Die Laune eines Dichters, die Treue einer Buhle - rin, und die Freundſchaft eines Hippias, ſind vielleicht die drey unzuverlaͤſſigſten Dinge unter allen in der Welt; es waͤre denn, daß man die Gunſt der Groſſen fuͤr das Vierte halten wollte, welche gemeiniglich eben ſo leicht verlohren als gewonnen wird, und mit den Gunſt - bezeugungen gewiſſer Nymfen noch dieſe Aehnlichkeit hat, daß derjenige, welcher unvorſichtig genug geweſen iſt da - von zu koſten, einen kurzen Traum von Vergnuͤgen ge - meiniglich mit langwierigen Schmerzen bezahlen muß.
Hippias nannte ſich einen Freund der ſchoͤnen Danae, und wurde von ihr dafuͤr gehalten; eine BekanntſchaftA 2von4Agathon. von mehr als zwoͤlf Jahren hatte dieſes beyden zur Ge - wohnheit gemacht. Hiezu kam noch die natuͤrliche Ver - wandtſchaft, welche unter Leuten von Wiz und feiner Lebens-Art obwaltet, die Uebereinſtimmung ihrer Den - kungs-Art, und Neigungen; vielleicht auch die beſon - dere Vorrechte, die er, der gemeinen Meynung nach, eine Zeit lang bey ihr genoſſen. Alles dieſes hatte dieſe Art von Vertraulichkeit unter ihnen hervorgebracht, welche von den Weltleuten, aus einem Mißverſtande deſſen ſie ſich nur nicht vermuthen, fuͤr Freundſchaft gehalten wird, und auch in der That alle Freundſchaft, deren ſie faͤhig ſind, ausmacht; ob es gleich gemeiniglich eine bloß mechaniſche Folge zufaͤlliger Umſtaͤnde, und im Grunde nichts beſſers als eine ſtillſchweigende Ueberein - kommniß iſt, einander ſo lange gewogen zu ſeyn, als es einem oder dem andern Theil gelegen ſeyn werde; und daher auch ordentlicher Weiſe keinen Augenblik laͤnger daurt, als bis ſie auf irgend eine Probe, wobey ſich die Eigenliebe einige Gewalt anthun muͤßte, geſezt wer - den wollte.
Die ſchoͤne Danae, deren Herz unendlich mal beſſer war als des Sophiſten ſeines, gieng inzwiſchen ganz aufrichtig zu Werke, indem ſie in die vermeynte Freund - ſchaft dieſes Mannes nicht den mindeſten Zweifel ſezte. Es iſt wahr, er hatte einen guten Theil von ihrer Hoch - achtung, und alſo zugleich von ihrem Vertrauen verloh - ren, ſeitdem die Liebe ſo ſonderbare Veraͤnderungen inihrem5Achtes Buch, erſtes Capitel. ihrem Character gewuͤrkt hatte. Je mehr Agathon gewann, je mehr mußte Hippias verliehren. Allein das war ſo natuͤrlich und kam ſo unvermerkt, daß ſie ſich deſſen kaum, oder nur ſehr undeutlich bewußt war; und vielleicht ſo wenig, daß ſie, ohne die mindeſte Be - ſorgniß, er werde tiefer in ihr Herz hineinſchauen als ſie ſelbſt, an nichts weniger dachte, als einige Vorſich - tigkeit gegen ihn zu gebrauchen. Ein Beweis hievon iſt, daß ſie, anſtatt ihm bey ihrem Liebhaber ſchlimme Dienſte zu thun, ſich vielmehr bey jedem Anlas bemuͤhete, ihn bey demſelben in beſſere Achtung zu ſezen. Und die - ſes war ihr auch, bey der beſondern Sorgfalt, womit der Sophiſt ſeit einiger Zeit ihre Bemuͤhung befoͤrderte, ſo wol gelungen, daß Agathon anfieng eine beſſere Mey - nung von ſeinem Character zu faſſen, und ſich unver - merkt ſo viel Vertrauen von ihm abgewinnen ließ, daß er kein Bedenken mehr trug, ſich ſo gar uͤber die An - gelegenheiten ſeines Herzens in vertrauliche Unterredun - gen mit ihm einzulaſſen.
Unſre Liebende verliefen ſich alſo mit der ſorgloſeſten Unvorſichtigkeit, welche ſich Hippias nur wuͤnſchen konnte, in die Fallſtrike die er ihnen legte; und lieſſen ſich nicht einfallen, daß er Abſichten haben koͤnne, eine Verbindung wieder zu vernichten, die gewiſſermaſſen ſein eigenes Werk war. Dieſe Sorgloſigkeit koͤnnte viel - leicht deſto tadelhafter ſcheinen, da beyden ſo wol be - kannt war, nach was fuͤr Grundſaͤzen er lebte. AlleinA 3es6Agathon. es iſt eine Beobachtung, die man alle Tage zu machen Gelegenheit hat, daß edle Gemuͤther mit Leuten von dem Character unſers Sophiſten betrogen werden muͤſſen, ſie moͤgen es angehen, wie ſie wollen. Sie moͤgen die Denkens-Art dieſer Leute noch ſo gut kennen, noch ſo viele Proben davon haben, daß derjenige, deſſen Neigun - gen und Handlungen allein durch das Jntereſſe ſeiner eigennuͤzigen Leidenſchaften beſtimmt wird, keines recht - ſchaffenen Betragens faͤhig iſt; es wird ihnen doch im - mer unmoͤglich bleiben, alle Kruͤmmen und Falten ſeines Herzens ſo genau auszuforſchen, daß nicht in irgend einer derſelben noch eine geheime Schalkheit lauren ſollte, deren man ſich nicht verſehen hatte, wenn ſie endlich zum Vorſchein koͤmmt. Agathon und Danae, zum Exempel, kanuten den Hippias gut genug, um uͤberzeugt zu ſeyn, daß er ſich, ſobald ſein Jntereſſe dem Vortheil ihrer Liebe entgegenſtünde, nicht einen Augen - blik bedenken wuͤrde, die Pflichten der Freundſchaft ſei - nem Eigennuzen aufzuopfern. Denn was ſind Pflich - ten fuͤr einen Hipplas? Hingegen konnten ſie nicht be - greiffen, was fuͤr einen Vortheil er darunter haben koͤnnte, ihre Herzen zu trennen; und dieſes machte ſie ſicher. Jn der That hatte er keinen; auch hatte er ei - gentlich die Abſicht nicht ſie zu trennen. Aber er hatte ein Jntereſſe, ihnen einen Streich zu ſpielen, welcher, dem Character des Agathon nach, nothwendig dieſe Wuͤrkung thun mußte. Und das war es, woran ſie nicht dachten.
Wir7Achtes Buch, erſtes Capitel.Wir haben im vierten Buche dieſer Geſchichte die Abſichten entdekt, welche den Sophiſten bewogen hat - ten, unſern Helden mit der ſchoͤnen Danae bekannt zu machen. Der Entwurf war wol ausgeſonnen, und haͤtte, nach den Vorausſezungen, die dabey zum Grunde lagen, ohnmoͤglich mißlingen koͤnnen, wenn man auf irgend eine Vorausſezung Rechnung machen duͤrfte, ſo bald ſich die Liebe ins Spiel miſcht. Dieſes mal war es ihm gegangen, wie es gemeiniglich den Projectma - chern geht; er hatte an alles gedacht, nur nicht an den einzigen Fall, der ihm ſeine Abſichten vereitelte. Wie haͤtte er auch glauben koͤnnen, daß eine Danae faͤhig ſeyn ſollte, ihr Herz an einen Platoniſchen Liebhaber zu verliehren? Ein gleichguͤltiger Philoſoph wuͤrde dar - uͤber betroffen geweſen ſeyn, ohne boͤſe zu werden; aber es giebt ſehr wenig gleichguͤltige Philoſophen. Hippias fand ſich in ſeinen Erwartungen betrogen; ſeine Erwar - tungen gruͤndeten ſich auf Schluͤſſe; ſeine Schluͤſſe auf ſeine Grundſaͤze, und auf dieſe das ganze Syſtem ſei - ner Jdeen, welches (wie man weiß) bey einem Phi - loſophen wenigſtens die Haͤlfte ſeines geliebten Selbſts ausmacht. Wie baͤtte er nicht boͤſe werden ſollen? Seine Eilelkeit fuͤhlte ſich beleidiget. Agathon und Danae hat - ten die Gelegenheit dazu gegeben. Er wußte zwar wol, daß ſie keine Abſicht ihn zu beleidigen dabey gehabt ha - ben konnten; allein darum bekuͤmmert ſich kein Hippias. Genug, daß ſein Unwille gegruͤndet war; daß er einen Gegenſtand haben mußte; und daß ihm nicht zu zu -A 4muthen8Agathon. muthen war, ſich uͤber ſich ſelbſt zu erzuͤrnen. Leute von ſeiner Art wuͤrden eher die halbe Welt untergehen ſehen, eh ſie ſich nur geſtehen wuͤrden, daß ſie gefehlt haͤtten. Es war alſo natuͤrlich, daß er darauf bedacht war, ſich durch das Vergnuͤgen der Rache fuͤr den Ab - gang desjenigen zu entſchaͤdigen, welches er ſich von der vermeynten und verhofften Bekehrung unſers Helden ver - ſprochen hatte.
Agathon liebte die ſchoͤne Danae, weil ſie, ſelbſt nachdem der aͤuſſerſte Grad der Bezauberung aufgehoͤrt hatte, in ſeinen Augen noch immer das vollkommenſte Geſchoͤpfe war, das er kannte. Was fuͤr ein Geiſt! was fuͤr ein Herz! was fuͤr ſeltene Talente! welche An - muth in ihrem Umgang! was fuͤr eine Manchfaltigkeit von Vorzuͤgen und Reizungen! wie hochachtungswerth mußte ſie das alles ihm machen! wie vortheilhaft war ihr die Erinnerung an jeden Augenblik, von dem erſten an, da er ſie geſehen, bis zu demjenigen, da ſie von ſympathetiſcher Liebe uͤberwaͤltiget die ſeinige gluͤklich ge - macht hatte! Kurz alles was er von ihr wußte, war zu ihrem Vortheil, und von allem was ſeine Hochſchaͤ - zuug haͤtte ſchwaͤchen koͤnnen, wußte er nichts.
Man kan ſich leicht vorſtellen, daß ſie ſo unvorſich - tig nicht geweſen ſeyn werde, ſich ſelbſt zu verrathen. Es iſt wahr, ſie hatte ſich nicht entbrechen koͤnnen, die vertraute Erzaͤhlung, welche er ihr von ſeinem Lebens -Lauf9Achtes Buch, erſtes Capitel. Lauf gemacht, mit Erzaͤhlung des ihrigen zu erwiedern; aber wir zweifeln ſehr, daß ſie ſich zu einer eben ſo gewiſſenhaften Vertraulichkeit verbunden gehalten habe. Und woher wiſſen wir auch, daß Agathon ſelbſt, mit aller ſeiner Offenherzigkeit, keinen Umſtand zuruͤk gehal - ten habe, von dem er vielleicht, wie ein guter Mahler oder Dichter, vorausgeſehen, daß er der ſchoͤnen Wuͤrkung des Ganzen hinderlich ſeyn koͤnnte. Wer iſt uns Buͤrge dafuͤr, daß die verfuͤhriſche Prieſterin nicht mehr uͤber ihn erhalten habe, als er eingeſtanden? Wenigſtens hat einigen von unſern Leſern, (welche vielleicht vergeſſen ha - ben, daß ſie keine Agathons ſind) die tiefe Gleichguͤltig - keit etwas verdaͤchtig geſchienen, worinn ihn, bey einer gewiſſen Gelegenheit, Reizungen, die, ihrer Meynung nach, in ſeiner bloſſen Beſchreibung ſchon verfuͤhren koͤnnten, gelaſſen haben ſollen. Jn der That; man mag ſo ſchuͤchtern oder ſo Platoniſch ſeyn als man will; eine ſchoͤne Frau, welche ſich vorgenommen hat, die Macht ihrer Reizungen an uns zu pruͤfen, ſelbſt von dem Gott der Liebe begeiſtert, und was noch ſchlimmer iſt, eine Prieſterin — in einer ſo belaurenden Stel - lung, mit ſo ſchwarzen Augen, mit einem ſo ſchoͤnen Buſen — iſt ganz unſtreitig ein gefaͤhrlicher Anblik fuͤr einen jeden, der (wie Phryne ſagte) keine Statue iſt: Und die Poeſie muͤßte die magiſchen Kraͤfte nicht haben, welche ihr von jeher zugeſchrieben worden ſind, wenn in einer ſolchen Situation das Leſen einer Scene, wie die Verfuͤhrung Jupiters durch den Guͤrtel der VenusA 5in10Agathon. in der Jliade iſt, den natuͤrlichen Wuͤrkungen eines da - mit ſo uͤbereinſtimmenden Gegenſtands, nicht eine ver - doppelte Staͤrke haͤtte geben ſollen. Allein dem ſey nun wie ihm wolle, ſo iſt gewiß, daß Danae, in der Er - zaͤhlung ihrer Geſchichte mehr die Geſeze des Schoͤnen und Anſtaͤndigen als die Pflichten einer genauen hiſtori - ſchen Treue zu ihrem Augenmerk genommen, und ſich kein Bedenken gemacht, bald einen Umſtand zu ver - ſchoͤnern, bald einen andern gar wegzulaſſen, ſo oft es die beſondere Abſicht auf ihren Zuhoͤrer erfodern mochte. Denn fuͤr dieſen allein, nicht fuͤr die Welt, erzaͤhlte ſie; und ſie konnte ſich alſo durch die ſtrengen Forderungen, welche die Leztere (wiewol vergebens) an die Geſchicht - ſchreiber macht, nicht ſo ſehr gebunden halten. Nicht, als ob ſie ihm irgend eine hauptſaͤchliche Begebenheit ih - res Lebens gaͤnzlich verſchwiegen, oder ihn ſtatt der wuͤrklichen durch erdichtete hintergangen haͤtte. Sie ſagte ihm alles. Allein es giebt eine gewiſſe Kunſt, dasjenige was einen widrigen Eindruk machen koͤnnte, aus den Augen zu entfernen; es koͤmmt ſoviel auf die Wendung an; ein einziger kleiner Umſtand giebt einer Begebenheit eine ſo verſchiedene Geſtalt von demjenigen, was ſie ohne dieſen kleinen Umſtand geweſen waͤre; daß man ohne eine merkliche Veraͤnderung deſſen was den Stoff der Erzaͤhlung ausmacht, tauſend ſehr bedeu - tende Treuloſigkeiten an der hiſtoriſchen Wahrheit bege - hen kan. Eine Betrachtung, die uns (im Vorbeyge - hen zu ſagen) die Geſchichtſchreiber ihres eignen wer -then11Achtes Buch, erſtes Capitel. then Selbſts, keinen Xenophon noch Marcus Antoninus, ja ſelbſt den offenherzigen Montaigne nicht ausgenom - men, noch verdaͤchtiger macht, als irgend eine andre Claſſe von Geſchichtſchreibern.
Die ſchoͤne und kluge Danae hatte alſo ihrem Liebhaber weder ihre Erziehung in Aſpaſiens Hauſe, noch ihre Be - kanntſchaft mit dem Alcibiades, noch die glorreiche Liebe, welche ſie dem Prinzen Cyrus eingefloͤßt hatte, verhalten. Alle dieſe, und viele andre nicht ſo ſchim̃ernde Stellen ihrer Geſchichte machten ihr entweder Ehre, oder konnten doch mit der Geſchiklichkeit, worinn ſie die zweyte Aſpaſia war, auf eine ſolche Art erzaͤhlt werden, daß ſie ihr Ehre machten. Allein was diejenigen Stellen betraf, an denen ſie alle Kunſt, die man auf ihre Verſchoͤ - nerung wenden moͤchte, fuͤr verlohren hielt; es ſey nun, weil ſie an ſich ſelbſt, oder in Beziehung auf den eigenen Geſchmak unſers Helden, in keiner Art von Einkleidung, Wendung oder Licht gefallen konnten: uͤber dieſe hatte ſie kluͤglich beſchloſſen, ſie mit gaͤnzlichem Stillſchweigen zu bedeken; und daher kam es dann, daß unſer Held noch immer in der Meynung ſtund, er ſelbſt ſey der erſte geweſen, welchem ſie ſich durch Gunſt-Bezeugungen von derjenigen Art, womit er von ihr uͤberhaͤuft wor - den war, verbindlich gemacht haͤtte. Ein Jrrtum, der nach ſeiner ſpizfuͤndigen Denkens-Art zu ſeinem Gluͤke ſo nothwendig war, daß ohne denſelben alle Voll - kommenheiten ſeiner Dame zu ſchwach geweſen waͤren,ihn12Agathon. ihn nur einen Augenblik in ihren Feſſeln zu behalten. Jhm dieſen Jrthum zu benehmen, war der ſchlimmſte Streich, den man ſeiner Liebe und der ſchoͤnen Danae ſpielen konnte; und dieſes zu thun, war das Mittel, wodurch der Sophiſt an beyden auf einmal eine Rache zu nehmen hofte, deren bloſſe Vorſtellung ſein boßhaftes Herz in Erzuͤkung ſezte. Er laurte dazu nur auf eine bequeme Gelegenheit, und dieſe pflegt zu einem boͤſen Vorhaben ſelten zu entgehen.
Ob dieſes leztere der Geſchaͤftigkeit irgend eines boͤſen Daͤmons zu zuſchreiben ſey, oder ob es daher komme, daß die Boßheit ihrer Natur nach eine lebhaftere Wuͤrk - ſamkeit hervorbringt als die Guͤte; iſt eine Frage, welche wir andern zu unterſuchen uͤberlaſſen. Es ſey das eine oder das andere, ſo wuͤrde eine ganz natuͤrliche Folge dieſer faſt alltaͤglichen Erfahrungs-Wahrheit ſeyn, daß das Boͤſe in einer immer wachſenden Progreſſion zunehmen, und, wenigſtens in dieſer ſublunariſchen Welt, das Gute zulezt gaͤnzlich verſchlingen wuͤrde; wenn nicht aus einer eben ſo gemeinen Erfahrung rich - tig waͤre, daß die Bemuͤhungen der Boͤſen, ſo gluͤklich ſie auch in der Ausfuͤhrung ſeyn moͤgen, doch gemeinig - lich ihren eigentlichen Zwek verfehlen, und das Gute durch eben die Maßregeln und Raͤnke, wodurch es haͤtte gehindert werden ſollen, weit beſſer befoͤrdern, als wenn ſie ſich ganz gleichguͤltig dabey verhalten haͤtten.
Unter andern Eigenſchaften, welche den Character der Danae ſchaͤzbar machten, war auch dieſe, daß ſie eine vortrefliche Freundin war. So gleichguͤltig ſie, bis auf die Zeit da ſich Agathon ihres Herzens bemeiſterte, gegen den Vorwurf der Unbeſtaͤndigkeit in der Liebe auch immer geweſen war: ſo zuverlaͤſſig und ſtandhaft war ſie jederzeit in der Freundſchaft geweſen. Sie liebte ihre Freunde mit einer Zaͤrtlichkeit, welche von Leuten, die bloß nach dem aͤuſſerlichen Ansdruk urtheilen, leicht einem eigennuͤzigern Affect beygemeſſen werden konnte; denn dieſe Zaͤrtlichkeit ſtieg bis zum wuͤrkſamſten Grade der Leidenſchaft, ſobald es darauf ankam, einem un - gluͤklichen Freunde Dienſte zu leiſten. Es war kein Vergnuͤgen, welches ſie nicht in einem ſolchen Falle den Pflichten der Freundſchaft aufgeopfert haͤtte.
Eine Veranlaſſung von dieſer Art (wovon die Um - ſtaͤnde mit unſrer Geſchichte in keiner Beziehung ſtehen) hatte ſie auf einige Tage von Smyrna abgeruffen. Aga - thon mußte zuruͤkbleiben, und die gutherzige Danae, mit dem Beweiſe zufrieden, den ihr ſein Schmerz bey ih - rem Abſchied von ſeiner Liebe gab, verſuͤßte ſich ihren eigenen durch die Vorſtellung, daß die kurze Trennung ihm den Werth ſeiner Gluͤkſeligkeit weit lebhafter zu fuͤh -len14Agathon. len geben werde, als eine ununterbrochene Gegenwart. Ruhig uͤber den Beſiz ſeines Herzens empfahl ſie ihm deſto eyfriger, ſich waͤhrend ihrer Abweſenheit den Freu - den, welche das reiche nnd wolluͤſtige Smyrna verſchaf - fen konnte, zu uͤberlaſſen, je gewiſſer ſie war, daß ſie von dergleichen Zerſtreuungen nichts zu beforgen habe.
Allein Agathon hatte bereits angefangen, den Ge - ſchmak an dieſen Luſtbarkeiten zu verliehren. So leb - haft, ſo manchfaltig, ſo berauſchend ſie ſeyn moͤgen, ſo ſind ſie doch nicht faͤhig einen Geiſt wie der ſeinige war, lange einzunehmen. Als eine Beſchaͤftigung betrachtet, koͤnnen ſie es nur fuͤr Leute ſeyn, die ſonſt zu nichts tau - gen; und Vergnuͤgungen bleiben ſie nur ſo lange als ſie neu ſind. Je lebhafter ſie ſind, deſto baͤlder folgen Saͤttigung und Ermuͤdung; und alle ihre anſcheinende Manchfaltigkeit kan bey einem fortgeſezten Gebrauch das Einfoͤrmige nicht verbergen, wodurch ſie endlich ſelbſt der verdienſtloſeſten Claſſe der Weltleute ekelhaft werden. Die Abweſenheit der Danae benahm ihnen vollends noch den einzigen Reiz, den ſie noch fuͤr ihn gehabt haͤtten, das Vergnuͤgen ſie daran Antheil nehmen zu ſehen. Er brachte alſo bey nahe die ganze Zeit ihrer Abweſenheit in einer Einſamkeit zu, von welcher ihn das heſchaͤftigte Leben zu Athen und die wolluͤſtige Muſſe zu Smyrna ſchon etliche Jahre entwoͤhnet hatten. Hier gieng es ihm anfangs wie denen welche aus einem ſtark erleuchteten Ort auf einmal ins Dunkle kommen. Seine Seele fuͤhlteſich15Achtes Buch, zweytes Capitel. ſich leer, weil ſie allzuvoll war; er ſchrieb dieſes der Ab - weſenheit ſeiner Freundin zu; er fuͤhlte daß ſie ihm man - gelte, und dachte nicht daran, daß er ſie weniger ver - mißt haben wuͤrde, wenn die Nerven ſeines Geiſtes durch die Gewohnheit einer wolluͤſtigen Paſſivitaͤt nicht eingeſchlaͤfert worden waͤren. Die erſten Tage ſchlichen fuͤr ihn in einer Art von zaͤrtlicher Melancholie vorbey, welche nicht ohne Anmuth war. Danae war beynahe der einzige Gegenſtand, womit ſeine in ſich ſelbſt zuruͤkge - zogene Seele ſich beſchaͤftigte; oder wenn ſeine Erinne - rung in vorhergehende Zeiten zuruͤk gieng, wenn ſie ihm das Bild ſeiner Pſyche, oder die ſchimmernden Auf - tritte ſeines Republicaniſchen Lebens vorhielt, ſo war es nur, um den Werth der unvergleichlichen Danae und die ruhige Gluͤkſeligkeit eines allein der Liebe, der Freund - ſchaft, den Muſen, und den Goͤttinnen der Freude ge - weyhten Privatlebens in ein hoͤheres Licht zu ſezen. Seine Liebe belebte ſich aufs neue. Sie verbreitete wie - der dieſe begeiſterude Waͤrme durch ſein Weſen, welche die Triebfedern des Herzens und der Einbildungs-Kraft ſo harmoniſch zuſammenſpielen macht. Er entwarf ſich die Jdee einer Lebens-Art, welche (Dank ſeiner dichteriſchen Phantaſie!) mehr das Leben eines Gottes, als eines Sterblichen ſchien. Danae glaͤnzte darinn aus einem Himmel von lachenden Bildern der Freude und Gluͤkſeligkeit hervor. Entzuͤkt von dieſen angeneh - men Traͤumen, beſchloß er bey ſich ſelbſt, ſein Schik - ſal auf immer mit dem ihrigen zu vereinigen. Er hieltſie16Agathon. ſie fuͤr wuͤrdig, dieſen Agathon gluͤklich zu machen, welcher zu ſtolz geweſen waͤre, das ſchimmerndſte Gluͤk aus der Hand eines Koͤnigs anzunehmen. Dieſer Ent - ſchluß, welcher bey tauſend andern eine nur ſehr zwey - deutige Probe der Liebe ſeyn wuͤrde, war in der That, nach ſeiner Art zu denken, der Beweis, daß die ſeinige auf den hoͤchſten Grad geſtiegen war.
Jn einem fuͤr die Abſichten der Danae ſo guͤnſtigen Gemuͤths-Zuſtand befand er ſich, als Hippias ihm einen Beſuch machte, um ſich auf eine Freundſchaft - liche Art uͤber die Einſamkeit zu beklagen, worinn er ſeit der Entfernung der ſchoͤnen Danae lebte. Danae ſollte zu frieden ſeyn, ſagte er in ſcherzhaftem Ton, den liebenswuͤrdigen Callias fuͤr ſich allein zu behalten, wenn ſie gegenwaͤrtig ſey; aber ihn auch in ihrer Abweſenheit der Welt zu entziehen, das ſey zuviel, und muͤſſe endlich die Folge haben, die Schoͤnen zu Smyrna in eine all - gemeine Zuſammenverſchwoͤrung gegen ſie zu ziehen. Agathon beantwortete dieſen Scherz in dem nehmlichen Ton; unvermerkt wurde das Geſpraͤch intereſſant, ohne daß der Sophiſt eine beſondere Abſicht dabey zu haben ſchien. Er bemuͤhte ſich ſeinem Freunde zu beweiſen, daß er Unrecht habe, der Geſellſchaft zu entſagen, um ſich mit den Dryaden von ſeiner Liebe zu beſprechen, und die Zephyrs mit Seufzern und Bottſchaften an ſeine Abweſende zu beladen. Er mahlte ihm mit verfuͤhri - ſchen Farben die Vergnuͤgungen vor, deren er ſich be -raube,17Achtes Buch, zweytes Capitel. raube, und vergaß auch das Laͤcherliche nicht, welches er ſich durch eine ſo ſeltſame Laune in den Augen der Schoͤnen gebe. Seiner Meynung nach ſollte ein Callias ſich an einer einzigen Eroberung, ſo glaͤnzend ſie auch immer ſeyn moͤchte, nicht begnuͤgen laſſen; er, dem ſeine Vorzuͤge das Recht geben, ſeinem Ehrgeiz in die - ſer Sphaͤre keine Grenzen zu ſezen, und der nur zu er - ſcheinen brauche um zu ſiegen. Er bewies die Wahr - heit dieſer Schmeicheley mit den beſondern Anſpruͤchen, welche einige von den beruͤhmteſten Schoͤnheiten zu Smyrna auf ihn machten; ſeinem Vorgeben nach, lag es nur an Agathon, ſeine Eitelkeit, ſeine Neubegier und ſeinen Hang zum Vergnuͤgen zu gleicher Zeit zu be - friedigen, und auf eine ſo mannichfaltige Art gluͤklich zu ſeyn, als ſich die verzaͤrteltſte Einbildung nur im - mer wuͤnſchen koͤnne.
Agathon hatte auf alle dieſe ſchoͤne Vorſpieglungen nur Eine Antwort — ſeine Liebe zu Danae. Der Sophiſt fand ſie unzulaͤnglich. Eben dieſe Urſachen, welche ſeine Liebe zu Danae hervorgebracht hatten, ſoll - ten ihn auch fuͤr die Reizungen andrer Schoͤnen empfind - lich machen. Seiner Meynung nach machte die Ab - wechſelung der Gegenſtaͤnde das groͤſſeſte Gluͤk der Liebe aus. Er behauptete dieſen Saz durch eine ſehr leb - hafte Ausfuͤhrung der beſondern Vergnuͤgungen, welche mit der Beſiegung einer jeden beſondern Claſſe der Schoͤ - nen verbunden ſey. Die Unwiſſende und die Erfahrne,[Agath. II. Th.] Bdie18Agathon. die Geiſtreiche und die Bloͤde, die Schoͤne und die Haͤß - liche, die Cokette, die Sproͤde, die Tugendhafte, die Andaͤchtige — kurz jeder beſondere Character beſchaͤf - tige den Geſchmak, die Einbildung, und ſo gar die Sinnen (denn von dem Herzen war bey ihm die Rede nicht) auf eine eigene Weiſe — erfordre einen an - dern Plan, ſeze andre Schwierigkeiten entgegen, und mache auf eine andre Art gluͤklich. Das Ende dieſer ſchoͤnen Ausfuͤhrung war, daß es unbegreiflich ſey, wie man ſo viel Vergnuͤgen in ſeiner Gewalt haben, und es ſich nur darum verſagen koͤnne, um die einfoͤrmigen Freuden einer einzigen, mit romanhafter Treue in gera - der Linie ſich fortſchleppenden Leidenſchaft bis auf die Hefen zu erſchoͤpfen.
Agathon gab zu, daß die Abwechſelung, wozu ihn Hippias aufmuntre, fuͤr einen muͤſſigen Wolluͤſtling ganz angenehm ſeyn moͤge, der aus dieſer Art von Zeit - vertreib das einzige Geſchaͤfte ſeines Lebens mache. Er behauptete aber, daß dieſe Art von Leuten niemalen erfahren haben muͤßte, was die wahre Liebe ſey. Er uͤberließ ſich hierauf der ganzen Schwaͤrmerey ſeines Herzens, um dem Hippias eine Abſchilderung von dem - jenigen zu machen, was er von dem erſten Anblik an bis auf dieſe Stunde fuͤr die ſchoͤne Danae empfunden; er beſchrieb eine ſo wahre, ſo delicate, ſo vollkommene Liebe, breitete ſich mit einer ſo begeiſterten Entzuͤkung uͤber die Vollkommenheiten ſeiner Freundin, uͤber dieSym -19Achtes Buch, zweytes Capitel. Sympathie ihrer Seelen, und die faſt vergoͤtternde Wonne, welche er in ihrer Liebe genieſſe, aus, daß man entweder die Boßheit eines Hippias oder die freund - ſchaftliche Hartherzigkeit eines Mentors haben mußte, um faͤhig zu ſeyn, ihn einem ſo begluͤkenden Jrrthum zu entreiſſen.
Die Reizungen der ſchoͤnen Danae ſind zu bekannt, verſezte der Sophiſt, und ihre Vorzuͤge in dieſem Stuͤke werden ſogar von ihrem eigenen Geſchlecht ſo allgemein eingeſtanden, daß Lais ſelbſt, welche den Ruhm hat, daß die Edelſten der Griechen und die Fuͤrſten auslaͤndi - ſcher Nationen den Preiß ihrer Naͤchte in die Wette ſtei - gern, laͤcherlich ſeyn wuͤrde, wenn ſie ſich einfallen laſ - ſen wollte, mit ihr um den Preiß der Liebenswuͤrdig - keit zu ſtreiten. Aber daß ſie jemals die Ehre haben wuͤrde, eine ſo ehrwuͤrdige, ſo metaphyſiſche, ſo uͤber alles was ſich denken laͤßt erhabene Liebe einzufloͤſ - ſen — daß der Macht ihrer Reizungen noch dieſes Wunder aufbehalten ſey, das einzige welches ihr noch abgieng — das haͤtte ſich in der That niemand traͤu - men laſſen koͤnnen, ohne ſich ſelbſt uͤber einen ſolchen Einfall zu belachen.
Hier gieng unſerm Helden, welcher die boßhafte Ver - gleichung mit der Corinthiſchen Lais ſchon auf die be - fremdlichſte Art aͤrgerlich gefunden hatte, die Geduld gaͤnzlich aus. Er ſezte den Sophiſten mit aller Hize einesB 2in20Agathon. in dem Gegenſtande ſeiner Anbetung beleidigten Liebha - bers wegen des zweydeutigen Tons zu Rede, womit er ſich anmaſſe, von einer Perſon wie Danae zu ſprechen; und ſein Unwille ſowohl als ſeine Verwirrung ſtieg auf den aͤuſſerſten Grad, da ein Satyr-maͤſſiges Gelaͤchter die ganze Antwort des Hippias war.
Es iſt ſo leicht voraus zu ſehen, was fuͤr einen Aus - gang dieſe Scene nehmen mußte, daß wir nach allem was von den Abſichten des Sophiſten bereits geſagt wor - den iſt, den Leſer ſeiner eignen Einbildung uͤberlaſſen koͤnnen. Ungeduldige Fragen auf der einen — Aus - fluͤchte und ſchalkhafte Wendungen auf der andern Seite; bis ſich Hippias auf vieles Zureden endlich das Geheim - niß des wahren Standes der ſchoͤnen Danae, und der - jenigen Anecdoten, welche wir (wiewol aus unſchul - digern Abſichten) unſern Leſern ſchon im dritten Capi - tel des vierten Buches verrathen haben, mit einer Ge - walt, welcher ſeine vorgebliche Freundſchaft fuͤr Agathon nicht widerſtehen konnte, abnoͤthigen ließ.
Wir haben ſchon bemerkt, wie viel es bey Erzaͤh - lung einer Begebenheit auf die Abſicht des Erzaͤhlers an - komme, und wie verſchieden die Wendungen ſeyen, welche ſie durch die Verſchiedenheit derſelben erhaͤlt. Danae erzaͤhlte ihre Geſchichte mit der unſchuldigen Ab - ſicht zu gefallen. Sie ſah natuͤrlicher Weiſe ihre Auf - fuͤhrung, ihre Schwachheiten, ihre Fehltritte ſelbſt ineinem21Achtes Buch, zweytes Capitel. einem mildern, und (laſſet uns die Wahrheit ſagen) in einem wahrern Licht als die Welt; welche auf der einen Seite von allen den kleinen Umſtaͤnden, die uns rechtfertigen oder wenigſtens unſre Schuld vermindern koͤnnten, nicht unterrichtet, und auf der andern Seite boßhaft genug iſt, um ihres groͤſſern Vergnuͤgens wil - len das Gemaͤhlde unſrer Thorheiten mit tauſend Zuͤgen zu uͤberladen, um welche es zwar weniger wahr aber deſto comiſcher wird. Ungluͤklicher Weiſe fuͤr ſie erfor - derte die Abſicht des Hippias, daß er dieſe ſchalkhafte Kunſt, eine Begebenheit ins Haͤßliche zu mahlen, ſo weit treiben mußte, als es die Geſeze der Wahrſcheinlichkeit nur immer erlauben konnten.
Unſer Held glich waͤhrend dieſer Entdekungen mehr einer Bild-Saͤule oder einem Todten als ſich ſelbſt. Kalte Schauer und fliegende Glut fuhren wechſelsweiſe durch ſeine Adern. Seine von den widerwaͤrtigſten Lei - denſchaften auf einmal beſtuͤrmte Bruſt athmete ſo lang - ſam, daß er in Ohnmacht gefallen waͤre, wenn nicht Eine davon ploͤzlich die Oberhand behalten, und durch den heftigſten Ausbruch dem gepreßten Herzen Luft ge - macht haͤtte. Das Licht, worinn ihm Hippias ſeine Goͤt - tin zeigte, machte mit demjenigen, worinn er ſie zu ſehen gewohnt war, einen ſo beleidigenden Contraſt; der Gedanke, ſich ſo ſehr betrogen zu haben, war ſo un - ertraͤglich, daß es ihm unmoͤglich fallen mußte, dem Sophiſten Glauben beyzumeſſen. Der ganze Sturm,B 3der22Agathon. der ſeine Seele ſchwellte, brach alſo uͤber den Verraͤther aus. Er nannte ihn einen falſchen Freuud, einen Ver - laͤumder, einen Nichtswuͤrdigen — rief alle raͤchende Gottheiten gegen ihn auf — ſchwur, wofern er die Beſchuldigungen, womit er die Tugend der ſchoͤnen Danae zu beſchmizen ſich erfrechete, nicht bis zur un - betruͤglichſten Evidenz erweiſen werde, ihn als ein das Sonnenlicht beflekendes Ungeheuer zu vertilgen, und ſeinen verfluchten Rumpf unbegraben den Voͤgeln des Himmels preiß zu geben.
Der Sophiſt ſah dieſem Sturm mit der Gelaſſenheit eines Menſchen zu, der die Natur der Leidenſchaften kennt; ſo ruhig, wie einer der vom ſichern Ufer dem wilden Aufruhr der Wellen zuſieht, dem er gluͤklich ent - gangen iſt. Ein mitleidiger Blik, dem ein ſchalkhaftes Laͤcheln ſeinen zweydeutigen Werth vollends benahm, war alles, was er dem Zorn des aufgebrachten Lieb - habers entgegenſezte. Agathon ſtuzte daruͤber. Ein ſchreklicher Zweifel warf ihn auf einmal auf die entge - gengeſezte Seite. Rede, Grauſamer, rief er aus, rede! Beweiſe deine haſſenswuͤrdigen Anklagen ſo klar als Sonnenſchein; oder bekenne, daß du ein verraͤthriſcher Elender biſt, und vergeh vor Schaam! — Biſt du bey Sinnen, Callias, antwortete der Sophiſt mit dieſer verruchten Gelaſſenheit, welche in ſolchen Um - ſtaͤnden der triumphierenden Boßheit eigen iſt — komm erſt zu dir ſelbſt; ſobald du faͤhig ſeyn wirſt, Vernunft anzuhoͤren, will ich reden.
Agathon23Achtes Buch, zweytes Capitel.Agathon ſchwieg; denn was kan derjenige ſagen, der nicht weiß was er denken ſoll?
Wahrhaftig, fuhr der Sophiſt fort, ich begreiffe nicht, was fuͤr eine Urſache du zu haben glaubſt, den raſenden Ajax mit mir zu ſpielen. Wer redet von Beſchuldigun - gen? Wer klagt die ſchoͤne Danae an? Jſt ſie vielleicht weniger liebenswuͤrdig, weil du weder der erſte biſt der ſie geſehen, noch der erſte, der ſie empfindlich ge - funden hat? Was fuͤr Launen das ſind! Glaube mir, jeder andrer als du haͤtte nichts weiter noͤthig gehabt als ſie zu ſehen, um meine Nachrichten glaubwuͤrdig zu finden; Jhr bloſſer Anblik iſt ein Beweis. Aber du forderſt einen ſtaͤrkern; du ſollſt ihn haben, Callias. Was ſagteſt du, wenn ich ſelbſt einer von denen gewe - ſen waͤre, welche ſich ruͤhmen koͤnnen, die ſchoͤne Danae empfindlich geſehen zu haben? — Du? rief Aga - thon mit einem unglaubigen Erſtaunen, welches eben nicht ſchmeichelhaft fuͤr die Eitelkeit des Sophiſten war. Ja, Callias; ich; erwiederte jener; ich, wie du mich hier ſieheſt, zehn oder zwoͤlf Jahre abgerechnet, um welche ich damals geſchikter ſeyn mochte, den Beyfall einer ſchoͤnen Dame zu erhalten. Du glanbeſt vielleicht ich ſcherze; aber ich bin uͤberzeugt, daß deine Goͤttin ſelbſt zu edel denkt, um dir wenn du ſie mit guter Art fragen wirſt, eine Wahrheit verhalten zu wollen, von welcher ganz Smyrna zeugen koͤnnte.
B 4Hier24Agathon.Hier fuhr der barbariſche Menſch fort, ohne das ge - ringſte Mitleiden mit dem Zuſtande, worein er den armen Agathon durch ſeine Pralereyen ſezte, die Gluͤk - ſeligkeiten, welche er in den Armen der ſchoͤnen Da - nae (der Himmel weiß mit welchem Grunde) genoſſen zu haben vorgab, von Stuͤk zu Stuͤk mit einem Ton von Wahrheit, und mit einer Munterkeit zu beſchreiben, welche ſeinen Zuhoͤrer beynahe zur Verzweiflung brachte. Es iſt vorbey, ſiel er endlich dem Sophiſten mit einer ſo heftigen Bewegung in die Rede, daß er in dieſem Angenblik mehr als ein Menſch zu ſeyn ſchien — Es iſt vorbey! O Tugend, du biſt gerochen! — Hip - pias, du haſt mich unter der laͤchelnden Maske der Freund - ſchaft mit einem giftigen Dolch durchboret — aber ich danke dir — deine Boßheit leiſtet mir einen wichtigern Dienſt als alles was deine Freundſchaft fuͤr mich haͤtte thun koͤnnen. Sie eroͤfnet mir die Au - gen — zeigt mir auf einmal in den Gegenſtaͤnden meiner Hochachtung und meines Zutrauens, in dem Ab - gott meines Herzens und in meinem vermeynten Freunde, die zwey veraͤchtlichſten Gegenſtaͤnde, womit jemals meine Augen ſich beſudelt haben. Goͤtter! die Buhlerin eines Hippias! Kan etwas unter dieſem unterſten Grade der Entehrung ſeyn? Mit dieſer Apoſtrophe warf er den verachtungs volleſten Blik, der jemals aus einem Menſch - lichen Auge geblizt hat, auf den betroffenen Sophiſten, und begab ſich hinweg.
Die menſchliche Seele iſt vielleicht keines heftigern Schmerzens faͤhig, als derjenige iſt, wenn wir uns ge - noͤthiget ſehen, den Gegenſtand unſrer zaͤrtlichſten Ge - ſinnungen zu verachten. Alles was man davon ſagen kan iſt zu ſchwach, die Pein auszudruͤken, die durch eine ſo gewaltſame Zerreiſſung in einem gefuͤhlvollen Her - zen verurſacht wird. Wir wollen alſo lieber geſtehen, daß wir uns unvermoͤgend finden, den Tumult der Lei - denſchaften, welche in den erſten Stunden nach einer ſo grauſamen Unterredung in dem Gemuͤthe Agathons wuͤteten, abzuſchildern, als durch eine froſtige Beſchrei - bung zu gleicher Zeit unſre Vermeſſenheit und unſer Un - vermoͤgen zu verrathen.
Das erſte was er that, ſobald er ſeiner ſelbſt wie - der maͤchtiger wurde, war, daß er alle ſeine Kraͤfte an - ſtrengte, ſich zu uͤberreden, daß ihn Hippias betrogen habe. War es zuviel, das Schlimmſte von einem ſo un - geheuern Boͤſewicht zu denken, als dieſer Sophiſt nun - mehr in ſeinen Augen war? Was fuͤr eine Guͤltigkeit konnte ein ſolcher Zeuge gegen eine Danae haben? — Oder vielmehr, was fuͤr einen maͤchtigen Apologiſten hat - teſt du, ſchoͤne Danae, in dem Herzen deines Agathon! Was haͤtte Hyperides ſelbſt, ob er gleich beredt genugB 5war,26Agathon. war, die Athenienſer von der Unſchuld einer Phryne zu uͤberzeugen, ſtaͤrkers und ſcheinbarers zu deiner Ver - theidigung ſagen koͤnnen, als was er ſich ſelbſt ſagte? — Vermuthlich wuͤrde die Vernunft allein von die - ſer ſophiſtiſchen Beredſamkeit der Liebe uͤberwaͤltiget worden ſeyn: Aber die Eyferſucht, welche ihr zu Huͤlfe kam, gab den Ausſchlag. Unter allen Leidenſchaften iſt keine, welcher die Verwandlung des Moͤglichen ins Wuͤrkliche weniger koſtet als dieſe. Jn dem zweifelhaf - ten Lichte, welches ſie uͤber ſeine Seele ausbreitete, wurde Vermuthung zu Wahrſcheinlichkeit und Wahrſcheinlich - keit zu Gewißheit; nicht anders als wenn er mit der ſpizfuͤn - digen Delicateſſe eines Julius Caͤſars die ſchoͤne Danae ſchon darum ſchuldig gefunden haͤtte, weil ſie bezuͤchtiget wurde. Er verglich ihre eigene Erzaͤhlung mit des Hip - pias ſeiner, und glaubte nun, da das Mißtrauen ſich ſeines Geiſtes einmal bemaͤchtiget hatte, hundert Spuren in der erſten wahrzunehmen, welche die Wahrheit der leztern bekraͤftigten. Hier hatte ſie einem Umſtand eine gekuͤnſtelte Wendung geben muͤſſen; dort war ſie, (wie er ſich zu erinnern glaubte) verlegen geweſen, was ſie aus einem andern machen ſollte, der ihr unverſehens entſchluͤpft war.
Mit einem eben ſo ſchielenden Auge durchgieng er ihr ganzes Betragen gegen ihn. Wie dentlich glaubte er izt zu ſehen, daß ſie von dem erſten Augenblik an Ab - ſichten auf ihn gehabt habe! Tauſend kleine Umſtaͤnde,welche27Achtes Buch, drittes Capitel. welche ihm damals ganz gleichguͤltig geweſen waren, ſchienen ihm izt eine geheime Bedeutung gehabt zu haben. Er beſann ſich, er verglich und combinierte ſo lange, bis es ihm ganz glaublich vorkam, daß alles was bey dem er - ſten Beſuche den er ihr mit Hippias gemacht, bis zu ſeinem Uebergang in ihre Dienſte vorgegangen, die Folgen eines zwiſchen ihr und dem Sophiſten abgeredeten Plans ge - weſen ſeyen. Wie ſehr vergiftete dieſer Gedanke alles was ſie fuͤr ihn gethan hatte! wie gaͤnzlich benahm er ihren Handlungen dieſe Schoͤnheit und Grazie, die ihn ſo ſehr bezaubert hatte! Er ſah nun in dieſem vermeyn - ten Urbild einer jeden idealen Vollkommenheit nichts mehr als eine ſchlaue Buhlerin, welche von einer groſſen Fer - tigkeit in der Kunſt die Herzen zu beſtriken den Vortheil uͤber ſeine Unſchuld erhalten hatte! Wie veraͤchtlich kamen ihm izt dieſe Gunſtbezeugungen vor, welche ihm ſo koſt - bar geweſen waren, ſo lang er ſie fuͤr Ergieſſungen eines fuͤr ihn allein empfindlichen Herzens angeſehen hatte! Wie veraͤchtlich dieſe Freuden, die ihn in jenem gluͤk - lichen Stande der Bezauberung den Goͤttern gleich ge - macht! Wie zuͤrnte er izt uͤber ſich ſelbſt, daß er thoͤricht genug hatte ſeyn koͤnnen, in ein ſo ſichtbares, ſo hand - greifliches Nez ſich verwikeln zu laſſen!
Das Bild der liebenswuͤrdigen Pſyche konnte ſich ihm zu keiner ungelegnern Zeit fuͤr Danae darſtellen als izt. Aber es war natuͤrlich, daß es ſich darſtellte; und wie blendend war das Licht, worinn ſie ihm izt erſchien! Wie28Agathon. Wie wurde ſie durch die verdunkelte Vorzuͤge ihrer un - gluͤklichen Nebenbuhlerin herausgehoben! Himmel! wie war es moͤglich, daß die Beyſchlaͤferin eines Alcibiades, eines Hippias — eines jeden andern, der ihr ge - fiel, faͤhig ſeyn konnte, dieſe liebenswuͤrdige Unſchuld auszuloͤſchen, deren keuſche Umarmungen, anſtatt ſeine Tugend in Gefahr zu ſezen, ihr neues Leben, neue Staͤrke gegeben hatten? — Er trieb die Ver - gleichung ſo weit ſie gehen konnte. Beyde hatten ihn geliebt; aber, welch ein Unterſchied in der Art zu lie - ben! welch ein Unterſchied zwiſchen jener Nacht — an die er ſich izt mit Abſcheu erinnerte — wo Danae, nachdem ſie alle ihre Reizungen, alles was die ſchlaueſte Verfuͤhrungs-Kunſt erfinden kan; zugleich mit dem magiſchen Kraͤften der Muſik aufgebotten, ſeine Sinnen zu berauſchen und ſein ganzes Weſen in wol - luͤſtige Begierden aufzuloͤſen, ſich ſelbſt mit zuvorkom - mender Guͤte in ſeine Arme geworfen hatte — und den elyſiſchen Naͤchten, die ihm an Pſychens Seite in der reinen Wonne entkoͤrperter Geiſter, wie ein einziger himmliſcher Augenblik, voruͤbergefloſſen waren! — Arme Danae! So gar die Reizungen ihrer Figur ver - lohren bey dieſer Vergleichung einen Vorzug, den ihnen nur das partheylichſte Vorurtheil abſprechen konnte. Dieſe Geſtalt der Liebes-Goͤttin, bey deren Anſchauen ſeine entzuͤkte Seele in Wolluſt zerfloſſen war, ſank izt, mit der jungfraͤulichen Geſchmeidigkeit der jungen Pſyche verglichen, in ſeiner gramſuͤchtigen Einbildungzu29Achtes Buch, drittes Capitel. zu der uͤppigen Schoͤnheit einer Bacchantin herab — der Wuth eines Wein-trieffenden Satyrs wuͤrdiger als der zaͤrtlichen Entzuͤkungen, welcher er ſich izt ſchaͤmte; in einer unverzeyhlichen Bethoͤrung ſeiner Seele, an ſie ver - ſchwendet zu haben.
Ohne Zweifel werden unſre tugendhafte Leſerinnen, welche den Fall unſers Helden nicht ohne gerechten Un - willen gegen die feine Buhler-Kuͤnſte der ſchoͤnen Danae betraurt haben, von Herzen erfreut ſeyn, die Ehre der Tugend, und gewiſſer maſſen das Jntereſſe ihres ganzen Geſchlechts an dieſer Verfuͤhrerin gerochen zu ſehen. Wir nehmen ſelbſt vielen Antheil an dieſer ihrer Freude; aber wir koͤnnen uns doch, mit ihrer Erlaubniß nicht entbrechen zu ſagen, daß Agathon in der Vergleichung zwiſchen Danae und Pſyche eine Strenge bewies, welche wir nicht allerdings billigen koͤnnen, ſo gerne wir ihn auch von einer Leidenſchaft zuruͤkkommen ſehen, deren laͤngere Dauer uns in die Unmoͤglichkeit geſezt haͤtte, dieſen zweyten Theil ſeiner Geſchichte zu liefern.
Danae mag wegen ihrer Schwachheit gegen unſern Helden ſo tadelnswuͤrdig ſeyn, als man will, ſo war es doch offenbar unbillig, ſie zu verurtheilen, weil ſie keine Pſyche war; oder, um beſtimmter zu reden, weil ſie in aͤhnlichen Umſtaͤnden ſich nicht vollkommen ſo wie Pſyche betragen hatte. Wenn Pſyche unſchnldiger ge - weſen war, ſo war es weniger ein Verdienſt, als einphyſi -30Agathon. phyſicaliſcher Vorzug, eine natuͤrliche Folge ihrer Jugend und ihrer Umſtaͤnde: Danae war es vermuthlich auch, da ſie, unter der Aufſicht ihres edeln Bruders, mit aller Naivitaͤt eines Landmaͤdchens vor vierzehen Jahren bey den Gaſtmaͤlern zu Athen, nach der Floͤte tanzte, oder den Alcamenen, fuͤr die Gebuͤhr, das Model zu dem halbaufgebluͤhten Buſen einer Hebe vorhielt. War es ihre Schuld, daß ſie nicht zu Delphi erzogen worden? Oder, daß ſich die erſten Empfindungen ihres jugend - lichen Herzens fuͤr einen Alcibiades, und nicht fuͤr einen Agathon entfalteten? — Pſyche liebte unſchuldiger; wir geben’s zu; aber die Liebe bleibt doch in ihren Wuͤr - kungen allezeit ſich ſelbſt aͤhnlich. Sie erweitert ihre Foderungen ſo lange bis ſie im Beſiz aller ihrer Rechte iſt; und die treuherzige Unerfahrenheit iſt am wenigſten im Stande, ihr dieſe Forderungen ſtreitig zu machen. Es war gluͤklich fuͤr die Unſchuld der zaͤrtlichen Pſyche, daß ihre naͤchtliche Zuſammenkuͤnfte unterbrochen wur - den, eh dieſe auf eine ſo geiſtige Art ſinnliche Schwaͤr - merey, worinn ſie beyde ſo ſchoͤne Progreſſen zu ma - chen angefangen hatten, ihren hoͤchſten Grad erreichte. Vielleicht noch wenige Tage, oder auch ſpaͤter, wenn ihr wollt; aber deſto gewiſſer wuͤrden die guten Kinder, von einer unſchuldigen Ergieſſung des Herzens zur andern, von einem immer noch zu ſchwachen Ausdruk ihrer un - ausſprechlichen Empfindungen zum andern, ſich endlich, zu ihrer eignen groſſen Verwunderung, da gefun - den haben, wo die Natur ſie erwartet haͤtte; und wowuͤrde31Achtes Buch, drittes Capitel. wuͤrde da der weſentlichſte Vorzug der Unſchuld geblie - ben ſeyn? — Ein andrer Umſtand, worinn Pſyche gluͤklicher Weiſe den Vortheil uͤber Danae hatte, war dieſer, daß ihr Liebhaber eben ſo unſchuldig war als ſie ſelbſt, und bey aller ſeiner Zaͤrtlichkeit nur nicht den Schatten eines Gedankens hatte, ihrer Tugend nach - zuſtellen. Wiſſen wir, wie ſie ſich verhalten haͤtte, wenn ſie auf die Probe geſtellt worden waͤre? Sie wuͤrde wi - derſtanden haben; daran iſt kein Zweifel; aber, ſezet hinzu; ſo lang es ihr moͤglich geweſen waͤre. Denn daß ſie ſtark genug geweſen waͤre ihn zu fliehen, ihn gar nicht mehr zu ſehen, das iſt nicht zu vermuthen. Sie wuͤrde alſo endlich doch von den ſuͤſſen Verfuͤhrungen der Liebe uͤberſchlichen worden ſeyn, ſo weit ſie auch den Augen - blik ihrer Niderlage haͤtte zuruͤkſtellen moͤgen. Man koͤnnte ſagen: Geſezt auch, ſie wuͤrde die Probe nicht ausgehalten haben, ſo haͤtte ſie doch widerſtanden; Da - nae hingegen habe ihren Fall nicht nur vorausgeſehen, und beſchleunigt, ſondern er ſey ſogar das Werk ihrer eignen Maßnehmungen geweſen; und wenn ſie ihn auf - gezogen habe, ſo ſey es allein des Vortheils ihrer Liebe und ihres Vergnuͤgens wegen, nicht aus Tugend, ge - ſchehen. Alles das iſt nicht zu laͤugnen; allein voraus - geſezt, daß ſie ſich endlich doch ergeben haben wuͤrde, (welches auf eine oder die andere Art doch allemal der ſtillſchweigende Vorſaz einer jeden iſt, die ſich in eine Liebes-Angelegenheit waget) wozu wuͤrde ein langwieri - ger eigenſinniger Widerſtand gedient haben, als ſichſelbſt32Agathon. ſelbſt und ihrem Liebhaber unnoͤthige Quaalen zu verur - ſachen? Genung, daß der ſtrengeſte Wohlſtand der heuti - gen Welt nicht halb ſoviel Zeit fodert, als ſie anwandte, dem Agathon ſeinen Sieg zu erſchwehren. Und glau - ben wir etwan, daß ſie ſich keine Gewalt habe anthun muͤſſen, einen ſo vollkommenen Liebhaber, einen Liebha - ber deſſen auſſerordentlicher Werth die Heftigkeit ihrer Neigung ſo gut rechtfertigte, ſo lange ſchmachten zu laſ - ſen? oder daß die Selbſtverlaͤugnung, welche dazu er - fordert wurde, eine Perſon, deren Einbildungs-Kraft mit den lebhafteſten Vergnuͤgungen der Liebe ſchon ſo be - kannt war, nicht zum wenigſten eben ſoviel gekoſtet habe, als einer noch unerfahrenen Perſon der ernſtlichſte Wi - derſtand koſten kan?
Wir ſagen dieſes alles nicht, um die ſchoͤne Danae zu rechtfertigen; ſondern nur zu zeigen, daß Agathon in der Hize des Affects zu ſtrenge uͤber ſie geurtheilt habe. Es war unbillig, ihr eine Guͤtigkeit zum Verbrechen zu machen, welche ihn ſo gluͤklich gemacht hatte, als er elend geweſen ſeyn wuͤrde, wenn ſie ſchlechterdings dar - auf beharret waͤre, die heftige Leidenſchaft, von der er verzehrt wurde, bloß allein durch die ruhigen Ge - ſinnungen der Freundſchaft erwiedern zu wollen. Allein das Vorurtheil, von welchem er nun eingenommen war, machte ihn unfaͤhig ihr Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen. Der Gedanke, daß ſie einen Hippias eben ſo beguͤnſtiget habe als ihn, machte ihm alles verdaͤchtig,was33Achtes Buch, drittes Capitel. was ihn haͤtte uͤberzeugen koͤnnen, daß, wenn ihm gleich andere in dem Genuß ihrer Gunſtbezeugungen zuvor - gekommen, er doch der erſte geweſen ſey, der ihr Herz wahrhaftig geruͤhrt habe. Kurz, er ſah nun nichts in ihr als eine Buhlerin, welche in dem Geſichtspunct, worinn ſie ihm izt erſchien, vor den uͤbrigen ihrer Claſſe keinen andern Vorzug hatte, als das ſie gefaͤhrlicher war.
Jndeſſen konnte ſein Unwille gegen ſie nicht ſo heftig ſeyn als er war, ohne ſich gegen ſich ſelbſt zu kehren. Die Vorſtellung, daß er die Stelle eines Hippias, eines Hyacinths, bey ihr vertreten habe, machte ihn in ſeinen eigenen Augen zum veraͤchtlichſten Sclaven; er ſchaͤmte ſich vor ſeinem ehmaligen beſſern Selbſt, wenn er an die Rechenſchaft dachte, welche er ſich von ſeinem Auffenthalt zu Smyrna ſchuldig ſey. Wuͤrde er ſo gar, wenn Danae wuͤrklich diejenige geweſen waͤre, wofuͤr er ſie in der Trunkenheit der Leidenſchaft gehal - ten hatte, vor dem Gerichtſtuhl der Tugend haben be - ſtehen koͤnnen? Was wollte er dann nun antworten, da er ſich ſelbſt anklagen mußte, eine ſo lange Zeit ohne irgend eine lobenswuͤrdige That, verlohren fuͤr ſeinen Geiſt, verlohren fuͤr die Tugend, verlohren fuͤr ſein eigenes und das allgemeine Beſte, in unthaͤtigem Muͤſ - ſiggang, und, was noch ſchlimmer war, in der veraͤcht - lichen Beſtrebung den wolluͤſtigen Geſchmak einer Danae zu beluſtigen, ihre Begierden, ihre von dem Reſt des uͤppigen Feuers ihrer Jugend noch erhizte Einbildung[Agath. II. Th.] Czu34Agathon. zu befriedigen, unruhmlich verſchwendet zu haben? Er trieb die Vorwuͤrffe, welche er bey dieſen gelbſuͤchtigen Vorſtellungen ſich ſelbſt machte, ſo weit als ſie der Affect einer allzufeurigen, aber mit angebohrner Liebe zur Tugend durchdrungenen Seele treiben kan. Die Schmer - zen wovon ſein Gemuͤth dadurch zerriſſen wurde, waren ſo heftig, daß er die ganze Nacht, welche auf dieſen traurigen Tag folgte, in einer fiebriſchen Hize zubrachte, welche, mit dem Zuſtande, worinn ſich ſeine Seele be - fand, zuſammengenommen, ein ſehr fuͤgliches Bild derjenigen Pein haͤtte abgeben koͤnnen, worinn, nach dem allgemeinen Glauben aller Voͤlker, die Laſterhaf - ten in einem andern Leben die Verbrechen des gegen - waͤrtigen buͤſſen.
Wir haben ſchon einmal angemerkt, daß das Miß - vergnuͤgen uͤber uns ſelbſt ein allzuſchmerzhafter Zuſtand ſey, als daß ihn unſre Seele lange ausdauern koͤnnte. Es iſt natuͤrlich, daß die Selbſtliebe allen ihren Kraͤf - ten aufbeut, um ſich Linderung zu verſchaffen; und wenn wir betrachten, wie wenig Gutes ein anhalten - des Gefuͤhl von Schaam und Verachtung ſeiner ſelbſt wuͤrken kan, und wie nachtheilig im Gegentheil Gram und Nidergeſchlagenheit, ihre natuͤrliche Folgen, der wiederkehrenden Tugend ſeyn muͤſſen: ſo haben wir viel - leicht Urſache, die Geſchaͤftigkeit der Eigenliebe, uns bey uns ſelbſt zu entſchuldigen, fuͤr eine von den noͤthig - ſten Springfedern unſrer Seele, in dieſem Stande desJrthums35Achtes Buch, drittes Capitel. Jrthums und der Leidenſchaften, worinn ſie ſich be - findet, anzuſehen. Die Reue iſt zu nichts gut, als uns einen tiefen Eindruk von der Haͤßlichkeit eines thoͤrichten oder unſittlichen Verhaltens, deſſen wir uns ſchuldig fuͤhlen, zu geben. Sobald ſie dieſe Wuͤrkung gethan hat, ſol ſie aufhoͤren; ihre Dauer wuͤrde uns nur die Kraͤfte benehmen, uns in einen beſſern Zuſtand empor - zuarbeiten, und dadurch eben ſo ſchaͤdlich werden als eine allzugroſſe Furcht, die zu nichts dient, als uns dem Uebel deſto gewiſſer auszuliefern, welchem wir behutſam entfliehen oder muthig widerſtehen ſollten.
Agathon hatte deſto mehr Urſache, dieſen wohlthaͤti - gen Eingebungen der Eigenliebe Gehoͤr zu geben, da ihm ſeine allezeit zu warme Einbildungs-Kraft ſeine Vergehungen und den Gegenſtand derſelbigen wuͤrklich in einem weit haͤßlichern Lichte gezeigt hatte, als die gelaſſene und unparteyiſche Vernunft gethan haben wuͤrde. Die ſeltſamen Abwechſelung dieſer launiſchen Zauberin, und wie wenig ihr der ploͤzliche Uebergang von dem aͤuſſerſten Grad eines Affects zum entgegen ge - ſezten koſtet, wird vermuthlich einem guten Theil unſrer Leſer aus eigner Erfahrung ſo wol bekannt ſeyn, daß ſie ſich nicht verwundern werden, zu vernehmen, daß die Begierde ſich ſelbſt in ſeinen eignen Augen zu recht - fertigen, oder doch wenigſtens ſoviel moͤglich zu entſchul - digen, unſern Helden unvermerkt dahin gebracht habe, auch der ſchoͤnen Danae einen Theil der GerechtigkeitC 2wieder36Agathon. wieder angedeyhen zu laſſen, der ihr von den ſtrengeſten Verehrern der Tugend nicht verſagt werden kan. Es war ſchwer, ſehr ſchwer, wuͤrde ein Socrates geſagt haben, den Reizungen eines ſo ſchoͤnen Gegenſtandes, den Verfuͤhrungen ſo vieler vereinigter Zauberkraͤfte zu widerſtehen; die Flucht war das einzige ſichere Net - tungs-Mittel; es war freylich faſt eben ſo ſchwer; aber das Vermoͤgen dazu war wenigſtens anfangs in eurer Gewalt; und es war unvorſichtig an euch, nicht zu denken, daß eine Zeit kommen wuͤrde, da ihr keine Kraͤfte mehr zum fliehen haben wuͤrdet. So ungefehr moͤchte derjenige geſagt haben, der den Critobulus, weil er den ſchoͤnen Knaben des Alcibiades gekuͤßt hatte, einen Wagehals nannte; und dem jungen Xenophon rieth, vor einem ſchoͤnen Geſichte ſo behende wie vor einem Baſilisken davon zu lauffen. Allein ſo beſcheiden und ſo wahr klang die Sprache der Eigenliebe nicht. Es war unmoͤglich, ſagte ſie unſerm Helden, ſo maͤch - tigen Reizungen zu widerſtehen; es war unmoͤglich zu entfliehen. Sie nahm die ganze Lebhaftigkeit ſeiner Ein - bildungs-Kraft zu huͤlfe, ihm die Wahrheit dieſer troͤſt - lichen Verſicherungen zu beweiſen; und wenn ſie es nicht ſo weit brachte, ein gewiſſes innerliches Gefuͤhl, welches ihr widerſprach, und welches vielleicht das gewiſſeſte Merkmal der Freyheit unſers Willens iſt, gaͤnzlich zu be - taͤuben, ſo gelang es ihr doch unvermerkt, den Gram aus ſeinem Gemuͤthe zu verbannen, und dieſes ſanfte Licht wieder darinn auszubreiten, worinn wir ordentlicherWeiſe37Achtes Buch, drittes Capitel. Weiſe alles, was zu uns ſelbſt gehoͤrt, zu ſehen ge - wohnt ſind.
Allein Danae gewann wenig bey dieſer ruhigern Ver - faſſung ſeines Herzens. Jhre Vollkommenheiten recht - fertigten zwar die hohe Meynung die er von ihrem Character gefaſſet hatte, und beydes, die Groͤſſe ſeiner Leidenſchaft; er vergab ſich ſelbſt, ſie ſo ſehr geliebet zu haben, ſo lang er Urſache gehabt hatte, die Schoͤnheit ihrer Seele fuͤr eben ſo ungemein zu halten als es die Reizungen ihrer Perſon waren: Aber ſie verlohr mit dem Recht an ſeine Hochachtung alle Gewalt uͤber ſein Herz. Der Entſchluß ſie zu verlaſſen war die natuͤrliche Folge davon, und dieſer koſtete ihn, da er ihn faßte, nur nicht einen Seufzer; ſo tief war die Verachtung, wovon er ſich gegen ſie durchdrungen fuͤhlte. Die Erin - nerung deſſen was er geweſen war, das Gefuͤhl deſſen was er wieder ſeyn koͤnne, ſobald er wolle, machte ihm den Gedanken unertraͤglich, nur einen Augenblik laͤnger der Sclave einer andern Circe zu ſeyn, die durch eine ſchaͤndlichere Verwandlung als irgend eine von denen welche die Gefaͤhrten des Ulyſſes erdulden mußten, den Helden der Tugend in einen muͤſſigen Wolluͤſtling ver - wandelt hatte.
