PRIMS Full-text transcription (HTML)
Chriſtian Thomaſens / JCti, Chur-Brandenburdiſchen Raths und Profeſſoris zu Halle
Von der Kunſt Vernuͤnfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einen gluͤckſeligen / galanten und vergnuͤgten Leben zu gelangen / Oder
Einleitung Zur Sitten Lehre
Nebſt einer Vorrede / Jn welcher unter andern der Verfertiger der curiöſen Monatlichen Unterredungen freundlich erinnert und gebeten wird / von Sachen die er nicht verſtehet / nicht zu urtheilen / und den Autorem der - mahleinſt in Ruhe zu laſſen.
Halle/Druckts und verlegts Chriſtoph Salfeld / Chur-Fuͤrſtl. Brandenb. Hoff-Buchdr.

Dem Durchlauchtigſten Fuͤrſten und Herrn / HERRN Johann Georgen Fuͤrſten zu Anhalt / Hertzogen zu Sachſen / Engern und Weſtphalen / Graffen zu Aſcanien, Herrn zu Zerbſt und Bernburg / Der Chur - und Marck-Brandenburg Hochverordneten Stadthalter Und General Feld-Marſchalck: Meinem Gnaͤdigſten Fuͤrſten und Herrn.

Durchlauchſter Fuͤrſt Gnaͤdigſter Herr.

SO unterſchiedlich und auff eine faſt unzehlbahre Weiſe die menſchlichen Gemuͤther einem der die Welt nur oben hin anſiehet ge - miſcht zu ſeyn ſcheinen / ſo iſt doch unlaugbar / daß nicht mehr als Vier Paſſiones Domi - nantes oder Haupt-Gemuͤthsneigungen ſind / aus derer Vermiſchungen die Veraͤnde - rung aller derer andern Affecten, ſie ſeyn nun gut oder boͤſe entſtehen / auch alle Gemuͤther der Menſchen und ihre daher ruͤhrende Gedan -a 2ckenUnterthaͤnigſtecken aus denenſelben beurtheilet werden koͤn - nen. Die eine darvon iſt diejenige / ſo gerade zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret / nemlich die vernuͤnfftige Liebe anderer Menſchen. Die andern drey aber ſind die Liebe zur Wolluſt / die Liebe zur eitelen Ehre / und die Liebe zum Gelde. Dieſe dreye gehoͤren an und vor ſich ſelbſt zur unvernuͤnfftigen Lie - be / und fuͤhren den Menſchen unter dem Schein einer wahren Gluͤckſeligkeit von der Gemuͤths-Ruhe in eine ſtetswehrende Unru - he / wiewohl immer eine von der vernuͤnfftigen Liebe weiter entfernet iſt als die andere. Die Wolluſt-Liebe iſt derſelben noch am naͤchſten / weil ſie doch noch mehrentheils mit Treuher - tzigkeit und Barmhertzigkeit vergeſellſchafftet iſt / und die Wahrheit zu ſagen nicht ſo ſehr anderen Menſchen als ſich ſelbſten ſchadet. Die Liebe zur eitelen Ehre iſt ſchon weiter entfernet / denn hier iſt mehr Neyd / Miß - trauen / Unbarmhertzigkeit / Falſchheit / Be - trug / und man ſchonet ſeine Ehrgierde zu be - gnuͤgen keines Menſchen. Jedoch kan man ſolche Leute noch in Menſchlicher Geſellſchafft brauchen / weil ſie gemeiniglich von groſſenVer -Zuſchrifft.Verſtande ſind / und ſo lange ſie von denen die uͤber ſie ſind / Beforderung hoffen / denen - ſelben doch ſolche Submiſſion und Dienſte er - weiſen / die ſonſten von liebenden Perſonen her zu ruͤhren pflegen / auch endlich denen ſo ſie veneriren / ſo lange ſie ſolches thun / alles gutes erweiſen. Aber die Geld-Liebe iſt gar zu irraiſonnabel. Denn da ſind nicht alleine alle die Laſter / die mit der Ehrgierde ver - knuͤpffet ſind / anzutreffen / ſondern ein Gei - tziger ſchonet keines Menſchen / wenn er nur einen Thaler profit machen kan / da hingegen ein Ehrgeitziger dieſes fuͤr eine groſſe lachetè haͤlt. Ja ein Geitziger iſt gar zu nichts gu - tes zu gebrauchen / in dem er keinen Men - ſchen gutes thut; Wannenhero auch jener nicht unfuͤglich den Geitzigen mit einem Schweine verglichen / das man anders nicht als wenn es geſchlachtet und ertoͤdtet iſt / ge - nieſſen kan. Und wie wolte ein ſolcher Menſch andern gutes thun / in dem er ſelbſten bey ſeinem Geld-Sack verhungert? ja es weiſet noch dieſes gantz Augenſcheinlich / daß nichts vernuͤnfftiges in dem Geld-Geitz ſey / indem da ſonſt gleich und gleich einan -a 3derUnterthaͤnigſteder lieben / und auch zwiſchen zweyen Wol - luͤſtigen und Ehrgeitzigen zum wenigſten eine Schein - und vernuͤnfftige Liebe iſt / doch zwey Geitzige einander nicht alleine nicht lie - ben / ſondern auch auff das aͤuſſerſte haſſen. Dieſe Anmerckungen aber ſind nicht alleine in der geſunden Vernunfft gegruͤndet / ſon - dern die Goͤttliche Offenbahrung ſtimmet da - mit gantz offenbahrlich uͤberein. Die groͤſte Gluͤckſeligkeit beſtehet in der Liebe GOttes und des Nechſten. Und ob ſchon die vernuͤnff - tige Liebe nicht ſo vollkommen iſt als die Chriſtliche Liebe / ſo iſt doch die. vernuͤnfftige Liebe ſo zu ſagen ein Staffel / dadurch man zu der Chriſtlichen Liebe gelangen kan / und wie derjenige GOTT ohnmoͤglich lieben kan / der nicht einmahl ſeinen Bruder lie - bet; Alſo kan derjenige ohnmoͤglich andere Menſchen Chriſtlicher Weiſe lieben / der nicht einmahl dieſelbigen vernuͤnfftig liebet. Wie - derumb werden die Wolluſt / Ehrgierde und Geld-Liebe unter dem Nahmen der Flei - ſches-Luſt / des hoffaͤrtigen Lebens / und der Augen-Luſt zum oͤfftern in Heiliger Schrifft als die drey Haupt-Laſter vorgeſtel -let.Zuſchrifft.let. Und wiewohl eher ein wolluͤſtiger Menſch der halb truncken in eines Philoſo - phi Auditorium, denſelben auszuſpotten / ge - gangen / durch deſſen vernuͤnfftige Lehre von der Maͤßigkeit / der Wolluſt abgezogen / und zur Weißheit gebracht worden; Alſo haben ſich viel Wolluͤſtige zu Chriſto bekehret / und kamen am erſten zur Tauffe Johannis / die ſtoltzen Phariſaͤer waren die letzten / und glaubten die wenigſten unter ihnen an dem Heyland / ſo gar daß er ſelbſt denen Hurern und Ehebrechern das Reich GOttes eher verſpricht / als denen Ehrgeitzigen Phari - ſaͤern. So wird auch endlich der Geitz eine Wurtzel alles Ubels genennet / und ausdruͤck - lich gemeldet / daß es leichter ſey / daß ein Cameel durch ein Nadeloͤhr gehe / denn daß ein Reicher / der nemlich das Hertz an das Reichthum haͤngt / in das Reich Gottes komme / und an einem ander Orthe wird abermahls unter dem Gleichniß von Auge gemeldet / daß wenn das Auge ein Schalck ſey / auch der gantze Leib finſter ſey / welches nicht unfoͤrmlich auff den Geitz appliciret wird / weil derſelbe / wie gedacht / durch diea 4Augen -UnterthaͤnigſteAugen-Luſt pfleget angedeutet zu werden. So wenig aber als man Exempel von ſol - chen Menſchen antrifft / die die vernuͤnfftige Liebe in einem ſehr hohen Grad beſitzen / ſon - dern mehrentheils bey denen Tugendhafften viel Schwachheiten von Wolluſt / Ehrgier - de und Geld-Liebe mit unterlauffen; ſo we - nig koͤnnen wir auch ſagen / daß die drey Haupt-Laſter / ob ſie gleich viel oͤffter in einem hohen Grad angetroffen werden als die ver - nuͤnfftige Liebe / jedes fuͤr ſich alleine ſey / ſon - dern es ſind dieſelbigen gleichfalls mit denen andern Haupt-Gemuͤths-Neigungen ver - miſcht / jedoch ſolcher geſtalt / daß allezeit ei - ne von dieſen dreyen fuͤr denen andern Affe - cten, mit denen ſie vermiſcht iſt / die Ober - hand behaͤlt / und ſolcher geſtalt la paſſion dominante pfleget genennet zu werden. Man kan dieſes gar artig aus denen Vier Tem - peramenten der Menſchen nach der Na - tur-Kunſt ſehen. Wer ein recht Phlegma hat / iſt der vernuͤnfftigſte Menſch / und muß nothwendig auch der groͤſten Gluͤckſeligkeit und der vernuͤnfftigen Liebe faͤhig ſeyn. Dieſem Temperament iſt ein Sang vineusamZuſchrifft.am naͤheſten / bey deme die Wolluſt die o - berſte Gemuͤths-Neigung iſt. Ein Chole - ricus iſt ſchon weiter von dem Phlegma ent - fernet / und bey demſelben raget die Ehr - gierde uͤber die andern Affecten empor. Die Melancholici, gleich wie ſie die wunder - lichſten ſind; Alſo iſt der ſtaͤrckeſte Trieb bey ihnen zu der Geld-Liebe. Ja es iſt gantz leichte die Eintheilung des Guten in bonum honeſtum, jucundum & utile, wenn man nach Anleitung deſſen / was ich in dem erſten Hauptſtuͤck dieſer meiner Sitten-Lehre erin - nert / das bonum Decorum darzu ſetzet / nach denen vier Haupt-Paſſionen / und denen itzt - beſagten vier Temperamenten einzutheilen. Ein Phlegmaticus iſt ein rechter honnét homme, und trachtet in allen der wah - ren Tugend-Ehre / ob er ſchon von dem groͤſten Hauffen der Welt nicht ſonderlich hoch / ſondern wohl gar verachtet wird. Ein Sangvineus macht von dem bono jucun - do den groͤſten Staat. Ein Cholericus hat mit dem Decoro am meiſten zu thun. Und endlich ein Melancholicus ſtrebet nach dem bono utili. Gleich wie aber in dera 5Mah -UnterthaͤnigſteMahler-Kunſt nur fuͤnff Haupt-Farben ſeyn / Weiß / Gelb / Roth / Blau und Schwartz / aus derer Vermiſchung alle die andern Far - ben entſtehen / die wegen den unzehlichen Grade der Vermiſchung auch unzehlich ſind; Alſo entſtehen auch aus denen unterſchiedenen Graden der Vermiſchung derer vier Haupt - Gemuͤths-Neigungen unzehliche Tempera - mente, die ein Menſch / der die Welt recht kennen / und ſeine Politique recht veꝛſtehen wil / nothwendig begreiffen muß / wenn er anders die Gemuͤther recht erforſchen / und die Capa - citaͤt der Menſchen erlernen wil. Denn bald findet man einen Menſchen der viel Wolluſt beſitzet / die mit der Ehrgierde nach Gele - genheit derer Individuorum bald in einem wenigen / bald in einem hoͤhern Gꝛad vermiſcht / iſt. Bald findet man einen Ehrgierigen / beydeme man eine merckliche Vermiſchung entweder der Wolluſt oder der Geldgierde antrifft. Die Geldgierde und Wolluſt laſ - ſen ſich am unfoͤrmlichſten zuſammen vermi - ſchen / und wo man ja dieſelben / welches doch ſehr ſelten geſchicht / in einem hohen Grad beyſammen antrifft / ſo entſtehet alsdenn einſolchZuſchrifft.ſolch laͤcherlich Temperament daraus / daß man erſchrickt / wenn man die andern Neben - Affecten, die aus dieſer Vermiſchung entſte - hen / und nicht anders als widerwaͤrtig ſeyn koͤnnen / betrachtet. Weswegen auch die Sa - tyrici und Comoͤdien-Schreiber / wenn ſie ein laͤcherlich Poſſen-Gpiel vorſtellen wollen / gemeiniglich einen alten Mann der verliebt iſt / auffuͤhren / weil das Alter insgemein geitzig / und ihre Liebe mehr wolluͤſtig als ver - nuͤnfftig iſt / maſſen dann die Comoͤdie des Moliere, die er von dem Geitzigen gemacht / bey nahe die allerlaͤcherlichſte iſt. Wiewohl meines Erachtens die Thorheit ſo aus dieſer Vermiſchung entſtehet / viel deutlicher unter der Perſon eines jungen wolluͤſtigen Kerls ab - gemahlet werden koͤnte. Was die vernuͤnff - tige Liebe anlanget / ſo iſt dieſelbige mehren - theils entweder mit der Liebe zur weltlichen Luſt / oder mit dem Ehrgeitz vermenget / aber mit dem Geld-Geitz hat ſie gar nichts zu thun / weil derſelbe von ihr noch vielmehr ent - fernet iſt als die Wolluſt / ob ſie ſchon dann und wann das Geld ein wenig liebet. Und paßiret dannenhero in dieſer Unvollkommen -heitUnterthaͤnigſteheit da man nicht alles zur Perfection brin - gen kan / derſelbe durchgehends fuͤr einen hon - nét homme, der ſeiner Affecten am meiſten Meiſter iſt / welcher ein luſtiges und Ehrgie - riges Temperament in einem gleichen Gꝛad beſitzet. Denn ein ſolcher Menſch ſchickt ſich zum Ernſt und Freude am beſten. Die Ehr - gierde haͤlt ihn insgemein zuruͤcke / daß er nicht unvernuͤnfftiger Weiſe in denen Wolluͤ - ſten verfaͤllet / und ſich fuͤr der Welt proſtitui - ret. Wiedrumb ſo haͤlt ihn die aus dem Tem - perament der Lufft herruͤhrende Aufrichtig - keit und Barmhertzigkeit ab / daß er ſich in dem Ehrgeitz nicht allzuweit verſteiget / ſondern durch dieſelbige ſeine Ehrgierde daͤmpffet / daß ſie andern Menſchen nicht zu Schaden / fon - dern vielmehr zu Dienſte gereichet. Ja es bezeuget es die taͤgliche Erfahrung / daß ein ſolcher Menſch / wenn er die Schwachheiten und Eitelkeiten der Jugend uͤberwunden / entweder in ſeinem Maͤnnlichen oder hohen Alter ſich ein rechtes Phlegma erwirbet / und die vernuͤnfftige Liebe am meiſten erlanget. Unter denen Heyden ſcheinet Alcibiades mit einem ſolchẽ Temperament begabet geweſenzuZuſchrifft.zu ſeyn / und werde ich wenig irren / wenn ich ſage / daß der Weiſeſte unter denen Koͤni - gen Salomo eine dergleichen Leibes-Miſchung gehabt / wovon faſt alle Umbſtaͤnde ſeines Le - bens / welche die heilige Buͤcher beſchrieben / Zeugniß geben koͤnnen / als die alle dahin zie - len / daß man aus denenſelben lauter Ehre und Liebe abmercken kan. Ja es ſind end - lich ſolche Gemuͤther am geſchickteſten von der wahren Sitten-Lehre und vernuͤnffti - gen Liebe zu Urtheilen / da hingegentheil ein gantz wolluͤſtiges Gemuͤthe zwar die Wahr - heit der Lehr-Saͤtze der vernuͤnfftigen Liebe bal - de begreiffen / aber wenn ſie nicht mit Ehr - gierde temperiret ſind / die Praxin dererſelben bey nahe fuͤr unmoͤglich halten. Ein Ehr - geitziger hingegentheil findet ſchon bey der Er - kaͤntniß der veꝛnuͤnfftigen Liebe mehr Scrupel, und hat die groͤſten Schwierigkeiten / ſich eine rechtſchaffene Idee von der Tugend zu machen. Und ein Geldgeitziger endlich / gleich wie er vernuͤnfftigen Menſchen am irrraiſonnable - ſten vorkoͤm̃t; Alſo ſcheinet ihm alles / was von der Tugend und der vernuͤnfftigen Liebe geſagt wird / laͤcherlich; Ja er kan ſich nicht ruͤhmen /daßUnterthaͤnigſtedaß er nur den unterſten Grad derſelben ſie zu practiciren ſich angewoͤhnen koͤnne.

Wann ich demnach nach der Gewohnheit derer Scribenten mir fuͤrgenommen / dieſe meine Sitten-Lehre der Cenſur eines honnét homme durch eine Zueiguns-Schrifft zu unterwerffen; Habe ich dafuͤr gehalten / we - der etwas tummkuͤhnes noch unvernuͤnfftiges zu begehen / wann fuͤr Ewrer Hoch - Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit ich dieſelbe in unterthaͤnigſten Gehorſam nieder - legte. Denn zu geſchweigen der vielfaͤltigen Hoch-Fuͤrſtlichen Gnaden / mit denen Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durch - lauchtigkeit mich bishero unverdienet - berhaͤuffet / und uͤber dieſes Seiner Chur-Fuͤrſtlichen Durchlauchtig - keit zu Brandenburg maͤchtigen Schutz wider meine Verfolger durch Dero hoch - guͤltige Recommendation mir zu wege ge - bracht: So haben die ungemeinen Tugenden / die Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durch - lauchtigkeit als ihr beſtes Eigenthumb beſitzen / mir ſolches Unterfangen gleichſamanbe -Zuſchrifft.anbefohlen. Sie ſind alſo beſchaffen / daß Sie daß Lob einer Privat-Perſon / wie ich bin / uͤberſteigen / und mein Temperament iſt am wenigſten geſchickt jemand einen Pane - gyricum zu machen; Jedoch wird jederman / dem die Gnade wiederfahren / Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit zu kennen / oder Sie nur zu ſeben / mich von aller Schmeicheley loß ſprechen / wenn ich ſage / daß Ewrer Hoch-Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit gantzes Leben aus Ehre und Liebe zuſammen geſetzet ſey. Die Freundligkeit / mit welcher Ewre Hoch - Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit jeder - man begegnen / den Sie Jhrer Anrede wuͤr - digen / ziehet aller Hertzen an ſich / dieſelbige zu lieben / und die aus Dero Augen hervor leuchtende ernſthaffte Großmuth / vermiſchet dieſe Liebe mit einer unterthaͤnigen Ehrfurcht / und Vertrauens-vollen Reſpect.

So nehmen dann Ewre Hoch - Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit dieſe oͤf - fentliche Bezeugung meiner unterthaͤnigſten Liebe und Hochachtung in Gnaden an / undlaſſenUnterthaͤnigſte Zuſchrifft.laſſen Dero Hoch-Fuͤrſtliche Gnade und Hulde mich noch ferner weit genieſſen / als worumb ich in unterthaͤnigſten Gehorſam bit - te / und Lebenslang verharre

Ewrer Hoch-Fuͤrſtl. Durchl.

Halle den 16. Aprilis 1692. Unterthaͤnigſter Gehorſamſter Chriſtian Thomas.

Vor -

Vorrede.

I.

MAn pfleget insgemein in denen Vorreden von dem Abſehen und Jnn - halt eines Buchs zu di - ſcuriren. Dieweil aber dieſes all - bereit von mir in unterſchiedenen Programmatibus geſchehen / auch die fuͤr jedem Capitel vorgeſetzte Summaria dem Leſer in Kuͤrtze den gantzen Jnnhalt der Sitten Lehre vorſtellen; Als wil ich nur etwas weniges noch eꝛinnern wegen der un - terſchiedenen Judiciorum die von dieſer meiner Lehr-Art und von der Idee der vernuͤnfftigen Liebe gefaͤlletbwer -Vorredewerden moͤchten. Es werden we - nig Moraliſten ſeyn / die die Morale nicht nach dem Catalogo derer II. Ariſtoteliſchen Tugenden eingerich - tet haͤtten / von der ihrer Unvollkom - menheit ich anderswo ausfuͤhrlich gehandelt. Wiewohl ich nun mich in geringſten fuͤr denen Anbetern des Alterthums nicht fuͤrchte / weñ gleich meine Lehr-Art gantz neu waͤre; ſo iſt ſie doch auch beſchaffen / daß man mich hierinnen entweder gantz und gar einer Neuerung / oder daß ich dieſelbe einem andern gantz abge - borget / nicht wird beſchuldigen koͤn - nen. Geulinx hat ſich ſchon in ſei - ner Ethic umb die Ariſtoteliſchen Tugenden nicht bekuͤmmert / und in Teutſchland haben etliche Profeſſo - res auff einer beruͤhmten Univerſitaͤt die Liebe in ihren Sitten-Lehren zum Grunde geleget. Zu geſchweigendererVorrede.derer jenigen von denen Ariſtotelicis ſelbſt / die ex fontibus Amicitiæ die Pflichten und Verbindlichkeiten des menſchlichen Geſchlechts hergefuͤh - ret haben. Jedoch wird man gar leichte befinden / wenn man meine Sitten-Lehre gegen dieſe Autores halten wird / daß ich ohne Ruhm und Eitelkeit dieſes Buch fuͤr das meinige ausgeben koͤnne / und daß zwiſchen ihrer Lehr-Art und der mei - nigen ein groſſer Unterſcheid ſey.

2. Den Concept betreffend / den ich durchgehends von der vernuͤnff - tigen Liebe gemacht / ſo wil ich nicht prætendiren / daß derſelbe allen Menſchen oder vielen gefallen ſolte / denn ſonſten waͤre es eine Anzei - gung / daß ich ihn nicht nach den Re - geln der Weißheit eingerichtet haͤtte; So wil ich mir auch die Muͤhe nicht machen / alle Cenſuren die man daruͤ -b 2berVorrede.ber machen wird / zu beantworten; (Denn man muß die Leute reden / und zuweilen auch calumniren laſſen;) ſondern ich wil nur erinnern / was fuͤr Sorten Leute ich fuͤr capabel hal - te von dieſer Sitten-Lehre zu urthei - len / und wegen der zwey fuͤrnehmſten Cenſuren ſo etwan gefaͤllet werden moͤchten / etwas anmercken. Es ſind dreyerley Art Leute in der Welt: Unvernuͤnfftige Menſchen oder Be - ſtien, Menſchen oder weiſe Tugend - haffte Leute / und endlich gottſeelige Chriſten. Was die erſte betrifft / ſo ſtecken die meiſten Menſchen noch leider in der Beſtialitaͤt / wiewohl ei - ner mehr als der andere / und iſt eben dieſe meine Sitten-Lehre fuͤr dieſelbi - gen geſchrieben / ſie aus dieſem elen - den Stande heraus zu reiſſen / und ihnen die Gluͤckſeeligkeit der ver - nuͤnfftigen Liebe / die ſie erſt zu rechtenMen -Vorrede.Menſchen machen wuͤꝛde / abzumah - len. Sind nun ſolche Leute noch jung und brauchen Information, ſo ſind ſie ohne dem noch nicht allzuge - ſchickt Cenſuren uͤber Buͤcher zu ma - chen / ſondern ſollen ſich vielmehr be - fleißigen / alles das was ſie nicht ir - raiſonnabel befinden / mit Danck an - zunehmen / ob es ſchon nicht nach ih - rem gout iſt / denn ſie koͤnnen ſich gar leicht einbilden / daß ſie noch mehren - theils einen verderbten Geſchmack haben. Sind ſie aber bey Jahren / ſo werden ſie zwar ſehr wohl thun / wenn ſie meine Sitten-Lehre ungele - ſen laſſen / indem ich ſie nicht vor ſie geſchrieben / und wohl weiß / daß es Menſchen Vermoͤgen uͤbertrifft ei - nen alten Kerl / der noch eine Beſtie iſt / aus dieſen Stand heraus zu reiſ - ſen. Leſen ſie ſie aber / und wollen dieſelbe als was chimeriques duꝛch -b 3ziehen /Vorrede.ziehen / ſo ſtehet es ihnen auch frey / und werde ich mich daruͤber nicht moviren / weil mir alle ihre Judicia vorkommen werden wie trunckener Leute. Denn wie wolte eine Beſtie die Empfindlichkeit und reflexion eines Menſchen haben? Derohal - ben ſehe ich allbereit zuvor / daß un - ter allen Staͤnden die meiſten von denen / die mein Buch leſen werden / ſagen werden / es ſey keine vernuͤnff - tige Liebe in der Welt wie ich be - ſchrieben / ſondern man muͤſſe ſelbi - ge in dem zukuͤnfftigen Leben erwar - ten; und haͤtte ich dannenhero un - weißlich gethan / der Jugend von ei - ner zeitlichen Gluͤckſeligkeit fuͤrzu - ſchwatzen / die doch zu erhalten nicht moͤglich waͤre. Aber ich bitte alle diejenigen / daß ſie ſich doch nur alle erbare Heyden und Weiſen / als den Seneca, Cicero, Pomponius Atti -cus,Vorrede.cus, Agricola u. ſ. w. vor Augen ſtellen / und aus derer Lebens-Be - ſchreibung oder Schrifften erken - nen / daß dieſe allerdings die ver - nuͤnfftige Liebe / wo nicht in ihrer Vollkommenheit / doch in einem mercklichen Grad geſchmeckt und beſeſſen haben. Und iſt leider zu er - barmen / daß wir Chriſten heiſſen / und noch nicht einmahl die Menſch - heit erreichet haben; und daß unter denen / die unter uns denen andern ein Exempel eines Chriſtlichen Le - bens geben ſolten / die meiſten nicht alleine wie die Beſtien leben / ſondern auch die armen Einfaͤltigen und Ler - nenden auff ihr eigen Exempel wei - ſen / ſich nach demſelben einen Con - cept der Tugend zu machen / da doch ihre Hertzen Tempel der Wolluſt / des Ehr - und Geld-Geitzes ſind. Sol - cher geſtalt aber bildet man ſichb 4durchVorrede.durchgehends ein / derſelbige ſey ein tugendhaffter ehrlicher Mann / der keine ſolche Laſter begehe / die der Hencker und Obrigkeit beſtraffe / wenn er gleich ſonſt neydiſch / grau - ſam / betrieglich / ſtoltz / unbarmher - tzig und ſo weiter ſey. Dieſes ſeyen menſchliche Schwachheiten / die kein Menſch in dieſer Welt / ja nicht ein - mahl ein Chriſt loß werden koͤnne. Und wer ſich einbilde oder die Ju - gend anders lehre / und zu einen Tu - gendhafften Leben anmahnen wolle / ſey ein Fantaſte oder Heuchler. So offenbarlich aber als der groſſe hauf - fen ſolcher Chriſten duͤrch die Hey - den beſchaͤmet wird / und ſeine Vie - hiſch heit durch ſolche Lehre ſehen laͤſ - ſet / ſo wenig haben wir ſolcher Be - ſtien ihre Cenſuren zu fuͤrchten.

3. GOtt ſey Danck / daß wir noch unter Menſchen / ja unter wahrenChri -Vorrede.Chꝛiſten leben / ob gleich derer Anzahl ſehr wenig und geringe iſt. Beyde weꝛden gar deutlich erkennen / daß ich nicht zuviel von der Tugend und wahren Liebe geſchrieben habe. Beyde werden erkennen / daß ich die Vernunfft und Offenbahrung nicht mit einander vermiſcht / ſondern nur in ſo weit die Tugend beſchrieben ha - be / als man dieſelbe vermoͤgend iſt / durch natuͤrliche Kꝛaͤffte zu erlangen. Derowegen werden ſich auch junge Leute und andere / die GOttes Guͤte alsbald aus der Beſtialitaͤt in den Stand des Chriſtenthumbs ge - bracht / nicht aͤrgern / wenn ſie finden werden / daß ich in Beſchreibung der vernuͤ fftigen Liebe nach ihrer Mey - nung vielleicht noch zu wenig geſagt / und ſolche Dinge fuͤr Tugendhafft und vollkommen auszugeben / die in Betrachtung der Chriſtlichen Liebeb 5undVorrede.und der Verlaͤugnung ſeiner ſelbſt fuͤr lau - ter Unvollkommenheiten und Maͤngel gerechnet werden muͤſſen. Jhr Aerger - niß wird bald auffhoͤren / wenn ſie betrach - tet werden / daß ich mir nicht fuͤrgenom - men / meine Zuhoͤrer zu Chriſten / ſondern zu Menſchen zu machen. Mein Beruff gehet nicht weiter / und ich gebe mich in dem Chriſtenthum ſelbſt noch fuͤr einen Schuͤ - ler / nicht aber fuͤr einen Lehrer aus. Verleyhet mir aber GOtt Leben / Geſund - heit und Kraͤffte / ſo bin ich geſonnen / wenn ich meine Philoſophie werde abſolviret haben / in einem beſondern Tractat zu zei - gen / daß ich in meinen Philoſophiſchen Schrifften durchgehends nichts anders gelehret / als was mit der Heil. Schrifft / wenn ſie von der Philoſophiſchen Weiß - heit und Tugend redet / uͤbereinkommet / und wie der Mangel und die Unvollkom - menheit der ſich bey der natuͤrlichen Weiß - heit und Philoſophiſchen Tugend befin - det / aus der Goͤttlichen Weißheit wahrer Chriſten ſuppliret werden muͤſſe. Mit einem Worte: Daß die wahre Philoſo - phie zwar eine Manuduction und Anfuͤh -rungVorrede.rung zur Gottes Gelahrheit ſeyn muͤſſe / aber an und fuͤr ſich ſelbſt unvermoͤgend ſey die Gottes-Gelahrheit zu erlangen.

4. Jm uͤbrigen entſinne ich mich gar wohl / was ich an vergangener Leipziger Weyhnachts-Meſſe von der Wiſſenſchafft der Menſchen Gemuͤther und Gedancken zu erforſchen / oͤffentlich verſprochen habe / und weꝛde nicht ermangeln / zu ſeiner Zeit / ſo GOtt wil / dieſe Wiſſenſchafft heraus zu geben. Die Sitten-Lehre muß der Grund derſelben ſeyn / in welcher ein Menſch erſt ſich ſelbſt kennen muß / ehe er andere Leute wil kennen lernen / und wird ſonderlich die Ausuͤbung der Sitten-Lehre / oder die Artzney-Mittel wider die unvernuͤnfftige Liebe zeigen / was man fuͤr gegꝛuͤndete Axiomata in dieſem Stuͤck von mir zu hoffen habe / wiewol auch ſchon dasjenige / was ich in gegenwaͤrtiger Ein - leitung zu deꝛ Sitten-Lehꝛe in dem Capitel von der abſonderlichen Liebe ihren unter - ſchiedenen Graden hin und wieder fuͤr An - merckungen eingeſtreuet / ſo wohl auch was ich in der unter thaͤnigſten Zuſchrifft allhier von denen vier Haupt-PaſſionenuͤberVorrede.uͤberhaupt diſcuriret / einem unpartheyi - ſchen gnugſam den Grund meiner Leh - re in etwas zeigen wird. Jch habe zwar unlaͤngſt alle Gelehrten provociret / daß wenn ſie mir des von mir deswegen getha - nen Voꝛſchlags halber etwas zu ſagen haͤt - ten / und die daſelbſt von mir aufgegebenen Problemata gegruͤndet reſolviren wuͤr - den / ich mich alsdenn fuͤr ſchuldig halten wolte / ihre Dubia zu beantworten. Nun haͤtte ich mich veꝛſehen / daferne ſich jemand in dieſem Stuͤcke an mich machen wolte / es zum wenigſten ein Mann ſeyn wuͤrde / der in Philoſophia Morali einige Funda - menta geleget / habe aber mit nicht gerin - ger Ver wunderung erfahren muͤſſen / nachdem man mir fuͤr wenig Tagen den Monat Martium von denen curiöſen Monats Unterredungen aus Leipzig zu - geſendet / daß es dem Verfertiger der - ſelben gefallen / auch in dieſem Stuͤck ſich an mir zu reiben / und meinen Vorſchlag zwar haͤmiſch / aber dabey auch albern genug durchzuziehen, Jch habe bishero mit groſſer Gedult von ihm vertragen / wenn er ſonderlich bey Anfang dieſer ſeinerMo -Vorrede.Monats Unterredungen / und ſonſten hin und wieder in denenſelben mich grob ge - nung / und zuweilen dergeſtalt tractiret / daß es ein Thuͤringiſcher Bauer nicht haͤrter machen koͤnnen. Ja ich habe mich nichtgereget / ob er ſchon ſeinen Unterre - dungen einen offenbahren Paßquill wie - der mich einverleibet / und denſelben zu meiner mehrern Beſchimpffung ſei - ner Intention auch in das Teutſche uͤberſetzet. Und haͤtte dannenhero mich verſehen / durch dieſe meine Gedult ihn zum wenigſten dahin zu diſponiren / daß er in denen Dingen / davon er gantz kei - nen Verſtand hat / ſich mit ſeinem einfaͤl - tigen Judicio fuͤr der vernuͤnfftigen Welt nicht ferner proſtituiren ſolte; maſſen denn ſeine Unterredungen insgeſamt be - zeugen / daß er zwar ein Mann ſey / der viel Buͤcher geleſen / und der in hiſtoricis und antiquitate des ihm gehoͤrigen Ruhms nicht zu berauben iſt; aber der hierbey in Philoſophia reali ſo wol Theo - logica als Practica das allerwenigſte ver - ſtehe und gelernet habe / ſondern wenn er darauff faͤllt / nicht anders als ein offen -bahrerVorrede.bahrer Sophiſte raiſonnire / und ſeine Un - wiſſenheit fuͤr jedermans Augen lege. Jch ſehe aber wohl / daß die Gedult nicht alle - mahl zulaͤnglich ſey / einen Menſchen der von einer eingebildeten Weißheit auffge - blaſen iſt / in ſeinen Schrancken zu halten / und befinde mich dannenhero genoͤthiget / auff ein Mittel bedacht zu ſeyn / durch wel - ches ihm der Kuͤtzel ein wenig vertrieben werde / ohne daß ich mich genoͤthiget befin - de / meinen ordentlichen Verrichtungen etwas abzubrechen / und mich mit ihme und ſeines gleichen in unnoͤthige Streit - Schrifften einzulaſſen. Solchergeſtalt aber wird es wohl am beſten ſeyn / daß ich einen von meinen Auditoribus, der nur ein wenig meine Vernunfft-Lehre begriffen / aufftrage / dieſen ſeinen Monat Martium gegruͤndet zu beantworten / damit er ſich nicht ferner wie bishero geſchehen / weiſe duͤncke / und die jenigen / ſo allbereit uͤber ſeine elenden Cenſuren gefrolocket / erken - nen moͤgen / daß ihre Freude unzeitig / und ohne Grund geweſen. Dieſer ſol ihm mit Gottes Huͤlffe aus ſeinen eigenen Unter - redungen beweiſen / daß alles / was ich bis -heroVorrede.hero von ihm geredet / wahr / und nicht aus Affecten von mir geſchrieben ſey. Er ſoll ihm weiſen / daß er in ſeinen Dubiis und Cenſuren / die er in dem Martio von mir gefaͤllet / ſolche Sophiſtereyen und Schnitzer wider die Logic begangen / daß wenn es einer von ſeinen Schuͤlern ge - than / er nach der in denen Trivial-Schu - len gebraͤuchlichen Weiſe verdienet haͤtte / ex prima claſſe in Secundam oder Ter - tiam promoviret zu werden. Er ſol ihm ſattſam darthun / daß er die von mir auf - gegebenen problemata laͤppiſch und ohne Raiſon reſolviret; Jedoch wird der Herr Magiſter ſo gut ſeyn / und ſich gedulden / wenn mein Auditor nicht alſofort dieſe Beantwoꝛtung heraus geben wird; Deñ es iſt nicht noͤthig / daß er uͤber dieſe Baga - tellen ſeinen ordendlichen Stunden die er zum ſtudiren gewidmet / abbreche / ſondern es wird genung ſeyn / wenn er hierzu die Stunden / die andere junge Leute ſonſten zu andern Ergoͤtzungen anzuwenden pfle - gen / employren wird. Zum wenigſten hoffe ich / es ſolle dieſe Beantwortung wo nicht ehe / doch auff kuͤnfftige MichaelisMeſſeVorrede.Meſſe fertig ſeyn. Sat citò ſi ſat bene. Der Herr Magiſter kan indeſſen durch Auffſchlagung ſeines Vademecum und libellorum Syllogiſticorum ſich gleicher - geſtalt auff dieſe Beantwortung deſto - beſſer præpariren / und von ſeinen Corre - ſpondenten ſubſidia einholen / wie er ſeine Sophiſtereyen deſto beſſer verthey - digen / und die von mir auffgebene Pro - blemata anders und beſſer als geſchehen reſolviren oder kuͤnfftig ſtille ſchweigen moͤge / als worzu ich ihn freundlich und aus guter Meinung vermahnet haben wil.

Der1

Der Sitten-Lehre Erſtes Hauptſtuͤck. Von der Gelahrheit das Gute und Boͤſe zuerkennen uͤberhaupt.

Jnnhalt.

  • Connexion mit der Vernunfft-Lekre n. 1. Unterſcheid zwiſchen den Wahren und Guten / Falſchen und Boͤ - ſen n. 2-11. Beſchrelbung des Guten und Boͤſen uͤber - haupt n. 6. Hieher gehoͤret abſonderlich das Gute und Boͤſe des Menſchen n. 9. und zwar das wahrhaff - tig Gute / welches dem Schein-Gut entgegen geſetzet wird n. 12. Was dem Menſchen gut oder boͤſe iſt / iſt entweder an ihm oder anſſer ihm n. 13. Was zwiſchen dieſen beyden Arten fuͤr ein Unterſcheid ſey n. 14. 15. Die aͤußerlichen Dinge nennet man à potiori gut oder boͤſe n. 16. Was die Menſchlichen Kraͤffte auff eine kurtze Zeit vermehret und ſei - ne Dauerung verkuͤrtzet iſt boͤſe n. 17. 18. 19. 20. Fuͤnff Anmerckungen die aus dieſem LehrſatzAfolgen2Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitſolgen n. 21-25. Groſſe Nothwendigkeit und Nutzen deſſelbigen n. 26. 27. 28. Junge Leute muͤßen ſich ſehr befleißigen auch denenſelbigen in praxi zu beobachten n. 29. Alle Dinge und folglich auch der Menſch werden von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit bewe - get / und nehmen darnach wieder ab. n. 30. 31. Dieſe Bewegung hat dieſe Eigenſchafften / daß ſie eutweder ſteiget und faͤllet / auch eine gewiſſe und etwas langſame Proportion hat n. 32. Die von GOtt dem Menſchen geſetzte Dauerhafftigkeit iſt gut / ſie kan aber auff drey - erley Weiſe boͤſe werden n. 33. Und unter denenſelben auch alſo / wenn der Menſch ſeine Vollkommenheit gar zu mercklich befoͤrdert n. 34. Die Bewegung der menſchlichen Gliedmaſſen erfordert eine harmoniſche Veraͤudernug n. 35. 36. Sein Weſen beſiehet aus Leib und Seele n. 37. An ſeinem Leibe trifft man (1) das Leben an n. 38. Welches guſt iſt und alles / mas daſſelbe befoͤrdert n. 39. Der Tod iſt theils gue / theis boͤſe n. 40. (2) Die Bewegungs-Krafft und Sinnligkeiten / die gleichfalls gut ſind / und was ihnen entgegen geſetzet / iſt boͤſe n. 41. 42. Dieſe Guͤter hat der Menſch mit denen Beſtien gemein n. 43. Aber durch die Vernunfft der Seelen wird er von ihnen entſchleden n. 44. Jnglei - chen durch den Willen n. 45. Welche wiederum und was dieſelben befoͤrdert gut ſind n. 46. 47. Alle Din - ge auſſer den Menſchen beruͤhren unmittelbahr ſeine Sinnligkeiten / und werden nach ihrer augenblicklichen Wirckung fuͤr gut oder boͤſe gehalten n. 48. 49. Nach dieſen beruͤhren ſie die Bewegung des Gebluͤts und die Gedancken / deren Wirck[ung] aber offt ſehr entfernet und zukuͤnfftig iſt n. 50. 51. Alle gar zu empfind - liche und ſtarcke Bewegung der Sinn - ligkeiten iſt boͤſe u. ſ. w. n. 52. 53. Die mitleren Bewegungen ſind thells gut thells boͤſe / n. 54. Die gu - ten Bewegungen werden boͤſe / wenn ſie allzulange con -tinu3das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.continuiret werden n. 55. Obiger Lehrſatz wird auch die Bewegung der aͤußerlichen Gliedmaſſen n. 56. in - gleichen auff die Bewegung des Gebluͤts n. 57. und die Gedancken der Menſchen appliciret n. 58. Alle Dinge auſſer dem Menſchen koͤnnen in drey Claſſen getheilet werden n. 59. (I) Unter ihm die Thiere und andere Creaturen. Von denenſelben hat er ſehr wenig zu ſeiner Erhaltung von noͤthen n. 60. 61. 62. Aber die meiſten Dinge koͤnnen dem Menſchen auff vielfaͤltige Weiſe ſchaden n. 63. Jedoch ſind die Creaturen mehr gut als boͤſe n. 64. (II) Neben ihm andere Menſchen. Ohne dieſe waͤre der Menſch hoͤchſt-elende n. 65. Gleich - wohl kan auch ein Menſch dem andern den groͤſten Verdruß authun n. 66. Und im Gegentheil ihm auch am beſten nutzen n. 67. Und alſo gehoret mit unter die guten Dinge n. 68. Freundſchafft und Liebe n. 69. Woraus ſie entſtehet n. 70. Jngleichen die Freyheit n. 71. Ehrbegierde n. 72-75. Geldbegierde n. 76. 77. 78. Jngleichen das Decorum und die Schamhafftig - keit / ob ſie fuͤr gut oder hoͤſe zu achten n. 70. (III) U - ber ihm GOtt / welcher unter allen Gnten billig oben - an ſiebet n. 81. 82. 83. Tugend / Gelahrheit und Er - kaͤutniß ſeiner ſelbſt ſind was gutes n. 84. 85. 86. Die Guͤter der Seelen / des Leibes und des Gluͤcks n. 87. 88. Was an dieſer Eint heilung der menſchlichen Guͤter zu tadeln n. 89. 90. Das ehrbare / nuͤtzliche und beluſii - gende Gut / ſind bey dem wahrhafftigen Gute allezeit vereiniget n. 91. 92. Und wird nur in Anſehen ſeines Uhrſprungs ehrbahr n. 93. in Anſehen ſeiner Gegen - waͤrtigkeit beluſtigend n. 94. und in Betrachtung ſel - uer Wirckung nuͤtzlich genennet n. 95. Daß man ſich an vergangeuen und zukuͤnfftigen Dingen eigentlich nicht beluſtige n. 96. 97. 98. Worumb man insgemein dieſe dreyerley Guͤter anders erklaͤret n. 99. Ob man das ehrbahre und beinſtigende Gut wegen ſein ſelbſt / das nuͤtzliche aber allein wegen eines andern verlangeA 2n. 100.4Das 1. Huptſt. von der Gelahrheitn. 100. Ob wir das Beluſtigende durch einen mit den Thieren gemeinen Appetit verlangen n. 101. 102. Daß die maͤßigen Beluſtigungen der Sinnligkeiten und alle Beluſtigungen der Seelen wahrhafftige Beluſtigun - gen ſeyn n. 103. 104. Von denen Exempeln / die man insgemein giebt / darzuthun / daß das ehrbare / nuͤtzliche und beluſtigende Gut von einander entſchieden ſeyn koͤnne n. 105. z. e. Stehlen / Huren / Freſſen und Sauf - fen n. 106. Bittere Artzeney brauchen / ſich von La - ſtern entwehnen n. 107. Sein Leben fuͤr ſein Vater - land wagen n. 108. Wohin das Decorum zurechnen ſey n. 109. Andere Eintheilungen des Guten und Boͤſen nach ſeinen unterſchiedenen Graden n. 110. Der Menſch lebet entweder in ſeinen ordentlichen und ua - tuͤrlichen n. 111. 112. oder in auſſer ordendlichen Zuſtand n. 11. Nach dieſem Zuſtand wird das Boͤſe und Gute auch entweder ordentlich oder auſſer-ordentlich n. 114. 115. 116. Worinnen beyderley Boͤſes und Gutes mit einander uͤbe ein kommet n. 117. 118. Was ordentlich guſt iſt / iſt auſſer-ordentlich boͤſe & vice versâ n. 119. 120. 121. Bonum & malum vel poſitivum vel privativum n. 122. 123. Etliche Guͤter ſind ſehr edel und nothwen - dig / etliche nicht n. 124. 125. 126. Die nothwendigen ſind entweder neceſſaria abſolutè, oder ex hypotheſi n. 127. Es gibt unmittelbare und mittelbare Guͤter n. 128. Das gut iſt entweder wuͤrcklich gut oder ein kleiner Ubel n. 129. Welche unter denen bisberigen Eiutheilungen die alleredelſten Guͤter ſeyn n. 130. All - gemeiner Jrrthumb ziehet das auſſer-ordentliche Gute dem ordentlichen fuͤr n. 131. 132. Und haͤlt das bonum poſitivum fuͤr edler als das privativum n. 133. Jnglei - chen die unnoͤthigen Guͤter hoͤher als die nothwendi - gen n. 134. und bekuͤmmert ſich mehr umb das kleine Ubel als das wuͤrckliche Gute n. 135. Was Philoſophia practica ſey n. 136. Der Unterſcheid zwiſchen der Ethic, Oeconomic und Politic n. 137. 138. 139.
1. Wir5das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

1.

WJr haben zu Anfang der Ver - nunfft-Lehre geſagt / daß die Ge - lahrheit eine Erkaͤntniß des Wah - ren und Falſchen / Guten und Boͤ - ſen ſey. Weil wir demnach bisher von der Erkaͤntniß der Wahren und Falſchen ge - redet / ſo viel wir vonnoͤthen zu ſeyn erachtet fuͤr - einen Menſchen / der ſich ad vitam civilem ge - ſchickt machen wil; ſo muͤſſen wir nunmehro auch zu dem andern Stuͤck der Erkaͤntniß / nem - lich des Guten und Boͤſen ſchreiten / ſo viel dieſel - be aus der geſunden Vernunfft begriffen werden kan / wiewohl wir hiervon etwas ausfuͤhrlicher handeln werden / indem ohne die ausfuͤhrliche Erkaͤntniß des Guten und Boͤſen man im ge - meinen buͤrgerlichen Leben gar nicht fort - kommen kan.

2.

Wir muͤſſen aber zufoͤrderſt hier erwegen / was fuͤr ein Unterſcheid zwiſchen dem Wahren und Guten / ingleichen zwiſchen dem Falſchen und Boͤſen ſey. Denn alles Wahre ſcheinet gut / und alles Falſche oder aller Jrrthum boͤſe zu ſeyn; aber insgemein ſagt man doch / daß das Gute und Boͤſe entweder ein warhafftiges / oder ein eingebildetes Gut oder Ubel ſey.

3.

Dieſes deſto beſſer zu begreiffen / kommen dieſe beyderley benennungen darinnen uͤberein / daß keine auff das Weſen der Dinge an und fuͤr ſich ſelbſt / ſondern auff derſelben Beſchaffen -A 3heit6Das 1. Haupſt. von der Gelahrheitheit und Gegeneinanderhaltung mit andern zielen.

4.

Denn das Wahre haben wir beſchrieben / daß es beſtehe aus der Ubereinſtimmung der aͤußerlichen Dinge und des menſchlichen Ver - ſtandes / und das Falſche / wenn dieſe beyde ein - ander zuwider ſind.

5.

Gleicher weiſe heiſt das jenige uͤberhaupt gut / wenn zwey Dinge mit einander uͤberein kommen / und dasjenige heiſt uͤberhaupt boͤſe / wenn ein Ding dem andern zuwider iſt.

6.

Mit einander uͤberein kommen heiſt all - hier / wenn ein Ding das andere in ſeiner Dauerung erhaͤlt / und deſſen Weſen und Beſchaffenheiten vermehret. Einander zu - wider ſeyn heiſt / wenn ein Ding des andern ſeine Dauerung verkuͤrtzt / oder deſſen We - ſen und Beſchaffenheiten vergeringert.

7.

Und alſo iſt der erſte Unterſtheid zwiſchen dem Wahren und Guten / daß das Gute die Ubereinſtimmung aller Dinge mit einander benennet / das Wahre aber inſonderheit die Ubereinſtimmung anderer Dinge mit dem menſchlichen Verſtande bemercket.

8.

Hiernechſt aber iſt wohl auſſer Zweiffel ge - ſetzt / daß gleich wie andere Geſchoͤpffe auſſer dem Menſchen dasjenige / was ihnen gut oder boͤſe iſt nicht erkennen noch begreiffen moͤgen; alſo auch der Menſch ſehr unvernuͤnfftig waͤre / wenn er ſich umb das / was andern Creaturen gut oderboͤſe7das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.boͤſe waͤre bekuͤmmern / und umb ſein eigenes Gutes und Boͤſes nicht wolte beſorget ſeyn. Derowegen werden wir alleine von dem Guten und Boͤſen in Anſehen des Menſchen zu handeln haben.

9.

Das Gute des Menſchen aber iſt inſon - derheit von dem Wahren darinnen unterſchrie - den / daß es in der Ubereinſtimmung anderer Dinge mit dem gantzen Menſchen / oder mit allen ſeinen Theilen und Kraͤfften / und nicht mit dem Verſtande alleine beſtehet.

10.

Wiewohl auch unter dem Ubereinkom - men ein groſſer Unterſcheid iſt. Was es in der Beſchreibung des Guten bedeute / haben wir nur jetzo erwehnet. Jn Beſchreibung des Wahren heiſt es nichts mehr / als wie wir allbereit in der Vernunfft-Lehre erklaͤret / daß die aͤußerlichen Dinge von dem menſchlichen Verſtand begrif - fen werden koͤnnen / und iſt das Wahre eigent - lich zu reden weder gut noch boͤſe / ob ſchon die Erkaͤntniß des Wahren zu dem Guten des Menſchen gehoͤret / weil dadurch der Verſtand gebeſſert wird.

11.

Wiederumb iſt das Gute und Boͤſe ent - weder warhafftig alſo beſchaffen / wenn nem - lich der allgemeine menſchliche Verſtand / ſo fer - ne er von denen Urtheilen menſchlicher Autoritaͤt und Ubereylung geſaubert iſt ein Ding fuͤr gut und Boͤſe erkennet / oder aber es iſt ein Schein - Gut oder ein Schein-Ubel / wenn es von LeutenA 4die8Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitdie offenbahrlich in Vorurtheilen ſtecken / dafuͤr gehalten wird.

12.

Dannenhero und weil dieſe letztere Art einen offenbahren Jrrthum mit ſich fuͤhret / die Jrrthuͤmer aber nicht zur Welt-Weißheit gehoͤ - ren / ſo braucht es nicht eben groſſes Erinnerns / daß wir in Unterſuchung des Guten und Boͤſen auf dasjenige / was warhafftig gut und boͤſe iſt / unſer Abſehen zu richten haben.

13.

So ſind demnach die Dinge von denen man fragen kan / ob ſie in Anſehen des Men - ſchen gut oder boͤſe ſeyn / entweder in und an ihm oder auſſer ihm.

14.

Jene als zum Exempel ſein Leben / ſein Verſtand / die Gliedmaſſen ſeines Leibes koͤn - nen nicht anders als gut ſeyn / weil ſie ihm von GOtt gegeben ſind ſeine Dauerung zu befoͤrdern und ſein Weſen zu erhalten. Und muß dannen - hero entweder durch eine Bewegung von auſ - ſen geſchehen / daß dieſelben aus guten boͤſe Din - ge werden / z. e. Wenn der Menſch wider Willen ſehr erſchrickt / wenn er ohne ſeine Schuld ver - wundet wird / u. ſ. w. Ober aber der Menſch iſt ſelber an ihrer Verſchlimmerung Schuld / wenn er ſeiner Geſundheit / ſeiner Gliedmaſſen / ſeines Verſtandes / u. ſ. w. muthwillig mißbrauchet.

15.

Alle aͤußerliche Dinge ſind an ſichſelber dem Menſchen weder gut noch boͤſe / ſie konnen aber beydes werden / wenn ſie dem Menſchlichen Weſen durch eine Bewegung recht oder unrechtappli -9das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤherhaupt.appliciret werden / z. e. Speiſe / Tranck / Gifft / ein Dolch u. ſ. w. Und muß dannenhero der Menſch ſein Weſen und deſſen Beſchaffen - heit wohl erkennen / damit er dieſe Dinge gleichſam bey dem rechten Ende anzugreiffen wiſſe / und ſich nicht ſelbſten durch ſeine eigene Schuld damit ſchade.

16.

Jedoch iſt es im gemeinen Buͤrgerlichen Le - ben ſo herkommens / daß man à potiori die aͤuſ - ſerlichen Dinge gut oder boͤſe zu nennen pfleget / nachdem ſie mehrentheils zu des Menſchen Nu - tzen oder Schaden koͤnnen appliciret werden / z. e. Speiſe und Tranck iſt was gutes / der Gifft was ſchaͤdliches / u. ſ. w.

17.

So iſt auch hiernechſt in Anſehung der Applicirung aͤufferlicher Dinge dieſer Unter - ſcheid zu mercken / das etliche Dinge zwar die menſchlichen Kraͤffte zu vermehren ſcheinen / aber dabey die Dauerung ſeiner Exiſtenz ver - geringern / z. e. ein gemacht Gedaͤchtniß / allzu - emſiges Studiren / alle ſehr empfindliche Beluſti - gung der Sinnen; andere aber ſeine Dauerung natuͤrlicher Weiſe befoͤrdern / ob ſie gleich eben ſeine Kraͤffte nicht in einen mercklichen Grad zu vermehren ſcheinen; als maͤßige Speiſe und Tranck / maͤßige Beluſtigung der Sinnen.

18.

Jene werden gemeiniglich von denen / ſo in Vorurtheilen ſtecken vor gute dieſe aber ent - weder vor boͤſe / oder doch zum wenigſten fuͤr in - differente Dinge gehalten / da doch die geſundeA 5Ver -10Das 1. Hauptſt. von der GelahrheitVernunfft weiſet / daß allein dieſe letztern fuͤr warhafftig gut zu achten / jene aber vielmehr boͤſe als gut ſind.

19.

Denn weil alles / was an dem gantzen Men - ſchen iſt / wie wir jetzo erwehnet / gut iſt / und weil kein Weſen beſtehen kan / wo keine Exiſtens oder Daurung iſt; ſo muß nothwendig alles dasjenige / was die Dauerung des gantzen o - der eines theiles als den Grund alles Guten ruiniret / unter boͤſe Dinge gehoͤren / und kan man eine augenblickliche ob wohl ſehr merckliche Vermehrung der menſchlichen Kraͤffte ſo wenig fuͤr etwas gutes halten / wenn in kurtzen eine Nie - derreiſſung oder Beraubung der Kraͤffte darauff folget; Als wenn man einen / der ein mittel - maͤßiges Auskommen haͤtte / eine Million vereh - ren / und wenn er nach Proportion derſelben etli - che wenige Tage ſeinen Staat eingerichtet haͤtte / dieſelbige nebſt ſeinen vorigen Vermoͤgen wie - dernehmen / und ihn an den Bettelſtab bringen / aber dabey bereden wolte / was man ihm fuͤr eine Gutthat bewieſen haͤtte.

20.

Und weil demnach / wie wir bald hoͤren werden / alle ſehr empfindliche Vermehrung des menſchlichen Veꝛmoͤgens entweder der Dau - erung des gantzen oder eines andern Vermoͤgens einen mercklichen Abbruch thut / ſo iſt dieſelbe or - dentlich fuͤr boͤſe und nicht gut zu achten.

21.

Hieraus folget nothwendig / daß (1) alle Dinge fuͤr gut oder boͤſe zu halten / nach dem dieErhal -11das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.Erhaltung der Daue rung des Menſchen da - durch erlaͤngert oder verkuͤrtzet wird.

22.

(2) Daß ein knrtzes Gute / das mit ei - nem dauerhafftern Ubel nothwendig oder ſehr wahrſcheinlich vergeſellſchafftet iſt / fuͤr boͤſe und nicht fuͤr gut zu halten ſey / und das Gegentheil von einem kurtzen Ubel / das mit einem dauer - hafften Gute vergeſellſchafftet iſt / muͤſſe geſagt werden. Und gehet es disfals nicht anders zu als in Ausrechnung des Gewinſts und Verluſts in einer Handlung.

23.

(3) Daß der vorige Satz dahin zu erwei - tern ſey / es moͤge nun das kurtze Gute oder Boͤſe vor dem dauerhafften Boͤſen oder Guten mit dem es vergeſellſchafftet iſt / vorhergehen oder daꝛauf folgen / wie abeꝛmals duꝛch das Gleichniß von Gewinn und Verluſt erklaͤhret werden kan.

24.

(4) Daß in Entſcheidung der unterſchie - denen Grade des Guten und Boͤſen / auch die - ſelbe von der Dauerhafftigkeit derſelben herge - nommen werden muͤſſe.

15.

(5) Daß dasjenige / was die Dauer - hafftigkeit einer menſchlichen Krafft befoͤr - dert / am andern Theil aber eine andere noch dauerhafftiger verringert unter boͤſe Dinge zu rechnen ſey / & vice versâ.

26.

Und hieraus erlernen wir abermahls den Unterſcheid einns Menſchen der in præjudiciis ſteckt / und eines weiſen Mannes erkennen. Was die menſchlichen Kraͤffte augenblicklich /und12Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitund daß man es ſo zu ſagen greiffen kan / ver - mehret oder verringert / das wird auch von denen Unvernuͤnfftigſten fuͤr gut oder boͤſe gehalten: Wo aber die Wirckung der Vermehrung oder Verringerung nicht ſo augenſcheinlich zu ſpuͤh - ren / oder auff die Applicirung der aͤußerlichen Dinge an den Menſchen langſam erfolget / das betrachten die Unweiſen nicht / da hingegentheil einer der das wahre Gute auffrichtig ſuchet / ſich darumb eyfferig bekuͤmmert / weil er verſpuͤh - ret / daß durch Unterlaſſung dieſer hochnoͤthigen Unterſuchung dem menſchlichen Leben der groͤſte Schade geſchiehet.

27.

Denn es gehet dißfalls faſt eben ſo zu / wie mit der Erkaͤntniß der Wahrheit und denen Jrrthuͤmern. Was unmittelbahr durch die Sinnen begriffen wird oder denenſelben zuwider iſt / das begꝛeiffen ja auch die jenigen die ungelehꝛt ſeyn / und die noch in denen Præjudiciis ſtecken / was aber die aus unſtreitigen Warheiten herge - leitete entfernete oder wahrſcheinliche Lehrſaͤtze anlanget / darzu iſt die behutſame Attention ei - nes weiſen Mannes alleine geſchickt.

28.

Derowegen muß bald Anfangs ein junger Menſch / der in Erkaͤntniß des Guten und Boͤſen was rechtſchaffenes thun wil / dieſes was wir bis - her demonſtriret / als einen ohnzweiffelhafften Grund feſte ſetzen / daß das jenige alleine gut ſey / was des Menſchen Weſen und Kraͤffte am dau erhaffteſten erhaͤlt / und vermehret /es13das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.es moͤge nun dieſe Erhaltung und Vermeh - rung ſich alſobald ereignen / oder erſt eine geraume Zeit hernach zu ſpuͤhren ſeyn / und daß dasjenige wuͤrcklich boͤſe ſey / was eine dau - erhaffte Verꝛingerung oder gaͤntzliche Austilgung des menſchlichen Weſens und ſeiner Kraͤffte ver - urſachet / ob gleich dieſe Verringerung und Austil - gung erſt eine geraume Zeit hernach ſich blicken laͤſt / oder eine gegenwaͤrtige augenblickliche und ſehr empfindliche Bermehrung derſelben vorher zu gehen ſeheinet.

29.

So leichte aber als die Warheit dieſes Grundes zu begreiffen iſt / umb ſo viel deſtomehr muß ein junger Menſch beobachten / daß er in Applicirung deſſelbigen niemahln davon ab - weiche / je gewoͤhnlicher das Vortheil dem menſchlichen Geſchlechte eingewurtzelt iſt / daß ſo wohl Hohen als Niedern Standes / Gelehrt und Ungelehrt / Alt und Jung alleine nach ſolchen Dingen trachtet und verlanget / die eine gegen - waͤrtige und merckliche Vermehrung der natuͤr - lichen Kraͤffte nach ſich ziehen / und in Gegentheil fuͤr andern Dingen einen Eckel hat / die leine dau - erhaffte aber entfernete und nicht ſo leichte zu ſpuͤ - rende Erhaltung des Menſchen wuͤrcken / welches theils von denen boͤſen und unweiſen Exempeln derer andern Menſchen / mit denen wir taͤglich von Jugend auff umbgehen / und derer Nachah - mung zu einer andern Natur bey uns wird / theils aus der von Jugend auff uns anklebenden Unge -dult14Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitdult / unſer Verlangen ohne ſondere Muͤhe ge - ſchwinde und mercklich zu erhalten / herruͤhret /

30 /

Wie aber dasjenige / was wir bisher zum Grunde geleget aus der Lehre von dem Guten und Boͤſen uͤberhaupt / und ſo ferne ſolches al - le Creaturen angehet / hergenommen iſt; Alſo muͤſſen wir nun denen Grund-Lehren von dem Guten und Boͤſen der Menſchen etwas naͤher kommen / und zufoͤrderſt aus dem / was wir all - bereit in der Vernunfft-Lehre / da wir von denen Borurtheilen geredet / angemercket haben / præ - ſupponiren / daß des Menſchen Natur und Weſen von ſeiner Geburt an in der groͤſten Unvollkommenheit ſtecke.

31.

Wie nun alle Dinge auff der Welt durch eine ſtetswehrende Bewegung erhalten werden / und ohne dieſelben nichts als ein veꝛwirꝛtes Chaos ſeyn wuͤrden; Alſo beſtehet auch des Menſchen ſeine Natur in eine dergleichen Bewegung / der GOtt / wie bey andern Dingen / gewiſſes Maß / Ziel und Weiſe vorgeſetzet / nach wel - cher der Menſch aus einen unvollkommenen Weſen in ein vollkommenes / und von dar wie - der bis auff ſein Alter in ein unvollkommenes geſetzt wird.

32.

Dieſe Bewegung hat ſonderlich zweyer - ley Eigenſchafften / (1) Daß ſie entweder ſtei - get oder faͤllet / das iſt / daß dadurch entweder die Dinge und alſo auch der Menſch theils in ſei - nem gantzen Weſen / theils in ſeinen Kraͤfften ent -weder15das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.weder zu - oder abnimmt / und daß dannenhero wenn ein Ding nicht mehr zunehmen kan / es nothwendig wieder abnehmen muß. (2) Daß ſie eine gewiſſe und mehr langſame als geſchwinde Proportion, die aus vielfaͤltigen kleinen Graden beſtehet / beobachtet / wie etwan in einem Uhrwerck die Bewegung deſſelbigen in gewiſſe Augenblicke abgetheilet wird / welche wenn ſie von dem Menſchen uͤberſchritten wer - den / ſeinem Weſen eben ſo ſehr Schaden dadurch zugefuͤget wird / als wenn man an denen Redern eines Uhrwercks kuͤnſtelt / daß ſie geſchwinder lanffen ſollen / als die Hand des Kuͤnſtlers ver - ordnet hatte.

33.

Gleich wie aber die von GOtt allen Din - gen und folglich auch dem Menſchen fuͤrgeſetzte Dauerhafftigkeit ſeine Graͤntzen hat die der Menſch nicht uͤberſchreiten kan / und ſolcher ge - ſtalt an ſich ſelber gut iſt / alſo wird ſie doch laͤg - lich auch von dem Menſchen zum Grunde des Boͤſen gemacht / ſo ferne er durch unrechte Appli - cirung der aͤußerlichen Dinge / entweder wenn er in Abnehmen iſt / dieſe Bewegung gar zu ge - ſchwinde beſchleuniget / oder aber / wenn er noch zu ſeiner Vollkommenheit waͤchſt / auch dieſe entweder verhindert / und ſein Abnehmen ver - urſacht / ehe er noch vollkommen worden / oder gleichfalls dieſelbe allzugeſchwinde befoͤrdert / und die gewoͤhnliche Zeit aus Ungedult nicht er - warten kan.

34. Denn16Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit

34.

Denn daß auch dieſe letzte Art der Be - wegung nicht gut / ſondern boͤſe ſey / flieſſet dar - aus / weil dadurch des Menſchen ſeine Daue - rung verkuͤrtzet wird / in dem / wie wir jetzo er - wehnet / er nothwendig zu ſeinem Ende ſich na - hen muß / wenn er nicht mehr zunehmen kan. Zu geſchweigen daß durch die allzumerckliche Befoͤr - derung der Vollkommenheit die von GOtt ver - ordneten Grade der natuͤrlichen Bewegung uͤber - ſchritten / und alſo auch in dieſem Stuͤck das En - de ſeiner Dauerung befordert wird.

35.

Ferner weil der Menſch aus unterſchiede - nen Theilen des Leibes beſtehet / die ihre unter - ſchiedene Wirckung haben / auch etliche durch unterſchiedene Arten der Bewegungen oder durch die Beruͤhrung unterſchiedener außerlichen Din - ge erhalten werden / ſo iſt offenbahr / daß die na - tuͤrliche Bewegung der menſchlichen Glied - maſſen eine ſtete und harmoniſche Veraͤnde - rung erfordere / und dadurch die Kraͤffte in de - ſto beſſerer Dauerung und Vollkommenheit er - halten werden koͤnne / und daß anderſeits eine continuirliche Bewegung oder Ruhe eines Glieds boͤſe ſey / weil ſie ſolches entweder zu fernerer Bewegung untuͤchtig macht oder ein - ſchlaͤffert.

36.

Gleicher geſtalt iſt auch dieſes unter die boͤſen Dinge zu rechnen / wenn man die menſchli - chen Kraͤffte entweder ſtetswehrend auff ein gewiſſes Ding appliciret / oder gar zu offte undgeſchwin -17das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.geſchwinde dieſelbe auff unterſchiedene und zumahln widerwaͤrtige Dinge fallen laͤſt / weil dadurch die von GOtt eingefuͤhrte harmoniſche Veraͤnderung auff beyderley Weiſe veraͤndert wird.

37.

Dieſes / was wir bisher angemercket / et - was deutlicher zu begreiffen / ſo beſtehet des Menſchen Weſen theils in einem Leibe / der von der Machine des Leibes der Beſtien nicht allzuſehr enſchieden iſt / theils in einer Seele / die da dencket.

38.

Jn der Machine ſeines Leibes iſt zufoͤr - derſt des Leibes Leben zu betrachten / welches in eineꝛ proportionirlichen Bewegung des Gebluͤts und anderer Saͤffte in denen Blut - und Puls - Adern / und andern innerlichen Theilen beſtehet.

39.

Dieſes Leben iſt nicht alleine gut / ſon - dern auch der Grund alles Guten; und was daſſelbige erhaͤlt / das iſt / was die / von Gott geordnete Proportion befoͤrdert / und die Be - wegung des Gebluͤts und anderer Saͤffte weder hemmet noch allzugeſchwinde fort treibet / iſt auch gut; was aber dieſelbe langſam macht / oder allzuſehr ſchaͤrffet / das liſt boͤſe.

40.

Der Tod iſt theils boͤſe theils gut. Boͤſe / ſo ferne durch des Menſchen Vorſatz oder Nach - laͤßigkeit ſeine Dauerung unterbrochen wird. Gut ſo ferne derſelbe nichts mehr andeutet / als das natuͤrliche Lebens Ende. Denn das Leben iſt gantz gut / und alſo auch deſſelben Ende / undBwir18Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitwir haben nur jetzo geſagt / daß alle von GOtt ge - ſetzte Graͤntzen gut ſeyn.

41.

Hiernechſt hat der Menſch auch Senn - Adern / die mit ſubtilen geiſtigen Coͤrpern ange - fuͤllet ſeyn / und ſich im Gehirne vereinigen / von dar aber in alle innerliche und aͤußerliche Glied - maffen des Leibes ausgetheilet ſind / und durch welche ſo wohl das Viehe als der Menſch ſich aͤußerlich beweget / auch durch deren Beruͤh - rung von denen aͤußerlichen Coͤrpern / ſo wohl bey Menſchen als Viehe / eine gewiſſe Bewegung in dem Gehirne entſtehet / die der gemeine Mann Sinnligkeiten zu nennen pfleget.

42.

Dieſe Bewegungs-Krafft und ſo ge - nannten Sinnligkeiten ſind gleichfals gut / und der Mangel oder Beraubung derſelben / als die Blindheit / Taubheit / der Schlag-Fluß u. ſ. w. ſind boͤſe; wie nicht weniger alles was die Be - wegungs-Krafft und Sinnligkeiten ſtaͤrcket und erhaͤlt / iſt gut / was ſie aber verringert / iſt boͤſe.

43.

Und dieſes Gute und Boͤſe hat der Menſch mit denen unvernuͤnfftigen Thieren gemein.

44.

Endlich aber denckt der Menſche / das iſt / er begreifft unterſchiedene Bewegungen aͤußerli - ther Dinge / er behaͤlt ſelbige in ſeinen Gedancken / er ſetzt ſie zuſammen / ſondert ſie von einander / er zehlet ſie und miſſet ſie ab. Und dieſes heiſt man die Vernunfft / die den Menſchen von andern Thieren unterſcheidet.

45. Und19das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

45.

Und gleich wie dieſe als das Hauptweſen des Menſchen ohnſtreitig gut iſt; alſo iſt auch die Beraubung derſelbigen / welche man Raſe - rey oder Wahnwltz nennet / ſo wohl auch ihre Verringerung oder die Thorheit / Jrrthum / Un - vernunfft u. ſ. w. boͤſe. Und was die Vernunfft ſtaͤrcket und erhaͤlt / iſt gut / was ſie aber ſchwaͤchet oder verringert / iſt boͤſe.

46.

Ferner ſo iſt vermittelſt dieſer ſeiner Ver - nunfft der Menſche von denen andern Thieren entſchieden / daß die Vernunfft nicht alleine das Gute und Boͤſe erkennen / ſondern auch aus un - terſchiedenen Guten das Boͤſe erwehlen / und der aͤußerlichen Bewegungs-Krafft gleichſam anbe - fehlen kan / das Gute zu ergreiffen und fuͤr dem Boͤſen zu fliehen / oder daſſelbige von ſich abzu - wenden / da hingegentheil die unvernuͤnfftigen Thiere alles deſſen ermangelen.

47.

Dieſes Vermoͤgen iſt wiederumb gut / und heiſt der Wille des Menſchen / oder ſeine in - nerliche Freyheit / und was dieſelbe vermehret und beſſert iſt wiederumb gut / was ſie aber ver - ringert / iſt boͤſe.

48.

Bisher haben wir den Menſchen in An - ſehen ſeines eigenen Weſens Betrachtet; Nun muͤſſen wir auch ein wenig naͤher auf die Dinge / die außer ihme ſind reflectiren / und von derer - ſelben ihre Wuͤrckung in der Natur des Men - ſchen etwas reden.

B 249. Al -20Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit

49.

Alles was von auſſen den Menſchen be - ruͤhret / das beruͤhret unmittelbahr die aͤußerli - chen Sinnligkeiten / und dannenhero weil dieſe Wuͤrckung am allergegenwaͤrtigſten iſt / wird auch das Gute und Boͤſe derſelben von denen unvernuͤnfftigen Menſchen empfunden / und in Anſehen der gegenwaͤrtigen Beluſtigung oder Verletzung fuͤr gut und boͤſe gehalten.

50.

Wenn die aͤuſerlichen Dinge durch die aͤußerlichen Sinnligkeiten den Leib des Men - ſchen geruͤhret / ſo entſtehet hernach auch durch die Fortſetzung dieſer Bewegung eine Beruͤhrung des Gebluͤts und der andern innerlichen Saͤffte / wiewohl das Gute und Boͤſe / ſo durch dieſe Beruͤhrung verurſachet wird / wehrentheils nicht ſo handgreifflich zu ſpaͤren iſt / ſondern die Vermehrung und Verringerung der menſchli - chen Kraͤffte disfalls offte ſehr entfernet und zu - kuͤnfftig zu ſeyn pflegen; dannenhero auch nicht ein jeder unvernuͤnfftiger und in denen Vorur - theilen annoch ſteckender Menſch capabel iſt da - von zu urtheilen / ſondern hierzu eine ſonderliche Attention und Weißheit erfordert wird / und zwar deſto mehr Weißheit / je weiter die Wuͤr - ckung dieſer Beruͤhrung der aͤußerlichen Dinge von deren Anfang entfernet iſt.

51.

Endlich weil auch die Gedancken des Menſchen mit dem Leibe genau verknuͤpfft ſeyn / und dasjenige nicht alleine Was die Sinnligkei - ten ſcharff beruͤhret / auch zugleich die Gedanckenmit21das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.mit beweget / ſondern auch die Alterirung der geiſtigen Coͤrper in dem Gehirne zugleich die Gedancken ſelbſt in einen munteren oder ſchlaͤffrigen und tummen Zuſtand ſetzet / ſo iſt dan - nenhero einem vernuͤnfftigen Menſchen deſto - mehr daran gelegen / die entferneten und zukuͤnff - tigen Veraͤnderungen / die durch Beruͤhrung der aͤußerlichen Coͤrper in ſeinem Leibe verurſacht werden / ſo genau als es moͤglich iſt / zuwiſſen und zu begreiffen.

52.

Es wird aber dasjenige / was wir allbereit oben zum Grunde geſetzt haben / folgende Anmer - ckungen an die Hand geben. Alle Objecta de - rer Sinnligkeiten / die bey dem Menſchen keine neue auſſer-ordentliche und ſehr em - pfindliche Bewegung verurſachen / ſondern nur ſeine natuͤrliche Bewegung in einem ru - higen Zuſtande erhalten / ſind gut; Und alle Bewegungen derer Sinnligkeiten die gar zu empfindlich ſind / oder die die Sinn en gar zu ſtarck bewegen / verderben die Senn-Adern der ſinnlichen Gliedmaſſen / und derhalben ſind ſie boͤſe.

53.

Sprichſtu: Woran erkenne ich es aber / ob die Bewegung in denen zur Sinnligkeit ge - widmeten Gliedmaſſen allzuſtarck / oder der na - tuͤrlichen Bewegung gleichfoͤrmig ſey? So kan ich dir disfals keine andere Antwort geben / als daß dir ſolches deine innerliche Verſicherung am beſten ſagen werde / und daß man disfalls kei -B 3ne22Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitne allgemeine Regel uͤberhaupt geben koͤnne / weil die ordentliche Bewegung bey einem Menſchen nicht in einem Grad iſt wie bey dem andern / ſon - dernbey nahe auf ſo vielfaͤltige Art variret als Menſchen ſeyn / welche Veraͤnderung theils von dem Alter / theils von der Landes-Art / theils von der Gewohnheit u. ſ. w. herruͤhret. Und ſolcher geſtalt darff ein jeder nur auff ſich ſelbſt Achtung geben / ob er eine merckliche und zuvorher ungewohnte Alteration bey ſich empfindet oder nicht.

54.

Hieraus folget / daß die mitlern Bewe - gungen zwiſchen den allzuſtarcken und ordentli - chen boͤſe ſeyn / wenn ſie denen allzuſtarcken naͤher kommen / und fuͤr gut muͤſſen gehalten werden / wenn ſie denen ordentlichen nahe ſind.

55.

Es kan aber dieſe ordentliche Bewe - gung der ſinnlichen Gliedmaſſen wohl boͤſe werden / wenn ſie allzulange continuiret wird / weil dadurch die Bewegung der andern Sinnligkeiten / die nach der Weißheit des Schoͤpffers / als wir oben erwehnet / mit andern durch eine anmuthige Veraͤnderung abwechſeln ſolten / gehindert wird.

56.

gleiche Bewandniß hat es mit der Be - wegungs-Krafft der aͤußerlichen Gliedmaſ - ſen. Eine maͤßige Bewegung / die nicht ſehr empfunden / und nicht allzulange continuiret wird / iſt gut / eine allzuſehr empfindliche oder lang continuirte aber / iſt boͤſe.

57. Fer -23das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

57.

Ferner was die Bewegung des Gebluͤts betrifft / ſo iſt dieſes fuͤr boͤſe zu halten / wodurch des Menſchen Gebluͤt gar zu ſehr / oder gar zulang - ſam beweget wird; Was die Bewegung des Gebluͤts in ſeinem ordentlichen Zuſtand erhaͤlt / iſt gut. Auſſer daß man hier nicht ſagen kan / daß die ordentliche Bewegung des Gebluͤts / wenn ſie lange continuiret wird / boͤſe ſeyn ſolle: Weil der Menſch nur einerley Bewegung des Gebluͤts hat / ohne welches er nicht leben kan / aber im gegentheil vielerley Arten der Sinnlig - keiten von Gott erhalten / die ſie nicht alle zugleich bewegen koͤnnen / ſondern eine nach der andern ſich bewegen muß

58.

Endlich was die Gedancken des Men - ſchen gar zu ſehr ſchaͤrffet / oder gar zu ſehr turbi - rit / iſt boͤſe / was aber dieſelbe in einer proportio - nirlichen Bewegung erhaͤlt / iſt gut: Ja was die - ſe Bewegung allzulang continuiret / iſt auch boͤſe / weil die Gedancken nicht nur den Menſchen gegeben ſind / vielfaͤltige und unterſchiedene Din - ge zu bedencken / ſondern auch zu ihrer Erhaltung eine mit der Bewegung abwechſelnde Ruhe erfordern.

59.

Dieſes waͤre alſo das vornehmſte / das in Betrachtung der aͤußerlichen Ding uͤber - haupt anzumercken waͤre: Wollen wir nun ferner dieſelben inſonderheit noch ein wenig be - ſchuen / wird es am fuͤglichſten geſchen / wenn wir dieſelbige in drey Claſſen eintheilen / derenB 4etliche24Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitetliche unter den Menſchen ſind / als die Thiere / Pflantzen / u. ſ. w. etliche neben ihm / als andere Menſchen / und endlich das hoͤchſte Weſen uͤber ihm / nemlich GOtt.

60.

Was die Dinge die unter ihm ſeyn be - trifft / ſo wird ein jeder vermittelſt einer geringen Auffmerckung gar leichte begreiffen koͤnnen / daß der Menſch zur Erhaltung ſeiner Dauerung und ſeiner natuͤrlichen Kraͤffte ſo viel Dinge eben nicht von noͤthen habe / zum wenigſten ſehr vieler gar fuͤglich miſſen koͤnne.

61.

Denn zu Erhaltung ſeiner, Lebens-Gei - ſter und der Kraͤffte in ſeinem Leibe braucht er zwar Speiſe und Tranck / aber hievon iſt ſchon ein alt Sprichwort bekant / daß die Natur mit wenigen vergnuͤgt ſey: Zu Erhaltung der an - dern aͤuſſerlichen Sinne des Geſichts / Gehoͤrs / Geruchs / Geſchmacks und Gefuͤhles wird ſehr wenig Reichthum erfoꝛdert / ſondern die Natur des Menſchen kan ſich disfalls an fremden Din - gen / oder die dem Eigenthum der Menſchen nicht unterworffen ſind / begnuͤgen. Und endlich ſo iſt wohl aus gemacht / daß derjenige / ſo wenig iſſet und trincket / auch die Beluſtigung der Sinnen maͤßiglich braucht / an juſteſten und accurateſten zu gedencken geſchickt ſey.

62.

Es wird zwar dieſe Anmerckung in praxi faſt durchgehends bey dem menſchlichen Ge - ſchlecht fuͤr laͤcherlich gehalten / u. im gegentheil geglaubet / der Menſch muͤſſe viel Dinge zu Er -hal -25das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.haltung ſeines Weſens haben. Allein dieſes Borurtheil ſcheinet theils aus der irrigen Mei - nung entſproſſen zu ſeyn / als wenn Gott alle Crea - turen dem Menſchen zu gute / (das iſt / zu Erhal - tung ſeines Weſens) geſchaffen haͤtte; Theils auch aus einer uͤbelen Gewohnheit / oder ſonſten aus einer eitelen Einbildung.

63.

Wiederum iſt kein Zweiffel / daß die mei - ſten Dinge und zwar auf vielfaͤltige Weiſe dem Menſchen ſchaden koͤnnen / und daß dan - nenhero der Menſch groſſe Urſache habe dieſelbi - gen zu meiden.

64.

Nichts deſto weniger muß man die an - dern Geſchoͤpffe mehr unter die guten Dinge als unter die Boͤſen rechnen / weil gleichwohl der Menſch zu ſeiner Dauerung etlicher dererſelben nicht entbehren kan / die uͤbꝛigen aber dem Men - ſchen nicht in Anſehen Jhrer ſelbſt ſchaden / ſon - dern nur daß ſie unrecht appliciret werden / welche unrechte applicirung entweder der Menſch ſelb - ſten thut / oder doch demſelben nicht ohne ſeine gaͤntzliche Schuld mehrentheils wiederfaͤhret.

65.

Aber bey dem Menſchen wird mehr an - zumercken ſeyn. Ohne andere Menſchen waͤre der Menſch hoͤchſt elende / denn er wuͤrde ent - weder ohne anderer Menſchen Huͤlffe nicht Le - ben koͤnnen / oder doch ein verdrießliches Leben fuͤhren. Ja er wuͤrde der meiſten / wo nicht aller ſinnlichen Beluſtigungen entbehren muͤſſen / als welche andeꝛe Menſchen præſupponiren. EndlichB 5wuͤr -26Das 1. Haupſt. von der Gelahrheitwuͤrden ihm auch die Gedancken wenig helffen oder nuͤtze ſeyn; Denn die Gedancken beſtehen aus einer innerlichen Rede / die innerliche Rede entſtehet von einer aͤußerlichen / die aͤußerliche nutzet gar nichts / wenn keine menſchliche Geſell - ſchafft waͤre.

66.

Aber deswegen muß man nicht alsbald zuplumpen / und andere Menſchen ohne Un - terſcheid als etwas gutes betrachten; Zu - mahl wenn man erweget / daß dem Menſchen auch don andern Menſchen groſſer Verdruß angethan werden kan / indem ein Menſch den andern toͤdten / denen Sinnligkeiten viel Unluſt zufuͤgen / und dieſelben martern kan. Ja indem taͤglich einer des andern ſeinen Verſtand durch Beybringung vieler Jrꝛthuͤmer / durch Betrug im Handel und Wandel / u. ſ. w. wie nicht weniger ſeinen Willen durch Verfuͤhrung zu Laſtern und boͤſen Exempeln verletzet.

67.

Gleichwohl kan ſich auch der Menſch im Gegentheil anderer Menſchen beſſer als aller andern Creaturen bedienen / ſein Leben zu erhalten / zu verlaͤngern / ſich zu vergnuͤgen / und am allermeiſten ſeine Venunfft zu ſaubern / und ſeinen Willen durch gute Exempel auszubeſſern.

68.

Und alſo iſt der Menſch mehr unter die guten Dinge anderer Menſchen / als unter boͤſe zu rechnen.

69.

Wiederumb iſt kein Zweiffel / daß dis - falls der Menſch fuͤr andern Thieren etwas ſon -derli -27das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.derliches habe / daß ihm unter ſeines gleichen Menſchen ein Menſch beſſer anſtehet als der andere / woraus eine abſonderliche Freund - ſchafft oder Liebe entſtehet.

70.

Und zwar ſo geſchiehet ſolches aus vieler - ley Urſachen / entweder wegen einer abſonderli - chen Duͤrfftigkeit / oder wegen Beluſtigungen der Sinnen / oder wegen Ubereinſtimmung der Gedancken oder des Willens.

71.

Jm uͤbrigen ſind alle Menſchen einander von Natur gleich / und die Ungleichheit der Staͤn - de iſt entweder aus Mangel oder wegen dringen - der Noth eingefuͤhret worden. Dannenhero ſteckt es in des Menſchen Natur / daß er ſo viel als moͤglich trachtet ſeine Gleichheit zu erhalten. Und entſtehet daher ein abſonderliches Gut / das man Freyheit zu nennen pfleget.

72.

Nichts deſtoweniger lebet der Menſch von Jugend auff unter lauter Ungleichheit / und dieſe Gewohnheit wird bey ihm gleichſam zur an - dern Natur. Dannenhero traͤget er Verlangen entweder andern die uͤber ihm ſind / gleich / oder de - nen die ſeines gleichen ſind vorgezogen zu weꝛden / welches man die Ehrbegierde zu nennen pfleget.

73.

Dieweil aber der wahrhafftige Grund an - dern gleich geachtet oder vorgezogen zu werden / in dem rechten Gebrauch der Vernunfft / das iſt / in rechtſchaffener Erkaͤntniß und Ausuͤbung des Wahren und Guten beſtehet; So iſt dieſe Be - gierde nur in ſo weit fuͤr gut zu achten / ſo ferne ſieſich28Das 1. Huptſt. von der Gelahrheitſich in dieſen Mitteln gruͤndet / weil der Menſch dabey niemahls ſeinen Schaden oder Ubel leiden kan.

74.

So ferne ſie ſich aber auff etwas anders gruͤndet / iſt ſie boͤſe / weil ſie nicht dauerhafftig ſeyn kan.

75.

Ja wenn der Menſch ſeine Vernunfft recht gebrauchet / wird er auch die Ehrbegierde der erſten Art mehr fuͤr indifferent als fuͤr was gu - tes achten / weil auch ohne die aͤußerliche Gleich - achtung der Vorziehung weder ſeinem Leben / noch ſeinen Sinnligkeiten / noch dem Gebrauch ſeiner Vernunfft etwas abgehet.

76.

Aus der obangefuͤhrten Ungleichheit / der Staͤnde der Menſchen iſt ferner die Einfuͤhrung des Eigenthums der Guͤter in dem menſchli - chen Geſchlecht entſtanden / daraus iſt hernach - mahls nothwendig eine Ungleichheit des Vermoͤ - gens erwachſen / und folglich auch ein Mangel derſelben oder Duͤrfftigkeit. Dieſe hat die Menſchen genoͤthiget das Geld einzufuͤhren / durch welches man alles / weſſen man beduͤrfftig iſt / anſchaffen kan. Dannenhero iſt die gemeine Begierde anderen gleich geachtet oder ihnen vor gezogen zu werden / ordentlich mit der Be - gierde uach Gelde oder Reichthum verge - ſellſchafftet.

77.

Dieſe iſt fuͤr gut zu achten / ſo ferne ſie nach den Regeln der geſunden Vernunfft einge - richtet iſt / und das erworbene Gut recht gebrau -chet /29das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.chet / fuͤr boͤſe aber / wenn ſolches nicht ge - ſchiehet.

78.

