PRIMS Full-text transcription (HTML)
Chriſtian Thomaſens / JCti, Chur-Brandenburdiſchen Raths und Profeſſoris zu Halle
Von der Kunſt Vernuͤnfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einen gluͤckſeligen / galanten und vergnuͤgten Leben zu gelangen / Oder
Einleitung Zur Sitten Lehre
Nebſt einer Vorrede / Jn welcher unter andern der Verfertiger der curiöſen Monatlichen Unterredungen freundlich erinnert und gebeten wird / von Sachen die er nicht verſtehet / nicht zu urtheilen / und den Autorem der - mahleinſt in Ruhe zu laſſen.
Halle/Druckts und verlegts Chriſtoph Salfeld / Chur-Fuͤrſtl. Brandenb. Hoff-Buchdr.

Dem Durchlauchtigſten Fuͤrſten und Herrn / HERRN Johann Georgen Fuͤrſten zu Anhalt / Hertzogen zu Sachſen / Engern und Weſtphalen / Graffen zu Aſcanien, Herrn zu Zerbſt und Bernburg / Der Chur - und Marck-Brandenburg Hochverordneten Stadthalter Und General Feld-Marſchalck: Meinem Gnaͤdigſten Fuͤrſten und Herrn.

Durchlauchſter Fuͤrſt Gnaͤdigſter Herr.

SO unterſchiedlich und auff eine faſt unzehlbahre Weiſe die menſchlichen Gemuͤther einem der die Welt nur oben hin anſiehet ge - miſcht zu ſeyn ſcheinen / ſo iſt doch unlaugbar / daß nicht mehr als Vier Paſſiones Domi - nantes oder Haupt-Gemuͤthsneigungen ſind / aus derer Vermiſchungen die Veraͤnde - rung aller derer andern Affecten, ſie ſeyn nun gut oder boͤſe entſtehen / auch alle Gemuͤther der Menſchen und ihre daher ruͤhrende Gedan -a 2ckenUnterthaͤnigſtecken aus denenſelben beurtheilet werden koͤn - nen. Die eine darvon iſt diejenige / ſo gerade zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret / nemlich die vernuͤnfftige Liebe anderer Menſchen. Die andern drey aber ſind die Liebe zur Wolluſt / die Liebe zur eitelen Ehre / und die Liebe zum Gelde. Dieſe dreye gehoͤren an und vor ſich ſelbſt zur unvernuͤnfftigen Lie - be / und fuͤhren den Menſchen unter dem Schein einer wahren Gluͤckſeligkeit von der Gemuͤths-Ruhe in eine ſtetswehrende Unru - he / wiewohl immer eine von der vernuͤnfftigen Liebe weiter entfernet iſt als die andere. Die Wolluſt-Liebe iſt derſelben noch am naͤchſten / weil ſie doch noch mehrentheils mit Treuher - tzigkeit und Barmhertzigkeit vergeſellſchafftet iſt / und die Wahrheit zu ſagen nicht ſo ſehr anderen Menſchen als ſich ſelbſten ſchadet. Die Liebe zur eitelen Ehre iſt ſchon weiter entfernet / denn hier iſt mehr Neyd / Miß - trauen / Unbarmhertzigkeit / Falſchheit / Be - trug / und man ſchonet ſeine Ehrgierde zu be - gnuͤgen keines Menſchen. Jedoch kan man ſolche Leute noch in Menſchlicher Geſellſchafft brauchen / weil ſie gemeiniglich von groſſenVer -Zuſchrifft.Verſtande ſind / und ſo lange ſie von denen die uͤber ſie ſind / Beforderung hoffen / denen - ſelben doch ſolche Submiſſion und Dienſte er - weiſen / die ſonſten von liebenden Perſonen her zu ruͤhren pflegen / auch endlich denen ſo ſie veneriren / ſo lange ſie ſolches thun / alles gutes erweiſen. Aber die Geld-Liebe iſt gar zu irraiſonnabel. Denn da ſind nicht alleine alle die Laſter / die mit der Ehrgierde ver - knuͤpffet ſind / anzutreffen / ſondern ein Gei - tziger ſchonet keines Menſchen / wenn er nur einen Thaler profit machen kan / da hingegen ein Ehrgeitziger dieſes fuͤr eine groſſe lachetè haͤlt. Ja ein Geitziger iſt gar zu nichts gu - tes zu gebrauchen / in dem er keinen Men - ſchen gutes thut; Wannenhero auch jener nicht unfuͤglich den Geitzigen mit einem Schweine verglichen / das man anders nicht als wenn es geſchlachtet und ertoͤdtet iſt / ge - nieſſen kan. Und wie wolte ein ſolcher Menſch andern gutes thun / in dem er ſelbſten bey ſeinem Geld-Sack verhungert? ja es weiſet noch dieſes gantz Augenſcheinlich / daß nichts vernuͤnfftiges in dem Geld-Geitz ſey / indem da ſonſt gleich und gleich einan -a 3derUnterthaͤnigſteder lieben / und auch zwiſchen zweyen Wol - luͤſtigen und Ehrgeitzigen zum wenigſten eine Schein - und vernuͤnfftige Liebe iſt / doch zwey Geitzige einander nicht alleine nicht lie - ben / ſondern auch auff das aͤuſſerſte haſſen. Dieſe Anmerckungen aber ſind nicht alleine in der geſunden Vernunfft gegruͤndet / ſon - dern die Goͤttliche Offenbahrung ſtimmet da - mit gantz offenbahrlich uͤberein. Die groͤſte Gluͤckſeligkeit beſtehet in der Liebe GOttes und des Nechſten. Und ob ſchon die vernuͤnff - tige Liebe nicht ſo vollkommen iſt als die Chriſtliche Liebe / ſo iſt doch die. vernuͤnfftige Liebe ſo zu ſagen ein Staffel / dadurch man zu der Chriſtlichen Liebe gelangen kan / und wie derjenige GOTT ohnmoͤglich lieben kan / der nicht einmahl ſeinen Bruder lie - bet; Alſo kan derjenige ohnmoͤglich andere Menſchen Chriſtlicher Weiſe lieben / der nicht einmahl dieſelbigen vernuͤnfftig liebet. Wie - derumb werden die Wolluſt / Ehrgierde und Geld-Liebe unter dem Nahmen der Flei - ſches-Luſt / des hoffaͤrtigen Lebens / und der Augen-Luſt zum oͤfftern in Heiliger Schrifft als die drey Haupt-Laſter vorgeſtel -let.Zuſchrifft.let. Und wiewohl eher ein wolluͤſtiger Menſch der halb truncken in eines Philoſo - phi Auditorium, denſelben auszuſpotten / ge - gangen / durch deſſen vernuͤnfftige Lehre von der Maͤßigkeit / der Wolluſt abgezogen / und zur Weißheit gebracht worden; Alſo haben ſich viel Wolluͤſtige zu Chriſto bekehret / und kamen am erſten zur Tauffe Johannis / die ſtoltzen Phariſaͤer waren die letzten / und glaubten die wenigſten unter ihnen an dem Heyland / ſo gar daß er ſelbſt denen Hurern und Ehebrechern das Reich GOttes eher verſpricht / als denen Ehrgeitzigen Phari - ſaͤern. So wird auch endlich der Geitz eine Wurtzel alles Ubels genennet / und ausdruͤck - lich gemeldet / daß es leichter ſey / daß ein Cameel durch ein Nadeloͤhr gehe / denn daß ein Reicher / der nemlich das Hertz an das Reichthum haͤngt / in das Reich Gottes komme / und an einem ander Orthe wird abermahls unter dem Gleichniß von Auge gemeldet / daß wenn das Auge ein Schalck ſey / auch der gantze Leib finſter ſey / welches nicht unfoͤrmlich auff den Geitz appliciret wird / weil derſelbe / wie gedacht / durch diea 4Augen -UnterthaͤnigſteAugen-Luſt pfleget angedeutet zu werden. So wenig aber als man Exempel von ſol - chen Menſchen antrifft / die die vernuͤnfftige Liebe in einem ſehr hohen Grad beſitzen / ſon - dern mehrentheils bey denen Tugendhafften viel Schwachheiten von Wolluſt / Ehrgier - de und Geld-Liebe mit unterlauffen; ſo we - nig koͤnnen wir auch ſagen / daß die drey Haupt-Laſter / ob ſie gleich viel oͤffter in einem hohen Grad angetroffen werden als die ver - nuͤnfftige Liebe / jedes fuͤr ſich alleine ſey / ſon - dern es ſind dieſelbigen gleichfalls mit denen andern Haupt-Gemuͤths-Neigungen ver - miſcht / jedoch ſolcher geſtalt / daß allezeit ei - ne von dieſen dreyen fuͤr denen andern Affe - cten, mit denen ſie vermiſcht iſt / die Ober - hand behaͤlt / und ſolcher geſtalt la paſſion dominante pfleget genennet zu werden. Man kan dieſes gar artig aus denen Vier Tem - peramenten der Menſchen nach der Na - tur-Kunſt ſehen. Wer ein recht Phlegma hat / iſt der vernuͤnfftigſte Menſch / und muß nothwendig auch der groͤſten Gluͤckſeligkeit und der vernuͤnfftigen Liebe faͤhig ſeyn. Dieſem Temperament iſt ein Sang vineusamZuſchrifft.am naͤheſten / bey deme die Wolluſt die o - berſte Gemuͤths-Neigung iſt. Ein Chole - ricus iſt ſchon weiter von dem Phlegma ent - fernet / und bey demſelben raget die Ehr - gierde uͤber die andern Affecten empor. Die Melancholici, gleich wie ſie die wunder - lichſten ſind; Alſo iſt der ſtaͤrckeſte Trieb bey ihnen zu der Geld-Liebe. Ja es iſt gantz leichte die Eintheilung des Guten in bonum honeſtum, jucundum & utile, wenn man nach Anleitung deſſen / was ich in dem erſten Hauptſtuͤck dieſer meiner Sitten-Lehre erin - nert / das bonum Decorum darzu ſetzet / nach denen vier Haupt-Paſſionen / und denen itzt - beſagten vier Temperamenten einzutheilen. Ein Phlegmaticus iſt ein rechter honnét homme, und trachtet in allen der wah - ren Tugend-Ehre / ob er ſchon von dem groͤſten Hauffen der Welt nicht ſonderlich hoch / ſondern wohl gar verachtet wird. Ein Sangvineus macht von dem bono jucun - do den groͤſten Staat. Ein Cholericus hat mit dem Decoro am meiſten zu thun. Und endlich ein Melancholicus ſtrebet nach dem bono utili. Gleich wie aber in dera 5Mah -UnterthaͤnigſteMahler-Kunſt nur fuͤnff Haupt-Farben ſeyn / Weiß / Gelb / Roth / Blau und Schwartz / aus derer Vermiſchung alle die andern Far - ben entſtehen / die wegen den unzehlichen Grade der Vermiſchung auch unzehlich ſind; Alſo entſtehen auch aus denen unterſchiedenen Graden der Vermiſchung derer vier Haupt - Gemuͤths-Neigungen unzehliche Tempera - mente, die ein Menſch / der die Welt recht kennen / und ſeine Politique recht veꝛſtehen wil / nothwendig begreiffen muß / wenn er anders die Gemuͤther recht erforſchen / und die Capa - citaͤt der Menſchen erlernen wil. Denn bald findet man einen Menſchen der viel Wolluſt beſitzet / die mit der Ehrgierde nach Gele - genheit derer Individuorum bald in einem wenigen / bald in einem hoͤhern Gꝛad vermiſcht / iſt. Bald findet man einen Ehrgierigen / beydeme man eine merckliche Vermiſchung entweder der Wolluſt oder der Geldgierde antrifft. Die Geldgierde und Wolluſt laſ - ſen ſich am unfoͤrmlichſten zuſammen vermi - ſchen / und wo man ja dieſelben / welches doch ſehr ſelten geſchicht / in einem hohen Grad beyſammen antrifft / ſo entſtehet alsdenn einſolchZuſchrifft.ſolch laͤcherlich Temperament daraus / daß man erſchrickt / wenn man die andern Neben - Affecten, die aus dieſer Vermiſchung entſte - hen / und nicht anders als widerwaͤrtig ſeyn koͤnnen / betrachtet. Weswegen auch die Sa - tyrici und Comoͤdien-Schreiber / wenn ſie ein laͤcherlich Poſſen-Gpiel vorſtellen wollen / gemeiniglich einen alten Mann der verliebt iſt / auffuͤhren / weil das Alter insgemein geitzig / und ihre Liebe mehr wolluͤſtig als ver - nuͤnfftig iſt / maſſen dann die Comoͤdie des Moliere, die er von dem Geitzigen gemacht / bey nahe die allerlaͤcherlichſte iſt. Wiewohl meines Erachtens die Thorheit ſo aus dieſer Vermiſchung entſtehet / viel deutlicher unter der Perſon eines jungen wolluͤſtigen Kerls ab - gemahlet werden koͤnte. Was die vernuͤnff - tige Liebe anlanget / ſo iſt dieſelbige mehren - theils entweder mit der Liebe zur weltlichen Luſt / oder mit dem Ehrgeitz vermenget / aber mit dem Geld-Geitz hat ſie gar nichts zu thun / weil derſelbe von ihr noch vielmehr ent - fernet iſt als die Wolluſt / ob ſie ſchon dann und wann das Geld ein wenig liebet. Und paßiret dannenhero in dieſer Unvollkommen -heitUnterthaͤnigſteheit da man nicht alles zur Perfection brin - gen kan / derſelbe durchgehends fuͤr einen hon - nét homme, der ſeiner Affecten am meiſten Meiſter iſt / welcher ein luſtiges und Ehrgie - riges Temperament in einem gleichen Gꝛad beſitzet. Denn ein ſolcher Menſch ſchickt ſich zum Ernſt und Freude am beſten. Die Ehr - gierde haͤlt ihn insgemein zuruͤcke / daß er nicht unvernuͤnfftiger Weiſe in denen Wolluͤ - ſten verfaͤllet / und ſich fuͤr der Welt proſtitui - ret. Wiedrumb ſo haͤlt ihn die aus dem Tem - perament der Lufft herruͤhrende Aufrichtig - keit und Barmhertzigkeit ab / daß er ſich in dem Ehrgeitz nicht allzuweit verſteiget / ſondern durch dieſelbige ſeine Ehrgierde daͤmpffet / daß ſie andern Menſchen nicht zu Schaden / fon - dern vielmehr zu Dienſte gereichet. Ja es bezeuget es die taͤgliche Erfahrung / daß ein ſolcher Menſch / wenn er die Schwachheiten und Eitelkeiten der Jugend uͤberwunden / entweder in ſeinem Maͤnnlichen oder hohen Alter ſich ein rechtes Phlegma erwirbet / und die vernuͤnfftige Liebe am meiſten erlanget. Unter denen Heyden ſcheinet Alcibiades mit einem ſolchẽ Temperament begabet geweſenzuZuſchrifft.zu ſeyn / und werde ich wenig irren / wenn ich ſage / daß der Weiſeſte unter denen Koͤni - gen Salomo eine dergleichen Leibes-Miſchung gehabt / wovon faſt alle Umbſtaͤnde ſeines Le - bens / welche die heilige Buͤcher beſchrieben / Zeugniß geben koͤnnen / als die alle dahin zie - len / daß man aus denenſelben lauter Ehre und Liebe abmercken kan. Ja es ſind end - lich ſolche Gemuͤther am geſchickteſten von der wahren Sitten-Lehre und vernuͤnffti - gen Liebe zu Urtheilen / da hingegentheil ein gantz wolluͤſtiges Gemuͤthe zwar die Wahr - heit der Lehr-Saͤtze der vernuͤnfftigen Liebe bal - de begreiffen / aber wenn ſie nicht mit Ehr - gierde temperiret ſind / die Praxin dererſelben bey nahe fuͤr unmoͤglich halten. Ein Ehr - geitziger hingegentheil findet ſchon bey der Er - kaͤntniß der veꝛnuͤnfftigen Liebe mehr Scrupel, und hat die groͤſten Schwierigkeiten / ſich eine rechtſchaffene Idee von der Tugend zu machen. Und ein Geldgeitziger endlich / gleich wie er vernuͤnfftigen Menſchen am irrraiſonnable - ſten vorkoͤm̃t; Alſo ſcheinet ihm alles / was von der Tugend und der vernuͤnfftigen Liebe geſagt wird / laͤcherlich; Ja er kan ſich nicht ruͤhmen /daßUnterthaͤnigſtedaß er nur den unterſten Grad derſelben ſie zu practiciren ſich angewoͤhnen koͤnne.

