Schluß der Menuet, die Hand kuͤßte, da fuhr ihms wie ein Dolch durchs Herz. Er ward feuer - roth, und gleich drauf traurig; denn er hatte viel, faſt zu viel Anlage zur Eiferſucht. Der freund - liche Blick, mit dem ſie dem Studenten dankte, machte tauſend Empfindungen in ihm rege. Er glaubte, Liebe drinn entdeckt zu haben, ſo unwahr - ſcheinlich und ungegruͤndet dieß auch war. Die Vernunft mochte ihm auch tauſendmal ſagen, daß er ſich ſelbſt ohne Urſach kraͤnke, und Maria - nen Unrecht thue, er konnte ſich und ſeine Un - ruhe doch nicht gnug bekaͤmpfen. Mariane merkte dieſes wohl, und ſetzte ſich, als er ins Zimmer ge - gangen war, zu ihm. Sie blickte ihn zaͤrtlich an, und nun kam die Heiterkeit auf Einmal in ſein Aug, und in ſein Herz zuruͤck. Er ſah die Falſch - heit ſeines Argwohns ein, machte ſich ſelbſt bittre818 Vorwuͤrfe, und konnte eine Thraͤne nicht verber - gen, die ihm ins Auge ſchoß. Gern waͤr er an ihr Herz geſunken, und haͤtte ſein beleidigtes Maͤd - chen um Verzeihung gebeten, aber die vielen Gaͤſte, die zugegen waren, hielten ihn zuruͤck. Der, ihm verhaßte Hofrath Schrager, zog ſie nun zum Tanz auf. Es ward ihm kalt und warm, als er den Mann ſah. Er tanzte, um ſeine Verwirrung zu verbergen, mit dem naͤchſten beſten Maͤdchen, ſeiner Mariane gegen uͤber. Sie tanzte ganz kalt, und nachlaͤßig mit dem Hofrath, und warf zuweilen einen liebevollen Blick auf ihren Juͤng - ling. Als Mariane mit Dahlmund ſchwaͤbiſch tanzte, ſetzte ſich Siegwart allein in einen Winkel auf dem Saal, und hatte lauter traurige Gedan - ken. Mariane legte ihre linke Hand auf Dahl - munds Schulter, und flog ſo mit ihm auf dem Saal herum. Dieſer Anſchein von Vertraulich - keit kraͤnkte ſeine zarte Seele tief, zumal da es ſonſt kein Maͤdchen auf dem Saal ſo machte. Er ſah zwar nachher, daß dieſes bey Marianen blos Gewohnheit war, weil ſie es bey jedem Taͤnzer ohne Unterſchied ſo machte; aber es that ihm doch im Herzen weh, daß die Geliebte ſeiner Seele auch nur ſcheinen ſollte, auſſer ihm mit einem Menſchen819 auf der Welt vertraut zu ſeyn. Er haͤtt es ihr ſo gern geſagt, aber er fuͤrchtete, ſie zu betruͤben, oder in den Verdacht der Wunderlichkeit bey ihr zu kommen. Noch trauriger ward er bald dar - auf, als ſie mit einem andern tanzte, der ſie, wie ein Raſender herumriß, und mit ihr mehr flog, als ſprang. Gott! dachte er, wenn ihr dieſe heftige Bewegung Schaden braͤchte, und ihre Ge - ſundheit zerruͤttete! Wie leicht koͤnnte ſo ein Au - genblick mein Liebſtes rauben! Dieſer Gedanke verſenkte ihn immer tiefer in die traurigſten Vor - ſtellungen, ſo daß ihm Thraͤnen in den Augen ſtan - den. Sie kam nach dem Tanz zu ihm. Das iſt ſchrecklich getanzt! ſagte er; Sie gluͤhen recht! und ſchien aufgebracht zu ſeyn. Sie ſah ihn weh - muͤthig, und halb birtend an. Eine Thraͤne drang aus ihrem Auge. Liebes Maͤdchen, ſagte er, und war bewegt; wie leicht koͤnnten Sie ſich ſchaden! Dieſe Vorſtellung hat mich ganz traurig gemacht. Sie nahm ihn bey der Hand. Es wird mir hof - fentlich nicht ſchaden, ſagte ſie; aber freylich war es ſcharf getanzt; ich dachte es ſelbſt; nur kann ich nicht dafuͤr. Jch thu’s nicht gerne. Neh - men Sie mirs nur nicht uͤbel! ſprach er; meine Warnung kam aus gutem Herzen. Sie ſah ihn820 mit der groͤſten Zaͤrtlichkeit an, und waͤr ihm gern ans Herz geſunken, um an ſeiner Bruſt zu weinen. Ein paarmal kuͤßte ſie ihn doch, weil ihre Eltern in dem Nebenzimmer ſaſſen. Jch will ſagen, daß ich mit Jhnen tanze, ſagte ſie, wenn mich wieder jemand aufziehn will. Liebes Maͤdchen! Wei - ter konnte er nichts ſagen.

Man tanzte wieder franzoͤſiſch, und Siegwart tanzte nun auch mit den uͤbrigen Frauenzimmern, und noch ein paarmal mit ſeiner Mariane. Erſt um 2 Uhr gieng die Geſellſchaft auseinander.

Kurz eh man auseinander gieng, entſtand noch ein Streit zwiſchen einem Studenten, Namens Dieling, und Joſeph, Marianens Bruder. Die - ling war betrunken, und wollte ſchwaͤbiſch tanzen, als die uͤbrigen eben einen Geſellſchaftstanz ange - fangen hatten. Joſeph nannte ihn einen Menſchen ohne Lebensart. Dieß ſtieg dem betrunkenen Die - ling zu Kopf; er holte ſeinen Degen, und rannte damit auf Joſeph. Siegwart, der auf der Seite neben Hofrath Schrager ſtand, der eben weggehen wollte, riß dieſem den Degen von der Seite, fieng Dielings Degen auf, und ſchlug ihn ihm aus der Hand, daß er in das entgegen ſtehende Fenſter flog. Nun kamen andre hinzu, und ſchafften den821 Betrunknen weg. Siegwart hatte ſich nur etwas an dem Finger geritzt, und blutete. Joſeph, der nun erſt ſah, wer ſein Retter geweſen war, ſank ihm in den Arm, und dankte ihm mit hundert Kuͤſſen. Mariane und ihre Eltern waren indeß auch hinzugeſprungen; ſie ward todtblaß, als ſie Blut ſah; er beruhigte ſie aber gleich, indem er zeigte, daß er nur geritzt waͤre. Sie ſprang in ihrer Angſt weg, um ein Stuͤckchen Tafft zum Verband zu holen. Der Hofrath umarmte in - deß unſern Siegwart, und dankte ihm fuͤr die Rettung ſeines Sohns. Die Hofraͤthin weinte, und nannte ihn den Retter ihres Joſephs, ihren zweyten Sohn. Jndeß kam Mariane wieder, die ſich nun von ihrer erſten Beſtuͤrzung erholt hatte, und verband ihm ſelbſt den Finger. Als Siegwart weggieng, begleitete ihn Joſeph noch bis auf die Straſſe, umarmte ihn noch einmal, und ſagte: Bruder, ſag, was kann ich dir fuͤr dieſen Dienſt thun? Nichts! antwortete Siegwart in der Ruh - rung; als daß du mein wahrer Bruder bleibeſt, und mir deiner Schweſter Liebe goͤnneſt! O das will ich! o das will ich! rief Joſeph aus, ja du ſollſt Sie haben! Wenns auf mich ankaͤme, waͤr ſie heute dein! Jndem kam Marianens aͤlte -822 rer Bruder aus dem Hauſe, ſo daß er Joſephs Worte noch gehoͤrt haben konnte. Siegwart er - ſchrack, und gieng weg. Dieſer Umſtand beun - ruhigte ihn ſehr, weil er fuͤrchtete, daß er uͤble Folgen fuͤr ihn und Marianen haben koͤnnte. Doch richtete ihn der Gedanke wieder auf, daß vielleicht der Hofrath ihm nun guͤnſtiger ſeyn, und ſich ſei - ner Liebe zu Marianen weniger widerſetzen werde.

Den andern Morgen brachte er damit zu, daß er ſich alle Auftritte des vorigen Tages wieder ins Gedaͤchtniß zuruͤckrief. Einigemal ſtunden ihm die Thraͤnen in den Augen, wenn er uͤberdachte, wie viel Unrecht ſeine Eiferſucht Marianen gethan hat - te. Er beſchloß, ſich vor dieſer Marter ſeiner ſelbſt, und des geliebten Gegenſtandes kuͤnftig recht in Acht zu nehmen. Nun ſah er aber erſt, wie ſehr er ſei - ne Mariane liebe; wie ſo ganz unzertrennlich ſei - ne Seele von der ihrigen ſey. Er hatte nun auch ihre Liebe ganz geſehen, mit welcher Sorgfalt ſie ſich um ihn bekuͤmmre; wie genau ſie auf jede Veraͤnderung in ſeinen Geſichtszuͤgen Acht gebe. Er fuͤhlte das Gluͤck, ihre Liebe, und ein ſolches Maͤdchen, zu beſitzen, ganz, ſo daß ſeine Emfindun - gen faſt immer zwiſchen Entzuͤcken, Andacht, und Gebeth getheilt waren.

823

Um eilf Uhr kam Marianens Bruder zu ihm, und ſagte: ſeine Schweſter wuͤrde heut allein mit ihm auf ſeinen Garten gehen; ob er nicht auch hin kommen wolle? Siegwart nahm dieſen Antrag, der ein Beweis ſeiner Dankbarkeit, und ſeiner Zu - neigung zu ihm war, mit dem innigſten Vergnuͤ - gen an; und ward durch dieſes Zeichen ſeiner Liebe zu der groͤſten Offenherzigkeit verleitet, ſo daß er ihm die ganze Geſchichte ſeines eignen, und des Herzens ſeiner Schweſter erzaͤhlte. Joſeph nahm daran ſehr vielen Antheil, und ſagte: Er ſey ganz fuͤr dieſe Liebe, und wuͤnſche nur, es recht bald beweiſen zu koͤnnen. Von ſeiner Schwaͤgerin, und ſeinem Bruder, ſagte er ſelbſt, waͤr am meiſten zu befuͤrchten, weil dieſe ihren Vater ſo ſehr ein - zunehmen wuͤßte. Doch koͤnnte man vor den beyden dieſe Liebe ſehr wohl verborgen halten, weil ſie wenig aus dem Hauſe kaͤmen, und vielleicht naͤhme gar ſeine Schwaͤgerin bald ganz von der Welt Abſchied.

Den Nachmittag um vier Uhr gieng Siegwart, wie er beſtellt war, nach dem Garten. Seine Maria - ne, ſah ſo zaͤrtlich, und ſo ſchmachtend aus, als er ſie noch nie geſehen hatte. Sie nahm ihn gleich bey der Hand, fuͤhrte ihn in eine Laube, und ſank824 ihm in den Arm. Jhre Kuͤſſe waren feuriger, wie ſonſt; ihr Mund verweilte laͤnger auf dem ſeini - gen, und ſog ganz ſeinen Athem ein. Er ſetzte ſie auf ſeinen Schooß; druͤckte ſie feſt an ſein Herz, und legte ſein Geſicht an das ihrige. Keines konnte vor Empfindungen ſprechen. Er kuͤßte ihre Stirne, dann ihr Auge, und da fuͤhlte er, daß es naß war, und kuͤßte eine heilige Thraͤne weg. So eine ſuͤſſe, uͤberirdiſche Empfindung hatte er noch nie gehabt. Er ſah ihr mit der groͤſten, weh - muͤthigſten Zaͤrtlichkeit ins Auge; ſie konnts nicht aushalten, und verbarg ihr Geſicht an ſeinem Bu - ſen. Liebſter, liebſter Siegwart! Liebſtes, beſtes Maͤdchen! war alles, was ſie ſagen konn - ten. Endlich kam Joſeph, der indeß auf dem Gartenhaus geleſen hatte, hurtig auf die Laube zugeſprungen, und rief, der Bruder und die Schwaͤ - gerin! Siegwart und Mariane ſprangen auf. Joſeph wollte wieder zuruͤck. Bleib da! rief Ma - riane, und nun giengen alle drey nach der Gar - tenthuͤre zu, wo das liebe Paar eben herein trat.

Das iſt der Herr, ſagte Mariane ganz ent - ſchloſſen, der geſtern unſerm Joſeph das Leben gerettet hat. Ey, ſagte die Schwaͤgerin, ſind das der junge Herr Siegwart? Ja, mich deucht, ich825 habe Sie ſchon im Konzert geſehen. Siegwart machte eine Verbeugung, und betrachtete nun erſt ihr Geſicht recht. Sie ſah ausgezehrt, und einge - fallen aus, und hatte ganz die gelbe Farbe des Nei - des. Jhre kleine, matte, graue Augen lagen tief; ihre Augenbraunen waren weiß, und fielen ins gelbliche, daß man ſie kaum ſehen konnte. Jhre Naſe war ſpitz; ihr Kinn hervorſtehend, und die Stirne nie - drig, ohne Ecken, weil die Haare rund herum, tief ins Geſicht herein ſtunden. Sie gieng vor - waͤrts gebeugt, und der Kopf ſteckte tief in den Schultern. Jhr Herr Gemahl war ein langer, hagrer Mann, in deſſen Geſicht man mehr Aengſt - lichkeit und Kummer ſah, als Bosheit. Sind Sie nur ſo ganz allein hier, ſagte die Schwaͤgerin zu Marianen. Dieſe antwortete, ja; aber ihre Eltern wuͤrden vielleicht dieſen Abend noch heraus kommen. Sie waren ja wohl geſtern recht ver - gnuͤgt, Jungfer Schwaͤgerin? fuhr ſie fort. Ja, ja, freylich, in ſo angenehmer Geſellſchaſt kanns nicht fehlen. Aber der Hofrath Schrager war nicht ganz vergnuͤgt. Mariane ſagte: ſie wuͤß - te nicht, daß ihm jemand was zu Leid gethan haͤt - te. Je nu, fuhr die Schwaͤgerin fort, wennG g g826man eben den vierzigen naͤher iſt, als den dreyßi - gen, ſo iſt man bey dem jungen Volk nicht mehr ſo beliebt. Sie wollen ja ein Geiſtlicher wer - den, Herr Siegwart, wie ich hoͤre? Jhre Zeit iſt wol bald herum! Mich deucht, Sie ſind ſchon lang hier? Siegwart ſagte, daß er erſt uͤbers Jahr hier ſey, und noch nicht feſt entſchloſſen ſey, was er ſtudieren wolle! Es komm auf ſeinen Vater an. Ey, Sie werden ja der Kirche nicht untreu wer - den, ſagte ſie, werden Sie ja ein Geiſtlicher, das iſt der beſte Stand auf Erden. Hoffentlich wird Sie nichts irdiſches davon zuruͤckhalten. Mit die - ſen Worten ſah ſie Marianen ſpoͤttiſch an, und machte noch zwanzig andre Anſpielungen, die nur zu deutlich zeigten, daß ſie von der Liebe unſrer jungen Leute manches wiſſe. Siegwart und Ma - riane kamen oft in die groͤſte Verlegenheit, und wußten nicht, was ſie ſagen ſollten. Jhr aͤlterer Bruder mußte ſeiner Frau immer Recht geben, weil ſie ihn beſtaͤndig anſah, wenn ſie etwas vor - brachte. Sie affektirte eine laͤcherliche Liebe gegen ihn, und wich nicht von ſeiner Seite. Oft wur - den ihre Anſpielungen ſo deutlich, daß Siegwart ein paarmal roth wurde.

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Endlich empfahl er ſich, weil er wohl ſah, daß das Paar nicht vor ihm gehen wollte. Er war uͤber das, was vorgefallen war, aufs neu in der groͤſten Beaͤngſtigung, und ſtellte ſich ſchon wieder tauſend traurige Begegniſſe in ſeiner Liebe vor. Noch denſelben Abend ſchrieb er in der hef - tigſten Bewegung einen Brief an Marianen, wo - rinn er ihr alle ſeine Beſorgniſſe entdeckte, und ſie um Gottes willen bat, ihm treu zu bleiben. Zu - gleich bat er ſie um Nachricht, wie er ſich verhal - ten ſollte? Den andern Morgen war er ſehr be - kuͤmmert, wie er ihr den Brief zuſtellen koͤnnte? Und endlich, als er keinen andern Weg ſah, gab er den Brief ihrem Maͤdchen, die er auf der Straſſe antraf, und ſagte ihr, er habe dieſen Brief geſchickt bekommen; ſie moͤcht ihn ihrer Jungfrau dieſen Morgen noch, und allein geben! Nun war er wieder etwas ruhiger.

Endlich entſchloß er ſich auch ernſtlich, ſeinem Vater zu ſchreiben, ihm ſeine Liebe zu entdecken, und ihn um die Erlaubniß zu bitten, daß er nun Jura ſtudieren duͤrfte! Er ſchrieb dieſes alles mit groſſen Ausholungen und Umſchweifen, oft mit vieler Ruͤhrung, und bat ſeinen Vater inſtaͤndig, ſeine Liebe nicht zu verdammen, oder fuͤr leichtſin -828 nig zu halten. Er habe ſeinen Entſchluß erſt nach vielen Kaͤmpfen gefaßt, weil er befunden habe, daß er im Kloſter und ohne Marianens Liebe nie gluͤcklich werden koͤnne. Marianen ſchilderte er ihm, mit aller Begeiſterung eines Liebhabers, und doch wahr ab, und ſchloß mit der Bitte: Jhn recht bald durch einen Brief aus ſeiner Ungewißheit zu reiſſen.

Wegen Marianen war er ſehr beſorgt. Sie hatte ſeinen Brief nun ſchon drey Tage, und noch hatte er keine Nachricht von ihr. Am Fenſter ſah er ſie zwar taͤglich, und ſie ſah auch ſehr heiter aus, aber die Ungewißheit, in der er, wegen der letztern Begebenheit im Garten, ſchwebte, quaͤlte ihn doch ſehr. Endlich kam am vierten Tag ihr Bruder zu ihm, und ſagte, ſeine Schweſter wuͤrde den Nachmittag in den Garten ihrer Freun - din gehen; er moͤchte auch hin kommen. Um vier Uhr kam er. Mariane war ſehr freundlich. Sie haben ſich unnoͤthige Beſorgniſſe gemacht, ſagte ſie, als ſie allein mit ihm in der Laube ſaß; meine Schwaͤgerin konnte aus dem, daß Sie bey mir waren, nichts ſchlieſſen, da mein Bruder mit da - bey war. Um ihre Sticheleyen bekuͤmmre ich mich wenig, da Sie durch den neulichen Vorfall mit829 meinem Bruder ſehr viel in der Gunſt meines Va - ters gewonnen haben. Und uͤberhaupt, auf mich koͤnnen Sie ſich verlaſſen. Mein Herz bleibt ewig Jhr, und auch meine Hand ſoll kein andrer ha - ben. Sie kennen mich noch nicht genug, was ich zu thun im Stand bin. Auf unſre gute Sache, und die Vorſehung duͤrfen wir uns auch verlaſſen. Das Mistrauen, glaub ich, kann Gott niemals leiden. Wenn der Menſch das ſeinige thut, dann thut gewiß die Vorſehung noch mehr das ihrige. So lang ich Jhre Liebe habe, bin ich zwar nicht unbekuͤmmert, aber doch nicht muthlos und un - ruhig. Jch hoff, es wird alles noch recht gut gehen. Sie haben mir einen lieben zaͤrtlichen Brief geſchrieben; aber, beſter Siegwart, er war viel zu aͤngſtlich; und dann erlauben Sie mir, es zu ſagen! Die Art, wie ich ihn erhalten ha - be, war mir nicht die angenehmſte. Sie gaben ihn meinem Maͤdchen. Es iſt ein gutes Ding, dem man auch wol etwas anvertrauen kann. Es hat auch unſre Liebe laͤngſt gemuthmaßt, und ver - ſchwiegen. Aber Dienſtbothen zu Vertrauten brau - chen, ſcheint mir nicht ſehr thunlich. Man macht ſich dadurch von ihnen abhaͤngig. Sie glauben, wenn ſie einmal ein Geheimniß von uns wiſſen,830 unentbehrlich zu ſeyn, und thun zu duͤrfen, was ſie wollen. Wenn man ſie des Dienſts entlaſſen will, ſo trotzen ſie; und thut mans nicht, ſo machen ſie Klatſchereyen, und buͤrden ihrer Herr - ſchaft mehr auf, als wahr iſt. Jch weis, mein Liebſter! Sie nehmen mir dieſe Erinnerung nicht uͤbel. Nicht wahr? Siegwart fiel ihr um den Hals, und kuͤßte ſie mit Thraͤnen. Er mach - te ſich wegen ſeiner Zaghaftigkeit ſelbſt Vorwuͤrfe, und fuͤhlte, daß ein Frauenzimmer, in Abſicht auf die Liebe, mehr Unternehmungsgeiſt, und mehr edles Vertrauen hat, als ein Mann. Der Mann verlaͤßt ſich auf Staͤrke und aufs Geraddurchfah - ren, welches bey der Liebe wenig thut; das Weib baut auf Klugheit und Verſchlagenheit, und tau - ſend Weiberkuͤnſte. Bald werden wir uns recht genieſſen koͤnnen, ſagte Mariane. Jn wenig Ta - gen geht mein Vater mit meiner Schwaͤgerin ins Abacherbad bey Regensburg, und bleibt 5 oder 6 Wochen da. Jch gehe dann mit meiner Freun - din aufs Land zu ihrer Tante, einer herzlichguten Frau. Das Guth liegt nur eine kleine Meile von hier, und Sie koͤnnen taͤglich hinauskommen, wenn Sie wollen. O, das iſt herrlich! ſagte Siegwart; da wollen wir ein Goͤtterleben fuͤhren! Sie haben831 Recht; alles geht nach Wunſch. Meinem Vater hab ich nun auch geſchrieben, und in hoͤchſtens vier - zehn Tagen hab ich Antwort. Lieber Engel! ach, wir muͤſſen gluͤcklich werden! Lieb und Selig - keit umſchwebte nun wieder unſer keuſches Paar. Was macht Jhr Finger? ſagte ſie nach einiger Zeit. Jſt er wieder heil? Sie haben ja nicht mehr den Tafft drauf, den ich Jhnen gab. Hier iſt er, ſag - te er, und zog ſeine Brieftaſche heraus; das iſt mir ein Heiligthum, das ich bey mir tragen werde, noch im Grab. Und ich dieſes, ſagte Mariane, und zog ein weiſſes Schnupftuch aus der Taſche, auf dem ein Tropfen von ſeinem Blut war. Die - ſen Blutstropfen hab ich aufgefangen; das Schnupf - tuch geb ich nie aus meiner Hand; auch ſolls nie gewaſchen werden. Liebes, liebes Maͤdchen! rief er aus, und druͤckte ſie ans Herz. Dieſer Tropfen hat einſt dir geſchlagen; jeder andrer ſoll dir ſchlagen; bis ich todt bin! Sie nahmen hierauf Verabredungen wegen Marianens Reiſe aufs Land. Sie ſagte, daß ſie ſchon mit ihrer Freundin druͤber geſprochen habe. Dieſe woll ihn Einmal einladen, damit er mit ihrer Tante bekannt werde, und dann koͤnn er ohne Anſtand alle Tage kommen, denn die Tante ſey die billigſte832 und munterſte Frau, und werd ihn ſelber fleißig zu ſich bitten. Dieſer Abend ſchloß ſich fuͤr unſern Siegwart auſſerordentlich vergnuͤgt. Er gieng, mit tauſend Kuͤſſen, und Verſicherungen ihrer Liebe erſt in der Daͤmmerung von Marianen und ihrer Freundin weg, und war ſo frey von al - ler Furcht, ſo voll ruhiger Freude, als er noch nicht leicht geweſen war.

Ein paar Tage drauf bekam er, von Steinfeld aus, Briefe von Kronhelm und Thereſen, die von nichts als Zufriedenheit und innigem Bergnuͤ - gen ſeiner Freunde zeugten. Kronhelm berichtete ihm die Ankunft ſeines treuen Dieners Marx, und die Freude, die dieſer uͤber ſein Gluͤck gehabt haͤtte. Auch erzaͤhlte er ihm Kunigundens Abſchied. Sie ſey nemlich noch vor ſeiner Ankunft bey Nacht und Nebel von Steinfeld abgegangen, und habe ziemlich viele Kleidungsſtuͤcke und Koſtbarkeiten mitgenommen, die er ihr auf den Weg ſchenken wolle. Jetzt ſey ſie in Augsburg eine Art von Hurenwirthin. Dann fragte er ihn nach Maria - nen, und ermunterte ihn, guten Muth zu faſſen; ſein Onkel werde ihm gewiß eine anſtaͤndige Bedie - nung verſchaffen; daher ſoll er unverzuͤglich ſeinem833 Vater ſchreiben, und die Rechte zu ſtudieren an - fangen u. ſ. w.

Thereſens Brief war voll von Lobeserhebungen ihres Kronhelm; voll Freude uͤber ihr gluͤcklichſtes Schickſal, und uͤber ihre jetzige Lage. Zugleich machte ſie eine ausfuͤhrliche Beſchreibung von der Einrichtung ihrer Lebensart in Steinfeld; und ſchloß mit der Nachfrage um ſein eignes Schickſal, und ſchrieb eben das von Marianen, was ihm ſchon ihr Mann geſchrieben hatte.

Noch dieſelbe Woche gieng der Hofrath Fiſcher mit ſeinem Sohn und ſeiner Schwiegertochter ins Bad, und einen Tag drauf reiſte Mariane zu ihrer Freundin, aufs Land. Gleich zween Tage drauf erhielt Siegwart von dieſer und von ihrer Freundinn eine hoͤfliche ſchriftliche Einladung, welcher Mariane etliche Zeilen beyſetzte, die voll Zaͤrtlichkeit und Liebe waren. Er gieng gleich denſelben Tag hinaus, und traf ſeine Mariane, ihre Freundin, und die Tante vor dem Landguth in einer Allee von Fruchtbaͤumen mit Kleiſts Fruͤhling in der Hand an. Alle drey Frauen - zimmer bewillkommten ihn mit der groͤſten Freu - de. Das Betragen der Tante, die Frau Held hieß, nahm ihn ganz ein. Sie war ungefaͤhr834 55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig, und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn - heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver - rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig - ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth. Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand, und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie, Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen koͤnnen!

Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon835 geſprochen haben. Die Geſellſchaft gieng nun mit - einander in den Garten, der ſehr reizend angelegt war. Statt der vielen todten und einfoͤrmigen Heckengaͤnge waren Alleen von Apfel-und-Kirſch - und Naßbaͤumen angelegt. Der Garten war in vier Haupttheile abgetheilt, die mit Kuͤchengewaͤchs bepflanzt, und mit ſchmalen Strichen, in denen Blumen aller Art ſtunden, je nachdems die Jahrszeit mit ſich brachte, eingefaßt waren. Hin - ten ſtund ein ſchoͤner Gras - und Baumgarten, der ſich in ein ſchoͤnes, buͤſchichtes Waͤldchen endigte, wo Amſeln, Droſſeln, Nachtigallen und Zaunkoͤ - nige durcheinander ſangen. Ueber dem ſteinernen und ſimpeln Gartenhaus, das einen großen Saal hatte, woͤlbten ſich ein paar wilde Kaſtanienbaͤu - me, die angenehme Kuͤhlung und Daͤmmerung herabgoſſen. Jn dem Saal ſetzten ſie ſich, und aſſen friſche Milch, gluͤcklich wie die Menſchen in dem goldnen Zeitalter. Die Tante erheiterte ſie noch mehr durch ihren geſunden Witz, der oft in Empfindung uͤbergieng, ſo daß das Auge, das eben erſt gelacht hatte, hell von Thraͤnen wurde. Sie ſind eine vortrefliche Frau, ſagte Siegwart, daß Sie den Liebenden ſo guͤnſtig ſind, da ſonſt aͤltere Perſonen, vornehmlich von Jhrem Geſchlecht,836 gemeiniglich auf das Gluͤck juͤngerer Perſonen nei - diſch ſind. Lieber Gott! ſagte ſie, wie koͤnnen ſie doch das ſeyn, da ſie wiſſen, wie es ihnen eh - mals war, und wie leid es ihnen that, wenn ſich jemand ihrer Liebe widerſetzte! Nein, ich freue mich herzlich, wenn ich andre gluͤcklich ſehe, und thu alles, was ich kann, ſie in ihrem Gluͤcke zu befeſtigen. Ach Gott, wenn ich einen ſolchen Juͤngling, wie Sie ſind, in der Jugend haͤtte lie - ben duͤrfen, und man haͤtte mir dieß Gluͤck wollen rauben, was haͤtt ich von ſolchen Menſchen den - ken muͤſſen! Soll ichs jungen Leuten uͤbel nehmen, daß ſie Menſchen ſind, und dem Trieb des Schoͤpfers und der Natur ſolgen? Freun Sie ſich, meine Lie - ben, es werden auch truͤbe Tage kommen, ob ichs gleich nicht wuͤnſche. Hier weinte ſie. Sie wa - ren alſo nicht gluͤcklich, theure Frau? fragte Siegwart. Nein, ich wars nicht, verſetzte ſie. Denken Sie! Jm ſechszehnten Jahr muſt ich ei - nen Mann heyrathen, den ich nicht kannte und nicht liebte. Gott hab ihn ſelig. Aber er war weiter nichts, als Regierungsrath und reich. Von Seelenliebe wuſt er nichts. Er glaubte, wenn man ſeine Frau in Geſellſchaft bringe, und ihr Unterhalt verſchaffe, ſeys genug. Kurz, er war,837 was wir im Deutſchen nicht gut geben koͤnnen, ein bon vivant. Seine Geſellſchafter waren luſtige Bruͤder, die bey einer guten Mahlzeit und einem guten Glas Rheinwein ſich uͤber einen kahlen Ein - fall, oft auch uͤber Zoten, einen halben Abend faſt zu Tode lachen konnten. Jch indeſſen ſaß auf meinem Zimmer, hatte ein fuͤhlendes Herz, das nicht fuͤhlen ſollte; denn ich geſtehe gern meine Schwachheit, mancher edeln Seele ſchlug mein Herz zu, mit der ich gluͤcklich haͤtte leben koͤnnen. Aber ich muſte das Feuer unterdruͤcken, das in mir auflodern wollte, und ſo verzehrte ich mich in - nerlich ſelbſt. Traurigkeit und Schwermuth nutz - ten meine beſten Lebensgeiſter ab, daß ich vor der Zeit alt wurde. Meinen Kummer konnt ich kei - nem Menſchen anvertrauen; nur Thraͤnen, Buͤcher, und am erſten die Religion waren all mein Troſt. Ganze Tage phantaſirt ich weg, mit Ausſichten in ein beßres Leben; und da half mir meine Ein - bildungskraft ſehr. Jch ſchmuͤckte meine Hofnun - gen ſo gut aus, als ich konnte, und ergoͤtzte mich daran. Oft erhitzt ich meine Einbildungskraft ſo ſehr, daß es meinen Nerven, die ſchon ohnedieß ſtark geſpannt waren, ſchadete. Jch las Dichter, Jtaliaͤner und Franzoſen, die meine Phantaſie838 noch mehr erhitzten; aber, lieber Gott, wenn das Herz nichts zu thun hat, dann nimmt man ſeine Zuflucht zu der Einbildungskraft. Erſt vor kur - zer Zeit lernt ich, durch meine Baſe hier, einige deutſche Dichter kennen, beſonders den Klopſtock; und da muß ich geſtehen, hier iſt freylich tauſendmal mehr Nahrung fuͤr den Geiſt, mehr Wahrheit, mehr tiefgedachtes, und mehr tieſempfundenes; und jetzt les ich faſt beſtaͤndig deutſch. Aber noch vor ein paar Jahren ſah man ja hier zu Lande kaum ein deutſches Buch, das man ohne Ekel leſen konnte. Genug, meine Lebenszeit ſtrich hin, ohne mir oder der Welt Vergnuͤgen zu gewaͤhren. Mein Mann ſah meinen ſtillen Gram, ohne mit zu fuͤhlen, oder Antheil dran zu nehmen, und dann ſchmerzt das Elend doppelt. Vor zwey Jahren ſtarb er; nun bin ich ſchon ſo an die Einſamkeit gewoͤhnt, daß ich mich wenig mehr um die Welt bekuͤmmre. Kin - der hab ich nie gehabt; die haͤtten mir allein mein Elend noch erleichtern koͤnnen.

Siegwart ſeuſzte und ward ganz wehmuͤthig bey ihrer Erzaͤhlung. Aber, ſagte ſie, Karoline, (ſo hies Marianens Freundin,) wir muͤſſen unſer Paͤrchen auch allein laſſen. Wollen Sie vielleicht ſpatzieren gehen, Mariane? oder ſollen wirs thun? 839Mariane ſtand auf, und laͤchelte. Die Tante gieng an ihren Fluͤgel, und Siegwart mit Maria - nen durch den Baumgarten nach dem Waͤldchen. Hoͤren Sie, ſagte Mariane, was die arme Frau fuͤr ein trauriges Adagio ſpielt! Jch bedaure ſie recht herzlich, denn ſie hat unendlich viel ausge - ſtanden. Hyſteriſche Zuſaͤlle, und ihr kummervol - les Leben, ſetzten ein paarmal ihrem Verſtande hart zu, und da nahm die Verleumdung Anlaß, ihr allerley Boͤſes nachzureden; aber, weis Gott! ſie iſt die beſte Frau auf Gottes Erdboden, in der kein boͤſer Blutstropfen rinnt! Es geht immer ſo, ſagte Siegwart, je beſſer und vollkommener man iſt, deſto mehr hat man Neider, und wird mis - verſtanden. Jch wollte auch in ihre Seele ſchwoͤ - ren, daß nichts boͤſes an ihr iſt. Sie hat mich ganz bezaubert.

Sie ſetzten ſich auf eine Raſenbank, die unter einem dickbelaubten Apfelbaum ſehr gluͤcklich ange - bracht war. Um ſie herum duͤftete in der, nach und nach herannahenden Abendkuͤhle das Geis - blatt. Auf einem Baum vor ihnen hatte ein Eichhoͤrnchen ſein Neſt, wo es bald heraus, bald hinein ſchluͤpfte, und oft, als ob es neugierig waͤr, herabſah. Sie beluſtigten ſich lange an ſeinen poſ -840 ſirlichen Spruͤngen und Wendungen; druͤckten ſich dann wieder feſt ans Herz, und freuten ſich ih - rer Liebe, und des himmliſchen Abends. Siegwart das ſeinem lieben Maͤdchen Thereſens und Kron - helms Brief vor; ſie freuten ſich miteinander uͤber das Gluͤck der Edeln, und phantaſirten ſich in glei - ches Gluͤck hinein, das ihnen einſt begegnen wuͤr - de. Unvermerkt ſteckte Mariane unſerm Siegwart einen Ring an ſeinen Finger. Das iſt fuͤr Klop - ſtock, ſagte ſie, (den er ihr geſchenkt hat - te.) Siegwart war vor Freuden auſſer ſich, ſah bald den Ring an; druͤckte bald ſein Maͤdchen an ſein Herz; kuͤßte bald den Ring, bald ſie, und wuſte nicht, was er vor Entzuͤcken und Dankbar - keit ſagen ſollte. Endlich ſagte er, wie haben Sies doch ſo treffen koͤnnen, daß der Ring ſo ge - nau paßt? Das macht man ſo, ſagte ſie; nahm einen Grashalm; wickelte ihn um ſeinen Finger, und brach den Grashalm ab. Ach, deswegen, rief er, wickelten Sie letzthin mir den Grashalm um den Finger? Liebes herrliches Maͤdchen, moͤcht ich doch deiner Liebe ganz wuͤrdig ſeyn. Sie ſind es; Sie ſind es! verſetzte ſie. Er ſagte, daß er nun in acht Tagen Antwort von ſeinem Vater erwarte. Zwar ſey er ſeines Veyfalls, und ſeiner Einwilli -841 gung ſchon gewiß. Es ſey blos um des Ceremo - niels willen. Sie ſaſſen da bis in die Daͤmme - rung, und trafen Karolinen mit ihrer Tante an einem Noſenſtrauch ſitzend an, der ſeine Duͤfte um ſie her verbreitete. Es kam unſern Siegwart ſchwer an, ſchon zu gehen, ob er gleich verſpre - chen muſte, morgen wieder zu kommen. Auf dem Wege nach der Stadt ſann er hin und her, wie er ein Mittel ausſuͤndig machte, nicht immer in der ſchoͤnſten Zeit weggehn zu duͤrfen. Endlich beſchloß er, auf dem benachbarten Dorf einen Bauren zu ſuchen, in deſſen Haus er uͤbernachten koͤnnte. Den Ring von Marianen drehte er immer am Finger hin und her; beſah und kuͤßte ihn alle Au - genblicke. Seine Seele war auſſerordentlich ent - woͤlkt, und ruhig; die Zukunft lag wie ein Fruͤh - lingsgefild vor ihm da; ſeine Phantaſie zauberte ſich und Marianen und alles Angenehme hin - ein.

Den andern Tag gieng er ſchon um zwey Uhr wieder hinaus, in der Abſicht, auf das Dorf zu gehn, und ſich einen Aufenthalt aufzuſuchen. Un - terwegs traf er einen Bauren an, der eben auf das Dorf zugieng. Siegwart redete ihn an, frag -H h h842te ihn, ob er in das Dorf gehoͤre? und als der Bauer es bejahte, frug er weiter, ob ein Wirths - haus im Dorf ſey, oder ob er nicht ſonſt ein Haus wuͤſte, wo er fuͤr Geld und gute Wort zuweilen ſchlafen koͤnnte? Es iſt wohl ein Wirthshaus da, antwortete der Bauer; aber weil Sie, wie ich ſehe, ſo ein braver Herr ſind, ſo koͤnnen ſie, um einen Schlafkreuzer fuͤr meine Magd, in meiner Huͤtte ſchlafen, ſo oft Sie wollen. Jch hab oben ein Stuͤblein, und |ein Bett drinn. ’s iſt zwar ein Biſſel hart, aber aufm Land, pfleg ich ſo zu ſa - gen, muß man ſich halt nach der Decke ſtrecken. Was wir ſo im Haus haben, Milch und Butter und Eyer, das ſteht Jhnen auch zu Dienſt, wenns anſtaͤndig iſt. Siegwart gieng mit ihm auf das Dorf, um das Zimmer zu ſehen. Es war reinlich, und friſch ausgeweißt. An der Wand herum hien - gen Bilder von Heiligen, vom Kayſer, von der Kayſerin, vom Churfuͤrſten und der Churfuͤrſtin; vom General Daun und Laudon. Das Bette war auch weiß und reinlich. Das iſt ja fuͤrſtlich! ſagte Siegwart. Ja ja, verſetzte der Bauer Thomas, die Herren haben eben ſo ihren Spaß mit uns Bauersleuten. Nun, nun! die Freud kann man ihnen ja wohl laſſen. ’s iſt doch manchem Bauers -843 mann woͤhler, als den Leuten in der Stadt. Sieg - wart verſicherte, daß er nirgends lieber ſey, als auf dem Dorf. So oft ich hier ſchlafe, fuhr er fort, geb ich ſechs Kreuzer, und, was ich eſſe, das bezahl ich beſonders. Der Bauer weigerte ſich lange, den Vertrag einzugehen, weil das, wie er ſagte, viel zu viel Geld waͤre. Auf den Abend, ſagte, Siegwart, komm ich; aber vielleicht etwas ſpaͤt, weil ich zu meiner Baſe auf das Landhaus gehe. So, zu der Frau Held? fiel Thomas ein. Ja ja, das iſt eine ſeelengute Frau, die den Armen hier im Dorf viel Gutes thut. Sie kommt fleißig ruͤber in die Kirche, und bringt alle - mal der Armuth etwas mit. Ey, Ey! So iſt das Jhre Bas? Nun, da nimmt michs eben nicht Wunder, daß Sie auch ſo brav ſind. Sagen Sies ihr nur, daß man ſie im Dorf hier recht lieb hat!

Siegwart gieng aufs Landhaus, das eine klei - ne halbe Stunde vom Dorf lag. Die Fran Held ſpielte gerad im Gartenſaal auf dem Fluͤgel. Er ſchlich ſich leiſe hinein, um ſie nicht zu ſtoͤren, und ſetzte ſich zwiſchen Karolinen und Marianen aufs Kanapee. Die Tante ſpielte mit viel Wahr - heit und Ausdruck; unſre Liebenden druͤckten ſich, bey jeder empfindungsvollen Stelle die Haͤnde,844 und blickten ſich oft mit Thraͤnen der Zaͤrtlichkeit an. Endlich, als die Tante ſich umſah, wurde ſie un - ſern Siegwart gewahr, und hoͤrte auf zu ſpielen, um ihn zu bewillkommen. Man ſprach etwas uͤber die Muſik. Fau Held aͤuſſerte den Wunſch, daß ſie unſern Siegwart, den ihr Mariane auch als Muſikus ſehr geruͤhmt hatte, einmal hoͤren moͤchte! Er verſprach, das naͤchſtemal ſeine Floͤte mitzubringen; aber, ſagte er zu Marianen, dafuͤr ſingen ſie heut eins. Sie ließ ſich nicht lang bit - ten, holte ihre Muſikalien, und ſang einige ita - liaͤniſche und deutſche Arien mit ſolcher Anmuth, und mit ſo tiefer Empfindung, als ſie im Konzert, wo die Menge von Zuhoͤrern zuruͤckhaltender macht, noch nie geſungen hatte. Drauf ſetzte man ſich ins Gruͤne, und Siegwart muſte, weil er eine angenehme und volle Stimme hatte, Kleiſts Fruͤhling vorleſen. Die Frauenzimmer hoͤrten mit dem innigſten Antheil und herzlicher Aufmerkſam - keit zu, und weinten zuletzt dem Andenken und der Aſche des Dichters eine dankbare Thraͤne; der ſchoͤnſte Lohn, den ſich ein edler Saͤnger nach dem Tode wuͤnſchen kann! Jch mache mir jeden Fruͤhling, ſagte Siegwart, einen ſeſtlichen Tag, und leſe erſt Kleiſts Fruͤhling, und dann die Ge -845 ſchichte ſeines Lebens, und ſeines edeln Heldento - des. Ein ſuͤſſeres Vergnuͤgen kenn ich gar nicht, als die Thraͤnen des Dankes und der Ruͤhrung, die ich dann ihm weine. Die Frauenzimmer ba - ten einmuͤthig, daß er ſein Leben vorleſen moͤchte! Er thats, und ward hundertmal durch ſeine eig - nen, und die Thraͤnen der Frauenzimmer unter - brochen. Hierauf erzaͤhlte er die Nachricht von der edeln Gauſſin in Frankfurt an der Oder, die ihm Hauptmann Northern erzaͤhlt hatte, daß nemlich dieſes Maͤdchen jaͤhrlich Blumen auf des Dichters Grab ſtreue. O, wir wollens auch thun! ſagte Mariane, ſprang auf, pfluͤckte Roſen, Geißblatt und andre Blumen. Karoline, ihre Tante, und Siegwart machtens nach; und an einem ſchoͤnen, etwas erhoͤhten Platz der einem Grabhuͤgel aͤhn - lich ſah, ſtreuten ſie die Blumen aus. Hier will ich mich begraben laſſen, ſagte Frau Held. Karo - line! und Sie auch, Mariane! beſuchen Sie dann jaͤhrlich mit Jhrem Siegwart dieſen Ort, und denken Sie an mich, und dieſen Abend! Alle wurden uͤber dieſe Wendung des Geſpraͤchs noch wehmuͤthiger. Sie ſetzten ſich auf die Blu - men ins Gras. Frau Held fieng an mit Begeiſte - rung von der Ewigkeit und vom Wiederſehn im846 Himmel zu reden. Ach, ſo ſchloß ſie, da werd ich auch den edeln Dichter ſehen, und ihm danken!

Aber heute|, ſagte ſie, indem ſie aufſtand, zu Marienen und zu Siegwart, heute haben wir Sie um einen ſchoͤnen Abend gebracht. Wie waͤrs, wenn ſie hier blieben, und im herrlichen Mond - ſchein mit uns ſpatzieren giengen? Jch habe ſchon dafuͤr geſorgt, verſetzte Siegwart, und im Dorf da druͤben ein Nachtquartier beſtellt. Herr - lich, herrlich! ſagte Mariane, und gab ihm einen Kuß. Er gieng nun mit ihr allein ins Waͤldchen ſpazieren, und ſetzte ſich wieder unter den Apfel - baum. Jndem er ſich ſetzte, flog aus dem naͤch - ſten Buſch eine Graſemuͤcke: Er ſah in den Buſch, und fand ein Neſtchen mit fuͤnf Eyern. Liebes Maͤdchen, ſagte er, wir wollen uns anderswo hinſetzen! Das arme Voͤgelchen wagt ſich nicht auf ſein Neſt, und ſeine Eyer werden kalt. Sie gien - gen weiter ins Gebuͤſch, und ſetzten ſich unter ei - ne Fichte, durch die die etwas laute Luft majeſtaͤ - tiſch, wie ein Strom rauſchte. Hier zwitſcherte ihnen eine Graſemuͤcke ihren ungekuͤnſtelten Ge - ſang vor. Horch! ſie dankt dir, ſagte Mariane, und ſank ihm ans Herz. Eine ſelige Wehmuth ſuͤllte ihre Seelen. Mariane lag in ſeinem Arm,847 und weinte vor Zaͤrtlichkeit. Sie langte nach dem Schnupſtuch, um die Thraͤnen wegzuwiſchen. Siegwart hielt ihre Hand; nicht wegwiſchen! ſag - te er, ich muß ſie wegkuͤſſen! Halbe Stunden lang ſprachen ſie kein Wort. Das Abendroth ſchien ihr durch die Hecken ins Geſicht. Die Sonne geht ſchon unter, ſagte er, wir muͤſſen zur Geſellſchaft! Sie ſtunden auf, und giengen nach dem Garten. Siegwart brach von einem Ro - ſenſtrauch zwo Roſen ab, die auf Einem Zweig ſtunden. Er wollte ſie voneinander reiſſen, um die Eine davon Marianen zu geben. Trenne ſie nicht! ſagte ſie, ſie ſind ein Paar. Er ſteckte beyde an ihren heiligen Buſen, mit den Worten: ſo moͤgen ſie denn miteinander ſterben! Karoline und ihre Tante ſaſſen vor dem Gartenhaus un - ter den Kaſtanienbaͤumen. Seyd ihr gluͤcklich? fragte Frau Held. Unausſprechlich! antwortete Mariane. So daß ich fuͤrchte, ſetzte Siegwart hinzu, unſer Gluͤck iſt gar zu groß! wir muͤſſens bald verlieren! Da ſey Gott vor! ſagte Karoli - ne. Sie giengen in den Gartenſaal, und aſſen Erdbeeren in Milch. Wenn Mariane eine große fand, ſo legte ſie ſie mit dem Loͤffel auf Sieg - warts Teller. Als ſie die ihrigen eher aufgegeſ -848 ſen hatte, ſo muſte ſie mit ihm eſſen. Erſt gab er ihr einen Loͤffel voll, und dann nahm er den andern. Der Mond wird wol bald aufgehn - ſagte die Tante, dort hinten wirds ſchon hell. Sie giengen in den Garten, und blickten immer gegen Morgen, wo der Mond aufgieng. Endlich ward ein Woͤlkchen gantz verguͤldet; ſie giengen an einen etwas erhoͤhten Ort, und ſtellten ſich auf die Zehen, um den Mond ſogleich zu ſehen. Er kommt, er kommt! rief end - lich Siegwart voller Freuden aus. Ja, er glaͤnzt ſchon an Jhrem Hut, ſagte Mariane. Nun kam er in ſeiner ganzen ſtillen Majeſtaͤt herauf, und beglaͤnzte den ganzen Garten. Die Blumen und Gewaͤchſe ſchimmerten im Thau, und verbreite - ten ihren lieblichen Geruch umher. Karoline ſah ſehr traurig aus. Was fehlt dir, meine Liebe? fragte Mariane. Ach, antwortete ſie; ich denke jener Zeiten. Hier gieng ich vor drey Jahren noch mit meinem Wilhelm, und nun ſcheint der Mond ſeit zwey Jahren ſchon auf ſein Grab. Sieh nur! wie er ſo traurig iſt, und hinter Wol - ken geht! Ach, Mariane, moͤchteſt du das nie erfahren! Tauſendmal hab ich mir gewuͤnſcht, nie geliebt zu haben! Alle ſchwiegen, und verlohren849 ſich in tiefer Wehmuth. Endlich wollte Siegwart Abſchied nehmen. Wir begleiten Sie die Wieſe noch hinauf, ſagte die Tante. Oben an der Wie - ſe, nah am Dorf, nahmen ſie von einander Ab - ſchied.

