PRIMS Full-text transcription (HTML)
Außuͤbung Der Vernunfft-Lehre /
Oder: Kurtze / deutliche und wohlgegꝛuͤndete Handgriffe / wie man in ſeinen Kopffe auf - raͤumen und ſich zu Erforſchung der Wahrheit geſchickt machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verſtehen und auslegen; von anderer ihren Meinungen urtheilen / und die Jrr - thuͤmer geſchicklich widerlegen ſolle. Worinnen allenthalben viel allgemeine heut zu Tage in Schwang gehende Jrrthuͤmer angezeiget / und deutlich beantwortet werden.
Nebſt einer Vorrede Jn welcheꝛ deꝛ Autor die Urſachen an - zeiget / worumb er auch auff des Realis de Vienna ſeine Diſcurſus und Dubia uͤber die Introductio - nem ad Philoſophiam Aulicam nicht ant - worten werde.
Halle /Gedruckt beyChriſtoph Salfelden/ Chur - Fuͤrſtl. Brandenb. Hoff - und Regierungs Buch - drucker im Hertzogthume Magdeburg.

An Seine Hochwohlgebohrne Excellenz Den Chur-Brandenburgiſchen Staats-Miniſter Hn. Eberhard von Danckelman / u. ſ. w. u. ſ. w.

Hochwohlgebohrner / Gnaͤdiger Herr

DJeſes iſt mein erſtes Buch / das ich all - hier in Halle verfertiget / und der ſtu - direnden Jugend im vorigen und Anfange des jetzigen Jahres oͤffent - lich erklaͤret / nachdem Seine Chur - Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit zu Branden - burg in Dero Gnaͤdigſten Schutz mich genom̃en / und mir vergoͤnnet / meine Collegia wie zuvorhero in Leipzig geſchehen / allhier frey und und ungehin - dert zu halten. Ewrer Hochwohlgebohrnen Ex - cellenz Hoͤchſtguͤltigen Vorſprache habe ich dieſe Freyheit und die derſelben beygefuͤgte Hohe Chur - Fuͤrſtliche Gnade guten Theils zu dancken / und habe mich dannenhero verbunden erachtet / durch dieſe unterthaͤnige Zuſchrifft Ewrer Hochwohlge - bohrnen Excellenz als Hoͤchſtgedachter Seiner Chur-Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit groſſen Staats-Miniſter von meiner Lehre und Verrich - tungen allhier Rechenſchafft zu geben / nachdem ei - ne unterthaͤnigſte Ehrfurcht mich abgehalten / nacha 2derder an Seine Chur-Fuͤrſtliche Durchlauchtig - keit uͤberreichten unteꝛthaͤnigſten Dedication mei - ner erſten allhier gehaltenen Diſputation, durch unterthaͤnigſte Offerirung auch dieſes gegenwaͤr - tigen Buchs meine vorhin gebrauchte Kuͤhnheit zu vergroͤſſern. Jch kan zwar leichte zu vorherſehen / daß ihrer viel meiner ſpotten / und mir fuͤr eine Pe - danterey auslegen werden / daß ich mich nicht entſe - hen / Ewrer Excell. mit Zuſchreibung einer Logic vor das Geſichte zu kommen / da ich doch wohl ehe vielleicht ſelbſt dieſes als eine Pedantiſche Thorheit an andern getadelt / wenn man Logicken und Meta - phyſicken nach Hoffe bringen / Staats-Miniſter damit beſchencken / und Sie zu Vertheydigern und Schutz-Goͤttern dergleichen Schul-Weißheiten machen wollen. Ja es kan gar leicht geſchehen / daß andere bey bloſſer Erblickung des Titels Gelegen - heit nehmen werden / bey Ewrer Excellenz mich in uͤbeles Anſehen zu bringen / daß ich bey nahe ein gantzes Jahr allhier in Halle mit Profitirung dieſer meiner Logic, davon gegenwaͤrtige Ausuͤbung der andere Theil iſt / zugebracht / gleich als ob nicht Lo - gicken genung in der Welt waͤren / und nicht auff allen hohen - und niederen Schulen von Collegiis und Lectionibus Logicis alles wim̃elte / die man uͤberall umb ein ſehr geringes Geld haben koͤnte / und ich alſo der Chur-Fuͤrſtlichen mir erwieſenen Hohen Munificenz hierdurch ſehr gemißbraucht haͤtte. Alleine ich verhoffe in Gegentheil / daß ich ohne eini - ge ungeziemende Schmeicheley meiner ſelbſt / von dieſer meiner Logic, und ſonderlich von gegenwaͤr - tiger Ausuͤbung derſelben ſagen koͤnne / daß Sie ſichnichtnicht ſcheuen duͤrffe nach Hoffe zu kommen. Und lebe hiernechſt des unterthaͤnigen Vertrauens / daß Ewre Excellenz ſelbſt das Urtheil von meiner Ar - beit faͤllen werden / daß ich das erſte Jahr nichts nuͤtzlichers und beſſers haͤtte lehren koͤnnen / wenn Sie nur geruhen wollen / dieſe meine unterthaͤnige Zuſchrifft mit Gnaͤdigen Augen anzuſehen. Un - ter Logicken und Logicken iſt ein groſſer Unterſcheid. Die wahre Logic ſol nichts anders ſeyn als eine Lehre / wie man ſeine Vernunfft recht brauchen ſol - le. Was iſt aber noͤtigers und nuͤtzlichers in der Welt? Und wie kan der Menſch / der dieſe Lehre nicht begriffen hat / in einiger menſchlichen Geſell - ſchafft / geſchweige denn bey Hoffe fort kommen? Doch hat bißhero nun etliche hundert Jahr hero in denen Teutſchen Hohen und Niederen Schulen die gelehrte Welt dieſer Grund-Lehre der Wahr - heit entbehren muͤſſen / indem die auffgeblaſene und Sophiſtiſche Syllogiſmus-Kunſt dieſes Titels der Logic ohne einigen Grund und gantz unverſchaͤm - ter Weiſe ſich angemaſſet / weil ſie ſich nicht entbloͤ - det vorzugeben / ſie wolte jungen Leuten den Weg weiſen die Wahrheit vermittelſt ihrer Vernunfft zu finden / und dennoch daneben offenbahr geſtan - den / daß die Erfindung der Wahrheit als ein finis externus nicht in ihren Vermoͤgen ſtehe. Wan - nenhero etliche Hochgelehrte und Galante Maͤn - ner von allerhand Nationen in dieſem / das Sclavi - ſche Joch der alten Jrrthuͤmer ſich von dem Halſe werffenden Seculo uͤber dieſen Haupt-Mangel theils ſich beklaget / theils auch ſelbſten verſucht den - ſelben durch ihre Arbeit zu erſetzen. Jch wil nura 3denden wegen ſeiner herrlichen Wiſſenſchafften in der Matheſi hochberuͤhmten Laußnitziſchen Edelmann den Herrn von Tſchirnhauß anfuͤhren. Wie ſehr hat er ſich bemuͤhet / in ſeiner Medicina Mentis an ſtatt der Syllogiſmus-Kunſt eine rechte Logic zu - ſchreiben? Und hat dabeneben dafuͤr gehalten / daß dieſe ſeine wohlintentionirte Logic ſich nicht ſchaͤ - men doͤrffte an den Galanteſten Hoffe in Franck - reich zu kommen / und fuͤr den allerſcharffſinnigſten Koͤnig (denn worumb ſolten wir nicht die Tugend auch an unſern allgemeinen Feinde ruͤhmen und hochachten?) ſich zu præſentiren. Jch muß be - kennen / ich habe nach Leſung dieſes ſeines Buchs am erſten rechtſchaffene Gelegenheit bekommen / die Sache ein wenig reiffer zu uͤberlegen / und in meinen Kopffe auffzuraͤumen / ob ich gleich allbereit etliche Jahre hero die gantze Jurisprudenz nicht ohne Applauſu der ſtudirenden Jugend gelehrt / und dabey geſpuͤhret hatte / daß mich auch meine Widerſacher ſelbſt durchgehends fuͤr einen nicht ungelehrten Philoſophum paſſiren lieſſen / zumah - len ich genungſame Proben abgeleget hatte / daß ich in der Syllogiſmus-Kunſt ſo wohl Præſidendo als Opponendo meinen Mann / auch ſo gar die Hel - den dieſer Kunſt / nie geſcheuet. Alleine ich habe durch dieſe Methode ſeit vier Jahre her eine ſolche Veraͤnderung meiner vorigen Concepte verur - ſacht / daß ich / wenn ich das betrachte / was ich ſeit dieſer Zeit in meinem Kopffe ausgemuſtert / mich der Blindheit / die ich zuvorhero in der Philoſophie und Jurisprudenz gehabt / von Hertzen ſchaͤme / und die Welt bedaure / die auff gleiche Weiſe durchdiedie Vorurtheile menſchlicher Autoritaͤt und Præ - cipitanz verfuͤhret / noch darinnen ſtecket. Jch ha - be die Eitelkeit der Syllogiſmus-Kunſt und der da - durch erhaltenen Siege ſo deutlich erkennen lernen / daß ſie mir nunmehro nichts anders als Kinder - Spiele vorkommen. Jch habe hierneben alſobald die Ausbeſſerung des Herrn Tſchirnhauß unter - ſucht / und weil ich dabey viel zweiffelhaffte Dinge gefunden / dieſe meine Zweiffel glimpflich und be - ſcheiden in denen damahls heraus gegebenen Mo - nat-Geſpraͤchen vorgetragen. Dieweil aber Zweiffels ohne durch Verurſachung etlicher Miß - goͤnſtiger mir an ſtatt einer erwarteten glimpfli - chen / eine ſehr harte Antwort worden / und wir ſol - cher geſtalt / jedoch / wie ich hoffe / ohne meine Schuld / zimlich in einander gerathen / habe ich mir angelegen ſeyn laſſen / ſelbſt zu Nutzen der ſtudiren - den Jugend eine Logic ohne der Syllogiſmus - Kunſt zu verfertigen / und dabey mich befliſſen / das - jenige zu meiden oder zu aͤndern / was mir bey des Herrn von Tſchirnhauß Lehre verdaͤchtig und zweiffelhafftig vorgekommen; maſſen ich denn je - derzeit davor gehalten / daß beſagter Autor, ſich von den allgemeinen Jrrwege auff die rechte Heer - Straſſe der Wahꝛheit gemacht / ob er ſchon daſelbſt dann und wann in etliche Abwege verfallen / und ich ihn alſo den Ruhm / daß er mir hierinnen die Bahne gebrochen / und daß / wenn es ohne ſeine auch nach meiner Meinung zuweilen irrige Lehr-Saͤtze gewe - ſen waͤre / ich vielleicht an die denenſelben entgegen - geſetzte Wahrheit nicht wuͤrde gedacht haben / nicht zu benehmen gedencke. Jch habe dannenhero ina 4demdem erſten Theile meiner Vernunfft-Lehre gezei - get / wie ſo gar leichte die Erkaͤntniß der Wahrheit / und die Erfindung neuer Wahrheiten in allen Di - ſciplinen ſey / wenn man nur ſein Gemuͤthe von dem hochſchaͤdlichen Vorurtheile menſchlicher Au - toritaͤt ſaubern / und die dadurch eingewurtzelten allgemeinen Jrrthuͤmer bey ſeit zu legen ſich reſol - viren / auch ſich das Leben mit der leidigen Syllogi - ſmus-Kunſt / und der ohne Noth verwirreten allge - meinen Lehre von der Demonſtration nicht ſauer machen laſſen wolle. So gar daß auch Leute von einem ſolchen Stande / der ſonſt in gemeinen We - ſen zu denen Staͤnden der ſo genandten Gelehrten nicht gehoͤret / ohne Muͤhe und Kopffbrechen / und ohne Behuff der Lateiniſchen Sprache / der Weiß - heit ſo wohl als die / ſo man Gelehrte nennet / koͤnnen faͤhig werden. Meine Vernunfft-Lehre lieget fuͤr jedermans Augen / und habe ich nicht Urſache diß - falls viel weitere Worte zu machen. Jn dieſem andern Theil aber habe ich mir angelegen ſeyn laſ - ſen / vielfaͤltige allgemeine Jrrthuͤmer / die man in der Praxi der Logic zu begehen pfleget / anzudeuten / und zu beweiſen / wie man dieſelben vermeiden ſol - le / auch die noͤtigſten und auff allen Univerſitaͤten bißher nicht getriebenen Lehren zu ſuppliren / durchgehends aber mich als einen freyen Philoſo - phum, der ſich zu keiner Secte ſchlaͤgt / ſondern bloß nach der Erkaͤntniß ſeiner Vernunfft gehet / auffzu - fuͤhren. Zu dieſem Ende habe ich in dem erſten Capitel gewieſen / wie man nach der Lehre des Car - teſii zwar anfangen muͤſſe bey Ausbeſſerung des Verſtandes zu zweiffeln / und ſich das allgemeineGe -Geſchrey davon nicht abwendig machen laſſen doͤrffe / aber dabey habe ich doch gruͤndlich gezeiget / daß Carteſius nicht recht habe / wenn er behaupten wolle / man muͤſſe an allen zweiffeln / ſondern daß man nothwendig etliche Dinge als unſtreitige Wahrheiten bey dieſem gelehrten Zweiffel aus - ſetzen muͤſſe. Jch habe dargethan / daß man nicht alleine mit guten Gewiſſen und ohne Verletzung des vierdten Gebots von der Lehre ſeiner Præ - ceptorum und Eltern abweichen koͤnne / ſondern auch ſolches / wenn es die Wahrheit erfordert / zu - thun ſchuldig ſey. Jch habe behauptet / daß unter allen Kuͤnſten und Wiſſenſchafften keine edler und nothwendiger ſey als die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt. Jn dem andern Capitel habe ich die Geſchwuͤre der gemeinen Lehr-Art auff Hohen und Niedern Schulen / die als ein Krebs in gantz Europa umb ſich gefreſſen / anffgeſtochen / und die ſonderlich jetzo ſich hervorthuenden hoͤchſtſchaͤdlichen Jrrthuͤmer / daß man gutes zu thun einen abſonderlichen Beruff haben muͤſſe; daß man die Jrrenden als ein heimliches Gifft nicht umb und neben ſich leiden ſolle; kraͤfftig beſtritten / auch daneben den bißher ungebahnten Weg gezeiget / wie man erwachſenen Leuten Luſt und Attention zu dem Studiren machen muͤſſe / und ihnen die Weißheit ohne groſſe Muͤhe und nicht anders als in einer ſtetswehrenden angenehmen Converſa - tion beybringen ſolle. Jn dem dritten Capitel habe ich die Haupt-Lehre von der Kunſt und Wiſſenſchafft auszulegen / ohne welche kein Ju - riſte, und auff gewiſſe Maſſe auch kein Theologusſichſich fuͤr einen gelehrten Mann in ſeiner Facultaͤt ausgeben; ja ohne welche man weder die von an - dern gelehrte Wahrheit noch beygebrachten Jrr - thuͤmer verſtehen und erkennen kan / und welche alſo ſo zu ſagen / das rechte Auge der Gelahrheit iſt / biß - hero aber auff Univerſitaͤten entweder gantz un - terlaſſen / oder aber ohne Noth ſchwer und verdrieß - lich oder wenig gelehret worden; in kurtze und deut - liche auch leichte Lehr-Saͤtze und Anmerckungen zuſammen gezogen. Jch hatte zwar in denen all - bereit fuͤr etlichen Jahren herausgegebenen Inſti - tutionibus Jurisprudentiæ Divinæ dieſe Lehre / mehrentheils nach Anleitung deſſen / was Grotius und der Herr von Pufendorff davon gelehret / mit vorgetragen / auch daſelbſt angefangen zu erweiſen / daß die allgemeine Regel der Juriſten / die ſich auch Grotius zu erklaͤren ſehr angelegen ſeyn laſſen: Fa - vorabilia eſſe extendenda, odioſa reſtringenda, gar nichts nuͤtze ſey; alleine weil allezeit die nach - folgenden und reifferen Gedancken die beſten ſeyn; als habe ich in beſagten dritten Capitel gegenwaͤr - tiger Vernunfft-Lehre gewieſen / daß es noch mehr ſolche unnuͤtze Regeln gebe / die aus dem falſchen Vorurtheile entſproſſen / als wenn die drey unter - ſchiedenen Erklaͤrungs-Arten die man interpreta - tionem declarativam, extenſivam & reſtricti - vam zu nennen pfleget / jede abſonderliche Regeln von noͤthen haͤtte / welches Vorurtheil ich ſelbſt in meinen Inſtitutionibus Jurisprudentiæ Divinæ noch nicht weggeleget gehabt. Und habe ich ſol - cher geſtalt gar deutlich erwieſen / daß es eben ſo eine abſurde und vieldeutige Regel ſey / wenn man vor -gebe /gebe / man muͤſſe im Zweiffel die Worte in ei - genen Verſtande nehmen; noch mehr aber / wenn man (es ſey nun im Juriſtiſchen oder Theo - logiſchen Controverſien / welches letztere faſt jeder - man bekandt iſt /) dieſes als einen Glaubens-Arti - cul præſupponiret; daß die Worte derer Te - ſtamente und letzten Willen in eigentlichen Verſtande genommen werden muͤſten / da doch viel tauſend Exempel gegeben werden koͤnnen / dar - iñen dieſe Regel trieget / uñ vielleicht noch ihrer mehr als derer / die zu beſagter Regel gebracht werdẽ koͤn - nen. Zugeſchweige daß ich / ſo viel mir wiſſend / in be - ſagten Cap. zu erſt die General Grund-Regeln Interpretationis Myſticæ geleget / und deren Un - terſcheid ab interpretatione literali deutlich ge - wieſen. Jn dem vierdten Capitel habe ich die meiſten Brunnqvellen derer falſchen und be - truͤglichen Judiciorum, die auch die Gelehrten und gantze Societaͤten von denen Buͤchern und Autoribus zu faͤllen pflegen / unter andeꝛn entdecket / und endlich in dem letzten Capitel gewieſen / daß aus der irrigen Meynung / daß die Diſputationes und Widerlegungen der Jrrthuͤmer mit dem Kriege zu vergleichen waͤren / aller Unfug und boͤſes Weſen in denen Diſputationibus und Streit-Schrifften der Gelehrten herruͤhre / und daß die Art und Weife deren ſich Chriſtus und die meiſten Heyden wider ihre Widerſacher durch Fragen zu diſputiren bedienet / viel nuͤtzlicher und geſchickter ſey einen Jrrenden zu widerlegen / und ſeines Jrrthums zu uͤberzeugen / als die uͤbliche So - phiſtiſche Syllogiſmus-Kunſt. Anderer vielfaͤl -tigentigen zu Ausbeſſerung der uͤberall in Schwang ge - henden Jrrthuͤmer dienenden Anmerckungen / die hin und wieder in dieſer Ausuͤbung der Vernunfft - Lehre anzutreffen ſind / anjetzo zu geſchweigen. Jch zweiffele dannenhero nicht / es werden unpartheyi - ſche Gemuͤther / die dieſes wohl uͤberlegen werden / an ſiatt / daß ſie mich wegen der Muͤhewaltung / die ich mir in Verfertigung und Profitirung der Ver - nunfft-Lehre oder Logic genommen / blâmiren ſolten / mich vielmehr loben / und ſich zum wenigſten unter denen Nachkommen welche finden / die bey der neuen Academie zu Halle / welche Seine Chur-Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit allhier auf - zurichten in Begriff iſt / unter andern auch dieſes als was ſonderliches anmercken werden / daß dieſes die erſte Academie in Teuſchland geweſen / auff der man an ſtatt der Sophiſtiſchen eine wahre Logicke als den aͤchten Grund aller guten Wiſſenſchafften / und zwar in Teutſcher Sprache offentlich profiti - ret. Ein mehrers zu meiner Vertheydigung anzu - fuͤhren ſtehe ich deßwegen an / damit es nicht das Anſehen gewinne / ob wolte ich unter dem Schein mich zu vertheidigen / mich vielmehro vermit - telſt eines eitelen Ruhms groß machen. Wenn ich dieſes letztere in Sinne gehabt haͤtte / wuͤrde ich gewißlich meinem Buche den insgemein ver - achteten Titel einer Logic oder Vernunfft-Lehre nicht gegeben / ſondern durch einen praͤchtigen und hochtrabenden Titel den Leſer anzulocken / und dadurch den Jnnhalt meines Buchs zu preiſen ge - ſucht haben. Jch haͤtte ſolches eine Kunſt - ber alle Kuͤnſte; Den Kern aller Weißheit;DenDen Grund aller Wiſſenſchafften / oder auff eine phantaſtiſchere / aber doch gewoͤhnliche und die Kaͤuffer anlockende Weiſe: Die Perl der Ge - lahrheit / den Braut-Schmuck der menſchli - chen Seele; Den Eimer / die Wahrheit aus der Tieffe der Unwiſſenheit heraus zu ſchoͤpf - fen; Den wahrhafftigen Stein der Weiſen; Den in Teutſchland gebohrnen Phœnix, Die Ertz-Koͤnigin der Weißheit u. ſ. w. nennen koͤnnen. Aber ich habe nicht gewolt / daß der Titel das Buch / ſondern das Buch den Titel verkauffen ſolte / und lieber unter einen verachteten Titel gute Waare / als ſchlimme unter einen hochtrabenden dem Leſer vorſtellen wollen. Hiernechſt erkenne ich auch gar wohl / daß ich gantz nicht Urſache habe mit meiner Philoſophie mich als einen gelehrten Mann fuͤr andern Gelehrten zu ruͤhmen / nachdem ich in der That an mir ſelbſt erfahren / daß die Ge - lahrheit / die man von denen Gelehrten lernet / an der Wahrheit und Weißheit mehr hinderlich als befoͤrderlich ſey / und daß / wie man in Erforſchung der Weißheit alle ſeine Locos Communes, ſeine Eltern und Præceptores vergeſſen / und nichts als ſeinen eigenen Verſtand als eine Gabe GOttes gebrauchen und anwenden muͤſſe; alſo auch ein unſtudirter Mann / er moͤge nun ein Soldate / Kauffmann / Hauß-Wirth / ja gar ein Handwercks - Mann oder Bauer / oder eine Weibes-Perſohn ſeyn / wenn ſie nur die Præjudicia von ſich legen wollen / noch viel beſſere Dinge in Vortragungen der Weißheitwerden thun koͤnnen / als ich oder ein anderer / die wir wegen der allzulangen Gewohnheitunsuns von dem Abwege der Autoritaͤt / und der leidi - gen Buͤcher-Sucht wie gerne wir auch wollen / nicht ſo fort loß zu reiſſen vermoͤgend ſind. Und dieſer Unvollkommenheit wird man verhoffentlich die wider meinen Willen annoch in dieſer meiner Vernunfft-Lehre zuruͤck gebliebenen irrigen Mey - nungen / das darinnen enthaltene Gute aber nechſt der Gnade GOttes der von Seiner Chur-Fuͤrſt - lichen Durchlauchtigkeit durch Ewrer Excel - lenz Interceſſion mir Gnaͤdigſt verſtatteten Frey - heit / der Wahrheit ungehindert und ohne Furcht nach zu trachten zuſchreiben. Schließlich gleich - wie ich meines Orts mich niemahlen dieſer Frey - heit mißbrauchen / ſondern mir ſelbſt die geſunde Vernunfft / die Tugend / den Sr. Chur-Fuͤrſtli - chen Durchlauchtigkeit jederzeit ſchuldigſten un - terthaͤnigſten Gehorſamb / und den Ewrer Excel - lenz gehoͤrigen ſubmiſſen Reſpect hierinnen zu Graͤntzen ſetzen werde; Alſo bitte ich unterthaͤnig / Ewre Excellenz wolle dieſes mein geringes Buch nicht ungnaͤdig auffnehmen / und bey ferner weiti - gen Continuirung Dero Hochſchaͤtzbaren Gnaͤdi - gen Gewogenheit Sich jederzeit verſichern / daß ich in aller aufrichtigen Treue verharren werde

Ewrer Hochwohlgebohrnen ExcellenzUnterthaͤniger Gehorſambſter
Chriſtian Thomas.

Vorrede.

Geehrter Leſer!

1. JN der Vorrede des erſten Theils meiner Vernunfft-Lehre habe ich fuͤrnehmlich da - hin geſehen / wie ich meine Urſachen anzei - gen moͤchte / worumb mit Rhegenio, der wieder meine Introductionem ad Philoſophiam Auli - cam eine Logic zuſchreiben ſich vorgenommen / ich mich in keinen Schrifft-Wechſel einlaſſen wuͤrde / weil ich nemlich befunden / daß er in Hiſtoria Phi - loſophica gar nicht erfahren / und die hypotheſes der alten und neuen Philoſophen außer des eini - gen Carteſii nicht inne gehabt / dergleichen Leute ich doch in der Vorrede zu meiner Introduction gewarnet und gebeten hatte / wieder mich nicht zu - ſchreiben / oder mich nicht zu verdencken / wenn ich ihnen nicht antworten wuͤrde. Und haͤtte ſolcher - geſtalt dafuͤr gehalten / man ſolte eines Theils dieſe meine gute Introduction einmahl paſſiren laſſen / zumahl da in der teutſchen Vernunfft-Lehre ich von ſelbſt viel / theils was die methode, theils auch zu weilen was die Sache ſelbſt betrifft / geaͤndert hat - te / oder es ſolte doch zum wenigſten derjenige / der ſich ferner daran reiben wolte / ſich zuvor pruͤffen / ob er mehr aus abſehen die Warheit zu befoͤrdern / als aus Verlangung eiteler Ehre die Feder anſe - tzen wolte / und hernach auch ſeine Kraͤffte unterſu - chen / ob er nicht alleine die Urſachen wohl verſtehe / worum die allgemeinen Logicken nichts zu achtenſeyn /ſeyn / ſondern auch genungſamen Unterricht habe / wie man auff eine neue Ausbeſſerung dencken / oder warum man lieber bey ſeinen natuͤrlichen Verſtan - de ohne einige Ausbeſſerung bleiben muͤſſe. Nichts - deſtoweniger hat ſich an verwichener Oſter-Meſſe dieſes 1691. Jahres ein neuer Autor hervor ge - than / der unter dem entlehnten Nahmen des Rea - lis de Vienna J. U. D. & Philoſ. Stud. diſcurſus & dubia uͤber beſagte meine Introduction heraus gegeben / und dieſelbe faſt durch und durch ſehr har - te mit zunehmen ſich vorgenommen. Es ſoll die - ſes Buch dem Titel nach zu Regensburg gedruckt / und bey dem Autore verleget ſeyn; jedoch gibt es die allgemeine ſage und andere wahrſcheinliche Umſtaͤnde / daß es zu Franckfurth an der Oder ſei - nen Drucker und Verleger gefunden. Der Titel verſpricht hiernechſt ſehr koſtbare und nuͤtzliche Dinge / weil dem Autori beliebet / ſeine diſcurlus & dubia dergeſtalt zu ruͤhmen: In qvibus de na - tura & conſtitutione Philoſophiæ diſſeritur, de ratione Studiorum judicatur, & in qvo conſi - ſtat vera ſapientia oſtenditur. Welche Ver - heiſſung mich denn auch bewogen / beſagte Diſcur - ſus mit deſto groͤſſerer Begierde zudurchgehen / umbzufinden / ob der Autor mich in dieſen zu der wahren Weißheit / der ich bißher etliche Jahre her mit gebuͤhrenden Eyffer nachgetrachtet / hochnoͤthi - gen Stuͤcken eines Jrrthums uͤberfuͤhret / und mir einen beſſern Weg gewieſen. Aber ich habe ſo fort in dem erſten geſchwinden Durchgang dieſes Buchs ſo viel klare und deutliche Anzeigungen ge - funden / daß ich davon nicht anders als folgendesJudi -Judicium machen muͤſſen: Der Autor ſey / was ſe[i]- nen Verſtand betrifft / ein Mann / dem GOtt eine zim - liche Capacitaͤt zu Erkaͤntniß der Wahrheit verliehen / der aber dieſelbe mehr zu Erkaͤntniß etlicher allgemei - ner Jrrthuͤmer angewendet / als daß er den Urſprung derſelbigen / nemlich die Præcipitanz und Dependi - rung von anderer Autoritaͤt unterſuchen und ſich da - fuͤr huͤten / oder auff die Erforſchung der Wahrheit mit gnugſamer Auffmerckung ſich legen ſollen. Was aber den Willen anlanget / ſey er ein Mann / der ſich zwey widerwaͤrtige Affecten / Liebe und Haß ohne ver - nuͤnfftige Gruͤnde jaͤmmerlich hin und wieder reiſſen laſſe / und durch dieſelben angetrieben von einem Ex - tremo auff das andere falle / auch ſeinen guten natuͤrli - chen Verſtand dadurch dergeſtalt unterdruͤcken laſſen / daß er durch ihren Antrieb Dinge ſchreibe / derer er ſich ſelber ſchaͤmen wuͤrde / weñ er von dieſen Affecten be - freyet waͤre; im uͤbrigen aber daß es ihm an Hertzhaff - tigkeit nicht mangele die Wahrheit zu erforſchen / und wider jederman zu vertheidigen / wenn beſagte beyde Affecten ihn nicht antrieben / dieſe ſeine Hertzhafftig - keit oͤffters gantz unrecht zu Vertheidigung der Jrꝛthuͤ - mer anzuwenden. Dieſes Judicium von ihm zu faͤl - len / haben mich folgende Urſachen bewogen; weil das gantze Buch weiſet / daß er 1. in der Hiſtoria Phyſica und was ſonſten zu dieſem Studio gehoͤret / auch zum theil in Matheſi nicht gemeine und geringe Profectus haben muͤſſe. 2. Daß er die eitelen Jrrthuͤmer der Scholaſtiſchen Philoſophie, und ſonderlich der in de - nen Schulen eingefuͤhrten Syllogiſmus-Kunſt gar deutlich zu erkennen giebet / und mit einer auffrichtigen Hertzhafftigkeit befechtet. 3. Daß er dadurch ſich ver -bfuͤh renfuͤhren laſſen / die Logic gantz auszumertzen / und bloß auff eines jeden Menſchen ſeinen natuͤrlichen Ver - ſtand ſich gruͤndend / alle Logicken fuͤr unnoͤthig ja gar ſchaͤdlich haͤlt. 4. Daß er ſelbſten groͤſten theils in ſei - nen Diſcurſen mehr auff Oratoriſche Weiſe und Af - fectens volle Worte / als auff die Art eines ſittſamen Logici diſputiret. 5. Daß er ſich nicht entfaͤrbet / auf Sophiſtiſche Art den Statum Controverſiæ hin und wieder umbzukehren / die Concepte zu vermiſchen / die Worte ſeines Gegners nach ſeinen Gefallen zu aͤn - dern / etliche auszulaſſen / andere einzuruͤcken / u. ſ. w. 6. Daß er durchgehends eine gar zu uͤbermaͤßige Liebe zu den Teutſchen / und einen gar zu uͤbermaͤßigen Haß gegen die Frantzoſen blicken laͤſt. 7. Daß er mich zu - weilen / und zwar hauptſaͤchlich umb keiner andern Ur - ſache / als weil ich mir vorgenom̃en zu weiſen / daß man auch in Teutſcher Sprache gelehrte Sachen ſchrei - ben koͤnne / gar zu uͤbermaͤßig und auf eine irraiſonable Weiſe lobt / zum oͤffteꝛn aber uñ zwaꝛ wiedeꝛum̃ haupt - ſaͤchlich deßhalben / daß ich in meinen Schrifften einige Gewogenheit gegen die Frantzoͤſiſche Nation ſpuͤren laſſen / mich gar zu ſcharff und wider Raiſon durchhe - chelt. 8. Durchgehends aber daſſelbige gantz und gar nicht præſtiret / was ſein Titel verſpricht / noch gruͤnd - lich eroͤrtert / was zu rechtſchaffener Erkaͤntniß der wah - ren Weißheit / und wie ein junger Menſch dieſelbe zu erlangen / ſein Studiren einrichten ſolle / gehoͤre / ſondern vielmehr abermahlen von gar zu groſſer Paſſion gegen die Phyſic und Matheſin eingenommen der andern Wiſſenſchafften / abſonderlich aber des alleredelſten theils menſchlicher Weißheit / der Sitten-Lehre bey nahe gar druͤber vergißt. Jch brauche nicht / daß ich zuBehau -Behauptung deſſen / was ich von dieſem Autore biß - her angefuͤhret / etliche Oerter aus demſelben excerpl - re / in dem der unpartheyiſche Leſer ſelbiges auff allen Blaͤttern / ja bey nahe auff allen Zeilen haͤuffig antref - fen wird. Und habe ich dannenhero bey dieſen Urſa - chen mich ſo fort entſchloſſen / ſelbiges Buch nicht zu be - antworten / nicht aus einen unzeitigen Hochmuth / ſon - dern weil ich vermeinet / daß es keiner Antwort brau - che / ſondern daß ein raiſonabler Leſer von ſelbſt die Unzulaͤngligkeiten der Gruͤnde des Autoris erkennen / ein irraiſonabler aber / und wider mich præoccupirteꝛ auch durch die beſten Gruͤnde nicht werde zur Raiſon gebracht werden koͤnnen / worinnen mich nicht wenig geſtaͤrckt / daß ich glaubwuͤrdige Nachricht erhalten / wie meine Wideꝛſacher ſelbſt zwar anfaͤnglich ſehr ge - frohlocket / als ſie dieſes Buch im Catalogo geſehen / hernach aber bald von dieſer ihrer Freude nachgelaſ - ſen / als ſie geſehen / daß der Autor ſein Vorhaben nicht beſſer ausgefuͤhret.

2. Jedoch muß ich bekennen / daß ich Verlangen getragen den Autorem zu kennen / und des Sinnes Anfangs geweſen / ihn zum wenigſten duꝛch ein Privat - Schreiben den Urſprung ſeiner Præjudiciorum zu er - kennen zu geben / weil ich doch beſage des / was beym 1. und 2. Punct von ihm angemerckt / nicht wenig gutes an ihn geſpuͤhret; fo bald man mir ihn aber genennet / bin ich auch hierinnen anders Sinnes worden. Deñ ich habe ſo fort befunden / daß er ſein Ebenbild ſo wohl in dieſem Buche exprimiret / daß ich mich faſt geſchaͤ - met / daß ich ihn nicht vor mich ſelbſt errathen / weil er mir in Leipzig ſo familiar geweſen / daß er mir ſeine meiſte Heimligkeiten vertraut / ich ihn auch auſſer demb 2beſſerbeſſer als er vielleicht ſich ſebſt gekandt. Jch haͤtte a - ber nicht geglaubt / daß er ſich ſo viel Geduld nehmen koͤnnen / ein ſolch Buch zu verfertigen / weil ich ſein In - genium fuͤr viel zu fluͤchtig hierzu gehalten / auch ge - meynet / er ſolte als mein guter Freund / und der taͤglich Gelegenheit gehabt muͤndlich mit mir zu conferiren / und mir meine Fehler zu zeigen / auch / als ich meine In - troduction zu Leipzig durch diſputiret / mir darwider zu opponiren / zum wenigſten mich nicht ſo cavaliere - ment darinnen tractiret haben; So lieſſe mir auch das Ungluͤck / darinnen er damahls ſtacke als das Buch heraus kame / und noch nicht davon erlediget iſt / nicht vermuthen / daß er bey demſelben ſolte vermoͤ - gend geweſen ſeyn / an Edirung deſſelbigen zu dencken. Nachdem ich aber vernommen / daß er ſelbiges verfer - tiget habe / ehe er in dieſes Elend gerathen / habe ich mir keine andere Urſache einbilden koͤnnen die ihn hierzu bewogen / als weil ich ihn / nachdem er ohne meinen Vorbewuſt mich unter dem Namen des Ignatius Menſifax wider einen Paſqvillanten defendiret / (worvon ich in der Dedication meiner Freymuͤthigen Monatlichen Gedancken etwas mehrers Meldung gethan) nicht / wie er wohl verhoffet / Danck genung conteſtiret / ſondern aus vielen gegruͤndeten Urſachen vielmehr mein hertzliches Mißfallen daruͤber bezeiget / auch ſonſten als einen guten Freunde zuſtehet / ihn be - ſcheiden jedoch offenhertzig wegen ſeiner allzuhitzigen Condaite zuweilen gewarnet / und zuvorher geſagt / was es vor ein Ende damit nehmen wuͤrde. Dieweil ich ihn denn allzuwohl kenne / und geſpuͤhret / daß er in ſeinen einmahl gefaßten Meynungen incorrigibel und in extremo gradu halsſtarrig / auch umb keinerandernandern Urſache willen in das groſſe Ungluͤck in dem er noch ſtecket / und deſſen Ende er nicht ſehen kan / gerathen; als wuͤrde eines theils ohnnoͤthig und vergebens ſeyn / wenn ich mich gleich befleißigen wolte / ihn die Præjudicia die er in ſeinem Buche begangen / noch ſo deutlich vor Augen zu legen / theils aber wuͤrden meine Widerſacher vielleicht Gele - genheit nehmen mich zu blâmiren / daß ich andere bißher wider mich verfertigte Schrifften unbeant - wortet gelaſſen / dieſem Autori aber antwortete / weil ich wuͤſte / daß er in einem Zuſtande lebete / der ihm nicht wohl zulieſe fernerweit wider mich zu ſchreiben / weßhalben denn / wenn ich gleich ſonſt mir vorgeſetzt gehabt haͤtte / dieſes Buch zu beant - worten / dieſe einzige Betrachtung genung ſeyn wuͤr - de / mich davon abzuhalten.

3. Ja ich habe mir uͤberhaupt vorgenommen / wegen vieler Urſachen allen denen / die noch kuͤnfftig wider mich ſchreiben moͤchten / wenig oder gar nichts zu antworten / es waͤre denn / daß ich ſaͤhe / daß es die Wuͤrdigkeit der Lehre ſelbſt erfordere / daß ich dieſelbe in einer Beantwortung etwas deutlicher ausfuͤhrete / oder erkennete / daß ein Autor nicht aus Affecten / ſondern aus bloſſer Liebe zur Wahrheit wider mich geſchrieben haͤtte. Denn 1. nachdem ich mir die Freyheit genommen / in meinen Monat - lichen Gedancken von denen neuen Autoribus oh - ne Anſehen der Perſonen offenhertzig zu judiciren / wuͤrde ich die geſunde Vernnnfft beleydigen / wenn ich andern nicht dergleichen Freyheit gegen mir goͤnnen / und alles was man wider mich ſchriebe / be - antworten wolte. 2. Kommen die widrigen Judi -b 3ciacia die man von mir gefaͤllet / oder kuͤnfftig von mir faͤllen moͤchte / mit der Wahrheit uͤberein / ſo habe ich vielmehr Urſache meine Jrrthuͤmer abzulegen / und meine Fehler zu verbeſſern als dieſelbigen zu vertheydigen. Sind ſie aber der Wahrheit nicht gemaͤß / ſo gehen ſie weder mich noch meinen Schrifften / die oͤffentlich fuͤr jedermanns Augen lie - gen / an / und wuͤrde ich alſo wunderlich thun / wenn ich mir ohne Noth eine Muͤhe auff den Hals laden wolte. 3. Halte ich dieſes Schweigen auch fuͤr ein Mittel meinen Feinden deſto eher das Maul zu ſtopffen. Lieſſe ich mich einmahl weiter mit meinen Widerſachern ein / haͤtten ſie was ſie verlangten / und wuͤrden ſie mir mit ihren Paſqvillen oder an - dern Schrifften wider mich das Leben ſo ſauer ma - chen / daß ich meine ordentliche Arbeit dabey wuͤrde verſaͤumen / und doch einmahl mich ſtille zu ſchwei - gen reſolviren muͤſſen. Schweige ich aber ſtille / ſo bin ich dieſer Verdrießligkeit uͤberhoben / und kan meinen Gegnern wohl goͤnnen / daß ſie ſich einbil - den und ruͤhmen / ſie haben mich ad ſilentium redi - girt. Die Wahrheit wird doch wohl Wahrheit bleiben / wenn ich ſie nur einmahl deutlich vorgele - get / ob ich mich gleich deßwegen nicht mit jederman herumb beiſſe. 4. So kan ich auch hiermit dieje - nigen realiter refutiren / die mich in der Welt zu diffamiren geſucht / als ſey ich ſo ehrgeitzig und rach - gierig / daß ich niemand der mir contradicirte umb und neben mich leyden koͤnte. Jch habe ja frey ge - nung geſchrieben und dociret / auch mich davon we - der Furcht noch Liebe abhalten laſſen; aber gewiß es iſt nichts anders als die Liebe zur Freyheit undWahr -Wahrheit / die mich hierzu bewogen / und wenn ich die erhalte / ſo koͤnte ich gar wohl leiden / wenn gleich alle Tage ein anderer auff eben der Catheder wo ich lehre / gleich das Widerſpiel dociren ſolte; ja ich wuͤrde meine Auditores ſelbſt vermahnen / dieſe Lectiones zu beſuchen. 5. Endlich wil ſich es ferner nun nicht ſchickẽ / nach dem / was ich in gegen - waͤrtiger Ausuͤbung im letzten Capitel von dem all - gemeinen Mißbrauch der Streit-Schrifften aus - fuͤhrlich und gegruͤndet gehandelt / daß ich meinen Auditoribus ſelbſt nicht hierinnen mit einem guten Exempel vorgehen ſolte. Jedoch wolle niemand meynen / ob wolte ich wegen meiner Lehre niemand Rede und Antwort geben. Jch bin ſolches nicht alleine meiner Hohen Obrigkeit / da es begehret wird / allezeit zu præſtiren willig / ſondeꝛn weꝛde auch einem jedweden der aus Liebe zur Wahrheit diß - falls mit mir conferiren wil / ſo viel Satisfaction geben als er verlanget. Doch kan ich meine Schwachheit nicht laͤugnen. Jn Schrifften ſol - ches zu thun / iſt wider mein Naturell, als der ich mit dem Mangel behafftet bin / daß ich mich zu nichts weniger als zum Commercio literario ſchicke / und hierinnen durchgehends ein uͤbler Zahler bin / indem ich lieber einen gantzen Tag dociren / oder ſonſt et - was verrichten wil / als daß ich einen eintzigen Brieff nur eine vierteil Stunde beantworte / und dannen - hero bey dieſer Gelegenheit alle diejenigen / denen ich nun binnen etlichen Jahren dieſes Officium humanitatis ſchuldig geblieben / oͤffentlich um̃ Veꝛ - zeyhung bitte. Hingegen hoffe ich / daß wenn je - mand muͤndlich mit mir zu conferiren hat / ein jed -wederweder mir das Zeugniß werde geben muͤſſen / daß ihn nicht allein zu allen Zeiten anhoͤre und gute Mi - nemache / ſondern auch offenhertzig und auffrichtig mit alle dem was ich in meinem Kopffe und meiner wenigen Biblioteqve habe / diene. Ja ich ver - ſpreche hiermit jederman / der oͤffentlich mit mir we - gen einiger meiner Lehre umb Liebe zur Wahrheit Willen zu conferiren belieben tragen ſolte / daß ich zu allen Zeiten / es ſey ſo offt als er es verlanget / Teutſch oder Lateiniſch nach der Mode der einge - fuͤhrten Syllogiſmus-Kunſt oder durch Frage und Antwort hierzu mich bereit erfinden laſſen werde / und hoffe / man werde mit dieſen meinen Erbieten zu frieden ſeyn koͤnnen / weil ich nicht begreiffen kan / was man von einem ehrlichen und die Wahrheit liebenden Mann mehr prætendiren koͤnne / auch fuͤr mich niemahln eine groͤſſere Freyheit gegen die von denen ich diſſentire / verlangen wuͤrde. Jn deſſen lebe wohl / geehrter Leſer / und erwarte auff kuͤnfftige Oſter-Meſſe / da GOtt Kraͤffte und Geſundheit verleihen wird / meine Sitten-Lehre.

ENDE.

Der1

Der Ausuͤbung Der Vernunfft-Lehre / I. Hauptſtuͤck. Von der Geſchickligkeit die Warheit durch eigenes Nach - dencken zu erlangen. Jnnhalt.

Connexion und nothmendigkeit der Doctrin von Aus - uͤbung der Vernunfft Lehre n. 1. 2. 3. Dieſer Lehre 5. Theile n. 4. Die general methode hierinnen n. 5. War - rumb man von der Geſchickli[g]keit der Warheit ſelbſt nach zu dencken anfange n. 7. Pruͤfung des. Auditoris, n. 8. (1.) Nach ſeinen Alter. We[l]ches Alter am ge - ſchicklichſten zur Vernunfft-Lehre ſey n. 9. 10. 11. 12. (2.) Nach ſeiner Luſt und Begie[r]de. Dieſe muß nicht zu hitzig und ungedultig ſeyn / n. 13. 14. 15. 16. Sie muß von der Begierde zur Wollu[ſt]und Muͤßiggang nicht uͤberwaͤltiget werden / n. 17. 18. [1]9. 20. Sie muß mit einer attention auff die Leh[r]en[d]es Lehrers vergeſellſchafftet ſeyn / n. 21. 22. (3.) m[it]ſelnem Muth und courage wider die Feinde der Warheit und der draus entſtehenden Gefahr n. 23. 24[.]Urſachen die ei - nen jungen Menſchen darwider auffmunte[rn]ſollen /An. 25.21. Hauptſt. von der Geſchickligkeit dien. 25. 26. 27-Præcepta nach deren Anleitung man der Warheit nach dencken ſoll. Beſtreite die præjudi - cia n. 28. (1.) insgeſamt / das iſt: zweiffele n. 29. was hierbey in acht zu nehmem. n. 30. Zweiffeln ge - ſchicht entweder auff Sceptiſche oder Dogmatiſche wei - ſe n. 31. die letzte Art gehoͤret hieher n. 32. 33. Es iſt keine vernuͤnfftige Urſache / warum man zweiffeln ſolle / daß etwas wahr ſey n. 34. maſſen ſolches auch die klei - nen Kinder gewiß erkennen n. 35. und im fortgehen - den Al[t]er noch mehr vergewiſſert werden n. 36. Vor - ſtellung der Urſachen / warum̃ man bey reiffenden Ver - ſtande anfangen ſolle an allen zu zweiffeln n. 37. derer Nichtigkeit. Es folgt nicht / was mich offte betrogen hat / kan mich allezeit betriegen n. 38. noch weniger a - ber: was mich betriegen kan / wird mich auch betrie - gen n. 39. beydes wird mit einem Exempel von drey Wuͤrffeln erklaͤret n. 40. 41. Eben weil du gewiß weiſt / daß du dich offt betrogen haſt / kanſt du nicht an allen Dingen zweiffeln / n. 42. 43. 44. Ja du kanſt nicht zweif - feln / wenn du nicht zugiebſt / daß etwas wahr ſey n. 45. Du darffſt nicht an allen Dingen zweiffeln / ob du ſchon noch nicht weiſt was wahr iſt n. 46. 47. 48. An was vor Dingen man deñ zweiffeln muͤſſe? n. 49. 50. Nicht an denen propoſitionibus die man alsbald begreifft. z. e. daß man wache / daß man Haͤnde und Fuͤſſe habe / n. 51. 52. 53. [d]erer unzehlige exempel ſind n. 54. ſondern an denen Grundwarheiten und concluſionibus remo - tioribus n. 55. und zwart an jenen zu erſt n. 56. welches insgemein negligir er wird / n. 57. auch auff Acade - mien n. 58. Wer ſie aber ſchon gelernet hat / darff nicht von neuen zweiffeln n. 59. 60. Unterſcheid zwiſchen dem Zweiffel an denen principiis und concluſionibus remotioribus n. 61. Etliche noͤthige Exempel derglei - chen concluſionnm n. 62. Was demnach unter dem Gebot / daß man zweiffeln ſolle / angedeutet werde /n, 63.3Warheit durch eigenes Nachd. zu erl. u. 63. Nutzen dieſes Zweiffels n. 64. Was man fuͤr ei - ne Ordnung in dem Zweiffel an concluſionibus remo - tis halten ſolle n. 65. Zweiffeln heiſt fragen und ſuchen n. 66. nicht aber dasjenige daran man zweiffelt fuͤr falſch halten n. 67. weil unter dieſen beyden Dingen ei - ne contradictio iſt. n. 68. die Sceptici ſelbſt auch nicht ſo weit gegangen n. 69. ferner ein groſſer Unterſcheid iſt unter: etwas nicht fuͤr wahr / und: ſolches fuͤr falſch halten n. 70. anderer Unfoͤrmligkeiten zu geſchweigen n. 71. 75. die dadurch nicht gehoben werden / wenn man ſich entſchuldiget / es geſchehe dieſes nicht aus Ernſt / ſondern nur ad interim n. 72. 73. 74. Nach unſerer Er - klaͤrung treffen uns die meiſten Argumenta derer nicht / die da behaupten / man ſolle nicht zweiffeln n. 76. aber wohl dasjenige / daß man wider uns urgi - ren kan / es ſey nicht recht an Gott zu zweiffeln n. 77. Beantwortung dieſes Einwurffs. Der Kinder ih - re Meinungen von GOtt gruͤnden ſich mehr anff menſchliche autoritaͤt / als auff rechte Grund-Warhei - ten n. 78. Was das heiſſe / daß die Verſicherung von Gottes exiſtenz u. ſ. w. den Heyden ins Hertz geſchrie - ben ſey n. 79. Deutliche Erweiſung / daß der von uns be - gehrte Z[w]eiffel von GOtt und Goͤttlicher Verſehung mit nichten dahin fuͤhre / daß ein Menſch auch nur auff einen Augenblick ein Atheiſte ſeyn ſolle n. 80. 81. 82. ſondern vielmehr daß er ſich von der Atheiſterey ent - ferne n. 83. Die Scripta Anti-Atheiſtica und Theologia naturalis derer die dem Zweiffel zuwider ſeyn / be - weiſen in der That unſere Meinung n. 84. 85. 86. (2.) inſonderheit das præjudicium autoritatis. ver - traue auf keines Menſchen autorit aͤt n. 87. 88. wovon auch die Obern / Eltern und præceptores nicht ausgenommen ſind n. 89. 90. Woher es komme / daß die Pflicht gegen die Præceptores der Pflicht gegen die Eltern gleich geachtet oder ihr wohl gar vorgezo -A 2gen4Das 1. H. von der Geſchickligkeitgen werde n. 91. Was unter dem Nahmen eines Præ - ceptoris zu begreiffen ſey / von deſſen autoritaͤt man nicht abweichen koͤnne? n. 92. wer unſer axioma laͤug - net / muß notwendig denen Menſchen eine Infallibili - taͤt zuſchreiben / n. 93. und kan nicht prætendiren, daß ein anderer / wider den er diſputiret, den Jrrthumb ſeines Præceptoris verlaſſe n. 94. (3.) inſonderheit das Præjudicium præcipitantiæ. Gib in deiner medi - tation auf alles wohl und genau achtung n. 95. dadurch bringſt du dir eine attention zuwege n. 96. und ſchaͤrffeſt dein judicium, und befreyeſt dich fuͤr vieler Gefahr n. 97. Die zwey letztere axiomata ha - ben auch in Erforſchung wahrſcheinlicher Dinge ihren Nutzen n. 98. Jn denenſelben muß man die Guͤltigkeit der Zeugniſſe nicht auff die conceptus accidentales ex - tendiren n. 99. wie ingemein geſchicht n. 100. welches mit etlichen exempeln bewieſen wird n. 101. Die autoritaͤt iſt nicht einmahl bey wahrſcheinlichen Zeugniſſen die Richtſchnur meines Glaubens n. 102. zum exempel in hiſtoriſchen Dingen n. 103. Nutzen der attention in Beurtheilung wahrſcheinlicher Dinge n. 104. Das andere Haupt-axioma. Nach Beſtreitung der Haupt - præjudiciorum Wehle dir unter denen Wiſſenſchafften diejenige / die dich zur wahren Weißheit fuͤhret n. 105. 106. Unter - ſchiedliche Claſſen der Menſchlichen Wiſſenſchafften. n. 107. 108. (1.) Die nuͤtzlichen n. 109. unterdenen die vornehmſte iſt / die auff die ewige Gluͤckſeligkeit gerich - tet iſt n. 110. 111. der die Wiſſenſchafft die Gemuͤts - Ruhe zu erlangen / n. 112. 113. 114. und dieſer die Ge - lahrheit die Geſundhelt ſeines Leibs zn erhalten / n. 115. endlich aber die Lehre ſo mit den Guͤtern des Gluͤcks zu thun hat / ſolgen n. 116. (2) Die rechtmaͤſ - ſig beluſtigenden. Was unter dieſen verſtanden wer - de n. 117. und deren exempel n. 118. was ſie insgemeinfuͤr5der Warheit nachzudencken. fuͤr Nutzen haben n. 119. 121. abſonderlich aber die Hiſto - rie, die Mathematiſchen Wiſſenſchafften / die Lehre de decoro, und die luſtigen Theile der Phyſic n. 120. Man muß uͤber dieſen ſtud iis die nuͤtzlichen nicht lie - gen laſſen n. 122. wie vielfaͤltig geſchicht n. 123. (3.) Die unrechtmaͤßig beluſtigenden n. 124. deren etliche das præjudicium autoritatis ſtaͤrcken / als die Scholaſtiſche Metaphyſic n. 125. etliche der præcipitanz ſugen n. 126. als die Magiſchen Wiſſenſchafften n. 127. Was von der Geomantia, Cabala u. ſ. w. zu halten ſey n. 128. 129. 130. 131. Ferner: Suche die wahre Weißheit in dir. n. 132. Lerne dich ſelbſt erkennen n. 133. nehmlich (1.) in Gegenhaltung mit denen beſtien n. 134. (2.) mit andern Menſchen n. 135. (3.) mit GOtt n. 136. nach Anleitung des drey - fachen Standes eines Menſchen n. 137. wie viel Zeit zu dieſer Erkaͤntniß gehoͤre n. 138. Wahrſcheinliche Din - ge nutzen dem Menſchen bißweilen ja ſo viel als un - ſtreitige Warheiten n. 139. bißweilen noch mehr. n. 140.

1.

WJr haben in dem Erſten Theil der Vernunfft-Lehre bißhero zwar deut - lich und ausfuͤhrlich genung gewie - ſen / was wahr / falſch / unerkant / wahrſcheinlich und unwahrſcheinlich ſey: So wohl auch in welchen Dingen man eine gewiſſe / klare und deutliche Erkentniß erlangen koͤnne / und daß man in Erfindung neuer Warheiten nicht ſub - til kuͤnſteln / ſondern vielmehr den natuͤrlichen Trieb der geſunden Veruunfft folgen ſolle. A 3So6Das 1. H. von der GeſchickligkeitSo haben wir auch endlich den Urſprung al - ler Jrrthuͤmer verhoffentlich aus dem Grun - de gezeiget. Gleichwohl wollen dieſe ſpecula - tiones noch nicht genung ſeyn fuͤr einen jun - gen Menſchen / der die Weltweißheit zu be - greiffen gedenckt.

2. Denn die Vernunfft-Lehre ſoll die Men - ſchen unterweiſen / wie ſie ihren Verſtand recht brauchen / und andern Leuten damit dienen ſollen. Derowegen iſt es / wie in allen diſciplinis practicis, nicht genug / daß man die Sache die man ausuͤben foll / uͤberhaupt verſte - he / und dieſelbe beſchreiben und eintheilen koͤn - ne; ſondern man muß den Leuten auch Hand - griffe weiſen / die ſie in der Ausuͤbung gebrau - chen ſollen / deſio ehe zu den erwuͤndſchten End - zweck zu gelangen; maſſen ſolches aus dem Exempel der Lehre von Fechten / Dantzen / Ballſpielen und aller mechaniſchen Kuͤn - ſte / (der Sittenlehre und Politic zu ge - ſchweigen) erhellet.

3. Bißher haben wir nur gewieſen / wie die Erkentniß der Warheit beſchaffen ſeyn ſolte / und wie leider an ſtatt derſelben der Menſch mit Jrrthuͤmern angefuͤllet iſt. Wenn wir nun bey dieſer letzen Betrachtungauffhoͤ -7der Warheit nachzudencken. auffhoͤren wolten / wuͤrden wir gewiß einen Lehrbegierigen Juͤngling hoͤchſt conſternirt verlaſſen / nicht anders als zum exempel ein Dantzmeiſter / weñ er einem der bey ihm dan - tzen lernen wolte / viel von denen zu der Dantz - Kunſt gehoͤrigen terminis und Geſchickligkeit des Menſchlichen Leibes vorſagte / und hernach ihm deutlich darthaͤte / daß er ſehr ungeſchickt dantze / und keine cadence zu halten wiſſe / und wolte hernach den Lehrling dimittir en.

4. Wir haben oben Erwehnung gethan / daß dieſer Theil der Vernunfft-Lehre 5. Stuͤ - cke begreiffen werde / 1. Wie man die Warheit fuͤr ſich erforſchen und erkennen / 2. die erkan - te Warheit andern beybringen / 3. anderer Leute Meinungen verſtehen / 4. von denen - ſelben judiciren / und 5. die irrigen wieder - legen ſolle.

5. Bey allen dieſen Dingen wird nichts mehr noͤthig ſeyn / als daß wir ſo wohl einige noͤthige Handgriffe zeigen / als auch die un - tuͤchtigen obwohl gewoͤhnlichen / die man ins - gemein zu brauchen pfleget / dann und wann bemercken.

6. Und zwar ſo fangen wir von der Ge - ſchickligkeit die Warheit durch eigenesA 4Nach -8Das 1. H. von der GeſchickligkeitNachdencken zu erforſchen / billig an / weil dieſes eben das Stuͤcke der Vernunfft-Lehre iſt / welches weiſet / wie man ſeinen Verſtand recht brauchen ſolle; maſſen denn die an - dern 4. itzt erwehnten Theile lehren / wie ich mit meinen Verſtand andern dienen ſolle. Wie ſoll ich aber andern dienen / wenn ich mir ſelbſt damit nicht helffen kan?

7. Zu dem ſo weiſet auch die weitlaͤufftige Betrachtung derer Jrrthuͤmer im vorigen Capitel / daß ich in Ausuͤbung der Vernunfft - Lehre allerdings von mir ſelbſt den Anfang ma - chen / und mir ſelbſt den Balcken aus dem Au - ge ziehen muͤſſe / weil ich befinde / daß ich ja ſo wohl voll Jrrthuͤmer ſtecke als andere Men - ſchen.

8. Nun wohl dann / fo wollen wir in GOt - tes Nahmen ſehen / was bey der eigenen me - ditir ung zu beobachten ſey. Aber ich muß dich zufoͤrderſt betrachten / ob du auch zur praxi der Vernunfft-Lehre geſchickt ſeyſt / oder du muſt dich vielmehr ſelber pruͤfen / ob du dasje - nige / was hierzu erfordert wird / zu præſti - ren gedenckeſt.

9. Du ſieheſt noch ſehr jung aus / und wie ich von dir vernehme / ſo biſt du erſt 17. Jahralt. 9der Warheit nachzudencken. alt. Aber das hindert nicht / ſondern iſt viel mehr deſto beſſer fuͤr dich / weil in dieſem Alter der natuͤrliche Verſtand insgemein zu reif - fen anfaͤngt. Je ſpaͤter man aber bey Reif - fung des Verſtandes in ſeinem Kopffe auf - zuraͤumen anfaͤngt / ie ſchlimmer iſt es / weil die præjudicia ſo dann immer tieffer einwurtzeln / dergeſtalt / daß man ſo dann die groͤſte Muͤhe anwenden muß / ſie loß zu werden.

10. Derowegen iſt offenbahr / das eines Theils ein Kind keinen geſchickten Audito - r en der Vernunfft-Lehre / oder des Haupt - grundes der Weltweißheit abgeben werde / weil wegen ermangelnder Reiffe des Verſtan - des es weder die gantzen ideas in partes accu - raté einzutheilen / oder die nimiam generalita - tem axiomatum zu begreiffen / noch die præju - dicia zu erkennen faͤhig iſt / ſondern wie oben erwehnet / die Præceptores derſelben ſolten ſich nur bemuͤhen / daß von denen concluſionibus, die ad captum der Kinder ſind / ihnen ſo viel moͤglich keine Jrrthuͤmer beygebracht wuͤr - den.

11. Anderes theils aber / ſo iſt zwar ein al - ter Mann geſchickt genung die Grund-Ge - ſetze der Vernunfft-Lehre zu begreiffen / aberA 5weil10Das 1. H. von der Geſchickligkeit. weil er in denen præjudiciis ſchon veraltert iſt / ſo verlanget er ſolches nicht / ſondern haſſet dieſelbigen vielmehr. Ja wenn er gleich die Lehre von Erkentniß der Warheit voͤllig be - griffe / wuͤrde er doch zur Ausuͤbung derſelben incapabcl ſeyn / weil die kurtze Zeit die er noch zu leben hat / nicht zulaͤßt / daß er nach und nach von denen Jrrthuͤmern ſich befreye / wie er nach und nach darzu kommen iſt. Denn ſich der in ſo langer Zeit befeſtigten Jrrthuͤmer auff einmahl oder in kurtzer Zeit entledigen wollen / iſt wider die geſunde Vernunfft.