Wann ich demnach nach der Gewohnheit derer Scribenten mir fuͤrgenommen / dieſe meine Sitten-Lehre der Cenſur eines honnét homme durch eine Zueiguns-Schrifft zu unterwerffen; Habe ich dafuͤr gehalten / we - der etwas tummkuͤhnes noch unvernuͤnfftiges zu begehen / wann fuͤr Ewrer Hoch - Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit ich dieſelbe in unterthaͤnigſten Gehorſam nieder - legte. Denn zu geſchweigen der vielfaͤltigen Hoch-Fuͤrſtlichen Gnaden / mit denen Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durch - lauchtigkeit mich bishero unverdienet - berhaͤuffet / und uͤber dieſes Seiner Chur-Fuͤrſtlichen Durchlauchtig - keit zu Brandenburg maͤchtigen Schutz wider meine Verfolger durch Dero hoch - guͤltige Recommendation mir zu wege ge - bracht: So haben die ungemeinen Tugenden / die Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durch - lauchtigkeit als ihr beſtes Eigenthumb beſitzen / mir ſolches Unterfangen gleichſamanbe -Zuſchrifft.anbefohlen. Sie ſind alſo beſchaffen / daß Sie daß Lob einer Privat-Perſon / wie ich bin / uͤberſteigen / und mein Temperament iſt am wenigſten geſchickt jemand einen Pane - gyricum zu machen; Jedoch wird jederman / dem die Gnade wiederfahren / Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit zu kennen / oder Sie nur zu ſeben / mich von aller Schmeicheley loß ſprechen / wenn ich ſage / daß Ewrer Hoch-Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit gantzes Leben aus Ehre und Liebe zuſammen geſetzet ſey. Die Freundligkeit / mit welcher Ewre Hoch - Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit jeder - man begegnen / den Sie Jhrer Anrede wuͤr - digen / ziehet aller Hertzen an ſich / dieſelbige zu lieben / und die aus Dero Augen hervor leuchtende ernſthaffte Großmuth / vermiſchet dieſe Liebe mit einer unterthaͤnigen Ehrfurcht / und Vertrauens-vollen Reſpect.

So nehmen dann Ewre Hoch - Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit dieſe oͤf - fentliche Bezeugung meiner unterthaͤnigſten Liebe und Hochachtung in Gnaden an / undlaſſenUnterthaͤnigſte Zuſchrifft.laſſen Dero Hoch-Fuͤrſtliche Gnade und Hulde mich noch ferner weit genieſſen / als worumb ich in unterthaͤnigſten Gehorſam bit - te / und Lebenslang verharre

Ewrer Hoch-Fuͤrſtl. Durchl.

Halle den 16. Aprilis 1692. Unterthaͤnigſter Gehorſamſter Chriſtian Thomas.

Vor -

Vorrede.

I.

MAn pfleget insgemein in denen Vorreden von dem Abſehen und Jnn - halt eines Buchs zu di - ſcuriren. Dieweil aber dieſes all - bereit von mir in unterſchiedenen Programmatibus geſchehen / auch die fuͤr jedem Capitel vorgeſetzte Summaria dem Leſer in Kuͤrtze den gantzen Jnnhalt der Sitten Lehre vorſtellen; Als wil ich nur etwas weniges noch eꝛinnern wegen der un - terſchiedenen Judiciorum die von dieſer meiner Lehr-Art und von der Idee der vernuͤnfftigen Liebe gefaͤlletbwer -Vorredewerden moͤchten. Es werden we - nig Moraliſten ſeyn / die die Morale nicht nach dem Catalogo derer II. Ariſtoteliſchen Tugenden eingerich - tet haͤtten / von der ihrer Unvollkom - menheit ich anderswo ausfuͤhrlich gehandelt. Wiewohl ich nun mich in geringſten fuͤr denen Anbetern des Alterthums nicht fuͤrchte / weñ gleich meine Lehr-Art gantz neu waͤre; ſo iſt ſie doch auch beſchaffen / daß man mich hierinnen entweder gantz und gar einer Neuerung / oder daß ich dieſelbe einem andern gantz abge - borget / nicht wird beſchuldigen koͤn - nen. Geulinx hat ſich ſchon in ſei - ner Ethic umb die Ariſtoteliſchen Tugenden nicht bekuͤmmert / und in Teutſchland haben etliche Profeſſo - res auff einer beruͤhmten Univerſitaͤt die Liebe in ihren Sitten-Lehren zum Grunde geleget. Zu geſchweigendererVorrede.derer jenigen von denen Ariſtotelicis ſelbſt / die ex fontibus Amicitiæ die Pflichten und Verbindlichkeiten des menſchlichen Geſchlechts hergefuͤh - ret haben. Jedoch wird man gar leichte befinden / wenn man meine Sitten-Lehre gegen dieſe Autores halten wird / daß ich ohne Ruhm und Eitelkeit dieſes Buch fuͤr das meinige ausgeben koͤnne / und daß zwiſchen ihrer Lehr-Art und der mei - nigen ein groſſer Unterſcheid ſey.

2. Den Concept betreffend / den ich durchgehends von der vernuͤnff - tigen Liebe gemacht / ſo wil ich nicht prætendiren / daß derſelbe allen Menſchen oder vielen gefallen ſolte / denn ſonſten waͤre es eine Anzei - gung / daß ich ihn nicht nach den Re - geln der Weißheit eingerichtet haͤtte; So wil ich mir auch die Muͤhe nicht machen / alle Cenſuren die man daruͤ -b 2berVorrede.ber machen wird / zu beantworten; (Denn man muß die Leute reden / und zuweilen auch calumniren laſſen;) ſondern ich wil nur erinnern / was fuͤr Sorten Leute ich fuͤr capabel hal - te von dieſer Sitten-Lehre zu urthei - len / und wegen der zwey fuͤrnehmſten Cenſuren ſo etwan gefaͤllet werden moͤchten / etwas anmercken. Es ſind dreyerley Art Leute in der Welt: Unvernuͤnfftige Menſchen oder Be - ſtien, Menſchen oder weiſe Tugend - haffte Leute / und endlich gottſeelige Chriſten. Was die erſte betrifft / ſo ſtecken die meiſten Menſchen noch leider in der Beſtialitaͤt / wiewohl ei - ner mehr als der andere / und iſt eben dieſe meine Sitten-Lehre fuͤr dieſelbi - gen geſchrieben / ſie aus dieſem elen - den Stande heraus zu reiſſen / und ihnen die Gluͤckſeeligkeit der ver - nuͤnfftigen Liebe / die ſie erſt zu rechtenMen -Vorrede.Menſchen machen wuͤꝛde / abzumah - len. Sind nun ſolche Leute noch jung und brauchen Information, ſo ſind ſie ohne dem noch nicht allzuge - ſchickt Cenſuren uͤber Buͤcher zu ma - chen / ſondern ſollen ſich vielmehr be - fleißigen / alles das was ſie nicht ir - raiſonnabel befinden / mit Danck an - zunehmen / ob es ſchon nicht nach ih - rem gout iſt / denn ſie koͤnnen ſich gar leicht einbilden / daß ſie noch mehren - theils einen verderbten Geſchmack haben. Sind ſie aber bey Jahren / ſo werden ſie zwar ſehr wohl thun / wenn ſie meine Sitten-Lehre ungele - ſen laſſen / indem ich ſie nicht vor ſie geſchrieben / und wohl weiß / daß es Menſchen Vermoͤgen uͤbertrifft ei - nen alten Kerl / der noch eine Beſtie iſt / aus dieſen Stand heraus zu reiſ - ſen. Leſen ſie ſie aber / und wollen dieſelbe als was chimeriques duꝛch -b 3ziehen /Vorrede.ziehen / ſo ſtehet es ihnen auch frey / und werde ich mich daruͤber nicht moviren / weil mir alle ihre Judicia vorkommen werden wie trunckener Leute. Denn wie wolte eine Beſtie die Empfindlichkeit und reflexion eines Menſchen haben? Derohal - ben ſehe ich allbereit zuvor / daß un - ter allen Staͤnden die meiſten von denen / die mein Buch leſen werden / ſagen werden / es ſey keine vernuͤnff - tige Liebe in der Welt wie ich be - ſchrieben / ſondern man muͤſſe ſelbi - ge in dem zukuͤnfftigen Leben erwar - ten; und haͤtte ich dannenhero un - weißlich gethan / der Jugend von ei - ner zeitlichen Gluͤckſeligkeit fuͤrzu - ſchwatzen / die doch zu erhalten nicht moͤglich waͤre. Aber ich bitte alle diejenigen / daß ſie ſich doch nur alle erbare Heyden und Weiſen / als den Seneca, Cicero, Pomponius Atti -cus,Vorrede.cus, Agricola u. ſ. w. vor Augen ſtellen / und aus derer Lebens-Be - ſchreibung oder Schrifften erken - nen / daß dieſe allerdings die ver - nuͤnfftige Liebe / wo nicht in ihrer Vollkommenheit / doch in einem mercklichen Grad geſchmeckt und beſeſſen haben. Und iſt leider zu er - barmen / daß wir Chriſten heiſſen / und noch nicht einmahl die Menſch - heit erreichet haben; und daß unter denen / die unter uns denen andern ein Exempel eines Chriſtlichen Le - bens geben ſolten / die meiſten nicht alleine wie die Beſtien leben / ſondern auch die armen Einfaͤltigen und Ler - nenden auff ihr eigen Exempel wei - ſen / ſich nach demſelben einen Con - cept der Tugend zu machen / da doch ihre Hertzen Tempel der Wolluſt / des Ehr - und Geld-Geitzes ſind. Sol - cher geſtalt aber bildet man ſichb 4durchVorrede.durchgehends ein / derſelbige ſey ein tugendhaffter ehrlicher Mann / der keine ſolche Laſter begehe / die der Hencker und Obrigkeit beſtraffe / wenn er gleich ſonſt neydiſch / grau - ſam / betrieglich / ſtoltz / unbarmher - tzig und ſo weiter ſey. Dieſes ſeyen menſchliche Schwachheiten / die kein Menſch in dieſer Welt / ja nicht ein - mahl ein Chriſt loß werden koͤnne. Und wer ſich einbilde oder die Ju - gend anders lehre / und zu einen Tu - gendhafften Leben anmahnen wolle / ſey ein Fantaſte oder Heuchler. So offenbarlich aber als der groſſe hauf - fen ſolcher Chriſten duͤrch die Hey - den beſchaͤmet wird / und ſeine Vie - hiſch heit durch ſolche Lehre ſehen laͤſ - ſet / ſo wenig haben wir ſolcher Be - ſtien ihre Cenſuren zu fuͤrchten.

3. GOtt ſey Danck / daß wir noch unter Menſchen / ja unter wahrenChri -Vorrede.Chꝛiſten leben / ob gleich derer Anzahl ſehr wenig und geringe iſt. Beyde weꝛden gar deutlich erkennen / daß ich nicht zuviel von der Tugend und wahren Liebe geſchrieben habe. Beyde werden erkennen / daß ich die Vernunfft und Offenbahrung nicht mit einander vermiſcht / ſondern nur in ſo weit die Tugend beſchrieben ha - be / als man dieſelbe vermoͤgend iſt / durch natuͤrliche Kꝛaͤffte zu erlangen. Derowegen werden ſich auch junge Leute und andere / die GOttes Guͤte alsbald aus der Beſtialitaͤt in den Stand des Chriſtenthumbs ge - bracht / nicht aͤrgern / wenn ſie finden werden / daß ich in Beſchreibung der vernuͤ fftigen Liebe nach ihrer Mey - nung vielleicht noch zu wenig geſagt / und ſolche Dinge fuͤr Tugendhafft und vollkommen auszugeben / die in Betrachtung der Chriſtlichen Liebeb 5undVorrede.und der Verlaͤugnung ſeiner ſelbſt fuͤr lau - ter Unvollkommenheiten und Maͤngel gerechnet werden muͤſſen. Jhr Aerger - niß wird bald auffhoͤren / wenn ſie betrach - tet werden / daß ich mir nicht fuͤrgenom - men / meine Zuhoͤrer zu Chriſten / ſondern zu Menſchen zu machen. Mein Beruff gehet nicht weiter / und ich gebe mich in dem Chriſtenthum ſelbſt noch fuͤr einen Schuͤ - ler / nicht aber fuͤr einen Lehrer aus. Verleyhet mir aber GOtt Leben / Geſund - heit und Kraͤffte / ſo bin ich geſonnen / wenn ich meine Philoſophie werde abſolviret haben / in einem beſondern Tractat zu zei - gen / daß ich in meinen Philoſophiſchen Schrifften durchgehends nichts anders gelehret / als was mit der Heil. Schrifft / wenn ſie von der Philoſophiſchen Weiß - heit und Tugend redet / uͤbereinkommet / und wie der Mangel und die Unvollkom - menheit der ſich bey der natuͤrlichen Weiß - heit und Philoſophiſchen Tugend befin - det / aus der Goͤttlichen Weißheit wahrer Chriſten ſuppliret werden muͤſſe. Mit einem Worte: Daß die wahre Philoſo - phie zwar eine Manuduction und Anfuͤh -rungVorrede.rung zur Gottes Gelahrheit ſeyn muͤſſe / aber an und fuͤr ſich ſelbſt unvermoͤgend ſey die Gottes-Gelahrheit zu erlangen.