Siegwart kam zu ſeinem Bauren, der vor ſei - nem Haus auf einer Bank ſaß, und ſchlief. Er wachte auf, als Siegwart kam, ſtand ganz ſchlaf - trunken auf, und nahm ſeine Muͤtze ab. Es thut mir leid, ſagte Siegwart, daß ich ihn ſo lang aufgehalten habe, ich ward druͤben aufgehalten. Ey was, ſagte Thomas, das hat nichts zu bedeu - ten. Jch ſaß da, und ſah den Mond an, bis ich einſchlief. Es ſchlaͤft ſich gar gut im Mondſchein, und es traͤumte mir eben, als ob ich geſtorben waͤr, und in Himmel kaͤme. Da ſchien Sonn und Mond zugleich. ’s mag auch wol ſo ſeyn! Nun, nun, wenn der Herr jetzt ins Bett will, ſo kann ich ihn hinauffuͤhren. Will gleich ein Licht anma - chen. Siegwart ſagte, daß es gar nicht noͤthig waͤre, und gieng ohne Licht hinauf. Er ſah noch etwas aus dem Fenſter in die mondbeglaͤnzte Ge - gend. Von ferne ſah er das weiße Landhaus durch - ſchimmern, und ein Licht drinn. Er dachte, daß dieß vielleicht Marianens Licht waͤre, und ſah hin -850 aus, bis es ausgeloͤſcht wurde. Endlich gieng er, vergnuͤgt wie ein Engel, zu Bette.

Um vier Uhr ward er durch das Horn des Kuh - hirten, durch das Gebloͤk der Kuͤhe, und das Schnattern der Gaͤnſe, die man austrieb, ſchon wieder wach gemacht; auch unten in ſeinem Hau - ſe war ſchon alles munter. Er zog ſich an, und gieng hinab. Ey, Ey, ſagte Thomas, auch ſchon auf? Das haͤtt ich nicht gedacht, daß die Stadt - herren ſo bald aus den Federn koͤnnten. Komm, Anne, ſo hieß ſein Weib, gruͤß den Herrn! Du haſt ihn doch noch nicht geſehen. ’s iſt meiner Seel ein braver Herr, und ſo gemein; denn er ſpricht mit unſer einem, wie mit ſeines Gleichen. Anne war ein freundliches Weib, und both Sieg - wart an, in die Stube zu gehen, und Haberbrey mit zu eſſen. Thomas lachte ſie uͤber dieſes Aner - bieten aus; Siegwart aber ſagte, daß er alles mitmache, und gieng in die Stube. Das Geſin - de ſaß um eine große, dampfende Breypfanne herum, den rechten Arm auf den Linken geſtuͤtzt, und nach Herzensluſt. Sie gafften unſern Siegwart ſtaunend an, und winkten ſich einander zu, als ob ſie ſagen wollten: Sieh! das iſt ein rechter Herr! Er ſah auf ſeine Taſchenuhr, und zog ſie auf. Die851 Leute| ſahen einander voll Verwunderung an, weil ſie nicht wuſten, was das waͤre? Ein Bauerkerl ſah beſonders neugierig zu, und buͤckte ſich ganz uͤber den Tiſch herum. Weis er nicht, was das iſt? ſagte Siegwart; und auf die Antwort: Nein, machte er das Uhrgehaͤuſe auf, und ſetzte ſich zu ihnen. Die Knechte und Maͤgde wuſten nicht, wie ſie ihre Verwunderung uͤber das kuͤnſtliche Ge - maͤchte genug an den Tag legen ſollten. Sie glaub - ten, es gieng ohne Zauberey nicht zu, daß ſich die kleinen Raͤder alle ſo von ſelbſt bewegten. So eine Uhr, glaubten ſie, waͤre wol viel Jauchert Ak - kers werth. Anne brachte nun in einer kleinern Pfanne, Brey fuͤr Siegwart. Das Geſinde gieng indeſſen mit Thomas ins Feld hinaus zur Heu - erndte. Anne war ſehr geſpraͤchig und ſehr neu - gierig. Sie that von fern allerley Fragen, um etwas von Siegwarts Stand und Umſtaͤnden zu erfahren. Er ſagte, daß er die Frau Held, die ſeine Baſe ſey, beſucht habe. Nun brach die Baͤurin in Lobeserhe - bungen der Frau Held aus, daß ſie ſo fromm und gutthaͤtig gegen die Armen ſey, und mit jedem Bauersweibe ſpreche, als ob ſie ſelbſt nicht viel mehr waͤre. Sie war auch ſchon einmal bey mir, ſagte ſie, als ich vor einem Jahr im Kindbett lag, und ſo krank war. Jch hatte da ſo ſtarke Hitzen,852 und ſie brachte mir Himbeerſaft, und andre gute Sachen, daß mir bald drauf beſſer wurde. Jch ſehe ſie ſeitdem immer drum an, und dank ihr in der Stille, ſo oft ich ſie ſeh. Sie hat auch ein paar recht brave Jungfern bey ſich, die man ſich nicht beſſer wuͤnſchen koͤnnte. Die Eine davon iſt ihre Baſe, die war ſchon oft bey ihr. Aber die andre hab ich noch in meinem Leben nicht geſe - hen. Das iſt gar ein bildſchoͤnes Fraͤulein, ſie hat ein Geſicht wie Wachs, und Backen wie Milch und Blut. Jch meyne, ich koͤnne ſie nicht genug anſehn, wenn ſie in die Kirche koͤmmt. Sie gruͤßt da die Leu - te ſo freundlich, und iſt ſo andaͤchtig, daß es einen in der Seele wohl thut. Sie ſoll von vornehmen Leuten ſeyn, und thut doch gar nicht vornehm. Erſt letztern Sonntag ſagte ſie zu mir: Guten Mor - gen, Anne! und kuͤßte meine kleine Kathrine, als obs ihr eignes Kind waͤre.

Jndem kamen zwey Kinder, die eben aufgeſtan - den waren, in die Stube; ein Knabe von ſieben, und ein Maͤdchen von fuͤnf Jahren. Sie ſtutzten anfaͤnglich, als ſie den fremden Herrn ſahen. Als aber Siegwart freundlich auf ſie zu kam, wurden ſie nach und nach vertraulich, und endlich ganz zuthaͤtig, und erzaͤhlten ihm allerley Geſchichten. Die Baͤurin ſah Siegwart wie einen Engel an,853 weil er mit ihren Kindern ſo freundlich that, und ſich ſo zu ihnen herabzulaſſen wußte.

Waͤhrend daß er mit ihnen ſpielte, kam Frau Held mit Marianen und Karolinen, um ihn zu einem Spatziergang abzuholen. Sie ſpra - chen noch eine Zeitlang mit Annen, und giengen dann, durch das naͤchſte Waͤldchen, dem Schloß zu. Siegwart erzaͤhlte ihnen, wie er ſeine Zeit in dem Dorf zugebracht habe, und machte ihnen durch ſeine Schilderung viele Freude. Den Mit - tag aſſen ſie zuſammen im Gartenſaal, und nach dem Eſſen ſpielte Frau Held auf dem Fluͤgel. Ge - gen Abend nahm Siegwart Abſchied, nachdem er erſt verſprochen hatte, den andern Tag wieder zu kommen, zumal da Mariane ſagte, ihre Mutter wuͤrde dann ein paar Tage bey ihnen zubringen, und alſo wuͤrde er dann nicht herauskommen koͤn - nen. Er verſprach auch, ſeine Floͤte mitzubringen. Sie begleiteten ihn noch eine halbe Stunde weit. Er kuͤßte ſeine Mariane aufs zaͤrlichſte, und nahm von Frau Held und Karolinen Abſchied.

Den andern Morgen war das Wetter ſehr ſchwuͤl, und ein Gewitter zog nach dem andern vorbey. Er ſah alle Augenblicke nach dem Himmel, und war ſehr beſorgt, er moͤchte nicht aufs Landguth854 hinaus gehen koͤnnen. Sein Barometer, den er jede Viertelſtunde beſah, fiel immer tiefer, und endlich brach um zwoͤlf Uhr ein heftiges Gewitter los, das mit Hagel und Schloſſen begleitet war. Er war daruͤber ſehr betruͤbt, hoffte aber immer, es wuͤrde ſich noch aufheitern. Jede Waſſerhelle hielt er fuͤr klaren Himmel, und ſah dann mit Mis - vergnuͤgen wieder neue Wolken aufſteigen. Einmal zog er ſich ſchon an, um wegzugehen, weil der Him - mel etwas hell ward; aber, als er aus dem Hauſe wollte, kam ein neuer heftiger Gewitterſchauer; und ſo giengs den ganzen Abend fort; bis er endlich, wider ſeinen Willen, ſich entſchlieſſen mußte, da zu bleiben. Er ſtellte ſich immer vor, wie ſie auf ihn warten wuͤrden, und machte ſich dann ſelber wieder Vorwuͤrfe, daß er doch nicht, trotz dem Wetter, hinausgegangen ſey. Der ganze Abend war ihm laͤſtig und langweilig; er konnte nichts leſen, und nichts denken. Mariane, mit ihrer laͤndlichen Geſellſchaft war ſein einziger Gedanke, bis Dahlmund, ihn zu beſuchen, kam. Dieſer fragte ihn, wo er doch geweſen ſey? Er hab ihn ſo lang ſchon nicht geſehen. Siegwart antwor - tete, er ſey bey Frau Held geweſen. Bey Frau Held? ſagte Dahlmund haſtig; von der hab ich855 wenig Gutes gehoͤrt; und nun erzaͤhlte er allerley Verleumdungen, die man ihm von ihr beygebracht hatte; daß ſie ihrem Mann untreu geweſen, aus Liebe alle Augenblicke naͤrriſch geworden ſey, und dergleichen mehr. Siegwart fuhr auf, und wollte boͤſe werden; aber Dahlmund beruhigte ihn wie - der durch die Verſicherung, daß er dieſe Ausſagen ſelbſt nicht glaube, und es ſich zur Regel wolle dienen laſſen, dergleichen Geſchwaͤtze nicht mehr anzuhoͤren.

Den folgenden Tag hoffte Siegwart halb und halb, von ſeinem Vater Antwort zu bekommen, aber vergeblich. Das Wetter war wieder ſchoͤn geworden, und er waͤre ſo gern zu ſeiner lieben Mariane hingeeilt, aber er ſah ihre Mutter weg - fahren, und wagte ſich alſo nicht aufs Guth hinaus. Am dritten Tag, als ſie wieder zuruͤckkam, gieng er noch denſelben Abend hinaus, und kam erſt in der Daͤmmerung bey ihnen an, als Mariane mit Karolinen eben die Levkojenſtoͤcke begoß. Sie ließ vor Freuden die Gießkanne fallen, als ſie ih - ren Siegwart wieder ſah, und lief auf ihn zu. Er ſchloß ſie mit Jnbrunſt in den Arm, und entſchul - digte ſich, daß er letzthin nicht Wort gehalten, und herausgekommen ſey. Ach, ſagte ſie, ich haͤtte ge -856 zittert, wenn Sie bey dem fuͤrchterlichen Wetter gekommen waͤren. Wir glaubten hier, die Welt werde untergehn; es war Feuer an Feuer, und Schlag auf Schlag. Beſonders Einmal kam ein Donnerſchlag, von dem wir glaubten, er hab unſer Haus getroffen; wenigſtens muß der Blitz ganz in der Naͤhe eingeſchlagen haben. Jetzt iſts ſchon zu daͤmmerig; morgen ſollen Sie ſehen, wie der Hagel unſre lieben Blumen, und den gan - zen Garten mitgenommen hat. Frau Held kam nun auch, und bewillkommte unſern Siegwart. Sie ſetzten ſich in den Gartenſaal zuſammen. Frau Held ſpielte den Fluͤgel, und Siegwart ſaß mit ſeiner Mariane auf dem Kanapee, gab und nahm tauſend Kuͤſſe; und empfand das Gluͤck der Zaͤrt - lichkeit gedoppelt, weil er von ſeinem Engel einige Tage hatte getrennt leben muͤſſen. Nach dem Abendeſſen giengen ſie im Garten ſpatzieren. Sieg - wart ſchlich ſich unvermerkt weg; ſetzte ſich auf ei - nen halb umgebognen Birnbaum, und fieng an, auf der Floͤte zu ſpielen. Bravo, bravo! riefen die Frauenzimmer, kamen zu ihm, und ſetzten ſich ihm zur Seite an den Birnbaum. Der Ton ſei - ner Floͤte klang wie Silber durch die ſtille Som - mernacht. Jhre Herzen wurden weich, und weh -857 muͤthig. Mariane ſank ihm endlich an ſein Herz. Er ließ die Floͤte ſinken, und umarmte ſie. Kei - nes konnte vor Entzuͤcken und Empfindung ſpre - chen. Nachdem er Marianen gnug gekuͤßt hatte, mußte er noch drey, oder vier Arien ſpielen, und gieng erſt um zehn Uhr auf ſein Dorf hinuͤber. Die Frauenzimmer begleiteten ihn noch. Unter - wegs freuten ſie ſich uͤber die haͤufigen Johannis - wuͤrmchen, die wie kleine Feuerfunken durch die Nacht flogen. Siegwart fieng ein paar Wuͤrm - chen. Eins davon legte er auf ſeinen, und das andre auf Marianens Sonnenhut. Als ſie von einander Abſchied nahmen, blieb er ſtehen, und ſah das Wuͤrmchen noch lang auf ihrem Hut glaͤn - zen.

Seinen Bauren Thomas und ſein Weib traf er noch auf der Bank vor dem Haus ſitzend an. Er merkte, daß ſie niedergeſchlagen waͤ - ren, wollte ſie aber heut nicht mehr um die Urſa - che davon fragen. Auf der Kammer legte er ſich noch ins Fenſter, und blies, eh er zu Bette gieng, fuͤnf, oder ſechs Floͤtenſtuͤcke. Um vier Uhr ſtand er den andern Morgen auf, und gieng zu Tho - mas hinunter. Dieſer ſaß, die Hand an den KopfJ i i858geſtuͤtzt, am Tiſch, und ſeine Frau neben ihm. Wo fehlts, Thomas? ſagte Siegwart. Ach, uͤber - all, Herr! antwortete der Bauer. Wir ſind eben geſchlagene Leute, ſeit uns unſer Herr Gott ſo heimgeſucht, und all unſer Korn durch den Ha - gel weggenommen hat. Da ſitzen meine Leute nun, und haben nichts zu thun, als die Aecker, wo die liebe Saat geſtanden hat, umzupfluͤgen, und allenfalls Ruͤben oder Wickenfutter drauf zu ſaͤen. Jch weis nicht, wie’s mir auf den Winter gehen wird, zumal wenn die Herrſchaft doch die Gebuͤhr haben will. Stand nicht unſer Feld ſo ſchoͤn, und als ich da nach dem Hagelwetter hinauskomm, ſteht kein Halm mehr, und das Waſſer laͤuft mir ſtrom - weis entgegen, und die Leute liegen auf den Knien, ſchlagen die Haͤnd uͤber’m Kopf zuſammen, und fangen ein Geheul an, daß ich bald mein eignes Elend drob vergeſſen haͤtte. Es iſt, weis Gott! ein Hartes; und, wenns nicht von Gott herkaͤme, wuͤßt ich mich nicht drein zu finden! Er klagte noch eine gute Zeit ſo fort, und ſagte: wenn er nur zwoͤlf Gulden haͤtte, um neues Saamen - korn einzukaufen, und ſeine Haushaltung etwas zu beſtreiten, ſo gieng’s noch an, ſonſt muͤſſ er einen Acker verkaufen; und jetzt gebe niemand859 nichts drum, weil kein Menſch im Dorf Geld habe. Siegwart troͤſtete ihn, ſo gut er konnte, und gieng um neun Uhr aufs Schloß hinuͤber zu Frau Held und der uͤbrigen Geſellſchaft.

Es war eben ein Bauer aus dem Dorfe da, der bey Frau Held etwas Geld entlehnte, weil ihm der Hagel auch ſeine Fruͤchte zerſchlagen hatte. Der Bauer gieng mit Thraͤnen in den Augen weg, und dankte. Er mußte den Flachs, den er der Frau Held hatte verehren wollen, wieder mitneh - men, und daruͤber war er noch mehr geruͤhrt. Als er weggegangen war, fieng Siegwart an: Jch haͤtt auch eine Bitte einzulegen fuͤr meinen Hauswirth Thomas. Der arme Mann hat kein Geld zur neuen Ausſaat, und wollte doch nicht gern einen Acker verkaufen. Mit zwoͤlf bis funf - zehn Gulden waͤr ihm geholfen. Wollten Sie es wohl mir zu Gefallen thun, Frau Held? Herzlich gern, antwortete ſie, und gieng aus dem Saal. Kommen Sie! ſagte Mariane zu Siegwart und Karolinen; wir wollen nach den Blumen ſehen, die der Hagel verderbt hat. Sie giengen in den Wurzgarten. Es war ein trauriger Anblick. Den Levkojenſtoͤcken waren mehrentheils die Zweige ab - geſchlagen, und die ſchoͤnſten Blumen lagen zerfetzt860 im Schlamm. Die Roſen hiengen halb entblaͤttert am Strauch; die Knoſpen waren zerknickt, oder die Blaͤtter durchloͤchert, und gelb. Den Aurickel - ſtoͤcken waren die Herzblaͤtter abgeſchlagen; unter den Baͤumen lag das Laub, und die unreife Frucht dickgeſaͤt. Kurz, die Verwuͤſtung war faſt allge - mein. Siegwart und die Maͤdchen blickten trau - rig drauf hin. Noch vor wenig Tagen, ſagte Siegwart, wars hier wie ein Paradies, und nun! Gott! wie unbeſtaͤndig iſt doch alles! Sie werden zu traurig, ſagte Karoli - ne, und fuͤhrte ſie wieder in den Gartenſaal. Ma - riane ſetzte ſich an den Fluͤgel, und ſpielte. Frau Held kam dazu, und ſetzte ſich zu Siegwart.

Nach einer halben Stunde kam Thomas, und fragte, was die geſtrenge Frau zu beſehlen habe? Sie erkundigte ſich nach einigen ihrer Aecker, die Thomas zu beſtellen hatte, ob der Hagel da viel Schaden angerichtet habe? Endlich fragte ſie ihn, wie von ungefaͤhr, ob er auch ſehr drunter gelitten habe? Und als er es bejahete, und ſeine jetzige Ver - legenheit erzaͤhlte, bot ſie ihm an, ihm 20 oder 25 Gulden vorzuſchieſſen. Der Bauer wußte nicht, wie ihm war, und was er ſagen ſollte? Frau Held holte das Geld, und gab es ihm. Er861 war ganz auſſer ſich, und konnte vor Thraͤnen nicht zu Worte kommen. Dankend und weinend nahm er Abſchied.

Die Geſellſchaft ſprach nun von dem Gluͤck, Reichthuͤmer zu beſitzen, wenn man auch die Kunſt weis, ſie wohl anzuwenden. Jch ſchaͤme mich nicht, ſagte Siegwart, meine Schwachheit zu geſtehen, und mir viel Vermoͤgen zu wuͤnſchen. Wer viel hat, kann viel geben! Mariane blickte ihn fuͤr dieſe Geſinnungen mit Zaͤrtlichkeit an; druͤckte ſeine Hand, und ſank ſtillſchweigend an ſein Herz.

Eine halbe Stunde drauf gieng man zu Tiſch. Die Mahlzeit war ſehr einfach. Eßt, meine lieben Kinder! ſagte Frau Held. Bey mir ſieht man dem Koch bald unter die Augen. So iſts am beſten, ſagte Mariane. An den allzuſehr beladnen Tafeln will mirs nie ganz ſchmecken. Man ißt auf Koſten ſeiner Geſundheit, und der Gedanke macht mir jeden Biſſen bitter: Daß von dieſem Ueberfluß, wenn er in gemeine nahrhafte Speiſen verwandelt wuͤrde, zwanzig und mehr Arme koͤnn - ten geſaͤttigt werden. Jch ſah einmal den Hof in Muͤnchen offne Tafel halten. Die Tiſche waren voll; die Gaͤſte uͤberſaͤttigt, und hundert Menſchen mit eingefallenen Geſichtern ſtanden da, denen man862 den Wunſch aus den Augen leſen konnte: Wenn doch meine armen Kinder davon haͤtten! Das gieng mir durch Mark und Bein, und ich dachte: Jch moͤchte nie ein Fuͤrſt, oder eine Fuͤrſtin ſeyn, wenn ich fuͤrſtlich leben muͤßte. Zumal wenn man denkt, daß mehrentheils der Schweiß der Unterthanen auf den Tiſch kommt!

Frau Held hatte nach Tiſch mit Karolinen einige Haushaltungsgeſchaͤfte zu beſorgen. Siegwart gieng mit Marianen nach dem Waͤldchen. Sie haben geſtern Abend, fieng Mariane an, mir mit Jhrer Floͤte noch viel Vergnuͤgen gemacht. Jch konnts noch hoͤren, als ich ſchon zu Bette lag. Es war, als ob ich Jhre Seele ſprechen hoͤrte. Ueberhaupt iſt der Floͤtenton der Ton der Liebe, oder des guten Herzens. Wenn ich einen gut die Floͤte ſpielen hoͤre, ſo iſt mirs kaum moͤglich, zu glauben, daß dieſer Menſch, wenigſtens in dieſem Augenblick, etwas Boͤſes denken, oder ausuͤben koͤnne. So geht mirs faſt bey allen Jnſtrumenten, ſagte Siegwart.

Sie waren nun im Waͤldchen. Gott! Was iſt da geſchehen! ſagte Siegwart. Der Apfelbaum, unter dem ſie auf der Raſenbank geſeſſen hatten, war vom Blitz entzwey geborſten. Die Aeſte la -863 gen umher verſtreut, und die Blaͤtter waren ver - ſengt. Mariane ſtand blaß und zitternd da. Das iſt der Donnerſchlag, den wir gehoͤrt haben, ſagte ſie. Haͤtten wir denken ſollen, daß das unſerm lieben Baum gelte! Siegwart hatte indeſſen in der Hecke nach dem Graſemuͤckeneſtchen geſehen. Sieh, Mariane! ſagte er, und konnte weiter nicht ſpre - chen. Sie ſah hin. Die Mutter ſaß im Neſtchen todt auf ihren Jungen. Neben ihr lag das Maͤnn - chen, mit ausgebreiteten Fluͤgeln, todt. Was half nun meine Vorſicht? ſagte er. Haͤtt ichs wegge - jagt vom Neſtchen, und ſie lebten noch! Ma - riane ſetzte ſich, ganz betaͤubt, am geſpaltnen Stamm auf die Raſenbank.

Sie ſchwiegen lang, und ſahn ſich traurig an. Wo mag geſtern Hofrath Schrager hingefahren ſeyn? fragte endlich Siegwart. Es war ein Koffre hinten auf dem Wagen aufgepackt. Vermuthlich nach Abach, ſagte Mariane; meine Mutter hat davon geſagt. Nach Abach? fragte Siegwart ganz tiefſinnig. Weis Jhr Vater was davon? Vermuthlich; war Marianens Antwort. Mein Vater hat ihm einen Brief zugeſchickt.

Siegwart. Und das ſagen Sie ſo kalt?

864

Mariane. Warum nicht, mein Lieber? Fuͤrch - ten Sie ſchon wieder?

Siegwart. Sollt ich etwa nicht? Ach Maria - ne, Mariane! Jhre Gleichguͤltigkeit iſt mir uner - klaͤrlich. Jch kann nie ohne Zittern an den Hof - rath denken. Sie wiſſen, welchen Schrecken er uns ſchon gemacht hat.

Mariane. Und doch giengs voruͤber. Seyn Sie ruhig! An meiner Liebe werden Sie doch nicht zweifeln?

Siegwart. An Jhrer Liebe warlich nicht! Aber ſchuͤtzt dieſe uns vor allem? Jch fuͤrchte, ich fuͤrchte, das Schickſal, oder Menſchen werden uns nicht zuſammen leben laſſen.

Mariane. So laͤßts uns doch zuſammen ſter - ben. Denk an die Voͤgel dort im Buſch! Ach Siegwart! du haſt viel zu wenig Glauben an die Vorſehung, und an dich, und mich. Mein Herz haſt du. Meine Hand noch nicht, aber ſie ſoll keines andern werden. Jch ſchwoͤr es dir aufs neu vor Gott und allen Heiligen. Man koͤnnte dich mir rauben, aber keinem andern geben kann mich niemand. Dazu gehoͤrt mein Wille, und den Willen eines Menſchen hat noch kein Menſch gezwungen.

865

Karoline und ihre Tante kamen ins Waͤldchen, eh noch Mariane ausgeſprochen hatte. Sie bedaurten zuſammen den ſchoͤnen Apfelbaum, und das ganze Waͤldchen, das von den Schloſſen ſehr viel gelitten hatte. Ueberall lagen Zweige und Fruͤchte, manch - mal war die Rinde mit abgeſchaͤlt. Dieſer Anblick machte ſie traurig, und ſtill. Sie giengen wieder nach dem Garten. Unterwegs ſagte Mariane ih - rem Siegwaat, in acht Tagen werd ihr Vater wieder kommen, und ſie ſelbſt zieh in vier Tagen wieder in die Stadt. Er mußte verſprechen, we - nigſtens noch zweymal herauszukommen; denn heut wollte er in die Stadt, weil er morgen gewiß ei - nen Brief von ſeinem Vater erwartete.

Gegen Abend gieng er alſo nach der Stadt, und hatte wegen der Nachricht vom Hofrath Schrager tauſend unruhige Gedanken, denn er glaubte gewiß, daß ſeine Reiſe nach dem Bad die Verheyrathung mit Marianen zur Abſicht habe. Marianens Verſicherung, daß ſie ihm treu bleiben wolle, konnte ihn nicht genug beruhigen, denn er wußte, wie viel Kuͤnſte man anwenden koͤnne, ein Maͤdchen durch Liſt und durch Gewalt auf andre Gedanken zu bringen. Er hatte Muth ge - nug, alles zu unternehmen, aber mehr gegen offen -866 bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn ſie erſt noch von ferne drohte.

Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater. Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen; nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le - ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer - de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom - men, da er an Oſtern daran verhindert worden ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli - che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus, als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei - ne die andre wieder aufhob.

Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete ſie, er habe einen verdruͤßlichen Brief bekommen;867 als ſie aber hoͤrte, daß er gar keinen erhalten habe, und nur deswegen ſo unruhig ſey, ſtellte ſie ihm vor, wie unnoͤthiger Weiſe er ſich ſelber quaͤle, da es ja eben ſoviel gute oder gleichguͤltige Urſachen geben koͤnne, warum der Brief einen Poſttag laͤn - ger ausbleibe, als boͤſe, und unangenehme. Jhre Gruͤnde, und noch mehr ihr freundliches Geſicht hellten ſeine Seele wieder auf, und bannten alle Zweifel und Gruͤbeleyen draus weg; und dieſer Abend war ihm einer der froͤhlichſten, zumal da ihm auch Mariane noch ſagte, es ſey ihr erſt bey - gefallen, daß der Hofrath Schrager ſchon vor ei - nem Jahr geſagt habe, er wolle dieſen Sommer ins Abacherbad reifen. Er blieb bis nach zehn Uhr bey Frau Held, und traf ſeinen Bauren ſchon im Bette an. Es that ihm leid, daß er ihn wecken mußte, aber Thomas that ganz freund - lich.

Den andern Morgen fand er auch Thomas und ſein Weib recht aufgeraͤumt. Sie erzaͤhlten ihm mit groſſen Freuden, was er ſchon wußte, daß Frau Held ihnen in ihrer Noth ausgeholfen, und ihnen mehr vorgeſchoſſen habe, als ſie noͤthig gehabt haͤtten. Sie brachen in Lobeserhebungen der gutthaͤtigen Frau Held aus, und Siegwart868 freute ſich mit ihnen gemeinſchaftlich druͤber. Als er ſagte, daß er eben zu ihr hinuͤber gehe, trugen ſie ihm tauſend herzliche Gruͤſſe und Segens - wuͤnſche an ſie auf.

Frau Held ſchlug ihrer Geſellſchaft zur Abwech - ſelung vor, auf einem ſehr ſchoͤnen Teich, der ihr gehoͤrte, und nicht gar weit vom Schloß lag, herumzufahren, und zu angeln. Der Teich war laͤnglicht, und mit einem dicken Geſtraͤuch von Hagdorn umgeben, welches eben bluͤhte. Die Bluͤthen, welche ſich im klaren Waſſer ſpiegelten, der blaue Himmel, und die Sonne, die daraus zuruͤckſtralten; das ſanfte Luͤftchen, das die Hitze kuͤhlte, und der Geſang der Voͤgel am Ufer mach - ten die Fahrt anſſerordentlich angenehm. Sie fiengen mit der Angel nur ſo viele Fiſche, als ſie zum Mittagseſſen noͤthig hatten. Drauf nahm Siegwart ſeine Floͤte, und blies; Mariane ſang dazu. Sie waren alle ſo heiter, wie der Som - mermorgen. Die Freude ſtralte aus ihren Geſich - tern, wie die Sonn aus dem Teich. Am Ufer beſteckten ſie ihre Huͤte mit Hagdornbluͤthen, und giengen ſo, Hand in Hand, in den Gartenſaal zuruͤck, wo ſie bald darauf zuſammen aſſen, und den Nach -869 mittag mit Scherz und frohem Lachen zubrach - ten.

Als Siegwart Abſchied nahm, ſagte Frau Held: Sie verlaſſen mich nun; Jhre Mariane will in zween Tagen nachfolgen, und in drey Tagen bin ich mit meiner Nichte in der Einoͤde. Das waͤre doch nicht recht, wenn Sie uns ſo ganz allein laſ - ſen wollten. Zuweilen, daͤcht ich, koͤnnten Sie uns wol noch einen Nachmittag ſchenken. Wenn wir Sie gleich nicht ſo gut, wie Jhre Mariane, unterhalten koͤnnen, ſo wollen wir doch unſer moͤg - lichſtes thun; ohne daß Mariane Urſache zur Ei - ferſucht bekommen ſoll. Wollen Sies mir wol in die Hand verſprechen, noch zuweilen an uns zu denken? Siegwart gab ihr die Hand, und ver - ſprach, ſie gewiß oͤfters zu beſuchen. Er nahm mit tauſend herzlichen Dankſagungen Abſchied, kuͤßte ſeine Mariane, und gieng tauſendmal vergnuͤgter, als er herausgegangen war, wieder nach der Stadt.

Zu Haus fand er einen Brief von ſeiner Schwe - ſter, der faſt nichts, als ihr unausſprechliches Gluͤck, die Zaͤrtlichkeit ihres Kronhelm, und Ein - richtungen auf ihren Guͤtern, und in ihrem Haus - weſen zum Jnhalt hatte. Er ſchrieb ihr und ſei -870 nem Schwager ſogleich wieder, meldete ihnen ſei - ne jetzige Lage mit Marianen, daß er alle Tage von ſeinem Vater Antwort erwarte, und dieſen Brief ſo lang zuruͤckbehalten wolle, bis er ihnen zugleich die Antwort mit melden koͤnne.

Zween Tage nachher kam Mariane wieder vom Land zuruͤck. Er ſah ſie ausſteigen, und gruͤßte ſie vom Fenſter aus. Den Tag drauf erhielt er endlich den laͤngſt ſo ſehnlich erwarteten Brief von ſeinem Vater: Aber Gott! wie erſchrak er, als er folgendes las:

Theurer Sohn!

Dein Schreiben habe erhalten, und wollte es ſchon beantworten, als mich Gott mit einer ſchwe - ren Krankheit heimſuchte, und dem Tod nahe brachte. Seit ein paar Tagen fuͤhl ich einige Lin - derung, und der Arzt will von Hofnung ſagen; aber ich ſuͤhle noch Todesſchwaͤche, und ſchreibe dieſes, wie du ſiehſt, mit zitternder Hand. Theu - rer Sohn, du weiſt, was ich auf dich halte, und wuͤnſche ich daher nichts ſehnlicher, als dich vor meinem Ende, welches vielleicht vor der Thuͤr iſt, noch einmal zu ſehen, und dir meinen vaͤterlichen Segen aufzulegen. Von der bewußten Sache871 koͤnnen wir dann auch ſprechen; ſollteſt du mich aber, nach Gottes Willen, ſchon todt antreffen, ſo erklaͤr ich mich hiemit, daß nichts dagegen habe, und es gern ſehe, wenn du weltlich bleibſt, und durch meines Freundes Tochter gluͤcklich wirſt. Gruͤß und verſichre ſie meiner gaͤnzlichen Zunei - gung! Bleib nur fromm und redlich! Dies iſt der beſte Segen, den dir dein Vater auf der Welt zuruͤck laſſen kann. Komm ſo bald, als moͤglich, denn ich bin ſehr ſchwach, und kann nicht weiter ſchreiben.

Bin dein, auch noch im Tod getreuer Vater
Siegwart. Amtmann.

Das ganze kindliche Herz unſers Siegwarts ward im Jnnerſten erſchuͤttert, als er dieſen Brief erhielt. Thraͤnen ſtuͤrzten ſtromweis auf das Blatt hin. Er wagte es kaum den Brief zum zwey - tenmal zu leſen; und doch hatte er ſeinen Jnhalt noch nicht halb gefaßt. Die dringende Nothwen - digkeit, ſogleich abzureiſen, machte ihn noch ſtaͤr - ker, und gewiſſermaßen unempfindlicher, als er ſonſt geweſen waͤre. Die Einwilligung ſeines Va - ters in ſeine Liebe, war ein Stral, der ihm die tiefe Dunkelheit noch in etwas erhellte. Er lief aus dem Haus, und beſtellte ein Pferd. Dann872 gieng er geradezu in Marianens Haus, und ver - langte, ſie zu ſprechen. Sie kam zu ihm aufs Beſuchzimmer. Verzeihen Sie! ſagte er, und gab ihr ſeines Vaters Brief; ich mußte Sie noch ſprechen. Sie las, konnte den Brief kaum vor Zittern halten, ward bald roth, bald blaß, gieng endlich auf ihren Siegwart ſchweigend zu, und ſank weinend in ſeinen Arm. Gott ſteh Jhnen bey! ſagte ſie nach einiger Zeit. Ach, meine Liebe, antwortete er; ich muß noch heute ſort. Aber, vergeſſen Sie mich nicht! O vergeſſen Sie mich nicht! Jch will ſobald als moͤglich wieder kommen. Wollten Sie mir wol einmal einen Brief ſchreiben, meine Liebe? Wie kann ich das? fragte ſie. Durch Jhren Bruder, war die Antwort. Gut, ich will es thun, ſagte ſie. Aber kommen Sie nur bald wieder zuruͤck! Jch will fuͤr Sie, und fuͤr die Geneſung Jhres Vaters beten. Er verſprach noch einmal, aufs moͤglichſtbaldeſte zu kommen, und ihr durch ihren Bruder ſogleich von Haus aus zu ſchreiben, wie es mit ihm und ſeinem Vater ſtuͤnde. Sie umarmten ſich noch einmal aufs zaͤrtlichſte, und konnten vor Schluch - zen kein Wort ſprechen. Siegwart gieng noch auf einige Augenblicke zu Marianens Mutter, um873 von ihr Abſchied zu nehmen, die ihn aufs freund - ſchaftlichſte empfieng, und ihm auf die theilneh - mendſte Art ihr Beyleid bezeugte. Mariane be - gleitete ihn die Treppe hinab, ſank in der Haus - thuͤr noch einmal in ſeinen Arm, weinte an ſei - nem Buſen, und verſprach ihm, alle Tage etwas an ihn aufzuſchreiben. Er riß ſich aus ihren Ar - men los, und gieng.

Nach einer Stunde ſetzte er ſich zu Pferd, ſah noch einmal weinend zu ſeiner Mariane hinauf, und ritt weg. Schmerz und tiefe Traurigkeit be - gleiteten ihn auf dem ganzen Wege. Jn einem Dorf ſtieß er auf ein Leichenbegaͤngnis. Dieſer Anblick durchbohrte ihm das Herz. Er ritt ſchnell vorbey, um ſeine Thraͤnen zu verbergen. Er ſtell - te ſpaͤt bey Nacht ein, und ritt Morgens wieder fruͤh weg. Den andern Tag kam er, ziemlich ſpaͤt, in ſeinem Dorf, und vor ſeinem Haus an. Kein Menſch kam ans Fenſter. Nur im hintern Zimmer ſah er ein ſchwaches Licht. Er fuͤhrte ſein Pferd ſelbſt in den Stall, und gieng ins Haus. Alles war ſtill; kein Menſch begegnete ihm. Zit - ternd, und mit lautem Herzklopfen gieng er an das Zimmer ſeines Vaters. Auch da hoͤrte er keinenK k k874Laut. Er machte leis auf, und trat hinein. Sei - ne Bruͤder, Salome, und ſeine Schwaͤgerin ſtan - den ſchluchzend ums Bett herum. Schweigend wichen ſie zuruͤck, als er hin trat. Todtenbleich lag ſein Vater auf dem Bett, und ſtreckte die Hand nach ihm aus, die kraftlos wieder niederſank. Mein Sohn! ſagte er. Siegwart ſtuͤrzte ſich mit Thraͤnen uͤber ſeinen Vater, und kuͤßte und benetzte ſein Geſicht. Gottlob! ſagte der Vater, leis und langſam, daß ich dich noch ſehe, und legte die Hand auf ſeines Sohnes Haupt. Gott ſegne dich! und ſteh dir bey mein Sohn! Leb fromm und chriſtlich du kannſt Jura ſtudiren leb .. mit Marianen Hier druͤckte er ſeine Hand ſtaͤr - ker auf ſein Haupt, und ſtarb. Ein allgemeiner Jammerton erhub ſich in der Stube. Siegwart ſtuͤrzte ſich wieder uͤber ſeinen Vater, druͤckte ſein Geſicht feſt ans ſeinige; hub ſich mit ausgeſtreck - ten Armen auf, ſah mit einem Geſicht, voll des tiefſten Jammers, gen Himmel, und gieng aus der Stube. Nach einer Viertelſtunde kam ſein Bruder Karl mit einem Licht, und fand ihn, auf einem Geſimſe liegend, das Geſicht in beyde Ar - me eingehuͤllt. Karl hub ihn auf. Ach mein Va -875 ter! mein Vater! rief er, die Haͤnde ringend, und ein Schnupftuch drinn. Man brachte ihn ins Wohnzimmer. Er warf ſich in einen Lehnſtuhl, ſah ſtarr vor ſich hin, ſprang auf, und rang wie - der die Haͤnde.

Salome und ſeine Schwaͤgerin kamen aufs Zimmer, ſchrien und heulten. Jhr habt nichts verlohren, ſagte er, aber ich! aber ich! Er verlangte ein Licht auf ſeine Kammer. Eine Stun - de lang gieng er ſprachlos auf und ab. Endlich warf er ſich in den Kleidern aufs Bette, und ließ das Licht brennen. Drey Stunden lang waͤlzte er ſich hin und her, und konnte kein Auge zuſchließen. Endlich ſanken ihm vor Muͤdigkeit die Augenlie - der zu. Bald darauf wachte er von einem Kna - ſtern und einer ungewoͤhnlichen Helle auf. Das Licht hatte den Vorhang am Fenſter angezuͤndet. Er ſprang auf, riß den Vorhang herunter, und trat darauf. Als das Feuer ſchon geloͤſcht war, kam das Schrecken erſt; er zitterte an allen Glie - dern, warf ſich wieder aufs Bette, konnte aber nicht mehr einſchlafen, und um 5 Uhr ſtand er wieder auf.

Als er zu ſeinen Geſchwiſtern kam, machten ſie zuſammen die Veranſtaltungen zu dem Leichen -876 begaͤngniſſe ihres Vaters, welches auf den folgen - den Tag angeſetzt wurde. Karl und Salome er - zaͤhlten ihm verſchiedenes von der Krankheit, und den Reden ſeines Vaters auf dem Krankenbette, von ſeiner Geduld und Gelaſſenheit, und von ſeiner Freudigkeit zu ſterben, die ihm blos durch den Gedanken verbittert wurde, daß er ſeine Kin - der verlaſſen muͤſte. Sie erzaͤhlten ihm, wie oft er von ihm geſprochen, und wie ſehr er ſich dar - nach geſehnt habe, ihn |noch einmal zu ſehen. Siegwart zerfloß bey dieſer Erzaͤhlung faſt in Thraͤ - nen. Sie ſagten ihm auch den Wunſch ihres Va - ters, daß man ihn bey ihrer ſeligen Mutter be - graben, und ihnen einen gemeinſchaftlichen Grab - ſtein ſetzen moͤchte.

Er gieng in den Garten hinunter, um ſeinem bangen Herzen etwas Luft zu ſchaffen. Dann gieng er wieder auf ſein Zimmer, und ſchrieb mit Haſtigkeit folgendes an Marianen:

Liebſte, Beſte!

Er iſt todt! Jch habe ſeinen Segen. Sein letztes Wort war: Leb mit Marianen. Das: gluͤcklich ſtarb auf ſeinen Lippen. Morgen be - graben wir ihn. O Mariane, o Geliebteſte!877 was hab ich verlohren! den Beſten, Guͤtigſten, Zaͤrtlichſten. O Mariane, ich kann nicht wei - ter ſchreiben. Sey nun Du mir alles! Bleib mir treu! So bald als moͤglich komm ich, hoͤch - ſtens in acht Tagen.

Leb wohl, Engel Gottes! Jch bin ewig Dein
Xaver Siegwart.

Als er den Brief geſiegelt, und ſelber, mit der Umſchrift an ihren Bruder, dem Poſtverwalter gebracht hatte, gieng er wieder in ſeinen Garten, und lief haſtig auf und ab, und dann ſchnell die Treppen hinauf, in das Zimmer, wo ſein Vater lag. Seine ganze Natur ſchauerte zuruͤck, als er ihn ſo blaß da liegen ſah. Erſt nahte er ſich dem Leichnam langſam, dann ſtuͤrzte er ſchnell auf ihn hin, kuͤßte die kalte Lippe, und fuhr aͤngſtlich wie - der zuruͤck, und verließ ſchnell das Zimmer. Nirgends hatte er eine bleibende Staͤtte; zuweilen ergoſſen ſich ſeine Thraͤnen haufenweis, und dann war ihm wieder eine Zeitlang wohl. Bey Tiſche ſprachen alle wenig; eins ſah das andre traurig an, und dann ſtieg wieder ein tiefer Seuſzer aus der Bruſt. Auch Salome war tief bekuͤmmert, denn, da ihre Verwandte in Muͤnchen todt war, ſah ſie fuͤr ſich die wenigſte Verſorgung. Sie be -878 ſchloſſen, den Nachmittag aufs Feld hinaus zu ge - hen, um ſich etwas zu zerſtreuen. Alle Leute auf dem Feld ſahen ihnen traurig nach, und weinten um ihren lieben Amtmann, und um ſeine Kinder. Salome ſagte: ſie haͤtte vor vier Tagen an ihre Schweſter Kronhelm geſchrieben. Vielleicht, wenn ſie koͤnnte, wuͤrde ſie mit ihrem Manne heruͤber kommen. Sie giengen faſt trauriger wieder nach Haus, als ſie es verlaſſen hatten. Als ſie in die Thuͤre traten, weinte Siegwart heftiger. Er war ungefaͤhr eine halbe Stunde auf ſeinem Zimmer, als er ein Geraͤuſch die Treppe herauf kommen hoͤrte. An dem holen Gepolter merkte er, daß der Sarg heraufgebracht wnrde. Ein kalter Schauer lief ihm uͤber alle Glieder; ſein ganzer Koͤrper ward erſchuͤttert, und er wagte es nicht, vor die Thuͤr hinauszugehen. Das Zimmer, wo ſein Vater lag, war nicht weit vom ſeinigen entfernt. Er hoͤrte den Sarg zunageln. Jeder Schlag durchdrang ſein Herz. Er konnte ſich vor Wehmuth faſt nicht mehr faſſen. Als die Leute weggiengen, ſuchte er im Garten wieder friſche Luft, wo er Karl und Salome in Thraͤnen antraf. Er ward beyden| auf Einmal wieder ganz gut, weil ſie ſo um ihren Va - ter Leid trugen. Da er von der vorigen ſchlaflo -879 ſen Nacht ſo ſehr abgemattet war, ſo legte er ſich, nach dem Abendeſſen, von dem er ohnedies wenig genoß, fruͤhzeitig zu Bette, und ward durch ei - nen ſanften Schlaf erquickt; nur gegen Morgen aͤngſtigten ihn fuͤrchterliche Traͤume; und, als er aufwachte, war ſein Bett von Thraͤnen naß. Er konnte nun |ſeinen Schmetz ganz ausweinen. Gott! dachte er, jetzt erwach ich, als eine vater - und mutterloſe Waiſe. Gott, erbarm dich meiner, und hilf mir! Leit du mich durchs Leben, weil mich ſonſt niemand leiten kann! Sey du ganz mein Vater! Jn deine Haͤnde ſink ich; o verwirf mich nicht! Sey du mein Schutzgeiſt, o mein Va - ter! Vergiß deines Sohnes nicht im Himmel. Jch will dir mein ganzes Leben durch fuͤr deine Liebe danken. Du haſt alles an mir gethan. Mein ganzes Leben ſoll Dank gegen dich ſeyn!

Er hoͤrte ſchon im Hauſe ein Geraͤuſch, das Zuruͤſtungen zum Leichenbegaͤngniß bedeutete. Er gieng ins Wohnzimmer. Das Geſind im Hauſe ſah ihn ſtumm und wehmuͤthig an, und gab ihm einen guten Morgen, der von ihrem Mitleid zeug - te. Ein paar benachbarte Beamte, die ſein Va - ter ſehr geliebt hatte, kamen, und bezeugten ihm ihr Beyleid. Sie wollten ihren todten Freund880 noch einmal ſehen. Von den Kindern wollte kei - nes mit ihnen gehen. Ein Knecht gieng mit, und nahm den Deckel noch einmal vom Sarg ab. Jn ſtummem Schmerz, bleich, und mit Thraͤ - nen kamen die Amtleute wieder, und konnten nichts, als ſeufzen. Dieſer Ausdruck ihrer Liebe ruͤhrte unſern Siegwart mehr, als Worte.

Er ſtand am Fenſter, und ſah einige Bauren, vom Gericht, kommen, die den Sarg tragen ſoll - ten. Sie ſahn traurig herauf, und wuͤnſchten ihm einen guten Morgen. Nach und nach kamen auch andre Bauersleute, um die Leiche zu begleiten, alle niedergeſchlagen, und mit verweinten Augen. Auſſen an der Mauer des Hofes ſtanden, in ſchlechten Kleidern, arme Leute, die vor Traurig - keit kaum aufzublicken wagten. Sie weinten wie um ihren Vater, denn der alte Siegwart wars ihnen durch ſeine Wolthaten geworden. Sein Sohn fuͤhlte, mitten in ſeinem tiefen Schmerz, noch das große Gluͤck, als ein rechtſchaffener Mann zu ſterben, und wegen ſeiner Wohlthaͤtigkeit und Redlichkeit beweint zu werden. Aber bey dem Gedanken floſ - ſen ſeine Thraͤnen haͤufiger. Die Richter des Dorfs traten nun ins Haus herein, um den Sarg zu holen. Sie brachten ihn heraus; alte, ehr -881 wuͤrdige Maͤnner, mit grauen Haaren, die ſchon auch dem Grabe zuwankten. Vorne trugen zween, die dem Tod am naͤchſten zu ſeyn ſchienen. Alle ſahen mit thraͤnenloſem Schmerz zur Erde. Nur zuweilen floß eine Zaͤhre zwiſchen den grauen Au - genwimpern hervor. Die Leidtragenden giengen nun auch die Treppe hinunter, und folgten der Bahre nach. Das Laͤuten der Glocken, und der ſtille Zug, von dem man nur zuweilen ein Schluch - zen, oder einen Seufzer hoͤrte, war feyetlich. Von der Seite, aus einer kleinen Huͤtte, ſprang ein Weib herbey, mit einem Kind auf dem Arm; ach Jakob, rief ſie; ſchau, da wird dein Vater hingetragen, der uns ſo viel Guts gethan hat! Gott vergelts ihm in der Ewigkeit! Sie ſchrie noch lange fort, bis man ſie ſtillſchweigen hieß. Auf dem Kirchhof ſtand Siegwart auf dem Grabe ſei - ner Mutter, und ſah in die Gruft hinab, die nun auch ſeinen Vater einſchlieſſen ſollte. Ein paarmal ward er faſt ohnmaͤchtig, und ſchwankte, daß man ihn halten muſte. Als der Grabhuͤgel aufgewor - fen war, ſteckte eine arme Frau einen Roſenzweig darauf. Dies ruͤhrte ihn mehr denn alles. Es war ein Denkmal, herrlicher, als Marmor.