12. Demnach iſt das mittelmaͤßige Alter / als nehmlich zum wenigſten von 12. oder 14. biß auff das hoͤchſte etliche und dreißig Jahr am geſchickteſten durch Begreiffung der Ver - nunfft-Lehre auch zugleich die von Jugend auff eingeſaugten Jrrthuͤmer zu erkennen / und auch hernach dieſe Erkentniß auszuuͤben. Je - doch iſt kein Zweiffel / daß binnen dieſem ſpa - tio derjenige am geſchickteſten ſey / der an er - ſten darzu thut.

12. So iſt demnach dein Verſtand geſchickt genung zu dieſer Ausuͤbung / ſo wohl auch das Vermoͤgen des Willens / wenn du nur nicht ſelbſt dich muthwillig daran hindern willſt / ſon -dern11Der Warheit nachzudencken. dern rechte Luſt und Begierde zu dieſer Aus - uͤbung haſt; denn ohne dieſelbe wird alle unſe - re Arbeit vergebens ſeyn.

14. Du ſprichſt wohl: An der Begierde mangelt mir es nicht / denn es wird mir ſchon die Zeit zu lang / daß du noch nicht mit denen mir verſprochenen Vortheilen angefangen.

15. Aber es iſt nicht gut mein lieber Freund; dieſe Begierde iſt fluͤchtig und taugt nicht viel / weil ſie keinen groſſen Beſtand haben wird Haſtu ſchon veꝛgeſſen / daß wir zu ende der Vernunfft-Lehre geſagt haben / daß eine der - gleichen ungedultige Begierde die Uberei - lung gebehre.

15. Wer in ſeinen Kopff auffraͤumen will / muß attent ſeyn. Die attention aber iſt nichts anders / als eine gedultige und fleißige Betrachtung eines Dinges nach allen Thei - len und Umbſtaͤnden. So ferne dieſe Be - trachtung nun fleißig iſt / wird ihr die Nach - laͤßigkeit entgegen geſetzt / ſo ferne ſie gedultig iſt / leidet ſie keine Ungedult / und folgends kei - ne allzuhitzige Begierde. Derowegen pruͤf - fe dich zufoͤrderſt / ehe wir anfangen; ob du Fleiß und Gedult genung bey dir befindeſt auszu - halten.

17. Du12Das 1. H. von der Geſchickligkeit

17. Du erkenneſt dannenhero / daß du dich uͤbereilet haſt / und verſprichſt kuͤnfftig Fleiß und Gedult zu haben. Aber weßhalben ey - leſt du von mir und wilſt / daß unſer diſcurs erſt morgen ſolle ferner continuiret werden? Du kanſt mir keine andere antwort geben / als daß der Herr gleich itzo zu dir ge - ſendet / und dich erſuchen laſſen zu ihm zu kom - men / weil eine Compagnie Cavalliers und Dames ihn uͤberfallen / damit du denſelben mit einem Glaß Wein / einen angenehmen Spiel und beluſtigenden Dantz die Zeit ſolſt verkuͤr - tzen helffen.

18. Jch muß von Hertzen uͤber dich lachen. Jſt daß die groſſe Begierde zur Weißheit / die fuͤr einen Augenblick uͤber mich ungedultig ward / daß die Regeln derſelben nur eine klei - ne Viertelſtunde ſolten auffgeſchoben wer - den / und wilſt nun dieſelbe ohne Urſache biß morgen auffſchieben.

19. Ja ſprichſt du: Soll ich den alle menſch - liche Geſellſchafft quittiren? ſoll ich unhoͤfflich ſeyn und durch eine abſchlaͤgige Antwort mir den Patron, ſo zu mir geſendet / ja die gantze Compagnie zum Feinde machen?

20. Mein Freund du triegeſt dich. Es iſtnicht13der Warheit nachzudencken. nicht die Furcht einer Unhoͤffligkeit und Feind - ſchafft / die dich ſo von mir wegtreibet; Es iſt deine Begierde zur Wolluſt und Muͤßig - gang. Man muß ja der Weißheit halber nicht alle menſchliche Geſellſchafft meiden: Man kan auch dann und wann eine Erge - tzung haben. Aber man muß das Hertze nicht dran haͤngen. Man muß der Ergetzung hal - ber die Weißheit nicht hindan ſetzen. Aber die - ſe Lection iſt dir itzo zu ſchwer zu practicir en. Derowegen gehe nur hin / ich will morgen und allezeit bereit ſeyn / weiter fort zu fahren.

21. Du ſchaͤmeſt dich / und enderſt deine re - ſolution, und wilſt die Compagnie fahren laſ - ſen. Daran thuſtu nun gar loͤblich / und er - weiſeſt dich als einen zu dem vorhabenden Zweck nicht untuͤchtigen Schuͤler. Aber ich muß mich auch als ein tuͤchtiger Lehrmeiſter erweiſen. Du thuſt mit deiner reſolution dei - nen Begierden eine Gewalt an / aber dein Zu - ſtand laͤßt noch nicht zu / daß nicht deine Be - gierden bey dieſer Gewalt deine Seele / ja deinen Verſtand verunruhigen ſolten. Und alſo was wuͤrde es uns beyden helffen / wenn du zwar mit deinen Leibe hier bey mir gegen - waͤrtig waͤreſt / deine Gedancken aber waͤ -ren14Das 1. H. von der Geſchickligkeitren ſtets bey der Compagnie, die du meinet - wegen quittire ſt.

22. Derowegen muß ich auch dieſelben wie - der in Ordnug bringen / wenn ich dir vermelde / daß ich eben umb dich zu pruͤfen meinen Diener befohlen / dir von dem Herrn ein com - pliment zu machen / und dich zu ihn einzuladen / welches nichts anders als ein erdichtes Werck iſt / weil der Herr jetzo nicht hier in der Stadt / ſondern uͤber Land auff ſeine Guͤter gefahren iſt.

23. Hiernechſt pruͤffe dich ferner / ob du auch Muth und Courage genung habeſt dich der Weißheit zu widmen. Denn wie ich bey Er - klaͤrung des Urſprungs der Jrthuͤmer erweh - net / du wirſt dir nothwendig viel Feinde machen / die dir Verdruß genung anzuthun ſich bemuͤhen werden.

24. Und zwar pruͤffe dich hierinnen wohl / denn es iſt nicht genung / daß du die Gefahr fuͤr geringe haͤlſt / und dich mit dem gemeinen Spruch waffneſt; Rectè faciendo neminem timeas; ſondern du wirſt Feinde kriegen / die das Vermoͤgen und die Verſchlagenheit haben werden / dir groſſen Dampff anzuthun / und es kan leicht kommen / daß deine Freyheit /deine15der Warheit nachzudencken. deine Ehre / ja dein Leib / und Leben / ſelbſt groſſe Gefahr laͤufft. Beſinne dich deſſen / was ich dir ohnlaͤngſt vom Tode des Socratis und Petri Rami erzehlet.

25. Du zuͤckeſt die Achſeln / und mich duͤn - cket dein Muth duͤrffte dir beynahe wo nicht gar entfallen / doch ziemlich ſtutzig werden. Dannenhero ermundere dich wieder / und laß dich dieſe Betrachtung an deinen guten Vorhaben nicht hindern. Du wirſt eben der - gleichen / ja noch groͤſſeren Gefahren un - terworffen ſeyn / wenn du von dem Pfad der Weißheit abtrittſt.

26. Ja du wirſt in der Lehre der Weißheit lernen der Gefahr zu begegnen / ihr Wi - derſtand zu thun / oder doch im Leiden ſelbſt zu triumphiren / da hingegen / wo du die Weiß - heit verlaͤſt / du gleichſam blindling in die Ge - fahr dich ſtuͤrtzen / und dich zu allen tuͤchtigen Widerſtand untuͤchtig machen wirſt.

27. Jch wolte wohl noch mehr ſagen. Die Weißheit wird dir zeigen / daß ein ſterbender Socrates viel freudiger und muthiger ſey / als ein Tyranne der ihn umbringen laͤſt; wenn nicht itzo / da du noch im Anfange biſt / die Leh - renoch ein wenig zu hoch fuͤr dich waͤre. Dero -wegen16Das 1. H. von der Geſchickligkeitwegen gedulte dich biß wir die Sitten-Lehre durchgegangen ſind.

28. Nun wollen wir das Werck ſelbſt an - greiffen. Miſte fuͤr allen Dingen deinen Verſtand aus / das iſt / lege die Verhinderun - gen weg / und beſtreite die præjudicia als den Urſprung aller Jrrthuͤmer.

29. Fange erſt an ſie beyde zugleich zu attaquir en. und weil du bißher zum oͤff - tern erfahren / daß du theils von andern Leu - ten / theils durch deine eigene præcipitanz biſt betrogen worden / ſo traue kuͤnfftig nicht mehr ſo leichte / ſondern fange an und Zweiffele.

30. Aber hier laß uns ein wenig ſtehen blei - ben / und dieſes Wort genau betrachten / daß wir nicht damit zu weit gehen / und die Scrupel welche die Vertheydiger der Jrrthuͤmer wi - der dieſen Handgriff einſtreuen / heben koͤn - nen.

31. Zweiffeln heiſt entweder in ſeinem Verſtande wancken oder fragen / ob etwas in der Welt wahr oder falſch / oder ob nicht vielmehr alles nur zweiffelhafft / oder auffs hoͤchſte nur wahrſcheinlich oder unwahrſchein - lich ſey: oder aber es heiſt: fragen / welches denn / und ob dieſes oder jenes wahr oderfalſch /17der Warheit nachzudencken. falſch / wahrſcheinlich oder unwahrſcheinlich ſey. Zu deſto beſſerer Entſcheidung wollen wir jenes ein dubium Scepticum, dieſes a - ber ein dogmaticum nennen / weil die Scepti - ci ſich einer Art zu zweiffeln bedienet / und alle die andern Philoſophi, die denen Scepticis wi - derſprochen mit einen gemeinen Nahmen pfle - gen Dogmatici genennet zu werden.

32. Wenn ich dich habe heiſſen zweiffeln / ſo wird dir die Vernunfft-Lehre ſchon zu verſte - hen gegeben haben / daß ich dadurch nur einen dogmatiſchen / mit nichten aber einen Scepti - ſchen Zweiffel verſtanden habe /

33 Denn ich habe bald anfangs dieſes / daß etwas wahr ſey / als ein eintziges poſtula - tum præſupponiret, und erinnert / daß ohne daſſelbe man in Erforſchung der Weißheit ohnmoͤglich fortkommen koͤnne.

34. Und wenn wir den Zuſtand des menſch - lichen Geſchlechts nach Anleitung deſſen / was wir in den letzten Capitel der Vernunfft-Leh - re davon geſchrieben / wieder uͤberlegen / ſo fin - den wir / daß der Menſch niemahlen eine ver - nuͤnfftige Urſache vorwenden koͤnne / war - um er zweiffeln ſolle / ob etwas wahres in der Welt ſey / ſondern ſeine Seele verſichertBihn18Das 1. H. Von der Geſchickligkeitihn allezeit von Jugend auff etlicher un - ſtreitiger Warheiten / daß wenn er dieſel - ben leugnen wolte / er ſich ſo dann nothwen - dig alles Gebrauchs ſeiner Vernunfft unfaͤhig machen wuͤrde.

35. Wir haben oben geſagt / daß bey den kleinen Kindern in denen erſten Jahren / ob ſie gleich darinnen an capabel ſten ſeyn / daß man ſie unzehlige Jrrthuͤmer bereden koͤnne; dennoch z. e. alle Muͤhe vergebens ſeyn wuͤrde / wenn man ſie bereden wolte: das gantze ſey kleiner als das halbe / das ſchwartze ſey weiß; eine Katze ſey eine Maus u. ſ.w.

36. Bey fortgehenden Alter / da die Kin - der bißweilen etliche Jrrthuͤmer / derer man ſie oder ſie ſich ſelbſt beredet / entdecken / erken - nen ſie zugleich bey der Entdeckung / daß etwas gewiß wahr ſeyn muͤſſe. Denn wie wolten ſie ſonſt ſagen koͤnnen / daß ſie geirret haͤtten / wenn ſie geglaͤubet / z. e. der heilige Chriſt komme von Himmel; der Thurm ſey rund / der Steckel in Waſſer ſey krum / wenn ſie nicht verſichert waͤren / daß es unſtreitig wahr ſey / daß die Menſchen den H. Chriſt a - girt en / daß der Thurm viereckicht ſey / daß der Stecken gerade ſey / u. ſ.w.

37. Ja19der Warheit nachzudencken.

37. Ja endlich wenn der Menſch zu dem Alter koͤmmt / daß ſeine Vernunfft reiff iſt / in ſeinem Kopffe auffzuraͤumen / was ſolte ihn wohl bewegen zu zweiffeln ob etwas wahr ſey? Du wirſt vielleicht ſagen ſeine Jrrthuͤmer. Denn weil er ſich ſo offte betrogen hat / ſo kan er ſich auch wohl allezeit betrie - gen. Und deßhalben muß er eine kleine Zeit an allen zweiffen / biß er eine unſtrei - tige Warheit findet.

38. Aber bedencke doch / was fuͤr einen ſchlechten Schluß du machſt: Was mich ein - mahl (oder auch offte) betrieget / kan mich allzeit betriegen? Jch wil dir nicht vorwerffẽ / daß in allen Logicen dir von Jugend auff ein - geplauet worden / ja daß dir dein eigener Ver - ſtand ietzt dieſen Augenblick auch wider deinen Willen zuruffe / daß von etlichen Exempeln man keine allgemeine Regel machen koͤñe / ſon - dern ich will dir nur zu Gemuͤthe fuͤhren / daß ich auf eben dieſe Weiſe wider dich einen ſolchen Schluß machẽ kan: Was mich einmal (oder auch offte) der Warheit verſichert / das kan mich allzeit der Warheit verſichern / und folglich nimmer betriegen. Antworte mir was du wilſt auff dieſen Satz / ſo wirſtu zugleich den deinigen mit umſtoſſen.

B 239.20Das 1. H. von der Geſchickligkeit.

39. Geſetzt aber ich raͤumete dir denſelben ein / wirſtu auch Urſache haben deswegen zu ſchlieſſen / daß du deßwegen an allen zweif - fejn muͤſſeſt. Es iſt ein groſſer Unterſcheid unter betriegen koͤnnen / und betriegen wer - den. Und dieſer Satz iſt ſehr unvernuͤnfftig: Jch kan mich allezeit betriegen / Ergò wer - de ich mich auch allezeit betriegen. Frage nur die regeln der allgemeinen Metaphyſic, ſo fern dieſelbe noch gut und unbetrieglich iſt.

40. Nim ein klar Exempel: du kanſt mit drey Wuͤrffeln einmahl und auff eine einige manier alle / und auff vielerley ma - nier zehen oder eilff Augen werffen. Wuͤr - deſt du aber nicht unklug raiſoniren, wenn du daraus ſchlieſſen wolteſt / daß du allemahl alle oder zehen Augen werffen koͤnteſt / und noch vielmehr / daß du allemahl alle oder zehen Augen werdeſt werffen.

41. Ja ſo ungeraͤumt es waͤre / wenn du deßwegen gegen einen andern eine hohe Sum - me Geld ſetzen wolteſt / daß du allemahl nach einander alle oder zehen Augen werffen wolteſt / wtil du ſie einmahl oder offte geworf - fen; ſo ungereimt iſt es auch / an allen deinen gehabten Einbildungen oder Gedanckenzweif -21der Warheit nachzudencken. zweiffeln wollen / weil du einmahl oder offt von ihnen betrogen worden.

42. Derowegen wirſtu mir verzeihen / daß ich nicht alleine deinen Schluß nicht zugebe / ſondern auff dieſe weiſe denſelben gantz umb - kehre. Weil du gewiß weiſt / daß dich dei - ne Gedancken betrogen / ſo kanſtu nicht von allen Dingen zweiffeln / ſondern nur von etlichen.

43. Die unſtreitige Warheit iſt die Probe des Betrugs und Jrrthumbs / und du kanſt keinen Jrrthumb erkennen / wenn du nicht zu - giebeſt / daß das Gegentheil wahr ſey.

44. Und gedencke nur / wenn du an allen deinen bißher gehabten Gedancken zweiffeln wolteſt / ſo muͤſteſt du auch an denen zweiffeln: Ob du dich bißher betrogen haͤtteſt. Auff dieſe Weiſe aber riſſeſtu den Grund nieder / der dich bewogen haͤtte an allen Dingen zu zweiffeln.

45. Bedencke ferner die wahre Urſache / weshalber ich zuvorher geſagt / warumb du zweiffeln ſolteſt; nehmlich daß du die præjudi - cia attaquir en koͤnteſt. Die præjudicia ſind aber falſche Meinungen / die dich von Erkent - niß der Warheit abfuͤhren. Und alſo kanſtuB 3nicht22Das 1. H. von der Geſchickligkeitnicht einmahl zweiffeln / wenn du nicht ein - raumeſt / daß etwas wahr ſey. Denn du weiſt nicht einmahl was ein præjudicium iſt / wenn du glaͤubeſt / du koͤnneſt an allen Dingen zweiffeln.

46. Aber du wilſt mich noch nicht ſo guten Kauffs loß laſſen: ſondern du wendeſt noch fer - ner gegen mich ein: Wenn ich nicht an allen Dingen zweiffeln ſoll / ſo darff ich gar nicht zweiffeln. Denn ich ſoll deßhalben zweif - feln / daß ich die Warheit erkenne. Wann ich dannenhero ſchon weiß / daß etwas wahr iſt / ſo erkenne ich ja ſchon die Warheit / ja ich muß auch wiſſen welches das wahre ſey: Denn ſonſt wuͤſte ich nicht / daß etwas wahr waͤre.

47. Du ſchlieſſeſt abermahl ſehr unfoͤrmlich / du weiſt freylich / daß etwas wahr ſey / und alſo weiſt du auch etwas das wahr iſt; aber du weiſt deshalben nicht alles was in deinen Gedancken wahr iſt / und dieſes iſt die Urſach warum du zweiffeln ſolſt.

48. Denn daß wir uns nunmehr auch zu den Dogmati ſchen Zweiffel wenden: ob wir gleich oben erwehnet haben / daß wir vermoͤge deſſelbigen zweiffeln / ob dieſes oder jeneswahr23der Warheit nachzudencken. wahr ſey / ſo folget doch deshalben nicht / daß wir zweiffeln ſollen / ob nichts wahr ſey; ſon - dern indem ich dieſes oder jenes ſage / zeige ich alsbald an / daß etwas aus genommen werden muͤſſe / an dem ich nicht zweiffeln doͤrffe.

49. Dieſes nun deſto deutlicher zu erken - nen und zu begreiffen / was das vor Dinge ſeyn / an denen ein Menſch / der in ſeinen Kopff auffraͤumen will / mit fug zweiffeln koͤnne / ſo muͤſſen wir aus der Vernunfft-Lehre wie - derholen / daß die Warheiten entweder die er - ſten Grund-Warheiten / oder daraus her - geleitete Saͤtze und propoſitiones oder conclu - ſiones ſind.

50. Dieſe Saͤtze oder concluſiones nun ſind entweder dergeſtalt beſchaffen / daß deren un - ſtreitige Warheit alsbald und ohne einige raiſonirung der Menſch verſichert wird / weil ſie mit denen Grund-Warheiten ohnmittel - bar verknuͤpfft ſind: oder der Menſch braucht hierzu eine Bedenck-Zeit / weil ſie mit denen Grund-Warheiten durch andere verknuͤpfft werden / und alſo der Menſch dieſe Ver - knuͤpffung durch einige raiſonir ung ſuchen muß.

51. An denen Saͤtzen die er alſobald be -B 4greifft24Das 1. H. von der Geſchickligkeitgreifft / darff er nicht zweiffeln / ja die innerli - che beywohnende Verſicherung laͤſt ihn nicht einmahl einen Zweiffel zu / wenn er ſchon ſol - ches gerne thun wolte. Denn es waͤre auch vergebens durch einen Zweiffel ſuchen dasje - nige zu begreiffen was man ſchon begreifft: Z. e. daß dieſer Thurm viereckt / dieſer Stock gerade ſey / daß zweymahl 3. ſechſe ſeyn / daß das gantze groͤſſer ſey als ein Theil u. ſ. w.

52. Dannenhero ſieheſtu verhoffentlich gantz deutlich / daß du mit deinen Zweiffel zu weit gehen wuͤrdeſt / wenn du zweiffeln wolteſt / ob du wacheteſt? Ob du Haͤnde oder Fuͤſſe habeſt? Ob die gemeineſten und leichteſten mathematiſchen Regeln wahr ſeyn? Deñ dieſe exempel ſind eben ſo gewiß / nnd alſobald zu begreiffen als jene.

53. Ja wenn du auch an dergleichen un - ſtreitigen Warheiten zweiffeln wolteſt / wuͤr - deſtu nimmermehr zu Erkentniß der Grund - Warheiten gelangen / weil durch eben dieſel - bigen der Menſch die Grund-Warheiten findet.

54. Alle der gleichen propoſitiones nun muſt du vondeinen Zweiffel ausnehmen / und es iſt nicht noͤthig / daß man dir dieſelben ſpecificire,weil25der Warheit nachzudencken /weil du ſie alſobald verſtehen wirſt / wenn dir eine vorkomt. Sie koͤnnen auch nicht ſpeci - ficirt werden / weil ſie unzehlig ſind.

55. Derowegen bleiben die Grund-War - heiten und die concluſiones remotiores noch uͤbrig. Beyde ſind es nun die du in dei - nen Kopffe vermittelſt des dogmat iſchen Zweiffels auffſuchen muſt.

56. Und zwar die Grund-Warheiten zu erſt. Denn wenn du dieſe nicht haſt / kanſtu die concluſiones remotiores nicht finden. Deñ wie wir in der Vernunfft-Lehre erwehnet / ſo begreiffen die Grund-Warheiten alle andere in ſich / und die remotiores concluſiones wer - den alsdenn erſt wahr zu ſein erkennet / wenn ſie mit den Grund-Warheiten verknuͤpfft ſind.

57. Und dieſes mercke wohl. Denn ob - ſchon die Sache an ſich ſelbſten klar und un - ſtreitig iſt / ſo wird ſie doch durchgehends ne - gligiret, und du kanſt dich wohl verſichern / daß unter 1000. Gelehrten nicht 10. ſeyn die ſich umb die prima Principia cognoſcendi be - kuͤmmern / ob ſie gleich alle 1000. ſich es blut - ſauer werden laſſen die Zeit ihres Lebens neue concluſiones remotiores zu erforſchen.

B 558. Ja26Das 1. H. von der Geſchickligkeit

58. Ja wie viel ſind Univerſit aͤten / in wel - chen in 100. Jahren die Intelligentia nicht profitiret worden / ob gleich kein Jahr / ja kein Monat vergangen / in dem man nicht der Ju - gend vorgeſagt / daß die Intelligentia ein ha - bitus (und zwar kein connatus ſondern acqui - ſitus) ſey primorum principiorum. Was kanſtu aber bey dieſer Bewandniß von allen denen Wiſſenſchafften halten / die alſo von de - nen Lehrern aus Mangel des Grundes in die Lufft gebaut werden. Ja was kanſtu von der gemeinen Logic halten / die ſolcher geſtalt ohne Grund iſt / und doch die andern Wiſ - ſenſchafften alle tragen will.

69. Und alſo haſtu darinen nunmehr fuͤr andern billig einen Vortheil / Weil ich dir in der Vernunfft-Lehre allbereit dieſe Grund - Warheiten dargethan und erwieſen. Denn weil du durch dieſe Erweiſung dieſelbe allbereit begriffen / wuͤrde es vergebens ſeyn / an dem was du allbereit begriffen von neuen zu zweif - feln.

60. Jedoch weil an dem Grunde das mei - ſte gelegen iſt / kan es nicht ſchaden / daß du das / was du oben hiervon gelernet haſt / fleißig re - petir eſt / nicht zu dem Ende / daß du eine biß -her27der Warheit nachzudencken. her unbekandte Warheit erkennen lerneſt / ſon - dern daß du in der allbereit erkandten gewiſ - ſer werdeſt.

61. Und alſo kanſtu auch hieraus noch ei - nen andern Unterſcheid zwiſchen den Zweiffel / durch den du die Grund-Warheiten / und zwiſchen den / dadurch du die entferneten concluſiones ſuchſt / mercken. Zu jenen brauchſtu nnr einmahl eine rechtſchaffene at - tention, und zwar nicht eben eine lange Zeit .. Zu dieſen aber brauchſtu allemahl bey einer ieden eine neue Auffmerckung und Unterſuchung / oder Zweiffel / und zwar weil immer eine concluſion von der Grund-war - heit entferneter iſt / als die andere / ſo brauchſtu auch mehr Zeit an einer zu zweiffeln als an der andern.

62. Dergleichen concluſionum remo - tiorum ſind gleichfalls unzehlig und noch vielmehr / als der Saͤtze die alsbald begriffen werden koͤnnen. z. e. Daß drey Winckel eines Dreyangels ſo viel austragen als zwey gleiche Winckel; Daß die Farben nicht weſentliche Theile der ſubſtanz ſeyn / u. ſ. w. Die noͤthig - ſten ſind z. e. Daß ein GOtt ſey. Daß er das Weſen aller Creaturen erhalte undver -28Das 1. H. von der Geſchickligkeitverſorge: Daß der Menſch durch die Er - haltung einer gleichmaͤßigen Bewegung ſich am laͤngſten conſervire / und daß alle Bewegung / die mit der vorigen keine pro - portion hat / ihn ſchaͤdlich ſey: Daß der Menſch ohne Menſchliche Geſellſchaffte - lende ſey: Daß alle Menſchen einander gleich ſeyn / u. ſ. w.

63. Derowegen wenn ich oben geſagt / daß du zweiffeln ſolteſt / habe ich nichts ander ver - ſtehen wollen / als daß du fuͤr allen Dingen ſolteſt anfangen (daferne du nicht ſolches ſchon gethan haͤtteſt) Die Grund-Warbeiten und principia ratiocinandi in deinen Kopff auffzuſuchen / und hernach alles was dir von denen bißher gehabten Einbildungen (von natuͤrlichen Dingen) vorkoͤmt / aus - mertzen / wenn du ſieheſt / daß es denen Grund-Warheiten zuwider iſt / oder in Zweiffel laſſen / ſo lange du nicht ſieheſt / wie es mit denen Grund-Warheiten ac - curat verknuͤpfft werden koͤnne / oder als unbekand ausſetzen / wenn du ſieheſt / daß es denen Grund-Warheiten nicht zuwi - der ſey / aber auch zugleich begreiffeſt / daß es mit ihnen nicht verknuͤpfft werdẽ koͤñe.

64. Auff29der Warheit nachzudencken

64. Auff dieſe Weiſe wirſtu taͤglich neue Jrrthuͤmer entdecken / die du bißher aus Leichtglaͤubigkeit oder Ubereilung dich beredet hatteſt und wirſt anfangen deſtomehr deine vo - rige Blindheit zu erkennen und zu begreiffen / daß die Gelehrheit darinnen beſtehe / wenig Warheiten und ſehr viel Jrrthuͤmer zu ver - ſtehen.

65. Und zwar bekuͤmmere dich anfangs nicht ſehr / wenn du die Grund-Warheiten gefunden / bey welcher concluſione remo - ta dn anfangen ſolleſt auffzuraͤumen / ſon - dern nim nur die erſte die liebſte / und derer du nachzudencken die meiſte Luſt haſt. Denn wenn du bald anfangs gar zu ſorgſam we - gen der Ordnung die hier zu halten waͤre / ſeyn wolteſt / wuͤrdeſt du nur verdruͤßlich und nach - laͤßig in deinen guten Vorhaben werden. Zu dem ſo braucht man auch in Auffputzung ei - nes Zim̃ers uicht eben eine gewiſſe Ordnung / ſondern du magſt zur Rechten oder Lincken / hinten oder fornen anfangen / wie es dir am beſten duͤncket / wen nur die Sachen die daſ - ſelbige verunzieren ausgeſchaffet werden.

66. Ehe wir noch weiter gehen / ſo vergiß nicht / daß zweiffeln nicht mehr heiſſe alswan -30Das 1. H. von der Geſchickligkeitwancken / oder fragen; maſſen wir denn in der Vernunfft-Lehre die zweiffelhafften Gedan - cken nicht anders beſchrieben haben. Und weil derjenige der nach was fraget / ordentlich auch etwas ſuchet; (Wannenhero auch bey denen Lateinern quærere zugleich fragen und ſuchen heiſt /) ſo kanſtu gar leichte begreiffen / daß allhier in gegenwaͤrtiger materie zweif - feln / wancken / fragen und ſuchen eines ſey. Und daß wenn ich geſagt / daß du ſolt anfan - gen zu zweiffeln / ich nichts anders andeuten wollen / als daß du in deinen Kopff ſolſt an fangen nach dem wahren und falſchen zu fragen / oder daſſelbige auffzuſuchen.

67. Bey dieſer Bewandniß nun laß dich andere nicht verfuͤhren / die dir etwa beybrin - gen wollen / daß alles dasjenige / an dem du an - fangs zweiffelſt / von dir zugleich ad interim fuͤr falſch gehalten / und aus deinen Gedan - cken ausgemertzet werden muͤſſe / biß du das principium cognoſcendi gefunden. Denn du wirſt dich ſonſt in viele Verwirrungen ohne Noth verwickeln.

68. Denn 1. iſt ohne Zweiffel / daß wenn man etwas fuͤr falſch haͤlt / man ſolches nicht thun koͤnne / man halte denn die propoſitionemcon -31der Warheit nachzudencken. contradictortam ſuͤr wahr. Wenn man a - ber dieſes thut / kan man nicht ſagen / daß man die Warheit noch ſuche / ſondern man muß ſie ſchon gefunden haben. Und alſo ſagt derjeni - ge der zu mir ſpricht: Jch ſoll zweiffeln / und zugleich dasjenige woran ich zweiffele fuͤr falſch halten / in der That zu mir: Jch ſoll zugleich zweiffeln und nicht zweiffeln / zugleich die War - heit ſuchen und nicht ſuchen / oder die Warheit ſuchen / die ich mich doch ſchon verſichert / daß ich ſie gefunden.

69. 2. Gehet ein ſolcher Philoſophus / der doch vielleicht ſich hauptſaͤchlich vorgenommen die Scepticos zu beſtreiten / viel weiter als die Sceptici ſelbſt iemahls gegangen. Denn die - ſe indem ſie an allen zweiffelten / hielten alles fuͤr wahrſcheinlich oder unwahrſcheinlich / nie - mahln aber fuͤr unſtreitig falſch; denn ſonſt haͤt - ten ſie nothwendig das Gegentheil fuͤr unſtrei - tig wahr halten muͤſſen / welches ihrem Haupt - principio zuwider geweſen waͤre.

70. 3. Jſt ſehr wahrſcheinlich / daß diejeni - nigen die ſich dieſer methode gebrauchen / gantz augenſcheinlich zwey unterſchiedene Din - ge mit einander vermiſchen / nehmlich / etwas nicht fuͤr wahr halten / und etwas fuͤr falſchhal -32Das 1. H. von der Geſchickligkeit. halten / unter denen doch ja ſo ein mercklicher Unteſcheid iſt / als z. e. zwiſchen nicht ſehen und blind ſeyn. Wer an etwas zweiffelt / haͤlt daſſelbige freylich ſo lange als er daran zweiffelt nicht fuͤr wahr / weil er ſolches weder fuͤr wahr noch falſch haͤlt; aber eben dieſe raiſon verſi - chert mich auch zugleich / daß er es nicht fuͤr falſch halten koͤnne.

71. 4. Sonſt iſt auch eine ziemliche Unfoͤrm - ligkeit darinnen / wenn man ſagt / man ſolte alles daran man zweiffelt / und alſo nach der - ſelben Meinung fuͤr falſch haͤlt / aus ſeinem Kopff ausſchuͤtten. Denn auff dieſe Art wuͤr - de folgen / weil eben dieſe Leute ſagen / daß man an allen Gedancken zweiffeln muͤſſe / daß man ale Gedancken ausſchmeiſſen / und folglich ſich einbilden muͤſſe / der Kopff ſey mit Gritze angefuͤllet / oder habe doch zum wenigſten kein Gehirne mehr.

72. Wolte man auch ſchon vorwenden / daß dieſes alles nicht aus Ernſt und mit dem Vorſatz geſchehe / daß man alles wahre zu - gleich mit verſtoſſen / und ſich auff ewig deſſen berauben wolle / ſondern daß es nur zu dem Ende ad interim geſchehe / damit man von dem falſchen nicht etwan was ohnverſehens zu -ruͤck33Der Warheit nachzudencken. ruͤcke laſſe / und damit man hernach das wah - re fein ſauber eines nach dem andern wiederho - len koͤnne / wie man etwa aus einem Koͤrblein voller Perlen und Heckerling die Perlen nebſt den Heckerling auszuſchuͤtten pfleget / und hernach die Perlen aus denen Spreuern eine nach der andern auslieſet; ſo ſcheinet doch auch dieſe methode nicht allzuwohl ausgeſonnen.

73. Denn wer wolte ſagen / daß es wohl ge - than ſey / wenn eine Muter das Kind mit dem Bade ins Waſſer ſchmeiſſen wolte / zu dem Ende / damit ſie hernach das Kind alleine wie - der heraus langete; oder wenn man Perlen oder Edelgeſteine nebſt dem Unflat auff die Gaſſe werffen wolte / und hernach dieſelben erſt eine nach der andern colligir en.

74. Zudem ſo ſchickt ſich das gebrauchte Gleichniß von der Ausſchuͤttung der Per - len hieher ſehr wenig / weil in demſelbigen derjenige / der die Perlen von dem Heckerling abſondern ſoll / fuͤr ſich beſtaͤndig bleibt / und nicht mit weggeſchmiſſen wird. Alleine wenn du alle Gedancken wegſchmeiſſen wilſt / mit was wilſtu denn hernach die zugleich mit weg - geworffenen Warheiten wieder zuruͤck neh - men.

C75. Und34Das 1. H. von der Geſchickligkeit

75. Und dieſes iſt auch eben die 5. inconve - nienz, die man bey der bißher unterſuchten methode mit anzumercken hat: Man ſoll an allen zweiffeln / man ſoll alles fuͤr falſch hal - ten und wegſchmeiſſen / biß man ein gewiß principium raciocinandi gefunden bat. Denn wie ſoll man das principium raciocinan - di finden / das man nebſt denen andern Din - gen fuͤr falſch gehalten und mit weggeſchmiſ - ſen hat.

76. Nachdem ich bißher die gegebene regul, daß man bey Unterſuchung der Warheit an - fangen zu zweiffeln muͤſſe / zimlich anders als ſonſten zu geſchehen pfleget / erklaͤret / hoffen wir wohl / daß die meiſten argumenta der je - nigen / die zu Vetheidigung derer præjudicio - rum dieſen noͤthigen Zweiffel zu beſtreiten ſich hoͤchlich angelegen ſeyn laſſen / uns in ge - ringſten nicht treffen werden / weil ſie fuͤrnehm - lich dahin zielen / daß ſie erweiſen wollen / man ſolle nicht an allen Dingen zweiffeln / und man ſolle die Dinge an denen man zweiffelt / nicht fuͤr falſch halten.

77. Gleichwohl ſcheinet die ſchwereſte Obje - ction, die man darwider einſtreuet / uns ja ſo wohl als die andern zu treffen. Wir habenoben38[35]der Warheit nachzudencken. oben geſagt / daß unter denen noͤthigſten Saͤ - tzen / von denen man zu zweiffelln muͤſſe anfan - gen / auch die ſeyn; daß ein GOtt ſey / und daß er das Weſen aller Creaturen er - halte und ſie verſorge. Wie nun? pflegt man hierwider einzuwenden: So ſoll man dem - nach auch an GOtt zweiffeln? da doch ein Menſche von Jugend auff dieſe unſtreitige Warheit verſichert iſt / daß ein GOtt ſey / und daß er alle Creaturen erhalte und ſie verſorge; und da dieſe Warheit auch denen Heyden ja ſo wohl in das Hertze geſchrieben iſt / daß ein GOtt ſey / als daß zweymal drey ſechſe ſind. Auff dieſe Weiſe heiſt man ja ausdruͤcklich / daß ein vernuͤnfftiger Menſch zum wenigſten auff eine zeitlang ein Atheiſte ſeyn muͤſſe. Jſt dieſes aber nicht eine ſchoͤne Philoſophie die von der Atheiſte rey anfaͤnget!

78. Aber laß dich dieſes alles nicht irren. Es wird ja wohl der Haupt-Satz von Gottes exiſtenz und von der goͤttlichen Vorſorge al - len Kindern von was fuͤr Religion auch die - ſelbigen ſeyn moͤgen / von Jugend auff impri - miret; aber deßwegen folget noch lange nicht / daß die Kinder dieſes eine unſtreitige War - heit zu ſeyn verſichert waͤren / weil der mei -C 2ſten36Das 1. H. von der Geſchickligkeitſten Menſchen ihre Wiſſenſchafft davon mehr in der autorit aͤt ihrer Eltern oder anderer Menſchen / die ihnen ſolches beygebracht / als in denen darzu gehoͤrigen Grund-Warheiten gegruͤndet iſt. Alles dasjenige aber / was ſich hauptſaͤchlich auff menſchliche autorit aͤt gruͤn - det / kan ſo lange als es keinen andern Grund hat / fuͤr keine unſtreitige Warheit ausgegeben werden.

79. Und ob ſchon kein vernuͤnfftiger Menſch laugnen wird / daß der hoͤchſt noͤthige Lehr-Satz von GOttes exiſtenz und von der goͤttlichen Vorſorge allen Heyden in das Hertze ge - ſchrieben ſey; ſo folget doch noch lange nicht / daß derſelbe eben ſo leichte und unmittelbar er - kennt werde / als daß zweymal drey ſechſe ſey / oder daß dieſer Stock gerade und nicht krum ſey. Denn alles dasjenige heiſt denen Men - ſchen in das Hertze geſchrieben ſeyn / zu deſſen unſtreitigen Erkaͤntniß derſelbige aus natuͤr - lichen Kraͤfften und Vermoͤgen ohne Beytrag einer goͤttlichen Offenbahrung gelangen kan / ob er ſchon hierzu oͤffters einer langwierigen raiſonir ung vonnoͤthen hat. Alſo iſt denen Heyden auch nie in das Hertze geſchrieben / daß drey Winckel eines Triangels ſo viel austra -gen37der Warheit nachzudencken. gen als zwey gleiche Winckel / daß man ſein Verſprechen halten muͤſſe / daß derjenige / der den andern Schaden zufuͤget / denſelben durch gehoͤrige Satisfaction wieder zu erſtatten ſchuldig ſey / und nichts deſtoweniger hat der Menſch eines ziemlich dauerhafften Zweiffels und raiſonir ung vonnoͤthen / ehe er bey ſich die Erkentniß erwecket / daß dieſe Saͤtze unter die unſtreitigen Warheiten gehoͤren.

80. Was endlich den Vorwurff der A - theiſterey betrifft / will ich itzo nicht urgir en / das zwar zu wuͤndſchen waͤre / daß kein Menſch iemahlen auch nur auff einen Augenblick A - theiſti ſche Gedancken hegete / aber doch gleich - wohl unſere armſelige Natur leider mit die - ſen Unfall behafftet ſey / daß nicht zu ver - wundern / wenn rohe Weltkinder dieſelbigen zum oͤfftern fuͤhlen / weil auch die aller froͤm̃ - ſten Leute oͤffentlich daruͤber geklaget / daß ſie zuweilen mit dergleichen Atheiſtiſchen Ge - dancken geplaget und verſuchet werden. Son - dern ich will nur dieſes erinnern / daß unſere Philoſophie mit nichten erfordere / daß ein Menſch auch nur einen Augenblick ein A - theiſte ſeyn ſolle.

81. Es iſt nicht zu laͤugnen / daß ſehr viel un -C 3ter38Das 1. H. von der Geſchickligkeitter denen alten und heutigen Gelehrten nicht nur wider die Atheiſter ey geſchrieben / ſondern auch immer einer den andern / wider den er ei - ne Feindſchafft traͤget als einen Atheiſt en tra - duciret und verlaͤumbdet / da doch unter hun - derten oͤffters kaum ein eimger iſt / der von der Atheiſt erey und was ein Atheiſte ſey / ſich ei - nen rechtſchaffenen und deutlichen concept ma - che / ſondern gemeiniglich ein unvernuͤnfftiger Haß / oder zanckſuͤchtige Rachgier zum Grun - de dieſer harten Beſchuldigung geleget wer - den. Wie aber unſers Vorhabens ietzo nicht iſt / dieſe materie ausfuͤhrlich und der Wuͤrde nach zu eroͤrtern / ſondern wir ſolches biß zu einer andern Gelegenheit ausgeſetzt ſeyn laſ - ſen wollen; Alſo koͤnnen wir gar leichtlich aus demjenigen / was dißfalls alle diejenigen / ſo von der Atbeiſter ey geſchrieben / einzuraumen pflegen / augenſcheinlich darthun / daß dieſe Beſchuldigung unſere methode und Lehr-Art in geringſten nicht treffe.

82. Ein Atheiſte wird insgemein derjenige genennet / der laͤugnet / daß man GOtt eini - ge Ehre erweiſen muͤße / weil er laͤugnet / daß ein GOtt ſey / oder daß eine goͤttliche Vorſehung ſey. Wenn wir aber oben be -foh -39der Warheit nachzudencken /fohlen / daß man unter andern Dingen auch an GOtt und goͤttlicher Vorſehung zweiffeln ſolle / und daneben erinnert / daß zweiffeln nichts anders als fragen oder ſuchen heiſſe; ſo iſt ja offenbahr / daß wir dieſen Zweiffel nicht deß - halben angeſtellt wiſſen wollen / daß man Gott und die goͤttliche Vorſehung verlaͤugnen ſol - le / welches allerdings auff eine Atheiſter ey / o - der doch zum wenigſten auf einen der erſchreck - ligſten Jrrthuͤmer hinaus lauffen wuͤrde; ſon - dern wir begehren nur / daß ein Menſch durch dieſen noͤthigen Zweiffel nach GOtt fragen / und ihn nebſt der Goͤttlichen Vorſehung rechtſchaffen ſuchen ſolle / das iſt / daß er um einen unumſtoßlichen Grund GOtt und ſei - ne Vorſehung zu begreiffen ſolle bekuͤmmert ſeyn.

83. Bey dieſer Bewandniß aber iſt ſo weit ge - fehlet / daß wir dadurch unſere Lehrlinge zu ei - niger auch der ſubtileſten Atheiſter ey diſpo - nir en ſolten / daß wir vielmehr dieſelben eben dadurch von aller Atheiſterey am weite - ſten entfernen / und ihnen den Weg zeigen / nicht alleine ſich ſelbſt wider alle Atheiſti ſche Gedancken zu waffnen / ſondern auch der Atheiſt en ihre Thorheiten zu widerlegen; inC 4dem40Das 1. H. von der Geſchickligkeitdem nach dem allgemeinen Beyfall auch de - rer / die uns einer Atheiſter ey beſchuldigen wolten / ſo wohl auch nach dem Ausſpruch Goͤttlicher Warheit ſelbſt / dieſes das vornehm - ſte Kennzeichen eines Atheiſten iſt / daß er nach GOtt nichts frage / noch ihn gebuͤhrend ſuche.

94. Wolte aber ja allenfallseiner / dem der von uns begehrte Zweiffel noch nicht zu Sin - ne will / dich weiter pouſſiren, ſo darffſtu ihn nicht mehr als ſeine eigene Theologiam na - turalem und ſeine Scripta Anti-Atheiſti - ca vorhalten / als in welchen er ſich hoͤchſt ange - legen ſeyn laͤſt / durch allerhand Mittel und Wege / nehmlich per vias cauſalitatis, per - fectionis & negationis die natuͤrliche Erkent - niß von GOtt und ſeiner Vorſorge zu erwe - cken und zu befeſtigen; welches alles unnoͤthig ja hoͤchſt unfoͤrmlich ſeyn wuͤrde / wenn dieſel - ben ſo leichte als andere erſte und unſtreitige Warheiten zu begreiffen waͤren.

85. Denn hat man wohl iemahlen geſe - hen / daß ein Philoſophus wegen der Erkennt - niß dergleichen unſtreitigen Warheiten / z. e. daß zweymahl drey ſechſe ſeyn; daß dieſer Stock gerade und nicht krum ſey; daß dieſerThurm41der Warheit nachzudencken. Thurm viereckicht ſey; daß der Schnee weiß und nicht ſchwartz ſey u. ſ. w. eine ſo weitlaͤuf - tige / ſubtile und verwirrete diſciplin verfer - tiget / als die Theologia naturalis insgemein gemacht wird.

86. Zu geſchweigen / daß das eine von den allergemeinſten Grund-Regeln in der Welt - weißheit zu ſeyn pfleget / daß man uͤber Din - ge / an denen kein Menſch Urſache zu zweiffeln hat / im geringſten nicht diſpu - tiren ſolle. Woraus nothwendig folget / daß alle diejenigen / die ſich angelegen ſeyn laſ - ſen mit ſo groſſer Hefftigkeit von dem Goͤtt - lichen Weſen und ſeiner Vorſorge zu diſpu - tir en / eben damit einraͤumen muͤſſen / daß die - ſe wichtige materie vielen Zweiffeln unter - worffen ſeyn muͤſſe / denn ſonſt wuͤrden ſie ge - wißlich die Atheiſten nur mit dem bekanten Axiomate abfertigen: Contra negantem prin - cipia non eſt diſput andum, welches ſie zweif - fels ohne wider einem der laͤugnen wuͤrde / daß der Schnee weiß waͤre / wuͤrden anfuͤhren.

87. Wenn du demnach durch dieſe Art / und durch den Anfang an allen Lehr-Saͤtzen / die von denen Grund-Saͤtzen entfernet ſind / zu zweiffeln / beyderley præjudicia zugleich tapf -C 5fer42Das 1. H. von der Geſchickligkeitfer zu beſtreiten angefangen; ſo fahre ſo dann ferner fort / derer iedes abſonderlich hertzhafft zu attaquir en / und zwar erſtlich das præju - dicium autoritatis, wider welches du ſolcher geſtalt folgende regel in acht zu nehmen haſt: Verlaß dich in Erforſchung der Warheit niemahlen auff die autoritaͤt einiges Men - ſchen / er ſey auch wer er wolle / wenn du nicht eine innerliche Verſicherung bey dir befindeſt / daß die bißher geglaubte Be - redung mit denen allbereit erkandten Grundwarheiten nothwendig verknuͤpfft ſey.

88. Denn du haſt in der Vernunfft-Lehre allbereit gelernet / daß die Warheit in Uberein - ſtimmung der euſſerlichen Dinge und unſerer eigenen / nicht aber frembder Gedancken beſte - he / und daß man die Menſchliche autorit aͤt weiter nicht als nur ein klein wenig in wahr - ſcheinlichen Dingen / die nicht zu unſtreitigen Warheiten gebracht werden koͤnnen / brauchen muͤſſe.

89. Dannenhero laß dich das Geſchrey de - rer / denen ſehr viel dran gelegen iſt / daß die Welt nicht aus den gemeinen Jrrthuͤmern ge - riſſen werde / nicht irre machen / wenn ſie dir dieAuto -43der Warheit nachzudencken. Autorit aͤt deiner Obrigkeit / deiner Eltern o - der Præceptorum vorhalten / und dein Gewiſſen aͤngſtigen wollen / als wenn du das natuͤrliche Recht groͤblich verletzeteſt / wenn du an der Warheit deſſen / was von deinen Obern / Eltern oder Præceptoren du gelehret worden biſt / zweiffeln und dich unterfangen wolteſt von ihrer Meinung abzuweichen. Denn in dem ich aller Menſchen / ſie ſeyn auch wer ſie wol - len / erwehnet / habe ich auch Obere / Eltern und Præceptores darunter begriffen / weil die itzo angefuͤhrte Urſache dieſelben ſo wohl als andere Menſchen angehet.

90. Die Sittenlehre wir dir zeigen / daß wir zwar ſchuldig ſind / unſer aͤuſſerlich Thun und Laſſen nach dem Willen unſerer Obern und Eltern einzurichten / und ihnen angeneh - me Dienſte auch wohl mit Gefahr unſers Le - bens zu leiſten; aber daß der Verſtand keinen Geſetzen unterworffen ſey / weil er von unſern freyen Willen dependir et.

91. Was aber die Præceptores abſonder - lich anlanget / ſo laß dir doch uͤber dieſes deinen Opponenten den Urſprung zeigen / woher es komme / daß man die obligation gegen dieſelbe der Pflicht gegen die Eltern gleichgemacht44Das 1. H. von der Geſchickligkeitgemacht / oder wohl gar dieſer vorgezo - gen. Gewißlich / wenn du dich nicht mit Teſtimoniis vieler Menſchen / und zwar ſol - cher / die hierbey ein groſſes intereſſe gehabt / wilſt abſpeiſen laſſen / (welches doch ſehr laͤcher - lich heraus kommen wuͤrde / wenn man / da man in Beſtreitung menſchlicher autorit aͤt begriffen iſt / derſelbigen auf einige Weiſe ſeinen Verſtand unterwerffen ſolte /) wird man dir keinen andern Urſprung ſagen koͤnnen / als daß bey Verwilderung des menſchlichen Verſtan - des / diejenigen / die unter dem affectirt en Schein einer ſonderlichen Weißheit ſich fuͤr an - dern in Anſehen zu bringen getrachtet / und a - ber ohne eitele perſuaſion anderer Menſchen ſolches zu thun unvermoͤgend geweſen / kein dienlicher Mittel gewuſt / die menſchliche auto - ritaͤt als einen Abgott auff den Thron Gottes (der allein uͤber den menſchlichen Verſtand zu gebieten hat) zu erheben / als wenn man die Obliegenheit gegen Præceptores der Pflicht ge - gen die Eltern vorzoͤge / und denen Lehrlingen inculcirt e / daß es eine von den groͤſten Boß - heiten ſey / wenn ſich ein diſcipel unterſtehe von denen Lehr-Saͤtzen ſeines Præceptoris im ge - ringſten abzuweichen.

92. Hier -45der Warheit nach zudencken

92. Hiernechſt kanſtu dich ferner bey denen / die dich mit denen Præceptoren wollen zu fuͤrchten machen / erkundigen / was denn un - ter dem Nahmen eines Præceptoris von deſſen Meinung man nicht abweichen ſol - le / verſtanden werde. Ob auch z. e. ein Fecht-Dantz - und Sprachmeiſter u. ſ. w dar - unter zu rechnen ſey? Ob die Dorff-Schul - meiſter und die denen Kindern das a. b. c. leh - ren hieher gehoͤren? Ob nur diejenigen die um - ſonſt informir en / oder mit denen man der In - formation wegen einen contract macht? Ob allein die Præceptores und Doctores publici o - der auch privati? Ob allein diejenigen die bey der alten Lehrart geblieben / oder auch die / die von ihrer Præceptoren Meinung abgewichen / dieſes privilegium prætendir en koͤñen? Ja end - lich frage mit Ernſt; Ob ich alleine von derer Præceptoren ihrer Meinung nicht abweichen ſolle / die mich wohl und rechtſchaffen informi - ret, oder auch von denen nicht / die mir Nar - renpoſſen und Jrrthuͤmer beygebracht? Jch will dich verſichern / du wirſt auff dieſe Weiſe deinen Antagoniſten bald loß werden / oder er wird ſich mit ſeinen Antworten im hoͤchſten grad proſtituiren.

39. Und46Das 1. H. von der Geſchickligkeit.

39. Und gewiß es kan nicht anders ſeyn / diejenigen / die da vorgeben / man muͤße von der Lehre der Obern / Eltern oder Præceptoren bey leibe nicht abweichen / muͤſſen in ihren Ver - ſtande gantz geblendet ſeyn / weil ſie dieſen ihren Lehr-Satz mit keiner andern raiſon wahr - ſcheinlich machen koͤnnen / wenn ſie nicht be - ſagten Perſonen eine infallibilitaͤt zuſchrei - ben / dergleichen Raſerey man keinen Heyden / geſchweige denn einen Chriſten zu gute halten wuͤrde / weil man auch durch die Vernunfft er - kennet / daß die infallibilit aͤt GOtt allein zu - komme.

94. Und mit was fuͤr Scham wollen ſolche Leute prætendir en / daß ein anderer / den ſie ei - nes Jrrthumbs beſchuldigen / den er aber von ſeinem Præceptore her hat / denſel - ben verlaſſen / und ihrer Meinung beypflich - ten ſolle / wenn ſie nicht oͤffentlich die Nichtig - keit ihrer Meinung bekennen und zugeben wollen / daß er gar wohl von ſeinen Obern diſ - ſentiren koͤnne.

95. Bey der Beſtreitung des præjudicii præcipitantiæ nim dieſe Regel in acht: Huͤ - te dich / daß du keiner Sache innerlichen Beyfall als eineꝛ unſtreitigẽ Warheit ge -beſt /47der Warheit nachzudencken. gebeſt / wenn du dieſelbe nicht wohl uͤber - leget / und alle darzu gehoͤrige Umſtaͤnde genau in acht genommen.

96. Denn auff dieſe Weiſe wirſt du nicht alleine nach und nach dich von der Nachlaͤſ - ſigkeit / ſondern auch von der Ungedult be - freyen / und dir durchgehends in allen ſpecula - tionen eine rechtſchaffene gedultige attenti - on zuwege bringen.

97. Gehet dir aber ſolches wegen der langen Gewonheit dich zu uͤbereilen etwas ſauer ein / ſo ſtelle dir nur vor / daß die einmahl angewoͤh - nete attention dir das Judicium uͤberaus ſchaͤrffen / und dich faͤhig machen wird / auch die ſchwereſten und ſubtileſt en Sachen / die ein anderer mit groſſer Muͤhe begreifft / in einen Augenblick gleichſam zu penetrir en / und daß / wen es gleich muͤglich waͤre / daß ohne dieſelbe du par hazard viel Warheiten erhalten koͤn - teſt / dennoch ein einiger Jrrthum / den du aus præcipitanz fuͤr eine Warheit haͤlſt / faͤhig ſey / nicht alleine tauſend andere Jrrthuͤ - mer nach ſich zu ziehen / ſondern auch gar nach Gelegenheit der Umbſtaͤnde dich in die groͤſte Gefahr zu ſtuͤrtzen.

68. Dieſe zwey bißher vorgeſchriebene Re -geln48Das 1. H. von der Geſchickligkeit. geln von Entbrechung menſchlicher autori - taͤt und Angewehnung einer Auffmerckſam - keit / haben nicht allein ihren Nutzen in unter - ſuchung unſtreitiger Warheiten / ſondern auch in Erkentniß wahrſcheinlicher Dinge.

99. Denn ob wir ſchon in der Vernunfft - Lehre erwehnet / daß die Erkentniß wahrſchein - licher Dinge ſich ſehr offt in dem Zeugnuͤſſe anderer Menſchen gruͤnden muͤſſe / ſo muſt du doch wohl in acht nehmen / daß dieſes nicht weiter angehe als in Dingen / die à ſenſioni - bus alienis dependiren. Aber huͤte dich / daß du in formir ung deiner conceptuum acci - dentalium und derer daher ruͤhrenden pro - poſitionum veroſimilium nicht auch auff das Zeugniß anderer Menſchen hauptſaͤchlich ſie - heſt. Denn in dieſem Stuͤck muſt du auch mehr auff deinen natuͤrlichen Beyfall / als auff anderer Leute autorit aͤt ſehen / weil dir dein Verſtand ja ſo wohl zu denen concepti - bus accidentalibus als zu denen eſſentialibus oder ideis gegeben iſt.

100. Du muſt dich aber hierinnen deſto mehr in acht nehmen / iemehr du ſieheſt / daß insgemein darwider angeſtoſſen wird. Denn du wirſt uͤberall uͤbehaupt hoͤren / daß nicht nurdas /49der Warheit nachzudencken. das / was unmitelbar von denen ſenſionibus a - liorum dependiret, ſondern alle propoſiti - ones, die nicht zu einer unſtreitigen Warheit gebracht werden koͤnnen / fuͤr wahrſcheinlich ausgeruffen werden / wenn ſie von vielen oder denen Weiſeſten defendiret und behauptet worden / da doch dieſes nicht einmal in ſenſio - nibus alienis die Richtſchnur der Wahrſchein - ligkeit ſeyn kan / wie wir oben bewieſen ha - ben.

101. So mangelt es auch an denen Exem - peln irriger Meinungen nicht / die aus dieſen falſchen Grunde hergeleitet werden. Wenn nur ein Tacitus oder ein Gracian ein Poli - tiſch Axioma ſeinen Schrifften einverleibet / ſo wird es ſchon als etwas ſonderliches admi - riret, ob ſchon zuweilen es an ſich ſelbſten ſehr unwahrſcheinlich iſt. Wenn ein beruͤhmter Medicus eine Artzeney wider eine Kranckheit recommendiret, wird dieſelbe ohne weitere Unterſuchung von iederman angenommen. Und wenn z. e. ein Paulus ſagt: quod ſervi - tutum uſus debeat eſſe perpetuus, oder ein Triboniauus: qvod detur conditio mixta, & media inter caſualem & poteſtativam, ſo lieſſen ſich wohl viel Juriſten uͤber Vertheydi -Dgung50Das 1. H. von der Geſchickligkeitgung dieſer unfoͤrmlichen Meinungen den groͤ - ſten Dampff anthun / u. ſ. w.

102. Ja was die Erkaͤntniß derer Dinge ſelbſt / die von anderer Leute experienz depen - diren, anlanget / fo muß mein natuͤrlicher Beyfall der auff allen Menſchen gemeinen propoſitionibus veroſimilibus gegruͤndet iſt / beurtheilen / ob das Zeugniß anderer Leute wahrſcheinlich oder unwahrſcheinlich ſey; daß dannenhero auch in dieſen Dingen nicht ein - mahl die autoritaͤt anderer Menſchen die vornehmſte Richtſchnur meines Glaubens ſeyn kan; ſondern es muß dieſelbe auch eben - maͤßig in mir ſelbſt geſucht werden.

103. Der Nutzen dieſer Anmerckung erei - gnet ſich in Beurtheilung der Hiſtoriſchen Erzehlungen / als worinnen ein weiſer Mañ nicht auff die Menge der Zeugen / noch auff das Ambt und Anſehen deſſen der es ſaget / ſon - dern auff gantz andere Umbſtaͤnde / (davon wir zu ſeiner Zeit ausfuͤhrlicher handeln wer - den) reflectiret, ob gleich der gemeine Poͤbel von jenen ſich einnehmen laͤſt / und dadurch in die fchaͤdlichſten Jrrthuͤmer ſich vertiefft.

104. So hat auch die Beobachtung recht - maͤßiger attention in Erkentniß wahrſchein -licher51der Warheit nachzudencken. licher Dinge ihren Nutzen / weil nicht alleine man gar leichte dahinter kommen kann / wenn man ein wenig attent iſt / ob ein Zeuge ent - weder wegen ſeiner Nachlaͤßigkeit oder Boß - heit ſuſpect ſey / ſondern auch weil bey denen conceptibus accidentalibus und propoſiti - enibus veroſimilibus ich der attention darzu benoͤthiget bin / daß ich beobachte welche znfaͤl - lige Beſchaffenheit ſich bey denen meiſten in - dividuis oder ſpeciebus ereigene / damit ich nicht aus wenigen Exempeln ein axioma ve - roſimile mache. Z. e. Wenn eine Artzney ei - nen Schmidt und einen Bauer am Fieber cu - riret haͤtte / und ich wolte ſie indiſtinctè allen Febricitant en recommendiren; Weñ ein Koͤ - nig einen der ihm eine Lauß abnim̃t / eine Be - lohnung giebt / und ein anderer wolte auch auff gleiche Weiſe ſuchen ein Geſchencke zu erwerben u. ſ. w.

105. Wann du nun auff ſolche Weiſe ei - nige Zeit dich haſt angewoͤhnet vieler Jrr - thuͤmer zu entledigen / und fuͤr neuen zu huͤten / ſo fange auch an unter denen Warheiten o - der Wahrſcheinligkeiten / die du allbereit er - kenneſt / oder noch kuͤnfftig zu erforſchen trach - teſt / eine abſonderung anzuſtellen.

D 2106. Der52Das 1. H. von der Geſchickligkeit

106. Der Menſchliche Verſtand ob er gleich leichte erkennen kan / daß er unzehliche Dinge nicht begreiffen moͤge; ſo erkennet er doch auch / daß das menſchliche Leben viel zu kurtz ſey / hinter alle Warheiten / derer der Ver - ſtand faͤhig iſt / zu gelangen. Derowegen muß der Menſch bey zeiten unter denen Kuͤnſten und Wiſſenſchafften eine Ausſonderung anſtellen / damit er ſehe / worauff er ſeine Ge - dancken in Erforſchung der Warheit zufoͤr - derſt zu richten habe.