Bey ſo bewandten Umſtaͤnden war es nicht rathſam, ihre Wiederkunft zu erwarten, welche, nach ihrem Be - richt, laͤngſtens in dreyen Tagen erfolgen ſollte. Denn ſieC 3hatte38Agathon. hatte keinen Tag vorbeygehen laſſen, ohne ihm zu ſchrei - ben; und die Nothwendigkeit, ihr eben ſo regelmaͤſſig zu antworten, ſezte ihn, nach der groſſen Revolution die in ſeinem Herzen vorgegangen war, in eine deſto groͤſ - ſere Verlegenheit, da er zu aufrichtig und zu lebhaft war, Empfindungen vorzugeben, die ſein Herz verlaͤug - nete. Seine Briefchen wurden dadurch ſo kurz, und verriethen ſo vielen Zwang, daß Danae auf einen Ge - danken kam, der zwar nicht ſehr wahrſcheinlich, aber doch der natuͤrlichſte war, der ihr einfallen konnte. Sie vermuthete, ihre Abweſenheit koͤnnte eine von den Schoͤ - nen zu Smyrna verwegen genug gemacht haben, ihr einen ſo beneidenswuͤrdigen Liebhaber entfuͤhren zu wol - len. Wenn ihr Stolz zu einem ſo vermeſſenen Vorha - ben laͤchelte; ſo liebte ſie doch zu zaͤrtlich, um ſo ruhig dabey zu ſeyn, als man aus der muntern Art, womit ſie uͤber ſeine Erkaͤltung ſcherzte, haͤtte ſchlieſſen ſollen. Jndeſſen behielt doch das Bewuſtſeyn ihrer Vorzuͤge die Oberhand, und ließ ihr keinen Zweifel, daß es nur ihre Gegenwart brauche, um alle Eindruͤke, welche eine Nebenbulerin auf der Oberflaͤche ſeines Herzens gemacht haben koͤnnen, wieder auszuloͤſchen. Und wenn ſie deſſen auch weniger gewiß geweſen waͤre, ſo war ſie doch zu klug, ihn merken zu laſſen, daß ſie ein Mißtrauen in ſein Herz ſeze, oder faͤhig ſeyn koͤnnte, ſich ihm je - mals durch eine grillenhafte Eiferſucht beſchwehrlich zu machen. Bey allem dem beſchleunigte dieſer Umſtand ihre Zuruͤkkunft; und der Gedanke, daß es ihr viel -leicht39Achtes Buch, drittes Capitel. leicht einfallen koͤnnte, ihn durch eine fruͤhere Ankunft, als ſie in ihrem lezten Briefe verſprochen hatte, uͤber - raſchen zu wollen, (ein Gedanke, den wir ſehr geneigt ſind der Eingebung des Schuzgeiſtes ſeiner Tugend zu zu - ſchreiben, ſo prophetiſch war er) ſtellte ihm die Noth - wendigkeit der ſchleunigſten Flucht ſo dringend vor, daß er ſich, ſobald er den Boten der Danae abgefertiget hatte, nach dem Hafen begab, ſich um ein Schiff um zu ſehen, welches ihn noch in dieſer Nacht von Smyrna entfernen moͤchte.
Unſere Leſer werden, wenn ſie dieſe Geſchichte mit et - was weniger Fluͤchtigkeit als einen Franzoͤſiſchen Roman du jour zu leſen wuͤrdigen, bemerkt haben, daß die Wiederherſtellung unſers Helden aus einem Zuſtande, in welchem er dieſen Nahmen allerdings nicht verdient hat, eigentlich weder ſeiner Vernunft noch ſeiner Liebe zur Tugend zu zuſchreiben ſey; ſo angenehm es uns auch geweſen waͤre, der einen oder der andern die Ehre einer ſo ſchoͤnen Cur allein zu zuwenden. Mit aller der auf - richtigen Hochachtung, welche wir fuͤr beyde hegen, muͤſſen wir geſtehen, daß wenn es auf ſie allein ange - kommen waͤre, Agathon noch lange in den Feſſeln derC 4ſchoͤnen40Agathon. ſchoͤnen Danae haͤtte liegen koͤnnen; ja wir haben Ur - ſache zu glauben, daß die erſte gefaͤllig genug geweſen waͤre, durch tauſend ſchoͤne Vorſpiegelungen und Schluͤſſe die andre nach und nach gaͤnzlich einzuſchlaͤfern, oder vielleicht gar zu einem guͤtlichen Vergleich mit der Wol - luſt, ihrer natuͤrlichen und gefaͤhrlichſten Feindin, zu be - wegen. Wir laͤugnen hiemit nicht, daß ſie daß ihrige zur Befreyung unſers Freundes beygetragen; indeſſen iſt doch gewiß, daß Eiferſucht und beleidigte Eigen - liebe das meiſte gethan haben, und daß alſo, ohne die wohlthaͤtigen Einfluͤſſe zwoer ſo verſchreyter Leidenſchaf - ten, der ehmals ſo weiſe, ſo tugendhafte Agathon eiu glorreich angefangenes Leben, allem Anſcheinen nach, zu Smyrna unter den Roſen der Venus unruͤhmlich hinweggeſcherzet haben wuͤrde.
Wir wollen durch dieſe Bemerkung dem groſſen Hauf - fen der Moraliſten eben nicht zugemuthet haben, ge - wiſſe Vorurtheile fahren zu laſſen, welche ſie von ihrem Vorgaͤngern, und dieſe, wenn wir um einige Jahr - hunderte bis zur Quelle hinaufſteigen wollen, von den Moͤnchen und Einſamen, womit die Morgenlaͤnder von jeher unter allen Religionen angefuͤllt geweſen ſind, durch eine den Progreſſen der geſunden Vernunft nicht lehr guͤnſtige Ueberlieferung geerbt zu haben ſcheinen. Hingegen wuͤrde uns ſehr erfreulich ſeyn, wenn dieſe gegenwaͤrtige Geſchichte die gluͤkliche Veranlaſſung geben koͤnnte, irgend einen von den aͤchten Weiſen unſrer Zeitauf -41Achtes Buch, viertes Capitel. aufzumuntern, mit der Fakel des Genie in gewiſſe dunkle Gegenden der Moral-Philoſophie einzudringen, welche zu betraͤchtlichem Abbruch des allgemeinen Beſten, noch manches Jahr-Tauſend unbekanntes Land bleiben werden, wenn es auf die vortreflichen Leute ankommen ſollte, durch deren unermuͤdeten Eifer ſeit geraumen Jahren die deutſchen Preſſen unter einem in alle moͤg - liche Formen gegoſſenen Miſchmaſch unbeſtimmter und nicht ſelten willkuͤhrlicher Begriffe, ſchwaͤrmeriſcher Em - pfindungen, andaͤchtiger Wortſpiele, grotesker Cha - ractern, und ſchwuͤlſtiger Declamationen zu ſeufzen ge - zwungen werden. Fuͤr diejenigen, welche unſern from - men Wunſch zu erfuͤllen geſchikt ſind, uns daruͤber deut - licher zu erklaͤren, oder ihnen den Weg zur Entdekung dieſer moraliſchen Terra incognita genauer andeuten zu wollen, als es hie und da in dieſer Geſchichte geſchehen ſeyn mag, wuͤrde einer Vermeſſenheit gleich ſehen, wo - zu uns die Empfindung unſrer eignen Schwaͤche oder vielleicht unſre Traͤgheit wenig innerliche Verſuchung laͤßt. Wir laſſen es alſo bey dieſem kleinen Winke be - wenden, und begnuͤgen uns, da wir nunmehr, allem Anſehen nach, unſern Helden aus der groͤſſeſten der Ge - fahren, worinn ſeine Tugend jemals geſchwebt hat, oder kuͤnftig gerathen mag, gluͤklich herausgefuͤhrt haben, einige Betrachtungen daruͤber anzuſtellen — doch nein; wir bedenken uns beſſer — was fuͤr Betrach - tungen koͤnnten wir anſtellen, daß nicht diejenige welche Agathon ſelbſt, ſobald er Muſſe dazu hatte, uͤber ſeinC 5Abentheur42Agathon. Abentheur machte, um ſoviel natuͤrlicher und intereſſan - ter ſeyn ſollten, als er ſich wuͤrklich in dem Falle befand, worein wir uns erſt durch Huͤlfe der Einbildungs-Kraft ſezen muͤßten, und die Gedanken ſich ihm freywillig dar - boten, ja wol wider Willen aufdrangen, welche wir erſt aufſuchen muͤßten. Wir wollen alſo warten, bis er ſich in der ruhigern Gemuͤthsverfaſſung befinden wird, worinn die ſich ſelbſt wiedergegebene Seele aufgelegt iſt, das Vergangene mit pruͤfendem Auge zu uͤberſehen. Nur moͤg’ es uus erlaubt ſeyn, eh wir unſre Erzaͤhlung fort - ſezen, zum beſten unſrer jungen Leſer, zu welchen wir uns nicht entbrechen koͤnnen eine vorzuͤgliche Zuneigung zu tragen, einige Anmerkungen zu machen, fuͤr welche wir keinen ſchiklichern Plaz wiſſen, und welche diejeni - gen, die wie Shah Baham keine Liebhaber vom morali - ſieren ſind, fuͤglich uͤberſchlagen, oder, bis wir damit fertig ſind, ſich indeſſen, wenn es ihnen beliebt, die Zeit damit vertreiben koͤnnen, die Spize ihrer Naſe an - zuſchauen.
Was wuͤrdet ihr alſo dazu ſagen, meine jungen Freunde, wenn ich euch mit der Amts-Mine eines Sittenlehrers auf der Catheder, in geometriſcher Me - thode beweiſen wuͤrde, daß ihr zu einer vollkommnen Unempfindlichkeit gegen dieſe liebenswuͤrdige Geſchoͤpfe verbunden ſeyt, fuͤr welche eure Augen, euer Herz, und eure Einbildungs-Kraft ſich vereinigen, euch einen Hang einzufloͤſſen, der, ſo lang er in einem unbeſtimm -ten43Achtes Buch, viertes Capitel. ten Gefuͤhl beſteht, euch immer beunruhiget, und ſo bald er einen beſondern Gegenſtand bekoͤmmt, die Seele aller eurer uͤbrigen Triebe wird?
Daß wir einen ſolchen Beweis fuͤhren, und was noch ein wenig grauſamer iſt, daß wir euch die Verbindlich - keit aufdringen koͤnnten, keines dieſer anmuthsvollen Geſchoͤpfe, ſo vollkommer es immer in euern bezauber - ten Augen ſeyn moͤchte, eher zu lieben, bis es euch be - fohlen wird, daß ihr ſie lieben ſollt — iſt eine Sache, die euch nicht unbekannt ſeyn kan. Aber eben deßwegen, weil es ſo oft bewieſen wird, koͤnnen wir es als etwas ausgemachtes vorausſezen; und uns daͤucht, die Frage iſt nun allein, wie es anzufangen ſey, um euer wider - ſtrebendes Herz fuͤr Pflichten gelehrig zu machen, gegen welche ihr tauſend ſcheinbare Einwendungen zu machen glaubt, wenn ihr uns am Ende doch nichts anders ge - ſagt habt, als ihr habet keine Luſt, ſie auszuuͤben.
Die Aufloͤſung dieſer Frage daͤucht uns die groſſe Schwierigkeit, worinn uns die gemeinen Moraliſten mit einer Gleichguͤltigkeit ſteken laſſen, die deſto unmenſch - licher iſt, da wenige unter ihnen ſind, welche nicht auf eine oder die andere Art erfahren haͤtten, daß es nicht ſo leicht ſey einen Feind zu ſchlagen, als zu beweiſen, daß er geſchlagen werden ſolle.
Jndeſſen44Agathon.Jndeſſen nun, bis irgend ein wohlthaͤtiger Genius ein ſicheres, kraͤftiges und allgemeines Mittel ausfuͤndig gemacht haben wird, dieſe Schwierigkeiten zu heben, erkuͤhnen wir uns, euch einen Rath zu geben, der zwar weder allgemein noch ohne alle Ungelegenheiten iſt, aber doch, alles wol uͤberlegt, euch bis zu Erfindung jenes uufehlbaren moraliſchen Laudanums, in mehr als einer Abſicht von betraͤchtlichem Nuzen ſeyn koͤnnte.
Wir ſezen hiebey zwey gleich gewiſſe Wahrheiten vor - aus: die eine; daß die meiſten jungen Leute, und viel - leicht auch ein guter Theil der Alten, entweder zur Zaͤrtlichkeit oder doch zur Liebe im popularen Sinn die - ſes Wortes, einen ſtaͤrkern Hang als zu irgend einer andern natuͤrlichen Leidenſchaft haben. Die andere: daß Socrates, in der Stelle, deren in dem vorigen Capitel erwaͤhnt worden, die ſchaͤdlichen Folgen der Liebe, in ſo ferne ſie eine heftige Leidenſchaft fuͤr irgend einen einzelnen Gegenſtand iſt; (denn von dieſer Art von Liebe iſt hier allein die Rede) nicht hoͤher getrieben habe, als die taͤgliche Erfahrung beweiſet. Du Ungluͤkſeli - ger! (ſagt er zu dem jungen Xenophon, welcher nicht begreiffen konnte, daß es eine ſo gefaͤhrliche Sache ſey, einen ſchoͤnen Knaben, oder nach unſern Sitten zu ſpre - chen, ein ſchoͤnes Maͤdchen zu kuͤſſen; und leichtſinnig genug war zu geſtehen, daß er ſich alle Augenblike ge - traute, dieſes halsbrechende Abentheuer zu unterneh - men) was meynſt du daß die Folgen eines ſolchen Kuſ -ſes45Achtes Buch, viertes Capitel. ſes ſeyn wuͤrden? Glaubſt du, du wuͤrdeſt deine Frey - heit behalten, oder nicht vielmehr ein Sclave deſſen wer - den, was du liebeſt? wirſt du nicht vielen Aufwand auf ſchaͤdliche Wolluͤſte machen? Meynſt du, es werde dir viel Muſſe uͤbrig bleiben, dich um irgend etwas groſ - ſes und Nuͤzliches zu bekuͤmmern, oder du werdeſt nicht vielmehr gezwungen ſeyn, deine Zeit auf Beſchaͤftigun - gen zu wenden, deren ſich ſo gar ein Unſinniger ſchaͤmen wuͤrde? — Man kan die Folgen dieſer Art von Liebe, in ſo wenigen Worten nicht vollſtaͤndiger beſchrei - ben — Was haͤlf’ es uns, meine Freunde, wenn wir uns ſelbſt betruͤgen wollten? Selbſt die unſchul - digſte Liebe, ſelbſt diejenige, welche in jungen enthu - ſiaſtiſchen Seelen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſammen zu - ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes Gift bey ſich, deſſen Wuͤrkungen nur deſto gefaͤhrlicher ſind, weil es langſam und durch unmerkliche Grade wuͤrkt — Was iſt alſo zu thun? — Der Rath des alten Cato, oder der, welchen Lucrez nach den Grundſaͤzen ſeiner Secte giebt, iſt, ſeinen Folgen nach, noch ſchlim - mer als das Uebel ſelbſt. So gar die Grundſaͤze und das eigne Beyſpiel des weiſen Socrates ſind in dieſem Stuͤke nur unter gewiſſen Umſtaͤnden thunlich — und (wenn wir nach unſrer Ueberzeugung reden ſollen) wir wuͤnſchten, aus wahrer Wohlmeynenheit gegen das allgemeine Syſtem, nichts weniger als daß es jemals einem Socrates gelingen moͤchte, den Amor voͤllig zu entgoͤttern, ſeiner Schwingen und ſeiner Pfeile zu be -rauben,46Agathon. rauben, und aus der Liebe eine bloſſe regelmaͤſſige Stil - lung eines phyſiſchen Beduͤrfniſſes zu machen. Der Dienſt, welcher der Welt dadurch geleiſtet wuͤrde, muͤßte noth - wendig einen Theil der ſchlimmen Wuͤrkung thun, welche auf eine allgemeine Unterdruͤkung der Leidenſchaf - ten in der menſchlichen Geſellſchaft erfolgen muͤßte.
Hier iſt alſo unſer Rath — die Tartuͤffen, und die armen Koͤpfe, welche die Welt bereden wollen, die Excremente ihres milzſuͤchtigen Gehirns fuͤr Reliquien zu kuͤſſen, moͤgen ihre Koͤpfe ſchuͤtteln ſo ſtark ſie koͤn - nen! — Meine jungen Freunde, beſchaͤftiget euch mit den Vorbereitungen zu eurer Beſtimmung — oder mit ihrer wuͤrklichen Erfuͤllung. Bewerbet euch um die Verdienſte, von denen die Hochachtung der Ver - nuͤnftigen und der Nachwelt die Belohnung iſt; und um die Tugend, welche allein den innerlichen Wohl - ſtand unſers Weſens ausmacht — Haltet ein, Herr Sittenlehrer, ruffet ihr; das iſt nicht was wir von euch hoͤren wollten, alles das hat uns Claville beſſer geſagt, als ihr es koͤnntet, und Abbt beſſer als Cla - ville — euer Mittel gegen die Liebe? — Mittel gegen die Liebe? dafuͤr behuͤte uns der Him - mel! — oder wenn ihr dergleichen wollt, ſo fin - det ihr ſie bey allen moraliſchen Quakſalbern, und — in allen Apotheken. Unſer Rath geht gerade auf das Gegentheil. Wenn ihr ja lieben wollt oder muͤßt — — nun, ſo kommt alles, glaubet mir, auf den Gegenſtandan47Achtes Buch, viertes Capitel. an — Findet ihr eine Aſpaſia, eine Leontium, eine Ninon — ſo bewerbet euch um ihre Gunſt, und, wenn ihr koͤnnt, um ihre Freundſchaft. Die Vor - theile, die ihr daraus fuͤr euern Kopf, fuͤr euern Ge - ſchmak, fuͤr eure Sitten — ja, meine Herren, fuͤr eure Sitten, und ſelbſt fuͤr die Pflichten eurer Be - ſtimmung, von einer ſolchen Verbindung ziehen werdet, werden euch fuͤr die Muͤhe belohnen — Gut! Aſpa - ſien! Ninons! die muͤßten wir im ganzen Europa aufſuchen — Das rathen wir euch nicht; die Rede iſt nur von dem Falle, wenn ihr ſie findet — Aber, wenn wir keine ſinden? — So ſuchet die vernuͤnftigſte, tugendhafteſte und liebenswuͤrdigſte Frau auf, die ihr finden koͤnnet — Hier erlauben wir euch zu ſuchen, nur nicht (um euch einen Umweg zu erſparen) unter den Schoͤnſten; iſt ſie liebenswuͤrdig, ſo wird ſie euch deſto ſtaͤrker einnehmen; iſt ſie tugend - haft, ſo wird ſie euch nicht verfuͤhren; iſt ſie klug, ſo wird ſie ſich von euch nicht verfuͤhren laſſen. Jhr koͤnnet ſie alſo ohne Gefahr lieben — Aber dabey fin - den wir unſre Rechnung nicht; die Frage iſt, wie wir uns von ihr lieben machen — Allerdings, das wird die Kunſt ſeyn; der Verſuch iſt euch wenig - ſtens erlaubt; und wir ſtehen euch dafuͤr, wenn ſie und ihr jedes das ſeinige thut, ſo werdet ihr euern Roman zehen Jahre durch in einer immer naͤhernden Linie fort fuͤhren, ohne daß ihr dem Mittelpunct naͤher ſeyn werdet als anfangs — Und das iſt alles, was wir euch ſagen wollten.
Wir kommen zu unſerm Agathon zuruͤk, den wir zu Ende des vierten Capitels auf dem Wege nach dem Ha - ven von Smyrna verlaſſen haben.
Man konnte nicht entſchloſſener ſeyn, als er es beym Ausgehen war; das erſte Fahrzeug, das er zum Aus - lauffen fertig antreffen wuͤrde, zu beſteigen, und haͤtte es ihn auch zu den Antipoden fuͤhren ſollen. Allein — ſo groß iſt die Schwaͤche des menſchlichen Herzens! — da er angelangt war, und eine Menge von Schiffen vor den Augen hatte, welche nur auf das Zeichen den Anker zu heben wartete: So haͤtte wenig gefehlt, daß er wieder umgekehrt waͤre, um, anſtatt vor der ſchoͤnen Danae zu fliehen, ihr mit aller Sehnſucht eines ent - flammten Liebhabers in die Arme zu fliegen.
Doch, wir wollen billig ſeyn; eine Danae verdiente wol, daß ihn der Entſchluß ſie zu verlaſſen, mehr als einen fluͤchtigen Seufzer koſtete; und es war ſehr natuͤr - lich, daß er, im Begriff ſeinen tugendhaften Vorſaz ins Werk zu ſezen, einen Blik ins Vergangene zuruͤk - warf, und ſich dieſe Gluͤkſeligkeiten lebhafter vorſtellte, denen er nun freywillig entſagen wollte, um ſich vonneuem,49Achtes Buch, fuͤnftes Capitel. neuem, als ein im Ocean der Welt herumtreibender Verbannter, den Zufaͤllen einer ungewiſſen Zukunft aus - zuſezen. Dieſer lezte Gedanke machte ihn ſtuzen; aber er wurde bald von andern Vorſtellungen verdraͤngt, die ſein gefuͤhlvolles Herz weit ſtaͤrker ruͤhrten als alles was ihn allein und unmittelbar angieng. Er ſezte ſich an die Stelle der Danae. Er mahlte ſich ihren Schmerz vor, wenn ſie bey ihrer Wiederkunft ſeine Flucht er - fahren wuͤrde. Sie hatte ihn ſo zaͤrtlich geliebt! — Alles Boͤſe, was ihm Hippias von ihr geſagt, alles was er ſelbſt hinzugedacht hatte, konnte in dieſem Augen - blik die Stimme des Gefuͤhls nicht uͤbertaͤuben, wel - ches ihn uͤberzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden war. Wenn die Groͤſſe unſrer Liebe das natuͤrliche Maß unſrer Schmerzen uͤber den Verluſt des Geliebten iſt, wie ungluͤklich mußte ſie werden! Das Mitleiden, welches dieſe Vorſtellung in ihm erregte, machte ſie wie - der zu einem intereſſanten Gegenſtand fuͤr ſein Herz. Jhr Bild ſtellte ſich ihm wieder mit allen den Reizun - gen dar, deren zauberiſche Gewalt er ſo oft erfahren hatte. Was fuͤr Erinnerungen! Er konnte ſich nicht erwehren, ihnen etliche Augenblike nach zuhaͤngen; und fuͤhlte immer weniger Kraft, ſich wieder von ihnen loß - zureiſſen. Seine ſchon halb uͤberwundene Seele wider - ſtand noch, aber immer ſchwaͤcher. Amor, um deſto gewiſſer zu ſiegen, verbarg ſich unter die ruͤhrende Ge - ſtalt des Mitleidens, der Großmuth, der Dankbar - keit — Wie? er ſollte eine ſo inbruͤnſtige Liebe[Agath. II. Th.] Dmit50Agathon. mit ſo ſchnoͤdem Undank erwiedern? Einer Geliebten, in dem Augenblik, da ſie in die getreue Arme eines Freundes zuruͤk zu eilen glaubt, einen Dolch in dieſen Buſen ſtoſſen, welcher ſich von Zaͤrtlichkeit uͤberwallend an den ſeinigen druͤken will? — in der That, eine ruͤhrende Vorſtellung; und wie viel mehr wurde ſie es noch durch die unvermerkt ſich einſchleichende Erinnerung, was fuͤr ein Buſen das war! — Sie verlaſſen; ſich heimlich von ihr hinweg ſtehlen — wuͤrde ſie den Tod von ſeiner Hand, in Vergleichung mit einer ſolchen Grauſamkeit, nicht als eine Wohlthat angenom - men haben? So wuͤrde es ihm geweſen ſeyn, wenn er ſich an ihren Plaz ſezte; und das thut die Leidenſchaft allezeit, wenn ſie ihren Vortheil dabey findet.
Allen dieſen zaͤrtlichen Bildern ſtellte ſein gefaßter Ent - ſchluß zwar die Gruͤnde, welche wir kennen, entgegen: Aber dieſe Gruͤnde hatten von dem Augenblik an, da ſich ſein Herz wieder auf die Seite der ſchoͤnen Feindin ſeiner Tugend neigte, die Haͤlfte von ihrer Staͤrke ver - lohren. Die Gefahr war dringend: jede Minute war, ſo zu ſagen, entſcheidend. Denn die Wiederkunft der Danae war ungewiß; und es iſt nicht zu zweifeln, daß ſie, wofern ſie noch zu rechter Zeit angelangt waͤre, Mittel gefunden haͤtte, alle die widrigen Eindruͤke der Verraͤtherey des Sophiſten aus einem Herzen, welches ſo viel Vortheil dabey hatte ſie unſchuldig zu finden, auszuloͤſchen.
Ein51Achtes Buch, fuͤnftes Capitel.Ein gluͤklicher Zufall — doch, warum wollen wir dem Zufall zuſchreiben, was uns beweiſen ſollte, daß eine unſichtbare Macht iſt, welche ſich immer be - reit zeigt, der ſinkenden Tugend die Hand zu reichen — fuͤgte es daß Agathon, in dieſem zweifelhaften Augen - blik unter dem Gedraͤnge der Fremden, welche die Han - delſchaft von allen Welt-Gegenden her nach Smyrna fuͤhrte, einen Mann erblikte, den er zu Athen vertrau - lich gekannt, und durch betraͤchliche Dienſtleiſtungen ſich zu verbinden Gelegenheit gehabt hatte. Es war ein Kaufmann von Syracus, der mit den Geſchiklichkeiten ſeiner Profeſſion, einen rechtſchaffenen Character, und, was bey uns, in der einen Haͤlfte des deutſchen Reichs wenigſtens, eine groſſe Seltenheit iſt, mit beyden die Liebe der Muſen verband; Eigenſchaften, welche ihn dem Agathon deſto angenehmer, ſo wie ſie ihn deſto faͤhiger gemacht hatten, den Werth Agathons zu ſchaͤzen. Der Syracuſaner bezeugte die lebhafteſte Freude uͤber eine ſo angenehm uͤberraſchende Zuſammenkunft, und bot unſerm Helden ſeine Dienſte mit derjenigen Art an, welche beweißt, daß man begierig iſt, ſie angenommen zu ſehen; denn Agathons Verbannung von Athen war eine zu bekannte Sache, als daß ſie in irgend einem Theil von Griechenlande haͤtte unbekannt ſeyn koͤnnen.
Nach einigen Fragen, und Gegenfragen, wie ſie un - ter Freunden gewoͤhnlich ſind, die ſich nach einer ge - raumen Trennung unvermuthet zuſammenfinden, berich -D 2tete52Agathon. tete ihm der Kaufmann als eine Neuigkeit, welche wuͤrklich die Aufmerkſamkeit aller Europaͤiſchen Grie - chen beſchaͤftigte, die auſſerordentliche Gunſt, worinn Plato bey dem juͤngern Dionyſius zu Syracus ſtehe; die philoſophiſche Bekehrung dieſes Prinzen; und die groſſen Erwartungen, mit welchen Sicilien den gluͤk - ſeligen Zeiten entgegenſehe, die eine ſo wundervolle Veraͤnderung verſpreche. Er endigte damit, daß er den Agathon einlud, wofern ihn keine andre Angelegenheit in Smyrna zuruͤkhielte, ihm nach Syracus zu folgen, welches nunmehr im Begriff ſey, der Sammelplaz der Weiſeſten und Tugendhafteſten zu werden. Er meldete ihm dabey, daß ſein Schiff, welches er mit Aſiatiſchen Waaren beladen hatte, bereit ſey, noch dieſen Abend ab - zuſegeln.
Ein Funke, der in eine Pulvermine faͤllt, richtet keine ploͤzlichere Entzuͤndung an, als die Revolution war, die bey dieſer Nachricht in unſerm Helden vor - gieng. Seine ganze Seele loderte, wenn wir ſo ſagen koͤnnen, in einen einzigen Gedanken auf — Aber was fuͤr ein Gedanke war das! — Plato, ein Freund des Dionyſius — Dinoyſius, beruͤchtiget durch die ausſchweiffendeſte Lebens-Art, in welcher ſich eine durch unumſchraͤnkte Gewalt uͤbermuͤthig gemachte Jugend dahin ſtuͤrzen kan — der Tyrann Diony - ſius, ein Liebhaber der Philoſophie, ein Lehrling der Tugend — und Agathon, ſollte die Bluͤhte ſeines Le -bens53Achtes Buch, fuͤnftes Capitel. bens in muͤſſiger Wolluſt verderben laſſen? Sollte nicht eilen, dem Goͤttlichen Weiſen, deſſen erhabene Lehren er zu Athen ſo ruͤhmlich auszuuͤben angefangen hatte, ein ſo glorreiches Werk vollenden zu helfen, als die Ver - wandlung eines zuͤgelloſen Tyrannen in einen guten Fuͤr - ſten, und die Befeſtigung der allgemeinen Gluͤkſeligkeit einer ganzen Nation? — was fuͤr Arbeiten! was fuͤr Ausſichten fuͤr eine Seele wie die ſeinige! Sein gan - zes Herz wallte ihnen entgegen; er fuͤhlte wieder, daß er Agathon war — fuͤhlte dieſe moraliſche Lebens - Kraft wieder, die uns Muth und Begierden giebt, uns zu einer edeln Beſtimmung gebohren zu glauben; und dieſe Achtung fuͤr ſich ſelbſt, welche eine von den ſtaͤrk - ſten Schwingfedern der Tugend iſt. Nun brauchte es keinen Kampf, keine Beſtrebung mehr, ſich von Danae loßzureiſſen, um mit dem Feuer eines Liebhabers, der nach einer langen Trennung zu ſeiner Geliebten zuruͤk - kehrt, ſich wieder in die Arme der Tugend zu werfen. Sein Freund von Syracus hatte keine Ueberredungen noͤthig; Agathon nahm ſein Anerbieten mit der lebhaf - teſten Freude an. Da er von allen Geſchenken, womit ihn die freygebige Danae uͤberhaͤuft hatte, nichts mit ſich nehmen wollte, als das wenige, was zu den Be - duͤrfniſſen ſeiner Reiſe unentbehrlich war, ſo brauchte er wenig Zeit, um reiſefertig zu ſeyn. Die guͤnſtigſten Winde ſchwellten die Segel, welche ihn aus dem ver - derblichen Smyrna entfernen ſollten; und ſo herrlich war der Triumph, den die Tugend in dieſer gluͤklichenD 3Stunde54Agathon. Stunde uͤber ihre Gegnerin erhielt, daß er die an - muthsvollen Aſiatiſchen Ufer aus ſeinen Augen ver - ſchwinden ſah, ohne den Abſchied, den er auf ewig von ihnen nahm, nur mit einer einzigen Thraͤne zu zieren.
So? — Und was wurde nun (ſo daͤucht mich hoͤr’ ich irgend eine junge Schoͤne fragen, der ihr Herz ſagt, daß ſie es der Tugend nicht verzeihen wuͤrde, wenn ſie ihr ihren Liebhaber ſo unbarmherzig entfuͤhren wollte) — was wurde nun aus der armen Danae? Von dieſer war nun die Rede nicht mehr? Und der tugendhafte Agathon bekuͤmmerte ſich wenig darum, ob ſeine Untreue, ein Herz welches ihn gluͤklich gemacht hatte, in Stuͤken brechen werde oder nicht? — Aber, meine ſchoͤne Dame, was haͤtte er thun ſollen, nachdem er nun einmal entſchloſſen war? Um nach Syracus zu gehen mußte er Smyrna verlaſſen; und nach Syracus mußte er doch gehen, wenn ſie alle Um - ſtaͤnde unpartheyiſch in Betrachtung ziehen; denn ſie werden doch nicht wollen, daß ein Agathon ſein ganzes Leben wie ein Veneris paſſerculus (laſſen Sie Sich das von Jhrem Liebhaber verdeutſchen) am Buſen der zaͤrtlichen Danae haͤtte hinweg buhlen ſollen? Und ſie nach Syracus mit zunehmen, war aus mehr als einer Betrachtung auch nicht rathſam; geſezt auch, daß ſie um ſeinetwillen Smyrna haͤtte verlaſſen wollen. Oder mey - nen Sie vielleicht er haͤtte warten, und die Einwil - ligung ſeiner Freundin zu erhalten ſuchen ſollen? —Das55Achtes Buch, fuͤnftes Capitel. Das waͤre alles geweſen, was er haͤtte thun koͤnnen, wenn er eine geheime Abſicht gehabt haͤtte, da zu blei - ben. Alles wol uͤberlegt, konnte er alſo, daͤucht uns, nichts mehr thun als was er that. Er hinterließ ein Briefchen, worinn er ihr ſein Vorhaben mit einer Auf - richtigkeit entdekte, welche zugleich die Rechtfertigung deſſelben ausmacht. Er ſpottete ihrer nicht durch Lie - bes-Verſicherungen, welche der Widerſpruch mit ſeinem Betragen beleidigend gemacht haͤtte; hingegen erinnerte er ſich deſſen, was ſie um ihn verdient hatte zu wol, um ſie durch Vorwuͤrfe zu kraͤnken. Und dennoch entwiſchte ihm beym Schluß ein Ausdruk, den er vermuthlich großmuͤthig genug geweſen waͤre, wieder auszuloͤſchen, wenn er Zeit gehabt haͤtte, ſich zu bedenken; denn er endigte ſein Briefchen damit, daß er ihr ſagte; er hoffe, die Haͤlfte der Staͤrke des Gemuͤths, womit ſie den Ver - luſt eines Alcibiades ertragen, und den Armen eines Hyacinths ſich entriſſen habe, werde mehr als hinlaͤng - lich ſeyn, ihr ſeine Entfernung in kurzem gleichguͤltig zu machen. Wie leicht, ſezte er hinzu, kan Danae einen Liebhaber miſſen, da es nur von ihr abhaͤngt, mit einem einzigen Blike ſo viele Sclaven zu machen, als ſie haben will! — das war ein wenig grau - ſam — Aber die Gemuͤths-Verfaſſung, worinn er ſich damals befand, war nicht ruhig genug, um ihn fuͤhlen zu laſſen, wie viel er damit ſagte.
D 4Und56Agathon.Und ſo endigte ſich alſo die Liebes-Geſchichte des Agathon und der ſchoͤnen Danae; und ſo, meine ſchoͤne Leſerinneu, ſo haben ſich noch alle Liebes-Geſchichten geendigt, und ſo werden ſich auch kuͤnftig alle endigen, welche ſo angefangen haben.
Wer aus den Fehlern, welche von andern vor ihm gemacht worden, oder noch taͤglich um ihn her gemacht werden, die Kunſt lernte ſelbſt keine zu machen; wuͤrde unſtreitig den Namen des Weiſeſten unter den Menſchen mit groͤſſerm Recht verdienen als Confucius, Socrates oder Koͤnig Salomon, welcher lezte, wider den gewoͤhn - lichen Lauff der Natur, ſeine groͤſſeſten Thorheiten in dem Alter begieng, wo die meiſten von den ihrigen zuruͤk - kommen. Unterdeſſen bis dieſe Kunſt erfunden ſeyn wird, daͤucht uns, man koͤnne denjenigen immer fuͤr weiſe gelten laſſen, der die wenigſten Fehler macht, am baͤldeſten davon zuruͤkkommt, und ſich gewiſſe Caute - len fuͤr zukuͤnftige Faͤlle darauszieht, mittelſt deren er hoffen kan, kuͤnftig weniger zu fehlen.
Ob und in wie fern Agathon dieſes Praͤdicat ver - diene, moͤgen unſre Leſer zu ſeiner Zeit ſelbſt entſchei -den;57Achtes Buch, ſechstes Capitel. den; wir unſers Orts haben in keinerley Abſicht eini - ges Jntereſſe ihn beſſer zu machen, als er in der That war; wir geben ihn fuͤr das was er iſt; wir werden mit der bisher beobachteten hiſtoriſchen Treue fortfah - ren, ſeine Geſchichte zu erzaͤhlen; und verſichern ein fuͤr allemal, daß wir nicht dafuͤr koͤnnen, wenn er nicht alle - mal ſo handelt, wie wir vielleicht ſelbſt haͤtten wuͤnſchen moͤgen, daß er gehandelt haͤtte.
Er hatte waͤhrend ſeiner Farth nach Sicilien, welche durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit genung, Betrachtungen uͤber das, was zu Smyrna mit ihm vorgegangen war anzuſtellen. Wie? ruffen hier einige Leſer, ſchon wieder Betrachtungen? Allerdings, meine Herren; und in ſeiner Situation wuͤrde es ihm nicht zu vergeben geweſen ſeyn, wenn er keine ange - ſtellt haͤtte. Deſto ſchlimmer fuͤr euch, wenn ihr, bey ge - wiſſen Gelegenheiten, nicht ſo gerne mit euch ſelbſt redet als Agathon; vielleicht wuͤrdet ihr ſehr wol thun, ihm dieſe kleine Gewohnheit abzulernen.
Es iſt fuͤr einen Agathon nicht ſo leicht, als fuͤr einen jeden andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit von ſich abzuſchuͤtteln. Braucht es mehr als einen ein - zigen Fehler, um den Glanz des ſchoͤnſten Lebens zu verdunkeln? Wie verdrießlich, wenn wir an einem Meiſterſtuͤke der Kunſt, an einem Gemaͤhlde oder Ge - dichte zum Exempel, Fehler finden, welche ſich nichtD 5verbeſſern58Agathon. verbeſſern laſſen, ohne das Ganze zu vernichten? Wie viel verdrießlicher, wenn es nur ein einziger Fehler iſt, der dem ſchoͤnen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit raubt? Ein Gefuͤhl von dieſer Art war ſchmerzhaft ge - nug, um unſern Mann zu vermoͤgen, uͤber die Urſa - chen ſeines Falles ſchaͤrfer nachzudenken. Wie erroͤthete er izt vor ſich ſelbſt, da er ſich der allzutrozigen Her - ausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hip - pias gereizt, und gewiſſermaſſen berechtiget hatte, den Verſuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe, welche die Probe der ſtaͤrkſten und ſchlaueſten Verfuͤh - rung aushalte — Was machte ihn damals ſo zu - verſichtlich? — die Erinnerung des Sieges, den er uͤber die Prieſterinn zu Delphi erhalten hatte? Oder das gegenwaͤrtige Bewuſtſeyn der Gleichguͤltigkeit, wor - inn er bey den Reizungen der jungen Cyane geblieben war? Die Erfahrung, daß die Verſuchungen, welche ſeiner Unſchuld im Hauſe des Sophiſten auf allen Sei - ten nachſtellten, ihn weniger verſucht als empoͤrt hat - ten? — der Abſcheu vor den Grundſaͤzen des Hip - pias — und das Vertrauen auf die eigentuͤmliche Staͤrke der ſeinigen? — Aber, war es eine Folge, daß derjenige, der etliche mal geſiegt hatte, niemals uͤberwunden werden koͤnne? War nicht eine Danae moͤg - lich, welche das auszufuͤhren geſchikt war, was die Pythia, was die Thraziſchen Bacchautinnen, was Cy - ane, und vielleicht alle Schoͤnen im Serail des Koͤnigs von Perſien nicht vermochten, oder vermocht haͤtten? —Und59Achtes Buch, ſechstes Capitel. Und was fuͤr Urſache hatte er, ſich auf die Staͤrke ſeiner Grundſaͤze zu verlaſſen? — Auch in dieſem Stuͤke ſchwebte er in einem ſubtilen Selbſtbetrug, den ihm vielleicht nur die Erfahrung ſichtbar machen konnte. Entzuͤkt von der Jdee der Tugend, ließ er ſich nicht traͤu - men, daß das Gegentheil dieſer intellectualiſchen Schoͤn - heit jemals Reize fuͤr ſeine Seele haben koͤnnte. Die Erfahrung mußte ihn belehren, wie betruͤglich unſere Jdeen ſind, wenn wir ſie unvorſichtig realiſiren — Betrachtet die Tugend in ſich ſelbſt, in ihrer hoͤchſten Vollkommenheit — ſo iſt ſie goͤttlich, ja (nach dem kuͤhnen aber richtigen Ausdruk eines vortreflichen Schrift - Stellers) die Gottheit ſelbſt. — Aber welcher Sterb - liche iſt berechtigt, auf die allmaͤchtige Staͤrke dieſer idea - len Tugend zu trozen? Es koͤmmt bey einem jeden dar - auf an, wie viel die ſeinige vermag. — Was iſt haͤßlicher als die Jdee des Laſters? Agathon glaubte ſich alſo auf die Unmoͤglichkeit, es jemals liebenswuͤrdig zu finden, verlaſſen zu koͤnnen, und betrog ſich, — weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes Licht giebt, worinn die Grenzen der Tugend und der Untugend ſchwim̃en; worinn Schoͤnheit und Grazien dem Laſter einen Glanz mittheilen, der ſeine Haͤßlichkeit uͤber - guͤldet, der ihm ſogar die Farbe und Anmuth der Tugend giebt? und daß es allzuleicht lſt, in dieſer verfuͤhriſchen Daͤmmerung ſich aus dem Bezirk der leztern in eine unmerkliche Spiral-Linie zu verliehren, deren Mittel -Punct60Agathon. Punct ein ſuͤſſes Vergeſſen unſrer ſelbſt und unſrer Pflich - ten iſt.
Von dieſer Betrachtung, welche unſern Helden die Nothwendigkeit eines behutſamen Mißtrauens in die Staͤrke guter Grundſaͤze lehrte; und wie gefaͤhrlich es ſey, ſie fuͤr daß Maß unſrer Kraͤfte zu halten; gieng er zn einer andern uͤber, die ihn von der wenigen Sicher - heit uͤberzeugte, welche ſich unſre Seele in dieſem Zu - ſtand eines immerwaͤhrenden moraliſchen Enthuſiasmus verſprechen kan, wie derjenige, worinn die ſeinige zu eben der Zeit war, als ſie in dem feingewebten Neze der ſchoͤnen Danae gefangen wurde. Er rief alle Um - ſtaͤnde in ſein Gemuͤthe zuruͤk, welche zuſammen gekom - men waren, ihm dieſe reizungsvolle Schwaͤrmerey ſo natuͤrlich zu machen; und erinnerte ſich der verſchied - nen Gefahren, denen er ſich dadurch ausgeſezt geſehen hatte. Zu Delphi fehlte es wenig, daß ſie ihn den Nachſtellungen eines verkappten Apollo preiß gegeben haͤtte — zu Athen hatte ſie ihn ſeinen argliſtigen Feinden wuͤrklich in die Haͤnde geliefert. Doch, aus dieſen beyden Gefahren hatte er ſeine Tugend da - von gebracht; ein unſchaͤzbares Kleinod, deſſen Beſiz ihn gegen den Verluſt alles andern, was ein Guͤnſtling des Gluͤkes verliehren kan, unempfindlich machte. Aber durch eben dieſen Enthuſiasmus unterlag ſie endlich den Verfuͤhrungen ſeines eignen Herzens eben ſo wol als den Kunſtgriffen der ſchoͤnen Danae. War nicht dieſeszauberiſche61Achtes Buch, ſechstes Capitel. zauberiſche Licht, welches ſeine Einbildungs-Kraft ge - wohnt war, uͤber alles, was mit ſeinen Jdeen uͤberein - ſtimmte, auszubreiten; war nicht dieſe unvermerkte Un - terſchiebung des Jdealen an die Stelle des Wuͤrklichen, die wahre Urſache, warum Danae einen ſo auſſerordent - lichen Eindruk auf ſein Herz machte? War es nicht dieſe begeiſterte Liebe zum Schoͤnen, unter deren ſchimmern - den Fluͤgeln verborgen, die Leidenſchaft mit ſanftſchleichen - den Progreſſen ſich endlich durch ſeine ganze Seele aus - breitete? War es nicht die lange Gewohnheit ſich mit ſuͤſſen Empfindungen zu naͤhren, was ſie unvermerkt er - weichte, um deſto ſchneller an einer ſo ſchoͤnen Flamme dahinzuſchmelzen? Mußte nicht der Hang zu phanta - ſierten Entzuͤkungen, ſo geiſtig auch immer ihre Gegen - ſtaͤnde ſeyn mochten, endlich nach denenjenigen luͤſtern machen, vor welchen ihm ein unbekanntes, verworre - nes, aber deſto lebhafteres innerliches Gefuͤhl den wuͤrk - lichen Genuß dieſer vollkommenſten Wonne verſprach, wovon bisher nur voruͤberblizende Ahnungen ſeine Ein - bildung beruͤhrt, und durch dieſe leichte Beruͤhrung ſchon auſſer ſich ſelbſt geſezt hatten? Hier erinnerte ſich Aga - thon der Einwuͤrfe, welche ihm Hippias gegen dieſen Enthuſiasmus, und diejenige Art von Philoſophie, die ihn hervorbringt und unterhaͤlt, gemacht hatte; und be - fand ſie izt mit ſeiner Erfahrung ſo uͤbereinſtimmend, als ſie ihm damals falſch und ungereimt vorgekommen waren. Er fand ſich deſto geneigter, die Meynung des Sophiſten, von dem Urſprung und der wahren Beſchaffen -heit62Agathon. heit dieſer hochfliegenden Begeiſterung Beyfall zu geben; da es ihm, ſeitdem er ſie in den Armen der ſchoͤnen Danae verlohren hatte, unmoͤglich geblieben war, ſich wieder in ſie hineinzuſezen; und da ſelbſt das lebhaftere Gefuͤhl fuͤr die Tugend, wovon ſein Herz wieder erhizt war, weder ſeinen ſittlichen Jdeen dieſen Firniß, den ſie ehemals hatten, wiedergeben, noch die dichteriſche Metaphyſik der Orphiſchen Secte wieder in die vorige Achtung bey ihm ſezen konnte. Er glaubte durch die Erfahrung uͤberwieſen zu ſeyn, daß dieſes innerliche Ge - fuͤhl, durch deſſen Zeugniß er die Schluͤſſe des Sophi - ſten zu entkraͤften vermeynt hatte, nur ein ſehr zwey - deutiges Kennzeichen der Wahrheit ſey; daß Hippias eben ſoviel Recht habe, ſeinen thieriſchen Materialiſmus und ſeine verderbliche Moral, als die Theoſophen ihre geheimnißvolle Geiſter-Lehre durch die Stimme inner - licher Gefuͤhle und Erfahrungen zu autoriſiren; und daß es vermuthlich allein dem verſchiednen Schwung unſrer Einbildungs-Kraft beyzumeſſen ſey, wenn wir uns zu einer Zeit geneigter fuͤhlen, uns mit den Goͤttern, zu einer andern mit den Thieren verwandt zu glauben; wenn uns zu einer Zeit alles ſich in einem eruſthaften, und ſchwaͤrzlichten, zu einer andern alles in einem froͤh - lichen Lichte darſtellt; wenn wir izt kein wahres und gruͤndliches Vergnuͤgen kennen, als uns mit ſtolzer Ver - ſchmaͤhung der irdiſchen Dinge in melancholiſche Betrach - tungen ihres Nichts, in die unbekannten Gegenden jen - ſeits des Grabes, und die grundloſen Tieffen der Ewig -keit63Achtes Buch, ſechstes Capitel. keit hineinzuſenken; ein andermal kein reizenderes Ge - maͤhlde einer beneidenswuͤrdigen Wonne, als den jun - gen Bacchus, wie er, ſein Epheu-bekraͤnztes Haupt in den Schoos der ſchoͤnſten Nymphe zuruͤkgelehnt, und mit dem einen Arm ihre blendenden Huͤften umfaſſend, den andern nach der duͤftenden Trinkſchaale ausſtrekt, die ſie ihm laͤchelnd voll Nectars ſchenkt, von ihren eignen ſchoͤnen Haͤnden aus ſtrozenden Trauben friſch aus - gepreßt; indeß die Faunen und die froͤhlichen Nymphen mit den Liebes-Goͤttern muthwillig um ihn her huͤpfen, oder durch Roſengebuͤſche ſich jagen, oder muͤde von ihren Scherzen, in ſtillen Grotten zu neuen Scherzen ausruhen.
Der Schluß, den er aus allen dieſen Betrachtungen, und einer Menge andrer, womit wir unſre Leſer ver - ſchonen wollen, zog, war dieſer: Daß die erhabnen Lehrſaͤze der Zoroaſtriſchen und Orphiſchen Theoſophie, wahrſcheinlicher Weiſe (denn gewiß getraute er ſich uͤber dieſen Punct noch nichts zu behaubten) nicht viel mehr Nealitaͤt haben koͤnnten, als die lachenden Bilder, unter welchen die Mahler und Dichter die Wolluͤſte der Sin - nen vergoͤttert hatten; daß die erſten zwar der Tugend guͤnſtiger, und das Gemuͤthe zu einer mehr als menſch - lichen Hoheit, Reinigkeit und Staͤrke zu erheben ſchie - nen, in der That aber der wahren Beſtimmung des Men - ſchen wol eben ſo nachtheilig ſeyn durften, als die lez - tern; theils, weil es ein widerſinniges und vergeblichesUnter -64Agathon. Unternehmen ſcheine, ſich beſſer machen zu wollen, als uns die Natur haben will, oder auf Unkoſten des halben Theils unſers Weſens nach einer Art von Vollkommen - heit zu trachten, die mit der Anlage deſſelben im Wi - derſpruch ſteht; theils weil ſolche Menſchen, wenn es ihnen auch gelaͤnge, ſich ſelbſt zu Halbgoͤttern und Jn - telligenzen umzuſchaffen, eben dadurch zu jeder gewoͤhn - lichen Beſtimmung des geſelligen Menſchen deſto untaug - licher wuͤrden. Aus dieſem Geſichtspunct daͤuchte ihn der Enthuſiasmus des Theoſophen zwar unſchaͤdlicher als das Syſtem des Wolluͤſtlings; aber der menſchlichen Ge - ſellſchaft eben ſo unnuͤzlich: indem der erſte ſich dem ge - ſellſchaftlichen Leben entweder gaͤnzlich entzieht (welches wuͤrklich das Beſte iſt, was er thun kan) oder wenn er von dem beſchaulichen Leben ins wuͤrkſame uͤbergeht, durch Mangel an Kenntniß einer ihm ganz fremden Welt, durch abgezogene Begriffe, welche nirgends zu den Gegenſtaͤnden, die er vor ſich hat, paſſen wollen, durch uͤbertrieben moraliſche Zaͤrtlichkeit, und tauſend andre Urſachen, die ihren Grund in ſeiner vormaligen Lebens-Art haben, andern wider ſeine Abſicht oͤfters, ſich ſelbſt aber allezeit ſchaͤdlich wird.
Jn wie fern dieſe Saͤze richtig ſeyen, oder in beſon - dern Faͤllen einige Ausnahmen zulaſſen, zu unterſuchen, wuͤrde zu weit von unſerm Vorhaben abfuͤhren, genug fuͤr uns, daß ſie dem Agathon begruͤndet genug ſchienen, um ſich ſelbſt deſto leichter zu vergeben, daß er, wieder65Achtes Buch, ſechstes Capitel. der Homeriſche Ulyß in der Jnſel der Calypſo, ſich in dem bezauberten Grunde der Wolluſt hatte aufhal - ten laſſen, ſein erſtes Vorhaben, die Schuͤler des Zo - roaſters und die Prieſter zu Sais zu beſuchen, ſobald als ihm Danae ſeine Freyheit wieder geſchenkt hatte, ins Werk zu ſezen. Kurz, ſeine Erfahrungen machten ihm die Wahrheit ſeiner ehemaligen Denkungs-Art ver - daͤchtig, ohne ihm einen gewiſſen geheimen Hang zu ſeinen alten Lieblings-Jdeen benehmen zu koͤnnen. Seine Vernunft konnte in dieſem Stuͤke mit ſeinem Herzen und ſein Herz mit ſich ſelbſt nicht recht einig werden; und er war nicht ruhig genug, oder vielleicht auch zu traͤge, ſeine nunmehrige Begriffe in ein Syſtem zu bringen, wodurch beyde hatten befriedigt werden koͤn - nen. Jn der That iſt ein Schiff eben nicht der be - quemſte Ort, ein ſolches Werk, wozu die Stille eines dunkeln Hayns kaum ſtille genug iſt, zu Stande zu bringen; und Agathon mag daher zu entſchuldigen ſeyn, daß er dieſe Arbeit verſchob, ob es gleich eine von denen iſt, welche ſich ſo wenig aufſchieben laſſen, als die Ausbeſſerung eines baufaͤlligen Gebaͤudes; denn ſo wie dieſes mit jedem Tage, um den ſeine Wiederher - ſtellung aufgeſchoben wird, dem gaͤnzlichen Einſturz naͤher kommt; ſo pflegen auch die Luͤken in unſern moraliſchen Begriffen und die Mißhelligkeiten zwiſchen dem Kopf und dem Herzen immer groͤſſer und gefaͤhrlicher zu werden, je laͤnger wir es aufſchieben ſie mit der erforderlichen Aufmerkſamkeit zu unterſuchen, und eine richtige Ver -[Agath. II. Th.] Ebindung66Agathon. bindung und Harmonie zwiſchen den Theilen und dem Ganzen herzuſtellen.
Doch dieſer Aufſchub war in dem beſondern Falle, worinn ſich Agathon befand, deſto weniger ſchaͤdlich, da er, von der Schoͤnheit der Tugend und der unauf - loͤslichen Verbindlichkeit ihrer Geſeze mehr als jemals uͤberzeugt, eine auf das wahre allgemeine Beſte gerich - tete Wuͤrkſamkeit fuͤr die Beſtimmung aller Menſchen, oder wofern ja einige Ausnahme zu Gunſten der bloß contemplativen Geiſter zu machen waͤre, doch gewiß fuͤr die ſeinige hielt. Vormals war er nur zufaͤlliger Weiſe, und gegen ſeine Neigung in das active Leben verflochten worden: izo war es eine Folge ſeiner nun - mehrigen, und wie er glaubte gelaͤuterten Denkungs - Art, daß er ſich dazu entſchloß. Ein ſanftes Entzuͤken, welches ihm in dieſen Augenbliken den ſuͤſſeſten Be - rauſchungen der Wolluſt unendlich vorzuziehen ſchien, ergoß ſich durch ſein ganzes Weſen bey dem Gedanken, der Mitarbeiter an der Wiedereinſezung Siciliens in die unendlichen Vortheile der wahren Freyheit und einer durch weiſe Geſeze und Auſtalten verewigten Verfaſſung zu ſeyn ‒ ‒ ‒ Seine immer verſchoͤnernde Phantaſie mahlte ihm die Folgen ſeiner Bemuͤhungen in tauſend reizende Bilder von oͤffentlicher Gluͤkſeligkeit aus ‒ ‒ ‒ er fuͤhlte mit Entzuͤken die Kraͤfte zu einer ſo edeln Arbeit in ſich; und ſein Vergnuͤgen war deſto vollkommener, da er zu - gleich empfand, daß Herrſchſucht und eitle Ruhm - Begierde keinen Antheil daran hatten; daß es die tu -gendhafte67Achtes Buch, ſechstes Capitel. gendhafte Begierde, in einem weiten Umfang gutes zu thun, war, deren gehoffete Befriedigung ihm dieſen Vorſchmak des goͤttlichſten Vergnuͤgens gab, deſſen die menſchliche Natur faͤhig iſt. Seine Erfahrungen, ſo viel ſie ihn auch gekoſtet hatten, ſchienen ihm izt nicht zu theuer erkauft, da er dadurch deſto tuͤchtiger zu ſeyn hofte, die Klippen zu vermeiden, an denen die Klugheit oder die Tugend derjenigen zu ſcheitern pflegt, welche ſich den oͤffentlichen Angelegenheiten unterziehen. Er ſezte ſich feſt vor, ſich durch keine zweyte Danae mehr irre machen zu laſſen. Er glaubte ſich in dieſem Stuͤke deſto beſſer auf ſich ſelbſt verlaſſen zu koͤnnen, da er ſtark ge - nug geweſen war, ſich von der erſten loszureiſſen, und es mit gutem Fug fuͤr unmoͤglich halten konnte, je - mals auf eine noch gefaͤhrlichere Probe geſezt zu wer - den. Ohne Ehrgeiz, ohne Habſucht, immer wachſam auf die ſchwache Seite ſeines Herzens, die er kennen gelernt hatte, dachte er nicht, daß er von andern Leidenſchaf - ten, welche vielleicht noch in ſeinem Buſen ſchlum - merten, etwas zu beſorgen haben koͤnne. Keine uͤbel - weiſſagende Beſorgniſſe ſtoͤrten ihn in dem unvermiſch - ten Genuſſe ſeiner Hoffnungen; ſie beſchaͤftigten ihn wachend und ſelbſt in Traͤumen; ſie waren der vor - nehmſte Jnhalt ſeiner Geſpraͤche mit dem Syracuſiſchen Kaufmanne, ſie machten ihm die Beſchwerden der Reiſe unmerklich, und entſchaͤdigten ihn uͤberfluͤſſig fuͤr den Verluſt der ehemals geliebten Danae; einen Verluſt der mit jedem neuen Morgen kleiner in ſeinen Augen wurde; und ſo fuͤhrten ihn guͤnſtige Winde und ein ge -E 2ſchikter68Agathon. ſchikter Steuermann nach einer kurzen Verweilung in einigen griechiſchen See-Staͤdten, wo er ſich nirgends zu erkennen gab, gluͤklich nach Syracus, um an dem Hof’ eines Fuͤrſten zu lernen, daß auf dieſer ſchluͤ - pfrigen Hoͤhe die Tugend entweder der Klugheit auf - geopfert werden muß, oder die behutſamſte Klugheit nicht hinreichend iſt, den Fall des Tugendhaften zu ver - hindern.
Wir wuͤnſchen uns Leſerinnen zu haben; (denn dieſe Geſchichte, wenn ſie auch weniger wahr waͤre, als ſie iſt, gehoͤrt nicht unter die gefaͤhrlichen Romanen, von welchen der Verfaſſer des gefaͤhrlichſten und lehrreichſten Romans in der Welt die Jungfrauen zuruͤkſchrekt) und wir ſehen es alſo nicht gerne, daß einige unter ihnen, welche noch Geduld genug gehabt, dieſes achte Buch bis zum Schluß zu durchblaͤttern ‒ ‒ ‒ in der Mey - nung, daß nun nichts intereſſantes mehr zu erwarten ſey, nachdem Agathon durch einen Streich von der verhaßteſten Art, durch eine heimliche Flucht der Liebe den Dienſt aufgeſagt habe ‒ ‒ ‒ den zweyten Theil ſeiner Geſchichte ganz kaltſinnig aus ihren ſchoͤnen Haͤnden entſchluͤpfen laſſen, und ‒ ‒ ‒ vielleicht den Sopha, oder die allerliebſte kleine Puppe des Hrn. Bibiena ergreifen,um69Achtes Buch, ſiebentes Capitel. um die Vapeurs zu zerſtreuen, die ihnen die Untreue und die Betrachtungen unſers Helden verurſachet haben.
Woher es wol kommen mag, meine ſchoͤnen Da - men, daß die meiſten unter Jhnen ſo viel geneigter ſind, uns alle Thorheiten, welche die Liebe nur im - mer begehen machen kann, zu verzeihen, als die Wie - derherſtellung in den natuͤrlichen Stand unſrer geſunden Vernunft? Geſtehen Sie, daß wir Jhnen deſto lieber ſind, je beſſer wir durch die Schwachheiten, wozu Sie uns bringen koͤnnen, die Obermacht Jhrer Reizun - gen uͤber die Staͤrke der maͤnnlichen Weisheit bewei - ſen ‒ ‒ ‒ Was fuͤr ein intereſſantes Gemaͤhlde iſt nicht eine Deanira mit der Loͤwen-Haut ihres nervichten Liebhabers umgeben, und mit ſeiner Keule auf der Schulter, wie ſie einen triumphierend-laͤchelnden Sei - tenblik auf den Bezwinger der Rieſen und Drachen wirft, der, in ihre langen Kleider vermummt, mit - ten unter ihren Maͤdchen mit ungeſchikter Hand die wei - biſche Spindel dreht? ‒ ‒ ‒ Wir kennen eine oder zwoo, auf welche dieſe kleine Exclamation nicht paßt; aber wenn wir ohne Schmeicheley reden ſollen, (welches wir freylich nicht thun ſollten, wenn wir die Klug - heit zu Rathe zoͤgen,) ſo zweifeln wir, ob die Weiſe - ſte unter allen, zu eben der Zeit, da ſie ſich bemuͤht, den Thorheiten ihres Liebhabers Schranken zu ſezen, ſich erwehren kan, eine ſolche kleine ſtill-triumphierende Freude daruͤber zu fuͤhlen, daß ſie liebenswuͤrdig genugE 3iſt,70Agathon. iſt, einen Mann von Verdienſten ſeines eignen Werths vergeſſen zu machen.
Eine alltaͤgliche Anmerkung werden Kenner denken, welche weder mehr noch weniger ſagt, als was Gay in einer ſeiner Fabeln tauſend mal ſchoͤner geſagt hat, und was wir alle laͤngſt wiſſen ‒ ‒ ‒ daß die Eitelkeit die wahre Triebfeder aller Bewegungen des weiblichen Her - zens iſt ‒ ‒ ‒ Wir erkennen unſern Fehler, ohne gleich - wohl den Kennern einzugeſtehn, daß unſre Anmerkung ſo viel ſage. Aber nichts mehr hievon!
Hingegen koͤnnen wir unſern beſagten Leſerinnen, um ſie wieder gut zu machen, eine kleine Anecdote aus dem Herzen unſers Helden nicht verhalten, und wenn er auch gleich dadurch in Gefahr kommen ſollte, die Hochachtung wieder zu verliehren, in die er ſich bey den ehrwuͤrdigen Damen, welche nie geliebt haben, und, Dank ſey dem Himmel! nie geliebt worden ſind, wieder zu ſezen angefangen hat. Hier iſt ſie ‒ ‒ ‒
So vergnuͤgt Agathon uͤber ſeine Entweichung aus ſeiner angenehmen Gefangenſchaft in Smyrna, und in dieſem Stuͤke mit ſich ſelbſt war; ſo wenig die Bezau - berung, unter welcher wir ihn geſehen haben, die characteriſtiſche Leidenſchaft ſchoͤner Seelen, die Liebe der Tugend, in ihm zu erſtiken vermocht hatte; ſo auf - richtig die Geluͤbde waren, die er that, ihr kuͤnftig nicht wieder ungetreu zu werden; ſo groß und wichtigdie71Achtes Buch, ſiebentes Capitel. die Gedanken waren, welche ſeine Seele ſchwellten; ſo ſehr er, um alles mit einem Wort zu ſagen, wider Agathon war: So hatte er doch Stunden, wo er ſich ſelbſt geſtehen mußte, daß er mitten in der Schwaͤr - merey der Liebe und in den Armen der ſchoͤnen Da - nae ‒ ‒ ‒ gluͤklich geweſen ſey. Es mag immer viel Ver - blendung, viel Ueberſpanntes und Schimaͤriſches in der Liebe ſeyn, ſagte er zu ſich ſelbſt, ſo ſind doch gewiß ihre Freuden keine Einbildung ‒ ‒ ‒ ich fuͤhlte es, und fuͤhl’ es noch, ſo wie ich mein Daſeyn fuͤhle, daß es wahre Freuden ſind, ſo wahr in ihrer Art, als die Freuden der Tugend ‒ ‒ ‒ und warum ſollt’ es unmoͤglich ſeyn, Liebe und Tugend mit einander zu verbinden? Sie beyde zu genieſſen, das wuͤrde erſt eine vollkommne Gluͤk - ſeligkeit ſeyn.
Hier muͤſſen wir zu Verhuͤtung eines beſorglichen Mißverſtandes eine kleine Parentheſe machen, um denen, die keine andre Sitten kennen, als die Sitten des Lan - des oder Ortes, worinn ſie gebohren ſind, zu ſagen, daß ein vertrauter Umgang mit Frauenzimmern von einer gewiſſen Claſſe, oder (nicht ſo franzoͤſiſch, aber weniger zweydeutig zu reden) welche mit dem was man etwas uneigentlich Liebe zu nennen pflegt, ein Gewerbe treiben, bey den Griechen eine ſo erlaubte Sache war, daß die ſtrengeſten Vaͤter ſich laͤcherlich gemacht haben wuͤrden, wenn ſie ihren Soͤhnen, ſo lange ſie unter ihrer Gewalt ſtunden, eine Liebſte aus der bemeldten Claſſe haͤtten verwehren wollen. Frauen und JungfrauenE 4genoſſen72Agathon. genoſſen den beſondern Schuz der Geſeze, wie allenthal - ben, und waren durch die Sitten und Gebraͤuche die - ſes Volkes vor Nachſtellungen ungleich beſſer geſichert, als ſie es bey uns ſind. Ein Anſchlag auf ihre Tugend war ſo ſchwer zu bewerkſtelligen, als die Beſtraffung eines ſolchen Verbrechens ſtrenge war. Ohne Zweifel geſchah es, dieſe in den Augen der Griechiſchen Geſezge - ber geheiligte Perſonen, die Muͤtter der Buͤrger, und diejenige welche zu dieſer Ehre beſtimmt waren, den Unternehmungen einer unbaͤndigen Jugend deſto gewiſ - ſer zu entziehen, daß der Stand der Phrynen und Lai - den geduldet wurde; und ſo ausgelaſſen uns auch der aſotiſche Wizling Ariſtophanes die Damen von Athen vorſtellet, ſo iſt doch gewiß, daß die Weiber und Toͤch - ter der Griechen uͤberhaubt ſehr ſittſame Geſchoͤpfe wa - ren; und daß die Sitten einer Vermaͤhlten und einer Buhlerin bey ihnen eben ſo ſtark mit einander abſezten, als man dermalen in gewiſſen Hauptſtaͤdten von Europa bemuͤht iſt, ſie mit einander zu vermengen.
Ob dieſe ganze Einrichtung loͤblich war, iſt eine andre Frage, von der hier die Rede nicht iſt; wir fuͤh - ren ſie bloß deswegen an, damit man nicht glaube, als ob die Reue und die Gewiſſens-Biſſe unſers Aga - thon aus dem Begriff entſtanden, daß es unrecht ſey mit einer Danae der Liebe zu pflegen. Agathon dachte in dieſem Stuͤke, wie alle andren Griechen ſeiner Zeit. Bey ſeiner Nation (die Spartaner vielleicht allein aus - genommen) durfte man, wenigſtens in ſeinem Alter,die73Achtes Buch, ſiebentes Capitel. die Nacht mit einer Taͤnzerin oder Floͤtenſpielerin zu - bringen, ohne ſich deßwegen einen Vorwurf zu zuziehen, in ſo ferne nur die Pflichten ſeines Standes nicht dar - unter leiden mußten, und eine gewiſſe Maͤſſigung beob - achtet wurde, welche nach den Begriffen dieſer Heyden, die wahre Grenzlinie der Tugend und des Laſters aus - machte. Wenn man dem Alcibiades uͤbel genommen hatte, daß er ſich im Schoos der ſchoͤnen Nemea, als wie vom Siege ausruhend, mahlen ließ, oder daß er den Liebesgott mit Jupiters Blizen bewafnet in ſeinem Schilde fuͤhrte; (und Plutarch ſagt uns, daß nur die aͤlteſten und ernſthafteſten Athenienſer ſich daruͤber auf - gehalten; Leute, deren Eifer oͤfters nicht ſowol von der Liebe der Tugend gegen die Thorheiten der Jugend ge - wafnet wird, als von dem verdrießlichen Umſtand, beym Anblik derſelben zu gleicher Zeit, wie weit ſie von ihrer eignen Jugend entfernt und wie nahe ſie dem Grabe ſind, erinnert zu werden): Wenn man, ſage ich, dem Alcibiades dieſe Ausſchweiffungen uͤbel nahm, ſo war es nicht ſein Hang zu den Ergoͤzungen oder ſeine Vertraulichkeit mit einer Perſon, welche durch Stand und Profeſſion, wie ſo viel andre, allein dem Vergnuͤ - gen des Publici gewidmet war; ſondern der Uebermuth, der daraus hervorleuchtete, die Verachtung der Geſeze des Wohlſtandes, und einer gewiſſen Gravitaͤt, welche man in freyen Staaten mit Recht gewohnt iſt von den Vorſtehern der Republik, wenigſtens auſſerhalb dem Cirkel des Privatlebens, zu fodern. Man wuͤrde ihm, wie andern, ſeine Schwachheiten, oder ſeine Ergoͤzun -E 5gen74Agathon. gen uͤberſehen haben; aber man vergab ihm nicht, daß er damit prahlte; daß er ſich ſeinem Hang zur Froͤh - lichkeit und Wolluſt, biß zu den unbaͤndigſten Ausgelaſ - ſenheiten uͤberließ. Daß er, von Wein und Salben trieffend, mit dem vernachlaͤſſigten und abgematteten Anſehen eines Menſchen, der eine Winternacht durch - ſchwelgt hatte, noch warm von den Umarmungen einer Taͤnzerin, in die Raths-Verſammlungen huͤpfte, und ſich, ſo uͤbel vorbereitet, doch uͤberfluͤſſig tauglich hielt, (und vielleicht war ers wuͤrklich) die Angelegenheiten Griechenlands zu beſorgen, und den grauen Vaͤtern der Republik zu ſagen, was ſie zu thun haͤtten: Das war es, was ſie ihm nicht vergeben konnten, und was ihm die ſchlimmen Haͤndel zuzog, von denen der Wolſtand Athens und er ſelbſt endlich die Opfer wurden.