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Jn der Kirche ward vom Prediger des Dorfs eine kleine, aber ruͤhrende Rede, und dann eine Seelmeſſe gehalten, und der Zug gieng wieder lang - ſam nach Haus. Die beyden Amtleute blieben beym Mittagseſſen da. Siegwart hoͤrte nur zu, und ſprach faſt nichts mit. Als ſie weggegangen waren, gieng er auf ſein Zimmer. Jetzt konnte er erſt wieder mit etwas Ruhe an ſeine Mariane denken. Seine Seele ſehnte ſich nach ihr. Er beſchloß, noch heute mit ſeinen Geſchwiſtern davon zu ſprechen, daß er nun die Rechte zu ſtudiren gedenke, und daß ihm alſo Geld von der Maſſe, oder von ſeinem Antheil an der Erbſchaft dazu ge - geben werde. Allein dieſen Abend konnte er da - von nicht reden, weil der Pfarrer zum Kondoli - ren kam, und zum Abendeſſen da behalten wurde.

Den andern Morgen gieng er, nachdem er erſt mit Salome Kaffee getrunken hatte, mit ihr zu ſeinem Bruder in ſein Haus hinuͤber. Nach eini - gen gleichguͤltigen Geſpraͤchen fragte er, ob der ſeli - ge Vater nichts wegen ſeiner geſagt habe, daß er nun die Rechte ſtudiren koͤnne? Was? die Rech - te? fuhr Karl heraus; was iſt das wieder fuͤr ein ſchoͤner Einfall? Siegwart erzaͤhlte, daß er ſeinem Vater deswegen geſchrieben, und ſchon ſeine Ein -883 willigung erhalten habe; daß der Vater aber durch den Tod verhindert worden ſey, ſich, wie er ihm verſprochen habe, deutlicher daruͤber zu erklaͤren u. ſ. w. Karl, und noch mehr ſeine Frau, fielen nun uͤber Siegwart her; nannten ſeinen Einfall dumm, und gottlos, ſcholten ihn Luͤgen, und erklaͤrten ſich: ſie wuͤrden dieſes nimmer - mehr zugeben; Karl ſey ihm nun an Vaters ſtatt, und ihm muͤß er folgen. Ueberdas ſey gar kein Geld da, um das Studieren noch ein - mal von neuem anzufangen. Der ſel. Vater hab auf der Schule und auf der Univerſitaͤt ſchon mehr an ihn gewendet, als an alle ſeine uͤbri - gen Kinder zuſammen; die zweyfache Krankheit hab auch viel gekoſtet, und Thereſens Ausſteuer; jetzt ſey kein Heller baares Geld da, und das uͤbrige werd auch ſoviel nicht ausmachen; er ko - ſte in Einem Jahr ſo viel, daß ſein ganzes Erbtheil darauf gehn wuͤrde; er koͤnn jetzt ein Moͤnch werden, denn darauf hab er lange gnug ſtudiert; ſein Vorgeben ſey auch ſehr verdaͤchtig, da der ſel. Vater kein Wort davon habe verlau - ten laſſen u. ſ. w. Kurz; der Schluß war: Auf ſein Gewiſſen koͤnne er, ſein Bruder, nie darein willigen, und an Unterſtuͤtzung ſey gar884 nicht zu denken. Karls Frau ſprach noch viel von Gottloſigkeit und Verſuͤndigung an Gott, wenn man von ſeinem Geluͤbde abgehe, und Gott be - luͤgen und betruͤgen wolle; ſo daß Siegwart nicht einmal zu Wort kommen konnte. Salome ſprach faſt nichts dazu, denn ſie war durch den Tod ih - res Vaters zu ſehr gedemuͤthiget. Unſer Sieg - wart war ſo betroffen und beſtuͤrzt, daß er kaum noch von ſich ſelber wuſte. Er betheurte auf ſei - ne Ehre, daß ſein Vater ihn habe wollen die Rechte ſtudiren laſſen; er koͤnne es ſchriftlich vorweiſen. Aber man uͤberſchrie ihn. Er legte ſich aufs Bitten; alles half nichts. Endlich rief er alle ſeinen Stolz zuſammen; warf ſeinem Bru - der und ſeiner Schwaͤgerin geradezu Geitz und Niedertraͤchtigkeit vor, und ſagte: Er werde ſich ſchon vor der Obrigkeit Recht zu verſchaffen wiſ - ſen. Mit dieſen Worten gieng er weg. Sein Bruder und ſein Weib ſpotteten, und lachten ihm ſo laut nach, daß ers vor der Thuͤre hoͤren konnte, und vor Unwill auf die Erde ſtampfte.

Jn ſeinem Garten, wo er| hin gieng, lief er haſtig auf und ab. Das ganze Menſchengeſchlecht war ihm verhaſt, weil es ſo niedertraͤchtige Seelen drunter gibt. Er knirſchte mit den Zaͤhnen, und885 ſtieß ungeduldige Reden aus. Gottlob! ſagte er, daß ich ſolche Kerls verachten kann, und kein ſo niedertraͤchtiges Herz habe! Du ſollſt mein ſeyn, Mariane, und wenn dich alle Welt mir rauben wollte! Jch will mir ſchon helfen! Mich ei - nen gottsvergeſſenen Menſchen nennen! Gott! du weiſt, wie ichs redlich meyne! Er lief noch lang auf und ab, ohne etwas deutliches zu denken. Endlich, als die erſte Heftigkeit vorbey war, ſtie - gen ihm doch allerley Zweifel auf, wie er ſich in dieſer Sache helfen wollte? Er hatte ſich um das Vermoͤgen ſeines Vaters nie bekuͤmmert, und wußte alſo nicht, wie viel ihn auf ſeinen Antheil treffen, und ob er damit die Koſten zu ſeinem Studie - ren werde beſtreiten koͤnnen? Keine ausdruͤck - liche Erklaͤrung ſeines Vaters war da, und eine gerichtliche Behandlung der Sache ſcheute er auch. Er verlohr ſich alſo in einem Labyrinth von Sorgen und Bedenklichkeiten. Er mochte hin und her ſin - nen, wie er wollte, er fand keinen Ausweg. End - lich ſtuͤrzten ihm Thraͤnen von den Augen; er ſah gen Himmel, und konnte nichts ſagen, als: Gott! Gott!

Salome kam zu ihm, und ſagte: Sie muͤßten heut bey ihrem Bruder eſſen, weil ſies geſtern886 ſchon verſprochen haͤtte. Et thats zwar ungern; aber doch wollte er nicht feindſelig ſcheinen, und gieng hin. Bey Tiſche ſprach er nichts; er ver - achtete die Leute zu ſehr. Karl ſprach, ihm zum Trotz, viel mit Wilhelm, und ſagte ihm, daß er ihn nun zu ſeinem Schreiber annehme; ſo waͤren, bis auf Salome, alle verſorgt; denn Xaver wer - de ſich nun hoffentlich bald einkleiden laſſen. Wenn ihn nicht andre weltliche Urſachen davon abhalten, ſagte ſeine Frau ſpoͤttiſch. Jch weis ſchon, was ich zu thun habe, ſagte Siegwart trotzig. Ja, das wiſſen wir, verſetzte die Swchaͤgerin; und der Herr Schwager werden wol morgen wieder auf die Univerſitaͤt zuruͤckreiſen, um ihr Studium fortzuſetzen. Dieſer Fingerzeig, daß man ihn ungern hier ſehe, ſchmerzte unſern Siegwart ſo, daß er ganz blaß im Geſicht wurde, und nicht antworten konnte. Nach einiger Zeit ſagte er: Ja, morgen will ich wieder zuruͤck, und mir und andern Leuten Ruh machen. Wie Sie belieben, ſagte die Schwaͤgerin. Die Siegel, fuhr ſie fort, kann man ja erſt nach ein paar Tagen ab - reiſſen, und die Theilung vornehmen. Der Herr Schwager brauchen eben nicht dabey zu ſeyn. Wir werden ihn nicht vervortheilen, da eine Obrigkeits -887 perſon dabey iſt. Auch gut! ſagte Siegwart; alles, wie Sie wollen! Es fielen noch hundert ſpoͤttiſche Re - den vor, und um fuͤnf Uhr gieng Siegwart weg.

Nun fuͤhlte er erſt, was er an ſeinem Vater verlohren hatte. Er gieng auf ſein Grab, und weinte bitterlich. O, du Heiliger, rief er, ſieh her - ab, wie mir Unrecht geſchieht, und erbarme dich meiner! Bitte Gott und die heilige Jungfrau, daß ſie mich nicht ganz verlaſſen! O Mutter, Vater, die ihr hier ruht, vergeßt eures armen Kindes nicht! Und du, Vater im Himmel! Gott und Vater, ſieh auf eine arme Waiſe! Sieh herab, und ſende Troſt, oder laß mich auch ins Grab zu ih - nen ſinken! O Mariane, Mariane! rief er beym Weggehn, was ſteht uns bevor! O du Engel, wenn du wuͤſteſt, was ich leide! Gott, ach Gott, verlaß uns nicht!

Er gieng nach Haus auf ſein Zimmer; und da fiel ihm ein, ſeinem Kronhelm und ſeiner Thereſe ſeine. Noth zu klagen. Vielleicht, dacht er, ha - ben dieſe fuͤr mich Troſt; wenigſtens werden ſie Mitleid mit mir haben. Er ſchrieb an ſie beyde einen ſehr ruͤhrenden Brief, und es ward ihm ganz leicht dabey. Er brachte den Brief dem Poſtver - walter, und fragte zugleich, wenn die Briefpoſt888 von Jngolſtadt komme? Heut iſt ſie gekommen, ſagte der Poſtmeiſter. Und kein Brief fuͤr mich? Nein. Ein neuer Donnerſchlag fuͤr Siegwart. Doch hatte er noch ſoviel Gegenwart des Geiſtes, zu beſtellen, daß, wenn ein Brief an ihn kommen ſollte, man denſelben zuruͤckbehalten, und ihn nach Jngolſtadt Retour ſchicken moͤchte. Es machte ihm viele Sorge, daß ihm Mariane nicht geſchrieben habe, doch war die Zeit faſt zu kurz, als daß er ſchon einen Brief haͤtte erwarten koͤn - nen, und dieſes beruhigte ihn wieder in etwas.

Sein Entſchluß war nun feſt, morgen wieder nach Jngolſtadt zuruͤck zu reiten, es moͤchte ihm auch gehen, wie es wolle, denn die Zeit, ohne Marianen zu leben, ward ihm viel zu lang. Er gieng fruͤhzeitig zu Bette, ohne viel ſchlafen zu koͤnnen. Der Gedanke an ſein dunkles hoſnungs - loſes Schickſal ließ ſeinem Geiſt keine Ruhe.

Eine Stunde vorher, eh er den andern Mor - gen wegreiten wollte, kam ein Wagen angefahren. Siegwart kannte ſogleich den Marx, der vorn auf dem Bock ſaß; er ſprang an den Wagen, und ſein Kronhelm und Thereſe ſaſſen drinn. Sie hatten den Abend vorher auf einem benachbarten Dorf, wo ſie ſpaͤt angekommen waren, ſchon gehoͤrt, daß889 der Amtmann todt ſey, und wollten alſo bey der Nacht nicht weiter fahren, weil ſie doch nichts mehr ereilen konnten. Thereſe ſtieg weinend aus dem Wagen, und ſank ihrem Bruder in den Arm. Beyde konnten nichts ſprechen. Kronhelm war auch ſehr bewegt, und umarmte ſeinen lieben Sieg - wart. Gottlob! ſagte er, daß ich dich wieder ſehe! Aber leider bey der traurigſten Begeben - heit! Sie giengen ſchweigend auf das Zimmer. Als Thereſe ſich von ihrer erſten Erſchuͤtterung wie - der etwas erholt hatte, mußte man ihr einige Um - ſtaͤnde von ihres Vaters Krankheit und Tod er - zaͤhlen. Sie vergoß dabey tauſend Thraͤnen. Kron - helm zog unſern Siegwart auf die Seite, und befrug ihn wegen Marianens. Thereſe kam auch noch dazu. Siegwart erzaͤhlte ihnen alles, daß ſein Vater es zufrieden geweſen ſey, und was ſich geſtern zwiſchen ihm und ſeinem Bruder zugetragen; auch daß er ihnen deswegen geſtern geſchrieben habe. Kronhelm und Thereſe erſtaunten uͤber die Haͤrte des Bruders und der Schwaͤgerin. Kronhelm erklaͤrte ſich ſogleich, alles zu uͤbernehmen, und die Koſten zum Studieren aus ſeinem Beutel her - zugeben. Jch will dir keine Wohlthat erzeigen,L l l890ſetzte er hinzu, fuͤr die du mir danken muſt. Jch bin dir tauſenmal mehr ſchuldig; hier, meinen groͤß - ten Schatz (indem er ſeine Thereſe bey der Hand nahm, und kuͤßte) ohne dich haͤtt ich dieſes Klei - nod nicht. Was ich thue, kann ich leicht thun, denn Gott hat mich ja mit Ueberfluß geſegnet; und dir bin ichs ſchuldig. Siegwart wollte eben dan - ken, als Karl mit ſeiner Frau ins Zimmer trak. Sie ſchienen ſehr erſchreckt und betroffen zu ſeyn, und machten eine tiefe Verbeugung. Kronhelm und Thereſe dankten ziemlich froſtig. Nach den vorlaͤufigen Bewillkommungskomplimenten und Beyleidsbezeugungen fieng Kronhelm zu Karl an: Aber, Herr Bruder, gegen unſern Xaver handeln Sie ziemlich unbruͤderlich und gebieteriſch. Jch haͤtt Jhnen doch mehr zugetraut! Karl fieng an ſich zu entſchuldigen, es ſey nicht ſo boͤs gemeynt geweſen; es koͤnr Xavers Wunſch doch noch erfuͤllt werden Das wird ohnedieß geſchehen, fiel ihm Kronhelm ein; ich uͤbernehme die Sache, und ſie geht Sie weiter nichts an; ich rede nur von dem unbruͤ - derlichen Betragen zwey Tage nach dem Tod eines ſolchen Vaters! Karls Frau wollte ſich auch drein miſchen, und ſagte: Der ſelige Vater habe ſich doch nicht druͤber erklaͤrt. Mit Jhnen red ich von891 der Sache gar nicht, ſagte Kronhelm. Jch habe das alles, und noch mehr von Jhnen erwartet. Sie machtens meiner Frau und mir ehedem nicht beſſer. Und uͤberdieß iſt es nicht ſo ausge - macht, daß der ſelige Mann ſich druͤber nicht erklaͤrt hat; wenigſtens ſchrieb er meiner Frau: in ſeinem Pult werde man eine ſchriftliche Erklaͤrung finden, wenn ſein Sohn erſt nach ſeinem Tod ankommen wuͤrde. Hier blaßte die Schwaͤgerin ab. Doch wir wollen die verdrießlichen Sachen fahren laſſen, fuhr er fort. Jch mußte Jhnen nur auf Einmal meine Meynung ſagen. Jch denke, jetzt waͤre kei - ne Zeit zu zanken, da wir alle ſo geruͤhrt ſind, oder doch ſeyn ſollten. Drauf wendete er ſich zu Siegwart, und ſprach mit ihm von dem Ende ſei - nes Vaters. Dieſer war noch zu beſtuͤrzt uͤber die unvermuthete Wendung ſeines Schickſals, und die Großmuth ſeines Freundes, als daß er viel haͤtte reden koͤnnen. Das Geſpraͤch ward wieder allge - meiner. Man ſprach von der Erbſchaftstheilung, Kronhelm erklaͤrte ſich: Was das Hausgeraͤthe an - belange, ſey er damit zum Ueberfluß verſehen, und wuͤrd es auch nicht gut wegbringen koͤnnen. Auch den uͤbrigen Antheil am Erbe woll er ihnen uͤber - aſſen, weil er Gottlob! hinlaͤnglich geſegnet ſey,892 und ſeine Frau fuͤr einen Schatz halte, der das gan - ze uͤbrige Erbe uͤberwiege; nur bitte ſich ſeine Frau einen Demantring aus, den ihr Vater be - ſtaͤndig getragen hab, und den ſie, ihm zum An - denken, wieder tragen wolle. Hie wurden Karl und ſeine Frau auf Einmal wieder heiter, und vergaßen, uͤber den abgetretnen Erbantheil, alle vorige Verweiſe. Sie wollten Kronhelm danken: aber er verbat ſichs. Es ward beſchloſſen, auf den Nachmittag das Pult aufzumachen, das ver - ſiegelt war, in dem der Ring, und vermuthlich auch die ſchriftliche Erklaͤrung wegen der Beſtim - mung unſers Siegwart lag.

Karl und ſeine Frau wurden gebeten, beym Eſ - ſen da zu bleiben, welches Salome zurecht machte. Weil die Witterung ſehr gut war, gieng man in den Garten, um da zu eſſen. Die Zaͤrtlichkeit, mit der Kronhelm ſeiner Thereſe begegnete, war unbeſchreiblich. Er wußte ſie ſo liebreich zu troͤſten, als ſie beym Eintritt in den Garten, wo ſie ſo oft mit ihrem Vater geweſen war, in neue, noch tiefere Traurigkeit verfiel. Er wußte ſie ſo gut zu zerſtreu - en, daß ſie ganz ruhig zu werden ſchien. Sie nahm hierauf unſern Siegwart auf die Seite, und ſprach mit ihm uͤber Salome’s Schickſal. Er893 ſagte, daß das Maͤdchen ihm jetzt weit beſſer ge - falle, als ſonſt jemals. Der Kummer uͤber ihres Vaters Tod ſcheine, ſie ſehr zum Nachdenken ge - bracht zu haben. Thereſe verſprach, fuͤr ſie zu zu ſorgen. Drauf mußte er ihr viel von Maria - nen erzaͤhlen. Dieſes that er mit einer ſolchen Be - geiſterung, daß er und ſie, ziemlich heiter wurden. Drauf rief man zu Tiſch.

Nach dem Eſſen ward das Pult geoͤfnet. Es lag ein verſiegelt Schreiben drinn mit der Auf - ſchrift: An meinen lieben Xaver. Sein Vater gab ihm darinnen verſchiedne gute, ſehr ruͤhrende Er - mahnungen; drauf kam er auf ſeinen Entſchluß die Rechte zu ſtudieren. Er war damit zufrieden, und ſchrieb: in einem Schieblaͤdchen im Pult werd ein verſiegeltes Paͤckchen mit 75 Dukaten liegen. Dieſes ſey fuͤr ihn beſtimmt. Soviel woll er ihm noch von dem gemeinſchaftlichen Vermoͤgen geben. Was er weiter brauche, muͤſſ er dann von ſeinem An - theil an der Erbſchaft nehmen. Es folgte noch eine zaͤrtliche und liebreichvaͤterliche Aufmunterung zur fernern Rechtſchaffenheit, und dann ein ſehr be - weglicher Abſchied, uͤber den Siegwart in lautes Schluchzen ausbrach! Karl und ſeine Frau machten uͤber das Vermaͤchtniß groſſe Augen; aber vor894 Kronhelm wagten ſie es nicht, etwas druͤber zu ſagen, weil dieſer ihnen erſt vorher ſeinen Erban - theil geſchenkt hatte. Man fand das Paͤckchen mit Dukaten. Kronhelm ſagte: ſteck es ein, und ver - brauch es, wie, und zu was du willſt! Die Uni - verſitaͤtskoſten uͤbernehme ich, wie ich ſchon geſagt habe. Thereſe fand auch den Ring ihres Vaters, kuͤßte, und ſteckte ihn mit Thraͤnen an den Finger. Sie giengen wieder in den Garten, und brachten den Abend groͤſtentheils mit wehmuͤthigen Geſpraͤ - chen hin. Thereſe wollte das Grab ihres Vaters beſuchen; aber Kronhelm bat ſie ſehr, es nicht zu thun, weil er fuͤrchtete, es moͤchte ſie der Schmerz zu ſehr angreifen, und ihrer Geſundheit, da ſie ſchwanger war, Schaden thun. Dagegen mußte er ihr verſprechen, zu andrer Zeit einmal das Grab mit ihr zu beſuchen. Als Siegwart Gelegenheit hatte, allein mit ihr zu reden, entdeckte er ihr einen Ent - wurf, den er in Abſicht auf ſein Geld gemacht hatte. Salome dauert mich, ſagte er; ſie iſt am wenigſten unter uns verſorgt, ſeit die Baſe in Muͤnchen todt iſt. Da dein lieber Mann ſeine Großmuth ſo weit treibt, daß er mich ganz auf ſei - ne Koſten will ſtudieren laſſen, ſo kann ich, mei - ner Einſicht nach, das Geld von unſerm ſeligen895 Vater nicht beſſer anwenden, als wenn ich ihr die Haͤlfte davon gebe. Behalt dein Geld, gute Seele! ſagte Thereſe. Fuͤr Salome iſt ſchon ge - ſorgt. Jch hab mit meinem Mann druͤber ge - ſprochen. Wir wollen ſie auf unſer Schloß neh - men, wenn ſie Luſt hat. Will ſie nicht, oder koͤn - nen wir zuſammen nicht auskommen, ſo will mein Kronhelm ſie in Muͤnchen unterbringen. O du himmliſche Schweſter! ſagte Siegwart, und um - armte ſie. Salome’n ward auch wirklich nachher dieſer Vorſchlag gethan, und ſie nahm ihm mit Freuden, und, wie es ſchien, mit der dankbarſten Ruͤhrung an.

Als Karl und ſeine Frau weggegangen waren, entdeckte Siegwart Kronhelm und Thereſen ſeinen Wunſch, morgen nach Jngolſtadt zuruͤckzureiſen, um wieder bey ſeiner lieben Mariane zu ſeyn. So gern ihn auch Kronhelm und ſeine Schweſter noch laͤnger bey ſich behalten haͤtten, ſo konnten ſie es doch nicht uͤbers Herz bringen, ein paar ſo zaͤrtlich Liebende laͤnger getrennt zu laſſen; daher willigten ſie in ſeinen Vorſatz, nachdem er ihnen erſt verſprochen hatte, ſie gewiß bald, von Jngolſtadt aus, zu be - ſuchen. Kronhelm ſagte ihm, ſein Onkel habe ihm verſprochen, ganz gewiß fuͤr ihn zu ſorgen, und896 ihm, wenn er fleißig ſtudiere, in zwey Jahren eine eintraͤgliche Stelle bey einem Regierungskol - legio in Muͤnchen zu verſchaffen. Darauf koͤnn er ſich, wenn es noͤthig ſey, beym Hofrath Fiſcher berufen. Siegwart ward daruͤber noch freudiger, und ſein Herz waͤre ganz wolkenlos geweſen, wenn ihm nicht jeden Augenblick der Tod ſeines Vaters eingefallen waͤre. Sie blieben dieſen Abend lang zuſammen auf. Siegwart ließ ſich uͤberreden, morgen erſt nach Tiſch wegzureiten, weil er doch in einem Tag nicht nach Jngolſtadt kommen konnte.

Der andre Morgen war ſehr heiter, und unſer Siegwart ſtand auch heiter auf. Sie tranken zu - ſammen im Garten Kaffee. Er freute ſich uͤber die Zaͤrtlichkeit ſeiner Schweſter und Kronhelms. Sie erzaͤhlten ihm viel von ihrer Gluͤckſeligkeit, und von der Einrichtung ihres Hausweſens; auch von einem vortreflichen jungen Edelmann in ihrer Nach - barſchaft, der viel zu ihnen komme, und vermuth - lich Kronhelms Schweſter heyrathen werde, die, wie ſie beyde verſicherten, ſchon viel von ihrer Wild - heit abgelegt habe. Thereſe erzaͤhlte ihm auch, welch eine herrliche und auserleſene Buͤcherſamm - lung ihr Kronhelm ihr angeſchafft habe, u. ſ. w.

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Man , wegen Siegwarts Abreiſe fruͤher, und um zwoͤlf Uhr ritt er weg, nachdem er von ſeinen Lieben mit tauſend Thraͤnen Abſchied genommen hatte. Mariane, und das Gluͤck, ſie morgen wieder zu ſehen, war der Gedanke, der ihn auf dem ganzen Weg begleitete. Als es Nacht wurde, ſtellte er in einer Dorfſchenke ein. Er hatte keine Ruhe, weil er ſtets an Marianen dachte, und ſchlafen konnte er auch ſogleich nicht. Er gieng alſo in den, an das Wirthshaus ſtoſſenden, ſchoͤnen Baumgarten. Der Mond ſchien truͤb; er ſah zu ihm auf, und machte folgendes Gedicht, das er nachher auf der Stube in ſeine Schreibtafel ſchrieb:

An den Mond.
Meine Seele lebt nicht hier!
Sie iſt hingewandelt zu der Trauten,
Die nun ewig mein iſt!
Sag, o Hauch des Abends mir,
(Du umwehteſt ſie mit deinen Schwingen)
Wo ſie jetzo wandelt?
Stark liebt ihre Seel, und treu!
Weint ihr Aug jetzt, daß ihr Lieber fern iſt?
Sag mirs, Hauch des Abends!
898
Sieh, da, tritt der Mond hervor;
Bleich iſt ſein Geſicht, und melancholiſch,
Wie getrennte Liebe.
Warlich, Mond, ſie blickt dich an!
Denkt der Stunden heiliger Umarmung,
Und du weinſt vor Mitleid!
Hell dich auf, und lach ihr zu!
Denn ich eil ihr, mit der Sonn, entgegen
Lach, o Mond, ihr Troſt zu!

Den andern Morgen ritt er fruͤh weg, und ge - gen Abend kam er in Jngolſtadt an. Er ſah Marianen nicht am Fenſter; aber ihr Vater ſtand halb hinter den Vorhaͤngen verſteckt. Weil es ſpaͤt war, und er uͤberhaupt dem Vater nicht recht trau - te, ſo gieng er nicht hinuͤber. Er ſchlief ziem - lich unruhig, und hatte fuͤrchterliche Traͤume, die von den vorhergegangenen traurigen Vorſtellungen erzeugt wurden. Den andern Morgen ſah er Ma - rianen wieder nicht am Fenſter; der Vater, der heraus ſah, ſchlug das Fenſter zu, als er ihn er - blickte; dieſes machte unſern Siegwart noch be - ſtuͤrzter. Er gieng aus, ob er vielleicht ihren Bruder irgendwo antreffe? aber vergeblich. Sein Herz ahndete viel trauriges; es war ihm nirgends wohl, und er ſchweifte von einem Ort zum andern.

899

Gegen Abend endlich, als er eben in ſein Haus wollte, kam Joſeph, Marianens Bruder, hinter ihm drein. Er that ſehr aͤngſtlich. Nur auf ein paar Worte! ſagte er. Hier ein Brief von Marianen, und von mir einer! Wo iſt ſie? fragte Siegwart. Jch muß fort, war die Antwort. Mein Vater kommt die Straſſe dort herauf; du wirſt alles in den Brieſen finden. Mit dieſen Worten ſprangler weg.

Kaum konnte Siegwart die Treppe hinauf gehen, ſo ſehr zitterten ihm die Knie, und ſein ganzer Koͤrper. Er riß ſein Zimmer auf, warf ſich in ſeinen Stuhl, erbrach zuerſt Marianens Brief, und las:

Mein Geliebteſter!

Laß mich die Sprache der Vertraulichkeit reden, und dich Du nennen! Jch ſchreibe dir, wie ichs ver - ſprochen habe. Geſtern biſt du fort, und ſchon find ich nirgends keine Freude mehr. Wenn du doch bald wieder kaͤmeſt! Mir iſt ſo |bang ums Herz; und doch weiß ich nicht warum? Nun wirſt du wol noch auf dem Wege ſeyn. Vielleicht denkſt du jetzt an mich. Mir deucht, ich fuͤhl es. Jch ha -900 be dich geſtern und heut faſt jeden Schritt beglei - tet. Gott gebe, daß du gluͤcklich ankommſt; und daß dein Vater wieder beſſer ſey! Jch bete viel fuͤr ihn, und fuͤr dich. Adjeu, mein Geliebteſter! Morgen wieder ein paar Woͤrtchen; denn ich ha - be viel zu thun, noch eh mein Vater kommt. Ue - bermorgen ſoll er kommen. Meine Mutter kommt alle Augenblicke auf mein Zimmer; ſie hat Ge - ſchaͤfte drauf. Drum kann ich dir nicht ſchreiben, wann und wie viel ich will. Aber morgen wieder. Adjeu indeſſen, mein Geliebteſter!

Jch bin heut in meinem Garten geweſen. Da hab ich viel an dich gedacht, mein Theureſter! Jch wollt, ich haͤtte Schreibzeug drauſſen gehabt, ſo haͤtt ich viel an dich geſchrieben. Aber geſprochen hat meine Seele viel mit der deinigen. Wie wa - ren alle Plaͤtze mir ſo werth, auf denen ich ehmals mit dir geſeſſen habe! Alle Worte fielen mir da ein, die wir miteinander ſprachen. Jch wurde traurig, daß du nicht auch da wareſt, denn ich war allein. Auf jede Stelle ſetzt ich mich, und blieb recht lan - ge ſitzen, weil mir ſo wohl war, da zu ſeyn, wo mein Geliebteſter einſt geweſen war. Denk! ich hab deinen Namen in einen glatten, jungen Birn -901 baum eingeſchnitten. Als der Name fertig war, und ich mich genug daruͤber geſreut hatte, daß mir alles ſo gerathen iſt, da fiel mir erſt ein, mein Vater koͤnnte den Namen ſehen, weil der Baum dicht am Gang zur rechten Seite ſtand. Jch erſchrack recht, als mirs einfiel. Sollt ich nun den ſchoͤnen Namen wieder auskratzen? Das waͤre traurig. Und doch muſt es ſeyn. Aber, Gottlob! daß ich auf den Einfall kam, ihn mit Erde zu uͤberkleben, die der Baumrinde ganz gleich ſah. Das will ich nun immer wieder thun, wenn die Erde wieder abfallen will. Und wenn ich allein bin, nehm ich ſie ab, um den Namen zu ſehen. Adjeu!

Noch ein paar Worte vor Schlafengehen mit meinem Geliebteſten! Jch ſchreib auf meiner Kam - mer, weil ich unten nicht ſicher bin. Dieſen Abend iſt mein Vater angekommen. Er ſaß in einem Wagen mit Hofrath Schrager, meinem Bruder und meiner Schwaͤgerin. Er ſah ſtuͤrmiſch und verdruͤßlich aus. Die Geſellſchaft blieb ungefaͤhr eine Stunde da. Sie war kaum weg, ſo fragte er meine Mutter ſehr gebieteriſch: Jſt nichts vor - gefallen? Nein. Hat ſich nichts mit Ma -902 rianen zugetragen? Nein. Er ſah mich von der Seite vielbedeutend an. Nun, wir wollen ſehen, ſagte er, und gieng. Jch bin in der groͤßten Unruhe. Zum Hofrath Schrager hatte er geſagt: Morgen alſo, um halb 5 Uhr haben wir die Eh - re. Meine Schwaͤgerin ließ auch einige Worte fallen, und mein Bruder lachte hoͤhniſch dazu. Beym Weggehen wollte mir Hofr. Schrager die Hand kuͤſſen. Jch zog ſie zuruͤck. Nu! rief mein Vater ſehr gebieteriſch, und ich hielt die Hand hin. Um Gotteswillen! ſagte meine Mutter, als wir allein waren, ſo hab ich den Papa noch nie geſehen! Jch bitte dich bey allem, was heilig iſt, Mariane, ſey nicht widerſpenſtig! Du weiſt, was ich drunter leide. Ach Mama, ſagt ich, und ſank in ihren Arm; bethen Sie fuͤr mich! Jch brauche Kraft von Gott. Sie wiſſen, ich thu, was ich kann. Aber ich kann nicht, wenn es darauf ankommt. Jch will das Beſte von dir hoffen, verſetzte ſie; bedenk dich wohl! Siegwart, Sieg - wart! Was will aus mir werden? Jch habe fuͤrch - terliche Ahndungen! Genug, ich bin dein, leben - dig oder todt! Gott kennt mein Herz; er kann mich nicht ganz verlaſſen. Die Haͤlfte meines Lebens wollt ich geben, wenn der morgende Tag903 voruͤber waͤre! Mutter Gottes, und all ihr Hei - ligen im Himmel helft mir bethen! Siegwart, Siegwart! Jch bin dein, es gehe, wie es wolle! Moͤchteſt du doch jetzt auch fuͤr mich bethen! Aber du haͤltſt mich fuͤr gluͤcklich. Komm doch bald! Jch bitte dich. Vielleicht ſehen wir uns nicht mehr lang! Erbarm dich, Gott!

Jeſus, Maria! Welch ein fuͤrchterlicher Auftritt! Ach, Geliebteſter, ich kann dirs nicht erzaͤhlen. Samml es zuſammen, was ich in der Unordnung aufs Papier werfe. Dieſen Morgen beym Thee - trinken gieng mein Vater mit der Pfeife im Zim - mer auf und ab. Er fragte, ohne mich anzuſe - hen, iſt der feine Siegwart viel auf dem Land - haus geweſen? Nein, Papa Alſo doch? Ja. Mordieu! ſagte er, und gab mir eine Maulſchelle. Jch ſank auf meinen Stuhl zuruͤck, und weis nicht, was er weiter ſagte. Meine Mutter hielt mir ein Balſambuͤchschen vor. Du biſt auch ſo eine alte Kupplerin, rief er, und ſchlug ihr das Buͤchschen aus der Hand. Licht! rief er zur Thuͤre hinaus, weil ihm ſeine Pfeife ausge - loͤſcht war. Dann kam er wieder auf mich zu. Du willſt dir alſo ſchlechterdings nichts ſagen laſſen? 904Willſt uns all in Schand und Unehr bringen? Ach Jeſus, Mann! rief meine Mutter. Schweig! Jch kenn thre Streiche ſchon. Aber man wird dir einen Riegel vor die Thuͤre ſchieben. Das Ding muß anders werden! Du ſollſt mir den Hofrath nehmen, oder ich ſchlag dich todt. Marſch! Du kannſt dich beſinnen! Jn zwey Stunden will ich Antwort, und das ohne alle Umſchweife und Ausfluͤchte! Fort, auf deine Kammer! Hier bin ich nun, mein Geliebteſter, von aller Welt verlaſſen, in der unausſprechlichſten Angſt. Gott im Himmel woll ſich meiner erbarmen! Den Hof - rath kann ich nicht nehmen, wenn auch kein Sieg - wart auf der Welt waͤre! Er iſt mir in der Seele zuwider. Gott weiß, daß es kein Eigenſinn iſt. Jch wollt es ſo gern allen Menſchen recht machen, aber ich kann nicht. Dein bin ich, lebend oder todt. Jch kann vor Zittern kaum ſchreiben; ich muß etwas auf und ab gehen, um mich zu ſam - meln.

Es ſey ſo! Jch will alles dulden, auch den Tod! Meine Seele iſt von der deinen unzertrennlich. Gott hat mich geſtaͤrkt, und mir Muth und Ent - ſchloſſenheit eingefloͤßt. Er wird mich auch im baͤngſten Kampfe nicht verlaſſen. Jch flehe dich905 jetzt an, du Gott der Unterdruͤckten, weil ich jetzt noch flehen kann, um Beyſtand und um Gnade, auch im baͤngſten Kampf! Wenn meine Seele nicht mehr flehen kann, ſo hoͤr ihr Stammeln! Wenn ſie nicht mehr ſtammeln kann, ſo hoͤr das Klopfen meiner Bruſt! Gib mir Standhaftigkeit, daß ich meinem Siegwart treu bleibe! denn ich hab ihms zugeſchworen! Du kennſt unſre Liebe; ſie iſt rein von allem Boͤſen! Bewahre meinen Mund, daß er meinem Herzen treu bleibe! daß er nichts rede, was mein Herz nicht denkt! Jn deinem Namen will ich vor meinen Vater treten. Mache du ſein Herz weich, wenn es hart und unbarmherzig iſt; wenn er die Vaterempfindung vergißt, ſo erinnre du ihn dran! Laß meinen Mund nichts hartes reden wider ihn! Von dir allein erwart ich Huͤlfe. Laß ſie mich von keinem Menſchen erwarten! Staͤrke meine Mutter, daß ihr Leiden nicht zu ſchwer wer - de! Sie hat nichts verſchuldet. Schuͤtt alles Elend uͤber mich allein aus! Gib mir einen Engel zu, der mirs tragen helfe! Laß den Tod nicht ferne von mir ſeyn, wenn du, nach deinem weiſen Rath, ſonſt keinen Troſt auf Erden fuͤr mich haſt! Amen! Hilf mir Vater, Amen!

M m m906

Jch fuͤhle mich geſtaͤrkt, mein Geliebteſter! Jn einer halben Stunde muß ich hinunter. Jch hoffe ſtandhaft zu ſeyn, denn ich weiß, ich hab eine gu - te Sache. Jch will noch einmal bethen.

Zween fuͤrchterliche Kaͤmpfe hab ich ausgeſtan - den, mein Geliebteſter! Mich wundert nur, daß ich noch lebe. Um 11 Uhr ward ich durch den Bedienten hinabgerufen. Der arme Menſch hat - te ganz verweinte Augen. Nun wie ſtehts? ſagte mein Vater. Jſt man nun vernuͤnftiger? Willſt du dich geben? Noch iſts Zeit. Willſt du den Hof - rath? Jch ſah ihn bittend an. Keine Antwort? Alſo ja? Verzeihen Sie, mein Vater! Jch kann nicht! Was? rief er, noch immer auf dem al - ten Kopf? Fort! Hinauf mit ihr. Jch ſchwoͤr dirs; auf den Nachmittag um 2 Uhr iſt die letzte Zeit. Beſinn dich wohl! Wenn du dann nicht Ja ſagſt, ſo iſts vorbey. Dann magſt du ſehen, wie dirs geht! Dein Vater bin ich nicht mehr! Schließt ſie ein oben! Fort mir, aus dem Geſicht, Hure! Meine Mutter ſagte mir unter der Thuͤre: Um Gotteswillen, beſinn dich! Wir ſind alle ſonſt verlohren! Der Bediente ſchloß mich auf die Kammer.

907

Jch konnte dir in dieſer Zwiſchenzeit nicht ſchreiben. Alles ſchwand vor meinen Augen. Zuweilen nur konnt ich einen Seufzer zu Gott erheben. Jch hatte genug zu thun, um nicht ganz in Muthloſigkeit herab zu ſinken. Der Bediente brachte mir das Eſſen, etwas Suppe, und einen Krug mit Waſſer, und ſchloß, ohne ein Wort zu ſprechen, die Thuͤre wieder hinter ſich zu. Doch ſah ichs ihm wol an, daß das Herz ihm voll war. Jch konnte faſt nichts eſſen; aber den Krug mit Waſſer trank ich rein aus. Um 2 Uhr hohlte man mich hinunter ins Zimmer.

Mein aͤltrer Bruder, und meine Schwaͤgerin waren auch da. Sie ſtunden um mich herum. Jetzt wollen wir noch einmal in Guͤte mit dir reden, ſagte mein Vater. Es war eine Schan - de, daß du dich mit einem jungen Menſchen ein - lieſſeſt, von dem ich gar nicht weiß, was an ihm iſt. (Verzeih, Lieber! Jch ſchreibe, wie er ſprach.) Aber das wollen wir uͤberſehn, und dir als ei - nen Jugendfehler anrechnen. Dagegen muſt du nun zweyerley verſprechen: Erſtlich, ihn auf ewig zu vergeſſen, und zweytens, dem Hofrath Schra - ger heute noch dein Jawort zu geben; er iſt um 5 Uhr herbeſtellt. Willſt du das? Gerad heraus908 geſprochen, ohne Umſchweife! Hier ward er ſchon wieder hitzig. Zitternd antwortete ich: Erlau - Sie mir erſt, vom Hofrath Schrager zu ſprechen! Er mag ein Mann ſeyn, der ſeine Vorzuͤge und Verdienſte hat; aber, Gott! muß er deßwegen auch ſogleich fuͤr mich ſeyn? Jch kann ihn unmoͤglich Teufelskind! rief mein Vater, willſt du mich zu Tod aͤrgern? du Laſſen Sie ſie erſt ausreden! ſagte meine Schwaͤgerin; was ſie denn fuͤr herr - liche Gruͤnde vorbringen mag. Jch habe, ſag - te ich, indem ich mich mit einem gewiſſen Stolz gegen ſie wendete, ich habe keine Gruͤnde gegen ihn, als mein Herz. Dein Teufelsherz, rief Papa, wo der infame Kerl drinn feſtſitzt! Verzeihn Sie, ſagte ich, ſolche Namen verdient er nicht. Willſt du’s beſſer wiſſen, Kanaille? Genug! willſt du den Hofrath, oder nicht? Jch kann ihn nicht wollen! Nun ſo holen dich alle T **! indem er mit geballter Fauſt auf mich zukam, und ihn mei - ne Mutter und mein Bruder in den Arm fielen. Sie muͤſſen ihn aber wollen, ſagte meine Schwaͤ - gerin. Was haben Sie denn gegen ihn, als Jhren ſchaͤndlichen Eigenſinn, und daß der Bettler Jhnen im Kopf ſteckt? Jch ward hitzig. Madam, das verbitt ich mir! Was, was? rief mein Bru -909 der, thuſt du meiner Frau etwas? Jch ſah ihn nicht an, und kehrte mich zu meinem Vater: Ha - ben Sie um Gotteswillen Mitleid! Jch kann und will mich nicht zwingen laſſen! Wollen Sie mich ewig ungluͤcklich machen? Du biſt eine Beſtie! Jch frage dich zum letztenmal: Willſt du den Hof - rath? Jn meinem Leben nicht! Hier ſchlug er mich ins Geſicht, daß mir das Blut aus Mund und Naſe floß. Mir ward ſchwindlich; ich ſank in meiner Mutter Arm. Mir ward, als ob ich nur ein entferntes Geliſpel hoͤrte. Aber, als ich mich wieder erholte, zankten ſie laut mit meiner Mutter. Jch ſank zu meines Vaters Fuͤßen. Nur Eine Gnade! rief ich. Laſſen Sie mich nur ins Kloſter! Er ſtieß mich mit den Fuͤßen von ſich, daß ich umſank. Wenn ſies nicht beſſer haben will, ſagte meine Schwaͤgerin, ſo ſperren Sie ſie in ein Kloſter! Sie wird ſchon anders| werden. Meinetwegen! rief mein Vater; morgen mag ſie fort, wenn ſie ſich nicht heut noch eines Beſſern beſinnt. Der Nickel hat mir doch ſchon Gram genug gemacht. Willſt ihn alſo nicht? Nein, ich kann nicht! Nun ſo ſcher dich zu allen T **! Jch gieng weg. Viel Gluͤck! rief meine Schwaͤ - gerin! Jch ſah mich um, und blickte ſie veraͤchtlich910 an. Der Bediente, der weinend vor dem Zimmer ſtand, brachte mich wieder auf die Kammer. Jch konnte nicht weinen. Alles auf der Welt war mir gleichguͤltig. Nur ein paarmal dacht ich an dich, mein Theureſter, und da ſchoß mirs, wie ein Strom in die Augen. Jch hoͤre ſie unten, zuweilen, wenn die Thuͤr aufgeht, ſtark reden.

Als ich dieſes ſchrieb, hoͤrt ich den Schluͤſſel in meine Thuͤr ſtecken, raffte das Papier ſchnell zuſam - men, und verbargs in meinem Buſen. Die Fe - der ſchmiß ich aus dem Fenſter. Der Bediente kam mit meinem aͤltern Bruder (den juͤngern hatt ich heut und geſtern nicht geſehen) den Schreib - zeug her! ſagte mein Bruder. Jch gab ihn ihm, und die Feder, die daneben lag. Haſt du kein Papier? ſagte er. Nein! Er ſuchte meine Taſchen durch, und fand nichts. Er ſah ſich in der Kammer um, und fand auch nichts. Auf dem Tiſch lag blos mein Schnupftuch, wo dein Bluts - tropfen drinn iſt. Er hubs auf, ob nichts drunter liege? und legte es wieder hin. Jſt denn gar kein Erbarmen zu hoffen? fragt ich. Morgen reiſen wir! war ſeine Antwort, und dann gieng er. Jch hatte nun nichts mehr zu ſchreiben. Endlich bog ich ein Bley aus dem Fenſter, und911 damit ſchreib ich dir jetzt. Zu gutem Gluͤck hatt ich eben einen friſchen halben Bogen angefangen. Wie dir der Brief zukommen wird? das weiß Gott! Vor einer guten Stunde, als ich eben dieſes ge - ſchrieben hatte, kam der Bediente zu mir auf die Kammer, und ſchloß hinter ſich zu. Er hatte wei - ſe Waͤſche unter dem Arm. Jungfrau, ſagte er, und ſtotterte, Sie ſollen ſich auf morgen reißfer - tig machen! Wenn Sies aͤndern koͤnnen, ſo bitt ich unterthaͤnig, thun Sies doch! Es iſt unten ein ſchrecklicher Jammer. Die Frau Mama ſtrei - tet, man ſoll Sie nicht ins Kloſter ſperren; aber ſie wird uͤberſchrien. Jhre Frau Schwaͤgerin ſagt: Sie muͤſſen drein! Sie woll Sie ſelber hinbeglei - ten! Jhr Herr Bruder ſagt, was ſie ſagt. Konrad, ſagt ich, ich kann nicht anders. Es ſcheint, er hat Mitleid mit mir. Will er mir wol eine Bit - te erfuͤllen? herzlich gern! Was Sie wollen, ſagte er, und wiſchte ſich die Augen. Darf ich mich aber wol ſicher auf ihn verlaſſen? Ja, bey Gott, daß duͤrfen Sie! Da hat er etwas Geld, ich brauchs doch nicht mehr! Nein, Jung - frau, Geld nehm ich um alles in der Welt nicht von Jhnen. Dann koͤnnten Sie mir ja nicht trauen! Nun, ſo thu ers umſonſt! Gott wird912 ihn dafuͤr belohnen! Jch hab ein paar Blaͤtter Pa - pier! Morgen, wenn er mich holt, will ichs ihm zuſtecken. Geb er ſie, ſobald als moͤglich, meinem juͤngern Bruder. Aber, ich bitt ihn um Got - teswillen, laß ers ſonſt keinen Menſchen ſehen! Jch wuͤrde ungluͤcklich! Jch ſchwoͤrs Jhnen bey allen Heiligen! Nun gieng er wieder.

Jn Gottes Namen will ich den Brief meinem Bruder uͤberliefern. Jch hoff, er ſtellt dir ihn zu. So weiſt du doch etwas von mir. Wo nicht, ſo iſt nicht viel verdorben. Denn was ich geſchrieben habe, wiſſen ſie alle ſchon vorher.

Und ſo ſoll ich denn aus einer Welt, wo du biſt, mein Geliebteſter? Gott! wer haͤtte das je gedacht! Er, der bisher mich unterſtuͤtzt hat, daß es nicht gar aus mit mir iſt, unterſtuͤtz auch dich, du Theurer, dem ich bis ans Ende meines Lebens treu bleibe. Du ſiehſt, daß ich nicht anders handeln konnte; denn dem Hofrath meine Hand geben, waͤ - re mehr, als Tod und Trennung. Wer weiß, wann wir uns wiederſehen? Jn der Ewigkeit ge - wiß. Dieſe ſey dein Augenpunkt in allen Leiden, ſo wie er meiner auch iſt! Hoffe nichts auf dieſer Welt, und alles in der Ewigkeit! Es kommt ein Tag, an dem wir nicht mehr weinen werden. Denk913 an dieſen in der Dunkelheit des Lebens! Gott ſtaͤr - ke dich, wie er mich geſtaͤrkt hatl Lang kann ich unmoͤglich leben. Vielleicht folgſt du mir, mein Geliebteſter, bald nach.

Meine Mutter iſt bey mir geweſen. Ach, Ge - liebteſter, dies war der aͤrgſte Strauß fuͤr mich. Sie hieng an meinem Hals, bat und flehte mich mit Thraͤnen, mich wohl zu bedenken, und dem Hofrath meine Hand zu geben! Was konnt ich anders thun, als weinen, mein Geliebteſter? Sie ſag: Sonſt ſehen wir uns das Letztemal. Das war hart, mein Geliebteſter! Aber, Gott! es ſteht ja nicht in meinen Haͤnden, es zu aͤndern. Jch kann meine Hand nicht geben dem, den ich nicht liebe. Und dir untreu werden Ach, das iſt unmoͤglich! Der Hofrath iſt auf heute abge - ſtellt; aber morgen kaͤm er wieder, wenn ich blie - be. Gott trockne die Thraͤnen meiner Mutter ab! Jch wollte lieber Blut weinen; lieber mich zu Tode weinen, als ſie meinethalben leiden ſehen; und doch kann ich es nicht aͤndern. Dieß iſt das Erſtemal, daß ſie mich um etwas bat; und das Erſtemal konnt ich ihre Bitte nicht erfuͤllen. Gott weiß, wie gern ich es gethan, wie gern ich ihr mein Leben hingegeben haͤtte. Den Abſchied914 kann ich dir nicht ſchildern. Die zum letztenmale ſehen, die ich, neben dir, uͤber alles liebe, das geht uͤber alle Leiden. Heilige Mutter Gottes, ſteh ihr bey!

