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Einleitung zur CEREMONIEL - Wiſſenſchafft Der Privat-Perſonen /
Welche Die allgemeinen Regeln / die bey der Mode, den Titulaturen / dem Range / den Com - plimens, den Geberden, und bey Hoͤfen uͤberhaupt, als auch bey den geiſtl. Handlungen, in der Converſation, bey der Correſpondenz, bey Viſiten, Aſſembleen, Spielen, Umgang mit Dames, Gaſtereyen, Diver - tiſſemens, Ausmeublirung der Zimmer, Kleidung, Equipage u. ſ. w. Jnſonderheit dem Wohlſtand nach von einem jungen teutſchen Cavalier in Obacht zu nehmen / vortraͤgt, Einige Fehler entdecket und verbeſſert, und ſie hin und wieder mit einigen moraliſchen und hiſtoriſchen Anmerckungen begleitet,
Julio Bernhard von Rohr.
Berlin,bey Johann Andreas Ruͤdiger,1728.
Mein Leſer.

Nachdem ſich die Galanterien / die Moden und Welt Ma - nieren bey der heutigen Welt faſt uͤber die goͤtt - lichen und natuͤrlichen Rechte erheben wollen / und ein groſſer Theil der Menſchen ſich mehr befleißiget / ſeine Handlungen nach dem Wohlſtand und dem Gefallen der Hoͤhern einzurichten / als den Saͤtzen der Tugend-Lehre Folge zu leiſten / ſo iſt auch kein Wunder / daß ſo viel Autores von einigen Zeiten her / und ſonderlich von dem Eingang dieſes ietzigen Jahrhundert an / ſich angelegen ſeyn laſſen / mancherley hieher gehoͤrige) (2Schriff -Vorrede. Schrifften auszuarbeiten. Es iſt deren eine ziemliche Anzahl vorhanden / auch manche gute Anmerckung und Regel in denſelben anzutreffen / inzwiſchen glaub ich doch / daß die Ceremoniel-Regeln / dem Wunſch und Verlangen vieler Welt - und Staats-Leute nach / etwas accurater, ordentlicher und vollſtaͤndiger vorgetra - gen werden koͤnnen / als von andern biß - her noch nicht geſchehen. Einige von den Gelehrten haben die Regeln vom De - coro, oder von dem was zum Wohlſtand gehoͤrt / in eine zuſammenhaͤngende Ord - nung bringen wollen / ihre Saͤtze ſind aber allzukurtz und zu allgemein / und leiſten daher jungen Leuten / bey den be - ſondern in dem menſchlichen Leben vor - ſommenden Faͤllen / ſchlechten Nutzen; Andere ſind zwar ſpecieller gangen / ie - doch ihre Schrifften dienen mehr kleinen Kindern / oder denen die eine ſchlechte und rohe Auferziehung gehabt, zu eini - gen Unterricht / wie ſie ſich in dem buͤr - gerlichen Leben, bey allerhand Gelegen - heiten etwas hoͤflicher auffuͤhren ſollen / als daß ſie jungen und erwachſenen Ca -valie -Vorrede. valieren eine ſichere Anleitung ertheilten / wie ſie ſich an Hoͤfen und in der groſſen Welt manierlich zu bezeugen haben. Jn den Franzoͤſiſchen Schrifften / die von die - ſer Materie abgefaßt / findet man viel Gu - tes / aber auch zugleich unterſchiedene Maͤngel. Viele von ihren Regeln und Anmerckungen / ſind bey unſern Teut - ſchen / ob ſie gleich ziemlich Franzoͤſiſch geworden / wegen ihrer eigenthuͤmlichen Verfaſſungen und Gebraͤuche nicht an - zubringen. Von einigen Materien / als von einer manierlichen Geberdung des Geſichts und Stellung des Leibes / von einer klugen Converſation u. ſ. w. haben ſie mehr als zu ſpeciel gehandelt / von andern hingegen wenig oder gar nichts geſagt; Uber dieſes fehlet in ihren Schrifften meiſtentheils die Ordnung / ſie ſetzen den unterſchiedenen Materien keine gewiſſe Abtheilungen oder abge - ſonderte Claſſen / ſondern werffen in ih - ren Anmerckungen alles untereinander. Viele von den Frantzoſen und Teutſchen / die von der Politeſſe, von einer galanten Conduite, von einem manierlichen Um -) (3gan -Vorrede. gange u. ſ. w. Tractate verfertiget / ha - ben entweder gar nicht Gelegenheit ge - habt / diejenigen Oerter / die man vor die rechten hohen Schulen der Wohlanſtaͤn - digkeit und des Ceremoniel-Weſens hal - ten kan / zu beſuchen / oder doch nicht ſo lange / als es wohl noͤthig geweſen waͤre / ſich an denſelben aufzuhalten. Von be - ſondern Materien / als von Dantzen / von Briefſchreiben / von Complimens, von Titulaturen / vom Range u. ſ. w. haben wir Buͤcher genug / es iſt aber jungen Leuten allzu muͤhſam und weitlaͤufftig / ſich ſo viel beſondre Buͤcher anzuſchaf - fen und durchzuleſen; und uͤberdieſes / wo wollen diejenigen / die noch nicht in der groſſen Welt geweſen / die Erkaͤntniß hernehmen / zu beurtheilen / welche von den Regeln / die ſie vorgeſchrieben finden / altfraͤnckiſch oder neumodiſch / pedantiſch oder Hofmaͤßig / vernuͤnfftig / oder un - vernuͤnfftig / practicable oder nicht practi - cabel ſeyn? Von vielen andern Materien hingegen / die ebenfalls in die Ceremo - niel-Wiſſenſchafft und zu den Welt-Ma - nieren gehoͤren / findet man nirgends ei -nenVorrede. nen halben Bogen / geſchweige denn ei - gene Schrifften.

Das Verlangen meinem Naͤchſten / inſonderheit jungen Leuten / nach dem von GOtt mir mitgetheilten Maaß der Erkaͤntniß / es ſey auch ſo gering als es wolle / zu dienen / und die von dem Publi - co bißanher beſchehene guͤtige Aufnah - me meiner uͤbrigen moraliſchen Schriff - ten / haben mich angetrieben / gegenwaͤr - tige Schrifft abzufaſſen; ich habe mich hierbey bemuͤhet / die zu der Lehre des Wohlſtandes und Ceremoniel-Weſens gehoͤrigen Anmerckungen / ſo weit ſie von Privat-Perſonen in Obacht zu nehmen / ſo viel als moͤglich in forme einer Wiſ - ſenſchafft zu bringen. Ob ich nun hier - durch dem Verlangen derer / die derglei - chen Schrifft laͤngſtens gewuͤnſchet / ei - nige Genuͤge gethan / uͤberlaſſe dem Ur - theil vernuͤnfftiger und Staats-kuͤndi - ger Leute. Jn meiner Einleitung zur Klugheit zu leben / hab ich ezliche Zeilen von dieſer Materie geſchrieben / eine voll - ſtaͤndigere und weitlaͤufftigere Abhand - lung iſt einer andern Zeit / und einem an -) (4dernVorrede. dern Ort vorbehalten geweſen. Die Lehre / ſo den aͤuſſerlichen Handlungen / nach dem Gefallen der meiſten oder der hoͤchſten und vornehmſten / einig Ziel und Maaß vorſchreibet, iſt an ihren eigenen Regeln und Saͤtzen ſo reich / daß ſie bil - lich verdient vor ſich allein nach ihrem beſondern Zuſammenhang vorgetragen zu werden / und wenn man ſie mit der Lehre der Privat-Klugheit vereinigen will / ſo erwaͤchſet wegen der allzugroſſen Weitlaͤufftigkeit gewiſſe Unordnung; ich habe auch in den Jahren meiner Ju - gend / da ich die Einleitungen zur Klug - heit zu leben geſchrieben / diejenige Er - fahrung nicht gehabt / der ich durch den von GOtt mir bißhieher aus Gnaden verlaͤngerten Lebens-Termin nachge - hends theilhafftig worden. Die Re - geln / die ich dir in folgenden Blaͤttern vorſchreibe / ſind nicht aus Buͤchern zu - ſammen geſtoppelt / ſondern aus dem Umgange mit der Welt erlernet wor - den; Es ſind bey nahe ein zwantzig Jahr verfloſſen / von der Zeit / da ich mein Aca - demiſch Quinquennium in dem geliebtenLeipzigVorrede. Leipzig zuruͤck gelegt / daß ich hier und da auf dem Schauplatz der groſſen Welt / bald einen Mitſpieler / bald einen Zu - ſchauer abgeben / finde aber zu Vermey - dung des Scheines einiger Ruhmraͤ - thigkeit nicht vor noͤthig / ein mehrers hievon anzufuͤhren. Jch habe mich gar wenig frembder Schrifften bey dieſer Arbeit bedienet / auſſer daß ich aus des qualificirten Cavaliers des Herrn von Tſchirnaus Unterricht eines getreuen Hofemeiſters und des geſchickten Politici, des Hoch-Fuͤrſtlich Waldeckiſchen Hof - raths / des Herrn Nemeitz Sejour de Paris, eine und die andere Anmerckung entleh - net; ihren Regeln iſt deſto ſicherer zu trauen / weil ſie beyde große Kenner der Welt ſind. Solte es dem Herrn von Tzſchirnaus gefallen / ſeine beſondern Reiſe-Maximen / die nach dem Unterſchied der Europaͤiſchen Provintzien in Obacht zu nehmen / heraus zu geben / ſo wird ei - nen jungen Cavalier auch bey der Cere - moniel. Wiſſenſchafft durch dieſe Schrifft ein beſonder Licht aufgeſteckt werden. Von denen Franzoͤſiſchen Autoribus, die) (5ſichVorrede. ſich um das Ceremoniel-Weſen bekuͤm - mert / habe keinen zu Rath gezogen / in - dem dieſe ohnedem mehrentheils in den Haͤnden der jungen Cavaliers, außer daß ich bißweilen meine Saͤtze mit den Zeug - niſſen des beruͤhmten ehmahligen Groß - Cantzlers in Franckreich / Monſieur de Chevergny, die er in der ſeinem Sohn er - ertheilten Inſtruction vortraͤgt / befeſtiget. Er iſt ein großer Staatsmann geweſen / ſeine Regeln / ob ſie gleich nicht die neue - ſten / ſind doch hoͤchſt-vernuͤnfftig / und noch practicabel, und die wenigſten jun - gen Leute beſitzen dieſes Buch. Wo ich ſonſt aus meinem wenigen Buͤcher-Vor - rath ein und ander Buch nachgeſchla - gen / da ich theils meine Saͤtze mit eini - gen fremden vernuͤnfftigen Anmerckun - gen beſtaͤrckt / theils auch in Vorbeyge - hen ihre Fehler mit angezeiget / und ver - beſſert / hab ich iederzeit getreulich ange - fuͤhrt / auch nicht weniger gar viel in Schwang gehende Jrrthuͤmer der Men - ſchen / die die Welt-Manieren den Pflich - ten des Chriſtenthums vorziehen / auf - gedeckt / und unvermerckter Weiſe unter -ſchie -Vorrede. ſchiedene zur Erbauung dienende An - merckungen mit angebracht / ſintemahl ich der Meynung bin / daß man keine Gelegenheit unterlaſſen ſoll / wo man zur Beſſerung ſeines Naͤchſten etwas mit anbringen kan. Meine Abſicht iſt hierbey ſonderlich auf junge Cavaliere gerichtet geweſen / die ihre Kinder-Jahre verlaſſen / und nunmehr in Begriff ſind / die Hoͤfe zu beſuchen / und in die groſſe Welt zu gehen; ich habe mancherley ſpe - cielle und beſondre Faͤlle / die ſich nur er - eignen koͤnnen / hierbey vor Augen ge - habt / und mich hingegen bemuͤhet / die Regeln ſo allgemein abzufaſſen / als nur moͤglich geweſen / und ihre Ausnahmen mit dabey anzufuͤgen. Nachdem die Ce - remoniel-Regeln groſſen Theils nach dem Unterſchied der Europaͤiſchen Pro - vinzien von einander unterſchieden / ſo iſt dieſe Anleitung groͤſtentheils unſerm Teutſchland gewidmet / ich bin ein Teut - ſcher / und ſchreibe bloß vor meine Lands - Leute. Junge Leute finden in dieſer Schrifft richtige Claſſen vor ſich / dahin ſie die uͤbrigen Regeln und Anmerckun -gen /Vorrede. gen / die ſie durch eigenes Nachſinnen oder Obſerviren / und durch andern ſchrifftlichen oder muͤndlichen Unterricht erlernen / bringen koͤnnen / ich bin ver - ſichert / daß ſie manchen jungen Men - ſchen / der ſie wuͤrdiget / ſich ihres Bey - Rathes zu bedienen / gute Dienſte leiſten / und manchen Fehler / durch den er ſich ſonſt laͤcherlich wuͤrde gemacht haben / werden verhuͤten helffen. Man kan ja die Ceremoniel-Wiſſenſchafft durch eigne Erfahrung / und die Laͤnge der Zeit eben wie andre Sachen von ſich ſelbſt erler - nen / es gehet aber gar langweilig da - mit zu / uͤber dieſes kommt einem das Lehr-Geld / da man mit Schande und Schaden klug werden muß / ziemlich hoch zu ſtehen. Doch geſteh ich gar gern / daß dieſer Tractat zweyerley Art Leuten groͤſtentheils unnuͤtze ſeyn wird / einmahl denjenigen / die von Jugend auf in der groſſen Welt geweſen / eine ſehr gute Auferziehung gehabt / und mit qualifi - cirten und geſchickten Hofmeiſtern ſtets umgeben geweſen / oder von ſolchen Nach - ſinnen und Aufmerckſamkeit ſind / daßſieVorrede. ſie dasjenige / was ihnen zu beobachten noͤthig / geſchwinde vor ſich ſelbſt finden und beurtheilen lernen / und zum andern denen die von ſo ſchwachem Verſtande / und ſo einfaͤltigen Naturell, daß ſie / aller Einleitung ungeachtet / nicht die Ge - ſchicklichkeit haben / die von andern ihnen vorgetragenen Regeln zu appliciren. Jene brauchen keine Regeln / denn ſie wiſſen ſie ſchon ſelbſt / dieſen helffen kei - ne Regeln / wenn ſie auch alle Ceremo - nien-Buͤcher durchſtudirten / und aus - wendig lernten / ſo bleiben ſie nach wie vor plump und ungeſchickt. Jedoch iſt auch gewiß / daß die wenigſten jungen Leute dieſen beyden Gattungen beyzu - zehlen. Die meiſten haben eine mittel - maͤßige Auferziehung genoſſen / und ſind von ſolchem Verſtande / daß ſie zwar ohne Anleitung in dem Umgang mit der groſſen Welt / wider die Regeln des Wohlſtandes manchen Fehler begehen / hingegen aber die Regeln / die ihnen von andern gelehrt werden / gar wohl zu ap - pliciren lernen / und ſich bey einem ſchrifft - lichen oder muͤndlichen Unterricht baldzuVorrede. zu helffen wiſſen. Bediene dich dieſer Schrifft zur Befoͤrderung deiner Gluͤck - ſeligkeit / und erwarte nun mit naͤchſten meine Einleitung zur Ceremoniel-Wiſ - ſenſchafft der groſſen Herren / welche in vier Theilen die meiſten Ceremonien / ſo die hohen dieſer Welt / ſo wohl in ihren Haͤuſern als Privat-Perſonen / als auch gegen ihre Mit-Regenten und Untertha - nen bey Krieg - und Friedens-Zeiten zu beobachten pflegen / ingleichen die unter - ſchiedenen Arten der Divertiſſemens und Luſtbarkeiten / auf eine ſolche Weiſe / wie es von andern bißher noch nicht geſche - hen / vortragen / und ſo viel als moͤglich in allgemeine Regeln einſchlieſſen wird. Merſeburg den 15. April. 1728.

Der
Der erſte Theil. Von einigen allgemeinen Handlun - gen des Ceremoniel-Weſens uͤberhaupt.
  • Das I. Cap. Von der Ceremoniel-Wiſſen - ſchafft uͤberhaupt. pag. 1
  • Das II. Cap. Von der Mode. 33
  • Das III. Cap. Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. 54
  • Das IV. Cap. Vom Range. 105
  • Das V. Cap. Von Complimens. 140
  • Das VI. Cap. Von den Manieren bey dem Geberden und Stellung des Leibes. 179
  • Das VII. Cap. Von Aufenthalt an Hoͤfen. 201
  • Das VIII. Cap. Von dem Hofleben. 221
Der andere Theil. Von einigen beſondern Handlungen des Ceremonien-Weſens.
  • Das I. Cap. Vom Gottesdienſt. 245
  • Das II. Cap. Von der Converſation. 278
  • Das III. Cap. Von Ablegung oͤffentlicher Reden. 301
  • Das IV. Cap. Von Briefſchreiben und der Correſpondenz. 321
  • Das V. Cap. Von Abſtattung und Anneh - mung der Beſuche. 342
  • Das VI. Cap. Von Umgang mit dem Frau - enzimmer. 361
  • Das VII. Cap. Von Aſſembleen. 385
  • Das VIII. Cap. Von Spielen. 403
  • Das IX. Cap. Vom Tractiren, und den Ga - ſtereyen. 427
  • Das X. Cap. Vom Dantzen und Baͤllen. 466
  • Das XI. Cap. Von Divertiſſemens, Comœ - dien, Opern, Muſic und andern derglei - chen. 493
  • Das VII. Cap. Von der Wohnung, von Zimmern und deren Meublen. 516
  • Das XIII. Cap. Von der Kleidung. 543
  • Das XIV. Cap. Von Bedienten und der Equi - page. 573
  • Das XV. Cap. Von Verehligungen. 589
  • Das XVI. Cap. Von Kindtauffen. 621
  • Das XVII. Cap. Von Gevatterſchafften. 638
  • Das XVIII. Cap. Vom Sterben. 647
  • Das XIX. Cap. Von Begraͤbniſſen. 662
  • Das XX. Cap. Von der Trauer. 671
Das[1]

Das I. Capitul. Von der Ceremoniel-Wiſ - ſenſchafft uͤberhaupt.

§. 1.

DJe Ceremoniel-Wiſſenſchafft lehret, wie man bey einem und dem andern, ſo in die aͤuſſerli - chen Sinnen faͤllt, ſich einer beſondern Pflicht erinnern, und uͤberhaupt ſeine Handlungen nach den Umſtaͤnden der Oer - ter, Perſonen und Zeiten ſo einrichten ſoll, wie ſie ſich zur Sache ſchicken, und nach dem Urtheil der meiſten oder vornehmſten vor wohlanſtaͤndig ge - halten werden.

§. 2. Sie wird entweder in einem weitlaͤuffti - gern oder in einem engern und eingeſchraͤncktern Verſtande genommen. Nach jener Erklaͤrung begreifft ſie eine Erzehlung der Ceremonien, die bey allen geiſtlichen und weltlichen Handlungen, unterAgroſ -2I. Theil. I. Capitul. groſſen Herren und Privat-Perſonen, unter geiſt - lichen und weltlichen, zu Krieges - und Friedens - Zeiten, in Ernſt und Schertz, unter gelehrten und ungelehrten, unter klugen Leuten und unter Narren vorgehen, ſie bemuͤhet ſich den Grund von dieſem oder jenem zu entdecken, die nach dem Unterſchied der Zeiten veranlaſten Veraͤnderungen zu zeigen, mancherley Gebraͤuche in parallel mit einander zu ſtellen, was dabey vernuͤnfftig oder unvernuͤnfftig, tugendhafft oder laſterhafft anzufuͤhren, und die Regeln nach dem neueſten Gebrauch abzufaſſen. Nach einem engern Begriffe traͤgt ſie, in Anſehung mancher geiſt - und weltlichen Sammlungen, in ſo weit ſie in die aͤuſſerlichen Sinnen fallen, einige allgemeine Lehr-Saͤtze vor, weiſet hin und wieder den Grund von dieſem oder jenem Gebrauch, und ertheilt Reguln der Klugheit, was bey den aͤuſſerli - chen Handlungen zu beobachten, damit man ſich den Willen derer, mit denen man umzugehen hat / und ſonderlich der hoͤhern gleichfoͤrmig und gefaͤl - lig erweiſe, und vernuͤnfftige Leute von uns urthei - len, daß wir unſere Handlungen manierlich und wohlanſtaͤndig verrichten.

§. 3. Die Ceremoniel-Wiſſenſchafft bekuͤm - mert ſich entweder um geiſtliche Handlungen oder um weltliche. Jene ſchreibet den aͤuſſerlichen Got - tesdienſt Ziel und Maße vor, und lehret wie wir uns dieſes oder jenen aͤuſſerlichen Zeichens zur Er - weckung und Befoͤrderung des innern Gottesdien - ſtes bedienen ſollen; dieſe aber beſtimmet die welt -lichen3Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. lichen Handlungen, und theilt ſich weit ab in die Staats-Ceremoniel-Wiſſenſchafft und in die Privat-Ceremoniel-Wiſſenſchafft. Jene giebet ſo viel als moͤglich allgemeine Lehr-Saͤtze, in Anſe - hung der Handlungen, die unter groſſen Herren vorfallen, dieſe aber regulirt die Handlungen der Privat-Perſonen, und zeiget den Wohlſtand der dabey in Obacht zu nehmen.

§. 4. Es iſt dieſe Lehre ein Stuͤck mit derjenigen Wiſſenſchafft, ſo ſich um das Thun und Laſſen der Menſchen bekuͤmmert, und alſo gienge es endlich wohl an, daß man ſie bey Abhandlung des allge - meinen buͤrgerlichen Rechts, oder der Politica und Klugheit zu leben, mit vortruͤge, ich halte aber doch davor daß es um der Ordnung willen und zu Ver - meidung allzugroſſer Weitlaͤufftigkeit, beſſer ſey, wenn man ſie ins beſondere abhandelt, da zudem die Tugend-Lehre, die Lehre von der Klugheit zu leben und die Ceremoniel-Lehre, wenn man ſie recht genau betrachtet, ihre eigne Grentzen haben. Die Tugend-Lehre zeiget uͤberhaupt die Pflichten, die man zu Befoͤrderung der wahren Gluͤckſeligkeit, dem groſſen GOtt, ſeinem Naͤchſten und ſich ſelbſt zu leiſten ſchuldig, weiſet aber eben nicht ins beſon - dere die Regeln und Handgriffe, wie man auf eine zulaͤßige Weiſe ſich durch ſeine Handlungen man - cherley Nutzen zuwege bringen, und einigen Scha - den abwenden ſoll. Die Politica oder die Klugheit zu leben bewerckſtelliget dieſes letztere, und giebet Cautelen, wie man auf eine bequeme Weiſe ſeinA 2Inter -4I. Theil. I. Capitul. Intereſſe befoͤrdern ſoll. Die Ceremoniel-Wiſ - ſenſchafft ſondert ſich von den beyden vorherge - henden in folgenden Stuͤcken ab. Zum erſten leh - ret ſie gewiſſe Handlungen, die der Tugend-Lehre und der Klugheit zu leben, gantz und gar unbekannt. Zum andern giebet ſie bey gewiſſen Pflichten, dar - um ſich jene auch bekuͤmmern, etwas ſpeciellere Regeln, da jene bey den allgemeinen ſtehen blei - ben. Zum dritten erwehlet ſie vornehmlich den Beyfall der meiſten oder der vornehmſten Leute zu ihrer Abſicht. Wer die Pflichten der Tugend - Lehre beobachtet, wird mit Recht ein ehrlicher red - licher Mann oder ein honet homme, nach dem Frantzoͤſiſchen, genannt: wer den Maximen der Po - litique folget, heiſt ein verſchlagner, ein geſchickter, ein weltkluger Mann, und wer ſich in das Cere - moniel-Weſen wohl zu ſchicken weiß, wird als ein galant homme, ein politiſch - und manierlicher Menſch geruͤhmt.

§. 5. Vielleicht koͤnte man die Ceremoniel - Wiſſenſchafft kurtz beſchreiben, wenn man ſagte, ſie ertheilte Regeln, wie man ſich in der Welt ga - lant auffuͤhren ſolte; doch dieſes waͤre etwas un - deutlich, es haben die meiſten, die von lauter Ga - lanterien reden, dunckele Begriffe dabey, und wiſ - ſen ſich dißfalls nicht deutlich zu erklaͤren. Jnſon - derheit iſt, nach dem Ausſpruch des Engliſchen Spe - ctateurs der weiblichen Einbildungs-Krafft, nichts weiter dazu noͤthig, als ein wohlgeſtallter Leib, eine ſchoͤne Farbe des Angeſichts, eine ſchoͤne Peruque,ein5Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. ein Hemde mit Spitzen, ein geſticktes Kleid und ein Feder-Buſch. Nur einige unter dieſen ſchoͤnen Eigenſchafften machen die Sache aus, und der Schneider, der Peruquenmacher und die Lein - wand-Kraͤmerin ſind es, welche einen ſolchen uͤber die gemeine Art erhobnen Menſchen erſchaffen, und zu einen galant homme gemacht. ſiehe Ernſt Lud - wigs von Faramund Mentor p. 334.

§. 6. Einige Frantzoſen als Monſieur Vaugelas und Coſtar ſagen: die Galanterie ſey etwas ge - miſchtes, ſo aus dem je ne ſcay quoy, aus der gu - ten Art etwas zu thun, aus der Manier zu leben, ſo am Hofe gebraͤuchlich iſt, aus Verſtand, Gelehr - ſamkeit, gutem Judicio, Hoͤflichkeit und Freudig - keit zuſammen geſetzt werde, dem aller Zwang, af - fectation und unanſtaͤndige Plumpheit zuwider ſey. Andere ſagen: die wahre Politeſſe oder Ga - lanterie beruhe darinnen, daß man wohl und an - ſtaͤndig zu leben, auch geſchickt und zu rechter Zeit zu reden wiſſe, daß man ſeine Lebens-Art nach dem guten Gebrauch der vernuͤnfftigen Welt richte, niemand einige Grobheit und Unhoͤflichkeit erweiſe, den Leuten niemahls dasjenige unter Augen ſage, was man ſich ſelbſt nicht wolle geſagt haben; daß man in Geſellſchafften das groſſe Maul nicht allein habe, und andre kein Wort aufbringen laſſe, bey Frauenzimmer nicht zwar ohne Rede ſitzen, als wenn man die Sprache verlohren haͤtte, oder das Frau - enzimmer nicht einigen Wortes wuͤrdig achte, hin - gegen auch nicht allzu kuͤhn ſey, und ſich mit ſelbi -A 3gen,6I. Theil. I. Capitul. gen, wie gar vielfaͤltig geſchicht, zu gemein mache. ſiehe Thomaſii Diſcours von Nachahmen der Fran - tzoſen. Noch andere erklaͤren die Galanterie durch eine Faͤhigkeit, den Strohm in der Welt nachzu - ſchwimmen, und ſich politiſcher Weiſe in mancher - ley Geſtalten zu verwandeln. ſiehe 77. Maxime von Gracians Oracul und Herrn D. Muͤllers Anmer - ckungen. Jch glaube daß man die Galanterie am beſten erklaͤren kan, durch eine Geſchicklichkeit bey ſeinem aͤuſſerlichen Weſen, den meiſten oder doch den vornehmſten, zu gefallen.

§. 7. Die Liebe zur Galanterie, erſtreckt ſich nicht allein auf mancherley buͤrgerliche Handlungen, ſon - dern ſie iſt auch biß in die Wiſſenſchafften und die Gelehrſamkeit eingedrungen. Vielen iſt mehr an der galanten, als an der ſoliden Gelehrſamkeit gele - gen. Es beſtehet aber die galante Gelehrſamkeit darinnen, daß man ſich vornehmlich diejenigen Wiſſenſchafften bekandt mache, die zu der Zeit bey den Hof - und Welt-Leuten in beſondern Credit ſte - hen, und aus mancherley andern Wiſſenſchafften das artigſte heraus leſe, dadurch das Gemuͤthe mehr beluſtiget, in angenehme Verwendung geſetzt, als mit allzuſauern und muͤhſamen Nachſinnen be - ſchwehret werde, und daſſelbe zu rechter Zeit und an rechten Ort anbringen lerne. ſiehe hiervon mit mehrern die Anmerckungen des Herrn D. Muͤllers uͤber die XXII. Maxime von Balthaſar Gracians Oracul.

§. 8. Die Lehre von den Ceremonien-Weſen,beru -7Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. beruhet auf lauter Menſchen-Satzungen, und alſo beſtehen ihre Regeln nach der Beſchaffenheit des Verſtandes und des Willens, derer die ſie erfunden, oder ihnen Beyfall geben, aus ſolchen Saͤtzen, die theils vernuͤnfftig und tugendhafft, theils unver - nuͤnfftig und laſterhafft, theils aber auch als unſchul - dige und gleichguͤltige anzuſehen. Gebrauchten ſich die Menſchen ihrer Kraͤffte des Verſtandes und Willens auf die Weiſe, wie ſie ſich wohl derſel - ben gebrauchen ſolten und koͤnten, ſo wuͤrden die Ce - remonien und Gebraͤuche alle ihren Grund haben, ſie wuͤrden mit der Tugend-Lehre, mit dem natuͤrli - chen Recht und mit der Lehre der Klugheit, vollkom - men koͤnnen moniren, und die Menſchen wuͤrden auch bey ihren aͤußerlichen Handlungen jederzeit das beſte und vollkommenſte erwehlen. Nachdem aber der groͤſte Theil der ſterblichen, und auch viele von den hoͤhern, mehr ihren Vorurtheilen und Be - gierden, als den Lehren der geſunden Vernunfft Fol - ge leiſten ſo iſt auch kein Wunder, daß viel thoͤrich - te und ſuͤndliche Gebraͤuche und Ceremonien auf - gekommen, und in Ubung erhalten werden.

§. 9. Der Unterſcheid unter denen Ceremonien und Gebraͤuchen, iſt nicht ſo gar leicht anzuzeigen, und ziemlich ſubtil; jedoch halt ich davor, daß ſie ſich auf folgende Weiſe von einander abſondern. Eine Ceremonie iſt eine gewiſſe Handlung, dadurch, als ein Zeichen, etwas gewiſſes angedeutet wird, und entweder denjenigen ſelbſt, der die Ceremonie vor - nimmt, oder mit denen ſie vorgenommen wird, oderA 4auch8I. Theil. I. Capitul. auch wohl nach Gelegenheit die Zuſchauer und Zu - hoͤrer einer gewiſſen Pflicht erinnern ſoll. Ein Ge - brauch aber iſt die Art und Weiſe einer gewiſſen aͤuſ - ſerlichen Handlung, die an dieſem oder jenem Or - te, zu dieſer oder jener Zeit, von den meiſten oder von den vornehmſten, vor gut befunden, und von den andern, die ſich deren Willen der meiſten oder der vornehmſten gefaͤllig erzeigen wollen, nachgerechnet wird. Zu Erfindung der Ceremonien hat mehr Witz gehoͤret, und hat man dabey auf einen guten oder doch auf einigen Grund geſehen, da hingegen viel Gebraͤuche ohne Raiſon, bloß durch den Willen der Menſchen, entſtanden. Da es bey Abhand - lungen dieſer Materie keinen Jrrthum abgeben wird, ſo will ich mir in dieſer Schrifft, ſo wohl als meine Vorgaͤnger, die Freyheit nehmen, die Cere - monien und Gebraͤuche vor einerley zu halten, und mich bald dieſen, bald jenen Wortes bedienen.

§. 10. Die Lehre von den Gebraͤuchen, hat bey nahe ein gleiches Alter mit dem menſchlichen Ge - ſchlecht. So bald einige Gemeinden entſtanden, und mancherley buͤrgerliche Handlungen unter - nommen worden, ſo bald hat man angefangen ei - nigen aͤußerlichen Handlungen eine gute Weiſe zu geben, die vor wohlanſtaͤndig gehalten worden, man hat angefangen, durch dieſes oder jenes aͤußer - liche Zeichen, andere gewiſſer Pflichten zu erinnern, nicht weniger hat man ſich angelegen ſeyn laſſen die - jenigen, die man entweder wegen ihrer Macht ge - fuͤrchtet, oder wegen ihrer Vollkommenheiten, dieman9Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. man ihnen beſonders zugeſchrieben, hochgeſchaͤtzt, nachzuahmen, und ſich bey ſeinen Handlungen nach ihren Willen zu richten.

§. 11. Wie ſich der groſſe GOtt ſelbſt Muͤhe ge - geben, ſeinem damahls auserwehlten Volck, der Juͤdiſchen Nation, ſo wohl in Anſehung mancherley weltlichen als geiſtlichen Handlungen, gewiſſe Ce - remonien vorzuſchreiben, und ſie zu deren Beob - achtung anzuhalten, finden wir ſonderlich in dem II. III. IV. und V. Buch Moſis. Nun koͤnnen wir zwar nicht den Grund von allen dieſen Ceremonien anzeigen, es iſt aber kein Zweifel, die ſelbſtſtaͤndige Weißheit werde alles auf das weißlichſte angeord - net haben. Mancher will uns von dieſen Gebraͤu - chen, aus Mangel unſrer Erkaͤnntniß, beſonders frembd und wunderlich anſcheinen, weil uns die ei - gentliche Beſchaffenheit der damahligen Juͤdiſchen Republic nicht ſo vollkommen bekandt, als wohl zu Beurtheilung alles dieſen von noͤthen waͤre; je mehr wir aber den Juͤdiſchen Alterthuͤmern nachforſchen, und ſonderlich ihrer kuͤnfftigen, auf den Heyland JEſum Chriſtum, abzielenden Vorbedeutung nach - fragen, je groͤßer Licht erlangen wir, es iſt auch wohl gewiß genung, der theure GOttes-Mann Moſes werde den Juͤdiſchen Volck manches deut - lich gantz muͤndlich erklaͤret haben, welches der Geiſt GOttes durch ihn nicht aufzeichnen laſſen.

§. 12. Unſer Ceremoniel-Weſen iſt nach dem Unterſchied der Laͤnder unterſchieden, und ſind in dieſem oder jenem Lande mancherley Gebraͤuche, dieA 5in10I. Theil. I. Capitul. in einem andern gantz unbekandt. Alſo ſind in Franckreich und Jtalien, wo ſie die Camine haben, mancherley Maximen und Regeln eingefuͤhrt, z. E. daß nur den vornehmſten zuͤkaͤme, daß Feuer zu ſchuͤrren, daß man in die Camin-Feuer nicht ſpucken duͤrffe, und ſo welche ſich auf die Laͤnder, wo die Oefen in Gebrauch, nicht appliciren laſſen. ſiehe curioſi Aletophili Tractat de moribus ac ritibus aulicis, p. 123. Wenn ſich die Ceremonien mehr auf die Vernunfft, und das allgemeine Recht der Natur gruͤndeten, als auf den Willen der Men - ſchen, ſo wuͤrden ſie allgemeiner ſeyn, wiewohl es doch nicht moͤglich waͤre, daß ſie allenthalben auf einerley Weiſe koͤnten determiniret werden, ſinte - mahl das Clima, die Lufft, das Erdreich, die Lan - des-Fruͤchte, die unterſchiedenen Humeure der Na - tionen, bey dem Unterſchied vieles mit wuͤrcken helf - fen. Um dieſer Urſache willen ſind bey den Bauern, bey der Kleidung, im Eſſen und Trincken, und ſo in den heißen Mittags-Laͤndern, mancherley Gebraͤu - che, anders als in dem gefrohrnen Norden. Uber - diß wo iſt auch wohl eine ſolche Einigkeit unter groſ - ſen Herren, oder eine ſo allgemeine Liebe unter den andern anzutreffen, daß ſie ſich ſolten gefallen laſ - ſen, das meiſte, was andere vor gut befunden, ohn Unterſcheid anzunehmen?

§. 13. Der Unterſcheid der Religionen, bringt ebenfalls nicht allein bey dem Gottesdienſt, ſondern auch bey den weltlichen Handlungen, nicht ſelten ei - nen Unterſcheid zuwege. Alſo wird unter den Roͤ -miſch -11Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. miſch-Catholiſchen, nach Veranlaſſung ihrer Re - ligions-Saͤtze, das Ceremoniel gar oͤffters gantz anders reguliret, als unter den Evangeliſch-Lutheri - ſchen. Viel Gebraͤuche ſind auch, nach den Unter - ſchied der Hoͤfe in Teutſchland, von einander unter - ſchieden, denn der Wille des Landes-Herrn und der vornehmſten im Lande, die aber gar oͤffters von gar ungleichen Gemuͤthern, geben dem Ceremo - niel-Weſen ſein gantzes Leben. Was an dieſem Hofe vor einen Wohlſtand gehalten wird, iſt an jenem vor einen Ubelſtand anzuſehen. Es begehen daher manche Leute, die ſich ſonſt in ihrer uͤbrigen Auffuͤhrung gantz vernuͤnfftig bezeigen, einen Feh - ler, und machen ſich laͤcherlich, wenn ſo die Gebraͤu - che, die an dieſem Hofe, oder bey gewiſſen Miniſtris eingefuͤhrt, ohn Unterſcheid auf andre appliciren wollen.

§. 14. Unſere teutſchen Gebraͤuche ſondern ſich nicht allein in viel Stuͤcken von den Sitten der an - dern Europaͤiſchen Voͤlcker ab, ſondern ſie ſind auch nach dem Unterſcheid der Provintzen in Teutſchland einander ungleich und unaͤhnlich. Alſo iſt das privat-Ceremoniel-Weſen bey einigen Puncten anders in Ober-Sachßen, als in Nieder-Sachßen, und hinwiederum anders in Schleſien, als in Oe - ſterreich. Ja was will ich von dem Unterſcheid der Laͤnder gedencken, ſind doch die Gebraͤuche in einem eintzigen Lande nach dem Unterſcheid der Oerter von einander unterſchieden. Wenn man ein gantz Land ausreiſet, und ſich an jedem Orte nach ſpe -ciel -12I. Theil. I. Capitul. ciellen Dingen erkundiget, ſo findet man unter Edel - leuten, Buͤrgern und Bauern, bey dieſer oder jener oͤffentlichen Handlung, mancherley unterſchiedene Gebraͤuche, die bißweilen zwar einander aͤhnlich, bißweilen aber auch gantz und gar ungleich ſind.

§. 15. Die gantze Verfaſſung unſers Ceremo - niel-Weſens, beſteht theils aus ſehr alten und be - ſtaͤndigen, theils aus gantz neuen und veraͤnderli - chen, theils aus heydniſchen theils aus chriſtlichen, theils aus frantzoͤſiſchen und auswaͤrtigen, theils aus einheimiſchen, theils aus uͤberfluͤßigen, thoͤrich - ten und laſterhafften, theils aber auch aus noͤthigen, vernuͤnfftigen und loͤblichen Gebraͤuchen, welches ich in folgenden etwas weitlaͤufftiger erklaͤren will.

§. 16. Manches iſt ſehr alt, und durch eine be - ſtaͤndige Nachahmung von den grauen Vorfahren auf die Nachkommen gebracht worden. Solte man einen und andern Gebrauch aus den Alter - thuͤmern unterſuchen, ſo wuͤrde man finden, daß manche Ceremonie ſich nicht allein von einigen Seculis herſchreiben, ſondern auch uͤber tauſend Jahr alt ſey, und von den aͤlteſten Ebraͤern, biß auf unſere jetztlebenden Mit-Bruͤder gedrungen. Doch machen dieſe in Anſehung der andern, die ſich von Zeiten zu Zeiten veraͤndert, den kleinſten Theil aus. Viele von unſern Gebraͤuchen, haben in der gegenwaͤrtigen Zeit eine gantz andere Geſtalt ge - wonnen, als ſie vor ein paar Seculis, oder vor einem Jahr-Hundert hatten, und wenn man ſich in denteutſchen13Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. teutſchen Geſchichten ein wenig umſiehet, ſo findet man, daß eine Zeit von zehn bis zwoͤlff Jahren nicht ſelten bey denen Ceremoniel-Weſen, bey ei - nem und andern Punct, eine Veraͤnderung zu ver - anlaſſen pflegt; Durch die Liebe zur Veraͤnderung, iſt man auf viel thoͤrichtes gefallen, und hat man ei - niges in jetzigen Zeiten auf eine ſo hohe Spitze ge - trieben, daß es faſt nicht moͤglich, daß man etwas zuſetzen kan.

§. 17. Daß ſich manches von unſern heutigen teutſchen Gebraͤuchen, noch aus den Heydenthum herſchreibe, iſt eine Sonnen-klare Wahrheit, ob es gleich denen, die in den Geſchichten der alten Heyden unerfahren, etwas fremde anſcheinen moͤchte. Wer ſich die Muͤhe giebt, viele von un - ſern Ceremonien mit den Sitten der Heydniſchen, Griechen und Roͤmer en parallel zu ſtellen, der wird in vielen Stuͤcken eine groſſe Aehnlichkeit wahrnehmen. Viele Gebraͤuche bey unſern Ga - ſtereyen oder vielmehr bey unſern Freſſen und Sauffen, ſind heydniſch, manche von unſern Luſt - barkeiten und Divertiſſements bey Hochzeiten, bey Dantzen, Comœdien, Operen, haben wir groſ - ſen theils von den heydniſchen Roͤmern gelernt. Wie wir[nun] in vielen Stuͤcken heydniſch leben, ſo iſt auch bey unſerm Tode, bey der Betraurung und bey den Leich-Proceſſionen der Unſrigen, manches heydniſche Weſen, ſo theils von den Griechen und Roͤmern, theils auch von unſern alten teutſchen Vorfahren abſtammt, anzutreffen. Jnzwiſcheniſt14I. Theil. I. Capitul. iſt die Guͤte des Hoͤchſten zu preiſen, daß der helle Glantz des Evangelii die dicken Nebel der heydni - ſchen Jrrthuͤmer, die manche Handlungen unſrer Vorfahren bedruͤckt hielten, vertrieben; Es iſt zu wuͤnſchen, daß wir ſo begierig werden moͤchten, die Sitten der erſten Chriſten, in ſo weit ſie ſich vor un - ſere Zeiten und vor unſere Verfaſſung ſchicken, nachzuahmen, als unſere Vorfahren eifrig genug manche Gebraͤuche von den heydniſchen Roͤmern ſich zuzueignen.

§. 18. Unſere teutſche Nation ſtehet zwar von ei - nigen Jahr-Hunderten her bereits in dem Ruff, daß ſie ſich mehr um das auswaͤrtige als um das einhei - miſche zu bekuͤmmern pflege, und fremde Gebraͤuche lieber nachahme, als daß ſie ſelbſt drauf bedacht ſeyn ſolte, bey ihnen und durch ſie etwas Gutes zu finden, es iſt aber doch kein auswaͤrtig Land bey ih - nen zu ſolchen Anſehen und zu ſolcher Hochachtung gekommen, ob wohl zu thren groͤſten Schaden, als Franckreich. Jch will hier nicht diejenigen Kla - gen, die andre deswegen angeſtimmt, wiederhohlen, ſondern nur gedencken, daß von einigen Seculis her, da die Mode Touren unſerer jetzigen Paſſagierer auf - gekommen, unſere teutſche Gebraͤuche ſich mehr als die Helffte in Frantzoͤſiſche verwandelt; es iſt faſt nicht eine eintzige Haupt-Claſſe, der zum Ceremo - nien-Weſen gehoͤrigen Handlungen anzutreffen, die nicht aus Franckreich ihre Vorſchrifft hohlen ſolte, weil die Vornehmſten unter uns in den Ge - dancken geſtanden, Franckreich ſey diejenige hoheSchule15Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. Schule, auf welcher man die Regeln des Wohl - ſtandes, der beyden aͤuſſerlichen Handlungen in Obacht zu nehmen, am beſten erlernen koͤnte.

§. 19. Nachdem die Frantzoſen gemerckt, daß ſo wohl andere Voͤlcker, als inſonderheit die Teut - ſchen, die Regeln der Galanterie und des Wohl - ſtandes von ihnen zu erlernen, begierig, ſo haben ſie ſich vor andern angelegen ſeyn laſſen, eine ungeheu - re Menge Schrifften, die von der Politeſſe, von der Galanterie, von der Hoͤflichkeit, von einer guten Auffuͤhrung, u. ſ. w. handeln, heraus zu geben. Es iſt nicht zu leugnen, daß viel Gutes darinnen enthal - ten, wenn man aber ihre Regeln auf die Probe ſtellt, ſo findet man, daß ſie ſich nicht in allen Stuͤcken auf unſre teutſche Verfaſſung wollen appliciren laſſen. So wenig als die auslaͤndiſche Geſetze ohn Unter - ſcheid auf Teutſchland paſſen, ſo wenig ſchicken ſich auch alle Maximen und Regeln der fremden Voͤl - cker, die ſie von den Wohlſtand ertheilen, auf unſere teutſchen Gebraͤuche und Verfaſſung. Es laͤſt daher auch gar wunderlich, wenn einige von unſern teutſchen Paſſagirern dasjenige, was ſie in Franck - reich geſehen oder gethan, alſobald in Teutſchland appliciren wollen, und bey ihrer Zuruͤckkunfft Lehr - meiſter abgeben, andern Leuten lauter Frantzoͤſiſche Gebraͤuche beyzubringen.

§. 20. Ob ſich nun wohl vieles von unſern Ce - remonien-Weſen nach dem Frantzoͤſiſchen regu - lirt, und ſeinen Urſprung aus Franckreich herleitet, ſo haben demnach auch manche einheimiſche Sittenſo16I. Theil. I. Capitul. ſo viel Krafft behalten, daß ſie von den auswaͤrti - gen nicht haben koͤnnen verdrungen werden; es ſchei - net auch, daß unſere Lands-Leute ſonderlich von dem Eingange dieſes jetzigen Jahr-Hundert her mehr als unſere Vorfahren angefangen zu erlernen, daß man dasjenige, was zum Wohlſtande und zum Ce - remoniel-Weſen gehoͤrt, in Teutſchland ſo wohl lernen koͤnne, als in Franckreich. Wir haben in Teutſchland eben ſo geſchickte Kuͤnſtler und Manu - facturier, die alles, was zur Galanterie gehoͤrt, ſo wohl angeben und verfertigen koͤnnen, als in Franck - reich, es fehlet uns nicht an geſchickten Exercitien - Meiſtern, welche die jungen Leute zu einer beſon - dern Geſchicklichkeit der Glieder, und wohlanſtaͤn - digen Geberden zu diſponiren wiſſen, viele von un - ſern Rectoribus auf Schulen, und Profeſſoribus auf Univerſitæten, ſind keine ſolche Orbilii und Schul-Fuͤchſe, als wie in denen vorigen Zeiten, (ob es gleich hin und wieder an ſchmutzigen Gelehr - ten auch nicht fehlt,) ſondern galant hommeur, die jungen Leuten bey ihrer wohlanſtaͤndigen Auffuͤh - rung mit einem guten Exempel vorgehen, und bey dem Vortrag ihrer Morale, auch diejenige Lehre, die von der Wohlanſtaͤndigkeit der Sitten handelt, mit verbinden; inſonderheit aber, welches ich vor allen andern zuerſt haͤtte erwehnen ſollen, pranget unſer Teuſchland allenthalben mit ſolchen Koͤnigli - chen, Churfuͤrſtlichen, Fuͤrſtlichen u. Reichs-Graͤfl. Hoͤfen, denen qualificirte Regenten und Haͤupter vorſtehen, und die mit geſchickten und manierlichen Hof-Leuten angefuͤllt.

§. 21.17Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh.

§. 21. Da ſich die Ceremonien aus dem Ge - hirne menſchlicher Erfindungen herſchreiben, ein großer Theil der Menſchen aber mehr der Einbil - dung folget, als der Vernunfft, mehr den Begier - den, als einem regelmaͤßigen Willen, ſo kan man leicht glauben, daß ſich mancherley uͤberfluͤßig, un - vernuͤnfftig und laſterhafft Zeig dabey eingefloch - ten; Ob ſich gleich große Herren angelegen ſeyn laſſen, mancherley thoͤrichte und ſchaͤdliche Gebraͤu - che bey ihren Unterthanen je mehr und mehr abzu - ſchaffen, und dieſelben durch Landes-herrliche Man - date zu verbiethen, ſo bleiben derer dennoch gnug uͤbrig; die Zeit hat manche Thorheiten oͤffentlich privilegirt, hohe Landes-Obrigkeiten erfahren nicht alles, was bey ihren Unterthanen in dieſem Stuͤck vorgehet, es iſt vielen Leuten wegen ihres Intereſſe dran gelegen, daß ſolche Maniren und Gebraͤuche erhalten werden, und wer in das Weſpen-Neſt ſtoͤhren will macht ſich allzuſehr verhaßt, und alſo bleibet ſo wohl in dieſem Stuͤck, als in andern man - che Thorheit und manch Laſter in viridi obſer - vantia.

§. 22. Wenn man nun bedenckt, daß unſer Ce - remonien-Weſen aus ſo mancherley alten und neuen, auswaͤrtigen und einheimiſchen, klugen und einfaͤltigen, guten und boͤſen Maximen und Saͤtzen beſtehet, von der Opinion der Menſchen beherrſcht wird, nach dem Unterſcheid der Laͤnder und der Oer - ter unterſchieden, und von Zeit zu Zeit, der Veraͤn - derung unterworffen, ſo moͤchte einem faſt die LuſtBver -18I. Theil. I. Capitul. vergehen, ſolches in Ordnung zu bringen, gewiſſe Saͤtze, die ſonſt gar nicht zuſammen haͤngen, mit einander zu verknuͤpffen, und allgemeine Regeln hie - von zu ertheilen. Die Vorſtellung dieſer Schwuͤ - rigkeit hat manche abgehalten, daß ſie ſich an die Ceremoniel-Wiſſenſchafft nicht manchen wollen. Wer aber nach Wahrheit und Ordnung ſtrebet, und gelernt hat, das wahre von dem falſchen, und das gute von dem boͤſen zu unterſcheiden, auch die Regeln einer ordentlichen Lehr-Art in Kopff hat, wird auch hierbey den Muth nicht ſincken laſſen.

§. 23. Die gantze Lehre, welche den aͤußerlichen Handlungen eine gewiſſe Weiſe vorſchreibet, leitet ihren Urſprung aus der Welt-Weißheit, und gruͤn - det ſich auf die geſunde Vernunfft. Ob nun ſchon nicht alles, was die Vernunfft erkannt, davon ange - nommen worden, bißweilen auch wohl das Gegen - theil davon in groͤßern Werth und Anſehen, ſo hat doch die Welt manches davon beybehalten; Jn ſo weit nun dergleichen Regeln vernuͤnfftig, in ſo weit ſind ſie auch allgemein, und behalten ihre Krafft an allen Orten, und zu allen Zeiten. Durch die Ce - remoniel-Wiſſenſchafft wird man geſchickt, man - che gute Gebraͤuche, die noch nicht bekannt worden, zu erfinden. Viel Ceremonien ſind dem natuͤrli - chen Recht nicht zuwider, ob ſie ſchon nicht unmittel - bahr daraus herflieſſen, inzwiſchen ſind ſie doch faſt allgemein, und bey dem hoͤchſten und vornehmſten in Obſervanz, ſie moͤgen ſich im uͤbrigen aus dieſem oder jenem Seculo, aus dieſem oder jenem Landeher -19Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. herſchreiben. Es iſt demnach moͤglich und nuͤtzlich dergleichen zu ſammlen, und ſie jungen Leuten, als Regeln, vorzuſchreiben. Sind gleich einige Cere - monien nach dem Unterſcheid der Oerter unter - ſchieden, ſo muß man doch einen Unterſcheid ma - chen unter dem Haupt-Werck der Ceremonie, und unter einen und andern kleinen Neben-Um - ſtaͤnden. Die Haupt-Handlungen bleiben in Teutſchland meiſtens uͤberein, und koͤnnen auch da - her in Regeln gebracht werden, die beſondern Um - ſtaͤnde aber kan ſich einer an einem jeden Orte gar bald bekandt machen. Eine gleiche Beſchaffen - heit hat es, wenn die neuen Zeiten bey dieſem oder je - nem einen neuen Zuſatz, oder ſonſt einige Veraͤnde - rung zu Wege bringen. Die teutſchen Geſetze haben ebenfalls nicht an allen Orten einerley Ge - ſtalt, und erleiden auch durch die Zeit ihren Wech - ſel, und inzwiſchen iſt es doch gar wohl moͤglich, daß man die Lehre von den teutſchen Geſetzen ſyſtema - tiſch vorſtellen kan. Bey den Gebraͤuchen, die noch aus den eißgrauen Alterthum ihren Urſprung her - hohlen, bemuͤhet ſich dieſe Wiſſenſchafft, durch Huͤlffe der Geſchichte, ſo viel moͤglich, den Grund her - zuhohlen, und zu zeigen, was zuerſt die Gelegenheit dazu gegeben; Man kan zwar bey dieſer Arbeit nicht allenthalben nach Wunſch fortkommen, und trifft bey einer Wiſſenſchafft der Ausſpruch eines Roͤmiſchen Geſetzes ein, daß man nicht von allen, was von den Vorfahren verordnet worden, Raiſon geben koͤnte. So iſt es bey dem Ceremoniel-Weſen;B 2Sinte -20I. Theil. I. Capitul. Sintemahl unſere Vorfahren die Geſchichte viel zu unvollſtaͤndig beſchrieben, als daß ſie den Grund aller Gebraͤuche mit angefuͤhrt haͤtten, inzwiſchen kan man doch bißweilen aus den Antiquitæten die Raiſon entdecken. Hat man ſie entdecket, ſo hat man mancherley Nutzen davon zu erwarten. Manche Handlung, die einem jetzund einfaͤltig und unvernuͤnfftig anſcheinet, wird einem vernuͤnfftiger werden, wenn man weiß, was ſie zu bedeuten habe, und warum ſie angegeben und vorgeſchrieben wor - den, man wird am beſten unterſcheiden koͤnnen, ob dieſes oder jenes aus dem Heydenthum oder Pabſt - thum noch herfließt, und von was vor einer Nation ſie bis auf uns gebꝛacht woꝛden, und daher am faͤhig - ſten werden, zu beurtheilen, ob ſie bey uns applica - bel ſey oder nicht, man wird auch nachgehends hie - durch wahrnehmen, daß manche Ceremonie, die jetzund in treflichem Credit und Anſehen, einen theils laͤcherlichen, theils auch wohl gar ſchaͤndlichen Ur - ſprung habe.

§. 24. Daß der Ceremoniel-Wiſſenſchafft er - laubet ſey, ohne Abbruch der Wahrheit und Tu - gend, und ohne ſich einen allzu groſſen Haß uͤber den Halß zu laden, ſolche Saͤtze den aͤußerlichen Weſen der menſchlichen Handlungen vorzuſchreiben, die aus der Vernunfft und Tugend fließen, oder doch derſelben nicht zuwider ſind, iſt wohl eine ausge - machte Sache. Nachdem wir aber aus den 21. §. wiſſen, daß die Welt viel alberne, ſuͤndliche und la - ſterhaffte Gebraͤuche eingefuͤhrt, und manchen thoͤ -rich -21Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. richten und gottloſen Regeln, die ſie unter ſich gelten laͤſt, mehr Folge leiſtet, als den goͤttlichen Wahr - heiten, ſo fragt ſichs, was man mit denſelben anfan - gen ſoll? Soll man ſie weglaſſen, und nichts davon erwehnen, ſo wird die Ceremoniel-Lehre ſehr un - verſtaͤndig und mangelhafft erſcheinen. Soll man aber den Leſern dergleichen Vorſchrifften ertheilen, ſo hindert und ſtoͤhret man vielmehr die wahre Welt-Weißheit und davon herruͤhrende Gluͤckſee - ligkeit ſeines Naͤchſten, als daß man dieſelbe be - foͤrdern ſollt. Ein Liebhaber der Welt-Weißheit ſoll ſich bemuͤhen, alle Jrrthuͤmer des Verſtandes und Willens, ſo viel als moͤglich, unter den Menſchen auszurotten, nicht aber ſie zu ſammlen, und andern vorzuſchreiben.

§. 25. Jch halte davor, daß man bey den Saͤ - tzen und Regeln von dieſer Art, einen doppelten Un - terſcheid zu machen habe, zum erſten unter den Saͤ - tzen die gantz offenbahr thoͤricht und laſterhafft, und unter denen, die nur einigermaßen von denen We - gen der Wahrheit und Tugend abgehen; und zum andern unter Gebraͤuchen der Privat-Perſonen, und unter den Ceremonien der groſſen Herren und hohen Standes-Perſonen. Die offenbaren thoͤrichten und ſuͤndlichen Gebraͤuche koͤnnen nimmermehr als eine Regel und Vorſchrifft angefuͤhret werden, Thor - heit und Gottloſigkeit gehoͤren nicht in die Claſſe der Wiſſenſchafften; es iſt aber gut, daß man ſie an - fuͤhret, nicht zur Nachahmung, ſondern zur Verab - ſcheuung, nicht als Regeln, denen man folgen, ſon -B 3dern22I. Theil. I. Capitul. dern als Saͤtze, bey denen man das Gegentheil be - obachten ſoll, und in beſondern Anmerckungen, die man ihnen mit beyfuͤget, ihre Thorheit, Suͤndlich - keit und ſchaͤndliche Gottloſigkeit den Leſern mit lebhafften Farben vormahlt. Es erinnert Fara - mond in dem I. Theil des von ihm uͤberſetzten Engl. Spectateurs, mit Recht p. 224: Zu der Zeit, darin - nen wir leben, ſolten alle Kuͤnſte und alle Wiſſen - ſchafften ein Verbuͤndniß mit einander wider den gewaltigen Strohm der Laſter und der Gottloſig - keit ſchluͤſſen, welche von Tage zu Tage weiter ein - reiſſen. Dieſes wuͤrde viel zur Befoͤrderung der Religion beytragen, wenn man alle Schrifften und alle andere Geburthen und Wuͤrckungen des menſchlichen Verſtandes darinnen uͤbereinſtim - men lieſſe, daß man zeigete, wofern man gegen die Annehmlichkeit der Tugend unempfindlich ſey, ſo ſey es eben ſo viel, als der ſchoͤnſten innerlichen Be - trachtungen, und edelſten Empfindungen, die der Menſch jemahls empfinden koͤnte, beraubet ſeyn. Es haben daher alle diejenigen Autores, die man - cherley unter den Menſchen herrſchenden Jrrthuͤme des Verſtandes und Willens entdecket, eine nuͤtzli - che Arbeit unternommen, ob ſie gleich bey ihrer vie - len eben keinen groſſen Danck damit verdienet, und waͤre zu wuͤnſchen, daß in allen Provintzien man - cherley unvernuͤnfftig und ſchaͤndlich Weſen, ſo hier und da an thoͤrichten Gebraͤuchen, ſonderlich auf dem Lande, noch angetroffen wird, hohen Landes - Obrigkeiten kund wuͤrde, damit dieſelben vollends nach und nach ausgerottet wuͤrden.

§. 26.23Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh.

§. 26. Dafern eine gewiſſe Art und Weiſe einer aͤuſſerlichen Handleitung, die nach dem Urtheil der Welt zum Wohlſtande gehoͤrt, nur einiger maſſen von dem Wege der Wahrheit und Tugend abge - het, ſo kan man dieſelbe wohl endlich beybehalten, wenn man ſiehet, daß durch dieſe oder jene Unvoll - kommenheit eine groͤſſere Vollkommenheit zu erlan - gen ſey, da die Welt ohnedem nicht gewohnt, bey ihren Handlungen nach der groͤſten accurateſſe zu verfahren; jedoch muß man ebenfalls anzeigen, was dabey unvollkommen ſey, und verbeſſert wer - den koͤnte und ſolte. Jn beyden Theilen ſchreibt die Lehre der Klugheit einem Autori Regeln vor, wie weit ihm nach ſeinen Umſtaͤnden, darinnen er ſich befindet, vergoͤnnet ſey, die Wahrheit anzuzei - gen, und andere gleichfam zu hofmeiſtern, ohne ſei - ner Gluͤckſeligkeit zu ſchaden.

§. 27. Bey dem Vortrag der Lehre des Staats und Hof-Ceremoniels muß man anders verfah - ren. Diejenigen, die andern Geſetze vorſchreiben, koͤnnen nicht wohl vertragen, wenn ihnen andere Lebens-Regeln vorſchreiben, noch weniger aber lei - den, wenn man uͤber ihre Handlungen criliſirt. Sie wollen gelobet, bewundert und nachgeahmet, aber nicht erinnert werden; ſie verſtehen entweder am beſten, was zur Politeſſe, zur Galanterie und uͤberhaupt zum Wohlſtande gehoͤrt, oder wollen doch davor angeſehen ſeyn, als ob ſie vor allen an - dern am faͤhigſten waͤren, die Vollkommenheit der Handlungen am beſten zu beurtheilen, und auchB 4aus -24I. Theil. I. Capitul. auszuuͤben, als worinnen ſie tagtaͤglich von dem Hauffen der eigennuͤtzigen Schmeichler, mit denen ſie umzirckelt, beſtaͤrcket werden. Sie ſind, in An - ſehung der Jrrthuͤmer, des Verſtandes und des Willens, deren ſie von Natur unterworffen, Men - ſchen wie andere, und wegen des allzu ſparſamen Unterrichts, der ihnen gemeiniglich durch ihre eigne Schuld ertheilet werde, und wegen der ungebunde - nen Freyheit, darinnen ſie ſich befinden, noch viel faͤhiger, denn ihre Unterthanen, in den Jrrthuͤmern zu verharren. Da es ſich nun aber nicht der Muͤ - he lohnet, ihre laſterhafften Handlungen aufzuzeich - nen, und es nicht gar wohl vergoͤnnet iſt, morali - ſche Betrachtungen daruͤber anzuſtellen, ſo kan man bey Abfaſſung der Staats-Ceremoniel-Wiſſen - ſchafft nichts weiter thun, als daß man die hieher gehoͤrigen Handlungen der Europaͤiſchen Puiſſan - cen, die ſie theils als Privat-Perſonen, theils als Landes-Fuͤrſten durch eigene Bewegniß, entweder nach der Vorſchrifft der wahren Welt-Weißheit, oder doch nicht wider dieſelbe unternehmen, in all - gemeine Regeln verfaßt, und ſie aus denen aͤlteſten und neueſten Geſchichten erlaͤutert, ob und wie weit vergoͤnnet ſey, hierbey eine und die andere politiſche und moraliſche Anmerckung mit beyzufuͤgen, be - ruhet von eines jeden eigenen Uberlegungen.

§. 28. Jungen Leuten iſt uͤber die maſſen noͤthig, daß ſie ſich um diejenige Wiſſenſchafft bekuͤmmern, welche den aͤuſſerlichen Handlungen eine gewiſſe, angenehme und wohlanſtaͤndige Weiſe vorſchreibt,ſinte -25Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. ſintemahl die Welt aus den Fehlern, welche wider dem Wohlſtand begangen werden, und die ſonſt nach den Regeln der Welt-Weißheit vor kleine Splitter anzuſehen waͤren, ſehr groſſe Balcken zu machen pflegt. Verſuchet es bißweilen ein junger Menſch im Spielen, bey dem Dantzen, bey einem Compliment u. ſ. w. ſo wird von manchen Leuten ein groͤſſer Verbrechen daraus gemacht, als wenn er wider goͤttliche und weltliche Geſetze geſuͤndiget haͤtte. Jhrer viele bekuͤmmern ſich mehr um die aͤuſſerlichen Handlungen und um das Ceremonien - Weſen, als um die Glaubens Puncte und Lebens - Pflichten. Ein groſſer Theil der Menſchen ſchließt von dem aͤuſſerlichen auf das innerliche; wer ſich nach der opinion der Leute in dem aͤuſſerlichen wohl zu ſchicken weiß, der wird von vielen nicht allein vor manierlich, ſondern auch vor klug und weiſe gehal - ten, und hergegen der andere, der bey dem Cere - moniel einen Fehler begehet, vor einen Phantaſten angeſehen. Die aͤuſſerlichen Handlungen fallen allen Leuten in die Augen, dem Narren ſo wohl als dem Klugen, und es geſchicht nicht ſelten, daß man - cher, der ſonſt wenig Witz im Kopff hat, an dem andern einen Fehler, den er bey dem aͤuſſerlichen be - gehet, wahrnehmen kan.

§. 29. Ob man gleich die Anfangs-Gruͤnde der Ceremoniel-Wiſſenſchafft aus einer und der an - dern wohlabgefaßten Schrifft erlernen kan, ſo muß man doch dieſelbe durch den Umgang mit der groſ - ſen Welt am meiſten excoliren. JnſonderheitB 5ſind26I. Theil. I. Capitul. ſind die Hoͤfe, als die beſte hohe Schule, auf wel - cher die Politeſſe und die Regeln des Wohlſtandes gelehret werden, anzuſehen. Denn hier hat man eine Menge qualificirter Leute um ſich herum, wel - che ſich bemuͤhen, um ihrer Herrſchafft zu gefallen, und bey andern Leuten Ruhm zu erlangen, alles mit einer bonne grace zu verrichten, und das aͤuſ - ſerliche Weſen der andern, und inſonderheit der fremden, die nach Hofe kommen, mit ſcharfſuͤchti - gen Augen anzuſehen.

§. 30. Die Tugend der Hoͤflichkeit und des ma - nierlichen Weſens hat ebenfalls wie die uͤbrigen ihre beyden laſterhafften Abwege, vor denen man ſich in acht zu nehmen hat. Bekuͤmmert man ſich gantz und gar nicht um die Regeln des Wohlſtan - des, ſo wird man daruͤber zu einen toͤlpiſchen plum - pen Menſchen, zu einen Schulfuchs, und zu einen Quacker, die nach den Regeln ihrer Secte alle Hoͤf - lichkeit und alle Complimens verachten und ver - dammen. Jſt man aber hierinnen allzu ſcrupu - lös und allzu ceremonieus, da man mit andern Leuten zu viel Ceremonien vornimmt, weil man von andern dergleichen wieder verlangt, und alles mit der allergroͤſten und gezwungenen Erbarkeit verrichten will, ſo giebt man den Schein eines ehr - geitzigen Temperaments von ſich, man verfaͤllt in ein affectirtes Weſen, und durch eine allzu muͤhſa - me Beobachtung des Wohlſtandes fehlet man wi - der den Wohlſtand. Nach der CLXXXIV. Maxi - me des Oraculs von Graciam, und derer von HerrD. Muͤl -27Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. D. Muͤllern angefuͤgten Anmerckungen, ſind Leute von allzuviel Ceremonien Goͤtzen-Diener ihrer Ehre, die jedoch dabey zu erkennen geben, daß ihre Ehre in gar geringen Dingen beruhen muͤſte, im - maſſen ſie ſelbige durch alles flugs vor beleidiget achten; es iſt zwar gut, daß ein Menſch uͤber ſeinen Reſpect halte, er muß aber auch nicht eben als ein Ober-Meiſter in Complimenten bekannt zu wer - den trachten; es iſt wohl an dem, daß, wenn ein Menſch gantz ohne alle Ceremonien ſeyn, und nur durch Tugend und Geſchicklichkeit empor kommen wolte, er einen gar auſſerordentlichen Grad dazu vonnoͤthen haben wuͤrde. Allein, ſo wenig man ſogleich dieſer Urſachen halber die aͤuſſerliche Hoͤf - lichkeit zu verachten hat, ſo wenig muß man hinge - gen darinnen affectiren.

§. 31. Nachdem das Ceremoniel-Weſen ein ſo weitlaͤufftig Werck iſt, daß man darinnen ſo we - nig, als in andern Wiſſenſchafften auslernen kan, zumahl da noch eine ziemliche Unordnung darinnen herrſcht, und ſtete Veraͤnderungen damit vorgehen, ſo hat ein jeder ſonderlich auf ſeine Umſtaͤnde und die von ihm erwehlte Lebens Art zu ſehen, und ſich diejenigen Regeln des Wohlſtandes bekannt zu machen, die ſeinem metier anſtaͤndig. Man ſolte daher auch diejenigen, die in einem und dem an - dern Stuͤck ſich wider das Hof-Ceremoniel ver - ſtoſſen, nicht alſobald verlachen und verſpotten, wie es wohl von einigen rohen Leuten zu geſchehen pflegt, wenn ſie nur im uͤbrigen, in dem was zu ih -rer28I. Theil. I. Capitul. rer Profeſſion gehoͤrt, wohl erfahren, und die all - gemeinen Regeln des Wohlſtandes, die in dem menſchlichen Leben unter vernuͤnfftigen Leuten ein - gefuͤhret, zu beobachten wiſſen. Herr Johann George Neukirch raiſonirt in ſeinen Maximen und Anweiſungen zur guten Conduite p. 22. ſehr wohl, wenn er ſchreibet: Dieſe ſind eben keine Pedanten, die die Hof-Sitten und das Ceremoniel nicht wiſſen, ſo in der Converſation uͤblich; denn das Wiſſen der Hof-Sitten gehoͤrt eben nicht zu ei - nem Gelehrten. Kan er die Ceremonien, iſt es gut, und ein gewiſſes Merckmahl ſeiner groſſen Faͤhigkeit, wo nicht, iſt es genug wenn er das de - corum ſeines Standes weiß, wie denn ein jeder Stand ſein beſonder decorum hat.

§. 32. Die allgemeinen Regeln, die zu der Lehre des Wohlſtandes gehoͤren, haben ihren beſondern Nutzen, es iſt auch wohl gethan, wenn ſich ein jetzi - ger Cavalier die beſondern Maximen, die an die - ſem oder jenem Orte bey dem Ceremoniel-Weſen eingefuͤhrt, bekannt macht und aufzeichnet; die Haupt-Regel aber iſt und bleibt dieſe, daß man ſich an allen Orten und bey allen Geſellſchafften, unter die man zu gehen hat, vorhero nach einem und andern Gebrauch bey dieſem oder jenem Um - ſtande zu erkundigen hat, damit man ſich nicht ver - ſtoſſe. Es iſt unmoͤglich, daß man alle und jede Ge - braͤuche wiſſen, und ſie in dem Gedaͤchtniß behalten kan, gleichwohl iſt uͤberaus viel daran gelegen, wenn man ſich in ſeinen aͤuſſerlichen Handlungen,denen29Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. denen andern, bey denen man iſt, und unter denen man lebt, gleichfoͤrmig auffuͤhrt.

§. 33. Ein vernuͤnfftiger Menſch iſt verbunden ſeine Handlungen nicht allein nach den vernuͤnffti - gen Reguln des Wohlſtandes und des Hof-Cere - moniels einzurichten, ſondern auch nach dem Wil - len und denen hergebrachten Sitten der gemein - ſten und geringſten Leute, wenn nemlich ſolche Um - ſtaͤnde vorhanden, da man zu einer gewiſſen Hand - lung durch einen tuͤchtigen Grund genoͤthiget wird. Ja er iſt bißweilen genoͤthiget, manche Privat-Ge - braͤuche den Maximen des Hof-Ceremoniels, und manches einfaͤltige und unvernuͤnfftige Weſen, de - nen vernuͤnfftigen vorzuziehen;

§. 34. Durch eine gemeine Beobachtung der eingefuͤhrten Ceremonien und angenommenen Gebraͤuche, befoͤrdert man manches Stuͤck ſeiner zeitlichen Gluͤckſeligkeit; Man erlangt hiedurch die Liebe und Hochachtung derer, bey denen man ſich aufhaͤlt, und macht ſich einen guten Nahmen, man wird vor einen klugen, manierlichen, gefaͤlligen Menſchen angeſehen. Sind es hoͤhere, deren Lie - be wir theilhafftig worden, ſo kan man durch die Geſchicklichkeit oder Willigkeit, die man bey denen Ceremonien erwieſen, oͤffters ſein gantz zeitliches Gluͤck machen, ſind es geringere, ſo haben wir doch den Nutzen davon zu erwarten, daß ſie uns bey Ge - legenheit eine und die andere Gefaͤlligkeit und Lie - bes-Dienſte erzeigen, die uns ebenfalls angenehm ſind.

§. 35.30I. Theil. I. Capitul.

§. 35. Bey Ausuͤbung der menſchlichen Hand - lungen, und Abſtattung der Pflichten, die wir als vernuͤnfftige Menſchen gegen uns ſelbſt und gegen unſern Naͤchſten zu erweiſen haben, begiebt es ſich nicht ſelten, daß eine wider die andere laͤufft. Da es nun unmoͤglich iſt, daß man zu gleicher Zeit al - len beyden ein Genuͤgen leiſten kan, ſo muß man nothwendig wiſſen, welche Regel man zu der Zeit, da ein paar ſich widerſprechende Saͤtze zuſammen ſtoſſen, der andern vorziehen ſoll. Da mir nun verhoffentlich ein jedweder vernuͤnfftiger Menſch einraͤumen wird, daß man etwas vollkommners einem unvollkommnern Gut, und ein groͤſſer Maß der Vollkommenheit und Gluͤckſeligkeit, einem ge - ringern Maß vorzuziehen hat, ſo hat man bey der - gleichen Fall zu beurtheilen, welche Handlung unſe - re wahre Gluͤckſeligkeit auf eine vollkommnere Art befoͤrdert oder nicht, und welcher Geſetzgeber, den natuͤrlichen Rechten nach, einen groͤſſern Gehorſam von uns zu fodern berechtiget. Will man nun hierbey vernuͤnfftig verfahren, und die gradus recht beſtimmen, ſo hat man folgendes zu mercken. Die goͤttlichen Gebothe und Verbothe ſind allen andern vorzuziehen, und wann eine Regul des Wohlſtan - des an einem, von den goͤttlichen Ausſpruͤchen, an - ſtoſſen will, ſo muß das Ceremoniel weichen. Jſt eine ewige Gluͤckſeligkeit der gantzen zeitlichen, und nach dem Ausſpruch des Heylandes, die Erhaltung der Seele der Gewinnung der Welt vorzuziehen, wie vielmehr nun einem kleinen Stuͤckgen der zeit -lichen31Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh. lichen Gluͤckſeligkeit, das iſt, der Hochachtung und der guten Opinion, die wir bißweilen auf wenige kurtze Zeit bey einigen wenigen Leuten erlangen. Es iſt der HErr aller Herren, und der Koͤnig aller Koͤnige, der Allervollkommenſte und der Allerlie - benswuͤrdigſte, und zugleich der Allermaͤchtigſte, der uns zeitlich und ewig gluͤcklich, oder zeitlich und ewig ungluͤckſelig machen kan, und alſo den aller - vollkommenſten Gehorſam von uns zu fordern be - rechtiget.

§. 36. Die andern Geſetzgeber ſind die hohen Landes-Obrigkeiten, die durch ihre Verorduungen denen Handlungen ihrer Unterthanen gewiſſe Ziel und Maaße vorſchreiben; Dieſe ſind nicht allein diejenigen, die groͤſten theils unſere zeitliche Gluͤckſe - ligkeit befoͤrdern und zerſtoͤhren koͤnnen; ſondern wir ſind auch im Gewiſſen verbunden, in allem demjenigen, was nicht wider GOtt iſt, ihnen Gehor - ſam zu leiſten. Wo ſich nun ein Fall ereignet, daß man einen gewiſſen Gebrauch in einer oder andern Geſellſchafft mitmachen ſoll, der zwar in Anſehung der goͤttlichen Geſetze gleichguͤltig, jedoch dem Wil - len der hohen Landes-Obrigkeit nicht zuwider laͤufft, ſo muß man auch bey dieſen Umſtaͤnden das Cere - moniel fahren laſſen, und aus Reſpect vor ihre Landes-Herrſchafften den Gebrauch nicht mit ma - chen, ob ſchon andere ihren eignen Willen denen Willen der Obrigkeit vorziehen ſolten. Jedoch muͤſte man auch bey dieſem Fall wiſſen, daß die Landes-Obrigkeit uͤber dieſes oder jenes wolte ge -halten32I. Theil. I. Capitul. halten wiſſen, und ihre Verordnung durch man - cherley contraire Obſervanzen, die ſie einfuͤhren laſſen, nicht gleichſam heimlich wiederruffen.

§. 37. Der dritte Geſetzgeber, auf den wir zu ſe - hen haben, ſind wir ſelber, das iſt, unſere wahre Gemuͤths-Ruhe und Zufriedenheit. Geſetzt nun, daß eine und die andere Mode, oder ein und anderer Gebrauch weder den goͤttlichen noch weltlichen Ge - ſetzen zuwider liefe, wir nehmen aber wahr, daß wir uns dadurch in beſondere Unruhe des Gemuͤthes ſtuͤrtzen wuͤrden, derer wir koͤnten uͤberhoben ſeyn, ſo muͤſſen wir auch alsdenn unſer Vergnuͤgen und unſere Gluͤckſeeligkeit der andern Leute Opinion vorziehen. Die Regeln der Tugend-Lehre, der Klugheit zu leben, und der Haußwirthſchafft, ſetzen dem Ceremoniel-Weſen Ziel und Maße und ihre gewiſſen Schrancken; es iſt ja mehr daran gele - gen, daß wir in andern wichtigen Stuͤcken unſere zeitliche Gluͤckſeeligkeit befoͤrdern und erhalten, als daß wir uns bloß durch einige aͤußerliche Handlun - gen bey dieſem oder jenem in Credit ſetzen; Jch koͤnte hier noch eine und die andere Regel und An - merckung beyfuͤgen, was man bey ſo mancherley Colliſionen in Anſehung des Wohlſtandes zu be - obachten hat, man kan aber in Praxi ſchon zu rechte kommen, wenn man auf das vorhergehende genau Acht giebt, und bey einem jeden Fall wohl erweget, ob man durch das Unternehmen oder Unterlaſſen ei - ner gewiſſen Handlung, ſich ein groͤßer Stuͤck der wahren Gluͤckſeeligkeit zu wege bringen moͤchte, oder nicht.