107. Die Wiſſenſchafften die heut zu tage in der Welt im ſchwange gehen / ſind entwe - der dahin gerichtet / daß ſie den Nutzen des menſchlichen Geſchlechts befoͤrdern / oder daß ſie das Gemuͤthe mehr beluſtigen / und zum Studieren eine Luſt erwecken / oder daß ſie we - der nutzen noch auff eine vernuͤnfftige Weiſe beluſtigen / ſondern entweder das præjudici - um autoritatis ſtabiliren, oder aber den zur præcipitanz geneigten menſchlichen Ver - ſtand darinnen bekraͤfftigen / und eine verbote - ne Luſt zuwege bringen.

108. Von allen und ieden dieſer itzt erzehl - ter Claſſen etwas ausfuͤhrlich zu handeln / iſt itzo unſers Vorhabens nicht / weil wir hierzueinen53der Warheit nachzudencken. einen abſonderlichen diſcurs deſtiniret haben. Jetzo wollen wir nur uͤberhaupt / und ſo viel zu gegenwaͤrtigen Capitel vonnoͤthen ſeyn wird / etwas davon reden / und unſere Saͤtze nur insgemein mit Exempeln ein wenig er - laͤutern.

109. Wir haben zu anfang der Vernunft - Lehre dargethan / daß alle rechtſchaffene Gelahrheit dahin zielen ſoll / damit der Menſch dadurch ſeine eigene / als auch ande - rer Menſchen in gemeinen Leben und Wan - del zeitliche und ewige Wohlfart befoͤrdern moͤge. Dannenhero iſt wohl kein Zweiffel / daß die nuͤtzlichen Wiſſenſchafften allen an - dern fuͤrzuziehen ſind.

110. Und zwar weil wir in der Sitten-Lehre erweiſen werden / daß das dauer haffteſte Gut entweder das beſte / oder auch gar alleine ein warhafftiges Gut ſey / ſo folget abermahls nothwendig daraus / daß der Menſch mit al - len Kraͤfften nach der Wiſſenſchafft / die nach einer ewigen Gluͤckſeligkeit ringet / ſtreben ſolle.

111. Dieweil aber die menſchliche Ver - nunft fuͤr ſich von dieſer ewigen Gluͤckſeligkeit nichts weiß / ſondern einig und alleine dieſeD 3Er -54Das 1. H. von der GeſchickligkeitErkentniß von der Goͤttlichen Offenbah - rung herruͤhret / die wir oben erinnert haben / daß man ſie mit dem natuͤrlichen Licht nicht vermiſchen ſolle / als ſtehet uns auch nicht zu / in der Vernunfft-Lehre davon etwas weiter zu erwehnen / ſondern muͤſſen ſolches einer hoͤ - hern Lehre anheim geſtellet ſeyn laſſen.

112. Die zeitliche Gluͤckſeligkeit des Men - ſchen beſtehet in ſeiner Gemuͤths-Ruhe / und in der Geſundheit ſeines Leibes / ohne deren keiner zwar der Menſch vollkommen gluͤcklich zu achten iſt / iedoch aber ans viel - faͤltigen Urſachen / die zu ſeiner Zeit ſchon ſol - len erwieſen werdeu / gar leichte dargethan werden kan / daß wenn ja der Menſch eine von dieſen beyden Gluͤckſeligkeiten wiſſen ſolte / die Gemuͤths-Ruhe der Geſundheit deßwegen vorzuziehen ſey / weil ein geſunder Menſch ohne die Gemuͤths-Ruhe recht mi - ſer abel; ein ungeſunder aber / der die wahre Gemuͤths-Ruhe beſitzet nur nicht vollkom̃en gluͤcklich ſeyn wuͤrde.

113. Derowegen fließet wiederum hieraus nothwendig / daß unter denen Wiſſenſchaff - ten / die aus der geſunden Vernunfft hergelei - tet werden / die jenige die alleredelſte und vor -nehm -55der Warheit nachzudencken. nehmſte ſey / die uns zu der Gemuͤths-Ru - he fuͤhret.

114. Dieſes aber geſchicht auff zweyerley Weiſe / anfangs und hauptſaͤchlich / daß der Menſch ſich ſelbſten ſo vollkommen mache / daß er innerlich dieſe Gemuͤths-Ruhe nicht hindere; Hernach / daß er alle aͤuſſerliche Verhinderungen ſo viel als moͤglich ab - ſchneide. Jenes weiſet die Sitten-Lehre / dieſes die Politic, und auff gewiſſe maſſe ein Theil der Mathematic. Jenes iſt am noth - wendigſten / weil ohne demſelben die politi - ſche Wiſſenſchafft nichts tauget.

115. Die Geſundheit des Leibes wird ent - weder in der natuͤrlichen Vollkommenheit erhalten / oder aber wenn ſie verlohren ge - hen will / wieder in den vorigen Stand ge - bracht. Jenes ſoll in dem edelſten Theil der Phyſic, die von dem menſchlichen Coͤr - per handelt / und deswegen Anthropologia ge - nennet wird / gezeiget werden / dieſes aber lehret die Medicin. Das erſte Stuͤck iſt wieder das allernoͤthigſte / und ſolte von allen Menſchen ſtudiret werden / ſo wird es aber leider auch von denen Gelehrten negligiret, zum wenigſten nicht practiciret.

D 4116. Und56Das 1. H. von der Geſchickligkeit

116. Und weil der Menſch in einen ſolchen Stande in dieſer Welt lebet / daß er ohne die Guͤter des Gluͤcks weder die Geſundheit ſeines Leibes rechtſchaffen erbalten / noch ſein Wohlwollen gegen andere Menſchen / nach ſeinem Verlangen und deren Beduͤrfftigkeit bezeigen kan / durch welches doch die Ge - muͤths-Ruhe in einen hohen Grad befoͤr - dert wird; als muß er auch die Wiſſenſchaf - ten / die ihm zeigen wie er dergleichen Guͤter erwerben / und mit denenſelben rechtſchaffen gebahren koͤnne / nicht gantz aus den Augen ſe - tzen. Und bieher gehoͤret die Rechen-Kunſt und andere Theile der Mathematic, abſon - derlich aber die Oeconomic oder Hauß - haltungs-Kunſt.

117. Nun folgen die beluſtigenden Studia: Es ſoll zwar keine Luſt fuͤr vernuͤnfftig geach - tet werden / die nicht auff einen Nutzen des menſchlichen Geſchlechts ihr Abſehen richtet / und hinwiederum / wenn der rechte Gebrauch der Vernunfft den Menſchen recht zu einen Menſchen gemacht / wird er auch erkennen / daß kein nuͤtzliches ſtudium ſey / das den Menſchen verdruͤßlich mache / und nicht auch zugleich beluſtige; Ja daß die allernoͤthig -ſten57der Warheit nachzudencken. ſten Studia am meiſten beluſtigen. Alleine weil wir noch mit einen Menſchen zu thun ha - ben / der erſt anhebet ſich aus der Verderbniß heraus zu reiſſen / und alſo der rechtſchaffenen Gemuͤths-Beluſtigung noch nicht faͤhig iſt / ſondern nur die Luſt / die denen Sinnligkeiten am nechſten iſt / empfindet; alß haben wir auch oben in Benennung unterſchiedener Claſſen der Wiſſenſchafften auff einen ſolchen Men - ſchen und deſſen capacit aͤt muͤſſen unſer Ab - ſehen richten / und nach ſeiner Meinung à potiori die nuͤtzlichen und beluſtigenden Studia einander entgegen ſetzen.

118. Hieher gehoͤren nun z. e. die Hiſtorie und faſt alle Mathematiſche Wiſſenſchaff - ten / ſo feꝛn man in denenſelben tief zu ſpeculir en Luſt hat / fuͤrnehmlich aber die Geographie, Optic, Mechanic u. ſ. w. item die Lehre von dem Decoro oder der Artigkeit des menſchli - chen Lebens / und die meiſten Theile der Phy - ſic.

119. Alle dieſe haben ihren Nutzen darin - nen daß weil ſie nicht eben eines groſſen Kopff - brechens brauchen / und des Menſchen natuͤr - liche curioſit aͤt in etwas vergnuͤgen / ſie zugleich unvermerckt denſelben angewehnen ſtille zuD 5ſitzen58Das 1. H. von der Geſchickligkeitſitzen und eine attention zu haben / welches zweyſehr nothwendige Stuͤcke ſeyn die ernſt - haffteren Studia zu befoͤrdern / und zu denen - ſelben eine Luſt zu erwecken.

120. Uber dieſes ſo iſt die Hiſtorie ein faſt bey allen Wiſſenſchafften noͤthiges Instrument, durch welche die allgemeinen Lehrſaͤtze koͤnnen deutlich gemacht und erlaͤutert werden / und in welcher man die Menſchlichen Affecten als in einem Abriß und Gemaͤhlde kennen ler - net / welches ſehr geſchickt macht die Sittenlehr und Politic deſto leichter zu begreiffen. Die Mathematiſchen Diſciplinen aber / weil ſie ſich allezeit auff unſtreitige Warheiten gruͤn - den / ſchaͤrffen den Verſtand uͤberaus / und præ - pariren ihn: daß er nicht alleine ſo leichte von præjudiciis ſich nicht ferner einehmen laͤßt / ſon - dern auch / daß es ihm nicht ſo ſauer wird andere rechtſchaffene Wiſſenſchafften / die ein tieffſin - niges Nachdencken erfordern / zu begreiffen; andere vielfaͤltige Nntzen in vita civili zu ge - ſchweigen. Die Lehre von der Artigkeit ge - woͤhnet uns bey zeiten eine wohlanſtaͤndige Hoͤffligkeit an / und macht uns ſolchergeſtalt bey andern Leuten angenehm. Die luſtigen Theile der Phyſic machen unſern Verſtandgleich.59der Warheit nachzudencken. gleichfalls ſehr attent und auffmerckſam / und entdecken viel Geheimniße die die Geſundheit des Menſchen erhalten und wiederbringen.

121. Und wenn ſie keinen andern Nutzen haͤtten / ſo waͤre doch dieſer alleinehochzu ach - ten / daß ſie den menſchlichen Verſtand gleich - ſam ſtaͤrcken / und ſeine natuͤrliche Kraͤffte erhalten. Denn gleich wie der Leib durch ſtetige Arbeit abgemattet wird / und dannenhe - ro eine abwechſelnde ruhigere Bewegung ſich wieder zu erquicken bedarff; alſo wird auch un - ſer Verſtand durch langwierige meditation in Unterſuchung des Weſens und der Beſchaf - fenheiten der Dinge ziemlich entkraͤfftet / und erquicket ſich in dergleichen beluſtigenden Stu - diis wiederumb / daß er folglich die ernſthaff - ten Studia zn continuiren deſto munterer wird.

122. Aber huͤte dich / wenn du auff dieſe Stu - dia geraͤthſt / daß du uͤber denenſelben die nuͤtz - lichen nicht liegen laͤſt / und dich einzig und allein denen Beluſtigenden ergiebeſt / denn wir haben geſagt / daß dieſe Wiſſenſchafften de - nen ernſthafften nachzuſetzen ſeyn. Dero - wegen muſtu dich ihrer wie des Confects nicht zu Stillung des Hungers / ſondern allein zurEr -60Das 1. H. von der GeſchickligkeitErfriſchung gebrauchen. Die Seele hat ſo wohl ihren Muͤßiggang als der Leib. Und wie nun derjenige ſeinen Leib zu aller Arbeit ungeſchickt macht / der nichts thut als Spielen / Tantzen / Trincken und ſeine Sinnligkeiten beluſtigen; alſo macht auch derjenige ſich un - tuͤchtig die rechte Weißheit zu erforſchen / der ſtets uͤber den Hiſtorien liegt / der alle ſeine Zeit zu Mathemati ſchen Erquick-Sunden macht / der alle ſeine Sorgen nur dahin rich - tet / wie er galant und hoͤfflich ſeyn moͤge / der nur dahin bemuͤhet iſt / wie er z. e. durch das Feuer die Verwandelung natuͤrlicher Coͤrper betrachte / oder durch die Microſcopia den klei - neſten Wuͤrmern ihre Haare oder Beinezeh - le u. ſ. w.

123. Und zwar erwege dieſe Anmerckung deſto fleißiger / weil du befinden wirſt / daß ſehr viel von denen vornehmſten und beruͤhm - teſten Leuten und Gelehrten ſolche Muͤſ - ſiggaͤnger ſind / ja dieſes Ubel nicht einmahl erkennen / noch ſich einbilden / daß ein Muͤſ - ſiggang der Seelen ſey / weil ſie vielleicht die irrige Meinung hegen / daß dieſes ein Muͤßig - gang ſey / wenn man gar nichts thue.

124. Bey denen uͤbrigen und auff eine un -ver -61der Warheit nachzudencken. vernuͤnfftige und verbotene Weiſe beluſti - gende Wiſſenſchafften braucht es keiner neu - en Erinnerung / ſondern wenn wir oben nichts mehr geſagt haͤtten / als daß ſie die præjudicia bekraͤfftigten / waͤre es ſchon genung uns zu ver - ſichern / daß ein Warheit liebender Menſch dieſelbe aͤrger meiden ſolte als die Peſt.

125. Zu denen Wiſſenſchafften die das præ - judicium autoritatis befeſtigen / rechnen wir alle diejenigen / die keinen andern Zweck haben / als mit ſubtilen vieldeutigen und unverſtaͤn - digen Worten die deutliche Warheit zu ver - dunckeln / und vermittelſt derſelben ſich von an - dern vernuͤnfftigen Leuten in Buͤrgerlicher Geſellſchafft abzuſondern / und einen Anhang zuwege zu bringen. Z. e. alle Wiſſenſchafften der Scholaſtiſchen Philoſophie, abſonderlich a - ber Reginam Tenebrarum die heilige Meta - phyſic.

126. Zu denen die des Menſchen ſeine allzu - hitzige Begierde neue Warheiten zu wiſſen / und die dabey ſich ereignende Ungedult und folglich auch ſeine præcipitanz ſtaͤrcken zeh - le ich alle Magiſche Wiſſenſchafften / in wel - chen der Menſch auf eine uͤbernatuͤrliche Wei - ſe Warheiten zu wiſſen verlanget / entwederdie62Das 1. H. von der Geſchickligkeitdie ſeinen Verſtand uͤberſteigen / oder derer Warheiten er ſonſt natuͤrlicher Weiſe mit groſ - ſer Muͤhe wuͤrde erhalten koͤnnen / als zukuͤnff - tige und in verborgen geſchehene Dinge.

127. Und zwar iſt es in dieſem Fall einerley / ob man bey dieſen Wiſſenſchafften gantz offen - bahr dieſelbe von dem Teuffel oder ſeinen Die - nern denen Zauberern oder alten Hexen zu ler - nen verlange / als wie das Cryſtallen ſehen / das Sieblauffen u. ſ. w. oder ob dieſelben ih - ren Urſprung von der uhraͤlteſten Abgoͤtterey nehmen / als das Wahrſagen aus dem Ge - ſtirne / und das Nativitaͤt-ſtellen / oder ob man nicht eben daß was teuffeliſches mit un - ter gehe erweiſen kan / wenn man nur verſi - chert iſt / daß dieſe Wiſſenſchafften auff keinen natuͤrlichen Grund-Regeln befeſtiget ſeyn / als die Chiromantie, die Geomantie, die Cabala, die Traumdeute-Kunſt.

128. Denn geſetzt / daß dieſe letzten vier Wiſſenſchafften alle auff ſolchen principiis beruheten / die auch von einer Goͤttlichen Of - fenbahrung herruͤhren / und von der Goͤttli - chen Providenz dependiren koͤnten; welches[i]ch alles an ſeinen Ort geſtellt ſeyn laſſe / und weder bejahe noch verneine; ſo darff ich mir dochnur63der Warheit nachzudencken. nur gewiß einbilden / daß / ſo lange als ich mei - nen Verſtand und Willen nicht ausgebeſſert habe / ſondern annoch gleichſam in præjudiciis ſtecke / odeꝛ doch zum wenigſten mich von deꝛ an - klebenden Unvollkom̃enheit nicht entlediget ha - be / ich eine groſſe præcipitanz begehẽ wuͤrde / weñ ich mich goͤttlicher Offenbahrung wuͤrdig ſchaͤtzen wolte; Ja weil ich noch nicht in den Zu - ſtand bin / daß ich das Kennzeichen / ob eine Offenbahrung goͤttlich ſey / oder von einen an - dern principio herkomme / bey mir empfinde / ſo wuͤrde ich mich augenſcheinlich in Gefahr ſetzen / in dieſem Stuͤck von dem Teuffel / oder von denen ich ſolche Kunſt lernen will / hinter - gangen zu werden.

129. Zu geſchweigen / daß etliche von dieſen Kuͤnſten ausdruͤcklich einen Menſchen erfor - dern-der uͤber ſeine affecten allbereit tri - umphiret hat / als wie die Geomantie, der - gleichen der / ſo der Warheit oder Weißheit nachzutrachten anfaͤnget / von ſich nicht ſagen kan. Denn wenn er dieſes præſtiren koͤnte / haͤtte er ſeine Studia allbereit abſolviret.

130. So zeiget auch die Kirchen-Hiſtorie, daß dergleichen Kuͤnſte / ſo ferne ſie von GOtt kommen / von denen Menſchen nicht muͤſſenbe -64Das 1. H. Von der Geſchickligkeitbegierig geſucht werden / ſondern ſie werden von Gott denen Frommen als Gaben ſeiner Gnade geſchenckt. Dannenhero kan man auch daraus erkennen / daß dieſelbigen zu er - langen kein Lauffen und Muͤhe oder Geld etwas beytraͤgt / ſondern daß ich denenſelben nicht naͤher kommen kan / als wenn ich mich be - muͤhe tugendhafft und from zu werden.

131. Denn ich halte dafuͤr / ich werde weder was unvernuͤnfftiges noch gottloſes behaup - ten / wenn ich von den Geomantiſten, Cabali - ſten u. ſ. w. kuͤrtzlich meine Meinung auff die - ſe Weiſe eroͤffne / daß ſo wenig als ich einen Zigeuner oder andern liederlichen Kerl / der noch in der Thorheit oder beſtialit aͤt ſte - cket / loben oder hoch achten und was von ihm lernen wuͤrde / wenn er gleich in derglei - chen Wiſſenſchafften ſolche proben thaͤte / die gantze Laͤnder und Staͤdte be wunderten / ſo wenig wuͤrde ich auch einen fr om̃en Mann / von deſſen Froͤmmigkeit ich gewiſſe Kennzei - chen haͤtte / tadeln / oder als einen Zauberer fliehen / wenn ich ſaͤhe / daß er aus der Hand / aus denen Lineamenten des Geſichts / aus der Cabala und der Geomantie andern et - was propheteyete. Und wenn ja allenfallsdie -65der Warheit nachzudencken. ja allenfalls dieſe meine Meinung iemand aͤr - gernſo lte / der darff nur bedencken / daß man in Beurtheilung der Traumdeuterey (mit wel - cher ſie eine groſſe Verwandſchafft haben) ins - gemein eben ſo argumentire, und einen groſ - ſen Unterſcheid unter einen Joſeph oder Daniel / und unter denen Ægyptiſchen o - der Perſianiſchen Zauberern zu machen pflege.

132. Wilſtu daß ich dir in einen kurtzen Be - griff ſagen ſolle / in was fuͤr einer Wiſſenſchafft du die wahre Weißheit finden ſolteſt. Su - che ſie nicht auſſer dir / ſondern in dir ſel - ber / denn die Vernunfft-Lehre hat dir gezei - get / daß die criteria veritatis in dir ſelbſt ſeyn.

133. Damit du aber der Weißheit in dir nicht verfehleſt / darffſtn nichts mehr beobach - ten / als: Lerne dich ſelbſt erkennen. Jn dieſer eintzigen Erkentniß ſteckt alle Weiß - heit / und ohne dieſelbe iſt alle Weißheit Thor - heit. Aber wundere dich nicht wie es komme / daß oͤffters unter tauſend Gelehrten kein Weiſer iſt / weil nicht nur niemaud die Lehre von der Selbſt-Erkentniß practiciret, ſon - dern wir leider in einem ſolchen Seculo leben / darinnen die Leute / die das Noſce teipſum in -Ecul -66Das 1. H. von der Geſchickligkeitculciren fuͤr Fantaſten / wo nicht gar fuͤr ſchaͤdli - che Ketzer geachtet werden.

134. Es ſtecken aber hierunter hauptſaͤch - lich drey axiomata welche zu der Selbſt-Er - kentniß erfordert werden. (1.) Siehe unter dich / was zwiſchen dir und denen Beſtien fuͤr ein Unterſchied ſey; Das iſt: erhebe dich aus dem Elende / darein dich die præjudicia von Jugend auff geſetzet / und faſt elender als die Beſtien gemacht haben / und lerne wie du die Geſundheit deines Leibs erhalten / deine Affe - cten daͤmpffen / und dich in eine rechte Ge - muͤths-Ruhe ſetzen moͤgeſt.

135. (2.) Siehe neben dich / was zwiſchen dir und andern Menſchenfuͤr eine Gleich - heit und Unterſcheid ſey; Das iſt: betrachte deine Pflicht mit denen du allen Menſchen die mit dir in einer Geſellſchafft leben / verpflichtet biſt / und leꝛne die Boßheit deꝛ Welt keñen / damit du dich fuͤr derſelbẽ ſo viel moͤglich / huͤten kanſt.

136. (3.) Siehe uͤber dich auff GOtt; das iſt: Aber hier muß die Ver - nunfft ſchweigen / und die Erklaͤrung des Axi - omatis der Gottes-Gelarheit uͤberlaſſen.

137. Alle dieſe drey Theile der wahren Weißheit beziehen ſich auff den dreyfachenStand67der Warheit nachzudencken. Stand / darinnen wir leben. Wir ſind Men - ſchen / wir leben in Buͤrgerlicher Geſell - ſchafft / wir ſind Chriſten / und iſt immer ein Stand die Thuͤr zum andern. Man muß erſt lernen ein Menſch ſeyn / ehe man zu der buͤrgerlichen Pflicht oder zu denen officiis in vita civili ſich rechtſchaffen ſchickt und andere Leute kennen will / und wer noch nicht Menſch und in vita ſociali intolerabel iſt / wie will der ein Chriſt ſeyn?

138. Wenn du in dieſen Stuͤcken der Welt - weißheit recht vollkommen biſt / ſo kanſtu deine uͤbrige Zeit zu tieffſinnigen ſpeculati - onibus Phyſicis, Mathematicis u. ſ. w. an - wenden. Aber pruͤffe dich zuvor wohl / ob du in der Kentniß deiner ſelbſt vollkommen ſeyſt; Denn es kan leicht kommen / daß du mit dieſer alleine die Zeit deines Lebens zu thun haſt.

139. Du kanſt noch dieſes einzige aus dem was wir bißhero gehabt / anmercken; daß ob uns ſchon die Vernunfft Lehre gewieſen / daß unſtreitige Warheiten viel edeler ſeyn als die Wahrſcheinligkeiten / dennoch in Erler - nung der Weißheit wir ja ſo wohl vieler Wahr - ſcheinligkeiten als unſtreitiger Warheiten[b]e - noͤthiget ſeyn. Dieſe brauchſtu in ErltrnungE 2deiner68Das 2. H. von der Geſchickligkeitdeiner affecten, und deiner natuͤrlichen Pflicht gegen andere Menſchen. Der Wahrſchein - ligkeiten aber muſtu dich bedienen zu Erler - nung deiner Geſundheit / und Erkentniß ande - rer Menſchen.

140. Ja lerne zugleich hieraus / daß du den Nutzen der Wiſſenſchafften nicht darnach ſchaͤtzen muͤßeſt / ob derſelben principia wahr - ſcheinlich oder unſtreitig wahr ſind; denn z. e. Die Matheſis flieſſet aus unſtreitigen princi - piis her / und du kanſt ſie doch nicht weiter in dem gemeinen Weſen appliciren als zu con - ſervir ung der Guͤter des Gluͤcks; hergegen fluͤßen die Lehre der Geſundheit und die Er - kentniß anderer Menſchen / ja auch deiner eigenen Pflicht / ſo ferne ſie von dem Willen an - derer Menſchen dependiret, nur auß wahr - ſcheinlichen Gruͤnden / und nutzen doch im Menſchlichen Geſchlecht mehr als alle ma - themati ſche wiſſenſchafften.

Das 2. Hauptſtuͤck / Von der Geſchickligkeit an - dern die Erkaͤntniß des wahren beyzubringen.

Jnn -69andern die Warheit beyzubringen.

Jnnhalt. Connexio. Man iſt ſchuldig andern Leuten mit ſeiner Erkentniß zu dienen. n. 1. Wenn man ſchon keinen abſonderlichen Beruff darzu hat. n. 2. Viele verneinen ſolches umb ihres eigenen intereſſe willen n. 3. die ſich doch mit nichts als mit exempeln und menſchlicher Gewalt ſchuͤtzen koͤnnen. n. 4. Die ge - meine Ruhe wird durch unſere Meinung ſehr befoͤr - dert. n. 5. Und ob dieſelbe ſchon erfordert; daß zur Leh - re der Weißheit gewiſſe Perſonen erwehlet werden / n. 6. ſo kriegen doch dieſelbe durch dieſen abſonderli - chen Beruff nur eine groͤſſere Schuld / nicht aber ein jus prohibendi n. 7. welches mit den exempeln der Soldaten / Poſten u. ſ. w. erklaͤret wird. n. 8. oder ihr jus prohibendi gehet nur auff gewiſſe Zeiten undoͤffent - liche Orte. n. 9. Durch die promotiones Academicas kriegt man kein Vermoͤgen zu Lehren / fondern ein Zengnuͤß ſeiner capacitaͤt. n. 10. Wo die Geſetze dir das Lehren verdieten n. 11. darffſt du nicht darwieder thun n. 12. du darffſt doch nach Gele; enheit andere die ſich bey dir angeben umſonſt informiren, oder deinen Nechſten mit deinen Schrifften nutzen n. 13. Wenn dir aber auch dieſes nicht vergoͤnnet waͤre / ziehe an einen andern Ort n. 14. oder unterweiſe jederman in aller - hand converſationen n. 15. Informire andere nicht eher biß du ſelbſt was gelernet haſt n. 16. Hierwider wird gemeiniglich augeſtoſſen n. 17. wegen der Sprichwoͤrter: Qui nunquam malè, nun - quam bene; Docendo diſcimus. n. 18. die doch nur von denen reden / die die Grund-Regeln der Warheit allbereit erkennet haben n. 19. nicht aber von denen die gar nichts wiſſen. n. 20. Allzuzeitliche Unterweiſung anderer iſt hoͤchſtſchaͤdlich. n. 21. und die exempel denen es nicht geſchadet / ſind ſehr rar. n. 22. Warumb manE 3in70Das 2. H. Von der Geſchickligkeitin dieſem Capitel Lectiones gebe / andern die War - heit beyzubringen n. 23. 24. 25. Diejenigen denen wan die Warheit beybringen will / ſind entweder kleine Kinder n. 26. fuͤr die di[ß]Capitel nicht geſchrieben iſt. n. 27. Oder erwachſenene Leute n. 28. Und zwar entweder Studenten oder Gelehrte n. 29. Fuͤr jene gehoͤret mehrentheils eine muͤndliche Unterwei - ſung / mit dieſen communiciret man ſeine Erkentniß In Schrifften. n. 30. 31. Allgemeine Lectiones: Rede und ſchreibe deutlich. n. 32. Die Deutligkeit be - ſtehet in Worten n. 33. 34. in der Redens-Art. n. 35. und in der Ordnung. n. 36. Jedoch wird wider dieſe Lection ſo wohl von Lehrern n. 37. als von Zuhoͤrern angeſtoſſen n. 38. Woher dieſer Jrrthumb ruͤhre. n. 39. 40. 41. 42. Zierliche Schreibart mu[ß]nicht eben dun - ckel ſeyn. n. 43. Bißtreu und fidel in deiner Unterweiſung n. 44. Welche Lection ſehr ſelten practiciret. n. 45. und die Untreue wohl oͤffentlich gar beſchoͤniget wird. n. 46. zumahlen ſie gar alt iſt / nnd da - her die Philoſophia Ægyptiaca und Pœtarum entſtan - den n. 47. Brauche gegen die Jrrenden dich einer Freindligkeit und Vertrauligkeit. n. 48. Alſo kanſtu ihnen deine Meinung nicht mit Ge - walt auffdringen. n. 49. und muſt ſie auch unter dir lei - den. n. 50. 51. Objection von anſteckenden Kranckbei - ten / heimlichen Gifft und raͤudigen Schafen. n. 52. wir gruͤndlich beantwortet. n. 53. 54. 55. 56. Wider die - ſe Lection wird insgemeln groͤblich augeſtoſſen / indem man die Jugend mit muͤrriſcher gravitaͤt informiren will n. 57. auff die irrenden ſchaͤndet und ſchmaͤ[h]et n. 58. die diſſentiren den biß auff den Todt verfolgt. n. 59. ſie verlaͤumdet / und nicht unter ſich dulten will n. 60. Ab - ſonderliche Lectiones fuͤr die muͤndliche Unterwelſung: Laß deine Lehrlinge deine Lehr-Saͤtzenicht71die Warheit andern beyzubringen. nicht auswendig lernen. n. 61. Weil dadurch zwar dem Gedaͤcheniß aber dem judicio nichts zuge - het. n. 62. Und weil man damit nichts als leere Worte begreifft. n. 63 Dieſe Lection wird gleichfalls wenig in acht genommen. n. 64. Was von der arte mnemonev - tica zu halten ſey. n. 65. Ferner: Dictire deinen Zuhoͤrern wenig oder gar nichts. n. 66. Welches auch ſelten beobachtet wird. n. 67. Abſonder - liche Lectiones wenn man wenig Zuhoͤrer hat. Un - terſuche fuͤr allen Dingen ihre capacitaͤt. n. 68. Ob ſie nehmlich ein munteres oder ſchlaͤfferiges In - genium haben. n. 69. Ob Sie Luſt zum Lernen haben oder nicht n. 70. Ob ſie ſchon mit præjudiciis eingenom - men ſind oder nicht? n. 71. Mercklicher Vortheil einen jungen Menſchen zu informiren der einen natuͤrlichen Verſtand hat / und in keine Schule gegangen n. 72. Jn Praxi bekuͤmmert man ſich um die capacitaͤt der Zu - hoͤrer wenig n. 73. Man hat keine Gedult mit langſa - men Ingeniis n. 74. Man tractiret die guten ingenia nachlaͤßig. n. 75. Man bemuͤhet ſieh nicht junger Leute attention zu erhalten n. 76. Vielweniger wo gar keine Luſt zum ſtudiren iſt / dieſelbe mit glimpff zu erwecken n. 77. Man haͤlt die Leute vor die Gelehrteſten / die am laͤngſten auff Schulen und Univerſitaͤten geweſen n. 78. Und der in der Jugend nicht in die Schule gegan - gen und Latein gelernet habe / ſey nicht vermoͤgend ge - lehrt zu werden n. 79. Von denen Mitteln wie man jungen Leuten eine Luſt zum ſtudieren machen ſolle n. 89. Warum es leichte ſey denen Kindern attention zu erwecken / und bey erwachſenen Leuten im Gegent heil ſolches ſchwer zugehe n. 81. 82. 83. 84. 85. 86. Bey die - ſen letzten muß man zufoͤrderſt die Urſachen erkennen / die ihnen einen Eckel fuͤr dem ſtudiren machen n. 87. Die ſind (1.) weil ſie das ſtudieren fuͤr ſchaͤdlich halten / wegen der vielen Pedanten n. 88. und der uͤbeln Aca -E 4de -72Das 2. H. von der Geſchickligkeit. demiſchen Sitten n. 89. Wodurch ſonderlich manierlich erzogene Kinder von dem ſtudiren abgehalten werden n. 90. (2.) Weil ſie ſich fuͤrchten dadurch von der Suͤſ - ſigkeit der Wolluſt und des Muͤßiggangs abgezogen zu werden n. 9[1]. Die Gefaͤhrligkeit dieſer Urſache / und Beſchwerligkeit ſelbe zu heben n. 92. (3.) Weil ſie nicht erkennen / was fuͤr ein Gut die Weißheit ſey / und was ſie fuͤr Nutzen ſchaffe n. 93. Niemand aber gerne es ſich um nichts ſauer werden laͤſt. n. 94. (4) Weil man we - gen ſeines Alters verzweiffelt etwas rechts zu lernen. n. 95. und man ordentlich das Gut haſſet / an deſſen Er - langung man verzweiffelt n. 96. (5.) Weil man gegen junge Leute gar zu alberne Lehrarten braucht. n. 97. wiewohl dieſer Urſache leicht abzuhelffen iſt. n. 98. Wie man alle dieſe Urſachẽ heben ſolle n. 99. (1.) Die Furcht fuͤr der Pedanterey / und fuͤr den uͤbeln Academiſchen Siltẽ. Die Weißheit iſt nicht an Academien gebunden n. 101. (2.) Die Liebe zur Wolluſt und Muͤſſiggang n. 102. (3) Wieman erweiſen ſolle / daß die Weißheit was ſehr gu - tes uñ nuͤtzliches ſey n. 103. Die Eitelkeit der Gelehrten muß wiederum der Weißheit ſelbſt nicht zugeſchrie - ben werden n. 104. (4.) Daß niemand zur Weißheit veraltert ſey n. 105. (5.) Daß man auch gnte Lehrarten habe n. 106. Die andere Lection fuͤr wenig Zuhoͤrer: Brauche dich einer angenehmen / leich - ten und nuͤtzlichen Lehr-Art n. 107. Dieſe ſcheinet wohl unmoͤglich zu ſeyn / n. 108. aber ſie iſt viel - mehr gantz leichte n. 109. Man ſoll nicht die gantze Stuunde allein diſcuriren n. 110. Anch nicht leichte zugeben / daß die Zuhoͤrer den diſcurs nachſchreiben / n. 111. Aber was denn zu thun? 112. Raiſonire mit dei - nen Zuhoͤrern durch continuir liches Fragen und ant - worten n. 113. Weitlaͤufftigere Erklaͤrung dieſer Lehr - Art n. 114. 115. 116. 117. 118. und derſelben vielfaͤltiger und ungemeiner Nutzen. n. 117. 〈…〉〈…〉Sonderlich aber der ſtudirenden Jugend Luſt und〈…〉〈…〉 attention zu erweckenn. 120.73andern die Warheit beyzubringen. n. 120. Warum man ſich aber derſelben ſo gar ſelten bediene n. 121. Bey vielen Zuhoͤrern will dieſe methode nicht angeben n. 122. Und dieſe ſind auch ordentlich von unterſchiedener capacit / n. 132. Bey denen man ſich demnach aus Noth eines continuirlichen diſcur - ſes bedienen muß. n. 124. Hier aber mercke dieſe Lecti - on: Accommodire deinen diſcurs nach allerley capacitaͤt der Zuhoͤrer / und er - wecke bey ihnen durch denſelben eine Luſt zur Weißheit n. 125. Erklaͤrung dieſer Lection, wenn man uͤber ſeine eigene Lehr-Saͤtze diſcu - riret. n. 126. 127. Und wenn man einen Autorem er - klaͤret. n. 128. Man muß ſeinen Zuboͤrern auch ſonſt acceß verſtatten n. 129. Und auff ihr Begehren ein E - xamen mit ihnen anſtellen n. 130. Abſonderliche Lecti - on in Beybringung wahrſcheinlicher Dinge: Man ſoll zuſrieden ſeyn / wenn die Lehrſaͤtze hierinnen ſelten triegen n. 131. 132. Gemeiner Fehler / daß man wahrſcheinliche Dinge zu demon - ſtrationibus bringen will n. 133. 134. oder an denſelben zweiffelt / wenn man darwider eine einige inſtanz ge - ben kan n. 135. Wenn man die Warbeit endlich an - dern in Schrifften beybringen will n. 136. ſind die - ſes die fuͤr nehmſten Lectiones: Schreibe aus deinem Kopffe und nicht aus andern Buͤchern n. 137. Gemeine Praxis iſt darwit er n. 138. Erklaͤrung und Einſchraͤnckung dieſer Lection n. 139. 140. 141. Beſteißige dich einer angeneh - men Schreibart / und huͤte dich fuͤr lee - ren Worten. n. 142. Das iſt: Brauche keine Syl - logiſmos in Schrifften n. 143. 144. und binde dich nicht an den merhodum cauſarum n. 145. 146. 147. Leere Worte ſind verdruͤßlich n. 148. 149. 150. SelbeE 5ſind74Das 2. H. von der Geſchickligkeitſind entweder eitel und ungeſchmackt / aber unſchaͤd - lich n. 151. oderverfuͤhreriſch als wie die geluͤnſtelten Rhethoriſchen Schreibarten n. 152. die bey weiſen Leuten denen Autoribus mehr ſchaden als heiſſen. n. 153. Verderbter Geſchmack der meiſten Gelehrten. n. 154.

1. WEnn du in deinen Kopff auffgeraͤu - met haſt / ſo kanſtu nicht allein / ſon - dern du ſolt auch anderu Leuten mit deiner Erkentniß dienen / weil dich das Recht der geſunden Vernunfft verbindet / mit dei - nen Dienſten deines Nechſten Heil und Wol - fahrt zu befoͤrdern. Was iſt aber wohl fuͤr ein edlerer Dienſt / als wenn ich andern Men - ſchen zeige / wie ſie die Finſterniß ihres Ver - ſtandes vertreiben / ja wie ſie rechte Menſchen zu ſeyn anfangen ſollen.

2. Deßhalben laß dich nicht irre machen / wenn man dir wolte einbilden / du muͤßeſt zur Fortpflantzung der Warheit einen abſonder - lichen Beruff haben / und waͤre dannenhero nicht nur unnoͤthtig / daß du dich dißfalls bemuͤ - heteſt / ſondern du wuͤrdeſt auch wider dein Gewiſſen handeln / wenn du dich in Mange - lung dieſes Beruffs unterſtehen wolteſt / die ir - renden und unwiſſenden zu unterweiſen / weildie75andern die Warheit beyzubringen. die allgemeine Ruhe verletzet werden wuͤr - de / wenn die Unterweiſung iederman freyſtuͤn - de / und denen / die hierzu abſonderlich beruffen / nicht allein uͤberlaſſen wuͤrde.

3. Du darffſt dir nur kuͤhnlich einbilden / daß alle diejenigen / die dich dadurch an deinen gu - tes Vorſatz abhalten wollen / ſolches zu keinem andern Ende thun / als weil ſie in denen allge - meinen Jrrthuͤmern noch gleichſam ver - graben ſtecken / oder aber / weil ſie vorſetzlicher Weiſe das Reich der Finſterniß zu verthei - digen ſuchen / und wohl erkennen / daß demſel - ben und dem præjudicio menſchlicher auto - ritaͤt / und folglich vielleicht ihren eigenen in - tereſſe und Anſehen kein groͤſſerer Schade geſchehen koͤnte; als wenn man einen ieden / der was rechts gelernet hat / ſeine Wiſſenſchafft andern mitzutheilen vergoͤnnet.

4. Und gewiß / wenn du an ſolche Leute be - gehren wolteſt / ſie ſolten dir doch gegruͤndete Urſachen vorbringen / warum dieſes loͤbliche Vorhaben unrecht ſeyn ſolte / werden ſie dir nichts mehr vorhalten / als daß ſie dich auff die gemeine exempel, die heut zu Tage vorkom - men / verweiſen / indem beynahe durchgehends die Freyheit zu Lehren dem der ſolche nicht mitGelde76Das 2. H. von der Geſchickligkeit. Gelde erkaufft hat / verboten wird. Aber die - ſer Scheingrund wird deinem Verſtand we - nig ſchaden / weil du gleich erkenneſt / daß man ſich bemuͤhe die Jrrthuͤmer menſchlicher au - torit aͤt durch menſchliche Gewalt zu ver - theydigen / und folglich daraus leicht abneh - men kanſt / daß / wo es ſo zugehet / die Weißheit groſſe Noth leiden muͤſſe.

5. Denn wie ſolte wohl die allgemeine Ru - he durch die Lehre der Weißheit in gering - ſten koͤnnen verletzet werden / da doch viel - mehr dieſelbe die eintzige Stuͤtze des gemeinen Weſens iſt / und alle Verwirrungen / aller Zanck und Schaden wie in allen menſchlichen Geſellſchafften / alſo auch in der Republique hauptſaͤchlich von der Erdultung auch der ge - ringſten Jrrthuͤmer herruͤhret / und in deſſen Anſehen vielmehr zu wuͤndſchen waͤre / daß al - les Volck die Warheit lehrete.

6. Es erfordert ja wohl der allgemeine Nu - tzen / daß wie zu andern buͤrgerlichen Geſchaͤff - ten alſo anch zur Lehre der Weißheit gewiſ - ſe Perſonen erkieſet werden / denen alſo uͤber den allgemeinen Beruff ein abſonderlicher ge - geben / und daß ſie fuͤr andern dieſen ihren Be - ruff ins Werck ſetzen ſollen / anbefohlen wird. Aber dieſes iſt uns nicht zuwider.

7. Deñ77andern die Warheit beyzubringen.

7. Denn du muſt erſtlich wiſſen / daß die Ge - ſetzgeber hierinnen nicht ſo wohl ihr Abſehen dahin gerichtet / daß andere deßwegen ſolten ausgeſchloſſen ſeyn die Weißheit zu lehren / und daß die erkornen oͤffentlichen Lehrer ein eigen Gewerbe haben ſolten / ſondern viel - mehr / daß ſie / damit niemahln hierinnen ein Mangel erfunden werde / in dieſem hoͤchſtnoͤ - thigen Stuͤcke den gemeinen Nutzen zu be - foͤrdern / ſolten ſchuldig ſeyn / weßhalben ſie auch dafuͤr aus den gemeinen Einkuͤnfften pfle - gen beſoldet zu werden.

8. Alſo iſt es auch mit andern Aembtern beſchaffen / denn es wird niemand gewehret / an - dere Leute von einem Orte zu dem andern zu bringen / Reiſende wider die Gewalt der Moͤr - der zu ſchuͤtzen / im Kriege einen Voluntaire ab - zugeben / obſchon oͤffentliche Poſten angeord - net ſind / auch gewiſſe Straſſen-Bereuter uñ Soldaten unterhalten und beſoldet werden.

9. Und obſchon die allgemeine Ruhe erfor - dert / daß um erhaltung guter Ordnung willen an oͤffentlichen Orten / und zu gewiſſen Zei - ten / wie andere Aembter / alſo auch die Lehre der Weißheit durch die darzn verordneten Perſonen alleine verrichtet werde; ſo iſt dochdadurch78Das 2. H. von der Geſchickligkeitdadurch denen andern nicht verboten / ſolches zu andern Zeiten in privat Zuſammen - kunfften zu verrichten / ſo wenig als es vor verboten zu achten / andern / um welche Zeit es an der Uhr ſey nachricht zu geben / obſchon gewiſſe Stundenruffer beſtellet ſind / die ſolches oͤffentlich ausruffen muͤßen.

10. Ja es es ſcheinet / daß da man angefangen durch Mittheilung Academiſcher Wuͤrden denen ſo ſolche erhalten / unter andern Privi - legien auch die Macht zu Lehren zugeben / man nicht ſo wohl dahin ſein Abſehen gerich - tet / daß man ihnen das Vermoͤgen und die Freyheit geben wolte / die Weißheit andern mitzutheilen / (denn das Vermoͤgen muß man ſelbſt mitbringen / und kan niemand von eini - gen Menſchen gegeben werden / wie ſchon zu ſeiner Zeit der Roͤmiſche Keyſer Hadrianus er - wogen; die Freyheit aber giebt einem iedwe - den das Recht der Natur) als daß man ihnen ein oͤffentliches Zeugniß von ihrer Tuͤch - tigkeit zum Lehren geben wollen / weil doch dem gemeinen Weſen etwas daran gelegen iſt / daß ſich des Lehrens nicht iederman unter - fange / der die Weißheit ſelbſt nicht gelernet hat. Deßwegen aber iſt andern unverboten / dererTuͤch -79andern die Warheit beyzubringen. Tuͤchtigkeit offenbahr und am Tage iſt / oder die dieſelbe durch andere proben an Tag geben koͤnnen / dasjenige was ſie wiſſen / auch andern gemein zu machen.

11. Geſetzt aber / du lebteſt unter einen ſo ver - derbten Stande / da man dieſe Freyheit mit Gelde erkauffen muͤſte / und da die Geſetze o - der die Gewonheit unterſagte / daß niemand / als denen man es abſonderlich vergoͤnnet haͤtte / andere Leute lehren und unterweiſen ſolten / ſo bekuͤmmere du dich doch deßwegen im geringſten nicht / denn es gehet dir und dei - ner Obliegenheit andern Menſchen zu die - nen dadurch wenig oder gar nichts ab.

12. Du muſt aber dieſes bey leibe nicht alſo verſtehen / als wenn du ſolchen Geſetzen zu - wider leben / oder ihre Meinung durch eine Sophiſtiſche Auslegung cavillir en ſolteſt; denn die Sitten-Lehre wird dir zeigen / daß du auch unbilligen Geſetzen gehorchen muͤſ - ſeſt / und das folgende Capitel wird dir zu er - kennen geben / daß alle Sophiſti fche Auslegun - gen unvernuͤnfftig ſind. Zu geſchweigen / daß wenn du dieſes thun wolteſt / die Pedanten und Vertheydiger der Jrrthuͤmer uͤber dich frolocken / und dich bey iederman als einen gott -loſen80Das 2. H. von der Geſchickligkeitloſen Kerl / der der von GOtt ihm vorgeſetzten Obrigkeit nicht pariren wolte / ausſchreyen wuͤrden.

13. Sondern du muſt meine Meinung al - ſo begreiffen. Dergleichen Geſetze verbieten dier niemahlen / daß du deine Erkentniß der Weißheit nicht andern mittheilen ſolteſt; ſon - dern ſie verbieten dir nur / daß du mit dieſer Unterweiſung kein Geld verdienen ſolleſt; Unterweiſe ſie demnach ohne Entgeld: oder daß du nicht an einen oͤffentlichen Ort ande - re Leute hierzu einladen ſolleſt; So unterwei - ſe diejenigen / die ſich freywillig bey dir ange - ben: oder daß du nicht muͤndlich die Lehrbegie - rigen unterrichten ſolleſt; thue es denn in Schrifften.

14. Ja klagſtu / man will es aber auch nicht leiden / das ich umſonſt und in meinem Hau - ſe andern was lehren ſoll / oder es iſt mir auch das Schreiben verboten. Es iſt nicht gut mein Freund; aber deßwegen darffſt du dich nicht bekuͤmmern / wenn du nichts mehr zu klagen haſt. Stehet dir die Welt nicht of - fen? Und haben dir die Præceptores in deiner Jugend nicht offte genung vorgeſagt: Patria eſt ubicunque bene eſt. Jngleichen: Artem quævis terra alit. u. ſ. w.

15. Lei -81andern die Warheit beyzubringen.

15. Leidet es aber deine Gelegenheit wegen vieler Umbſtaͤndt nicht dieſe reſolution zu faſ - ſen / verzage deßwegen nicht. Die Unter - weiſung anderer Leute in der Tugend und Warheit iſt nicht daran gebunden / daß man ſolches in Schrifften oder in Collegiis thue. Sie erfordert kein auditorium, oder daß man die / ſo man unterweiſen will / umb eine gewiſſe Stunde zu ſich beſtelle / ihnen Baͤncke ſetzen laſſe / und einen gewiſſen Autorem erklaͤre / oder eine diſciplin ordentlich nacheinander durchgehe. Es wird dir doch nicht verboten ſeyn mit andern Leuten umzugehen. Da haſtu nun tauſend Gelegenheiten fuͤr eine / in Spazierengehen / bey der Mahlzeit / auff der Boͤrſe / in Buchlaͤden / / in Gewoͤlben / bey viſiten / und in Summa bey allen Con - verſationen, ſie moͤgen weit oder enge ſeyn / ohne einige affecti rung oder pedante rey dei - ne Erkentniß andern mitzutheilen / und ihnen ihre eigene oder allgemeine Jrrthuͤmer zu er - kennen zu geben. So machte es Socrates, der doch viel vortrefflicher geweſen / als alle Philo - ſophi nach ihm.

16. Jch habe hiernechſt nicht ohne Urſache oben geſagt / du ſolteſt andern Leuten etwas bey -Fzubrin -82Das 2. H. von der Geſchickligkeit. zubringen alsdenn erſt dich unterfangen / wenn du in deinem Kopffe ſelbſt auffgeraͤumet. Dieſes nun verſtehet ſich von ſich ſelbſten. Denn wie kanſtu einen andern die Warheit beybringen / die du ſelbſt noch nicht gegruͤndet weiſt. Mag auch ein Blinder einen andern den weg weiſen?

17. Jedoch wirſtu auch unter hundert Leh - rern zehen finden die dieſes in acht genommen? Wie viel ſind ihrer vielmehr / die noch allent - halben alle Augenblicke andere unterwei - ſen / und doch ſelbſten nichts verſtehen / weil alle ihre Wiſſenſchafft / wenn es hoch koͤmmt / darinnen beſtehet / daß ſie herſagen / was ſie von ihren Præceptoribus gehoͤrt und was ſie noch in ihren MSS. oder andern Buͤchern finden / und ſolcher geſtalt noch in dem præjudicio au - toritatis biß an den Halß ſtecken.

18. Jch weiß wohl / es betreugt uns allen ge - meiniglich / daß uns von Jugend auff vorgeſa - get wird: Qui nunquam malè nunquam benè. Docendo diſcimus. Und was der - gleichen Weideſpruͤche mehr ſind / durch die uns auch wohl unſere Lehrer ſelbſt anfriſchen / daß wir andere lehren ehe wir ſelbſt gelehrt ſind. Aber ich weiß auch wohl / daß dergleichenSpruͤche83andern die Warheit beyzubringen. Spruͤche nur von denen reden / die allbereit angefangen haben in ihrem Kopffe auffzuraͤu - men / und gar zu lange Auffſchieben ſich mit Lehren zu uͤben / weil ſie gar zu mißtrauiſch in ſich ſelbſt ſind.

19. Denn wenn wir geſagt / daß man zuvor auffraͤumen / und ſelbſt die Warheit erkennen ſolle / ehe man andern dieſelbe beyzubringen ſich unterfange / verſtehen wir nur ſo viel / daß ein Menſch die Grundwarheiten derer Dinge / die er lehren will verſtehe / und die præjudicia autoritatis und præcipitantiæ ernſtlich zu beſtreiten angefangen habe / nicht aber / daß er alles was ein Menſch wiſſen kan / vollkommen verſtehen muͤſſe. Denn er wird die Zeit ſeines Lebens noch etwas zu lernen fin - den.

20. Daß man aber durch erwehnte Spruͤ - che diejenigen / ſo noch in der Unwiſſenheit ſte - cken / auffmuntern will / iſt eben ſo ungeſchickt / als wenn (nach Art der Æſopi ſchen Fabeln zu reden) ein Sperling ſich damit unterfangen wolte / einen jungen Papegey vorzupfeiffen / oder alß wenn man einen Kruͤpel oder Gicht - bruͤchtigen dadurch anmahnen wolte andern vorzutantzen.

F 221. Es84Das 2. H. von der Geſchickligkeit

21. Es iſt vielmehr zu befahren / daß dieje - nigen ſo allzuzeitig anfangen andere zu un - terweiſen / die einmahl eingeſogene præjudi - cia durch eine ſtetswaͤhrende præcipitanz im - mer befeſtigen / und ihren Verſtand gantz confus, ſich aber ſelbſt dadurch untuͤchtig machen / daß ſie hernach nimmermehr zur Er - kentniß der Warheit kommen. Und gewiß / ich koͤnte dir ſelbſt viel exempel von ſonſt guten ingeniis erzehlen / die ſich bloß dadurch verdor - ben / daß ſie fliegen wollen ehe ihnen die Fluͤgel gewachſen.

22. Und ob ſchon nicht zu laͤugnen / daß zu - weilen etliche gemuͤther aus dieſer Gefahr heraus geriſſen werden / und wenn ſie allbe - reit etliche Jahre ſelbſt blind und Blinden Lei - ter geweſen / ohnverſehens anfangen in ſich zu gehen / ihre Jrthuͤmer zu erkennen / und hernach andern mit ihrer Erkentniß zu dienen; ſo ſind doch dieſe Exempel ſo rar / daß einer wider die regeln geſunder Vernunfft handeln wuͤr - de / wenn er mehr auff dieſelben / als auff tau - ſend exempel derer die in der Gefahr unterlie - gen ſehen wolte; zumahlen bey dieſen raren e - xempeln Gott gemeiniglich durch wunderliche und verdrießliche Mittel die ſich niemand ger -ne85andern die Warheit beyzubringen. ne wuͤnſchet / als Kranckheit / Armuth / Ver - folgung und ander Ungluͤck / dieſe auſſeror - dentliche Wuͤrckung vollbringet.

23. Nachdem̃ wir alſo bißher betrachtet / daß es vergoͤnnet ſey / die erkannte Warheit andern mitzutheilen / und daß man ſolches zu thun / ſich nicht zuvor unterfangen ſolle / biß man zuvor ſeine Erkenntniß ſelbſten gepruͤffet / ſcheinet es nun wohl / daß man in Anfehen der hierbey noͤthigen Handgriffe nicht vonnoͤthen habe / neue und abſonderliche Lectiones zu geben / ſondern daß man nur dem andern / dem man die erkandte Warheit bey bringen will / zeigen muͤſ - ſe / wie man dieſelbe bey ſich ſelbſt erfunden; maſſen wir denn auch allbereit in der Ver - nunfft-Lehre / als wir von der Demonſtration gehandelt / dieſes erinnert haben. Und duͤrff - ten dannenhero zum Uberfluß nur die daſelbſt angefuͤhrten wenigen Anmerckungen allen - falls allhier wiederholet werden.

24. Denn z. e. ich brauche keine andere me - thode einen andern den rechten Weg zu wei - ſen / als daß ich ihm die Keñzeichen gebe mit denẽ ich ihn gefunden / oder ihn zu unterrichten / wie er einen Berg hinauff klettern ſolle / als daß ich es ihm weiſe / wie ich es gemacht habe; oderF 3ihm86Das 2. H. von der Geſchickligkeitihm zu erkennen zu geben / wie ich ein proble - ma in der Mathematic und Rechen-Kunſt reſolviret habe / als daß ich ihm meine operati - on weiſe.

25. Gleichwohl iſt anderstheils nicht zu laͤugnen / daß nicht alleine die allgemeine Jrr - thuͤmer / die dabey / wenn man andern die er - kennte Warheit will gleichfalls zu erkennen geben / haͤuffig vorzugehen pflegen / noch einige Anmerckungen erfordern / ſondern auch / daß es zuweilen ſich nicht allzuwohl ſchicken will / die methode, die man bey ſich ſelbſt gebraucht / nach allen den genauſten Umſtaͤnden auch bey andern in acht zu nehmen. Denn wie / wenn z. e. derjenige den du auff den rechten Weg bringen wolteſt / gantz auff einen andern Jrr - weg gerathen waͤre / als auff welchen du dich zuvorhero verirret gehabt? Wenn der andere das klettern noch gar nicht gewohnet waͤ - re? oder endlich / wenn der andere die opera - tiones, vermittelſt welcher du das auffgegebe - ne problema reſolvirt, noch gar nicht verſtuͤn - de? Als wenn du dich hierzu der Algebræ bedie - net haͤtteſt.

26. Derowegen damit wir deſto ordentlicher hierinnen verſahren / præſupponiren wir / daßdieje -87andern die Warheit beyzubringen. diejenigen / denen wir die erkannte Warheit beybringen wollen / entweder kleine Kinder ſind / oder erwachſene Leute.

27. Wiewohl aber wegen Unterweiſung kleiner Kinder ſehr viel zu erinnern waͤre / indem die allgemeine Lehrart durchgehends ſo wenig taugt / daß ein vernuͤnfftiger Menſch / der dieſes Unweſen mlt unpartheyiſchen Au - gen anſiehet / uͤber die Blindheit der Welt er - ſchrickt; ſo haben doch von dieſem Ubel allbe - reit ſo viel wackere und vortreffliche Leute vor uns geſchrieben / daß es nicht allein unnoͤthig ſeyn wuͤrde / dißfalls etwas zu erinnern / ſon - dern es wuͤrde auch eben ſo vergebens ſeyn / ſo vergebens die itztbeſagten Erinnerungen ge - weſen / weil die Ausuͤbung ſolcher Vorſchlaͤge one den Beytrag der erwachſenen nicht geſche - hen kan / bey dieſen aber nichts zu hoffen iſt / ſo lange dieſelben noch in denen præjudiciis ſte - cken / nnd niemand iſt der ſie heraus reiſt.

28. So iſt auch unſere gantze Philoſophie, und ſonderlich die Vernunfft-Lehre fuͤr die er - wachſenen geſchrieben / und wenn dieſe ein - mahl gebeſſert uñ recht unterwieſen ſeyn / wird es ſich hernach mit Ausbeſſerung der gemeinen Schulen gleichſam von ſich ſelbſt ſchicken.

F 429. Die88Das 2. H. von der Geſchickligkeit

29. Die erwachſenen aber ſind zweyerley Arten / enweder / denen ihr Verſtand erſt reiff wird / und die alſo noch anderer Huͤlffe vonnoͤthen haben / nehmlich / die junge Stu - denten / oder aber derer ihr Verſtand ſchon lange reiff geweſen / und die allbereit in ihren Kopffe auffgeraͤumet haben / und warhafftig Gelehrte Leute ſind. Denn ob ſchon dieſe die Grund-Regeln der Warheit wohl verſte - hen / ſo wiſſen ſie doch deßhalben nicht alle con - cluſiones. Denn es iſt keiner unter ihnen all - wiſſend. Ja es iſt ſo zu rechnen kein Gelehr - ter / der nicht auff gewiſſe maſſe mehr und we - niger wiſſe als andere.

30. Ferner ſo pfleget man die Erkentniß der Warheit andern entweder in Schrifften zu communiciren, oder aber durch einen muͤndli - chen diſcurs.

31. Ob nun wohl beyderley Arten koͤnnen gebraucht werden / man mag Lehrbegierige Studenten oder gelehrte Leute fuͤr ſich haben / in Anſehen man zum oͤfftern fuͤr die ſtudieren de Jugend hauptſaͤchlich accommodirte Schriff - ten verfertigt / und ein Gelehrter mit dem an - dern ſeine Erfindungen muͤndlich communici - r et; ſo geſchiehet es doch mehrentheils / daß mandie89andern die Warheit beyzubringen. die Schrifften der gelehrten Welt widmet / und die muͤndliche Unterweiſung ſchicket ſich mehr fuͤr die ſtudierenden; maſſen denn auch bekant iſt / daß die muͤndliche Unterwei - ſung am capabelſten ſey / einen jungen Men - ſchen vollkommen zu machen / da hingegen / wenn er nur fuͤr ſich etwas aus den Buͤchern lernen will / es ihn gemeiniglich zur Erfor - ſchung der rechten Weißheit untuͤchtig macht.

32. Beydes in Schrifften und muͤndlicheꝛ Unterweiſung / beydes bey Gelehrten und ſtudierenden gewoͤhne dich fuͤr allen Dingen an / daß du deutlich ſchreibeſt und redeſt. Denn ie deutlicher du es den andern machſt / ie eher wird er es begreiffen. Dieſes iſt aber dein Zweck / daß der andere deine Gedancken erkennen und begreiffen ſolle.

33. Die Deutligkeit aber beſtehet theils in Worten / theils in der Redensart / theils in der Ordnung

34. Derowegen huͤte dich / daß du nicht viel - deutige Worte brauchſt / wo du eindeutige ha - ben kanſt / nicht figuͤrliche / wo du die Sache mit eigenen geben kanſt; es waͤre denn / daß man aus andern Worten alsbald ſehen koͤnte / wel - che Bedeutung du im Sinne habeſt / oder dieF 5Sache90Das 2. H. von der GeſchichligkeitSache koͤnte nicht anders als durch figuͤrliche Wort ausgedruͤckt werden.

35. Huͤte dich ferner / daß du in Beybrin - gung der Warheit dich nicht eines hochtra - benden / dunckeln und zweydeutigen und allzuweit von einander geworffenen Styli oder Redensart gebraucheſt; ſonſt wird man dir vorſagen: Si non vis intelligi non debes legi.

36. Endlich brauche eine leichte und na - tuͤrliche Ordnung / die dem Zuhoͤrer oder Leſer eine Luſt erweckt / und fange deßwegen nicht von denen Concluſionibus oder von den ſchwereſten / ſondern vielmehr ordentlich von denen principiis oder hypotheſibus an.

37. Jch weiß zwar wohl / und die taͤgliche Erfahrung wird dir es zeugen / daß man ins - gemein wider dieſe Anmerckung anzuſtoſ - ſen pfleget / und daß die Lehrer oder Scri - benten nicht nur ſich befleißigen / zweydeuti - ge / figurliche dunckele Worte und Redens - arten zu gebrauchen / und damit einen hohen und anſehnlichen Spaniſchen Stylum zu affe - ctiren, und eine ſonderliche Zierligkeit darin - nen zu ſuchen / ſondern auch zum oͤfftern mit der methode zu kuͤnſteln / und die hypotheſesder -91andern die Warheit beyzubringen. dergeſtalt zu verſtecken / daß man Muͤhe hat / wenn man ein Buch etliche mahl durchleſen / oder ſich ihrer information etliche Jahr bedie - net / zu verſtehen was ſie haben wollen / oder was der Grund ihrer Lehre ſey.