Alſo waͤr ich denn allein; getrennt von dir und ihr, und haͤtte keinen Freund mehr, der mir hel - fen koͤnnte! Fuͤrchterlich, ach, unausſprechlich fuͤrch - terlich! O du, den ich nicht ſehe, der aber mich, und meine Seele ſieht, daß ſie rein iſt; ſieh, ich bin allein! Verſchleuß dein Ohr nicht! Laß es hoͤ - ren meine Seufzer! Verſchlouß deinen Himmel nicht! Laß herabthauen Troſt und Gnade! Denn ich bin allein.

Mein Bruder war noch einmal auf Befehl mei - nes Vaters bey mir: Willſt du dem Hofrath deine Hand geben? Nein, ich kann nicht Bruder! Nun ſo ſag ich dir im Namen meines Vaters, daß du mor - gen fruͤh um drey Uhr dich gefaßt halten kannſt, ins Kloſter zu wandern. Halts fuͤr eine Ehre, daß er deinen Wunſch erfuͤllt! Aber dein Vater will er von dem Augenblick an nicht mehr ſeyn. Man wird dir Kleider bringen! Mit dieſen Worten gieng er. Gleich darauf brachte mir Konrad eini - ge wenige, und ſchlechte Kleider.

915

Ach Geliebteſter, du ſaͤumeſt, und kommſt nicht, deine Mariane zu erretten; wenigſtens ſie noch ein - mal zu ſehen. Leb denn wohl, du Theurer, den ich wie mein eigen Leben liebte! Gottes Gnade leite dich durchs Thal der Leiden! Denk oft an dei - ne Mariane! Sie wird dein ſeyn, bis ſie todt iſt. Zwiſchen dunkeln Mauren wird ſie weinen, und an dich gedenken, wenn der Tag anfaͤngt. Wenn der Mond in ihre Zelle ſcheint, wird ſie deiner noch gedenken, und der alten Zeiten, und weinen. Blick auf zum Mond, ſo oft er ſcheint! Meine Seele wird ſtets an ihm hangen, und mein Aug an ihm verweilen; und dann werd ich denken, daß auch du zu ihm hinauſblickſt, und an mich ge - denkſt, und an die Stunden unſrer Liebe, und an meine Thraͤnen. Denke dann auch, daß wir einſt im Grabe ruhen, und daß unſre Seelen wandeln werden auf des Mondes lieblichen Gefilden! Daß uns Gott vereinen wird nach unſerm Tode, weil er uns vereinigt hat im Leben! Das Papier geht zu Ende. Noch ein paar Worte muß ich unten hin an meinen Bruder ſchreiben. Gott ge - be, daß du dieſes Blatt bekommſt! Du wirſt wei - nen; aber es enthaͤlt auch Troſt. Leb wohl, leb ewig wohl, Geliebteſter! Hier auf dieſer Welt916 zum letztenmale kann ich mit dir reden, und auch dieſes nur in Briefen. Leb denn wohl, und bleib mir treu! Daß Gott dich ſtaͤrken moͤg in allen deinen Leiden! Daß er dich mir wiedergeb im Him - mel.

Leb wohl, leb ewig wohl, und beth fuͤr deine
Mariane.

An den Rand war noch folgendes mit groͤſſern Buchſtaben, um mehr in die Augen zu fallen, ge - ſchrieben:

An meinen lieben Bruder Joſeph.

Leiſte mir den letzten Dienſt, Bruder, den du mir in dieſem Leben leiſten kannſt! Gib dieſen Brief, verſiegelt, an Siegwart, ſobald er zuruͤck - kommt! Er iſt fuͤr ihn unendlich wichtig. Gott und alle Heiligen werden dich dafuͤr ſegnen. Gib ihm auch in etlich Zeilen Nachricht, wie mirs noch den letzten Tag meines Hierſeyns gieng! Jch flehe dich mit heiſſen Thraͤnen, die hier auf den Brief flieſſen, um dieſe einzige, und letzte Wohl - that. Leiſte ſie um Gottes und um meiner Ruhe willen! Leb wohl, lieber Bruder! Gott ſegne dich! Troͤſt unſre Mutter, und wein um deine ungluͤck - liche Schweſter

Mariane Fiſchern.
917

Siegwart hatte wol hundertmal bey Leſung die - ſes Briefes abbrechen muͤſſen. Oft ſchoß ein Strom von Thraͤnen drauf, daß er keinen Buch - ſtaben mehr von dem andern unterſcheiden konn - te. Oft fieng er an zu zittern, daß er den Brief nicht mehr zu halten vermochte. Oft vergiengen ihm Geſicht und Gehoͤr, und der kalte Schweiß ſtand ihm auf der Stirne, daß er halb ohnmaͤch - tig auf den Stuhl zuruͤck ſank. Oft ſprang er wieder auf, rang die Haͤnde, und rief: Gott! Gott! Gott! Als er endlich den Brief ganz zu Ende geleſen hatte, ſank er matt und ſinnlos auf den Stuhl, wuſte nichts mehr von ſich ſelbſt, und lag ſo bey einer Viertelſtunde da. Als er wieder etwas zu ſich ſelber kam, und ſah, daß es ſchon ganz dunkel geworden war, wollt er aufſtehn, aber er hatte keine Kraͤfte. Alle Glie - der zitterten ihm, ſein Geſicht war eiskalt, und es ward ihm wieder einmal um das andre ſchwind - lich. Endlich grif er mit vieler Muͤhe nach der Glocke auf dem Tiſch, und klingelte. Die Auf - waͤrterin kam. Er foderte Licht. Jeſus, Ma - ria, und Joſeph! rief ſie aus, als ſie das Licht brachte, was fehlt Jhnen? Sie ſehn ja aus, wie der Tod! Soll ich zum Herrn Doktor laufen? 918 Mir iſt nicht recht wohl, antwortete er; mach ſie mir eilig eine recht gute und warme Suppe! Es wird ſchon beſſer werden! Sie bedaurte ihn von Herzen, zuͤndete das Licht an, und gieng weg. Er verſuchte indeß den Brief von Maria - nens Bruder zu leſen; aber die Augen giengen ihm uͤber, und die Buchſtaben floſſen all vor ihm ineinander, daß er ſchwarz und weiß nicht von einander unterſcheiden konnte. Die Aufwaͤrterin brachte ihm eine gute warme Weinſuppe; er , und fuͤhlte ſich darauf wieder etwas geſtaͤrkt. Mit vieler Muͤhe brachte er die Magd von ſei - nem Zimmer, ſie war ſehr beſorgt, und wollte ihm durchaus einen Doktor holen. Als ſie weg war, nahm er Joſephs Brief wieder vor ſich, und las:

Lieber Siegwart!

Jch erfuͤlle die traurige Bitte meiner Schwe - ſter, gebe Dir ihren Brief, und ſoviel Nachricht, als ich von ihr geben kann. Geſtern fruͤh um 3 Uhr wurde ſie, ohne daß ich ſie noch ſprechen durſte, mein Vater und meine Mutter ſprachen ſie auch nicht mehr, in den Wagen gefuͤhrt, in919 dem meine Schwaͤgerin ſaß, und den mein Bru - der ſelbſt kutſchierte. Sie fuhren beym Thor hin - aus gegen Regensburg zu. Weiter weis kein Menſch nichts von ihnen; denn es durfte kein Be - dienter mit, und mein Bruder iſt bis dato noch nicht zuruͤckgekommen. Soviel weis ich, daß mei - ne Schwaͤgerin hauptſaͤchlich Schuld daran hat, daß ſie ins Kloſter muß. Sie mag wohl ihre beſondre Abſichten dabey haben. Meine Mutter weint be - ſtaͤndig, und um meinen Vater kann man gar nicht ſeyn, ſo aufgebracht iſt er. Er ſagt, er woll nun weiter gar nichts von dem Nickel wiſſen. Er hat Dir auch ſehr aufgedroht; und wollte ich Dir da - her wohlmeynend gerathen haben, Dich je eher, je lie - ber von hier weg zu machen. Jch werde dich wol nicht ſprechen koͤnnen, weil mein Vater immer auflaurt, und mich todtſchlagen wuͤrde, wenn ers wuͤßte. Sag daher keinem Menſchen nichts, daß ich nicht auch noch in Ungelegenheit druͤber kom - me! Wenn du nur den Brief erſt haͤtteſt! Jch bedaure dich, und ſie gewiß. Weiter kann ich aber auch nichts thun,

Dein getreuer Diener
Joſeph Fiſcher.

Eine neue Erſchuͤtterung betaͤubte Siegwarts See - le. Er fuͤhlte ſich wieder ſchwaͤcher, ließ den Brief920 fallen, ſank vorwaͤrts auf den Tiſch, verbarg ſein Geſicht in beyde Arme, und lag ſo eine halbe Stun - de, ſeiner nur halb bewuſt da, bis die Aufwaͤrte - rin wieder kam, ſich nach ihm zu erkundigen. Er ließ ſich von ihr halb auskleiden, und gieng zu Bette. Nun, da ſich ſeine Natur wieder etwas erholt hatte, gieng erſt ſein Seelenleiden an; nun konnte er erſt ſein Ungluͤck uͤberdenken, und in ſei - ner ganzen Groͤſſe faſſen. Er ſchauderte zuweilen zuruͤck, als ob er in einen Abgrund hinabblickte. Alles war noch Nacht vor ihm. Er konnte nichts denken, als: ſie iſt verlohren! Die halbe Nacht quaͤlte er ſich mit dieſem einzigen Gedanken, ohne all ſein Schrecken halb auszudenken. Oft graͤnzte ſeine Muthloſigkeit nah an Verzweiflung, und dann bat er wieder Gott, ihn nicht ganz zu ver - laſſen! Wie gluͤcklich, dachte er, wenn ich von meiner Ohnmacht ewig nicht mehr aufgewacht waͤre! Dann fiel ihm wieder ein, was jetzt ſeine Mariane leiden muͤſſe; und dann zerfloß ihm das Herz ganz in Wehmuth. Dann bethete er nur fuͤr ſie, und nicht fuͤr ſich. Gib mir nur den Tod, o Gott! ſonſt kenn ich keine Wohlthat mehr! Die haͤu - figen Erſchuͤtterungen ſeiner Seele machten endlich alle Sehnen ſchlaff, und er ſank in einen tiefen921 Schlummer, der bis den andern Morgen gegen acht Uhr daurte, als ſeine Aufwaͤrterin auf die Kammer kam. Sie machte die Thuͤre leiſe auf, und ſah herein. Er wachte von dem Knarren der Thuͤre auf. Was gibts? rief er. Wie befinden Sie ſich? fragte das Maͤdchen. So ziemlich! war die Antwort; mach ſie mir nur Kaffee! Dann ſtand er auf, kleidete ſich an, und gieng aufs Zim - mer. Hier ſah er Marianens Brief auf dem Tiſch, und Joſephs ſeinen auf der Erde liegen. Er raffte beyde ſchnell zuſammen, und ſteckte ſie ein. Er ſah ſich von ohngefaͤhr im Spiegel, und erſchrack uͤber ſeine Blaͤſſe. Ach Gott, ſeufzte er, machs nur bald ganz aus mit mir! Er wollte etwas nach - denken, ob er kein Mittel vor ſich ſehe, ſich und Marianen zu retten? Aber es war ihm nicht moͤg - lich, nur etwas zuſammenhaͤngendes zu denken. Endlich ſetzte er ſich nieder, an Kronhelm zu ſchrei - ben. Mit zitternder Hand ſchrieb er folgendes an ihn:

Liebſter Bruder und Schwager!

Zu dir nehm ich meine Zuflucht, den einzigen, den ich nur auf Erden habe. Das Schickſal ſchlaͤgt mich ganz Boden. Reich mir deine Hand. AberN n n922welcher Menſch kann den Ungluͤcklichen retten, der alles, ach, alles verlohren hat? Ach Geliebter, meine Mariane iſt verlohren. Dieſes ſag dir alles! Sie iſt eingeſchloſſen in ein Kloſter, und ich weis den Ort nicht, wo ſie jammert. Selbſt ihr Vater war der Grauſame, der ſie verſtieß. Menſchen, Menſchen! Welch ein Scheuſal ſeyd ihr! Aber ich vergeh in meinem Jammer. O Geliebter, wenn ich wuͤßte, wo der Tod waͤr, daß ich ihm entge - gen gienge! Komm Geliebter, und erbarm dich meiner! Oder ich will ſelber kommen, und mein Leid bey dir verjammern. Goͤnn in deinem Hauſe mir ein Plaͤtzchen, und ein Grab auf deinem Acker! Denn in wenig Tagen wird das Grab mich ru - fen, und mir Ruhe geben in der Erde, weil ich auf der Erde ſie nicht finden konnte. Sage meiner Schweſter nichts von meinen Leiden, daß ſich ihre Seele nicht zu ſehr betruͤbe! Mariane, Ma - riane! ach wo biſt du, du Erwaͤhlte meines Her - zens, daß ich mit dir ſterbe? Ach Geliebter, wenn du etwas von ihr hoͤrteſt! Wenn ein Engel dir die Bothſchaft braͤchte, wo ſie jammert! Jch muß fliehen, denn ihr Vater will auch mich ver - folgen. Darum eil ich zu dir. Nimm mich auf an deinen Buſen! Nimm mich freundlich auf! Es923 waͤhrt nicht lange. Noch bin ich matt und kraft - los, denn die Todesbothſchaft hat mich wie ein Sturm erſchuͤttert, und mich hingeworfen, daß ich meine Kraft verlohr. Wenn ich wieder aufge - ſtanden bin, dann eil ich zu dir. Jch kann nicht mehr ſchreiben; meine Augen ſind voll Waſſer, und mein Herz iſt voll Jammers.

Lebe wohl, mein Geliebter, habe Mitleid mir, und empfang mich freundlich, wenn ich komme! Sieh den Him - mel an, und beth fuͤr deinen armen
Siegwart.

Nachdem er dieſen Brief auf die Poſt ge - ſchickt hatte, befahl er der Aufwaͤrterin, ihm von ſeinem Hauswirth die Rechnung machen zu laſſen. Sie weinte, und fragte, ob er dann ganz wegreiſen wolle? Nein, ſagte er, aber wie leicht koͤnnt ich ſterben! Sie weinte noch heftiger. Er bezahlte drauf die Rechnung, und packte ſeine meiſten Sa - chen in den Koffre, ohne ſelbſt zu wiſſen, warum? Zuweilen ließ er ploͤtzlich alles liegen, ſetzte ſich auf einen Stuhl, und weinte; oder zog Marianens Brief heraus, kuͤßte ihn, las eine halbe Seite, legte ihn dann ſorgfaͤltig wieder zuſammen, und ſteckte ihn in ſeine Brieftaſche. Als er eingepackt924 hatte, gieng er zu Dahlmund, kam aber, weil er ihn nicht zu Haus angetroffen hatte, nach einer halben Viertelſtunde wieder nach Haus. Er wuͤnſchte ſich nun keine Wohlthat, als jemand zu haben, in deſſen Buſen er ſeinen Schmerz ausſchuͤtten, und mit dem er gewiſſermaßen ſeinen Jammer theilen koͤnnte; aber keine ſolche Seele war fuͤr ihn in Jngolſtadt. Es fiel ihm ein, daß der geheime Rath von Kronhelm verſprochen habe, ihm eine anſehnliche Bedienung zu verſchaffen. Vielleicht, dachte er, ſtimmt dieſes den Hofrath Fiſcher um. Ohne ſich erſt lange zu bedenken, gieng er aus dem Haus, und ließ ſich bey dem Hofrath melden, mit dem Anhang: Er habe viel wichtiges mit ihm zu reden. Der Bediente kam wieder mit dem Auf - trag: Der Herr Hofrath muͤſſe ſich erſtaunlich wundern, wie er ſich noch unterſtehen koͤnne, ihm unter die Augen treten zu wollen, da er wiſ - ſe, wie ſchlecht er ſich gegen ihn betragen habe. Er moͤchte ſich ja in Acht nehmen, und dem Herrn Hofrath nicht zu nahe kommen! Es koͤnnte ſchlim - me Folgen fuͤr ihn haben. Der Herr Hoſrath werd ihn nie anhoͤren. Er habe nichts mit einem ſolchen Menſchen zu reden, und das rathſamſte waͤre, wenn er ſich recht bald von Jngolſtadt weg925 machte. Mit dieſen Worten machte der Bediente die Hausthuͤre auf, als ob er unſerm Siegwart den Weg weiſen wollte. Dieſer gieng weg, und zit - terte vor Zorn und Unwillen. Zu Haus ſtampfte er auf die Erde. Das ſind Menſchen! ſagte er, und knirſchte mit den Zaͤhnen. Er weinte vor un - terdruͤckter Wuth. Pfuy den Hundskerl! ſagte er, und ſpie aus. So will ich mich denn auf keinen Men - ſchen mehr verlaſſen! Keiner iſt einen Heller werth, Pfuy! Je vornehmer, deſto liederlicher und ſtol - zer, Pfuy! Zuletzt gieng ſeine Verachtung wie - der in Wehmuth und in Thraͤnen uͤber. Er dachte ſich ſeine Mariane, ſeinen Vater, und uͤberließ ſich ſeinem Schmerz. Abends gieng er bald zu Bett, und konnte doch nicht ſchlafen. Er ſprach mit ſich ſelber, redete bald den einen, bald den andern von ſeinen Freunden an, und klagte ihnen ſeinen Jammer. Endlich fielen ihm Fran Held und Ka - roline ein, und, mit ihnen, der Gedanke, ſie morgen zu beſuchen; und bey ihnen wenigſtens den Troſt zu finden, ſeinem Schmerz durch Er - zaͤhlung etwas Luft zu machen. Dieſer Gedanke beſchaͤftigte ihn noch ſo lange, bis er endlich mit einem, ganz erleichterten Herzen, einſchlief.

926

Kaum war er aufgewacht, ſo war dieſes wieder ſein erſter Gedanke. Seine Seele ſtrebte mit ungewoͤhn - licher Sehnſucht nach dem Landhaus, und glaubte, da endlich Erleichterung zu finden. Er ſchloß alle ſeine Sachen ein, ſagte der Aufwaͤrterin, er werde erſt in ein paar Tagen wieder kommen, und gieng.

Es war um neun Uhr, und der Sommertag war ſchoͤn, aber heiß. Er war eine halbe Stunde noch vom Landhaus, als er querfeldein einen Bau - ren ſtark gehen ſah, der auf ihn zu kam. Es war ſein Thomas. Guten Morgen, Herr! ſagte er, ich hab Sie ſchon lang nicht mehr geſehen. Haben Sie uns ganz verlaſſen? Siegwart ſagte, er ſey verreiſt geweſen. Wo wollt ihr hin, Thomas? Jch will da nach der Stadt, und dieſes Felleiſen einem Herrn bringen, der geſtern bey uns durch - fuhr. Vermuthlich gehoͤrts ihm. Jch habs hinterm Dorf in einem Graben gefunden. Der Herr fuhr vor etlich Tagen fruͤh morgens durchs Dorf, und da war das Felleiſen auf die Kutſche hinten aufgebunden. Er kutſchierte ſelbſt, und hatte zwey Jungfern im Wa - gen. Wo mir recht iſt, ſo war eine davon die Jung - fer, die bey der geſtrengen Frau auf dem Schloß war, und die Sie unterm Arm fuͤhrten, als ſie wieder weggiengen. Sie ſah wol ganz bleich aus,927 und das Kutſchenglas war vor, daß ichs nicht recht ſehen konnte. Gott! Das iſt Mariane! rief Siegwart. Wo iſt ſie hingefahren? Da aufs naͤchſte Dorf zu, gleich drey Viertelſtunden von uns. Jch hab doch nichts unrechts geredt, weil Sie ſo bleich druͤber werden? Nein Thomas. Wenn fuhr der Herr wieder zuruͤck? Wars nicht ein groſſer hagrer Herr? Recht! Es war ſo ein duͤrrer Herr! Geſtern Abend nach acht Uhr ſah ich ihn an meinem Haus vorbeyfahren. Und er kam wieder von dem Dorf her, wo er hinge - fahren war? Ja, Herr! das Dorf heißt Altman - ſtein, wenn Sie hin wollen. Es geht immer grad aus. Jedes Kind kanns Jhnen ſagen. Adjeu, Tho - mas! ſagte Siegwart, und lief eilends fort nach dem Dorf zu. Der Bauer ſah ihm voller Verwunderung nach. Siegwart kam in Thomas Dorf an, frag - te nach dem Weg nach Altmanſtein, und lief haſtig fort. Nun glaubte er, auf der Spur zu ſeyn, und hoffte ſeine Mariane gewiß auszukundſchaften. Seine ganze Seele war jetzt von dieſem einzigen Gedanken voll. Er achte - te nicht der groſſen Sonnenhitze und des Schweiſſes, der ihm von den Wangen lief. Jn Altmanſtein fragte er bey etlich Haͤuſern, ob man nicht geſtern eine Kutſche habe durchfahren ſehn, und wo ſie928 hergekommen ſey? Ein altes Muͤtterchen gab ihm endlich Auskunft, und wies ihn auf das naͤchſte Dorf rechter Hand. Hier ließ er ſich, weil er ganz abgemattet war, von einer Baͤuerin ſchwar - zes Brod und friſche Milch geben; erkundigte ſich wieder nach dem Wagen, und erfuhr das naͤchſte Dorf, wo er ſeinen Weg her genommen hatte. Alle Ausſagen, und Beſchreibungen der Perſonen, die beym Wagen geweſen waren, ſtimmten uͤberein; und lieſſen ihn gar nicht mehr zweifeln, daß es der Wagen mit Marianen geweſen ſey. Nachdem er ſich wieder etwas erholt hatte, gieng er in der groͤ - ſten Mittagshitze weiter. Er achtete ſie aber nicht, auch nicht, daß er ſich die Fuͤſſe ſchon ganz wund gelaufen hatte. Seine Seele war auf Einen Punkt geheftet, und ließ ihn alle aͤuſſere Eindruͤcke und Em - pfindungen vergeſſen. Er kam noch durch etlich Doͤr - fer, wo er immer Nachricht vom Wagen bekam, und weiter gewieſen wurde. Gegen Abend fuͤhlte er endlich ſeine aͤuſſerſte Entkraͤftung, und die Wunden an den Fußſohlen. Er ſehnte ſich nach dem naͤchſten Dorf, und konnte es kaum vor Mattigkeit erreichen. Bey der naͤchſten Huͤtte klopfte er an. Die Leute drinnen machten ihm auf, thaten ſehr dienſtfertig und mitleidig, als ſie ihn ſo abgemattet ſahen,929 und brachten ihm Brandewein, ſeine Fuͤſſe zu waſchen. Als er fragte, ob er wol ein Nachtquar - tier bey ihnen haben koͤnne? ſagten ſie willig Ja, und fuͤgten hinzu: Wenn er nur vorlieb nehmen wolle, ſo koͤnn er ſolang bey ihnen bleiben, bis er wieder friſch und geſund ſey. Aus allem, was er ſah, konnt er ſchlieſſen, daß die Leute ſehr wohlha - bend ſeyn. Es war ein Bauer mit ſeiner Frau und vier Kindern, davon das aͤlteſte ein Knabe von zehn Jahren, und das juͤngſte ein Maͤdchen von fuͤnf Jahren war. Auf der Bank herum ſaſ - ſen zween Knechte und drey Maͤgde. Als Sieg - wart eine Milchſuppe und ein paar Eyer gegeſſen hatte, ſo gieng er wegen ſeiner groſſen Muͤdigkeit zu Bette. Man fuͤhrte ihn eine Treppe hoch in eine ganz artige, auf Baurenart ſchoͤn ausgeputzte Stube, wo ein reinliches Bette ſtand.

Wegen der groſſen Hitze, und der heftigen Wallung ſeines Bluts, die durch ſeine ſtarke Gemuͤthsbewe - gung noch vermehrt wurde, konnte er erſt nach Mit - ternacht einſchlafen. Den folgenden Morgen wachte er erſt um neun Uhr auf, und fuͤhlte ſich ſo matt, daß er mit vieler Muͤhe kaum allein aufſte - hen konnte. Als ihn die Baͤuerin unten hoͤrte, daß er wach waͤre, kam ſie herauf, und erkundig -930 te ſich nach ihm. Sie bot ſich an, beym Herrn Pfarrer Kaffee zu entlehnen, um ihm welchen zu machen. Er verbats aber, und ließ ſich eine Bier - ſuppe machen. Eh er ſie eſſen konnte, mußte er ſich wieder zu Bette legen, denn er ward ein paar - mal halb ohnmaͤchtig.

Er war ſehr ungeduldig, daß er nun hier ſo unthaͤtig liegen mußte, und die beſte Zeit, Ma - rianen nachzuſpuͤren, vorbeygehen laſſen ſollte. Die Baͤurin ſetzte ſich neben ihm ans Bette, und war ſeinetwegen ſehr beſorgt. Als er ſie verſicher - te daß er ſich nun wieder etwas beſſer befinde, ſo fieng ſie an: Es muß Jhnen wol ſehr uͤbel in der Welt gegangen ſeyn, denn ich habs ſchon gemerkt, daß Sie recht betruͤbt ſind, und immer naſſe Au - gen haben. Man ſollt denken, ſo einem Herrn, wie Sie ſind, koͤnnts an nichts fehlen. Sie ha - ben ja ein ſchoͤnes Kleid, und ſind ſonſt ſo wohl ausſtaffirt, daß es eine Luſt iſt. Geld haben Sie auch genug, wie ich geſtern ſah, als Sie den Brandewein bezahlen wollten. Ach meine lie - be Frau, ſagte Siegwart, Geld und Gut macht allein nicht gluͤcklich. Wenn man auch alles ge - nung hat, ſo gibts noch tauſend andre Leiden, die man einem nicht ſo ſagen kann. Jch wollt ihr931 gern mein Geld und alles geben, wenn mir ſonſt geholfen werden koͤnnte. Ja freylich, fiel ſie ein, macht Geld und Gut allein nicht gluͤck - lich; und drauf fieng ſie eine lange Erzaͤhlung an von ihrem erſten Mann, den ſie ſechs Jahre in ihrem ledigen Stand gekannt, und recht herz - lich lieb gehabt habe. Sie hab immer nur ge - dacht, es koͤnn ihr nichts mehr fehlen, wenn ſie ſeine Frau ſey. Endlich ſey ſies geworden, und hab ein Jahr lang mit ihm gelebt, wie die Engel im Himmel. Aber hier fieng ſie an zu wei - nen der Tod hab ihn ihr genommen; ſie ſey untroͤſtlich geweſen, und habe geglaubt, es ſey kein Gluͤck auf der Welt mehr, bis ihr Gott ihren Kaſpar zugefuͤhrt habe. Nun ſey ihr ſeit eilf Jah - ren wieder recht wohl, und ſie ſehe wohl, daß man immer wieder gluͤcklich werden koͤnn, es moͤg mit einem auch ausſehen, wie es wolle! und ſo muͤſſ er eben auch denken! Jch will das beſte hof - fen, ſagte er; aber ich weis nicht, wie mir gehol - fen werden kann? Hier weinte er, und die Baͤu - rin weinte herzlich mit. Nach einer Stunde, als er verſichert hatte, daß er ſich nun wieder weit beſſer befinde, gieng ſie hinunter, um ihre Haushaltungs - geſchaͤfte zu verrichten. Er ſeufzte und betete zu932 Gott um Geſundheit oder Tod. Endlich langte er ſeine Brieftaſche, und ſchrieb einen wehmuͤthigen und ruͤhrenden Aufſatz darein, wo er ſeine Maria - ne als gegenwaͤrtig anredete. Um Eſſenszeit, als er wieder ziemlich geſtaͤrkt war, gieng er in die Stube hinunter, wo ihm die Baͤurin ein recht gutes Eſſen zurichtete. Der Bauer war, weil es Sonnabend war, in das naͤchſte Staͤdtchen ge - fahren, um Haber zu verkaufen. Nach dem Eſ - ſen ſpielte Siegwart mit den Kindern, die ſich gleich um ihn her machten. So uͤbel ihm auch zu Muthe war, ſo muſte er doch ihre Spiele mit - machen, und zuweilen laͤcheln. Er ſah einen Ka - techismus da liegen, und wollte den aͤltern Knaben etwas drinn leſen laſſen; aber dieſer konnte noch kaum buchſtabiren, und von der Religion wuſte er noch nicht das geringſte. So traurig ſiehts oft auf dem Lande mit dem Kinderunterricht aus. Siegwart erkundigte ſich drauf nach allen umliegen - den Kloͤſtern, und beſonders nach den Nonnenkloͤ - ſtern. Es war deren eine ſo große Menge, daß ihm bange ward, wie er das rechte ausfindig machen wollte. Was er anzufangen habe, wenn er das - jenige Kloſter faͤnde, in welchem Mariane war, daran hatte er noch gar nicht gedacht. Jn der an -933 genehmen Daͤmmerung ſetzte er ſich mit der Baͤu - rin unter eine Linde vor dem Haus auf einen ab - gehauenen Baum. Sie war ſehr beſorgt, daß ihr Mann ſo lange nicht zuruͤckkomme. Er hat einen Fehler an ſich, ſagte ſie, wenn er an einem Ort einmal iſt, da kann er ſobald nicht wieder wegkommen, und da guckt er oft zu tief ins Glaͤ - ſel. Sonſt aber iſts ein kreuzbraver Mann.

Siegwart ſprach nicht viel, und ſaß in tiefer Wehmuth da. Er ſah zum Himmel auf, wo nach und nach einzelne Sterne ſichtbar wurden. Oft ſtieg ſein Buſen hoch, und ein lauter Seufzer brach hervor. So lebhaft hatte er, ſeit der trau - rigen Begebenheit, noch nie an ſeine Mariane, und an ſein fuͤrchterliches Schickſal gedacht. Jetzt uͤberſah er es erſt ganz, und ſchauderte vor der hofnungsloſen Zukunft. Er wuͤnſchte ſich nichts, als zu vergehen, und auf Einmal ewig aufzuhoͤren. Es ward ihm, als ob er Marianen wimmern hoͤrte, und wuͤnſchte, daß ſeine Seele aus dem Leib eilen moͤchte, um ſie zu troͤſten! Die Baͤurin ward indeß immer beſorgter um ihren Mann. Sie ſtund einigemal auf, und gieng ei - nige Haͤuſer weit, ob ſie noch nichts hoͤre? Sie kam langſam wieder zuruͤck, und ſagte: Noch934 nichts! Endlich hoͤrte man vor dem Dorf drauſſen einen Wagen ſtark raſſeln, und ein lautes Juch - zen. Gottlob! nun kommt er, ſagte ſie. Er fuhr in vollem Gallop ins Dorf herein. Wo biſt du doch ſo lang, Kaspar? ſagte ſie. Ey was, Narr! ſagte er, ſprang vom Pferd, und ſchloß ſie in den Arm; ich hab einen guten Kauf gethan. Heh, luſtig, Herr! Hier hab ich ihm was! Jndem zog er zwo Bouteillen Wein aus dem Zwerchſack. Komm er! nun wollen wir die Grillen verjagen! Siegwart mochte ſich ſo ſehr weigern, als er wollte; er muſte noch eine Bouteille mit dem betrunkenen Bauren trinken, und konnt ihn kaum abhalten, die andre nicht auch noch anzubrechen. Er er - zaͤhlte ihm auf die verwirrteſte Art allerley Geſchich - ten aus der Stadt, und gieng endlich ſo betrunken zu Bette, daß er kaum allein gehen konnte.

Den andern Morgen gieng jedermann aus dem Haus, bis auf die Kinder in die Meſſe. Sieg - wart ſtand auf, und fuͤhlte ſich faſt ganz wieder hergeſtellt. Aber ſein Gemuͤth war krank, und im Jnnerſten verwundet. Er ſetzte ſich, und ſchrieb mit vieler Ruͤhrung ſeine Empfindungen, die voll Andacht und voll tiefer Schwermuth waren, in ſein Taſchenbuch. Waͤhrend daß er ſchrieb, krab -935 belte etwas an der Thuͤre. Er machte auf, und die beyden aͤltern Kinder warens. Sie boten ihm die Hand, und wuͤnſchten ihm freundlich einen gu - ten Morgen. Er ſetzte ſich aufs Bett, und ſah ihren unſchuldigen Spielen zu. Gott! dachte er, wie vergnuͤgt ſind dieſe Kinder! Ehmals war ich auch ſo; warum blieb ich nicht ein Kind! Haben wir denn die Vernunft nur zu unſerm Ungluͤck? Waͤr ich doch noch ein Kind! Er ward dabey ſo bewegt, daß ihm Thraͤnen aus den Augen ſtuͤrzten. Das andre Kind, ein Maͤdchen von acht Jahren, ſah es, und kam auf ihn zu. Es weinte auch, nahm ſeine Hand, ſtieg auf ſeinen Knien hinauf, um ihm |die Thraͤnen mit dem kleinen Haͤndchen wegzuwiſchen, und ſagte: Muſt nicht weinen! Hab ich dir denn was gethan? Jch bin ja brav. Der Knabe ſprang auch herbey, blieb ein paar Schritte weit von ihm ſtehen, ſah ihn mitleidig an, und ſagte: Was fehlt dir, daß du ſo ein Ge - ſicht machſt? Soll ich dir Blumen holen? Jch hab ſchoͤne im Garten. Du liebes Kind, dachte Siegwart, und ſetzte es aufs andre Knie; wenn mir Blumen helfen koͤnnten! Ach guter Gott! mach mich wieder zum Kind! Deinen Kindern iſt ſo wohl. Laß mich wieder Freude haben uͤber Blumen! Er936 neigte ſich uͤber die beyden Kinder her, und wein - te. Das Maͤdchen ſpielte mit Marianens Ring an ſeinem Finger. Sie ſah ihn an, als ſie fragen wollte, ob ſie ihn abziehen duͤrfte? Nein, den muſt du mir laſſen, gutes Kind, ſagte er, das iſt alles, was ich habe. Bald darauf kam die Mutter auf die Kammer. Der Knabe ſprang auf ſie zu, und ſagte: Sieh, Mutter, er weint. Frag ihn, was ihm fehlt? Wir haben ihm gewiß nichts gethan; ich und Lieſe nicht. Laß nur ſeyn! antwortete die Mutter, ich weiß ſchon, was dem Herrn fehlt. Es iſt Jhnen doch wieder beſſer, Herr? Siegwart verſicherte ſie, daß er nun wieder ganz geſund ſey, und morgen weiter wolle. Nur zu Fuß? fiel die Frau ein. Siegwart antwortete mit Ja; weil er nicht mehr weit wolle, und wol wiſſe, daß die Bauren in der Erndte ihre Pferde beſſer brauchen. Drauf gieng er mit ihr hinunter in die Stube, wo auch Kaspar war. Auf den Nachmittag lud er unſern Siegwart aufs Freyſchieſſen ein, der endlich, um ihn zu beruhigen, wider Willen Ja ſagen muſte. Kaspar heut, nebſt ſeiner Frau, mit Siegwart, weil er geſtern, wie er ſagte, ſei - nen Haber ſo gut an Mann gebracht habe. Sie tranken miteinander die andere Bouteille Wein, die937 der Bauer geſtern mitgebracht hatte. Sieg - wart vergaß bey ſeiner Geſchwaͤtzigkeit eine Zeitlang ſeiner eignen Leiden, und gewann das Zu - trauen der beyden Leute ganz. Den Nach - mittag muſte er mit zum Freyſchieſſen. Kaspar gab ihm auch eine Kugelbuͤchſe mit, und er muſte mit ſchieſſen. Die Bauren erwieſen ihm viele Ehre, und nannten ihn Junker. Er gewann das Beſte, welches in etlichen Gulden beſtand. Er wollt es wieder ausſchieſſen laſſen, als die Bauren dies nicht zugaben, ſo hielt er ſie alle in Bier und Brandewein frey. Daruͤber wurden ſie ganz munter, und tranken alle Augenblicke ſeine Ge - ſundheit. Als er mit Kaspar weggieng, ward er bis vor ſein Haus hin mit Muſik, einem Dudel - ſack und zwo Violinen begleitet. Als er ſagte, daß er morgen weiter wolle, wollte ihn Kaspar durch - aus zu Pferd begleiten, aber Siegwart nahm es nicht an. Er wollte, die Baͤurin ſollte ihm die Rechnung machen fuͤr das, was er bey ihnen ver - zehrt haͤtte. Anfangs wollte ſie es gar nicht thun. Zuletzt foderte ſie etwas weniges. Siegwart gabs, und ſteckte noch jedem Kind einen Sechsbaͤtzner in die Hand.

O o o938

Den andern Morgen um 5 Uhr ſtand er auf, und fuͤhlte ſeine Geſundheit voͤllig wieder hergeſtellt. Die Baͤurin wuͤnſchte ihm mit Thraͤnen tauſend Gluͤck auf den Weg. Kaspar begleitete ihn bis vors Dorf hinaus, und wies ihm den naͤchſten Weg. Auf dem erſten Dorf konnt er lange nichts von Marianens Wagen erfahren; endlich fand er einen Bauer, der ihn geſehen hatte, und ihm das Dorf nannte, wo er hergekommen war. Noch in zwey Doͤrfern bekam er Nachricht. Endlich im dritten wollte niemand weiter etwas geſehen ha - ben. Nur eine Frau ſagte: Abends um Eilf Uhr habe ſie vor etlich Tagen etwas durchs Dorfs fah - ren hoͤren. Sie habe hinausgeſehen, und da ſeys eine Kutſche geweſen, die aufs naͤchſte Dorf zu, das ſie nannte, gefahren ſey. Man geh durch einen dicken Tannenwald durch, und es ſey eine gute Stunde dahin. Erſt muͤſſe man ſich, wenn man halb im Wald ſey, rechts, dann links, dann wie - der rechts hinum ſchlagen. Siegwart war auf die - ſe Anweiſung wenig aufmerkſam. Er war zufrie - den, daß er etwas von dem Wagen gehoͤrt hatte, und gieng wieder weiter. Durch allerley Phanta - ſien und Traͤumereyen, daß er nun bald ſeine Ma - riane wieder finden werde, vertiefte er ſich ſo in939 Gedanken, daß er gar nicht mehr auf den Weg Acht gab, und ſchon ziemlich tief im dicken Tannenwalde war, als ihm einfiel, ob er wol auch auf dem rechten Wege ſey? Der Fußpfad, auf dem er gieng, war ſchmal, oft verlohr er ihn, wo die Nadeln von den Tannenbaͤumen haͤufiger lagen, faſt ganz. Er ward nun etwas beſorgt, denn der Wald war dick, daß man nirgends hinausſehen konnte. Endlich theilte ſich ſein Weg, und er wuſte lang nicht, wel - chen Pfad er waͤhlen ſollte? Endlich gieng er den zur Rechten, weil ihm nur noch dunkel im Ge - daͤchtniß ſchwebte, daß die Frau geſagt habe, er muͤſſe rechter Hand gehen! Nach einer Stunde ver - lohr ſich ſein Fußpfad ganz. Er gieng hin und her, vor-und ruͤckwaͤrts, und fand nirgend keine Spur. Endlich gieng er in der Ungeduld auf Ge - rathewohl gerade fort. Der Wald ward immer dicker, und unwegſamer, weil, neben den hohen Fichten, viel niedriges Tannenreiß wuchs. Hoͤren konnt er auch weder die Glocken in einem Dorf, noch ſonſt einen Laut von Menſchen, weil die, etwas laute Luft durch die Tannenwipfel wie ein großer Strom dahin rauſchte. Zuweilen machte ihn das uͤbrige tiefe Schweigen, die Abgeſchieden - heit von allen lebenden Geſchoͤpfen denn kein Vo -940 gel war im Wald und das Dunkel, durch das kaum ein Sonnenſtral dringen konnte, ſehr weh - muͤthig, daß ihm Thraͤnen aus den Augen auf das Moos ſtuͤrzten. Dann ward er wieder ver - druͤßlich und zaghaft, weil er gar kein Ende des Waldes ſah. Wenn es auch zuweilen etwas hell ſah, ſo kams doch nur daher, daß die Fichten et - was duͤnner ſtanden; hinten ſchloß ſich gleich wie - der ein groͤſſeres Dickicht an. Dabey ward er von dem muͤhſamen Hin-und Herirren immer mat - ter und kraftloſer. Ein paarmal ſetzte er ſich auf das etwas erhoͤhte Moos nieder, ſah auf die Uhr, und fand, daß es ſchon auf drey Uhr gehe. Er ſtuͤtzte den Kopf in beyde Haͤnde, und dachte: Ach Mariane, wenn wir hier in dieſer Wildnis, und von Menſchen abgeſondert lebten, die groͤſtentheils ſo niedertraͤchtig ſind! Ach, mein Kleiſt hat Recht: Ein wahrer Menſch muß fern von Menſchen ſeyn! Wenn in dieſer ſeligen und ſtillen Ruhe unſer Le - ben unbemerkt, unbeneidet, ungekraͤnkt, dahin floͤſſe! Ach Mariane, Mariane, wenn du hier waͤreſt! Aber du traurſt und weinſt Gott weiß, wo? in irgend einem Winkel zwiſchen dunkeln Mauren um deinen armen Siegwart und ver - eufzſt dein Leben. Ach, wenn ich dich hier an941 meinen Buſen ſchlieſſen, und dich troͤſten koͤnnte, wo kein Menſch wohnt, wo nur Engel unſre Liebe ſehen und ſich ihrer freuen wuͤrden! Ach Mariane, Mariane, wenn du hier waͤrſt! Aber ich verſchmacht in dieſer Wildnis, und kein Menſch beweint mich, und kein Engel kann mich retten! Gott, ach Gott, erhalt mich meiner Mariane!

So dachte er, ſtund dann wieder auf, und gieng weiter. Je tiefer die Sonn am Himmel hinunter ſank, deſto dunkler wards im Tannen - wald, ſo daß ihm endlich zu grauen anfieng. Je laͤnger er umher lief, deſto weiter verlohr er ſich im Wald, und er wollte ſchon dran ver - zweifeln, ſich jemals wieder herauszufinden, als er endlich unter dem dickſten Tannengebuͤſch eine Huͤtte wahrnahm. Bey dieſem Anblick ward ihm, als ob ein Engel ihm erſchiene. Er eilte auf die Huͤtte zu, fand aber die Thuͤre verſchloſſen. Er ward daruͤber ſehr betroffen, doch hoffte er, daß ihr Beſitzer bald zuruͤckkommen wuͤrde, und ſetz - te ſich auf die gegenuͤber angelegte Raſenbank. Die Huͤtte war faſt blos von Erde aufgebaut, das Dach mit Tannenreiß bedeckt, und ſtatt der Fen - ſter waren an der Seite nur ein paar kleine Oeff -942 nungen. Um das Haus herum war ein freyer Platz, wo etwas Kuͤchengewaͤchſe, und auf der andern Seite einige, jung heranwachſende Frucht - baͤume ſtanden. Ein paar Kirſchbaͤume hiengen ſchon voll Fruͤchte, die, wegen der Dunkelheit des Waldes erſt jetzt reiften. Siegwart konnte ſich nicht zuruͤckhalten, einige davon an den unterſten Aeſten abzupfluͤcken, denn er war vom Hunger und Durſt zu ſehr abgemattet, und ausgemergelt. Eine halbe Stunde drauf kam endlich ein Einſiedler, in tiefen Betrachtungen verlohren, unter den dun - keln Tannen hergeſchlichen. Siegwart ſtand ehr - erbietig auf. Der Einſiedler erſtaunte, als er ei - nen Menſchen in ſeiner Einoͤde wahrnahm. An - fangs war er ſo betroffen, daß er nicht reden konn - te. Endlich gieng er auf Siegwart freundlich zu, und ſagte: Sie ſind gewiß ein Ungluͤcklicher, daß Sie in dieſe abgelegne Gegend kommen? Ja, ant - wortete Siegwart, ich bin verirrt, und laufe ſchon den ganzen Tag in dieſem Wald umher. Armer Juͤngling! verſetzte der Einſiedler, Sie werden wol ſehr abgemattet ſeyn? Jch will Jhnen brin - gen, was ich habe. Mit dieſen Worten ſchloß er ſeine Thuͤr auf, brachte etwas Brod und Kaͤſe943 heraus, und pfluͤckte ihm Kirſchen von den Baͤu - men ab. Er brachte auch einen Krug mit Waſſer, und ſetzte ſich neben unſerm Siegwart hin. Als ſich dieſer etwas erfriſcht hatte, betrachtete er den Ein - ſiedler genauer, und fand, daß er ein Mann nicht viel uͤber dreyſig war, obgleich ſein Geſicht von innerlichem Kummer ſehr abgezehrt zu ſeyn ſchien. Jn ſeinem duͤſtern Auge war ein Ueberreſt von un - terdruͤcktem Feuer, und aus dem ganzen Geſicht ſprach viel Edles. Ueberhaupt verrieth ſein gan - zes Betragen, und auch ſeine Sprache einen Mann von nicht geringem Herkommen. Und wie kommen Sie in dieſen Wald, ſagte er, wenn ich fragen darf? Jch wollte, antwortete Siegwart, nach, nach Ja, nun hab ich den Namen des |Dorfs vergeſſen, und da muſt ich durch den Wald gehn, und vertiefte mich in meinen Ge - danken, und verlohr den Weg, und konnte mich, trotz alles Suchens doch nicht mehr heraus finden. Das glaub ich, verſetzte der Einſiedler; der Wald iſt erſtaunlich groß, zumal in die Laͤnge. Jetzt wirklich meine Huͤtte iſt vom naͤchſten Dorf zwo Stunden weit entfernt, und ich habe hier ſeit Jahr und Tag keinen Menſchen geſehen. Sie ſahen mirs auch wol an, wie ich uͤber Jhren Anblick ſo944 beſtuͤrzt war. Sie kommen wol von einer Univerſitaͤt her? Ja, von Jngolſtadt, war Siegwarts Antwort. Beyde ſchwiegen nun eine Zeitlang ſtill, und ſchienen in tiefe Wehmuth zu verſinken. Sieg - wart betrachtete zuweilen den Einſiedler ſeitwaͤrts, und bemerkte tiefe Zuͤge der Schwermuth in ſei - nem Geſicht eingegraben. Je gewiſſer er uͤberzeugt ward, daß er ein Ungluͤcklicher ſeyn muͤſſe, deſto mehr Zuneigung fuͤhlte er bey ſich gegen ihn; deſto mehr wuͤnſchte er, ſein Herz vor ihm ausſchuͤtten zu koͤnnen. Aber eine gewiſſe ehrerbietige Schuͤchternheit hielt ihn zuruͤck, wenn er oft ſchon den Mund oͤffnen, und ihm ſeine Geſchichte entdecken wollte. Sie leben wohl, fieng er endlich an, an dieſem ſtillen einſamen Aufenthalt recht ruhig |und zufrie - den?

Einſiedler. Was der Ort dazu beytragen kann, das thut er, wenns nicht innre Stuͤrme gibt.

Siegwart. Freylich kommts allein auf unſer Herz, und nicht aufs Aeußre an, ob man ruhig und zufrieden lebt! Aber ich denke doch, je weiter man von Menſchen lebt, deſto mehr innre Ruhe hat man.

Einſiedler. Recht, mein Lieber! Es ſcheint, wir haben einerley Grundſaͤtze. Aber es gibt auch945 verſchiedne Gruͤnde, warum man ſich von aller menſchlichen Geſellſchaft los macht.

Siegwart. Liebe zur Ruhe iſts doch immer, wie mich deucht ...

Einſiedler. Und Sehnſucht nach Ruhe; oder daß man ſie an andern Oertern ſucht, wenn man ſie nicht in ſich ſelbſt hat. Und das, ſcheint mir, iſt ſehr oft der Fall. (Hier ſeufzte er.)

Siegwart. Leider! mag ers nur zu oft ſeyn! Vielleicht ſehen Sie mirs an, daß ich auch die Ruhe auſſer mir aufſuche. Ach, mein theurer Vater, darf ich Jhnen mich entdecken? Vielleicht wiſſen Sie ein Lindrungsmittel; und ich weiß, Sie wuͤrdens mir nicht vorenthalten.

Einſiedler. Nein gewiß nicht! wenigſtens wer - den Sie mein Mitleid haben, wenns nichts wei - ter iſt. Jch will Jhnen Jhr Geheimnis nicht abdringen. Oft iſts Grauſamkeit. Aber wenn Sie mir es freywillig entdecken wollen, ſo wirds mich freuen. Jch werde wenigſtens Jhr Zu - trauen nicht mißbrauchen.