§. 38.33Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh.

§. 38. Der vierdte und letzte Geſetzgeber, iſt die Opinion derjenigen, an denen uns zu der Zeit, da wir eine gewiſſe Handlung bewerckſtelligen, oder unterlaſſen ſollen, etwas gelegen, und dieſen muͤſſen wir Folge leiſten, wenn ihm nicht die vorhergehen - den widerſprechen; Die ſpeciellen Regeln, die bey dem Ceremoniel-Weſen in Betrachtung zu ziehen, werden in den folgenden Capituln vorkommen.

Das II. Capitul. Von der Mode.

§. 1.

DJe Mode iſt eine veraͤnderliche Weiſe, die bey allerhand Sachen in ſo weit ſie in die aͤußerlichen Sinne fallen, eingefuͤhrt, und auf eine gewiſſe Zeit, ſo lange es denen Willen einiger Leute gefaͤllig iſt, vor wohl anſtaͤn - dig und ruͤhmlich geachtet wird, bis ſie wieder von einer andern Weiſe verdrungen wird. Sie iſt von der Gewohnheit, dem Gebrauch und den Ob - ſervanzen in manchen Stuͤcken unterſchieden. Dieſe ſind viel dauerhaffter als jene. Sollen die - ſe abgeſchafft werden, ſo gehoͤrt groſſe Muͤhe und Gewalt dazu. Hohe Landes-Obrigkeiten und Privat-Perſonen, Prieſter und Richter, haben ge - nug zu thun, bevor ſie mancherley boͤſe Gewohnhei - ten und Gebraͤuche abſchaffen koͤnnen, hingegen die Moden vergehen wieder von ſich ſelbſt, ohne groſſeCUnruhe34I. Theil. II. Capitul. Unruhe. Die Gewohnheiten und Gebraͤuche entſtehen nach und nach, biß ſie endlich allgemein werden, und je langſamer es mit ihnen zugehet, je mehr befeſtigen ſie ſich nachgehends. Bey den Moden aber heiſt es, quod cito fit, cito perit, was geſchwinde wird, vergehet auch wieder geſchwinde. Eine neue Mode uͤberſchwemmt in kurtzer Zeit, wie ein reißender Strohm, ein gantz Land, und conficirt, wie eine anſteckende Seuche die meiſten Leute, bey denen ſie eindringt. Die Gewohnheiten und Ge - braͤuche ſind nicht ſo allgemein, und nach dem be - ſondern Unterſcheid der Oerter und Landes-Arten, mehr von einander unterſchieden. Die Moden ſind viel allgemeiner, und nehmen die Gemuͤther vieler Menſchen ein, fehlt es einigen an Vermoͤgen und Gelegenheit, ſie mitzumachen, und auszuuͤben, ſo finden ſie doch ihre Beluſtigung daran. Zu der Einfuͤhrung eines Gebrauchs und einer Obſervanz wird oͤffters die Einwilligung der meiſten aus einem Collegio, oder von der Gemeinde eines Ortes er - fordert; Hingegen zu der Einfuͤhrung einer Mode gehoͤren weniger Leute, biß ſie ſich nach und nach erweitert, oder wieder verloͤſcht. Um die Gewohn - heiten, Gebraͤuche und Obſervanzen ſind die Lan - des-Geſetze, Obrigkeiten und richterliche Perſonen mehr beſorget, ſie haben auch in Anſehung der buͤr - gerlichen Handlungen ihre beſondern Wuͤrckun - gen; Hingegen um die Moden laſſen ſie ſich gemei - niglich unbekuͤmmert, biß ſie gewahr werden, daß ſie entweder den Landes-Mandaten zuwider werden,oder35Von der Mode. oder ſonſt dem gemeinen Weſen Nachtheil dadurch zugezogen wird.

§. 2. Die Moden kan man eintheilen in die all - gemeinen und beſondern. Die allgemeinen ſind, die entweder aus der Reſidenz des Landes-Herrn ihren Urſprung herleiten, oder ſonſt von dem Hoͤch - ſten im Lande erfunden, oder doch angenommen und beliebet, und von demſelben auf die Gerin - gen gebracht worden, die beſondern hingegen, die von denen, die ſich an einem Ort vor die vornehm - ſten, kluͤgſten oder wohlhabenſten duͤncken, herflieſ - ſen, und von ihren Anhaͤngern nachgeahmt werden. Dieſe letztern ſind gar von ſchlechter Dauer, denn weñ die Geringern ſehen, daß ſie bey denen, die noch hoͤher ſind, nicht Approbation finden, ſo werden ſie ihrer Nachahmung auch bald uͤberdruͤßig, und er - reichen alſo gar einen kurtzen Periodum.

§. 3. Die Grentzen einer Mode reichen ſo wohl der Zeit als dem Ort nach weiter als die andern, nachdem ſie entweder wegen ihres Nutzens und Beqvemlichkeit bey andern Beyfall findet, und alſo der Eigenliebe der Menſchen ſchmeichelt, oder auf eine leichte Art nachgeahmet werden kan, oder ſich mit den Landes-Geſetzen der Verfaßung eines Lan - des, und den Gebraͤuchen eines Ortes, vereinigen laͤſt, oder dem Willen der Vornehmſten anſteht oder nicht.

§. 4. Die Mode erſtreckt ſich auf mancherley Dinge, nicht allein auf die Kleidung, ſondern auch auf die Gebaͤude, auf Meublen und Haußgeraͤthe,C 2auf36I. Theil. II. Capitul. auf Speiſen und Getraͤncke und deſſen Zurich - tung, und auf verſchiedene andre Handlungen, in ſo weit ihr aͤußerliches Weſen in die Augen faͤlt. Die Thorheit der Menſchen will auch ſo gar bey der aͤußerlichen Geſtalt Moden einfuͤhren. Manche bilden ſich ein, ein blaſſes Angeſicht ſey bey der jetzi - gen Zeit unter dem vornehmen Frauenzimmer Mode; Da hingegen die rothe Farbe den gemeinen Buͤrger-Toͤchtern und Bauer-Maͤdgen anſtaͤndi - ger waͤre. Daher bemuͤhen ſich auch einige durch mancherley Medicamenta, die rothe Farbe der Wangen bey ihnen zu meiden. Jn den vorigen Zeiten ſind die goldgelben Haare bey dem Frauen - zimmer als eine Schoͤnheit angeſehen, und von manchen verliebten Poeten mit den groͤſten Lob - Spruͤchen beehret worden, in den heutigen Zeiten aber werden ſie vor einen Ubelſtand geachtet, und die Weibesbilder, die von der Natur damit bega - bet, bemuͤhen ſich, den ſtrahlenden Glantz ihrer Haare, ſo viel als nur moͤglich, zu verbergen. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß die Mode-Sucht nur allein bey dieſen angefuhrten Stuͤcken geblieben waͤre; allein ſo hat es leyder! Satan ſo weit gebracht, daß ſie gar biß auf das Chriſtenthum und die heiligſten Handlungen eingedrungen, und ein großer Theil, ja ich ſorge, die Groͤßten unſrer heutigen ſo genann - ten Chriſten, will den Glauben und die Gottſeelig - keit, nicht nach den Regeln des goͤttlichen Wortes, ſondern nach der Mode ausuͤben.

§. 5. Der allgemeine Brunnqvell der Modeniſt37Von der Mode. iſt wohl die den meiſten Menſchen angebohrne Lie - be zur Veraͤnderung, und die Neugierigkeit, da ſie an demjenigen, was ſie ſtets um ſich haben, und ih - nen allzubekandt und alltaͤglich worden, keinen ſon - derlichen Geſchmack mehr finden, den wahren Preiß davon nicht kennen, und daher ſtets nach et - was andern und neuen trachten. Dieſe unmaͤßige Begierde zur Abwechſelung, bringt oͤffters zu wege, daß die Menſchen das unvollkommene dem voll - kommenen, und das ſchlimmere dem beſſern vorzie - hen, wie unten weiter erhellen wird.

§. 6. Ob zwar wohl alle Menſchen in ihren Neigungen veraͤnderlich und unbeſtaͤndig, ſo iſt doch gewiß, daß eine Nation die andere an Leicht - ſinnigkeit in dieſem Stuͤck uͤbertrifft, und iſt eine laͤngſt bekandte Sache, daß die Frantzoͤſiſche vor allen uͤbrigen Europaͤiſchen am veraͤnderlichſten, und in Ausſinnung der neuen Moden am begierig - ſten. Nachdem nun unſere Teutſchen angefan - gen zu bewundern und nachzuahmen, und ſie diß - falls in ihrem Lande zu beſuchen, ſo iſt dieſes veraͤn - derliche Weſen auch auf unſere Landes-Leute ge - kommen. Es hat auch die haͤuffige Aufnahme der aus Franckreich vertriebenen Reformirten, und ihr Etabliſſement in den Teutſchen Provintzen, nicht wenig beygetragen, daß unſere Teutſchen halb Frantzoͤſiſch worden, und ſich nicht allein in ihren Kleidungen, ſondern auch in der Art zu ſpeiſen, in Meublen, in den Equipagen, bey ihren Viſiten, As - ſembleen, Parties de plaiſir, u. ſ. w. nach den Fran -C 3tzoſen38I. Theil. II. Capitul. tzoſen richten. Es hohlen zwar die Teutſchen, als die uͤberhaupt fremden Voͤlckern gerne nachahmen, eines und das andere von ihren Gebraͤuchen aus Jtalien, aus Engelland, Holland, Pohlen, Mo - ſcau, u. ſ. f.; inzwiſchen ſind die Frantzoͤſiſchen Ge - braͤuche vor andern bey uns allgemein worden.

§. 7. Viel Moden leiten ihren Urſprung aus dem verderbten Willen und den boͤſen Begierden der Menſchen. Alſo treibet die ſchaͤndliche Gewinn - ſucht die meiſten Kuͤnſtler, Kauff und Handwercks - Leute an, daß ſie, um der eingeriſſenen Liebe zur Ab - wechſelung zu ſchmeicheln, die ſonderlich unter den Wohlhabenden herrſcht, den Wercken der Kunſt, die ſie zu oͤffentlichen Verkauff feil bieten wollen, faſt alle Jahre eine neue Veraͤnderung und Geſtalt geben. Sind ſie nun gluͤcklich, daß dieſe ihre Ver - ſuche vielen Leuten anfangen zu gefallen, ſo haben ſie ihren Zweck erreicht, und eine Mode inventirt, wo aber nicht, ſo laſſen ſie es bey dem bißherigen bewenden, oder thun zu einer andern Zeit wieder ei - nen andern Verſuch. Die Unmaͤßigkeit im Eſſen und Trincken, da man allzu ſinnreich iſt, ſich und ſeinem Naͤchſten, bey dem Speiſen und Getraͤncke, beſchwerlich zu ſeyn, hat mancherley neue Arten erfunden, der Kehle ein fluͤchtiges Vergnuͤgen zu - wege zu bringen. Manchen Leckermaͤulern ſind alle Geſchoͤpffe des Erd-Creyſſes nicht mehr zurei - chend, ihre Begierden zu ſtillen, ſondern ſie wuͤnſchen ſich lieber aus dem Monden, oder aus einem andern finſtern und bewohnten Coͤrper, neue Arten der ih -nen39Von der Mode. nen unbekandten Speiſen herzuholen. Die Geil - heit hat mancherley Moden erſonnen, auf was vor Art, theils durch die Kleidung, theils durch andere Wege, die Fleiſches-Luͤſte zu erwecken und zu ſtaͤr - cken. Der Hochmuth und Ehrgeitz hat bey dem Titul - und Rang-Weſen, bey dem Point d’hon - neur viel ſeltzame, theils auch wohl thoͤrichte Ge - braͤuche ausſtudiret. Der entflammten Rach - Begierde hat man zuzuſchreiben, daß man einander nach dem Ceremoniel die Glieder verletzen, und er - morden, und dieſe Boßheit gar zu einer Wiſſen - ſchafft, die von den Jtaliaͤnern Ia Sciente Cavalle - reſche genannt wird, machen will, u. ſ. w.

§. 8. So heßlich als nun der Grund iſt, auf dem viele von unſern Moden beruhen, ſo iſt es hingegen auch gewiß, daß manche aus der Vernunfft und Tugend entſpringen; Und wie kan es auch anders ſeyn, denn ein Tag lehret ja den andern; die Wer - cke der Kunſt und mancherley moraliſche Hand - lungen der Menſchen, erreichen ſo wenig, als die Wercke der Natur, ihre Vollkommenheit auf ein - mahl, ſondern nach und nach. Unſere Vorfahren haben nicht alles gute und nuͤtzliche auf einmahl ſe - hen und erfinden koͤnnen, und unſern Zeiten daher noch manches uͤberlaſſen muͤſſen. Mit uns hat es eine gleiche Bewandniß, das gegenwaͤrtige Secu - lum ſey ſo ſcharffſinnig als es wolle, ſo wird es doch nicht ein ſolch Ziel erreichen, das unſere Nachkom - men nicht in vielen Stuͤcken uͤberſchreiten werden. Es iſt demnach klar, daß manche gute und vernuͤnff -C 4tige40I. Theil. II. Capitul. tige Moden von uns erfunden worden, und auch von unſern Nachkoͤmmlingen noch weiterhin werden er - funden werden.

§. 9. Daß man ſtatt des ſchwerern, unbequemern und unnuͤtzern etwas leichters, bequemers und nuͤtzli - chers erwehlt, iſt vernuͤnfftig und loͤblich; thoͤricht hingegen, wenn man von dem vollkommnern auf das unvollkommene wieder zuruͤck faͤllt. Hat man in einem und dem andern ſo lange rafinirt, biß man es auf einen gewiſſen Grad der Vollkommenheit gebracht, warum bleibet man denn nicht dabey? Die Wahrheit muß ja ewig Wahrheit, und das Gute ſtets gut bleiben. Doch das thoͤrichte Vor - urtheil der Mode, hat viele Menſchen ſo eingenom - men, daß ſie auch das Gute, wenn ſie es beſtaͤndig genieſſen, oder ſtets anſchauen, vor etwas ſchlim - mes achten. Die Mode-Bruͤder widerſprechen ſich bey ihren Moden ſelbſt. Jn der gegenwaͤrti - gen Zeit lieben ſie und bewundern etwas, ſie ſchrei - ben ihm viel Vollkommenheiten zu, ſie achten die Erfinder davon vor weiſe und kluge Leute, ſie mey - nen, daß nichts beſſers ausgedacht werden koͤnte; nach dem Verlauff einiger Jahre aber verachten und verlachen ſie eben die Weiſe, die ihnen doch ehedem ſo gefaͤllig geweſen, ſie ſpotten derer, die ſie vor gut halten, und verwundern ſich uͤber ſich ſelbſt, daß ſie einem ſo wunder-ſeltzamen Gebrauch haben koͤnnen Beyfall geben. Alles bleibet hier uͤberein, und man findet in nichts einen Unterſcheid, als nur in der Zeit. Bey Einfuͤhrung einer thoͤrichtenMode41Von der Mode. Mode kan man wohl ſagen, daß ein Thore viel Thoren zu machen pflege.

§. 10. Oeffters ſind Privat-Perſonen, auch wohl gar ſchlechte und geringe Leute, die erſten Erfinder einer Mode, die nachgehends allgemein wird, nicht allein aus Gewinnſucht, wie ich in dem 7 § ange - zeiget, ſondern auch aus einer Begierde denen Hoͤ - hern zu gefallen, und ſich bey ihnen einzuſchmeicheln, indem ſie die Hohen der Welt mehr fuͤrchten und lieben, als den groſſen GOtt im Himmel, und ſich in allen Stuͤcken nach ihren Pasſionen richten; So geben ihrer viele groſſen Herren neue Methoden an, wie ſie auf eine neue und veraͤnderliche Weiſe ihre Luͤſte ausuͤben, und in der Kleidung, in der Equi - page, bey ihrer Tafel, bey den divertiſſemens, u. ſ. w. andere, ihres gleichen oder geringere, uͤbertreffen koͤnnen. Groſſe Herren laſſen ſich denn derglei - chen Vorſchlaͤge nicht ſelten gefallen, und nehmen zu ihren Schaden und zu ihrer disrenommée von denjenigen Geſetze an, denen ſie Geſetze vorſchreiben ſollen. Mancher Kauffmann, Kuͤnſtler, Schnei - der und andere dergleichen Leute, bilden ſich bißwei - len nicht wenig darauf ein, daß ſie hierinnen vermoͤ - gend ſind, den Willen eines groſſen Herrn nach ih - rem Gefallen zu lencken.

§. 11. Bißweilen geſchicht es auch, daß hohe Standes-Perſonen ſelbſt von beyderley Geſchlecht, ohne fremdes Anrathen, und aus ihren eigenen Gehirne, eine Mode inventiren, die denn auch nach - gehends mit dem Nahmen ihres DurchlauchtigſtenC 5Er -42I. Theil. II. Capitul. Erfinders zu prangen pflegt. Alſo iſt bekandt, daß viel Moden, ſonderlich in Anſehung mancherley Ar - ten der Kleidung, in den aͤltern und neuern Zeiten in Franckreich von den Perſonen Koͤniglicher und Fuͤrſtlicher Haͤuſer angegeben und ausgedacht worden.

§. 12. Es mag nun eine Mode von hohen Standes-Perſonen oder Privat-Leuten ihren Ur - ſprung herſchreiben, ſo kan ſie in einem Lande doch nicht eher allgemein werden, als biß ſie von dem Hoͤchſten deſſelben Landes approbiret worden. Denn dieſe ſind es, die eine Mode autoriſiren muͤſ - ſen, und auf welche die Geringen ihr Augenmerck gerichtet. So lange als einige von den Hoͤhern ſich einer gewiſſen Weiſe vor ſich bedienen, kan man es nicht ſo wohl eine Mode, als vielmehr eine bey ihnen angenommene Ceremonie nennen; So bald aber viele von den Geringern anfangen, die Hoͤhern hierinnen nachzuahmen, ſo bald entſtehet eine Mode. Und dieſes gilt in Anſehung der mei - ſten allgemeinen Moden. Denn einige beſondere Moden und Gebraͤuche pflegen bißweilen zu entſte - hen und zu vergehen, ohne daß ſich groſſe Herren darum zu bekuͤmmern pflegen.

§. 13. Es iſt mehr als zu bekandt, daß die Gerin - gern ſo wohl in Moden, als auch ſonſt den Hoͤhern gerne nachzuahmen pflegen: Regis ad Exemplum totus componitur orbis: Wie der Herr, ſo der Knecht. Zu dieſer Nachahmung werden ſie durch unterſchiedene Bewegungs-Gruͤnde angetrieben,die43Von der Mode. die doch aber auch nach dem Unterſcheid der Leute unterſchieden ſeyn. Einige thun es aus einer un - maͤßigen Liebe den Hoͤhern zu gefallen, ſie wollen durch dieſe Nachahmung ihre Hochachtung, ihre Verwunderung und ihren Gehorſam gegen die Hoͤ - hern an Tag legen. Andere lencket der Hoch - muth, ſie vermeynen hiedurch einen Theil der Gluͤck - ſeligkeit, den die Hoͤhern beſitzen, zu erlangen, wenn ſie es ihnen in einem und dem andern gleich thun, ſie wollen ſich von den Geringern abſondern, und ſich bey ihnen in beſonder Anſehen ſetzen. Noch ande - re ſtehen in denen, obwohl irrigen Gedancken, daß diejenigen, die andere an Reichthum und Macht uͤbertreffen, ſie auch nothwendig an Weißheit und Klugheit uͤbertreffen muͤſten, und daß alſo alle ihre Handlungen lauter Meiſterſtuͤcke der Weißheit waͤren, die von andern Leuten als Richtſchnuren muͤſten angeſehen werden. Bey vielen vereinigen ſich alle dieſe Bewegungs-Gruͤnde zuſammen.

§. 14. Es iſt eine groſſe Thorheit, daß der groͤſte Theil der Geringern, eine ſo unmaͤßige Begierde hat, den Hoͤhern bey ihren Moden nachzuahmen. Sie wollen ſich hiedurch Zufriedenheit zuwege brin - gen, vermehren aber meiſtentheils ihre Unruhe, in - dem ſie den Endzweck, den ſie ſich hiebey vorgeſetzt, gar ſelten erreichen. So bald die Hoͤhern gewahr werden, daß eine Mode allgemein worden, das iſt, unter den Poͤbel, und unter die gantz Geringen ge - kommen, ſobald werden ſie der Mode, die ihnen erſtlich ſo gefaͤllig geweſen, uͤberdruͤßig, und ſind aufeine44I. Theil. II. Capitul. eine Aenderung bedacht; Und alſo bleiben die Ge - ringern allezeit in einer unruhigen Begierde den Hoͤ - hern nachzuahmen, koͤnnen es aber doch, bey aller dieſer Bemuͤhung, nicht weiter bringen, als daß ſie anfangen, dasjenige zu belieben, was denen Hoͤ - hern vor einiger Zeit gefallen, nunmehro aber ihnen nicht mehr anſtaͤndig iſt. Uber dieſes, machen ſie ſich bey Hohen und Niedrigen recht laͤcherlich, und ihre ſchlechten Einkuͤnffte und geringer Stand, faͤllt bey einer ſo unvernuͤnfftigen Nachahmung andern Leuten, zu ihrer Beſchimpffung, deſto mehr in die Augen. Bey einem vernuͤnfftigen Lebens-Wan - del muß alles zuſammen ſtimmen; hingegen hier iſt unter den Moden, die ſie zum Theil mitmachen, und unter ihrer uͤbrigen Lebens-Art nicht die geringſte Harmonie. Laͤſt es nicht wunder-ſeltzam, wenn ei - niges Frauenzimmer bey ihrer Kleidung, und bey ihren Caffé-Meublen, denen vornehmſten Damen es gleichthun will, und hingegen ſich, in Anſehung ih - rer Koſt, oder ihrer Wohnung, wie die armſeligſten Handwercks-Leute auffuͤhret, und auch Armuths - und geringen Standes-wegen, ſo auffuͤhren muß. Jſt es nicht eine groſſe Thorheit, wenn Flavia, oͤff - ters ohne Raiſon, ſolche Gaſtereyen anſtellt, die uͤber ihren Stand und Einkuͤnffte ſind, und nachgehends wieder einige Wochen nach einander trocken Brod oder ſchlechte Zugemuͤſen ſpeiſet. Die noch Gerin - gern beneiden ſie, theils, daß ſie es in manchen Stuͤ - cken den Hoͤhern gleich thun will, theils ſpotten ſie ih - rer, wenn ſie gewahr weꝛden, daß die uͤbrigen Stuͤckeihrer45Von der Mode. ihrer Lebens-Art der Auffuͤhrung der Hoͤhern gar unaͤhnlich ſind; Bey den Hoͤhern, die vor den an - dern immer gerne etwas voraus haben wollen, ſe - tzen ſie ſich gewißlich auch in ſchlechten Credit, daß ſie ſich bemuͤhen, es ihnen in manchen Stuͤcken gleich zu thun.

§. 15. Wie nun eine unmaͤßige Nachahmung der Hoͤhern, mit mancher Thorheit vergeſellſchaff - tet, alſo ſind auch gar oͤffters die Klagen derer, die ſich uͤber die Nachahmung beſchweren, und daruͤ - ber unwillig ſind, ungegruͤndet, zum Theil unver - nuͤnfftig, und laͤcherlich. Vielmahls entſpringen ſie aus einem abſcheulichen Hochmuth, Neid und Mißgunſt gegen die Geringern, manche Hoͤhere wollen ſich in allen Stuͤcken von den andern, die ihnen an Einkuͤnfften oder Range nicht gleich kom - men, abſondern, und goͤnnen ihnen nicht den aller - geringſten Theil, ja auch nicht einmahl den Schein der Gluͤckſeeligkeit, die der ihrigen aͤhnlich iſt. Manchmahl ſind einige aus einer unmaͤßigen Selbſt-Liebe ſo verblendet, daß ſie ſich und ihren Standt ſelbſt nicht kennen; weil ſie einige andere entweder an Einkuͤnfften oder an einer thoͤrichten Einbildung uͤbertreffen, ſo glauben ſie, ſie ſeyn mehr denn andere berechtiget, dieſe oder jene Mode von dem Hoͤhern anzunehmen, und ſich ſolcher mit guten Fug anzumaßen; Andere hingegen duͤrffen ſich dergleichen nicht unterſtehen, ob ſie ſchon ſelbſt von ſo geringem Stande ſind, daß ſie ſich dergleichen ſolten vergehen laſſen. Doch man moͤchte ſie wohlfragen,46I. Theil. II. Capitul. fragen, wer ihnen denn das Privilegium ertheilt, denen von hoͤhern Standes-Character nachzuah - men, und dieſe Licenz bey dem andern als etwas ſtraffbahres anzuſehen. Sie moͤchten doch bey Betrachtung fremder Thorheiten ihre eigene erken - nen lernen. Der falſche Grund, daß ſich manche einbilden, als ob ſie dieſem oder jenem ziemlich gleich und aͤhnlich waͤren, verfuͤhret auch andere. Jn dem Capitul von der Kleidung wird noch mehr hie - von geſagt werden.

§. 16. Die Hoͤhern haben auch bey dieſer Nach - ahmung um deßwillen einen vergeblichen Kummer, weil ſie dennoch vor dem Geringern den Vorzug behalten, und ſie in der aͤußerlichen Ehre uͤbertref - fen. Sie ſolten bedencken, daß die Moden-Sucht den Geringern oͤffters zu ihrer Schande und zu ih - ren Schaden, und hingegen den Hoͤhern zu Ver - mehrung ihres Anſehens gereicht; ſie moͤchten biß - weilen die Geringern, die ihnen an Einkuͤnfften nicht gleich kommen, eher mit mitleidigen und erbar - menden, als mit neydiſchen und zornigen Augen an - ſehen, weil ſie ſich vielmahls durch ihre Thorheiten an dem Bettelſtab bringen. Und obſchon andere ein mehrers im Vermoͤgen haben, und es dem Hoͤhern in einigen Stuͤcken gleich thun, auch beſtaͤndig aushalten koͤnnen, ſo duͤrffen ſie ih - nen doch nicht in den andern Stuͤcken, die zum Staat gehoͤren, nachahmen, und dieſe Disharmo - nie gereichet ihnen in den Augen der Verſtaͤndigen zu ſchlechter Ehre. Es ſiehet alſo gar armſeelig,wenn47Von der Mode. wenn manche Frau von geringer Extraction, in der Kleidung der groͤſten Miniſter-Frau nichts nach - giebt, zu ihrer Bedienung aber eine Magd hinter ſich treten hat. Es iſt auch nichts ſeltzames, daß die von niedern Stande, einigen Hoͤhern an Einkuͤnff - ten voͤllig gleich, und ſie auch wohl gar bißweilen uͤbertreffen; Jnzwiſchen koͤnnen ſie dennoch mit aller ihrer Pracht, darinnen ſie den Hoͤhern nachahmen, diejenigen Prærogativen nicht erlangen, die einem hoͤhern Stande oder Character eigenthuͤmlich ſind. Es dienet ihnen mehr zu ihrer Bekraͤnckung und Mortification, wenn ſie bey ihrem aͤußerl. Weſen dem Hoͤhern aͤhnlich ſind, zugleich die Begierde be - ſitzen, dasjenige zu ſeyn und zu bedeuten, was ſie ſcheinen, und dennoch weder von den Geringern, noch weniger von ihres gleichen und dem Hoͤhern, den Rang, die Titulationen und andere Ehren - Bezeugungen uͤberkommen, die ſie ſich wohl wuͤnſchen.

§. 17. Die Moden-Sucht richtet viel und man - cherley Unheil an. Ein großer Theil der Men - ſchen wird durch dieſes Laſter in die aͤußerſte Ar - muth geſtuͤrtzet. So bald manch eiteles und Mo - den-ſuͤchtiges Frauenzimmer hoͤrt, daß eine gewiſſe Farbe nicht mehr nach der Mode ſeyn ſoll, ſo kan ſie das Kleid nicht mehr vor Augen ſehen, ſie ſchickt es auf den Troͤdel, verkaufft es um ein Spott-Geld, und ſchafft ſich wieder ein anders, biß endlich der Mangel des Geldes ihre Moden-Sucht einſchraͤn - cket; wenn dieſe laſterhafften vernehmen, daß dasSilber -48I. Theil. II. Capitul. Silber-Werck, Zinn u. ſ. w. aus der Façon ge - kommen, ſo laſſen ſie es ſo gleich umſchmeltzen, und buͤßen vieles an Macher-Lohn ein. Jch koͤnte hier weitlaͤufftiger anfuͤhren, was vor beſondere Laſter aus ihr zu entſpringen pflegen, nachdem es aber theils gar bekannte Wahrheiten, theils auch eines und das andere davon in dem vorhergehenden all - bereits erwehnet worden, ſo will ich hiervon nichts weiter erwehnen, ſondern nur gedencken, daß die Moden-Sucht vor eine allgemeine Quelle anzuſe - hen, aus der unſere mannichfaltigen ſuͤndlichen, la - ſterhafften und ſchaͤndlichen Gewohnheiten her - flieſſen. Der Ausſpruch: es iſt nun einmahl ſo die Mode, ſchmeiſt faſt alle Regeln der Chriſtli - chen und vernuͤnfftigen Tugend-Lehre uͤber den Hauffen. Wenn die weiſeſten Sitten-Lehrer die Menſchen durch die ſtaͤrckſten Argumenta und buͤndigſten Schluͤſſe von denen Laſtern abrathen wollen, ſo ſetzen ſie ihnen alſobald folgende Saͤtze dagegen: Es iſt heutiges Tages gantz eine andre Welt als vor dieſem, wer nicht mit macht, wird ausgelacht, wer unter den Woͤlffen iſt, muß mit heulen, wir koͤnnen die Welt nicht anders machen. Dieſer falſchen Lehr-Saͤtze bedienen ſie ſich als einer Schutz-Wehre, und als eines Privilegii, da - durch ſie ſich aller Pflichten der vernuͤnfftigen und Chriſtlichen Sitten-Lehre widerſetzen wollen.

§. 18. Wie nun die Moden-Sucht, da man allzubegierig iſt, ohne Grund neue Moden zu er - dencken, und ſtets damit abzuwechſeln, oder dieſel -ben49Von der Mode. ben nachzuahmen, vor etwas thoͤrichtes und laſter - hafftes anzuſehen, alſo muß man auch bekennen, daß einige Leute wieder auf einen andern Abweg gerathen, wiewohl deren Anzahl, in Anſehung der Moden-ſuͤchtigen, ſo gar groß nicht iſt. Sie ha - ben eine ſo unmaͤßige Liebe vor das Alterthum, daß ſie in keinem Stuͤck bey ihrem aͤußerlichen Weſen einige Veraͤnderung belieben, ob ſie ihnen ſchon vor zutraͤglicher, leichter, bequemer, wohlanſtaͤndiger und uͤberhaupt beſſer waͤre. Es zeiget ſich dieſer Jrrthum ſo wohl bey Gelehrten als Ungelehrten, bey mancherley Wiſſenſchafften und Kuͤnſten, und bey verſchiedenen Handlungen des menſchlichen Lebens. Alſo zweifeln einige, daß etwas neues und beſſeres koͤnte erdacht und vorgebracht werden, als unſern Vorfahren bekannt geweſen, und be - ſitzen eine ungemeine Haͤrtigkeit des Hertzens, dieſen Jrrthum zu vertheidigen. Sie bleiben da - bey, ihre Vorfahren waͤren auch keine Narren ge - weſt, und formiren dieſen falſchen Schluß, wenn dieſes oder jenes moͤglich oder gut waͤre, ſo wuͤrden es ihre Vorfahren auch erfunden oder gethan ha - ben. Jn ihrer Kleidung ziehen ſie ſo altvaͤteriſch einher, daß ſie faſt daruͤber zum Kinderſpott werden, man kan ſie durchaus nicht dazu bringen, daß ſie eine neue Mode ſolten mitmachen. Bey ihren Wohnhaͤuſern und Schloͤſſern, ob ſie gleich in dem hoͤchſten Grad baufaͤllig, wollen ſie keine Veraͤnde - rung vornehmen, bloß deßwegen, daß es ihnen dau - ret, daß ſie dem Gemach, darinnen ihr lieber HerrDGroß -50I. Theil. II. Capitul. Großaͤlter-Vater und Großaͤlter-Mutter gewohnt, eine andere Geſtalt geben ſollen, als es ehedem ge - habt. Bey ihren Meublen und Haußgeraͤthe ſchaf - fen ſie ſehr ungerne etwas neues an, ſondern behelf - fen ſich mit dem, was ſie von ihren Eltern und Groß-Eltern bekommen, ſo gut als ſie koͤnnen, und wenn ja etwas davon abgehen ſolte, muß es nicht nach der neuen Mode, ob ſie ſchon in viel Stuͤcken beſſer waͤre, ſondern nach der alten eingerichtet ſeyn.

§. 19. Ein vernuͤnfftiger Menſch muß ſich be - muͤhen, hiebey ſo wohl als in andern Stuͤcken, die Mittel-Straſſe treffen zu lernen. Er iſt zwar alle Tage bemuͤhet, zu ſeiner eigenen und ſeines Naͤch - ſten wahrer Gluͤckſeligkeit, etwas neuers und beſſers auszuſinnen, oder zu erfahren, im geringſten aber nicht begierig, ſolche Moden zu inventiren, oder zu erlernen, dadurch bloß die Eitelkeit der menſchlichen Gemuͤther geſtaͤrcket wird. Er achtet dieſes vor eine Leichtſinnigkeit, und die Zeit iſt ihm viel zu koſt - bar, als daß er ſie mit dergleichen verderben ſolte. Er weiß wohl, daß die Welt an Boßheit mehr zu, als abnimmt, und daher die Anzahl der laſterhaff - ten Moden von Tage zu Tage groͤſſer wird.

§. 20. Bey Nachahmung der Moden beurthei - let er erſtlich die Mode ſelbſten, nachgehends ſeine eigenen Umſtaͤnde, darinnen er ſich befindet, und den beſondern Zweck, den er ſich in ſeinem Leben vorge - ſetzt, und durch ſeine Handlungen, ſo viel als moͤg - lich, zu erreichen gedenckt. Bey der Mode erwegeter,51Von der Mode. er, ob ſie loͤblich und vernuͤnfftig und daher in den goͤttlichen geoffenbahrten, oder natuͤrlichen Geſetzen, gegruͤndet, ob ſie den goͤttlichen und weltlichen Ge - ſetzen zuwider, oder in Anſehung ihrer als zulaͤßig, und unſchuldig koͤnne erklaͤrt werden. Er betrach - tet ferner, ob die Mode allgemein worden, das iſt bey ſehr vielen, die mit ihm von gleichen Umſtaͤnden, angenommen, oder nur von einigen Leuten beliebet. Bey ſeinen Umſtaͤnden erforſchet er die Beſchaffen - heit ſeines Alters, ſeine Leibes-Conſtitution, und ſeine auſſerliche Geſtalt; er examiniret ſein Amt, ſeinen Beruff, und diejenigen, bey denen und unter denen er ſich aufhaͤlt; inſonderheit ziehet er dabey ſeinen Beutel zurathe, und formirt ſich alſo gewiſſe Regeln, in wie weit er dieſer oder jener Mode zu fol - gen habe, oder nicht.

§. 21. Erlangt er Nachricht von einer vernuͤnffti - gen und in goͤttlichen Geſetzen wohl gegruͤndeten Mode, ſo iſt er der erſte mit, der ſich bemuͤhet, dieſe Mode ſo viel als moͤglich, nachzuahmen, und ſo al - lenthalben auszubreiten und bekandt zu machen, ſiehet er aber, daß eine Mode den Verordnungen GOttes zuwiderlauffe, ſo ahmet er ſie im geringſten nicht nach, ſondern ſchluͤßt ſich davon aus, ob ſie ſchon von den Hoͤchſten oder von den meiſten ap - probiret worden, und er von aller Welt daruͤber verſpottet und verlachet wuͤrde. Denn er weiß wohl, daß ſich ein Chriſt bey denjenigen Stuͤcken, die von GOtt verbothen, der Welt nicht gleich ſtel - len ſoll, er muß ſich um Chriſti willen, wenn es dieD 2Noth -52I. Theil. II. Capitul. Nothwendigkeit mit ſich bringt, vor einen Narren achten laſſen, und ziehet die Ehre und die Freund - ſchafft bey GOtt ſeiner eigenen Ehre, und der Freundſchafft der Welt vor.

§. 22. Bey den unſchuldigen und zulaͤßigen Mo - den, das, iſt, durch welche, wenn man ſie uͤberhaupt anſiehet, der Zuſtand eines Menſchen weder voll - kommner noch unvollkommner wird, erweget er, ob er in Anſehung ſeiner Umſtaͤnde, darinnen er ſich be - findet, ein Stuͤck ſeiner zeitlichen Gluͤckſeeligkeit be - foͤrdern kan, wenn er die Mode nachahmet oder nicht. Bey jenem Fall macht er die Mode mit, denn er wird durch einen tuͤchtigen Bewegungs - Grund hiezu veranlaßt, bey dieſem aber wartet er, biß ſie allgemeiner wird. Alſo iſt ein Hof-Mann, der ſich an einen galanten Hofe aufhaͤlt, viel eher verbunden, eine neu aufgekommene Mode in der Kleidung nachzuahmen, weil er ſich hiedurch bey ſeiner Herrſchafft in beßern Credit ſetzen kan, als ein Cavalier auf dem Lande, der ſein eigner Herr iſt.

§. 23. Jſt eine unſchuldige und zulaͤßige Mode allgemein worden, das iſt, von ſehr vielen, die ſich mit ihnen in einerley oder doch aͤhnlichen Umſtaͤn - den befinden, angenommen, ſo weiß er, daß er nicht allein nach den Regeln der geſunden Vernunfft, ſondern auch nach den Regeln der Offenbahrung verbunden ſey, dieſelbe Mode nachzuahmen. Als ein vernuͤnfftiger Menſch muß er ſich bemuͤhen, ſo viel Ehre und Hochachtung bey den Menſchen zuerlan -53Von der Mode. erlangen, als moͤglich; dieſes aber wird geſchehen, wenn er ſich angelegen ſeyn laͤſt, bey ſeinen aͤußerli - chen Handlungen auch ſo aufzufuͤhren, wie andere vernuͤnfftige Leute. Als ein Chriſt muß er ſich be - muͤhen, ſeinen Naͤchſten zu gefallen, im Guten und zur Beſſerung. Er muß ſich mit Paulo uͤben, ein gutes Gewiſſen zu haben, beydes gegen GOtt und gegen die Menſchen, er muß ſeinen Naͤchſten keinen Anſtoß ſetzen zum Aergerniß, und alle Gelegenheit vermeyden, daß der Naͤchſte nicht in ſuͤndliche Be - urtheilung ſeiner Handlungen falle, als welches un - fehlbar geſchehen wuͤrde, wenn er ſich bey einer und der andern indifferenten aͤußerlichen Hand - lung von andern Leuten gantz und gar abſondern wolte. Joſeph und Daniel waren ihrem GOtt ge - treue Knechte, und dabey manierliche, und bey ihren Herrſchafften beliebte Hof-Leute. Unſer Heyland Chriſtus JEſus ſelbſt, der uns, in Anſehung unſe - rer Lebens-Pflichten, zu einem Fuͤrbild vorgeſtellt, daß wir ſollen nachfolgen ſeinen Fußſtapffen, nahm zu an Gnade bey GOtt, und auch bey denen Men - ſchen.

§. 24. Ein vernuͤnfftiger Menſch giebet der all - gemeinen Opinion auch ſo viel nach, daß er biß - weilen bey dem Mode-Weſen, wann ihn ein tuͤch - tiger Bewegungs-Grund dazu verbindet, einen kleinen Jrrthum der Wahrheit, und etwas unvoll - kommners dem vollkommnern vorziehet. Er laͤſt, wiewohl ungerne, manche gute und nuͤtzliche Mode fahren, und beliebet davor eine andere, die nicht ſoD 3nuͤtzlich,54I. Theil. III. Capitul. nuͤtzlich, nicht ſo leicht nicht ſo bequem, nicht ſo wohl - feil und nicht ſo wohl anſtaͤndig, bloß darum, weil er denjenigen folgen muß, an deren Gnade, Freund - ſchafft und Hochachtung ihm gar viel gelegen, oder in deren Haͤnden ein guter Theil ſeiner aͤußerlichen Gluͤckſeligkeit beruhet. Er erkennet wohl, daß vor ihm kein ſo groß Unheil erwachſe, wann er bey ei - nem und dem andern ſeinem Vermoͤgen, ſeiner Bequemlichkeit und Zufriedenheit etwas abbricht, als wenn er ſich eine faſt allgemeine Verachtung und Verſpottung uͤber den Hals ziehen ſolte, und ſich vor einem unſinnigen Menſchen und Sonder - ling muͤſte ſchelten laſſen. Die beſondern Anmer - ckungen, die hiebey noch ferner koͤnten gemacht wer - den, kan man in den folgenden Capituln dieſes Tractaͤtgen antreffen.

Das III. Capitul. Von dem Titul-Weſen und Prædicaten.

§. 1.

DJe Titul ſind diejenigen Ehren-Worte, die man dem andern nach der einmahl einge - fuͤhrten Obſervantz, theils in Anſehung ſeiner Verdienſte, theils aber auch und am meiſten nach ſeinem Stande, Bedienung und Gewerbe, im Reden und Schreiben beylegt, und wodurch man ihn von den andern, die ſich in hoͤ -hern55Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. hern oder geringern Umſtaͤnden befinden, abſon - dert. Die Prædicate aber ſind die Nahmen einer Bedienung, damit ein groſſer Herr einen andern beehret, er mag nun derſelben wuͤrcklich vorſtehen oder nicht. Die Titulaturen ſind entweder No - mina Adjectiva, als Hochwuͤrdig, Wohlgebohren, Hoch-Edel u. ſ. w. oder Subſtantiva, die aus den Adjectivis gemeiniglich erwachſen, als Jhro Gna - den, Jhro Hochwuͤrden, Jhro Excellenz, Jhro Durchlauchtigkeit u. ſ. w.

§. 2. Die Titul und Ehren-Stellen haben in den aͤltiſten Zeiten ihren erſten und rechten Urſprung aus der Tugend hergehohlt. Die ſich in den Krieges-Actionen, wider die Feinde ſignaliſirt, wurden Mannhaffte benennet, die ſich in dem geiſt - lichen Stande vor andern einer beſondern Devo - tion befliſſen, achtete man vor Wuͤrdige und An - daͤchtige, und legte ihnen dahero dieſe Titulatur bey, die ſich ſonſten durch ihr loͤbliches Beginnen Verdienſte zuwege gebracht, hieß man die Edlen u. ſ. w. und alſo zeigten die Titul damahls allezeit die Verdienſte an, und die Leute waren dasjenige in der That, was man ſie nennte. Dieſe Benen - nungen gefielen den andern, weil ſie ſahen, daß ſie mit mancherley Prærogativen vergeſellſchafftet waren, da ſie aber ſich nicht durch eigne Tugenden den Weg hiezu bahnen konten, ſo ſahen ſie, wie ſie ſonſt dieſer Titul theilhafftig wurden. Sie bemuͤhten ſich, es bey großen Herren dahin zu brin - gen, daß man ſie doch auch fuͤr ſolche verdiente LeuteD 4anſe -56I. Theil. III. Capitul. anſehen moͤchte, die Soͤhne bathen ſich aus, daß man ſie eben ſo wie ihre Vaͤter beehrte; Hiebey fanden ſich Schmeichler, die ſich um ihres Eigen - nutzes willen nach den Ehr-Geitz ſolcher Leute rich - teten, und ihnen dergleichen Ehren-Benennungen gaben, und ſo wurden nach und nach die Woͤrter, mit denen man ſonſt die Verdienſte tugendhaffter Leute beehret hatte, zu bloßen Nahmen und Tituln.

§. 3. Die Zeiten haben bey den Titul-Weſen einen ſehr groſſen Unterſcheid eingefuͤhrt. Wer in der alten teutſchen Hiſtorie nur ein wenig bekandt, der weiß, daß vor dieſen die Benennung Schalck, Kerl, Hachen, Vund, und dergleichen, den ſtarcken, tapffern Helden und jungen Edelleuten zugeſchrie - ben worden. Siehe Joh. Mattheſii 43. Suͤndfluths - Predigt. Man komme aber jetzund aufgezogen, und nenne einen jetzigen von Adel einen Vund, und einen ſtarcken, ruͤſtigen Krieges-Mann, einen Ha - chen oder Hengſt, wie jener Koͤnig der Sachſen und Britonen hieß, ſo wird er ihn gewiß auf das Duell - Manda-verklagen. Manche Titul wurden ehedeſ - ſen Hof - und Staats-Leuten beygelegt, mit denen jetzund kaum die Gelehrten wollen zufrieden ſeyn / wovon Baudiſii Diſſertation de Titulis quibus - dam olim aulicis, nunc vero academicis, nach - zuleſen.

§. 4. Die Titul ſind nicht allein von ein paar Seculis, ſondern auch nur von ein 50. Jahren her gewaltig geſtiegen, vor zwey biß dreyhundert Jah -ren57Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. ren waren die Chur-Fuͤrſtlichen und Fuͤrſtlichen Princeßinnen mit dem Titul der Fraͤulein zu frieden und bey unſrer Zeit fangen manche von den adeli - chen ledigen Frauenzimmer an das Maul zu rumpf - fen, wenn man ſie Fraͤulein ſchlecht weg nennt, und nicht das Ehren-Beywort Gnaͤdig hinzufuͤgt, oder ſie gerne ihren Ehrgeitz zu ſaͤttigen, und den Kuͤtzel ihrer Ohren zu vergnuͤgen, mit Jhro Gnaden, Gnaͤdig Fraͤulein, betitulirt. Unſere Groß-Vaͤter, von adelichen Stande, begnuͤgten ſich, wenn ſie von den Geringern Jhro Geſtrengten genennt wur - den, und viele von unſern jetzigen Cavaliern, wuͤr - den denjenigen vor einen Phantaſten halten, der ſie unter dieſer Benennung beehren wolte. Unſere adelichen Muͤtter und Groß-Muͤtter hießen von ein 50. biß 60. Jahren noch Jungfern, und jetzund will ſich faſt eines gemeinen Kramers-Tochter die - ſes Tituls ſchaͤmen, und das Wort Mademoiſelle lieber hoͤren. Es ſind auch wohl einige Titulatu - ren an einigen Orten, meines Erachtens, von ein zwantzig Jahren her, auf einen hoͤhern Grad getrie - ben worden. Alſo war es zu Eingang dieſes Se - culi noch ziemlich fremde und unbekandt, daß man die hohen Staats-Miniſtres mit dem Bey - Wort, Jhro Hohe Excellenz beehrte, oder ihre Gemahlinnen, Jhro Excellenz titulirte, welches zu unſern Zeiten Mode worden.

§. 5. Von den Zeiten an, da man angefangen, bey den Tituln mehr auf die Geburth, als auf die Tugend, mehr auf bloße Dienſte, als Verdienſte,D 5mehr58I. Theil. III. Capitul. mehr auf den Stand, als Verſtand, mehr auf Geld und aͤußerliches Anſehen, als auf loͤbliche Handlungen zu ſehen, iſt die Titul-Sucht in allen Staͤnden gewaltig geſtiegen, und durch ihre Ver - anlaſſung ſind zugleich mancherley Laſter eingefuͤh - ret worden, inſonderheit die Pracht, die Unmaͤßig - keit in Eſſen und Trincken, und die Verſchwendung. Die hoͤhern Titul erfordern groͤßere Ausgabe, bey der Kleidung, bey der Equipage, in Anſehung der Wohnung, der Bedienten, u. ſ. w. Die Titul haben zu - und hingegen das Geld hat abgenom - men; Daher auch ein gewiſſer Autor nicht ohne Grund auf folgende Art gereimet:

Da man ſchrieb dem Ehrbaren und Frommen,
Da war noch etwas in der Welt zu bekommen,
Da man ſchrieb dem Geſtrengen und Veſten,
Da war auch noch etwas zum Beſten,
Nun man aber ſchreibt dem Hoch-Wohl - und
Edelgebohrnen,
Jſt Gut und Geld auf einmahl verlohren.

Hiebey entſinne mich, daß ein alter 80. jaͤhriger Bauer einſtens wieder mich ſagte, daß damahls gute Zeit in der Welt geweſen, da die Gnaͤdigen Herren, Jhro Geſtrengten, die Careten, Waͤgen, und die Maitreſſen, Huren genennt worden.

§. 6. Der Grund der Titul-Sucht beruhet auf einer falſchen Einbildung, als ob die von hoͤhern Stande, groͤſſern Range, oder anſehnlichern Præ - dicat, ſich in einem hoͤhern Grade der Gluͤckſeligkeit befaͤnden, denn die andern. Um deswillen wollendie59Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. die Bauren dem Buͤrgerlichen, die buͤrgerlichen Perſonen dem Adel, der Adel den hoͤchſten Stan - des-Perſonen gleich geachtet ſeyn. Sie formiren aber hiebey auf zweyerley Weiſe unrichtige Schluͤſ - ſe: einmahl, da ſie dasjenige denen Tituln zuſchrei - ben, welches doch im geringſten nicht von ihnen ge - wuͤrcket wird, ſondern ohne ſie beſtehet, und kraͤfftig iſt; und zum andern, da ſie den aͤuſſerlichen Schein der Gluͤckſeligkeit, der um einige Titul und hohe Eh - ren Stellen glaͤntzet, vor ein wahres Gute erkennen. Wenn ſie mit ihren Gedancken in das innerliche Weſen ſolten eindringen, ſo wuͤrden ſie erkennen, daß die Ehren-Wuͤrden, nicht allein vor langer Zeit, bereits Buͤrden genennet worden, ſondern daß auch mancher Titul demjenigen, der ihn fuͤhrt, und fuͤh - ren muß, mehr zur Laſt, als zur Zufriedenheit ge - reiche.

§. 7. Wie gut waͤre es doch, wenn man bedaͤch - te, das groͤſte Gluͤck, welches man wuͤnſchen moͤch - te, waͤre dieſes, daß man ſo viel haͤtte, womit man den von GOtt eingegebenen Stand ehrlich beklei - den koͤnte, ohne die Augen auf einen hoͤhern zu rich - ten, als welcher vor einen andern beſtimmt iſt. Man ſolte ſich genuͤgen laſſen, in demjenigen Stand zu ſeyn, welcher einem von GOtt gegeben, und glauben, daß ſich alle die andern vor uns nicht ſchi - cken wuͤrden. Man ſolte allemahl zwiſchen ſeinem Ehrgeitz, und einem hoͤhern Stande einen Vorhang vorziehen, damit uns derſelbe nicht verblendete. S. de la Serre vergnuͤgter Menſch. p. 118.

§. 8.60I. Theil. III. Capitul.

§. 8. Ob ſich ſchon die unmaͤßige Begierde nach groͤſſern Tituln bey allerhand Faͤllen aͤuſſert, ſo er - weiſet ſie ſich doch nirgends mehr, als wenn die Be - nennung des Standes, oder der Bedienung, vor vielen Leuten abgeleſen, oder ſonſt vermeldet und kund werden ſoll. Es erfahren dieſes inſonderheit die Herren Geiſtlichen, bey Haltung der Leich-Pre - digten, bey den Aufgebothen, und bey andern oͤf - fentlichen Abkuͤndigungen, da ſie bißweilen die Ti - tulaturen nicht ſo praͤchtig einrichten koͤnnen, als die andern verlangen, oder ſie ihnen die Vorſchrifften hierzu ertheilen. Es waͤre beſſer, wenn manche Prieſter, aus Eigennutz der thoͤrichten Begierde der Menſchen, auf der Cantzel nicht ſo ſchmeichelten, als wohl zu geſchehen pflegt. Es entſtehet hieraus manche Unordnung. Wunder-ſeltzam laͤſt es, wenn ſie die Titul auch biß auf die Seligkeit erſtre - cken, und die Seligkeit, nach Proportion des Stan - des, der Ehren-Stelle, auch wohl bißweilen der Einkuͤnffte, die der Verſtorbene hinterlaſſen, der Direction, die ſie von den Erben vor die Leichen - Predigt, der Vermuthung nach, zu hoffen haben, und der Hochachtung, die ſie vor dem Verſtorbe - nen gehabt, austheilen wollen. Einige von dem hoͤchſten Stande, nennen ſich Hoͤchſtſeligſt, andere Hochſelig, noch andere Wohlſelig; der gemeine Mann aber muß bloß mit Selig vorlieb nehmen; Manche wollen, ſie in Chriſtmildeſten Andencken erhalten, andere in Gottſeligen, noch andere in ſeli - gen Andencken, u. ſ. w.

§. 9.61Von dem Titul-Weſen und Prædicaten.

§. 9. Man muß ſich in der That wundern, daß die groſſen Herren in Teutſchland, dem ſeltzamen Beginnen, und der thoͤrichten Ehr-Begierde der Menſchen, in Anſehung der Titulaturen, in den Po - licey-Ordnungen nicht fleißiger Ziel und Maaß ge - ſetzt, als wohl haͤtte geſchehen koͤnnen und ſollen. Es haͤtte durch ein gehoͤrig Einſehen, mancher Jalouſie, mancher Mißgunſt und Unordnung, die hieraus er - wachſen, koͤnnen vorgebogen werden. Es iſt aber zu vermuthen, daß in den kuͤnfftigen Zeiten vieles thoͤrichte Weſen bey den Tituln, durch Landesherr - liche Mandata, wird abgeſchafft und beſtrafft wer - den, wie denn hiebey von einiger Zeit her hin und wieder einige Exceſſe bereits abgeſtellet worden. Alſo lieſſen Jhro Koͤnigl. Majeſtaͤt in Pohlen und Chur-Fuͤrſtl. Durchlauchtigkeit zu Sachſen, anno 1710. im Monath May, zu Dreßden, die hoͤchſt - loͤbliche Verordnung ergehen, des Jnnhalts: Daß in Dero Landen, bißhero ſich nicht allein die Kir - chen-Patronen, ſondern auch die eingepfarrten Ge - richts-Herren, nebſt denen Jhrigen, unterſtanden, ſich ſowohl in dem allgemeinen Kirchen-Gebeth, als auch in andern Vorbitten und Danckſagungen, groſſe und unzulaͤßige Titul beylegen zu laſſen, und ſolche nach ihrem Gefallen anzuordnen. Alldie - weil ſich aber nicht geziemen wolte, in dem Gebeth, als welches in wahrer Demuth des Hertzens ge - ſchehen ſolte, mit groſſen Tituln zu prangen; Se. Koͤnigl. Majeſtaͤt auch ſelbſt, nebſt Dero Koͤnigl. Hauſe, weder in dem allgemeinen, noch andern Ge -bethen,62I. Theil. III. Capitul. bethen, Dero voͤlligen Titul herſagen lieſſen; Als haͤtten Sie vor noͤthig angeſehen, alle unnoͤthige und weitſchweiffende Titul, als: Hochgebohren, Hochwohlgebohren, Gnaͤdiger Herr, Gnaͤdige Frau, in denen Kirchen-Gebethen, gaͤntzlich abzu - ſchaffen.

§. 10. Wenn man die Liebe zur Veraͤnderung und Abwechſelung, und die große Begierde der Menſchen, nach hoͤhern Dingen, nach groͤßern Ti - tuln und neuen Benennungen, in etwas genauere Betrachtung ziehet, und einen Blick zugleich in die kuͤnfftigen Zeiten thut, ſo weiß man faſt nicht, was man vor ein Urtheil faͤllen ſoll, wohin es mit den Titulaturen endlich noch kommen werde. Sol - ten die Menſchen, nach der bißherigen Weiſe, auf den Wegen, da ſich die Geringern in allen Staͤn - den die Titulaturen der Hoͤhern von Zeit zu Zeit an - gemaßt, beſtaͤndig fortgehen, und es ſolte ihnen kein Grentz-Stein geſetzt werden, ſo duͤrffte es in einem oder ein paar Jahr-hunderten noch Mode werden, daß ſich die von Adel werden Jhro Durch - lauchtigkeit nennen laſſen, und die Fuͤrſtlichen Per - ſonen hingegen werden wiederum mit gantz neuen Tituln prangen. Haben die Geringern, von ein paar hundert Jahren her, den Hoͤhern ihre Titul weggenommen, was iſt im Wege, daß ſie nicht in denen kuͤnfftigen Zeiten, nach ihren Begierden eben ſo procediren ſolten? Es iſt nicht zu vermuthen, daß die Welt kuͤnfftighin ſo tugendhafft wird wer - den, daß ſie ihren ehrgeitzigen Begierden den Zuͤ - gel voͤllig anlegen ſolte.

§. 11.63Von dem Titul-Weſen und Prædicaten.

§. 11. Einige meynen, die Menſchen wuͤrden aus Noth getrieben werden, bey ihren jetzigen Ti - tuln ſtille zu ſtehen, immaſſen das Titul-Weſen jetzund auf ſeiner hoͤchſten Spitze, und die teutſche Sprache ſo erſchoͤpfft waͤre, daß faſt nichts neues mehr koͤnte ausgedacht noch hinzugeſetzt werden, man muͤſte denn auf eine laͤcherliche und thoͤrichte Weiſe, auf gantz neue und wunderliche Woͤrter fallen; Da aber hiebey alles auf die Opinion der Leute, und die Approbation der Hoͤhern ankommt, die nach ihrem Urtheil und durch ihren Willen et - was vor wohlanſtaͤndiger erklaͤren koͤnnen, und wenn es auch noch ſo wunderlich ſeyn ſolte, ſo iſt noch Gelegenheit genug vorhanden, in den kuͤnffti - gen Zeiten bey dem Titul-Weſen beſtaͤndige Ver - aͤnderungen vorzunehmen. Die Ehrgeitzigen koͤn - nen ja immer noch aus andern Sprachen, aus der Engliſchen, Jtaliaͤniſchen, und GOtt weiß, wo ſonſt her, wie es mit dem Wort Excellenz geſchehen, neue Woͤrter herholen, und denſelben gewiſſe Be - deutungen zuſchreiben; ſie koͤnnen auch auf gantz neue, und jetzund ungewoͤhnliche Woͤrter der Teut - ſchen Sprache fallen, und ihnen eine gewiſſe Krafft beylegen. Wer weiß, ob die Nachkommen nicht einmahl darauf gerathen, und holen die aͤlteſten Ti - tulaturen aus den erſten Zeiten wieder her? Viel - leicht gefaͤllt es dem kuͤnfftigen Adel in hundert Jah - ren beſſer, wenn ſie Hochachtbahre und Ehrenveſte geſcholten werden, als Hoch - und Wohlgebohrne. Die Welt wird ja ohnedem alles uͤberdruͤßig, undbelu -64I. Theil. III. Capitul. beluſtiget ſich an dem Fremden, es mag nun entwe - der gantz neu, oder von andern Orten und Zeiten hergekommen ſeyn. Unſer Frauenzimmer lachte vor ein zwantzig Jahren uͤber ihre Aelter - und Groß - aͤlter-Muͤtter, daß ſie zu ihrer Zeit ſo ungemein weite Roͤcke getragen, wie ſie aus den alten Gemaͤhlden wahrnahmen, und gleichwohl ſind eben die wei - ten Reiff-Roͤcke zu unſerer Zeit als eine bequeme und wohlanſtaͤndige Mode angeſehen.

Am allerwahrſcheinlichſten iſt, daß endlich der Kayſer, und die hohen Staͤnde in Teutſchland, der thoͤrichten Titul-Sucht ihrer Unterthanen, voͤllig werden uͤberdruͤßig werden, alles ungereimte We - ſen, ſo bißanher dabey vorgangen, bey den ſchaͤrff - ſten Straffen verbiethen, und ihnen mit vereinigten Kraͤfften einen Riegel vorſchieben.

§. 12. Die Opinion der Welt, und die Mode der gegenwaͤrtigen Zeit / giebt in Erklarung der Ti - tulaturen und Benennungen die beſte Entſchei - dung. Die Geſchicht-Schreiber und Publiciſten moͤgen aus der aͤlteſten Hiſtorie deduciren, wie ſie wollen, daß einige Ehren-Woͤrter in der teutſchen und lateiniſchen Sprache vor Zeiten eine vortreffli - che Bedeutung gehabt, und den groͤſten Herren bey - gelegt worden. Werden ſie nicht durch den jetzi - gen Gebrauch der Welt autoriſiret, ſo kommen ſie doch in kein Anſehen. So ſind auch manche Re - geln der Rechts-Lehrer, dadurch ſie nach ihrem Sinn eines und das andere bey den Titulaturen ausmachen wollen, meiſtentheils von gar ſchlechterKrafft.65Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. Krafft. Ob ſchon einige in ihren Schrifften be - haupten, daß das Ehren-Wort Jungfer bloß den Doctor-Toͤchtern, und denen die mit ihnen in glei - chem Rang und Wuͤrden ſtuͤnden, zukaͤme, und daß hingentheils dir Toͤchter der Kaufleute und der an - dern bloße Kauffmanns-Maͤdgen ſolten genennt werden, ſo werden ſie dem ungeacht, doch wohl in dem Poſſeß des Jungferlichen Tituls bleiben; Jch halte auch davor, daß das Frauenzimmer von ge - ringen Stande um deſto eher dieſe Benennung be - halten kan, weil manchen, die zwar buͤrgerlichen Standes, aber hoͤherer Condition, dieſer Titul gar ſpoͤttiſch und veraͤchtlich vorkommt, in maſſen ſie da - vor lieber Demoiſelle wollen genennt ſeyn.

§. 13. Hiebey erinnere mich, was der Autor der Europaͤiſchen Fama, in dem XXſten Theil p. 795. anfuͤhrt. Er meldet, daß man Anno 1703. in Franckreich, von alle dem Frauenzimmer, welche ſich mit Unrecht Madame nennen lieſſen, eine gewiſ - ſe Acciſe abgefordert; Es waͤre aber nachgehends bald wieder geaͤndert worden, denn man haͤtte dem Koͤnig erwieſen, daß in Franckreich wenig Frauen - zimmer uͤber 14. Jahr anzutreffen, welche ſich mit Unrecht Madame nennten: Jhro Majeſtaͤt wuͤrden alſo viel beſſer fahren, wenn ſie den Befehl aͤnder - ten, und auf den unrechten Gebrauch des Wortes Demoiſelle etwas gewiſſes legten, weil man ſo wohl in Franckreich, als andern Laͤndern wahrge - nommen, daß dieſer Titul treflich gemißbrauchet, und mancher Menſch dadurch betrogen wuͤrde.

E§. 14.66I. Theil. III. Capitul.

§. 14. Nachdem man heutiges Tages bey den Benennungen, die man dem andern zu ſeinen Eh - ren beylegen will, nicht mehr auf die Verdienſte, wie vor dieſem, ſondern groͤſten Theils auf ſein eigen Intereſſe ſiehet, wie man den andern etwann zu Befoͤrderung ſeiner Abſichten gebrauchen kan, und einem jeden eine ziemlich unumſchraͤnckte Freyheit hierinne zuſtehet, ſo trifft wohl bey der gantzen Welt ein, was Guevarra in ſeiner Beſchreibung des Hof - und Land-Lebens p. 76. nur von dem Hofe ſagt: Es will ein jedweder nur ein Wider-Taͤufer ſeyn, in Mittheilung und Veraͤnderung der Nahmen. Ei - nen Hoffaͤrtigen, nennt man Edel und Veſt, einen Verſchwender, Achtbar und Fuͤrnehm, einen Ver - zagten, einen ſtrengen Herrn, einen Unbarmhertzi - und Geſtrengen, einen Gnaͤdigen Herrn, einen Heuchler, Fuͤrſichtig, einen Ertz-Boͤſewicht, Hoch - weiſe, einen Zungendreſcher, Hochgelahrt, einen Ehebrecher, einen Menſchen der ſich beliebt zu ma - chen weiß, einen Hanß in allen Gaſſen, einen Emſi - gen, einen Schwaͤtzer, beredt, einen Geitzhalß, haͤußlich und ſparſam, und einen ſtillen Menſchen heiſt man einen Narren.

§. 15. Mit Annehmung der Titulaturen gehet es faſt wie mit den Moden, mancher haßt eine Mode in ſeinem Hertzen, und findet keinen Gefallen an ei - ner Veraͤnderung, die groͤſten Theils aus der Thorheit oder doch aus der Eitelkeit herfließt, er wird aber von der groſſen Menge eitler und Veraͤn - derung-liebender Leute mit Gewalt fuͤrgeriſſen, daßer67Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. er eine neue Weiſe, die den goͤttlichen und natuͤrli - chen Geſetzen nicht zuwider, mit machen und nach - ahmen muß, will er ſich nicht bey der Welt verſpot - ten laſſen, und manche verlaͤumderiſche Urtheile wieder ſich vernehmen. Alſo liebt mancher die Demuth und Sittſamkeit, und findet an dem aͤußerlichen Wort-Gepraͤnge kein Vergnuͤgen. Da aber eine allgemeine und durchgaͤngige Ge - wohnheit gewiſſe Titulaturen nach dem Unter - ſcheid des Standes und der Bedienung eingefuͤhrt, ſo muß ein vernuͤnfftiger Menſch auch diejenige Eh - re, die er andern ertheilt, annehmen, oder er unter - wirfft ſich ſonſt einer allgemeinen Verachtung / und entziehet ſich einen groſſen Theil ſeiner aͤußerli - chen Gluͤckſeeligkeit, vor deren Erhaltung er beſorgt ſeyn muß. Die von hoͤherm Stande wuͤrden die - ſe große Sittſamkeit vor eine Wuͤrckung einer Nie - dertraͤchtigkeit anſehen, welche ebenfalls ein Laſter iſt, wie aus der Tugend-Lehre bekandt, ſie duͤrfften ihm hernach vielleicht allzuviel denotiren und Ge - horſam abfordern. Die mit ihm von gleichem Stande, wuͤrden unwillig auf ihn werden, daß er dieſes, welches ſeinen Umſtaͤnden zukaͤme, nicht an - nehmen wolte, ſie wuͤrden es ihm vor eine Nieder - traͤchtigkeit auslegen, ihn deßhalben vor einen Son - derling anſehen, und ſich ſeiner Geſellſchafft ſchaͤ - men, ſie wuͤrden ihn gehaͤßig werden, und glau - ben, daß ihnen hiedurch ſelber etwas entzogen wer - den moͤchte, der Poͤbel wuͤrde ſich dieſer Sittſam - keit und Demuth mißbrauchen; Wolte einer ge -E 2wiſſe68I. Theil. III. Capitul. wiſſe gewoͤhnliche Titul nicht annehmen, ſo wuͤr - den viele von den Geringern glauben, als ob er ſelbſt an ſeiner Ehre zweiffelhafftig waͤre, ſie wuͤr - den ihm deſto eher, in einem und dem andern, den Gehorſam, und die Ehrerbietuug, die ſie ihm ſchul - dig, entziehen, u. ſ. w.

§. 16. Es ereignen ſich gewiſſe Faͤlle, bey de - nen man noch vielmehr verbunden iſt, gewiſſe Eh - ren-Benennungen nicht allein von dem andern ab - zunehmen, ſondern ſie ihnen auch wohl abzufordern. (1) Wenn es unſer Amt und Beruff und der Re - ſpect unſrer Herrſchafft erfordert; denn, alsdenn ſehen wir nicht ſo wohl auf unſere eigne Ehre, als vielmehr auf die Ehre unſrer Herrſchafft, die ſonſt hierbey wuͤrde gekraͤncket werden. (2) Wenn wir ſehen, daß andern, die mit uns in gleichem Stande oder gleichen Umſtaͤnden ſich befinden, ein beſonder Præjudiz wuͤrde zugezogen werden. (3) Wenn boßhafftige Leute gefliſſentlich dieſe oder jene uns zukommende Titulatur zu unſrer Verkleinerung uns verweigern wollen, oder ſie dieſelbe uns zwar mittheilen, aber nicht zu unſrer Beehrung, ſondern aus einem falſchen und haͤmiſchen Gemuͤthe, uns Fallen zu ſtellen, und zu verſuchen, ob wir dieſelbe wohl annehmen wuͤrden, weil ſie in den Gedancken ſtehen, als ob ſie uns nicht zukommen, ſondern vor uns zu viel ſey. Sie ſehen bißweilen eines und das andere wahre Gute an uns mit verkleinerlichen Augen an, und da ſie uns dieſer oder jener Præro - gativ vor unwuͤrdig erklaͤren, ſo verlangen ſie, wirſolten69Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. ſolten uns deſſen auch unwuͤrdig erkennen. (4) Wenn manches Gute, welches wir ſonſt zur Be - foͤrderung der Ehre GOttes, unſrer eignen und un - ſers Naͤchſten wahrer Gluͤckſeeligkeit, unſerm Stan - de Art und Verrichtungen nach, auszufuͤhren ver - moͤgend waͤren, entweder gantz und gar ſtoͤhren, oder doch hindern und aufhalten wuͤrden. Wo ſich nun dieſem angefuͤhrten andere gleiche oder aͤhnliche Faͤlle zutragen, muß man die einem gebuͤhrende Eh - re annehmen, und ſie auch retten, ſo viel als moͤg - lich.

§. 17. Außerdem aber, muß man in Annehmung und Abforderung der Titulaturen nicht allzuſcharff noch begierig ſeyn, inſonderheit wenn man wahr - nimmt, daß weder unſerer wahren Ehre, noch der Gluͤckſeeligkeit des dritten, hiedurch einiger Abbruch geſchiehet, und muß der andere nicht aus Boßheit und zu unſrer Verachtung, ſondern aus Einfalt und Unwiſſenheit, oder doch ſonſt auf eine unſchuldige Weiſe, etwas entziehet. Der Herr Benjamin Neukirch ſchreibet in ſeiner Anweiſung zu teutſchen Briefen p. 19. ſehr wohl: Wie man es ſo genau nicht nehmen muß, wenn einem ein andrer zu viel giebt, alſo muß man auch zufrieden ſeyn, wenn man in etlichen Dingen zu wenig empfaͤngt. Koͤnigen uud Potentaten iſt es nicht zu verargen, daß ſie ſteiff uͤber ihre Titul halten, denn ſie behaupten da - durch ihre Vorzuͤge und Rechte, aber andere ha - ben es nicht noͤthig, zumahl wenn es der Schrei - bende aus keiner boͤſen Meynung gethan.

E 3§. 18.70I. Theil. III. Capitul.

§. 18. Bey gewiſſen Umſtaͤnden muß ein ver - nuͤnfftiger Menſch nicht allein ſeiner Begierde, in Annehmung der Titulaturen, die engſten Schran - cken ſetzen, ſondern ihr auch wohl gantz und gar wi - derſtehen. Meinem Beduͤncken nach iſt es rath - ſam, bey folgenden Faͤllen die Demuth auszuuͤben, und das Gepraͤnge des Tituls bey Seite zu ſetzen: (I.) Jn dem Beichtſtuhl. An dieſem Ort erſchei - net man vor dem Angeſicht GOttes, nicht als ein Cavalier und Hochwohlgebohrner Herr, nicht als eine Excellenz und groſſer General, ſondern als ein bußfertiger und um Gnade flehender Suͤnder, der ſich vor GOtt zu demuͤthigen hohe Urſache hat. (II.) Jn Gegenwart der Hoͤhern, die ſonſt durch die groſſe Titulatur, die wir zu eben der Zeit von den Geringern annaͤhmen, auf gewiſſe Maße faſt ver - unehret wuͤrden; Es iſt hier nicht die Rede von dem Titul des Prædicats und der Bedienung, in der man ſtehet, die einem der Hoͤhere ſelbſt mittheilet, ſon - dern von einer andern Ehren-Benennung, als, Jh - re Gnaden, Gnaͤdiger Herr, u. ſ. w. Kommt ei - nem die Titulatur vollends gar nicht zu, ſo iſt es noch thoͤrichter; Es laͤſt alſo ſehr abgeſchmackt, wenn ſich ein Schul-Monarche, in Beyſeyn eines groſſen Staats-Miniſters, von ſeinen Schuͤlern, Jhro Ex - cellenz nennen laͤſt. (III.) Jn Umgange mit denen Gelehrten, da ſie uns nach der Gnade, die ſie in den uͤbrigen Faͤllen vor uns haben, oder der Ungnade, mit der ſie uns anſehen, bey der Titulatur beſonders diſtinguiren; Jch verſtehe aber hierun -ter71Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. ter ſolche Hoͤhere, die in Anſehung unſerer Umſtaͤn - de, in denen wir uns befinden, bey unſerer Gluͤckſe - ligkeit oder Ungluͤckſeligkeit, etwas beſonders zu wuͤr - cken vermoͤgend ſind. (IV.) Jn der muͤndlichen und ſchrifftlichen Converſation, die wir nicht Amts und Beruffs wegen, ſondern als Freunde und Privat-Perſonen, mit unſern wahren und ver - trauten Freunden, pflegen, ſie moͤgen nun entwe - der dem Stande oder Character, oder auch beyden zugleich nach, etwas geringer ſeyn, als wir. Einen wahren Freund, deſſen Treue nnd Liebe wir durch alle Proben viele Jahre verſichert geweſen, und deſ - ſen er ſich durch laſterhafft Bezeigen nicht unwuͤr - dig gemacht, muͤſſen wir beſtaͤndig davor erkennen, ob er uns ſchon, der aͤuſſerlichen Gluͤckſeligkeit nach, nicht gleich gekommen. Dieſe ſtehet nicht allezeit in unſerer Gewalt, ſondern in einer hoͤhern Hand. Mit einem wahren guten Freund muß es heiſſen: Einmahl gut Freund, allezeit gut Freund; Bey die - ſem muͤſſen wir die Titulaturen u. Ceremonien bey Seite ſetzen. Er wird zwar freygebig ſeyn, uns alle aͤuſſerl. Ehren-Bezeigungen mitzutheilen, wir muͤſſen aber ſehr ſparſam ſeyn, ſelbige von ihm anzunehmen. (V.) Bey denen, die uns bey unſern ungluͤckſe - ligen Zuſtand, darein wir gerathen, Huͤlffe und Beyſtand leiſten, ſie moͤgen nun hoͤher, oder un - ſers gleichen, oder wohl gar geringere ſeyn. Jſt es mit uns ſo weit gekommen, ſo muͤſſen wir nur den - cken, daß hier die Leidens-Zeit ſey. Da muͤſſen wir unſere Titulaturen und andere aͤuſſerliche Eh -E 4ren -72I. Theil. III. Capitul. ren-Bezeigungen, die ſonſt unſerm Stand und Be - dienung gemaͤß, anderer Leute Gunſt und Diſcre - tion uͤberlaſſen, ſo lange, biß uns GOtt wieder in beſſere Umſtaͤnde geſetzt. Hochmuth iſt zwar uͤber - haupt ein ſchaͤndlicher Gefehrte der Armuth, ſie iſt aber noch unertraͤglicher, wenn man ſie gegen dieje - nigen ausuͤben will, deren Gnade, Gunſt oder Freundſchafft wir doch benoͤthiget, und nicht ent - behren koͤnnen. (VI.) Auf dem Sterbe-Bette, wenn wir an der Pforte der Ewigkeit ſtehen, die al - len Unterſchied der auf dem Erd-Creyße eingefuͤhr - ten Titulaturen den letzten Graͤntz-Stein ſetzt, ſol - ten wir billich auch dieſen Tand der Eitelkeit unter unſere Fuͤſſe treten, und vielmehr auf den, in der hei - ligen Tauffe erlangten, und im Himmel angeſchrie - benen Chriſten-Nahmen, unſere hoͤchſt-erfreuliche Blicke werffen.