38. Wiederum pflegen auch die Zuhoͤrer und Leſer gemeiniglich ſolche Autores hoch zu achten / und mit viel groͤſſerer Begierde zu le - ſen / als diejenigen / ſo klar und deutlich geſchrie - ben haben.

39. Aber dieſes Ubel kommt auff beyden theilen daher / daß die gantze Welt mit dem hoͤchſtſchaͤdlichen Jrrthum eingenommen iſt / daß zwiſchen Gelehrten und gemeinen Leu - ten ein ſolcher Unterſchied ſeyn muͤſſe / daß die Gelahrheit einen beſonderlichen Ehren - ſtand in dem gemeinen Weſen haben muͤſſe / und daß dannenhero die Warheit / die ſo leichte iſt / daß ſie auch von gemeinen Leuten verſtanden werden koͤnne / nichts tauge.

40. Derowegen wie dieſe unzeitige Ehr - ſucht gemeiniglich mit einem Neid vergeſell - ſchafftet iſt; alſo gefaͤllt es ſolchen neidiſchen Gemuͤthern wohl / wenn ſie einen ſchweren und dunckelen Autorem begreiffen koͤnnen / und freuen ſich / wenn ſie ſehen / daß andere / die kei -nen92Das 2. H. von der Geſchickligkeitnen ſo penetranten Verſtand und judicium haben / denſelben nicht auch ſo wohl aſſequiren koͤnnen.

41. Was die Zierligkeit der Schreibart betrifft / ſcheinet es / daß man das Amt eines Philoſophi und Redners gemeiniglich mit einander zu vermiſchen pflege. Ein Redner der ſich vorgenommen hat / die Meinungen der Menſchen nach ſeinen eigenen Vorhaben / und nicht nach der Warheit zu lencken / und ſie was er will zu bereden / muß freylich die affe - cten mit zierlichen / verbluͤmten und ungemei - nen Redensarten ruͤhren. Aber ein Philoſo - phus braucht bey darſtellung der Warheit / die am ſchoͤnſten iſt wenn ſie nackend iſt / keine ſol - che Schmincke: Und Socrates traͤgt dieſelbe durch die allergemeinſte Gleichniſſe und exem - pel vor.

42. Wiewohl hieran die Leſer und Lehr - linge auch ſelbſten ſchuld ſeyn. Es iſt ein alt Sprichwort: Mundus vult decipi. Sie wol - len die Warheit nicht in ſich ſelbſt begreiffen / ſondern von andern beredet / und folglich auch betrogen ſeyn. So muͤſſen ſich denn wohl die Scribent en in dieſe Weiſe ſchicken / und die zur Betriegerey gehoͤrigen Mittel gebrauchen.

43. U -93die Warheit andern beyzubringen.

43. Uber dieſes ſo iſt auch die Vorſtellung der Warheit deshalben nicht aller Zierligkeit beraubet / oder vielmehr es iſt kein nothwendig Stuͤck zur Zierligkeit / daß man dunckel ſchreiben muͤſſe. Was iſt wohl netter geſetzt / als des Herrn Pufendorffs Schrifften. Aber was iſt auch deutlicher? Und ich glaube / man werde in denen von meinem ſeeligen Vater edirten Buͤchern gleichfalls eine zierliche leich - tigkeit und Deutligkeit antreffen.

44. Wann wir bißhero von der Deutlig - keit und deren nothwendigkeit geredet / ſo ver - ſtehet es ſich nun von ſich ſelbſt / daß du auch treu und fidel in deinen Unterweiſungen ſeyn muſt / ſie moͤgen nun ſchrifftlich oder muͤndlich geſchehen; du magſt Gelehrte oder Ungelehrte vor dir haben. Denn wie wilt du deutlich ſeyn / wenn du nicht fidel biſt? Jndem ein untreuer Lehrmeiſter kein beſſer Mittel weiß dem andern die Lehre ſauer zu machen / alß daß er alles auff das dunckelſte und zwey - deutigſte vorbringe -

45. Aber wo findeſtu viel ſolche Leute. Der Eigennutz / die Ehrſucht und der Neid / - ber die wir nur itzo geklaget / treibet viel Pro - feſſores und Scribenten an / mit der wahrenoder94Das 2. H. von der Geſchickligkeitoder deutlichen Erkentnuͤß / und den rechten Grund derſelben hinter dem Berge zu halten / wenn ſie gleich dieſelbe wiſſen.

46. Ja man ſcheuet ſich nicht / oͤffters dieſe Untreue oͤffentlich zu beſchoͤnigen / und iſt nichts neues / daß man von dergleichen Leuten hoͤret: Ein guter Meiſter behaͤlt allzeit einen Streich vor ſich. Man muß die Welt auff einmahl nicht gar zu klug machen. Die guten Kerle muͤſſen ſich es auch ſo ſauer werden laſſen als ich habe thun muͤſ - ſen / u. ſ. w.

47. Und dieſe Untreue iſt beynahe ſo alt als der Jrrthumb ſelbſt. Denn ſie hat die Ægyptier beredet / ihre Weißheit in Hiero - glyphica zu veꝛſtecken. Sie iſt Urſache an allen Fabeln der Grichiſchen und Lateini - ſchen Poëten. Anderer exempel anietzo zu ge - ſchweigen.

48. Endlich ſo bediene dich auch in Unter - weiſung anderer wer ſie ſeyn / oder auff was weiſe du denenſelben die Warheit beybringen wilſt / einer angenehmen Freundligkeit und Vertrauligkeit. Der Verſtand des Menſchen iſt nicht in ſeiner Willkuͤhr / und dannenhero keinen Zwang unterworffen. Undwer95andern die Warheit beyzubringen. wer denſelben von denen Jrrthuͤmern reinigen will / muß es nicht anders machen / als ein Medicus mit ſeinem Patienten. Dieſer er - zuͤrnet ſich nicht uͤber ihn / wenn die gegebe - nen und gebrauchten Artzneyen nicht anſchla - gen wollen / und er nicht geſund wird. Er ſchilt ihn nicht / wenn ſeine delicate Gewon - heit ihm einen Eckel fuͤr der Artzney macht; ſondern er giebt ihm freundliche und gute Worte / damit er eine Liebe und Vertrauen gegen ſich bey denen Patienten erwecke. Wie vielmehr erfordert dannenhero die cur des Verſtandes eine dergleichen Freundligkeit / weil die Zaͤrtligkeiten eines Patienten, und die Kranckheit die er am Halſe hat / zum oͤfftern mehr von ſeiner eigenen Willkuͤhr ihren Ur - ſprung genommen / als die Unwiſſenheit oder der[Jrthumb] anderer Menſchen.

49. Derowegen flieſſet hieraus nothwendig / daß wir diejenigen / die man unterweiſen will / nicht verfolgen / oder ihnen unſere Meinun - gen mit Gewalt auffdringen muͤſſe.

50. Ja es folget ebenfalls hieraus / daß es ſehr ungeſchickt ſey / wenn man diejenigen / die man eines Jrrthumbs beſchuldiget / nicht un - ter ſich leiden will / und will doch von ihnenpræ -96Das 2. H. von der Geſchickligkeitprætendir en / daß ſie ihren Jrrthumb ſollen fahren laſſen.

51. Was wolte man wohl von einem Me - dico halten / wen er in eine Stadt kaͤme / und wolte prætendir en / es ſolten ſich alle patienten, die doch mit einer langwierigen Kranckheit be - hafftet waͤren / daraus weg machen oder ſchleu - nig geſund werden. Oder der keine Patien - ten um und neben ſich leiden wolte.

52. Jch weiß wohl / daß man insgemein die - ſen Schnitzer zu vertbeydigen anzufuͤhren pfle - get: Daß man einen Unterſcheid unter gemei - rien und anſteckenden Kranckheiten ma - chen muͤſſe. Fuͤr dieſen letzten habe man ſich billig in acht zu nehmen / und ſonderlich ſeine anvertraute Lehrlinge / daß dieſelbige nicht von einem heimlichen Gifft inficiret wer - den. Es ſey bekandt / daß ein raͤudig Schaaf die gantze Heerde raͤudig mache u. ſ. w.

53. Allein dieſe Entſchuldigungen halten den Stich wohl ſehr ſchlecht. Je gefaͤhrli - cher der Jrrthumb iſt / ie mehr erfordert un - ſere natuͤrliche Pflicht / unſern Fleiß anzuwen - den / andere davon zu entledigen. Und derje - nige ſo ſich in der Peſt gebrauchen laͤſt / verdie - net deſto mehr Lob.

54. Zu -97andern die Warheit beyzubringen.

54. Zudem ſo iſts auch unmoͤglich / daß der Jrrthumb der Warheit Schaden thun koͤnne / weil die Warheit den Jrrthumb ver - treibet / und alſo ſteckt zwar wohl ein irrender einen andern irrenden an / aber denjenigen / der einmahl die Warheit ergriffen / kan er nicht ſchaden.

55. Derowegen / wenn du guten Gegen - Gifft haſt / ſo kan dir und den deinen auch das heimliche Gegen-Gifft der Jrrthuͤmer nicht ſchaden. Oder aber / du wirſt dich nicht in un - gegruͤndeten Verdacht bringen / daß du kein rechter Medicus, ſondern ein betruͤgeriſcher Landfahrer und Quackſalber ſeyſt.

56. Deine Schaafe muͤſſen ſehr zur Rau - de geneigt ſeyn / wenn ſie ſo leichte von andern raͤudigen Schaafen angeſteckt werden: Und ihr gantzer Leib muß von der materia peccante ſehr angefuͤllt ſeyn / wenn das heimliche Gifft der Jrrthuͤmer ſo leichte darinnen faͤngt. Und alſo ſieheſt du / daß du an dir und den dei - nen noch genung zn curiren, und ihnen den Splitter aus ihren Augen zu ziehen haſt / ehe du andern den Balcken ausnehmen / und ſie an ſchaͤdlichen Jrrthuͤmern curiren wilſt.

57. Alſo ſolte es nun wohl mit denen / die ſichGder98Das 2. H. von der Geſchickligkeitder Lehre und des Buͤcherſchreibens unter - fangen wollen / beſchaffen ſeyn. Aber ſiehe dich doch ein wenig um / wie es in der Welt her - gehet? Etliche bilden ſich ein / ſie wuͤrden umb ihre gantze reputation kommen / wenn ſie in ihren Lehren ihren Auditoribus eine freund - liche mine machen / und einen zulaͤßigen Schertz der eine Anzeigung einer Vertrau - ligkeit iſt / mit untermiſchen ſolten / ſondern ie muͤrriſcher und gravitaͤtiſcher ſie ſich dabey anſtellen koͤnnen / ie beſſer meinen ſie ſollen ihre Lehren durchdruͤcken.

58. Andere ſchaͤnden und ſchmaͤhen in ihren Schrifften wider die / denen ſie die War - heit beybringen wollen / und bereden ſich / ſie koͤnnen es nicht kluͤger machen / als wenn ſie ſie durch alle prædicamenta durchhecheln.

59. Aber dieſes ſind noch die glimpfflichſten. Die Magiſtrinoſtri zu Paris und Cöln verfol - gen den Ramum, Reuchlinum, Eraſmum, u. ſ. w. gar biß auff den Todt / und wenn es in ih - ren Vermoͤgen ſtaͤnde / zerriſſen ſie dieſe recht - ſchaffene Leute mit denen Zaͤhnen.

60. Der gute Carteſius, Gaſſendus, Dig - ly, Plato, Epicurus u. ſ. w. werden entweder als ſchaͤdliche novatores, oder wohl gar alsgefaͤhr -99andern die Warheit beyzubringen. gefaͤhrliche vergifftete Lehrer bey der Ju - gend ausgeſchrien / und ſie inniglich gewar - net / ſich fuͤr dieſer Leute ihren Schrifften aͤr - ger als fuͤr den aͤrgſten Giffte zu huͤten. Man wolte / wo es moͤglich waͤre / gerne alle Carteſi - aner mit Rattenpulver vergeben / oder ſie doch zum wenigſten aus Europa hinaus ja - gen. Und ein Pedante bildet ſich ein / wunder was eꝛ fuͤr eine heroi ſche That begangen habe / wen er Carteſium oͤffentlich von dem Ca - theder religiret / und aus Chriſtlichen Eifer ſein Glaubens-Bekaͤntniß thut / daß er bey dem allein wahren und ſeligmachenden (ich rede von einer zeitlichen Gluͤckſeligkeit) Ariſtotele leben und ſterben wolle. Und ſtehet doch wohl dahin / ob man den guten Ari - ſtoteles in denen Kranckheiten der Seelen und des Verſtandes ſo viel nutzen koͤnne / daß man ein bewehrtes Plaſter fuͤr die Huͤhneraugen / geſchweige denn ein geſund machend remedi - um wider das Podagra oder die Gicht von ihm erlernen moͤge.

61. Was aber nun ferner inſonderheit die muͤndliche Unterweiſung junger Leute an - langet / ſo huͤte dich zuforderſt / daß du ſie nicht damit quaͤleſt / daß ſie die Lehrſaͤtze / die du ih -G 2nen100Das 2. H. von der Geſchickligkeitnen erklaͤhren wilſt / auswendig lernen / ſondern gewehne ſie an / daß ſie ſie begreiffen und verſtehen moͤgen.

61. Denn jenes uͤbet zwar das Gedaͤchniß / aber es ſchwaͤchet das judicium, weil es mit dem Menſchen mehrentheils ſo beſchaffen iſt / daß was einem von dieſen beyden (dem Ge - daͤchtniß und judicio) abgehet / daß waͤchſet dem andern zu. Nun iſt aber ſo zu reden ein quintgen judicii hoͤher zu achten / als ein Pfund Gedaͤchtniß.

63. Und wenn man ein Ding auswendig lernet / bindet man ſich gar zu ſehr an die Wor - te / und indem man dieſes thut / bekuͤmmert man ſich nicht ſehr um die Sache ſelbſt. Da im Gegentheil / wenn man eine Sache verſte - het / man dieſelbe mit vielerley Worten weiß fuͤrzubringen. Nun beſtehet aber / wie wir in der Vernunfft-Lehre begriffen / die Wahr - heit nicht in der Ubereinſtimmung unſerer Gedancken mit den Worten / ſondern mit der Sache ſelbſt.

64. Aber ſiehe doch / wie wider dieſe Lecti - on insgemein groͤblich angeſtoßen wird. Jch will itzo von denen Kindern in Schulen nicht reden / die z. e. die regeln aus der Gram -matic,101andern die Warheit beyzubringen. matic, Logic u. ſ. w. her beten / wie die Nonnen den Pſalter. Siehe nur wie man die Jugend an die Compendia, Syntagmata, an die verba und numerum legum, an die ver - ba textus Ariſtotelici u. ſ. w. bindet / die ſie oͤffters nicht anders als die Papegoye die Wor - te / ſo man ihnen gelernet / herſagen.

65. Jch beſcheide mich ja wohl / daß man ſein Gedaͤchtniß uͤben muͤſſe / und daß dem - jenigen / der von etwas peroriren ſoll / ein Handgriff oder ars mnemonevtica vonnoͤthen ſey. Allein dieſes iſt eine groſſe Thorheit / daß man in denen artibꝰ mnemonevticis ſo viel Pedant iſche und Fantaſtiſche Poſſen mit ein - miſcht / und daß man dieſe Kuͤnſte / als ſonder - liche Theſauros Sapientiæ ruͤhmet / da ſie doch zu nichts anders dienen / als die Ordnung der Dinge / nicht aber die Dinge ſelbſt zu begreif - fen. Ein junger Menſch kan ſein Gedaͤchtniß uͤben; wenn er in Betrachtung derer Dinge fein attent iſt.

66. Nach dieſen dictire deinen Zuhoͤrern wenig oder gar nichts. Es iſt eine groſſe Eitelkeit / daß ein ieder Lehrer aus zehen Com - mentariis den eilfften zuſammen ſchreibet; und ſind viele dictata elender als die geringſten Buͤ -G 3cher.102Das 2. H. von der Geſchickligkeitcher. Die Zeit iſt edel / und weil du eine Sei - te dictireſt, kanſtu viel Blaͤtter her diſcurir en. So ſteckt auch ſchlechte Weißheit darhinder. Denn dein Famulus koͤnte ja ſo wohl oder wohl beſſer dictiren als du ſelbſt. Haſtu ja was ſonderliches oder ungemeines / ſo gieb es deinen Zuhoͤrern abſonderlich abzuſchreiben o - der laß es drucken.

67. Dieſe Anmerckung iſt ſo offenbahr / daß auch deshalben in vielen Univerſitaͤts Ord - nungen denen Profeſſoribus das leidige dicti - ren verboten iſt. Aber du kanſt nur in die Le - ctiones publicas gehen / und ſehen / wie ſie es hier und da in acht nehmen. Die Urſache kanſt du dir leicht einbilden. Denn / wie itzt erweh - net / in dictiren iſt zwiſchen einem Gelehrten und Ungelehrten ein ſchlechter Unterſcheid.

68. Nach dieſen bemercke auch / ob du etliche wenige Zuhoͤrer / oder derer viel zugleich zu unterweiſen haſt. Haſtu ihrer wenig / z. e. 3. 4. 5. biß 10. ohngefehr; So unterſuche fuͤr allen Dingen ihre capacitaͤt / ob ſie nehm - lich einen muntern oder ſchlaͤffrigen Ver - ſtand haben? Ob ſie Luſt zum lernen haben o - der nicht? Ob ſie ſchon von denen præjudiciis ſehr eingenommen ſeyn oder nicht? Dennwenn103andern die Warheit beyzubringen. wenn du ihnen was lehren wilſt / muſtu dich nach ihnen richten.

69. Einem muntern Ingenio darffſtu nur ein Ding einmahl ſagen. Mit einem ſchlaͤff - rigen aber muſtu Gedult haben / und dich nicht verdrieſſen laſſen / wenn es deine Lehren nicht ſo geſchwinde begreifft. Denn du wirſt von die - ſem in gegentheil den Vortheil haben / daß es das / was es einmahl begriffen / hernach nicht ſo leichte wieder vergißt. Da im Gegentheil ein munteres ingenium auch ſehr fluͤchtig iſt / und eine Sache / die es bald begriffen / auch bald wieder vergißt. Derowegen muſtu dieſen vor - zukommen bey einem muntern Verſtand die Lehr-Saͤtze offte repetiren, und ſolcher Ge - ſtalt ja ſo viel Muͤhe mit ihm haben / als mit einem ſchlaͤffrigen.

70. Hat ferner ein ingenium Luſt zum Lernen / muſtu dir ſtets angelegen ſeyn laſſen / dieſe Luſt zu erhalten / und es nicht verdrießlich zu machen. Hat es keine Luſt / ſo wird alle deine Muͤhe vergebens ſeyn / wenn du bey ihm nicht fuͤr allen Dingen die Luſt erweckeſt; Denn ſonſten wird es niemahlen attent ſeyn / ſondern ſeine Gedancken allezeit anderswo haben. Wie will es aber ohne GedanckenG 4die104Das 2. H. von der Geſchickligkeitdie Warheit begreiffen / und ſich dieſelbige ein - druͤcken.

71. Endlich wenn ein Verſtand von denen præjudiciis noch wenig eingenommen iſt / ſo haſtu wenig Muͤhe / weil du wenig auszu - raͤumen findeſt; ſondern du darffſt nur den na - tuͤrlichen Verſtand von ſich ſelbſt wuͤrcken laſ - ſen / und dann und wann / ihn ein wenig len - cken / daß er nicht auff unrechte Wege verfalle. Da hingegen / wo die præjudicia einge wur - tzelt haben / du beynahe zehenmahl ſo viel Zeit auff derer Ausrottung anwenden muſt. Und wenn du gleich denckeſt / du habeſt den Verſtand deines Lehrlings davon ſatſam gereiniget / ſo wirſtu doch befinden / daß die præjudicia, ſon - derlich das præjudicium autoritatis, und die von Jugend auff angewehnte Lehre / allezeit wieder hervor kaͤumen und Wurtzel faſſen wollen / nicht anders als aus einem Dopff der Geruch / den er einmahl angenommen / ſehr - bel zu bringen iſt.

72. Denn z. e. Jch kann dich verſichern / und habe aus der Erfahrung / daß ich mir einen jungen Menſchen der von Jugend auff in kei - ne Schule gegangen / ob er gleich kein Wort - latein gelernet / wenn er nur ſonſten Luſt zumſtu -105andern die Warheitbeyzubringen. ſtudieren, und einen guten natuͤrlichen Ver - ſtand hat / in dreyen Jahren ohngefehr in der wahren Weltweißheit / und einem Menſchen der ſich mannierlich in der Welt fortzubringen gedencket / noͤthigen Wiſſenſchafften / weiter zu bringen getraue / als einen andern der ſchon zehen Jahr auff Univerſitaͤten geweſen / und daſelbſt fuͤr einen wackern und fleißigen Student en iſt gehalten worden / in ſechs und mehr Jahren. Und dieſes aus keiner an - dern Urſache / als weil / wie wir oben erweh - net / in denen Schulen und auff Univerſit aͤten das præjudicium autoritatis ſo gar emſig und eifferig befeſtiget und angeklam̃ert wird.

73. Aber ſiehe dich nun auch in der Welt wieder nach Lehrern umb / die die itzo erklaͤrte Lection beobachten. Die meiſten bilden ſich ein / die Lehrlinge ſollen ſich nach ihnen rich - ten / und bekuͤmmern ſich alſo umb ihre capa - cit aͤt ſehr wenig; Sondern ſagen ihnen dasje - nige / was ihnen gut duͤncket her; Wohl gut wenn ſie es faſſen. Wo nicht / ſo laſſen ſie es auch gut ſeyn.

74. Und wie hat man doch ſo wenig Ge - dult mit langſamen Ingeniis. Man ſchilt ſie / man ſtellt ihnen die muntern znm exempelG 5vor /106Das 2. H. Von der Geſchickligkeitvor / man beſchimpfft ſie u. ſ. w. Und hier durch daͤmpfft man bey ihnen zugleich die Luſt zum ſtudieren / auch die Liebe und das Vertrauen zu dem Lehrmeiſter.

75. Hingegen wie gehet man doch nachlaͤßig mit guten Ingeniis umb? Weil man ſie - het / daß ſie ein Ding bald faſſen / ſo haͤlt man nicht vor noͤthig daſſelbige zu repetiren. Man mindert ihren Fleiß / und vermehret ihren Hoch - muth durch ein unzeitiges Lob und Schmeiche - ley daß man ihnen giebet. Und dieſes iſt bey - nahe die eintzige Urſache / daß unter 1000. hur - tigen Koͤpffen / kaum aus 10. etwas rechtſchaf - fenes wird / da hingegen nicht wenig exempel angefuͤhret werden koͤnten / daß aus langſamen Ingeniis hernach die beſten Leute werden.

76. Man bildet ſich zwar ein / durch ein der - gleichen Lob und Schmeicheley bey denen gu - ten Ingeniis die Luſt zum ſtudieren zu er - halten; aber gleich wie dieſelbe vielmehr eine Verachtung der ſtudien zuwege bringet / wel - che die Liebe darzu nothwendig tilgen muß: al - ſo bekuͤmmert man ſich nicht umb die rechten Mittel die attention und Liebe zu denen ſtudiis bey jungen Leuten taͤglich mehr an - zufeuren.

77. Noch107andern die Warheit beyzubringen.

77. Noch weniger aber iſt man beforget / wie man bey denen Leuten / die gar keine Luſt oder Liebe zum ſtudieren / und folglich auch keine attention mitbringen / einige mit Glimpff erwecken moͤge. Denn ent - weder man laͤſt ſie gehen / und ſaget ihnen von was man zu ſagen: wollen ſie es nicht anhoͤren und auffmercken / ſo mag der Schade ihre ſeyn. Oder wenn es hoch koͤmmt / ſo erzuͤrnet man ſich uͤber ihre Nachlaͤßigkeit und ſchlechte Luſt die ſie zum ſtudieren haben / und richtet ſie aus / oder ſperret ſie wohl ein / daß ſie zu Hauſe blei - ben muͤſſen; wodurch aber doch allenthalben keine Liebe und attention erwecket / ſondern nur der Haß gegen die ſtudia vermehret wird.

78. Endlich iſt dieſes ein allgemeiner Jrr - thumb in praxi, weil man meinet / daß die la - teini ſche Sprache ein nothwendiges und we - fentliches Stuͤck zur Gelahrheit ſey / und daß / wer nicht von Jugend auff in die Schule ge - gangen / und hernach auff einer mit vielen und groſſen Ptivilegien verſehenen Univerſit aͤt ſtudier et habe / obnmoͤglich ein gelehrter Mann ſeyn koͤnne; So bildet man ſich auch ein / daß ie laͤnger ein Menſch auff Schulen und Academien geweſen / und daſelbſt fleißigſtu -108Das 2. H. von der Geſchickligkeitſtudieret / ie capabler ſey er unterwieſen zu werden; ja er brauche keiner Unterwei - ſung mehr / ſondern ſey tuͤchtig andere zu lehren. Denn um keiner andern Urſache ſa - ge ja iedermann von ihm / daß er ſeine Studia Scholaſtica und Academica abſolviret habe / und deßwegen ſey er Doctor oder Magiſter worden / daß er andern den vortrefflichen Schatz ſeiner Weißheit mittheilen / und nicht weiter lernen ſolle.

79. Hingegen ſey ein anderer Menſch der nicht in die Schule gegangen und la - tein gelernet / wenn er gleich noch ſo einen guten natuͤrlichen Verſtand hat / (wenn er gleich z. e. ſein Frantzoͤiſch vollkommen ver - ſtehet und die beſten Frantzoͤſiſchen Buͤcher geleſen / auch von Jugend auff in Hiſtori ſchen, Geographi ſchen / auch wohl Mathemati ſchen Wiſſenſchafften etwas guts begriffen /) nicht capabel ein gelehrter Mann zu werden / wenn er nicht erſt ein Jahr oder vier die latei - ni ſche Sprache lerne / und zwar ſecundum re - gulas artis / daß er 1. die Vocabul, hernach 2. den Donat, 3. die kleine / und 4. die groſſe Grammatic lerne; dann 5. die Colloquia Corderi oder Helviti exponire, 6. imitationesund109andern die Warheit beyzubringen. und argumenta mache / 7. den Cornelium Nepotem, Curtium oder Terentium zum we - nigſten dreymahl durchnehme / die Phraſes draus excerpire, und auswendig lerne; und wie etwa dieſe accurate methode, derer dritte Theil kaum itzo erzehlet worden / folgends per leges Univerſales indenen Schulen einge - fuͤhretiſt.

80. Gleich wie aber die Nichtigkeit dieſer Meinung aus dem vorbergehenden allbereit zur gnuͤge bekand iſt; alſo wollen wir uns nicht aufhalten dieſelbe mit Worten zu wiederle - gen / ſondern wir wollen Gelegenheit erwar - ten / ſolches in der That zu leiſten / und ietzo noch mit wenigen etwas von denen Mitteln erwehnen / dadurch man einen jungen Menſchen Luſt und attention zum ſtudie - ren erwecken koͤnne / weil dieſes ſehr ſchwer zu ſeyn ſcheinet / ſo gar / daß auch unterſchie - dene wackere Leute / erwachſene Leute / die kei - ne Luſt zum ſtudieren mitbringen / gleichſam verlohren geben / und ſo zu reden fuͤr todte Leute annehmen.

81. Anfaͤnglich zwar iſt nicht zu laͤugnen / daß in dieſem Stuͤck ein ziemlicher Unter - ſchied zwiſchen kleinen Kindern und er -wach -110Das 2. H. von der Geſchickligkeitwachſenen Leuten ſey. Denn zu geſchwei - gen / daß bey kleinen Kindern die Begierde unerkante Warheiten zu erforſchen viel groͤſ - ſer iſt als bey dieſen / ſo iſt auch durchgehends allen Kindern gemein daß ſie gerne ſpielen / und ſolchergeſtalt / wenn man ihnen die Lehren die ſie faͤhig ſind / ſo zu ſagen ſpielende beybrin - get / ſo kan man ihre Luſt zum lernen dadurch uͤberaus anfeuren. Weßwegen auch zweif - felsohne die Schulen in latein ludi literarii genennet worden / ob ſie gleich nach der heuti - gen manier mit beſſern Rechte carnificinæ hieſ - ſen.

82. Aber bey denen erwachſenen iſt die Begierde hinter die unerkante Warheit zu kommen ſchon ſo groß nicht als bey denen Kindern / weil ſie die albereit lange ange - wohnheit zur Wolluſt und Muͤßiggang hier - zu viel fauler und traͤger gemacht. Und ob ſie ſchon / wie leider zu beklagen / die Zeit mehr mit ſpielen verderben / als noͤthig iſt / ſo iſt doch zwiſchen dem Spielen der Kinder / und zwi - ſchen dem ſpielen erwachſener Menſchen ein groſſer Unterſcheid.

83. Die Kinder haben keine gewiſſe und gleichſam durch eine durchgehende mode ein -ge -111andern die Warheit beyzubringen. gefuͤhrte Spiele. Sondern ſie laſſen ſich von denen erwachſenen / denen ſie ohne dem alles nachaͤffen / gar leichte hierinnen vorſchreiben. Und alſo koͤnnen dieſe die Spiele nach ihren Gefallen erfinden und einrichten / damit ſie die Kuͤnſte die ſie denen Kindern dabey bey - bringen wollen / deſto beſſer darauff applicir en koͤnnen / zumahlen die Wiſſenſchafften deren ein Kind faͤhig iſt / ſich auch beſſer im Spielen vorbringen laſſen als ernſthaffte Dinge.

84. Aber die erwachſenen haben Spiele / die durch eine abſondeꝛliche Mode erwachſeneꝛ Leute eingefuͤhret / und derer manier von der manier der Kinder-Spiele gantz entfernet iſt; So ſind auch die Wiſſenſchafften eines er - wachſenen Menſchen ein wenig fuͤr ſeine Spiele zu ernſthafft.

85. Hierzu koͤmt noch ferner / daß man de - nen Kindern deßwegen ein Ding viel ehen - der ſpielende beybringen kan / weil ſie das Spielen an ſich ſelbſt lieben / und eine all - gemeine intention haben / damit nur die Zeit paſſiret werde. Die erwachſenen aber lieben gemeiniglich das Spielen nicht ſo wohl die Zeit zu vertreiben / als daß ſie damit entweder Geld gewiñen oder ſich bey Frau -en -112Das 2. H. von der Geſchickligkeit. zimmer inſinuiren, oder ſich bey groſſen Herren acceß machen moͤgen. Und alſo variret ihre intention hierinnen unendlich.

86. Derowegen wuͤrde man vielmehr de - nen erwachſenen attention und Luſt zum ſtu - dier en machen / wenn man ihnen verſprechen und ſie bereden koͤnte / daß ſie dadurch ohne groſſe Muͤhe viel Geld verdienen / die Gunſt eines gewiſſen Frauen-Volcks / und die Gna - de eines groſſen Herrn gewiß erlangen wuͤr - den / wie nehmlich ein Kind erkennet / daß es ohne groſſe Muͤhe mit Spielen und Lernen die Zeit gewiß paſſiret. Wie aber jenes zu verſprechen nicht in der Macht eines Lehreꝛs ſtehet; alſo wuͤrden auch erwachſene Leute / wenn dieſer gleich ein dergleichen Verſprechen thun ſolte / bald die Nichtigkeit deſſelben be - greiffen.

84. Dannenhero muß man bey erwachſe - nen auff andere Mittel bedacht ſeyn / ihnen eine Luſt und attention zum ſtudieren zu ma - chen. Dieſes wird aber nicht fuͤglicher ge - ſchehen koͤnnen; als wenn man die Urſachen betrachtet / die ſie bewegen / daß ſie einen Ab - ſcheu fuͤr dem ſtudieren haben / und hernach auff die Mittelbedacht iſt / wie dieſe Urſachen gehoben werden koͤnnen.

88.113andern die Warheit beyzubringen.

88. Die Urſachen nun / warumb ein erwach - ſener Abſcheu fuͤr dem ſtudiren hat / ſind entwe - der 1. Weil er das ſtudieren fuͤr ſchaͤdlich haͤlt / indem er ſiehet / daß unter den Gelehr - ten ſo ſchrecklich viel Pedanten ſeyn / denen ihre eitele Einbildung beredet / daß ſie groſſe Monarchen waͤren / wenn ſie eine Heerde Kna - ben mit der Ruthe zu regieren haben / und die ſich vornehmen Land und Leute zu reformi - ren, ob ſie gleich nicht capabel ſeyn ihre eigene Fehler in Schulen zu verbeſſern oder nur zu erkennen; und von dem gemeinen Buͤrger - lichen Weſen / das ſie reformiren wollen / ſo wenig verſtehen daß ſie ſich auch in der gering - ſten erbaren Geſellſchafft extrem proſtituiren, und ein honnêt homme ſie ohne Lachen kaum anſehen kan.

89. Oder aber weil er ſiehet / daß die Ju - gend faſt durchgehends ſo uͤbele mores von dem Studenten-Leben mit nach Hau - ſe bringt / daß man genung zu thun hat / daß man ſie ad vitam ſocialem & civilem tuͤchtig mache / weñ man gleich etliche Jahr an ihnen arbeitet / wenn man ſie nicht von neuen gleich - ſam gantz umbgieſet.

90. Dieſe Urſache iſt eine von den wichtig -Hſten /114Das 2. H. von der Geſchickligkeitſten / und die junge Leute / ſonderlich diejenigen / die manierlich erzogen ſind / koͤnnen nicht anders als mit dem groͤſten Verdruß anſehen / wenn man ſie aus einer artigen und galanten Lebens-Art in ſo eine wilde und wuͤſte Geſell - ſchafftveꝛſtoſſen will / und weil ihr Verſtand noch nicht erlaͤutert iſt die Sachen genungſam zu unterſcheiden / ſo kom̃en ihnen alle Wiſſen - ſchafften und Kuͤnſte in der Geſtalt vor / wie der Scarron ſeine neun Muſen in Kupffer ſte - chen laſſen / oder ſie bilden ſich ein / daß / wenn ſie ſtudier eten / ſie eben ſolche Kerlen werden muͤſſen / wie des Sorels ſein Hortenſius und der Barbon des Balzac ausſiehet.

91. Aber dieſe Betrachtung erwecket nur gemeiniglich bey vornehmer Leute und artig wohl erzogenen Kindern einen Eckel vor dem ſtudieren. Hiernechſt aber iſt noch eine Urſa - che / warumb insgemein alle junge Leute / ſie moͤgen von was Stande ſeyn als ſie wollen / die rechte Gelahrheit fliehen. Sie ſtecken al - le im Muͤßiggang und Wolluſt / (ob gleich ei - ner mehr als der andere) und wir wuͤrden trefflich unvernuͤnfftig handeln / wenn wir uns oder ſie ſelbſt bereden wolten / daß ihnen ihr Muͤßiggang und Wolluſt nicht ſanffte thunſolte.115andern die Warheit beyzubringen. ſolte. Weil ſie demnach aus verfinſterten Ver - ſtande dieſe Wolluſt und den Muͤßiggang fuͤr ihr groͤſtes Gut achten / und von andern Leuten hoͤren / oder auch wohl bey ſich ſelbſt erkennen / daß die Erkentniß der Weißheit und der Fleiß den ſie drauff wenden ſollen / ſie an der Genieſ - ſung dieſes ihres eingebildeten Guts verhin - dern / oder ſie deſſen dermahleinſt gar berauben werde. So koͤnnen ſie nach dem gegenwaͤrti - gen elenden Zuſtand nicht anders als daß ſie 2. Der Weißheit gram werden und ſie fuͤr ſchaͤd - lich halten / weil ſie ſehen / daß dieſelbige ih - rem liebſten Gut zuwider iſt / nicht anders / als ein Krancker oͤffters fuͤr einer Artzeney / die ſeinem Ubel hoͤchſt entgegen iſt / ſolchen Eckel kriegt / daß er dieſelbige ohne Erbrechung und Erſchuͤtterung nicht anſehen kan.

92. Dieſe Urſache gleich wie ſie die allerge - meinſte und vornehmſte iſt / die jungen Leuten einen Verdruß fuͤr dem ſtudiren macht; Alſo iſt ſie auch die allergefaͤhrlichſte / weil es faſt unmoͤglich ſcheinet / ihnen dieſelbe zu beneh - men. Denn wenn ſie gehoben werden ſoll / ſo ſcheinet es / daß man ihren Willen zuvor curi - ren, und ihnen zu der Tugend eine Luſt machen muͤſſe. Nun iſt es aber unmoͤglich / dem Men -H 2ſchen116Das 2. H. von der Geſchickligkeitſchen zu der Tugend eine Luſt zu machen / weñ nicht erſt der Verſtand ausgebeſſert iſt. Und der Verſtand kan nicht ausgebeſſert werden / wenn man denen Leuten keine Luſt und atten - tion macht. Und alſo ſieheſtu / daß wir uns um einen Kreiß herumb aͤngſtigen / und nicht ſehen / wo wir durchkommen koͤnnen. Aber laß uns ietzo noch die andern Urſachen erwe - gen / die die jungen Leute von der Liebe zur Weiß - heit abwendig machen.

93. Denn geſetzt / daß ein junger Menſch e - ben in der Wolluſt und Muͤßiggang noch nicht ſo ſehr vertiefft ſey / daß er ohne Verdruß davon nicht wieder zuruͤcke gezogen werden koͤnte; ſo iſt es doch kein Zweiffel / daß es nicht genung ſey / ihme eine Luſt zum ſtudieren zu machen / wenn er ſich daſſelbige nicht eben als was ſchlimmes und ſchaͤdliches einbildet / aber auch dabey 3. Daſſelbige auch fuͤr nichts gutes und nuͤtzliches haͤlt / ſondern in ſeinen Werth und Unwerth beruhen laͤſt / zumahl wenn er ein wenig die vielfaͤltigen bey der Gelahrheit mit unterlauffenden Eitelkeiten beobachtet / und daß manchmahl ein Schuſter oder Schnei - der / oder ein noch wohl geringerer Mann / der einen guten natuͤrlichen Verſtand hat / nach ſei -nem117andern die Warheit beyzubringen. nem Stande weniger Thorheiten begehet und viel vergnuͤgter lebet / als mancher gelehrter Mann / den man doch nicht eben vor einen Pe - danten halten kan.

94. Dieſe Urſache iſt auch nicht ſo oben hin zu tractiren, weil ſie zum wenigſten eine ſol - che Wahrſcheinligkeit mit ſich fuͤhret / daß wir deßhalben junge Leute nicht fuͤr irraiſonabel halten koͤnnen. Denn wie koͤnnen wir es ei - nen jungen Menſchen zumuthen / daß er es ſich ſolle laſſen ſauer werden etwas zu erlan - gen / davon er keinen ſonderlichen Nutzen ſiehet / da doch das Intereſſe und Eigennutz der groͤſte Zug iſt / der die Menſchen antreibet / keine Ungelegenheit und Verdruß zu ſcheuen. Aber wir wollen ferner gehen.

95. Laß es ſeyn. Es erkenne ein Menſch gleich auch die Vortreffligkeit der Weißheit. Er ſehe ſeinen elenden Stand ſehr wohl / er trage auch Verlangen und wuͤndſche / daß der - ſelbe moͤchte geaͤndert werden. Alleine wie iſt es moͤglich aus denen præjudiciis heraus zu kommen und die rechte Weißheit zu erlernen? Er hat allbereit 25. Jahr oder wohl mehr auff den Halſe. Wie ein Ding zunimmt / ſo ſoll es auch wieder abnehmen. Soll er nun wiederH 325.118Das 2. H. von der Geſchickligkeit25. Jahr zubringen / ehe er weiſe wird / ſo wird er ſeine beſten Jahre / in den er dem gemeinen Weſen am beſten dienen koͤnte / in Erlernung der Weißheit zubringen muͤſſen / und hernach im 50ſten Jahr unvermoͤgend ſeyn / ſeinem Va - terlande einige erſprießliche Dienſte zu leiſten / zumahl da es noch ungewiß iſt / ob er einmahl ſo alt werden werde / daß er das Studium der Weißheit abſolviren koͤnne. Derowegen iſt 4 Die Verzweiffelung / daß man zu alt ſey die Weißheit zu begreiffen offte Urſache dran / die bey jungen Leuten die Liebe zum ſtu - dieren hindert.

96. Man muß auch dieſe Urſache nicht gantz veraͤchtlich halten / ob ſie gleich eher zu heben und lange nicht ſo ſchaͤdlich iſt als die vo - rigen. Denn das iſt natuͤrlich / daß ich ein Gut / an deſſen Erhaltung ich verzweiffele / wenn ich anders nicht gar raſend werden will / anfan - gen muß zu haſſen / oder doch daſſelbe fuͤr ver - aͤchtlich zum wenigſten zu halten.

97. Endlich wenn auch ein junger Menſch gleich ein ſehnlich Verlangen traͤgt / aus ſeinen elenden Stande ſich heraus zu reiſſen / und ſich noch wohl getrauet durchzukommen; ſo man - gelt es ihm doch oͤffters an guten Wegweiſern. Er119andern die Warheit beyzubringen. Er findet ihrer wohl mehr als er verlanget / die ihn in ſeinen guten Vorſatz ſtaͤrcken / und ihm guͤldene Berge verſprechen / wenn er aber Hand anlegt / ſo plaget man ihn mit ein hauffen Leſen und Auswendig lernen. Man haͤlt ihn mit vielen Dingen lange auff / die er ſelbſt begreifft / daß ſie nichts nuͤtze ſeyn. Man ſchreibet ihnen methoden vor / zu deren practicir ung man des Mathuſalæ ſein Alter haben muͤſte. Er ſucht ſolchergeſtalt wohl etliche Jahr lang einen rechtſchaffenen Mann / und gehet von einem zum andern / aber er findet wohl ſchlimmere als er zuvor gehabt / jedoch will ſich kein beſſe - rer finden. Derowegen ſo ſind es 5. die alber - ne Lehrarten / die junge Leute in Unterſuch - ung der Warheiten verdruͤßlich machen / und die ein wenig glimmende Luſt und attention zum ſtudieren, an ſtatt daß ſie dieſelbe anfeu - ren ſolten / ausloͤſchen und erſtecken.

98. Alleine dieſe Urſache muß von dir als die allerleichteſte betrachtet werden / weil in denen erſten vieren der Mangel bey dem Lehr - ling war / bey dieſer aber es einig und alleine bey dir ſtehet / den Verdruß deines Zuhoͤrers zu lindern / wenn du nehmlich ihn dergeſtalt unterweiſeſt / daß er nicht uͤber dich zu klagenH 4hat120Das 2. H. von der Geſchickligkeithat / und daß deine Unterweiſung faͤhig iſt / ſeine anfangende Begierde und attention immer je mehr und mehr zu vergroͤſſern.

99. Aber wie ſind nun alle dieſe Verhinde - rungen zu heben und auszutilgen? Nicht an - ders / als daß du mit guten Glimpff und Freundligkeit jungen Leuten vorſtelleſt / daß ſie ſich entweder von der Gelahrheit einen gantz falſchen concept machen / oder aber aus ei - ner Ubereilung ihr Schluß nicht viel tauge.

100. Z. e. Die 1. wegen der groſſen Menge der Pedant en einen Abſcheu fuͤr den ſtudiis kriegen / denen kanſtu fuͤrſtellen: Daß die Pe - danterey nicht der Weißheit / ſondern den Mißbrauch derſelben / oder vielmehr der Thor - heit / die ſich vor Weißheit ausgiebt / zuzuſchrei - ben ſey. Die Weißheit ſey nicht murriſch / ſauertoͤppiſch / plump / ſaͤuiſch / tuͤckiſch / wie die Pedanter ey / ſondern artig / freundlich / hoͤfflich / reinlich und offenhertzig; Ja man koͤnne die Pedanter ey nicht beſſer erkennen / und ſich da - fuͤr huͤten / als wenn man ſich mit der rechtſchaf - fenen Weißheit recht bekant mache. Und weder Sorel noch Balzac wuͤrden die Pedanten ſo nach dem Leben haben abbilden koͤnnen / wenn ſie nicht ſelbſten weiſe geweſen waͤren.

101. So121andern die Warheit beyzubringen.

101. So muͤſſe man ſich auch nicht an die - belen mores die man insgemein von A - cademien mitzubringen pflege / ſtoſſen / ſondern man muͤſſe entweder ſolche Acade - mien ſuchen / (deren es durch GOttes Gna - de ja noch etliche giebt) da die Profeſſores ſelbſt hoͤfflich / und die ſtudieren de Jugend glimpff - lich und beſcheiden tractiren, da man nicht pro - feſſion von liederlichen Leben mache / ſondern die meiſte Zeit denen ſtudier en obliege; da man ſich des verfluchten duellirens nicht zu befah - ren habe / u. ſ. w. Oder aber / man muß ſich nicht einbilden / daß die Weißheit an Academien gebunden ſey / ſondern man finde uͤberall / an Hoͤffen / in Staͤdten / auff dem Lande hin und wieder weiſe Leute / bey denen man ſich in ſeinen ſtudieren perfectioniren koͤnne. Ein einiger Lehrmeiſter / der geſchickt und treu ſey / ſey viel dienlicher als 20. ungelehrte oder widerwaͤrti - ge / als durch welche man nothwendig muͤſſe confus werden. Man brauche keine privilegia die allgemeine Jrrthuͤmer abzulegen und klug zu werden / ja die Ertheilung noch ſo groſſer pri - vilegien koͤnne weder den Lehrern noch den Zuhoͤrern den geringſten grad von der Weiß - heit mehr geben / als ſie ſonſt haben. Und werH 5was122Das 2. H. von der Geſchickligkeitwas rechts gelernet habe / werde niemahls von dem Orte beruͤhmt / ſondern er gebe vielmehr Doͤrffern / Staͤdten und Laͤndern einen beruf - fenen Nahmen. u. ſ. w.

102. 2. Denen die deßwegen fuͤr dem ſtudie - ren einen Eckel haben / weil ſie glauben / daß die Weißheit ihre Wolluſt und Muͤßiggang zu wider ſey / muſtu wegen obangefuͤhrter Urſa - chen nicht vorhalten / daß du ihnen alle Luſt und Freude nehmen wolleſt / oder daß ihre Luſt ei - tel Thorheit ſey / (denn dieſe lection wird ſie in Anfang vielmehr von der Liebe zur Weißheit alieniren,) ſondern du muſt dich ſie zu gewin - nen ihnen etwas gleich ſtellen / und ihnen die vielfaͤltige Verdruͤßligkeiten zeigen / die ſie bey ihren Muͤßiggang und Wolluſt haben / und ihnen vorſtellen / daß ſie kein recht luſtig und muͤßig Leben wuͤrden fuͤhren koͤn - nen / wenn ſie nicht der Weißheit ſich erge - ben. Oder aber wenn du ſpuͤhreſt / daß ſich ei - nige Ehrgierde bey einen jungen Menſchen blicken laͤſt / muſtu ihn zeigen / daß jemehr er ſich in der Wolluſt und dem Muͤßigang verwi - ckelt / je weniger werde er ſich bey andern einige Ehre zuwege bringen.

103. Bey dieſer Bewandniß aber wird esdir123andern die Warheit beyzubringen. dir nicht ſchwer ſeyn / auch 3. zu erweiſen / daß die Weißheit nicht alleine nichts boͤſes / ſondern auch wuͤrcklich was guts ſey / weil man ohne dieſelbe kein luſtig und freudig Leben fuͤhren / auch nicht zu Ehren kommen koͤnne; ſondern ſie die Weißheit ſey es / die den Menſchen un - terweiſe / wie er allezeit und ſtetswaͤhrend ſich vergnuͤgen und freudig machen ſolle / wie er ſich zu Ehren bringe / wider die Gewalt ſei - ner Feinde ſchuͤtze / und anderer Leute Her - tzen gewinne ſein Gluͤck dadurch zu befoͤr - dern. Und hieran muſt du dich bey dieſem An - fang begnuͤgen laſſen; denn von der wahren Gemuͤths-Ruhe / die die ſiñlichen Luͤſte und die Ehrſucht als groſſe Eitelkeiten verachtet / hat ein ſolcher junger Menſch noch keinen concept.

104. Was aber oben von denen Eitelkei - ten / derer viel Gelehrte / die nicht Pedanten ſind / zugethan ſeyn / angefuͤhret worden / dar - auff muſtu antworten / daß es zwar an dem ſey / daß diejenigen / die ſich in denen Wiſſen - ſchafften am meiſten vertieffen / offt viele Thor - heiten begehen; aber dieſe muͤſſe man abermals nicht der Weißheit / ſondern deren Miß - brauch zuſchreiben / wenn man nehmlich in der Gelahrheit nicht ſo wohl auff die nuͤtzlichen alsbelu -124Das 2. H. von der Geſchichligkeitbeluſtigenden Wiſſenſchafften ſich leget / oder auch in denen nuͤtzlichen nicht ſo wohl das was nuͤtzlich / als was tieffſinnig und ſubtil iſt / ſu - chet. Und ſolchergeſtalt ſey es nichts abſurdes zu ſagen / daß ein Schuſter und Schneider / der einen natuͤrlichen Verſtand hat / und ſei - nem Verſtande nach rechtſchaffen gemaͤß le - bet / viel gelehrter ſey / als ein vornehmer und dem Ruff nach Gelehrter / der ſolches nicht thut.

105. 4. Denen aber / die wegen ihrer Jahre verzweiffeln wollen / daß ſie zu alt waͤren / et - was rechts zu lernen / muſtu vorſtellen / daß man niemahls zu alt ſey die Weißheit zu ler - nen / denn daß ſie es bißher nicht weiter ge - bracht / ſey die Urſache / weil ſie der Warheit verfehlet / und die Jrrthuͤmer / weil ſie keine rechtſchaffene connexion haben und vielfaͤltig ſind / viel ſchwerer zu faſſen ſind als die War - heit / die nur einig und gantz leichte iſt / und daß dannenhero bey ihnen nichts mehr erfordert werde / als daß ſie eine rechtſchaffene Begier - de haben zur Warheit / und daß ſie alle bißhe - rigen Vorurtheile und autorit aͤten wegwerf - fen / und gleichſam alles / was ſie bißher nur in ſpem fortunæ oblivionis gelernet / wiederumver -125andern die Warheit beyzubringen. verlernen / oder vielmehr alsbald in Vergeſ - ſenheit ſetzen / und nichts als etliche wenige un - ſtreitige Warheiten / davon im erſten Capitel geredet / behalten / denn wenn ſie dieſes zu thun geſonnen waͤren / wuͤrden ſie ſehen / daß ſie in zwey oder drey Jahren einen ſo wunderſa - men Fortgang ſpuͤhren wuͤrden / der ihnen zu - vorhero ſelbſt unglaͤublich geſchienen / und wuͤr - den erkennen / daß keine groͤſſere Urſache ſey / warumb andere ſich ſo lange Zeit in Erlernung der Warheit martern und quaͤlen / und doch zu nichts kommen / als weil ſie von der autorit aͤt ihrer Lehrer nicht anders als ein Schiff auff dem Meere von dem Ungewitter immer von einer Seite auff die andere geſchmiſſen wer - den.

106. Und was endlich 5. diejenigen anlan - get / derer Luſt zum ſtudieren und attention durch die uͤbeln Lehrarten verdruͤßlich ge - macht wird / denen muſtu nicht alleine vorſtel - len / daß es auch gute Lehrarten gebe / die die attention und Luſt umb ein merckl[i]ches vermehren; ſondern du muſt dich auch dieſer Lehrarten ſelbſt bedienen.

107. Damit du aber dieſes deſto beſſer be - greiffen moͤgeſt / ſo wollen wir / nachdem wirbißher126Das 2. H. von der Geſchickligkeitbißher von der Erforſchung der capacit aͤt de - rer Lehrlinge genung geredet / uns auch nun - mehro zu der andern lection wenden. Ge - brauche dich einer ſolchen methode in der Unterweiſung deiner wenigen Zuhoͤrer / durch die ihre attention erwecket / ihre Luſt zur Weißheit geſtaͤrcket / ihr Verſtand geſchaͤrffet / die præjudicia taͤglich beſtrit - ten / und die Grund-Warheiten im Ge - gentheil taͤglich befeſtiget und gleichſam unbeweglich gemacht werden.

108. Ja ſagſtu / dieſe methode mag wohl ei - ne vortreffliche gute Lehrart ſeyn. Aber ich moͤchte gerne eine ſolche Lehrart ſehen / da ohne Quackſalberichte Pralerey alle dieſe requiſita zuſammen anzutreffen waͤren. Gewiß / wenn man eine ſolche Lehrart wuͤſte / ſie waͤre mit kei - nem Werth wegen ihrer Vortreffligkeit zu be - zahlen / aber weil dieſes unmoͤglich iſt / ſo koͤmſtu mir mit deiner Lection nicht anders fuͤr als ein Zigeuner / der einen blutarmen Bettler gute Warheit ſaget / und ihm nichts anders ſagt / als: du viel Geld haſt / du reich biſt.

109. Allein mein lieber Freund / die Sache iſt gantz nicht ohnmoͤglich / ja ſie iſt vielmehrgantz127andern die Warheit beyzubringen. gantz leichte und augenſcheinlich / und die Lehrer ſolten ſich ſchaͤmen / daß ſie dieſelbige eine ſo lange Zeit unter die Banck geſteckt / und an deren ſtatt anderer Lehrarten ſich bedienet / die freylich beſagte Zwecke nicht er - halten / ſondern vielmehr die Jrrthuͤmer zu er - halten / und das præjudicium autoritatis zu be - feſtigen geſchickt ſeyn. Derowegen muſtu ſie vor allen Dingen meiden.

110. Denn wie du hier wiederhohlen muſt / was wir albereit oben erinnert / daß man ſei - nen Lehrlingen nichts dictiren, oder ſie aus - wendig ſolle lernen laſſen; alſo mercke noch ferner: haſtu wenig und außerleſene Zuhoͤrer / lieber / diſcurire nicht die gantze Stunde alleine. Jch will zwar mit dieſer Lection das diſcuriren nicht gantz verwerffen; aber ich weiß doch wohl / daß dadurch der Zweck eines treuen Lehrmeiſters nicht ſo vollkommen erhalten wird. Bey dem diſcuriren verhoͤret der Zu - hoͤrer oͤffters das noͤthigſte / und der Lehrer kan des Zuhoͤrers dubia nicht propheceyen / ja er bildet ſich manchmahl eine Sache leichte ein / und diſcuriret nur obenhin davon / die doch dem Zuhoͤrer dunckel iſt / oder aber er haͤlt ſich lange in diſcurſe uͤber einer Sache auff / die doch dem Zuhoͤrer bekant iſt.

111.128Das 2. H. von der Geſchickligkeit

111. 6. So gieb auch nicht leichte zu / daß deine Zuhoͤrer dir deinen diſcurs nach - ſchreiben. Die Urſachen haben wir in der Vorrede der Vernunfft-Lehre allbereit ange - deutet. Jch ſage aber nicht leichte. Denn wenn ein Auditor iſt / der ſchon ein gut judici - um hat / und geuͤbt iſt / (welches aber ſehr rar iſt) dem will ich es eben nicht widerrathen.

112. Du ſchuͤttelſt den Kopff und ſprichſt: was ſoll ich denn machen / wenn ich meine Zuhoͤrer nichts ſoll laſſen memoriren, ſie nicht examiniren, ihnen nichts dictiren, nicht diſcu - riren, ſo werden wir gewiß beyde ſtum̃ ſeyn / und einander anſehen muͤſſen / biß uns bey - den die Weißheit von ſich ſelbſt den Bauch auff - blehet?

113. Nicht ſo hoͤhniſch / mein lieber Freund / ihr ſollet allerdings reden / ihr ſollet alle beyde reden / du und dein Zuhoͤrer. Raiſonire durch continuirliches Fragen und Ant - worten mit deinen Zuhoͤrern. Siehe die - ſes iſt das groß Geheimniß / daß du zuvor un - ſchaͤtzbar hielteſt / und ich theile dir daſſelbige oh - ne Entgeld mit. Ja ich will dir noch mit weni - gen die Bedeutung dieſer Lection und den herrlichen Nutzen derſelben erklaͤren.

114. Wenn129andern die Warheit beyzubringen.

114. Wenn du deinen Zuhoͤrern den Auto - rem welchen du erklaͤren wilt / oder deine eigene Lehrſaͤtze zuvorhero zu uͤberleſen gegeben / ſo fan - ge alſobald daruͤber ein Examen an / und frage dieſelbigen / nicht daß ſie die Worte herbeten / ſondern unterſuche / ob ſie die Meinung be - griffen. Laß ſie dir ſonderlich die definitiones und axiomata herſagen / und gib ihnen die Freyheit / daß ſie ſie mit ihren eigenen Worten periphraſiren doͤrffen. Denn alsden ſieheſtu / ob ſie deine Meinung begriffen / / und kanſt ih - nen deſto beſſer den Mangel / woran ſie gefeh - let haben / zeigen.

115. Und deſto beſſer dahinter zu kom̃en / pro - ponire ihnen Fragen / die aus denen Lehrſaͤ - tzen muͤſſen entſchieden werden. Antwortẽ ſie recht / und geben die Urſachen aus der defini - tion oder dem axiomate, ſo ſieheſtu daß ſie die - ſelbe begriffen. Jedoch begnuͤge dich nicht leich - te an denen definitionibus, wenn ſie nicht alle darinnen enthaltene Worte deutlich erklaͤren koͤnnen.

116. Antworten ſie nicht recht / ſo fahre ſie nicht an / oder contradicire ihnen alsbald / ſon - dern laß ſie dir nur eine raiſon ſagen / warum ſie ſo antworten. Haſtu dieſelbe / ſo bringe ſieIdurch130Das 2. H. Von der Geſchickligkeitdurch andere Fragen von Dingen / die ihnen ſehr bekant ſind / dahin / daß ſie ſich ſelbſt contra - diciren, und ſolchergeſtalt die Thorheit ihrer erſten Antwort erkennen muͤſſen.

117. Haſtu mehr Zuhoͤrer als einen / ſo frage uͤber einer quæſtion auch die andern Zu - hoͤrer. Auff dieſe Art wirſtu leichtlich zweyer - ley auch wohl dreyerley Meinungen uͤber eine Frage heraus kriegen. Laß einen jeden die rai - ſon von ſeiner Antwort ſagen / und die andern / die derſelben zuwider ſind / beantworten. Hilff ihnen anfangs allen beyden / und endlich gib die rechte deciſion, und weiſe denen andern / wor - an es ihnen gefehlet.

118. Aber obſchon bey dieſer converſation dein ordentlich Amt iſt zu fragen / und der Zuhoͤ - rer zu antworten / ſo muſtu doch auch deinen Zuhoͤrern vergoͤnnen zu fragen / wenn ſie nehmlich dubia uͤber deine Lehrſaͤtze haben / und dieſelbe nicht heben koͤnnen. Jedoch befleißi - ge dich / daß du ihnen alſobald durch neue Fra - gen von bekanten Dingen ſelbſten zeigeſt / wie man auff dieſe dubia antworten ſolle.

119. Der Nutzen dieſer Lehrart iſt unbe - ſchreiblich. (1.) iſt ſie leichte und angenehm / ſo wohl fuͤr dich als deine Zuhoͤrer. Wederdu131andern die Warheit beyzubringen. du noch ſie duͤrffen einen diſcurs memoriren, oder ſich bemuͤhen denſelben zu behalten. Sie iſt nichts anders als ein Geſpraͤch zweyer Freunde / das nichts ſchlaͤffrigs in ſich hat / und dabey niemand die Zeit lang wird. Und ſolcher geſtalt macht ſie (2.) denen Zuhoͤrern Luſt zum ſtudieren, und erwecket oder erhaͤlt ihre attention. Sie erforſchet (3.) ihre Jrrthuͤmer und deren Urſprung / und be - nimmt ihn dieſelben von Grund aus. Sie be - feſtiget (4.) die Erkentniß der Warheit / und forciret ſie mit einer angenehmen Gewalt der - ſelben beyzuflichten / weil dieſelbige aus ihren eigenen Antworten hergeleitet wird. Sie ſchaͤrffet (5.) das Judicium, indem ſie ſich ſol - chergeſtalt angewehnen ex tempore von aller - hand Dingen zu raiſoniren, und andern zu op - poniren, oder die gegebene dubia zu heben. Sie erhaͤlt (6.) zwiſchen den Lehrer und denen Zu - hoͤrern eine ſtets waͤhrende Liebe und Ver - trauen. Man kan (7.) vermittelſt derſelben in einem Jahr mehr als in vieren ſonſt aus - richten. Dieſer und keiner andern Lehrart be - dienete ſich vor dieſem Socrates, der gemeine Vater der Weltweiſen.