Siegwart erzaͤhlte ihm nun |ſeine ganze Ge - ſchichte. Der Einſiedler ward oft ſtark dabey er - ſchuͤttert, und vergoß viele Thraͤnen. An man - chen Auftritten nahm er beſonders Theil. Zuletzt946 umarmte er unſern Siegwart mit den Worten: Du biſt ein edler Juͤngling, und verdienſt mein ganzes Mitleid. Oft war mirs bey deiner Er - zaͤhlung, als ob ich meine eigene Geſchichte hoͤr - te; nur daß dieſe noch ſchrecklicher und trauriger iſt. Jch bin dir nun auch Zutrauen ſchuldig. Morgen ſollſt du meine Geſchichte hoͤren. Heut iſts ſchon zu ſpaͤt, und der Abend iſt ſehr kuͤhl. Du biſt muͤd; deine Erzaͤhlung hat dich, wie ich ſehe, heftig angegriffen, und du haſt des Schlafs und der Ruhe noͤthig. Komm! Jch fuͤhre dich in die Kammer.

Siegwart muſte, ſo ſehr er ſich auch weigerte, in der kleinen Kammer, in dem eignen Bett | des Einſiedlers ſchlafen. Jch ſchlafe drauſſen, ſagte er, in meiner Huͤtte; du haſt der Ruhe und der Waͤrme noͤthiger als ich. Mach keine Umſtaͤnde! Schlaf wohl! Mit dieſen Worten gieng er, und ließ ihm das Licht in der Kammer.

Als Siegwart eben in das Bette gehen wollte, nahm er das Bildnis eines Maͤdchens wahr, das dem Bette gegen uͤber hieng. Er betrachtete es, mit dem Licht in der Hand, genauer, und fand ein ſchoͤnes, ſanftes Geſicht mit ſchmachtenden blauen Augen, dem Wiederſchein einer himmli -947 ſchen Seele. Er ſah es lang mit Entzuͤcken und mit Ruͤhrung an, dachte dabey an ſeine Mariane, weinte, und gieng endlich, voll wehmuͤthiger Ge - danken, zu Bette, Auf die Ermattung des Tages ſchlief er ruhig, und wachte auf, als ſchon ſeit - waͤrts durch die Tannenbaͤume einige gebrochne Sonnenſtrahlen in die kleine Kammer ſchienen. Er ſtund auf, ſah das Bild wieder eine halbe Stunde lang, unbeweglich an, kleidete ſich drauf an, und gieng vor die Huͤtte, wo der Einſiedler tiefſinnig und traurig auf der Raſenbank ſaß.

Haben Sie wohl geſchlafen, theurer Vater? fragte Siegwart. Red mehr die Sprache der Vertraulichkeit, ſagte dieſer, und nenn mich Du! Wir ſind beyde ungluͤcklich; und Ungluͤckliche ſind ſich naͤher, und noch mehr Bruͤder, als andre Menſchen. Du ſiehſt heute friſcher aus. Haſt du gut geſchlafen? Setz dich zu mir, auf den Ra - ſen! Wir wollen erſt miteinander bethen! Er bete - te mit hoher Andacht, und heiligem Feuer, daß die Seele unſers Siegwart ganz erſchuͤttert, und zum Himmel empor gehoben wurde. Drauf nahm der Einſiedler ſeine Hand, und hub an:

Deine Geſchichte hat mich tief geruͤhrt; |ſie gieng mir beſtaͤndig nach, und ich konnte faſt die948 ganze Nacht nicht davor ſchlafen. Du haſt viel gelitten, Lieber; aber ſtaͤrke dich! Du kannſt noch vieles auf der Welt erfahren. Jch hoffe, daß du Glauben an Gott haſt. Bey allen Leiden, die ich ausgeſtanden habe und es ſind gewiß recht viele hab ich das gelernt: Ohne Glauben an Gott und an ſich ſelbſt koͤnnte man kein ſchweres Leiden uͤberſtehen. Selbſtmord und Verzweiflung waͤre ſtets die letzte Zuflucht, und ſie iſts auch, leider! bey ſo vielen. Wer an Menſchen glaubt, der wird zu Schanden, wie du ſchon erfahren haſt. Jch traute mir, und noch mehr andern Menſchen alles zu; ich glaubte, mir allein helfen zu muͤſſen, und ach Gott! Wie tief bin ich gefallen! Jch ſah den Himmel an, und alle Sterne, daß ſich ihre Menge nicht verwirrt. Jch ſah Stuͤrm und Blitz und Donner aufſtehn; ſah die Elemente miteinander kriegen, und doch alles bleiben, wie es war. Jch ſah Menſchen mit - einander kriegen; ſah; wie immer einer gegen den andern iſt; ſah in mir und andern alles miteinan - der kaͤmpfen; Leidenſchaften in der Seele toben, daß es ſchien, ſie muͤſte aufgerieben werden und doch blieb im Menſchen Ordnung; Nach den tauſend Stuͤrmen kam doch wieder Ruhe; und ich949 hub mich auf, und ſah gen Himmel, fuͤhlt es, daß nicht nur ein Gott im Himmel wohnte, ſondern auch ein Gott, der alles kann, und alles ordnet, und die Wirrungen zertheilt, und wieder Eins wacht, und mein Herz fieng an zu glauben. Und ich ſaſte Muth, und fuͤhlt an meinen Kraͤften, daß ſie mir nicht ſo umſonſt gegeben ſind; und ich fieng an, ſie zu brauchen, und ich fuͤhlte mich geſtaͤrkt. Jch uͤberwand mein Herz, wenn es verzagen wollte, mit Hoffnung, und feſter Zuverſicht, und fand, daß dem Glauben alle Dinge moͤglich ſind. Mach du den Gedanken dir zur Stuͤtze, daß du nicht alleine wuͤrkeſt, du magſt ſtark, oder ſchwach ſeyn! Dann mein Lieber! wirſt du auch im ſtrengſten Kampfe nie verzagen.

Und nun |meine Geſchichte. Du biſt der erſte dem ich ſie erzaͤle. Ach, ſie wird mich tauſend Thraͤnen koſten. Du wirſt mit mir weinen. Thuſt du dieſes recht von Herzen, ſo bin ich uͤberzeugt, du wirſt ſie keiner Seele, die ſie mißbrauchen koͤnnte, offenbahren.

Jch bin ein Edelmann, und hab im Krieg ge - dient: du haſt das Maͤdchenbild geſehen, das in meiner Kammer haͤngt. Du biſt der erſte, der in meine Kammer kam, und es geſehen hat. Jhr950 Geſicht ſagt dir alles; malt dir ihre ganze Seele ab. Jch liebte ſie, wie du deine Mariane liebeſt, und ihr Herz war mein, wie Marianens ihrs dein iſt. Der Krieg rief mich von ihr. Meine Mutter fieng die Briefe auf, die ich ihr aus dem Feld ge - ſchrieben hatte, und ſagte meiner Theuren, daß ich untreu ſey. Sie ward krank und wahnwitzig, und ſchloß ſich, als ſie beſſer ward, in ein Kloſter ein. Jch kam heim; erfuhrs; glaubte nicht; verzwei - felte, und erſtach meine Mutter; und mein Eugel ſtarb.

Als Siegwart dieſe Erzaͤhlung, die der Einſied - ler weit umſtaͤndlicher vortrug, hoͤrte; rief er aus: Herr Jeſus! Heiſſeſt du nicht Ferbinand? Ja, rief der Einſiedler; kennſt du mich? Jch kenne dich! meine Schweſter war beym Tode deines Maͤdchens. Ungluͤcklicher Mann! Jch kenne dich! Nun ſo erzaͤhl mir alles! rief der Einſiedler. Reiß noch einmal alle Wunden meines Herzens auf!

Siegwart erzaͤhlte ihm nun alles, was ihm ſeine Schweſter von der Baroneſſin erzaͤhlt hatte. Siehſt du, rief der Einſiedler, dieſer Ferdinand, dieſer Elende, dieſer Verworfne bin ich! Verdamm mich nun! Verfluch mich! Thu was du willſt! Jch bin alles werth! Gott, wie koͤnnt ich das?951 verſetzte Siegwart. Bedauren und beweinen kann ich dich. Mehr nicht, ungluͤcklicher Mann! Du biſt ein Menſch geweſen, mehr nicht. Gott weiß, was ich, an deinem Platz, wuͤrde gethan haben?

Der Einſiedler umarmte ihn. Hoͤr! ich ſchwoͤr es dir! Du biſt noch ein Menſch! Du weiſt noch, was ein Menſch kann, und nicht kann. Richtet nicht, | ſo werdet ihr auch nicht gerichtet werden! Das hat Gott geſagt, und du befolgſt es. Laß dich feſter an mein Herz druͤcken! Du biſt mir ein Engel Gottes!

Nach vielen Thraͤnen und Umarmungen ſetzte der Einſiedler ſeine Erzaͤhlung alſo fort:

Meine Mutter war erſchlagen. Jch wuſt es kaum, daß ichs gethan hatte, und erfuhr es erſt nach ein paar Tagen von meinem Bedienten, der mich im Wald auſſuchte, wohin ich mich gefluͤchtet hatte. Jch wollte verzweifeln. Es war, als ob mir Gottes Rache nachſetzte. Mein Bedienter lag mir an, aus dem Land zu gehn; ich wollte nicht. Haͤtt er mich nicht zuruͤckgehalten, ſo haͤtt ich mich bey der Obrigkeit als einen Muttermoͤrder angege - ben. Zweymal wollt ich mich in die Donau ſtuͤr - zen. Einmal war ich ſchon bey Nacht darinn. Er warf ſich mit ſeinem Pferd ins Waſſer, und rettete952 mich noch. Nun ſah ich auf Einmal den Abgrund, an dem ich herumgetaumelt hatte. Jch fuͤhlte die Schwere des Verbrechens, das ich noch der Laſt meiner Suͤnden hatte beylegen wollen. Jch ver - fiel in tiefe Schwermuth und Unthaͤtigkeit, und ließ mich von ihm lenken, wie er wollte. Er uͤberredete mich, aus dem Land zu fluͤchten. Jch wollte bey den Preuſſen Kriegsdienſte nehmen, und machte mich mit ihm bey Nacht auf den Weg, nachdem er mir, durch Vermittelung meines Bru - ders, hinlaͤnglich Geld verſchafft hatte. Die zweyte Nacht verirrten wir uns in dieſem Wald, und befanden uns am Morgen drauf hier. Dieſe Dunkelheit und Stille war ganz fuͤr meinen Zu - ſtand und fuͤr meinen Gram gemacht. Hier will ich bleiben, ſagt ich, ſtieg von meinem Pferd ab, und ſteckte meinen Stock mit den Worten in die Erde: Hier ſoll mein Grab ſeyn, und unter jenem Baum dort meine Huͤtte. Mein Bedienter hielt dieß wieder fuͤr einen Einfall, wie ich ſchon viel gehabt hatte, und wovon er mich immer wieder abzubringen wuſte. Aber dießmal war ſein Zure - den vergeblich. Ein geheimer Zug hielt mich an dieſem Ort feſt. Was wollen Sie denn werden? ſagte er. Nichts, antwortete ich; genug ich will953 hier bleiben, und mir eine Huͤtte bauen. Als er ſah, daß ich ſchlechterdings nicht davon abzubrin - gen war; ſo ſagte er: wenn Sie denn nicht an - ders wollen, ſo iſts am beſten, wenn wir eine Ein - ſiedeley anlegen, und Waldbruͤder werden. Gut, das meyn ich eben, war meine Antwort; laß uns nur eine Huͤtte bauen! Er erbot ſich, weil man ihn in dieſer Gegend wenig oder gar nicht kannte, nach dem naͤchſten Dorf, das er finden koͤnnte, zu reiten, die Pferde zu verkaufen, und ſich ein Grab - ſcheit, eine Axt, und einige andre Bauwerkzeuge, und etwas Nahrungsmittel zu kaufen. Waͤhrend, daß er weg war, zeichnete ich den Platz zu der Huͤtte aus, bog einige Tannenzweige zuſammen, daß ſie eine Art von Laube gaben, unter der wir uns zur Noth ſo lang aufhalten koͤnnten, bis die Huͤtte fertig waͤre. Er kam erſt ſpaͤt gegen Abend wieder, denn er hatte ſich erſt mit den Pferden kaum aus dem Wald finden koͤnnen, und den Ruͤckweg fand er faſt gar nicht mehr. Er ſagte mir, das naͤchſte Dorf liege zwo Stunden weit vom Walde; Er habe ſich auch von ferne nach dem Wald erkundigt, und erfahren, er ſey bayeriſch; aber es wage ſich nicht leicht ein Bauer tief hinein,P p p954weil man vor einigen Jahren einen Kerl, der ſich ſelbſt erhenkt hatte, darinn begraben habe, und da ſey nun die allgemeine Sage, er geh im Wald um, und thu den Leuten allerley Spuck an; wir koͤnn - ten alſo hier ganz ſicher wohnen. Er brachte einen Zwerchſack voll Brod und Kaͤſe, und allerley Bau - werkzeuge mit. Den andern Tag hauten wir ei - nige junge Tannen ab, ſchlugen davon vier Pfaͤhle in die Erde, gruben die Erde auf; flochten Waͤnde von ſchlankem Tannenreiß, verklebten ſie mit Leim, legten etlich Stangen quer uͤber die Huͤtte, mach - ten ein Dach von Tannenreiß, und waren in et - lich Tagen mit unſrer Wohnung fertig. Den Platz dort gruben wir zu einem Kohlgaͤrtchen um. Mein | Heinrich kaufte auf dem Dorf Samen, die ſehr gut gedeihten, ſo daß wir im Herbſt ſchon Kohl und Ruͤben und dergleichen hatten. Er brachte auch zwo Waldbruͤderkleidungen mit, fuͤr mich, und ihn. Jm Herbſt kaufte er die Obſt - baͤume, die du hier gepflanzet ſiehſt. Sie ſind nun bald zwoͤlf Jahr alt, und gedeihen, gottlob! gut. Wir richteten uns jeden Tag bequemer ein, ſaͤeten auch etwas Winterfrucht aus, ſo daß wir nun nicht mehr ſo oft etwas aus dem Dorf brauchten. Man erfuhrs in den umliegenden Doͤrfern bald,955 daß zwey Einſiedler hier im Walde wohnten. Die Bauren gaben meinem Heinrich haͤufig Almoſen; aber heraus in den Wald wagte ſich ſelbſt keiner, wegen der Sage vom erhenkten Kerl, die ſich da - durch noch mehr beſtaͤrkte, weil mein Heinrich die Liſt gebraucht hatte, etlichemal, ſowol bey Tag, als auch bey Nacht im Wald herumzulaufen, und erbaͤrmlich zu heulen, welches man fuͤr ein Gewin - ſel des erhenkten Kerls hielt. Hier leb ich nun ſeit ungefaͤhr zwoͤlf Jahren, ſo gluͤcklich als es ein Menſch bey meinem Gemuͤthszuſtand ſeyn kann. Anfangs hatt ich oft groſſe Beaͤngſtigungen. Bald ſah ich das Bild meiner ermordeten Mutter, und gerieth in Seelenaͤngſte; bald den Schatten meiner unvergeßlichen Geliebten. Zweymal war ich, eh ſie noch geſtorben war, und eh ich in den Wald kam, im Kloſtergarten geweſen, um ſie zu entſuͤh - ren; aber es war, als ob mich Gottes Hand zu - ruͤckgehalten haͤtte. Meine Stunden ſind hier zwi - ſchen Gebeth und Andachtsuͤbungen, und Thraͤnen bittrer Reue getheilt. Jch kaſteye meinen Leib, nicht als ob ich glaubte, Gott genug damit zu thun meine Suͤnden kann ich ſelber durch nichts abbuͤſſen ſondern weil ich weiß, daß ich nichts als Qual und Schmerzen auf der Welt ver -956 dienet habe. Jch habe doch noch mehr Freuden, als ich werth bin, denn meine That iſt fuͤrchterlich, ſo ſehr ich auch dazu gereizt war. Aber Gott weiß, wie ich jeden Tag und jede Nacht vor ihm in Thraͤnen liege, und ihm meine Schuld bekenne. Den Menſchen wuͤrd ich gerne dienen, wenn ich nur, ohne Gefahr, unter ihnen leben koͤnnte. Und mich ſelbſt als einen Moͤrder anzugeben, halt ich jezt auch nicht mehr fuͤr rathſam. Meiner ganzen Familie wuͤrd ich dadurch aufs neu einen unaus - ſprechlichen Schmerz verurſachen; hier hingegen ſchad ich keinem Menſchen nichts, und kann doch meine Seele taͤglich mehr auf die Ewigkeit bereiten. Jch kann keine Belohnung erwarten. Ach Gott! wenn ich nur um des Verſoͤhners willen, von den Strafen meines graͤulichen Verbrechens frey geſpro - chen werde! Jch glaube, daß es nicht mehr lange mit mir auf der Welt dauren wird, und daß ich bald meinem Heinrich nachfolgen werde. Sieben Jahre lang lebt ich mit der guten Seele. Jch war kaum hier etwas eingerichtet, ſo lag ich ihm Tag und Nacht recht herzlich, oft mit Thraͤ - nen an, ſein Gluͤck in der Welt zu ſuchen. Jch bot ihm alle mein Geld an, das mir ſchlechterdings ganz unnuͤtz war. Jch ſtellt ihm vor, daß er ja957 nichts verbrochen hab, und alſo meine Schuld nicht mit tragen koͤnnte. Aber alles war vergebens. Er wollte mit| mir leben und ſterben, und ſagte: daß er nun auch der Welt uͤberdruͤſſig ſey, wo ich ſoviel Hundsfuͤtter angetroffen habe, und er woll mir dienen. Jch warf ihm noch ein: ich brauche kei - nen Dienſt; mein kleines Plaͤtzchen koͤnn ich ſelbſt bebauen, und auch ſicher im Dorf gehen, wenn ich etwas noͤthig habe, weil mich da, beſonders wegen meines langen Barts, kein Menſch erkenne, wie ich denn auch wirklich einigemal mit ihm ins Dorf geweſen war. Erſt nach einem Jahr, da ich ihm beſtaͤndig angelegen hatte, ließ er ſich bewegen mich zu verlaſſen. Er nahm mit tauſend Thraͤnen von mir Abſchied; und ſagte, daß er blos mir zu Gefallen gehen wolle, weil ich ihn ſo ſehr darum bitte; er wiſſ aber, daß es mich gereuen werde. Von dem Geld nahm er, ungeachtet meines Drin - gens, nur die Haͤlfte mit. Er ſagte, es ſey ihm, als ob er in die Hoͤlle zuruͤckkehren ſollte. Er wiſſe nicht, wo er ſich hinwenden muͤſt, und werde mich gewiß oft beſuchen. Jch glaubte, er ſage dieſes alles nur um meinetwillen, um mich zu bewegen, ihn zu meiner Erleichterung bey mir zu behalten.

958

Es iſt wahr, es gieng mir nah, den guten Kerl zu verlieren. Anfangs war mir die gaͤnzliche Ein - ſamkeit faſt unertraͤglich. Nach und nach gewoͤhnt ich mich daran. Es war noch kein Vierteljahr ver - floſſen, da kam er eines Morgens zu mir. Herr, ſagte er, ich komme wieder; aber nicht nur auf einen Beſuch. Sie muͤſſen mich bey ſich behalten; Sie moͤgen nun wollen, oder nicht! Jch kanns in der vertrackten Welt nicht laͤnger aushalten. Das ſind mir Menſchen! Man kommt ſchlechterdings auf keinen gruͤnen Zweig, wenn man nicht ein Spitzbube werden will. Ueberall iſt nichts, als Lug und Trug. Man muß entweder ſich betruͤgen laſſen oder elbſt betruͤgen. Keins von beyden mag ich! Warum ſollt ich mich alle Tage halb zu Tod aͤrgern? Da hatt ich mir mit dem Geld, das Sie mir gege - ben hatten, eine Dorfſchenke gekauft. Fuͤrs erſte muſt ich ſchon weit mehr dafuͤr bezahlen, als ſie werth war, und dann hatt ich nichts, als taͤglich Aerger und Verdruß. Das Saufen und Laͤrmen nahm kein Ende; taͤglich muſt ich die aͤrgerlichſten Dinge mit anſehen, und mit anhoͤren. Beym Spiel ſah ich immer einen den andern betruͤgen; beym Trunk gabs nichts als Haͤndel; kurz, einer iſt immer gegen den andern. Da verkauft ich959 meine Wirthſchaft wieder an einen armen Schlucker, ders wol brauchen konnte, denn er hat nicht mehr als neun Kinder zu ernaͤhren; nahm meinen Wan - derſtab, und bin nun wieder hier. Mein Lebtag will ich nun nichts mehr mit Menſchen zu thun haben. Bey Jhnen iſt mir wohl, denn ich weiß, daß ſies ehrlich meynen; ob Jhnen gleich auch alles in der Welt ſchief ging. Jch nahm den guten Kerl mit Freuden wieder auf, denn ich konnt ihm nicht ganz Unrecht geben. Wir lebten im Frieden miteinander, bis ungefaͤhr vor fuͤnf Jahren; da bekam er ein hitziges Fieber, und ſtarb. Jch hab ihn hier begraben, und wir ſitzen hier auf ſeinem Grab. Jezt leb ich ſo mein Leben hier, bis es Gott gefallen wird, mich auch abzurufen.

Beyde ſchwiegen eine Zeitlang ſtill. Siegwart war ſehr bewegt. Endlich ſagte er, wenn ich mei - ne Mariane nicht mehr finde, und du nimmſt mich auf, ſo bring ich auch meine Lebenszeit bey dir zu. Jch bin noch jung, aber ich habe ſchon gnug in der Welt geduldet, und nach den vielen Stuͤrmen wird ſich mein Leib auch nicht lange mehr aufrecht erhalten.

Ferdinand ſagte, daß er ihn mit Freuden auf - nehmen werde. Er ſoll ſich aber wohl bedenken;960 er habe noch Verwandte, denen er Freude machen koͤnne, und koͤnn uͤberhaupt den Menſchen noch viel dienen, welches bey ihm der Fall nicht ſey. Jch muß friſches Waſſer holen. Willſt du mit mir. Sie giengen ohngefaͤhr 50 Schritte weit von der Huͤtte an einen etwas vertieften Ort, wo eine klare Quelle hervor ſtrudelte. Siegwart ließ ſich uͤber - reden, dieſen Tag noch bey dem Einſiedler zu blei - ben, um ſich von ſeiner Ermattung wieder zu er - holen. Ferdinand wieß ihm ſeine Einrichtungen, wie er im Sommer anbaue, wie er ſich im Win - ter fortbringe ꝛc. Sie ſprachen viel uͤber die Ver - haͤltniſſe in der Welt, daß ſie gewoͤhnlich den Men - ſchen mehr ungluͤcklich, als gluͤcklich machen, beſon - ders uͤber Stand und Vermoͤgen. Ferdinand gab ihm allerley gute Lehren, wegen Marianens, wenn er ſie wieder finden ſollte, und ſo brach unvermerkt der Abend an.

Sie ſaſſen auf der Raſenbank, als ſie ploͤtzlich ein Geraͤuſch in der Naͤhe hoͤrten, und einen Reuter heran ſprengen ſahen, welches Marx war. Sind Sie da? rief er; nun Gottlob! und eilends ritt er weg. Der Einſiedler ſah unſern Siegwart voll Er - ſtaunen an. Sey unbeſorgt! ſagte dieſer. Der Kerl iſt meines Schwagers Bedienter. Vermuth -961 muthlich ſoll er mich aufſuchen. Aber warum er ſo ploͤtz - lich wieder weggeritten iſt? kann ich nicht begreifen. Jndem kam Marx wieder mit ſeinem Herrn, Kronhelm, der auch zu Pferd war. Kronhelm ſprang von ſeinem Pferd, und umarmte Siegwart ſtillſchweigend. Was treibſt du? fing er endlich an. Jch ſuche dich ſeit zwey Tagen im Land herum, bis man mir von einem Einſiedler ſagte, bey dem du vielleicht waͤreſt. Ja, haͤtt ich den Bauer nicht angetroffen, ſagte Marx, der mir Beſcheid geſagt hat, wir ritten noch im Nebel herum. Kronhelm gruͤſte nun erſt den Einſtedler, und ließ ſich von ſeinem Schwager erzaͤhlen, wie’s ihm gegan - gen ſey, und wie er ſich verirrt habe. Das beſte iſt, ſagte endlich Kronhelm, wir reiten jezt gleich aufs naͤchſte Dorf, um da zu uͤbernachten. Sieg - wart wollte Schwierigkeiten machen, aber Kron - helm nahms nicht an. Marx muſte von ſeinem Pferd ſteigen, und Siegwart ſetzte ſich darauf. Er ging mit dem Einſiedler voran, und wies den Weg aus dem Holz. Als ſie an den Ausgang des Waldes ka - men, nahm der Einſiedler Abſchied. Siegwart ſprang vom Pferd, kuͤßte und druͤckte ſeinen lieben Ferdinand mit tauſend Thraͤnen, und verſprach ihm noch einmal, zu ihm in ſeine Einſiedeley zu962 kommen, wenn er ſeine Mariane nicht mehr finde. Drauf ritt er mit ſeinem Kronhelm weiter, und ruͤhmte ihm die Freundſchaft, die der Einſiedler fuͤr ihn gehabt haͤtte; er erzaͤhlte ihm auch ſoviel von ſeiner Geſchichte, als er glaubte, daß ihm, nach ſeinem gethanen Verſprechen der Verſchwiegenheit, erlaubt waͤre. Auf dem naͤchſten Dorf lieſſen ſie ſich in der Schenke in das obre Zimmer fuͤhren, um allein zu ſeyn. Kronhelm erzaͤhlte ſeinem Schwa - ger, er hab ihn in Jngolſtadt abholen wollen, und als er nichts von ihm hab erfahren koͤnnen, ſey er auf Gerathewohl auf den Doͤrfern herumgeritten, bis er bey dem Bauren Kaspar naͤhere Nachricht von ihm erfahren habe. Dieſe Nachricht hab ihn ſeinetwegen ſehr beſorgt gemacht, und nun ſey er froh, daß er ihn endlich ausgekundſchaftet habe. Er hoffe nun, daß er mit ihm auf ſein Schloß kommen werde, um ſich da, ſoviel als moͤglich, wie - der aufzuheitern, und von ſeinen ſchweren Wider - waͤrtigkeiten zu erholen. Siegwart ſagte: das gehe ſchlechterdings nicht an. Er ſey auf der Spur, den Ort zu entdecken, wo ſeine Mariane hingebracht worden ſey; dieſer muͤſſ er nachgehen, und koͤnne nicht eher ruhen, als bis er mit ſeinem Maͤdchen wieder vereinigt ſey. Kronhelm ſtellte ihm vor:963 Was er machen wolle, wenn er auch das Kloſter, wo ſeine Mariane eingeſperrt ſey, erfahre? Er werde ſich durch ſeine Nachforſchungen verdaͤchtig machen, und dadurch, wenn es auch noch moͤg - lich waͤre, ſie aus dem Kloſter zu entfuͤhren, ſich ſelbſt den Weg dazu verſperren; es ſey weit beſſer, wenn Marx, auf den kein Menſch Achtung geben werde, ſich unter der Hand nach ihr erkundige, und es ihnen mittheile, wenn er etwas erfahren koͤnne. Dann ſey es erſt Zeit, Maasregeln zu nehmen, wie man Marianen retten koͤnne, u. ſ. w. Siegwart ließ ſich dieſen Vorſchlag endlich nach langer Zeit gefallen.

Kronhelm ſuchte ſeinem Freund, der ſich nun uͤber ſein Schickſal zu beklagen anfieng, ſoviel Muth und Troſt einzuſprechen, als moͤglich. Er ließ hierauf ſeinen Marx aufs Zimmer kommen, und trug ihm die Nachforſchung nach dem Wa - gen und Marianens Aufenthalt auf. Siegwart beſchrieb ihm das Dorf, wo er das letztemal von dem Wagen Nachricht erhalten hatte, und welches zur Linken des Walds lag, aufs genaueſte, und bat ihn aufs beweglichſte, ſich die Sache recht ange - legen ſeyn zu laſſen. Marx, der durch ſeine Bitten ſelbſt im innerſten geruͤhrt war, verſprach alle moͤg -964 liche Behutſamkeit und Sorgfalt. Hierauf giengen Siegwart und Kronhelm zu Bette, um ſich den andern Morgen fruͤhzeitig auf den Weg machen zu koͤnnen.

Mit Aufgang der Sonne ritten ſie weg; Marx nahm ſeinen Weg nach dem beſchriebenen Dorf, und verſprach nochmals die ſorgfaͤltigſte und ſchleunigſte Beſorgung ſeines Auftrags. Siegwart beſchrieb nun ſeinem Schwager die ſchreckliche Unruhe, in der er bisher geſchwebt hatte; erzaͤhlte ihm weitlaͤuftiger, aus Marianens Brief, die Begegnung, die ſie von ihrem Vater hatte ausſtehen muͤſſen; und die Geſchichte des Einſiedlers Ferdinand, von der er wußte, daß fein Schwager ſie keinem Menſchen entdecken wer - de. Auch fragte er ſeinen Kronhelm um Rath, was er anzufangen haͤtte, wenn er den Aufenthalt Ma - rianens auskundſchaften koͤnnte? Kronhelm ſagte: Zeit und Umſtaͤnde koͤnnten hier allein die beſten Mittel an die Hand geben; inzwiſchen hoffte er, es dann ſo zu ordnen, daß man ſie aus dem Kloſter entfuͤhren koͤnnte, zumal, da ſie hoffentlich ſelber dazu ſehr geneigt ſeyn wuͤrde. Alsdann werd es das Beſte ſeyn, wenn er ſich mit ihr aus dem Lande fluͤchte, und dazu woll er mit Rath und That behuͤlflich ſeyn. Durch ſolche, und aͤhn -965 liche Traͤume und Entwuͤrfe wußte er das unruhi - ge Gemuͤth ſeines Freundes etwas in Schlummer zu wiegen, ſo daß dieſer uͤber den Traͤumen ſeine Leiden groͤſtentheils vergaß, und in einer Art von ſuͤſſem Taumel fortritt, bis ſie endlich Abends in der Daͤmmerung zu Steinfeld ankamen.

Thereſe kam ihnen eine Stunde vor dem Schloß in ihrem Wagen entgegen. Sie hatte ſchon zwey Tage umſonſt auf ihren Kronhelm gewartet, und die ſchrecklichſten Beaͤngſtigungen ausgeſtanden. Sie ſprang aus dem Wagen, als ſie ihren Mann wieder ſah, und fiel faſt vor Freuden in Ohn - macht. Nach dieſem ſah ſie erſt ihren Bruder, und umarmte ihn. Der Bediente, der auf dem Wagen ſtand, mußte die beyden Pferde nach Haus bringen, und Siegwart und Kronhelm ſetzten ſich zu Thereſe in den Wagen. Mit der Einen Hand hielt ſie ihres Mannes, und mit der andern ihres Bruders Hand, und zitterte vor Freuden, beyde wieder zu haben. Das erſte, was ſie nun nach ihrer Beſtuͤrzung fragen konnte, war nach den Um - ſtaͤnden ihres Bruders. Sie ward durch das traurige Gemaͤlde, das er davon machte, ſehr nie - dergeſchlagen und traurig. Doch ſuchte ſie ihm Muth und Hoffnung einzufloͤſſen, und war in ih -966 rer Bemuͤhung nicht ganz ungluͤcklich. Ein Ungluͤck - licher hofft gern, und hoͤrt nichts lieber als Traͤu - me von Gluͤckſeligkeit, die ihm andre beybringen.

Auf dem Schloß entſtand eine groſſe Freude, als Kronhelm wieder kam. Alle Dienſtbothen drangen ſich hinzu, den Bruder ihrer gnaͤdigen Frau, die ſie ſo ſehr liebten, zu ſehen. Fraͤulein Sibylle, Kronhelms Schweſter, kam auch mit Salome, und bewillkommte ihn. Salome hatte ſich in vielen Stuͤcken geaͤndert, und that jetzt weit zaͤrtlicher gegen ihren Bruder, als ehemals. Sie ſaſſen noch ein paar Stunden beyſammen, und gien - gen dann, weil Kronhelm und Siegwart von der Reiſe etwas muͤde waren, fruͤhzeitig zu Bette.

Siegwart traͤumte dießmal von ſeiner Maria - ne. Er ſah ſie in einem langen Schleyer zu ihm kommen. Sie ſprach nichts; ihr Geſicht war blaß; ſie legte ihre kalte Hand auf ſeine Schulter, gieng dann weg, und winkte ihm, ihr zu folgen. Er folgte ihr durch einen langen duͤſtern Gang, bis an die Thuͤr, zu einem Gottesacker, wo ſie in ein offnes Grab ſank, das ſich uͤber ihr ſchnell zuthat. Er ſtand auf dem Grab, jammerte mit emporge - hobnen Haͤnden, und wachte ſo, von der heftigen Bewegung, auf. Er war in der aͤuſſerſten Be -967 ſtuͤrzung; das Bild wollte nicht aus ſeiner Seele zuruͤckweichen, und ſobald er ſeinen Schwager und ſeine Schweſter ſah, erzaͤhlte er es ihnen. Dieſe gaben ſich alle Muͤhe, ihm die traurige Vorſtellung aus dem Herzen zu verbannen, und ihn zu uͤber - zeugen, wie wenig man auf einen Traum gehen muͤſſe, da ſich dieſer gewoͤhnlich nach der vorher - gegangenen Lage des Gemuͤthes bilde. Er vergaß den Traum zwar etwas, aber nur, ſolang er in Geſellſchaft war; in der Einſamkeit ſtand er im - mer wieder lebhaft vor ihm da, und verfolgte ihn mit ſeinen Schrecken. Sein Schwager und ſeine Schweſter gaben ſich alle moͤgliche Muͤhe, ihn zu zerſtreuen, und nur in etwas aufzuheitern. Sie wieſen ihm ihr Schloß, wo alles neu, und ſehr bequem eingerichtet war, ohne ins Praͤchtige zu verfallen. Sie fuͤhrten ihn in den Garten, wo ſie alles umgraben, erweitern, und mit einem Geſchmack hatten anlegen laſſen, der der Natur ſoviel, als moͤglich, nahe kam. Siegwart, dieſer ſonſt ſo eifrige Freund der Natur, ſah alles mit einer kalten und erzwungenen Bewunderung an, ſo wie ein Kranker die Speiſen anſieht, die er ehmals in geſunden Tagen ſehr geliebt hatte, und nun nicht genieſſen kann. Oft zwang er ſich, ſeinen968 Freunden zu Gefallen, munter zu thun; aber man ſah allen ſeinen Handlungen den Zwang an. Am liebſten ſprach er von ſeiner Mariane, ob ihm dieſes gleich ſo traurig war, und ihn tauſend Thraͤnen koſtete. Wenn ſich davon das Geſpraͤch anfieng, ſo konnt er gar nicht aufhoͤren. Es war ihm immer noch zu kurz, wenn es auch ſchon gan - ze Stunden gedauert hatte. Seine einzige Hoff - nung gruͤndete ſich jetzt auf Marxens Nachſuchun - gen. Er ſah ganze Stunden lang aus dem Fen - ſter, ob er ihn nicht kommen ſehe. Er machte es im Geſpraͤch immer zweifelhaft, ob er etwas von Marianen erfahren werde? um nur ſeine Zweifel und Einwuͤrfe widerlegt zu ſehen. Bald war er wehmuͤthig, bald verdruͤßlich und ungeduldig; bald pries er das Einſiedlerleben als das gluͤcklichſte auf Erden, und ſagte, daß er bald wieder zu ſeinem Einſiedler in den Wald zuruͤckkehren werde.

Thereſe und ſein Schwager betruͤbten ſich daruͤber ſehr, und ſannen tauſend Mittel aus, ſei - ne Gedanken etwas zu zerſtreuen, und ihm heiterere beyzubringen. Sie giengen oder fuhren taͤglich mit ihm ſpatzieren; er gab ſich Muͤhe, munter zu ſcheinen, aber ein unvermutheter Seufzer verrieth ihnen bald wieder den Gram, der an ſeinem Her -969 zen nagte. Sie fanden, daß man fuͤr ihn nichts angenehmers thun, als von Marianen mit ihm ſprechen, und ihn allein durch Hofnungen aufrichten koͤnne. Allein ſie ſahen auch ein, wie gefaͤhrlich ihm dieſes werden koͤnne, wenn die Hof - nungen, wie nur gar zu wahrſcheinlich zu vermu - then war, fehlſchlagen ſollten. Daher zitterten ſie auch vor Marxens Zuruͤckkunft, weil ſie, faſt mit Zuverſicht, beſorgten, ſeine Nachſuchungen moͤchten fruchtlos abgelaufen ſeyn!

Endlich kam Marx nach ſechs Tagen wieder, ohne daß ihn Siegwart wahrnahm; denn Kron - helm hatte allen Hausbedienten befohlen, wenn Marx kaͤme, ſollte man ihn ſogleich in das untere Zimmer im Hof fuͤhren, ohne jemanden, auſſer ihm, etwas davon zu ſagen. Marx zitterte, als Kronhelm zu ihm kam, und ſagte: er habe ſich kaum getraut, wieder zu kommen, weil er in ſei - nen Nachſuchungen nicht gluͤcklich geweſen ſey. Er habe nur auf Einem Dorf etwas von dem Wagen erfahren, und da ſey er Nachts um eilf Uhr durch gekommen. Vermuthlich ſey er um Mitternacht, da die Bauren ſchliefen, durch die andern Doͤrfer gefahren. Jn einem Bezirk von acht StundenQ q q970ſeyen wenigſtens vier Nonnenkloſter. Jn keines davon duͤrf eine Mannsperſon kommen, alſo hab er, ohngeachtet aller Muͤhe, nicht das mindeſte erfahren koͤnnen, ob in einem von den Kloͤſtern ein junges Frauenzimmer angekommen ſey. Einmal hab er ſchon geglaubt auf der Spur zu ſeyn; aber am Ende hab es ſich gezeigt, daß das angekomme - ne Frauenzimmer ſchon eingekleidet, und eine Non - ne aus einem benachbarten Kloſter geweſen ſey.

Kronhelm richtete ſeinen Bedienten ab, was er ſagen ſollte. Nemlich: Er habe zwar nichts ge - wiſſes von Marianen erfahren koͤnnen; aber doch ſey ſie wahrſcheinlich in einem Kloſter, das er ihm nannte. Er hoffe in etlich Wochen Gewißheit davon zu erlangen, denn er habe ein paar Spio - nen beſtellt, die ihm von Zeit zu Zeit Nachricht geben wuͤrden.

Durch dieſe Nachricht ward Siegwart zwar in etwas beruhigt; aber doch konnte ſich ſein Gemuͤth nicht damit beruhigen. Es ſtiegen ihm immer Zweifel auf, und taͤglich erkundigte er ſich bey Marx, was er fuͤr neue Nachrichten erhalten habe? Dieſer ſagte ihm, was ihm Kronhelm eingegeben hatte, nemlich weitausſehende Hofnungen, und halbe Aufklaͤrungen, die er aber ſo aͤngſtlich und971 ſo ungeſchickt vorbrachte, daß jeder andrer, der we - niger gehofft haͤtte, als Siegwart, die Liſt haͤtte einſehen muͤſſen.

Er wurde von Kronhelm faſt taͤglich ſpatzieren gefuͤhrt, damit er Abwechslung und Zerſtreuung haben moͤchte. Sie beſuchten jetzt oft zu Pferd die benachbarten Landedelleute, weil Thereſe, wegen ihrer herannahenden Niederkunft ſelten mehr mit - fuhr. Herr von Rothfels, (ſo hieß der junge Edel - mann, von dem ihm Kronhelm geſchrieben hatte, daß er ſeine Schweſter Sibylle heyrathen wuͤrde,) kam ſehr oft nach Steinfeld, und blieb manches - mal zwey bis drey Tage da; oft beſuchten ſie ihn auch auf ſeinem Schloß. Er war ein angenehmer junger Mann, der in Wien, wo er ſtudiert hatte, ſich viel gelehrte und noch mehr Welt - kenntniſſe geſammelt hatte. Er fuͤhlte viele Zu - neigung gegen Siegwart, und nahm an ſeinen traurigen Schickſalen vielen Antheil. Er wuͤrde auch Siegwarts Herz und Zutrauen ganz gewon - nen haben, wenn er minder heiter, oder wenn Siegwart in einer gluͤcklicheren Lage geweſen waͤre. Aber der junge Rothfels genoß bey Sibyllen das voͤllige Gluͤck der Liebe; daher war ſein Herz und ſein Blick immer munter; und ein froͤhliches Gemuͤth972 iſt nicht fuͤr ein ungluͤckliches geſchaffen. Der Un - gluͤckliche fuͤhlt den Abſtand zu ſehr; er will alles traurig um ſich her ſehen, und glaubt, daß ein Gluͤcklicher an ſeinem Kummer keinen, oder doch keinen voͤlligen Antheil nehmen koͤnne. Daher ſchließt er ſich nicht an, und theilt ſich nur dem mit, der gleiche Leiden mit ihm hat. Rothfels ſah dieſes, und hielt es bey Siegwart fuͤr Ab - neigung von ihm; daher vermied er es, viel mit ihm allein zu ſeyn, und ihre Seelen kamen ſich, durch dieſen Misverſtand, nie ganz nahe.

Eines Tages ſaß Siegwart allein und ſchwer - muͤthig in einer Laube im Garten, wo Marx eben die Blumen begoß. Siegwart rief ihm; Marx, hat er denn noch keine Nachricht von dem Frauenzimmer? Nein, junger Herr! Red er einmal aufrichtig mit mir! Glaubt er wohl, daß ich bald etwas gewiſſes erfahren werde? Hin - tergeh er mich nicht! Es iſt mir alles an der Sa - che gelegen; ich muß ſie zuverlaͤßig wiſſen! Marx fieng an zu weinen, und ihm langſam naͤher zu treten. Ach, junger Herr! Es mag nun gehen, wie es will, ich kanns ſo nicht laͤnger aus - halten; es muß heraus! Jch weis gar nichts von der Jungfer; man kann in der ganzen Gegend973 keine Nachricht von ihr geben. Jch weis nicht, iſt ſie todt, oder Aber werden Sie nur nicht boͤſe! Lieber Gott, ich mußte ja ſo ſagen Geh nur, ſagte Siegwart, ich will nichts weiter wiſſen! Er legte ſich mit dem Kopf zwiſchen ſeine Haͤnde auf den Tiſch, und fieng an zu weinen. Weis man nichts von ihr? Jſt ſie todt, oder Gott, ach Gott! Warum bin ich doch nicht auch todt? Warum muß ich mich denn ewig leiden? So jammerte er fort, bis Kronhelm, ohne daß ers merkte, in die Laube trat. Was fehlt dir, Bru - der? fieng er endlich an. Siegwart fuhr auf, ſah ſeinen Schwager eine Zeitlang ſtarr an; weiſt du ſchon, daß alles nichts iſt? daß ſie und ich ver - lohren iſt? Wer denn, Bruder? Mariane! Wer denn? Es iſt alles nichts! Alles erdichtet und erlogen! Wer weis, wo ſie iſt! Vielleicht todt! Vielleicht O, ich halts nicht laͤnger aus! Jch muß aus der Welt! Heut noch, oder morgen! Jn die Einſiedeley! Da ſoll mich keine lebendige Seele mehr zuruͤckhalten! Jhr meynts nicht ehrlich, daß ihr mich ſo hintergeht; daß ihr mir nicht ſagt: Pack dich aus der Welt! Kronhelm hatte viele Muͤhe, ihn nur etwas zu beſaͤnftigen, und ihm begreiflich zu machen, daß ſie zu ſeiner Ruhe974 ſo hatten handeln muͤſſen. Siegwart ſagte, das ſey ſchon recht; er glaub es auch; aber er wolle nun in die Einſiedeley, und man ſollt ihn nicht laͤnger mehr zuruͤckhalten! Kronhelm geſtand ihm jetzt, um ihn nur ein wenig zu beruhigen, alles zu; bat ihn aber, wenigſtens noch acht Tage bey ihm zu bleiben, welches endlich Siegwart zuge - ſtand.

Er gieng auf ſein Zimmer, weinte bitterlich, und ſchrieb endlich folgendes, an Marianen, nieder:

O du, biſt du noch auf Erden? Duldeſt du noch unterm Joch des Lebens? Schmachtet deine Seele noch in ihrer Huͤlle? Oder biſt du, Engel Gottes, aufgeflogen in die Wohnſtatt der Erwaͤhl - ten? Trinkſt du ſchon die Sonne, die nicht unter - geht und keine Thraͤnen ſieht? Sind ſie abge - trocknet dir von Engeln, und haſt du vergeſſen aller Seufzer, die die Menſchheit druͤcken? O du, ſag, wie nenn ich dich, du Theure, du Ge - liebte, deren Seele mein war! Schwebt dein Geiſt um mich im Lichtgewande? Hoͤrſt du meine Seufzer? Truͤbt ein Woͤlkchen deinen Sonnen - ſchimmer? O ſo rauſch mit deinen Fluͤgeln, daß ichs hoͤre, und mich freue, daß dein Schmerz im Grab liegt, daß ich hingeh auf dein Grab, und975 ſterbe! Oder ſchmachtet deine Seele noch in ihren Banden; iſt der Kerker des Lebens noch nicht durchgebrochen; o ſo bring ein Engel dir die Seuf - zer, und den Hauch der Liebe, den ich hier aufs Blatt hin hauche!

Engel, oder Menſch, ich gruͤſſe dich, umarme dich mit meiner Seele. Ach, wir leiden viel, Ge - liebte! Doch mir waͤre wohl, wenn du nur uͤberwunden haͤtteſt! Wiß! ich habe dich geſucht mit Thraͤnen, und dich nicht gefunden! Wiß! ich rannte Waͤlder durch, und lechzete vor Ohnmacht, und ich hab dich nicht gefunden! Ach, ich glaubte dich zu finden, aber eine Wolke barg dich meinen Augen. Nun iſt meine Seele truͤb, und wuͤnſcht zu ſterben.

Jch hab eine Ruheſtatt gefunden, fern von Men - ſchen. Dicke Waͤlder haben ſie umzaͤunt, daß kein ſtorblich Auge durchdringt. Neid und Stolz und Bosheit haben dieſe Staͤtte nie betreten. Nur ein Grab iſt da, und eine Huͤtte, und ein Leidender. Auf dem Grabe hab ich juͤngſt geſeſſen, und der Leidende hat mich umarmt, und iſt mein Bruder. Er wuͤnſcht auch zu ſterben. Und nun will ich hin - gehn, und mit ihm vom Tode reden, und dann ſoll er mich begraben, und das Grab nicht ſchlieſ -976 ſen, denn am Throne des Allmaͤchtigen will ich fuͤr ihn bethen, daß er bald zu mir hinunterſinke, und vergeſſe ſeiner Leiden!

O Geliebte, wenn du ſchon entflohen biſt der Erde, ſo ſteig nieder auf den Abendwolken, wenn der Wind durch meine Tannenwipfel ſaͤuſelt; oder wenn der Mond durch ſie herabſcheint, und der Wind ſchweigt; ſteig hernieder, um mir Troſt und Ahndung meines nahen Todes zuzuliſpeln; um mein Herz zu unterſtuͤtzen, bis ich ausgerun - gen habe, daß die Seele, wenn ſie ſcheidet, dir entgegen eile, und in deinem Arm zuerſt des Him - mels Seligkeit empfinde! Oder wenn du noch im Thal der Thraͤnen weineſt; und ich lieg und ruh im Grabe, o ſo fuͤhre dich dein Engel an die Staͤtte, wo mein Grab iſt, daß du weineſt, und dann ſterbeſt! Wenig Tage bleib ich noch bey meinen Freunden. Ach, ſie leiden viel um meinetwillen, und ſie ſollten gluͤcklich ſeyn. Jch will ſie verlaſſen, daß ihr Thraͤnenquell verſiege, daß mein Gram nicht ihre Freuden ſtoͤre! Denn die Liebe hat, was ſie ſo ſelten thut, mit ihren Freuden ſie geſegnet. Meine Thraͤnen ſollen ihren Kranz von Freuden nicht benetzen; darum eil ich in den Wald und ſterbe.

977

Kronhelm kam dazu, als er dieſes ausgeſchrie - ben hatte. Hier, Geliebter, ſagte Siegwart, wenn noch Mariane leben ſollte, und du einſt von ihr erfuͤhreſt, gib ihr dieſes Blatt! Sie wird es kuͤſ - ſen, und drauf weinen, und das Blatt durch ihre Thraͤnen heiligen. Kronhelm las das Blatt, und ward ſehr dabey bewegt. Er ſah wohl, daß die Seele ſeines Schwagers rief gebeugt, und ſchwer zu heilen ſey. Daher wag - te er es auch nicht, ihm Troſt einzuſprechen, und ihm von ſeinem Vorhaben, in die Einſiedeley zu gehen, abzurathen. Vielleicht, dachte er, in den acht Tagen, die er noch zu bleiben verſprochen hatte, ein Mittel ausfindig zu machen, ihn zu - ruͤck zu halten, und ſeine duͤſtre Schwermuth et - was zu zerſtreuen.