§. 19. Man findet hin und wieder thoͤrichte Leu - te in der Welt, die ſich vor dasjenige ausgeben, ſo ſie doch nicht ſind, ſie legen ſich diejenigen Gradus, Prædicata, und andere Titulaturen bey, die ſie doch nimmermehr erhalten, und auch oͤffters nicht erhal - ten werden; ſie geben ſich an fremden Orten, und bey unbekandten Leuten vor Doctores, Licentia - ten, Edelleute, Baronen, Grafen, Hof - und Kriegs - Officianten, und vor alles aus, was ſie wollen; Sie vergnuͤgen ſich eine Zeitlang, ſo lange, als ſie Geld und Geſchicklichkeit haben, ihre falſche Perſon zu ſpielen, oder ihre Erdichtung unbekandt bleibet, mit dem Winde ihrer Einbildung; Wird aber ihrewahre73Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. wahre Geſtalt vor der Welt oͤffentlich kund und aufgedeckt, ſo iſt anch nachgehends ihre Schande um deſto groͤſſer, als erſtlich ihre vermeynte Ehre war. Sie empfinden nicht allein, mitten unter dem ſuͤſſen Genuß ihrer Ehre, eine ſtetswaͤhrende Furcht und Unruhe, daß einige Bekandte ihnen, uͤber Ver - muthen, die falſche Maſque, die ſie um ſich genom - men, ihnen abreiſſen moͤchten, ſondern haben auch noch, ohne die Schande, nicht ſelten eine harte und empfindliche Straffe zu erwarten, welche nach dem Unterſcheid des Verbrechen, und der Titulatu - ren, die ſie ſich zugeeignet, unterſchieden zu ſeyn pflegt.

§. 20. Kayſer Leopoldus ſchrieb anno 1674. an Dero Fiſcal am Kayſerlichen Cammer-Gericht zu Speyer: Es waͤre in Erfahrung kommen, wie ſich viele von den Ritter-Gliedern, Vaſallen und Landſaſſen im Heil. Roͤmiſchen Reich, eine Zeitlang her unterſtanden, einander gantz neue, ihnen nicht zuſtehende hoͤhere Titul und Prædicata zuzulegen, ohne daß ſie, oder ihre Vor-Eltern, die vorwenden - de Standes-Erhoͤhung von ihm, oder ſeinen Vor - fahren am Heil. Roͤmiſchen Reich, durch ordentli - che Conceſſion erlangt; andere aber, welche zwar mit Dero Bewilligung zu ſolcher Standes-Erhoͤ - hung, und andern dergleichen Privilegien, auf ihr unterthaͤnigſtes Anhalten, von ihm begnadiget wor - den, nachgehends aber ſelbſt ſolcher Wuͤrde Impor - tanz gleichſam nicht geachtet, auch ſie nicht ausfer - tigen und gebuͤhrlich erheben laſſen, und ſie dennochE 5der74I. Theil. III. Capitul. der Ehren-Titul und Prærogativen ſich gantz ſtraf - barlich angemaßt; Als ward befohlen, daß man, obhabenden Amts wegen, nicht allein auf einen und den andern, die ſich einer und andern Titula - tur und Prædicats, ohne ſolche erlangt zu haben, anmaßten, fleißig inquiriren, und gegen dieſelben verfahren ſolte, ſondern auch jedem ausſchreibenden Creyß-Fuͤrſten, die Erinnerung thun, daß ſie nicht weniger ihres Orts in dem Creyße gemeſſene Ver - ordnung vorkehren ſollen, damit hinfuͤhro niemand, wer der auch ſey, auf deſſen oder eines andern An - bringen, ein Titul oder Prædicat von neuem nicht, er koͤnne es denn mit denen hiezu erforderten Origi - nal Urkunden und Documenten in probanti for - ma, belegen, attribuirt und zugeſchrieben werden; und die hieruͤber betreten wuͤrden, ſolten mit gebuͤh - render Straffe angeſehen werden. S. Luͤnigs III. Theil der Teutſchen Reichs-Cantzley, p. 140.

§. 21. Andere machen es zwar nicht ſo grob wie die erſten, daß ſie ſich ſelbſt gewiſſe Titulaturen, Gradus und Prædicaten zueigneten, oder vor etwas anders ausgaͤben, ſie laſſen ſich aber doch die aͤußer - lichen Ehren-Bezeugungen, die ihnen andere ent - weder aus Einfalt und Unwiſſenheit, oder aus Schmeicheley und Eigennutz, oder auch wohl aus Tuͤcke und Falſchheit beylegen, gefallen; Weil dieſe Titulaturen, die ihnen ſelten vorkommen, ihre Ohren kuͤtzeln, ſo widerſprechen ſie denjenigen nicht, die ſie alſo beehren. Doch dieſe guten Leute, die dergleichen ihnen nicht zukommende Ehre eine Zeit -lang75Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. lang annehmen, ſtehen ſich ebenfalls gar ſchlecht vor, und gewinnen darbey ſehr wenig. Sind den andern, die ſie auf die Art beehrt, ihre wahren Um - ſtaͤnde recht bekandt, ſo ſpotten ſie ihnen in ihren Hertzen, daß ſie ſo thoͤricht ſind, und dasjenige, was ihnen nicht zukommt, annehmen. Es dencket mancher von ſolchen loſen Voͤgeln, der einen an - dern auf eine ungewoͤhnliche Weiſe titulirt, wie jener Mahler zu Torgau: Dieſer war lange in Jtalien geweſen, wo man mit Illuſtriſſime und Jhro Gnaden auch gegen gemeine Leute gar freygebig iſt; Er nennte jedermann Jhro Gnaden, wer zu Leipzig in Rothhaupts-Hofe in ſein Gewoͤlbe kam. Als ihm nun deswegen Erinnerung geſchehen, ſo ſagte er, ich will den wohl Jhro Durchlauchtigkeit nen - nen, der es verantworten will. Die groſſen Titu - laturen muͤſſen bißweilen gar theuer bezahlt wer - den, und wenn entweder derjenige, der einen vorhe - ro ſo beehret, nach eingezogner gewiſſern Nach - richt, den groſſen Titul mit einem kleinern wieder verwechſelt, oder ein andrer Bekandte dazu kommt, ſo lieget denn die eingebildete Ehre wieder in dem Brunnen.

§. 22. Ob nun wohl die Regel in Richtigkeit bleibt, daß man ſich, wie mit ſeinem Gluͤck, als auch mit ſeinem Stande, mit ſeinem Titul und mit allen ſeinen Umſtaͤnden begnuͤgen ſoll, ſo ereignen ſich doch bißweilen in der That einige Faͤlle, da ein ver - nuͤnfftiger Menſch eine Zeitlang von einigen Leuten mit gutem Grunde die Benennung eines gewiſſenGradus76I. Theil. III. Capitul. Gradus oder Prædicats annehmen kan, ob er ihn gleich nicht uͤberkommen, oder die Ausfertigung die - ſer oder jenen Titulatur zur voͤlligen Richtigkeit und Conſiſtenz gedyen. Die Faͤlle, bey denen ſich die Ausnahme von dieſer Regel zutraͤgt, koͤnnen mancherley ſeyn, theils, da man ſeinem Amte oder ſeinem Beruff nicht ſo wohl vorſtehen wuͤrde, wenn man ſich nicht hierinne nach dem irrigen Wahn der Leute richten wolte, theils, da einer einem gewiſ - ſen Amte oder Bedienung viele Jahre mit Ehren vorgeſtanden, und dasjenige, was man genennt wird, geweſen, obſchon beſondere Raiſons in We - ge geſtanden, worinnen man etweder die Titulatur nicht annehmen wollen, oder warum die Ausferti - gung des Prædicats einem ſchwer gemacht worden, theils auch, wenn es mit Verbewuſt und Connivenz der Obern und Vorgeſetzten geſchiehet, und die Zeit ſehr nahe iſt, da man einer gewiſſen Charge oder doch eines gewiſſen Prædicats theilhafftig werden ſoll. Alſo kan man es einem Medicinæ Practico nicht verdencken, wenn er von den Bauern oder dem gemeinen Volck das Ehren-Wort Doctor annimmt, ob er ſchon dieſen Gradum nicht erlangt; Wolte er ſich ihnen widerſetzen, und anfuͤhren, daß er es nicht waͤre, ſo wuͤrde ſeine gantze Wiſſen - ſchafft, und wenn ſie noch ſo fundamental waͤre, bey ihnen verdaͤchtig werden, ſie wuͤrden kein Ver - trauen in ihn ſetzen, und glauben, daß er nichts ver - ſtuͤnde, weil er ſich nicht als Doctor auffuͤhren koͤn - te und wolte; Wolte auch gleich mancher, um denLeuten77Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. Leuten dieſen irrigen Wahn zu benehmen, noch ſo viel Muͤhe anwenden, ſo wuͤrde er doch bey den we - nigſten etwas ausrichten, und die Einkuͤnffte wollen es doch nicht bey einem jeden erlauben, daß er dieſes Gradus nach ſeinem Ceremoniel habhafft werden kan; Ferner kan ein Obriſt-Lieutenant, der einige Jahre nach einander ein gantz Regiment, in Abwe - ſenheit oder bey Kranckheit eines Obriſten, mit Ruhm commandirt, von ſeinen Subalternen, oder auch von andern, die ihm ſeiner Meriten wegen freywillig alſo benennen, den Obriſten-Titul an - nehmen, ob er ihm ſchon noch nicht in forma bey - gelegt worden. Da ihrer viele in der Welt, ſo wohl auf Univerſitæten, als an Hoͤfen, bey den Armeen und auf den Rath-Haͤußern, dasjenige ge - nennt werden, welches ſie ihrer Ungeſchicklichkeit und Unerfahrenheit wegen doch nicht ſeyn koͤnnen, ſo duͤrffen auch einige bey manchen Umſtaͤnden den Nahmen annehmen, von demjenigen, was ſie in der That wuͤrcklich ſind, ob ſie ſchon des Tituls entbeh - ren muͤſſen.

§. 23. Ein vernuͤnfftiger Menſch wird alle Thorheiten, in welche ſich die Titul-Prahler zu ſtuͤrtzen pflegen, auf das ſorgfaͤltigſte vermeyden. Er wird zwar ſein Amt und ſeine Bedienung dem - jenigen, der ſich darnach erkundiget, mit Beſchei - denheit entdecken, es niemahls aber auf eine ſo af - fectirte Weiſe bewerckſtelligen, daß der Fremde doch ja alsbald, ehe er noch darum fragt, oder es verlangt / den groͤſten Titul erfahren moͤge. ZurErlaͤu -78I. Theil. III. Capitul. Erlaͤuterung dieſes Satzes werde ich aus Mag. Heegens Diſſertation von der Titelſucht der Ge - lehrten, folgendes Hiſtoͤrgen anfuͤhren: Er mel - det, daß einſtens ein Buͤrgermeiſter eines kleinen Staͤdtgens, der ſich ſo viel als Marcus, Tullius, Ci - ccro, eingebildet, auf der Reiſe, um ſeinen Durſt zu ſtillen, in einer Schencke eingeſprochen. So bald ihm die Bauern in der Schencke erblickt, haͤtten ſie ihm nun, der Gewohnheit nach, eine Ehre anzu - thun, zugeruffen: Monſieur, wollen ſie ſich nicht einmahl ſchencken laſſen? Es waͤre dem Herrn Buͤrgermeiſter ſehr empfindlich geweſen, daß ſie ihm nicht nach ſeinen Caracter genennt, und er haͤt - te ſehr geſorgt, um eine Tour zu finden, wie er ih - nen dieſes hinterbringen moͤchte. Er haͤtte endlich angefangen, ob ſie das Bier hier braueten? die Bauern haͤtten geſagt, ja. Darauf denn der Buͤr - germeiſter replicirt, ſie brauten zwar hier noch ziem - lich gut Bier, das hieſige Bier aber kaͤme doch dem - jenigen noch lange nicht bey, welches ſie vor vier - zehen Tagen bey dem Convivio ſolenni gehabt, als er in dem Staͤdtgen N. N. zum Buͤrgermeiſter creiret, conſtituiret, und inaugurirt worden. S. p. 30. Darauf denn die Bauern gewuſt, daß dieſer Herr ein Buͤrgermeiſter geweſen. Unſer Klein - ſtaͤdtiſche Buͤrgermeiſter hat wahrhafftig in dieſem Stuͤck noch viele ſeines gleichen, ſo wohl unter den Edelleuten, als unter denen von Buͤrgerlichen Stande.

§. 24. Unter die Titul-Prahlereyen gehoͤrt, wenneinige79Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. einige ohne Raiſon ihren Titul allenthalben hinkle - cken, als wie jener Subſtitute, der auf ſeinen reparir - ten Sau-Koben ſetzen laſſen: daß ihn N. N. Com - Paſtor hujus loci anno N. N. zierlich wieder auf - gerichtet, und ihm gegenwaͤrtige Geſtalt gegeben; ingleichen, wenn ſie an fremden Orten auf die An - frage der Thor-Schreiber ihren gantzen Titul her - ſagen, und ſolchen in die Thor-Zeddul mit Gewalt einſchreiben laſſen, da doch der Wohlſtand und die Gewohnheit nicht mehr erfordert, als daß ſie unter den vielen Titulaturen nur den vornehmſten aus - lieſſen. Noch toller aber iſts, wenn ſie gar von un - ſerm HErr GOtt groſſe Titulaturen verlangen, als wie jener Rector zu Wittenberg, Mag. Seger, der ſich unter ein Crucifix mahlen laſſen, mit folgenden Worten, die aus ſeinem Mund nach dem Heyland zu gegangen: Domine Jeſu Chriſte amar me? Aus dem Munde des Heylands hingegen waͤren folgende Worte: Clariſſime, Nobiliſſime, atque Doctiſſime, Domine M. Seger, Rector Scholæ Wittebergenſis, Meritiſſime atque Digniſſime, omnino amo te. Die Anzahl der Leute von die - ſer letztern Gattung duͤrffte wohl ſo gar groß nicht ſeyn, die ihre Titul-Sucht biß auf einen ſo hohen Grad treiben. Wer allerhand Schulfuͤchſereyen und Taͤndeleyen, die unter den Gelehrten, in Anſe - hung der Titulaturen, vorgehen, beyſammen ſehen will, darf nur des Herrn Hof-Rath Menckens Tractat, von der Marcktſchreyerey der Gelehrten, nachſchlagen, und die Diſſertation des Herrn Mag. Hee -80I. Theil. III. Capitul. Heegens von der Titul-Sucht der Gelehrten, ſo wird er einen ziemlichen Vorrath davon antreffen. Gehen nun unter denen, die andre an der Gelehr - ſamkeit und Welt-Weißheit uͤbertreffen wollen und ſollen, hierinnen ſo groſſe Thorheiten vor, ſo kan man leicht glauben, daß die Thorheit unter de - nen ſo genandten Ungelehrten, noch weit ſtaͤrcker ſeyn muͤße.

§. 25. Abgeſchmackt iſts, wenn einige auf frem - de Leute unwillig werden, daß ſie ihnen ihr gehoͤri - ges Prædicat nicht alſobald beylegen, da doch die - ſen Fremden keine Notification davon zugefuͤget worden. Sie verlangen auf eine thoͤrichte Weiſe eine gewiſſe Art einer Allwiſſenheit von ihnen, die ihnen nicht moͤglich. Es iſt auch wider den Wohl - ſtand, wenn einige, die unterſchiedene Prædicata und Caracteres zugleich fuͤhren, an fremden Oertern ſich bald nach dieſen bald wiederum nach jenen Ti - tul nennen und anmelden laſſen. Es ſcheinet die - ſes aus einer Unbedachtſamkeit, Ehrgeitz und etwan Leichtſinnigkeit herzuflieſſen, und giebet Gelegenheit zu manchen Critiquen, deren einer ſonſt koͤnte uͤber - hoben ſeyn, doch geſtehe ich auch gantz gerne, daß bißweilen Umſtaͤnde vorhanden ſeyn koͤnnen, da ei - ner nach beſondern Raiſons d Etat, nachdem er unterſchiedenen Bedienungen zugleich vorſtehet, und nach deren Unterſcheid etwas zu negociren hat, oder nachdem bey dieſer oder jener Fuͤrſtlichen Per - ſon, bey dieſem oder jenem Miniſter, dieſes oder jenes Prædicat in Anſehung gewiſſer Umſtaͤndeoder81Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. oder Hiſtorien / angenehmer oder verhaßter iſt, u. ſ. w. auf eine vernuͤnfftige Weiſe bald dieſen bald wiederum einen andern Titul erwehlen kan.

§ 26. Es iſt mehr als zu bekandt, wie ſeltzam es bey Austheilung der Titul hergehe. Mancher muß einen Titul annehmen, der ſich vor ſeine Umſtaͤnde im geringſten nicht ſchickt, und zu einer Bedienung gebrauchen laſſen, dazu er weder Luſt noch Geſchick - lichkeit hat, und hingegen eine andere, die ihm an - ſtaͤndiger waͤre, entbehren. Das Geld, die vor - nehmen Freundſchafften, das aͤuſſerliche Anſehen, eine laſterhaffte Vertraulichkeit mit einem viel ver - moͤgenden Frauenzimmer, helffen manchen zu einen Titul und zu einer Charge, der ſich darzu ſchickt, wie der Eſel zum Lautenſchlagen; oͤffters bleiben ſolche Leute in ihrer Ungeſchicklichkeit und Unerfah - renheit vor wie nach, und ergoͤtzen ſich entweder, wenn ſie bloſſe Titulares, mit dem Gelde und dem Staat, oder laſſen ſich doch unbekuͤmmert, ob ſie dem Amte mit Ehre oder mit Schande vorſtehen, ob ſie es ſelbſt, oder durch andere verwalten laſſen. Bißweilen werden aber auch wohl einige Ehrgeitzi - ge durch den Titul, der an und vor ſich ſelbſt keine Geſchicklichkeit zuwege bringt / angetrieben, daß ſie ſich zu der Bedienung, davon ſie die Benennung fuͤhren, nach und nach qualificirter machen, und manchen ſpoͤttiſchen Urtheilen der Leute, die ſich ſonſt uͤber ſie aufhalten, deſto eher entgehen. Vielmahls zwingt ſie die Noth, daß ſie ſich eine groͤſſere Ge - ſchicklichkeit zuwege bringen muͤſſen, wenn ihnen an -Fdere82I. Theil. III. Capitul. dere die Qualitæten zutrauen / die zu dem Amte, da - von ſie den Titul fuͤhren, erfordert werden, und gleichwohl niemand weder um ſich noch unter ſich haben, dem ſie hiebey koͤnnen zu Rathe ziehen, oder mit dem ſie ihre Ungeſchicklichkeit vermaͤnteln koͤnnen.

§. 27. Solte nun ein jetziger Cavalier in der Welt das Gluͤck haben, daß ihm ein großer Herr von freyen Stuͤcken ohne darum anzuhalten, einen Character mit oder ohne Beſoldung offeriren ſolte, ſo hat er vorhero folgendes dabey in Betrachtung zu ziehen: (1) Ob ihm auch hiedurch in der That groͤßere Ehre zuwachſe, als er vorher gehabt? (2) Ob er die Geſchicklichkeit beſitze, die zu Bekleidung dieſes Characters erfordert wird? (3) Ob er ſo viel Einkuͤnffte entweder ſelbſt habe, wenn es ein bloßer Tltul waͤre, oder da es eine Bedienung, ob die Be - ſoldung dabey ſo viel austrage, als wohl erfordert wird, dieſen Character mit Ehren zu behaupten, und (4) ob ſich dieſes Prædicat mit ſeinen uͤbrigen Um - ſtaͤnden wohl vereinigen laſſe, und ihm eine wahre und beſtaͤndige Zufriedenheit des Gemuͤths ver - ſchaffen koͤnne? Bey dem erſten Stuͤck muß er uͤberlegen, ob dieſer Titul entweder uͤberhaupt, oder doch in Anſehung ſeines Standes und ſeiner Le - bens-Art, die er ſich erwehlt, ungewoͤhnlich, ſeltzam, und diſrenomirlich, oder gewoͤhnlich, und ihm renomiꝛlich ſey? deñ ſonſt wuͤrde er hiebey mehr ge - ſchimpfft, als geehret werden. Bey dem andern, ob er die noͤthige Faͤhigkeit entweder beſitze, oder ſiedoch83Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. doch mit der Zeit erlangen moͤchte? Gleichwie kein Meiſter gebohren, und alſo kan auch ein junger Menſch bey Antritt ſeiner Charge nicht die Wiſſen - ſchafft und Erfahrung haben, die ſich ein andrer, der dieſem oder jenem Amte einige Jahre vorge - ſtanden, zuwege gebracht. Die Erfahrung nimmt mit den Jahren zu, es iſt genug, wenn er bey ſich be - findet, daß er ſich auf dasjenige, wozu er gebraucht werden ſoll, ziemlich applicirt, die Fundamenta da - von ſich bekandt gemacht, und zu den Verrichtun - gen, die dieſem Prædicat eigenthuͤmlich ſind, Luſt hat. Außerdem aber wuͤrde er ſich bey jederman veraͤchtlich machen. Es wuͤrde alſo einer, der ſich Zeit ſeines Lebens auf die Studia geleget, ſich um das Reiten nicht bekuͤmmert, und gar keine Erkaͤnt - niß von Pferden beſitzt, ſchlechte Ehre erlangen, wenn ihm die Bedienung eines Stallmeiſtes ange - tragen werden ſolte. Bey dem dritten Stuͤck, da er ſeinen Beutel zu Rathe ziehet, muß er ſeine Ge - dancken nicht allein auf das Gegenwaͤrtige, ſon - dern auch auf das Zukuͤnfftige richten. Es iſt nicht genug, daß er ſich getrauet einige Jahre auszuhal - ten, und den Staat mitzumachen, ſondern er muß auch den Uberſchlag machen, ob er ohne das ſeinige zu verzehren, und die Capitalien anzugreiffen, die Ausgaben ſeinem Herrn oder ſeinem Titul zu Eh - ren, beſtaͤndig fortſetzen koͤnne. Es iſt eine elende Sache, wenn der Character das Vermoͤgen ange - het, da einer in ſeinen maͤnnlichen Jahren, wie ein großer Herr lebt, hingegen auf das Alter, wie einF 2chara -84I. Theil. III. Capitul. characteriſirter und titulirter Bettler. Bey ſeinen Ausgaben darff er eben nicht auf die Reichſten und Wohlhabenſten ſeine Augen wenden, ſondern es iſt genug, wenn er ſeine Sachen hiebey ſo anſtellt, daß die Herrſchafft und ſeine Vorgeſetzten mit ſei - ner Auffuͤhrung zufrieden, ſeines gleichen ihn ihres Umganges uud Freundſchafft wuͤrdig achten, und die Geringen ihm diejenige Ehre erzeigen, die ſie dem andern nach ſeinem Stand und Character zu erwei - ſen ſchuldig ſind. Bey dem vierdten Stuͤck muß er alle und jede Umſtaͤnde, die mit dem Character ver - knuͤpfft ſind, und ſeine eigne Perſon, das iſt, ſeinen innerlichen und aͤußerlichen Zuſtand angehen, auf das fleißigſte und ſorgfaͤltigſte examiniren. Be - findet er nun, daß alles dieſes mit ſeinen Umſtaͤn - den ſo genau harmonire, daß ihm durch dieſes oder jenes Prædicat ein hoͤherer Grad der Gemuͤths - Ruhe zuwachſe, als er vorher gehabt, und ihm die - ſelbe, ſo viel er endlich nach ſeiner jetzigen Vermu - thung beurtheilen kan, durch eine darauf folgende Reue nicht unterbrochen werden moͤchte, ſo kan er im Nahmen GOttes ſich vor dieſe Gnade reſpe - ctive allerunterthaͤnigſt oder unterthaͤnigſt bedan - cken, und die Bedienung oder den Character an - nehmen.

§. 28. Nachdem ſich nun die Faͤlle heutiges Tages ſo gar oͤffters nicht zutragen, daß einem die Titul, ohne darum Anſuchung zu thun, von freyen Stuͤcken ſolten angebothen werden, und doch aus einem Prædicat ſo groß Werck gemacht wird, ſofragt85Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. fragt ſichs, ob nicht ein junger Cavalier wohl thut, wenn er ſelbſt um einen Titul bey einem groſſen Herrn anhaͤlt? Solte man einen Quacker die Ent - ſcheidung dieſer Frage vorlegen, ſo wuͤrde er ſie al - ſobald mit dem groͤſten Eyfer verneinen; ſintemal ſie wider alles Ceremonien - und Titular-Weſen auf das hoͤchſte erbittert ſind; ſie nennen die Titul, Luciferiſche Ehre, verfluchte Ehren-Nahmen, Nar - ren-Titul, Beſtien-Character, u. ſ. w. Sie ha - ben hierinnen ihre Freyheit, und muͤſſen andern Leuten auch ihre Freyheit laſſen. Jhre Saͤtze fin - den, in der Klugheit zu leben, und in der Ceremo - niel-Wiſſenſchafft kein Gehoͤr. Uberhaupt iſt es ſchwer, einem hierinnen eine Regel vorzuſchreiben, ſondern es beruhet dieſes auf eines jeden Umſtaͤnden. Dieſer handelt ſehr thoͤrlich, daß er um einen Titul Anſuchung thut, und jener hingegen vernuͤnfftig; ſintemahl ſich Faͤlle ereignen koͤnnen, da einer, auch in dieſem Stuͤck, wider ſeinen Willen genoͤthiget wird, der Opinion anderer Leute, an denen ihm et - was gelegen, ſeiner eigenen vorzuziehen.

§. 29. Da ein vernuͤnfftiger Menſch keine ein - tzige Handlung, ohne daß er durch einen zureichen - den Grund hiezu veranlaßt werden ſolte, vornehmen muß, alſo muß er auch allezeit eine wichtige Raiſon haben, wenn er um ein bloß Prædicat, (von dem je - tzund die Rede iſt,) anhalten ſoll. Er muß vorher wohl uͤberlegen, ob die gantze Verbeſſerung ſeiner Gluͤckſeligkeit bloß darinnen beſtehe, daß er dieſes Tituls theilhafftig wird, und einen andern NahmenF 3bekommt,86I. Theil. III. Capitul. bekommt, als er vorhin gehabt; oder ob auch an - dere Stuͤcke der wahren Gluͤckſeligkeit, die er ſonſt nicht ſo bald, und nicht ſo bequem erhalten koͤnnen, damit vergeſellſchafftet, oder daraus herflieſſen; er muß nicht bloß auf die aͤuſſerliche Ceremonien und Ehren-Bezeigungen ſehen, die ihm andere nunmehr erweiſen muͤſſen; denn dieſes ſind Taͤndeleyen, ſon - dern auf die wahre Ehre, die ihm hieraus zuwaͤchſt, ob er auch durch dieſes Prædicat in der That tuͤchti - ger werde, als vorhin, das Boͤſe zu hindern, und hin - gegen die Ehre GOttes, ſeine und ſeines Naͤchſten Vollkommenheit, mehr zu befoͤrden. Er muß ſich vorher ebenfalls pruͤfen, ob er wohl ſo viel Geſchick - lichkeit beſitze, daß er von andern Leuten dieſes Ti - tuls nicht vor unwuͤrdig geachtet, und dadurch mehr beſchimpffet, als geehret werde. Es iſt zwar ein groſſer Unterſchied unter einer wuͤrcklichen Bedie - nung, und unter einen bloſſen Titul und Prædicat, und wird zu jenem wohl freylich mehr erfordert, als zu dieſem. Da aber der Titul eine groſſe Aehnlich - keit mit dem Amte ſelbſt hat, und die Benennung den Schein von ſich giebt, als ob ſie mit der Bedie - nung einerley ſey, zumahl bey denen, welchen unbe - kandt, ob einer in wuͤrcklichen Dienſten ſtehe, oder nicht; ſo muß auch ein Titulair, der ſich bey ver - nuͤnfftigen Leuten nicht laͤcherlich machen will, den Schein von ſich geben, als ob er zu dieſem oder je - nem, davon er den Titul angenommen, nicht eben gantz und gar untuͤchtig ſey. Dieſes, was ich von der Capacitaͤt geſagt, iſt auch mit einiger Veraͤnde -rung87Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. rung auf die Einkuͤnffte zu appliciren. Ein Titu - lair hat freylich nicht noͤthig, ſo viel Figur zu ma - chen, als ein anderer, der in einem wuͤrcklichen Am - te ſtehet, und die Beſoldnng bekommt, er muß ſich aber doch auch ſo bezeigen, daß er ſeinem Prædicat gemaͤß lebet, und bey manchen Gelegenheiten, da es ſeines Herrn Ehre und Reſpect erfordert, dem wuͤrcklichen wenig oder nichts nachgeben, und alſo erweiſen, daß er im Stande waͤre, wenn er wolte, oder es noͤthig waͤre, denen andern, die in wuͤrckli - chen Dienſten ſtuͤnden, ſich bey ſeinen Ausgaben gleich aufzufuͤhren.

§. 30. Findet ein vernuͤnfftiger junger Cavalier einen tuͤchtigen Grund, um ein Prædicat anzuſu - chen, und er ſiehet, daß es mit ſeinen uͤbrigen Umſtaͤnden harmonirt, ſo haͤlt er die Mode mit, und laͤſt ſich einen Titul geben; wo aber nicht, ſo lebt er ohne Prædicat eben ſo geehrt, ſo ruhig und vergnuͤgt, und bißweilen noch gluͤcklicher als man - che Titulaire und wuͤrckliche Officianten. Weil ihm der Unterſchied unter der innerlichen und aͤuſ - ſerlichen Ehre ſehr genau bekandt, ſo weiß er, daß man auch ohne mancherley aͤuſſerliche Ehren-Be - zeigungen, die einem andere Leute, bißweilen wider ihren Willen, erzeigen muͤſſen, geehrt leben koͤnne. Man ſiehet hin und wieder, auf dem Lande und in groſſen Staͤdten, unterſchiedene rechtſchaffene und kluge Maͤnner, Adelichen nnd Buͤrgerlichen Stan - des, die ohne Titul und Character, bey Hoͤhern, bey ihres gleichen, und bey Geringern, in groͤſſernF 4Ehren88I. Theil. III. Capitul. Ehren und und Anſehen ſtehen, als andere betitulte. GOtt hat ihnen ſo viel Verſtand und Erfahrung mitgetheilet, daß ſie ſich durch ihre Wiſſenſchafften, oder doch ſonſt durch ihre Klugheit, vernuͤnfftige Auffuͤhrung, œconomiſche Erkaͤntuiß, u. ſ. w. be - ſonders verdient gemacht, ſie werden bey ihrem Nachbaren faſt vor Oracula angeſehen, von denen ſie ſich in verwirrten Angelegenheiten guten Bey - rath ausbitten, auch nicht ſelten von vielen characte - riſirten Leuten zu Rath gezogen, ſie haben ſich bey vielen neceſſair gemacht, die ihnen denn hernach gute Worte geben muͤßen, ſie haben gelernt ſich mehr in ſich, als unter dem groͤſten Schwarm un - artiger Leute zu vergnuͤgen, ſie befleißigen ſich vor - nemlich der wahren Ehre, und erlangen auch da - durch von andern viel aͤußerliche Ehren-Bezeugun - gen; ſie haben entweder dabey ihr reichliches Aus - kommen, daß ſie bey ihren aͤußerlichen viele von ih - res gleichen uͤbertreffen, und alſo auch bey dem Poͤbel ein groͤßer Anſehen gewinnen, oder GOtt beſchehret ihnen durch ihre Arbeit und Fleiß noth - duͤrfftiges Auskommen, daß ſie vor ſchmaͤhliger Armuth geſichert ſind, und bey ihrer guten Einthei - lung ordentlich und ruhig leben.

§. 31. Da nun einige meritirte und rechtſchaf - fene Leute keine Prædicate und Titul verlangen, und dieſelben auch wohl gar ausſchlagen, ſo koͤnnen die - jenigen um deſto eher gelaſſen ſeyn, die ihrer Be - muͤhung, die ſie daran wenden, ungeachtet denjeni - gen Character, um den ſie Anſuchung thun, zu derZeit,89Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. Zeit, da ſie ihn verlangen, nicht erhalten, ſondern dißfalls abſchlaͤgige Antwort bekommen. Sie moͤgen inzwiſchen nur immer fortfahren, ſich ver - dienter und qualificirter zu machen, ſo koͤnnen ſie an einen andern Orte oder zu einer andern Zeit mit gu - tem Grunde eines Prædicats erwartend ſeyn, und vielleicht mit mehr Realité als jetzund. Ein ver - weigertes kleines Gluͤck an dieſem Ort, hat ſchon manchmahl zu einem groͤßern an einem andern den Weg gebahnet. Es waͤre mancher unter Gelehr - ten und Hof-Leuten kein ſo vornehmer und angeſe - hener Mann in der Welt geworden, wann ihm nicht in den vorigen Zeiten ein ſchlechter Titul oder geringes Ehren-Aemtgen waͤre abgeſchlagen wor - den. Geſetzt, daß ſie auch gar keines Tituls ſolten habhafft werden, welches man ſich zwar bey denen, die Geſchicklichkeit und gute Auffuͤhrung haben, und ihre Zeit erwarten koͤnnen, faſt nicht vorſtellen kan, ſo koͤnnen ſie doch eben ſo wohl als die im vorher - gehenden §. auch ohne Prædicat als geehrte Leute leben. Es haben ſich viele durch ihren bloſſen Nahmen hoͤher geſchwungen, als andere durch die groͤſten Ehren-Chargen, und denſelben zu einen anſehnlichen Titul gemacht. Beſitzen ſie Ver - dienſte, ſo haben ſie auch mit guten Grund Ehren - Stellen zu hoffen. Fehlet es ihnen aber an Ver - dienſten, ſo gereicht ihnen auch alle aͤußerliche Ti - tulatur mehr zur Beſchimpffung, als zur wahren Beehrung,

§. 32. Da der Adel heutiges Tages ſo uͤberhaͤufftF 5iſt,90I. Theil. III. Capitul. iſt, daß die Bedienung, die man bißher den Cdelleu - ten zugeeignet, faſt nicht mehr hinlaͤnglich ſeyn wol - len, alle diejenigen, die deren begierig oder benoͤthi - get, zu verſorgen, und mancher auch wegen ſeiner ſchlechten Einkuͤnffte nicht in dem Stande iſt, einen adelichen Staat zu fuͤhren, ſo wird einer und der an - der gezwungen, ſich auf etwas zu appliciren, und ge - wiſſe Aemter, Gradus Academicos, oder Verrich - tungen zu erwehlen, die biß anhero unter dem Adel nicht Mode geweſen, und man buͤrgerliche zu nennen pflegt. Wie nun dergleichen Entſchluß manchen Leuten, denen es an gehoͤriger Scharfſinnigkeit fehlt, ungewoͤhnlich und wunderſeltzam vorkommt, auch dahero manchen beſondern Urtheilen unter - worffen wird; Alſo wird nicht undienlich ſeyn, an gegenwaͤrtigen Orte, eine und die andere vernuͤnffti - ge Betrachtung daruͤber anzuſtellen.

§. 33. Vorerſt ſetze ich dieſes zur Regel, daß ein junger Cavalier, ſo viel als moͤglich, ſeine Handlun - gen ſo einrichte, damit er ſich und ſeinen Zuſtand vollkommner mache, und hingegen alles unterlaſſe, was ihm entweder in der That und Wahrheit, oder doch nur dem Schein, und der irrigen Opinion der Welt nach, unvollkommner macht. Der Schein und die Einbildung der Menſchen, ob ſie ſchon kei - nen Grund hat, wuͤrckt hier eben ſo viel, als die Wahrheit. Da die Welt in ihrem Verſtand groͤſtentheils verblendet, die Jrrthuͤmer hegt und vertheidigt, und ſich davon nicht will abbringen laſ - ſen, ſo muß auch ein vernuͤnfftiger Menſch bey ſei -ner91Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. ner Auffuͤhrung dieſe Jrrthuͤmer zugleich mit vor Augen haben, damit er ihren, ob zwar irrigen Ur - theilen entgehen moͤge, und hingegen der Opinion, und der einmahl eingefuͤhrten Mode, Folge leiſte. Soll nun aber unſer junger Cavalier dieſe unum - ſtoͤßliche Regel zu ſeiner Vorſchrifft annehmen, ſo muß auch keiner, den GOtt mit ſo viel zeitlichen Guͤtern geſegnet, daß er ſeinen Adelichen Stand nach, ſich gemaͤß auffuͤhren, und cavalierement le - ben kan, dergleichen Lebens-Art, Bedienung, oder academiſche Wuͤrde annehmen, die von denen an - dern vor etwas ihnen unanſtaͤndiges angeſehen werden. Ein ſolcher Cavalier wuͤrde ſich, theils von denen, die mit ihm gleichen Standes, theils auch von den Geringern, die ihn aus Neid und Ja - louſie verachten wuͤrden, mancherley Verſpottung, Verdruß, leichtfertige Critiquen, Stachelreden und hoͤhniſche Geberden, daraus ſeiner innerlichen und aͤuſſerlichen Gluͤckſeligkeit mancherley Hinderniſſe erwachſen wuͤrden, uͤber den Hals ziehen, denen er entgehen koͤnte. Es ſtehen ihm ja, nach ſeinen Um - ſtaͤnden, allerhand Wege vor, zumahl, wenn er mit ſeinem zeitlichen Vermoͤgen, Fleiß, Geſchick - lichkeit auch gute Qualitaͤten verbindet, ſich ſolche Befoͤrderer zuwege zu bringen, durch welche er eine anſehnliche Adeliche Charge uͤberkommen kan. Treibet ihn ſein natuͤrlicher Zug zu einer gewiſſen, in eine hoͤhere oder geringere Facultaͤt lauffende Wiſſenſchafft, ſo iſt es ihm ja unverwehrt, dieſelbe aus dem Grunde zu ſtudieren, und die hierinnen er -langte92I. Theil. III. Capitul. langte Gelehrſamkeit durch oͤffentliche Specimina an den Tag zu legen, auch ſich ſelbſt und ſeinen Naͤchſten auf mancherley Weiſe damit Nutzen zu ſchaffen, ohne daß er ein oͤffentlicher Lehrer und Prediger wird, oder advocirt, oder als ein Medici - Practicus in der Welt herum ziehet. Will er erweiſen, daß er in der Gelehrſamkeit denen, wel - chen man Academiſche Gradus, zur oͤffentlichen Belohnung ihres Fleiſſes, auszutheilen pflegt, gleich gekommen, ſo kan er ſich ja eben ſo wohl, als wie ſie, dem Examini rigoroſo unterwerffen, ohne daß er noͤthig hat, mit der angenommenen Doctor - Wuͤrde zu prahlen, und in der Adelichen Bedienung GOtt und dem Lande ſo gute, und wohl noch beſ - ſere Dienſte leiſten, als bey dem Buͤrgerlichen Employ.

§. 34. Gleichwie ſich aber die Menſchen nicht in einerley Umſtaͤnden befinden, alſo koͤnnen auch nicht einerley Regeln allen zu einer Vorſchrifft dienen, ſondern die verſchiedene Faͤlle bringen mancherley Ausnahmen bey den Regeln zuwege. Jn dem vo - rigen § habe ich denen Cavalieren, die GOtt mit zeitlichen Guͤtern geſegnet, angerathen, daß ſie nichts erwehlen ſollen, ſo nach der heutigen Welt vor buͤrgerlich und ihnen vor unanſtaͤndig geachtet wird; wiewohl auch bey dieſem Satz die allge - meine Ausnahme noch ſtatt findet, ſie muͤſten denn in ihrer Seele voͤllig uͤberzeuget ſeyn, daß dieſer oder jener Entſchluß von dem dirigirenden Willen GOt - tes herruͤhre, welchem kein menſchlicher Wille Zielund93Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. und Maaß ſetzen darff. Jetzund will ich behau - pten, daß alle diejenigen von Adel, welche ſich in ſolchen Umſtaͤnden befinden, daß ſie bey ihrer Ade - lichen Lebens-Art ihre Gluͤckſeligkeit und Vollkom - menheit uͤberhaupt, entweder gar nicht, oder doch nicht ſo bald und ſo bequem befoͤrdern koͤnnen, als bey einer andern, ſehr vernuͤnfftig handeln, wenn ſie ſich auf etwas, ſo andere vor Buͤrgerlich achten, appliciren. Der ſtaͤrckere Grund, der einen zu einer Handlung noͤthiget, ſchmeiſt den ſchwaͤchern allezeit uͤber den Hauffen. Man iſt niemahls ſchul - dig, den Wahn der Leute zu folgen, wenn er uns an unſerer Gluͤckſeligkeit und Vollkommenheit hin - derlich; Es iſt beſſer, ſich durch Wiſſenſchafften, Gelehrſamkeit und Geſchicklichkeit, ſo mancher Un - wiſſender buͤrgerlich nennen moͤchte, ein Stuͤck Geld zu erwerben, und dabey ſein nothduͤrfftig Auskom - men zu haben, als ſeinen Juncker zu machen, und bey der Armuth und Unwiſſenheit bey andern, das Gnaden-Brod zu ſpeiſen, auf der Wurſt herum - zuziehen, Miſeriam zu ſchmeltzen, und das elende Handwerck eines Spielers zu ergreiffen. Es iſt anſtaͤndiger, eine Zeitlang bey einem buͤrgerlichen Employ ſeine Geſchicklichkeit zu erweiſen, und ſich dadurch auf eine geſchwindere und renomirlichere Weiſe den Weg zu einer anſehnlichen Adelichen Charge zu bahnen, bey der einer hernach Zeit ſei - nes Lebens Ehre und Verſorgung hat, als viele und lange Jahre auf dem Expectanten-Baͤnckgen zu ſitzen, und ſich mit leeren Winde der Hoffnung, undbeſtaͤn -94I. Theil. III. Capitul. beſtaͤndiger Anmahnung zur Gedult / abſpeiſen zu laſſen. Es iſt auch vernuͤnfftiger, bey einem ſo ge - nannten buͤrgerlichen Ehren-Amte, ſein Leben mit Ehre und Ruhe zu beſchlieſſen, GOtt, ſeinem Lan - des-Herrn, oder doch dem gemeinen Weſen zu die - nen, als ein Cavalier de Fortune, und wie ein inu - tile terræ pondus in der Welt zu leben. Es iſt wei - ſer, eine Academiſche Wuͤrde anzunehmen, und ſich durch Diſputiren, Practiciren, Collegia halten, u. f. bey wahren Weltweiſen Ruhm und Ehre zu erwer - ben, als mit der Adelichen Wuͤrde die Buͤrde der Verachtung und Unwiſſenheit zu vereinigen. Der Herr von Lohenſtein ſagt: Der Adel waͤre eine Nulle, die an und vor ſich ſelbſt nichts guͤlte, wenn aber die Ziffer der Wiſſenſchafft und Tugend da - bey ſtuͤnde, ſo guͤlte er ſehr viel. Koͤnte etwas we - niger ſeyn, als nichts, ſo moͤchte ich wohl ſagen, der Adel waͤre an und vor ſich ſelbſt eine Nulle, und wenn Unwiſſenheit, Untugend, und Armuth damit vergeſellſchafftet, ſo waͤre er noch weniger, als eine Nulle; ſintemahl ein Adelicher unwiſſender und laſterhaffter Bettler, unter allen nichtswuͤrdigen Menſchen der nichtswuͤrdigſte iſt, zumahl, da er ſich durch ſein eigen gottloß Bezeigen um ſein Vermoͤ - gen gebracht.

§. 35. Bey Beurtheilung der buͤrgerlichen Ver - richtungen, buͤrgerlichen Dignitæten und Aemter, ſtecken greuliche Jrrthuͤme, die aus Unwiſſenheit, aus einer thoͤrichten Mode-Sucht und aus Hoch - muth ihren Urſprung herleiten. (1.) Jſt es irrig, daßdie95Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. die Feder nicht eben ſo gut ſeyn ſolte, als der Degen nnd die Mouſquete. Denen Printzen, Grafen, und Edelleuten, und wenn es auch die Soͤhne der groͤſten Miniſtres ſeyn ſolten, wird es vor eine Ehre geachtet, wenn ſie im Kriege von unten auf, und von der Mouſquete an avanciren, und hingegen bey der Feder in Collegiis, wollen ſie gleich Ober - ſten und Capitains, das iſt, groſſe Raͤthe, werden, da doch mancher nicht capable iſt, einen Copiſten abzugeben; haͤtte einer oder der andere von unten auf gedienet, ſo koͤnte er mit beſtem Grunde die Sub - alternen corrigiren, und duͤrffte nicht von ihnen lernen. Die Geringern folgen in den andern Stuͤcken ſo gerne den Sentimens der großen Her - ren, und nehmen dieſelben zu ihrer Richtſchnur an, und gleichwohl wollen ſich viele vom Adel hierinnen nicht nach ihnen conformiren. Kaͤyſer, Koͤnige, Chur-Fuͤrſten, Fuͤrſten machen hiebey nicht den Unterſcheid, den ſolche Leute zu machen pflegen, ſie belohnen oͤffters die Tugend und Verdienſte ohne Unterſcheid des Standes, ſie betrachten die gerin - gern buͤrgerlichen Aemter, welche die von civilen Stande mit Ehren begleidet, als Stuffen, die ſie auf die hoͤchſten Stuffen der groͤſten adelichen Chargen erheben. Viel buͤrgerliche Verrichtun - gen legen den Grund-Stein zu Adelichen, Buͤrger - lichen u. Graͤflichen Dignitæten. Wenn manche doch in dieſem Stuͤck auf die ſonſt von ihnen ſo hoch - geſchaͤtzte Ahnen, ein wenig zuruͤcke ſehen wolten! Vor ein paar hundert Jahren ſchaͤtzten ſichs unſereOber -96I. Theil. III. Capitul. Ober-Großaͤlter-Vaͤter vor eine Ehre, wenn ſie das Amt eines Predigers, eines Amtmanns, eines Buͤrgermeiſters u. ſ. w. verwalten konten, oder geſchickt waren, einen Gradum Academicum an - zunehmen; und ihre Uhr-Enckel achten ſich derglei - chen vor eine Schande, und beſchimpffen alſo hier - inne ihre Vorfahren, von denen ſie doch allen ihren Glantz herleiten wollen. Faſt alle Auslaͤnder ſind hierinnen kluͤger als wir Teutſchen. Die Edel - leute in Franckreich, Jtalien, Engelland und in den Nordiſchen Koͤnigreichen, achten ſichs im gerinſten nicht vor diſrenomirlich, einige academiſche Gra - dus oder Bedienungen anzunehmen, oder ſich ſonſt einigen Verrichtungen zu unterziehen, die ein großer Theil unſers Adels in Teutſchland vor buͤrgerlich und ihnen unanſtaͤndig anſehen will.

§. 36. Jch koͤnte hier weitlaͤufftig anfuͤhren, daß dieſes nicht meine eigene Gedancken, ſondern daß viele rechtſchaffene und gelehrte von Adel in dieſem Stuͤck gleicher Meynung mit mir waͤren; ich halte es aber bey einer Sache, die auf der geſunden Ver - nunfft beruhet, vor unnoͤthig; Jedoch will ich ge - dencken, was der Herr von Tzſchirnauß in ſeinen getreuen Hofmeiſter p. 214. hievon erwehnet: Es iſt zu beklagen, ſagt er, daß ſich ſonderlich die Teut - ſchen, Reformirten und Evangeliſchen Religion zu - gethane Standes-Perſonen, ſo wenig auf die Theo - logie legen, und vor etwas unanſtaͤndiges achten, wenn einer Hof-Prediger, Superintendens, Do - ctor und Profeſſor Theologiæ werden wolte, un -geach -97Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. geachtet ſie ſehen, daß die Catholiſchen, ingleichen auch die Engliſchen Edelleute Frey-Herren und Grafen ſich gratuliren, wenn ſie die Ehre haben, al - lerley geiſtliche Aemter und Dignitæten zu beſitzen, weil ſie dadurch ihren gefallenen Familien entwe - der wieder aufzuhelffen, oder dieſelben wenigſtens vor dem Untergange zu guarantiren, und ihr eigen Brod zu erwerben, Gelegenheit bekommen. Bey der Mediciniſchen Facultæt finden wir wieder we - nig Standes-Perſonen, welche ſich auf die darun - ter gehoͤrige Studia appliciren, da ich doch mey - nen ſolte, es wuͤrden die an großer Herren Hoͤfen eingefuͤhrten Ehren-Stellen der Hof - und Leib - Medicorum, ingleichen der Land - und Stadt-Phy - ſicorum, ihrem Character gantz und gar nicht præ - judicirlich ſeyn.

§. 37. Es haben demnach einige von unſern teutſchen Edelleuten, ſonderlich vom Eingang dieſes Seculi an, ſehr wohl gethan, daß ſie durch alle die Vorurtheile, die andere bißher beſtrickt hielten, gluͤcklich durchgebrochen, und zu Befoͤrderung ihrer Ehre und Zufriedenheit, auf dergleichen Wegen ſichere Vorgaͤnger geweſen, derer andern, die ſich mit ihnen in gleichen Umſtaͤnden beſinden, nachfol - gen koͤnnen.

§. 38. Nachdem ich in dem vorhergehenden an - gefuͤhrt, was einer in Anſehung der Titul gegen ſich ſelbſt zu beobachten hat, ſo will ich in folgenden noch einige Regeln mittheilen, was man gegen andere bey den Titulaturen in Acht nehmen ſoll. EinemGFrem -98I. Theil. III. Capitul. Fremden und Unbekandten muß man keinen be - ſondern Titul beylegen, der etwan einem gewiſſen Stand und Character eigenthuͤmlich iſt. Deñ man ſtehet ſonſt immer in Furcht, daß man ihm zu viel, oder zu wenig geben moͤchte. Giebt man ihm zu viel, ſo moͤchte ers uns vor eine Einfalt, Nieder - traͤchtigkeit oder eigennuͤtzige Schmeichlerey und Schmarotzerey auslegen; giebt man ihm zu wenig, und er iſt ſehr ehrgeitzig, ſo wuͤrde es ihm verdrieſ - ſen, dieſemnach iſt am beſten, wenn man ihn mein Herr, ſchlechtweg nennt. Hat er keinen Bedien - ten bey ſich, den man fragen kan, und man kan es auch ſonſt nicht erfahren, wer eriſt, ſo mag er entwe - der damit vorlieb nehmen, oder wenn er meynet, daß ſeine Ehre dadurch verletzt wuͤrde, ſagen, wer er ſey, damit man ihm ſeinen rechten Titul geben koͤnne.

§. 39. Ein junger Cavalier thut uͤberaus wohl,[wenn] er ſich nach den Unterſcheid der Titulaturen / wie ſie ſo wohl ihrem Range, als andern Wuͤrckun - gen nach, nach den Hoͤfen und Oertern unterſchie - den zu ſeyn pflegen, erkundiget. Manche Chargen fuͤhren eine gleiche Benennung und einerley Titu - latur, und ſind dennoch ihren Prærogativen nach gar ſehr von einander abgeſondert. Mancher Cha - racter begreifft an dieſem Hofe eine ſehr anſehnli - che Bedienung unter ſich, und an einem andern Ho - fe wird kein groß Werck daraus gemacht. Wem nun dieſe Unterſchiede bekandt worden, weiß her - nach deſto beſſer, wie er ſich in dem Umgange gegeneinem99Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. einem jeden aufzufuͤhren, und was er in Anſehung ſeiner zu beobachten habe.

§. 40. Man muß einem jeden den Titul beyle - gen, der ſeiner Geburth, Bedienung, und ſeinem Stande gemaͤß iſt, darein ihn GOtt geſetzt, den die Hoͤflichkeit und Wohlſtand erfordert, und die Gewohnheit unſerer Zeiten eingefuͤhrt. Man dencke, daß man eben dergleichen von andern ver - lange, und auch dieſes von ihnen zu fordern berech - tiget. Will der andere, zumahl der Hoͤhere, aus beſonderer Hoͤflichkeit und Sittſamkeit oder Gna - de, die er vor uns bezeuget, eine gewiſſe Courtoiſie und Titulatur von uns nicht annehmen, ſo treibet uns zwar dieſes noch mehr an, ihn zu ehren, man muß ſich aber doch auch dasjenige, was er beliebet, gefallen laſſen, und ſich ſeinem Willen nicht allzu - ſehr wiederſetzen. Alſo findet man bißweilen ei - nige große Generals, die es nicht leiden koͤnnen, wenn man ſie Jhro Excellenz nennt, und die ſich lieber Herr General heiſſen laſſen.

§. 41. Wie nun die Humeure der Leute bey der Titulatur ſo wohl als in andern Puncten gar ſehr unterſchieden zu ſeyn pflegen, ſo muß man ſich vorher genau erkundigen, wie man einem jeden zu begegnen habe, damit man nicht verſtoße. Jſt einem an dergleichen Ceremonien-Werck ſehr viel gelegen, und man iſt nach den Umſtaͤnden, da - rinnen man ſich befindet, ſeiner Gnade oder Gunſt benoͤthiget, ſo ertheile man ihm einen ſehr groſſen Titul. Der ſeelige Chriſtian Weiſe ſpricht in ei -G 2nem100I. Theil. III. Capitul. nem ſeiner Schrifften: Kan dir der andere etwas helffen, ſo nenn ihn allmaͤchtig, wiewohl dieſes ein etwas zu leichtſinnig ertheiltes Conſilium. Jſt er aber nicht zum Ehrgeitz geneigt, ſo ſchreite man hierbey nicht aus den Schrancken.

§. 42. Bey einigen Umſtaͤnden, die ich oben an - gefuͤhrt, wenn z. E. der ander entweder die dieſem Prædicat zugehoͤrigen und eigenthuͤmlichen Dien - ſte wuͤrcklich verſiehet, oder verſehen hat, oder wenn der Character ſo gut als ausgemacht iſt, und es etwan nur noch an der Notification oder Aus - fertigung des Tituls fehlt, oder wenn der ander mit Connivenz der Hoͤhern durch die Obſervanz ſich in den Poſſeſs eines Tituls geſetzt, wie denn derglei - chen Caſus in der Welt auch bißweilen moͤglich, kan man zwar den andern im Reden oder Schreiben dieſen Character beylegen, uͤberhaupt aber iſt es wi - der den Wohlſtand, wenn man den andern einen Titul oder Prædicat giebt, den er nicht beſitzt, und mit Recht behaupten kan. Unſer Verlangen, den andern zu ehren, kan ihm ja kein Prædicat zuwege bringen. Dieſes dependirt von der Macht und Ent - ſchließung der Hoͤhern, ja auf gewiſſe Maß iſt es eine Art einer Beſchimpfung, die man ihm erzeiget, wenn man glaubt, daß der ander den, von einer Privat - Perſon, ihm zugeſchriebenen Titul annehmen wer - de. Jſt er eines gewiſſen Prædicats wuͤrdig, ſo wird er auch an ſeinem Ort und zu ſeiner Zeit ſchon Mittel und Wege finden, daſſelbe zu uͤberkommen, oder ohne dieſes Ceremoniel geruhig, und als ein geehrter Mann in der Welt leben. Der Titulgiebt101Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. giebt keine Verdienſte, ſondern ſoll ſie nur beloh - nen. Man hat ja mancherley Gelegenheit, die Hochachtung, die man vor dem andern hegt, an Tag zu legen, ob man ihn ſchon nicht nach einem falſchen Character benennt. Es iſt beßer, den an - dern in der That und im Wercke, als mit bloßen Worten zu ehren und zu lieben.

§. 43. Der Wohlſtand, die Hoͤflichkeit und Schuldigkeit erfordert, daß wir einen jeden diejeni - gen aͤußerlichen Ehren-Bezeugungen leiſten, die ihm nach ſeinem Stande oder Prædicat zukom - men, ob er ſchon ſeinen Einkuͤnfften nach nicht ſo groſſen Staat und Figur machen kan, als ein an - drer. Jſt er unſerer Wohlthaten und Huͤlffe nicht benoͤthiget, ſo haben wir uns auch um ihn nicht zu bekuͤmmern, und ihm bey ſeinen Ausgaben keine Vorſchrifft zu ertheilen. Darum haben ſich ſeine Herrſchafft und ſeine Vorgeſetzten zu befragen. Des andern Abgang an zeitlichen Guͤtern ertheilt uns kein Privilegium, ihm dasjenige zu verſagen, was ſein Amt oder Stand mit ſich bringen. Der Chriſtlichen Liebe nach ſind wir verbunden auch denjenigen alle aͤußerliche Ehre zu erweiſen, die ih - nen zugehoͤrig, die ſich in der groͤſten Armuth be - ſinden, und unſerer Liebe und Gutthat beduͤrfftig. Ob ſie ſchon, wenn ſie ſich als Vernuͤnfftige bezeu - gen wollen, in dergleichen Umſtaͤnden mancherley Ehren-Benennungen nicht von uns begehren noch annehmen werden, ſo muͤſſen wir doch bereitwillig ſeyn, ihnen ſolche anzubieten; da ſie durch ihre Ar - muth allbereits ungluͤckſeelig ſind, muͤſſen wir ſieG 3durch102I. Theil. III. Capitul. durch Verachtung und Beſchimpffung nicht noch ungluͤckſeeliger machen. Ein anders waͤre es, wenn ſie ſich laſterhafft dabey auffuͤhrten; denn da alle aͤußerliche Ehre eine Belohnung der Tugend ſeyn ſoll, ſo ſteiget dieſelbe mit gutem Grunde bey laſter - hafften Armen um viel Grade tieffer herunter.

§. 44. Gleichwie die Armuth an und vor ſich ſelbſt keine rechtmaͤßige Gelegenheit giebt, den an - dern um deswillen gering zu achten; alſo verdienet auch der Reichthum an und vor ſich ſelbſt nicht, daß man den andern dieſerwegen erhebt. Jn ſo weit, als der andere, durch ſeinen Fleiß, Tugend und Ge - ſchicklichkeit, zu Vermoͤgen gekommen, in ſo weit iſt er auch, um ſeiner Tugenden willen, aller Ehre wuͤr - dig; er verdienet aber deswegen keine weitern aͤuſ - ſerlichen Ehren-Bezeigungen, als ein anderer, der mit ihm von gleichem Stand, Bedienung und Ge - werbe, aber weniger Einkuͤnffte hat. Will ſich ein Thore, wie es nicht ſelten zu geſchehen pflegt, auf ſein vieles Geld etwas einbilden, und nicht allein uͤber andere ſeines Standes, ſondern auch wohl, die noch hoͤhern Standes als er, erheben, ſo muß man ihn ſeiner Einbildung uͤberlaſſen, er wird deswegen nicht in der That etwas hoͤhers. Jn den Toll - haͤuſern findet man Raſende, die ſich einbilden, ſie waͤren Kayſer und Koͤnige. Man muß ſich hier - innen nicht dem Poͤbel conformiren, der die Leute nur nach dem Gelde und dem aͤuſſerlichen Staat, den ſie fuͤhren, zu reſpectiren pflegt; Alſo heiſſen die Bauren denjenigen unter ihnen, der der wohl -haben -103Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. habenſte iſt, nicht Goͤrge und Matthes ſchlecht weg, ſondern Herr Goͤrge und Herr Matthes ja ſie ach - ten ihn wohl gar vor vornehm; wie ich denn ſelbſt dieſen vorher mir unbekandten Satz aus eigener Erfahrung erlernt: Als ich mich einſten, bey einer Promenade in Durchpaſſirung eines gewiſſen Dorffes, bey einem Bauer erkundigte, wer denn in dieſem Hauſe, welches vor andern gantz reinlich ausſahe wohnte, ob es etwan ein Vorwerg waͤre, oder wem es ſonſt zugehoͤrte? So gab er mir zur Antwort: es waͤre gar ein Vornehmer, der darin - nen wohnte; und nach weitern Befragen, wer es denn waͤre, erklaͤrt er ſich, es waͤre zwar auch nur ein Bauer, er waͤre auch nicht Richter noch Schoͤppe, aber doch ſonſt vornehm. Weil mir nun dieſes ſehr widerſprechend und laͤcherlich vorkam, und mich nach der Raiſon dieſer Benennung erkundigte, ſo erfuhr ich doch weiter nichts, als daß er ſehr viel Geld haͤtte, und lernte alſo, daß wohlhabend - und vornehm-ſeyn bey den Bauren Synonyma waͤren. Die Schmarotzer machen es in dieſem Stuͤck nicht viel beſſer, als der Poͤbel; ſie erzeigen allen denje - nigen, bey denen ſie ſchmauſen, und mit denen ſie ſchmauſen, um ihres Freſſens, Sauffens und Eigen - nutzes willen, alle aͤuſſerliche Ehren-Bezeigungen, Titul und Benennung, die ſolche Leute nur anneh - men wollen, ſie moͤgen vor ſie gehoͤren, oder nicht.

§. 45. Aeuſſerliche Ehre, Titul, Character, und hoͤherer Stand, ſoll allezeit eine Belohnung ſonder - barer Tugenden und ruͤhmlicher Thaten ſeyn, undG 4iſt104I. Theil. III. Capitul. iſt es auch bißweilen; wie aber der Neid und die Eyferſucht allezeit ein treuer Gefehrte des Gluͤcks, der Tugend und des Ruhmes, alſo geſchicht es gar oͤffters, daß manche, wenn ſie hoͤren, daß ein ande - rer, entweder durch beſondere Direction GOttes, durch das bloſſe Gluͤck, oder auch durch Verdienſte, nebſt ihnen in einen gleichen Grad des Gluͤcks und der Ehre geſtellt - oder wohl gar noch auf eine hoͤhere Ehren-Staffel placirt wird, vor Neid, Zorn und Grimm faſt zerberſten wollen. Sollen ihm hoͤhe - re Prærogativen zugeſchrieben werden, und der hoͤ - here Stand und Character iſt noch nicht zur voͤlli - gen Conſiſtenz gedyen, ſo ſuchen ſie es zu hintertrei - ben, wo ſie nur wiſſen und koͤnnen, ſie legen ihm ſehr viel Steine des Anſtoſſens in den Weg. Sind ſie aber dabey nicht mit zu Rath gezogen, und die andern ohne ihr Zuthun zu einem groͤſſern Gluͤck gekommen, ſo fangen ſie an, ihre Perſonen bloß um des Gluͤcks willen zu haſſen, ob ſie ihnen gleich ihr Lebtage nichts zu Leide gethan; Werden ſie nicht von den Hoͤhern, oder aus Noth gezwungen, ſie zu ehren, da ſie ſich vor ihrer Macht zu fuͤrchten ha - ben, ſo machen ſie ihnen den Rang, Titulatur, und andere aͤuſſerliche Ehren-Bezeigungen, ſchwer und diſputirlich, und legen ihnen wohl gar hinterwerts ſpoͤttiſche Nahmen bey. Die, mit ihnen von glei - chem Stande, verlangen die eintzigen zu ſeyn, die, oder deren Vorfahren, ſolcher Titul, Ranges und Benennungen wuͤrdig geachtet werden; die Ge - ringern ſind noch verdruͤßlicher, daß ſie vor ihnenden105Von dem Titul-Weſen und Prædicaten. den Vorzug erlangt. Gleichwie nun aber ein Vernuͤnfftiger gar wohl erkennet, daß dieſes alles Ausbruͤche des Hochmuths und einer thoͤrichten Selbſt-Liebe, dadurch der Direction GOttes, der Hoͤchſten dieſer Welt, und uͤberhaupt auch der Hoͤ - hern, Ziel und Maaß ſolte geſetzt werden, und ein ſolcher Widerſtand vor unvernuͤnfftig und vergeb - lich zu achten; So ſind ſie auch willig und bereit, al - len denjenigen Ehre zu geben, denen entweder ihrer Verdienſte, oder dem Befehl und Willen der Hoͤ - hern nach, Ehre gebuͤhret.

Das IV. Capitul. Vom Range.

§. 1.

DEr Rang iſt eine hoͤhere Stelle, die einem wegen eines hoͤhern Grads, einiges, ent - weder wahren oder nur eingebildeten, Ruhmes und Anſehens, vor dem andern zugeſchrieben wird, und von dem einige, theils wich - tigere, theils geringere Vorzuͤge, herflieſſen. Er wird mehrentheils nach dem Stand, Bedienung und Gewerbe, und der damit verknuͤpfften Titula - tur und Benennung reguliret, und leidet mit ihrer Veraͤnderung entweder ſeine Verbeſſerung, oder Verringerung. Obgleich wenig Realite dabey anzutreffen, ſo ſind doch die Ehrgeitzigen ungemeinG 5darauf106I. Theil. IV. Capitul. darauf erpicht, ſie verfechten ihn, obwohl oͤffters zur Unzeit, wie unten mit mehrern erhellen wird, auf das hitzigſte, und ſorgen mehr vor die Ober-Stelle, als vor die Seele, ſie achten ſichs vor die groͤſte Schande, wenn ſie einem andern, den ſie nicht vor ſo gut achten, als ſich ſelbſt, nachgeben ſolten, und erfreuen ſich ungemein, wenn ſie hierinnen eine Conquête uͤber den andern erlangt; Wie ſie ſich nun ſelbſt viel daraus machen, ſo verdencken ſie es auch den andern, wenn ſie ihren Rang nicht mit eben der Schaͤrffe, als wie ſie, behaupten, ſie ach - ten ſie vor niedertraͤchtig und allzu demuͤthig, ſie he - tzen ſie auf, zur Behauptung der Oberſtelle, u. ſ. w.

§. 2. Herrſchet bey einer Sache die Eitelkeit und thoͤrichte Opinion, die ſich bißweilen von niemand, es ſey auch wer es wolle, will Feſſel anlegen laſſen, ſo iſt es bey dem Rang-Weſen. Die Kayſer, Chur - und andere Fuͤrſten des Heil. Roͤmiſchen Reichs, moͤgen anbefehlen, wie ſie wollen, die Pu - bliciſten und Geſchicht-Schreiber moͤgen noch ſo muͤhſam ſeyn, das Alterthum, und die Vortreff - lichkeit und Wuͤrde dieſes oder jenen Standes, die - ſe oder jene Titulatur und Benennung zu erweiſen, die Facultaͤten und Schoͤppenſtuͤhle moͤgen in viel wiederholten Urtheilen den Rang decidiren, ſo wollen ſich einige hartnaͤckigte Leute doch nicht len - cken und von ihren Gedancken abbringen laſſen, als ob ihnen vor jenen der Vorzug gebuͤhre. Sie muͤſ - ſen ſich zwar durch die Macht der Hoͤhern und aus Noth zwingen laſſen, den andern, bey einigen un -ver -107Vom Range. vermeidlichen Gelegenheiten, den Rang zu geben; Sie thun es aber mit dem groͤſten Widerwillen, und vermeiden auf das ſorgfaͤltigſte alle Faͤlle, bey denen ſie mit dem andern, dem ſie in ihrem Hertzen den Vorzug vor ihnen abſprechen, concurriren moͤgten.

§. 3. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß in den Landes-Ge - ſetzen und Policey-Ordnungen mehr darauf geſehen wuͤrde, als ſo nicht zu geſchehen pflegt. Haͤtte man allgemeine Rang-Ordnungen, darinnen die Range aller Unterthanen, ſo viel als moͤglich, vorgeſchrie - ben, und mancherley hierbey vorkommende Faͤlle deutlich decidirt wuͤrden, ſo wuͤrde mancher hieraus zu erwachſenden Unordnung, und manchen unnuͤtzen Rang-Streitigkeiten vorgebeuget werden, und die Richter haͤtten nachgehends ſichrere und beſſere Fundamenta, darnach ſie zu ſprechen haͤtten. So aber haben ſie nichts vor ſich, als die wenige Obſer - vanz und Poſſeſs; doch mit dieſem iſt es nicht alle - mahl ausgerichtet, ſintemahl ſich die neuern Wuͤr - den und Titulaturen daraus nicht decidiren laſſen. Die Ausſpruͤche der Roͤmiſchen, Longobardiſchen und Paͤbſtlichen Geſetze, ſchicken ſich bey dieſer Ma - terie zu unſerer Teutſchen Verfaſſung faſt gar nicht. Die Lehren der geſunden Vernunfft und des na - tuͤrlichen Rechts ſind gut, und geben hiebey das be - ſte Deciſum; es iſt aber ſchlimm, daß faſt ein jeder Rechts-Lehrer nach ſeinem Kopff ein natuͤrliches Recht machen, und ſolches nach ſeiner Willkuͤhr erklaͤren will.

§. 4.108I. Theil. IV. Capitul.

§. 4. An den Hoͤfen wird denen Hof-Bedienten der Rang, nach denen vorgeſchriebenen Rang - Ordnungen, zuerkandt, und die ſtreitigen Faͤlle dar - aus decidirt; ſie geben aber auch groͤſtentheils ein gar unvollſtaͤndiges principium regulativum ab. Die Hof-Bedienten, von dem groͤſten Rang, finden wohl ihren Platz darinnen, aber die von den gerin - gern Bedienungen, ſind mehrentheils ausgelaſſen; ſo wird auch nicht darinnen ausgemacht, wie es zu halten, wenn ſie an dem dritten Orte mit den Be - dienten von andern Fuͤrſtlichen Hoͤfen zuſammen kommen. Sie ſind ſtetswaͤhrenden Veraͤnderun - gen unterworffen, und wird man wenig Rang - Ordnungen antreffen, die ein zehen Jahr nachein - ander ein beſtaͤndig Reglement abgeben ſolten. Uberdieſes geſchehen auch zu der Zeit, da ſie ihren Valeur haben, beſtaͤndig Ausnahmen von der Re - gel. Jſt einer oder der andere, der entweder durch ſeine Meriten, oder durch das bloſſe Gluͤck, ſich bey der Herrſchafft in beſondere Gnade geſetzt, oder ein Favori eines Favoriten worden, oder ein Anver - wandter eines groſſen Miniſters, der bey Hofe wohl angeſehen, ſo wird er vor einem andern, der mit ihm von gleichem Range, durch mancherley Ehren-Be - zeigungen diſtinguirt, und bey dieſer oder jener Ge - legenheit ihm vorgezogen, es mag der Rang-Ord - nung gemaͤß, oder ihr zuwider ſeyn. Hingegen muß ein anderer, der durch boßhaffte Leute verleum - det und angeſchwaͤrtzt, und bey der Herrſchafft in einen gewiſſen Grad der Ungnade geſetzt worden,das109Vom Range. das Nachſehen haben, ob er ſchon ſonſt, der Rang - Ordnung nach, den Rang uͤber den andern hat.

§. 5. Die Stelle zur rechten Hand iſt zwar faſt bey allen Voͤlckern, und von den Uhr-aͤlteſten Zei - ten an, wie aus Goͤttlicher Heiliger Schrifft be - kandt, vor die vornehmſte geachtet worden; man findet aber doch wohl bey gewiſſen Faͤllen die Aus - nahme von dieſer Regel. Alſo meldet der Herr Hofrath von Nemitz in ſeiner Nachleſe beſonderer Nachrichten von Jtalien, p. 406. daß, wenn man zu Venedig in einer Gondola fuͤhre, die lincke Sei - te den place d’honeur abgebe, die Urſache davon waͤre dieſe, daß man an dieſer Seite der Beſpruͤ - tzung von dem Rudern am wenigſten unterworf - fen waͤre; So lehret auch uͤberhaupt die geſunde Vernunfft, daß wo ſich in Gehen, in Fuͤhren einer Dame, u. ſ. w. ereignet, daß die Perſon auf der rechten Hand, einer großen Beſchwerlichkeit oder Gefaͤhrlichkeit unterworffen waͤre, und hergegen die auf der Lincken, einen viel ſichern Platz haͤtte, daß man alsdenn zur Erhaltung einer groͤſſern Vollkommenheit die lincke Hand der rechten vor - ziehen muͤſſe.

§. 6. Der Tugend-Lehre und dem Wohlſtand nach, muß ſich ein vernuͤnfftiger Menſch bemuͤhen, dem andern mit Ehrerbietung zuvor zu kommen, er muß ſich im geringſten nicht uͤber den andern erhe - ben, ohne Grund die Ober-Stelle niemahls ſelbſt einnehmen, oder doch bey der erwehlten, oder ihm zugetheilten, gegen die andern alle nur erſinnlicheHoͤf -110I. Theil. IV. Capitul. Hoͤflichkeit bezeigen. Es zeiget ſonſt eine ſehr groſſe Thorheit an / wenn einige nicht allein bey Leich - Proceſſionen, oder an der Tafel, ſondern auch bey allen Gelegenheiten im Gehen, Stehen, Sitzen, u. ſ. w. auf eine ſehr affectirte Weiſe ihren Rang behaupten wolten. Ein vernuͤnfftiger Menſch wird bey den Faͤllen, da er ſelbſt Macht hat uͤber ſeinen Rang zu diſponiren, auch gegen diejenigen, uͤber die ihm unſtreitig der Rang zuſtehet, com - plaiſant ſeyn, er wird ihnen nicht mit Gewalt vor - lauffen, oder ſich mit Ungeſtuͤm vordringen, ſondern ihnen vielmehr Ehren-halber Complimens und Reverences machen, und dasjenige, was ſie ihm zu leiſten willig und ſchuldig ſeyn werden, aus Hoͤf - lichkeit zuerſt anbieten.

§. 7. Jnſonderheit wird er in ſeinem Hauſe ge - gen Fremde, die ihren Beſuch bey ihm abſtatten, von dem ihm zukommenden Range viel abbrechen, ſintemahl auch wohl hohe Standes-Perſonen und die Miniſtri hierinne viel nachgeben, damit ſie den Ruhm der Hoͤflichkeit und Complaiſance davon tragen. Die Geringern koͤnnen ſich hierauf nichts einbilden, und kein Recht hiedurch erlangen, ſinte - mahl dieſes bloſſe Wuͤrckungen der Hoͤflichkeit. Der ehmahlige Frantzoͤſiſche Groß-Cantzler Mon - ſieur de Chavergny vermahnet in ſeiner Inſtru - ction ſeinen Sohn mit folgenden Worten, p. 407. Il eſt bien ſeant a un homme d honneur de remettre quêque choſe de ſon rang, a l endroit de ceux, qui viennent le privèment viſites, ail -leurs111Vom Range. leurs en il doit commandes, il ne doit rien cedes de ſon rang & de ſon autorité.

§. 8. Es iſt eine faſt durch gantz Teutſchland und andre Europaͤiſche Provintzen gehende bekandte Obſervanz, daß bey einigen Faͤllen, theils bey froͤ - lichen, theils bey traurigen Begebenheiten, einige, und wenn es auch gleich die geringſten Leute waͤren, uͤber alle die andern den Rang und Vorzug haben. Alſo gebuͤhrt die Ober-Stelle bey den Hochzei - ten der Braut und Braͤutigam, bey Kindtaufften den Gevattern, bey den Leich-Proceſſionen den naͤchſten Bluts-Freunden. Wie nun dieſes al - lenthalben privilegirt, ſo wuͤrden ſich diejenigen ge - waltig vergehen, die in den Gedancken ſtuͤnden, als ob durch ſolche geringe Leute ihrem Stande und Range præjudicirt wuͤrde, und ſich vor ihnen eine Ober-Stelle zueignen wolten. Hingegen iſt es auch eine feine aͤußerliche Zucht, wenn die andern, da es, ohne Verletzung einer gewiſſen Art des Wohlſtandes und einer allgemeinen Gewohnheit, geſchehen kan, auch bey dieſen Faͤllen, denen Hoͤhern ihre Ober-Stellen anbiethen, und ſolche nicht eher, als biß ſie es befohlen oder erlauben, einnehmen.

§. 9. Gegen Fremde, das iſt, gegen diejenigen, die ſich nur eine Zeitlang an unſerm Orte aufhalten, kan man nicht hoͤflich und ehrerbietig gnug ſeyn. Es gereicht dieſes zu unſern beſondern Nachruhm, und bringt uns kein Præjudiz zuwege, ſie gehen wieder von uns, und laſſen uns unſern Rang, der uns ſonſt zuſtehet, in Ruhe; Bey den Einheimiſchenaber112I. Theil. IV. Capitul. aber muß man bey dieſer Freygebigkeit ſchon behut - ſamer ſeyn. Befindet man ſich aber ſelbſt an frem - den Orten, muß man allezeit den unterſten Platz er - wehlen, denn ſonſt wuͤrde man vor ſehr grob und einfaͤltig angeſehen ſeyn. Es werden ſich ſchon Leute finden, die zu uns ſagen werden, Freund ruͤcke hinauf, und ſo werden wir denn mehr Ehre haben, als wenn wir ſelbſt eine hoͤhere Stelle eingenom - men haͤtten. Befindet man ſich in Geſellſchafften, wo noch Hoͤhere vermuthet werden, ſo muß man niemahls die Ober-Stelle einnehmen, und ob man ſchon einer von den erſten mit waͤre, ſondern vor dem, der noch erwartet wird, und von hoͤhern Stan - de und Character iſt, einen Platz laſſen. Es iſt zwar die Schuldigkeit eines Wirths, daß er Sorge trage, und ſeinen Gaͤſten von dem Vornehmern, der noch erwartet wird, Nachricht ertheile, und den Platz vor ihn aufhebe. Weil aber einige Wirthe darinnen unwiſſend oder nachlaͤßig ſind, ſo kan es nicht ſchaden, wenn man ſich bißweilen bey einer und andern Gelegenheit, wo es mit guter Manier geſchehen kan, ſelbſt hiernach erkundiget. Es wird dem Hoͤhern beſſer gefallen, wenn ſein Platz bey Zeiten vor ihm aufgehoben wird, und unbeſetzt bleibt, als wenn hernach, da ein jedes von ſeinem vo - rigen Stuhl ruͤcken muß, eine Confuſion wird; Es iſt auch vor dem, der an der hoͤchſten Stelle ge - ſeſſen, keine große Ehre, wenn er wieder herunter ruͤcken muß.