4. Jm uͤbrigen entſinne ich mich gar wohl / was ich an vergangener Leipziger Weyhnachts-Meſſe von der Wiſſenſchafft der Menſchen Gemuͤther und Gedancken zu erforſchen / oͤffentlich verſprochen habe / und weꝛde nicht ermangeln / zu ſeiner Zeit / ſo GOtt wil / dieſe Wiſſenſchafft heraus zu geben. Die Sitten-Lehre muß der Grund derſelben ſeyn / in welcher ein Menſch erſt ſich ſelbſt kennen muß / ehe er andere Leute wil kennen lernen / und wird ſonderlich die Ausuͤbung der Sitten-Lehre / oder die Artzney-Mittel wider die unvernuͤnfftige Liebe zeigen / was man fuͤr gegꝛuͤndete Axiomata in dieſem Stuͤck von mir zu hoffen habe / wiewol auch ſchon dasjenige / was ich in gegenwaͤrtiger Ein - leitung zu deꝛ Sitten-Lehꝛe in dem Capitel von der abſonderlichen Liebe ihren unter - ſchiedenen Graden hin und wieder fuͤr An - merckungen eingeſtreuet / ſo wohl auch was ich in der unter thaͤnigſten Zuſchrifft allhier von denen vier Haupt-PaſſionenuͤberVorrede.uͤberhaupt diſcuriret / einem unpartheyi - ſchen gnugſam den Grund meiner Leh - re in etwas zeigen wird. Jch habe zwar unlaͤngſt alle Gelehrten provociret / daß wenn ſie mir des von mir deswegen getha - nen Voꝛſchlags halber etwas zu ſagen haͤt - ten / und die daſelbſt von mir aufgegebenen Problemata gegruͤndet reſolviren wuͤr - den / ich mich alsdenn fuͤr ſchuldig halten wolte / ihre Dubia zu beantworten. Nun haͤtte ich mich veꝛſehen / daferne ſich jemand in dieſem Stuͤcke an mich machen wolte / es zum wenigſten ein Mann ſeyn wuͤrde / der in Philoſophia Morali einige Funda - menta geleget / habe aber mit nicht gerin - ger Ver wunderung erfahren muͤſſen / nachdem man mir fuͤr wenig Tagen den Monat Martium von denen curiöſen Monats Unterredungen aus Leipzig zu - geſendet / daß es dem Verfertiger der - ſelben gefallen / auch in dieſem Stuͤck ſich an mir zu reiben / und meinen Vorſchlag zwar haͤmiſch / aber dabey auch albern genug durchzuziehen, Jch habe bishero mit groſſer Gedult von ihm vertragen / wenn er ſonderlich bey Anfang dieſer ſeinerMo -Vorrede.Monats Unterredungen / und ſonſten hin und wieder in denenſelben mich grob ge - nung / und zuweilen dergeſtalt tractiret / daß es ein Thuͤringiſcher Bauer nicht haͤrter machen koͤnnen. Ja ich habe mich nichtgereget / ob er ſchon ſeinen Unterre - dungen einen offenbahren Paßquill wie - der mich einverleibet / und denſelben zu meiner mehrern Beſchimpffung ſei - ner Intention auch in das Teutſche uͤberſetzet. Und haͤtte dannenhero mich verſehen / durch dieſe meine Gedult ihn zum wenigſten dahin zu diſponiren / daß er in denen Dingen / davon er gantz kei - nen Verſtand hat / ſich mit ſeinem einfaͤl - tigen Judicio fuͤr der vernuͤnfftigen Welt nicht ferner proſtituiren ſolte; maſſen denn ſeine Unterredungen insgeſamt be - zeugen / daß er zwar ein Mann ſey / der viel Buͤcher geleſen / und der in hiſtoricis und antiquitate des ihm gehoͤrigen Ruhms nicht zu berauben iſt; aber der hierbey in Philoſophia reali ſo wol Theo - logica als Practica das allerwenigſte ver - ſtehe und gelernet habe / ſondern wenn er darauff faͤllt / nicht anders als ein offen -bahrerVorrede.bahrer Sophiſte raiſonnire / und ſeine Un - wiſſenheit fuͤr jedermans Augen lege. Jch ſehe aber wohl / daß die Gedult nicht alle - mahl zulaͤnglich ſey / einen Menſchen der von einer eingebildeten Weißheit auffge - blaſen iſt / in ſeinen Schrancken zu halten / und befinde mich dannenhero genoͤthiget / auff ein Mittel bedacht zu ſeyn / durch wel - ches ihm der Kuͤtzel ein wenig vertrieben werde / ohne daß ich mich genoͤthiget befin - de / meinen ordentlichen Verrichtungen etwas abzubrechen / und mich mit ihme und ſeines gleichen in unnoͤthige Streit - Schrifften einzulaſſen. Solchergeſtalt aber wird es wohl am beſten ſeyn / daß ich einen von meinen Auditoribus, der nur ein wenig meine Vernunfft-Lehre begriffen / aufftrage / dieſen ſeinen Monat Martium gegruͤndet zu beantworten / damit er ſich nicht ferner wie bishero geſchehen / weiſe duͤncke / und die jenigen / ſo allbereit uͤber ſeine elenden Cenſuren gefrolocket / erken - nen moͤgen / daß ihre Freude unzeitig / und ohne Grund geweſen. Dieſer ſol ihm mit Gottes Huͤlffe aus ſeinen eigenen Unter - redungen beweiſen / daß alles / was ich bis -heroVorrede.hero von ihm geredet / wahr / und nicht aus Affecten von mir geſchrieben ſey. Er ſoll ihm weiſen / daß er in ſeinen Dubiis und Cenſuren / die er in dem Martio von mir gefaͤllet / ſolche Sophiſtereyen und Schnitzer wider die Logic begangen / daß wenn es einer von ſeinen Schuͤlern ge - than / er nach der in denen Trivial-Schu - len gebraͤuchlichen Weiſe verdienet haͤtte / ex prima claſſe in Secundam oder Ter - tiam promoviret zu werden. Er ſol ihm ſattſam darthun / daß er die von mir auf - gegebenen problemata laͤppiſch und ohne Raiſon reſolviret; Jedoch wird der Herr Magiſter ſo gut ſeyn / und ſich gedulden / wenn mein Auditor nicht alſofort dieſe Beantwoꝛtung heraus geben wird; Deñ es iſt nicht noͤthig / daß er uͤber dieſe Baga - tellen ſeinen ordendlichen Stunden die er zum ſtudiren gewidmet / abbreche / ſondern es wird genung ſeyn / wenn er hierzu die Stunden / die andere junge Leute ſonſten zu andern Ergoͤtzungen anzuwenden pfle - gen / employren wird. Zum wenigſten hoffe ich / es ſolle dieſe Beantwortung wo nicht ehe / doch auff kuͤnfftige MichaelisMeſſeVorrede.Meſſe fertig ſeyn. Sat citò ſi ſat bene. Der Herr Magiſter kan indeſſen durch Auffſchlagung ſeines Vademecum und libellorum Syllogiſticorum ſich gleicher - geſtalt auff dieſe Beantwortung deſto - beſſer præpariren / und von ſeinen Corre - ſpondenten ſubſidia einholen / wie er ſeine Sophiſtereyen deſto beſſer verthey - digen / und die von mir auffgebene Pro - blemata anders und beſſer als geſchehen reſolviren oder kuͤnfftig ſtille ſchweigen moͤge / als worzu ich ihn freundlich und aus guter Meinung vermahnet haben wil.

Der1

Der Sitten-Lehre Erſtes Hauptſtuͤck. Von der Gelahrheit das Gute und Boͤſe zuerkennen uͤberhaupt.

Jnnhalt.

  • Connexion mit der Vernunfft-Lekre n. 1. Unterſcheid zwiſchen den Wahren und Guten / Falſchen und Boͤ - ſen n. 2-11. Beſchrelbung des Guten und Boͤſen uͤber - haupt n. 6. Hieher gehoͤret abſonderlich das Gute und Boͤſe des Menſchen n. 9. und zwar das wahrhaff - tig Gute / welches dem Schein-Gut entgegen geſetzet wird n. 12. Was dem Menſchen gut oder boͤſe iſt / iſt entweder an ihm oder anſſer ihm n. 13. Was zwiſchen dieſen beyden Arten fuͤr ein Unterſcheid ſey n. 14. 15. Die aͤußerlichen Dinge nennet man à potiori gut oder boͤſe n. 16. Was die Menſchlichen Kraͤffte auff eine kurtze Zeit vermehret und ſei - ne Dauerung verkuͤrtzet iſt boͤſe n. 17. 18. 19. 20. Fuͤnff Anmerckungen die aus dieſem LehrſatzAfolgen2Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitſolgen n. 21-25. Groſſe Nothwendigkeit und Nutzen deſſelbigen n. 26. 27. 28. Junge Leute muͤßen ſich ſehr befleißigen auch denenſelbigen in praxi zu beobachten n. 29. Alle Dinge und folglich auch der Menſch werden von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit bewe - get / und nehmen darnach wieder ab. n. 30. 31. Dieſe Bewegung hat dieſe Eigenſchafften / daß ſie eutweder ſteiget und faͤllet / auch eine gewiſſe und etwas langſame Proportion hat n. 32. Die von GOtt dem Menſchen geſetzte Dauerhafftigkeit iſt gut / ſie kan aber auff drey - erley Weiſe boͤſe werden n. 33. Und unter denenſelben auch alſo / wenn der Menſch ſeine Vollkommenheit gar zu mercklich befoͤrdert n. 34. Die Bewegung der menſchlichen Gliedmaſſen erfordert eine harmoniſche Veraͤudernug n. 35. 36. Sein Weſen beſiehet aus Leib und Seele n. 37. An ſeinem Leibe trifft man (1) das Leben an n. 38. Welches guſt iſt und alles / mas daſſelbe befoͤrdert n. 39. Der Tod iſt theils gue / theis boͤſe n. 40. (2) Die Bewegungs-Krafft und Sinnligkeiten / die gleichfalls gut ſind / und was ihnen entgegen geſetzet / iſt boͤſe n. 41. 42. Dieſe Guͤter hat der Menſch mit denen Beſtien gemein n. 43. Aber durch die Vernunfft der Seelen wird er von ihnen entſchleden n. 44. Jnglei - chen durch den Willen n. 45. Welche wiederum und was dieſelben befoͤrdert gut ſind n. 46. 47. Alle Din - ge auſſer den Menſchen beruͤhren unmittelbahr ſeine Sinnligkeiten / und werden nach ihrer augenblicklichen Wirckung fuͤr gut oder boͤſe gehalten n. 48. 49. Nach dieſen beruͤhren ſie die Bewegung des Gebluͤts und die Gedancken / deren Wirck[ung] aber offt ſehr entfernet und zukuͤnfftig iſt n. 50. 51. Alle gar zu empfind - liche und ſtarcke Bewegung der Sinn - ligkeiten iſt boͤſe u. ſ. w. n. 52. 53. Die mitleren Bewegungen ſind thells gut thells boͤſe / n. 54. Die gu - ten Bewegungen werden boͤſe / wenn ſie allzulange con -tinu3das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.continuiret werden n. 55. Obiger Lehrſatz wird auch die Bewegung der aͤußerlichen Gliedmaſſen n. 56. in - gleichen auff die Bewegung des Gebluͤts n. 57. und die Gedancken der Menſchen appliciret n. 58. Alle Dinge auſſer dem Menſchen koͤnnen in drey Claſſen getheilet werden n. 59. (I) Unter ihm die Thiere und andere Creaturen. Von denenſelben hat er ſehr wenig zu ſeiner Erhaltung von noͤthen n. 60. 61. 62. Aber die meiſten Dinge koͤnnen dem Menſchen auff vielfaͤltige Weiſe ſchaden n. 63. Jedoch ſind die Creaturen mehr gut als boͤſe n. 64. (II) Neben ihm andere Menſchen. Ohne dieſe waͤre der Menſch hoͤchſt-elende n. 65. Gleich - wohl kan auch ein Menſch dem andern den groͤſten Verdruß authun n. 66. Und im Gegentheil ihm auch am beſten nutzen n. 67. Und alſo gehoret mit unter die guten Dinge n. 68. Freundſchafft und Liebe n. 69. Woraus ſie entſtehet n. 70. Jngleichen die Freyheit n. 71. Ehrbegierde n. 72-75. Geldbegierde n. 76. 77. 78. Jngleichen das Decorum und die Schamhafftig - keit / ob ſie fuͤr gut oder hoͤſe zu achten n. 70. (III) U - ber ihm GOtt / welcher unter allen Gnten billig oben - an ſiebet n. 81. 82. 83. Tugend / Gelahrheit und Er - kaͤutniß ſeiner ſelbſt ſind was gutes n. 84. 85. 86. Die Guͤter der Seelen / des Leibes und des Gluͤcks n. 87. 88. Was an dieſer Eint heilung der menſchlichen Guͤter zu tadeln n. 89. 90. Das ehrbare / nuͤtzliche und beluſii - gende Gut / ſind bey dem wahrhafftigen Gute allezeit vereiniget n. 91. 92. Und wird nur in Anſehen ſeines Uhrſprungs ehrbahr n. 93. in Anſehen ſeiner Gegen - waͤrtigkeit beluſtigend n. 94. und in Betrachtung ſel - uer Wirckung nuͤtzlich genennet n. 95. Daß man ſich an vergangeuen und zukuͤnfftigen Dingen eigentlich nicht beluſtige n. 96. 97. 98. Worumb man insgemein dieſe dreyerley Guͤter anders erklaͤret n. 99. Ob man das ehrbahre und beinſtigende Gut wegen ſein ſelbſt / das nuͤtzliche aber allein wegen eines andern verlangeA 2n. 100.4Das 1. Huptſt. von der Gelahrheitn. 100. Ob wir das Beluſtigende durch einen mit den Thieren gemeinen Appetit verlangen n. 101. 102. Daß die maͤßigen Beluſtigungen der Sinnligkeiten und alle Beluſtigungen der Seelen wahrhafftige Beluſtigun - gen ſeyn n. 103. 104. Von denen Exempeln / die man insgemein giebt / darzuthun / daß das ehrbare / nuͤtzliche und beluſtigende Gut von einander entſchieden ſeyn koͤnne n. 105. z. e. Stehlen / Huren / Freſſen und Sauf - fen n. 106. Bittere Artzeney brauchen / ſich von La - ſtern entwehnen n. 107. Sein Leben fuͤr ſein Vater - land wagen n. 108. Wohin das Decorum zurechnen ſey n. 109. Andere Eintheilungen des Guten und Boͤſen nach ſeinen unterſchiedenen Graden n. 110. Der Menſch lebet entweder in ſeinen ordentlichen und ua - tuͤrlichen n. 111. 112. oder in auſſer ordendlichen Zuſtand n. 11. Nach dieſem Zuſtand wird das Boͤſe und Gute auch entweder ordentlich oder auſſer-ordentlich n. 114. 115. 116. Worinnen beyderley Boͤſes und Gutes mit einander uͤbe ein kommet n. 117. 118. Was ordentlich guſt iſt / iſt auſſer-ordentlich boͤſe & vice versâ n. 119. 120. 121. Bonum & malum vel poſitivum vel privativum n. 122. 123. Etliche Guͤter ſind ſehr edel und nothwen - dig / etliche nicht n. 124. 125. 126. Die nothwendigen ſind entweder neceſſaria abſolutè, oder ex hypotheſi n. 127. Es gibt unmittelbare und mittelbare Guͤter n. 128. Das gut iſt entweder wuͤrcklich gut oder ein kleiner Ubel n. 129. Welche unter denen bisberigen Eiutheilungen die alleredelſten Guͤter ſeyn n. 130. All - gemeiner Jrrthumb ziehet das auſſer-ordentliche Gute dem ordentlichen fuͤr n. 131. 132. Und haͤlt das bonum poſitivum fuͤr edler als das privativum n. 133. Jnglei - chen die unnoͤthigen Guͤter hoͤher als die nothwendi - gen n. 134. und bekuͤmmert ſich mehr umb das kleine Ubel als das wuͤrckliche Gute n. 135. Was Philoſophia practica ſey n. 136. Der Unterſcheid zwiſchen der Ethic, Oeconomic und Politic n. 137. 138. 139.
1. Wir5das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

1.