Ein paar Tage drauf fand er, in Thereſens Gegenwart, Gelegenheit, von der Sache wieder anzufangen. Er drang ſehr in ihn, wenn er doch ja ſich von der Welt abſondern wolle, lie - ber, ſeinem erſten Vorſatz zufolge, in ein Kloſter, als in eine Einſiedeley zu gehen, weil er doch als Moͤnch der Welt noch mehr nutzen koͤnne, als wenn er ein Einſiedler werde. Er rieth ihm dieſes hauptſaͤchlich um ſeiner Geſundheit willen,978 und weil er hoffte, ſein Schwager wuͤrde vielleicht in dem Probjahr am Kloſter genug kriegen, und gern wieder in die Welt zuruͤck kehren. Er wu - ſte dieſes, von den Bitten ſeiner Frau unter - ſtuͤtzt, ſo annehmlich vorzutragen, daß Siegwart endlich in dieſen Vorſchlag willigte. Kronhelm wollte ihn auch uͤberreden, in ein benachbartes Auguſtiner Kloſter zu gehen, theils, weil das Klo - ſter ſeinem Schloß ſo nahe lag, theils weil die Regel dieſes Ordens minder ſtreng iſt, aber Sieg - wart wollte ſchlechterdings in das Kapuzinerklo - ſter zu *** treten; und hierinn muſte ihm ſein Schwager nachgeben, und ihm auch verſprechen, naͤchſtertagen ſeinetwegen an den dortigen Guar - dian zu ſchreiben.

Allein er ward durch eine ungluͤckliche Begeben - heit daran verhindert. Seine Thereſe ſollte nieder - kommen, und die Geburt war ſo ſchwer, daß ſie in die aͤuſſerſte Lebensgefahr dabey kam. Das Kind, ein Knaͤblein, war gebohren; aber zween geſchick - te Aerzte, die herbey gerufen waren, zweifelten am Aufkommen der Mutter. Der arme Kron - helm gieng verzweifelnd und halb todt im Schloß herum, rang die Haͤnde, und wuſte nicht, wo er bleiben ſollte? Das ganze Schloß war ein Haus979 des Jammers. Siegwart kam faſt nie vom Bet - te ſeiner Schweſter, und zerfloß in Thraͤnen. Die Dienſtbothen ſahen alle blaß aus, wie der Tod, wein - ten in allen Ecken, und wagtens kaum, laut zu ſprechen, oder ſich um das Beſinden ihrer beſten Frau zu fragen, weil jeder fuͤrchtete, die Todes - poſt zu hoͤren. Kronhelm wollte nicht vom Bette weggehen; als er aber einmal uͤbers andre ohn - maͤchtig wurde, ſo brachte man ihn endlich, auf den Rath der Aerzte, in einer Ohnmacht auf ſein Zimmer, und bat unſern Siegwart, ihn zuruͤck zu halten, nicht wieder vors Krankenbette zu kom - men, weil ſein Aechzen ſeine ohnedies ſchon ge - nug geſchwaͤchte Frau noch mehr entkraͤftete.

Thereſe lag, mit himmliſcher Gelaſſenheit, das Geſicht ſchon faſt mit Todesſchweiß bedeckt, auf ihrem Bette; ſah bald mit halbgebrochnen Augen gen Himmel, bald ſuchte ſie mit aͤngſtlicher und liebvoller Sorgfalt ihren Kronhelm, haͤtt ihm gern gerufen, wenn ihr die Stimme nicht entgangen waͤre; dann weinte ſie, daß ſie umſonſt ihn ſuchte. Sie verlangte durch einen Wink ihr Kind, ſchloß es mit ſchwachen Haͤnden an ihr muͤtterliches Herz, kuͤßte es, und ſah gen Himmel, als ob ſie ihren Liebling in die Haͤnde des Allmaͤchtigen empfoͤhle. 980Drauf ſah den ſie Arzt bittend an, und winkte mit den Haͤnden, vermuthlich, daß man ihren Kron - helm ſuchen ſollte. Der Arzt ließ Siegwart rufen. Er kam zitternd, leiſe und todtbleich ans Bette, nahm ihre Hand, und wandte das Geſicht weg. Der Schmerz uͤberwaͤltigte ihn, daß er laut ſchluchzte; Er wollte ſich losreiſſen; Sie klammerte ſich aber mit der Hand feſt in die ſeinige, und ließ ihn nicht los. Er ſah ſie an; mit unausſprechlicher Weh - muth blickte ſie ihn an; aus dem halbgeſchloſſenen Auge drang eine Thraͤne; der Mund oͤffnete ſich, und man konnt es ſehen, daß ſie ſagen wollte: Kronhelm!

Siegwart riß ſich mit Gewalt los, ſprang weg, und hohlte ſeinen Kronhelm. Sie ſah ihn an, laͤchelte ihm zu, und indem floſſen wieder Thraͤnen aus dem Auge. Kronhelm ſtuͤrzte ſich halb ohn - maͤchtig uͤber ſie hin, ſchrie und ſchluchzte laut, be - deckte ihr Geſicht mit Thraͤnen und Kuͤſſen, und ward ſo, in ihren Armen, ohnmaͤchtig. Man brachte ihn ſinnlos weg.

Sie befand ſich ſehr entkraͤftet. Der Artzt ver - bot, jemand wieder vor ſie zu laſſen. Kronhelm ſchickte alle Augenblicke einen Bothen nach ihr; dieſer kam immer nur mit Achſelzucken wieder. 981Der Geiſtliche kam, und gab ihr die letzte Oelung. Kronhelm und Siegwart beweinten ſie als todt, und waren troſtlos. Die ganze Nacht floß ihnen ſchrecklich hin. Kronhelm verwuͤnſchte ſich, und ſein Geſchick, und das Kind, das ihm ſein Liebſtes raubte. Thereſe hatte die Nacht uͤber ein paar Stunden Schlaf, und befand ſich am Morgen ein klein wenig beſſer; die Aerzte verboten aber, ih - ren Mann zu ihr zu laſſen, weil ſie eine zu heftige Gemuͤthsbewegung fuͤr ſie fuͤrchteten. Sie konnte nun zuerſt wieder etwas ſtaͤrkende Bruͤhe zu ſich nehmen. Jhrem Manne ward etwas wenig Hoff - nung gemacht; man ließ ihn aber nicht zu ihr. Auf ſein anhaltendes Bitten lieſſen ihn endlich die Aerzte in ihr Zimmer, als ſie eben in einem klei - nen Schlummer lag. Man konnte ihn bey ihrem Anblick kaum zuruͤck halten, daß er nicht vor Freu - den laut aufſchrie, und uͤber ſie hin fiel, und ſie kuͤßte. Als ſie wieder aufwachte, ließ man ihren Bruder zu ihr kommen. Jhr erſtes Wort war: Was macht mein Kronhelm? Er iſt wohl, war die Antwort, und hofft auf deine Geneſung. Gott geb es! ſagte ſie. Jch befinde mich um ein Gutes beſſer. Sprich ihm Muth, und Vertrauen982 ein, und gib ihm dieſen Kuß in meinem Namen, wenn ich ihn nicht ſelber kuͤſſen darf!

Die Aerzte bekamen nun immer beſſre Hoffnung; aber Kronhelm durfte ſie noch nicht anders ſehn, als ſchlaſend. Einmal wachte ſie auf, als er noch vor ihr ſtand. Sie ſtreckte ſtillſchweigend ihren Arm nach ihm aus; er ſank darein. Beyde konn - ten vor zaͤrtlichem Entzuͤcken nichts thun, als wei - nen. Jhre Kraͤfte nahmen nun ſichtbar wieder zu. Kronhelm und Siegwart kamen nicht von ihrem Bette. Siegwart freute ſich von ganzem Herzen uͤber ihre Geneſung; aber dem ohngeachtet nahm doch ſeine Schwermuth, und ſeine Abneigung von der Welt mit jedem Tage mehr zu. Schreib doch bald ins Kloſter! ſagte er einmal zu Kron - helm, als ſie beyde vor Thereſens Bette ſaſſen. Die Welt wird mir taͤglich mehr zum Ekel; ich ſehe, daß ſie nichts als ein Sammelplatz von Noth und Elend, und ununterbrochner trauriger Abwechſelung und Unbeſtaͤndigkeit iſt. Du haͤltſt dich jetzt wieder fuͤr gluͤcklich, Kronhelm, du haſt keinen Wunſch mehr uͤbrig, als die voͤllige Gene - ſung meiner theuren Schweſter. Armer Mann! Warſt du nicht noch vor zehn Tagen der al - lerunſeligſte unter allen Menſchen; und vier Tage983 vorher der allerſeligſte? Siehſt du nicht, daß, je naͤher man dem Gluͤck zu ſeyn ſcheint, deſto naͤher iſt man dem unabſehlichſten Elend. Aber, lieben Freunde, ich will jetzt euren ſuͤſſen Traum nicht ſtoͤren. Jhr ſeyd gluͤcklich; ihr druͤckt euch jetzt mit unausſprechlicher, vorher nie gefuͤhlter Wolluſt ans Herz. Jhr glaubt jetzt im Himmel zu ſeyn. Moͤchte dieſer Himmel ewig waͤhren, wie der, dem ſich meine ganze Seele zuſehnt! Laßt nur mir meinen Jammer! Laßt mich eilen, und mich ihn in meiner Einſamkeit auswetnen, wo ich kein le - bendiges und gluͤckliches Geſchoͤpf ſtoͤre. Jch ſe - he, dieſe Welt iſt nicht fuͤr mich: oder ich bin nicht fuͤr ſie. Jch kann nicht gluͤcklich werden; aber ich will auch keinen ungluͤcklich machen! Wenn ich heute Marianens Hand bekaͤme wenn der Engel nicht ſchon ausgerungen hat wenn ſie heu - te ganz mein wuͤrde; morgen waͤre ſie mir gewiß wieder entriſſen. Laßt ſie mir auch viele Wochen! Wer buͤrgt mir fuͤr eine Krankheit, wie die war, die dich, meine theureſte Thereſe, bald den Armen meines liebſten Kronhelms entriſſen haͤtte? Ach, ich kann, ich kann nicht gluͤcklich werden! Laßt mich in mein Kloſter, daß ich meine Lebenszeit verweine! Wenn ich mich ermannen kann, komm984 ich zu euch, und beſuch euch. Laßt mich in mein Kloſter! Jch will fuͤr euch bethen!

Kronhelm und Thereſe weinten, und konnten ihn nicht troͤſten. Ja, du ſollſt ins Kloſter! ſagte Kronhelm; morgen will ich dahin ſchreiben. Armer Freund, wir koͤnnen nichts, als dich be - dauren. Kronhelm ſchrieb auch wirklich den fol - genden Tag an den Guardian, und ſchickte den Brief weg.

Thereſe erholte ſich nun taͤglich mehr, und konnte ſchon zuweilen ſich ein paar Stunden auſ - ſerhalb dem Bett aufhalten. Sie und ihr Kron - helm empfanden nun das Gluͤck der Zaͤrtlichkeit zehnſach mehr, als vorher, ehe das Ungluͤck der Trennung ſie bedrohet hatte. Es war ihnen, als ob ihre Liebe ſich nun erſt recht anfinge, und alles vorherige Gluͤck war in ihren Augen nur ein Traum.

Einen Abend ſaſſen ſie beyſammen, und Herr von Rothfels kam dazu. Siegwart fieng vom Kloſter zu reden an, daß die Antwort ſich ſo lang verzoͤgere Weil wir eben vom Kloſter und von Kapuzinern reden, ſagte Rothfels, ſo faͤllt mir eine Geſchichte ein, die ich dieſer Tagen von einem Kapuziner hoͤrte. Sie betrifft ein985 Frauenzimmer und iſt ſehr traurig. Das weni - ge, mein Siegwart, was ich von Jhrer Ge - ſchichte, und von Jhrem Maͤdchen weiß, paßt ziemlich auf Sie. Ein Kapuziner, er heißt Bru - der Klemens, kommt zuweilen zu mir, weil er unter guten Freunden ein Glaͤschen Wein nicht verſchmaͤht. Neulich, eh das ſtarke Gewitter kam, war er bey mir, und ward durch den Rheinwein etwas munter. Jch bat ihn, die Nacht bey mir zuzubringen, weil der Regen anhielt, und der Weg ſehr verdorben war. Er ließ ſichs gefallen. Als der Wein ihm noch mehr zu Kopf ſtieg, und wir auf die Nonnen zu ſprechen kamen, fieng er an: Geſtern hab ich in einem gewiſſen Kloſter eins der ſchoͤnſten und ungluͤcklichſten Frauenzim - mer geſehen; denn ſie hat, ſo oſt ich ſie noch ſah, immer geweint, und graͤmt ſich gewiß bald zu Tod, und doch iſts ein Maͤdchen, rein und unſchuldig und ſchoͤn, wie die Mutter Gottes. O ich moͤchte Blut weinen, wenn ich ſie ſeh, oder an ſie denke, denn ihr Schickſal iſt ſehr hart! Er wollte mir nichts weiter ſagen. Endlich erfuhr ich doch ſoviel: Sie ſey mit Gewalt ins Kloſter geſteckt worden, oder wenigſtens hab eine ungluͤck -R r r986liche Leidenſchaft ſie dahin getrieben; ſie ſey jetzt bald ein Vierteljahr da, und von ihrem Bruder und ihrer Schwaͤgerin, die ſehr hart mit ihr um - gegangen ſeyn, dahin gebracht worden. Das iſt ſie, das iſt ſie! rief Siegwart, indem er auſ - ſprang, und dem jungen Rothfels um den Hals fiel. Um Gotteswillen, Rothfels, wo iſt der Pater? Wo iſt ſie? Bringen Sie mich hin! Um Gotteswillen thuns Sies! Das iſt Mariane; das kann niemand anders ſeyn u. ſ. w. Er zog Roth - fels faſt mit Gewalt aus der Stube, daß er ihn zu Marianen bringen ſollte. Kronhelm und Roth - fels hatten nur Muͤhe, ihn zuruͤck zu halten, und ihm vorzuſtellen, daß hier die groͤſte Behutſam - keit noͤthig ſey, zumal da der Pater weder den Na - men des Kloſters, noch des Frauenzimmers, noch andre zuverlaͤßige Kennzeichen angegeben habe. Jnzwiſchen glaubten Kronhelm und Thereſe auch, daß das Frauenzimmer Mariane ſey. Sie baten Rothfels, den Pater, ſobald als moͤglich, noch ge - nauer auszuforſchen, und auf alle Umſtaͤnde auf - merkſam zu ſeyn. Deswegen erzaͤhlte ihm Sieg - wart ſeine ganze Geſchichte, beſchrieb ihm Maria - nen aufs kenntlichſte, und bat ihn faſt auf den Knien, ſich die Sache, wie ſeine eigne, angelegen987 ſeyn zu laſſen, und die Unterhandlung aufs ſchleu - nigſte zu betreiben. Kronhelm und Thereſe, die, natuͤrlich! bey der Sache kaͤlter waren, riethen ihm die groͤßte Heimlichkeit und Behutſamkeit an, und Rothfels verſprach, alles aufs moͤglichſte zu beob - achten.

Siegwart war nun wieder wie neugebohren. Alle ſein Ueberdruß der Welt und der menſchlichen Geſellſchaft war vergeſſen. Er ſah und hoͤrte nichts, als Marianen; konnte keinen Augenblick an einem Ort bleiben, und kannte ſich vor Freuden und un - geduldiger Erwartung ſelbſt nicht mehr. Es war ihm jetzt ſchon genug, nur etwas von Marianen zu wiſſen. Alle andre Schwierigkeiten, wie er ſie aus dem Kloſter kriegen, und wie ſie ſein werden koͤnnte, bedachte er jetzt gar nicht. Alles auf der Welt ſchien ihm moͤglich; nur die Zeit gieng ihm viel zu traͤg; er ſchien ſie mit ſeinen Sehnſuchtsſeufzern forthauchen zu wollen. Roth - fels, der die Nacht in Steinfeld hatte bleiben wol - len, muſte, auf ſein Zudringen, noch denſelben Abend auf ſein Schloß zuruͤckreiten, um nur bald den Pater Klemens zu ſprechen, und ihm ſogleich weitere Nachricht zu geben.

988

Kronhelm und Thereſe hingegen ſahen noch tau - ſend Schwierigkeiten vor ſich. Denn fuͤrs erſte war es noch nicht ausgemacht, daß das beſchriebne Frauen - zimmer Mariane ſey; und dann, wenn ſies waͤre, wie wollte Siegwart ſie ſprechen, und wie ſie wie - der aus dem Kloſter los bekommen? Alle dieſe und noch hundert andre Bedenklichkeiten ſchwebten vor ih - nen; ſie beredeten ſich daruͤber miteinander, und wuͤnſchten nur, dieſelben nach und nach unſerm Siegwart beyzubringen! Aber dieſes war unendlich ſchwer. Wenn ſie ſich nur von ferne etwas mer - ken lieſſen, ſo baute er entweder vor, oder gerieth in die heftigſte Bewegung daruͤber; nannte ſie klein - muͤthig und aͤngſtlich, oder warf ihnen vor, ſie nehmen an ſeinem Schickſal keinen Antheil, und wollten ſich ſeinem Gluͤck entgegen ſetzen. Alles, was ſie bey ihm ausrichten konnten, war, daß er ſeine Ungeduld etwas minderte, und ein klein we - nig behutſamer wurde; denn er ſprach immer, auch in Gegenwart der Bedienten, von Marianen und ihrer Entfuͤhrung.

Zween Tage drauf, die er in der ungeduldigſten Erwartung zugebracht hatte, kam Rothfels wieder. Siegwart ſprang ihm mit lautem Herzklopfen in den Hof hinab entgegen, und rief ihm zu: Wie989 ſtehts? Rothfels winkte mit der Hand, weil zween Bediente gegenwaͤrtig waren. Siegwart eilte mit ihm die Treppe hinauf, und konnt es kaum er - warten, bis ſie miteinander im Zimmer waren. Sie iſts! ſagte Rothſels. Es iſt weiter gar kein Zweifel. Jſt ſies, iſt ſies? rief Siegwart, und fiel ihm um den Hals; aber weiter, weiter, be - ſter Rothfels! Der Pater, fuhr dieſer fort, war geſtern Abend bey mir, und da erfuhr ich durch vie - le Umſchweife, daß er der Beichtvater des Frauen - zimmers ſey, daß das Kloſter Marienfeld, und das Frauenzimmer Mariane heiſſe, und eine Hof - rathstochter aus Jngolſtadt ſey; daß ſie unaufhoͤr - lich beth und weine, und kuͤnftiges Fruͤhjahr ein - gekleidet werden ſolle. Aber weiter, weiter! ſagte Siegwart. Das iſt nicht genug! Weiter hab ich nichts erfahren koͤnnen, antwortete Rothfels, aber doch hab ich den Pater Klemens ſo weit ge - bracht, daß er mir, nach vorhergegangenem Ver - ſprechen der tiefſten Verſchwiegenheit, verſprach, wenn er wieder ins Kloſter komme, ein Briefchen von mir an das Frauenzimmer abzugeben, weil ich vorgab, ich ſey nah mit ihr verwandt. An - fangs wollt er lang nicht dran, weil er ſagte: Jch wolle wol der Kirche eine Braut ſtehlen, aber als990 ich ihn auf meine Ehre verſicherte, daß dieſes gar nicht meine Abſicht ſey, weil ich ja ſchon eine Braut habe, gab er ſich endlich zur Ruhe. Ueberhaupt hat er mehr den Schein eines eifrigen Religioͤſen, als ers in der That iſt. Wenn er ſich nur von ſeiner Seite in Sicherheit weiß und darauf ſchwur ich ihm ſo kann ich ihn brauchen, wie und wozu ich will; denn der Schalk weiß wohl, daß er von mir viel zu genieſſen hat. Wir muͤſſen jezt nun ſehen, was zu thun iſt? Siegwart muß mir zufoͤrderſt einen Brief an Marianen ge - ben; das uͤbrige muͤſſen wir von Zeit und Um - ſtaͤnden erwarten.

Siegwart war vor Freuden auſſer ſich; er um - armte Rothfels und Kronhelm tauſendmal, und doch, als der erſte Taumel vorbey war, ſchien ihm alles viel zu langſam zu gehen. Er wollte am Ziel ſeyn, eh er den Weg dahin betraͤte. Seine Freunde ſprachen ihm ſoviel als moͤglich Geduld und Gelaſfenheit ein, und baten ihn, nur erſt an Marianen zu ſchreiben. Er ſchrieb auch noch den - ſelben Abend dieſen Brief, und gab ihn Rothfels mit:

Alſo lebſt du noch, du Engel, und ich hab um - ſonſt dich als todt beweint? Dank, ewiger Dank991 ſey dem Geber des Lebens und des Todes, daß er dich mir nicht entriſſen hat, und daß ich hoffen kann, noch einmal dein zu werden! O du Theure, der lichte Stral der Hofnung hat mein dunk - les Leben wieder aufgehellt, und mir gewinkt in meiner Trauer, daß ich wieder geh ans Licht des Tages, und mich froher Ausſicht freue! Zwar du Engel traurſt in duͤſtrer Zelle? Aber deine Trauer ſoll nicht ewig waͤhren! Der dich mir erhielt, der Gott der Liebe, wird dich wieder geben meinen Wuͤnſchen. Menſchen wollten einem andern Braͤu - tigam dich geben; und du haſt ſchon einen Braͤu - tigam, und er traurt und weint um dich. Sey nicht treulos, meine Liebe! Eil ihm wieder zu mit deinen Kuͤſſen, die der Himmel billigt! Bald will ich ſuchen, dich zu ſprechen und zu retten. Hilf mir ſelbſt dazu, und gib mir Antwort, nur in wenig Zeilen! Jch bin dir nah, bey meinem Schwager und bey meiner Schweſter, die mit gu - tem Rath mich unterſtuͤtzen. Bleib ſtandhaſt, o Geliebte, und vergiß mich nicht! Jch bin jeden Augenblick bey dir; meine Seele iſt ſtets auſſer ihrem Koͤrper, und umſchwebt dich. Bald hoff ich ganz bey dir zu ſeyn. Beth und glaub an die Vor - ſehung, und uͤberlaß die Bedenklichkeiten mir! 992Fuͤrchte nichts vom Pater Klemens! Gib ihm nur bald deine Antwort! Sag, ſie ſey fuͤr Herrn von Rothfels deinen Anverwandten! Er iſt ein junger Edelmann, hier in der Nachbarſchaft, der die Schweſter meines Kronhelm heyrathet, und ſich unfrer treulich annimmt. Ewig dein Siegwart.

Rothfels nahm den andern Morgen den Brief mit, und verſprach, ihn aufs fruͤheſte und genaueſte zu beſorgen. Er hofte, den Pater Klemens noch ſo auf ſeine Seite zu bringen, daß man ihm einen Theil der Geheimniſſe anverirauen koͤnne; denn gaͤnzliche Verſchwiegenheit ſey die einzige Bedin - gung; wenn er dieſer verſichert ſey, ſo ſey er auch im Stand, alles zu unternehmen. Siegwart ver - ſprach von ſeiner Seite die moͤglichſte Behutſam - keit und Vorſicht, nur bat er um die aͤuſſerſte Be - ſchleunigung der Sache, denn zitternde Ungeduld belebte jezt jede ſeiner Handlungen.

Thereſe erholte ſich nun immer mehr, und konnte bey den ſchoͤnen Herbſttagen ſchon zuweilen wieder einen halben Nachmittag im Garten zubringen. Kronhelms und ihre Gluͤckſeligkeit war nun wie - der auf dem hoͤchſten Gipfel. Seine Thereſe bluͤhte wieder auf, wie eine Blume, die in der Sonnen - hitze dahin gewelket war, und ſich nun im Abende993 und Morgenthau mit neuer Kraft und neuen Duͤf - ten wieder aufrichtet. Kronhelm ſah ſein Ebenbild, den jungen Wilhelm an ihrer muͤtterlichen Bruſt liegen, und wenn er ſich einen Augenblick entfer - nen muſte, ſo kuͤßte Thereſe in dem kleinen Liebling ihren theuren Kronhelm. Die Freude uͤber ihre Wiedergeneſung war im Schloß und im Dorf all - gemein. Die Baͤurinnen kamen eine nach der an - dern, um ihre liebe gnaͤdige Frau wieder zu ſehen, und ihr Gluͤck zu wuͤnſchen. Die Bauren hielten an, ob ſie nicht einen Tanz deswegen halten duͤrf - ten? Kronhelm ließ ihnen Bier und Wein und Fleiſch genug geben. Sie ſchickten durch etlich junge Maͤdchen, die ſie, auf Anordnung ihres Geiſtlichen, als Schaͤferinnen gekleidet hatten, un - ter Muſik von Geigen und Schallmeyen, einen, mit Kornblumen durchflochtenen Aehrenkranz, und ein Schaf, das das aͤlteſte Maͤdchen an einem rothen Band fuͤhrte, wobey ſie zugleich eine artige Gluͤckwuͤnſchungsrede an Thereſen hielt.

Siegwart ward durch dieſe allgemeine Freude, und noch mehr durch die Hofnung, ſeine Mariane bald wieder zu erhalten, wieder neu belebt. Er war mit der Welt faſt ganz wieder ausgeſoͤhnt, empfond die Schoͤnheit der Natur, und das Gluͤck994 der menſchlichen Geſellſchaft wieder; ſeine Wan - gen wurden wieder roth, ſeine Augen wieder helle, und ſein Herz erweitert. Aber die Ungeduld ſtuͤrmte doch beſtaͤndig in ihm, und ſein Herz war immer nur halb da, wo ſein Leib war.

Die Zeit, daß er nichts von Rothſels und von ſeiner Mariane hoͤrte, ward ihm endlich zu lang. Er wollte eben an einem Nachmittag weg reiten, als Rothfels ſelber kam. Schon ſein heitres Aus - ſehn verkuͤndigte gute Nachricht. Munter, mein lieber Siegwart! ſagte er. Es wird alles gut ge - hen! Der Pater iſt nun ganz auf unſrer Seite. Hier ein Brief von Marianen! Siegwart riß ihn zitternd auf, und las, ſo geſchwind, daß er nach dem erſten Durchleſen kaum den Jnhalt des Brie - fes wuſte.

Mein Geliebteſter!

Wie erſtaunt ich nicht, als mir der Pater einen Brief von Jhrer Hand gab! Jch ward faſt ohn - maͤchtig bey dem Leſen. So ſind Sie mir ſo nah, mein Theureſter? Ach, was hab ich ausge - ſtanden, ſeit ich von Jhnen getrennt bin! Doch Sie ſollen nicht mit mir leiden. Und nun, mein Theu - reſter, was iſt anzufangen? Jch habe das Geluͤbde noch nicht abgelegt; aber ich werde hier ſtreng be -995 wacht. Jch warf mich Gott in die Arme, um der Grauſamkeit der Menſchen zu entgehen; aber auch im Kloſter ſind Menſchen, und es geht mir hart. Retten Sie mich, wenn Sie koͤnnen! Jch weiß, Gott will nicht, daß der Menſch ſich quaͤle; und hier halt ichs nicht lang aus. Jch bin ſehr ſchwach und entkraͤſtet. Man verſpottet mich, und haͤlt mich hart, weil ich geliebt habe; weil ich dich ge - liebt habe, du Vollkommener! Gott kann nicht ſo grauſam ſeyn, wie Menſchen ſind; darum darfſt du mich aus ihrer Hand erretten.

Thun Sie, was Sie koͤnnen! Jch kann nichts thun. Jch habe nur Eine Freundinn hier, der ich halb trauen kann, weil ſie Mitleid mit mir hat. Es iſt die Schweſter Brigitta, die die Aufwartung im Kloſter verſieht. Machen Sie ſich mit ihr bekannt; vielleicht kann ſie ein Werkzeug meiner Er - loͤſung werden. Aber um Gotteswillen behutſam! Sonſt muß ichs entgelten. Sie darf nichts wiſſen, als daß wir uns zu ſprechen ſuchen. Leb wohl, Theureſter! Vielleicht gibt dich Gott mir wieder. Und das iſt mein Gebeth, Tag und Nacht. Sonſt kann ich nichts wuͤnſchen, als den Tod.

Leb wohl, Geliebteſter!

996

Weinend gab Siegwart den Brief ſeinem Kron - helm in die Hand; Er ſelbſt gieng ans Fenſter, ſah gen Himmel, weinte laut, und flehte Gott um Beyſtand an, Matianen zu erretten! Rathet, Rathet! ſagte er zu ſeinen Freunden, was ich thun muß? Der Gedanke, daß ſie leidet, und um mei - netwillen leidet, iſt mir unertraͤglich; Rathet! daß ich bald ſie retten kann. Soll ich mit Gewalt ſie holen, oder mit Liſt? Jhr muͤſt rathen! Denn ich weiß mir nicht zu helfen; Jch bin auſſer mir vor Freud und Schrecken.

Um Gotteswillen, nicht mit Gewalt! riefen Kronhelm und Thereſe. Du wuͤrdeſt ſie nach einer Stunde wieder verlieren, und in Ewigkeit nicht wieder ſehen. Ohne Behutſamkeit und Liſt wird ſie niemahls dein. Jch habe ſchon daruͤber nach - gedacht, fiel Rothfels ein. Siegwart muß ſich in verſtelter Kleidung nahe bey dem Kloſter aufhalten, und auf Zeit und Umſtaͤnde paſſen. Es fiel mir eine Liſt ein, als mir Pater Clemens den Brief uͤbergab, und ich ſuchte die Sache ſogleich bey ihm einzufaͤdeln. Wie waͤrs, wenn Siegwart eine Zeit - lang als Gaͤrtner bey mir waͤre. Jch wuͤrde denn einmal mit dem Pater reden, daß er ihn im Klo - ſter, wo man eben einen Gaͤrtner noͤthig hat,997 empfoͤhle? Schoͤn! Schoͤn! riefen Kronhelm und Thereſe. Dieſe Liſt kann gehen, wenn du Klugheit und Geduld haſt, Bruder! Jch will alles thun, verſetzte Siegwart, was ihr mir be - fehlt. Wenns nur hurtig geht!

Es ward ſogleich beſchloſſen, daß Siegwart noch denſelben Abend mit Rothfels in Gaͤrtnerkleidung auf ſein Schloß fahren ſollte. Man rieth ihm alle moͤgliche Behutſamkeit an; ſeine ſchoͤnen langen Haare wurden ihm abgeſchnitten; eine Gaͤrtners - kleidung ward ihm angelegt, und er fuhr mit Rothfels weg, nachdem er mit tauſend Thraͤnen von ſeinen Freunden, die ihm alles moͤgliche Gluͤck anwuͤnſchten, Abſchied genommen hatte. Rothſels erfuhr unterwegs von Siegwart, daß er die Gaͤrt - nersgeſchaͤfte ſehr gut verſehen koͤnne, weil er in ſeiner Jugend mit Thereſen beſtaͤndig den Garten ſeines Vaters gebaut habe. Rothfels verſprach, ihm bald Gelegenheit zu verſchaffen, mit dem Pa - ter zu reden, ſo, daß er noch dieſen Herbſt in die Kloſterdienſte treten koͤnne. Siegwart bekam den Namen Georg, und trat gleich den folgenden Tag ſeinen Dienſt in Rothfels Garten an. Er arbei - tete den Tag uͤber ſehr aͤmſig, und wußte ſich ſo gut in ſeinen neuen Stand zu ſchicken, daß kein998 Menſch auf den Einfall kam, ihn fuͤr eine ver - kappte Perſon zu halten. Rothfels ließ ihn oft auf ſein Zimmer kommen, oder ſprach Abends mit ihm, und redete mit ihm ab, wie er ſich im Kloſter zu betragen habe. Siegwart gab ihm ein kleines Brief - chen, worin er Marianen auf dieſe Liſt vorbereitete, und auf den Gaͤrtner Georg aufmerkſam machte. Rothfels verſprach ihm, bald den Pater in den Gar - ten zu bringen; dann ſoll er ſich traurig ſtellen, daß der Pater auf ihn aufmerkſam werde, und ihm dann ſein Anliegen vorbringen.

Einige Tage drauf kam Rothfels mit dem Pa - ter in den Garten. Er entfernte ſich bald darauf, unter dem Vorwand von Geſchaͤften, und ließ den Pater allein. Siegwart machte ſich in dem Gang, wo der Pater gieng, etwas zu ſchaffen; ſtellte ſich ſehr traurig an, wiſchte ſich die Augen, und weinte. Der Pater fragte ihn, was ihm fehle? Ach lieber, wohlehrwuͤrdiger Herr, antwor - tete Siegwart: Da hat mir heut mein Herr ge - ſagt, er ſey zwar mit meiner Arbeit ſehr zufrieden, wie Sie ihn ſelbſt fragen koͤnnen; aber, weil er mit ſeinem vorigen Gaͤrtner wieder eins gewor - den ſey, ſo koͤnn er mich nicht laͤnger behalten; es ſall ihm zu ſchwer, zwey Gaͤrtner zu bezahlen;999 und er iſt ſo gar ein braver Herr; das geht mir nun nah, daß ich ihn verlaſſen ſoll! Und der Winter iſt vor der Thuͤr, und ich habe keinen Dienſt und kein Brod. Hier fieng er an, heftiger zu wei - nen Ach, lieber wohlehrwuͤrdiger Herr, Sie ſind bey ſoviel Herrſchaften und in Kloͤſtern wohl bekannt, wuͤßten Sie mir nirgends ein Dienſtlein? Sie koͤnnten ein recht gutes Werk verrichten. Jch wollte mich gewiß billig finden laſſen; und meinen Dienſt kann ich verſehen, ſo gut als ein Gaͤrtner im ganzen deutſchen Reich, wie mein gnaͤdiger Herr gewiß ſelbſt bezeugen wird. Wenn Sie mir doch helfen koͤnnten! P. Klemens ward durch die Thraͤnen des Gaͤrtners geruͤhrt, und verſprach, in Marienfeld ein gutes Wort fuͤr ihn einzulegen. Rothfels kam, wie von ohngefaͤhr dazu, und miſchte ſich ins Geſpraͤch. Er lobte den Gaͤrtner Georg ſehr, ſagte, er wuͤnſch ihm ſelbſt einen recht guten Dienſt, wo er beſſer ſtuͤnde, als bey ihm, und empfahl ihn dem P. Klemens. Dieſer verſprach, das Beſte fuͤr ihn in Marienfeld zu thun, wo man eben einen Gaͤrtner noͤthig habe, und in drey oder hoͤchſtens vier Tagen wieder Antwort zu bringen.

1000

Siegwart freute ſich mit Rothfels uͤber den guten Erfolg ſeines Unternehmens, und am dritten Tage kam P. Klemens wieder, mit der Nachricht, die Aebtiſſin zu Marienfeld wolle den Gaͤrtner Georg ſprechen, und werde ihn vermuthlich in Dienſt nehmen. Siegwart reiſte mit der freudig - ſten Hofnung ab, und kam noch denſelben Nach - mittag zu Marienfeld an. Die Aebtiſſin ließ ihn ans Sprachzimmer kommen; er gefiel ihr, und ward auf P. Klemens Zeugniß mit einem anſehn - lichen Lohn zum Obergaͤrtner angenommen. Sieg - wart haͤtte ſich vor uͤbermaͤßiger Freude faſt ſelbſt verrathen, und ſeine Rolle vergeſſen. Er dank - te der Aebtiſſin aufs feurigſte, ſein Herz ſchlug ihm ſichtbar, und er ſprang mehr, als er gieng, an ſeine Arbeit.

Wenn er im Garten arbeitete, ſo ſah er ſich wol tauſendmal um, ob er ſeine Mariane nicht er - blicke? Wenn er oben an den Kloſterfenſtern, die mit hoͤlzernen Jalouſieladen vermacht waren, ſich etwas bewegen ſah, ſo blickte er unbeweglich hin, weil er glaubte, ſeine Mariane ſtehe dran. Sei - ne Bruſt war den ganzen Tag von einem unruhi - gen Sehnen belebt; es war ihm zu Muth, wie einem Neuverliebten; bald war er heiter, bald1001 wieder traurig und weinte. Alle Abend legte er der Aebtiſſin am Sprachgitter Rechenſchaft von ſeiner Arbeit ab. Sie ſchien taͤglich mit ihm zu - friedener zu ſeyn. Zuweilen ſah er noch mehrere Nonnen in dem Sprachzimmer. Die heftigſte Unruhe quaͤlte ihn, ob nicht ſeine Mariane mit unter den Nonnen ſey? Aber vor dem Schleyer konnt er ſie nicht erkennen. Einmal hub eine von den Nonnen, die in der Ecke des Sprachzimmers ſtand, ihren Schleyer etwas auf. Es war Maria - ne. Jhr Geſicht war todtbleich. Er ward durch den Anblick wie vom Donner geruͤhrt. Bald ward ſein Geſicht feuerroth, bald todtblaß, er ſtotterte, gab der Aebtiſſin lauter verwirrte Ant - worten; ſeine Knie zitterten, daß er kaum mehr ſtehen konnte. Zu allem Gluͤck ließ ihn die Aeb - tiſſin ſogleich von ſich. Er lief auf ſeine Kammer, und fiel halb ohnmaͤchtig aufs Bette. Ein Strom von Thraͤnen ſchaffte ihm endlich Erleichterung. Er warf ſich auf ſeine Knie, und bethete ſo in - bruͤnſtig, als er faſt noch nie in ſeinem Leben ge - bethet hatte, daß ihm Gott beyſtehen wolle, ſei - nen Engel bald aus dieſem Kerker zu erretten! Nun wußte er faſt gar nicht mehr, was er that. S s s1002Mariane ſtand unaufhoͤrlich ſo vor ihm da, wie er ſie im Sprachzimmer erblickt hatte; ſie erſchien ihm ſo in Traͤumen; aber nur ſelten konnte er ſchlafen. Noch Einmal glaubte er ſie unter den Nonnen zu erblicken, aber ſie hub ihren Schley - er nicht auf, und er blieb in der Ungewißheit.

Am naͤchſten Feyertag gieng er in die Kirche. Nach der Meſſe, welche P. Klemens las, mach - ten die Nonnen auf dem Chor eine Muſik. Erſt ward ein Tutti geſungen, dann ein Solo. Ma - riane ſangs. Er glaubte bey dem Klang ihrer Stimme zu vergehen; konnts nicht laͤnger aushal - ten, und gieng aus der Kirche, weil er fuͤrchtete, man moͤchte ihm ſeine heftige Bewegung anſehen! Mit der Schweſter Brigitte, die er oft im Gar - ten und im Kloſter ſah, machte er ſich bald bekannt. Das arme Maͤdchen ſchien an dem artigen Gaͤrtner nur gar zu viel Wohlgefallen zu finden, und gieng ihm alle Schritte und Tritte im Garten nach. Siegwart kam dadurch in eine ſehr unangenehme Lage, und mußte ſich ſtellen. als ob ihm an Bri - gitta ſehr viel gelegen ſey. Oft lag ihms ſchon auf der Zunge, daß er ſich nach Marianen erkun - digen wollte, aber Furchtſamkeit, ſich zu verrathen, hielt ihn immer wieder zuruͤck .. Er fragte nur1003 von fern nach den verſchiednen Kloſterfrauen. Bri - gitte machte ihm eine allgemeine. Beſchreibung da - von, und ſagte, zu ſeinem groͤſten Misvergnuͤgen, gerade von ſeiner Mariane am wenigſten, auſſer, daß ſie immer ſehr blaß ausſeh, und unaufhoͤrlich traurig ſey. Weil ers noch nicht fuͤr rathſam an - ſah, ſich Brigitten anzuvertrauen, ſo ſchrieb er ein paarmal an Marianen, legte den Brief an einen Ort, wo ihn Rothfels, dem der Ort bezeichnet war, entweder ſelber abholte, oder durch einen al - ten Bedienten abholen ließ, und ihn ſo, durch Pater Klemens Hand, Marianen zuſchickte. Sie wußte nun, daß ihr Geliebter ihr ſo nah, und als Gaͤrtner im Kloſter ſey; aber ſie fand doch keine Gelegenheit ihn allein zu ſehen, oder gar zu ſpre - chen, weil man auf ſie ſehr genau Acht gab, und ihr, welches Siegwart nicht wußte, Brigitten noch beſonders zur Aufſeherin beſtellt hatte.

Einmal kamen die Nonnen, an einem ſehr hei - tern Herbſttage, nach dem Mittagseſſen mit ihrer Aebtiſſin in den Garten, als Siegwart eben hinter der Hecke ſtand, und die losgerißnen Zweige wieder an den Stangen feſt machte. Er hatte ſie noch nicht wahrgenommen, und ſang bey der Ar - beit ſein Gaͤrtnerlied, das| er einſt an einem trau -1004 rigen Abend gemacht hatte, und ſeitdem beſtaͤndig ſang, in der Hofnung, daß ihn Mariane vielleicht zuweilen hinter dem Fenſter zuhoͤre. Das Lied hieß ſo; und er ſangs nach einer ſehr traurigen Melodie:

Es war einmal ein Gaͤrtner,
Der ſang ein traurigs Lied.
Er that in ſeinem Garten
Der Blumen fleißig warten,
Und all ſein Fleiß gerieth.
Und all ſein Fleiß gerieth.
Er ſang in truͤbem Muthe
Viel liebe Tage lang.
Von Thraͤnen, die ihm floſſen,
Ward manche Pflanz begoſſen.
Alſo der Gaͤrtner ſang!
Alſo der Gaͤrtner ſang!
Das Leben iſt mir traurig,
Und gibt mir keine Freud!
Hier ſchmacht ich, wie die Nelken,
Die in der Sonne welken,
Jn bangem Herzeleid,
Jn bangem Herzeleid.
1005
Ey du, mein Gaͤrtnermaͤdchen,
Soll ich dich nimmer ſehn?
Du muſt in dunkeln Mauren
Den ſchoͤnen May vertrauren?
Muſt ohne mich vergehn,
Ach, ohne mich vergehn?
Es freut mich keine Blume,
Weil du die ſchoͤnſte biſt.
Ach, duͤrft ich deiner warten,
Jch lieſſe meinen Garten,
Sogleich zu dieſer Friſt,
Sogleich zu dieſer Friſt!
Seh ich die Blumen ſterben,
Wuͤnſch ich den Tod auch mir.
Sie ſterben ohne Regen,
So ſterb ich deinetwegen.
Ach waͤr ich doch bey dir!
Ach waͤr ich doch bey dir!
Du liebes Gaͤrtnermaͤdchen:
Mein Leben welket ab.
Darf ich nicht bald dich kuͤſſen,
Und in den Arm dich ſchlieſſen,
So grab ich mir ein Grab.
So grab ich mir ein Grab.
1006

Ey wie ſchoͤn, Gaͤrtner! rief eine Stimme, als er ausgeſungen hatte; und indem er aufſah, er - blickte er jenſeits der Hecke in einem andern Gang die Aebtiſſin mit den andern Nonnen. Sein Schrecken war doppelt groß, theils wegen des Liedes, das er geſungen hatte, theils weil keine Mannsperſon im Garten ſeyn ſollte, wenn die Nonnen drinn waren. Aber die Aebtiſſin hatte dießmal ſelbſt das Laͤuten vergeſſen, welches das Zeichen war, daß die maͤnnlichen Bedienten ſich entfernen ſollten. Er ſtand zitternd, und todtenbleich da, hielt die Muͤtze in die Hand, und bat ſtotternd um Ver - gebung. Ploͤtzlich erblickte er zuhinterſt eine Non - ne, die der ganzen Stellung nach ſeine Mariane war; aber er ſah auch ihr himmliſches, blaſſes Ge - ſicht durch den Schleyer ſchimmern. Er konnte vor Zittern kaum mehr ſtehen, und ward noch verwirrter. Zum Gluͤck fuͤr ihn hielt man die ploͤtzliche Ueber - raſchung fuͤr die Urſache ſeiner Verwirrung. Die Aebtiſſin ſprach noch ein paar Worte mit ihm, und ließ ihn dann gehen, welches ihm recht herzlich lieb war. Mariane befand ſich auch in der aͤuſſerſten Ver - legenheit, und hatte Muͤhe, ihre Unruhe zu ver - bergen.

1007

Brigitta hielt ſich immer mehr zu Siegwart, und ſuchte, ihn ſo viel als moͤglich war, zu ſpre - chen. Da er ihr Zutrauen ſo ſehr gewonnen hatte, ſo hielt er dafuͤr, es ſey nun Zeit, ſich wegen Ma - rianens etwas genauer gegen ſie herauszulaſſen; und dazu both ſich nach etlichen Tagen die Gelegenheit von ſelbſt an. Siegwart mußte, weil die Witte - rung rauh zu werden anfieng, die Blumentoͤpfe, und die Kuͤbel mit den Pomeranzen - und Lorbeer - baͤumen ins Gewaͤchshaus bringen. Brigitte hatte dazu den Schluͤſſel, und war gegenwaͤrtig, als er die Kuͤbel in Ordnung ſtellte. Weil die Handlan - ger ab - und zugiengen, um die Toͤpfe zu holen, ſo that ſie, wenn ſie allein mit ihm im Gewaͤchshaus war, ziemlich vertraut gegen ihn, und ließ nicht undeutlich eine Neigung merken, das Kloſter mit ihm zu verlaſſen. Siegwart warf dieſes nicht weit weg, und machte ihr einige Hofnung dazu. Sie war daruͤber vor Freuden auſſer ſich; und nun fragte er, wie von ohngefaͤhr, ob nicht ein Frauen - zimmer von Jngolſtadt in dem Kloſter ſey, die ei - nem Hofrath Fiſcher angehoͤre? Auf ihre Beja - hung, ſagte er, er kenne ſie wohl, und habe ſechs Jahre bey ihrem Vater als Gaͤrtner gedient. Er wuͤnſche nichts mehr, als ſie einmal allein zu ſpre -1008 chen, weil er ihr wichtige Dinge von ihrem Vater zu entdecken habe. Zu dieſer Unterredung koͤnnte ihm Brigitte am beſten verhelfen. Sie machte anfangs groſſe Schwierigkeiten, wegen der Gefahr, verrathen zu werden; endlich aber, als er ihr zu ſchmeicheln und zu liebkoſen wußte, gab ſie nach, und verſprach, ihm die folgende Nacht in einem Winkel des Gartens eine Unterredung mit Maria - nen zu verſchaffen. Daruͤber war er vor Freuden ganz auſſer ſich, umarmte und kuͤßte Brigitten, die dieſes ſehr willig geſchehen ließ, und ihn noch - mals verſicherte, ihm dieſe Gefaͤlligkeit gewiß zu erzeigen.

Anfangs glaubte er, Marianen ſchon in dieſer Nacht entfuͤhren zu koͤnnen; aber bey laͤngerer Ueberlegung fand er noch Schwierigkeiten. Es war ſchon ziemlich ſpaͤt am Abend, und er zweifelte, ob er noch an Rothfels koͤnne Nachricht gelangen laſſen, daß dieſer mit einer Kutſche vor dem Kloſter warten moͤchte, um ihn mit Marianen aus dem Land zu bringen. Zudem war die Mauer des Kloſtergartens hoch, und er wußte noch kein Mit - tel, wie er uͤber dieſe kommen koͤnnte. Daher mußte er ſich dießmal damit begnuͤgen, ſeine Ma - riane nur zu ſprechen, und hofte, bald wieder ei -1009 ne Gelegenheit zu finden, ſie zu ſprechen, und alsdann zu entfuͤhren.