Ja weil ein Menſch der ſeinen Verſtand recht brauchet / gar leichte enkennet / daß er ohne Reichthumb gar wohl ſeyn / und ſeine Guͤter ge - brauchen koͤnne / (indem wir allbereit oben erweh - net / daß der Menſch nicht viel eigenes zu ſeiner Dauerung gebrauche) ſo wird er auch den Reichthum mehr fuͤr ein indifferent Ding / als fuͤr ein nothwendig Gut achten.

79.

So iſt auch endlich aus Einfuͤhrung des Unterſcheids der Staͤnde / ſo wohl auch aus de - nen unterſchiedenen Graden der Vortrefflichkeit der Menſchen / und aus der dem Menſchen einge - pflantzeten Geſelligkeit eine Begierde entſtanden / daß die Geringerern die Oberern und Vortreffli - chern hochgeachtet / und dieſe ihre Hochachtung zu erweiſen nicht alleine freywillig viel aͤußerliche Zeichen erfunden / durch ihr Thun und Laſſen die - ſelbſten zu erkennen zu geben / ſondern auch frey - willig der obern und vortrefflichern Menſchen ihr Thun und laſſen zu imitiren angefangen / welches man eine Ehrbezeigung / Hoͤffligkeit / Com - plaiſance, u. ſ. w. nennen kan / woraus ein abſon - derlich Weſen / das die Lateiner Decorum nen - nen / entſtanden / auch alle Schamhafftigkeit daher ihren Urſprung nimmet.

80.

Dieſes Decorum und die aus Verletzung deſſelben entſtandene Schamhafftigkeit iſt ſo ferne ſie die weiſen und tugendhafften Leute vordie30Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitdie trefflichſten haͤlt / und derenſelben Thaten imi - tiret / ein warhafftiges Gut. So ferne ſie aber die Laſterhafften und Gewaltigſten zum Spiegel braucht / iſt es ein Ubel; So ferne es aber auf die Nachahmung indifferenter Dinge zielet / iſt es an ſich ſelber mehr ein eiteles Nichts als was gutes / jedoch wird es ex hypotheſi, weil wir unter lauter eitelen Leuten leben / billig fuͤr was gutes geachtet / weil die Unterlaſſung deſ - ſelben dem Menſchen ſchaͤdlich iſt / und er ohne die - ſem decoro in vita civili ohnmoͤglich fortkom̃en kan / wie wir an ſeinem Orth mit mehrern erwei - ſen werden.

81.

Nun iſt GOtt noch uͤbrig. Von dieſem hat der Menſch ſein Weſen bekommen / und wird noch von ihm augenblicklich in ſeiner Dauerung erhalten. Jhm allein hat er die aͤußerlichen Dinge / die zu ſeiner Dauerung nach dem ordent - lichen Lauff der Natur etwas contribuiren zu dancken / und alſo ſtehet GOTT unter allen Guten billig oben an.

82.

Und obſchon der Menſch gleichfalls erken - net / daß GOtt ihn aller ſeiner Guͤter wieder be - rauben / und den groͤſten Schaden zufuͤgen koͤnne; ſo darff er doch GOtt nicht unter die boͤſen Din - ge / oder fuͤr die Urſache des Boͤſen rechnen / weil er gar wohl begreiffet / daß er der Menſch durch ſeine eigene Schuld alle die Ubel / die von GOtt herruͤhren ſich uͤber den Halß ladet -

83. Denn31das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

83.

Denn der Menſch kan auch aus dem Licht der Natur erkennen / daß GOtt fuͤr ſeine Wohlfahrt Sorge trage / und daß er auch in die - ſem Leben (denn von dem zukuͤnfftigen weiß die Menſchliche Vernunfft nichts) ihn / nach dem er ſein Leben anſtellet / mit Gnten oder Boͤſen belohnen oder beſtraffen wolle.

84.

Deshalben muß er auch nothwendig fuͤr gut halten / daß er nach Gottes Willen / den er ihm in dem Recht der Natur offenbahret / ſein Thun und Laſſen einrichte / und fuͤr boͤſe / wenn er demſelben widerſtrebet / weil er weiß / daß auff jenes die Belohnung / auff dieſes aber die Straffe folgen werde / und daß die Goͤttliche Belohnung und Straffe viel dauerhafftiger ſey als ein gegenwaͤrtiges und augenblickliches Ubel oder Gut.

85.

Worzu noch ferner kommt / daß er erken - net / wie das Recht der Natur in der allgemeinen Gluͤckſeligkeit des Menſchlichen Geſchlechts ge - gruͤndet ſey / weshalben er deſtomehr fuͤr etwas gutes halten muß / daß er ſein Leben nach Gottes Willen einrichte / weil unter der allgemeinen Gluͤckſeeligkeit auch ſeine eigene mit begriffen wird.

86.

Wenn er demnach ſein Leben nach Gottes Willen einrichtet / ſo heiſſet ſolches ein tugend - haſſtes Leben / zu dieſem aber kan er nicht gelan - gen / wenn ſein Verſtand nicht zu vorher durch die Gelahrheit ausgebeſſert iſt. Derowegeniſt32Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitiſt die Tugend und Gelahrheit / abſonderlich aber (wie wir allbereit in der Ausuͤbung der Veꝛnunfft - Lehre erwieſen) die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt was gutes / und hingegentheil das Laſter / die Unwiſ - ſenheit / und der Jrrthum / ſo wohl auch die Ge - lahrheit / die man mit Unterlaſſung der Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt in denen andern Geſchoͤpffen ſucht / was boͤſes.

87.

Aus dem / was wir bisher geſagt / werden wir gar deutlich die gemeinen Eintheilungen des guten verſtehen koͤnnen / die ſonſt ziemlich ſchwer und dunckel von denen / die ſich derſelben bedienen fuͤrgebracht werden. Jnsgemein ſagt man / daß dreyerley Guͤter der Menſchen ſeyn / die Guͤter ſeiner Seelen / die Guͤter des Leibes / und die Guͤter des Gluͤcks.

88.

Die Guͤter ſeiner Seelen ſind der rechte Gebrauch des Verſtandes und Willens / nemlich Weißheit und Tugend. Die Guͤter des Leibes ſind ſein Leben / ſeine Sinnlichkeiten und Bewe - gungs-Krafft / die Gantzheit ſeiner aͤußerlichen uñ innerlichen Gliedmaſſen / u. die rechte diſpoſition ſeines Gehirnes / weil von derſelben die Ver - nunfft dependiret / in Anſehen ſie durch die altera - tion des Leibes und abſonderlich des Gehirnes ſelber alteriret wird / und durch die Kranckheit des Leibes verringert oder turbiret werden kan / wel - ches alles zuſammen mit einem Worte die Ge - ſundheit des Leibes heiſt. Die Güter des Gluͤcks ſind Reichthum / Ehre / Freyheit und Freunde.

89. Alſo33das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

89.

Alſo ſieheſt du / daß wir alles bißhero ein - zeln erzehletes Gute unter die gewoͤhnlichen Claſſen gebracht haben / biß auff GOtt und das Decorum, die ſich nach der gemeinen Beſchrei - bung nicht fuͤglich zu einer von derſelben ſetzen laſſen. Was das Decorum betrifft / daran hat bißhero niemand gedacht / was es fuͤr ein Gut ſey / obgleich alle Philoſophi darinnen wider die Cy - nicos einig geweſen / daß uͤber die Tugend noch etwas anders ſey / das man in gemeinen Leben und Wandel als eine Richtſchnur in acht neh - men muͤſſe.

90.

Was GOtt betrifft / iſt es zwar denen Heydniſchen Philoſophen endlich zu uͤberſehen / daß ſie die Eintheilung der Guͤter des Menſchen ſo eingeſchrenckt / daß ſie das noͤthigſte darinnen verſehen / weil ſie insgeſamt wegen der Ver - miſchung der Welt-Weisheit und der falſchen Offenbahrung irrige Meinungen von GOtt ge - heget; daß man aber in Chriſtlichen Schulen dieſen Mangel ſo gelaſſen / wie man ihn gefun - den / iſt billig zu bewundern. Wir wollen uns aber nicht eben bekuͤmmern dieſe Eintheilung nach dieſen Anmerckungen auszubeſſern / ſondern lieber dieſelbe gar fahren laſſen / weil wir nicht ſehen / was dieſelbe fuͤr einen groſſen Nutzen habe.

91.

Ferner lehret man durchgehends in de - nen Schulen / qvod bonum ſit honeſtum, utile & jucundum, daß ein ehrbares / nuͤtzliches und be -Cluſti -34Das 1. H. von der Gelahrheitluſtigendes Gut ſey / und machet in Beſchrei - bung dieſer unterſchiedlichen Arten / ſo wohl auch in denen Exempeln den Unterſchied dererſelben mehr verwirret als deutlich / indem man dieſe fal - ſche Meinung hat / als wenn dieſe dreyerley Guͤ - ter wuͤrcklich voneinander unterſchieden waͤ - ren / da doch ihr Unterſchied nur darinnen beſte - het / daß das Gute in unterſchiedene Betrach - tung bald ehrbar / bald beluſtigend / bald nuͤtz - lich genennet werde.

92.

Denn alles warhafftige Gute (das Schein-Gut haben wir ſchon oben ausgemer - tzet) iſt nuͤtzlich / weil es den Menſchen in ſei - ner Dauerhafftigkeit erhaͤlt. So iſt es auch beluſtigend / wenn es der Menſche beſitzet / weil die Freude / Luſt und Vergnuͤgung nichts anders iſt / als die Genieſſung und Beſitzung des verlang - ten Guten. Endlich iſt es auch ehrbar oder zum wenigſten nicht unehrbar; denn die Erbarkeit gruͤndet ſich in dem gemeinen Nutzen des menſch - lichen Geſchlechts / und wir werden zu ſeiner Zeit bald darthun / daß / der ein ehrbares Leben fuͤh - ret / auch alleine ein recht luſtig und vergnuͤgt Le - ben empfinde. Und gleichwie alle Unehrbarkei - ten und Laſter dem gantzen menſchlichen Ge - ſchlecht ſchaͤdlich ſeyn / auch jeden Menſchen ſelbſt ruiniren; als wird es ſich auch bald weiſen / daß derjenige / der ein unvernuͤnfftiges Leben fuͤhret / auch zu der Zeit / da er ſich die groͤſte Luſt ein -bil -35das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.bildet / vielfaͤltigen ja unzehligen Verdrießlichkei - ten unterworffen ſey.

93.

Es krieget aber dieſes eintzige Gute unter - ſchiedene Nahmen / nachdem man es auff unter - ſchiedene weiſe betrachtet. Wenn man ſeinen Urſprung anſiehet / daß es von GOtt herkomme / und daß es von GOtt oder ſolchen Menſchen / die an GOttes Stelle auff dieſer Welt das Regi - ment fuͤhren / als eine Richtſchnur des menſchli - chen Thun und und laſſens vorgeſchrieben ſey / ſo heiſt es ein ehrbares Gut / wiewohl es auch manchmahl dieſe Benennung erlanget / wenn es nicht unehrbar / oder dieſer Richtſchnur nicht zu wieder iſt.

94.

Betrachte ich aber das Gute in Anſehen ſeiner ſelbſt und ſeiner Gegenwaͤrtigkeit / ſo heiſſet es ein beluſtigendes Gut.

95.

Endlich wenn ich ſeine Wuͤrckung be - trachte / ſo heiſſet es nutzlich / nemlich ſo ferne es ein neues Gute zuwegen bringet / oder das ge - genwaͤrtige continuiret.

96.

Und alſo iſt kein anderer Unterſchied un - ter dem nuͤtzlichen und beluſtigenden Guten / als daß jenes auff zukuͤnfftige Dinge / dieſes aber auff gegenwaͤrtige ſein Abſehen hat.

97.

Wolteſt du gleich ſagen / daß man ſich auch an vergangenen und zukuͤnfftigen Din - gen beluſtige / ja daß man mehr Vergnuͤgen an Betrachtung vergangener und zukuͤnfftiger Dinge / wo nicht allemahl doch oͤffters / als anC 2gegen -36Das 1. H. von der Gelahrheitgegenwaͤrtigen empfinde; Z. e. ein zaͤrtlich Ver - liebter; So wirſt du doch geſtehen muͤſſen / wenn du die Sache genau uͤberlegeſt / daß als denn erſt die Betrachtung vergangener Din - ge beluſtige / wenn wir uns dieſelben als noch gegenwaͤrtig / oder die doch leichte wieder ge - genwaͤrtig ſeyn koͤnnen / vorſtellen / und daß die Betrachtung zukuͤnfftiger Dinge uns beluſtige / wenn wir gedencken / daß ſie bald gegenwaͤr - tig ſeyn werden / und alſo muß man das gegen - waͤrtige allhier in einen etwas weitern Verſtande nehmen.

98.

Denn wenn ich das vergangene Gute als vergangen betrachte / und daß nicht mehr gegenwaͤrtig ſeyn wird / ſo erfreue ich mich nicht / ſondern ich betruͤbe mich / Gleichwie in Gegen - theil die Betrachtung des vergangenen Boͤſen uns beluſtiget. Und wenn ich das zukuͤnfftige Gute nur noch als zukuͤnfftig anſehe / ſo empſin - de ich keine Luſt darvon / ſondern ich habe nur ein Verlangen darnach.

99.

Daß man aber insgemein die nuͤtzlichen / beluſtigenden und ehrbaren Guͤter von einander abſondert / geſchiehet theils daher / daß man dieſe Guͤter nicht recht beſchreibet / theils daß man gantz offenbahr das Schein-Gut mit dem wah - ren Gute / theils auch endlich andere zufaͤllige und geringe Arten des Guten mit denen edel - ſten vermiſcht.

100. Man37das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

100.

Man ſagt / das nuͤtzliche Gut ver - lange man wegen eines andern / das beluſti - gende aber und das ehrbare wegen ſein ſelbſt. Alleine ſo ferne alles Gute eine beſtaͤndige Dauerung intendiret / muß es nothwendig we - gen eines andern verlanget werden; ſo ferne aber durch das andere etwas von dem vorigen gantz unterſchiedenes verſtanden wird / und daß das vorige nichts unmittelbaꝛ zuꝛ Dauerung con - tribuire / z. e. Geld / ſo begreiffet man nur unter dem Rahmen / des nutzlichſten Gutes die ge - ringſte Art / nehmlich die Mittel zum Guten / gleich als ob / zum Exempel das Leben / die Sinn - ligkeiten und dererſelben maͤßige Beluſti - gungen u. ſ. w. die man wegen ihrer ſelbſt verlan - get / nicht auch nuͤtzlich waͤren.

101.

Ferner ſpricht man / das ehrbare Gut verlange die geſunde Vernunfft / das beluſti - gende aber ein uns mit denen Thieren gemei - ner appetit. Aber wir haben ſchon oben geſagt / daß die Thiere das Boͤſe und Gute nicht erken - nen (denn ſie gedencken nicht) wie wolten ſie denn das Gute verlangen koͤnnen / weil nach dem ge - meinen Sprichwort ich nichts verlange / was ich nicht weiß.

103.

So iſt auch darinnen eine ziemliche Un - foͤrmligkeit / daß man dieſen appetit, der nach beluſtigenden Dingen trachten ſol / der geſun - den Vernunfft entgegen ſetzet / gleich als ob ei - ne gemaͤßigte Freude und Luſt der geſundenC 3Ver -38Das 1. Hauptſt. von der GelahrheitVernunfft zu wider waͤre / und nicht vielmehr der Gebrauch der geſunden Vernunfft ſelbſten in der Gemuͤths-Ruhe / dieſe aber in einer ſtillen Beluſtigung beſtaͤnde.

103.

Sprichſt du gleich: dieſe maͤßigen Be - luſtigungen und alle Beluſtigungen des Ge - muͤths waͤren keine beluſtigende Guͤter / weil das beluſtigende Gut eintzig und alleine in ſehr empfindlichen Beruͤhrungen der Sinnlig - keiten beſtuͤnde / Z. e. in einer Wolluſt / in delica - ten Eſſen und Trincken / und andern Dingen / die wie Wohlluͤſte des Leibes nennen; So iſt doch dieſe Ausflucht ſehr unvernuͤnfftig. Denn erſt - lich haben wir ſchon oben erwieſen / daß alle empfindliche Beluſtigung ein Schein-Gut / oder deutlicher etwas boͤſes ſey / und daß denen maͤßigen Beluſtigungen alleine die Beſchreibung des Guten zukomme.

104.

Zum andern / gleichwie es eine groſſe Thorheit ſeyn wuͤrde / wenn wir vermeinen wol - ten / daß ein Saͤuffer / Spieler und Huhrer in dem Augenblick ſeiner Beluſtigung kein Ver - gnuͤgen fuͤhlen ſolte; alſo waͤre es auch unge - ſchickt / wenn man diejenigen / die die Beluſti - gung der Seelen wuͤrcklich empſinden / bere - den wolte / ihre Empfindligkeit betroͤge ſie. Denn daß ich anjetzo nichts von der ſtillen Luſt und ruhigen Vergnuͤgen eines warhafftig wei - ſen und tugendhafften Mannes erwehne / ſo iſt wohl auſſer Zweiffel / daß das Gemuͤthe einesEhr -39das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.Ehrgeitzigen uͤber den gnaͤdigen Blick eines Fuͤr - ſten; eines Geldgierigen uͤber der Erhaltung ei - nes Gewinſts; eines ſo genandten Gelehrten uͤber der Wiederlegung eines ſeiner Widerſa - cher / und eines tieffſinnigen Mannes uͤber der Erfindung der qvadraturæ circuli, eben die Freu - de und Vergnuͤgung empfindet / als eines / der ſich uͤber die empfindlichen Beruͤhrungen der Sinnligkeiten beluſtiget.

105.

Und alſo wird es nunmehro nicht ſchwer ſeyn von denen Exempeln zu urtheilen / die man insgemein giebt um darzuthun / daß wohl etwas ein ehrbares Gut ſeyn koͤnne / ohne daß es nuͤtz - lich oder beluſtigend ſey / oder nuͤtzlich und doch nicht beluſtigend oder ehrbar / oder beluſtigend und doch nicht nuͤtzlich oder ehrbar. Z. e. Sein Leben fuͤr ſein Vaterland wagen / oder ſich von Laſtern zur Tugend angewoͤhnen: Bittere Ar - tzeney gebrauchen / oder ſtehlen / huhren / freſſen und ſauffen.

106.

Denn was das Stehlen / huhren / freſſen und ſauffen anlanget / dieſe gehoͤren nicht unter die nuͤtzlichen und beluſtigenden Guͤter / weil ſie gar nicht unter die Guͤter zu rechnen ſind / ſondern boͤſe ſind. Und vermiſchen die / ſo ſich dergleichen Exempel bedienen / gantz offenbahr zwey unterſchiedene Redens-Arten. Ein anders iſt ein empfindlicher / augenblicklicher Nutzen oder Beluſtigung. Ein anders ein nuͤtzliches oder be - luſtigendes Gut.

C 4107.40Das 1. H. von der Gelahrheit

107.

Was aber die andern Exempel betrifft / ſo iſt es wohl an dem / bittere Artzeney iſt ein nuͤtzlich Gut / aber nicht beluſtigend: Sich von Laſtern abgewoͤhnen / iſt ehrbar und nuͤtzlich / aber es gehet ſauer ein. Alleine beydes præſup - poniret einen Menſchen / der in einen verderbten Zuſtand iſt; Dergleichen Guͤter / wie wir bald ſagen werden / ſind Guͤter in einen geringeren grad, und mehrentheils denen edelſten Guͤtern / die man nach dem ordentlichen und natuͤrlichen Zuſtand des Menſchen erweget / entgegen ge - ſetzt. Was wir aber bißhero von der Vereini - gung des ehrbaren / nuͤtzlichen und beluſtigenden Guten geſaget / iſt von denen edelſten Guͤtern tanqvam de analogato nobiliſſimo zu verſtehen.

108.

Endlich ſein Leben fuͤr ſein Vater - land wagen / iſt / wenn man einen rechten Men - ſchen anſiehet / ein beluſtigendes und nuͤtzliches Gut; Denn ein tugendhaffter Mann thut es mit Freuden / und erhaͤlt dadurch den gemeinen Nu - tzen / in welchem ſein eigener mit ſteckt; Und muß man einen groſſen Unterſcheid machen unter ſter - ben und ſein Leben wagen.

109.

Derowegen waͤre es faſt beſſer gewe - ſen / man haͤtte in denen Schulen die Einthei - lung des Guten in honeſtum, jucundum & utile ausgelaſſen / als daß man ſie ſo verwirrt und ungegruͤndet fuͤrgetragen / zumahl da man aber - mahl das decorum ausgelaſſen / welches we - der zu den ehrbaren noch nuͤtzlichen noch beluſti -gen -41das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.genden Guͤtern nach der gemeinen Beſchreibung gerechnet werden kan.

110.

Solcher geſtalt aber wollen wir uns nach andern Eintheilungen des Guten um - thun / die in der Gelahrheit von dem Erkaͤntnis des Guten und Boͤſen / groͤſſern Nutzen haben. Zumahl wenn wir voraus mercken / daß die un - terſchiedenen Arten des Guten und Boͤſen / die wir in folgenden Eintheilungen vorſtellen wol - len / nicht von gleicher Guͤte oder grad ſeyn / ſondern allezeit die eine Art geringer ſeyn wird als die andere / dannenhero nicht alleine dieſes uͤberhaupt zu erinnern / daß wenn zwey Gute oder Boͤſe von ungleichen grad zuſammen kom - men / das geringere allezeit in Anſehen des groͤſſeren weichen und nachgeben muͤſſe / ſon - dern daß wir auch in der Erkaͤntnis des Guten allemahl fuͤrnehmlich auff den groͤſten und vornehmſten grad unſer Abſehen richten muͤſ - ſen / wie wir denn auch in deſſen Anſehen dieſen grad in Beſchreibung des guten fuͤr Augen ge - habt haben.

111.

Denn der Menſch wie er anjetzo auff dieſer Welt lebet / kan auf zweyerley Weiſe be - trachtet werden / entweder nach ſeinem ordent - lichen Zuſtand und ſeiner Natur / den er von GOtt empfangen hat oder nach ſeinen auſſer ordentlichen / auſſer natuͤrlichen Zuſtand / in - dem er ſich durch die Gewohnheit ſelbſt geſetztC 5hat /42Das 1. H. von der Gelahrheithat / oder darein er von andern Menſchen geſetzt worden.

112.

Der ordentliche Zuſtand iſt derjenige / wenn die Bewegung aller Theile des menſchli - chen Leibes in der von GOtt geordneten propor - tion und Maſſe / auch Abwechſelung verbleibet / und ſo zu reden in gleicher Wage bald auf dieſe Seite bald auff jene incliniret / welches nicht al - leine von der Bewegung des Gebluͤts / und der geiſtigen Coͤrper in denen nerven, ſondern auch von der Bewegung der Vernunfft und des Wil - lens zu verſtehen / daß beyde allein zum Guten an - getrieben / und von Boͤſen abgefuͤhret / in allen an - dern Dingen aber gleich guͤltig ſeyn. Dieſer Zu - ſtand iſt an ſich ſelber gut.

113.

Der auſſerordentliche Zuſtand iſt der - jenige / wenn dieſe Bewegung von der von GOtt geordneten Maſſe abweichet / und entweder den Wachsthum allzumercklich befoͤrdert / oder das Abnehmen unmittelbahr und empfindlich be - ſchleuniget / und wenn der Verſtand und Wille zum Guten traͤge und zum Boͤſen munter iſt / auch keines weges eine ruhige Bewegung empfindet / ſondern von allen aͤuſſerlichen Dingen bald da bald dorthin geriſſen wird. Jn dieſem Zuſtande leben dem Leibe nach die Krancken / und nach der Seeleu die in Unwiſſenheit und Jrrthuͤmern / Eitelkeit und Laſtern ſtecken. Dieſer Zuſtand iſt boͤſe.

114. Nach43das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

114.

Nach dieſem zweyerley Zuſtande iſt auch das Gute und Boͤſe unterſchieden / davon wir jenes das ordentliche / dieſes aber das auſſer - ordentliche Gute und Boͤſe nennen wollen.

115.

Jenes Gute erhaͤlt und befoͤrdert des Menſchen ſeinen ordentlichen Zuſtand / oder es befoͤrdert das natuͤrliche Gute; Dieſes benimmt ihn den aufferordentlichen / oder das angewoͤhnte Boͤſe.

116.

Das ordentliche Boͤſe ſetzet den Men - ſchen aus dem ordentlichen in den auſſerordentli - chen Zuſtand; aber das auſſerordentliche Boͤſe iſt dasjenige / wenn man den Menſchen aus den Boͤſen oder auſſerordentlichen Stand / durch eine auſſerordentliche Weiſe wider in den guten Stand ſetzen wil.

117.

Denn hierinnen kommen beyderley Art von dem Guten uͤberein / daß bey beyden eine gewiſſe proportion und Maſſe nebſt eineꝛ allmaͤh - ligen Veraͤnderung beobachtet werden muß. Und hierinnen koͤmmt beyderley Boͤſes miteinander uͤberein / daß bey beyden ſelbige Maſſe uͤber - ſchritten / und eine allzuſchleunige Veraͤnderung vorgenommen wird.

118.

Wie was ſteiget / ſo faͤllet es auch. Und wie dannenhero der Menſch ſein natuͤrlich Gu - tes Stuffen-weiſe gleichſam erhaͤlt / alſo muß er ſich auch Stuffen-weiſe das Boͤſe wieder abgewoͤhnen. Man vertreibet eine Kranck -heit44Das 1. H. von der Gelahrheitheit nicht in einen Augenblick. Man verderbet die erfrornen Gliedmaſſen / wenn man dieſelbe allzubald in allzugroſſe Hitze bringet; Man rui - niret den Magen / wenn man nach langer Faſte ſo viel ißt / als die Begierde antreibet; Man rich - tet nichts aus / wenn man in einem Augenblick oder in einer allzu kurtzen Zeit die Jrrthuͤmer und Vorurtheile wil loß werden / oder auff einmahl die lange eingewurzelten Gewohnheiten und Sit - ten oder Affecten abſchaffen.

119.

Aber hieraus folget zugleich / daß das - jenige / was in Anſehen des ordentlichen Zu - ſtandes gut iſt / boͤſe ſeyn wuͤrde / wenn man es einen Menſchen / der in dem auſſerordentlichen Zuſtand lebet / appliciren wolte / und daß hin - gegentheil das / was einen Krancken / Unwiſſen - den und laſterhafften gut iſt / einen geſunden / weiſen und tugendhafften Menſchen boͤſe ſeyn koͤnne.

120.

Eine maͤßige Bewegung / ein Stuͤcke Rindfleiſch / eine friſche Lufft / iſt einem Ge - ſunden gut / aber einem Podagriſchen / Schwind - ſuͤchtigen und Febricitanten ſchaͤdlich. Und was ein Weiſer mit Vergnuͤgen fuͤr wahr erkennet / daruͤber aͤrgert ſich ein in Jrrthum ſteckender / oder wird doch gleichſam daruͤber verblendet. Ein Tugendhaffter iſt ruhig / wenn er alleine iſt / wenn er wenig hat / wenn er wenig iſſet und trincket. Ein Wohlluͤſtiger ſtirbet fuͤr Ver - druß / wenn er keine Geſellſchafft hat / und einGei -45das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.Geitziger haͤnget ſich / wenn man ihm ſeinen Schatz nimmt; Ein Trunckenbold wird kranck / wenn man ihm 8. Tage allen Wein entziehet.

121.

Wiederum: Einem Patienten iſt eine etliche Tage lang continuirte Ruhe / eine auff ſeine Kranckheit gerichtete Artzeney / eine außerordentliche Waͤrme gut. Einen Ge - ſunden aber macht ſie faul; und ein Geſunder verderbet ſich / wenn er offte Artzeney braucht / und ſeine Zimmer ſo warm haͤlt / als wenn er kranck waͤre. Einem Jrrenden / der noch in præ - judiciis ſteckt / muß man durch einen ehrlichen Betrug gewinnen. Bey einem Weiſen iſt al - ler Betrug verdaͤchtig. Ein Wohlluͤſtiger Gei - tziger und Trunckenbold beſſert ſich / wenn ſeine Wohlluſt / ſein Geiz und ſeine Truncken - heit abnehmen; aber ein Keuſcher Freygebi - ger und nuͤchterner Menſch verſchlimmert ſich / wenn er in einen dergleichen maͤßigen grad wohlluͤſtig / geitzig und der Trunckenheit erge - ben wird.

122.

Mit der vorigen Eintheilung des Guten hat folgende einige Verwandnis. Das Gute und Boͤſe wird entweder poſitivè oder privati - genommen. Das iſt / das Gute beſtehet entweder in der Erlangung einer angeneh - men Sache / oder in der Beraubung einer unangenehmen. Und das Boͤſe beſtehet ent - weder in Erhaltung einer unangenehmen / oder in Beraubung einer angenehmen Sache.

123. Al -46Das 1. H. von der Gelahrheit

123.

Alſo iſt die Erlernung zuvor unbekan - ter Wiſſenſchafften / die Erhaltung neuer Ehre und Freyheiten / die Erwerbung eines biß - her nicht gehabten Vermoͤgens u. ſ. w. poſi - tivè gut / die Entledigung aber aus der Ge - faͤngniß / die Geneſung von der Kranckheit u. ſ. w. iſt unter die bona privative talia zu rech - nen. Gleicherweiſe iſt die Kranckheit / die Verwundung / der Schmertz / die Schmach poſitivè ein Ubel / die Einkerckerung aber / die Beraubung unſers Vermoͤgens oder unſerer Ehren-Stellen ein malum privativum.

124.

Ferner ſo ſind etliche Guͤter ſehr edel und hoͤchſtnothwendig / ohne die des Men - ſchen ſein Weſen entweder gar nicht beſtehen kan / oder doch elend und geſtuͤmmelt ſeyn wuͤr - de; etliche aber ſind nicht ſo edel und noth - wendig / dergeſtalt daß der Menſch ohne die - ſelben gar wohl beſtehen kan / auch ohne ſie nicht elend zu nennen iſt; Sie werden aber un - ter die Zahl guter Dinge gerechnet / weil der Menſch / ſo ſelbige beſitzet / mehr Gelegenheit hat anderen Menſchen Gutes zu erweiſen / als wenn er ſie nicht hat.

125.

Alſo ſind Geſundheit / Weisheit und Tugend ſehr edele und hoͤchſtnothwendige Guͤ - ter; Freyheit aber / aͤuſſerliche Ehre / Reich - thum / Freunde / ſind nicht ſo nothwendig / wor - zu wir auch meiſtentheils das decorum rech - nen.

126. Dar -47das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

126.

Daraus wird aber leicht zu begreiffen ſeyn die doppelte Art des Boͤſen / deren eines dem nothwendigen Guten entgegen geſetzet wird / als Kranckheit / Unwiſſenheit / Jrr - thum und Laſter; das andere aber iſt nicht ſo wohl boͤſe als indifferent, weil das ihm entgegen getzte Gut nicht nothwendig iſt / als Beraubung oder Mangel der Freyheit / der Ehre und des Reichthums / worzu wir auch die Unwiſſen - heitdes decori rechnen.

127.

Und zwar ſo habe ich in dieſer Einthei - lung auff die natuͤrliche Gleichheit des menſch - lichen Weſens mein Abſehen gerichtet / wenn man aber auff die durch die Buͤrgerliche Geſell - ſchafft eingefuͤhrte Ungleichheit reflectiret / ſo iſt nicht zu laͤugnen / wie wir auch allbereit oben er - wehnet / daß das decorum unter die nothwen - digen Guͤter gerechnet werden muͤſſe / ſo ferne ohne dieſelbige kein Menſche in der Buͤrgerli - chen Geſellſchafft ſich empor heben kan / in wel - ther Betrachtung aber auch die Freyheit / Ehre und Reichthum unter die nothwendigen Guͤter gerechnet werden muͤſſen. Solcher geſtalt koͤn - te man / damit man dieſe beyderley Benennun - gen nicht vermiſche / ſagen / die nothwendigen Guͤter ſeyn / entweder ſolche in Anſehung des menſchlichen Weſens / (neceſſaria abſolutè) oder in Betrachtung der menſchlichen Geſellſchafft / in der wir leben / und die nicht ſo vollkommen iſt /wie48Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitwie ſie ſeyn ſolte und koͤnte (neceſſaria ex hypo - theſi ſtatus corrupti ſocietatis civilis.)

128.

Hiernechſt iſt auch das Gute entwe - der ein unmittelbares Gut / das des Men - ſchen Dauerung und Weſen fuͤr ſich erhaͤlt; als Leben / Geſundheit / Weisheit / Tugend; oder ein mittelbahres Gut / welches zu Erlan - gung und Vermehrung beſagten unmittelbaren Guͤter dienet / als Geld / Speiſe / und Tranck / ſtudiren / Ubung in tugendhafften Thaten; Je - nes iſt der Zweck des menſchlichen Thun und Laſſens / dieſes die Mittel darzu. Und je ent - ferneter dieſe Mittel ſeyn / oder je leichter der Menſche derſelben entbehren kan / je in gerin - gern grad des guten verdienen ſie auch geſetzet zu werden.

129.

Endlich / weil ſo wohl das Gute als Boͤſe unterſchiedene Grade haben / und wir all - bereit oben erinnert / daß das dauerhaffteſte Gute und Boͤſe die andern allezeit uͤberwaͤge / ſo wird auch in Anſehen dieſer Anmerckung das Gute entweder vor ein wuͤrckliches Gut gebraucht / als Leben / Geſundheit / Weisheit / Tugend / oder vor ein kleiner Ubel / als Verlierung ſeines Vermoͤgens das Leben zu erhalten / ſterben fuͤr ſeine Freunde u. ſ. w. Gleichergeſtalt wird auch das Ubel entweder fuͤr ein wuͤrcklich Ubel ge - nommen / als Ungeſundheit / Jrrthum / liederlich Leben / oder fuͤr ein kleineres Gut; als Erlan - gung Reichthums mit Verluſt der Geſundheit;gut49das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.gut Gedaͤchtniß mit Verluſt oder Verringerung des judicii, Gelahrheit in aͤußerlichen Dingen mit Verſaͤumung der Erkaͤntniß ſein ſelbſt.

130.

Wir haben oben geſagt / daß die bisherigen Eintheilungen unterſchiedene Grade des Guten vorſtellen wuͤrden; und alſo wollen wir numeh - ro kuͤrtzlich anzeigen / welches unter denen bishero erzehlten Arten die alleredelſten ſeyn / nemlich das ordentliche Gute / das Gute / das in Be - nehmung einer unangenehmen Sache beſte - het (bonum privativurn) das in Anſehen des menſchlichen Weſens nothwendige Gute / das unmittelbahre Gute / und endlich das wuͤrck - liche Gute. Auff dieſe Arten muß ein Menſch hauptſaͤchlich ſein Abſehen richten / und auff die - ſelbigen ſchickt ſich auch fuͤrnehmlich unſere gege - bene Beſchreibung des Guten.

131.

Wiewohl in gemeinen Leben und Wandel kehret man es durch einen uͤbelen Ge - brauch gemeiniglich umb. Denn weil die Menſchen mehrentheils in einen auſſerordentli - chen und verderbten Zuſtande leben / als achten ſie auch das auſſerordentlichen Gute viel hoͤ - her als das ordentliche; ja ſie gebrauchen ſich des auſſerordentlichen Guten auch in dem ordentlichen Zuſtande zum oͤfftern als einer Richtſchnur zu leben / da wir doch erwehnet ha - ben / daß hierinnen das auſſerordentliche Gute boͤſe ſey.

D132. Wir50Das 1. Haupſt. von der Gelahrheit

132.

Wir koͤnten hiervon tauſend Exempel fuͤr eines geben. Wie viele brauchen bey der Geſundheit Artzeney; wie viel Medici ordini - ren einen Geſunden Menſchen er ſolle ſich zuwei - len einen Rauſch trincken. Wie viele bilden ſich ein / das Waſſer / das GOtt dem Menſchen zum Tranck verordnet hat / ſey ungeſund / weil der Wein den ſchwachen Magen noͤthig iſt. Mit einem Worte / unſere gantze Kinderzucht taugt wegen dieſes præjudicii gantz und gar nichts / weil wir unſere Kinder von Jugend auff nicht anders als patienten aufferziehen / und zu patienten an Verſtand und Willen faſt durch - gehends damit machen.

133.

Mit dem bono poſitivo gehen noch mehr Jrrthuͤmer vor / weil auch vielleicht viel Ge - lehrte ſelbſt mich auslachen werden / daß ich das bonum privativum fuͤr die vortrefflichſte Art ansgegeben. Alleine wenn man die oben angefuͤhrte Exempel betrachten wird / wird man dieſe meine Meinung nicht ſo belachens wuͤrdig halten / zumahl weil wir ſchon oben erwehnet / daß der Menſch ſehr vieler Dinge in dieſer Welt entbehren koͤnne / und alſo die bona poſitiva mehrentheils unter die nicht nothwendi - gen Guͤter gehoͤren. Aus dieſer Urſachen willen wird auch in der Buͤrgerlichen Geſellſchafft z. e. einer der aus Rache einen andern umbgebracht / oder umb reich zu werden geſtohlen / ſcharffer ge - ſtꝛafft / als der in moderamine inculpatæ tutelæeinen51das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.nen cxceß begangen / oder aus Hunger geſtoh - len. Zugeſchweigen / daß das bonum poſitivum die Gemuͤths-Ruhe mehr turbiret als befoͤrdert / das privativum aber dieſelbe von denen wie - drigen Verdrießligkeiten befreyet. Ja wenn wir nichts mehr haͤtten / daß wir denen / die dieſe unſere Meinung antaſten wolten / entgegen ſetz - ten / wolten wir ſie mit dem Epicuro ſchamroth machen / der ſchon zu ſeiner Zeit aus eben dieſen Urſachen die Wolluſt beſchrieben / daß ſie nichts anders als ein Mangel des Schmertzens oder Verdruſſes ſey.

134.

Was ferner das nothwendige Gut be - trifft / ſo iſt es offenbahr / das die gantze Welt / Freyheit / Reichthum / Ehre und das decorum fuͤr beſſer haͤlt / als Geſundheit / Weißheit und Tu - gend; Ja daß auch unter dieſen das Geld / ob es ſchon ein ſehr entfernetes Mittel iſt zum Guten / allen andern Dingen vorgezogen wird / und nach dem gemeinen Jrrthum die Narren weiſe / die Laſterhafften Tugendhafft / auch bey nahe die Krancken geſund macht.

135.

So bekuͤmmert ſich auch faſt niemand umb das wuͤrckliche Gute / weil man in lauter boͤſen ſteckt und alſo taͤglich gewohnet iſt / aus zweyen uͤbeln das geringſte zu wehlen.

136.

Weil dannenhero der Menſch alle ſein Thun und Laſſen darnach einrichten ſoll / wie er das Gute erlangen und gluͤckſelig leben moͤge; gleichwohl dieſes ohne dem rechten GebrauchD 2der52Das 2. Hauptſt. von der groͤſtender Vernunfft nicht zu wege bringen kan; als iſt ein gewiſſer Theil der Welt-Weißheit hier - zu gewidmet / der auch dieſerwegen Philoſophia Practica genennet wird / und alſo nichts anders iſt als die Gelahrheit / die dem Menſchen wei - ſet / wie er gluͤckſelig leben ſol.

137.

Dieſe Gluͤckſeligkeit aber muß er erſt - lich wohl und deutlich verſtehen / worinnen ſie beſtehe / und was ihm GOtt dieſer wegen zuthun aufferleget habe / hernach aber bedacht ſeyn / wie er die Hindernuͤſſen aus dem wege raͤume / die ihn abhalten / dieſe Gluͤckſeligkeit zu erlangen.

138.

Die Hindernuͤſſen kommen entweder von ihm ſelbſt her durch ſeine affecten. Dieſe lehret mir die Sitten-Lehre / wie ſie bezaͤhmet werden ſollen; oder ſie kommen von auſſen.

139.

Und zwar entweder durch Mangel / den zu vertreiben die Oeconomica oder Haußhal - tungs Kunſt unterweiſet / oder durch Furcht fuͤr aͤußerlicher Gewalt und Liſt / wider welche Hinderniß die Politic ihre Lehr-Saͤtze giebt.

Das 2. Hauptſtuͤck. Von der groͤſten Gluͤckſelig - keit des Menſchen.

Jnnhalt.

  • Beſchreibung der Sitten-Lehre, n. 1. Worinnen des Menſchen hoͤchſte Gluͤckſeligkeit beſtehe? n. 2. wird von denen Philoſophen ſehr gezancket. n. 3. Diehoͤchſte53Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.goͤchſte Gluͤckſeelzgkeit wird auff zweyerley Art ge - nommen (I) vor das edelſte unter denen menſchlichen Guͤtern. n. 4. Jn dieſen Verſtan - de kan dieſelbe nicht in den Gluͤcks-Guͤtern beſieben n. 5. 6. Nicht in Reichthum und Ehre / weil dieſe nicht in unſerer Willkuͤhr ſtehen n. 7. und derſelben Beſitzung niemand gluͤcklich / noch der Mangel jemand ungluͤcklich macht n. 8. Dieſer Lehrſatz wird uͤberall in praxi negligiret n. 9. und mit Worten und Wercken auch von denen Gelehrten ſelbſt beſtritten n. 10. Nicht in Vielen Freunden / ſo ferne dieſelbe zum Gluͤcks-Guͤtern gehoͤren / weil ein Weiſer Mann viel Feinde hat / und der viel Freun - de hat am elendeſten iſt n. 11. 12. Nicht in der Frey - heit n. 13. ob ſchon dieſelbe ein unſchaͤtzbares Gut iſt n. 14. und ein Leibeigner denen Todten gleich ge - achtet wird n. 15. 16. auch ein auff ewig gefangener Tod iſt n. 17. Nicht in dem Decoro n. 18. Bey denen Guͤtern des Leibes und der Seelen muͤſſen wir zuſoͤrderſt die gemeinen Jrrthuͤmer meiden n 19. als wenn das Leben und die Sinnligkeiten zur menſch - lichen Seele gehoͤreten n. 20. 21. oder der Leib der Kercker des Menſchen waͤre. n. 22. 23. Das Leben des Menſchen iſt der Grund der groͤſten Gluͤck - ſeligkeit und beſtehet aus vier Stuͤcken n. 24. De - ren keines ohne das andere ſeyn kan n. 25. (1) dis Gantzheit der Theile des menſchlichen Leihes / (2) die Bewegung des Gebluͤts n. 26. (3) Die Bewegung der Senn-Adern. n. 27. Die Bewegung des Ge - bluͤts und der nerven ſind mit einander ver - knuͤpfft. n. 28. und von der alterirung dieſer beyder dependiret auch die alterirung der Gedancken und Vernunſſt n. 29. (4) Die Bewegung der Gedan - cken. Ohne dieſe iſt der Menſch kein Menſch mehrD 3n. 30.54Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenn. 30. Beantwortung derer Einwuͤrffe hiewieder n. 31. von den Kindern im Mutler-Leibe / von denen die in Ohnmacht liegen n. 32. oder von Schlag ge - ruͤbret werden n. 33. ingleichen von naͤrriſchen und raſenden Lenten n. 34. welche warhafftig geden - cken n. 35. und letzlich von denen zerſtuͤmmelten Men - ſchen n. 36. Dieſe vier Stuͤcke aber koͤnnen doch verringert werden / oder ein Theil kan ſchwaͤcher ſeyn als der andere / oder der Menſch kan in eine Roth gerathen eines an das andere zu wagen n. 37. welches ſo dann dem andern vorzuziehen und das hoͤchſte Gut ſey? n. 38. Jn der Geſundheit beſtehet die groͤ - ſte Gluͤckſeligkeit nicht / denn ſie iſt nicht in unſern Vermoͤgen n. 39. und ein geſunder aber in Jrrthuͤ - mern ſteckender Menſch iſt elend n. 40. noch vielmehr wenn er Laſterhafft iſt n. 41. Ein Weiſer und Tu - gendhaffter aber iſt darumb nicht elend / ob er gleich kranck iſt / n. 42. Die Tugend iſt edler alß die Weiß - heit n. 43. Der Verſtand hilfft dem Menſchen nichts in Betrachtung des Guten / wenn der Wille daſſelbige nicht ergreifft n. 44. Die groͤſte Gluͤckſe - ligkeit beſtehet nicht in unnuͤtzlichen und beluſtigen - den Wiſſenſchafften n. 45. auch nicht in der Phyſic und Matheſi. n. 47. 48. 49. Weil ſie den Menſchen nimmermehr ruhig machen. n. 50. Wiewohl man ſich nicht ſcheuet / heut zu Tage darinnen die groͤſte Gluͤck - ſell keit zu ſuchen n. 51. Die Tugend iſt auch; die groͤſte Gluͤckſeligkeit nicht. n. 51. Der Verſtand kan nicht ohne Willen / noch der Wille ohne Verſland ſeyn. Fabel von dem Willen als Koͤnig / und dem Verſtand als deſſen Rath. n. 53. 54. 55. 56. Die groͤ - ſte Gluͤckſeligkeit des Menſchen muß in dem Willen und Verſtande zuſammen / oder in dem Gemuͤthe und Gedancken geſucht werden n. 57. 58. Ohne Gedaucken emfindet der Menſch weder Gluͤck nochUngluͤck55Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.Ungluͤck. n. 59. Sein Gluͤck beſtehet mehr in Gedan - cken als in der Genieſſung ſelbſt. n. 60. Die Gedan - cken machen auch des Menſchen Ungluͤck n. 61. Sei - ne groͤſte Gluͤckſeligkeit beſiehet in ruhigen und maͤßig ſich veraͤndernden Gedancken. n. 62. Welche Gemuͤths-Ruhe oder Beluſtigung des Gemuͤths genennet wird. n. 63. Dieſe wird beſ - ſer empfunden als beſchrieben. n. 64. Jhre Beſchrei - bung n. 65. Sie iſt eine Beluſtigung und ohne Schmertzen n. 66. aber dabey ruhig und ohne Freu - de n. 67. 68. Nach ihr trachtet man bey alle denen andern Guͤtern. n. 69. Jhr Verlangen ſich mit an - dern zu vereinigen iſt nicht unruhig / ſondern zeiget nur an / daß ihre Ruhe eine maͤßige Bewegung ſey. n. 70. Sie iſt ihren Uhrſprung und Wuͤrckung nach eine vernuͤnfftige Liebe. n. 71. 72. Die Beſtien haben keine Liebe und Geſellſchafft n. 73. aber der Menſch waͤre ohne Menſchliche Geſellſchafft nichts n. 74. ja er waͤre kein Menſch n. 75. Er haͤtte kein Vergnuͤgen n. 76. wenn er gleich ein miſanthrope waͤ - re / und der ſich in Bibliothequen vergraͤbt n. 77. Die meiſten Beluſtigungen præſupponiren menſchli - che Geſellſchafften. n. 78. Der Menſch iſt zu einer friedfertigen Geſellſchafft geſchaffen n. 79. und alſo zur Liebe ruhiger Gemuͤther. n. 80. Ein vernuͤnffti. ger Menſch liebet andere Menſchen mehr denn ſich ſelbſt n. 81. 82. auch die Laſterhaffteſten lieben wuͤrck - lich andere Geſchoͤpffe mehr als ſich. n. 8[3]. Welches durch das Exempel eines Wohlluͤſtigen / Ehr - und Geldgeitzigen erwieſen wird n. 84. 85. Wegen Benen - nung der groͤſten Gluͤckſeligkeit muß man ſich nicht zancken. n. 86. 87. (II) Vor den vollkomme - nen Begriff aller menſchlichen Guͤter / entweder auch der nicht nothwendigen n. 88. 89. oder doch zu in wenigſten der noͤthigen. n. 90. 91. DerD 4Reich -56Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenReichthum iſt zur Geniuͤths-Ruhe nicht noͤthig - n. 92. 93. Die Armuth iſt nichts boͤſes. n. 94. Was von aͤußerſter Armnth zu halten. n. 65. Die aͤußerliche Ehre iſt ein bloſſer Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit n. 96 100. Die aͤußerliche Unehre macht niemand elend n. 101. 102. ſondern ſie vermeh - ret vielmehr die warhafftige Ehre n. 103. Das Decorum iſt nur ein Zierrath. n. 104. 105. Der Mangel deſſelbigen iſt zuweilen unter das Boͤſe zu rechnen. n. 106. 107. Zumahl wenn ermit einer Un - ſchamhafftigkeit vergeſellſchafftet iſt. n. 108. Sonſten iſt es nur der Mangel eines Zierraths. n. 109. Schamhafftigkeit iſt nicht allemahl ein Zier - rath eines weiſen Mannes. n. 110. 111. Der Frey - heit iſt eine bloſſe Zierrath n. 112. viel Freunde ſind nicht einmahl eine Zierath. n. 103. Sondern eine Anzeigung des Mangels der Gemuͤths-Ruhe. n. 114. Alle Guͤter des Gluͤcks ſind keine nothwen - dige Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe. n. 115. Das Le - ben iſt der Grund der Gemuͤths-Ruhe / jedoch macht der Tod den Menſchen nicht elend. n. 116. Die Geſundheit iſt ein noͤthiges Stuͤck der Gemuͤths - Ruhe. n. 117. Unterſchied zwiſchen einen weiſen und unwelſen Mann / bey abzebrenden aber nicht ſchmertz - hafften Kranckheiten n. 118. 119. Bey ſchmertz - hafften Kranckheiten n. 120. iſt ein weiſer Mann nicht vollkommen ruhig / aber er iſt doch auch nicht elende. n. 121. Und alſo iſt die Geſundheit kein weſentliches Stuͤck der Gemuͤths-Ruhe. n. 122. Ein Unweiſer iſt auch bey Schmertzhafften Kranckheiten elender daran als ein welſer Mann. n. 123. Weißheit und Tugend ſind weſentliche Stuͤcke der Gemuͤths - Ruhe n. 124. und derer Mangel machet den Men - ſchen hoͤchſt elende. n. 125. welches man aber nichtvon57Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.von der Schein-Weißheit und von der Schein Tu - gend verſtehen muß. n. 126. 127. Warumb man der Wohlluſt des Leibes nicht erwehnet n. 128. 129. Kein Philoſophus hat die Wohlluſt des Leibes fuͤr das hoͤchſte Gut des Menſchen ausgegeben. n. 130.

1.

SO iſt demnach die Sitten-Lehre nichts anders als eine Lehre / die den Menſchen unterweiſet / worinnen ſeine wahre und hoͤchſte Gluͤckſeligkeit be - ſtehe / wie er dieſelbe erlangen / und die Hin - derniſſen / ſo durch ihm ſelbſt verurſachet werden / ablegen und uͤberwinden ſolle.

2.

Derowegen nachdem wir in vorhergehen - den Capitel / unterſchiedene Arten von dem Gu - te des Menſchen erzehlet haben / muͤſſen wir nunmehro vor allen Dingen beſorget ſeyn zu er - oͤrtern / worinnen ſeine groͤſte Gluͤckſeligkeit beſtehe.

3.

Zumahl da die Philoſophi ſo eyffrig und ernſtlich uͤber dieſer Frage geſtritten und noch ſtreiten / wiewohl dieſer Streit mehr den Nahmen als die Sache ſelbſt angehet / oder doch / wie er in gemein getrieben wird / mehr ſub - til und Grillenhafftig als deutlich oder nuͤtzlich iſt. Wir wollen unſerer Gewohnheit nach die Sache deutlich / und daß ſie jederman begreiffen moͤge / auch ſo ferne ſie in der Sitten-Lehre hauptſaͤch - lich genutzet werden kan / vortragen.

D 54. Gluͤck58Das 2. Hauptſt. von der groͤſten

4.

Gluͤckſelig ſeyn heiſt das wahre Gut des Menſchen beſitzen. Die hoͤchſte Gluͤckſe - ligkeit aber wird auff zweyerley Art genom - men / entweder wenn man die unterſchiedenen Guͤter des Menſchen in Anſehen ihrer unter - ſchiedenen Grade gegen einander haͤlt / vor die Beſitzung des edelſten Guts oder in An - ſchung ſeiner Vollkommenheit / vor die Beſi - tzung aller der menſchlichen Guͤter insge - ſambt oder zum wenigſten derjenigen / die wir oben hoͤchſtnothwendig genennet haben.

5.

Was den erſten Verſtand betrifft / ſo weiſet bald anfaͤnglich das jenige / was wir im vorigen Capitel erwehnet haben / daß / und Reichthumb / Ehre / Freyheit / Freude / und das decorum nicht nothwendige Guͤter ſeyn auch keines von denenſelben vor die hoͤchſte Gluͤckſeligkeit des Menſchen gehalten werden koͤnne.

6.

Zugeſchweigen daß / GOtt dem Men - ſchen eingepflantzet hat / dem Guten nachzutrach - ten / und folglich auch dieſes hoͤchſte Gut in des Menſchen ſeiner Willkuͤhr ſtehen muͤſſe / da doch alle obberuͤhrte Arten unter die Guͤter des Gluͤcks / daß iſt / die nicht in unſerer Willkuͤhr ſtehen / auch nach allgemeiner Meinung gerech - net werden.

7.

Reichthumb und Ehre kan das hoͤchſte Gut nicht ſeyn / weil alle Regeln die wir dieſer - wegen in der Oeconomique und Politic gebenwer -59Gluͤckſeligkeit des Menſchen.werden / weil ſie nur auff wahrſcheinlichen Grund gebauet ſind / vielfaͤltig triegen koͤnnen / in dem GOtt taͤglich durch eine Menge Exempel dar - thut / daß die irraiſon nableſten Leute zu Reich - thumb und Ehre gelangen / und die jenigen / die nach denen Grund-Saͤtzen geſunder Vernunfft Reichthumb und Ehre ſuchen / zum oͤfftern Arm und in einem niedrigen Stande bleiben muͤſſen.

8.

Ferner ſo iſt der reichſte und maͤchtig - ſte Koͤnig warhafftig elend / wenn er kranck und ungeſund oder ſonſt in ſeinem Gemuͤthe eine unruhige Beaͤngſtigung empfindet. Da hingegentheil der aͤrmſte Menſch der z. e. na - ckend und bloß aus einer jaͤhling entſtandenen Feuers-Brunſt ſein Leben retten muß / wenn er anders geſund und Tugendhafft iſt / warhafftig nicht elend iſt / weil er entweder durch Mitlei - digkeit anderer Menſchen (ohne ſchaͤndliches und tadelns wuͤrdiges Betteln) oder durch Ar - beit ſatſam Gelegenheit findet / ſeine Bloͤſſe zu bedecken / und ſeinen Hunger zu ſtillen; oder wenn er ſeiner affecten nur Meiſter iſt / auch in dem wildeſten Wald mit Waſſer und Wur - tzeln zur Noth begnuͤget iſt. Und da ein Papi - nian auch unter dem Richt-Beile wegen ſei - ner Gemuͤths-Ruhe von / vernuͤnfftigen Men - ſchen Beneidungs wuͤrdig geachtet wird / ſchwei - ge denn / wenn ihm ein Tyrann nur ſchlecht weg ſeiner Ehren-Aempter beraubete / und in demgering -60Das 2. Hauptſt. von der groͤſtengeringſten und nach dem aͤußerlichen Anſehn un - ehrlichſten Stande ſetzte.

9.

Und was wollen wir uns hieruͤber weiter auffhalten / nachdem aber auff allen unſern hohen und niederen Schulen die Lehre / daß das hoͤch - ſte Gut nicht in Reichthum noch Ehre beſtehe / denen Studirenden vorgeſaget wird. Dem aber unerachtet / betrachte du dieſen Lehr-Satz deſto genauer / weil die gemeine praxis auff hoheu und niederen / ja auff denen hochſten Schu - len / das iſt / an Hoͤffen dieſem Lehr-Satz zu wider iſt. Jederman / ja diejenigen ſelbſt / die durch ihr Exempel ihre Lehre beſtaͤtigen ſolten / trachten nach Ehre und Reichthum als nach dem hoͤchſten Gut mit Verluſt ihrer Geſundheit / mit Beraubung ihrer geziemenden Beluſtigungen und Erduldung tauſend faſt unertraͤglicher Ver - drießlichkeiten / mit Gefahr des Lebens und der Gemuͤths-Ruhe.

10.

Ja was thut man anders als durch an - dere Worte und Lehren dieſen Lehr-Satz umzuſtoſſen. Wie offte ſagen die Lehrer wenn ſie auſſer denen Cathedern ſeyn: Wer Geld hat / hat alles. Wer kein Geld hat / iſt ein Narr. Wie mißbraucht man nicht ein ander Sprichwort: Gut verlohren / Muth verloh - ren / Ehre verlohren / alles verlohren. Und wie draͤngen ſich doch die Gelehrte / daß ſie die - ſen ihren allgemeinen Lehr-Satz umb die Wet - te proſtituiren / wenn ſie nach der Nedens-Artdes61Gluͤckſeligkeit des Menſchen.des Frantzoͤſiſchen Satyrici in ihren Dedicatio - nibus, mit denen ſie die ungeſchickteſten Staats - Miniſter, oder die unwuͤrdigſten Wuchrer beeh - ren / auff Hebraͤiſch / Griechiſch und Lateiniſch be - weiſen wollen / daß dieſelben die Gelehrteſten und Tugendhaffteſten Leute ſeyn. Daß ich nichts erwehne von dem / daß / da es ſonſt hieſſe: Die Ehre iſt der Tugend Lohn; heut zu Ta - ge in der gantzen Welt die Ehre oͤffentlich mit Gelde erkaufft wird.

11.

Was die Freunde betrifft / halte ich vor noͤthig dieſes zu erinnern / daß wenn die Freun - de unter die Guͤter des Gluͤcks gerechnet wer - den / weil derer Mangel endlich den Menſchen nicht elend macht / eine Menge ſolcher Men - ſchen dadurch verſtanden werde / die reich oder maͤchtig ſind / und wegen ihres eigenen Intereſſe unſer Gluͤcke zu befoͤrdern / und unſern Schaden zu wenden ſuchen. Jn dergleichen Freunden kan ſo viel deſtoweniger die groͤſte Gluͤckſelig - keit beſtehen / je mehr unſtreitig iſt / daß ein wei - ſer und tugendhaffter Mann nicht viel Freunde haben koͤnne / ſondern nothwendig viel / viel Feinde haben muͤſſe / weil er ſonſt nicht weiſe und tugendhafft ſeyn wuͤrde. Wor - bey nicht zu vergeſſen / daß diejenigen / die in dieſer Welt ſich jederman zum Freun - de machen und niemand erzoͤrnen wollen / am elendeſten dran ſeyn / weil ſie ſich den groͤſten Verdruß taͤglich anthun / und dennochdie62Das 2. Hauptſt. von der groͤſtendie meiſten Feinde haben; dannenhero ſie nicht unbillig den Neutraliſten im Kriege zu verglei - chen ſind.

12.

Was aber die wahre und vernuͤnffti - ge Freundſchafft betrifft / die in beſtaͤndiger Vereinigung zweyer tugendhafften Gemuͤther beſtehet / davon iſt jetzo nicht die Rede / ſondern wir werden bald ſehen / daß ohne dieſelbe die hoͤchſte Gluͤckſeligkeit nicht beſtehen koͤnne.

13.

Die Freyheit duͤrffte uns etwas meh - res zu thun machen. Sie wird ja durchgehends fuͤr ein unſchaͤtzbahres Gut gehalten. Ein Leib - eigner Sclave iſt nach allen Rechten dem Viehe oder denen Todten gleich geachtet / was iſt aber elender als ein Vieh oder ein todes Aas? Und ein Eingekerckerter / noch vielmehr aber ein zur ewigen Gefaͤngniß Verdammter iſt lebendig todt.

14.

Aber kehre du dich hieran ſo viel als nichts. Jſt die Freyheit gleich ein unſchaͤtz - bahres Gut / ſo beweiſet dieſes doch nur ſo viel / daß ſie allen Geld und Reichthumb vorzuziehen ſey / nicht aber daß z. e. ein Unterthaner oder auch ein Leibeigner deshalben elend ſey. Du magſt noch ſo frey ſeyn als du wilſt / wenn du kranck biſt / ſo iſt ein geſunder Sclave viel gluͤck - licher als du.

15.

Wird gleich ein Sclave in denen Buͤr - gerlichen Rechten den Toden gleich geachtet / ſo gehet doch dieſes nur die Freyheiten an / diedenen63Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.denen freyen Buͤrgern zukommen / und die ein Menſch als ein Menſch gar wohl entbehren kan. Jn Betrachtung der natuͤrlichen Rechte werden ſie ſo wohl als andere Menſchen auch in denen Roͤmiſchen Rechten geachtet.

16.

Ja was wilt du von denen alten Leib - eigenen / daß ſie dem Viehe und Toden gleich geachtet werden / viel ſagen? Das Roͤmiſche Recht iſt oͤffters gewohnet in ſeinen fictionibus und ſonſten eine Sache anders und haͤrter zu - beſchreiben als ſie iſt. Die Roͤmiſche Leibei - gene hatten offt beſſere Tage und ein vergnuͤg - ter Leben / als / ich wil nicht ſagen / unſere Bauren / ſondern viel von unſern wohlhabenden Buͤr - gern / von was Stande ſie auch ſeyn. Und ge - ſetzt auch / daß ihrer viel in einen geringen und dem aͤußerlichen Anſehen nach armſeligen Zuſtand lebeten / ſo wolte ich doch lieber der armſelige Epictetus als ein Cæſar oder Antonius, oder auch gar Auguſtus ſeyn.

17.

Endlich iſt ſchon ein zu ewiger Gefan - genſchafft Verdammter in anderer Leute An - dencken lebendig tod / ſo hat er doch mehr Ge - legenheit in ſeiner Gefaͤngniß fuͤr ſich ſelber zu leben; ja manchen reiſſet GOTT durch dieſes Mittel aus dem lebendigen Tode der Wohlluſt / des Geld - und Ehrgeitzes heraus / daß er in dem Kercker durch die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt zu le - ben anfaͤngt. Zudem iſt doch auch ein des Lan - des Verwieſener in Anſehen des Buͤrger-Rechts(das64Das 2. Huptſt. von der groͤſten(das wir allhier / wie erwehnet / nicht betrachten) tod / ob er ſchon in der groͤſten Freyheit lebet.

18.

So zieret auch hiernechſt zwar das de - corum einen Menſchen uͤberaus ſehr / ja es ſte - het auch daſſelbige in des Menſchen ſeiner Will - kuͤhr / oder es kan doch zum wenigſten von allen und jeden / in was Stande ſie ſeyn / ohne Muͤhe und Koſten erhalten werden. Aber es macht doch deswegen das decorum einen ungeſunden in Jrrthuͤmern und Laſtern ſteckenden Men - ſchen nicht gluͤcklich / ja der Mangel des deco - ri (wenn wir denſelben nur von dem indecoro oder der Unverſchamheit recht entſcheiden) macht den Menſchen ſo wenig Elend / als we - nig der Mangel ſchoͤnen Haares den menſchli - chen Leib verſtimmelt.

19.

Aber nun muͤſſen wir die jenigen Guͤter betrachten / die wir oben als edele und noth - wendige angegeben / aus denen nemlich des Menſchen ſein Weſen beſtehet / nemlich die Goͤter des Leibes und der Seelen. Allwo wir zufoͤrderſt die gemeinen Jrrthuͤmer vermei - den muͤſſen / welche dieſe Guͤter ein ander ent - gegen ſetzen / als wenn eines ohne dem an - dern ſeyn und der Vernunfft nach erhalten werden koͤnte / oder als ob er nur des Menſchen Weſen in der Seele alleine beſtaͤnde.

20.

Hieher gehoͤret / wenn man faſt insge - mein zum Leibe die Geſundheit und Gantz - heit der Glieder / zur Seele aber erſtlich dasLeben65Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.Leben / hernach die Sinnligkeiten / und dann die Vernunfft rechnet; man moͤge nun dafuͤr halten / daß der Menſch drey Seelen habe / ei - ne Wachßthuͤmliche / eine Sinnliche und eine Vernuͤnfftige / oder das die menſchliche Seele dreyerley wuͤrckende Eigenſchafften habe / davon das Leben dem Menſchen mit dem Pflan - tzen / und die Sinnligkeit ihme mit den Thieren gemein ſey / die Vernunfft aber ihme alleine zu - ſtehe / daher auch der Menſch erſt in Mutter - Leibe als eine Pflantze / hernach nach ſeiner Ge - burt in ſeiner erſten Kindheit als ein Thier le - be / biß er endlich / wenn er ſeine Vernunfft zu brauchen anfange / auch anfange als ein Menſch zu leben.

21.

Woraus man ferner zu folgern pfleget / daß das Leben der Geſundheit / die Sinn - ligkeit aber dem Leben / und die Vernunfft allen dreyen fuͤrzuziehen / woraus viel inconve - nientiæ erwachſen / die wir eben jetzo nicht beruͤh - ren wollen.

22.

Gleicher weiſe iſt auch ein Jrrthum / wenn man den Leib nur fuͤr ein Gefaͤngniß und nicht fuͤr ein Theil der Seele haͤlt. Weßhalb man hernach nicht eben bewundern darff / wenn die Stoiker und Epicureer auff den Schwarm gerathen / daß ein weiſer Mann mitten im Fener eben ſo ruhig ſey / als wenn er in ei - nem Roſen-Garten ſaͤſſe / oder wenn ſie ge - ſagt / bey ereigneten großen SchmertzenEſchrie66Das 2. Hauptſt. von der groͤſten.ſchrie zwar der Mund eines weiſen Man - nes / aber ſeine Seele waͤre ruhig; und was dergleichen ungegruͤndete Dinge mehr fuͤrge - bracht werden.

23.

Wir wiſſen / daß der Menſch aus zwey weſentlichen Theilen dem Leib und Seele be - ſtehet / und rechnen das Wachsthum und die Sinnligkeiten zu dem Leibe / die Gedancken aber alleine zu der Seele.

24.

Derowegen wenn das Leben des Men - ſchen vor die Vereinigung des Leibes und der Seelen genommen wird / ſo iſt es kein Zweiffel / es iſt das Leben der Grund des groͤſten Gu - tes des Menſchen; Denn es iſt ſo dann ſelbi - ges nichts anders als die Dauerung des menſch - lichen Weſens / und begreifft zugleich die Bewe - gung des Gebluͤts / und der Bewegungs - Geiſter wie nicht weniger der Seelen und die Gantzheit derer Theile des Menſchlichen Coͤrpers / darinnen dieſe Bewegungen vorge - hen / in ſich.

25.

Und zwar ſo ſind dieſe vier Stuͤcke dergeſtalt mit einander verknuͤpfft / daß keines ohne das andere ſeyn kan / und daß von dem beſtaͤndigen wohl ſeyn des einen auch die Guͤte des andern dependiret.

26.

Wo keine Theile des menſchlichen Leibes ſind / da iſt kein Menſch. Und wo in dieſen Theilen keine Bewegung des Gebluͤ -tes67Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.tes iſt / iſt der Menſch tod / und folglich hat er auch keine Sinnligkeiten und Vernunfft mehr.

27.

Wo keine Bewegung in den Senn - Adern mehr iſt / koͤnnen ſich auch die aͤuſſerliche Gliedmaſſen nicht bewegen ja der menſchliche / Coͤrper hat keine Empfindligkeit mehr. Wo aber der Menſch keine Bewegung und Em - pfindligkeit mehr hat / iſt er tod. Und wie wolte denn nun in einem Toden Menſchen das Gebluͤte ſich bewegen / in welcher Bewegung des Leibes Leben iſt. Ja wie wolte ein todter Menſch dencken und ſeine Vernunfft brauchen.

28.

Zugeſchweigen daß die Bewegung in denen Senn-Adern und Blut-Adern derge - ſtalt mit einander verknuͤpfft iſt / und jenes / wenn es recht gebraucht wird / auch dieſes in ſeinen ordentlichen Zuſtand erhalten hilfft / und im Ge - gentheil wenn man die aͤuſſerliche Bewegung gar zu ſehr ſpahret / auch die Bewegung des Gebluͤts ſtocken und faul zu werden anfaͤngt.

29.

So iſt auch / was die Vernunfft betrifft / bekant / das nach unterſchiedener Arten der Be - wegung in dem Gebluͤte die Gedancken mun - ter oder verdroſſen / und nach denen unterſchie - denen Arten der Bewegung in denen nerven die Gedancken begierig oder gleichguͤltig ſeyn / und alſo allezeit die menſchliche Vernunfft nach Art dieſer beyderley Bewegung geaͤndert wird. Was ſolte ſie dannenhero wohl dencken / wennE 2keine68Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenkeine Bewegung weder im Gebluͤte noch in de - nen Senn-Adern vorginge.

30.

Endlich wenn die Seele ſich nicht mehr in dem menſchlichen Gehirne bewe - get / als derer Weſen in einer ſteten Bewegung beſtehet / ſo iſt der Menſch gleichfalls kein Menſch mehr; ja es waͤre dieſes eine Anzeigung / daß er nicht mehr lebete / weil bey dem Leben des Menſchen in deſſen Gehirne alle Bewegung des Gebluͤtes und zu den Senn-Adern gehoͤrige Geiſtergen præpariret werden. Wenn nun in dem Gehirn das Haupt Bewegungs-Rad des Menſchen die Seele ſtockte und ſich nicht be - wegete / wegen welches doch alle Bewegungen des Gebluͤtes und der Senn-Adern von dem Schoͤpffer geordnet ſind / wie wolte dieſe præpa - ration darinnen vorgehen koͤnnen / und zu was Ende ſolte dieſelbe geſchehen?

31.

Daß man aber dieſe dreyerley Bewe - gungen des menſchlichen Lebens nebſt der Gantz - heit der menſchlichen Gliedmaſſen insgemein betrachtet / ob koͤnten ſie von einander abge - ſondert werden / iſt daher kommen / daß man in denen vorkommenden Einwuͤrffen die Sa - chen nicht genaue unterſucht / und durch eine merckliche præcipitantz ſich betrogen.

32.

Wir wollen von dem Zuſtand der Kin - der in Mutter-Leibe nicht viel ſagen / denen etliche von denen Alten Weiſen nur eine wachs - thuͤmliche / andere aber auch die ſinnliche / undnoch69Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.noch andere auch die vernuͤnfftige Seele ſcheinen gegeben zu haben / weil die Empfaͤngniß und Verfertigung der Kinder in Mutter-Leibe wohl ſtetswehrend unſerer ſchwachen Vernunfft un - erkant bleiben wird. Wir wollen nun von de - nen ſagen die in Ohnmacht liegen. Bey dieſen ſcheinet die Bewegung des Gebluͤtes verſchwunden zu ſeyn / und dennoch leben ſie noch / weil ſie nicht unter die Todten koͤnnen ge - zehlet werden. Alleine man muß einen Unter - ſchied unter einen langſamen und gar keiner Be - wegung machen. Das Gebluͤte (wie auch nicht weniger die Bewegungs-Geiſter) beweget ſich bey den in Ohnmacht liegenden ſehr langſam / daß man ſolche von auſſeu nicht empfindet; aber es beweget ſich doch.

33.

Gleich ergeſtalt wenn einer von Schlag geruͤhret wird / wenn der Schlag die Bewe - gung in denen Senn-Adern gantz auffhebet / ſo iſt der Menſch tod / ſchwaͤchet er aber dieſelbe nur / oder verderbet ſie in einem oder etlichen Gliedmaſſen / ſo bleibet der Menſch zwar noch am leben / aber man kan ſo denn dieſes nicht fuͤr ein Exempel annehmen / daß der Menſch koͤnne leben bleiben / wenn er gleich keine Bewe - gung in denen Senn-Adern habe.

34.

Ferner naͤrriſche und raſende Leute haben warhafftig Vernunfft / ſie geden - cken wuͤrcklich (und wenn ſie auch nicht ge - daͤchten / ſo bewegete ſich doch ihre menſchlicheE 3Seele70Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenSeele in ihnen / wie in denen kleinen Kindern und harte ſchlaffenden) aber ſie gedencken ver - wirrt und naͤrriſch / weil die kleinen Theile im Gehirne verruͤckt ſeyn / oder wegen anderer Ur - ſachen. Und ſolchergeſtalt ſchickt ſich dieſes Exempel wieder nicht darzuthun / daß ein Menſch ohne Bewegung der Seele leben koͤnne.

35.

Jch weiß zwar wohl / daß dieſe meine Lehre denen / die keine Carteſianer ſeyn / wunder - lich vorkommen werde; aber wenn ſie deswe - gen denen raſenden und naͤrriſchen die Ge - dancken nehmen wollen / weil ihre Gedan - cken ſo unvernuͤnfftig ſind / ſo muͤſſen ſie auch ſagen; daß die Treumenden nicht geden - cken / ja daß ſo viel wachende / kluge / gelehrte und vornehme Leute nicht gedaͤchten / die z. e. vor - geben / man doͤrffe von ſeiner Vor fahren Meinun - gen nicht abweichen / man muͤſſe einen Beruff haben gutes zu thun; Erde / Waſſer / Lufft / und Feuer waͤren vier Elemente / u. ſ. w. welches doch gewiß ſehr unfoͤrmlich und von keinem Menſchen geglaubet werden wuͤrde.

45.

Endlich ſo iſt es zwar an dem / daß der Menſch zur Noth von denen Gliedmaſſen ſei - nes Leibes einen Arm oder ein Bein miſſen kan / aber deswegen kan er den Kopff nicht miſſen / vielweniger eine hauptſaͤchliche Verle - tzung in Gehirne / Hertzen / denen groſſen Blut-Adern u. ſ. w. leiden / geſchweige denn daßer ohne71Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.er ohne alle Theile des Leibes ſolte beſtehen koͤnnen.

37.

Ob nun aber ſchon dieſe vier Stuͤcke des menſchlichen Lebens nicht ohne einander ſeyn koͤnnen / ſo iſt doch nicht zu laͤugnen / das dieſel - bigen zum Theil verringert werden koͤnnen / daß es dem gantzen nicht ſchade / alswenn ein Menſch ein Arm oder Bein verlieret / wenn er einekleine und nicht lange daurende alteration in Gebluͤte hat / wenn ihm durch ein Schlag ei - ne Hand gelaͤhmet wird / wenn ſein Verſtand einmahl nicht ſo munter iſt als das andere u. ſ. w. oder daß ein Theil ſchwaͤcher ſeyn koͤnne als der andere; als z. e. wenn ein Menſch kei - ne Arme hat / kan er ſich angewoͤhnen die Fuͤſſe an ſtatt der Haͤnde zugebrauchen; wenn er blind iſt / kan er den Unterſcheid der Farben durch das Gefuͤhle finden; Was dem Gedaͤchtnuͤß abgehet / waͤchſet dem judicio zu u. ſ. w. oder daß der Menſch zuweilen in einer groſſen Noth ſich befindet eines von zweyen Ubeln zu erkieſen / und ſich reſolviren muß eiu Stuͤck zu wagen / daß er das andere erhalte.

38.

Und weil demnach / wie wir oben erweh - net / das kleineſte Gut fuͤr ein Ubel / das kleineſte Ubel aber fuͤr etwas gutes zu halten; ſo muͤſſen wir freylich unterſuchen / welches von denen weſentlichen Guͤtern des Menſchen in Ge - geneinanderhaltung dem andern vorzuzie - hen ſey. Aber damit dieſe unſere BetrachtungE 4hierin -72Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenhierinnen nicht gar zu weitlaͤufftig werde / und weil es ohne dem keines groſſen Kopffbrechens in Gegeneinanderhaltung der Theile des Menſchlichen Coͤrpers oder der Sinnligkeit - ten braucht / ſondern dieſelbe von Leuten die einen natuͤrlichen Verſtand haben / gar leichte eroͤrtert werden kan. Als wollen wir nur uͤber - haupt die Guͤter des menſchlichen Leibes / die wir oben allbereit zuſammen genommen Geſund - heit genennet / gegen die Guͤter der Seelen halten / und hernach mahls dieſe Lehren gegen einander etwas genauer beleuchten.

39.

Was demnach die Leibes-Geſundheit anlanget / ſo iſt kein Zweiffel / das dieſelbige zwar der groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen eine ziemliche Vollkommenheit gebe / aber doch in ſelbiger die wahre Gluͤckſeeligkeit ſelbſt nicht beſtehen koͤnne / theils weil dieſe Geſundheit nicht allemahl in des Menſchen ſeinen Willen ſte - het / ſondern vielen aͤuſſerlichen Zufaͤllen unter - worffen iſt / und ein Menſch durch die Gewalt anderer derſelben beraubet werden kan / theils / weil dieſelbige an und fuͤr ſich ſelbſt den Men - ſchen nicht gluͤcklich / noch dererſelben Berau - bung ihn elend machen kan.

40.

Bilde dir nur einen Menſchen ein / der geſunde ſtarcke Gliedmaſſen hat / der wohl iſſet und trincket / auch ſeine Speiſſe und Tranck wohl verdauet / und zu allen Leibes-Ubungen geſchickt iſt. Was hilfft ihn aber dieſes alles /wenn73Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.wenn er in der Unwiſſenheit und Jrrthuͤ - mern ſteckt / und wegen der Vorurtheile der menſchlichen autoritaͤt und eigenen præcipitantz das wahre von den falſchen nicht entſcheiden kan; Jſt er nicht in der That ein recht elender Menſch / weil er wegen dieſer Vorurtheile taͤg - lich von dem ihm von GOtt fuͤrgeſetzten Zweck immermehr und mehr abweichet / und ſind in ſo weit die unvernuͤnfftigen Thiere nicht beſ - ſer dran / weil ſie durch ihren innerlichen Trieb ihren Entzweck viel beſſer erreichen als ein ſol - cher Menſch? Ja iſt das Elend eines ſolchen Menſchen nicht deſto gefaͤhrlicher zu achten / weil ihn daſſelbige ſo ſtarck verblendet / daß er es nicht einmahl erkennet / ſondern ſeinen Zuſtand fuͤr gut und ſich fuͤr gluͤcklich achtet?

41.

Wenn er aber noch uͤber dieſes ſich we - gen ſeines gefuͤhrten Laſterhafften Lebens in einer rechtſchaffenen Gemuͤths-Unruhe und Gewiſſens-Angſt befindet / was iſt wohl elen - der als ein ſolcher geſunder Menſch? Und iſt die Unruhe ſeines Gemuͤhts nicht capabel ihm die Kraͤffte ſeiner Geſundheit durch einen langwei - ligen Tod gleichſam abzuzehren / und ihn der - ſelben zuberauben?

42.

Hingegen wenn ein weiſer und Tugend - hafftiger Mann an einen ſochtenden Fieber / an der Schwindſucht u. ſ. w. darnieder liegt / kan man ihn wohl mit recht ungluͤcklich nennen / wenn ſein Verſtand ruhig und ſein GemuͤtheE 5ver -74Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenvergnuͤgt iſt / ob er gleich nicht in einen ſo ho - hen grad gluͤcklich iſt / als wenn er nebſt ſei - ner Weißheit und Tugend auch geſund waͤre.

43.

Ferner unter denen Guͤtern der menſch - lichen Seele muͤſſen wir uns wohl in acht nehmen / daß wir in Gegeneinanderhaltung der Erkaͤntnuͤß des wahren und falſchen / die in Verſtande ihren Sitz hat / und denen von des Menſchen Willen, herruͤhrenden tugend - hafften Thaten nicht einen unvernuͤnfftigen Ausſchlag geben. Zwar koͤnnen dieſe Letztern ohne vernuͤnfftige Einrichtung des Wahns in dem Menſchlichen Verſtande nicht beſtehen; alleine wenn ſonſt nichts waͤꝛe / ſo ſind ſie doch des - wegen viel vortrefflicher als jene / weil der Verſtand / ſo ferne er mit dem Guten zu thun hat / daſſelbige nur erkennet / niemahlen aber daſſelbige erlanget / ſondern das Gute in Anſe - hen des Verſtandes nur allezeit als ein entfer - netes und zukuͤnfftiges Ding betrachtet werden muß / welches der Verſtand niemahlen ergreif - fet noch ergreiffen kan; da hingegen der Wille ſo ferne er dem aͤuſſerlichen Thun und Laſſen anbefiehlet / dem Guten nachzujagen / daſſelbige auch erhaͤlt / und dardurch der Menſch des Gu - ten genieſſet.

44.

Wir wollen / dieſes deſto beſſer zu verſte - hen / noch nicht einmahl ein Exempel von der groͤ - ſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen / ſondern nur von denen bisher erzehlten andern Guͤtern ge -ben.75Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.ben. Was hilfft es dem Menſchen / wenn er gleich noch ſo ſcharffſinnig raiſoniret / wie man ſich ehrlich in der Welt hinbringen / nach Ehren trachten / Freunde erwerben / und ſei - ne Freyheit recht gebrauchen ſolle; wenn er von artigen Sitten / die man in gemeiner Ge - ſellſchafft braucht / wohl zu diſcuriren weiß; wenn er von der menſchlichen Geſundheit / wie man dieſelbe erhalten / und die verlohrne wieder bringen ſolle / gruͤndlich zu reden und zu ſchrei - ben weiß / und verſchwendet alle das ſeinige / oder iſt faul und wil nichts arbeiten / oder ach - tet weder Ehre noch Schande / und kan ſich mit niemand vertragen / oder mißbrauchet ſei - ne Freyheit / oder hat ſelbſt bauriſche und grobe mores an ſich / oder verderbet durch un - ordentliches Leben die ihm von GOtt verliehe - ne Geſundheit; kan wohl die Erkaͤntniß der Wahrheit / die er vermittelſt ſeines Verſtandes begreifft / ihn gluͤcklich machen? oder vermehret ſie nicht vielmehr ſeine Unruhe / je mehr er da - durch ſein uͤber den Hals gezogenes Elend zu erwegen Gelegenheit uͤberkoͤmmt / und durch ſei - ne eigene Gedancken ſich zu verdammen genoͤh - thiget wird?

45.

Betrachte hingegen einen Menſchen / der nur einen gemeinen natuͤrlichen Verſtand hat / und ſich nicht eben fuͤr einen Gelehrten ausgeben kan / er ſey nun von was fuͤr einem Stand er wolle / wenn er ein ehrlich Vemoͤ -gen76Das 2. Hauptſt. von der groͤſtengen fuͤr ſich bringet / und daſſelbige kluͤglich ver - waltet / ſich durch ſeine Geſchicklichkeit aus dem Staube erhebet / und von allen Ehr - und tu - gend-liebenden Gemuͤthern geliebet und hoch - gehalten wird / wenn er ſeine Freyheit in nichts anders ſuchet / als wie er andern Men - ſchen gutes thun / und ſie fuͤr unrechtmaͤßiger Gewalt und Unterdruͤckung beſchuͤtzen moͤge / wenn er jederman mit Hoͤffligkeit begegnet / und allen allerley wird / damit er viele gewinnen moͤge; und wenn er endlich durch ein maͤßiges Leben und Beherrſchung ſeiuer Gemuͤths-Nei - gungen ſeine Geſundheit in dem Zuſtand / wie ſie ihm GOtt verliehen hat / erhaͤlt / findeſt du wohl die geringſte Urſache zu zweiffeln / daß ein ſolcher Mann nicht weit gluͤckſeeliger ſeyn ſolte als der erſte?

46.

Bey dieſer Bewandniß aber iſt noch weniger Zweiffel uͤbrig / daß diejenigen Wiſſen - ſchafften / in denen ſich der menſchliche Verſtand vertiefft / umb ſich nur uͤber andere Menſchen durch Speculirung ſubtiler aber unnuͤtzlicher Dinge oder nichts bedeutender dunckeler Woͤr - ter / oder wenn es hoch koͤmmt / artiger und be - luſtigender Dinge / zu erheben / gantz nicht zur groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen gehoͤ - ren / ſondern entweder unter das groͤſte Ungluͤck zu rechnen / oder fuͤr bloſſe Zierrathen eines gluͤckſeeligen Mannes zu halten ſeyn / welche wenn ſie keine Gluͤckſeeligkeit / die ſie zieren koͤn -nen /77Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.nen antreffen / bey nahe ſo eitel ſind als die Wiſſenſchafften der erſten Gattung / als z. e. die Scholaſtiſche Philoſophie, die gemeine Lo - gic, die Philologie, Hiſtorie, Poẽterey / Rede - Kunſt / u. ſ. w.

47.

Geſetzt aber der Menſch ſuche durch die Wiſſenſchafften dergleichen Vorzug nicht / ſon - dern ſey nur bemuͤhet ſeinen Verſtand auszu - beſſern / und durch Erfindung neuer Warheiten dem menſchliehen Geſchlecht in der That zu die - nen; es waͤren aber dieſelben alſo bewand / daß ſie ihn in Betrachtung derer Geſchoͤpffe auſſer ihn ſelbſt von der Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt im - mer mehr und mehr abfuͤhreten / als wie z. e. bey denen geſchiehet / die ſich in der Phyſic und de - nen Mathematiſchen Wiſſenſchafften allzuſehr vertieffen; ſo ſcheinet es zwar anfangs / das dieſe Dinge / wo nicht die groͤſte Gluͤckſeeligkeit voll - ſtaͤndig ausmachten / doch zum wenigſten ein vornehmes Theil von derſelbigen austruͤ - gen / weil nicht zu laͤugnen iſt / daß die Erfin - dung ſolcher Wahrheiten den Menſchen ein groſſes Vergnuͤgen geben / und z. e. die Erfin - dung einer Mathematiſchen oder Phyſiſchen Wahrheit den Menſchen ja ſo ſehr beluſtiget / als die ſinnlichen Luͤſte immer mehr thun koͤn - nen / zumahl wenn man erweget / daß dadurch der Leib nicht geſchwaͤchet und umb ſeine Geſund - heit gebracht wird: jedoch aber wenn man die Sache einwenig reifflicher uͤberleget / wird manbald78Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenbald gewahr werden / daß auch dieſe Meinung den Stich nicht halten koͤnne.

48.

Zwar wil ich darwieder nicht anfuͤhren / daß dergleichen Leute gemeiniglich etwas irregulaires und ungewoͤhnliches von denen gewoͤhnlichen Sitten an ſich haben / und manchmahlen ein groſſer Uberfluß von der Er - mangelung des decori bey ihnen auzutreffen ſey. Denn zugeſchweigen was ich allbereit oben von dem Mangel des decori uͤberhaupt angemercket habe / ſo wuͤrden ſich bey ſolchen Leuten Urſa - chen genung finden laſſen / entweder dieſen klei - nen Fehler zu entſchuldigen / oder demſelbigen die Artigkeit und den Nutzen der von ihnen er - fundenen Warheiten entgegen zuſetzen.

49.

So wil ich auch nicht erwehnen / das die - ſe Gelehrte gar ſelten Meiſter von ihren af - fecten ſind / ſondern ob ſie ſchon gemeiniglich von der Wohlluſt und Geld-Geitz befreyet le - ben / dennoch ſich ſelten in der Ungedult / Zorn / Eyffer / Mißtrauen / Beneidung und Ehr-Gier - de bendigen koͤnnen. Denn dieſes alles ſcheinet ſeine Abfaͤlle hin und wieder zu haben / und derowegen nicht ſo wohl denen Wiſſen - ſchafften ſelbſt / als deren Mißbrauch zuzuſchrei - ben zu ſeyn.