§. 10. Ein junger Cavalier hat an den Hoͤfenoder113Vom Range. oder in großen Geſellſchafften wohl zu beurtheilen und Acht zu haben, ob bey dieſer oder jener Hand - lung der Rang ſcharff und genau beobachtet werde oder nicht, ſonſt wuͤrde er auf die eine oder andre Weiſe verſtoſſen, wuͤrde ein ſehr ſtrenger Rang ob - ſervirt, und er wolte hierinnen nachlaͤßig ſeyn, und ſeinen eigenen und der Mit-Anweſenden Stand und Character nicht in Betrachtung ziehen, ſo wuͤrde man ihn vor einen unhoͤflichen und einfaͤlti - gen Menſchen achten, der nicht zu leben wuͤſte. Machte man ſich aber aus dem Range nichts, und er wolte allein ſo ceremonieus ſeyn, ſo wuͤrde es ebenfalls gar laͤcherlich heraus kommen. Man findet in der That nach dem Unterſcheid der Hoͤfe und auch andern Geſellſchafften hierinnen einen Unterſcheid. An einigen Orten gilt außer dem Vorzug, den man den Dames und einigen hohen Standes-Perſonen oder großen Miniſtris goͤnnt, eine bloße Hoͤflichkeit, die man einander erzeiget, und eine angenehme Freyheit mehr, als alles ver - drießliche Rang - und Ceremonien-Weſen. An andern hingegen erſtreckt man auch den Rang biß auf die geringſte Kleinigkeiten. Man ſpeiſet nach dem Range, nach der Tafel trincket man nach dem Range / man placirt ſich in die Zimmer nach dem Range, man diſcouriret nach dem Range, man ſpielet und dantzet nach dem Range, und trincket auch ſo gar Caffé nach dem Range.

§. 11. Wie er nun den Ort und die Geſellſchaff - ten, wo alles nach der Vorſchrifft des Ranges ge -Hthan114I. Theil. IV. Capitul. than oder gelaſſen werden ſoll, zu beurtheilen hat, ſo muß er auch die Leute kennen lernen, ob ihm in dem gemeinen Umgange, da ſie entweder zu ihnen kommen, oder er in ihre Geſellſchafft gezogen wird, an dem Range viel gelegen oder nicht. Soll und will er Wirths-Stelle vertreten, und Leute von mancherley Stand und Character zu ſich bitten, ſo muß er vorher genaue Erkundigung einziehen, wie einer vor dem andern den Rang habe, und dem andern an Ehrgeitz uͤbertreffe, damit er ja ſolchen Leuten, die ihr ſummum bonum in der Ober - Stelle finden, ihren rechten Platz anweiſen, und ſie ſo bedienen moͤge, daß ihnen an ihrem Range nichts abgehe. Weiß er, daß manche wegen des Ranges unter einander ſtreitig ſind, ſo muß er ſie entweder alle beyde weglaſſen / oder denjenigen, an dem ihm am wenigſten gelegen, ſonſt wuͤrde er ſeine liebe Noth haben. Bißweilen gehet es an zu Vermeydung mancherley Rang-Diſputen, daß der Wirth des Haußes bey einer Collation die Erklaͤhrung thut, daß vor dieſesmahl kein Rang un - ter ihnen gelten ſolte, und er ſich die Freyheit aus - gebeten haben wolte, ohne Præjudice des einem je - den zuſtehenden Ranges ſie zu placiren, und zu be - dienen. Doch dieſes findet nur Platz bey denen Geringern, mit deren Range es nicht ſo gar viel zu bedeuten hat, an deren Gunſt und Freundſchafft uns ſo gar viel nicht gelegen, oder die nicht ſo gar ehrgeitzig ſind; den andern iſt mit dieſer Erklaͤrung nicht ſo gar viel gedient, ſie verlangen, daß derWirth115Vom Range. Wirth des Hauſes ihren Rang und Ober-Stelle nicht vor zweiffelhafft halten, ſondern darinne deci - diren ſoll. Da man es nun unmoͤglich zwey ſtrei - tigen Leuten recht machen kan, ſo iſt am beſten, daß man ſich mit dergleichen Leuten unverworren laͤſt.

§. 12. Es iſt ſehr abgeſchmackt, wenn ein Gerin - ger mit denen, ſo von ſehr hohen Range, wegen der Ober-Stelle complimentiren will. Thut es ein Subalterne gegen ſeinen hohen Vorgeſetzten, ſo iſt es noch einfaͤltiger. Die Vornehmen haben wegen ihres hohen Standes und Characters alle - zeit die Ober-Stelle, ſie moͤgen ſich auch placiren wie ſie wollen, und erwehlen den Platz, der ihnen am gefaͤlligſten und beqvemſten. Bey derglei - chen Fall muß ein junger Cavalier die Stelle, die ihm ein großer Miniſter entweder anbefiehlt, oder einem jeden, es ſey auch wer es wolle, ohne Cere - monie frey laͤſt, einnehmen, es mag die unterſte oder die oberſte ſeyn, und weiter vor nichts ſorgen. Wer ein wenig in der groſſen Welt geweſen, weiß wohl, daß man an vielen Orten bey dem Speiſen, es ſey in oͤffentlichen Aubergen oder bey Gaſtereyen auf den Rang nicht ſiehet, man ſetzt ſich péle méle, die Vornehmſten erwehlen insgemein die unter - ſten Plaͤtze, und goͤnnen den Geringſten die Ober-Stellen.

§. 13. Je ſchlechter der Rang bey einigen Leu - ten, je ſorgfaͤltiger ſind ſie in deſſen Bewahrung und Vertheidigung, und je ſchaͤrffer in deſſen Ab -H 2forde -116I. Theil. IV. Capitul. forderung. Sie erſtrecken ihn biß auf Taͤnde - leyen, und wollen alles nach dem Proportional - Circul eingetheilt haben, ſie werden durch einen ein - tzigen Tritt oder Schritt den eine andere Perſon ihrem Rang zum Præjudiz thut, entzuͤndet, und in Harniſch geſetzt. Legt man einer andern geringern Perſon aus Verſehen zu erſt vor, ſo haͤngen ſie das Maul, und ſchmeckt ihnen nachgehends die gantze Mahlzeit uͤber kein Biſſen mehr. Alſo bildet ſich manche Prieſter-Frau in einem kleinen Staͤdtgen mehr ein, als manche Adelich, oder manche Ge - heimbde Raͤthin an einem groſſen Hofe. Sie er - zehlt allen Leuten zu vielmahlen uͤber welche Wei - ber ihr der Rang zukomme, was ſie mit dieſer oder jener vor Diſputen gehabt wie ſie aber doch endlich gluͤcklich uͤber die ander victoriſirt, und die Ober - Stelle erhalten. Begegnet man ihr nicht recht nach ihren Range, ſo laͤufft ſie alſobald aus der Geſellſchafft.

§. 14. Hierbey erinnere mich eines curieuſen Rang-Streites, der vor einiger Zeit an einem ſichern Orte zwiſchen zwey Bruͤdern obſchwebte. Der eine unter ihnen war ein Fuͤrſtlicher Gaͤrtner, der andere aber hatte bey einem Grafen als Gaͤrt - ner in Dienſten geſtanden. Nachdem ſie nun beyde an einerley Ort zu dem Heiligen Abendmahl mit einander zu gehen entſchloſſen, wolte ſich der Fuͤrſtliche Gaͤrtner bey dem Superintent deſſelben Ortes Raths erhohlen, ob es nicht wieder ſeinen Reſpect waͤre, und es auch nicht ſeinem Herrn zumSchimpff117Vow Range. Schimpff und ihm zur Verantwortung gereichen wuͤrde, wenn er ſeinem Bruder, der doch nur ein Graͤflicher Gaͤrtner, und als ein Fremder uͤber ihn gehen wolte, bey dem Hinzutreten zum Heiligen Altar die Vorhand und Ober-Stelle laſſen ſolte? Doch der Superintent halff ihm bald aus ſeinen Gewiſſens-Scrupel, und verwieß ihm ſeine Thor - heit.

§. 15. Ein vernuͤnfftiger Menſch giebt zwar bey dem Range und der Oberſtelle uͤberhaupt nach, ſo viel ſichs thun und verantworten laſſen will, er er - kennet aber uͤber dieſes, daß gewiſſe Perſonen und Handlungen die in dieſem Stuͤck als privilegirte anzuſehen, inſonderheit erfordern, daß man bey den - ſelben nicht ſo ſcharff und rigoreus verfahre, ſon - dern, ſo viel als moͤglich, weiche und nachgebe. Hieher gehoͤren alle diejenigen, denen man, aus ge - wiſſen Betrachtungen, eine beſondere Hochachtung und Ehrerbietung ſchuldig. (I.) Denen Prie - ſtern, ich verſtehe aber hierunter ſolche, die nicht nur Geiſtliche heiſſen ſondern auch bey ihrem exempla - riſchen Lebens-Wandel ſich als Geiſtlich-geſinnete auffuͤhren, und Vorbilder ihrer Heerde abgeben; denn verhurte, oder verſoffene, oder aufgeblaſene, und ſonſt Welt-geſinnete und laſterhaffte Pfaffen, ſind keiner Ehre wuͤrdig. Sind es diejenigen, die wir aus beſondern Vertrauen zu unſern Beicht - Vaͤtern erwehlet, ſo ſind wir ihnen noch mehr Re - ſpect ſchuldig. Mit denen, die der groſſe GOtt ſeinen Augapffel zu nennen pflegt, muß man es nichtH 3ſo118I. Theil. IV. Capitul. ſo genau nehmen. Sie werden ſich zwar von ſelbſt der Demuth befleißigen, und keinen Rang-Streit anfangen, denn ſonſt ſind ſie nicht der Claſſe derer, von denen hier die Rede iſt, beyzuzehlen; wir muͤſ - ſen aber von ſelbſt willig ſeyn, ihnen, theils etwas von denen uns zukommenden aͤuſſerlichen Ehren - Bezeigungen anzubieten, theils auch, ihre kleinen Fehler, die ſie als Menſchen bey dergleichen Faͤllen erweiſen moͤchten, vertragen zu lernen. Einige haben ſehr ſchlechten und geringen Rang, nnd waͤ - re wohl noͤthig, daß ihr Amt mehr geehret wuͤrde, wovon ich in meinem Ober-Saͤchſiſchen Kirchen - Recht mit mehrern geſagt. Andere aber koͤnnen mit ihrem Range gantz wohl zufrieden ſeyn. Alſo wird der Hof - oder Ober-Hof-Prediger-Dienſt an unterſchiedenen Fuͤrſtlichen Hoͤfen einigen anſehnli - chen Adelichen Chargen, entweder gleichgeachtet, oder denſelben wohl gar vorgezogen.

§. 16. (II.) Denen Anverwandten und Bluts-Freunden. Die Præcedenz-Streitig - keiten unter ſolchen Leuten ſind ſehr wunderlich, und noch wunderlicher, wenn ſie gegen diejenigen erho - ben werden, denen man, der Natur und der Vor - ſchrifft der goͤttlichen Rechte nach, Ehre leiſten ſoll, als Eltern, Schwieger-Eltern, u. ſ. f. Eine ſolche Thorheit begieng des beruͤhmten Brentii Sohn: Als er Doctor worden und mit ſeinen Vater ſpa - tzieren gieng, ſprach er zu ihm: Herr Vater, ich bin ein Doctor, deswegen iſt es billich, daß nicht ihr mir, ſondern ich euch fuͤr - und alſo auf der rechtenSeite119Vom Range. Seite gehe. Doch der alte Vater ſoll die Thor - heit ſeines ehrgeitzigen Sohnes auf folgende Wei - ſe beſtraſft haben: Freylich, weiſt du es nicht, wie der Muͤhl-Knappe es mit ſeinen Eſeln macht? Der Muͤller gehet dem Eſel allenthalben nach, er trage gleich den Sack Korn in die Muͤhle, oder aus der - ſelben. (III.) Muß man auch unter den ſo genand - ten guten Freunden, bey einer Collation, bey ei - ner Pfeiffe Toback, bey einen Glaß Wein, bey ei - ner Taſſe Caffe das Rang-Ceremoniel, und alle verdruͤßliche Streitigkeiten, durch welche die gantze Geſellſchafft beunruhiget werden wuͤrde, bey Seite ſetzen. Hier kommt man, nicht als dieſer oder je - ner Characteriſirte oder Titulirte, ſondern als gute Freunde zuſammen. (IV.) Jſt bekandt, daß man dem Frauenzimmer alle honeur erzeiget, und denen, die einmahl einer honetten Geſellſchafft und der Converſation wuͤrdig erachtet worden, ohne Ver - letzung des Wohlſtandes, die Oberſtelle nicht leicht diſputirlich macht, ob ſchon ihre Vaͤter oder Maͤn - ner einen weit geringern Rang haben.

§. 17. (V.) Muß man auch hierbey der Wohl - thaten, die uns ehedem andere erzeiget, nicht ſo un - vergeſſen ſeyn, daß man ſeinen Wohlthaͤtern nicht ein mehrers, als andern Leuten, zu gut halten ſolte. Die Erkenntlichkeit und Danckbarkeit iſt eine ſo loͤbliche Pflicht, die uns allezeit, ja unſer Lebenlang, begleiten ſoll. (VI.) Erfordern die Regeln, Klug - heit und die Liebe, die wir uns, zu Erhaltung unſerer Gluͤckſeligkeit, ſchuldig ſind, daß wir es mit denen,H 4die120I. Theil. III. Capitul. die auf eine oder die andere Weiſe, durch ſich oder die Jhrigen, unſerm Gluͤck einen gar mercklichen Abbruch thun koͤnten oder wuͤrden, wenn wir in weitlaͤufftige Jrrungen mit ihnen gerathen ſolten, nicht ſo gar genau nehmen. Wir muͤſſen allezeit bey unſern Handlungen darauf ſehen, was unſre groͤßre Vollkommenheit zuwege bringt. Es iſt beſſer, daß wir dieſem oder jenem ehrgeitzigen Thoren, wenn wir es Pflicht und Amts wegen thun duͤrffen, in dem Range ein wenig nachgeben, als wenn ſonſt unſerm Gluͤck durch des andern Boßheit und Hart - naͤckigkeit ein mercklicher Stoß begegnen koͤnte.

§. 18. Alles dieſes gehet nun nicht allein auf die Haupt-Perſonen ſelbſt / mit denen wir in Geſell - ſchafften zuſammen kommen, ſondern auch auf ihre Anverwandten, auf ihre Kinder, u. ſ. w. Sonſt iſt bekandt, daß die Kinder und die Toͤchter, ſo lange biß ſie verheyrathet, den Rang ihrer Eltern behal - ten. Dieſes gehet auch ſo gar auf die Dignitæten, die die Vaͤter eine Zeitlang beſeſſen. Alſo ſiehet man auf manchen Univerſitæten, daß die Toͤchter der Profeſſoren, zu der Zeit, wenn deren Vaͤter Re - ctores Magnifici, uͤber die andern gehen. S. des Herrn Hofrath Glafey Diſſertation de jure præ - cedentiæ fœminarum, p. 16.

§. 19. Es iſt ſehr aͤrgerlich, wenn einige bey den heiligſten Handlungen, da ſie ihre Gedancken auf die Wichtigkeit des Weibes, das ſie vor ſich haben, und nicht auf die Eitelkeit des Vorgehens oder der Ober-Stelle, richten ſolten, ihren Rang behaupten wollen. Hier iſt nicht der Ort und Zeit daran zugeden -121Vom Range. gedencken, und gleichwohl findet man hin und wie - der ſolche ſeltzame Koͤpffe, die nicht allein vorher, wie unſere beyden Gaͤrtner, von dem ich oben ge - dacht, ſich mancherley unruhige Gedancken ma - chen, daß dieſer oder jener zu ihren Præjudiz ihnen vorgehen moͤchte, ſondern auch wohl zu der Zeit, der heiligen Handlung dem andern, der ihnen nicht die rechte Stelle giebt, unglimpflich begegnen. Ein vernuͤnfftiger Menſch dencket hieran nicht, und goͤn - net einem jeden Thoren bey dem Beicht-Stuhl oder bey dem Heiligen Abendmahl, die Vorhand und Ober-Stelle; Er kan ſolches um deſto eher thun, weil er weiß, daß der ander hiedurch nichts ge - winnet. Hat einer oder der ander bey einer Heil. Handlung jemand gewichen, ſo wird in Rechten darauf geſprochen, daß er ſich dadurch ſeines ſonſt habenden Rechts und Quaſi Poſſeſs im geringſten nicht begeben. S. Horn de Præcedentia Dec. I. Qu. I. n. 5.

§. 20. Es begiebt ſich nicht ſelten, daß die ge - meinen Weiber in den Kirch-Stuͤhlen ſich um den Rang nicht vertragen koͤnnen, fahren wohl gar an der Heiligen Staͤtte einander unter den Gottes - dienſt mit bittern Worten an, auch ſo gar mit ſtoſ - ſen und Hauben abreiſſen, wie denn der ſeel. Ernſt in ſeiner Hiſtoriſchen Confect-Tafel P. I. n. 98. §. 7. & 8. von ehrgeitzigen Præcedenz-Narren erzehlt, daß 1675. zu Stockholm in der Teutſchen Kirche zwey Weiber um der Ober-Stelle willen, einander die Kappen vom Halſe herun -H 5ter122I. Theil. IV. Capitul. ter gezogen, und ſich mit Ohrfeigen weidlich her - um geſchmiſſen.

§. 21. Die allgemeine Wohlfarth iſt dem Rang und der Ober-Stelle der Privat-Perſonen billich vorzuziehen; Wo man nun durch den Rang-Diſput die Entſcheidung gewiſſer Puncte, daran dem ge - meinen Weſen viel gelegen, aufhalten duͤrffte, als bey Berathſchlagung der Angelegenheiten, die auf Stiffts-Taͤgen, Land-Taͤgen u. ſ. w. tractiret werden, ſo iſt man verbunden, lieber ſeinem Range etwas zu vergeben, als das gemeine Beſte zu hin - dern. Jn dieſem Stuͤck iſt der ehmahlige Hertzog zu Wuͤrtenberg, Ulricus, hoͤchlich zu ruͤhmen, von dem Coccejus in ſeiner Diſſertation de Præceden - tia §. 28. anfuͤhret: Wie der Hertzog geſehen, daß auf einer von gewiſſen Fuͤrſten ausgeſchriebnen Zu - ſammenkunfft uͤber den Rang ſo geſtritten worden, haͤtte er endlich ausgeruffen: Setzt mich meinet - wegen hinter den Ofen, wenn wir nur dasjenige hier zu Stande bringen, um welches willen wir zu - ſammen gekommen. O ein ruͤhmlicher Entſchluß eines tugendhafften Regenten, der manchen Ehr - geitzigen zu einem Vorbilde dienen moͤchte.

§. 22. Uber die in dem vorhergehenden ange - fuͤhrten Faͤlle, kan man, meines Ermeſſens, auch ei - nige Kaltſinnigkeit, in Behauptung des Ranges, erweiſen: (I.) Gegen diejenigen, die uns an Jah - ren, Erfahrung und Weißheit weit uͤbertreffen; dieſen muͤſſen wir etwas zu gute halten, und es uns vor keine ſo gar groſſe Schande anziehen, wenn die,die123Vom Range. die uns in den Lebens-Jahren, ein zwantzig, dreyßig und mehr Jahre vorangegangen, einen Schritt an dieſem oder jenem Ort auch zuvorgehen. Ein graues Haupt wird auch, nach der Vorſchrifft goͤttlicher Rechte, vor venerabel geachtet. (II.) Wenn wir mit denen zu thun haben, die uns jederzeit alle Hoͤf - lichkeit erweiſen, die im geringſten nicht ehrgeitzig, die die Oberſtelle nicht mit Gewalt behaupten wol - len, ſondern ſich nichts draus machen, und zum al - torniren, und allem uͤbrigen, was wir nur verlan - gen koͤnnen / gantz bereit und willig ſind.

§. 23. Bey den Regeln findet man immer auch Ausnahmen. Jn dem vorigen habe ich die Faͤlle angefuͤhret, bey denen man, zu Vermeidung aller Rang-Streitigkeiten, nachgeben ſoll. Jetzund will ich gedencken, daß ſich einige Umſtaͤnde ereig - nen koͤnnen, da ein vernuͤnfftiger Menſch, den Leh - ren der Welt-Weißheit nach, bey dem Range und der Oberſtelle nicht weichen ſoll, und da es ihm zur beſondern Ehre gereicht, wenn er ſein ihm hierunter zuſtehend Recht behauptet, ſo gut er kan. Solches geſchiehet hauptſaͤchlich bey denjenigen Handlun - gen, da es nicht auf ſeine eigene Ehre und Caprice ankoͤmmt, daß er mit der Oberſtelle und der Vor - hand prahlet, ſondern, da es der Reſpect ſeines Herrn erfordert, deſſen Ehre er, als ein treuer und redlicher Diener behaupten und retten muß; So einfaͤltig es iſt, wenn eine Privat-Perſon in Ver - fechtung ihres Ranges allzu hitzig, ſo ruͤhmlich iſt es hingegen um einen Diener, wenn er zum Nutzenund124I. Theil. IV. Capitul. und zur Gloire ſeines Souverain, entweder mit Ge - walt oder mit Liſt und guter Manier, denjenigen Platz behauptet, den er mit Grund, ſeiner Pflicht, oder der ihm noch hieruͤber ertheilten Inſtruction nach, behaupten ſolle.

§. 24. (III.) Muß man ſeinen Rang mit etwas mehr Hitze vertheidigen / als ſonſt, wenn man, durch ſeine Nachlaͤßigkeit und Condeſcendenz, einem gantzen Corpori und Collegio ſchaden koͤnte, deſ - ſen Mitglied man iſt. Bey dieſem Fall erfordert die dem Collegio abgeſtattete Pflicht und der ge - meinſchafftliche Nutzen und Ehre, die man einander zu erzeigen ſchuldig, daß man im Weichen und Nachgeben nicht ſo willig ſey, als wenn wir bloß uͤber unſern eigenen Privat-Rang zu diſponiren haͤt - ten. (IV.) Wenn man weiß, daß es lediglich auf unſere Verachtung und Beſchimpffung abziele, daß ſich der andere vorgeſetzt, ein Vorrecht uͤber uns zu erlangen, und durch dieſen Fall eine Poſſeſs zu er - zwingen, die er in Zukunfft anfuͤhren wuͤrde, zumahl, wenn ers mit Ungeſtuͤm thun muß, kein Compli - ment daruͤber macht, und auch ſonſt bey andern Faͤllen nicht gar hoͤflich begegnet. (V) Wenn ſolche Wuͤrckungen daraus entſtehen, die unſerm Amt und Stand hinderlich, welche uns nicht allein bey unſers gleichen, bey den Hoͤhern und Gerin - gern, in eine beſondere Verunehrung ſetzen wuͤrden, ſondern dabey wir auch ſelbſt unfaͤhig werden, das Gute zu befoͤrdern.

§. 25. Bevor man ſich wegen ſeines Ranges movi -ren,125Vom Range. ren, oder ſich und andere in Unruhe ſetzen will, muß man vorhero zweyerley gruͤndl. wiſſen: Zum erſten, daß einem dieſer Rang unſtreitig zukomme, daß man ihn mit Recht behaupten und vertheidigen koͤn - ne, und alſo ohne Raiſon von dem andern beein - traͤchtiget ſey; und zum andern, daß auch an die - ſem oder jenem Orte, bey dieſer oder jener Ver - ſammlung, der Rang beobachtet werde. Beydes iſt noͤthig wenn man nicht ſeine mit Hochmuth ver - einigte Unwiſſenheit und Einfalt an den Tag legen, und ſich daruͤber bey andern Leuten laͤcherlich ma - chen will. Wenn alſo mancher nicht wuͤſte, daß dem andern, der vielleicht nicht ſo groſſen Staat macht als wie er, ein ſo hoher Rang zukaͤme, und ſich uͤber ihn beſchweren wolte, daß er ihm vorge - gangen, ſo wuͤrde er eine trefliche Naſe davon tra - gen; ingleichen wann einem unbekandt daß an der Marſchalls-Taſel eines Fuͤrſtlichen Hofes, kein Rang obſervirt wuͤrde, und unwillig waͤre, daß ein andrer, welcher ſeinem Character nach, ihn weichen muͤſte, ſich uͤber ihn placirt. Wolte er daruͤber critiſiren, daß man ihn als einen Fremden nicht zu oberſt geſetzt, ſo haͤtte er vielleicht noch eher Funda - ment, denn bey dem andern wuͤrde ihn an einem Orte, da kein Rang eingefuͤhrt, nicht præjudicirt.

§. 26. Unter den Ehrgeitzigen, die andere ehrliche und meritirte Leute, in ihrem ihnen von GOtt und den Hoͤchſten dieſer Welt ertheilten Rang, kraͤn - cken und beeintraͤchtigen wollen, bezeuget ſich immer einer thoͤrichter als der ander. Alſo iſt es ſehr laͤ -cher -126I. Theil. IV. Capitul. cherlich, wenn einige, die keine andere Meriten ha - ben, als daß ſie mit dem erborgten Glantz ihrer Vorfahren prahlen, koͤnnen rechtſchaffene Maͤn - ner, die entweder bey den Degen, oder der Feder, ſich durch eigene Verdienſte aus einem geringern Stande in einen hoͤhern, und auf einen ſehr hohen Gipffel der Ehren geſchwungen, den Rang verwei - gern wollen. Solche Leute, denen der Urſprung des wahren und aͤchten Adels unbekandt, wolten lieber durch ihren Neid und Mißgunſt, wenn es nur bey ihnen ſtuͤnde, Kaͤyſern, Koͤnigen und Fuͤr - ſten die Haͤnde binden, daß ſie die wahren Ver - dienſte nicht mehr auf die Art belohnen ſolten, als wie ihre Vorfahren gethan. Wie es nun wunderlich, wenn junge Leute ohne Rang und Cha - racter, die bißweilen nicht einen Schritt aus ihrer Frau Mutter Hauſe geſetzt, meritirten und hoch - characteriſirten Maͤnnern, buͤrgerlichen Standes, bloß um des unterſchiedenen Standes willen, den Rang verweigern, alſo iſt es eben ſo ungereimt, wenn einige alte ehrgeitzige Weiber, die den einen Fuß ſchon im Grabe haben, und an der Pforten der Ewigkeit ſtehen, dennoch in ihren Hertzen ſo eitel ſind / daß ſie nach einem gewiſſen Vorurtheil, das ſie ſich faͤlſchlich in den Kopff geſetzt, mancher Da - me, die doch von weit hoͤhern Character, den Rang diſputirlich machen wollen. Manche, ob ſie ſchon von geringem Stande und Character, bilden ſich aber auf ihr Vermoͤgen viel ein, und weil ſie aus Thorheit und Verſchwendung aͤußerlich eine zier -liche127Vom Range. liche Figur machen, ſo erheben ſie ſich in ihrem Her - tzen uͤber einen andern ehrlichen Mann, der von groͤſſern Meriten, und dabey vom hoͤhern Stande und Character, der es ihnen aber entweder nicht gleich thun kan oder thun will, und bemuͤhen ſich bey dieſer oder jener Gelegenheit ihm den Rang und die Ober-Stelle wegzunehmen.

§. 27. Die Welt ſiehet mehrentheils auf aͤuſſer - lich Weſen, auf Reichthum, auf eine koſtbare Le - bens-Art, und vornemlich auf Freſſen und Sauf - fen, und alſo ſind ſie auch viel williger, demjenigen zu weichen, der eine gute Parade zu machen weiß, und viel drauf gehen laͤſt. Von dem die Wolluͤ - ſtigen fleißig und delicat tractirt werden, dem wei - chen ſie hertzlich gern, und laſſen ihm Rang und Oberſtelle. Aber ein Vernuͤnfftiger iſt von an - dern Sentimens: Um einiger Collationes willen uͤbergiebt er die von GOtt und Rechts wegen ihm zukommende Ehre keinem andern, und um des Gel - des willen raͤumet er einem andern keinen Vorzug ein. Solte das bloſſe Geld ein Fundament abge - ben, zu Behauptung eines groͤſſern Ranges, ſo muͤ - ſte mancher Jude uͤber den groͤſten Staats-Mini - ſter gehen.

§. 28. Der Wohlſtand und die Hoͤflichkeit er - fordert, daß man auch denjenigen, uͤber die uns der Rang unſtreitig zukommt, die Oberſtelle anbiethe, und ihnen dieſerwegen ein Compliment mache, oder, wie man zu reden pflegt, ſich mit ihnen ehre - Es leidet aber auch dieſes bey manchen, und inſon -der -128I. Theil. IV. Capitul. derheit bey folgenden Umſtaͤnden ſeinen Abfall: (1) Wenn der Unterſchied ſo gar ſehr groß und mercklich, daß man, ohne dem Geſpoͤtt ſich zu un - terwerffen, es denen andern unmoͤglich anbiethen kan. (2) Wenn man den Reſpect, dem man ſeiner Herrſchafft ſchuldig, hiebey præjudiciren wuͤrde. (3) Wenn dergleichen an dieſem Ort, zu dieſer Zeit oder bey dieſer Handlung ungewoͤhnlich waͤre, als etwan bey Leich-Proceſſionen, da nicht ein jedweder gehen darff, wie er will, ſondern wie er verleſen wird, und es die Marſchaͤlle ordnen. (4) Wenn man vorher verſichert, daß es der an - dere nicht vor ein Ehren-Wort, und vor eine Hoͤf - lichkeit, ſondern aus Einfalt oder Hochmuth, vor ei - ne Schuldigkeit erkennen, und alſo dieſe Gefaͤllig - keit mißbrauchen werde.

§. 29. Ein vernuͤnfftiger Menſch bemuͤhet ſich allezeit mit jedermann Friede zu halten, ſo viel an ihm iſt, er ziehet die gelinden Wege den ſtreitigen vor, und gehet den Præcedenz-Streitigkeiten, wo er weiß und kan, aus dem Wege. Er iſt hierbey auf mancherley Temperamente bedacht, und laͤſt den andern, mit deme er manchmahl Amts - und Beruffs wegen zuſammen kommen muß, mancher - ley Vorſchlaͤge thun, daß ſie mit einander wechſeln wollen, daß gar kein Rang und Oberſtelle unter ih - nen gelten ſolle, daß ſie ſich mit einander ehren, und einander durch Complimens den Rang anbiethen wollen, u. ſ. f. bloß, damit die Socialitaͤt unterhal - ten wuͤrde. Will aber dieſes nichts helffen, undder129Vom Range. der unruhige Kopff ſich kein Temperament gefal - len laſſen, ſo vermeydet er ſeinen Umgang und ſei - ne Geſellſchafft, damit er nichts verlieren, und der andere nichts gewinnen moͤge, oder da er ungefehr in ſeine Geſellſchafft gekommen / erwehlet er den unterſten Platz unter allen. Bey gewiſſen Faͤllen iſt es auch wohl noͤthig und wohlgethan, daß man ſein ihm hierbey zuſtehendes Recht durch eine be - ſcheidene Proteſtation wider alles præjudicieuſe auf das Beſte verwahre, und ſolches nach Gelegen - heit entweder ſchrifftlich oder muͤndlich thue.

§. 30. Wo man Amts und Beruffs wegen nicht noͤthig hat, mit dem andern, der einem ohne Raiſon ſeinen Rang ſtreitig machen will, zu concurriren, ſo iſt am beſten, daß man ſeine Geſellſchafft meydet, und die Entſcheidung davon in ſuſpenſo laͤſt. Wo man aber durch die unvermeidliche Nothwendig - keit in des andern Geſellſchafft offters ſeyn muß, da wird man auch gezwungen eine Entſcheidung we - gen des Ranges einzuhohlen. Vorher thut man ihm guͤtliche Vorſchlaͤge, man ſtellt ihm die Momen - ta vor, dadurch man ſeinen Rang zu behaupten ge - denckt, und hoͤrt ſeine Fundamenta an, finden ſie bey ihm Ingreſs, ſo iſt es gut, wo nicht, ſo laͤſt man es an den Hoͤhern gelangen, man uͤberſchickt ihm die Raiſons, wodurch man die Ober-Stelle zu be - haupten gedenckt, und erwartet von der Herrſchafft, bey der man in Dienſten zu ſtehen die Gnade hat, was ſie uns hierunter anbefehlen werde. Nach - dem ſich nun die Rang-Diſputen entweder mit an -Jdern130I. Theil. IV. Capitul. dern, die auch zugleich ihre Diener oder Untertha - nen, oder auch andern, die ſich bey fremden Herr - ſchafften in Dienſten befinden, oder von denen ſie ihre Characters haben, und denen unſre Herr - ſchafft nichts vorzuſchreiben hat, entſponnen, nach - dem laͤſt ſie es zugleich an andere Herrſchafften ge - langen, oder ſie decidirt den Rang-Streit felbſt, oder befiehlt uns an, daß wir ihn durch einen recht - lichen Ausſpruch ſollen endigen laſſen.

§. 31. Jſt der Rang-Streit entſchieden, ſo iſt ein vernuͤnfftiger Menſch ruhig, es mag ihm die Ober - oder Unter-Stelle zuerkandt worden ſeyn. Er wei - chet dem andern, und wenn es auch der umwuͤrdig - ſte Menſch waͤre, willig und gerne, weil er ihm wei - chen ſoll und muß. Er verachtet niemanden, er will ſich aber auch nicht gerne ohne Noth verachten laſ - ſen. Er beruhiget ſich damit, daß er nunmehr beſ - ſer in dem Stand iſt, GOtt und ſeinem Naͤchſten zu dienen, ſeinem Amte treuer vorzuſtehen, und ſeine Beruffs. Geſchaͤffte deſto richtiger fort zu ſetzen.

§. 32. Jch habe mancherley Faͤlle, die ſich in dem menſchlichen Leben bey dem Rang-Weſen ereig - nen koͤnnen, in dem vorhergehenden erwogen, es duͤrffte aber doch wohl nicht undienlich ſeyn, wenn ich bey dem Schluß dieſes Capituls, noch folgende, die bißweilen an dem Hoͤfen nicht ungewoͤhnlich ſind, in einige moraliſche Betrachtungen zoͤge. Es iſt nichts neues daß mancher wider die Rang-Ord - nungen, wider die bißherige Obſervanz, ja wohl wider Recht und Billigkeit nicht allein in dem, ſei -nem131Vom Range. nem Character ſonſt zugehoͤrigen Range, beein - traͤchtiget nnd gekraͤncket wird, ſondern ſich auch ſonſt mancherley Verachtung unterwerffen laſſen muß. Geſchicht es aus Verſehen, oder bey Klei - nigkeiten, ſo hat man nicht Urſache viel daraus zu machen, und der entſtandene Fehler kan gar bald wieder redreſſirt werden. Spuͤhrt man aber, daß es bey ſolchen Faͤllen geſchehen, die etwas mehr zu bedeuten haben, und zu unſerer Verachtung ange - ſehen, ſo muß man beurtheilen, ob dergleichen ohne Ordre der Herrſchafft bloß durch die hoͤhern oder niedern Bedienten erfolget, oder ob ſich dieſe Ge - ringachtung auf den ausdruͤcklichen Befehl der Herrſchafft, oder doch auf ihre Connivenz gruͤnde. Bey jenem Fall muß man nach Anleitung der Re - geln der Klugheit, und nach dem Unterſcheid eines jeden Charactére ihnen mit aller Hoͤflichkeit Vor - ſtellung thun, damit man theils einige Reparation d’honeur, theils Verſicherung erhalte, daß der - gleichen in Zukunfft ſolte vermieden werden, und wenn dieſes nicht erfolgt, es an ſeine Durchlauch - tigſte Herrſchafft ſelbſt gelangen laſſen.

§. 33. Erfaͤhret einer eine betruͤbliche zu eines Verachtung gereichende Diſtinction, auf ausdruͤck - liche Ordre und Befehl der Herrſchafft, bey der man in Dienſten ſtehet, ſo muß man nachſinnen, was doch wohl zu dieſer Ungnade Anlaß und Gele - genheit gegeben, und nach den Umſtaͤnden, die ei - nem von ſeiner eigenen Auffuͤhrung, und von der Beſchaffenheit des Hofes kund worden, in Uberle -J 2gung132I. Theil. IV. Capitul. gung ziehen, ob dieſe Ungnade in kurtzem wieder auf - gehoben werden, oder aber lange Zeit anhalten moͤchte. Hat einer guten Grund zur Hoffnung, daß das Hinderniß, wodurch uns in unſerm Range einige Beeintraͤchtigung geſchehen, in kurtzer Zeit aufhoͤren moͤchte, ſo muß man inzwiſchen Gedult haben, demjenigen, der einem bey manchen Gele - genheiten vorgezogen wird, alle Hoͤflichkeit erzeigen, und ihm mit Gelaſſenheit die Præcedenz goͤnnen, und ſo lange, als das ſchlimme Tempo dauert, an ſeiner Devotion, Treue und Gehorſam gegen ſeine Herrſchafft, und an Reſpect und Ehrerbietung ge - gen die Miniſtris, auch gegen diejenigen, die einen mit druͤcken helffen, nichts ermangeln laſſen. Bey dieſem Fall iſt man, den natuͤrlichen Rechten und der Politique nach, zur Gedult verbunden, man mag nun durch ſeine Schuld zu einiger Geringach - tung Gelegenheit gegeben haben, oder nicht; hat man ſichs ſelbſt zugezogen, ſo mag man auf ſich un - gehalten ſeyn, daß man nicht accurater, nicht fleißi - ger, nicht geſchickter, und kurtz zu ſagen, nicht weiſer und tugendhaffter geweſen, man mag nunmehro deſto vorſichtiger und eifriger ſeyn, um die vorige Scharte wieder auszuwetzen, und ſich durch beſon - ders ruͤhmliche Handlungen wieder in die vorige Gnade der Herrſchafft oder des Miniſterii zu brin - gen, und der ehmahligen Ehre theilhafftig zu wer - den. Jſt man aber unſchuldig, und man hat ſich dißfalls nichts vorzuwerffen, ſondern iſt durch boß - haffte Leute ohne Raiſon angeſchwaͤrtzet worden,ſo133Vom Range. ſo kan man ſich eine kurtze Zeit uͤber deſto leichter be - ruhigen, das gute Gewiſſen kan einem einen Troſt zuſprechen, weil man nichts begangen, dadurch man ſich eine rechtmaͤßige Ungnade uͤber den Hals ge - zogen, man iſt verſichert, daß einem alle rechtſchaffe - ne Leute beklagen, und einem diejenige Ehre, die ſie dem andern aͤuſſerlich beylegen muͤſſen, im Hertzen zuſchreiben. Man kan ſich mit der troͤſtlichen Hoff - nung ſchmeicheln, daß man in kurtzem wieder zur vorigen Ehre gelangen, und dieſe kleine Verdun - ckelung einem zu deſto groͤſſern Glantz gereichen werde.

§. 34. Bey dieſem Fall iſt zwar wohl das beſte, wenn man ſich gedultig und gelaſſen erweiſt, und alle hitzige Affecten beyſeite ſetzt, wie ich in dem vo - rigen § angerathen, man muß ſich aber auch hier - bey nicht gantz unempfindlich anſtellen. Der Hof kan nicht vertragen, wenn man ſtuͤrmt, tobt, laͤſtert und poltert, immaſſen man hiedurch nur uͤbel aͤrger machen wuͤrde. Eine kleinere Ungnade duͤrffte nachgehends gar bald in eine groͤſſere verwandelt werden, und eine Herrſchafft hat allezeit Mittel und Wege, einem mißvergnuͤgten Hof-Mann, ihre ſchwere Hand empfinden zu laſſen, oder ſeiner wohl gantz und gar loß zu werden. Es taugt aber auch nichts, wenn man ſich allzu kaltſinnig hierbey er - weiſt.

§. 35. Aus einer allzu groſſen Kaltſinnigkeit ent - ſtehen mancherley ſchaͤdliche Wuͤrckungen. (1) Jſt zu befuͤrchten, daß die Ungnade noch empfindlicherJ 3wer -134I. Theil. IV. Capitul. werden moͤchte, ſintemahl diejenigen, die einem hierunter weh thun wollen, ihren Endzweck hierbey nicht erreichen; ſie wuͤrden einen ſolchen Menſchen ſehr verdencken, daß er ſich nichts draus machte, ſondern noch gantz frey und luſtig dabey waͤre; ſie wuͤrden unwillig werden, daß er gar keine Empfin - dung von dem Point d’honeur bey ſich haͤtte, ſie duͤrfften wohl gar glauben, daß er ihrer noch darzu braviren und trotzen wolte. Andere Leute wuͤrden dieſes vor ein Zeichen eines niedertraͤchtigen Ge - muͤths anſehen, welches, wie aus der Tugend-Lehre bekandt, ein ſchaͤndlich Laſter; ein jedweder wuͤrde von einem ſolchen Menſchen urtheilen, daß er weder Ehre noch Schande in ſeinem Leibe haͤtte, feindſeli - ge Gemuͤther wuͤrden hierdurch aufgebracht wer - den, ihn auf das aͤuſſerſte zu beſchimpffen / und ein ſo unempfindlicher Menſch wuͤrde zu einen allgemei - nen Ziel der Verachtung und Beſchimpffung die - nen.

§. 36. Bey ſo geſtalten Sachen muß es ein auf eine Zeitlang ungluͤcklicher und diſgracirter Hof - Mann machen, wie ein vernuͤnfftiger Wanders - mann bey Sturm und Blitzen, und bey ungeſtuͤmen Wetter auf der Straſſe es zu machen pflegt; er faͤngt zwar keinen Streit mit dem Himmel an, er flucht und laͤſtert nicht auf die Schloſſen, er lacht doch aber auch nicht dabey, er iſt nicht froͤlich, klinget und ſin - get nicht, als wenn er ſich in der groͤſten Gluͤckſelig - keit befaͤnde, ſondern bezeiget durch ſeine Minen, daß es ihm lieber, wenn der Sturm voruͤber waͤre. Er135Vom Range. Er gehet dem Ungewitter aus dem Wege, ſo gut er kan und weiß, er verſteckt ſich unter einen Baum, er verdeckt ſich mit ſeinem Mantel / und kehret ihm, ſo viel als moͤglich, den Ruͤcken zu, damit es ihn nicht ſo ſcharff treffe, u. ſ. w. Alſo præcautionirt ſich auch ein Hof-Mann, der in ſolche Umſtaͤnde geſetzt worden, nach aller Moͤglichkeit. Er bezeigt zuwei - len durch betruͤbte Minen, wie die zu ſeiner Gering - achtung vorgenommene Diſtinction ihm ſehr be - truͤblich falle, er gehet den Gelegenheiten, bey denen ein anderer wider die Rang-Ordnung und bißheri - ge Obſervanz vorgezogen werden ſoll, aus dem Wege, und ſimnliret bißweilen bey groſſen Solen - nitaͤten und oͤffentlichen Handlungen, da es ſonſt allzu ſehr in die Augen fallen wuͤrde, aus einer Staats-Raiſon eine Reiſe, oder eine kleine Kranck - heit, er thut mit den nachdruͤcklichſten Gruͤnden, je - doch auf die ſubmiſſeſte und demuͤthigſte Weiſe / ſeine unterthaͤnigſte Vorſtellungen bey Durch - lauchtigſter Herrſchafft, und bey dem Miniſterio, er ſtecket ſich hinter diejenigen, die das Ohr der Herrſchafft haben, damit ſie vor ihn intercediren, er retiriret ſich auch wohl gar eine Zeitlang, er ver - meidet alle Gelegenheit, mit dem andern, der ihm eine Zeitlang vorgezogen wird, zu concurriren, er ſucht ihn auch wohl ſelbſt zu gewinnen, und zu ſeinen Abſichten zu lencken, er ſiehet, wie er bißweilen, je - doch mit guter Manier, den Rang uͤber ihn gewin - nen moͤge; inſonderheit aber laͤſt er dieſes ſeine groͤ - ſte Sorge ſeyn, wie dasjenige Hinderniß, welchesJ 4zu136I. Theil. IV. Capitul. zu ſeiner Disgrace und Verachtung Gelegenheit ge - geben, ſo bald als moͤglich, moͤchte aus dem Wege geraͤumet werden.

§. 37. Bey dem erſten Fall iſt mehr Troſt uͤbrig, als bey dem andern, den wir jetzt vorſtellen wollen, da nemlich etwas durch oder ohne unſer Schuld zu unſrer Bekraͤnckung und Verunehrung Gelegen - heit gegeben, welches wir in Anſehung der Umſtaͤn - de, darinnen wir uns befinden, entweder gar nicht oder doch der Vermuthung nach in ſehr langer Zeit nicht moͤchten aus dem Wege raͤumen. Bey die - ſem Fall hat ein vernuͤnfftiger Menſch wieder zwey - erley zu erwegen: (1) Ob es in ſeinen Kraͤfften be - ruhe, ohne daß er ſich noch unvollkommner machen moͤchte, dieſen Ort zu verlaſſen, und ſich an einen andern zu wenden, da je anf die eine oder andere Weiſe der Verrichtung, der er in gegenwaͤrtigen unterworffen geweſen, entgehen kan, es ſey nun, daß er bloß ruhiger und zufriedner oder auch zugleich ge - ehrter und gluͤckſeeliger leben moͤchte, oder ob ihm eine ſolche Veraͤnderung nicht moͤglich ſey? Be - findet er nun ohne ſich zu uͤbereilen, und nach ange - ſtelter genauer Meditation, daß er guten Grund hat, zu vermuthen, ob er bey einer Veraͤnderung, die in ſeiner Gewalt ſtehet, einen hoͤhern Grad der Gluͤck - ſeeligkeit erreichen werde, ſo hat er keine Minute zu verſaͤumen, auf ſeine Veraͤnderung bedacht zu ſeyn. Denn wer wolte ſich doch nicht ſo bald als nur moͤg - lich, gluͤcklicher und zufriedner machen? Hat er ge - lernt, ſich in ſich zu vergnuͤgen / und er findet, daß eineReti -137Vom Range. Retirade an einen einſamen Ort ſeinen Umſtaͤnden gemaͤß, ſo kan vielleicht bey ihm auch eintreffen, was bey vielen ſchon wahr worden: Bene qui la - tinit, bene vixit. Es heiſt ohnedem alterius non ſit, qui ſuus eſſe poteſt. Jſt er aber fremder Dienſte benoͤthiget, oder er befindet, daß er GOtt und ſeinen Naͤchſten beſſer dienen kan, wenn er ſich dem Publico zeiget, als da er ſich in eine Einſiedley einſchlieſſen ſolte, ſo veraͤnderte er den Ort oder gar das Land, und verſucht ſein Gluͤck anders wo. Das Vaterland iſt allenthalben wo man ſeyn ſoll. Ein Prophet gilt ohnedem, nach dem Ausſpruch unſers Heylandes, nirgends weniger, als in ſeinem Vater - lande. Es iſt mancher von Gelehrten und Unge - lehrten, von Hof-Leuten und andern an einem frem - den Orte mit beſondrer Ehre angeſehen worden, der in ſeinem Vaterland verachtet gelebt, und gar nicht aufkommen koͤnnen. Es iſt wahr, es iſt eine große Regel der Klugheit, lerne Gedult haben, und heiſt es nicht allein von Leipzig vult expectari, ſondern wahrhafftig auch von allen und jeden Oertern. Wer nicht gelernt hat, Gedult zu haben, wird ſich gemeiniglich durch ſeine Ungedult ungluͤckſeeliger machen. Es iſt aber auch nicht minder eine große Regel der Klugheit, den Ort veraͤndern lernen, und das rechte Tempo zu treffen. Dieſes rechte Tem - po aber kan ich nicht wohl durch Regeln beſtim - men, ſondern ein jeder muß es nach Beſchaffenheit ſeiner Umſtaͤnde finden lernen. Das beſte iſt, wenn man es der goͤttlichen Providenz uͤberlaͤſt, und denJ 5groſſen138I. Theil. IV. Capitul. großen GOtt durch ein andaͤchtig Gebet hertzlich anfleht, daß er einem ſein Hertz und Sinn zu derje - nigen Veraͤnderung, und nach allen den Umſtaͤn - den, die ſie angehen, lencken wolle, die ſeinem Nah - men am ruͤhmlichſten, und zu unſern ewigen Heyl am befoͤrderlichſten.

§. 38. Solte ſich nun aber einer in ſo gar arm - ſeligen und ungluͤcklichen Umſtaͤnden befinden, daß er an dieſem Ort in Verachtung leben muß, und ſich auch mit keiner Veraͤnderung, wenn er nicht noch ungluͤckſeliger werden wolte, troͤſten kan, der lerne alle aͤuſſerliche Ehre, die von dem Willen an - derer Leute herruͤhret, verachten, und beſtrebe ſich der innerlichen, die allein in ſeiner eigenen Gewalt; er bewerbe ſich vornehmlich um die Gnade des HErrn aller Herren, und des Konigs aller Koͤnige, und glaube, daß GOtt unzehliche Mittel und Wege habe, und wenn auch unſere Bernunfft nicht das geringſte davon erblicken ſolte, diejenige Verach - tung, die er ſich entweder durch einen mercklichen Fehler oder Fall zugezogen, oder der er ohne ſein Verſchulden unterworffen worden, zu etwas guten zu lencken; er glaube, daß die menſchlichen Hertzen veraͤnderlich, und es gar wohl moͤglich ſey, daß die - jenigen, die ihm in dieſem Jahre unterdrucken und verachten, ihn in dem kuͤnfftigen erheben koͤnnen, und erfreue ſich inſonderheit, wenn er jetzund in der Welt manchmahl zur Lincken ſtehen muß, daß die - jenige Zeit komme, da er, wenn er in Bußfertigkeit und wahren Glauben verharret, an dem allgemei -nen139Vom Range. nen groſſen Gerichts-Tage, zur Rechten des Hey - landes werde geſtellet werden, und alsdenn die al - lergroͤſte Ehre in Ewigkeit genieſſen.

§. 39. Jch kan nicht unterlaſſen folgende Lehr - Saͤtze des de la Serra, aus ſeiner Anweiſung zur Zufriedenheit, meinem Leſer beſtens zu empfehlen: Es moͤgen diejenigen, welche geſtern hinter uns giengen, noch heute vor uns den Vorzug haben, ſo werden wir doch allemahl den Vorgang gewinnen, ſo offt wir unſern Ehrgeitz Gebiß und Zaum anle - gen, weil aus dieſem alle unſere Gemuͤths-Ruhe entſpringt. Wenn man ſich mit demjenigen Stan - de, welcher uns zu theil worden, begnuͤget, ſo wird man ohne Sorgen alt, und ſtirbt mit Freuden. Denn das Gluͤck iſt wie ein Comet, welcher zwar bey heitern Wetter auf dem Horizont der Welt erſcheinet, jedennoch aber den Sterblichen eine bange Furcht, in der Seele zuruͤck laͤſt. Laßt an - dere von der Ehre, welche ſie begleitet, viel Worte machen, es wird derjenige, welcher in aller Stille fortwandelt, dennoch eine Crone erlangen. Die weltliche Ehre muß in der Welt bleiben, und es iſt beſſer, wenn man ihre Herrlichkeit verachtet, als wenn man ſie wuͤrcklich beſitzet. S. p. 70 und 84 des angezogenen Tra - ctats.

Das140I. Theil. V. Capitul.

Das V. Capitul. Von Complimens.

§. 1.

EJn Compliment iſt eine mit einer wohlan - ſtaͤndigen Mine oder Reverence verknuͤpf - te Rede, dadurch ich meine Ehrerbietung und Hochachtung gegen dem andern an Tag lege. Sie koͤnnen nach den unterſchiedenen Umſtaͤnden, der Zeiten, Oerter und Perſonen, auf eine vielfache Weiſe eingetheilet werden. Nach - dem ich aber nicht geſonnen bin, die gantze Lehre von den Complimens ſyſtematiſch abzuhandeln, ſon - dern nur einige allgemeine ſichere Regeln, die hier - bey zu beobachten, vorzutragen, und beylaͤuffig eini - ge mir bekandt gewordene Fehler mit anzufuͤhren; um junge Leute davor zu warnen, ſo will ich auch alle die uͤbrigen Philoſophiſchen Eintheilungen der Complimens denenjenigen uͤberlaſſen, die Com - plimentir-Buͤcher ſchreiben, und nur, unſerer ge - genwaͤrtigen Abſicht nach, gedencken, daß ſie (1) in Anſehung der Zeit, binnen welcher ſie vorgetragen werden / koͤnnen eingetheilet werden, in die kurtz - gefaßten, und in die weitlaͤufftigen; und (2) in An - ſehung der Gelegenheiten und Faͤlle, die ſie veran - laſſen, in die gemeinen und gewoͤhnlichen, und in die ſolennen oder Staats-Complimens. Die kurtzgefaßten beſtehen aus ein - oder etlichen weni -gen141Von Complimens. gen Saͤtzen, dadurch ich meine Demuth oder Hoch - achtung gegen dem andern an Tag lege; die weit - laͤufftigen aber ſind vor kleine Reden anzuſehen, die aus unterſchiedenen Stuͤcken zuſammen geſetzt. Die kurtzen lernt man ex uſu von ſich ſelbſt; zu de - nen weitlaͤufftigen aber braucht man einige Anlei - tung aus der Oratorie. Die gemeinen oder ge - woͤhnlichen Complimens nenne ich diejenigen, die bey allerhand alltaͤglichen und in dem gemeinen Le - ben unter Privat-Perſonen vorkommenden Faͤllen abgeſtattet werden; die ſolennen aber, die man entweder gegen Fuͤrſtliche Perſonen gebraucht, oder ſonſt nur bey beſondern Faͤllen Platz finden.

§. 2. Bevor ich einige Anmerckungen mittheile, was dem Wohlſtande nach bey den Complimens in Obacht zu nehmen, ſo will ich doch nach der Chriſtlichen und vernuͤnfftigen Morale ein wenig unterſuchen, was von denen Complimenten zu hal - ten ſey. Wenn wir die Qvacker daruͤber befra - gen wollen, ſo werden ſie uns alle und jede Arten der Complimens auf das ſchaͤrffſte verweiſen. Alſo ſchreibet ihr Heer-Fuͤhrer Barclajus in Theo - log. Myſtic. Apolog. ad Th. XV. n. 4. wenn man es in die teutſche Sprache uͤberſetzt, folgendes: Uber die allgemeinen Ehren-Titul, ſo viel als durch den Mißbrauch unter den Chriſten ein - geſchlichen, ſind auch noch andere freundliche Reden in Gebrauch, die insgemein Compli - mens genennt werden. Nach deren Veran - laſſung nennen und ſchreiben ſich nichr etwandie142I. Theil. V. Capitul. die Diener an ihre Herren, oder auch die in ei - niger genauen Dependenz mit einander ſtehen, ſondern auch andere fremde, die einander gar nichts angehen, bey mancherley Gelegenhei - ten, als gehorſamſte Knechte, als unterthaͤnig - ſte Diener. Dieſe gottloſe Gewohnheiten haben die Chriſten / zum unausſprechlichen Schaden ihrer Seele, zu den Luͤgen ange - woͤhnt. Daher enthalten ſich auch die Quacker aller Complimens, und wenn ſie mit den groͤſten Herren zu thun haben, tractiren ſie dieſelben nicht anders, als wie die gemeinſten Leute, wie ſolches aus dem Exempel eines gewiſſen Englaͤnders mit Nahmen Ameſii erhellet, der den Ehurfuͤrſten zu Brandenburg, Friedrich Wilhelm, mit folgenden Worten ſoll angeredet haben: Ob ich mir ſchon ſolcher heuchleriſchen Titul gegen dir nicht gebrau - che, als gemeiniglich gegeben werden von denen, die Freundſchafft dieſer Welt ſuchen, und heucheln um ihres Vortheils willen, dennoch iſt mein Wunſch, daß Wohlfarth und Gluͤckſeeligkeit bey dir, mein Freund, moͤge gefunden werden, S. Schelwig in Quackeriſmo Confutat. artic. 19. hypoth. 8. und Schoepfer Diſſ. von Recht der Complimen - ten, p. 10.

§. 3. Daß unſere Complimens mit mancher - ley Heucheley und Falſchheit vergeſellſchafftet, iſt eine bekandte Wahrheit, und ſchreiben folgende Autores, die ſich uͤber den Mißbrauch der Compli - mens und uͤber das laſterhaffte Weſen, ſo damitgar143Von Complimens. gar offters verbunden, beſchweren, nicht zu viel. Ein Frantzoͤſiſcher Autor, den Menantes unter dem Titul der klugen Behutſamkeit in Reden und guter Conduite zu leben uͤberſetzt, ſchreibt p. 69. Welche Eitelkeit und welcher Verluſt der Zeit, ereignet ſich nicht bey den Begruͤßungen / Viſiten, Umarmun - gen und Converſationen, die auf die Hoͤflichkeit, Ceremonien, Anerbietungen, Verſprechungen und Lob-Reden hinaus lauffen? Wie viel ſich ſelbſt uͤberſteigende Redens-Arten, wie viel Gleißnerey, wie viel Schmeicheley und wie viel Falſchheit und Betruͤgereyen trifft man nicht bey allen an, die ſie geben, die ſie annehmen, und die ſie hoͤren, dergeſtalt daß es ein ſtillſchweigender Handel und Complot iſt, ſich uͤber einander zu moquiren, einander zu be - luͤgen und betruͤgen. Und was das artigſte, ſo muß derjenige, der allzu wohl weiß, daß man ihnen un - verſchaͤmt vorluͤget, noch groſſen Danck darzu ſa - gen, der ander aber, der wohl ſiehet, daß ihm der andere nicht glaubt, haͤlt eine gute Mine, und wenn ſie einander die Haut wichtig vollgelogen, ſo gehen ſie in Lachen und wohl vergnuͤgt von einander, und der glatulirt ſich hernach bey ſich ſelber, welcher glaubt, daß er ſich in dieſer Kunſt am beſten erwie - ſen. Alles dieſes iſt mehr als zu wahr, allein es iſt eine allgemeine Comœdie, wo man auf dem Thea - tro der Welt, wenn einen die Reyhe trifft, nicht um - hin kan, ſeine Perſon ſo gut zu ſpielen, als moͤglich. Guevarra ſpricht in ſeiner Beſchreibung des Hof - und Land-Lebens, p. 132. O wie viel macheneinan -144I. Theil. V. Capitul. einander tieffe Reverences, und rauben einander doch die Ehre! o wie viel eſſen an einer Tafel, und gehen mit einander ſpatzieren, deren Hertz aber weit von einander entfernet iſt! o wie viel biethen einan - der ihre willigſte Dienſte an, die einander lieber moͤchten freſſen! o wie viel geben einander Viſiten, welche einander lieber helffen moͤchten begraben, mit einem Wort, viel ſtellen ſich, als waͤre es ihnen ſehr lieb, wenn es einem wohl und gluͤcklich gienge, die einem doch lieber condolirten, wenn einem ein groß Ungluͤck begegnete. S. p. 132. Der Autor der Europaͤiſchen Fama, der noch unter allen am gelindeſten hievon ſpricht, raiſonirt folgender Ge - ſtalt: Man wird bey den ſterblichen Menſchen aus der Erfahrung gelehrt, daß Worte und Thaten nicht jederzeit mit einander uͤbereinſtimmen, ia man pflegt insgemein zu ſchluͤßen, daß daſelbſt die wenig - ſten Wercke zu finden, wo die meiſten Worte ſind, und daß ein Menſch dem andern nicht leichtlich zweyerley Freunde zu machen pflegt, mit reden und thun. S. den VII. Theil. p. 892.

§. 4. Doch dieſes ſind laſterhaffte Abwege der Compliments-Reden, und koͤnnen von denen Complimens gar wohl abgeſondert werden. Fal - ſche Leute fuͤhren freylich Honig im Munde, und Gall im Hertzen, ein redlich geſinnter aber vereini - get auch mit ſeinen Complimens Wahrheit und Aufrichtigkeit. Daß die Complimens an und vor ſich ſelbſt auch einem wahren Glaͤubigen nicht un - anſtaͤndig, erkennet man aus unterſchiedenen Exem -peln145Von Complimens. peln frommer und heiliger Maͤnner goͤttlicher heili - ger Schrifft, welche nach Art der damahligen Zeit ebenfalls ihre Complimens gegen einander ge - macht. Abraham redet in dem XVIII. Cap. 3. v. des erſten Buches Moſis, die drey ihm damahls unbekandten Maͤnner, oder vielmehr den vornehm - ſten unter ihnen, folgender geſtalt an: HErr, habe ich Gnade funden, ſo gehe nicht vor deinen Knecht uͤber. Jngleichen findet man, daß Jacob zu unter - ſchiedenen mahlen ſeinen Bruder Eſau compli - mentient angeredet, bald bedienet er ſich der Re - dens-Art gegen ihn: daß ich Gnade fuͤr meinen Herrn finde, bald ſagt er von ihm: ich ſahe dein An - geſicht, als ſaͤhe ich GOttes Angeſicht. S. 1. Buch Moſis am XXXII. v. 8. und 10. Der ſeelige Lutherus fuͤget in ſeinen Wittenbergiſchen Wer - cken Tom. X. p. 274. dieſe Anmerckung hinzu: Daß ſich aber an dieſem Ort Jacob alſo gedemuͤ - thiget und geneiget vor ſeinem Bruder, ſoll man nicht alſo verſtehen, als ob ihm damit an ſeinem Seegen und Ehre etwas abgebrochen waͤre, ſon - dern wie man gemeiniglich zu ſagen pflegt: Es ſind verba honoris, die binden nicht; und dieſe Reve - renz, Ehrerbietung und Gehorſam, bringt nicht mit ſich, daß ihm eben damit das Erbe und die Herr - ſchafft waͤre uͤbergeben worden, wiewohl ſich Ja - cob einen Knecht, Eſau aber einen Herrn nennt, ſo hat aber doch Eſau darinnen das Regiment noch nicht, und daſſelbe auch niemahls bekommen. So ſagt er auch bald darauf: Darnach pflegt es inKdie -146I. Theil. V. Capitul. dieſen Leben zu geſchehen, daß die, ſo hoͤher und groͤßer ſind, denn andere, nicht allein ihres gleichen, ſondern auch wohl die geringer ſind als ſie, freund - lich und ehrlich anreden, und ihre Dienſte anbiethen. S. 1. Buch Moſis im XLIII. v. 28. Es gehet deinem Knecht, unſern Vater, wohl. 1. Buch Moſis am XLIV. v. 7. 1. Buch der Koͤnige am XX. Cap. 1. Buch Samuelis XXV. 41. v. Syrachs Regel VI. Cap. 6. v. Halts mit jeder - mann freundlich, vertraue aber unter tauſenden kaum einem. S. Matth. XX. Cap. 26. v. Luc. XIV. 7. v.

§. 5. Es iſt dieſem nach, wie Herr D. Pritius in der Ausuͤbung der Chriſtlichen Tugend - und Sitten - Lehre p. 163. meldet, allerdings die Schuldigkeit eines Chriſten, ſich alſo gegen die ihm von GOtt vorgeſetzte Obern zu bezeugen, daß die beſcheidnen und ehrerbietigen Worte, die aus ſeinem Munde gehen, den Gehorſam und Unterwuͤrfigkeit ſeines Hertzens gegen die Gewalt und das Anſehen derſel - ben, welche GOtt der HErr derſelben uͤber ihn ver - liehen, an Tag legen moͤge. Das iſt der ausdruͤck - liche Befehl, welchen uns der Apoſtel Paulus giebt, daß wir einem jeden geben ſollen, was wir ſchuldig ſind, Furcht dem die Furcht gebuͤhret, Ehre dem die Ehre gebuͤhret, Roͤm. am XIII. Cap. 9. v. Welche Worte deutlich in ſich enthalten, daß ſo wohl gewiſſe Menſchen ſeyn, welche Ehre anzuneh - men berechtiget, als auch andern, welche andern Menſchen Ehre zu erweiſen, verbunden ſind.

§. 6.147Von Complimens.

§. 6. Man richte ſeine Complimens ſo ein, daß man nicht den Schein einer allzugroßen Schmei - cheley und Falſchheit von ſich gebe, und dadurch er - weiſen wolle / als ob man ſeine Ehren-Bezeugun - gen als Geldes werth anbringen, und die Leute mit dem Winde einiger ſuͤſſen Worte bezahlen wolle. S. l’homme de Cour in der 19ten Maxime p. 449. nach Hr. D. Muͤllers Edition. Einige brauchen nicht mehr als die Anmuth eines eintzigen Compliment, die Narren, und inſonderheit die Hochmuͤthigen zu bethoͤren. Es iſt aber nicht al - len Leuten damit gedient, der Wohlſtand und das Ceremoniel erfordern in geringſten nicht, daß man ſich bey denen, gegen die man in ſeinem Hertzen nicht ſo gar große Liebe empfindet, ſolcher Redens-Arten gebrauche, dadurch man einen beſondern Ausfluß der Liebe an Tag legt, ſie mit dem groͤſten Reich - thum der Worte beehre, und ihnen nur alle erſinn - liche Liebes-Dienſte anbiethe, ſondern man ſetze nur ſeine Redens-Arten in ſolche Schrancken, die zwar der Hoͤflichkeit und Gefaͤlligkeit gemaͤß, jeden - noch aber auch mit der Wahrheit und der Chriſten - Liebe, die man einem jeden ſchuldig, ſich vereini - gen laſſen.

§. 7. Man muß nicht allein bey der Demuth, Liebe und Ehrerbietung, die man gegen den andern erweiſt, Maße halten, daß man bey den Redens - Arten, dadurch man dieſe Tugenden ausdrucken will, den gehoͤrigen Grad nicht uͤberſchreite, ſondern auch in dem Complimentiren ſelbſt. Es dauchtK 2nicht148I. Theil. V. Capitul. nicht, wenn einige junge Leute, theils von Manns - Perſonen, theils von Frauenzimmer, faſt alle ihre Diſcourſe in lauter Complimens verwandeln, und wenn ſie dieſelben auch noch ſo manierlich vorbraͤch - ten, ſo fehlen ſie doch wider den Wohlſtand. Durch dieſe Methode moͤchte ſich einer wohl bey den Com - plimentir-Schweſtern, die ſelbſt von dergleichen Profeſſion machen, in Gunſt ſetzen, in der großen Welt hingegen, und an Hoͤfen gewißlich nicht. Wer ſtets complimentirt, beehret nicht allezeit die Per - ſonen, denen er in ſeinen Complimens devotion zu leiſten pfluͤchtig, ſo wie er wohl ſoll. Es wird dieſes vor affectirt, und vor eine Schulfuͤchſerey an - geſehen, und iſt gemeiniglich eine Frucht derer, die ſo viel Romainen geleſen.

§. 8. Wie nun die Menſchen bey ihren Hand - lungen uͤberhaupt gar ſelten die Mittel-Straſſe treffen, ſondern gemeiniglich auf die beyden laſter - hafften Abwege gerathen, ſo gehet es vielmahls bey den Complimens eben ſo her. Diejenigen, von denen ich in dem vorhergehenden geſagt, wollen es allzudienlich machen, alle ihre Worte trieffen gleich - ſam von lauter Honigſeim der Liebe, ſie benennen andere mit hoͤchſtgeehrteſt, allerliebſt, allerwertheſt, u. ſ. w. oder complimentiren ſtets. Hier muß ich aber gedencken, daß man Leute findet, die es allzu - ſchlecht machen, ſie tractiren diejenigen, denen ſie ehrerbietig begegnen ſolten, allzuplump, oder koͤn - nen ſich gantz und gar nicht mit dem Complimen - tiren behelffen.

§. 9.149Von Complimens.

§. 9. Manche von unſern Teutſchen, und zwar einige von denen, die doch, in Anſehung ihrer Aufer - ziehung, vor andern manierlicher ſeyn koͤnten und ſolten, ſind dem Hollaͤndiſchen Poͤbel in dieſem Stuͤck gar aͤhnlich, der wohl eher den hoͤchſten Standes-Perſonen ein bißweilen zwar wohlge - meyntes, in der That aber ein gar ſchlecht und un - foͤrmlich Compliment gemacht. Als anno 1704. der Engliſche Generaliſſimus, der Hertzog von Marlborough, aus Dero Jacht-Schiffe, unter neunmahliger Loͤſung der Stuͤcken, ans Land trat, war die Menge des Volcks ſo groß, daß der Herr Buͤrgermeiſter kaum Platz behielt, ihn zu compli - mentiren. Das gemeine Volck fragte die Her - ren Penſionarios: Welck it de Heer Marlbo - rough? Und als deren einer ihn gewieſen lieff ei - ner aus dem Volck, als ein guter vertraulicher Freund, ſans Façon hin, fiel dem Hertzog um den Hals, und rieff: Bent gy myn Heer de Heer Marlborough, ey weſt welkomen myn goede Heer Marlborough. Die andern warffen die Huͤte in die Hoͤhe, und rieffen unaufhoͤrlich: Lang leve Marlboroug. S. den XXVIII. Theil der Eu - ropaͤiſchen Famæ p. 290. Ob man wohl in keinem Lande von dem Poͤbel zierlicher Complimens ver - muthend ſeyn kan, ſo glaub ich doch, daß der Hol - laͤndiſche an Grobheit Freyheit und Unverſchaͤmt - heit wo nicht alle, doch die meiſten andern Euro - paͤiſchen Nationen, zu uͤbertreffen pflege.

§. 10. Wer ſich in der Welt, entweder durchK 3ſeine150I. Theil. V. Capitul. ſeine Verdienſte, oder durch das Gluͤck in ſolche Umſtaͤnde geſetzt, daß er von andern mehr Ehrer - bietung zu erwarten, als auszutheilen hat, kan es hernach mit den Complimens halten wie er will, und bleibt deswegen doch wohl wer er iſt; ein jun - ger Cavalier aber, der noch erſt ſein Gluͤck in der Welt machen ſoll, muß ſich in den Stand ſetzen, bey mancherley vorfallenden Gelegenheiten, kurtze und weitlaͤufftige, gemeine und ſolenne Compli - mens ablegen zu koͤnnen, wie es die Leute haben wollen, oder wie es ſich nach den Umſtaͤnden der Oerter und Zeiten eignet und gebuͤhret.

§. 11. Man thut zwar einigen Leuten, die in Worten und Geberden denen andern gar keine Hoͤflichkeit und Freundlichkeit erweiſen, nicht groß Unrecht, wenn man ſie vor Bauern-ſtoltz erklaͤrt; man hat ſich aber doch auch hierbey in acht zu neh - men, daß man nicht diejenigen, die keine groſſen Complimentirer abgeben, ſondern ihre Hoͤflichkeit mehr in der That als in Worten bezeigen, alſobald vor ungeſchickt und hochmuͤthig halte, ſonſt kan man ſich in ſeinem Urtheil gewaltig vergehen. Es iſt mancher ein guter Hof-Mann, und manierlicher Mann, der auch des Schlendrians eben ſo maͤchtig, ja wohl noch maͤchtiger als ein anderer; es iſt ihm aber gefaͤlliger, und ſeinem Temperament gemaͤſ - ſer, ohne daß er zum Hochmuth geneigt ſeyn ſolte, von dieſem Ceremoniel-Werck etwas abzubrechen, weil er von andern auch keine uͤberfluͤßigen Com - plimente verlangt; Ein anderer hingegen, der offteinen151Von Complimens. einen gantzen Sack voll Complimente ausſchuͤttet, iſt bey andern Faͤllen doch wohl unhoͤflich und ehr - geitzig.

§. 12. So muß man auch mit einigen Leuten, die entweder in Anſehung ihrer ſchlechten Auferzie - hung, die ſie gehabt, oder der Geſellſchafften, un - ter denen ſie ſich bißher befunden, keine Anleitung bekommen, wie ein foͤrmlich Compliment einzu - richten, Gedult haben, und ihrer nicht ſpotten, ſon - dern vielmehr gedencken, daß die andern, wenn ſie ſich in unfern Umſtaͤnden beſinden, und den Unter - richt bekommen haͤtten, als wir, uns an Politeſſe gleichen, oder noch wohl gar uͤbertreffen wuͤrden. Sie koͤnnen deswegen doch wohl ihre beſondern Verdienſte haben. Manch tugendhafft Maͤdgen wird in groſſe Confuſion geſetzt, wenn ſie auf ein Compliment ein Gegen-Compliment machen ſoll, und hingegen ſind viele von denen, die ſich hierbey treflich unter die Leute zu ſchicken wiſſen, und denen die Zunge ziemlich geloͤſt iſt, die aͤrgſten Coquetten.

§. 13. Ein vernuͤnfftiger Menſch wird auch in dieſem Stuͤck feine Leute, die er vor ſich hat, beur - theilen und kennen lernen, und diejenigen, von denen er entweder vorher vermuthend iſt, daß ſie ſich mit den Complimens nicht allzuſehr behelffen koͤnnen, oder bey denen er es in der Anrede ſelbſt verſpuͤhrt, nicht damit beunruhigen, ſondern ſich um ihnen ge - faͤllig zu werden, nach ihrer Schwaͤche zu richten wiſſen.

K 4§. 14.152I. Theil. V. Capitul.

§. 14. Es waͤre gut, wenn ſolche Leute, die bey dem Complimentiren nicht herkommen, die Regel beobachteten, die Menantes in ſeiner allerneueſten Art hoͤflich und galant zu reden p. 549. vortraͤgt, und nur Achtung haͤtten auf dasjenige, was andere ihnen hoͤflich ſagten, und mit wenig Worten es nach einer natuͤrlichen Beredſamkeit hoͤflich beantwor - teten. So aber wird man mehrentheils einen von dieſen dreyerley Fehlern bey ihnen gewahr werden. Entweder ſie wollen ſich wieder unterſtehen, ein ziemlich und groß Gegen-Compliment zu machen, und koͤnnen doch nicht damit zu rechte kommen, ſie bleiben ſtecken, und verwirren ſich in ihren eignen Worten, oder bringen doch ſonſt ungereimt Zeug vor: oder ſie werden durch das ihnen vorgetragene Compliment, ſo aus ihren Circuln geriſſen, daß ſie gar kein eintzig Wort mehr reden koͤnnen, und voͤl - lig ſtill ſchweigen: oder fallen nach der beſchehenen Anrede mit ihren Diſcours gantz auf andere Sa - chen, die ſich zu den Compliment im geringſten nicht ſchicken, nnd mit demſelben keine Verwand - ſchafft haben, und machen ſich hiedurch laͤcher - lich.

§. 15. Manche wollen es beſſer machen, und gedencken damit auszukommen, wenn ſie einerley Formulgen, das ſie entweder aus einem Compli - mentir-Buch, oder eines andern Vorſchrifft erlernt, bey allen Gelegenheiten, zu denen es ſich ihren Ge - dancken nach ſchickt, ohne Unterſcheid der Perſo - nen und Oerter, als eine Anrede oder Gegen-Ant -wort153Von Complimens. wort herbeten; Sind ſie mit einigen ſolchen Com - plimenten verſehn, die ſie bey den mancherley Faͤl - len, die ihnen nach ihrer Lebens-Art, und bey ihrem Beruff vorſtoßen, aus ihrem Gedaͤchtniß hervor - langen, ſo meynen ſie, ſie brauchten nichts mehr, und koͤnten ſo gut complimentiren, als ander Leute. Nun iſt dieſes eine Bemuͤhung, die man bey dem Poͤbel und bey den Handwercks-Leuten kan paſſi - ren laſſen, daß ſie wiſſen, wie ſie einander das Leyd klagen, oder bey ihren Hochzeiten und Kindtaufften Gluͤck wuͤnſchen ſollẽ; einem jungen Menſchen aber, der ſich durch ſeine gute Conduite den Weg zur Befoͤrderung bahnen ſoll, wuͤrde es uͤber die maßen uͤbel anſtehen, wenn er bloß ſein Gedaͤchtniß mit einem ſolchen Complimentir-Vorrath ausſtaffi - ren, und nicht vielmehr lernen ſolte, dieſelben jeder - zeit aus dem Stegreif einzurichten, und ſolche nach Gefallen zu veraͤndern. Ein Formular kan un - moͤglich ſo eingerichtet werden, daß es auf alle Leute und deren Unterſcheid der Staͤnde, Titul und Cha - racteres paſſen ſolte; Es iſt nicht genug, daß man die Titulaturen veraͤndert, es muͤſſen auch viel an - dere Woͤrter und gantze Redens-Arten veraͤndert werden. Es wuͤrde das Gedaͤchtniß auf eine un - ſaͤgliche Art beſchweret werden, wenn einer ſo viel Formularien auswendig lernen wolte, als ſich in dem menſchlichen Leben Faͤlle ereignen koͤnnen zum Complimens; Wuͤrde es aber nun nicht uͤber die maßen ſeltzam klingen, wenn einer bey mancher Ge - legenheit ein zierlich Compliment herzuſagen wuͤſte,K 5bey154I. Theil. V. Capitul. bey einer andern Gelegenheit aber gantz ſtille ſchwiege und verſtummete? Bey den Gegen - Complimens iſt es gantz und gar unmoͤglich, man kan ja nicht wiſſen, was einem andere Leute vor ei - ne obligeante Anrede thun werden, die mit einer hoͤflichen Antwort zu erwiedern iſt; Es laͤſt auch uͤber die maßen laͤcherlich, wenn man von einigen Leuten bey einerley Fall ſtets einerley Compliment hoͤrt, ohne die geringſte Veraͤnderung eines eintzi - gen Wortes.