Die laͤngſt gewuͤnſchte Nacht kam. Siegwart ſtand im Garten, und zitterte vor Ungeduld. Nach zehn Uhr, da die Nonnen alle ſchon im Bett la - gen, ward die Kloſterthuͤre, die in den Garten gieng, geoͤfnet. Mariane ſchlich ſich in der Dun - kelheit, dicht am Kloſter, nach dem Winkel des Gartens, wo ihr Siegwart ſtand. Brigitte hielt innerhalb der Thuͤre Wache. Er ſchloß ſie ſtill - ſchweigend in den Arm, und waͤre vor uͤbermaͤſſi - gem Entzuͤcken faſt zu Boden geſunken. Ach Mariane! Ach Siegwart! war alles, was die zaͤrtlichen Verliebten ſagen konnten. Nach den er - ſten feurigen Umarmungen konnten ſie mehr ſpre - chen. Gottlob! ſagte er, daß ich dich wieder ſpre - chen kann! Bald, bald ſollſt du ganz mein ſeyn! Wie iſt dir? Wie lebſt du? Traurig! war die Antwort. Ach Siegwart, ohne dich! Jch muß vergehen. Oft war ich ſchon ſehr krank. Bald wirds beſſer werden, meine Liebe! Wenig Tage noch. Hab Geduld, und hoffe! Ach, Sieg - wart, was iſt Hofnung? Doch, ich will Geduld haben. Ach, daß ich dich wieder habe! Kaum kann ichs glauben. Siegwart, Siegwart! ach1010 was haben wir geduldet! Aber alles, alles iſt ver - geſſen, da ich dich, dich wieder habe! Jch kann nicht ſprechen, meine Liebe! Gott im Himmel, meine Mariane hab ich wieder. Kuͤß mich! Kuͤß mich! Moͤcht ich doch vor Liebe ſterben! Mein, mein, mein! Er druͤckte ſie |an ſich, als ob er Eins mit ihr werden wollte. Sie weinten, und ſchluchzten laut. Gott wird unſer Schutz ſeyn, ſagte er, und uns wieder vereinigen! Ach Maria - ne, ich weis nicht, wie mir iſt? Jch moͤchte nur im Augenblicke ſterben! Und ich auch, du Theu - rer! Ach, mein Herz iſt ſo beklommen! Wenn wir uns nur wieder ſehen! Gewiß, gewiß! und bald, und ewig! ach Mariane, Mariane! Siegwart ſagte kurz, daß er ſie in wenig Tagen wieder ſehen, und alsdann befreyen werde. Alle Anſtalten ſeyen ſchon gemacht. Sie warnte ihn, gegen Brigitten behutſam zu ſeyn, und ihr nichts zu ſagen, denn ſie wage viel, und koͤnnte ſie leicht aus Angſt verrathen. Sie trennten ſich nach ei - ner halben Stunde. Mariane wollte ihn nicht loslaſſen. Dreymal kehrte ſie ſich um, als ſie ſchon gegangen war, und ſank wieder an ſein Herz. Mir iſt, ſagte ſie, als ob ich dich zum letztenmale ſaͤhe! Ach, mein Herz iſt ſo beklommen! Er ſuchte1011 ſie mit der nahen Hofnung zu troͤſten, und riß ſich endlich mit Gewalt von ihr los, weil er fuͤrchtete, Brigitten ungeduldig zu machen. Mariane kam weinend zu ihr; ſie habe, ſagte ſie, traurige Din - ge von ihrem Vater erfahren. Siegwart ſchlich ſich nach ſeiner Kammer. Die ganze Nacht konn - te er nicht ſchlafen. Unauſhoͤrlich weinte er vor Zaͤrtlichkeit und Liebe, und aͤngſtlicher dunkler Ahn - dung vor der Zukunft.

Den andern Morgen ſprach er mit Brigitten. Mariane iſt ſehr niedergeſchlagen und halb krank, ſagte ſie; er muß ihr traurige Dinge entdeckt ha - ben. Ja wohl traurige, war ſeine Antwort; das arme Frauenzimmer leidet viel. Nur noch Einmal machen Sie, daß ich ſie ſprechen kann! Bis dahin hoff ich, ihr angenehmere Nachrichten geben zu koͤnnen; und dann wollen wir ſuchen, dieſen Auſenthalt zu verlaſſen. Er nahm ſie bey der Hand, und blickte ſie zaͤrtlich an. Sie erwiederte dieſe Blicke, und verſprach, ihm noch einmal eine Un - terredung mit Marianen zu verſchaffen. Er war nun voll froher Hofnungen. Taͤglich eekundigte er ſich nach Marianens Geſundheit. Sie ſey ſehr ſchwaͤchlich, war die gewoͤhnliche Antwort, doch ſey ſie immer ſo geweſen. Brigitte lag ihm im -1012 mer mehr an, Anſtalten zu ihrer Flucht zu machen. Er verſprach ihrs zuverlaͤßig, und ſagte, er erwar - te nur noch eine Nachricht von Marianens Vater, und wenn er ſie ihr gegeben habe, woll er ſuchen, mit ihr zu entkommen. Er ſey Marianen ſchul - dig, ſein Verſprechen zu halten, weil er ſie als Kind noch gekannt, und viel Gutes von ihr ge - noſſen habe. Durch dieſe Liſt machte er Brigitten immer begieriger, ihm bald noch eine Unterredung mit Marianen zu verſchaffen, weil ſie glaubte, nach derſelben halt ihn nichts mehr im Kloſter zuruͤck.

Etlich Tage drauf kam er endlich einmal des Morgens mit Freuden zu Brigitten, und ſagte, nun hab er Nachricht fuͤr Marianen und zwar eine ſehr frohe; ſie moͤchte nun machen, daß er ſie auf den Abend ſprechen koͤnnte; und um dem Maͤd - chen alle aͤngſtliche Unruhe zu benehmen, moͤchte ſie ihr doch dieſes verſiegelte Blatt worinn er ihr vorlaͤu - fig Nachricht gebe, zuſtellen. Brigitte nahm das Blatt in die Hand, verſprach, es Marianen zu - zuſtellen, und ſie Abends um 10 Uhr in den Gar - ten zu bringen. Jndem ſie das Blatt noch in der Hand hielt, kam die Aebtiſſin um | die | Ecke | des Kreuzganges, wo ſie ſtanden, herum; Siegwart1013 lief erſchrocken davon; Brigitte ſteckte das Blatt ſchnell ein, und ſprach mit der Aebtiſſin.

Siegwart gerieth in die ſchrecklichſte Angſt; er fuͤrchtete, die Aebtiſſin habe das Blatt geſehen, und ſich zeigen laſſen, und nun ſey alles verrathen. Jn dem Blatt ſtanden dieſe wenigen Worte:

Bald, bald kommt die Stunde der Erloͤſung. Dieſe Nacht, meine Theureſte, ſoll uns ewig ver - einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung. Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be - ſtimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott um Beyſtand zur Erloͤſung! Verbrenne dieſes Blatt!

Er dachte hin und her, was aus dieſer Ueber - raſchung werden wollte? Alles Schreckliche ſtellte ſich ſeiner Seele vor. Er verwuͤnſchte den Augen - blick, in dem er dieſe Zeilen geſchrieben hatte. Ein paarmal wollte er ſchon zur Aebtiſſin eilen, ihr al - les offenbaren, ſich ihr zu Fuͤßen werfen, und ſie um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder: Vielleicht ſtell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat die Aebtiſſin auf das Blatt nicht geachtet. Jn dieſer ſchrecklichen Unruhe gieng er im dunkelſten Gang des Gartens hin und her, als er Brigit - ten mit rothgeweinten Augen kommen ſah. Er1014 gieng zitternd auf ſie zu. Gott, wie ſtehts? rief er, hat die Aebtiſſin es entdeck? Ach nein, ſagte ſie, die Aebtiſſin hat nicht das geringſte ge - merkt; aber einen andern Schrecken hat er mir gemacht. Was muß er doch Marianen geſchrie - ben haben? Sie ward ohnmaͤchtig, als ſie den Brief las, und iſt jetzt noch ſehr matt. Haͤtt ich mich doch niemals damit eingelaſſen! Waͤren wir doch ſchon fortgegangen! Morgen, morgen! ſag - te Siegwart haſtig; aber kan denn Mariane auf den Abend doch kommen? Sie will, antwortete Brigitte, wenn ſie Kraͤſte genug hat. Halt er ſich nur um zehn Uhr gefaßt! Aber aus unſrer Flucht wird nun wohl nichts werden. Jch be - ſchwoͤr ihn bey der Mutter Gottes! daß er kei - ner Seele nichts entdeckt! Jch waͤr auf mein ganzes Leben ungluͤcklich. Siegwart ſuchte ſie, wegen dieſer Sache, ſoviel als moͤglich, zu beru - higen, ſie wollte ſich aber keinen Muth einſpre - chen laſſen, und bat ihn nur, ſie nicht zu ver - rathen! Er ſchwur es ihr bey allen Heiligen, und bat ſie fuͤr Marianen Sorge zu tragen, und ſie auf den Abend gewiß zu bringen!

Er gieng in noch groͤſſerer Unruhe weg, und konnte ſich ihr Betragen nicht erklaͤren. Doch1015 machte er alle moͤgliche Anſtalten, ſchrieb an Roth - fels, daß er um 10 Uhr mit der Kutſche an der Gartenmauer warten ſoll, und gieng in das Wirtshaus im Dorf, um den Brief durch einen Knaben, den er ſchon oͤfters bazu gebraucht hat - te, nach Rothfels zu ſchicken. Zu gutem Gluͤck traf er da Rothſels alten Bedienten ſelbſt an, der von Zeit zu Zeit an dem beſtimmten Ort ſah, ob kein Brief da liege? Er nahm den Be - dienten auf die Seite, und bat ihn, den Brief ſogleich ſeinem Herrn einzuliefern. Jm Garten hatte er ſchon ſeit ein paar Tagen die Vorſicht gebraucht, an der Mauer, in dem Winkel, wo Mariane hinkam, hinter alten Brerern eine Leiter zu verbergen. Er gieng wieder ins Klo - ſter, und ſprach gegen Abend Brigitten noch ein - mal. Sie weinte wieder, verſicherte ihn aber doch, daß es mit Marianen beſſer ſtehe, und daß ſie um 10 Uhr in den Garten kommen werde.

Er lag in ſeiner Kammer auf den Knien, und bat Gott um Marianens Geneſung, und um ſei - nen Beyſtand. Als es dunkel wurde, legte er die Leiter an die Mauer an, und blieb in der unru - higſten Erwartung im Garten. Die Nacht war ſehr dunkel, ſtuͤrmiſch, und regneriſch. Um 91016 Uhr ſah er alle Lichter im Kloſter ausloͤſchen. Um halb 10 Uhr hoͤrte er auſſerhalb der Mauer ſich etwas bewegen. Er ſtieg auf die Leiter, und ſah auſſen die Kutſche, und einen zu Pferd da - bey, und auch auſſerhalb eine Leiter angelegt. Um 10 Uhr gieng endlich die Kloſterthuͤre auf. Sein Herz ſchlug ihm laut, er konnte ſich nicht halten, und gieng einige Schritte weit vorwaͤrts in den Garten. Eine Nonne kam heraus: er hielts fuͤr Marianen und lief zitternd auf ſie zu; aber es war Brigitte. Jeſus, Maria! ſagte ſie; eben liegt Mariane in den letzten Zuͤgen; mach er, daß er fort kommt. Gott im Himmel! rief er aus. Jndem ward die Thuͤre wieder geoͤfnet, und drey oder vier Nonnen ſtuͤrzten heraus. Er ſprang, ohne daß ers wuſte, fort, indem Brigitte einen Schrey that. Wie der Wind flog er die Leiter hinauf, warf ſie mit dem Fuß um, und die Leiter auf der Auſſenſeite hinab. Fort, fort! rief er, ſie iſt todt! Zween Bedienten nahmen ihn in den Arm, ſchmiſſen die Leiter um, und ſchleppten ihn in den Wagen. Kommt nichts mehr? ſagte der Mann zu Pferd. Nein, rief Siegwart, fort, fort! Jndem flog der Wagen, wie der Wind da - von. Siegwart lag ohnmaͤchtig drinnen. Sie1017 waren eine Stunde weit gefahren, als der Mann vom Pferd abſtieg, einen Bedienten drauf ſitzen ließ, und ſich in den Wagen ſetzte. Es war Roth - fels. Siegwart war wieder etwas zu ſich ſelbſt gekommen. Wo iſt denn Marians? fragte Roth - fels. Todt, todt! verſetzte Siegwart. Fahrt nach Steinfeld! rief Rothfels zum Kutſcher; ſo ſchnell, als ihr koͤnnt! Der Wagen fuhr uͤber das Feld hin nach der Landſtraſſe.

Gegen zwey Uhr morgens kamen ſie in Stein - feld an, ohne daß Siegwart uͤber zwanzig Worte mit Rothfels geſprochen hatte. Man weckte den Bedienten, der unten ſchlief, mit ſo wenig Laͤrm, als moͤglich; ſo, daß Kronhelm und Thereſe nicht aufgeweckt wurden. Man legte unſern Siegwart in ein Bette, wo er in einer Art von Schlummer bis gegen Morgen halb ſinnlos lag. Bey Anbruch des Tages erwachte er; nun ſah er erſt, daß er in Steinfeld war; alles uͤbrige, was ſich die ver - gangne Nacht mit ihm zugetragen hatte, kam ihm noch wie ein Traum vor. Nach und nach kam zu ſeiner Qual alles in ſein Gedaͤchtniß wieder zu - ruͤck, und er fuͤhlte nun die Gewißheit und die Groͤße ſeines Verluſtes nur zu lebhaft. Der G -T t t1018danke an den Tod ſeiner Mariane fuhr wie ein Blitz durch ſeine Seele, und er ſtuͤrzte ſich auf ſei - ne Knie und rief, indem ihm dicke Thraͤnen aus den Augen ſchoſſen: Heiliger Gott, du haſt ſie mir genommen! Nur noch Einen Wunſch hab ich auf Erden: Laß mich ſterben! Heilige Mutter Gottes, bitt fuͤr mich, und laß mich ſterben! Ach Mariane, Mariane, rief er, indem er aufſprang, und die Haͤnde rang. Ach Vollendete, dieſe erſte Thraͤne widm ich dir. Bald wird auch die |letzte rinnen. Noch vor wenig Tagen .. ach du Heilige .. vor wenig Tagen lagſt du mir am Herzen .. und nun biſt du todt, todt, todt! Troſtlos gieng er nun aufs neu umher; warf ſich wieder auf die Erde, bethete ſtill, doch ſo, daß die Lippen ſich bewegten; und nachdem er ausgeweint hatte, ſank er in einen Seſſel, und fiel in eine Art von Betaͤubung ..

Kronhelm, der von Rothfels ſchon vorbereitet war, trat nach einer Stunde leiſe in ſein Zimmer. Siegwart ſah ihn ein paar Sekunden ſtier an, fuhr auf, gieng eilig auf ihn zu, druͤckte ihn feſt ans Herz, und rief mit groſſer Heftigkeit: Bruder, Bruder! Kronhelm konnte lange nichts ſprechen, und fuͤhrte ihn wieder nach dem Stuhl. Endlich1019 ſagte er: Jch bedaure dich unendlich. Gott was iſt das fuͤr ein Schickſal! Siegwart ſah ſeinen Schwager lang unbeweglich an. Endlich ſchoſſen ihm die Thraͤnen in die Augen; er ſtand auf, und verbarg ſein Geſicht an Kronhelms Buſen. Bru - der, ſagte er, haſt du Trauerkleider? Jch bitte dich, leih ſie mir! Kronhelm ließ ſie ihm, nach langem Weigern, bringen. Siegwart zog ſich ganz ſchwarz an, und verlangte, ſeine Schweſter zu ſprechen. Kronhelm ſagte, ſie ſchlafe noch; als aber Siegwart ſich nicht abhalten laſſen wollte, ſo ſprang er voran, um ſeine Frau auf die trauri - ge Nachricht vorzubereiten. Thereſe war eben auf - geſtanden, und ihr Bruder trat ins Zimmer. Er umarmte ſie, ſprach kein Wort, und weinte bit - terlich. Thereſe konnte vor Thraͤnen auch nicht ſprechen. Endlich erzaͤhlte er in wenig Worten ſeine ganze traurige Geſchichte, und verſank wieder in| Stillſchweigen, und anſcheinende Gefuͤhlloſig - keit.

Jm ganzen Schloß war eine allgemeine Trauer, weil Kronhelm und Thereſe traurig waren. Roth - fels hatte noch die Vorſicht gebraucht, Kronhelms Bedienten, Marx, nach Marienfeld zu ſchicken, und ſich heimlich zu erkundigen, ob eine junge1020 Nonne im Kloſter geſtorben ſey? Er kam den an - dern Tag mit der Nachricht wieder: Eine junge Nonne ſey geſtorben, und die Schweſter Brigitte ſey man wiſſe nicht warum? ihres Dienſtes entſetzt, und eingeſchloſſen worden. Man erzaͤhlte dieſes unſerm Siegwart nicht, um nicht ſeinen Schmerz aufs neu rege zu machen. Er fragte auch nicht darnach, weil er Marianen |ſchon ge - wiß fuͤr todt hielt.

Kein Menſch wagte es, den niedergedruͤckten Siegwart zu troͤſten; denn fuͤr ihn war kein Troſt auf Erden mehr. Mann konnte auch faſt gar nichts mit ihm ſprechen, weil er von zehn Fragen kaum Eine beantwortete. Er ſah immer ſeine Trauer - kleider an, und weinte. Am dritten Morgen ſuchte er ſeine Briefſchaften ſehr ſorgfaͤltig durch, verbrannte alle ſeine Papiere, und band blos die Briefe von Marianen mit einem perlenfarbnen Band zuſammen, das ſie ihm einmal geſchenkt hatte; auch legte er das Suͤckchen Tafft dazu, das ſie ihm einmal gegeben hatte, ſeinen Finger zu ver - binden. Jhren Ring trug er am Finger.

Hierauf gieng er zu Kronhelm, und ſagte: Haſt du Briefe von ? Kann ich nun ins Kloſter? Kronhelm, der indeſſen Briefe bekommen hatte,1021 wagte es nicht, ein Wort zu ſagen, um ihn von ſeinem Entſchluß abzubringen, und ſagte: Ja, ich habe Briefe vom Pater Guardian; man erwar - tet dich. Hier iſt auch ein Brief vom Pater An - ton. Siegwart brach ihn auf, las ihn haſtig durch, weinte heftig, und druͤckte ihn mit den Worten an den Mund: O du Heiliger, wie bin ich ſolcher Liebe werth? Nach einer Pauſe wen - dete er ſich zu Kronhelm: Willſt du mir morgen deinen Wagen nach dem Kloſter leihen? Schon ſo fruͤh? fragte Kronhelm. Ach Geliebter, war die Antwort; hab ich doch genug in dieſer Welt gelebt.

Kronhelm ſagte Thereſen, daß ihr Bruder mor - gen ſchon ins Kloſter wollte. Sie weinte, aber ſie wagte es auch nicht, ihrem Bruder abzura - then. Alſo machte man die traurige Anſtalt zu ſeiner Abreiſe. Siegwart bat ſich von Kronhelm als die letzte Gabe die Trauerkleider aus, die er hatte. Kronhelm konnte ihm vor Thraͤnen nicht antworten. Er, ſeine Frau, ihr Bruder, und Rothfels ſaſſen den letzten traurigen Abend beyſam - men. Keines konnte ſprechen; endlich fieng Sieg - wart, ſehr geruͤhrt, ſelber alſo an: Meine Lieben! Weinet nicht zu ſehr! Bald hats ein Ende. Kron -1022 helm, du haſt viel gelitten, und auch du, Thereſe; und doch nahms ein Ende. Und doch ſeyd ihr noch ſo fern vom Grab, wo alles Leiden aufhoͤrt, und ich bin ihm ſchon ſo nah. Hat doch Maria - ne ausgelitten; warum ſollt ich nun nicht alles tragen? Damals wars noch ſchwer, als ich mit ihr trug, und ſie mit mir, aber nun iſt alles leicht ..... Ach, daß ich euch troͤſten muß! Jhr verliert nur mich, und Jch habe ſie verloh - ren Lieben Freunde, ihr habt viel gethan an mir .. und beſonders Sie, mein Rothfels, in den letzten Tagen. Gott vergelts Euch! waͤrs auf Euch angekommen, ich waͤre gluͤcklich. Gott hats anders gewollt, und ich mutre nicht. Jſt ſie doch in der Hand des Allmaͤchtigen, und wird mir bald entgegen kommen .. Darum troͤſtet Euch! Jch werde gluͤcklich .. Glaubet mir, im Himmel werd ich ihr erzaͤhlen, was ihr an mir thatet. Gott wirds ſegnen. Jch kann nichts |vergelten. Dieſe kurze Zeit noch, daß ich lebe, will ich fuͤr Euch bethen. .. Warum weineſt du, mein Kron - helm, und du, meine Schweſter? Soll ich mit euch weinen? Ja, ihr wart mir lieb und theuer; ach, ihr wißt es ſelbſt, wie mein Leben euch zu Dienſte ſtand! Aber nun iſts aus; nun ge -1023 hoͤr ich Gott .. und meinem Engel .. und es wird bald ausgeweint ſeyn. .. Hier konnt er vor Schluchzen nicht weiter reden. Allen wars, als ob das Herz ihnen berſten wollte .. Siegwart nahm ein Glas mit Wein, und ſagte: Seht! meine Thraͤnen flieſſen in den Wein. Es ſind Thraͤnen der Freundſchaft, der Trennung und des Danks. Jedes trink und wein in das Glas! Trink, mein Kronhelm, und du, meine Schweſter, und du, mein Rothſels! Gebt nun mir das Glas, und laßt michs vollends leeren! .. Und nun gebt mirs mit, daß es mir heilig ſey bis an mein En - de! O, Gott ſegn euch, meine Lieben, fuͤr die vielen Thraͤnen! .. Kronhelm, du begleiteſt mich, das weis ich .. Und dich, meine Schwe - ſter, ſeh ich wieder. Du beſuchſt mich, wenn du ſtaͤrker biſt: und auch meinen Rothfels ſeh ich wie - der. Vielleicht zieht ſich noch mein Leben ein paar Jahre hin. Jch bin nah bey euch, und ſeh euch wieder. .. Darum weint jetzt nicht ſo ſehr! .. Thereſe, morgen kuͤß ich noch einmal dein Kind, wenn es ſchlaͤft. Allen Segen des Himmels will ich ihm erflehen. .. Jch bitte dich, ſieh mich mor - gen nicht mehr! Du biſt ſchwach, und ich muß ſtark ſeyn, denn ich geh ja ein ins Land der Ruhe.

1024

Thereſe verſprach, ihn Morgen nicht zu ſehen. Er druͤckte ſie mit Schluchzen an ſein Herz. Beyde konnten nicht ſprechen.

Den andern Morgen um vier Uhr gieng Sieg - wart in das Zimmer, wo Thereſens Kind ſchlief. Er kuͤßte den kleinen Engel, und muſte weggehn, um das Kind durch ſein Schluchzen nicht zu wek - ken. Gott, rief er aus, wie ruhig ſchlaͤft es! war - um koͤnnen wir nicht Kinder bleiben? Hierauf ſetzte er ſich mit Kronhelm in den Wagen, und fuhr weg. Sein uͤbriges Vermoͤgen, was er nicht ins Kloſter mitnahm, vermachte er ſeiner Schweſter Salome die ihm tauſend Thraͤnen nachweinte. Rothfels blieb zuruͤck, um Thereſen zu troͤſten.

Er war im Wagen ruhiger und ſtaͤrker als man erwarten konnte. Der Gedanke ans Kloſter war etwas Neues, und beſchaͤftigte ſeine Seele; auch der Gedanke an den nahen Tod troͤſtete ihn. Seine Seele ward ſtaͤrker, je ſchwaͤcher er ſeinen Koͤrper fuͤhlte.

Kronhelm rieth ihm, ſeine Geſchichte ſorgfaͤltig zu verbergen|, weil ſie ihm im Kloſter ſchaden koͤnnte. Siegwart verſprachs; nur meinem |lie - ben Pater Anton, ſagt er, kann ich nichts ver -1025 helen. Er ſoll der Vertraute meines Jammers ſeyn, bis das Grab mich einſchlieſt.

Den Nachmittag kamen ſie im Kloſter an. Kronhelm ließ dem Guardian durch den Thorwart ſeine, und ſeines Schwagers Ankunft melden. Der Guardian empfieng ſie mit der groͤſten Freund - ſchaft, und erinnerte ſich unſers Siegwarts wieder mit Vergnuͤgen. Wir dachten ſchon, ſagte er, Sie haͤtten uns vergeſſen, weil uns Pater Philipp keine Nachricht mehr von Jhnen geben konnte. Beym Namen: Pater Philipp fieng unſerm Siegwart das Herz an, zu ſchlagen; denn er hatte wirklich bey den mancherley Zerſtreuungen, und den vielen Leiden der Liebe, ſchon ſeit langer Zeit kaum an Pater Philipp gedacht, geſchweige denn an ihn ge - ſchrieben. Weil Kronhelm ſah, daß dieſe Anrede ſeinen Schwager in Verlegenheit ſetzte, ſo nahm er an ſeiner Statt das Wort, und ſagte: Siegwart habe eine Zeither viel gelitten; aber doch ſey ihm das Kloſter niemals aus dem Sinn gekom - men, ob er gleich nicht im Stand geweſen ſey, dem Pater Philipp Nachricht von ſich zu geben.

Sie waren kaum etliche Minuten da, ſo kam der redliche Pater Anton der von Siegwarts An - kunft gehoͤret hatte, ins Zimmer. Siegwart flog1026 ihm entgegen und in ſeinen Arm. Mein Vater! Mein Sohn! riefen ſie zu gleicher Zeit aus, und weinten.

Der Pater Guardian fragte hierauf unſern Siegwart, ob er nun im Ernſt geſonnen ſey, ins Kloſter zu treten! und auf ſeine Bejahung ließ er ihm ſeinen Aufenthalt bey zwey |andern Novizien anweiſen. Kronhelm blieb noch denſelben Tag da, und ſchlief drauſſen vor dem Kloſter bey dem Klo - ſteramtmann. Nachdem er mit dem Guardian wegen des Geldes, das Siegwart mit ins Klo - ſter bringen ſollte, alles in Richtigkeit gebracht hatte, ſo gieng er am Abend mit dem Pater Anton und ſeinem Schwager im Kloſtergarten ſpatzieren. Die - ſem kamen alle die Empfindungen wieder ins Ge - daͤchtniß, die er ehemals in ſeiner gluͤcklichern Ju - gend hier gehabt hatte. Er erinnerte ſich ſeines ſeligen Vaters, mit dem er das erſtemal hier gewe - ſen war, und des verſtorbnen rechtſchaffnen Pater Gregors. Gott, wie war jezt alles ganz anders! Es war ihm nicht moͤglich, ein Wort vorzubringen; er konnte nichts als ſchluchzen. Der Schmerz und die gewaltige Bewegung druͤckten ihn faſt zu Boden. Pater Anton und ſein Kronhelm, zwi - ſchen welchen er gieng, konnten auch nichts ſpre -1027 chen; Anton, vor groſſer Freude, weil er ſeinen lie - ben jungen Freund wieder ſah; Kronhelm, weil er ſeinen Schwager, ſeinen innigſten und treuſten Freund, hier in ſeinem troſtloſen Jammer allein zuruͤcklaſſen ſollte.

Kronhelm kam den andern Morgen zu ſeinem Siegwart, um Abſchied von ihm zu nehmen. Lange ſtund er bey ihm, und konnte doch kein Wort ſagen. Oft wollte er anfangen, aber die Worte ſtarben ihm auf der Zunge. Endlich fieng Sieg - wart ſelber an: Unſre Thereſe wird wohl auf dich warten. Gib ihr dieſen Kuß in meinem Namen! Bruder, du bedaurſt mich; aber komm ich doch dem Grabe immer naͤher. Jſt doch ſchon das Klo - ſter ein Grab auf der Welt fuͤr die Lebendigen Leb wohl, hab Dank fuͤr alle Liebe! Hier er - ſtickten Thraͤnen ſeine Reden. Kronhelm fiel ihm um den Hals. Leb ewig wohl! ſagte er, beſuch uns! Gott ſtaͤrke dich! Er riß ſich von ihm los, und wollte allein wegeilen. Aber Siegwart folgte ihm nach bis an den Kutſchenſchlag. Sie umarmten ſich; Kronhelm ſtieg ein, zog das Kut - ſchenglas auf, und fuhr weg.

Nun eilte Siegwart auf die Zelle ſeines lieben Pater Anton, und ließ ſeinem Schmerz und | ſeinen1028 Thraͤnen freyen Lauf. Anton ließ ihn ausweinen, und verſuchte es nicht, ihn zu troͤſten. Ver - zeihen Sie, ſagte Siegwart, ich weine nicht um die Welt; ſie hat keine Freuden mehr fuͤr mich. Jch habe viel gelitten, theurer Vater! ach, unaus - ſprechlich viel. Sie ſollen alles wiſſen, aber jetzt nicht! Jetzt kann ich nichts, als weinen. Ge - troſt, mein Sohn! ſagte Pater Anton; Du ſollſt Ruhe finden! Jch hab auch viel gelitten. Will dirs auch erzaͤhlen. Du ſollſt viel aus meiner Ge - ſchichte lernen. Sie iſt auch traurig; aber fremde Lei - den ſind ein Troſt fuͤr den Ungluͤcklichen. Jch hab endlich Ruh gefunden; Gott gebe ſie dir auch!

Siegwart gieng auf ſeine Zelle, ſtuͤtzte ſich auf ſeine Hand, und dachte nun zum erſtenmal wieder an ſeine Mariane. Er ſah alles in der Zelle an. Gott! dachte er, in einem ſolchen engen, truͤben Aufenthalt hat mein Engel, die Vollendete, gedul - det und ausgerungen. Gott! um meinetwillen! Gern will ich auch alles dulden. Hier auf dieſem Bette ſoll mein Geiſt den letzten Kampf kaͤmpfen, und ſich dann, aus dieſer Zelle, aufſchwingen, und auf ewig bey ihr ſeyn ... Ewig, Ewig ..! O! was ſind die Leiden dieſer Zeit: Heilige, gern will ich dulden; denn ich ſoll ja ewig, ewig, bey dir1029 ſeyn! So ſchwaͤrmte er ſich in uͤberirrdiſche Empfindungen hinein, und vergaß Welt, und alles um ſich her.

Der Guardian und die andern Paters begegne - ten ihm mit Freundſchaft und Liebe, und unter - ſchieden ihn, da er mehr Vermoͤgen mit ins Klo - ſter brachte, ſehr von den beyden andern, die mit ihm das Noviziat antreten ſollten. Der Eine, Bru - der Porphyr, war ein feuriger, oft ausgelaſſener Juͤngling, der eher zum Herrſchen, als zum Ge - horchen gebohren war, und beſſer einen Officier, als einen ſtillen und geduldigen Moͤnch abgegeben haͤtte. Aber ſein Vater hatte mehrere Kinder, und ein maͤſſiges Vermoͤgen. Alſo hielt ers fuͤr ein Gluͤck, daß ſein Sohn hier eine Verſorgung finden ſollte. Der andre Bruder Jſidor, war ein dummer, ſchlaͤfriger Menſch, der ſein Leben ſo hintraͤumte, ohne viel dabey zu denken. Seine Mutter, ein bigottes Weib, hatte ihn, weil ſie bey ſeiner Geburt faſt ſtarb, von Jugend auf zum Moͤnch beſtimmt, und ihm ſchon, als Knaben, eine Kapuzinerkutte angelegt. Fragte man den Knaben, was er wer - den wollte? ſo ſagte er: ein geiſtlicher Herr. Die Mutter ſagte ihm, im Kloſter koͤnn er ohne viele Muͤh ein Heiliger werden; und dem Knaben war1030 alles recht, was nicht viele Muͤhe koſtete. Der Beichtvater ſeiner Mutter, ein Kapuziner, kam oft in ſein Haus. Sein dicker Bauch gefiel ihm, und ſeine Erzaͤhlungen von der Ruh im Kloſter wurden von dem Knaben begierig angehoͤrt. Man that ihn auf die Schule; er lernte da ſo wenig, als er brauchte; auf der Univerſitaͤt in Dillingen trank er ſein Glas Bier in Ruhe, und gieng nun, als er alt genug war, ins Kloſter.

Keiner von beyden war fuͤr unſern Siegwart geſchaffen. Bruder Porphyr wollte immer nur luſtige Univerſitaͤtsſtuͤckchen von ihm wiſſen, und war ihm mit Erzaͤhlungen ſeiner Streiche, die er in der Welt getrieben hatte, laͤſtig. Wenn Siegwart in tiefer Melancholie da ſaß, und mit ſeiner Seele ganz bey Marianen war, ſo ruͤttelte er ihn, und wollte ihn durch Spaß munter machen; und einem Traurigen iſt nichts widriger, als eine unzeitige Luſtigkeit. Jſidor ſprach gar nichts, ſchlief groͤ - ſtentheils, oder ſaß unthaͤtig und gedankenlos da, und nahm an gar nichts Antheil. Siegwart nahm alſo ſeine Zuflucht zur einſamen Andacht, der er, ſo lang die Witterung noch gelind war, in einer Grotte im Garten pflegte; oder er ſchrieb kurze Aufſaͤtze, die an Gott oder Marianen gerichtet waren; oder1031 er ſaß bey ſeinem lieben Pater Anton auf der Zelle. Gleich in den erſten Tagen erzaͤhlte er ihm, mit tauſend Thraͤnen, und aufs unpartheyiſchſte ſeine Geſchichte. Der alte Mann, der der Welt ſchon ganz abgeſtorben war, wurde oft im Jnner - ſten dabey bewegt, und nahm an Marianens und an ſeines jungen Freundes Schickſal ſoviel Antheil, als ein Juͤngling. Er war offenherzig genug, un - ſerm Siegwart verſchiedne Abende nach einander ſeine ganze Geſchichte, die oft ſehr traurig war, zu erzaͤhlen, und ihm auch die Verirrungen, in die er ſich verwickelt hatte, nicht zu verſchweigen. Unſer Siegwart hoͤrte ihm mit tiefer Ruͤhrung zu; oft vergaß er dabey ſeiner eignen Ungluͤcksfaͤlle; oft aber ward er wieder durch die entfernteſte nur an - ſcheinende Aehnlichkeit aufs lebhafteſte an ſeine eig - nen Schickſale erinnert, ſo daß Anton manche Viertelſtunde in der Erzaͤhlung inne hielt, und mit ihm weinte.

Siegwart konnte nicht begreifen, wie ein Mann, der ſoviel ausgeſtanden hatte, wie Pater Anton, mit ſeinem empfindungsvollen, tieffuͤhlenden Her - zen nicht nur ſolche Leiden| uͤberleben, ſondern wie - der zu einer ſolchen Ruh| gelangen koͤnnte; er aͤuſſerte auch ſeine Verwunderung daruͤber, und1032 glaubte, ihm wuͤrde dieſes nicht moͤglich ſeyn. Lie - ber Xaver, ſagte Anton, ich habs auch nicht geglaubt, als der Schmerz noch neu in meiner Seele, und ich noch ein Juͤngling war. Jn der Jugend fuͤhlt man alles noch ſo ſtark, und traut ſich auf der einen Seite zu wenig, und auf der an - dern zu viel zu. Leiden glaubt man nicht tragen zu koͤnnen. Jede Leidenſchaft, glaubt man, muͤſſe dieſen Koͤrper gleich zertruͤmmern; aber in der Jugend kann der Koͤrper weit mehr tragen, als im Alter. Drum gab Gott, dem das Leben eines Menſchen theuer iſt, uns gewoͤhnlich nur ſo lang ſtarke Leidenſchaften, als der Koͤrper ſtark genug iſt, ihre Erſchuͤtterungen zu tragen. Mit dem Wachsthum der Jahre nehmen ſie ab, und die Reizbarkeit der Empfindung auch. Siehſt du, Freund, ſo wird der Alte ruhig, in deſſen Bruſt es vorher noch ſo ſehr geſtuͤrmt hat. Die Jugend half ihm die Stuͤrme aushalten, und nach dem Sturm kommt Ruhe. Alſo iſt ſie ſehr natuͤrlich, ob es gleich auch eine kuͤnſtliche Ruhe giebt, die von guten Grundſaͤtzen, von Erfahrung, Philoſo - phie, und Anwendung der Religion erzeugt wird. Der Welt waͤre ſchlecht geholfen wenn Ungluͤck des Herzens jeden Juͤngling ſogleich toͤdtete; denn1033 mehrentheils ſind die Juͤnglinge, die tief empfin - den, deren groͤſtes Ungluͤck ihr zu fuͤhlendes Herz iſt, die edelſten, die der Welt am meiſten dienen koͤnnen. Du biſt alſo dich der Welt noch ſchuldig, und muſt auf deine Selbſterhaltung denken! Jch weiß wohl, daß der Wunſch nach dem Tod, und das heißt Sehnen darnach, dir, und dem Juͤngling uͤberhaupt ſehr natuͤrlich iſt. Der Juͤngling liebt alles Neue, Ungewoͤhnliche und Feyerliche, und was iſt feyerlicher als der Uebergang aus dieſem Leben in ein anderes, uns ſo wenig Bekanntes! Der oͤftere Gedanke an den Tod wird uns zuletzt gewoͤhnlich; das Lachende verliert ſich, und wir ſehn den Tod als ein Beingerippe an, vor dem man ſich deſtomehr entſetzt, je naͤher man ihm kommt. Jch geſtehs, du haſt viel ausgeſtanden; Marianens Verluſt muß dir unausſprechlich ſchmerz - lich, und der Gedanke, wieder mit ihr vereiniget zu werden, muß dir der ſuͤſſeſte ſeyn; aber, lieber Freund, zu ſehr und zu lebhaft muſt du ihm nicht nachhaͤngen! Denn daruͤber wuͤrdeſt du unbrauch - bar fuͤr die Welt und fuͤr das Kloſter, in dem du jetzt doch ein Mitglied werden willſt. Du wuͤrdeſt nach und nach deine Geſundheit und dein LebenU u u1034ſchwaͤchen, uͤber das du doch nicht ſoviel Gewalt haſt, daß du es ablegen kannſt, wann du willſt. Glaub nicht, daß fuͤr dich kein Gluͤck und keine Ruhe mehr auf Erden iſt! Gott, der dieſes dir genommen hat, kann dirs wieder geben, und aus Erfuͤllung unſrer Pflichten fließt die meiſte Ruhe.

Siegwart weinte, und verſprach, ſeinen Ver - druß des Lebens, wo moͤglich, zu beſiegen, we - nigſtens nichts vorzunehmen, was ſeinen Tod be - ſchleunigen koͤnnte. Er ſprach jetzt weniger vom Tode, wenn er bey ſeinem lieben Pater Anton war. Er ſah wohl ein, daß er ſchuldig ſey, fuͤr ſeine Erhaltung zu ſorgen, und ſich nicht dadurch zu ſchwaͤchen, daß er ſeinem Gram beſtaͤndig nach - hieng. Aber doch betaͤubte ſein Gefuͤhl ge - woͤhnlich ſeine Ueberzeugung; er konnte ſich, zu - mal wenn er allein war, ſelten aus ſeiner Melan - cholie herausreiſſen; oft dachte er halbe Naͤchte durch an ſeine Mariane; ſie ſchien ihm wachend und im Schlummer zu winken, und dann bemaͤch - tigte ſich ſeiner ein ungeduldiges Sehnen nach dem Tod; er bat Gott darum mit lautem Weinen; und dann machte er ſich ſelber wieder Vorwuͤrfe, und bath Gott ſeinen Fehler ab.

1035

Nach drey Wochen, die er nun im Kloſter zu - gebracht hatte, ward ihm vor dem Altar die Klei - dung angelegt. Sein ſchwarzes Kleid, das er in der Kirche ablegte, ward mit einer braunen Kutte vertauſcht, und das Noviziat fieng ſich an. Er bekam den Kloſternamen Georg. Er mußte nun alle die Geſchaͤfte und Uebungen des Gehorſams an - treten, die ein Neuangehender im Probejahr aus - zuhalten hat. Der damalige Novizmeiſter war ein ſtrenger und wunderlicher Mann, der den Novi - zien oft laͤcherliche Uebungen auflegte. So mußten ſie, zur Uebung im Gehorſam, Holz aus der Holzkammer holen, und wenn ſie ziemlich viel geholt hatten, mußten ſie es wieder zuruͤcktragen. Es ward ihnen warmes Eſſen vorgeſetzt, und wenn ſie eben eſſen wollten, ward es wieder weggenom - men, und ſie mußten trocknes Brod eſſen. Jn der Bibliothek mußten ſie im kalten Winter die Buͤcher |aus einem Schrank in den andern ſetzen, und dann wieder zuruͤck in den vorigen Schrank tragen; kurz: immer Arbeiten ohne Zweck ver - richten.

Dem Bruder Porphyr gefiel dieſes ſehr uͤbel. Er beklagte ſich oft daruͤber gegen unſern Sieg - wart, und ſagte, daß er dieſes nicht aushalte, und1036 in einem halben Jahre geh er wieder aus dem Klo - ſter. Er wolle lieber jeden andern Stand, als dieſen Sklavenſtand erwaͤhlen, da er blos allein von dem Eigenſinn und den Grillen eines naͤrriſchen Novizmeiſters abhaͤnge. Siegwart aber ertrug ſein Loos, mit Gelaſſenheit, ob er wol ſonſt frey genug dachte. Er glaubte, dieſe Unterwerfung Gott ſchuldig zu ſeyn, und dieſes Schickſal verdient zu haben; denn bey ſeinen beſtaͤndigen Andachts - uͤbungen, und in der fortdaurenden Einſamkeit bekam ſeine lebhafte Einbildungskraft wieder einen neuen Schwung, und lenkte ſich auf die Seite der Andaͤchtigen, wohlgemeynten Schwaͤrmerey. Es ſtiegen ihm allmaͤhlich verſchiedne Zweifel und Gewiſſensſcrupel wegen ſeines vorigen Lebens auf, da er ſich Gott ſchon einmal gewidmet hatte, und ſich nun durch die Liebe zu Marianen wieder von ihm ab, und zur Weltliebe hatte verleiten laſſen; da er ſogar auf den Vorſatz gefallen war, Gott und der Kirche eine Braut zu entziehen. Dieſe Vorſtellun - gen machten ihn aͤngſtlich, und brachten eine neue Art von Melancholie in ihm hervor, die noch tie - fer, als die vorige, ſich in ſeine Seele eingrub. Er machte ſich nun ein Gewiſſen und ſogar ein Ver - brechen daraus, an ſeine Mariane zu denken, die1037 ihm doch unwillkuͤhrlich und beſtaͤndig vor der See - le ſchwebte. Verſchiedne Aufſaͤtze, die er hinter - laſſen hatte, zeugen von dieſem neuen und ſchreck - lichen Kampf ſeiner Seele, unter dem er faſt er - lag, und unter welchem ſeine Geſundheit ſehr litt. Er hatte nicht einmal das Herz, ſeinem P. Anton etwas davon zu entdecken. Er glaubte nun dafuͤr buͤſſen zu muͤſſen, und trug alle Proben des Ge - horſams, die ihm der Novizmeiſter auflegte, mit Gelaſſenheit und Stille. Die Klagen des Bruder Porphyrs ſuchte er zu widerlegen, und gab ſich Muͤhe, ihn zu bekehren, und in ihm den Ent - ſchluß hervorzubringen, vom Kloſter nicht abtruͤn - nig zu werden. Aber ſeine Vorſtellungen halfen nichts bey dem ziemlich leichtſinnigen Porphyr.

Er wendete ſich alſo mit ſeinen Bemuͤhungen an den ſchlaͤfrigen Bruder Jſidor, der ſich auch oft uͤber die vielen Arbeiten und Beſchwerlichkeiten be - klagte. Seine geiſtliche Vorſtellungen halfen bey dieſem wenig; aber deſto mehr die Winke, die er ihm gab, daß dieſe Probe ja nur ein Jahr daure, und daß dann Ruhe und Bequemlichkeit nachfolge; er duͤrfe nur die Paters anſehen, welch ein ruhiges Leben dieſe fuͤhrten. Dieſes gefiel dem phlegmati - ſchen Jſidor; er ſchielte bey ſeinen Arbeiten immer1038 auf die andern Paters, die in Ruh und groͤſten - theils in Faulheit und Unthaͤtigkeit ihr Leben hin - brachten. Er ſehnte ſich alſo nach dem Ende dieſes Probejahrs, um dann ausruhen, und als Pater ſein Leben in ewiger Unthaͤtigkeit hinbringen zu koͤnnen. Jn dieſer Hofnung verſprach er unſerm Siegwart, das Probejahr auszuhalten und im Klo - ſter zu bleiben. Daruͤber triumphirte Siegwart bey ſich ſelbſt, und hielt es fuͤr eine Frucht ſeiner frommen Vorſtellungen, ſo daß er glaubte, durch dieſe Bekehrung ein groſſes gutes Werk gethan zu haben.

Die Poͤnitenzen oder Bußuͤbungen waren auch ſehr ſtreng, beſonders das Faſten und das Geiſſeln. Die Paters mußten oft bey Nacht in ein dunkles Gewoͤlde gehen, und ſich mit den Stricken, die ſie an ſich haͤngen hatten, auf den bloſſen Ruͤcken geiſſeln. Das Schlagen gab ein Getoͤſe, daß das ganze Gewoͤlbe wiederhallte. Unſer gewiſſenhafter Siegwart ſchlug ſich allemal blutruͤnſtig, ſo daß er eine Menge Bluts verlohr. Darunter litt ſeine Geſundheit, bey dem ohnedieß immer nagenden Seelenkummer, noch mehr. Seine Geſichtsfarbe verlohr ſich voͤllig, und ſeine Kraͤfte nahmen zuſe - hends ab. Umſonſt warnte ihn P. Anton, ſich zu1039 ſchonen, und gegen ſeinen eignen Koͤrper nicht mehr, als noͤthig waͤre, zu wuͤten. Bruder Porphyr lachte ihn oft aus, denn er hatte gemerkt, daß ſich die Paters entweder blos mit der Hand auf den Ruͤcken, oder mit den Stricken blos an die Saͤulen, oder an die Wand ſchlugen. Dieſe Liſt machte er nach, und rieth unſerm Siegwart an, es auch nachzumachen. Dieſer hielt aber ſeinen Rath fuͤr gottlos, und betruͤbte ſich uͤber ſeinen Leichtſinn. Jſidor hingegen war das eine angeneh - me Entdeckung, die er ſich ſehr zu Nutze machte.

Siegwart ſah nun auch ein, daß das Kloſterle - ben wie das meiſte auf der Welt von auſſen ſchoͤn glaͤnzt, wenn mans aber genauer kennen lernt, tauſend Maͤngel und Unvollkommenheiten hat; er ſah taͤglich mehr den innern Krieg, den Neid, und die Misgunſt, die unter den Paters gewoͤhnlich herrſcht. Er ſah, daß faſt keiner ein aufrichtiger Freund des andern, und daß das Klo - ſter ein Sammelplatz faſt aller haͤßlichen menſchli - chen Leidenſchaften iſt. Faſt alle Tage gab es Zank, und Sticheleyen, und Verhetzungen. Er betruͤbte ſich heimlich daruͤber, hielt ſich aber deſto mehr ver - bunden, ſich von dieſen Schlacken rein zu halten,1040 und ſein Herz unter den Unheiligen Gott zu wid - men und zu heiligen.

Den meiſten Kummer aber, der am ſchmerzlich - ſten heimlich an ſeiner Seele nagte, machte ihm, daß er, zumal an den truͤben, einſamen Winter - tagen, ſo unthaͤtig in ſeiner Zelle ſitzen mußte, ohne in einem nuͤtzlichen und vernuͤnftigen Buche leſen zu duͤrfen; denn die Bibliothek enthielt faſt groͤſtentheils Legenden, und er durfte noch dazu nur die Buͤcher leſen, die ihm der Novizmeiſter gab, und die ſehr ſchlecht gewaͤhlt waren. Seine Dich - ter, und uͤberhaupt kein Buch hatte er mit ins Kloſter bringen duͤrfen. Jedes Buch, das ins Kloſter kam, wurde erſt viſitirt, und unter dieſen durſte nie kein Dichter, am wenigſten ein prote - ſtantiſcher Schriftſteller ſeyn. Tauſendmal ſehnte er ſich nach ſeinem lieben Klopſtock, zu dem er ſonſt in Freud und Leid ſeine Zuflucht genommen hatte. Auch ſchmachtete er oft, wenn ſeine Seele truͤb und wehmuͤthig war, umſonſt nach ſeiner treuen Freundin, der Muſik, um ſeinen Schmerz auf der Violine weinen, oder toben, oder auf der ſanften Floͤte ſchmachten zu laſſen. Denn im Klo - ſter durfte man keinen Laut von einem Jnſtrument hoͤren laſſen. Seine einzige Beſchaͤftigung war,1041 die Stellen, die ihm aus Haller, Kleiſt, und Klop - ſtock im Gedaͤchtniß geblieben waren, und kleine Auſſaͤtze an Gott und Marianen, und beſonders eine ziemliche Anzahl melancholiſcher, elegiſcher Ge - dichte, die ſeine ganze Geſchichte und den Zuſtand ſeines Herzens ſchilderten, niederzuſchreiben.

Pater Anton ſah den guten Juͤngling ſchmach - ten, und ſichtbar nach und nach dahin ſterben, ohne ihn troͤſten zu koͤnnen. Er litt mit ihm, und oft ſaſſen ſie ganze Stunden beyſammen, |ſahn ſich wehmuͤthig und ſchmachtend an, und fuͤhlten jeden Augenblick der Zeit, wie er truͤb und freudenleer dahin ſchlich.