50

Sondern ich wil nur dieſes erinnern / daß ſich dieſe wackere Leute ſehr betriegen / wenn ſie meinen / ſie haͤtten eine ruhige Beluſti - gung durch dieſe Wiſſenſchafften erhalten / undſich79Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.ſich alſo zu der groͤſten Gluͤckſeeligkeit erheben koͤnten. Beyde haben ein unerſchoͤpffliches Meer unzehlicher Wahrheiten / die der Menſch nicht auslernen kan / wenn er gleich noch ſo alt wuͤrde. Beyde treiben den Menſchen / wenn er einmahl hinein gerathen zu einer ſolchen unruhi - gen Begierde an immer was neues zu erfinden / daß er ſeiner ſelbſt und aller ſeiner andern / auch der groͤſten Guͤter daruͤber vergißt; das wir dannenhero allbereit anders wo die Beluſtigung / die ein Menſch in Erforſchung ſolcher Sachen empfindet / mit dem Vergnuͤgen eines durſtig ge - weſenen Menſchen verglichen / der ein liebliches Getraͤncke getruncken / welches aber den Durſt nicht ſtillet / ſondern denſelben noch ſtaͤrcker zu er - wecken vermoͤgend iſt.

51.

Du magſt aber dieſe Betrachtung wohl bey dir reifflich uͤberlegen / weil etliche gelehrte Leute / die von dieſen ſonſt Lob-wuͤrdigen Wiſſen - ſchafften truncken gemacht ſind / aus Paſſion gegẽ dieſelben / ſie allzuſehr erheben / und die Erfin - dung dergleichen neuen Wahrheiten fuͤr das groͤſte Gut auszugeben ſich unterſtehen.

52.

Wir haben den Willen des Menſchen noch uͤbrig. Dieſer wie wir allbereit erwehnet / jaget dem erkandten Gut nach / und erlanget daſſelbige auch / und folglich iſt er dem Guten zwar naͤher als der Verſtand; Aber doch we - der er ſelbſt / noch die von ihm her dependirenden aͤuſſerlichen Thaten des Menſchen koͤnnen dashoͤchſte80Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenhoͤchſte Gut ſein / weil ſie nach demſelben trach - ten / und dadurch anzeigen / daß es in ihnen nicht beſtehe.

53.

Daß man aber insgemein das groͤſte Gut in dem Thun des menſchlichen Willens geſucht / iſt daher entſtanden / daß wie man bey denen Guͤ - tern des Leibes dieſelbigen betrachtet als wenn ſie wuͤrcklich koͤnten von einander geſondert wer - den; alſo auch bey denen Guͤtern der Seelen die - ſe irrige Meynung geheget / als ob der Verſtand ohne dem Willen ſeyn koͤnte / und der Wille ohne Verſtand / woraus hernach die ſchoͤne Fa - bel entſtanden / das man in der Lehre von dem Ur - ſprung und Fortſetzung des menſchlichen Thun und Laſſens den Willen als einen Koͤnig / den Verſtand aber als einen Rath vorgeſtellet / der einen andern feindſeeligen Rath / nemlich die ſinnliche Begierde an der Seite haͤtte / welche beyde einander zuwieder waͤren / und den guten Herrn Koͤnig gleichſam bey dem Ermel von einer Seiten zu der andern zerreten / biß endlich einer von beyden die Oberhand behielte.

54.

Gleich wie aber die gelehrten Leute die ſich dieſes Poſſen-Spiels in Unterweiſung der ſtudi - renden Jugend bedienen / haͤtten bedencken ſollen / daß die ſinnliche Begierde ein ungeſchaffe - ner Zwitter ſey / den ihr Gehirne aus Vermi - ſchung des Verſtandes und Willens gemacht; alſo haͤtten ſie ſich auch erinnern ſollen / daß ſie ſelbſten ſagen / daß man keine Begierdezu81Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.zu etwas haben koͤnne / was man nicht wiſſe. Weil nun alle Wiſſenſchafft dem Verſtande des Menſchen alleine / nicht aber wie man traͤumet / auch denen dem Verſtande entgegen geſetzten Sinnligkeiten zuzuſchꝛeibẽ iſt / ſo wuͤꝛde gewiß der menſchliche Verſtand es ſich ſelber zuzuſchreiben haben / wenn er von der ſinnlichen Begierde ange - feindet wuͤrde / weil dieſe Anfeindung nothwen - dig von der von dem Verſtande erhaltenen Er - kaͤntniß herruͤhren wuͤrde: Andere Unfoͤrmlig - keiten / die aus dieſer abſurden Meinung herflieſ - ſen / anjetzo zu geſchweigen.

55.

Wir wiſſen vielmehr / daß der Verſtand des Menſchen und ſein Wille ſtetsweh - rend mit einander vereiniget ſeyn / und daß die menſchliche Seele auſſer dieſen zweyen Kraͤff - ten keine Dritte habe / ſondern daß die insge - mein ſo genandte ſinnliche Begierde nichts anders als der verderbte Verſtand und Willen des Menſchen ſey. Wir wollen uns nur hier - zu ihrer eigenen gemeinen Lehren bedienen. Man ſagt der Wille trachte allezeit nothwendig nach dem Guten / und der Verſtand urtheile von dem Guten / und alſo kan es nicht fehlen / es kan kein Wille ohne Verſtand / noch der Verſtand oh - ne Willen ſeyn; ja es ſey ſo gar unfoͤrmlich / wenn man ſage / der Wille ſey dem Verſtande zuwieder / und beherſche ihn / daß vielmehr / wenn wir ja in dieſer Lehre das beſagte Gleichmß brau - chen wollen / der Verſtand Koͤnig waͤre / derFWille82Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenWille aber nichts anders als ein Diener / der nichts anders thun als dasjenige hohlen kan was ihm der Koͤnig gewieſen.

56.

Und thut nichts zur Sache / daß wir gleichwohl bey uns ſelbſt empfinden / daß wir dasjenige oͤffters nicht wollen / was wir doch begreiffen und verſtehen daß es gut ſey / ſondern vielmehr mit unſern Willen / und dem davon dependirenden Thun und Laſſen die - ſen Verſtand zuwieder leben. Denn wenn wir die Sache genau uͤberlegen wollen / werden wir befinden / daß nicht ſo wohl der Wille dem Ver - ſtande / als Wille und Verſtand zuſammen den vorhergehen Willen und Verſtan - de zuwieder ſind. Ein ſeinen Begierden unter - worffener Menſch hat ja etliche ruhige Augen - blicke / darinnen er das warhafftige Gute er - kennen kan / und in denenſelben Augenbluͤcken iſt auch der Wille bereit darnach zu ſtreben. Die - weil aber die Begierden alsbald wieder die O - berhand erhalten / ſo wehret der vorige Wille auch nur einen Augenblick / aber es veraͤndert ſich auch mit dem Willen ſo fort der Verſtand / daß der Menſch zur Zeit / da er nach dem Antrie - be ſeiner Begierden ſein Thun und Laſſen ein - richtet / auch nothwendig die Sache wornach er ſtrebet / vor das groͤſte Gut halten / und die vo - rigen vernuͤnfftigen Gedancken aͤndern muß; welches ein jeder Menſch bey ſich ſelbſten nur abnehmen kan.

57. Wo83Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.

57.

Wo wollen wir aber nunmehro die groͤſte Gluͤckſeeligkeit des Menſchen ſuchen / nachdem ſelbige weder in dem Verſtande noch dem Wil - len des Menſchen zu finden iſt / und wir nun - mehro keinen Theil des Menſchen nicht mehr uͤbrig haben. So wird vielleicht dieſe groͤſte Gluͤckſeeligkeit nur in einer eitelen Einbildung und in bloſſen Gedancken beſtehen?

58.

Du haſt recht mein Freund / ob du dich gleich ſehr irreſt. Es beſtehet ja die groͤſte Gluͤck - ſeeligkeit in denen Gedancken und in der Ein - bildung aber nicht in bloſſen Gedancken und in einer eitelen Einbildung. Und ſo wenig als wir in der Vernunfft-Lehre das wahre in denen bloſſen Sinnligkeiten / noch in denen bloſ - ſen ideis, ſondern in beyden zugleich ſuchen muͤſ - ſen / ſo wenig muͤſſen wir auch die groͤſte Gluͤck - ſeeligkeit in dem Verſtande oder Willen allei - ne / ſondern in beyden zu ſammen / das iſt in der nein, Gedancken ſuchen. Denn der Verſtand und Wille dencken allebeyde / und wenn wir alles beydes zuſammen nehmen / pfleget man es das Gemuͤthe des Menſchen zu nennen.

59.

Ohne die Gedancken hat der Menſch keine Empfindung auch von der geringſten Gluͤckſeeligkeit / noch von einigen Ungluͤck / welches man gar leicht begreiffen kan / wenn man ſich nur das Exempel eines neugebohrnen Kindes eines raſenden / eines hoͤchſttrunckenen und in ei - nem ſehr tieffen Schlaffe liegenden MenſchenF 2vor -84Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenvorſtellet / die ſehr verwundet ſeyn und dieſelben ein wenig mit Philoſophiſchen Augen beleuchtet / auch aus ihren Schreyen und anderen Unge - behrden nicht ſo fort auff ihre Empfindligkeit ſchlieſſet.

60.

So beſtehet auch das Vergnuͤgen / das der Menſch uͤber alle Guͤter empfindet / mehr in den Gedancken als in der Genieſſung ſel - ber / wenn nehmlich der Menſch ein ohnlaͤngſt genoſſenes Gut ſich als noch oder allbereit ge - genwaͤrtig vorſtellet / wie wiederum ein jeder bey ſich ſelbſt abnehmen und dieſes paradoxon durch 1000 Exempel bekraͤfftigen kan.

61.

Dieweil aber ein jedweder bey ſich ſelb - ſten befindet / daß er offters in ſeinen Gedancken uͤber Dinge ſich beluſtiget / die eitel / vergebens / oder auch wohl ſchaͤdlich geweſen; ſo wird er dannenhero gar leichte muthmaſſen koͤnnen / daß die Gedancken des Menſchen ſein Ungluͤck ſo wohl als ſein Gluͤcke machen koͤnnen: und muß dannenhero deſto genauer beſehen / in wel - chen Gedancken denn diejenige Gluͤckſeeligkeit beſtehe / daran der Verſtand wohl dencken und der Wille eyffrig darnach trachten ſolle.

62.

Hierzu wird er aber gar leichte gelan - gen koͤnnen / wenn er aus dem erſten Capitel wiederholet daß das Wohlſeyn aller Dinge in einer ruhigen und nach Gelegenheit des Weſens der Dinge maͤßig veraͤnderlichen Bewegung beſtehe / Woraus denn ſo fort fol -get85Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.get / daß alle unruhige und allzuveraͤnder - liche Gedancken des Menſchen boͤſe ſeyn / hin - gegentheil aber in ruhigen und maͤßig ſich veraͤndernden Gedancken des Menſchen ſeine wahre / einige und groͤſte Gluͤck ſeeligkeit be - ſtehe.

63.

Und dieſe iſts / woraus die alten Welt - Weiſen die das hoͤchſte Gut in einer Gemuͤths - Ruhe oder in einer Beluſtigung des Ge - muͤths geſuchet haben / ihr Abſehen gerichtet - Wir wollen keines weges mit dir der Worte oder des Nahmens halber ſtreiten / wenn wir nur in der Sache uͤberein kommen.

64.

Allen Streit aber dißfalls deſto beſſer zu heben / waͤre es wohl gut / wenn wir eine deut - liche Beſchreibung derſelben geben koͤnten; Dieweil ſie aber einig iſt / und ihres gleichen nicht hat / auch ſolchergeſtalt von denen die ſie beſitzen beſſer empfunden / als von andern deut - lich verſtanden wird / muſt du es ſo genau nicht mit uns nehmen / ſondern zufrieden ſeyn / wenn wir dir in Beſchreibung derſelben mehr zeigen / was ſie nicht ſey / als was ſie ſey / oder wenn wir unſer Abſehen darinnen mehr auf ih - ren Urſprung und Wuͤrckung als auff ihr ei - gentliches Weſen richten.

65.

Sie iſt demnach nichts anders als eine ruhige Beluſtigung / welche darinnen be - ſtehet / daß der Menſch weder Schmertzen noch Freude uͤber etwas empfindet / und inF 3dieſem86Das 2. Hauptſt. von der groͤſtendieſem Zuſtande ſich mit andern Menſchen die eine dergleichen Gemuͤths-Ruhe beſitzen / zuvereinigen trachtet.

66.

Sie iſt eine Beluſtigung / denn ſonſt waͤre ſie kein Gut / weil wir oben erwehnet / daß alles gegenwaͤrtige Gute eine Beluſtigung ma - chen muͤſſe. Dannenhero muß ſie von allen Schmertzen entfernet ſeyn. Denn wo Schmer - tzen iſt / da kan keine Luſt oder Vergnuͤgung ſeyn.

67.

Sie iſt eine ruhige Beluſtigung / denn ſonſt waͤre ſie kein Gut / weil wir oben gedacht / daß alle ſehr emfindliche und folglich mit einer Unruhe vergeſellſchafftete Dinge boͤſe ſeyn. Dannenhero beſtehet dieſes Vergnuͤgen ohne Freude. Denn wo Freude iſt / da iſt eine un - ruhige Beluſtigung; jedoch iſt dieſe Beluſti - gung der Freude naͤher als den Schmertzen / und deswegen wird die Freude gemeiniglich fuͤr was Gutes / und fuͤr dieſe ruhige Beluſtigung ſelbſt gehalten / oder dieſe letzte unter dem Nah - men der Freude vorgeſtellet.

68.

So iſt auch in Anſehen der Gemuͤths - Ruhe noch dieſer Unterſchied zwiſchen dem Schmertzen und der Freude / daß nicht alle - mahlin des Menſchen Vermoͤgen ſtehe / von allen Schmertzen entfernet zu ſeyn / ſondern das Ge - muͤthe offte genoͤthiget werden koͤnne / Schmer - tzen zu empfinden / und zu weinen / da Hingegen - theil der Menſch ordentlich die Freude und das Lachen in ſeinem Vermoͤgen hat / es waͤre denn /wenn87Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.wenn man hiervon eine gewaltige Kuͤtzelung eximiren wolte / wiewohl noch dahin ſtehet / ob dieſelbe / wenn ſie ein wenig continuiret nicht mehr zu dem Schmertzen als zu der Freude zu rechnen ſey?

69.

Daß aber in dieſer ruhigen Beluſti - gung die groͤſte Gluͤckſeeligket des Menſchen beſtehe / iſt daher abzunehmen / weil der Menſch bey allen denen andern Guͤtern / als Reichthumb / Ehre / Freyheit / Freunden / dem decoro, der Geſundheit / der Weißheit / der Tugend / wie - wohl bey denen meiſten vergeblich nach dieſen Gute trachtet / und in denenſelben ſeine Ruhe ſuchet; wer aber die Gemuͤths-Ruhe einmahl beſitzet / und umb nichts mehr als umb derſelben Erhaltung bekuͤmmert iſt / auch der andern Guͤ - ter die eben zur ſelben ſo ſonderlich nichts contri - buiren / gar leicht entbehren kan.

70.

Und ob wir ſchon geſagt / daß die Ge - muͤths-Ruhe trachte ſich mit anderen ruhi - gen Gemuͤthern zu vereinigen / ſo iſt doch die - ſes trachten keine unruhige Begierde / oder ein ſolch Verlangen / daß den Menſchen ungluͤck - lich machte / wenn es nicht erfuͤllet wuͤrde / ſon - dern ein ruhies Bemuͤhen / und folglich eine Continuirung der einmahl erhaltenen Gemuͤths - Ruhe / als welche durch eine dergleichen Ver - einigung entſtehet / oder vielmehr deutlicher zu reden / eine ſtetswehrende Wuͤrckung dieſer Ge - muͤts-Ruhe / umb dadurch anzuzeigen / daß die ſeF 4Ru -88Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenRuhe nicht in einer Traͤgheit und Faulheit oder Mangel aller Bewegung / als welches alles boͤſe Dinge ſeyn / ſondern in einer muntern a - ber proportionirlichen Bewegung beſtehe. Und das iſt es eben / wenn wir kurtz zuvor erwehnet haben / daß die Gedancken des Menſchen / wenn ſie ſeine Gluͤckſeeligkeit machen ſollen / auch mit einer maͤſſigen Veraͤnderung ſolten vergeſellſchaff - tet ſeyn.

71.

Wolteſt du dannenhero dieſes groͤſte Gut des Menſchen mehr nach ſeinen Urſprung und Wuͤrckung als nach ſeinen Weſen benennen / koͤnneſt du es eine vernuͤnfftige Liebe heiſſen; Denn die vernuͤnfftige Liebe iſt nichts anders als eine Vereinigung gleicher Gemuͤther die das groͤſte Gut beſitzen.

72.

Wir wollen aber von dieſer vernuͤnfftigen Liebe etwas mehrers reden / umb darzuthun / daß das Weſen des Menſchen / dadurch er von den beſtien entſchieden wird / ſo ferne das natuͤrliche Liecht ſelbiges begreiffen kan / in nichts anders als in einer tugendlichen Liebe anderer Men - ſchen beſtehe / und daß / man muͤge auch in de - nen Schulen von der rechten und verbothenen Selbſt-Liebe reden was man wolle / alle Men - ſchen auch ſo gar die Laſterhaffteſten ande - re Geſchoͤpffe wuͤrcklich mehr lieben als ſich ſelbſt:

73.

Die beſtién haben alle und jede einen in - nerlichen Trieb ſich ſelbſten zu erhalten /und89Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.und ſich ſelbſt das Vergnuͤgen / deſſen ſie faͤhig ſind / zugeben. Und ob ſie ſchon nicht leichtlich andere Beſtien einerley Art und Geſchlecht ver - letzen / ſo ſuchen ſie doch auch nicht in dem Wohl - ſeyn der andern das geringſte Vergnuͤgen / weil ſie von dem Schoͤpffer zu keiner Geſellſchafft unter ſich gewidmet ſind.

74.

Aber der Menſch waͤre ohne menſch - liche Geſellſchafft nichts / nicht ſo ſo wohl was die Zeugung und Geburt betrifft / welche er in et - was mit denen Beſtien gemein hat / (wiewohl die Zuſammenfuͤgung des Maͤnnleins und Weib - leins unter denen unvernuͤnfftigen Thieren nicht verdienet eine Geſellſchafft genennet zuwer - den) als wegen der Aufferziehung. Ein Menſch muͤſte verderben / wenn ſich andere Menſchen nicht ſeiner annaͤhmen / da hingegen die beſtien zur noth alsbald von der Geburt an ſich ſelber forthelffen konnen.

75.

Ein Menſch waͤre kein Menſch ohne andere menſchliche Geſellſchafft. Was waͤ - ren ihm die Gedancken nuͤtze / wenn keine andere Menſchen waͤren? koͤnte nicht eben ſo wohl ein innerlicher unvernuͤnfftiger Trieb zu ſeiner Er - haltung genung ſeyn / wie bey denen beſtien. Die Gedancken ſind eine innerliche Rede. Worzu brauchte er dieſe innerliche Rede / wenn niemand waͤre / mit dem er ſeine Gedancken communici - ren ſolte? Dieſe innerliche Rede præſupponiret eine aͤuſſerliche. Und wo wolte er alſo innerlichF 5mit90Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenmit ſich reden / wenn nicht andere Menſchen / mit denen er in Geſellſchafft lebet / durch ihre aͤuſerli - che Rede ſeine innerliche anzuͤndeten? Was brauchte es aber endlich wiederumb aller aͤuſerli - chen Reden / wenn keine menſchliche Geſellſchafft waͤre.

76.

Ohne menſchliche Geſellſchafft wuͤr - de ein erwachſener Menſch kein Vergnuͤ - gen haben / wenn er gleich die gantze Welt / beſaͤſſe. Er muͤſte ſich ſelbſt bedienen / und dieſe Bedienung wuͤrde ihm wenn er wohlluͤſtig oder ehrgitzig waͤre / unertraͤglich ſeyn. Ja wenn er gleich wie die Poeten von der Pſyche melden / von unſichtbaren Geiſtern bedienet wuͤrde / oder ſo vernuͤnfftig waͤre / daß er ſeine eigene Bedie - nung fuͤr keine Laſt hielte; wuͤrde er doch des - wegen unvergnuͤgt ſeyn / weil es ihm / weiltz er ehrgeitzig waͤre an Leuten / denen er befehlen koͤnte / und von denen er geehret wuͤrde; wenn er wohlluͤſtig waͤre / an wohlluͤſtiger Geſellſchafft; und wenn er zur Tugend geneigt waͤre / an Leu - ten denen er guts thun / und ſie ſeines Vergnuͤ - gens theilhafftig machen koͤnte / ermangeln wuͤrde.

77.

Ja dieſes Unvergnuͤgen wuͤrde auch ſelbſt die Miſanthropen treffen / oder die ſich in ihre Bibliothequen verſchlieſſen / und von aller menſchlichen Geſellſchafft entziehen / wenn ſie nicht in menſchlicher Geſellſchafft leben ſolten. Denn die Miſanthropen ſuchen ihr Vergnuͤgen darinnen / daß ſie die gegenwaͤrtige Welt tadeln /und91Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.und die ſich in Buͤchern vergraben / daß ſie ent - weder bey denen lebenden ſich ein Anſehen ma - chen / oder dieſelben cenſiren wollen / u. ſ. w.

87.

Zugeſchweigen daß die allermeiſten Beluſtigungen des Geſichts / Gehoͤrs / Ge - ruchs / Geſchmacks / und Gefuͤhles entweder in und bey andern Menſchen geſucht werden / oder aber in einer Einbildung beruhen / weil wir ſehen oder hoͤren / daß andere Menſchen die wir hoch halten / in gewiſſen Dingen eine Belu - ſtigung finden.

79.

Es moͤge dannenhero der Menſch ſich betrachten auff was fuͤr weiſe er wolle / ſo wird er befinden / daß ihn GOtt zu einen geſelligen Thier geſchaffen habe / und zwar daß er in ei - ner friedfertigen Geſellſchafft mit andern le - ben ſolle. Ohne Friede iſt keine Geſellſchefft / weil Zwieſpalt und Wiederwillen alle Geſell - ſchafft zerreiſſet und auffhebet. Und ohne Ge - ſellſchafft kan kein Friede ſeyn / weil der Frie - de in der Vereinigung menſchlicher Gemuͤther beſtehet. Ohne Friede iſt dem Menſchen weder Vernunfft noch Rede nuͤtze / weil man zum Krieg nichts als Gewalt vonnoͤthen hat / auch die tapfferen Helden ihr Schwerd nicht im Munde / ſondern in der Fauſt fuͤhren.

80.

So iſt demnach der Menſch zur Liebe anderer Menſchen geſchaffen / weil er zum Frie - de geſchaffen iſt. Denn die Liebe und der Friede gruͤnden ſich in der Vereinigungmenſch -92Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenmenſchlicher Gemuͤther. Ja er iſt zur Lie - be ruhiger Gemuͤther geſchaffen / theils weil er ſelber nach der Gemuͤths-Ruhe als nach ſei - nem hoͤchſten Gute trachten ſoll / alle Liebe aber ſich auff eine Gleichheit mit der geliebten Per - ſon gruͤndet / theils auch weil er ſonſt nicht wuͤr - de in Friede leben koͤnnen / wenn er unruhige Gemuͤther liebet / denn wie wollen diejenigen die innerlich mit ſich ſelbſt keinen Frieden haben mit anderen Leuten und aͤuſſerlich friedlich leben koͤnnen.

81.

Es folget hieraus / daß des Menſchen hoͤchſtes Gut darinnen beſtehet wenn es dem andern Menſchen / den er liebet / wohl ge - het / und daß ihm deſſelben Elend mehr af - ſiciret als ſein eigenes / weil darinnen das We - ſen aller vernuͤnfftigen und menſchlichen Liebe / ſo ferne ſie der beſtialiſchen entgegẽ geſetzet wird / beſtehet / und ohne dieſen Merckmahl man nicht ſagen kan / daß ſich die Seelen zweyer Leiber mit einander vereinigt haben.

82.

Und alſo liebet ein vernuͤnfftiger Menſch allerdings andere Menſchen mehr als ſich ſelbſt; und hat alſo gantz nicht zum Grunde ſeines Thuns und Laſſens eine vernuͤnfft ige Selbſt Liebe (wie man ſonſten in Schulen lehret) man wolte denn etwa dieſes alſo ausle - gen und benehmen / weil der Menſch durch die Liebe anderer Menſchen / in denen er mehr als in ſich ſelbſt lebet / allezeit ſeine eigene Gemuͤths -Ruhe93Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.Ruhe zubefoͤrdern und zu erhalten bemuͤhet iſt.

83.

Ja was wollen wir viel lange von ver - nuͤnfftigen und unvernuͤnfftigen Leuten reden / lie - ben doch die unvernuͤnfftigen und laſterhaff - teſten Leute andere Geſchoͤpffe mehr als ſich / und iſt nur darinnen der Unterſchied zwi - ſchen ihnen und vernuͤnfftigen Menſchen / daß ſie ſich einbilden / ſie lieben ſich mehr als alle an - dere Dinge in der Welt / da hingegentheil ein vernuͤnfftiger Menſch wohl weiß / daß er andere Menſchen mehr liebet als ſich. Und wenn dannenhero man gegen ſolche Leute wieder die verdammte Selbſt-Liebe redet / muß es nicht anders verſtanden werden / als daß man hiermit ſich mehr nach ihrer Einbildung und Vorhaben / als nach der Sache ſelbſt accommodire.

84.

Jch glaube wohl / daß dir dieſer Satz et - was harte und unfoͤrmlich vorkomme; Denn ſprichſt du / wie ſolte ein Wohlluͤſtiger / Geld - und Ehrgeitziger nicht ſich ſelbſt mehr als al - les andere lieben; opffert er doch ſeiner Wohl - luſt / Geld - und Ehrgeitze alle andere Menſchen und alles was er hat / auff?

85.

Aber das iſt es eben / was ich geſagt ha - be / daß ſich ſolche Leute einbildeu / ſie lieben ſich ſelbſt am meiſten / weil ſie ihre Wohlluſt / Geld - und Ehrgeitz lieben / da doch dieſe Laſter of - fenbahrlich in Liebe anderer Dinge beſtehen. Ein Wohlluͤſtiger liebet nicht ſich / ſondernſeine94Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenſeine Hure / und ſeine Sauffgeſellſchafft; ein Ehrgeitziger die Leute von denen er Ehre zu erlangen hoffet / und ein Geldgeitziger den to - den Geldklumpen. Es iſt ja wahr / dieſen opf - fern ſie alle andere Menſchen / und alles was ſie ſonſt haben / aber auch fuͤrnehmlich ſich ſelbſt auf / in Anſehen ein Wolluͤſtiger ſeine Hure und liederliche Sauff - und Spiel-Geſellſchafft zuver - gnuͤgen / ſich umb ſeine Geſundheit und zeitliche Wohlfarth bringet; ein Ehrgeitziger / umb einen Wind von Ehre von andern Menſchen zu erlangen / Leib / Gut und Ehre ſelbſt hazardiret / und ein Geldgeitziger uͤber dieſes alles bey ſei - nem Geldklumpen verhungert u. ſ. w.

86.

So ſieheſt du demnach / daß die Ge - muͤths-Ruhe ohne Vergnuͤgen / das Vergnuͤ - gen ohne die Liebe anderer Menſchen / dieſe Liebe ohne der Vereinigung der Gemuͤther / und dieſe Vereinigung ohne wechſels weiſe Bemuͤhung der geliebten Perſon vergnuͤgen / auch mit Hindanſetzung ſeines eigenen zu ſuchen / dieſes alles aber ohne Abſchaffung deſſen / was das Gemuͤthe beunruhiget / nicht ſeyn koͤnne. Und huͤte dich dannenhero / daß du nicht nach Art und Weiſe der meiſten Philoſophen uͤber der Benennung der groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen einen unnoͤthigen Streit anfaͤheſt.

87.

Nenne es wie du wilt. Denn die Worte ſind der Dinger halber / die Dinge aber nicht der Worte haber erfunden. Wilt du es nicht Ge -muͤths -73[95]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.muͤths-Ruhe nennen / nenne es eine Wolluſt oder Vergnuͤgen der Seelen / oder eine ver - nuͤnfftige Liebe / oder die Vereinigung zwey - er ſich liebenden Seelen / oder die Bemuͤ - hung der geliebten Perſon alles gutes zu thun / und gar fuͤr ſie zu ſterben; oder die Un - terdruͤckung oder Austilgung der das Ge - muͤth verunruhigenden Bewegungen. Jch wil wegen keines von dieſen einen Streit mit dir anfangen / Nur mercke / daß wenn du nicht al - les dieſes was du bisher genennet beyſammen haſt / ſondern nur eines davon vermiſſeſt / du auch die wahre Gluͤckſeeligkeit unmoͤglich beſitzen koͤn - neſt / ſondern daß du dir / wenn du dich eines an - dern bereden wilſt / damit vergebens ſchmei - chelſt.

88.

Wir muͤſſen uns aber nun auch zu der andern Bedentung der groͤſten Gluͤckſeelig - keit wenden / ſo ferne dieſelbige in Betrachtung ihrer Vollkommenheit genommen wird; und heiſſet ſo dann die groͤſte Gluͤckſeeligkeit des Menſchen entweder dasjenige Gut / welches alle ſo wohl noͤtige als uͤberfluͤßige Stuͤcke und Zierrathen der Gemuͤths-Ruhe in ſei - nen Begriff haͤlt / oder die Gemuͤths-Ruhe nur mit allen weſentlichen dahin gehoͤrigen Guͤtern ohne welche dieſelbe nicht beſtehen kan / ohne Betrachtung derer menſchlichen Guͤ - ter / die nur noͤthige Stuͤcke oder bloſſe Zier - rathen ſeyn.

89. Denn96Das 2. Hauptſt. von der groͤſten

89.

Denn derjenige / der bey ſeiner Gemuͤths - Ruhe tugendhaftig / geſund / manie ꝛlich / geehꝛt und reich iſt / auch ſeine Frey heit und viel Freun - de hat / der kan ſich billich als einen vollkomme - nen gluͤcklichen Menſchen ruͤhmen. Er iſt aber deshalben nicht alſobald ungluͤcklich / wenn ihm dieſes oder jenes von dieſen jetzterwehnten menſchlichen Guͤtern mangelt / ſondern man muß den Unterſchied machen. Mangelt ihm nur ein ſchlechter Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit / ſo iſt er doch deswegen nicht elend oder ungluͤck - lich / (ja er darff nicht einmahl meinen / daß er nicht vollkommen gluͤcklich ſey / wenn er nur die Gemuͤths-Ruhe als die hoͤchſte Gluͤckſeeligkeit beſitz3t /) ſondern er hat nur dieſe groͤſte Gluͤck - ſeeligkeit nicht in einem vollkommenen grad.

90.

Mangelt ihm aber ein noͤthiges Stuͤ - cke der Gemuͤths-Ruhe / ſo liſt es entweder ein ſolches duch deſſen Entnehmung er der Ge - muͤths-Ruhe voͤllig beraubet oder entbloͤſſet wird; oder ein ſolches / dadurch er in ſeiner Ge - muͤths-Ruhe nur ein wenig zerſtoͤret wird. Auff die erſte Weiſe wird er ungluͤcklich oder elend / und hat das groͤſte Ungluͤck auf dem Halſe. Auff die andere Weiſe iſt er zwar nicht ungluͤck - lich noch elende / aber er kan ſich doch auch nicht vor voͤllig gluͤcklich gehalten.

91.

Derowegen laß uns nunmehro die ob - erzehlten Arten der menſchlichen Guͤter betrach - ten / um zuſehen / welche von denenſelben noͤti -ge97Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.ge Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe ſeyn oder nicht / und welche unter jenen entweder die Gemuͤths - Ruhe dem Weſen oder der Vollkommenheit nach beſtaͤtigen.

92.

Was erſtlich das Reichthum anlanget / ſo weiſet bald Anfangs die Beſchreibung deſſelbi - gen / weil es nichts anders als ein Uberfluß des Vermoͤgens iſt / das ſolches ein bloſſer Zierrath und kein weſentliches Stuͤcke der Gemuͤths-Ru - he ſey. Was dir uͤberfluͤßig iſt / damit kanſtu andern deine Liebe bezeugen / und je groͤſſer der U - berfluß iſt / je mehr und an mehrern kanſtu dich gutthaͤtig erweiſen / und ſo weit iſt Reichthum ei - ne Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit.

93.

Haſtu aber dieſen Uberfluß nicht / ſo darf - ſtu deswegen in deinem Gemuͤthe nicht unruhig ſeyn / wenn du nur genug vor dich haſt. Denn haſtu keinen Uberfluß oder Reichthum / ſo haſtu auch deſtoweniger Sorge / wie du dieſen Uberfluß anwenden ſolleſt: Und wenn du gleich noch ſo arm biſt / kanſtu andern Menſchen doch durch dei - nen Einrath und Exempel ihre Jrrthuͤmer beneh - men / und ſie von denen Jrrwegen ableiten / wel - cher Dienſt ja ſo gut und noch viel beſſer iſt / als wenn man einen Duͤrfftigen mit Gelde und Reichthum aushilfft.

94.

Und alſo ſieheſtu / daß das Armuth nichts Boͤſes ſey / weil es nur ein Mangel des Uber - fluſſes iſt. Wolteſtu gleich ſagen / daß doch das aͤuſſerſte Armuth ein Ubel ſey / weil daſſelbigeGin98Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenin einem Mangel deſſen / das wir zu unſerer Le - bens Unterhaltung benoͤthiget ſind / beſtehe; ſo wirſtu doch dich wohl in acht nehmen muͤſſen / daß du nicht etwas fuͤr die aͤuſſerſte Armuth ausge - beſt / die doch in der That daſſelbige nicht iſt.

95.

Du muſt deine Lebens Nothdurfft nicht nach deinen Verlangen / Begierde und Gewohn - heit ausmeſſen / denn du kanſt z. e. mit 100 Thal. des Jahrs auskommen / und auch 10000. Thal. des Jahrs verthun. Biſtu unvergnuͤgt / ſo biſtu allezeit Arm; gleich wie derjenige allezeit reich iſt / der mit wenigen vergnuͤgt iſt. Und wie wolteſtu ohne Boßheit anderer Menſchen als im Kriege oder einer ſonderlichen Hunger-Straffe GOttes in einen Stand gerathen koͤnnen / daß dir etwas mangeln ſolte / das zu deiner Leibes Nothdurfft noͤthig waͤre / weil Waſſer / Wurtzeln / und wenn du einen Platz haſt in welchem du dich wider Hi - tze und Kaͤlte vertheidigen kanſt / ſchon genung iſt / was du zu deines Leibes Nothdurfft brauchſt / und hieran mangelt es auch dem elendeſten Bettler nicht.

96.

Was die Ehre betrifft / ſo wird entweder dadurch der innerliche Grund derſelben / nemlich ein Tugendhafftes Leben verſtanden / wovon wir ſchon folgends handeln wollen; oder aber es be - deutet die durch aͤnſſerliche Zeichen beſtaͤtigte Hochachtung anderer Leute gegen uns / entweder wegen unſerer Macht oder wegen einer faͤlſch - lich von uns eingebildeten Tugend.

97. Das99Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.

97.

Das Letzte iſt vielmehr ein Ubel als ein Gut: Denn wenn wir eine falſche Tugend beſi - tzen / haben wir gewiß keine wahre Gemuͤthts-Ru - he: und die Leute die uns deswegen hoch halten / muͤſſen ja ſo blind und elend / oder elender ſeyn als wir ſelber / und dieſe Hochhaltung muß uns noch mehr in unſerer uͤbelen Meynung und Lebens-Art beſtaͤrcken.

98.

Haben wir aber neben der wahren Tu - gend groſſe Macht und Gewalt / deswegen uns auch die Leute Ehre erweiſen; ſo iſt abermahl die Ehre ein Zierrah der hoͤchſten Gluͤckſeelig - keit / wenn ein ſolcher geehrter Mann dieſe Macht anwendet / denen die die Gemuͤths-Ruhe beſitzen oder darnach trachten / deſto mehr Gutes zu thun.

99.

Aber es iſt auch dieſe Ehre kein weſent - liches Stuͤck / weil dergleichen Gewalt aber - mahls unter die noͤthigen und uͤberfluͤßigen meuſchlichen Guͤter gehoͤret / und in Mangel der - ſelben wir niemahlen Mangel haben / andern Leuten unendliche Gutthaten zu erweiſen.

100

Und alſo kanſt du leichtlich abſehen / daß der Mangel der aͤuſſerlichen Ehre / das iſt der Macht und Anſehens wiederumb kein Ubel ſey / weil der Mangel eines Uberflußes niemahls was boͤſes ſeyn kan.

101.

Aber was wollen wir nun mit der Un - ehre machen? Jch muß bekennen / es iſt zwi - ſchen derſelben und dem Mangel der Ehre ein groſſer Unterſcheid. Gleichwohl werde ich nichtsG 2un -100Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenunrechtes ſagen / daß die Unehre / die der Ehre / von der wir jetzo handeln entgegen geſetzt wird / gantz kein Ubel / ſondern ein nichts / und eine ei - tele Einbildung unruhiger Gemuͤther ſey / es moͤge dir dieſes nun gleich noch ſo ſeltſam vor - kommen.

102.

Zwar wenn die Unehre zum Grunde innerlich ein untugendhafftes Leben hat / muͤſ - ſen wir freylich anders ſagen / und uns nicht un - ter die Zahl derer rechnen / die weder Schande noch Ehre achten; aber wir haben nur kurtz zu - vor erinnert / daß wir die Tugend-Ehre anjetzo nicht betrachten / ſondern es gehoͤret hieher nur die aͤuſſerliche Unruhe / wenn ein Menſch ohne vernuͤnfftige Urſache in der buͤrgerlichen Geſell - ſchafft unehrlich erklaͤret / zu keinen Ehren-Aemp - tern gelaſſen / ſeine Schrifften oder ſein Schild durch dem Hencker verbrand oder zerbrochen / oder ſein Nahmen an den Galgen geſchlagen / oder er wohl gar im Bildniſſe auffgehencket wird.

103.

Die Juriſten pflegen unter ſich zu ſa - gen / daß der Staupen-Schlag nicht unehr - lich mache / ſondern die Urſache. Dieſe Ur - ſache aber muß nicht in der ungegruͤndeten Mei - nung anderer Menſchen / ſondern in der Wahr - heit gegruͤndet ſeyn. Verdammet dich dein Ge - muͤthe nicht / ſo koͤnnen auch alle dieſe erzehlte Beſchimpffungen dein Gemuͤthe nicht verun - ruhigen / ſondern du wuͤrdeſt recht elende ſeyn / venn deine wahrhafftige Ehre der Gewalt ei -nes101Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.nes einigen Menſchen unterwuͤrffig waͤre / oder wenn dasjenige dein Gemuͤhte anfechten ſolte / was man mit deinen Nahmen / Schilde / Schrifften und Bilde vornaͤhme. Es iſt wahr / die Liebe zu dir wird bey vielen Leuten ausge - tilget; aber bey was fuͤr welchen? Bey denen die die wahre Gemuͤths-Ruhe nicht beſitzen. Mit dieſen aber ſucht ein weiſer Mann nicht ſich durch Liebe zu vereinigen / ſondern hat Erbarm - niß mit ihnen / und dieſe hindert ihn alleine / daß er die ihm angethane Beſchimpffungen nicht verlacht. Bey denen andern aber die nach der groͤſten Gluͤckſeeligkeit nebſt ihm eyffrig ſich be - muͤhen / waͤchſt ſeine Ehre nur deſto mehr da - durch / weil die ruhige Erduldung ſolcher unver - dienten Beſchimpffung die Gemuͤther ſolcher Leute nur deſto kraͤfftiger an ſich ziehet / und ſie noch mehr mit ihm vereiniget.

104.

Nun wollen wir die Manierlichkeit / Hoͤfflichkeit / Artigkeit der Sitten / Wohlanſtaͤn - digkeit / mit einem Worte das Decorum be - trachten. Dieſes gleich wie es in der Nachah - mung des Thuns derer Leute / die in menſchli - cher Geſellſchafft fuͤr andern hochgeachtet wer - den beſtehet; Alſo iſt es nach denen unterſchie - denen Arten des Thuns das man imitiret / hauptſaͤchlich dreyerley: Denn dieſes Thun iſt entweder Tugendhafft oder Laſterhafft (wohin ich auch die Eitelkeit referire / als dieG 3un -102Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenunnuͤtzen und irraiſonnablen neuen Moden) oder indifferent.

105.

So ferne als man in dem decoro tu - gendhaffte oder laſterhaffte Thaten zu imitiren ſucht / muß eben dasjenige davon geſagt werden / was wir von der Tugend und Laſtern ſelbſt al - ſobald erinnern wollen. So ferne aber das Thun und laſſen / das man imitiret / indifrent iſt / z. e. daß man ſich kleidet / wie es der ge - meine Gebrauch mit ſich bringet; daß man mit einer gemaͤßigten Hoͤffligkeit jederman begegnet; daß man etlicher Dinge die zwar nicht wider die geſunde Vernunfft ſeyn / aber doch insgemein fuͤr ſchaͤndlich gehalten werden / ſich enthaͤlt / iſt ein Zierrath eines Menſchen / der die Gemuͤths - Ruhe beſitzet / weil dieſe Dinge zum wenigſten eine gute Ordnung in der gemeinen buͤrgerlichen Geſellſchafft machen / auch theils durch dieſel - ben / weil man allen allerley wird / man Gelegen - heit uͤberkommt / deſto mehr Menſchen zu gewin - nen / daß ſie ſich mit uns zu vereinigen trachten; theils auch / weil wir erkennen / daß wir denen in Jrrthuͤmern ſteckenden / wenn wir ihnen in dieſen indifferenten Dingen nicht etwas nachgeben / ei - nen Abſcheu fuͤr uns und der wahren Tugend machen.

106.

Es iſt aber deswegen das Decorum kein nothwendig Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe wenn es nur nicht mit Vorſatz und aus bloſſer Liebe zur Singularitaͤt unterlaſſen wird. Dan -nen103Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.nenhero der Mangel des Decori an einem Bauer der es nicht weiß / oder an einem armen Menſchen der ſich z. e. in Kleidung nicht andern gleich halten kan / ihn an ſeiner Gemuͤths-Ruhe in geringſten nicht hindern / noch bey andern vernuͤnfftigen Leuten verhaſt und unangenehm machen wird.

107.

Wenn es aber wegen einer Singulari - taͤt unterlaſſen wird / ſo iſt es ſreylich ein Ubel / weil es genugſam zu verſtehen giebt / daß ein ſol - cher Menſch die wahre Gemuͤths-Ruhe nicht be - ſitze / der keine indifferente complaiſance fuͤr an - dern Menſchen haben wil / theils weil er hiermit keine Liebe andern Menſchen erweiſet / theils weil es viel irraiſonnabler iſt / zu prætendiren / daß fich viele die eines gleichen ſeyn / nach einen / als daß ſich dieſer nach vielen richten ſolle.

108. Und weil dannenhero es ohne offen - bahre Singularitaͤt oder wohl gar ohne einer Lie - be zur beſtialitaͤt nicht abgehen kan / wenn man die Dinge die insgemein fuͤr ſchaͤdlich ge - halten werden begehet / wie die Cynici gethan; als muͤſſen wir zugleich einen Unterſchied unter - einem Menſchen / dem das Decorum mangelt / und unter dem qui indecenter vivit, der unver - ſchaͤmt lebet / zu machen lernen / und dieſen letzten unter die Zahl derer jenigen rechnen / die die groͤ - ſte Gluͤckſeeligkeit nicht beſitzen.

109.

Daferne aber die Unterlaſſung des de cori aus einer irrigen Meinung / als wennG 4daſſel -104Das 2. Hauptſt. von der groͤſtendaſſelbige etwas boͤſes waͤre / oder aus einer allzufruͤhzeitigen Begierde / andere allzuge - ſchwinde von allen Unvollkommenheiten zu rei - nigen / herruͤhret; ſo wollen wir dieſes wieder - umb nicht unter den Mangel der groͤſten Gluͤck - ſeeligkeit / ſondern dem Mangel eines Zierraths derſelben nur zurechnen / als wenn einer aus jetzo angefuͤhrten Urſachen alle Leute dutzen / und fuͤr keinen Menſchen das Haupt entbloͤſen wolte.

110.

So iſt auch leichtlich abzunehmen / was es mit der Schamhafftigkeit fuͤr eine Be - wandniß habe. Dieſe wird entweder von kuͤnff - tigen oder vergangenen Thaten geſaget. Jn dem erſten Gebrauch iſt ſie nichts anders / als ein Vorſatz in tugendhafften und indifferenten Dingen nach dem decoro zu leben / und hat die Unſchamhaſftigkeit als ein Laſter entgegen ge - ſetzt: wannenhero von dieſen Gebrauch nichts weiter zu erinnern iſt.

111.

So ferne aber dieſelbe von vergange - nen Dingen geſaget wird / heiſſet ſie eine Reue uͤber eine wider das decorum anſtoſſende ge - ſchehene That / mit dem Vorſatz kuͤnfftig der - gleichen nicht mehr zu thun / und die Unſcham - hafftigkeit iſt ein Mangel dieſer Reue. Ob nun wohl auch die Unſchamhafftigkeit eine An - zeigung iſt / daß einer die groͤſte Gluͤckſeeligkeit oder die Gemuͤths-Ruhe nicht beſitze / ſo darff man doch nicht dafuͤr halten / daß die ihr entge - gen geſetzte Schamhafftigkeit ein weſentli -ches105Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.ches Stuͤck oder ein Zierrath der groͤſten Gluͤck - ſeeligkeit ſey / ſondern es iſt augenſcheinlich daß es beſſer ſey / wenn ein weiſer Mann ſo lebet / daß er keine Reue oder Scham vonnoͤthen habe.

112.

Die Freyheit / es ſey nun daß dieſelbige mit Ehre und Macht vergeſellſchafft ſey / wovon wir oben bey der Ehre ſchon geredet / oder von einem freyen Menſchen / der kein leibeigener Knecht noch gefangen iſt / geſagt werde / iſt gleich - falls ein bloßer Zierrath der Gemuͤths-Ruhe / weil ein freyer Menſch mehr Gelegenheit hat mit anderen Leuten ſich zu verbinden / und ihnen gutes zuthun / als ein Sclave und Gefangener; dahingegen dieſe / wenn ſie anders nicht umb der Laſter willen zu Sclaven und Gefangenen gemacht worden / in ihrem Gemuͤthe ja ſo ruhig ſeyn koͤnnen / und der eintzige Dienſt / den Epicte - tus mit ſeinem Enchiridio dem menſchlichen Geſchlecht erweiſet / viel edler iſt / als vielfaͤltige andere Dienſtleiſtungen / die ein freyer Menſch duͤrfftigen Menſchen erweiſeit.

113.

Die Vielheit der Freunde / ſo ferne dieſelbe unter die Gluͤcks-Guͤter gerechnet wird / kan ich fuͤr einen Zierrath der groͤſten Gluͤck - ſeeligkeit nicht achten. Denn die Freundſchafft derer / die die Gemuͤths-Ruhe beſitzen / dependi - ret von Gluͤcke nicht / ſondern iſt ein nothwendi - ges Gut / und weſentliches Stuͤck der Gemuͤths - Ruhe: aber weil dererjenigen ſehr wenig ſind /G 5die106Das 2. Hauptſt. von der groͤſtendie die Gemuͤths-Ruhe beſitzen / ſo kan es auch nicht fehlen / es muß ein weiſer Mann ſehr we - nig Freunde oder doch zum wenigſten mehr Feinde als Freunde haben.

114.

Derowegen ſo waͤre es zwar wohl vor einen Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit zu hal - ten / wenn es moͤglich waͤre / daß ein weiſer Mann viel Freunde haben koͤnte; Dieweil aber dieſe Moͤgligkeit in dieſem verderbten Zuſtand darinnen wir leben nicht zu hoffen ſtehet / ſo iſts vielmehr ein Anzeigung des Mangels der Gemuͤths-Ruhe / wenn ſich ein Menſch ruͤh - met viel Freunde zu haben / weil er ſo dann genungſam zuverſtehen giebet / daß er dieſer Vielheit gleich ſeyn muͤſſe / weil eine jede Freund - ſchafft und Gemuͤths-Vereinigung in der Gleich - heit ſich gruͤndet.

115.

So bleibet es demnach dabey / daß alle bisher erzehlten Guͤter außer dem Menſchen die insgeſamt zu denen Guͤtern des Gluͤcks gehoͤ - ren / und in des Menſchen ſeinem Vermoͤgen und Willkuͤhr nicht beſtehen / auch keine weſent - liche Stuͤcke der groͤſten Gluͤckſeeligkeit ſeyn koͤnnen / in Anſehen der Menſch ſeine Gemuͤths - Ruhe nicht dem Gluͤck / ſondern ſich ſelbſten zu dancken hat.

116.

Was die Guͤter des Leibes anlanget ſo iſt erſtlich das Leben des Menſchen zwar der Grund der Gemuͤths-Ruhe; jedoch macht die Beraubung deſſelbigen nemlich der Tod demMen -107Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.Menſchen nicht elende oder ungluͤcklich. Denn es ſey nun / daß das Gemuͤthe durch den Tod nicht vernichtet werde (deſſen der Menſch durch eine die Vernunfft uͤberſteigende Vergewiſſe - rung verſichert wird) ſo wird auch durch den Tod die Gemuͤths-Ruhe nicht auffhoͤren / oder aber daß mit dem Leibe zugleich die Seele ver - nichtiget werden ſolte / ſo wuͤrde man doch von einer Sache die zu nichts worden / nicht ſagen koͤnnen / daß ſie unruhig ſey / ſondern ich wuͤrde in dieſem Zuſtande von einem Menſchen ſagen muͤſſen / daß er weder gluͤcklich noch ungluͤcklich ſey / weil er auffgehoͤrt ein Menſch zu ſeyn.

117.

Die Geſundheit des Menſchen oder die Gantzheit der Gliedmaſſen / und die ge - woͤhnliche und ordentliche Bewegung des Ge - bluͤts und der Geiſtergen in denenſelben iſt ein noͤthiges Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe / und mehr als ein gemeiner Zierrath / weil nicht nur ein geſunder Menſche vermoͤgender iſt ſeiner Gemuͤths-Ruhe als einer ruhigen Beluſtigung beſſer zu genieſſen / maſſen die Geſundheit ſelb - ſten in einer ruhigen Bewegung beſtehet) und anderer Leute Gemuͤther durch Liebes-Dienſte an ſich zu ziehen / und ſich mit ihnen zu vereini - gen; ſondern auch der Manngel der Geſund - heit des Menſchen ſeine Gemuͤths-Ruhe zu wei - len ſtoͤren kan.

118.

Zwar ſo ferne die die Kranckheiten nur eine dauerhaffte unordentliche Bewegungdes108Das 2. Hauptſt. von der groͤſtendes Gebluͤtes / nicht aber einen groſſen Schmer - tzen in denen nerven verurſachen; iſt darinnen ein groſſer Unterſchied zwiſchen einen Menſchen der die Gemuͤths-Ruhe beſitzet / und der dieſel - be noch nicht erhalten hat. Dieſer wird auch in ſeinem Gemuͤthe unruhig ſeyn / theils weil ſein Gemuͤthe von der depoſition des Leibes bald da bald dorthin gezogen zu werden gewohnet iſt / und alſo die unordentliche Bewegung des Ge - bluͤts auch nothmendig eine unordentliche unru - hige Bewegung in ſeinen Gedancken verurſa - chen muß / theils weil er dieſe Kranckheiten als eine Hinderniß betrachtet ſeinen Reichthumb zu - vermehren oder ſeine Wohlluſt zu ſaͤttigen / oder ſeine Ehrgierde zu ſtillen / als worinnen er irriger weiſe ſein hoͤchſtes Vergnuͤgen ſucht.

119.

Aber ein weiſer Mann der gewohnet iſt / daß ſein Gemuͤthe von dem augenblicklichen unordentlichen Bewegungen des Gebluͤtes (wo - durch bey andern ſonſt der affect pfleget erre - get zu werden) nicht beweget wird / hat durch dieſe Gewohnheit ſo viel erhalten / daß auch her - nach durch dergleichen dauerhaffte unordent - liche Bewegungen des Gebluͤtes / ebenfalls ſeine Gemuͤths-Ruhe nicht geſtoͤhret wird / und in dem er alſo auſſer dieſer keine andere Gluͤckſee - ligkeit erkennet / ſo afficiret ihn auch in geringſten nicht / ob ſchon durch die Kranckheit / Reichthum / ſinnliche Beluſtigungen und lobwuͤrdige Thaten hindan geſetzet werden muͤſſen.

120. Aber109Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.

120.

Aber ſo ſerne die Kranckheiten ſchmertzhafft ſeyn / und die nerven mit haͤrte an - greiffen / muͤſſen wir behutſam gehen / daß wir nicht eines Theils dafuͤr halten / alswenn auch dieſe Kranckheit das Gemuͤth eines Menſchen gar nichts angingen / anderstheils aber nicht auff die andere Seite verfallen / als wenn die - ſelbigen einen weiſen Mann elend machten.

121.

Es iſt wohl an dem / daß ein Menſch ei - ne ſehr ſtarcke Phantaſie haben muͤſſe / weñ er ſich einbilden wolte / daß ein weiſer Mann / wenn er z. e. an dem Podagra, an Stein / an der Gicht ſtarck darnieder liegt / und groſſe Schmertzen da - von empfindet / in ſeinem Gemuͤthe eben ſo ruhig ſey / als wenn er in einem Roſen-Garten ſaͤſſe / und daß / wenn gleich ſein Halß ſchrie / ſein Gemuͤthe doch gantz freudig ſey. Wir ha - ben geſagt / daß das Gemuͤthe den Gedancken des Menſchen ſeyn; und auch bey einem weiſen Mann / wenn gleich ſein Gemuͤthe den Leib be - herrſchet / dennoch wegen der ſtetswehrenden Vereinigung der Seelen mit dem Leibe nicht alle Empfindligkeit der Seelen von dem Leiden des Leibes auffgehoben werden. Und weil es dem - nach bey dieſer Bewandniß nicht anders zuge - hen kan / als daß ein weiſer Mann Zeit wehrenden ſeinen Schreyen an den Schmertzen gedencken muß; ſo kan es auch nicht fehlen / es muͤſſe zu die - ſer Zeit ſein Gemuͤthe ſo ruhig nicht ſeyn als ſon - ſten. Jn dieſen Anſehen haben wir die Geſund -heit110Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenheit als ein noͤthiges Stuͤcke der menſch - lichen Gluͤckſeeligkeit gerechnet / und rechnen es unter diejenige / deſſen Be raubung durch derglei - chen Kranckheit die Gemuͤths-Ruhe ein wenig ſtoͤhret / und verurſachet / daß ein Menſch Zeit wehrenden ſolchen Zuſtandes nicht vollkom - men gluͤckſeelig ſey.

122.

Aber es iſt doch deshalben die Geſund - heit des Leibes nicht ein weſentliches Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe / und die jetzt ermeldten Kranckheiten koͤnnen einen weiſen Mann dieſel - bige nicht gar rauben noch elend machen / maſ - ſen den ein weiſer Mann / ſo bald die Schmer - tzen vorbey ſeyn (welche je empfindlicher ſie ſeyn / je mehr ſie auch ordentlich wieder auffhoͤren) von ſeiner verſtoͤhreten Ruhe bald wieder in Ordnung koͤmmt / und ſolcher geſtalt abermahls auch in An - ſehung dergleichen Kranckheiten ein groſſer Un - terſcheid zwiſchen einen weiſen und unweiſen Mann iſt.

123.

Jener beſitzt vor dem Schmertzen ſeine Gemuͤths-Ruhe wie er ſol / und præpariret ſich bey Herannahung derſelben zu einer ihme moͤgli - chen Gedult / nach vergangenen Schmertzen a - ber troͤſtet ihn die Erlangung der eutzwiſchen in etwas turbirten Gemuͤths-Ruhe uͤber dem was er zuvor erlitten / kraͤfftiglich. Aber ein Unwei - ſer / weil er keine Gemuͤths-Ruhe hat / ſtellet er ſich die zukuͤnfftigen Schmertzen durch eine irrai - ſonable Furcht noch Schmertzhaffter vor als ſieſind /111Gluͤckſeligkeit des Menſchen.ſind / und erwecket dadurch Zeit wehrenden Schmertzen eine groſſe Ungedult / die ihm dieſel - ben vielmehr empfindlich macht; Ja es laͤſt ihm ſeine angewoͤhnte Gemuͤths-Unruhe nicht ein - mahl zu / daß er ſich mit Betrachtung der vergan - genen Pein beluſtigen ſolle / ſondern das bloſſe Anhoͤren und Erwehnung des Nahmens derſel - ben praͤgt ihm eine ſo verdrießliche Idee ein / als wenn dieſelbige alsbald wieder gegenwaͤrtig waͤre.

124.

Nun haben wir noch die Guͤter der Seelen uͤbrig / Weißheit und Tugend. Bey - de ſind noͤthige und weſentliche Stuͤcke der Ge - muͤhts-Ruhe / dergeſtalt / das ohne dieſelben ein Menſch keine Gemuͤths-Ruhe beſitzen kan / ſon - dern hoͤchſt elend ſeyn muß. Die Weißheit reiniget den Verſtand / daß er die Eitelkeit aller andern Guͤter und die wahre Gluͤckſeeligkeit der Gemuͤths-Ruhe erkennet / und dadurch deñ Wil - len diſponiret / gegẽ jene indifferent zu ſeyn / nach dieſer aber hauptfaͤchlich zu trachten. Und die Tugend jaget der Gemuͤths-Ruhe nach / und wenn ſie dieſelbige erhalten / giebt ſie ihr durch ei - ne ſtetswehrende Bewegung tugendhaffter Tha - ten das Leben / und iſt alſo zugleich die Mutter und Tochter der wahren Gluͤckligkeit.

125.

Hingegen wenn ein Menſch von der Erkaͤntniß der wahren Gluͤckſeeligkeit verfehlet / und die Schein-Guͤter fuͤr dieſelbige annimmt / auch durch dieſe Betruͤgung ſeines Wahns anſtatt112Das 2. Hauptſt. von der groͤſtenſtatt tugendhaffter lieblicher Thaten alles ſein Thun und Laſſen nach ſeinem eigenen Intereſſe dieſes Schein-Gut zu erlangen einrichtet / der kan nicht anders als hoͤchſt elende ſeyn / in dem er ſein Gemuͤthe hoͤchſt verunruhiget / auch taͤglich in dieſer Unruhe als ein Wild im Garne ſich mehr und mehr verwickelt / ein Abſcheu aller Tugend - haffter Leute / und ſeines Geldes oder anderer armſeeligen und ja ſo elenden Menſchen als er ſelbſt iſt / Sclave wird.

126.

Hierbey aber muſtu bey der Weißheit aus dem vorhergehenden wiederholen / daß ich durch ſelbige weder die Erkaͤntniß eiteler und Pe - dantiſcher / noch zierlicher und artiger Wiſſen - ſchafften / auch nicht einmahl ſolcher dem menſch - lichen Geſchlecht ſonſt nicht unnuͤtzlichen Diſcipli - nen / die aber zu Erforſchung anderer Geſchoͤpffe auſſer dem Menſchen zielen / verſtehe. Denn dieſe ſind entweder der wahren Gluͤckſeeligkeit entgegen geſetzte Thorheiten / oder doch zum wenigſten bloſſe Zierrathen der Gemuͤths-Nu - he. Die eintzige Selſtberkaͤntnuͤß iſt das weſentliche Stuͤcke des hoͤchſten Guts / und wer dieſe verfehlet / oder ſie anfeindet / braucht keiner weitern Beſtraffung / weil er als ſein ſelbſt eige - ner Feind hierdurch ſich genung ſelbſt beſtraffet.

127.

Gleichergeſtalt muſtu die Tugend nicht in den aͤuſſerlichen Bezeugungen alleine ſuchen / ſondern zufoͤrderſt in der bruͤnſtigen Liebe gegen andere Tugendliebende Menſcheu. Dieſe mußaus113Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.aus dem Hertzen kommen / und zwar durch die aͤuſſerliche Thaten bezeiget worden; aber wenn die aͤuſſerlichen Thaten von dieſer innerlichen Liebe entbloͤſet ſind / iſt ein Menſche hoͤchſt un - gluͤcklich / weil er als ein allgemeiner Betrieger auch von jederman wieder betrogen zu werden befahren muß / ja weil er ſich ſelbſt durch dieſe an - gewoͤhnte Gleißnerey am meiſten betriget / und in der That ein Heuchler / deshalben viel elender iſt als einer der offentlich in Laſtern lebet.

128.

Wir haben nunmehro bey dieſen Capi - tel nichts mehr noͤthig zu erinnern / als daß wir dir mit wenigen noch einen Scrupel benehmen / den du dir machen koͤnneſt / wenn du erwegeſt / daß weder bey der erſten Frage / welches menſchliche Gut die groͤſte Gluͤckſeeligkeit ſey? noch bey der andern von denen weſentlichen Stuͤcken der - ſelben / der Wohlluſt des Leibes / in gering - ſten nicht gedacht worden / da doch Epicurus und Ariſtippus das hoͤchſte Gut in der Wohlluſt des Leibes geſucht / ja da wir ſelbſt im vorigen Capi - tel erwehnet / das alles wahrhafftige Gut beln - ſtigend ſey / auch die Gemuͤths-Nuhe beſchrie - ben haben / daß ſie eine ruhige Beluſtigung ſey / und nur kurtz zuvor erinnert / daß wegen Vereinigung des Gemuͤths mit dem Leibe daſ - ſelbige der Schmertzen des Leibes theilhafftig werde / und alſo ſcheinet es ja auch / daß das Ge - muͤthe wegen eben derſelben Urſache gleichfalls auch die Wolluſt des Leibes empfinden muͤſſe.

H129. Aber114Das 2. Hauptſt. von der groͤſten

129.

Aber hierauff werden wir dir keine an - dere Antwort geben duͤrffen / als wenn wir dir nur fuͤrhalten / daß die Wohlluſt des Lei - bes eine unruhige / unordentliche und empfind - liche Beluſtigung ſey. Und alſo iſt ſie wahr - hafftig in ihrer Natur boͤſe / und derjenige / der ſich in ſelbiger umwaͤltzet / wircklich elende / indeme er ſo dann nicht als ein Menſche / ſondern noch unvernuͤnfftiger als eine Beſtie lebet / weil die Be - ſtien nicht mehr eſſen / trincken / und anderer Wohlluſt des Leibes pflegen / als ihre Natur erfordert: Geſchweige denn daß einen vernuͤnff - tigen Menſchen in die Gedancken kom̃en ſolte / die Wohlluſt des Leibes koͤnnte die groͤſte Gluͤckſee - ligkeit / oder ein weſentliches Stuͤck / oder nur ein Zierrath derſelben ſeyn.

130.

Es iſt wohl an dem / daß unzehlich viel Leute ihr Thun und Laſſen darnach einrichten / als wenn dieſe Wohlluſt das hoͤchſte Gut waͤ - re; Aber ihr eigen Gewiſſen wird ſie allezeit uͤberzeugen / daß ſie thoͤricht handeln / wenn ſie nicht allbereit durch die angewoͤhnte Beſtialitaͤt daſſelbige gaͤntzlich eingeſchlaͤffert; Alleine daß ein Philoſophus jemahls die Meinung ſolte geheget / und dieſe Philoſophie Nachfolger ge - funden haben / daß dieſe Wohlluſt die groͤſte Gluͤckſeeligkeit ſey / werde ich mich nimmermehr bereden laſſen / man moͤge auch von deme Ari - ſtip pus ſagen was man wolle. Denn nach dem zu unſern Zeiten ein Gasſendus dem Epi -curus115Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.curus in dieſem Stuͤck / und in einem andern de la Mothe le Vaper dem Pyrrho daß er kein Narre geweſen / die Defenſion gefuͤhret / halte ich alles dasjenige / was man von denen alten Phi - loſophen ſagt / und der geſunden Vernunfft au - genſcheinlich zuwieder iſt / fuͤr Fabelhafft / und van ihren Feinden ertichtet.

Das 3. Hauptffuͤck. Von GOtt als dem Urſprung aller menſchlichen Gluͤckſeeligkeit / und was die natuͤliche Erkaͤntniß deſſelben zu der groͤſten Gluͤck - ſeeligkeit contribuire,

Jnnhalt.

  • Connexion n. 1. 2. Man muß bey der Vetrachtung von GOtt Natur und goͤttliche Offendahrung nicht ver - miſchen n. 3. daß ein GOtt ſey / kan niemand laͤug - nen / ſondern es iſt nur die Frage / was er ſey? n. 4. Nehmlich die erſte Urſache aller veraͤnderlichen Din - ge n. 5. welche von dieſen unterſchiedones Weſens iſt. n. 6. Und von ſich ſelbſt herruͤhret. n. 7. Worum die Heyden dafuͤr gehalten / daß die Materia prima GOtt gleich ewig ſey. n. 8. Lehrſaͤtze wieder dieſe Mei - nung. n. 9. Die erſte Materia muß nothwendig aus nichts gemacht ſeyn. n. 10. Und zwar von GOtt / wes - halben ſie nicht gleich ewig iſt. n. 11. Es iſt nicht un - moͤglich / daß aus nichts etwas werde n. 12. (einesH 2weiſen116Das 3. Hauptſt. von GOtt als demweiſen Mannes Behutſamkeit in der Lehre von der Schoͤpffung n. 13.) ſondern dieſes erſcheinet gantz klar aus der vergaͤnglichen Dinge ihren Seyn und Weſen / die augenblicklich zu nichts und wieder zu et - was werden. n. 14. 15. L6. Natuͤrliche Erkaͤntniß der goͤttlichen Providentz aus eben dieſer Anmerckung. n. 17. Die veraͤnderlichen Dinge koͤnnen ihr Weſen nicht ſelbſten erhalten. n. 18. ſondern es muß es noth - wendig der Schoͤpffer thun n. 19. Gemeiner Jrrthum wieder die goͤttliche Vorſehung / daß es in dieſer Welt tugendhafften Leuten uͤbel / und Laſterhafften wohl gehe. n - 20. 21. Unterſchied zwiſchen der Schoͤpffung und der Erhaltung der Dinge. n. 22. Obgleich Gott alle Augenblick denen Dingen ein neu Weſen und Seyn giebt / ſo bleibt es doch mit dem alten immer ein einiges. n. 23. Welches mit dem Exempel einer Linie verglichen wird. n. 24. Ein wahrer Philoſo - phus gehet in der natuͤrlichen Erkaͤntniß GOttes nicht weiter / ſondern redet lieber von GOttes unba - greifflichen Vollkommenheiten gar nicht / als daß er ungeſchickt reden ſolle. n. 25. Er ſuchet aber die bißherigen Lehrſaͤtze in der Sitten-Lehre ſich ſolcher - geſtalt zu nutze zu machen / daß er erkennet / er muͤſſe ſein Thun und Laſſen nach GOttes Weſen einrich - ten. n. 26. und GOtt lieben. n. 27. Das iſt / GOtt inniglich vertrauen n. 28. und demuͤthig fuͤrchten / n. 29. Woraus wiederum folget / daß er keine Urſa - che habe / einige andere Creatur zu fuͤrchten n. 30 oder derſelben zu vertrauen. n. 31. Die natuͤrliche Er - kaͤntniß weiß auch von keinen anderen aͤuſſerlichen Gottesdienſt n. 32. Dieſer Lehrſatz wird wohlbe - daͤchtig erklaͤret. n. 33. Daß er nichtvon dem innerlichen Gottesdienſt / ſondern von dem aͤuſſerlichen rede. n. 34. Welcher zweyerley iſt / allgemein und unterſchie - den. n. 35. So iſt auch nicht die Frage / ob GOtt wuͤrdig ſey geehret zu werden. n. 36. Oder ob derMenſch117Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.Menſch ſchuldig ſey GOTT aͤuſſerlich zu dienen wenn es GOit von ihm begehre n. 37. ſondern ob man aus bloſſer Vernunfft erweiſen koͤnne / das Gott einen aͤuſſerlichen Gottesdienſt von dem Menſchen verlange? n. 38. welches gelaͤugnet wird. n. 39 Man kan keinen Beweiß n. 40. weder aus der goͤttlichen Natur n. 41. noch aus der menſchlichen n. 42. her - nehmen / vielweniger aus dem Stande der Unſchuld / oder aus der Gleichfoͤrmigkeit mit goͤttlicher Hei - ligkeit n. 43. Alle Laͤſterung und Vrachtung GOt - tes iſt der Vernunfft zuwieder. n. 44. So ſiehet auch die Vernunfft / daß es beſſer ſey GOtt aͤuſſerlich zu ehren / als dieſe Ehre zu unterlaſſen n. 45. aber ſie kan doch die Nothwendigkeit des aͤuſſerlichen GOt - tesdienſtes nicht begreiffen / weder des aͤuſſerlichen Gebets n. 46. noch des lobens n. 47. noch des dan - ckens n. 48. weder in Anſehen GOttes n. 49. noch in Anſehen anderer Menſchen. 50. 51. Andere Einwuͤrffe wider dieſen unſer m Lehrſatz n. 52. Die Heyden haben den aͤuſſerlichen Gottesdienſt aus der Offenbahrung erkennet. n. 53. Die Gluͤckſeeligkeit des gemeinen Weſens kan der wahre Zweck des aͤuſ - ſerlichen Gottesdienſtes nicht ſeyn. 54. 55. 56. Man kan noch vielweniger den abſonderlichen und unter - ſchiedenen Gottesdienſt aus der Natur erkennen. n. 57. Alle Religion gruͤnden ſich auff eine Offen - bahrung. n. 58. Und GOtt hat niemahls einen aus der Vernunfft erfundenen Gottesdienſt approbiret. n. 59. Die zwey Haupt-Jrrthuͤmer in der Erkaͤnt - niß GOttes ſind die Atheiſterey und ein abgoͤtti - ſcher Aberglauben. n. 60. Was ein Atheiſte ſey. n. 61. 62. Die Atheiſterey iſt eine der elendenſten Thor - heiten. n. 63. Was ein Abgoͤttiſcher und Aberglaͤu - biſcher Menſch ſey? n. 64. Die Abgoͤtterey die mit denen himmlichen Coͤrpern getrieben wird / gehoͤret zur Theologie n. 65. Denn es iſt entweder eineH 3raiſo -118Das 2. Hauptſt. von Gott als demraiſonable oder irraiſonable Abgoͤtterey n. 66. Die barbariſchen Voͤlcker ſind nicht ſo unvernuͤnfftig in ih - rer Abgoͤtterey geweſen / als die / bey denen die Phi - loſophie am meiſten getrieben worden. n. 67. Ge - geneinanderhaltung eines wahren Philoſophi, eines Atheiſten / und eines Aberglaͤubiſchen in Anſehen der Sitten-Lehre n. 68. 69. 70. 71. Der erſte iſt alleine ein Menſch / der andere aber einem Affen / und der dritte einem Schweine oder Eſel nicht ungleich. n. 72. Ein Aberglaͤubiſcher iſt noch mehr als ein Atheiſte. n. 73. Worumb man heut zu Tage ſo viel wider die Atheiſterey und ſo wenig wider den Aberglauben ſchreyet und ſchreibet. n. 74. Man hat faſt alle recht - ſchaffene Philoſophos zu allen Zeiten fuͤr Atheiſten ausgeſchrien. n. 75.

1.

WJr haben im erſten Capitel geſagt / daß GOtt unter allen Guten billig oben anſtehe / auch daſelbſt an der gemei - nen Eintheilung des Guten in die Guͤter des Leibes / der Seelen / und des Gluͤcks getadelt / daß man bey derſelben Gottes vergeſſen / und gleichwohl haben wir ſelbſt im vorigen Capitel / da wir von der groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Men - ſchen gehandelt / Gottes nicht mit einem Wor - te gedacht / da doch niemand ſich finden wird / der mit Grund der Warheit leugnen koͤnne / daß GOtt nicht der Urſprung und Brunqvell alles Guten ſey.

2.

Aber laß dich dieſes nicht irren / denn dieſes Hauptſtuͤcke wird uns rechtfertigen / daß wir GOttes nicht vergeſſen / noch ſeines Vorzugsunter119Urſprung aller menfchl. Gluͤckſeeligk.unter allen Guten ihm beraubet / ob wir ſchon behauptet haben / daß die groͤſte Gluͤckſeligkeit des Menſchen in ſeiner Gemuͤths-Ruhe beſtehe. GOTT iſt der Geber alles Guten / und al - ſo vortrefflicher als alle ſeine Gaben. Jm vor - hergehenden Capitel aber haben wir unterſu - chet / welche unter allen Gaben die allervor - trefflichſte und die aller edelſte ſey. Nachdem wir nun dieſelbige erkennet / muͤſſen wir nicht denen Schweinen gleichen / die ſich ohne Be - trachtung derer Frucht tragenden Eichen mit de - nen Eicheln maͤſten; ſondern unſere Gedancken allerdings in die Hoͤhe ſchwingen / und GOTT als den Geber alles Guten / und folglich auch der Gemuͤths-Ruhe als der groͤſten Gluͤckſeeligkeit ein wenig genauer betrachten / zumahlen da wir ſo dann gar leichtlich erkennen werden / daß wir ohne dieſe noͤthige Erkaͤntniß nicht einmahl die obbeſchriebene Gemuͤts-Ruhe rechtſchaf - fen begreiffen oder beſitzen koͤnnen.

3.

Laß uns aber allhier ein wenig ſtille ſte - hen / und zufoͤrderſt ſehen / was uns das Licht der geſunden Vernunfft ohne Beytrag goͤttlicher Offenbahrung von GOTT ſage / damit wir nicht eines Theils durch Vermiſchung unſerer Vernunfft mit der heiligen Offenbahrung / von denen groͤſten Geheimniſſen auff eine unver - nuͤnfftiger Weiſe etwas herplaudern / anders Theils aber durch das Vo rurtheil einer allzu - uͤberwitzigen Weißheit einge nommen / unter demNah -120Das 3. Hauptſt. von Gott als demNahmen Gottes die bloſſen Geſchoͤpffe verſtehen / und alſo in der That Gott verlaͤugnen.

4.

Ob ein GOtt ſey? wird kein vernuͤnffti - ger Menſch die geringſte Urſache in Zweiffel zu ziehen finden / daß er dieſe Frage verlaͤug - nen ſolte / weil ihm ſonſt die Betrachtung aller irrdiſchen Geſchoͤpffe / und das geringſte Graͤß - lein ſeine Raſerey ja ſo ſehr uͤberzeugen wuͤrde / als wenn er dieſe Geſchoͤpffe ſelbſt laͤugnen ſol - te; Sondern er nimmet vielmehr durch Be - trachtung dieſer Dinge die umb ihn ſind / ja ſein ſelbſt / Gelegenheit durch einen vernuͤnfftigen Zweiffel zu ſuchen / was denn Gott ſey und heiſſe / und wie weit ſeine natuͤrliche Erkaͤntniß hierinnen ſich erſtrecken koͤnne.

5.

Er ſiehet das alle Geſchoͤpffe auff dieſer Erden ihren Urſprung und Untergang un - terworffen ſind / auch bald beweget werden / bald ruhen. Und alſo erkennet er zugleich / daß nichts unter denenſelben weder ſein ſebſtaͤn - diges Weſen / noch ſeine Bewegung von ſich ſelbſten habe / ſondern alles von einem andern herkomme und beweget werde. Und weil dem allgemeinen menſch lichen Verſtand zuwider iſt / daß er in Erkaͤntniß derer cauſarum bis in infini - tum ſich verſteigen ſolte / gleichwohl aber nach unſerer Vernunfft-Lehre alles das jenige vor falſch zu halten / was dem allgemeinen menſchli - chen Verſtand zu wider iſt; als iſt er gewiß verſichert / daß eine erſte Urſache ſeyn muͤſſe /von121Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.von welcher alle veraͤnderliche und beweg - liche Dinge ihren Urſprung haben.

6.

Und dieſes nennet er GOtt / weil alle Men - ſchen und Secten der Philoſophen eine der - gleichen erſte das Weſen und die Bewegung der Dinge wuͤrckende Urſache gleichfalls GOtt genennet / und alſo alle miteinander GOTT als ein von denen bewegten und gemachten Dingen unterſchiedenes Weſen betrachtet haben.

7.

Derowegen kommen auch alle Philophen darinnen uͤberein / daß der formale concept dieſer erſten Urſache aller beweglichen und veraͤn - derlichen Dinge oder des goͤttlichen Weſens darinnen beſteſte / daß dieſes von keinem andern ſondern von ſich ſelbſten herruͤhre und entſtan - den / weshalben man auch dieſen concept insge - mein durch das Wort Aſeitas auszudrucken pfle - get / und in Anſehung den aus deſſen Wuͤrckung entſtandenen Dinge uͤberhaupt alle wuͤrckende Urſachen (cauſas efficientes) beſchreibet / daß von ihnen die gemachten Dinge entſtehen (à quibus res ſunt:)

8.

Hiernechſt erkennet auch die menſchliche Vernunfft / wenn ſie nur ein wenig von denen præjudiciis der Heydniſchen Philoſophie ſich ſaubern und recht raiſoniren wil / daß GOtt den urſpruͤnglichen Stoff oder die ſo genante ma - teriam primam dieſer beweglichen und veraͤn - derlichen Dinge aus nichts gemacht oder er - ſchaffen habe / obſchon die gemeine MeinungH 5dahin122Das 3. Hauptſt. von Gott als demdahin zielet / daß die Schoͤpffung von der Ver - nunfft nicht begriffen / ſondern durch ein uͤberna - tuͤrliches Licht alleine erkennet werden koͤnne / auch die Heydniſche Philoſophi durchgehends durch ein falſches axioma, daß ſie fuͤr unſtrei - tig wahr angenommen / (nehmlich daß aus nichts auch nichts werden koͤnne) in den Haupt-Jrrthumb verfallen / daß dieſe erſte ma - terie von ſich ſelbſt herkommen / und GOtt gleich ewig ſey; aus welchen ſchaͤdlichen Jrr - thumb und deren daher geleiteten noch ſchaͤdli - chern Folgereyen auch alle Heydniſche Secten / ja ſo gar faſt alle Ketzereyen in der erſten Chriſtli - chen Kirche entſtanden. Wir wollen den Be - weißthum dieſes unſeres Lehr-Satzes kuͤrtzlich alſo zuſammen faſſen.

9.

Die erſte wuͤrckende Urſache und die erſte gewirckte Sache ſind / wie jetzt gemeldet / zwey unterſchiedener Dinge / jene iſt ein We - ſen von welcher / (á qua) dieſe aber iſt ein We - ſen aus welcher (ex qua) die andern Dinge ent - ſtanden. Hierinnen kommen alle alten und neuen Philoſophen (die nicht offenbahre Atheiſten ſind) uͤberein. So wohl auch hierinnen / daß eine erſte gewirckte Sache (materia prima) ſeyn muͤſſe / weil gleichfalls dem menſchlichen Verſtand zuwider ſey / daß er ſich in Erkaͤnt - niß derer gewuͤrckten Dinge in infinitum ver - ſteigen ſolle.

10. So123Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.

10.

So ferne nun der menſchliche Verſtand von dieſer erſten gewuͤrckten Sache oder ma - teria prima ſich den concept macht / daß es die erſte ſey / ſo muß nothwendig folgen / daß ſie aus keinem andern Dinge entſtanden / denn ſonſt konte man ſie nicht die erſte nennen. Jſt ſie aber aus keinem andern Dinge entſtanden / ſo muß ſie nothwendig aus nichts gemachet ſeyn. Denn wenn man gleich ſagen wolte / ſie waͤre aus GOtt / ſo muſte dieſes folgen / daß GOtt ſelbſt zugleich die erſte wuͤrckende und die erſte gewuͤrckte Sache waͤre / welches wie jetzt gemeldet / wieder alle Vernunfft iſt / daß GOtt und die gewuͤrckten Dinge (cauſa effi - ciens prima & materia prima,) einerley ſeyn ſolten.

11.

Woher und von wem aber koͤmmt nun dieſe erſte Materie her? Entweder von GOtt oder von ſich ſelber. Zwiſchen dieſen beyden kan der Verſtand kein Mittelding begreiffen / kaͤme ſie von ſich ſelber her / ſo waͤre ſie GOtt ſelbſt / und lieffe es abermahl auff die jetztgemeldte abſurditaͤt hinaus; Ja ſie waͤre keine Ma - terie mehr / weil nach aller Philoſophen Uberein - ſtimmung der Concept der Materie zwar in feri - ret / daß darinnen etwas gewircket werden koͤn - ne / nicht aber daß ſie ſelbſt fuͤr ſich etwas wir - cke. Solchergeſtalt aber iſt nichts mehr uͤbrig / als daß ſie von GOtt herkomme / und daß GOtt dieſe erſte Materie aus nichts ge -macht /124Das 3. Hauptſt. von Gott als demmacht / auch folgends ſelbige Gott nicht gleich ewig ſeyn koͤnne; welches das jenige iſt / wel - ches wir wider die Lehr-Saͤtze der Heydniſchen Philoſophie haben weiſen wollen.

12.

Und haben ſich dannenhero die Heydni - ſchen Philoſophen alleſamt darinnen groͤblich betrogen / wenn ſie dieſen Lehr-Satz als unſtrei - tig wahr angenommen / daß es unmoͤglich ſey / daß aus nichts etwas werden ſolle / indem ſie haͤtten entſcheiden ſollen / daß ein groſſer Unter - ſchied darinnen ſey / ob man ſage daß nichts et - was ſey / und das aus nichts etwas werde. Jenes iſt wieder alle Vernunfft und dannen - hero falſch / dieſes aber iſt wie jetzo erwieſen worden / der Vernunfft allerdings gemaͤß und folglich unſtreitig wahr / ob es gleich uͤber die Vernunfft iſt die Art und Weiſe zu begreiffen / wie es zugegangen / daß Gott aus nichts etwas gemacht habe.

13.

Derowegen muß auch ein aͤchter Philo - ſophus, der ſeine Vernunfft recht gebrauchen / und derſelben Graͤntze nicht uͤberſchreiten wil / disfalls fuͤr zweyen extremis ſich huͤten; eines theils / daß er die Schoͤpffung uͤberhaupt mit denen Heyden nicht fuͤr ein der Vernunfft zu - wider lauffendes Ding halte; anders Theils aber daß er mit vielen von denen heutigen Phi - loſophis mit ſeiner Vernunfft nicht zuweit gehe / und durch ſubtile Vernunfft-Schluͤſſe die Art und Weiſe der Schoͤpffung auszugruͤbelnſucht /125Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.ſuche / ſondern dasjenige / was ſeiner ihm ſelbſt gelaſſenen Vernunfft wohl in Ewigkeit unerkannt bleiben wird / auch als ein unerkanntes Ding ausſetze / und davon ſtetswehrend / als von ei - nen verwunderungs-vollen Geheimniß mit ge - bierender Ehrerbietung rede / oder die Erkaͤntniß dieſes Geheimniſſes bey einem hoͤhern Lichte ſuche.

14.

So haͤtten auch hiernechſt die ſich ſelbſt verblendenden Heyden gantz handgreifflich er - kennen koͤnnen / daß taͤglich ja augenblicklich aus nichts etwas werde / und aus etwas nichts / wenn ſie nur ein wenig ihr eigenes und anderer ihres gleichen veraͤnderlicher Dinge Seyn und Weſen (exiſtentiam & eſſentiam) betrachten wollen.

15.

Wir haben oben in der Vernunfft-Leh - re gedacht / daß die Exiſtenz dreyerley ſey / ver - gangen / gegenwaͤrtig und Zukuͤnfftig. Die vergangene ware etwas und iſt nichts / die ge - genwaͤrtige iſt nichts und wird etwas ſeyn. Zukuͤnfftige iſt nichts und wird etwas ſeyn. Und weil dann nun von dieſen exiſtentien alle Augenblick immer eine auff die andere folget / ſo iſt ja unſtreitig / daß auch alle Augenblick aus nichts etwas und aus etwas nichts werde.

16.

Was die Eſſentz oder das Weſen be - trifft / ſo wird einen jeden Menſchen ſeine Ver - nunfft wiederum uͤberzeugen / daß z. e. von dem Baͤumgen daraus hernach ein Baum wordenund126Das 3. Hauptſt. von Gott als demund von dem kleinen Kinde / daraus hernach ein Mann worden / in etlichen Jahren nicht der geringſte Theil des vorigen Weſens mehr uͤbrig und alſo wiederum aus etwas nichts / und aus nichts etwas worden ſey; obgleich dem uner - achtet dieſer Baum und dieſer Menſch der Zahl nach ein Baum und ein Menſch allezeit geblie - ben / nicht anders als etwan ein Mantel auff den man immer einen Fleck nach den andern ſetzt / oder ein Schiff daß man ſehr lange ge - braucht / und immer geflickt hat / oder ein Volck von 200. Jahren alt / in welchen ihrer viel taͤglich geſtorben und gebohren worden / eben der Mantel / das Schiff oder das Volck iſt / das es von Anfang war / obſchon nicht ein Fleck mehr von dem erſten Tuche / oder kein ſtuͤch Holtz von dem erſten Schiffe / oder kein Menſch mehr von denen / die von der anfaͤnglichen Vereinigung des Volcks gelebet / mehruͤbrig iſt.

17.

Dieſe beyden Betrachtungen aber lei - ten einen wahren Philoſophum dahin / daß er den Schoͤpffer der veraͤnderlichen Dinge auch zu - gleich als einen Erhalter derſelben erkennen / und von der goͤttlichen Providentz ſeiner Ver - nunfft nach etwas zu lallen lernet. Denn weil die Dauerung dieſer Dinge ſo wohl auch die Veraͤnderung / die beſagter Maſſen inihren We - ſen vorgehet / in nichts anders beruhet / als daß nichts und etwas / ſtetswehrend mit einander umwechſelt / ſo forſchet er billich / wo denndieſe127Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.dieſe Umbwechſelung herkomme / und wer derſelben Urſache ſey /

18.

Wolte nun gleich die præcipitantz eines unvernuͤnfftigen Menſchen ſagen / daß die Din - ge ihr Weſen ſelber erhielten / ſonderlich a - ber ein Menſch durch rechte Gebrauchung ſei - ner geſunden Vernufft ſein Weſen und Seyn erhalte; ſo wird ihme doch bald eine etwas reif - fere Uberlegung ſeiner Ohnmacht / und noch vielmehr des Unvermoͤgens anderer geringeren Geſchoͤpffe uͤberzeugen. Denn wie iſt es moͤg - lich / daß nichts etwas koͤnne zu wege brin - gen. Das gegenwaͤrtige Seyn wird in einem Augenblick zu nichts / indem es unter das ver - gangene gerechnet wird / und weil es mit dem was zukuͤnfftig und alſo nichts war / und nun - mehro an ſeine Stelle getreten und etwas wor - den iſt / gantz keine Verknuͤpffung hatte / wie kan man denn ſagen / daß dieſes etwas das zukuͤnff - tige nichts / indem es ſelbſt zu nichts worden / zu etwas gemacht habe. Und in Wahrheit ſo ſehr es der Vernunfft zuwieder iſt / daß nichts et - was ſey / ſo ſehr iſt es ihr auch zuwieder / daß nichts etwas wuͤrcken ſolle.