WJr haben zu Anfang der Ver - nunfft-Lehre geſagt / daß die Ge - lahrheit eine Erkaͤntniß des Wah - ren und Falſchen / Guten und Boͤ - ſen ſey. Weil wir demnach bisher von der Erkaͤntniß der Wahren und Falſchen ge - redet / ſo viel wir vonnoͤthen zu ſeyn erachtet fuͤr - einen Menſchen / der ſich ad vitam civilem ge - ſchickt machen wil; ſo muͤſſen wir nunmehro auch zu dem andern Stuͤck der Erkaͤntniß / nem - lich des Guten und Boͤſen ſchreiten / ſo viel dieſel - be aus der geſunden Vernunfft begriffen werden kan / wiewohl wir hiervon etwas ausfuͤhrlicher handeln werden / indem ohne die ausfuͤhrliche Erkaͤntniß des Guten und Boͤſen man im ge - meinen buͤrgerlichen Leben gar nicht fort - kommen kan.

2.

Wir muͤſſen aber zufoͤrderſt hier erwegen / was fuͤr ein Unterſcheid zwiſchen dem Wahren und Guten / ingleichen zwiſchen dem Falſchen und Boͤſen ſey. Denn alles Wahre ſcheinet gut / und alles Falſche oder aller Jrrthum boͤſe zu ſeyn; aber insgemein ſagt man doch / daß das Gute und Boͤſe entweder ein warhafftiges / oder ein eingebildetes Gut oder Ubel ſey.

3.

Dieſes deſto beſſer zu begreiffen / kommen dieſe beyderley benennungen darinnen uͤberein / daß keine auff das Weſen der Dinge an und fuͤr ſich ſelbſt / ſondern auff derſelben Beſchaffen -A 3heit6Das 1. Haupſt. von der Gelahrheitheit und Gegeneinanderhaltung mit andern zielen.

4.

Denn das Wahre haben wir beſchrieben / daß es beſtehe aus der Ubereinſtimmung der aͤußerlichen Dinge und des menſchlichen Ver - ſtandes / und das Falſche / wenn dieſe beyde ein - ander zuwider ſind.

5.

Gleicher weiſe heiſt das jenige uͤberhaupt gut / wenn zwey Dinge mit einander uͤberein kommen / und dasjenige heiſt uͤberhaupt boͤſe / wenn ein Ding dem andern zuwider iſt.

6.

Mit einander uͤberein kommen heiſt all - hier / wenn ein Ding das andere in ſeiner Dauerung erhaͤlt / und deſſen Weſen und Beſchaffenheiten vermehret. Einander zu - wider ſeyn heiſt / wenn ein Ding des andern ſeine Dauerung verkuͤrtzt / oder deſſen We - ſen und Beſchaffenheiten vergeringert.

7.

Und alſo iſt der erſte Unterſtheid zwiſchen dem Wahren und Guten / daß das Gute die Ubereinſtimmung aller Dinge mit einander benennet / das Wahre aber inſonderheit die Ubereinſtimmung anderer Dinge mit dem menſchlichen Verſtande bemercket.

8.

Hiernechſt aber iſt wohl auſſer Zweiffel ge - ſetzt / daß gleich wie andere Geſchoͤpffe auſſer dem Menſchen dasjenige / was ihnen gut oder boͤſe iſt nicht erkennen noch begreiffen moͤgen; alſo auch der Menſch ſehr unvernuͤnfftig waͤre / wenn er ſich umb das / was andern Creaturen gut oderboͤſe7das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.boͤſe waͤre bekuͤmmern / und umb ſein eigenes Gutes und Boͤſes nicht wolte beſorget ſeyn. Derowegen werden wir alleine von dem Guten und Boͤſen in Anſehen des Menſchen zu handeln haben.

9.

Das Gute des Menſchen aber iſt inſon - derheit von dem Wahren darinnen unterſchrie - den / daß es in der Ubereinſtimmung anderer Dinge mit dem gantzen Menſchen / oder mit allen ſeinen Theilen und Kraͤfften / und nicht mit dem Verſtande alleine beſtehet.

10.

Wiewohl auch unter dem Ubereinkom - men ein groſſer Unterſcheid iſt. Was es in der Beſchreibung des Guten bedeute / haben wir nur jetzo erwehnet. Jn Beſchreibung des Wahren heiſt es nichts mehr / als wie wir allbereit in der Vernunfft-Lehre erklaͤret / daß die aͤußerlichen Dinge von dem menſchlichen Verſtand begrif - fen werden koͤnnen / und iſt das Wahre eigent - lich zu reden weder gut noch boͤſe / ob ſchon die Erkaͤntniß des Wahren zu dem Guten des Menſchen gehoͤret / weil dadurch der Verſtand gebeſſert wird.

11.

Wiederumb iſt das Gute und Boͤſe ent - weder warhafftig alſo beſchaffen / wenn nem - lich der allgemeine menſchliche Verſtand / ſo fer - ne er von denen Urtheilen menſchlicher Autoritaͤt und Ubereylung geſaubert iſt ein Ding fuͤr gut und Boͤſe erkennet / oder aber es iſt ein Schein - Gut oder ein Schein-Ubel / wenn es von LeutenA 4die8Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitdie offenbahrlich in Vorurtheilen ſtecken / dafuͤr gehalten wird.

12.

Dannenhero und weil dieſe letztere Art einen offenbahren Jrrthum mit ſich fuͤhret / die Jrrthuͤmer aber nicht zur Welt-Weißheit gehoͤ - ren / ſo braucht es nicht eben groſſes Erinnerns / daß wir in Unterſuchung des Guten und Boͤſen auf dasjenige / was warhafftig gut und boͤſe iſt / unſer Abſehen zu richten haben.

13.

So ſind demnach die Dinge von denen man fragen kan / ob ſie in Anſehen des Men - ſchen gut oder boͤſe ſeyn / entweder in und an ihm oder auſſer ihm.

14.

Jene als zum Exempel ſein Leben / ſein Verſtand / die Gliedmaſſen ſeines Leibes koͤn - nen nicht anders als gut ſeyn / weil ſie ihm von GOtt gegeben ſind ſeine Dauerung zu befoͤrdern und ſein Weſen zu erhalten. Und muß dannen - hero entweder durch eine Bewegung von auſ - ſen geſchehen / daß dieſelben aus guten boͤſe Din - ge werden / z. e. Wenn der Menſch wider Willen ſehr erſchrickt / wenn er ohne ſeine Schuld ver - wundet wird / u. ſ. w. Ober aber der Menſch iſt ſelber an ihrer Verſchlimmerung Schuld / wenn er ſeiner Geſundheit / ſeiner Gliedmaſſen / ſeines Verſtandes / u. ſ. w. muthwillig mißbrauchet.

15.

Alle aͤußerliche Dinge ſind an ſichſelber dem Menſchen weder gut noch boͤſe / ſie konnen aber beydes werden / wenn ſie dem Menſchlichen Weſen durch eine Bewegung recht oder unrechtappli -9das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤherhaupt.appliciret werden / z. e. Speiſe / Tranck / Gifft / ein Dolch u. ſ. w. Und muß dannenhero der Menſch ſein Weſen und deſſen Beſchaffen - heit wohl erkennen / damit er dieſe Dinge gleichſam bey dem rechten Ende anzugreiffen wiſſe / und ſich nicht ſelbſten durch ſeine eigene Schuld damit ſchade.

16.

Jedoch iſt es im gemeinen Buͤrgerlichen Le - ben ſo herkommens / daß man à potiori die aͤuſ - ſerlichen Dinge gut oder boͤſe zu nennen pfleget / nachdem ſie mehrentheils zu des Menſchen Nu - tzen oder Schaden koͤnnen appliciret werden / z. e. Speiſe und Tranck iſt was gutes / der Gifft was ſchaͤdliches / u. ſ. w.

17.

So iſt auch hiernechſt in Anſehung der Applicirung aͤufferlicher Dinge dieſer Unter - ſcheid zu mercken / das etliche Dinge zwar die menſchlichen Kraͤffte zu vermehren ſcheinen / aber dabey die Dauerung ſeiner Exiſtenz ver - geringern / z. e. ein gemacht Gedaͤchtniß / allzu - emſiges Studiren / alle ſehr empfindliche Beluſti - gung der Sinnen; andere aber ſeine Dauerung natuͤrlicher Weiſe befoͤrdern / ob ſie gleich eben ſeine Kraͤffte nicht in einen mercklichen Grad zu vermehren ſcheinen; als maͤßige Speiſe und Tranck / maͤßige Beluſtigung der Sinnen.

18.

Jene werden gemeiniglich von denen / ſo in Vorurtheilen ſtecken vor gute dieſe aber ent - weder vor boͤſe / oder doch zum wenigſten fuͤr in - differente Dinge gehalten / da doch die geſundeA 5Ver -10Das 1. Hauptſt. von der GelahrheitVernunfft weiſet / daß allein dieſe letztern fuͤr warhafftig gut zu achten / jene aber vielmehr boͤſe als gut ſind.

19.

Denn weil alles / was an dem gantzen Men - ſchen iſt / wie wir jetzo erwehnet / gut iſt / und weil kein Weſen beſtehen kan / wo keine Exiſtens oder Daurung iſt; ſo muß nothwendig alles dasjenige / was die Dauerung des gantzen o - der eines theiles als den Grund alles Guten ruiniret / unter boͤſe Dinge gehoͤren / und kan man eine augenblickliche ob wohl ſehr merckliche Vermehrung der menſchlichen Kraͤffte ſo wenig fuͤr etwas gutes halten / wenn in kurtzen eine Nie - derreiſſung oder Beraubung der Kraͤffte darauff folget; Als wenn man einen / der ein mittel - maͤßiges Auskommen haͤtte / eine Million vereh - ren / und wenn er nach Proportion derſelben etli - che wenige Tage ſeinen Staat eingerichtet haͤtte / dieſelbige nebſt ſeinen vorigen Vermoͤgen wie - dernehmen / und ihn an den Bettelſtab bringen / aber dabey bereden wolte / was man ihm fuͤr eine Gutthat bewieſen haͤtte.

20.

Und weil demnach / wie wir bald hoͤren werden / alle ſehr empfindliche Vermehrung des menſchlichen Veꝛmoͤgens entweder der Dau - erung des gantzen oder eines andern Vermoͤgens einen mercklichen Abbruch thut / ſo iſt dieſelbe or - dentlich fuͤr boͤſe und nicht gut zu achten.

21.

Hieraus folget nothwendig / daß (1) alle Dinge fuͤr gut oder boͤſe zu halten / nach dem dieErhal -11das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.Erhaltung der Daue rung des Menſchen da - durch erlaͤngert oder verkuͤrtzet wird.

22.

(2) Daß ein knrtzes Gute / das mit ei - nem dauerhafftern Ubel nothwendig oder ſehr wahrſcheinlich vergeſellſchafftet iſt / fuͤr boͤſe und nicht fuͤr gut zu halten ſey / und das Gegentheil von einem kurtzen Ubel / das mit einem dauer - hafften Gute vergeſellſchafftet iſt / muͤſſe geſagt werden. Und gehet es disfals nicht anders zu als in Ausrechnung des Gewinſts und Verluſts in einer Handlung.

23.

(3) Daß der vorige Satz dahin zu erwei - tern ſey / es moͤge nun das kurtze Gute oder Boͤſe vor dem dauerhafften Boͤſen oder Guten mit dem es vergeſellſchafftet iſt / vorhergehen oder daꝛauf folgen / wie abeꝛmals duꝛch das Gleichniß von Gewinn und Verluſt erklaͤhret werden kan.

24.

(4) Daß in Entſcheidung der unterſchie - denen Grade des Guten und Boͤſen / auch die - ſelbe von der Dauerhafftigkeit derſelben herge - nommen werden muͤſſe.

15.

(5) Daß dasjenige / was die Dauer - hafftigkeit einer menſchlichen Krafft befoͤr - dert / am andern Theil aber eine andere noch dauerhafftiger verringert unter boͤſe Dinge zu rechnen ſey / & vice versâ.

26.

Und hieraus erlernen wir abermahls den Unterſcheid einns Menſchen der in præjudiciis ſteckt / und eines weiſen Mannes erkennen. Was die menſchlichen Kraͤffte augenblicklich /und12Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitund daß man es ſo zu ſagen greiffen kan / ver - mehret oder verringert / das wird auch von denen Unvernuͤnfftigſten fuͤr gut oder boͤſe gehalten: Wo aber die Wirckung der Vermehrung oder Verringerung nicht ſo augenſcheinlich zu ſpuͤh - ren / oder auff die Applicirung der aͤußerlichen Dinge an den Menſchen langſam erfolget / das betrachten die Unweiſen nicht / da hingegentheil einer der das wahre Gute auffrichtig ſuchet / ſich darumb eyfferig bekuͤmmert / weil er verſpuͤh - ret / daß durch Unterlaſſung dieſer hochnoͤthigen Unterſuchung dem menſchlichen Leben der groͤſte Schade geſchiehet.

27.

Denn es gehet dißfalls faſt eben ſo zu / wie mit der Erkaͤntniß der Wahrheit und denen Jrrthuͤmern. Was unmittelbahr durch die Sinnen begriffen wird oder denenſelben zuwider iſt / das begꝛeiffen ja auch die jenigen die ungelehꝛt ſeyn / und die noch in denen Præjudiciis ſtecken / was aber die aus unſtreitigen Warheiten herge - leitete entfernete oder wahrſcheinliche Lehrſaͤtze anlanget / darzu iſt die behutſame Attention ei - nes weiſen Mannes alleine geſchickt.

28.

Derowegen muß bald Anfangs ein junger Menſch / der in Erkaͤntniß des Guten und Boͤſen was rechtſchaffenes thun wil / dieſes was wir bis - her demonſtriret / als einen ohnzweiffelhafften Grund feſte ſetzen / daß das jenige alleine gut ſey / was des Menſchen Weſen und Kraͤffte am dau erhaffteſten erhaͤlt / und vermehret /es13das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.es moͤge nun dieſe Erhaltung und Vermeh - rung ſich alſobald ereignen / oder erſt eine geraume Zeit hernach zu ſpuͤhren ſeyn / und daß dasjenige wuͤrcklich boͤſe ſey / was eine dau - erhaffte Verꝛingerung oder gaͤntzliche Austilgung des menſchlichen Weſens und ſeiner Kraͤffte ver - urſachet / ob gleich dieſe Verringerung und Austil - gung erſt eine geraume Zeit hernach ſich blicken laͤſt / oder eine gegenwaͤrtige augenblickliche und ſehr empfindliche Bermehrung derſelben vorher zu gehen ſeheinet.

29.