§. 16. Dieſemnach iſt am beſten, wenn ein jun - ger Menſch auf anderer manierlicher und qualifi - cirter Leute Reden und Complimente Achtung hat, ſich einer natuͤrlichen Beredſamkeit befleißiget, und die Worte und Redens-Arten aus ſeinem eige - nen Gehirne hervor ſucht, biß er hierinnen mit der Zeit geuͤbter und geſchickter wird. Es iſt eine gute Anmerckung, die Herr Benjamin Neukirch, in ſei - ner Anweiſung zu Teutſchen Briefen, p. 699. vor - traͤgt, wenn er ſchreibt: An ſich ſelbſt iſt die Hof - Art im Complimentiren nicht ſchwer, denn ein Hof-Cavalier macht nicht viel Ceremonien, und was er ſagt, das ſagt er natuͤrlich und mit guter Ma - nier. Wenn wir nun natuͤrlich, das iſt, kurtz und ohn einigen Umſchweiff reden, ſo haben wir ſchon viel gewonnen; Denn es fehlet uns alsdenn nichts mehr, als die Kenntniß der Titul, und etlicher ma - nierlichen Formuln. Solche aber laſſen ſich aus der Converſation geſchickter Leute leicht erler - nen.

§. 17.155Von Complimens.

§. 17. Eine gute Mine und ein zierlicher Reve - rence kan die Stelle eines muͤndlichen Compli - mens bey einem jungen Menſchen deſto eher ver - treten, weil auch wohl andere, die hierinnen geuͤbter ſind, oder doch geuͤbter ſeyn ſollen, ſie bißweilen manchen Redens-Arten, die ſie ſonſt mit dem Mun - de hervor bringen, muͤſten ſubſtituiren. Ein jun - ger Menſch muß dahin ſehen, daß die Complimens nicht mit den Haaren herbey gezogen werden, ſon - dern fein natuͤrlich aus dem Diſcours entſpringen. S. das VIII. Capitul des Traitè de la Civilité moderne, p. 103. Die beſten und angenehmſten Compliments ſind bißweilen die guten Touren, die man ſeinen Worten zu geben weiß, und die ſinnrei - chen Einfaͤlle, die man mit wenig Worten, ohne ſich lange zu beſinnen, anbringt. Alſo war es ein gut Compliment, das Menantes in Saltzdahlen machte, wie er ſelbſt in ſeiner allerneueſten Art, hoͤf - lich und galant zu reden, von ſich anfuͤhrt: Als er ſich auf dem Schloß und in dem Garten zu Saltz - dahlen umgeſehen, und ihn ein Hof-Mann fragte, wie ihm Saltzdahlen gefiele, ſo ſagte er: So gut als Saltzdahlen ſelbſt, weil er ſonſt keines dergleichen geſehen. Dis eintzige nur mißfiele ihm, daß es ihm, wegen ſeiner Reiſe, die er jetzund an andere Oerter vorhaͤtte, nicht ſtets gefallen koͤnte. Jn dieſen Com - pliment lobte er Saltzdahlen mehr, als wenn er ge - ſprochen haͤtte, es waͤre gantz unvergleichlich, admi - rable, u. ſ. w. weil dieſe Redens-Arten alle Tage von allen Leuten gehoͤret werden.

§. 18.156I. Theil. V. Capitul.

§. 18. Die Redens-Arten in den guten Com - plimens der geſchickten Hof-Leute beſtehen eben nicht in ſolchen Worten, die der gemeine Mann alle Tage im Munde fuͤhret, jedoch auch nicht in ſo praͤchtigen und hochtrabenden, wie ſie oͤffters in den Schulen gelehrt und gelernet werden, oder wie man ſie bey ſolennen Reden etwan zu gebrauchen pflegt, ſondern in einer wohlausgeſuchten Mittelſtraſſe.

§. 19. Bey Abſtattung der Complimens hat ein junger Cavalier Acht zu haben, daß er ſie ſo ein - richte, wie es an einem jeden Orte gebraͤuchlich; will er nun hierinnen nicht verſtoſſen, ſo muß er ſich vorher erkundigen, was die Obſervanz an einem jeden Ort erfordere. An einigen Hoͤfen und groſſen Staͤdten iſt es gewoͤhnlich, daß man einander zum H. Weyhnacht-Feſt, zum Oſter-Feſt u. ſ. f. feli - citirt, oder durch die Bedienten gratuliren laͤſt, an andern hingegen werden dergleichen Complimens vor buͤrgerlich, vor abgeſchmackt und laͤcherlich an - geſehen. Unterſucht man den Grund dieſer Com - plimente, ſo ſcheinen ſie freylich etwas uͤberfluͤßiges zu ſeyn; denn ſonſt muͤſten die Menſchen einander alle Feſt Tage oder Sonntage gratuliren, daß ſie dieſelben erlebt haͤtten. Ja man hat auch ſo gar bey den gewoͤhnlichen Neu-Jahr-Wuͤnſchen keins gewiſſe Regel. An einigen Orten auf dem Lande, oder bey dieſem und jenem Miniſter, wuͤrde es einem jungen Menſchen gar ſehr verdacht werden, wenn er nicht mit einem zierlichen und ſolennen Neu - Jahrs-Wunſch aufgezogen kaͤme; an manchenHoͤfen157Von Complimens. Hoͤfen hingegen gelten die Neu-Jahrs-Compli - mens heutiges Tages wenig oder nichts. Man muͤſte an groſſen Hoͤfen viel zu thun haben, wenn man alle Leute mit einer ſolennen Neu-Jahrs-Gra - tulation beehren wolte.

§. 20. Hat ein junger Cavalier die Gnade, ei - ner Koͤniglichen, Chur-Fuͤrſtlichen oder Fuͤrſtlichen Perſon den Reverence zu machen, ſo muß er vor - her anfragen, ob er wohl bey der erſten Entrée die Erlaubniß habe, ein muͤndlich Compliment zu ma - chen. Man kan hiervon ebenfalls keine gewiſſe Vorſchrifft geben. Einige Fuͤrſtliche und noch hoͤhere Standes-Perſonen, die ſehr gnaͤdig und leutſelig, laſſen ſich dergleichen Anreden, wenn ſie kurtz und gut ſind, gantz wohl gefallen; andere hin - gegen die etwas hautoriren, wuͤrden glauben, als ob dergleichen wider ihren Reſpect waͤre, und ei - nem jungen Menſchen ſeine Oratorie, ob er ſie ſchon noch ſo zierlich vorbringen wuͤrde, verdencken. Bey dieſem letztern Fall muß ein junger Cavalier, bloß mit ſehr tieffen Reverences, einer Koͤniglichen, Chur-Fuͤrſtlichen oder Fuͤrſtlichen Perſon den Rock kuͤſſen, und ſich alsdenn einige Schritte weit von ihr poſtiren, damit er ihr nicht gar zu nahe uͤber den Hals ſtehe, jedoch auch ihre Worte, was ſie ihn fragt, bequem vernehmen moͤge.

§. 21. Die Handlungen und Complimens ſind nach dem Unterſcheid der Zeiten und Provintzien gar ſehr von einander unterſchieden. Zu dieſer Zeit und an dieſem Ort wird eine gewiſſe Handlung vorhono -158I. Theil. V. Capitul. honorifique gehalten, die an einem andern hinge - gen nicht davor angeſehen wird. Alſo waren bey den erſten Chriſten ihre freundlichen Begruͤſſungen oder Complimens mit einem Kuß jederzeit vereini - get; nicht weniger waren ſie auch bey den alten Teutſchen, inſonderheit bey den Nieder-Sachſen im Gebrauch, die ohne Unterſcheid des Geſchlechts, wenn ſie ſich auf oͤffentlichem Wege begegneten, einander zu kuͤſſen pflegten. S. das II. Capitul von Hekelii Hiſtoriſcher Philologiſcher Unterſuchung der mancherley Arten und Abſichten der Kuͤſſe, ſo von Gotthilff Wernern in das Teutſche uͤberſetzt worden. Wolte man aber in den heutigen Zeiten dieſen Gebrauch wieder einfuͤhren, ſo wuͤrde dieſes nicht rathſam ſeyn, und zu mancherley Aergerniſſen Anlaß geben. Als der Hertzog von Marlborough nach der gluͤcklichen Schlacht bey Hoͤchſtaͤdt victo - riſirend in Engelland anlangte, und von dem Lord - Major auf das herrlichſte tractiret ward, ſo war das Compliment, ſo ihm der Lord-Major machte, merckwuͤrdig, da er ihm das Buͤrger-Recht der Stadt Londen, und die Annehmung in die durch Engelland beruͤhmte Goldſchmiedts-Jnnung, præ - ſentirte; Das hieruͤber verfertigte Diploma lag in einer goldnen Capſul, die man auf 1900. Pfund Sterling ſchaͤtzte. Der Hertzog nahm dieſe Ehr - Bezeigung mit der freundlichſten Danckſagung an. S. den XXX. Theil der Famæ, p. 447.

§. 22. Die kurtzen Complimens, wann ſie da - bey manierlich abgefaſt, ſind heutiges Tages faſtmehr159Von Complimens. mehr beliebter als die weitlaͤufftigen, jedoch muͤſſen ſie auch ſo beſchaffen ſeyn, daß derjenige, an den wir unſere Anrede richten, von unſerm Vortrage ſich einen deutlichen Begriff machen koͤnne, und wiſſe, was wir haben wollen. Die allerkuͤrtzeſten ſind, da man einen bloßen Vortrag thut, ein paar ſchmeichlende Redens-Arten præmittirt, und mit einer oder ein paar wieder beſchleußt. Wenn man alſo zum Exempel, bey einem großen Miniſter um eine gewiſſe Gnade Anſuchung thut, ſo kan man al - ſobald anfangen: Mit Ewr. Excellenz Gnaͤdigen Erlaubniß, bitte mit die unterthaͤnige Freyheit aus, dieſelben gehorſamſt zu erſuchen, die beſondere Gnade mir zu erzeigen, und eben, dieſe hohe Gnade werde Zeit meines Lebens mit aller Devotion er - kennen, ꝛc. Und auf eben dieſe Weiſe kan man bey allerhand andern Faͤllen wegkommen. Der Vortrag iſt der Haupt-Theil, der nimmermehr weggelaſſen werden kan, ſonſt wuͤſten wir nicht, was wir reden wolten, und der ander wuͤſte es auch nicht. Hat man aber laͤnger Zeit, ſo macht man einen Eingang dazu, und verbindet ihn mit dem Vortrage. Der Eingang iſt die Veranlaſſung zum Vortrag und iſt ebenfalls noͤthig, damit der ander wiſſe, wie wir dazu kommen, daß wir ihn dieſem oder jenem Vortrag thun. Dieſen Theil kan man entweder gantz und gar weglaſſen, wann der ander, ſo ſchon Nachricht hat von unſerm Anſu - chen, oder ihn mit ein paar Worte mit dem Vortrag verbinden, und in demſelben verſtecken.

§. 23.160I. Theil. V. Capitul.

§. 23. Achtet man vor noͤthig ein Compliment laͤnger zu machen, ſo fuͤget man noch einige Bewe - gungs-Gruͤnde bey, dadurch man ſich in dem Ge - muͤthe deſſen, dem man etwas vortraͤgt, eine ſeiner Abſicht gemaͤße Wuͤrckung verſpricht. Man be - muͤhet ſich bey dem Anfang, da man etwan um Vergebung bittet, daß man ſich die Freyheit naͤh - me, dem andern aufzuwarten oder auch durch an - dere Redens-Arten, ſich dem andern gefaͤllig zu be - zeugen, und auch bey dem Schluß des andern Gna - de je mehr und mehr zu verſichern, da man ſich nach dem Unterſcheid der Perſonen des andern gnaͤdigen guͤtigen Andencken u. ſ. w. empfiehlt.

§. 24. Ein junger Cavalier thut uͤberaus wohl, wenn er ſich mehr befleißiget ſeine Complimens kurtz und gut, als weitlaͤufftig und ſchlecht zu ma - chen; ſintemahl es vielen Leuten ihrer Geſchaͤffte oder ihres Humeurs wegen nicht gelegen, einen ſo weitlaͤufftigen Vortrag anzuhoͤren, ſie werden her - nach verdrießlich, und unſer Complimenteur er - reicht nicht den Endzweck, den er hiedurch erreichen wollen. Der andere glaubt vielmahls, der Reden - de wolle ſich nur dadurch hoͤren laſſen, ſeine Ge - ſchicklichkeit im Reden, die ihm ſonſt moͤchte den Bauch aufgeriſſen haben, und ſeine Oratorie er - weiſen, und ihn gleichſam hiedurch noͤthigen, daß er eben ein ſo weitlaͤufftig Gegen-Compliment drauf machen ſolte. Es muß ſich denn hernach ein ſol - cher Menſch, der es mit ſeinen großen Compliment gut gemeynet, und eine unſchuldige Intention da -bey161Von Complimens. bey gehabt, ſich auf mancherley Weiſe beurthei - len laſſen. Es heiſt hernach entweder: Es war ein recht prieſterlich Compliment, dabey nichts gefeh - let, als die Ertheilung des prieſterlichen Seegens, oder der gute Menſch will ſich gerne hoͤren laſſen, er macht noch ſeinen Studenten, er muß fleißig Ro - mainen geleſen haben, er hat es aus einem Buch ausgeſchrieben, u. ſ. w.

§. 25. Es ſind beſondere Umſtaͤnde, Oerter und Perſonen, bey denen man noch vor andern am mei - ſten noͤthig hat, in ſeinen Complimens alle uͤber - fluͤßige Weitlaͤufftigkeiten wegzulaſſen. Alſo iſt es wider den Wohlſtand, daß man Fuͤrſtlichen Per - ſonen, da man die Gnade hat, als eine Privat-Per - ſon ihnen den Rock oder die Hand zu kuͤſſen, eine große Oration vormacht; Man muß es vor ein be - ſonder Gluͤck erkennen, daß man vor ſie gelaſſen wird, und darf ihre Gnade und Gedult nicht miß - brauchen; ein anders iſt, wenn man von andern Herrſchafften an einen gewiſſen Hof verſchickt wird, denn hier kan das Compliment ſchon ſolen - ner und laͤnger ſeyn. Weitlaͤufftige Complimens ſind ohnedem uͤberhaupt den meiſten Hof-Leuten unangenehm, und wenn ſie auch noch ſo zierlich waͤ - ren, und wer ſich nicht einen Schulfuchs oder Co - mœdianten hinter den Ruͤcken will luſſen nach - werffen, der mag ſeine Worte kurtz faſſen lernen.

§. 26. Dieſes muß man auch beobachten, wenn man die Gnade hat, hohen Staats-Miniſtris auf - zuwarten, die mit vielen und wichtigen Staats -LGe -162I. Theil. V. Capitul. Geſchaͤfften uͤberhaͤufft, dieſe haben ſelten die Zeit und Gedult, einen weitlaͤufftigen Redner mit Luſt anzuhoͤren. Hohe Krieges-Officirer, zumahl die ihr Krieges-Metier mit denen Studiis nicht verei - niget, ſind in dieſem Stuͤck faſt noch ungedultiger. Es iſt daher eine gute Regel, die in der 105. Maxi - me von Gracians Oracul jungen Leuten vorge - ſchrieben wird: Ein Menſch vom Verſtande muß die Beſcheidenheit haben, daß er denen, die ihn vor ſich laſſen, durch verworrene Weitlaͤufftigkeit nicht hinderlich ſey, und unter allen am wenigſten großen Maͤnnern, die mit wichtigen Staats-Verrichtun - gen uͤberladen; ſintemahl es ein mehr ſtraffbahrer Unverſtand iſt, einen eintzigen von ihnen verdruͤß - lich zu ſeyn, als allen andern Leuten beſchwerlich zu fallen. Es geſchicht auch wohl zuweilen, daß ſie den weitlaͤufftigen Redner erinnern, er ſoll es kurtz machen, und ihm in die Rede fallen. Als Anno 1707. in ſtreitiger Erbfolge-Sache wegen der Her - tzogin von Nemours der Stadt-Magiſtrat von Solothurn den Frantzoͤſ. Abgeſandten, Marquis de Paiſieux, mit ſeinem Bewillkommungs-Com - plimenten beehren wolte, ſo hatte derjenige, wel - cher das Wort fuͤhrte, kaum etzliche auswendig ge - lernte Zeilen hergeſagt, ſo antwortete ihm dieſer hitzige und kurtz angebundene Geſandte: Man ha - be jetzo nicht mit Complimenten, ſondern mit Ge - ſchaͤfften zu thun, und fuͤgt hinzu, er habe ein hartes und nachdruͤckliches Memorial uͤbergeben laſſen. S. den 72. Theil der Europaͤiſchen Fama, p. 866.

§. 27.163Von Complimens.

§. 27. Dieſe weitlaͤufftigen Redner, welche zur Unzeit und mit Unverſtand complimentiren, heiſt man mit gutem Fug importun. Den Character eines ſolchen Menſchen, wie er ſich in allen Stuͤcken zugleich præſentirt, hat der ſeelige Chriſtian Weiſe, ehmahliger Rector zu Zittau, in ſeiner ſo geuandten Complimentir-Comœdia ſehr artig abgemahlt, da er einen Schuſter, mit Nahmen Habacuc, an - fuͤhrt, welcher vielfaͤltig und aͤngſtlich ſollicitirt, bey einer Standes-Perſon, die eben kranck zu Bette liegt, und bißher bey ihm arbeiten laſſen, vorgelaſſen zu werden, und da er endlich vorgelaſſen wird, in einer weitlaͤufftigen und unordentlichen Rede, in in welcher importune Leute ihr Ebenbild gleich als in einem Spiegel betrachten koͤnnen, die Gewalt des krancken Cavaliers exercirt. S. die hieher ge - hoͤrige Anmerckungen in der II. Centurie von Gracians l’homme de Cour nach D. Muͤllers Edition p. 37. und 36.

§. 28. Bey manchen Umſtaͤnden, da viele ande - re, bey eben der Perſon etwas vorzutragen oder dergleichen Compliment abzuſtatten haben, leh - ret einem die geſunde Vernunfft von ſelbſt, oder vielmehr die Noth, daß man kurtz reden muß; es wuͤrde demnach hoͤchſt verdrießlich und thoͤricht ſeyn, wenn man bey einem großen Miniſter etwas anzubringen haͤtte, der binnen der Zeit von einer Stunde, da er noch in ſeinem Gemach bliebe, 6. 8. biß 10. Perſonen Audienz geben wolte, und man naͤhme ſich vor, zu der Zeit in einer langen OrationL 2zu164I. Theil. V. Capitul. zu erweiſen, daß man ein guter Redner waͤre, oder man wolte in einem Trauer-Hauſe bey einem Lei - chen-Conduct, bey der betruͤbten Familie eine allzu ceremonieuſe Condolenz abſtatten.

§. 29. Leuten, die bey hohem Alter ſind, muß man auch nicht allzulange vor complimentiren, ſie ſind den Krancken aͤhnlich, weil das hohe Alter an und vor ſich ſelbſt einer Kranckheit zu vergleichen, ſie werden ohnedem ſo offt verdruͤßlich, das Gedaͤcht - niß legt ihnen ab, und es faͤlt ihnen unbeqvem, einen ſo weitlaͤufftigen Vortrag zu behalten, und wieder drauf zu antworten, da ſie uͤber dieſes mehrentheils mißtrauiſch gegen junge Leute, ſo wuͤrden ſie aus einen ſehr langem Vortrage, und muͤhſam ausge - ſonnenem Complimentiren und andern, ungleichen Verdacht wider einen jungen Redner ſchoͤpffen, Viele von denen Dames, zumahl die ſelbſt gute Complimentir-Schweſtern, koͤnnen es zwar ſehr wohl vertragen, wenn man ſie mit großen Compli - mens beehret, weil ſie dieſelben vor eine Wuͤrckung einer beſondern Devotion, die man ihnen leiſten, und ſie vor andern hiedurch diſtinguiren will, an - ſehen; ſie find aber gewißlich nicht alle von dieſem Humeur, und ihrer viele, die entweder nicht ſo ehr - geitzig oder in der Rede-Kunſt ſelbſt nicht ſo geuͤbt, oder denen dieſe Weitlaͤufftigkeiten ihres Standes und anderer Umſtaͤnde wegen nicht recht gefaͤllig, wuͤrden es lieber ſehen, wenn ſich mancher bey ſei - nem Complimentiren eher expedirte.

§. 30. Endlich muß ich auch noch erinnern, daßſich165Von Complimens. ſich weitlaͤufftige Complimens am allerwenigſten in das Gottes-Hauß ſchicken. Hier ſoll man nicht um deswillen zuſammen kommen, daß man halbe Stunden lange Complimens mit Worten und Geberden machen will, ſondern mit andern den großen GOtt in Gebethen und Liedern oͤffentlich um geiſtliche oder leibliche Wohlthaten anflehen, oder ihm davor Danck abſtatten, ſein Wort an - daͤchtig anzuhoͤren, und es in einem feinen guten Hertzen zu verwahren, damit es hernach mancher - ley Fruͤchte in Gedult bringen moͤge. Ein gewißer neuer Autor urtheilet nicht unrecht, wenn er ſpricht: Jch duͤrffte wohl nicht irren, wenn ich vorgaͤbe daß ein und das ander Frauenzimmer (doch er duͤrffte nur die Manns-Perſonen auch zugleich mit dazu nehmen) ihre Knie die gantze Woche lang nicht ſo offt vor ihrem GOtt und Schoͤpffer gebeugt, als ſie am Sonntage in der Kirche, bey ihren uͤberfluͤßi - gen, und dazu offtermahls hoͤchſt-unanſtaͤndigen Complimens zu thun pflegen.

§. 31. Da ich in dem vorhergehenden jungen Leuten angerathen, daß ſie ihre Complimens mehr nach einer angenehmen und beliebten Kuͤrtze, denn unnoͤthigen Weitlaͤufftigkeit, einrichten ſollen, ſo verſtehe ich ſolches vornemlich von dem Antrag den ſie gegen andere zu thun haben. Bey dem Ge - gen-Compliment hat es bißweilen eine andere Be - wandniß: Bey dieſem muͤſſen ſie ſich reguliren nach dem, der ihnen ein Compliment gemacht. Hat ihnen jemand von ihres gleichen, von den Hoͤ -L 3hern166I. Theil. V. Capitul. hern oder Geringern, ein kurtz Compliment ge - macht, ſo machen ſie auch ein kurtz Gegen-Compli - ment, es waͤre denn, daß der Reſpect vor dem Hoͤ - hern, und die groſſe Ungleichheit, die unter ihnen waͤre, ein anders erforderte. Sind ſie aber von denen, die entweder mit ihnen in gleichen Umſtaͤn - den, oder die auch noch wohl etwas mehrers be - deuten, mit einem obligeanten und etwas weitlaͤuff - tigen Compliment beehret worden, ſo iſt es aller - dings dem Wohlſtand gemaͤß, daß ſie ein gleiches wieder abſtatten; denn ſonſt moͤchte es ihnen entwe - der vor eine Grobheit und Geringachtung, die ſie gegen dem andern bezeigten, oder vor eine Einfalt und Unwiſſenheit, ausgelegt werden.

§. 32. Mit der Gegen-Antwort der groſſen Mi - niſtres hat es eine andere Bewandniß: Die Kuͤrtze im Reden iſt ihrem Character anſtaͤndig. Wenn ein groſſer Herr wider ſeinen Clienten ſagt: Jch will dem Herrn hierinnen dienen, oder, der Herr ſoll haben, warum er anſucht, ſo iſt dieſes das groͤ - ſte und beſte Compliment, das ein ſolcher armer Tropff nur immermehr wuͤnſchen und verlangen mag; Und ſchlaͤgt er ihm etwas ab, ſo wirds auch gleich viel ſeyn, ob es mit viel oder wenig Worten geſchiehet. Was aber ein groſſer Miniſter thut, darff darum ein anderer nicht thun, der nicht ſo viel Macht und Anſehen hat.

§. 33. Es iſt alſo in der That ein ziemlicher Feh - ler, wenn einige junge Hof-Leute / die doch in der Rang-Ordnung noch ziemlich unten an ſtehen, aufein167Von Complimens. ein manierlich Compliment, ſo ihnen der andere gemacht, der noch wohl darzu gar ihres gleichen iſt, eine ſo kurtze Antwort geben, daß man ſich nichts draus nehmen kan, auch wohl oͤffters nichts anders, als einen obliſſant Serviteur erwiedern. Dieſes allgemeine Compliment, durch welches man nichts bejahet noch verneinet, iſt bey manchen Faͤllen, den Regeln der Klugheit nach, wohl zu gebrauchen, in - dem man ihm nach Gefallen mancherley Bedeu - tungen zuſchreiben kan, ſchicket ſich aber im gering - ſten nicht, wo der Nothwendigkeit oder der Hoͤf - lichkeit nach, ein deutliches Gegen-Compliment oder Antwort wieder abzulegen. Die allzu kurtzen Complimens ruͤhren bey einigen her, aus Unge - ſchicklichkeit, ſie beſitzen von Natur keine ſonderliche Beredſamkeit, haben weder in ihrer Jugend noch auf Univerſitaͤten in der Oratorie etwas gethan, und ſind daher nicht im Stande, ein zierlich und or - dentlich Compliment zu machen. Bey andern, aus einem beſondern Vorurtheil und aus Unwiſſenheit, weil ſie gehoͤrt, daß allzu weitlaͤufftige Complimens von einigen Leuten vor ſchulfuͤchſig geachtet werden, ſo fallen ſie auf das andere extremum, und thun der Sache gar zu wenig. Vielmahls ſind ſie auch eine Frucht des Hochmuths: Mancher denckt, es ſey ſeiner Grandeſſe zu viel, wenn er dem andern ein hoͤflich Gegen-Compliment machen ſoll, und bildet ſich ein, er ſey ſchon ein groſſer Miniſter, wenn er einen andern mit ſehr kurtzen Worten ab - ſpeiſet.

L 4§. 34.168I. Theil. V. Capitul.

§. 34. Es ereignen ſich auch bißweilen einige Faͤlle, bey welchen man ſeine Complimens etwas weitlaͤufftiger einzurichten hat. Dieſen ſind, mei - nes Erachtens, folgende mit beyzuzehlen: (1) Wenn man als ein Abgeordneter an einem Fuͤrſtlichen Hof geſchickt wird, die Herrſchafft, im Nahmen der ſaͤmtlichen Staͤnde, oder eines Collegii, u. ſ. w. zu becomplimentiren. Weil ein ſolch Compliment nicht von einer Privat-Perſon als einer Privat-Per - ſon, ſondern im Nahmen vieler abgeſtattet wird, und unter die ſolennen gehoͤrt, ſo kan es auch ſchon etwas weitlaͤufftiger ſeyn, als ſonſt. (2) Wenn man einem gelehrten Mann, adelichen oder buͤrger - lichen Standes, auf Univerſitaͤten, bey Hofe, oder in ſeinem Hauſe aufwartet, der in der Oratorie ſehr wohl erfahren, und von dem man gewiß verſichert, daß er Zeit und Gedult habe, unſern Antrag anzu - hoͤren. (3) Wenn die Sache, die wir anzubrin - gen haben, ſo beſchaffen, daß man ſie, wenn man ſie nicht verſtuͤmmelt vortragen, und manches aus - laſſen ſolte, unmoͤglich kurtz faſſen kan, zumahl, wenn dem andern ſelbſt daran gelegen waͤre; und (4) wenn der andere von weitlaͤufftigen Complimens ein Liebhaber, und in den Gedancken ſtehet, daß man ihm mehr und groͤſſere Ehrerbietung erzeige, wenn man ihn mit einem langen Compliment be - ehrte, als wenn man ſo kurtz abſchnappen ſolte.

§. 35. Nachdem nun die Leute, auch bey Anneh - mung der Complimens, ſo gar ſehr unterſchiedenen Humeurs ſind, und der eine ein gantz kurtz Com -pli -169Von Complimens. pliment verlangt, der andere hingegen lieber mit einer groſſen Oration angeredet ſeyn will, ſo thut ein junger Cavalier uͤberaus wohl, wenn er ſich vor - her erkundigt, wie es einem jeden am angenehmſten, und entweder bey einem guten Freund, dem er in dieſem Stuͤck trauen kan, zufragt, oder auch wohl bey einem von ihren Cavalieren, da es Standes - Perſonen oder Abgeſandte, oder auch bey ihren Se - cretairen, Cammer-Diener, u. ſ. w. Nachricht ein - geholet, und ſich inzwiſchen in der Oratorie fleißig uͤbet, damit er im Stande ſey, nach eines jeden Willkuͤhr, Geſchicklichkeit oder Ungeſchicklichkeit, oder nach dem Unterſcheid eines jeden ſich ereignen - den Falles, einem andern mit einem kurtzen oder lan - gen Compliment zu begegnen, oder zu antworten.

§. 36. Viele von den jungen Leuten, an ſtatt daß ſie ſich einer natuͤrlichen Beredſamkeit befleißigen, oder nach den Regeln einer vernuͤnfftigen Rede - Kunſt lernen ſolten, aus ihrem eigenen Gehirne, bey allerhand in dem menſchlichen Leben vorkommen - den Umſtaͤnden, einen manierlichen und ordentlichen Vortrag zu thun, oder darauf zu antworten, neh - men ihre Zuflucht zu denen Complimentir-Buͤ - chern, und bilden ſich ein, wenn ſie deren eine gute Menge beſaͤßen, ſo koͤnten ſie ſich ſchon helffen, und duͤrfften ſich den Kopff nicht allein zubrechen. Nun will ich zwar nicht derjenige ſeyn, der allen Compli - mentir-Buͤchern ihren Nutzen abſprechen ſolte; Jch laͤugne nicht, daß in Talanders, Menantes, Neukirchs und andern Schrifften, die jungen Leu -L 5ten170I. Theil. V. Capitul. ten einige hieher gehoͤrige Regeln und Vorſchrifften ertheilen, manches geſchickte, manierliche und wohl - abgefaßte Compliment anzutreffen, ich gebe auch gar gerne zu, daß mancher Anfaͤnger, der eine ſchlechte Auferziehung gehabt, und dem es an Ge - legenheit gefehlt, ſich an Hoͤfen und in der groſſen Welt aufzuhalten, eines und das andere, das ihm zuvor unbekandt geweſen, daraus erlernen kan. Er kan ſich in geſchwinderer Zeit, als ſonſt, einige Titulaturen, Courtoiſien, wie man ſie zu nennen pflegt, gute Beywoͤrter und gantze Redens-Arten bekandt machen, die er in den Complimens anzu - bringen hat, er kan ſich bißweilen in dem groͤßten Nothfall, da er ſonſt gar verſtummen, oder unge - reimt Zeug vorbringen muͤſte, damit helffen, und entweder ein Compliment gantz und gar daraus auswendig lernen, oder, ſo er geſcheuter, mit einiger Veraͤnderung etwas daraus abborgen, und uͤber - dieſes ſich auch noch einen deutlichen Begriff von den Theilen, daraus ein Compliment oder kleine Rede zuſammen geſetzt, und von ihrer gehoͤrigen Verknuͤpffung, zuwege bringen. Jmmittelſt aber wolte ich doch einem jungen Menſchen wohlmey - nend angerathen haben, daß er die Complimentir - Buͤcher, ſo bald als moͤglich, aus den Haͤnden le - gen / und ſich an ſtatt deſſen auf die allgemeinen Re - geln der Rede-Kunſt appliciren ſolte, damit er ſich je mehr und mehr faͤhiger mache, nach ſeinen eige - nen Begriffen, und nicht nach fremden Vorſchriff - ten, zu reden und zu complimentiren.

§. 37.171Von Complimens.

§. 37. Nachdem ich bey dieſer Arbeit einige Schrifften von dieſer Gattung durchgelauffen, und unterſchiedene Jrrthuͤmer, theils bey ihren Regeln / theils bey ihren Complimentir-Formularien, ange - troffen die jungen Leuten, bey deren Nachahmung, an ihrem Gluͤck bißweilen mehr hinderlich als be - foͤrderlich, mehr disrenomirlich als ruͤhmlich und vortheilhafft ſeyn wuͤrden, ſo will ich im folgenden einige davon vorſtellig machen: I. Einige Buͤ - cher-Complimens ſind mehrentheils zu lang und zu weitlaͤufftig. Wenn ein junger Cavalier, bey Hof - oder Privat-Aufwartung, einem groſſen Mini - ſter oder einer Dame mit einem ſolchen Compli - ment begegnen wolte, wie ſie in den meiſten Com - plimentir-Buͤchern vorgeſcheieben, ſo wuͤrde er ge - wiß davor die Urtheile erfahren muͤſſen, die ich in dem vorhergehenden angefuͤhret. Es wuͤrde einer gemeiniglich beſſer zurecht kommen, und mehr cava - lierement complimentiren, wenn er ſeine Worte ſo kurtz anbraͤchte, wie die Theile des Compliments in der Diſpoſition angezeigt, jedoch mit gehoͤriger Verbindung, als wie das gantze Compliment nach ſeiner voͤlligen Elaboration lautet. II. Manche Autores miſchen ohne Noth allzu viel La - teiniſche und Frantzoͤſiſche Woͤrter mit ein, die ſie doch in der Teutſchen Sprache eben ſo gut aus druͤ - cken koͤnten; denn, eine andere Bewandniß hats, wenn einige ſo allgemein und bekandt worden, daß ſie, ſo zu reden, das Buͤrger-Recht der Teutſchen Sprache voͤllig erlangt, oder da man zur Veraͤnde -rung,172I. Theil. V. Capitul. rung, weil einerley Wort bisweilen oͤffters vor - koͤmmt, eines aus einer andern Sprache mit einruͤ - cken muß. Jch habe gefunden, daß in einer ge - wiſſen Schrifft einem jungen Menſchen folgendes Compliment vorgeſchrieben worden: Er gratuli - re ſich, die laͤngſt gewuͤnſchte Ehre von deſſen pro - fitablen Compagnie zu genieſſen, und die Eſtime zu bekommen, die man allezeit vor deſſen Meriten getragen, und baͤte ſich dabey das Gluͤck ſeiner Af - fection aus.

§. 38. III. Sie handeln in dieſem Stuͤck biß - weilen wider ihre eigne Regeln, ſie lehren in ihren Saͤtzen, man ſolte die Frantzoͤſiſchen und Lateini - ſchen Woͤrter, ſo viel moͤglich, vermeyden, und in ih - ren Exempeln trifft man doch einen unnoͤthigen Vorrath an, von lauter felicitiren, flattiren, ſub - mittiren, veneriren, profitiren, chagriniren, u. ſ. w. Einige bedienen ſich des Wortes grace, als eines Scherwentzels, bald legen ſie ihm die Bedeutungen der Gnade und Affection bey, bald wiederum der Guͤte und Gefaͤlligkeit, in dieſem Compliment brauchen ſie es gegen große Miniſtres und hohe Patronen, in einem andern aber gegen ihre guten Freunde und gegen ihres gleichen, da es doch bloß in Anſehung der hoͤhern zu appliciren. Die Fran - tzoͤſiſche Sprache iſt faſt durchgaͤngig beliebt, und alſo hoͤren es viele theils von den Hof-Leuten theils auch von andern, inſonderheit vom adelichen oder buͤrgerlichen Frauenzimmer gar gerne, wenn ein Compliment mit viel Frantzoͤſiſchen Woͤrternaus -173Von Complimens. ausſtaffirt, man findet aber auch viele andere, die dieſer Meynung nicht beypflichten, und in den Ge - dancken ſtehen, wenn man Teutſch rede, ſolte man die Frantzoͤſiſche Sprache weglaſſen. Die Latei - niſche Sprache iſt inſonderheit bey Hofe nicht gar angenehm, und klingt es daher gar ſehr pedantiſch, wenn ſich einer nach der Vorſchrifft eines gedruck - ten Compliment, als ein gehorſamer Cliente, in des andern Patrocinio beſtens empfiehlt, und ihm dancket, daß er einen ſo gnaͤdigen Acceſs erlauben wollen, u. ſ. w.

§. 39. IV. Sie wollen bißweilen ohne Noth gar zu ſcharff und genau ſeyn, und machen etwas zu Fehlern / wo keine vorhanden, oder doch von keiner beſondern Erheblichkeit. Alſo fuͤhret mancher Autor als eine Haupt Anmerckung an, man ſolte das Compliment niemahls mit Jch anfangen. Nun iſt es wohl etwas ehrerbiethiger geſprochen, wenn man in der Anrede an eine ſehr hohe Per - ſon eine andere Tour findet; es wird ſich aber der hunderte nichts draus machen, wenn das Compli - ment in dem uͤbrigen manierlich und hoͤflich einge - richtet, ob es ſchon mit Jch angefangen wuͤrde; in den Briefen hingegen iſt dieſe Anmerckung noͤ - thiger; weil das geſchriebene bleibt, und in des an - dern Gemuͤthe einen ſtaͤrckern Eindruck macht, als das geſchwind muͤndlich ausgeſprochene, und in der Lufft verſchwindende Worte, ſo muß alles bey je - nem Fall mehr erwogen werden. Bißweilen wuͤr - de es ſehr gezwungen heraus kommen, wenn manes174I. Theil. V. Capitul. es auſſen lieſſe. Geſchicht es in einem Compli - ment gegen ſeines gleichen oder gegen einem ge - ringern, ſo hat es vollends nichts zu bedeuten.

§. 40. V. Jhre Coartoiſien, Titulaturen und andere Woͤrter und Redens-Arten ihrer Compli - mens, harmoniren nicht allezeit mit einander ſelbſt, oder mit deren Stand, Range und Charactére deſ - ſen, an dem ſie gerichtet ſind. Es ſchickt ſich nicht, wenn ich in dem Eingange von etner unterthaͤnigen Aufwartung bey einer Excellence rede, und in dem Fortgang und am Ende komme ich mit der Ehre, mit der Gunſt, mit Wohlwollen, u. ſ. w. aufgezo - gen; Mit der unterthaͤnigen Aufwartung muß man Gnade verbinden. Wider den Wohlſtand iſt, wenn ſie ſich in tieffer Unterthaͤnigkeit zur hohen Gewogenheit empfehlen. Gewogenheit und Un - terthaͤnigkeit beziehen ſich nicht auf einander; ich will mir bey meines gleichen ſeine Gewogenheit aus - bitten, aber ihm nicht meine Unterthaͤnigkeit anbie - ten. Bißweilen brauchen ſie erſtlich das Wort Gnade, und nachgehends wieder die Woͤrter guͤ - tig oder unguͤtig, welches ebenfalls unrecht. Wo man von Gnade zu reden Urſache hat, muß man auch von gnaͤdig oder ungnaͤdig reden, wenn ich aber hingegen bey meines gleichen, oder bey denen, die nicht ſo gar ſehr von mir unterſchieden, die Woͤr - ter Gunſt, Affectiren, Wohlwollen, Leutſeeligkeit, Gewogenheit, u. ſ. w. erwehle, ſo kan ich mit dieſen die Woͤrter guͤtig, unguͤtig, oder andere gleichviel bedeutende eher verbinden. Ein junger Menſchnennt175Von Complimens. nennt ſich bißweilen in dem Compliment, da er ei - nen hohen Miniſter aufwartet, einen devoten Cli - enten, und ſchwatzt doch zugleich von Annehmung der Viſiten, welches einander zuwider. Sie be - obachten hiebey nicht allezeit den Reſpect, den ſie einem ſo großen Miniſter ſchuldig ſind; ſie laſſen ſich in dem Anmeldungs-Compliment bey einem groſſen Miniſter die Erlaubniß ausbitten / ihn ge - horſamſt auf ein Viertelſtuͤndgen aufzuwarten, und melden zugleich die Zeit, wenn ſie kommen wolten; dieſes iſt ein großer Fehler, man thut es nicht gerne bey ſeines gleichen, geſchweige denn bey einem Hoͤhern, von dieſem muß man den Befehl der Zeit erwarten, die er uns vorſchreibet, ſie ihm aber nicht ſelbſt beſtimmen.

§. 41. VI. Sie verſehen es in Titulaturen, es hat keine Art, daß man in gewoͤhnlichen Complimens die Anrede macht, wie in Briefen, Hochwohlge - bohrner Herr, Gnaͤdiger Herr, oder Hochwohl - Edelgebohrner Herr, Hochgeehrteſter Herr Hof - Rath, es wuͤrde ein junger Menſch, der damit auf - gezogen kaͤme, gewaltig ausgelacht werden; ein an - ders iſts, in ſolennen und weitlaͤufftigen Reden, da kan man wohl den Titul vorher ſetzen. Das Courtoifie-Wort Excellenz, iſt heutiges Tages bey den groͤſten Miniſtres der großen Hoͤfe faſt zu wenig, man muß hohe Excellenz ſagen. So laſ - ſen ſich auch einige hoch-characteriſirten Dames mit Jhro Gnaden nicht allein abſpeiſen, ſondern ſich Jhro Excellenz ſchelten, wie ich in dem Capi -tul176I. Theil. V. Capitul. tul von Tituln erwehnet, bey den Gegen-Com - plimens, die ſie unter dem Nahmen eines großen Miniſters, einem andern wollen abſtatten, ſtellen ſie ſich ſeine hohe Perſon nicht gehoͤrig vor, und rich - ten die Complimens allzuhoͤflich und zu ſubmiſs ein. Es iſt alſo laͤcherlich, wenn ein großer Miniſter nach der Vorſchrifft eines gedruckten Compliment, einem jungen Menſchen, der ihm aufwarten will, ſein gehorſamſt Empfehlungs-Compliment machen laͤſt. Dieſes iſt allzugnaͤdig.

§. 42. VII. Die Grade der Demuth und Ehrerbietung, die man gegen ſeines gleichen, oder gegen die Hoͤhern, in ſeinen Complimens, und die Grade der Freundſchafft und Gewogenheit gegen die Geringern, zu beobachten hat, werden nicht ſo vorgeſtellt, wie ſie wohl vorgeſtellt werden ſolten. Der zehnde von denen, die dergleichen Buͤcher ſchreiben, verſtehen nicht den theils durch die Ver - nunfft, theils durch die Gewohnheit eingefuͤhrten Unterſcheid, unter dem dienſtlichen Empfehlen, ſchoͤnſten Empfehlen, gehorſamſten Empfehlen, unterthaͤnigſten Empfehlen, und unterthaͤnigſt zu Gnaden empfehlen, und machen daher mancher - ley Verwirrungen. VIII. Es werden bißweilen altfraͤnckiſche oder pedantiſche Woͤrter mit einge - miſcht, oder gantze Redens Arten, oder es wird ſonſt eines und das ander verkehrt vorgetragen. Alſo ſind z. E. die Woͤrter, großguͤnſtig, unter - dienſtlich, ungefaͤrbt, und viel andere mehr, nicht nach dem heutigen Hof-Stylo eingerichtet, ſondernriechen177Von Complimens. riechen gar nach dem Schul-Staube. Es hat auch keine rechte Art, wenn man bey Uberreichung eines von einem fremden Miniſter abgelaßenen Schreibens, einen Miniſter, der ſich nach des an - dern Zuſtand und Ergehen erkundiget, unterthaͤ - nigſt dancket, wegen der guͤtigen Nachfrage. Die - ſes Formulgen iſt gar gemeine, es iſt am beſten, daß man auf dieſe Frage alſo fort von des frem - den Miniſtri Zuſtand, Nachricht ertheilt, ſo viel uns davon wiſſend, und die Formulgen weglaͤſt. Es ſchickt ſich nicht wohl, daß man einen großen Mini - ſter gleich bey dem Eingang des Compliments danckt, vor die gnaͤdige Erlaubniß, ihm aufzuwar - ten, es ſchickt ſich eher zum Abſchieds-Compliment, als zur erſten Entree. Jch koͤnte noch viel anderer Fehler, die ich auch in den beſten und neueſten Complimentir-Buͤchern wahrgenommen, Er - wehnung thun, es mag aber an dieſen, die ich nur beylaͤufftig angemerckt, genug ſeyn.

§. 43. Ein junger Menſch muß Complimens und Ehren-Worte von einer buͤndigen Verſiche - rung und gethanen Verſprechen wohl unterſchei - den lernen, denn ſonſt wuͤrde er nicht allein gar oͤff - ters in beſondere Gemuͤths-Unruhe geſetzt werden, wenn er in den kuͤnfftigen Zeiten die Wuͤrckung dieſes oder jenen Compliments nicht ſo erfahren wuͤrde, wie er ſich nach Veranlaſſung des Klan - ges der Worte wohl eingebildet, ſondern ſich auch bey andern ſehr laͤcherlich machen, wenn er auf ein bloß Compliment ſeinen gantzen Grund der Hof -Mnung178I. Theil. V. Capitul. nung ſetzen wolte. Er muß auch bey ſeinen eignen Complimens in Obacht nehmen, damit er nicht bey ſolchen Handlungen, die ernſthaffte, ſichere und deutliche Worte erfordern, oder bey einfaͤltigen und leichtglaͤubigen Leuten, die Schertz - und Ehren - Worte nicht recht verſtehen, oder bey hoͤniſchen und gefaͤhrlichen Leuten, die alles auf das ſchlim - ſte auslegen, dergleichen Gebraͤuche, die ihm auf die eine oder andere Weiſe Verdruß und Unruhe erwecken koͤnten.

§. 44. Endlich mag ſich ein junger Menſch, und ein jedweder angelegen ſeyn laſſen, mit der Manier - lichkeit und Wohlanſtaͤndigkeit, auch die Behut - ſamkeit zu vereinigen, damit er ſeine Complimens ſo einrichte, daß er uͤber den vielen Complimentiren an ſeinem Leibe keinen Schaden leide, oder gar des Lebens verluſtig werde. Daher muß er im Zuwill - gehen aus ein Gemach einer Fuͤrſtlichen Perſon oder eines großen Miniſtris, die er ſtets in Augen behalten, und ihr nicht den bloßen Ruͤcken zukehren muß, vorher Acht haben, was ihm etwan an Ti - ſchen, Stuͤhlen, und andern Meublen bey dieſer Paſſage im Wege ſtehe, oder ein wenig ſeithalben gehen; inſonderheit aber ſich bey den Treppen wohl wahrnehmen, daß er nicht hinunter ſchmeiſſe, inmaßen ja unterſchiedene Exempel vorhanden, daß einige dieſe Unvorſichtigkeit, da ſie die Treppe herunter geſtuͤrtzt, das Leben gekoſtet.

Das179Von Manieren u. Stellungen des Leibes.

Das VI. Capitul. Von den Manieren / bey den Geberden / und Stellungen des Leibes.

§. 1.

An einer manierlichen Geberdung und guten aͤuſſerlichen Stellung, iſt in der That ſehr viel gelegen, ſintemahl das aͤuſſerliche ei - nem andern zuerſt in die Augen faͤlt, und einen Eindruck in ſeinem Gemuͤthe macht. Es ha - ben viele von den Hoͤhern, beyderley Geſchlechts, die Gewohnheit, daß ſie einem jungen Menſchen, an deſſen Erkaͤntniß ihnen etwas gelegen, wenn ſie ihn zum erſten mahl zu Geſicht bekommen, ſcharff in die Augen ſehen, hernach ſeine gantze Perſon, nach ſeiner Kleidung und Stellung des Leibes, von oben biß unten an, genau betrachten, und ihn als - denn nach dem Portrait, das andere von ihm ge - macht, und nach deren Anmerckungen, die ſie ſich ſelbſt durch die Erfahrung wollen zuwege gebracht haben beurtheilen. Es waͤre gut, wenn das aͤuſ - ſerliche Weſen eines jungen Menſchen bloß denen Urtheilen ſolcher Leute unterworffen wuͤrde, als die vielmahls richtiger, auch der Liebe und Hoͤflichkeit gemaͤßer ſeyn, als der andern. Aber ſo iſt das ſchlimmſte, daß offtmahls diejenigen, die doch amM 2aller -180I. Theil. VI. Capitul. allerwenigſten Erkaͤntniß und Geſchicklichkeit beſi - tzen, nach ſichern Merckmahlen ein vernuͤnfftiges Urtheil zu faͤllen, am meiſten geneigt ſind, uͤber die Auffuͤhrung eines Menſchen ihre unzeitigen Urtheile auszuſchuͤtten. Hat er nun das Gluͤck, ihnen nach ſeinem aͤuſſerlichen Weſen zu gefallen, ſo wird er ungemein erhoben, und vor einen feinen, manierli - chen, angenehmen und artigen Menſchen angeſehen, der ein recht galant homme ſey, und wohl zu leben wiſſe, wo aber nicht, ſo achtet man ihn, ob er ſchon im uͤbrigen noch ſo weiſe und tugendhafft waͤre, vor einen ſchlechten Menſchen, vor einen Schulfuchß, und ich weiß ſelbſt nicht, vor was.

§. 2. Bißweilen urtheilen ſie nach der gantzen Perſon, zuweilen aber auch nur nach dem bloſſen Geſicht. Daher folgende Urtheile formirt werden: Der Menſch hat ein gut Geſicht, oder ein kluges, redliches und aufrichtiges Geſicht, oder, er hat ein boͤſes, ein einfaͤltig Geſichte, der Schelm ſiehet ihm aus den Augen heraus, u. ſ. w. Daß man biß - weilen aus der Phyſiognomie eine und die andere in der Seele verborgen-liegende Neigung mit gu - tem Grunde errathen koͤnne, iſt wohl wahr, und ha - be ich die Wahrheit und Moͤglichkeit davon in mei - nem Unterricht von der Kunſt, der Menſchen Ge - muͤther zu erkennen, in einem eignen Capitul vor - geſtellt. Daß ſich aber auch die meiſten Menſchen bey ihren Urtheilen in dieſem Stuͤck, ſo wie in an - dern, gewaltig vergehen, iſt auch mehr als zu be - kandt.

§. 3.181Von Manieren u. Stellungen des Leibes.

§. 3. Manche gehen mit ihren Urtheilen noch weiter, und gar biß auf die Minen: Nachdem ſie ſehen, daß einer die Gabe hat, eine martialiſche, fin - ſtere und ſauere Mine zu machen, nach dem wollen ſie auch ſeine Courage beurtheilen; nehmen ſie wahr, daß einer von hoͤflichen und freundlichen Ge - berden, ſo erklaͤren ſie ihn ſchon vor einen guten Hof-Mann. Dieſe Urtheile ſind nun zwar meh - rentheils ſehr falſch und irrig: Mancher Soldat ſiehet einem Eiſenfreſſer aͤhnlich, und das Hertz im Leibe zittert ihm doch wohl wie ein Eſpen-Laub, wenn er vor den Feind ruͤcken ſoll; ein anderer hin - gegen ſiehet ſanfftmuͤthiger aus, und das Hertz ſitzt ihm doch wohl am rechten Ort. So iſt auch eine manierliche Geberde nicht allezeit mit manierlichen Worten und Wercken vergeſellſchafftet, welches zuſammen vor einen guten Hof-Mann gehoͤrt. Jn - zwiſchen bleibt die Welt doch bey ihrer Meynung, ſie mag irrig ſeyn, oder nicht, es wird hin und wie - der darauf geſehen, und darauf geſprochen. Hat mancher junger Menſch, der im Kriege avanciren will, nicht ein recht finſter Soldaten-Air, ſo iſt es ihm bißweilen an ſeinem Avancement hinderlich. Und wenn manchem Frauenzimmer, die bey der Herrſchafft in beſondern Gnaden ſtehet, eine gewiſ - ſe Mine an einem jungen Menſchen, der ſein Gluͤck bey Hofe zu machen gedenckt, nicht recht anſtaͤndig iſt, ſo hilfft ſie ſeine Befoͤrderung hintertreiben, wo ſie kan und weiß, und ſtehet feſt in den Gedancken, er ſchickte ſich nicht nach Hofe, ob er ſchon ſonſt noch ſo qualificirt waͤre.

M 3§. 4.182I. Theil. VI. Capitul.

§. 4. Auf die aͤuſſerlichen Manieren koͤmmt viel an es mag einer im uͤbrigen, ſeiner von GOtt ihm mitgetheilten Statur und Geſtalt nach, von guten oder ſchlechten Anſehen ſeyn. Jſt er von guten Anſehen, ſo wird daſſelbe durch dieſe oder jene uͤbel - anſtaͤndige Geberde verdunckelt und verringert; iſt er aber ſonſt von keinem ſonderlichen Anſehen, ſo macht er ſich durch das unanſtaͤndige Weſen noch laͤcherlicher und veraͤchtlicher. Der ſelige Herr Paſch, ein zu ſeiner Zeit chriſtlicher tugendhaffter und vernuͤnfftiger Dantzmeiſter in Leipzig, der die groſſe Welt wohl gekennet, meldet in ſeiner Be - ſchreibung der wahren Dantz-Kunſt, p. 103. Er haͤtte ſelbſt Wunder in dieſem Stuͤck erlebet und mit angeſehen, und wuͤſte, daß, wenn ſich einer das erſte mahl mit ungezogenen Externis vor wackern oder auch capricieuſen Leuten præſentiret haͤtte, man einen ſolchen Degout vor ihn bekommen, daß man nicht einmahl nach ſeinen andern Qualitaͤten gefragt haͤtte, da ein anderer mit der Helffte der uͤbrigen Qualitaͤten durch ſeine wohl regulirten Ex - terna mehr erlangt, als er begehren koͤnnen; Ein ſolcher Menſch bekaͤme hiedurch oͤffters mehr Gele - genheit in Compagnien zu kommen, da er auſſer dieſen nicht hinriechen duͤrffte, und da wird denn, ſeiner guten Auffuͤhrung wegen, gefragt, wer er ſey, und bekaͤme alſo Gelegenheit, ſeine uͤbrigen Quali - taͤten auch an Tag zu legen.

§. 5. Der ehmahlige Groß-Cantzler in Franck - reich, Monſieur de Chervergny, ertheilt in ſeineran183Von Manieren u. Stellungen des Leibes. an ſeinen Sohn gerichteten Inſtruction pag. 229. folgende Regeln, die ich in das Teutſche uͤberſetzen will: Eines jeden Geberdungen und Stellungen geben einen groſſen Beweißthum ſeiner Sitten und Neigungen, die ſich auch bißweilen in den gering - ſten und kleinſten Sachen zu erweiſen pflegen. Der Ungezogene wird ſich durch ſein Lachen, durch ſein freches Geſichte, und andere unangenehme Stel - lungen des Leibes unartig erweiſen. Man kan bißweilen aus den aͤuſſerlichen Muthmaſſungen, aus ſeinen Geberden, Worten, Aufzuge und andern Zeichen, ſein innerliches, und von dem geringſten aͤuſſerlichen, offt das wichtigſte innerliche kennen lernen; daher das Sprichwort entſtanden: Einem Menſchen gleich an ſeiner Stirne zu erkennen. Dieſemnach ſoll ein jedweder in dieſen drey Stuͤ - cken auf ſich Acht haben, und uͤber ſich herrſchen, bey einem ſittſamen Gange, bey den Minen ſeines Geſichts, und bey allen, einem vernuͤnfftigen Men - ſchen, anſtehenden Geberden.

§. 6. Die Frantzoͤſiſche Nation hat in denen Schrifften, die einige geſchickte Maͤnner unter ih - nen von der Politeſſe aufgeſetzt, jungen Leuten von dieſer Materie viel nuͤtzliche Regeln vorgeſchrieben. Da ſie in Benennung ſolcher Dinge ſorgfaͤltiger geweſen, als wir Teutſchen, ſo haben ſie die Ma - nierlichkeit, oder Unmanierlichkeit, in Anſehung der Bewegungen des Leibes, in drey Haupt-Stuͤcke eingetheilet, die ſie la mine, l’air, und le port zu benennen pflegen. La mine heiſt, die ordinaireM 4Diſpo -184I. Theil. VI. Capitul. Diſpoſition des Angeſichts, oder diejenige Geſtalt deſſelben, die ein Menſch, ſeinem Humeur nach, oh - ne eine beſondere Intention zu machen pflegt. L’air, iſt eine Geſtalt des Geſichts, die man bey beſondern Faͤllen, um eine Paſſion an Tag zu legen, annimmt, und ſind folglich ſo vielerley Arten deſſelben, als Af - fecten ſind; man kan, zum Exempel, froͤliche, trau - rige, furchtſame, zornige, verliebte Geſichter ma - chen, u. ſ. w. Solchergeſtalt differiren la mine, und l air, daß die Mine beſtaͤndig, l air aber ver - aͤnderlich. Die Teutſchen verwechſeln dieſes mit einander, und geben den Nahmen des Geſichts, der Minen, der Geberdung, bald dieſem, bald jenem. Le port heiſt, die Tragung oder Bewegung der Glieder; man hat ja einen majeſtaͤtiſchen, einen freyen, gezwungenen, liederlichen Port. Es ſtehen zwar einige in den Gedancken, als ob es weder moͤg - lich noch nuͤtzlich waͤre, von allen dieſen beſondere Regeln zu geben. S. Herr Dr. Muͤllers Anmer - ckungen zu der XIV. Maxime von Gracians Oracul, pag. 100. Jch bin aber anderer Meynung, und werde mich bemuͤhen, einige Regeln hiervon im fol - genden vorzuſchreiben.

§. 7. Ein junger Menſch muß ſich bemuͤhen ein freyes Geſicht zu erhalten, das ſich nicht in ein ſtets - waͤhrend Laͤcheln verkehrt, und auch nicht betruͤbt, finſter und ſaturniſch, ſondern gutes Humeur ſey, und bey allen Faͤllen und Geſellſchafften eine gute Contenance zu halten wiſſen. Der Autor des Traitè de la Civilitè moderne, bringt in ſeinemXXI. 185Von Manieren u. Stellungen des Leibes. XXI. Capitul ſehr viel Anmerckungen von der Con - tenance vor; er nimmt ſie aber meines Ermeßens in allzuweitlaͤufftigem Verſtande; ich glaube, daß ſie auf folgende Art am beſten und natuͤrlichſten koͤnnen erklaͤhret werden, wenn man ſagt, ſie ent - ſtehe, wenn man ſeine Handlungen mit einer guten Ordnung, Sittſamkeit und anſtaͤndigen Freyheit verrichtet, ohne daß man ſich durch die Perſonen, ſonderlich die Frembden oder Hoͤhern, die man bey dieſer oder jener Handlung zu Zuſchauern oder Zu - hoͤrern hat, ſich in einige Unordnung oder Verwir - rung ſetzen laſſe.

§. 8. Je groͤßer Geſchicklichkeit einer beſitzt, de - ſto weniger affectirter Weſen muß er dabey bli - cken laſſen. Denn dieſes pflegt der gemeine Schandfleck zu ſeyn, dadurch alle Qualitæten ver - dorben werden. Die hoͤchſten und vollkommen - ſten Eigenſchafften verliehren ihren Werth, wenn ſie mit Affectation verbunden; ein jederman ſie - het ſie ſo dann mehr vor einen gekuͤnſtelten Zwang, als vor eine freye und natuͤrliche Wuͤrcknng einer wahrhafften Geſchicklichkeit an. S. 123. Maxime vom Gracian. Ein natuͤrliches Weſen, das nicht nach dem Ceremoniel eingerichtet, laͤſt bißweilen manierlicher, als eine gezwungene Wohlanſtaͤndig - keit.

§. 9. Dieſe gezwungene Einrichtung der aͤußer - lichen Handlungen ruͤhret offtmahls daher, wenn die Menſchen den Hoͤhern entweder allzugeſchwin - de, oder allzueigendlich nachahmen wollen, und er -M 5wegen186I. Theil. VI. Capitul. wegen doch nicht den mercklichen Unterſcheid, der ſich zwiſchen ihnen und jenen findet, und inſonder - heit in Betrachtung gezogen werden ſolte. Man - cher junger Menſch, dem wegen ſeiner ſchlechten Auferziehung, die er erfahren, die Hof-Manieren unbekandt, ſperrt Maul und Augen auf, wenn er nach Hofe koͤmmt; So bald er nun einen erblickt, der entweder von dem andern vor ſehr manierlich geachtet wird, oder deſſen Thun und Weſen ihm nach ſeiner eigenen Wahl am beſten anſtehet, ſo will er ihn gleich in allen Tritten und Schritten, Worten und Geberden nachahmen, macht ſich aber durch dieſe gezwungene Nachahmung noch weit laͤ - cherlicher als zuvor. Was bey jenem wegen ſei - ner Taille, Geberden, natuͤrlichen Beſchaffenheit des Leibes, auch wohl wegen ſeines Characters und anderer moraliſchen Umſtaͤnde ein Wohlſtand, iſt hingegen bey dieſem der groͤſte Ubelſtand. Gegen einem großen Miniſter, dem etwas Hohes aus den Augen leuchtet, haben die Leute wegen ſeiner gravi - tætiſchen Mine, eine Ehrfurcht, und hingegen den andern, der ihm bey ſeiner geringen Bedienung nachthun will, halten ſie vor einen Phantaſten.

§. 10. Das manierliche Weſen wird nicht auf einmahl und durch einen jaͤhlingen Sprung einer gewaltſamen Nachahmung, ſondern durch fleißige Ubung und Application erlernt. Manche junge Leute thaͤten weit beſſer, wenn ſie ſich anfaͤnglich in ihren Geberden, Worten und Handlungen einer natuͤrlichen Erbarkeit, Sittſamkeit und Demuthbefliſſen,187Von Manieren u. Stellungen des Leibes. befliſſen, und ihre Unwiſſenheit in dieſem oder jenem anfrichtig bekennten, biß ſie es nach und nach durch guten Unterricht, fleißige Ubung und vernuͤnfftige Nachahmung in den Manieren weiter braͤchten. Leute, die in der Welt geweſen, wiſſen das natuͤrli - che von dem gezwungenen und affectirten Weſen, gar zu wohl zu unterſcheiden. Vernuͤnfftige Hof - Leute, und wenn ſie auch ſelbſt noch ſo manierlich, und die groͤſten Ceremonien-Meiſter waͤren, ver - langen von einem jungen Menſchen doch nicht mehr Manieren, als er faͤhig geweſen, ſeinen Jahren und den Umſtaͤnden nach, darinnen er ſich befunden, zu erlernen.

§. 11. Erwehlen ſich einige gar zu ihrer Nach - ahmung ſchlimme Muſter, ſo iſt es noch aͤrger. Es ſagt Faramond in ſeinen Diſcourſen uͤber die Sit - ten der gegenwaͤrtigen Zeit p. 146. ſehr wohl, wenn er ſchreibt: es iſt nichts, wodurch ſehr vielen jungen Leuten, ob ſie auch ſchon guten Verſtand und Ge - ſchicklichkeit haben, ihr Vorhaben mißlinget, als wenn ſie den boͤſen Muſtern auf eine knechtiſche Art nachahmen. Sie aͤffen insgemein den be - ruͤhmten Maͤnnern in gewiſſen Dingen nach, weil ſie dieſe Dinge aus Mangel der Erfahrung und ge - nugſamer Einſicht unrechtmaͤßiger Weiſe vor die Qvelle und vor die Urſache derjenigen Lobes-Er - hebung anſehen, die man ſolchen beruͤhmten Maͤn - nern haͤufig ertheilt.

§. 12. Die Menſchen bleiben gar ſelten auf der Mittel-Straſſe, ſondern fallen von einem laſterhaff -ten188I. Theil. VI. Capitul. ten Abwege auf den andern. Wenn manchen jungen Leuten ihre uͤbermaͤßige Ernſthafftigkeit, ihre bleyerne Erbarkeit, und faſt unbewegliche Sittſam - keit, als etwas unanſtaͤndiges, vorgeſtellt wird, ſo gerathen ſie nachgehends in ein gar zu fluͤchtiges, unſtetes nnd bewegliches Weſen. Jene gleichen den Statuen, oder den eiſernen Gaͤnſen, dieſe aber den Arlequins, Taſchen-Spielern, Seildaͤn - tzern und Gaucklern, die alle ihre Minen des Ge - ſichts, Stellungen des Leibes und ihrer Gliedmaſ - ſen, auf eine vielfache Weiſe, in Veraͤnderung ſetzen koͤnnen. Der Fehler einer allzugroßen Freyheit und Leichtſinnigkeit haͤnget ohnedem insgemein den - jenigen an, die ſich entweder viele und lange Jahre in Franckreich oder ſonſt unter der Frantzoͤſiſchen Nation aufgehalten, oder von derſelben aufgezogen worden. Denen, die eines ernſthafften, allzuſtillen, und traͤgen Temperaments, iſt der Umgang mit den Frantzoſen zutraͤglicher, als denen, die ohnedem von fluͤchtigen, feurigen und lebhafften Humeur. Al - ſo iſt es ferner ein irriger Weg, wenn einige von dem Frauenzimmer ſo treuhertzig ſind, daß ſie fremden Manns-Perſonen ohne Untẽrſcheid die Haͤnde druͤcken, oder ihnen ſonſt allerhand andere Careſſen erzeigen, oder von ihnen annehmen. Es iſt auch wider den Wohlſtand geweſen, da ein Frauenzimmer, wie der Autor der galanten Frau - enzimmer-Morale anfuͤhrt, als ſie einen Hand-Kuß bekommen ſollen, ſo zuruͤck geſprungen, als ob ihr etwas Boͤſes wiederfahren waͤre.

§. 13.189Von Manieren u. Stellungen des Leibes.

§. 13. Ein junger Menſch muß ſich bemuͤhen die Falten ſeines Geſichts, ſo viel als moͤglich, ſo ein - zurichten, daß andere Leute nach der Beſchaffenheit ihrer Urtheile, die ſie insgemein zu faͤllen gewohnt ſind, guͤtig davon urtheilen moͤgen. Kan er durch ſeine Bemuͤhung zuwege bringen, daß ſeine Phy - ſiognomie ihnen gefaͤlliger wird, ſo iſt es gut, wo aber nicht, ſo kan er deswegen auch unbeſorgt ſeyn, es iſt beſſer, daß einer andern Leuten ſeine guten Qualitæten in der That zeiget, ob ſie ihm ſchon die - ſelben nicht in dem Geſicht anſehen, als daß einer ein kluges und trefflich favorables Geſicht hat, da aber nichts weiter dahinter ſteckt.

§. 14. Jnſonderheit muß er ſich angelegen ſeyn laſſen, diejenigen Minen anzunehmen, die ſich vor ſeine Umſtaͤnde, und nach ſeiner Lebens-Art ſchicken, oder dem Willen ſeiner Obern und Vorgeſetzten gemaͤß ſind. Alſo wird eine freventliche und laͤ - chelnde Mine einem Officierer, der ein Regiment oder eine Compagnie Granadierer commandiren ſoll, vor unanſtaͤndig geachtet, ein anderer hingegen, der ein ſauer und finſter Geſicht zu machen weiß, wird ſchon vor braves angeſehen. Will ſich aber einer zu einem Hof-Mann qnalificiren, ſo wird ihm das finſtere Soldaten-Geſicht zu keinem Recom - mendation-Schreiben dienen. Manch anſehn - lich geiſtlich und weltlich Amt, erfodert eine gravi - tætiſche und ernſthaffte Mine, und hilfft auch biß - weilen bey den Subalternen und bey den Geringern, die alle Tritte, Schritte, Reden und Minen ihrerVor -190I. Theil. VI. Capitul. Vorgeſetzten zu beobachten pflegen, ein groͤßer An - ſehen zuwege bringen. Nun beruhet es zwar nicht in der Macht eines Menſchen, ſein Geſicht zu aͤn - dern, ſondern er muß die Augen, den Mund, die Naſe und die gantze Stellung ſeines Geſichtes be - halten, wie ſie ihm GOtt geſchaffen, es mag andern Leuten gefallen oder nicht; jedoch kan man durch die Bemuͤhung eine und die andere Geberde aͤn - dern, und durch oͤfftere Wiederhohlung eine die uns erſtlich fremde und ſchwehr war, ſo ange - woͤhnen, daß ſie uns mit der Zeit eigenthuͤmlich wird.

§. 15. Diejenigen Geberden, welche die Fran - tzoſen l’air zu nennen pflegen, und die nach Veran - laſſung des aͤuſſerlichen oder innerlichen, ſo in unſe - rer Seele vorgegangen, auf eine Zeitlang in unſern Geſicht erwecket werden, ſtehen eher in unſerer Ge - walt, als die vorhergehenden, die zu der gantzen Phyſiognomie gehoͤren. Dieſe muß man nach den Umſtaͤnden der Zeit, des Ortes, und der Perſo - nen, bey denen man ſich aufhaͤlt, weißlich zu lencken und zu veraͤndern wiſſen. Jſt man in der Kirche, oder bey einer heiligen Handlung, ſo muß man ehr - erbietige Geberden machen, und handeln daher manche von unſern jungen Leuten beyderley Ge - ſchlechts, die ſich an ſolchen Oertern ſo frech und wilde auffuͤhren, als ſie nimmermehr bey einer Dantz-Verſam̃lung thun koͤnten, gar ſehr wider den Wohlſtand. Befindet man ſich in einem Trauer - Hauſe, und ſtattet eine Trauer-Viſite ab, ſo mußman191Von Manieren u. Stellungen des Leibes. man traurige Geberden annehmen. Man lerne den im Hertzen verborgen liegenden Affect, und der ſich gerne in den Zuͤgen des Geſichts zu aͤußern pflegt, kuͤnſtlich verbergen, und ſolche Minen an ſich zu nehmen, die ihm entgegen geſetzt. Die Feinde blicke man mit freundlichen Geberden an, und denen Frauenzimmer, vor die man in ſeinem Hertzen Paſ - ſion heegt, begegne man kaltſinnig, damit andere nicht klug aus uns werden. Dieſe Regeln gehoͤ - ren zu der Verſtellungs-Kunſt, die allenthalben, inſonderheit aber an den Hoͤfen, ſo gar ſehr noͤthig iſt.

§. 16. Denen unanſtaͤndigen Minen, dadurch ſich mancher Verdruß und des andern Unwillen uͤber den Halß ziehet, ſind auch die hoͤniſchen Ge - berden beyzuzehlen, da ſich einige angewoͤhnt, die andern, bey denen ſie nicht durch die Furcht zuruͤck gehalten werden, geringe zu achten, ſproͤde zu tracti - ren, und uͤber alle ihre Worte und Wercke auf ei - ne hoͤniſche Weiſe das Maul zu ruͤmpffen. Die - ſes Laſter bringt zwar allen Leuten, die ihm ergeben, Haß zu Wege, inſonderheit aber jungen Leuten, indem dieſe ſelbſt noch am unvollkommenſten, und ſich uͤber andere Leute am wenigſten aufhalten ſollen.

§. 17. An einer wohlanſtaͤndigen Regierung der Augen iſt viel gelegen; die Dames haben ihre ge - wiſſe Regeln und Anmerckungen, wie die Augen zu zu lencken, damit ſie zum charmiren und zum rei - tzen der Manns-Perſonen geſchickt ſeyn, auch demgantzen192I. Theil. VI. Capitul. gantzen Geſicht ein lieblich Anſehen zu Wege bringen. Doch dieſes gehet uns nichts an, wir wol - len uns jetzund um etwas anders bekuͤmmern. Hat ein junger Cavalier die Gnade und Ehre, daß ihm eine hohe Standes-Perſon, eine vornehme Dame, oder ſonſt ein großer Miniſter, der Anrede wuͤrdiget, oder er hat Erlaubniß, ſie anzureden, ſo muß er nicht aus Bloͤdigkeit, wie einige zu thun pflegen, die Au - gen auf die Erde ſchlagen, ſondern ſie getroſt an - ſehen, jedoch mit keiner frechen, ſondern beſcheide - nen Geberde. Das Niederſchlagen der Augen auf die Erde, zeiget eine gar ſchlechte Aufferziehung an, und wird vor das Merckmahl eines tuͤckiſchen und heuchleriſchen, oder doch eines furchtſamen Men - ſchen gehalten. Einige von den jungen Leuten ſind allzuſcheu in dem Umgange mit der großen Welt, ob es ſchon ihnen nicht eben an Qualitæten fehlt, die zu dieſem Umgange noͤthig ſind. Der Herr Hof-Rath Nemritz meldet von einem ſolchen in ſeinem Sejour de Paris p. 22. den er Geronte nennt. Er ſagt: der Wohlſtand erfordert, daß Geronte zuweilen bey vornehmen Leuten ſeine Aufwartung machen muß. Allein, er ſolte, ich weiß nicht was drum geben, daß er davon moͤchte diſpenſirt ſeyn. Das Hertz im Leibe klopfft ihm, wenn er nur in die Antichambre kommt, da ihm doch dieſe Herren wegen ſeiner Auffuͤhrung al - lemahl mit der groͤſten Hoͤfligkeit und Wohlwollen begegnen.

§. 18. Wider den Wohlſtand iſt es auch, wenneinige193Von Manieren u. Stellungen des Leibes. einige von den jungen Leuten ſtets vor ſich hin auf einen Fleck ſehen; es ſey nun, daß ſie wuͤrcklich ſpeculativ ſind, und ihre Gedancken auf einen ge - wiſſen innerlichen oder aͤuſſerlichen Gegenwurff ge - richtet, oder daß es doch ſcheinet, als ob ſie in Ge - dancken waͤren. Wer ſpeculiren und nachſinnen will, muß in ſeinem Zimmer bleiben, und nicht in Geſellſchafften gehen, hier ſchickt ſichs nicht, es hat alles ſeine Zeit. Dieſer Fehler wird einem tieff - ſinnigen Mathematico, der ſich durch ſeine Erfin - dungen in der Welt beruͤhmt macht, eher zu gut ge - halten, als einem jungen Cavalier, der ſein Gluͤck in der Welt machen, und allen allerley werden ſoll.

§. 19. Eine unangenehme Mine iſt es, wenn junge Leute, bey Hofe oder in andern Geſellſchaff - ten, eine fremde Perſon, zumahl eine ſolche, die hoͤ - her iſt, als ſie, mit unverwandten Augen ſtets anſe - hen, und ſie von Fuß auf biß auf den Kopff betrach - ten. Eine ſolche Betrachtung ſcheinet entweder allzu vornehm, oder allzu gemein; ich ſage allzu vor - nehm, indem hohe Standes-Perſonen, wie ich oben angefuͤhrt, oͤffters die Gewohnheit an ſich haben, die Geringern auf dieſe Art zu betrachten und zu be - urtheilen. Was aber jenen frey ſtehet, iſt deswe - gen dieſem nicht erlaubt. Allzu gemein laͤſt es, weil man ſich hierinnen dem Poͤbel aͤhnlich erweiſet, der eine praͤchtig angekleidete Perſon, die ihm nicht alle Tage vor die Augen kommt, mit aufgeſperrtem Maul und der groͤſten Verwunderung, eine langeNZeit194I. Theil. VI. Capitul. Zeit ſteiff und ſtarr anſiehet. Werden dergleichen unverwandte Blicke auf ein wohlgebildet Frauen - zimmer gerichtet, ſo macht ſich ein junger Menſch, theils bey dem Frauenzimmer ſelbſt, die er ſo genau in Augen behaͤlt, theils auch bey andern Leuten, die ſeine Paſſion hiedurch zu errathen gedencken moͤch - ten, noch laͤcherlicher.

§. 20. Da an den Geberden ſo ſehr viel gelegen, ſo thaͤte es noͤthig, daß ſich mancher in ſeinem Zim - mer etliche Stunden lang vor den Spiegel ſtellte, und Lectiones gaͤbe, auf was vor Art er ſein Ge - ſichte in die gehoͤrigen Falten richten moͤchte, damit er gute Mine machte. Unartig hingegen iſt es, wenn einige in Geſellſchafften ſich vor die groſſen Spiegel ſtellen, eine lange Zeit ohne Raiſon darin - nen beſchauen, und ſich uͤben, wie ſie liebliche Ge - berden machen und alles mit einer guten grace ver - richten moͤgen.

§. 21. Einige haben keine Ungeberden an ſich, wenn ſie mit ihren Gliedmaſſen des Leibes in Ru - he ſind, ſo bald ſie aber mit ihren Haͤnden oder Fuͤſ - ſen eine Action vornehmen, gehen die Ungeberden an. Alſo machen einige, wenn ſie ſich auf einem muſicaliſchen Inſtrument hoͤren laſſen, oder tren - chiren, mahlen, drechſeln, peroriren, dantzen, u. ſ. w. theils allzu douçe und freundliche, theils finſtere und gravitaͤtiſche, theils auch ſonſt hoͤchſt alberne und unartige Minen.