19.

So iſt dannenhero nichts mehr uͤbrig / als daß man zu dem Schoͤpffer ſich wende / und ihme alleine die augenblickllche Erhaltung dieſer Dinge zuſchreibe. Denn wie er dieſel - ben Anfangs aus nichts auff eine unbegreiff li - che Weiſe gemacht / alſo iſt er alleine maͤchtig /und128Das 3. Hauptſt. von Gott als demund es iſt ihm auch eben ſo leichte / daß er die - ſes etwas wieder laſſe zu nichts werden / und al - ſobald ein ander etwas an ſeine Stelle ſetze; obſchon unſere Vernufft ſo wenig begreiffen kan / wie ſolches zugehe / als wenig ſie begreiffen konte / wie es mit der Schoͤpffung hergegangen ſey. Genung iſt es / daß ſie erkennet / daß dieſe goͤttliche Erhaltung und augenblickliche Vor - ſorge (uͤber derer Art und Weiſe ſie dannenhe - ro nicht weiter vergebens ſcrupuliret / ſondern mit einer demuͤthigen Ehr-Furcht dieſelbe viel - mehr bewundert) nicht alleine ihr nicht zuwie - der ſey / ſondern auch daß ſie dererſelben noth - wendigkeit zu bekennen durch dieſen klaren Er - weiß gezwungen werde / und den geringſten auch nur wahrſcheinlichen Grund nicht vorbringen koͤnne / dieſe goͤttliche Vorſehung zu laͤugnen.

20.

Denn obſchon ihrer viel dahero an der goͤttlichen Vorſehung zu zweiffeln Anlaß ge - nommen / weil es in dieſer Welt denen Tu - gendhafften Ubel / denen Boͤſen aber wohl gehe / ſo haben ſie doch gantz offenbahrlich da - rinnen auff zweyerley Arten ſich præcipitiret / 1. Daß ſie die tugendhafften und laſterhafften Leute nicht unterſchieden / ſondern die Heuchler und verſchmitzten Leute / die den Schalck zu ber - gen wiſſen oder diejenigen die ſich derer Laſter enthalten / die von dem Hencker geſtrafft wer - den / im uͤbrigen aber gantz offenbahr wohlluͤ - ſtig / Geld - oder Ehrgeitzig ſeyn / vor tugendhafft -paſſi -129Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.paſſiren laſſen / und im Gegentheil rechtſchaffene und tugendhaffte Leute / die nothweudig viel Feindſchafft haben muͤſſen / nach dem betriegli - chen Zeugniß dieſer ihrer Feinde fuͤr laſterhafft gehalten.

21.

(2.) Haben ſie ſich gleicher maſſen in dem Concept des Gluͤcks oder Ungluͤcks verſtiegen / nicht auff die Gemuͤths-Ruhe und derer Be - raubung / wie ſie wohl haͤtten thun ſollen / ſondern auff Reichthum und Armuth / aͤuſſerliche Ehre oder Schande / oder einen gewaltſamen oder fruͤhzeitigen Tod und langes Leben hierinnen ihr Abſehen gerichtet / woraus denn allenthal - ben nichts anders als ein unvernuͤnfftige Schluß erfolgen koͤnnen; in dem / wie es dieſe gantze Sitten-Lehre weiſen wird / es ohnmoͤglich iſt / daß tugendhaffte Leute / auch in dieſer Welt elende / und laſterhaffte / gluͤcklich ſeyn koͤn - ten.

22.

So iſt demnach unter der Schoͤpffung und unter der Erhaltung der Dinge kein an - derer Unterſcheid / als daß jene das Werck Got - tes iſt / durch welches er zu erſt aus nichts et - was gemacht hat; und dieſe iſt ſem Werck / durch welches er dieſes etwas wieder zu nichts werden laͤſt / und einander etwas wieder an ſeine Stelle ſetzt. Weswegen du nichts unfoͤrmli - ches begehen wuͤrdeſt / wenn du dieſe Erhaltung der goͤttlichen Vorſehung die andere Schoͤpf - fung nennen wolteſt / wiewohl wir dieſe Re -Jdens -130Das 3. Hauptſt. von Gott als demdens-Art dir nicht auffbuͤrden / oder wenn etwan uͤber verhoffẽ ſonſten eine Inconvenientz daraus zu befahren waͤre / dieſelbe hartnaͤckigt verthey - digen wollen. Denn ein weiſer Mann zanckt niemahlen wegen der Worte oder Redens-Ar - ten.

23.

Solte dir auch deine Vernunfft bey dieſer Erkaͤntniß noch dieſen Scrupel machen / daß nach derſelben folgen wuͤrde / daß GOtt auff dieſe Weiſe ſeinen Geſchoͤpffen allezeit ein neues Seyn und Weſen gaͤbe / ſolcherge - ſtalt aber ſchiene es der menſchlichen Ver - nunfft zuwieder zu ſeyn / daß dieſes nichts und etwas / dieſes alte und unzehlich mahl darzu geſetzte neue nur ſtetswehrend ein Ding ſeyn / und bleiben ſolle; ſo laß dich doch dieſen ſchlech - ten und von einem Kinde zubeantworten Einwuͤrff nicht irre machen.

24.

Wir wollen dich nicht eben auff die Exempel von Mantel / Schiffe u. ſ. w. wieder zuruͤcke weiſen / ſondern wir wollen dir die Nicht - tigkeit dieſes Einwurffs auff eine andere Art zu erkennen geben. Ey lieber nimm Feder und Dinte / und mache dir doch eine Linie auff das Papier. Nun continuire dieſelbe. Was wilt du machen? Du muſt die Feder nicht wei - ter anſetzen. Laß die Linie ſich ſelbſt continui - ren / oder continuire ſie ſolchergeſtalt / daß du kein nen Stuͤck daran ſetzeſt. Du ſprichſt es ge - he nicht anders an. Nunwohl: continuire ſiedenn131Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.denn nach deinem Gefallen. Wiederhole ſol - ches noch etliche mahl Nun ſage mir / du haſt zu der alten Linie bißher lauter neue Stuͤcke geſetzet. Jſt es deñ dem unerachtet eine Linie blie - ben / oder ſind viel Linien drauß wurden? Du ſchuͤttelſt den Kopff. Aber eben ſo ſchuͤttele ich den Meinigen uͤber deine objection.

25.

Hier ſtehet nun die menſchliche Ver - nunfft in der Erkaͤntniß von GOtt ſtille / und huͤ - tet ſich / daß ſie nicht weiter gehe als in ihrem Vermoͤgen iſt. Sie erkennet / daß dieſes goͤtt - liche Weſen vielmehr Vollkommenheiten be - ſitze als ſie begreiffen kan / und alſo ſcrupuliret ſie in demſelbigen nicht weiter / ſondern uͤberlaͤſt das uͤbrige einem hoͤhern Liecht der goͤttlichen Offen - bahrung. Sie wil ſolchergeſtalt fuͤr ſich ſelbſt lieber nichts davon als auff eine unvollkomme - ne und vielleicht GOtt nicht gefaͤllige Weiſe re - den. Sie huͤtet ſich nur / daß ſie in keine irrige Lehr-Saͤtze verfalle / die denen bißher behaupte - ten Lehren ſchnur ſtracks zuwieder ſeyn.

26.

Jedoch bemuͤhet ſie ſich / wie ſie dieſe we - nige Erkaͤntniß / ſie moͤge nun ſo unvollkom - men ſeyn als ſie wolle zu Befoͤrderung ihrer Gemuͤths-Ruhe / als der hoͤchſten Gluͤckſee - ligkeit ſich zu nutze machen moͤge. Und zwar Anfaͤnglich begreifft ſie gar wohl / daß weil des Menſchen ſein gantzes Weſen urſpruͤnglich von GOtt herkoͤmmt / auch nothwendig der - ſelbe alles Gute GOtt allein zu dancken habe /J 2und132Das 3. Hauptſt. von Gott als demund ſchuldig ſey / ſein Thun und Laſſen nach dem goͤttlichen Willen einzurichten. Und weil ſie befindet / das GOtt denſelben zum Theil in der allen Menſchen gemeinen Vernunfft ein - gepflantzet habe; als erkennet ſie ſich ſchuldig denſelben nach dieſer Richtſchnur gebuͤhrend zu unterſuchen / und hernachmahls die Kraͤffte ihres freyen Willens alſo zugebrauchen / daß das von dieſen freyen Willen dependirende Thun dieſen goͤttlichen Willen nicht zuwieder ſeyn moͤge.

27.

Nach dieſen / in dem ſie erweget / daß GOtt alle Augenblick den Menſchen mit ſampt ſeinen freyen Willen erhalte; als ſpuͤret ſie auch / daß ſie dieſerwegen dieſes unbegreiffliche We - ſen zu lieben ſchuldig ſey. Und haͤlt dafuͤr / daß dieſe Liebe in nichts anders beſtehe / als in ei - ner ſtetswehrenden Bemuͤhung und Ver - langen / ſich mit GOtt zuvereinigen. Weil ſie aber ſiehet / daß ſie zu dieſer Vereinigung zu - gelangen fuͤr ſich gantz unvermoͤgend ſey; als erweiſet ſie nur ihres Orts dieſen erſten Ur - ſprung alles Guten ein innigliches Vertrau - en und demuͤthige Ehrfurcht / als die beyden weſentlichen Stuͤcke auff ihrer Seite / ihrer zu GOtt tragenden Liebe.

28.

Das Vertrauen gruͤndet ſich darin - nen / weil der Menſch erkennet / daß GOtt ohne Noth und ohne ſeinen Verdienſt von freyen Stuͤcken ihn aus nichts gemacht / und alles Gu -te ge -133Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.te gegeben habe / auch noch taͤglich darinnen er - halte; und ſolchergeſtalt ſchlieſſet er / daß Gott es auch noch kuͤnfftig zu erhalten nicht nur Ver moͤgend / ſondern auch Willens ſey. Zum we - nigſten findet er die geringſte erhebliche Urſache nicht / warumb er disfalls in die goͤttliche Liebe einig mißtrauen ſetzen ſolle.

29.

Hiernechſt aber begreifft der Menſch wohl / daß er ſich dieſer goͤttlichen Wolthaten un - wuͤrdig machen wuͤrde / wenn er ſeinen Willen / der ihm ins Hertze geſchrieben / wiederſtreben wolte. Und daß er ſich in geringſten nicht zu be - klagen habe / wenn ihm GOtt dieſerwegen alle die verliehenen Gutthaten auff einmahl ent - ziehen / und ihn an deſſen ſtatt Boͤſes an ſtatt des Guten wiederfahren laſſen ſolte; Zumahl ſie aus der obigen Erkaͤntniß gantz gewiß verſichert iſt / daß GOtt dieſes alles zu thun vermoͤgend ſey. Und auff dieſe Weiſe fuͤrchtet er ſich fuͤr GOtt.

30.

Aus dieſem Vertrauen aber und der Furcht GOttes lernet er / daß er ſich fuͤr kei - ner andern Creatur zufuͤrchten / oder derſel - ben zuvertrauen Urſach habe. Denn ſo viel die Furcht betrifft / wird der Menſch durch obige Betrachtung verſichert / daß wenn gleich alle Menſchen und alle andere Creaturen ihn boͤſes zu thun / und Schaden zuzufuͤgen erſonnen ſeyn ſolten / ſie dennoch ſolches ohne GOttes Willen ins Werck zurichten unvermoͤgendJ 3ſeyn134Das 3. Hauptſt. von Gott als demſeyn wuͤrden / weil / wie oberwehnet / Gott alle Au - genblick neben den ſeinigen auch dieſer ſeiner Feinde Weſen und Seyn erhaͤlt.

31.

Eben dieſe Urſachen trifft er auch bey dem Vertrauen auff andere Creaturen an / in - dem er ſpuͤhret / daß alle Menſchen unvermoͤgend ſeyn / ihm wider GOttes Willen nur einen Au - genblick ſein Leben und das andere von GOtt herruͤhrende Gute zu verlaͤngern / und daß Gott dieſelben in dem moment, da ſie ihm zu gute et - was fuͤrnehmen / zernichten und vertilgen koͤnne.

32.

Ja er weiß endlich der natuͤrlichen Er - kaͤntniß nach von keinen andern Gottesdienſt / als von dieſer aus kindlichen Vertrauen und Ehrfurcht herruͤhrenden Begierde / ſein Leben nach GOttes Willen anzuſtellen / und beareiſſt fuͤr ſich ſelbſt nicht / ob und mit was fuͤr aͤußer - lichen Ceremonien er ſonſten gegen GOTT ſeinen Dienſt bezeugen ſolle / obſchon insge - mein die Gelehrten das Gegentheil zu behau - pten pflegen / und dafuͤr halten / daß der Menſch von Natur angetrieben werde / Gott einen aͤußer - lichen Gottesdienſt durch aͤußerliche Ceremo - nien und aͤußerliches beten / loben und dancken zu erweiſen.

33.

Dieſes aber deſto deutlicher zubegreif - fen muſt du fuͤr allen Dingen recht einnehmen / wovon allhier die Frage ſey / damit eines Theils unbedachtſame an dieſe Lehrſatz ſich nicht aͤrgern anders Theils aber die in den Verurtheilender135Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.der alten Lehren erſoffene nicht Gelegen - heit nehmen dieſelbe boßhaffter Weiſe zu laͤ - ſtern.

34.

Erſtlich iſt nicht die Frage von innerlichen Gottesdienſt / nemlich wenn der Menſch in ſei - nen Gedancken Gott vertrauet / ihn liebet / fuͤrch - tet und ſein Thun und laſſen nach der Erkaͤntniß ſeines Willens / die er natuͤrlicher Weiſe davon hat einrichtet. Denn hierzu treibet ihn aller - dings auch die Erkaͤntniß ſeiner Natur an / wie wir allbereit erwieſen haben. Sondern man redet von aͤußerlichen Gottesdienſt / der in aͤußerlichen Ceremonien beſtehet / und der entwe - der allen Voͤlckern oder doch deren meiſten ge - mein / oder in Anſehen des Unterſcheids der Voͤlcker auch unterſchieden iſt.

35.

Jener beſtehet uͤberhaupt in einem aͤußer - lichen beten / loben und dancken. Denn es iſt kein Volck unter der Sonnen / das nicht ſei - nem GOtt dieſe drey Stuͤcke des aͤußerlichen Gottesdienſtes erweiſen ſolte. Dieſer aber be - ruhet in denen gantz unterſchiedenen Arten und Weiſen GOtt anzuruffen / zu loben und zu dan - cken. Als wenn z. e. bey denen Chriſten ge - braͤuchlich iſt / oder zum Theil ſeyn ſolte / GOtt im Nahmen unſers HErrn JEſu Chriſti ohne Zorn und Zweiffel / oͤffentlich / mit auffgehobenen Haͤnden / auch fuͤr die Feinde vermittelſt einer Muſic, auch nach Gelegenheit bey Faſten und Anhoͤrung GOttes Worts anzuruffen / wohinJ 4auch136Das 3. Hauptſt. von Gott als demauch die Heiligung des Sonntags / und der Ge - brauch der Sacramenten zu ziehen iſt.

36.

Nach dieſen iſt davon die Frage nicht / ob unter allen Dingen GOtt nicht am wuͤr - digſten ſey / daß man ihn durch aͤußerliche Be - zeugungen Ehre erweiſe / wohin fuͤrnemlich die argumenta derer / die den Gottesdienſt aus dem Licht der Natur herleiten wollen / ihr Abſehen richten. Denn wer wolte ſo gottloß ſeyn / daß er dieſes laͤugnen wolte / da doch auch unter denen Heyden diejenigen / die goͤttliche Vorſehung ge - glaubet / gewolt ha ben / daß man Gott bloß we - gen ſeiner Vortreffligkeit ehren ſolte.

37.

Ja es erkennet auch die Vernunfft die - ſes gar wohl / daß der Menſch ſchuldig ſey GOtt zu ehren / wenn GOtt einen aͤußerli - chen Gottesdienſt von ihnen erfordere / weil er aus dem conceptu cauſæ primæ, und daß GOtt den Menſchen nebſt allen veraͤnderlichen Geſchoͤpffen aus nichts gemacht / das Recht Got - tes erkennet / daß er hat dem Menſchen zu befeh - len / und vermoͤge welches der Menſch ſchuldig iſt ihm zu gehorchen.

38.

Sondern davon iſt nur die Frage: Ob man aus bloſſer Vernunfft ohne die goͤtt - liche Offenbahrung erweiſen koͤnne / daß GOTT einen aͤußerlichen Gottesdinſt von dem Menſchen verlange? Und dieſes iſt es was wir laͤugnen / und durch deutliche Gruͤnde erwei - ſen wollen.

39. Jn137Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.

39.

Jndem wir aber dieſes laͤugnen / muß abermahls unſere Meinung nicht verſtanden werden / als ob wir davor hielten / daß die Na - tur uns ſage / man muͤſſe GOtt mit aͤnßer - lichen Ceremonien nicht ehren / den ſolcher geſtalt wuͤrden wir gantz offenbahr demjenigen zuwider leben / was wir allbereit n. 36. & 37. præſupponiret; Sondern wir wollen nurzeigen / daß die Natur uns gar nichts von dieſem Gottesdienſt ſage / daß er geſchehen muͤſſe; und daß nach der Natur dieſer aͤußerliche Gottesdienſt unter die Dinge zu rechnen ſey / die als Mitteldinge geſchehen und unterwegens ge - laſſen werden koͤnnen; oder daß die Natur uns keinen feſt ſchlieſſenden Grund an die Hand ge - be / daraus wir gewiß folgern koͤnten / GOtt wolle einen ſolchen aͤußerlichen Gottesdienſt von den Menſchen haben.

40.

Denn wir moͤgen uns entweder in Got - tes Natur was wir davon begreiffen / oder in der menſchlichen Natur darnach umbſehen / ſo werden wir darinnen nichts finden / daraus wir ſchlieſſen koͤnten / GOtt wolte einen derglei - chen aͤußerlichen Gottesdienſt von dem Menſchen erfordern.

41.

So viel Gottes Weſen betrifft / ſo be - darff daſſelbe weder des aͤußerlichen noch des in - nerlichen Gottesdienſtes des Menſchen / und iſt aus dem Luciano bekant / daß ſchon ehedeſſen die - ſer aus der Vernunfft hergenommenen Entſchul -J 5digung138Das 3. Hauptſt. von Gott als demdigung ſich der Demonax bedienet / als man ihn als einen gottloſen Mann verklaget / daß er der Minervæ niemahln geopffert habe. Denn / ſagte er / ich habe ſolches deswegen bishero unterlaſſen / weil ich davor gehalten / daß die Minerva meiner Opffer nicht benoͤthiget waͤre.

42.

Was den Menſchen anlanget und ſei - ne Natur / ſo kan die Vernunfft fuͤr ſich nicht ab - ſehen / daß die Gemuͤths-Ruhe oder der allge - meine Friede und die vernuͤnfftige Liebe in ge - ringſten gemindert oder verunruhiget werde / wenn gleich dergleichen aͤußerliche Bezeugungen nachbleiben / wenn nur der innerliche Gottes - dienſt bey dem Menſchen bleibet.

43.

Wolte man auch gleich die Natur des Menſchen nach dem Stande der Unſchuld richten / oder dieſelbe aus der Gleichfoͤrmigkeit mit Goͤttlicher Heiligkeit abmeſſen; ſo kan ich doch abermahl nicht abſehen / wie und woher man etwas unſtreitiges von Adams ſeinen Kirchen - Ceremonien im Stande der Unſchuld behaupten koͤnne / und wie die Goͤttliche Heiligkeit einen aͤußerlichen Gottesdienſt in ihren Concept be - greiffe / und daher der Menſch das Muſter neh - men koͤnne.

45.

Solchergeſtalt nun begreifft der menſch - liche Verſtand wohl / daß die Laͤſterung und Verachtung GOttes / es moͤge nun dieſelbe in bloſſen Gedancken beſtehen / oder in aͤußerliche Worte und Thaten ausbrechen der geſundenVer -139Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeligk.Vernunfft zuwider ſey / weil dieſelbe den innerli - chen Gottesdienſt auffhebet.

45.

Der menſchliche Verſtand begreifft fer - ner / daß der aͤußerliche Gottesdienſt unter die vortrefflichſten zugelaſſenen Dinge gehoͤre / und nicht alleine der allgemeinen Vernunfft nicht zuwider / ſondern auch es auf gewiſſe maſſe beſſer ſey / wenn man GOtt aͤuſſerliche Ehre bezeige / als wenn man dieſelbe unterlaſſe.

46.

Aber dieſes alles iſt noch nicht genung / die Nothwendigkeit des Gottesdienſtes zu erhaͤr - ten. Denn die menſchliche Vernunfft kan dar - innen nichts unvernuͤnfftiges antreffen / wenn ſie z. e. ſolchergeſtalt raiſoniret / daß das aͤußerliche Gebet nach Anweiſung der Natur unter die Mittel-Dinge gehoͤre / weil Gott als ein Hertzen - kuͤndiger auch die Seufftzer der Menſchen verſte - he / und als ein Schoͤpffer und Erhalter derſel - ben auch ohne bitten am beſten wiſſe / was ſie be - duͤrffen.

47.

So waͤchſet auch durch das aͤußerliche Lob Gottes ſeiner Majeſtaͤt und Hoheit nichts zu / ja vielmehr weiſet die geſunde Vernunfft / daß wenn ein Menſch der Gott nicht innerlich ehret und fuͤrchtet / gleich das Lob Gottes in ſeinen Mund nehmen wolle / er ſich hiermit ſchwerlich verſuͤndigen werde / weil er entweder Gott oder die Menſchen durch dieſe aͤußerliche Zeichen zu betriegen ſuche. Wenn aber ein Menſch in ſei - nen Hertzen Gott hoch achtet / ſo wird die Ver -nunfft140Das 3. Hauptſt. von Gott als demnunfft leichte das aͤußerliche Lob fuͤr uͤberfluͤßig halten.

48.

Eben dieſes muͤſſen wir auch von dem aͤuſſerlichen Danck ſagen. Zu geſchweigen / daß wie wir zu ſeiner Zeit betrachten werden / das aͤußerliche Dancken unter denen Menſchen des - halben vonnoͤthen iſt / daß einer dem andern be - zeuge / wie die erwieſene Gutthat ihm angenehm geweſen / und er allezeit bereit ſey dem andern wie - der zu dienen. Alleine bey Gott kan dieſes alles durch meine Gedancken verrichtet werden.

49.

Mit einem Wort / Beten / Loben und Dancken / ſind deshalben unter denen Menſchen als aͤußerliche Zeichen noͤthig weil ein Menſch dem andern nicht ins Hertze ſehen kan. Dieſes kan aber Gott thun.

50.

Wolteſtu nun gleich ſagen / daß das aͤußer - liche Beten / Loben und Dancken eben deshal - ben vonnoͤthen ſey / damit ein Menſch gegen andere Menſchen ſeinen innerlichen Gottes - dienſt bezeuge / als welche gleichfalls ohne dieſe Bezeugung nicht wiſſen koͤnnen / ob ſie ihn vor ei - nen Tugendhafften oder gottloſen Menſchen halten ſolten / ſo wuͤrde doch auch hier die menſch - liche ſieh ſelbſt gelaſſene Vernunfft etwas ſinden / das ſie dawider einwenden koͤnte.

51.

Denn zu geſchweigen / daß die Zeichen des aͤußerlichen Gottesdienſtes betrieglich ſind / und oͤffters von denen gebraucht werden / die in ihren Hertzen Atheiſten oder Abgoͤttiſch ſeyn; So iſtes141Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.es wohl an dem / daß die allgemeine friedliche Ge - ſellſchafft und die thaͤtige Gemuͤths-Ruhe erfor - dere / daß ein Menſch dem andern ſeine Gottes - furcht zeige; Aber er wird ihm dieſelbe am aller - beſten / und zum wenigſten beſſer dadurch zeigen koͤnnen / wenn er ſein Leben nach dem in der Natur ihm geoffenbahrten Willen GOt - tes in Anſehen der Liebe anderer Menſchen anſtellet / als wenn er ohne dieſer Gleichfoͤrmig - keit des aͤuſſerlichen Thuns / alle aͤuſſerliche Cere - monien noch ſo ſorgfaͤltig in acht naͤhme.

52.

Aber / faͤhreſtu fort / wie wil die Gluͤckſee - ligkeit des gemeinen Weſens beſtchen / in dem keine Buͤrgerliche Geſellſchaſſt iſt / darinnen man nicht einen aͤuſſerlichen Gottesdienſt beob - achten ſolte / und ſo gar auch die Heydniſchen Scribenten ſelbſt in ihren Schrifften denſelben als eine Schuldigkeit des Menſchen anzufuͤhren pflegen.

53.

Alleine du muſt dich huͤten / daß du aus dem was die Heyden erkennet haben / nicht / wie wohl ins gemein zu geſchehen pfleget / ſchlieſ - ſen wolteſt / daß ſie dieſes alles aus dem Liecht der Vernunfft erkennet haben. Auch die Heyden haben ſich zweyerley Lichts / der natuͤrlichen und einer Offenbahrung bedienet. Ja ſie haben auch viel von der wahren goͤttlichen Offenbah - rung theils durch die Tradition ihrer Eltern / theils durch die Converſation mit denen Rechtglaͤubi - gen gewuſt. Und ſolcher geſtalt folget gantz nicht;Es142Das 3. Hauptſt. von Gott als demEs iſt keine buͤrgerliche Geſellſchafft / darinnen nicht ein aͤuſſerlicher Gottesdienſt im Schwang gehen ſolte; derohalben muͤſſen ſie denſelben aus dem Liecht der Natur herhaben.

54.

Denn was die allgemeine Gluͤckſeelig - keit des gemeinen Weſens betrifft) muſtu dich wohl in acht nehmen / daß du den zufaͤlligen Zweck des aͤuſſerlichen Gottesdienſtes nicht fuͤr den hauptſaͤchlichſten und vornehmſten haͤlteſt. Die - ſes begreifft die Vernunfft gar wohl / daß der Nutzen des gemeinen Weſens durch den aͤuſſer - lichen Gottesdienſt befoͤrdert werde / wenn ein Buͤrger den andern durch dieſe aͤuſſerliche Zei - chen ſeine innerliche Gottesfurcht als den Grund aller buͤrgerlichen Pflicht / zu verſtehen giebt / und ſolcher geſtalt das allgemeine buͤrgerliche Ver - trauen dadurch immer mehr und mehr gemehret wird; Alleine wie dieſe aͤuſſerliche Zeichen / als wie nur erwehnet / ſehr offt triegen / alſo verſtoͤret auch derſelben Unterlaſſung fuͤr ſich nicht den Wohlſtand des gemeinen Weſens.

55.

So iſt auch dieſes hierbey wohl zu uͤberle - gen / daß wenn das zeitliche Intereſſe des ge - meinen Weſens der wahrhafftige Zweck des aͤuſſerlichen Gottesdienſtes ſeyn ſolte / ſo wuͤrde man auch ſagen muͤſſen / daß der Gottesdienſt nach Unterſcheid derer Republiquen auch unter - ſchieden ſeyn / und der veraͤnderliche Nutzen die - ſer oder jener Republique auch die Richtſchnur ei - nes daſelbſt veraͤnderlichen Gottesdienſtes ſeynmuͤſſe143Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.muͤſſe / welches doch ſehr unfoͤrmlich und bey nahe gottloß klingen wuͤrde.

56.

Und was braucht es dißfalls viel Diſputi - rens? Geſtehet doch jederman / daß des Men - ſchen ſeine ewige Gluͤckſeeligkeit das wahre Abſehen des Gottesdienſtes ſey. Nun weiß a - ber die ſich ſelbſt gelaſſene Vernunfft von dem Zuſtand nach dieſem Leben nichts gewiſſes / wie wolte ſie denn des Gottesdienſtes als des Mittels hierzu verſichert ſeyn.

57.

Bißher haben wir nur von dem allgemei - nen aͤuſſerlichen Gottesdienſt geredet. Was den abſonderlichen anlanget / ſo finden ſich da - bey ſo viel Gruͤnde zu Behauptung unſerer Mei - nung / ſo viel man Umbſtaͤnde bey demſelben an - trifft / welches alles allhier weitlaͤufftig auszufuͤh - ren unvonnoͤthen iſt / weil jeder abſonderlicher Gottesdienſt den allgemeinen præſuppeniret / und folglich offenbahr iſt / daß weñ jeder nicht aus der Vernunfft werde koͤnnen erkennet werden / man dieſen abſonderlichen vielweniger draus werde behaupten koͤnnen.

58.

Wolten wir noch uͤber dieſes die Kir - chen - und andere Hiſtorien zu Huͤlffe nehmen / ſo wuͤrden wir befinden / daß keine Religion in der gantzen Welt wird genennet werden koͤnnen / die nicht auff eine Offenbahrung ihres Gottes - dienſts halber ſich gruͤnde. Wir beziehen uns auff Gottes Wort; Alle Ketzer thun in Ver - faͤlſchung deſſelben dergleichen; Die Juͤden ge -brau -144Das 3. Hauptſt. von Gott als dembrauchen ſich des Alten Teſtaments und derer ihren Rabbinen geſchehenen Offenbahrungen; Die Tuͤrcken fuſſen auff den Offenbahrungen ihres Mahomets; Die Heyden haben ihre Bramines u. ſ. w. die ſie an ſtatt goͤttlicher Offen - bahrungen die Luͤgen des Satans beredet haben.

59.

So iſt auch hierbey nicht zu vergeſſen / daß GOtt beſage der Kirchen-Hiſtorie niemahln ein von der menſchlichen Vernunfft erfundener Got - tesdienſt gefallen habe / ſondern daß er von Anbe - ginn der Welt dißfalls dem Menſchen ſeinen Willen geoffenbahret.

60.

Die bißhero erzehlte natuͤrliche wahrhaff - tige Erkaͤntniß von GOtt ſeiner Schoͤpffung und Erhaltung dieſer irrdiſchen Dinge / hat zweyerley falſche Jrrthuͤmer die ihr entgegen geſetzet ſeyn / die Atheiſterey und einen abgoͤttiſchen Aber - glauben.

61.

Einen Atheiſten nenne ich in Anſehen der natuͤrlichen Erkaͤntniß denjenigen / der GOtt nicht fuͤrchtet noch vertrauet / oder ſich nach ſeinen Willen zu leben nicht ſchuldig erachtet / weil er entweder dafuͤr haͤlt / man koͤnne von GOtt und ſeiner Providenz vermittelſt der Vernunfft nichts gewiſſes wiſſen / und habe dannenhero ſtetsweh - rend Urſache daran zu zweiffeln; oder weil er ſich einen ſolchen Gott Formiret / der entweder ei - nem Fato unterwuͤrffig / oder mit denen Creatu - ren ein Weſen ſey / und dieſelbe als Theile ſeines goͤttlichen Weſens in ſich begreiffe.

62. Daß145Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.

62.

Daß ich die Leute von dieſer letzten Claſſe unter die Atheiſten rechne / geſchiehet deshal - hen / weil wir oben erwehnet / daß alle Philoſo - phi durch Gott ein unterſchiedenes Weſen von denen Creaturen / die dererſelben erſte Urſache ſey / verſtanden haben / und folglich der jenige / der die Creaturen und GOtt fuͤr eines haͤlt; oder GOtt einen hoͤhern Fato unterwirfft / in der That GOtt laͤugnen muß.

63.

Gleichwie aber die Atheiſterey nicht den geringſten nur wahrſeheinlichen Grund auffuͤhren kan / durch den ſie dieſen Haupt-Jrr - thum vertheydigen koͤnte; alſo haben wir ſie nicht anders als eine der groͤſten und elende - ſten Thorheiten zu betrachten / zumahl wenn wir erwegen / daß mehrentheils die ſonſt kluͤg - ſten Leute darein verfallen / weil ſie ihre Ver - nunfft gar zu hoch ſpannen wollen / und uͤber der allzugenauen Ausgruͤbelung aͤußerlicher Dinge der Erkaͤntniß ihrer ſelbſt / und folglich auch her - nach ihres Schoͤpffers vergeſſen.

64

Einen Abgoͤtter und aberglaͤubiſchen Menſchen nenne ich in Anſehen des natuͤr - lichen Lichts den / der zwar etwas fuͤr GOtt haͤlt / daſſelbige fuͤrchtet und vertrauet / und durch ei - nem aͤußerlichen Gottesdienſt denſelben dienet; aber der gantz offenbahrlich wider das Licht der geſunden Vernunfft dasjenige fuͤr GOtt aus - giebet / das unmoͤglich GOTT ſeyn kan. Z. e. Kder146Das 3. Hauptſt. von Gott als demder die Menſchen / Thiere / und andere irrdiſche Creaturen fuͤr Gott haͤlt.

65.

Denn was die himmliſchen Coͤrper / als Sonne / Mond / und Sternen betrifft / die wir Chriſten Geſchoͤpffe zu ſeyn glauben / mit de - nen hat es in Anſehen des ſchwachen natuͤr - lichen Lichts eine andere Bewandniß. Zum wenigſten kan ich nicht abſehen / mit was fuͤr ei - nen bezwingenden Grund man einen Heyden / der z. e. die Sonne anbetet / uͤberzeugen wolte / daß die Sonne nicht die erſte Urſache der irr - diſchen und veraͤnderlichen Geſchoͤpffe ſey / in an - ſehen unſere Vernunfft den Einfluß der Sonne in dieſe Coͤrper taͤglich erkennet / und keine Ver - aͤnderung derſelben ohne die heilige Schrifft ge - wiß behaupten kan; wiewohl er deshalben fuͤr GOtt nicht entſchuldiget iſt.

66.

So kan man nun nach Anleitung dieſer Betrachtung Abgoͤtterey / in eine raiſona - ble und irraiſonable Abgoͤtterey eintheilen. Jene nenne ich die jenige / die zwar nicht wider die Vernunfft / aber doch wider die goͤttliche Offen - bahrung ſtreitet; Dieſe aber / die auch der allen Menſchen gemeinen Vernunfft zuwider iſt. Jene gehoͤret hieher nicht / ſondern muß der Theologie uͤberlaſſen werde; Dieſe aber wird von uns in dieſem Capitel fuͤrnehmlich be - trachtet.

67.

Jedoch iſt dieſe Anmerckung nicht zu uͤbergehen / daß die barbariſchten Voͤlcker je -derzeit147Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeligk.jederzeit viel vernuͤnfftiger / oder beſſerzu reden / nicht ſo-vernuͤnfftig geweſen in ihrer Ab - goͤtterey / als diejenigen / bey denen die Philoſo - phie am allermeiſten getrieben worden / wie aus denen Exempeln derer Griechen und Roͤmer zu - ſehen. Die Urſache hiervon wird auch fuͤgli - cher aus der wahren GOttes-Gelahrheit / als aus der Vernunfft hergeleiter werden koͤnnen.

68.

Nun iſt niehts mehr uͤbrig / als daß wir gegen einander halten / was die bißher demon - ſtrirte wahre Erkaͤntniß von GOtt und ſei - ner Vorſehung in der Morale fuͤr einen Nutzen habe / und was die Atheiſterey oder Abgoͤtte - rey darinnen ſchade.

69.

Ein wahrer Philoſophus ſuchet ſeine Ge - muͤths-Ruhe in dem ſtetswehrenden Vertrau - en und der Furcht GOttes / und bemuͤhet ſich dannenhero zu derſelben Erhaltung der Mittel zubedienen / die ihm die allgemeine geſunde Ver nunfft beredet / daß ſie GOtt hierzu ordentlich verordnet habe. Er vertrauet keinen Menſchen und fuͤrchtet ſich fuͤr keinen / er liebet ſie aber doch und bemuͤhet ſich ſein Gemuͤthe mit denen die GOtt fuͤrchten und lieben zuvereinigen. Er trachtet durch das / was ihm die Natur an die Hand giebet / gutes zu thun. Und wenn er be - findet / daß dasjenige Gute / was er durch dieſe Mittel bey andern Menſchen zuwege bringen wil / von ihm nicht erhalten werden konne / ſo áf - ficiret ihm ſolches nicht / weil er wohl weiß / daßK 2GOtt148Das 3. Hauptſt. von GOtt als demGOtt ihm dieſe Mittel zwar vorgeſchrieben ha - be / aber ſelbſt ſich nicht daran habe binden wol - len / und daß / wenn er nur ſelbſt dieſe Mittel nicht muthwillig hindan geſetzt / ſeine Gemuͤths - Ruhe in geringſten dadurch nicht gekraͤncket werde / ſondern GOtt auch mitten in der groͤ - ſten Verdrießligkeit ihm nicht alleine beyſprin - gen koͤnne / ſondern auch wolle. Er ſuchet hier - naͤchſt anderer Menſchen neben ſich ihr wohl ſeyn zu befoͤrdern / nicht ſo wohl / weil von dem allgemeinen wohl ſeyn auch ſein eigenes depen - diret / ſondern weil er erkennet / daß es GOtt ſo haben wolle / und ihm deshalben einen Trieb gegeben / daß er in andern Menſchen mehr als in ſich ſelbſt zu leben verlanget. Und dannen - hero haͤlt ihn die Liebe GOttes ab / daß wenn er gleich auff das allerheimlichſte ſeinen eigenen Vortheil mit ſeines Nechſten Schaden befoͤr - dern koͤnte / er doch ſolches zu thun nicht begeh - ret / theils weil er GOtt vertrauet / daß er auch ohne dem werde ſein beſtes befoͤrdern koͤnnen / theils weil er ſich fuͤrchtet / ſeine Gemuͤths-Ru - he dadurch zu verſtoͤhren / in dem ihm ſonſten ſein Gewiſſen allezeit vorſagen wuͤrde / daß er durch eine dergleichen That wider Gottes Willen ge - handelt / und ſich dannenhero Gottes ferneren Liebe unwuͤrdig gemachet habe.

70.

Ein Atheiſte aber / weil er entweder GOtt oder die goͤttliche Vorſehung nicht glau - bet / ſo liebet er auch und vertrauet oder fuͤrch -tet149Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.tet GOTT nicht. Denn wie ſolte er ſich fuͤr dem fuͤrchten oder ihm vertrauen / den er dafuͤr haͤlt / daß er ſich umb ihn nicht be - kuͤmmere. Und wie ſolte er den lieben / den er fuͤr nichts haͤlt / oder an deſſen Vereinigung mit ſich er verzweiffelt / oder den er allzuvortrefflich zu ſeyn glaubet / daß es ſeiner Vortreffligkeit zu wieder ſey einmahl an ihn zu dencken. Dero - wegen weil er GOtt als den Urſprung alles Gu - ten nicht betrachtet / ſo ſucht er auch ſein hoͤch - ſtes Gut nicht in einer / aus einer vernuͤnfftigen Liebe anderer Menſchen herruͤhrenden und die - ſelbe wider wirckenden Gemuͤths-Ruhe / ſondern ſeine unzeitige Weißheit treibet ſeine Vernunfft dahin / daß er ſich beynahe ſelbſt fuͤr einen Gott achtet / weil er befindet / daß er edler ſey als die andern Geſchoͤpffe die um ihn ſind / und ehret / liebet / vertrauet und fuͤrchtet niemand als ſich ſelbſten. Bey dieſer Bewandniß aber thut er zwar mehrentheils alles dasjenige / was ein tu - gendhaffter Mann / der die groͤſte Gluͤckſeeligkeit ſuchet / oder beſitzet / zuthun pfleget; aber weil er dieſes alles nicht aus Liebe zu andern Men - ſchen / ſondern zu ſich ſelbſt thut / indem ihm ſei - ne Vernunfft weiſet / daß er ſich ſelbſt durch ein unvernuͤnfftiges Leben ungluͤcklich machen wuͤr - de; Als macht er ſich kein Gewiſſen / heimlich andern Leuten zu ſchaden / und wider die allge - meinen natuͤrlichen Grund-Regeln anzuſtoſſen / entweder ſeine aͤuſſerliche Macht und AnſehenK 3dadurch150Das 3. Hauptſt. von Gott als demdadurch zubefoͤrdern / oder ſich die taͤglich fuͤr - fallenden Verdrießligkeiten von Halſ zuſchaf - fen. Hierdurch verfehlet er aber gantz offen - bahr der Gemuͤths-Ruhe / wiewohl er ſie ſuchet / theils weil die von ihm muthwillig untergedruck - te Erkaͤntniß GOttes zuweilen rege wird und ihm angſt machet / theils weil die heimlich be - gangenen Boßheiten ihm viel Sorge ma - chen / wie ſie ferner heimlich bleiben moͤgen / und mehr und mehr andere Boßheiten nach ſich zie - hen / woraus hernach zugeſchehen pfleget / daß ein Atheiſte / ob er ſchon viel von ſeiner Freyheit pralet / zuletzt eben ſo wohl ein Sclave anderer Menſchen wird als ein aberglaͤubiſcher Menſch.

71.

Jedoch iſt es nicht zu laͤugnen / daß ein Aberglaͤubiſcher noch elender dran iſt / weil es viel unvernuͤnfftiger iſt / einen Menſchen oder Thier oder Bild u. ſ. w. GOtt zu ſeyn glauben / als GOtt gar nicht erkennen. Denn gleichwie er ſich einmahl von GOttes Weſen Dinge be - redet / die aller Vernunfft zuwieder ſind; alſo laͤſt er ſich anch von deſſen Willen dergleichen bereden; und iſt nichts ſo abſurd das man ihn nicht koͤnne Glauben machen / daß er GOtt ei - nen Dienſt damit thun werde. Ja weil er auf dieſe Weiſe ſeine Vernunfft gantz und gar zu Boden getreten / und ſich von ſeinen Luͤſten nach Gefallen herum ſchleppen laͤſt; ſo beredet er ſich auch / daß GOtt eben ſo paſſioniret ſeyn werde als er iſt / und ob er ſchon ja ſo ſehre gluͤcklichzu151Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeelig.zu werden verlanget / als andere Menſchen / ſo verfehlet er doch dieſen Endzweck am allerwei - teſten / und indem er meinet alles zu ſeinen Ver - gnuͤgen zuthun / ſtuͤrtzet er ſich in das groͤſte Un - gluͤck und Unruhe / und iſt ein Sclave unver - nuͤnfftiger Menſchen ſeines gleichen / oder eines todten Geld-Klumpens / die er ſo dann zu ſeinen GOtt machet / ihnen in der That vertrauet / und ſie fuͤrchret / ob er ſich ſchon mit aͤuſſerlichen Ce - remonien anſtellet / als ob er GOtt wahrhafftig diene.

72.

So iſt demnach ein Weltweiſer Mann der GOtt nach Anleitung der Vernunfft / wie er ſol / erkennet / alleine ein Menſch / ein Atheiſte und ein Aberglaͤubiſcher ſind Beſtien / jedoch mit dieſem Unterſcheid: Ein Atheiſte iſt einem Affen nicht ungleich / weil er einem wahren Phi - loſopho zimlich nahe koͤmmt / und in vielen nach - aͤffet / aber er iſt doch kein Menſch / weil er von GOtt ſo wenig weiß als ein Affe. Ein Aber - glaͤubiſcher aber iſt wie ein tummer Eſel oder wie ein Schwein u. ſ. w. deſſen aͤußerliches Thun gantz offenbahr von dem menſchlichen Thun und Laſſen entſchieden iſt.

73.

So iſt demnach ein Aberglaͤubiſcher und Abgoͤttiſcher mehr als ein Atheiſte / weil er in der That oͤffenlich lebet / als ob kein GOTT waͤre / und ſeiner Boßheit kei - ne Scheu hat / da doch ein Atheiſte / der in ſei - ner Speculation uͤber die Schnur gehauen / nichtK 4alleine152Das 3. Hauptſt. von Gott als demalleine mit ſeinen aͤuſſerlichen Thun und Wan - del vernuͤnfftig lebet / ſondern auch zum oͤfftern aͤuſſerlich von GOtt vernuͤnfftig raiſoniret / wie - wohl er doch nicht mehr als ein Heuchler iſt.

74.

Gleichwie aber dieſe Gegeneinanderhal - tung eines Atheiſten und eines Aberglaͤubigen ſchon von andern gelehrt und ſcharffſinnig aus - gefuͤhret worden; als darffſtu dich nicht daran ſtoſſen / daß man insgemein ſo ſehr wieder die Atheiſterey / gar ſelten aber wieder den ab - goͤttiſchen und unvernuͤnfftigen Aberglau - ben ſtreitet und ſchreyet. Faſt die gantze Welt ſteckt in dieſen letztern biß uͤber die Ohren / und bemuͤhet ſich dannenhero den - ſelben als eine wahrhafftige Gottesfurcht den armen Unwiſſenden vorzumahlen. Und des - wegen laͤſſet man es ſich eyfferig angelegen ſeyn / das arme Volck auff den aͤuſſerlichen Gottes - dienſt zu treiben / und ſelben zu verfechten / den innerlichen aber als eine Phantaſterey auszu - ſchreyen / weil jener gar wohl mit dem Aber - glauben beſtehen kan / ja oͤffters nichts als Aber - glauben iſt. Wiewvhl es nun wenig ſpeculati - viſche Atheiſten giebt / ſo ſchreyen doch die Aber - glaͤubiſchen gewaltig wider dieſelben / theils daß ſie in der Lehre von GOtt nicht ſo gar alle Jrr - thuͤmer unbeſtritten laſſen / theils weil die Athei - ſten ebenmaͤßig ihre Feinde ſind / theils auch da - mit ſie die vernuͤnfftigen Philoſophos und from̃e Leute / als die ihnen hauptſaͤchlich zuwieder ſind /als153Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.als Atheiſten auszuruffen Gelegenheit kriegen moͤgen.

75.

Und gewiß wenn man ſich in denen Hi - ſtorien ein wenig umſiehet / ſo iſt dieſes ein uhral - ter Streich / daß man rechtſchaffene Philoſo - phos und beynahe faſt alle fuͤr Atheiſten ausgeſchrien. Dannenhero pflegen vernuͤnff - tige Menſchen dieſe Anmerckung zu machen / daß gemeiniglich derjenige / der von einer dergleichen unvernuͤnfftigen Beſtie auch zu unſeren Zeiten fuͤr einen Atheiſten ausgeruffen wird / ein rechtſchaf - fener und tugendhaffter Mann zu ſeyn pfle - ge. Wovon zu anderer Zeit ein mehrers.

Das 4. Hauptſtuͤck. Von der vernuͤnfftigen Liebe anderer Menſchen als dem einigen Mitteldie Gemuͤths Ruhe zu - erhalten uͤherhaupt.

Jnnhalt.

  • Connexion n. 1. 2. Lieben wird von vielen Dingen geſagt / n. 3. auch von Baͤumen und lebloſen Sachen. n. 4. Dann von Beſtien / Menſchen und GOtt n. 5. Von der Liebe des Menſchen muß man zu reden an - fangen. n. 6. Jhre Beſchreibung n. 7. Die Beſtien haben eigentlich keine Liebe. n. 8. GOttes Liebe a - ber iſt unbegreifflich. n. 9. Es giebt eigentlich zu re -K 5den154Das 4. H. von der vernuͤnfftigenden keine Selbſt-Liebe n. 10. Die Vereinigung in der Liebe iſt dreyerley. n. 11. Denn ein vernuͤnffti - ger Menſch intendiret eine andere Vereinigung in der Liebe anderer Menſchen n. 12. eine andere in der Liebe geringerer Geſchoͤpffe n. 13. und noch eine an - dere in der Liebe GOttes. n. 14. Vielerley Arten ei - ner unvernuͤnfftigen Liebe. (I) Wenn das Verlangen zu der Vereinigung allzuunruhig und hitzig iſt. n. 15. Wenn man gleich tugendhaffte Perſonen liebet. n. 16. und ſich einbildet / man liebe noch ſo vernuͤnfftig n. 17. weil dasjenige nicht vernuͤnfftig ſeyn kan / was die Vernunfft bemeiſtert n. 18. Und weil man oͤffters ſich betrieget / wenn man meinet / man ſuche nichts mehr als eine Vereinigung der Seelen. n. 19. (II) Wenn man ſchaͤdliche und boͤſe Dinge oder Menſchen lie - bet. n - 20. Wenn ſie gleich artig und verſtaͤndig ſeyn. n. 21. Dergleichen Menſchen werden allemahl von ihres gleichen geliebet. n. 22. Ein vernuͤnfftiger Menſch aber æſtimiret wobl ihren Verſtand / aber er liebet ſie nicht n. 23. als nur nach den Regeln der allgemeinen Liebe. n. 24. (III) Wenn man die unter - ſchiedenen Arten der Vereinigung unter einander vermiſchet. n. 25. Als (1) wenn man GOtt wie die geringeren Creaturen / oder (2) wie die Menſchen liebet. n. 26. (3) Wenn man andere Menſchen wie gerin - gere Creaturen / oder (4) wie GOtt liebet n. 27. und (5) wenn man geringere Creaturen wie die Men - ſchen / oder (6) wie GOtt liebet n. 26. (IV) Wenn man hauptſaͤchlich die Vereinigung des Leibes ſucht n. 29. Auff dieſe Art lieben die Beſtien. n. 30. Und alſo iſt dieſo Liebe entweder mehr als beſtialiſch / oder beſtialiſch / o - der beynahe beſtialiſch. n. 31. Die letzte Art beſtehet da - rinnen / wenn man bey denen Perſonen die uns gleich ſeyn / entweder neben der Vereinigung der Seelen alſobald nach der Vereinigung der Leiber / oder nach dieſer hauptſaͤchlich trachtet. Wiewohl man dieſerden155Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.den abſonderlichen Nahmen der Liebe am meiſten zu geben pfleget n. 32. auch das Weſen der Liebe noth - wendig in der Vereinigung des aͤuſſerlichen Thuns des Leibes zu beſtehen ſcheinet. n. 33. Und hiernechſt der Menſch von Natur zur Begierde und zu der Ver - miſchung mit Perſonen von andern Geſchlechte an - getrieben wird. n. 34 - Denn die Liebes-Bezeugungen des Leibes ſind nur Zeichen / n. 35. aber keine we - ſentlichen Stuͤcke der vernuͤnfftigen Liebe n. 36. wel - ches durch das Exempel kleiner unſchuldiger Gefaͤl - ligkeiten erwieſeu wird. n. 37. 38. So iſt auch ein groſſer Unterſcheid zwiſchen denen andern Leibes - Bezeugungen und der Vermiſchung des Leibes. n. 39. Die Begierde dieſer letzten iſt eine groſſe menſchliche Unvollkommenheit. n. 40. Die Beurtheilung der Schoͤnheit hat keine vernuͤnfftige Grund-Regeln n. 41. und die Liebe ſchoͤner Leute kan ja ſo vernuͤnff - tig als die Liebe nicht ſchoͤner Perſonen vernuͤnfftig ſeyn. n. 42. Es iſt ein groſſer Unterſcheid zwiſchen einen brennenden und ſehnenden Auge. n. 43. Ein brennend Auge kan das Hertze eines wahren Philo - ſophi nicht in Unruhe bringen n. 44. Man muß die Begierde Kinder zu zeigen nicht mit der Begierde ſich hierbey zu beluſtigen vermiſchen n. 45. Dieſe letztere iſt nicht vernuͤnfftig. n. 46. Denn ſie ver - wirret unſere Vernunfft in Beurtheilung des Guten n. 47. und treibet uns aus unvernuͤnfftigen Urſachen zu allen Zeiten des Jahres an. n. 48. Eine ver - nuͤnfftige Liebe laͤſſet zwar die Leibes-Vermiſchung zu n. 49. als Zeichen eines Vertrauens und Begier - de die geliebte Perſon zu vergnuͤgen n. 50. nicht a - ber als ein weſentliches Stuͤcke. n. 51 - Jedoch muß ſich hierbey ein Vernuͤnfftiger Menſch wohl pruͤf - fen / daß er ſich nicht ſelbſt betriege n. 52. ob ſich nicht eine unvernuͤnfftige Liebe unter dem Schein einer vernuͤnfftigen zuverſtecken ſuche. n. 53. (1) Wennman156Das 4. H. von der vernuͤnfftigenman alſofort nach der Leibes-Vermiſchung begierig iſt ehe man noch das Gemuͤthe der andern Perſon er - kennet / zumahl wenn dieſelbe ſchoͤn iſt. n. 54. (2) Wenn man ſich faͤlſchlich beredet man werde zu frie - den ſeyn / wenn man die Vereinigung des Gemuͤths erhalten habe. n. 55. (3) Wenn die menſchlichen Re - gungen nach dem Genuß des Leibes mit Gewalt oder Betrug trachten. n. 56. (4) Wenn man was durch die Geſetze verbotenes begehret. n. 57. (5) Wenn man bey dieſen Genuß nicht mit Schamhafftigkeit ſich ſeiner Begierde entlediget. n. 58. Denn Unter - ſcheid vernuͤnfftiger und unvernuͤnfftiger Liebe muß man nicht in dem Unterſcheid verheyratheter und un - verheyratheter Perſonen ſuchen. n. 59. Satſamer Veweiß / das die vernuͤnfftige Liebe anderer Men - ſchen das eintzige Mittel ſey gluͤcklich zu werden. n. 60. Ob vernuͤnfftige Liebe ohne Schmertzen / Unruhe und empfindliche Freude ſeyn koͤnne? n. 61. und ob bey derſelben eine Eyfferſucht ſtatt finden koͤnne. n. 62. Wohlluſt / Ehre / Reichthum ſind keine Mittel zur wah - ren Gluͤckſeeligkeit zugelangen n. 63. Die Liebe iſt die eintzige Tugend / und daß rechte Maaß aller Tu - genden. n. 64. Die Liebe Gottes n. 65. beſtehet nach der natuͤrlichen Erkaͤntniß in der Liebe anderer Menſchen. n. 66. Die uͤbernatuͤrliche aber gehoͤret nicht zur Sitten-Lehre. n. 67. Ob die Liebe des Vie - hes zur groͤſten Gluͤckſeeligkeit von noͤthen ſey.

1.

NAchdem wir alſo die groͤſte Gluͤckſee - ligkeit des Menſchen nach ihrem We - ſen / auch hernach GOtt als den Geber derſelben / und wie weit die wahre Erkaͤntniß von GOtt in der Morale hoͤchſtnoͤthig ſey / be -trach -157Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.trachtet; als fordern nunmehro Regeln guter Ordnung / daß wir ſehen / durch was fuͤr ein Mittel der Menſch dieſe Gemuͤths-Ruhe er - halte / und ſie zuwege bringe.

2.

Nun haben wir zwar allbereit oben erweh - net / daß die Gemuͤths-Ruhe aus der Liebe an - derer Menſchen entſprieſſe / und dieſelbe ſtets - wehrend wiederumb wuͤrcke. Wir haben auch ſchon daſelbſt etwas ausfuͤhrlich von der ver - nuͤnfftigen Liebe gehandelt / und dieſes parado - xum klar und deutlich erwieſen / daß das We - ſen des Menſchen mehr in einer Liebe anderer Menſchen / als in einer ſo genanten Selbſt-Lie - be beſtehe. Dieweil aber die unterſchiedenen Meinungen von denen Mitteln die groͤſte Gluͤck - ſeeligkeit zu erlangen entweder dieſe Liebe mit einen dunckelern Nahmen der Tugend oder der tugendlichen Mittel-Maſſe belegen; an - dere unter einen herrlichern Nahmen der Lie - be GOttes irrige und von der Gemuͤths-Ruhe verfuͤhrende Dinge vorgetragen; andere aber unter dieſer Liebe der Menſchen gefaͤhrlicher Weiſe eine Beſtialitaͤt / die das groͤſte Un - gluͤck mit ſich fuͤhret / zubedecken geſucht / und noch andere die Liebe anderer Creaturen dieſer Liebe an die Seite zuſetzen bemuͤhet ſind. Als iſt es wohl noͤthig / daß wir dieſe Liebe an - derer Menſchen nochmahlen vor uns nehmen / und dieſelbe ihren Weſen und Stuͤcken nach auff das genaueſte Betrachten / auch in dieſemHaupt158Das 4. H. von der vernuͤnfftigenHaupt-Stuͤcke noch deutlicher erweiſen / daß in ihr das einige Mittel zu der groͤſten Gluͤckſeelig - keit zu erlangen beſtehe.

3.

Lieben wird zwar von unterſchiedenen Dingen geſaget / und kan dannenhero in ſeiner weitlaͤufftigen Bedeutung nicht fuͤglicher be - ſchrieben werden. Wir haben geſaget / daß GOtt die Menſchen liebe. Daß der Menſch viele Dinge liebe / wird niemand laͤugnen. Von denen Beſtien ſpricht man / daß ſie ſich ſelbſt untereinander / auch wohl andere Dinge / oder gar den Menſchen ſelbſt lieben. So ſchreibet man auch denen Baͤumen unter einander eine Liebe zu; Ja es iſt nichts ungemeines / daß man nicht auch von lebloſen Dingen / als z. e. dem Magnet und Eiſen eine Liebe ſagen ſolle.

4.

Zwar was die Liebe der Baͤume und der lebloſen Sachen betrifft / ſo haͤlt man wohl durchgehends davor / daß dieſelbe von dieſen Dingen nicht in eigenen Verſtande genommen werden / weil es gantz offenbahr / daß ſie keiner Gemuͤths-Neigungen faͤhig ſind. Und alſo blei - bet die Liebe GOttes / der Menſchen und der Thiere noch uͤbrig / die wir uns ſo dann wohl von einander zu entſcheiden befleißigen muͤſſen.

5.

Alles dasjenige / was wir an uns be - finden / und doch von GOtt zu ſagen pfle - gen / daß wird nur Gleichniß Weiſe von GOtt / in eigenen Verſtande aber von uns geredet. Und alles was wir an uns befin -den159Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.den und doch von den Beſtien auch zu ſagen pflegen / davon muͤſſen wir erſtlich an uns zu reden anfangen / (weil uns unſere eigene Sachen am bekanteſten ſind) damit wir hernach erkennen moͤgen / ob es gleichfalls von den Be - ſtien in eigenen Verſtande geſaget werden koͤnne / wenn es nehmlich ein Concept iſt / der den Leib angehet / als den wir mit denen Beſtien gemein haben / oder ob es nur Gleichnißweiſe von denen Beſtien geredet werde / ſo ferne es die Seele und Gedancken betrifft / durch die wir von denen Beſtien entſchieden ſeyn.

6.

So muͤſſen wir dennoch von der Liebe zu reden anfangen / derer die Menſchen faͤhig ſind. Und zwar weil dieſelben vielerley zu lieben pfle - gen / Gott / andere Menſchen / andere geringe - re Creaturen / ſo wollen wir erſt ſehen / was die menſchliche Liebe uͤberhaupt ſey.

7.

Sie iſt ein Verlangen des menſchli - chen Willens / ſich mit demjenigen / das der menſchliche Verſtand fuͤr gut erkennet hat / zu vereinigen / oder in dieſer Vereinigung zu bleiben.

8.

Weil nun die Liebe ein Werck des menſch - lichen Willens iſt / der Wille aber zur menſch - lichen Seele gehoͤret / ſo kan von denen Be - ſtien nicht anders als figurlicher Weiſe geſagt werden / daß ſie etwas lieben / zumahl dieſes Ver - langen ohne Gedancken / daß die geliebte Sa - che etwas gutes ſey / nicht concipirt werdenkan /160Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigenkan / dieſer Gedancken aber gleichfalls von de - nen Beſtien / als die gar nicht gedencken / auch nicht geſaget werden mag. Und ſolchergeſtalt iſt die Liebe die von den Beſtien geſaget wird etwas viel unvollkommeners als die Liebe der Menſchen.

9.

Gleicherweiſe und weil man GOTT einen Verſtand und Willen gantz auff eine andere und unbegreifflichere Weiſe als denen Men - ſchen zuſchreibet / ſo iſt auch die Liebe die von GOtt geſagt wird / gantz eine andere Liebe / zumahlen die geſunde Vernunfft weiſet / daß weil Gott von ſich ſelbſten iſt / und das We - ſen ſeiner Geſchoͤpffe ſtetswehrend erhaͤlt / auch GOtt auſſer ſich nichts finde / daß er in Anſe - hen ſeiner fuͤr gut halten koͤnne. Und alſo ſie - het der Menſch / daß die Liebe Gottes viel ver - wunderſamer und unbegreifflich ſey / weil er alles thut / was ein liebender zu thun pfleget / und doch keine Urſache auſſer ihm ſelbſt findet / die ihn hierzu antreiben koͤnne.

10.

So folget auch ferner aus dieſer Be - ſchreibung der Liebe / daß man eigentlich davon zu reden ſich ſelbſt nicht lieben koͤnne / weil wir allbereit im vorhergehenden Capitel geſagt / daß kein Geſchoͤpffe ſich ſelbſt erhalten koͤnne / viel - weniger aber eine Vereinigung ohne zwey un - terſchiedene Dinge begriffen werden kan; Und muß demnach die Selbſt-Liebe entweder eine eitele Einbildung unvernuͤnfftiger Menſchenſeyn /161Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.ſeyn / oder man wird dadurch nichts anders als einen Mangel einer eigentlich ſo genanten Liebe andeuten.

11.

Es iſt aber die Vereinigung / die der menſchliche Wille in der Liebe intendiret / nach Unterſchied derer Dinge die geliebet werden / auch ihrer Bedeutung nach ſchr unterſchieden. Wir wollen wieder von der Liebe anderen Men - ſchen als der eigentlichſten und deutlichſten an - fangen / und hernach die Liebe gegen GOtt und andern Creaturen mit derſelben gegeneinander halten.

12.

So beſtehet demnach die Vereinigung die die Liebe des Menſchen nach der natuͤrlichen Erkaͤntniß bey andern Menſchen intendiren ſoll / darinnen / daß / weil andere Menſchen glei - ches Weſens mit ihm ſind / er auch ſein Weſen / daß iſt / ſeine Seele / fuͤrnehmlich aber ſeinen Willen mit denen ihrigen dergeſtalt vereinige / daß aleichſam ein Wille daraus werde / und kei - ner uͤber den andern ſich einer Botmaͤßig - keit anmaſſe / ſondern beyde Wechſelsweiſe aus freyen Willen dasjenige wollen / was das andere wil.

13.

Eine andere Vereinigung aber iſt die - ienige / die man gegen andere geringere Ge - ſchoͤpffe haben ſol. Sie haben weder Ver - ſtand noch Willen / und alſo koͤnnen wir un - ſere Seelen nicht mit ihnen vereinigen. Sie koͤnnen uns fuͤr ſich nicht gutes thun / weil ſie esLnicht162Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigennicht verſtehen / ſie ſind aber geſchickt / daß wir nach der natuͤrlichen Ordnung GOttes unſer und anderer Menſchen gutes dadurch befoͤrdern koͤnnen. Dannenhero ſuchen wir in ihrer Liebe / wenn ſie anders vernuͤnfftig ſeyn ſol / eine ſolche Vereinigung / daß ſie unſern Willen unter - worffen ſeyn / das iſt / daß wir ſie nach unſern Gefallen zu unſeren und anderer Nutzen gebrau - chen / und wenn dieſer Nutzen nicht allen Men - ſchen ſufficient ſeyn kan / und dieſelbe zu eigen machen moͤgen.

15.

Letzlich aber iſt die Vereinigung / die wir in der Liebe GOttes intendiren ſollen / von de - nen vorigen beyden unterſchieden. GOtt thut uns alles gutes / und indem er der Urſprung deſ - ſelbigen iſt / verſtehet er unſer Gutes beſſer als wir / wir aber koͤnnen vor uns GOtt nicht das geringſte Gutes thun / ja wir ſind mehrentheils in Erkaͤntniß deſſen / was uns gut iſt / blind. Deshalben waͤre es ſehr unvernuͤnfftig / daß wir in der Vereinigung mit GOtt trachten ſolten / daß GOtt ſeinen Willen mit dem unſrigen zu - gleichen Theilen vereinigen ſolte; noch viel un - vernuͤnfftiger aber waͤre es / wenn wir begehren ſolten / GOtt ſolle ſeinen Willen gaͤntzlich nach dem unſerigen richten / ſondern es weiſet uns auch das ſchwache Liecht der Vernunfft / daß die - ſe Vereinigung in nicht anders beſtehen ſolle / als daß wir unſern Willen dem ſeinigen un - terwerffen / und unſer Thun und Laſſen nachdem163Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.dem ſeinigen einrichten / auch nicht ungeduldig oder muͤrriſch werden ſollen / wenn uns von ſeiner Hand etwas wiederfaͤhret / das unſern Willen nicht anſtehet.

15.

So iſt demnach die menſchliche Liebe zweyerley / eine vernuͤnfftige und unvernuͤnff - tige. Jene haben wir bishero beſchrieben und erklaͤret / dieſe aber weichet in vielen Stuͤcken von der vorigen ab. Denn (1) haben wir ſchon im andern Capitel geſagt / daß das Ver - langen der vernuͤnfftigen Liebe ein ſtilles und kein unruhiges Verlangen ſey. Derowegen wo ein Menſche in ſeiner Liebe ein dergleichen unruhiges und hitziges Verlangen empfindet / daß er ſein ſelbſt nicht maͤchtig iſt / und daß er ſich vor ungluͤcklich haͤlt / wenn er ſich mit der geliebeten Perſon nicht vereinigen ſol; ſo darff er ſich nur gewiß verſichern / daß ſeine Liebe nicht vernuͤnfftig ſey.

16.

Jch rede hier nicht von denen jenigen / die einen dergleichen unordentlichen Trieb bey ſich befinden / wenn ſie etwas unvernuͤnfftiges lieben / oder auff eine unvernuͤnfftige Vermiſchung des Leibes zielen / denn von dieſer Art wollen wir bald abſonderlich handeln; ſondern von denen / die tugendhaffte Perſonen lieben / und ihrer Meinung nach / nach der Vereinigung der See - len und des Willens trachten / und vor Liebe gleichſam veſchmachten oder verzweiffeln / oderL 2doch164Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigendoch zum wenigſten vor Liebe ſterben oder er - krancken;

17.

Es duͤrffte wohl manchen Tugendlieben - den Menſchen dieſer mein Satz etwas zu harte fuͤrkommen / und duͤrffte er wohl ſelbſt auff ſein eigenes Exempel ſich beruffen / daß er allezeit ei - ne ehrliche Intention gehabt / und auff keine fleiſchliche Vermiſchung gezielet / und dennoch eine dergleichen ſochtende Begierde zum oͤfftern bey ſich befunden / die ihn wider ſeinen Willen keine Ruhe gelaſſen. Ja er wird mich Zweiffels ohne auff ſo viel Buͤcher / die von ehrlicher Liebe handeln / weiſen / in welchen allen dieſelbe beſchrieben wird / daß ſie unſere Vernunfft bemeiſtere / und wider unſern Willen uͤber uns herrſche.

18.

Aber das iſt es eben was ich ſage / was unſere Vernunfft bemeiſtert / das iſt nichts vernuͤnfftiges. Es ſind unterſchiedene grade in der unvernuͤnfftigen Liebe. Dieſes iſt der ge - ringſte grad, deshalben iſt ſie auch nicht fuͤr un - vernuͤnfftig ausgeſchrien / ſondern nur geſagt / daß ſie nicht vernuͤnfftig ſey. Und alſo kan ſie auch einen Menſchen begegnen / der nicht unver - nuͤnfftig liebet / ſondern ein ehrliches Abſehen hat / und unter die Zahl vernuͤnfftiger Menſchen gehoͤret. Aber er darff ſich auch gewiß noch nicht fuͤr ein Muſter eines vernuͤnfftigen Men - ſchen ausgeben. Dieſes iſt eine von denen er - ſten Regeln in der Sitten-Lehre / daß man nichtsunmoͤg -165Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.unmoͤgliches oder vergebens begehren ſolle. Und dieſes iſt gewiß eine von denen Proben / ob man in der Sitten-Lehre Meiſter oder noch ein Schuͤ - ler ſey / nachdem man bey ſich auch in ehrli - chen Abſehen eine hitzige oder gleichguͤltige Begierde empfindet.

19.

Jch wil itzo hiervon nicht erwehnen / daß ſich manche / die noch in denen Schuͤler-Jahren ſind / ſelbſt betriegen / und dafuͤr halten / ſie ziele - ten in ihrer Liebe auff nichts als die Verei - nigun der Gemuͤther / da ſie doch bald be - finden wuͤrden / daß ſie eine gantz andere Ver - einigung ſuchen / und daß es dieſe ſey / die ſie kranck und ſochtend mache / und nur von der noch allzuſchwachen Liebe zur ſtandhafften Tu - gend beſtritten werde. Denn wie man in die - ſem Stuͤcke ſich pruͤffen ſolle / wollen wir bald deutlicher erklaͤren.

20.

Die (II) Claſſe unvernuͤnfftiger Liebe iſt / wenn man Dinge liebet die mehr ſchädlich ſeyn / als daß ihr Gebrauch unter die Guten zu rechnen waͤre. Hier koͤnnen wir zwar wohl kein Exempel geben / daß wir von der Liebe gegen GOtt hernaͤhmen / aber ſo wohl bey der Liebe gegen die Menſchen als bey der Liebe gegen an - dere Dinge koͤnnen wir gar viel Exempel einer unvernuͤnfftigen Liebe antreffen.

21.

Z. e. Wenn man nach ſuͤſſer aber un - geſunder Speiſe verlanget. Wenn man denen Dingen nachhaͤnget / die die Sinnen empfind -L 3lich166Das 4. H. von der vernuͤnfftigenlich beluſtigen / oder die rar ſind / und derer Ge - brauch uns eine Zaͤrtligkeit angewehnet. Und unter denen Menſchen ſolche Leute / die in denen Wohlluͤſten ſtecken / die Ehrgeitzig / Geld - begierig / mit einem Wort: die nicht tugend - hafft ſind / wenn ſie auch gleich ſonſten noch ſo angenehm und artig / oder auch ſcharffſinnig und verſtaͤndig waͤren.

22.

Und hat ſich dannenhero ein vernuͤnffti - ger Menſch deſtomehr fuͤr dergleichen Liebe in acht zu nehmen / weil andere vernuͤnfftige Men - ſchen ihn nach denen Perſonen die er liebet / gewißlich urtheilen werden / indem alle Liebe ſich in einer Gleichheit gruͤndet / weil ſie aus der Meynung von der Guͤte eines Dinges entſtehet / alles Gute aber wie wir im erſten Capitel ge - ſagt / in einer Gleich foͤrmigkeit mit andern Din - gen beruhet.

23.

Wolteſt du nun gleich fuͤrwenden / du liebeteſt dieſen Menſchen nicht / weil er dieſes Laſter an ſich habe / ſondern wegen ſeiner Ar - tigkeit und ſcharffſinnigen Verſtandes / ſo muſt du doch wohl in acht nehmen / daß du dich nicht ſelbſt betriegeſt. Ein anders iſt jemand hochſchaͤtzen / ein anders jemand lieben. Du kanſt einen ſolchen Menſchen wegen ſeiner Ar - tigkeit und Verſtand wohl hoch halten / aber in der Liebe ſucheſtu die Vereinigung der Gemuͤther und des Willens / und alſo muſtu dich ſeiner La - ſter theilhafftig machen.

24. Und167Liebe anderer Menſchen uͤberharpt.

24.

Und obſchon das folgende Capitel ſagen wird / daß man alle Menſchen lieben ſolle / ſo iſt doch erſtlich ein Unterſcheid zwiſchen der allge - meinen Liebe und abſonderlichen / wie wir zu ſeiner Zeit ſehen werden; Ja auch die allge - meine zielet dahin / daß du ihn ſeine Jrrthuͤmer und Laſter benehmeſt / und iſt alſo wenn man ſie gegen einen Laſterhafften ausuͤbet / mehr eine Liebe Bedingungsweiſe / wenn er ſich nehmlich ſeiner Laſter werde begeben haben / als ſchlech - ter Dinge zu nennen Und wenn du in deinen Gemuͤthe verſichert biſt / daß du dieſes haupt - ſaͤchlich indendireſt / auch mit deinem Thun und Laſſen nicht offenbahr das Gegentheil darthuſt / ſo wil ich auch eine dergleichen Liebe nicht vor un - vernuͤnfftig halten.

25.

(III) Jſt auch die Liebe unvernuͤnfftig in Anſehung der Art und Weiſe / die man in der Vereinigung ſucht: Wenn man nehmlich die Vereinigung die GOtt gehoͤret / denen Men - ſchen zueignet / oder mit GOtt ſich auff die Art zuvereinigen ſucht / wie man ſich mit Menſchen und Beſtien vereinigen ſolte / u. ſ. w.

26

Solcher geſtalt aber werden wir in dieſer Claſſe 6. Arten von unvernuͤnfftigen Lieben ha - ben: (1) Wenn man in der Liebe gegen GOtt verlanget / GOTT ſolle ſeinen Willen bloß nach dem unſerigen richten / welche Liebe bey allen Aberglaubiſchen Leuten anzutreffen iſt. (2) Wenn man wuͤnſchet / GOTT ſolle ſeinenL 4Wil -168Das 4. H. von der vernuͤnfftigenWillen ja ſo wohl nach dem unſrigen richten / als wir in Dingen / die uns nicht eben gar zu ſehr zuwieder ſeyn / den unſrigen nach ſeinen Willen zurichten bereit ſeyn. Welche Liebe bey denen zufinden iſt / die nur ein wenig noch auff der Tugend-Bahne gewandelt.

27.

(3) Wenn man andere Menſchen derge - ſtalt liebet / daß man allezeit uͤber ihren Wil - len zu herſchen ſucht / welches nicht ſo wohl die Ehrgeitzigen und Stoltzen / als die ei - gentlich ihrer Intention nach alle Menſchen haſ - ſen / als die aͤuſſerlich ſittſamen Atheiſten zu thun pflegen. (4.) Wenn man andere Men - ſchen alſo liebet / daß man ſeinen Willen gantz und gar dem ihrigen unterwirfft / ihnen als GOtt vertrauet / und ſie als GOtt fuͤrchtet / auch ſich von ihnen zum Selaven machen laͤſt / wel - che Liebe fuͤrnehmlich bey denen Wohlluͤſtigen anzutreffen iſt.

28.

(5.) Wenn man unvernuͤnfftige und lebloſe Creaturen dergeſtalt liebet / daß man mit ihnen als mit Menſchen umgehet / und an ihren Wohl oder Ubel ſeyn eben ſo viel Theil nimmt / als wenn ſie vernuͤnfftige Menſchen waͤ - ren / und einen Willen haͤtten / der mit nus ver - einiget waͤre / z. e. Wenn Leute die in einer wil - den und zaͤrtlichen Wohlluſt ihr vergnuͤgen ſu - chen / Pferde / Hunde / Voͤgel / ſo extrem lieben / daß ſie ihnen mehr Gutes erweiſen als anderen Menſchen (6.) Wenn man dergleichen und ſon -derlich169Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.derlich lebloſe Dinge dergeſtalt lieber / daß man ſo zu reden gantz ihr Sclave wird / als wenn ſie einen Willen haͤtten / der uns befehlen koͤn - te. Auff dieſe Art lieben die Geitzigen ihren Geld-Sack.

19.

(IV.) Nun haben wir nur noch eine Art unvernuͤnfftiger Liebe uͤbrig / von der wir aber et - was ausfuͤhrlicher reden muͤſſen / damit wir zwi - ſchen zweyen von der Wahrheit allzuweit aus - ſchweiffenden Meynungen in der wahren Mittel - Straſſe bleiben. Wir haben oben geſagt / daß der Menſch in der Liebe anderer ſuchen ſolle / ſeine Seele mit det Seele anderer Menſchen zu verei - nigen / und ſolchergeſtalt kan es nicht fehlen / es muͤſſe die Liebe / in welcher der Menſch auff die Vereinigung ſeines Leibes mit dem Leibe ande - rer Menſchen hauptſaͤchlich ſein Abſehen hat / eine neue Art unvernuͤnfftiger Liebe abgeben.

30.

Denn auff dieſe Art lieben die Beſtien. Jhr Trieb treibet ſie bloß auff die Vermiſchung des Leibes mit dem Leibe einer andern Beſtien an / ohne daß ſie einen Unterſcheid unter denen Individuis zu machen pflegen; Wiewohl auch / was ihren innerlichen Trieb betrifft / ein weniger oder gar kein Unterſcheid unter denen Beſtien von einerley Art zu ſeyn pfleget: Weswegen auch dieſe Liebe der Beſtien in eigentlichen Verſtand mehr eine Brunſt als Liebe zu nennen. Jm Gegentheil aber iſt die menſch liche Natur darin - nen von denen Beſtien entſchieden / daß gleichwieL 5die170Das 4. H. von der vernuͤnfftigendie Menſchen unter ſich ſelbſt unterſchiedene Bil - dungen oder Gemuͤths-Neigungen haben / alſo auch der Menſch / wenn er gleich auff die Vermi - ſchung des Leibes verfaͤllt / dennoch gemeiniglich / wenn er nicht gantz und gar zur Beſtie worden / einen Menſchen fuͤr den andern zu lieben pfleget.

31.

Solcher geſtalt aber iſt zu bedauren / daß in dieſer Claſſe dreyerley Arten von der unver - nuͤnfftigen Liebe angetroffen werden: (1) Eine mehr als Beſtialiſche / wenn man einen unver - nuͤnfftigen Trieb bey ſich befinder / ſeinen Leib mit dem Leib der Perſonen einerley Geſchlechts / oder mit Creaturen von gantz unterſchiede - ner Art zu vermiſchen / wofuͤr auch die Beſtien einen Abſcheu haben. (2) Eine Beſtialiſche oder Huren-Liebe / wenn man ſeine Begierden mit allerley Perſonen ohne Anſehung derer Bildungen oder Gemuͤths-Bewegungen zu ſtil - len / oder vielmehr zu vermehren und luͤſtern zu machen trachtet. (3) Eine bey nahe Beſtiali - ſche / wenn man zwar einen Unterſchied unter de - nen Perſonen entweder ihrer Bildung oder ihren Gemuͤths-Neigungen nach machet / aber doch alſobald bey denenjenigen / auff die man mit ſei - ner Liebe faͤllet / zugleich auff die Vereinigung des Leibes / oder wohl gar einig und alleine auff dieſe / ohne Vereinigung des Willens oder der Seelen zielet. Und von dieſer letzten muͤſſen wir fuͤrnehmlich etwas mehrers reden.

32. Denn171Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

32.

Denn weil derſelben die allermeiſten Menſchen ergeben ſind / ſo gar auch / daß deswe - gen auch unter denen Philoſophen dieſe den Na - men der Liebe fuͤr ſich behalten / und der andern Liebe / die auff dergleichen Vereinigung nicht zie - let / den kaltſinnigen Nahmen der Freundſchafft zugeleget / da doch in der wahren Philoſophie wahre Freundſchafft und Liebe eines ſind; als er - mangelt es auch an Schein-Urſachen nicht / durch welche man dieſe Liebe wo nicht zu einer vernuͤnff - tigen Liebe zu machen / dennoch aber aus der Zahl unvernuͤnfftiger Liebe auszunehmen ſich bemuͤhet.

33.

Und anfaͤnglich zwar iſt nicht zu laͤugnen / daß die Vereinigung der menſchlichen Seelen o - der zweyer Willen nicht ihren Weſen nach derge - ſtalt geſchehen koͤnne / daß ohne Beytrag des Lei - bes aus zwey Seelen wuͤrcklich und in der That eine Seele und ein Menſch werde; Sondern es muß allerdings dieſelbe in nichts anders als in der Gleichfoͤrmigkeit des von zweyen Willen dirigirten aͤußerlichen Thun und Laſſens des Leibes geſucht werden. Und ſolchergeſtalt kan weder Freundſchafft noch Liebe ohne gleichfoͤrmi - ger Wirckung des Leibes begriffen werden: und wenn man in der Gleichfoͤrmigkeit des Willens die Vereinigung der Seelen ſuchet / worumb ſol - te man auch nicht ſagen / daß wegen der Gleich - foͤrmigkeit der aͤuſſerlichen Leibes-Bewegung auch bey einer jeden Freundſchafft und Liebe die Leiber vereiniget ſeyn / und alſo aus zweyenFreun -172Das 4. H. von der vernuͤnfftigenFreunden gleichſamb ein Leib und eine Seele allemahl werden muͤſſe.

34.

Hiernechſt befindet zwar der Menſch / wenn er ſich gegen die Beſtien conferiret / in ſei - ner Natur dieſen Unterſcheid / daß er nicht wie die Beſtien ſich mit allerley Perſonen unterſchiede - nen Geſchlechts ohne Unterſcheid der Gemuͤther und Bildungen zu vermiſchen trachten ſolle. A - ber er befindet auch / daß ſeine Natur ihme nicht alleine das Vermoͤgen gegeben / das Schoͤne o - der Angenehme von dem Heßlichen und Unge - ſtalten zu entſcheiden; ſondern er befindet auch durchgehends bey dem gantzen menſchlichen Ge - ſchlecht dieſen innerlichen Trieb / daß die Schoͤn - heit / und ſonderlich ein ſchoͤnes und liebreitzen - des Auge / das unter denen Beſtien nicht zu fin - den iſt / bey ihm eine Begierde / die auff eine Ver - miſchung des Leibes trachtet / erwecke / der er zu wiederſtehen nicht kraͤfftig iſt / und der auch der weiſeſte Philoſophus nicht widerſtreben wuͤrde. Ja er hefindet auch / daß zwiſchen zweyen Perſo - nen unterſchiedenes Geſchlechts ein allgemeiner Trieb ſey / durch leibliche und wechſelbeluſtigen - de Vermiſchung Kinder zu zeugen: Und dan - nenhero duͤnckt ihm / daß zwiſchen zweyen Perſo - nen unterſchiedenen Geſchlechts die Vereinigung der Seelen oder des Willens ohne dieſer Verei - nigung der Leiber nicht vollkommen genennet werden koͤnne.

35. Aber173Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

35.

Aber hierauff iſt zu wiſſen / daß zwar an dem ſey / daß man die Liebe oder Freundſchafft ohne Bezeugung des Leibes nicht erkennen koͤnne / weil der Menſch des andern Menſchen ſei - ne Seele oder Gedancken ohne einen aͤußerlichen Zeichen niemahln begreiffen / noch ihm ſo zu ſa - gen ins Hertze ſehen kan. Und ob ſchon die Re - de und Worte dem Menſchen gegeben ſind ſeine Gedancken dem andern mitzutheilen / ſo gelten doch dieſe Zeichen mehr in denen Gedancken / die zum Verſtande des Menſchen / als zu deſſen Wil - len gehoͤren. Denn bey dieſen gilt ein einiges Thun mehr als tauſend Worte / wiewohl ge - meiniglich Worte vor denen Thaten vorher zu - gehen pflegen. Nichts deſtoweniger aber wird man hierans in geringſten nicht ſchlieſſen koͤnnen / daß die vernuͤnfftige Liebe hauptſaͤchlich oder eben ſo wohl in Vereinigung des aͤußerlichen Thuns / als in Vereinigung der Seelen und des Willens beſtehe.

36.

Denn es iſt ein groſſer Unterſcheid unter dem Weſen eines Dinges / und unter dem Zei - chen oder Bild deſſelbigen. Dieſes iſt allezeit etwas / das mit dem Weſen nichts zu thun hat / ſondern nach demſelbigen folget oder ſich darnch richtet. Und alſo hat auch die Bezeugung des aͤußerlichen Thun und Laſſens nichts mit der Vereinigung der Seelen an ſich ſelſt zu thun / ſondern ſie folget auff dieſelbige / und gibt ſo wohlin174Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigenin der Freundſchafft als Liebe der geliebten Perſon wechſelsweiſe dieſelbe zu erkennen.

37.

Z. e. Wenn ein tugendhaffter Menſch ein tugendhafftes und verftaͤndiges Frauen-Zim - mer lieb gewinnet / und ſeine Seele mit der ihri - gen zuvereinigen trachtet / ſo bemuͤhen ſie ſich beyderſeits / nachdem ſie durch einen mit Ehr - furcht und Verlangen vermiſchten Blick / oder durch einen hertzlichen Seufftzer einander gleich - ſam die Loſung gegeben / einander durch tauſend kleine Gefaͤlligkeiten nicht nur ihren Willen Wechſelsweiſe gleichſam an den Augen anzu ſehen / ſondern auch ſo zureden denſelben noch vorzukommen / geſchweige denn / daß ſie nicht durch das aͤuſſcrliche Thun und Laſſen einan - der in dem / was eines von dem andern deutlich begehret / zugefallen ſeyn ſolten.

38.

Wer wolte aber ſagen / daß in dieſen kleinen Gefaͤlligkeiten das Weſen der Liebe oder Freundſchafft beſtehe; Die zum oͤfftern / wenn man ſie ihren Werth und Nutzen nach betrachtet / ſo geringe ſind / das man ſich ſchaͤ - men muͤſte wenn man ſie dem andern als ei - nen Liebes-Dienſt anrechnen wolte / und die ihren gantzen Werth von der Freywilligkeit und Ungezwungenheit oder der auffrichtigen Erniedri - gung einer mit vielen Meriten begabten Perſon erlangen? Zumahl da in Gegentheil nach dem Tax der Liebe auch die koſtbarſten Bezeugun - gen / und die tieffeſten Erniedrigungen nichts gel -ten175Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.ten / wenn man unbetriegliche Proben hat / daß ſie nicht von auffrichtigen Hertzen / ſondern von einer Schein - und Heuchel-Liebe entſtanden.

39.

Nach dieſen muß man auch einen groſſen ſen Unterſcheid unter denen andern Liebes - Bezeugungen die durch das aͤußerliche Thun und Laſſen ausgedruckt werden / und unter der Vereinigung der Leiber die durch die Ver - miſchung derſelben geſchiehet / machen. Denn geſetzt / daß zu dem Weſen der Liebe die Gefaͤl - ligkeiten des aͤußerlichen Thun und Laſſens ge - hoͤreten; oder aber geſtandenen Falls / daß / weil dieſe unausbleibliche Zeichen wahrer Liebe ſeyn / zum wenigſten doch das Verlangen zu de - nenſelben nicht irraiſonable ſeyn koͤnne / ſo fol - get doch nicht alſofort / daß man auch die Lie - bes-Gunſten / die auff die Vermiſchung des Lei - bes zielen / hierunter rechnen muͤſſe / ſondern wir muͤſſen von dieſen abſonderlich etwas mehrers reden.

40.