So leichte aber als die Warheit dieſes Grundes zu begreiffen iſt / umb ſo viel deſtomehr muß ein junger Menſch beobachten / daß er in Applicirung deſſelbigen niemahln davon ab - weiche / je gewoͤhnlicher das Vortheil dem menſchlichen Geſchlechte eingewurtzelt iſt / daß ſo wohl Hohen als Niedern Standes / Gelehrt und Ungelehrt / Alt und Jung alleine nach ſolchen Dingen trachtet und verlanget / die eine gegen - waͤrtige und merckliche Vermehrung der natuͤr - lichen Kraͤffte nach ſich ziehen / und in Gegentheil fuͤr andern Dingen einen Eckel hat / die leine dau - erhaffte aber entfernete und nicht ſo leichte zu ſpuͤ - rende Erhaltung des Menſchen wuͤrcken / welches theils von denen boͤſen und unweiſen Exempeln derer andern Menſchen / mit denen wir taͤglich von Jugend auff umbgehen / und derer Nachah - mung zu einer andern Natur bey uns wird / theils aus der von Jugend auff uns anklebenden Unge -dult14Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitdult / unſer Verlangen ohne ſondere Muͤhe ge - ſchwinde und mercklich zu erhalten / herruͤhret /

30 /

Wie aber dasjenige / was wir bisher zum Grunde geleget aus der Lehre von dem Guten und Boͤſen uͤberhaupt / und ſo ferne ſolches al - le Creaturen angehet / hergenommen iſt; Alſo muͤſſen wir nun denen Grund-Lehren von dem Guten und Boͤſen der Menſchen etwas naͤher kommen / und zufoͤrderſt aus dem / was wir all - bereit in der Vernunfft-Lehre / da wir von denen Borurtheilen geredet / angemercket haben / præ - ſupponiren / daß des Menſchen Natur und Weſen von ſeiner Geburt an in der groͤſten Unvollkommenheit ſtecke.

31.

Wie nun alle Dinge auff der Welt durch eine ſtetswehrende Bewegung erhalten werden / und ohne dieſelben nichts als ein veꝛwirꝛtes Chaos ſeyn wuͤrden; Alſo beſtehet auch des Menſchen ſeine Natur in eine dergleichen Bewegung / der GOtt / wie bey andern Dingen / gewiſſes Maß / Ziel und Weiſe vorgeſetzet / nach wel - cher der Menſch aus einen unvollkommenen Weſen in ein vollkommenes / und von dar wie - der bis auff ſein Alter in ein unvollkommenes geſetzt wird.

32.

Dieſe Bewegung hat ſonderlich zweyer - ley Eigenſchafften / (1) Daß ſie entweder ſtei - get oder faͤllet / das iſt / daß dadurch entweder die Dinge und alſo auch der Menſch theils in ſei - nem gantzen Weſen / theils in ſeinen Kraͤfften ent -weder15das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.weder zu - oder abnimmt / und daß dannenhero wenn ein Ding nicht mehr zunehmen kan / es nothwendig wieder abnehmen muß. (2) Daß ſie eine gewiſſe und mehr langſame als geſchwinde Proportion, die aus vielfaͤltigen kleinen Graden beſtehet / beobachtet / wie etwan in einem Uhrwerck die Bewegung deſſelbigen in gewiſſe Augenblicke abgetheilet wird / welche wenn ſie von dem Menſchen uͤberſchritten wer - den / ſeinem Weſen eben ſo ſehr Schaden dadurch zugefuͤget wird / als wenn man an denen Redern eines Uhrwercks kuͤnſtelt / daß ſie geſchwinder lanffen ſollen / als die Hand des Kuͤnſtlers ver - ordnet hatte.

33.

Gleich wie aber die von GOtt allen Din - gen und folglich auch dem Menſchen fuͤrgeſetzte Dauerhafftigkeit ſeine Graͤntzen hat die der Menſch nicht uͤberſchreiten kan / und ſolcher ge - ſtalt an ſich ſelber gut iſt / alſo wird ſie doch laͤg - lich auch von dem Menſchen zum Grunde des Boͤſen gemacht / ſo ferne er durch unrechte Appli - cirung der aͤußerlichen Dinge / entweder wenn er in Abnehmen iſt / dieſe Bewegung gar zu ge - ſchwinde beſchleuniget / oder aber / wenn er noch zu ſeiner Vollkommenheit waͤchſt / auch dieſe entweder verhindert / und ſein Abnehmen ver - urſacht / ehe er noch vollkommen worden / oder gleichfalls dieſelbe allzugeſchwinde befoͤrdert / und die gewoͤhnliche Zeit aus Ungedult nicht er - warten kan.

34. Denn16Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit

34.

Denn daß auch dieſe letzte Art der Be - wegung nicht gut / ſondern boͤſe ſey / flieſſet dar - aus / weil dadurch des Menſchen ſeine Daue - rung verkuͤrtzet wird / in dem / wie wir jetzo er - wehnet / er nothwendig zu ſeinem Ende ſich na - hen muß / wenn er nicht mehr zunehmen kan. Zu geſchweigen daß durch die allzumerckliche Befoͤr - derung der Vollkommenheit die von GOtt ver - ordneten Grade der natuͤrlichen Bewegung uͤber - ſchritten / und alſo auch in dieſem Stuͤck das En - de ſeiner Dauerung befordert wird.

35.

Ferner weil der Menſch aus unterſchiede - nen Theilen des Leibes beſtehet / die ihre unter - ſchiedene Wirckung haben / auch etliche durch unterſchiedene Arten der Bewegungen oder durch die Beruͤhrung unterſchiedener außerlichen Din - ge erhalten werden / ſo iſt offenbahr / daß die na - tuͤrliche Bewegung der menſchlichen Glied - maſſen eine ſtete und harmoniſche Veraͤnde - rung erfordere / und dadurch die Kraͤffte in de - ſto beſſerer Dauerung und Vollkommenheit er - halten werden koͤnne / und daß anderſeits eine continuirliche Bewegung oder Ruhe eines Glieds boͤſe ſey / weil ſie ſolches entweder zu fernerer Bewegung untuͤchtig macht oder ein - ſchlaͤffert.

36.

Gleicher geſtalt iſt auch dieſes unter die boͤſen Dinge zu rechnen / wenn man die menſchli - chen Kraͤffte entweder ſtetswehrend auff ein gewiſſes Ding appliciret / oder gar zu offte undgeſchwin -17das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.geſchwinde dieſelbe auff unterſchiedene und zumahln widerwaͤrtige Dinge fallen laͤſt / weil dadurch die von GOtt eingefuͤhrte harmoniſche Veraͤnderung auff beyderley Weiſe veraͤndert wird.

37.

Dieſes / was wir bisher angemercket / et - was deutlicher zu begreiffen / ſo beſtehet des Menſchen Weſen theils in einem Leibe / der von der Machine des Leibes der Beſtien nicht allzuſehr enſchieden iſt / theils in einer Seele / die da dencket.

38.

Jn der Machine ſeines Leibes iſt zufoͤr - derſt des Leibes Leben zu betrachten / welches in eineꝛ proportionirlichen Bewegung des Gebluͤts und anderer Saͤffte in denen Blut - und Puls - Adern / und andern innerlichen Theilen beſtehet.

39.

Dieſes Leben iſt nicht alleine gut / ſon - dern auch der Grund alles Guten; und was daſſelbige erhaͤlt / das iſt / was die / von Gott geordnete Proportion befoͤrdert / und die Be - wegung des Gebluͤts und anderer Saͤffte weder hemmet noch allzugeſchwinde fort treibet / iſt auch gut; was aber dieſelbe langſam macht / oder allzuſehr ſchaͤrffet / das liſt boͤſe.

40.

Der Tod iſt theils boͤſe theils gut. Boͤſe / ſo ferne durch des Menſchen Vorſatz oder Nach - laͤßigkeit ſeine Dauerung unterbrochen wird. Gut ſo ferne derſelbe nichts mehr andeutet / als das natuͤrliche Lebens Ende. Denn das Leben iſt gantz gut / und alſo auch deſſelben Ende / undBwir18Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitwir haben nur jetzo geſagt / daß alle von GOtt ge - ſetzte Graͤntzen gut ſeyn.

41.

Hiernechſt hat der Menſch auch Senn - Adern / die mit ſubtilen geiſtigen Coͤrpern ange - fuͤllet ſeyn / und ſich im Gehirne vereinigen / von dar aber in alle innerliche und aͤußerliche Glied - maffen des Leibes ausgetheilet ſind / und durch welche ſo wohl das Viehe als der Menſch ſich aͤußerlich beweget / auch durch deren Beruͤh - rung von denen aͤußerlichen Coͤrpern / ſo wohl bey Menſchen als Viehe / eine gewiſſe Bewegung in dem Gehirne entſtehet / die der gemeine Mann Sinnligkeiten zu nennen pfleget.

42.

Dieſe Bewegungs-Krafft und ſo ge - nannten Sinnligkeiten ſind gleichfals gut / und der Mangel oder Beraubung derſelben / als die Blindheit / Taubheit / der Schlag-Fluß u. ſ. w. ſind boͤſe; wie nicht weniger alles was die Be - wegungs-Krafft und Sinnligkeiten ſtaͤrcket und erhaͤlt / iſt gut / was ſie aber verringert / iſt boͤſe.

43.

Und dieſes Gute und Boͤſe hat der Menſch mit denen unvernuͤnfftigen Thieren gemein.

44.

Endlich aber denckt der Menſche / das iſt / er begreifft unterſchiedene Bewegungen aͤußerli - ther Dinge / er behaͤlt ſelbige in ſeinen Gedancken / er ſetzt ſie zuſammen / ſondert ſie von einander / er zehlet ſie und miſſet ſie ab. Und dieſes heiſt man die Vernunfft / die den Menſchen von andern Thieren unterſcheidet.

45. Und19das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

45.

Und gleich wie dieſe als das Hauptweſen des Menſchen ohnſtreitig gut iſt; alſo iſt auch die Beraubung derſelbigen / welche man Raſe - rey oder Wahnwltz nennet / ſo wohl auch ihre Verringerung oder die Thorheit / Jrrthum / Un - vernunfft u. ſ. w. boͤſe. Und was die Vernunfft ſtaͤrcket und erhaͤlt / iſt gut / was ſie aber ſchwaͤchet oder verringert / iſt boͤſe.

46.

Ferner ſo iſt vermittelſt dieſer ſeiner Ver - nunfft der Menſche von denen andern Thieren entſchieden / daß die Vernunfft nicht alleine das Gute und Boͤſe erkennen / ſondern auch aus un - terſchiedenen Guten das Boͤſe erwehlen / und der aͤußerlichen Bewegungs-Krafft gleichſam anbe - fehlen kan / das Gute zu ergreiffen und fuͤr dem Boͤſen zu fliehen / oder daſſelbige von ſich abzu - wenden / da hingegentheil die unvernuͤnfftigen Thiere alles deſſen ermangelen.

47.

Dieſes Vermoͤgen iſt wiederumb gut / und heiſt der Wille des Menſchen / oder ſeine in - nerliche Freyheit / und was dieſelbe vermehret und beſſert iſt wiederumb gut / was ſie aber ver - ringert / iſt boͤſe.

48.

Bisher haben wir den Menſchen in An - ſehen ſeines eigenen Weſens Betrachtet; Nun muͤſſen wir auch ein wenig naͤher auf die Dinge / die außer ihme ſind reflectiren / und von derer - ſelben ihre Wuͤrckung in der Natur des Men - ſchen etwas reden.

B 249. Al -20Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit

49.

Alles was von auſſen den Menſchen be - ruͤhret / das beruͤhret unmittelbahr die aͤußerli - chen Sinnligkeiten / und dannenhero weil dieſe Wuͤrckung am allergegenwaͤrtigſten iſt / wird auch das Gute und Boͤſe derſelben von denen unvernuͤnfftigen Menſchen empfunden / und in Anſehen der gegenwaͤrtigen Beluſtigung oder Verletzung fuͤr gut und boͤſe gehalten.

50.

Wenn die aͤuſerlichen Dinge durch die aͤußerlichen Sinnligkeiten den Leib des Men - ſchen geruͤhret / ſo entſtehet hernach auch durch die Fortſetzung dieſer Bewegung eine Beruͤhrung des Gebluͤts und der andern innerlichen Saͤffte / wiewohl das Gute und Boͤſe / ſo durch dieſe Beruͤhrung verurſachet wird / wehrentheils nicht ſo handgreifflich zu ſpaͤren iſt / ſondern die Vermehrung und Verringerung der menſchli - chen Kraͤffte disfalls offte ſehr entfernet und zu - kuͤnfftig zu ſeyn pflegen; dannenhero auch nicht ein jeder unvernuͤnfftiger und in denen Vorur - theilen annoch ſteckender Menſch capabel iſt da - von zu urtheilen / ſondern hierzu eine ſonderliche Attention und Weißheit erfordert wird / und zwar deſto mehr Weißheit / je weiter die Wuͤr - ckung dieſer Beruͤhrung der aͤußerlichen Dinge von deren Anfang entfernet iſt.

51.

Endlich weil auch die Gedancken des Menſchen mit dem Leibe genau verknuͤpfft ſeyn / und dasjenige nicht alleine Was die Sinnligkei - ten ſcharff beruͤhret / auch zugleich die Gedanckenmit21das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.mit beweget / ſondern auch die Alterirung der geiſtigen Coͤrper in dem Gehirne zugleich die Gedancken ſelbſt in einen munteren oder ſchlaͤffrigen und tummen Zuſtand ſetzet / ſo iſt dan - nenhero einem vernuͤnfftigen Menſchen deſto - mehr daran gelegen / die entferneten und zukuͤnff - tigen Veraͤnderungen / die durch Beruͤhrung der aͤußerlichen Coͤrper in ſeinem Leibe verurſacht werden / ſo genau als es moͤglich iſt / zuwiſſen und zu begreiffen.

52.

Es wird aber dasjenige / was wir allbereit oben zum Grunde geſetzt haben / folgende Anmer - ckungen an die Hand geben. Alle Objecta de - rer Sinnligkeiten / die bey dem Menſchen keine neue auſſer-ordentliche und ſehr em - pfindliche Bewegung verurſachen / ſondern nur ſeine natuͤrliche Bewegung in einem ru - higen Zuſtande erhalten / ſind gut; Und alle Bewegungen derer Sinnligkeiten die gar zu empfindlich ſind / oder die die Sinn en gar zu ſtarck bewegen / verderben die Senn-Adern der ſinnlichen Gliedmaſſen / und derhalben ſind ſie boͤſe.

53.

Sprichſtu: Woran erkenne ich es aber / ob die Bewegung in denen zur Sinnligkeit ge - widmeten Gliedmaſſen allzuſtarck / oder der na - tuͤrlichen Bewegung gleichfoͤrmig ſey? So kan ich dir disfals keine andere Antwort geben / als daß dir ſolches deine innerliche Verſicherung am beſten ſagen werde / und daß man disfalls kei -B 3ne22Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitne allgemeine Regel uͤberhaupt geben koͤnne / weil die ordentliche Bewegung bey einem Menſchen nicht in einem Grad iſt wie bey dem andern / ſon - dernbey nahe auf ſo vielfaͤltige Art variret als Menſchen ſeyn / welche Veraͤnderung theils von dem Alter / theils von der Landes-Art / theils von der Gewohnheit u. ſ. w. herruͤhret. Und ſolcher geſtalt darff ein jeder nur auff ſich ſelbſt Achtung geben / ob er eine merckliche und zuvorher ungewohnte Alteration bey ſich empfindet oder nicht.