120. Und wann ſonſt nichts waͤre / als daßI 2man132Das 2. H. von der Geſchickligkeitman denen jungen Leuten Luſt zum ſtudie - ren und attention erweckte / ſo waͤre ſie nur deßhalben unſchaͤtzbar. Es iſt aber gantz of - fenbahr / daß ein junger Menſch ein verteuf - felt Gemuͤth haben muͤſſe / weñ man ein halbes oder auffs laͤngſte ein gantzes Jahr alle Tage nur eine Stunde auff dieſe Art mit ihm raiſo - nir et / daß er nicht ſolte anfangen attent zu wer - den / und Luſt zu dem ſtudieren zu kriegen / weñ er ſiehet / daß die Warheit ſo leichte ſey / und daß er dieſelbe ſelbſt bey ſich habe / und vermoͤgend ſey / neue und zuvor unerkandte Warheiten zu erfinden / und wenn er binnen der Zeit / ſo viel allgemeine Jrrthuͤmer und deren Schaͤdlig - keit hat zu begreiffen angefangen.

121. Fragſtu / wie kommts denn / daß bey - nahe kein Menſch ſich derſelben bedienet? Wundere dich nicht / dieſe methode iſt des præ - judicii autoritatis ihr geſchworner Feind. An dieſem præjudicio iſt vielen Lehrern das meiſte gelegen. Hierzu koͤm̃t noch der Neid und Un - wiſſenheit der Lehrer. Aus dieſen Urſachen hat das ſilentium Pythagoricum ſeinen Ur - ſprung genommen / und man pfleget wohl zu Beſchoͤnigung dieſes Unweſens anzufuͤhren: Ein Narre koͤnne mehr fragen / als ze -hen133andern die Warheit beyzubringen. hen Weiſe antworten. Oder das gewoͤhn - liche aſylum ignor antiæ muß aus dem corpore Juris herhalten: Non omnium dari poteſt ratio. Und daher koͤmmts / daß man junge Leute ſo uͤbel vertragen kan / wenn ſie in der Le - ction oder auſſer derſelben ihre dubia ihren Leh - rern proponiren, und dieſelbigen ein wenig ur - gir en. Weñ es hoch koͤmmt / ſo giebt man ihnen ein Buch / fuͤr deſſen Groͤſſe ſie erſchrecken / oder das ſie noch confuſer macht als ſie zuvor waren / mit nach Hauſe / oder laͤßt ſie ſonſt mit einer lan - gen Naſe und vielen ſincerationen abziehen. Vielweniger kan man diejenigen ertragen / die ſolches in einer oͤffentlichen diſputation thun. Und iſt nichts neues / daß junge lehrbegierige Leute ausgefiltzet werden / als wenn ſie eiteler Ehre geitzig waͤren / und in einer Sache Recht haben wolten / da es doch per præſcriptionem longiſſimi temporis hergebracht ſey / daß die Præceptores und Præſides ipſo Jure das Feld behalten muͤſten.

122. Wir haben bißhero lange genung von denen Lectionibus geredet / die man zu beob - achten hat / wenn man wenig Zuhoͤrer hat. Nun muͤſſen wir auch noch etwas wenigs er - innern / wie man ſich abſonderlich gegen vieleI 3ver -134Das 2. H. von der Geſchickligkeitverhalten ſolle / wenn die Anzahl 20. und mehr iſt. Denn hier will es nicht wohl angehen / daß man die bißhero geruͤhmte methode mit continuirli chen Fragen und examinir en anbringe / weil man ſehr langſam herum kom - men / und die Zuhoͤrer ſolchergeſtalt wenig Nu - tzen davon haben / auch nicht einmahl ſehr at - tent werden wuͤrden.

123. So muß auch ein Lehrer beobachten / daß es nicht fehlen koͤnne / daß nicht bey einer Menge von Zuhoͤrern die ingenia nothwen - dig von unterſchiedener Gattung und un - gleicher capacit aͤt ſeyn muͤßen.

124. Weil es dann bey dieſer Bewandniß nicht moͤglich iſt / daß ein Lehrer præcisè nach aller ihrer capacit aͤt ſich in Lehren auff das ge - naueſte richten koͤnne / auch allbereit zwar oben erwehnet worden / daß das continuirli che di - ſcuriren vielen inconvenientien unterworffen ſey / gleichwohl aber bey einer Menge Audi - torum man keinen beſſern Weg hat als das diſcuriren, (denn das dictiren haben wir ſchon oben als untuͤchtig gantz ausgemertzt /) ſo kanſtu leicht abſehen / daß man bey dem di - ſcurs ein ſolch temperament treffen muͤſſe / daß man den vorgeſetzten Zweck doch zum we -nig -135andern die Warheit beyzubringen. nigſten nur ſo viel als moͤglich iſt / erlangen moͤge.

125. Derowegen befleißige dich in deinen diſcurs, daß du dich mit ſelbigen / ſo wohl nach denen / die langſame als geſchwinde ingenia haben / die von denen Jrrthuͤ - mern viel oder wenig eingenommen ſind / die da Anfaͤnger oder alte Studenten ſind / richteſt / und richte deine Redensart alſo ein / daß du damit die ſchlaͤffrigen auff - weckeſt / und ihnen allen eine Luſt macheſt / die zu deiner Lection deſtinirte Stunden zu beſuchen.

126. Das iſt: Erwege zufoͤrderſt / ob du dei - nen Zuhoͤrern deine eigene Lehrſaͤtze oder ei - nen Autorem erklaͤreſt. Jm erſten Fall befleißige dich / daß du allemahl voran das Hauptweſen der gantzen diſciplin und ih - ren Nutzen deutlich und wohl erklaͤhreſt / denn die Grund-Regeln derſelbigen durch deutliche definitiones und axiomata wohl be - feſtigeſt / und ſie von allen objectionen der Wi - derſacher befreyeſt; ferner bey denen contro - verſien, beyderley Meinungen kuͤrtzlich vor - ſtelleſt / und aus denen allbereit erklaͤhrten Grund-regeln weifeſt / wie dieſelbigen decidi -I 4r et /136Das 2. H. von der Geſchickligkeitr er / und auff die Gegenſeitige Meinung ohne Anſehung einiger autorit aͤt geantwortet wer - den ſolle. Erwehle aber ſolche controver - ſien, die man im gemeinen Leben nutzen kan / der andern entſchlage dich / es waͤre denn / daß dieſelben dem gemeinen Jrrthum nach fuͤr ſehr nuͤtzlich gehalten wuͤrden / und du wolteſt denen Zuhoͤrern die Eitelkeit dieſer Meinung dar - thun.

127. Hierbey aber laß dich nicht verdrieſſen / dann und wann einen angenehmen Schertz / ein ungezwungen Hiſtoͤrgen / ein anmuthig exempel oder caſum mit unter zu miſchen / weil dadurch die Luſt und attention junger Leute fuͤrtrefflich erhalten wird. Und alſo huͤte dich fuͤr zweyen extremis, daß du nicht durch eine Spaniſche und Pedantiſche gravitaͤt deine Zuhoͤrer verdruͤßlich machſt / und daß du an - ders theils durch einen groben oder unzeiti - gen Schertz die Ehrfurcht / die man dir ſchul - dig iſt / nicht verminderſt / ſondern daß du ein ſolch temperament treffeſt / dadurch allezeit zwiſchen dir und deinen Zuhoͤrern eine ehrer - bietige Liebe / und vertrauliche Hochachtung er - halten werde.

128. Erklaͤhreſtu ihnen aber einen Auto -rem,137andern die Warheit beyzubringen. rem, ſo beobachte uͤber die obgemeldten An - merckungen auch dieſes / daß du einen kurtzen diſcurs von dem Autore ſelbſt / ſeinem Ab - ſehen und Lehrart / von ſeinen Tugenden. und Maͤngeln / von ſeinen Adverſariis u - ſ. w. præmittireſt, abſonderlich aber von ſei - nem affect, den er in dem Buche / das du er - klaͤreſt / blicken laͤſt. Denn gleichwie dieſes al - les die Zuhoͤrer attent macht / alſo hat die me - ditation von dem affect eines autoris einen - beraus groſſen Nutzen / ihn deſto beſſer zu ver - ſtehen / und wenn er geirret / den Urſprung ſeines Jrrthumbs zu erkennen.

129. Hiernaͤchſt aber vergoͤnne deinen Zu - hoͤrern / daß ſie auſſer der ordentlichen Stunde einen acceſſ zu dir haben koͤnnen / ihre dubia dir vorzutragen / oder wo ſie dich allenfalls nicht haben recht aſſequiren koͤnnen / dich zu fragen / damit alſo der Mangel / der bey einen continuirli chen diſcurs ſich nothwendig ereignet / in etwas erſetzt werden moͤge.

130. Begehren ſie es auch von dir / ſo kan es nicht ſchaden / wenn du dann und wann ein examen mit ihnen anſtelleſt / dadurch zu er - fahren / ob ſie deine Lehren recht gefaſſet haben. Jedoch wirſtu dich wegen deſſen / was wir all -I 5bereit138Das 2. H. von der Geſchickligkeitbereit oben erinnert haben / huͤten / daß du nicht von ihnen forderſt deine Worte oder dictata herzuſagen / ſondern ihnen dißfalls ihren freyen Willen laͤſſeſt. Denn es muß durch dieſes examen nicht die memorie (wie man etwa die Kinder den Pſalm herbeten laͤſt) ſondern das judicium excolirt werden.

131. Derer bißher gegebenen Lectionum kanſtu dich bedienen / ſo wohl wenn du andern unſtreitig wahre Dinge wilſt zu erkennen ge - ben / als wenn du wahrſcheinliche Sachen ihnen beybringen wilſt. Aber bey dieſer letz - ten Art nimm noch dieſes in acht. Gewehne deine Zuhoͤrer in wahrſcheinlichen Din - gen / daß ſie daſelbſt keine unſtreitigen Warheiten ſuchen / ſondern zufrieden ſind / wenn die Lehrſaͤtze ſehr ſelten triegen / und unter unterſchiedenen Meinungen dieſe fuͤr die wahrſcheinlichſte halten / bey der der wenigſte Zweiffel / oder die wenigſte Gefahr iſt.

132. Die Urſachen dieſer Lection kanſtu nur aus dem Hauptſtuͤcke des erſten Theils / das von wahrſcheinlichen Dingen handelt / zuſam - men ſuchen / als worinnen faſt kein paragra - phus iſt / der dir nicht die Warheit derſelben zu erkennen geben ſolte.

133.139andern die Warheit beyzubringen.

133. Gleichwohl wird insgemein darwider angeſtoſſen. Die Weißheit iſt bey vielen gar zu hoch geſtiegen / daß ſie auch in Dingen / die zur demonſtration nicht gebracht werden koͤnnen / beynahe mathematiſche demon - ſtrationes ſuchen / als zum exempel in ver - gangenen und zukuͤnfftigen Dingen / in der Lehre von der Bewegung / vom Urſprung der Dinge / von denen finibus und natuͤrlichen Wuͤrckungen der Geſchoͤpffe auſſer dem Men - ſchen / von denen Geiſtern / denen elementen, meteoris, von dem Waſſer / Feuer und Lufft / von denen himmliſchen Coͤrpern / da dir doch das 11. Hauptſtuͤck der Vernunfft-Lehre wei - ſen wird / daß man in allen dieſen Sachen nur wahrſcheinliche Dinge wiſſen koͤnne. Andere gehen noch weiter / und wollen die Jurispru - denz zur demonſtration bringen / und in de - nen Dingen / die von der Willkuͤhr des Men - ſen dependiren, und taͤglichen unzehlichen Veꝛ - aͤnderungen unterworffen ſind / eine Gewißheit ſuchen.

134. Wiewohl wir dadurch diejenigen nicht tadeln / die ſich dergleichen Sachen zu einen hohen grad der Wahrſcheinligkeit oder zu einer demonſtratione hypotbetica zu bringentrach -140Das 2. H. von der Geſchickligkeittrachten / denn dieſes haben wir ſchon in der Vernunfft-Lehre eingeraͤumet.

135. Wiederumb iſt nichts gebraͤuchlicher / als daß in dergleichen materien diejenigen / de - nen man die Wahrſcheinligkeit zu erkennen ge - ben will / ſich oͤffters einbilden / daß ſie genung Uꝛ - ſache an der Warheit der Lehrſaͤtze / ſo man dar - innen zu geben pflegt / zu zweiffeln haͤtten / wenn ſie nur eine einige inſtanz geben koͤñen / in welchen dieſelbigen nicht angehen / oder weñ ſie nur ſehen / daß es moͤglich ſey / daß ſie dann und wann triegen koͤnnen / welches doch gewiß ſehr unvernuͤnfftig gehandelt heiſt.

136. Es iſt nichts mehr uͤbrig / als daß wir noch etwas weniges von denen Schrifften abſonderlich erinnern / von denen wir geſagt haben / daß man ſie gemeiniglich fuͤr Gelehrte verfertige. Wiewohl nun hierbey ſehr viel zu erinnern waͤre / wegen der vielfaͤltigen Jrr - thuͤmer / die allenthalben in Buͤcherſchreiben eingeriſſen / ſo wollen wir doch jetzo nur die vornehmſten Lectiones mit wenigen anmer - cken.

137. Wilt du Buͤcher ſchreiben andern die Warheit beyzubringen / ſo ſchreibe aus deinem eigenen Kopffe / und nicht aus an -dern141andern die Warheit beyzubringendern zuſammen. Denn dein Vorhaben iſt ja nicht der Welt zu weiſen / was andere fuͤr eine Erkentniß von der Warheit gehabt ha - ben / ſondern wie du ſie ſelbſten erkenneſt. Und wenn du nicht vermoͤgend biſt aus deinem Kopffe was zu ſchreiben / ſo iſt es gewiß ein Anzeichen daß du die Warheit ſelbſt noch nicht begreiffeſt / und folglich wider die Haupt-Lecti - on, die wir im Anfang dieſes Haupſtuͤcks gege - ben haben / groͤblich anſtoͤſſeſt.

138. Und gewiß / wenn die Leute insgemein nicht wolten eher Buͤcher ſchreiben / ehe ſie es koͤnten / ſo haͤtten wir nicht ſo unzehlig viel Diſputationes, Compendia, Syſtemata, Tractatus, Volumina u. ſ. w. die absque judicio aus andern Autoribus zuſammen geſchmieret ſeyn / daß wenn man bey vielen folianten die loca Autorum wegnaͤhme / wuͤrde das uͤbrige eigene Werck des Autoris kaum manchmahl ein duͤnne ſedez Baͤndchen aus - tragen.

139. Jch ſage aber mit Fleiß / wenn du Buͤ - cher ſchreibſt andern die Weißheit beyzu - bringen. Denn wenn deine intention iſt / wahrſcheinliche / als zum exempel hiſtori - ſche Dinge / oder auch von gelehrten Fra -gen142Das 2. H. von der Geſchickligkeitgen etwas hiſtoriſcher weiſe zu beſchreiben / oder auch die Widerſacher der Warheit zu beantworten / ſo beſcheide ich mich gar wohl / daß du ſehr wohl thun wirſt / wenn du derer Scribenten ihre eigene Worte anfuͤhreſt / wie - wohl auch hierinnen ein judicium gebraucht werden muß.

140. So will ich auch nicht darwieder ſeyn / daß du / wenn der Grund deines Buchs aus deinem Kopff geſchrieben iſt / dann und wann deine Meinung mit der Beypflichtung ande - rer Autorum oder aus denenſelben hergenom - menen Exempeln ausziereſt. Aber geden - cke / daß es ein bloſſer Zierath ſeyn muͤſſe / und dannenhero eine unzierliche Sache (z. e. ein aus einem Scholaſtico mit 50. barbarisſimis diſtinctionibus Metaphyſicis angefuͤlleter locus) nichts auszieren koͤnne / uͤber dieſes auch ein jed - weder Zierath etwas reelles, das ausgezie - ret werden ſoll / præſupponire.

141. Derowegen ſo laͤcherlich als es ſeyn wuͤrde / wenn mann gute Freunde zu Gaſte bitten wollte / und ſetzte ihnen lauter mit Blu - men ſchoͤn ausgezierte leere Schuͤſſeln vor / ſo laͤcherlich iſt es auch / wenn man denen Ge - lehrten in dem titel eines Buchs verſpricht voneiner143andern die Warheit beyzubringen. einer gelehrten materie zu ſchreiben / und fin - den hernach in dem Buche ſelbſt nichts als ſol - chen Zierrath an. Es muͤſſen ſich ſolche Leute / die nicht drey Zeilen von den ihrigen zuwege bringen koͤnnen / ſondern bloß die Oerter ande - rer Scribenten connectiren, hernach nicht ver - drieſſen laſſen / wenn man ſie mit trunckenen Leuten vergleicht / die nicht mehr gehen und ſtehen koͤnnen / ſondern ſich an den Waͤnden nach Hauſe leſen muͤſſen / und ſich / wenn ſie fallen wollen / an alles halten / was ihnen vor - koͤmmt / wenn es auch ein Strohhalm ſeyn ſolte.

142. Ferner weil du in deinen Schrifften dir vornehmem ſolſt / das Gemuͤthe der Leſer zu ſpeiſen / ſo mache es wie ein guter Hauß - wirth / der richtet ſich nach dem Geſchmack ſeiner Gaͤſte. Ob nun abeꝛ wohl der Geſchmack des menſchlichen Verſtandes gar zu vielfaͤltig / und dannenhero es unmuͤglich iſt / allen recht zu machen / ſo muß man ſich doch befleißigen / die Speiſe nicht auff eine ſolche Art zuzurich - ten / die insgemein zuwider iſt / oder die denen Speiſen ein groſſes Anſehen macht / da doch dieſelbigen nicht ſufficient ſeyn den appetit zu ſtillen. Derowegen befleißige dich einer ſol -chen144Das 2. H. von der Geſchickligkeitchen Schreibart / die vernuͤnfftig gelehr - ten Leuten nicht unangenehm iſt / und ih - nen mehr Warheit als lehre Worte bey - bringet.

143. Das iſt: Huͤte dich / daß du in Schrif - ten fuͤr gelehrte Leute nicht mit gantzen Waͤgen von Syllogiſmis auffgezogen koͤmmſt / und daß nicht auff allen Blaͤttern Quicquid. Atqui. Ergo. Diſtinguo. Applico. Limito. Probo Majorem. Concluſio eſt abſur - da u. ſ. w. zu leſen ſey. Denn gewiß die ge - lehrte Welt iſt heut zu tage zu galant dazu / daß ſie an dieſen Diſteln / die zwar eine angenehme Speiſe ſeyn fuͤr die Maͤgen der Herrn Magi - ſtrorum noſtrorum Colonienſium, einen Ge - ſchmack finden ſolte. Und dieſer Zierath iſt ja ſo unvernuͤnfftig / als wenn ein Orator eine oration ſchreiben / und in dem text die regeln aus der Grammatic, oder die figuren aus der Rhethoric, die er angebracht haͤtte / mit anfuͤh - ren / und dieſelben deutlich anzeigen wolte.

144. Aber ſiehe dich nur ein wenig in der Welt umb / ſo wirſtu gewiß befinden / daß die Magiſtri noſtri Colonienſes noch nicht ausge - ſtorben ſind. Und iſt es deßwegen nicht noͤthig dir exempel zu geben / ſo wenig es noͤthig iſt /dir145andern die Waͤrheit beyzubringen. dir exempel ſchwartzer Raben zu zeigen. So heiſt es auch uͤber dieſes: Exempla ſunt odioſa.

145 Hiernechſt huͤte dich / daß du dich zu - mahl in denen Dingen / die des Menſchen Thun und Laſſen betreffen / nicht an den in Schulen eingefuͤhrten methodum cau - ſarum, adjunctorum, contrariorum, bin - den laͤſt / oder ſo ſelten als es moͤglich iſt / dich deſ - ſen bedieneſt denn ob man ſchon denſelben nicht gantz verwirfft / ſo gehet doch dabey ſo viel Miß - brauch vor / den wir anderswo mit mehrern be - ruͤhret / daß dieſe methode gelehrten Leuten von delicaten Geſchmack nicht anders als ver - drießlich ſeyn kan.

146. Jſt es nicht wahr / wenn einer dei - ner guten Freunde des Sonnabends dich mit einer anſehnlichen compagnie zu Ga - ſte bittet / und ſetzt dir nichts als Sauerkraut / Hering / Stockfiſch / u. ſ. w. vor / du und die andern Gaͤſte wuͤrdet greulich murren / wenn euch der Wirth gleich ein groß compliment machte / daß in ſeinem Hauſe kein dies bratibi - lis ſey / und daß ſeine Herrn Koſtgaͤngeꝛ / worun - ter viel vornehmer Leute Kinder waͤren / dieſe tractamente gerne aͤßen / und die Finger dar - nach leckten. Was woltet ihr aber erſt ſagen /Kwenn146Das 2. H von der Geſchickligkeitwenn er euch rauchrichten Gritze / und mit ſtinckichten Fett gemachtes Waſſer muß vorſetzte / und mahnete euch an / ihr ſoltet friſch eſſen / denn von Waſſer muß und Gruͤtze wuͤr - de man groß und ſtarck.

147. Nun ſiehe dich wieder umb / was man dir fuͤr Trachten in den Diſput ationibus und andern gelehrt ſeyn ſollenden Schrifften vor - ſetzt / und ob man nicht beynahe der abge - ſchmackten Meinung ſey / es koͤnne kein gelehrt Buch geſchrieben werden / daß nicht ſecundum quatuor genera cauſarum eingerichtet waͤre. Und gewiß / wir Juriſten haben ſelbſt nicht Urſache / uns in dieſem Stuͤcke vor andern Ge - lehrten breit zu machen.

148. Endlich ſetze dem Leſer keine leeren Worte vor / da nichts darhinter iſt. Denn wie wolte dir es gefallen wenn man dich zu Ga - ſte baͤte / und legte dir kein Brodt vor / oder ſetz - te dir lauter Schau-Eſſen vor / deren du nicht genieſſen koͤnteſt.

149. Der Verſtand eines weiſen Mannes iſt begierig Wahrheit in deiner Schrifft zu finden / und du kanſt ſeine Begierde nicht beſ - ſer ſtillen / als wenn du ihm dieſelbe mit Hauf - fen giebſt / und mit vergeblichen Wortennicht147andern die Warheit beyzubringen. nicht auffhaͤlteſt / oder mit verfuͤhriſchen Wor - ten ihn an Statt der Warheit Jrrthuͤmer bey - bringen wilſt.

150. Denn ein Begieriger iſt ſeinem Wirthe mehr verbunden / wenn er ihm eine Schuͤſſel voll ausgemachte Welſche Nuͤſſe vorſetzt / als wen er ihm die Muͤhe uͤberlaͤſt / den Kern ſelbſt aus denen harten und unſauber machen - den Schaalen hervor zu ſuchen. Wenn er ihm aber anſtatt rechten Obſts Stein - oder Wachs-Fruͤchte vorſetzte / wuͤrde gewiß der Gaſt uͤbel zufrieden ſeyn / wenn gleich dieſe ge - kuͤnſtelte Fruͤchte noch ſo ſchoͤn ausſaͤhen.

151. Derowegen mercke / daß die leeren Worte zweyerley ſeyn: Etliche ſind eitel und ungeſchmack / die doch der Warheit nicht eben Schaden thun / aber doch dieſelbe unangenehm machen. Als wenn man auff allen Blaͤttern und in allen paragraphis erinnert / was man bißher geſagt habe / und kuͤnfftig ſagen wolle; wenn man mit groſſem Wortgepraͤnge und groſſen Umbſchweiff ſagt / was man mit drey Worten viel deutlicher haͤtte melden koͤnnen.

152. Etliche Worte ſind hierneben auch ver - fuͤhriſch und der Warheit ſchaͤdlich / wenn man ſich der Rhetoriſchen figuren bedienet /K 2des148Das 2. H. Von der Geſchickligkeitdes Leſers affect zu bewegen / daß dasjeni - ge / was unſere Gruͤnde nicht zu thun vermoͤ - gen / er ſich ſelbſt durch unſere ſchoͤnen Worte berede. Die Warheit gleichwie ſie ſelbſt na - ckend iſt / alſo braucht ſie des gekuͤnſtelten An - ſtrichs der Redner-Kunſt nicht / ſondern iſt fuͤr ſich ſchoͤn genug. Und du muſt einen groſſen Unterſcheid machen / daß du mit vernuͤnfftigen Leuten in deinen Schrifften zu thun haſt / und daß du nicht in willens biſt dem unverſtaͤndigen Poͤbel etwas zu bereden.

253. Ja du wirſt dir ſelbſten durch dieſe Schreibart bey weiſen Leuten mehr ſchaden als nutzen. Denn an ſtatt daß du vermei - neſt ihre affecten zu ruͤhren / werden ſie viel - leicht deinen eigenen / z. e. deinen Hochmuth / deine Rachgier / deine fleiſchlichen Begierden dadurch kennen lernen / an ſtatt daß du ihnen zeigen wilſt / daß du weiſe ſeyſt / werden ſie dich vielmehr fuͤr einen Sophiſten halten.

154. Es iſt wohl wahr / du wirſt viel finden / die an eiteln und ungeſchmackten Worten / noch mehr aber / die an praͤchtigen und affe - ctens - vollen Redens Arten einen groſſen Ge - fallen haben / aber du wirſt ihrer auch finden / die ein groß Belieben haben / den Kern einer ſuͤſ -ſen149andern die Warheit beyzubringen. ſuͤſſen Frucht ſelbſten aus unflaͤtigen Schalen auszumachen / und nochmehr / denen nichts gut ſchmecket / was nicht Honigſuͤſſe und von Zu - cker gleichſam verderbet iſt. Aber reinliche Leute / und die keinen verderbten Geſchmack haben / pflegen dieſes nicht zu thun. Gleich - wie ſich nun ein guter Koch nach denſelben richten muß / alſo ſoll auch ein die Weißheit liebender in ſeinen Schrifften ſich nicht nach Pedanten oder zaͤrtlichen Nahmen Gelehrten richten / ſondern nach rechtſchaffenen Weiſen. Ein weiſer Mann aber liebet allein die War - heit. Und die Warheit iſt zwar reinlich / aber ſie haſſet alle Schmincke.

Das 3. Hauptſtuͤck. Von der Geſchickligkeit die von andern vorgelegte Warheit odeꝛ Jrrthuͤmer zu begreiffen und verſtehen.

Jnnhalt Connexion §. 1. 2. 3. 4 5. Denen drey Tugenden eines Lehrers / nehmlich der Deutligkeit / Treue und Freundligkeit / §. 6. ſollen drey Tugenden des Zu - hoͤrers correſpondiren / nehmlich die attention, das Vertr[a]uen und die Liebe. § 7. die er ſelbſt nicht muth villig hindern muß. §. 8. Weil alsdenn / wennK 3der150Das 3. H. von der Geſchickligkeitder Lehrer das ſeine thut / die Schuld hierinne ihm alleine beyzumeſſen iſt. §. 9. und er dadurch nicht den Lehrer / ſondern ſich ſelbſt den groͤſten Schaden thut. §. 10. auch damit die Deutligkeit / die Treue und die Freundligkeit des Lehrers erſticket. §. 11. Etliche Lectiones fuͤr die Zuhoͤrer die gemeinen Fehler zu meiden. §. 12. 1. Verſaͤume keine Stunde / denn ſonſt binderſt du deine attention. §. 13. 2. Ent - brich dich zur Zeit der Lehre alles deſ - ſen / was deine Gedancken verunruhigen oder ſchlaͤfferig machen kan / denn ſonſt kanſt du wieder nicht attent ſeyn. §. 14. 3. Frage deinen Lehrer bey Zeiten / wenn du ei - nen Zweiffel haſt / denn dadurch gibſt du ihm dein Vertrauen zu erkennen §. 15. 4. Su - che nicht mit Fleiß Zweiffel in der Leh - re / denn dieſes thut ein Mißtrauiger §. 16. 5. Thue was dir dein Lehrer rathet / und betriege ihn nicht mit Worten. 6. Ent - zeug ihm die gebuͤhrende Ehrerbie - tung nicht / denn beydes erfodert die Liebe. §. 17. 18. Tranſitio ad doctrinam de interpretatione. §. 19. 20. 21. Dieſer Lehre Nutzen / §. 22. und darn - nen vorkommende gemeine Jrrthuͤmer §. 23. Be - ſchreibung der Auslegung §. 24. 25. Die in engern Gebrauch genommen wird. §. 26. fuͤr die Ausle - gung geſchriebener Dinge §. 27. und zwar nicht ei - gener §. 28. Ob die interpretatio avthentica der doctrinali, oder dieſe jener nachgeben muͤſſe. §. 29. 30. Die Auslegung iſt nur umb eines andern Mei - nung / nicht aber umb die Warheit derſelben be - kuͤmmert. §. 31. Sie hat mit dunckelen Reden zu thun. §. 32. Deren Verſtand man aus andern deut -lichern151andere zuverſtehen. lichern Zeichen erlangen muß. §. 33. Unterſcheid in - terpretationis Grammaticæ & Logicæ §. 34. Wenn die Duncke heit ſo groß / daß man ſie gar nicht ver - ſtehen kan / ſo muß man das Auslegen bleiben laſſen. §. 35. Vornehmſte Urſachen die eine Rede ſchwer zu verſtehen machen. §. 36. Solches ruͤh[r]et entweder aus der euſerlichen Geſtalt der Worte her. §. 37. Wenn die Buchſtaben verzogen ſind. §. 38. Wenn man abbreviaturen macht. §. 39. Wenn man eines fuͤr das andere ſchreibet. §. 40. Wenn was ausge - ſtrichen und corrigiret worden. §. 41. Wenn was ausgelaſſen worden. §. 42. Wenn die commata und puncta nicht recht geſetzet ſind. §. 43. Oder aus der innerlichen Bedeutung derſelben 1. Wenn die Wor - te gar zu alt ſind. §. 44. 2. Wenn man neue Worte macht. §. 45. 3. Wenn man ſich fremder Worte bedienet. §. 46. 4. Wenn die Worte zweydeutig ſind / und mehr als einen Verſtand haben. §. 47. 48. 49. 50. 51. 5. Wenn die Rede verrwirret iſt. §. 52. 53. 6. Wenn eine Rede der andern wiederſpricht. §. 54. 55. Die Regeln einer guten Auslegung gruͤn - den ſich nur auff Warſcheinligkeiten §. 56. Denn weil durch deutliche Worte bey andern niemahlen eine unſtreitige Erkaͤntnuͤß erwecket wird. §. 57. ſo wird ſolches vie weniger durch die muthmaͤßliche Auslegung dunckeler und zweydeutiger Worte ge - ſchehen koͤnnen. §. 58. Ja zuweilen ſind die Muth - maſſungen auff beyden Theilen ſo gleich / daß ſie ein ander gaͤntzlich die Wage halten. §. 59. Und alſo thut man unrecht / daß man uͤber der Auslegung zwey - deutiger Worte mit andern heff[t]ig diſputiret §. 60. 61. Ein guter Ausleger muß einen guten und faͤhi - gen Verſtand haben. §. 62. den er doch auff vieler - ley Weiſe forthelffen kan. §. 63. Es ſind ſehr viel Regeln / darinnen man bey der Auslegung ſichK 4gruͤn -152Das 3. H. von der Geſchichligkeitgruͤnden kan §. 64. I. Betrachte eines Au - toris ſeinen Stand und affect §. 65. 66. II. Gib achtung von was und was er rede. §. 67. 68. 69. III. Betrachte das vorhergehende und nachfolgende / und was er anders wo geſchrieben. §. 70. 71. Urſachen warum man zuweilen ſeine Meinung aͤn - dert. §. 72. So dann iſt allezeit die letzte Meinung fuͤr die rechte zu halten. §. 73. Es waͤre denn / daß man an dem letzten Orte nur obenhin von einer Sache gehandelt / und dieſelbe nicht recht bedacht haͤtte. §. 74. Oder daß in Verneuerung der Con - tracte einer den andern zuvervortheilen geſucht haͤt - te. §. 75. IV. Wehle denjenigen Ver - ſtand / der nicht unvernuͤnfftig iſt / und die Sache davon gehandelt wird / nicht umſtoͤſſet. §. 76. 77. Welche Regel ſon - derlich die Juriſten in Teſtamenten brauchen. §. 78. Es waͤre denn / daß man ausdruͤcklich ſehe / daß ein Menſch haͤtte unvernuͤnfftig handeln und poſſen treiben wol - len. §. 79. Man ſoll in Erklaͤrung eines Autoris alle ſeine Worte gut auslegen / ſo lange man ſol - ches wahrſcheinlich thun kan. §. 80. V. Mache die Auslegung ſo / daß dieſelbe mit ei - nes Autoris Grund-Regeln / oder mit der Urſache / warum er etwas will ge - than haben / uͤberein komme. §. 81. 82. Wenn er ſich nur nicht ſchein gruͤnde / oder Schein - Urſachen bedienet. §. 83. 84. Zu Erforſchung ſol - cher Grund-Regeln und Urſachen muͤſſen wir uns oͤffters neuer Muthmaſſungen bedienen. §. 85. Und uns anderer ihre albereit gemachte Auslegungennicht153andere zuverſtehen. nich trren laſſen. §. 86. 87. So duͤrffen wir auch die - ſe Regel nicht mißbrauchen / wenn ein Geſetze der draushergeleiteten Auslegung ausdruͤcklich zu wie - her iſt. §. 88. 89. Oder wenn die Scribenten wieder die conſeqventien / die man aus ihren Grund-Saͤ - tzen macht / ernſtlich proteſtiren. §. 90. 91. Daß man in Auslegung auff die orthographie und inter - punctio nachtung geben muͤſſe / gehoͤret mehr zu der interpretatione Grammatica. §. 92 Unterſchiedene Arten der Auslegung § 93. Die Uberſetzung §. 94. gehoͤret zu der interpretatione Logica. §. 95. Ein Uberſetzer muß mehr auff den Verſtand als auff die Worte ſehen. §. 96. Maͤngel der gemeinen Uber - ſetzungen in das Lateiniſche oder Teutſche. §. 97. Interpretatio Avthentica & uſualis §. 98. Doctri - nalis vel explicativa, vel mentalis. §. 99. Mentalis vel declarativa, vel Extenſiva, vel Reſtrictiva. §. 100. 101. 102. 103. Bey allen dieſen dreyen Arten kan man die obigen Regeln brauchen. §. 104. Wiewohl ſie nach Gelegenheit der unterſchiedenen Arten pflegen mit unterſchiedenen Worten vorgebracht zu werden. §. 105. 106. Gemeiner Jrrthumb der Juriſten, daß jede Art der Auslegung von ietzterwehnten dreyen ihre abſonderliche Regeln haben muͤſſe / hat viel fal - ſche und unnuͤtze Regeln zum Vorſchein gebracht. §. 107. z. e. Bey der interpretatione declarativa: Daß man bey entſtehenden Zweiffel die Worte ſo lange in eigenen Ver - ſtande nehmen muͤſſe / biß eine abſurdi - taͤt draus folge. §. 108. Welcher Regel Nich - tigkeit deutlich erwieſen wird. §. 109. 110. 111. 112. ſo wohl auch einer andern / die draus folget: Daß man in denen Teſtaments Worten ordentlicher Wei - ſe auff den eigenen Verſtand ſein Abſehen richten muͤſſe / §. 113. 114. Worzu dergleichen Regeln gem[]-A 5braucht154Das 2. H. von der Geſchickligkeitbraucht werden. §. 115. Ein ander Exempe / in in - terpretatione extenſiva & reſtrictiva: Favorabilia eſſe extendenda, odioſa reſtringenda. §. 116. 117. 118. Woraus noch andere falſche Regeln herſproſſen. §. 119. als: Beneficia Principis eſſe extendenda & latè accipienda §. 120. Pœnales Leges & Statuta parti - cularia eſſe reſtringenda. §. 121. 122. 123. 124. Wenn die Auslegung unmoͤglich iſt / muß man dieſelbe biel - ben laſſen. §. 1[2]5. Nehmlich wenn man 1. das ge - ſchriebene gar nicht leſen kan. § 126 2. Wenn die Worte gar keine Bedeutung haben. §. 127 3. Wenn fuͤr beyderley wiedrige Bedeutungen gleiche Muth - maſſungen ſind. §. 128. 129. Manchmahl kan man wohl beyderley Bedeutungen paſſiren l[a]ſſen. §. 130. 131. Erklaͤrung wie es moͤglich ſey / daß eine Rede zweyerley Verſtand haben koͤnne. §. 132. 133 134. 135. 136. Daß ein Autor ein gantz verborgenes Abſehen haben koͤnne / als er mit Worten zeiget. §. 137. Sen - ſus myſticus in denen Satyriſchen Schrifften. §. 138. und in denen Fabeln. §. 139. Unterſcheid zwiſchen der interpretatione literali & Myſtica §. 40. Bey dieſer muß man mit dem Autore wohl bekant ſeyn. §. 141. und die Diſciplin, daraus die Lehre genom - men iſt / wohl verſtehen. § 1[4]2. Gemeine Jrrthuͤ - mer circa interpretationem myſticam. §. 143. 144. 145. 146. 147. 4. Wenn der Wort Verſtand gantz verwirret iſt. §. 148. 149. 5. Wenn ſich einer ſelbſt oder ihrer zwey ausdruͤcklich wiederſprechẽ §. 150. Ge - meine Jrrthuͤmer wieder dieſe Anmerckung. §. 151. 152. Bey dergleichen unauffloͤßlichen uñ andern Faͤllen kan ein Fuͤrſte wohl gewiſſe regulas interpretandi geben. §. 153. Etliche Exempel hiervon aus denen Roͤmi - ſchen Rechten. §. 154. 155. Unterſchied zwiſchen der Interpretatione Legali & Logica. §. 156. Solche Regelu muͤſſen nicht unter die Falſchen gerechnetwerden155andere zuverſtehen. werden / §. 157. Wenn man ſie nur nicht mißbraucht §. 158. Man muß ſich nicht bemuͤhen Dinge auszu - legen / die keinen Nutzen haben. §. 159. 160.

1.

WJr haben oben geſagt / daß wir in die - ſem Buche davon handeln wolten / theils wie man ſeinen Verſtand recht brauchen / theils wie man andern damit die - nen ſolle. Jenes hat das erſte Haupſtuͤck gewieſen / in welchem wir von der Geſchicklig - keit gehandelt / der Warheit nachzudencken.

2. Dieſes beſtehet entweder darinnen / daß wir andern die erkandte Warheit beybrin - gen / worvon wir im vorhergehenden Hauptſtuͤck gehandelt / theils daß wir ihnen die Jrrthuͤmer benehmen / oder die erkandte Warheit wider diejenigen / ſo an deren ſtatt die Jrrthuͤmer verfechten / vertheydigen / wor - von das letzte Hauptſtuͤck handeln wird.

3. Jn dem gegenwaͤrtigen wollen wir von der Geſchickligkeit handeln / wie man andere verſtehen / und das / was von ihnen geſagt wird / begreiffen ſolle. Und wir koͤnnen die - ſe Geſchickligkeit zu jedweden von jetztbeſag - ten zwey Theilen bringen / wie wir wollen / denn die Uberſchrifft des Hauptſtuͤckes hat gemeldet / daß wir von der Geſchickligkeit ſowohl156Das 3. H. von der Geſchickligkeitwohl die Warheit als den Jrrthum zu be - greiffen reden wollen. Auff beyderley Wei - ſe haben wir dieſe Betrachtung nicht fuͤgli - cher als hieher ordnen koͤnnen.

4. Denn wollen wir ſie mit dem vorigen Hauptſtuͤck connectiren, ſo iſt zwiſchen dem Lehrmeiſter und dem Zuhoͤrer eine noͤthi - ge relation, und wird ſich alſo nicht uͤbel ſchi - cken / wenn wir dem Zuhoͤrer in dieſem Ca - pitel etliche Lectiones geben / nachdem wir im vorhergehenden von der Schuldigkeit eines Lehrers geredet.

5. Wollen wir ſie mit dem letzten Haupt - ſtuͤck verknuͤpffen / ſo koͤnnen wir ſagen / daß wenn wir andern ihre Jrꝛthuͤmer benehmen / o - der die Warheit wider die Jrrthuͤmeꝛ verthey - digen wollen / wir (1.) die Jrrenden verſte - hen / und ihre Meinung recht einnehmen; hernach (2.) davon urtheilen / und (3.) die Jrrthuͤmer in der That antaſten muͤſſen. Von dem erſten handelt dieſes Hauptſtuͤcke / von dem andern wird das folgende / und von dem dritten das letzte reden.

6. Was demnach erſtlich die Geſchickligkeit betrifft die Warheit / die uns von andern bey - gebracht wird zu begreiffen / ſo muͤſſen wir vondenen157andere zu verſtehen. denen Tugenden eines guten Zuhoͤrers et - was reden / nachdem wir im vorhergehenden Capitel von denen Tugenden eines Lehrers gemeldet / und zwar dißfals ſonderlich dreyer - ley recommendiret, die Deutligkeit / Treu und Freundligkeit.

7. Dieſe drey Tugenden eines Lehrers zie - len zwar dahin / andere drey Tugenden bey denen Zuhoͤrern zu erwecken / ohne welche niemand geſchickt wird ſeyn / etwas tuͤchtiges zu lernen. Denn mit ſeiner Deutligkeit bemuͤhet ſich ein Lehrer / ſeinen Zuhoͤrer at - tent zu machen / mit ſeiner Treue will er es dahin bringen / daß der Zuhoͤrer ein Vertrau - en zu ihn kriege / mit ſeiner Freundligkeit ſu - chet er des Zuhoͤrers Liebe zu erwecken; Je - doch muß der Zuhoͤrer auch das ſeinige dar - bey thun / daß er dieſe attention, dieſes Ver - trauen und dieſe Liebe befoͤrdere / und nicht muthwillig verhindere.

8. Denn wenn der Lehrer noch ſo ſehr ſich angelegen ſeyn laͤſt / ſeinen Zuhoͤrern die Weiß - heit beyzubringen / ſie wollen aber ſelbſt nicht mit helffen / oder widerſtreben freywil - lig / ſo wird ſo wenig ein erwuͤnſchter Zweck zu hoffen ſeyn / als wenn man ſichs noch ſo ſau -er158Das 3. H. von der Geſchickligkeiter werden ließe einen todten Coͤrper zu Pfer - de zu bringen / oder einem Patienten eine Ar - tzeney einzuſchwatzen / der ſich feſte vorgenom - men haͤtte / dieſelbe nicht zu brauchen.

9. Es iſt wohl wahr / die attention, das Vertrauen und die Liebe iſt nicht allemahl in unſerm Vermoͤgen / aber eben darumb haben wir geſagt / daß ein Lehrer hierzu den Anfang machen ſoll. Denn wenn er ſeines Orts nicht deutlich / treu und freundlich iſt / ſo iſt der Zuhoͤrer guten theils entſchuldiget / wenn er es auch an ſeinem Ort an attention, Vertrauen und Liebe ermangeln laͤſt. Aber wenn ein Lehrer alles in acht nimmt / was ihm zukoͤmmt / ſo iſt die Schuld wohl eintzig und alleine bey dem Zuhoͤrer / wenn er dem Lehrer nicht wiederumb mit attention, Ver - trauen und Liebe begegnet.

10. Ja er wird hierdurch dem Lehrer nicht ſo viel Verdruß als ſich ſelbſten Schaden erwecken / weil jener endlich / wenn er das ſeinige gethan / in ſeinem Gemuͤthe ruhig blei - bet / und man ihme nichts imputiren kan / ihme auch endlich nichts abgehet / weñ gleich der Zu - hoͤrer nichts lernet; da hingegentheil dieſer Ko - ſten / Zeit und alles verlieret / und kein groͤſſerElend159andere zu verſtehen. Elend auff der Welt ſeyn kan / als weñ er von der Weißheit und Tugend entbloͤſſet bleibet / und ſich muthwillig in einen Zuſtand ſetzet / der nothwendig mit allen erdencklichen Ungluͤck umbgeben ſeyn muß.

11. Ja ein ſolcher Zuhoͤrer muß ſich auch beſorgen / daß er mit ſeiner Nachlaͤßigkeit / Mißtrauen und Verachtung ſeines Lehrers / deſſen Deutligkeit / Treue und Freund - ligkeit erſtecket. Denn ein Lehrer wird ver - droſſen / ſich ferner angelegen ſeyn zu laſſen / ſeine Lehren deutlich zu machen / wenn der Zu - hoͤrer nachlaͤßig iſt / und nicht achtung drauff giebet. Und was nutzt einem Lehrer ſeine Treue / wenn der Zuhoͤrer ein ſtetes Miß - trauen zu ihm hat. Ja wie kan er endlich fortfahren freundlich und leutſelig gegen dem Zuhoͤrer zu ſeyn / wenn ihn dieſer nicht ach - tet / ſondern allen Verdruß anthut.

12. Weil dann guten Theils die Jugend durch allgemeine Fehler und Jrrthuͤmer ver - leitet / ihre attention, Vertrauen und Liebe ge - gen die Lehrer ohnbedachtſam hindert und un - terdruͤckt / wollen wir ihnen zu gute etliche Lectiones geben / ſich dadurch dieſer Fehler zu entbrechen.

13. (1.)160Das 3. H. von der Geſchickligkeit

13. (1.) Verſaͤume keine Stunde und die geringſte Gelegenheit nicht / da du von deinem Lehrer etwas lernen kanſt. Denn weil die Warheit / wie wir oben erwieſen / ſtetswehrend mit einander verknuͤpfft iſt / und dieſe Kette zerriſſen wird / wenn nur ein ei - nig Gelencke daran mangelt / ſo wird auch die Luſt eines Zuhoͤrers / und die Liebe zur Weißheit vergeringert / wenn er nicht ſtets - wehrend beobachtet / wie in der Weißheits - Lehre immer eines aus dem andern gantz na - tuͤrlich und ungezwungen herflieſſe / ſondern nur hin und wieder etwas erſchnapt / daß er nicht weiß / wie es mit dem vorigen zuſammen haͤngt. Ja er wird befinden / daß eine eini - ge Nachlaͤßigkeit derer immer mehr und mehr nach ſich ziehet / und deßhalben muß er ſich fuͤr der erſten am meiſten huͤten.

14. (2) Bemuͤhe dich zu der Zeit / wenn du deinen Lehrer beſuchen ſolſt / dich alles desjenigen zu entbrechen / was deine Ge - dancken verunruhigen / oder ſie verdrieß - lich machen kan. Denn wie wilſt du at - tent ſeyn / wenn du deine Gedancken wo an - ders haſt / oder ſchlaͤffſt. Wie wilt du aber deine Gedancken auff deinen Lehrer wendenkoͤn161andere zu verſtehen. koͤnnen / wenn du deinen Leib mit vieler Spei - ſe oder Tranck angefuͤllet / oder mit einer ſtar - cken Bewegung entkraͤfftet haſt / wenn du aus einer Geſellſchafft koͤmmſt / darinnen es luſtig hergegangen / oder in der du dich mit jemand uͤberworffen haſt.

15. (3.) Wenn du deinen Lehrer nicht ver - ſteheſt / oder bey ſeiner Lehre einen Zweiffel haſt / den du nicht heben kanſt / ſo ſpahre keine Zeit ihn deſſen zu berichten / damit er dich dieſes Zweiffels alſobald benehme. Denn hiermit giebſtu ihn zu erkennen / was du fuͤr ein Vertrauen zu ſeiner Treue haſt / und huͤteſt dich zugleich / daß kein Jrrthumb bey dir einwurtzele.

16. (4.) Hingegen aber ſuche ja nicht mit Fleiß und ohne Urſache an ſeiner Lehre zu zweiffeln. Denn dadurch kanſtu ihm nichts anders zu verſtehen geben / als daß du kein Vertrauen zu ihn habeſt / und daß du de - nen / die dir ehedeſſen ungegruͤndete Jrrthuͤmer beygebracht / mehr traueſt als ihm.

17. (5.) Bezeuge deinen Lehrer deine Lie - be mehr mit der That / und mit Verrich - tung deſſen was er dir raͤthet / als mit lee - ren Worten. Denn alle Liebe beſtehet mehrLin162Das 3. H von der Geſchickligkeitin Wercken als Worten. Und leere Worte zeigen nothwendig eine Geringachtung deſſen an / dem man ſelbige giebet.

18. (6.) Erweiſe ihm alle erſinnliche Eh - re / und entzeuch ihm die Ehrerbietung nicht / die man ſeines gleichen erweiſet / wenn man nicht ohnhoͤfflich ſeyn will. Denn alle vernuͤnfftige Liebe / auch unter glei - chen Perſonen / ſol mit einer Ehrerbietung vergeſellſchafftet ſeyn / geſchweige denn gegen ei - nem Lehrer / dem dieſer ſein Stand einen groſ - ſen Vorzug vor ſeinem Zuhoͤrer giebt.

19. Das / was wir bißher erwehnet / gehet diejenigen fuͤrnehmlich an / derer muͤndlichen Unterweiſung du genieſſeſt. Was aber die - jenigen betrifft / aus derer Schrifften du pro - fitiren wilſt; ſo muſtu fuͤr allen Dingen die Grundregeln wiſſen / nach welchen man ande - rer Leute Meinungen verſtehen ſoll. Wer dieſes kan / wird ein guter Ausleger (bonus In - terpres) und die Kunſt an ſich ſelber eine Ge - ſchickligkeit was auszulegen (habitus inter - pretandi) genennet.

20. Dieſe Regeln haſtu eben bey dem / der dich muͤndlich unterweiſet / nicht vonnoͤthen / weil du ihn allezeit ſelbſt fragen kanſt / jedochwol -163andere zu verſtehen. wollen wir deßhalb mit niemand einen Streit anfangen / wenn er ſie auch dahin extendiren will.

21. Sie nutzen uns auch zur Erkentniß der Jrrthuͤmer / und ſind dannenhero das vor - nehmſte Abſehen gegenwaͤrtigen Capitels.

22. Zumahlen da insgemein dieſe doctrin in der Vernunfft-Lehre / dahin ſie gehoͤret / ausgelaſſen / und faſt nirgends getrieben wird / ohnerachtet die vornehmſten und hoͤchſten Wiſſenſchafften dieſelben zum Grunde præſup - poniren.

23. Da aber ja einige darvon geſchrieben / oder ſonſt hin und wieder dergleichen Regeln ange - troffen werden / ſo wird man doch befinden / daß man guten Theils dieſelben ohne Noth haͤuffet / oder wohl gar falſche Regeln fuͤr aͤcht und nuͤtzlich ausgiebet.

24. Damit wir nun die guten und nuͤtzli - chen Regeln von denen ohnnoͤthigen deſto beſ - ſer unterſcheiden koͤnnen / muͤſſen wir zuvor - hero das Weſen der Auslegung / und was dieſelbe eigendlich ſey / ein wenig genauer be - trachten.

25. Die Auslegung (interpretatio) iſt hier nichts anders als eine deutliche und in wahr -L 2ſchein -164Das 3. H. von der Geſchickligkeitſcheinlichen Muthmaſſungen gegruͤndete Erklaͤhrung desjenigen / was ein anderer in ſeinen Schrifften hat verſtehen wollen / und welches zu verſtehen etwas ſchwer o - der dunckel iſt.

26. Und alſo ſieheſtu / daß wir nicht alleine / wie allbereit erwehnet / die Auslegung in en - geren Verſtande als andere nehmen / weil wir nur von der Auslegung deſſen was in Schrifften dunckel iſt / reden / ſondern auch / weil wir nur um die Erklaͤhrung deſſen / was andere geſchrieben / beſorgt ſind.

27. Wiewohl kein Unterſcheid unter denen Regeln ſeyn wird / man mag des andern ſeine geſchriebene oder muͤndlich vorgebrachte Worte erklaͤren / weil dieſe ſo wohl Anzeigun - gen menſchlicher Gedancken ſind als jene / und die Auslegung bey beyden auff einerley Muth - maſſungen gegruͤndet iſt.

28. Aber darinnen iſt ein groſſer Unterſcheid / ob ich meine eigene Worte / oder eines andern ſeine erklaͤre. Denn weil ich meiner Mey - nung am beſten bewuſt bin / und dieſelbe zu er - forſchen keine Muthmaſſungen vonnoͤthen ha - be / ſo brauche ich mich auch der Regeln nicht / die ſich auff dergleichen Muthmaſſungen gruͤn -den;165andere zu verſtehen. den; ſondern es heiſſet dißfalls: Jeder iſt ſei - ner Worte beſter Ausleger.

29. Wiewohl auch dißfalls ein groſſer Un - terſcheid unter denen Perſonen zu machen iſt. Ein Ober-Herr kan ſeine Worte auslegen / auch wider die Regeln gemeiner Auslegung / denn da heiſſet es: daß dieſe jener weichen muͤſ - ſe / qvod interpretatio doctrinalis debeat cedere avthenticæ.

30. Aber wenn man mit ſeines gleichen zu thun / muß gemeiniglich die Auslegung deſſen der die Worte geſchrieben / denen Grund-Re - geln der gemeinen Auslegung gemaͤß ſeyn / ſonſt wird er fuͤr einen Betruͤger oder Sophi - ſten gehalten.

31. Jch habe ferner geſagt: die Auslegung ſolle erklaͤren / was ein anderer habe verſtehen wollen / denn man iſt hier nicht ſo wohl be - ſorgt / die Warheit von eines andern ſeiner Meinung / als nur die Meinung an und vor ſich ſelbſt zu erklaͤhren / ſie mag nun wahr ſeyn oder nicht. Nach dem weiteren Ver - ſtande aber wuͤrde man z. e. denjenigen einen Ausleger nennen / der die propoſitiones Eu - clidis demonſtrirete.

32. Alle Auslegung hat mit dunckelen Re -L 3den166Das 3. H. von der Geſchickligkeitden zu thun / denn wen ſie ſchon klar und deut - lich waͤren / brauchten ſie keiner Auslegung.

33. Denn ob wohl das menſchliche Geſchlecht ſich der Worte als der deutlichſten Zeichen be - dienet / ſeine Gedancken und Meinung damit zu verſtehen zugeben / ſo geſchiehet es doch off - te / daß viel mehr Dinge als Worte ſind / oder weil ein Wort viele Dinge bedeutet / oder aus andern Urſachen / daß man die Gedancken ei - nes Menſchen aus andern ſignis und Muth - maſſungen erforſchen muß.

34. Dannenhero ſieheſtu alsbald / daß ein anders ſey die Worte erklaͤren ohne Anſe - hung der Gedancken; ein anderes eine Mey - nung eines Menſchen aus andern Umb - ſtaͤnden als aus denen dunckelen Worten erklaͤren. Jenes iſt ein Werck menſchlicher Gedaͤchtniß / und gehoͤret fuͤr die Gramma - tic, dieſes aber gehoͤret zu der menſchlichen Vernunfft / und alſo zur Vernunfft-Leh - re.

35. Endlich habe ich geſagt / die Auslegung erklaͤre Dinge die ſchwer zu verſtehen ſind / denn wenn ſie ſo gar dunckel waͤren / daß man durch keine Muthmaſſung die Meinung der - ſelben erforſchen koͤnte / ſo hoͤret die Bemuͤ -hung167andere zu verſtehen. hung eines Auslegers auff / weil kein Menſche zu ohnmoͤglichen Dingen verbunden iſt.

36. Dieſes alſo deſto beſſer zu begreiffen / wird es nicht undienlich ſeyn / wenn man die vornehmſten Urſachen / warum eine Re - de dunckel und ſchwer zu verſtehen iſt / anzeiget.

37. So ruͤhret demnach die Dunckelheit des Verſtandes einer Rede entweder aus der aͤuſſerlichen Geſtalt / oder aus der innerli - chen Bedeutung der Worte her.

38. Aus der aͤuſſerlichen Geſtalt / wenn z. e. derjenige ſo etwas geſchrieben / die Buch - ſtaben verzogen haͤtte / daß man einen gar leicht fuͤr den andern leſen koͤnte. Als wenn jener Medicus dem Patienten apium ver - ſchrieben hatte / und der Apothecker laſe opium. Oder als wenn jener Kaͤyſer einem Fuͤrſten ge - ſchrieben hatte / daß er ihn nicht mit ewiger Gefaͤngniß belegen wolte / und der Fuͤrſt laſe an ſtatt ewiger / einiger.

39. Oder wenn man ſich in Schrifften eini - ger abbreviaturen bedienet: als z. e. U. F. D. z. ingleichen. V. R. W. wie wohl man derer in Lateini ſcher Sprache mehr hat als in der Teutſchen.

L 440.168Das 3. H. von der Geſchickligkeit

40. Oder wenn im Abſchreiben / oder in Druck / wie gar gewoͤhnlich iſt / eines fuͤr das andere waͤre geſchrieben worden.

41. Oder wenn in einer Schrifft viel Din - ge ausgeſtrichen und corrigiret worden waͤ - ren / daß man ſolche nicht wohl leſen koͤnte.

42. Oder wenn entweder anfangs durch Nachlaͤßigkeit des Schreibers oder des Dru - ckers waͤre was ausgelaſſen / oder hernach durch laͤnge der Zeit unleſerlich worden.

43. Oder endlich weñ entweder keine com - mata oder puncta zu einer Rede geſetzt wor - den waͤren / oder dieſelben nicht recht ſtuͤnden: z. e. Cajus ſoll 1000. Thl. haben wenn er ſeine Tochter wird dem Sempronio zum Weibe geben ſo ſoll ihm mein Erbe auch meine Caroſſe und Pferde geben.

44. Was die Bedeutung der Worte an - langet / ſo kan derer Dunckelheit (1.) daher ent - ſtehen / wenn man alte Worte antrifft / die heut zu tage nicht mehr im gebrauch ſind. Als das Hageſtoltzen-Recht. Eine Siedel. Vehmen-Gericht. Dem Frauenzimmer hofieren. Alle Fehde hat nun ein Ende. u. ſ. w.

45. (2.)169andere zu verſtehen.

45. (2.) Wenn man aus unzeitiger Sin - gulari taͤt neue Worte macht / das iſt / wenn man entweder von dem gemeinen Gebrauch abweichet / z. e. wenn einer durch die Edel - geſteine Muͤhlſteine / u. ſ. w. verſtuͤnde / oder machte aus allzugroſſer Zaͤrtligkeit neue Woͤr - ter / wie viele von unſern Hochteutſchen thun / z. e. Hertzens-Schluͤſſel fuͤr clavicordium, Tageleuchter fuͤr Fenſter / Jungfer-Zwin - ger fuͤr Nonnen Cloſter / Opffer-Tiſch fuͤr Altar / Ertz Koͤnig fuͤr Kayſer / Luſt wan - deln fuͤr ſpatzieren gehen. Und man faͤnde in einem Buche: Der Ertz-Koͤnig / weil er aus ſeinem Tage-Leuchter geſehen / daß die Sonne ſehr lieblich ſchiene / Luſt wandelte er in einen nahgelegenen Jungfer-Zwin - ger / und thate daſelbſt ſein Gebet fuͤr dem Opffer-Tiſch.

46. (3.) Wenn man ſich fremder Woͤr - ter bedienet / die in anderer Sprache wenigen bekant ſind / zumahl wenn es Kunſt-Woͤrter ſind. Als wenn man ſagt: Eine Frau ſolle dem SCto Vellejano renunciren. Dieſes Ding hat mich ſehr echauffirt. Zu geſchwei - gen wenn man aus Unverſtand und allzu - groſſer affectation ſolche Woͤrter nicht ein -mahl170Das 3. H. von der Geſchickligkeitmahl recht anzubringen weiß. Als: Es iſt ein galanter Pantoffel. Dieſer Menſch hat groſſe Servilete. (civilitè) Er hat mich uͤberaus coëffirt. (echauffirt) Die Madame la Dauphineſſe iſt geſtorben / u. ſ. w.

47. (4.) Mehrentheils aber koͤmt die Dunckelheit der Worte aus jhrer Zweydeu - tigkeit her / daß ein Wort viele Dinge bedeu - tet. Bey dieſer Bewandnuͤß aber geſchiehet es entweder / daß die eine Deutung in eige - nen / die andere aber in Figuͤrlichen Ver - ſtande genommen wird. z. e. Ein Fuchs. Jns Graß beiſſen. Oder beydes gehoͤret zum ei - genen Verſtande.

48. Und ſo dann iſt der eine Verſtand ent - weder weitlaͤufftiger als der andere / und begreifft dieſen unter ſich z. e. Maͤnner und Weiber / (denn ſie werden zu weilen denen Jung-Geſellen und Jungfrauen entgegen geſetzt / zuweilen nicht) Kinder (in erſten oder andern Glied.) Die Gerichte (in Anſehen hoher und niederer.) Soͤhne (ſo ferne ſie ent - weder die Toͤchter mit begreiffen oder nicht:) Alles vermoͤgen (gegenwaͤrtiges oder zukuͤnff - tiges. ) u. ſ. w.

49. Oder es begreifft kein Verſtandden171andere zu verſtehen. den andern unter ſich. Als z. e. Die Roſe (die Blume / oder Kranckheit) Eigenthum (des Hauſes und der Haare) dieſes iſt ein from - mer Mann / er laͤſt einen jeden bey ſeiner Frau ſchlaffen ꝛc.

50. So macht auch zu weilen die groſſe Kuͤrtze der Worte eine Zweydeutigkeit / wenn etliche Worte ausgelaſſen ſind / aus denen man gar leichte die rechte Meinung verſtehen koͤnte. z. e. Mein Erbe ſoll meinem Bruder von meinem Silbergeſchirre 10. Becher ge - ben welche er will. Er ſoll ihm 100. Thal. geben / wenn es ihm gelegen ſeyn wird.