Zwar iſt es wohl an dem / daß das ſchwache Licht der menſchlichen Vernunfft ohne goͤttliche Offenbahrung in Erkaͤntniß des allge - meinen Ubels der Luſt-Seuche ziemlich in fin - ſtern herum tappe / und weil ihr von dem Suͤn - den-Fall der erſten Eltern nichts wiſſend iſt / auch die Unzulaͤßigkeit und Boßheit derſelben fuͤr ſich ſelbſt nicht allenthalben penetrire / ſon - dern manches Thun und Laſſen fuͤr zulaͤßlich halten muͤſſe / von welchen uns das goͤttlichege -176Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigengeoffenbahrte Geſetz ein anderes verſichert. Nichts deſtoweniger aber weiſet uns doch das Licht der Natur zum wenigſten ſo viel / daß dieſe Begierde der Leibes Vermiſchung eine unziem - liche Unvollkommenheit ſey / wenn ſie gleich in comparaiſon anderer groͤbern Stuffen noch ſo reinlich ſcheinet / und das viele Dinge auch von denen die vermittelſt der goͤttlichen Offen - bahrung beſſer raiſoniren ſolten / zumahl unter Ehe-Leuten / fuͤr zulaͤßlich gehalten werden / die doch auch der Vernunfft nach mehr beſtialiſch als vernuͤnfftig ſind.

41.

Denn anfaͤnglich iſt es eine groſſe Un - vollkommenheit / daß die Menſchen in Beur - theilung von der Schoͤnheit des Leibes (da - von wir anderswo zu ſeiner Zeit mit mehrern reden werden) das wenigſte Fundament haben / ſondern gantz unterſchiedenen und wiedrigen Meinungen disfalls unterworffen ſind / die den - noch weil ſie auff keine Vernunfft gegruͤndet ſeyn / auch nicht fuͤr Vernuͤnfftig koͤnnen ausge - geben werden / ob man ſie ſchon auch nicht un - vernuͤnfftig ſchelten kan.

42.

Hiernaͤchſt weil es offenbahr / daß die Schoͤnheit des Leibes gar oͤffters mit der Schoͤn - heit der Seelen oder der Tugend nicht vereini - get iſt; So koͤnnen wir zwar die Liebe ſchoͤ - ner und dabey tugendhaffter Leute eben nicht tadeln / wir koͤnnen aber auch weder den Haß tugendhaffter aber heßlicher / noch die Lie -be177Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.be laſterhaffter / aber dabey wohlgeſtalter Per - ſonen fuͤr vernuͤnfftig ausgeben.

43.

Und hierzu darff man eben keine allzu - groſſe Weißheit / zubegreiffen / daß die Reitzung eines ſchoͤnen Angeſichts oder eines ſchoͤnen Auges / die alſobald auff die Leibes Vermi - ſchung dencket / mehr viehiſch als menſchlich ſeyn. Denn der muß gewiß noch wenig von vernuͤnfftiger Liebe wiſſen / der den Unterſcheid zwiſchen den tadelnswuͤrdigen Feuer eines brennenden Auges / und denen untadelhafften Strahlen eines ſehnenden Auges / das auff die Vereinigung der Seelen hauptſaͤchlich zielet / nicht zu machen weiß / und nur die Brunſt die jenes erwecket / niemahlen aber die keuſche Flamme dieſes letzteren geſpuͤret hat.

44.

Jch gebe wohl zu / daß ein durchdrin - gend brennendes Auge das waͤchſerne Hertze eines neuangehenden Tugend-Schuͤlers leichte zuſchmeltzen werde; aber dieſe guten Leu - te muͤſſen das durch die Weißheit und Tugend ausgehaͤrtete Hertz eines rechtſchaffenen Philoſophi nicht nach dem ihrigen rechnen. Das Geſpraͤch des Socrates mit der Theodotæ bey dem Xenophon wird ihnen zeugen / daß alle Pfeile eines in die Thorheit verliebten Weibes - Bildes an dem Hertzen eines weiſen Mannes zuruͤcke prallen muͤſſen.

45.

Endlich ſo muͤſſen wir auch den Trieb der zwiſchen beyderley Geſchlecht iſt / Kinder mitMeinan -158[178]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigeneinander zu zeugen / und den Trieb nach der Luſt / die mit dieſem Werck verknuͤpfft iſt / nicht mit einander vermiſchen. Der Trieb Kinder mit einander zu zeugen / ſo ferne derſelbe ver - nuͤnfftig iſt / ſol erſt nach der Vereinigung der Gemuͤther folgen / und auff nichts anders ſein Abſehen richten / als daß zwey liebende Perſon - nen an denen Kindern allezeit etwas finden moͤ - gen / davon ſie ſich der keuſchen Vereinigung ihrer Seelen erinnern koͤnnen / als in welchen dieſelbe gleichſam von beyden Theilen concen - triret worden. Und alſo trachtet dieſer Trieb gantz nicht hauptſaͤchlich auff die Genieſſung der Wohlluſt des Leibes. Aber man wird auch die - ſen Trieb bey denen allerwenigſten Menſchen antreffen / weil die allerwenigſten Menſchen ver - nuͤnfftig ſind.

46.

Was aber die allgemeine Neigung des menſchlichen Geſchlechts zu dieſer Wohl - luſt des Leibes anbelanget; So iſt es zwar an dem / daß ein Menſch nach ſeiner bloſſen Ver - nunfft / wenn ihm die wahre Hiſtorie von dem erſten Fall unſerer Eltern nicht bekandt iſt / wie wir allbereit erwehnet / nicht klar und deutlich begreiffen koͤnne / daß dieſe Neigung ſo gantz unvernuͤnfftig ſey / weil er ſie bey allen Men - ſchen antrifft. Jedoch wird er in ihrer Betrach - tung auch genung finden / warumb er ſie nicht fuͤr gar zu vernuͤnfftig halten kan / und wodurch er erkennet / daß dieſer Trieb nicht allemahl na - tuͤrlich ſey.

47. Denn179Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

47.

Denn indem er ſiehet / daß dieſer Trieb / wenn er den Menſchen ſtarck antreibet / deſſen Gemuͤth dergeſtalt einnimt / daß er eine Sache als das hoͤchſte Gut betrachtet / fuͤr der er doch bald hernach / wenn dieſe Hitze ein wenig verrauchet iſt / einen rechtmaͤßigen Eckel uͤber - koͤmmt / ſo kan er nicht anders ſchlieſſen / als daß er ſo raiſonabel nicht ſeyn koͤnne / weil Vernunfft und Vernunfft einander nicht zuwider ſeyn.

48.

Unterſucht er hernach die Natur des menſchlichen Coͤrpers / ſo befindet er / daß es zwar natuͤrlich ſey / daß das Kinder-Zeugen eine Wolluſt verurſache; aber er befindet auch / daß wie die Beſtien mehrentheils des Jahres zu ei - ner gewiſſen Zeit dieſen Trieb an ſich befinden; alſo der Menſch mehr durch einen unvernuͤnffti - gen Gebrauch Speiſe und Trancks / und durch Muͤßiggang und andere boͤſe Gewohnheiten / als durch ſeine Natur zu allen Zeiten des Jah - res eine Neigung hierzu bey ſich erwecke. Und daß es gar natuͤrlich ſey / daß ein arbeitſamer / wachſamer Menſch und der ſich hitziger Speiſe und Trancks enthaͤlt / bey weiten ſo einen ſtar - cken Trieb zu dieſer Wolluſt nicht bey ſich ſpuͤre.

49.

Bey dieſer Gegeneinanderhaltung aber ſchlieſſet endlich ein weiſer Mann / daß eine ver - nuͤnfftige Liebe niemahlen auf die Vermiſchung des Leibes ihr hauptſaͤchliches oder auch gleichmaͤßiges Abſehen richten muͤſſe; ob ſieM 2gleich180Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigengleich nicht allemahl die Leibes-Vermiſchung gar aus den Augen ſetzen kan / und ob ſchon zu - weilen das Verlangen ſeinen Leib mit dem Leib der geliebten Perſon zu vermiſchen / wenn es nicht hauptſaͤchlich ſondern zufaͤllig iſt / eine vernuͤnfftige Liebe nicht unvernuͤnfftig macht. Denn bey einer unvernuͤnfftigen Liebe liebet man ſich / weil man die Leiber mit einander ver - miſchet. Bey einer vernuͤnfftigen Liebe aber kan man wohl zuweilen, die Vermiſchung des Leibes verlangen / weil man einander liebet.

50.

Dieſes letzte muſt du auff dieſe Weiſe verſtehen. Wo zwey Seelen mit einander ver - einiget ſeyn / muß aus zweyen Willen ein einiger werden / und eine jedwede liebende Perſon mehr in der andern als in ſich ſelbſt leben. Dieſes kan aber nicht geſchehen / wenn ſie nicht beyde Wech - ſelsweiſe einander alles erdenckliche Ver - gnuͤgen / das der Vernunfft nicht zuwieder iſt / zu wegen zu bringen trachten / und einander alle Geheimniſſe auch ihrer Schwachheiten (man muß aber die Schwachheiten nicht mit unvernuͤnfftigen Dingen vermiſchen) Wechſels - Weiſe entdecken. Denn wahre liebe leidet kein Geheimniß / und wir werden zu ſeiner Zeit ſagen / daß ob wohl die Unverſchamheit mit vernuͤnfftiger Liebe nicht beſtehen koͤnne / den - noch auch allzugroſſe Schamhafftigkeit auch eine Anzeigung geringer Liebe ſey.

51. Dero -181Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

51.

Derowegen ſo iſt ja auch bey vernuͤnff - tiger Liebe die Begierde der Leibes-Vermi - ſchung zwar kein weſentliches Stuͤck / ſondern nur ein noͤthig und nicht unvernuͤnfftiges Zeichen derſelben wenn es unter ietztgeſetzten Bedingungen und als ein bloſſes Zeichen ver - langet wird. Solchergeſtalt nun haſt du nichts vorgebracht / daß unſern Lehr-Satz zuwieder waͤre / wenn du geſagt / daß zwiſchen zweyen Perſonen unterſchiedenes Geſchlechts die Ver - einigung der Seelen oder des Willens ohne der Vereinigung der Leiber nicht vollkommen genennet werden koͤnne. Denn wir haben oben nur dieſes behaupten wollen / daß dieſe Liebe un - vernuͤnfftig ſey / wenn man alſobald bey derje - nigen Perſon auff die man mit ſeiner Liebe faͤl - let / entweder zugleich oder wohl einig und allein auff die Vermiſchung des Leibes ſein Abſehen richtet.

52.

Aber ich ſehe wohl / du freueſt dich - ber dieſer meiner Erklaͤrung / und du bildeſt dir ein viel erobert zu haben / wenn du deine Begierdẽ / die du bey der Converſation mit Per - ſonen von andern Geſchlechte zuweilen bey dir befindeſt / nur ohne Verletzung deines Gewiſ - ſens ſtillen darffſt / es moͤge nun ſolches geſche - hen unter waßerley Betrachtung es wolle Denn du ſprichſt: es ſey alſo / du liebeſt nur ver - nuͤnfftige Perſonen / du ſucheſt hauptſaͤchlich dei - ne Seele mit der ihrigen zuvereinigen / und du -M 3trach -182Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigentrachteſt nur nach der Vermiſchung des Lei - bes / umb durch eine Mittheilung dieſes Geheim - niſſes deſtomehr Proben von der Zuneigung dei - ner Geliebten zu haben / und ſie mehr als dich zu vergnuͤgen.

53.

Aber / mein Freund / frolocke nicht zu zeit - lich / und betriege dich ſelbſt nicht. Dieſe Be - trachtungen / unter welchen wir die Begierde der Leibes-Vermiſchung vor unvernuͤnfftig und ver - nuͤnfftig ausgegeben haben / ſind nicht eitele Gril - len einer Scholaſtiſchen Methaphyſic, die du nach deinen Gefallen in denen Gemuͤths-Neigun - gen ordnen oder ſetzen koͤnteſt wie du wolteſt; ſondern ſie ſind von der Sache ſelbſt und von dem Unterſcheid einer Beſtialiſchen oder menſch - lichen Begierde hergenommen; und derowe - gen pruͤffe dich wohl / ob deine Paſſion ſo be - ſchaffen ſey / als du von ihr aus giebeſt / oder ob nicht darunter eine unvernůnfftige Liebe ſich heimlich zu verbergen ſuche.

54.

Findet ſich dieſe deine Begierde allzu - zeitig / eher du noch das Gemůthe der Perſon die du liebeſt / recht genau unterſuchet / und ge - pruͤffet / ob man dich von Hertzen oder aus inter - eſſe, aus Hochachtang oder aus einen geilen Abſehen liebe / zumahlen wenn die geliebte Per - ſon mit aͤuſſerlicher Schoͤnheit begabet iſt / ſo betriegeſt du dich / wenn du dafuͤr haͤlteſt / daß du hauptſaͤchlich deine Seele mit einer andern See - le zuvereinigen ſucheſt. Es iſt die Schoͤnheit o -der183Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.der eine andere Beſchaffenheit des Leibes die dich verliebt gemacht hat / und deine Liebe iſt ſehr unvernuͤnfftig.

55.

Geſetzt aber / du trachteſt zu erſt nach der Vereinigung der Gemuͤther / und du beredeſt dich / daß du zufrieden ſeyn wolteſt / wenn du nur der Hochachtung und vernuͤnfftigen Liebe eines tugendhafften Frauen-Zimmers das Ver - ſtand hat / und nicht eben ſchoͤn iſt / verſichert waͤ - reſt. Pruͤffe dich wohl ob du dieſer Beredung trauen duͤrffeſt. Denn die unvernuͤnfftige Lie - be pfleget ſich auch unter dieſe prætext einzu - ſchleichen / und ſuchet die Hertzen junger Leute unter der Larve einer vernuͤnfftigen Liebe zu be - truͤgen. Frag nur dein Hertze genau / ob es werde zufrieden ſeyn / und nichts mehrerers verlangen / wenn es die unſchuldige Vereini - gung / nach der es Anfangs trachtet / werde er - halten haben.

56.

Ja unterſuche auch hiernaͤchſt / wenn du gleich Anfangs nur nach der Bereinigung der Gemuͤther geſtrebet / und nach langet Zeit erſt dieſe Begierde bey dir empfindeſt / auch dir die - ſelbe als nur ein Verlangen die geliebte Perſon zu vergnuͤgen vorſtelleſt; ob du nicht vielmehr dein eigenes Vergnuͤgen als daß ihrige / auch deinen Willen wieder den ihrigen zu erfuͤllen trachteſt. Vernuͤnfftige Liebe raubet auch nicht die geringſte Gunſt-Bezeugung mit Ge - walt / oder gefaͤhrlicher Argliſtiger BeredungM 4ſon -184Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigenſondern ſie ſuchet ſie durch auffrichtige tugend - haffte Thaten und kleine Gefaͤlligkeiten zu verdienen / und empfindet deſtomehr Vergnuͤ - gen / je freywilliger die geliebte Perſon dieſe Dien - ſte damit zu belohnen trachtet. Sie iſt faͤhig umb das ſchoͤnſte Weibes-Bild / daß ſie bruͤn - ſtig liebet / nahe zu ſeyn / und ſie wieder ihren Willen nicht anzuruͤhren. Ja ſie wuͤrde ſich ſelbſt / die groͤſte Gewalt anthun / wenn ſich die geliebte Perſon ihren Schutz unterwirfft / ihre Schwachheit und daß ſie denen Liebes-Rei - tzungen nicht laͤnger zu wiederſtehen vermoͤgend ſey / bekennet / aber daneben mit einen keuſchen Vertrauen ihre Ehre zu beobachten ernſtlich bit - tet / eher ſie ſich unterfangen ſolte / dieſelbe durch die geringſte Gewalt oder Mißbrauch des gegen ſie gehabten Vertrauens zu kraͤncken. Da hingegentheil eine unvernuͤnfftige Liebe entw e - der den Begierden mit Gewalt / oder durch ver - fuͤhreriſche falſche Verſprechungen / oder er - dichtete Verzweiffelung zu ſtillen trachtet / und durch eine entweder wahrhafftige oder erdich - tete Weigerung nur brennender gemacht wird / auch ſich es fuͤr eine Schande achten wuͤr - de / wenn es dieſe gute Gelegenheit / darinnen man ſein Unvermoͤgen geſtehet / ferneren Wie - derſtand zu leiſten / verabſaͤumen ſolte. Und wer dieſe edlen allhier beſchriebenen Regungen bey ſich niemahlen empfunden / darff ſich nur ge - wiß verſichern / daß er noch ſehr tieff in der Beſtia - litaͤt ſtecke.

57. Fer -185Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

57.

Ferner / ob du ſchon befindeſt / daß du erſt nach der Vereinigung der Seelen getrach - tet / auch bey der geliebten Perſon ſelbſt ein Ver - langen zu dieſer letzten Liebes-Bezeugung ſpuͤreſt / und dieſelbe ſelbſt als ein Zeichen eines voll - kommenen Vertrauens begehreſt; unterſuche ja noch weiter: Ob dir denn dieſe Liebes-Pro - be von dieſer Perſon zubegehren nicht etwa durch ein vernuͤnfftiges Geſetz verboten ſey. Denn wir haben dieſelbe oben nur in ſo weit fuͤr vernuͤnfftig ausgegeben / weil die wah - re Liebe trachte der geliebten Perſon alles er - denckliche Vergnuͤgen / daß der Vernunfft nicht zuwieder ſey / zu geben. Nun iſt aber dasjeni - ge / was den Geſetzen zuwieder iſt unvernuͤnff - tig und ſo wenig eine Liebe vor vernuͤnfftig zu - halten iſt / wenn die andeꝛe Perſon ihr Vergnuͤgen darinnen ſuchte / daß ich einen andern Menſchen uͤmbraͤchte / oder andere irraiſonable Thaten be - ginge; ſo wenig kan man auch dieſe vor ver - nuͤnfftig ausgeben / die die Leibes-Vermiſchung wieder die Geſetze als eine Liebes Probe ver - langet. So haben wir auch erwehnet / daß man die Schwachheiten nicht mit unvernuͤnfftigen Dingen vermiſchen ſolle. Wenn die Geſetze es verbieten / ſo wird dir kein Geheimniß einer allgemeinen menſchlichen Schwachheit / ſondern eines Schelm-Stuͤckes anvertrauet / ja du gar zu einẽ Mit-Conſorten deßelbigen gemacht; Und eine vernuͤnfftige Liebe kan ſo dann nichts mehrM 5thun /186Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigenthun / als durch andere unſchuldige Liebes - Bezeugungen den geneigten Willen zu er - kennen zu geben / die geliebte Perſon auch hier - innen zu vergnuͤgen / wenn es die Geſetze zulieſ - ſen: auch den ſchwaͤchern Theil durch ein gutes Exempel mit Liebe und Sanfftmuth ſtaͤrcken / daß es nicht von dem Weg geſunder Vernunfft auff einen Abweg gerathe.

58.

Endlich wenn dir auch ſchon durch die Ge - ſetze nicht verbothen wird dieſe Liebes-Probe zu - geben oder zu nehmen / ſo muſtu dich doch auch pruͤffẽ / ob du bey derſelbẽ durch unflaͤtige Wor - te und Thaten dieſe Schwachheit mehr zu ver - groͤſſern / oder auff eine ſchamhafftige Weiſe derſelben beyderſeits dich zu entledigen trachteſt. Es iſt genug / daß dieſe Schwachheit allen Men - ſchen gemein iſt / und dieſelbe iſt nur in ſo weit na - tuͤrlich / als man ſie bey dem gemeinen Triebe laͤſt. Die Vermehrung derſelben uͤberſchreitet die Graͤntzen der Vertrauligkeit / und die beyderſeits einander ſchuldige Hochachtung; und verwandelt dieſelbe in eine viehiſche Gemeinmachung uñ Ge - ringſchaͤtzigkeit / zumahl wenn man bey Entledi - gung dieſer Schwachheit ſelbige durch unſcham - haffte Worte und Thaten ohne Noth wieder zu erwecken ſucht.

59.

Dieſes alles ſaget uns nun wohl die ge - funde Vernunfft von der Beſchaffenheit ver - nuͤnfftiger Liebe; es iſt aber zu betauren / daß man den Unterſcheid der vernuͤnfftigen und un -ver -187Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.vernuͤnfftigen Liebe mehr unter verheyratheten und unverheyratheten Perſonen / als unter dieſen klaren und deutlichen Regeln ſuchet / und ſolcher geſtalt alle Liebe unverheyratheter Perſonen unterſchiedenen Geſchlechts fuͤr unzulaͤßlich / alle Liebe aber Mannes und Weibes fuͤr zulaͤßlich und vernuͤnfftig ausgiebet / da doch unverheyra - thete Perſonnen / wenn ſie die Geſetze nicht uͤber - treten / und die Vrreinigung der Seelen haupt - ſaͤchlich intendiren / einander gar vernuͤnfftig lie - ben koͤnnen / von denen verheyratheten aber es lei - der! die allgemeine Erfahrung bezeuget / daß viel Beſtialiſche Lieben von ihnen veruͤbet werden / und ein vernuͤnfftiger Mann / der die allgemeine Boßheit ein wenig kennen lernen / nicht ungegruͤn - deten Verdacht / uͤberkoͤmmet / daß es zuweilen in einen allgemeinen Huhrhauſe nicht ſo Beſtialiſch als in denen Ehe-Betten vernuͤnfftig und tugend - hafft ſeyn wollender Menſchen herzugehen pflege.

60.

Nachdem wir alſo bißhero verhoffentlich deutlich gewieſen / worinnen die vernuͤnfftige Liebe des Menſchen beſtehe / wird es nunmehro nicht ſchwehr ſeyn / darzuthun / das die vernuͤnfftige Liebe anderer Menſchen das eintzige Mittel ſey zu der wahren Gemuͤths-Ruhe zu gelan - gen. Denn dieſes weiſet nicht alleine dasjeni - ge / was wir allbereit oben von der Natur des Menſchen bewieſen haben / daß er ohne einer friedlichen Geſellſchafft nicht vergnuͤgt leben koͤn - ne / und daß die Gemuͤths-Ruhe ſtetswehrendneue188Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigenneue Liebe wircke; ſondern es giebet es auch die Beſchreibung der Gemůths-Ruhe genug zu erkenen. Wir haben oben geſagt / ſie ſey ein ru - higes Vergnuͤgen ohne empfindliche Freude und ohne Schmertzen. Nun ſage mir eine einige Sache in der Welt / darinnen du dieſes ruhige Vergnůgen antreffen koͤnteſt als in der vernuͤnff - tigen Liebe anderer Menſchen. Was fuͤr ein Vergnuͤgen iſt dieſer Liebe vorzuziehen? Was iſt ruhiger? Alle Wolluſt / Ehr - und Geld-Geitz muͤſſen ſich wegen ihrer bey ſich fuͤhrenden Unru - he verkriechen. Welche Liebe iſt ohne eine hůpffende Freude / als dieſe? Und was fuͤr ein Vergnuͤgen iſt endlich ohne Schmertzen / als dieſe Liebe. Ja wo kan ein groͤſſerer Schmertzen ſeyn / als wo dieſe Liebe auffhoͤret / und den Men - ſchen in Haß und Unfriede ſetzet / woraus die groͤ - ſte Unruhe und folglich auch das groͤſte Ungluͤck entſtehet.

61.

Ja / ſagſtu / ich habe aber gleichwol gehoͤ - ret / daß eine recht vernuͤnfftige Liebe nicht oh - ne Unruhe / Schmertzen / und darauff erfolgen - de empfindliche Freude ſeyn koͤnne; und daß die Eyfferſucht und die kleine Zanckereyen die Probe und der Zunder einer vernuͤnfftigen Liebe ſey. Alle Liebes-Buͤcher / die von vernuͤnfftigen Autoren geſchrieben / bezeugen ſolches / und der Mangel der Eyfferſucht iſt auch der Mangel der Liebe. Wo aber Eyfferſucht iſt / da iſt Unruheund189Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.und Schmertzen. Und die darauff folgende Verſoͤhnung gibt eine empfindliche Freude.

63

Aber hierauff muſtu wiſſen / daß wir in unſere Sitten-Lehre keiner andern Richtſchnur als der geſunden Vernunfft folgen / und uns die Autoritaͤt aller Liebes-Buͤcher nicht abſchre - cken laſſen / zumahlen da dieſe Autores faſt durch - gehends in Beſchreibung vernuͤnfftiger Liebe noch mehr Jrrthuͤmer begehen. Unvernuͤnffti - ge Leute / oder doch zum wenigſten die erſt an - fangen nach der Gemuͤths-Ruhe zu trachten und derer Liebe ſich nur erſt ein wenig aus der Be - ſtialiſchen heraus zu reiſen trachtet / lieben auff dieſe unruhige Weiſe. Wo Eyfferſucht iſt / da iſt Mißtrauen / und wo Mißtrauen iſt / da iſt keine Vereinigung der Seelen / auch folglich kei - ne wahre Liebe. Ein vernuͤnfftiger Menſch iſt nicht mißtrauiſch gegen ſich und ſeine Tugend / denn ſonſt waͤre er nicht vernuͤnfftig / auch nicht gegen die Tugend der geliebten Perſon / denn ſonſt ſolte er ſie nicht æſtimiren / und lieben. Wir werden unten zu ſeiner Zeit mit mehrern davon reden / wenn wir die Natur der Eyfferſucht etwas genauer unterſuchen werden.

63.

Und wenn gleich andere Gelehrte die wahre Gluͤckſeeligkeit durch ein ander Mittel geſucht haben / ſo haben ſie ſich doch nur ande - rer Worte bedienet / oder aber ihre Meinung iſt offenbahr falſch. Wir haben ſchon oben er - wehnet / daß wir uns nicht einbilden koͤnnen / daßjemah -190Das 3. Hauptſt. von der vernuͤnfftigenjemahlen ein Philoſophus mit Ernſt die groͤſte Gluͤckſeligkeit in einer viehiſchen Liebe der Wolluſt geſuchet habe / ob man ſchon dieſes dem Epicuro und Ariſtippo beymiſſet. Gleiches koͤnnen wir auch von der Ehre und Reichthum ſagen / weil dieſe Dinge alleſamt kein ruhiges Vergnuͤgen geben / das ohne empfindliche Freu - de und Schmertzen waͤre.

64.

So haben wir auch einen mercklichen Vortheil / wenn wir das Mittel die wahre Gluͤckſeligkeit zu erlangen in der vernuͤnfftigen Liebe ſuchen / als wenn wir uns hierzu des dun - ckeln und zweydeutigen Worts der Tugend bedienet haͤtten. Denn wir duͤrffen uns ſo dann nicht mit anderen Philoſophen herum beiſſen / ob wir dieſes groͤſte Gut per habitum oder actio - nem virtutis erlangen. Man muß Meiſter in der Liebe ſeyn / und die Liebe iſt nicht muͤßig / ſondern ſie hat allezeit etwas zu thun. Zuge - ſchweigen daß bey Beſchreibung der Tugend die dabey erforderte Mittel-Maſſe theils ſehr dunckel / theils vielen Zancke unterworffen iſt. Aber die Liebe iſt das rechte Maaß aller Tugenden / und ohne dieſelbe iſt die Tugend tod. Ja wo Liebe iſt / bekuͤmmere ich mich umb keine Mittel-Maſſe. Z. e. wenn ich umb ein ei - teles Ehr-Anſehen mich auch einer geringen Ge - fahr / der ich noch wohl gewachſen bin / unter werffe / bin ich mehr tollkuͤhne als tapffer; wenn ich aber aus Liebe meinen Freund zu ret -ten191Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.ten / mich in die groͤſte Gefahr begebe / und mein Leben druͤber laſſe / bin ich nicht tollkuͤhne ſondern großmuͤthig. Wenn ich umb meinen Freunde gutes zuthun nach Ehren trachte / bin ich nicht Ehrgeitzig / und wenn ich ihm zu liebe hohe Ehrenſtellen anſchlage / kan man mich keines niedertraͤchtigen Gemuͤths beſchuldigen. Jn der Liebe kommen alle Tugenden viel beſſer zuſammen / als nach der gemeinen Rede in der Gerechtigkeit. Allzugerecht iſt ſchon unver - nuͤnfftig; Aber man kan des Guten ſo wenig als der vernuͤnfftigen Liebe zuviel thun.

65.

Aber ich hoͤre gleichſam von ferne einen Heuchler / wider dieſen unſern Lehr-Satz alſo ſeufftzen: Du elender Menſch / was gedenckeſt du durch die vernuͤnfftige Liebe der Menſchen die groͤſte Gluͤckſcligkeit zu erlangen. Die Liebe Gottes iſt die groͤſte Gluͤckſeligkeit / und ihr muß alle Liebe zu den Menſchen auff - geopffert werden / ſie mag noch ſo vernuͤnfftig ſeyn als ſie wolle. Und wie wolte demnach die Liebe der Menſchen der eintzige Wegzur Gluͤck - ſeligkeit ſeyn?

66.

Jedoch iſt leichte hierauff zu antworten. Wie koͤmmt es doch mein Freund / daß du die Liebe GOttes / den du nicht ſieheſt / ſo ſehr im Munde fuͤhreſt / und doch die Liebe des Men - ſchen / der deiner Liebe taͤglich bedarff / gantz aus deinen Hertzen verbanneſt. GOtt weiſet dich nach den Trieb natuͤrlicher Vernunfft an dieLiebe192Das 4. H. von der vernuͤnfftigenLiebe der Menſchen / weil du nach deiner na - tuͤrlichen Erkaͤntniß keinen vernuͤnfftigern Got - tesdienſt finden kanſt / als wenn du dein Hertze mit andern Menſchen vereinigeſt. (wie wir oben ſchon erwieſen haben) Aber dieweil deine Boßheit von dieſer Liebe GOttes nichts wiſ - ſen wil / machſt du dir eine ſelbſterwehlte aus aͤußerlichen Ceremonien / oder aus ſpitzfin - digen Gedancken einer eitelen Gelahrheit / die dir nicht ſauer ankoͤmmt. Und ſo wenig als du von der wahren Gemuͤths-Ruhe haſt / oder die - ſelbe erlangeſt / ſo wenig wirſt du auch dieſelbe durch dieſe deine Schein-Liebe Gottes erlan - gen.

67.

Jch beſcheide mich ja. wohl / daß eine Liebe GOttes ſey / der alle menſchliche Liebe weichen muͤſſe. Aber die gehoͤret zur Morale nicht / ſondern muß aus einer hoͤhern Schule hergeholet werden / weil ſie uͤbernatuͤrlich iſt / und nicht auff die zeitliche Gluͤckſeeligkeit dieſes Lebens / ſondern auff eine zukuͤnfftige / davon die menſchliche Vernunfft nach ihrer Swachheit nichts weiß / gerichtet iſt.

68.

Endlich ſo wird auch unſere Lehre von denen wenig Anſtoß leiden / die gar zu liebreich ſeyn / und in Erlangung der wahren Gluͤck - ſeeligkeit der Liebe anderer Menſchen auch die Liebe des Viehes an die Seite ſetzen wollen. Wir haben ſchon oben geſagt / daß die Liebe des Viehes unvernuͤnfftig ſey / wenn wir das Viehwie195[193]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.wie die Menſchen lieben wollen. Dem Ochſen gehoͤret ja wohl ſein Futter / aber es gehoͤren ihm auch Schlaͤge. Und der Gerechte erbarmet ſich zwar auch ſeines Viehes / weil er die wahre Gluͤck - ſeeligkeit ſchon beſitzet. Denn die Liebe der Menſchen iſt die Maaße der Liebe gegen das Vieh / und wer jene beſitzet / hat auch dieſe. Was iſt denn noͤthig / daß wir die Mittel der wahren Gluͤckſeeligkeit ohne Noth haͤuffen ſolten?

Das 5. Hauptſtuͤck. Von der allgemeinen Liebe aller Menſchen.

Jnnhalt.

  • Connexion n. 1. Es iſt zweyerley Liebe / eine allgemeine und abſonderliche n. 2. weil die Gleichheit der Men - ſchen zweyerley iſt (1) eine allgemeine / daß ſie alle Men - ſchen ſind n. 3. das iſt / daß ſie gleichen Vortheilen / und gleichen Schwachheiten der menſchlichen Natur un - terworffen ſind. n. 4. daß ſie einander gleichen Scha - den thun / und gleichen Vortheil ſchaffen koͤnnen. n. 5. (2) eine abſonderlich / die vielerley iſt. n. 6. Wenn alle Menſchen tugendhafft waͤren / waͤre kein Unter - ſcheid unter der allgemeinen und abſonderlichen Liebe. n. 7. Jene gruͤndet ſich in der allgemeinen Gleichheit n. 8. und iſt viel mehr ein Mangel des Haſſes als eine Liebe. n. 9. Unter denen abſonderlichen Gleichheiten ſind etliche / als die Gleichheit des Alters / Standes u. ſ. w. ſo beſchaffen / daß ſie oͤffters der Grund eines Haſſes ſind. n. 10. Die Ungleichhet des Geſchlechtes befoͤr -Ndert196[194]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen.dert vielmehr die Liebe als daß ſie ſie hindern ſolte. n. 11. Daß die Gleichbeit der Gemuͤths-Neigungen bey zwey Wohlluͤſtigen / Ehrgeitzigen nur auff das hoͤchſte eine Schein-Liebe verurſache. n. 12. 13. Die eintzige Gleichheit der Tugend-Neigung macht eine wahrhaff - tige Liebe. n. 14. Unterſcheid der allgemeinen und ab - ſonderlichen / Schein - und wahrhafftigen Liebe. n. 15. Unterſcheid zwiſchen der allgemeinen Liebe ei - nes Weiſen und unweiſen Mannes. n. 16. Die allge - meine Liebe iſt die Richt-Schnur der abſonderlichen n. 17. Man ſol keinen Menſchen haſſen / ob man ſchon mit ſeinem Freunde auch deſſen Feinde gemein haben muß. n. 18. Man darff auch nicht einmahl die Jrren - den und Laſterhafften haſſen. n. 19. Die allgemeine Liebe beſtehet aus 5. Tugenden. n. 20. Deren (I) iſt die Leutſeeligkeit. n. 21. derer Dienſte ein jed - weder jederman erweiſen muß. n. 22. Unterſcheid zwiſchen ſolchen allgemeinen Dienſten und Guttha - ten n. 23. muß in den Umſtaͤnden / die den Geber be - treffen / geſucht werden. n. 24. Wegen der Leutſeelig - keit darff man nicht danckbahr ſeyn. n. 25. Man kan niemand zur Leutſeeligkeit / Gutthaͤtigkeit und Danck - barkeit zwingen n. 26. wiewohl eine andere Urſache ſol - ches bey der Leutſeeligket n. 27. 28. eine andere bey der Gutthaͤtigkeit und Danckbarkeit zu wege bringet / n. 29. Liebe kan den geringſten Zwang nicht vertragen n. 30. Etliche Bezeugungen gehoͤren bald zu der Leut - ſeeligkeit / bald zu der Gutthaͤtigkeit. n. 31 32. Jn was fuͤr Faͤllen man einen auſſerordentlich durch Zwangs - Mittel zur Leutſeeligkeit anhalten koͤnne. n. 33. 34. (II) Die Wahrhafftigkeit. n. 35. Die Nothwen - digkeit des Verſprechens unter den Menſchen n. 36. und daß man ſein Verſprechen halten muͤſſe. n. 37. Was eigentlich ein Verſprechen heiſſe. n. 38. Dasjeni - ge iſt kein Verſprechen / worzu mich der andere durch oͤffentlich unrechte Gewalt gezwungen hat. n. 39. Unter -197[195]Liebe anderer MenſchenUnterſchiedene Meynungen hieruͤber und deren Be - antwortungen. n. 40. 45. Was eigenlich erfordert werde / daß man dergleichen Verſprechen nicht halten duͤrffe. n. 46. Groſſer Unterſcheid zwiſchen einen Feind / Straſſen-Raͤubern und Auffruͤhrer. n. 47. Wir ſeynd auch Straſſen-Raͤuber auſſer dem Fall der uns ange - thanen Gewalt unſer Verſprechen zu halten ſchuldig. n. 48. Man muß auch Ketzern das Verſprechen halten. n. 49. 50. Was nicht in unſern Vermoͤgen iſt / doͤrffen wir nicht halten. n. 51. Uuterſcheid zwiſchen den zwey - en bißher erzehlten und zweyen folgenden Tugenden. n. 52. (III) Die Beſcheidenheit n. 53. Keine Un - gleichheit unter denen Menſchen kan die Beſcheiden - heit auffheben. n. 54. Zwiſchen der Beſcheidenheit und Demuth iſt ein groſſer Unterſcheid. n. 55. Die Vernunfft weiß nichts von der Demuth. n. 56. (IV) Die Vertraͤgligkeit. n. 57. Jhre Nothwendig - keit / allgemeiner Nutzen und Leichtigkeit. n. 58. (V) die Gedult. n. 59. wie dieſe von denen vier erſten Tugenden unterſchieden. n. 60. Nach denen Regeln der ſtrengen Gerechtigkeit kan der Beleidiger keine Gedult von uns prætendiren n. 61. auch nicht nach den Regeln der Vertraͤgligkeit / Wahrhafftigkeit und Be - ſcheidenheit. n. 62. Sondern wir ſind nach den Regeln der Liebe darzu verbunden. n. 63. Und thut nichts zur Sache / daß man anfuͤhret: Wer geliebet ſeyn wil muß erſt lieben. n. 64. Denn dieſes iſt mehr fuͤr uns n. 65. und uͤber dieſes ſind wir die Gedult nicht ſo wohl dem Beleydiger / als dem gantzen menſchlichen Geſchlecht und uns ſelbſt ſchuldig. n. 66. Denn anfaͤnglich ver - bindet uns die allgemeine Gleichheit der menſchlichen Natur dazu. n. 67. 68. Hernach haͤlt man zwar insge - mein dafuͤr / daß der Krieg das wahre Mittel ſey unſe - re Gemuͤths-Ruhe zu erhalten und Friede zu machen n. 69. aber es iſt offenbahr falſch / beſage der Beſchrei - bung des Kriegs n. 70. eben ſo unvernuͤnfftig alsN 2wenn198[196]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenwenn ich ſagen wolte / der Haß ſey ein Mittel / Liebe zu erwecken. n. 71. Kan die Liebe nicht Friede machen / ſo kan es der Krieg viel weniger. n. 72. Obj. wil er nicht ſo muß er. Jch wil ihn mit Gewalt zur raiſon bringen. n. 73. Resp. Vernunfft kan nicht durch Ge - walt znrechte gebracht werden. Liebe leidet keinen Zwang. Der andere haͤlt nicht ſtille / ſondern braucht Gegen-Gewalt n. 74. und ſtehet alſo dahin / ob deine oder ſeine Gewalt den Sieg davon tragen werde. n. 75. Der Sieg falle wohin er wil / ſo macht er keinen Frie - de. n. 76. So wenig als die Balger durch die Duelle ſatisfaction kriegen. n. 77. Sieget der Beleidigte / was fuͤr Verſicherung hat er / daß der andere werde Friede halten? weder ſein Verſprechen n. 78. noch ſein Furcht kan ihn verſichern. n. 79. noch ſein Tod. n. 80. Sieget der Beleydiger ſo heiſt es Patience par force n. 81. alſo iſt es ja beſſer: Patience par amour. n. 82. Derowegen iſt die Gedult das eintzige Mittel Friede zu erhalten. n. 83. indem ſo lange kein Krieg ſein kan als der Beleydigte Theil nicht bricht. n. 84. Obj. das iſt kein Friede / darinnen ich mich alle Augen - blick befahren muß / man werde meine Gemuͤths-Ru - he ſtoͤren / und von kleinen Beleydigungen biß zu den groͤſten ſteigen. n. 85. Resp. n. 86. Durch Beraubung meins Vermoͤgens und Beſchimpffungen kan die Ge - muͤths-Ruhe nicht geſtoͤret werden. n. 87. 88. Wie - wohl die meiſten Kriege deshalben gefuͤhret werden n. 89. Hiernechſt treibet des Beleydigten Gedult den Beleydiger niemahls an mit ſeinen Beleydigungen ſortzufahren. n. 90. er ſey nun genereux n. 91. oder Ehrgeitzig n. 92. oder Geldgeitzig n. 93 oder Wohl - luͤſtig n. 94. oder grauſam n. 95. oder furchtſam. n. 96. Denn ein Furchtſamer wird grauſam wenn man ihn beleydiget. n. 97. Furcht und Gedult iſt zweyer - ley. n. 98. Ein Gedultiger iſt nicht ſchuldig zu kuͤnffti - ge Beleydigungen auszuſtehen. n. 99. Und alſo iſt er auch wider irraiſonable Leute ſicher / die wegen ſeinerGedult199[197]Liebe anderer Menſchen.Gedult ihn kuͤnfftig beleydigen wollen. n. 100. Dieſe Lehre von der Gedult macht nicht alleine tugendhaffte / ſondern auch galante, artige und Weltkluge Leute. n. 101. 102. Zu der Gedultkan man niemanden zwingen. n. 103. Unterſcheid zwiſchen der Gerechtigkeit und Liebe. n. 104. Die Leutſeligkeit und Gedult ſind die vornehm - ſten Stuͤcke der Tugend. n 105. Wie ferne die Beſchei - denheit / Wahrhafftigkeit und Vertraͤgligkeit zur Ge - rechtigkeit und Liebe gehoͤren. n. 106. 107. Andere Nah - men obiger 5. Tugenden. n. 108.

1.

NAchdem wir im vorhergehenden Haupt - ſtuͤck von der vernuͤnfftigen Liebe ande - rer Menſchen uͤberhaupt zur Gnuͤge ge - redet / muͤſſen wir auch nunmehro die abſonder - lichen Arten dieſer vernuͤnfftigen Liebe / oder viel - mehr derſelben weſentliche Stuͤcke betrachten.

2.

So iſt demnach anfaͤnglich die vernuͤnffti - ge Liebe anderer Menſchen zweyerley: Die all - gemeine und die abſonderliche Liebe. Jene gehet auff alle Menſchen / dieſe auff etliche inſon - derheit. Beyde ſind vernuͤnfftig / und muͤſſen dannenhero in der Vereinigung des Willens be - ſtehen / und weil alle Liebe auff eine Gleichheit ſich gruͤndet / ſo muß auch bey beyden eine Gleich - heit der Gemuͤther præſupponiret werden. Die - weil aber nicht nur die Gleichheit / ſondern auch die daraus entſtehende Vereinigung der Ge - muͤther von unterſchiedner Natur und Graden iſt; Als iſt auch zwiſchen dieſen beyderley Liebes - Arten ein mercklicher Unterſcheid.

N 33. Denn200[198]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen

3.

Denn es iſt anfaͤnglich eine allgemeine Gleichheit / die man bey allen Menſchen antrifft / ſie moͤgen ſeyn von was Stand / Alter und Na - tion ſie wollen. Dieſe Gleichheit beſtehet in der menſchlichen Natur / und kan durch kei - ne Ungleichheit / ſie moͤge Nahmen haben wie ſie wolle / auffgehoben werden. Sondern bindet den maͤchtigſten Koͤnig und den aͤrmſten Bettler / den groͤſten Heiligen und den verdamteſten Ke - tzer / den gelehrteſten Mann und den unver - ſtaͤndigſten Bauer zuſammen / und verdienet wohl / daß wir ſehen / aus was fuͤr Theilen dieſe Gleichheit beſtehet.

4.

Alle Menſchen werden auff gleiche Weiſe gezeuget und gebohren / ſie koͤnnen ohne Eſſen und Trincken / Kleider und Wohnung ihr Leben nicht erhalten; der Uberfluß der Speiſe und Tranck wird bey einem wie bey dem andern zu ftinckenden Unflath. Sie ſind alle denen Kranckheiten unterworffen und muͤſſen ſter - ben / und der Tod machet ſie alle gleich. Jſt gleich einer verſtaͤndiger und tugendhaffter als der andere / ſo haben ſie doch alle gleiche capaci - taͤt weiſe und tugendhafft zu werden; und zu glei - cher Weiſe als ein Weiſer in ſeiner Weißheit ſich vergehen oder derſelben durch Kranckheit berau - bet werden kan / ein tugendhaffter aber vielen Schwachheiten unterworffen iſt; alſo kan auch ein Unweiſer und Laſterhaffter ſich beſſern. Die goͤttliche Vorſehung welches unvernuͤnfftige Leu -te201[199]Liebe anderer Menſchen.te das blinde Gluͤck nennen / ſpielet mit ihnen auff gleiche Weiſe / und erhebet bald einen Bett - ler / daß er reich und maͤchtig wird / bald aber ſtuͤr - tzet ſie den maͤchtigſten Koͤnig in die aͤußerſte Ar - muth und Verachtung. Endlich haben alle Men - ſchen weil ſie gleicher Weiſe unter Gott ſind / und der elendeſte Menſch ſich von Gott gleicher Lie - be als der vornehmſte zu verſehen hat; ſich auch gleiches Recht bey ihm zu verſichern / und muß fuͤr dieſem Thron auch der allerhochmuͤthigſte fuͤr die geringſte Beleidigung / die er dem allerge - ringſten Menſchen anthut / gleiche Rechen - ſchafft geben / und gleicher Straffe gewaͤrtig ſeyn.

5.

Wilſtu noch dieſe Gleichheit beyfuͤgen / daß alle Menſchen verderbet ſind / und daß der arm - ſeligſte / kraͤnckeſte tummeſte Menſch / den vortref - lichſten / ſtaͤrckeſten und verſchlagenſten / wo nicht mit offenbahrer Gewalt / doch mit Liſt / den groͤ - ſten Schaden thun koͤnne; kan ich es zwar wohl leiden; aber dieſe Gleichheit gehoͤret nicht hieher / weil ſie keine Urſache der Liebe / ſondern des Haſſes iſt. Erwege vielmehr / wenn du noch et - was hinzu ſetzen wilſt / daß in Gegentheil auch der elendeſte Menſch zuweilen dem maͤchtigſten und vortrefflichſten Manne die groͤſten Dienſte thun kan.

6.

Neben dieſer allgemeinen Gleichheit der Menſchen gibt es noch eine andere abſonderli - che / die nicht bey allen Menſchen / ſondern nurN 4bey202[200]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenbey etlichen anzutreffen iſt. Zwar dieſelbe iſt ſehr unterſchiedlich und von vielerley Art. Eine andere Gleichheit iſt die Gleichheit des Alters des Geſchlechts / des Standes / des Vermoͤ - gens / der Profoſſion, der Landes-Art / der Ge - muͤths-Neigungen / des Verſtandes u. ſ. w. doch iſt keine unter allen ſo ſehr und wohl in der Natur gegruͤndet / als die Gleichheit derer / die nach der wahren Weißheit und Tugond / oder nach der groͤſten Gluͤckſeligkeit trach - ten / oder die dieſelbe ſchon wuͤrcklich beſitzen / weil GOtt den Menſchen zu dieſen Ende gemacht hat / und alſo ſein warhafftiges Weſen und Na - tur darinnen beſtehet.

7.

Waͤren alle Menſchen in dieſem letzten Stuͤck einander gleich / wie ſie billig ſeyn ſolten / ſo waͤre kein Unterſcheid zwiſchen der vernuͤnffti - gen allgemeinen und abſonderlichen Liebe / ſon - dern die gantze Welt / waͤre ein Hertz und eine Seele zuſammen / und beſaͤſſen alſo insgeſambt die wahre Gluͤckſeligkeit. Nachdem aber leider offenbahr / daß in dieſem Stuͤck die Menſchen ungleich / und die meiſten einer naͤrriſchen Weiß heit ergeben ſind / und ihr Gemuͤthe in Unruhe ſe - tzen / die wenigſten aber eine rechtſchaffene Be - gierde zur wahren Gluͤckſeligkeit haben; als hat nothwendig ein Unterſchied unter der Verei - nigung der Gemuͤther bey der allgemeinen und abſonderlichen Liebe entſtehen muͤſſen.

8. Jn203[201]Liebe der Menſchen.

8.

Jn der allgemeinen Gleichheit wie wir ſie erklaͤret haben / gruͤndet ſich die allgemeine Liebe / die alle Menſchen mit einander in ſo weit verbindet / daß ſie einander gleichmaͤßig tracti - ren / und einer dem andern / er ſey wer er wolle / das jenige erweiſe / was er in gleichen Faͤllen von ihm erwieſen haben wolte.

9.

Gleichwie aber dieſes gantze Capitel zei - gen wird / daß dieſe Gleichheit der Gemuͤther ſich nicht ſehr weit erſtrecke / ſondern der geringſte Grad derſelben ſey / auch mehr ein Mangel des Haſſes und Vermeidung der Gemuͤths-Unruhe als eine wahre Gemuͤths-Ruhe und Liebe zu nennen ſey / indem ſelbige auff gewiſſe Art auch unter denen unvernuͤnfftigen Thieren anzutreffen iſt; Alſo weiſet auch die taͤgliche Erfahrung / daß die abſonderlichen Gleichheiten unter denen Menſchen eine viel ſtaͤrckere Vereinigung ver - urſache / die viel ſtaͤrckere Wirckung hat / und alſo den Titel der Liede in dieſen Anſehen mehr verdienet.

10.

Jedoch iſt unter denen obenangefuͤhrten abſonderlichen Gleichheiten der Menſchen auch in Betrachtung derer daraus herruͤhrenden Ver - einigungen ein mercklicher Unterſcheid. Die Gleichheit des Alters / Standes / Vermoͤ - gens / der Profeſſion, der Landes-Art / des Ver - ſtandes / wenn ſie nicht mit der Gleichheit der Tugend und Weißheit vergeſellſchafftet ſind / ſind entweder nur der Grund einer Schein Liebe /N 5oder204[202]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenoder wohl ja ſo leichte der Grund eines unge - gruͤndeten Haſſes als Liebe.

11.

Was das Geſchlecht betrifft / ſo iſt bil - lig zu bemercken / daß die Ungleichheit deſſel - ben eintzig und alleine unter denen Ungleichhei - ten diejenige iſt / die nicht nur an der Liebe nicht hinderlich iſt / ſondern vielmehr dieſelbe verurſa - chet / oder in einen groͤſſern Grad zum wenigſten zu wege bringet. Nicht nur unter Leuten die ein - ander unvernuͤnfftig lieben / ſondern auch un - ter unvernuͤnfftigen Menſchen; indem nicht al - leine dieſe Zuneigung / die der Menſch mit denen Thieren gemein hat / Leib mit Leib zu vermengen / ſolches zu wege bringet / ſondern auch / wenn man von derſelben abſtrahiret / viel ein groͤſſeres Ver - trauen / Ehrfurcht / und Weichhertzigkeit unter Perſonen beyderley Geſchlechts / als unter denen von einerley Geſchlechte durch einen natuͤr - lichen Trieb zu ſeyn pfleget. Daß man alſo hieraus klaͤrlich ſiehet / man muͤſſe die Gleich - heit die der Grund der Liebe iſt nicht ſo wohl in aͤußerlichen Dingen ſuchen / als wie das Ge - ſchlechte iſt / als in der innerlichen Zuneigung / welche der Natur nach bey ungleichen Geſchlech - te gleich iſt.

12.

Endlich ſo viel die Gleichheit der Ge - muͤths-Neigungen betrifft. So lieben ſich zwar wolluͤſtige und Ehrgeitzige Gemuͤther den Scheine nach unter einander / aber Geld - geitzige lieben niemand / und werden wieder vonnie -205[203]Liebe anderer Menſchen.niemand / auch nicht von denen / die ihn gleich ſind / nur zum Scheine geliebet. Die Urſache wol - len wir ſchon zu ſeiner Zeit bey Erklaͤrung dieſer Gemuͤths-Neigungen eroͤrtern.

13.

Jedoch iſt es unmoͤglich / daß unter Wol - luͤſtigen und Ehrgeitzigen eine rechtſchaffene be - ſtaͤndige Liebe und Vereinigung der Gemuͤther ſeyn koͤnne / ſondern es iſt nur eine Schein-Lie - be / die ſich anſtellet / als wenn ſie der geliebten Perſon vergnuͤgen ſuchte / in der That aber ihr ſelbſt eigenes zu wege zu bringen trachtet / und alſo eines das andere zu hintergehen bemuͤhet iſt.

14.

Jm Gegentheil iſt es unmoͤglich / daß die Gleichheit der Tugend-Neigung nicht ſolte eine beſtaͤndige Liebe machen / weil ſie die Men - ſchen antreibet / auff beyden Theilen umb die Wette eines das andere vernuͤnfftiger Weiſe zu vergnuͤgen / welches die wahre Vereinigung der Seele iſt / und alſo iſt dieſe Gleichheit eintzig und alleine der Grund der abſonderlichen Liebe / denn es iſt ohnmoͤglich / daß tugendhaffte Leute einander haſſen koͤnnen. So gar daß wenn dieſe Gleichheit verhanden / die andern Ungleich - heiten / des Alters / Standes / Vermoͤgens / der Profeſſion, der Landes-Art / des Verſtandes / und des Mols / Nationen an wahrer auffrichtiger Freundſchafft nichts hindern.

15.

Und alſo beſtehet die Vereinigung der Gemuͤther in der abſonderlichen Liebe / ſo fer - ne dieſelbe von der allgemeinen entſchieden iſt /darin -206[204]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinendarinnen / daß man ſich in dieſer bemuͤhet / ein - ander gutes zu thun / da man in jener nur beſor - get waͤre einander nicht zu ſchaden und wider - umb beſtehet der Unterſcheid zwiſchen der abſon - derlichen warhafftigen und Schein-Liebe darinnen / daß in jener die Gutthaten wahr - hafftig / in dieſer aber dieſelbigen nur Schein - Gutthaten ſind / welches wir unten ſchon zu ſei - ner Zeit mit mehrern erklaͤren wollen.

16.

Jedoch wird es nicht vergebens ſeyn / wenn wir auch einen Unterſchied in der allgemeinen Liebe zwiſchen der Schein-Liebe und warhaff - tigen Liebe machen. Ein Unweiſer thut des - wegen allen Menſchen insgemein auch dem Scheine nach nicht viel zu gute / weil er nicht von allen einen Vortheil hofft / oder weil er befin - det / daß ihm nicht alle anſtehen wegen unterſchie - dener Ungleichheiten. Aber ein Weiſer / der kei - nen Vortheil bey andern ſucht / waͤre bereit allen gutes zu thun / und ſich mit allen rechtſchaffen zu vereinigen / wenn man nur ſeine Liebe anneh - men wolte und nicht von ſich ſtieſſe / oder wenn man nur nicht von ihm an ſtatt wahrer Guttha - ten unnuͤtzliche Dinge begehrte.

17.

Ob nun aber wohl die abſonderliche ver - nuͤnfftige Liebe wegen gedachter Urſachen viel vortrefflicher iſt als die allgemeine Liebe / in dem ſie dieſe recht vollkommen machet / und die wahre Gemuͤths-Ruhe zuwege bringet / welches der Menſche in der allgemeinen Liebe nicht findenkan.207[205]Liebe anderer Menſchen.kan. So kan man doch die allgemeine Liebe auff gewiſſe Maaſſe eine Richt-Schnur der abſon - derlichen Liebe nennen / ſo ferne dieſe der erſten nicht darff zuwieder ſeyn / in dem die erſte gleich - ſam der Weg zu der andern iſt / und derjenige der andere Menſchen haſſet / nicht capabel iſt andere zu lieben / weil der Haß eines einigen Menſchen der menſchlichen Natur zuwieder iſt / ſintemahl keine Ungleichheit des menſchlichen Ge - ſchlechts ihrer Natur nach ſo viel wuͤrcken kan / daß ein Menſch den andern deswegen haſſen ſolte.

18.

Es iſt ja wohl andem / daß die abſonder - liche Freundſchafft die Gemuͤther und Willen auff das genaueſte verbindet / und ein Hertz und eine Seele aus zweyen Leibern macht; und dannenhero ſcheinet es auch / daß ich mit mei - nem Freunde auch ſeine Freunde und Feinde gemein haben muͤſſe. Aber daraus ſolget noch lange nicht / daß ich andere Menſchen haben muͤſte. Denn mein Freund kan wohl Feinde haben / aber er muß deswegen keines Menſchen Feind ſeyn / weil er / wie wir bald mit mehrern erweiſen wollen / ſeine Feinde mit Ge - dult uͤberwinder muß.

19.

Wie? ſprichſt du: Sol denn zum wenig - ſten der Jrrthum und Laſter nicht eine ſolche groſſe Ungleichheit verurſachen / daß ein wei - ſer und tugendhaffter Mann laſterhaffte und ir - rende Leute nicht haſſen ſolte? Allerdings nichtmein208[206]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenmein Freund. Haſt du ſchon vergeſſen / daß wir erwehnet / die Gleichheit der menſchlichen Natur in der ſich die allgemeine Liebe gruͤndet / koͤnne durch keine Ungleichheit auffgehoben werden. Haſt du des gemeinen Sprichworts vergeſſen: der Laſter Feind / der Perſon Freund. Ein wei - ſer Mann erzuͤrnet ſich nicht uͤber die Jrrenden und Laſterhafften / ſondern er erbarmet ſich vielmehr uͤber ſie und betauret ſie / weil er ſiehet / daß ſie ſich das groͤſte Ungluͤck auff den Halß laden.

20.

Nun wollen wir die abſonderliche Liebe biß zu ſeiner Zeit ein wenig ausſetzen / und die all - gemeine Liebe etwas genauer betrachten. Es begreifft aber dieſelbe eigentlich fůnff andere Tugenden unter ſich; die Leutſeeligkeit / Wahrhafftigkeit / Beſcheidenheit / Ver - traͤgligkeit / Gedult. Alle fuͤnffe kommen da - rinnen mit einander ůberein / weil ſie ſich in der allgemeinen menſchlichen Natur gruͤnden / und man dieſelbigen gegen jederman erweiſen muß / gleich wie man dieſelbigen wider von jeder - man gewaͤrtig iſt. So beſtehen auch dieſe Tu - genden alle fuͤnffe mehr darinnen / daß man an - dern nichts zu leide thue oder etwas hartes er - weiſe / als in Bezeugung einer gutthaͤtigen Liebe.

21.

Die Leutſeeligkeit iſt eine Tugend / die den Menſchen antreibet / allen Menſchen die deſſen von noͤthen haben / mit allen de - nen Dingen / die er nicht hoch æſtimiret / oderderer209[207]Liebe anderer Menſchen.derer Mittheilung ihm nicht ſauer ankoͤmmt beyzuſtehen / und einen Gefallen zu erwei - ſen. Z. e. wenn ich vergoͤnne / daß man bey mei - nem Liecht ein ander Liecht anzuͤnde / aus meinen Brunnen Waſſer ſchoͤpffe / in meinen Garten ſpatzieren gehe / daß ich mein Buch einem andern leihe / einem Jrrenden den rechten Weg zeige / daß ich von meinen Uberftuß kleine Allmoſen ge - be / u. ſ. w.

22.

Alle dieſe Dinge ſind ſo beſchaffeu / daß ein jeder Menſch / er ſey ſo maͤchtig / tugendhafft / weiſe / vermoͤgend als er wolle / dieſelben oder de - rer etliche von noͤthen habe; und ob es ſchon ge - wiß iſt / daß er derſelbigen in der That von allen Menſchen nicht erfordern werde / oder daß alle Menſchen in der That dieſelbigen nicht von ihm fordern werden / ſo weiß er doch nicht wer dieje - nigen kuͤnfftig ſeyn moͤchten / derer Huͤlffe er / oder ſie der ſeinigen in dieſen Stuͤck von noͤthen haben moͤchten; maſſen denn der allerelendeſte Bet - ler oder ein Kerl der jetzo in Japan iſt / in et - lichen Jahren heraus kommen und mir einen der - gleichen gefallen erweiſen kan. Und dannen - hero erfordert die Gleichheit der menſchlichen Duͤrfftigkeit / daß ein jeder einem jeden derglei - chen Dienſte erweiſe.

23.

Es ſind aber dieſelbigen an ſich ſelbſten ſo beſchaffen / daß weil ſie in denen Dingen be - ſtehen / die man nicht hoch achtet / oder die einem nicht ſauer ankommen / man auch die Leiſtungder -210[208]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenderſelbigen nicht fuͤr Gutthaten oder Liebes - Dienſte ausgeben kan / ſondern man wuͤrde den - jenigen / der dieſelbigen andern nicht erweiſen wolte / ob man ihn ſchon fuͤr keinen ungerech - ten und beſtraffungs wuͤrdigen Mann ſchelten koͤnte / dennoch gewiß fuͤr einen harten / unbarm - hertzigen Unmenſchen halten.

24.

So beſtehet demnach der Unterſcheid un - ter ſolchen allgemeinen Dienſten und denen Gutthaten nicht in der Groͤſſe oder Kleinigkeit des Nutzens / den die Perſon davon hat / der man dieſelbigen leiſtet / ſondern bloß in denen Umb - ſtaͤnden / die den Geber betreffen / ob er dieſelbi - ge mit ſeiner Beſchwerung thue oder nicht. Alſo wenn man einen Menſchen / den die Fluth an das Land geſchmiffen umbſtuͤrtzet / daß das Waſſer wider von ihm gehen / und er wider zu ſich ſelbſt kommen kan / iſt es keine Gutthat / ob man ſchon dadurch einen Menſchen das Leben er - haͤlt. Wenn man aber mit Gefahr ſeines eige - nen Lebens in das Waſſer ſpringt den andern zu retten / ſo gehoͤret es billich unter die Guttha - ten. Wiederum / wenn ich mit Hindanſetzung meiner noͤthigen Geſchaͤffte einem Jrrenden den Weg zeige / oder wenn ein armer dem an - dern auch nur einen Scherff Allmoſen giebt / iſt es kein gemein officiun humanitatis, ſondern ei - ne Gutthat.

25.

Hieraus flieſſet ein anderer Unterſchied / daß gleichwie bey der abſonderlichen Liebe ausLei -211[209]Liebe aller Menſchen.Leiſtung der Gutthaten bey demjenigen der die - ſelben empfaͤhet / eine andere Tugend / in Danck - barkeit entſtehet: alſo man wegen allgemeꝛner Dienſte der Leutſeeligkeit / von dem andern kei - ne Danckbarkeit fordern koͤnne / eben deshal - ben / weil uns dieſelben nicht ſauer ankommen ſind.

26.

Hierinnen aber iſt eine Gleichheit zwiſchen denen Officiis humanitatis und denen Guttha - ten / daß man weder zu jenen noch zu dieſen / ſo wohl auch zu der Danckbarkeit keinen Menſchẽ zu zwingen pflege. Ja daß wenn man gleich zu der Leutſeeligkeit / Gutthaͤtigkeit und Danck - barkeit jemand zwingen wolte / (wie denn auff gewiſſe Maaſſe in denen Geſellſchafften / darinnen ein Ober-Herr iſt / dieſer ſeine Unteren gar wohl zu denen Leiſtungen dieſer Tugenden nach Gele - genheit der Sachen und Umbſtaͤnde zwingen kan) dennoch ſo dann die aus einen Zwang herruͤhren - de Leiſtungen / eben deswegen weil ſie nicht frey - willig ſondern gezwungen geſchehen den Nahmen der Leutſeeligkeit / Gutthaͤtigkeit und Danckbar - keit verliehren wuͤrden.

27.

Jedoch iſt hiebey nicht zu laͤugnen / daß die Urſachen / wegen welcher man nach Anleitung der geſunden Vernunfft niemand zu einer von die - ſen dreyen Tugenden zwingen kan / dennoch unter - ſchieden ſeyn / und ſolcher geſtalt dennoch ein mercklicher Unterſcheid zwiſchen der Leutſee - ligkeit an einem und am andern Theile zwiſchenOder212[210]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinender Gutthaͤtigkeit und derſelben correſpondi - renden Danckbarkeit billig zu beobachten ſey.

28.

Denn was die Leutſeeligkeit betrifft / ſo haben wir oben erwehnet / daß die allgemeine Lie - be mehr ein Mangel eines Haſſes / als eine wahr - hafftige Liebe zu nennen ſey. Und weil ſie dem - nach in nichtes mehr als in ſchlechten und gemei - nen Bezeigungen beſtehet / die einem nicht ſauer ankommen / oder die ohne einigen Nachtheil unſe - rer Guͤter geleiſtet werden koͤnnen / und ſich in der allgemeinen Gleichheit der menſchlichen Natur gruͤnden / auch von allen und jeden Menſchen zu erwarten ſtehen / ſo hat eben dieſe Gleichheit und Geringſchaͤtzigkeit derer Dienſte in Anſehen des Gebers erfordert / daß man zu denenſelben niemand zwingen ſolle / damit dieſe allgemeine Lie - be deſtomehr dadurch erkennet und bey andern gleichergeſtalt angefeuret werde / wenn man der Schamhafftigkeit anderer Menſchen einig und alleine die Bezeugungen der Leutſeeligkeit uͤber - lieſſe. Ja es wuͤrde auch eben dieſe Gleichheit der menſchlichen Natur groͤblich verletzet werden / wenn man einigen Menſchen darzu zwingen wol - te. Man erwartet ja dieſelbigen ohne Unter - ſcheid von allen Menſchen / indem ſie alle wegen ihrer menſchlichen Natur darzu verpflichtet ſind. Wolte man aber nun unter dem gantzen menſch - lichen Geſehlechte nach ſeinem Gefallen einen Menſchen fuͤr den andern ſich ausſehen an den man ſich zu halten gedaͤchte / und wolte von ihmdurch213[211]Liebe aller Menſchen.durch Zwang dieſe Leutſeeligkeit ohne eine abſon - derliche Zuſage / oder eine andere ſpecial Urſache erpreſſen / ſo wuͤrde man ja gantz offenbarlich den - ſelben aus dem Stand der Gleichheit dadurch ſe - tzen / und ihn andern Menſchen ungleich ma - chen.

29.

Was aber die Gutthaͤtigkeit und Danckbarkeit betrifft / ſo weiſet das Weſen einer wahrhafftigen Liebe / zu welcher auch dieſelbigen gehoͤren / gantz klar und deutlich / daß ob ſchon dieſelbige nur auff diejenigen ihr Abſehen richtet / die in gegenwaͤrtigen verderbten Zuſtande andern ungleich ſind / und mit denen Liebenden fuͤr andern nach der wahren Gemuͤths-Ruhe trach - ten / auch ſolcheꝛgeſtalt die im voꝛigen Paragrapho angefuͤhrte Gleichheit hieher nicht gebracht wer - den kan; dennoch auch hierinnen kein Zwang zu - gelaſſen werden koͤnne / weil ohnmoͤglich eine Liebe ſeyn kan / wo auch nur der geringſte Zwang vorgehet.

30.

Solte ja jemand dieſer Satz uͤber - Verhoffen etwas frembde oder zwetffelhaffte vorkommen / der wolle nur auff dieſe Erfahrung ſeines eigenen Hertzens ein wenig zu ruͤcke gehen. Hat er jemahlen geliebet / und nur im geringſten Grad eine vernuͤnfftige Weichhertzigkeit darbey befunden / ſo wird er bekennen muͤſſen / daß gleich wie bey ihm auch nur die ſchlechteſte Liebes - Bezeigung ein groſſes Vergnuͤgen erwecket / wenn er erkennet / daß ſelbige aus einen gutenO 2Hertzen214[212]Das 5. Hauptſt. von derallgemeinenHertzen hergeruͤhret / alſo auch in Gegentheil die nachdruͤcklichſten Careſſen mehr einen Eckel als Vergnuͤgen verurſachet / wenn er wargenommen daß dieſelbigen auff ein particular Intereſſe der Perſon / die ihn dieſelbigen erwieſen / gezielet / ge - ſchweige denn wenn er haͤtte ſehen ſollen / daß die - ſelbigen ihm mit einen Wiederwillen oder gar aus Zwang gegeben worden / worvon wir viel - leicht unten mit mehren Gelegenheit zu reden fin - den werden.

31.

So wird es auch fuͤglicher geſchehen / daß wir biß dahin eine andere Betrachtung verſpa - ren. Daß es nehmlich gewiſſe Bezeugungen gebe / die nach Gelegenheit der Umbſtaͤnde bald zu denen allgemeinen Liebes-Bezeigungen / bald a - ber zu abſonderlichen Gutthaten gebracht wer - den koͤnnen / nachdem nemlich dieſelben entweder ohne Verdruß und Muͤhe des Gebers oder mit derſelben vergeſellſchafftet ſeyn.

32.

Hieher gehoͤren unterſchiedene Fragen die von denen Rechts-Lehrern pflegen eroͤrtert zu wer - den. Ob dieſes fuͤr eine Entziehung der allge - meinen Liebes-Bezeigungen zu halten ſey / wenn einer dem andern (1) den freyen Durchzug durch ſein Land / oder (2) die freye Durch fuhre aller - hand Kauff-Waaren / oder (3) die Erlaſſung der ſonſten gewoͤhnlichen Zoͤlle / oder (4) die Anlaͤn - dung an ſein Land / oder (5) die Beherbergung / oder (6) die voͤllige Auffnahme auch derer die aus ihrem Lande durch Ungluͤck ſich weg zu machen ge -noͤthi -115[113]Liebe aller Menſchen.noͤthiget ſind / oder (7) die Gemeinſchafft im Han - del und Wandel / oder (8) die freye Heyrath ver - ſaget? worvon wir auch allbereit anderswo un - ſere Meinung etwas ausfuͤhrlicher von uns ge - ſchrieben.

33.

Vor jetzo wollen wir nur noch dieſe An - merckung beyfuͤgen / daß gleichwohl etliche / wie wohl gar rare Faͤlle entſtehen koͤnnen / in welchen ein Menſch auch durch Zwang-Mittel dahin gehalten werden kan / daß er die allgemeinen Lie - bes-Bezeigungen anderen Menſchen erweiſe / wenn nemlich folgende Umſtaͤnde vorhanden ſind. (1) Wenn des andern ſeine Beduͤrffniß ſo groß iſt / daß er ohne Leiſtung dieſer Leutſelig - keit verderben wuͤrde / (2) daß er dieſelbe von kei - nem andern Menſchen / ſo wohl als von uns zu hoffen hat / und (3) daß wir nicht in gleicher Noth mit ihm ſtecken.

34.

Z. e. Wenn zwey Menſchen die einander nichts anders als wegen der allgemeinen menſch - lichen Natur verwand ſind / durch Ungluͤck an ei - nen wuͤſten Orth verſchmiſſen werden / und einer davon von ſeinem eigenen Gute ſo viel aus dem Schiffbruch rettet / dadurch er ſo wohl ſein eigen als des andern ſein Leben erhalten kan.

35.

Laſſet uns dannenhero nunmehro zur Warhafftigkeit als der andern Tugend der allgemeinen Liebe wenden. Durch die Wahr - hafftigkeit verſtehe ich allhier diejenige Tugend / nach welcher wir ſchuldig ſind das Verſpre -O 3chen216[214]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenchen / das wir allen Menſchen / ſie moͤgen ſeyn wer ſie wollen / gethan haben / treu und un - verbruͤchlich zu halten.

36.

Es iſt leicht abzunehmen / daß das menſch - liche Geſchlecht ohne dieſe Tugend / und das Ver - ſprechen / welches dieſelbe præſupponiret / nicht hat / die allgemeine Gemuͤths-Ruhe erhalten koͤnnen / weil die Lutſeligkeit / und die daher entſte - hende Dienſt-Bezeigungen nicht alleine zulaͤng - lich iſt / daß die Menſchen alle diejenigen Dinge derer ſie von einander benoͤthiget ſind / vermittelſt derſelben erweiſen koͤnnen / weil nicht allein der Zu - ſtand des jenigen von dem man etwas begehret / zum oͤfftern dergeſtalt beſchaffen iſt / daß er entwe - der die Sache / oder den Dienſt / den man von ihm verlanget / oder zum wenigſten den Werth derſel - ben ſelbſt vonnoͤthen hat / oder daß er die Sache nicht alſobald leiſten kan / oder weil der Zuſtand deſſen / der etwas von dem andern haben wil / alſo bewandt iſt / daß es ſich nicht fuͤglich ſchickt / dasje - nige / was er von dem andern begehret / umſonſt und ohne Entgeld von ihm annehme / oder weil die Sache die man begehret gar zu koſtbahr iſt / als daß man ſie als einen ſchlechten Liebes-Dienſt verlangen koͤnne. Zugeſchweigen / daß wenn ein - mahl ein Zwieſpalt und Krieg unter den Men - ſchen entſtanſtanden / derſeibige durch nichts an - ders als durch Wechſelweiß gethanes Verſpre - chen gehoben / und alſo wiederumb Friede ge - macht werden kan.

37. Die -217[215]Liebe aller Menſchen

37.

Dieweil demnach der Endzweck aller Verſprechungen dahin zielet / daß ein Menſch dadurch dem andern ſich vollkoͤmmlich zu ver - pflichten trachtet / der ihm ſonſt / wie wir allbeteit erwehnet / aus der Tugend der Leutſeeligkeit un - vollkommen / und ohne zulaͤnglichen Zwang ver - bunden waͤre / auch die Natur des menſchlichen Geſchlechts alſo beſchaffen iſt / daß alle und jede Menſchen ordentlich faͤhig ſeyn / durch derglei - chen Verſprechungen ſich mit einander zu verbin - den; als iſt offenbahr / daß die allgemeine Ruhe und die Gleichheit der menſchlichen Natur erfordere / daß ein jeder das gethane Verſprechen zu halten ſchuldig ſey.

38.

Gleichwie es ſich aber von ſich ſelbſt ver - ſtehet / daß man keine Treue und Glauben von keinen Menſchen prætendiren koͤnne / wenn kein Verſprechen vorhergegangen; alſo iſt unſers Thuns nicht / alhier weitlaͤufftig zu unterſuchen / was denn zu dem Weſen eines rechten Ver - ſprechens eigentlich gehoͤre / in dem dieſe Lehre mehr zu der Rechts-Gelahrheit / als zu der Sit - ten-Lehre gehoͤret / wir auch oben allbereit geſagt haben / daß die Liebe / von der wir hauptſaͤchlich hier reden / ſich weiter erſtrecke / als die ſtrengen Regeln der Gerechtigkeit / und endlich uͤber dieſes / wie wir ſchon anderswo ausfuͤhrlich erwieſen haben / bey der Gerechtigkeit man einen groſſen Unterſcheid unter demjenigen machen muß / was das Recht der Natur / und die buͤrgerlichen par -O 4ticu -218[216]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenticular Geſetze der Menſchen zu den Weſen derer pactorum erfordern. Jedoch gibt es kuͤrtzlich die geſunde Vernunfft / daß dasjenige eigentlich fuͤr ein zu der Tugend der Warhafftigkeit-gehoͤriges Verſprechen zu halten ſey / wenn ein Menſch mit Wiſſen und Willen dem andern das jeni - ge was in ſeinem Vermoͤgen iſt zu geben oder zu thun zugeſaget hat.

39.

Solchergeſtalt aber iſt gantz offenbahr / daß man dasjenige fuͤr keine Treubruͤchigkeit halten koͤnne / wenn man demjenigen / der durch eine offenbahrlich unrechte Gewalt uns zur Zuſage gezwungen hat / die Leiſtung deſſen was man ihm auff dieſe Weiſe verſprochen hat / verſaget / wiewohl die Gelehrten in dieſem Stuͤck ſehr unterſchiedener und wiederwaͤrtiger Mey - nung zu ſeyn pflegen.

40.

Der beruͤmte Grotius iſt zwar der Meinung / als ob aus einer dergleichen Zuſage der verſprechende Theil gehalten ſey / ſein Ver - ſprechen zu erfuͤllen / weil die ihm eingepraͤgte Furcht nicht verhindere / daß man nicht von ihm ſagen koͤnne / er habe ſein Verſprechen nicht mit Wiſſen und Willen gethan / hingegentheil ſey aber auch der Gewaltthaͤtiger verbunden / dem jenigen / ſo Gewalt gelitten / die dißfalls ausgepre - ſte Sache wiederum zuzuſtellen / weil er freylich durch die zugefuͤgte Gewalt ihn groͤblich beleidi - get habe / und dannenhero ihm billig dieſerwe - gen ſatisfaction zu geben ſchuldig ſey. Vonwel -219[217]Liebe aller Menſchen.welcher Meinung auch das Roͤmiſche Recht nur in wenigen abweicht / indem daſſelbige faſt aus eben dem Grunde demjenigen / der derglei - chen Gewalt veruͤbet / zwar eine Klage und action vergoͤnnet / aber dabeneben auch dem Ge - gewaltleidenden eine Ausflucht und Exception, durch welche er ſich von der geſtellten Klage be - freyen koͤnne / vergoͤnſtiget.

41.

Wiederumb andere als ſchon vor laͤngſt Cicero, und nach ihm der hochgelehrte Herr von Pufendorff halten dafuͤr / daß in dieſem Fall derjenige / den man gewaltthaͤtiger weiſe zum Verſprechen gezwungen habe / nicht ſchuldig ſey daſſelbige zu halten / theils weil man in denen Verſprechungen nicht alleine darauff ſehen muͤſ - ſe / ob einer mit Wiſſen und Willen etwas ver - ſprochen habe / ſondern ob auch der andere dem dieſes Verſprechen ge ſchehen / ſolches aus dem Recht der Natur anzunehmen befugt ſey / theils auch weil die Verbuͤndligkeit des verſprechen - den Theils (wenn ja allen Falls deren eine in dieſem Fall erwachſen ſeyn ſolte) durch des an - dern ſeine Schuld / Krafft deren er verpflichtet iſt / wegen des geſchehenen Unrechts dem erſten ge - nung zu thun / gleichſam compenſiret / und auff gehoben werde.

42.

Wider dieſe Meinung hat ein gelehrter Mann unſerer Zeit in einem Buͤchlein / daß er von Verpflichtung der Menſchen die aus der Re - de entſtehet / geſchrieben / die Dritte zu vertheidi -O 5gen220[218]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinengen geſucht / daß nemlich ein Menſche allerdings ſchuldig ſey ſein dißfalls gethanes / durch Gewalt erpreßtes Verſprechen zu halten / indem derjenige / ſo die Gewalt veruͤbet / zwar in Veruͤbung derſel - ben unrecht gethan / aber gleichwohl dadurch nicht verhindert worden das gethane Verſpre - chen anzunehmen / und dannenhero daraus ein Recht erhalten die verſprochene Sache einzutrei - ben. So koͤnne auch hierinnen keine Compen - ſation ſtatt finden in Anſehen vielmehr davor zu halten ſey / daß der verſprechende Theil gleichſam bey dem Verſprechen ſich des Rechts / daß er ſonſt gehabt haͤtte / die mit Gewalt erpreßte Sache wieder zu fordern / oder Satisfaction deshalben zu begehren / ſich ſtillſchweigend begeben habe.

43.

Bey dieſer Uneinigkeit aber ſo vieler ge - lehrten Leute / ſcheinet der Ungrund der erſten Meynung gar handgreifflich zu ſeyn / indem es ja eine bloſſe und unnuͤtze Subtilitaͤt waͤre / wenn ich fragen wolte / der Gewaltthaͤter haͤtte Macht die verſprochene Sache zu begehren / er muͤſte aber ſolche alſo fort dem Gewaltleidenden wiederge - ben / zugeſchweigen / daß nach denen Roͤmi - ſchen Rechten der Unterſcheid / ob einer gar kei - ne Klage anſtellen koͤnne / oder ob man ihm eine zugelaſſen / die aber von dem Beklagten durch ei - ne zulaͤngliche Ausflucht elidiret worden / keinen andern Nutzen gehabt / als vor dieſem das Ambt des Stadt-Schulteißen und des Unterrichters zu unterſcheiden.

44. Un -221[219]Liebe aller Menſchen.

44.

Unter denen uͤbrigen beyden aber iſt die mittelſte die beſte. Denn es iſt offenbahr / daß alle Verpflichtung und Schuldigkeit ur - ſpuͤnglich aus dem Willen des Geſetz-Ge - bers herruͤhre / und daß alſo auch das Verſpre - chen nur ein Mittel ſey / durch welches das Ge - ſetz uns verpflichtet. Wer wolte aber nun wohl ſagen / daß GOtt / der ſo ernſtlich verbietet / daß man dem andern keine Gewalt und Unrecht an - thun ſolle / dem Gewaltthaͤter einige Macht wol - le zulaſſen / aus einen ſolchen gewaltſamen Ver - ſprechen ein Recht zu erhalten / und daß er den gewaltleidenden Theil denjenigen zu gut / der wi - der das Geſetze gehandelt / verbinden wolle.

45.

Solchergeſtalt aber kan man leichte auff die Urſachen der dritten Meinung antwor - ren. Denn wenn der Gewaltthaͤter unrecht thut / indem er den andern zu den Verſprechen zwinget / ſo thut er auch unrecht / wenn er dieſes Verſprechen acceptiret / und daraus ein Recht erlangen wil. So iſt auch gantz nicht davor zu halten / daß der Gewaltleidende ſich durch das Verſprechen ſeines Rechts / allenfalls zu com - penſiren / begeben habe / theils weil ohne dem die Verzeihung ſeines Rechts nicht leichte præſumi - ret werden / und gantz kein Umſtand hierbey iſt / daraus man ſolches ſchlieſſen koͤnte / theils auch weil aus obangefuͤhrter Urſache der Gewalt - Thaͤter eben ſo wenig dieſe Verzeihung (wennſie222[220]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenſie ſchon ausdruͤcklich geſchehen waͤre) als das Verſprechen ſelbſt acceptiren doͤrffte.

46.

Damit man aber unſere Meinung de - ſto beſſer verſtehen moͤge / ſo erfordern wir / daß es (1) gewiß ſey / daß derjenige / der uns durch Gewalt zum Verſprechen zwinget / nicht Fug und Macht gehabt habe ſolches zu thun / (2) daß es eine Gewalt ſey / die uns eine gegenwaͤr - tige und groſſe Gefahr drohet / fuͤr welcher ſich auch ein rechtſchaffener Mann zu entſetzen pfleget / und die wir anderer Geſtalt nicht fuͤg - lich als durch dieſes Verſprechen haben loß wer - den koͤnnen. (3) Daß wir das aus Furcht ge - thane Verſprechen weder mit Worten noch Wercken / nach dem dieſe Furcht vorbey geweſen / wiederholet oder gut geheiſſen haben.

47.

Bey dieſer Bewandniß aber iſt gantz offen - bahr / daß man einen groſſen Unterſcheid ma - chen muͤſſe / ob man einen Feinde / der uns durch Krieg uͤberwunden / oder einem Straſſen - Raͤuber etwas aus Furcht unſer Leben zu ver - liehren / verſprochen haben / und daß man nicht einmahl einen Auffruͤhrer und Verraͤther / der ſeinen Fuͤrſten zu einen Verſprechen zwinget / mit einem Straſſen-Raͤuber vergleichen koͤnne / wie wir ſolches allbereit anderswo ausgefuͤhret.

48.

Ja es weiſen noch uͤber dieſes dieſe drey Bedingungen / daß auff gewiſſe Maaſſe auch ein Straſſen-Raͤuber ſelbſt nicht ausgeſchloſ - ſen werde / daß er ſich dieſer allgemeinen Tugendnicht223[221]Liebe aller Menſchen.nicht zu troͤſten haͤtte / wenn man nehmlich mit ihm einen Contract ſchlieſt ohne Zwang / oder wenn der Zwang vorbey iſt. Denn es kan von dieſer allgemeinen Liebe / als wir ſchon offt er - wehnet kein Menſch ausgeſchloſſen werden.

49.

Und iſt dannenhero eine gantz unvernuͤnff - tige und liebloſe Lehr / wenn man verthaͤydigen wil / daß man denen / die in dem Chriſtenthum ei - ne irrige Meynung von GOTT und goͤttlichen Dingen haben / die man Ketzer zu nennen pfle - get / keine Treu und Glauben halten ſolte. Denn es wird durch dieſelbige bey nahe dieſes hoͤchſt - noͤthige Band des menſchlichen Geſchlechts gantz und gar auffgehoben. Jſt man denen Ketzern deshalben keinen Glauben zu halten ſchuldig / weil ſie eine irrige Meynung von GOtt haben / und erkennen doch die Heilige Schrifft fuͤr GOttes Wort; ſo wuͤrde man vielmehr denen Juͤden und Heyden wegen eben dieſer Urſache keine. Treu und Glauben halten duͤrffen / weil ſie gleichfalls irrige Meynung von GOTT hegen und die Schrifft nicht einmahl oder doch nicht voͤllig vor GOttes Wort halten / und alſo wuͤrde Treue und Glauben nur zwiſchen Leuten von ei - ner Religion gelten / ja nicht einmahl zwiſchen denenſelben / weil keine Secte, und in derſelben kei - ne Provintz ja faſt keine Stadt iſt / in welcher nicht diejenigen / die ſich zu einer Secte bekennen von andern Gelehrten derſelben Secte bey dieſen letz - ten Zancks vollen Zeiten in der Lehre von goͤttli -chen224[222]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenchen Dingen abweichen / die Gegner verketzern / und als ob ſie in ſchaͤdlichen Jrrthuͤmern ſtaͤcken / ausſchreyen.

50.

Zudem ſo gruͤndet ſich die Wahrhafftig - keit in der allgemeinen menſchlichen Natur / wel - che / wie wir oben erwehnet / bey allen Menſchen / die auch / es moͤge ſeyn von was fuͤr Dingen es wolle / unterſchiedene Meynungen haben / gleich iſt / und alſo auch eine gleiche Obligation und Verpflichtung wuͤrcket. Zugeſchweigen / daß gleich wie wir uns nicht vergewiſſern koͤnnen / daß wir nicht derer Ketzer ihrer allgemeinen Dienſte der Leutſeeligkeit ſolten benoͤthiget ſeyn / alſo auch wir eben ſo wenig der Ketzer entbehren koͤnnen / daß wir nicht ihr Verſprechen von ihnen anneh - men ſolten. Und wie es uns nun wohl gefaͤllet / wenn die Ketzer uns ihr Verſprechen halten; alſo wuͤrde eine groſſe Ungleichheit erfolgen / wenn wir ihnen das unſrige nicht wider halten ſolten. Zudem ſo waͤre es ſehr irraiſonabel, wenn wir vorwenden wolten / es halte uns von Haltung unſers Verſprechens der elende Zuſtand des andern ab / der ein Ketzer iſt / da doch eben dieſer elende Zuſtand uns zuvorhero nicht ab - gehalten / ſein Verſpechen von ihm anzuneh - men / oder ihm auff unſerer Seiten etwas zuver - ſprechen.

51.

Endlich wenn wir oben erwehnet haben / daß die Wahrhafftigkeit als denn erſt ſtatt ha - he / wenn man etwas zugeſagt hat / daß in un -ſern225[223]Liebe aller Menſchen.ſern Vermoͤgen iſt / ſo verſtehet es ſich gar leichtlich / daß hierzu zweyerley erfvrdert werde / erſtlich daß die Sache oder die Thatunſere na - tuͤrliche Kraͤffte nicht betreffe. Zum an - dern / daß uns auch durch die Geſetze dieſelbe nicht verboten oder entzogen ſey. Und alſo koͤn - nen wir uns nicht verbinden (1) unmoͤgliche / (2) unzulaͤßliche Dinge zu halten / vielweniger von an - derer Leute (3) ihren Sachen oder (4) Thaten etwas verſprechen / wie wir denn auch aus eben der Urſache (5) unſer eigenes Thun und Laſſen / das ſchon andern verpflichtet iſt / nicht von neuen an andere verſprechen koͤnnen / welches alles ſo wohl von denen Rechtsgelehrten hin und wider / als auch von uns ſelbſt anderswo albereit aus - fuͤhrlich erklaͤret worden.

52.