54.

Hieraus folget / daß die mitlern Bewe - gungen zwiſchen den allzuſtarcken und ordentli - chen boͤſe ſeyn / wenn ſie denen allzuſtarcken naͤher kommen / und fuͤr gut muͤſſen gehalten werden / wenn ſie denen ordentlichen nahe ſind.

55.

Es kan aber dieſe ordentliche Bewe - gung der ſinnlichen Gliedmaſſen wohl boͤſe werden / wenn ſie allzulange continuiret wird / weil dadurch die Bewegung der andern Sinnligkeiten / die nach der Weißheit des Schoͤpffers / als wir oben erwehnet / mit andern durch eine anmuthige Veraͤnderung abwechſeln ſolten / gehindert wird.

56.

gleiche Bewandniß hat es mit der Be - wegungs-Krafft der aͤußerlichen Gliedmaſ - ſen. Eine maͤßige Bewegung / die nicht ſehr empfunden / und nicht allzulange continuiret wird / iſt gut / eine allzuſehr empfindliche oder lang continuirte aber / iſt boͤſe.

57. Fer -23das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

57.

Ferner was die Bewegung des Gebluͤts betrifft / ſo iſt dieſes fuͤr boͤſe zu halten / wodurch des Menſchen Gebluͤt gar zu ſehr / oder gar zulang - ſam beweget wird; Was die Bewegung des Gebluͤts in ſeinem ordentlichen Zuſtand erhaͤlt / iſt gut. Auſſer daß man hier nicht ſagen kan / daß die ordentliche Bewegung des Gebluͤts / wenn ſie lange continuiret wird / boͤſe ſeyn ſolle: Weil der Menſch nur einerley Bewegung des Gebluͤts hat / ohne welches er nicht leben kan / aber im gegentheil vielerley Arten der Sinnlig - keiten von Gott erhalten / die ſie nicht alle zugleich bewegen koͤnnen / ſondern eine nach der andern ſich bewegen muß

58.

Endlich was die Gedancken des Men - ſchen gar zu ſehr ſchaͤrffet / oder gar zu ſehr turbi - rit / iſt boͤſe / was aber dieſelbe in einer proportio - nirlichen Bewegung erhaͤlt / iſt gut: Ja was die - ſe Bewegung allzulang continuiret / iſt auch boͤſe / weil die Gedancken nicht nur den Menſchen gegeben ſind / vielfaͤltige und unterſchiedene Din - ge zu bedencken / ſondern auch zu ihrer Erhaltung eine mit der Bewegung abwechſelnde Ruhe erfordern.

59.

Dieſes waͤre alſo das vornehmſte / das in Betrachtung der aͤußerlichen Ding uͤber - haupt anzumercken waͤre: Wollen wir nun ferner dieſelben inſonderheit noch ein wenig be - ſchuen / wird es am fuͤglichſten geſchen / wenn wir dieſelbige in drey Claſſen eintheilen / derenB 4etliche24Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitetliche unter den Menſchen ſind / als die Thiere / Pflantzen / u. ſ. w. etliche neben ihm / als andere Menſchen / und endlich das hoͤchſte Weſen uͤber ihm / nemlich GOtt.

60.

Was die Dinge die unter ihm ſeyn be - trifft / ſo wird ein jeder vermittelſt einer geringen Auffmerckung gar leichte begreiffen koͤnnen / daß der Menſch zur Erhaltung ſeiner Dauerung und ſeiner natuͤrlichen Kraͤffte ſo viel Dinge eben nicht von noͤthen habe / zum wenigſten ſehr vieler gar fuͤglich miſſen koͤnne.

61.

Denn zu Erhaltung ſeiner, Lebens-Gei - ſter und der Kraͤffte in ſeinem Leibe braucht er zwar Speiſe und Tranck / aber hievon iſt ſchon ein alt Sprichwort bekant / daß die Natur mit wenigen vergnuͤgt ſey: Zu Erhaltung der an - dern aͤuſſerlichen Sinne des Geſichts / Gehoͤrs / Geruchs / Geſchmacks und Gefuͤhles wird ſehr wenig Reichthum erfoꝛdert / ſondern die Natur des Menſchen kan ſich disfalls an fremden Din - gen / oder die dem Eigenthum der Menſchen nicht unterworffen ſind / begnuͤgen. Und endlich ſo iſt wohl aus gemacht / daß derjenige / ſo wenig iſſet und trincket / auch die Beluſtigung der Sinnen maͤßiglich braucht / an juſteſten und accurateſten zu gedencken geſchickt ſey.

62.

Es wird zwar dieſe Anmerckung in praxi faſt durchgehends bey dem menſchlichen Ge - ſchlecht fuͤr laͤcherlich gehalten / u. im gegentheil geglaubet / der Menſch muͤſſe viel Dinge zu Er -hal -25das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.haltung ſeines Weſens haben. Allein dieſes Borurtheil ſcheinet theils aus der irrigen Mei - nung entſproſſen zu ſeyn / als wenn Gott alle Crea - turen dem Menſchen zu gute / (das iſt / zu Erhal - tung ſeines Weſens) geſchaffen haͤtte; Theils auch aus einer uͤbelen Gewohnheit / oder ſonſten aus einer eitelen Einbildung.

63.

Wiederum iſt kein Zweiffel / daß die mei - ſten Dinge und zwar auf vielfaͤltige Weiſe dem Menſchen ſchaden koͤnnen / und daß dan - nenhero der Menſch groſſe Urſache habe dieſelbi - gen zu meiden.

64.

Nichts deſto weniger muß man die an - dern Geſchoͤpffe mehr unter die guten Dinge als unter die Boͤſen rechnen / weil gleichwohl der Menſch zu ſeiner Dauerung etlicher dererſelben nicht entbehren kan / die uͤbꝛigen aber dem Men - ſchen nicht in Anſehen Jhrer ſelbſt ſchaden / ſon - dern nur daß ſie unrecht appliciret werden / welche unrechte applicirung entweder der Menſch ſelb - ſten thut / oder doch demſelben nicht ohne ſeine gaͤntzliche Schuld mehrentheils wiederfaͤhret.

65.

Aber bey dem Menſchen wird mehr an - zumercken ſeyn. Ohne andere Menſchen waͤre der Menſch hoͤchſt elende / denn er wuͤrde ent - weder ohne anderer Menſchen Huͤlffe nicht Le - ben koͤnnen / oder doch ein verdrießliches Leben fuͤhren. Ja er wuͤrde der meiſten / wo nicht aller ſinnlichen Beluſtigungen entbehren muͤſſen / als welche andeꝛe Menſchen præſupponiren. EndlichB 5wuͤr -26Das 1. Haupſt. von der Gelahrheitwuͤrden ihm auch die Gedancken wenig helffen oder nuͤtze ſeyn; Denn die Gedancken beſtehen aus einer innerlichen Rede / die innerliche Rede entſtehet von einer aͤußerlichen / die aͤußerliche nutzet gar nichts / wenn keine menſchliche Geſell - ſchafft waͤre.

66.

Aber deswegen muß man nicht alsbald zuplumpen / und andere Menſchen ohne Un - terſcheid als etwas gutes betrachten; Zu - mahl wenn man erweget / daß dem Menſchen auch don andern Menſchen groſſer Verdruß angethan werden kan / indem ein Menſch den andern toͤdten / denen Sinnligkeiten viel Unluſt zufuͤgen / und dieſelben martern kan. Ja indem taͤglich einer des andern ſeinen Verſtand durch Beybringung vieler Jrꝛthuͤmer / durch Betrug im Handel und Wandel / u. ſ. w. wie nicht weniger ſeinen Willen durch Verfuͤhrung zu Laſtern und boͤſen Exempeln verletzet.

67.

Gleichwohl kan ſich auch der Menſch im Gegentheil anderer Menſchen beſſer als aller andern Creaturen bedienen / ſein Leben zu erhalten / zu verlaͤngern / ſich zu vergnuͤgen / und am allermeiſten ſeine Venunfft zu ſaubern / und ſeinen Willen durch gute Exempel auszubeſſern.

68.

Und alſo iſt der Menſch mehr unter die guten Dinge anderer Menſchen / als unter boͤſe zu rechnen.

69.

Wiederumb iſt kein Zweiffel / daß dis - falls der Menſch fuͤr andern Thieren etwas ſon -derli -27das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.derliches habe / daß ihm unter ſeines gleichen Menſchen ein Menſch beſſer anſtehet als der andere / woraus eine abſonderliche Freund - ſchafft oder Liebe entſtehet.

70.

Und zwar ſo geſchiehet ſolches aus vieler - ley Urſachen / entweder wegen einer abſonderli - chen Duͤrfftigkeit / oder wegen Beluſtigungen der Sinnen / oder wegen Ubereinſtimmung der Gedancken oder des Willens.

71.

Jm uͤbrigen ſind alle Menſchen einander von Natur gleich / und die Ungleichheit der Staͤn - de iſt entweder aus Mangel oder wegen dringen - der Noth eingefuͤhret worden. Dannenhero ſteckt es in des Menſchen Natur / daß er ſo viel als moͤglich trachtet ſeine Gleichheit zu erhalten. Und entſtehet daher ein abſonderliches Gut / das man Freyheit zu nennen pfleget.

72.

Nichts deſtoweniger lebet der Menſch von Jugend auff unter lauter Ungleichheit / und dieſe Gewohnheit wird bey ihm gleichſam zur an - dern Natur. Dannenhero traͤget er Verlangen entweder andern die uͤber ihm ſind / gleich / oder de - nen die ſeines gleichen ſind vorgezogen zu weꝛden / welches man die Ehrbegierde zu nennen pfleget.

73.

Dieweil aber der wahrhafftige Grund an - dern gleich geachtet oder vorgezogen zu werden / in dem rechten Gebrauch der Vernunfft / das iſt / in rechtſchaffener Erkaͤntniß und Ausuͤbung des Wahren und Guten beſtehet; So iſt dieſe Be - gierde nur in ſo weit fuͤr gut zu achten / ſo ferne ſieſich28Das 1. Huptſt. von der Gelahrheitſich in dieſen Mitteln gruͤndet / weil der Menſch dabey niemahls ſeinen Schaden oder Ubel leiden kan.

74.

So ferne ſie ſich aber auff etwas anders gruͤndet / iſt ſie boͤſe / weil ſie nicht dauerhafftig ſeyn kan.

75.

Ja wenn der Menſch ſeine Vernunfft recht gebrauchet / wird er auch die Ehrbegierde der erſten Art mehr fuͤr indifferent als fuͤr was gu - tes achten / weil auch ohne die aͤußerliche Gleich - achtung der Vorziehung weder ſeinem Leben / noch ſeinen Sinnligkeiten / noch dem Gebrauch ſeiner Vernunfft etwas abgehet.

76.

Aus der obangefuͤhrten Ungleichheit / der Staͤnde der Menſchen iſt ferner die Einfuͤhrung des Eigenthums der Guͤter in dem menſchli - chen Geſchlecht entſtanden / daraus iſt hernach - mahls nothwendig eine Ungleichheit des Vermoͤ - gens erwachſen / und folglich auch ein Mangel derſelben oder Duͤrfftigkeit. Dieſe hat die Menſchen genoͤthiget das Geld einzufuͤhren / durch welches man alles / weſſen man beduͤrfftig iſt / anſchaffen kan. Dannenhero iſt die gemeine Begierde anderen gleich geachtet oder ihnen vor gezogen zu werden / ordentlich mit der Be - gierde uach Gelde oder Reichthum verge - ſellſchafftet.

77.

Dieſe iſt fuͤr gut zu achten / ſo ferne ſie nach den Regeln der geſunden Vernunfft einge - richtet iſt / und das erworbene Gut recht gebrau -chet /29das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.chet / fuͤr boͤſe aber / wenn ſolches nicht ge - ſchiehet.

78.

Ja weil ein Menſch der ſeinen Verſtand recht brauchet / gar leichte enkennet / daß er ohne Reichthumb gar wohl ſeyn / und ſeine Guͤter ge - brauchen koͤnne / (indem wir allbereit oben erweh - net / daß der Menſch nicht viel eigenes zu ſeiner Dauerung gebrauche) ſo wird er auch den Reichthum mehr fuͤr ein indifferent Ding / als fuͤr ein nothwendig Gut achten.

79.

So iſt auch endlich aus Einfuͤhrung des Unterſcheids der Staͤnde / ſo wohl auch aus de - nen unterſchiedenen Graden der Vortrefflichkeit der Menſchen / und aus der dem Menſchen einge - pflantzeten Geſelligkeit eine Begierde entſtanden / daß die Geringerern die Oberern und Vortreffli - chern hochgeachtet / und dieſe ihre Hochachtung zu erweiſen nicht alleine freywillig viel aͤußerliche Zeichen erfunden / durch ihr Thun und Laſſen die - ſelbſten zu erkennen zu geben / ſondern auch frey - willig der obern und vortrefflichern Menſchen ihr Thun und laſſen zu imitiren angefangen / welches man eine Ehrbezeigung / Hoͤffligkeit / Com - plaiſance, u. ſ. w. nennen kan / woraus ein abſon - derlich Weſen / das die Lateiner Decorum nen - nen / entſtanden / auch alle Schamhafftigkeit daher ihren Urſprung nimmet.

80.

Dieſes Decorum und die aus Verletzung deſſelben entſtandene Schamhafftigkeit iſt ſo ferne ſie die weiſen und tugendhafften Leute vordie30Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitdie trefflichſten haͤlt / und derenſelben Thaten imi - tiret / ein warhafftiges Gut. So ferne ſie aber die Laſterhafften und Gewaltigſten zum Spiegel braucht / iſt es ein Ubel; So ferne es aber auf die Nachahmung indifferenter Dinge zielet / iſt es an ſich ſelber mehr ein eiteles Nichts als was gutes / jedoch wird es ex hypotheſi, weil wir unter lauter eitelen Leuten leben / billig fuͤr was gutes geachtet / weil die Unterlaſſung deſ - ſelben dem Menſchen ſchaͤdlich iſt / und er ohne die - ſem decoro in vita civili ohnmoͤglich fortkom̃en kan / wie wir an ſeinem Orth mit mehrern erwei - ſen werden.

81.

Nun iſt GOtt noch uͤbrig. Von dieſem hat der Menſch ſein Weſen bekommen / und wird noch von ihm augenblicklich in ſeiner Dauerung erhalten. Jhm allein hat er die aͤußerlichen Dinge / die zu ſeiner Dauerung nach dem ordent - lichen Lauff der Natur etwas contribuiren zu dancken / und alſo ſtehet GOTT unter allen Guten billig oben an.

82.

Und obſchon der Menſch gleichfalls erken - net / daß GOtt ihn aller ſeiner Guͤter wieder be - rauben / und den groͤſten Schaden zufuͤgen koͤnne; ſo darff er doch GOtt nicht unter die boͤſen Din - ge / oder fuͤr die Urſache des Boͤſen rechnen / weil er gar wohl begreiffet / daß er der Menſch durch ſeine eigene Schuld alle die Ubel / die von GOtt herruͤhren ſich uͤber den Halß ladet -

83. Denn31das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

83.