§. 22. Ein junger Menſch muß ſich, wie in allen ſeinen aͤuſſerlichen Handlungen und Geberden, alſoauch195Von Manieren u. Stellungen des Leibes. auch bey dem Lachen vernuͤnfftig und maͤßig auf - fuͤhren. Die Sittſamkeit und Erbarkeit erſtreckt ſich zwar nicht ſo weit, wie einige junge Leute den - cken, als ob man in Gegenwart hoher Standes - Perſonen, oder ſonſt in Geſellſchafft vornehmer Leute gantz und gar nicht lachen duͤrffte; Dieſes gehet nur die Subalternen und Bedienten an, die ſich bey einer Geſellſchafft befinden, und dabey auf - warten, nicht aber, die ſich unter der Geſellſchafft mit aufhalten; dieſen iſt erlaubt zu lachen, und ſie haben nicht noͤthig, bey allen demjenigen, was laͤ - cherlich vorkommt, ein ſinſter und ſauer Geſicht zu machen; ſie muͤſſen aber nicht allein lachen, ſondern zu der Zeit, wenn andere vernuͤnfftige Leute mit la - chen, und uͤber ſolche Sachen, die das Lachen ver - dienen, ſie muͤſſen die erſten mit ſeyn, die zu lachen aufhoͤren, in keinem wunderlichen Thon oder laͤ - cherlich Geziſche dabey ausbrechen, und nicht ſo, daß ſie vor allen andern zu hoͤren ſeyn. Der von Faramond hat, in dem erſten Theil ſeiner Diſcourſe uͤber die Sitten der gegenwaͤrtigen Zeit, das Lachen in folgende Claſſen eingetheilt, als, in die laͤchelnde Geberde, oder das halbe Laͤcheln, in das Laͤcheln, in das Lachen, in das hoͤniſche Lachen und laute La - chen. Das halbe Laͤcheln geſchiehet nur deswe - gen, damit man eine neue Annehmlichkeit an den Lineamenten des Angeſichts erlangen moͤge, und die Damen bedienen ſich deſſen offtermahls zum Fallſtrick, um einen ſolchen Liebhaber zu fangen, der ſich durch ihre Liebes-Reitzungen nicht geſchwin -N 2de196I. Theil. VI. Capitul. de genug uͤberwinden laͤſt. Das Laͤcheln iſt insge - mein eine Eigenſchafft des weiblichen Geſchlechts, und dererjenigen, welche ihnen aufwarten, es druͤckt die Vergnuͤgung des Hertzens aus, und bezeiget ei - nen gewiſſen ſtillſchweigenden Beyfall. Das ge - woͤhnliche Lachen iſt jederman bekandt. Das hoͤ - niſche Lachen iſt eine Eigenſchafft der Menſchen, die ihre Luſt darinnen ſuchen, daß ſie ſich mit Schaden anderer Leute, und ſo gar auch ihrer eigenen Freun - de, ergoͤtzen, und der gantze Grund ihres ſchertzen - den Gemuͤths, ruͤhret von ihrer boͤſen Unart her. Das laute Lachen ſoll ein Merckmahl ſeyn, daran man inſonderheit das Land-Frauenzimmer erken - net. S. ſeinen XXVIII. Diſcours.

§. 23. Man findet eine gewiſſe Art Leute, welche ſtets, und auf oͤffentlicher Gaſſe, etwas an ſich zu thun finden, bald den Hut, bald die Peruque, bald die Schuhe, bald die Manchetten, bald die Krauſe, bald die Struͤmpffe accommodiren, und wenn ſie ſich ein paar neue Handſchuh gekaufft, innerhalb 50. Schritte, dieſelben etliche mahl aus - und anzie - hen, ſtets zuruͤck und in alle Fenſter ſehen, und ſich alſo jedes mahl in Ordnung der Poſitur ſtellen, ſich auch wohl gar mit dem Diener, der hinter ihnen ſte - het, herum zancken. Herr Paſch giebt dieſen Leu - ten, in ſeiner Dantz-Kunſt, p. 123. und zwar mit gutem Recht, den Nahmen der Pedanten. Andere ſpielen ſtets mit etwas in den Haͤnden, bald mit dem Spaniſchen Rohr, welches ſie zu vielen mahlen herumdrehen, bald mit der Quaſte oder den Rie -men,197Von Manieren u. Stellungen des Leibes. men, der dran iſt, den ſie bald auf - bald wieder zu - knuͤpffen, u. ſ. w. Die Dames machen mit ihren Eventails hunderterley Exercitia, da ſie ſolche bald ausbreiten, bald wieder zuſammen legen, ſich bald hurtig ſecheln, bald wieder mit der groͤſten Langſamkeit. Wolte man auf einige recht ſcharff Acht haben, ſo koͤnte man ihre Paſſionen aus dieſem Spielwercke einiger maſſen mit erkennen lernen. Sind ſie auf etwas ſehr erbittert, oder uͤber etwas froͤlich und vergnuͤgt, ſo fecheln ſie ſich hurtig; ſind ſie gelaſſenen Gemuͤths, ſo ſind ſie auch gantz mo - derat in ihrem Fecheln; ſind ſie in Gedancken, und ſpeculiren auf etwas, ſo ſpielen ſie entweder nur mit den Eventail, und fecheln ſich gar nicht, oder doch ſehr langſam. Ob nun ſchon dergleichen Ba - dinerian an ſolchen Orten und unter ſolchen Per - ſonen, wo man ſeine Handlungen mit einer groͤſten Freyheit vornehmen kan, vor unſchuldig und zulaͤſ - ſig zu achten, ſo muß man ſich doch in Acht nehmen, daß man nicht, weñ man ſich in groſſen Geſellſchaff - ten befindet, manchen Leuten, die andere ſo gerne zu obſerviren pflegen, zu ſolchen Urtheilen Gelegenheit gebe, deren man uͤberhoben ſeyn koͤnte.

§. 24. Pedantiſch laͤſt es, wenn einige faſt eben ſo viel mit den Haͤnden, als mit den Worten, bey ihren Geſpraͤchen ausdruͤcken wollen, und dem an - dern, der ſich mit ihnen in einen Diſcours einlaͤſt, durch ihr herum-vagiren, ohne ihren Willen und aus einer guten Meynung, in das Geſichte fahren, ſo, daß der andere, will er ihre DemonſtrationesN 3mit198I. Theil. VI. Capitul. mit der Hand nicht auf ſeiner Naſe oder Backen er - fahren, ſtets zuruͤck treten, und ſich weiter von ihnen entfernen muß. Manche von den jungen Leuten wiſſen nicht, wo ſie unter waͤhrendem Diſcours, oder bey einer vornehmen Aufwartung, ihre Haͤnde mit einer guten grace hinthun ſollen. Jch hoͤrte ein - ſten eine hohe und verſtaͤndige Dame raiſoniren: Manche von unſern jungen Teutſchen verreißten viele tauſend Thaler, und braͤchten, auſſer einigen verchamerirten Kleidern und andern Galanterien, aus Franckreich und andern fremden Laͤndern, we - nig gute Qualitaͤten mit ſich, waͤren auch wohl bey ihrer Zuruͤckkunfft ſo ungeſchickt, daß ſie nicht wuͤß - ten, wenn ſie mit einer Dame diſcourirten, wo ſie die Haͤnde laſſen ſolten. Einige vagiren ſtets da - mit herum, und machen allzu geſchwinde Veraͤnde - rungen, andere aber ſind allzu ſteiff, ſie ſtecken die Haͤnde entweder in Schubſack oder oben in die Weſte, u. ſ. w.

§. 25. Es iſt viel daran gelegen, daß ein junger Menſch einen zierlichen Reverence cavalierement machen kan, der mit einer wohlanſtaͤndigen Mine vergeſellſchafftet werde, ſintemahl unterſchiedene Fehler von Leuten, die doch ſonſt im uͤbrigen wohl zu leben wiſſen, dabey vorgehen, einige machen ſie allzu tief und dabey zu ſchnell, und gewinnet es das Anſehen, als ob ſie anfiengen zu fallen; andere wollen den Ruͤcken nicht beugen, als ob ſie einen Drath darinne angehefftet haͤtten, der nicht nach - geben wolte, noch andere wackeln mit dem Kopffdazu,199Von Manieren u. Stellungen des Leibes. dazu, manche machen ihre Reverences gar zu nach - laͤßig, ſie ſtreichen den Fuß hinten weit aus, u. ſ. w.

§. 26. Jn dem Gange, an welchen ein Menſch mit erkandt werden kan, zeigen ſich ebenfalls hin und wieder mancherley Ungeberden. Einige die von gar langer Statur, wollen etwas kleiner ausſe - hen, als ſie ſind, und gehen daher gebuckt, die Klei - nen zwingen ſich allzuſehr, in Erhebung des Haup - tes und der Bruſt, damit ſie ſich ihrer Einbildung nach ein etwas groͤßer Maaß zuwege bringen. Vie - le gaffen auf der Gaſſe herum, wie die Handwercks - Purſche, die ſich allenthalben nach lauter Wahr - zeichen umſehen, einige treten in dem Zimmer all - zu ſcharff auf, und erregen bey ihrem Gehen ein groß Getoͤſe, welches ſonderlich in den Gemaͤchern der hohen Standes-Perſonen, oder der Dames, ſehr unangenehm laͤſt, andere hingegen richten ih - re Schritte ſo leiſe ein, als ob ſie ſich in einem Wo - chen-Zimmer befaͤnden, manche formiren ſo weite Schritte, wie die Boten-Laͤuffer, und noch andere hingegen ſo enge und kleine Schrittgen, wie eine Braut-Jungfer auf einer Hochzeit. Wer nun hierbey, wie allenthalben, die Mittel-Straſſe be - obachtet, trifft es am beſten.

§. 27. Wenn man auf der Gaſſe gehet, muß man ſich ſo wohl in Anſehung des Gruͤſſens und des Hut-abziehens, als auch wegen des Tragens des Hutes unter dem Armen, erkundigen, was an einem jeden Orte gebraͤuchlich, damit man nicht ausgelacht werde, ſintemahl man hieruͤber keineN 4allge -200I. Theil. VI. Capitul. allgemeine Regeln ertheilen kan. An einigen Or - ten iſt es, wie in Franckreich, gebraͤuchlich, daß man den Hut unter dem Arm traͤgt, um die gute Peru - que nicht zu verderben; an andern hingegen wird der Hut auch auf eine wohl accommodirte Peruque geſetzt. So viel iſt es richtig, daß man zur Win - ters Zeit, und bey einer Peruque, an der nicht gar viel zu verderben, den Hut mehrentheils aufzuſetzen pflegt.

§. 28. Damit man alles unanſtaͤndige fahren laſſe, und hingegen das manierliche annehme, muß man ſich und andere genau kennen lernen. Man muß die Beſchaffenheit ſeiner Minen erforſchen, die Stellung ſeines Leibes und deſſen Gliedmaßen, auch ſo gar ſeine Conſtitution und Temperament in Obacht nehmen. Erblickt man andere, die von ungeberdiger Auffuͤhrung, ſo muß man nachden - cken, ob wir nicht auch etwas haben, daß dieſem entweder gleich, oder doch aͤhnlich iſt, und ſich alſo auch fremde Thorheiten zu Nutze machen. Ande - re manierliche Leute muß man ſich zum Muſter vor - ſtellen, denen man zwar nicht auf eine gezwungene, ſondern vernuͤnfftige Weiſe nachahmt. Man muß weiſe Leute aufſuchen, die einem hierinnen dienliche Regeln und Nachrichten ertheilen, inſon - derheit ſich nach einen geſchickten und vertrauten Freund bewerben, der einem die unbekandten Feh - ler anzeige. Sind einem ſeine Fehler entdeckt worden, muß man mit allen Ernſt dawider arbei - ten, und ſich hiebey ein wenig wehe thun lernen.

§. 29.201Von Manieren u. Stellungen des Leibes.

§. 29. Die Exercitien-Meiſter, inſonderheit aber die Dantz-Meiſter, die der Morale wohl kundig, ſich auf ihren Reiſen ſattſam qualificirt gemacht, und in der großen Welt geweſen, koͤnnen in dieſem Stuͤck jungen Leuten ſehr gute Dienſte leiſten, und ihnen nicht allein die Ungeberden, die ſie bey den Dantzen an ihrer Stellung des Leibes, und ihrer Gliedmaßen wahrnehmen, mit guter Manier an - zeigen und verbeſſern, ſondern auch alles unanſtaͤn - dige, was ſie bey den Minen ihres Geſichts finden, nach und nach abgewoͤhnen. Es iſt aber zu bekla - gen, daß die Dantz-Meiſter, die zugleich faͤhig waͤ - ren, in dieſen und andern Stuͤcken mehr Tugend - und Sitten-Lehren abzugeben, ſo gar duͤnne geſaͤrt, maßen ihrer viele ſelbſt einen Lehr-Meiſter brauch - ten, der ihnen ihr affectirtes Comœdianten - hafftes Weſen und uͤbrigen Grimacen abge - woͤhnte.

Das VII. Capitul. Von dem Aufenthalt an Hoͤfen.

§. 1.

EJn junger Cavalier, deſſen Umſtaͤnde es verſtatten wollen, thut uͤberaus wohl, wenn er mancherley fremde Hoͤfe be - ſucht, und ſich eine Zeitlang an denſel - ben aufhaͤlt, um ſich je mehr und mehr zu qualifi -N 5ciren;202I. Theil. VII. Capitul. ciren; jedoch muß er eine ſolche Tour nicht eher unternehmen, biß er ſich gepruͤfet, ob er auch die noͤ - thigen Qualitæten beſitze, ſich mit Ehre zu zeigen, und daſelbſt zu mainteniren maßen die meiſten Hoͤ - fe, eine ſolche hohe Schule, bey der geſcheite Leute noch kluͤger und politer, die einfaͤltigen und un - verſtaͤndigen aber noch viel thoͤrichter werden koͤn - nen, als zuvor.

§. 2. Einige rathen, man ſolte erſt kleine Hoͤfe beſehen, ehe man die großen beſuchen wollte, an jenen koͤnte man die Hof-Manieren nach und nach lernen, und ſich hernach mit deſto groͤßerer Reputa - tion an den großen aufhalten, da hingegen die Auffuͤhrung an einem großen Hofe weit behutſa - mer und accurater eingerichtet werden muͤſte. Ob nun zwar dieſe Meynung eben nicht ſo gar un - gegruͤndet, ſo glaub ich doch, daß ein junger Cava - lier beſſer thut, wenn er ſich zuerſt an große Hoͤfe begiebt, ich ſetze aber hiehey dasjenige, was ich in vorhergehenden §. angefuͤhrt, zum Grunde. An einem großen Hofe werden die Fehler eines jungen Menſchen faſt noch mehr verdeckt als an einem klei - nen; Man macht ſich daſelbſt viel weniger draus, man iſt mancherley Fehler der jungen Leute viel eher gewohnt, man nimmt ſie unter der großen Menge der Leute weniger wahr, man entſchuldiget ſie eher; wenn aber ein Fremder an einem kleinen Hofe ſeine Perſon auf den Schau-Platz ſtellt, und weiß ſie nicht wohl zu ſpielen, ſo unterwirfft er ſich tauſender - ley ſpoͤttiſchen Urtheln. Uberdieſes hat ein junger Ca -valier203Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. valier an andern Hoͤfen weit mehr Ehre zu gewar - ten, der ſich an einem großen Hofe eine Zeitlang arritirt gehabt, und daſelbſt wohl aufgenommen geweſen.

§. 3. Was vor Hoͤfe, und wie viel deren ein junger Cavalier beſehen ſoll, kan man uͤberhaupt nicht ſagen, ſondern dieſe Regel muß er vor ſich ſelbſt finden, wenn er ſeinen Haupt-Entzweck, die kuͤnfftige Lebens-Art, die er ſich zu erwehlen ge - denckt, vor den Augen hat; die Zeit, die er auf ſolche Touren wenden kan, uͤberlegt, und vornemlich mit ſeinem Beutel vorher einen Uberſchlag macht. Je mehr Hoͤfe er beſehen kan, je angenehmer wird es vor ihm ſeyn, und je mehr wird er ſich qualificiren. Vor allen andern Hoͤfen ſolten unſere Teutſchen Paſſagierer den Hof des allerhoͤchſten Ober - Hauptes der Chriſtenheit, der Roͤmiſchen Kaͤyſer - lichen Majeſtaͤt, zu Wien beſuchen, und ſich einige Monathe an demſelben aufhalten. Es iſt gewiß eine Schande, daß viele von unſern Teutſchen Ca - valieren an fremden Hoͤfen außer Teutſchland vie - le tauſend Thaler verthun, und hingegen den Hof ihres Kaͤyſers wohl niemahls beſuchen.

§. 4. Es begebe ſich einer nicht leichtlich an ei - nen ſolchen Hof, von dem man vorher verſichert, daß entweder unſer Bezeugen und unſere Umſtaͤn - de dem Hofe, oder die an dem Hofe eingefuͤhrte Obſervanz und Lebens-Art, unſern Umſtaͤnden und Neigungen, nicht gemaͤß noch anſtaͤndig ſeyn wer - den, denn ſonſt wuͤrde man ſchlechten Nutzen undſchlechte204I. Theil. VII. Capitul. ſchlechte Zufriedenheit davon zu erwarten haben; Wer alſo den Trunck nicht vertragen kan, muß die Hoͤfe meyden, wo man bey dem uͤbermaͤßigen Tꝛuncke keine Diſpenſation erhalten kan. Wer maͤſ - ſige Einkuͤnffte beſitzt, darf ſich an den Hoͤfen, wo alles mit einer beſondern Magniſicence zugehet, oder große Geld-Summen in Spielen aufgeſetzt werden, nicht lange aufhalten.

§. 5. Man thut uͤberaus wohl, wenn man ſich vorhero, ehe man den Hof beſieht, nach allen un - vermeydlichen und zum Wohlſtand erforderlichen Ausgaben genau erkundiget, damit man ſich dar - nach zu richten wiſſe, und bey der Zeit ſeines Auf - enthalts eine durchgehends gleiche Conduite be - obachten moͤge. Es laͤſt ſehr ſchlecht, wenn man einige Wochen einen großen Staat macht, ſich in Quartier, Equipage u. ſ. w. praͤchtig auffuͤhrt, oder alle Tage in Spiel-Geſellſchafften antreffen laͤſt, und groſſe Summen mit aufſetzt, hernach aber die uͤbrige Zeit zu Fuß gehet, das propre Quartier mit einem ſchlechten verwechſelt, und faſt keine Geſell - ſchafft mehr beſucht, ſo daß man ſich nachgehends bey andern Leuten durch dieſe jaͤhlinge Veraͤnde - rung laͤcherlich macht.

§. 6. Kommt ein junger Cavalier in eine Fuͤrſt - liche Reſidentz, ſo muß er wiſſen, wie er ſich bey Hofe zu melden habe, und durch wen er introdu - ciret, und bey den Durchlauchtigſten Herrſchaff - ten præſentiret werden koͤnne. Damit er in kei - nem Stuͤck verſtoße, ſo muß er ſeine erſte Sorgeſeyn205Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. ſeyn laſſen, wie er das Ceremoniel bey den Zim - mern, bey der Tafel, bey den Geſundheits-Trin - cken, und ſonderlich bey der Aufwartung der Durch - lauchtigſten Herrſchafft, erfahren moͤge. Wo ſich unterſchiedene Fuͤrſtliche Anverwandten zu - gleich auf dem Schloß oder in der Reſidentz auf - halten, es moͤgen nun einige von den Hoch-Fuͤrſt - lichen Eltern / oder von den Hoch-Fuͤrſtlichen Ge - ſchwiſtern, oder andern Anverwandten ſeyn, ſo muß er gehoͤrige Acht haben, daß er allenthalben ſeine Aufwartung, nach der ihnen zuſtehenden Rang-Ordnung abſtatte, und keine von dieſen Fuͤrſtlichen Perſonen, wo eine Aufwartung erlaubt, verſehen moͤge.

§. 7. Es kan nicht ſchaden, wenn ſich einer, zu - mahl an einem gantz fremden Hofe, da er keinen Bekandten hat, den er in etwas zu Rathe ziehen kan, an den Hof-Fourier andreſſirt, und demſel - ben einen Species-Thaler oder Ducaten in die Haͤn - de druͤckt. Durch dieſe kleine Freygebigkeit kan er mancherley Nachrichten erlangen, die ihm gute Dienſte leiſten. Ob es ſchon andere erfahren ſol - ten, ſo wird es einem doch kein vernuͤnfftiger Menſch verdencken, ſondern die meiſten werden es ihm recht ſprechen, daß er hierunter ſo gute Behutſamkeit an - wendet. Doch muß einer auch bey dergleichen Fragen, Klugheit und Vorſichtigkeit gebrauchen, damit man nicht den Schein von ſich gebe, als ob man den Hof ausſpioniren wolle. Wer bey Ho - fe ſich im Nachfragen allzu neugierig erweiſet, er -faͤhret206I. Theil. VII. Capitul. faͤhret offt deſto weniger. Bey einem kaltſinnigen Weſen kan man mit guter Manier bißweilen mehr erfahren, als durch eine allzu groſſe Begierde im Nachforſchen. Es finden ſich auch wohl bißweilen loſe Leute, die einem manche falſche Nachricht auf den Ermel hefften.

§. 8. Ein junger Cavalier bewirbt ſich, ehe er an einen fremden Hof gehet, entweder bey einem und anderm Miniſter, oder bey einem Cavalier, der ſein guter Freund iſt, um ein Schreiben an ei - nen Miniſter oder Cavalier des Hofes, den er beſuchen will, darinnen von ſeiner Perſon ein vortheilhafft Portrait gemacht, oder ſonſt von ſeinen Umſtaͤnden eine ihm dienliche Nachricht ertheilet wird. Es kan einer bißweilen in vier Wochen nicht dasjenige ſelbſt von ſich ſagen, was der andere in vier Zeilen ſchreiben kan; Es wird ihm ſodann ein viel beſſer Acceuil gemacht werden. Viel Hof-Leute werden der Curioſitaͤt uͤberhoben, ihn in ihren Diſcourſen auszuforſchen, und ſich nach ſeinen Umſtaͤnden zu erkundigen. Der Hof wird ihm beſſere Mine machen, und deſto eher wiſſen, was er von ihm, ſo wohl in Anſehung ſeiner Ge - ſchicklichkeit, als auch ſeiner Ausgaben, verlangen koͤnne, u. ſ. w.

§. 9. Hat er aber nicht Gelegenheit, ein Re - commendations-Schreiben an einen fremden Hof zu erlangen und er muß ſich ſelbſt bekandt machen, ſo muß er ſich bey ſeiner Ankunfft alſobald bey dem Hof-Marſchall, Hauß-Marſchall, Hofmeiſter,Stall -207Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. Stallmeiſter, oder wer ſonſt den Stab fuͤhret, mel - den laſſen, und ihm mit Demuth und Sittſamkeit einige Information geben, von ſeiner Herkunfft und Familie, von ſeinem Metier, ob er vom Studiren, vom Degen, von der Jaͤgerey oder von der Wirth - ſchafft Profeſſion zu machen geſonnen, warum er an dieſen Hof gekommen, und wie lange er ſich da aufzuhalten gedencke. Meldet er gar nichts von ſich, ſo veranlaſt er ein hauffen vergebne Urtheile wegen ſeiner Perſon, er beſchweret ſich mit allzu vielen Fragen, die ihm die andern thun werden, oder macht ſich wohl gar verdaͤchtig und veraͤchtlich.

§. 10. Thut ihm die Herrſchafft die Gnade, und laͤſt ihm durch ihre Caroſſe und Bedienten nach Hofe holen, ſo muß er nicht unterlaſſen, die Diſcre - tionen an den Hof-Fourier, Hof-Laquais, Kut - ſcher, u. ſ. w. zu entrichten, die bey dergleichen Eh - ren-Faͤllen noͤthig ſind. So muß er es auch bey dem Mundſchencken, bey dem Fuͤrſtlichen Biblio - thecario, Inſpector der Raritaͤten-Cammer, des Muͤntz-Cabinets, u. ſ. w. an ſolchen gewoͤhnlichen Præſenten nicht fehlen laſſen; denn ſonſt giebt er ſolchen Leuten nur Gelegenheit, daß ſie von ſeiner Perſon veraͤchtlich urtheilen. Die Geſchencke muß er nach Proportion ſeines Ranges und ſeines Beutels einrichten. Bezeigt er hierbey eine allzu - groſſe Freygebigkeit, ſo wird er von Leuten, die ihm, um ihres Eigennutzes willen, ihre Dienſte allzu offt anbieten, gar zu ſtarck beunruhiget, und es werden ihm nachgehends bey allen Faͤllen zu viel Ausgabenzugemu -208I. Theil. VII. Capitul. zugemuthet. Noͤthiger iſt es, wenn er, ohne ſich ungluͤcklich zu machen, bey Fuͤrſtlichen Feſtivitaͤten, Nahmens-Taͤgen, Geburths-Taͤgen, u. ſ. w. der Herrſchafft zu Ehren ſolenne Depenſen machet, als wodurch er ſich in beſondere Gunſt ſetzen kan.

§. 11. Hat er dem Hofe von den Umſtaͤnden, die ſeine Perſon angehen, ſo viel Nachricht ertheilet, als er glaubet, daß ihm zu wiſſen noͤthig, ſo redet er nachgehends nichts weiter von ſich, auſſer warum er befragt wird. Jſt er in ungluͤckſeligen Zuſtande, ſo klaget er nicht, denn er weiß wohl, daß er hier gar leidige Troͤſter antrifft, die ihn, ſo bald er ihnen den Ruͤcken zukehret, nur auslachen, und ſeiner Klagen, als einer Sache, die ſie nichts angienge, ſpotten, ſich auch nachgehends je mehr und mehr von ihm abzie - hen, und ſich ſeiner ſchaͤmen. Hat ihn aber GOtt mit einen und andern zeitlichen Vortheilen begna - diget, ſo prahlet er nicht damit, wie einige thoͤrichte junge Leute zu thun gewohnt, die andere Leute mit ihren Ritter-Guͤtern, die ſie einmahl von ihren El - tern zu hoffen haben, mit den vornehmen Miniſtris, bey denen ſie in groſſen Gnaden ſtehen, und von de - nen ſie an dieſen Hof Recommendations Schrei - ben mitgebracht, mit den vielen Bedienten und der koſtbaren Equipage ihres Herrn Vaters und ihrer Frau Mutter, und vielen andern Dingen mehr, zu unterhalten pflegen. Sie gewinnen aber blut - wenig durch ihr Aufſchneiden: theils reitzen ſie den Neid und die Mißgunſt wider ſich, ſind ſie noch da - zu geitzig, ſo laden ſie einen allgemeinen Haß aufſich;209Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. ſich; theils bekommen ſie mehr gute Freunde, als ihnen lieb oder zutraͤglich iſt; ein jeder will von ih - rem Gluͤck und Einkuͤnfften Nutzen ziehen. Sie ſuchen ſie in die Spiel-Geſellſchafften zu locken, zu - mahl wo ſie mercken, daß ſie die Spiele nicht recht verſtehen; ſie bemuͤhen ſich, ſie zu mancher Ausga - be zu uͤberreden, deren ſie haͤtten koͤnnen uͤberhoben ſeyn, und lieben ſie auf eine Zeitlang um ihres Gel - des willen auf den Schein.

§. 12. Ein vernuͤnfftiger Menſch laͤſt an einem fremden Hofe dieſes ſeine erſte Sorge mit ſeyn, daß er die neigungen der Cavaliers und Dames erken - nen und beurtheilen lernt, damit er wiſſe, wie er ei - nem jeden, nach der Beſchaffenheit ſeines Humeurs, begegnen ſoll. Er macht ſich, nach den Merck - mahlen, was er von einer jeden Perſon ſiehet, hoͤret und obſerviret, und nach den Regeln der Kunſt, der Menſchen Gemuͤther zu erforſchen, ihre moraliſchen Portraite bekandt, laͤſt ſich aber doch von dieſem allem nicht das geringſte mercken.

§. 13. Er ſey an was vor einen Hofe er wolle, ſo gedencket er nicht, wie einige unverſtaͤndige junge Leute zu thun pflegen, des Unterſchieds der kleinen oder groſſen Hoͤfe, weil dieſes gar ein abgeſchmack - tes und unbedachtſam Raiſonement, und alle un - gleiche Urtheile nicht wohl aufgenommen werden. Von andern hohen Standes-Perſonen redet er je - derzeit mit Reſpect, und erwehnet nichts von ihren Fehlern, ob ſie ſchon oͤffentlich und Land-kuͤndig ſeyn ſolten. Wird er von andern Fuͤrſtlichen Per -Oſonen210I. Theil. VII. Capitul. ſonen ſelbſt darum befragt, ſo verdeckt und diſſimu - liet er dieſelben, ſo viel als moͤglich. Er beobach - tet auch eine gleiche Behutſamkeit, wenn von frem - den Miniſtris, oder ſonſt von andern adelichen oder vornehmen Familien, die Rede iſt, denn er weiß wohl, daß die Verleumdung ein zwar gemeines, aber doch jederzeit verhaßtes Laſter an Hoͤfen iſt. Bringt es die Gelegenheit des Diſcourſes mit ſich, daß er von jemand anders etwas urtheilen muß, ſo richtet er ſeine Urtheile jederzeit ſo ein, wie er ſie ge - denckt zu verantworten.

§. 14. So unſchuldig es anſcheinen moͤchte, an - dere Leute zu loben, ſo muß man dennoch auch dar - innen etwas ſparſam, und nicht allzu freygebig da - mit ſeyn. Es kan auch ein allzu groß Lob, das man dem andern beylegt, einen Nachtheil erwecken. Giebt man einem ein Lob, das er nicht verdient, ſo macht man ſich laͤcherlich, und verdient ers auch gleich, ſo wird es dennoch ſein Feind ſehr ungern anhoͤren, und einem dahero gehaͤßig werden, auch oͤffters wohl gar widerſprechen.

§. 15. Einige junge Leute bilden ſich ein, wenn ſie nach Hofe kaͤmen, muͤſten ſie alles, was ihnen nur in die Augen fiele, ungemein loben, da wiſſen ſie denn die Tapeſſerien, Spiegel, Gemaͤhlde, Zim - mer, u. ſ. w. ob gleich nicht viel Anſehen oder Ruhms daran zu ſpuͤhren, nicht genug herauszu - ſtreichen, ihren Redens-Arten nach, iſt alles gantz admirabel und incomparable. Sie erreichen aber bey ihrem uͤbermaͤßigen Lobe nicht allezeit denZweck,211Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. Zweck, den ſie ſich eingebildet. Jhre groſſe Ver - wunderung, die ſie bey dergleichen Gelegenheiten an Tag legen, wird vor ein Kennzeichen ihrer Ein - falt und Unwiſſenheit gehalten, und man glaubt von ihnen, daß ſie noch nicht gar viel muͤſten in der Welt geſehen haben. Weiß man aber ſonſt von ihnen, daß ſie in der Welt geweſen, ſo haͤlt man ſie vor Schmeichler und falſche Leute.

§. 16. Jſt es an einem Ort, da man noͤthig hat, ſeine Staͤrcke und Schwaͤche kennen zu lernen, und jene zu erweiſen, dieſe aber zu verbergen, ſo iſt es an den Hoͤfen, da man allenthalben mit den ſchaͤrffſten Aufmerckern umringet iſt. Es iſt nicht moͤglich, daß man von alle dem, was die heutige Welt von von einem Hof-Mann und galant homme erfor - dert, eine gleiche Erkaͤntniß haben kan, indem es ei - nem entweder an der Gelegenheit gefehlet, ſich auf dieſes oder jenes zu appliciren, oder an der Luſt und natuͤrlichen Geſchicklichkeit. Wenn einem nun die Herrſchafft, oder ein Miniſter, oder vornehme Da - me, zu einem und andern invitiren ſolte, worinnen wir doch keine Geſchicklichkeit erweiſen wuͤrden, ſo iſt es ja weit beſſer, wenn man ſich auf eine hoͤfliche Art entſchuldiget, ſeine Unwiſſenheit und Ungeſchick - lichkeit bekennt, als daß man aus einer allzu groſſen Begierde, ſich gefaͤllig zu machen, etwas unter - nimmt, ſo man nicht verſteht, und wobey man ſich zum Gelaͤchter macht. Es iſt ein groſſer Fehler, daß einige junge Leute dencken, ſie muͤſten der Herr - ſchafft, oder einigen Hofleuten zu Gefallen, allesO 2mit -212I. Theil. VII. Capitul. mitmachen, wozu ſie eingeladen wuͤrden, ob ſie ſchon ihre Schande hierbey an Tag legen ſolten. Sie wollen mitſchießen, ob ſie ſchon ſonſt faſt kein Ge - wehr in die Hand genommen; ſie wollen mit Bi - liard ſpielen, den Volanten ſchlagen, ob ſie wohl in dergleichen uͤber die Maßen ungeuͤbt, u. ſ. w.

§. 17. Hat ein junger Cavalier die Gnade, an die Fuͤrſtliche Tafel gezogen zu werden, ſo muß er ſich vorhero informiren, oder auch hernach Acht haben, ob es daſelbſt gewoͤhnlich und erlaubt, laut zu ſprechen, oder ob es dabey gantz ſtille zugehe, und ſich hierinne nach der Obſervanz und dem Hu - meur der Herrſchafft zu richten wiſſen. Bey ei - nigen Fuͤrſtlichen Tafeln wird ſehr wenig geſpro - chen, an andern hingegen gantz frey diſcourirt, und Fuͤrſtliche Herrſchafften ſehen es bißweilen gantz gerne, wenn ein Fremder, der vernuͤnfftig zu ſpre - chen weiß, ſie auf eine anſtaͤndige Weiſe mit Ge - ſpraͤchen bey der Tafel unterhaͤlt. Man muß hier - bey wohl wahrnehmen, ob die Herrſchafft en hu - meur ſey ſelbſt zu diſcouriren, oder den Diſcours anzuhoͤren, ingleichen ob ſie ſich in ihren Reden an uns oder an andere adreſſirt, befragt ſie uns etwas, und wir haben eine gnugſame Erkaͤnntniß von ei - ner Sache, ſo koͤnnen wir den Diſcours eine Zeit - lang fortſetzen, ſo lange wir mercken, daß es der Herrſchafft gelegen, doch muͤſſen wir auch wiſſen aufzuhoͤren, daß es nicht ſcheine, als ob wir an un - ſern eigenen Reden einen allzugroßen Gefallen haͤt - ten. Je mehr Wiſſenſchafft wir in dieſem oder je -nem213Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. nem beſitzen, und je bekandter ſolches den Herr - ſchafften ſelbſt, oder einigen von den Hof-Leuten iſt, je weniger muͤſſen wir Weſen davon machen; es koͤmmt ſchon die Zeit, daß uns andere darum befragen, und da haben wir alsdenn Gelegenheit durch einige wenige Worte einen großen Theil der Gelehrſamkeit zu erweiſen; es laͤſt ſonſt uͤberaus pedantiſch, wenn man mit ſeiner Erkaͤnntniß prah - len will.

§. 18. Vor allen Dingen muß man auch darin - nen ſein Naturell kennen, ob man ſeinen Leibes - und Gemuͤths-Kraͤfften nach vermoͤgend ſey, ein Glaß Wein zu vertragen, ohne ſich auf die eine oder an - dere Weiſe Verdruß und Unheil uͤber den Halß zu zu ziehen, und ſich ſelbſt noch beſitze, wenn man ei - nige Glaͤſer uͤber Durſt getruncken. Wer den Trunck nicht vertragen kan, handelt weit vernuͤnff - tiger, wenn er von der Fuͤrſtlichen Herrſchafft oder von den Hof-Leuten einige Reprochen in Nuͤch - ternheit anhoͤret, daß er ſich nicht berauſchen will, als in Trunckenheit ſolche Fehler begehet, die er in den folgenden ſchwerlich nnd faſt gar nicht wieder auszuwetzen vermag. Es iſt ein großer Jrrthum, wenn einige in den Gedancken ſtehen, als ob das Vollſauffen an den Hoͤfen unvermeidlich waͤre. Nun iſt es zwar wahr, daß ein jeder, der ein Lieb - haber von Trunckenheit iſt, an den Hoͤfen gute Ge - legenheit findet, uͤber den Durſt zu trincken, und zwar an einem Hofe mehr als an dem andeꝛn; Man muß aber nicht glauben, als ob ein jeder an dieſenO 3Oer -214I. Theil. VII. Capitul. Oertern zum uͤberfluͤßigen Trunck gezwungen wuͤr - de. Das unmenſchliche Forciren herrſchet mehr unter dem rohen Volck außer den Hoͤfen, als an Hoͤfen ſelbſt. Wer ſich in den uͤbrigen Stuͤcken manierlich aufzufuͤhren weiß, wird ſich weder bey Herrſchafft noch den Hof-Leuten in Diſrenomèe ſetzen, ob er ſchon eben nicht die groͤſten Humpen ausleeret.

§. 19. Einige von den jungen Leuten gedencken dadurch ihren Hof-Mann am beſten zu machen, wenn ſie ſich vor dem Geſicht der Durchlauchtig - ſten Herrſchafften, oder außer ihrem Geſichte in ih - ren Reden und Handlungen ſehr frey bezeugen. Da ſie gehoͤrt, daß man ſich allezeit an die vor - nehmſten adreſſiren ſoll, ſo ſuchen ſie zu ihrem Ge - ſpraͤch die vornehmſten Dames und groͤſten Mini - ſter auf, und verfolgen ſie faſt auf allen Tritten und Schritten. Ob nun wohl dergleichen frey - muͤthiges Weſen bey einigen, die ſich ſonſt ſehr qua - lificirt bezeugen, entweder in Anſehung ihrer uͤbri - gen Verdienſte, oder ihrer vornehmen Familie und Anverwandtſchafften wegen entſchuldiget wird, ſo iſt doch dergleichen allzugroße Freyheit andern jun - gen Leuten deswegen nicht als eine Regel vorge - ſchrieben; ſie werden vor allzu naſenweiß geachtet, legen ihren großen Hochmuth an den Tag, machen ſich bey andern Hof-Leuten, die ihnen gleichſam zu ihrem Umgang nicht gut genug ſind, gehaͤßig, und bekommen auch wohl bißweilen von einer Dame, oder von einem Miniſter, denen ihre Geſellſchafftnicht215Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. nicht ſtets gefaͤllig, eine Reproche mit Worten oder Geberden, die ſie einiger maßen beſchaͤmet macht.

§. 20. Andre hingegen, deren Anzahl faſt noch groͤßer, fallen auf den andern Abweg, ſie ſind allzu bloͤde und furchtſam, ſie gehen denen Hoͤhern und Vornehmſten ſtets aus dem Wege, und ſondern ſich entweder von den andern gantz und gar ab, oder halten ſich bloß zu den gerinſten des Hofes: Doch dieſe ſehen ſich noch weit ſchlechter vor, als jene, und erweiſen ihre Niedertraͤchtigkeit, weil ſie ſich ſelbſt nichts achten, ſo machen andere auch wieder nichts aus ihnen, ſie werden nach und nach immer un - wuͤrdiger geachtet, in hoͤhere Geſellſchafften gezo - gen zu werden, und verfallen endlich gar zuletzt in die Geſellſchafft der Pagen, die ſie mit Diſcourſen unterhalten.

§. 21. Ein junger Cavalier thut am beſten, wenn er auch hierinne die Mittel-Straſſe beob - achtet, und weder allzu frey noch zu bloͤde iſt, ſon - dern in ſeinen Handlungen eine ihm anſtaͤndige Sittſamkeit bezeigt. Er haͤlt ſich zwar in dem Umgange zu den Cavalieren, die nicht von dem al - lergroͤſten Range, ſondern ſeinen Umſtaͤnden etwas aͤhnlicher, als die andern, jedoch gehet er auch den Vornehmſten nicht aus dem Wege. Spuͤhrt er, daß ſie ſich gefallen laſſen, ihn in ihre Geſellſchafft mit zu ziehen, und mit ihn zu converſiren, ſo ach - tet er ſichs vor eine Gnade, und haͤlt ſich ſo lange bey ihnen auf, als er ſpuͤhrt, daß es ihnen gefaͤllig,O 4ihn216I. Theil. VII. Capitul. ihn bey ſich zu haben, oder mit ihm zu diſcouri - ren. Jnſonderheit bemuͤhet er ſich die Freund - ſchafft und Gewogenheit derer zu erlangen, die mit ihm von gleichen Metier, und haͤlt ſich am meiſten zu ihnen. Hat er in Studiis etwas gethan, ſo adreſſirt er ſich an diejenigen, die Liebhaber von der Literatur. Gedenckt er von dem Degen Pro - feſſion zu machen, ſo bemuͤhet er ſich einen ſolchen Hof-Mann aufzuſuchen, der etwan ſonſt ein Sol - dat geweſen, oder nebſt der Hof-Charge, wie an einigen Hoͤfen gewoͤhnlich, eine Militair-Charge zugleich mit begleidet. Hat er im Reiten einige Ge - ſchicklichkeit und Erkaͤntniß erlangt, da legt er bey dem Stall-Meiſter fleißig Viſiten ab, oder macht ſich mit dem Fuͤrſtlichen Bereuter wohl bekandt. Hat er ſich nun zu einem gewiſſer Metier ſattſam qualificirt gemacht, und die Gewogenheit eines Hof-Manns, der auch darinne geuͤbt iſt, uͤberkom - men, ſo kan er gewiß verſichert ſeyn, daß durch denſelben guten Freund ſeine Geſchicklichkeit bey der Herrſchafft und bey dem gantzen Hofe, ohne daß er noͤthig hat, ſelbſt etwas davon zu erweh - nen, ſattſam bekandt gemacht, und ausgebreitet wird werden.

§. 22. Man handelt allerdings wider den Wohlſtand, wenn man einige Hof-Bedienten vom geringen Rang und Character, zumahl wenn ihre Verdienſte ihren ſchlechten Umſtaͤnden gleich ſind, zu ſeinen Confidenten oder Cameraden er - wehlet; inzwiſchen ereignen ſich doch auch zuweilengewiſſe217Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. gewiſſe Faͤlle, da man zu Erreichung ſeiner Abſicht auf eine Zeitlang ſich um die Bekandtſchafft oder Freundſchafft geringerer Bedienten, die etwan bey der Herrſchafft oder bey einem großen Miniſter wohl angeſehen, bewerben / und dieſelben durch ein und ander Præſent unterhalten muß; Man hat hierinnen die Exempel der groͤſten Staats-Mini - ſter vor ſich, welche bißweilen eben dergleichen gethan. Der große Frantzoͤſiſche Staats-Mini - ſter, Monſieur de Calliéres, ſchreibt in ſeinem Staatserfahrnen Abgeſandten, p. 36. Man hat zuweilen wohl Muſic-Verſtaͤndige und Saͤn - gerinnen geſehen, welche vermittelſt des freyen Zutritts bey großen Herren und deren Miniſter, ſehr große Anſchlaͤge entdeckt haben; nicht we - niger haben hohe Potentaten eine Art zwar kleiner, aber doch nothwendiger Bedienten, denen ſie ſich offtmahls vertrauen muͤſſen, und dieſe halten nicht allemahl Farbe, wenn man ihnen nicht zu rechter Zeit mit einer angenehmen Verehrung zu begeg - nen weiß. Man muß nicht allein Acht haben, was man bey Hofe vor Bekandtſchafften und Ge - ſellſchafften erwehle, ſondern man muß auch be - hutſam ſeyn, daß man nicht in der Fuͤrſtlichen Re - ſidentz ſich an ſolche Leute adreſſire, oder in ſolche Haͤuſer gehe, die bey Hofe nicht wohlangeſehen, und dadurch eines Renomme einiger Schand - fleck koͤnne zuwege gebracht werden.

§. 23. Sind beſondere Luſtbarkeiten und Feſti - vitæten bey Hofe, ſo muß ein junger Cavalier nichtO 5un -218I. Theil. VII. Capitul. unterlaſſen, denſelben mit beyzuwohnen; Denn hier ſiehet er den Hof in ſeiner groͤſten Splendeur, und hier kan er am meiſten lernen, was zu den Hof - Manieren erfordert wird, zumahl wenn fremde Fuͤrſtliche Herrſchafften zugleich mit ankommen. Zu dem Ende, muß er auch ein oder ein paar Gala - Kleider mit bey ſich fuͤhren, denn ſonſt wo er ſich nicht an einem Hofe lange genug aufgehalten, oder vornehme Connoiſſacen hat, wird es ihm bißwei - len ſchwehr fallen, von der Wache, um eine und an - dere oͤffentliche Handlung mit anzuſchauen, einge - laſſen zu werden. Zu dem Ende muß er ſich auch bey Zeiten um ein Billet bekuͤmmern, wenn welche ausgegeben werden.

§. 24. Bey den Bunte-Reyhen muß er ſich an - gelegen ſeyn laſſen, die ihm auf einige Stunden durchs Looß zugetheilte Dame mit Diſcourſen ge - hoͤrig zu unterhalten, ſich ihr gefaͤllig zu erweiſen, und nach ihrem Stand und Character alle erſinn - liche Aufwartung zu leiſten. Spuͤhrt er, daß ſie gerne diſcourirt, oder diſcouriren hoͤrt, ſo muß er ſie mit Diſcourſen entreteniren, wo aber nicht, ſo muß er ſchweigen; Bey der Tafel muß er ſorgen, daß ſie mit allem wohl bedient werde, er muß ſie nach Gelegenheit entweder auf den Wagen fuͤh - ren, oder gar biß in ihr Hauß begleiten.

§. 25. Jn Beforſchung und Beobachtung des Ceremoniels kan er nicht vorſichtig und accurat ge - nug ſeyn, wiewohl man an einem Hofe immer eine freyere und ungezwungenere Lebens-Art hat, als andem219Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. dem andern. Nimmt ein Fremder bißweilen nicht einen gewiſſen Schritt oder in Raͤumgen in Acht, wie es durch die Obſervanz eingefuͤhrt, ſo macht er ſich durch eine ſolche Kleinigkeit bey man - chen Hof-Leuten, zumahl bey den jungen, laͤcherlich. Hat er bie Gnade, eine hohe Standes-Perſon vom weiblichen Geſchlecht zur Tafel zu fuͤhren, ſo muß er ſich vorher genau erkundigen nach dem gewoͤhn - lichen und eigentlichen Platz, wo er ſie bey der Tafel wieder von der Hand laffen ſoll. Laͤſt er ſie etwan ein paar Schritt eher loß, als ſonſt a l’ord’nair von dem Cavalier, der ſie zur Tafel fuͤhrt, zu ge - ſchehen pflegt, ſo finden ſich alſobald Leute, die ſich uͤber eine ſolche Kleinigkeit, ob wohl ohne Raiſon, aufhalten.

§. 26. Dafern er nicht mit einem gelehrten Hof - Mann in einem gelehrten Diſcours begriffen, oder gewiſſe jederman bekandte Kunſt-Woͤrter zu nen - nen hat, die in der Teutſchen Sprache gleichſam ihr Buͤrger-Recht ſchon gewonnen, ſo prahl er ja nicht mit der Lateiniſchen Sprache. Dieſe gilt wahrhafftlg in den Antichambren und bey den Tafeln vieler Fuͤrſtlichen Hoͤfe in Teutſchland heu - tiges Tages blutwenig. Kommt er etwan gar mit einer lateiniſchen Sentenz angezogen, ſo ge - geſchicht dieſes, und wenn ſie ſeiner Einbildung nach noch ſo gut angebracht waͤre, doch allezeit mal à propos.

§. 27. Die Frantzoͤſiſche iſt zwar, wie bekandt, an den Hoͤfen beliebter und mehr eingefuͤhrt, eshandeln220I. Theil. VII. Capitul. handeln aber einige von unſern jungen Cavaliers, zumahl die nur aus Franckreich zuruͤck gekommen, ebenfalls wider den Wohlſtand, wenn ſie entwe - der ohne Unterſcheid Cavaliers nnd Dames bey Hofe darinnen anreden, oder mitten unter ihren teutſchen Reden, eine große Menge Frantzoͤſiſcher Redens-Arten mit einſtraͤuen, auch wohl bald Frantzoͤſiſch bald Teutſch unter einander reden, und doch vorhero nicht Erkundigungen und Nach - richt eingezogen, ob auch diejenigen, mit denen ſie ſprechen, der Frantzoͤſiſchen Sprache vollkommen maͤchtig und kundig ſind; Es iſt auch bey dieſer Regel eine und die andere Ausnahme zu finden. Einige Fuͤrſtliche Perſonen ſehen es nicht gerne, wenn Frantzoͤſiſch geſprochen wird. Manche Ca - valiers und Dames ſind dieſer Sprache nicht ſo faͤhig, daß ſie dieſelbe frey und gerne reden ſol - ten, es ſey nun, daß ſie dieſelbe wieder vergeſſen, oder nicht Gelegenheit gehabt, ſie zu lernen. Wenn ſie nun einen Cavalier, der ſie Frantzoͤſiſch anredet, und eine ſehr große Fertigkeit darinnen beſitzt, ihre Unwiſſenheit darinnen bekennen ſollen, ſo geſchicht ihnen hiedurch kein Gefallen.

§. 28. Jn der Kleidung muß ein junger Cavalier, der nach Hofe kommt, nichts beſonders affectiren, und nicht der erſte ſeyn, der eine beſondere und na - gel-neue Mode mit nach Hofe bringt; er bezeigt hiedurch ſein zu dergleichen Galanterien und Eitel - keiten allzu geneigtes Gemuͤth; er erweckt ſich bey den andern Hof-Leuten Haß, daß er ihnen etwasneues221Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. neues und unbekandtes lehren wolte, er weiß ja nicht, ob dieſe Mode an dem Hofe Beyfall finden werde, oder nicht; macht ſich vielen, bevor ſie erfah - ren, daß dieſe Art, ſich ſo zu kleiden, in Franckreich erfunden worden, inzwiſchen laͤcherlich, und thut alſo am beſten, wenn er ſich ſo kleidet, wie ſich andere Hof-Leute zu kleiden pflegen.

§. 29. Endlich will ich auch, zum Beſchluß dieſes Capituls, einem jungen Menſchen wohlmeynend an - gerathen haben, daß er ſich ja nicht bey Hofe in die Spiele einlaſſen ſoll, wenn er ſie nicht gruͤndlich ver - ſtehet; denn hier iſt der Ort, wo auch gute und er - fahrne Spieler meiſtentheils ihre Meiſter finden. Verſtehet er aber die Spiele, und hat Zeit, Luſt und Geld darzu, die Spiele abzuwarten, ſo kan er auf eine ſolche Art ſpielen, daß er ſich nicht in Unzu - friedenheit dadurch ſtuͤrtze.

Das VIII. Capitul. Von dem Hof-Leben.

§. 1.

DAs Hof-Leben iſt eine Verſammlung vie - ler klugen Leute, die ihre Handlungen zum Vergnuͤgen ihrer Herrſchafft einrichten wollen, eine Werckſtatt der Politeſſe, eine Schule der Gedult, eine praͤchtig ſcheinende Scla - verey, und ein Sammel-Platz des Neides und derMiß -222I. Theil. VIII. Capitul. Mißgunſt. Solte das bekandte Lateiniſche Sprich - wort: Exeat aulâ qui vult eſſe pius, allenthalben ſeine Wahrheit und Richtigkeit haben, ſo wuͤrde man keinen eintzigen gottesfuͤrchtigen Menſchen an einem Hofe antreffen. Jch halte aber dasjenige, was der alte und wohlerfahrne Hof-Mann Gue - varra, in ſeiner Beſchreibung des Hof-Lebens, von dieſer Materie anfuͤhrt, vor wohlgegruͤndet, wenn er p. 20. ſchreibt: Was ſoll ich viel ſagen wir ſe - hen, daß ſo wohl bey Hofe, als in den Staͤdten, ſo wohl auf dem Lande, als in der Wuͤſten, die From - men fromm, und die Boͤſen boͤſe ſind. Die Boͤſen und Gottloſen ſuchen allenthalben Ort und Stelle, gottloß zu ſeyn; die Frommen und Tugendſamen aber finden allenthalben Zeit und Gelegenheit, fromm zu ſeyn. Es iſt kein Stand in der Chriſtli - chen Kirche, worinnen man nicht koͤnne ſelig ſterben, und iſt auch kein Stand ſo ſtrenge und eingezogen, worinnen ſich nicht Gelegenheit ereignet, verdammt zu werden. P. 104. laͤſt er ſich folgender Geſtalt vernehmen: Es iſt nicht zu laͤugnen, daß viel Leute an Fuͤrſtlichen Hoͤfen koͤnnen ſelig werden; ſo geb ich auch zu, daß viele auſſerhalb des Hofes ver - dammt werden. Doch bin ich gleichwohl der be - ſtaͤndigen Meynung, weil bey Hofe die Gelegenheit zu ſuͤndigen ſich in ſo groſſem Uberfluß ereignet, daß die Frommen daſelbſt gar duͤnne geſaͤet ſeyn muͤſ - ſen.

§. 2. Die hohen Beyſpiele der Herrſchafften und Vorgeſetzten ſind zwar die kraͤfftigſten Bewe -gungs -223Von dem Aufenthalt an Hoͤfen. gungs-Gruͤnde, die Hertzen der meiſten Hof-Leute zur Tugend der Gottesfurcht, und Abſtattung der andern Pflichten, zu lencken, oder davon zuruͤck zu ziehen; Jnzwiſchen finden ſich dennoch auch hin und wieder einige rechtſchaffene Seelen an den Hoͤ - fen, die das gottloſe Sprichwort vieler Hof-Leute, Herren Dienſt, geht uͤber GOttes Dienſt, mit gu - tem Grunde verkehren, und nicht ſo wohl mit bloſ - ſen Worten, als vielmehr in der That ſelbſt bezei - gen, daß GOttes Dienſt uͤber Herren Dienſt gehe, und man GOtt mehr gehorchen muͤſſe, als den Menſchen. Sie ſehen hierbey nicht ſo wohl auf die Exempel ihrer Herrſchafften, und die groſſe Menge ihrer Cameraden, als vielmehr auf den goͤttlichen Befehl, und ihre eigene Seele, vor die ſie Rechenſchafft geben muͤſſen. Sind ihre hoͤch - ſten Vorgeſetzten ſelbſt ihnen ruͤhmliche Vorgaͤn - ger auf dem Wege der Gottſeligkeit, ſo wird hier - durch ihr Chriſten-Eifer immer feuriger, und ihr Verlangen, GOtt uͤber alles zu fuͤrchten und zu lie - ben, je mehr und mehr angeflammt. Sehen ſie, aber zu ihrer Bekraͤnckung, daß ihre Herrſchafften ſich verlauffen, und einen Weg gehen, der nicht gut iſt, ſo beten ſie vor ihre Bekehrung, und laſſen ſich deswegen in dem Lauff ihres Chriſten-Wandels nicht irre machen, bemuͤhen ſich auch darneben, wo es der Reſpect erlauben, und die Zeit und Gelegen - heit mit ſich bringen will, an dem Seelen-Heyl ih - rer Herrſchafften mit zu arbeiten. Die groſſe Menge der gottloſen Diener hilfft manche Herr -ſchafft224I. Theil. VIII. Capitul. ſchafft in ihrem boͤſen Vorſatz verſtaͤrcken. Haͤt - ten nicht viel Hof-Leute eine ſo groſſe Menſchen - Furcht, oder einen ſo blinden Gehorſam gegen ihre Vorgeſetzten, ſo wuͤrden auch manche Herrſchaff - ten, durch die Exempel ihrer Diener, von ihrem boͤ - ſen Wege koͤnnen abgeleitet werden.

§. 3. Es iſt ſehr betruͤblich, daß viele von den Hof-Leuten, die ſich doch dabey vor rechtglaͤubige Evangeliſch-Lutheriſche Chriſten halten, in den Ge - dancken ſtehen, als ob ein guter Hof-Mann und ein glaͤubiger Chriſt unmoͤglich mit einander vereiniget ſeyn koͤnnen. Doch dieſe elenden Leute machen ſich einen falſchen Begriff von ihrem guten Hof-Mann, und auch einen falſchen Begriff von den Hoͤfen, oder vielmehr von den Haͤuptern der Hoͤfe und den Re - genten. Sie verſtehen durch ihren guten Hof - Mann einen ſolchen, der in allen ſeinen Handlun - gen ſich nach den laſterhafften Neigungen ſeiner Herrſchafft richtet, und nichts anders zum Ziel hat, als zu allen Zeiten ſich ſeiner Herrſchafft gefaͤllig zu bezeigen, er mag nun ſich oder ſeine Herrſchafft dar - uͤber gluͤcklich oder ungluͤcklich machen, es mag dieſe oder jene Handlung mit GOttes Wort uͤberein - ſtimmen, oder demſelben zuwider ſeyn. Sie neh - men dabey ſolche Regenten an, die GOttes und ſei - nes Wortes ſpotten, und in offenbarer Gottloſigkeit leben. Jedoch, dergleichen Leute ſind in ihrem Hertzen ſelbſt viel boͤſer, als viele Regenten ſelbſt, deren Hoͤfe ſie ſich vorſtellen. Es hat ja, GOtt Lob! zu allen Zeiten, in Teutſchland, und in den an -dern225Von dem Hof-Leben. dern Europaͤiſchen Provintzien, Chriſtliche und tu - gendhaffte Regenten gegeben, und giebet deren noch. Und geſetzt, daß auch manche Herrſchafft die Erfuͤllung ihrer eigenen Luſt, zur Richtſchnur ih - res Thuns und Laſſens, annehmen ſolte, und dabey GOtt und die Religion aus den Augen ſetzen, ſo wird es ihr doch nicht allezeit gefallen, wenn ihre Diener alle ihre Befehle auf eine unbeſonnene Art ausrichten, und den groſſen GOtt dabey gaͤntzlich aus den Augen ſetzen wollten. Groſſe Herren lie - ben bißweilen die Laſter, haſſen aber die Laſterhaff - ten. Es hat wohl eher ein Hof-Mann uͤber dem Unternehmen einer gottloſen Handlung einen un - vermutheten Abſchied bekommen, mit dem Zuſatz, daß man ſich von demjenigen, der GOtt nicht ge - treu waͤre, keine treuen Dienſte verſprechen koͤnte. Manche Herrſchafft ſtellt ihre Diener bey dieſem oder jenem auf die Probe, ſie erkennet das Unrecht dieſer oder jener That vorher, und ihr Befehl hiezu iſt nicht recht ernſtlich, mehrmahls aber nachher, ſie ſchaͤmen ſich ihrer ertheilten Ordre, die geſchehene Mißhandlung gereuet ihnen, und iſt unwillig, daß ihre Diener einen ſo blinden Gehorſam geleiſtet.

§. 4. Ob nun ſchon die Hof-Regeln und die Regeln des Chriſtenthums nicht allezeit mit einan - der uͤbereinſtimmen, ſo iſt dennoch aus der Erfah - rung der aͤltern und neuern Zeiten, aus geiſtlichen und weltlichen Geſchichten bekandt, daß einige gute Hof-Leute auch zugleich wahre Glaͤubige geweſen, und ihren GOtt gefuͤrchtet und geliebet. Es flieſ -Pſet226I. Theil. VIII. Capitul. ſet auch nichts aus einer vernuͤnfftigen Erklaͤrung eines guten Hof-Mannes, das wider die Pflichten des Chriſtenthnms ſtreiten ſolte. Nach meinem Begriff, iſt ein guter Hof-Mann derjenige, der die gehoͤrige Geſchicklichkeit beſitzt, ſeiner Bedienung wohl fuͤrzuſtehen, in ſeinem Amte ſeiner Herrſchafft alle treue und moͤgliche Dienſte leiſtet, die Befoͤr - derung ihrer wahren Vollkommenheit ſtets vor Au - gen hat, und, auf dem Nothfall, willig und bereit iſt, Leib und Leben, und alle ſein Vermoͤgen zu dem Dienſt ſeiner Herrſchafft aufzuopffern. Alles die - ſes kan ja auch von einem guten Chriſten geleiſtet werden. Wer ſich in allen andern Stuͤcken, als ein treuer Diener und guter Hof-Mann bezeiget, wird ſich bey ſeiner Herrſchafft in ſolche Liebe und Anſehen ſetzen, daß er auch hernach bey demjenigen Ungehorſam, da er dem HErrn aller Herren und Koͤnig aller Koͤnige, einem ſterblichen Menſchen vor - ziehet, deſto eher Entſchuldigung und Diſpenſation finden wird. Es werden wenig Herrfchafften ſeyn, die einem geſchickten, emſigen und getreuen Diener, der ihnen in allen Stuͤcken mit der groͤſten Ehrer - bietung begegnet, und auch die Handlungen die er wider die Gebote GOttes unternehmen ſoll, nach den Regeln der Hof-Klugheit, mit der groͤſten Sub - miſſion deprecirt, bloß um ſeiner Gottesfurcht wil - len den Abſchied ſolten geben. Und wenn einem guten Hof-Mann auch dergleichen begegnen ſolte, ſo wird er doch an andern Hoͤfen gar leicht wieder unterkommen, und alſo doch ein guter Hof-Mann bleiben.

§. 5.227Von dem Hof-Leben.

§. 5. Chriſtliche Hof-Leute ſuchen und finden auch bey Hofe, und mitten unter dem Schwarm der Welt, Gelegenheit, ihrem GOtt zu dienen. Jhr Leib iſt bey Hof, ihr Hertz aber bey GOTT. Die Worte: Wandele vor mir, und ſey fromm, erſchallen ſtets in ihrer Seele. Sie enthalten ſich zwar bey dem rohen Hauffen der gottſeligen Dis - courſe, denn ſie wiſſen wohl, daß man das Heilig - thum nicht vor die Hunde, und die Perlen nicht vor Saͤue werffen ſoll, machen ſich aber dasjenige Tempo, da ſie bey ihren Cameraden einmahl ei - nen guten Zug zur Gottſeligkeit ſpuͤhren, wohl zu Nutze. Sie koͤnnen ſich auch bey Hofe in dem Wort GOttes erbauen: Jch habe ſelbſt einige Chriſtliche Hof-Leute und Cavaliers gekandt, die allezeit ein Frantzoͤſiſch oder Teutſch geiſtreich Tra - ctaͤtgen zum Heyl ihrer Seelen bey ſich fuͤhrten, und zu der Zeit, wenn die Durchlauchtigſte Herr - ſchafft ihrer perſoͤnlichen Aufwartung und Gegen - wart nicht noͤthig hatte, in dem Vorgemach darin - nen laſen, ſich daraus erbaueten, und es hingegen, wenn ihre Aufwartung ſich wieder anfieng, ein - ſteckten.

§. 6. Sie bemuͤhen ſich auch, ihre Sonn - und Feyertage zu heiligen, und wenn ſie ſchon mit ihren Coͤrpern mitten unter dem Welt-Getuͤmmel ſeyn muͤſſen. Sie ſehen vornemlich auf den Sabbath ihrer Seelen. Sie entziehen ſich bey dieſen Ta - gen allen Eitelkeiten und Thorheiten, wo ſie wiſſen und koͤnnen. Da ſie aber Zuſchauer dabey mitP 2abge -228I. Theil. VIII. Capitul. abgeben muͤſſen, ſeuffzen ſie in ihrem Hertzen zu GOtt, daß er ſich doch der armen blinden Leute, die ihn nicht kennen, und ſeinen Ruhe-Tag enthei - ligen, erbarmen, dieſe ihre Suͤnde um Chriſti wil - len ihnen nicht zurechnen, und ſie bekehren wolle! ſie beklagen, daß dieſe Tage, die GOtt gewidmet ſeyn ſolten, der Welt, oder wohl gar dem Teuffel aufgeopffert werden, und ſehen, wo ſie unter den Hof-Leuten auch noch eine gottſelige Seele finden, mit der ſie ein Chriſtlich Geſpraͤch halten koͤnnen.

§. 7. Naͤchſt der Gottſeligkeit laͤſt ein junger Cavalier bey Hofe, der mit der Zeit ein vollkommen guter Hof-Mann werden will, ſeine vornehmſte Sorge dahin gerichtet ſeyn, wie er die Qualitaͤten, die ihm zu ruͤhmlicher Begleitung ſeiner Hof-Dien - ſte noͤthig ſind erlangen moͤge. Er bemuͤhet ſich, die Freundſchafft eines alten Hof-Mannes, der lange Zeit um die Herrſchafft geweſen, und ihr Ge - muͤthe kennet, und wenn es auch ſchon nicht einer von den vornehmſten ſeyn ſolte, zu erlangen; er weiß wohl, daß bißweilen eine ſehr geringe Sache iſt, dadurch man ſich bey einer Herrſchafft gefaͤlli - ger, oder auch ihr mißfaͤllig macht, und die man doch, nach allen Regeln der politiſchen Klugheit, nicht errathen kan.

§. 8. Mit ungeſchickten oder unvernuͤnfftigen Hof-leuten gehet er nicht weiter um, als es ſein Beruff, die Nothwendigkeit oder der Wohlſtand erfordert, und laͤſt ſich mit ihm in keine Vertrau - lichkeit ein. Daß man nicht lauter manierlicheLeute229Von dem Hof-Leben. Leute an Hoͤfen finde, iſt zu allen Zeiten wahr ge - weſen, und bezeuget es Guevarra zu ſeiner Zeit in ſeiner Beſchreibung des Hof - und Land-Lebens, p. 73. wenn er ſchreibt: Nach Hofe begeben ſich vieler großer Herren Soͤhne, welchen beſſer waͤre, hinter dem Ofen zu ſitzen, als ſich in Fuͤrſtliche Dienſte zu begeben, denn ſie ſind entweder grob, unerfahren und unhoͤflich, oder ſie halten ſich nicht ſauber in Kleidung, ſind abgeſchmackt und laͤppiſch in ihren Diſcourſen, verdrießlich in der Com - pagnie, eſſen wie die Bauern, ſind unhoͤflich gegen das Frauenzimmer, und laſſen in allen ihrem Thun und Laſſen den Toͤlpel ſehen.

§. 9. Sein vornehmſtes Studium laͤſt er ſeyn, den Humeur ſeiner Herrſchafft auszuforſchen, ihre Neigungen kennen zu lernen, und ſich in allen ſeinen Worten und Handlungen, ſo weit es dem Gewiſſen nicht zuwider, ſeiner Herrſchafft gefaͤllig zu erwei - ſen. Er laͤſt ſich im geringſten nicht mercken, daß er an ihren Geheimniſſen Theil haben wolle, im - maßen viele darinnen ihren Untergang gefunden, daß ſie ſich zu Vertrauten haben gebrauchen laſſen. Gracian ſagt in ſeinem Hof-Mann in der 237. Maxime: Viele ſchmeißen die Spiegel in Stuͤ - cken, deſſen Anſchauen ſie ihrer Hoͤfligkeit erinnert. Ein Printz kan denjenigen nicht wohl vor Augen ſe - hen, der ihm ſo genau hat anſehen koͤnnen, und nie - mand kan denjenigen, von dem er weiß, daß er et - was Boͤſes von ihm geſehen, mit gleichen Augen anſehen.

P 3§. 10.230I. Theil. VIII. Capitul.

§. 10. Er bemuͤhet ſich, die ihm vorgeſchriebene Pflichten, nach aller Moͤglichkeit zu erfuͤllen, und ſich auf keinerley Weiſe die Ungnade ſeiner Herr - ſchafft uͤber den Halß zu ziehen, jedoch beſtrebet er ſich nicht mit aller Gewalt einen Favori oder Mi - gnon abzugeben. Eine maͤßige Gnade und ein maͤßig Gluͤck achtet er vor weit ſicherer und dauer - haffter, als eine allzugroße Gnade; denn wenn die Hof-Sonne am allerheißeſten ſcheinet, ſo kan man gar offt eines truͤben Sturmes deſto eher vermu - thend ſeyn. Jſt er aber zu einer beſondern Gnade kommen, ſo uͤberhebet er ſich nicht ſeines Gluͤckes, er laͤſt ſich hiedurch zu keiner Familiaritæt verleiten, ſonder beobachtet allezeit den Reſpect, den er ihr ſchuldig iſt, je mehr Ehrerbietung er gegen ſeine Herrſchafft bezeuget, je mehr bleibt er auch ſelbſt bey Ehren. Er iſt ſo wohl zu dieſer Zeit, als zu ei - ner andern, gegen einen jeden hoͤflich und leutſeelig, er giebt niemand an, ſondern entſchuldiget einem je - den, ſo viel als die Pflicht und das Gewiſſen zulaſſen will. Er mißbraucht die Gnade der Herrſchafft nicht zu Saͤttigung ſeines Eigennutzes, ſondern be - dienet ſich derſelben mehr zu dem Dienſt ſeines Naͤchſten, ſo erwuͤrbet er bey Hofe, und in der Stadt deſtomehr Liebe und Freundſchafft, und entgehet dem Neid. Ein jeder wuͤnſcht ihm ſo dann die Verlaͤngerung und Vergroͤßerung ſeines Gluͤcks, und macht ſich bey einem ploͤtzlichen entſte - hendem Unfall auf einige Bedeckung gefaſt.

§. 11. Ein junger Hof-Mann thut wohl, wenner231Von dem Hof-Leben. er ſich uͤber ſeine Inſtruction und Beſtallung, die er erhalten, die mancherley Hof-Ordnungen be - kandt macht, als die Rang-Ordnungen, die Ord - nungen wegen der Trabanten, wegen der Gemaͤ - cher, die Kuͤchen - und Keller-Ordnungen, und ſo viel als er nur deren aus dem Hof-Marſchall-Amt erlangen kan. Lauffen ſie gleich nicht alle in die - jenige Pflicht mit ein, die von ihm gefordert wird, ſo koͤnnen ſie ihn doch bey beſondern Faͤllen einen und andern guten Dienſt leiſten. Er weiß wie weit ſich die Grentzen dieſes oder jenes Hoͤhern er - ſtrecken und was vor mancherley Pflichten bey den mancherley Verfallenheiten von den Geringern er - fordert werden, und kan ſich alſo durch eigenes Nachſinnen mancherley Regeln und Anmerckun - gen machen, dadurch der gemeinſchafftliche Nutzen und die Ehre ſeiner Herrſchafft befoͤrdert wird.

§. 12. Gleichwie eine unzeitige und unnoͤthige Curioſitaͤt eine ſehr verhaßte Sache bey Hofe iſt, alſo bezeugt ein vernuͤnfftiger Hof-Mann kein Ver - langen dasjenige zu entdecken, und zu erfahren, was andere, ſie ſeyn wer ſie wollen, inſonderheit aber die Hoͤhern, ſecretirt wiſſen wollen. Er gehet wohl gar den Umſtaͤnden, die ihm Gelegenheit gaͤben, et - was zu entdecken, aus dem Wege, aus Furcht, vor keinen Spion oder neugierigen Menſchen angeſe - hen zu werden; Siehet und hoͤret er etwas von ohngefehr und wider ſeinen Willen, ſo ſtellt er ſich an, als ob er nichts geſehen noch gehoͤrt; Durch dieſe Conduite entlediget er ſich mancher verdruͤß -P 4lichen232I. Theil. VIII. Capitul. lichen Umſtaͤnde, die er ſich ſonſt uͤber den Halß gezogen haͤtte.

§. 13. Er menget ſich niemahls in die Streitig - keiten der Hof-Partheyen, die ſie unter einander haben, hilfft allenthalben den Frieden befoͤrdern, entſchuldiget des Naͤchſten ſeine Fehler, iſt kein Ohrenblaͤſer noch Achſeltraͤger, und bezeuget ſich gegen einem jeden dienſthafftig und leutſeelig. Sind auf einem Schloße oder in derſelben Reſi - dentz Fuͤrſtliche Anverwandten wohnhafft, die in einigen Streitigkeiten mit einander ſtehen, ſo bezeu - get er auch in dieſem Stuͤck, der Herrſchafft, bey der er in Dienſten ſtehet, die vollkommenſte Treue, er entdecket der andern nichts, was zum Nachtheil oder zum Verdruß ſeiner Herrſchafft gereichen koͤnte, und wann er von der andern auch die aller - groͤſte Belohnung zu erwarten haͤtte, oder die buͤn - digſten Verſicherungen erhalten ſolte, daß ſie es wolten bey ſich behalten, und ihm keinen Verdruß hieruͤber zuziehen.

§. 14. Da er weiß, daß ein nothwendig Stuͤck eines Hof-Manns ſey, einen vernuͤnfftigen und ma - nierlichen Diſcours zu fuͤhren, um ſich bey der Herrſchafft, bey den Dames, bey den Miniſtres, und allenthalben gefaͤllig zu erweiſen, ſo befleißiget er ſich ſolcher Erzehlungen, Curioſitæten und Merckwuͤrdigkeiten, die entweder ueu, oder doch ſonſt anmuthig und ſonderbahr ſind. Zu dem Ende unterhaͤlt er, daferne es ſeine Umſtaͤnde erſtat - ten wollen, einige Correſpondence, er lieſet unter -ſchie -233Von dem Hof-Leben. ſchiedene in der teutſchen oder auslaͤndiſchen Spra - chen geſchriebene Memoires, Journalen, Reiſe - Beſchreibunge, Poeſien, u. ſ. w. damit er bey Ge - legenheit in ſeiner Converſation eines und das an - dere mit anbringen kan, und nicht noͤthig habe, bloß von Hunden, von Pferden, neuen Moden, l’hombre-Spielen zu reden, oder ſich uͤber andere Leute aufzuhalten, oder uͤber einen und andern Punct, ſo er in den Zeitungen geleſen, einige abge - ſchmackte Gloſſen zu machen. Er beobachtet aber hiebey folgendes, er enthaͤlt ſich aller unnoͤ - thigen Wiederhohlungen, erzehlet eine Sache nur einmahl, und iſt ſtets auf etwas Neues bedacht, er uuterhaͤlt einen jeden auf eine ſolche Weiſe, die ihm angenehm, und ſich vor ihm ſchickt, er entdeckt nicht die Qvellen, woraus er ſeine Erzehlungen biß - weilen herleitet, er giebet Acht, ob der ander lieber zuhoͤrt, als ſelbſt redet, er bezeuget in ſeinem Reden keine Begierden einen Lehrer abzugeben, ſondern ein Verlangen, ihm Gefaͤlligkeit zu erweiſen, er er - zehlt mehr, als daß er moraliſirt, er laͤſt ſich angele - gen ſeyn, nichts falſches noch ungegruͤndetes zu melden, und bey ungewiſſen Erzehlungen giebt er Nachricht von ſeinen Urhebern.

§. 15. Weil ein Hof-Mann mit mancherley Art Leuten zu ſprechen hat, die theils von Studiis, vom Degen, theils vom Jagen, theils von der Reu - terey Profeſſion machen, theils auch auf nichts an - ders, als aufs Spielen, und auf die Galanterien le - gen, ſo lenckt er ſeinen Diſcours dahin, wie es desP 5andern234I. Theil. VIII. Capitul. andern Faͤhigkeit und Neigung gemaͤß; So kan der andere ſchwatzen, was er will, und er findet Ge - legenheit, eines und das andere dabey zu lernen. Jſt es gleich ſeinen Umſtaͤnden nicht gemaͤß, ſich auf mancherley Kuͤnſte, Wiſſenſchafften, oder Metiers, die unter den Hof-Leuten beliebt ſind, zu appliciren, ſo lernt er doch ſo viel, daß er die im Reden ſtets vorfallenden Kunſt-Woͤrter verſtehet, und ſie bey Gelegenheit am rechten Ort und zu rechter Zeit an - zubringen weiß, damit er nachgehends nicht ausge - lacht werde.

§. 16. Weil die neueſte Hiſtorie der Fuͤrſtlichen Haͤuſer, und das Studium Genealogicum an allen Hoͤfen beliebt ſind, und in der Converſation gar oͤffters vorkommen, ſo bemuͤhet er ſich, eine gnugſa - me Erkaͤntniß in dieſem Studio zu erlangen, und die Genealogiſchen Tabellen der Europaͤiſchen Puis - ſancen, inſonderheit aber der Teutſchen Fuͤrſtlichen Haͤuſer, und am meiſten derjenigen, mit denen ſeine Herrſchafft in hoher Anverwandtſchafft ſtehet, ſtets in guter Ordnung zu erhalten, ſie zu ſuppliren und zu continuiren. Mit dieſen verbindet er die Heral - dica und das Jus Publicum, damit er wiſſe, was ſich etwan, nach des einem oder anderm Abſterben, in dem Succeſſions-Weſen merckwuͤrdiges zutra - gen, oder vor eine Prætenſion von dieſem oder je - nem Potentaten formirt werden moͤchte. Uber - dieſes leget er ſich auch auf die Erkaͤntniß der Muͤn - tzen, und auf die Ceremoniel-Wiſſenſchafft, damit er bey den oͤffentlichen Handlungen und Solennit -ten235Von dem Hof-Leben. ten deſto aufmerckſamer ſeyn moͤge, und den Grund anzuzeigen wiſſe, woher dieſes oder jenes, welches einem andern unbekandt, zu entſpringen pflege.

§. 17. An manchen Hoͤfen wird an die man - cherley Divertiſſemens eben ſo viel gedacht, als an die ernſtlichen Handlungen. Befindet er ſich nun an einem ſolchen Hofe, ſo iſt er bemuͤhet, wie er bey mancherley Luſtbarkeiten, als Opern, Comœdien, Maſqueraden, Redouten, Baͤllen, Wirthſchafften, Schaͤfer-Spielen, Illuminationen, Feuerwercken, Schneppenſchieſſen, Schlittenfahrten, Aufzuͤgen, Einzuͤgen, Carraſellen, Damen-Rennen, Inven - tions-Tafeln, und viel andern dergleichen, entwe - der durch Huͤlffe des Zeichnens und der Bau-Kunſt eines und das andere dabey mit angeben und ver - beſſern, oder doch zum wenigſten gruͤndlich davon zu urtheilen, und hiſtorice manches daruͤber herzu - ſagen wiſſe.