51. Jedoch koͤnnen zu weilen auch uͤber - fluͤſſige Worte eine Dunckelheit verurſachen. Z. e. ich vermache dir allen meinen Haus - rath / meine Tiſche und Baͤncke. Oder: alle mein Vieh / Schaffe und Rinder (und haͤtte auch Schweine) u. ſ. w.

52. (5.) Macht den Verſtand einer Rede ſehr zweiffelhafft / wenn man ſich in einer Ver - wirrung befindet / weil alle beyde Ausle - gungen falſch ſcheinen. Es ſey nun daß die - ſe Verwirrung (perplexitas) aus denen Wor - ten ſelbſt herruͤhre / z. e. Wenn Titius mein Erbe ſeyn wird / ſoll auch Sejus mein E[r]-be172Das 3. H. von der Geſchickligkeitbe ſeyn / und wenn Sejus mein Erbe ſeyn wird / ſoll es auch Titius ſeyn.

53. Oder das dieſe Verwirrung aus ge - wiſſen Umſtaͤnden herkaͤmen / z. e. Das Ge - ſetze will: Es ſoll einer geraubten Weibs - Perſon frey ſtehen des Raubers Tod oder ſeine Heyrath zu erkieſen. Nun hat aber einer zwey Jungfern geraubet / davon wil ihn die eine tod / die andere zum Manne haben. Oder: Wer in Kriege ſich tapffer haͤlt / ſoll macht haben eine Gabe zu begehren. Nun finden ſich ihrer zwey / die begebren al - lebeyde eine gewiſſe Jungfer. Oder: Wer einen Auffruhr anhebet / ſoll mit dem Le - ben geſtrafft werden / wer ihn ſtillet / ſoll von dem gemeinen Weſen belohnet werden. Es hatte aber einer einen Auffruhr erwo - cket / und wieder geſtillet. u. ſ. w.

54. (6.) Endlich iſt auch keine geringe Dunckelheit / wenn eine Rede der andern wie - derſpricht. Dieſes geſchiehet entweder gantz offenbahr / wenn in einer Schrifft / es ſey nun an einem oder unterſchiedenen Orten / etwas bald bejahet / bald verneinet wird. Oder nur durch eine Folgerung / wenn man zwey Din - ge behauptet / die doch aus wiederwaͤrtigenGruͤn -173andere zu verſtehen. Gruͤnden herkaͤmen; als z. e. wenn einer an einem Orte bejahete: Es waͤre zu gelaſſen / daß ein Fuͤrſt diſpenſiren koͤnne des Weibes Schweſter zu nehmen / und an einem andern Ort ſagte man: Der Fuͤrſt koͤnte ſelbſt nicht ſeines Weibes Schweſter Tochter heyra - then.

55. Manchmahl geſchiehet auch eine der - gleichen ſtillſchweigende Wiederſprechung / wenn ein Fall vorkoͤmmt / der aus einer Re - de zu behaupten / und aus der andern zuver - neinen ſcheinet / z. e. Es iſt ein Geſetze: Man ſolle einem der ſeinen Fuͤrſten das Leben ge - rettet / eine Ehren Seule auffrichten. Ein ander Geſetze aber verboͤte / daß man keiner Weibs-Perſon eine Ehren-Seule ſetzen ſol - te / und eine Weibs-Perſon haͤtte dem Fuͤr - ſten das Leben gerettet. Oder es waͤre verbothen: Man ſolte am Sontage kein Gewehr tragen / und in Gegentheil gebothen / daß wenn die Sturm-Glocke gelaͤutet wuͤrde / man alſobald mit dem Gewehr auff dem Marckt erſcheinen ſolte. Und die Sturm - Glocke wuͤrde des Sontags gelautet. u. ſ. w.

56. Aber woher werden wir nun die Re -geln174Das 3. H. von der Geſchickligkeitgeln nehmen / uns derſelben in Auslegung dunckeler Reden zu bedienen? Hier iſt zu - forderſt zu wiſſen / daß wir dieſelben nimmer - mehr auff unſtreitige Warheiten grunden koͤnnen / weil wir weder vermittelſt der allge - meinen Sinnligkeiten anderer Menſchen ih - re Gedancken unmittelbar begreiffen / noch durch die ideas oder abſtractiones die dem gantzen Menſchlichen Geſchlecht gemein ſind / eines andern ſeine Gedancken errathen koͤn - nen. Sondern weil die Gedancken der Men - ſchen unendlich von einander unterſchieden ſind / ſo hat eben aus der Urſache der Schoͤpf - fer denen Menſchen die Rede eingepflantzet / daß ſie damit als mit deutlichen Signis ein - ander ihre Gedancken eroͤffnen.

57 / Nun iſt es aber mit der Natur des Menſchen alſo bewand / daß wenn ſchon die - ſelbigen ihre Rede noch ſo deutlich einrichten / dennoch bey andern dadurch keine unſtreiti - ge Erkaͤntnuͤß erwecket wird / in dem wegen der allgemeinen Boßheit es leichte geſchehen kan / daß ein Menſch anders redet / als er ge - dencket / und ſolcher geſtalt wird auch aus de - nen aller deutlichſten Reden der Menſchen / wenn es hoch koͤmmt / nichts anders als einede -175andere zu verſtehen. demonſtratio hypothetica erfolgen koͤn - nen / daß nemlich / wenn anders ihre Worte mit ihren Gedancken uͤbereinſtimmen / dieſes / was der Verſtand der Worte giebet / ihre wahre Meinung geweſen ſey. Wiewohl im gemeinen Buͤrgerlichen Leben / weil man die Sache nicht hoͤher bringen kan / dieſe Erkaͤnt - nuͤß ſo viel als die Erkaͤntnuͤß einer unſtrei - tigen Warheit gelten muß.

58. Wenn aber die Reden / derer ſich die Menſchen bedienen / ihre Gedancken zu entde - cken / dunckel oder vieldeutig ſind / und wir dannenhero / wie obgemeldet / aus andern Si - gnis und Muthmaſſungen ihre wahre Mei - nung herfuͤr ſuchen muß; ſo kan es nicht feh - len / es muͤſſe dieſe interpretatio, die wir oben Logicam genennet / noch weniger als die vorige (Grammatica) bey uns eine unſtrei - tige Erkaͤntnuͤß erwecken / ſondern weiter nicht / als auff eine Wahrſcheinligkeit ihr Ab - ſehen richten / theils weil keine Muthmaſ - ſung oder conjectur unſtreitige Warheiten zu wege bringen kan / theils weil die andern Signa, daher man ſolche Muthmaſſungen zu nehmen pfleget / noch mehrern inſtantien unterworffen ſind / als die deutlichen Reden /theils176Das 3. H. von der Geſchickligkeittheils weil es zum oͤfftern geſchiehet / daß wenn die Worte vieldeutig ſind / man fuͤr eine jede von dieſen vieldeutigen Auslegungen ein ver - nuͤnfftige Muthmaſſung anfuͤhren kan / und alle Kraͤffte ſeines Verſtandes anſtrecken muß zubegreiffen / welche Auslegung wahrſchein - licher ſey / ja zu weilen nach langer Uberle - gung bekennen muͤſſe / daß man nichts de - terminiren koͤnne / ſondern die Sache in Zweiffel laſſen muͤſſe.

59. Dieſes mit einem Exempel zubeſtaͤr - cken / wollen wir eines aus der Grichiſchen Hiſtorie oder Fabel nehmen. Als Paris und Menelaus um die Helenam fechten wolten / hatten ſie die Bedi[ng] nuͤs gemacht / daß wer den andern uͤberwinden wuͤrde / der ſolte die He - lenam haben. Kurtz aber vor dem Streit wurde dieſe condition auff folgende weiſe wie - derhohlet / daß der / ſo den andern umbringen wuͤrde / die Helenam haben ſolte. Als es nun zum Gefechte kahme / und Paris ſahe / daß er nicht auskommen konte / lief er darvon / und ließ dem andern das Feld. Menelaus wolte haben / die Richter ſolten ihm die Helenam zuſprechen / weil er den Paris uͤberwunden haͤtte; Paris proteſtire te / weil er noch lebete /und177andere zu verſtehen. und von dem Menelaus nicht waͤre umbge - bracht worden. Das hauptſaͤchlichſte was allhier zu unterſuchen war / beſtand darinnen: Ob die Worte der widerholten Bedingniß die Zweydeutigkeit der erſten Worte haͤtte wollen deutlicher machen / oder ob man in derſelben des Umbringens nur exempels - weiſe als der vornehmſten Art der Uberwin - dung angefuͤhret habe. Fuͤr beyderley Mei - nungen kan man wohlgegruͤndete Muthmaſ - ſungen anfuͤhren / die einander dergeſtalt die Wage zu halten ſcheinen / daß wenn man un - partheyiſch von der Sache reden will / man die Entſcheidung muß in Zweiffel laſſen.

60. Bey dieſer Bewandniß aber muß man ſich fuͤr dem allgemeinen Jrrthumb huͤten / daß weñ man uͤber Dingen / die zur Interpretation dunckeler oder zweydeutiger Worte gehoͤren / mit andern diſputiret / man bey leibe diejeni - gen / wider welche man ſtreitet / nicht einer Boßheit beſchuldige / oder eine andere Heff - tigkeit gegen ſie gebrauche / wenn ihre Mei - nung auch auff eine wahrſcheinliche Muth - maſſung gegruͤndet iſt / wenn wir gleich deut - lich erkennen / daß unſeꝛe Muthmaſſung und Auslegung beſſer und wahrſcheinlicher ſey / alsMdie178Das 3. H. von der Geſchickligkeitdie ihrige / denn was koͤnnen die guten Leute dafuͤr / daß ſie nicht ſo einen geuͤbten und ſcharff - ſinnigen Verſtand haben als wir.

61. Z. e. Beym Luciano wird erzehlet / daß einer ſich in dem Schloß eines Tyrannen ver - ſteckt habe mit der Intention, dem Tyrannen das Leben zu nehmen / und ſein Vaterland in Freyheit zu ſetzen / als ihm aber des Tyrannen ſein Sohn am erſten in Wurff kame / brachte er denſelbigen umb / und ließ das Schwerd in ſeinem Leibe ſtecken / und verkroch ſich wieder. Bald darauff / als der Vater ſeinen Sohn ſo jaͤmmerlich ermordet antraff / ſchmertzte ihm der Todt ſeines Kindes ſo ſehr / daß er ſich ſelbſt mit eben dem Schwerd erſtach. Hierauff nahm der Thaͤter das blutige Schwerd / lieff damit unter das Volck / und begehrte / man ſolte die - ſe ſeine That belohnen / weil ein oͤffentlich Ge - ſetz in derſelben Stadt vermochte / daß man einem / der einem Tyrannen das Leben nehmen wuͤrde / beſchencken ſolte. Und entſtund alſo die Frage: Ob beſagtes Geſetze auff dieſe ſeine That koͤnte appliciret werden. Lucianus hat keinen Fleiß geſpahret / die Aus - legung des Geſetzes auff dieſes Kerls Seite zu lencken; aber Eraſmus hat nicht wenigerKunſt179andere zuverſtehen. Kunſt angewendet zu erweiſen / daß man dem - ſelben die geringſte Belohnung nicht ſchuldig ſey. Ob nun wohl dieſes letzten ſeine Gruͤn - de viel wahrſcheinlicher ſeyn / und denen Regeln einer guten Auslegung viel naͤher kommen / ſo muͤſſen wir doch desbalben des Luciani ſeine Meynung nicht fuͤr boßhafft ausruffen / und deswegen uns mit ihm / wie die Capitler / zan - cken.

62. Gleichwie dannenhero zu aller Erfor - ſchung wahrſcheinlicher Dinge theils ein ge - ſchwinder und faͤhigeꝛ Verſtand / theils aber eine attention und Auffmerckungauff wahrſchein - liche Regeln erfordert wird / alſo iſt es auch mit der Auslegung dunckeler und zweydeutiger Worte beſchaffen. Ein geſchwinder und faͤhiger Verſtand thut hierinnen ſehr viel / und es wird ein jedweder Menſch bey ſich ſelbſt wahrnehmen koͤnnen / daß er zuweilen in einem Augenblicke und gleichſam unverſehens eine wohlgegruͤndete Muthmaſſung finde ei - ne dunckele Sache zu erklaͤren / der er wohl zuvor noch ſo eifferig und nach allen Kunſt - Regeln nachgedacht / aber vergebens.

63. Jedoch iſt nicht zu laͤugnen / daß man die natuͤrliche Guͤte ſeines Verſtandes / wie ſonſten /M 2alſo180Das 3. H. von der Geſchickligkeitalſo auch in dieſem Stuͤck / durch eine fleißige Ubung / durch Leſung vieler hiſtorien, und Unterſuchung der antiqvitaͤt / durch Kentniß aller in dem gemeinen Weſen vorkommenden Kuͤnſte und Wiſſenſchafften / durch eine ge - naue Wiſſenſchafft derjenigen diſciplin o - der Handels / wovon der / den man auslegen will / redet / und mit einem Worte durch Er - lernung der allgemeinen Regeln menſchli - cher Klugheit / uͤberaus ſtaͤrcket und denſelbi - gen forthilfft / und wer mit allen dieſen guten qvalit aͤten begabt iſt / der verdienet erſt den Titul eines rechtſchaffenen Polyhiſtoris o - der Critici, den heut zu tage ein jeder Pedante affectiret, deſſen ſeine gantze Weißheit darin - nen beſtehet / wie er mit ſauerer Muͤhe und Arbeit aus alten manuſcriptis die varias Le - ctiones eines Buchs zuſammen ſuche / oder et - wa die opera Ciceronis cum Notis variorum edire.

64. Ferner / gleichwie in andern Dingen die Muthmaſſungen aus vielfaͤltigen und faſt unzehligen Umbſtaͤnden pflegen hergenom - men zu werden; alſo iſt leichte zu ermeſſen / daß man auch in der Lehre von der Auslegung die gantze Kunſt nicht in wenig und gewiſſe Re -geln181andere zu verſtehen. geln einſchlieſſen koͤnne / weil die Veraͤnderung des geringſten Umſtandes / offte auch die Muth - maſſung / darauff ſich die Interpretation gruͤn - det / veraͤndern ſoll. Jedoch wollen wir die vornehmſten / und die ſehr offte vorzukom - men pflegen / unſern Zuhoͤrern mittheilen / weil wir verſichert ſind / daß wenn ſie ſich in denen - ſelben wohl uͤben werden / das uͤbrige von ih - rem guten Verſtande gar leicht werde ſup - pliret werden koͤñen / auch hernachmahls et - liche beleuchten / derer ſich auch zum oͤfftern ge - lehrte Leute bedienen / und die doch den gering - ſten Nutzen nicht haben / oder offenbahr falſch ſind.

65. I. Betrachte anfaͤnglich die Perſon deſſen / der etwas redet / das iſt / ſeinen Stand oder ſeinen affect / und Zuneigung wohl / denn du wirſt dadurch groſſen Vor - theil in Auslegung dunckeler Dinge er - langen. Denn was das Hertze voll iſt / da - von redet man gerne / und die Worte haben oͤffters unterſchiedene Bedeutung nach dem Unterſcheid der Staͤnde der Menſchen.

66. Z. e. Wenn ein Stoicker von affecten redet / muß ich mir ſchon einen andern concept davon machen / als wenn es ein PhiloſophusM 3thut182Das 3. H. von der Geſchickligkeitthut / der einer andern Secte zugethan iſt. Weñ ein Juriſte de genere & ſpecie, de qvanti - tate u. ſ. w. was ſchreibet / muß ich es ſchon an - ders verſtehen / als wenn ich dieſe Woͤrter in den gemeinen Logi cken finde. Wenn ein ver - hurter Kerl von Liebe / ein Ehrgeitziger von Ehre redet / habe ich ſchon Urſache eine andere Auslegung zu machen / als wenn es ein tu - gendhaffter Mann oder ein Chriſte thut. Wenn man von einer Perſon redet oder ſchrei - bet / die mit andern Perſonen gleichen Nah - mẽ fuͤhret / verſtehe ich die darunter / mit der der - jenige ſo redet in Haß oder Freundſchafft ge - ſtanden. Wenn ein Studente von ſeinem Haußrathe redet / hat es eine andere Bedeu - tung / als wenn es einer thut / der eine andere condition hat. Wenn man jemand zu alimen - tiren oder auszuſtatten verſpricht / reflecti - ret man gemeiniglich auch auff die affection und das Vermoͤgen deſſen / der ſolches ſaget.

67. II. Gib wohl achtung / von was ein Autor zu reden ſich vorgenommen / oder auff was fuͤr eine Sache ſich das / was er redet / ſchicke. Denn weil in allen Reden o - der Propoſitionen eine Verknuͤpffung zwiſchen dem ſubjecto und prædicato / oder zwiſchen derSache183andere zu verſtehen. Sache / von der man redet / und der / was von einer Sache geredet wird / ſeyn ſoll; ſo giebt auch die deutliche Erkentniß des einen gar leichte die Auslegung des andern / das dunckel iſt.

68. Z. e. Die Roſe riecht gut. Die Roſe ſchmertzt. Die Frantzoſen ſind fuͤr Mons geruͤckt. Die Frantzoſen haben ihm die Naſe abgefreſſen. Titius denckt wie er ſich entſchuldi - gen wolle. Der Hund denckt / du werdeſt ihn ſchlagen. Der Truthan wird boͤſe / wenn er was rothes ſiehet. Der Knabe wird boͤſe / wenn ich ihm Naſenſtuͤber weiſe. Alſo hat das Wort Erbe eine andere Bedeutung / wenn man von Lehn - oder allodial - Guͤtern redet. Lieſe mir was aus dem Virgilio her. Der Vir - gilius iſt gantz unſcheinbar worden / daß man keine lineamenten faſt mehr daran erkennen kan. Es iſt mein eigen Haar. Das Buch iſt meine. Mein Erbe ſoll dem Cajo 6. Tiſch - Becher / welche er will / zu meinem Andencken geben: (die Natur derer Vermaͤchtnuͤße giebet Muthmaſſung / daß der Cajus die Wahl haben ſolle.) Jch will dir meinen Hausrath Tiſche und Baͤncke ſchencken. Jch will dir meinen Hausrath Tiſche und Baͤncke fuͤr 100. Thl. verkauffen.

M 469. Ja184Das 3. H. von der Geſchickligkeit

69. Ja man kan ſich auch dieſer Regel be - dienen / wenn etwas falſch geſchrieben oder die Buchſtaben verzogen ſind / oder man ſich alter oder frembder Woͤrter bedienet hat. z. e. Der Balbirer hat den gluͤcklich an der Hoſe curiret. Die arme betruͤbte Frau gieng davon und weinete Buttermilch. Es was ein jung Mann / der was ein groß hofierer der Mayd / und ein groß Vogler. Als er einsmahls auff dem Feld was / und ſeinen Sperber auff der Hand ſitzen hatte ꝛc. Einer der eine alte reiche Frau um Geldeswillen heyrathet / beluſtiget ſich hernach gemeiniglich zu hauſe mit Caton. Es iſt ein feiner manierlicher und ſerviler Menſch. Der Kerl hat zwar eine gefaͤhrliche entrepriſe vorgenommen / aber ſie iſt doch gluͤcklich abgelauffen. Nun iſt groß Fried ohn unterlaß / alle Fehde hat nun ein Ende. u. ſ. w.

70. Mit der vorigen Regel hat die III. eine nahe Verwandniß. Betrachte das vorher - gehende und nachfolgende / oder was ein Autor anderswo geſchrieben mit Fleiß / ſo wirſtu ſeine Meinung deſto beſſer verſte - hen. Denn man muthmaſſet nicht unbillig / daß ein Autor dasjenige / von dem er einmahlzu185andere zu verſtehenzu reden angefangen / allezeit in ſeinen folgenden Reden fuͤr Augen habe / und ſelbiges alſo ſtill - ſchweigend auch in denen folgenden Reden darunter muͤſſe begriffen werden. So muth - maſſet man auch nicht leichte / daß ein Autor ſeiner vorigen Meinung werde widerſprechen und ſich contradiciren.

71. Z. e. Zu wiſſen / daß heute acto Titius Cajo 10. Scheffel Weitzen fuͤr zehen Thaler verkaufft ꝛc. und hat der Herr Verkaͤuffer verſprochen das Getreyde dem Herrn Kauf - fer ins Hauß zu ſchicken / dieſer aber binnen acht Tagen das Geld unfehlbahr zu entrich - ten. Es hat einer in einem Teſtament dem Titio den dritten Theil an ſeinem Hauſe ver - macht; und in denen Codicillis ſetzt er: Titius ſolle uͤber den Theil an Hauſe noch 100. Thal. haben. Julianus ſagt in l. 40. de - redibus inſtituendis, daß der Subſtitutus in dem daſelbſt befindlichen caſu ſolle 3. Viertel von der Erbſchafft haben / und Tribonianus, der den § ult. de vulg. ſubſtit. bey nahe von Wort zu Wort daraus geſchrieben / ſagt / der Subſtitutus ſolle einen Theil von der Erb - ſchafft kriegen. Dieſer Regel pflegen ſich ge - ſcheide Juriſten zu bedienen / wenn ſie in Aus -M 5legung186Das 3. H. von der Geſchickligkeitlegung derer Geſetze auff die rubric achtung geben / oder wovon der JCtus, daraus das Geſetze genommen iſt / in dem Buche / deſ - ſen die Uberſchrifft er wehnet / gehandelt ha - be / oder wenn ſie beobachten / was anders - wo Paulus oder Ulpianus von einerley mate - rie geſchrieben / weswegen der Labittus ſeinen Judicem verfertiget hat.

72. Jch habe aber geſagt / daß man nicht leichte muthmaſſe / daß ein Autor ſeiner vorigen Meinung werde wiederſprechen. Denn es iſt eine Anzeigung einer Unbeſtaͤn - digkeit / und waͤre einem Autori gar ſelten ruͤhmlich / wenn er in einer Schrifft ſo bald von einer Meinung zur andern fallen ſolte. Gleichwohl aber geſchiehet ſolches zu weilen / daß ein Geſetzgeber ſeine Geſetze auffhebet / ein Hausvater ſein Teſtament aͤndert / ein Scribent, wenn er erkennet / daß er aus Menſchlicher Schwachheit geirret / oder wenn er in wahrſcheinlichen Dingen einer Sache beſſer nachgedacht / ſeiner vorigen Meinung in einer andern Schrifft wieder ſpricht / und die - ſes iſt vielmehr hoͤchlich an ihm zu loben / weil er dadurch zuverſtehen gibt / daß er bemuͤhet ſey / ſeinen Verſtand von denen præjudictiszu187andere zu verſtehen. zu ſaubern / und daß er keine eitele Ehre in einer unvernuͤnfftigen Hartnaͤckigkeit ſuche / wiewohl ſonſten die Pedant en zu thun gewoh - net ſind.

73. Wenn es nun der Augenſchein giebet / daß ein Menſch ſeiner Meinung wiederſpro - chen / ſo iſt es vernuͤnfftig / daß man ſeine letz - te Meinung fuͤr ſeine rechte Meinung muͤſſe annehmen / und dieſes pfleget man durchgehends in Erklaͤrung der Geſetze / der Teſtamente, der Contracte, und der Gelehr - ten Schrifften / die contradiction moͤge nun in unterſchiedenen oder in einer einigen Schrifft hervorblicken / in acht zu nehmen / und dahero iſt die gemeine Redens-Art entſtanden / daß die letzten Gedancken die beſten ſeyn.

74. Es waͤre denn / daß man ſaͤhe / daß ein Menſche an dem letzten Orte nur gleich - ſam obenhin eine Sache erwehnet haͤtte / die er anderswo hauptſaͤchlich zu vorhero zum gegentheil ausgefuͤhret; denn da kan es ge - ſchehen / daß man dafuͤr haͤlt / er habe das letz - te mehr aus einer Unbedachtſamkeit / als aus einem Vorſatz ſeine vorige Meinung zu aͤn - dern gethan / dergleichen Exempel nicht we - nig in denen Inſtitutionibus Juris vor - kommen.

75. Wel -188Das 3. H. Von der Geſchickligkeit

75. Welches deſtomehr zu præſummir en iſt in contracten / die wegen gewiſſer ſolen - nitaͤten offte verneuert werden muͤſſen / ob - gleich ſelten in dem Jnnhalt derſelben pfle - get was geaͤndert zu werden / zumahlen weil gemeiniglich Muthmaſſungen dabey ſind / daß der eine Theil den andern habe uͤbervorthei - len wollen. Alſo pfleget man in denen Le - hen Rechten in Zweiffel nicht nach denen letzten / ſondern nach denen aͤlteſten Lehen - Brieffen zu ſprechen.

76. IV. Unter zweyen Verſtanden und Auslegungen einer Schrifft iſt allezeit diejenige der andern vorzuziehen / die mit der geſunden Vernunfft uͤberein koͤmmt / und daraus in dem Menſchlichen Thun und Laſſen eine Wuͤrckung entſtehet / wenn die andere unvernuͤnfftig waͤre / oder wenn dadurch das negotium, das gehandelt wird / keine Wuͤrckung erlan - gete. Denn alle Menſchen ſind vernuͤnfftig und in ernſthafften Dingen ſchicket es ſich nicht / poſſerey zu treiben / ſondern ſie wollen vielmehr darinnen auch vor vernuͤnfftig ange - ſehen ſeyn; Nun iſt es aber eine groſſe Unver -nunfft189andere zu verſtehen. nunfft / wenn man ein ernſtlich Geſchaͤffte ver - gebens und umbſonſt treibet.

77. Z. e. Die Athenienſer machten einen Bund mit den Boeotiern, darinnen ſie ſich verpflichteten / ſie wolten mit ihrem Kriegs - Heere aus der Boeotier Lande abziehen. Hernach aber gaben ſie vor / dieſes waͤre der Boeotier Land nicht / darauff ſie ihr Feldlager gehabt haͤtten. Item ein Geſetze verbothe in ei - ner Stadt bey harter Straffe / daß keiner dem andern auff der Straſſe blutruͤnſtig ma - chen ſolte / und ſolte man keine Entſchuldi - gung disfalls von dem Thaͤter anneh - men: Nun hatte aber ein Balbirer einem der auff der Gaſſe war kranck worden daſelbſt zur Ader gelaſſen / und ſeine Feinde verklag - ten ihn / daß er nach dieſem Geſetze geſtraffet werden ſolte. Hieher gehoͤret auch die bekante Hiſtorie von Protagorâ und Evathlo, derer Streit die Areopagi ten nicht entſcheiden kon - ten. Denn nach unſerer Regel haͤtte man vor den Protagoram ſprechen muͤſſen.

78. So wird auch dieſe Regel von denen Jureconſultis ſehr offte in Auslegung der Teſtamente inculci ret / daß man eines Men - ſchen ſeinen letzten Willen ſo auslegen muͤſ -ſe /190Das 3. H. Von der Geſchickligkeitſe / daß derſelbe beſtehe und ſeine Wirckung habe. Dannenhero ſich Julianus umb ein groſſes verſehen / wenn er uͤber dieſen caſum gefragt worden. Der Teſtator hatte geſagt: Wenn Titius Erbe ſeyn wird / ſoll Se - jus Erbe ſeyn / und wenn Sejus Erbe ſeyn wird / ſoll Titius Erbe ſeyn. Denn er ſagt: das Teſtament goͤlte nicht / weil es un - moͤglich waͤre / daß die conditiones koͤnten er - fuͤllet werden / da er doch haͤtte bedencken ſol - len / daß die Worte auch dieſen Verſtand an - nehmen: Titius und Sejus ſollen alle beyde meine Erben ſeyn / und keiner ohne dem an - dern Erben. Gleich als wenn zwey gute Freunde zuſammen ſpraͤchen: Wenn du wilſt ſpatziren gehen / ſo wil ich mit dir gehen / und der andere machte dem erſten dieſes com - pliment hinwiederum.

79. Wenn aber andere Muthmaſſungen weiſen / daß ein Menſche habe wollen un - vernuͤnfftig handeln oder poſſen treiben / ſo macht man auch die Auslegungen dar - nach. Alſo wenn ihrer zwey einander un - moͤgliche Dinge verſprechen / oder unter unmoͤglichen Bedingungen / ſo gilt das Verſprechen nichts.

80. De -191andere zu verſtehen.

80. Derowegen ſoll man auch in Ausle - gung gelehrter Schrifften allemahl einen Autorem erklaͤren / daß er nichts wieder die geſunde Vernunfft / er bare Sitten / oder Got - tes Wort gelehret habe / ſo lange man ſeine Worte auff eine vernuͤnfftige Weiſe ausle - gen kan.

81. V. Man muß derjenigen Ausle - gung folgen / die mit denen Grund-Re - geln / die ein Autor in ſeinen Schrifften gegeben hat / oder mit der Urſache / war - um er ein Geſetze gegeben oder mit an - dern einen contract geſchloſſen oder ſonſt etwas gethan hat / uͤbereinkoͤmmt. Die - ſe Regel hat mit der vorigen eine ziemliche Verwandnuͤß. Denn die geſunde Vernunfft erfordert / daß die concluſiones mit denen Grund-Regeln verknuͤpfft ſeyn / und wer in ſeinem Thun und Laſſen die Mittel nicht erkieſet / die ſich zu ſeinen Vorhaben ſchicken / der wird nicht fuͤr klug gehalten.

82. Z. e. Wenn ein Autor zum Grunde ſeiner Lehre geſetzt haͤtte / daß man in allen ſeinem Thun und Laſſen die Tugend und den allgemeinen Nutzen aller Menſchen fuͤr Augen haben muͤſſe / und ſagte an einem an -dern192Das 3. H. Von der Geſchickligkeitdern Orte / man muͤſſe die Ehre uͤber alles ſchaͤtzen und nichts thun / woraus man einen Schaden zugewarten haͤtte; ſo muß ich die - ſen letzten Satz nicht alſo auslegen / als ob er dadurch den Ehrgeitz oder den Eigennutz haͤtte etabli ren wollen / weil dieſe Auslegung ſeiner Grund-Regel zu wieder iſt. Wenn Carteſius ſagt / daß die Grund-Regeln ſeiner Philoſophie nur auff die ſpeculation, nicht abrr auf das Menſchliche Thun und Laſſen muͤſten applici ret werden: und ſagt hernach an einem andern Orte daß man an allen zweiffeln muͤſſe / wo von man nicht eine klare und deutliche Erkaͤntnuͤß habe; ſo muß ich dieſen Satz nicht alſo auslegen / daß er ha - ben wolle / ein Bauer ſolle ſeiner Obrigkeit keine Contribution geben / bevor er klar und deutlich erkennete / ob auch der Nutzen des gemeinen Weſens ſolches erfordere / oder ob die Obrigkeit dieſe Contribution zu Nutzen des gemeinen beſten werde anwenden. Al - ſo wenn ein Fuͤrſte bey Leibes-Straffe ver - boten haͤtte / man ſolte kein Getraͤyde aus der Stad oder dem Lande fuͤhren / damit keine Theurung entſtuͤnde / ſo muß ich die - ſes Geſetze alſo auslegen / daß er nicht habever -193andere zu verſtehen. verbieten wollen das Getraͤyde aus der Stad in die Muͤhle zu fuͤhren / daß ſolches gemahlen werde / daß er unter dem Wort Getraͤyde Haber und Gerſte u. ſ. w. habe begreiffen oder nicht begreiffen wollen / nach - dem darinnen eine Theurung zubefahren oder nicht; ingleichen / daß derjenige mit glei - cher Straffe zu belegen ſey / der das Mehl aus dem Lande fuͤhret. Wann verbothen iſt / daß man keinen Pflug ſolle zu pfande nehmen / ſo verſtehet es ſich auch / daß man keine Pflug-Schaaren verpfaͤnden ſolle. Wenn ein Vater-Moͤrder geſaͤckt werden ſoll / ſo hat dieſe Straffe auch ein Mutter - Moͤrder auszuſtehen. Weil es verbothen iſt / keinem aus ſeinem Hauſe mit Gewalt fuͤr Gerichte zu fuͤhren / ſo darff man auch keinen aus ſeinem Zelte mit Gewalt hoh - len. Wenn in einem Buͤndnuͤſſe geſetzt iſt / man ſolle binnen 20. Meelen keine Stadt mit Mauren befeſtigen / ſo darff man ſie auch nicht mit Bollwercken umbgeben. Wenn Titius Erbe ſeyn ſoll / wenn das Kind mit dem des Teſtatoris Frau ſchwanger gehet fuͤr ſeinem Vater ſterben wird / ſo kriegt Titius auch die Erbſchafft / wenn die FrauNabor -194Das 3. H. von der Geſchickligkeitabortiret hat. Wenn ſich ihrer etliche / die auff einem Schiffe waͤren / zuſammen vergli - chen / daß diejenigen / die zur Zeit des Unge - witters ſich daraus retirirten / alles / was ſie im Schiffe haͤtten / verlieren / diejenigen aber / die darinnen bleiben / daſſelbige behalten ſolten / und es entſtuͤnde ſo ein hefftiger Sturm / daß ſich alle die im Schiffe waͤren ſalvirt en / biß auff einen einzigen Kerl / der ſo kranck waͤre / daß er ſich nicht regen koͤnte / ſo wuͤrde dieſer dennoch das Schiff mit denen Waaren nicht prætendi ren koͤnnen.

83. Jedoch muß man wohl darauff bedacht ſeyn / zu erkennen / ob die Grund-Regeln / die der andere ſetzt / und die Urſache / die er vorgiebet / auch von dem / den man erklaͤret / mit Ernſt gemeinet ſind / oder von ihm nur zum Schein vorgebracht worden / denn wo das letzte iſt / darff man ſich in der Auslegung nicht daran binden.

84. Z. e. Wenn gleich Spinoſa allenthalben ſagt / daß er einen GOtt glaube / und GOttes Weſen demonſtrir en wolle / ſo ſehe ich doch aus andern Umbſtaͤnden / daß ſein GOtt nichts anders iſt / als der gantze Begriff aller Cre - aturen / und muß mich folglich auch in derAus -195andere zuverſtehen. Auslegung ſeiner darnach richten. So kom - men auch dergleichen prætexte taͤglich in de - nen Kries-Manifeſten fuͤr. Und wenn ei - ner in ſeinem Teſtamente verordnet / ſeine aͤlte - ſte Schweſter ſolle / weil ſie aͤrmer waͤre / fuͤr der juͤngſten 2000. Thl. zum voraus haben / ſo darff man ihr deßhalben dieſe 2000. Thl. nicht abſprechen / wenn es ſich befindet / daß ſie nicht aͤrmer iſt.

85. Derowegen weil es beſagter maſſen zu - weilen geſchiehet / daß man denen gegebenen Grund-Regeln und denen ausgedruͤckten Ur - ſachen nicht trauen darff / auch es ſich nicht ſel - ten zutraͤgt / daß ein Autor ſeinen Grund - Satz nicht oͤffentlich blicken laͤßt / oder denſel - ben gar zu ſehr verſteckt / auch ein Geſetzgeber / oder der einen contract mit dem andern macht / die Urſache ſo ihn hierzu bewogen / nicht aus - druͤcklich ſetzet; ſo muß man freylich ziemlich verſchlagen ſeyn / durch neue Muthmaſſuñ - gen dieſelbe herfuͤr zu ſuchen. Dieweil a - ber dieſelben ſo gar veraͤnderlich ſind wegen der Vielheit der Umbſtaͤnde / ſo kan man dieſelben nicht wohl in gewiſſe Regeln einſchlieſſen / ſon - dern es iſt vonnoͤthen / daß zufoͤrderſt in Ausle - gung gelehrter Schrifften / man diejenigeN 2diſci -196Das 3. H. von der Geſchickligkeitdiſciplin wohl gelernet habe / dahin die Schrifft des Autoris, den wir verſtehen wollen / gehoͤret / und daß man die hiſtoriam Philoſophi - cam von denen unterſchiedenen Meinungen der Philoſophen wohl verſtehe. Jn Erklaͤrung der Geſetze aber muß man in der Politic, und in Erklaͤrung der contracte in gemeinen Le - ben und Wandel wohl erfahren ſeyn / ſonſt wird man gewiß wenig oder gar nicht fortkom - men koͤnnen.

86. Und gleichwie wir ſehr offte erwehnet / daß man ſich in Dingen / die von der menſch - lichen Vernunfft dependiren, an keine menſch - liche autorit aͤt binden muͤſſe; alſo muͤſſen wir auch in Unterſuchung des Grund-Satzes eines Autoris / oder der Urſache eines Geſe - tzes nicht hauptſaͤchlich auff dasjenige ſehen / was andere allbereit fuͤr eine Auslegung dar - uͤber gemacht haben / wenn ſie auch noch von ſo groſſer autorit aͤt waͤren / ſondern auff das / was uns die Lehrſaͤtze allgemeiner Ver - nunfft beybringen / hauptſaͤchlich unſer Ab - ſehen richten.

87. Alſo muß ich nun z. e. denen Ausle - gern des Grotii, denen Commentariis - ber das Corpus Juris u. ſ. w. nicht trauen /ſon -197andere zuverſtehen. ſondern meinen eignen Kopff dran ſtrecken; Alſo kehre ich mich nichts daran / wenn gleich Ulpianus und Tribonianus ſagen / daß dieſes die Urſach ſey / warumb der Uſufructuarius die Kinder der Magd / derer Gebrauch ihm ver - macht iſt / nich fuͤr ſich behalten koͤnne / weil es ſich nicht ſchicke / daß ein Menſch den an - dern Menſchen als eine Nutzung behalten koͤnne. Oder / wenn Tribonianus anderswo ſagt / daß man ehedeſſen einen minderjaͤhrigen nicht vergoͤnnet ſeinen Knecht ohne gewiſſe Solennit aͤten frey zu laſſen / weil die Freyheit ein unſchaͤtzbares Gut ſey u. ſ. w.

88. Wir muͤſſen aber auch allhier wieder - hohlen / daß unſere Regel nur eine Muthmaſ - ſung in der Auslegung mache / und dannen - hero nicht allenthalben darauff / als auff eine unbetruͤgliche Sache / fuſſen. Dannenhero wenn wir ſehen / daß der Fuͤrſtunſere Ausle - gung uͤber ſein Geſetze verwirfft / und derer Gegentheil gut heiſſet / ſo muͤſſen wir nicht un - billig nachgeben / wenn gleich unſere Ausle - gung mit denen gegebenen Regeln noch ſo wohl uͤberein kaͤme. Denn da heiſt es alsdenn: Res qvidem dura, ſed ita lex ſcripta eſt.

89. Alſo wenn verboten iſt / daß eine Frau dieN 3Ehe -198Das 3. H. von der Geſchickligkeitbruchs beſchuldiget worden / keinen Knecht im Teſtament frey laſſen koͤnne / weil gemeinig - lich die leibeignen Knechte Kuppler ſind / und von dem Ehebruch Wiſſenſchafft ha - ben / ſo ſcheinet es wohl / das dieſes Geſetz den - jenigen Knecht nichts angehe / der etliche Jahr ſich an einen andern Orth auffgehalten / und von dem angeſchuldigten Ehebruch nichts wiſſen koͤnnen. Nichts deſtoweniger muß die - ſe Auslegung paſſen / wenn der Geſetzgeber ſpricht / daß man das Geſetze auch von dieſem Kerl verſtehen ſolle.

90. Gleicherweiſe koͤnen wir auch wohl in Auslegung gelehrter Schrifften raiſoniren, was fuͤr conſeqventien daraus folgen / und dem Autori dieſelben beymeſſen / daß er dieſel - ben vermoͤge ſeines Grundſatzes ebenmaͤßig behaupten muͤſſe. Wenn er aber wider dieſe conſeqventien proteſtiret, daß er damit nichts zu thun haben wolle / und ſeine Mei - nung anders erklaͤret / muͤſſen wir ihn mit frieden laſſen / ob wir gleich nicht begreiffen / wie dieſe conſeqventien nicht aus dem Grund - ſatze folgen ſolten / auch eines und das andere wieder ſeine Erklaͤrung zu ſagen haben / wenn dieſe nur nicht gantz offenbahrlich / und daß esalle199andere zu verſtehen. es alle Menſchen begreiffen / cavillatoria iſt. Denn weil mehrentheils dergleichen conſe - qventien nicht von unſtreitigen ſondern wahr - ſcheinlichen Dingen / oder doch zum wenigſten durch wahrſcheinliche Schluͤſſe gemacht wer - den ſo kanich nicht ſchlieſſen: Dieſes iſt mir hoͤchſt wahrſcheinlich / Ergò muß es auch einem andern hoͤchſtwahrſcheinlich vor - kommen. Oder: wenn ich des Autoris Meinung beypflichtete / wuͤrde ich dieſe conſeqventien auch mit vertheydigen muͤſſen. Derohalben muß er ſolches auch thun.

91. Alſo wenn Carteſius ſagt / man muͤſ - ſe auch an GOtt zweiffeln / und ſeine Wider - ſacher ſagen: daß er dadurch nothwendig zum wenigſten zu einen augenblicklichen Athei - ſten werden muͤſſe; und er wehret ſich hier - wieder mit Haͤnd und Fuͤſſen / muß man ihn mit frieden laſſen. Alſo wenn diejenigen / die da ſagen / die Seele eines Kindes werde in dem Beyſchlaff von der Seele der Eltern gleich - ſam angezuͤndet / denen die da ſagen / daß GOtt dieſelbe der Mutter nach einer gerau - men Zeit der Empfaͤngnuͤß eingieſſe / vor - werffen / daß nach ihrer Meynung Gott Ur -N 4ſache200Das 3. H. von der Geſchickligkeitſache der Suͤnde ſey / dieſe aber jene beſchuldi - gen / daß ſie die Seele fuͤr Coͤrperlich hal - ten muͤſten / gleichwohl beyde wider dieſe con - ſeqventien proteſtiren / ſo iſt es nicht mehr als billig / daß man dieſe Proteſtation gelten laſſe.

92. Dieſes waͤren alſo die vornehmſten Re - geln / derer man ſich meines Behalts bey einer guten Auslegung zu bedienen hat / und halte ich dafuͤr / daß derjenige / der dieſes wohl und cum - judicio zu appliciren weiß / fuͤr einen guten Ausleger werde pasſiren koͤnnen / maſſen ich denn glaube / daß unter 100. Faͤllen / die in der Auslegung vorkommen / kaum einer ſeyn wird / der nicht aus einer von beſagten Regeln koͤnne entſchieden werden. Denn daß andere ſagen / man muͤſſe wohl achtung auff die orthogra - phie und auff die Interpunction, als die commata, puncta u. d. g. geben / iſt wohl an dem / aber es gehoͤret mehr zu der Interpre - tatione Grammatica, als Logica, denn wir ſind umb die Auslegung auch ſolcher Worte bekuͤmmert / die falſch geſchrieben ſind / und darinnen die interpunctio ausgelaſſen oder verruͤckt iſt.

93. So wird es demnach auch nunmehr Zeit ſeyn zu betrachten / wie vielerley artenvon201andere zu verſtehen. von der Interpretation und Auslegung ſeyn. Wiewohl was die Regeln betrifft / dieſe Ein - theilungen darinnen keinen groſſen Nutzen ha - ben werden; maſſen die Regeln / derer wir er - wehnet / bey einer von denen folgenden Ar - ten ſo wohl als bey der andern beobachtet werden muͤſſen.

94. Derowegen geſchiehet die Auslegung einer fremden Schrifft durch eine deutlichere Beſchreibung des Verſtandes derſelben / ent - weder in eben derſelben Sprache / darinnen die Schrifft geſchrieben / oder in einer andern bekanteren Sprache / und wird alsdenn translatio oder eine Uberſetzung genennet.

95. Wiewohl nun von dieſer letztern Hue - tius ein gantzes Buch verfertiget / auch unſer Vorhaben nicht iſt / hier mit mehrern davon zu reden / ſondern vielleicht bald anderswo beſ - ſere Gelegenheit ſich hierzu ereignen moͤchte / ſo wollen wir doch nur dieſes einzige hier an - mercken / daß eine Uberſetzung keine ſchlech - ke Interpretatio Grammatica ſey / ſondern vielmehr ad Interpretationem Logicam gehoͤre / und dannenhero derjenige / der die Grund-Regeln die er Auslegung nicht ver - ſtehet / keinen guten Uberſetzer geben koͤnne.

N 596. Und202Das 3. H. Von der Geſchickligkeit

96. Und ſolchergeſtalt iſt das vornehmſte Stuͤck eines guten Uberſetzers / daß er nicht ſo wohl auff die Worte / als auff den Ver - ſtand ſehe / und denſelben hernach in der an - dern Sprache / wie es ſich am beſten ſchickt / und wie es die idiotiſmi einer jeden Sprache zulaſ - ſen / nach ſeinen Gefallen gebe / doch ſolcherge - ſtalt / daß auch aus einer Uberſetzung kein com - mentarius werde.

97. Aber ſiehe nun die gemeineſten Uberſe - tzungen der Griechiſchen Autoren in das Latein an / ob ſie nicht anſtat einer Interpre - tationis Logicæ die Autores von Wort zu Worte vertir en und deshalben recht verdrieß - lich zu leſen ſind / anders theils betrachte die U - berſetzung der Lateiniſchen Scribenten in die Teutſche Sprache / ob nicht eben dasjeni - ge auch bey denen meiſten und nechſt dem auch noch dieſes zu erinnern ſey / daß die Uberſetzer qvoæd interpretationem Grammaticam (deñ die Interpretatio Logica præſupponirt dieſelbi - ge allezeit) des Lateins, mehrentheils aber auch nicht einmahl des Teutſchen maͤchtig ſind.

98. Ferner pflegt man insgemein von drey - erley Arten der Auslegung zu reden / deau -203andere zu verſtehenauthentica, uſuali, und doctrinali. Alleine die letzte gehoͤret nur zu unſern Zweck. Die avthentica iſt die / wenn man ſeine eigene Worte auslegt / und die uſualis kan gar wohl auff gewiſſe Maſſe dahin gebracht werden / weil durch dieſelbe ein Fuͤrſte gleichſam ſtill - ſchweigend ſeine eigene Geſetze erklaͤret / in - dem der lang hergebrachte Gebrauch ſo viel gilt als ein geſchrieben Geſetze.

99. Die Interpretatio doctrinalis nun wird von unterſchiedenen in Explicativam, Mentalem, Extenſivam & Reſtrictivam, eingetheilet. Alleine Explicativa iſt eigend - lich diejenige / die wir bißhero Interpretatio - nem Grammaticam genennet / und gehet uns nicht an / weil wir nur mit der Mentali zu thun haben / welche nichts anders als In - terpretatio Logica iſt.

100. Sie iſt aber vel Declarativa, vel Extenſiva, vel Reſtrictiva, welche Ein - theilung hergenom̃en iſt von der proportion der Worte mit denen Gedancken deſſen / deſ - ſen Schrifften wir erklaͤren / oder mit denen zweiffelhafften Faͤllen / davon die Frage iſt / ob ſie zu dem mente des Autoris, qvem inter - pretamur, gehoͤren oder nicht.

101.204Das 3. H. von der Geſchickligkeit

101. Wenn die Worte ſo weit ſeyn als die Gedancken / oder wenn der zweiffelhaffte Fall ad mentem gehoͤret / und auch unter denen Worten begriffen iſt / ſo heiſt es inter - pretatio declarativa, z e. wenn man fraget / ob die Worte in weitlaͤufftigen oder engen Verſtande ſollen genommen werden.

101. Weñ die Worte enger ſind als die Ge - dancken / oder wenn der Zweiffelhaffte Fall ad mentem eines Autoris gehoͤret / aber nicht unter denen Worten begriffen iſt / ſo heiſt die Interpretatio extenſiva, z. e. wenn wir o - ben erwehnet / daß / wenn verbothen iſt Getraͤy - de aus dem Lande zu fuͤhren / auch verboten ſey Meel auszufuͤhren.

103. Und endlich weñ die Worte weiter ſind als die Gedancken oder weñ der zweiffelhaffte Fall / der zwar unter denen klaren Worten begriffen iſt / dennoch nicht ad mentem Auto - ris gehoͤret / ſo heiſſet es / interpretatio reſtri - ctiva, z. e. wenn ein frembder auff die Stadt - mauern ſteiget / ſoll er geſtrafft werden. Und da der Feind gehling fuͤr die Stadt koͤmbt / und ſie belaͤgern will / lauffen viele frembdt mit auff die Mauren / und helffen denſelben verja - gen / und man wil ſie beſtraffen.

104.205andere zu verſtehen.

104. Bey allen dieſen dreyen Arten der Auslegung braucht man wie nur kurtz zuvor erwehnet alle obangefuͤhrte Regeln nach Gelegenheit / und iſt keine unter denenſelben / die zu einer Art alleine gehoͤrete / wiewohl es geſchehen kan / daß bey einer Regel man mehr exempel, die bey einer ſpecie interpretationis vorkommen / geben koͤnne / aber dieſe Anmer - ckung waͤre mehr ſubtil, als daß ſie einen Nu - tzen haben ſolte.

105. Wiewohl nicht zu laͤugnen iſt / daß die V. Regel bey allẽ drey ſpeciebus faſt gleich durchgehet / weil wir eines Menſchen Mei - nung nicht deutlich erkennen koͤnnen / als wenn wir die Urſache und den Qvell ſeines Vor - habens oder Meinung wiſſen / indem wir im erſten Theil allbereit geſagt / daß ſo wohl die Jrrthuͤmer als die Warheiten mit einen ge - wiſſen fundament verknuͤpfft ſind.

106. Dannenhero muſt du dich nicht betruͤ - gen / als ob es drey unterſchiedene Regeln waͤren / wenn du dreyerley Worte bey denen drey Arten der Auslegung vorbringen hoͤreſt. Bey der Interpretatione Declarativa heiſt es: Verba explicanda ſunt ſecundum rationem legis. Bey der Extenſiva: Ubiea -206Das 3. H. von der Geſchickligkeiteadem eſt ratio, ibi eadem eſt Juris di - ſpoſitio: Und bey der Reſtrictiva: Ceſſan - te ratione, ceſſat etiam ipſius diſpoſitio. Denn dieſe drey Regeln ſtecken alle in der 5ten Regel / die wir oben angefuͤhret.

107. Ja es ſcheinet gar / daß die JCti eben deßwegen die Auslegung in dieſe drey ſpe - cies eingetheilet / weil ſie den Jrrthumb ge - habt / als wenn eine jede Species ihre abſon - derliche Regeln haben muͤſte / aus welchen / ob es gleich ſcheinet / daß er gering ſey / und nicht viel zu bedeuten habe / dennoch unter - ſchiedene falſche und unnuͤtze Regeln ge - macht ſeyn worden / die zu nichts nuͤtze ſind / als zu Zaͤnckereyen und zu Sophiſterey en / und zu aſylis ignorantiæ. Wir muͤſſen ſie doch nun auch ein wenig beleuchten / weil wir ſolches oben verſprochen haben.

108. Bey der interpretatione declarati - va macht man ſich ſehr breit mit der Regel: Verba in dubio propriè ſunt accipienda, niſi inde ſequatur abſurdum. Man muß die Worte ſo lange in eigenen Verſtande neh - men / biß man ſiehet / daß der eigene Ver - ſtand etwas abſurdes nach ſich ziehe.

109. Wenn man aber beym Lichte beſiehet /was207andere zu verſtehen. was hinter dieſer Regel ſtecke / wird man gar leichte befinden / daß man gantz offenbahr bey derſelben interpretationem Grammaticam & Logicam mit einander vermiſcht. Bey der interpretatione Grammatica laſſe ich es pasſir en / daß in Uberſetzung der Worte / die klar und deutlich ſeyn / man nicht ohne gnugſame Urſache von der eigenen Bedeu - tung derſelben ſolle abweichen. Und bey die - ſer Bewandniß muͤſte ſie vielmehr alſo heiſſen: Verba ubi non eſt dubium, propriè ſunt ac - cipienda. Wenn aber der Verſtand dunckel und zweydeutig iſt / oder ſich bey der Ausle - gung ſonſt ein nicht unvernuͤnfftiger ſcrupel ereignet / und wir koͤnnen denſelbigen nicht durch die oben erklaͤrte Regeln heben / wer - den wir auch gewiß nicht vermoͤgend ſeyn / mit dieſer Regel etwas fruchthaͤrliches auszurich - ten / wenn wir aber durch die obigen Regeln allbereit den wahren Verſtand eines Autoris erhalten haben / ſo hilfft uns ja gewiß dieſe Re - gel zu nichts / ſondern ſie waͤre doch zum wenig - ſten nur uͤberfluͤßig.

110. Zudem ſo iſt auch derſelbigen Nichtig - keit bey der interpretatione mentali alſobald daraus zu ſehen / wenn man dieſelbe nur einwenig208Das 3. H von der Geſchickligkeitwenig mit deutlichern Worten erklaͤret. Denn das in derſelben enthaltene Wort: ab - ſurdum, bedeutet entweder etwas unver - nuͤnfftiges / und das der allgemeinen Ver - nunfft der Menſchen zu wieder iſt / oder et - was unbilliges / das wieder / die Geſetze laufft.

111. Jn erſten Verſtande hieſſe dieſelbige ſo viel. Wenn eine Redens-Art zweif - felhafft iſt / muß man dieſelbige ſo lange in eigenen Verſtande nehmen / biß man ſie - het / daß dieſe Auslegung unvernuͤnfftig ſey / das iſt / mit denen obigen Regeln ei - ner guten Auslegung nicht uͤbereinkom - me. Was hieße aber dieſes anders / als das man vor allen Dingen die Reden eines Auto - ris nach denen obigen Regeln examini ren muͤſſe / und alſo die gegenwaͤrtige nichts nuͤtze ſey / oder daß man ſich ihrer nur in interpre - tatione Grammatica bedienen muͤſſe.

112. Jn dem andern Verſtande aber hieſ - ſe ſie ſo viel: Man muß bey entſtehenden Zweiffel die Worte ſo lange in eigenen Verſtande nehmen / biß man ſtehet / daß aus dieſer Auslegung etwas unbilliges folge. Und ſolchergeſtalt gehoͤrete ſie zwarmehr209andere zu verſtehen. mehr ad interpretationem Logicam, aber ſie waͤre gantz offen bahr falſch. Denn es koͤnnen viel Exempel gegeben werden / daß der eigene und fig uͤrliche Verſtand beyder - ſeits nicht unbill[i]g waͤren / und dannenhero man entweder aus andern Muthmaſſun - gen ſehen muͤſte / ob der eigene Verſtand dem figuͤrlichen vorzuziehen waͤre / oder dieſelbi - gen wohl gar wieſen / daß der figürli che Ver - ſtand alleine ſtat habe. z. e. Wenn einer dem andern eine Apothecke verkaufft haͤtte / wel - ches Wort theils vor dem Ort / darinnen die medicamenta verwahret werden / theils vor die Medicamenta ſelbſt per metonymiam genommen wird. Keine von beyden Be - deutungen hielte etwas verbotenes in ſich. Oder wenn ich ſpraͤche: Er hat mit einem kalten Eiſen ſein Leben geendiget. Er hat dieſen Ort mit gewaffneter Hand einge - nommen.

113. Gleiche Bewandnuͤß hat es auch mit einer andern Regel / die aus dem Jrrthum der vorigen her gefloſſen / denn ein Jrrthum iſt niemahlen alleine. Man muß in Erklaͤ - rung der Teſtamente und letzten Willen die Worte des Teſtaments ſo lange in ei -Oge -210Das 3. H. von der Geſchickligkeitgenen Verſtande nehmen / biß die hoͤchſte Noth uns davon abzuweichen antreibet. Die Juriſt en haben dieſelbige erſt auff die Bahne gebracht / aber ſie hat ſo wenig Grund als die vorige. Und ich halte / wenn man nur ein wenig die Leges Pandectarum, die von Teſtamenten handeln / durchgehen wolte / ſo wuͤrde man befinden / daß ja ſo viel caſus drinnen enthalten waͤren / in welchen die Juriſt en die Teſtaments-Worte figür lich / als nach ihrem eigenen Verſtande / ausgele - get.

114. Und gleichwohl hat man auff dieſe Regel gleich als auff eine unſtreitige War - heit ſo groſſen Grund gebauet / daß man ſich derſelben auch in denen ſchwereſten Streit - Fragen mit groſſer Zerruͤttung der allge - meinen Ruhe bißhero bedienet hat / und noch bedienet.

115. Denn alle dergleichen Regeln in der Lehre von der Auslegung ſind zu nichts taug - licher als das leidige Gezaͤncke unruhiger Koͤpffe zu unterhalten / und die ſophiſte - reyen und die Unweißheit unter der Larve einer ſonderlichen Weißheit zuverſtellen.

116. Und eben dieſes Abſehen hat auchdie211andere zu verſtehen. die Schein Regel / deren man ſich in der inter - pretatione extenſiva & reſtrictiva zu be - dienen pfleget. Favorabilia ſunt exten - denda, odioſa reſtringenda. Annehmli - che Dinge muß man auff andere gleich - falls ausdehnen / aber verhaſte und ver - drießliche ſo enge / als man kan / einſchraͤn - cken.

117. Dieſe Regel iſt ſo gemein und ſo alt / daß auch der ſcharffſinnige Grotius, durch den allgemeinen Gebrauch zweiffels ohne hin - tergangen / ſich hoͤchſt angelegen ſeyn laſſen / die - ſelbe deutlich zu machen / und mit unterſchie - denen Exempeln zu beſtaͤrcken / da ſie doch abermahls ohne die obigen Regeln gantz den geringſten Nutzen nicht hat; ja da man die - ſelbe nicht einmahl verſtehet / noch weiß / was ſie haben will / ſondern ſie wie eine waͤchſerne Na - ſe hinkehret / wo man ſie ſophiſti ſcher weiſe hin haben wil.

118. Denn alle Dinge in der Welt haben zweyerley Geſtalten und Anſehen / ein gutes und ein boͤſes / und was einem annehmlich und nuͤtzlich iſt / iſt gemeiniglich dem andern verdrießlich. Und wenn man gleich ſagen wolte / man muͤſte genau betrachten / ob in einerO 2Sache212Das 3. H. Von der GeſchickligkeitSache die Annehmligkeit oder Verdrießligkeit uͤberwege / und dieſelbe darnach benennen / ſo iſt doch offenbahr / daß man dieſe Uberwegung ohne die obigen Regeln nicht erkennen koͤn - ne. Wenn man aber die extenſion oder reſtri - ction nach Anleitung der obigen Regeln macht / was braucht man denn dieſer Regel / die nur in bloſſen Worten beſtehet.

119. Jch weiß wohl / daß die Juriſt en oh - ne Betrachtung der obigen Regeln gewiſſe Exempel von annehmlichen und verdrießli - chen Dingen geben / und daraus neue Regeln oder vielmehr neue concluſiones aus der vo - rigen Regel machen. Aber ich weiß auch / daß alle dieſe Regeln falſch ſeyn / und gar nichts heiſſen.

120. Denn ſie ſagen: Die Gutthaten eines Fuͤrſten gehoͤren unſtreitig zu an - genehmen Dingen / und machen dannenhe - ro dieſe Regel: Beneficia Principis ſunt extendenda vel latè accipienda. Aber zu geſchweigen / daß man viel Exempel an - fuͤhren kan / ſie auch dieſelben ſelbſt anfuͤhren / darinnen dieſe Regel trieger / ſo ſolte es mich gut duͤncken / wenn ich nur noch ein einig Exem - pel haͤtte ſehen koͤnnen / das ſich auff dieſelbige ſchickte.

121. Wie -213andere zuverſtehen.

121. Wiederum mangelt es ihnen auch an Exempeln nicht von verdrießlichen Dingen / von denen ſie ſagen / daß man ſie ſo viel als moͤglich einſchraͤncken / und bey leibe keine in - terpretationem extenſivam zulaſſen muͤſſe. Denn / ſprechen ſie / alle pœnal Geſetze ſind odiös, und ſtehet wohl mehr als einmahl in dem Corpus Juris, daß man dieſelben nicht extendi ren ſolle.

122. Nicht weniger alle ſtatuta particu - laria ſind odiös, weil ſie denen allgemeinen Rechten derogi ren / und es iſt ja mit den kla - ren Worten in den heiligen Pandecten ent - halten / qvod ea, qvæ contra rationem Juris communis ſint introducta, non producenda ſint ad conſeqventias.

123. Nun iſt zwar ietzo meines Vorha - bens nicht / den Urſprung dieſer groſſen Jrr - thuͤmer allhier weitlaͤufftig zu unter ſuchen / oder ihnen auff ihre objectiones zu antwor - ten / ſondern ich will dir nur in einem deutli - chen Exempel (nach dem man leichtlich 1000. andere ſich einbilden kan) zeigen / daß dieſe Re - geln falſch ſeyn. z. e. Es iſt per ſtatutum particulare hergebracht / daß kein Untertha - ner bey 50. fl. Straffe einen Scheffel Ge -O 3traͤy -214Das 3. H. von der Geſchickligkeittraͤyde ohne der Obrigkeit vorwiſſen auſſer ſeinem Dorffe verkauffen ſolle / und man er - tapt einen / der Mehl verkaufft. Die geſun - de Vernunfft und die 5. Regel / die wir oben gegeben / verſichern uns / daß von rechtswegen der Unterthaner in dieſem Fall ſtrafffaͤllig ſey / und daß man / unerachtet dieſes ein ſta - tutum particulare und lex pœnalis waͤre den - noch interpretationem extenſivam hier muͤſ - ſe ſtat finden laſſen.