Ueberhaubt iſt es eine laͤngſt ausgemachte Sache, daß die Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten als die heutigen Europaͤer ‒ ‒ ‒ denn die Rede iſt hier nicht von den metaphyſiſchen Spielwerken oder Traͤumen des goͤttlichen Platons ‒ ‒ ‒ Jhre Begriffe ſcheinen der Natur, und alſo der geſunden Vernunft naͤher zu kom - men, als die unſrigen, in welchen Scythiſche Barbarey und Mauriſche Galanterie auf die ſeltſamſte Art mit einander contraſtieren. Sie ehrten die ehliche Freund - ſchaft; aber von dieſer romantiſchen Leidenſchaft, welche wir im eigentlichen Verſtande Liebe nennen, und welche eine ganze Folge von Romanſchreibern bey unſern Nach - baren jenſeits des Rheins und bey den Englaͤndern be -muͤhet75Achtes Buch, ſiebentes Capitel. muͤhet geweſen iſt, zu einer heroiſchen Tugend zu erhe - ben; von dieſer wußten ſie eben ſo wenig als von der weinerlich-comiſchen, der abentheurlichen Hirngeburt einiger Neuerer, meiſtens weiblicher, Scribenten, welche noch uͤber die Begriffe der ritterlichen Zeiten raf - finirt, und uns durch ganze Baͤnde eine Liebe gemahlt haben, die ſich von ſtillſchweigendem Anſchauen, von Seufzern und Thraͤnen naͤhrt, immer ungluͤklich und doch ſelbſt ohne einen Schimmer von Hofnung immer gleich ſtandhaft iſt. Von einer ſo abgeſchmakten, ſo unmaͤnnlichen, und mit dem Heldenthum, womit man ſie verbinden will, ſo laͤcherlich abſtechenden Liebe wußte dieſe geiſtreiche Nation nichts, aus deren ſchoͤner und lachender Einbildungskraft die Goͤttin der Liebe, die Grazien, und ſo viele andre Goͤtter der Froͤhlichkeit her - vorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe, welche ſcherzt, kuͤßt und gluͤklich iſt; oder, richtiger zu reden, dieſe allein ſchien ihnen, unter gehoͤrigen Einſchraͤnkun - gen, der Natur gemaͤß, anſtaͤndig und unſchuldig. Die - jenige, welche ſich mit allen Symptomen eines fiebri - ſchen Paroxyſmus der ganzen Seele bemaͤchtiget, war in ihren Augen eine von den gefaͤhrlichſten Leidenſchaf - ten, eine Feindin der Tugend, die Stoͤrerin der haͤuß - lichen Ordnung, die Mutter der verderblichſten Aus - ſchweiffungen und der haͤßlichſten Laſter. Wir finden wenige Beyſpiele davon in ihrer Geſchichte; und dieſe Beyſpiele ſehen wir auf ihrem tragiſchen Theater mit Farben geſchildert, welche den allgemeinen Abſcheu er - weken mußten; ſo wie hingegen ihre Comoͤdie keineandre76Agathon. andre Liebe kennt, als dieſen natuͤrlichen Jnſtinct, wel - chen Geſchmak, Gelegenheit und Zufall fuͤr einen ge - wiſſen Gegenſtand beſtimmen, der, von den Grazien und nicht ſelten auch von den Muſen verſchoͤnert, das Ver - gnuͤgen zum Zwek hat, nicht beſſer noch erhabener ſeyn will als er iſt, und wenn er auch in Ausſchweiffungen ausbrechend, ſich gegen den Zwang der Pflichten auf - baͤumt, doch immer weniger Schaden thut, und leich - ter zu baͤndigen iſt, als jene tragiſche Art zu lieben, welche ihnen vielmehr von der Fakel der Furien als des Liebesgottes entzuͤndet, eher die Wuͤrkung der Rache einer erzuͤrnten Gottheit als dieſer ſuͤſſen Bethoͤrung gleich zu ſeyn ſchien, welche ſie, wie den Schlaf und die Gaben des Bacchus, des Gebers der Freude, fuͤr ein Ge - ſchenke der wolthaͤtigen Natur, anſahen, uns die Be - ſchwerden des Lebens zu verſuͤſſen, und zu den Arbei - ten deſſelben munter zu machen.
Ohne Zweifel wuͤrden wir dieſen Theil der Griechi - ſchen Sitten noch beſſer kennen, wenn nicht durch ein Ungluͤk, welches die Muſen immer beweinen werden, die Comoͤdien eines Alexis, Menander, Diphilus, Phi - lemon, Apollodorus, und andrer beruͤhmter Dichter aus dem ſchoͤnſten Zeit-Alter der attiſchen Muſen ein Raub der moͤnchiſchen und Saraceniſchen Barbarey ge - worden waͤren. Allein es bedarf dieſer Urkunden nicht, um das was wir geſagt haben zu rechtfertigen. Sehen wir nicht den ehrwuͤrdigen Solon noch in ſeinem hohen Alter, in Verſen welche des Alters eines Voltaire wuͤr -dig77Achtes Buch, ſiebentes Capitel. dig ſind, von ſich ſelbſt geſtehen, „ daß er ſich aller an - „ dern Beſchaͤftigungen begeben habe, um den Reſt „ ſeines Lebens in Geſellſchaft der Venus, des Bacchus „ und der Muſen auszuleben, der einzigen Quellen der „ Freuden der Sterblichen? „ Sehen wir nicht den weiſen Socrates kein Bedenken tragen, in Geſellſchaft ſeiner jungen Freunde, der ſchoͤnen und gefaͤlligen Theo - dota einen Beſuch zu machen, um uͤber ihre von einem aus der Geſellſchaft fuͤr unbeſchreiblich angeprieſene Schoͤnheit den Augenſchein einzunehmen? Sehen wir nicht, daß er ſeiner Weisheit nichts zu vergeben glaubt, indem er dieſe Theodota, auf eine ſcherzhafte Art in der Kunſt Liebhaber zu fangen unterrichtet? War er nicht ein Freund und Bewunderer, ja, wenn Plato nicht zuviel geſagt hat, ein Schuͤler der beruͤhmten Aſpaſia, deren Haus, ungeachtet der Vorwuͤrfe, welche ihr von der zaumloſen Frechheit der damaligen Comoͤ - die gemacht wurden, der Sammelplaz der ſchoͤnſten Geiſter von Athen war? So enthaltſam er ſelbſt, bey ſeinen beyden Weibern, in Abſicht der Vergnuͤgen der Paphiſchen Goͤttin immer ſeyn mochte; ſo finden wir doch ſeine Grundſaͤze uͤber die Liebe mit der allgemeinen Denkungsart ſeiner Nation ganz uͤbereinſtimmend. Er unterſchied das Beduͤrfniß von der Leidenſchaft; das Werk der Natur, von dem Werk der Phantaſie; er warnte vor dem Leztern, wie wir im vierten Capitel ſchon im Vorbeygehen bemerkt haben; und rieth zu Be - friedigung der erſten (nach Xenophons Bericht) eine ſolche Art von Liebe, (das Wort deſſen ſich die Grie -chen78Agathon. chen bedienten, druͤkt die Sache beſtimmter aus) an wel - cher die Seele ſo wenig als moͤglich Antheil nehme. Ein Rath, welcher zwar ſeine Einſchraͤnkungen leidet; aber doch auf die Erfahrungs-Wahrheit gegruͤndet iſt; daß die Liebe, welche ſich der Seele bemaͤchtiget, ſie gemeiniglich der Meiſterſchaft uͤber ſich ſelbſt beraube, entnerve, und zu edeln Anſtrengungen untuͤchtig mache.
„ Und wozu, (hoͤren wir den ſcheinheiligen Theogi - ton mit einem tiefen Seufzer, in welchem ein halbun - terdruͤktes Anathema murmelt, fragen) ‒ ‒ ‒ wozu dieſe ganze ſchoͤne Digreſſion? Jſt vielleicht ihre Abſicht, die aͤrgerlichen Begriffe und Sitten blinder, verdorbener Heiden unſrer ohnehin zum Boͤſen ſo gelehrigen Jugend zum Muſter vorzulegen? „ Nein, mein Herr; das waͤre unnoͤthig; der groͤſſeſte Theil dieſer Jugend, welche unſer Buch leſen wird (es muͤßte dann in die Gewuͤrzbuden kommen) hat ſchon den Horaz, den Ovid, den Martial, den Petron, den Apulejus, viel - leicht auch den Ariſtophanes geleſen; und was noch ſonderbarer ſcheinen koͤnnte, hat ſeine Bekanntſchaft mit dieſen Schriftſtellern, welche nach Dero Grundſaͤzen lau - ter Seelengift ſind, in den Schulen gemacht. Wir haben alſo dieſer Jugend nicht viel neues geſagt; und geſezt, wir haͤtten? Alle Welt weiß, daß andre Verfaſ - ſungen, andre Geſeze, eine andre Art des Gottesdienſts, auch andre Sitten hervorbringen und erfodern. Aber das verhindert nicht, daß es nicht gut ſeyn ſollte, auch zu wiſſen, nach was fuͤr Begriffen man auſſerhalb un -ſerm79Achtes Buch, ſtebentes Capitel. ſerm kleinen Horizont, unter andern Himmelsſtrichen und zu andern Zeiten gedacht und gelebt hat ‒ ‒ ‒ „ Und wozu ſollte das gut ſein koͤnnen? „ ‒ ‒ ‒ Vergebung, Herr Theogiton! das ſollten Sie wiſſen, da Sie davon Pro - feſſion machen, die Menſchen zu verbeſſern; und das haͤtten Sie, nehmen Sie’s nicht uͤbel, vorher lernen ſollen, ehe Sie Sich unterfangen haͤtten, einen Beruf zu uͤbernehmen, worinn es ſo leicht iſt, ein Pfuſcher zu ſeyn ‒ ‒ ‒ Doch genug; Sie ſollen hoͤren, warum dieſe kleine Abſchweiffung nothwendig war. Es iſt hier darum zu thun, den Agathon zu ſchildern; ein wenig genauer und richtiger zu ſchildern, als es ordentlicher Weiſe in den Perſonalien einer Leichenpredigt geſchieht ‒ ‒ ‒ Sie ſchuͤtteln den Kopf, Herr Theogiton ‒ ‒ ‒ beruhigen Sie Sich; man mahlt ſolche Schildereyen weder fuͤr Sie, noch fuͤr die guten Seelen, welche ſich unter Jhre Direction begeben haben; Sie muͤſſen ja den Agathon nicht leſen; und, die Wahrheit zu ſagen, Sie wuͤrden wol thun gar nicht zu leſen, was Sie nicht zu verſtehen faͤhig ſind ‒ ‒ ‒ Aber Sie ſollen glauben daß es ſehr viele ehrliche Leute giebt, die nicht unter Jhrer Direction ſtehen, und einige von dieſen werden den Agathon leſen, werden alles in dem natuͤrlichen, wahren Lichte ſehen, worinn ungefaͤlſchte, geſunde Augen zu ſehen pflegen, und werden ſich ‒ ‒ ‒ ſeufzen Sie immer ſoviel Sie wol - len ‒ ‒ ‒ daraus erbauen. Fuͤr dieſe alſo haben wir uns anheiſchig gemacht, den Agathon, als eine moraliſche Perſon betrachtet, zu ſchildern. Es iſt hier um eine Seelen-Mahlerey zu thun ‒ ‒ Sie laͤcheln, mein Herr? ‒ ‒Nicht80Agathon. Nicht wahr, ich errathe es, daß ihnen bey dieſem Worte die punctirte Seele in Comenii Orbe picto ein - faͤllt? Aber das iſt nicht was ich meyne; es iſt darum zu thun, daß uns das Jnnerſte ſeiner Seele aufge - ſchloſſen werde; daß wir die geheimern Bewegungen ſeines Herzens, die verborgenern Triebfedern ſeiner Hand - lungen kennen lernen ‒ ‒ ‒ „ Eine ſchoͤne Kenntniß! und „ die etwan viel Kopfzerbrechens braucht? ‒ ‒ ‒ Ein Herz „ zu kennen, von dem ich Jhnen, kraft meines Sy - „ ſtems, gleich bey der erſten Ziele Jhres Buchs haͤtte „ vorherſagen koͤnnen, daß es durch und durch nichts „ taugt „ ‒ ‒ ‒ Jch bitte Sie, Herr Theogiton, nichts mehr; Sie moͤgen wol Jhr Syſtem nicht recht gelernt haben, oder ‒ ‒ ‒ das muß ein Syſtem ſeyn! Aber; in unſerm Leben nichts mehr, wenn ich bitten darf. Jch ſehe, die Natur hat Jhnen das Werkzeug verſagt, wo - durch wir uns gegen einander erklaͤren koͤnnten. Jch hatte Unrecht, Jhnen von geheimen Triebfedern zu ſprechen ‒ ‒ ‒ Sie kennen nur eine einzige Gattung der - ſelben, die in der Claſſe der guten Seelen liegt, die ſich Jhrer Fuͤhrung uͤberlaſſen haben; und dieſe rechtferti - get freylich Jhr Syſtem beſſer als alles was Sie zu ſeinem Behuf ſagen koͤnnten ‒ ‒ ‒ Alſo zu unſerm Aga - thon zuruͤk!
Nach den gewoͤhnlichen Begriffen ſeiner Zeit waͤre es ſo ſchwer nicht geweſen, Liebe und Tugend mit einan - der zu verbinden; auch unſre jungen Moraliſten haͤtten hierzu gleich ein Recipe fertig, oder es wimmelt viel -mehr81Achtes Buch, ſiebentes Capitel. mehr wuͤrklich von dergleichen in allen Buchlaͤden. Aber Agathon hatte groͤſſere und feinere Begriffe von der Tu - gend ‒ ‒ ‒ Die Begriffe einer gewiſſen idealiſchen Vollkom - menheit waren zu ſehr mit den Grundzuͤgen ſein er Seele verwebt, als daß er ſie ſobald verliehren konnte, oder vielleicht jemals verliehren wird. Was iſt fuͤr eine delicate Seele Liebe ohne Schwaͤrmerey? Ohne dieſe Zaͤrtlichkeit der Empfindungen, dieſe Sympathie welche ihre Freuden vervielfaͤltiget, verfeinert, veredelt? Was ſind die Wolluͤſte der Sinnen, ohne Grazien und Mu - ſen? ‒ ‒ ‒ Das Socratiſche Syſtem uͤber die Liebe mag fuͤr viele gut ſeyn; aber es taugt nicht fuͤr die Agathons. Agathon haͤtte dieſe Art zu lieben, wie er die ſchoͤne Danae geliebt hatte, und wie er von ihr geliebt wor - den war, gerne mit der Tugend verbinden moͤgen; und von dieſem Wunſch ſah er alle Schwierigkeiten ein. Endlich daͤuchte ihn, es komme alles auf den Gegen - ſtand an; und hier erinnerte ihn ſein Herz wieder an ſeine geliebte Pſyche. Jhr Bild ſtellte ſich ihm mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit dar, wie es ihm ſeit langer Zeit, ſeinen Traum ausgenommen, niemals vorgekommen war. Er erroͤthete vor dieſem Bilde, wie er vor der gegenwaͤrtigen Pſyche ſelbſt erroͤthet ha - ben wuͤrde; aber er empfand mit einem Vergnuͤgen, wovon das uͤberlegte Bewuſtſeyn ein neues Vergnuͤgen war, daß ſein Herz, ohne nur mit einem einzigen Fa - den an Danae zu hangen, wieder zu ſeiner erſten Liebe zuruͤkkehrte. Seine wieder ruhige Phantaſie ſpiegelte ihm, wie ein klarer tiefer Brunnen die Erinnerungen[Agath. II. Th.] Fder82Agathon. der reinen, tugendhaften, und mit keiner andern Luſt zu vergleichenden Freuden vor, die er durch die zaͤrt - liche Vereinigung ihrer Seelen in jenen elyſiſchen Naͤch - ten erfahren hatte. Er empfand izt alles wieder fuͤr ſie was er ehemals empfunden, und dieſe neuen Empfin - dungen noch dazu, welche ihm Danae eingefloͤßt hatte; aber ſo ſanft, ſo gelaͤutert durch die moraliſche Schoͤn - heit des veraͤnderten Gegenſtandes, daß es nicht mehr eben dieſelben ſchienen. Er ſtellte ſich vor, wie gluͤk - lich ihn eine unzertrennliche Verbindung mit dieſer Pſyche machen wuͤrde, welche ihm eine Liebe einge - haucht, die ſeiner Tugend ſo wenig gefaͤhrlich geweſen war, daß ſie ihr vielmehr Schwingen angeſezt hatte ‒ ‒ ‒ er verſezte ſich in Gedanken mit Pſyche in den Ruhe - plaz der Diana zu Delphi ‒ ‒ ‒ und ließ den Gott der Liebe, den Sohn der himmliſchen Venus, das uͤberirdi - ſche Gemaͤhlde ausmahlen. Eine ſuͤſſe weiſſagende Hof - nung breitete ſich durch ſeine Seele aus; es war ihm, als ob eine geheime Stimme ihm zuliſple, daß er ſie in Sicilien finden werde. Pſyche ſchikte ſich vortref - lich in den Plan, den er ſich von ſeinem bevorſtehenden Leben gemacht hatte ‒ ‒ ‒ was fuͤr eine Perſpective ſtellte ihm die Verbindung ſeiner Privat-Gluͤkſeligkeit mit der oͤffentlichen vor, welcher er alle ſeine Kraͤfte zu widmen entſchloſſen war! Aber er wollte erſt verdienen gluͤklich zu ſeyn ‒ ‒ ‒ Und nun, ſagen ſie mir, meine ſchoͤnen Leſerinnen, verdient nicht ein Mann, der ſo edel denkt gluͤklich zu ſeyn? ‒ ‒ ‒ verdient er nicht die beſte Frau? ‒ ‒ ‒ Seyn Sie ruhig; er ſoll ſie haben, ſobald wir ſie fin - den werden.
Da wir im Begrif ſind, unſerm Helden auf einen neuen Schauplaz zu folgen, wird es nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, denenjenigen, welche in der alten Geſchichte nicht ſo gut bewandert ſind, als vielleicht im Feen - Lande, einige vorlaͤuffige Nachrichten von den Per - ſonen zu geben, mit welchen man ihn in dieſem und dem folgenden Buche verwikelt ſehen wird.
Syracus, die Hauptſtadt Siciliens, verdiente in vielerley Betrachtungen den Namen des zweyten Athen. Nichts kann aͤhnlicher ſeyn, als der Character ihrer Einwohner. Beyde waren im hoͤchſten Grad eiferſuͤch -F 2tig84Agathon. tig uͤber eine Freyheit, in welcher ſie ſich niemals lange zu erhalten wußten, weil ſie Muͤſſiggang und Luſtbarkeiten noch mehr liebten, als dieſe Freyheit; und man muß geſtehen, daß ſie ihnen durch den ſchlech - ten Gebrauch, den ſie von ihr zu machen wußten, mehr Schaden gethan hat, als ihre Tyrannen zuſam - mengenommen. Die Syracuſaner hatten den Genie der Kuͤnſte und der Muſen; ſie waren lebhaft, ſinn - reich und zum ſpottenden Scherze aufgelegt; heftig und ungeſtuͤm in ihren Bewegungen, aber ſo unbe - ſtaͤndig, daß ſie in einem Zeitmaß von wenigen Tagen von dem aͤuſſerſten Grade der Liebe zum aͤuſſerſten Haß, und von dem wuͤrkſamſten Enthuſiaſmus zur unthaͤ - tigſten Gleichguͤltigkeit uͤbergehen konnten; lauter Zuͤge, durch welche ſich, wie man weiß, die Athenienſer vor allen andern griechiſchen Voͤlkern ausnahmen. Beyde empoͤrten ſich mit eben ſo viel Leichtfinn gegen die gute Regierung eines einzigen Gewalthabers, als ſie faͤhig waren mit der niedertraͤchtigſten Feigheit ſich an das Joch des ſchlimmeſten Tyrannen gewoͤhnen zu laſſen: Beyde kannten niemals ihr wahres Jntereſſe, und kehrten ihre Staͤrke immer gegen ſich ſelbſt: Muthig und heroiſch in der Widerwaͤrtigkeit, allezeit uͤbermuͤthig im Gluͤk, und gleich dem aͤſopiſchen Hund im Nil, im - mer durch ſchimmernde Entwuͤrfe verhindert, von ihren gegenwaͤrtigen Vortheilen den rechten Gebrauch zu ma - chen: durch ihre Lage, Verfaſſung, und den Geiſt der Handelſchaft, der Spartaniſchen Gleichheit unfaͤhig, aber eben ſo ungeduldig, an einem Mitbuͤrger groſſe Vorzuͤgean85Neuntes Buch, erſtes Capitel. an Verdienſten, Anſehen oder Reichthum zu ertragen; daher immer mit ſich ſelbſt im Streit, immer von Par - teyen und Factionen zerriſſen; bis, nach einem lang - wierigen umwechſlenden Uebergang von Freyheit zu Sclaverey und von Sclaverey zu Freyheit, beyde zu - lezt die Feſſeln der Roͤmer geduldig tragen lernten; und ſich weislich mit der Ehre begnuͤgten, Athen die Schule, und Syracus die Korn-Kammer dieſer Majeſtaͤtiſchen Gebieterin des Erdbodens zu ſeyn.
Nach einer Reyhe von ſo genannten Tyrannen, das iſt, von Beherrſchern, welche ſich der einzelnen und will - kuͤhrlichen Gewalt uͤber den Staat bemaͤchtiget hatten, ohne auf einen Beruf von den Buͤrgern zu warten, war Syracus und ein groſſer Theil Siciliens mit ihr end - lich in die Haͤnde des Dionyſius gefallen; uud von die - ſem, nach einer langwierigen Regierung, unter welcher die Syracuſaner gewieſen hatten, was ſie zu leiden faͤhig ſeyen, ſeinem Sohne, dem juͤngern Dionyſius erblich angefallen. Das Recht dieſes jungen Menſchen an die koͤnigliche Gewalt, deren er ſich nach ſeines Vaters Tod (den er ſelbſt durch einen Schlaftrunk beſchleuniget hatte) anmaßte, war noch weniger als zweydeutig; denn ſein Vater konnte ihm kein Recht hinterlaſſen, das er ſelbſt nicht hatte. Aber eine ſtarke Leibwache, eine wohlbefeſtigte Citadelle, und eine durch die Be - raubung der reicheſten Sicilianer angefuͤllte Schazkam - mer erſezte den Abgang eines Rechts, welches ohnehin alle ſeine Staͤrke von der Macht zieht, die es geltenF 3machen86Agathon. machen muß, und aus eben dieſem Grunde deſſen leicht entbehren kan. Hiezu kam noch, daß in einem Staat, worinn der Geiſt der politiſchen Tugend ſchon erloſchen iſt, und grenzenloſe Begierden nach Reichthuͤmern, und der ſchmeichelhaften Freyheit alles zu thun, was die Sinne geluͤſten (der einzigen Art von Freyheit, welche von der Tyrannie eben ſo ſehr beguͤnſtiget als ſie von der aͤchten buͤrgerlichen Freyheit ausgeſchloſſen wird) die Oberhand gewonnen haben; daß, ſage ich, in ei - nem ſolchen Staat, eine ausgelaſſene und allein auf Be - friedigung ihrer Leidenſchaften erpichte Jugend ſich mit gutem Grunde von der unumſchraͤnkten Regierung eines Einzigen ihrer Art, unendlich mehr Vortheile verſprach als von der Ariſtocratie, deren ſich die aͤlteſten und Ver - dienſtvolleſten bemaͤchtigen; oder von der Democratie, worinn man ein abhaͤngiges und ungewiſſes Anſehen mit ſoviel Beſchwehrlichkeiten, Cabbalen, Unruh und Gefahr, oft auch mit Aufopferung ſeines Vermoͤgens theurer erkauffen muß, als es ſich der Muͤhe zu verloh - nen ſcheint.
Der junge Dionyſius ſezte ſich alſo durch einen Zuſam - menfluß guͤnſtiger Umſtaͤnde, in den ruhigen Beſiz der hoͤchſten Gewalt zu Syracus; und es iſt leicht zu erach - ten, wie ein uͤbelgezogner, und vom Feuer ſeines Tem - peraments zu allen Ausſchweiffungen der Jugend hinge - riſſener Prinz, unter einem Schwarme von Paraſiten, dieſer Macht ſich bedient haben werde. Ergoͤzungen, Gaſtmaͤhler, Liebeshaͤndel, Feſte welche ganze Monatedauerten,87Neuntes Buch, erſtes Capitel. dauerten, kurz eine ſtete Berauſchung von Schwel - gerey, machten die Beſchaͤftigungen eines Hofes von thoͤrichten Juͤnglingen aus, welche nichts angelegeners hatten, als durch Erfindung neuer Wolluͤſte ſich in der Zuneigung des Prinzen feſt zu ſezen, und ihn zu gleicher Zeit zu verhindern, jemals zu ſich ſelbſt zu kommen, und den Abgrund gewahr zu werden, an deſſen blumichtem Rand er in unſinniger Sorgloſigkeit herumtanzte.
Man kennt die Staatsverwaltung wolluͤſtiger Prinzen aus aͤltern und neuern Beyſpielen zu gut, als daß wir noͤthig haͤtten, uns daruͤber auszubreiten. Was fuͤr eine Regierung iſt von einem jungen Unbeſonnenen zu erwar - ten, deſſen Leben ein immerwaͤhrendes Bacchanal iſt? Der keine von den groſſen Pflichten ſeines Berufs kennt, und die Kraͤfte, die er zu ihrer Erfuͤllung anſtrengen ſollte, bey naͤchtlichen Schmaͤuſen und in den feilen Ar - men uͤppiger Buhlerinnen verzettelt? Der, unbekuͤm - mert um das Beſte des Staats, ſeine Privat-Vortheile ſelbſt ſo wenig einſieht, daß er das wahre Verdienſt, welches ihm verdaͤchtig iſt, haſſet, und Belohnungen an diejenigen verſchwendet, die unter der Maske der eyfrig - ſten Ergebenheit und einer gaͤnzlichen Aufopferung, ſeine gefaͤhrlichſten Feinde ſind? Von einem Prinzen, bey dem die wichtigſten Stellen auf die Empfehlung einer Taͤnzerin oder der Sclaven, die ihn aus - und anklei - den, vergeben werden? Der ſich einbildet, daß ein Hof - ſchranze, der gut tanzt, ein Nachteſſen wol anzuordnen weiß, und ein uͤberwindendes Talent hat, ſich bey denF 4Weibern88Agathon. Weibern in Gunſt zu ſezen, unfehlbar auch das Talent eines Miniſters oder eines Feldherrn haben werde; oder, daß man zu allem in der Welt tuͤchtig ſey, ſobald man die Gabe habe ihm zu gefallen? ‒ ‒ ‒ Was iſt von einer ſolchen Regierung zu erwarten, als Verachtung aller goͤtt - lichen und menſchlichen Geſeze, Mißbrauch der Forma - litaͤten der Gerechtigkeit, Gewaltſamkeiten, ſchlimme Haushaltung, Erpreſſungen, Geringſchaͤzung und Unter - druͤkung der Tugend, allgemeine Verdorbenheit der Sit - ten? ‒ ‒ ‒ Und was fuͤr eine Staatskunſt wird da Plaz haben, wo Leidenſchaften, Launen, voruͤberfahrende Anſtoͤſſe von laͤcherlichem Ehrgeiz, die kindiſche Begierde von ſich reden zu machen, die Convenienz eines Guͤnſt - lings oder die Jntriguen einer Buhlerin ‒ ‒ ‒ die Trieb - federn der Staats-Angelegenheiten, der Verbindung und Trennung mit auswaͤrtigen Machten, und des oͤffentlichen Betraͤgens? Wo, ohne die wahren Vortheile des Staats, oder ſeine Kraͤfte zu kennen, ohne Plan, ohne kluge Abwaͤgung und Verbindung der Mittel ‒ ‒ ‒ doch, wir gerathen unvermerkt in den Ton der Decla - mation, welcher uns bey einem laͤngſt erſchoͤpften und doch ſo alltaͤglichen Stoffe nicht zu vergeben waͤre. Moͤchte niemand, der dieſes ließt, aus der Erfahrung ſeines eignen Vaterlands wiſſen, wie einem Volke mit - geſpielt wird, welches das Ungluͤk hat, der Willkuͤhr eines Dionyſius preiß gegeben zu ſeyn!
Man wird ſich nach allem, was wir eben geſagt haben, den Dionyſius als einen der ſchlimmſten Tyran -nen,89Neuntes Buch, erſtes Capitel. nen, womit der Himmel jemals eine mit geheimen Ver - brechen belaſtete Nation gegeiſſelt habe, vorſtellen; und ſo ſchildern ihn auch die Geſchichtſchreiber. Allein ein Menſch der aus lauter ſchlimmen Eigenſchaften zuſam - mengeſezt waͤre, iſt ein Ungeheuer, das nicht exiſtiren kan. Eben dieſer Dionyſius würde Faͤhigkeit genug ge - habt haben, ein guter Fuͤrſt zu werden, wenn er ſo gluͤklich geweſen waͤre, zu ſeiner Beſtimmung gebildet zu werden. Aber es fehlte ſoviel, daß er die Erziehung die ſich fuͤr einen Prinzen ſchikt, bekommen haͤtte, daß ihm nicht einmal diejenige zu theil wurde, die man einem jeden jungen Menſchen von mittelmaͤſſigem Stande giebt. Sein Vater, der feigherzigſte Tyrann der jemals war, ließ ihn, von aller guten Geſellſchaft abgeſondert, unter niedrigen Sclaven aufwachſen, und der praͤſum - tive Thronfolger hatte kein andres Mittel ſich die Lange - weile zu vertreiben, als daß er kleine Wagen, hoͤlzerne Leuchter, Schemel und Tiſch’gen verfertigte. Man wuͤrde unrecht haben, wenn man dieſe ſelbſtgewaͤhlte Beſchaͤftigung fuͤr einen Wink der Natur halten wollte; es war vielmehr der Mangel an Gegenſtaͤnden und Mo - dellen, welche dem allen Menſchen angebohrnen Trieb Wiz und Haͤnde zu beſchaͤftigen, der ſich in ihm regete, eine andere Richtung haͤtten geben koͤnnen: Er wuͤrde vielleicht Verſe gemacht haben, und beſſere als ſein Vater, (der unter andern Thorheiten auch die Wuth hatte, ein Poet ſeyn zu wollen) wenn man ihm einen Ho - mer in ſeine Clauſe gegeben haͤtte. Wie manche Prin - zen hat man geſehen, welche mit der Anlage zu Augu -F 5ſten90Agathon. ſten und Trajanen, aus Schuld derjenigen, die uͤber ihre Erziehung geſezt waren, oder durch die Unfaͤhigkeit eines dummen, mit kloͤſterlichen Vorurtheilen angefuͤll - ten Moͤnchen, dem ſie auf Diſcretion uͤberlaſſen wurden in Nerone und Heliogabale ausgeartet ſind? ‒ ‒ ‒ Eine genaue und ausfuͤhrliche Entwiklung, wie dieſes zugehe; wie es unter gewiſſen gegebenen Umſtaͤnden nicht an - ders moͤglich ſey, als daß durch eine ſo fehlerhafte Ver - anſtaltung das beſte Naturell, in ein Caricaturenmaͤſſi - ges moraliſches Mißgeſchoͤpfe verzogen werden muͤſſe, waͤre, wie uns daͤucht, ein ſehr nuͤzlicher Stoff, den wir der Bearbeitung irgend eines Mannes von Genie empfehlen, der bey philoſophiſchen Einſichten eine hin - laͤngliche Kenntniß der Welt beſaͤſſe. Unſre aufgeklaͤrten und politen Zeiten ſind weder dieſes noch jenes in ſo hohem Grade, daß ein ſolches Werk uͤberfluͤſſig ſeyn ſollte; und wenn die Ausfuͤhrung der Wuͤrde des Stof - fes zuſagte, ſo zweifeln wir nicht, daß es gluͤklich ge - nug werden koͤnnte, von mancher Provinz die lange Folge von Plagen abzuwenden, welche ihr vielleicht durch die fehlerhafte Erziehung ihrer noch ungebohrnen Beherrſcher in den naͤchſten hundert Jahren bevor - ſtehen.
Die Syracuſaner waren des Jochs ſchon zu wol ge - wohnt, um einen Verſuch zu machen, es nach dem Tode des alten Dionyſius abzuſchuͤtteln. Es war nicht einmal ſoviel Tugend unter ihnen uͤbrig, daß einige von denen, welche beſſer dachten als der groſſe Hauffen, und die veraͤchtliche Brut der Paraſiten, den Muth gehabt haͤtten, ſich durch dieſe leztern hindurch bis zu dem Ohre des jungen Prinzen zu draͤngen, um ihm Wahrheiten zu ſagen, von denen ſeine eigene Gluͤkſeligkeit eben ſo wol abhieng, als die Wohlfarth von Sicilien. Ganz Syracus hatte nur einen Mann, deſſen Herz groß ge - nug hiezu war; und auch dieſer wuͤrde ſich vermuthlich in eben dieſe ſichere aber unruͤhmliche Dunkelheit einge - huͤllet haben, worein ehrliche Leute unter einer ungluͤk - weiſſagenden Regierung ſich zu verbergen pflegen; wenn ihn ſeine Geburt nicht berechtiget, und ſein Jntereſſe genoͤthiget haͤtte, ſich um die Staats-Verwaltung zu bekuͤmmern.
Dieſer Mann war Dion, ein Bruder der Stiefmut - ter des Dionys, und der Gemahl ſeiner Schweſter; der Naͤchſte nach ihm im Staat, und der Einzige, der ſich durch ſeine groſſe Faͤhigkeiten, durch ſein Anſehen bey dem Volke, und durch die unermeßliche Reichtuͤmer,die92Agathon. die er beſaß, furchtbar und des Projects verdaͤchtig machen konnte, ſich entweder an ſeine Stelle zu ſezen, oder die republicaniſche Verfaſſung wiederherzuſtellen. Wenn wir den Geſchichtſchreibern, inſonderheit dem tugendhaften und gutherzigen Plutarch einen unum - ſchraͤnkten Glauben ſchuldig waͤren, ſo wuͤrden wir den Dion unter die wenigen Helden und Champions der Tugend zaͤhlen muͤſſen, welche ſich, (um dem Plato einen Ausdruk abzuborgen) zu der Wuͤrde und Groͤſſe guter Daͤmonen, oder Beſchuͤzender Genien und Wohl - thaͤter des Menſchen-Geſchlechts emporgeſchwungen ha - ben ‒ ‒ ‒ welche faͤhig ſind, aus dem erhabenen Beweg - grunde einer reinen Liebe der ſittlichen Ordnung und des allgemeinen Beſten zu handeln, und uͤber dem Be - ſtreben, andere gluͤklich zu machen, ſich ſelbſt aufzuopfern, weil ſie unter dieſer in die Sinne fallenden ſterblichen Huͤlle ein edleres Selbſt tragen, welches ſeine ange - bohrne Vollkommenheit deſto herrlicher entfaltet, je mehr jenes animaliſche Selbſt unterdruͤkt wird ‒ ‒ ‒ welche im Gluͤk und im Ungluͤk gleich groß, durch dieſes nicht verdunkelt werden, und von jenem keinen Glanz entleh - nen, ſondern immer ſich ſelbſt genugſam, Herren ihrer Leidenſchaften, und uͤber die Beduͤrfniſſe gemeiner See - len erhaben, eine Art von ſublunariſchen Goͤttern ſind. Ein ſolcher Character faͤllt allerdings gut in die Augen, ergoͤzt den moraliſchen Sinn (wenn wir anders dieſes Wort gebrauchen duͤrfen, ohne mit Hutchinſon zu glau - ben, daß die Seele ein beſonderes geiſtiges Werkzeug, die moraliſche Dinge zu empfinden habe) und erwektden93Neuntes Buch, zweytes Capitel. den Wunſch, daß er mehr als eine ſchoͤne Schimaͤre ſeyn moͤchte. Aber wir geſtehen, daß wir, aus erheb - lichen Gruͤnden, mit zunehmender Erfahrung, immer mißtrauiſcher gegen die menſchlichen ‒ ‒ ‒ und warum alſo nicht gegen die uͤbermenſchlichen Tugenden werden.
Es iſt wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweiſe groſſer Faͤhigkeiten, und vorzuͤglich einer gewiſſen Er - habenheit und Staͤrke des Gemuͤths, die man gemei - niglich mit groͤbern, weniger reizbaren Fibern und der - jenigen Art von Temperament verbunden ſieht, welches ungeſellig, ernſthaft, ſtolz und ſproͤde zu machen pflegt. An jede Art von Temperament grenzen wie man weißt, gewiſſe Tugenden; und wenn es ſich noch fuͤgt, daß die Entwiklung dieſer Anlage zu demſelben durch guͤnſtige Umſtaͤnde befoͤrdert wird, ſo iſt nichts natuͤrlichers, als daß ſich daraus ein Character bildet, der durch ge - wiſſe hervorſtechende Tugenden blendet, die eben darum zu einer voͤlligern Schoͤnheit gelangen, weil kein inner - licher Widerſtand ſich ihrem Wachstum entgegenſezt. Dieſe Art von Tugenden finden wir bey dem Dion in groſſem Grade: Aber ihm, oder irgend einem andern ein Verdienſt daraus machen, waͤre eben ſo viel, als einem Athleten die Elaſticitaͤt ſeiner Sehnen, oder einem geſunden bluͤhenden Maͤdchen ihre gute Farbe und die Woͤlbung ihres Buſeus als Verdienſte anrechnen, welche ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben ſoll - ten. Ja, wenn Dion ſich durch diejenige Tugenden vorzuͤglich unterſchieden haͤtte, zu denen er von Naturnicht94Agathon. nicht aufgelegt war; und wenn er es ſo weit gebracht haͤtte, ſie mit eben der Leichtigkeit und Grazie auszu - uͤben, als ob ſie ihm angebohren waͤren ‒ ‒ ‒ aber wie viel daran fehlte, daß er der Philoſophie ſeines Lehrers und Freundes Platon ſoviel Ehre gemacht haͤtte, davon finden wir in den eigenen Briefen dieſes Weiſen, und in dem Betragen Dions in den wichtigſten Auftritten ſeines Lebens die zuverlaͤſſigſten Beweiſe: Niemals konnte er es dahin bringen, oder vielleicht gefiel es ihm nicht, den Verſuch zu machen, und beydes laͤuft auf Eines hinaus, dieſe Auſteritaͤt, dieſe Unbiegſamkeit, dieſe wenige Gefaͤlligkeit im Umgang, welche die Herzen von ſich zuruͤkſtieß, zu uͤberwinden. Vergebens ermahnte ihn Plato den Huldgoͤttinnen zu opfern, und erinnerte ihn, daß Sproͤdigkeit ſich nur fuͤr Einſiedler ſchike; Dion bewies durch ſeine Ungelehrigkeit uͤber dieſen Punct, daß die Philoſophie ordentlicher Weiſe uns nur die Feh - ler vermeiden macht, zu denen wir keine Anlage ha - ben, und uns nur in ſolchen Tugenden befeſtiget, zu denen wir ohnehin geneigt ſind.
Jndeſſen war er nichts deſto weniger derjenige, auf welchen ganz Sicilieu die Augen gerichtet hatte. Die Weisheit ſeines Betragens, ſeine Abneigung von allen Arten der ſinnlichen Ergoͤzungen, ſeine Maͤſſigung, Nuͤch - ternheit und Frugalitaͤt, erwarben ihm deſto mehr Hoch - achtung, je ſtaͤrker ſie mit der zuͤgelloſen Schwelgerey und Verſchwendung des Tyrannen contraſtierte. Man ſah, daß er allein im Stande war, ihm das Gleich -gewicht95Neuntes Buch, zweytes Capitel. gewicht zu halten, und man erwartete das Beſte von ihm, es ſey nun daß er ſich der Regierung fuͤr ſich ſelbſt, oder die jungen Soͤhne ſeiner Schweſter bemaͤchtigen, oder ſich begnuͤgen wuͤrde, der Mentor des Dionyſius zu ſeyn.
Die natuͤrliche Unempfindlichkeit Dions gegen die Reizungen der Wolluſt, welche den Syracuſanern ſoviel Vertrauen zu ihm gab, blendete in der Folge auch die Griechen des feſten Landes, zu denen er ſich vor dem Tyrannen zu fluͤchten genoͤthiget wurde. Selbſt die Academie, dieſe damals ſo beruͤhmte Schule der Weis - heit, ſcheint ſtolz darauf geweſen zu ſeyn, einen ſo na - hen Verwandten des wiewol unrechtmaͤſſigen Beherr - ſchers von Sicilien, unter ihre Pflegſoͤhne zaͤhlen zu koͤn - nen. Die koͤnigliche Pracht, welche er in ſeiner Lebens - art affectierte, war in ihren Augen (ſo gewiß iſt es, daß auch weiſe Augen manchmal durch die Eitelkeit verfaͤlſcht werden) der Ausdruk der innern Majeſtaͤt ſeiner Seele; ſie ſchloſſen ungefehr nach eben der Logik, welche einen Verliebten von den Reizungen ſeiner Dame auf die Guͤte ihres Herzens ſchlieſſen macht; und ſahen nicht, oder wollten nicht ſehen, daß eben dieſer von den republicaniſchen Sitten ſo weit entfernte Pomp ein ſehr deutliches Zeichen war, daß es weniger einer Er - habenheit uͤber die gewoͤhnlichen Schwachheiten der Groſſen und Reichen, als dem Mangel der Begierden zu zuſchreiben ſey, wenn derjenige gegen die Vergnuͤ - gungen der Sinne gleichguͤltig war, der ſich von derEitelkeit96Agathon. Eitelkeit dahinreiſſen ließ, durch ein Gepraͤnge mit Reich - tuͤmern, deren er ſich als der Fruͤchte ſeiner Verhaͤlt - niſſe mit der Familie des Tyrannen vielmehr haͤtte ſchaͤmen ſollen, unter einem freyen Volke ſich unter - ſcheiden zu wollen.
Doch, indem ich dieſe Gelegenheit ergreife, die uͤber - triebene Lobſpruͤche zu maͤſſigen, welche an die Guͤnſt - linge des Gluͤkes verſchwendet zu werden pflegen, ſobald ſie einigen Schimmer der Tugend von ſich werfen; be - gehre ich nicht in Abrede zu ſeyn, daß Dion, ſo wie er war, einen Thron eben ſo wuͤrdig erfuͤllt haben wuͤrde, als wenig er ſich ſchikte, mit einem durch die lange Gewohnheit der Feſſeln entnervten Volke, in dem Mit - telſtand zwiſchen Sclaverey und Freyheit, worein er daſſelbe in der Folge durch die Vertreibung des Diony - ſius ſezte, ſo ſanft und behutſam umzugehen, als es haͤtte geſchehen muͤſſen, wenn ſeine Unternehmung fuͤr die Syracuſaner und ihn ſelbſt gluͤklich haͤtte ausſchlagen ſollen. Plutarch vergleicht dieſes Volk, in dem Zeit - punct, da es das Joch der Tyrannie abzuſchuͤtteln an - ſieng, ſehr gluͤklich mit Leuten, die von einer langwieri - gen Krankheit wieder aufſtehen, und, ungeduldig ſich der Vorſchrift eines klugen Arztes in Abſicht ihrer Diaͤt zu unterwerfen, ſich zu fruͤh wie geſunde Leute betra - gen wollen. Aber darinn koͤnnen wir nicht mit ihm einſtimmen, daß Dion dieſer geſchikte Arzt fuͤr ſie ge - weſen ſey. Sehr wahrſcheinlich hat die platoniſche Phi - loſophie ſelbſt, von deren idealiſcher Sitten - und Staats -Lehre97Neuntes Buch, zweytes Capitel. Lehre er ein ſo groſſer Bewunderer war, ſehr vieles dazu beygetragen, daß er weniger als ein Andrer, der nicht nach ſo ſehr abgezogenen Grundſaͤzen gehandelt haͤtte, zum Arzt eines aͤuſſerſt verdorbenen Volkes geeigen - ſchaftet war. Vielfaͤltige Erfahrungen zu verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Voͤlkern haben es gewie - ſen, daß die Dion, die Caton, die Brutus, die Alger - non Sidney allemal ungluͤklich ſeyn werden, wenn ſie einen von alten boͤßartigen Schaden entkraͤfteten und zerfreſſenen Staats-Koͤrper in den Stand der Geſund - heit wieder herzuſtellen verſuchen. Zu einer ſolchen Operation gehoͤren viele Gehuͤlfen; und Maͤnner von einer ſo auſſerordentlichen Art ſind unter einer Million Menſchen allein: Es iſt genug, wenn das Ziel, wie So - lon von ſeinen Geſezen ſagte, das Beſte iſt, das in den vorliegenden Umſtaͤnden zu erreichen ſeyn mag; und Sie wollen immer das Beſte, das ſich denken laͤßt: Alle Mittel welche zugleich am gewiſſeſten und baͤldeſten zu dieſem Ziel fuͤhren, ſind die Beſten; und ſie wollen keine andre gebrauchen, als welche nach den ſtrengeſten Regeln einer oft allzuſpizfuͤndigen Gerechtigkeit und Guͤte, rechtmaͤſſig und gut ſind. Loͤblich, vortreflich, goͤtt - lich! ‒ ‒ ‒ ruffen die ſchwaͤrmeriſchen Bewunderer der heroiſchen Tugend ‒ ‒ ‒ wir wollten gerne mitruffen, wenn man uns nur erſt zeigen wollte, was dieſe hochgetrie - bene Tugend dem menſchlichen Geſchlecht jemals gehol - fen habe ‒ ‒ Dion zum Exempel, von den erhabenen Jdeen ſeines Lehrmeiſters eingenommen, wollte dem be - freyten Syracus eine Regierungs-Form geben, welche[Agath. II. Th.] Gſo98Agathon. ſo nah als moͤglich an die Platoniſche Republik graͤnzte — und verfehlte daruͤber, zu ſeinem eignen Untergang, die Mittel, ihr diejenige zu geben, deren ſie faͤhig war. Brutus half den Groͤſſeſten der Sterblichen, den Faͤhig - ſten, eine ganze Welt zu regieren, der jemals geboh - ren worden iſt, ermorden; weil ihm, in Ruͤkſicht auf die Mittel wodurch er zur hoͤchſten Gewalt gelanget war, die Definition eines Tyrannen zukam. Brutus wollte die Republik wiederherſtellen. Noch einen Dolch fuͤr den Marcus Antonius, (wie es der nicht ſo erha - ben aber richtiger denkende Caſſius verlangte) ſo waͤren Stroͤme von Blut, ſo waͤre das edelſte Blut von Rom, das koſtbare Leben der beſten Buͤrger geſparet worden, und der gluͤkliche Ausgang der ganzen Unternehmung verſichert geweſen. Haͤtte ſich derjenige, der dem ver - meynten allgemeinen Beſten ſeines Vaterlandes ein ſo groſſes Opfer gebracht hatte als Caͤſar war, ein Be - denken machen ſollen, ſeinem majeſtaͤtiſchen Schatten einen Antonius nachzuſchiken? ‒ ‒ ‒ Um eine That, welche, ohne Succeß wie ſie blieb, in den Augen ſei - ner Zeitgenoſſen ein verabſcheuungswuͤrdiger Meuchel - mord war, und der unpartheyiſchern Nachwelt im ge - lindeſten Lichte betrachtet, wahnſinniger Enthuſiasmus ſcheinen muß, zu einer ſo glorreichen Unternehmung zu machen, als jemals die groſſe Seele eines Roͤmers geſchwellt hatte. Aber Brutus hatte Bedenklichkeiten, welche ihm eine unzeitige Guͤte eingab; ſein Auſehen entſchied; Antonius bedankte ſich fuͤr ſein Leben, und begrub den Platoniſchen Brutus unter den Truͤmmern,der99Neuntes Buch, zweytes Capitel. der auf ewig umgeſtuͤrzten Republik. Was half alſo ſein Platonismus dem Vaterlande? Wir haben uns viel - leicht zu lange bey dieſer Betrachtung aufgehalten; aber die Beobachtung, die uns dazu verleitet hat, ſo alt ſie iſt, ſcheint uns wichtig und an practiſchen Folgerungen fruchtbar, deren Nuzbarkeit ſich uͤber alle Staͤnde aus - breiten, und beſonders bey denjenigen welche mit der Regierung und moraliſchen Diſciplinirung der Menſchen beſchaͤftiget ſind, ſich vorzuͤglich aͤuſſern wuͤrde, wenn ſie beſſer eingeſehen und mit eben ſo viel Redlichkeit als Klugheit angewendet wuͤrden. Vielleicht wuͤrden die Augen derjenigen, welche weder durch einen Nebel noch durch gefaͤrbte Glaͤſer ſehen, mit dem weinerlichlaͤcher - lichen Schauſpiel von ſo vielen ehrlichen Leuten verſchont bleiben, die aus allen Kraͤften und mit der feyrlichſten Ernſthaftigkeit leeres Stroh dreſchen, und wenn ſie das ganze Jahr durch gedreſchet haben, ſich ſehr verwun - dern, daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt ‒ ‒ ‒ der Patriotiſche Phlegon wuͤrde ſich durch den allzuhizigen Eyfer, ſeine in allen Theilen verdorbene Republik auch einmal durch eben ſo hizige Mittel wieder geſund zu machen, nicht ſo viel Verdruß zuziehen, und durch die - ſen Verdruß und die Vergeblichkeit ſeiner undankbaren Bemuͤhungen nicht veranlaſſet werden, ſich zu Tode ‒ ‒ ‒ zu trinken ‒ ‒ ‒ Der redliche Macrin wuͤrde ſich nicht auf Unkoſten ſeiner Freyheit und vielleicht ſeines Lebens in den Kopf ſezen, aus einem Caligula einen Marc Aurel zu machen ‒ ‒ ‒ Der wohlmeynende Diophant wuͤrde einſehen, wie wenig Hofnung er ſich zu machen habe,G 2Leute,100Agathon. Leute, welche noch ſehr weit entfernt ſind ertraͤgliche Menſchen zu ſeyn, in eine Engelaͤhnliche Vollkommen - heit hinein zu declamiren ‒ ‒ ‒ Doch genug von einer Materie, welche um gehoͤrig ausgefuͤhrt zu werden, eine eigene Abhandlung erfoderte.
Wie leicht es doch iſt, ſeine nichts uͤbels beſorgende Leſer in einen Labyrinth von Parentheſen und Digreſſio - nen hineinzufuͤhren, wenn man ſich einmal uͤber eine aberglaͤubiſche Regelmaͤſſigkeit hinausgeſezt hat! Zwar haben wir die Unſrigen ſchon lange benachrichtiget, daß wir uns bey Gelegenheit dergleichen Freyheiten erlau - ben wuͤrden ‒ ‒ ‒ Und doch wollen wir ſo ehrlich ſeyn und geſtehen, daß wir uns weder in dieſem Stuͤk, noch, die Wahrheit zu ſagen, in irgend einem andern, Nach - ahmer zu bekommen wuͤnſchen. Nicht als ob uns bange davor ſey, man werde Ordnung und Zuſammen - hang in dieſer unſrer pragmatiſch-critiſchen Geſchichte vermiſſen; ſondern weil es in der That unendlich ma - leichter iſt Miſcellanien zu ſchreiben, als ein ordentli - ches Werk, und es daher leicht geſchehen koͤnnte, daß ein junger Scribent, der ſich ſeiner beſſern Bequemlich - keit wegen unſrer Methode bedienen wollte, ſich die Horaziſche Frage zuziehen koͤnnte: Currente rotâ cur urceus exit? Und wenn auch dieſes nicht zu beſorgen waͤre, ſo giebt es ſehr wakere Leute, denen es ſchwehr faͤllt, ſich aus dergleichen maͤandriſchen Abſchweiffun - gen wieder herauszuhelfen, und ſobald es dem Verfaſ - ſer beliebt, wieder auf dem Punct zu ſtehen, wo er mitihm101Neuntes Buch, zweytes Capitel. ihm ausgegangen iſt. Was hat man uns, werden ſolche Leſer, zum Exempel fragen, in dieſem ganzen Capitel denn eigentlich ſagen wollen? ‒ ‒ ‒ Merken ſie auf, meine Herren, das war es ‒ ‒ ‒ daß dieſer Dion von dem die Rede war, und um den Sie Sich uͤbrigens, wie ich vermuthe, ſehr wenig bekuͤmmern, eine ganz gute Art von Prinzen, aber doch nicht ganz ſo ſehr ein Held von Tugend geweſen ſey, wie ihn ein gewiſſer ehrlicher Ober-Prieſter zu Chaͤronea ſich eingebildet ‒ ‒ oder wenn man ihm auch eingeſtehen wollte, daß er’s geweſen ſey, eben dadurch an ſeinem Plaz nicht ſoviel getaugt habe, als Sie, meine Herren, indem Sie ihrem Hausweſen wol vorſtehen, ſich wol mit ihrer Gemahlin betragen, ihr Rechnungs-Buch in guter Ordnung halten, und was dergleichen mehr iſt ‒ ‒ Nun verſtehen wir einan - der doch?
Die vorlaͤuffigen Nachrichten, welche wir dem Leſer zu geben haben, entfernen uns ziemlich lange von un - ſerm Helden; allein, fuͤr Eins, ſo ſind ſie zum Ver - ſtaͤndniß des Folgenden unentbehrlich; und fuͤrs Andere, ſo haͤtten wir auch dermalen nichts wichtigers von ihm zu ſagen, als daß er im Begrif ſey, den HausgoͤtternG 3ſeines102Agathon. ſeines Freundes, des Kaufmanns, eine andaͤchtige Liba - tion zu bringen, mit ſeiner Familie Bekanntſchaft zu machen, und nach einer leichten Abendmahlzeit von den Beſchwerden der Seefarth auszuruhen.
Dion ſah die Ausſchweiffungen des Dionys mit der Verachtung eines kaltſinnigen Philoſophen an, der keine Luſt hatte Theil daran zu nehmen; und mit dem Ver - druß eines Staatsmannes, der ſich in Gefahr ſah, durch einen Hauffen junger Wolluͤſtlinge, Luſtigmacher, Pantomimen und Narren, welche kein anderes Ver - dienſt hatten, als den Prinzen zu beluſtigen, von dem Anſehen, und dem Antheil an der Regierung, der ihm aus ſo guten Gruͤnden gebuͤhrte, nach und nach aus - geſchloſſen zu werden. Bey ſolcher Bewandtniß hatte der Patriotismus das ſchoͤnſte Spiel, und die groſſen Beweggruͤnde der allgemeinen Wolfarth, die uneigen - nuͤzige Betrachtung der verderblichen Folgen, welche aus einer ſo heilloſen Beſchaffenheit des Hofes uͤber den gan - zen Staat daherſtuͤrzen mußten, wurden durch jene ge - heimern Triebfedern ſo kraͤftig unterſtuͤzt, daß er den feſten Entſchluß faßte, alles zu verſuchen, um ſeinen Verwandten auf einen beſſern Weg zu bringen.
Er urtheilte, den Grundſaͤzen Platons zufolge, daß die Unwiſſenheit des Dionyſius, und die Gewohnheit unter dem niedriggeſinnteſten Poͤbel (es waren mit alle dem junge Herren von ſehr gutem Adel darunter) zu leben, die Haupt-Quelle ſeiner verdorbenen Neigungenſey.103Neuntes Buch, drittes Capitel. ſey. Dieſem nach hielt er ſich ſeiner Verbeſſerung ver - ſichert, wenn er die beſte Geſellſchaft um ihn her ver - ſammeln, und ihm dieſe edle Wiſſensbegierde einfloͤſſen koͤnnte, welche bey denenjenigen, die von ihr begeiſtert ſind, die animaliſchen Triebe wo nicht gaͤnzlich zu unter - druͤken, doch gewiß zu daͤmmen und zu maͤſſigen pflegt. Er ließ alſo keine Gelegenheit vorbey (und die unzaͤh - lichen Fehler, welche taͤglich in der Staats-Verwaltung gemacht wurden, gaben ihm Gelegenheit genug) dem Tyrannen die Nothwendigkeit vorzuſtellen, Maͤnner von einem groſſen Ruf der Weisheit um ſich zu haben; und er fuͤhrte ſo viele Beweggruͤnde an, daß er, unter einer Menge ſehr erhabener, die an einem Dionyſius verloh - ren giengen, endlich auch den einzigen traf, der ſeine Eitelkeit intereſſierte. Doch ſelbſt dieſer ſchluͤpfte nur leicht an ſeinen Ohren hin, und ob er gleich dem Dion immer Recht gab, und die beſondern Unterredungen, welche ſie uͤber dergleichen Materien hatten, allemal mit der Verſicherung beſchloß, daß er nicht ermangeln werde, von ſo gutem Rath, Gebrauch zu machen; ſo wuͤrde doch ſchwerlich jemals mit Ernſt daran gedacht worden ſeyn, wenn nicht ein kleiner phyſicaliſcher Umſtand dazu gekommen waͤre, der den Vorſtellungen des weiſen Dion eine Staͤrke gab, die nicht ihre eigene war.
Dionyſius hatte, man weiß nicht aus welcher Veran - laſſung, ſeinem Hof, der an Glanz und verſchwenderi - ſcher Ueppigkeit es mit den Aſiatiſchen aufnehmen konnte, ein Feſt gegeben, welches, nach der Verſicherung derG 4Geſchicht -104Agathon. Geſchichtſchreiber, drey Monate in einem fort daurte Die ausſchweiffendeſte Einbildungs-Kraft kan nicht wei - ter gehen, als auf der einen Seite, Pracht und Auf - wand, und auf der andern Schwelgerey und aſotiſche Freyheit an dieſem langwierigen Bacchanal getrieben wurden; denn dieſen Namen verdiente es um ſo mehr, weil, nachdem alle andre Erfindungen erſchoͤpft waren, die lezten Tage des dritten Monats, welche in die Wein - leſe fielen, zu einer Vorſtellung des Triumphes des Bacchus und ſeiner ganzen portiſchen Geſchichte ange - wendet wurden. Dionys, der durch eine Anſpielung auf ſeinen Nahmen den Bacchus machte, trieb die Nachahmung ſo weit uͤber das Original ſelbſt, daß die Feder eines Aretin und der Griffel eines la Fage ſich unvermoͤgend haͤtten bekennen muͤſſen, weiter zu gehen. Die Quellen der Natur wurden erſchoͤpft, und die un - maͤchtige Begierde ihre Grenzen zu erweitern ‒ ‒ Doch, wir wollen kein Gemaͤhlde machen, das bey Gegenſtaͤn - den dieſer Art die Abſicht, Abſcheu zu erweken, bey manchen verfehlen moͤchte. Genug daß Dionys mit den Silenen, Nymphen, Faunen und Satyren, ſeinen Gehuͤlfen, die Tibere und Neronen der ſpaͤtern Zeiten in die Unmoͤglichkeit ſezte, etwas mehr als bloſſe Copi - ſten von ihm zu ſeyn. Wer ſollte ſich vorſtellen, daß aus einer ſo ſchlammichten Quelle die heftigſte Liebe der Philoſophie, und eine Reformation, welche ganz Sicilien und Griechenland in Erſtaunen ſezte, habe entſpringen koͤnnen? ‒ ‒ Aber im Himmel und auf Er - den ſind eine Menge Dinge, wovon kein Wort in un -ſerm105Neuntes Buch, drittes Capitel. ſerm Compendio ſteht ‒ ‒ ſagt der Shakeſpeariſche Ham - let zu ſeinem Schulfreunde, Horazio.
Das unbaͤndigſte Temperament kan auf die Weiſe, wie es Dionyſius angieng, endlich zu paaren getrieben werden. Unſre Bacchanten fanden ſich von der Unmaͤſ - ſigkeit, womit ſie eine ſo lange Zeit den Goͤttern der Freude geopfert, und von der Wuth womit ſie ihre Orgyia beſchloſſen hatten, ſo erſchoͤpft, daß ſie genoͤthi - get waren, aufzuhoͤren, Jnſonderheit befand ſich Dio - nyß in einem Stande der Vernichtung, der ihm weder Hofnung noch Begierden uͤbrig ließ, jemals wieder eine ſolche Rolle zu ſpielen. Zum erſten mal ſeit dem be - rauſchenden Augenblike, da er ſich im Beſiz der Gewalt, allen ſeinen Leidenſchaften den Zuͤgel zu laſſen ſah, fuͤhlte er ein Leeres in ſich, in welches er mit Grauen hinein - ſchaute ‒ ‒ ‒ Zum erſten mal fuͤhlte er ſich geneigt, Re - flexionen zu machen, wenn er das Vermoͤgen dazu ge - habt haͤtte. Aber er erfuhr, mit einem lebhaften Un - willen uͤber ſich ſelbſt und alle diejenigen, welche ihn zu einem Thier zu machen geholfen hatten, daß er nichts in ſich habe, das er dem Ekel vor allen Vergnuͤgun - gen der Sinne, und der Langenweile, worinn er ſich verzehrte, entgegenſtellen koͤnnte. Alles was er indeſſen ſehr lebhaft fuͤhlte, war dieſes, daß er mitten unter lauter Gegenſtaͤnden, welche ihm ſeine ſcheinbare Groͤſſe und Gluͤkſeligkeit ankuͤndigten, in dem Zuſtande worinn er war, ſich ſelbſt gegen uͤber eine ſehr elende Figur machte. Kurz, alle Fibern ſeines Weſens hatten ſoG 5ſehr106Agathon. ſehr nachgelaſſen, daß er in eine Art von dummer Schwermuth verfiel, aus welcher ihn alle ſeine Hoͤflinge nicht herauslachen, und alle ſeine Taͤnzerinnen nicht her - austanzen konnten.
Jn dieſem klaͤglichen Zuſtande, den ihm die natuͤr - liche Ungeduld ſeines Temperaments unertraͤglich machte, warf er ſich in die Arme des Dions, der ſich waͤhrend der lezten drey Monate in ein entferntes Landgut zuruͤk - gezogen hatte; hoͤrte ſeine Vorſtellungen mit einer Auf - merkſamkeit an, deren er ſonſt niemals faͤhig geweſen war; und ergrif mit Verlangen die Vorſchlaͤge, welche ihm dieſer Weiſe that, um ſo groß und gluͤkſelig zu wer - den, als er izt in ſeinen eignen Augen veraͤchtlich und elend war. Man kan ſich alſo vorſtellen, daß er nicht die mindeſte Schwierigkeiten machte, den Plato unter allen Bedingungen, welche ihm ſein Freund Dion nur immer anbieten wollte, an ſeinen Hof zu beruffen; er, der in dem Zuſtande, worinn er war, ſich von dem erſten beſten Prieſter der Cybele haͤtte uͤberreden laſſen, mit Aufopferung der werthern Haͤlfte ſeiner ſelbſt in den Orden der Corybanten zu treten.
Dion wurde bey ſo ſtarken Anſcheinungen zu einer vollkommenen Sinnes-Aenderung des Tyrannen von ſeiner Philoſophie nicht wenig betrogen. Er ſchloß zwar ſehr richtig, daß die Raſereyen des lezten Feſtes Gele - genheit dazu gegeben haͤtten; aber darinn irrte er ſehr, daß er aus Vorurtheilen, die einer Philoſophie eigenſind,107Neuntes Buch, drittes Capitel. ſind, welche gewohnt iſt die Seele, und was in ihr vor - geht, allzuſehr von der Maſchine in welche ſie eingefloch - ten iſt, abzuſondern, nicht gewahr wurde, daß die guten Diſpoſitionen des Dionys ganz allein von einem phyſica - liſchen Ekel vor den Gegenſtaͤnden, worin er bisher ſein einziges Vergnuͤgen geſucht hatte, herruͤhreten. Er hielt die natuͤrlichen Folgen der Ueberfuͤllung fuͤr Wuͤr - kungen der Ueberzeugung, worinn er nunmehr ſtehe, daß die Freuden der Sinne nicht gluͤklich machen koͤn - nen; er ſezte voraus, daß eine Menge Sachen in ſeiner Seele vorgegangen ſeyen, woran Dionyſens Seele we - der gedacht hatte, noch zu denken vermoͤgend war; kurz, er beurtheilte, wie wir faſt immer zu thun pfle - gen, die Seele eines andern nach ſeiner Eigenen, und gruͤndete auf dieſe Vorausſezung ein Gebaͤude von Hof - nungen, welches zu ſeinem groſſen Erſtaunen zuſammen - ſiel, ſobald Dionys ‒ ‒ ‒ wieder Nerven hatte.
Die Beruffung des Plato war eine Sache, an wel - cher ſchon geraume Zeit gearbeitet worden war; allein er hatte groſſe Schwierigkeiten gemacht, und wuͤrde, ungeachtet des Zuſpruchs ſeiner Freunde, der Pytha - goraͤer in Jtalien, welche die Bitten Dions unterſtuͤz - ten, auf ſeiner Verweigerung beſtanden ſeyn, wenn die erfreulichen Nachrichten, die ihm Dion von der gluͤklichen Gemuͤths-Verfaſſung des Tyrannen gab, und die dringenden Einladungen, die in deſſelben Nahmen an ihn ergiengen, ihm nicht Hofnung gegeben haͤtten, der Schuzgeiſt Siciliens, und vielleicht der Stifter einerneuen108Agathon. neuen Republik nach dem Model derjenigen, die er uns in ſeinen Schriften hinterlaſſen hat, werden zu koͤnnen.