§. 18. Die Oratorie iſt vor einem Hof-Mann ein nuͤtzlich Studium. Ob es ſchon heutiges Tages nicht mehr ſo gebraͤuchlich, als vor dieſem, daß bey Empfangung und Bewillkommung fremder Herr - ſchafften auf den Grentzen weitlaͤufftige und ſolenne Reden gehalten werden, und man es in dieſem Fall bey einem kurtzen Compliment bewenden laͤſt, ſo ereignen ſich doch mancherley Gelegenheiten, daß ein Cavalier, der in den Studiis etwas gethan, bey Hofe oͤffentlich reden muß. Bald wird er bey der Beerdigung einer adelichen Leiche zu einem Paren - tator ausgebeten, bald muß er bey einem Fuͤrſtli -chen236I. Theil. VIII. Capitul. chen Sarge eine Stand-Rede halten; bald im Nahmen eines Collegii einer Herrſchafft, an ih - rem Geburths-Tage, Nahmens-Tage, u. ſ. w. einen Gluͤcks-Wunſch abſtatten; bald ſtatt eines Pagen, der wehrhafft gemacht wird, ſich bedancken. Und alſo verbeſſert und erweitert er ſeine natuͤrliche Beredſamkeit, durch die Regeln der Kunſt, ſo weit ihm noͤthig iſt.

§. 19. Die Poëſie iſt heutiges Tages an vielen Fuͤrſtlichen Hoͤfen in groſſe Verachtung kommen, davon dieſes die Haupt-Raiſon iſt, die der beruͤhmte Benjamin Neukirch in einem ſeiner Gedichte giebt: Weil die ungeſtimmten Floͤthen ſo viel hungriger Poeten faſt auf allen Gaſſen (hier aber werd ich ſa - gen, faſt an allen Hoͤfen) ſchreyen, und dennoch mit ihrem Klingen kaum ein hartes Lied erzwingen Nachdem aber, dem ungeachtet, hohe Standes - Perſonen und vernuͤnfftige Hof-Leute einen wohl - bedaͤchtigen Unterſchied zu machen wiſſen, wenn ein Bettler, aus einer eigennuͤtzigen Abſicht, einen Bo - gen voll Reime hinſchmiert oder ausſchreibet, und wenn ein Cavalier, oder ſonſt ein treuer Diener buͤrgerlichen Standes, zu Bezeigung ſeiner unter - thaͤnigſten Pflicht-Schuldigkeit, ein wohlgemeyn - tes Carmen aufſetzt. Bey der Poëſie hat ein Hof - Mann zu beurtheilen, ob ſeine Herrſchafft uͤber - haupt ein Liebhaber davon ſey, oder nicht? inglei - chen, ob er ſelbſt, ohne fremde Beyhuͤlffe, und, ohne ſeine Zuflucht zu den Buͤchern zu nehmen, etwas tuͤchtiges zu Marckte bringen koͤnne? Jſt die Poëſiebey237Von dem Hof-Leben. bey Hofe nicht angenehm, oder die Herrſchafft weiß, daß die poetiſchen Gedancken aus eines andern Ge - hirne herkommen, ſo bleibe der Hof-Mann mit ſei - nen Verſen lieber zu Hauſe. Er muß nicht allein der Herrſchafft etwas beſſers zu leſen geben, als ſie ſonſt von andern Leuten bey dergleichen Faͤllen zu leſen gewohnt, ſondern ſich auch mit ſeiner Poëſie etwas rar machen. Denn ſonſt, wo er ſich alle Nahmens - und Geburths-Taͤge damit einſtellet, macht er ſich und ſeine Carmina zu gemein.

§. 20. Hat es nun ein Hof-Mann in der Ge - lehrſamkeit und Wiſſenſchafft uͤberhaupt gleich auf einen ziemlichen hohen Grad gebracht, ſo macht er ſich doch bey Hofe im geringſten nicht damit breit, ſondern erweiſet dieſelbe, wo er ſie erweiſen ſoll; in ſeinen Diſcourſen enthaͤlt er ſich aller Streitigkeiten und Lehrſaͤtze, die in den Ohren der Hof-Leute pe - dantiſch und barbariſch klingen. Er beurtheilet die Grentzen der Erkaͤntniß dererjenigen, mit denen er redet, und bringt nichts vor, was ſich uͤber ihren Ho - rizont erſtreckt.

§. 21. Er lernt mancherley unvernuͤnfftige, gro - be und unglimpfliche Leute vertragen, inſonderheit diejenigen, bey denen ein guter Theil ſeines Gluͤ - ckes beruhet, wie auch andere, die mehr wegen ihrer Laſter, als ihrer Verdienſte eine Zeitlang in Anſe - hen, und die nicht ſo wohl wegen ihres hohen Ran - ges und großen Bedienungen, als ihrer Boßheit zu fuͤrchten ſind. Er bezeiget zwar bey ihrem wider - derwaͤrtigen Geberden, unhoͤflichen Ausdruck derWorte238I. Theil. VIII. Capitul. Worte und unfreundlichen Bezeugungen, einige Kaltſinnigkeit, nimmt ſich aber doch dabey in Acht, daß nicht ſeine wahre Ehre auf eine empfindliche Art gekraͤncket, und er zum Ziel aller groben Leute bey Hofe, auserſehen werde.

§. 22. Mit denen, die ſich bey Hofe auf das Narren-Handwerck legen, laͤſt er ſich nicht ein, er entdeckt ihnen nicht die Wahrheit, weil er von man - chen, die ſich vor Hochmuth ſelbſt nicht kennen, ein ſchlecht Tranck-Geld ſonſt zu gewarten haͤtte, er beſtaͤrckt ſie nicht in ihrer Thorheit, er macht ſich mit ihnen nicht familiair, erbittert ſie auch nicht, und bemuͤhet ſich durch einige Præſente ſich ſo viel als moͤglich in ihrer Gunſt zu erhalten.

§. 23. Gleichwie er allenthalben auf die ſeine Herrſchafft ſchuldige Ehrerbietung bedacht, alſo iſt er auch willig und bereit nach allen ſeinem Vermoͤ - gen diejenigen Ausgaben zu thun, die ſeiner Herr - ſchafft zur Ehre gereichen, inſonderheit befleißiget er ſich an den Fuͤrſtlichen Nahmens-Taͤgen, Ge - burths-Taͤgen und bey andern dergleichen Solen - nitæten, in ſeiner eigenen Kleidung, und in ſeiner Equipage proper zu erſcheinen, und bricht ſich lie - ber von dem, was er ſonſt zu ſeiner eigenen Ge - maͤchlichkeit und Vergnuͤgungen, ausgeben wuͤrde, ab, damit er dem Gnaͤdigſten Gefallen ſeiner Herr - ſchafft deſtomehr auſopffern moͤge.

§. 24. Hat er die Aufwartung bey fremder Herrſchafft, die ſeiner Herrſchafft ihren Beſuch ab - ſtatten, ſo iſt er ſehr accurat, ihr alle nur erſinn -liche239Von dem Hof-Leben. liche Dienſte zu leiſten, und richtet ſich ſo viel ihm nur immer moͤglich, nach ihren Willen und Nei - gungen. Es gereichet ſeiner Herrſchafft ſelbſt zu Ehren, wenn fremde ſehen, daß ihre Diener qua - lificirt, und uͤber die maßen muͤhſam und beſorgt ſind, Fremde zu bedienen, die Præſente, welche die fremden Herrſchafften an die Cavaliers und ande - re, die das Aufwarten haben, austheilt, werden ge - meiniglich vor diejenigen, die ſich hierbey accurat bezeugen, anſehnlicher und beſſer; ſie ſetzen ſich auch wohl bißweilen hiedurch bey der fremden Herrſchafft in ſolche Gnade, daß ſie dieſelben, zu der Diener Verbeßerung, in ihre eigene Dienſte ziehen, oder ſie doch bey ihren Herrſchafften ruͤhmen.

§. 25. Er iſt auch uͤberhaupt gegen alle Fremde, ohn Unterſcheid des Standes und ihres Characters, hoͤflich und dienſtfertig, ſie moͤgen nun nach Hof kommen, um die Gnade zu haben, der Herrſchafft ihren Reverence zu machen, oder bloß den Hof zu beſuchen. Er erkundiget ſich, wenn es zumahl junge Leute ſind, ob ſie etwan bey dem Hof - Marſchall u. ſ. w. bereits gemeldt, und wenn es nicht geſchehen, ertheilt er ihnen Nachricht, an wem ſie ſich zu adreſſiren haben; ſpuͤhret er, daß ſie es noͤthig haben, und vor gut aufnehmen moͤchten, ſo ſagt er ihnen eines und das andere von dem Cere - moniel des Hofes, wie es bey der Tafel, bey dem Geſundheits-Trincken u. ſ. w. in dieſem oder je - nem, gehalten werde, er præſentirt ſie ſelbſt an an - dere Cavaliers, unterhaͤlt ſie bey Hofe mit Diſcour -ſen,240I. Theil. VIII. Capitul. ſen, daß ihnen die Zeit nicht lang werde, er weiſt ihnen ein gut Quartir in der Stadt zu, er benach - richtiget ſie, was in der Stadt und bey Hofe merck - wuͤrdiges zu ſehen, und verhilfft ihnen bey den So - lennitæten und Divertiſſemens bey Hofe, daß ſie einen guten und bequemen Platz bekommen moͤgen, und erzeigt ſich ihnen auch ſonſt dienſtfertig.

§. 26. Die Geburth, der Caracter, die eigene Auffuͤhrung deſſen, der den Hof beſucht, das Gluͤck das er hat, der Herrſchafft zu gefallen oder nicht, und andere Umſtaͤnde mehr, beſtimmen zwar der Hoͤflichkeit der Hof-Leute, die ſie gegen Fremde zu erweiſen haben, wenig Maaß und Ziel; inzwiſchen bleibet doch die Regel feſt, daß ſich ein Hof-Mann gegen die Fremden ſo hoͤflich und dienſtfertig erwei - ſen ſoll, als nur immer moͤglich. Es iſt in der That ein großer Fehler einiger Hof-leute, daß ſie zwar gegen die fremden Cavaliers, die eine große Figur machen, und anſehnliche Characteres auf ſich ha - ben, ceremonieus genug ſind, andern jungen Paſ - ſagirern aber, die nach Hofe kommen, ob ſie ſchon nait ihnen gleichen Standes, und auch ſattſam qua - lificirt, ſie gar ſchlechte Cour machen. Sie un - terhalten ſie nicht mit Diſcourſen, ſondern laſſen ſie eine lange Zeit, wenn ſie nicht ſelbſt freymuͤthig ge - nug ſind, in die Geſellſchafft zu den andern mit zu treten, allein ſtehen, ſie verſpotten ihrer noch wohl dazu, wenn ſie einiger kleinen Fehler an ihnen ge - wahr werden, ertheilen ihnen keine Nachrichten, die ihnen einigen Nutzen ſchaffen koͤnten, und verſpah -ren241Von dem Hof-Leben. ren alle Hoͤflichkeit biß an den Schenckſtuhl, da ſie denen durch einen guten Rauſch, den ſie ihnen aus Falſchheit und zu ihren eignen Vergnuͤgen zubrin - gen, alles auf einmahl wieder einbringen wollen. Doch dieſe Ehre, die ſie ihnen durch das Zubringen der großen Humpen erweiſen, iſt eine ſolche Ehre, daruͤber der andere, der den Trunck nicht vertragen kan, bißweilen ſeine eigne Ehre verlieret.

§. 27. Bey der Obferte, oder bey der Einla - dung zum Spielen, wird dem Fremden ebenfalls bißweilen eine unzeitige und unnoͤthige Hoͤflichkeit erzeiget, die ihnen nicht allezeit gelegen iſt, man weiß ja nicht ſtets ob ſie Liebhaber des Spielens, ob ſie die Spiele nicht verſtehen, ob es ihnen bequem, ſo hohe Summen zu ſetzen, u. ſ. w. und gleichwohl noͤ - thigen ihrer vielen Cavaliers und Dames die Frem - den, inſonderheit die bey guten Mitteln ſind, dazu, ohne daß man ſich vorhero bey ihnen erkundiget, ob es ihre Bequemlichkeit mit ſich bringet, ſich in das Spielen einzulaſſen; Mancher junge Menſch, der in Gedancken ſtehet, der unvermeidliche Wohl - ſtand bringe es mit ſich, daß er ſich alles, was ihm andere vorſchluͤgen, muͤſte gefallen laſſen, ſpielet mit, da er aber eine ſehr ſchlechte Erkaͤnntniß von Spielen beſitzt, zu ſeiner groͤſten Schande und Schaden.

§. 28. Wird ein vernuͤnfftiger Hof-Mann an einen fremden Hof geſchickt, etwas zu ſeines HerrnQNu -242I. Theil. VIII. Capitul. Nutzen und Ehre zu negociren, ſo beobachtet er in allen Stuͤcken ſeine ihm mitgegebene Inſtruction, damit er allenthalben die Pflicht eines treuen Die - ners beobachten, und weder bey dem Range noch in dem andern das Ceremoniel angehenden Pun - cten ſeiner Herrſchafft etwas vergeben moͤge.

§. 29. Bey manchen Umſtaͤnden findet er vor noͤthig, ſich eine Zeitlang vom Hofe zu entfernen, und nur dann und wann der Herrſchafft zu zeigen. Große Herren haben bißweilen mehr Gnade vor die Diener, die ſie ſelten ſehen, als vor diejenigen, die ihnen alle Tage vor dem Augen herum gehen, und ſtets auf dem Fuſſe nachfolgen.

§. 30. Jſt er in einige Ungnade gefallen, ſo be - muͤhet er ſich den Grund der Ungnade zu entdecken, er uͤberdencket ſo viel als moͤglich, alle ſeine Wor - te und Handlungen, und haͤlt ſolche gegen die Nei - gungen ſeiner Herrſchafft, und nach dem was ihr gefaͤllig oder mißfaͤllig, er erweget auf das ſorgfaͤl - tigſte, wie er ſich eine Zeitlang, ſo wohl gegen ſeine Herrſchafft, als auch gegen die Miniſtres, gegen die Favores und andere bezeuget. Befindet er nun, daß er durch einig Verſehen zur Ungnade ſelbſt Ge - legenheit gegeben, ſo erkennt er alſobald ſeine eigene Fehler, depreciret ſolche bey der Herrſchafft auf das flehentlichſte und ſubmiſſeſte, und erſucht auch andere, die bey der Herrſchafft wohl angeſehen, daßſie243Von dem Hof-Leben. ſie ihre guten Officia anwenden moͤchten, ihn wie - der zur vorigen Gnade zu verhelffen. Weiß er ſich aber nichts vorzuwerffen, dadurch er ſich mit Raiſon einige Ungnade uͤber den Halß gezogen, ſo troͤſtet er ſich mit der Hoffnung, daß ſein Zuſtand bald wieder verbeſſert werden moͤchte. Er iſt da - bey gelaſſen, er diſſimuliret ſeine Unruhe gegen andere, ſo viel als moͤglich, er ſchuͤttet gegen die andern Hof-Leute, die bey dergleichen Faͤllen ge - meiniglich gar leidige Troͤſter zu ſeyn pflegen, keine unmuthige Klagen aus, ſetzet inzwiſchen ſeine Dienſte mit aller Treue und Emſigkeit fort, und beobachtet diejenige Regel, die er nach dem Hu - meur ſeiner Herrſchafft bey dergleichen Faͤllen zu beobachten hat. Die uͤbrigen zu dieſer Materie gehoͤrigen Anmerckungen, koͤnnen in dem Capitul von Tituln und Range nachgeleſen werden.

§. 31. Bey dem allgemeinen Troſte, mit dem junge Hof-Leute insgemein abgeſpeiſet worden, daß ſie nemlich Gedult haben muͤſten, uͤberdencket er, ob und wie weit er gegruͤndet ſey, und erweget nach den Regeln der Wahrſcheinlichkeit mancher - ley Todes-Faͤlle, und Veraͤnderungen der menſch - lichen Gemuͤther, derer die ihn gnaͤdig oder ungnaͤ - dig, an ſeinen weitern Avancement hinderlich oder befoͤrderlich, und andere Begebenheiten und Um - ſtaͤnde, die in den kuͤnfftigen Zeiten zur Wuͤrcklich - keit gedeyen moͤchten, und nachdem ihnen dieſesQ 2alles244I. Theil. VIII. Cap. Von dem Hof-Leben. alles Bewegungs-Gruͤnde an die Hand giebt, nachdem lencket er ſeinen Entſchluß wegen Con - tinuation ſeiner Dienſte, oder wegen einiger Ver - aͤnderung, damit er weder durch einen uͤbereilten Schluß noch durch allzu lange Verzoͤgerung ſei - nen Zuſtand unvollkommen mache.

§. 32. Endlich richtet er auch in den juͤngern Jahren ſeine Hof-Dienſte ſo ein, damit er entwe - der von dem ſeinigen ſo viel uͤbrig behalte, oder durch ſeine Treue, Fleiß und Emſigkeit erwerbe, daß er mit Ehren, und bey fortdaurender Gnade ſeiner Herrſchafft dem Hof-Leben zu rechter Zeit Abſchied geben, die uͤbrigen Jahre ſeines von GOtt ihm gegoͤnnten Lebens, ſeiner eignen Zu - friedenheit, und die Zubereitung auf die kuͤnffti - ge gewiſſe Ewigkeit widmen moͤge.

Der245

Der II. Theil. Das I. Capitul. Vom Gottesdienſte.

§. 1.

DEr Gottesdienſt beſtehet in ′gewiſſen Handlungen, die man, in Anſehung GOttes, vornimmt, und dadurch man ihm beſondere Pflichten abſtat - ten will. Er wird eingetheilet, in den oͤffentlichen, der in der Kirche vorgenommen wird, und in den Privat-Gottesdienſt, den ein jeder vor ſich in ſeinem Hauſe haͤlt, in den innerlichen, der im Hertzen geſchiehet, und in den aͤuſſerlichen, der diejenigen Handlungen, ſo in die aͤuſſerlichen Sinnen fallen, dirigiret. Die Geiſt - liche Rechts-Lehre ſchreibt die Geſetze vor, wodurch das aͤuſſerliche Weſen des Gottesdienſtes, zur Ehre GOttes, und zum Heyl der Kirche, in Ordnung ge - bracht wird. Die geiſtliche Ceremoniel-Wiſ - ſenſchafft unterſucht eigentlich den Grund der Cere - monien, und erklaͤret ihre Bedeutung. Unſere weltliche Ceremoniel-Wiſſenſchafft aber fuͤhret einige allgemeine Regeln an, ſo die Privat-Perſo - nen, dem Wohlſtande nach, bey einigen, zu demQ 3aͤuſſer -246II. Theil. I. Capitul. aͤuſſerlichen Gottesdienſt gehoͤrigen Handlungen, zu beobachten haben, und uͤberlaͤſt eine weitere und ausfuͤhrlichere Einſchaͤrffung der hieher gehoͤrigen Pflichten der Chriſtlichen Tugend - und Sitten - Lehre.

§. 2. So weit iſt es nnter unſern heutigen Schein - Chriſten gekommen, daß viele von unſern jungen ſo genandten Politicis, adelichen und buͤrgerlichen Standes, in den Gedancken ſtehen, der Titul eines Chriſten lieſſe ſich nicht wohl mit dem Titul eines Weltweiſen, oder eines braven, vernuͤnfftigen und ehrlichen Mannes, mit einander vereinigen. Doch dieſe elenden Leute machen ſich irrige Begriffe von der Gottſeligkeit und von ihrer Welt-Klugheit. Wenn ſie ſich die Muͤhe gaͤben, die Schoͤnheit und Vortrefflichkeit der Religion einzuſehen, ſo wuͤrden ſie die Vollkommenheit der Chriſtlichen Lehre, und die wahre Gluͤckſeligkeit, die hiedurch zuwege ge - bracht wird, nicht hoch genug zu ſchaͤtzen und zu ver - ehren wiſſen; wie ſie denn auch wuͤrcklich von ei - nem groſſen Theil derer, die ihr doch widerſtreben und keine Folge leiſten, geruͤhmet wird, wovon ich hier weitlaͤufftige Zeugniſſe anfuͤgen koͤnte, wenn ich mich nicht der Kuͤrtze befleißigen wolte. Es ſaget daher Faramond, in der Betrachtung der Sitten gegenwaͤrtiger Zeit, pag. 211. ſehr wohl, wenn er ſchreibt: Ob ſich ſchon die Grund-Regeln unſerer Religion bey vielen eine Verachtung zugezogen ha - ben, ſo ſind ſie doch dermaſſen großmuͤthig, und mit der Wohlfahrt der menſchlichen Geſellſchafft uͤber -einſtim -247Vom Gottesdienſte. einſtimmig, daß es nicht in der Macht der Gottlo - ſen ſtehet, ihre guͤtigen Einfluͤße zu verhindern.

§. 3. Daß die Gottesfurcht zu allen Dingen nuͤtze ſey, und die Pflichten des Chriſtenthums einem Welt - und Staats-Mann, und einem jungen Ca - valier, der ſein Gluͤck in der Welt und bey Hofe machen will, ſo unentbehrlich als einem Bauer, oder einen ſo genandten Geiſtlichen, iſt, GOtt Lob! von unterſchiedenen hohen Standes Perſonen, groſſen Staats-Miniſtris, und andern rechtſchaffenen Leu - ten, der aͤltern und neuern Zeiten, erkandt, und oͤf - fentlich behauptet worden. Der ehmahlige Groß - Cantzler in Franckreich, Monſieur de Chevergny, ſchreibet, unter andern Lebens-Regeln, in der ſei - nem Sohn ertheilten Inſtruction, p. 141. folgende mit vor: La premiére choſe, que vous deues auoir devent les yeux, c’eſt la crainte & l hon - neur de Dieu dans le coeur cheminer ſelon ſes voyer, & ſuivre ſes ſaints commandémens, car autrement n’erperis jamais proſperer en ce monde ny en l autre, qui eſt plus grand, car il eſt eternel. Der groſſe Staats-Miniſter in Franckreich neuerer Zeiten, Monſieur de Callieres, erinnert in ſeinem Staats-erfahrnen Abgeſandten, p. 212: Ein weiſer und geſchickter Negotiant ſoll nicht nur ein guter Chriſt wuͤrcklich ſeyn, ſondern auch ſolches allezeit in ſeinen Reden und ſeiner Le - bens-Art blicken laſſen, auch in ſeinem Hauſe keine ruchloſe und uͤbelgeſinnte Leute dulden, noch zuge - ben, daß man an ſeiner Tafel, und in ſeiner Gegen -Q 4wart,248II. Theil. I. Capitul. wart, freche und boͤſe Exempel-gebende Diſcourſe fuͤhre.

§. 4. Der beruͤhmte Herr Ehrenfried Walther von Tzſchirnau ſagt in ſeiner erſten Anmerckung, die er, zum Behuff junger Leute, aufgeſetzt: Weil alle andere Qualitaͤten, die junge Leute, als Politici, ſich acquiriren, andern einmahl wenig nuͤtzen, wo ſie das rechte Weſen der Gottſeligkeit nicht bey ſich haben, ſo erſehen die Hofmeiſter hieraus, wie noͤ - thig ſie hier haben, das unum neceſſarium beſon - ders wohl bey ihren Untergebenen zu practiciren, und ſie alſo zu der rechten Weißheit anzufuͤhren, die vielmahls in der Welt hoch-meritirten Theologis, leider! fehlet, aber einfaͤltigen Chriſten offt viel beſ - ſer bekant iſt. So find auch ausbuͤndig-ſchoͤne Worte die der noch lebende qualificirte Cavalier, Herr Wolff Bernhard von Tzſchirnau, in ſeinem getreuen Hofmeiſter pag. 15. der Anmerckung ſei - nes ſeligen Herrn Vetters mit angefuͤgt: Man ſolte ſich bemuͤhen, ſpricht er, die Quellen der Suͤn - de zu verſtopffen, den alten aͤuſſerlichen, ſuͤndlichen, fleiſchlichen Menſchen zu toͤdten, und dagegen den neuen, innerlichen, GOtt-gefaͤlligen, geiſtlichen Menſchen taͤglich mehr und mehr lebendig zu ma - chen. Dieſes koͤnte nicht beſſer geſchehen, als wenn man, nach gefaßtem Schluß, die wahre Hertzens - Veraͤnderung vorzunehmen, und dieſelbe biß in den Tod getreulich fortzuſetzen, allen dem, was fleiſch - lich iſt, gaͤntzlich entſaget, und lediglich den Heiligen Geiſt in ſeiner Seele, ohne Widerſtand zu thun,wuͤrcken,249Vom Gottesdienſte. wuͤrcken, und nach ſeinem allein guten Willen und Wohlgefallen das alte Babel zuſtoͤhren, hingegen das neue Jeruſalem aufrichten, und einen neuen ge - wiſſen Geiſt iu demſelben ſchaffen laͤſt.

§. 5. Der Hoch-Fuͤrſtlich Waldeckiſche Hof - Rath Nemitz, der ſich ebenfalls in der Welt umge - ſehen, laͤſt ſich p. 20. von dieſer Materie folgender geſtalt vernehmen: Leute, die keine Religion ha - ben, gedencke ich nicht zu inſtruiren, und die koͤnnen nur ſicher glauben, daß ſie niemahls ihr Gluͤck in der Welt machen werden. Alſo muß nun unſer Reiſender eine Fundamental-Wiſſenſchafft von ſeiner Religion haben, dergeſtalt, daß er den Glau - ben, darzu er ſich bekennet, nicht nur gruͤndlich und wohl in theſi verſtehe, ſondern auch denſelben in Fall der Noth geſchickt zu vertheidigen wiſſe. Dieſes aber iſt nicht genung, ſondern weil er mit unterſchiedenen Religions-Verwandten zuſammen kommt, ſo muß er auch einige Kundſchafft von ih - ren Sentimens haben, daher laͤſt er ſich zu Hauſe ſo wohl informiren in Theologia Thetica, das iſt, in dem Glauben, darinne er erzogen und geboh - ren, in was Puncten derſelbe beſtehe, als auch in Theologia Polemica, oder in den Articuln, wor - innen andere Religionen von uns abgehen, damit er ſelbige bey Begebenheiten deſto gruͤndlicher wi - derlegen koͤnne, und durch ihre ſpecieuſen Raiſons ſich nicht verfuͤhren laͤſt.

§. 6. Gleichwie diejenigen, die andere entweder an Stande, Ehren-Stellen, Macht und Anſehen,Q 5oder250II. Theil. I. Capitul. oder auch nur bloß an Gelde uͤbertreffen, bey vielen Handlungen des buͤrgerlichen Lebens, vor den uͤbri - gen mancherley Vorzuͤge, theils durch Verguͤnſti - gung der Hoͤchſten im Lande erlangt, theils auch ſich nur bloß angemaßt, alſo wollen ſie dieſelben auch auf die Handlungen des aͤuſſerlichen Gottes - dienſtes erſtrecken, und allenthalben etwas eignes haben, ſie wollen nicht ſo beten, wie die gemeinen Leute, das Wort GOttes nicht ſo hoͤren, wie ſie, den Sonntag nicht ſo heiligen, nicht ſo beichten, nicht ſo zum heiligen Abendmahl gehen, ſich nicht ſo trauen laſſen, ihre Kinder nicht ſo tauffen laſſen, nicht ſo ſterben, und auch auf die Weiſe nicht begra - ben werden, wie die andern; wenn nur auch der große GOtt vor ſolche eigenſinnige Leute einen eig - nen Himmel haͤtte, da ſie wie hier auf Erden von den andern abgeſondert waͤren. Die Conſiſtoria erfahren den Hochmuth der Hoͤhern und Reichern, der vor die Haupt-Qvelle ſolcher Abſonderung an - zuſehen, mehr als zu ſehr. Denn ob ſte ſchon bey vielen Faͤllen wieder den Jnhalt der Kirchen-Ord - nungen Diſpenſationes ertheilen, ſo wollen ſolche Leute doch noch immer weiter gehen, und Ausnah - men mit Ausnahmen haͤuffen: Daß bey ſolchen aͤußerlichen Weſen in einem und dem andern man - chen Leuten in Anſehung ihres Standes, Ranges und Characters, einige Prærogativ gegoͤnnet wer - de, iſt vor zulaͤßig zu achten; hoͤchſt unrecht und ſuͤndlich aber iſts, wenn dergleichen Leute bey eini - gen Stuͤcken wider die goͤttlichen Verordnungenund251Vom Gottesdienſte. und die Aehnlichkeit des Glaubens etwas beſon - ders ſuchen und erlangen.

§. 7. Eine Chriſtliche Standes-Perſon ſiehet bey dergleichen Faͤllen nicht ſo wohl auf die vielen Exempel anderer, die ſie vor ſich haben, oder auch auf die Moͤglichkeit der Diſpenſation, die ſie we - gen ihrer Macht, vornehmen Anverwandſchafft, groſſen Einkuͤnffte u. ſ. w. auswuͤrcken koͤnte, als vielmehr auf die Vorſchrifft des Goͤttlichen Wor - tes, ſie ziehet mehr ihr eigen Gewiſſen, als andere Welt-geſinnte von ihrem Stande zu Rathe, und begehret bey ſolchen aͤuſſerlichen Handlungen kei - nen Vorzug, als der Kirchen Ordnung und Ob - ſervanz gemaͤß, und ohne Aergerniß der Gemeinde geſchehen kan.

§. 8. Bey einigen von unſern jungen Leuten iſt es zur Mode geworden, daß ſie ſichs vor eine Schande achten nach dem ſeeligen Vater Luthe - ro, Evangeliſch-Lutheriſche Chriſten zu nennen, ſon - dern ſich auf Befragen lieber vor Evangeliſche Chriſten ausgeben; Nun meynen ſie zwar, es waͤ - re ja weit beſſer, daß man ſich nach dem Haupt und nach dem Herrn, als bloß nach dem Diener nennet; wenn man aber den rechten Grund hievon anzeigen ſoll, ſo thun ſie es entweder aus Galanterie, daß ſie vor den andern etwas beſonders haben wollen, oder aus einer kaltſinnigen und indifferenten Nei - gung gegen diejenige Lehre, die durch den Dienſt des ſeeligen Lutheri wieder in ihre vorige Reinig - keit und Lauterkeit verſetzt worden; Mehrentheilsſind252II. Theil. I. Capitul. ſind es gute, oder ich moͤchte vielmehr ſagen, boͤſe Indifferentiſten, und Voluntairs von allen Reli - gionen, wie ſie ſich auch wohl ſelbſt zu nennen pfle - gen. Sie geben hiedurch zu verſtehen, daß es ih - nen gleich viel gilt, ob ſie bey ihren oder bey frem - den Religions-Verwandten, vor Roͤmiſch-Catho - liſche, vor Reformirte, vor Socinianer, vor Grie - chen, vor Qvacker, u. ſ. w. angeſehen werden, ſin - temahl ſich alle dieſe Secten ebenfalls Evangeliſche Chriſten zu nennen pflegen. Sie ſchaͤmten ſich lieber des Chriſten Nahmens auch, wenn ſie nur einen andern finden koͤnten, mit dem ſie eben ſo mit guter Manier, als wie mit dieſem in dem buͤrgerli - chen Leben fortkommen koͤnten. So vernuͤnfftig aber, als ſich ſolche Leute duͤncken, ſo bedencken ſie doch nicht, daß dergleichen Beynahme, dadurch gewiſſe Unterſchiede bemercket werden, in Anzei - gung ſeiner Religion, zu der man ſich bekennet, eben ſo nothwendig ſeyn, als bey andern Faͤllen, und daß ſich mancherley Umſtaͤnde hierbey ereig - nen koͤnnen, da ſo wohl uns ſelbſt als andern dran gelegen, daß wir andern Leuten durch eine gewiſſe Benennung einen klaren Begriff beybringen, von derjenigen Religion, zu der wir uns bekennen.

§. 9. Es iſt eine mehr als zu bekandte Erfah - rung, daß die Welt, nach einer faſt durchgaͤngigen und ſuͤndlichen Gewohnheit diejenigen Tage, ſo dem Goͤttlichen Befehl nach am meiſten geheiliget werden ſolten, ſo ſchaͤndlich entheiliget; der groſſe GOtt mag in ſeinem Wort wider die Ubertreterder253Vom Gottesdienſte. der Sabbath-Feyer noch ſo ſehr eifern, und ihnen die ſchaͤrffſten Strafen androhen; Chriſtliche Pre - diger, die nicht allein den Nahmen, ſondern auch der That nach Geiſtliche ſind, moͤgen muͤndlich und ſchrifftlich die Heiligung der Sonn - und Feſt-Ta - ge, als eine hoͤchſt-noͤthige Chriſten-Pflicht allen Leuten einſchaͤrffen, ſo bleibet die Welt, dem un - geachtet doch bey ihrer Weiſe: Der groͤſte Theil denn, ſo die andern an manchen Stuͤcken der aͤuſ - ſerlichen Gluͤckſeligkeit uͤbertreffen, halten dieſe Ta - ge am bequemſten zu ihren Divertiſſemens, zu ih - ren Baͤllen, Aſſembleen, Gaſtgebothen, Viſiten u. ſ. w. Haben nun die andern dieſe zu Vorgaͤn - gern, ſo ahmen ſie ihnen getreulich nach, und alſo iſt in den meiſten Staͤdten, Flecken und Doͤrffern, nach geendigtem Gottesdienſt, nichts als lauter uͤp - pige Welt-Freude, da wird am meiſten gefreſſen und geſoffen, gedantzet und geſprungen, gelaͤrmet und geſchwaͤrmet.

§. 10. Gleichwie aber das Chriſtenthum, den Regeln der Gewohnheit, Ziel und Maaß vor - ſchreibt, alſo laͤſt ſich ein vernuͤnfftiger Chriſt hier - innen im geringſten nicht von dem Wahn der gottloſen Welt hinreißen. Ein wahrer Glaͤubiger, er ſey im uͤbrigen ſeinem Stand und Character nach wer er wolle, haͤlt nichts vor privilegirt, was wider GOtt und ſein Wort iſt. Er giebt der Welt was der Welt gehoͤrt, das iſt, er beobach - tet, ſo viel moͤglich, alle Regeln des Wohlſtandes, die nicht mit dem Chriſtenthum ſtreiten, er giebtaber254II. Theil. I. Capitul. aber auch zugleich GOtt was GOttes iſt, und heiliget ſeinen Sabbath. Es findet ein Chriſt, wenn er den Ruhe-Tag des HErrn in einer GOtt geheiligten Ruhe zubringt, mehr Ruhe in ſeinem Gemuͤthe, als die Welt bey ihren unruhigen We - ſen. Er bemuͤhet ſich, um vor denen Verſuchun - gen der Welt deſto mehr geſichert zu ſeyn, auf ſo einen Fuß zu ſetzen, damit andre einmahl vor alle - mahl wiſſen, daß er ſich an dieſen GOtt gewidme - ten Taͤgen zu nichts uͤberreden laͤſt, als was die Nothwendigkeit und die Chriſten-Liebe erfordert, und der Sabbaths-Feyer nicht entgegen laͤufft. Wenn die Welt-Geſinnten, die ſich in Herrſchafft - lichen Dienſten befinden, auf Befehl ihrer Herr - ſchafften, den Sonntag auf die gewoͤhnliche Weiſe mit Kirchen-gehen u. ſ. w. nicht abwarten koͤnnen, ſo nehmen ſie insgemein zu dem boͤſen Sprichwort: Herren Dienſt gehet uͤber GOttes Dienſt, ihre Zuflucht. Nun hab ich zwar die Gottloſigkeit die - ſer Redens-Art in dem vorhergehenden bereits vorgeſtellt, ich achte aber nicht vor undienlich, wenn ich allhier noch zeige, daß Herren Dienſt und GOt - tes Dienſt auch bey dieſem Fall gar wohl mit ein - ander zu vereinigen, und daß alſo dieſes Sprich - wort nicht allein gottloß, ſondern auch falſch ſey. Es iſt wahr, es koͤnnen ſich bißweilen Faͤlle zutra - gen, da ein junger Menſch, er ſey bey Hofe oder im Kriege, oder auch ſonſt, ſeiner Pflicht und ſeinem Beruff nach, an dem Kirchgehen verſaͤumet wird, da ihm ſein Herr und ſeine Vorgeſetzten entwederuͤber255Vom Gottesdienſte. uͤber Land verſchicken, oder ihn doch ſonſt von der Kirche abhalten, inzwiſchen wird er bey dieſem Fall eben nicht von dem aͤuſſerlichen Gottesdienſt abge - halten. GOtt wohnet nicht im Tempel, der mit Haͤnden gemacht, ſondern er kan allenthalben ver - ehret werden. Jſt einer des Sonntags allein auf der Straſſe, oder in der Geſellſchafft derer, die ihn von dem aͤuſſerlichen Gottesdienſt nicht abhalten duͤrffen noch koͤnnen, ſo kan er ſeinen GOtt mit lau - ter Stimme ſo wohl anruffen und ihm dancken, als mit der Gemeinde; befindet er ſich an dieſem Tage an einem ſolchen Ort, da er es nicht mit lauter Stimme thun darf, als, ein Soldat auf der Schild - wache, ein Hof-Cavalier in dem Vorgemach ſei - nes Herrn, u. ſ. w. ſo wird er doch nicht verhindert, mit ſachter Stimme ſeinen GOtt anzuflehen, in ſei - ner Seele geiſtliche Betrachtungen anzuſtellen, auch wohl GOttes Wort und ein ander geiſtlich Buch zu leſen; und alſo gehet bey dieſem Fall im gering - ſten nicht der Herren Dienſt uͤber GOttes Dienſt. Geſetzt aber, daß auch einer an dem aͤuſſerlichen Gottesdienſt verhindert werden ſolte, da er nemlich, dem Herrn-Dienſt nach, in der Geſellſchafft ande - rer Leute ſich aufhalten muß, da er, ohne vor einen Thoren gehalten zu werden, unmoͤglich mit dem Munde beten, noch ſingen, oder leſen kan, (wiewohl auch manche von denen, die ſich, ihren Gedancken nach, des Sonntags bey andern Leuten aufhalten muͤſſen, auf eine gute Zeit von den andern mit gu - ter Manier entfernen, und ihrem GOtt in der Stil -le256II. Theil. I. Capitul. le an einem einſamen Oertgen auch aͤuſſerlich dienen koͤnten, wenn ſie nur ſonſt Luſt dazu haͤtten,) ſo kan er doch von dem innerlichen nicht zuruͤck getrieben werden. Dieſer iſt GOtt am gefaͤlligſten, weil er im Hertzen und in der Seele geſchiehet, und der aͤuſſerliche ihm nur in ſo weit gefaͤllig, als er mit dem innerlichen verbunden iſt. Wir wollen zwey Faͤl - le ſetzen: Cajus, der ſich in einer groſſen Stadt aufhaͤlt, gehet des Sonntags dreymahl in die Kir - che, und laͤufft aus einer Predigt in die andere, nach geendigter Veſper ſtehet er Gevatter, und verrichtet alſo wieder ein heilig Werck; er gehet aber nicht in die Kirche, aus dem Vorſatz, GOttes Wort zu hoͤren, und ſich daraus zu erbauen, ſondern aus bloſſer Gewohnheit; er ſchlaͤfft, oder plaudert, oder hat doch ſeine Gedancken von dem rechten Gottesdienſt abgekehrt, bey ſeiner Gevatterſchafft bedenckt er nicht die Hoheit und Wichtigkeit dieſes Werckes, ſondern verrichtet es nur den aͤuſſerlichen Ceremonien nach mit lauter Complimens, Reve - rences und Beantwortung der Fragen mit Ja. Ariſtarchus hingegen, ein gottſeliger Hof-Mann, wird des Sonntages Vormittags einer fremden Herrſchafft auf eine Meile entgegen geſchickt, ihr im Nahmen ſeiner Herrſchafft das Bewillkom - mungs-Compliment abzuſtatten, des Nachmit - tages muß er entweder an der Fuͤrſtlichen Tafel bleiben, oder dabey aufwarten, und wird wieder von dem oͤffentlichen Gottesdienſt abgehalten. Ari - ſtarchus geht zwar den gantzen Sonntag nicht indie257Vom Gottesdienſt. die Kirche, er bringt aber einen großen Theil des Vormittags, weil er auf der Straſſe iſt, und nie - mand als ſeine Diener bey ſich hat, mit Singen und Beten zu, des Nachmittags ſinget und ſpielet er dem Herrn in ſeinem Hertzen, er ſtellt ſich den allgegenwaͤrtigen und allſehenden GOtt vor Au - gen, er beſeuffzt die Greuel der Welt, er rufft zu GOtt um ſeine eigne und um andrer Leute ihre Bekehrung; im uͤbrigen ißt und trinckt er, und macht dem aͤuſſerlichen nach eben eine ſolche Figur wie die andern Hof-Leute. Welcher von beyden hat nun den Sonntag mehr geheiligt? Cajus hat bloß mit ſeinen Lippen und Ohren GOtt gedient, ſein Hertz iſt aber fern vvn ihm geweſen, Ariſtar - chus iſt an dem aͤußerlichen Gottesdienſt verhin - dert worden, hat aber mit ſeinem Hertzen und mit ſeiner Seelen ihm Dienſte geleiſtet; ich glaube mit gutem Grunde, daß man Ariſtarcho eine beſ - ſere und GOtt gefaͤlligere Heiligung des Sabaths nachruͤhmen kan. Dieſemnach erkennt man, daß auch nicht einmahl in dieſem Fall der Herren Dienſt uͤber GOttes Dienſt gehe, ſondern mit ihm gar wohl zu vereinigen. So ſich aber Faͤlle ereignen ſolten, da man den Herren Dienſt dem GOttes Dienſt, oder kurtz zu ſagen, einen ſterblichen Menſchen GOtt vorziehen ſolte, ſo wird ein wahrer Glaͤu - biger lieber den Herren Dienſt fahren laſſen, und nicht allein den Herren Dienſt, ſondern auch die gantze Welt, eh er ſeinem GOtt mit Wiſſen und Willen und mit gutem Vorſatz ungetreu und un - gehorſam werden ſolte.

R§. 12.258II. Theil. I. Capitul.

§. 12. Jhrer viel von unſern Mode-Chriſten, die ſich doch in ihren Chriſtenthum noch beſſer duͤncken als andere ihres gleichen, und den Sonn - tag mit den aͤußerlichen Kirchengehen theils gantz, theils doch einiger maßen heiligen wollen, beobach - ten bey dem Kirchgehen, und bey den Handlun - gen die in der Kirche vorfallen, nicht einmahl das - jenige, was ſie der Vernunfft und dem Wohl - ſtande nach hiebey in Obacht zu nehmen haͤtten. Einige kommen gantz ſpaͤte hinein, wann die Pre - digt ſchon angangen, oder bald halb iſt, und ſetzen dabey meiſtentheils des Nachmittages aus; Sie achten dieſes vor eine Art einer Galanterie, und wollen ſich hierinnen von dem gemeinen Mann ab - ſondern, ſie dencken der Gottesdienſt, und ſonder - lich die Prodigten, waͤren bloß vor dem Poͤbel, ſie koͤnten ſich ſchon ſelbſt helſfen, ſie wuͤſten es eben ſo gut als die Prieſter, da doch mancher von ihnen einen Unterricht im Chriſtenthum noͤthiger brauchte, als mancher armer Handwercks-Mann oder Ta - geloͤhner. Wenn doch aber ſolche Leute nur be - dencken wolten, ob denn ihre Herrſchafften wohl mit ihnen zufrieden ſeyn wuͤrden, wenn ſie ihnen nur einen halben Tag Dienſte thaͤten, und noch dazu auf eine gar unvollkommne Weiſe, und hin - gegen die andere Helffte des Tages, ihren eignen Geſchaͤfften oder Ergoͤtzlichkeiten beſtimmen wolten, oder ob ſie wohl mit ihren eignen Bedienten zufrie - den ſeyn wuͤrden, wenn ſie ihnen ihre Dienſte, die ſie zu thun pflichtig, nur einen halben Tag leiſtenwol -259Vom Gottesdienſt. wolten. Da ſie nun ihren vorgeſetzten einen voͤlli - gen Gehorſam leiſten, und von ihren Bedienten dergleichen verlangen, ſo ſolten ſie ſich billig ſchaͤ - men und ſcheuen, dem großen Welt-Monarchen ſo ungehorſam zu ſeyn, und ſeine Geboth ſo frevent - lich zu uͤbertreten.

§. 13. Andre kommen zwar des Sonntags, ſo wohl Fruͤh als Nachmittags, in die Kirche, bringen aber ihre Zeit darinnen mehr mit Schlafen, Plau - dern und Leſen der Briefe und Zeitungen zu, als mit Singen und Anhoͤren des Wortes GOttes. Es iſt aber eine wunderliche Sache, daß ſolche Leute bey dem Gottesdienſt nicht einmahl die aͤußerliche Figur mitmachen wollen, auf die ſie doch ſonſt ſo gar viel halten. Sie ſolten der geſunden Ver - nunfft nach erwegen, daß ein ieder, der an einem oͤffentlichen Ort, auf Befehl der hohen Obrigkeit beruffen wird, einen gewiſſen Vortrag anzuhoͤren, verbunden iſt, ſich dabey ſo zu bezeugen, damit es das Anſehen gewinne, als ob er ſelbſt dabey zuhoͤrte und aufmerckſam waͤre, und die andern an der An - hoͤrung des Vortrages nicht gehindert werden. Wenn ſie doch vor das Hauß GOttes ſo viel aͤuſ - ſerliche Ehren-Bezeugungen haͤtten, als vor ein Opern - oder Comœdien-Hauß, und vor eine Pre - digt, als vor den Vortrag in einer Comœdie und Oper. Sie urtheilen, und zwar mit Grund, daß es wider den Wohlſtand, in einer Comœdie oder Oper zu ſchlafen, etwas anders zu leſen, zu plaudern, und ſeine Nachbarn zu ſtoͤhren, und wollen doch dieR 2Hand -260II. Theil. I. Capitul. Handlungen des Gottesdienſtes auf eine ſolche Art profaniren, in einem Hauſe, welches der Ehre GOttes gewidmet.

§. 14. Ein vernuͤnfftiger Menſch laͤſt ſich durch die Exempel anderer nicht irre machen, er verſaͤu - met den an den Sonn - und Feſt-Taͤgen angeord - neten Gottesdienſt niemahls ohne Noth, er iſt der erſte mit von denen die in die Kirche gehen, und der letzte, der heraus gehet, er enthaͤlt ſich alles deſſen, wodurch ſeine Andacht geſtoͤhret werden koͤnte, und giebt bey der Predigt einen aufmerckſamen Zuhoͤ - rer ab. Bey dem ſingen der Chriſtlichen Geſaͤn - ge, achtet er ſichs nicht vor eine Schande, das Ge - ſang-Buch in die Hand zu nehmen, ſintemahl er wohl weiß, daß man nicht allein die Lieder, zumahl die fremden und unbekandten genauer mitſingen kan, ſondern auch die Andacht durch das Buch mehr erweckt, und den fremden Gedancken ge - wehret wird. Er beklaget die Thorheit der Welt - geſinnten, die bey dem Geſang der Chriſtlichen Lieder, entweder als die ſteinern Oehl-Goͤtzen da ſitzen, oder doch die Lieder verſtuͤmmelt, falſch und ohne Aufmerckſamkeit zum Aergerniß, und bißwei - len gar zum Gelaͤchter ihrer Nachbarn mitſingen, da ſie doch faſt niemahls in ein Opern - Hauß ge - hen, wenn ſie nicht das gedruckete Opern-Buch mitnehmen ſolten, und nachgehends faſt kein Auge davon verwenden.

§. 15. Bey den allgemeinen Faſt-Buß - und Beth-Taͤgen, die zu gewiſſen Zeiten ausgeſchriebenwor -261Vom Gottesdienſt. worden, iſt leider das meiſte zum Ceremonien - Werck geworden; Dieſes iſt zwar ſchlimm und elend gnug, noch ſchlimmer aber iſts, daß auch manche nicht elnmahl das aͤußerliche, ſo hierbey in Acht zu nehmen, beobachten, und GOtt zu Ehren, und ihrer hohen Landes-Herrſchafft zu unterthaͤ - nigſten Gehorſam an ihren gewoͤhnlichen Eſſen und Trincken ſich nicht etwas abbrechen wollen. Bey großen Solennitaͤten an Hoͤfen und in der Stadt, da ſich die praͤchtigen angeſtelten Mahl - zeiten biß auf dem Abend verſpaͤtigen koͤnnen, viele von der galanten Welt ohne große Beſchwerlich - keit biß dahin faſten, und ihren Appetit verſpah - ren. An den Faſt-Taͤgen hingegen will es ih - nen unmoͤglich fallen; ſie nehmen nicht allein als - denn ihre gewoͤhnlichen Mahlzeiten ein, ſondern auch noch wohl ein viel mehrers, als die andern Tage; manche machen ſich ein beſonder point d honeur draus, wenn ſie von ſich ſagen, daß ſie an den Faſt-Taͤgen brav gefreſſen und geſoffen haͤt - ten. Jn andern Faͤllen berufft ſich die Welt ins - gemein auf den Befehl der Herrſchafften und der hohen Landes-Obrigkeit, und ziehen denſelben GOtt und ſeiner Ehre vor, doch hieriñe widerſtreben ſie ihrem Befehl; daß ſchwehren, krancken, matten und elenden Leuten auch an dieſen Faſt-Taͤgen er - laubet, etwas von Speiſe zu ihrer Staͤrcke des Mittages zu ſich zu nehmen, findet man wohl in den Buß-Tages-Ordnungen, daß aber in Anſehung der Reichen, vornehmen und anſehnlichen, wenn ſieR 3in262II. Theil. I. Capitul. in uͤbrigen geſund, ſtarck und munter, eine Ausnah - me gemacht waͤre, iſt nirgends ausgedruckt. An ſtatt der zur Ehre GOttes, und zur Ermunterung ihrer Andacht von der hohen Landes-Obrigkeit an - befohlenen Faſten, erwehlen ſich ihrer viele nach ei - genen Gefallen ein eigenes, beſonderes und unnuͤ - tzes Faſten, da ſie an einem gewiſſen Tag, an dem ſie ſich des Todes einer geliebten Perſon erinnern wollen, oder da ſie bey einer andern Gelegenheit, und aus einer andern Abſicht eine dergleichen Ge - luͤbde gethan, biß nach der Sonnen Untergang nichts von Speiſe und Getraͤncke zu ſich nehmen, und hingegen dasjenige, was ſie bey der Mittags - Mahlzeit verſaͤumet, entweder bey der Abend - Mahlzeit, oder doch den andern folgenden Tag doppelt wieder einbringen.

§. 16. Bey den Ableſen und Herbeten der oͤf - fentlichen Kirchen-Gebeter nach geendigter Pre - digt, nimmt man bey der Welt ebenfalls mancher - ley Fehler wahr, die dem Wohlſtand zuwider und billig abgeſtellt werden ſolten und koͤnten; einige be - ten die Kirchen-Gebeter gantz und gar nicht mit, ſie dencken, ſie haben ihre Andacht ſchon uͤberfluͤßlg an den Tag gelegt, wenn ſie der Predig zugehoͤrt. Wenn aber ja ſolche Leute in ſo gluͤckſeeligen Um - ſtaͤnden ſich befaͤnden, daß ſie meynten, ſie koͤnten GOttes und des Gebets entbehren, ſo ſolten ſie doch zum wenigſten den aͤußerlichen Wohlſtand nach, und zu Vermeydung des oͤffentlichen Aergerniſſes unter waͤhrenden allgemeinen Kirchen-Gebet ſtilleſeyn,263Vom Gottesdienſt. ſeyn, und ſich ſo anſtellen, als ob ſie mitbeteten. Andere beten ſie zwar mit, aber ohne einige Andacht und Aufmerckſamkeit, welches man daher ſiehet, weil ſie die allgemeine Abſolutions-Formul, ich, als ein beruffner und verordneter Diener des Wortes GOttes, u. ſ. w. andaͤchtig mit be - ten, als ob ſie vor ſie gehoͤrte, und ſich bey ihrem Nachbarn zum Geſpoͤtt und Gelaͤchter machen. Noch andere die doch ſonſt wohl eben nicht die be - ſten Chriſten, und ihren Glauben durch die Wercke gar ſchlecht beweiſen, pflegen in dem Nachbeten der allgemeinen Kirchen Gebeter gantz laut zu ſtoͤh - nen und zu ſeuffzen, ſie auch wohl ziemlich laut nach - zubeten. Doch dieſe jaͤhlige Andacht, die ihren Nachbarn bißweilen zum Gelaͤchter dienet, iſt mehr eine Wuͤrckung der Gewohnheit, als ein Trieb des Geiſtes; ein andaͤchtig Gebet des Hertzens kan wohl ohne ſolch laut Stoͤhnen verrichtet werden; mancher der in dem Kirchen-Gebet ſtoͤhnet, hat wohl die gantze Predigt durch geplaudert. Es giebt auch den Schein einer großen Heucheley von ſich.

§. 17. Wie nun einige bey ihrem Beten eine all - zu groſſe Andacht von ſich geben ſo findet man hin - gegen wieder andere, und zwar deren noch mehr, als der vorhergehenden, die ſich des Gebets gantz und gar ſchaͤmen, und nicht allein des Gebets, ſondern auch des Wortes GOttes ſelbſt und anderer hei - ligen Ubungen. Wenn ſie wiſſen, daß einige vor - nehme Leute, die auf GOtt und ſein Wort nicht vielR 4hal -264II. Theil. I. Capitul. halten, in der Naͤhe ſind, ſo unterlaſſen ſie ihre Hauß-Andacht mit Singen, Beten und Leſen, und da ſie dieſelbe gleich fortſetzen, ſo thun ſie es mit ſo leiſer Stimme, und glelchſam auf eine verſtohlne Weiſe, als ob ſie uͤber einer ſchaͤndlichen Handlung begriffen waͤren. Erlangen ſie in ihren Haͤuſern gar den Beſuch von ſolchen Leuten, die GOttes und der Religion ſpotten, und an deren Gnade ihnen doch viel gelegen ſo legen ſie die Bibel, die Geſang - Buͤcher und andere gottſelige Schrifften von ſich und verſtecken ſie. Dergleichen Chriſten, die ſich vor den Leuten ihres HErrn und Heylandes ſchaͤ - men, und ihn nicht bekennen wollen vor den Men - ſchen, ſind billich vor ſolche laue Chriſten zu achten, die weder kalt noch warm ſind, und aus dem Mun - de des groſſen GOttes werden ausgeſpyen werden. Es iſt allerdings vor ein phariſaͤiſch Weſen anzuſe - hen, wenn einige ihre Hauß-Andacht ſo einrichten, damit ſie nur von andern vor gute Chriſten gehalten werden, und bey ihrem Beten und Singen ſo ſchreyen, als ob GOtt taub waͤre, und daß man es auf vielen Gaſſen hoͤren kan; es iſt aber auch eine Frucht einer ſuͤndlichen Menſchen-Furcht, oder eine Begierde, ſich der Welt gefaͤllig zu erweiſen, wenn man das Beten und Singen entweder gantz unter - laͤſſet, oder es doch mit ſo heimlicher Stimme ver - richten will, als ob es eine Sache waͤre, deſſen man ſich Urſache haͤtte zu ſchaͤmen.

§. 18. Es iſt mehr als zu bekandt, wie einige von den Hof-Leuten, Officiers, Cavaliers, auch de -nen265Vom Gottesdienſt. nen von buͤrgerlichem Stande, die in der Galan - terie andere uͤbertreffen wollen, zu der Zeit, wenn vor oder nach Tiſche gebetet wird, weder die Haͤn - de aufheben, noch mit dem Munde anzeigen, daß ſie mitbeteten, ſondern davor die Haͤnde in den Rock ſtecken, ſich alſo eine beſondere Air geben und ent - weder gar nicht, oder doch cavalierement beten wol - len, und ſich in ihrer aͤuſſerlichen Mine von andern abſondern. Sie ſtehen mehrentheils in den Ge - dancken, es ſey einerley, ob man die Haͤnde nach der gewoͤhnlichen Weiſe zu GOtt aufhuͤbe, oder nicht, wenn nur das Hertz in Andacht zu GOtt gerichtet waͤre. Nun laſſe ichs zwar dahin geſtellet ſeyn, wie weit ſich der Eifer im Gebet bey dergleichen Leuten erſtrecke, ich will und kan dieſes nicht beurtheilen, ſondern es dem Hertzens-Kuͤndiger uͤberlaſſen, auch die Argumenta derer Herren Theologorum, da - durch ſie, nach gewiſſen Gruͤnden des Wortes GOttes, auch das aͤuſſerliche Aufheben der Haͤnde anrathen, als hieher nicht gehoͤrige, nicht anfuͤhren, ſondern nur folgendes ſolchen Leuten zur Uberlegung anheim ſtellen: Geſetzt, daß das Aufheben der Haͤnde eine gleichguͤltige Sache waͤre, ſo iſt dieſes doch ein Gebrauch, der von ſehr alten Zeiten bey den Chriſten eingefuͤhrt, und beſtaͤndig unter ihnen in Obacht genommen worden; nun richten ſie ſich ja bey allen ihren Handlungen ſo gerne nach andern Leuten, und wollen ſich von nichts, was durch die Obſervanz hergebracht, ausſchlieſſen. Sie neh - men den Satz: es iſt einmahl ſo eingefuͤhrt, vorR 5einen266II. Theil. I. Capitul. einen Grund-Satz an, den ſie mehr reſpectiren, als die Befehle GOttes. Sind ſie bey fremden Re - ligions-Verwandten, ſo laſſen ſie ſichs geſallen, mancherley aͤuſſerliche Ceremonien mitzumachen, die doch offtmahls beſchwerlicher und muͤhſamer, als dieſes Haͤnde - aufheben, und wohl gar wider Gewiſſen, warum wollen ſie denn bey dieſer Cere - monie, dadurch man eine gewiſſe aͤuſſerliche Ehr - erbietung gegen GOtt an den Tag legen will, nicht ſo viel Betrachtung haben vor GOtt, als vor die Menſchen. Wenn doch diejenigen, die den aller - hoͤchſten Standes-Perſonen ſo gerne nachahmen, ihr Augenmerck, bey dieſem Haͤnde-aufheben, auf ſo viel gottſelige und tugendhaffte Fuͤrſten richten wolten, die vor ihrem GOtt bey dem Gebet ihre Haͤnde aufheben, ſo wohl als ihre Bedienten, ade - lichen oder buͤrgerlichen Standes. Jch habe oͤff - ters geſehen, daß Fuͤrſtliche Perſonen, beyderley Geſchlechts, zu der Zeit, da vor und nach Tiſche ge - betet worden, ihre Haͤnde andaͤchtig aufgehoben, da im gegentheil manche von ihren Hof-Bedienten dieſes unterlieſſen, und ſich davor beſondere Airs gaben.

§. 19. Nachdem auch manche von unſern Fraͤu - leins und Demoiſelles ihre Gottſeligkeit nicht viel anders ausuͤben, als daß ſie aus Gewohnheit in die Kirche und zum heiligen Abendmahl lauffen, ihren Morgen - und Abend-Seegen leſen, und ein Mor - gen - und Abend-Liedgen ſingen, ſo waͤre wohl zu wuͤnſchen, daß ſie alle zuſammen dasjenige beobach -ten267Vom Gottesdienſt. ten moͤchten, was der Autor der ſo genandten Ga - lanten Frauenzimmer-Morale, bey der I. Maxime, ihnen vorſchreibet: daß ſie nemlich bey inbruͤnſti - gem Gebet bitten ſolten, (1) um ein in Unſchuld und Reinigkeit geſchmuͤcktes Hertz, (2) um Chriſtliche ihnen wohl-anſtaͤndige Tugenden, und (3) um Schutz wider Fleiſch, Welt, Suͤnde und Teuffel. ſ. pag. 11.

§. 20. So weit hat es Satan unter der Chri - ſtenheit gebracht, daß er den groͤßten Theil der Schein - und Maul-Chriſten uͤberredet, es ſey eine vor der Welt gantz wohl erlaubte Sache, von GOtt und den goͤttlichen Wahrheiten auf eine ver - kleinerliche Weiſe zu reden, und hingegen wider den Wohlſtand und wider das Ceremoniel, zu GOt - tes Ehre, und zu unſerer Seelen Heyl gereichende Diſcourſe vorzubringen. Es darff ein jeder nach Gefallen in den meiſten weltlichen Geſellſchafften indifferentiſtiſche Reden vorbringen, daß man in allen Religionen ſelig werden koͤnte, man darf kuͤhn - lich behaupten, daß es gar keine Geſpenſter gebe, man darff an der Wahrheit der Chriſtlichen Reli - gion zweiffeln und unnoͤthige Scrupel erregen, man darff die Prediger durchziehen, und ſich uͤber ihre Predigten aufhalten, u. ſ. w.; es fange aber einer einen Diſcours an, und ob es auch ſchon die Con - nexion des Diſcourſes und die Gelegenheit der Materie geben ſolte, von den Vollkommenheiten GOttes, von ſeiner liebreichen und allweiſen Re - gierung vor die Welt, von der erſtaunens-wuͤrdi -gen268II. Theil. I. Capitul. gen Liebe GOttes gegen die Menſchen, da er ſeinen Sohn vor ſie in den Tod gegeben, von der uner - meßlichen, erſchrecklichen oder erfreulichen Ewigkeit, die uns auf dem Fuſſe nachgehet, und andern der - gleichen erbaulichen Materien mehr, ſo wird er ſe - hen und hoͤren, was die Leute vor Minen dazu ma - chen oder dazu ſagen werden; einer wird anfangen zu lachen, der andere wird davon lauffen, manche werden ihm in das Geſichte ſagen, dieſe Diſcourſe gehoͤrten vor die Prieſter auf die Cantzel, und nicht hieher, viele werden ſich zwar in ihren Reden und Geberden verſtellen, ſo lange er gegenwaͤrtig, und hingegen in ſeiner Abweſenheit deſto ſchlimmer ur - theilen, ſie werden ihm entweder vor einen Phanta - ſten, Schwaͤrmer, Qvacker, Pietiſten, oder doch vor einen ſchlechten Menſchen achten, der nicht zu leben wuͤßte, und nur abgeſchmackt Zeug in ſeinen Diſcourſen vorbraͤchte; Jn mancher Geſellſchafft wird ſich kein eintziger finden, der hieran Gefallen traͤgt, in andern aber, und wenn ſie auch noch ſo zahlreich, etwan nur einer oder zwey.

§. 21. Ein rechtſchaffener Chriſt beobachtet zwar auch in dieſem Stuͤck die Regeln der Chriſtlichen Klugheit, damit er nicht das Heiligthum gottſeeli - ger Lehren vor die Hunde, noch die Perlen goͤttli - chen Wortes vor die Saͤue werffen moͤge. Er weiß, daß ſchweigen ſo wohl ſeine Zeit habe, als reden, und redet Worte zu ſeiner Zeit. Jnzwi - ſchen bemuͤhet er ſich doch, wo es der Ort, die Zeit und Geſellſchafft verſtatten will, daß er zur EhreGOttes269Vom Gottesdienſt. GOttes und zum Seelen-Heyl ſeines Naͤchſten, in ſeinen Diſcourſen etwas mit vorbringen moͤge. Jnſonderheit giebet er auf das tempo Acht, da er eine gute Gelegenheit vor ſich findet, etwas aus GOttes Wort zu reden, und da er verſichert, daß er willigere Zuhoͤrer finden moͤchte. Bey gewiſ - ſen Umſtaͤnden kan es die Welt vertragen, daß man ihr etwas aus GOttes Wort vorſchwatzt. Wenn ſie in recht große Noth gekommen, ſo geben ihr die Widerwaͤrtigkeiten bißweilen eine Erinnerung. Hat ein geiſtreicher Lehrer ihr Hertze einmahl ge - ruͤhret, ſo bekommen ſie einen fliegenden Andachts - Trieb, iſt ein hefftiges Ungewitter am Himmel, daß ihnen den Tod drohet, ſo faͤllt manchen von den Welt-Kindern eine Gedancke ein von der Furcht und Ehrerbietung gegen GOtt. Sehen ſie, daß einer von ihren Cameraden ſich mit einer erbaͤrm - lichen Kranckheit herum ſchleppet, und ſich ſein Zuſtand ſo verſchlimmert, daß er den Pforten der Ewigkeit nunmehr gantz nahe, ſo wuͤrcket die Vor - ſtellung, der Fluͤchtigkeit der menſchlichen Dinge, und der kuͤnfftigen Veraͤnderung einige gute Bewe - gungen in ihren Seelen. Dieſe und andere der - gleichen Umſtaͤnde mehr, machet ſich ein vernuͤnff - tiger Chriſt wohl zu Nutze, und giebet ihnen entwe - der einige erbauliche Lehren zu ihrer Erinnerung und Aufmunterung, oder ſetzt die gottſeeligen Ge - ſpraͤche, die ſie in der Angſt ſelbſt angefangen, wei - ter fort.

§. 22. Er zeiget auf eine uͤberfuͤhrende Weiſe,wie270II. Theil. I. Capitul. wie die Pflichten der Gottſeeligkeit, auch die zeitliche Gluͤckſeeligkeit mit befoͤrdern, und die wahre Ge - muͤths-Ruhe mit wuͤrcken helffen, als welches eine gar angenehme Materie vor die Welt, er beant - wortet ihnen einige Einwuͤrffe, die Satan und das Fleiſch wider die Ausuͤbung des Chriſtenthums und des thaͤtigen Glaubens zu erwegen pflegt, er ſtellt ihnen vor, daß dieſe Pflichten nicht ſo ſchwehr ſind, als ſie den fleiſchlich geſinnten Menſchen wohl anſcheinen, er beobachtet auch hiebey die Regeln der Hoͤflichkeit, Freundlichkeit und Liebe, die er ſei - nem Naͤchſten ſchuldig, er beklaget ſeine eigene Un - vollkommenheiten, und redet von ſeinen eigenen Fehlern, damit es nicht ſcheine, als ob er andere hof - meiſtern wolle, oder ſich beſſer duͤncke, als der an - der. Weil er weiß, daß die Welt die guten Bewe - gungen durch ihre Geſchaͤffte und durch ihre Wol - luͤſte bald wieder zu erſticken pflegt, ſo recomman - dirt er ihnen bey der Gelegenheit, wenn er mercket, daß er ſeinen Diſcours bald ſchluͤſſen muß, ein und ander erbauliches in der Teutſchen oder Frantzoͤſi - ſchen Sprache, geſchriebnes Tractætgen, bittet ſich auch wohl die Erlaubniß aus, einem, der einen Ge - fallen daran bezeuget, ſolches Buch, daferne ers be - ſitzt, in das Hauß zu ſchicken, und es ihm zu leihen, er weiß, daß das Leſen eines guten Buches mehr er - bauet, als offters viel Predigten.

§. 23. Denen vielen unnuͤtzen Worten, ſo die Welt vorbringt, iſt auch mit beyzuzehlen, wann ſie von demjenigen, den ſie zu ihrem Beicht-Vater er -wehlt,271Vom Gottesdienſt. wehlt, auf das ſchimpfflichſte urtheilen. Es iſt ſchlimm, daß ſie in ihren Reden, ohne daß es ihr Be - ruff und die Nothwendigkeit der Sache zu erfor - dern pflegt ihren Naͤchſten uͤberhaupt richten; noch ſchlimmer iſts, daß ſie rechtſchaffene Prieſter ver - unglimpffen, und am allerſchlimmſten, daß ſie vor ihrem Beicht-Vater nicht groͤſſere Ehrerbietung haben; ich rede aber hier von ſolchen Beicht - Vaͤtern, die ſich bey ihrer reinen Lehre und gott - ſeeligem Leben, als treue Haußhalter GOttes und Vorbilder ihrer Heerde auffuͤhren; Hat ein treu geſinnter Diener GOttes offenbahre Laſter be - ſtrafft, oder wie es die Welt nennt, auf der Cantzel geſchmaͤhlt, ſo iſt man hinter ihn drein, man ſchmaͤ - het und verfolgt ihn, wo man weiß und kan. Sol - che Prieſter hat die Welt gerne, die ſtets troͤſten, und niemahls ſtraffen, die Welt will alles thun, was ſie will, und die Prieſter ſollen ihrer Boßheit und unbaͤndigen Freyheit in keinem Stuͤck einigen Einhalt thun. Wenn ſie doch vor ihre Beicht - Vaͤter ſo viel Ehrerbietung haͤtten, als vor ihre Me - dicos, denen ſie ſich anvertraut; Zeiget ihnen der Medicus, daß ſie ſich auf dieſe oder jene Art die Kranckheit zugezogen, er warnet ſie vor allen dem, was ihnen ſchaͤdlich, beſtraffet ſie auch wohl, und verweiſet ihnen erſtlich, daß ſie ſeiner Vorſchrifft nicht gefolget, und durch ihre Nachlaͤßigkeit und Unordnung ihren Zufall verſchlimmert, ſo nehmen ſie alles vor gut auf, ſie loben ſeine Sorgfalt, ſie dancken ihm vor ſeine Treue, zeiget ihnen aberder272II. Theil. I. Capitul. der Seelen-Artzt ihre Gebrechen, und warnet ſie vor dem ewigen Tode, ſo wollen ſie empfindlich werden, und dieſe Sorgfalt mit laͤſtern und ver - unglimpffen vergelten.

§. 24. Ein vernuͤnfftiger und glaͤubiger Chriſt iſt auch in dieſem Stuͤck anders geſinnet. Er be - urtheilet zwar die oͤffentlichen und zum Aergerniß gereichenden ſchandbahren Worte und Thaten der laſterhafften Prieſter auf eine ſolche Weiſe wie es ſeyn ſoll; entſchuldigt und uͤberſiehet aber die Fehler der redlichen und Tugendhafften Prieſter in Chriſtlicher Liebe. Gegen ſeinem Beicht-Vater erzeiget er alle Ehrerbietung, er erkennet die Wach - ſamkeit, die er vor ſeine Seele traͤgt, mit allem Danck; Er nimmt ſeine Warnungen mit aller Liebe auf, er laͤſt ſich angelegen ſeyn, den Geboten GOttes zu folgen, ſo darff ihn der Beicht-Vater nicht beſtrafen; Hat er einen Fehler begangen, oder gar einen Fall gethan, ſo giebt er den Privat - Erinnerungen ſeines Beicht-Vaters Gehoͤr, und iſt alsdann geſichert, daß er keine oͤffentliche Be - ſtraffung ſeines Laſters von ihm werde zu erwar - ten haben.

§. 25. Bey dem Beicht-Weſen zeiget ſich unter unſern Weltgeſinnten Chriſten manches aͤrgerliche: Jch will nicht von den innern Handlungen reden, denn dieſe gehoͤren hieher nicht, ſondern nur von dem, was in die aͤuſſerlichen Sinnen faͤllt. Man - che koͤnnen bey der Anrede des Beicht-Vaters nicht hoch genug tituliret und reſpectiret werden. Andere273Vom Gottesdienſt. Andere gehen mit ſo frechen und wilden Geberden zu dem Beichtſtuhl, daß es nicht ſcheinet, als ob ih - nen ihre Suͤnden leyd waͤren, ſondern, als ob ſie den Vorſatz haͤtten, ſo bald ſie die Kirche verlaſſen, ihre alten Suͤnden mit neuen zu haͤuffen; Sie machen eine ſolche Mine, als ob ſie zum Dantz gehen wol - ten. Viele von dem Frauenzimmer wollen als bußfertige Suͤnderinnen erſcheinen, und entbloͤſen doch dasjenige, was die Zucht und Schamhafftig - keit zu bedecken befiehlt, auf eine ſo ſchandbare Weiſe, daß es nicht ſelten dem Beicht-Vater und ihren Neben-Chriſten zum Aergerniß gereicht; Sie wollen aus bloſſem Hochmuth und Eigenſinn, damit ſie vor andern und vor den gemeinen Leuten etwas beſonders haben, die bunten Parade-Klei - der auch zu dieſer Zeit nicht ablegen. Die meiſten lauffen aus bloſſer Gewohnheit zu dem Beichtſtuhl. Sie rechnen entweder in dem Calender nach, ob diejenige Zeit, die ſie hierzu beſtimmen, bereits ver - floſſen, oder ſie geben Acht auf andere, nach denen ſie ſich etwan in dieſem Stuͤck zu richten pflegen. Am allerſchaͤndlichſten aber iſt, daß einige, die ſonſt mit der wilden Ganß in die Wette zu leben ge - wohnt, ſich zu Ablegung des Bekaͤnntniſſes ihrer Suͤnden alsbald entſchluͤßen, wenn ſie bey einem Beſuch gewahr werden, daß einer von ihren Came - raden, oder ſo genannten guten Freunden zum Beichtſtuhl gehen will. Es faͤllt ihnen dasjeni - ge alsdenn ein, weſſen ſie ſich ſonſt nicht erinnert haͤtten, und ſie gehen par Compagnie, wie ſieSwohl274II. Theil. I. Capitul. wohl ſelbſt ſagen, ohne einige Pruͤfung und Zube - reitung, und nicht viel anders, als die Saͤue zum Troge, zum Beichtſtuhl, und zum heiligen Abend - mahl.

§. 26. Unter andern iſt auch dieſes allerdings als ein beſonderer Fehler mit anzuſchreiben, daß einige von dem vornehmen Frauenzimmer und characte - riſirten Mannes Perſonen ſolche einfaͤltige Beicht - Formularien herbeichten, die ſich doch vor ihre Le - bens-Jahre, vor ihren Beruff, Bedienung, und an - dern Umſtaͤnden gar nicht mehr ſchicken. Sie plappern dasjenige her, was ſie vor dreyßig oder viertzig Jahren von ihrem Lehrmeiſter oder Eltern in ihrer Jugend gelernt, und erwegen nicht den großen Unterſchied, der ſich offtmahls zwiſchen ihren jetzigen Umſtaͤnden, und damahligen Umſtaͤnden ereignet. Jn ihren Diſcourſen mit der Welt, ſind ſie mehr als zu klug und zu wort-reich, wann ſie aber mit GOtt reden ſollen, ſind ſie in dem Beichtſtuhl ſo wohl als außer demſelben ungeſchickt, aus ihrem eignen Hertzen etwas herzuſagen. Solten man - che mit einer ſolchen Vergeſſenheit von GOtt ge - ſtrafft werden, daß ſie ihre Beicht-Formulgen, wie ſie es gelernt, vergaͤßen, ſo wuͤrden ſie genoͤthiget werden, zu einem Prieſter zu gehen, der ihnen wie - der ein neu Beicht-Formular aufſetzte. Der Einfalt des Poͤbels muß man dieſes zu gut halten, wenn aber die Hoͤhern den Poͤbel in dieſem Stuͤck aͤhnlich werden, ſo iſt es vor etwas unanſtaͤndiges anzuſehen. Bey ihren Geſpraͤchen mit der Welt,ziehen275Vom Gottesdienſte. ziehen ſie die Umſtaͤnde, der Oerter und Perſonen, mit denen ſie reden, in Betrachtung, weil die Re - geln der Klugheit und des Ceremoniels ſolches er - fordern, bey ihren Reden mit GOtt aber, ſetzen ſie dieſe Regel bey Seite.

§. 27. Ein Theil der Cavaliers, Officiers, und anderer, die berechtiget ſind den Degen zu tragen, wollen auch denſelben nicht ablegen, wenn ſie heilige Handlungen vorhaben, und bey dem heiligen Nachtmahl zum Tiſch des HErrn hintreten wol - len, da doch dieſer ſonſt an und vor ſich ſelbſt un - ſchuldige Gebrauch, durch die Obſervanz, und zwar nach Anleitung guter Gruͤnde, an einigen Or - ten abgeſchafft worden. Sie wollen ihn aber mit Gewalt wieder einfuͤhren, und bilden ſich ein, es gienge ihrer Grandezza etwas ab, wenn ſie bey dem heiligen Altar ihren Degen ablegen ſolten, ſie fangen nicht ſelten mit dem Prieſter deswegen an zuzancken, und werffen ihm wohl gar einen Inju - rien-Proceß an den Halß. Es ſind aber die Argumenta der Herren Theologen, durch wel - che ſie das Degen tragen vor dem heiligen Altar, und vor dem Tauf-Stein abrathen, nicht unge - gruͤndet, da man den Degen bey vielen Hochzei - ten uud buͤrgerlichen Zuſammenkuͤnfften ablegt, und an viel andern Orthen, wo es die Obſervanz einge - fuͤhrt, z. E. wenn ſich Fuͤrſtliche Herrſchafften auf ihren Land-Schloͤſſern aufhalten; ſo iſt es ja wohl billich, daß man zu Ehren des HErrn aller Herren, und des Koͤnigs aller Koͤnige, ihn von ſich lege. S 2Die276II. Theil. I. Capitul. Die Chriſtliche Kirche macht hier keinen Unter - ſcheid, ob es Nobiles, Soldaten, oder anderer Qualitæten Leute ſind, ſondern derjenigen, ſo ſich der Beneficiorum Eccleſiæ bedienen will, iſt ſchul - dig, ſich derſelben Ritibus zu unterwerffen, indem er nicht als ein Nobilis, oder Soldat, ſondern als ein bußfertiger Suͤnder und Chriſt erſcheinet, oder zum wenigſten davor angeſehen ſeyn will. S. hie - von mit mehrern Wideburgs Diſſertat. de Gladio in Sacramentorum reverentiam deponendo.