Denn der Menſch kan auch aus dem Licht der Natur erkennen / daß GOtt fuͤr ſeine Wohlfahrt Sorge trage / und daß er auch in die - ſem Leben (denn von dem zukuͤnfftigen weiß die Menſchliche Vernunfft nichts) ihn / nach dem er ſein Leben anſtellet / mit Gnten oder Boͤſen belohnen oder beſtraffen wolle.

84.

Deshalben muß er auch nothwendig fuͤr gut halten / daß er nach Gottes Willen / den er ihm in dem Recht der Natur offenbahret / ſein Thun und Laſſen einrichte / und fuͤr boͤſe / wenn er demſelben widerſtrebet / weil er weiß / daß auff jenes die Belohnung / auff dieſes aber die Straffe folgen werde / und daß die Goͤttliche Belohnung und Straffe viel dauerhafftiger ſey als ein gegenwaͤrtiges und augenblickliches Ubel oder Gut.

85.

Worzu noch ferner kommt / daß er erken - net / wie das Recht der Natur in der allgemeinen Gluͤckſeligkeit des Menſchlichen Geſchlechts ge - gruͤndet ſey / weshalben er deſtomehr fuͤr etwas gutes halten muß / daß er ſein Leben nach Gottes Willen einrichte / weil unter der allgemeinen Gluͤckſeeligkeit auch ſeine eigene mit begriffen wird.

86.

Wenn er demnach ſein Leben nach Gottes Willen einrichtet / ſo heiſſet ſolches ein tugend - haſſtes Leben / zu dieſem aber kan er nicht gelan - gen / wenn ſein Verſtand nicht zu vorher durch die Gelahrheit ausgebeſſert iſt. Derowegeniſt32Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitiſt die Tugend und Gelahrheit / abſonderlich aber (wie wir allbereit in der Ausuͤbung der Veꝛnunfft - Lehre erwieſen) die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt was gutes / und hingegentheil das Laſter / die Unwiſ - ſenheit / und der Jrrthum / ſo wohl auch die Ge - lahrheit / die man mit Unterlaſſung der Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt in denen andern Geſchoͤpffen ſucht / was boͤſes.

87.

Aus dem / was wir bisher geſagt / werden wir gar deutlich die gemeinen Eintheilungen des guten verſtehen koͤnnen / die ſonſt ziemlich ſchwer und dunckel von denen / die ſich derſelben bedienen fuͤrgebracht werden. Jnsgemein ſagt man / daß dreyerley Guͤter der Menſchen ſeyn / die Guͤter ſeiner Seelen / die Guͤter des Leibes / und die Guͤter des Gluͤcks.

88.

Die Guͤter ſeiner Seelen ſind der rechte Gebrauch des Verſtandes und Willens / nemlich Weißheit und Tugend. Die Guͤter des Leibes ſind ſein Leben / ſeine Sinnlichkeiten und Bewe - gungs-Krafft / die Gantzheit ſeiner aͤußerlichen uñ innerlichen Gliedmaſſen / u. die rechte diſpoſition ſeines Gehirnes / weil von derſelben die Ver - nunfft dependiret / in Anſehen ſie durch die altera - tion des Leibes und abſonderlich des Gehirnes ſelber alteriret wird / und durch die Kranckheit des Leibes verringert oder turbiret werden kan / wel - ches alles zuſammen mit einem Worte die Ge - ſundheit des Leibes heiſt. Die Güter des Gluͤcks ſind Reichthum / Ehre / Freyheit und Freunde.

89. Alſo33das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

89.

Alſo ſieheſt du / daß wir alles bißhero ein - zeln erzehletes Gute unter die gewoͤhnlichen Claſſen gebracht haben / biß auff GOtt und das Decorum, die ſich nach der gemeinen Beſchrei - bung nicht fuͤglich zu einer von derſelben ſetzen laſſen. Was das Decorum betrifft / daran hat bißhero niemand gedacht / was es fuͤr ein Gut ſey / obgleich alle Philoſophi darinnen wider die Cy - nicos einig geweſen / daß uͤber die Tugend noch etwas anders ſey / das man in gemeinen Leben und Wandel als eine Richtſchnur in acht neh - men muͤſſe.

90.

Was GOtt betrifft / iſt es zwar denen Heydniſchen Philoſophen endlich zu uͤberſehen / daß ſie die Eintheilung der Guͤter des Menſchen ſo eingeſchrenckt / daß ſie das noͤthigſte darinnen verſehen / weil ſie insgeſamt wegen der Ver - miſchung der Welt-Weisheit und der falſchen Offenbahrung irrige Meinungen von GOtt ge - heget; daß man aber in Chriſtlichen Schulen dieſen Mangel ſo gelaſſen / wie man ihn gefun - den / iſt billig zu bewundern. Wir wollen uns aber nicht eben bekuͤmmern dieſe Eintheilung nach dieſen Anmerckungen auszubeſſern / ſondern lieber dieſelbe gar fahren laſſen / weil wir nicht ſehen / was dieſelbe fuͤr einen groſſen Nutzen habe.

91.

Ferner lehret man durchgehends in de - nen Schulen / qvod bonum ſit honeſtum, utile & jucundum, daß ein ehrbares / nuͤtzliches und be -Cluſti -34Das 1. H. von der Gelahrheitluſtigendes Gut ſey / und machet in Beſchrei - bung dieſer unterſchiedlichen Arten / ſo wohl auch in denen Exempeln den Unterſchied dererſelben mehr verwirret als deutlich / indem man dieſe fal - ſche Meinung hat / als wenn dieſe dreyerley Guͤ - ter wuͤrcklich voneinander unterſchieden waͤ - ren / da doch ihr Unterſchied nur darinnen beſte - het / daß das Gute in unterſchiedene Betrach - tung bald ehrbar / bald beluſtigend / bald nuͤtz - lich genennet werde.

92.

Denn alles warhafftige Gute (das Schein-Gut haben wir ſchon oben ausgemer - tzet) iſt nuͤtzlich / weil es den Menſchen in ſei - ner Dauerhafftigkeit erhaͤlt. So iſt es auch beluſtigend / wenn es der Menſche beſitzet / weil die Freude / Luſt und Vergnuͤgung nichts anders iſt / als die Genieſſung und Beſitzung des verlang - ten Guten. Endlich iſt es auch ehrbar oder zum wenigſten nicht unehrbar; denn die Erbarkeit gruͤndet ſich in dem gemeinen Nutzen des menſch - lichen Geſchlechts / und wir werden zu ſeiner Zeit bald darthun / daß / der ein ehrbares Leben fuͤh - ret / auch alleine ein recht luſtig und vergnuͤgt Le - ben empfinde. Und gleichwie alle Unehrbarkei - ten und Laſter dem gantzen menſchlichen Ge - ſchlecht ſchaͤdlich ſeyn / auch jeden Menſchen ſelbſt ruiniren; als wird es ſich auch bald weiſen / daß derjenige / der ein unvernuͤnfftiges Leben fuͤhret / auch zu der Zeit / da er ſich die groͤſte Luſt ein -bil -35das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.bildet / vielfaͤltigen ja unzehligen Verdrießlichkei - ten unterworffen ſey.

93.

Es krieget aber dieſes eintzige Gute unter - ſchiedene Nahmen / nachdem man es auff unter - ſchiedene weiſe betrachtet. Wenn man ſeinen Urſprung anſiehet / daß es von GOtt herkomme / und daß es von GOtt oder ſolchen Menſchen / die an GOttes Stelle auff dieſer Welt das Regi - ment fuͤhren / als eine Richtſchnur des menſchli - chen Thun und und laſſens vorgeſchrieben ſey / ſo heiſt es ein ehrbares Gut / wiewohl es auch manchmahl dieſe Benennung erlanget / wenn es nicht unehrbar / oder dieſer Richtſchnur nicht zu wieder iſt.

94.

Betrachte ich aber das Gute in Anſehen ſeiner ſelbſt und ſeiner Gegenwaͤrtigkeit / ſo heiſſet es ein beluſtigendes Gut.

95.

Endlich wenn ich ſeine Wuͤrckung be - trachte / ſo heiſſet es nutzlich / nemlich ſo ferne es ein neues Gute zuwegen bringet / oder das ge - genwaͤrtige continuiret.

96.

Und alſo iſt kein anderer Unterſchied un - ter dem nuͤtzlichen und beluſtigenden Guten / als daß jenes auff zukuͤnfftige Dinge / dieſes aber auff gegenwaͤrtige ſein Abſehen hat.

97.

Wolteſt du gleich ſagen / daß man ſich auch an vergangenen und zukuͤnfftigen Din - gen beluſtige / ja daß man mehr Vergnuͤgen an Betrachtung vergangener und zukuͤnfftiger Dinge / wo nicht allemahl doch oͤffters / als anC 2gegen -36Das 1. H. von der Gelahrheitgegenwaͤrtigen empfinde; Z. e. ein zaͤrtlich Ver - liebter; So wirſt du doch geſtehen muͤſſen / wenn du die Sache genau uͤberlegeſt / daß als denn erſt die Betrachtung vergangener Din - ge beluſtige / wenn wir uns dieſelben als noch gegenwaͤrtig / oder die doch leichte wieder ge - genwaͤrtig ſeyn koͤnnen / vorſtellen / und daß die Betrachtung zukuͤnfftiger Dinge uns beluſtige / wenn wir gedencken / daß ſie bald gegenwaͤr - tig ſeyn werden / und alſo muß man das gegen - waͤrtige allhier in einen etwas weitern Verſtande nehmen.

98.

Denn wenn ich das vergangene Gute als vergangen betrachte / und daß nicht mehr gegenwaͤrtig ſeyn wird / ſo erfreue ich mich nicht / ſondern ich betruͤbe mich / Gleichwie in Gegen - theil die Betrachtung des vergangenen Boͤſen uns beluſtiget. Und wenn ich das zukuͤnfftige Gute nur noch als zukuͤnfftig anſehe / ſo empſin - de ich keine Luſt darvon / ſondern ich habe nur ein Verlangen darnach.

99.

Daß man aber insgemein die nuͤtzlichen / beluſtigenden und ehrbaren Guͤter von einander abſondert / geſchiehet theils daher / daß man dieſe Guͤter nicht recht beſchreibet / theils daß man gantz offenbahr das Schein-Gut mit dem wah - ren Gute / theils auch endlich andere zufaͤllige und geringe Arten des Guten mit denen edel - ſten vermiſcht.

100. Man37das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

100.

Man ſagt / das nuͤtzliche Gut ver - lange man wegen eines andern / das beluſti - gende aber und das ehrbare wegen ſein ſelbſt. Alleine ſo ferne alles Gute eine beſtaͤndige Dauerung intendiret / muß es nothwendig we - gen eines andern verlanget werden; ſo ferne aber durch das andere etwas von dem vorigen gantz unterſchiedenes verſtanden wird / und daß das vorige nichts unmittelbaꝛ zuꝛ Dauerung con - tribuire / z. e. Geld / ſo begreiffet man nur unter dem Rahmen / des nutzlichſten Gutes die ge - ringſte Art / nehmlich die Mittel zum Guten / gleich als ob / zum Exempel das Leben / die Sinn - ligkeiten und dererſelben maͤßige Beluſti - gungen u. ſ. w. die man wegen ihrer ſelbſt verlan - get / nicht auch nuͤtzlich waͤren.

101.

Ferner ſpricht man / das ehrbare Gut verlange die geſunde Vernunfft / das beluſti - gende aber ein uns mit denen Thieren gemei - ner appetit. Aber wir haben ſchon oben geſagt / daß die Thiere das Boͤſe und Gute nicht erken - nen (denn ſie gedencken nicht) wie wolten ſie denn das Gute verlangen koͤnnen / weil nach dem ge - meinen Sprichwort ich nichts verlange / was ich nicht weiß.

103.

So iſt auch darinnen eine ziemliche Un - foͤrmligkeit / daß man dieſen appetit, der nach beluſtigenden Dingen trachten ſol / der geſun - den Vernunfft entgegen ſetzet / gleich als ob ei - ne gemaͤßigte Freude und Luſt der geſundenC 3Ver -38Das 1. Hauptſt. von der GelahrheitVernunfft zu wider waͤre / und nicht vielmehr der Gebrauch der geſunden Vernunfft ſelbſten in der Gemuͤths-Ruhe / dieſe aber in einer ſtillen Beluſtigung beſtaͤnde.

103.

Sprichſt du gleich: dieſe maͤßigen Be - luſtigungen und alle Beluſtigungen des Ge - muͤths waͤren keine beluſtigende Guͤter / weil das beluſtigende Gut eintzig und alleine in ſehr empfindlichen Beruͤhrungen der Sinnlig - keiten beſtuͤnde / Z. e. in einer Wolluſt / in delica - ten Eſſen und Trincken / und andern Dingen / die wie Wohlluͤſte des Leibes nennen; So iſt doch dieſe Ausflucht ſehr unvernuͤnfftig. Denn erſt - lich haben wir ſchon oben erwieſen / daß alle empfindliche Beluſtigung ein Schein-Gut / oder deutlicher etwas boͤſes ſey / und daß denen maͤßigen Beluſtigungen alleine die Beſchreibung des Guten zukomme.

104.

Zum andern / gleichwie es eine groſſe Thorheit ſeyn wuͤrde / wenn wir vermeinen wol - ten / daß ein Saͤuffer / Spieler und Huhrer in dem Augenblick ſeiner Beluſtigung kein Ver - gnuͤgen fuͤhlen ſolte; alſo waͤre es auch unge - ſchickt / wenn man diejenigen / die die Beluſti - gung der Seelen wuͤrcklich empſinden / bere - den wolte / ihre Empfindligkeit betroͤge ſie. Denn daß ich anjetzo nichts von der ſtillen Luſt und ruhigen Vergnuͤgen eines warhafftig wei - ſen und tugendhafften Mannes erwehne / ſo iſt wohl auſſer Zweiffel / daß das Gemuͤthe einesEhr -39das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.Ehrgeitzigen uͤber den gnaͤdigen Blick eines Fuͤr - ſten; eines Geldgierigen uͤber der Erhaltung ei - nes Gewinſts; eines ſo genandten Gelehrten uͤber der Wiederlegung eines ſeiner Widerſa - cher / und eines tieffſinnigen Mannes uͤber der Erfindung der qvadraturæ circuli, eben die Freu - de und Vergnuͤgung empfindet / als eines / der ſich uͤber die empfindlichen Beruͤhrungen der Sinnligkeiten beluſtiget.

105.

Und alſo wird es nunmehro nicht ſchwer ſeyn von denen Exempeln zu urtheilen / die man insgemein giebt um darzuthun / daß wohl etwas ein ehrbares Gut ſeyn koͤnne / ohne daß es nuͤtz - lich oder beluſtigend ſey / oder nuͤtzlich und doch nicht beluſtigend oder ehrbar / oder beluſtigend und doch nicht nuͤtzlich oder ehrbar. Z. e. Sein Leben fuͤr ſein Vaterland wagen / oder ſich von Laſtern zur Tugend angewoͤhnen: Bittere Ar - tzeney gebrauchen / oder ſtehlen / huhren / freſſen und ſauffen.