Die Leutſeeligkeit und Wahrhaff - tigkeit / die von denen wir bißhero gehandelt / treiben den Menſchen an / daß er andern Men - ſchen gleiches erweiſe / was er von ihnen gewaͤr - tig iſt / die folgenden zwey Tugenden abet / nem - lich die Beſcheidenheit und Vertraͤgligkeit zeigen ihm / daß er alles Thun und Laſſen dar - aus eine Ungleichheit entſtehen koͤnte / unter - wegen laſſen ſolle / nemlich daß er weder ſich mehr zu eigne als ihm gehoͤret / wohin ihm die Beſcheidenheit weiſet / noch dem andern an dem was ihm gehoͤret einigen Schaden zufuͤ - ge / welches die Vertraͤgligkeit haben wil.

53. Die226[224]Das 5. Hauptſt von der allgemeinen

35.

Die Beſcheidenheit iſt eine Tugend / die den Menſchen antreibet / daß er allen Menſchen / ſie mo̊gen ſeyn von was Stande ſie wollen / freundlich und als Menſchen / die in dieſen Stuͤck ſeines gleichen ſind / bege - gnet / ſie gleiches Recht mit ſich genieſſen laͤſt / und ſich nicht mehr hinaus nimmt / als ihme von Rechtswegen gebuͤhret.

54.

Denn ob ſchon der unter denen Men - ſchen eingefuͤhrte Unterſcheid der Staͤnde und des Vermoͤgens / nebſt dem Unterſcheid des Verſtandes und Willens Urſache einer großen Ungleichheit iſt / ſo hebet ſie doch die Beſcheiden - heit nicht auff / in dem ein weiſer Mann die Un - beſtaͤndigkeit des menſchlichen Gluͤcks be - trachtet / daß ein geehrter / reicher / geſunder und gelehrter Mann bald geringe / arm / ungeſund und ſeines Verſtandes beraubet / und im Gegentheil ein Menſch / der in dieſen letzten Zuſtand lebet / in jenen wieder verſetzt werden koͤnne / auch der Jrrthuͤmer und Laſterhafften Thorheiten ſich er - innert / die er zuvor begangen / und in die er wie - der gerathen kan / hingegen aber von dem an - dern hoffet / er werde ſich ja ſo leichte beſſern als er ſelbſt. Dieſe Betrachtung erwecket bey ihm dieſe Wuͤrckung / daß er ſich keinen Menſchen vorziehet / ſondern der Meynung iſt / daß alle Menſchen ſich ſo wohl ihres freyen Willens be - dienen koͤnnen als er ſelbſt. Denn der Gebrauch des freyen Willens iſt das einige / das derMenſch229[225]Liebe aller Menſchen.Menſch fuͤr das ſeinige halten / und nachdem der Gebrauch vernuͤnfftig oder unvernuͤnfftig iſt / ſich hochachten oder verachten kan.

55.

Man muß aber dieſe Beſcheidenheit nicht mit der Demuth vermiſchen. Beyde kommen zwar darinnen uͤberein / daß ſie den Menſchen antreiben / daß er ſich nicht hoͤher hal - te als andere Menſchen; aber darinnen beſtehet der Unterſcheid / daß die Beſcheidenheit den Menſchen dahin anweiſet / das er andere Men - ſchen als ſeines gleichen betrachtet / oder wenn es hoch koͤmmt / ihnen wegen eines von den Men - ſchen eingefuͤhrten Unterſcheids eine aͤuſſerliche Ehr-Bezeugung / als wenn er ſich ihnen geringer halte / erweiſet; aber die Demuth fuͤhret ihn dahin / daß er ſich auch innerlich geringer halte als andere Menſchen / und dieſe ſeine Selbſt-Ver - kleinerung allenthalben / wo es Gelegenheit giebt / durch aͤuſſerliche und mit dem Hertzen correſpon - dirende Thaten bezeuge.

56.

Woraus dieſes noch ferner folget / daß die Vernunfft an und vor ſich nicht weiter gehe / als worzu die Beſcheidenheit den Menſchen ver - pflichtet. Von der Demuth aber kan ſie nichts gegruͤndetes begreiffen / weil ſie bey ſich ſelbſt keine Urſache findet / warum ein Menſch ſich ſelbſt geringer halten ſolte als einen andern Menſchen / ſondern es gehoͤret die Er - kaͤntniß dieſer Tugend fuͤr eine hoͤhere Gelahr - heit / indem dieſelbe nicht Menſchen ſondernPChri -230[226]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenChriſten macht / und wenn ein Philoſophus noch ſo viel von der Demuth ſchwatzt / ſo erſtrecket ſich doch die ſes alles nicht weiter / als daß er der natuͤrlichen Beſcheidenheit den Nahmen der Demuth giebet.

57.

Die Vertraͤgligkeit iſt eine Tugend / die den Menſchen antreibet / daß er allen anderen Menſchen das ihrige in Fried und Ruhe genieſſen laſſe / und ihnen an ihren Guͤtern ſo wohl des Leibes als des Gluͤcks keinen Schaden thue / oder ſie derſelben auf einige Weiſe beraube; oder wenn ja allen Falls hierwieder etwas aus Vorſatz oder aus verſehen geſchehen / die Sache nebſt allen verurſachten Schaden erſtatte / oder ſonſten annehmliche Satisfaction leiſte.

58.

Dieſe Tugend iſt hoͤchſt nothwendig / weil die Verletzung derſelben den allgemeinen Friede und Ruhe am meiſten verſtoͤret / indem die wenigſten Menſchen vertragen koͤnnen / daß man ihnen das ihrige entziehet / ob ſie ſchon ſon - ſten nicht ungedultig wuͤrden / wenn man ihnen die allgemeinen Dienſte der Leutſeligkeit ver - ſagte / oder ſein Verſprechen nicht hielte / oder ſich viel einbildete; Sie gehet alle Menſchen an weil niemand iſt / an den ich mit einiger gegruͤn - deten Urſache prætendiren koͤnte / daß ich ihn ſei - ne Guͤter nehmen oder verderben duͤrffte / es muͤ - ſten denn dieſelbe auch auff gewiſſe Maaße mein ſeyn. Endlich iſt auch leichte / undkoͤmmt231[227]Liebe aller Menſchen.koͤmmt mich nicht ſauer an / weil ich in Ubung derſelben keine groſſe Muͤhe haben darff / in dem ſie mehr darinnen beſtehet / daß ich nichts / als daß ich etwas thue.

59.

Nun iſt die Gedult noch uͤbrig. Dieſe iſt eine Tugend die die Menſchen antreibet / daß ſie denen andern Menſchen die die allge - meine Liebe nicht wohl in acht genommen / ſondern vielmehr wieder die bisher erzehl - ten vier Tugenden entweder aus Vorſatz oder aus Verſehen angeſtoſſen / ihre Belei - digung aus allgemeiner Liebe verzeihen / und ſich ſolchergeſtalt auch der nach denen natuͤrlichen Rechten zugelaſſenen Mittel freywillig / wegen des allgemeinen Friedens begeben.

60.

So ſieheſt du demnach bald anfaͤnglich / daß die Gedult von denen vier erſten Tugen - den / darinnen unterſchieden ſey / daß jene den Menſchen unterrichten / wie er ſich gegen die / die ihm die allgemeine Liebe erweiſen / oder doch zum wenigſten ihm dieſelbe noch nicht entzogen / verhalten ſolle. Dieſe aber erinnert ihn / was er gegen die jenigen / die jene 4. Tugenden nicht in acht genommen haben / thun ſolle.

61.

Zwar wenn wir nach denen ſtrengen Re - geln der Gerechtigkeit die Sache betrachten wollen / ſo weiſet es die geſunde Vernunfft / daß derjenige / der die 4. erſten Tugenden gegen uns nicht ausuͤbet / ſich uͤber uns nicht beſchwerenP 2koͤnne /232[228]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenkoͤnne / als ob ihm unrecht geſchaͤhe / wenn wir ihm hinwiederum keine Leutſeeligkeit / Wahr - hafftigkeit / Beſcheidenheit und Vertraͤgligkeit erweiſen; Denn mit was Recht wolte derjenige prædendiren / daß andere Menſchen ihm dasjeni - ge erweiſen / was er doch an ſeinen Orte ihnen verſaget / zumahlen da obbeſagte vier Tugenden in der Gleichheit der menſchlichen Natur ſich gruͤnden / und ſolcher Geſtalt eine Ungleichheit wuͤrde eingefuͤhret werden / wenn gottloſe Leute ſich unvernuͤnfftiger Weiſe ein Recht hinaus naͤhmen / andere zu beleidigen / und hernach dieſe dahin anweiſen wolten / daß man ihnen nicht glei - ches mit gleichen vergelten ſolle.

62.

So weiſet auch dasjenige / was wir ab - ſonderlich von der Vertraͤgligkeit erwehnet / (daß derjenige / ſo einen andern einigen Scha - den erwieſen / ſchuldig ſey ihm denſelben zu er - ſtatten) daß er von dem Beleidigten die Gedult nicht als ein ihm zukommendes Recht fordern koͤnne / weil ſonſten die Pflicht den gegebenen Schaden zu erſtatten / keine Wuͤrckung haben wuͤrde / wenn der andere von Rechtswegen ge - dultig ſeyn muͤſte. Eben dieſes kan man auch von dem ſagen / der ſein Verſprechen nicht ge - halten / und ſich gegen einen andern in hohen Grad unbeſcheiden erwieſen / und denſelben ſchimpflich tractiret. Dann weil auch in dieſen Stuͤck die Wahrhafftigkeit und Beſcheidenheit denſelben verbinden / dem beleidigten Theil Sa -tisfaction233[229]Liebe aller Menſchen.tisfaction zu thun / ſo kan er vor dieſen wiederum die Gedult nicht als ein ihm zukommendes Recht fordern.

63.

Aber das iſt es eben / was wir oben ge - ſagt haben / daß ein groſſer Unterſcheid zwiſchen der Gerechtigkeit und Liebe ſey / und alſo ha - ben wir allhier ein mercklich Exempel / daß uns die Liebe zu etwas verbinden koͤnne / darzu wir von Rechtswegen nicht angehalten werden koͤnten / und das es nicht allemahl ver - nunfftig ſey / allzugerecht zu ſeyn / oder ſeines Rech - tes ſich allzugenau zu bedienen.

64.

Jch beſcheide mich ja wohl / daß es ein alt Sprich-Wort ſey: Si vis amari, ama, Wilt du geliebet ſeyn / ſo fange erſt an und liebe andere / und alſo ſcheinet es zwar nach dem er - ſten Anſehen / daß auch nach den Regeln der Liebe / derjenige der uns nicht liebet / ſondern vielmehr allen Haß und Verdrieß erweiſet / von uns nicht prætendiren koͤnne / daß wir ihm aus Liebe ſein Verbrechen verzeihen und Gedult mit ihm haben ſolten. Aber wenn wir die Sache etwas ſchaͤrffer uͤberlegen / werden wir bald ſe - hen / daß uns auch dieſes Sprichwort nicht im Wege ſtehe.

65.

Denn wir koͤnnen es gleicher Geſtalt auch fuͤr unſere Meinung anfuͤhren. Eben des halben ſollen wir gedultig ſeyn / damit wir kuͤnfftig auch von dem / der uns beleidiget hat / geliebet werden / wenn wir ihm durch die Ge -P 3dult234[230]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinendult unſere Liebe anfangen zu bezeigen / oder ihm durch dieſelbe als durch eine der ungemeineſten Proben unſere Beſtaͤndigkeit in der Liebe ver - ſichern.

66.

Zu dem folget es nicht / dieſer oder je - ner hat ſich meiner Liebe unwuͤrdig gemacht / deshalben bin ich ihn zu lieben nicht verbun - den. Jch laß es ſeyn / daß man dieſen Satz in der abſonderlichen Liebe auff gewiſſe Maaße brauchen koͤnne / wiewohl auch disfalls noch viel wuͤrde zu bedencken ſeyn. Aber in der allge - meinen Liebe wird er nicht gelten koͤnnen. Denn bey dieſer koͤnnen wir wohl das jenige / was wir einen Menſchen in Anſehen ſeiner ſelbſt nicht ſchuldig ſeyn / uns ihm zu leiſten verpflichtet er - kennen / in Anſehen unſerer Schuldigkeit ge - gen das gantze menſchliche Geſchlecht deſſen Mitglied er iſt / oder in Anſehen unſerer ſelbſt / weil wir ſonſten / wenn wir ihm dasjenige thaͤ - ten / was er wohl verdienet haͤtte / unſere Ge - muͤths-Ruhe mehr ſtoͤren als befoͤrdern / und al - ſo uns ſelbſten an unſerer groͤſten Gluͤckſeligkeit hinderlich ſeyn wuͤrden.

67.

So wil es demnach noͤhtig ſeyn zu erwei - ſen / daß die allgemeine Gleichheit des menſch - lichen Geſchlechts dieſe Gedult von uns erforde - re / und daß wir ohne dieſelbe unſere Gemuͤths - Ruhe nicht erhalten koͤnnen.

68.

Jenes iſt gantz leichte / indem uns unſer eigen Gewiſſen ſagen wird / daß wir taͤglich /wenn235[231]Liebe aller Menſchen.wenn wir unſer Thun und laſſen genau exami - niren wollen / anderen Menſchen zum Theil aus Verſehen / zum theil auch mit Vorſatz das jenige / was wir ihnen aus obigen vier Tugenden ſchul - dig waren / nicht vollkommen erwieſen / auch ſie zum oͤfftern beleidiget. Und wie es uns nun wohl gefaͤllet / wenn man uns daſſelbige verzei - het / und ſein Recht nicht allzuſtarck wieder uns urgiret; Alſo erfordert auch die Gleichheit der menſchlichen Natur / daß wir gegen andere eben - maͤßig das uns angethane Unrecht mit gleicher Gedult vertragen / u. ſ. w.

69.

Dieſes aber ſcheinet etwas ſchwerer zu ſeyn / indem beynahe alle Gelehrten von dieſen allgemeinen Jrrthum eingenommen ſeyn / als ob die Behauptung ſeines Rechts mit Ge - walt das wahre mittel ſey / wieder den / der unſere Gemuͤths-Ruhe ſtoͤren wil / dieſelbe zu erhalten / und ihn zu einen friedlichen Leben zu noͤthigen; Dahero pfleget man in dem gemei - nen Sprichwort zu ſagen; man koͤnne nicht laͤn - ger Friede halten als der Nachbar wolle. Der Krieg ſey das auſſerordentliche Mittel ſich Frie - de und Ruhe zu ſchaffen. Ein jeder rechtmaͤßi - ger Krieg habe keinen andern End-Zweck als den Friede. So lange man Frieden haben koͤnne / ſolle man denſelben annehmen / wo nicht / muͤſſe man den Krieg zur Hand nehmen. Krieg ſey beſſer als ein unſicherer Friede. u. ſ. w. Und wir wollen das Gegentheil behaupten / daß manP 4mit236[232]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenmit Gedult alleine den beſten Frieden machen koͤnne? Jn Wahrheit wir unterfangen uns eines groſſen / denn wir muͤſſen nicht alleine be - weiſen / daß der Krieg kein vernuͤnfftig Mit - tel ſey / Friede zu machen / ſondern auch: daß man am erſten Friede erhalte / wenn man alles leidet. Beydes ſcheinet faſt allen unſern Gelehrten irraiſonabel zu ſeyn.

70.

Aber wir achten ſolches nicht / wenn wir nur die Vernunfft ſelbſt auf unſerer Seite haben. Dieſe wird uns bald anfaͤnglich zeigen / daß der Krieg nichts weniger ſey als ein Mittel Frie - de zu machen. Denn es iſt ohnmoͤglich / daß auff einer Seiten Krieg / und auf der andern Frie - de ſey / und alſo iſt der Krieg nichts anders als ein ſolcher Zuſtand zweyer Partheyen / in wel - chen ſie beyderſeits einander an ſtatt der Liebe / Haß und Feindſchafft erweiſen.

71.

So unvernuͤnfftig nun als es waͤre / wenn man ſagen wolte / daß der Haß ein vernuͤnfftig ordentlich oder auſſerordentlich Mittel waͤ - re zur Liebe zu gelangen; ſo unvernuͤnfftig iſt es auch / daß man behaupten wil / der Krieg ſey ein Mittel zum Friede.

72.

Haſtu den andern nicht durch die Leut - ſeligkeit / Wahrhafftigkeit / Beſcheidenheit und Ver raͤgligkeit zur Liebe bewegen koͤnnen / da doch ſonſten Liebe Gegen-Liebe erwecket / ſo wirſtu es viel weniger durch Unbeſcheidenheit / Gewalt und Unmenſchlichkeit thun.

73. Ja237[233]Liebe aller Menſchen.

73.

Ja ſagſtu. Wil der andere nicht mit mir Friede halten / ſo muß er / weil ich ihn durch den Krieg darzu zwinge / und ihn alſo mit Gewalt zur Raiſon bringe. Jch bitte dich / rede nicht ſo unvernuͤnfftig. Denn du haſt bey nahe ſo viel laͤcherliche Dinge geredet / als du Worte gebrau - chet haſt.

74.

Denn anfaͤnglich iſt die Vernunfft eine Sache / die durch menſchliche Gewalt zwar zer - nichtet / aber nimmermehr zurechte gebracht werden kan. Hernach ſo iſts auch gemacht / daß ohne Liebe kein wahrer Friede / ſondern nur ein ſolcher Zuſtand / den man einen Stillſtand der Waffen nennen koͤnte / werden kan. Die Liebe aber leidet den geringſten Zwang nicht. Endlich du elender Menſch / der du dir einbildeſt / du wolteſt deinen Feind zwingen / daß er Frie - de halten muͤſte. Mein ſage mir / wodurch? Durch Gewalt? Haͤlt er dir denn ſtille? Oder braucht er Gegengewalt?

75.

Ja / antworteſtu / er braucht wohl Ge - gengewalt / aber er thut nicht recht daran. Ey wie kom̃ſtu zu dieſen Unrath / daß du im Krie - ge deinen Feinde von Rechte vorſagen wilſt. Hat er ſich von ſeinen boͤſen Vorſatz und Unrecht nicht abwendig machen laſſen / da du ihm Liebe oder Gedult erwieſeſt / ſo wird er es gewiß nicht thun / wenn du Gewalt gegen ihn brauchſt. Und alſo iſt es mir jetzo genug / daß du geſteheſt / er brauche auch Gegengewalt wider dich. Mein / welcheP 5Gewalt238[234]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenGewalt erhaͤlt denn nun den Sieg / und macht Friede? die Deinige oder die Sei - nige?

76.

Jch ſehe wohl / du wirſt etwas beſtuͤrtzt. Doch erholeſtu dich wieder und ſagſt / daß frey - lich nicht allemahl der beleidigte Theil / ſondern oͤffters der Beleidiger uͤberwinde. Aber es moͤ - ge nun ſeyn wie ihm wolle / und der Sieg moͤge ausſchlagen auf was fuͤr eine Seite es ſey / ſo ſey es doch genung / daß der Krieg und der darauf folgende Sieg Friede mache.

77.

Gewiß du gemahneſt mich ja ſo unver - nuͤnfftig als die Balger. Bildet ſich ein ſolcher Menſch ein / er ſey von dem andern beleidiget / er kan nicht leben er muß von dem andern Satisfa - ction haben. Aber indem er ſie ſuchet / beleidiget ihn der andere oͤffters noch mehr / als die erſte Be - leidigung war. Und doch wenn er ſich hierauff mit ſeinen Feind vertragen / bildet er ſich ein / er ha - be von dem andern Satisfaction gekriegt. Alſo iſt es auch eine laͤcherliche Einbildung / wenn ich mir einbilde ich wolte durch den Krieg den andern zu einen raiſonablen Frieden bringen / und gebe dar - durch meinem Feinde Gelegenheit / mich durch den von ihm vorgeſchriebenen Friede in einen viel irraiſonablern Zuſtand zu ſetzen / als er zuvor war / ehe ich den Krieg anfinge. Zudem iſt es nicht weniger laͤcherlich / wenn du ſprichſt / der Sieg des Beleidigers oder des Beleidigten mache Friede.

78. Laß239[235]Liebe aller Menſchen.

76.

Laß es ſeyn der Beleidigte ſieget; Der Sieg iſt noch lange kein Friede / ſo lange der U - berwinder und der Uberwundene noch Feinde ſeyn. Ja ſprichſtu / der Uberwundene muß wohl Friede machen. Aber was neues. Gezwunge - ner Friede iſt kein Friede / ſo wenig als die Liebe Zwang leiden kan. Mein was haſtu fuͤr Ver - ſicherung / daß der Uberwundene werde Friede halten? Vielleicht ſein Verſprechen? Und du haſt deswegen den Krieg wider ihn angefangen / weil er dir ſein Verſprechen nicht gehaltem / oder ſonſt etwas dergleichen das aus dem Gebot allge - meiner Liebe herruͤhrete / nicht geleiſtet / da du ihn doch an deinem Orte alles Liebes erwieſen / und bildeſt dir ein / das von ihm gewaltſamer Weiſe erpreßte Verſprechen / werde ihn abhalten / daß er dich nicht ferner beleidige.

79.

Aber vielleicht wird ihm die Furcht deſſen was er allbereit erfahren / von fernerer Beleidi - gung abhalten? Wo eine ſolche Furcht iſt / kan keine Liebe ſeyn / und wer ſich fuͤr dir fuͤrchtet / fuͤr dem muſtu dich auch fuͤrchten. Es ſind ih - rer mehr durch die heimlichen Nachſtellungen ih - rer Leibeigenen / als durch die Tyranney der Koͤ - nige umbgebracht worden. Die Zeiten aͤnder ſich / und es kan leichte geſchehen / daß dieſe Aen - derung ihm die Furcht benimmt; Zudem ſo iſt der Ausgang des Krieges ungewiß und dieſe Ungewißheit kan ſo leichte bey dem andern eine Hoffnung als Furcht erw wen; Zumahlen dadie -240[236]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinendieſe beyde Gemuͤths-Bewegungen zum oͤfftern aus einerley Urſachen herkommen.

80.

Ja ſprichſtu: Dieſem Ubel iſt leichte ab - zuhelffen. Denn wenn ich ſehe / daß ich des Uber - wundenen ſeiner Treue nicht verſichert bin / ſo ver - ſchaffe ich mir Berſicherung durch ſeinen Tod. So wirſtu ſie denn allezeit auf dieſe Weiſe ſu - chen muͤſſen / weil dir die Gewalt niemahlen ande - re Verſicherung geben wird. So wirſtu nichts anders zu thun haben / als darnach zu trachten / wie du das menſchliche Geſchlecht auffreibeſt / weil kein Tag hingehen wird / da dich nicht ein an - derer mit Vorſatz oder aus Verſehen beleidigen wird[.]Auff dieſe Weiſe kanſtu nicht ſagen / daß dir dein Sieg Friede zuwege bringen wird; denn mit todten Leuten haſtu weder Krieg noch Frie - de. Und mit denen anderen Lebenden hatteſtu zuvor ſchon friede. Ja dieſer dein blutiger Sieg kan vieleicht andere Lebende erwecken / einen neuen Krieg mit dir anzufangen / den Tod ihres Verwandten oder Freundes zu raͤchen.

81.

Aber wie denn da / wenn der Beleidiger ſieget? Und du dein Leben von ihm erbetteln muſt / oder er dir ſonſt andere Bedingungen vor - ſchreibet / die dir ſchimpfflicher und unertraͤglicher ſind / als die erſten Beleidigungen / wegen welcher du den Krieg angefangen? Daß ich nicht einmahl davon etwas erwehne / wenn er dir aus Miß - trauen gar das Leben nim̃t? Biſtu wohl noch ſo thoͤricht / daß du dich beruͤhmeſt / der Krieg ſeyein241[237]Liebe aller Menſchen.ein Mirtel deinen Beleidiger zur Raiſon zu bringen? Hier haſtu wohl nicht das geringſte uͤbrig / als das du die Achſeln zuckſt / und zu deiner Entſchuldigung dich etlicher alten Sprichwoͤrter bedieneſt: Gut gemeynet / uͤbel gerathen Pa - tience par force.

81.

Wohl dann / ſo ſieheſtu / daß in dieſem Fall dir nicht des andern ſein Sieg / ſondern deine erzwungene Gedult den Frieden gebe. Was braucht es dannenhero eines ſo groſſen Umb - ſchweiffs? Kan dich die erzwungene Gedult einer viel groͤſſern Beleidigung zum Friede diſponi - ren / worum ſolte es nicht viel raiſonabler ſeyn / daß eine freywillige Gedult eines kleinen Unrechts dir einen viel ſicherern Friede machen ſolte. Ha - ſtu ſo groſſe Luſt zu Frantzoͤſiſchen Sprichwoͤr - tern / ich wil dir ein anders ſagen. Tout par amo - ur, rien par force.

83.

Ja ich ſage noch zu wenig / wenn ich ſpre - che die Gedult mache Friede. Denn ich habe ſchon oben erwehnet / daß die Gedult den Frieden erhalte. Und alſo kanſtu auch daraus die Vor - trefflichkeit der Gedult fuͤr dem Krieg erkennen. Wo Krieg iſt / iſt kein Friede; Und der Krieg / wie wir bißhero augenſcheinlich erwieſen / kan kein Mittel ſeyn Friede zu machen Wo aber Ge - dult iſt / braucht es nicht einmahl / daß man Friede mache / weil noch nie Krieg geweſen / ſondern die Gedult erhaͤlt den Frieden / daß kein Krieg entſte - het.

84. Es242[238]Das 5. Hauptſt von der allgemeinen

84.

Es iſt wahr / der beleidigende Theil / zu - mahl wenn er in der Guͤte uns keine Satisfaction geben wil / gibt fuͤr ſich gnugſam zuverſtehen / daß er nicht viel darnach frage / ob er mit uns in Krieg oder Frieden lebe. Aber ſo lange doch der Be - leidigte nicht bricht / ſondern das angethane Un - recht mit Gedult vertraͤget / ſo lange iſt auch kein Krieg zwiſchen ihnen beyden / und folgends muͤſ - ſen ſie nothwendig in einem friedſamen Zuſtand leben.

85.

Du ſchuͤttelſt den Kopff / und doͤrffteſt mich wohl gar einer Soͤphiſterey beſchuldigen. Denn ſprichſtu: Was iſt das fuͤr ein Friede / darinnen ich keine Gemuͤths-Ruhe habe. Wie kan ich aber ruhig ſeyn / wenn ich mich befah - ren muß / daß der andere meine Gemuͤths-Ruhe alle Augenblick ſtoͤhren werde? Ja geſetzt / daß der Krieg kein wahres Mittel zu einen ruhigen Frieden waͤre / wie kan die Gedult vermoͤgend hierzu ſeyn / da doch dieſelbige die meiſte Urſache iſt / daß der Beleidiger immer angefriſchet wird / Beleidigung mit Beleidigung zu hauffen. Betꝛachte doch ſelbſten. Du haſt geſagt: Ein unvernuͤnfftiger Menſch koͤnne durch Furcht fuͤr der Gewalt und Ubel nicht zur Raiſon gebracht werden. So wird er ja wahrhafftig noch weni - ger raiſonabel werden / wenn ich alles von ihm ge - dultig leyde. Hat er mir zuvor den Mantel ge - nommen / wird er mir. wenn ichs leyde / darnach den Rock nehmen / und mich bis auf das Hembdeaus -243[239]Liebe aller Menſchen.ausziehen. Hat er mir zuvor einen kleinen Schimpff erwieſen / und ich leide es / ſo wird er mich hernach ſuchen gar unehrlich zu machen. Hat er mich zuvor ein wenig geſchlagen / ſo wird er hernach mich gefaͤhrlich verwunden / oder wohl gar das Leben nehmen. Und du ſchaͤmeſt dich doch nicht zu ſagen: Die Gedult ſey das be - ſte Mittel die Gemuͤths-Ruhe zu erhalten.

86.

Aber laß dir hierauff zur Antwort dienen / daß alle dieſe deine Einwuͤrffe / ob ſie gleich von dem Beyfall der meiſten Menſchen unterſtuͤ - tzet werden / dennoch nicht vermoͤgend ſind / die Warheit unſerer Lehre uͤber den Hauffen zu ſtoſ - ſen / oder nur zu bewegen / und daß du in denenſel - ben viel Dinge wahr zu ſeyn ausgegeben / die ſich in der That anders verhalten.

87.

Du haſt anfaͤnglich unter die Exempel deiner zerſtoͤreten Gemuͤhts-Ruhe auch an - gerechnet / wenn dir einer deinen Mantel oder Rock naͤhme / wenn er dich beſchimpffe / u. ſ. w. Haſtu ſchon vergeſſen / daß wir oben erwieſen ha - ben / es gehoͤre weder Reichthum noch aͤuſſer - liche Ehre zu der wahren Gemuͤths-Ruhe und alſo iſt die Schuld auch deine / wenn dir dadurch deine Gemuͤths-Ruhe geſtoͤhret wird / daß dich der andere bis auffs Hembde ausziehet? Ziehe ein anders an. Oder wie muͤſteſtu thun / wenn du ſo arm waͤreſt / daß du keines haͤtteſt?

88.

Eben dieſes muſtu auch bey der Be - ſchimpffung dencken. Wie muͤſteſtu thun /wenn244[240]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen.wenn dich GOTT haͤtte laſſen in einen ſo gerin - gen Stande gebohren werden / als dich der ande - re tractiret. Zudem ſo ſtehet es nicht in des an - dern Vermoͤgen dich zu beſchimpffen / oder un - ehrlich zu machen / wenn deine Tugend dich da - von frey ſpricht. Und du haſt / wenn du weiſe biſt / ſeine That nicht anders anzuſehen / als das Thun eines Trunckenden / der in die Steine kratzt und dich heraus fordert / wenn du in guter Ruhe liegeſt und ſchlaͤffeſt.

89.

Nun ſiehe dich umb: Ob nicht die mei - ſten Kriege wegen dieſer eitelen Ehre / wegen Macht und Anſehen / wegen des Reichthums / z. e. wegen eines Stuͤcke Landes u. ſ. f. gefuͤhret worden. Da alſo aller Krieg haͤtte nachbleiben koͤnnen / wenn man ſich nicht ohne Grund perſva - diret haͤtte / als ob man nicht ruhig leben koͤnte / wenn man eine Stadt oder ein Stuͤcke Land fah - ren lieſſe / wenn man eine einem Geſandten oder wohl gar einem Bilde erwieſene Unhoͤffligkeit / ei - ne abgeſchlagene Heyrath ungeanthet hingehen lieſſe; Wenn man an ſtatt der Souverainetè ſein Reich von dem andern zu Lehn empfange u. ſ. w.

90.

Hiernechſt giebſtu auch genugſam zu er - kennen / daß du die Natur der Menſchen nicht wohl verſteheſt / wenn du dir einbildeſt / daß die Gedult den Beleidigenden antreiben werde / dich noch ferner zu beleydigen. Es iſt wohl wahr / deß es moͤglich ſey / daß ein Menſche ſo eine Beſtie ſey und ſo unvernuͤnfftig mit dir verfahre /wenn245[241]Liebe aller Menſchen.wenn du gedultig biſt / als du es oben beſchrieben. Alleine wenn wir von zukuͤnfftigen Dingen raiſo - niren wollen / muͤſſen wir uns nicht nach denen richten die ſelten / ſondern die zum oͤfftern und am meiſten geſchehen. Nun wird dir aber die Ver - nunfft bald zeigen / daß wenn unter hundert Leuten derer Beleydigung du mit Gedult vertragen / 5. ſeyn / die dich ſo irraiſonabel tractiren ſolten / ihrer hergegen 95. ſeyn werden / die ſolches aus dem An - trieb ihrer Natur unterlaſſen / und Friede mit dir halten werden.

91.

Denn entweder dein Beleydiger iſt ge - nereux, und hat dich mehr aus Verſehen als mit Vorſatz beleydiget / ſo wird ihm ſeine Generoſitaͤt antreiben / dir von freyen Stuͤcken deſto mehr Sa - tisfaction fuͤr die geſchehene Beleydigung zu ge - ben / je groͤſſer deine Gedult iſt. Oder aber er iſt ein Sclave ſeiner Affecten / ſo wird er doch or - dentlich dich nicht leichte wieder beleydigen / wenn ihn gleich deine Gedult nicht antreiben ſolte / dir Satisfaction zu geben.

92.

Jſt er Ehrgeitzig / ſo wird es ihm entwe - der wohl gefallen / daß du das angethane Unrecht verdauet / und wird dich kuͤnfftig als einen Clien - ten beſſer in acht nehmen; Oder er wird dich in ſei - nen Hertzen als einen feigen und verzagten Kerl verachten / und ſich zu gut darzu achten / daß er ſich weiter an dich reiben ſolte.

93.

Jſt er Geldgeitzig / ſo wird ihm deine Ge - dult antreiben dich kuͤnfftig glimpfflicher zu tracti -Qren /246[242]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenren / weil er hoffen wird / einen ſolchen gedultigen Menſchen entweder mit Freundligkeit mehr als mit Gewalt abzuſchwatzen / oder ſich deiner zu ſei - nem Intereſſe zu bedienen.

94.

Endlich iſt er Wolluͤſtig / ſo iſt er ohne dem weichhertzig / und wird alſo zum wenigſten deine Gedult fuͤr eine groſſe complaiſance aus - legen / und dich als einen Menſchen anſehen / mit dem er noch wohl einen luſtigen Zeit-Vertreib haben koͤnne.

95.

Und in Warbeit / es muͤſte ein rechter grauſamer Unmenſch ſeyn / der durch die Gedult eines andern noch mehr zu Grimm beweget wer - den ſolte. Betrachteſtu aber ein wenig zum vor - aus / daß die Grauſamkeit entweder daher ent - ſtehet / wenn man einem Ehrgeitzigen langen Widerſtand gethan / und ſich gegen ihn hoch - muͤthig bezeiget; Oder wenn ein Furchtſamer einen noch Furchtſamern antrifft / oder ſonſt ſiche - re Gelegenheit findet / ſeinen Zorn auszulaſſen; So befindeſtu bald / daß beyderley Art von der Grauſamkeit dich von der Gedult abzuhalten un - vemoͤgend ſey.

96.

Denn bey der Erſten iſt die Gedult viel - mehr eine Præſervativ, daß ein Ehrgeitziger keine Grauſamkeit gegen mich ausuͤbe. Was die an - dere betrifft / ſcheinet es zwar / daß zum wenigſten in dieſem Falle die Gedult ein ungeſchicktes Mit - tel zum Friede ſey / ſondern ſich der Krieg beſſer miteinen247[243]Liebe aller Menſchen.einen ſolchen Menſchen Friede zu machen ſchicke. Aber es ſcheinet nur ſo.

97.

Ein Furchtſamer iſt mehr grauſam / wenn man ihm Unrecht oder Gewalt gethan / und hernach eine groͤſſere Furcht blicken laͤſt / oder er ſeine Gelegenheit ſich zu raͤchen findet / als wenn man eine Beleydigung von ihm vertraͤget / und ihn in ſeiner Furcht die er hatte / daß man ſich wider ihm raͤchen wuͤrde / ein wenig verzappeln laͤſt: Ja es kan eben dieſe gehabte Furcht an - treiben / daß er uns die unterlaſſene Rache als eine Gutthat ausleget und lieb gewinnet.

98.

Hiernechſt muſtu einen Unterſcheid unter der Furcht und Gedult machen. Wer aus Furcht gedultig iſt / iſt nicht gedultig / weil er ſich gerne raͤchen wolte / wenn er nur ſicher koͤnte. Ein Gedultiger aber weiſet auch mitten in ſeiner Gedult / daß er großmaͤchtig ſey / und daß er ſich nicht raͤchen wolle ob er ſchon koͤnne. Bey die - ſer Bewandniß aber kandie Gedult einen Furcht - ſamen nicht irritiren / wider zu kommen / weil der Gedultige ſich nicht furehtſam erweiſet / auch die bey der Gedult bezeigte Großmuͤthigkeit ihn ge - nugſam lehret / daß es ſo ſicher nicht ſey / wenn er in ſeiner Beleydigung ferner fortfahren wolte.

99.

Denn du muſt auch drittens einen Unter - ſchied unter den vergangenen und zukuͤnffti - gen Beleydigungen machen. Wir handeln jetzo von der Gedult der vergangenen. Ein an - ders iſt es / wenn man fraget / ob ich auch ſchul -Q 2dig248[244]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinendig ſey es zu leiden / und keinen Widerſtand zu thun / wenn mich der andere von neuen be - leydigen wolte? Denn wie weit dißfalls die Liebe einem gedultig zu ſeyn anbefehle / werden wir ſchon zu ſeiner Zeit eroͤrtern. Solchergeſtalt aber darffſtu dich abermals fuͤr der Grauſamkeit eines Furchtſamen nicht fuͤrchten. Vertrage die von ihm geſchehene Beleidigung mit Gedult. Spuͤ - reſtu aber / daß er weiter in ſeiner Boßheit fort - fahren wolle / zeige ihm nur ein Loͤwen-Geſicht / ſo wird es mit ſeiner Grauſamkeit keine Gefahr haben.

100.

Und eben dieſes kanſtu zur Antwort neh - men / wenn du mir vorhalten wolteſt / daß ich ein - mal oben eingeraͤumet / daß es gleichwol ſo ir - raiſonable Leute gebe / die durch die Gedult ei - nes Beleydigten ſich veranlaſſen lieſſen / groͤſſere Voßheit auszuuͤben / und daß alſo zum wenigſten doch in dieſen Faͤllen die Gedult kein zulaͤnglich Mittel ſey Friede zu erhalten. Jch kan dirauch dieſe Antwort ertheilen: Daß du auch zum we - nigſten in dieſen Faͤllen noch kein beſſer Mittel als die Gedult anfuͤhren koͤnneſt. Wolteſtu dich gleich abermal auff hen Krieg beruffen / und auff das Loͤwen-Geſicht / darvon ich nur jetzo geredet; ſo iſt es doch wiederumb ein groſſer Unterſcheid unter einer Nothwehre und Rache; (inter bellum defenſivum & offenſivum) von jener reden wir nicht allhier / ſondern von dieſer. Und wird / das was wir obẽ wider den Krieg geredet / ſattſam aus -weiſen /249[245]Liebe aller Menſchen.weiſen / daß auch in dieſen Faͤllen die Krieges - Rache keinen Frieden geben koͤnne.

101.

Was / ſagſtu endlich: Sol dieſes die Philoſophie ſeyn / die jungẽ Leuten den Weg bah - nen ſol / wie ſie in der Welt galant, artig und Tugendhafft leben ſollen? Sie wird nichts anders als niedertraͤchtige Gemuͤther machen / und die Eltern werden dir trefflich verbunden ſeyn / wenn ſie aus deiner Schule an ſtatt rechtſchaffe - ner Kerl lauter verzagte Memmen kriegen? die von keinen point d Honneur nichts wiſſen / ſon - dern Schande fuͤr Ehre achten / und zu nichts in der Welt gebraucht werden koͤnnen.

102.

Jch ſpuͤhre wohl mein Freund / es muͤſſe mit dir auff die Neige kommen ſeyn / weil du an ſtatt vernuͤnfftiger Einwuͤrffe ſchaͤndeſt und ſchmaͤheſt. Du redeſt nicht wie Kluge Leute re - den / ſondern wie die Balger und Klopff-Fechter. Meine Philoſophie iſt dem gemeinen Buͤrger li - chen Leben nicht zuwieder / ſondern vielmehr aller - dings gemaͤß. Der das gro̊ſte Phlegma hat / kan den galanteſten und artigſten Kerl in der Welt abgeben. Je mehr Gedult einer hat / je beſſer koͤm̃t er bey Hoffe fort. Es iſt wahr / du zieheſt bey luſtiger Geſellſchafft die Ge - dult der Schweitzer und Hollaͤnder wacker durch / und giebeſt deinen unbegehrten Rath / wie ſie durch Ergreiffung der Waffen / oder ein wenig mehr Hitze bey den ergriffenen Waffen / ſich in beſſerer Sicherheit ſetzen ſolten. Aber m̃ein -Q 3berlege250[246]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinenberlege dieſe Frage ein wenig genau: Wer iſt wohl gluͤcklicher / oder beſſer zu reden / weniger e - lende / alß dieſe beyden Nationes bey dem Exceß ihrer Gedult?

103

Und alſo ſieheſt du / daß doch die Gedult den Preiß behaͤlt / es mag dich verdrieſſen wie du wilſt. Schmaͤhe noch mehr auff ſie / wir wollen dir weiter kein Wort antworten / ſondern der Ge - dult zu Ehren als mit Gedult vertragen. Je - doch laß dir rathen / und mache es nicht zu arg; da - mit unſere Gedult nicht zerreiſſet. Denn es iſt ein ſchlimm Ding umb eine in den Harniſch ge - brachte Gedult / und du muſt wiſſen / daß ſie dieſes mit der Leutſeeligkeit gemein habe / und von der Wahrhafftigkeit / Beſcheidenheit und Vertraͤg - ligkeit dadurch entſchieden ſey daß man zu der Gedult keinen zwingen koͤnne / ſondern es bloß ſeiner Liebe anheim ſtellen muͤſſe. Das iſt es e - ben was wir oben erwehnet / daß der Beleydiger von Rechts wegen keine Gedult von dem Beley - digten prætendiren koͤnne.

104.

Nunmehro erkenneſtu leichtlich / was fuͤr ein Unteꝛſcheid unter deꝛ Geꝛechtigkeit und Liebe uͤberhaupt ſey. Die Gerechtigkeit iſt dasjenige Theil der Liebe / daß dem Menſchen das Vermoͤ - gen giebet den andern zu dem / was er ihm willig leiſten ſolte zu zwingen; Derowegen kan wohl Liebe ohne Gerechtigkeit / nicht aber Gerechtigkeit ohne Liebe ſeyn. Ja es verliehret die Gerechtig - keit den Nahmen der Liebe / wenn man den Zwangwuͤrck251[247]Liebe aller Menſchen.wuͤrcklich braucht; Und iſt dannenhero gar leichte zu erkennen / worumb das andere Theil der Liebe den Nahmen derſelben fuͤr ſich alleine haͤlt / bey welchen wir nicht einmahl das Vermoͤgen haben den andern zu zwingen.

105.

Wolteſtu demnach die fuͤnff ſpecial Tu - genden der allgemeinen Liebe nach dieſem Unter - ſchied gegen einander halten / ſo wirſtu finden / daß die Leutſeeligkeit und Gedult die aller e - delſten darunter ſeyn / weil man darzu nicht ein - mahl gezwungen werden kan / und alſo fuͤr ſich ei - nen liebreichen Menſchen ſattſam zu erkennen ge - ben / auch eine Anzeigung ſind / daß er nicht weni - ger beſcheiden / vertraͤglich und wahrhafftig ſey; Da hingegen die Beſcheidenheit / Vertraͤg - ligkeit und Wahrhafftigkeit nicht ſo einen ho - hen Grad in dieſer allgemeinen Liebe einnehmẽ / in dem einer wohl beſcheiden / vertraͤglich und wahr - hafftig ſeyn kan / der nicht Leutſeelig und gedultig iſt / weil er ſich anderer Geſtalt bey Unterlaſſung jener drey Tugenden eines Zwangs befahrt / deſ - ſen er ſich bey dieſen beyden nicht zu beſorgen hat.

106.

Gleichwie aber das was wir jetzo gemel - det / ſattſam weiſet / daß ein ſolcher Menſch nach ſeinen aͤufferlichen Thun und Laſſen / und in Anſe - hen des aͤuſſerlichen Friedens zwar fuͤr gerecht / o - der zum wenigſten doch nicht fuͤr ungerecht gehal - ten werden koͤnne / gleichwohl aber immermehr bey andern Leuten ſeine allgemeine Liebe zu ruͤhmen einige Urſache hat; Alſo verliehret dochQ 4des -252[248]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen.deshalben ein Beſcheidener / Vertraͤglicher / und Wahrhafftiger den Nahmen eines Men - ſchen nicht / der jederman die allgemeine Liebe erweiſet / wenn er durch deutliche Umbſtaͤnde be - zeiget / daß er beſcheiden / wahrhafftig und vertraͤg - lich ſeyn wuͤrde / weñ er ſich gleich keines Zwangs hierzu zu befahren haͤtte. Es wird aber nicht leich - te ein Umſtand dieſes andere kraͤfftiger bereden / als wenn er ſich dabey Leutſeelig und geduldig erweiſet.

107.

Und dieſes iſt es eben / was man ſonſt in dem bekanten Vers zu ſagen pfleget:

Oderunt peccare boni virtutis amore
Oderunt peccare mali formidine pœna.

Denn es iſt keine wahre Tugend als die eintzige Liebe / und verdienet auch kein Menſch Tugend - hafft genennet zu werden / der aus Furcht einer aͤuſſerlichen Gewalt das thut was recht iſt.

108.

Was ſonſten die Benennung dieſer fuͤnff Tugenden betrifft / kanſtu noch dieſes wenige mercken / daß du mehr auff die gegebene Beſchrei - bung oder die Sache ſelbſt / als auf den Nahmen acht geben / und alſo wegen der Woͤrter mit nie - mand einen unnoͤthigen Streit anfangen muſt. Du kanſt die Beſcheidenheit Leutſeligkeit nennen / wenn du nur merckeſt / daß wir dadurch diejenige Tugend veſtehen / die der Hoffarth / Stoltz / Hochmuth / Verachtung anderer Leute / u. ſ. w. entgegen geſetzet iſt. Die Vertraͤglig - keit kanſtu Friedfertigkeit heiſſen / wiewohl duauch253[249]Liebe aller Menſchen.auch eben dieſen Nahmen der friedfertigkeit der Gedult geben kanſt / indem der nicht allein fried - fertig iſt / der andern nichts zu Leyde thut / ſondern auch der ſich von andern viel uͤberſich gehen laͤft; Und eben alſo iſt es auch mit Benennung der La - ſter / die dieſen beyden Tugenden entgegen geſetzet werden / beſchaffen / indem Zanckſucht / Gewalt / Krieg / Schaden / u. ſ. w. ſo wohl von einen unver - traͤglichen / als ungeduldigen Menſchen geſaget / werden koͤnnen. Die Leutſeligkeit kanftu Barmhertzigkeit nennen / weil die Unbarmher - tzigkeit / der Neyd / u. ſ. w. verurſachen / daß ein Menſch die Leutſeligkeit nicht ausuͤbet. Endlich ſtehet dir es frey / die Wahrhafftigkeit Treue zu heiſſen / weil ein Betrieger und Luͤgner der ſein Verſprechen nicht haͤlt / wuͤrcklich untreu iſt.

Das 6. Hauptſtuͤck. Von der abſonderlichen ver - nuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

Jnnhalt.

  • Ohne Abhandlung der abſonderlichen Liebe iſt die Sit - ten-Lehre unvollkommen / und doch handelt man ins - gemein nicht davon. n. 1. Beſchreibung der vernuͤnffti - gen adſouderlichen Liebe. n. 2. Sie iſt eine Vereini - gung zweyer tugendliebenden Seelen n. 3. worum zweyer Seelen uñ nicht zweyer Leiber? n. 4. Vernuͤnftige Liebe kan auch zwiſchen zweyen PerſonẽQ 5von254[250]Das 6. Hauptſt von der abſonderlichenvon unterſchiedenen Geſchlechte ſeyn. n. 5. Gemeiner Unterſcheid zwiſchen der Freundſchaffe und Liebe. n. 6. Die Liebe hat nicht eben die Vermiſchung der Leiber von noͤthen / und die Freundſchafft / kan nicht ohne Ver - einigung der Seelen beſtehen. n. 7. Wegen der allge - meinen boͤſen Exempel pfleget man in beyden Stuͤcken das Gegentheil zu verthaͤydigen. n. 8. Vernuͤnfftige Freundſchafft und Liebe haben allgemeine Reguln / und die Zulaͤßigkeit der Liebe dependiret nicht alleine vom E - heſtande. n. 9. Vnvernuͤnfftiger allgemeiner Gebrauch / die Converſation zweyer Perſonen von unterſchie - denen Geſchlecht betreffend. n. 10. Nothwendige und wahrhafftige gute Dinge / ſollen wegen Befahrung des Mißbrauchs nicht abgeſchafft werden. n. 11. Die ver - botene vertrauliche Converlation des maͤnnlichen und weiblichen Geſchlechtes reitzet vielmehr zu unordentli - cher Liebe an / n. 12. und befoͤrdert ſie vielmehr / als daß ſie ſie hindert. n. 13. Gelegenheit macht Diebe n. 14. aber Gelegenheit probiret auch einen ehrlichen Kerl. n. 15. Die verſtatteten oͤffentlichen Converſationes zwiſchen M. und W. ſind irraiſonabel n. 16. und das z. e. ein Lauteniſte mehr Freyheit hat / als ſonſt ein an - derer tugendhaffter Menſch. n. 17. Unſer Mißtrauen gegen die unſerigen treibet ſie deſtomehr an ſolches zu verdienen. n. 18. Die Liebe erfordert zum wenigſten zweyer Seelen Veneinigung / aber je mehr einan - der lieben / je vernuͤnfftiger iſt es. n. 19. Es iſt unvernuͤnfftig jemand zu haſſen / daß er das liebet was wir lieben / oder daß es neben uns jemaud anders liebet; Denn es iſt nicht in unſern Vermoͤgen der Lie - be zu widerſtehen. n. 20. Ein anderer hat eben das Recht als wir dasjenige zu lieben was uns gefaͤllet / und ſeine Liebe bringet uns mehr Nutzen als Schaden. n. 21. Und die Perſon die neben uns jemand anders liebet / iſt entweder zu loben oder zu verachten / niemahlen aber zu haſſen. n. 22. Was Tugendliebende Perſonenheiſſen255[251]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.heiſſen n. 23 Unter denenſelben und unter den Tugendhafften iſt ein Unterſcheid. n. 24. Die vernuͤnff - tige Liebe erfordert zwar eine Gleichheit in denen Incli - nationen / nicht aber in denen Graden derſelben. n. 25. 26. Die abſonderliche vernuͤnfftige Liebe erfordert drey ſonderliche Tugenden. n. 27. die alle eine wahre Eſtim und Hochachtung zu Grunde prælupponiren. n. 28. 29. Was eigentlich Hochachtung heiſſe / und daß man auch einen geringern hochachten koͤnne. n. 30. Aus der Hochachtung entſtehet (I) eine ſorgfaͤlltige Gefaͤlligkeit. n. 31. Dieſes iſt das unfehlbarſte n. 32 und nothwendigſte Kenn-Zeichen einer wahren Liebe. n. 33. Sie erfordert mehr die Augen des Gemuͤthes als des Leibes. n. 34. Eine ſonderliche Kunſt dieſelbe in oͤffentlicher Gefellſchafft der geliebten Perſon durch oͤf - fentliche Thaten jedoch in geheim zu verſtehen zu ge - ben. n. 35. Sie hat keine andere Regeln als die Liebe ſelbſt. n. 36. Groſſer Nutzen dreyer Tugenden der all - gemeinen Liebe / die Sorgfaͤltigkeit deſto beſſer auszu - uͤben. n. 37. 38. Worum die Dienſt-Leiſtungen der Ge - faͤlligkeit geringe genennet werden. n. 39. Durch die Gefaͤlligkeit erhandelt man die allerteureſte Waare mit nichts. n. 40. Worumb die allerwenigften ſich dieſer Handelſchafft bedienen. n. 41. Derjenige gegen dem man ſich gefaͤllig weiſet / muß keine Gerechtigkeit dar - aus machen. n. 42. Anff wie vielerley Art hierwieder pfleget angeſtoſſen zu werden. n. 43. Man macht ſich hierdurch der geſuchten Liebe unwuͤrdig. n. 44. Und iſt dieſes noch ſchaͤndlicher als wenn man keine ſorgfaͤl - tige Gefaͤlligkeit hat. n. 45. Jedoch ſind dieſe noch un - wuͤrdiger geliebet zu werden / die keine Gefaͤlligkeir von den andern annehmen wollen u. ſ. w. n. 46. Wenn die Liebe auff beyden Theilen recht angehet / hoͤret die - ſe ſorgfaͤltige Gefaͤlligkeit auff. n 47. Derowegen kan man aus dem Gebrauch und Unterlaſſung dieſer Tu -gend256[252]Das 5. Hauptſt. von der abſonderlichengend erkennen / wie weit die Menſchen in ihrer Liebe advanciret ſeyn. n. 48. 49. Und diejenigen thun un - recht / die / wenn ſie allbereit derjenigen verſichert ſind / dieſe, ſchlechte Proben noch fordern. n. 50. Nach der Gefaͤlligkeit folget (II) die vertrauliche Gutthaͤtigkeit. n. 51. Erinnerungen uͤber des Se - neca Buͤcher von dieſer Tugend. n. 52. Beſchreibung der - ſelben. n. 53. Dis Vertrauen muß vor der Gut - thaͤtigkeit vorher gehen. n. 54. und ohne daſſelbe iſt kei - ne Gutthaͤtigkeit vernuͤnfftig. n. 55. Ja es iſt keine Gut - thaͤtigkeit ſondern eine Verſchwendung n. 56. oder man ſucht ſein eigen intereſſe dadurch. n. 57. Wiewohl tugendhaffte Perſonen einander bald kennen lernen / und ein Vertrauen gegen einander kriegen. n. 58. Es iſt unvernuͤnfftig die jenigen zu lieben die uns haſſen / o - der die uns nicht wieder lieben. n. 59. Und alſo iſt kei - ne vernunfftige Liebe / wenn man deswegen kranck wird oder gar ſtirbt. n. 60. Die Wechſelsweiſe Gutthaͤtig - keit iſt ein nothwendiges Stuͤck der abſonderlichen Lie - be. n. 61. Und ein unfehlbares Kenn-Zeichen derſel - ben. n. 62. Weil ſie weder bey der Leutſeligkeit n. 63. noch bey der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit. n. 64. noch bey der unvernuͤnfftigen Liebe anzutreffen iſt. Bey der un - vernuͤnfftigen Liebe koͤnnen wohl koſtbahre und muͤhſa - me Liebes-Bezeugungen vorgehen. n. 65. Man kan auch bey einer unvernuͤnfftigen Liebe ſein Leben in die Schantze ſchlagen n. 66. aber man ſuchet bey der unver - uuͤnfftigen Liebe dadurch ſein eigenes / bey der ver - nuͤnfftigen aber das wahre Vergnuͤgen der geliebten Perſon. Und dieſes iſt auch der Unterſcheid zwiſchen den wahrhafftigen und Schein-Gutthaten. n. 67. Bey dieſer Gelegenheit wird das Weſen der wahren und Schein-Gutthaten ausfuͤhrlich gegen einander gehal - ten n. 68. 69. 70. 71. 72. 73. Die Gutthaͤtigkeit begehret keinen Entgeld. n. 74. Sie hat aber wohl Urſach den -ſelben257[253]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.ſelben zu hoffen wegen der Danckbarkeit des geliebten. n. 75. Die Danckbarkeit iſt nur bey wahrhafftiger Lie - be. n. 76. Es iſt ſchwer von der Danckbarkeit und Un - danckbarkeit eines andern zu urtheilen. n. 77. Man kan niemand zur Danckbarkeit zwingen. n. 78. Man kan auch wohl danckbar ſeyn / wenn man gleich den an - dern wuͤrcklich nichts zu gute thut. n. 79. Ein jedwe - der auch der aͤrmſte Menſch iſt capabel dem andern gu - tes zu thun. n. 80. Jn dieſen wenigen Saͤtzen iſt die geſamte Lehre des Seneca von den Gutthaten concen - triret. n. 81. Wenn die Liebe vollkommen iſt / entſtehet daraus (III) Die voͤllige Gemeinſchafft al - les Vermoͤgens und alles vernuͤnfftigen Thun und Laſſens. n. 82. Von der Gemein - ſchafft der Guͤter im Anfang der Welt und in der erſten Chriſtlichen Kirche n. 83. Von der Gemeinſchafft des Plato. n. 84. Einwuͤrffe wieder die Gemeinſchafft der Guͤ - ter n. 85. Sie hebet den Unterſcheid zwiſchen Reiche und Arme auff n. 86. aber eben deswegen waͤre ſie wohl zu wuͤnſchen. n. 87. Sie wuͤrde auch zugleich viel andere Staͤnde im gemeinen Weſen auffheben / die ſich durch die Thorheit und Eitelkeit anderer Menſchen meh - ren. n. 88. Sie wuͤrde aber doch die buͤrgerliche Ge - ſellſchafft und das gemeine Weſen nicht gantz auffheben n. 89. Weil nicht nur die Einfuͤhrung des Eigen - thums ohne die buͤrgerliche Geſellſchafft n. 90. ſon - dern auch dieſe ohne jenes wohl beſtehen kan. 91. Ein Beyſpiel einer ſolchen Republique in der alle Guͤter gemein waͤren / iſt in der Hiſtorie der Sevarambes an - zutreffen. n. 92. Die Gemeinſchafft der Guͤter fuͤhret den Muͤßiggang nicht ein. n. 93. 94. Ob / wenn kein Eigenthum waͤre / alle Gutthaͤtigkeit und Liebe wuͤrde auffgehoben ſeyn? n. 95. 96. Ob dann das Eigenthum abgeſchaffet und die Gemeinſchafft eingefuͤhret werden muͤſte? n. 97. Worinnen die Gemeinſchafft des Thunsund258[254]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenund laſſens beſtehe / und von der Gutthaͤtigkeit ent ſchieden ſey. n. 98. 99. Einwurff daß die vollkommene Liebe wieder abnehmen muͤſſe / und alſo nicht ruhig ſeyn koͤnne. n. 100. Beantwortung deſſelben. n. 101. 102.

1.

DEr Anfang des vorigen Capitels wird dir zeigen / daß die Sitten-Lehre hoͤchſt un - vollkommen ſeyn wuͤrde / wenn wir es bey der allgemeinen Liebe bewenden lieſſen / und keine Lehr-Saͤtze von der abſonderlichen Liebe gaͤben / weil dieſes eben die rechte Liebe und alſo das wahre Mittel iſt zur Gemuͤths-Ruhe zuge - langen. Gleichwohl wirſt du aus gegenwaͤrti - gen Capitel ſehen / daß wir bey den meiſten ſo da - rinnen abgehandelt wird / die Bahne ſelbſt bre - chen muͤſſen / indem wir unter den Sitten-Leh - rern niemand gefunden / der uns darinnen vorge - gangen waͤre: weshalben wir auch Vergebung hoffen / wenn wir nicht alles auff das genaueſte darinnen uͤbervermuthen ſolten eroͤrtert haben.

2.

So haben wir auch in Anfang des vorigen Capitels allbereit etwas ausfuͤhrlich von dem Un - terſcheid unter der allgemeinen und abſonderli - chen Liebe gehandelt / welches wir dannenhero nicht allhier wiederhohlen / ſondern aus dem / was eben daſelbſt von dem Unterſcheid der Schein - und wahrhafftigen / oder unvernuͤnfftigen und vernuͤnfftigen Liebe geſagt worden / die vernuͤnff - tige abſonderliche Liebe beſchrieben / daß es ſeydie259[255]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.die Vereinigung zweyer tugendliebenden Seelen / die durch Wechſelsweiſe Gefaͤllig - keit und auffmerckſame Sorgfalt geſucht / durch Wechſelsweiſe Gutthaten erlanget / und durch Gemeinmachung aller Dinge be - ſeſſen und erhalten wird.

3.

Was wir durch die Vereinigung verſte - hen / haben wir nicht noͤthig zu wiederholen / in An - ſehen ſolches allbereit im 4. Hauptſtuͤck zur Gnuͤ - ge erklaͤret worden. Daß wir aber zwey tu - gendliebender Seelen erwehnet / muß etwas deutlicher ausgeleget werden / viele allgemeine Jrrthuͤmer deſto beſſer zu erkennen / und das We - ſen dieſer Dinge deſto eigentlicher zu erlernen.

4.

Durch zwey Seelen verſtehen wir zwey gantze Menſchen / und haben deswegen der See - len mehr als des Leibes Meldung gethan / umb uns abermahl zu erinnen / was wir ſchon im 4. Hauptſtuͤck von der Vereinigung der Leiber / ob dieſelbe ein noͤthiges Stuͤck der Liebe ſey / weitlaͤufftig gelehret.

5.

Derowegen iſt auch offenbahr / daß weil der Unterſcheid des Geſchlechts / wie auch ob er - wehnet / den Leib nicht aber die Seele angehet / auch kein Unterſcheid zwiſchen der vernuͤnffti - gen Liebe unter den Perſonen einerley oder zweyerley Geſchlechts zu machen ſey / ſondern daß ſie beyderſeits aus einerley gemeinen Lehrſaͤ - tzen hergeleitet weꝛden muͤſſen / aus genommen deſ - ſen / daß wir wegen der Zulaͤßligkeit der Vermi -ſchung260[256]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenſchung der Leiber zwiſehen zweyen Perſonen un - terſchiedenen Geſchlechts gleichfalls oben ange - mercket.

6.

Es wird zwar ingemein auch unter denen Gelehrten die Liebe der Perſonen einerley und un - terſchiedenen Geſchlechts mit unterſchiedenen Nahmen beleget / indem man dieſe Letztere al - lein des Nahmens der Liebe wuͤrdiget / aber jene nur eine Freundſchafft nennet; und koͤnten wir ja wohl nach unſerer Gewohnheit dißfalls einen jeden reden laſſen wie er wolte (maſſen wir denn ſelbſt uns umb Kuͤrtze willen zum oͤfftern des Worts Freundſchafft / die Liebe zweyer Perſonen einerley Geſchlechts zu bemercken / bedienen wer - den) wenn man nur nicht in der That ſelbſt von der wahren Beſchaffenheit abwiche

7.

Denn anfaͤnglich iſt irrig / wenn man dafuͤr haͤlt / es werde zu einer jeden Wahrhafftigen Liebe die Vermiſchung der Leiber als ein we - ſentliches Stuͤck erfordert / davon wir auch oben das Gegentheil ſchon erwieſen. Hernachmahls iſt eben ſo unvernuͤnfftig daß man ſich einbildet / es koͤnne die wahre Freundſchafft in einer gemaͤſ - ſigten Gleichfoͤrmigkeit des aͤußerlichen Thun und Laſſens beſtehen / wenn gleich die Gemuͤther unvereiniget bleiben / und ein jedes auff ſein ei - gen Intereſſe ſaͤhe.

8.

Beyde Jrrthuͤmer kommen daher / daß wir wegen der allgemeinen Thorheiten der Welt faſt gar kein Exempel weder vernuͤnfftigerFreund -261[257]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.Freundſchafft ohne Abſehen auff den Eigennutz / noch vernuͤnfftige Liebe / ohne Begierde ſich durch die Leibes / Vermiſchung zu beluſtigen an - treffen; weil faſt alles in der Beſtialitaͤt ſtecket / und ſolcher geſtallt / als es durchgehends ſo zu ge - ſchehen pfleget / die Laſter der Tugend Nahmen angenommen haben; da doch bey wahrer Freund - ſchafft / da eine rechte Vereinigung der Gemuͤther iſt / ja ſo ein groſſes Vergnuͤgen empfunden wer - den kan / als bey der vernuͤnfftigen Frauen-Liebe.

9.

Derowegen ſo mercke / daß alles dasjenige / was wir in dieſem Capitel von der vernuͤnffti - gen Liebe handeln werden / auff gleiche Maſſe von der Freundſchafft und Liebe zu verſtehen ſey / und daß man alſo die vernuͤnfftige Liebe der Perſonen anders Geſchlechts nicht aus dem Eheſtand allein judiciren muͤſſe / weil nicht nur / als ob erwehnet / die Liebe ehelicher Perſonen meiſten - theils mehr unvernuͤnfftig als vernuͤnfftig iſt / ſon - dern auch / weil wir im folgenden Hauptſtuͤck die vernuͤnfftige Liebe unter Ehe-Leuten als einen Schluß aus dieſen Capitel herleiten werden / und alſo dieſer Schluß keine Grund Regel ſeyn kan / die vernuͤnfftige Liebe uͤberhaupt zu erkennen.

10.

Bey dieſer Bewandniß aber iſt es ein wie - wohl gemeiner aber hoͤchſtſehaͤdlicher Jrrthum / daß man nicht allein von Jugend auff Perſo - nen unterſchiedenen Geſchlechtes mit einan - der vernuͤnfftig umbzugehen nicht ange - wehnet / ſondern auch / wenn ſie erwachſen ſind /Rauſſer262[258]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenauſſer dem Eheſtand ein Geſchlechte / die ver - trauliche Converſation des andern Ge - ſchlechts als was ſchaͤdliches und unehrliches fliehen und meiden lehret / oder wenn zwey vernuͤnfftige Perſonen / die nicht mit einan - der verehlicht ſind / vertraulich mit einander umgehen / dieſes als eine unvernuͤnfftige la - ſterhafte Liebe ſchaͤndet und ſchmaͤhet. Denn hierdurch wird gantz offenbahr die gantze Welt gehindert den beſten Theil der vernuͤnfftigen und abſonderlichen Liebe auszuuͤben / in dem wir albe - reit oben geſagt / daß die Vertrauligkeit und Weichhertzigkeit zwiſchen zweyen Perſonen un - terſchiedennen Geſchlechts natuͤrlicher Weiſe viel ſtaͤrcker ſey / als zwiſchen denen von einem Ge - ſchlechte.

11.

Jch weiß ja wohl / daß dieſes alles unter dem prætext geſchicht / damit der Mißbrauch einer unvernuͤnfftigen Liebe dadurch abge - ſchnitten werde. Aber man wird nicht leichte was unvernuͤnfftigers antreffen koͤnnen als dieſen prærext. Indifferente Dinge kan man wohl gantz unterlaſſen / wenn der Mißbrauch groß iſt. Aber nothwendige Dinge / oder wahrhafftig gute Dinge gantz auszurotten wegen des befuͤrchteten Mißbrauchs iſt wieder die geſunde Vernunfft. Was iſt aber nothwendiger als eine vernuͤnfftige Vertrauligkeit auch unter Perſonen von zweyer - ley Geſchlechte.

12. Zu263[259]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

12.

Zudeme ſo reitzet dieſes deſtomehr zur unordentlichen Liebe an / je mehr man alle zulaͤßliche Converſation verhietet; ſintemahl nicht nur die verderbte Natur insgemein allen verbotenen ſonſt unbegehrten Dingen am meiſten nachtrachtet; ſondern auch bekant iſt / daß ſon - ſten durch Wegerung und Verbot diejenigen ſo einander unvernuͤnfftig lieben / dieſe ihre Liebe anzufeuren ſuchen.

13.

Zugeſchweigen daß dieſe Gewohnheit un - vermoͤgend ſey / durch Abſchneidung aller vertraulicher Converſation die unordent - liche Liebe zu hindern. Zwey Perſonen / die ſich vorgeſetzt einander unvernuͤnfftig zu lieben / und ein wenig verſchmitzt ſeyn / ſind geſchickt / die gan - tze Welt mit aller ihrer Obſicht zu betriegen. Jta - lien iſt allezeit wegen Ebebruchs mehr beſchrien geweſen als Franckreich; und wer die Welt ein wenig kennet / wird mir gar leichte Beyfall geben / daß das Leuteſcheueſte Frauen-Zimmer zur un - ordentlichen Liebe gemeiniglich viel geneigter ſey als das / was mit Manns-Perſonen frey zu con - verſiren gewohnet iſt; ſo wenig hindert dieſe un - zeitige Vorſorge das befahrte Ubel / ſondern be - foͤrdert es viel.

14.

Jch ſehe wohl / du ruͤmpffeſt den Mund / und bildeſt dir ein / wunder was kluges vorge - bracht haſt / wenn du mir auff folgende Weiſe begegneſt. Wenn wirſt du doch einmahl auffhoͤ - ren alle gute Gebraͤuche zu tadeln? Biſt du dennR 2alleine262[260]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenalleine klug? Meineſt du daß das Alterthum un - ſerer Vorfahren nicht weiter geſehen habe als du? Du wirſt wohl nimmermehr das Sprichwort auskratzen: Gelegenheit macht Diebe / Wo Feuer und Stroh zuſammen koͤmmt / da brennets lichterloh.

15.

Aber mein lieber Freund laß dir dienen. Die Schmaͤhungen der du dich bedienet / wil ich dir ſchencken / laß dir nur ein ander Sprichwort vorhalten: Durch Gelegenheit probiret man einen ehrlichen Kerl. Wegen der Feuers - Brunſt muß man nicht Feuer und Stroh aus der Welt jagen. Gelegenheit macht kel - nen Dieb / ſondern gibt ein Diebiſch Hertze zu er - kennen. Solten wir uns nicht in unſer Hertz ſchaͤmen / daß wir unſere Soͤhne insgeſambt fuͤr leichtfertig / und unſere Toͤchter fuͤr liederlich / oder die unter die Zahl derjenigen gehoͤren / von denen der Poëte ſaget: Caſta eſt qvam nemo rogavit, auff dieſe Weiſe ausſchreyen? Ja daß wir uns ſelbſten der tadelnswuͤrdigſten Nachlaͤßigkeit an - klagen / daß wir nicht durch eine gute Zucht den Tugend-Saamen in ihren Hertzen gepflantzet.

16.

Zudem wie laͤcherlich iſt doch unſere Vor - ſorge? Man verdenckt zwey Perſonen unterſchie - denes Geſchlechts / wenn ſie vertraulich mit ein - ander umbgehen / ob man ihnen ſchon ſonſten nichts verdaͤchtiges oder unerbares nachſagen kan. Aber das iſt gar loͤblich / wenn ſie in oͤffent - licher Geſellſchafft mit einander eſſen und trin -cken265[261]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.cken / ſpielen / tantzen / einander ſelbſt oder an - dere Leute dnrchziehen? Jſt es nicht eben ſo viel / als wenn wir behaupten wolten / daß die Tu - gend und Keuſchheit durch wohlluͤſtige Speiſe und Tranck / durch betrigeriſchen Gewinſt / durch uͤppige kleine Spiele / durch anreitzende Verkeh - rungen der Augen und Wendungen des Leibes / und durch die mediſance muͤſſe erhalten werden?

17.

Gleichergeſtalt was iſt doch darinnen wohl fuͤr eine Vernunfft? Einen Tantzmeiſter / Sprachmeiſter / Lauteniſten / Mahler u. ſ. w. verſtatten wir / daß er taͤglich gantze Stunden mit unſern Weibern und Toͤchtern alleine iſt; und einen andern honnèt homme halten wir nebſt dem Frauen-Zimmer fuͤr unehrlich / wenn ſie nicht alle ihre Converſationes in Gegenwart dreyer oder mehr Zeugen (als wie die Advocaten die mit denẽ Inqviſiten reden wollen /) verrichten?

18.

Jch wil davon nichts erwehnen / das eben das Mißtrauen / daß wir in der unſerigen Tu - gend ſetzen / ſie deſto mehr zur Untugend anrei - tzet. Es ſchmertzet ein Tugendliebendes Gemuͤ - the / daß die Gemuͤths-Ruhe noch nicht in einem hohen Grad beſitzet / nichts mehr / als wenn man es wegen eines Laſters / daß es bißhero gehaſſet / ver - dencket. Und nach der gemeinen Anmerckung kluger Leute iſt der unrechte Verdacht eines Man - nes die erſte Staffel zu der aus der unordentli - chen Liebe eines Weibes ihme erwachſenden Schande.

R 319. Aber266[262]Das 6. Hauptſt von der abſonderlichen

19.

aber wo leitet uns der Eyffer wegen eines allgemeinen Mißbrauchs hin? Wir muͤſſen wie - der einlencken / damit wir nicht zuweit von den Graͤntzen unſers Vorhabens uns entfernen / ob wir ſchon nicht den zehenden Theil davon geſagt haben. Daß wir hiernaͤchſt zweyer Seelen oben gedacht / iſt nicht ſo wohl geſchehen / daß wir eine groͤſſere Zahl ausſchlieſſen wolten / ſondern vielmehr anzuzeigen / daß wie wir ſchon oberweh - net / kein Menſch ſelbſt wahrhafftig lieben koͤn - ne. Je mehr dannenhero Tugendliebende See - len mit einander vereiniget ſind / je groͤſſer iſt ihr Vergnuͤgen / und je groͤſſer wird ihre Gemuͤths - Ruhe / weil ein jeder uͤber der andern ihr Wolſeyn ſich ruhig erfreuet / und durch die Vermehrung der Anzahl ſich liebender Perſonen die Anzahl der Liebe / nicht vermehret / ſondern aus allen mit einander gleichſam eine Seele / und warhafftig ein Wille und eine Liebe wird.

20.

So iſt demnach hieraus leichtlich abzuſe - hen / daß nichts unvernuͤnfftiger ſey / als eine Per - ſon deswegen zuhaſſen / daß ſie eine Perſon die wir lieben gleichfalls lieber / odeꝛ daß ſie neben uns eine andere Perſon liebet / oder ſich von einem andern lieben laͤſt. Die Liebe iſt keine Wuͤrckung unſerer eigenen Willkuͤhr / ſondern der Natur / und ſo unmoͤglich es iſt / daß der Magnet das Eiſen ſo ihme nahe lieget nicht an ſich ziehen ſolte / o ohnmoͤglich iſt es auch / daß Tugendhaffte Gemuͤther einander nicht lieben ſolten / wenn ſieihre267[263]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.ihre Tugend erkennen. Eine unvernuͤnfftige Lie - be entzuͤndet ſich gleich durch den erſten Anblick ei - ner Schoͤnheit oder durch unkeuſche Reitzungen / aber tugendhaffte Seelen gehen oͤffters / ehe ſie einander kennen lernen / gantz indifferent mit ein - ander um / und nichts deſtoweniger wird hernach / wenn ſie beyderſeits ihre Verdienſte einander zei - gen / ihre Liebe ſo ſtarck und bruͤnſtig / daß ſie nicht ohne einander leben koͤnnen. Wie ſolte man dan - nenhero einen Menſchen haſſen oder ſich uͤber ihn erzoͤrnen / wenn er das thut / worinnen er der Natur nicht wiederſtehen kan?

21.

Zu dem aus was fuͤr einem Grunde wol - len wir uns inſonderheit uͤber dem erzoͤrnen / der dasjenige auch zu lieben anfaͤnget das wir lieben. Hat er nicht eben das Recht darzu das wir haben / und kan wohl das / daß wir jemand zu erſt von ihm geliebet / uns ein Eigenthumb geben? Die Liebe iſt keine Sache die durch Handel und Wandel erworben oder durch Geld erkaufft wer - den kan. Sie kan keines Menſchen Eigenthumb werden / weil ſie ohne Abgang des einen / alle Men - ſchen vergnuͤgen kan / und weil GOtt ſie in unſere Seelen gepflantzet / das gantze menſchliche Ge - ſchlecht dadurch zu vereinigen / die Vereinigung aber bloß durch die Menſchen ſelbſt unvernuͤnffti - ger Weiſe gehindert wird. Zudem ſo kan mir auch dieſe Liebe keinen Schaden bringen / ſon - dern ich bin demjenigen der das liebet / was ich liebe vielmehr verbunden. Denn wenn er dieR 4Perſon268[264]Das 6. H. von der abſonderlichenPerſon liebet die mit mir vereiniget iſt / vereiniget er ſich auch mit mir / und indem er ihr Vergnuͤgen ſuchet oder ſie vergnuͤget / muß er nothwendig mich mit vergnuͤgen / weil mein Vergnuͤgen mehr in dem Vergnuͤgen der geliebten Perſon als in dem meinigen beſtehet.

22.

Eben dieſes koͤnnen wir auch anfuͤhren / worumb wir uͤber die geliebte Perſon uns nicht erzuͤrnen ſollen / wenn ſie ſich von einem andern lieben laͤſt und ihn wieder liebet / auſſer daß wir noch dieſe Urſachen beyfuͤgen. Entweder die Perſon ſo wir lieben / liebet neben uns eine Perſon / die auch tugendhafft iſt / und uns wohl gar uͤbertrifft; oder liebet eine laſterhaffte / und die ihre Hochachtung nicht verdienet. Jſt ſie auch tugend hafft und wohl noch tugendhaffter / als wir / worumb ſolten wir unſern Freund oder Freundin haſſen / daß ſie das thue / worzu ſie die geſunde Vernunfft anreitzet / und was wir ſelbſten thun wuͤrden / ja was wir thun ſolten / wenn wir an ihrer Stelle waͤren. Jſt ſie laſterhafft / ſo haben wir nicht Urſache weder den laſterhafften noch unſern Freund oder Freundin zu haſſen / (weil wir / als im vorigen Capitel erwieſen iſt / nie - mahlen einige Urſachen werden finden koͤnnen ei - nen einigen Menſchen zu haſſen.) Wir haben a - ber nicht Urſache ſie zu lieben / weil wir aus dieſer ihrer That erkennen / daß ſie nicht ſo tugendhafft ſey / als wir ſie uns eingebildet; und daß ſie noth - wendig an dieſen laſterhafften ihres gleichen ge -funden269[265]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.funden. Und deswegen ſind wir dieſen laſter - hafften Menſchen auff gewiſſe Maaſſe verpflich - tet / daß er Urſache geweſen / daß wir eines ſehr ſchaͤdlichen Jrrthums ſind entlediget werden.

23.

Ferner wenn ich in der Beſchreibung der abſonderlichen Liebe zweyer tugendliebenden Seelen erwehnet / ſo weiſet ſchon das vorher ge - hende Capitel / worum wir unter allen Particular - Gleichheiten die unter denen Menſchen anzutref - fen ſind / keine fuͤr geſchickter zur vernuͤnfftigen Lie - be gehalten als dieſe. Ja es weiſen auch unſere vorhergehende Lehren / daß weil wir keine andere Tugend als die Liebe erkennen / diejenigen Perſo - nen nur fuͤr tugendliebend zu achten ſeyn / die mit ihren Thun und Laſſen bezeugen / daß ſie die Liebe lieben / daß iſt / nach Anleitung / des vori - gen Capitels / die Leutſeligkeit / Wahrhafftigkeit / Beſcheidenheit / Vertraͤgligkeit und Gedult. Das iſt es eben was wir im vorhergehenden Capitel ge - ſagt / daß die allgemeine Liebe die Richtſchnur der abſonderlichen ſey / daß iſt / daß diejenigen / die von obgeſagten fuͤnff Tugenden oder auch nur von einer unter ihnen / gaͤntzlich entbloͤſet ſeyn / ſich zur abſonderlichen Liebe nicht ſchicken.

24.

Jch habe aber mit Willen tugendlieben - de und nicht tugendhaffte Seelen erfordert / um zu zeigen / daß die vernuͤnfftige Liebe nicht nur un - ter denen ſey / die die Gemuͤths-Ruhe allbereit in einem hohen Grad beſitzen / ſondern auch unter denen / die nach derſelben ernſtlich trachten / ob ſieR 5gleich270[266]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichengleich nur noch Anfaͤnger ſind und auff der Tu - gend-Bahn noch nicht eben allzuweit fortgewan - dert haben; Wiewohl jederman gar leichte ſie - het / daß auff dieſe Weiſe in der vernuͤnfftigen Liebe unterſchiedene Grad geben muͤſſe / und daß dieſe die allervortrefflichſte ſey / wenn zwey oder mehr Hertzen / die ſchon die Gemuͤths-Ruhe er - halten / haben / vereiniget ſind.

25.

Weil wir dannenhero ſo wohl diejenigen ſo auff der Tugend-Bahn zu wandeln anfangen / als die ſo allbereit zum zweck gelanget / fuͤr tu - gendliebend achten; gleichwohl aber zum oͤfftern als eine aus gemachte Sache erwehnet / daß die Liebe eine Gleichheit erfordere; als iſt noch ferner noͤthig zu wiſſen / daß dem unerachtet die vernuͤnfftige Liebe nicht nur unter denen ſeyn koͤn - ne / die auff dem Tugend-Wege / ſo zu ſagen / ne - ben einander gehen / ſie moͤgen nun darinnen weit avanciret ſeyn oder nicht / ſondern auch unter de - nen / da einer ſchon einen ziemlichen Vorſprung fuͤr dem andern hat. Woraus ferner zu ſchlieſ - ſen iſt / daß bey der Liebe nur eine Gleichheit der Beſchaffenheit und Inclinationen nicht aber eine Gleichheit der Grade erfordert werde.

26.

Denn die Gleichheit wird nur erfordert / wegen der Vereinigung. Leute die auff unter - ſchiedenen Wegen wandeln / koͤnnen ſich nicht ver - einigen; aber wenn einer auf einem Wege gleich den Vorſprung hat / kan die Vereinigung wohl geſchehen / wenn entweder dieſer auff den andernwartet /271[267]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.wartet / oder gar zuruͤcke gehet und ihm forthilfft; oder jener eylet / daß er dieſen einholet. Dieſe Anmerckung muͤſſen wir uns wohl imprimiren / weil wir daraus zu ſeiner Zeit die unterſchiedenen Arten der abſonderlichen vernuͤnfftigen Liebe wer - den machen muͤſſen.

27.

Jetzo wollen wir in der Beſchreibung der - ſelben fort fahren. Wir haben darinnen dreyer Tugenden erwehnet (1) der auffmerckſamen Gefaͤlligkeit oder Sorgfaͤltigkeit / durch wel - che dieſe Liebe auff beyden Theilen geſucht wer - de. (2) Der Gutthaͤtigkeit / durch welche man dieſelbe nach und nach / nach ihren unterſchie - denen Graden erhalte / und endlich (3) der Ge - meinmaͤchung alles Vermoͤgens und Thuns / als welche bezeiget / daß nunmehro die Vereini - gung voͤllig geſchehen / und die Liebe in hoͤchſten Grad erhalten ſey. Ehe wir aber dieſe drey Tugenden genauer beſchauen / muͤſſen wir von der Eſtim und Hochachtung / als welche bey ei - ner vernuͤnfftigen Liebe allezeit in dem Verſtande vorher gehen muß / etwas weniges erinnern.

28.

Alle Menſchen ſind nicht tugendhafft / und die Tugend iſt eine Sache / die zu ihrer Erkaͤnt - niß eine genaue Auffmerckung fordert. Nach was fuͤr Grund Regeln dieſelbe geſehehen muͤſſe / wollen wir ſchon zu ſeiner Zeit weiſen. Vor jetzo iſt es genung / daß wir uns leicht einbilden koͤnnen / daß gleich wie ſich gleich und gleich gerne geſellet; alſo auch ſelbiges ſich leichte ſuche und finde. Eintugend -272[268]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichentugendliebender Mann / ob er ſchon nicht die bey einem andern ſich beſindende Tugend alſo bald auff das deutlichſte erkennet / ſo muthmaſ - ſet er doch dieſelbe bald / wenn er nichts laſterhaf - tes an demſelben ſpuͤret / und dieſe Muthmaſſung iſt nichts andeꝛs als ein Eſtim odeꝛ Hochachtung Krafft welcher ein tugendlibender Menſch einen andern nach ſeinen aͤuſſerlichen Thun und Laſſen ſo lange fuͤr tugendliebend haͤlt / biß er das Gegentheil gewahr wird.

29.

Dieſer Eſtim und Hochachtung iſt ein hoͤchſt noͤthiger Grund aller irraiſonablen Liebe / indem es unmoͤglich ſeyn kan / daß die Be - gierde der Vereinigung vernuͤnfftig ſey / wenn nicht die Einbildung vorhergegangen / daß die ge - liebte Perſon der Tugend ergeben ſey.

30.

Es wird aber dieſe Einbildung eine Hoch - achtung genennet / in anſehen der laſterhaff - ten / nicht aber in Anſehen tugendliebender Per - ſonen von geringern Grad. Derowegen ſo achtet nicht alleine ein Anfaͤnger einen weiſen Mann hoch / ſondern es tragen auch in dieſer Be - deutung zwey Leute von gleichen Fortgang eine Hochachtung gegen einander / und ein wei - ſer Mann achtet einen Tugend-Schuͤler hoch / weil er die Beſchaffenheit / daß er ſich von andern abſondert / und ſich aus der Beſtialitaͤt heraus reiſ - ſen wil / bey ihm fuͤr was ungemeines halten muß.

31.

Aus dieſer Hochachtung flieffet die ge - faͤllige Sorgfaͤltigkeit / welches eine Tugendiſt /273[269]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.iſt / durch welche ein tugendlibendes Ge - muͤth auff des andern ſein geringſtes Thun und Laſſen achtung giebt / umb dadurch nicht ſo wohl das andere immer mehr und mehr kennen zu lernen / als demſelben hier - mit ſeine Hochachtung und den Unterſcheid / den es dadurch zwiſchen demſelbigen und an - dern Leuten mache zu erkennen zu geben; maſſen es denn auch eben deswegen dem an - dern alle ſein Verlangen gleichſam an den Augen anſiehet / und ohne deſſen Begehren ihme tauſent kleine Dienſte leiſtet / die zwar keine Muͤhe oder Unkoſten erfordern / aber doch ſo geringe ſind / daß ſie das andere je - nem nicht einmahl wuͤrde anmuthen duͤrf - fen / auch dieſelbigen mit einer ſchamhaffti - gen Sittſamkeit annimmt.

32.

Dieſe ſorgfaͤltige Gefaͤlligkeit iſt das erſte unfehlbahre und nothwendigſte Kenn-Zei - chen einer angehenden Liebe. Wo man die - ſelbige antrifft / darff man nur gewiß ſchlieſſen / daß man eine Perſon liebe / weil es unmoͤglich iſt / daß ein Menſch continuirlich auffmerckſam ſeyn kan / wenn es affectirt iſt / und nicht von Hertzen gehet / ſondern er muß nothwendig in die Nach - laͤßigkeit einmahl verfallen / und ſeine Schein-Lie - be verrathen. Alle Worte und Douceurs alle Oeilladen und freundliche Blicke koͤnnen triegen und triegen taͤglich / wenn ſie nicht mit dieſeꝛ Soꝛg - faͤltigkeit vergeſellſchafftet ſind. Wo aber dieſeanzu -274[270]Das 6. H. von der abſonderlichenanzutreffen iſt / wird ſie bey einen vernuͤnfftigen Menſchen ohne einiges Wort und andere anrei - tzende Kenn-Zeichen am allermeiſten ausrichten. Wer viel von ſeiner Liebe ſaget / iſt am wenigſten verliebet / und derjenige liebet am ſtaͤrckſten / der ſeine Liebe durch die ſtumme Sorgfalt in der That erweiſet. Ja dieſes iſt es eben / worauff Hicaton beym Seneca zielet / wenn er ſaget: Si vis amari, ama.

33.

Ja ſie iſt auch hoͤchſt nothwendig / ſo gar daß ohne dieſelbe auch die ſonſten nachdruͤck - lichſten und ungemeineſten Kenn-Zeichen / der Lie - be todt ſind. Wo unſer Schatz iſt / da muß auch unſer Hertz ſeyn / und wo unſer Hertz iſt / da muͤſ - ſen auch unſere Augen ſeyn. Wer liebet / der hat ein Verlangen durch die Vereinigung eines an - dern Hertzens ſeinen Mangel zu erſetzen. Wie kan man aber etwas verlangen / ohne an das ver - langte ſtets zu gedencken? Wie kan man aber daran gedencken / wenn man die Gedancken wo anders hat / und nicht auff das geringſte Thun und Laſſen der geliebten Perſon achtung giebt?