Plato erſchien alſo am Hofe zu Syracus mit aller Majeſtaͤt eines Weiſen, dem die Groͤſſe ſeines Geiſtes ein Recht giebt, die Groſſen der Welt fuͤr etwas weni - ger als ſeines gleichen anzuſehen. Denn ob es gleich damals noch keine Stoiker gab, ſo pflegten doch die Philoſophen von Profeſſion bereits ſehr beſcheidentlich zu verſtehen zu geben, daß ſie in ihren eigenen Augen, eine hoͤhern Claſſe von Weſen ausmachten, als die uͤbri - gen Erdenbewohner. Dieſesmal hatte die Philoſophie das Gluͤk eine Figur zu machen, deren Glanz dieſer hohen Einbildung ihrer Guͤnſtlinge gemaͤß war. Plato wurde wie ein Gott aufgenommen, und wuͤrkte durch ſeine bloſſe Gegenwart eine Veraͤnderung, welche, in den Augen der erſtaunten Syracuſaner, nur ein Gott zu wuͤrken maͤchtig genug ſchien. Jn der That gliech das Schauſpiel welches ſich demjenigen, der dieſen Hof vor wenigen Wochen geſehen hatte, nunmehro darſtellte, einem Werke der Zauberey ‒ ‒ ‒ Aber ‒ ‒ ‒ ô! cœcas ho - minum mentes! Wie natuͤrlich geht auch das auſſer - ordentlichſte zu, ſobald wir die wahren Triebraͤder da - von kennen!
Der erſte Schritt, welchen der goͤttliche Plato in den Palaſt des Dionyſius that, wurde durch ein feyr - liches Opfer, und die erſte Stunde, worinn ſie ſich miteinander109Neuntes Buch, drittes Capitel. einander beſprachen, durch eine Reforme, welche ſich ſogleich uͤber den ganzen Hof ausbreitete, bezeichnet. Jn wenigen Tagen glaubte Plato ſelbſt in ſeiner Aca - demie zu Athen zu ſeyn, ſo beſcheiden und eingezogen ſah alles in dem Hauſe des Prinzen aus. Die Aſiati - ſche Verſchwendung machte auf einmal der philoſophi - ſchen Einfalt Plaz. Die Vorzimmer, welche vorher von ſchimmernden Geken, und allen Arten luſtigma - chender Perſonen gewimmelt hatten, ſtellten izt acade - miſche Saͤle vor, wo man nichts als langbaͤrtige Weiſe ſah, welche einzeln oder paarweiſe, mit geſenktem Haupt und gerunzelter Stirne, in ſich ſelbſt und in ihre Maͤn - tel eingehuͤllt auf und ab ſchritten, bald alle zugleich, bald gar nichts, bald nur mit ſich ſelbſt ſprachen, und wenn ſie vielleicht am wenigſten dachten, eine ſo wich - tige Mine machten, als ob der geringſte unter ihnen mit nichts kleinerm umgienge, als die beſte Geſezgebung zu erfinden, oder den Geſtirnen einen regelmaͤſſigern Lauf anzuweiſen. Die uͤppigen Bankette, bey denen Comus und Bacchus mit tyranniſchem Scepter die ganze Nacht durch geherrſchet hatten, verwandelten ſich in Pythagoriſche Mahlzeiten, wo man ſich bey einem Bra - ten und Salat mit ſinnreichen Geſpraͤchen uͤber die erhabenſten Gegenſtaͤnde des menſchlichen Verſtandes, er - luſtigte; Statt frecher Pantomimen und wolluͤſtiger Floͤ - ten lieſſen ſich Hymnen zum Lob der Goͤtter und der Tugend hoͤren; und den Gaum zum Reden anzufeuch - ten, trank man aus kleinen Socratiſchen Bechern Waſ - ſer mit Wein vermiſcht.
Dionys110Agathon.Dionys faßte eine Art von Leidenſchaft fuͤr den Phi - loſophen; Plato mußte immer um ihn ſeyn, ihn aller Orten begleiten, zu allem ſeine Meynung ſagen. Die begeiſterte Jmagination dieſes ſonderbaren Mannes, welche vermoͤge der natuͤrlichen Anſtekungs-Kraft des Enthuſiaſmus ſich auch ſeinen Zuhoͤrern mittheilte, wuͤrkte ſo maͤchtig auf die Seele des Dionys, daß er ihn nie genug hoͤren konnte; ganze Stunden wurden ihm kuͤrzer, wenn Plato ſprach, als ehemals in den Armen der kunſterfahrenſten Buhlerin. Alles, was der Weiſe ſagte, war ſo ſchoͤn, ſo erhaben, ſo wun - derbar! ‒ ‒ erhob den Geiſt ſo weit uͤber ſich ſelbſt ‒ ‒ warf Stralen von ſo goͤttlichem Licht in das Dunkel der Seele! Jn der That konnte es nicht anderſt ſeyn, da die gemeinſten Jdeen der Philoſophie fuͤr Dionyſen den friſcheſten Reiz der Neuheit hatten. Und nehmen wir zu allem dieſem noch, daß er das wenigſte recht verſtund (ob er gleich, wie viele andere ſeines gleichen, zu eitel war, es merken zu laſſen) noch alles verſtehen konnte, weil der begeiſterte Plato ſich wuͤrklich zuwei - len ſelbſt nicht allzuwol verſtund; nehmen wir ferner die erſtaunliche Gewalt, welche ein in ſchimmernde Bilder eingekleidetes Galimathias uͤber die Unwiſſenden zu haben pflegt; ſo werden wir begreifen, daß niemals etwas natuͤrlichers geweſen, als der auſſerordentliche Ge - ſchmak, welchen Dionys an dem Gott der Philoſophen, (wie ihn Cicero nennt) gefunden; zumal da er noch uͤber dis ein huͤbſcher und ſtattlicher Mann war, und ſehr wol zu leben wußte.
Ohne111Neuntes Buch, drittes Capitel.Ohne daß ſich die Ueberredungs-Kunſt des goͤttlichen Plato, oder die Contagion der Philoſophiſchen Schwaͤr - merey darein miſchte, theilte ſich die ploͤzliche Wiſſens - Begierde des Dionys, ſo bald man ſah, daß es Ernſt war, eben ſo ploͤzlich allen ſeinen Hoͤflingen mit. Nicht, als ob ihnen viel daran gelegen geweſen waͤre, ihre kleinen Affen-Seelen nach dem goͤttlichen Modell der Jdeen umzubilden, oder als ob ſie ſich darum bekuͤm - mert haͤtten, was in den uͤberhimmliſchen Raͤumen zu ſehen ſey; aber ſie thaten doch dergleichen; der Ton der Philoſophie war nun einmal Mode; man mußte Me - taphyſik in geometriſchen Ausdruͤken reden, um ſich dem Fuͤrſten angenehm zu machen. Man trug alſo am gan - zen Hofe keine andre als philoſophiſche Maͤntel; alle Saͤle des Palaſts waren, nach Art der Gymnaſien mit Sand beſtreut, um mit allen den Dreyeken, Vier - eken, Pyramiden, Achteken und Zwanzigeken uͤber - ſchrieben zu werden, aus welchen Plato ſeinen Gott dieſe ſchoͤne runde Welt zuſammenleimen laͤßt; alle Leute, bis auf die Koͤche, ſprachen Philoſophie, hatten ihr Geſicht in irgend eine geometriſche Figur verzogen, und disputierten uͤber die Materie und die Form, uͤber das was iſt und was nicht iſt, uͤber die beyden Enden des Guten und Boͤſen, und uͤber die beſte Republik. Alles dieſes machte freylich ein ziemlich ſeltſames Ausſehen, und konnte den Verdacht erweken, als ob Plato an dem Syracuſiſchen Hofe eher die Rolle eines aufge - blaſenen Pedanten unter einem Hauffen unbaͤrtiger Scho - laren geſpielt habe, als eines weiſen Mannes, der ſicheinen112Agathon. einen groſſen Zwek vorgeſezt hat, und die Mittel dazu, nach den Umſtaͤnden des Orts, der Zeit und der Per - ſonen, kluͤglich zu beſtimmen weiß. Aber man wuͤrde ſich irren. Er hatte an den laͤcherlichen Ausſchweiffun - gen der Hofleute wenig Antheil; ob er gleich ganz gern ſah, daß dieſe unnuͤze Hummeln, welche er nicht auf einmal austreiben konnte, auf ſolche Spielwerke ver - fielen, die doch immer als eine Art von Voruͤbungen angeſehen werden konnten, wodurch ſie unvermerkt von ihren vorigen Gewohnheiten abgezogen, und durch den Geſchmak an Wiſſenſchaft zu der allgemeinen Verbeſſe - rung, welche er zu bewuͤrken hofte, vorbereitet wur - den. Allein ſeine eigene hauptſaͤchlichſten Bemuͤhungen bezogen ſich unmittelbar auf den Dionyſius ſelbſt; und indem er ihn durch die Reizungen ſeines Umgangs und ſeiner Beredſamkeit zu humaniſieren, und an ſich zu ge - woͤhnen ſuchte, trachtete er, ohne es allzudeutlich zu erkennen zu geben, dahin, ihm die Verachtung ſeines vorigen Zuſtandes, die Liebe der Tugend, Begierden nach ruhmwuͤrdigen Thaten; kurz, ſolche Geſinnun - gen einzufloͤſſen, welche ihn durch unmerkliche Grade von ſich ſelbſt auf die Gedanken bringen wuͤrden, ein unrechtmaͤſſiges Diadem von ſich zu werfen, und ſich an der Ehre, der erſte unter ſeines gleichen zu ſeyn, genuͤgen zu laſſen. Die Anſcheinungen lieſſen ihn den vollkommenſten Succeß hoffen. Dionys ſchien in weni - gen Tagen nicht mehr der vorige Mann. Seine Wiſ - ſens-Begierde, ſeine Gelehrigkeit gegen die Raͤthe des Philoſophen, das Sanfte und Ruhige in ſeinem ganzenBetragen113Neuntes Buch, drittes Capitel. Betragen uͤbertraf alles, was ſich Dion von ihm ver - ſprochen hatte. Ganz Syracus empfand ſogleich die Wuͤrkungen dieſer gluͤklichen Veraͤnderung. Er gieng mit einer unglaublichen Behendigkeit von dem hoͤchſten Grade des tyranniſchen Uebermuths zu der Popularitaͤt eines Athenienſiſchen Archonten uͤber; ſezte alle Tage einige Stunden aus, um jedermann mit einnehmen - der Leutſeligkeit anzuhoͤren, nannte ſie Mitbuͤrger, wuͤnſchte ſie alle gluͤklich machen zu koͤnnen; machte wuͤrk - lich den Anfang, verſchiedene gute Anordnungen zu ver - anſtalten, und erwekte durch ſo viele guͤnſtige Vorzei - chen die allgemeine Erwartung einer gluͤkſeligen Revo - lution, welche nun auf einmal der Gegenſtand aller Wuͤnſche, und der Jnhalt aller Geſpraͤche unter dem Volke wurde.
Es könnte genug ſeyn, gegen diejenige, die eine ſo groſſe und ſchnelle Verwandlung eines Prinzen, den wir fuͤr ein kleines Ungeheuer von Laſtern und Aus - ſchweifungen gegeben haben, unglaublich vorkommen moͤchte, uns auf die einhellige Auſſage der Geſchicht - ſchreiber zu beruffen; aber wir koͤnnen noch mehr thun; es iſt leicht, die Moͤglichkeit und Wahrſcheinlichkeit der - ſelben begreiflich zu machen. Aufmerkſame Leſer, welche einige Kenntniß des menſchlichen Herzens haben, werden die Gruͤnde hierzu in unſrer bißherigen Erzaͤh - lung ſchon von ſelbſten entdekt haben. Jn einem Ge - muͤths-Zuſtande, worinn die Leidenſchaften ſchweigen, wo uns vor den Ergoͤzungen der Sinne ekelt, und der[Agath. II. Th.] HMangel114Agathon. Mangel an angenehmen Eindruͤken uns in einen be - ſchwerlichen Mittelſtand zwiſchen Seyn und Nichtſeyn verſenkt ‒ ‒ ‒ in einem ſolchen Zuſtande, iſt die Seele be - gierig, einen jeden Gegenſtand zu umfaſſen, der ſie aus dieſem unleidlichen Stillſtand ihrer Kraͤfte ziehen kan, und alſo am beſten aufgelegt, den Reiz ſittlicher und intellectualiſcher Schoͤnheiten zu empfinden. Aller - dings wuͤrde ein trokner Zergliederer metaphyſiſcher Be - griffe ſich nicht dazu geſchikt haben, ſolche Gegen - ſtaͤnde fuͤr einen Menſchen zu zurichten, der zu einer ſcharfen Aufmerkſamkeit eben ſo ungeduldig als unver - moͤgend war. Allein die Beredſamkeit des Homers der Philoſophen wußte ſie auf eine ſo reizende Art fuͤr die Einbildungs-Kraft zu vercoͤrpern, wußte die Lei - denſchaften und innerſten Triebe des Herzens ſo geſchikt fuͤr ſie ins Spiel zu ſezen, daß ſie nicht anders als ge - fallen und ruͤhren konnten. Hiezu kam noch die Jugend des Tyrannen, welche ſeine noch nicht verhaͤrtete Seele neuer Eindruͤke faͤhig machte. Warum ſollte es alſo nicht moͤglich geweſen ſeyn, ihm unter ſolchen Umſtaͤn - den auf etliche Wochen die Liebe der Tugend einzufloͤſ - ſen, da hiezu weiter nichts noͤthig war, als ſeinen Neigungen unvermerkt andre Gegenſtaͤnde an die Stelle derjenigen, deren er uͤberdruͤſſig war, zu unterſchie - ben ‒ ‒ ‒ Denn in der That war ſeine Bekehrung nichts anders, als daß er nunmehr, anſtatt irgend einer Wol - luſt-athmenden Nymphe, ein ſchoͤnes Phantom der Tu - gend umarmte, und ſtatt in Syracuſiſchem Weine ſich in platoniſchen Jdeen berauſchte ‒ ‒ ‒ und daß eben dieſeEitelkeit,115Neuntes Buch, drittes Capitel. Eitelkeit, welche ihn vor weniger Zeit angetrieben hatte, mit dem Bacchus und einer andern Gottheit, welche wir nicht nennen duͤrfen, in die Wette zu eyfern, ſich izt durch die Vorſtellung kizelte, als Regent und Geſez - geber den Glanz der beruͤhmteſten Maͤnner vor ihm zu verdunkeln, die Augen der Welt auf ſich zu heften, ſich von allen bewundert, und von den Weiſen ſelbſt ver - goͤttert zu ſehen.
Daß dieſes Urtheil von der Bekehrung des Dionys richtig ſey, hat ſich in der Folge wuͤrklich bewieſen; und man haͤtte, daͤucht uns, ohne die Gabe der Divi - nation zu beſizen, vorausſehen koͤnnen, daß eine ſo ploͤzliche Veraͤnderung keinen Beſtand haben werde. Aber wie ſollten die in einer groſſen Angelegenheit verwikel - ten Perſonen faͤhig ſeyn, ſo gelaſſen und uneingenom - men davon zu urtheilen, wie entfernte Zuſchauer, welche das Ganze bereits vor ſich liegen haben, und bey einer kalten Unterſuchung des Zuſammenhangs aller Umſtaͤnde ſehr leicht mit vieler Zuverlaͤſſigkeit beweiſen koͤnnen, daß es nicht anders habe gehen koͤnnen, als wie ſie wiſ - ſen, daß es gegangen iſt? Plato ſelbſt ließ ſich von den Anſcheinungen betruͤgen, weil ſie ſeinen Wuͤnſchen ge - maͤß waren, und ihm zu beweiſen ſchienen, wieviel er vermoͤge. Die voreilige Freude uͤber einen Succeß, deſ - ſen er ſich ſchon verſichert hielt, ließ ihm nicht zu, ſich alle die Hinderniſſe, die ſeine Bemuͤhungen vereiteln konnten, in der gehoͤrigen Staͤrke vorzuſtellen, und in Zeiten darauf bedacht zu ſeyn, wie er ihnen zuvorkom -H 2men116Agathon. men moͤchte. Gewohnt in den ruhigen Spaziergaͤngen ſeiner Academie unter gelehrigen Schuͤlern idealiſche Re - publiken zu bauen, hielt er die Rolle, die er an dem Hofe zu Syracus zu ſpielen uͤbernommen hatte, fuͤr leichter als ſie in der That war. Er ſchloß immer rich - tig aus ſeinen Praͤmiſſen; aber ſeine Praͤmiſſen ſezten immer mehr voraus, als war; und er bewies durch ſein Exempel, daß keine Leute mehr durch den Schein der Dinge hintergangen werden, als eben diejenige welche ihr ganzes Leben damit zubringen, inter Sylvas Academi dem was wahrhaftig iſt nachzuſpaͤhen. Jn der That hat man zu allen Zeiten geſehen, daß es den ſpeculativen Geiſtern nicht gegluͤkt hat, wenn ſie ſich aus ihrer philoſophiſchen Sphaͤre heraus und auf irgend einen groſſen Schauplaz des wuͤrkſamen Lebens gewaget haben. Und wie haͤtte es anders ſeyn koͤnnen, da ſie gewohnt waren, in ihren Utopien und Atlantiden zu - erſt die Geſezgebung zu erfinden, und erſt wenn ſie da - mit fertig waren, ſich ſo genannte Menſchen zu ſchni - zeln, welche eben ſo richtig nach dieſen Geſezen handeln mußten, wie ein Uhrwerk durch den innerlichen Zwang ſeines Mechanismus die Bewegungen macht, welche der Kuͤnſtler haben wil. Es war leicht genug zu ſehen (und doch ſahen es dieſe Herren nicht) daß es in der wuͤrk - lichen Welt gerade umgekehrt iſt. Die Menſchen in der - ſelben ſind nun einmal wie ſie ſind; und der groſſe Punct iſt, diejenige die man vor ſich hat, nach allen Umſtaͤnden und Verhaͤltniſſen ſo lange zu ſtudieren, bis man ſo genau als moͤglich weiß, wie ſie ſind. Sobaldihr117Neuntes Buch, drittes Capitel. ihr das wißt, ſo geben ſich die Regeln, wornach ihr ſie behandeln muͤßt, wenn ihr euern Zwek erhalten wollt, von ſich ſelbſt; dann iſt es Zeit moraliſche Projecte zu machen ‒ ‒ ‒ aber wenn, ihr groſſen Lichter unſers aller - aufgeklaͤrteſten Jahrhunderts, wenn glaubt ihr, daß dieſe Zeit fuͤr das Menſchen-Geſchlecht kommen werde?
Waͤhrend, daß die Philoſophie und die Tugend durch die Beredſamkeit eines einzigen Mannes eine ſo auſſer - ordentliche Veraͤnderung der Scene an dem Hofe zu Syracus hervorbrachte, waren die ehmaligen Vertrau - ten des Dionyſius ſehr weit davon entfernt, die Vor - theile, welche ſie von der vorigen Denkungs-Art dieſes Prinzen gezogen hatten, ſo willig hinzugeben, als man es aus ihrem aͤuſſerlichen Bezeugen haͤtte ſchlieſſen ſollen. Als ſchlaue Hoͤflinge wußten ſie zwar ihren Unmuth uͤber die ſonderbare Gunſt, worinn Plato bey demſel - ben ſtund, ſehr kuͤnſtlich zu verbergen. Gewohnt ſich nach dem Geſchmake des Prinzen zu modeln, und alle Geſtalten anzunehmen, unter welchen ſie ihm gefallen oder zu ihren geheimen Abſichten am beſten gelangen konnten, hatten ſie, ſo bald ſie die neue Laune ihres Herrn gewahr worden waren, die ganze Auſſenſeite des philoſophiſchen Enthuſiaſmus mit eben der Leichtig -H 3keit118Agathon. keit angenommen, womit ſie eine Maskeraden-Kleidung angezogen haͤtten. Sie waren die erſten, die dem uͤb - rigen Hofe hierinn mit ihrem Beyſpiel vorgiengen; ſie verdoppelten ihre Aufwartung bey dem Prinzen Dion, deſſen Anſehen ſeit Platons Ankunft ungemein geſtiegen war; ſie waren die erklaͤrten Bewunderer des Philo - ſophen; ſie laͤchelten ihm Beyfall entgegen, ſo bald er nur der Mund aufthat; alle ſeine Vorſchlaͤge und Maß - nehmungen waren bewundernswuͤrdig; ſie wußten nichts daran auszuſezen, oder wenn ſie ja Einwuͤrfe machten, ſo war es nur um ſich belehren zu laſſen, und auf die erſte Antwort ſich ſeiner hoͤhern Weisheit uͤberwunden zu geben. Sie ſuchten ſeine Freundſchaft ſo gar mit einem Eifer, woruͤber ſie den Fuͤrſten ſelbſt zu vernach - laͤſſigen ſchienen; und beſonders lieſſen ſie ſich ſehr ange - legen ſeyn, die Vorurtheile zu zerſtreuen, die man von der vorigen Staats-Verwaltung wider ſie gefaßt haben koͤnnte. Durch dieſe Kunſtgriffe erreichten ſie zwar die Abſicht, den weiſen Plato ſicher zu machen, nicht ſo vollkommen, daß er nicht immer einiges gerechtes Miß - trauen in die Aufrichtigkeit ihres Bezeugens geſezt haͤtte; er beobachtete ſie genau; allein da ſie gar nicht zweifel - ten, daß er es thun wuͤrde, ſo war es ihnen leicht da - vor zu ſeyn, daß er mit aller ſeiner Scharfſichtigkeit nichts ſah. Sie vermieden alles, was ihrem Betra - gen einen Schein von Zuruͤkhaltung, Zweydeutigkeit und Geheimniß haͤtte geben koͤnnen, und nahmen ein ſo natuͤrliches und einfaches Weſen an, daß man ent - weder ihres gleichen ſeyn, oder betrogen werden mußte. Dieſe119Neuntes Buch, viertes Capitel. Dieſe ſchoͤne Kunſt iſt eine von denen, in welchen nur den Hofleuten gegeben iſt, Meiſter zu ſeyn. Man koͤnnte die Tugend ſelbſt herausfordern, in einem hoͤhern Grad und mit beſſerm Anſtand Tugend zu ſcheinen, als dieſe Leute es in ihrer Gewalt haben, ſo bald es ein Mit - tel zu ihren Abſichten werden kan, die eigenſte Mine, Farbe, und aͤuſſerliche Grazie derſelben an ſich zu nehmen.
Was wir hier ſagen, verſteht ſich inſonderheit von zweenen, welche bey dieſer Veraͤnderung des Tyrannen am meiſten zu verliehren hatten. Philiſtus war bisher der vertrauteſte unter ſeinen Miniſtern, und Timocra - tes ſein Liebling geweſen. Beyde hatten ſich mit einer Eintracht, welche ihrer Klugheit Ehre machte, in ſein Herz, in die hoͤchſte Gewalt, wozu er nur ſeinen Na - men hergab, und in einen betraͤchtlichen Theil ſeiner Einkuͤnfte getheilt. Jzt zog die gemeinſchaftliche Ge - fahr das Band ihrer Freundſchaft noch enger zuſam - men. Sie entdekten einander ihre Beſorgniſſe, ihre Be - merkungen, ihre Anſchlaͤge; ſie redeten die Maßregeln mit einander ab, die in ſo critiſchen Umſtaͤnden genom - men werden mußten; und giengen, weil ſie die ſchwache Seite des Tyrannen beſſer kannten, als irgend ein and - rer, mit ſo vieler Schlauheit zu Werke, daß es ihnen nach und nach gluͤkte, ihn gegen Platon und Dion ein - zunehmen, ohne daß er merkte, daß ſie dieſe Abſicht hatten.
H 4Wir120Agathon.Wir haben ſchon bemerkt, daß die Syracuſaner, ver - moͤge einer Eigenſchaft, welche aller Orten das Volk characteriſiert, der Hofnung durch Vermittlung des Pla - ton ihre alte Freyheit wieder zu erlangen, mit einer ſo voreiligen Freude ſich uͤberlieſſen, daß die bevorſtehende Staats-Veraͤnderung der Jnhalt aller Geſpraͤche wurde. Jn der That gieng die Abſicht Dions bey Beruffung ſeines Freundes auf nichts geringers. Beyde waren gleich erklaͤrte Feinde der Tyrannie und der Democra - tie; von denen ſie (mit welchem Grunde, wollen wir hier nicht entſcheiden) davorhielten, daß ſie unter ver - ſchiedenen Geſtalten, und durch verſchiedene Wege, am Ende in einem Puncte, nehmlich in Mangel der Ord - nung und Sicherheit, Unterdrukung und Sclaverey zu - ſammenlieffen. Beyde waren fuͤr diejenige Art der Ari - ſtocratie, worinn das Volk zwar vor aller Unterdruͤkung hinlaͤnglich ſicher geſtellt, folglich die Gewalt der Edeln, oder wie man bey den Griechen ſagte, der Beſten, durch unzerbrechliche Ketten gefeſſelt iſt; hingegen die eigent - liche Staats-Verwaltung nur bey einer kleinen Anzahl liegt, welche eine genaue Rechenſchaft abzulegen ver - bunden ſind. Es war alſo wuͤrklich ihr Vorhaben, die Tyraunie, oder was man zu unſern Zeiten eine unein - geſchraͤnkte Monarchie nennt, aus dem ganzen Sicilien zu verbannen, und die Verfaſſung dieſer Jnſel in die vorbemeldte Form zu gieſſen. Dem Dionys zu gefal - len, oder vielmehr, weil nach Platons Meynung die voll - kommenſte Staats-Form eine Zuſammenſezung aus der Monarchie, Ariſtocratie und Democratie ſeyn mußte,wollten121Neuntes Buch, viertes Capitel. wollten ſie ihrer neuen Republik zwey Koͤnige geben, welche in derſelben eben das vorſtellen ſollten was die Koͤnige in Sparta; und Dionys ſollte einer von denſel - ben ſeyn. Dieſes waren ungefehr die Grundlinien ihres Entwurfs. Sie lieſſen keine Gelegenheit vorbey, dem Prinzen die Vortheile einer geſezmaͤſſigen Regierung an - zupreiſen; aber ſie waren zu klug, von einer ſo delica - ten Sache, als die Einfuͤhrung einer republicaniſchen Verfaſſung war, vor der Zeit zu reden, und den Ty - rannen, eh ihn Plato vollkommen zahm und bildſam gemacht haben wuͤrde, durch eine unzeitige Entdekung ihrer Abſichten in ſeine natuͤrliche Wildheit wieder hin - einzuſchreken.
Ungluͤklicher Weiſe war das Volk ſo vieler Maͤſſigung nicht faͤhig, und dachte auch ganz anders uͤber den Ge - brauch, den es von ſeiner Freyheit machen wollte. Ein jeder hatte dabey eine gewiſſe Abſicht, die er noch bey ſich behielt, und die gerade zu auf irgend einen Privat - Vortheil gieng. Jeder hielt ſich fuͤr mehr als faͤhig, dem gemeinen Weſen gerade in dem Poſten zu dienen, wozu er die wenigſte Faͤhigkeit hatte, oder hatte ſonſt ſeine kleine Forderungen zu machen, welche er ſchlech - terdings bewilliget haben wollte. Die Syracuſaner ver - langten alſo eine Democratie; und da ſie ſich ganz nahe bey dem Ziel ihre Wuͤnſche glaubten, ſo ſprachen ſie laut genug davon, daß Philiſtus und ſeine Freunde Gelegen - heit bekamen, den Tyrannen aus ſeinem angenehmen Platoniſchen Enthuſiaſmus zu ſich ſelbſt zuruͤkzuruffen.
H 5Das122Agathon.Das erſte was ſie thaten, war, daß ſie ihm die Ge - ſinnungen des Volkes, und die zwar von auſſen noch nicht merklich in die Augen fallende, aber innerlich deſto ſtaͤrker gaͤhrende Bewegung deſſelben mit ſehr lebhaften Farben, und mit ziemlicher Vergroͤſſerung der Um - ſtaͤnde vormahlten. Sie thaten dieſes mit vieler Vor - ſichtigkeit, in gelegenen Augenbliken, nach und nach, und auf eine ſolche Art, daß es dem Dionys ſcheinen mußte, als ob ihm endlich die Augen von ſelbſt aufgien - gen; und dabey verſaͤumten ſie keine Gelegenheit, den Plato und den Prinzen Dion bis in die Wolken zu er - heben; und beſonders in Ausdruͤken, welche von der ſchlaueſten Boßheit ausgewaͤhlt wurden, von der auſ - ſerordentlichen Hochachtung zu ſprechen, worein ſie ſich bey dem Volke ſezten. Um den Tyrannen deſto auf - merkſamer zu machen, wußten ſie es durch tauſend ge - heime Wege, wobey ſie ſelbſt nicht zum Vorſchein kamen, dahin einzuleiten, daß haͤuffige und zahlreiche Privat - Verſammlungen in der Stadt angeſtellt wurden, wozu Dion und Plato ſelbſt, oder doch immer jemand von den beſondern Vertrauten des einen oder des andern, eingeladen wurde. Dieſe Verſammlungen waren zwar nur auf Gaſtmaͤler und freundſchaftliche Ergoͤzungen an - geſehen; aber ſie gaben doch dem Philiſtus nnd ſeinen Freunden Gelegenheit mit einer Art davon zu reden, wodurch ſie den Schein politiſcher Zuſammenkuͤnfte be - kamen; und das war alles was ſie wollten.
Durch123Neuntes Buch, viertes Capitel.Durch dieſe und andre dergleichen Kunſtgriffe gelang es ihnen endlich, dem Dionys Argwohn beyzubringen. Er ſieng an, in die Aufrichtigkeit ſeines neuen Freun - des ein deſto groͤſſeres Mißtrauen zu ſezen, da er uͤber das beſondere Verſtaͤndniß, welches er zwiſchen ihm und dem Dion wahrnahm, eyferſuͤchtig war; und damit er deſto baͤlder ins Klare kommen moͤchte, hielt er fuͤr das Sicherſte, den ſeit einiger Zeit vernachlaͤſſigten Timo - crates wieder an ſich zu ziehen; und ſo bald er ſich ver - ſichert hatte, daß er, wie vormals auf ſeine Ergeben - heit zaͤhlen koͤnne, ihm ſeine Wahrnehmungen und ge - heime Beſorgniſſe zu entdeken. Der ſchlaue Guͤnſtling ſtellte ſich anfangs, als ob er nicht glauben koͤnne, daß die Syracuſaner im Ernſte mit einem ſolchen Vorhaben umgehen ſollten; wenigſtens (ſagte er mit der ehrlich - ſten Mine von der Welt) koͤnne er ſich nicht vorſtellen, daß Plato und Dion den mindeſten Antheil daran ha - ben ſollten; ob er gleich geſtehen muͤßte, daß ſeit dem der erſte ſich am Hofe beſinde, die Syracuſaner von einem ſeltſamen Geiſte beſeelt wuͤrden, und zu den aus - ſchweiffenden Einbildungen, welche ſie ſich zu machen ſchienen, vielleicht durch das auſſerordentliche Anſehen verleitet wuͤrden, worinn dieſer Philoſoph bey dem Prinzen ſtehe: Es ſey nicht unmoͤglich, daß die Repu - blicaniſch-Geſinnte ſich Hofnung machten, Gelegenheit zu finden, indeſſen, daß der Hof die Geſtalt der Aca - demie gewaͤnne, dem Staat unvermerkt die Geſtalt ei - ner Democratie zu geben; indeſſen muͤſſe er geſtehen, daß er nicht Vertrauen genug in ſeine eigene Einſichtſeze,124Agathon. ſeze, ſeinem Herrn und Freunde in ſo delicaten Um - ſtaͤnden einen ſichern Rath zu geben; und Philiſtus, deſ - ſen Treue dem Prinzen laͤngſt bekannt ſey, wuͤrde durch ſeine Erfahrenheit in Staats-Geſchaͤften unendlichmal geſchikter ſeyn, einer Sache von dieſer Art auf den Grund zu ſehen.
Dionyſius hatte ſo wenig Luſt ſich einer Gewalt zu begeben, deren Werth er nach Proportion, daß ſeine Fibern wieder elaſtiſcher wurden, von Tag zu Tag wie - der ſtaͤrker zu empfinden begann; daß die Einſtreuun - gen ſeines Guͤnſtlings ihre ganze Wuͤrkung thaten. Er gab ihm auf, mit aller noͤthigen Vorſichtigkeit, da - mit niemand nichts davon gewahr werden koͤnnte, den Philiſius noch in dieſer Nacht in ſein Cabinet zu fuͤhren, um ſich uͤber dieſe Dinge beſprechen, und die Gedanken deſſelben vernehmen zu koͤnnen. Es geſchah; Philiſtus vollendete was Timocrat angefangen hatte. Er entdekte dem Prinzen alles was er beobachtet zu haben vorgab, und ſagte gerade ſo viel, als noͤthig war, um ihn in den Gedanken zu beſtaͤrken, daß ein geheimes Complot zu einer Staats-Veraͤnderung im Werke ſey, welches zwar vermuthlich noch nicht zu ſeiner Reiffe gekommen, aber doch ſo beſchaffen ſey, daß es Aufmerkſamkeit ver - diene. Und wer kan der Urheber und das Haupt ei - nes ſolchen Complots ſeyn, fragte Dionys? ‒ ‒ Hier ſtellte ſich Philiſtus verlegen ‒ ‒ er hoffe nicht, daß es ſchon ſoweit gekommen ſey ‒ ‒ Dion bezeuge ſo gute Ge - ſinnungen fuͤr den Prinzen ‒ ‒ Rede aufrichtig, wie dudenkſt,125Neuntes Buch, viertes Capitel. denkſt, fiel ihm Dionys ein; was haͤltſt du von dieſem Dion? Aber keine Complimenten, denn du brauchſt mich nicht daran zu erinnern, daß er meiner Schweſter Mann iſt; ich weiß es nur zu wol ‒ ‒ Aber ich traue ihm nicht deſto beſſer ‒ ‒ er iſt ehrgeizig ‒ ‒ „ Das iſt er „ ‒ ‒ immer finſter, zuruͤkhaltend, in ſich ſelbſt ein - geſchloſſen ‒ ‒ Jn der That, ſo iſt er, nahm Philiſt das Wort, und wer ihn genau beobachtete, ohne vorhin eine beſſere Meynung von ihm gefaßt zu haben, wuͤrde ſich des Argwohns kaum erwehren koͤnnen, daß er miß - vergnuͤgt ſey, und an Gedanken in ſich ſelbſt arbeite, die er nicht fuͤr gut befinde, andern mitzutheilen „ ‒ ‒ Glaubſt du das, Philiſtus? fiel Dionys ein; ſo hab’ ich immer von ihm gedacht; wenn Syracus unruhig iſt, und mit Neuerungen umgeht, ſo darfſt du verſichert ſeyn, daß Dion die Triebfeder von allem iſt ‒ ‒ wir muͤſſen ihn genauer beobachten ‒ ‒ Wenigſtens iſt es ſon - derbar, fuhr Philiſtus fort, daß er ſeit einiger Zeit, ſich eine Angelegenheit davon zu machen ſcheint, ſich der Freundſchaft der angeſehenſten Buͤrger zu verſichern ‒ ‒ (Hier fuͤhrte er einige Umſtaͤnde an, welche, durch die Wendung die er ihnen gab, ſeine Wahrnehmung beſtaͤt - tigen konnten) Wenn ein Mann von ſolcher Wichtigkeit, wie Dion, ſich herablaͤßt eine Popularitaͤt zu affectiren, die ſo gaͤnzlich wider ſeinen Character iſt, ſo kan man glauben, daß er Abſichten hat ‒ ‒ und wenn Dion Ab - ſichten hat, ſo gehen ſie gewiß auf keine Kleinigkeiten ‒ ‒ Was er aber auch ſeyn mag, ſo bin ich gewiß, ſezte er hinzu, daß Platon, ungeachtet der engen Freundſchaft,die126Agathon. die zwiſchen ihnen obwaltet, zu tugendhaft iſt, um an heimlichen Anſchlaͤgen gegen einen Prinzen, der ihn mit Ehren und Wolthaten uͤberhaͤuft, Theil zu nehmen ‒ ‒ Wenn ich dir ſagen ſoll was ich denke, Philiſtus, ſo glaub’ ich, daß dieſe Philoſophen, von denen man ſo viel Weſens macht, eine ganz unſchuldige Art von Leu - ten ſind; in der That, ich ſehe nicht, daß an ihrer Philoſophie ſo gefaͤhrliches ſeyn ſollte, als die Leute ſich einbilden; ich liebe, zum Exempel, dieſen Platon weil er angenehm im Umgang iſt; er hat ſich ſeltſame Dinge in den Kopf geſezt, man koͤnnte ſichs nicht ſchnakiſcher traͤumen laſſen, aber eben das beluſtiget mich; und bey alle dem muß man ihm den Vorzug laſſen, daß er gut ſpricht; es hoͤrt ſich ihm recht angenehm zu, wenn er euch von der Jnſel Atlantis, und von den Sachen in der andern Welt eben ſo umſtaͤndlich und zuverſicht - lich ſpricht, als ob er mit dem naͤchſten Marktſchiffe aus dem Mond angekommen waͤre (hier lachten die beyden Vertrauten, als ob ſie nicht aufhoͤren koͤnnten, uͤber einen ſo ſinnreichen Einfall, und Dionys lachte mit) ihr moͤcht lachen ſo lang ihr wollt, fuhr er fort; aber meinen Plato ſollt ihr mir gelten laſſen; er iſt der gutherzigſte Menſch von der Welt, und wenn man ſeine Philoſophie, ſeinen Bart und ſeine hieroglyphiſche Phy - ſionomie zuſammennihmt, ſo muß man geſtehen, daß alles zuſammen eine Art von Leuten macht, womit man ſich, in Ermanglung eines beſſern, die Zeit vertreiben kan ‒ ‒ (o goͤttlicher Platon! du, der du dir einbildeteſt, das Herz dieſes Prinzen in deiner Hand zu haben, duder127Neuntes Buch, viertes Capitel. der ſich das groſſe Werk zutraute, einen Weiſen und tugendhaften Mann aus ihm zu machen ‒ ‒ warum ſtan - deſt du nicht in dieſem Augenblik hinter einer Tapete, und hoͤrteſt dieſe ſchmeichelhafte Apologie, wodurch er den Geſchmak, den er an dir fand, in den Augen ſei - ner Hoͤflinge zu rechtfertigen ſuchte!) Jn der That, ſagte Timocrates, die Muſen koͤnnen nicht angenehmer reden als Plato; ich wißte nicht, was er einen nicht uͤberreden koͤnnte, wenn er ſichs in den Kopf geſezt haͤtte ‒ ‒ Du willſt vielleicht ſcherzen, fiel ihm der Prinz ein; aber ich verſichre dich, es hat wenig gefehlt, daß er mich lezthin nicht auf den Einfall gebracht haͤtte, Sicilien dahinten zu laſſen, und eine philoſophiſche Reiſe nach Memphis und zu den Pyramiden und Gymnoſo - phiſten anzuſtellen, die ſeiner Beſchreibung nach eine ſeltſame Art von Creaturen ſeyn muͤſſen ‒ ‒ wenn ihre Weiber ſo ſchoͤn ſind, wie er ſagt, ſo mag es keine ſchlimme Partie ſeyn, den Tanz der Sphaͤren mit ihnen zu tanzen; denn ſie leben in dem Stand der vollkom - men ſchoͤnen Natur, und treten dir, allein mit ihren eigenthuͤmlichen Reizungen geſchmuͤkt, das iſt, naken - der als die Meer-Nymphen, mit einer ſo triumphiren - den Mine unter die Augen, als die ſchoͤnſte Syracuſa - nerin in ihrem reicheſten Feſt-Tags-Puz ‒ ‒ Dionys war, wie man ſieht, in einem Humor, der den erha - beuen Abſichten ſeines Hof-Philoſophen nicht ſehr guͤnſtig war; Timocrates merkte ſichs, und baute in dem nehm - lichen Augenblik ein kleines Project auf dieſe gute Diſpo - ſition, wovon er ſich eine beſondere Wuͤrkung verſprach. Aber128Agathon. Aber der weiter ſehende Philiſtus fand nicht fuͤr gut, ſeinen Herrn in dieſer leichtſinnigen Laune fortſprudeln zu laſſen. Er nahm das Wort wieder: Jhr ſcherzet, ſprach er, uͤber die Wuͤrkungen der Beredſamkeit Pla - tons; es iſt nur allzugewiß, daß er in dieſer Kunſt ſeines gleichen nicht hat; aber eben dieſes wuͤrde mir keine kleine Sorgen machen, wenn er weniger ein rechtſchafner Mann waͤre, als ich glaube daß er iſt. Die Macht der Beredſamkeit uͤbertrift alle andre Macht; ſie iſt faͤhig fuͤnfzigtauſend Arme nach dem Gefallen ei - nes einzigen wehrloſen Mannes in Bewegung zu ſezen, oder zu entnerven. Wenn Dion, wie es ſcheint, irgend ein gefaͤhrliches Vorhaben bruͤtete, und Mittel faͤnde, dieſen uͤberredenden Sophiſten auf ſeine Seite zu brin - gen, ſo beſorg ich, Dionyſius koͤnnte das Vergnuͤgen ſeiner ſinnreichen Unterhaltung theuer bezahlen muͤſſen. Man weiß was die Beredſamkeit zu Athen vermag, und es fehlt den Syracuſanern nichts als ein paar ſolche Wortkuͤnſtler, die ihnen den Kopf mit Figuren und leb - haften Bildern warm machen, ſo werden ſie Athenien - ſer ſeyn wollen, und der Erſte Beſte, der ſich an ihre Spize ſtellt, wird aus ihnen machen koͤnnen was er will.
Philiſtus ſah, daß ſein Herr bey dieſen Worten auf einmal tiefſinnig wurde; er ſchloß daraus, daß etwas in ſeinem Gemuͤth arbeitete, und hielt alſo inn; was fuͤr ein Thor ich war, rief Dionys aus, nachdem er eine Weile mit geſenktem Kopf zu ſtaunen geſchienen hatte. Das war wol der Genius meines guten Gluͤks, der mireingab,129Neuntes Buch, viertes Capitel. eingab, daß ich dich dieſen Abend zu mir ruffen laſſen ſollte. Die Augen gehen mir auf einmal auf ‒ ‒ Wozu mich dieſe Leute mit ihren Dreyeken und Schlußreden nicht gebracht haͤtten! Kannſt du dir wol einbilden, daß mich dieſer Plato mit ſeinem ſuͤſſen Geſchwaͤze beynahe uͤberredet haͤtte, meine fremden Truppen, und meine Leibwache nach Hauſe zu ſchiken? Ha! nun ſeh ich wo - hin alle dieſe ſchoͤnen Vergleichungen mit einem Vater im Schooſſe ſeiner Familie, und mit einem Saͤugling an der Bruſt ſeiner Amme, und was weiß, ich mit was noch mehr, abgeſehen waren! Die Verraͤther wollten mich durch dieſe ſuͤſſen Wiegenliedchen erſt einſchlaͤfern, hernach entwafnen, und zulezt wenn ſie mich mit ihren gebenedeyten Maximen ſo feſt umwunden haͤtten, daß ich weder Arme noch Beine nach meinem Gefallen haͤtte ruͤhren koͤnnen, mich in ganzem Ernſt, zu ihrem Wikel - kind, zu ihrer Puppe, und wozu es ihnen eingefallen waͤre, gemacht haben! Aber ſie ſollen mir die Erfindung bezahlen! Jch will dieſem verraͤthriſchen Dion ‒ ‒ biſt du thoͤricht genug, Philiſtus, und bildeſt dir ein, daß er ſich nur im Traum einfallen laſſe, dieſe Spiesbuͤrger von Syracus in Freyheit zu ſezen? Regieren will er, Philiſtus; das will er, und darum hat er dieſen Plato an meinen Hof kommen laſſen, der mir, indeſſen daß er das Volk zur Empoͤrung reizen, und ſich einen An - hang machen wollte, ſo lange und ſo viel von Gerech - tigkeit, und Wolthun, und goldnen Zeiten, und vaͤter - lichem Regiment, und was weiß ich von was fuͤr Sal - badereyen vorſchwazen ſollte, bis ich mich uͤberreden[Agath. II. Th.] Jlieſſe,130Agathon. lieſſe, meine Galeeren zu entwafnen, meine Trabanten zu entlaſſen, und mich am Ende in Begleitung eines von dieſen zottelbaͤrtigen Knaben, die der Sophiſt mit ſich gebracht hat, als einen Neuangeworbenen nach Athen in die Academie ſchiken zu laſſen, um unter einem Schwarm junger Geken daruͤber zu diſputiren, ob Dionyſtus recht oder unrecht daran gethan habe, daß er ſich in einer ſo armſeligen Mausfalle habe fangen laſſen ‒ ‒ Aber iſts moͤglich, fragte Philiſtus mit angenommener Verwun - derung, daß Plato den ſinnloſen Einfall haben konnte, meinem Prinzen ſolche Raͤthe zu geben? ‒ ‒ Es iſt moͤg - lich, weil ich dir ſage, daß ers gethan hat. Jch habe ſelbſt Muͤhe zu begreiffen, wie ich mich von dieſem Schwaͤzer ſo bezaubern laſſen konnte ‒ ‒ Das ſoll ſich Dionys nicht verdrieſſen laſſen, erwiederte der gefaͤl - lige Philiſtus; Plato iſt in der That ein groſſer Mann in ſeiner Art; ein vortreflicher Mann, wenn es dar - auf ankommt, den Entwurf zu einer Welt zu machen, oder zu beweiſen, daß der Schnee nicht wuͤrklich weiß iſt; aber ſeine Regierungs-Maximen ſind, wie es ſcheint, ein wenig unſicher in der Ausuͤbung. Jn der That, das wuͤrde den Athenienſern was zu reden gege - ben haben, und es waͤre wahrlich kein kleiner Triumph fuͤr die Philoſophie geweſen, wenn ein einziger Sophiſt, ohne Schwerdtſchlag, durch die bloſſe Zauberkraft ſeiner Worte zn Stande gebracht haͤtte, was die Athenienſer mit groſſen Flotten und Kriegs-Heeren vergeblich unter - nommen haben ‒ ‒ Es iſt mir unertraͤglich nur daran zu denken, ſagte Dionys, was fuͤr eine einfaͤltige Figurich131Neuntes Buch, viertes Capitel. ich ein paar Wochen lang unter dieſen Grillenfaͤugern gemacht habe; hab ich dem Dion nicht ſelbſt Gelegen - heit gegeben, mich zu verachten? Was mußten ſie von mir denken, da ſie mich ſo willig und gelehrig fanden? ‒ ‒ Aber ſie ſollen in kurzem ſehen, daß ſie ſich mit aller ihrer Wiſſenſchaft der geheimnißvollen Zahlen gewaltig uͤberrechnet haben. Es iſt Zeit, der Comoͤdie ein Ende zu machen ‒ ‒ Um Vergebung, mein Gebietender Herr, fiel ihm Philiſtus hier ins Wort; die Rede iſt noch von bloſſen Vermuthungen; vielleicht iſt Plato, ungeachtet ſeines nicht allzuwol uͤberlegten Raths, unſchuldig; viel - leicht iſt es ſo gar Dion; wenigſtens haben wir noch keine Beweiſe gegen ſie. Sie haben Bewunderer und Freunde zu Syracus, das Volk iſt ihnen geneigt, und es moͤchte gefaͤhrlich ſeyn, ſie durch einen uͤbereilten Schritt in die Nothwendigkeit zu ſezen, ſich dieſem Frey - heit-traͤumenden Poͤbel in die Arme zu werfen. Laſſet ſie noch eine Zeitlang in dem angenehmen Wahn, daß ſie den Dionyſius gefangen haben. Gebet ihnen, durch ein kuͤnſtlich verſtelltes Zutrauen Gelegenheit, ihre Ge - ſinnungen deutlicher herauszulaſſen ‒ ‒ Wie, wenn Diony - ſius ſich ſtellte, als ob er Luſt haͤtte die Monarchie auf - zugeben, und als ob ihn kein andres Bedenken davon zuruͤkhielte, als die Ungewißheit, welche Regierungs - Form Sicilien am gluͤklichſten machen koͤnnte. Eine ſolche Eroͤfnung wird ſie noͤthigen, ſich ſelbſt zu verra - then; und indeſſen, daß wir ſie mit academiſchen Fra - gen und Entwuͤrfen aufhalten, werden ſich Gelegenhei - ten finden, den regierſuͤchtigen Dion in Geſellſchaft ſei -J 2nes132Agathon. nes Rathgebers mit guter Art eine Reiſe nach Athen machen zu laſſen, wo ſie in ungeſtoͤrter Muſſe Republi - ken anlegen, und ihnen, wenn ſie wollen, alle Tage eine andre Form geben moͤgen.
Dionys war von Natur hizig und ungeſtuͤm; eine jede Vorſtellung, von der ſeine Einbildung getroffen wurde, beherrſchte ihn ſo ſehr, daß er ſich dem mechaniſchen Trieb, den ſie in ihm hervorbrachte, gaͤnzlich uͤberließ; aber wer ihn ſo genau kannte als Philiſtus, hatte wenig Muͤhe, ſeinem Bewegungen oft durch ein einziges Wort, eine andere Richtung zu ge - ben. Jn dem erſten Anſtoß ſeiner unbeſonnenen Hize waren die gewaltſamſten Maßnehmungen, die erſten, auf die er fiel: Aber man brauchte ihm nur den Schat - ten einer Gefahr dabey zu zeigen, ſo legte ſich die auf - fahrende Lohe wieder; und er ließ ſich eben ſo ſchnell uͤberreden, die ſicherſten Mittel zu erwaͤhlen, wenn ſie gleich die niedertraͤchtigſten waren.
Nachdem wir die wahre Triebfeder ſeiner vermeyn - ten Sinnes-Aenderung oben bereits entdekt haben, wird ſich niemand verwundern, daß er von dem Augenblik an, da ſich ſeine Leidenſchaften wieder regten, in ſei - nen natuͤrlichen Zuſtand zuruͤkſank. Was man bey ihm fuͤr Liebe der Tugend angeſehen, was er ſelbſt dafuͤr ge - halten hatte, war das Werk zufaͤlliger und mechaniſcher Urſachen geweſen; daß er ihr zu lieb ſeinen Neigungen die mindeſte Gewalt haͤtte thun ſollen, ſo weit giengſein133Neuntes Buch, viertes Capitel. ſein Enthuſiaſmus fuͤr ſie nicht. Die ungebundene Frey - heit worinn er vormals gelebt hatte, ſtellte ſich ihm wieder mit den lebhafteſten Reizungen dar; und nun ſah er den Plato fuͤr einen verdrießlichen Hofmeiſter an, und verwuͤnſchte die Schwachheit, die er gehabt hatte, ſich ſo ſehr von ihm einnehmen, und in eine Geſtalt, die ſeiner eigenen ſo wenig aͤhnlich ſah, umbilden zu laſſen. Er fuͤhlte nur allzuwol, daß er ſich ſelbſt eine Art von Verbindlichkeit aufgelegt hatte, in den Ge - ſinnungen zu beharren, die er ſich von dieſem Sophi - ſten, wie er ihn izt nannte, hatte einfloͤſſen laſſen: Er ſtellte ſich vor, daß Dion und die Syracuſaner ſich be - rechtiget halten wuͤrden, die Erfuͤllung des Verſprechens von ihm zu erwarten, welches er ihnen gewiſſer maſ - ſen gegeben hatte, daß er kuͤnftig auf eine geſezmaͤſſige Art regieren wolle. Dieſe Vorſtellungen waren ihm unertraͤglich, und hatten die natuͤrliche Folge, ſeine ohnehin bereits erkaltete Zuneigung zu dem Philoſophen von Athen in Widerwillen zu verwandeln; den Dion aber, den er nie geliebt hatte, ihm doppelt verhaßt zu machen. Dieſes waren die geheimen Diſpoſitionen, welche den Verfuͤhrungen des Timocrates und Philiſtus den Eingang in ſein Gemuͤth erleichterten. Es war ſchon ſo weit mit ihm gekommen, daß er vor dieſen ehmaligen Vertrauten ſich der Perſon ſchaͤmte, die er einige Wochen lang, gleichſam unter Platons Vormund - ſchaft, geſpielt hatte; und es iſt zu vermuthen, daß es von dieſer falſchen und verderblichen Schaam her - ruͤhrte, daß er in ſo verkleinernden Ausdruͤken von einemJ 3Manne,134Agathon. Manne, den er anfaͤnglich beynahe vergoͤttert hatte, ſprach, und ſeiner Leidenſchaft fuͤr ihn einen ſo ſpaß - haften Schwung zu geben bemuͤht war. Er ergriff alſo den Vorſchlag des Philiſtus mit der begierigen Un - geduld eines Menſchen, der ſich von dem Zwang einer verhaßten Einſchraͤnkung je baͤlder je lieber loßzumachen wuͤnſcht; und damit er keine Zeit verliehren moͤchte, ſo machte er gleich des folgenden Tages den Anfang, denſelben ins Werk zu ſezen. Er berief den Dion und den Philoſophen in ſein Cabinet, und entdekte ihnen mit allen Anſcheinungen des vollkommenſten Zutrauens, und indem er ſie mit Liebkoſungen uͤberhaͤufte, daß er geſonnen ſey, ſich der Regierung zu entſchlagen, und den Syracuſanern die Freyheit zu laſſen, ſich diejenige Verfaſſung zu erwaͤhlen, die ihnen die angenehmſte ſeyn wuͤrde.
Ein ſo unerwarteter Vortrag machte die beyden Freunde ſtuzen. Doch faßten ſie ſich bald. Sie hielten ihn fuͤr eine von den ſprudelnden Aufwallungen einer noch ungelaͤuterten Tugend, welche gern auf ſchoͤne Ausſchweiffungen zu verfallen pflegt, und hoffeten alſo, daß es ihnen leicht ſeyn werde, ihn auf reiffere Gedan - ken zubringen. Sie billigten zwar ſeine gute Abſicht; ſtellten ihm aber vor, daß er ſie ſehr ſchlecht erreichen wuͤrde, wenn er das Volk, welches immer als unmuͤn - dig zu betrachten ſey, zum Meiſter uͤber eine Freyheit machen wollte, die es, allem Vermuthen nach, zu ſeinem groͤſſeſten Schaden mißbrauchen wuͤrde. Sieſagten135Neuntes Buch, viertes Capitel. ſagten ihm hieruͤber alles was die geſunde Politik ſagen kan; und Plato inſonderheit bewieß ihm, daß es nicht auf die Form der Verfaſſung ankomme, wenn ein Staat gluͤklich ſeyn ſolle, ſondern auf die innerliche Guͤte der Geſezgebung, auf tugendhafte Sitten, auf die Weis - heit desjenigen, dem die Handhabung der Geſeze an - vertraut ſey. Seine Meynung gieng dahin, daß Dionys nicht noͤthig habe, ſich der oberſten Gewalt zu begeben, indem es nur von ihm abhange, durch die vollkom - mene Beobachtung aller Pflichten eines weiſen und tu - gendhaften Regenten die Tyraunie in eine rechtmaͤſſige Monarchie zu verwandeln; welcher die Voͤlker ſich deſto williger unterwerfen wuͤrden, da ſie durch ein natuͤrli - ches Gefuͤhl ihres Unvermoͤgens ſich ſelbſt zu regieren, geneigt gemacht wuͤrden, ſich regieren zu laſſen; ja den - jenigen als eine gegenwaͤrtige Gottheit zu verehren, wel - cher ſie ſchuͤze, und fuͤr ihre Gluͤkſeligkeit arbeite.
Dion ſtimmte hierinn nicht gaͤnzlich mit ſeinem Freunde uͤberein. Die Wahrheit war, daß er den Dionys beſ - ſer kannte, und weil er ſich wenig Hofnung machte, daß ſeine guten Diſpoſitionen von langer Dauer ſeyn wuͤrden, gerne ſo ſchnell als moͤglich einen ſolchen Ge - brauch davon gemacht haͤtte, wodurch ihm die Macht Boͤſes zu thun, auf den Fall, daß ihn der Wille dazu wieder ankaͤme, benommen worden waͤre. Er breitete ſich alſo mit Nachdruk uͤber die Vortheile einer wolge - ordneten Ariſtocratie vor der Regierung eines Einzigen aus, und bewies, wie gefaͤhrlich es ſey, den WolſtandJ 4eines136Agathon. eines ganzen Landes von dem zufaͤlligen und wenig ſichern Umſtand, ob dieſer Einzige tugendhaft ſeyn wolle oder nicht, abhangen zu laſſen. Er gieng ſo weit, zu behaupten, daß von einem Menſchen, der die hoͤchſte Macht in Haͤnden habe, zu verlangen, daß er ſie nie - malen mißbrauchen ſolle, eine Forderung ſey, welche uͤber die Kraͤfte der Menſchheit gehe; daß es nichts ge - ringers ſey, als von einem mit Maͤngeln und Schwach - heiten beladenen Geſchoͤpfe, welches keinen Augenblik auf ſich ſelbſt zaͤhlen kan, die Weisheit und Tugend eines Gottes zu erwarten. Er billigte alſo das Vorhaben des Dionys, die koͤnigliche Gewalt aufzugeben, im hoͤch - ſten Grade; aber darinn ſtimmte er mit ſeinem Freunde uͤberein, daß anſtatt die Einrichtung des Staats in die Willkuͤhr des Volks zu ſtellen, er ſelbſt, mit Zuzug der Beſten von der Nation, ſich ungeſaͤumt der Arbeit un - terziehen ſollte, eine daurhafte und auf den moͤglichſten Grad des allgemeinen Beſten abzielende Verfaſſung zu entwerfen; wozu er dem Prinzen allen Beyſtand, der von ihm abhange, verſprach. Dionys ſchien ſich dieſen Vorſchlag gefallen zu laſſen. Er bat ſie, ihre Gedan - ken uͤber dieſe wichtige Sache in einen vollſtaͤndigen Plan zu bringen, und verſprach, ſo bald als ſie ſelbſten dar - uͤber, was man thun ſollte, einig ſeyn wuͤrden, zur Ausfuͤhrung eines Werkes zu ſchreiten, welches ihm, ſeinem Vorgeben nach, ſehr am Herzen lag.
Dieſe geheime Conferenz hatte bey dem Tyrannen eine gedoppelte Wuͤrkung. Sie vollendete ſeinen Haßgegen137Neuntes Buch, viertes Capitel. gegen Dion, und ſezte den Platon aufs Neue in Gunſt bey ihm. Denn ob er gleich nicht mehr ſo gern als anfangs von den Pflichten eines guten Regenten ſprechen hoͤrte; ſo hatte er doch ſehr gerne gehoͤrt, daß Plato ſich als einen Gegner des popularen Regiments, und als einen Freund der Monarchie erklaͤrt hatte. Er gieng aufs neue mit ſeinen Vertrauten zu Rath, und ſagte ihnen, es komme nun allein darauf an, ſich den Dion vom Halſe zu ſchaffen. Philiſtus hielt davor, daß eh ein ſolcher Schritt gewaget werden duͤrfe, das Volk be - ruhiget und die wankende Autoritaͤt des Prinzen wie - der feſt geſezt werden muͤſſe. Er ſchlug die Mittel vor, wodurch dieſes am gewiſſeſten geſchehen koͤnne; und in der That waren dabey keine ſo groſſe Schwierigkeiten; denn er und Timocrat hatten die vorgebliche Gaͤhrung in Syracus weit gefaͤhrlicher vorgeſtellt, als ſie wuͤrklich war. Dionys fuhr auf ſein Anrathen fort, eine be - ſondere Achtung fuͤr den Plato zu bezeugen, einen Mann, der in den Augen des Volks eine Art von Pro - pheten vorſtellte, der mit den Goͤttern umgehe und Ein - gebungen habe. Einen ſolchen Mann, ſagte Philiſtus, muß man zum Freunde behalten, ſo lange man ihn ge - brauchen kan. Plato verlangt nicht ſelbſt zu regieren; er hat alſo nicht das nehmliche Jntereſſe wie Dion; ſeine Eitelkeit iſt befriediget, wenn er bey demjenigen, der die Regierung fuͤhrt, in Anſehen ſteht, und Ein - fluß zu haben glaubt. Es iſt leicht, ihn, ſo lang es noͤthig ſeyn mag, in dieſer Meynung zu unterhalten, und das wird zugleich ein Mittel ſeyn, ihn von einerJ 5genauern138Agathon. genauern Vereinigung mit dem Dion zuruͤkzuhalten. Der Tyrann, der ſich ohnehin von einer Art von Jn - ſtinct zu dem Philoſophen gezogen fuͤhlte, befolgte die - ſen Rath ſo gut, daß Plato davon hintergangen wurde. Jnſonderheit affectierte er ihn, immer neben ſich zu ha - ben, wenn er ſich oͤffentlich ſehen ließ; und bey allen Gelegenheiten, wo es Wuͤrkung thun konnte, ſeine Maximen im Munde zu fuͤhren. Er ſtellte ſich, als ob es auf Einrathen des Philoſophen geſchaͤhe, daß er die - ſes oder jenes that, wodurch er ſich den Syracuſanern angenehm zu machen hoffte; ungeachtet alles die Ein - gebungen des Philiſtus waren, der ohne daß es in die Augen fiel, ſich wieder einer gaͤnzlichen Herrſchaft uͤber ſein Gemuͤth bemaͤchtiget hatte. Er zeigte ſich unge - mein leutſelig und liebkoſend gegen das Volk; er ſchafte einige Auflagen ab, welche die unterſte Claſſe deſſelben am ſtaͤrkſten druͤkten; er beluſtigte es durch oͤffentliche Feſte, und Spiele; er befoͤrderte einige von denen, deren Anſehen am meiſten zu fuͤrchten war, zu eintraͤg - lichen Ehrenſtellen, und ließ die uͤbrigen mit Ver - ſprechungen wiegen, die ihn nichts koſteten, und die nehmliche Wuͤrkung thaten; er zierte die Stadt mit Tempeln, Gymnaſten, und andern oͤffentlichen Gebaͤu - den: Und that alles dieſes, mit Beyſtand ſeiner Ver - trauten, auf eine ſo gute Art, daß Plato alles ſein An - ſehen dazu verwandte, einem Prinzen, der ſo ſchoͤne Hofnungen von ſich erwekte, und ſeine philoſophiſche Eitelkeit mit ſo vielen oͤffentlichen Beweiſen einer vor - zuͤglichen Hochachtung kizelte, (ein Beweggrund, dender139Neuntes Buch, viertes Capitel. der gute Weiſe ſich vielleicht ſelbſt nicht gerne geſtund) alle Herzen zu gewinnen.
Dieſe Maßnehmungen erreichten den vorgeſezten Zwek vollkommen. Das Volk, welches nicht nur in Grie - chenlande, ſondern aller Orten, in einer immerwaͤh - renden Kindheit lebt, hoͤrte auf zu murmeln; verlohr in kurzer Zeit den bloſſen Wunſch einer Veraͤnderung; faßte eine heftige Zuneigung fuͤr ſeinen Prinzen; erhob die Gluͤkſeligkeit ſeiner Regierung; bewunderte die praͤch - tige Kleidung und Waffen, die er ſeinen Trabanten hatte machen laſſen; betrank ſich auf ſeine Geſundheit; und war bereit allem was er unternehmen wollte, ſeinen dummen Beyfall zu zuklatſchen.
Philiſtus und Timocrat ſahen ſich durch dieſen gluͤk - lichen Ausſchlag in der Gunſt ihres Herrn aufs neue be - feſtiget; aber ſie waren nicht zufrieden, ſo lange ſie ſel - bige mit dem Plato theilen mußten, fuͤr welchen er eine Art von Schwachheit behielt, die ihren Grund vielleicht in der natuͤrlichen Obermacht eines groſſen Gei - ſtes uͤber einen Kleinen hatte. Timocrat gerieth auf einen Einfall, wozu ihm die geheime Unterredung in dem Schlafzimmer des Dionys den erſten Wink gegeben hat - te, und wodurch er zu gleicher Zeit ſich ein Verdienſt um den Tyrannen zu machen, und das Anſehen des Philoſophen bey demſelben zu untergraben hoffen konnte.