106.

Denn was das Stehlen / huhren / freſſen und ſauffen anlanget / dieſe gehoͤren nicht unter die nuͤtzlichen und beluſtigenden Guͤter / weil ſie gar nicht unter die Guͤter zu rechnen ſind / ſondern boͤſe ſind. Und vermiſchen die / ſo ſich dergleichen Exempel bedienen / gantz offenbahr zwey unterſchiedene Redens-Arten. Ein anders iſt ein empfindlicher / augenblicklicher Nutzen oder Beluſtigung. Ein anders ein nuͤtzliches oder be - luſtigendes Gut.

C 4107.40Das 1. H. von der Gelahrheit

107.

Was aber die andern Exempel betrifft / ſo iſt es wohl an dem / bittere Artzeney iſt ein nuͤtzlich Gut / aber nicht beluſtigend: Sich von Laſtern abgewoͤhnen / iſt ehrbar und nuͤtzlich / aber es gehet ſauer ein. Alleine beydes præſup - poniret einen Menſchen / der in einen verderbten Zuſtand iſt; Dergleichen Guͤter / wie wir bald ſagen werden / ſind Guͤter in einen geringeren grad, und mehrentheils denen edelſten Guͤtern / die man nach dem ordentlichen und natuͤrlichen Zuſtand des Menſchen erweget / entgegen ge - ſetzt. Was wir aber bißhero von der Vereini - gung des ehrbaren / nuͤtzlichen und beluſtigenden Guten geſaget / iſt von denen edelſten Guͤtern tanqvam de analogato nobiliſſimo zu verſtehen.

108.

Endlich ſein Leben fuͤr ſein Vater - land wagen / iſt / wenn man einen rechten Men - ſchen anſiehet / ein beluſtigendes und nuͤtzliches Gut; Denn ein tugendhaffter Mann thut es mit Freuden / und erhaͤlt dadurch den gemeinen Nu - tzen / in welchem ſein eigener mit ſteckt; Und muß man einen groſſen Unterſcheid machen unter ſter - ben und ſein Leben wagen.

109.

Derowegen waͤre es faſt beſſer gewe - ſen / man haͤtte in denen Schulen die Einthei - lung des Guten in honeſtum, jucundum & utile ausgelaſſen / als daß man ſie ſo verwirrt und ungegruͤndet fuͤrgetragen / zumahl da man aber - mahl das decorum ausgelaſſen / welches we - der zu den ehrbaren noch nuͤtzlichen noch beluſti -gen -41das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.genden Guͤtern nach der gemeinen Beſchreibung gerechnet werden kan.

110.

Solcher geſtalt aber wollen wir uns nach andern Eintheilungen des Guten um - thun / die in der Gelahrheit von dem Erkaͤntnis des Guten und Boͤſen / groͤſſern Nutzen haben. Zumahl wenn wir voraus mercken / daß die un - terſchiedenen Arten des Guten und Boͤſen / die wir in folgenden Eintheilungen vorſtellen wol - len / nicht von gleicher Guͤte oder grad ſeyn / ſondern allezeit die eine Art geringer ſeyn wird als die andere / dannenhero nicht alleine dieſes uͤberhaupt zu erinnern / daß wenn zwey Gute oder Boͤſe von ungleichen grad zuſammen kom - men / das geringere allezeit in Anſehen des groͤſſeren weichen und nachgeben muͤſſe / ſon - dern daß wir auch in der Erkaͤntnis des Guten allemahl fuͤrnehmlich auff den groͤſten und vornehmſten grad unſer Abſehen richten muͤſ - ſen / wie wir denn auch in deſſen Anſehen dieſen grad in Beſchreibung des guten fuͤr Augen ge - habt haben.

111.

Denn der Menſch wie er anjetzo auff dieſer Welt lebet / kan auf zweyerley Weiſe be - trachtet werden / entweder nach ſeinem ordent - lichen Zuſtand und ſeiner Natur / den er von GOtt empfangen hat oder nach ſeinen auſſer ordentlichen / auſſer natuͤrlichen Zuſtand / in - dem er ſich durch die Gewohnheit ſelbſt geſetztC 5hat /42Das 1. H. von der Gelahrheithat / oder darein er von andern Menſchen geſetzt worden.

112.

Der ordentliche Zuſtand iſt derjenige / wenn die Bewegung aller Theile des menſchli - chen Leibes in der von GOtt geordneten propor - tion und Maſſe / auch Abwechſelung verbleibet / und ſo zu reden in gleicher Wage bald auf dieſe Seite bald auff jene incliniret / welches nicht al - leine von der Bewegung des Gebluͤts / und der geiſtigen Coͤrper in denen nerven, ſondern auch von der Bewegung der Vernunfft und des Wil - lens zu verſtehen / daß beyde allein zum Guten an - getrieben / und von Boͤſen abgefuͤhret / in allen an - dern Dingen aber gleich guͤltig ſeyn. Dieſer Zu - ſtand iſt an ſich ſelber gut.

113.

Der auſſerordentliche Zuſtand iſt der - jenige / wenn dieſe Bewegung von der von GOtt geordneten Maſſe abweichet / und entweder den Wachsthum allzumercklich befoͤrdert / oder das Abnehmen unmittelbahr und empfindlich be - ſchleuniget / und wenn der Verſtand und Wille zum Guten traͤge und zum Boͤſen munter iſt / auch keines weges eine ruhige Bewegung empfindet / ſondern von allen aͤuſſerlichen Dingen bald da bald dorthin geriſſen wird. Jn dieſem Zuſtande leben dem Leibe nach die Krancken / und nach der Seeleu die in Unwiſſenheit und Jrrthuͤmern / Eitelkeit und Laſtern ſtecken. Dieſer Zuſtand iſt boͤſe.

114. Nach43das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

114.

Nach dieſem zweyerley Zuſtande iſt auch das Gute und Boͤſe unterſchieden / davon wir jenes das ordentliche / dieſes aber das auſſer - ordentliche Gute und Boͤſe nennen wollen.

115.

Jenes Gute erhaͤlt und befoͤrdert des Menſchen ſeinen ordentlichen Zuſtand / oder es befoͤrdert das natuͤrliche Gute; Dieſes benimmt ihn den aufferordentlichen / oder das angewoͤhnte Boͤſe.

116.

Das ordentliche Boͤſe ſetzet den Men - ſchen aus dem ordentlichen in den auſſerordentli - chen Zuſtand; aber das auſſerordentliche Boͤſe iſt dasjenige / wenn man den Menſchen aus den Boͤſen oder auſſerordentlichen Stand / durch eine auſſerordentliche Weiſe wider in den guten Stand ſetzen wil.

117.

Denn hierinnen kommen beyderley Art von dem Guten uͤberein / daß bey beyden eine gewiſſe proportion und Maſſe nebſt eineꝛ allmaͤh - ligen Veraͤnderung beobachtet werden muß. Und hierinnen koͤmmt beyderley Boͤſes miteinander uͤberein / daß bey beyden ſelbige Maſſe uͤber - ſchritten / und eine allzuſchleunige Veraͤnderung vorgenommen wird.

118.

Wie was ſteiget / ſo faͤllet es auch. Und wie dannenhero der Menſch ſein natuͤrlich Gu - tes Stuffen-weiſe gleichſam erhaͤlt / alſo muß er ſich auch Stuffen-weiſe das Boͤſe wieder abgewoͤhnen. Man vertreibet eine Kranck -heit44Das 1. H. von der Gelahrheitheit nicht in einen Augenblick. Man verderbet die erfrornen Gliedmaſſen / wenn man dieſelbe allzubald in allzugroſſe Hitze bringet; Man rui - niret den Magen / wenn man nach langer Faſte ſo viel ißt / als die Begierde antreibet; Man rich - tet nichts aus / wenn man in einem Augenblick oder in einer allzu kurtzen Zeit die Jrrthuͤmer und Vorurtheile wil loß werden / oder auff einmahl die lange eingewurzelten Gewohnheiten und Sit - ten oder Affecten abſchaffen.

119.

Aber hieraus folget zugleich / daß das - jenige / was in Anſehen des ordentlichen Zu - ſtandes gut iſt / boͤſe ſeyn wuͤrde / wenn man es einen Menſchen / der in dem auſſerordentlichen Zuſtand lebet / appliciren wolte / und daß hin - gegentheil das / was einen Krancken / Unwiſſen - den und laſterhafften gut iſt / einen geſunden / weiſen und tugendhafften Menſchen boͤſe ſeyn koͤnne.

120.

Eine maͤßige Bewegung / ein Stuͤcke Rindfleiſch / eine friſche Lufft / iſt einem Ge - ſunden gut / aber einem Podagriſchen / Schwind - ſuͤchtigen und Febricitanten ſchaͤdlich. Und was ein Weiſer mit Vergnuͤgen fuͤr wahr erkennet / daruͤber aͤrgert ſich ein in Jrrthum ſteckender / oder wird doch gleichſam daruͤber verblendet. Ein Tugendhaffter iſt ruhig / wenn er alleine iſt / wenn er wenig hat / wenn er wenig iſſet und trincket. Ein Wohlluͤſtiger ſtirbet fuͤr Ver - druß / wenn er keine Geſellſchafft hat / und einGei -45das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.Geitziger haͤnget ſich / wenn man ihm ſeinen Schatz nimmt; Ein Trunckenbold wird kranck / wenn man ihm 8. Tage allen Wein entziehet.

121.

Wiederum: Einem Patienten iſt eine etliche Tage lang continuirte Ruhe / eine auff ſeine Kranckheit gerichtete Artzeney / eine außerordentliche Waͤrme gut. Einen Ge - ſunden aber macht ſie faul; und ein Geſunder verderbet ſich / wenn er offte Artzeney braucht / und ſeine Zimmer ſo warm haͤlt / als wenn er kranck waͤre. Einem Jrrenden / der noch in præ - judiciis ſteckt / muß man durch einen ehrlichen Betrug gewinnen. Bey einem Weiſen iſt al - ler Betrug verdaͤchtig. Ein Wohlluͤſtiger Gei - tziger und Trunckenbold beſſert ſich / wenn ſeine Wohlluſt / ſein Geiz und ſeine Truncken - heit abnehmen; aber ein Keuſcher Freygebi - ger und nuͤchterner Menſch verſchlimmert ſich / wenn er in einen dergleichen maͤßigen grad wohlluͤſtig / geitzig und der Trunckenheit erge - ben wird.

122.

Mit der vorigen Eintheilung des Guten hat folgende einige Verwandnis. Das Gute und Boͤſe wird entweder poſitivè oder privati - genommen. Das iſt / das Gute beſtehet entweder in der Erlangung einer angeneh - men Sache / oder in der Beraubung einer unangenehmen. Und das Boͤſe beſtehet ent - weder in Erhaltung einer unangenehmen / oder in Beraubung einer angenehmen Sache.

123. Al -46Das 1. H. von der Gelahrheit

123.

Alſo iſt die Erlernung zuvor unbekan - ter Wiſſenſchafften / die Erhaltung neuer Ehre und Freyheiten / die Erwerbung eines biß - her nicht gehabten Vermoͤgens u. ſ. w. poſi - tivè gut / die Entledigung aber aus der Ge - faͤngniß / die Geneſung von der Kranckheit u. ſ. w. iſt unter die bona privative talia zu rech - nen. Gleicherweiſe iſt die Kranckheit / die Verwundung / der Schmertz / die Schmach poſitivè ein Ubel / die Einkerckerung aber / die Beraubung unſers Vermoͤgens oder unſerer Ehren-Stellen ein malum privativum.

124.

Ferner ſo ſind etliche Guͤter ſehr edel und hoͤchſtnothwendig / ohne die des Men - ſchen ſein Weſen entweder gar nicht beſtehen kan / oder doch elend und geſtuͤmmelt ſeyn wuͤr - de; etliche aber ſind nicht ſo edel und noth - wendig / dergeſtalt daß der Menſch ohne die - ſelben gar wohl beſtehen kan / auch ohne ſie nicht elend zu nennen iſt; Sie werden aber un - ter die Zahl guter Dinge gerechnet / weil der Menſch / ſo ſelbige beſitzet / mehr Gelegenheit hat anderen Menſchen Gutes zu erweiſen / als wenn er ſie nicht hat.

125.

Alſo ſind Geſundheit / Weisheit und Tugend ſehr edele und hoͤchſtnothwendige Guͤ - ter; Freyheit aber / aͤuſſerliche Ehre / Reich - thum / Freunde / ſind nicht ſo nothwendig / wor - zu wir auch meiſtentheils das decorum rech - nen.

126. Dar -47das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

126.

Daraus wird aber leicht zu begreiffen ſeyn die doppelte Art des Boͤſen / deren eines dem nothwendigen Guten entgegen geſetzet wird / als Kranckheit / Unwiſſenheit / Jrr - thum und Laſter; das andere aber iſt nicht ſo wohl boͤſe als indifferent, weil das ihm entgegen getzte Gut nicht nothwendig iſt / als Beraubung oder Mangel der Freyheit / der Ehre und des Reichthums / worzu wir auch die Unwiſſen - heitdes decori rechnen.

127.

Und zwar ſo habe ich in dieſer Einthei - lung auff die natuͤrliche Gleichheit des menſch - lichen Weſens mein Abſehen gerichtet / wenn man aber auff die durch die Buͤrgerliche Geſell - ſchafft eingefuͤhrte Ungleichheit reflectiret / ſo iſt nicht zu laͤugnen / wie wir auch allbereit oben er - wehnet / daß das decorum unter die nothwen - digen Guͤter gerechnet werden muͤſſe / ſo ferne ohne dieſelbige kein Menſche in der Buͤrgerli - chen Geſellſchafft ſich empor heben kan / in wel - ther Betrachtung aber auch die Freyheit / Ehre und Reichthum unter die nothwendigen Guͤter gerechnet werden muͤſſen. Solcher geſtalt koͤn - te man / damit man dieſe beyderley Benennun - gen nicht vermiſche / ſagen / die nothwendigen Guͤter ſeyn / entweder ſolche in Anſehung des menſchlichen Weſens / (neceſſaria abſolutè) oder in Betrachtung der menſchlichen Geſellſchafft / in der wir leben / und die nicht ſo vollkommen iſt /wie48Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheitwie ſie ſeyn ſolte und koͤnte (neceſſaria ex hypo - theſi ſtatus corrupti ſocietatis civilis.)

128.

Hiernechſt iſt auch das Gute entwe - der ein unmittelbares Gut / das des Men - ſchen Dauerung und Weſen fuͤr ſich erhaͤlt; als Leben / Geſundheit / Weisheit / Tugend; oder ein mittelbahres Gut / welches zu Erlan - gung und Vermehrung beſagten unmittelbaren Guͤter dienet / als Geld / Speiſe / und Tranck / ſtudiren / Ubung in tugendhafften Thaten; Je - nes iſt der Zweck des menſchlichen Thun und Laſſens / dieſes die Mittel darzu. Und je ent - ferneter dieſe Mittel ſeyn / oder je leichter der Menſche derſelben entbehren kan / je in gerin - gern grad des guten verdienen ſie