34.

Jndem ich von Augen rede / wil ich zwar die Augen des Leibes nicht gantz ausſchlieſſen; (maſſen nicht zu laͤugnen iſt / daß gleich wie dieſel - ben in der Erkaͤntniß der Wahrheit uns den groͤ - ſten Vortheil ſchaffen; alſo auch dieſelbigen bey gegenwaͤrtiger Tugend ſehr nothwendig ſeyn; und ein Blinder alſo eines groſſes Vortheils be - raubet iſt / bey andern Liebe zu ſuchen / und die ſei -nige275[271]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.nige ihnen rechtſchaffen zu erkennen zu geben;) al - leine ich ziele doch mehr auff die Augen des Her - tzens und die Gedancken. Wer rechtſehaffen liebet / der giebt auch auff die Perſon die er liebet achtung / wenn er die Augen an einen andern Ort kehret / nicht nur in denen Dingen die durch das Gehoͤr begriffen werden; ſondern auch in denen die ſonſt zum Geſichte gehoͤren / welches wohl laͤ - cherlich zu ſeyn ſcheinet / aber von einem jeden gar leichte begriffen wird / wer nur ein wenig darauff achtung geben wil / was man neben derjenigen Li - nie da unſere Augen gerade auffgerichtet ſeyn / ſe - hen koͤnne.

35.

Ja es muß zuweilen dieſe Sorgfaͤltigkeit auff dergleichen Art eingerichtet ſeyn / daß man dadurch in einer oͤffentlichen Geſellſchafft die Lie - be einer Perſon durch dieſelbige ſuche / und den - noch niemand als dieſe Perſon ſelbſt dieſelbi - ge gewahr werde / weil wir von Laſtern taͤglich umbgeben ſeynd / die die Tugend / und alſo auch die tugendliche Liebe neiden / ſie ſchmaͤhen / und ihr taufend Verhindrungen in den Weg zu ſtreuen ſuchen. Dieſe Fall-Stricke wuͤrden wir nicht entgehen koͤnnen / wenn wir ſtets eine Perſon / die wir hoch achteten / mit unverwandten Augen an - ſaͤhen / und einen Unterſcheid zwiſchen ihr und an - dern Prrſonen / den jederman merckte / macheten. Wer dieſe Sorgfaͤltigkeit beſitzt / wird tauſend Gelegenheit finden / indem er den aͤuſſerlichen Scheine nach die gantze Geſellſchafft gleich be -ſcheiden276[272]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenſcheiden tractiret / dem jenigen dem er ſeine Liebe und Hochachtung zeigen wil / dieſelbe mit Wor - ten und Thaten / die kein Menſch ſonſt in acht nimmt / zu erkennen zu geben.

36.

Jch ſpuͤre wohl dieſe Lehre koͤmmt dir wun - derlich vor / und du traͤgſt groſſes Verlangen / durch gewiſſe Regeln dieſe Kunſt zu faſſen. A - ber / mein Freund / haſt du ſchon vergeſſen / daß wir alsbald zum Anfang gedacht / ſie laſſe ſich durch keine Regeln lernen / wenn man nicht wahrhafftig liebe. Liebeſt du aber wahrhafftig / ſo braucheſt du keine Regeln / ſondern die Liebe wird ſchon ſelbſt dein beſter Lehrmeiſter ſeyn. Die taͤgliche Erfahrung bezeuget ſolches bey lieben / die nicht eben gar zu vernuͤnfftig ſind; wolteſt du demnach der vernuͤnfftigen Liebe / ja die die Ver - nunfft ſelbſten iſt / weniger Kraͤffte zutrauen?

37.

Jedoch erwege nur in etwas hierbey den Nutzen der allgemeinen Liebe / und abſonder - lich der Leutſeeligkeit / Wahrhafftigkeit / und Beſcheidenheit. Wer nicht jederman freund - lich und dienſtfertig zu tractiren gewohnet / und kein Sclave von ſeinen Worten iſt / der wird ſich auch zur ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit ſehr uͤbel ſchi - cken / und ſehr viel gelegenheiten fuͤrbey gehen laſſen / ſeinen Freund und geliebten eine Hoͤfflig - keit oder kleinen Dienſt zu erweiſen / oder ſein Wort punctuel zuhalten / indem / als ſolcher Sachen ungewohnet / meinen wird / daß ſolche ge - ringe Dinge wenig auff ſich haͤtten.

38. Und277[273]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

38.

Und geſetzt / daß ihn die Liebe gegen eine gewiſſe Perſon ſo zu ſagen gantz uͤmkehrte / und in einen Augenblick gegen dieſelbe hoͤchſt ſorgfaͤltig machte; ſo wird er doch zum theil nicht vermoͤ - gend ſeyn / das es / wie wir nur erwehnet / zu weilen noͤthig / ſeine Affection zubergen / ſondern ein jedwedeꝛ wiꝛd aus ſeineꝛ Conduite / als aus etwas ungewoͤhnlichen alsbald die wahre Urſache entdecken; Zum theil wird er auch dadurch we - nig bey einer tugendhafften Perſon ausrichten / weil dieſelbe ſeine Liebe unmoͤglich als tugend - hafft wird annehmen koͤnnen / ſo lange er nicht gegen jederman leutſelig / wahrhafftig / und beſcheiden ſich erweiſet / weil als offte gedacht worden / die allgemeine Liebe der Grund und Richt-Schnur der abſonderlichen iſt.

39.

Es beſtehet aber dieſe Gefaͤlligkeit in ge - ringen Dienſtleiſtungen und Bezeugungen / die geringe genennet worden / theils / weil ſie dem / der ſie leiſtet / wenige Muͤhe oder Unko - ſten verurſachen / z. e. etwas auffheben / oder hoh - len / einen Stuhl zu rechte ſetzen / etwas von ge - ringen Werth / das dem andern gefaͤllt / ihm zum Geſchencke anbiethen / einen freundlichen Blick geben / u. ſ. w. theils / weil der / der ſie erweiſet / ſich in den Augen des andern dadurch gleichſam ge - ringer macht / als wenn man ſich freywillig zu ſolchen kleinen Dingen anbietet / oder dieſelben unbegehret leiſtet / die ſonſten ordentlich von Die - nern pflegen verrichtet zu werden.

S40. Die278[274]Das 6. H. von der abſonderlichen

40.

Die von der letzten Claſſe ſind dannen - hero ſo beſchaffen / daß man von ihnen billig ſagen kan / nichtswuͤrdige Dinge ſeyen die koſtbar - ſten in der Liebe / oder man koͤnne die groͤſte Gluͤckſeligkeit und die koſtbarſte und theu - reſte Waare / nemlich die abſonderliche Liebe / um nichts erkauffen. Alle die kleinen Gefaͤl - ligkeiten / die man dem andern erweiſet / ſind nichts; Denn derjenige / der ſie leiſtet / wuͤrde ſehr ausgelachet werden / wenn er ſie dem andern als etwas nur von dem geringſten Werth anrechnen / oder nur als eine Wohlthat vorruͤcken wolte. A - ber in Gegentheil haͤlt ſie derjenige / dem ſie er - wieſen werden / deſto hoͤher / je vornehmer ſonſten die Perſon iſt / die ſie leiſtet / und je tieffer die Sub - miſſion iſt / die man dadurch bezeiget. Derowe - gen geſchiehet es auch / daß man zum oͤfftern durch eine eintzige ſolche Gefaͤlligkeit das Hertze eines Freundes oder Freundin auf einmahl uͤberkoͤm̃t.

41.

Solcher geſtalt aber iſt ſich deſto mehr zu verwundern / daß ſehr wenig Leute in der Welt ſeyn / die ſich dieſer Handelſchafft be - fleißigen / und das unſchaͤtzbare Kleinod wahrer Freundſchafft und Liebe ſo wohlfeilen Kauffs an ſich zu bringen wiſſen / welches theils daher ge - ſchiehet / daß ſie gegen alle Menſchen nachlaͤſ - ſig und nicht leutſelig noch beſcheiden ſeyn / oder weil ſie es ſich fuͤr eine Schande achten ſolche Dinge zu thun / die denen Dienern zukommen; da doch die guten Leute nicht verſtehen / daß des -halben279[275]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.halben dergleichen Dienſte nicht an und fuͤr ſich knechtiſch ſeyn / ſondern wenn ſie der andere uns anbefehlen / und uns nach Gelegenheit darzu zwingen kan.

42.

Dannenhero verbinden auch die Regeln der Liebe den / dem wir ſolche leiſten / daß er aus dergleichen Gefaͤlligkeiten keine Gerechtig - keit mache / ja dieſelbigen nicht einmahl ohne Bezeigung einer kleinen Verhinderung an - nehme / damit er auch ſeines Orts-bezeige / er be - trachte dieſelbigen nicht als knechtiſche ſondern als Liebes-Dienſte / die ihren Werth aus der bloſſen Freywilligkeit her haben.

43.

Und machen ſich ſolchergeſtalt der geſuch - ten Liebe diejenigen unwuͤrdig / die wenn man ih - nen einmahl in ſolchen Dingen gefaͤllig geweſen iſt / ſich nicht ſcheuen / ſie wieder von uns zu be - gehren / oder die dieſelbigen / ohne geringſte Weigerung geſchehen laſſen / oder nach dem ſolche geſchehen / kein Zeichen von ſich geben / daß ſie uns deswegen verpflichtet ſeyn / oder ſie mit gleicher Sorgfaͤltigkeit zu erwiedern trachten.

44.

Denn ob wir ſchon zuvor erwehnet / daß ſie der ſo ſie leiſtet / dem andern nicht anrechnen koͤnne / ſo kan er doch wohl ohne Verletzung der geſunden Vernunfft dieſelbige kuͤnfftig unter - wegeu laſſen / weil der andere durch dieſes ſein Verfahren ſattſam bezeuget / daß unſere Liebe ihm nicht angenehme ſey / und wir uns alſo ſehrS 2betro -280[276]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenbetrogen haben / wenn wir gemeinet / er waͤre ſo tugendliebend als wir.

45.

Und gewiß die Leute / die ſich gegen die ihnen geleiſteten kleinen Gefaͤlligkeiten ſo unbeſcheiden erweiſen / handeln noch irraiſonabler als die / die denen / derer Freundſchafft ſie ſuchen / dieſelbige nicht bezeigen. Dieſe ſcheuen ſich nichts umb das koſtbarſte zu hazardiren; aber jene wollen fuͤr das koſtbarſte ſo man ihnen anbietet nicht ein - mahl nichts zur Bezahlung geben. Denn was iſt doch die bloſſe Erkaͤntligkeit / die man von ihnen fordert / anders als nichts?

46.

Doch ſind diejenigen noch ungeſchickter zur Liebe / die dergleichen ſorgfaͤltige Gefaͤlligkei - ten entweder gantz und gar nicht annehmen wollen / oder dieſelbigen alſofort erwiedern. Jene achten uns gleichſam entweder zur abſon - derlichen Liebe untuͤchtig / oder geben zu verſtehen / ihre Liebe ſey viel zu koſtbar / als daß wir ſie mit ſolchen Dingen ſolten erhandeln koͤnnen. Dieſe thun faſt ein gleiches / auſſer daß jene unſer nichts nicht annehmen wollen / dieſe aber ſuchen unſer nichts mit einem gleichen nichts zu bezahlen / das aber noch unzehlich mahl geringer iſt / als das nichts der Erkaͤntligkeit. Und gewiß man kan ei - nem liebreichen Gemuͤthe keine groͤſſere Be - ſchimpffung anthun / als wenn man ſeine Sorgfaͤltigkeit gar nicht annehmen wil / und wird er einen ſolchen Menſchen mehr unwuͤrdig ſeiner Liebe erkennen als wenn er ſein groͤſter Feindwaͤre;281[277]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.waͤre; Denn ein Feind haͤlt uns doch noch fuͤr ſeines gleichen / weil er ſich uͤber uns erzuͤrnet. Aber ein Menſch der unſere Liebe verſchmaͤhet / ſetzet uns gleichſam dadurch aus der Menſchheit heraus / in dem alle Menſchen faͤhig ſind von al - len Menſchen geliebet zu werden; Ja er beſchuldi - get uns gleichſam dadurch der groͤbſten Laſter / weil kein Menſch der abſonderlichen Freundſchaft unwuͤrdig iſt / als der nicht Tugendhafft iſt.

47.

So ſchaͤtzbar aber und ſo noͤthig die ſorg - faͤltige Gefaͤlligkeit bey der Liebe iſt / ſo wenig iſt ſie die fuͤrtrefflichſte Tugend der Liebe. Sie jaget der Liebe nur nach / und erklaͤret auf unſerer Seite / daß wir zur Liebe bereit ſeyn / wenn wir die andere Perſon dergeſtalt beſchaffen befinden / daß ſie un - ſere Liebe annehmen wolle. Sie iſt eine ehrliche Kundſchaffterin / den andern zu erforſchen / ob er unſerer Liebe wuͤrdig ſey. Die Bezeugun - gen derſelben ſind viel zu geringe / als daß man ſie fuͤr Wirckung der rechten Liebe und Freundſchafft ausgeben koͤnne. Dannenhero muß ſie weichen / ſo bald die rechte Liebe angehet / das iſt / ſo bald wir der Gegen-Liebe des andern oder ſeiner Tugend anfangen verſichert zu wer - den / und andern vortrefflichern Tugenden Platz geben.

48.

Laßt uns aber dieſe Betrachtung ſo klar und deutlich ſie auch iſt / nicht ſo obenhin beruͤhren / ſondern etliche Anmerckungen daraus herleiten / die nothwendig mit derſelben verknuͤpfft ſeyn muͤſ -S 3ſen /282[278]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenſen / ob gleich ins gemein darwider pfleget ange - ſtoſſen zu werden. Erſtlich / daß ſo lange als zwey Perſonen einander noch dieſe ſorgfaͤlti - ge Gefaͤlligkeit erweiſen man ſich nicht allei - ne bereden koͤnne / daß eines des andern Ge - wogenheit annoch ſuche / und noch keine ge - wiſſe Verſicherung davon habe / und daß die Perſon / die uns annoch mit dieſer ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit begegnet / entweder uns zu hinterge - hen ſuche / wenn ſie uns ihrer Liebe zu verſichern trachtet / oder aber ein Mißtrauen in unſere Liebe ſetze.

49.

Zum andern / daß wann zwey Perſonen / die bißero einander dergleichen Gefaͤtligkeit er - wieſen / ſolche einander nicht mehr bezeigen / und doch einander nicht feindſelig oder kalt - ſinnig tractiren / wir ſolches nicht fuͤr ein Zeichẽ auffnehmen / als wenn ihre Liebe und Eſtim ver - mindert worden; ſondern daß wir vielmehr dar - aus ſchlieſſen / daß ſie in ihrer Freundſchafft und Liebe genugſame Gegen-Verſicherung erhalten / und zimlich vertraulich worden.

50.

Drittens / daß diejenigen Perſonen / die uns allbereit ihrer Gegen-Liebe verſichert / entweder uns nicht wahrhafftig lieben / oder das Weſen der Liebe nicht verſtehen muͤſ - ſen / wenn ſie noch ſtetswehrend von uns die Continuirung dergleichen Sorgfaͤltigkeit er - fordern / und wenn wir ſolches nicht thun / uns ei - ner Kaltſinnigkeit beſchuldigen / da wir doch anſtatt283[279]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.ſtatt dieſer ſchlechten Proben / taͤglich unſere Liebe durch Erweiſung vortrefflicher Dienſte bezei - gen.

51.

Es ſind aber dieſer vortrefflicherern Tu - genden / die in der Liebe auff die ſorgfaͤltige Gefaͤl - ligkeit folgen / zwey. Die eine iſt die vertrauli - che Gutthaͤtigkeit / durch die man einander Wechſels-Weiſe die Liebe / die ſich bißhero nur noch gleichſam als eine Hochachtnng hatte blicken laſſen / viel naͤher erkennen zu geben / und die Her - tzen immer mehr und mehr zu verbinden bemuͤhet iſt. Das andere iſt die liebreiche Gemein - ſchafft alles deſſen / was zuvor unſer eigen gewe - ſen / welche das Kenn-Zeichen iſt / das dieſe Verbin - dung nunmehro den hoͤchſten Grad erhalten / und zu einer wahren Vereinigung worden. Wir wollen von jeder etwas ausfuͤhrlicher handeln.

52.

Zwar was die Gutthaͤtigkeit anbelan - get / ſo hat man von dieſer Edelſten ſo viel uns wiſſend iſt / auſſer dem Seneca niemand ausfuͤhr - lich geſchrieben; dieſer aber hat in denen ſieben Buͤchern / ſo er davon verfertiget / viele ſchwehre und verwirrte Fragen zwar ſehr ſchoͤne / aber doch nicht ordentlich und deutlich eroͤrtert / daß wir alſo ein weitlaͤufftiges Feld fuͤr uns ſehen / wenn wir dieſe Materie nach wuͤrde abhandeln wollen. Und zwar ſo ſcheinet dieſe Abhandlung deſto noͤthiger zur Sitten-Lehre zu ſeyn / ie naͤher dieſe Tugend zur Liebe gehoͤret / und je weniger man davon in denen gemeinen Sitten-Lehren handelt; Ja jeS 4mehr284[280]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenmehr im gemeinen Leben wieder die Grund-Re - geln dieſer Tugend pfleget angeſtoſſen zu werden. Jedennoch aber werden wir einen groſſen Vor - theil fuͤr dem Seneca habẽ / und allzugroßer Weit - laͤufftigkeit nicht beduͤrffen / wenn wir die Sache fein ordentlich tractiren / und zufoͤrderſt umb ei - ne rechte Beſchreibung der Gutthaͤtigkeit be - kuͤmmert ſind; Zumahlen da ein jedweder leichte ſiehet / daß die Beſchreibung des Seneca allzujuſt nicht iſt / und daß er zwar den Unterſcheid unter denen Gutthaten und denen allgemeinen Dien - ſten der Leutſeligkeit gewuſt / aber dieſelbige nicht allemahl accurat beobachtet / niemahlen aber dieſe Gutthaͤtigkeit von der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit unterſchieden.

53.

ſo iſt demnach die vertrauliche Gutthaͤ - tigkeit eine Tugend / die den Menſchen antrei - bet / derjenigen Perſon / die er durch die ſorg - faͤltige Gefaͤlligkeit genugſam hat kennen ler - nen und den Anfang von deren Gegen Liebe erhalten / zu haben verſichert iſt / ſeine Liebe und Vertrauen das er in ſie ſetzet / zu bezeu - gen bey allen ſich eꝛeignenden Gelegenheitẽ / auch mit Verluſt ſeines Vermoͤgens und mit ſaurer Muͤhe und Arbeit / ohne Begehrung einiges Endtgelds in ihrer Beduͤrffniß bey - zuſpringen / und ihr ein wahres Vergnuͤgen zu geben.

54.

Wir haben dieſe Tugend eine vertrauli - che Gutthaͤtigkeit geheiſſen / auch geſagt / daßman285[281]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.man ſein Vertrauen einander zu bezeigen gutthaͤ - tig ſeyn muͤſſe. Denn es iſt ja ſo natuͤrlich / daß das Vertrauen oder die Vertraulichkeit vor der Gutthaͤtigkeit vorgehe / als die Hochach - tung vor der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit. So lan - ge als man ſich noch der Gefaͤlligkeit bedienet / iſt man zwiſchen Furcht und Hoffnung / und folglich kan man ſich noch keines Vertrauens ruͤhmen; Wo man die Liebe noch ſuchet / da zweiffelt man; und wo man zweiffelt / iſt man noch ein wenig miß - trauiſch. Wo man aber dieſelbe anfaͤnget zu finden / da muß das Suchen und Zweiffeln auff - hoͤren / und wo man einander durch die ſorgfaͤltige Gefaͤlligkeit gleichſam biß in das Jnnerſte des Hertzens ſiehet / da muß nothwendig ein Ver - trauen entſtehen / daß uns die geliebte Perſon nicht hintergehen koͤnne noch wolle. Ja da muß man nothwendig anfangen gegen einander ver - traulich zu werden / weil man Wechſels-Weiſe erkennet / daß man ſich ferner weder fuͤr einander verbergen koͤnne / noch ſolches zu thun Urſache habe.

55.

Ferner gleich wie ohne die vorhergehende Hochachtung keine Liebe oder Gefaͤlligkeit ver - nuͤnfftig iſt; alſo iſt auch keine Gutthaͤtigkeit vernuͤnfftig / wenn nicht dieſes Vertranen vorhergehet / und alſo iſt in Anſehen deſſen ein mercklicher Unterſchied zwiſchen denen Dienſten der Gefaͤlligkeit und denen Gutthaten / weil das Vertrauen jener ihre Tochter / und dieſer ihre Mutter iſt.

S 556. Hier -286[282]Das 6. Hauptſt von der abſonderlichen

56.

Hieraus folget aber nothwendig / daß die - ſes nimmermehr fuͤr wahre Gutthaten zu halten ſeyn / wenn man alsbald beym Anfang der Liebe / und ehe man einer Gegen-Liebe ſich verſichern kan / einander Wechſels-Wei - ſe / oder auff einer Seite ſolche Dienſte erwei - ſet / die mit Verluſt unſers Vermoͤgens / o - der mit hazardirung unſerer Geſundheit und anderer Guͤter vergeſellſchafftet ſind. Die - ſes heiſt die Perlen fuͤr die Saͤue werffen / und die Guͤter die uns GOtt gegeben / an wahre Freunde und Liebens-wuͤrdige Perſonen zu wenden / un - nuͤtzlich und unverantwortlich verſchwenden.

57.

Ja man wird ſich nicht betriegen / wenn man von denen / die dergleichen koſtbare und ge - faͤhrliche Dienſt-Leiſtungen denen / ſo ſie noch nicht kennen / erzeigen / ein ſolches Urtheil faͤllet / daß ſie entweder verſchwenderiſch odet toll - kuͤhne ſeyn; oder wo man durch andere Zeichẽ be - findet / daß ſie mit dieſe Laſtern nicht behafftet ſind / darff man ſich nur gewiß verſichern / daß diejeni - gen / ſo uns dieſelbe leiſten / nicht unſer Ver - gnuͤgen dadurch / ſondern ihr eigenes Interes - ſe zu befordern ſuchen / und alſo auch aus dieſen Urſachen der geleiſtete Dieuſt unter die Schein - Gutthaten gerechnet werden muͤſſe.

58.

Jedoch muß man ſich nicht einbilden / daß die vor Leiſtung wahrer Gutthaten gehoͤrige Be - huttſamkeit ſich eben allemahl eine lange Zeit erſtrecken muͤſſe / und daß man obiges Urtheil vonallen287[283]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.allen denenjenigen faͤllen doͤrffte / die uns Guttha - ten erweiſen / wenn ſie noch nicht lange mit uns umbgegangen ſind. Die behutſame Gefaͤllig - keit ſol ſo lange tauren / biß man einander kennen lernet. Je groͤſſer nun die Gleichheit zweyer Gemuͤther iſt / je geſchwinder erkennet man ein - ander. Und je tugendhaffier man iſt / je eher kan man andere / die es nicht ſo in einem hohen Grad ſind / kennen lernen. Derowegen kan es nicht fehlen / es muͤſſen zwey Perſonen / die die Tugend in einem gleichen und hohen Grad beſitzen / in ei - ner eigenen Converſation, ja in einer ſehr kurtzen Zeit / einander kennen lernen / Wechſels-Weiſe lieben / und da es Gelegenheit giebet / Gutthaͤtig - keit gegen einander blicken laſſen / daß man dan - nenhero wegen Kuͤrtze der Zeit der Geſaͤlligkeit faſt unter ihnen nicht gewahr wird.

59.

Noch viel unvernuͤnfftiger aber iſt es diejenigen zu lieben / und ihnen Gutthaten zu erweiſen die uns haſſen / oder doch zum wenigſten zu verſtehen geben / daß ſie uns nicht wieder lieben koͤnnen. Wo man uns haſſet / da zeiget dieſer Haß nothwendig eine Ur - gleichheit der Gemuͤther an / und muͤſſen alſo ent - weder die Perſon die wir lieben / oder wir ſelbſt nothwendig laſterhafft ſeyn. Eben dieſes iſt auch davon zu ſagen / wenn man uns Gegen-Liebe verſagt / Denn man darff dieſes nicht etwan dieſer Urſache zuſchreiben / daß die Perſon ſo wir lieben / allzuweit in der Tugend zugenommen / undwir288[284]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenwir nur Anfaͤnger darinnen waͤren; oder daß in Gegentheil ſie in der Tugend noch nicht ſo weit gekommen waͤre als wir / und dahero die groͤſſe un - ſerer Tugend noch nicht vertragen koͤnte. Wir haben ſchon oben erwehnet / daß die unterſchiede - nen Grade tugendliebender Peꝛſonen ſie in gering - ſten nicht an der Tugend hindern / und daß die Gleichheit der Neigungen zu der Tugend allge - nung ſey / eine wahre zu erwecken.

60.

Derowegen iſt abermahls aus dieſer Ur - ſache abzuſehen / daß viel Scribenten ihren Con - cept von einer vernuͤnfftigen Liebe nicht wohl ein - gerichtet / wenn ſie in Vorſtellung derſelben ſolche Perſonen einfuͤhren / die fuͤr Liebe gegen ein Frauen-Volck / das ſie nicht wider lieben wil kranck werden / oder wohl gar ſterben. Zugeſchweigen / daß es der Vernunfft zu wieder iſt etwas zu lieben / daß wir nicht erhalten koͤnnen / weil die erſte Regel des menſchlichen Willens darinen beſtehet / daß wir nichts begehren ſollen / was uns unmoͤglich iſt.

61.

Wann denn nach der Behutſamen Gefaͤl - ligkeit das Vertrauen bey beyderſeits Perſonen entſtanden / und die Hertzen gegen einander bezei - get / daß ſie ſich auff beyden theilen zu der Verei - nigung neigen / gleichwohl aber dieſelbigen noch nicht wuͤrcklich vereiniget ſind / ſondern ein jedes noch ſeine eigenthuͤmliche Guͤter hat / und ſo zu ſagen noch heruͤber ſein Thun und laſſen iſt / ſo kan es nicht fehlen / ſie muͤſſen auff beyden Sei -ten289[285]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.ten anfangen von ihren Guͤtern und von ih - ren Thun und Laſſen einander gleichſam merckliche Stuͤcke mit zutheilen / und dadurch einander immer naͤher und naͤher zukommen. Denn wenn man gleich ſagen wolte / es koͤnte die - ſe. Vereinigung wohl geſchehen / wenn das eine Hertze dem andern alles gutes erwieſe / ſein Thun und Laſſen des andern Willen unterwuͤrffe / und nur auf ſeiner Seite dieſe Vereinigung vollbraͤch - te / ſo haben wir doch ſchon oben behauptet / daß die Vereinigung in der manſchlichen Liebe alſo be - ſchaffen ſeyn muͤſſe / daß keines uͤber daß andere ſich einer Bottmaͤßigkeit anmaſſe; ja wir haben nur jetzo auffgehoͤret zu ſagen / daß keine vernuͤnff - tige Liebe ohne Gegen-Liebe ſeyn koͤnne. Und derowegen iſt die Wechſelsweiſe Gutthaͤtig - keit ein nothwendiges Stuͤck der Liebe.

62.

Ja ſie iſt auch ein unfehlbahres Kenn - Zeichen derſelben. Wahre Gutthaten koͤn - nen aus nichts anders als aus einer vernuͤnfftigen Liebe herruͤhren. Die unvernuͤnfftige Liebe wohlluͤſtiger und ehrgeitziger Leute / gleichwie ſie nur eine Schein-Liebe iſt / in der man ſucht das andere Hertze ſich unterwuͤrffig zu machen / alſo ſind auch die darinnen vorkommenden Gutthaten nur Schein-Gutthaten / weil ſie allenthalben nach eigenen Intereſſe ſchmecken.

63.

Man kan dannenhero die wahre Liebe von der falſchen in keinem Stuͤcke beſſer als hie - rinnen unterſcheiden. Die Dienſte der allge -meinen290[286]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenmeinen Leutſeligkeit / gleichwie ſie gar keine abſonderliche Liebe anzeigen / ſondern allen Men - ſchen erwieſen werden ſollen / auch in ſo geringen Dingen beſtehen / daß man dieſelben fuͤr keine Liebes-Dienſte ausgeben kan; alſo koͤnnen ſie auch ſo wohl bey der Schein-als warhafftigen Liebe vorgehen.

64.

Faſt gleiche Bewandniß hat es mit de - nen Dienſten / der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit / weil ſie eben ſo geringe ſind als die Dienſtleiſtun - gen der Leutſeeligkeit / und nur darinnen von de - nenſelben unterſchieden ſind / daß wir bey der Leutſeeligkeit alle Menſchen gleich tractiren / und durch dieſelbe auch uns andern Menſchen gleich halten / bey der Gefaͤlligkeit aber / wie erwehnet / andern durch gewiſſe Merckmahle den Unter - ſcheid / den wir zwiſchen ihnen und andern machen zu verſtehen geben / auch zum oͤfftern bey denen - ſelben uns ihnen ſehr ſubmittiren. Solcherge - ſtalt aber kan ſo wohl die vernuͤnfftige als un - vernuͤnfftige Liebe ſich dergleichen Gefaͤlligkeit bedienen / nur daß dieſelbe bey der falſchen Liebe durch ihre nothwendige Affectation ſehr kaͤntlich wird.

65.

Ob aber wohl die Gutthaͤtigkeit da - durch ſo wohl von der Leutſeeligkeit als Gefaͤllig - keit unterſchieden wird / daß die Gutthaten koſt - bar und muͤhſam ſeyn muͤſſen. So iſt doch dieſer Unterſcheid noch lange nicht genug die ver - nuͤnfftige und unvernuͤnfftige Liebe von ein -ander291[287]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.ander zu entſcheiden / weil in dieſer es allenthalben an Koſtbarkeit und Muͤhe ſo gar nicht mangelt / daß man vielmehr mehr Muͤhe und Unkoſten hier anzuwenden pfleget / als in der vernuͤnfftigen Liebe / weil die unvernuͤnfftige Liebe hitziger iſt als die vernuͤnfftige / eben deshalben weil ſie unver - nuͤnfftig iſt.

66.

Ja man waget das Leben ſelbſt / ſo wohl in der unvernuͤnfftigen Liebe als in der vernuͤnffti - gen / weil man eine augenblickliche Wolluſt / o - der eine eitele Ehre ja ſo hoch achtet / als ein tu - gendhaffter die wahre Gemuͤths-Ruhe.

67.

Derowegen ſo bleibet dieſes der eintzige Unterſcheid zwiſchen dem wahrhafftigen und Schein-Gutthhaten / daß man in dieſen ſein eigen Vergnuͤgen ſucht / in jenen aber man der geliebten Perſon ein wahres Vergnuͤgen zu geben bemuͤhet iſt. Und dieſes iſt auch der fuͤr - nehmſte Unterſcheid zwiſchen der vernuͤnfftigen und unvernuͤnfftigen Liebe.

68.

Wer vernuͤnfftig liebet / und nur in ge - ringſten gewahr wird / daß die geliebte Perſon ſei - ner Huͤlffe und ſeines Vermoͤgens vonnoͤthen habe / der laͤſt ſich nicht lange umb ſeinen Bey - ſtand bitten / ſondern er bietet ſeine Gutthaten dem geliebten freywillig / ohne Verzug und eyfrig an / er bittet ihn daß er ſie annehmen wolle / und man kan nicht ſagen / ob derjenige / ſo die Wohl - that ewpfaͤhet mehr Vergnuͤgen uͤber die Treue ſeines Freundes empfinde / als der / der ſie giebet /ſich292[288]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenſich freuet / daß er der geliebten Peſon einen Ge - fallen erwieſen. Und weil er dieſes Vergnuͤgen hoͤher achtet / als alles auff der Welt / ſo achtet er auch alle ſeine Muͤhe und alle ſein Vermoͤgen fuͤr nichts daſſelbe zu erkauffen. Ja weil er in der geliebten Perſon mehr als in ſich ſelbſt lebet / ſo waget er auch ſein Leben willig und gerne / wenn er nur eine wahrſcheinliche auch geringe Hoffnung hat / dadurch das Leben ſeines Freun - des zu erretten. Ja er wagete tauſend Leben fuͤr ſeinen Freund / wenn er ſolches haͤtte: Siehet er aber daß ſolches allerdings zu retten unmoͤglich ſey / ſo erhaͤlt er ſein Leben / und ſtellet ſich uͤber den Tod ſeines Freundes nicht ungeberdig / weil er ihm dadurch nichts helffen kan / ſondern viel - mehr dadurch ſeine Huͤlffe andern / die ſeiner Lie - be benoͤthiget ſind / entziehen wuͤrde.

69.

Dieweil auch die wahren Gutthaten auf desjenigen / ſo ſie erlanget / ſein Vergnuͤgen zie - len / ſo iſt die vernuͤnfftige Liebe beſorget / hierbey ſolche Dinge zu erkieſen / die dem geliebten gefal - len / nicht ſolche / an welche ſie fuͤr andeꝛn eine Be - luſtigung zu finden pfleget. Sie dringet dem geliebten die Gutthaten nicht wieder Willen auff / wenn er deren nicht benoͤthiget iſt / ja ſie iſt vergnuͤgter / wenn der Geliebte in einen ſolchen Zuſtande lebet / daß er ihres Beyſtandes nicht von noͤthen hat / als ihn nur einen Augenblick in ei - nem verdrießlichen Zuſtande zu ſehen / daß er nach ihrer Huͤlffe verlangen tragen muß.

70. Je -293[289]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

70.

Jedoch weil die vernuͤnfftige Liebe allezeit auf ein wahres Vergnuͤgen zielet / dieſes aber auſſer der Tugend und der darauf folgenden Ge - muͤths-Ruhe nicht zu finden iſt; ſo erweiſet auch die vertrauliche Gutthaͤtigkeit nur ſolcher Liebes - Dienſte / die der Vernunfft und Gemuͤths - Ruhe nicht ſchaͤdlich ſind. Denn wenn die geliebte perſon mit Vorſatz andere verlangen ſolte / wuͤrde ſie zu verſtehen geben / daß ſie nicht Tugendliebend waͤre / und folglich wuͤrde ſie ſich der Liebe und Gutthaͤtigkeit unwuͤrdig machen. Geſchaͤhe aber dieſes Begehren von der gelieb - ten Perſon mehr aus Unverſtand als Boßheit / oder aus Schwachheit / wird zwar ein Weiſer deswegen ſeinen Freunde oder Freundin nicht ſeine Liebe entziehen / gleichwohl aber auch nicht ſein Begehren / ſondern vielmehr das Gegentheil erfuͤllen. Und kan man in dieſem Fall ſagen / daß die Gutthat darinnen beſtehe / wenn man das nicht thut / was der Freund verlanget / weil man gewiß verſichert lebet / daß dieſe Verſagung des begehrten Schein-Guten / dem Freunde ein wah - res Vergnuͤgen erwecken / und er es uns dermahl - eins dancken werde / daß wir ihm ſein Begehren verſaget.

71.

Mit denen Schein-Gutthaten iſt es gantz umbgekehret; Man laͤſt den / der unſerer Huͤlffe vonnoͤthen hat lange verzappeln / und bitten / umb dadurch die begehrte Gutthat deſto hoͤher auszubringen. Man bittet ihn nicht langeTdrumb294[290]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichendrumb ſie anzunehmen / ſondern wenn er nur das Geringſte verſiehet / entziehet man ihm dieſelbi - ge wieder / ehe er ihrer noch voͤllig genoſſen. Sol - chergeſtalt aber machet man / daß deſſen Freude / der ſie genieſſet / ſehr geringe iſt; Ja man freuet ſich hierbey nicht ſo wohl druͤber / daß die geleiſte - te Gutthat den andern vergnuͤget / als daß man dadurch Gelegenheit bekommen / von ihme ein gleiches oder mehrers zu fordern. Man rechnet ihm die aufgewendete Muͤhe und Unkoſten theuer genug an / und achtet des andern Freundſchafft und Liebe fuͤr nichts / wenn er uns unſere Dienſte nicht wiederumb uͤberfluͤßig vergelten kan. Man waget wohl in der unvernuͤnfftigen Liebe ſein Le - ben / aber nur fuͤr die Erlangung der Wolluſt und anderer dergleichen Begierden / nicht aber fuͤr die Perſon / gegen die wir uns anſtellen / als ob wir ſie liebeten; Ja man gaͤbe tauſend Freunde hin / wenn man nur ſein eigen Leben damit retten koͤnte. Jedoch iſt es nichts ungewoͤhnliches / daß man ſich auch in unvernuͤnfftiger Liebe den Tod an - thut / wenn man ſich ſeine Wolluſt und andere Begierden zu erfuͤllen beraubet ſiehet.

72.

Und weil man ferner bey den Schein - Gutthaten auf ſein eigenes Intereſſe und Beluſti - gung zielet; als erweiſet man ſeinem Freunde ſolche Dinge / die uns vergnuͤgen / und bekuͤm - mert ſich nicht / ob er einen Gefallen daran habe oder nicht. Man dringet ſie andern auff / wenn ſie gleich dieſelben nicht verlangen / noch de -ren295[291]vernuͤufftigen Liebe uͤberhaupt.ren benoͤthiget ſind. Man wuͤnſchet denen an - dern ein groſſes Ungluͤck oder Verdruß an Halß / daß man ſeine milde und Gutthaͤtigkeit an ihm bezeigen / und ſie dadurch uns verpflichten moͤge.

73.

Letzlich weil die unvernuͤnfftige Liebe alle - zeit auff ein unruhiges Vergnuͤgen gegruͤndet iſt / ſo erweiſet man auch dem andern ſolche Liebes - Dienſte am liebſten / die der Tugend zuwider ſeyn / und die Gemuͤths-Ruhe ſtoͤhren / theils da - mit wir den Freund zu gleichmaͤßigen unruhigen Dienſten wiederbrauchen koͤnnen; theils weil wir aus deren Begehren ſpuͤhren / daß er uns gleich ſeyn muͤſſe. Ja wenn man ſiehet / daß der - ſelbe / weil er nicht ſo unvernuͤnfftig iſt als wir / ſich ſchaͤmet / dieſelben von uns zu begehren / ſo friſchet man ihn deſto mehr darzu an / und wenn er hinge - gentheil was loͤbliches von uns verlanget / lachet man ihn aus als einen unverſtaͤndigen Menſchen / oder hintergehet ihn ſonſten / in dem man aller - hand Erfindungen hervor ſucht / ihm ſein Begeh - ren unter einem Schein abzuſchlagen.

74.

Und alſo verſteheſtu nunmehro / worumb wir oben in Beſchreibung der Gutthaͤtigkeit ge - dacht / daß man dieſelbe ohne Begehꝛung eini - ges Entgeldts verrichten muͤſſe / weil wir nem - lich in derſelben nicht unſer Intereſſe, ſondern das Vergnuͤgen der geliebten Perſon ſuchen. Wir ſuchen ja dadurch das allbereit gewonnene Hertze unſers Freundes immer naͤher und naͤher mit unsT 2zu296[292]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenzu verbinden / und dieſes uͤbertrifft alles andere Intereſſe, aber wir ſuchen doch hiermit nicht un - ſern privat Nutzen / ja wir wollen auch das Heꝛtze unſers Freundes nicht durch die Gutthaten / ſon - dern mit unſern Hertzen / davon die Gutthaten nur ein Zeugniß ſeyn / erkauffen.

75.

Jedoch iſt die Gutthaͤtigkeit niemahlen ohne Hoffnung eines Vergeldts / weil man ge - wiß verſichert iſt / daß die Liebe unſeres Freundes ihm antreiben werde / danckbar gegen uns zu ſeyn. Denn die Danckbarkeit iſt eine Tugend / die der Gutthaͤtigkeit auff dem Fuſſe folget. Sie iſt nichts anders als ein Trieb / die empfangenen wahren Gutthaten nicht alleine alſobald mit Bezeigung / daß ſie uns angenehm ſeyn anzunehmen / ſondern auch eyffrig ſich zu be - muͤhen / entweder dieſelbe durch andere zu erwiedern / oder doch zum wenigſten / da es in unſern Vermoͤgen nicht iſt / oder da ſich ſonſt keine Gelegenheit darzu ereignet / durch Worte und Wercke zu bezeigen / daß wir ſolches zu thun groſſes Verlangen tragen.

76.

Die Danckbarkeit hat dieſes mit der Gutthaͤtigkeit gemein / daß auſſer der wahren Liebe auch keine warhaffeige Danckbarkeit ſtatt hat; Wo man mir nur Schein-Guttha - ten erwieſen / nach Art und Weiſe / wie wir ſolches kurtz zuvor beſchrieben haben / da bin ich nicht un - danckbar / wenn ich dieſelben nicht zu vergelten trachte / zumahl wenn man uns dieſelben widerWillen297[293]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.Willen auffgedrungen. Ja wenn ich ſie gleich vergelte / ſo iſt es doch keine Danckbarkeit / ſondern eine Bezahlung deſſen / was mir der andere nicht als eine Gutthat erwieſen / ſondern gleichſam nur als baares Geld geliehen / und ich auch nicht an - ders angenommen / oder annehmen ſollen.

77.

Ferner gleichwie man von der Gutthaͤ - tigkeit nicht leichte urtheilen kan / ob dieſelbe recht oder unrecht ſey / wenn man nicht die wahre Liebe in ſeinem Hertzen empfunden / und die falſche Schein-Liebe erkennen lernen; Alſo kan man auch nicht leichte urtheilen ob der an - dere danckbar oder undanckbar ſey / wenn man nicht ſelbſten den jetztbeſagten Grund warhaffti - ger Danckbarkeit wohl verſtehet. Bey dieſer Bewandniß aber iſt nicht zu bewundern / woher es doch komme / daß da die wenigſten Menſchen denen andern wahre Gutthaten bezeigen / doch jederman ſeine Gutthaͤtigkeit ruͤhmet / und den andern einer Undanckbarkeit beſchuldi - get / der ſich aber kein Menſch ſchuldig er - kennen wil. Denn wir leben zu einer ſolchen Zeit / da die Tugend den Nahmen der Laſter uͤberkommen / die Laſter aber mit denen Titeln der Tugend einher prangen / und da die allermei - ſten Menſchen von der vernuͤnfftigen Liebe / und denen dahin gehoͤrigen Tugenden / wie der Blin - de von den Farben urtheilen.

78.

Endlich gleich wie die Liebe keinen Zwang leidet / und was gezwungen iſt / fuͤr keine GutthatT 3pasſi -298[294]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenpaſſiren kan; alſo kan man auch niemand zur Danckbarkeit zwingen / und der jenige bleibt doch undanckbar / den man gezwungen hat ſeinen Freunde wieder gutes zu thun.

79.

Wiederumb iſt darinnen zwiſchen der Gutthaͤtigkeit und Danckbarkeit ein groſſer Unterſcheid / daß niemand fuͤr gutthaͤtig gehal - ten werden kan / der ſeinem Freunde nicht in der That Gutthaten erweiſet / aber man kan wohl danckbar ſeyn / wenn man gleich dem an - dern nichts wieder zu gute thut / wenn es uns an Gelegenheit und Vermoͤgen mangelt ſolches zu thun / und wir unſere Begierde ihm wieder zu dienen nur rechtſchaffen ausdruͤcken.

80.

Du muſt aber nicht weiter gehen / und aus dem was wir geſagt haben / folgern / daß noch die - ſer Unterſcheid zwiſchen dieſen beyden Tugenden ſey / daß auff dieſe Weiſe niemand unvermoͤ - gend ſey / danckbar zu ſeyn / aber daß es ihrer vielen fehlen koͤnne guttaͤhtig zu ſeyn / wenn ſie wegen Armuth hierzu unvermoͤgend ſind. Und daß dannenhero Arme ſich nicht ſchicketen an - dere zu lieben / oder doch die Gutthaͤtigkeit nicht eben ſo ein noͤthiges Stuͤcke der tu - gendlichen Liebe ſeyn muͤſſe. Denn es folget dieſes aus unſerer Lehre gantz nicht. Es kan ja wohl einem Menſchen an Gelegenheit mangeln / einem andern wuͤrcklich gutes zu thun / als wie es ihm an Gelegenheit mangelt / dem andern wuͤrck - liche Danckbarkett zu erweiſen. Es kan einerunver -299[295]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.unvermoͤgend ſeyn / die Gutthat / die der andere von dir begehret / ihm zu erweiſen / gleich wie er oͤffters unvermoͤgend iſt / ihm zur Danckbarkeit etwas gewiſſes zu leiſten. Aber das gehet nicht an / daß wir ſagen wolten ein einiger Menſche / ſon - derlich ein tugendhaffter Menſche ſey unvermoͤ - gend dem andern gutes zu thun. Die Guttha - ten beſtehen nicht allein in Mittheilung des Ver - moͤgens / ſondern in Anwendung alles menſch - lichen Thun und Laſſens zu des andern Nutzen. Hat nicht ein jeder ein Leben / das er fuͤr dem an - dern auffopffern kan? Und hat nicht ein Weiſer uͤber dis guten Nath den andern aus der Beſtiali - taͤt heraus zu reiſſen / und ſeinen Verſtand und Willen auszubeſſern? Dieſe Gutthaten ſind viel edler als die Darleyhung aller Schaͤtze.

81.

Siehe auff ſo leichten und doch deutlichen Gruͤnden beſtehet die Lehre von der Gutthaͤtigkeit und Danckbarkeit. Jn dieſes wenige concen - triret ſich alles das was Seneca ſo weitlaͤuff - tig und nicht allzuordentlich / auch zum oͤff - tern nach Art der Stoicker mehr problema - tiſch als klar und offenbahr handgreifflich in ſeinen Buͤchern von denen Gutthaten vor - getragen. So viel iſt an einer rechten Be - ſchreibung eines Dinges / und an guter Ordnung gelegen.

82.

Nun folget die unzertrennliche Ge - meinſchafft alles Vermoͤgens / ingleichen al - les vernuͤnfftigen Thun und Laſſens / als dieT 4voͤlli -300[296]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenvoͤllige Bezeugung / daß nunmehro die vernuͤnffti - ge Liebe ihre Vollkommenheit erlanget. Wenn man ſich mit der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit gleich - ſam in den aͤuſſerſten Vorgemach der vernuͤnffti - gen Liebe / darinnen jederman den Zugang hat / eine Zeitlang auffgehalten / und hernach vermit - telſt der Gutthaͤtigkeit in ihr anderes Zimmer / da ihrer wenige nur ihren Zutritt haben / eingegan - gen / gelanget man endlich in das allervertrauteſte Cabinet der Liebe / wenn man durch eine Gutthat und Vertraulichkeit nach der andern Wechſels - weiſe die Hertzen ſo feſte und unauffloͤßlich ver - knuͤfft hat / daß aus Zweyen ſo zu ſagen ein Hertz und eine Seele worden iſt. Und alſo muß dem - nach in dieſem Cabinet da die wahre Liebe ihren Thron hat / alles Eigenthum auffhoͤ - ren / und alles gemein ſeyn / weil ein jedwedes Eigenthum zum wenigſten zwey und zwar unterſchiedene und nicht allzueinige Perſo - nen nach ſeinen Weſen præſupponiret / auch aus dem Mangel der Liebe und der Uneinig - keit entſtanden iſt.

83.

Wir haben dieſes anderswo weitlaͤufftig ausgefuͤhret / da wir behauptet haben / daß von Anfang der Welt eine Gemeinſchafft der Guͤter geweſen ſey / und daß das Eigenthum al - leine deshalben entſtanden / weil das Band der Liebe unter denen Menſchen zerriſſen / und allein in dieſer Betrachtung beſagte Gemeinſchafft fuͤr den hierdurch allzuſehr verderbten Zuſtand derMen -301[297]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.Menſchen ſich nicht ſchicke. So weiſet es auch die Kirchen Hiſtorie / daß bey dem Anfang des Chriſtenthums / als die Chriſtliche Liebe annoch ihte gehoͤrige Bruͤnſtigkeit gehabt / auch alle Guͤ - ter unter denen erſten Chriſten gemein ge - weſen. Jedoch wollen wir dieſes Letzte allhier nicht als den ſtaͤrckſten Beweißthum anfuͤhren / theils weil die Chriſtliche Liebe viel edler iſt als die vernuͤnfftige liebe / von der wir alleine in dieſer Sitten-Lehre handeln / theils weil unterſchiedene Gelehrte der Meinung ſind / daß unter denen er - ſten Chriſten nicht eben alle Guͤter gemein gewe - ſen; Welchen Streit ausfuͤhrlich zu eroͤrtern / an - jetzo nicht unſers Vorhabens iſt.

84.

So wollen wir uns auch nicht des An - ſehens des Plato bedienen / welcher / wie bekant iſt / zu der Vollkommenheit des geweinen Weſens erfordert / daß alle Dinge in demſelben gemein ſeyn ſolten / ſo wohl weil dieſer etwas zu weit ge - het / und dieſe Gemeinſchafft auch auf die Ge - meinſchafft der Weiber erſtrecket / davon wir im letzten Hauptſtuͤck etwas vernehmen wollen / (wiewohl ein gelehrter Mann unſerer Zeit nicht ohne Wahrſcheinlichkeit den Plato disfalls ver - theidiget / oder vielmehr entſchuldiget) theils weil wir nicht gewohnet ſind zu Behauptung unſerer Lehren uns der Autoritaͤt einiges Menſchen zu be - dienen. Genug iſt es / daß wir dieſelbe allbereit aus dem Weſen der Liebe ſelbſt klar und deutlich hergeleitet haben.

T 585. Und302[298]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen

35.

Und iſt ſolchergeſtalt nichts mehr uͤbrig / als daß wir etliche wenige Einwuͤrffe die man aus denen Regeln der allgemeinen menſchlichen Ver - nunfft hierwieder anfuͤhren konte / abhelffen. Jns - gemein haͤlt man dafuͤr / daß die Gemeinſchafft aller Guͤter den Unterſcheid der Staͤnde in gemeinen Leben und der Buͤrgerlichen Ge - ſellſchafft gaͤntzlich auffheben / und durchge - hends einen ſchaͤndlichen Muͤßiggang / oder doch zum wenigſten dieſe Ungerechtigkeit einfuͤh - ren wuͤrde / daß die faulen Leute / die nicht arbeiten wollen / beſſer dran ſeyn wuͤrden als die Arbeitſa - men / in dem ſie der Frucht der andern ihrer Arbeit reichlich mit genieſſen / die Arbeitſamen aber von ihnen nicht das geringſte wiederumb zu genieſſen haben wuͤrden / wodurch denn eine groſſe Un - gleichheit unter denen Menſchen wuͤrde einge - fuͤhret / und alſo wider die Regeln der allgemeinen menſchlichen Liebe groͤblich angeſtoſſen werden.

86.

Nun laugnen wir zwar nicht / daß dieſer Einwurff im erſten Anblick von ziemlichen Nach - druck zu ſeyn ſcheine / und haben die meiſten unter denen Gelehrten bishero nichts gefunden / denſel - ben aus dem Wege zu raͤumen / ſondern ſich dieſen Einwurff verleiten laſſen / deswegen die Gemein - ſchafft der Guͤter hefftig anzufeinden / und das Ei - genthumb mehr als es verdienet / heraus zu ſtrei - chen. Aber worzu verleitet uns Menſchen doch nicht ein von andern langwierig eingefuͤhrter Wahn / den wir von den groͤſten Hauffen verthey -diget303[299]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.diget und behauptet ſehen. Es iſt wahr / die Ge - meinſchafft der Guͤter hebet einen von denen vornehmſten Unterſcheiden unter den Menſchen auff / von welchen ſehr viel andere Unterſcheide der Staͤnde in menſchlicher Geſellſchaft dependi - ren / nemlich den Unterſcheid / nach welchem et - liche arm / etliche reich ſind / und wuͤrde gewiß / wenn eine Eigenthum waͤre / niemand arm oder reich ſeyn / ſondern jedweder genug haben.

87.

Aber wolte GOtt / daß kein Menſch arm oder reich waͤre. Jener hat zuviel / und dieſer zu wenig. Beydes iſt boͤſe / und fuͤr einen Haupt-Mangel zu achten. Armuth und Reich - thum iſt ja beynah die Urſache aller unter den Menſchen entſtehenden Uneinigkeiten. Und wenn die Gemeinſchafft der Guͤter keinen Man - gel mehr einfuͤhret / als daß ein jedweder genung hat / ſo haſtu warhafftig nichts wider dieſelbige zu ſagen / weil derjenige allbereit das groͤſte Theil von der Gemuͤths-Ruhe hat / der ſich begnuͤgen laͤſt.

88.

Und obſchon von dem Unterſcheid der Reichen und Armen / oder von dem unter den Menſchen eingefuͤhrten Eigenthum ſehr viel an - dere Staͤnde dependiren / indem ein jedweder dadurch angetrieben wird / etwas in dem gemei - nen Weſen zu erſinnen / damit er Geld verdiene / ſo ſind es doch insgemein ſolche Staͤnde / dadurch die Thorheit und Eitelkeit der Menſchen im - mer mehr und mehr geſtaͤrcket wird / indemein304[300]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenein jedweder ſich bemuͤhet / durch ſeine Erfindun - gen / immer was neues auff die Bahn zu bringen / dadurch die auff eitele Curioſitaͤt zielende Ge - muͤther der Menſchen an ſich zu locken / oder ihnen dadurch Gelegenheit zu geben / ſich von andern Menſchen / als wenn ſie vortrefflicher waͤren / deſto mehr abzuſondern / oder unter dem Schein dem menſchlichen Geſchlecht zu nuͤtzen / demſelben viel - mehr auff tauſenderley Weiſe zu ſchaden. Wer wolte aber ſagen / daß dadurch dem gemeinen Weſen ein Abbruch geſchehe / wenn durch die Ge - meinſchafft aller Guͤter dieſe Staͤnde auffgehoben und geaͤndert wuͤrden / da ſie doch vielmehr das gemeine Weſen ſo ſehr hindern / daß / wie die taͤg - liche Erfahrung weiſet / die ſo vielfaͤltig wieder - holeten Policey-Ordnungen nicht vermoͤgend ſind / das durch dieſelben eingefuͤhrte Ubel aus - zu tilgen.

89.

Ja ſprichſt du / das gemeine Weſen wuͤrde durch die Gemeinſchafft der Guͤter ſelbſt auffgehoben werden / und wenn kein Eigenthum waͤre / wuͤrde kein Menſch unterthan ſeyn / ſon - dern ein jeder ſeine Freyheit haben wollen. Und ſolcher Geſtalt wuͤrde das Band der buͤrgerlichen Geſellſchafft gantz offenbahr getrennet werden / als welches ohne Obrigkeit und Unterthanen nicht werden kan.

90.

Aber wer ſiehet nicht / daß dieſer Einwurff der Vollkommenheit der Gemeinmachung aller Guͤter am wenigſten zu wieder ſey. Wir wollenjetzo305[301]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.jetzo hierzu eben nicht anfuͤhren / das alle Regi - mente und Obrigkeiten die Verderbniß der menſchlichen Natur und den Mangel vernuͤnffti - ger Liebe præſupponiren / uñ daß / wenn alle Men - ſchen nach den Trieb der guten Natur einander gebuͤhrend liebeten / es keines Zwangs / und folg - lich auch keiner Obrigkeit beduͤrffen wuͤrde. Son - dern wir wollen nur dieſes erinnern / daß das Ei - genthum der Guͤter und die buͤrgerliche Ge - ſellſchafft gantz nicht nothwendig mit einan - der verknuͤfft ſeyn / ſondern eines ohne das an - dere gar wohl ſeyn koͤnne. Denn die Einfuͤhrung des Eigenthums iſt Zweiffels ohne eher gewe - ſen als die buͤrgerliche Geſellſch afft / und wenn daſſelbige ja Urſache an einer allgemeinen menſch - lichen Geſellſch afft iſt / ſo iſt es gewiß die Geſell - ſchafft zwiſchen Herr und Knecht / welche nicht ſeyn wuͤrde / wenn alle Guͤter gemein waͤren.

91.

Die buͤrgerliche Geſellſchafft iſt zwar nach Vermehrung des menſchlichen Ge - ſchlechts und Einfuͤhrung des Eigenthums auch entſtanden / aber ſie kan deswegen wohl ohne daß die ſo in buͤrgerlicher Geſellſchafft mit einander leben / was eigenes haͤtten / beſtehen. Jhr Ur - ſprung ruͤhret von Furcht aͤußerlicher Gewalt her / und ob ſchon dieſe Gewalt guten theils auf die Guͤter anderer Menſchen ein Abſehen richtet / ſo folget doch deshalben nicht / daß dieſe Guͤter / die dem gantzen gemeinen Weſen eigenthuͤmlich zu - ſtaͤnden / nicht allen und jeden / die unter demſel -ben306[302]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenben begriffen ſind / gemein ſeyn koͤnten. Ja die aͤußerliche Gewalt zielet auch oͤffters mehr auf die Freyheit des menſchlichen Thun und Laſſens / des ſo wohl Armen als Reichen gemein iſt / daß den - noch in dieſem Abſehen das gemeine Weſen un - ter denen Menſchen / die an ſtatt vernuͤnfftiger Lie - be einander Haß erweiſen / ſeinen Nutzen haben / und vonnoͤthen ſeyn wuͤrde / wenn gleich kein Ei - genthum waͤre.

92.

Es iſt wohl andem / das Eigenthum hat ſich in alle Staͤnde des gemeinen Weſens derge - ſtalt eingeflochten / daß man im erſten Anblick nicht wohl begreiffen kan / was fuͤr eine Geſtalt daſſel - be immermehr haben koͤnte / wenn kein Eigenthum ſeyn ſolte. Aber es hat uns dieſen Scrupel zu benehmen allbereit ein ſcharffſinniger Kopff die Muͤhe erſparet / indem er unter dem Schein / als ob er ein neu entdecktes Volck / das er die Se - varambes nennet / nach ihrer Regiments-Art und Sitten Hiſtoriſcher weiſe beſchreiben wolte / die geſtalt einer Republique, darinnen alle Guͤter gemein waͤren / ſo artig und geſchickt beſchrieben / daß der geringſte Zweiffel der Moͤgligkeit nicht mehr zuruͤcke bleidet / wenn nur die Boßheit die Hertzen der Menſchen nicht ſo ſehr eingenommen haͤtte.

93.

Eben dieſer Autor hat uns zugleich vielen Nachdenckens uͤberhoben / wie der zuletzt oben gemachte Einwurff aus dem Wege zu raͤumen ſey / daß durch Einfuͤhrung der Gemeinſchafft allerGuͤ -307[303]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.Guͤter eine groſſe und ungerechte Ungleich - heit zwiſchen faulen und arbeitſamen Leu - ten zugleich eingefuͤhret werden muͤſſe / indem er gantz offenbahrlich gewieſen / wie gar leichte es anzuſtellen ſey / daß auch bey der Geweinſchafft der Guͤter das gantze Volck gleiche Arbeit und gleiche Ruhe oder Zeitvertreib habe / wenn nur der Muͤßigang als eines der ſchaͤndlichſten und ſchaͤdlichſten Laſter ſcharff geſtraffet werde.

94.

Jch wil davon nichts erwehnen / daß die Faulheit und der Muͤßiggang die groͤſſeſten Anzeigungen unvernuͤnfftiger Menſchen ſeyn / und daß das gemeine Weſen nicht wohl beſtellet ſeyn muͤſſe / wenn viel Faullentzer und Muͤßiggaͤn - ger darinnen ſeyn. Der Menſch iſt zur Arbeit geſchaffen. Die Arbeit erhaͤlt ſeine Geſundheit / verlaͤngert ſein Leben / ja ſie macht ihn nicht allein geſchickt / alle rechtſchaffene wahre Luſt zu ſchme - cken / und zu genieſſen / ſondern ſie giebt ihm auch das groͤſte Vergnuͤgen / indem ſie ihm die Zeit nie - mahlen lang werden laͤſt. Derowegen iſt es un - moͤglich / daß die Gemeinſchafft der Guͤter faule Leute machen koͤnne / weil ſie unter niemand als vernuͤnfftigen Perſonen ſtatt haben ſol.

95.

Aber ſprichſt du / wenn das Eigenthum aufgehoben iſt / ſo iſt alle Gutthaͤtigkeit auf - gehoben / weil ich die Gutthaͤtigkeit darinnen aus - uͤbe / wenn ich dem andern von meinen Guͤtern was anſehnliches mittheile / nicht aber wenn ich ihm die gemeinen Guͤter genieſſen laſſe. Jſt denndie308[304]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichendie Gutthaͤtigkeit auffgehoben / ſo wird gleich - ſam die Seele der Liebe erſtickt / und das Band zerriſſen / das zwey Hertzen / verbinden ſol. Und ſolchergeſtalt / ſieheſt du ja augenſcheinlich / daß die Gemeinſchafft der Guͤter der Gemuͤths - Ruhe mehr hindere als befoͤrdere.

96.

Dieſer Einwurff iſt noch viel leichter zu heben / als der erſte / weil ſeine Sophiſtereyen viel handgreifflicher ſeyn. Denn anfaͤnglich hebet die Gemeinſchafft aller Guͤter die Gut - thaͤtigkeit nicht gantz auf / weil / wie oben ge - dacht / auch der aͤrmſte Menſch durch ſein Thun und Laſſen ſeinem Freunde die groͤſten Dienſte erweiſen kan. Hernach ſo weiſet gegenwaͤrtiges Hauptſtuͤck / daß die Gutthaͤtigkeit zwar das Mit - tel ſey / den Menſchen aus dem Stande des Miß - trauens in die vertꝛauliche Liebe zu ſetzen; aber des - wegen iſt ſie nicht die Seele / ſondern nur das letz - te Vorgemach der Liebe / und waͤre ja augen - ſcheinlich beſſer / wenn die Menſchen in einem ſo gluͤcklichen Zuſtande lebeten / daß ſie nicht erſt durch dieſe Vorgemaͤcher in das Cabinet der Lie - be eingehen muͤſten. Ja ich frage dich endlich ſel - ber mein Freund / welche Gutthaͤtigkeit wuͤrdeſt du fuͤr groͤſſer achten / wenn dir dein Freund die Wahl gaͤbe / ob du lieber wolteſt / daß er dir von ſeinem Veꝛmoͤgen dann und wann etliche portio - nes ſchenckete / oder daß er dir daſſelbige auf ein - mahl mittheilete? Jch glaube ja wohl / daß ſich Leute von ſo verderbten Geſchmack finden ſolten /die309[305]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.die lieber jenes als dieſes wehlen wuͤrden / aber ſie wuͤrden gantz offenbahrlich hierdurch ihr un - vernuͤnfftiger Weiſe intereſſirtes Gemuͤthe zu er - kennen geben.

97.

So iſt es dann dein rechter Ernſt / faͤhreſt du endlich fort / daß man das Eigenthum auff - heben / und die Gemeinſchafft der Guͤter ein - fuͤhren ſolte / damit die Liebe deſto beſſer unter den Menſchen eingefuͤhret und ausgebreitet wer - de? Mein was iſt dieſes fuͤr eine gefaͤhrliche und haͤmiſche Frage? Du Heuchler denckſt du / daß du mich durch dieſe Frage fangen wolleſt? Wol - teſt du wohl einem Ziprianer rathen / er ſolle ſo lan - ge er das Zipperle hat / ſeine Kruͤcken weglegen / und in der Stube herum tantzen / deß er fein ge - ſund und ſtarck auff den Schenckeln wuͤrde? Des - halben iſt doch wohl gewiß / daß die Kruͤcken einen geſunden Menſchen nichts nuͤtze ſeyn. Das er - ſte Capitel hat allbereit erinnert / daß dasjenige was einem Menſchen / der im ordentlichen Zu - ſtande lebet / gut iſt / dem andern der Mangelhafft iſt boͤſe ſey. Pedanten und Heuchler fangen bey der Beſſerung des Menſchen von dem letzten zu erſt an / aber ein weiſer Mann ſu - chet den Grund des Ubels zuvorher auszu - rotten. Die Gemeinſchafft der Guͤter gebie - ret nothwendig tauſend Ungelegenheiten unter Leuten die keine Liebe haben. Bringe erſt die Liebe in die Leute / darnach wird es ſich mitUdem310[306]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichendem Eigenthum oder der Gemeinſchafft der Guͤter ſchon von ſich ſelbſt geben.

98.

Gleichwie nun die vollkommene Liebe alle Guͤter gemein machet / alſo entſtehet auch daraus eine Gemeinſchafft alles vernuͤnffti - gen Thun und Laſſens. Nemlich daß ſo dann ein Freund nicht mehr dem andern wie bey der Gutthaͤtigkeit / ihme durch ſein Thun und Laſ - ſen einen Gefallen zu erweiſen erſuchet / und gleichſam bittet / und hernach uͤber die erwieſene Gutthat ein ſonderliches Vergnuͤgen empfindet / das darinnen beſtehet / daß er durch dieſe geleiſte - te Gutthat ſeines Freundes immer mehr und mehr verſichert wird; ſondern daß er den an - dern mit der groͤſten Zuverſicht gleichſam anweiſet / wie und auff was Weiſe er wolle / daß ihm dieſer helffen / und ihme etwas zu - gefallen thun ſolle / auch hernach daruͤber kei - ne neue Freudens-Bewegung empfindet / ſon - dern weil er zuvorhero geſehen / daß das Weſen der Liebe ihm dieſe Freyheit gebe / und ſein Freund ſich des begehrten ohnmoͤglich weder entbrechen werde noch ſolle / in ſeiner vorigen Ruhe einmahl wie das andere bleibet.

99.

Jedoch iſt dieſes nur eine Gemeinſchafft / nicht aber eine Herrſchafft / weil der eine Freund gleicher maſſen von dem andern eben das gewaͤr - tig iſt / und demſelben eben dieſes geſtattet / weſſen er ſich gegen ihm bedienet. Und alſo ſieheſt du / daß zwar bey der Gutthaͤtigkeit nicht eben eineun -311[307]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.unruhige / aber doch auch nicht ſo eine ruhige Ge - muͤths-Bewegung ſey / als bey der Gemein - ſchafft / weil bey jener die Liebe noch in ihrem Wachsthumb / und alſo ihre Bewegung deſto empfindlicher iſt. Bey dieſer aber allbereit die hoͤchſte Vollkommenheit erhalten / und ſolcher ge - ſtalt weil ihre Bewegung nichts veraͤnderliches an ſich hat / dieſelbe auch faſt gar nicht empfunden wird.

100.

Aber du wirſt uns vielleicht hier vor - werffen / daß wir oben im erſten Capitel erweh - net / daß alle Bewegung entweder ſteigen oder fallen muͤſſe / und daß dannenhero die Liebe zweyer tugendhaffter Gemuͤther / wenn ſie ihre Vollkommenheit erlanget / gleichfalls wieder abnehmen muͤſſe. Naͤhme ſie aber ab / ſo waͤre entweder dieſe Liebe ein vergebenes Mittel zu der hoͤchſten Gluͤckſeeligkeit zu gelan - gen / oder aber es koͤnne die Gemuͤths-Ruhe die hoͤchſte Gluͤckſeeligkeit nicht ſeyn / weil ſie eine eitele Einbildung ſey / in dem alles / wie gedacht / entweder abnehmen oder zunehmen muͤſſe / und folglich nicht beſtaͤndig ruhen koͤnne.

101.

Wie wollen wir uns dieſen Einwurff von Halſe weltzen / nachdem derſelbe uns feſte zu halten ſcheinet / und von denen erſten Grund-Re - geln unſerer Lehre hergenommen iſt? Wir wol - len es kurtz machen. Es iſt wahr / was nicht wei - ter zunehmen kan / muß nothwendig abnehmen / und die Liebe zweyer vernuͤnfftiger Perſonen /U 2wenn312[308]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichenwenn ſie vollkommen worden / kan nicht weiter unter ihnen zunehmen / ſonſt waͤre ſie nicht voll - kommen. Aber ſie nimmet deswegen nicht ab / ſondern ſie breitet ſich weiter aus / und weil ſie unter dieſen beyden nicht mehr zunehmen kan / ſuchet ſie ihren Wachsthum darinnen / daß ſie mehr Hertzen an ſich zu ziehen / und ſich alſo im - mer weiter und weiter unter andern Menſchen auszubreiten bemuͤhet iſt. Das iſt es / was wir oben geſaget / daß die Gemuͤths-Ruhe allezeit trachte ſich mit andern Menſchen die nach der - ſelben ſtreben / zu vereinigen.

102.

Denn gleichwie der Haß zweyer Per - ſonen bald um ſich friſt / und noch mehrere in dem - ſelben verwickelt; Alſo iſt kein Zweiffel / daß das Exempel zweyer tugendliebender Gemuͤther / die einander vollkommen lieben / nicht auch gleich - falls von beyden Theilen noch mehrere derglei - chen Perſonen mit ihnen ſich zu vereinigen / an - locken ſolte. Aller Anfang iſt ſchwehr. Aber wo man nur einmahl ein Exempel einer guten Sa - che vor Augen ſiehet / bauet daſſelbe mehr / als hundert deutliche Lehr-Saͤtze. Bey dieſer Be - wandniß darffſt du dich nicht befahren / daß die Gemuͤths-Ruhe aus Mangel des Wachsthums werde von noͤthen haben / abzunehmen / weil ſie ſo lange wachſen kan / ſo lange das gantze menſchliche Geſchlecht nicht einig iſt / oder wenn es auch gleich einander gaͤntzllch liebte / ſo lange noch taͤglich durch Kinder zeugen daſſelbi -ge313[309]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.ge vermehret wird. Hoͤre vielmehr auff zu be - wundern / worum doch bißhero die vernuͤnfftige Liebe ſo ſchlecht ſich ausgebreitet; Wir haben kein Exempel der vernuͤnfftigen Liebe zwiſchen zweyen Perſonen / die zu der hohen Vollkommen - heit gelanget. Wie wolten wir denn hoffen / daß viel Hertzen auff dieſe Art mit einander vereini - get ſeyn koͤnten?

Das 7. Hauptſtuͤck. Gegeneinanderhaltung der unterſchiedenen Arten vernuͤnfftiger abſonderlichen Liebe.

Jnnhalt.

  • Connexion n. 1. Die vernuͤnfftige Liebe iſt entweder gleich oder ungleich. n. 2. Jene iſt entweder zweyer tugendvollkommener Leute oder zweyer Tugend - Schuͤler. Dieſe entweder hoͤherer oder niedriege - rer Perſonen. n. 3. Welche unter dieſen Arten die ſtaͤrckſte / angenehmſte und vortrefflichſte ſey. n. 4. Unterſcheid derer dreyer Tugenden des vorigen Ca - pitels in Betrachtung dieſer unterſchiedener Arten. n. 5. Bey der ungleichen Liebe iſt eine abſonderliche Hochachtung. n. 6. Unterſcheid der ſorgfaͤltigen Gefaͤllig - keit nach dem Unterſcheid gleicher und ungleicher Lie - be. n. 7. 8. Bey gleicher Liebe faͤnget dieſelbe auff bey - den Theilen zugleich an / bey ungleichen aber faͤnget ordentlich der geringere an. n. 9. Die GefaͤlligkeitU 3dauert314[310]Das 7. H. von der unterſchiedenendauert bey dergleichen Liebe zweyer Anfaͤnger am laͤng - ſten. n. 10. Je laͤnger zwey Perſonen einander die Gefaͤlligkeit erweiſen / je mehr iſt daraus zu ſehen / daß ſie noch unvollkommen / oder daß ihre Liebe wohl gar nicht vernuͤnfftig ſey. n. 11. Mit der Dauerung der Gutthaͤtigkeit hat es gleiche Bewandniß. n. 12. Die unvennuͤnfftigſte und vernuͤnfftigſte Liebe kommen am geſchwindeſten zu ihren Zweck. n. 13. Die ungleiche Liebe hat mehr empfindliches Vergnuͤgen als die vor - treffliche gleiche. Die unvollkommene gleiche Liebe a - ber hat das allermeiſte empfindliche Vergnuͤgen. n. 14. Andere Gutthaten erweiſet die vollkommene / an - dere die unvollkommene gleiche Liebe. n. 15. Anders be - zeiget ſich in des ungleichen Liebe die unvollkommenere anders die vollkommenere Perſon. n. 16. Die Gemein - ſchafft aller Guͤter und alles Thuns und Laſſens iſt nur bey der vortrefflichen gleichen Liebe. (Man kan wohl nichts eigenes haben / und doch in keiner Gemeinſchafft leben) n. 17. Und nichts deſtoweniger iſt dieſe Gemein - ſchafft eine Tugend / die zu der vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt gehoͤret. n. 18. Bey der heutigen Welt iſt auch der unterſte Grad vernuͤnfftiger Liebe etwas ra - res. n. 19. Beantwortung etlicher Fragen (I) Ob es mehr Vergnuͤgen gebe / lieben oder geliebet werden? n. 20. 21. (II) Ob es angenehmer ſey in der Liebe zu unterweiſen oder unterwieſen zu werden? n. 22. 23. (III) Ob die Liebe aus natuͤrlicher Zuneigung / oder die Liebe aus Danckbarkeit ſtaͤrcker ſey? n. 24. 25. 26. (IV) Welche Liebe laͤnger dauret / die vollkommene oder unvollkommene / gleiche oder die ungleiche Liebe? n. 27. 28. 29. Wenn die unvollkommene vernuͤnfftige Liebe abnimmt / verwandelt ſie ſich gemeiniglich in eine Kaltſinnigkeit / die unvernuͤnfftige aber in Haß und Verachtung. n. 29. (V) Ob es einem Frauen-Zimmer ſchimpfflich ſey zu erſt zu lieben / oder ihre Liebe erſt bli - cken zu laſſen. n. 30. Erſt zu lieben iſt nicht allezeit einZei -315[311]Arten der abſonderlichen Liebe.Zeichen einer Unvollkommenheit. n. 31. Unvollkom - menheit iſt in der Liebe nicht ſchimpfflich. n. 32. Ob ein weiſer Mann ein Frauen-Zimmer lieben doͤrffe? n. 33. 34. 35. Ein weiſer liebet mehr par recoignois - ſance als par inclination, und gibt andere Liebes-Pro - ben als ein Tugend-Schuͤler. n. 36.

I.

LAſſet uns nunmehro die unterſchiede - nen Arten der vernuͤnfftigen abſon - derlichen Liebe ein wenig betrachten und gegen einander halten. Wir haben all - bereit im vorigen Hauptſtuͤck geſagt / daß wir die - ſelbige von denen unterſchiedenen Graden der Vollkommenheit derer / die einerley incli - nation zur Tugend haben / hernehmen wolten.

2.

So iſt demnach die vernuͤnfftige abſonder - liche Liebe entweder zwiſchen zweyen Perſonen / die gleich tugendhafft ſind / oder zwiſchen de - nen derer einer in der Tugend weiter zu - genommen hat als der andere.

3.

Die gleiche Liebe iſt entweder zwiſchen zweyen Perſonen / die ſchon einen hohen Grad der Tugend beſitzen / oder zwiſchen Anfaͤngern. Und die ungleiche ob ſie zwar allezeit nur einer - ley iſt / nehmlich zwiſchen zweyen Perſonen / deren eine es in der Tugend weiter gebracht als die an - dere; So kan man doch in Anſehen der gelieb - ten Perſonen auch dieſelbe auff zweyerley Wei - ſe betrachten / daß nehmlich in ungleicher Liebe man entweder hoͤhere oder geringere und nie - drigere Perſonen liebe.

U 44. Die316[312]Das 7. H. von der unterſchiedenen

4.

Die gleiche Liebe iſt wohl ſo weit ſtaͤrcker als die ungleiche / weil ihre Vereinigung wegen der doppelten Gleichheit geſchwinder von ſtatten gehet / und alſo der Liebes-Zug ſtaͤrcker iſt; aber deswegen iſt ſie nicht angenehmer als die un - gleiche / weil die Ungleichheit in dieſen beyden lie - benden Perſonen deſtomehr Empfindligkeit gie - bet / ja ſie iſt auch nicht einmahl vortrefflicher / ſondern es ſcheinet der Vernunfft am gemaͤſſeſten zu ſeyn / wenn wir in anſehen der Vortreffligkeit die gleiche Liebe zweyer Tugend-Schuͤler in die erſte und unterſte Claſſe / hernach die unglei - che in die mittelſte / und denn in die hoͤchſte Staffel die gleiche Liebe zweyer Tugendweiſen ſetzen. Denn die gleiche Liebe zweyer Anfaͤnger hat noch viel Schwachheiten an ſich / denen ſie wegen ihrer Gleichheit nothwendig mehr Nah - rung geben als ihnen abbrechen. Bey der un - gleichen aber bemuͤhet ſich der Weiſe ſtetswaͤh - rend dieſe Schwachheiten ſeines Tugend-Schuͤ - lers auszubeſſern / und der Tugend-Schuͤler be - fleißiget ſich auch ſelbſt / dieſelben durch Betrach - tung des guten Exempel ſeines Lehrmeiſters von Halſe loß zu werden. Jedoch iſt die gleiche Lie - be zweyer vorirefflicher Leut die allervor - trefflichſte / weil ſie dergleichen Schwachheiten auff beyden theilen gar entuͤbriget iſt.

5.

Aber vielleicht finden wir auch einen Unter - ſcheid unter dieſen unterſchiedenen Arten der Lie - be / in Betrachtung der dreyen Tugenden / da -von317[313]Arten der abſonderlichen Liebe.von wir im vorigen Capitel gehandelt / nehmlich der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit vertraulichen Gut - thaͤtigkeit / und voͤlligen Gemeinſchafft aller Dinge.

6.

Zwar was die Hochachtung betrifft / die vor der Gefaͤlligkeit vorhergehen ſoll / ſchiene es wohl / als ob dieſelbe nur bey ungleicher Liebe hoͤherer nicht aber geringerer Perſonen / auch nicht bey der gleichen Liebe vorher gehen muͤſſe; allein die Beſchreibung der Hochachtung in voꝛi - gen Capitel weiſet ſchon / wie auff dieſem Ein - wurff zu antworten ſey. Jedoch iſt dieſes nicht zu laͤngnen / daß in der ungleichen Liebe hoͤherer Perſonen eine abſonderliche Hochachtung an - zutreffen ſey / die man in der gleichen Liebe we - gen allzugroſſer Gleichheit / vielweniger aber in ungleicher Liebe geringerer Perſonen / wegen allzugroſſer Niedrigkeit nicht ſuchen darff.

7.

Woraus ferner folget / daß weil wir oben geſagt haben / daß von der Hochachtung die ſorg - faͤltige Gefaͤlligkeit herflieſſe / gantz offenbahr ſey / daß die doppelte Hochachtung / die ſich alleine bey der Liebe hoͤherer Perſonen befin - det / auch auff ſeiten der geringern Perſonen ei - ne groͤſſere Sorgfalt und Gefaͤlligkeit wuͤr - cken muͤſſe / und daß dannenhero / ob wir ſchon im vorhergehenden Capitel geſagt / daß man in de - nen Dienſten der Gefaͤlligkeit ſich Wechſels - weiſe einander ſubmittiren muͤſſe / dennoch ſolches fuͤrnehmlich von der gleichen Liebe zuU 5ver -318[314]Das 7. H. von der unterſchiedenenverſtehen ſey. Jn der ungleichen gehoͤret die Submiſſion hauptſaͤchlich fuͤr die geringere Per - ſon / die ſich ſo dann begnuͤgen laͤſſet / wenn die vortrefflichere dieſe mit einer Erniedrigung ihr geleiſtete Dienſte freundlich annimmbt / und ohne Submiſſion andere geringe Dienſte ihr wieder bezeiget.

8.

Jedoch weil die Liebe an die Geſetze der Ge - rechtigkeit nicht gebunden iſt / als iſt aus dieſer An - merckung zwar ſo viel zu ſehen / daß ein tugend - hafft er Mann nicht gehalten ſey / durch die Ge - faͤlligkeit ſich dem geringern zu unterwerffen; Jedoch iſt es ihme nicht verboten / ſolches zu thun / und wenn er es thut / iſt es vielmehr eine Anzei - g[u] ng eines Uberfluſſes der Liebe / der ihn da - durch mehr liebens wuͤrdig macht / als einer un - vernuͤnfftigen Thorheit. Denn wir haben ſchon oben gedacht / daß die Liebe zwar andern Tugenden ihre Maſſe gebe / fuͤr ſich aber keine Maſſe erkenne / und nichts zuviel in derſelben koͤnne vorgenommen werden.

9.

Aus eben dieſer Anmerckung fließt eine an - dere / daß bey der gleichen Liebe auch zwey Ge - muͤther ſo zu ſagen zu gleicher Zeit einander zu lieben anfangen / und ihre Liebe durch die Gefaͤl - ligkeit zu verſtehen zu geben. Bey der unglei - chen aber faͤnget der geringere ordentlich an / den vortrefflichern zu lieben / und dieſer erwiedert ſo dann die bey ihm geſuchte Liebe durch eine Ge - gen-Liebe. Wir wollen jenes eine Liebe der na -tuͤr -319[315]Arten der abſonderlichen Liebe.tuͤrlichen Zuneigung / dieſes aber die Liebe einer großmuͤthigen Danckbarkeit nennen. Je - doch giebt es auch Exempel / daß der vortreffli - chere auſſerordentlich des geringern ſeine Liebe zu ſuchen anfaͤngt / und dadurch ſein liebreiches Hertz deſtomehr zu erkennen giebet.

10.

So haben wir auch im vorhergehenden Capitel von der unterſchiedenen Dauerung der Gefaͤlligkeit etwas beruͤhret. Nemlich die gleiche Liebe zweyer tugendhaffter weiſer Perſonen brauchet die wenigſte Zeit das ande - re Gemuͤthe durch die Gefaͤlligkeit kennen zu ler - nen / und ſich bey demſelben dadurch zu infinuir / weil ſie einander deſto geſchwinder erkennen / je tugendhaffter und lieblicher ſie ſind. Die un - gleiche Liebe braucht ſchon mehr Zeir / weil der Unvollkommenere gemeiniglich ſeine Unvoll - kommenheit zu verbergen ſucht / und alſo weil er unvertraulich iſt / auch dem andern mißtrauet. Jedoch wird auch hierinnen nicht lange Zeit er - fordert werden / weil die Vortrefflichere den Unvollkommenern / ſeiner Verheelung unerach - tet / doch bald kennen lernet / und ſein Vertrauen zu erwecken deſto offenbahrer mit ihme umbzu - gehen bemuͤhet iſt. Demnach brauchet die glei - che Liebe zweyer neuangehender tugendlie - bender Gemuͤther die laͤngſte Zeit zur ſorgfaͤl - tigen Gefaͤlligkrit / weil ſie auff deyden Seiten viel Unvellkommenheiten bey ſich befinden / und alſoauch320[316]Das 7. H. von den unterſchiedenen.auch Wechſels-Weiſe das V[e] rheelen und Miß - trauen unter ihnen ſtaͤrcker iſt.

11.

Derowegen iſt dieſe Regel wohl gegruͤn - det / daß je laͤnger zwey Perſonen einander mit ſorgfaͤltiger Gefaͤlligkeit begegnen / je eine groͤſſere Anzeigung iſt es / daß ſie in der Tugend noch nicht gar weit gekommen ſeyn / oder daß ihre Liebe zum wenigſten auff ei - ner Seite wohl gar nicht vernuͤnfftig ſey. Ja das Letztere iſt deshalben eher zu vermuthen / weil die wahre Liebe nothwendig nach der Ver - trauligkeit der andern Perſon trachtet. Wo demnach auff beyden Theilen durch eine langwie - rige Gefaͤlligkeit kein Theil vertraulich ſich zu er - weiſen anfangen / oder der andere der ihm erwieſe - nen vertrauligkeit durch eine gleichmaͤßige nicht wieder begegnen wil / da kan unmoͤglich eine auff - richtige / und folglich auch wahre vernuͤnfftige Lie - be dahinter ſtecken.

12.

Bey der Gutthaͤtigkeit haben wir faſt gleiche Anmerckungen zu machen. Sie verbin - det die gegen einander ſich neigende Hertzen ſo lange biß das Wechſel-Vertrauen im hoͤchſten Grad befeſtiget iſt. Weil demnach in der vor - trefflichen gleichen Liebe das wenigſte Miß - trauen iſt / und zwey rechtſchaffen Tugendhaff - te Leute gar bald einander in das innerſte des Hertzens ſehen; als braucht auch die Gutthaͤtig - keit hierbey nicht lange Zeit / dieſe beyden Her - tzen voͤllig zu vereinigen / weil ſie doch auch ohnewuͤrck -321[317]Arten der abſonderlichen Liebe.wuͤrckliche Leiſtung koſtbahrer und muͤhſamer Dienſte die bruͤnſtige Begierde / die ſie beyderſeits haben / auch fuͤr einander das Leben zu laſſen / an ſich erkennen. Die unvollkommene gleiche Liebe hingegen brauchet wegen oben gedachten Mißtrauens und Schwachheiten mit denen ſie begabet iſt / die Gutthaͤtigkeit deſto laͤnger da - durch das Mißtrauen deſto kraͤfftiger nach und nach auszutilgen. Und endlich iſt die ungleiche Liebe hier wiederumb in mittel / weil ſie wegen des Mißtrauens und der Schwachheiten des An - faͤngers in der Tugend mehr Zeit als die vollkom - mene / und wegen des Vertrauens / Offenher - tzigkeit und hertzlicher Neigung des vortrefflichen Theils / weniger Zeit als die unvollkommene glei - che Liebe vonnoͤthen hat.

13.

Hieraus laſt uns wieder dieſe Anmer - ckung uͤberlegen. Die unvernuͤnfftige Liebe / weil ſie ungedultig iſt / als pfleget ſie gemeiniglich wo ſie ihres gleichen antrifft / bald ihren End - zweck zu erreichen. Aber du muſt dich huͤten / daß du dich deshalben nicht etwan verleiten laͤſſeſt zu - ſchlieſſen / daß je vernuͤnfftiger die Liebe ſey / je langſamer komme ſie auch zu ihren Zweck. Denn dasjenige / was wir nur jetzo geſagt haben / wird dir weiſen / daß die unvollkommenſte ver - nuͤnfftige Liebe am allerlangſamſten zu der voͤlligen Verbindung gelange / und die voll - kommenſte hingegen ja ſo geſchwinde / wo nicht geſchwinder / ihren Endzweck erreiche als die un -ver -322[318]Das 7. H. von den unterſchiedenenvernuͤnfftige Liebe / und ſolcher geſtalt von dieſer nur darinnen unterſchleden ſey / daß die unver - nuͤnfftige Liebe wenn ſie nicht mehr wachſen kan / nothwendig wieder abnehmen muͤſſe / da wir hingegen im vorigen Hauptſtuͤck ſchon bewieſen haben / daß die vernuͤnfftige Liebe allezeit Ge - legenheit finde durch ein ſtetes Wachſen ſich mehr und mehr auszubreiten.