Dionys140Agathon.Dionys hatte, von ihm aufgemuntert, angefangen, unvermerkt wieder eine groͤſſere Freyheit bey ſeiner Tafel einzufuͤhren; die Anzahl und die Beſchaffenheit der Gaͤſte, welche er faſt taͤglich einlud, gab den Vorwand dazu; und Plato, welcher bey aller erhabenen Auſteri - taͤt ſeiner Grundſaͤze, einen kleinen Anſaz zu einem Hof - manne hatte, machte es, wie es gewiſſe ehrwuͤrdige Maͤnner an gewiſſen Hoͤfen zu machen pflegen; er ſprach bey jeder Gelegenheit von den Vorzuͤgen der Nuͤchtern - heit und Maͤſſigkeit, und aß und trank immer dazu, wie ein andrer. Dieſe kleine Erweiterung der allzuen - gen Grenzen der academiſchen Frugalitaͤt, von wel - cher der Vater der Academie ſelbſt geſtehen mußte, daß ſie ſich fuͤr den Hof eines Fuͤrſten nicht ſchike, erlaubte den vornehmſten Syracuſanern, und jedem, der dem Prinzen ſeine Ergebenheit bezeugen wollte, ihm praͤch - tige Feſte zu geben; wo die Freude zwar ungebun - dener herrſchte, aber doch durch die Geſellſchaft der Muſen und Grazien einen Schein von Beſcheidenheit er - hielt, welcher die Strenge der Weisheit mit ihr aus - ſoͤhnen konnte. Timocrat machte ſich dieſen Umſtand zu Nuz. Er lud den Prinzen, den ganzen Hof, und die Vornehmſten der Stadt ein, auf ſeinem Landhauſe die Wiederkunft des Fruͤhlings zu begehen, deſſen alles ver - juͤngende Kraft, zum Ungluͤk fuͤr den ohnehin uͤbelbe - feſtigten Platoniſmus des Dionys, auch dieſem Prinzen die Begierden und die Kraͤfte der Jugend wieder einzu - hauchen ſchien. Die ſchlaueſte Wolluſt, hinter eine verblendende Pracht verſtekt, hatte dieſes Feſt angeordnet. Timocrat141Neuntes Buch, viertes Capitel. Timocrat verſchwendete ſeine Reichtuͤmer ohne Maß, mit deſto froͤhlicherm Geſichte, da er ſie eben dadurch doppelt wieder zu bekommen verſichert war. Alle Welt bewunderte die Erfindungen und den Geſchmak dieſes Guͤnſtlings; Dionys bezeugte, ſich niemals ſo wol ergoͤzt zu haben; und der goͤttliche Plato, der weder auf ſei - nen Reiſen zu den Pyramiden und Gymnoſophiſten, noch zu Athen ſo etwas geſehen hatte, wurde von ſeiner dichteriſchen Einbildungs-Kraft ſo ſehr verrathen, daß er die Gefahren zu vergeſſen ſchien, welche unter den Bezauberungen dieſes Orts, und dieſer Verſchwendung von Reizungen zum Vergnuͤgen, laurten. Der einzige Dion erhielt ſich in ſeiner gewoͤhnlichen Ernſthaftigkeit, und machte durch den ſtarken Contraſt ſeines finſtern Bezeugens mit der allgemeinen Froͤhlichkeit, Eindruͤke auf alle Gemuͤther, welche nicht wenig dazu beytrugen, ſeinen bevorſtehenden Fall zu befoͤrdern. Jndeß ſchien niemand darauf acht zu geben; und in der That ließ die Vorſorge, welche Timocrat gebraucht hatte, daß jede Stunde, und beynahe jeder Augenblik ein neues Vergnuͤgen herbeyfuͤhren mußte, wenig Muſſe, Beob - achtungen zu machen. Dieſer ſchlaue Hoͤfling hatte ein Mittel gefunden, dem Plato ſelbſt, bey einer Gelegen - heit, wo es ſo wenig zu vermuthen war, auf eine feine Art zu ſchmeicheln. Dieſes geſchah durch ein groſſes pantomimiſches Ballet, worinn die Geſchichte der menſch - lichen Seele, nach den Grundſaͤzen dieſes Weiſen, un - ter Bildern, welche er in einigen ſeiner Schriften an die Hand gegeben hatte, auf eine allegoriſche Art vor -geſtellt142Agathon. geſtellt wurde. Timocrat hatte die juͤngſten und ſchoͤn - ſten Figuren hierzu gebraucht, welche er zu Corinth und aus dem ganzen Griechenlande hatte zuſammenbrin - gen koͤnnen. Unter den Taͤnzerinnen war eine, welche dazu gemacht ſchien, dasjenige, was der gute Plato in etlichen Monaten an dem Gemuͤthe des Tyrannen ge - arbeitet, in etlichen Augenbliken zu zerſtoͤren. Sie ſtellte unter den Perſonen des Tanzes die Wolluſt vor; und wuͤrklich paßten ihre Figur, ihre Geſichtsbildung, ihre Blike, ihr Laͤcheln, alles ſo vollkommen zu dieſer Rolle, daß das anacreontiſche Beywort Wolluſtathmend ausdruͤklich fuͤr ſie gemacht zu ſeyn ſchien. Jederman war von der ſchoͤnen Bacchidion bezaubert; aber nie - mand war es ſo ſehr als Dionys. Er dachte nicht ein - mal daran, der Wolluſt, welche eine ſo verfuͤhriſche Geſtalt angenommen hatte, um ſeine erkaltete Zunei - gung zu ihr wieder anzufeuren, Widerſtand zu thun; kaum daß er noch ſo viel Gewalt uͤber ſich ſelbſt behielt, um von demjenigen was in ihm vorgieng nicht allzu - deutliche Wuͤrkungen ſehen zu laſſen. Denn er getraute ſich noch nicht, wieder gaͤnzlich Dionyſius zu ſeyn, ob ihm gleich von Zeit zu Zeit kleine Zuͤge entwiſchten, welche dem beobachtenden Dion bewieſen, daß er nur noch durch einen Reſt von Schaam, dem lezten Seufzer der erſterbenden Tugend, zuruͤkgehalten werde. Timo - crat triumphierte in ſich ſelbſt; ſeine Abſicht war er - reicht; die allzureizende Bacchidion bemaͤchtigte ſich der Begierde, des Geſchmaks und ſo gar des Herzens des Tyrannen: Und da er den Timocrat zum Unterhaͤndlerſeiner143Neuntes Buch, viertes Capitel. ſeiner Leidenſchaft, welche er eine Zeitlang geheim hal - ten wollte, noͤthig hatte, ſo war Timocrat von dieſem Angenblik an wieder der naͤchſte an ſeinem Herzen. Der weiſe Plato bedaurte zu ſpaͤt, daß er zu viel Nachſicht gegen den Hang dieſes Prinzen nach Ergoͤzungen getra - gen hatte; er fuͤhlte nur gar zu wol, daß die Gewalt ſeiner metaphyſiſchen Bezauberungen durch eine ſtaͤrkere Zaubermacht aufgeloͤßt worden ſey, und ſieng an, um ſich nicht ohne Nuzen beſchwerlich zu machen, den Hof ſelt - ner zu beſuchen. Dion gieng weiter: Er unterſtund ſich, dem Dionys wegen ſeines geheimen Verſtaͤndniſſes mit der ſchoͤnen Bacchidion, Vorwuͤrfe zu machen, und ihn ſeiner Verbindlichkeiten mit einem Ernſt zu erinnern, den der Tyrann nicht mehr ertragen konnte. Dionys ſprach im Ton eines aſiatiſchen Deſpoten, und Dion antwortete wie ein Mißvergnuͤgter, der ſich ſtark genug fuͤhlt, den Drohungen eines uͤbermuͤthigen Tyrannen Troz zu bieten. Philiſtus hielt den Dionys zuruͤk, der im Begrif war alles zu wagen, indem er ſeiner Wuth den Zuͤgel ſchieſſen laſſen wollte. Allein in den Umſtaͤn - den worinn man mit dem beleidigten Dion war, mußte ein ſchleuniger Entſchluß gefaßt werden. Dion ver - ſchwand auf einmal, und erſt nach einigen Tagen machte Dionys bekannt: Daß ein gefaͤhrliches Complot gegen ſeine Perſon, und die Ruhe des Staats, woran Dion in geheim gearbeitet, ihn genoͤthiget haͤtte, denſelben auf einige Zeit aus Sicilien zu entfernen. Es beſtaͤt - tigte ſich wuͤrklich, daß Dion in der Nacht unvermuthet in Verhaft genommen, zu Schiffe gebracht und in Jta -lien144Agathon. lien ans Land geſezt worden war. Um das angebliche Complot wahrſcheinlich zu machen, wurden verſchiedene Freunde Dions, und eine noch groͤſſere Anzahl von Creaturen des Philiſtus, welche gegen dieſen Prinzen zu reden beſtochen waren, in Verhaft genommen. Man unterließ nichts, was ſeinem Proceß das Anſehen der genaueſten Beobachtung der Juſtiz-Formalitaͤten geben konnte; und nachdem er durch die Auſſage einer Menge von Zeugen uͤberwieſen worden war, wurde ſeine Ver - bannung in ein foͤrmliches Urtheil gebracht, und ihm bey Strafe des Lebens verboten, ohne beſondere Er - laubnis des Dionys, Sicilien wieder zu betreten. Dio - nys ſtellte ſich, als ob er dieſes Urtheil ungern und allein durch die Sorge fuͤr die Ruhe des Staats gezwungen unterzeichne; und um eine Probe zu geben, wie gern er eines Prinzen, den er allezeit beſonders hochgeſchaͤzt habe, ſchonen moͤchte, verwandelte er die Strafe der Confiſcation aller ſeiner Guͤter in eine bloſſe Zuruͤkhal - tung der Einkuͤnfte von denſelben: Aber niemand ließ ſich durch dieſe Vorſpieglungen hintergehen, da man bald darauf erfuhr, daß er ſeine Schweſter, die Ge - malin des Dion, gezwungen habe, die Belohnung des unwuͤrdigen Timocrat zu werden.
Plato ſpielte bey dieſer unerwarteten Cataſtrophe eine ſehr demuͤthigende Rolle. Dionys affectierte zwar noch immer, ein groſſer Bewunderer ſeiner Wiſſenſchaft und Beredſamkeit zu ſeyn; aber ſein Einfluß hatte ſo gaͤnz - lich aufgehoͤrt, daß ihm nicht einmal erlaubt war, dieUnſchuld145Neuntes Buch, viertes Capitel. Unſchuld ſeines Freundes zu vertheidigen. Er wurde taͤglich zur Tafel eingeladen; aber nur, um mit eig - nen Ohren anzuhoͤren, wie die Grundſaͤze ſeiner Phi - loſophie, die Tugend ſelbſt, und alles was einem ge - ſunden Gemuͤth ehrwuͤrdig iſt, zum Gegenſtand leicht - ſinniger Scherze gemacht wurden, welche ſehr oft den aͤchten Wiz nicht weniger beleidigten als die Tugend. Und damit ihm alle Gelegenheit benommen wuͤrde, die widrigen Eindruͤke, welche den Syracuſanern gegen den Dion beygebracht worden waren, wieder auszuloͤſchen, wurde ihm unter dem Schein einer beſondern Ehren - bezeugung eine Wache gegeben, welche ihn wie einen Staats-Gefangenen beobachtete und eingeſchloſſen hielt. Der Philoſoph hatte denjenigen Theil ſeiner Seele, wel - chem er ſeinen Siz zwiſchen der Bruſt und dem Zwerch - Fell angewieſen, noch nicht ſo gaͤnzlich gebaͤndiget, daß ihn dieſes Betragen des Tyrannen nicht haͤtte erbittern ſollen. Er fieng an wie ein freygebohrner Athenienſer zu ſprechen, und verlangte ſeine Entlaſſung. Dionys ſtellte ſich uͤber dieſes Begehren beſtuͤrzt an, und ſchien alles anzuwenden, um einen ſo wichtigen Freund bey ſich zu behalten; er bot ihm ſo gar die erſte Stelle in ſeinem Reich, und, wenn Plutarch nicht zuviel geſagt hat, alle ſeine Schaͤze an, wofern er ſich verbindlich machen wollte, ihn niemals zu verlaſſen; aber die Be - dingung, welche er hinzuſezte, bewieß, wie wenig er ſelbſt erwartete, daß ſeine Erbietungen angenommen werden wuͤrden. Denn er verlangte, daß er ihm ſeine Freundſchaft fuͤr den Dion aufopfern ſollte; und Plato[Agath. II. Th.] Kverſtuhnd146Agathon. verſtuhnd den ſtillſchweigenden Sinn dieſer Zumuthung. Er beharrete alſo auf ſeiner Entlaſſung, und erhielt ſie endlich, nachdem er das Verſprechen von ſich gegeben hatte, daß er wieder kommen wolle, ſo bald der Krieg, welchen Dionys wider Carthago anzufangen im Begriff war, geendigt ſeyn wuͤrde. Der Tyrann machte ſich eine groſſe Angelegenheit daraus, alle Welt zu uͤberre - den, daß ſie als die beſten Freunde von einander ſchie - den; und Platons Ehrgeiz (wenn es anders erlaubt iſt, eine ſolche Leidenſchaft bey einem Philoſophen vor - auszuſezen) fand ſeine Rechnung zu gut dabey, als daß er ſich haͤtte bemuͤhen ſollen, die Welt von dieſer Mey - nung zuheilen. Er gehe, ſagte er, nur Dion und Dionys wieder zu Freunden zu machen. Der Tyrann bezeugte ſich ſehr geneigt hierzu, und hob, zum Beweis ſeiner guten Geſinnung den Beſchlag auf, den er auf die Einkuͤnfte Dions gelegt hatte. Plato hingegen machte ſich zum Buͤrgen fuͤr ſeinen Freund, daß er nichts widriges gegen Dionyſen unternehmen ſollte. Der Abſchied machte eine ſo traurige Scene, daß die Zu - ſchauer, (auſſer den wenigen, welche das Geſicht unter der Maske kannten) von der Gutherzigkeit des Prinzen ſehr geruͤhrt wurden; er begleitete den Philoſophen bis an ſeine Galeeren, erſtikte ihn faſt mit Umarmungen, nezte ſeine ehrwuͤrdigen Wangen mit Thraͤnen, und ſah ihm ſo lange nach, bis er ihn aus den Augen verlohr: Und ſo kehrten beyde, mit gleich erleichtertem Herzen, Plato in ſeine geliebte Academie, und Dionys in die Arme ſeiner Taͤnzerin zuruͤk.
Dieſer147Neuntes Buch, viertes Capitel.Dieſer Tyrann, deſſen natuͤrliche Eitelkeit durch die Diſcurſe des Athenienſiſchen Weiſen zu einer heftigen Ruhmbegierde aufgeſchwollen war, hatte ſich unter an - dern Schwachheiten in den Kopf geſezt, fuͤr einen Goͤn - ner der Gelehrten, fuͤr einen Kenner, und ſo gar fuͤr einen der ſchoͤnen Geiſter ſeiner Zeit gehalten zu werden. Er war ſehr bekuͤmmert, daß Plato und Dion den Griechen, denen er vorzuͤglich zu gefallen begierig war, die gute Meynung wieder benehmen moͤchten, welche man von ihm zu faſſen angefangen hatte; und dieſe Furcht ſcheint einer von den ſtaͤrkſten Beweggruͤnden ge - weſen zu ſeyn, warum er den Plato bey ihrer Tren - nung mit ſo vieler Freundſchaft uͤberhaͤuft hatte. Er ließ es nicht dabey bewenden. Philiſtus ſagte ihm, daß Griechenland eine Menge von ſpeculativen Muͤſſig - gaͤngern habe, welche ſo beruͤhmt als Plato, und zum theil geſchikter ſeyen, einen Prinzen bey Tiſche oder in verlohrnen Augenbliken zu beluſtigen als dieſer Mann, der die Schwachheit habe ein laͤcherlich ehrwuͤrdiges Mit - telding zwiſchen einem Egyptiſchen Prieſter, und einem Staatsmanne vorzuſtellen, und ſeine unverſtaͤndlich-er - habene Grillen fuͤr Grundſaͤze, wornach die Welt regiert werden muͤſſe, auszugeben. Er bewies ihm mit den Beyſpielen ſeiner eigenen Vorfahren, daß ein Fuͤrſt ſich den Ruhm eines unvergleichlichen Regenten nicht wol - feiler anſchaffen koͤnne, als indem er Philoſophen und Poeten in ſeinen Schuz nehme; Leute, welche fuͤr die Ehre ſeine Tiſchgenoſſen zu ſeyn, oder fuͤr ein maͤſſiges Gehalt, bereit ſeyen, alle ihre Talente ohne Maß undK 2Ziel148Agathon. Ziel zu ſeinem Ruhm und zu Befoͤrderung ſeiner Abſich - ten zu verſchwenden. Glaubeſt du, ſagte er, daß Hieron der wunderthaͤtige Mann, der Held, der Halb - gott, das Muſter aller fuͤrſtlichen, buͤrgerlichen und haͤuslichen Tugenden geweſen ſey, wofuͤr ihn die Nach - welt haͤlt? Wir wiſſen was wir davon denken ſollen; er war was alle Prinzen ſind, und lebte wie ſie alle leben; er that was ich und ein jeder andrer thun wuͤrde, wenn wir zu unumſchraͤnkten Herren einer ſo ſchoͤnen Jnſel, wie Sicilien iſt, gebohren waͤren ‒ ‒ ‒ Aber er hatte die Klugheit, Simoniden und Pindare an ſeinem Hofe zu halten; ſie lobten ihn in die Wette, weil ſie wol gefuͤttert und wol bezahlt wurden; alle Welt erhob die Freygebigkeit dieſes Prinzen, und doch koſtete ihn dieſer Ruhm nicht halb ſoviel, als ſeine Jagd - hunde. Wer wollte ein Koͤnig ſeyn, wenn ein Koͤnig das alles wuͤrklich thun muͤßte, was ſich ein muͤſſiger Sophiſt auf ſeinem Faulbethe oder Diogenes in ſeinem Faſſe einfallen laͤßt, ihm zu Pflichten zu machen? Wer wollte regieren, wenn ein Regent allen Forderungen und Wuͤnſchen ſeiner Unterthanen genug thun muͤßte? Das meiſte, wo nicht alles, koͤmmt auf die Meynung an, die ein groſſer Herr von ſich erwekt; nicht auf ſeine Handlungen ſelbſt, ſondern auf die Geſtalt und den Schwung, den er ihnen zu geben weiß. Was er nicht ſelbſt thun will, oder thun kan, das koͤnnen wi - zige Koͤpfe fuͤr ihn thun. Haltet euch einen Philoſo - phen, der alles demonſtriren, einen ſinnreichen Schwaͤ - zer, der uͤber alles ſcherzen, und einen Poeten, deruͤber149Neuntes Buch, viertes Capitel. uͤber alles Gaſſenlieder machen kan. Der Nuzen, den ihr von dieſer kleinen Ausgabe zieht, faͤllt zwar nicht ſogleich in die Augen; ob es gleich an ſich ſelbſt ſchon Vortheils genug fuͤr einen Fuͤrſten iſt, fuͤr einen Be - ſchuͤzer der Muſen gehalten zu werden. Denn das iſt in den Augen von neun und neunzig hunderttheilen des menſchlichen Geſchlechts ein untruͤglicher Beweis, daß er ſelbſt ein Herr von groſſer Einſicht, und Wiſſen - ſchaft iſt; und dieſe Meynung erwekt Zutrauen, und ein guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr alles was er unternimmt. Aber das iſt der geringſte Nuzen, den ihr von euern wizigen Koſtgaͤngern zieht. Sezet den Fall, daß es noͤthig ſey eine neue Auflage zu machen; das iſt alles was ihr braucht, um in einem Augenblik ein allgemei - nes Murren gegen eure Regierung zu erregen; die Miß - vergnuͤgten, eine Art von Leuten, welche die kluͤgſte Regierung niemals gaͤnzlich ausrotten kan, machen ſich einen ſolchen Zeitpunct zu nuze; ſezen das Volk in Gaͤh - rung, unterſuchen eure Auffuͤhrung, die Verwaltung eurer Einkuͤnfte, und tauſend Dinge, an welche vor - her niemand gedacht hatte; die Unruhe nimmt zu, die Repraͤſentanten des Volks verſammeln ſich, man uͤber - giebt euch eine Vorſtellung, eine Beſchwerung um die andere; unvermerkt nimmt man ſich heraus die Bitten in Forderungen zu verwandeln, und die Forderungen mit ehrfurchtsvollen Drohungen zu unterſtuͤzen; kurz, die Ruhe euers Lebens iſt, wenigſtens auf einige Zeit, verlohren; ihr befindet euch in critiſchen Umſtaͤnden, wo der kleinſte Fehltritt die ſchlimmeſten Folgen nachK 3ſich150Agathon. ſich ziehen kan, und es braucht nur einen Dion, der ſich zu einer ſolchen Zeit einem mißvergnuͤgten Poͤbel an den Kopf wirft, ſo habt ihr einen Aufruhr in ſei - ner ganzen Groͤſſe. Hier zeigt ſich der wahre Nuzen unſrer wizigen Koͤpfe. Durch ihren Beyſtand koͤnnen wir in etlichen Tagen allen dieſen Uebeln zuvorkommen. Laßt den Philoſophen demonſtriren, daß dieſe Auflage zur Wolfahrt des gemeinen Weſens unentbehrlich iſt; laßt den Spaßvogel irgend einen laͤcherlichen Einfall, irgend eine luſtige Hof-Anecdote oder ein boshaftes Maͤhrchen in der Stadt herumtragen, und den Poeten eine neue Comoͤdie und ein paar Gaſſenlieder machen, um dem Poͤbel was zu ſehen und zu ſingen zu geben: So wird alles ruhig bleiben; und indeſſen daß die politiſchen Muͤſſiggaͤnger ſich daruͤber zanken werden, ob euer Philoſoph recht oder unrecht argumentiert habe, und die kleine aͤrgerliche Anecdote reichlich ausgeziert und verſchoͤnert, den Wiz aller guten Geſellſchaften im Athem erhaͤlt: Wird der Poͤbel ein paar Fluͤche zwi - ſchen den Zaͤhnen murmeln, die Grillen zu vertreiben, ſeinen Gaſſenhauer anſtimmen, und ‒ ‒ bezahlen. Solche Dienſte, ſind, daͤucht mich wol werth, etliche Leute zu unterhalten, die ihren ganzen Ehrgeiz darinn ſezen, Worte zierlich zuſammenzuſezen, Sylben zu zaͤhlen, Ohren zu kizeln und Lungen zu erſchuͤttern; Leute, denen ihr alle ihre Wuͤnſche erfuͤllt, wenn ihr ihnen ſo viel gebt, als ſie brauchen, kummerloß durch eine Welt, an die ſie wenig Anſpruͤche machen, hindurchzu - ſchlentern, und nichts zu thun, als was der Wurm imKopf,151Neuntes Buch, viertes Capitel. Kopf, den ſie ihren Genie nennen, ihnen zum groͤſſe - ſten Vergnuͤgen ihres Lebens macht.
Dionys befand dieſen Rath ſeines wuͤrdigen Mini - ſters vollkommen nach ſeinem Geſchmak. Philiſtus uͤber - gab ihm eine Liſte von mehr als zwanzig Candidaten, aus denen man, wie er ſagte, nach Belieben auswaͤh - len koͤnnte. Dionys glaubte, daß man dieſer nuͤzlichen Leute nicht zuviel haben koͤnne, und waͤhlte alle. Alle ſchoͤnen Geiſter Griechenlandes wurden unter blenden - den Verheiſſungen an ſeinen Hof eingeladen. Jn kur - zer Zeit wimmelte es in ſeinen Vorſaͤlen von Philoſo - phen und Prieſtern der Muſen. Alle Arten von Dich - tern, Epiſche, Tragiſche, Comiſche, Lyriſche, welche ihr Gluͤk zu Athen nicht hatten machen koͤnnen, zogen nach Syracus, um ihre Leyern und Floͤten an den an - muthigen Ufern des Anapus zu ſtimmen, und ‒ ‒ ſich ſatt zu eſſen. Sie glaubten, daß es ihnen gar wol er - laubt ſeyn koͤnne, die Tugenden des Dionys zu beſin - gen, nachdem der goͤttliche Pindar ſich nicht geſchaͤmt hatte, die Mauleſel des Hieron unſterblich zu machen. So gar der cyniſche Antiſthenes ließ ſich durch die Hof - nung herbeyloken, daß ihn die Freygebigkeit des Dionys in den Stand ſezen wuͤrde, die Vortheile der freywil - ligen Armuth und der Enthaltſamkeit mit deſto mehr Gemaͤchlichkeit zu ſtudieren; Tugenden, von deren Schoͤn - heit, nach dem ſtillſchweigenden Geſtaͤnduis ihrer eyf - rigſten Lobredner, ſich nach einer guten Mahlzeit am beredteſten ſprechen laͤßt. Kurz, Dionys hatte das Ver -K 4gnuͤgen,152Agathon. gnuͤgen, ohne einen Plato dazu noͤthig zu haben, ſich mitten an ſeinem Hofe eine Academie fuͤr ſeinen eignen Leib zu errichten, deren Vorſteher und Apollo er ſelbſt zu ſeyn wuͤrdigte, und in welcher uͤber die Gerechtig - keit, uͤber die Grenzen des Guten und Boͤſen, uͤber die Quelle der Geſeze, uͤber das Schoͤne, uͤber die Natur der Seele, der Welt und der Goͤtter, und andere ſolche Materien, welche nach den gewoͤhnlichen Begriffen der Weltleute zu nichts als zur Converſation gut ſind, mit ſo vieler Schwazhaftigkeit, mit ſo viel Subtilitaͤt und ſo wenig geſunder Vernunft diſputirt wurde, als es in irgend einer Schule der Weisheit der damaligen Zeiten zu geſchehen pflegte. Er hatte das Vergnuͤgen ſich be - wundern, und wegen einer Menge von Tugenden und Helden-Eigeuſchaften lobpreiſen zu hoͤren, die er ſich ſelbſt niemals zugetrant haͤtte. Seine Philoſophen waren keine Leute, die, wie Plato, ſich herausge - nommen haͤtten, ihn hofmeiſtern, und lehren zu wol - len, wie er zuerſt ſich ſelbſt, und dann ſeinen Staat regieren muͤſſe. Der ſtrengeſte unter ihnen war zu hoͤf - lich, etwas an ſeiner Lebensart auszuſezen, und alle waren bereit es einem jeden Zweifler ſonnenklar zu be - weiſen, daß ein Tyrann, der Zueignungs-Schriften, und Lobgedichte ſo gut bezahlte, ſo gaſtfrey war, und ſeine getreuen Unterthanen durch den Anblik ſo vieler Feſte und Luſtbarkeiten gluͤklich machte, der wuͤrdigſte unter allen Koͤnigen ſeyn muͤſſe.
Jn153Neuntes Buch, viertes Capitel.Jn dieſen Umſtaͤnden befand ſich der Hof zu Syra - cus, als der Held unſrer Geſchichte in dieſer Stadt an - kam; und ſo war der Fuͤrſt beſchaffen, welchem er, un - ter ganz andern Vorausſezungen, ſeine Dienſte anzu - bieten gekommen war.
Agathon erfuhr die hauptſaͤchlichſten Begebenheiten, welche den Jnhalt des vorhergehenden Capitels ausma - chen, bey einem groſſen Gaſtmal, welches ſein Freund der Kaufmann, des folgenden Tages gab, um Aga - thons Ankunft in Syracus, und ſeine eigene Wieder - kunft feyrlich zu begehen. Der Nahme eines Gaſtes, der eine Zeit lang den Griechen ſo viel von ſich zu reden gegeben hatte, zog unter andern Neugierigen auch den Philoſophen Ariſtippus herbey, der ſowol wegen der An - nehmlichkeiten ſeines Umgangs, als wegen der Gnade, worinn er bey dem Tyrannen ſtuhnd, in den beſten Haͤuſern zu Syracus ſehr willkommen war. Dieſer Philoſoph hatte ſich, bey jener groſſen Migration der ſchoͤnen Geiſter aus Griechenland nach Syracus, auch dahin begeben, mehr um einen beobachtenden Zuſchauer abzugeben, als in der Abſicht, durch paraſitiſche Kuͤnſte die Eitelkeit des Dionys ſeinen Beduͤrfniſſeu zinßbar zu machen. Agathon und Ariſtippus hatten einander zuK 5Athen154Agathon. Athen gekannt; aber damals contraſtierte der Enthu - ſiaſmus des Erſten mit dem kalten Blut, und der Humo - riſtiſchen Art zu philoſophieren des Andern zu ſtark, als daß ſie einander wahrhaftig haͤtten hochſchaͤzen koͤn - nen, obgleich Ariſtipp ſich oͤfters bey den Verſammlun - gen einfand, welche damals aus Agathons Haus einen Tempel der Muſen, und eine Academie der beſten Koͤpfe von Athen machten. Die Wahrheit war, daß Agathon mit allen ſeinen ſchimmernden Eigenſchaften in Ariſtipps Augen ein Phantaſt, deſſen Ungluͤk er ſei - nen Vertrauten oͤfters vorherſagte ‒ ‒ und Ariſtipp mit allem ſeinem Wiz nach Agathons Begriffen ein bloſſer Sophiſt war, den ſeine Grundſaͤze geſchikter machten, weibiſche Sybariten noch ſybaritiſcher, als junge Re - publicaner zu tugendhaften Maͤnnern zu machen. Der Eindruk, welcher beyden von dieſer ehmals von einan - der gefaßten Meynung geblieben war, machte ſie ſtuzen, da ſie ſich nach einer Trennung von drey oder vier Jah - ren ſo unvermuthet wieder ſahen. Es gieng ihnen in den erſten Augenbliken, wie es uns zu gehen pflegt, wenn uns daͤucht, als ob wir eine Perſon kennen ſoll - ten, ohne uns gleich deutlich erinnern zu koͤnnen, wer ſie iſt, oder wo und in welchen Umſtaͤnden wir ſie ge - ſehen haben. Das ſollte Agathon ‒ ‒ das ſollte Ari - ſtipp ſeyn, dachte jeder bey ſich ſelbſt, war uͤberzeugt, daß es ſo ſey, und hatte doch Muͤhe, ſeiner eigenen Ueberzeugung zu glauben. Ariſtipp ſuchte im Agathon den Enthuſiaſten, welcher nicht mehr war; und Aga - thon glaubte im Ariſtipp den Sybariten nicht mehr zufinden,155Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. finden; vielleicht allein, weil ſeine Art, Perſonen und Sachen ins Auge zu faſſen, ſeit einiger Zeit eine merk - liche Veraͤnderung erlidten hatte. Ein Umgang von et - lichen Stunden loͤſete beyden das Raͤthſel ihres anfaͤng - lichen Jrthums auf, zerſtreute den Reſt des alten Vorur - theils, und floͤßte ihnen Diſpoſitionen ein, beſſere Freunde zu werden. Unvermerkt erinnerten ſie ſich nicht mehr, daß ſie einander ehmals weniger gefallen hatten; und ihr Herz liebte den kleinen Selbſtbetrug, dasjenige was ſie izt fuͤr einander empfanden, fuͤr die bloſſe Erneuerung einer alten Freundſchaft zu halten. Ariſtipp fand bey unſerm Helden, eine Gefaͤlligkeit, eine Politeſſe, eine Maͤſſigung, welche ihm zu beweiſen ſchien, daß Erfahrungen von mehr als einer Art eine ſtarke Revolution in ſeinem Gemuͤthe gewuͤrkt haben mußten. Agathon fand bey dem Philoſophen von Cy - rene etwas mehr als Wiz, einen Beobachtungs-Geiſt, eine geſunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtig - keit der Beurtheilung, welche den Schuͤler des wei - ſen Socrates in ihm erkennen lieſſen. Dieſe Entdekun - gen floͤſſeten ihnen natuͤrlicher Weiſe ein gegenſeitiges Zu - trauen ein, welches ſie geneigt machte, ſich weniger vor einander zu verbergen, als man bey einer erſten Zu - ſammenkunft zu thun gewohnt iſt. Agathon ließ ſeinem neuen Freunde ſein Erſtaunen daruͤber ſehen, daß die Hofnungen, welche man ſich zum Vortheil Siciliens von Platons Anſehen bey dem Dionys gemacht, ſo ploͤz - lich, und auf eine ſo unbegreifliche Art, vernichtet wor - den. Jn der That beſtuhnd alles was man in der Stadtdavon156Agathon. davon wußte, in bloſſen Muthmaſſungen, die ſich zum Theil auf allerley unzuverlaͤſſige Anecdoten gruͤndeten, welche in Staͤdten, wo ein Hof iſt von muͤſſigen Leu - ten, die ſich das Anſehen geben wollen, als ob ſie von den Geheimniſſen und Jntriguen des Hofes vollkommene Wiſſenſchaft haͤtten, von Geſellſchaft zu Geſellſchaft her - umgetragen zu werden pflegen. Ariſtipp hatte in der kurzen Zeit, ſeit dem er ſich an Dionyſens Hofe auf - hielt, die ſchwache Seite dieſes Prinzen, den Cha - racter ſeiner Guͤnſtlinge, der Vornehmſten der Stadt, und der Sicilianer uͤberhaupt ſo gut ausſtudiert, daß er, ohne ſich in die Entwiklung der geheimern Trieb - federn (womit wir unſre Leſer ſchon bekannt gemacht ha - ben) einzulaſſen, den Agathon leicht uͤberzeugen konnte, daß ein gleichguͤltiger Zuſeher von den Anſchlaͤgen, Dions und Platons, den Dionys zu einer freywilligen Niederlegung der monarchiſchen Gewalt zu vermoͤgen, ſich keinen gluͤklichern Ausgang habe verſprechen koͤnnen. Er mahlte den Tyrannen von ſeiner beſten Seite als einen Prinzen ab, bey dem die ungluͤklichſte Erziehung ein vortrefliches Naturell nicht habe verderben koͤnnen; der von Natur leutſelig, edel, freygebig, und dabey ſo bildſam und leicht zu regieren ſey, daß alles bloß darauf ankomme, in was fuͤr Haͤnden er ſich befinde. Seiner Meynung nach war, eben dieſe allzubewegliche Gemuͤthsart und der Hang fuͤr die Vergnuͤgungen der Sinnen die fehlerhafteſte Seite dieſes Prinzen. Plato haͤtte die Kunſt verſtehen ſollen, ſich dieſer Schwachhei - ten ſelbſt auf eine feine Art zu ſeinen Abſichten zu be -dienen;157Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. dienen; aber das haͤtte eine Geſchmeidigkeit, eine kluge Miſchung von Nachgiebigkeit und Zuruͤkhaltung erfor - dert, wozu der Verfaſſer des Cratylus und Timaͤus nie - mals faͤhig ſeyn werde. Ueberdem haͤtte er ſich zu deut - lich merken laſſen, daß er gekommen ſey, den Hofmeiſter des Prinzen zu machen; ein Umſtand, der ſchon fuͤr ſich allein alles habe verderben muͤſſen. Denn die ſchwaͤch - ſten Fuͤrſten ſeyen allemal diejenigen, vor denen man am ſorgfaͤltigſten verbergen muͤſſe, daß man weiter ſehe als ſie; ſie wuͤrden ſich’s zur Schande rechnen, ſich von dem groͤſſeſten Geiſt in der Welt regieren zu laſſen, ſo bald ſie glauben, daß er eine ſolche Abſicht im Schilde fuͤhre; und daher komme es, daß ſie ſich oft lieber der ſchimpflichen Herrſchaft eines Cammerdieners oder einer Maitreſſe unterwerfen, welche die Kunſtgriffe beſizen, ihre Gewalt uͤber das Gemuͤth des Herrn unter ſclavi - ſchen Schmeicheleyen oder ſchlauen Liebkoſungen zu ver - bergen. Plato ſey zu einem Miniſter eines ſo jungen Prinzen zu ſpizfuͤndig, und zu einem Guͤnſtling zu alt geweſen; zudem habe ihm ſeine vertraute Freundſchaft mit dem Dion geſchadet, da ſie ſeinen heimlichen Fein - den beſtaͤndige Gelegenheit gegeben, ihn dem Prinzen verdaͤchtig zu machen. Endlich habe der Einfall, aus Sicilien eine platoniſche Republik zu machen an ſich ſelbſt nichts getaugt. Der National-Geiſt der Sicilianer ſey eine Zuſammenſezung von ſo ſchlimmen Eigenſchaften, daß es, ſeiner Meynung nach, dem weiſeſten Geſezge - ber unmoͤglich bleiben wuͤrde, ſie zur republicaniſchen Tugend umzubilden; und Dionys, welcher unter ge -wiſſen158Agathon. wiſſen Umſtaͤnden faͤhig ſey ein guter Fuͤrſt zu werden, wuͤrde, wenn er ſich auch in einem Anſtoß von einge - bildeter Großmuth haͤtte bereden laſſen, die Tyrannie aufzuheben, allezeit ein ſehr ſchlimmer Buͤrger geweſen ſeyn. Dieſe allgemeine Urſachen ſeyen, was auch die naͤhern Veranlaſſungen der Verbannung des Dion und der Ungnade oder wenigſtens der Entfernung des Pla - ton geweſen ſeyn moͤgen, hinlaͤnglich begreiflich zu ma - chen, daß es nicht anders habe gehen koͤnnen; ſie be - wieſen aber auch (ſezte Ariſtipp mit einer anſcheinenden Gleichguͤltigkeit hinzu) daß ein Anderer, der ſich die Fehler dieſer Vorgaͤnger zu Nuzen zu machen wißte, wenig Muͤhe haben wuͤrde, die unwuͤrdigen Leute zu verdraͤngen, welche ſich wieder in den Beſiz des Zu - trauens und der Autoritaͤt des Tyrannen geſchwungen haͤtten.
Agathon fand dieſe Gedanken ſeines neuen Freundes ſo wahrſcheinlich, daß er ſich uͤberreden ließ, ſie fuͤr wahr anzunehmen. Und hier ſpielte ihm die Eigenliebe einen kleinen Streich, deſſen er ſich nicht zu ihr ver - muthete. Sie fluͤſterte ihm ſo leiſe, daß er ihren Ein - hauch vielleicht fuͤr die Stimme ſeines Genius, oder der Tugend ſelbſten hielt, den Gedanken zu ‒ ‒ wie ſchoͤn es waͤre, wenn Agathon dasjenige zu Stande bringen koͤnnte, was Plato vergebens unternommen hatte. Wenigſtens daͤuchte es ihn ſchoͤn, den Verſuch zu machen; und er fuͤhlte eine Art von ahnendem Bewußtſeyn, daß eine ſolche Unternehmung nicht uͤber ſeine Kraͤftegehen159Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. gehen wuͤrde. Dieſe Empfindungen (denn Gedanken waren es noch nicht) ſtiegen, waͤhrend daß Ariſtippus ſprach, in ihm auf; aber er nahm ſich wol in Acht, ihn das geringſte davon merken zu laſſen; und lenkte, aus Beſorgniß von einem ſo ſchlauen Hoͤflinge unver - merkt ausgekundſchaftet zu werden, das Geſpraͤch auf andre Gegenſtaͤnde. Ueberhaupt vermied er alles, was die Aufmerkſamkeit der Anweſenden vorzuͤglich auf ihn haͤtte richten koͤnnen, deſto ſorgfaͤltiger, da er wahr - nahm, daß man einen auſſerordentlichen Mann in ihm zu ſehen erwartete. Er ſprach ſehr beſcheiden, und nur ſo viel als die Gelegenheit unumgaͤnglich erfoderte, von dem Antheil, den er an der Staats-Verwaltung von Athen gehabt hatte; ließ die Anlaͤſſe entſchluͤpfen, die ihm von einigen mit guter Art (wie ſie wenigſtens glaub - ten) gemacht wurden, um ſeine Gedanken von Regie - rungs-Sachen, und von den Syracuſaniſchen Angele - genheiten auszuholen; ſprach von allem wie ein ge - woͤhnlicher Menſch, der ſich auf das was er ſpricht ver - ſteht, und begnuͤgte ſich bey Gelegenheit ſehen zu laſſen, daß er ein Kenner aller ſchoͤnen Sachen ſey, ob er ſich gleich nur fuͤr einen Liebhaber gab. Dieſes Betragen, wodurch er allen Verdacht, als ob er aus beſondern Ab - ſichten nach Syracus gekommen ſey, von ſich entfernen wollte, hatte die Wuͤrkung, daß die Meiſten, welche mit einem Erwartungs-vollen Vorurtheil fuͤr ihn gekom - men waren, ſich fuͤr betrogen hielten, und mit der Mey - nung weggiengen, Agathon halte in der Naͤhe nicht, was ſein Ruhm verſpreche: Ja, um ſich dafuͤr zu raͤ -chen,160Agathon. chen, daß er nicht ſo war, wie er ihrer Einbildung zu lieb haͤtte ſeyn ſollen, liehen ſie ihm noch einige Feh - ler, die er nicht hatte, und verringerten den Werth der ſchoͤnen Eigenſchaften, welche er entweder nicht verber - gen konnte, oder nicht verbergen wollte; gewoͤhnliches Verfahren der kleinen Geiſter, wodurch ſie ſich unter einander in der troͤſtlichen Beredung zu ſtaͤrken ſuchen, daß kein ſo groſſer Unterſcheid, oder vielleicht gar kei - ner, zwiſchen ihnen und den Agathonen ſey ‒ ‒ und wer wird ſo unbillig ſeyn, und ihnen das uͤbel nehmen?
Sobald ſich unſer Mann allein ſah, uͤberließ er ſich den Betrachtungen, die in ſeiner gegenwaͤrtigen Stel - lung die natuͤrlichſten waren. Sein erſter Gedanke, ſo - bald er gehoͤrt hatte, daß Plato entfernt, und Dionys wieder in der Gewalt ſeiner ehemaligen Guͤnſtlinge und einer neuangekommenen Taͤnzerin ſey, war geweſen, ſich nur wenige Tage bey ſeinem Freunde verborgen zu hal - ten, und ſodann nach Jtalien uͤberzufahren, wo er ver - ſchiedne Urſachen hatte zu hoffen, daß er in dem Hauſe des beruͤhmten Archytas zu Tarent willkommen ſeyn wuͤrde. Allein die Unterredung mit dem Ariſtippus hatte ihn auf andre Gedanken gebracht. Je mehr er dasjenige, was ihm dieſer Philoſoph von den Urſachen der vorgegangenen Veraͤnderungen geſagt hatte, uͤber - legte; je mehr fand er ſich ermuntert, das Werk, wel - ches Plato aufgegeben hatte, auf einer andern Seite, und, wie er hoffte, mit beſſerm Erfolg, anzugreiffen. Von tauſend manchfaltigen Gedanken hin und her gezo -gen,161Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. gen, brachte er den groͤſſeſten Theil der Nacht in ei - nem Mittelſtand zwiſchen Entſchlieſſung und Ungewiß - heit zu, bis er endlich mit ſich ſelbſt einig wurde, es darauf ankommen zu laſſen, wozu ihn die Umſtaͤnde be - ſtimmen wuͤrden. Jnzwiſchen machte er ſich auf den Fall, wenn ihn Dionys an ſeinen Hof zu ziehen ſuchen ſollte, einen Verwaltungs Plan; er ſtellte ſich eine Menge Zufaͤlle vor, welche begegnen konnten, und ſezte die Maßregeln bey ſich ſelbſt feſte, nach welchen er in allen dieſen Umſtaͤnden handeln wollte. Die genaueſte Verbindung der Klugheit mit der Rechtſchaffenheit war die Seele davon. Sein eigner Vortheil kam dabey in gar keine Betrachtung; dieſer Punct lag durch aus zum Grunde ſeines ganzen Syſtems; er wollte ſich durch keine Art von Banden feſſeln laſſen, ſondern immer die Freyheit behalten, ſich ſo bald er ſehen wuͤrde, daß er vergeblich arbeite, mit Ehre zuruͤkzuziehen. Das war die einzige Ruͤkſicht, die er dabey auf ſich ſelbſt machte. Die lebhafte Abneigung, die er, aus eigener Erfah - rung gegen alle populare Regierungs-Arten gefaßt hatte, ließ ihn nicht daran denken, den Sicilianern zu einer Freyheit behuͤlflich zu ſeyn, welche er fuͤr einen bloſſen Namen hielt, unter deſſen Schuz die Edeln eines Vol - tes und der Poͤbel einander wechſelweiſe aͤrger Tyranni - ſiren als es irgend ein Tyrann zu thun faͤhig iſt; der ſo arg er immer ſeyn mag, doch durch ſeinen eigenen Vortheil abgehalten wird, ſeine Sclaven gaͤnzlich auf - zureiben; ‒ ‒ da hingegen der Poͤbel, wenn er die Ge - walt einmal an ſich geriſſen hat, ſeinen wilden Be -[Agath. II. Th.] Lgungen162Agathon. wegungen keine Grenzen zu ſezen faͤhig iſt. Dieſe Re - flexion traf zwar nur die Democratie; aber Agathon hatte von der Ariſtocratie keine beſſere Meynung. Eine endloſe Reihe von ſchlimmen Monarchen ſchien ihm et - was, das nicht in der Natur iſt; und ein einziger gu - ter Fuͤrſt, war, nach ſeiner Vorausſezung, vermoͤ - gend, das Gluͤk ſeines Volkes auf ganze Jahrhunderte zu befeſtigen; da hingegen (ſeiner Meynung nach) die Ariſtocratie anders nicht als durch die gaͤnzliche Unter - druͤkung des Volks auf einen dauerhaften Grund geſezt werden koͤnne, und alſo ſchon aus dieſer einzigen Ur - ſache die ſchlimmſte unter allen moͤglichen Verfaſſungen ſey. So ſehr gegen dieſe beyde Regierungs-Arten ein - genommen als er war, konnte er nicht darauf verfallen, ſie mit einander vermiſchen, und durch eine Art von po - litiſcher Chemie aus ſo widerwaͤrtigen Dingen eine gute Compoſition herausbringen zu wollen. Eine ſolche Ver - faſſung daͤuchte ihn allzuverwikelt, und aus zu vieler - ley Gewichtern und Raͤdern zuſammengeſezt, um nicht alle Augenblike in Unordnung zu gerathen, und ſich nach und nach ſelbſt aufzureiben. Die Monarchie ſchien ihm alſo, von allen Seiten betrachtet, die einfacheſte, edelſte, und der Analogie des groſſen Syſtems der Natur gemaͤſſeſte Art die Menſchen zu regieren; und dieſes vor - ausgeſezt, glaubte er alles gethan zu haben, wenn er einen zwiſchen Tugend und Laſter hin und her wanken - den Prinzen aus den Haͤnden ſchlimmer Rathgeber zie - hen; durch einen klugen Gebrauch der Gewalt, die er uͤber ſein Gemuͤth zu bekommen hoffte, ſeine Denkungs -Art163Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. Art verbeſſern; und ihn nach und nach durch die ei - genthuͤmlichen Reizungen der Tugend endlich vollkommen gewinnen koͤnnte. Und geſezt auch, daß es ihm nur auf eine unvollkommene Art gelingen wuͤrde; ſo hoffte er, wofern er ſich nur einmal ſeines Herzens bemeiſtert haben wuͤrde, doch immer im Stande zu ſeyn, viel gutes zu thun, und viel Boͤſes zu verhindern, und auch dieſes ſchien ihm genug zu ſeyn, um beym Schluß der Action mit dem belohnenden Gedanken, eine ſchoͤne Rolle wol geſpielt zu haben, vom Theater abzutreten. Jn dieſen ſanfteinwiegenden Gedanken ſchlummerte Agathon endlich ein, und ſchlief noch, als Ariſtippus des folgen - den Morgens wiederkam, um ihn im Nahmen des Dionys einzuladen, und bey dieſem Prinzen aufzufuͤhren.
Die Seite, von der ſich dieſer Philoſoph in der ge - genwaͤrtigen Geſchichte zeigt, ſtimmt mit dem gemeinen Vorurtheil, welches man gegen ihn gefaßt hat, ſo wenig uͤberein, als dieſes mit den gewiſſeſten Nachrich - ten, welche von ſeinem Leben und von ſeinen Meynun - gen auf uns gekommen ſind. Jn der That ſcheint daſ - ſelbe ſich mehr auf den Mißverſtand ſeiner Grundſaͤze und einige aͤrgerliche Maͤhrchen, welche Diogenes von Laerte und Athenaͤus, zween von den unzuverlaͤſſigſten Compilatoren in der Welt, ſeinen Feinden nacherzaͤh - len, als auf irgend etwas zu gruͤnden, welches ihm unſre Hochachtung mit Recht entziehen koͤnnte. Es hat zu allen Zeiten eine Art von Leuten gegeben, welche nirgends als in ihren Schriften tugendhaft ſind; Leute,L 2welche164Agathon. welche die Verdorbenheit ihres Herzens, und ihre geheimen Laſter durch die Affectation der ſtrengeſten Grundſaͤze in der Sittenlehre bedeken wollen; moraliſche Pantomi - men, qui Curios ſimulant & Bacchanalia vivunt; Leute, welche ſich das Anſehen einer auſſerordentlichen Delicateſſe der Ohren in moraliſchen Dingen geben, und von dem bloſſen Schall des Worts Wolluſt, mit ei - nem heiligen Schauer, erroͤthend ‒ ‒ oder erblaſſend, zuſammenfahren; kurz, Leute, welche jedermann ver - achten wuͤrde, wenn nicht der groͤſſeſte Hauffen dazu ver - urtheilt waͤre, ſich durch Masken-Geſichter, Minen, Geberden, Jnflexionen der Stimme, verdrehte Au - gen, und ‒ ‒ weiſſe Schnupftuͤcher betruͤgen zu laſſen. Dieſe vortreflichen Leute, (welche wir etwas genauer beſchrieben haben, weil es nicht mehr gebraͤuchlich iſt, denenjenigen einen Buͤndel Heu vor die Stirne zu bin - den, denen man nicht allzunahe kommen darf,) tha - ten ſchon damals ihr Beſtes, den guten Ariſtipp fuͤr ei - nen Wolluͤſtling auszuſchreyen, deſſen ganze Philoſophie darinn beſtehe, daß er die Forderungen unſrer ſinnli - chen Triebe zu Grundſaͤzen gemacht, und die Kunſt ge - maͤchlich und angenehm zu leben, in ein Syſtem gebracht habe.
Es iſt hier der Ort nicht, die Unbilligkeit und den Ungrund dieſes Urtheils zu beweiſen; und dieſes iſt auch ſo noͤthig nicht, nachdem bereits einer der ehrwuͤrdig - ſten und verdienſtvolleſten Gelehrten unſrer Zeit, ein Mann der durch die Eigenſchaften ſeines Verſtandes undHerzens165Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. Herzens den Namen eines Weiſen verdient, wenn ihn ein Sterblicher verdienen kan, ungeachtet ſeines Stan - des den Muth gehabt hat, in ſeiner critiſchen Geſchichte der Philoſophie dieſem wuͤrdigen Schuͤler des Socrates Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen.
Ohne uns alſo um Ariſtipps Lehrſaͤze zu bekuͤmmern, begnuͤgen wir uns, von ſeinem perſoͤnlichen Character ſo viel zu ſagen als man wiſſen muß, um die Perſon, die er an Dionyſens Hofe vorſtellte, richtiger beurthei - len zu koͤnnen. Unter allen den vorgeblichen Weiſen, welche ſich damals an dieſem Hofe befanden, war er der einzige, der keine heimliche Abſichten auf die Frey - gebigkeit des Prinzen hatte; ob er ſich gleich kein Be - denken machte, Geſchenke von ihm anzunehmen, die er nicht durch paraſitiſche Niedertraͤchtigkeiten erkauffte. Durch ſeine natuͤrliche Denkungs-Art eben ſo ſehr als durch ſeine, in der That ziemlich gemaͤchliche Philo - ſophie, von Ambition und Geldgierigkeit gleich entfernt, bediente er ſich eines zulaͤnglichen Erbguts, (welches er bey Gelegenheit durch den erlaubten Vortheil, den er von ſeinen Talenten zog, zu vermehren wußte) um, nach ſeiner Neigung, mehr einen Zuſchauer als einen Acteur auf dem Schauplaz der Welt vorzuſtellen. Da er einer der beſten Koͤpfe ſeiner Zeit war, ſo gab ihm dieſe Freyheit, worinn er ſich ſein ganzes Leben durch erhielt, Gelegenheit ſich einen Grad von Einſicht zu er - werben, der ihn zu einem ſcharfen und ſichern Beurthei - ler aller Gegenſtaͤnde des menſchlichen Lebens machte. L 3Meiſter166Agathon. Meiſter uͤber ſeine Leidenſchaften, welche von Natur nicht heftig waren; frey von allen Arten der Sorgen, und in den Tumult der Geſchaͤfte ſelbſt niemals verwikelt, war es ihm nicht ſchwer, ſich immer in dieſer Heiterkeit des Geiſtes, und in dieſer Ruhe des Gemuͤthes zu erhalten, welche die Grundzuͤge von dem Character eines weiſen Mannes ausmachen. Er hatte ſeine ſchoͤnſten Jahre zu Athen, in dem Umgang mit Socrates und den groͤſſe - ſten Maͤnnern dieſes beruͤhmten Zeitalters zugebracht; die Euripiden und Ariſtophane, die Phidias und die Polygnote, und die Wahrheit zu ſagen, auch die Phry - nen, und Laiden, Damen, an denen die Schoͤnheit die geringſte ihrer Reizungen war, hatten ſeinen Wiz ge - bildet, und jenes zarte Gefuͤhl des Schoͤnen in ihm ent - wikelt, welches ihn die Munterkeit der Grazien mit der Severitaͤt der Philoſophie auf eben dieſe unnachahm - liche Art verbinden lehrte, die ihm den Neid aller phi - loſophiſchen Maͤntel und Baͤrte ſeiner Zeit auf den Hals zog. Nichts uͤbertraf die Annehmlichkeit ſeines Um - gangs; niemand wußte ſo gut wie er, die Weisheit un - ter der gefaͤlligen Geſtalt des laͤchelnden Scherzes und der guten Laune in ſolche Geſellſchaften einzufuͤhren, wo ſie in ihrer eignen Geſtalt nicht willkommen waͤre. Er beſaß das Geheimniß, den Groſſen ſelbſt die unange - nehmſte Wahrheiten mit Huͤlfe eines Einfalls oder einer Wendung ertraͤglich zu machen, und ſich an dem lang - weiligen Geſchlechte der Narren und Geken, wovon die Hoͤfe der (damaligen) Fuͤrſten wimmelten, durch einen Spott zu raͤchen, den ſie dumm genug waren, mitdankbarem167Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. dankbarem Laͤcheln fuͤr Beyfall anzunehmen. Die Leb - haftigkeit ſeines Geiſtes und die Kenntniß, die er von allen Arten des Schoͤnen beſaß, machte daß er wenige ſeines Gleichen hatte, wo es auf die Erfindung ſinnrei - cher Ergoͤzlichkeiten, auf die Anordnung eines Feſtes, die Auszierung eines Hauſes, oder auf das Urtheil uͤber die Werke der Dichter, Tonkuͤnſtler, Mahler und Bildhauer ankam. Er liebte das Vergnuͤgen, weil er das Schoͤne liebte; und aus eben dieſem Grunde liebte er auch die Tugend: Aber er mußte das Vergnuͤgen in ſeinem Wege finden, und die Tugend mußte ihm keine allzubeſchwerliche Pflichten auflegen; dem einen oder der andern ſeine Gemaͤchlichkeit aufzuopfern, ſo weit gieng ſeine Liebe nicht. Sein vornehmſter Grundſaz, und derjenige, dem er allezeit getreu blieb, war; daß es in unſrer Gewalt ſey, in allen Umſtaͤnden gluͤklich zu ſeyn; des Phalaris gluͤhenden Ochſen ausgenom - men; denn wie man in dieſem ſollte gluͤklich ſeyn koͤn - nen, davon konnte er ſich keinen Begriff machen. Er ſezte voraus, daß Seele und Leib ſich im Stande der Geſundheit befinden muͤßten, und behauptete, daß es als dann nur darauf ankomme, daß wir uns nach den Umſtaͤnden richten; anſtatt, wie der groſſe Hauffe der Sterblichen, zu verlangen, daß ſich die Umſtaͤnde nach uns richten ſollen, oder ihnen, zu dieſem Ende Gewalt anthun zu wollen. Von dieſer ſonderbaren Geſchmeidig - keit kam es her, daß er das vielbedeutende Lob ver - diente, welches ihm Horaz giebt, „ daß ihm alle Far - ben, alle Umſtaͤnde des guͤnſtigen oder widrigen GluͤkesL 4gleich168Agathon. gleich gut anſtuhnden; oder wie Plato von ihm ſagte, daß es ihm allein gegeben war, ein Kleid von Purpur, und einen Kittel von Sakleinwand mit gleich guter Art zu tragen.
Es iſt kein ſchwacher Beweis, wie wenig es dem Dionys an Faͤhigkeit das Gute zu ſchaͤzen gefehlt habe, daß er Ariſtippen um aller dieſer Eigenſchaften willen hoͤher achtete, als alle andern Gelehrten, ſeines Hofes; daß er ihn am liebſten um ſich leiden mochte, und ſich oͤfters von ihm durch einen Scherz zu guten Handlungen be - wegen ließ, wozu ihn ſeine Pedanten mit aller ihrer Dialectik und ſchulgerechten Beredſamkeit nicht zu ver - moͤgen faͤhig waren.
Dieſe characteriſtiſche Zuͤge vorausgeſezt, laͤßt ſich, daͤucht uns, keine wahrſcheinlichere Urſache angeben, warum Ariſtipp, ſo bald er unſern Helden zu Syracus erblikte, den Entſchluß faßte, ihn bey dem Dionys in Gunſt zu ſezen, als dieſe; daß er begierig war zu ſe - hen, was aus einer ſolchen Verbindung werden, und wie ſich Agathon in einer ſo ſchluͤpfrigen Stellung ver - halten wuͤrde. Denn auf einige beſondere Vortheile fuͤr ſich ſelbſt konnte er dabey kein Abſehen haben, da es nur auf ihn ankam, ohne einen Mittelsmann zu beduͤr - fen, ſich die Gnade eines Prinzen zu Nuzen zu machen, der in einem Anſtoß von pralerhafter Freygebigkeit faͤhig war, die Einkuͤnfte von einer ganzen Stadt an einen Luftſpringer oder Citharſpieler wegzuſchenken.
Dem169Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.Dem ſey indeſſen wie ihm wolle, ſo hatte Ariſtipp nichts angelegners, als des naͤchſten Morgens den Prin - zen, dem er bey ſeinem Aufſtehen aufzuwarten pflegte, von dem neuangekommenen Agathon zu unterhalten, und eine ſo vortheilhafte Abſchilderung von ihm zu ma - chen, daß Dionys begierig wurde, dieſen auſſerordent - lichen Menſchen von Perſon zu kennen. Ariſtipp er - hielt alſo den Auftrag, ihn unverzuͤglich nach Hofe zu bringen; und er vollzog denſelben, ohne unſern Hel - den merken zu laſſen, wieviel Antheil er an dieſer Neu - gier des Prinzen gehabt hatte.
Agathon ſah eine ſo bald erfolgende Einladung als ein gutes Omen an, und machte keine Schwierigkeit ſie an - zunehmen. Er erſchien alſo vor dem Dionys, der ihn mitten unter ſeinen Hofleuten auf eine ſehr leutſelige Art empfieng. Er erfuhr bey dieſer Gelegenheit aber - mal, daß die Schoͤnheit eine ſtumme Empfehlung an alle Menſchen, welche Augen haben, iſt. Dieſe Ge - ſtalt des Vaticaniſchen Apollo, die ihm ſchon ſo man - chen guten ‒ ‒ und ſchlimmen ‒ ‒ Dienſt gethan, die ihm die Verfolgungen der Pythia und die Zuneigung der Athenienſer zugezogen, ihn in den Augen der thraziſchen Bacchantinnen zum Gott, und in den Augen der ſchoͤnen Danae zum liebenswuͤrdigſten der Sterblichen gemacht hatte ‒ ‒ ‒ Dieſe Geſtalt, dieſe einnehmende Geſichts - Bildung, dieſe mit Wuͤrde und Anſtand zuſammenflieſ - ſende Grazie, welche allen ſeinen Bewegungen und Hand - lungen eigen war ‒ ‒ thaten ihre Wuͤrkung, und zogenL 5ihm170Agathon. ihm beym erſten Anblik die allgemeine Bewunderung zu. Dionys, welcher als Koͤnig zu wol mit ſich ſelbſt zu - frieden war, um uͤber einen Privat-Mann wegen irgend einer Vollkommenheit eyferſuͤchtig zu ſeyn, uͤberließ ſich dem angenehmen Eindruk, den dieſer ſchoͤne Fremdling auf ihn machte. Die Philoſophen hoften, daß das Jn - wendige einer ſo viel verſprechenden Auſſenſeite nicht ge - maͤß ſeyn werde, und dieſe Hofnung ſezte ſie in den Stand, mit einem Naſenruͤmpfen, welches den geringen Werth, den ſie einem ſolchen Vorzug beylegten, an - deutete, einander zu zuraunen, daß er ‒ ‒ ‒ ſchoͤn ſey. Aber die Hoͤflinge hatten Muͤhe ihren Verdruß dar - uͤber zu verbergen, daß ſie keinen Fehler finden konn - ten, der ihnen den Anblik ſo vieler Vorzuͤge ertraͤglich gemacht haͤtte. Wenigſtens waren dieſes die Beobachtun - gen, welche der kaltſinnige Ariſtipp bey dieſer Gelegen - heit zu machen glaubte.
Agathon verband in ſeinen Reden und in ſeinem gan - zen Betragen ſo viel Beſcheidenheit und Klugheit mit dieſer edeln Freyheit und Zuverſichtlichkeit eines Welt - mannes, worinn er ſich zu Smyrna vollkommen gemacht hatte; daß Dionys in wenigen Stunden ganz von ihm eingenommen war. Man weiß, wie wenig es oft be - darf, den Groſſen der Welt zu gefallen, wenn uns nur der erſte Augenblik guͤnſtig iſt. Agathon mußte alſo dem Dionys, welcher wuͤrklich Geſchmak hatte, noth - wendig mehr gefallen, als irgend ein anderer, den er jemals geſehen hatte; und das, in immerzunehmen -dem171Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. dem Verhaͤltniß, ſo wie ſich, von einem Augenblik zum andern, die Vorzuͤge und Talente unſers Helden ent - wikelten. Jn der That beſaß er deren ſo viele, daß der Neid der Hoͤflinge, der in gleicher Proportion von Stunde zu Stunde ſtieg, gewiſſer maſſen zu entſchuldi - gen war; die guten Leute wuͤrden ſich viel auf ſich ſelbſt eingebildet haben, wenn ſie nur diejenigen Eigenſchaf - ten, in einem ſolchen Grad, einzeln beſeſſen haͤtten, welche in ihm vereinigt, dennoch den geringſten Theil ſeines Werthes ausmachten. Er hatte die Klugheit, anfaͤnglich ſeine gruͤndlichere Eigenſchaften zu verbergen, und ſich bloß von derjenigen Seite zu zeigen, wodurch ſich die Hochachtung der Weltleute am ſicherſten uͤber - raſchen laͤßt. Er ſprach von allem mit dieſer Leichtig - keit des Wizes, welche nur uͤber die Gegenſtaͤnde dahin - glitſcht, und wodurch ſich oft die ſchaaleſten Koͤpfe in der Welt (auf einige Zeit wenigſtens) das Anſehen, Verſtand und Einſichten zu haben, zu geben wiſſen. Er ſcherzte; er erzaͤhlte mit Anmuth; er machte andern Gelegenheit ſich hoͤren zu laſſen; und bewunderte die guten Einfaͤlle, welche dem ſchwazhaften Dionys unter einer Menge von mittelmaͤſſigen und froſtigen zuweilen entſielen, mit einer Art, welche, ohne ſeiner Aufrichtig - keit oder ſeinem Geſchmak zuviel Gewalt anzuthun, die - ſen Prinzen uͤberzeugte, daß Agathon unendlich viel Ver - ſtand habe.
Die groſſen Herren haben gemeiniglich eine Lieblings - Schwachheit, wodurch es ſehr leicht wird, den Ein -gang172Agathon. gang in ihr Herz zu finden. Der groſſe Tanzai von Scheſchian, ein Kenner uͤbrigens von Verdienſten, kannte doch kein groͤſſeres als die Leyer gut zu ſpielen. Dionys hegte ein ſo guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr die Cithar, daß der beſte Cithar-Spieler in ſeinen Augen der groͤſ - ſeſte Mann auf dem Erdboden war. Er ſpielte ſie zwar ſelbſt nicht; aber er gab ſich fuͤr einen Kenner, und ruͤhmte ſich die groͤſſeſten Virtuoſen auf dieſem wunder - thaͤtigen Jnſtrument an ſeinem Hofe zu haben. Zu gu - tem Gluͤke hatte Agathon zu Delphi die Cithar ſchlagen gelernt, und bey der ſchoͤnen Danae, welche eine Mei - ſterin auf allen Sayten-Jnſtrumenten der damaligen Zeit war, einige Lectionen genommen, die ihn vollkom - men gemacht hatten. Kurz, Agathon nahm das dritte oder vierte mahl, da er mit dem Dionys zu Nacht aß, eine Cithar, begleitete darauf einen Dithyramben des Damon, (der von einer feinen Stimme geſungen, und von der ſchoͤnen Bacchidion getanzt wurde) und ſezte ſeine Hoheit dadurch in eine ſo uͤbermaͤſſige Entzuͤknng, daß der ganze Hof von dieſem Augenblik an fuͤr ausge - macht hielt, ihn in kurzem zur Wuͤrde eines erklaͤrten Guͤnſtlings erhoben zu ſehen. Dionys uͤberhaͤufte ihn in der erſten Aufwallung ſeiner Bewunderung mit Lieb - toſungen, welche unſerm Helden beynahe allen Muth be - nahmen. Himmel! dachte er, was werde ich mit ei - nem Koͤnig anfangen, der bereit iſt, den erſten Nenan - gekommenen an die Spize ſeines Staats zu ſezen, weil er ein guter Citharſchlaͤger iſt? Dieſer erſte Gedanke war ſehr gruͤndlich, und wuͤrde ihm vieles Ungemach erſparthaben,173Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. haben, wenn er ſeiner Eingebung gefolget haͤtte. Aber eine andere Stimme (war es ſeine Eitelkeit, oder der Gedanke ein groſſes Vorhaben nicht um einer ſo gering - fuͤgigen Urſache willen aufzugeben? ‒ ‒ oder war es die Schwachheit, die uns geneigt macht, alle Thorheiten der Groſſen, welche Achtung fuͤr uns zeigen, mit nach - ſichtvollen Augen einzuſehen?) fluͤſterte ihm ein: Daß der Geſchmak fuͤr die Muſik, und die beſondere An - muthung fuͤr ein gewiſſes Jnſtrument, eine Sache ſey, welche von unſrer Organiſation abhange; und daß es ihm nur deſto leichter ſeyn werde, ſich des Herzens die - ſes Prinzen zu verſichern, je mehr er von den Geſchik - lichkeiten beſize, wodurch man ſeinen Beyfall erhalten koͤnne.
Die Gunſt, in welche er ſich in ſo kurzer Zeit und durch ſo zweydeutige Verdienſte bey dem Tyrannen ge - ſezt, ſtieg bald darauf, bey Gelegenheit einer academi - ſchen Verſammlung, welche Dionys mit groſſen Feyer - lichkeiten veranſtaltete, zu einem ſolchen Grade, daß Philiſtus, der bisher noch zwiſchen Furcht und Hof - nung geſchwebet hatte, ſeinen Fall nunmehr fuͤr gewiß hielt.
Dionys hatte vom Ariſtipp in der Stille vernommen, daß Agathon ehmals ein Schuͤler Platons geweſen, und waͤhrend ſeines Gluͤksſtandes zu Athen fuͤr einen der groͤſ - ſeſten Redner in dieſer ſchwazhaften Republik gehalten worden ſey. Erfreut, eine Vollkommenheit mehr an ſei -nem174Agathon. nem neuen Liebling zu entdeken, ſaͤumte er ſich keinen Augenblik, eine Gelegenheit zu veranſtalten, wo er aus eigner Einſicht von der Wahrheit dieſes Vorgebens urthei - len koͤnnte; denn es kam ihm ganz uͤbernatuͤrlich vor, daß man zu gleicher Zeit ein Philoſoph, und ſo ſchoͤn, und ein ſo groſſer Citharſchlaͤger ſollte ſeyn koͤnnen. Die Academie erhielt alſo Befehl ſich zu verſammeln, und ganz Syracus wurde dazu, als zu einem Feſt ein - geladen, welches ſich mit einem groſſen Schmaus en - den ſollte. Agathon dachte an nichts weniger, als daß er bey dieſem Wettſtreit eines Hauffens von Sophiſten (die er nicht ohne Grund fuͤr ſehr uͤberfluͤſſige Leute an dem Hofe eines guten Fuͤrſten anſah) eine Rolle zu ſpielen bekommen wuͤrde; und Ariſtipp hatte, aus dem obenberuͤhrten Beweggrunde, der der Schluͤſſel zu ſei - nem ganzen Betragen gegen unſern Helden iſt, ihm von Dionyſens Abſicht nichts entdekt. Dieſer eroͤfnete als Praͤſident der Academie (denn ſeine Eitelkeit begnuͤgte ſich nicht an der Ehre, ihr Beſchuͤzer zu ſeyn) die Ver - ſammlung durch einen uͤbel zuſammengeſtoppten, und nicht allzuverſtaͤndlichen, aber mit Platoniſmen reich verbraͤmten Diſcurs, welcher, wie leicht zu erachten, mit allgemeinem Zujauchzen begleitet wurde; ungeachtet er dem Agathon mehr das ungezweifelte Vertrauen des koͤniglichen Redners in den Beyfall, der ihm von Stan - des wegen zukam, als die Groͤſſe ſeiner Gaben und Ein - ſichten zu beweiſen ſchien. Nach Endigung dieſer Rede, nahm die philoſophiſche Heze ihren Anfang; und wo - fern die Zuhoͤrer durch die ſubtilen Geiſter, die ſich nun -mehr175Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. mehr hoͤren lieſſen, nicht ſehr unterrichtet wurden, ſo fanden ſie ſich doch durch die Wolredenheit des einen, die klingende Stimme und den guten Accent eines an - dern, die paradoxen Einfaͤlle eines dritten, und die ſelt - ſamen Geſichter, die ein vierter zu ſeinen Diſtinctionen und Demonſtrationen machte, ertraͤglich beluſtiget. Nach - dem dieſes Spiel einige Zeit gedauert hatte, und ein un - hoͤfliches Gaͤhnen bereits zwey Drittheile der Zuhoͤrer zu ergreiffen begann, ſagte Dionys: Da er das Gluͤk habe, ſeit einigen Tagen einen der wuͤrdigſten Schuͤler des groſſen Platons in ſeinem Hauſe zu beſizen; ſo er - ſuchte er ihn, zufrieden zu ſeyn, daß der Ruhm, der ihm allenthalben vorangegangen ſey, den Schleyer, wo - mit ſeine Beſcheidenheit ſeine Veridienſte zu verhuͤllen ſuche, hinweggezogen, und ihm in dem ſchoͤnen Aga - thon einen der beredteſten Weiſen der Zeit entdekt habe: Er moͤchte ſich alſo nicht weigern, auch in Syracus ſich von einer ſo vortheilhaften Seite zu zeigen, uud ſich mit den Philoſophen ſeiner Academie in einen Wettſtreit uͤber irgend eine intereſſante Frage aus der Philoſophie einzulaſſen. Zu gutem Gluͤke ſprach Dionys, der ſich ſelbſt gerne hoͤrte, und die Gabe der Weitlaͤufigkeit in hohem Maaſſe beſaß, lange genug, um unſerm Manne Zeit zu geben, ſich von der kleinen Beſtuͤrzung zu er - holen, worein ihn dieſe unerwartete Zumuthung ſezte. Er antwortete alſo ohne Zaudern: Er ſey zu fruͤh aus den Hoͤrſaͤlen der Weiſen auf den Markt-Plaz zu Athen geruffen, und in die Angelegenheiten eines Volkes, wel - ches bekannter maſſen ſeinen Hofmeiſtern nicht wenig zuſchaffen176Agathon. ſchaffen mache, verwikelt worden, als daß er Zeit ge - nug gehabt haben ſollte, ſich ſeine Lehrmeiſter zu Nuzen zu machen; indeſſen ſey er, wenn es Dionys verlange, aus Achtung gegen ihn bereit, eine Probe abzulegen, wie wenig er das Lob verdiene, welches ihm aus einem allzuguͤnſtigen Vorurtheil beygelegt worden ſey.