Jm Fruͤhjahr nahm ihn Pater Anton gewoͤhn - lich auf die benachbarten Doͤrfer mit, wo er All - moſen einſammelte, predigte, und dem Bauervolk in geiſtlichen und weltlichen Anliegen guten Rath ertheilte. Unſer Siegwart war bey den Bauren ſehr beliebt, weil er ſie auch auf eine ruͤhrende und eindringende Art zur Froͤmmigkeit ermahnte. Sie nannten ihn in der ganzen Gegend den ſchwer - muͤthigen Bruder Georg. Aber die Liebe dieſer guten Leute war nicht im Stande, einen Stral von Heiterkeit und Ruhe in ſein truͤbes Herz zu gieſſen. Faſt alles ließ ihn kalt; auch ſogar der1042 Fruͤhling, und die wieder auflebende Natur, die ſein Herz ſonſt immer mit |neuer Wonne angefriſcht hatte. Statt der Freude, die der Fruͤhling jeder jugendlichen Seele, auch ſogar dem Alter bringt, brachte er ihm nichts als Seufzer, aͤngſtliches Schmachten, und wehmuͤthige Wiedererinnerung an den verbluͤhten Fruͤhling ſeines Lebens, und die ehemaligen Freuden und ſuͤſſen Schmerzen ſeiner ungluͤcklichen Liebe. Er gieng kalt und fuͤhllos, oder weinend auf bebluͤmten Wieſen und zwiſchen bluͤ - henden Fruchtbaͤumen hin; die Nachtigall ſang ihm Grablieder; er ſah aus den Bluͤthen Tod hervor - keimen, wenn er ihre kleinen Blaͤtter, vom Wind abgeſchuͤttelt, haufenweiſe, wie Schnee herabſin - ken ſah; er legte ſich unter die Kirſchbaͤume, ließ von den Bluͤthen ſich bedecken, und dachte: ſtuͤrb ich doch auch mit ihnen! Wenn er auf der Wieſe einen Haufen Blumen bey einander ſtehen ſah, ſo erhub ſich ein Sehnen in ſeiner Bruſt, unter die Blumen ſich zu legen, und zu ſterben. Sein Blick war immer mehr zum Himmel gekehrt, als auf die Erde; wenn er hoͤrte, daß ein Menſch geſtorben ſey, ſo pries er ihn gluͤcklich, und wuͤnſchte ſich an ſeine Stelle. Wenn ihn Pater Anton Abends nicht im Garten antraf, ſo ſuchte er ihn auſ dem Gottesacker,1043 wo er ihn gewoͤhnlich auf dem Grab des P. Gre - gors fand. Er fuͤhlte, daß ihn der innerliche Gram, das viele Faſten, und das ſtrenge Geiſſeln nach und nach abzehrten und entkraͤfteten, und fuͤhlte es gern. Wenn der Schlaf, das Bild des Todes kam, ſo flehte er zu Gott, ihn bald in den ewigen Schlum - mer einzuwiegen, aus dem kein Aufſtehn mehr zu Schmerz und Thraͤnen ſeyn wird.

Als ein halbes Jahr um war, gieng Bruder Por - phyr wieder aus dem Kloſter. Man ließ ihn gern gehn, weil er allerley ſchlechte und muthwillige Strei - che gemacht hatte. Als man aber unſern Siegwart fragte, ob er bleiben wollte? ſo ſagte er mit Freuden Ja, ohngeachtet ihn der Novizmeiſter ſo hart hielt.

Kronhelm beſuchte ſeinen lieben Siegwart ein paarmal im Kloſter. Er erſchrack, als er ihn ſo blaß und abgezehrt fand. Er wendete alle Muͤhe an, ihn zu uͤberreden, das Kloſter wieder zu verlaſſen, und ſich nicht ſelbſt ins Grab zu bringen; aber alle ſeine Zaͤrtlichkeit und Liebe war vergeblich angewendet. Siegwart haͤtte es fuͤr einen Kirchenraub gehalten, wenn er haͤtte wieder in die Welt zuruͤck kehren wol - len. Die Furcht ſeines Kronhelms, daß er bald ſterben moͤchte, ſchmeichelte ihm, und er hoͤrte von1044 nichts lieber reden, als von ſeinem Tode. Einmal bekam er auch die Erlaubniß, ſeine Schweſter The - reſe zu beſuchen. Dieſe, ſo gluͤcklich ſie auch in der Liebe ihres Kronhelm war, konnte doch, ſo lang ihr Bruder gegenwaͤrtig war, nichts als weinen. Sie ſah ihren Bruder, den ſie ſo unausſprechlich liebte, nach und nach dem Tode welken; dieſer Anblick war ihr unertraͤglich. Das ganze Schloß, das ſonſt ſo gluͤcklich war, gerieth in Trauer. Siegwart ſaß ei - nen Abend bey Kronhelm und Thereſen, die ihr Kind auf dem Schoos liegen hatte. Das Kind ſchlief; Siegwart ſah es an, mit Thraͤnen in den Augen. Armes Knaͤbchen, ſagte er, du ſchlummerſt jetzt ſo ruhig, und laͤchelft im Schlaf. Wenn du aufwachſt, wird die Welt dir entgegen lachen, denn du ſiehſt nirgends keine Sorge. Moͤchteſt du doch ewig ein Kind bleiben, oder ſterben, eh das Juͤng - lingsalter kommt! Wenn der Juͤngling aufwacht, ach dann iſts gar anders. Tauſend Sorgen wachen mit ihm auf, Leiden werden ſtets mit ihm geboh - ren, deren Keim ſchon in der Seele liegt. Gebt mir euren Kleiſt her, daß ich mein Lieblingsſtuͤck wieder einmal leſe: Weh dir, daß du gebohren biſt ꝛc. So ſprach er oft bey ihnen, und Kron - helm und Thereſe wagtens nicht, ihn zu troͤſten.

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Er ward auch auf die Vermaͤhlung des braven Rothfels mit der Schweſter Kronhelms geladen, aber er kam nicht, und ſchrieb ihnen:

Laßt mich, lieben Freunde, in der Zelle mei - ner Leiden! Bittet man den Tod zu Gaſt beym Freudenmahl? Soll mein Anblick Euch erinnern an die Stunde Eurer Trennung, und daß alle Freuden dieſes Lebens nichts ſind? Jch will Gott flehn, daß er Euren Blick nicht dringen laſſe in die Zukunft! Daß ihr nur die Blumen, die der Fruͤhling darreicht, aufkeimen, und nicht ſterben ſeht! Flechtet keinen Kranz von Blumen, denn ſie welken, eh der Abend anbricht! Hier ſchick ich Euch einen Kranz von Jmmergruͤn! Er vergeht auch, aber ſpaͤter, als die Blumen. Wenn es Ruhe gibt, und Gluͤck, ſo fleh ichs Euch von Gott herab.

Sein Schmerz ward immer duͤſterer und ſtum - mer. Anton wars faſt allein, mit dem er ſprach. Sein Leben war eine beſtaͤndige Andacht, und da - bey war er am heiterſten, denn ſein Blick drang immer ſchaͤrſer in das Leben jenſeits des Grabes. Oft weinte er Freudenthraͤnen, wenn er im zuver - ſichtlichſten Vertrauen ſein nahes Ende ſah. Er fuͤhlte die Gegenwart Gottes aufs lebendigſte, und1046 ward faſt bis zum Anſchauen uͤberzeugt, daß Gott den Menſchen nur eine Zeitlang fuͤr die Leiden, nach dieſen aber fuͤr ein ewig gluͤckliches und ruhi - ges Leben geſchaffen habe. Und dann dankte er Gott fuͤr ſein Daſeyn, auch ſogar fuͤr ſeine Leiden. Aber freylich ſind dieſe Stunden der heiterſten und zuverlaͤßigſten Gewißheit bey dem Menſchen, dem ſein Koͤrper alle Augenblicke dran erinnert, daß er noch auf der Welt iſt, ſelten. Oft konnte er ganze Tage lang nichts denken, als die Trennung von ſeiner Mariane, ohne die Wonne des Wiederſe - hens, und der Wiedervereinigung zu fuͤhlen, und dieſe Tage waren ihm die traurigſten und baͤng - ſten.

Sein Andenken an Marianen und der damit verbundne Schmerz wachte wieder neu auf, als man bey folgender Veranlaſſung einige Tage lang im Kloſter von nichts als von Nonnen ſprach. Man hatte nehmlich etlich Naͤchte vorher am Him - mel eine ſtarke Roͤthe, als das Zeichen einer groſſen Feuersbrunſt, wahrgenommen. Zwey Tage drauf kam die Nachricht, daß in Adlingen, einem acht Stunden weit entfernten Nonnenkloſter, ein hefti - ges Feuer ausgebrochen ſey, daß das ganze Gebaͤude in die Aſche gelegt habe. Die Nonnen fluͤchteten1047 ſich, ein paar ausgenommen, die die Gelegenheit wahrnahmen, und entwiſchten, in ein benachbar - tes Benediktinerkloſter. Dieſe Nonnen wurden nun in die benachbarten Frauenkloͤſter vertheilt. Pater Hildebrand, der in dem naͤchſten Nonnen - kloſter Bergkirch Beichtvater war, erzaͤhlte bey Tiſch, es ſeyen dahin auch vier Nonnen von den verungluͤckten gekommen, von denen zwo bey dem Brand vielen Schaden gelitten haben. Er ſchil - derte ihren Schrecken, der noch immer fortdaure, ſehr ruͤhrend, und beſchrieb die Nonnen, deren eine noch ſehr jung und aͤuſſerſt ſchwermuͤthig ſey. Bey dieſer Beſchreibung ſtellte ſich unſerm Sieg - wart das Bild ſeiner lieben verſtorbnen Mariane wieder ſo lebhaft vor Augen, daß er in Gegen - wart der Paters zu weinen anfieng, und ſo ſehr vom Schmerz ergriffen wurde, daß er, um ſein Geheimniß zu verbergen, unter dem Vorwand einer ploͤtzlichen Uebelkeit von Tiſche weggieng, ſich in ſeiner Zelle niederlegte, und ſeinen Thraͤnen freyen Lauf ließ. Etlich Tage lang konnte er nicht ruhig bethen; ſeine Gedanken waren immerdar zerſtreut; Marianens Bildniß folgte ihm aller Orten nach, und ſtellte ſich ihm faſt jede Nacht im Traum vor. 1048Erſt nach etlich Wochen bekam er ſeine vorige Ru - he wieder.

Sein Probejahr war ſchon beynah zu Ende, als der Guardian ſtarb, und das Kloſterkonvent faſt einmuͤthig den rechtſchaffnen Pater Anton zu ſei - nem Vorſteher und Guardian erwaͤhlte. Der bra - ve Mann nahm dieſe Ehre am Ende ſeiner Tage ungern an. Er haͤtte lieber ſeine noch wenigen Tage in der Stille beſchloſſen, aber das Zureden ſeiner Mitbruͤder uͤberwand endlich ſeine Beſchei - denheit, und er nahm die Wuͤrde an, die er aufs treulichſte, und ohne ſein Betragen oder ſeine Denkungsart im geringſten zu veraͤndern, verwal - tete.

Siegwart haͤtte ſich nun ſehr gut ſein Schickſal erleichtern, und ſich bey dem Guardian, der ſein Freund, und noch mehr, ſein zweyter Vater war, uͤber die Strenge und Unbilligkeit ſeines Noviz - meiſters beſchweren koͤnnen; denn dieſer ſtolze und fuͤhlloſe Mann vermehrte ſeine Haͤrte, je mehr ſich das Probejahr ſeiner Untergebenen dem Ende nah - te; aber Siegwart ſagte kein Wort, und trug ſein Schickſal mit Stille und Gelaſſenheit. Oft fragte ihn P. Anton, ob er mit ſeinem Zuſtand zufrieden ſey, und ſich uͤber nichts zu beklagen habe? und1049 allemal antwortete er, er ſey mit jedermann ufrie - den, und wuͤnſche ſich keinen beſſern Zuſtand.

Am Ende ſeines Probejahrs legte er feyerlich in der Kirche, zur Ruͤhrung aller Anweſenden, den Profeß ab, bekam die Prieſterweihe und die Ton - ſur, ward zum Pater aufgenommen, und trat, nachdem er ſeine erſte Meſſe geleſen hatte, alle Verrichtungen eines Paters an.

Kronhelm und Rothfels waren bey der Einwei - hung mit zugegen, und wurden auch beym Mit - tagseſſen behalten. Siegwart, dem das Feyerliche der Handlung noch immer vor der Seele ſchwebte, ſprach ſehr wenig, und hatte faſt beſtaͤndig Thraͤnen in den Augen. Seine beyden Freunde ſahen ihn wehmuͤthig an. Sein mattes, halberloſchnes Auge, ſeine blaſſe Farbe, ſein eingefallenes Ge - ſicht, die Gleichguͤltigkeit, mit der er ſogar ſie be - trachtete, weiſſagten ihnen ſeinen nahen Tod, und daß ſie ihn vielleicht ſchon heut zum letztenmale ſehen wuͤrden. Kronhelm, der einen ziemlichen Theil ſeiner Jugend mit ihm zugebracht hatte, der ihn ſo ganz kannte, und es wußte, daß we - nige Menſchen in ſo hohem Grad verdienten gluͤck - lich zu ſeyn wie er; und doch auch alle ſeine Lei -X x x1050den kannte, deren manche Menſchen in ihrem ganzen langen Leben nicht den zwanzigſten Theil davon erfahren, ſaß im duͤſterſten Nachdenken da, ſchlug zuweilen ſeine Augen auf zum Himmel, un - terdruͤckte einen Seufzer, und dachte zitternd an die Unbegreiflichkeit der goͤttlichen Rathſchluͤſſe in den Schickſalen eines Menſchen. Beym Weggehen druͤckte ihn Siegwart feſte und feuriger als ge - woͤhnlich ans Herz. Bruder, ſagte er, ich ſahs heut, daß du meinen Zuſtand ganz fuͤhlſt. Bald wirds beſſer werden. Hab Dank fuͤr deine viele bruͤderliche Liebe! Jch bethe ſtets fuͤr dich und meine Schweſter, und dein Kind. Sag ihr, mir ſey wohl, und werde bald noch beſſer werden. Jch gehoͤre nun ganz Gott an, und in ſeiner Hand koͤnne man nicht ungluͤcklich ſeyn. Gib ihr dieſen Kuß! Sag ihr nicht, daß ich ſchwach bin, die gu - te Seele moͤchte ſich betruͤben. Wenn du hoͤrſt, daß ich todt bin, dann troͤſte ſie, und ſag ihr, daß mir ganz wohl ſey! Kronhelm konnte nichts ſpre - chen, und riß ſich von ihm los. Rothfels nahm auch weinend von ihm Abſchied, und die beyden reiſten traurig weg.

Siegwart theilte nun ſeine ganze Zeit in ſeine Moͤnchsverrichtungen und in ſelbſterwaͤhlte An -1051 dachtsuͤbungen ein. Er war fleißig bey den Land - leuten, bey denen er auſſerordentlich beliebt war. Er predigte viel bey ihnen und ſtiftete ſehr groſſen Nutzen, denn ſein Vortrag war ſo faßlich, daß ihn jedes Kind verſtehen konnte. Er hatte den Grundſatz, den jeder Prediger haben ſollte: Wenn mich der gemeinſte Mann vom ſchwaͤchſten Ver - ſtand verſteht, ſo verſteht mich auch der Aufgeklaͤr - te, und ich werde allen nuͤtzlich. Da er die Ge - meinden, und die einzelnen Glieder derſelben ge - nau kannte, ſo war ſein Vortrag immer ſo we - nig allgemein, daß er nur auf die Gemeinde, der er predigte, allein paßte. Alle ſeine Betrachtun - gen, Bewegungsgruͤnde und Gleichniſſe waren vom Landleben und vom Ackerbau hergenommen, und paßten auf keine Stadtgemeinde. Dieſe Kunſt hatte er von Chriſto gelernt, der die Veranlaſſun - gen zu ſeinen Reden immer von denen Gegenſtaͤn - den hernahm, die ſeine Zuhoͤrer vor ſich ſahen, oder womit ſie ſich beſchaͤftigten. Wenn er Leute auf dem Feld antraf, ſo machte er ſie auf die Na - tur, und auf den Segen aufmerkſam, den Gott uͤberall ſo reichlich ausgeſtreut hat. Dadurch floͤßte er ihnen Liebe und Vertrauen gegen Gott ein, die die beyden Hauptquellen eines reinen und aufrich -1052 tigen Gottesdienſtes ſind. Wenn er zur Geduld im Leiden ermunterte, ſo war ſein eignes Beyſpiel die beſte Aufmunterung und Lehre, denn er war, bey ſeinem abgezehrten, matten Koͤrper immer hei - ter, wenn er mit den Leuten ſprach, und ſeufzete blos in der Stille.

War er allein, ſo war der Gedanke an den Tod und an ſeine Mariane ſein beſtaͤndiger Gefaͤhr - te. Wenn er uͤber eine Wieſe |gieng, ſo dachte er mit Sehnſucht: Vielleicht ſeh ich dieſen Ort zum letztenmal; wenn er einem Sterbenden die letzte Oelung gab, ſo dachte er: O der Gluͤckliche! Er kommt zu Gott, bey dem meine Mariane iſt. Moͤcht ich doch mit ihm mich hinlegen und ſterben! Gan - ze Stunden lang hieng ſein Aug am ſtillen melan - choliſchen Mond. Seine Phantaſie uͤberredete ihn, Marianens Seele ſey im Mond; dieſer Gedanke ward ihm oft Gewißheit, und er ſchwang ſich auf den Fluͤgeln ſeiner Schwaͤrmerey in den Mond hinauf, und vergaß daruͤber Welt und alle Leiden, hielt lange Geſpraͤche mit ſeinem lieben Maͤdchen, und ſah oft erſt ſpaͤt hernach zu ſeinem Verdruß ſeine Taͤuſchung ein, und daß er noch auf der Welt ſey. Dann ſchrieb er wieder Gedichte, oder kleine Aufſaͤtze an ſie nieder.

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Unter den wenigen Buͤchern, die er ſich auf der Bibliothek ausgeſucht hatte, war ihm keins lieber, als eine lateiniſche Bibel. Darin, und beſonders im neuen Teſtament las er unaufhoͤrlich. Als er fand, daß die Religion Jeſu in ihrer Quelle ſo auſſerordentlich rein und einfach iſt, und ſie mit der Art verglich, wie ſie heutzutage bey den Ka - tholiken gelehrt und ausgeuͤbt wird, da ſtiegen ihm wegen der vielen Menſchenſatzungen und willkuͤhr - lichen eigenmaͤchtigen Zuſaͤtze viele Zweifel und Be - denklichkeiten auf, mit denen er lang zu kaͤmpfen hatte, eh er ſich etwas beruhigen konnte. Endlich dachte er, wenn ich nur blos auf die Ausuͤbung der Religion nach dem Sinn Chriſti dringe, und die Zuſaͤtze der Kirche ſtillſchweigend gelten laſſe, ohne ſie fuͤr goͤttliche Satzung auszugeben, ſo kann ich ja doch mehr Nutzen ſtiften, als wenn ich mich dem reiſſenden Strom widerſetze; denn ſonſt wuͤr - de man ſich mir wieder entgegenſetzen, oder mich gar verketzern, und dann waͤre mir aller Weg, Gu - tes zu thun, abgeſchnitten. Mit dieſen, und aͤhn - lichen Betrachtungen beruhigte er ſich wieder; aber doch ſtiegen ihm in ernſthaften Stunden des Nach - denkens oft wieder neue Gewiſſenszweifel auf, die ihn oft ſo aͤngſtigten, daß er nicht wuſte, was er1054 thun ſollte, und oft den dunkeln Gedanken bey ſich ſpuͤrte, zu den Proteſtanten uͤberzugehen. Aber theils kannte er die Lehrſaͤtze dieſer Kirche nicht genug, theils hielt ers auch nach ſeinen Begriffen fuͤr ſtrafbar, die vaͤterliche Lehre, in der er ge - bohren und erzogen war, abzuſchwoͤren, und un - ter ſeinen Bruͤdern ein Aergernis zu ſtiften, da er ohnedies nur noch eine kurze Zeit, die er zu leben hatte, vor ſich ſah. Er wagte es auch nicht, ſeine Zweifel irgend einem Menſchen, auch nicht einmal ſeinem lieben P. Anton vorzutra - gen.

Sonſt aber war er viel bey dieſem theuren Mann, der alles auf ihn hielt, und ihn durch ſeine Freundſchaft ſoviel aufzuheitern ſuchte, als moͤglich. Dieſe Achtung, die der Guardian ihm, als einem noch ſo jungen Pater erwies, lud ihm den Neid und Haß faſt aller andern Paters auf den Hals. Sie ſtichelten auf ihn bey aller Ge - legenheit; ſie ſaſſen oft beyſammen und machten allerley Kabalen gegen ihn; andre ſchmeichelten ihm, und glaubten durch ſeinen Fuͤrſpruch die Gunſt des Guardian zu gewinnen; heimlich wa - ren ſie aber doch ſeine Feinde, und machten ihm hinterruͤcks tauſenderley Verdruß. Siegwart merk -1055 te dieſes wohl; weil er aber ſich ſeiner Unſchuld bewußt war, ſo blieb er daruͤber ruhig, und ver - galt ſeinen Bruͤdern ihre boshaften Kuͤnſte mit Freundſchaft und ungeheuchelter Liebe.

Der zweyte Winter und der Fruͤhling waren ihm nun auch dahin geſchlichen. Seine Traurig - keit um Marianen war nun eine ſtille Melancho - lie geworden, die ihn zwar nie verließ, die aber doch unmerklicher geworden war, und ſeltner in laute Klagen ausbrach. Er trug den Tod in ſei - nem Buſen, wo er, wie der Wurm in einer Ro - ſe, immer weiter um ſich fraß. Seine Kraͤfte nahmen allmaͤhlich ab; nur ſeine ſtrenge Diaͤt, und die, immer einfoͤrmige Lebensart erhielten noch den Koͤrper aufrecht, daß er nicht auf Ein - mal hinſank. Noch ein paarmal war er bey ſei - nem Kronhelm und bey ſeiner Thereſe geweſen. Die beyden lieben Seelen waren auſſerordentlich gluͤcklich. Thereſe hatte ihrem Kronhelm nun auch noch ein Maͤdchen, das ihr Ebenbild war, und auch Thereſe hieß, gebohren. Der kleine Wilhelm fieng ſchon an, Worte zu ſtammeln, und machte durch ſeine Liebkoſungen, und durch ſeine unſchuldige Fragen ſeinen Eltern tauſend Freude. Kronhelm und Thereſe liebten ſich noch wie am er -1056 ſten Tage ihrer Verbindung. Zwey reine Herzen koͤnnen einander niemals uͤberdruͤßig werden. Jh - re Tugend nimmt taͤglich zu, zeigt ſich taͤglich von einer neuen Seite, und Tugend iſt ein Quell unaufhoͤrlicher Freuden. Die beyden Eheleute wa - ren unerſchoͤpflich an Erfindungen, die ihnen taͤg - lich neue Vergnuͤgungen brachten. Sie machten ihre Unterthanen und alle Leute um ſich her gluͤck - lich, und wurden zum Dank von ihnen aufs zaͤrt - lichſte geliebt. Wohlthun und geliebt werden iſt das Gegengift aller Unzufriedenheit und alles Mis - vergnuͤgens. Der Garten und das Schloß ward jedes Jahr verſchoͤnert, und die Gegend umher verwandelte ſich nach und nach durch den Fleiß ih - rer Bewohner, durch die Guͤtigkeit ihres Beſitzers, und durch den Segen, den der Himmel uͤber ſie herabgoß, in ein Paradies. Rothfels war mit ſeiner Frau auch gluͤcklich, und beſuchte ſeine noch gluͤcklicheren Freunde oft. Siegwart ſah die Freu - den ſeiner Lieben mit der reinſten Freude, und der innigſten Empfindung. Er fand hier, daß das Gluͤck noch nicht ganz aus der Welt entflohen iſt, und daß Lieb und Zaͤrtlichkeit, wenn ſie Einmal gluͤcklich machen, unausſprechlich gluͤcklich machen koͤnnen. Er hob ſein Aug zum Himmel auf und1057 dankte; aber wenn er wieder auf die Welt und ſich herabſah; wenn er auf ſeinen Zuſtand und die Bahn der Leiden blickte, die er ſchon zuruͤck - gelegt hatte, und auch jetzt noch immer wandelte; ach, dann floß die Thraͤne der Wehmuth, die er nicht verbergen konnte, und doch wollt er ſie ver - bergen, um die Quelle der Seligkeit, aus der ſeine Lieben tranken, nicht zu truͤben. Darum kehrte er oft wieder auf dem Weg um, wenn ihn ſein Herz ſchon zu ſeinen Freunden fuͤhren wollte; denn er ſahs, ſein Anblick, ſein eingefallenes Ge - ſicht, ſein truͤbes Auge machte ſeine Freunde trau - rig. Er wollte allein ungluͤcklich ſeyn. Seine Freuden haͤtt er gern mit andern getheilt, aber nicht ſeine Leiden.

Nur mit ſeinem lieben Anton weinte er zuwei - len, weil ihn dieſer ſelbſt zu Thraͤnen aufrief, und gern in die Vergangenheit, die fuͤr ihn auch trau - rig war, zuruͤckblickte. Einmal giengen ſie an ei - nem ſchwuͤlen Sommernachmittag im Garten. Zur Linken thuͤrmte ſich ſchon ein Gewitter auf, das in weißgrauen Wolken daher ſchwebte, und alle andre Woͤlkchen an ſich zog. Zuweilen ſah man ſchon einen blaſſen Blitz den fernen Wetter - ſchwall theilen, und ein Donner murmelte am fer -1058 nen Gebirg hinab. Die Sonne ſchien matt und ſchwuͤl. Die Luft ſtand ganz ſtill, und kein Blatt bewegte ſich. Die Voͤgel, die das nahe Gewitter fuͤhlten, huͤpften aͤngſtlich von Zweig zu Zweig, und wagtens kaum, einen ſchwachen Laut zu geben. Anton und Siegwart ſahen eine Zeitlang ſtillſchwei - gend in das, ſich langſam fortwaͤlzende Gewitter; Gott gebe, ſagten ſie, daß es keinen Hagel mit - bringt! und dann giengen ſie, um der Schwuͤle auszuweichen, in eine kuͤhle Grotte, die in dem kleinen Tannenwaͤldchen angelegt war. P. Anton, den die Hitze, und das Alter niederdruͤckten, ſchlum - merte etwas ein. Siegwart ſetzte ſich leiſe an den Eingang der Grotte, ſah zuweilen nach dem Ge - witter; dann kehrte er ſich wieder um, und betrach - tete mit ſtiller Ehrfurcht und mit Thraͤnen in den Augen den redlichen ſilberhaarichten Greis, der, ohne Furcht vor dem nahenden Gewitter, ruhig ſchlummerte. Ploͤtzlich riß ſich das Gewitter, das bisher wie angeheftet uͤber einem Wald geſchwebt hatte, los; die Sonne ward verfinſtert, und rings umher im Tannenwaͤldchen ward es finſter. Sieg - wart weckte den P. Anton auf; ſie wollten nach dem Kloſter eilen, aber durch die Tannen fuhr ein Sturm daher, der ſie auszureiſſen drohte; der1059 Staub kreiſte ſich in wilden Wirbeln vor ihnen, und ſie flohen wieder in die Grotte zuruͤck; ein - zelne und ſtarke Regentropfen fielen. Ein Blitz theil - te die Dunkelheit, der die Beyden faſt blendete; ein ploͤtzlicher ſtarker Donner folgte drauf, daß die Grot - te zitterte, und nun ergoß ſich ein ſtarker Regen, der beynah einem Wolkenbruch glich. Das Gewitter daurte eine Viertelſtunde lang; die ganze Natur ſchien im Aufruhr, der Sturm bog die Tannen - wipfel; eine ſchlanke Tanne brach mit groſſem Kra - chen mitten entzwey, und zwiſchen dem Getoͤs brauſte der Donner ununterbrochen fort. Die beyden Moͤnche lagen auf den Knien, ſchlugen ſich an die Bruſt, und betheten. Endlich wards wieder etwas ſtill; die Wolken hatten ausgeregnet und zertheil - ten ſich; ein blaſſer Schimmer brach zur Linken durch das Gewoͤlk. Endlich ſtralte die Sonne wieder etwas hervor, und das Gewitter zog ſich zur Rechten ſchwer und fuͤrchterlich weiter.

Als der Regen aufhoͤrte, giengen P. Anton und Siegwart aus der Grotte. Anton hub ſeine Augen glaͤnzend gen Himmel; ſein ganzes heitres Angeſicht ſprach Dank und Freude. Wie nun al - les ſo ſchoͤn und froh iſt, fieng er an, nach dem Gewitter! Vorher konnte man in der Luft kaum1060 athmen; nun iſts einem ſo leicht, und man zieht nichts als Blumenduͤfte und liebliche Geruͤche ein. Sieh den Regenbogen dort, den Zeugen von der Huld des Allbarmherzigen. Alles um uns her iſt nun ſo friſch, und einer neuen Schoͤpfung gleich. Wie das Gras ſo hell iſt, und die tauſend Regen - tropfen auf den Blaͤttern, und die Sonne drinn, und alle Farben! Und der liebliche Geſang der Voͤgel, wie er nun ſo hell toͤnt! Ach, mein lieber Siegwart, immer denk ich da an unſer Schickſal, wie es auch oft um und in dem Menſchen ſtuͤrmt, und doch ein Ende nimmt, und wieder heiter wird. Es geht beym Menſchen zu, wie’s in der Natur zugeht; Sturm und Regen, Sonnenſchein und Ruh; und Ruh iſt immer doch das letzte; denn Gott hat uns lieb, und will uns gluͤcklich; und das Gluͤck der Ruhe fuͤhlt man nach dem Sturm am beſten. Das fuͤhlt ich eben auch, theurer Vater, fiel ihm Siegwart ein. Eben dacht ich an mein Schickſal, daß es bisher wild in mir ge - ſtuͤrmt hat, und ein Ende nehmen wird. Hat uns Gott doch ſelber Ruh in jener Ewigkeit ver - heiſſen, und ich fuͤhl es, daß ich bald zu ihr ein - gehen werde. So hell und zuverſichtlich hab ich nie noch hinuͤbergeblickt, wie heute. Anton ſchwieg,1061 und wollte ihn in ſeinen wehmuͤthigen Gedanken nicht ſtoͤren.

Jndem ſie ſo in Betrachtungen vertieft, durch die ſtille Feyer der Natur dahin giengen, kam ein Bothe aus dem Nonnenkloſter Bergkirch ſchnau - bend |hergelaufen, und verlangte den Guardian zu ſprechen. P. Anton gieng mit ihm auf die Seite, und kam dann wieder zu Siegwart, der langſam vorausgegangen war. Jch habe, ſagte er, einen Auftrag am dich, mein lieber Siegwart. Eine Nonne liegt in Bergkirch in den letzten Zuͤgen, und verlangt ihren Beichtvater und die letzte Oe - lung. Du muſt eilig hinuͤber, weil P. Hilde - brand krank iſt.

Siegwart nahm den Auftrag willig an, ob ihm gleich das Herz ſchlug, als er von einem Nonnen - kloſter hoͤrte. Mit den lebhafteſten und traurig - ſten Gedanken an ſeine Mariane gieng er nach dem Kloſter, und kam mit Untergang der Sonne an. Die Aebtiſſin ließ ihn vor ſich kommen. Er ſagte, der ordentliche Beichtvater P. Hildebrand ſey krank, und ſein Guardian hab ihm aufgetragen, ſeine Stelle zu verſehen. Man fuͤhrte ihn in eine dunkle Zelle, wo eine junge Nonne aͤuſſerſt ſchwach auf einem Bette lag, um das ein paar andre Nonnen1062 herum ſtanden. Als man der Kranken ſagte, der Beichtvater ſey da, ſo verlangte ſie zu beichten; die anderu Nonnen giengen alſo weg, nachdem ſie erſt eine duͤſtre Lampe auf den in der Ecke der Zelle ſtehenden Tiſch geſetzt hatten. Siegwart ſetzte ſich zu ihr ans Bette, um die Beichte zu hoͤren. Der Ton ihrer Stimme ſchien ihm bekannt zu ſeyn. Gott im Himmel! Es war Marianens Stimme! Mariane war die Nonne! Mit einem lauten Schrey, und dann ſprachlos ſtuͤrzte er uͤber ſie her, und hielt ſie feſt in ſeinen Armen. Erſt nach einer Viertelſtunde kam er wieder zu ſich ſelber. Biſt dus? Biſt dus? rief er. Mit gebroche - ner Stimme ſagte ſie: Siegwart! Jch bin Ma - riane… Lebſt du noch? Er taumelte auf, nahm die Lampe, hielt ſie ihr vors Geſicht. Es war Mariane, todtenbleich, und abgezehrt. Auf ihrer Bruſt lag das weiſſe Schnupftuch, mit dem Blutfleck von ſeiner Wunde. Sie ſchlug ihr mattes Aug auf, und ſah ihn an. Er ließ die Lam - pe fallen, und ſtuͤrzte wieder uͤber ſie her. Man hat dich getaͤuſcht, ſagte ſie, in Marien - feld ich war nicht geſtorben hier lies! .. (Jndem ſie aus ihrem Buſen etlich verſiegelte Blaͤtter langte, und ihm gab.) 1063 Siegwart! Siegwart! Leb wohl Komm nach! Sie ſprach noch etlich Worte, ohne zu merken, daß er ohnmaͤchtig im Stuhl lag.

Erſt nach ein paar Stunden giengen die Non - nen, denen es zu lang dauerte, mit einem Licht in die Zelle. Mariane lag todt auf dem Bette - Siegwart war, noch halb ohnmaͤchtig und ſprachlos im Seſſel zuruͤckgelehnt.

Die Nonnen waren voll Beſtuͤrzung, wußten nicht, was vorgefallen war, und brachten ihn in einem andern Zimmer aufs Bette. Die ganze Nacht durch fiel er von einer Ohnmacht in die an - dere. Den andern Morgen that man ſogleich Be - richt an ſein Klofter. Pater Anton kam ſelbſt nach ein paar Stunden.

Jeſus, Maria! ſagte er, indem er ins Zimmer trat, was hat ſich mit dir zugetragen, Siegwart? Nichts, antwortete dieſer ganz matt. Das Ge - witter iſt voruͤber und die Sonne lacht .. und der Tag bricht an .. und Ruhe Anton bath, man moͤchte ihn mit Siegwart allein laſſen! Nun erfuhr er von ihm, Mariane ſey die Nonne ge - weſen. Lebt ſie noch der Engel? ſagte er, und richtete ſein Aug auf Anton, indem er1064 ſeine Hand ausſtreckte, als ob er die Hand ſeines Freundes ſuchte. Sie hat ausgelitten, ſagte P. Anton. Nun Gottlob! ſagte Siegwart, und faltete die Haͤnde; bald auch ich.

Und wo bin ich jetzt? fragte er nach einiger Zeit wieder .. Jn ihrem Kloſter, war die Ant - wort .. Jhr ſo nah? Gott ſey Dank! .. Jhr ſo nah

P. Anton war im tiefſten Schmerz. Siegwart wurde immer ſchwaͤcher; ſprach zuweilen nur ganz abgebrochen: Gottlob! .. Engel! Mariane! Gott ſey Dank! Jeſus!, bald! ! u. ſ. w.

Man hatte nach einem Arzt geſchickt. Dieſer machte hoͤchſtens noch auf fuͤnf bis ſechs Tage Hof - nung. Kann ich nicht noch meinen Kronhelm ſe - hen, und Thereſen? ſagte Siegwart.

Man ſchickte nach ihnen, und ſie kamen. Sieg - wart hatte wieder etwas wenige Kraͤfte bekommen, als ſie kamen, und ſaß in einem Lehnſtuhl. P. Anton, der beſtaͤndig um ihn war, hatte ſich nur etliche Stunden entfernt, um nach ſeinem Kloſter zu gehen. Alſo war Siegwart allein, als Kron - helm und Thereſe ins Zimmer traten. Bruder! riefen beyde, giengen auf ihn zu, und lehnten ſich zu beyden Seiten ſchweigend an den Lehnſtuhl. 1065Er troͤſtete ſie, und ſagte, ſie ſollten ihm Gluͤck wuͤnſchen, denn er ſey am Ziel.

Als ſie ſich von ihrem Schmerz etwas erholt hatten, erzaͤhlte er ihnen kurz den Vorfall; zog das verſiegelte Papier, das ihm Mariane gegeben hatte, hervor, und gabs ſeinem Kronhelm, mit der Bitte, es ihm vorzuleſen.

Unter tauſend Thraͤnen, die er, und Siegwart und Thereſe vergoſſen, las es Kronhelm. Es wa - ren abgebrochne ruͤhrende Aufſaͤtze an Siegwart, und eine kurze Erzaͤhlung ihrer Geſchichte, deren Hauptinhalt dieſer war:

Die Aebtiſſin zu Marienfeld hatte von Brigit - ten alles erfahren, wer der Gaͤrtner ſey; was er vorhabe; daß er Marianen zu entfuͤhren denke ꝛc. Mariane ward ſogleich eingeſchloſſen. Brigitte mußte vorgeben, ſie ſey nicht recht wohl; mußte ihm aber doch verſprechen, Marianen Abends in den Garten zu bringen, wo die Nonnen im Sinn hatten, ihn zu greifen und feſtzuſetzen. Brigitte, die beſorgt war, er moͤchte es entdecken, daß ſie ſich von ihm hab entfuͤhren laſſen wollen, ſuchte ihn aus dem Kloſter zu bringen, und betaͤubte ihn deßwegen mit der Nachricht von Marianens Tod. Y y y1066Als er entflohn war, gab man ihren Tod auch im Kloſter vor, um allen ſeinen fernern Verſuchen Ma - rianen zu entfuͤhren, vorzubeugen. Brigitte ward zur Strafe eingeſchloſſen. Marianen brachte man ſogleich heimlich nach einem andern Kloſter, und, als dieſes Kloſter abbrannte, wurde ſie mit drey an - dern Nonnen nach Bergkirch gebracht.

Als Kronhelm dieſes vorgeleſen hatte, war Sieg - wart durch die vielen Thraͤnen und die heftige Be - wegung aufs neue ganz entkraͤftet, und mußte ins Bette gebracht werden. Nach einer halben Stunde erholte er ſich wieder etwas, und bat ſeinen Kron - helm, folgendes zu ſchreiben, und es nach ſeinem Tod dem P. Anton zu geben, mit der Bitte, ihm den letzten, darin gefoderten Freundſchaftsdienſt ja nicht abzuſchlagen.

Theurer Vater!

Die letzte Bitte deines ſterbenden Sohnes, laß ſie ja nicht unerfuͤllt ſeyn! Jch hab auf Erden ſonſt nichts mehr zu bitten. Laß mich ruhen neben ihr, fuͤr die ich ſterbe! Gott im Himmel lohne Dich da - fuͤr, und fuͤr alle Deine Liebe, daß Du bald mir folgeſt! Hoͤre mich!

Leb ewig wohl, Du Theurer! Hoͤre mich! Gott ſegne Dich, Amen!

1067

Mit zitternder Hand unterſchrieb er ſeinen Na - men, ließ das Blatt ſiegeln, und bat nochmals, ſei - nen P. Anton aufs dringendſte anzuliegen, ſeinen Wunſch zu erfuͤllen!

Er lag da, ohne viel zu ſprechen. Kronhelm und Thereſe ſchwiegen, und giengen wechſelsweiſe weg, um ihre Thraͤnen vor ihm zu verbergen. Er war nicht mehr traurig; die Hofnung ſeines nahen Todes ward ihm Zuverſicht. Seine Seele war ſchon mehr im Himmel, als auf Erden. Nur die Liebe zu ſeinen theuren Freunden machte, daß er noch zuweilen einige Augenblicke an die Welt dachte, und auf ihr verweilte. P. Anton war auch wieder - gekommen, und ſaß unaufhoͤrlich ihm zur Seiten.

Eine Bitte hab ich, theurer Vater, ſagte Sieg - wart zu ihm, die du erſt nach meinem Tod erfuͤllen kannſt. Mein Kronhelm wird ſie dir entdecken. Ach, verſprich mir, daß du ſie erfuͤllen willſt, da - mit ich ruhig ſterbe! P. Anton verſprach, die Bitte zu erfuͤllen; wenn ſie nichts, fuͤr ihn un - moͤgliches enthalte.

Gegen Abend, als Siegwart wieder etwas auf war, und nah am Fenſter ſaß, hoͤrte er unten vor dem Fenſter, ein Geraͤuſch. Er ſah hinaus, und da war der Gottesacker unten, und die Nonnen waren da, um1068 ſeine Mariane in das Grab zu legen. Thereſe, die auch hinausſah, erſchrack uͤber den Anblick, und ihr Bruder ſank ihr ſchweigend in den Arm. Man brachte ihn wieder aufs Bette, wo er ein paar Stunden lang faſt ſinnlos lag. Endlich ſchlug er die Augen auf. Thereſe, ſagte er, iſt ein Kreuz auf dem Grab? Ja lieber Bruder, war die Antwort, ein kleines ſchwarzes Kreuz. Nun, ſo hab ich auch die letzte Bitte an dich. Flicht mir einen Kranz von Blumen und Cypreſſen, und gib ihn mir! Wenn er mit meinen Thraͤnen gnug be - netzt iſt, dann haͤng ihn du am Kreuz auf, und weine auch druͤber! Thereſe brachte ihm einen Kranz; er weinte drauf, druͤckte ihn einigemal ans Herz, und legte ihn dann fuͤr ſich aufs Bette hin.

Den andern Tag ſprachen Kronhelm und Anton mit dem Arzt, und fragten ihn, wie lang er glau - be, daß Siegwart noch leben koͤnne? Laͤnger, als ich anfangs dachte, ſagte dieſer. Er hat eine ſtarke Natur. Wenn er nicht zu heftige Bewe - gungen hat, ſo kann er noch ſechs bis ſieben Tage leben. Eine Veraͤnderung des Aufenthalts waͤre gut, denn hier ſcheint er zu viele traurige Gegen - ſtaͤnde um ſich zu haben. Die beyden beſchloſſen, ihn den folgenden Tag in einer Saͤnfte nach ſeinem1069 Kloſter bringen zu laſſen, um ihn von dem Grab ſeiner Mariane zu entfernen, denn er wollte immer ans Fenſter, um hinabzuſehn. Sie thaten ihm alſo den Vorſchlag, ob er ſich nicht den andern Tag nach ſeinem Kloſter wolle tragen laſſen? Anfangs erſchuͤtterte ihn der Vorſchlag, weil er ſich nicht vom Grab ſeiner lieben Mariane entfernen wollte. Doch gab er ſich endlich drein, denn nach und nach ward ihm alles auf der Welt gleichguͤltig, und Pater Anton ſtellte ihm vor, er moͤchte beſtaͤndig um ihn ſeyn, und koͤnne ſich doch nicht ſo lang von ſeinem Kloſter entfernt halten. Bringt mich hin, wo ihr wollt, ſagte er; lange koͤnnt ihr mich doch nicht mehr von ihr trennen. Wenn mir nur Pater Anton nach meinem Tod meine Bitte er - fuͤllt. Den Tag uͤber lag er immer in anſchei - nender Ruhe auf dem Bette. Seine Freunde hieltens fuͤr ein Zeichen der Beſſerung, aber im Grunde wars Entkraͤftung.

Gegen Abend ſank er in einen feſten Schlaf. Der Arzt, der eben kam, und ihm im Schlaf den Puls beruͤhrte, ſagte, daß er ſehr gut gehe. Man moͤchte nur recht ſtill und ruhig ſeyn, um ihn nicht auf - zuwecken, weil er durch den Schlummer neue Kraͤfte bekommen koͤnne. Thereſe und Kronhelm entfern -1070 ten ſich alſo in ein anliegendes Zimmer, wo ſie alle Bewegungen zu hoͤren hoften. Siegwart ſchlief bis gegen eilf Uhr aneinander fort. Thereſe war ein paarmal leiſe ins Zimmer gekommen, um nach ihm zu ſehen. Als ſie fand, daß er immer noch ſehr feſt ſchlief, ſo gieng ſie wieder auf ihr Zimmer, ſetzte ſich in einen Lehnſtuhl, und ſchlief endlich, weil ſie von dem vielen Wachen, und dem tiefen Schmerz aͤuſſerſt abgemattet war, ein.

Um eilf Uhr wachte Siegwart von einem ſehr lebhaften Traum, indem ihm ſeine Mariane er - ſchienen war, und ihm zuwinkte, auf. Sein Blut war in ſtarker Wallung. Er fuͤhlte ſich von dem langen Schlaf geſtaͤrkt. Seine Phantaſie war von dem Traume, und dem ſchnellen Umlauf des Ge - bluͤts ſtark erhitzt. Er ſtand auf, und gieng ans Fen - ſter. Der Mond, der durch duͤnne Woͤlckchen halb duͤſter ſchien, warf etlich blaſſe Strahlen an das Kreuz auf Marianens Grab. Es ſchoſſen ihm Thraͤnen in die Augen, und ein unwiderſtehlicher Zug trieb ihn, auf das Grab zu gehen. Er gieng, mit dem Kranz am Arm, an die Thuͤre, machte ſie leiſe auf, gieng durch den Kreuzgang, und ſuchte einen Ausgang nach dem Gottesacker. Zu gutem Gluͤck fand er eine Thuͤre dahin; haſtig lief er aufs Grab,1071 ſtuͤrzte ſich drauf hin, umarmte das Kreuz, hieng den Kranz dran, und weinte laut. O Mariane, Mariane! rief er, auf deinem Grab, auf deinem Grab! Nimm mich zu dir! Nimm mich zu dir, Engel! Von der heftigen Bewegung, und der ſchnellen Verkaͤltung entkraͤftet, ſank er ohn - maͤchtig an dem Kreuz nieder.

Thereſe wachte erſt um Ein Uhr wieder auf. Sie erſchrack, weil ſie dachte, lang geſchlafen zu haben, ſprang auf, und eilte auf das Zimmer ihres Bru - ders. Die Thuͤre war offen, zitternd trat ſie hin - ein, und Jeſus Maria! Das Bette war leer.

Siegwart! Bruder! Siegwart! rief ſie laut und aͤngſtlich. Kronhelm ſprang herzu; auch ein paar Nonnen. Er iſt fort, fort! Mutter Gottes! ſagt, wo iſt er? Die Beſtuͤrzung ward allgemein. Thereſe riß ihre Haare auseinander. Alle liefen umher und ſuchten, und wußten nicht, was ſie wollten und ſuchten.

Auf dem Grab! Auf dem Grab! rief endlich Kronhelm, der am Fenſter ſtand. Alle flogen hinab auf den Kirchhof, und der edle Juͤngling lag erſtarrt und todt im blaſſen Mondſchein auf dem Grabe ſeines Maͤdchens, dem er treu geblie - ben war bis auf den letzten Hauch.

1072

Man brachte ihn aufs Zimmer. Kronhelm flog auf ſeinem Pferd zu Pater Anton mit der ſchauder - vollen Nachricht, und der letzten Bitte ſeines tod - ten Freundes. Anton las ſie. Ja ſie ſoll dir ge - waͤhrt werden, rief er, Theurer, Unvergeßlicher! Mit Tagesanbruch war er ſchon in Bergkirch, und ſprach mit der Aebtiſſin. Sie wars zufrie - den, daß Siegwart bey Nacht in aller Stille neben ſeiner Mariane ſolle begraben werden.

Die Nacht drauf begrub man ihn. Die beyden Maͤrtyrer der Liebe ruhten bey einander. Auch auf ſein Grab ward ein Kreuz geſetzt. Thereſe ver - einigte die beyden Kreuze durch eine Blumen - und Cypreſſenkette.

Jhr und ihrem Kronhelm und dem frommen P. Anton war ihr Andenken heilig, bis auch ſie ins Land der Ruhe eingiengen, wo Zaͤrtlichkeit und Menſchheit keine Thraͤnen mehr vergieſſen.

Verbeſſerungen

  • S. 439 Z. 5. nun fuͤr und. S. 464 Z. 16. unſern fuͤr unſerm. S. 472 Z. 21 ſah fuͤr ſeh. S. 488 Z. 10 hat fuͤr bat. S. 495 Z. 19 einem fuͤr ei - nen. S. 501 Z. 15 ſich muß weg. S. 524 Z. 23 Saht. S. 569 Z. 3 bis dahin. S. 597. Z. 12 nur ein Gutes. S. 604 Z. 24 vorbereite. S. 687 Z. 11 Weiberarbeit. S. 680 und 681 muß die No - te in den Text geſetzt werden.

About this transcription

TextSiegwart
Author Johann Martin Miller
Extent657 images; 121809 tokens; 11723 types; 785146 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationSiegwart Eine Klostergeschichte Zweyter Theil Johann Martin Miller. . S. [427] - 1072. WeygandLeipzig1776.

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SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 FAB VI, 4163 RARA

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Prosa; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

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ShelfmarkSUB Göttingen, 8 FAB VI, 4163 RARA
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