§. 28. Der Hochmuth, derer die ſich uͤber an - dere erheben, hat an vielen Orten als ein Ceer - moniel eingefuͤhrt, daß ſie ſich weigern mit der oͤf - fentlichen Gemeinde zum Tiſch des HErrn zu ge - hen, und an ſtatt deren ſich entweder eine eigene Verſammlung erwehlen, die aus Leuten von hoͤ - herm Stande beſtehet, oder gar die heilige Com - munion allein mit ihrer Familie in der Kirche oder Sacriſtey empfangen. Sie zeigen aber auch hiedurch ihren beſondern Eigenſinn an. Sie laſ - ſen ſichs auf Reiſen gefallen, daß ſie mit Leuten von allerhand Stande in oͤffentlichen Gaſt-Hoͤfen zuſammen ſpeiſen, ohne daß ſie vermeynen, daß ihrem Stand hiedurch etwas abgienge, und bey dieſer Liebes-Mahlzeit halten ſie es vor etwas ſchimpfliches, und ihrem Charactere nachtheiliges, wenn einige von den Geringern nebſt ihnen zu - gleich zum Tiſch des HErrn gehen ſolten. Da - ferne hohe Landes-Obrigkeiten an denjenigen Or - ten, wo es biß anhero noch nicht geſchehen, durchLandes277Vom Gottesdienſte. Landes herrliche Mandata und ſcharffe Verbothe dieſem Hochmuth nicht ſteuern, ſo werden ſich die hoͤhern, anſehnlichern und reichern aus mancher - ley Staͤnden, des heiligen Nachtmahls in der Kir - che ſchaͤmen, als wie des Trauens und Kind - taufens.

§. 29. Ein vernuͤnfftiger Chriſt richtet zwar bey der Beichte und bey dem heiligen Abendmahl ſei - ne Gedancken mehr auf die innerliche Zubereitung des Hertzens, als auf das aͤußerliche Ceremonien - Werck; inzwiſchen aber ſetzt er auch die aͤuſ - ſerliche Zucht hierbey nicht aus den Augen. Er wendet eine beſondere Behutſamkeit an, damit er nicht bey ſeinen aͤußerlichen Handlungen in einen und den andern ſeinen ſchwachen Mit-Bruͤdern zu einigem Anſtoß oder Aergerniß werde, er laͤſt das aͤußerliche von dem innerlichen zeugen, vermeydet aber dabey alle phariſaͤiſche Heuchler-Geberden, und auch alle freche Minen der Welt-Kinder, er er - weiſet bey den heiligen Handlungen eine beſondere Demuth und Ehrerbietigkeit, und beobachtet die - jenigen Gebraͤuche, die von der hohen Landes - Obrigkeit und der Kirchen einmahl eingefuͤhret worden.

§. 30. Einige werffen die Frage auf, ob man wohl bey dem lieben Gebet vor dem Tiſche, in der Kirche, und in ſpecie bey dem heiligen Altar, ei - nen alamodiſchen Reverenz machen duͤrffe, oder ob es nicht beſſer ſey, daß man zu derſelben Zeit bey der alten Teutſchen ihren einfaͤltigenS 3Knie -278II. Theil. II. Capitul. Kniebeugen verbleibe; ich halte mit einem gewiſ - ſen Politico, der eben dieſes in einer oͤffentlichen Schrifft anfuͤhret, davor, daß ein Frauenzimmer, ein Cavalier, oder ſonſt ein ehrlicher Mann mit ſei - nem angewoͤhnten regulairen Reverence, welcher er ſich bey ſeiner Devotion aus wahrer Submiſſion gegen dem großen Jehovah bedient, bey GOtt eben ſo angenehm, als ein Altenburgiſcher Bauer mit ſeinem Altfraͤnckiſchen Kniebeugen oder Knickfuß iſt. Es hat uns der große GOtt in ſeinem Wort nirgendswo eine gewiſſe Poſitur hievon vorgeſchrie - ben, ſondern das Ceremoniel dabey eines jeglichem Belieben uͤberlaſſen, er ſiehet dabey auch mehr auf das Hertz und die innerliche Devotion, als auf die aͤußerliche Stellage des Leibes.

Das II. Capitul. Von der Converſation.

§. 1.

DA die Rede ein ziemlich gewiſſes Merck - mahl, daraus man einen Menſchen kan erkennen lernen, ſuchet ein junger Menſch alle Sorgfalt anzuwenden, damit er ſei - ne Worte ſo ſetzen moͤge, daß andere, inſonderheit aber die Hoͤhern, ein zu ſeiner Ehre gereichendes Ur - theil davon faͤllen moͤgen. Wollen es die Umſtaͤn -de279Von der Converſation. de verſtatten, ſo iſt ihm anzurathen, daß er Gele - genheit ſuchen ſoll, mehr mit hoͤhern Perſonen um - zugehen, als mit ſeines gleichen oder geringern. Weil er ſich in der erſtern Geſellſchafft einigen Zwang anthun, und etwas eingezogen leben muß, auch nicht ſans facon leben darf, ſo profitirt er wahrhafftig, macht ſich nach und nach bey ihnen beliebter, und bahnt ſich durch gute Conduite den Weg zur kuͤnfftigen Befoͤrderung. S. des Herrn von Tzſchirnau Unterricht eines getreuen Hofmei - ſters. p. 86. Wenn ſie reden, muß er aufmerck - ſam ſeyn, und weder mit dem Nachbar ſchwatzen, noch ſonſt etwas anders vornehmen, dadurch er den Schein von ſich giebt, als ob er ihnen nicht zuhoͤren wolte. Denn theils kan er aus ihren Diſcourſen eines und das andere lernen, ſo ihm unbekandt ge - weſen, theils ſetzt er ſich bey ihnen mehr in Credit, wenn er ſich bey ihrem Reden aufmerckſam erweiſt. Er muß ſich zwar bey ihrem Umgang ehrerbietig auffuͤhren, jedoch iſt es eben nicht noͤthig, daß er faſt bey einem jeden Wort, wie einige zu thun pfle - gen, einen Reverence macht, ſondern es iſt genug, wenn er dieſe Art der Submiſſion bezeugt, wenn es eine gewiſſe Redens-Art mit ſich bringt.

§. 2. Er vermeydet uͤberhaupt, inſonderheit aber in der Converſation mit vornehmen Leuten, alles was nach dem Poͤbel ſchmeckt, und als eine Frucht einer ſchlechten Aufferziehung anzuſehen, als mancherley Fluͤche und Schwuͤhre, die bey der großen Welt nicht ſo wohl aus Liebe und Ehrerbie -S 4tung280II. Theil. II. Capitul. tung gegen GOtt, als vielmehr aus Liebe zur aͤuſ - ſerlichen Erbarkeit verhaßt ſind, ingleichen alle ge - meine Redens-Arten und Woͤrter, die man bey den gemeinen Leuten hoͤrt, alle laͤppiſche Sprichwoͤrter und Sentenzen, alle abgeſchmackte Hiſtoͤrgen, Aberglauben, und andere dergleichen Poſſen mehr.

§. 3. Es iſt eine ſchaͤndliche Sache, wenn eini - ge, die der Frantzoͤſiſchen, Jtaliaͤniſchen, oder an - dern auslaͤndiſchen Sprachen undwiſſend ſind, ſich dennoch mit einigen Fluͤchen, Schwuͤren, oder gar mit einigen unflaͤtigen Woͤrtern, die ſie daraus er - haſcht, ſich ſo breit zu machen wiſſen, als ob ſie noch ſo viel Frantzoͤſiſch, Jtaliaͤniſch u. ſ. w. koͤnten, und ſolche uͤberall in ihrer Converſation mit vorbrin - gen, es mag ſich ſchicken oder nicht. Alſo miſchen ihrer viele die Frantzoͤſiſchen Fluͤche mort Dieu, mor bleu, par bleu, jarny bleu, als eine ver - meintliche Zierde, ihren Reden mit bey, damit ſie dieſelben ausſchmuͤcken wollen. Curioſus Ale - thophilus erzehlt in ſeinem Ceremoniali aulico, pag. 65. daß er zu ſeiner Zeit an dem Kaͤyſerlichen Hofe einen Cavalier gekandt, der ſich eine gewiſſe obſcœne Jtaliaͤniſche Benennung ſo angewoͤhnt, daß er ſich derſelben oͤffters vernehmen laſſen. Als ihm nun die Roͤmiſche Kaͤyſerin ein wohlgemacht neu Kleid gezeiget, habe er nach erwehnten heßli - chem Wort geſagt, das iſt ein ſchoͤn Kleid. Die Kaͤyſerin haͤtte ihn hierauf gefragt, ob er ſonſt Jtaliaͤniſch koͤnte, wie ers nun verneinet, haͤtte dieKaͤyſe -281Von der Converſation. Kaͤyſerin angefangen: Ey ſo laßt das auch bleiben. Es iſt eine gute Erinnerung, die mancher ebenfalls noͤthig haͤtte, der alle Augenblicke entweder mit einem Frantzoͤſiſchen Fluche, oder mit ſeinem enfin, oder mit einem andern Worte um ſich herum wirfft.

§. 4. Die Liebe zur Galanterie und zur Frantzoͤ - ſiſchen Sprache iſt ſo eingeriſſen, daß es vielen Teutſchen faſt gantz unmoͤglich fallen will, ohne Frantzoͤſiſche Woͤrter mit einzumiſchen, Teutſch zu reden; Es waͤre aber wohl am beſten, wenn man eine jede Sprache in der Verbindung ihrer eigen - thuͤmlichen Woͤrter redete, die man reden wolte; Jnſonderheit aber hat man ſich in Acht zu nehmen, daß man im Teutſch-reden nicht ſolche Frantzoͤſiſche Woͤrter gebrauche, die etwan demjenigen, mit dem man redet, unbekandt ſeyn, und da uns denn der an - dere nachgehends nicht verſtehen moͤchte, oder einen falſchen und unrichtigen Verſtand heraus bringen; Es geſchicht nicht ſelten, daß der andere bey derglei - chen Fall, da es ihm zur Verachtung gereichen koͤn - te, uͤber den andern unwillig wird. Es fragte ein - ſten einer ein Frauenzimmer vom Lande, die ſich in einer Fuͤrſtlichen Reſidentz eine Zeitlang aufgehal - ten, wie lange ſie ihr Sejour allhier gehabt? Das gute Maͤdgen bekandte aufrichtig, ſie wuͤßte nicht was Sejour hieſſe, die andern aus der Geſellſchafft fiengen hieruͤber an zu lachen, und das Frauenzim - mer fand ſich hiedurch beleidiget.

§. 5. Einige junge Leute, von maͤnnlichem undS 5weibli -282II. Theil. II. Capitul. weiblichem Geſchlecht, ſind in ihren Reden allzu frey, ſie plaudern ſtets, ſie moͤgen ſich in einer Ge - ſellſchafft befinden, in welcher ſie wollen, und es mag klingen wie es will; Andere aber bilden ſich ein, ſie wuͤrden vor andern das Lob davon tragen, daß ſie recht erbar waͤren, wenn ſie gar nichts redeten, ſie dencken, der unumgaͤngliche Wohlſtand erfordere dergleichen Stillſchweigen. Will man bey ihnen, wenn man ſie gantz und gar nicht kennet, in Erfah - rung kommen, ob ſie nicht etwan von Natur gantz und gar ſtumm ſind, ſo muß man ſie etwan mit Ge - walt zu einem Ja oder Nein, oder ſonſt zu ein paar Woͤrterchen zwingen, die ſie ausſprechen muͤſſen, und damit iſt der Diſcours hernach geendiget.

§. 5. Ein Vernuͤnfftiger bemuͤhet ſich in ſeinen Reden das rechte Maaß und das rechte Tempo zu treffen, er erweiſet, daß er zu reden, aber auch zu ſchweigen wiſſe, weil beydes ſeine Zeit hat; er traͤgt von denen, die das Reden vertragen koͤnnen, das Lob der Wohlredenheit davon, wird aber deswe - gen nicht vor einen Schwaͤtzer angeſehen. Ken - net er die Gemuͤths-Beſchaffenheit derſenigen, mit denen und bey denen er redet, ſo richtet er ſich dar - nach, und bey der Ungewißheit ſpricht er lieber zu wenig, als zu viel; er beurtheilet, ob er geſchickt ge - nug ſey, andere mit Diſcourſen zu unterhalten, und ob dieſes von ihm gefordert werde, oder ob andere vorhanden, denen dieſes anſtaͤndiger. Einige Hoͤ - here, auch wohl von den hohen Standes-Perſonen, koͤnnen es gar wohl leiden, wenn mancher, der beyihnen283Von der Converſation. ihnen iſt, viel ſpricht, dafern er nur vernuͤnfftig zu re - den weiß. Bißweilen achten ſie es gar vor eine Schuldigkeit, daß man ſie mit Diſcourſen unter - haͤlt; andere hingegen koͤnnen es nicht wohl leiden, und ſehen es lieber, wenn man ſtille ſchweigt.

§. 7. Bey Anfang eines Geſpraͤches in einer Geſellſchafft iſt Behutſamkeit noͤthig, zu beurthei - len, von was vor einer Materie man anfangen ſoll zu diſcouriren; ingleichen, ob nicht ein anderer in der Geſellſchafft, ſeinem Stande, Alter und Bedie - nung nach, wuͤrdiger ſey, eine Materie aufs Tapet zu bringen. Kommt man in eine Geſellſchafft, da man die meiſten, oder doch ſehr viel daraus kennet, oder man hat ſonſt viel geleſen, geſehen, gehoͤrt und erfahren, ſo findet ſich Materie und Gelegenheit ge - nug zum Reden. Sonſt iſt am ſicherſten, daß man den Diſcours mit einer unſchuldigen Sache eroͤffne, doch muß man den abgeſchmackten Wetter-Dis - cours, der im Augenblick zu Ende gehet, beyſeite ſetzen. Weil die meiſten Menſchen neubegierig ſind, ſo iſt gut, wenn man etwas neues zu erzehlen weiß, das den andern etwan noch nicht bekandt, es ſey nun von oͤffentlichen Handlungen, oder andern Erzeh - lungen, die Privat-Perſonen angehen, und dadurch niemand einig Nachtheil zugezogen wird, alsdenn kan man ſchon ſehen, auf was vor Materien, die mit dieſen einige Verwandtſchafft haben, die an - dern nachgehends fallen, und das Geſpraͤch wird ſodann von andern weiter fortgeſetzt werden. Bey der Fortſetzung ſeines eignen Diſcourſes muß mandas284II. Theil. II. Capitul. das rechte Tempo treffen, damit man nicht den Schein einer Ruhmraͤthigkeit von ſich gebe, als ob man vor allen andern am wuͤrdigſten ſey, zu reden, und am geſchickteſten, die Geſellſchafft zu unter - halten.

§. 8. Es iſt uͤberhaupt eine unangenehme Sa - che, andern Leuten zu widerſprechen, wo es nicht Pflicht und Gewiſſen erfordert, inſonderheit aber iſt es wider den Wohlſtand, wenn man es bey den Hoͤhern thut, denen man Ehrerbietung ſchuldig iſt; Solte man auch das groͤſte Compliment dazu machen, daß ſie es einen zu Gnaden ſolten halten, ſo wird man ihrer Ungnade doch nicht entgehen, und vor einen ſehr plumpen Menſchen angeſehen werden. Es gehet dieſes auch ſo weit, daß man ſie bey ihren Reden, wenn ſie in einem und andern etwan gefehlet, nicht corrigiren muß, es waͤre denn daß ſie uns befragten, und wolten eines andern be - lehret ſeyn, alsdenn iſt man verbunden, mit Hoͤf - lichkeit, Sittſamkeit und einer guten Tour ihre Feh - le zu verbeſſern.

§. 9. Bißweilen finden die Hoͤhern einen Ge - fallen drinnen, wenn ſie Gelegenheit haben, mit einem vernuͤnfftigen jungen Menſchen, der in Stu - diis etwas gethan, uͤber dieſer oder jener Materie ſich in einen kleinen Diſpüt einzulaſſen, wo nun ein junger Menſch vorher weiß, daß es ein Hoͤherer lei - den kan, wenn man ihm nicht alſofort recht giebt, oder auch wohl gar Befehl ertheilt, zu einigem Wi - derſpruch, ſo muß er ſich ihm auch hierinnen gefaͤlligerwei -285Von der Converſation. erweiſen, und ihm mit Vernunfft und Beſcheiden - heit ſo lange widerſprechen, als er ſpuͤhret, daß es dem Hoͤhern gelegen ſeyn moͤchte, iedoch zu rechter Zeit auch wieder abbrechen, und niemals den Schein von ſich geben, als ob man ihn eintriebe, und in Beſtreitung der Wahrheit beſiegen wolle.

§. 10. Es geſchicht auch wohl, daß die Hoͤhern einem jungen Menſchen, oder auch einem andern, eine Gewiſſens-Frage vorlegen, die GOttes Ehre und der Seelen Seligkeit anbetrifft, und die Ent - ſcheidung von ihm verlangen. Sie fragen biß - weilen, ob dieſe oder jene Handlung, die ſie doch ſelbſt oͤffters unternehmen, dem Worte GOttes nach erlaubt, oder verboten ſey. Die wenigſten thun dieſes aus einer Begierde, einen wahren Un - terricht zu erlangen, und gemeiniglich wiſſen ſie es ſelbſt vorher mehr als zu wohl, was recht oder un - recht, ſuͤndlich oder nicht ſuͤndlich; ſondern ſie hegen gantz andre Abſichten darunter, ſie wollen einem Fallen ſtellen, wie man ſich bey der Antwort auffuͤh - ren werde, ſie wollen probiren, ob man mehr Furcht vor GOtt als vor Menſchen habe, ſie wollen ſehen ob man in dem Stande ſey, etwas mit tuͤch - tigen Gruͤnden zu behaupten, ob man auch gehoͤrige Klugheit und Beſcheidenheit beſitze, es mit einer guten Tour einzurichten. Bey dieſem Fall hat man Gelegenheit GOtt vor der Welt zu bekennen, man muß die Feindſchafft GOttes mehr ſcheuen, als die Feindſchafft der Welt, und wo es auf die Ehre GOttes ankoͤmmt, muͤſſen die Hof-Streicheund286II. Theil. II. Capitul. und Welt-Manieren aufhoͤren; iedoch muß man auch mit Abſtattung der Pflichten, die man dem großen GOtt ſchuldig, die Hoͤfligkeit und Chriſt - liche Klugheit vereinigen. Man thut wohl, wenn man nicht ſelbſt decidirt, ſondern die Saͤtze und Gruͤnde aus GOttes Wort anfuͤhrt, da er dieſes oder jenes verboten, und wenn man alles auf eine uͤberzeugende Weiſe vorgeſtellt, alsdenn der Uber - legung der Hoͤhern ſelbſt anheim ſtellt, auf was vor Art ſie dergleichen Handlung anzuſehen ha - ben.

§. 11. Gleichwie unſere vernuͤnfftige Hand - lungen mit einander harmoniren muͤſſen, alſo muß man auch dahin ſehen, daß unter den Materien der Rede eine Verwandtſchafft ſey, und man nicht leicht etwas vorbringe, als was mit dem, ſo man vorher geſprochen, einige Verbindung habe, oder wozu des andern Diſcourſe Gelegenheit geben. Unſere Gedancken ſchweifen wohl bald auf dieſes, bald auf jenes aus, und finden aus des andern Re - den einige Verknuͤpffung, wenn aber den andern aus der Geſellſchafft dieſelbige etwas fremde und unbekannt anſcheinen moͤchte, ſo muß man dieſe Gedancken lieber bey ſich behalten, und ſie nicht muͤndlich ausdruͤcken.

§. 12. Es iſt nichts ſo unangenehm und verdrieß - lich, als die Diſcourſe gewiſſer Leute, welche ſich befleißigen, und gleichſam eine Ehre darinnen ſu - chen, daß ſie alles ſagen, was ſie gedencken. Ein Menſch von ſolcher Gemuͤths-Beſchaffenheit, wirdkein287Von der Converſation. kein Bedencken tragen, ſolche Dinge zu ſagen, wel - che andre Leute beleidigen, nur allein aus Luſt, weil er ſie gerne ſagen will, wobey er nicht betrachtet, daß, wenn er dieſelben bey ſich behalten haͤtte, er mit mehrer Hoͤflichkeit eben ſo tugendhafft geblie - ben waͤre, als er zuvor geweſen, und daß er entwe - der einen Freund haͤtte beybehalten, oder doch ſein Gluͤck ſonſt beſſer machen koͤnnen. ſ. Faramonds Diſcourſe uͤber die Sitten der gegenwaͤrtigen Zeit p. 255.

§. 13. Einige verletzen durch ihre unbedachtſa - men Fragen, die ſie nach einander haͤuffen, die Re - geln des Wohlſtandes gar ſehr; manche thun es aus einer unbeſonnenen Leichtſinnigkeit, andre aber aus einer haͤmiſchen und tuͤckiſchen Neugierigkeit, es wuͤrde mancher nicht kommen bey dem andern ſeinen Beſuch abzuſtatten, wenn ihn nicht die Be - gierde antriebe, etwas von des andern Umſtaͤnden, die er gern wiſſen moͤchte, unter dem Schein eines Freundſchafftlichen Beſuches aus zu ſpioniren: Wo man nun mit ſolchen neugierigen Leuten um - zugehen hat, muß man auf ſeiner Hut ſtehen, daß man ihnen nicht mehr entdecke, als ſie wiſſen ſollen, oder ihnen nach Gelegenheit ſolche Erinnerung ge - ben, daß ſie einen ein andermahl mit dergleichen unbedachtſamen Fragen verſchonen.

§. 14. Es waͤre gut, wenn alle unſere Teutſchen eine ſolche Fertigkeit in ihrer Mutter-Sprache be - ſaͤßen, daß ſie geſchickt waͤren in einer guten Ord - nung, und mit einer richtigen Verbindung, eine voll -ſtaͤn -288II. Theil. II. Capitul. ſtaͤndige und weitlaͤufftige Erzehlung, eine Ge - ſchichte, mit allen ihren Umſtaͤnden, vorzubringen. Einige koͤnnen den Schluß nicht finden, und verir - ren ſich in ihren Reden, wie in einem Jrr-Garten, andere beſchauen die Naͤgel, und erwarten durch derſelben Anblick eine beſondere Huͤlffe, noch ande - re machen unnoͤthige Wiederhohlungen, und fuͤh - ren auf eine verdruͤßliche Weiſe uͤberfluͤßige Um - ſtaͤnde an, die nicht zur Sache gehoͤren, oder dehnen die Worte, und ſchnarchen gleichſam dazu, damit ſie nur Zeit gewinnen, inzwiſchen weiter nachzu - dencken. Bey vielen, die ſich doch weiſer duͤncken, als andere Leute, entſtehet eine Ubelredenheit da - her, daß ſie es in ihren Reden gar zu zierlich machen wollen, und allzuviel Oratorie mit einmiſchen. Sie werden in dieſem Stuͤck von vielen vom Frau - enzimmer uͤbertroffen, welche nach Anleitung einer natuͤrlichen Beredſamkeit, in ihrem Vortrage or - dentlicher ſind, als manche von den Gelehrten.

§. 15. Es waͤre eine gar nuͤtzliche Arbeit, wenn Hofmeiſter und Vaͤter, die hiezu die gehoͤrige Ge - ſchicklichkeit beſaͤßen, junge Leute, von Jugend auf anfuͤhrten, daß ſie aus der Acerra Philologica, oder einem andern hiſtoriſchen Buch, eine etwas weitlaͤufftige Geſchicht in guter Ordnung und ohne Anſtoß her erzehlen lernten, und wo ſie einige Feh - ler hierbey wahrnehmen, dieſelben verbeſſerten. Durch dieſe Ubung wuͤrden ſie nach und nach zu einiger Fertigkeit gelangen, die ihnen in dem gan - tzen Leben zu einiger Erleichterung ſeyn wuͤrde. Esberu -289Von der Converſation. beruhet auf einigen allgemeinen Regeln und An - merckungen der natuͤrlichen Beredſamkeit, und iſt weit nuͤtzlicher, als die vielen oratoriſchen Figuren, zu denen junge Leute angefuͤhrt werden. Es gehet bißweilen eine lange Zeit hin, ehe eine Gelegenheit vorfaͤllt, eine zierliche Rede nach der Kunſt zu hal - ten, einen natuͤrlichen und ordentlichen Vortrag hingegen braucht man alle Tage, theils in Reden, theils in Schreiben, da man eine ſpeciem facti auf - ſetzen, oder einen Bericht abſtatten muß.

§. 16. Ein vernuͤnfftiger Menſch muß in ſeinen Reden auch auf den Thon der Sprache Achtung geben, damit er auch hiebey den Wohlſtand beob - achtet, und dem Spoͤtter nicht Gelegenheit gebe, ungleich von ihm zu urtheilen. Er kan ſich zwar keinen andern Klang der Ausſprache geben, als ihm GOtt und die Natur durch die Geburth mit - getheilet, er muß aber doch, ſo viel als moͤglich, an ſich beſſern, daß er dasjenige, was hierbey vor un - angenehm und unanſtaͤndig geachtet wird, ver - meyden moͤge, dieſemnach muß er den Accent, der ſein Vaterland vermuth, und etwan bloß dem Poͤbel unter ſeinen Landes-Leuten eigenthuͤmlich iſt, weg - laſſen, und ſich einen andern angewoͤhnen. Er muß in der gemeinen Converſation nicht pathe - tiſch oder oratoriſch reden, welchen Fehler man bey einigen von den Herren Geiſtlichen gewahr wird, die auf der Cantzel eine gute Schwadam ha - ben, und in dem gemeinen Diſcours den Klang ihrer Worte ſo einrichten, als ob ſie auf dem Ca -Tthe -290II. Theil. II. Capitul. theder ſtuͤnden. Er muß nicht ſo leiſe reden, als ob er in einer Wochen - oder Patienten-Stube waͤ - re, da der ſchlaffende in ſeiner Ruhe nicht geſtoͤhret werden ſolte, auch nicht ſo ſchreyen, wie ein Zahn - Artzt, er muß einen allzuhellen und auch zu groben Klang vermeyden, und nicht zu geſchwinde, auch nicht zu langſam reden, jedoch mehr langſam, als geſchwinde.

§. 17. Bey gewiſſen Erzehlungen muß man nichts anders vorbringen, als Worte, die einem nach ſeiner Ausſprache eigenthuͤmlich ſind, und al - les fremde unanſtaͤndige Weſen weglaſſen. Hie - her gehoͤrt, wenn manche bey gewiſſen Umſtaͤnden den Klang der Thier in der Converſation nach - ahmen, oder ein ander Geraͤuſch mit ihrer Stimme ausdrucken wollen, wann ſie etwan beſchreiben, wie es bey dem ſpuͤcken oder auch ſonſt geklungen, oder in der andern Pronunciation vorſtellen, und wunderliche Geberden darzu machen. Obſchon dergleichen einem und andern, theils ihres Metie, theils ihres Alters, Anſehens und Verdienſts we - gen zu gut gehalten wird, ſo wird man es doch ei - nem jungen Menſchen, der ſein Gluͤck in der Welt machen ſoll, nicht leicht vergeben, ſondern dieſer muß ſich auch in dieſem Stuͤck accurat auffuͤh - ren.

§. 18. Es laͤſt nicht wohl, wenn ſich einige bey Erzehlung ihrer luſtigen und ſpaßhafften Begeben - heiten bald kranck lachen wollen, und faſt vor dem vielen Lachen nichts herausbringen koͤnnen, zumahlwenn291Von der Converſation. wenn dergleichen in Gegenwart hoͤherer Perſonen geſchicht, oder wenn ſie ſagen: Nun geben ſie recht Achtung, jetzt kommt es noch viel luſtiger, ſie ge - ben den Schein von ſich, als ob ſie wie ein Zahn - Artzt ihre Zuhoͤrer zu einer beſondern Aufmerckſam - keit hiedurch aufmuntern wolten.

§. 19. Das Aufſchneiden iſt von vernuͤnfftigen Leuten jederzeit als etwas laſterhafftes verabſcheuet worden, und wird mit gutem Fug als eine Schwaͤ - che des Verſtandes angeſehen. Sarnicius erzeh - let von der Republica Babinenſi, oder Narren - Geſellſchafft, daß ſie von etlichen Polniſchen Magnaten angelegt worden, und aus lauter Raille - rien beſtanden, haͤtte einer aus der Geſellſchafft von der Jaͤgerey allzuviel aufgeſchnitten, ſo haͤtten ſie ihn zum Ober-Jaͤgermeiſter ihrer Zunfft ge - macht, einen andern aber, der von ſeinen Helden - Thaten viel hergeplaudert, zum Feld-Herrn ihrer Compagnie erwehlt, durch dieſe Narren-Benen - nungen haͤtte man es endlich dahin gebracht, daß die gewaltigen Aufſchneider unter dieſen Landes - Leuten abgekommen.

§. 20. Ein vernuͤnfftiger Menſch vermeidet in ſeinen Reden ſo wohl das Prahlen, als auch das unnoͤthige Klagen, und erzehlet nicht leichtlich et - was, das zu ſeiner oder der Seinigen Verachtung gereicht, und wodurch er ſich bey der Geſellſchafft geringer macht; er weiß wohl, daß er bey den we - nigſten Mitleiden findet, und mehrere ſich uͤber ſei - nem Unfall kuͤtzeln und erfreuen, als betruͤben; erT 2kla -292II. Theil. II. Capitul. klaget ſeine Noth zufoͤrderſt GOtt, und denjenigen, von denen er ſich mit gutem Grund Huͤlffe oder Troſt zu verſprechen hat, im uͤbrigen weiter niemand nicht.

§. 21. Bey ſeinen Reden beobachtet er nicht al - lein die Umſtaͤnde der Perſonen, und der Zeit, ſon - dern auch des Ortes: Bey Tiſche enthaͤlt er ſich alles deſſen, wodurch der Appetit zum Speiſen koͤn - te gemindert werden. Es war demnach ein gar un - ſauberer Diſcours, wie ein gewiſſer Prieſter uͤber der Tafel einer hohen Standes-Perſon erzehlte: daß ſeine ſelige Frau mit unſaͤglichen Steinſchmer - tzen beſchweret geweſen, es waͤre ihr auch noch kurtz vor ihrem Tode ein Stein aus der Harn-Roͤhre gegangen, der ſo groß geweſen, als die Mandelkerne, die die Fuͤrſtliche Perſon damahls in der Hand hat - te. Bey dieſer Erzehlung ward der Teller mit den Mandelkernen geſchwinde hervor gegeben, und der Tiſch-Geſellſchafft der Appetit zum Mandelkernen ziemlich vermindert.

§. 22. Von geſalbten Haͤuptern, Durchlauch - tigen und illuſtren Perſonen beyderley Geſchlechts, bevorab von ſeiner eigenen Landes-Herrſchafft, re - det er mit beſonderer Ehrerbietung, als welche GOtt gewuͤrdiget, ſeine Stelle auf Erden zu verwalten, denn er weiß ihre geheimen Abſichten nicht, deren guter Ausgang ihm offt weiſen kan, wie ſehr er ſich in ſeinem unbedachtſamen Urthel vergangen. Er iſt nicht zum Schiedsmann und Richter ihrer Tha - ten geſetzt, welches ſich GOtt allein vorbehalten;er293Von der Converſation. er haͤlt davor, daß er kein Recht, keine Vollmacht, ja nicht Verſtand und Erfahrung gnug habe, von ſolchem ein geſchickteres Raiſonement zu faͤllen. Jhre Rathſchluͤſſe geſchehen in geheimen Cabine - tern, darein kein niedriges Auge zu ſehen Erlaubniß hat. Fuͤrſten haben lange Arme, welche die Tad - ler zuͤchtigen, ſtuͤrtzen und toͤdten koͤnnen. S. Neu - kirchs Anweiſung zur Conduite, p. 62.

§. 23. Mit der Religion ſchertzet er niemahls, damit er nicht den Schein von ſich gebe, als ob er gar wenig Ehrerbietung vor ſie hege. Die Reli - gion iſt ja das Aller-Ehrerbietungs-wuͤrdigſte und Venerableſte von der Welt. Heiſt nun dieſes die - ſelbe reſpectiren, wenn man kluge Kurtzweile damit treibet, die eine Verachtung vor ſolche erwecken koͤnnen? Giebt es denn in der Welt ſonſt keine Sachen, die eine Raillerie verdienen, wenn man durchaus ſchertzen will? Und muß man ſolche Sa - chen angreiffen, deren Hoheit uns unſere Nichts - wuͤrdigkeit erkennen lernen, deren Autoritaͤt nichts als Gehorſam von uns fordert, und deren heiliges Weſen und Reinigkeit uns ſelbſt zitternd machen, wenn wir uns nur Gedancken aufſteigen laſſen, ſie mit verwegenen Stichel-Reden, Correctionen und Critiquen anzugreiffen? Gewiß, die frechen Redner wuͤrden vielmahls davon ſchweigen, wenn ſie von der allerheiligſten Wahrheit derſelben verſi - chert waͤren. S. Menantes kluge Behutſamkeit im Reden. p. 49.

T 3§. 24.294II. Theil. II. Capitul.

§. 24. Es iſt gar ſehr dem Wohlſtand zuwider, wenn einige in den Geſellſchafften ſtets mit ihrem Nachbarn alleine reden, und ihm etwas heimlich ins Ohr ſagen, das die andern aus der Geſellſchafft nicht vernehmen ſollen. Chloris bekennet mit Wahrheit, in der galanten Frauenzimmer-Morale p. 81. daß es die beſte Mode nicht waͤre, die viele von ihrem Geſchlecht an ſich haͤtten, daß, wenn zu - mahl Bekandte zuſammen kaͤmen, ſie einander be - ſtaͤndig nach den Ohren fuͤhren, und bald jene dieſer, bald dieſe jener etwas zuziſchelten, auch wohl ſodann ein heimlich Gelaͤchter daruͤber aufſchluͤgen. Noch unanſtaͤndiger iſts, wenn Manns-Perſonen dem Frauenzimmer etwas ins Ohr ziſcheln; denn, wer will denen, ſo dabey ſitzen, verwehren, daß ſie das nicht vor eine Marque groſſer Vertraulichkeit anſe - hen, die ſie ihnen nicht zum beſten ſprechen wer - den.

§. 25. Man muß ſich in ſeinen Reden allezeit ſo bezeigen, daß man ſich bey dem andern Liebe er - wecke, und ihm gefaͤllig erweiſe. Dieſemnach muß man ſich, ſo viel als moͤglich, enthalten, daß man dem andern keine verdruͤßliche und unangenehme Nach - richt uͤberbringe, und nicht der erſte von dem ſey, der ſich hierzu gebrauchen laͤſt. Man muß den an - dern in ſeinen Reden ohne Noth nicht hofmeiſtern, noch deſſen Diſcourſe beurtheilen. Man muß die Converſation als eine freye Handelſchafft anſehen, da einem jeden vergoͤnnt, ſchlechte und auch beſſere Waaren auszulegen. Es laͤſt ſehr unglimpflich,wenn295Von der Converſation. wenn man auf des andern Erzehlung hinzu fuͤgt: Das iſt nichts neues, dieſes iſt ſchon laͤngſt bekandt. Menantes ſagt, in ſeiner klugen Behutſamkeit zu re - den p. 4. ſehr wohl: Eine Geſchichte, die man mir erzehlet, und wovon mir alle Umſtaͤnde bekandt, wird mir mehr Zufriedenheit ſchencken, als wenn ich des andern Erzehlung unterbreche, und zu erken - nen gebe, wie er mir nichts neues ſagen kan, denn dadurch verurſache ich ihm einen Verdruß, und bin im Gegentheil vergnuͤgt, wenn ich ſehe, daß ich mich bey dem andern in groͤßre Gunſt ſetze, wenn er glaubt, daß er mir etwas neues ſagen kan.

§. 26. Es ſchmeckt uͤberhaupt ſehr nach dem Poͤbel, wenn man dem andern in die Rede faͤllt, und darauf verſetzt: vergeſſen ſie ihre Rede nicht; es wird ſich ja ſehr ſelten zutragen, daß ſo viel Ge - fahr in dem Vorzug ſeyn ſolte, daß man nicht mit ſeinem Diſcours ſolte warten koͤnnen, biß ihn der andere gantz geendiget. Gegen halsſtarrige Leute, die ſo gerne recht haben wollen, muß man ſich ſehr behutſam auffuͤhren. Man richtet bey ſolchen Leu - ten bißweilen mit Stillſchweigen viel mehr aus, als mit dem ſtaͤrckſten Widerſpruch; durch das Still - ſchweigen gewinnen ſie eher Zeit, ihrem unvernuͤnff - tigen Weſen nachzuſinnen, und ihr Unrecht zu erken - nen, da ſie hingegen durch den Widerſpruch in groͤſ - ſere Hitze und ſtaͤrckere Affecten geſetzet werden. Man muß, ſo viel als moͤglich, beſorgt ſeyn, daß ei - nem nicht etwan ein Wort entfahre, welches je - mand in der Geſellſchafft uͤbel aufnehmen koͤnte;T 4und296II. Theil. II. Capitul. und iſt dergleichen uͤbereiltes Verſehen etwan vor - gegangen, ſo muß man ſich alſo erklaͤren, daß der an - dere damit zufrieden ſeyn, und ſich nicht vernuͤnffti - ger weiſe uͤber uns beſchweren kan. Wo man aber merckt, daß der andere in ſeinen Worten auf uns zielen moͤchte, ſo muß man ſich dieſes nicht alſofort annehmen, ſondern anſtellen, als ob mans nicht hoͤrte und nicht verſtuͤnde, es muͤßte denn unſere Eh - re auf eine ſo empfindliche Weiſe dadurch verletzt werden, daß unſere Gluͤckſeligkeit ſehr beeintraͤchti - get wuͤrde.

§. 27. Es iſt in der That ſehr laͤcherlich, wenn einige junge Leute, die das Lehr-Geld noch ſchuldig ſind, bey der erſten Anrede und Bekandtſchafft ge - gen dem andern eine ſo große Vertraulichkeit be - zeigen, daß ſie ihm aus Confidence oder ſub roſa, wie ſie ſagen, ſolche Sachen in ihren Diſcourſen anvertrauen, die entweder wuͤrcklich vor etwas Ge - heimes zu achten, oder die ſie doch nach ihrer Be - urtheilung davor anſehen. Sie bezeugen hie - durch, daß es ihnen an der Erfahrung fehle, und an der Gabe die Leute zu pruͤfen, ob ſie auch nach der Bekandtſchafft, die man mit ihnen gemacht, und den andern Umſtaͤnden nach, wohl wuͤrdig ſind, daß ſie ihnen dieſes oder jenes entdecken.

§. 28. Ein weiſer und kluger Mann wird ſich huͤten, daß er das Geſpraͤch nicht auf eine abſon - derliche Wiſſenſchafft lenckt, durch welche er einen groͤßern Ruhm als andere erworben. Es iſt nicht allein dem Wohlſtand gemaͤß, wenn man dieſerGrund -297Von der Converſation. Grund-Regel folget, ſondern es hat auch die Selbſt - Liebe einen Vortheil davon. Ein Mann, welcher von einer ſolchen Wiſſenſchafft redet, die ihn all - bereit beliebt gemacht, kan hiedurch nichts gewin - nen, und dagegen ſetzt er ſich in Gefahr viel zu ver - lieren, und die Schwachheit des Grundſteines zu unterdruͤcken, auf welchen ſein Ruhm gegruͤndet iſt. Wenn er dagegen bey ſolchen Materien ſtille ſchweigt, in welchen er, wie man glaubt, ſich hervor thun koͤnte, ſo bedienet er ſich einer ſittſamen Marcktſchreyerey, damit man ſich einbilden ſoll, er koͤnne auch von andern Dingen gruͤndlich reden. ſ. Faramonds Diſcours uͤber die Sitten der gegen - waͤrtigen Zeit p. 252.

§. 29. Ein vernuͤnfftiger Menſch enthaͤlt ſich dasjenige vorzubringen, was uͤber den Horizont derer iſt, mit denen und bey denen er redet; er re - det mehr von ſolchen Materien, die ſich vor alle ſchi - cken, als von gelehrten Sachen, und ſo es ja die Ge - legenheit mit ſich bringen ſolte, iemand mit gelehr - ten Sachen zu unterhalten, ſo bemuͤhet er ſich ſolche ſo zierlich und ſo leicht vorzubringen, daß der Ver - ſtand in Nachſinnen, und die Gedult in Zuhoͤren nicht verdrießlich werden. Compagnien ſind kei - ne Auditoria, wo einer an ſtatt eines Profeſſoris die Weißheit allein beſitzen und lehren ſoll, ſondern weil wir mit gantz freyen Gemuͤth in Geſellſchafft gehen, ſo werden wir bey dem langen und unange - nehmen Plaudern eines Philoſophen eyferſuͤchtig, ſothane Freyheit zu verlieren, und halten alle ſeineT 5Einfaͤlle298II. Theil. II. Capitul. Einfaͤlle vor gezwungen, weil wir gezwungen ſind, ſolche anzuhoͤren. ſ. Menantes kluge Behutſam - keit in Reden p. 2. Ein Weltweiſer gedenckt wie ein gelehrter Mann gedencken ſoll, bedienet ſich aber gemeiner und bekandter Worte. Die wahren Meynungen eines Weiſen, muß man nicht in den Reden ſuchen, deren er ſich auf den Gaſſen und Straſſen bedient, denn dieſe ſind gar nicht der Ort, da er ſeine Sprache redet, es iſt die Sprache der gemeinen Thorheit, deren er ſich allda bedient, ſo wenig er ſich auch innerlich dadurch bethoͤren laͤſt. So ſehr er ſich huͤtet, andern zu widerſprechen, ſo behutſam iſt er, etwas zu ſagen, darinnen ihm an - dre widerſprechen wuͤrden. ſ. Gracians Oracul mit D. Muͤllers Anmerckungen pag. 305. XLIII. Ma - xime.

§. 30. Jn Loben und Bewundern der Perſonen und Sachen, muß man trefflich behutſam ſeyn. Einige haben die Art an ſich, daß ſie alles, was ſie bey den Hoͤhern ſehen und obſerviren, auf das hoͤchſte heraus ſtreichen. Alle ihre Speiſen, Ge - traͤncke, Zimmer, Kleidungen, Meublen u. ſ. w. ach - ten ſie vor delitieus, unvergleichlich, excellent, un - erhoͤrt, auſſerordentlich, und gantz vollkommen. Der Wohlſtand erfordert zwar, daß man den Leu - ten, zumahl den hoͤhern, ein wenig ſchmeichelt; Man muß aber auch hiebey die Schrancken nicht uͤberſchreiten, und vorher wiſſen, ob ſie das große Lob auch vertragen koͤnnen. Es geraͤth nicht alle - zeit zu unſrer Renommeé, wenn man dem anderngar299Von der Converſation. gar zu ſehr ſchmeichelt, und dadurch den Schein von ſich giebt, als ob uns ſelbſt mit der groͤſten Schmeicheley viel gedient waͤre. Faramond ſagt in den Betrachtungen uͤber die Sitten der gegen - waͤrtigen Zeit p. 39. Eine gewiſſe Dame, welche eine neue Liebes-Geſchicht verfertiget hat, bittet ei - nen jungen Herrn um Erlaubniß, ihn ihre Anbe - tung kniend zu erweiſen; Man hat Urſache uͤber dieſe Redens-Art zu erſtaunen, iedoch die Erſtau - nung muß aufhoͤren, ſo bald man bedencket, daß dieſe Demuths-volle Stellung des Leibes, wann ſie eine Manns-Perſon ausuͤbet, dem weiblichen Ge - ſchlecht ſehr angenehm iſt, und deſſen Eitelkeit uͤber - aus vergnuͤglich vorſchmeichelt. Was iſt es denn Wunder, daß ſich dieſe Dame eingebildet hat, es ſey dem jungen Herrn, in Anſehung ihrer, eben auch alſo zu Muthe. Die groͤſten Schmeichler ſind diejenigen, welche am liebſten hoͤren daß man ih - nen ſchmeichelt, eben alſo, wie keine Leute ſich uͤber die Verleumdungen ſo ſehr erzuͤrnen, als diejenigen, welche am meiſten geneigt ſind von ihrem Naͤchſten uͤbel zu reden.

§. 31. Man muß bey dem Lobe nicht allezeit auf diejenigen ſehen, denen zu Gefallen man das Lob ausſchuͤttet, ſondern auch zugleich mit auf andere. Eine große Verwunderung und ein unmaͤßig Lob wird nicht ſelten vor ein klares Kennzeichen der Einfalt und Unwiſſenheit angeſehen. Wer in der Welt nicht gar viel geſehen, iſt auch vermoͤgend aus Kleinigkeiten, die ein Redner vor nichts beſon -ders300II. Theil. II. Capitul. ders anſiehet, und ſeiner Aufmerckſamkeit kaum wuͤrdiget, ein groß Werck zu machen. Abweſende Perſonen zu loben, iſt ebenfalls nicht allezeit rath - ſam. Geſetzt, daß ſie das Lob, welches man ihnen beylegt, gantz wohl verdienten, ſo weiß man doch nicht, ob es denen, die es mit anhoͤren, angenehm zu hoͤren ſey, und ob man ſich nicht vielmehr ihren Unwillen daruͤber zuwege bringe.

§. 32. Hierbey muß ich auch noch erinnern, daß einige junge Leute, die nicht gar weit in der Welt geweſen und keine ſonderliche Auferziehung gehabt, ihren Eltern, bey deren Abweſenheit, allzu - große Ehre anthun, da ſie bey ihrer Erwehnung al - lezeit, mein Herr Vater und meine Frau Mutter, zu ſagen pflegen. Manche dencken, ſie handelten wi - der die Religion und wider alle Chriſten-Pflichten, wenn ſie nicht dieſelben auf dieſe Art beehren ſolten. Reden ſie von ihnen gegen ihres gleichen oder ge - gen Geringere, ſo iſt es noch eher zu entſchuldigen. Da ſie aber in der Converſation mit denen Hoͤ - hern ihnen dieſe Ehren-Benennungen beylegen, ſo machen ſie ſich hiedurch laͤcherlich. Sie thaͤten beſſer, wenn ſie nach dem Exempel der hohen Stan - des-Perſonen, nur von ihrem Vater und Mutter ſchlecht weg ſpraͤchen, und die uͤbrigen Titulaturen verſpahrten, biß ſie ſelbſt bey ihren Eltern gegen - waͤrtig waͤren.

§. 33. Endlich iſt auch noch dieſes vor eine ſehr heßliche Gewohnheit anzuſehen, da einige den Ge - brauch an ſich haben, daß ſie dem andern, entwederwenn301Von der Converſation. wenn ſie mit ihm diſcouriren, ſo nahe auf den Hals treten, daß ſie ihm faſt in das Geſichte geifern und ſprudeln, und den andern dadurch von ſich und zuruͤck treiben, oder ihn auf eine pedantiſche Weiſe die Knoͤpffe an dem Rock oder der Veſte herum - drehen.

Das III. Capitul. Von Ablegung oͤffentlicher Reden.

§. 1.

BEvor ſich ein junger Menſch entſchleußt, ei - ne oͤffentliche Rede abzulegen, muß er ſei - ne Leibes und Gemuͤths-Kraͤffte genau gepruͤfet haben, ob er auch Faͤhigkeit be - ſitze, mit Ehren vor einer oͤffentlichen Geſellſchafft als ein Redner zu erſcheinen, damit es nicht hernach von ihm heiſſen moͤchte: Si tacuiſſes, Philoſophus manſiſſes. Er muß wiſſen, ob er auch Muth gnug habe, vor dem Volck zu reden, ob er geſchickt ſey, eine manierliche Rede ſelbſt auszuarbeiten, oder die fremde Arbeit wieder herzuſagen, ob er ſich auf ſein Gedaͤchtniß verlaſſen koͤnne, und wenn er aus dem Concept gekommen, ſich durch eine natuͤrliche Beredſamkeit wieder zu helffen wiſſe, ob ſeine Aus - ſprache ſo beſchaffen, daß er ſich darf oͤffentlich hoͤ - ren laſſen, ob ſeine Minen und Geberden nichts un -anſtaͤn -302II. Theil. III. Capitul. anſtaͤndiges bey ſich fuͤhren. Befindet er nun bey Erforſchung dieſer und anderer Umſtaͤnde, daß es ihm an einem und andern, was zu Ablegung einer geſchickten Rede vonnoͤthen, noch fehlt, ſo laß er lieber einen andern ſeine Stelle vertreten, biß er zu einem hoͤhern Grad der Geſchicklichkeit gekom - men.

§. 2. Es waͤre gut, wenn junge Leute fein bey Zeiten zu einer natuͤrlichen Beredſamkeit angefuͤhrt wuͤrden, wenn ſie ſich gewoͤhnten bey Ausarbei - tung der Reden, mehr der natuͤrlichen Leitung des Verſtandes, als der Kunſt zu folgen, ihre Sachen ordentlich vorzutragen, die Saͤtze mit tuͤchtigen Be - weiß-Gruͤnden zu unterſuchen, die Materien, wie ſie mit einander verwandt ſind, und aus einander flieſ - ſen, gehoͤrig zu verbinden, und den Worten ihren natuͤrlichen Gang und Lauf zu laſſen. Durch dieſe Methode wuͤrden ſie es in der Beredſamkeit viel weiter bringen, und in ihren Reden viel freymuͤ - thiger ſeyn, als ſo, da ſie es meiſtentheils auf das Gedaͤchtniß ankommen laſſen. Sammleten ſie ſich nach und nach einen Vorrath ein von man - cherley guten und ausgeſuchten Woͤrtern und Re - dens-Arten, und von unterſchiedenen Verbin - dungs-Woͤrterchen, und braͤchten ihre Worte fein bedaͤchtig und mit einer langſamen Ausſprache vor, ſo wuͤrden ſie ſich nachgehends aus dem Stegreif zu helffen wiſſen, und wenn ſie ſchon etwas anders vorbraͤchten, als ſie vorher in das Concept nie - dergeſchrieben. Es iſt ja beſſer, daß ſie ein undander303Von Ablegung oͤffentlicher Reden. ander Gleichniß, Exempel oder andere Redens - Arten, die ſie etwan vorher ihrer Rede gewidmet, fahren laſſen, und dem ungeachtet ihre Rede fortſe - tzen, und zum Ende bringen, als wenn ſie ſich an das Maaß der Worte ſo genau binden, daß ſie uͤber den Verluſt eines und des andern Woͤrtgens, das ihnen aus der Acht gefallen, in ſolche Unord - nung geſetzt werden, daß ſie nachgehends mit Schimpff ſtecken bleiben, und ihre Rede offt endi - gen muͤſſen, da ſie dieſelbe kaum angefangen ge - habt. Viele Zuhoͤrer ſind nicht faͤhig zu beurthei - len, ob die Schreib-Art, deren ſich der Redner bedient, allenthalben gleich oder ungleich ſey, ob der Redner ſich genau an ſein Concept binde, oder ſeinen eignen Gedancken mitten unter den Reden bißweilen freyen Lauf laſſe, wenn ſie hoͤren, daß er nicht ſtecken bleibt, und mit ſchlechten und natuͤrli - chen Worten ſagt, was zu ſagen iſt, ſo dencken ſie, es ſey alles gut, und er habe ſeine Sache vortreff - lich gut gemacht. Und geſetzt auch, daß einer oder der andere, der eine groͤſſere Erkaͤntniß hat, wahr - nimmt, daß der Redner mehr ſeinen jetzigen Medi - tationen, als ſeiner vorigen Ausarbeitung folgen moͤge, ſo wird ihnen auch demnach dieſer Fehler ſelbſt zur Ehre und zu Ruhm gereichen, ſie wer - den ſich wundern, daß er die Geſchicklichkeit habe, ſich gleich ſelbſt aus dem Stegreif wieder zu helf - fen, und in dem Stande ſey, ſeiner Rede ein gluͤck - liches Ende zuwege zu bringen. Woher kommts, daß einer, der von Natur eine beredte Zunge be -ſitzt,304II. Theil. III. Capitul. ſitzt, in dem Stande iſt, eine gantze Stunde und wohl noch laͤnger in der gemeinen Converſation von einer bekandten Materie bey guten Freunden zu ſchwatzen, ohne daß er beſorgt iſt, er moͤchte in ſeinen Reden etwan ſtecken bleiben? Nirgends an - ders, als daher, weil er ſeine Gedancken ordent - lich vortraͤgt, mit Bedachtſamkeit redet, nicht lan - ge auf die Worte ſinnet, was er vor welche erweh - len will, ſondern ſich derjenigen bedient, die ihm am erſten in die Gedancken, und auf die Zunge kom - men, und ſich in reden nicht bloͤde und furchtſam, ſondern freymuͤthig bezeugt. Wer nun eben dieſes bey einer oͤffentlichen Rede auch beobach - tet, der wird weit beſſer zu recht kommen, als ſonſt.

§. 3. Bey Hof-Reden muß ſich ein Cavalier mehr der Kuͤrtze, als der Weitlaͤufftigkeit befleißi - gen; Große Herren haben gar ſelten die Gedult, einen langwierigen Redner mit Vergnuͤgen zu hoͤ - ren. Es iſt ruͤhmlicher, wenn ſie in der Begierde erhalten werden, laͤnger zuzuhoͤren, als wenn ſie wegen der Weitlaͤufftigkeit der Rede verdruͤßlich werden. Es iſt kein großer Fehler, wenn es heißt, die Rede war gut, aber zu kurtz. Der Frantzoͤſi - ſche Miniſter, der Herr von Calliéres, ſagt in ſeinen Staats-erfahrnen Abgeſandten: Wenn man mit einem Fuͤrſten redet, ſo ſoll man ſolches mit einer beſcheidenen und ehrerbietigen Mine, auch ver - mittelſt eines kurtz zuſammen gezogenen Styli ver - richten, nachdem einer vorhero die Redens-Arten,die305Von Ablegung oͤffentlicher Reden. die man gebrauchen will, wohl uͤberlegt und unter - ſucht hat, geſtalt die Potentaten, weder die langen Redner, noch die groſſen Schwaͤtzer lieben, des - wegen ſoll ein geſchickter Negotiator nicht in die - ſen Fehler fallen, der ſich nur vor Schuͤler und Pe - danten ſchickt, weil ſich die Weißheit und langen Reden ſelten beyſammen finden, und weiter: Wenn ein Miniſter an einen Rath oder an eine Republique eine Rede haͤlt, ſo iſt ihm ſchon er - laubt, daß er etwas weitlaͤufftiger ſeyn mag, allein wenn er es auch hier zu lang macht, ſo kan man die Antwort, ſo die Lacedemonier dem Abgeſandten aus der Jnſul Samos gaben, auf ihm appliciren, daß ſie nemlich den Anfang ihrer Rede vergeſſen, den Fortgang nicht gehoͤrt, und daß ihnen nichts, als das Ende wohlgefallen haͤtte, wodurch ſie nichts anders ſagen wollen, als daß ſie durch den Beſchluß ihrer Rede aufgehoͤrt haͤtten, ihnen be - ſchwerlich zn ſeyn. S. p. 289.

§. 4. Die Regel iſt zwar gegruͤndet, daß man ſich uͤberhaupt bey den Hof-Reden mehr der Kuͤr - tze, als der Weitlaͤufftigkeit befleißigen ſoll, jedoch finden einige Ausnahmen ebenfalls hievon bißwei - len Platz, wenn man zum Exempel weiß, daß der Fuͤrſt, vor dem man zu reden, die Gnade hat, ein ge - lehrter Herr und ein großer Liebhaber der Gelehr - ſamkeit, und ſattſame Gedult habe, einen anzuhoͤ - ren, alsdenn kan die Rede ſchon etwas laͤnger ab - gefaßt werden. Es ereignen ſich auch ſonſt un - terſchiedene Faͤlle, bey denen man die Reden etwasUlaͤn -306II. Theil. III. Capitul. laͤnger zu extendiren hat, dergleichen ſind zum Exempel, wenn man einen großen Staats-Miniſter parentiren ſoll, und das Auditorium aus viel ge - lehrten Leuten beſtehet, wenn bey Einweihung ei - ner neuen Univerſitæt eine ſolenne Rede zu hal - ten, wenn ein neu Collegium etablirt, ein gelehr - ter Miniſter inſtallirt wird. u. ſ. w.

§. 5. Ein Redner muß nicht allein die Beſchaf - fenheit der Perſonen beurtheilen, vor denen er zu re - den hat, und mancherley Regeln der Klugheit ſich nach deren Erkaͤnntniß vorſchreiben, ſondern auch den Ort, wo er reden ſoll, ob in einer Kirche oder un - ter freyen Himmel, auf dem Saale oder in einem Zimmer u. ſ. w. es iſt ihm hieran gelegen, daß er den rechten Thon der Stimme treffe, damit er ſich nicht uͤberſchreye, und dennoch denjenigen, vor die er zu reden hat, vernehmlich werde. Nicht weni - ger muß er wegen des eigentlichen Platzes und Standes, auf den er ſtehen ſolle, Erkundigung ein - ziehen. Es kommt bißweilen, ob es gleich eine Kleinigkeit zu ſeyn ſcheinet, auf einige Schritte hier - bey gar viel an, ſintemahl ein gewiſſer Umſtand, der zur Vollkommenheit ſeiner Rede etwas mit bey - tragen hilfft, oder ihm daran hinterlich, hievon be - ruhet.

§. 6. Ein Hof - und Staats-Redner muß zwar ſeine Rede nicht in einem gleichen Thone fortfuͤh - ren, ſondern demſelben nach der Beſchaffenheit der Materie, die er vortraͤgt, zu veraͤndern wiſſen, jedennoch aber auch hierbey nichts affectiren; ermuß307Von Ablegung oͤffentlicher Reden. muß ihn nicht ſo pathetiſch einrichten, wie einige Prieſter auf der Cantzel, noch weniger den Comœ - dianten auf dem Theatro nachahmen.

§. 7. Er muß auf ſeine Minen des Geſichts, und auf alle Geberden der Glieder des Leibes, und Stel - lungen der Haͤnde und Fuͤſſe wohl Acht haben, ſin - temahl das aͤuſſerliche Weſen ſeinen kuͤnfftigen Zu - hoͤrern zu allererſt in die Augen faͤllt, und auch offt es die ungeſchickteſten, von dem aͤuſſerlichen Weſen zu urtheilen, faͤhig, oder doch gewohnt ſind. Er gewinnet am eheſten die Gunſt der Zuhoͤrer, wenn er ſeinen vernuͤnfftigen Vortrag auch mit einer ma - nierlichen Geberdung vergeſellſchafftet. Er muß mit einer freymuͤthigen und zugleich ſittſamen Mine vor der Geſellſchafft, vor der er reden ſoll, erſcheinen. Leuchtet ihm die Angſt und Furcht aus den Augen, ſo wird man ſich von dem Fortgang ſeiner Rede nicht viel Gutes verſprechen. Die unterſchiedenen Faͤlle, nach deren Veranlaſſung er zu reden hat, muͤſſen ihm den uͤbrigen Unterſchied der Minen des Geſichts an die Hand geben: Alſo muß ein Red - ner, der ſeine Untergebenen im Kriege zu einer ſcharffen Attaque oder Defenſion wider den Feind aufmuntern will, ſie durch ſeine behertzte, feurige und rachgierige Mine ſo wohl anfriſchen, als durch ſeine Worte. Ein junger Cavalier, der bey einem vor - nehmen Hochzeit-Feſtin der Fraͤulein Braut den Stroh-Crantz uͤberbringt, muß bey der dabey zu haltenden Rede mit einer freundlichen Mine erſchei - nen. Ein Miniſter, der gegen Geringere einen An -U 2trag308II. Theil. III. Capitul. trag zu thun hat, ſiehet ernſthafft aus. Wer ge - gen hohe Standes-Perſonen eine Anrede haͤlt, naͤ - hert ſich ihnen mit einer demuͤthigen und ehrerbieti - gen Geberde: Bey den Haͤnden muß er alle unan - ſtaͤndige Geberden vermeiden, er muß nicht, wie einige zu thun pflegen, das Schnupfftuch aus der ei - nen Hand in die andere werffen, oder den Hut her - um drehen, oder ihn mit beyden Haͤnden ſteif vor ſich weghalten, nicht die Peruque zurecht ruͤcken, oder die Zoͤpffe alle Augenblicke hinter werffen, aber auch nicht wie eine unbewegliche Statue da ſtehen, beyde Arme die Laͤnge lang herunter ſtrecken, und weder Hand noch Finger ruͤhren; ſondern bißwei - len mit dem Arm, oder der Hand, oder, nach Gele - genheit, auch wohl mit beyden Haͤnden eine kleine ſittſame Bewegung machen, die ſich zum Vortrag ſeiner Rede ſchickt. Mit den Fuͤſſen muß er ſeſt ſtehen, und einen gewiſſen Stand haben, nicht eini - ge Schritte vor ſich oder hinter ſich, bald auf die rechte und bald auf die lincke Seite treten, auch nicht mit dem einen Fuß auf den Abſatz ſtehen, wel - ches gar zu nachlaͤßig ſcheinet, jedoch muß es auch nicht das Anſehen haben, als ob er mit den Fuͤſſen angepicht waͤre, ſondern zuweilen mit den Fuͤſſen eine kleine Veraͤnderung vornehmen.

§. 8. Auf die Titulaturen und die gewoͤhnlichen Courtoiſie-Woͤrter, die er in ſeinen Reden mit ein - miſcht, muß er ſehr wohl und genau Acht haben, daß er ja nicht hierinnen anſtoſſen moͤge, denn ſonſt ver - mindert er nicht allein den Ruhm ſeiner Rede, wennſie309Von Ablegung oͤffentlicher Reden. ſie im uͤbrigen noch ſo vortrefflich ausgearbeitet waͤ - re, um ein groſſes, ſondern er kan ſich auch durch die - ſes Verſehen bey vielen, theils von denen, und auch theils vor denen er zu reden hat, verhaßt machen. Bey Ablegung der Reverences, bey Benennung der hohen Standes-Perſonen, und bey andern Woͤrtern ſeiner Rede, bey denen er ſeine Demuth und unterthaͤnigſte Ehrerbietigkeit anzeiget, muß er ebenfalls Accurateſſe erweiſen.

§. 9. Es laͤſt zu pedantiſch, wenn ein Redner mit ſeiner Captatione benevolentiæ bey ſeiner Re - de aufgezogen kommt, und ſich bey den Zuhoͤrern ein geneigt Gehoͤr vorher ausbitten will. Die Zu - hoͤrer wiſſen wohl, daß er und ſie aus keinen andern Endzweck an dieſem Ort zuſammen kommen, als daß er reden, und ſie hingegen ihm zuhoͤren ſollen. Fuͤhret er ſich bey ſeiner Rede als ein vernuͤnfftiger und manierlicher Redner auf, ſo wird er ſo wohl ge - neigt Gehoͤr finden, er mag ſie vorher durch ein Compliment darum erſuchen oder nicht. Macht ers aber ſchlecht, ſo wird er ſeine Captationem be - nevolenriæ wahrhafftig auch vergebens anbrin - gen.

§. 10. Es will ſich auch nicht ſonderlich ſchicken, wenn ein Redner von ſeiner eignen Perſon gar zu viel erwehnt, und ſich allzu ſehr verringert, wie eini - ge junge Leute, aus allzu groſſer Demuth und Sitt - ſamkeit bißweilen zu thun pflegen. Bringen ſie ih - re Sachen ungeſchickt vor, und ſie nennen ſich oͤff - ters ungeſchickte oder unwuͤrdige Redner, ſo gebenU 3ihnen310II. Theil. III. Capitul. ihnen die Zuhoͤrer heimlichen Beyfall, und machen ſich hierdurch laͤcherlich und veraͤchtlich, wenn ſie von ſich ſelbſt ein ſo wahres Urtheil faͤllen. Es er - gehet ihnen hierbey, wie einigen Prieſtern, die ſo ſchlecht geprediget, als ihnen moͤglich geweſen, und bey dem Schluß der Predigt gedencken, daß ſie den Text in aller moͤglichen Kuͤrtze und Einfalt ab - gehandelt. Meines Erachtens thaͤten ſie beſſer, wenn ſie ſagten, ſie haͤtten den Text nach dem Ver - moͤgen, ſo ihnen GOtt dargereicht, abgehandelt. Tragen aber die Redner ihre Sachen mit Geſchick - lichkeit vor, und ſie erwehnen ſo gar oͤffters ihre Un - geſchicklichkeit, ſo nehmen es viele von den Zuhoͤrern davor an, als ob ſie hiedurch ihre Begierde zum Lobe anzeigten. Ob zwar ein Redner ſo wenig als ein anderer Menſch den unzeitigen Urtheilen der andern entgehen kan, er mag auch reden was er will, und ſich auffuͤhren wie er will, ſo muß er doch auch hierinnen thun was ihm moͤglich, und das Split - ter-richten nach Moͤglichkeit zu vermeiden ſuchen.

§. 11. Ein teutſcher Redner muß ſich bey den Hof - und Staats-Reden in ſeiner Mutter-Spra - che erklaͤren, ſo gut er kan, und die fremden Woͤrter aus den auslaͤndiſchen Sprachen, inſonderheit aus der Lateiniſchen und Frantzoͤſiſchen weglaſſen, wenn er ſie in dem Teutſchen eben ſo gut ausdruͤcken kan; jedoch muß er auch hierinnen keinen beſondern Ei - genſinn bezeigen, daß er denen, die alle fremden Woͤrter ausmuſtern wollen, nachahmen ſolte. Worinnen er andere vornehme und Welt-klugeRedner311Von Ablegung oͤffentlicher Reden. Redner zu Vorgaͤngern hat, und was einmahl in der Teutſchen Sprache das Buͤrger-Recht erhal - ten, kan er auch gantz wohl gebrauchen.

§. 12. Da in allen unſern Reden und Hand - lungen die Sittſamkeit, Klugheit und Ordnung herrſchen muß, ſo muͤſſen wir dieſelbe, auch bey Ab - faſſung und Ablegung ſolenner Reden, in Obacht nehmen, und nichts vorbringen, das entweder bey einem zweydeutigen Verſtande den Schein hat, als ob es die Erbarkeit einigermaſſen beleidigt, oder doch ſonſt den Zuhoͤrern wunderlich und unordent - lich vorkommen koͤnte. Einige dencken, was ſie vor ein Kunſt-Stuͤck anbringen wollen, wenn ſie ihre Rede mit einem ſo ſeltzamen Eingang anfangen, daß die Zuhoͤrer nicht wiſſen, wo es damit hinaus kommen werde. Alſo weiß ich, daß einſten ein jun - ger Parentator, bey dem Begraͤbniß eines hohen Kriegs-Officiers, ſeine Abdanckung mit den Wor - ten: Der Donner und der Hagel, anfieng; Nach - dem nun den Zuhoͤrern dieſer Anfang befremdlich geſchienen, und er eine Weile inne gehalten, ſetzte er ſeine Rede folgender Geſtalt fort: Der Donner und der Hagel, welcher in dem 2ten Jahre bey Be - lagerung der Veſtung Landau, aus den bruͤllenden Carthaunen ausgeworffen wurde, u ſ. w. Ein anderer wolte bey dem Begraͤbniß eines jungen adelichen Frauenzimmers, ich weiß nicht, nach was vor einer Theſi, drey Berge vorſtellen, doch dieſe drey Berge gaben einigen Spoͤttern Gelegenheit zu mancherley unnuͤtzen Worten.

U 4§. 13.312II. Theil. III. Capitul.

§. 13. Bey Ausſuchung und Anwendung der ſo genandten Realien, muß ein Redner eine gute Behutſamkeit gebrauchen, und gar wohl uͤberlegen, ob dieſes oder jenes Thema, Gleichniß, Zeugniß, u. ſ. w. den Zuhoͤrern angenehm, ſeinen gegenwaͤr - tigen Vortrag geziemend, und den Umſtaͤnden des Orts und der Zeit, da er zu reden hat, gemaͤß ſey. Ja auf gewiſſe Maße muß er auch den Character, den er ſelbſt begleidet, in Betrachtung ziehen. Es wuͤrde einem Hof-Mann bey einer Hof-Rede nicht wohl anſtehen, wenn er ſeine Rede mit ſolchen Saͤ - tzen, die aus den Autoribus claſſicis genommen waͤren, auszieren wolte. Redet man bey denen, die einer andern Religion zugethan, ſo muß man nichts in ſeiner Rede von den Schrifften erwehnen, die bey ihnen verhaſt ſind. Hat man gelehrte Leu - te zu Zuhoͤrern, kan man auch gelehrte Sachen in ſeiner Rede mit einmiſchen, hat man aber ungelehr - te vor ſich, ſo muß man ſich auch in dieſem Stuͤck nach ihnen richten. Es wuͤrde uͤber die Maßen abgeſchmackt heraus kommen, wenn ein Redner bey einer Geſellſchafft, die groͤſten theils aus Frau - enzimmer und Hof-Leuten beſtuͤnde, ſolche Sachen vorbraͤchte, zu denen eine tieffe Erkaͤntniß der Meta - phyſica erfordert wird. Er wuͤrde bey den groͤ - ſten Schaͤtzen ſeiner vermeinten Weißheit vor thoͤ - richt angeſehen werden. Muß man ſich in der ge - meinen Converſation nach den Begriffen derer richten, mit denen man zu reden hat, ſo iſt dieſes bey den oͤffentlichen Reden ja eben ſo noͤthig.

§. 14.313Von Ablegung oͤffentlicher Reden.

§. 14. Es geben nicht allein die Oerter, wo man redet, und die Umſtaͤnde der Zuhoͤrer, vor denen man ſeine Rede abzulegen hat, ſondern auch wohl die Faͤlle, die eine Rede veranlaſſen, die Regeln an die Hand, was ſich vor Themata und Realien am fuͤglichſten appliciren laſſen, und aus was vor Qvellen ſolche herzuleiten ſeyn. Bey Hofe iſt es gar angenehm, wenn man in ſeinen Reden aus der neueſten Hiſtorie, ſonderlich der Teutſchen Ge - ſchichte, aus bewaͤhrten Hiſtoricis, aus den Lebens - Beſchreibungen groſſer Herren, ingleichen aus be - liebten Frantzoͤſiſchen Autoribus, u. ſ. w. etwas angenehmes, merckwuͤrdiges, und nicht jederman bekandtes, anbringen kan. Hat man in einem Raths-Collegio, oder bey Abwechſelung eines Stadt-Magiſtrats, und andern dergleichen Bege - benheiten eine Rede zu halten, ſo ſchickt es ſich gar wohl, wenn man aus den Roͤmiſchen oder andern Geſetzen etwas mit erwehnt, und juriſtiſch aus - fuͤhrt, und ſo kan man denn bey andern Faͤllen ſchon ſelbſt finden, was vor ein Thema, oder welcherley Realien am beſten zu appliciren ſeyn.

§. 15. Die ſo genandten Sinn-Bilder ſind insgemein nicht gar zu weit her, ſie riechen ſtarck nach der Schule, und muͤſſen in den Hof - und Staats-Reden gar ſparſam angebracht wer - den. Wenn manche Hof-Leute hoͤren, daß ein Redner ſeine Rede folgender Geſtalt anfaͤngt: Je - ner ſinnreiche Kopff mahlte diß und das mit der Uberſchrifft an, ſo kommt es ihnen ſchon ſpoͤttiſchU 5vor,314II. Theil. III. Capitul. vor, und der Appetit weiter zuzuhoͤren, vergehet ih - nen ſchon. Die meiſten Figuren, die nicht aus einer vernuͤnfftigen und natuͤrlichen Wohlredenheit herflieſſen, ſind allzu pedantiſch, und laſſen ſich bey galanten Hof-Reden nicht wohl anbringen. Manche dauchen gantz und gar nichts, andere aber ſind wohl zu gebrauchen, aber mit Behutſamkeit, ſie ſchicken ſich nicht vor alle Oerter und Geſell - ſchafften. Alſo gehoͤrt die ſo genandte Excla - mation, wenn man mit Hefftigkeit ausrufft, eher auf die Cantzel oder auf ein Theatrum, als in ein Fuͤrſtlich Gemach; Mit der Intertogation, da man gleichſam die Zuhoͤrer fragt: Ob man gleich keine Antwort von ihnen gewaͤrtig, oder die Com - munication, da man es ihnen ſelbſt zu bedencken, und zu uͤberlegen anheim ſtelt, ſind von einer gleich - maͤßigen Beſchaffenheit; Gleichwie es uͤberhaupt wider die Devotion iſt, die Geringere den Fuͤrſtli - chen Perſonen ſchuldig ſind, wenn ſie dieſelben be - fragen wollen, alſo ſcheinen auch dieſe Figuren, wenn man es in der groͤſten Accurateſſe anſehen will, dem Fuͤrſtlichen Reſpect einiger maßen nahe zu treten.

§. 16. Einige wollen in den Gedancken ſtehen, als ob keinem weltlichen Redner recht anſtaͤndig waͤre, etwas aus der heiligen Schrifft anzufuͤhren, ſie meynen, dieſes gehoͤrte bloß vor einen ſo genand - ten Geiſtlichen. Ob nun zwar freylich ein Unter - ſcheid iſt, unter einen geiſtlichen und weltlichen Redner, unter einer geiſtlichen und weltlichen Re -de,315Von Ablegung oͤffentlicher Reden. de, unter einer Stand-Rede oder Leich-Abdan - ckung, und unter einer Leichen-Predigt, ſo iſt und bleibet doch auch ein gewaltiger Jrrthum, daß kei - nem weltlichen Redner anſtaͤndig ſey, etwas aus dem Worte GOttes in ſeinen Reden mit anzu - fuͤhren.

§. 17. Da ein weltlicher Redner auch in dieſem Stuͤck, Worte zu ſeiner Zeit zu reden hat, ſo muß er bey Anfuͤhrung der heil. Schrifft vorhero zweyerley in Betrachtung ziehen. Er muß uͤberlegen, an was vor einem Orte und bey was vor Gelegen - heit er das Wort GOttes anfuͤhren und applici - ren will, und dann hernach auf die Art und Weiſe ſinnen, wie er ſie anbringen will. Er muß alſo die heilige Schrifft in geringſten nicht bey ſolchen Faͤl - len anfuͤhren, wo es zu ihrer Verunehrung oder zu Verſpottung GOttes gereichen wuͤrde, aber wohl, wo bey einer und andern Gelegenheit ein aus goͤtt - licher Schrifft gezogener Bewegungs-Grund ei - nen beſſern Eindruck in die Gemuͤther der Zuhoͤrer zu erwecken, vermoͤgend iſt, der dem Zweck der Re - de und des Redners gemaͤß. Es waͤre demnach ein offenbahrer Mißbrauch des goͤttlichen Wortes, wenn ein junger Cavalier bey Uberreichung eines Stroh-Crantzes auf einer Hochzeit, bey einer den Eitelkeiten der Welt ergebnen Geſellſchafft in einer Rede, die mit lauter ſchertzhafften auch wohl ſuͤnd - lichen Redens-Arten angefuͤllt, einige Spruͤche aus der heiligen Schrifft unter die andern Taͤnde - leyen mit einmengen wolte. Hingegen laſſen ſicheinige316II. Theil. III. Capitul. einige theologiſche Gruͤnde bey mancherley weltli - chen Reden ebenfalls gar wohl anbringen, als bey Parentationen, da der Troſt, den man der trauri - gen hinterlaſſenen Familie abſtatten ſolle, ſonſt ſehr krafftloß ſeyn wuͤrde, wenn man bey der bloßen Vernunfft bleiben ſolte, ingleichen bey Huldigungs - Reden, wenn man im Nahmen der Landes-Herr - ſchafft den Unterthanen, inſonderheit denen, die ſich bey manchen Umſtaͤnden als unruhige und ſtoͤrri - ſche Koͤpffe erweiſen, beſondere Pflichten einzu - ſchaͤrffen hat, und bey vielen andern Faͤllen mehr.

§. 18. Da eine weltliche Rede von einer geiſtli - chen abzuſondern, ſo muͤſſen auch die Spruͤche und Saͤtze der goͤttlichen Schrifft darinnen ſpahrſa - mer angefuͤhrt werden, als in den Predigten. Denn ſo wenig es einem Prediger anſtaͤndig, wenn er in ſeinen