Dionys rief alſo den Philiſtus auf, (man weiß nicht, ob von ungefehr oder vermoͤg einer vorhergenommenen Abrede, wiewol das leztere nicht wahrſcheinlich zu ſeyn ſcheint,) eine Frage vorzuſchlagen, fuͤr und wider welche von beyden Seiten geſprochen werden ſollte. Die - ſer Miniſter bedachte ſich eine kleine Weile, und in Hofnung den Agathon, der ihm furchtbar zu werden anfieng, in Verlegenheit zu ſezen, ſchlug er die Frage vor ‒ ‒ welche Regierungs-Form einen Staat gluͤklicher mache, die Republicaniſche oder die Monarchiſche? ‒ ‒ Man wird, dachte er, dem Agathon die Wahl laſſen, fuͤr welche er ſich erklaͤren will; ſpricht er fuͤr die Re - publik, und ſpricht er gut, wie er um ſeines Ruhms willen genoͤthiget iſt, ſo wird er dem Prinzen mißfal - len; wirft er ſich zum Lobredner der Monarchie auf, ſo wird er ſich dem Volke verhaßt machen, und Dionys wird den Muth nicht haben, die Staats-Verwaltung einem Auslaͤnder anzuvertrauen, der bey ſeinem erſten Auftritt auf dem Schauplaz, einen ſo ſchlimmen Eindruk auf die Gemuͤther der Syracuſaner gemacht hat. Allein dieſes mal betrog den ſchlauen Mann ſeine Erwartung. Agathon erklaͤrte ſich, ungeachtet er die Abſicht desPhiliſtus177Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. Philiſtus merkte, mit einer Unerſchrokenheit, welche dieſem keinen Triumph prophezeyte, fuͤr die Monarchie; und nachdem ſeine Geguer, (unter denen Antiſthenes und der Sophiſt Protagoras alle ihre Kraͤfte anſtrenge - ten, die Vorzuͤge der Freyſtaaten zu erheben) zu reden aufgehoͤrt hatten, ſieng er damit an, daß er ihren Gruͤnden noch mehr Staͤrke gab, als ſie ſelbſt zu thun faͤhig geweſen waren. Die Aufmerkſamkeit war auſ - ſerordentlich; jedermann war mehr begierig, zu hoͤren, wie Agathon ſich ſelbſt, als wie er ſeine Gegner wuͤrde uͤberwinden koͤnnen. Seine Beredſamkeit zeigte ſich in einem Lichte, welches die Seelen der Zuhoͤrer blendete, die Wichtigkeit des Augenbliks, der den Ausgang ſeines ganzen Vorhabens entſchied, die Wuͤrde des Gegenſtan - des, die Begierde zu ſiegen, und vermuthlich auch die herzliche Abneigung gegen die Democratie, welche ihm aus Athen in ſeine Verbannung gefolget war; alles ſezte ihn in eine Begeiſterung, welche die Kraͤfte ſeiner Seele hoͤher ſpannte; ſeine Jdeen waren ſo groß, ſeine Ge - maͤhlde ſo ſtark gezeichnet, mit ſo vielem Feuer gemahlt, ſeine Gruͤnde jeder fuͤr ſich ſelbſt ſo ſchimmernd, und liehen einander durch ihre Zuſammenordnung ſo viel Licht; der Strom ſeiner Rede, der anfaͤnglich in ruhi - ger Majeſtaͤt dahinfloß, wurde nach und nach ſo ſtark und hinreiſſend; daß ſelbſt diejenigen, bey denen es zum voraus beſchloſſen war, daß er Unrecht haben ſollte, ſich wie durch eine magiſche Gewalt genoͤthiget ſaheu, ihm innerlich Beyfall zu geben. Man glaubte den Mer - cur oder Apollo reden zu hoͤren, die Kenner (denn es[Agath. II. Th.] Mwaren178Agathon. waren einige zugegen, welche davor gelten konnten) bewunderten am meiſten, daß er die Kunſtgriffe ver - ſchmaͤhte, wodurch die Sophiſten gewohnt waren, einer ſchlimmen Sache die Geſtalt einer guten zu geben ‒ ‒ Keine Farben, welche durch ihren Glanz das Betruͤg - liche falſcher oder umſonſt angenommener Saͤze verber - gen mußten; keine kuͤnſtliche Austheilung des Lichts und des Schattens. Sein Ausdruk gliech dem Sonnenſchein, deſſen lebender und faſt geiſtiger Glanz ſich den Gegen - ſtaͤnden mittheilt, ohne ihnen etwas von ihrer eigenen Geſtalt und Farbe zu benehmen.
Jndeſſen muͤſſen wir geſtehen, daß er ein wenig grau - ſam mit den Republiken umgieng. Er bewies, oder ſchien doch allen die ihn hoͤrten zu beweiſen, daß dieſe Art von Geſellſchaft ihren Urſprung in dem wilden Chaos der Anarchie genommen, und daß die Weisheit ihrer Geſezgeber ſich mit ſchwachem Erfolg bemuͤhet haͤtte, Ordnung und Conſiſtenz in eine Verfaſſung zu bringen, welche ihrer Natur nach, in ſteter Unruh und innerlicher Gaͤhrung alle Augenblike Gefahr lauffe, ſich durch ihre eigene Kraͤfte aufzureiben, und welche des Ruheſtandes ſo wenig faͤhig ſey, daß eine ſolche Ruhe in derſelben vielmehr die Folge der aͤuſſerſten Verderb - niß, und gleich einer Windſtille auf dem Meer, der gewiſſe Vorbote des Sturms und Untergangs ſeyn wuͤrde. Er zeigte, daß die Tugend, dieſes geheiligte Palladium der Freyſtaaten, an deſſen Erhaltung ihre Geſezgeber das ganze Gluͤk derſelben gebunden haͤtten, eine Artvon179Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. von unfichtbaren und durch verjaͤhrten Aberglauben ge - heiligten Goͤzen ſey, an denen nichts als der Name verehrt werde; daß man in dieſen Staaten einen ſtill - ſchweigenden Vertrag mit einander gemacht zu haben ſcheine, ſich durch den Namen und ein gewiſſes Phan - tom von Gerechtigkeit, Maͤſſigung, Uneigennuͤzigkeit, Liebe des Vaterlandes und des gemeinen Beſten von ein - ander betruͤgen zu laſſen; und daß unter der Maske die - ſer politiſchen Heucheley, unter dem ehrwuͤrdigen Namen aller dieſer Tugenden, das Gegentheil derſelben nirgends unverſchaͤmter ausgeuͤbt werde. Es wuͤrden, meynte er, eine Menge beſonderer Umſtaͤnde, welche ſich in et - lichen tauſend Jahren kaum einmal in irgend einem Winkel des Erdbodens zuſammenſinden koͤnnten, dazu erfordert, um eine Republik in dieſer Mittelmaͤſſigkeit zu erhalten, ohne welche ſie von keinem Beſtand ſeyn koͤnne: Und daher daß dieſer Fall ſo ſelten ſey, und von ſo vielen zufaͤlligen Urſachen abhange, komme es, daß die meiſten Republiken entweder zu ſchwach waͤren, ihren Buͤrgern die mindeſte Sicherheit zu gewaͤhren; oder daß ſie nach einer Groͤſſe ſtrebten, welche nach einer Folge von Mißhelligkeiten, Cabalen, Verſchwoͤrun - gen und Buͤrgerkriegen endlich den Untergang des Staats nach ſich ziehe, und demjenigen, welcher Meiſter vom Kampf-Plaze bliebe, nichts als Einoͤden zu bevoͤlkern und Ruinen wieder anfzubauen uͤberlaſſe. So gar die Freyheit, auf welche dieſe Staaten mit Ausſchluß aller andern Anſpruch machten, finde kaum in den deſpoti - ſchen Reichen Aſiens weniger Plaz; weil entweder dasM 2Volk180Agathon. Volk ſich demuͤthiglich gefallen laſſen muͤſſe, was die Edeln und Reichen, ihrem beſondern Jntereſſe gemaͤß, ſchloͤſſen und handelten; oder wenn das Volk ſelbſt den Geſezgeber und Richter mache, kein ehrlicher Mann ſicher ſey, daß er nicht morgen das Opfer derjenigen ſeyn werde, denen ſeine Verdienſte im Wege ſtehen, oder die durch ſein Anſehen und Vermoͤgen reicher und groͤſſer zu werden hoffeten. Jn keinem andern Staat ſey es weniger erlaubt von ſeinen Faͤhigkeiten Gebrauch zu machen, ſelbſt zu denken, und uͤber wichtige Gegen - ſtaͤnde dasjenige was man fuͤr gemeinnuͤzlich halte, ohne Gefahr, bekannt werden zu laſſen; alle Vorſchlaͤge zu Verbeſſerungen wuͤrden unter dem verhaßten Namen der Neuerungen verworfen, und zoͤgen ihren Urhebern ge - heime oder oͤffentliche Verfolgungen zu. Selbſt die Grundpfeiler der menſchlichen Gluͤkſeligkeit, und das - jenige, was den geſitteten Menſchen eigentlich von dem Wilden und Barbaren unterſcheide, Wahrheit, Tugend, Wiſſenſchaften, und die liebenswuͤrdigen Kuͤnſte der Mu - ſen, ſeyen in dieſen Staaten verdaͤchtig oder gar verhaßt; wuͤrden durch tauſend im Finſtern ſchleichende Mittel entkraͤftet, an ihrem Fortgang verhindert, oder doch gewiß weder aufgemuntert noch belohnt; und allein zu Unterſtuͤzung der herrſchenden Vorurtheile und Miß - braͤuche verurtheilt ‒ ‒ Doch genug! ‒ ‒ wir haben zu viel Urſache guͤnſtiger von freyen Staaten zu denken ‒ ‒ wenn es auch nur darum waͤre, weil wir die Ehre ha - ben unter einer Nation zu leben, deren Verfaſſung ſelbſt republicaniſch iſt, und in der That die wunder -barſte181Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. barſte Art von Republik vorſtellt, welche jemals auf dem Erdboden geſehen worden iſt ‒ ‒ als daß wir die - ſen Auszug einer fuͤr den Ruhm der Freyſtaaten ſo nachtheiligen Rede ohne Widerwillen ſollten fortſezen koͤn - nen. Es geſchah aus dieſem nemlichen Grunde, daß wir, anſtatt den Diſcurs des Agathon ſeinem ganzen Umfange nach aus unſrer Urkunde abzuſchreiben, uns begnuͤgt haben, einige Zuͤge davon, als eine wiewol ſehr unvollkommene Probe des Ganzen anzufuͤhren. Ferne ſoll es allezeit von uns ſeyn, irgend einem Erden - bewohner die Stellung worinn er ſich befindet, unan - genehmer zu machen, als ſie ihm bereits ſeyn mag; oder Anlas zu geben, daß die Gebrechen einiger laͤngſt zerſtoͤrten Griechiſchen Republiken, aus denen Agathon ſeine Gemaͤhlde hernahm, zur Verunglimpfung derjeni - gen mißbraucht werden koͤnnten, welche in neuern Zei - ten als ehrwuͤrdige Freyſtaͤdte und Zufluchts-Plaͤze der Tugend, der geſunden Denkungs-Art, der oͤffentlichen Gluͤkſeligkeit und einer politiſchen Gleichheit, welche ſich der natuͤrlichen moͤglichſt naͤhert, angeſehen werden koͤn - nen. Unſrer uͤbrigens ganz unmaßgeblichen Meynung nach, gehoͤrt die Frage, uͤber welche hier diſputiert wurde, unter die wichtigen Fragen ‒ ‒ ob Scaramuz, ob Scapin beſſer tanze ‒ ‒ und ſo viele andre von dieſem Schlage, (wenn ſie gleich ein ernſthafteres Anſehen ha - ben) woruͤber bis auf unſre Tage ſo viel Zeit und Muͤhe ‒ ‒ von Gaͤnſeſpulen, Papier und Dinte nichts zu ſagen ‒ ‒ verlohren worden, ohne daß ſich abſehen lieſſe, wie, worinn oder um wieviel die Welt jemalsM 3durch182Agathon. durch ihre Aufloͤſung ſollte gebeſſert werden koͤnnen. Wir koͤnnten dieſe unſre Meynung rechtfertigen; aber es iſt unnoͤthig; ein jeder hat die Freyheit anders zu meynen wenn er will, ohne daß wir ihn zur Rechenſchaft zie - hen werden; hanc veniam petimus, damusque viciſſim; denn in der That, ein Buch wuͤrde niemalen zu Ende kommen, wenn der Autor ſchuldig waͤre, alles zu be - weiſen, und ſich uͤber alles zu rechtfertigen. Wir uͤber - gehen alſo auch, aus einem andern Grunde, den wir den Liebhabern der Raͤthſel und Logogryphen zu errathen geben, die Lobrede, welche Agathon der monarchiſchen Staats-Verfaſſung hielt. Die Beherrſcher der Welt ſcheinen (mit Recht, wuͤrde Philiſtus ſagen, denn ich machte es an ihrem Plaz auch ſo) ordentlicher Weiſe ſehr gleichguͤltig uͤber die Meynung zu ſeyn, welche man von ihrer Regierungs-Art hat ‒ ‒ Es giebt Faͤlle, wir geſtehen es, wo dieſes eine Ausnahme leidet ‒ ‒ aber dieſe Faͤlle begegnen ſelten, wenn man die Vorſichtig - keit gebraucht, hundert und fuͤnfzigtauſend wolbewaf - nete Leute bereit zu halten, mit deren Beyſtand man ſehr wahrſcheinlich hoffen kan, ſich uͤber die Meynung aller friedſamen Leute in der ganzen Welt hinwegſezen zu konnen. Sind nicht eben dieſe hundert und fuͤnfzig - tauſend ‒ ‒ oder wenn ihrer auch mehr ſind; deſto beſ - ſer! ‒ ‒ ein lebendiger, augenſcheinlicher, ja der beſte Beweis, der alle andre unnoͤthig macht, daß eine Na - tion gluͤklich gemacht wird? ‒ ‒ Genug alſo (und die - ſer Umſtand allein gehoͤrt weſentlich zu unſrer Geſchichte) daß dieſe Rede, worinn Agathon alle Gebrechen ver -dorbener183Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. dorbener Freyſtaaten und alle Vorzuͤge wolregierter Monarchien, in zwey contraſtirende Gemaͤhlde zuſam - mendraͤngte, das Gluͤk hatte, alle Stimmen davon zu tragen, alle Zuhoͤrer zu uͤberreden, und dem Redner eine Bewunderung zu zuziehen, welche den Stolz des eitelſten Sophiſten haͤtte ſaͤttigen koͤnnen. Jedermann war von einem Manne bezaubert, welcher ſo ſeltne Gaben mit einer ſo groſſen Denkungs-Art und mit ſo menſchenfreundlichen Geſinnungen vereinigte. Denn Agathon hatte nicht die Tyrannie, ſondern die Regie - rung eines Vaters angeprieſen, der ſeine Kinder wol erzieht und gluͤklich zu machen ſucht. Man ſagte ſich ſelbſt, was fuͤr goldene Tage Sicilien ſehen wuͤrde, wenn ein ſolcher Mann das Ruder fuͤhrte. Er hatte nicht vergeſſen, im Eingang ſeines Diſcurſes dem Ver - dacht vorzukommen, als ob er die Republiken aus Rachſucht ſchelte, und die Monarchie aus Schmeicheley und geheimen Abſichten erhebe: Er hatte bey dieſer Ge - legenheit zu erkennen gegeben, daß er entſchloſſen ſey, nach Tarent uͤberzugehen, um in der ruhigen Dunkel - heit des Privatſtandes, welchen er ſeiner Neigung nach allen andern vorziehe, dem Nachforſchen der Wahrheit und der Verbeſſerung ſeines Gemuͤths obzuliegen ‒ ‒ (Re - densarten, die in unſern Tagen ſeltſam und laͤcherlich klingen wuͤrden, aber damals ihre Bedeutung und Wuͤrde noch nicht gaͤnzlich verlohren hatten.) Jedermann ta - delte oder bedaurte dieſe Entſchlieſſung, und wuͤnſchte, daß Dionys alles anwenden moͤchte, ihn davon zuruͤkzubrin - gen. Niemalen hatte ſich die Neigung des Prinzen mitM 4den184Agathon. den Wuͤnſchen ſeines Volkes ſo gleichſtimmig befunden wie dieſes mal. Die ſtarke Zuneigung, die er fuͤr die Per - ſon unſers Helden, und die hohe Meynung, die er von ſeinen Faͤhigkeiten gefaſſet hatte, war durch dieſen Diſcurs auf den hoͤchſten Grad geſtiegen. So wenig beſtaͤndiges auch in Dionyſens Character war, ſo hatte er doch ſeine Augenblike, wo er wuͤnſchte, daß es weni - ger Verlaͤugnung koſten moͤchte, ein guter Fuͤrſt zu ſeyn. Die Beredſamkeit Agathons hatte ihn wie die uͤbrige Zuhoͤrer mit ſich fortgeriſſen; er fuͤhlte die Schoͤnheit ſeiner Gemaͤhlde, und vergaß daruͤber, daß eben dieſe Gemahlde eine Art von Satyre uͤber ihn ſelbſt enthiel - ten. Er ſezte ſich vor, dasjenige zu erfuͤllen, was Aga - thon auf eine ſtillſchweigende Art von ſeiner Regierung verſprochen hatte; und um ſich die Pflichten, die ihm dieſer Vorſaz auferlegte, zu erleichtern, wollte er ſie durch eben denjenigen ausuͤben laſſen, der ſo gut davon reden konnte. Wo konnte er ein tauglicheres Jnſtru - ment finden, den Syracuſanern ſeine Regierung beliebt zu machen? Wo konnte er einen andern Mann finden, der ſo viele angenehme Eigenſchaften mit ſo vielen nuͤz - lichen vereinigte? ‒ ‒ Dionys hatte ſich, wie wir ſchon bemerkt haben, angewoͤhnt, zwiſchen ſeine Entſchlieſſun - gen und ihre Ausfuͤhrung ſo wenig Zeit zu ſezen als moͤglich war. Alles was er einmal wollte, das wollte er haſtig und ungeduldig; denn, in ſo fern er ſich ſelbſt uͤberlaſſen blieb, ſah er eine Sache nur von einer Seite an; und dieſes mal entdekte er ſich niemand als dem Ariſtipp, der nichts vergaß, was ihn in ſeinem Vorha -ben185Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. ben beſtaͤrken konnte. Dieſer Philoſoph erhielt alſo den Auftrag, dem Agathon Vorſchlaͤge zu thun. Agathon entſchuldigte ſich mit ſeiner Abneigung vor dem geſchaͤf - tigen Leben, und beſtimmte den Tag ſeiner Abreiſe. Dionys wurde dringender. Agathon beſtand auf ſei - ner Weigerung, aber mit einer ſo beſcheidenen Art, daß man hoffen konnte, er werde ſich bewegen laſſen. Jn der That war ſeine Abſicht nur, die Zuneigung eines ſo wenig zuverlaͤſſigen Prinzen zuvor auf die Probe zu ſtellen, eh er ſich in Verbindungen einlaſſen wollte, welche fuͤr das Gluͤk anderer und fuͤr ſeine eigene Ruhe ſo gute oder ſo ſchlimme Folgen haben konnten.
Endlich, da er Urſache hatte zu glauben, daß die Hochachtung die er ihm eingefloͤßt hatte, etwas mehr als ein launiſcher Geſchmak ſey, gab er ſeinem Anhal - ten nach; aber nicht anders als unter gewiſſen Be - dingungen, welche ihm Dionys zugeſtehen mußte. Er erklaͤrte ſich, daß er allein in der Qualitaͤt ſeines Freun - des an ſeinem Hofe bleiben wollte, ſo lange als ihn Dionys dafuͤr erkennen, und ſeiner Dienſte noͤthig zu haben glauben wuͤrde; er wollte ſich aber auch nicht feſſeln laſſen, und die Freyheit behalten ſich zuruͤkzu - ziehen, ſo bald er ſaͤhe, daß ſein Daſeyn zu nichts nuͤze ſey. Die einzige Belohnung, welche er ſich befuͤgt halte fuͤr ſeine Dienſte zu verlangen, ſey dieſe, daß Dionys ſeinen Raͤthen folgen moͤchte, ſo lange er werde zeigen koͤnnen, daß dadurch jedesmal das Beſte der Nation, und die Sicherheit, der Ruhm und die Privat-Gluͤk -M 5ſeligkeit186Agathon. ſeligkeit des Prinzen zugleich befoͤrdert werde. Endlich bat er ſich noch aus, daß Dionys niemals einige heim - liche Eingebungen oder Anklagen gegen ihn annehmen moͤchte, ohne ihm ſolche offenherzig zu entdeken, und ſeine Verantwortung anzuhoͤren.
Dionys bedachte ſich um ſo weniger, alle dieſe Be - dingungen zu unterſchreiben, da er entſchloſſen war ihn zu haben, wenn es auch die Haͤlfte ſeines Reichs koſten ſollte. Agathon bezog alſo die Wohnung, welche man im Palaſt aufs praͤchtigſte fuͤr ihn ausgeruͤſtet hatte; Dionys erklaͤrte oͤffentlich, daß man ſich in allen Sa - chen an ſeinen Freund Agathon, wie an ihn ſelbſt, wen - den koͤnne; die Hoͤflinge ſtritten in die Wette, wer dem neuen Guͤnſtling ſeine Unterwuͤrfigkeit auf die ſclaven - maͤſſigſte Art beweiſen koͤnne; und Syracus ſah mit froher Erwartung der Wiederkunft der Saturniſchen Zeiten entgegen.
Wir machen hier eine kleine Pauſe, um dem Leſer Zeit zu laſſen, dasjenige zu uͤberlegen, was er ſich ſelbſt in dieſem Augenblik fuͤr oder wider unſern Helden zu ſagen haben mag. Vermuthlich mag einigen der Eyfer mißfaͤllig geweſen ſeyn, womit er, aus Haß gegen ſein undankbares Vaterland, wider die Republiken uͤber - haupt geſprochen; indeſſen daß vielleicht andere ſein ganzes Betragen, ſeit dem wir ihn an dem Hofe des Koͤnigs Dionys ſehen, einer gekuͤnſtelten Klugheit, welche nicht in ſeinem Character ſey, und ihm eineſchielende187Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. ſchielende Farbe gebe, beſchuldigen werden. Wir ha - ben uns ſchon mehrmalen erklaͤrt, daß wir in dieſem Werke die Pflichten eines Geſchichtſchreibers und nicht eines Apologiſten uͤbernommen haben; indeſſen bleibt uns doch erlaubt, von den Handlungen eines Mannes, deſſen Leben wir zwar nicht fuͤr ein Muſter, aber doch fuͤr ein lehrreiches Beyſpiel geben, eben ſo frey nach un - ſerm Geſichtspunct zu urtheilen, als es unſre Leſer aus dem ihrigen thun moͤgen. Was alſo den erſten Punct betrift, ſo haben wir bereits erinnert, daß es unbillig ſeyn wuͤrde, dasjenige was Agathon wider die Republi - ken ſeiner Zeit geſprochen, fuͤr eine, von ihm gewiß nicht abgezielte, Beleidigung ſolcher Freyſtaaten anzu - ſehen, welche (wie er als moͤglich erkannt hat) un - ter dem Einfluß guͤnſtiger Umſtaͤnde, durch ihre Lage ſelbſt vor auswaͤrtigem Neid, und vor ausſchweiffenden Vergroͤſſerungs-Gedanken geſichert, durch weiſe Geſeze, und was noch mehr iſt, durch die Macht der Gewohn - heit, in einer gluͤkſeligen Mittelmaͤſſigkeit fortdauern, und die Gebrechen kaum dem Namen nach kennen, welche Agathon an den Republiken ſeiner Zeit fuͤr un - heilbar angeſehen. Ob er aber dieſen leztern zuviel ge - than habe, moͤgen diejenigen entſcheiden, welche mit den beſondern Umſtaͤnden ihrer Geſchichte bekannt ſind. Hat die Empfindung des Unrechts, welches ihm ſelbſt zu Athen zugefuͤgt worden, etwas Galle in ſeine Critik gemiſcht; ſo erſuchen wir unſre Leſer (nicht dem Aga - thon zu lieb; denn was kan dieſem durch ihre Meynung von ihm zu - oder abgehen?) ſich an ſeinen Plaz zu ſtel -len,188Agathon. len, und ſich alsdann zu fragen, wie werth ihnen ein Vaterland ſeyn wuͤrde, welches ihnen ſo mitgeſpielt haͤtte? Sie moͤgen ſich erinnern, daß es insgemein nur auf eine kleine Beleidigung ihrer Eigenliebe ankommt, um ihre Hochachtung gegen eine Perſon in Verachtung, ihre Liebe in Abſcheu, ihre Lobſpruͤche in Schmaͤhre - den, ihre guten Dienſte in Verfolgungen zu verwandeln. Wie oft, meine Herren, hat ſich ſchon um einer nichts bedeutenden Urſache willen, ihre ganze Denkungs-Art von Perſonen und Sachen geaͤndert? ‒ ‒ Antworten Sie Sich ſelbſt ſo leiſe als Sie wollen; denn wir verlan - gen nichts davon zu hoͤren; und wenn Sie, nach die - ſem kleinen Blik in ſich ſelbſt, unſerm Helden nicht ver - geben koͤnnen, daß er ein Vaterland nicht liebte, wel - ches alles moͤgliche gethan hatte, ſich ihm verhaßt zu machen: So muͤſſen wir zwar die Strenge ihrer Sit - teulehre bewundern; aber ‒ ‒ doch geſtehen, daß wir Sie noch mehr bewundern wuͤrden, wenn Sie ſo lange, bis Sie gelernt haͤtten etwas weniger Parthey - lichkeit fuͤr ſich ſelbſt zu hegen, etwas mehr Nachſicht gegen andre ſich empfohlen ſeyn laſſen wollten.
Ueberhaupt hat man Urſache zu glauben, daß Aga - thon geſprochen habe wie er dachte, und das iſt zu Rechtfertigung ſeiner Redlichkeit genug. Und warum ſollten wir an dieſer zu zweifeln anfangen? Sein gan - zes Betragen, waͤhrend daß er das Herz des Tyrannen in ſeinen Haͤnden hatte, bewies, daß er keine Abſichten hegete, welche ihn genoͤthiget haͤtten, ihm gegen ſeineUeber -189Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. Ueberzeugung zu ſchmeicheln. Es iſt wahr, er hatte Abſichten, bey allem was er von dem Augenblik, da er den Fuß in Dionyſens Palaſt ſezte, that; ſollte er vielleicht keine gehabt haben? Was koͤnnen wir, nach der aͤuſſerſten Schaͤrfe, mehr fodern, als daß ſeine Ab - ſichten edel und tugendhaft ſeyn ſollen; und ſo waren ſie, wie wir bereits geſehen haben. Es ſcheint alſo nicht, daß man Grund habe, ihm aus der Vorſichtig - keit einen Vorwurf zu machen, womit er, in der neuen und ſchluͤpfrigen Situation, worinn er war, alle ſeine Handlungen einrichten mußte, wenn ſie Mittel zu ſei - nen Abſichten werden ſollten. Wir geben zu, daß eine Art von Zuruͤkhaltung und Feinheit daraus hervorblikt, welche nicht ganz in ſeinem vorigen Character zu ſeyn ſcheint. Aber das verdient an ſich ſelbſt keinen Tadel. Es iſt noch nicht ausgemacht, ob dieſe Unveraͤnderlich - keit der Denkungs-Art und Verhaltungs-Regeln, wor - auf manche ehrliche Leute ſich ſo viel zu gute thun, eine ſo groſſe Tugend iſt, als ſie ſich vielleicht einbilden. Die Eigenliebe ſchmeichelt uns zwar ſehr gerne, daß wir ſo wie wir ſind, am beſten ſind; aber ſie hat Un - recht uns ſo zu ſchmeicheln. Es iſt unmoͤglich, daß in - dem alles um uns her ſich vrraͤndert, wir allein un - veraͤnderlich ſeyn ſollten; und wenn es auch nicht un - moͤglich waͤre, ſo waͤr’ es unſchiklich. Andre Zeiten erfordern andre Sitten; andre Umſtaͤnde, andre Be - ſtimmungen und Wendungen unſer Verhaltens. Jn moraliſchen Romanen finden wir freylich Helden, welche ſich immer in allem gleich bleiben ‒ ‒ und darum zuloben190Agathon. loben ſind ‒ ‒ denn wie ſollte es anders ſeyn, da ſie in ihrem zwanzigſten Jahre Weisheit und Tugend bereits in eben dem Grade der Vollkommenheit beſizen, den die Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbeſſerun - gen ihrer ſelbſt kaum im ſechzigſten erreicht haben? Aber im Leben finden wir es anders. Deſto ſchlimmer fuͤr die, welche ſich da immer ſelbſt gleich bleiben ‒ ‒ Wir reden nicht von Thoren und Laſterhaften ‒ ‒ die Beſten haben an ihren Jdeen, Urtheilen, Empfindungen, ſelbſt an dem worinn ſie vortreflich ſind, an ihrem Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu veraͤndern. Und die Erfahrung lehrt, daß wir ſelten zu einer neuen Entwiklung unſrer Selbſt, oder zu einer merklichen Verbeſſerung unſers vorigen innerlichen Zuſtandes ge - langen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen, welches eine falſche Farbe auf uns reflectiert, und unſre wahre Geſtalt eine Zeitlang verdunkelt. Wir haben unſern Helden bereits in verſchiedenen Situationen ge - ſehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umſtaͤnde, ein wenig anders als er wuͤrklich iſt. Er ſchien zu Delphi ein bloſſer ſpeculativer Enthuſiaſt; und man hat in der Folge geſehen, daß er ſehr gut zu handeln wußte. Wir glaubten, nachdem er die ſchoͤne Cyane gedemuͤthi - get hatte, daß ihm die Verfuͤhrungen der Wolluſt nichts anhaben koͤnnten, und Danae bewieß, daß wir uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange anſte - hen, ſo wird eine neue vermeynte Danae, welche ſeine ſchwache Seite ausfuͤndig gemacht zu haben glauben mag, ſich eben ſo betrogen finden. Er ſchien nach undnach191Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. nach ein andaͤchtiger Schwaͤrmer, ein Platoniſt, ein Republicaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wolluͤſt - ling; und war keines von allen, ob er gleich in ver - ſchiedenen Zeiten durch alle dieſe Claſſen gieng, und in jeder eine Nuͤance von derſelben bekam. So wird es vielleicht noch eine Zeitlang gehen ‒ ‒ Aber von ſeinem Character, von dem was er wuͤrklich war, worinn er ſich unter allen dieſen Geſtalten gleich blieb, und was zulezt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die ganze Folge ſeiner Umſtaͤnde davon abgeſchieden ſeyn wird, uͤbrig bleiben mag ‒ ‒ davon kan dermalen die Rede noch nicht ſeyn. Ohne alſo eben ſo voreilig uͤber ihn zu urtheilen, wie man gewohnt iſt, es im taͤglichen Leben alle Augenblike zu thun ‒ ‒ wollen wir fortfah - ren, ihn zu beobachten, die wahren Triebraͤder ſeiner Handlungen ſo genau als uns moͤglich ſeyn wird aus - zuſpaͤhen, keine geheime Bewegung ſeines Herzens, welche uns einigen Aufſchluß hieruͤber geben kan, entwiſchen laſſen, und unſer Urtheil uͤber das Ganze ſeines mora - liſchen Weſens ſo lange zuruͤkhalten, bis ‒ ‒ wir es ken - nen werden.
MAn tadelt an Shakeſpear ‒ ‒ demjenigen unter al - len Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen, vom Koͤnige bis zum Bettler, und von Julius Caͤſar bis zu Jak Fall - ſtaff am beſten gekannt, und mit einer Art von unbe - greiflicher Jntuition durch und durch geſehen hat ‒ ‒ daß ſeine Stuͤke keinen, oder doch nur einen ſehr fehlerhaf - ten unregelmaͤſſigen und ſchlecht ausgeſonnenen Plan haben; daß comiſches und tragiſches darinn auf die ſelt - ſamſte Art durch einander geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die uns durch die ruͤhrende Sprache der Natur, Thraͤnen in die Augen gelokt hat, in weni - gen Augenbliken darauf uns durch irgend einen ſeltſameuEinfall193Zehentes Buch, erſtes Capitel. Einfall oder barokiſchen Ausdruk ihrer Empfindungen wo nicht zu lachen macht, doch dergeſtalt abkuͤhlt, daß es ihm hernach ſehr ſchwer wird, uns wieder in die Faſſung zu ſezen, worinn er uns haben moͤchte. ‒ ‒ Man tadelt das ‒ ‒ und denkt nicht daran, daß ſeine Stuͤke eben darinn natuͤrliche Abbildungen des menſchlichen Le - bens ſind.
Das Leben der meiſten Menſchen, und (wenn wir es ſagen duͤrften) der Lebenslauf der groſſen Staats - Koͤrper ſelbſt, in ſo fern wir ſie als eben ſo viel mora - liſche Weſen betrachten, gleicht den Haupt - und Staats - Actionen im alten gothiſchen Geſchmak in ſo vielen Puncten, daß man beynahe auf die Gedanken kommen moͤchte, die Erfinder dieſer leztern ſeyen kluͤger geweſen als man gemeiniglich denkt, und haͤtten, wofern ſie nicht gar die heimliche Abſicht gehabt, das menſchliche Leben laͤcherlich zu machen, wenigſtens die Natur eben ſo getreu nachahmen wollen, als die Griechen ſich an - gelegen ſeyn lieſſen ſie zu verſchoͤnern. Um izo nichts von der zufaͤlligen Aehnlichkeit zu ſagen, daß in dieſen Stuͤken, ſo wie im Leben, die wichtigſten Rollen ſehr oft gerade durch die ſchlechteſten Acteurs geſpielt wer - den ‒ ‒ was kan aͤhnlicher ſeyn, als es beyde Arten der Haupt und Staats-Actionen einander in der Anlage, in der Abtheilung und Diſpoſition der Scenen, im Knoten und in der Entwiklung zu ſeyn pflegen. Wie ſelten fragen die Urheber der einen und der andern ſich ſelbſt, warum ſie dieſes oder jenes gerade ſo und nicht[Agath. II. Th.] Nanders194Agathon. anders gemacht haben? Wie oft uͤberraſchen ſie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindeſten vorbereitet waren? Wie oft ſehen wir Perſonen kommen und wieder abtreten, ohne daß ſich begreiffen laͤßt, warum ſie kamen, oder warum ſie wieder verſchwin - den? Wie viel wird in beyden dem Zufall uͤberlaſſen? Wie oft ſehen wir die groͤſſeſten Wuͤrkungen durch die armſeligſten Urſachen hervorgebracht? Wie oft das Ernſt - hafte und Wichtige mit einer leichtſinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit laͤcherlicher Gravitaͤt behandelt? Und wenn in beyden endlich alles ſo klaͤglich verworren und durch einander geſchlungen iſt, daß man an der Moͤglichkeit der Entwiklung zu verzweiffeln anfaͤngt; wie gluͤklich ſehen wir durch irgend einen unter Bliz und Donner aus papiernen Wolken herabſpringenden Gott, oder durch einen friſchen Degen-Hieb den Kno - ten auf einmal zwar nicht aufgeloͤßt, aber doch aufge - ſchnitten, welches in ſo fern auf eines hinaus lauft, daß auf die eine oder andere Art das Stuͤk ein Ende hat, und die Zuſchauer klatſchen oder ziſchen koͤnnen, wie ſie wollen oder ‒ ‒ duͤrfen. Uebrigens weiß man, was fuͤr eine wichtige Perſon in den comiſchen Tragoͤ - dien, wovon wir reden, der edle Hans Wurſt vorſtellt, der ſich, vermuthlich zum ewigen Denkmal des Ge - ſchmaks unſrer Voreltern, auf dem Theater der Haupt - ſtadt des deutſchen Reichs erhalten zu wollen ſcheint. Wollte Gott, daß er ſeine Perſon allein auf dem Thea - ter vorſtellte! Aber wie viele groſſe Aufzuͤge auf dem Schauplaze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mitHans195Zehentes Buch, erſtes Capitel. Hans Wurſt ‒ ‒ oder, welches noch ein wenig aͤrger iſt, durch Hans Wurſt ‒ ‒ auffuͤhren geſehen? Wie oft haben die groͤſſeſten Maͤnner, dazu gebohren, die ſchuͤzenden Genii eines Throns, die Wolthaͤter ganzer Voͤlker und Zeitalter zu ſeyn, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen ſchnakiſchen Streich von Hans Wurſt, oder ſolchen Leuten vereitelt ſehen muͤſſen, welche ohne eben ſein Wamms und ſeine gelben Hoſen zu tragen, doch gewiß ſeinen ganzen Character an ſich trugen? Wie oft entſteht in beyden Arten der Tragi-Comoͤdien die Verwiklung ſelbſt lediglich daher, daß Hans Wurſt durch irgend ein dummes oder ſchelmiſches Stuͤkchen von ſeiner Arbeit den geſcheidten Leuten, eh ſie ſich’s verſehen koͤnnen, ihr Spiel verderbt? ‒ ‒ Manum de tabula! ‒ ‒ Aber wenn dieſe Vergleichung, wie wir be - ſorgen, ihren Grund hat; ſo moͤgen wir wol den Wei - ſen und Rechtſchaffenen Mann bedauren, den ſein Schik - ſal dazu verurtheilt hat, unter einem ſchlimmen, oder ‒ ‒ welches iſt aͤrger? ‒ ‒ unter einem ſchwachen Fuͤrſten, in die Verwaltung der oͤffentlichen Angelegenheiten ver - wikelt zu ſeyn? Was wird es ihm helfen, Einſichten und Muth zu haben, nach den beſten Grundſaͤzen und nach dem richtigſten Plan zu handeln; wenn das ver - aͤchtlichſte Ungeziefer, wenn ein Sclave, ein Kuppler, eine Bacchidion, oder etwas noch ſchlimmers, irgend ein Paraſite, deſſen ganzes Verdienſt in Geſchmeidig - keit, Verſtellung und Schalkheit beſteht, es in ihrer Gewalt haben, ſeine Maßregeln zu verruͤken, aufzu - halten, oder gar zu hintertreiben? Jndeſſen bleibt ihm,N 2wenn196Agathon. wenn er ſich einmal an ein ſo gefahrvolles Abentheuer gewagt hat, wie zum Exempel dasjenige, welches Aga - thon wuͤrklich zu beſtehen hat, kein andres Mittel uͤbrig, ſich ſelbſt zu beruhigen, und auf alle Faͤlle ſein Betra - gen vor dem unpartheyiſchen Gericht der Weiſen und der Nachwelt rechtfertigen zu koͤnnen ‒ ‒ als daß er ſich, eh er die Hand ans Werk legt, einen regelmaͤſſigen Plan ſeines ganzen Verhaltens entwerfe. Wenn gleich alle Weisheit eines ſolchen Entwurfs ihm fuͤr den Ausgang nicht Gewaͤhr leiſten kan; ſo bleibt ihm doch der troͤ - ſtende Gedanke, alles gethan zu haben, was ihn, ohne Zufaͤlle die er entweder nicht vorherſehen, oder nicht hintertreiben konnte, des gluͤklichen Erfolgs haͤtte ver - ſichern koͤnnen.
Dieſes war alſo die erſte Sorge unſers Helden, nach - dem er ſich anheiſchig gemacht hatte, die Perſon eines Rathgebers und Vertrauten bey dem Koͤnige Dionys zu ſpielen. Er ſah alle, oder doch einen groſſen Theil der Schwierigkeiten, einen ſolchen Plan zu machen, der ihm durch den Labyrinth des Hofes und des oͤffent - lichen Lebens zum Leitfaden dienen koͤnnte. Aber er glaubte, daß der mangelhafteſte Plan beſſer ſey, als gar keiner; und in der That war ihm die Gewohnheit, ſeine Jdeen woruͤber es auch ſeyn moͤchte, in ein Syſtem zu bringen, ſo natuͤrlich geworden, daß ſie ſich, ſo zu ſa - gen, von ſich ſelbſt in einen Plan ordneten, welcher vielleicht keinen andern Fehler hatte, als daß Agathon noch nicht voͤllig ſo uͤbel von den Menſchen denken konnte,als197Zehentes Buch, erſtes Capitel. als es diejenigen verdienten, mit denen er zu thun hatte. Jndeſſen dachte er doch lange nicht mehr ſo erhaben von der menſchlichen Natur, als ehmals; oder richtiger zu reden, er kannte den unendlichen Unterſchied zwiſchen dem metaphyſiſchen Menſchen, welchen man ſich in ei - ner ſpeculativen Einſamkeit ertraͤumt; dem natuͤrlichen Menſchen, in der rohen Einfalt und Unſchuld, wie er aus den Haͤnden der allgemeinen Mutter der Weſen her - vorgeht; und dem gekuͤnſtelten Menſchen, wie ihn die Geſellſchaft, ihre Geſeze, ihre Gebraͤuche und Sitten, ſeine Beduͤrfniſſen, ſeine Abhaͤnglichkeit, der immer waͤhrende Contraſt ſeiner Begierden mit ſeinem Unver - moͤgen, ſeines Privat-Vortheils mit den Privat-Vor - theilen der uͤbrigen, die daher entſpringende Noth - wendigkeit der Verſtellung, und immerwaͤhrenden Ver - larvung ſeiner wahren Abſichten, und tauſend derglei - chen phyſicaliſche und moraliſche Urſachen in unzaͤhliche betruͤgliche Geſtalten ausbilden ‒ ‒ er kannte, ſage ich, nach allen Erfahrungen, die er ſchon gemacht hatte, dieſen Unterſchied der Menſchen von dem was ſie ſeyn koͤnnten, und vielleicht ſeyn ſollten, bereits zu gut, um ſeinen Plan auf platoniſche Jdeen zu gruͤnden. Er war nicht mehr der jugendliche Enthuſtaſt, der ſich ein - bildet, daß es ihm eben ſo leicht ſeyn werde, ein groſ - ſes Vorhaben auszufuͤhren, als es zu faſſen. Die Athenienſer hatten ihn auf immer von dem Vorurtheil geheilt, daß die Tugend nur ihre eigene Staͤrke ge - brauche, um uͤber ihre Haͤſſer obzuſiegen. Er hatte ge - lernt, wie wenig man von andern erwarten kan; wieN 3wenig198Agathon. wenig man auf ſie Rechnung machen, und (was das wichtigſte fuͤr ihn war) wie wenig man ſich auf ſich ſelbſt verlaſſen darf. Er hatte gelernt, wieviel man den Umſtaͤnden nachgeben muß; daß der vollkommenſte Entwurf an ſich ſelbſt oft der ſchlechteſte unter den ge - gebenen Umſtaͤnden iſt; daß ſich das Boͤſe nicht auf ein - mal gut machen laͤßt; daß ſich in der moraliſchen Welt, wie in der materialiſchen, nichts in gerader Linie fortbewegt, und daß man ſelten anders als durch viele Kruͤmmen und Wendungen zu einem guten Zwek gelangen kan ‒ ‒ Kurz, daß das Leben, zumal eines aͤchten Staats-Mannes, einer Schiffart gleicht, wo der Pilot ſich gefallen laſſen muß, ſeinen Lauf nach Wind und Wetter einzurichten; wo er keinen Augenblik ſicher iſt durch widrige Stroͤme aufgehalten oder ſeit - waͤrts getrieben zu werden; und wo alles darauf an - kommt, mitten unter tauſend unfreywilligen Abweichun - gen von der Linie, die er ſich in ſeiner Carte gezogen hat, endlich dennoch, und ſo bald und wolbehalten als moͤglich, an dem vorgeſezten Ort anzulangen.
Dieſen allgemeinen Grundſaͤzen zufolge beſtimmte er die Abſichten bey allem was er unternahm, den Grad des Guten, welches er ſich zu erreichen vorſezte, und ſein Verhalten gegen diejenige, welche ihm dabey am meiſten hinderlich oder befoͤrderlich ſeyn koͤnnten ‒ ‒ jenes, nach dem Zuſammenhang aller Umſtaͤnde, worinn er die Sachen antraf ‒ ‒ dieſes nach Beſchaffenheit der Per - ſonen mit denen er’s zu thun hatte, oder richtiger zureden,199Zehentes Buch, erſtes Capitel. reden, nach der zum theil wenig ſichern Vorſtellung, die er ſich von ihrem Character machte.
Er konnte, ſeit dem er den Dionys naͤher kannte, nicht daran denken, ein Muſter eines guten Fuͤrſten aus ihm zu machen; aber er hoffte doch nicht ohne Grund, ſei - nen Laſtern ihr ſchaͤdlichſtes Gift benehmen, und ſeiner guten Neigungen, oder vielmehr ſeiner guten Launen, ſeiner Leidenſchaften und Schwachheiten ſelbſt, ſich zum Vortheil des gemeinen Beſten bedienen zu koͤnnen. Dieſe Meynung von ſeinem Prinzen war in der That ſo be - ſcheiden, daß er ſie nicht tiefer herabſtimmen konnte, ohne alle Hofnung zu Erreichung ſeiner Entwuͤrfe auf - zugeben; und doch zeigte ſich in der Folge, daß er noch zu gut von ihm gedacht hatte. Dionys hatte in der That Eigenſchaften, welche viel gutes verſprachen; aber ungluͤklicher Weiſe hatte er fuͤr jede derſelben eine andere, welche alles wieder vernichtete, was jene zu - ſagte; und wenn man ihn lange genug in der Naͤhe be - trachtet hatte, ſo befand ſich’s, daß ſeine vermeynten Tugenden wuͤrklich nichts anders als ſeine Laſter waren, welche von einer gewiſſen Seite betrachtet, eine Farbe der Tugend annahmen. Jndeſſen ließ ſich doch Agathon durch dieſe guten Anſcheinungen ſo verblenden, daß er die Unverbeſſerlichkeit eines Characters von dieſer Art, und alſo den Ungrund aller ſeiner Hofnungen nicht eher einſah, als bis ihm dieſe Entdekung zu nichts mehr nuzen konnte.
N 4Die200Agathon.Die groͤſſeſte Schwachheit des Prinzen, ſeiner Mey - nung nach, war ſein uͤbermaͤſſiger Hang zur Gemaͤch - lichkeit und Wolluſt. Er hoffte dem erſten dadurch zu begegnen, daß er ihm die Geſchaͤfte ſo leicht und ſo angenehm zu machen ſuchte als moͤglich war; und dem andern, wenn er ihn wenigſtens von den wilden Ausſchweiffungen abgewoͤhnte, zu denen er ſich bisher hatte hinreiſſen laſſen. Unſre Vergnuͤgungen werden deſto feiner, edler und ſittlicher, je mehr die Muſen Antheil daran haben. Aus dieſem richtigen Grundſaz bemuͤhte er ſich, dem Dionys mehr Geſchmak an den ſchoͤnen Kuͤnſten beyzubringen, als er bisher davon ge - habt hatte. Jn kurzem wurden ſeine Palaͤſte, Landhaͤn - ſer und Gaͤrten, mit den Meiſterſtuͤken der beſten Mahler und Bildhauer Griechenlandes angefuͤllt. Agathon zog die beruͤhmteſten Virtuoſen in allen Gattungen von Athen nach Syracus; er fuͤhrte ein praͤchtiges Odeon nach dem Muſter deſſen, worauf Perikles den oͤffentli - chen Schaz der Griechen verwendet hatte, auf; und Dionys fand ſo viel Vergnuͤgen an den verſchiedenen Arten von Schauſpielen, womit er, unter der Aufſicht ſeines Guͤnſtlings, faſt taͤglich auf dieſem Theater beluſti - get wurde, daß er, ſeiner Gewohnheit nach, eine Zeit - lang allen Geſchmak an andern Ergoͤzlichkeiten verloh - ren zu haben ſchien. Jndeſſen war doch eine andre Leidenſchaft uͤbrig, deren Herrſchaft uͤber ihn allein hin - laͤnglich war, alle guten Abſichten ſeines neuen Freun - des zu hintertreiben. Gegenwaͤrtig befand ſich die Taͤu - zerin Bacchidion im Beſiz derſelben; aber es fiel bereitsin201Zehentes Buch, erſtes Capitel. in die Augen, daß die unmaͤſſige Liebe, welche ſie ihm beygebracht, ſehr viel von ihrer erſten Heftigkeit ver - lohren hatte. Es wuͤrde vielleicht nicht ſchwer gehalten haben, die Wuͤrkung ſeiner natuͤrlichen Unbeſtaͤndig - keit um etliche Wochen zu beſchleunigen. Aber Agathon hatte Bedenklichkeiten, die ihm wichtig genug ſchienen, ihn davon abzuhalten. Die Gemalin des Prinzen war in keinerley Betrachtung dazu gemacht, einen Verſuch, ihn in die Grenzen der ehlichen Liebe einzuſchraͤnken, zu unterſtuͤzen. Dionys konnte nicht ohne Liebeshaͤndel leben; und die Gewalt, welche ſeine Maitreſſen uͤber ſein Herz hatten, machte ſeine Unbeſtaͤndigkeit gefaͤhr - lich. Bacchidion war eines von dieſen gutartigen froͤh - lichen Geſchoͤpfen, in deren Phantaſie alles roſenfarb iſt, und welche keine andre Sorge in der Welt haben, als ihr Daſeyn von einem Augenblik zum andern weg - zuſcherzen, ohne ſich jemals einen Gedanken von Ehr - geiz und Habſucht, oder einigen Kummer uͤber die Zu - kunft anfechten zu laſſen. Sie liebte das Vergnuͤgen uͤber alles; immer aufgelegt es zu geben und zu neh - men, ſchien es unter ihren Tritten aufzuſproſſen; es lachte aus ihren Augen, und athmete aus ihren Lippen. Ohne daran zu denken, ſich durch die Leidenſchaft des Prinzen fuͤr ſie wichtig zu machen, hatte ſie aus einer Art von mechaniſcher Neigung, vergnuͤgte Geſichter zu ſehen, ihre Gewalt uͤber ſein Herz ſchon mehrmalen dazu verwandt, Leuten die es verdienten, oder auch nicht verdienten (denn daruͤber ließ ſie ſich in keine Un - terſuchung ein) gutes zu thun. Agathon beſorgte, daßN 5ihre202Agathon. ihre Stelle leicht durch eine andere beſezt werden koͤnnte, welche ſich verſuchen laſſen moͤchte, einen ſchlimmern Gebrauch von ihren Reizungen zu machen. Er hielt es alſo ſeiner nicht unwuͤrdig, mit guter Art, und ohne daß es ſchien, als ob er einige beſondern Aufmerkſam - keit auf ſie habe, die Neigung des Prinzen zu ihr mehr zu unterhalten als zu bekaͤmpfen. Er verſchafte ihr Ge - legenheit, ihre beluſtigende Talente in einer Mannichfal - tigkeit zu entfalten, welche ihr immer die Reizungen der Neuheit gab. Er wußte es zu veranſtalten, daß Dionys durch oͤftere kleine Entfernungen verhindert wurde, ſich zu bald an dem Vergnuͤgen zu erſaͤttigen, welches er in den Armen dieſer angenehmen Creatur zu finden ſchien. Er gieng endlich gar ſo weit, daß er bey Gelegenheit eines Geſpraͤchs, wo die Rede von den allzuſtrengen Grundſaͤzen des Plato uͤber dieſen Artikel war, ſich kein Bedenken machte, zu ſagen: Daß es un - billig ſey, einen Prinzen, welcher ſich die Erfuͤllung ſeiner groſſen und weſentlichen Pflichten mit gehoͤrigem Ernſt angelegen ſeyn laſſe, in ſeinen Privat-Ergoͤzun - gen uͤber die Grenzen einer anſtaͤndigen Maͤſſigung ein - ſchraͤnken zu wollen. Alles, was ihm hieruͤber wiewol in allgemeinen Ausdruͤken, entfiel, ſchien die Bedeutung einer ſtillſchweigenden Einwilligung in die Schwachheit des Prinzen fuͤr die ſchoͤne Bacchidion zu haben, und in der That war dieſes ſein Gedanke. Wir laſſen da - hin geſtellt ſeyn, ob die gute Abſicht die er dabey hatte, hinlaͤnglich ſeyn mag, eine ſo gefaͤhrliche Aeuſſerung zu rechtfertigen; aber es iſt gewiß, daß Dionys, der bis -her203Zehentes Buch, erſtes Capitel. her aus einer gewiſſen Schaam vor der Tugend unſers Helden ſich bemuͤht hatte, ſeine ſchwache Seite vor ihm zu verbergen, von dieſer Stunde an weniger zuruͤkhal - tend wurde, und aus dem vielleicht unrichtigen aber ſehr gemeinen Vorurtheil, daß die Tugend eine erklaͤrte Feindin der Gottheiten von Cythere ſeyn muͤſſe, einen Argwohn gegen unſern Helden faßte, wodurch er um einige Stuffen herab, und mit ihm ſelbſt und den uͤbri - gen Erdenbewohnern, in Abſicht gewiſſer Schwachhei - ten, in die nehmliche Linie geſtellt wurde ‒ ‒ ein Ver - dacht, der zwar durch die ſich ſelbſt immer gleiche Auf - fuͤhrung Agathons bald wieder zum Schweigen gebracht, aber doch nicht ſo gaͤnzlich unterdruͤkt wurde, daß ſein geheimer Einfluß in der Folge den Beſchuldigungen der Feinde Agathons, den Zugang in das Gemuͤth eines Prinzen nicht erleichtert haͤtte, welcher ohnehin ſo ge - neigt war, die Tugend entweder fuͤr Schwaͤrmerey oder fuͤr Verſtellung zu halten. Jndeſſen gewann Agathon durch ſeine Nachſicht gegen die Lieblings-Fehler dieſes Prinzen, daß er ſich deſto williger bewegen ließ, an den Geſchaͤften der Regierung mehr Antheil zu nehmen, als er gewohnt war; und wir an unſerm theil koͤnnen es ihm verzeyhen, daß er das viele Gute, welches er da - durch erhielt, fuͤr eine hinlaͤngliche Vergutung des Ta - dels anſah, den er ſich durch dieſe Gefaͤlligkeit bey ge - wiſſen Leuten von ſtrengen Grundſaͤzen zuzog, welche in der weiten Entfernung von der Welt, worinn ſie leben, gute Weile haben, an andern zu verdammen, was ſie an derſelben Plaz, vielleicht noch ſchlimmer ge - macht haben wuͤrden.
Auſſer204Agathon.Auſſer der ſchoͤnen Bacchidion, welche, wie wir geſe - hen haben, allen ihren Ehrgeiz darein ſezte, das Ver - gnuͤgen eines Prinzen, den ſie liebte, auszumachen ‒ ‒ war Philiſtus, durch die Gnade, worinn er bey Diony - ſen ſtuhnd, die betraͤchtlichſte Perſon unter allen den - jenigen, mit denen Agathon in ſeiner neuen Stelle mehr oder weniger in Verhaͤltniß war. Dieſer Mann ſpielt in dieſem Stuͤk unſrer Geſchichte eine Rolle, welche begierig machen kan, ihn naͤher kennen zu lernen. Und uͤber dem iſt es eine von den geheiligten Pflichten der Geſchichte, den verfaͤlſchenden Glanz zu zerſtreuen, welchen das Gluͤk und die Gunſt der Groſſen ſehr oft uͤber nichtswuͤrdige Creaturen ausbreitet, um der Nach - welt, zum Exempel, zu zeigen, daß dieſer Pallas, welchen ſo viele Decrete des Roͤmiſchen Senats, ſo viele Statuen und oͤffentliche Ehren-Maͤhler eben dieſer Nach - welt als einen Wolthaͤter des menſchlichen Geſchlechts, als einen Halb-Gott ankuͤndigen, nichts beſſers noch groͤſſers als ein ſchamloſer laſterhafter Sclave war. Wenn Philiſtus in Vergleichung mit einem Pallas oder Tigellin nur ein Zwerg gegen einen Rieſen ſcheint, ſo kommt es in der That allein von dem unermeßlichen Unterſchied zwiſchen der Roͤmiſchen Monarchie im Zeit - punct ihrer aͤuſſerſten Hoͤhe, und dem kleinen Staat, worinn Dionys zu gebieten hatte, her. Eben dieſer Teufel, der ſeinem ſchlimmen Humor Luft zu machen, eine Heerde Schweine erſaͤufte, wuͤrde mit ungleich groͤſ - ſerm Vergnuͤgen den ganzen Erdboben unter Waſſer ge - ſezt haben, wenn er Gewalt dazu gehabt haͤtte: UndPhiliſtus205Zehentes Buch, erſtes Capitel. Philiſtus wuͤrde Pallas geweſen ſeyn, wenn er das Gluͤk gehabt haͤtte, in den Vorzimmern eines Claudius aufzu - wachſen. Die Proben, welche er in ſeiner kleinen Sphaͤre von dem was er in einer groͤſſern faͤhig gewe - ſen waͤre, ablegte, laſſen uns nicht daran zweifeln. Ein gebohrner Sclave, und in der Folge einer von den Freygelaſſenen des alten Dionys, hatte er ſich ſchon damals unter ſeinen Cameraden durch den ſchlaueſten Kopf und die geſchmeidigſte Gemuͤths-Art hervorgethan, ohne daß es ihm jedoch einigen beſondern Vorzug bey ſeinem Herrn verſchaffet haͤtte. Philiſtus graͤmte ſich billig uͤber dieſe wiewol nicht ungewoͤhnliche Laune des Gluͤks; aber er wußte ſich ſelbſt zu helfen. Gluͤklichere Vorgaͤnger hatten ihm den Weg gezeigt, ſich ohne Muͤhe und ohne Verdienſte zu dieſer hohen Stuffe em - porzuſchwingen, nach welcher ihm eine Art von Ambi - tion, die ſich in gewiſſen Seelen mit der veraͤchtlichſten Niedertraͤchtigkeit vollkommen wol vertraͤgt, ein unge - zaͤhmtes Verlangen gab. Wir haben ſchon bemerkt, daß der juͤngere Dionys von ſeinem Vater ungewohnlich hart gehalten wurde. Philiſtus war der einzige, der den Verſtand hatte zu ſehen, wieviel Vortheil ſich aus dieſem Umſtande ziehen laſſe. Er fand Mittel, die Naͤchte des jungen Prinzen angenehmer zu machen als ſeine Tage waren. Brauchte es mehr, um als ein Wol - thaͤter von ihm angeſehen zu werden, deſſen gute Dienſte er niemals genug werde belohnen koͤnnen? Philiſtus ließ es nicht dabey bewenden; er fiel auf den Einfall, zu gleicher Zeit, und durch einen einzigen kleinen Hand -grif,206Agathon. grif, ſich dieſer Belohnung wuͤrdiger und baͤlder theilhaft zu machen. Eine boͤsartige Colik, wozu er das Recept hatte, beſchleunigte das Ende des alten Tyrannen; Philiſtus war der erſte, der ſeinem jungen Gebieter die freudige Nachricht brachte, und nun ſah er ſich auf einmal in dem geheimeſten Vertrauen eines Koͤnigs, und in kurzem am Ruder des Staats. Dieſe wenigen Anecdoten ſind zureichend, uns einen ſo ſichern Begrif von dem moraliſchen Character dieſes wuͤrdigen Mini - ſters zu geben, daß er nunmehr das aͤrgſte deſſen ein Menſch faͤhig iſt, begehen koͤnnte, ohne daß wir uns daruͤber verwundern wuͤrden. Aber was fuͤr ein Phy - ſiognomiſt muͤßte der geweſen ſeyn, der dieſe Anecdoten in ſeinen Augen haͤtte leſen koͤnnen? Es iſt wahr, Aga - thon dachte anfangs nicht allzuvortheilhaft von ihm; aber wie haͤtte er, ohne beſondere Nachrichten zu haben, oder ſelbſt ein Philiſtus zu ſeyn, ſich vorſtellen ſollen, daß Philiſtus das ſeyn koͤnnte, was er war? Wenige kannten die innwendige Seite dieſes Mannes; und dieſe wenige waren zu gute Hofmaͤnner, um ihren bisherigen Goͤnner eher zu verrathen, als ſein Sturz gewiß war, und ſie wiſſen konnten, was ſie dadurch gewinnen wuͤr - den; und Ariſtipp, fuͤr den ſein wahrer Character gleichfalls kein Geheimniß war, hatte ſich vorgeſezt, ei - nen bloſſen Zuſchauer abzugeben. Agathon konnte alſo deſto leichter hintergangen werden, da Philiſtus alle ſeine Verſtellungs-Kunſt anſtrengte, ſich bey ihm in Achtung zu ſezen. Zu ſeinem groſſen Mißvergnuͤgen konnte er mit aller Kenntniß, die er (nach einem ge -woͤhnlichen,207Zehentes Buch, erſtes Capitel. woͤhnlichen, wiewol ſehr betruͤglichen Vorurtheil der Hofleute) von den Menſchen zu haben glaubte, die ſchwache Seite unſers Helden nicht ausfuͤndig machen. Es blieb ihm alſo kein andrer Weg uͤbrig, als durch eine groſſe Arbeitſamkeit und Puͤnctlichkeit in den Ge - ſchaͤften ſich bey dem neuen Guͤnſtling in das Anſehen eines brauchbaren Mannes, und durch Tug enden, die er eben ſo leicht als man eine Maskerade-Kleidung an - zieht, affectiren konnte, ſo bald er ihrer vonnoͤthen hatte, ſich endlich ſo gar in das Anſehen eines ehrli - chen Mannes zu ſezen. Da zu dieſen Eigenſchaften, welche Agathon in ihm zu finden glaubte, noch die Achtung, welche Dionys fuͤr ihn trug, und die Be - trachtung hinzukam, daß es fuͤr den Staat weniger ſicher ſey, einen ehrgeizigen Miniſter abzudanken, als ihn mit ſcheinbarer Beybehaltung ſeines Anſehens in engere Schranken zu ſezen: So geſchah es, daß ſich diejenige in ihrer Meynung betrogen fanden, welche den Fall des Philiſtus fuͤr eine unfehlbare Folge der Erhe - bung Agathons gehalten hatten. Das Anſehen deſſelben ſchien ſich eher zu vermehren, indem er zum Vorſteher aller der verſchiednen Tribunalien ernennt wurde, un - ter welche Agathon, mit der erforderlichen Einſchraͤn - kung und Subordination, diejenige Gewalt vertheilte, welche vormals von den Vertrauten des Prinzen will - kuͤhrlich ausgeuͤbt worden war: Jn der That aber wurde er dadurch beynahe in die Unmoͤglichkeit geſezt, boͤſes zu thun, wofern ihn etwan eine Verſuchung dazu an - kommen ſollte; da er bey allen ſeinen Handlungen vonſo208Agathon. ſo vielen Augen beobachtet, und verbunden war, von allem Rechenſchaft zu geben, und nichts ohne die Ein - ſtimmung des Prinzen, oder, welches eine Zeitlang einer - ley war, ſeines Repraͤſentanten, zu unternehmen.
Wir koͤnnten ohne Zweifel viel ſchoͤnes von der Staats - Verwaltung Agathons ſagen, wenn wir uns in eine ausfuͤhrliche Erzaͤhlung aller der nuͤzlichen Ordnungen und Einrichtungen ausbreiten wollten, welche er in Abſicht der Staats-Oeconomie, der Einziehung und Verwaltung der oͤffentlichen Einkuͤnfte, der Policey, der Landwirthſchaft, des Handlungs-Weſens, und (welches in ſeinen Augen eines der weſentlichſten Stuͤke war) der oͤffentlichen Sitten und der Bildung der Jugend, theils wuͤrklich zu machen anfieng, theils gemacht haben wuͤrde, wenn ihm die Zeit dazu gelaſſen worden waͤre. Allein alles dieſes gehoͤrt nicht zu dem Plan des gegenwaͤrtigen Werkes; und es waͤre in der That nicht abzuſehen, wozu ein ſolcher Détail in unſern Tagen nuzen ſollte, worinn die Kunſt zu regieren einen Schwung genom - men zu haben ſcheint, der die Maasregeln und das Beyſpiel unſers Helden eben ſo unnuͤz macht, als die Projecte des guten Abbts von Saint Pierre, patrioti - ſchen Gedaͤchtniſſes. Die Art, wie ſich Agathon eh - mals ſeines Anſehens und Vermoͤgens zu Athen bedient hat, kan unſern Leſern einen hinlaͤnglichen Begrif da - von geben, wie er ſich einer beynahe unumſchraͤnkten Macht und eines koͤniglichen Vermoͤgens bedient haben werde.