14.

Hieraus flieſſet noch ferner / daß zwar / wie wir im Anfang gedacht / die ungleiche Liebe mehr empfindliches Vergnuͤgen habe / als die vortreffliche gleiche Liebe / aber doch bey der unvollkommenſten Liebe wegen der vielfaͤlti - gen Abwechſelungen des Vergnuͤgen / Miß - trauens / Verdruſſes / Eyfferſucht / Verſoͤhnung u. ſ. w. auch nach dem gemeinen Sprichwort / daß Veraͤnderung Luſt bringe / die allermeiſten Grade eines empfindlichen Vergnuͤgens zu zehlen ſeyn. Wodurch aber der Vortrefflig - keit der vollkommenen gleichen Liebe nichts be - nommen wird / theils wie die Vergnuͤgungen bey der unvollkommenen Liebe mit der Abwechſelung vieler Verdrießligkeiten vergeſellſchafftet / bey der vollkommenen Liebe aber viel reiner und lauterer ſind / theils auch / weil nach denen Grund-Lehren des erſten Hauptſtuͤcks und der Lehre von der hoͤchſten Gluͤckſeeligkeit die rubigen Vergnuͤ - gungen viel edler ſind als diejenigen / die die groͤ - ſte Empfindligkeit verurſachen.

15. Es323[319]Arten der abſonderlichen Liebe.

15.

Es findet ſich aber hiernechſt bey denen unterſchiedenen Arten der Liebe auch ein merck - licher Unterſcheid derer Gutthaten. Die unvollkommene gleiche Liebe bezeiget ſich meh - rentheils auch ohne Noth / durch Geſchencke und koſtbare Sachen / durch zeitliche Ehre / und durch vielfaͤltige angewendete Muͤhe und Ge - fahr / die aber zum oͤfftern noch ein eiteles Gut zum Endzwecke hat. Die vollkommene aber iſt viel ſparſamer / weil man den geliebten durch Reichthum und Ehre nicht vergnuͤget. Dero - wegen ſparet ſie ihre Gutthaten biß zum Noth - fall / aber ſie laͤſt auch als denn dieſelbe in dem hoͤchſten Grad erblicken / weil ſie auch das Le - ben dem Freunde zu Dienſte freywillig daran waget / und in die groͤſte Gefahr ſetzet; da hin - gegentheil bey der unvollkommenen Liebe dieſe Liebes-Probe gar was ſeltſames iſt.

16.

Bey der ungleichen Liebe bemuͤhet ſich der geringere zwar dem vortrefflichern durch Geſchencke und muͤhſame Ehr Bezeugun - gen zu verbinden / weil er denſelben annoch nach ſeinem Sinn urtheilet; Er kan aber demſelben keine groͤſſere Gutthat erweiſen / als durch einen freywilligen Gehorſam / und durch eine etwas muͤhſame Ausuͤbung der Lehren und Vermah - nungen / die er von ihm taͤglich empfaͤhet. Der vortrefflichere aber erweiſet in dieſer Liebe ſeine Gutthaͤtigkeit ordentlich durch ſeinen treu - en Rath und ſorgfaͤltige Ausbeſſerung ſowohl324[320]Das 7. H. von der unterſchiedenenwohl des andern ſeines Verſtandes als Wil - lens / durch die unermuͤdete Gedult uͤber ſeine annoch anklebende Schwachheiten / durch die Vertrauligkeit / durch welche er ſich erniedri - get / und dem andern gleich machet / umb ihn da - durch deſtomehr zugewinnen. u. ſ. w.

17.

Was endlich die Gemeinſchafft der Guͤter und alles Thuns und Laſſens betrifft / ſo koͤnnen dieſelbe nicht erfolgen / ehe denn man durch die Liebe vollkoͤmmlich vereiniget worden / und dieſelbe ihren hoͤchſten. Grad erreichet. Die - ſes aber kan nicht geſchehen / wenn nicht beyde liebhabende einander in der Tugend-Vollkom - menheit gleich werden. Und alſo iſt dieſelbe nur bey der vollkommenen gleichen Liebe zu hof - fen; Die ungleiche kan wohl alſo beſchaffen ſeyn / daß keiner was eigenes habe / aber des - wegen iſt noch keine voͤllige Gemeinſchafft / wenn nicht auch ein jedweder ſich der gemeinen Guͤter nach gefallen brauchen kan / ſondern den Ge - brauch nach dem Einrath des vortrefflichern / o - der / wenn ihrer viel durch dieſe ungleiche Liebe vereiniget ſeyn / durch die Austheilung gewiſſer hierzu beſtellter Perſonen anſtellen muß / da hin - gegentheil bey einer voͤlligen Gemeinſchafft ei - nem jeden frey ſtehet / von denen gemeinen Din - gen nach ſeinen Gefallen zu verbrauchen was er von noͤthen hat. Endlich ſo kan bey der glei - chen unvollkommenen Liebe deswegen ſo lan - ge keine Gemeinmachung aller Dinge zu hoffenſeyn /325[321]Arten der abſonderlichen Liebe.ſeyn / als dieſelbe unvollkommen bleibet / weil die Gemeinmachung erſt folgen muß / wenn aus zweyen Perſonen ein Hertz und eine Seele wor - den iſt. Dieſes aber kan bey der unvollkomme - nen Liebe wegen der vielen untergemengten Schwachheiten und unterſchiedenen Gemuͤths - Neigungen / die nothwendig ein Mißtrauen erwe - cken / nicht geſchehen. Derowegen erſtrecken ſich auch ſolche Lieben niemahlen uͤber die Gutthaͤ - tigkeit.

18.

Damit aber gleichwohl wir nicht genoͤthi - get werden unſere Lehren ſelbſt einer Unfoͤrmlig - keit zu beſchuldigen / indem wir in vorhergehenden Hauptſtuͤck gelehret / daß die Gemeinmachung zu der abſonderlichen Liebe uͤberhaupt ge - hoͤre / anjetzo aber wollen wir dieſelbige nur bey der vollkommenen gleichen Liebe ſuchen; ſo iſt es gar leichte dieſen Einwurffzu begegnen / wenn wir ſagen / das weil die drey unterſchiedenen Liebes - Arten nach denen Graden der Vollkommenheit unterſchieden ſeyn / auch die beyden Geringſten allezeit dahin trachten ſollen / daß ſie zu der Voll - kommenheit der gleichen Liebe zweyer tugendhaff - ter Leute gelangen / und ſolcher geſtalt doch auch auff gewiſſe Art die Gemeinſchafft aller Dinge indendiren / ob ſie gleich dieſelbe / ſo lange als ſie noch in ihrer Unvollkom̃enheit ſeyn / nicht practi - ciren koͤnnen. Denn z. e. ein weiſer Mann ge - het auf dem Tugend-Weg dem Tugend-Schuͤ - ler zum beſten / gleichſam ein wenig zuruͤcke / undXbemuͤ -326[322]Das 7. H. von den unterſchiedenenbemuͤhet ſich ihn dahin zu bringen / daß er mit ihme hernach zugleich fortgehen koͤnne. Und weil zwey Tugend-Schuͤler darnach ſtreben ſollen / die Tugend in einem hohen Grad zu erlangen / ſo kan es nicht fehlen / es muͤſſe auch hernach ihre Liebe aufhoͤren unvollkommen zu ſeyn / und ſich der Gemeinmachung immer mehr und mehr naͤ - hern.

19.

Derowegen iſt es eine Anzeigung / daß die Exempel vollkommener gleicher Liebe ſehr rar ſeyn muͤſſen / weil wir ſo wenig Exempel fin - den / daß unter liebhabenden Perſonen eine voͤl - lige Gemeinmachung aller Dinge ſey. Son - dern wir leben in einer ſolchen Zeit / da der unter - ſte Grad der vernuͤnfftigen Liebe etwas ra - res iſt. Deswegen auch ihrer viel alle Liebe vor unvernuͤnfftig halten / oder ſagen / die vernuͤnffti - ge Liebe ſey gleich wie der Vogel Phœnix, der auſſer dem Gehirne der Menſchen nirgends wo einen Selbſtand habe /

20.

Aus denen bißherigen Betrachtungen wird es nun gar leicht ſeyn / etliche Fragen zu be - antworten / die man in der Lehre von der Liebe als ſehr zweiffelhafft und ſchwer zu eroͤrtern aus - zugeben pfleget: (I) Ob es mehr Vergnuͤgen gebe / lieben oder geliebet werden? Dieſe Frage iſt mehr ſubtil als nuͤtzlich. Denn wenn wir eines von dieſen beyden / ohne das andere be - trachten / nemlich lieben ohne geliebet wer - den / oder geliebet werden ohne lieben / ſo iſtbey -327[323]Arten der abſonderlichen Liebe.beydes nicht raiſonabel, weil es eine Anzeigung iſt / daß die Gemuͤther einander nicht gleich ſind / und folglich kan auch bey keinen ein wahres Ver - gnuͤgen ſeyn. Auch in der vernuͤnfftigen Liebe / ſo lange als wir durch die Gefaͤlligkeit unſere Lie - be dem andern zu verſtehen geben / und ſeine Ge - gen-Liebe ſuchen / iſt mehr ein Verlangen als ein Vergnuͤgen in unſern Hertzen.

21.

Jſt aber Liebe und Gegen-Liebe wie es ſeyn ſoll / mit einander verknuͤpfft / ſo ver - gnuͤgt uns wohl eines ſo ſehr als das andere; Denn wenn man gleich ſagen wolte / daß die Lie - be uns mehr vergnuͤgte als die Gegen-Liebe / in dem durch jene wir bey unſerm geliebten ein Ver - gnuͤgen erweckten / durch dieſe aber die uns lie - bende Perſon uns hinwiederum ein Vergnuͤgen zu geben trachtete; und gleichwohl ein jeder Menſch / der vernuͤnfftig liebet / mehr Vergnuͤgen in dem Vergnuͤgen der Perſon / die er liebet / als in ſeinem eigenen zu finden gewohnet ſey / ſo wei - ſet doch eben dieſe Betrachtung / daß bey der Gegen-Liebe uns dieſes ja ſo ſehr als bey der Lie - be vergnuͤgen muͤſſe / wenn wir erwegen / daß die geliebte Perſon ſich faſt ſehrer vergnuͤge / wenn ſie uns dieſe Gegen-Liebe erweiſet / als wenn ſie ſelbige empfaͤhet. Zudem ſo beſtehet die Liebe nicht allein in Thun / und die Gegen-Liebe im Leiden / ſondern beyde vereinigen ſich darinne / daß eines dem andern ſeine Liebe erweiſet / undX 2uͤber328[324]Das 7. H. von den unterſchiedenenuͤber deſſen Liebe wiederum eine ruhige Freude bezeigt.

22.

(II) Ob es angenehmer ſey / in der Liebe zu unterweiſen / oder unterwieſen zu werden? Dieſe Frage ſo ferne ſie die vernuͤnff - tige Liebe angehet / hat zweyerley Verſtand. Ge - het ſie auff die gleiche Liebe / ſo iſt ſie von der vorigen nur mit Worten unterſchieden / und be - deutet ſo dann unterweiſen und unterwieſen wer - den / (welches beydes auff beyden Theilen in gleicher Maſſen geſchiehet) nichts als lieben und geliebet werden. Sol ſie aber von voriger Fra - ge unterſchieden ſeyn / ſo muͤſſen wir ſie von der ungleichen Liebe verſtehen / und heiſſet ſie dem - nach ſo dann ſo viel; Ob es ein groͤſſeres Ver - gnuͤgen ſey / ſolche Perſonen zu lieben / die in der Tugend ſchon weiter avanciret ſeyn / als wir / und derer unterweiſung oder Anfuͤh - rung wir benoͤtiget ſind / oder ſolche / die gerin - ger ſind als wir / und welche wir unterweiſen muͤſſen / wie ſie ſich in der vernuͤnfftigen Liebe ver - halten ſollen?

23.

Es ſcheinet zwar wiederum / daß ein Ver - gnuͤgen ſo empfindlich ſey als das andere / und daß die geringere Perſon / wenn ſie ſich er - freuet / daß die vortrefflichere ihr zu Liebe ſich er - niedriget / gleichſam zuruͤcke gehet / und ſich ihr gleich machet / eigendlich zu reden weder ein groͤſ - ſeres noch kleineres Vergnuͤgen empfinde / als die vortrefflichere / wenn ſie ſiehet / daß die gerin -gere329[325]Arten der abſonderlichen Liebe.gere in auffrichtigen Vertrauen bemuͤhet lebet / taͤglich in der Tugend mehr und mehr zuzuneh - men / und ſich ihr gleich zu machen. Gleich - wohl aber wenn wir dasjenige / was wir von dem Unterſcheid des Zuſtandes dieſer beyden lieben - den Perſonen erwehnet haben / hieher appliciren wollen / ſo koͤnnen wir gar fuͤglich mit zweyen Worten den Ausſchlag geben / daß das Vergnuͤ - gen das wir haben / von andern informiret zu werden / theils wegen unſerer Schwachheiten / theils weil wir taͤglich neue und uns zuvor unbe - kante Dinge lernen / viel empfindlicher / das andere Vergnuͤgen aber / andere in der Liebe an - zuweiſen viel reinlicher und ruhiger ſey.

24.

Die Eroͤrterung der vorigen Frage bah - net uns den Weg die (III) deſto geſchwinder zu beantworten: Ob diejenige Liebe ſtaͤrcker ſey / wenn man geſchwinde und durch einen heim - lichen Zug getrieben zu lieben anfaͤnget / der - geſtalt / daß unſer Hertze gleichſam in einem Augenblick von der Liebe entzuͤndet wird; oder wenn man eine Perſon / mit der man eine Zeit lang indifferent umbgangen / her - nach aber dieſelbe gleichſam zur Danckbar - keit / weil ſie uns viel Proben ihrer Liebe gegeben / wieder zu lieben anfaͤnget? Denn es koͤnnen ſich zwar dißfalls unter beyder - ley Arten Exempel von ſtarcken und ſchwachen Lieben finden / wenn man aber doch die Frage nach denen unterſchiedenen Arten der Liebe be -X 3ant -330[326]Das 7. H. von den unterſchiedenenantworten ſoll / ſo muͤſſen wir ſagen: daß die ſtaͤr - ckere Liebe entweder vor diejenige genommen werde / derer Trieb hitziger iſt / oder fuͤr dieje - nige / die ſtaͤrckere Liebes-Proben giebet.

25.

Die Liebe / ſo bald angefangen / iſt frey - lich hitziger / weil auf dieſe Art gemeiniglich Leute / die nur die Tugend-Straffe zu betreten anfangen / und einander gleich ſind / oder in der ungleichen Liebe diejenigen / ſo geringer ſind / zu lieben pflegen; und dieſe haben allerdings bey ihrer Liebe noch viel Hitze / weil ſie ihrer affecten wenig Meiſter ſind. Da hingegen ein weiſer Mann / der in der ungleichen Liebe mehrentheils par recognoiſſance liebet / zwar alles dasjenige empfindet / was die wahre Liebe in unſern Her - tzen wircket / aber doch ſeine Glut mehr mit einem waͤrmenden und ernaͤhrenden / als einem verzeh - renden Feuer zu vergleichen iſt.

26.

Derowegen wenn wir die ſtaͤrckere Lie - be aus denen Liebes-Proben erkennen wollen / muß nothwendig folgen / daß gleichwie ein ver - zehrendes Feuer mehr Flamme / ein ernaͤhrendes aber mehr Waͤrme giebet; alſo auch die Lie - bes-Proben in der Liebe die bald faͤnget dem aͤuſſerlichen Scheine nach ſehr groß / aber auch / wenn man ſie ein wenig genau betrachtet / annoch mit vieler Eitelkeit umgeben ſind / da hingegen / wenn in der Liebe par recognoiſſan - ce die vortrefflichere Perſon ihr Leben fuͤr die an - dere zu laſſen bereit iſt / dieſe Bereitwilligkeit vielver -331[327]Arten der abſonderlichen Liebe.vernuͤnfftiger und viel lieblicher iſt / als in der Liebe von der erſten Art.

27.

Eben dieſe Bewandniß hat es bey der (IV) Frage: Welche Liebe laͤnger dauret? Denn wenn du durch das laͤngere dauren ver - ſteheſt / welche Liebe am ſpaͤteſten ihren End - zweck und den hoͤchſten Grad erreiche; ſo wird dir das / was wirkurtz zuvor erwehnet / bald zeigen / daß die gleiche Liebe zweyer vollkommenen Gemuͤther am erſten und geſchwindeſten / die un - gleiche Liebe wegen des Mißtrauens und der Schwachheiten des geringern Theils ſchon et - was laͤnger / und endlich die gleiche Liebe zweyer unvollkommener Hertzen wegen des Wechſel Mißtrauens und des allzuveraͤnderlichen Ver - gnuͤgens an ſpaͤteſten hierzu gelangen.

28.

Frageſt du aber / welche Liebe immer - mehr und mehr zu - oder doch nicht abneh - me? So behaͤlt allhier die Liebe zweyer voll - kommenen Perſonen die Oberhand / weil die - ſe allezeit wachſen kan. Die ungleiche Liebe hat eben dieſen Vortheil / wenn der geringere nur beſtaͤndig den vortrefflichen gleich zu werden trachtet; Denn es wird ſo dann dieſe in die Lie - be zweyer gleich vollkommenen Leute verwan - delt. Und eben dieſes muͤſſen wir auch von der gleichen Liebe zweyer unvollkommer Leute ſagen / wenn ſie beyderſeits auf dem Tugend - Wege fortfahren / und die ihnen noch ankleben - den Ungleichheiten des Eigennutzes und dererX 4Ge -332[328]Das 7. H. von der unterſchiedenenGemuͤths-Neigungen taͤglich immer mehr und mehr loß zu werden trachten.

29.

Daferne aber in der ungleichen Liebe die unvollkommenere Perſon freywillig wieder zuruͤcke gehet / oder die zwey unvoll - kommenen Perſonen mehr dasjenige was in ihrer Liebe noch unvollkommen iſt / als dasjenige was veinuͤnfftig iſt / nehren / ſo kan es nicht fehlen / es muͤſſe ſo dann ihre Liebe bald anfangen abzu - nehmen und kaltſinnig zu werden. Wiewohl doch dieſe Raltſinnigkeit ſo dann gemeiniglich nichts anders iſt / als die Verwandelung der ab - ſonderlichen zu der allgemeinen Liebe; und hat alſo der geringſte Grad der vernuͤnfftigen Liebe dennoch den Vortheil von der unvernuͤnfftigen Liebe / daß wenn dieſe auffhoͤret / es bey der Kalt - ſinnigkeit nicht bleibet / ſondern ſich dieſelbe meh - rentheils in einen Haß oder Verachtung ver - wandelt.

30.

(V) Fraget ſichs / Ob es einem Frauen - Zimmer ſchimpfflich ſey zu erſt zu lieben / oder doch zum wenigſten ihre Liebe zu erſt blicken zu laſſen. Wir wollen uns in Beant - wortung derſelben nicht nach denen Betrachtun - gen richten / die bey denen Autoren / die Romanen geſchrieben / haͤuffig anzutreffen ſeyn / ſondern nach den Anleitungen der Philoſophie kuͤrlich ſa - gen. Jſt die Liebe unvernuͤnfftig / ſo iſt es we - der Mannes noch Weibes-Perſonen eine Ehre ſich in dieſelbe einzulaſſen / und iſt es ſo dann ei -nem333[329]Arten der abſonderlichen Liebe.nem Frauen-Zimmer nicht weniger ſchimpfflich wenn ſie eine ſolche Liebe annimmt / als wenn ſie ſie zu erſt zu erkennen giebet. Jſt es aber eine ver - nuͤnfftige Liebe / ſo hat ſich derſelben kein Menſche zu ſchaͤmen / ſondern er verdienet viel - mehr Lob und Ehre / weil dieſe Liebe der Grund aller Tugenden / und das eintzige Mittel iſt / die wahre Gluͤckſeeligkeit zu erlangen.

31.

Wolteſt du auch gleich ſagen / daß es doch zum wenigſten eine Anzeigung eintziger Unvollkommenheit ſey / wenn man zu erſt liebe / in dem gleiche Perſonen auch zugleich einander ihre Liebe zu erkennen geben / bey der ungleichen Liebe aber es dem geringern Theil zuſtehe / ſeine Liebe am erſten kund zu thun; ſo muſtu dich doch wieder erinnern / daß wir oben allbereit erwehnet haben / wie auch die vortrefflicheren Perſonen auſſerordentlich anfangen koͤnten zu leben / und dadurch ihr liebreiches Hertze deſto mehr zu er - kennen zu geben. Zu dem ſo iſt unſtreitig / daß ob ſchon bey gleicher Liebe zwey Hertzen ſo zu ſagen zu gleicher Zeit einander zu lieben anfangen / den - noch in der That eines unter ihnen ohne Be - merckung einer Ungleichheit oder Unvollkommen - heit in der That den Anfang machen / und die erſte Erklaͤrung / es ſey nun mit Worten oder mit andern Bezeugungen / thun muͤſſe.

32.

Endlich ſo iſt auch die Bezeigung einer Unvollkommenheit dem Weiblichen Ge - ſchlecht in dieſem Stuͤck nicht ſchimpfflich. X 5Wir334[330]Das 7. H. von der unterſchiedenenWtr muͤſſen daſſelbige nicht zu ſehr niederdruͤ - cken / und uns durchgehends mehr Geſchicklig - keit und Tugend als ihnen zuſchreiben; wir muͤſ - ſen aber auch durch unſere Schmeicheley ihre Eitelkeit nicht ſtaͤrcken / wenn viele unter ihnen meinen / daß die Mannes-Bilder durchgehends ſchuldig waͤren ihre Vortreffligkeiten zu erken - nen / und ſich denenſelben freywillig zu unterwerf - fen. Ein jedes Geſchlechte hat tugendhaffte und laſterhaffte Perſonen / und zwar jede von unterſchiedenen Graden unter ſich / derowegen wuͤrde ein Frauen-Zimmer das allemahl præten - dirte / daß man gegen ſie les premiers pas machen ſolte / aus dieſen Unfoͤrmligkeiten gewiß eine be - gehen / entweder daß ſie wider alle Billigkeit ei - nen Menſchen der vortrefflicher in der Tu - gend als ſie waͤre / noͤthigen wolte / ſich ohne Urſa - che zu erniedrigen / und ihr ſeine Liebe am er - ſten zu verſtehen zu geben / oder daß ſie nur ihr Vergnuͤgen darinnen ſuchte / von unvollkom - menen Perſonen geliebet zu werden / und ſich des Vergnuͤgens berauben wolte / das man hat / wenn man durch Liebe vortrefflicherer Perſonen in der Tugend immer mehr und mehr zunimmt / oder daß ſie die eitele Einbildung haͤtte / ſie waͤre die Vortreffligkeit ſelbſten / und ſey keine Mannes - Perſon in der Welt / die mehr Verdienſt und Tugend haͤtte als ſie.

33.

(VI) Endlich ſo wird auch aus unſerer Sitten-Lehre die Frage leicht zu entſcheiden ſeyn:Ob335[331]Arten der vernuͤnfftigen Liebe.Ob ein weiſer Mann / der die Tugend in ei - nem hohen Grad beſitzet / auch Weibes Per - ſonen lieben koͤnne? Jch halte dafuͤr / daß die - jenigen von denen alten Philoſophen, die dieſe Frage verneinet / entweder auf die unzulaͤßliche Liebe ihr Abſehen gerichtet / oder aber alle Liebe der Weibes-Perſonen / auch ſo gar den Eheſtand fuͤr unzulaͤßlich / oder doch zum wenigſten fuͤr hoͤchſt unvollkommen geachtet / deren Jrrthum demnach zu widerlegen meines Vorhabens nicht iſt. Sondern ich bejahe die Frage ungeſcheuet / weil ſie keines groſſen Beweiſes vonnoͤthen hat.

34.

Denn entweder die Weibes-Perſon iſt laſterhafft / ſo ſtehet derer Liebe keinem Men - ſchen / am wenigſten aber einem weiſen Mann an; oder ſie iſt tugendhafft / und ſo weiſe als er ſelbſt. So iſt er ſchuldig ſie zu lieben / und dieſe ſeine Lie - be iſt ſo dann viel vortrefflicher als die gleiche Lie - be eines anderen weiſen Mannes wegen des ſtaͤr - ckeren Triebes und Vertrauens / den GOtt de - nen unterſchiedenen Geſchlechten ins Hertze ge - geben.

35.

Jſt ſie aber nicht tugendhafft / ſondern ſte - cket noch in groſſen Schwachheiten / liebet aber gleichwohl die Tugend / und verlanget ihr Hertze mit demjenigen zu vereinigen / ſo waͤre es die groͤſte Unbilligkeit / wenn er ſie wegen ihres Geſchlechts von ſeiner Tugend-Schule aus - ſchlieſſen wolte. Ja es verfichert ihn vielmehr eben der natuͤrliche Trieb des Vertrauens beyPer -336[332]Das 8. H. von der vernuͤnfftigenPerſonen von unterſchiedenen Geſchlechte / daß er weniger Mißtrauen bey ihr als bey ſeinen an - dern Tugend-Schuͤlern werde antreffen / und ſolcher geſtalt ſeine Anfuͤhrung zur Tugend viel eher gute Fruͤchte bringen werde.

36.

Und weil demnach ein weiſer Mann un - ter dem Frauen-Volck vielmehr welche von die - ſer letzten Gattung / als von denen die ihm gleich ſeyn / antrifft / ſo iſt leichte zu ſchlieſſen / daß er ſich ordentlich nicht zu erſt verliebe / ſondern daß ſeine Liebe mehr aus recognoiſſance und Danckbarkeit alß aus ein iger Zuneigung geſchehe; und daß ſolcher geſtalt auch ſeine Lie - bes-Bezeugungen gantz anders beſchaffen ſeyn muͤſſen / als die Bezeugungen eines Men - ſchen / der noch ein Anfaͤnger in der Tugend iſt / und ein Frauen-Zimmer liebet das ihm gleich iſt. Denn wenn ein weiſer mit dergleichen Din - gen auffgezogen wolte kommen / die man einen ſolchen Anfaͤnger zu gute haͤlt / wuͤrde er ſich ge - wiß hoͤchſt proſtituiren. Wir beziehen uns we - gen der hieher gehoͤrigen Exempel kuͤrtzlich auff das / was wir oben n. 15. und 16. gelehret haben.

Das 8. Hauptſtuͤck. Von der vernuͤnfftigen Liebe gegen uns ſelbſt.

Jnn -334[333]Liebe gegen uns ſelbſt.

Jnnhalt.

  • Was die vernuͤnfftige Liebe / gegen uns ſelbſt heiſſe? n. 1. Was ſie ſey. n. 2. Der Menſch kan ſein Lebens-Ziel nicht erlaͤngern n. 3. andere Crearuren leben laͤn - ger als der Menſche. n. 4. Andere Creaturen erhal - ten ihr Leben ohne Verſtand durch den ihnen bey - wohnenden innerlichen Trieb / aber ſie verkuͤrtzen es nicht; Der Menſch aber verſtehet die Mittel ſeiner Erhaltung / und verkuͤrtzet ſich doch ſelbſt ſein Leben. n. 5. Worinnen die Mittel beſtehen das Leben zu er - halten n. 6. und wie ſelbes verkuͤrtzet werde. n. 7. Wenn der Menſch ſein Lebens-Ziel verkuͤrtzen will / pfleget ihn GOtt nicht leichtlich daran zu verhindern n. 8. Aber wenn er es gleich der Natur nach erhalten wil / verkuͤrtzet es ihm GOtt durch einen andern Zu - fall zum oͤfftern. n. 9. Wie die Verkuͤrtzung ſeines Le - bens-Ziel mit der gõttlichen Vorſehung und All - macht beſtehe. 10. Worumb in der Erhaltung un - ſeres Lebens dahin zu ſehen / daß es andern Menſchen zu gut geſchehe. n. 11. Die Liebe anderer Menſchen iſt der Liebe gegen uns ſelbſt ihr Grund n. 12. und ihre Richtſchnur. n. 13. Daß nehmlich zufuͤrderſt auf die Ausbeſſerung der Seele geſehen n. 14. und her - nach die Erhaltung unſeres Lebens der Liebe gegen andere Menſchen nachgeſetzet werde / n. 15. ohnerach - tet mein Freund mein Leben hoͤher als das ſeinige achtet n. 16. und mit mir ſtreitet / daß ich mein Leben behalten ſolle. n. 17. Dieſes iſt das eintzige parado - xum, das der menſchliche Verſtand nicht deutlich de - monſtriren kan. n. 18. Ob man ſich wieder Gewalt mit Gewalt ſchuͤtzen koͤnne n 19. Sieben præſup - poſita zu Eroͤrterung dieſer Frage n. 20. welche be - jahet wird n. 21. wenn man von gegenwaͤrtiger Gewalt / und nicht von Bedrohungen redet n. 22. wie weit die gewaltſame Ertoͤdtung einesMenſchen338[334]Das 8. H. von der vernuͤnfftigenMenſchen fuͤr ein Werck der Liebe koͤnne ausgegeben werden. n. 23. Von andern Special-Fragen / ſo hie - her gehoͤren / uͤberhaupt. n. 24. Warum man von der Sorge des Menſchen fuͤr die Seele und Leib nicht in - ſonderheit und ausfuͤrlich handele. Buͤcher ſo we - gen dieſer letzten zu leſen. n. 25. 26. 27. Anleitung wie man hieriñen ſelbſten Wahrheiten erfinden muͤſ - ſe. n. 28. Wird durch die Frage: welches das geſun - deſte Getraͤncke ſey / erklaͤret n. 29. und gewieſen / wie man darans Gelegenheit nehmen ſolle / auch die ge - ſundeſte Speiſe zu erforſchen. n. 30. Zur Vorſorge fuͤr den Leib gehoͤren vier Tugenden. Maͤßigkeit / Rein - ligkeit / Arbeitſamkeit und Tapfferkeit. n. 31.

1.

WJewohl wir oben gedacht / daß alle Menſchen in der That andere Men - ſchen oder Dinge mehr lieben als ſich ſelbſt / (ob ſchon die Unvernuͤnfftigen thoͤrigter Weiſe dafuͤr halten / daß ſie ſich ſelbſt am meiſten lieben) auch hiernaͤchſt die Haupt-Beſchreibung der Liebe ſattſam gewieſen / daß man allezeit et - was auſſer ſich lieben muͤſſe / und ſich ſelbſt nicht lieben koͤnne; ſo erfordert doch die ver - nuͤnfftige Liebe gegen andere Menſchen / daß wir auch Sorge fuͤr uns ſelbſt tragen / und dieſe Sor - ge / weil ſie aus der vernuͤnfftigen Liebe herflieſſet / koͤnnen wir nicht unfuͤglich die vernuͤnfftige Lie - be gegen uns ſelbſt nennen.

2.

Sie iſt uͤberhaupt nichts anders / als eine vernuͤnfftige Bemuͤhung alles dasjenige zu thun / wodurch das von GOtt fuͤrgeſetzteLebens -339[335]Liebe gegen uns ſelbſt.Lebens-Ziel nach denen Regeln der allgemei - nen geſunden Vernunfft / denen Menſchen / ſo wir vernůnfftig lieben / zu gut / nicht ver - kůrtzet ſondern erhalten werde.

3.

Denn GOtt hat wie allen Creaturen alſo auch dem Menſchen ein gewiſſes Ziel ihrer Dauerung geſetzt / welches keine Creatur uͤber - ſchreiten kan / und ſolchergeſtalt hat der Menſch dieſes mit andern Creaturen gemein / daß er das ihme von GOtt vorgeſetzte Lebens-Ziel nicht ei - ne Minute lang verlaͤngern koͤnne.

4.

Wiewohl es die taͤgliche Erfahrung giebet / daß gemeinigl ich / je unedler die Creaturen ſeyn / je laͤnger leben ſie auch / und je ſpaͤter verweſen oder verderben ſie / wenn ſie gleich geſtorben ſind / auſſer daß die zahmen Thiere nicht ſo lange leben als der Menſch / wiewohl ſehr wahrſcheinlich iſt / daß mehr der Menſch entwe - der durch Toͤdtung / oder durch allzuuͤbermaͤßigen Gebrauch / oder durch ungeſunde Nahrung ihr Leben verkuͤrtze / als daß ſie nicht der Natur nach ſo lange ſolten leben koͤnnen / als die wilden Thie - re / die / wenn ſie von denen Menſchen nicht ge - fangen werden / gar leichte laͤnger leben als die Menſchen. Und iſt alſo hierinnen ein groſſer Unterſcheid unter den Menſchen und an - dern Creaturen / wiewohl die menſchliche Ver - nunfft / wenn ſie ſich ſelbſt gelaſſen iſt / nicht ſo wahrſcheinlich die wahre Urſache deſſen zu er - gruͤnden weiß / auch wenig Wiſſenſchafft davonhat /340[336]Das 8. H. von der vernuͤnfftigenhat / daß im Anfang des menſchlichen Geſchlechts auch nach dem Fall die Menſchen laͤnger / oder doch ja ſo lange gelebet haben / als andere Crea - turen.

5.

Gleichwohl iſt noch heut zu Tage dieſer an - dere Unterſcheid zwiſchen dem Menſchen und andern Creaturen gar unſtreitig / daß die andern den ihnen von GOtt verordneten innerlichen Trieb nachfolgen / und ſolcher ge - ſtalt / ob ſie ſchon die Mittel / die zu Erhaltung ihrer Dauerung von GOTT ordentlich geſetzt ſeyn / nicht verſtehen / dennoch nach denenſelben leben / dieſelbe nicht mißbrauchen / und das ih - nen fuͤrgeſetzte Ziel nicht verkuͤrtzen / der Menſch aber vermittelſt ſeines Verſtandes die natuͤrlichen Mittel zu ſeiner Lebens Erhal - tung gar leichte und ohne ſonderbahres oder ſehr tieffſinniges Nachſinnen begreiffen / und hin - wiederum nach das Lebens-Ziel theils aus Boß - heit / theils aus Nachlaͤßigkeit verkuͤrtzen koͤnne.

6.

Sein Leben erhaͤlt er / wenn er durch Speiſe und Tranck ſolche Nahrung zu ſich nimmt / durch die ſein Gebluͤte in einer propor - tionirlichen Bewegung / die weder zu hitzig noch zu langſam iſt / bleibet / wenn er von auſſen durch die Bekleidung und Wohnung ſeinen Leib fuͤr unproportionirlicher Kaͤlte oder Hitze vertheydiget / wenn er ſeinen Coͤrper taͤglich durch eine gemaͤßigte Bewegung und Ruhe erfriſchet / und durch ſeine proportionirliche Um -wech -341[337]Liebe gegen uns ſelbſt.wechſelung alle Gliedmaſſen inſonderheit vergnuͤget / auch endlich alle ſeine Kraͤffte und Vermoͤgen anwendet / ſein Leben wider alle aͤuſſerliche Gewalt zu verthaͤydigen. Denn dieſes alles ſind gantz offenbare Conclufiones, die aus der Lehre des erſten Hauptſtuͤckes hergeleitet werden.

7.

Und alſo iſt gar leichte zu wiſſen / wodurch er ſein Leben verkuͤrtze / nemlich wenn er alles / was wir jetzo erzehlet haben oder nur ein Stuͤck davon nicht in acht nimmt / oder vielmehr das Ge - genſpiel zu thun ſich befleißiget.

8.

Jedoch muß der Menſch nicht meinen / daß / wenn er dieſes / was er zu Erhaltung ſeines Le - bens in der Natur gegruͤndet zu ſeyn befindet / in acht nimmt / auch nothwendig ſein Leben ſo lange dauren muͤſſe / als nach denen natuͤr - lichen Regeln geſchienen / daß es dauren ſolte. Denn GOtt hat die vernuͤnfftigen Regeln nicht ſich / ſondern dem Menſchen vorgeſchrieben / und durch die taͤgliche allgemeine Erfahrung lehret er alle Menſchen ſo viel / daß wenn ſie dieſelbigen muthwillig uͤberſchreiten / ſie an der Verkuͤr - tzung ihres Lebens Urſache ſeyn / auch keine Urſache in der Natur / oder der Erfahrung fin - den / daß ſie wahrſcheinlich hoffen ſolten / GOtt wolle vermittelſt ſeiner Allmacht auſſerordentlich wider den Lauff der Natur ihr Leben erhalten.

9.

Jm Gegentheil aber weiſet auch die taͤgli - che Erfahrung / daß GOtt diejenigen / die noch ſoYwohl342[338]Das 8. H. von der vernuͤnfftigenwohl die Grund-Regeln der Natur in dieſem Stuͤck in acht genommen / durch einen unver - ſehenen und gewaltſamen Tod hinwegreiſ - ſe / den ſie nicht vermoͤgend ſind durch allen ihren angewendeten Fleiß nur auf eine Minute auf - zuſchieben: Es geſchehe nun ſolches entweder / daß GOtt dadurch uns Menſchen lehren wolle / daß er als ein Herr der Natur nicht ſich / ſondern uns ein gewiſſes Ziel ſolches zu beobachten geſe - tzet habe / er aber ſolches allezeit verkuͤrtzen koͤnne; oder daß ſodenn unſer Lebens-Ziel nicht nach unſerer natuͤrlicher Muthmaſſung / ſondern nach GOttes Vorwiſſenheit gerechnet werden muͤſſe; oder aber daß ein ſolcher Menſch die Verkuͤrtzung ſeines Lebens durch Unterlaſſung vernuͤnfftiger Liebe gegen andere Menſchen oder durch unver - nuͤnfftige Thaten wider die Schuldigkeit gegen GOtt ſelbſt / ſich uͤber den Hals gezogen habe.

10.

Und damit wir ſelbſt nicht wider die Schuldigkeit ſuͤndigen / ſo wollen wir ferner hier nicht nachgruͤbeln / wie doch dieſes mit GOt - tes Vorſehung und Allmacht beſtehen koͤn - ne / daß ein Menſch ſich ſein Lebens-Ziel ver - kuͤrtzen koͤnne. Denn dieſe Nachgruͤblung iſt vergebens / und nutzet uns nichts / weil alle goͤttli - che Eigenſchafften unbegreifflich ſeyn / und zu Er - haltung unſerer Gemuͤths-Ruhe genung ſeyn kan / daß wir unſtreitig bey uns befinden / daß ſich der Menſch ſein Leben verkuͤrtzen koͤnne.

11. Laß343[339]Liebe gegen uns ſelbſt.

11.

Laß uns vielmehr dieſes etwas genauer erwegen / worum wir in Beſchreibung der ver - nuͤnfftigen Liebe gegen ſich ſelbſt gedacht / daß die Erhaltung des Lebens denen Menſchen / die wir vernuͤnfftig lieben / zu gut geſchehen muͤſ - ſe. Denn es flieſſet nicht alleine / wie gedacht / die Liebe gegen uns ſelbſt aus der Liebe an - derer Menſchen her / ſondern die Liebe anderer Menſchen iſt auch eine Richt-Schnur der Lie - be gegen uns ſelbſt.

12.

Was das erſte betrifft / ſo erfordert ſo wohl die allgemeine als fuͤrnemlich die abſon - derliche Liebe / daß wir unſer Leben zu erhalten uns angelegen ſeyn laſſen. Jene zwar / weil wir ohne Unterſcheid anderer Menſchen Huͤlffe / und derer ihres Lebens benoͤthiget ſind; Dieſe aber / weil die Liebe erfordert / daß wir der geliebten Perſon ihr Vergnuͤgen mehr als das unſerige ſu - chen ſollen; und weil wir dann wiſſen / daß der - ſelbe mehr in uns als in ſich ſelbſt lebet; als wuͤr - den wir die Liebe hoͤchlich beleidigen / wenn wir in Erhaltung unſeres Lebens uns nachlaͤßig bezei - gen ſolten.

13.

So iſt auch hiernechſt die Liebe anderer Menſchen eine Richt-Schnur der Liebe ge - gen uns ſelbſt / theils in Betrachtung / wie die - ſelbe einzurichten ſey / theils in Anſehen / wie die Liebe gegen uns ſelbſt der Liebe anderer Menſchen weichen muͤſſe.

Y 214. Jn344[340]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen

14.

Jn der erſten Betrachtung weiſet die Liebe anderer Menſchen uns an / daß es nicht genung ſey / das Leben zu erhalten / ſo ferne daſſel - bige nur bloß auf die Machine des menſchlichen Coͤrpers gehet / ſondern in dem dieſe Erhaltung der Liebe anderer Menſchen zu gut geſchehen ſol - le / verſtehet ſichs von ſich ſelbſten / daß zufoͤrderſt die Seele auch dergeſtalt von aller Unwiſſenheit und Thorheit / ingleichen von allen boͤſen / und die Liebe hindernden Zuneigungen geſaubert werden muͤſſe / ob gleich dieſelbige an und vor ſich ſelbſt ſo beſchaffen waͤren / daß dadurch unſer Leben nicht verkuͤrtzet wuͤrde / ſondern wir wohl in dieſen Thorheiten und Zuneigungen unſer Leben als wie ein Vieh viel lange Jahre ſolten zubringen koͤnnen.

15.

Naͤchſt dieſen ſoll auch die Liebe gegen uns ſelbſt der Liebe gegen andere Menſchen weichen / weil wir in Beſchreibung der abſon - derlichen Liebe zum oͤfftern erwehnet haben / daß uns dieſelbe antreibe / unſer Leben vor die Per - ſon / die wir vernuͤnfftig lieben / zu laſſen. Und wenn dannenhero durch Unterlaſſung deſſen / was wir oben n. 6. zu Erhaltung des Lebens er - fordert / das Leben der Perſon die wir lieben / er - halten werden koͤnte; So weiſet die geſunde Vernunfft / daß wir ſo dann ſolches vielmehr zu unterlaſſen / als zu thun ſchuldig ſeyn / wiewohl wir nicht leichte abſehen koͤnnen / in was fuͤr einem Fall durch Unterlaſſung obbeſagter Dinge einesandern345[341]Liebe gegen uns ſelbſt.andern Menſchen Leben erhalten werden koͤnte / auſſer was wir daſelbſt von der Verthaͤydigung unſers Lebens wider aͤuſſerliche Gewalt gemeldet.

16.

Ob auch ſchon jemand hierwieder ein - wenden wolle / ich duͤrffte meines Lebens Erhal - tung nicht meines Freundes Leben nachſetzen / weil mein Freund ja mehr in mir als in ſich ſelbſt lebe / woraus zu folgen ſcheine / daß ich mehr auf mich / als auf ſein Leben zu erhalten ſe - hen muͤſſe. So iſt doch hierauf zu antworten / daß die Regeln der Liebe auch gleichfalls von mir erforderten / mehr in meinem Freunde als in mir zu leben / und alſo ſein Leben dem Meini - gen vorzuziehen / und daß / wenn ich mit dieſer Ge - gen-Liebe nicht verſehen waͤre / ich auch der Liebe meines Freundes nicht werth ſey.

17.

Ja ſprichſt du: Auff ſolche Art wird ja dieſes folgen / daß in der Liebe nicht ein Hertz und eine Seele / ſondern zwey wiederſpre - chende Willen anzutreffen ſeyn / indem ein je - der vor dem andern ſterben / und des andern ſei - nen Tod verhindern wil; ſolchergeſtalt aber wird Liebe nicht Liebe / oder doch die Uneinigkeit Liebe heiſſen.

18.

Aber O angenehmer Streit! O vergnuͤg - ſame Uneinigkeit! Dieſes iſt das eintzige pa - radoxum in der Weltweisheit / deſſen Wahr - heit wohl von allen Menſchen empfunden wer - den kan / daß es der Vernunfft nicht zu widerſey / und von dem man doch in der Vernunfft keineY 3deut -346[342]Das 8. H. von der vernuͤnfftigendeutliche Urſache findet / daſſelbe zu demonſtriren / ſondern das gleich ſam der erſte Schritt iſt / wenn die Vernunfft ihre hoͤchſte Staffel erreichet hat / zu der uͤbernatuͤrlichen Erleuchtung zu gelangen / und die Erleuchtung mit der Vernunfft durch dieſes Band zu verknuͤpffen.

19.

Wir haben aber geſagt / daß die abſon - derliche Liebe uns verbinde / unſer Leben aus Lie - be zu unſern Freund zu laſſen. Denn was die allgemeine betrifft / haben wir ſchon oben / als wir von derſelben gehandelt / gnugſam gewieſen / daß weder die Tugend der Leutſeligkeit / noch eine andere zur allgemeinen Liebe gehoͤrige Tugend ſich biß dahin erſtrecke / fuͤr alle Menſchen das Le - ben zu laſſen. Ja wir haben daſelbſt / als von der Gedult gehandelt / geſagt / daß wir nur von der Gedult / die man gegen die empfangenen Beley - digungen ausuͤben muͤſſe / redeten / und zu ſeiner Zeit von der Gedult gegen die inſtehenden und kuͤnfftigen Beleydigungen ſchon unſere Meinung entdecken wolten. Derowegen fraget es ſich nun - mehro nicht unbillig / ob denn die vernuͤnfftige Liebe uns nicht auch verbinde / die von unſern Feinden uns zu beſorgende gewaltſame Ge - fahr und Schmach mit Gedult zu erwarten / und auch fuͤr dieſelben unſer Leben zu laſſen; oder ob wir nicht vielmehr dieſelbe mit Gegen - Gewalt und auch wohl mit Ertoͤdtung unſers Gegeners / der Liebe unbeſchadet abtreiben koͤnnen?

20. Die -347[343]Liebe gegen uns ſelbſt.

20.

Dieſe von vielen weitlaͤufftig auch ziem - lich uneinig und confus beantwortete Frage kuͤrtz - lich und gegruͤndet zu beantworten / wollen wir nur aus dem / was wir bißhero demonſttiret / et - liche Saͤtze und Gruͤnde hieher wiederhoh - len. (1) Daß ein jedweder einen jedweden Men - ſchen zwar nicht abſonderlich lieben koͤnne / aber doch auch nicht haſſen ſolle. (2) Daß derjenige / ſo uns Feindſchafft erweiſet / nicht prætendiren koͤnne / daß wir ihm mit abſonderlicher Liebe zugethan ſeyn muͤſten / weil er durch ſeine Be - leydigungen gnugſam darthut / daß er nicht tu - gendhafft ſey. (3) Daß wir einen ſolchen Men - ſchen doch nicht haſſen duͤrffen / ſondern ihm die allgemeine Liebe erweiſen muͤſſen. (4) Daß haſſen nichts anders ſey / als darnach trachten / wie man einen andern Menſchen fuͤr das uns er - wieſene eingebildete boͤſe Leydes zufuͤgen moͤge. (5) Daß die Verthaͤydigung ſeines Lebens und ſeiner andern Guͤter nicht unter den Haß gerechnet werden koͤnne / weil dieſelbe nur dahin trachtet / den andern abzuhalten / daß er uns nichts zu leyde thue. (6) Daß wir dieſe Verthaͤydi - gung der abſonderlichen und allgemeinen Liebe ſchuldig ſeyn. (7) Daß wir zwar wegen be - gangener Boßheit oder Verſehen uns nicht raͤ - chen ſollen / weil wir dergleichen Gedult taͤglich von andern Menſchen insgemein benoͤthiget ſind / aber wegen offenbahrer gegenwaͤrtigen Ge - walt / wenn wir nur ein wenig vernuͤnfftig ſeyn /Y 4von348[344]Das 8. H. von der vernuͤnfftigenvon keinen Menſchen prætendiren / daß er dieſelbe gedultig aushalten ſolle; Weswegen man auch wiederum von uns nicht dieſelbe prætendiren koͤnne.

21.

Aus dieſen Gruͤnden antworten wir nun auff die vorgelegte Frage. Daß die Liebe nicht von uns erfordere / daß wir die von unſern Feinden uns gedrohete entſtehende Gewalt gedultig aushalten muͤſſen / ſondern daß wiꝛ dieſelbe gar wohl der Liebe unbeſchadet mit Gegen-Gewalt / und wenn es auch mit Er - toͤdtung unſers Gegners ſelbſt waͤre / abtreiben koͤnnen.

22.

Jch rede aber von inſtehender Gewalt. Denn wegen der Bedrohung brauchen wir die - ſes gewaltſame Mittel nicht / theils weil wir da - durch vielmehr die Bedrohungen / als eine all - bereit zugefuͤgte Schmach raͤchen wuͤrden / wel - ches wider die allgemeine Gedult ſtreitet / theils weil wir wider die Bedrohungen durch ander - waͤrtige Vorſorge und præparirung / daͤß wir kuͤnfftig Gewalt mit Gewalt vertreiben koͤnnen / gnugſam verſichert ſind.

23.

Sprichſt du gleich / es ſey gantz unver - nuͤnfftig / die gewaltſame Ertoͤdtung eines Menſchen vor ein Werck der Liebe auszu - geben; So iſt doch gar leicht zu antworten / daß man ja niemaln geſagt / daß man dadurch dem - jenigen / den man ertoͤdtet / Liebe bezeige / ſondern es iſt genung / daß man ihm dadurch keinen Haßerweiſe /349[345]Liebe gegen uns ſelbſt.erweiſe / indem wir ſeinen Tod nicht intendiren / ſondern er ſich denſelben ſelbſt verurſacht / und daß wir durch dieſe unſere Verthaͤydigung ſo wohl insgemein allen Menſchen / als unſern ab - ſonderlichen Freunden unſere Liebe bezeugen.

24.

Wie aber die uns drohende Gewalt beſchaffen ſeyn muͤſſe / daß ſie mit dergleichen Gegengewalt abgetrieben / und unter die Gegen - waͤrtigen gerechnet werden koͤnne? Jngleichen was man zuvorhero verſuchen muͤſſe / ehe man es zu dieſer Extremitaͤt unſern Feind zu er - toͤdten kommen laſſe? Und was dergleichen hieher gehoͤrender Fragen mehr ſeyn moͤgen / die von de - nen Moraliſten insgemein pflegen gemacht / und beantwortet zu werden / in dieſelben wollen wir uns allhier nicht einlaſſen / theils weil wegen der vielfaͤltigen und allzuſehr varirenden Umſtaͤnde man faſt nicht wohl uͤberhaupt dieſelben eroͤrtern kan / ſondern ſie eines jedweden Tugendhafften ſeiner eigenen Klugheit und Liebe anheim ſtellen muß; theils weil es denen Laſterhafften oder in der Tugend Unvollkommenen wenig helf - fen wuͤrde / wenn wir dieſelben noch ſo ſubtil eroͤr - terten / ſie aber wegen ihrer Laſter oder Unvollkom - menheit nicht faͤhig waͤren / dieſe Beantwortung zu practiciren / zumahlen da dergleichen Gefahren einen ſolchen Menſchen durch die ploͤtzliche Furcht und Erſchreckniß in einen ſolchen Zuſtand ſetzen / da er ſein ſelbſt nicht maͤchtig iſt / ſondern ſich von dieſer Furcht und Schrecken regieren laſſen muß. Y 5Tref -350[346]Das 8. H. von der vernuͤnfftigenTreffen ſie aber einen Menſchen an / der die ver - nuͤnfftige Liebe und Gemuͤths-Ruhe allbereit in einem hohen Grade beſitzt; ſo weiß derſelbe ſchon nach dem ihm mitgetheilten Maß der Liebe ſich ſeiner Gebuͤhr nach hierinnen zu bezeigen.

25.

Wann demnach / als erwehnet / die Liebe gegen uns ſelbſt / theils in der Sorge fuͤr unſere Seele / theils in der Sorge fuͤr unſer Leben und Geſundheit beſtehet; ſo ſolten wir nun wohl von beyden inſonderheit zu handeln anfangen. Wir werden aber verhoffentlich bey dem ver - nuͤnfftigen Leſer gar leicht entſchuldiget werden / daß wir ſolches allhier unterlaſſen.

26.

Denn was die Seele betrifft / ſo beſtehet derſelben Vollkommenheit in zweyen Haupt - Tugenden / der Weisheit und Liebe. Von jener haben wir ſattſam in der Vernunfft-Lehre gehandelt. Von dieſer aber reden faſt alle Blaͤtter gegenwaͤrtigen Sitten-Lehre. Und was von denen Mitteln dieſelbe zu erhalten noch uͤbrig iſt / wird der andere Theil von der Artzney wider die unvernuͤnfftige Liebe gnugſam aus - fuͤhren.

27.

Was des Leibes Leben und die Ge - ſundheit anbelanget / gehoͤret ſolches zu thun fuͤr die Artzney-Kunſt / und iſt der edelſte Theil der - ſelben / wiewohl insgemein die Herren Medici mehr darum bekuͤmmert ſind / wie die allzuem - pfindlichen und gefaͤhrlichen Kranckheiten zu ver - treiben / als wie der Menſch ſeine Geſundheit inguten351[347]Liebe gegen uns ſelbſt.guten Fortgang erhalten / dieſelbe immer mehr und mehr verſtaͤrcken / und denen Kranckheiten vorkommen moͤge / um welches letzte ſich doch ein jedweder vernuͤnfftiger Menſch / am allermeiſten aber ein Studioſus und Gelehrter bekuͤmmern ſolte. Jedoch weil die Wiſſenſchafft der Artzney - Kunſt in dieſem Jahrhundert um ein merckliches gewachſen; Als haben wir auch GOtt ſey Danck unterſchiedene gelehrte Buͤcher / die uns darinnen eine deutliche und von einem jedweden vernuͤnffti - gen Menſchen leichtlich zubegreiffende Nachricht geben. Jch wil nur dißfalls eines nahmhafft ma - chen / welches ich fuͤr mich und meine Zuhoͤrer biß - hero gut befunden / nemlich / des D. Cornelii Bon - tekoe Abhandelung von des Menſchen Leben / Geſundheit / Kranckheit und Tode.

28.

Wolte ſich jemand hierinnen ſelbſt uͤben die Warheit zu erforſchen / ſo darff er nur dasjenige wiederholen / was wir allhier im er - ſten Hauptſtuͤck von dem Guten und Boͤſen - berhaupt geredet / und es auf ſeine eigene Speiſe und Tranck / Kleidung / Wohnimg / taͤgliche Bewegung u. ſ. w. appliciren / und es hernach ge - gen des D. Bontekoe oder ein anders dergleichen Buch halten / ſo wird er finden / daß er taͤglich in dieſer Wiſſenſchafft fuͤr ſich ſelbſt neue Wahrhei - ten zu erfinden / und die von andern erfundene zu pruͤffen / geſchickt ſey / auch erkennen / in was fuͤr groben Jrrthuͤmern er geſteckt habe.

29. Z. e.352[348]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen

29.

Z. e. Wenn man wiſſen wil / was fuͤr ein Tranck ordentlich am geſundeſten ſey? So iſt aus dem erſten Hauptſtuͤck unſerer Sitten - Lehre die Antwort / derjenige / der unſer Gebluͤte in einer proportionirlichen Bewegung behaͤlt / daß es nicht zu geſchwinde noch zu langſam lauffe. Machen wir nun die Applicirung dieſer Regel auf unſer Getraͤncke / ſo finden wir ſolches von dreyerley Sorten: Wein / Waſſer und Bier. Der Wein hitzet / und macht alſo die Bewegung des Gebluͤts allzugeſchwinde / oder er ſchleimet wenn er ſuͤſſe iſt / und macht / daß ſich das Gebluͤte langſam beweget / oder iſt Kalckigt / und treibt ſol - che kleine Theilgen in das Gebluͤte / die die Adern zerſchneiden / oder durch ihre Verſetzung die Cir - culation des Gebluͤtes ſehr hindern / und die Gicht und dergleichen Kranckheiten verurſachen. Das Bier thut gleiche Wirckungen; entweder es hi - tzet oder kaͤltet; Gemeiniglich aber ſchleimet es / wie der Wein gemeiniglich hitzet / welches bey dem Bier der klebigte Schweiß / bey dem Weine aber die in alle Glieder tretende Hitze bezeiget. So ſind auch dieſe beyde Arten von Getraͤncke ſo beſchaffen / daß ſie durch ihre Schaͤrffe oder Lieb - lichkeit einen Durſt verurſachen / und die Zunge dergeſtalt kuͤtzeln / daß man mit Luſt mehr davon trinckt / als die Natur erfordert. Alleine das Waſſer iſt ordentlich weder hitzig noch kaͤltend; es erhaͤlt das Gebluͤte in einer proportionirlichen Bewegung / es iſt weder ſuͤſſe noch ſcharff / daß esbey353[349]Liebe gegen uns ſelbſt.bey uns einen Durſt erwecken oder zulaſſen ſolle / mehr zu trincken als die Natur erfordert. Nun mache den Schluß ſelbſt / welches unter dieſen dreyen Getraͤncken ordentlich und fuͤr einen ge - ſunden Menſchen das Beſte ſey. Aber nimm dich wohlin acht / daß du denſelben nach den Re - geln geſunder Vernunfft und nicht nach deiner Begierde machſt.

30.

Ja damit du erkennen moͤgeſt / wie die Er - findung einer Warheit der andern die Hand biete / ſo betrachte wol / daß das Waſſer in Anſe - hen des Weines und Bieres / das unſchmackhaf - teſte Getraͤncke ſey / und wenn du dieſe Anmer - ckung gegen das erſte Capitel haͤltſt / und darinnen befindeſt / daß die Dinge / die bey denen Sinnen die wenigſte Empfindligkeit erwecken / die Beſten ſeyn / ſo haſt du ſchon einen groſſen Theil neuer Wahrheiten in Betrachtung der geſunden Speiſen erfunden / wenn du ebenmaͤßig die Ap - plication machſt / daß die unſchmackhaffteſten Speiſen ordentlich die geſundeſten / die ſau - ren / ſuͤſſen hingegen / und die einen geſunden und nicht verleckerten Menſchen widrig und eckel ſind / am ungeſundeſten find / u. ſ. w.

31.

Wolteſt du aber auch endlich um beſſerer Oꝛdnung willen / wie wir bey der allgemeinen und abſonderlichen Liebe gethan haben / auch bey der Liebe gegen uns ſelbſt die unterſchiedenen hie - her gehoͤrenden Beobachtungen mit gewiſſen Nahmen der Tugenden belegen; Koͤnteſt du dieSchul -354[350]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen LiebeSchuldigkeit in Speiſe und Tranck / Maͤßig - keit / diejenige ſo die Kleidung und Wohnung an - gehet / Reinligkeit / die ſo auf Bewegung der aͤuſſerlichen Gliedmaſſen zielet / Arbeitſamkeit / und endlich die ſo den Leib vertheydiget / Tapffeꝛ - keit nennen. Aber bemuͤhe dich vielmehr dieſe Tugenden auszuuͤben / als uͤber derſelben Benen - nung oder Beſchreibung unnoͤthigen Streit an - zufangen.

Das 9. Hauptſtuͤck. Vonder Nothwendigkeit ver - nuͤnfftiger Liebe / in denen vier all - gemeinen Geſellſchafften menſch - lichen Geſchlechts.

Jnnhalt.

  • Connexion. n. 1. Jn der Ehelichen Geſellſchafft / inglei - chen der Geſellſchafft zwiſchen Eltern und Kindern / Herr und Knecht / Obrigkeit und Unterthanen n. 2. ſcheinet die Liebe nicht viel zu thun zu haben / weil daſelbſt Befehl und Zwang iſt. n. 3. Gleichwohl iſt ei - ne jede Geſellſchafft eine Vereinigung der Gemuͤther wie bey der Liebe. n. 4. Es kan keine Geſellſchafft ohne Liebe / aber wohl ohne Befehl und Zwang ſeyn. n. 5. Der Befehl gehet in denen Geſellſchafften nur der Liebe an die Hand n. 6. und iſt mit einer Geſell - ſchafft mehr verknuͤpfft als mit der andern n. 7. nach - dem die Geſellſchafften entweder wegen des innerli - chen Antriebes / oder aus Mangel der Liebe entſtanden355[351]in denen menſchlichen Geſellſchafften.den. n. 8. Die Eheliche und Vaͤterliche Geſellſchafft braucht den Zwang hoͤchſt nothwendig nicht allezeit. n. 9. Bey der Geſellſchafft zwiſchen Herr und Knecht iſt man mit der allgemeinen Liebe zu frieden / jedoch kan eine abſonderliche Liebe draus werden. n. 10. Aber in der buͤrgerlichen Geſellſchafft iſt die abſondeꝛ - liche Liebe zwiſchen Obrigkeit und Unterthanen nicht zu hoffen. n. 11. Wenn aber die allgemeine Liebe nicht einmahl zu ſpuͤhren iſt / iſt der Obrigkeit / und alſo auch in denen andern drey Geſellſchafften denen ſo darin - nen zu befehlen haben / es mehrentheils zu imputi - ren. n. 12. Die Eheliche Geſellſchafft iſt die aller natuͤr - lichſte. n. 13. Darinnen man eine abſonderliche glei - che Liebe finden ſoll. n. 14. vor Vollziehung derſelben muß man mit der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit ſehr be - hutſam umgehen. n. 15. auch die Gutthaͤtigkeit nicht beyſeite ſetzen. Nach Vollziehung derſelben ſoll die Gemeinſchafft alles Thun und Laſſens / ingleichen ih - res Vermoͤgens ſtatt haben. n. 17. Wenn zwiſchen Eheleuten ein unverſoͤhnlicher Haß entſtehet / iſt es vernuͤnfftig / daß ſie geſchieden werden. n. 18. Von der Polygamie und communione uxorum. Die Geſell - ſchafft der Eltern und Kinder ſoll mit einer unglei - chen vernuͤnfftigen Liebe begabet ſeyn. n. 20. und ſich hernach in eine gleiche Liebe verwandeln. n. 21. Die Geſellſchafft zwiſchen Herr und Knecht ſoll auf bey - den Theilen alle Tugenden der allgemeinen Liebe be - ſitzen. n. 22. Wenn aus derſelben ein abſonderliche Liebe werden kan. n. 23. Die Beſchaffenheit vernuͤnff - tiger Liebe in der buͤrgerlichen Geſellſchafft. n. 24.

1.

WJr haben bißher von der Liebe gehan - delt / wie dieſelbe nach dem Trieb der Vernunfft erwehlet werde / und auf einevoͤl -356[352]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebevoͤllige Vereinigung zweyer Gemuͤther / von was Stand und Geſchlecht ſie auch ſeyn moͤgen / ihr Abſehen richte. Und iſt dannenhero nichts mehr in der Lehre von der Liebe uͤbrig / als daß wir ſe - hen / wie dieſelbe in denen vier Menſchlichen Geſellſchafften beſchaffen ſeyn ſolle / die des - halben natuͤrliche Geſellſchafften pflegen genen - net zu werden / weil ſie allgemein ſeyn bey allen Voͤlckern / und kein Menſch iſt / der nicht in einer von denenſelben / wo nicht in allen vieren ſich be - finde.

2.

Dieſes ſind die Geſellſchafft (1) zwiſchen Mann und Weib / (2) Eltern und Kindern (3) Herr und Knecht / (4) Obrigkeit und Unterthanen. Von deren Beſchaffenheit und was nach denen Regeln der Gerechtigkeit einer jeden Perſon / ſo darunter lebet / ihre Pflicht - Schuldigkeit ſey / wir nicht weitlaͤufftiger han - deln wollen / weil wir ſolches anders wo gethan / und auch ſonſten viele von dieſen Dingen ins - gemein bekandt ſind. Sondern wir wollen nur ſehen / was die Liebe in denenſelben zu wircken und zu verrichten habe.

3.

Zwar wenn wir dieſelben insgeſamt oben hin anſehen wollen / ſo ſcheinet es / daß die Lie - be eben nicht viel dabey in obacht zu neh - men ſey. Denn alle dieſe vier Geſellſchafften ſind in dem Menſchlichen Geſchlecht durchge - hends dergeſtalt beſchaffen / daß eine Perſon darinnen der andern zu befehlen hat / und dieandere357[353]in denen menſchl. Geſellſchafften.andere der erſten gehorchen muß. Wo aber Befehl iſt / da iſt auch Zwang. Wo Zwang iſt / da iſt keine Liebe. Und folglich weil wir oben erwehnet / daß eben der Zwang den Unter - ſcheid zwiſchen der Gerechtigkeit und Liebe ma - che / ſo ſcheinet es wohl / daß dieſe vier Geſell - ſchafften Gerechtigkeit / aber doch keine Liebe leiden koͤnten.

4.

Wiederum aber / wenn wir andertheils be - trachten / daß gleichwohl von der Ehelichen Lie - be / von der Liebe der Eltern gegen die Kin - der u. ſ. w. jederman redet und ſchreibet; ja wenn man erweget / daß alle menſchliche Geſellſchafft in der Vereinigung zwey er Gemuͤther zu ei - nen gewiſſen Endzweck beſtehe / ſo ſiehet man / daß auch alle Geſellſchafften ihrem Weſen nach die Liebe / als welche die Vereinigung der Ge - muͤther iſt / intendiren.

5.

Und alſo wird man bald gewahr / daß kei - ne Geſellſchafft ohne Liebe / aber wohl ohne Befehl und Zwang ſeyn koͤnne; und daß der Befehl und Zwang zufaͤlligeꝛ Weiſe in die menſch - lichen Geſellſchafften gekommen ſey / ſo ferne nem - lich etliche Perſonen in denenſelben entweder aus Unvollkommenheit oder aus Boßheit dasjenige / was zu dem Zweck einer jeden Geſellſchafft zu er - reichen dienet / nicht freywillig thun wollen / oder auch wohl darwider ſtreben.

6.

Woraus noch ferner folget / daß die Lie - be nicht des Zwangs halben in denen vier be -Zſagten358[354]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebeſagten Geſellſchafften ſich befinden ſolle / ſon - dern daß die Liebe in allen dene nſelben ſolle gleichſam das Regiment fuͤhren / und der Be - fehl und Zwang ihr nur an die Hand gehen muͤſſe / nicht zwar Liebe durch Zwang und Be - fehl zu erwecken / welches ohnmoͤglich / ſondern die Liebe wider den Haß und deſſen Beleydigun - gen zu beſchuͤtzen. Und alſo hoͤret der Befehl und der Zwang nothwendig in dieſen Geſellſchafften auf / oder man braucht ihn zum wenigſten nicht / wenn die Menſchen in denenſelbigen der Liebe freywillig Platz geben.

7.

Jedoch obſchon der Befehl und Zwang zu keiner von dieſen vier Geſellſchafften gehoͤ - ret / wenn man dererſelben Endzweck an und fuͤr ſich ſelbſt betrachtet; ſo iſt doch derſelbige mit einer Geſellſchafft mehr verknuͤpfft als mit der andern / und wird ſolcher Geſtalt nicht un - fuͤglich geſagt werden koͤnnen / daß gleichwie die Liebe zu dem Weſen aller Geſellſchafften gehoͤre / alſo hingegentheil der Zwang zufaͤlli - ger Weiſe in etliche Geſellſchafften gerathen / bey etlichen aber gleichſam einen Theil des We - ſens derſelben mache.

8.

Nemlich / wenn man obbeſagte vier Ge - ſellſchafften ein wenig gegen einander haͤlt / ſo wird man gar bald befinden / daß zwey von de - nenſelben unter dem menſchlichen Geſchlecht in Schwange gehen wuͤrden / wenn gleich alle Men - ſchen tugendhafft waͤren / und einander liebten /und359[355]in denen menſchl. Geſellſchafften.und wenn gleich nach denen Geſellſchafften ver - nuͤnfftiger Liebe alle Guͤter gemein waͤren / und jederman in dieſer Welt genung haͤtte / derge - ſtalt / daß es weder Reiche noch Arme gebe. Die andern zwey aber ſind aus dem Mangel der Liebe / und dem deswegen eingefuͤhrten Ei - genthum auch dem draus erfolgten Uberfluß und Armuth entſtanden / zum theil aber auch wegen der Furcht fuͤr der Boßheit anderer Menſchen ſo wohl auſſer als binnen der Geſellſchafft ge - macht und formiret worden.

9.

Die Eheliche Geſellſchafft und folglich auch die Geſellſchafft zwiſchen Eltern und Kindern iſt unter tugendhafften und laſterhaff - ten / Armen und Reichen. Und ob ſie wohl bey - derſeits keinen Reichthum und Eigenthum zu ihrer Selbſtaͤndigkeit præſupponiren / ſo brau - chen ſie doch / wenn ſie ihren Zweck erreichen ſol - len / Tugend und Liebe / und wenn dieſe ſich fin - den laͤſt / ſo darff ſich das Befehlen des Man - nes und das Gebot der Eltern nicht ſonderlich hervorthun; ſondern es thut entweder ein jedes von ſich ſelbſt ſeine Schuldigkeit / oder es iſt an einer Erinnerung genung / die keines gebieteri - ſchen Zwangs vonnoͤthen hat. Und kan auch in dieſen Geſellſchafften eine vernuͤnfftige Liebe am eheſten entſtehen / weil der Menſch darzu durch einen allgemeinen innerlichen Antrieb / nicht aber durch eine aͤuſſerliche Nothwendigkeit gerei - tzet wird.

Z 210. Hin -360[356]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe

10.

Hingegen waͤre die Geſellſchafft zwi - ſchen Herr und Knecht nicht / wenn nach der Liebe alles gemein / und weder Reiche noch Ar - me waͤren. Die Buͤrgerliche Geſellſchafft aber waͤre nicht entſtanden / wenn man ſich fuͤr liebloſen Leuten nicht zu fuͤrchten angefangen / und fuͤr deren Haß zu beſchuͤtzen geſucht haͤtte. Bey jener iſt deshalben die Liebe gemeiniglich in einem geringen Grad / weil bey derſelben ſo wohl der Herr als der Knecht mehr auff ſeinen Privat-Nutzen / als auf das Vergnuͤgen des an - dern ſiehet / auch das Abſehen des Herrn ſo be - ſchaffen iſt / daß es ohne Fuͤrſchreibung und Be - fehl / darnach der Knecht mit ſeinem Thun und Laſſen ſich richten muß / nicht kan erhalten wer - den. Jedennoch muß auf beyden Seiten zum wenigſten die allgemeine Liebe beobachtet werden / und die abſonderliche iſt dieſer Geſell - ſchafft nicht zu wider; Ja wo man dieſelbe in dieſer Geſellſchafft antrifft / da hoͤret der be - fehlende Zwang und Eigennutz auf / und wird in eine bruͤderiche Liebe verwandelt.

11.

Aber die buͤrgerliche Geſellſchafft kan des Zwangs und des Befehlens weniger entbehren / und eine abſonderliche Liebe zwi - ſchen der Obrigkeit und Unterthanen weniger erhalten / ſondern muß ſich begnuͤgen laſſen / wenn nur die abſonderliche Liebe in Schwang ge - bracht werden kan / weil das Mißtrauen gegenandere361[357]in denen menſchl. Geſellſchafften.andere Menſchen derſelben Urſprung iſt / und bey Einrichtung derſelben mehrentheils man ſol - che Conditiones einander vorzuſchreiben pfleget / die ein groſſes Mißtrauen zwiſchen den Perſonen ſelbſt / die ſich in dieſer Geſellſchafft einlaſſen / an - zeigen. Zu geſchweigen / daß weil dieſelbige aus gar zu vielen Perſonen beſtehet / es ohnmoͤglich ſey / daß zwiſchen denen Gemuͤthern der Obrigkeit und Unterthanen eine voͤllige Gleichheit / und alſo auch eine abſonderliche Liebe koͤnne gehoffet werden.

12.

Jedoch ſoll auch in dieſen beyden letzten Geſellſchafften die Sorge dererjenigen ſeyn / die die Herrſchafft haben / daß die Knechte und Unterthanen ſo viel moͤglich zu der abſon - derlichen Liebe beqvehmer gemacht wer - den moͤgen. Und wenn in dieſen Geſellſchaff - ten nicht einmahl die Tugenden allgemeiner Lie - be beobachtet werden / ſo iſt gemeiniglich die Schuld derer / die am kluͤgeſten ſeyn ſolten / das iſt / derer / die die Herrſchafft haben / welches auch von der Ehelichen und Vaͤter - lichen Geſellſchafft zu ſagen iſt / wenn nur das Gegentheil ſie nicht offenbahr entſchuldiget / als wenn die Weiber / Kinder / Knechte und Unter - thanen boßhafftiger Weiſe alle gute Zucht und Vermahnung von ſich ſtoſſen / und mit Fuͤſſen treten.

13.

Nachdem wir alſo von der Nothwen - digkeit der vernuͤnfftigen Liebe in denen vier all -Z 3gemei -362[358]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebegemeinen menſchlichen Geſellſchafften uͤberhaupt geredet / wollen wir auch nur noch mit wenigen jede Geſellſchafft beſchauen / ſo ferne die Liebe darmit zu thun hat. Die Eheliche iſt deshalben die allernatuͤrlichſte / weil ſie dahin trachtet / dem natuͤrlichen Trieb und Neigung / den Gott beyderley Geſchlechte ins Hertze gegeben / ge - nung zu thun. Jch verſtehe nicht die geile Nei - gung zur Leibes Vermiſchung / ſondern die menſch - liche vernuͤnfftige Neigung / zwey Hertzen auf das feſteſte und ſtetswehrend mit einander zu ver - knuͤpffen / und durch eine keuſche Vereinigung Kinder mit einander zu erzeugen / und gleichſam in ſelbigen die Wechſel-Liebe zu concentriren / oder vielmehr auszubreiten.

14.

Alſo ſol demnach in dem Eheſtande nichts anders als eine abſonderliche vernuͤnff - tige und gleiche Liebe herrſchen / die nicht aufhoͤren ſoll noch darff / weil die gemeinen Ge - ſetze die Ehe-Scheidung verbieten / weswegen die Regeln geſunder Vernunfft erfordern / daß die Perſonen / ſo ſich hinein begeben wollen / am al - ler behutſamſten in der Wahl umgehen muͤſ - ſen / weil ſonſten bey andern Freundſchafften und Lieben / wenn man ſich in ſeiner Wahl betrogen hat / man allezeit oder doch mehrentheils den Feh - ler corrigiren kan / daß man ſich wieder vonein - ander ſondert / und durch dieſe Sonderung die abſonderliche Liebe aufhebet.

15. Dero -363[359]in denen menſchlichen Geſellſchafften.

15.

Derohalben iſt offenbahr / daß / wo je - mahls bey einer abſonderlichen Liebe / gewiß hie - rinnen vonnoͤthen ſey / die oben erklaͤhrte ſorg - faͤltige Gefaͤlligkeit in acht zu nehmen / und viel und unterſchiedene Converſationes mit der - jenigen / ſo man heyrathen wil / zu haben / damit man ja wohl zuſehen koͤnne / ob das Gemuͤthe / das man ſiehet / tugendhafft und dem unſern gleich ſey / und ob man uns warhafftig oder wegen Geilheit und Intereſſe, oder ſonſten auf eine un - vernuͤnfftige Weiſe liebe. Solcher Geſtalt fol - get ferner / daß die Heyrathen nicht vor vernuͤnff - tig koͤnnen ausgegeben werden / wenn die Perſo - nen nicht tugendhafft oder tugendliebend ſind / wenn ſie einander mit anderer Leute Augen und Ohren heyrathen / wenn man nach Gelde / Schoͤnheit oder Befoͤrderung freyet / oder wenn nach einer oder zweyen Converſationen man ſich alsbald verbindet / es waͤre denn / daß in dieſen letzten Fall zwey Hertzen / die alle beyde einen ho - hen Grad der Tugend beſaͤſſen / nach Anleitung deſſen / was wir allbereit oben davon erwehnet haben / zuſammen kaͤmen.

16.

So ſolte man auch ferner in dem Ehe - ſtande bey unvollkommenen tugendhafften Leu - ten die voͤllige unaufloͤsliche Verbindung ſo lange auffchieben / biß beyde Hertzen auch die noch ſtaͤrckeren Proben der Vertrauens vol - len Gutthaͤtigkeit ausgeſtanden haͤtten / weil es ſehr oͤffters geſchiehet / daß diejenigen / die dieZ 4Pro -364[360]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen LiebeProben der Gefaͤlligkeit ausgehalten / uns ver - laſſen / und ihre Ungleichheit zu verſtehen geben / wenn ſie biß an die Gutthaͤtigkeit gelanget ſind. Und vielleicht haben unſere Vorfahren hierauf ihr Abſehen gerichtet / wenn ſie eingefuͤhret / daß nach der oͤffentlichen Verloͤbniß und zwiſchen der voͤlligen Vollziehung Braut und Braͤutigam mit einander annoch eine Zeitlang converſiren ſolten / und daß ſie bey inzwiſchen entſtandener toͤdtlicher Feindſchafft wieder geſchieden werden koͤnten.

17.

Wenn aber die Eheliche Geſellſchafft einmahl vollzogen iſt / ſo iſt es kein Zweiffel / daß alleine dieſelbige recht vernuͤnfftig ſey / worinnen nicht nur alle Guͤter gemeine ſind / ſondern auch auff beyden Theilen eine liebreiche Frey - heit und Wechſelsweiſe Gemeinſchafft alles Thuns und Laſſens geſpuͤhret wird. Solcher Geſtalt aber iſt weder Zwang noch Herrſchafft des Mannes von noͤthen / als wel - cher nur fuͤr die unvernuͤnfftigen oder unvollkom - menen Weiber eingefuͤhret worden. Sondern gleichwie die Frau dem Mann in dem ihm ge - hoͤrigen Thun und Laſſen nichts einredet / ſon - dern aus Liebe ihme darinnen beyſtehet / ſo viel ihr Vermoͤgen zulaͤſt; Alſo laͤſſet auch der Mann ſeinem Weibe in denen Haushaltungs-Sa - chen / die er nicht verſtehet / ihre gleichmaͤßige Freyheit / und ſtehet ihr darinnen bey / ſo viel das bey denen Voͤlckern eingefuͤhrte Decorum zulaͤſt. Bey365[361]in denen menſchl. Geſellſchafften.Beyderſeits aber laſſen ſie einander ohne Ver - dacht und Eyffer die Freyheit mit andern ehrli - chen Leuten von beyderley Geſchlecht zu conver - ſiren / als die ihrer Tugend zu beyden Theilen wohl verſichert ſind / und aus denen Regeln ge - ſunder Vernunfft wohl verſtehen / daß die Eyfer - ſucht und das Mißtrauen nur fuͤr die unvernuͤnff - tige Liebe gehoͤre.

18.

Solte aber uͤber Verhoffen eines von bey - den / oder wohl alle beyde in ihrer Wahl ſich uͤbereylet haben / und entſtuͤnde nach vollzogener Ehe wegen der allzugroſſen Ungleichheit und ſich aͤuſſernden Unvernunfft des einen Ehegat - ten unter ihnen Uneinigkeit / die wegen der Hartnaͤckigkeit des unvernuͤnfftigen Theils nicht gehoben oder geſchlichtet werden koͤnte; ſo iſt offenbahr / daß die Meynung de - rerjenigen Gelehrten / in denen Regeln geſunder Vernunfft allerdings gegruͤndet ſey / welche be - haupten / daß man in dieſem Fall die Ehe - ſcheidung zulaſſen ſolle. Denn es kan fuͤr einem vernuͤnfftigen Menſchen keine groͤſſere Qvaal erfunden werden / als wenn er gezwun - gen iſt mit einer unvernuͤnfftigen Perſon in ge - nauer Verbuͤndniß und Geſellſchafft zu ver - bleiben / und ſeinen Leib mit ſelber zu vermiſchen. Ja es iſt mehr als Beſtialiſch / wenn uneinige und gantz widerwaͤrtige Gemuͤther keine andere Ge - meinſchafft / als die auf die Ableſchung einer Wechſelsweiſen Geilheit ihr Abſehen hat / ein -Z 5ander366[362]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebeander bezeigen. Zudem waͤre keine Proportion zwiſchen dem Verbrechen und der Straffe / wenn man das Verſehen eines Menſchen / der ſich bey ſeiner Heyrath mehr aus Schwachheit als ab - ſonderlichen Boßheit nicht wohl in acht genom - men / mit einer ſo groſſen Gemuͤths-Qvaal be - ſtraffen wolte.

19.

Was aber im uͤbrigen nach Anleitung der Natur bey dem Eheſtande zu beobachten ſey / da - von haben wir allbereit anderswo ausfuͤhrlich ge - handelt / und zugleich eroͤrtert: Ob es der Natur zuwider ſey oder nicht / viel Weiber oder Maͤn - ner / oder die Weiber mit vielen gemein zu haben? Wohin wir uns um Kuͤrtze willen be - ziehen / und fuͤr unnoͤthig halten / unſere Lehr - Saͤtze anhero zu widerhohlen.

20.

Die Geſellſchafft der Eltern und Kin - der zielet der Natur nach auf eine vernuͤnfftige ungleiche Liebe / wie wir dieſelbe oben beſchrie - ben haben / in der die Eltern ſchuldig ſind / ihre Liebe ſolcher Geſtalt gegen die Kinder zu bezei - gen / daß ſo lange dieſe in der Unvollkommenheit ſtecken / ſie eine Ehrfurcht gegen die Eltern tra - gen / und ſo wohl durch das gute Exempel der Eltern / als durch ihre taͤgliche Lehren und Anfuͤhrungen ſich aus der Unvollkommenheit heraus reiſſen. Weshalben auch die Eltern ſchuldig ſind / fuͤr allen Dingen um die Ausbeſſe - rung der Kindeꝛ beſorgt zu ſeyn / und keine andere Pflicht oder Freundſchafft dieſer Obliegen -heit367[363]in denen menſchl. Geſellſchafften.heit vorzuziehen / wiewohl ſie alsdenn nichts Unvernuͤnfftiges begehen / wenn ſie dieſe Aufer - ziehung / andern Perſonen auftragen / daferne ſie nur erkennen / daß hierdurch die Ausbeſſerung der Kinder ja ſo wohl oder beſſer als durch ſie ſelbſt erhalten werden koͤnne.

21.

Wenn denn dieſer Endzweck voͤllig erhal - ten iſt / und die Kinder zu einer der Eltern glei - chen Tugend gebracht worden ſind; ſo iſt der Vernunfft gar nicht zu wider / daß hernach - mahls zwiſchen denen Eltern und Kindern eine ſo gleiche Liebe entſtehe / als ſonſten zwi - ſchen zweyen Freunden / die einander familiaͤr ſind / ſeyn kan. Denn wir haben ſchon oben ge - dacht / daß alle ungleiche vernuͤnfftige Liebe da - hin trachteu ſolle / daß ſie ſich in eine gleiche Liebe verwandele.

22.

Die Geſellſchafft zwiſchen Herr und Knecht / muß auf beyden Theilen / wenn ſie ver - nuͤnfftig ſeyn ſol / alſo beſchaffen ſeyn / daß keines von beyden das andere verachte / oder auf einige Weiſe daſſelbige beleydige / ſondern ſich Wech - ſels-Weiſe beſcheiden und vertraͤglich gegen einander bezeigen / auch dasjenige / was ſie einan - der bey Anfang dieſer Geſellſchafft verſprochen / unverbruͤchlich halten / und hiernaͤchft alle nur moͤglichſte Dienſte der Leutſeeligkeit einander bezeigen / auch die aus Schwachheit menſchlicher Natur ſich dann und wann ereigneten Beleidi - gungen mit Gedult vertragen; deñ ſonſten wuͤr -de368[364]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebede man nicht ſagen koͤnnen / daß zwiſchen Herrn und Knecht eine allgemeine Liebe zu finden ſey / die doch / wie wir oben erwehnet / allezeit bey dieſer Geſellſchafft angetroffen werden ſoll.

23.

Jſt nun der Herr und Knecht ſo gluͤcklich / daß ſie befinden / daß ihre Gemuͤther einander gleichfoͤrmig ſind / und auf beyden Theilen nach der Tugend trachten / oder die Tugend allbereit in gleichen Grad beſitzen; ſo kan es nicht fehlen / ſie muͤſſen ſich ſo dann durch eine naͤhere Ver - einigung in den Stand einer abſonderlichen vernuͤnfftigen Liebe / zu ſetzen trachten. Und dieſes geſchicht auf keine andere Weiſe / als daß ſie uͤber die Dienſte der Leutſeeligkeit einander Wechſels-Weiſe durch muͤhſame oder koſtbare Gutthaten ihr Verlangen dißfalls zu erkennen geben. Weßhalben auch nicht zu zweiffeln / daß ein Knecht / er ſey ſo leibeigen als er wolle / dennoch vermoͤgend ſey / ſeinem Herrn viel - faͤltige Gutthaten zu erweiſen / wie ſolches Seneca in ſeinen Buͤchern von Gutthaten weit - laͤufftig ausgefuͤhret / und die dißfalls ſich ereigne - ten Zweiffel gruͤndlich und gelehrt eroͤrtert hat.

24.

Endlich was die buͤrgerliche Geſell - ſchafft anlanget / ſo bezeugen die Regeln allge - meiner Liebe ebenmaͤßig / daß diejenige unmoͤg - lich vernuͤnfftig ſeyn koͤnne / worinnen der Fuͤrſte den Unterthanen / und dieſe hinwiederum dem Fuͤrſten die Dienſte der Leutſeeligkeit / Wahr - hafftigkeit / Beſcheidenheit / Vertraͤgligkeitund369[365]in denen menſchl. Geſellſchafften.und Gedult zu erweiſen verweigern / weßhalben nothwendig folget / daß ein vernuͤnfftiger Fuͤrſt allezeit ſeiner Unterthanen Wohlſtand und Auf - nehmen ſuchen muͤſſe / und dieſe hingegen dahin zu trachten haben / gleicher Geſtalt dem Fuͤrſten die Regierungs-Laſt durch freywillige Submis - ſion und Huͤlffe ohne Mißtrauen / Neid und Zwang leichter zu machen; und daß / weil nicht leicht ein Staat zu finden iſt / darinnen nicht drey - erley Staͤnde der Unteꝛthanen / nemlich die Edlen / ſo dann die Buͤrger / und endlich die Bauren anzutreffen waͤren / diejenige buͤrgerliche Geſell - ſchafft ſehr elend und unvernuͤnfftig ſeyn muͤſſe / worinnen der Adel dieſe beyden letzten / oder dieſe beyde den Adel unterzudruͤcken und zu kraͤncken ſuchen.

ENDE.

About this transcription

TextVon der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einen glückseligen/ galanten und vergnügten Leben zu gelangen
Author Christian Thomasius
Extent398 images; 78198 tokens; 8607 types; 555179 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationVon der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einen glückseligen/ galanten und vergnügten Leben zu gelangen Oder Einleitung Zur SittenLehre Nebst einer Vorrede/ Jn welcher unter andern der Verfertiger der curiösen Monatlichen Unterredungen freundlich erinnert und gebeten wird/ von Sachen die er nicht verstehet/ nicht zu urtheilen/ und den Autorem der- mahleinst in Ruhe zu lassen Christian Thomasius. . [16] Bl., 369 S. [i.e. 368 S.] SalfeldHalle (Saale)1692.

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SUB Göttingen SUB Göttingen, 8 PHIL VI, 2790 (1)

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Wissenschaft; Philosophie; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
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ShelfmarkSUB Göttingen, 8 PHIL VI, 2790 (1)
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