124. Sprechen ſie: Ja dieſes iſt nur ein Exempel und eine exception von unſerer Regel / nulla verò regula eſt ſine exceptio - ne; ſo bitte ſie doch gar inſtaͤndig / daß ſie ſo gut ſeyn / und geben dir nur ein paar Exempel von der ihrigen / die du nicht aus denen obigen Regeln / wenn ihre deciſion anders recht iſt / albereit decidi ren kanſt.

125. Wenn nun durch die von uns oban - gefuͤhrte Regeln / oder wo ja deren noch etli - che wenige tuͤchtige waͤren / die wir uͤber ver - hoffen ſolten verſehen haben / die Dunckelheit und Zweydeutigkeit einer Rede nicht geho - ben werden koͤnte / ſo hoͤret / wie wir allbereit oben erwehnet / das Ambt eines Ausle - gers auff / und weil bey der klugen Weltnichts215andere zu verſtehen. nichts unvernuͤnfftiger iſt / als nach unmoͤg - lichen Dingen trachten / oder unmoͤgliche Dinge / derer Unmoͤgligkeit ieder vernuͤnffti - ger Menſch begreiffet / vor moͤglich halten; Als muſt du dich um ſo viel mehr fuͤr dieſen groſſen Fehler huͤten / ie mehr du ſieheſt / daß ſonſt gelehrte und vortreffliche Leute / bloß aus Veranlaſſung des præjudicii autoritatis dar - ein gefallen.

126. Damit du dich aber deſto beſſer dafuͤr huͤten koͤnneſt / ſo will ich dir die vornehmſte Arten zeigen / dadurch es zugeſchehen pfleget / daß eine Schrifft nicht ausgeleget wer - den kan. Nehmlich 1. Wenn man das ge - ſchriebene gar nicht leſen / und mit keiner Muthmaſſung erreichen kan / wie die Worte heiſſen ſollen.

127. 2. Wenn die geſch[ri]ebene oder ge - druckten Worte gar keine Bedeutung ha - ben. Wiewohl bey dieſen beyden Arten von denen Gelehrten ſehr wenig pfleget angeſtoſ - ſen zu werden / in dem ſie ſich von ſelbſt verſte - hen.

128. 3. Wenn die Worte zweyerley oder mehrerern Auslegungen unterworffen ſind / die einander zu wieder ſind / oder da manO 4aus216Das 3. H. von der Geſchickligkeitdenen Umſtaͤnden ſiehet / daß der Scribent, oder die contrahiren den Perſonen nur eine habe verſtehen wollen / und man kan doch durch keine gegruͤndete Muthmaſſung erken - nen / welche von beyden:

129. Wir haben ſchon oben ein Exempel hiervon angefuͤhret / nehmlich den Vergleich des Paris und Menelaus. Ein anders koͤnte man daher nehmen / wenn einer in ſei - nem Teſtament geſagt haͤtte / daß Titius ſei - ner Kinder Vormund ſeyn ſolte / und es waͤ - ren zwey Titii, Vater und Sohn / gegen die der Verſtorbene gleiche Freundſchafft ge - tragen haͤtte. Oder wenn er Titio etwas vermacht haͤtte / und es waͤren wohl 30. Titii in der Stad.

130. Jch habe mit Fleiß geſagt / daß die Worte denn erſt ſollen fuͤr unmoͤglich auszu - legen gehalten werden / wenn beyde Bedeu - tungen einander zuwie der waͤren / oder ein Scribent nur eine Bedeutung haͤtte ver - ſtehen wollen. Denn wenn die Bedeu - tungen einander nicht zuwieder waͤren / ſon - dern gar wohl beyſammen ſtehen koͤnten / oder der Scribent haͤtte auff alle beyde / die doch unterſchieden waͤren / ein Abſehen gehabt / iſtes217andere zu verſtehen. es kein Zweiffel / daß man die Auslegung ſo dann nicht unmoͤglich halten / ſondern viel - mehr beyde Auslegungen / wenn man keine Muthmaſſung finden kan / welche der andern fuͤrzuziehen ſey / annehmen ſolle.

131. Z. e. Wenn ein Autor geſchrieben haͤt - te: Daß man einem ſehenden Zeugen mehr glauben muͤſſe als einem hoͤrenden: kan der hoͤrende Zeuge (wenn dieſe Regel in ge - nere geſetzt waͤre / oder die Umſtaͤnde auff bey - de Faͤlle koͤnten applici ret werden) genom - men werden fuͤr einem / der etwas ſelbſt ange - hoͤret / oder der es von hoͤren ſagen hat. Wenn man ſpricht: Die Welt werde durch wie - drige und unterſchiedene Meinungen re - giret / kan man nach Gelegenheit unter dem Wort Meinungen nicht alleine Wahrſchein - ligkeiten / ſondern auch handgreiffliche Jrr - thuͤmer verſtehen.

132. Jch ſehe wohl zuvor / du werdeſt ſpre - chen / wie das ſeyn koͤnne / daß eine Rede zweyerley Verſtand haben koͤnne / weil wir oͤffters erwehnet / daß die Reden Anzei - gungen der Gedancken waͤren / und daß wir damit dieſelbigen andern zuverſtehen geben ſolten. Nun iſt es aber unmoͤglich / daß einO 5Menſch218Das 3. H. Von der GeſchickligkeitMenſch zugleich an zwey Dinge geden - cken / oder zwey unterſchiedliche Gedan - cken haben ſolle. Ja wenn es vergoͤnnet waͤre / mit einem Worte zwey unterſchiedene Gedancken dem andern zuverſtehen zugeben / wuͤrden viel Leute durch dieſe Zweydeutigkeit betrogen / und alſo die menſchliche Geſell - ſchafft groͤblich verletzet werden.

133. Alleine dieſer Einwurff hat nicht viel auff ſich. Es iſt freylich wahr / ein Menſch kan nicht zugleich an zwey unterſchiedene Din - ge gedencken / aber es iſt auch gleichwohl nichts geſchwinder als die Gedancken / und im ge - meinen Leben und Wandel nimmt man die Augenblicke etwas weitlaͤufftiger / daß ein Menſch in denenſelben gar wohl zwey unter - ſchiedene Dinge gedencken kan. Zu dem iſt es ein groſſer Unterſchied: Jn einem Angen - blick an zwey unterſchiedene Dinge geden - cken / und zwey unterſchiedene Gedancken in einer Rede vorſtellen.

134. Hiernechſt aber iſt es freylich unrecht / wenn ein Menſch durch die Zweydeutigkeit ſeiner Worte andere Leute betriegen wolte / weswegen auch im Handel und Wandel der - gleichen Zweydeutigkeit nicht zu gebrauchen;Aber219andere zu verſtehen. Aber deswegen muß man nicht uͤberhaupt fuͤr unrecht ausſprechen / wenn ein Autor in ſeinen Reden auff zweyerley Verſtand zielet / ſo wenig als man einem Medico fuͤrwirfft / daß er unrecht gethan / wenn er dem Patien - ten die bittere Artzeney ſuͤſſe eingeſchwatzt / ob es gleich im Handel und Wandel verboten iſt / anders zu reden / als man es meinet.

135. Zudem ſo fragen wir ietzo nicht: ob es recht oder unrecht ſey / wenn ein Autor ſeine Worte auff zweyerley Art verſtehen wolle / ſondern ob derjenige etwas unver - nuͤnfftiges begehe / der eines andern ſeine Worte zu weilen in zweyerley Verſtande aus - lege. Z. e. Wie offt geſchiehet es / daß einer dem andern zweydeutige Worte gibt / die eine gute und ſchlimme Auslegung zulaſſen / und hernach dem andern / der ihn fragen laͤſt / wie er ſie wolle verſtanden haben / zur Antwort zu entbieten laͤſt / er moͤge es nehmen / wie er wolle.

136. Wiewohl nicht zu laͤugnen iſt / daß mehrentheils ein Autor unter denen beyden Verſtaͤnden / in welchen ſeine Reden koͤnnen ausgeleget werden / auff den einen hauptſaͤch - lich gezielet / welches man denn nach Anlei -tung220Das 3. H. von der Geſchickligkeittung obiger Regeln zuweilen aus andern Umſtaͤnden abnehmen kan. z. e. Wenn einer von Jrrthuͤmern redete / und ſpraͤche: Mun - dus regitur opinionibus: Oder wenn einer dem andern ſagen laͤſt / er ſolle es nehmen / wie er wolle.

137. Ja es kan gar geſchehen / daß (auſſer Handel und Wandel) ein Scribent und Au - tor einen gantz andern Verſtand als die Worte andeuten in Sinne gehabt habe / bey welchen man dannenhero wohl verſchla - gen ſeyn muß / denenſelben zu erforſchen / weil hierzu mehr Witz erfordert wird als zu dem ſenſu literali, oder dem Verſtand der fuͤr Au - gen lieget / weswegen man ihn auch einen heimlichen und verborgenen Verſtand / allegoricum & myſticum zu nennen pfle - get.

138. Und dieſes geſchiehet gemeiniglich auff zweyerley weiſe. Denn entweder intendi ret der Autor etwas herbes und unangenehmes darunter zu verbergen / oder nach Gelegenheit wohl bitterer und beiſſender zu machen / wenn er in Satyriſchen Schrifften die Laſter lo - bet / oder in der general Beſtraffung derſelben / oder in Erzehlung einer biſtorie von einerandern221andere zu verſtehen. andern Perſon auff eine Perſon in ſpecie, oder auff eine gantz andere / als ſeine Worte zeigen / ſein Abſehen nimmt.

139. Oder er ſucht den Kern ſeiner guten Lehre fuͤr die Einfaͤltigen lieblich und annehm - lich zu machen / als wie die fabeln, die auff das menſchliche Leben und Wandel ge - richtet ſind; oder vielleicht aus Neid oder andern Abſehen die Weißheit fuͤr denen Au - gen des gemeinen Volcks zu verbergen; als wie die Poëtiſchen Fabeln und Gedichte / die auff einen ſenſum Phyſicum vel Chy - micum zielen.

140. Der Unterſchied duͤnckt mir zwiſchen der Auslegung des ſenſus literalis & myſtici beſtehet darinnen. Zu jenen ſind die obbe - ruͤhrten Regeln gar zulaͤnglich / daß auch da - mit ein die Warheit liebender Menſch / der noch nicht eben ſo groſſe profectus in der Weiß - heit hat / ziemlich wird fortkommen koͤnnen / aber zu dieſen wird ein ſcharffſinniger Menſch / oder der ſchon die Weißheit in einen hohen grad be - ſitzt / erfordert; und zu Behuff der Auslegung des myſti ſchen Verſtandes kan man unſere obige Regeln eben nicht viel nutzen / ſon - dern man muß auff andere Dinge reflectir en.

141.222Das 3. H von der Geſchickligkeit

141. Fuͤrnehmlich aber hilfft darzu viel: Wenn man eine genaue Bekantſchafft mit dem Autore hat / nicht allein in Satyriſchen Schrifften / daß man die hiſtorien wiſſe / die et - wa an dem Orte / da er ſich auffgehalten / paſſi - ret ſeyn; ſondern auch in Fabeln / damit ich aus ſeiner inclination zu dieſer oder jener di - ſciplin judicire, ob er auff einen ſenſum Mo - ralem, Chymicum oder Phyſicum gezielet / o - der damit ich wenn ich ſonſten ſeine hypotheſes in dieſer oder jener diſciplin weiß / deſto eher begreiffe / was er in der Fabel fuͤr eine verbor gene Warheit habe anzeigen wollen.

142. So iſt auch weiter noͤthig / daß derjeni - ge / der einen ſenſum myſticum einer Fabel aus - legen will / die diſciplin aus der die Lehre ge - nommen und in der Fabel verſteckt iſt / haupt - ſaͤchlich verſtehe / und nicht erſt ſuche / in der - ſelbigen etwas rechtes aus denen Fabeln zu be - greiffen. Denn die Fabeln ſind dunckel / und muͤſſen von der Klarheit der Wiſſenſchafft er - leuchtet werden: Wie wolte man nun mit dun - ckelen Dingen die Dunckelheit ſeines Ver - ſtandes vertreiben?

143. Derowegen muß man ſich hier wohl huͤten / daß man nicht aus allzu plumper Liebezu223andere zu verſtehen. zu der interpretatione myſtica ſich uͤbereile / und von Sachen / die man noch nicht be - greifft / die Fabeln auslegen wolle; als wie z. e. diejenigen thun / die in dem ſie den Lapi - dem Philoſophicum ſuchen / meinen / ſie ha - ben ihn in allen Fabeln des Ovidii gefunden / da doch die Lebens-Art des Ovidii ausweiſet / man koͤnne gar wahrſcheinlich fuͤr ihn ſchwe - ren / daß er kein guter Alchimist geweſen. Und gemahnen mich dieſe Leute / wie ein Menſch / der ſonſt etwas / daß er noch nicht be - ſeſſen / begierig ſucht / der ſucht es an allen Or - ten / und meinet oͤffters / er ſehe die Sache / und habe ſie beynahe gefunden / da er ſich doch meh - rentheils ſehr betriegt.

144. So muſt du dich auch die Liebe zum ſenſu myſtico nicht zu ſehr einnehmen laſſen / einen zu ſuchen / da keiner iſt; Wie viel ſind Leute / die in Satyriſchen Schrifften wieder die intention des autoris Hiſtorien machen / und die in Gedichten ſich bemuͤhen gewiſſe claves zu verfertigen / damit man das Abſe - hen derſelbigen deſto genauer verſtehen koͤnne / da doch gemeiniglich ein Dichter unter einer Perſon wohl von zwantzig andern die Um - ſtaͤnde zuſammen ſucht / und mehr auff Gene -ral -224Das 3. H. Von der Geſchickligkeitral-Lehren / als ſpecial facta ſein Abſehen richtet.

145. Weiter huͤte dich auch / daß dich die Liebe zum ſenſu myſtico nicht antreibe / eine fabel auff drey oder mehrerley unter ſchie - dene Abſehen auszulegen / als wie man zum Exempel aus denen fabeln des Ovidii ſenſum Moralem, Chymicum & Phyſicum her - aus zu klauben gewohnet iſt. Denn ein Au - tor zielet mehrentheils nur auff einen ſenſum myſticum, nicht auff viele zugleich; und ſol - cher geſtalt gibt derjenige / der ſo viel ſenſus myſticos und mehr als einen aus einer Rede ausleget / zuverſtehen / daß er in ſeiner Ausle - gung ziemlich wancken und ſehr ungewiß ſeyn muͤſſe.

146. Aber laſſe dich auch nicht aus allzu unzeitigen Haß uͤbereilen / daß du die inter - pretationem myſticam gantz und gar verwerffen wolteſt. Denn wie dich ſo viele Fabeln aus der morale uͤberzeugen / die keinen andern als einen heimlichen Verſtand haben koͤnnen; alſo kan auch deine irrige Meinung auff nirgends an - ders ſich gruͤnden / als auff der entweder irri - gen / oder uͤbel verſtandenen / und dannenheroſchon225andere zu verſtehen. ſchon oben verworffenen Regel; Daß man von dem eigenen Verſtande der Worte niemahlen abweichen ſolle.

147. Laß dich dieſe bißherige Digreſſion nicht verdrieſſen / noch fuͤr gar lang vorkom - men / denn du wirſt bey denen wenigen / die de interpretatione geſchrieben haben / wenig oder nichts de ſenſu myſtico antreffen / und wirſt doch gar offte in Converſation en und Buͤchern Diſcurſ e von dieſer Sache pro & contra hoͤren / aus denen du dich verhoffentlich deſto beſſer wirſt finden koͤnnen / wenn du unſere bißherige An - merckung hiervon etwas genauer betrachten wirſt. Nun wollen wir weiter / in denen Arten fortfahren / wegen welcher eine Schrifft nicht ausgeleget werden kan.

148. Dieſes geſchiehet 4. Wenn der Wort - Verſtand ſo verwirret iſt / daß man keinen vernuͤnfftigen Verſtand nach denen Regeln ei - ner guten Auslegung daraus bringen kan. z. e. Wenn einer alſo geſagt haͤtte: Wenn mein Knecht nicht wird mein Erbe ſeyn / ſol er mein Erbe und frey ſeyn.

149. Hierbey aber nimb dich in acht / daß du den Verſtand einer Rede nicht ſo fuͤr gar ver - wirret haͤltſt wenn es derſelbige nicht iſt. WirPhaben226Das 3. H. Von der Geſchickligkeithaben ſchon oben hiervon ein Exempel gegeben / wenn einer geſagthaͤtte: Wenn Titius mein Erbe ſeyn wird / ſol Cajus mein Erbe ſeyn / und wenn Cajus mein Erbe ſeyn wird / ſol es Titius ſeyn; und gewieſen / daß ſolches oh - ne Urſache von den JCtis unter die verwirrten Dinge gerechnet werde.

150. 5. So iſt auch endlich alle vernuͤnfftige Auslegung vergebens / weñ ein Autor, es ſey nun an einen oder vielen Orten ſich ausdruͤcklich widerſprochen hat / ſo wenig es moͤglich iſt daß man zwey Perſonen / die einander widerſpre - chen / und par force nicht Friede machen wol - len / mit einander vereinigen koͤnne.

151. Aber ſo offenbar die Wahrheit dieſer Anmerckung iſt / ſo gar groͤblich und augen - ſcheinlich wird dieſelbe in praxi auch von ſonſt gelehrten Leuten hindan geſetzt / und an derſel - ben ſtatt die Thorheit umbarmet / die die Ge - lehrten auff zweyerley Weiſe verfuͤhret.

152. Denn entweder ſind ſie gantz verblen - det / und ſehen keine Contradiction wo ſie doch augenſcheinlich iſt / und erdencken tauſend Diſtinctiones die nichts heiſſen / oder Caſus die denen Autor en nie in Sinne gekommen. O - der aber ſie ſehen wohl / daß ſie auff dieſe Weiſenicht227andere zu verſtehen. nicht fortkommen koͤnnen / und dannenhero brauchen ſie an ſtatt vernuͤnfftiger Muthmaſ - ſungen offenbahre Gewalt / ſie ſtreichen nach ihrem Gefallen aus / was ihnen nicht anſtehet / ſie machen aus einer bejahenden Rede eine ver - neinende; Sie veraͤndern die ſigna diſtinctio - nis nach ihren Gefallen und ohne Raiſon, auſ - ſer daß ſie ſich dieſer kahlen Entſchuldigung be - dienen: Man muͤſſe eher alles zugeben / als daß man einraͤumen ſolte / daß ein Autor ſich ſelbſt / oder einer dem andern contradicir et haͤt - te. Und betrachten nicht / daß ſie ſolcher geſtalt aus Auslegern Gewaltthaͤter und Hencker an - derer Worte und Gedancken werden / uͤber die ſie doch keine Gewalt haben.

153. Eine gantz andere Sache iſt es mit ei - nem Fuͤrſten / der / gleich wie er Gewalt uͤber das Thun und Laſſen ſeiner Unterthanen hat; Alſo kan er auch aus ſonderlichen Urſachen befehlen / daß die Worte ſeiner Unterthanen in ge - wiſſen Faͤllen auff eine gewiſſe Art und Weiſe ſollen ausgeleget werden / ob ſchon zu weilen dieſe Auslegung wider die obigen Re - geln zu ſeyn ſcheinet / oder man nicht eben ſehen kan / wie ſie daraus præcisè herkommen. Denn es ſtehet in des Fuͤrſten Gewalt denen Unter -P 2tha -228Das 3. H. Von der Geſchickligkeitthanen Geſetze vorzuſchreiben / wie ſie ihren Willen erklaͤren ſollen. So erfordert auch die Ruhe des gemeinen Weſens / daß ein Fuͤrſt aus hoher Fuͤrſtlicher Macht etliche Regeln gebe / die man in denen Faͤllen gebrauchen koͤnne / weñ beyderley Auslegungen der Worte nach denen gemeinen Auslegungs-Regeln gleich wahr - ſcheinlich ſeynd.

154. Z. e. Nach Roͤmiſchen Rechten wird dafuͤr gehalten / daß / wann in einem letzten Willen einem unter einer unmoͤglichen und ſchaͤndlichen Bedingniß etwas ver - macht waͤre / daß man ihm daſſelbige pur muͤſſe abfolgen laſſen / und daß man die Aus - legung ſo mache / als ob das Bedingniß nicht waͤre dazu geſetzt worden / da doch nach denen allgemeinen Regeln man vielmehr ſagen muͤſte / daß der Verfertiger des Teſtaments ſeiner Er - ben haͤtte ſpotten wollen.

155. So wird auch in zweiffelhafften Faͤllen eines Contracts die Auslegung allezeit wi - der denjenigen gemacht / der ſchuldig gewe - ſen waͤre die Worte deutlicher zu ſetzen. Dieſer wird aber dafuͤr gehalten / daß er ſchul - dig ſey ſeine Worte recht deutlich zu machen / der uͤber die allgemeine Natur eines Contractsſich229andere zu verſtehen. ſich etwas bedinget oder verlaſſen haben wil. Welche Regel zwar nicht denen obigen Regeln zuwider iſt / gleichwohl aber auch ſo offenbahrlich nicht daraus kan hergeleitet werden.

156. Bey dieſer Bewandniß aber ſieheſtu / daß dergleichen Regeln nicht hieher zur Lo - gic und zur Vernunfft-Lehre gehoͤren / ſondern der Jurisprudenz eigen ſeyn / und aus derſel - ben gelernet werden muͤſſen.

157. Du ſieheſt aber auch / daß ſie nicht unter die falſche Regeln gehoͤren / weil die falſchen Re - geln diejenigen ſeyn / die weder in dem Verſtan - de noch in denen Geſetzen gegruͤndet / ſondern beyden zuwider ſind.

158. Gleichwohl aber kan der Mißbrauch derſelben verſchaffen / daß ſie aus vernuͤnfftigen Regeln unvernuͤnfftige werden / wenn man ſich nemlich derſelben als regularum interpretandi communium auſſer denen Teſtamenten und Contract en / oder in Auslegung derer Teſta - mente oder Contracte ſolcher Perſonen / die demjenigen / der dieſe Regeln gegeben / nicht un - terworffen ſind / bedienet / welches beydes nichts neues iſt / ſondern gar offte vorzukom̃en pfleget.

159. Endlich ſo huͤte dich auch / daß du dir es nicht ſauer werden laͤſſeſt in Auslegung ſol -P 3cher230Das 3. H. Von der Geſchickligkeitcher Dinge / die keinen Nutzen haben; Denn du ſolſt dich der Auslegung bedienen zur Weißheit dadurch zugelangen / und alle Weiß - heit / wie wir zu Anfangs der Vernunfft-Lehre præſupponir et / ſol zum allgemeinen Nutzen des menſchlichen Geſchlechts gerichtet ſeyn.

160. Aber du muſt dich auch hier die Exem - pel gelehrter Leute nicht verfuͤhren laſſen. Denn es iſt noch allzubekandt / daß wenn z. e. ein alter Stein aus einem alten Winckel her - vor geſucht wird / auff dem ein ſchlaffender Kna - be auff einen Loͤwen liegt u. ſ. w. und die Worte O. V. A. R. N. M. darumb eingehauen ſind / daß wohl gelehrte Leute von der Bedeutung deſſel - ben gantze Buͤcher ſchreiben / und auff einander eyffrig ſind: Gleich ob mit dieſer Curioſit aͤt der klugen und geſcheiden Welt das geringſte gedienet waͤre / und nicht bey dieſer Bewandniß mit ja ſo groſſer Wahrſcheinligkeit koͤnte geſagt werden / daß obbeſagte Worte nichts anders als dieſes bedeuteten: Otioſas Vanitates Autorum Ridet Numen Maximum. Oder wenn man die Worte zuruͤcke leſen wolte: Maximum Numen Ridendas Autorum Vanitates Odit.

Das231von anderer Meinungen zu urtheilen.

Das 4. Hauptſtuͤck / Von der Geſchickligkeit von anderer Meinungen zu urtheilen / ob ſie wahr oder irrig ſind.

Jnnhalt. Connexion n. 1. 2. Man hat hier nicht noͤthig neue Regeln zu geben / ſondern ſich nur fuͤr den gemeinen Jrrthuͤmern zu huͤten n. 3. und zwar nicht in Beurtheilung von ande - rer Meinungen und Schrifften uͤberhaupt n. 4. von der Wichtigkeit und Nutzen der Materie derſelben n. 5. von der Manier und Artigkeit dieſelbige fuͤrzutragen n. 6. von der Erkaͤntniß der Gemuͤths-Neigungen aus denen Schrifften; n. 7. ſondern bloß von der Wahrheit und Jrrthumb anderer ihrer Meinungen n. 8. I. Lection: Urtheile nicht von anderer Meinungen / wenn du noch nicht von deinen eigenen urtheilen kanſt. n. 9. 10. II. Urtheile nicht von Meinungen / wenn du die Diſciplin da - hin ſie gehoͤren / nicht wohl verſteheſt. n. 11. Unterſchied dieſer beyden Regeln n. 12. was ei - gentlich heiſſe eine Diſciplin wohl derſtehen n. 13. 14. Ob man von Meinungen die zu einer Diſciplin oder Facultaͤt gehoͤren / darinnen man nicht promoviret hat / urtheilen koͤnne? n. 15. 16. 17. 18. Ein Schuͤler oder Auditor iſt incapabel von anderer Meynungen zu urtheilen n. 19. 20. Jnsgemein wird wider dieſe beyde Regeln von de - nen Gelehrten angeſtoſſen n. 21. Mißbrauch des ſtudii circa notitiam Autorum n. 22. III. Urtheile nicht von einem Buche / wenn du es nicht gele - ſen haſt n. 23. Jnsgemein pfleget man aus dem Ti - tel von einem Buche zu urtheilen n. 24. Und zwar ent -P 4weder232Das 4. H. Von der Geſchickligkeitweder aus der Materie n. 25. oͤffters auff eine thoͤrichte Weiſe n. 26. 27. Oder aus dem Autore, worbey viel - faͤltige Præjudicia vorzugehen pflegen; Als von deſſen Ruhm und Autoritaͤt n. 28. 29. 30. Von deſſen Alter o - der Tugend n. 31. Von deſſen Nation n. 32. Profeſſion n. 33. Von der Secte der er zugethan n. 34. Von ſeinem Stande und Vermoͤgen n. 35. Von dem Weiblichen Geſchlechte n. 36. Von der Laͤnge oder Kuͤrtze der Zeit / die ein Scribent in Verfertigung ſeines Buchs ange - wendet n. 37. Von der Groͤſſe und Menge der Buͤcher eines Autoris n. 38. Von der Raritaͤt der Buͤcher / ihrer Confiſcation, der Belohnung oder Beſtraffung des Au - toris n. 39. Von denen Autoribus Anonymis und Pſeu - donymis n. 40. u. ſ. w. n. 41. Man muß ein Buch gantz durchleſen / und zwar mit einer Attention, wenn man davon urtheilen wil n. 42. Denen Excerptis aus ande - rer Leute Schrifften iſt nicht zu trauen n. 43. Feurige Ingenia koͤnnen wohl geſchwinde und gleichſam im erſten Anblick von einem Buche uriheilen n. 44. IV. Urtheile nicht von einem Buch / wenn du den habitum interpretandi nicht beſitzeſt n. 45. Dieſe Lection wird gar ſelten in acht genommen n. 46. Die Affecten hindern die Gelehrten mehrentheils / daß ſie von frembden Buͤchern nicht recht judiciren n. 47. V. Urtheile nicht / wenn du ein Buch mit Affect en durchleſen haſt n. 48. Nemlich mit Hochachtung oder Verachtung / Liebe oder Haß des Autoris n. 49. Dieſe Affecten bringet man entweder mit / ehe man noch die Buͤcher zu leſen anfaͤnget n. 50. 51. Oder man wird davon uͤbereilet in dem man ſie lieſet n. 52. 53. Kennzeichen eines Calumnianten der mit Vorſatz die Schrifften gelehrter Leute uͤbel ausleget / und ungegruͤndet davon urtheilet. n. 54 64.

1. Die -233von anderer Meinungen zu urtheilen.

1.

DJeſes gegenwaͤrtige Hauptſtuͤck kanſtu gleichmaͤßig wie das vorige auff zwey - erley Weiſe mit denen andern ver - knuͤpffen / weil es ſo wohl anweiſen ſol / von der Wahrheit zu urtheilen / als von dem Jrrthumb.

2. So ferne es mit dem Jrrthumb zu thun hat / haben wir allbereit in dem vorigen Hauptſtuͤck gewieſen / wie es mit dem letzten ver - knuͤpffet werden ſolle. Soferne es aber fuͤr - nemlich auff die Erkaͤntniß der Wahrheit ge - het / koͤnnen wir ſagen / daß ein weiſer und kluger Menſch / wenn er die Meinungen ſeiner ſo wol lebenden als todten Lehrmeiſter wohl eingenom - men / hernachmahlen dieſelbigen ja ſo wohl / als ſeine eigene Meinungen auff dem Probierſtein der geſunden Vernunfft ſtreichen und examini - ren muͤſſe.

3. Und weil er dannenhero hierbey / und zwar ſo wohl bey Erkaͤntniß der Jrrthuͤmer als der Wahrheit alles dasjenige in acht nehmen muß / was er bey ſeinen eigenen Meinungen thun ſol / ſo iſt nicht noͤthig / daß wir hier viel neue Regeln geben / ſondern es wird genung ſeyn / wenn wir die vielfaͤltigen Jrrthuͤmer be - mercken / die in Beurtheilung von anderer LeuteP 5Mei -234Das 4. H. Von der GeſchickligkeitMeinungen und Schrifften pflegen begangen zu werden / weil man die bißher erwieſenen Regeln der Grund-Lehre nicht beobachtet / ſon - dern ſich von gantz handgreifflichen Præjudiciis einnehmen und uͤbereilen laͤſt.

4. Dieſes deſto beſſer zu verſtehen / muſtu auff die Uberſchrifft unſers Hauptſtuͤcks wohl Achtung geben. Denn wir haben nicht geſagt / daß wir von der Geſchickligkeit von anderen Meinungen uͤberhaupt zu urtheilen han - deln wollen / ſondern abſonderlich nur davon / ob ſie wahr oder irrig ſind. Derohalben muſtu dich erinnern / daß man von anderer Leute ihren Meinungen die ſie ſo wohl muͤndlich als in Schrifften vorgetragen / auff unterſchiedene Weiſe urtheilen koͤnne.

5. Denn anfaͤnglich kan man ein Urtheil ge - ben von der Materie ſelbſt / davon gehandelt wird / von derſelben Wichtigkeit und Nutzen / in Anſehen des menſchlichen Geſchlechts u. ſ. w. nach Anleitung deſſen was wir alsbald im erſten Hauptſtuͤck der Vernunfft-Lehren von der Ge - lahrheit uͤberhaupt / ingleichen im 11. Haupt - ſtuͤck daſelbſt von denen unterſchiedenen Claſſ en wahrer und wahrſcheinlicher Dinge / wie nicht weniger in dem erſten Hauptſtuͤck / der gegen -waͤr -235von anderer Meinungen zu urtheilen. waͤrtigen Ausuͤbung / von Eintheilung derer Kuͤnſte und Wiſſenſchafften geredet haben / und noch ferner in einem abſonderlichen Diſcurs von denen unterſchiedenen Theilen und Diſciplin en der Welt Weißheit abzuhandeln geſonnen ſind. Wovon aber jetzo zu ſchreiben unſer Vorhaben nicht iſt.

6. So pfleget man auch ferner insgemein von der Manier mit der eine Schrifft oder Diſcurs vorgetragen worden / zu urtheilen; Ob dieſelbige artig und ſcharffſinnig / oder ver - drießlich und abgeſchmackt ſey / welches theils aus denen Grund-Regeln der Rede-Kunſt / theils aber auch aus denen Lehr-Saͤtzen der Vernunfft-Lehre de Methodo hergenommen werden muß / ſo gleichfals jetzo zu unſern Vor - haben nicht gehoͤret.

7. Ferner ſo kan man auch aus eines Men - ſchen ſeinen Reden und Schrifften / von ſeinen Gemuͤths-Neigungen / ſeinen Tugenden und Laſtern / und ob er ein auffrichtiger Mann oder ein Heuchler ſey / urtheilen. Welche Wiſſenſchafft zwar ſehr edel und dane - ben leichte / ob ſchon ſehr wenigen bekandt iſt / gleichwohl aber nicht zur Vernunfft-Lehre / ſon - dern zur Politic gehoͤret / und aus Applicir ungder236Das 4. H. Von der Geſchickligkeitder Grund-Lehren / die wir zu ſeiner Zeit daſelbſt geben wollen muß erlernet werden.

8. So iſt demnach bloß unſer Vorhaben / zu zeigen / wie man in Beurtheilung von der Wahrheit oder den Jrrthumd eines andern ſeiner Meynung ſich verhalten / und die allge - meinen vorurtheile / ſo darinnen pflegen began - gen zu werden / vermeyden ſolle. Dieſe aber werden wir verhoffentlich am deutlichſten vor - ſtellen / wenn wir nach Anleitung der Ordnung die wir bißher in gegenwaͤrtiger Ausuͤbung be - obachtet / dieſelben unterſuchen.

9. Derowegen ſol dieſes die I. Lection ſeyn. Urtheile nicht von andern Schriff - ten oder Meinungen / wenn du noch nicht von deinen eigenen urtheilen kanſt / das iſt / wenn du die Geſchickligkeit der Wahrheit ſelbſt nach zudencken noch nicht beſi - tzeſt / und in deinem Kopffe noch nicht auffgeraͤu - met haſt.

10. Denn wie wilſtu von andern urtheilen / wenn du ſelbſt noch keinen Grund haſt nach dem man urtheilen ſol / ja wenn du ſelbſt eigentlich davon zu reden noch kein Judicium haſt / ſondern von anderer Autorit aͤt dependir eſt / und dich in deinen eigenen Dingen noch præcipitir eſt.

11. II. Ur -237von anderer Meinungen zu urtheilen.

11. II. Urtheile nicht von Schriff - ten / die zu einer abſonderlichen Diſci - plin gehoͤren / wenn du dieſe Diſciplin ſelbſten nicht wohl verſteheſt.

12. Dieſe Regel iſt von der vorigen in ſo weit unterſchieden / daß derjenige / der in ſeinem Kopffe noch nicht auffgeraͤumet hat / nicht capa - bel iſt von etwas zu judicir en / da hingegen der jenige / der die Grund-Regeln von Erkaͤntniß der Wahrheit wohl geleget hat / deßhalben nicht alſobald faͤhig wird von allen Dingen und von denen ſpecial Diſciplin en zu judicir en / es waͤre denn daß er judicir en wolte / ob der Autor wider die allgemeinen principia ratiocinandi darinnen angeſtoſſen haͤtte; Denn hiervon kan er wohl urtheilen / wenn er gleich die Diſciplin davon gehandelt wird / wenig oder nicht verſte - het.

13. Und alſo muſtu nicht meynen / daß du eine Diſciplin wohl verſteheſt / wenn du etli - che Jahr Collegia uͤber dieſelbige gehalten / und wohl gar darinnen promovir et haſt / auch in examine optimè beſtanden biſt / ſo ferne du der Vernunfft-Lehre noch nicht maͤchtig biſt / und die Præjudicia nicht ausgeworffen haſt. Die - ſes iſt zwar eine harte Anmerckung; Aber ſieiſt238Das 4. H. Von der Geſchickligkeitiſt doch gantz offenbahr / und flieſet aus dem Be - weiß der erſten Regel gantz deutlich her.

14. Wiederumb darffſtu dich nicht hindern laſſen von einer Diſciplin zu urtheilen / in der du verſichert biſt / daß du eine gegruͤndete Erkaͤnt - niß habeſt / ob du gleich keine Collegia darinnen gehalten / oder darinnen nicht promoviret / oder auch wohl in einer andern promovi - ret haſt; Denn die Collegia beſuchen und in ei - ner Diſciplin promovir en / gibt oder nimmt der wahren Gelahrheit nichts.

15. Man pfleget zwar wohl denen die von Buͤchern judicir en die zu einer andern Diſci - plin gehoͤren / als derjenigen / darinnen ſie pro - movir et haben / vorzuwerffen / qvod falcem mittant in alienam meſſem, und daß ſie ohne Beruff / und wider ihren Beruff ur - theileten. Aber dieſe Einwuͤrffe / ſo gemein ſie ſind / ſo unvernuͤnfftig ſind ſie auch.

16. Denn wer hat wohl einigen Gelehrten eine Diſciplin zu eigen gegeben / daß er ſie als ſein proper Guth achten koͤnte / da doch GOtt den Verſtand einem Menſchen ſo wohl als dem andern gegeben / und den einen der Erkaͤntniß nach ſo wenig als den andern eingeſchraͤnckt.

17. Was aber den Einwurff von demMan -239von anderer Meinungen zu urtheilen. Mangel des Beruffs anbelanget / darauff haben wir allbereit oben beym Anfang des an - dern Capitels weitlaͤufftig geantwortet.

18. Endlich iſt dieſes auch eine groſſe Unver - nunfft / wenn man vermeinet / ein Menſch der in einer Facult aͤt oder Diſciplin promoviret haͤtte / habe dadurch einen Beruff erlanget uͤber den er nicht ſchreiten duͤrffte. Denn es iſt ja leider offenbahr / daß dergleichen Promotion nicht mit dem geringſten Grunde fuͤr einen goͤttlichen Beruff ausgegeben werden koͤn - ne / ſondern faſt durchgehends ich wil nicht ſagen dem leidigen Gelde / ſondern nur menſchlicher Willkuͤhr zugeſchrieben werden muͤſſe / die dan - nenhero ſich ſelbſt kein Geſetze geben kan / zu - mahlen da es ja niemand verboten iſt / in allen vier Facult aͤten zu promovir en / auſſer daß man einen ſolchen Menſchen etwan fuͤr nicht gar zu geſcheide halten moͤchte / daß er ſein Geld ohn - nuͤtzlich und ohne Noth verſchleuderte.

19. Aus dieſen aber folget hinwiederumb / daß du dich huͤten ſolſt von einer Schrifft nicht zu urtheilen / wenn du noch ein Schuͤler in derſelben Diſciplin biſt; Denn ſo lange du in dieſem Zuſtande biſt / ſolſtu lernen und nicht lehren. Einem Lehrer koͤmmt es eigentlich zuvon240Das 4. H. Von der Geſchickligkeitvon Dingen die ſeiner Profeſſion ſind / zu ur - theilen.

20. Dannenhero ſo wenig man bey denen Handwerckern es verſtattet / daß die Lehr-Jun - gen oder Geſellen ihre Urtheil von einem Mei - ſterſtuͤcke geben / ſo unfoͤrmlich iſt es auch / wenn einer der eine Diſciplin noch nicht ausgelernet / von gelehrten Schrifften die dieſe Diſciplin an - gehen / ſein einfaͤltig Judicium ſagen wil.

21. Jedoch wird wider dieſe beyde Regeln ins gemein groͤblich angeſtoſſen / in dem jeder - man von andern ihren Schrifften judici - ren wil / da doch ein ſehr geringes und kleines Haͤufflein / auch unter denen Gelehrten ſelbſt / die Vernunfft-Lehre recht verſtehen / und in ih - rem Kopffe auffgeraͤumet haben / auch zum oͤff - tern man von Buͤchern urtheilet / die zu einer Diſciplin gehoͤren / die man gar nicht / oder doch ſehr confus verſtehet / und man ſich beredet / man habe das Recht zu urtheilen erlanget / wenn man in einer Facult aͤt promovir et hat / da doch heut zu Tage faſt durchgehends der groͤſte Miß - brauch mit denen Promotionibus vorzugehen pfleget.

22. Ja es iſt leyder insgemein dahin kom - men / daß ihrer viele die Gelahrheit faſt eintzigund241von anderer Meinungen zu urtheilen. und alleine darinne ſuchen / daß ſie von denen Autoren judiciren wollen / und alſo die Pfer - de hinter den Wagen ſpannen. Denn wer gelehrt iſt / kan von andern urtheilen. Nun wil aber jederman von andern urtheilen / daß er gelehrt ſcheine. Und ſolcher geſtalt bemuͤhet er ſich ſo aͤmbſig / eine notitiam Autorum zu ac - qvirir en / und die gelehrte Welt iſt begierig ſol - che Buͤcher zu leſen / darinnen von andern Buͤ - chern judicir et wird / oder dieſelben zum wenig - ſten extrahir et werden; Da doch hierinnen beynahe allenthalben vielfaͤltige Præjudicia vor - gehen.

23. Dieſe nun deſto beſſer zuvermeiden / wol - len wir dieſes als die III. Lection anmercken: Urtheile nicht von einem Buche wenn du es nicht geleſen haſt. Dieſe Regel iſt ſo augenſcheinlich / daß ſie keines Be - weiſes braucht / weil es offenbahr iſt / daß es die groͤſte Præcipitanz ſey / von einem Buche ur - theilen wollen / das man noch nicht geleſen / und dennoch begehet dieſes Præjudicium faſt die gantze Welt / und zwar auff vielerley Weiſe.

24. Denn anfaͤnglich faͤllet faſt jederman auff den Titel der Buͤcher. Und es iſt nichts gemeiners / als daß der Titel das gantzeQBuch242Das 4. H. Von der GeſchickligkeitBuch verkauffe / da doch die geſunde Ver - nunfft weiſet / daß nichts mehr betriege / ja nichts irraiſonabler ſey / als hieraus von der Guͤte der Buͤcher urtheilen wollen.

25. Bey dem Titel aber betrachtet man ent - weder die Materie von der gehandelt wird / o - der den Autorem.

26. Und zwar moͤchte es noch hingehen / wenn man bey der Materie auff deren Wuͤr - de / oder Nutzen / die ſie dem menſchlichen Ge - ſchlechte leiſten koͤnte / ſaͤhe / wiewohl auch dieſes zu einem rechtſchaffenen Judicio ſehr unzulaͤng - lich iſt / in Anſehen die beſten Materien offt ſehr ſchlecht und nichtswuͤrdig tractir et werden / o - der ſich ein Stuͤmper daruͤber macht / der dem Werck nicht gewachſen iſt / und im Gegentheil zuweilen ein Buch / das einen ſchlechten Titel hat / viel auserleſene und nuͤtzliche Dinge in ſich enthaͤlt. Aber ſo faͤllet oͤffters das Lob und die Affection der Menſchen auff naͤrriſche und unvernuͤnfftige Dinge.

27. Z. e. Ein Politiſcher Maul-Affe / o - der ein Politiſcher Feuermaͤuerkehrer wird viel hoͤher geachtet als ein Buch / darinnen die wahre Politiſche Weißheit abgehandelt wird: Und wenn eine Diſputation nebſt dem Lateini -ſchen243von anderer Meinungen zu urtheilen. ſchen auch einen Teutſchen Titel hat / gehet ſie beſſer ab als andere. Ja wenn nur der Titel von Curioſitaͤten gedencket / oder das Wort curiös ſonſten darinnen enthalten iſt / ſo bilden ſich die Verleger ein / daß ſie es eher loß werden / als wenn dieſes Wort mangelt.

28. Aber bey denen Autoribus ſelbſt ge - hen noch vielmehr Præjudicia fuͤr / in dem man mehrentheils aus dem Namen eines Autoris und aus deſſen Ruhm / den er in der gelehrten Welt erhalten / ſo fort von einem Buche ur - theilet / da doch zufoͤrderſt und vor allen Dingen ein groſſer Unterſchied unter dem was ein recht - ſchaffener Gelehrter in ſeiner Jugend oder in feinen zunehmenden Jahren / was er mit Be - dacht oder obenhin / in einer Gemuͤths-Ruhe o - der aus Affect en geſchrieben hatte / gemachet werden ſolte; Ja vielmehr / weil doch dieſes alles triegenkan und offt die gelehrteſten Leute / menſchlichen Fehlern und Schwachheiten viel - faͤltig unterworffen ſind; Auch alle Menſchen in vielen Stuͤcken ſich von der Wahrheit verir - ren / da man ſich niemahln ſolte den Glantz und den Ruhm eines Autoris einnehmen laſſen / von einer Schrifft zu urtheilen / ob ſie der Wahrheit gemaͤß ſey; Und da hingegen viel gute undQ 2wahre244Das 4. H. Von der Geſchickligkeitwahre Buͤcher anzutreffen ſind / die aus Man - gel des Ruhms ihrer Autorum gar nichts ge - achtet werden.

29. So gemein aber als dieſes Præjudicium iſt / ſo offenbahr ruͤhret es aus dem Brunnqvell aller Præjudiciorum, dem Vorurtheil menſch - licher Autoritaͤt her / und man koͤnte ja wohl nur hieraus abnehmen / wie dieſe Haupt-Wur - tzel aller Jrrthuͤmer ſich in denen Gemuͤthern der Menſchen tieff eingeſetzt haben muͤſſe / weil das Urtheil von guten und boͤſen Buͤchern aus der Autorit aͤt und Anſehen der Autorum uns Menſchen ſo feſte anhaͤnget / daß auch diejeni - gen / die deſſen Nichtigkeit erkennen / noch faſt taͤglich in dieſe Schwachheit aus Unbedacht - ſamkeit fallen / in dem ſie derſelben von Jugend auff ſo ſehr angewohnet ſind.

30. Je mehr man ſich aber / wie erwehnet / darinnen betrieget / wenn man ſchlieſſen wil / das Buch muͤſſe gut ſeyn und viel Wahrheiten in ſich begreiffen / weil deſſen Autor beruͤhmt iſt; Je noch viel mehr Jrrthuͤmer gehen darinnen vor / wenn man aus anderen Beſchaffenhei - ten und Zufaͤllen theils der Autorum, theils der Buͤcher ſelbſt / entweder von dem Ruhm der Autorum, oder alſo fort vonder245von anderer Meinungen zu urtheilen. der Guͤte der Buͤcher ohne vorhergegange - ner Leſung derſelben urtheilen wil / ſo gar daß man ſich nicht wundern darff / wenn in dieſen Faͤllen beynahe durchgehends unter denen Menſchen gantz widerwaͤrtige Urtheile fallen.

31. Denn ob man ſchon was z. e. das Alter der Scrib enten betrifft / insgemein und zwar nicht gaͤntzlich ohne Urſache die Schrifften gantz junger Leute vor unzeitig und von weniger Tuͤchtigkeit haͤlt; Hingegen aber der gantz al - ten Leute ihre Wercke davor achtet / daß die Ge - muͤths-Kraͤffte darinnen ſehr abgenommen / ſo ſind doch die Gemuͤths-Neigungen der Men - ſchen / was das maͤnnliche Alter oder das Alter einer voͤlligen Jugend eines theils / anderes theils aber das angehende Alterthumb betrifft / ſo eingetheilet / daß viel von denen Schrifften junger / andere aber von denen Schrifften al - ter Leute in Erkaͤntniß der Wahrheit mehr hal - ten / da doch beyderley Alter zu der Wahrheit und Guͤte der Buͤcher wenig thut / auch unter beyden Sorten ja ſo wohl gute als ſchlimme Schrifften angetroffen werden / man wolte denn etwan dieſe Anmerckung aus der Politic daß die reiffe Jugend mehr Feu - er und Geiſt zum Speculir en / das AlterQ 3aber246Das 4. H. Von der Geſchickligkeitaber mehr Erfahrung habe / zu Beſchoͤnung dieſes Præjudicii anfuͤhren / wiewohl auch diß - falls ſelbige wenig zur Beſchoͤnung dienen wuͤr - de / ſo wohl weil die meiſten jungen Leute ihren Verſtand nicht darzu anwenden / was gutes zu ſpeculir en / und vieler alten Leute ihre Erfah - rung oͤffters mehr in eitelen Dingen / deren ein junger Menſch ja ſo leichte faͤhig iſt / als etwan in der Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt und denen daher ruͤhrenden oder anderen nuͤtzlichen Wiſſenſchaf - ten / gegruͤndet iſt.

32. Nicht weniger pfleget man auch aus der Nation eines Scribenten von der Guͤte ſeines Buchs zu urtheilen / und wird dißfalls nach dem Unterſcheid der Affect en und Inclina - tion en / ſonderlich heute zu Tage unter uns Teutſchen bald von dieſen der Frantzoͤſiſchen / bald von einem andern der Engliſchen oder Hollaͤndiſchen oder Jtalieniſchen Nation der Vorzug vor andern gegeben / da man doch aus dem Temperament und unterſchiedenen Zunei - gungen und Education derer Nation en nicht mehr als ein politiſch Axioma von der Ge - ſchickligkeit uͤberhaupt eines Volcks vor dem andern in einer Diſciplin etwas zu thun urthei - len kan / in geringſten aber dieſe Regel nicht zulaͤng -247von anderer Meinungen zu urtheilen. laͤnglich iſt von einer Schrifft inſonderheit ein gegruͤndet Urtheil zu faͤllen.

33. Die Profeſſion eines Scribenten macht nicht weniger die Urtheile der Menſchen von der Guͤte ſeiner Buͤcher partheyiſch. Vie - le ſind der Meinung / es koͤnne kein gut Juriſt iſch oder Medicin iſch Buch auſſer von einem Juri - ſten oder Medico und ſo weiter geſchrieben wer - den; Andere aber admirir en deſto mehr / und fallen blindlings als zu was guten zu / wenn ein Mann in einer andern Facult aͤt als der er ſich abſonderlich gewidmet / ſich hervor thut. Da ſich doch beyde gemeiniglich betriegen / weil die aͤuſſerliche Profeſſion eines gelehrten Mannes der Guͤte und Wahrheit ſeiner Schrifften ſo wohl binnen als auſſer derſelben Profeſſion nichts giebet und nimmet.

34. Noch viel mehr und bey nahe die aller - meiſten und gefaͤhrlichſten Vorurtheile gehen in Anſehen derer Sect en / die ſich bey allen Facul - taͤten befinden / vor. Denn mehrentheils mei - net man / man werde nur bey denen Autor en / die mit uns einerley Secte nachfolgen / Wahr - heit / bey denen andern aber lauter Jrrthuͤmer antreffen; Da doch die Wahrheit und die Jrr - thuͤmer zum Theil allen Menſchen von allen Secten gemein ſind.

35. Wie -248Das 4. H. Von der Geſchickligkeit

35. Wiewohl nun aber der groͤſte Theil der Welt darinnen einig iſt / daß er zufaͤllt / die Schrifften der Koͤnige und Fuͤrſten / inglei - chen Standes und Adelicher Perſonen / o - der Leute die in groſſen Ehren-Aembtern leben / und wohl gar zuweilen auch derer die viel Geld haben / als was ſonderliches / und darin - nen man ungemeine Wahrheiten antreffen werde / anzuſehen / in Gegentheil aber die Buͤ - cher gemeiner Leute als buͤrgerlichen Stan - des / Kauffleute / Handwercksleute / Bau - ren / u. ſ. w. als ob ſie voller impertinent en Thorheiten waͤren / zu verachten; So iſt doch dieſes Vorurtheil ſo laͤcherlich und ungegruͤn - det / daß es mehr Erbarmungs als eyffriger Be - antwortung wuͤrdig zu achten / zumahl wenn man betrachtet / daß in Anſehung der gewaltigen Maͤnge derer / die mit dieſer Seuche angeſteckt find / es wohl vor ein groſſes und Straff-wuͤrdi - ges Laſter ſolte gehalten werden / wenn man ſich in ausfuͤhrlicher Beantwortung deſſelben ein wenig allzudeutlich auffhalten wolte.

36. Wir muͤſſen aber bey dieſer Gelegenheit des Vorurtheils / das man von dem Geſchlech - te nimmt / nicht ſo gar vergeſſen. Die Wahr - heit weil ſie in Ubereinſtimmung des allenMen -249von anderer Meinungen zu urtheilen. Menſchen gemeinen Verſtandes und der aͤu - ſerlichen Dinge beſtehet / kan folglich auch von allen Menſchen / waſerley Geſchlecht ſie auch ſeyen / erkandt / und folglich auch wieder anderen beygebracht werden. Alleine was das weib - liche Geſchlecht betrifft / ſo haͤlt ſie das gemeine Vorurtheil wider alle Vernunfft entweder hierzu vor gantz ungeſchickt / und betrachtet ihre Buͤcher als Jrrthumbs volle Schrifften / oder aber / wenn man ja in dieſem Præjudicio uneinig iſt / ſo admirir et man als was ſonderliches und ſehr gutes / wenn eine Weibs-Perſohn in Sa - chen die die Sprachen / die Hiſtorie / und etwan Liebes-Geſchichten betreffen / ſich vor andern ih - res Geſchlechts hervor thut / und faͤllt blind - lings auff ein ungemeines und irraiſonables Lob dergleichen Schrifften / ehe man ſie noch ge - leſen; Hingegentheil aber pflegt man gemei - niglich die nuͤtzlichen Schrifften frommer und Tugendhaffter Weibes-Perſonen / die der wah - ren Weißheit und hoͤchſt nuͤtzlichen Wahrheit viel naͤher kommen / auch ohne Leſung derſelben alſobald fuͤr phantaſtiſch und gefaͤhrlich aus zu - ſchreyen / wodurch man auff beyderley Weiſe / andere vielfaͤltige Inconvenientien zu geſchwei - gen / die dem weiblichen Geſchlecht auch von derQ 5Na -250Das 4. H. Von der GeſchickligkeitNatur her ſchuldige Ehrerbietung und Hoch - achtung groͤblich verletzt.

37. Ferner ſo pflegt man auch diejenigen Buͤcher / als was ſonderliches zu achten / uͤber de - rer Verfertigung die Autores eine lange Zeit zugebracht / und hingegen diejenigen nicht viel zu loben / die geſchwinde gemacht wordẽ. Da doch zum oͤfftern die Buͤcher / uͤber denen man lange gemacht und viel daran geaͤndert / deßhal - ber nicht beſſer ſind / und manchmahl der erſte Auffſatz einer Schrifft ja ſo gut iſt / als deſſen Ausbeſſerung: Auch die allzugroſſe Langſam - keit vielmehr eine Anzeigung einer Langſamkeit des Verſtandes bey dem Autore oder ſeiner Ei - genſinnigkeit iſt / als der Guͤte ſeines Buchs; und ein jeder der in ſeinem Kopffe auffgeraͤumet hat / gar leicht befinden wird / daß diejenigen Dinge / die er geſchwinde verfertiget / oͤffters beſſer ſind als die / zu denen er lange Zeit ſich be - dienet / weil bey jenen ſeine Attention in einer Hitze die Gedancken beyſammen haͤlt / und alſo viel kraͤfftiger wircken kan / als wenn durch viel - faͤltiges Abſetzen die Begierde und Attention distrahir et und verdroſſen gemacht wird.

38. Gleiche Bewandniß hat es mit der Groͤſ - ſe eines Buchs / oder der Menge der Schriff -ten251von anderer Meinungen zu urtheilen. ten eines Autoris. Je groͤſſer ein Buch iſt / je hoͤher wird es gehalten / und je mehr Buͤcher ein Autor verfertiget / je mehr Ruhm bringet er ſich bey dem groͤſten Hauffen dadurch zu we - ge. Aber ein weiſer Mann weiß / daß oͤffters ein kleines Buͤchlein in wenig Bogen beſte - hend mehr Warheit in ſich hat / als die groͤſten Folian ten der beruͤhmteſten Leute / und mer - cket aus denen vielfaͤltigen Exempeln an / daß mehrentheils die Autores (ſonderlich die heuti - gen) die alle Jahr neue Foliant en edir en / gar kein Judicium haben / und zu nichts mehr tau - gen / als die Welt in Thorheiten und Blind - heiten zu unterhalten.

39. Die Raritaͤt eines Buchs / deſſen Confiſcation, die Belohnung des Autoris, oder ſeine Beſtraffung muͤſſen auch oͤffters zu Vorurtheilen von der Guͤte oder Verach - tung eines Buchs dienen / und nichts deſtowe - niger iſt auch dieſes ein ſehr betrieglicher Schluß. Die ſchlimmſten Buͤcher ſind offt ſehr rar / und viel gute und nuͤtzliche Buͤcher werden confiſcir et. Man belohnet ja ſo off - te aberwitzige und laſterhaffte Schrifften / als man unſchuldige und vernunfftmaͤßige zum Feuer verdammet / oder denen Scribent en der -ſelben252Das 4. H. Von der Geſchickligkeitſelben ſonſt allen moͤglichen Verdruß anzu - thun ſich angelegen ſeyn laͤſt.

40. Zugeſchweigen des Vorurtheils / das man aus einer blinden Affection zu denen Buͤchern traͤget / bey denen kein Nahme ei - nes Autoris, oder ein falſcher und erdich - teter Nahme vorgeſetzet iſt / weil die hierun - ter begangene Thorheit ſo gar offenbahr iſt / daß ſie keiner abſonderlichen Anmerckung be - darff.

41. Und wer wolte alle Vorurtheile er - zehlen / die in Beurtheilung von anderen Schrifften taͤglich vorzukommen pflegen / und ſaͤmbtlich wieder unſere Regel anſtoſſen / daß man ſich vornimmt von Buͤchern zu urthei - len / die man noch nicht geleſen / und die man alſo insgeſammt nicht beſſer meiden kan / als wenn man bey leſung eines Buchs auff den Autorem und die andern betrieglichen Be - ſchaffenheiten deſſelben / die alſobald in die Sinne fallen / gar nicht dencket / ſondern mit einer unpartheyiſchen Indifferentz das Buch ſelbſt durchlieſet.

42. Und zwar muͤſſen wir unſere III. Le - ction auch dahin erklaͤren / daß es nicht ge - nung ſey zu Beurtheilung eines Buchs daſſel -be253von anderer Meinungen zu urtheilen. be obenhin durchzuleſen / oder hin und wie - der darinnen zu blaͤttern / ſondern es muß mit einer gehoͤrigen Attention geſchehen / und ordentlich der gantze Jnnhalt einer Schrifft angeſehen werden / weil wir oben ge - ſagt haben / daß immer eine Warheit pflege mit der andern verknuͤpfft zu ſeyn / und daß man einen Autorem am beſten verſtehen koͤn - ne / wenn man das / was er an unterſchiede - nen Orten von einer Materie geſchrieben / gegen einander halte.

43. Derowegen iſt es nicht allein ein groſſer Fehler / wenn man aus der Vorre - de eines Buchs / denen Summariis, oder Jndice deſſelben / und wenn man hin und wieder etliche Plaͤtze daraus lieſet / alſo bald davon urtheilen wil / ſondern es hat ſich auch ein die Warheit liebender Menſch da - fuͤr ſehr in acht zunehmen / daß wenn man ihm gleich einen groſſen Hauffen aus denen Auto - ribus excerpir et / um dieſelben eines Jrr - thums zu beſchuldigen / er ja nicht dieſen ex - cerptis traue / ſondern die Scribent en ſelbſten durchleſe / weil nichts gemeiners iſt / als daß man ehrliche Leute faͤlſchlich zu beſchuldigen entweder die excerpta verfaͤlſchet / oder aber /wenn254Das 4. H. Von der Geſchickligkeitwenn man noch ein wenig ehrlicher handeln wil / nur ſolche loca excerpir et / die / wenn man ſie mit dem vorhergehenden und nachfolgen - den nicht connectir et / einen gantz andern Verſtand zu haben ſcheinen / als den ſonſten die Regeln einer vernuͤnfftigen Auslegung weiſen.

44. Jedoch braucht der erſte Theil der vorigen Anmerckung billig eine Ausnahme bey feurigen und ungemeinen ingeniis, als welche durch eine lange Ubung und vermit - telſt ihres penetrant en Verſtandes / auch nach einer obenhin ſcheinenden und nachlaͤßi - gen Durchblaͤtterung oͤffters geſchickt ſind / ja ſo ein gutes Urtheil von einem Buche zu faͤllen / als ein anderer wohl zu thun ver - moͤchte / der ſolches mit groſſer Attention durchleſen. Denn unſere Regeln oder Le - ctiones gehen nur die Anfaͤnger oder mittel - maͤßige Ingenia an / und ein erleuchteter Geiſt kan wohl aus denen Graͤntzen des gemeinen Pfads ohne Gefahr einer Verirrung ein we - nig beyſeit gehen / ohne daß ſolches ein Anfaͤn - ger nicht ſo wagen darff / ſondern ſicherer thut / wenn er die gemeine Heer-Straſſe ziehet.

45. Aber wir wollen nunmehro auch zuder255von anderer Meinungen zu urtheilen. der IV. Lection uns wenden: Urtheile nicht von einem Buche / wenn du die Geſchickligkeit anderer Meinun - gen zuverſtehen / oder den habitum interpretandi nicht beſitzeſt. Es iſt wohl wahr / wenn du ein Buch nicht geleſen / wie wolteſt du davon urtheilen? Alleine es iſt das leſen nicht genung hierzu / ſondern du muſt es auch verſtehen. Nun kanſt du aber kein Buch recht und wohl verſtehen / wenn du nicht die Grund-Regeln der Auslegung wohl zu practicir en weiſt.