Nur209Zehentes Buch, erſtes Capitel.Nur einen Umſtand koͤnnen wir nicht vorbeygehen, weil er einen merklichen Einfluß in die folgende Bege - benheiten unſers Helden hatte. Dionys befand ſich, als Agathon an ſeinen Hof kam, in einen Krieg mit den Carthaginenſern verwikelt, welche durch verſchiedene kleine Republiken des ſuͤdlichen und weſtlichen Theils von Sicilien unterſtuͤzt, unter dem Schein ſie gegen die Uebermacht von Syracus zu ſchuͤzen, ſich der innerli - chen Zwietracht der Sicilianer, als einer guten Gele - genheit bedienen wollten, dieſe fuͤr ihre Handlungs-Ab - ſichten unendlich vortheilhaft gelegene Jnſel in ihre Ge - walt zu bringen. Einige von dieſen kleinen Republiken wurden von ſo genannten Tyrannen beherrſcht; und dieſe hatten ſich bereits in die Arme der Carthaginen - ſer geworfen; die andren hatten ſich bisher noch in ei - ner Art von Freyheit erhalten, und ſchwankten, zwi - ſchen der Furcht von Dionyſen uͤberwaͤltiget zu werden, und dem Mißtrauen in die Abſichten ihrer anmaßlichen Beſchuͤzer, in einem Gleichgewicht, welches alle Augen - blike auf die Seite der leztern uͤberzuziehen drohte. Timocrates dem Dionys die oberſte Befehlhabers-Stelle in dieſem Kriege anvertraute, hatte ſich bereits durch einige Vortheile uͤber die Feinde den oft wolfeilen Ruhm eines guten Generals erworben; aber mehr darauf be - dacht, bey dieſer Gelegenheit Lorbeern und Reichthuͤmer zu ſammeln, als das wahre Jntereſſe ſeines Prinzen zu beſorgen, hatte er das Feuer der innerlichen Unruhen Siciliens mehr ausgebreitet als gedaͤmpft, und durch ſeine Auffuͤhrung ſich bey denenjenigen, welche noch[Agath. II. Th.] Okeine210Agathon. keine Parthey genommen hatten, ſo verhaßt gemacht, daß ſie im Begrif waren ſich fuͤr Carthago zu erklaͤren. Agathon glaubte, daß ſeine Beredſamkeit dem Dionys in dieſen Umſtaͤnden groͤſſere Dienſte thun koͤnne, als die ganze, wiewol nicht veraͤchtliche Land - und Seemacht, welche Timocrates unter ſeinen Befehlen hatte. Er hielt es fuͤr beſſer Sicilien zu beruhigen, als zu erobern; beſſer es zu einer Art von freywilliger Uebergabe an Syracus zu bewegen, als es den Gefahren und ver - derblichen Folgen eines Kriegs ausgeſezt zu laſſen, der, wenn er auch am gluͤklichſten fuͤr den Dionys ausfiele, ihm doch nichts mehr als den zweydentigen Vortheil verſchaffen wuͤrde, ſeine Unterthanen um eine Anzahl gezwungner und mißvergnuͤgter Leute vermehrt zu haben, auf deren guten Willen er keinen Augenblik haͤtte zaͤhlen koͤnnen. Dionys konnte den Gruͤnden, womit Agathon ſein Vorhaben, und die Hofnung des gewuͤnſchten Aus - gangs unterſtuͤzte, ſeinen Beyfall nicht verſagen. Ueber - haupt galt es ihm gleich, durch was fuͤr Mittel er zu ruhigem Beſiz der hoͤchſten Gewalt in Sicilien gelangen koͤnnte, wenn er nur dazu gelangte; und ob er gleich klein genug war, ſich auf die zwar wenig entſcheidende aber deſto praleriſcher vergroͤſſerte Siege ſeines Feld - herrn eben ſo viel einzubilden, als ob er ſie ſelbſt erhal - ten haͤtte; ſo war er doch auch feigherzig genug, ſich zu dem unruͤhmlichſten Frieden geneigt zu fuͤhlen, ſo bald er mit einiger Aufmerkſamkeit an die Unbeſtaͤndig - keit des Kriegs-Gluͤkes dachte. Die edlern Beweg - gruͤnde unſers Helden fanden alſo leicht Eingang beyihm,211Zehentes Buch, erſtes Capitel. ihm, oder richtiger zu reden, Agathon ſchrieb die ge - faͤllige Diſpoſition, die er bey ihm fand, dem Eindruk ſeiner eignen Vorſtellungen zu, ohne wahrzunehmen, daß ſie ihren eigentlichen Grund in der niedertraͤchtigen Gemuͤthsart des Prinzen hatte. Er begab ſich alſo inge - heim (denn es war ihm daran gelegen, daß Timocra - tes von ſeinem Vorhaben keinen Wink bekaͤme) in die - jenige Staͤdte, welche im Begrif ſtuhnden, die Parthey von Carthago zu verſtaͤrken. Es gelang ihm, die wid - rigen Vorurtheile zu zernichten, womit er alle Gemuͤther gegen die gefuͤrchtete Tyrannie Dionyſens eingenommen fand; er uͤberzeugte ſie ſo vollkommen davon, daß das Beſte eines jeden beſondern Theils von dem Beſten des ganzen Sicilien unzertrennlich ſey; machte ihnen ein ſo ſchoͤnes Gemaͤhlde von dem gluͤklichen Zuſtande dieſer Jnſel, wenn alle Theile derſelben durch die Bande des Vertrauens und der Freundſchaft, ſich in Syracus als in dem gemeinſchaftlichen Mittelpunct vereinigen wuͤr - den ‒ ‒ daß er mehr erhielt als er gehoft hatte, und ſo gar mehr als er verlangte. Er wollte nur Bunds - genoſſen, und es fehlte wenig, ſo wuͤrden ſie in einem Anſtoß von uͤberflieſſender Zuneigung zu ihm, ſich ohne Bedingung zu Unterthanen eines Prinzen ergeben haben, von deſſen Miniſter ſie ſo ſehr bezaubert waren.
Die Veraͤnderung, welche hiedurch in den oͤffentlichen Angelegenheiten gemacht wurde, brachte den Krieg ſo ſchnell zu Ende, daß Timocrates keine Gelegenheit be - kam, durch ein entſcheidendes Treffen (es moͤchte allen -O 2falls212Agathon. falls gewonnen oder verlohren ſeyn) Ehre einzulegen. Man kan ſich vorſtellen, ob Agathon ſich dadurch die Freundſchaft dieſes Mannes, den ſein groſſes Vermoͤ - gen und die Verſchwaͤgerung mit dem Prinzen zu einer wichtigen Perſon machte, erworben; und mit welchen Augen Timocrates den allgemeinen Beyfall, die froh - lokenden Segnungen der Nation, welche unſern Hel - den nach Syracus zuruͤkbegleiteten, die Merkmale der Hochachtung, womit er von dem Prinzen empfangen wurde, und das auſſerordentliche Anſehen, worinn er ſich durch dieſe friedſame Eroberung befeſtigte, ange - ſchielt haben werde. Genoͤthigt, ſeinen Unwillen und Haß gegen einen ſo ſiegreichen Nebenbuhler in ſich ſelbſt zu verſchlieſſen, laurte er nur deſto ungeduldiger auf Gelegenheiten, in geheim an ſeinem Untergang zu ar - beiten; und wie haͤtte es ihm an einem Hofe, und an dem Hofe eines ſolchen Fuͤrſten, an Gelegenheiten feh - len koͤnnen?
Wenn Agathon waͤhrend einer Staats-Verwaltung, welche nicht ganz zwey Jahre daurte, das vollkom - menſte Vertrauen ſeines Prinzen und die allgemeine Liebe der Nation, welche er regierte, gewann, und ſich da - durch auf dieſe hohe Stuffe des Anſehens und der ſchein -baren213Zehentes Buch, zweytes Capitel. baren Gluͤkſeligkeit emporſchwang, welche unverdienter Weiſe, der Gegenſtand der Bewunderung aller kleinen, und des Neides aller zugleich boßhaften Seelen zu ſeyn pflegt: So muͤſſen wir geſtehen, daß dieſe lanniſche un - erklaͤrbare Macht, welche man Gluͤk oder Zufall nennt, den wenigſten Antheil daran hatte. Die Verdienſte, die er ſich in ſo kurzer Zeit um den Prinzen ſowol als die Nation machte, die Beruhigung Siciliens, das be - ſeſtigte Anſehen von Syracus, die Verſchoͤnerung die - ſer Hauptſtadt, die Verbeſſerung ihrer Policey, die Be - lebung der Kuͤnſte und Gewerbe, und die allgemeine Zuneigung, welche er einer vormals verabſcheueten Re - gierung zuwandte ‒ ‒ alles dieſes legte ein unverwerfli - ches Zeugniß fuͤr die Weisheit ſeiner Staats-Verwaltung ab; und da alle dieſe Verdienſte durch die Uneigennuͤzig - keit und Regelmaͤſſigkeit ſeines Betragens in ein Licht geſtellt wurden, welches keine Mißdeutung zu zulaſſen ſchien; ſo blieb ſeinen heimlichen Feinden, ohne die un - gewiſſe Huͤlfe irgend eines Zufalls, von dem ſie ſelbſt noch keine Vorſtellung hatten, wenig Hofnung uͤbrig, ihn ſo bald wieder zu ſtuͤrzen, als ſie es fuͤr ihre Privat - Abſichten wuͤnſchen mochten.
Die heimlichen Feinde Agathons ‒ ‒ wie konnte ein Mann, der ſich ſo untadelich betrug, und um jeder - mann Gutes verdiente, Feinde haben? ‒ ‒ werden die - jenige vielleicht denken, welche bey Gelegenheit, zu ver - geſſen ſcheinen, daß der weiſe Mann nothwendig alle Narren, und der Rechtſchaffene, unvermeidlicher Weiſe,O 3alle214Agathon. alle die es nicht ſind, zu oͤffentlichen, oder doch gewiß zu immerwaͤhrenden heimlichen Feinden haben muß. Eine Wahrheit, welche in der Natur der Sachen ſo gegruͤndet, und durch eine nie unterbrochene Erfahrung ſo beſtaͤtiget iſt, daß wir weit beſſere Urſache zu fra - gen haben: Wie ſollte ein Mann, der ſich ſo wol be - trug, keine Feinde gehabt haben? Es konnte nicht an - ders ſeyn als daß derjenige, deſſen beſtaͤndige Bemuͤhung dahin gieng, ſeinen Prinzen tugendhaft, oder doch wenigſtens ſeine Schwachheiten unſchaͤdlich zu machen, ſich den herzlichen Haß dieſer Hoͤflinge zuziehen mußte, welche (wie Montesquieu von allen Hofleuten behauptet) nichts ſo ſehr fuͤrchten, als die Tugend des Fuͤrſten, und keinen zuverlaͤſſigern Grund ihrer Hofnungen ken - nen, als ſeine Schwachheiten. Sie konnten nicht an - ders als den Agathon fuͤr denjenigen anſehen, der al - len ihren Abſichten und Entwuͤrfen im Wege ſtuhnd. Er verlangte zum Exempel, daß man vorher Verdienſte haben muͤſſe, eh man an Belohnungen Anſpruͤche mache; ſie wußten einen kuͤrzern und bequemern Weg; einen Weg auf welchem zu allen Zeiten (die Regierungen der Antonine und Juliane ausgenommen) die nichts - wuͤrdigſten Leute an Hoͤfen ihr Gluͤk gemacht haben ‒ ‒ kriechende Schmeicheley, blinde Gefaͤlligkeit gegen die Leidenſchaften unſrer Obern, Gefuͤhlloſigkeit gegen alle Regungen des Gewiſſens und der Menſchlichkeit, Taub - heit gegen die Stimme aller Pflichten, unerſchrokne Unverſchaͤmtheit ſich ſelbſt Talente und Verdienſte bey - zulegen, die man nie gehabt hat; fertige Bereitwillig -keit215Zehentes Buch, zweytes Capitel. keit jedes Bubenſtuͤk zu begehen, welches eine Stuffe zu unſrer Erhebung werden kan ‒ ‒ und dieſen Weg hatte ihnen Agathon auf einmal verſperrt. Sie ſahen, ſo lange dieſer ſeltſame Mann den Plaz eines Guͤnſtlings bey Dionyſen behaupten wuͤrde, keine Moͤglichkeit, wie Leute von ihrer Art ſollten gedeyhen koͤnnen. Sie haſ - ſeten ihn alſo; und wir koͤnnen verfichert ſeyn, daß in den Herzen aller dieſer Hoͤflinge eine Art von Zuſam - mem-Verſchwoͤrung gegen ihn bruͤtete, ohne daß es da - zu einiger geheimen Verabredung bedurfte. Allein von allem dieſem wurde noch nichts ſichtbar. Die Maske, welche ſie vorzunehmen fuͤr gut fanden, ſah einem Ge - ſicht ſo gleich, daß Agathon ſelbſt dadurch betrogen wurde; und ſich gegen die Philiſte und Timocrate, und ihre Creaturen eben ſo bezeugte, als ob die Hoch - achtung, welche ſie ihm bewieſen, und der Beyfall, den ſie allen ſeinen Maßnehmungen gaben, aufrichtig geweſen waͤre. Dieſe wakern Maͤnner hatten einen ge - doppelten Vortheil uͤber ihn ‒ ‒ daß er, weil er ſich nichts Boͤſes zu ihnen verſah, nicht daran dachte, ſie ſcharf zu beobachten ‒ ‒ ‒ und daß ſie, weil ſie ſich ihrer eigenen Boßheit bewußt waren, deſto vorſichtiger wa - ren, ihre wahren Geſinnungen in eine undurchdring - liche Verſtellung einzuhuͤllen. Verſichert wie ſie waren, daß ein Menſch nothwendig eine ſchwache Seite haben muͤſſe, gaben ſie ſich alle moͤgliche Muͤhe die ſeinige zu finden, und ſtellten ihn, ohne daß er einen Verdacht deßwegen auf ſie werfen konnte, auf alle moͤgliche Pro - ben. Da ſie ihn aber gegen Verſuchungen, denen ſieO 4ſelbſt216Agathon. ſelbſt zu unterliegen pflegten, gleichguͤltig oder gewaf - net fanden; ſo blieb ihnen, bis auf irgend eine guͤnſtige Gelegenheit nichts uͤbrig, als ihn durch den magiſchen Dunſt einer ſubtilen Schmeicheley einzuſchlaͤfern, welche er deſto leichter fuͤr Freundſchaft halten konnte, da ſie alle Anſcheinungen derſelben hatte; und je mehr er be - rechtiget war, in einem Lande, worinn er ſich um alle verdient machte, einen jeden fuͤr ſeinen Freund zu hal - ten. Dieſe Abſicht gelang ihnen, und man muß ge - ſtehen, daß ſie dadurch ſchon ein groſſes uͤber ihn ge - wonnen hatten.
Uebrigens koͤnnen wir nicht umhin, es mag nun un - ſerm Helden nachtheilig ſeyn oder nicht, zu geſtehen, daß zu einer Zeit, da ſein Anſehen den hoͤchſten Gipfel erreicht hatte; da Dionys ihn mit Beweiſen einer un - begrenzten Gunſt uͤberhaͤufte; da er von dem ganzen Sicilien fuͤr ſeinen Schuzgott angeſehen wurde, und das ſeltne, wo nicht ganz unerhoͤrte Gluͤk zu genieſſen ſchien, in einem ſo blendenden Gluͤksſtande lauter Be - wundrer und Freunde, und keinen Feind zu haben ‒ ‒ die Damen zu Syracus die einzigen waren, welche ihre wenige Zufriedenheit mit ſeinem Betragen ziemlich deutlich merken lieſſen. Mit einer Figur wie die ſeinige, mit allem dem was den Augen und Herzen nachſtellt in ſo auſſerordentlichem Grade begabt, war es ſehr natuͤrlich, daß er die Aufmerkſamkeit der Schoͤnen auf ſich ziehen mußte. Die Damen zu Syracus hatten ſo gut Augen wie die zu Smyrna ‒ ‒ ‒ und Herzen da -zu ‒ ‒217Zehentes Buch, zweytes Capitel. zu ‒ ‒ oder wenn ſie keine hatten, ſo hatten ſie doch et - was, deſſen Bewegungen ſehr gewoͤhnlich mit den Be - wegungen des Herzens verwechſelt werden; oder wenn ſie auch das nicht hatten, ſo hatten ſie doch Eitelkeit, und konnten alſo nicht gleichguͤltig gegen die eigenſinnige Unempfindlichkeit eines Mannes ſeyn, welcher eben dadurch ein Feind wurde, deſſen Ueberwindung ſeine Siegerin zur Liebenswuͤrdigſten ihres Geſchlechts zu er - klaͤren ſchien. Jn den Augen der meiſten Schoͤnen iſt der Guͤnſtling eines Monarchen allezeit ein Adonis; wie natuͤrlich war alſo der Wunſch, einen Adonis empfind - lich zu machen, der noch dazu der Liebling eines Koͤnigs, und in der That, den Namen, und eine gewiſſe Binde um den Kopf ausgenommen, der Koͤnig ſelbſt war? Man kan ſich auf die Geſchiklichkeit der ſchoͤnen Sici - lianerinnen verlaſſen, daß ſie nichts vergeſſen haben wer - den, ſeiner Kaltſinnigkeit auch nicht den Schatten einer anſtaͤndigen Entſchuldigung uͤbrig zu laſſen. Und wo - mit haͤtte ſie wol entſchuldiget werden koͤnnen? Es iſt wahr, ein Mann, der mit der Sorge fuͤr einen ganzen Staat beladen iſt, hat nicht ſo viel Muſſe als ein jun - ger Herr, der ſonſt nichts zu thun hat, als ſein Ge - ſicht alle Tage ein paarmal im Vorzimmer zu zeigen, und die uͤbrige Zeit von einer Schoͤnen, und von einer Geſellſchaft zur andern fortzuflattern. Aber man mag ſo beſchaͤftiget ſeyn als man will, ſo behaͤlt man doch allezeit Stunden fuͤr ſich ſelbſt, und fuͤr ſein Vergnuͤgen uͤbrig; und obgleich Agathon ſich ſeinen Beruf etwas ſchwerer machte, als er in unſern Zeiten zu ſeyn pflegt,O 5nach -218Agathon. nachdem man das Geheimniß erfunden hat, die ſchwere - ſten Dinge mit einer gewiſſen unſern plumpern Vor - fahren unbekannten Leichtigkeit ‒ ‒ vielleicht nicht ſo gut, aber doch artiger ‒ ‒ zu thun; ſo war es doch Augen - ſcheinlich, daß er ſolche Stunden hatte. Der Einfluß, den er in die Staats-Verwaltung hatte, ſchien ihm ſo wenig zu ſchaffen zu machen; er brachte ſo viel Frey - heit des Geiſtes, ſo viel Munterkeit und guten Humor zur Geſellſchaft, und zu den Ergoͤzlichkeiten, wo ihn Dionys faſt immer um ſich haben wollte, daß man die Schuld ſeiner ſeltſamen Auffuͤhrung unmoͤglich ſeinen Geſchaͤften beymeſſen konnte. Man mußte alſo ſie be - greiflich zu machen auf andere Hypotheſen verfallen. Anfangs hielt eine jede die andere im Verdacht, die ge - heime Urſache davon zu ſeyn; und ſo lange dieſes daurte, haͤtte man ſehen ſollen, mit was fuͤr Augen die guten Damen einander beobachteten, und wie oft man in einem Augenblike eine Entdekung gemacht zu haben glaubte, welche der folgende Augenblik wieder vernichtigte. Endlich befand ſich’s, daß man einander Unrecht gethan hatte; Agathon war gegen alle gleich verbindlich, und liebte keine. Auf eine Abweſende konnte man keinen Argwohn werfen; denn was haͤtte ihn bewegen ſollen, den Gegenſtand ſeiner Liebe von ſich entfernt zu halten? Es blieben alſo keine andre als ſolche Vermuthungen uͤbrig, welche unſerm Helden auf die eine oder andre Art nicht ſonderliche Ehre mach - ten; ohne daß ſie den gerechten Verdruß vermindern konnten, den man uͤber ein ſo wenig natuͤrliches und injeder219Zehentes Buch, zweytes Capitel. jeder Betrachtung ſo verhaßtes Phaͤnomen empfinden mußte.
Unſre Leſer, welche nicht vergeſſen haben koͤnnen, was Agathon zu Smyrna war, werden ſo gleich auf einen Gedanken kommen, welcher freylich den Damen zu Sy - racus unmoͤglich einfallen konnte ‒ ‒ nehmlich, daß es ihnen vielleicht an Reizungen gefehlt habe, um einen hinlaͤnglichen Eindruk auf ein Herz zu machen, welches nach einer Danae (welch ein Gemaͤhlde macht dieſes einzige Wort!) nicht leicht etwas wuͤrdig finden konnte, ſeine Neugier rege zu machen. Allein wenn die Nach - richten, denen wir in dieſer Geſchichte folgen, Glauben verdienen, ſo hat eine den mehr bemeldten Damen ſo wenig ſchmeichelnde Vermuthung nicht den geringſten Grund: Syracus hatte Schoͤnen, welche ſo gut als Danae, den Polycleten zu Modellen haͤtten dienen koͤn - nen; und dieſe Schoͤnen hatten alle noch etwas dazu, das die Schoͤnheit gelten macht; einige Wiz, andre Zaͤrtlichkeit; andre wenigſtens ein gutes Theil von die - ſer edeln Unverſchaͤmtheit, welche eine gewiſſe Claſſe von modernen Damen zu caracteriſiren ſcheint, und zu - weilen ſchneller zum Zwek fuͤhrt als die vollkommenſten Reizungen, welche unter dem Schleyer der Beſcheiden - heit verſtekt, ein nachtheiliges Mißtrauen in ſich ſelbſt zu verrathen ſcheinen. Es konnte alſo nicht das ſeyn ‒ ‒ Gut! So wird er ſich etwan des Socratiſchen Geheim - niſſes bedient, und in den verſchwiegenen Liebkoſungen irgend einer gefaͤlligen Cypaſſis das leichteſte Mittel ge -funden220Agathon. funden haben, ſich vor der Welt die Mine eines Xenocra - tes zu geben? ‒ ‒ Das auch nicht! wenigſtens ſagen unſre Nachrichten nichts davon. Ohne alſo den Leſer mit ver - geblichen Muthmaſſungen aufzuhalten, wollen wir ge - ſtehen, daß die Urſache dieſer Kaltſinnigkeit unſers Hel - den, etwas ſo natuͤrliches und einfaͤltiges war, daß, ſo bald wir es entdekt haben werden, Schah Baham ſelbſt ſich einbilden wuͤrde, er habe wo nicht eben das, doch ungefehr ſo etwas erwartet.
Der Kaufmann, mit welchem Agathon nach Sy - racus gekommen war, war einer von denjenigen, wel - chen er ehmals zu Athen das Bildniß ſeiner Pſyche zu dem Ende gegeben hatte, damit ſie mit deſto beſſerm Erfolg aller Orten moͤchte aufgeſucht werden koͤnnen. Gleichwol erinnerte er ſich dieſes Umſtands nicht eher, bis er einsmals bey einem Beſuch, den er ihm machte, dieſes Bildnis von ungefehr in dem Cabinet ſeines Freun - des anſichtig wurde. Dasjenige was Agathon in die - ſem Augenblik empfand, war wenig von dem unter - ſchieden, was er empfunden haͤtte, wenn es Pſyche ſelbſt geweſen waͤre. Die Jdeen ſeiner erſten Liebe wurden dadurch wieder ſo lebhaft, daß er, ſo ſchwach auch ſeine Hofnung war, das Urbild jemals wieder zu ſehen, ſich aufs Neue in dem Entſchluß beſtaͤtigte, ih - rem Andenken getreu zu bleiben. Die Damen von Sy - racus hatten alſo wuͤrklich eine Nebenbuhlerin, ob ſie gleich nicht errathen konnten, daß dieſe zaͤrtlichen Seuf - zer, welche jede unter ihnen ſeinem Herzen abzugewinnenwuͤnſchte,221Zehentes Buch, zweytes Capitel. wuͤnſchte, in mitternaͤchtlichen Stunden vor einer ge - mahlten Gebieterin ausgehaucht wurden.
Unter allen denjenigen, welche ſich durch die Un - empfindlichkeit unſers Helden beleidiget fanden, konnte keine der ſchoͤnen Cleoniſſa in Abſicht aller Vollkommen - heiten, welche Natur und Kunſt in einem Frauenzim - mer vereinigen koͤnnen, den Vorzug ſtreitig machen. Eine vollkommen regelmaͤſſige Schoͤnheit iſt (mit Er - laubnis aller derjenigen, welche dabey intereſſiert ſeyn moͤgen, die Grazien ihrer Koͤnigin vorzuziehen) unter allen Eigenſchaften, die eine Dame haben kan, die - jenige welche den allgemeinſten, geſchwindeſten und ſtaͤrk - ſten Eindruk macht; und fuͤr tugendhafte Perſonen hat ſie noch dieſen Vortheil, daß ſie das Verlangen von der Beſizerin eines ſo ſeltnen Vorzugs geliebt zu ſeyn, in dem nehmlichen Augenblik durch eine Art von mechani - ſcher Ehrfurcht zuruͤkſcheucht, deren ſich der verwegenſte Satyr kaum erwehren kan. Cleoniſſa beſaß dieſe Voll - kommenheit in einem ſo hohen Grade, der den kalt - ſinnigſten Kennern des Schoͤnen nichts daran zu tadeln uͤbrig ließ; es war unmoͤglich ſie ohne Bewunderung anzuſehen. Aber die ungemeine Zuruͤkhaltung, welche ſie affectierte, das Majeſtaͤtiſche, das ſie ihrer Mine, ihren Bliken und allen ihren Bewegungen zu geben wußte, mit dem Ruf einer ſtrengen Tugend, worein ſie ſich dadurch geſezt hatte, verſtaͤrkte die bemeldte natuͤr - liche Wuͤrkung ihrer Schoͤnheit ſo ſehr, daß niemand kuͤhn genug war, ſich in die Gefahr zu wagen, denJxion222Agathon. Jxion dieſer Juno abzugeben. Die Mittelmaͤſſigkeit ihrer Herkunft, und ſowol der Stand als die Vorſicht eines eyferſuͤchtigen Ehmannes, hatten ſie waͤhrend ihrer erſten Jugend in einer ſo groſſen Entfernung von der Welt gehalten, daß ſie eine ganz neue Erſcheinung war, als Philiſtus (der ſie, wir wiſſen nicht wie, aufge - ſpuͤrt, und Mittel gefunden hatte, ſie mit guter Art zur Wittwe zu machen) ſie in Qualitaͤt ſeiner Gemahlin an den Hof der Princeſſinnen brachte; unter welchen Namen die Mutter, die Gemahlin, und die Schweſtern des Dionys begriffen wurden. Nicht viel geneigter als ſein Vorgaͤnger, eine Frau von ſo beſondern Vorzuͤgen mit einem andern, und wenn es Juplter ſelbſt geweſen waͤre, zu theilen, hatte er anfangs alle Behutſamkeit gebraucht, welche der geizige Beſizer eines koſtbaren Schazes nur immer anwenden kan, um ihn vor der ſchlaueſten Nachſtellung zu verwahren. Aber die Tugend der Dame, und die herrſchende Neigung, welche Dionys in den erſten Jahren ſeiner Regierung fuͤr diejenige Claſſe von Schoͤnen zeigte, welche nicht ſo viel Schwierig - keiten machen; vielleicht auch eine gewiſſe Laulichkeit, welche die Eigenthuͤmer dieſer wunderthaͤtigen Schoͤn - heiten gemeiniglich nach Verfluß zweyer oder dreyer Jahre, oft auch viel fruͤher, unvermerkt zu uͤberſchlei - chen pflegt; hatten ſeine Eiferſucht ſo zahm gemacht, daß er in der Folge kein Bedenken trug, ſie den Princeſ - ſinnen ſo oft ſie wollten zur Geſellſchaft zu uͤberlaſſen. Wir wollen nicht unterſuchen, ob Cleoniſſa damals wuͤrk - lich ſo tugendhaft war, als die Sproͤdigkeit ihres Be -tragens223Zehentes Buch, zweytes Capitel. tragens gegen die Manns-Perſonen und die ſtrengen Maximen, wornach ſie andre von ihrem Geſchlecht beurtheilte, zu beweiſen ſchienen. Genug daß die Princeſſinnen, und was noch mehr iſt, ihr Gemahl, vollkommen davon uͤberzeugt waren, und daß ſich noch keiner von den Hoͤflingen unterſtanden hatte, eine ſo ehrwuͤrdige Tugend auf die Probe zu ſezen. Waͤhrend der Zeit, da Plato in ſo groſſem Anſehen bey Diony - ſen ſtuhnd, war Cleoniſſa eine von den eyfrigſten Ver - ehrerinnen dieſes Weiſen, und diejenige, welche den er - habenen Jargon ſeiner Philoſophie am gelaͤuffigſten reden lernte. Es mag nun aus Begierde ſich durch ihren Geiſt eben ſo ſehr als durch ihre Figur uͤber die uͤbri - gen ihres Geſchlechts zu erheben, (eine ziemlich gewoͤhn - liche Schwachheit der eigentlich ſo genannten Schoͤnen,) oder aus irgend einem reinern Beweggrunde geſchehen ſeyn; ſo iſt gewiß, daß ſie alle Gelegenheiten den goͤtt - lichen Plato zu hoͤren mit ſolcher Begierlichkeit ſuchte, eine ſo ausnehmende Hochachtung fuͤr ſeine Perſon, ei - nen ſo unbedingten Glauben an ſeine Begriffe von Schoͤn - heit und Liebe, und alle uͤbrige Theile ſeines Syſtems zeigte, und mit einem Wort, in kurzer Zeit, an Leib und Seele einer Platoniſchen Jdee ſo aͤhnlich ſah: Daß dieſer weiſe Mann, ſtolz auf eine ſolche Schuͤlerin, durch den beſondern Vorzug, den er ihr gab, die all - gemeine Meynung von ihrer Weisheit unendlich er - hoͤhte. Es iſt wahr, es waͤre nur auf ihn angekom - men, bey gewiſſen Gelegenheiten gewiſſe Beobachtungen in ihren ſchoͤnen Augen zu machen, welche ihn ohneeine224Agathon. eine lange Reyhe von Schluͤſſen auf die Vermuthung haͤtten bringen koͤnnen, daß es nicht unmoͤglich ſeyn wuͤrde, dieſe Goͤttin zu humaniſiren. Aber der gute Plato hatte damals ſchon uͤber ſechzig Jahre, und machte keine ſolche Beobachtungen mehr. Cleoniſſa blieb alſo in dem Anſehen eines lebendigen Beweiſes des Platoni - ſchen Lehrſazes, daß die aͤuſſerliche Schoͤnheit ein Wi - derſchein der intellectualiſchen Schoͤnheit des Geiſtes ſey; das Vorurtheil fuͤr ihre Tugend hielt dem Eindruk, welchen ihre Reizungen haͤtten machen koͤnnen, das Gleichgewicht; und ſie hatte das Vergnuͤgen, die voll - kommne Gleichguͤltigkeit, welche Dionys fuͤr ſie behielt, der Weisheit ihres Betragens zu zuſchreiben, und ſich dadurch ein neues Verdienſt bey den Princeſſinnen zu machen.
Aber ‒ ‒ o! wie wol laͤßt ſich jener Soloniſche Aus - ſpruch, daß man niemand vor ſeinem Ende gluͤklich preiſen ſolle, auch auf die Tugend der Heldinnen an - wenden! Cleoniſſa ſah den Agathon, und ‒ ‒ hoͤrte in dieſem Augenblik auf Cleoniſſa zu ſeyn ‒ ‒ Nein, das eben nicht; ob es gleich nach dem Platoniſchen Sprach - gebrauch richtig geſprochen waͤre; aber ſie bewies, daß die Princeſſinnen, und ſie ſelbſt, und ihr Gemahl, und der Hof, und die ganze Welt, den goͤttlichen Plato mit eingeſchloſſen, ſich ſehr geirret hatten, ſie fuͤr etwas anders zu halten als ſie war, und als ſie einem jeden mit Vorurtheilen unbefangenen Beobachter, einem Ari - ſtipp zum Exempel, in der erſten Stunde zu ſeyn ſcheinen mußte.
Sich225Zehentes Buch, zweytes Capitel.Sich uͤber einen ſo natuͤrlichen Zufall zu verwundern, wuͤrde unſerm Beduͤnken nach, eine groſſe Suͤnde gegen das nie genug anzupreiſende Nil admirari ſeyn, in welchem (nach der Meynung erfahrner Kenner der menſchlichen Dinge) das eigentliche groſſe Geheimnis der Weisheit, dasjenige was einen wahren Adepten macht, verborgen liegt. Die ſchoͤne Cleoniſſa war ein Frauenzimmer, und hatte alſo ihren Antheil an den Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geſchlecht eigen gemacht hat, und ohne welche dieſe Haͤlfte der menſch - lichen Gattung weder zu ihrer Beſtimmung in dieſer ſublunariſchen Welt ſo geſchikt, noch in der That, ſo liebenswuͤrdig ſeyn wuͤrde als ſie iſt. Ja wie wenig Verdienſt wuͤrde ſelbſt ihrer Tugend uͤbrig bleiben, wenn ſie nicht durch eben dieſe Schwachheiten auf die Probe geſezt wuͤrde?
Dem ſey nun wie ihm wolle, die Dame fuͤhlte, ſo bald ſie unſern Helden erblikte, etwas, das die Tugend einer gewoͤhnlichen Sterblichen haͤtte beunruhigen koͤn - nen. Aber es giebt Tugenden von einer ſo ſtarken Com - plexion, daß ſie durch nichts beunruhiget werden; und die ihrige war von dieſer Art. Sie uͤberließ ſich den Eindruͤken, welche ohne Zuthun ihres Willens auf ſie gemacht wurden, mit aller Unerſchrokenheit, welche ihr das Bewuſtſeyn ihrer Staͤrke geben konnte. Die Voll - kommenheit des Gegenſtandes rechtfertigte die auſſer - ordentliche Hochachtung, welche ſie fuͤr ihn bezeugte. Groſſe Seelen ſind am geſchikteſten, einander Gerechtig -[Agath. II. Th.] Pkeit226Agathon. keit wiederfahren zu laſſen; und ihre Eigenliebe iſt ſo ſehr dabey intereſſirt, daß ſie die Partheylichkeit fuͤr einander ſehr weit treiben koͤnnen, ohne ſich dadurch be - ſonderer Abſichten verdaͤchtig zu machen. Ein ſo unedler Verdacht konnte ohnehin nicht auf die erhabene Cleoniſſa fallen; indeſſen war doch nichts natuͤrlicher, als die Erwartung, daß ſie in unſerm Helden eben dieſen, wo nicht einen noch hoͤhern Grad der Bewunderung erweken werde, als ſie fuͤr ihn empfand. Dieſe Erwartung verwandelte ſich eben ſo natuͤrlich in ein mit Unmuth vermiſchtes Erſtaunen, da ſie ſich darinn betrogen ſah; und was konnte aus dieſem Erſtaunen anders werden, als eine heftige Begierde, ihrer durch ſeine Gleichguͤl - tigkeit aͤuſſerſt beleidigten Eigenliebe eine vollſtaͤndige Genugthuung zu verſchaffen? Auch wenn ſie ſelbſt gleich - guͤltig geweſen waͤre, haͤtte ſie mit Recht erwarten koͤn - nen, daß ein ſo feiner Kenner ihren Werth zu empfin - den, und eine Cleoniſſa von den kleinern Sternen, wel - chen nur in ihrer Abweſenheit zu glaͤnzen erlaubt war, zu unterſcheiden wiſſen werde. Wie ſehr mußte ſie ſich alſo beleidiget halten, da ſie mit dieſem edeln Enthu - ſiasmus, womit die privilegirte Seelen ſich uͤber die kleinen Bedenklichkeiten gewoͤhnlicher Leute hinwegſezen, ihm entgegengeflogen war, und die Beweiſe ihrer ſympathetiſchen Hochachtung nicht ſo lange zuruͤkzuhal - ten gewuͤrdiget hatte, bis ſie von der ſeinigen uͤberzeugt worden waͤre? Da es nur von ihrer Eigenliebe abhieng, die Groͤſſe des Unrechts nach der Empfindung ihres eignen Werths zu beſtimmen; ſo war die Rache, welcheſie227Zehentes Buch, zweytes Capitel. ſie ſich an unſerm Helden zu nehmen vorſezte, die grau - ſamſte, welche nur immer in das Herz einer beleidig - ten Schoͤnen kommen kan. Sie wollte die ganze ver - einigte Macht aller ihrer intellectualiſchen und koͤrper - lichen Reizungen, verſtaͤrkt durch alle Kunſtgriffe der ſchlaueſten Coketterie (wovon ein ſo allgemeines Genie als das ihrige wenigſtens die Theorie beſizen mußte) da - zu anwenden, ihren Undankbaren zu ihren Fuͤſſen zu legen; und wenn ſie ihn durch die gehoͤrige Abwechſlun - gen von Furcht und Hofnung endlich in den klaͤglichen Zuſtand eines von Liebe und Sehnſucht verzehrten Sela - dons gebracht, und ſich an dem Schauſpiel ſeiner Seuf - zer, Thraͤnen, Klagen, Ausruffungen und aller andern Ausbruͤche der verliebten Thorheit lange genug ergoͤzt haben wuͤrde ‒ ‒ ihn endlich auf einmal die ganze Schwere der kaltſinnigſten Verachtung fuͤhlen laſſen. So wol - ausgeſonnen dieſe Rache war; ſo eyfrig und mit ſo vie - ler Geſchiklichkeit wurden die Anſtalten dazu ins Werk geſezt; und wir muͤſſen geſtehen, daß wenn der Erfolg eines Projects allein von der guten Ausfuͤhrung ab - hienge, die ſchoͤne Cleoniſſa den vollſtaͤndigſten Triumph haͤtte erhalten muͤſſen, der jemals uͤber den Troz eines widerſpenſtigen Herzens erhalten worden waͤre. Ob dieſe Dame, wenn Agathon ſich in ihrem Neze gefan - gen haͤtte, faͤhig geweſen waͤre, die Rache ſo weit zu treiben als ſie ſich ſelbſt verſprochen hatte? ‒ ‒ iſt eine problematiſche Frage, deren Entſcheidung vielleicht ſie ſelbſt, wenn der Fall ſich ereignet haͤtte, in keine kleine Verlegenheit geſezt haben wuͤrde. Aber Agathon ließP 2es228Agathon. es nicht ſo weit kommen. Er legte eine neue Probe ab, daß es nur der Danae gegeben war, die ſchwache Seite von ſeinem Herzen ausfuͤndig zu machen. Cleoniſſa hatte bereits die Haͤlfte ihrer Kuͤnſte erſchoͤpft, ehe er nur gewahr wurde, daß ein Anſchlag gegen ihn im Werke ſey; und von dem Augenblik, da er es gewahr wurde, ſtieg ſein Kaltſinn, nach dem Verhaͤltniß wie ihre Bemuͤhungen ſich verdoppelten, auf einen ſolchen Grad; oder deutlicher zu reden, der Abſaz, den ihre zulezt bis zur Unanſtaͤndigkeit getriebene Nachſtellungen mit der affectirten Erhabenheit ihrer Denkungs-Art, und mit der Majeſtaͤt ihrer Tugend machten, that eine ſo ſchlimme Wuͤrkung bey ihm, daß die ſchoͤne Cleoniſſa ſich genoͤthiget ſah, die Hofnung des Triumphs, wo - mit ſich ihre Eitelkeit geſchmeichelt hatte, gaͤnzlich auf - zugeben. Die Wuth, in welche ſie dadurch geſezt wurde, verwandelte ſich nach und nach in den vollſtaͤndig - ſten Haß, der jemals (mit Shakeſpear zu reden) die Milch einer weiblichen Bruſt in Galle verwandelt hat. Alles was ſie ihrer Tugend in dieſen Umſtaͤnden zu thun gab, war, die Bewegungen dieſer Leidenſchaft ſo geſchikt zu verbergen, daß weder der Hof nach Agathon ſelbſt gewahr wurde, mit welcher Ungeduld ſie ſich nach einer Gelegenheit ſehnte, ihn die Wuͤrkungen davon empfin - den zu laſſen.
Jn dieſer Situation befanden ſich die Sachen, als Dionys, des ruhigen Beſizes der immer gefaͤlligen Bacchi - dion, und ihrer Taͤnze uͤberdruͤſſig, ſich zum erſten maleinfallen229Zehentes Buch, zweytes Capitel. einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleoniſſa ſchoͤn ſey. Er hatte ſie noch nicht lange mit einiger Aufmerkſamkeit beobachtet, ſo daͤuchte ihn, daß er noch nie keine ſo ſchoͤne Creatur geſehen habe; und nun fieng er an ſich zu verwundern, daß er dieſe Beobachtung nicht eher gemacht habe. Endlich erinnerte er ſich, daß die Dame ſich jederzeit durch eine ſehr ſproͤde Tugend und einen erklaͤrten Hang fuͤr die Metaphyſik unterſchie - den hatte; und nun zweifelte er nicht mehr, daß es dieſer Umſtand geweſen ſeyn muͤſſe, was ihn verhindert habe, ihrer Schoͤnheit eher Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen. Eine Art von maſchinaliſcher Ehrfurcht vor der Tugend, die von ſeiner Jndolenz und der furcht - baren Vorſtellung herkam, welche er ſich von den Schwierigkeiten ſie zu beſiegen in den Kopf geſezt hatte, wuͤrde ihn vielleicht auch dieſesmal in den Grenzen einer unthaͤtigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht einer von dieſen kleinen Zufaͤllen, welche ſo oft die Urſachen der groͤſſeſten Begebenheiten werden, ſeine natuͤrliche Traͤgheit auf einmal in die ungeduldigſte Lei - denſchaft verwandelt haͤtte. Da dieſer Zufall jederzeit eine Anecdote geblieben iſt, ſo koͤnnen wir nicht gewiß ſagen, ob es (wie einige Sicilianiſche Geſchichtſchreiber vorgeben) der nehmliche geweſen, wodurch in neuern Zeiten die Schweſter des beruͤhmten Herzogs von Marl - borough den erſten Grund zu dem auſſerordentlichen Gluͤk ihrer Familie gelegt haben ſoll; oder ob er ſie vielleicht von ungefehr in dem Zuſtand uͤberraſcht haben mochte, worinn der Actaͤon der Poeten das Ungluͤk hatte, dieP 3ſchoͤne230Agathon. ſchoͤne Diana zu erbliken. Das iſt indeſſen ausgemacht, daß von dieſer geheimen Begebenheit an, die Leiden - ſchaft und die Abſichten des Dionys einen Schwung nahmen, wodurch ſich die Tugend der allzuſchoͤnen Cleoniſſa in keine geringe Verlegenheit geſezt befand, wie ſie in einer ſo ſchluͤpfrigen Situation dasjenige, was ſie ſich ſelbſt ſchuldig war, mit den Pflichten gegen ihren Prinzen vereinigen wollte. Dionys war ſo drin - gend, ſo unvorſichtig ‒ ‒ und ſie hatte ſo viele Perſonen in Acht zu nehmen ‒ ‒ ſie, die in jedem andern Frauen - zimmer eine Nebenbuhlerin hatte, und bey jedem Schritt von hundert eiferſuͤchtigen Augen belauret wurde, welche nicht ermangelt haben wuͤrden, den kleinſten Fehltritt, den ſie gemacht haͤtte, durch eben ſo viele Zungen der ganzen Welt in die Ohren fluͤſtern zu laſſen. Auf der einen Seite, ein von Liebe brennender Koͤnig zu ihren Fuͤſſen, bereit eine unbegrenzte Gewalt uͤber ihn ſelbſt und uͤber alles was er hatte, um die kleinſte ihrer Gunſt - bezeugungen hinzugeben ‒ ‒ auf der andern, der glaͤn - zende Nuhm einer Tugend, welche noch kein Sterbli - cher fuͤr fehlbar zu halten ſich unterſtanden hatte, das Vertrauen der Princeſſinnen, die Hochachtung ihres Ge - mahls ‒ ‒ Man muß geſtehen, tauſend andre wuͤrden ſich zwiſchen zweyen auf ſo verſchiedene Seiten ziehen - den Kraͤften nicht zu helfen gewußt haben. Aber Cleoniſſa wußte es, ob ſie ſich gleich zum erſten mal in dieſer Schwierigkeit beſand, ſo gut, daß der ganze Plan ih - res Betragens ſie ſchwerlich eine einzige ſchlafloſe Nacht koſtete. Sie ſah beym erſten Blik, wie wichtig dieVortheile231Zehentes Buch, zweytes Capitel. Vortheile waren, welche ſie in dieſen Umſtaͤnden von ihrer Tugend ziehen konnte. Das nehmliche Mittel, wodurch ſie ihren Ruhm ſicher ſtellen, und die Freund - ſchaft der Princeſſinnen erhalten konnte, war unſtreitig auch dasjenige, was den unbeſtaͤndigen Dionys, bey dem vorſichtigen Gebrauch der erforderlichen Aufmun - terungen, auf immer in ihren Feſſeln behalten wuͤrde. Sie ſezte alſo ſeinen Erklaͤrungen, Verheiſſungen, Bit - ten, Drohungen, (zu den feinern Nachſtellungen war er weder zaͤrtlich noch ſchlau genug) eine Tugend ent - gegen, welche ihn durch ihre Hartnaͤkigkeit nothwendig haͤtte ermuͤden muͤſſen, wenn das Mitleiden mit dem Zuſtand, worein ſie ihn zu ſezen gezwungen war, ſie nicht zu gleicher Zeit vermocht haͤtte, ſeine Pein durch alle die kleinen Palliative zu lindern, welche im Grunde fuͤr eine Art von Gunſtbezeugungen angeſehen werden koͤnnen, ohne daß gleichwol die Tugend, bey einem Liebhaber wie Dionys war, dadurch zuviel von ihrer Wuͤrde zu vergeben ſcheint. Die zaͤrtliche Empfindlich - keit ihres Herzens ‒ ‒ die Gewalt welche ſie ſich anthun mußte, einem ſo liebenswuͤrdigen Prinzen zu wiederſte - hen ‒ ‒ die ſtillſchweigenden Geſtaͤndniſſe ihrer Schwach - heit, welche zu eben der Zeit, da ſie ihm den entſchloſ - ſenſten Widerſtand that, ihrem ſchoͤnen Buſen wider ihren Willen entflohen ‒ ‒ ‒ o! tugendhafte Cleoniſſa! Was fuͤr eine gute Actrice wareſt du! ‒ ‒ Was haͤtte Dionys ſeyn muͤſſen, wenn er bey ſolchen Anſcheinungen die Hofnung aufgegeben haͤtte, endlich noch gluͤklich zu werden?
P 4Jnzwiſchen232Agathon.Jnzwiſchen war, ungeachtet aller Behutſamkeit, welche Cleoniſſa, und Dionys ſelbſt gebrauchte, die Leidenſchaft dieſes Prinzen, und die unuͤberwindliche Tugend ſeiner Goͤttin, ein Geheimniß, welches der ganze Hof wußte, wenn man ſchon nicht dergleichen that, als ob man Augen oder Ohren haͤtte. Cleoniſſa hatte die Vorſicht gebraucht, die Schweſtern des Prin - zen, von dem Augenblike, da ſie an ſeiner Leidenſchaft nicht mehr zweifeln konnte, zu ihren Vertrauten zu machen; dieſe hatten wieder im Vertrauen alles ſeiner Gemalin entdekt, und die Gemalin ſeiner Mutter. Die Princeſſinnen, welche ſeine bisherigen Ausſchweiffungen immer vergebens beſeufzet, und beſonders gegen die arme Bacchidion einen Widerwillen gefaßt hatten, wo - von ſich kein andrer Grund, als die launiſche Denkungs - Art dieſer Damen angeben laͤßt, waren erfreut, daß ſeine Neigung endlich einmal auf einen tugendhaften Gegenſtand gefallen war. Die ausnehmende Klugheit der ſchoͤnen Cleoniſſa machte ihnen Hofnung, daß es ihr gelingen wuͤrde, ihn unvermerkt auf den rechten Weg zu bringen. Cleoniſſa erſtattete ihnen jedes mal getreuen Bericht von allem was zwiſchen ihr und ihrem Liebhaber vorgegangen war ‒ ‒ oder doch von allem, was die Princeſſinnen davon zu wiſſen noͤthig hatten; alle Maß - regeln, wie ſie ſich gegen ihn betragen ſollte, wurden in dem Cabinet der Koͤnigin abgeredet; und dieſe gute Dame, welche das Ungluͤk hatte, die Kaltſinnigkeit ihres Gemahls gegen ſie lebhafter zu empfinden, als es fuͤr ihre Ruhe gut war, gab ſich alle moͤgliche Bewegun - gen, die Bemuͤhungen zu befoͤrdern, welche von dertugend -233Zehentes Buch, zweytes Capitel. tugendhaften Cleoniſſa angewandt wurden, den Prinzen in die Schranken der Gebuͤhr zuruͤkzubringen. Alles dieſes machte eine Art von Jntrigue aus, bey welcher, ungeachtet der anſcheinenden Ruhe, der ganze Hof in innerlicher Bewegung war. Der einzige Philiſtus, der - jenige der am meiſten Urſache hatte, aufmerkſam zu ſeyn, wußte nichts von allem was jedermann wußte; oder bewies doch wenigſtens in ſeinem ganzen Betragen eine ſo ſeltſame Sicherheit, daß wir, wenn uns das auſ - ſerordentliche Vertrauen nicht bekannt waͤre, welches er in die Tugend ſeiner Gemalin zu ſezen Urſache hatte, faſt nothwendig auf den Argwohn gerathen muͤßten, als ob er gewiſſe Abſichten bey dieſer Auffuͤhrung gehabt haben koͤnnte, welche ſeinem Character keine ſonder - liche Ehre machen wuͤrden.
Alles gieng wie es gehen ſollte; Dionys ſezte die Be - lagerung mit der aͤuſſerſten Hartnaͤkigkeit und mit Hof - nungen fort, welche der tapfre Widerſtand der weiſen Cleoniſſa ziemlich zweydeutig machte ‒ ‒ die Liebe ſchien noch wenig uͤber ihre Tugend erhalten zu haben, ob - gleich dieſe allmaͤhlich anfieng, von ihrer Majeſtaͤt nach - zulaſſen, und zu erkennen zu geben, daß ſie nicht ganz ungeneigt waͤre, unter hinlaͤnglicher Sicherheit ſich in ein geheimes Verſtaͤndniß, in ſo fern es eine bloſſe Liebe der Seele zur Abſicht haͤtte, einzulaſſen ‒ ‒ Die Princeſ - ſinnen ſahen mit dem vollkommenſten Vertrauen auf die keuſchen Reizungen ihrer Freundin, der Entwiklung des Stuͤks entgegen ‒ ‒ und Philiſtus war von einer Gefaͤl - ligkeit, von einer Jndolenz, wie man niemals geſehenP 5hat:234Agathon. hat: Als Agathon, zum Ungluͤk fuͤr ihn und fuͤr Sici - lien, durch einen Eifer, der an einem Staats-Mann von ſo vieler Einſicht kaum zu entſchuldigen war, ſich verleiten ließ, den gluͤklichen Fortgang der verſchiedenen Abſichten, welchen Dionys ‒ ‒ Cleoniſſa ‒ ‒ die Princeſ - ſinnen ‒ ‒ und vielleicht auch Philiſtus ‒ ‒ ſchon ſo nahe zu ſeyn glaubten, durch ſeine unzeitige Dazwiſchenkunft zu unterbrechen.
Die Vertraulichkeit, worin Dionys mit ſeinen Guͤnſt - lingen zu leben pflegte, und das natuͤrliche Beduͤrfnis eines Verliebten, jemand zu haben, dem er ſein Leiden oder ſeine Gluͤkſeligkeit entdeken kan ‒ ‒ hatten ihm nicht erlaubt, dem Agathon aus ſeiner neuen Liebe ein Ge - heimniß zu machen; und dieſer trieb die Gefaͤlligkeit an - faͤnglich ſo weit, ſich von dem ſchwazhafteſten Liebha - ber, der jemals geweſen war, mit den Angelegenheiten ſeines Herzens ganze Stunden durch langeweile machen zu laſſen, in denen es dem guten Prinzen kein einziges mal einfiel, daß dieſe Angelegenheiten einem dritten un - moͤglich ſo wichtig vorkommen koͤnnten, als ſie ihm ſelbſt waren. Ohne ſeine Wahl geradezu zu mißbilligen (wo - von er eine ſchlechte Wuͤrkung haͤtte hoffen koͤnnen) be - gnuͤgte er ſich anfangs, ihm die Schwierigkeiten, welche er bey einer Dame von ſo ſtrenger und ſyſtematiſcherTugend235Zehentes Buch, drittes Capitel. Tugend finden wuͤrde, ſo fuͤrchterlich abzumahlen, daß er ihn von einer Unternehmung, welche ſich dem An - ſehen nach, wenigſtens in eine entſezliche Laͤnge hinaus - ziehen wuͤrde, abzuſchreken hofte. Wie er aber ſah, daß Dionys anſtatt durch den Widerſtand, uͤber den er ſich beklagte, ermuͤdet zu werden, von Tag zu Tag mehr Hofnung ſchoͤpfte, dieſe beſchwerliche Tugend durch hartnaͤkig wiederholte Anfaͤlle endlich ſelbſt abzu - matten: So glaubte er der ſchoͤnen Cleoniſſa nicht zu viel zu thun, wenn er ſie im Verdacht eines gekuͤnſtel - ten Betragens haͤtte, welches die Leidenſchaft des Prin - zen zu eben der Zeit aufmunterte, da ſie ihm alle Hof - nung zu verbieten ſchien. Je ſchaͤrfer er ſie beobachtete, je mehr Umſtaͤnde entdekte er, welche ihn in dieſem Argwohn beſtaͤrkten; und da ſeine natuͤrliche Antipathie gegen die majeſtaͤtiſchen Tugenden das ihrige mit bey - trug, ſo hielt er ſich nun vollkommen uͤberzeugt, daß die weiſe und tugendhafte Cleoniſſa weder mehr noch weniger als eine Betruͤgerin ſey, welche durch einen er - dichteten Widerſtand zu gleicher Zeit ſich in dem Ruf der Unuͤberwindlichkeit zu erhalten, und den leichtglaubi - gen Dionys deſto feſter in ihrem Garn zu verſtriken im Sinne habe. Nunmehr fieng er an die Sache fuͤr ernſt - haft anzuſehen, und ſich ſo wol durch die Pflichten der Freundſchaft fuͤr einen Prinzen, fuͤr den er bey allen ſeinen Schwachheiten eine Art von Zuneigung fuͤhlte, als aus Sorge fuͤr den Staat, verbunden zu halten, einem Verſtaͤndniß, welches fuͤr beyde ſehr ſchlimme Folgen haben koͤnnte, ſich mit Nachdruk zu widerſezen. Bacchidion, welche, ohne eine ſo regelmaͤſſige Schoͤnheitzu236Agathon. zu ſeyn, in ſeinen Augen unendlichmal liebenswuͤrdi - ger war als Cleoniſſa, ſchien ihm ihres Herzens ‒ ‒ oder richtiger zu reden, ihrer gluͤklichen Organiſation we - gen ‒ ‒ ungeachtet des gemeinen und gerechten Vorurtheils gegen ihren Stand, in Vergleichung mit dieſer tugend - haften Dame eine ſehr ſchaͤzbare Perſon zu ſeyn: Und da ſie in der Unruhe, worein ſie die immer zunehmende Kaltſinnigkeit des Prinzen zu ſezen anfieng, ihre Zu - flucht zu ihm nahm, ſo machte er ſich deſto weniger Be - denken, ſich ihrer mit etwas mehr Eifer als die Wuͤrde ſeines Characters vielleicht geſtatten mochte, anzunehmen. Dionys liebte ſie nicht mehr; aber er maßte ſich noch immer Rechte uͤber ſie an, welche nur die Liebe geben ſollte. Die ſchoͤne Bacchidion wurde nur zu deutlich ge - wahr, daß ſie nur die Stelle ihrer Nebenbulerin in ſeinen Armen vertreten ſollte; und ob ſie gleich nur eine Taͤnzerin war, ſo daͤuchte ſie ſich doch zu gut, Flammen zu loͤſchen, welche eine andere angezuͤndet hatte. Dionys ſchien bey der anhaltenden Strenge ſei - ner neuen Gebieterin, einer ſolchen Gefaͤlligkeit mehr als jemals benoͤthiget zu ſeyn; und eben darum gab ihr Agathon den Rath, an ihrem Theil auch die Grau - ſame zu machen, und zu verſuchen, ob ſie durch ein ſproͤdes und laͤuniſches Betragen, mit einer gehoͤrigen Doſi von Coketterie vermiſcht, nicht mehr als durch zaͤrtliche Klagen und verdoppelte Gefaͤlligkeit gewinnen wuͤrde. Dieſer Rath hatte einen ſo guten Erfolg, daß Agathon, der ſich des Sieges zu fruͤh verſichert hielt, izo den gelegenen Augenblik gefunden zu haben glaubte, dem Dionys offenherzig zu geſtehen, wie wenig Achtung er fuͤr die angebliche Tugend der Dame Cleoniſſa trage. Die237Zehentes Buch, drittes Capitel. Die Folgen der geheimen Unterredung, welche ſie mit einander uͤber dieſe Materie hatten, entſprachen der Er - wartung unſers Helden nicht. Alles Nachtheilige, was Agathon dem Prinzen von ſeiner neuen Goͤttin ſagen konnte, bewies hoͤchſtens, daß ſie nicht ſo viel Hoch - achtung verdiene als er geglaubt hatte; aber es ver - minderte ſeine Begierden nicht; deſto beſſer fuͤr ſeine Ab - ſichten, wenn ſie nicht ſo tugendhaft war. Dieſen edlen Gedanken ließ er zwar den Agathon nicht ſehen; aber Cleoniſſa wurde ihn deſto deutlicher gewahr. Dionys hatte nicht ſo bald erfahren, daß die Tugend der Dame nur ein Popanz ſey, ſo eilte er was er konnte, Ge - brauch von dieſer Entdekung zu machen, und ſezte ſie durch ein Betragen in Erſtaunen, welches mit ſeinem vorigen, und noch mehr mit der Majeſtaͤt ihres Cha - racters, einen hoͤchſt beleidigenden Contraſt machte. Er war zwar Diſcret genug, ihr nicht geradezu zu ſagen, was fuͤr Begriffe man ihm von ihr beygebracht habe; aber ſein Bezeugen ſagte es ſo deutlich, daß ſie nicht zweiffeln konnte, es muͤßte ihr jemand ſchlimme Dienſte bey ihm geleiſtet haben. Dieſer Umſtand ſezte ſie in der That in keine geringe Verlegenheit, wie ſie dasjenige was ſie ihrer beleidigten Wuͤrde ſchuldig war, mit der Beſorgnis, einen Liebhaber von ſolcher Wichtigkeit durch allzuweit getriebene Strenge gaͤnzlich abzuſchreken, zu - ſammenſtimmen wollte. Allein ein Geiſt wie der ihrige weiß ſich aus den ſchwierigſten Situationen herauszu - wikeln; und Dionys gieng uͤberzeugter als jemals von ihr, daß ſie die Tugend ſelbſt, und allein durch die Staͤrke der Sympathie, wodurch ihre zum erſten malgeruͤhrte238Agathon. geruͤhrte Seele gegen die ſeinige gezogen werde, faͤhig werden koͤnnte, die Hofnungen dereinſt zu erfuͤllen, welche ſie ihm weder erlaubte noch gaͤnzlich verwehrte. Von dieſer Zeit an nahm ſeine Leidenſchaft und das Anſehen dieſer Dame von Tag zu Tag zu; die ſchoͤne Bacchidion wurde foͤrmlich abgedankt; und Agathon wuͤrde in den Augen ſeines Herren geleſen haben, wenn er es nicht aus ſeinem eignen Munde vernommen haͤtte, daß er gute Hofnung habe, in wenigen Tagen den lez - ten Seufzer der ſterbenden Tugend von den Lippen der zaͤrtlichen, und nur noch ſchwach widerſtehenden Cleo - niſſa aufzufaſſen. Jzo glaubte er, daß es die hoͤchſte Zeit ſey einen Schritt zu thun, der nur durch die aͤuſ - ſerſte Nothwendigkeit gerechtfertiget werden konnte, aber ſeiner Meynung nach, das unfehlbarſte Mittel war, dieſer gefaͤhrlichen Jntrigue noch in Zeiten ein Ende zu machen. Er ließ alſo den Philiſtus zu ſich ruffen, und entdekte ihm mit der ganzen Vertraulichkeit eines ehr - lichen Mannes, der mit einem ehrlichen Manne zu re - den glaubt, die nahe Gefahr, worinn ſeine Ehre und die Tugend ſeiner Gemalin ſchwebe. Freylich entdekte er dem edeln Philiſtus nichts, als was dieſer in der That ſchon lange wußte; aber Philiſtus machte nichts deſto weniger den Erſtaunten; indeſſen dankte er ihm mit der lebhafteſten Empfindung fuͤr ein ſo unzweifelhaftes Merk - mals ſeiner Freundſchaft, und verſicherte, daß er auf ein ſchikliches Mittel bedacht ſeyn wollte, ſeine Gema - lin, von welcher er uͤbrigens die beſte Meynung von der Welt habe, gegen alle Nachſtellungen der Liebes - goͤtter ſicher zu ſtellen.
Man239Zehentes Buch, drittes Capitel.Man hat wol ſehr recht, uns die Lehre bey allen Ge - legenheiten einzuſchaͤrfen, daß man ſich die Leute nach ihrer Weiſe verbindlich machen muͤſſe, und nicht nach der unſrigen. Agathon glaubte ſich kein geringes Ver - dienſt um den Philiſtus gemacht zu haben, und wuͤrde nicht wenig uͤber die Apoſtrophen erſtaunt geweſen ſeyn, welche dieſer wuͤrdige Miniſter an ihn machte, ſo bald er ſich wieder allein ſah. Jn der That mußte es dieſen nothwendig ungehalten machen, ſich durch eine ſo un - zeitige Vorſorge fuͤr ſeine Ehre auf einmal aller Vor - theile ſeiner bisherigen diſcreten Unachtſamkeit verluſti - get zu ſehen. Jndeſſen konnte er nun, ohne ſich in Agathons Augen zum Verraͤther ſeiner eigenen Ehre zu machen, nicht anders; er mußte den Eiferſuͤchtigen ſpie - len. Die Comoͤdie bekam dadurch auf ctliche Tage ei - nen ſehr tragiſchen Schwung ‒ ‒ Wie viel Muͤhe haͤtten ſich die Haupt-Perſonen dieſer Farce erſparen koͤnnen, wenn ſie die Maske haͤtten abnehmen, und ſich einan - der in puris naturalibus zeigen wollen? Aber dieſe Leute aus der groſſen Welt ſind ſo puͤnctliche Beobach - ter des Wolſtands! ‒ ‒ und ſind darum zu beloben; denn es beweiſet doch immer, daß ſie ſich ihrer wahren Ge - ſtalt ſchaͤmen, und die Verbindlichkeit etwas beſſers zu ſeyn als ſie ſind, ſtillſchweigend anerkennen ‒ ‒ Cleoniſſa rechtfertigte ſich alſo gegen ihren Gemahl, indem ſie ſich auf die Princeſſinnen, als unverwerfliche Zeugen der untadelhaften Unſchuld ihres Betragens berief. Nie - mals iſt ein erhabneres und pathetiſcheres Stuͤk von Be - redſamkeit gehoͤrt worden, als die Rede war, wodurchſie240Agathon. ſie ihm die Unbilligkeit ſeines Verdachts vorhielt; und der gute Mann wußte ſich endlich nicht anders zu hel - fen, als daß er den Freund nannte, von dem er, wie - wol aus guter Abſicht, in dieſen kleinen Anſtoß einer, wie er nun vollkommen erkannte, hoͤchſt unnoͤthigen und ſtraͤflichen Eiferſucht geſezt worden ſey. Die Wuth einer ſtuͤrmiſchen See ‒ ‒ einer zur Rache gereizten Horniſſe ‒ ‒ oder einer Loͤwin, der ihre Jungen geraubt worden, ſind nur ſchwache Bilder in Vergleichung mit der Wuth, in welche Cleoniſſens tugendhafter Buſen bey Nennung des Namens Agathon aufloderte. Wuͤrk - lich war nichts mit ihr zu vergleichen, als die Wolluſt, womit der Gedanke ſie berauſchte, daß ſie es nun end - lich in ihrer Gewalt habe, die lange gewuͤnſchte Rache an dieſem undankbaren Veraͤchter ihrer Reizungen zu nehmen. Sie mißhandelte den Dionys, (den ſie fuͤr die unertraͤgliche Beleidigung, welche ſie von ihrem Ge - mahl erduldet hatte, zur Rechenſchaft zog) ſo lange und ſo grauſam, bis er ihr, wiewol ungern, (denn er wollte ſeinen Guͤnſtling nicht aufopfern) entdekte, wie wenig ſie dem Agathon fuͤr ſeine Meynung von ihr verbunden ſey. Nunmehr klaͤrte ſich, wie ſie ſagte, das ganze Geheimniß auf; und in der That mußte ſie ſich nur uͤber ihre eigene Einfalt verwundern, da ſie ſich eines beſſern zu einem Manne verſehen hatte, von deſſen Rache ſie natuͤrlicher Weiſe das Schlimmſte haͤtte erwarten ſollen ‒ ‒ Wenn Dionys bey dieſen Worten ſtuzte, ſo kan man ſich einbilden, was er fuͤr eine Mine machte, da ſie ihm, vermittelſt einer Confidenz,wozu241Zehentes Buch, drittes Capitel. wozu ſie durch ihre eigene Rechtfertigung gezwungen war, umſtaͤndlich entdekte, daß der Haß Agathons gegen ſie allein daher entſprungen ſey, weil ſie nicht fuͤr gut befunden habe, ſeine Liebe genehm zu halten. Dieſes war nun freylich nicht nach der Schaͤrfe wahr. Aber da ſie nun einmal dahin gebracht war, ſich ſelbſt ver - theidigen zu muͤſſen; ſo war natuͤrlich, daß ſie es lie - ber auf Unkoſten einer Perſon, die ihr verhaßt war, als auf ihre eigene that. So viel iſt gewiß, daß ſie ihre Abſicht dadurch mehr als zu gut erreichte. Dionys gerieth in einen ſo heftigen Anfall von Eiferſucht uͤber ſeinen unwuͤrdigen Liebling ‒ ‒ dieſer Mann, der dtr Liebe eines Dionys unwuͤrdig war, war Agathon! ‒ ‒ daß Cleoniſſa, (welche beſorgte, daß ein ploͤzlicher Aus - bruch zu mißbeliebigen Erlaͤuterungen Anlaß geben koͤnnte) alle ihre Gewalt uͤber ihn anwenden mußte, ihn zuruͤkzuhalten. Sie bewies ihm die Nothwendig - keit, einen Mann, der zu allem Ungluͤk der Abgott der Nation waͤre, vorſichtig zu behandeln. Dionys fuͤhlte die Staͤrke dieſes Beweiſes, und haſſete den Agathon nur um ſo viel herzlicher. Die Princeſſinnen miſchten ſich auch in die Sache, und legten unſerm Helden ſehr uͤbel aus, daß er, anſtatt den Prinzen von Ausſchweif - fungen abzuhalten, eine Creatur wie Bacchidion mit ſo vielem Eifer in ſeinen Schuz genommen hatte. Man ſcheuete ſich nicht, dieſem Eifer ſo gar einen geheimen Beweggrund zu leyhen; und Philiſtus brachte unter der Hand verſchiedene Zeugen auf, welche in dem Cabinet des Prinzen verſchiedene Umſtaͤnde auſſagten, die ein[Agath. II. Th.] Qzwey -242Agathon. zweydeutiges Licht auf die Enthaltſamkeit unſers Helden und die Treue der ſchoͤnen Bacchidion zu werfen ſchienen. Dieſer Miniſter fand vermuthlich die Abſichten ſeines Herrn auf ſeine tugendhafte Gemahlin ſo rein und un - ſchuldig, daß es anſtoͤſſig, und laͤcherlich geweſen waͤre, uͤber die Freundſchaft, womit er ſie beehrte, eiferſuͤch, tig zu ſeyn. Ein taͤglicher Zuwachs der koͤniglichen Gunſt rechtfertigte und belohnte eine ſo edelmuͤthige Ge - faͤlligkeit. Timocrat fand bey dieſen Umſtaͤnden Gelegen - heit, ſich gleichfalls wieder in das alte Vertrauen zu ſezen; und beyde vereinigten ſich nunmehr mit der triumphiren - den Cleoniſſa, den Fall unſers Helden deſto eifriger zu beſchleunigen, je mehr ſie ihn mit Verſicherungen ihrer Freundſchaft uͤberhaͤuften.