46. Wenn wir nun ein wenig unter de - nen Gelehrten uns umſehen / wie ſehr wenig unter denenſelben ſind / die ſich mit Fleiß um die Lehre von der Auslegung bekuͤmmern / und wie viel ihrer doch ſich unterfangen taͤg - lich von andern Schrifften zu urtheilen / ſo werden wir abermahls gewahr / daß wir uns deſto fleißiger vor dieſem Vorurtheil in acht zu nehmen haben / je gemeiner es vielen iſt.

47. Zwar iſt es nicht zu laͤugnen / daß es den meiſten Gelehrten die von andern Buͤchern - bel urtheilen / weil ſie ſelbige uͤbel auslegen / nicht ſo wohl am Verſtande der Regeln der Ausle - gung / der ſehr leichte iſt / als an guten Willendie -256Das 4. H. Von der Geſchickligkeitdieſelben zu practicir en ermangelt. Der gu - te Wille aber wird durch die Affect en verhin - dert. Denn gleich wie ein Richter / der in buͤr - gerlichen Sachen ein rechtes Urtheil ſprechen wil / nicht allein in der Rechts-Gelahrheit er - fahren / ſondern auch zu keiner Parthey Liebe o - der Haß tragen muß. Alſo hindern auch der - gleichen Affect en einen Wahrheit-liebenden / daß er weder eine rechte Auslegung eines Auto - ris, noch ein tuͤchtiges Urtheil von einer Schrifft geben kan.

48. Derowegen mercke dieſes als die V. Le - ction. Urtheile nicht von einem Bu - che / wenn du ſelbiges nicht mit einer geziemen den Gleichguͤltigkeit und ohne Affecten durchleſen haſt. Und mercke dieſes wiederumb mit deſto groͤſſerer At - tention, weil dich die Erfahrung uͤberzeugen wird / daß kaum unter tauſend Judiciis von Au - toribus vier oder noch weniger ſich befinden / die nicht dieſer Regel zuwider lauffen.

49. Die vornehmſten Affect en die uns an rechtſchaffener Beurtheilung und Auslegung hindern / ſind die gemeiniglich aus einer unzeiti - gen Hochachtung oder Verachtung / entſte - henden Liebe oder Haß eines Autoris.

50. Und257von anderer Meinungen zu urtheilen.

50. Und zwar bringen wir entweder offtbeſag - te Affect en als Vorurtheile mit / ehe wir noch anfangen die Buͤcher zu leſen; Oder abeꝛ ſie entſtehen bey uns / in dem wir ſelbige leſen.

51. Das erſte geſchiehet / wenn wir durch das Vorurtheil menſchlicher Autorit aͤt einge - nommen die Buͤcher unſerer Anverwandten und Freunde / z. e. Unſerer Patron en / Leute von unſerer Sect en / Leute die uns heucheln und lo - ben / leſen / wodurch unſer Verſtand verdunckelt wird / daß er alles oder das meiſte fuͤr wahr haͤlt / oder daß er durch allerhand unvernuͤnfftige Auslegungen und Urſachen zu entſchuldigen und vertheidigen ſucht / was er ſonſt ohne Paſſion wuͤrde fuͤr Fehler und Jrrthuͤmer nach denen obigen Regeln guter Auslegung gehalten ha - ben. Und wenn wir im Gegentheil die Buͤ - cher derer / denen unſere Anverwandten und Freunde / unſere Patron en u. ſ. w. ſeind ſind / o - der derer / die nicht von unſerer Secte ſind / oder die uns verachten und wider uns geſchrieben ha - ben / zu leſen anfangen / ſo verfuͤhret uns unſere Gemuͤths-Neigung gemeiniglich / daß wir alle unſchuldige Reden auffangen und auff das uͤbel - ſte deuten / daß wir denen Autor en Jrrthuͤmer andichten / an die ſie nicht gedacht haben / und daßRwir258Das 4. H. Von der Geſchickligkeitwir wider die Regeln guter Auslegung ihre Worte / die zuſammen gehoͤren / von einander ſondern / und die von einander geſondert werden ſolten / zuſammen fuͤgen u. ſ. w.

52. Das andere aber traͤgt ſich zu / wenn wir durch das Vorurtheil menſchlicher Uber - eylung uns angewoͤhnet haben / von denen Sa - chen ſelbſt / nicht nach ihrem Weſen / ſondern nach dem aͤuſſerlichen Schein / und von dem menſchlichen Thun und Laſſen / nicht nach deſſen Natur / ſondern nach etlichen zufaͤlligen Umb - ſtaͤnden / die denen Dingen ein gantz anderes An - ſehen zugeben pflegen / zu urtheilen. Denn hier - durch werden wir verleitet / mehrentheils auch von der Warheit und Jrrthuͤmern / die in denen Buͤcheꝛn anzutꝛeffen ſind / aus der Manier uñ Schreib-Art derer ſich die Autores darinnen bedienet / zu judicir en / und zwar nach dem ein jeder bey ſich befindet / daß die Schreib-Art ei - nes Scribent en ſeiner eigenen Inclination und Genio nahe komme / oder derſelben zuwider ſey.

53. Derowegen faͤllt dieſer auff eine Hoch - trabende / dunckele / Satyriſche / ſcharffe / oder auch wohl gar injuriöſe Schreib-Art / ein anderer aber laͤſt ſich eine niedrige / deutliche / auffrichtige / gelinde / oder kaltſinnige undphle -259von anderer Meinungen zu urtheilen. phlegmati ſche Schrifft mehr einnehmen / und begehet ſo dann in der Auslegung und Beur - theilung eines Buchs eben die Fehler / die wir bey denen / ſo den Affect alsbald bey der Leſung mitbringen / angemerckt haben.

54. Nimmſt du die jetztbeſagten wenigen / a - ber hochnoͤthigen Regeln mit Vorſatz nicht in acht / ſo wirſtu in deiner Beurtheilung ein Ca - lumniante werden / und dich ſelbſt bey unpar - theyiſchen Leuten proſtituir en. Drumb laß uns nur noch zum Beſchluß dieſes Capitels aus denen lang hergebrachten und taͤglich vorkom - menden Exempeln die gemeinſten Kennzei - chen eines dergleichen Calumnianten beſe - hen / uns deſto eyffriger dafuͤr zu huͤten.

55. Ein Calumniant e dichtet einem Scri - benten einen Verſtand an / den er nie in Siñe gehabt / und beſchuldiget darnach denſelbigen / als wenn er einer irrigen Meynung beypflichtete / wil auch den andern mit aller Gewalt noͤthi - gen / daß er geſtehen ſolle / er habe die Worte nach ſeiner / des Calumniant en / Auslegung verſtandẽ.

56. Ein Calumniant e excerpiret aus ei - nem Scribenten alle zweydeutige Redens - Arten / und ſondert ſie von dem gantzen Coͤrper ab / laͤßt etliche Worte auſſen / oder ruͤcktR 2dann260Das 4. H. Von der Geſchickligkeitdann und wann andere hinein / damit er nur bey andern Leuten denſelben in wahrſcheinlichen Verdacht bringen moͤge; Als wenn er laͤcher - liche oder ſchaͤdliche Jrrthuͤmer hegete.

57. Ein Calumniant e rechnet die Fehler ei - nes Uberſetzers dem Autori des Haupt - Wercks / die Jrrthuͤmer eines Schuͤlers / oder der ſich fuͤr einen Schuͤler ausgiebet / ſeinem Præceptori und Lehrer / oder eines Lehrers der ſich zu einer gewiſſen Secte bekennet / der geſambten Secte / oder die Schnitzer des Schreibers oder Buchdruckers dem Scri - benten ſelbſt zu.

58. Ein Calumniant e giebt fuͤr die Mey - nung eines Scribent en aus / was derſelbe un - ter anderer Perſonen Namen diſcuriret / z. e. Wenn in Dialogis, Gedichten / Comœdien, u. ſ. w. Perſonen von unterſchiedenen Caracter auffgefuͤhret werden / und der Autor ſich angele - gen ſeyn laͤßt / den Caracter einer jeden Perſon durch gehoͤrige Reden recht zu exprimir en / ſo faͤllt ein Calumniant e zu / und legt dem Autori die Meinungen / die er unter der Perſon eines Pedant en / oder Heuchlers / oder eines der in Præjudiciis ſteckt / oder eines Laſterhafften Men - ſchen vorgebracht / bey / als wenn ſie ſeine eigene waͤren.

59. Ein261von anderer Meinungen zu urtheilen.

59. Ein Calumniant e betrachtet in Beur - theilung eines Buchs nicht / aus was fuͤr In - tention und Abſehen ein Autor geredet / ſondern er drehet alles nach dem Vorhaben ſei - ner boͤſen Intention, und iſt ihm dißfalls einer - ley / ob der Scribent e aus. Ernſt oder aus Schertz / ausfuͤhrlich und mit Bedacht / oder nur Zufalls weife und obenhin / Frags und Bejahungs Weiſe / auff ſeinen eigenen oder anderer Leute Antrieb etwas geſchrieben; ob er ſeine Lehre vertheydigen und behaupten / oder ſeinen Gegner widerlegen / und auff deſſen Einwuͤrffe antworten / oder wider ihn aus ſei - nem eigenen Geſtaͤndniß diſputir en wollen; ob er von denen Sachen rede / wie ſie an ſich ſelb - ſten ſind / oder wie ſie von dem gemeinen Mann in allgemeiner Redens-Art betrachtet werden / u. ſ. w. da doch unter dieſen Umbſtaͤn - den allen ein mercklicher unterſcheid iſt / nach de - rer Veraͤnderung auch ein weiſer Mann ſeine Auslegung und Urtheil billig veraͤndern muß.

60. Ein Calumniant e huͤtet ſich ſehr / daß er die dunckeln Oerter mit den deutlichern nicht conferiret / ſondern faͤllet alſobald auff das zu / wenn ein Autor etwas kurtz / dunckel / o - der in gemein geſetzt / und uͤber gehet muthwilligR 3die262Das 4. H. Von der Geſchickligkeitdie Erklaͤrung / Beweiß / Umbſchraͤnckung u. ſ. w. ſolcher Reden / die er anderswo antrifft. Er gibt vor unauffloͤßlich auff / was er doch weiß / daß der Autor allbereit an einem andern Ort beantwo[r]tet habe; Er unterlaͤſt mit Vorſatz unterſchiedene Editiones zu conferir en / oder wehlet wohl mit Fleiß die allerſchlim̃ſte / ſucht aus gemeinen Redens-Arten diejenigen / da der Autor in Philoſophi ſchen Verſtande geredet / in - gleichen aus denen zweiffelhafften und genera - len / die ſpecial und determinirt en Saͤtze / oder aus dieſen jene zu attaqvir en / und den Autor einer Contradiction zu beſchuldigen / wel - cher er ihn auch zu beſchuldigen pfleget / wenn ein Autor an unterſchiedenen Orten von einer Sa - che zweyerley Worte gebraucht / die doch bey - derſeits auff einerley Verſtand hinaus lauffen.

61. Ein Calumniant e leget einem Autori die Jrrthuͤmer / die er vor deſſen vertheydi - get / und die er hernach offentlich geaͤndert / bey / als wenn er noch darinnen ſchwebete.

62. Ein Calumniant e macht aus einem Satz eines Autoris nach ſeinem Gefallen Fol - gerungen / die offenbahr irrig ſind / und wil den andern / der doch ausdruͤcklich und zum we - nigſten mit einiger Wahrſcheinligkeit proteſti -ret /263von anderer Meinungen zu urtheilen. ret / daß er mit dieſen Folgerungen nichts zu thun haben wolle / noͤthigen / daß er ſie als die Seinigen annehmen muͤſſe.

63. Ein Calumniant e leget das Still - ſchweigen ſeines Gegners / oder wenn er nicht alle Kleinigkeiten beantwortet / alſo aus / als wenn er ihm dadurch den Sieg zuge - ſtanden haͤtte / oder wider die Wichtigkeiten ſei - ner Gruͤnde nichts zu ſagen haͤtte: Da doch zum oͤfftern der andere bloß aus dieſer Urſache ſtille ſchweiget / weil er ſiehet / daß die Saͤtze ſei - nes Gegners ſo einfaͤltig und abſurd ſeyn / daß ſie keiner Antwort noͤthig haben / oder daß der Gegner nichts anders / als was ſchon oͤffters wiederhohlet und widerleget worden / vorge - bracht; Oder weil er erkennet / daß er aus lau - ter Hartnaͤckigkeit noch ferner fort zancken wil / oder endlich / weil er ſich beſcheidet / daß unter ver - ſtaͤndigen Leuten derjenige fuͤr den kluͤgſten ge - halten wird / der am erſten nachgiebt.

64. Ein Calumniant e judicir et von an - dern Buͤchern nicht nach ſeiner eigenen Erkaͤnt - niß / ſondern nach dem er durch anderer ihr Urtheil eingenommen iſt / und braucht ge - meiniglich ein Buch zu verunglimpffen ſich des Urtheils deren / die einem Autore feind ſind / alsR 4eines264Das 5. H. Von der Geſchickligkeiteines vortrefflichen Beweiſes / da doch derſelbe gantz offenbar unvernuͤnfftig iſt.

Das 5. Hauptſtuͤck / Von der Geſchickligkeit ande - rer Jrrthuͤmer zu widerlegen.

Jnnhalt. Connexion n. 1. 2. 3. Was Diſputiren heiſſe n. 4. Die Wider - legung der Jrrthuͤmer ſol der wahrhaſſtige Zweck aller Diſputationum ſeyn / n. 5. Daraus folget / daß alles di - ſputiren unter die friedlichen Staͤnde gehoͤre und nichts mit dem Kriege gemein habe. n. 6. 7. Auch die Diſpu - tirenden einander helffen ſollen n. 8. In praxi iſt die Vertheidi[g]ung der Jrrthuͤmer der Endzweck der Di - ſputationum n. 9. Und die Erhaltung eines menſchlichen Ehr Anſehens n 10. Dannenhero werden auch insge - mein die Diſputationes mit dem Kriege verglichen n. 11. Und gehet darinne nicht allein Betrug / n. 12. ſondern auch offenbahre Gewalt vor n. 13. Und ſind die Diſputi - renden mit denen Amadis Rittern zu vergleichen n. 14. Es braucht hier abermahls keiner nenen Lectionum n. 15. Sondern man hat aus dem / was allbereit geſagt worden / hauptſaͤchlich dieſe zwey zu mercken n. 16. I. Diſputire nicht umb eiteler Ehre / ſondern umb Darthuung der Jrrthuͤmer willen n. 17. Was darvon zu halten ſey / wenn man exercitii gratia diſputiret. n. 18. II. Diſputire auff eine friedliche / freundliche und auffrichtige Weiſe n. 19. Die Licentiæ Diſputatorum n. 20. Un - terſchiedene Arten zu diſputiren n. 21. Entweder muͤnd - lich oder ſchrifftlich n. 22. Muͤndlich entweder nach der Syllogiſinus Kunſt / oder durch Fragen und Antwortenn. 23.265anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. n. 23. Die Syllogiſmus Kunſt iſt mehr geſchickt Jrrthuͤ - mer zu vertheydigen und nach Kriegs-Manier zu fech - ten n. 24. Es koͤnnen viel mehr Sophiſtereyen dabey angebracht werden n. 25. Mißbrauch dieſer Kunſt macht dieſelbige hoͤſe n 26. Sie iſt nicht zulaͤnglich an - dern ihre Jrrthuͤmer zu erkennen zu geben n. 27. 28. Man kan auch die geringſte Proben davon nicht auff - weiſen n. 29. Jedoch muß ein Weiſer dieſe Diſputir - Kunſt dulden n. 30. Und wie er ſich bey ſelbiger zu ver - halten n. 31. Die Manier zu diſputiren durch Fragen und Antworten iſt die beſte n. 32. und aͤlteſte n. 33. So ſind auch die dabey vorkommenden Sophiſtereyen ſehr leichte zu bean worten n. 34. Und kan man einen Hart - naͤckigten dadurch beſſer eintreiben n. 35. Jn Schrifften ſchicken ſich weder die Fragen noch Syllogiſmi n. 36. Sondern ein wohlgeordneter Diſcurs n. 37. Man muß ſich ſonderlich befleißigen das πρῶτον ψέυδος anzutaſten n. 38. Aber insgemein packt man die Con - cluſiones und alle Minutias an n. 39. Manchmahl hat man mehr als ein primum falſum zu bemercken n. 40. Und manchmal kan man auch bey denẽ Concluſionibus etwas abſonderlich erinnern n. 41. Zweyerley Arten ei - nen zu widerlegen n. 42. 1 ) Daß man weiſet wie aus des Jrrenden ſeinem Satze eine offenbahr falſche Conclu - ſion erfolge n. 43. 2 ) Daß man zeiget / wie der irrige Satz mit einer unlau[t]baren Wahrheit nicht koͤnne ver - knuͤpfft werden n. 44. Der erſte Weg wird insgemein mehr recommendiret als der andere n. 45. Aber er iſt wohl leichter fuͤr die Widerlegenden n. 46. Der andere aber convinciret die irrende[n] ſchaͤrffer. n. 47. Ob ein weiſer Mann in Widerlegung der Jrrthuͤmer Schriff - ten mit Schrifften hauffen ſolle n. 48. Es iſt an einer Schrifft / oder auffs hoͤchſte an zweyen genung n. 49. Welches mit der taͤglichen Erfahrung bekraͤfftiget wird n. 50. III. Widerlege die Jrrenden kurtzR 5und266Das 5. H. Von der Geſchickligkeitund deutlich n. 51. IV. Widerlege die Jrrthuͤmer / die dem menſchlichen Ge - ſchlecht ſchaͤdlich ſind. Man muß nicht alle widrige Meinungen fuͤr Jrrthuͤmer halten n. 52 Noch von Dingen diſputiren / die eines jeden Menſchen Gut - achten anheim zu ſtellen / oder unerkandt ſind n. 53. Wi - der dieſe Anmerckung wird insgemein groͤblich ange - ſtoſſen. n. 54.

1. BEy Unterſuchung der Warheit und Entdeckung der Jrrthuͤmer hat ein Menſch entweder mit ſich ſelbſt al - leine / oder mit einem andern zu thun. Je - nes geſchiehet / wenn er in ſeinem Kopffe auff - zuraͤumen / und einen rechten Grund zum rech - ten Gebrauch ſeiner Vernunfft zu legen an - faͤngt.

2. Hat er aber mit einem andern zu thun / ſo geſchiehet ſolches entweder in einem ungleichen Stande / da einer von dem an - dern dependir et / wenn nemlich einer des Lehr - Meiſters / der andere des Zuhoͤrers Stelle ver - tritt; oder aber diejenigen / ſo ein ander disfalls huͤlffliche Hand biethen / leben / ſo viel dieſes Vorhaben betrifft / in einem gleichen Stan - de / in welchem keiner von dem andern etwas zu lernen oder denſelben zu unterweiſen præ - tendir et.

3. Wenn267anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen.

3. Wenn ſie nun disfalls eine unerkante Warheit mit gleicher Begierde ſuchen / und in Erfindung derſelben oder in Erkaͤnt - niß des Jrrthums alsbald einig ſind / als wenn ihrer zwey ein vorgegebenes Exempel in der Rechen-Kunſt ausrechnen / und die Sum - men treffen ein / ſo braucht es disfalls keiner ſonderlichen Anmerckungen / als daß zu be - tauren iſt / daß man dieſe Weiſe nicht wie et - wan zu weilen in Mathemati ſchen / alſo auch fein offte in allen nuͤtzlichen Wiſſenſchaff - ten ſich bedienet / weil doch nach dem gemei - nen Sprichwort vier Augen mehr ſehen als zwey / und wir allbereit oben erwehnet / daß auff dieſe Art man am unbetruͤglichſten pro - bir en koͤnne / ob man in Unterſuchung der Warheit gefehlet habe oder nicht.

4. Wenn ſie aber zweyerley unterſchie - dene Meinungen haben / und ein jeder die ſeine fuͤr warhafftig / und des andern ſeine fuͤr irrig haͤlt / und jene zu erweiſen dieſe aber zu wiederlegen ſich angelegen ſeyn laͤſt / ſo entſte - het daraus eine Diſputation, von welcher wir noch zum Beſchluß dieſes Buchs etwas weniges handeln wollen.

5. So weiſet demnach die geſunde Ver -nunfft /268Das 5. H. Von der Geſchickligkeitnunfft / weil bey einer jeden Diſputation die Menſchen ſich laſſen angelegen ſeyn ihren Vorgeben nach die Warheit zu bekraͤffti - gen / oder vielmehr hauptſaͤchlich die Jrr - thuͤmer zu wiederlegen / daß auch dieſe Ent - deckung der Jrrthuͤmer und die denenſelben entgegen geſetzte Bekraͤfftigung der Warheit der einige warhaffte Entzweck aller Di - ſputation en ſeyn ſolle.

6. Und weil dieſer Entzweck durch die al - len Menſchen gemeine Vernunfft alleine er - halten werden kan / der Gebrauch aber der Menſchlichen Vernunfft auffer einen friedli - chen Zuſtande dem Menſchlichen Geſchlecht nichts nutzet / auch die Benehmung der Jrrthuͤ - mer vor eine von denen groͤſten Gutthaten zu achten iſt / und in uͤbrigen der Zuſtand de - rer die uneinig ſind / ordentlich dahin zielet / daß einer den andern von der Erkaͤntniß der Warheit abfuͤhre / und in denen Jrrthuͤmern immermehr und mehr vertieffe; als iſt gar leichtlich zu erkennen / daß der Stand derer die mit einander diſputiren / unter die fried - lichen Staͤnde zu rechnen ſey / und mit dem Kriege eigentlich nichts gemein habe.

7. Und gewiß weil aller Krieg in Gewaltund269anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. und Betrug beſtehet / wie wolte es moͤglich ſeyn / daß dadurch bey dem andern die Erkaͤnt - niß und Benehmung eines Jrrthums erwe - cket werden koͤnte / in Anſehen der Menſchli - che Verſtand keiner Gewalt unterworffen iſt / der Betrug aber offenbahre Jrrthuͤmer zu wege zu bringen trachtet.

8. Wie nun bey allen friedlichen Geſell - ſchafften ein jeder trachten ſoll nach ſeinem Vermoͤgen dem andern beyzuſtehen und ihm zu helffen / daß der allgemeine Endzweck von beyden Seiten deſto beſſer erhalten werden moͤge; Alſo folget auch ferner nothwendig / daß in diſputiren / man moͤge nun gleich ſeine eigene Meinung zu erweiſen oder den gegenſeitigen Jrrthum darzu thun trachten / ein jeder den anderen / da er ſtrauchelt / o - der auf Abwege geraͤthet / bey Zeiten zu rechte weiſen und auffrichten / oder wenn er ſeine Meinung nicht deutlich genung vorbringen kan / ihn auch hierinnen nach Vermoͤgen helffen ſolle.

9. So ſolte es nun zwar wohl nach Anlei - tung der geſunden Vernunfft mit denen Di - ſputationibus beſchaffen ſeyn. Betrachtet man aber wie es insgemein unter denenGelehr -270Das 5. H. Von der GeſchickligkeitGelehrten damit herzugehen pfleget / ſo wird man befinden / daß alles gantz umgekeh - ret ſey / indem der Endzweck bey nahe aller Diſputirenden dahin zielet / wie die War - heit verdunckelt / und die Jrrthuͤmer hartnaͤckigt vertheydiget werden moͤgen. Man findet keine Vereinigung die Warheit zu ſuchen / und mit geſambter Krafft zu ergreif - fen / ſondern die Diſputir enden ſind vergnuͤgt und freuen ſich / wenn nur ein jeder dem an - dern die Warheit ſo zuſagen aus der Hand ſpielen koͤnte.

10. Die Urſache dieſes Unweſens iſt leichte zu begreiffen. Weiſe Leute diſputir en mit einander / weil ſie ihre Schwachheiten und Maͤngel erkennen / und begreiffen / daß auch der kluͤgſte Verſtand eines Jrrthums faͤhig ſey / und daß durch anderer Huͤlffe man viel - leichter etwas verborgenes finden koͤnne / als wenn man ſolches alleine ſuchen wil. Aber in denen allgemeinen Diſputationibus ſtellet ſich bey nahe ein jeder ſo unvernuͤnfftig an / als wenn er infallibel waͤre / und nicht irren koͤnte / auch dannenhero / weil er viel ſcharffſin - niger waͤre als andere Leute / nicht von noͤthen haͤtte / daß man ihm einen Fehler zeige. Undſol -271anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. ſolchergeſtalt ſuchet man nicht die Warheit / ſondern auff beyden Theilen ein eiteles Ehr - Anſehen und eine Menſchliche Autoritaͤt / welche der Brunqvell aller Jrrthuͤmer iſt / zuvertheidigen.

11. Bey dieſer Bewandniß aber kan es nicht fehlen / es muß der Zuſtand ſolcher Di - ſputiren den kein friedlicher Stand ſeyn / ſon - dern vielmehr eine groſſe Gemeinſchafft mit dem Kriege haben / welches man ſich auch nicht ſcheuet oͤffentlichzu geſtehen / indem nichts gemeiners iſt als daß man ſaget: Diſputa - tiones ad inſtar bellorum eſſe.

12. Denn was den im Kriege im Schwang gehenden Betrug betrifft / hat man im diſpu - tir en auch gewiſſe Strategemata, wenn man entweder Sophiſti ſche Schluß-Reden brau - chet / oder durch Verdrehung der Worte und andere uͤble Auslegungen u. ſ. w. diejenigen / mit denen man diſputir et / zu verfuͤhren ſu - chet.

13. Zwar was offenbahre Gewalt be - trifft / ſolte man vermeinen / daß zum wenig - ſten dieſelbe in denen Diſputationibus nicht im Schwang gehen ſolte / weßhalben man ſie auch bella incruenta zu nennen pfleget;Aber272Das 5. H. Von der GeſchickligkeitAber wenn man die Sache ein wenig genauer uͤberleget / wird man befinden / daß auch dieſe nicht gantz unterwegens bleibet / und daß es hierinnen nicht ſo wohl denen Diſputiren den an guten Willen als an Kraͤfften und Ver - moͤgen die Gewalt auszuuͤben mangelt. Was ſind die Injurien und Schmaͤhungen an - ders als Gewaltthaten / dadurch man den an - dern ſeine Ehre zu kraͤncken trachtet / und wenn man z. e. wieder ſeines Gegners Schriff - ten mit dem Hencker und Feuer wuͤtet / ſo gibt man genung zu verſtehen / was der Autor zu gewartten haͤtte / wenn man denſelben in ſeiner Gewalt haͤtte. Ja wie viel rechtſchaf - fene Leute ſind als Ketzer von denen die mit ih - nen im diſputir en nicht auskommen koͤnnen / und gewaltiger geweſen / getoͤdet / gemartert / aus dem Lande gejaget / oder ſonſten verfolget worden.

14. Derowegen ſind die gemeine Diſputi - ren den nicht einmahl wuͤrdig / daß man ſie ſo zu reden mit raiſonabl en Kriegs-Leuten ver - gleiche / ſondern es hat ſie albereit ein ſcharff - ſinniger Kopff nicht unbillig mit denen thoͤ - richten Amadis Rittern verglichen / die ſich an die oͤffentlichen Straſſen lagerten / daſelbſtdas273anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. das portrait einer Liebſten / die ſie nach ihrer Phantaſie ſich erkieſet / auffhiengen / und die voruͤber ziehenden Ritter zwungen / daß ſie ent - weder bekennen muſten / es waͤre dieſelbige die ſchoͤneſte in der gantzen Welt / oder muſten mit ihnen fechten / und allerhand Verdruſſes / auch wohl gar des Halsbrechens gewaͤrtig ſeyn.

15. Weil nun die Erkaͤntniß der Wahrheit / und folglich auch die Erkaͤntniß der Jrrthuͤmer nach der allen Menſchen gemeinen Natur und Vernunfft einzurichten iſt; Als braucht man abermahlen nicht ſo wohl neue Regeln und Le - ctiones, wie man anderer Jrrthuͤmer widerle - gen ſolle / als daß man bey andern eben die Handgriffe applicire / die man bey ſich ſelbſt von noͤthen hat / wenn man in ſeinem Kopffe auffraͤumen wil / und daß man ſich der allgemei - nen Handgriffe / derer man ſich in der Diſputir - Kunſt gebraucht / enthalte.

16. Denn man duͤrffte nur aus dem / was wir bißher in dieſem Capitel angemercket / die hierzu beobachtenden Lectiones kuͤrtzlich in zwey Puncte zuſammen faſſen / derer eines auff den Endzweck der Diſputation en / das andere auf die darzu gehoͤrige Mittel ſein Abſehẽ richtet.

S17. Je -274Das 5. H. Von der Geſchickligkeit

17. Jenes beſtehet darinnen: I. Diſputire nicht umb eiteler Ehre / ſondern ein - zig und alleine umb Darthuung der Jrrthuͤmer Willen.

18. Woraus gar leichtlich abzuſehen iſt / was von denen jenigen Diſputationibus zu halten ſey / die man exercitii gratia haͤlt. Denn wenn derjenige der auff dieſe Weiſe diſputir et / das jenige / was er nicht fuͤr wahr haͤlt / dennoch vertheydiget / ſo iſt ſchon offenbar / daß er von un - ſerer Regel abweiche; Und weiſet es die gemei - ne Erfahrung / daß dergleichen Diſputationes insgemein eine eitele Ehre zu befeſtigen oder zu erlangen ſuchen; Es waͤre denn / daß derjenige / der auff dieſe Weiſe diſputir ete / ſeinen Zuhoͤrer pruͤffen wolte / ob er geſchickt ſey auff die Ein - wuͤrffe / die man wider die Grund-Regeln der Warheit machen koͤnte / zu antworten. Denn gleich wie dieſes nicht allein hoͤchſtloͤblich und noͤthig iſt alſo gehoͤret es auch / wie wir allbereit oben n. 2. erinnert / fuͤr dieſes Capitel nicht.

19. Die II. Lection iſt folgende: Diſputire auff eine friedliche / freundliche / und auffrichtige Weiſe / und enthalte dich aller feindſeeligen / unfreundli - chen und tuͤckiſchen Mittel / als nem -lich275anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. lich offenbarer Scheltworte / und betruͤglicher Vernunfftſchluͤſſe.

20. Denn ob man gleich dergleichen Sophi - ſtiſche Mittel unter denen Gelehrten als zulaͤß - liche Freyheiten (Licentias Diſputatorias) und eine ſonderliche Diſputir Kunſt oder Klugheit paſſir en laͤſt / ſo ruͤhret doch ſolches aus dem wi - derlegten Præjudicio her / als ob es in Diſputa - tionibus nach Kriegs-Manier hergehen muͤſſe; und ein vernuͤnfftiger Mann weiß doch wohl / daß Argliſt keine Klugheit ſey.

21. Dieſes waͤre alſo das Hauptſaͤchlichſte / das wir bey der Diſputir - Kunſt zu erinnern haͤt - ten. Wolten wir gleich die unter ſchiedenen Arten und Weiſen / nach welchen man di - ſputiret / inſonderheit betrachten / ſo wuͤrde doch dabey nicht viel ſonderliches / das nicht alles aus unſeren obigen Lehren allbereit zu begreiffen waͤre / anzumercken ſeyn / oder es wuͤrde ſolches allbereit von andern oder anderswo ausfuͤhrli - cher ſeyn beruͤhret worden / daß es unvonnoͤthen ſolches allhier zu wiederhohlen; Wollen dem - nach die Sache nur noch mit wenigen beruͤh - ren:

22. Man diſputir et entweder muͤndlich oder in Schrifften.

S 223. Ge -276Das 5. H. Von der Geſchickligkeit

23. Geſchiehet es muͤndlich / ſo gebraucht man ſich entweder derer auff Academien herge - brachten Weiſe der Syllogiſmus-Kunſt / o - der der uhralten wohlgegruͤndeten Manier durch Fragen und Antworten.

24. Was die Syllogiſmus-Kunſt be - trifft / halten wir kurtz und einfaͤltig dafuͤr / daß dieſelbe nicht ſo geſchickt ſey den andern eines Jrrthums zu uͤberzeugen / und auff eine fried - liche Weiſe die Wahrheit zu finden / als viel - mehr ein eiteles Anſehen durch Verthey - digung ſchaͤdlicher Jrrthuͤmer ſich zu wege zu bringen / und nach Kriegs-Manier zu fechten / daß keiner ſich eines ſonderlichen Siegs zu ruͤhmen. Die allgemeine Erfah - rung beweiſet ſolches / wenn ihrer zwey / die in dieſer Diſputir - Kunſt wohl geuͤbet ſeyn / zuſam - men gerathen; Und es haben ſchon unterſchie - dene Gelehrte dahin ihr Abſehen gerichtet / wenn ſie geſaget / qvod diſputando veritatem amittamus.

25. Und dannenherd geſchiehet es auch / daß ſo viel Sophiſtereyen bey der Syllogiſmus - Kunſt angebracht werden koͤnnen / die ſo leicht bey der andern Methode, wenn man durch Fragen diſputir et / nicht zu befahren ſind / wennnemlich277anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. nemlich der Syllogiſmus in forma nicht recht ge - macht worden / welches nicht ſo leichte allemahl in die Augen faͤllt / ſondern zum oͤfftern ein zim - liches Nachſinnen braucht / ſonderlich wenn man der propoſitionum modalium, excluſiva - rum, u. ſ. w. bey dergleichen Fallacien ſich be - dienet.

26. Derowegen / ob wir gleich nicht laͤugnen / daß alle dieſe Maͤngel nicht ſo wohl von der Di - ſputir - Kunſt ſelbſt / als von dem Mißbrauch der Sophiſten herkommen / ſo iſt doch in ge - meinen Leben und Wandel es ſo herkommens / daß man die unſchaͤdlichen Dinge / von denen boͤſe Leute viel Gelegenheit nehmen dieſelbe zu mißbrauchen / und / wo dieſer Mißbrauch wegen ſeiner Einwurtzelung ſchwerlich ausgetilget werden kan / mehr fuͤr boͤſe als gute Dinge haͤlt / und ſolcher geſtalt dieſelbigen gantz unterſaget / oder doch zum wenigſten / daß ſolche unterſaget werden moͤchten / wuͤndſchet.

27. Und geſetzt / daß durch den Mißbrauch der Syllogiſmus - Kunſt die Sophist en keine Ge - legenheit zu zancken naͤhmen / ſo waͤre es doch ſchon Urſache genung / ſo viel Lob-Spruͤche als insgemein geſchiehet / von dieſer Diſputir - Kunſt nicht zu machen / weil wir ſchon oͤffters er -S 3weh -278Das 5. H. Von der Geſchickligkeitwehnet / daß man die Wahrheit / und folg - lich auch die Jrrthuͤm[e]r erſt erkennen muͤſ - ſe / ehe man einen Syllogiſmum machen kan / und daß alſo die Kunſt Syllogiſmos zu ma - chen mit nichten vor ein Mittel koͤnne gehalten werden / einige unerkandte Wahrheit zu erfin - den.

28. Wolte man nun gleich vorgeben / daß zwar derjenige / der die Jrrthuͤmer widerlegen wolte / den Jrrthum ehe erkennen muͤſte / ehe er einen Syllogiſmum machte / gleichwohl aber der ander / den man widerlegen wolte / am fuͤg - lichſten zu gleicher Erkentniß ſeines Jrrthums durch Syllogiſmos gebracht werden koͤnte; So faͤllet doch dieſe Ausflucht deßhalben ver - daͤchtig / weil man ſolcher geſtalt ohne Noth einen Unterſcheid zwiſchen denen Menſchen macht / da doch alle Menſchen eine Natur ha - ben / und durch einerley Wege die Wahrheit und Jrrthuͤmer erkennen / auch derjenige / der auff dieſe Weiſe ſeinen Jrꝛthum nicht erkennet / nimmermehr durch die Syllogiſmos wird ge - wonnen werden / ſondern vielmehr ſich allezeit wird angelegen ſeyn laſſen / durch allerhand nichts bedeutende und dunckele Diſtin[c]tiones, die er nach der Diſputir - Kunſt ja ſo foͤrmlich / alsder279anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. der andere ſeine Syllogiſmos anzubringen weiß / ſich aus zu winden.

29. Und mein! wenn die Syllogiſmus - Kunſt ein ſo bewehrtes Mittel iſt / andern die Jrrthuͤ - mer zu erkennen zu geben / wo ſind doch die herrlichen Proben davon? Wie viel hun - dert Jahr ſind nur verfloſſen / da man auff ho - hen Schulen viel tauſend Syllogiſmos Ritter ge - ſchlagen / und dieſelbe in die gantze Welt herumb geſendet / die Jrrthuͤmer zu befechten; Kan wohl unter ſo viel tauſenden ein einiger nur ei - nen auffweiſen / den er durch die Syllogiſmus - Kunſt dahin gebracht haͤtte / daß er ſich gefangen gegeben und geſtanden haͤtte / daß ihm die Waf - fen einer Barbara oder Celarent ſeinen Jrr - thum zu erkennen gegeben / und ſeinen Verſtand gebeſſert haͤtten? Denn ich halte nicht dafuͤr daß es genung ſeyn werde / daß ein ſolcher Zaͤn - cker viel von ſeinen erhaltenen Siege herprahle / wenn ſich der andere nicht fuͤr gefangen erken - net / ob ſchon er ſelber und die ſeine Parthey hal - ten / den andern fuͤr uͤberwunden ausſchreyen.

30. Allein du muſt dieſes / was wir von der Syllogiſmus - Kunſt bißhero geredet / nicht alſo auffnehmen / als ob wir dieſelbe als eine an ſich ſelbſten ſchaͤdliche Kunſt ausſchreyen wol -S 4ten. 280Das 5. H. Von der Geſchickligkeitten. Der Syllogiſmus iſt an ſich ſelbſten und ſeiner Form nach weder wahr noch falſch; Je - doch iſt der Mißbrauch / wie erwehnet / groͤſſer dabey als der Gebrauch. Nichts deſto weni - ger iſt dieſe Diſputir-Kunſt auff allen Aca - demien eingefuͤhret / und iſt keines Menſchen Werck / daran zu gedencken / wie dieſes Unweſen mit Nachdruck abgeſchaffet werden moͤge. Und ſolcher geſtalt macht es ein die Weißheit lieben - der nicht anders als ein guter Medicus, wenn er einen Coͤrper fuͤr ſich hat / der voller Unreinigkei - ten iſt / er erduldet dieſelben / weil er ſiehet daß er ſie ohne Gefahr / und damit die mit ihnen ver - miſchten / wiewohl wenigen guten Lebens-Gei - ſter nicht zugleich mit fortgehen / nicht austrei - ben kan; Und bemuͤhet ſich nur durch gelinde Mittel ſie nach und nach ihrer Schaͤdligkeit zu benehmen.

31. So ſol demnach auch ein weiſer Mann ſich bemuͤhen bey der Syllogiſmus-Kunſt ſich dahin zu bearbeiten / wie er fein ordentlich und ohne Sophiſt erey darinnen verfahre / und hernach die gewoͤhnlichen Handgriffe der Sophi - ſten erkennen und ihnen begegnen moͤge. Je - nes hat mein ſeeliger Vater in ſeinem Methodo diſputandi gewieſen. Von dieſem aber habenwir281anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. wir allbereit in der Lateiniſchen Introduction ausfuͤhrlicher geredet / dahin wir uns umb Kuͤr - tze willen wollen bezogen haben.

32. Was ferner das Diſputir en durch Fra - gen und Antworten betrifft / iſt dieſelbe wohl unſtreitig die beſte / weil auff gleiche Weiſe die Wahrheit bey uns ſelbſten nebſt denen Jrrthuͤ - mern erkennet wird / wie wir im erſten Capitel erwieſen haben / da wir von dem Nutzen der Dubitation gehandelt / und weil allbereit auch im andern Capitel ausfuͤhrlich dargethan wor - den / daß keine beſſere Lehr-Art als dieſe ſey / zu - geſchweigen / daß dadurch der Jrrende gleichſam genoͤthiget wird / ſeinen Fehler zu erkennen / in dem man ihn durch ſeine eigene Geſtaͤndniß da - hin bringet / daß er den Urſprung deſſelben zu begreiffen anfaͤngt / und alſo durch eine ſuͤſſe Ge - walt getrieben entweder ſeinen Jrrthum wie - derruffen / oder ſich ſelbſt widerſprechen / oder aus Scham ſtillſchweigen muß.

33. Derowegen iſt dieſe Methode auch die aͤlteſte / und lange zuvor in Schwange geweſen / ehe die Ariſtoteli ſche Syllogiſmus. Kunſt auffge - kommen; Maſſen denn des Platonis Schriff - ten / und was Xenophon von des Socratis Lehre hinterlaſſen / ſolches ſattſam bezeugen. JaS 5es282Das 5. H. Von der Geſchickligkeites iſt auch lange nach Ariſtotele dieſelbe ge - braucht worden / wie ſolches nicht nur unter denen Juͤden die Diſputationes die ſie mit Chriſto gehalten / an den Tag geben / ſondern es weiſen es auch unterſchiedene Sophiſterey - en ſelbſt / die in der Ariſtoteli ſchen Logic vor - kommen / die in der Syllogiſmus - Kunſt keinen Nutzen haben; Als: Fallacia plurium inter - rogationum; Fallacia compoſitionis & divi - ſionis, &c.

34. Ob auch ſchon nicht zu laͤugnen / daß auch dieſe Weiſe zu diſputir en ihrem Mißbrau - che unterworffen ſey / und auff unterſchiedene Weiſe ein Sophiſte ſuchen koͤnne einen unge - uͤbten zu verfuͤhren; So ſind doch dieſelben ſo handgreifflich / und lange ſo vielen Subtilit - ten zu verſtehen nicht unterworffen / als die So - phiſt ereyen wider die Syllogiſmus - Kunſt / daß alſo dieſelbigen ein jeder Menſch / der nur einen guten natuͤrlichen Verſtand hat und ſich nicht uͤbereylet / er ſey von was Stande oder Ge - ſchlecht er wolle / gar leichte begreiffen und ſich dafuͤr huͤten kan.

35. Ferner ob wohl ein Menſch / der an ſei - nen Jrrthuͤmern allzuſehr haͤnget / und dieſelbi - gen nicht verlaſſen wil / vermittelſt dieſer Diſpu -tir -283anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. tir - Art nicht gezwungen werden kan / ſeinen Jrrthumb zu bekennen / ſo muß er ſich doch ent - weder reſolvir en / aus Scham zu verſtum̃en / oder zum Gelaͤchter auch des gemeinen und ungelehrten Volcks zu werden / da hinge - gen theil bey der Diſputir - Kunſt ein Kerl der bartnaͤckigt iſt und mit dunckelen Diſtinction en auszuwiſchen ſucht oder ins Gelach hinein ſchreyet / gemeiniglich je unverſchaͤmter er iſt / je mehr Schein-Ehre er auch unter denen / die ſich fuͤr Gelehrte halten / davon zutragen pfleget.

36. Wenn man endlich in Schrifften di - ſputir et / ſo ſchickt ſich weder die Syllogiſterey / noch die Methode durch Fragen und Ant - worten darinnen zu gebrauchen. Denn die - ſes letzte gehet deßhalben nicht an / weil der Ge - gner nicht gegenwaͤrtig iſt / daß er mir antwor - ten koͤnne. Jenes aber iſt auch unter denen / die ſonſt viel von der Syllogiſt erey halten / ſchon etli - che Jahre her fuͤr allzuverdrießlich und unange - nehm gehalten worden / weil man in Schrifften mehr mit Gelehrten als mit Schuͤlern zu thun hat / und werden ſolcher geſtalt auch gemeinig - lich ſolche Schrifften / darinnen auff allen Sei - ten formale Syllogiſmi zu leſen ſind / von denenGelehr -284Das 5. H. Von der GeſchickligkeitGelehrten / die ſich ein wenig der Artigkeit be - fleiſſen / fuͤr Pedant ereyen geachtet.

37. Dannenhero iſt hier nichts mehr uͤbrig als ein Diſcurs, das iſt / daß man die Urſachen die man wider einen Jrrthumb vorzubringen hat / nach gewoͤhnlicher Redens - und Schreib - Art ordentlich nach einander hinſetzet / und dar - innen entweder die Nichtigkeit des Satzes / oder die Unzulaͤngligkeit ſeiner Urſachen und Schluͤſſe zeiget.

38. Und weil aus der Vernunfft-Lehre ſat - ſam erhellet / daß alle Jrrthuͤmer von einer Grund-Regel der einigen Wahrheit einmahl abzuweichen anfangen muͤſſen; Auch gemei - niglich die Jrrthuͤmer ſelbſt ja ſo eine feſte Ver - knuͤpffung mit einander zu haben pflegen / als die Wahrheiten / nur daß bey jenen der Grund nichts tauget; Als iſt gar leichtlich zu erachten / daß man / wie in aller Widerlegung / alſo auch in Schrifften den Urſprung eines oder vie - ler Jrrthuͤmer unterſuchen / und denſelbi - gen als das Vornehmſte widerlegen ſolle; Deñ wo dieſes geſchehen / und das πρωτον ψέυδος ge - hoben iſt / fallen die darauff gebaueten Conclu - ſiones von ſich ſelbſten nach; Und ſparet man alſo Zeit und Papier / die man ſonſten / wennman285anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. man von denenſelben anfangen wolte / anwen - den / und immer einerley wiederhohlen muͤſte.

39. Gleichwohl befindet man insgemein in denen Streit-Schrifften der Gelehrten das Widerſpiel / in dem man faſt durchgehends alle Concluſiones eines Gegners / ja gar alle Redens-Arten und Minutias antaſtet / und oͤffters das primum falſum gar nicht beruͤhret / oder doch in Beruͤhrung deſſelben gantz laulicht und oben hin verfaͤhret. Welches entweder daher ruͤhret / daß man die rechte Kunſt zu diſpu - tir en noch nicht verſtehet / oder in ſeinem Kopffe noch gar im geringſten nicht auffgeraͤumet hat / und noch unter die Schuͤler zu rechnen iſt; O - der aber / daß man zwar wohl verſtehet / was an Unterſuchung des primi falſi gelegen ſey / und dennoch ſolches unterlaͤßt / damit man durch An - packung derer Concluſionum bey denen Namen - Gelehrten ſich einen deſto groͤſſern Namen und Ehr Anſehen machen / und deſto mehr Blaͤtter vollſchmieren moͤge.

40. Jedoch muſtu dieſes nicht alſo verſtehen / als ob man allezeit nur bey einem primo falſo zu widerlegen bleiben muͤſſe / und die Concluſio - nes gar nicht antaſten doͤrffe. Denn man trifft zuweilen ſo viel unfoͤrmlich Zeug in Wider -legung286Das 5. H. Von der Geſchickligkeitlegung der Jrrthuͤmer an / daß ein Autor zwey / drey und mehr prima falſa zum Grund leget / oder daß auch nicht einmahl die Concluſiones mit dem primo falſo verknuͤpfft ſind / ſondern viel - mehr das Gegentheil daraus hergefuͤhret wer - den koͤnne. Jm erſten Fall muß man alle die falſchen Hypotheſes, darauff ein Jrrender ſeine Concluſiones gruͤndet / ausſuchen / und jede deut - lich und glimpflich widerlegen / wiewohl zur U - berweiſung eines Jrrthumbs es genung iſt / weñ man nur die Falſchheit eines Grundes erwie - ſen / und die Darthuung aller falſchen Gruͤnde den Jrrenden nur deſto ſtaͤrcker uͤberfuͤhren ſol.

41. Jm andern Fall aber iſt es nicht un - dienlich / umb eben dieſer Urſache willen dem Jr - renden zu zeigen / wie ſeine Folgerungen gantz nicht einmahl mit ſeinem eigenen Grunde con - nectir et werden koͤnnen. Und dieſes nennet man καϑ᾽ ἄνϑρωπον diſputiren.

42. Bey Widerlegung des primi falſi und ſonſten uͤberhaupt in aller Widerlegung hat man zweyerley Wege / einem Jrrenden ſeinen Fehler zu erkennen zu geben / wenn man ihm nemlich entweder darthut / wie aus ſeinem Satze eine falſche Concluſion, die er ſelbſt fuͤr falſch erkennet / nothwendig folge / oder aber / wiedieſer287anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. dieſer ſein falſcher Satz ohnmoͤglich mit ei - ner andern gemeinern Wahrheit / die er gleichfalls fuͤr wahr mit uns haͤlt / koͤnne con - nectir et werden.

43. So viel den erſten Weg anlanget / gruͤndet ſich derſelbige darinnen / daß zwar aus einem falſchen Satze etliche wenige Wahrheiten auch gefolgert werden koͤnnen; aber doch noth - wendig auch viele Jrrthuͤmer daraus herflieſſen muͤſſen; Da hingegen aus einer Wahrheit / wenn die Folgerungen recht eingerichtet wer - den / nichts als Wahrheiten koͤnnen hergeleitet werden. Und alſo giebet es die geſunde Ver - nunfft / daß / wo ich einem andern darthun kan / daß nur eine einige falſche Meynung aus ſeinem Grund-Satze folge / derſelbige nicht wahr / ſon - dern falſch ſeyn muͤſſe.

44. Der andere Weg gruͤndet ſich darin - nen / daß doch allezeit die Jrrenden / wenn ſie nicht Sceptici ſeyn / nothwendig eine Grund - Wahrheit mit uns uͤberein haben muͤſſen. Weil denn durchgehends Wahrheit mit Wahrheit verknuͤpffet iſt / und die prima falſa unmoͤglich mit andern Wahrheiten verknuͤpfft werden koͤnnen / ſo kan es nicht fehlen / es muß einJrren -288Das 5. H. Von der GeſchickligkeitJrrender durch dieſe Art auch die Nichtigkeit ſeiner Meynung erkennen.

45. Viele unter denen Gelehrten halten auf den erſten Weg mehr als auff den andern / und geben vor / daß man damit einen Jrrenden viel ſchaͤrffer binden koͤnne. Jedoch iſt wohl offenbahr / daß der erſte Weg zwar fuͤr die Widerlegenden leichter als der andere ſey / aber bey weiten in Anſehen des Jrrenden nicht ſo viel Frucht ſchaffen koͤnne als der an - dere.

46. Leichter iſt der erſte / weil nur eine Wahrheit iſt / auch die Concluſiones mit denen Grund-Wahrheiten nur auff eine Weiſe ver - knuͤpfft werden / da im Gegentheil eine Wahr - heit tauſend falſche Meynungen entgegen ge - ſetzt haben kan; und wenn man einmahl von der Wahrheit abgewichen / man hernach gemei - niglich mehr und groͤbere Fehler zu begehen pfle - get. Nun iſt allezeit leichter das vielfaͤltige eher anzumercken als das einzige: Und man kan zum Exempel eher von einer krummen als ge - raden Linie / von einem heßlichen als ſchoͤnen Frauen-Zimmer urtheilen; und in Summa eher etwas tadeln als beſſer machen. Und die - ſes iſt wohl die wahre Urſache / worumb mandie -289anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. dieſen Weg ſo heraus ſtreichet: weil daßjeni - ge / was uns am leichteſten vorkommt / gemei - niglich auch vor das nuͤtzlichſte pfleget gehalten zu werden; und weil unter denen Gelehrten die meiſten zwar Jrrthuͤmer genung erkennen / aber die allerwenigſten in ihrem Kopffe auffge - raumet haben / und den Weg der Warheit wiſſen.

47. Daß aber der andere Weg den ir - renden viel ſtaͤrcker convincire / erhellet daraus; weil aus dem erſten zwar ein Jrren - der erkennet / daß ſeine Meinung falſch ſein muͤſſe; er erkennet aber weder den Urſprung ſeines Jrrthums / noch die Warheit der gegen - ſeitigen Meinung / und alſo iſt ſeine Erkaͤnt - nuͤß nur confus. Nachdem andern Wege a - ber ſiehet er augenſcheinlich / wie er durch ein præjudicium auff den Jrrweg gerathen ſey / und erkennet gantz gewiß / daß die entgegen ge - ſetzte Meinung wahr ſein muͤſſe; und folgen - der Geſtalt iſt ſeine Erkaͤntnuͤß viel diſtincter.

48. Es geſchiehet aber zum oͤfftern / daß die Jrrenden hartnaͤckigt ſind / und ihre Jrrthuͤ - mer immer mehr und mehr durch neue Schrif - ten zuvertheidigen ſuchen. Derowegen fragetTſichs290Das 5. H. Von der Geſchickligkeit. ſichs nicht unbillig: Ob ein weiſer Mann in Wiederlegung der Jrrthuͤmer Schriff - ten mit Schrifften hauffen ſolle? Wenn wir nach denen Exempeln gehen wolten / auch ſonſt gelehrter und beruͤhmter Leute / muͤſten wir ſolches billig bejahen. Nachdem wir uns aber vorgenommen / nach denen bloſſen Grund - Regeln der Vernunfft zu gehen / und alle menſchliche autorit aͤt bey ſeit zu ſetzen / muͤſ - ſen wir vielmehr das Gegentheil vertheydigen. Denn wenn der Jrrende aus Hartnaͤckigkeit ſeine Jrrthuͤmer vertheidiget / wird bey ihm und ſeiner Parthey keine raiſon hafften / bey Un - partheyiſchen aber unnoͤthig ſeyn / ſich weiter zubemuͤhen / weil dieſelben allbereit die Wich - tigkeit unſerer Gruͤnde / und die Hartnaͤckig - keit des Jrrenden erkennen.

49. Und ſolchergeſtalt braucht ein weiſer Mann ordentlich nicht mehr als eine Schrifft entweder ſeine Lehre zu vertheydigen / oder den Jrrthum ſeines Gegners darzuthun; es waͤ - re denn / daß der Jrrende in der andern Schrifft etwas neues vorbraͤchte; oder aber der Wiederlegende erkennete / daß er in ſeiner erſten Schrifft etwas undeutlich geſchrieben /und291anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. und noch nicht alles ausgefuͤhret haͤtte. Jn dem Fall iſt nicht irraiſonabel, noch gleichſam mit einer Duplic auffgezogen zu kommen. Was aber druͤber iſt / daß iſt ordentlich zu viel / und beſſer es bleibe nach. Denn man wird unter tauſend ſo genanten Streit-Schrifften kaum zwey finden / da in dem dritten Scripto etwas neues waͤre vorgebracht worden / und wer ſeine Meinung in zweyen Schrifften nicht deutlich genung darthun / und die Sache genungſam ausfuͤhren kan / der iſt gewiß nicht geſchickt ſolches in der dritten und vierdten zuthun.

50. Mein ließ alle Streit-Schrifften / (weil ja der gemeine Mißbrauch alle Diſpu - tationes Streit Schrifften nennet) durch / die ſeit hundert Jahren her geſchrieben worden / und weiſe mir nur eine / da in der dritten nicht das vorige mit Verdruß ſey wiederhohlet / und nur daß geringſte neue vorbracht worden; es waͤre denn / daß man von der Haupt-Frage gantz abgewichen und auff frembde Dinge verfal - len / oder wohl gar auff perſonalia, das iſt / auff Schmaͤhungen und Anzuͤgligkeiten gekom - men waͤre. Und du wirſt ordentlich befinden /T 2daß292Das 5. H. Von der Geſchickligkeitdaß in dergleichen Faͤllen die irraiſonable ſten Zaͤncker allezeit daß letzte Wort behalten; der andere aber / der noch am vernuͤnfftigſten gewe - ſen iſt / aus Empfindung der Verdrießligkeit / die aus ſolchem Handel entſtehet / und der Schwachheit / durch die er ſich in ſo vielfaͤltige Schrifften vertieffet / am erſten auffgehoͤret.

51. Gleichwie nun aus dem was wir jetzo dar - gethan die III. Lection gar leicht gemachet weꝛden kan: Wiederlege die Jrrenden kurtz und deutlich. Alſo iſt nur endlich noch uͤbrig / daß wir auch betrachten / was man fuͤr eine Lection beobachten muͤſſe in anſehen der Jrrthuͤmer ſelbſt / die man wiederlegen ſolle.

52. Dieſelbige heiſt alſo: IV. Wiederle - ge die Jrrthuͤmer die dem menſchli - chen Geſchlecht ſchaͤdlich / daß iſt / die unſtreitig falſch oder ſehr un - wahrſcheinlich ſind. Es iſt wahr / alle Jrrthuͤmer ſind ſchaͤdlich / ob ſie gleich dem erſten Anſehen nach nicht viel Scheinen auf ſich zu haben. Aber es ſind nicht alles Jrꝛthuͤmer / die insgemein dafuͤr ausgeſchrien werden / ſon - derlich was wahrſcheinliche und unwahrſchein -liche293anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. liche Dinge betrifft. Denn die Wahrſchein - ligkeit und Unwahrſcheinligkeit hat ihre gewiſ - ſe grade, derer unzehlig ſind / und die der menſch - liche Verſtand nicht ſo genau begreiffen und entſcheiden kan / auch folglich dem menſchlichen Geſchlecht nicht viel daran gelegen iſt / ob man in dieſen Faͤllen dieſer oder jener Meinung zu - gethan; als wie man im gemeinen Leben und Wandel nicht achtet / ob ein Ducaten ein 16. Theil von einem Eßgen ſchwerer ſey als der andere / oder ob zwey Wege die an einen Ort gehen / einer etliche wenige Schritte weiter ſey als der andere; Oder ob zwey einander ſehr gleiche couleur en gleich einen Unterſchied haben / darzu man aber das allerſcharffſinnigſte Ge - ſichte haben muß / ſelbigen zu penetri ren. De - rowegen / ſo wenig als in dieſen Faͤllen alle Menſchen entſcheiden koͤnnen / was eigentlich als wahrſcheinlich durchgehends fuͤr wahr ge - halten werden muͤſſe; ſo wenig kan man auch entſcheiden / was eigentlich durchgehends als unwahrſcheinlich fuͤr falſch gehalten werden muͤſſe / und folglich kan man in dieſen Faͤllen keine von zwey wiederſprechenden Meinungen fuͤr einen Jrrthum halten / vielweniger denſel - ſelben befechten; ſondern geſcheide Leute ſagenT 3ein -294Das 5. H. Von der Geſchickligkeiteinander beyderſeits ihre Meinungen mit ih - ren Urſachen / und wenn einer dem andern nicht Beyfall geben will / laſſen ſie beyderſeits einan - der fuͤr kluge und weiſe Leute paſſir en.

53. Vielweniger muß man uͤber Dinge diſputir en / die gar nicht zum wahren und falſchen gehoͤren / ſondern eines jeden Menſchen eigener Gutachtung anheim ge - ſtellet ſind / oder ſtetswehrend der Vernunfft unerkant bleiben / weil auch ſolchergeſtalt in denenſelbigen kein Jrrthum ſeyn kan / ſondern entweder einjeder von beyden Theilen recht hat / wenn er von ſeiner Erkaͤntnuͤß oder ſeiner Unwiſſenheit redet / oder aber alle beyde irren / (und alſo keiner dem andern was vorwerffen darf) wenn ſie von der allgemeinen Erkaͤnt - nuͤß reden / oder an beyden Theilen ihre gelehr - te Unwiſſenheit mit einer thoͤrigten Wiſſen - ſchafft beſchauen wollen. z. e. Die meiſten Fragen von Geſchmack / von der Guͤte der Dinge / von der Sprache der Engel / u. ſ. w.

54. Dieſe Regel und Anmerckung nim wohl inacht / damit dich die taͤglichen Exem - pel nicht verurſachen darwieder anzuſtoſſen. Denn295anderer Jrrthuͤmer zu widerlegen. Denn du wirſt in allen Facult aͤten finden / daß unter hundert Streitigkeiten zum wenigſten 99. ſind / worinnen die Gelehrten einander der groͤſten Jrrthuͤmer beſchuldigen / und groſſe volumina wieder einander ſchreiben / da doch beyderſeits Meinungen entweder in Anſehen der Wahrſcheinligkeit und Unwahrſcheinligkeit einander ſehr nahe kommen / oder von uner - kanten Dingen reden / oder da ein jeder von beyden Freyheit hat nach ſeiner Erkaͤntnuͤß eine Meinung zu ergreiffen dieer wil. Exempla ſunt odioſa.

ENDE.
[296][297][298]

About this transcription

TextAußübung Der Vernunfft-Lehre
Author Christian Thomasius
Extent324 images; 55537 tokens; 8091 types; 390887 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationAußübung Der Vernunfft-Lehre Oder: Kurtze/ deutliche und wohlgegründete Handgriffe/ wie man in seinen Kopffe aufräumen und sich zu Erforschung der Wahrheit geschickt machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen; von anderer ihren Meinungen urtheilen/ und die Jrrthümer geschicklich widerlegen solle. Worinnen allenthalben viel allgemeine heut zu Tage in Schwang gehende Jrrthümer angezeiget/ und deutlich beantwortet werden Nebst einer Vorrede Jn welcher der Autor die Ursachen anzeiget/ worumb er auch auff des Realis de Vienna seine Discursus und Dubia über die Introductionem ad Philosophiam Aulicam nicht antworten werde Christian Thomasius. . [12] Bl., 295 S. SalfeldHalle (Saale)1691.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Vb 640Dig: http://diglib.hab.de/drucke/vb-640/start.htm

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationWissenschaft; Philosophie; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:35:14Z
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Vb 640
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