Wir haben in dieſem und dem vorigen Capitel ein ſo merkwuͤrdiges Beyſpiel geſehen, (und wollte Gott! dieſe Beyſpiele kaͤmen uns nicht ſo oft im Leben ſelbſt vor) wie leicht es iſt, einem laſterhaften Character, einer ſchwarzen, haſſenswuͤrdigen Seele, den Anſtrich der Tugend zu geben. Agathon erfuhr nunmehr, daß es eben ſo leicht iſt, die reineſte Tugend mit verhaßten Farben zu uͤberſudeln. Er hatte dieſes zu Athen ſchon erfahren; aber bey der Vergleichung die er zwiſchen jenem Fall und ſeinem izigen anſtellte, ſchienen ihm ſeine Athenienſiſche Feinde, im Gegenſaz mit den veraͤchtli - chen Creaturen, denen er ſich nun auf ein mal aufge - opfert ſah, ſo weiß zu werden, als ſie ihm ehmals, da er noch keine ſchlimmere Leute kannte, ſchwarz vorge -kommen243Zehentes Buch, drittes Capitel. kommen waren. Vermuthlich verfaͤlſchte die Lebhaftig - keit des gegenwaͤrtigen Gefuͤhls ſein Urtheil uͤber dieſen Punct ein wenig; denn in der That ſcheint der ganze Unterſchied zwiſchen der republicaniſchen und hoͤfiſchen Falſchheit darinn zu beſtehen, daß man in Republiken genoͤthiget iſt, die ganze aͤuſſerliche Form tugendhafter Sitten anzunehmen; da man hingegen an Hoͤfen genug gethan hat, wenn man den Laſtern, welche des Fuͤrſten Beyſpiel adelt, oder wodurch ſeine Abſichten befoͤrdert werden, tugendhafte Namen giebt. Allein im Grunde iſt es nicht ekelhafter, einen huͤpfenden, ſchmeichelnden, unterthaͤnigen, vergoldeten Schurken zu eben der Zeit, da er ſich vollkommen wol bewußt iſt, nie keine Ehre gehabt zu haben, oder in dieſem Augenblik im Begrif iſt, wofern er eine haͤtte, ſie zu verliehren ‒ ‒ von den Pflichten gegen ſeine Ehre reden zu hoͤren; als einen geſezten, ſchwerfaͤlligen, gravitaͤtiſchen Schurken zu ſe - hen, der unter dem Schuz ſeiner Nuͤchternheit, Ein - gezogenheit und puͤnctlichen Beobachtung aller aͤuſſerlichen Formalitaͤten der Religion und der Geſeze, ein unver - ſoͤhnlicher Feind aller derjenigen iſt, welche anders den - ken als er, oder nicht zu allen ſeinen Abſichten helfen wollen; und ſich nicht das mindeſte Bedenken macht, ſo bald es ſeine Convenienz erfordert, eine gute Sache zu unterdruͤken, oder eine boͤſe mit ſeinem ganzen An - ſehen zu unterſtuͤzen. Unpartheyiſch betrachtet, iſt dieſer noch der ſchlimmere Mann; denn er iſt ein eigentlicher Heuchler: Da jener nur ein Comoͤdiant iſt, der nicht verlangt, daß man ihn wuͤrklich fuͤr das halten ſolle,Q 2wofuͤr244Agathon. wofuͤr er ſich ausgiebt; vollkommen zufrieden, wenn die Mitſpielenden und Zuſchauer nur dergleichen thun, ohne daß es ihm einfaͤllt ſich zu bekuͤmmern, ob es ihr Ernſt ſey, oder nicht.
Agathon hatte nunmehr gute Muſſe, dergleichen Be - trachtungen anzuſtellen; denn ſein Anſehen und Einfluß nahm zuſehends ab. Aeuſſerlich zwar ſchien alles noch zu ſeyn, wie es geweſen war. Dionys und der ganze Hof liebkoſeten ihm ſo ſehr als jemals, und die Dame Cleoniſſa ſelbſt ſchien es ihrer unwuͤrdig zu halten, ihm einige Empfindlichkeit zu erkennen zu geben. Aber deſto mehr Mißvergnuͤgen wurde ihm durch geheime, ſchlei - chende, und indirecte Wege gemacht. Er mußte zu - ſehen, wie nach und nach, unter tauſend falſchen und nichtswuͤrdigen Vorwaͤnden, ſeine beſten Anordnungen als ſchlecht ausgeſonnen, uͤberfluͤſſig, oder ſchaͤdlich, wieder aufgehoben, oder durch andere unnuͤze gemacht ‒ ‒ wie die wenigen von ſeinen Creaturen, welche in der That Verdienſte hatten, entfernt ‒ ‒ wie alle ſeine Ab - ſichten mißdeutet, alle ſeine Handlungen aus einem willkuͤhrlich falſchen Geſichts-Punct beurtheilt, und alle ſeine Vorzuͤge oder Verdienſte laͤcherlich gemacht wurden. Zu eben der Zeit, da man ſeine Talente und Tugenden erhob, behandelte man ihn eben ſo, als ob er nicht das geringſte von den einen noch von den andern haͤtte. Man behielt zwar noch, aus politiſchen Abſichten (wie man es zu nennen pflegt) den Schein bey, als ob man nach den nehmlichen Grundſaͤzen handle, denen er inſeiner245Zehentes Buch, drittes Capitel. ſeiner Staats-Verwaltung gefolget war: Jn der That aber geſchah in jedem vorkommenden Falle gerade das Widerſpiel von dem, was er gethan haben wuͤrde; und kurz, das Laſter herrſchte wieder mit ſo deſpotiſcher Ge - walt als jemals.
Hier waͤre es Zeit geweſen, die Clauſul gelten zu machen, welche er ſeinem Vertrag mit dem Dionys angehaͤngt hatte, und ſich zuruͤkzuziehen, da er nicht mehr zweiffeln konnte, daß er am Hofe dieſes Prinzen zu nichts mehr nuͤze war. Und dieſes war auch der Rath, den ihm der einzige von ſeinen Hoffreunden, der ihm getreu blieb, der Philoſoph Ariſtippus gab. Du haͤtteſt, ſagte er ihm in einer vertraulichen Unter - redung uͤber den gegenwaͤrtigen Lauf der Sachen, du haͤtteſt dich entweder niemals mit einem Dionyſius ein - laſſen, oder an dem Plaz, den du einmal angenom - men hatteſt, deine moraliſche Begriffe ‒ ‒ oder doch wenigſtens deine Handlungen nach den Umſtaͤnden be - ſtimmen ſollen. Auf dieſem Theater der Verſtellung, der Betruͤgerey, der Jntriguen, der Schmeicheley und Verraͤtherey, wo Tugenden und Pflichten bloſſe Rechen - Pfenninge, und alle Geſichter Masken ſind; kurz, an einem Hofe, gilt keine andre Regel als die Convenienz, keine andre Politik, als einen jedem Umſtand mit unſern eignen Abſichten ſo gut vereinigen als man kan. Jm uͤbrigen iſt es vielleicht eine Frage, ob du ſo wol ge - than haſt, dich um einer an ſich wenig bedeutenden Ur - ſache willen mit Dionyſen abzuwerfen. Jch geſtehe es,Q 3in446[246]Agathon. in den Augen eines Philoſophen iſt die Taͤnzerin Bacchi - dion viel ſchaͤzbarer, als dieſe majeſtaͤtiſche Cleoniſſa, welche mit aller ihrer Metaphyſik und Tugend weder mehr noch weniger als eine falſche, herrſchſuͤchtige und boßhafte Creatur iſt. Bacchidion hat dem Staat keinen Schaden gethan, und Cleoniſſa wird unendlich viel Boͤ - ſes thun ‒ ‒ Aus dieſer Betrachtung (unterbrach ihn Agathon) habe ich mich fuͤr jene und gegen dieſe er - klaͤrt ‒ ‒ Und doch war es leicht vorherzuſehen, daß Cleoniſſa ſiegen wuͤrde, ſagte Ariſtipp ‒ ‒ Aber ein recht - ſchaffener Mann, Ariſtipp, erklaͤrt ſich nicht fuͤr die Parthey, welche ſiegen wird, ſondern fuͤr die, welche Recht, oder doch am wenigſten Unrecht hat ‒ ‒ Mein lieber Agathon, ein rechtſchaffener Mann muß, ſo bald er an einem Hofe leben will, ſich eines guten Theils von ſeiner Rechtſchaffenheit abthun, um ihn ſeiner Klug - heit zu zulegen. Jſt es nicht Schade, daß ſo viel Gutes, das du ſchon gethan haſt, ſo viel Gutes, das du noch gethan haben wuͤrdeſt, bloß darum verlohren ſeyn ſoll, weil du eine ſchoͤne Dame nicht verſtehen wollteſt, da ſie dir’s ſo deutlich, daß es der ganze Hof (einen einzigen ausgenommen) verſtehen konnte, zu erkennen gab, daß ſie ſchlechterdings ‒ ‒ geliebt ſeyn wollte. Doch dieſer Fehler haͤtte ſich vielleicht wieder gut machen laſſen, wenn du nur gefaͤllig genug geweſen waͤreſt, ihre Abſichten auf Dionyſen zu befoͤrdern. Wollteſt du auch dieſes nicht, war es denn noͤthig ihr entgegen zu ſeyn? Was fuͤr Schaden wuͤrde daraus er - folgt ſeyn, wenn du neutral geblieben waͤreſt? Diekleine247Zehentes Buch, drittes Capitel. kleine Bacchidion wuͤrde nicht mehr getanzt haben, und Cleoniſſa haͤtte die Ehre gehabt, ihren Plaz einzu - nehmen, bis er ihrer eben ſo wol uͤberdruͤſſig gewor - den waͤre als ſo vieler andrer. Das waͤre alles gewe - ſen. Und geſezt, du haͤtteſt auch die Gewalt uͤber ihn mit ihr theilen muͤſſen; ſo wuͤrdeſt du ihr wenigſtens das Gleichgewicht gehalten, und noch immer Anſehen genug behalten haben, viel Gutes zu thun. Dem Schein nach in gutem Vernehmen mit ihr, wuͤrde dir dein Plaz, und die Vertraulichkeit mit dem Prinzen tau - ſend Gelegenheiten gegeben haben, ſie, ſo bald ihre Gunſt - bezeugungen aufgehoͤrt haͤtten, etwas neues fuͤr ihn zu ſeyn, unvermerkt und mit der beſten Art von der Welt wieder auf die Seite zu ſchaffen ‒ ‒ Aber ich kenne dich zu gut, Agathon; du biſt nicht dazu gemacht dich zu Verſtellung, Raͤnken und Hofkuͤnſten herabzulaſſen; dein Herz iſt zu edel, und wenn ich es ſagen darf, deine Einbildungs-Kraft zu warm, um dich jemals zu der Art von Klugheit zu gewoͤhnen, ohne welche es unmoͤg - lich iſt, ſich lange in der Gunſt der Groſſen zu erhalteu. Auch kenne ich den Hof nicht, welcher werth waͤre, einen Agathon an ſeiner Spize zu haben. Das alles haͤtte ich dir ungefehr vorher ſagen koͤnnen, als ich dich uͤberreden half, dich mit Dionyſen einzulaſſen; aber es war beſſer durch deine eigne Erfahrung davon uͤberzeugt zu werden. Ziehe dich izt zuruͤk, ehe das Ungewit - ter, das ich aufſteigen ſehe, uͤber dich ausbrechen kan. Dionys verdient keinen Freund wie du biſt. Wie ſehr haͤtteſt du dich betrogen, wenn du jemals geglaubt haͤt -Q 4teſt,248Agathon. teſt, daß er dich hochachte! Woher ſollte denen von ſeiner Art die Faͤhigkeit dazu kommen? Selbſt damals, da er am ſtaͤrkſten fuͤr dich eingenommen war, liebte er dich aus keinem andern Grunde, als warum er ſeinen Affen und ſeine Papagayen liebt ‒ ‒ weil du ihm Kurzweil machteſt. Seine Gunſt haͤtte eben ſo leicht auf einen andern Neuangekommenen fallen koͤnnen, der die Cither noch beſſer geſpielt haͤtte als du. Nein, Aga - thon, du biſt nicht gemacht, mit ſolchen Leuten zu leben ziehe dich zuruͤk; du haſt genug fuͤr deine Ehre gethan. Die Thorheit der neuen Staats-Verwaltung wird die Weisheit der deinigen am beſten rechtfertigen. Deine Handlungen, deine Tugenden, und ein ganzes Volk, welches deine Zeiten zuruͤkwuͤnſchen, und dein Anden - ken ſegnen wird, werden dich am beſten gegen die Ver - laͤumdungen und den albernen Tadel eines kleinen Hofes voll Thoren und ſchelmiſcher Sclaven vertheidigen, deren Haß dir mehr Ehre macht als ihr Beyfall. Du befin - deſt dich in Umſtaͤnden, in einem unabhaͤngigen Privat - ſtande mit Wuͤrde leben zu koͤnnen. Deine Freunde zu Tarent werden dich mit ofnen Armen empfangen. Jch wiederhohle es, Agathon, verlaß einen Fuͤrſten, der ſeiner Sclaven, und Sclaven die eines ſolchen Fuͤrſten werth ſind; und denke nun daran, wie du ſelbſt des Lebens genieſſen wolleſt, nachdem du den Verſuch ge - macht, wie ſchwer, wie gefaͤhrlich, und insgemein wie vergeblich es iſt, fuͤr andrer Gluͤk zu arbeiten.
So249Zehentes Buch, drittes Capitel.So ſprach Ariſtipp; und Agathon wuͤrde wol gethan haben, einem ſo guten Rathe zu folgen. Aber wie ſollte es moͤglich ſeyn, daß derjenige, welcher ſelbſt eine Haupt-Rolle in einem Stuͤke ſpielt, ſo gelaſſen davon urtheilen ſollte, als ein bloſſer Zuſchauer? Agathon ſah die Sachen aus einem ganz andern Geſichts-Punct. Er betrachtete ſich als einen Mann, der die Verbindlichkeit auf ſich genommen habe, die Wolfahrt Siciliens zu befoͤrdern. „ Warum kam ich nach Syracus? ‒ ‒ ſagte er zu ſich ſelbſt ‒ ‒ und mit welchen Abſichten uͤbernahm ich das Amt eines Freundes und Rathgebers bey dieſem Tyrannen? That ich es, um ein Sclave ſeiner Leiden - ſchaften, oder ein Werkzeug der Tyrannie zu ſeyn? Oder hatte ich einen groſſen und rechtſchaffenen Zwek? Wuͤrde ich mich jemals mit ihm eingelaſſen haben, wenn er mir nicht Hofnung gemacht haͤtte, daß die Tugend endlich die Oberhand uͤber ſeine Laſter erhalten wuͤrde? Er hat mich betrogen, und die Erfahrungen, die ich von ſeiner Gemuͤths-Art habe, uͤberzeugen mich, daß er unverbeſſerlich iſt. Aber wuͤrde es edel von mir ge - handelt ſeyn, ein Volk, deſſen Wolfahrt der Endzwek meiner Bemuͤhungen war, ein Volk, welches mich als ſeinen Wolthaͤter anſieht, den Launen dieſes weibiſchen Menſchen, und der Raubſucht ſeiner Schmeichler und Sclaven Preis zu geben? Was fuͤr Pflichten hab’ ich gegen ihn, welche ſein undankbares, niedertraͤchtiges Verfahren gegen mich nicht aufgehoben, und vernichtet haͤtte? Oder wenn ich noch Pflichten gegen ihn habe; ſind nicht diejenigen unendlichmal heiliger, welche michQ 5an250Agathon. an ein Land binden, das durch meine Wahl, und die Dienſte, die ich ihm geleiſtet habe, mein zweytes Va - terland worden iſt? ‒ ‒ Wer iſt denn dieſer Dionys? Was fuͤr ein Recht hat er an die hoͤchſte Gewalt, der er ſich anmaßt? Wem anders als dem Agathon hat er das einzige Recht zu danken, worauf er ſich mit eini - gem Schein beruffen kan? Seit wenn iſt er aus einem von aller Welt verabſcheueten Tyrannen ein Koͤnig ge - worden, als ſeit dem ich ihm durch eine gerechte und wolthaͤtige Regierung die Liebe des Volks! zugewandt habe? Er ließ mich arbeiten; er verbarg ſeine Laſter hinter meine Tugenden; eignete ſich meine Verdienſte zu, und genoß die Fruͤchte davon, der Undankbare! ‒ ‒ und nun, da er ſich ſtark genug glaubt, mich entbehren zu koͤnnen, uͤberlaͤßt er ſich wieder ſeinem eigenen Cha - racter, und faͤngt damit an, alles Gute das ich in ſei - nem Namen gethan habe, wieder zu vernichten; gleich als ob er ſich ſchaͤme, eine Zeitlang aus ſeinem Cha - racter getreten zu ſeyn, und als ob er nicht genug ei - len koͤnne, die ganze Welt zu belehren, daß es Agathon, nicht Dionys geweſen ſey, der den Sicilianern eine Morgenroͤthe beſſrer Zeiten gezeigt, und Hofnung ge - macht, ſich von den Mißhandlungen einer Reyhe ſchlim - mer Regenten wieder zu erholen. Was wuͤrd’ ich alſo ſeyn, wenn ich ſie in ſolchen Umſtaͤnden verlaſſen wollte, wo ſie meiner mehr als jemals benoͤthiget ſind? Nein ‒ ‒ Dionys hat Beweiſe genug gegeben, daß er unverbeſſerlich iſt, und durch die Nachſicht gegen ſeine Laſter nur in der laͤcherlichen Einbildung beſtaͤrkt wird,daß251Zehentes Buch, drittes Capitel. daß man ihnen Ehrfurcht ſchuldig ſey. Es iſt Zeit der Comoͤdie ein Ende zu machen, und dieſem kleinen Thea - ter-Koͤnige den Plaz anzuweiſen, wozu ihn ſeine perſoͤn - liche Eigenſchaften beſtimmen.
Unſere Leſer ſehen aus dieſer Probe der geheimen Ge - ſpraͤche, welche Agathon mit ſich ſelbſt hielt, daß er noch weit davon entfernt iſt, ſich von dieſem enthuſtaſti - ſchen Schwung der Seele Meiſter gemacht zu haben, der bisher die Quelle ſeiner Fehler ſowol als ſeiner ſchoͤn - ſten Thaten geweſen iſt. Wir haben keinen Grund in die Aufrichtigkeit dieſes Monologen einigen Zweifel zu ſezen; ſeine Seele war gewohnt, aufrichtig gegen ſich ſelbſt zu ſeyn. Wir koͤnnen alſo als gewiß annehmen, daß er zu dem Entſchluß, eine Empoͤrung gegen den Dionys zu erregen, durch eben ſo tugendhafte Geſinnun - gen getrieben zu werden glaubte, als diejenigen waren, welche fuͤnfzehn Jahre ſpaͤter einen der edelſten Sterb - lichen, die jemals gelebt haben, den Timoleon von Corinth, aufmunterten, die Befreyung Siciliens zu un - ternehmen. Allein es iſt darum nicht weniger gewiß, daß die lebhafte Empfindung des perſoͤnlichen Unrechts, welches ihm zugefuͤget wurde, der Unwille uͤber die Undankbarkeit des Dionys, und der Verdruß ſich einer verachtenswuͤrdigen Buhler-Jntrigue aufgeopfert zu ſe - hen, einen groſſen Einfluß in ſeine gegenwaͤrtige Denkens - Art gehabt, und zur Enzuͤndung dieſes heroiſchen Feuers, welches in ſeiner Seele brannte, nicht wenig beygetra - gen habe. Jm Grunde hatte er keine andre Pflichtengegen252Agathon. gegen die Sicilianer, als welche aus ſeinem Vertrag mit dem Dionys entſprangen, und vermoͤge eben dieſes Vertrags aufhoͤrten, ſo bald dieſem ſeine Dienſte nicht mehr angenehm ſeyn wuͤrden. Syracus war nicht ſein Vaterland. Dionys hatte durch die ſtillſchweigende Anerkenntniß der Erbfolge, kraft deren er nach ſeines Vaters Tode den Thron beſtieg, eine Art von Recht er, langt. Agathon ſelbſt wuͤrde ſich nicht in ſeine Dienſte begeben haben, wenn er ihn nicht fuͤr einen rechtmaͤſ - ſigen Fuͤrſten gehalten haͤtte. Die nehmlichen Gruͤnde, welche ihn damals bewogen hatten, die Monarchie der Republik vorzuziehen, und aus dieſem Grunde ſich bis - her den Abſichten des Dion zu widerſezen, beſtuhnden noch in ihrer ganzen Staͤrke. Es war ſehr ungewiß, ob eine Empoͤrung gegen den Dionys die Sicilianer wuͤrk - lich in einen gluͤklichern Stand ſezen, oder ihnen nur einen andern, und vielleicht noch ſchlimmern Herrn geben wuͤrde, da ſie ſchon ſo viele Proben gegeben hat - ten, daß ſie die Freyheit nicht ertragen koͤnnten. Dio - nys hatte Macht genug, ſeine Abſezung ſchwer zu ma - chen; und die verderblichen Folgen eines Buͤrgerkriegs waren die einzigen gewiſſen Folgen, welche man von einer ſo zweifelhaften Unternehmung vorausſehen konnte ‒ ‒ Alle dieſe Betrachtungen wuͤrden kein geringes Gewicht auf der Wagſchale einer kalten unpartheyiſchen Ueber - legung gemacht, und vermuthlich den entgegenſtehenden Gruͤnden das Gleichgewicht gehalten haben. Aber Aga - thon war weder kalt noch unpartheyiſch; er war ein Menſch. Seine Eigenliebe war an ihrem empfindlich -ſten253Zehentes Buch, drittes Capitel. ſten Theil verlezt worden. Der Affect, in welchen er dadurch geſezt werden mußte, gab allen Gegenſtaͤnden, die er vor ſich hatte, eine andre Farbe. Dionys, deſ - ſen Laſter er ehmals mit freundſchaftlichen Augen als Schwachheiten betrachtet hatte, ſtellte ſich ihm izt in der haͤßlichen Geſtalt eines Tyrannen dar. Je beſſer er vorhin von Philiſtus gedacht hatte, deſto abſcheuli - cher fand er izt ſeinen Character, nachdem er ihn ein - mal falſch und niedertraͤchtig gefunden hatte; es war nichts ſo ſchlimm und ſchaͤndlich, daß er einem ſolchen Manne nicht zutraute. Die reizenden Bilder, welche er ſich von der Gluͤkſeligkeit Siciliens unter ſeiner Ver - waltung gemacht hatte, erhielten durch den Unmuth, ſie vor ſeinen Augen vernichten zu ſehen, eine deſto groͤſ - ſere Gewalt uͤber ſeine Einbildungs-Kraft. Es war ihm unertraͤglich, Leute, welche nur darum ſeine Feinde waren, weil ſie Feinde alles Guten, Feinde der Tugend und der oͤffentlichen Wolfahrt waren, einen ſolchen Sieg davontragen zu laſſen. Er hielt es fuͤr eine allgemeine Pflicht, ſich den Unternehmungen der Boͤſen zu wider - ſezen, und die Stelle, welche er beynahe zwey Jahre lang in Sicilien behauptet hatte, machte (wie er glaubte) ſeinen Beruf zur beſondern Ausuͤbung dieſer Pflicht in gegenwaͤrtigem Falle unzweifelhaft. Dieſe Betrachtungen hatten, auſſer ihrer eigenthuͤmlichen Staͤrke, noch ſein Herz und ſeine Einbildungs-Kraft auf ihrer Seite; und mußten alſo nothwendig alles uͤber - waͤgen, was die Klugheit dagegen einwenden konnte.
Sobald254Agathon.Sobald Agathon ſeinen Entſchluß genommen hatte, ſo arbeitete er an der Ausfuͤhrung deſſelben. Dion, welcher ſich damals zu Athen befand, hatte einen betraͤcht - lichen Anhang in Sicilien, durch welchen er bisher alle moͤgliche Bewegungen gemacht hatte, ſeine Zuruͤkberuf - fung von dem Prinzen zu erhalten. Er hatte ſich deß - halben vorzuͤglich an den Agathon gewandt, ſo bald ihm berichtet worden war, in welchem Anſehen er bey Dionyſen ſtehe. Aber Agathon dachte damals nicht ſo gut von dem Character Dions als die Academie zu Athen eine Tugend, welche mit Stolz, Unbiegſamkeit und Auſteritaͤt vermiſcht war, ſchien ihm, wo nicht ver - daͤchtig, doch wenig liebenswuͤrdig; er beſorgte mit einiger Wahrſcheinlichkeit, daß die Gemuͤths-Art die - ſes Prinzen ihn niemals ruhig laſſen, und daß er, un - geachtet ſeiner republicaniſchen Grundſaͤze, eben ſo un - gelehrig ſeyn wuͤrde, das hoͤchſte Anſehen im Staat mit jemand zu theilen, als ohne Anſehen zu leben. Er hatte alſo, anſtatt ſeine Zuruͤkberuffung bey dem Dio - nys zu befoͤrdern, dieſen der aͤuſſerſten Abneigung, die er davor zeigte, uͤberlaſſen, und ſich durch dieſe Auffuͤhrung einiges Mißvergnuͤgen von Seiten der Freunde Dions zu - gezogen, welche es ihm eben ſo uͤbel nahmen, daß er nichts fuͤr dieſen Prinzen that, als ob er gegen ihn agirt haͤtte. Allein ſeitdem ſeine eigene Erfahrung das ſchlimmſte, was Dionyſens Feinde von ihm denken konn - ten, rechtfertigte, hatte ſich auch ſeine Geſinnung gegen den Dion gaͤnzlich umgewandt. Dieſer Prinz, welcher unſtreitig groſſe Eigenſchaften beſaß, ſtellte ſich ihm izt unter dem Bilde eines rechtſchaffenen Mannes dar, in welchem der langwierige Anblik des gemeinen Elendesunter255Zehentes Buch, drittes Capitel. unter einer heilloſen Regierung, und die immer vergeb - liche Bemuͤhung, dem reiſſenden Strom der Verderbnis entgegen zu arbeiten, einen anhaltenden gerechten Un - muth erregt hat, der ungeachtet des Scheins einer gall - ſuͤchtigen Melancholie, im Grunde die Frucht der edel - ſten Menſchenliebe iſt. Er beſchloß alſo, mit ihm gemeine Sache zu machen. Er entdekte ſich den Freunden Dions, welche, erfreut uͤber den Beytritt eines Mannes, der durch ſeine Talente und ſeine Gunſt beym Volke ihrer Parthey das Uebergewicht zu geben vermoͤgend war, ihm hinwieder die ganze Beſchaffenheit der Angelegen - heiten Dions, die Anzahl ſeiner Freunde, und die ge - heimen Anſtalten entdekten, welche in Erwartung irgend eines guͤnſtigen Zufalls, bereits zu ſeiner Zuruͤkkunft nach Sicilien gemacht worden waren: Und ſo wurde Agathon in kurzer Zeit aus einem Freund und erſten Miniſter des Dionys, das Haupt einer Conſpiration gegen ihn, an welcher alle diejenigen Antheil nahmen, die aus edlern oder eigennuͤzigern Bewegurſachen, mit der gegenwaͤrtigen Verfaſſung unzufrieden waren. Aga - thon entwarf einen Plan, wie die ganze Sache gefuͤhrt werden ſollte; und dieſes ſezte ihn in einen geheimen Briefwechſel mit Dion, wodurch die beſſere Meynung, welche einer von dem andern zu faſſen angefangen hatte, immer mehr befeſtiget wurde. Der Hof, in Luſtbar - keiten und ein wolluͤſtiges Vergeſſen aller Gefahren ver - ſunken, beguͤnſtigte den Fortgang der Conſpiration durch eine Sorgloſigkeit, welche ſo wenig natuͤrlich ſchien, daß die Zuſammenverſchwohrnen dadurch beun - ruhiget wurden. Sie verdoppelten ihre Wachſamkeit, und (was bey Unternehmungen von dieſer Art am mei -ſten256Agathon. ſten zu bewundern, und dennoch ſehr gewoͤhnlich iſt) ungeachtet der groſſen Anzahl derjenigen, die um das Geheimniß wußten, blieb alles ſo verſchwiegen, daß dem Anſehen nach niemand auf einigen Argwohn ver - fallen waͤre, wenn nicht auf der einen Seite die Un - wahrſcheinlichkeit, daß Agathon ſeinen Fall wuͤrklich ſo gleichguͤltig anſehen koͤnne, als er es zu thun ſchien; und auf der andern die Nachrichten, welche von den nicht ſehr geheimen Zuruͤſtungen des Dion eingiengen, den von Natur mißtrauiſchen Philiſtus endlich aufmerk - ſam gemacht haͤtten. Von dieſem Augenblik an wurde Agathon und alle diejenige, welche als Freunde Dions bekannt waren, von tauſend unſichtbaren Augen aufs ſchaͤrfſte beobachtet; und es gluͤbte endlich dem Philiſt, ſich eines Sclaven zu bemaͤchtigen, der mit Briefen an Agathon von Athen gekommen war. Aus dieſen Brie - fen, welche die Urſachen enthielten, warum Dion die vorhabende Landung in Sicilien nicht ſobald, als es unter ihnen verabredet geweſen, ausfuͤhren koͤnne, er - hellete zwar deutlich, daß Agathon und die uͤbrigen Freunde Dions an der eigenmaͤchtigen Wiederkunft deſ - ſelben Antheil haͤtten; aber von einem Anſchlag gegen die gegenwaͤrtige Regierung und die Perſon des Dio - nys, war auſſer einigen unbeſtimmten Ausdruͤken, wel - che ein Geheimniß zu verbergen ſcheinen konnten, nichts darinn enthalten. Man kan ſich die Bewegung vorſtellen, welche dieſe Entdekung in dem Cabinet des Dionys verurſachte. Man war ſich Urſachen genug be - wußt, das aͤrgſte zu beſorgeu; aber eben darum hieltPhiliſtus257Zehentes Buch, drittes Capitel. Philiſtus fuͤr rathſamer, die Sache als ein Staats-Ge - heimniß zu behandeln. Agathon wurde, unter dem Vorwande verſchiedener Staats-Verbrechen in Verhaft genommen, ohne daß dem Publico etwas beſtimmtes, am allerwenigſten aber die wahre Urſache, bekannt wurde. Man fand fuͤr beſſer, die Parthey des Dion, (welche man ſich aus Paniſchem Schreken groͤſſer vor - ſtellte als ſie wuͤrklich war) in Verlegenheit zu ſezen, als zur Verzweiflung zu treiben; und gewann indeſſen, daß man ſich begnuͤgte ſie aufs genaueſte zu beobachten, Zeit, ſich gegen einen feindlichen Ueberfall in gehoͤrige Verfaſſung zu ſezen.
Wir ſind es ſchon gewohnt, unſern Helden niemals groͤſſer zu ſehen als im widrigen Gluͤke. Auf das aͤrgſte gefaßt, was er von ſeinen Feinden erwarten konnte, ſezte er ſich vor, ihnen den Triumph nicht zu gewaͤh - ren, den Agathon zu etwas das ſeiner unwuͤrdig waͤre, erniedriget zu haben. Er weigerte ſich ſchlechterdings, dem Philiſtus und Timocrates, welche zu Unterſuchung ſeiner angeblichen Verbrechen ernannt waren, Antwort zu geben. Er verlangte von dem Prinzen ſelbſt gehoͤrt zu werden, und berief ſich deßhalb auf den Vertrag, der zwiſchen ihnen errichtet worden war. Aber Dio - nys hatte den Muth nicht, eine geheime Unterredung mit ſeinem ehmaligen Guͤnſtling auszuhalten. Man ver - ſuchte es, ſeine Standhaftigkeit durch eine harte Begeg - nung und Drohungen zu erſchuͤttern; und die ſchoͤne Cleoniſſa wuͤrde ihre Stimme zu dem ſtrengeſten Ur -[Agath. II. Th.] Rtheil258Agathon. theil gegeben haben, wenn die Furchtſamkeit des Tyran - nen, und die Klugheit ſeines Miniſters geſtattet haͤt - ten, ihren Eingebungen zu folgen. Sie mußte ſich alſo durch die Hofnung zufrieden ſtellen laſſen, die man ihr machte, ihn, ſobald man ſich den Dion, auf eine oder die andere Art, vom Halſe geſchafft haben wuͤrde, zu einem-oͤffentlichen Opfer ihrer Rache-duͤrſtenden Tugend zu machen.
Jnzwiſchen ſtuhnden die Freunde Agathons ſeinetwe - gen in deſto groͤſſern Sorgen, da ſie ſeinen Feinden Bosheit genug zutrauten, dem Tyrannen das aͤrgſte ge - gen ihn einzugeben; und dieſem Schwachheit genug, ſich von ihnen verfuͤhren zu laſſen. Denn das Unver - moͤgen ihren Lieblingen zu widerſtehen, macht oͤfters wolluͤſtige Fuͤrſten, wider ihre natuͤrliche Neigung, grau - ſam. Sie wendeten alſo unter der Hand alles an, was ohne einen Aufſtand zu wagen, deſſen Erfolg allzu un - ſicher geweſen waͤre, die Rettung Agathons befoͤrdern konnte. Dion gab bey dieſer Gelegenheit eine Probe ſeiner Großmuth, indem er durch ein freundſchaftliches Schreiben an Dionyſen ſich verbindlich machte, ſeine Kriegs-Voͤlker wieder abzudanken, und ſeine Zuruͤkbe - ruffung als eine bloſſe Gnade von dem guten Willen ſei - nes Prinzen zu erwarten, in ſo fern Agathon freyge - ſprochen wuͤrde, deſſen einziges Verbrechen darinn be - ſtehe, daß er ſich fuͤr ſeine Zuruͤkkunft in ſein Vater - land intereſſiert habe. So edel dieſer Schritt war, und ſo wolfeil dem Dionys dadurch die Auſſoͤhnung mitdem259Zehentes Buch, drittes Capitel. dem Dion angetragen wurde; ſo wuͤrde er doch dem Agathon wenig geholfen haben, wenn ſeine italiaͤniſchen Freunde nicht geeilet haͤtten, dem Tyrannen einen noch dringendern Beweggrund vorzulegen. Aber zu eben die - ſer Zeit langten Geſandte von Tarent an, um im Namen des Archytas, welcher alles in dieſer Republik vermochte, die Freylaſſung ſeines Freundes zu bewuͤrken, und im Nothfall zu erklaͤren, daß dieſe Republik ſich genoͤthi - get ſehen wuͤrde, die Partey Dions mit ihrer ganzen Macht zu unterſtuͤzen, wofern Dionys ſich laͤnger wei - gern wollte, dieſem Prinzen ſowol als dem Agathon vollkommne Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen. Dionys kannte den Character des Archytas zu gut, um an dem Ernſt dieſer Drohung zweifeln zu koͤnnen. Er hofte ſich alſo am beſten aus der Sache zu ziehen, wenn er unter der Verſicherung, daß er von einer Ausſoͤhnung mit ſeinem Schwager nicht abgeneigt ſey, in die Entlaſſung Agathons einwilligte. Aber dieſer erklaͤrte ſich, daß er ſeine Entlaſſung weder als eine Gnade von dem Dionys annehmen, noch der Fuͤrbitte ſeiner Freunde zu danken haben wolle. Er verlangte, daß die Verbrechen, um derentwillen er in Verhaft genommen worden, oͤffentlich angezeigt, und in Gegenwart des Dionys, der Geſand - ten von Tarent und der Vornehmſten zu Syracus, un - terſucht, ſeine Rechtfertigung gehoͤrt, und ſein Urtheil nach den Geſezen ausgeſprochen werden ſollte. Da er ſich bewußt war, daß auſſer ſeinen neuerlichen Verbin - dungen mit dem Dion, welche leicht zu rechtfertigen waren, ſeine boßhafteſten Haͤſſer nichts mit einigemR 2Schein260Agathon. Schein der Wahrheit gegen ihn aufbringen koͤnnten; ſo hatte er gut auf eine ſo feyerliche Unterſuchung zu drin - gen. Aber dazu konnten es die Cleoniſſen und die Phi - liſte, und der Tyrann ſelbſt, der bey allem dieſem ſehr verlegen war, nicht kommen laſſen; und da die Tarenti - ner ihnen keine Zeit laſſen wollten, die Sache in die Laͤnge zu ziehen; ſo ſahe Dionys ſich endlich genoͤthi - get, oͤffentlich zu erklaͤren: Daß eine ſtarke Vermuthung, als ob Agathon ſich in eine Conſpiration gegen ihn habe verwikeln laſſen, die einzige Urſache ſeines Verhafts ge - weſen ſey; und daß er keinen Augenblik anſtehen wolle, ihm ſeine Freyheit wiederzugeben, ſobald er ſich, unter Verbuͤrgung der Tarentiner, durch ein feyrliches Ver - ſprechen, auf keinerley Weiſe kuͤnftighin gegen Diony - ſen etwas zu unternehmen, ſich von dieſem Verdacht am beſten gereiniget haben werde. Die Bereitwillig - keit, womit die Geſandten von Tarent ſich dieſen An - trag gefallen lieſſen, bewieß, daß es dem Archytes allein um die Befreyung Agathons zu thun war; und wir werden vielleicht in der Folge den Grund entdeken, warum dieſes Haupt einer in dieſe Sache nicht unmit - telbar verwikelten Republik, ſich dieſes Puncts mit ſo auſſerordentlichem Eifer annahm. Aber Agathon, der ſeine Freyheit keinem unedeln Schritt zu danken haben wollte, konnte lange nicht uͤberredet werden, eine Er - klaͤrung von ſich zu geben, welche als eine Art von Geſtaͤndnis angeſehen werden konnte, daß er die Par - tey, die er genommen hatte, verlaͤugne. Doch dieſe in Anſehung ſeiner Umſtaͤnde, in der That allzuſpiz -fuͤndige261Zehentes Buch, drittes Capitel. fuͤndige Delicateſſe mußte endlich der gruͤndlichern Be - trachtung weichen, daß er durch Ausſchlagung eines ſo billig ſcheinenden Verglichs ſich ſelbſt in Gefahr ſezen wuͤrde, ohne daß ſeiner Partey einiger Vortheil da - durch zugienge; indem Dionys viel eher einwilligen wuͤrde, ihn in der Stille aus dem Wege raͤumen zu laſſen, als zu zugeben, daß er mit ſoviel neuen Reizungen zur Rache die Freyheit bekommen ſollte, der Faction des Dions wieder neues Leben einzuhauchen, und ſich mit dieſem Prinzen zu ſeinem Untergang zu vereinigen. Die reizenden Schilderungen, ſo ihm die Tarentiner von dem gluͤklichen Leben machten, welches in dem ruhigen Schooſſe ihres Vaterlandes, und in der Geſellſchaft ſeiner Freunde auf ihn warte, vollendeten die Wuͤrkung, welche natuͤrlicher Weiſe der gewaltſame Zuſtand von Un - ruhe, Sorgen und heftigen Leidenſchaften, worinn er einige Zeit her gelebt hatte, auf ein Gemuͤthe wie das ſeinige machen mußte; und gaben ihm zu gleicher Zeit den ganzen Abſcheu vor dem geſchaͤftigen Leben, welchen er nach ſeiner Verbannung von Athen dagegen gefaßt, und den ganzen Hang, welchen er zu Delphi fuͤr das Contemplative gehabt hatte, wieder. Er bequemte ſich alſo endlich, einen Schritt zu thun, der ihm von den Freunden Dions fuͤr eine feigherzige Verlaſſung der guten Sache ausgelegt wurde; in der That aber das einzige war, was ihm in den Umſtaͤnden, worinn er ſich befand, vernuͤnftiger Weiſe zu thun uͤbrig blieb. Wie viel dunkle Stunden wuͤrde er ſich ſelbſt, und wie viele Sorgen und Muͤhe ſeinen Freunden erſpart haben,R 3wenn262Agathon. wenn er dem Rathe des weiſen Ariſtippus ein paar Monate fruͤher gefolget haͤtte!
Einer von den zuverlaͤſſigſten und ſeltenſten Beweiſen der Tugend eines erſten Miniſters iſt, wenn er armer oder doch wenigſtens nicht reicher in ſeine einſame Huͤtte zuruͤkkehrt, als er geweſen war, da er auf den Schau - plaz des oͤffentlichen Lebens verſezt wurde. Die Epa - minondas, die Walſinghams, die More, und Teſſins ſind freylich zu allen Zeiten ſelten; aber wenn etwas, welches den verſtokteſten Tugend-Laͤugner, einen Hip - pias ſelbſt, zwingen muß, die Wuͤrklichkeit der Tugend zu geſtehen, und auch wider ſeinen Willen ihre Goͤtt - lichkeit zu erkennen: So ſind es die Beyſpiele ſolcher Manner. Der Himmel verhuͤte, daß ich die Hippiaſſe jemals einer andern Widerlegung wuͤrdigen ſollte! Sie moͤgen nach Aekeroͤ reiſen! Und wenn ſie den einzigen Anblik unter dem Himmel, auf welchen (nach dem Ausdruk eines weiſen Alten) die Gottheit ſelbſt mit Vergnuͤgen herabſieht, wenn ſie den ehrwuͤrdigen Greis geſehen haben, der daſelbſt, zufrieden mit der edeln beneidenswuͤrdigen Armuth des Fabricius und Cincinna - tus, doch zu tugendhaft um ſtolz darauf zu ſeyn, die einzige Belohnung eines langen, ruhmwuͤrdigen, Gott, ſeinem Koͤnige und ſeinem Vaterland aufgeopferten Le - bens in dem ſtillen Bewuſtſeyn ſeiner Selbſt, und (ſo oft er ſeinen Telemach erblikt) in der Hofnung, nicht ganz umſonſt gearbeitet zu haben, findet ‒ ‒ und, vergeſ - ſen, vielleicht ſo gar verfolgt von einer undankbarenZeit,263Zehentes Buch, drittes Capitel. Zeit, ſich ruhig in ſeine Tugend und den Glauben einer beſſern Unſterblichkeit einhuͤllt ‒ ‒ ‒ wenn ſie ihn geſehen haben, dieſen wahrhaftig groſſen Mann, und dieſer Anblik nicht zu wege bringt, was alle Diſcurſe der Pla - tonen und Seneca nicht vermocht haben ‒ ‒ Nun, ſo moͤgen ſie glauben was ſie wollen, und thun, was ſie ungeſtraft thun koͤnnen; ſie verdienen eben ſo wenig Widerlegung, als ihre Beſſerung moͤglich iſt ‒ ‒ Und du, ruhmvoller und liebenswuͤrdiger alter Mann, empfange dieſes wiewol allzuvergaͤngliche Denkmal von einem, deſſen Feder niemals durch feiles, oder gewinnſuͤchti - ges Lob der Groſſen dieſer Welt entweyht worden iſt ‒ ‒ Jch habe keine Belohnung, keinen Vortheil von dir zu hoffen ‒ ‒ du wirſt dieſes niemals leſen ‒ ‒ Meine Abſicht iſt rein, wie deine Tugend ‒ ‒ empfange dieſes ſchwache Merkmal einer aufrichtigen Hochachtung von einem, der wenig Hochachtungswuͤrdiges unter der Sonne ſieht ‒ ‒ dieſe, und die Dankbarkeit fuͤr die ſtillen Thraͤnen der Entzuͤkung, die ihm (in einem Alter, wo ſeine Augen zu dieſer reinſten Wolluſt der Menſchlichkeit noch nicht verſieget waren) das Leſen deiner Tugend-athmen - den Briefe aus den Augen lokte ‒ ‒ dieſe Empfindungen allein haben ihn bey dieſer Gelegenheit dahingeriſſen ‒ ‒ er hat ſich nicht entſchlieſſen koͤnnen, ſeinem Herzen Ge - walt anzuthun ‒ ‒ und bittet niemand, der dieſes Buch leſen wird, wegen dieſer Abſchweiffung um Verzeihung.
Agathon hatte uͤber den Sorgen fuͤr die Wolfahrt Siciliens, und uͤber der Bemuͤhung andre gluͤklich zuR 4machen,264Agathon. machen, ſich ſelbſt ſo vollkommen vergeſſen, daß er nicht reicher aus Syracus gegangen waͤre, als er gewe - ſen war, da er Delphi verließ, oder da er aus Athen verbannt wurde; wenn ihm nicht zu gutem Gluͤke, bald nach ſeiner Erhebung zu einer Wuͤrde, welche ihm in allen Griechiſchen Staaten kein geringes Anſehen gab, ein Theil ſeines vaͤterlichen Vermoͤgens wieder zugefal - len waͤre. Die Athenienſer waren damals eben zu ge - wiſſen Handlungs-Abſichten der Freundſchaft des Koͤnigs Dionys benoͤthiget; und fanden daher fuͤr gut, ehe ſie ſich um die Vermittlung Agathons bewarben, ihm durch ihre Abgeſandte ein Decret uͤberreichen zu laſſen, kraft deſſen nicht nur ſein Verbannungs-Urtheil aufgehoben, ſondern auch der ganze Proceß, wodurch er ehmals ſeines vaͤterlichen Erbguts beraubt worden war, caſſiert, und der unrechtmaͤſſige Jnnhaber deſſelben verurtheilt wurde, ihm alles unverzuͤglich wieder abzutreten. Aga - thon hatte zwar großmuͤthiger Weiſe nur die Haͤlfte da - von angenommen; und dieſe war nicht ſo betraͤchtlich, daß ſie fuͤr die Beduͤrfniſſe eines Alcibiades oder Hippias zureichend geweſen waͤre: Aber es war noch immer mehr, als ein Weiſer ſelbſt von der Secte des Ariſtip - pus, noͤthig haͤtte, um frey, gemaͤchlich und angenehm zu leben; und ſoviel war fuͤr einen Agathon genug.
Unſer Held verweilte ſich, nach dem er wieder in Freyheit war, nicht laͤngere Zeit zu Syracus, als er ge - brauchte, ſich von ſeinen Freunden zu beurlauben. Dionys, welcher (wie wir wiſſen) den Ehrgeiz hatte,alles265Zehentes Buch, drittes Capitel. alles mit guter Art thun zu wollen, verlangte, daß er in Gegenwart ſeines ganzen Hofes Abſchied von ihm nehmen ſollte. Er uͤberhaͤufte ihn, bey dieſer Gelegen - heit, mit Lobſpruͤchen und Liebkoſungen, und glaubte, einen ſehr feinen Staatsmann zu machen, indem er ſich ſtellte, als ob er ungern in ſeine Entlaſſung einwillige, und als ob ſie als die beſten Freunde von einander ſchie - den. Agathon hatte die Gefaͤlligkeit, dieſen lezten Auf - tritt der Comoͤdie mitſpielen zu helfen; und ſo entfernte er ſich, in Geſellſchaft der Geſandten von Tarent, von jedermann beurtheilt, von vielen getadelt, und von den wenigſten, ſelbſt unter denen, welche guͤnſtig von ihm dachten, gekannt, aber von allen Rechtſchaffenen ver - mißt und oft zuruͤkgeſeufzt, aus einer Stadt und aus einem Lande, worinn er das Vergnuͤgen hatte, viele Denkmaͤler ſeiner ruhmwuͤrdigen Adminiſtration zu hin - terlaſſen; und aus welchem er nichts mit ſich hinaus - nahm, als eine Reihe von Erfahrungen, welche ihn in dem Entſchluß beſtaͤrkten ‒ ‒ keine andre von dieſer Art mehr zu machen.
Dank ſey (ſo ruft hier der Autor des griechiſchen Manuſcripts, als einer, dem es auf einmal ums Herz leichter wird, aus) Dank ſey den Goͤttern, daß wirR 5unſern266Agathon. unſern Helden aus dem gefaͤhrlichſten aller ſchlimmen Orte, wohin ein ehrlicher Mann verirren kan, unver - ſehrt, und was beynahe unglaublich iſt, mit ſeiner gan - zen Tugend davon gebracht haben! Er hat allerdings von Gluͤk zu ſagen, faͤhrt das Manuſcript fort; aber ‒ ‒ beym Hund (dem groſſen Schwur des weiſen Socra - tes) was hatte er auch an einem Hofe zu thun? Er, der ſich weder zu einem Sclaven, noch zu einem Schmeichler, noch zu einem Narren gebohren fuͤhlte, was wollte er am Hofe eines Dionyſius machen? ‒ ‒ Was fuͤr ein Einfall ‒ ‒ und wenn iſt jemals ein ſolcher Einfall in das Gehirn eines klugen Menſchen gekom - men? ‒ ‒ einen laſterhaften Prinzen tugendhaft zu ma - chen! ‒ ‒ Oder welcher rechtſchaffene Mann, der einen Fond von geſunder Vernunft und gutem Willen in ſich gefuͤhlt, iſt jemals damit an einen Hof gegangen, wenn er im Sinne hatte, von dem einen oder dem andern Gebrauch zu machen? ‒ ‒ Man muß geſtehen, es iſt eine ganz huͤbſche Sache um den Enthuſiasmus ‒ ‒ eines Lycurgus, der aus einem Monarchen ein Buͤrger wird, um ſein Vaterland gluͤklicher zu machen ‒ ‒ oder eines Leonidas, der mit dreyhundert eben ſo entſchloſſenen Maͤnnern als er ſelbſt, ſich dem Tode weiht, um eben ſo vielen Myriaden von Barbaren den Muth, mit Griechen zu fechten, zu benehmen. Doch ſo groß, ſo ſchoͤn dieſe Thaten ſind; ſo ſind ſie durch die Kraͤfte der Natur moͤglich, und diejenige, welche ſie unter - nahmen, konnten ſich verſprechen, daß ſie ihre Abſich - ten erreichen wuͤrden. Aber wenn hat man jemals ge -hoͤrt,267Zehentes Buch, viertes Capitel. hoͤrt, daß ein Menſch, oder ein Held, der Sohn einer Goͤttin, oder eines Gottes, oder ein Gott ſelbſt, das - jenige zu Stande gebracht haͤtte, was Agathon unter - nahm, da er mit der Cither in der Hand ſich uͤberreden ließ, der Mentor eines Dionys zu werden.
Auf dieſen humoriſtiſchen Eingang, womit unſer Au - tor dieſes Capitel beginnt, folget eine lange, und wie es ſcheint, ein wenig milzſuͤchtige Declamation gegen diejenige Claſſe der Sterblichen, welche man groſſe Herren nennt; mit verſchiedenen Digreſſionen uͤber die Maitreſſen ‒ ‒ uͤber die Jagdhunde ‒ ‒ und uͤber die Ur - ſachen, warum es fuͤr einen erſten Miniſter gefaͤhrlich ſey, zuviel Genie, zuviel Uneigennuͤzigkeit, und zuviel Freundſchaft fuͤr ſeinen Herrn zu haben ‒ ‒ So viel man ſehen kan, iſt dieſes Capitel eines von den merkwuͤrdig - ſten, und ſonderbarſten in dem ganzen Werke. Aber ungluͤklicher Weiſe, befindet ſich das Manuſcript an dieſem Ort halb von Ratten aufgegeſſen; und die andre Haͤlfte iſt durch Feuchtigkeit ſo uͤbel zugerichtet worden, daß es leichter waͤre, aus den Blaͤttern der Cumaͤiſchen Sibylle, als aus den Bruchſtuͤken von Woͤrtern, Saͤzen und Perioden, welche noch uͤbrig ſind, etwas Zuſam - menhaͤngendes herauszubringen. Wir geſtehen, daß uns dieſer Verluſt ſo nahe geht, daß wir uns eher der ſinnreichen Ergaͤnzungen, welche Herr Naudot zum Petronius in ſeinem Kopfe gefunden hat, oder der ſaͤmt - lichen Werke des Ehrwuͤrdigen Paters *** beraubt wiſſen wollten. Jndeſſen iſt doch dieſer Verluſt in Ab -ſicht268Agathon. ſicht des Lobes der groſſen Herren um ſo leichter zu er - tragen, da wir uͤber den weiten Umfang der Einſichten, die Groͤſſe der Seelen, die edlen Geſinnungen und den guten Geſchmak, welcher ordentlicher Weiſe die groſſen Herren von den uͤbrigen Erden-Soͤhnen zu unterſchei - den pflegt, in dem beſten und ſchlimmſten Buche (je nachdem es Leſer bekommt; welches wir uͤbrigens ganz unpraͤjudicierlich und niemand zu Leide geſagt haben wollen) das in unſerm Jahrhundert zur Welt gekom - men iſt, in dem Buche des Herrn Helvetius, alles ge - ſagt finden, was ſich uͤber einen ſo reichen und edeln Stoff nur immer ſagen laͤßt. Eine gleiche Bewandt - niß hat es mit der Digreſſion uͤber die Maitreſſen, und uͤber die Jagdhunde; uͤber welche Materien der ge - neigte Leſer in des Grafen Anton Hamiltons Beytraͤgen zur Hiſtoire amoureuſe des Hofes Carls des zweyten von England, und in den bewundernswuͤrdigen Schrif - ten eines gewiſſen neuern Staatsmannes (den wir ſei - ner Beſcheidenheit zu ſchonen, nicht nennen wollen) mehr als hinlaͤngliche Auskunft finden kan. Aber den Verluſt der dritten Digreſſion bedauren wir von Her - zen, indem, (nach der Verſicherung eines der groͤſſe - ſten Buͤcher-Kenner von Europa) dermalen noch kein Buch in der Welt iſt, in welchem dieſe intereſſante und ziemlich verwikelte Materie recht auseinandergeſezt und gruͤndlich ausgefuͤhrt waͤre. Zum Ungluͤk iſt dieſes Capitel eben an dieſem Ort am mangelhafteſten. Doch laͤßt ſich aus einigen Worten, welche zum Schluſſe dieſer Digreſſion zu gehoͤren ſcheinen, abnehmen, daß derVerfaſſer269Zehentes Buch, viertes Capitel. Verfaſſer neun und dreiſſig Urſachen angegeben habe; und wir geſtehen, daß wir begierig waͤren, dieſe neun und dreiſſig Urſachen zu wiſſen.
Der Autor der alten Handſchrift, aus welcher wir den groͤſſeſten Theil dieſer Geſchichte gezogen zu haben geſtehen, triumphiert, wie man geſehen hat, daruͤber, daß er ſeinen Helden mit ſeiner ganzen Tugend von ei - nem Hofe hinweggebracht habe. Es wuͤrde allerdings etwas ſeyn, daß einem Wunder ganz nahe kaͤme, wenn es ſich wuͤrklich ſo verhielte; aber wir beſorgen, daß er mehr geſagt habe, als er der Schaͤrfe nach zu bewei - ſen im Stande waͤre. Wenn es nicht etwan moraliſche Amulete giebt, welche der anſtekenden Beſchaffenheit der Hofluft auf eben die Art widerſtehen, wie der Kroͤten - ſtein dem Gift, ſo daͤucht uns ein wenig unbegreiflich, daß das Getuͤmmel des beſchaͤftigten Lebens, die ſchaͤd - lichen Duͤnſte der Schmeicheley, welche ein Guͤnſtling, er wolle oder wolle nicht, unaufhoͤrlich einſaugt ‒ ‒ die Nothwendigkeit, von den Forderungen der Weisheit und Tugend immer etwas nachzulaſſen, um nicht alles zu verliehren ‒ ‒ und was noch ſchaͤdlicher als dieſes alles iſt, die unzaͤhlichen Zerſtreuungen, wodurch die Seele aus ſich ſelbſt herausgezogen wird, und uͤber der Auf -merk -270Agathon. merkſamkeit auf eine Menge kleiner vorbeyrauſchender Gegenſtaͤnde, die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt ver - liehrt ‒ ‒ nicht einige nachtheilige Einfluͤſſe in den Cha - racter ſeines Geiſtes und Herzens gehabt haben ſollten. Jndeſſen muͤſſen wir geſtehen, daß es ihm hierinn eben ſo ergieng, wie es, vermoͤge der taͤglichen Erfahrung, allen andern Sterblichen zu gehen pflegt. Er wurde dieſe eben ſo unmerkliche als unlaͤugbare Einfluͤſſe, und die Veraͤnderungen, welche ſie verſtohlner Weiſe in ſei - ner Seele verurſacheten, eben ſo wenig gewahr, als ein geſunder Menſch die geheimen und ſchleichenden Zerruͤttungen empfindet, welche die Unbeſtaͤndigkeit der Witterung, die kleinen Unordnungen in der Lebensart, die heterogene Beſchaffenheit der Nahrungs-Mittel, und das langſam wuͤrkende Gift der Leidenſchaften, ſtuͤnd - lich in ſeiner Maſchine verurſachen. Die Veraͤnderun - gen, die in unſrer innerlichen Verfaſſung vorgehen, muͤſſen betraͤchtlich ſeyn, wenn ſie in die Augen fallen ſollen; und wir fangen gemeiniglich nicht eher an, ſie deutlich wahrzunehmen, bis wir uns genoͤthigt finden, zu ſtuzen, und uns ſelbſt zu fragen, ob wir noch eben dieſelbe Perſon ſeyen, die wir waren? Aus dieſem Grunde geſchah es vermuthlich, daß Agathon die Progreſ - ſen, welche die ſchon zu Smyrna angefangene Revo - lution in ſeiner Seele waͤhrend ſeinem Aufenthalt zu Syracus machte, ohne das mindeſte Mißtrauen in ſie zu ſezen, ganz allein den neuen oder beſtaͤtigten Er - fahrungen zuſchrieb, welche er in dieſer ausgebreiteten Sphaͤre zu machen, ſo viele Gelegenheiten hatte.
Es271Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.Es iſt unſtreitig einer der groͤſſeſten Vortheile, wo nicht der einzige, den ein denkender Menſch aus dem Leben in der groſſen Welt mit ſich nimmt, wofern es ihm jemals ſo gut wird, ſich wieder aus derſelben her - auswinden zu koͤnnen ‒ ‒ daß er die Menſchen darinn kennen gelernt hat. Es laͤßt ſich zwar gegen dieſe Art von Kenntniß der Menſchen, aus guten Gruͤnden eben ſo viel einwenden, als gegen diejenige, welche man aus der Geſchichte, und den Schriften der Dichter, Sit - tenlehrer, Satyriſten und Romanenmacher zieht ‒ ‒ oder gegen irgend eine andere: Aber man muß hinge - gen auch geſtehen, daß ſie wenigſtens eben ſo zuver - laͤſſig iſt, als irgend eine andre; ja daß ſie es noch in einem hoͤhern Grade iſt, wenn anders das Subject, bey dem ſie ſich befindet, mit allen den Eigenſchaften verſehen iſt, die zu einem Beobachter erfordert werden. Denn freylich kan nichts laͤcherlicher ſeyn als ein Gek, der nachdem er zehn oder fuͤnfzehn Jahre ſeine Figur durch alle Laͤnder und Hoͤfe der Welt herumgefuͤhrt, etliche Duzend zweydeutige Tugenden beſiegt, und eben ſo viel ſchaale Hiſtoͤrchen oder verdaͤchtige Beytraͤge zur Chronique ſcandaleuſe eines jeden Ortes, wo er gewe - ſen iſt, zuſammengebracht hat, mit deren Huͤlfe er zween oder drey Tage eine Tiſchgeſellſchaft lachen oder gaͤhnen machen kan ‒ ‒ ſich ſelbſt mit dem Beſiz einer voll - kommenen Kenntniß der Welt und der Menſchen ſchmei - chelt, und denjenigen mit dummem Hohnlaͤcheln von der Seite anſieht, der vermoͤge einer vieljaͤhrigen tieffen Er - forſchung der menſchlichen Natur, gelegenheitlich vonCharactern272Agathon. Charactern und Sitten urtheilt, ohne die ſieben Thuͤrme geſehen, oder der Vermaͤhlung des Doge von Venedig mit dem adriatiſchen Meer beygewohnt zu haben. Wir wiſſen nicht, wie groß ungefehr die Anzahl der ſo ge - nanuten Welt-Leute ſeyn mag, die in dieſe Claſſe ge - hoͤren: Aber das ſcheint uns gewiß zu ſeyn, daß ein Mann von Genie und aufgeklaͤrtem Verſtande (denn die bloſſe Empirie reicht hier ſo wenig zu, als in irgend einer andern practiſchen Wiſſenſchaft) durch das Leben in der groſſen Welt, (in ſo fern wir dieſes Wort in ſeiner aͤchten Bedeutung nehmen) durch die Verhaͤlt - niſſe, worinn er an einem betraͤchtlichen Plaze mit al - len Arten von Staͤnden und Charactern koͤmmt, durch die haͤuffigen Gelegenheiten die er hat, diejenige ſo er beobachtet, unter allerley Umſtaͤnden, mit und ohne Maske zuſehen, ſie auf allerley Proben zu ſezen, und ſo wol durch den Gebrauch, den man von ihnen macht, als den ſie von andern zu machen ſuchen, ihre herrſchen - den Neigungen und geheime Springfedern ausfuͤndig zu machen ‒ ‒ daß er dadurch zu einer unmittelbarern, ausgebreitetern und richtigern Kenntniß der Menſchen gelangt, als andre, welche ihre Theorie lediglich den Geſchichtſchreibern, Metaphyſikern und Moraliſten (drey ſehr wenig zuverlaͤſſigen Gattungen von Lehrern) zu danken ‒ ‒ oder welche ihre Beobachtungen nur in dem Microcoſmus ihres eigenen Selbſt angeſtellt haben.
Es iſt oben ſchon bemerkt worden, daß Agathon bey ſeinem Auftritt auf dem Schauplaz, von dem er nun wieder abgetreten iſt, lange nicht mehr ſo erhabenund273Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. und idealiſch von der menſchlichen Natur dachte, als zu Delphi; denn es macht einen betraͤchtlichen Unterſchied, ob man unter Bildſaͤulen von Goͤttern und Helden, oder unter Menſchen lebt; aber nachdem er die Beobachtun - gen, die er zu Athen und Smyrna ſchon geſammelt, noch durch die naͤhere Bekanntſchaft mit den Groſſen, und mit den Hofleuten bereichert hatte, ſank ſeine Mey - nung von der angebohrnen Schoͤnheit und Wuͤrde die - ſer menſchlichen Natur, von Grade zu Grade ſo tief, daß er zuweilen in Verſuchung gerieth, gegen die Stimme ſeines Herzens (welche eben ſo wol, dachte er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurtheils ſeyn koͤnnte,) alles was der goͤttliche Plato erhabenes und herrliches davon geſagt und geſchrieben hatte, fuͤr Maͤhrchen aus einer andern Welt zu halten. Unver - merkt kamen ihm die Begriffe, welche ſich Hippias da - von machte, nicht mehr ſo ungeheuer vor, als damals, da er ſich in den Garten dieſes wolluͤſtigen Weiſen in den Mondſchein hinſezte, und Betrachtungen uͤber den Zuſtand der entkoͤrperten Geiſter anſtellte. Endlich kam es gar ſo weit, daß ihm dieſe Begriffe wahrſcheinlich genug daͤuchten, um ſich vorſtellen zu koͤnnen, wie Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das ihnen eine edlere Meynung von ihrer Natur zu geben geſchikt waͤre, durch einen langen Umgang mit der Welt dazu gelangen koͤnnten, ſich gaͤnzlich von der Wahrheit deſſelben zu uͤberreden.
[Agath. II. Th.] SSoweit274Agathon.Soweit haͤtte Agathon gehen koͤnnen, ohne die Gren - zen der weiſen Maͤſſigung zu uͤberſchreiten, welche uns in unſern Urtheilen uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand, und alles was ſich auf ihn bezieht, langſam und zuruͤk - haltend machen ſollen. Aber in Stunden, da der Unmuth ſeine ſchoͤnſten Hofnungen durch die Thorheit oder Boßheit derjenigen mit denen er leben mußte, vor ſeinen Augen vernichten zu ſehen, eine mehr als ge - woͤhnliche Verduͤſterung in ſeiner Seele verurſachte, gieng er noch um einen Schritt weiter. Nein, ſagte er dann zu ſich ſelbſt, die Menſchen ſind nicht wofuͤr ich ſie hielt, da ich ſie nach mir ſelbſt, und mich ſelbſt nach den jugendlichen Empfindungen eines gefuͤhlvollen Herzens, und nach einer noch ungepruͤften Unſchuld beur - theilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmſte, was Hippias von ihnen ſagte; und wenn ſie nichts beſ - ſers ſind, was fuͤr Urſache habe ich, mich daruͤber zu beſchweren, daß ſie ſich nicht nach Grundſaͤzen behandeln laſſen, die in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur ſtehen? An mir war der Fehler, an mir, der einen Mercur aus einem knottichten Feigenſtok ſchnizeln wollte. Sagte er mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu gewar - ten haͤtte, wenn ich den Plan meines Lebens nach meinen Jdeen einrichten wuͤrde. Seine Vorherſagung haͤtte nicht richtiger eintreffen koͤnnen. Haͤtte ich ſeinen Grundſaͤzen gefolgt, haͤtte ich mich ehmals zu Athen, oder hier zu Syracus ſo betragen, wie Hippias an meinem Plaze gethan haben wuͤrde ‒ ‒ ſo wuͤrde ich meine Abſichten ausgefuͤhrt haben; ſo wuͤrde ich gluͤk -lich275Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. lich geweſen ſeyn ‒ ‒ und der Himmel weiß, ob es den Sicilianern deſto ſchlimmer ergangen waͤre. Dieſes iſt nun das zweyte mal, daß Philiſtus, ein aͤchter Anhaͤn - ger des Syſtems meines Sophiſten, ob er gleich nicht faͤhig waͤre es ſo zuſammenhaͤngend und ſcheinbar vor - zutragen, uͤber Weisheit und Tugend den Sieg davon getragen hat. ‒ ‒ Und habe ich noch der Erfahrung vonnoͤthen, um zu wiſſen, daß er eben ſo gewiß uͤber einen andern Plato, und uͤber einen andern Agathon ſiegen wuͤrde? ‒ ‒ Wieviel ließ ich von meinen Grund - ſaͤzen nach, wie tief ſtimmte ich mich ſelbſt herab, da ich die Unmoͤglichkeit ſah, diejenigen mit denen ich’s zu thun hatte, ſo weit zu mir heraufzuziehen? Wozu half es mir? ‒ ‒ ich konnte mich nicht entſchlieſſen niedertraͤch - tig zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein Verraͤther an dem wahren Jntereſſe des Fuͤrſten und des Landes zu werden ‒ ‒ und ſo verlor’ ich die Gunſt des Fuͤrſten, und die einzige Belohnung, die ich fuͤr meine Arbeiten verlange, die Vortheile, welche dieſes Land von meiner Verwaltung zu genieſſen anfieng, auf ein - mal, weil ich mich nicht dazu bequemen konnte, alles fuͤr anſtaͤndig und recht zu halten, was nuͤzlich iſt ‒ ‒ O! gewiß Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine Moral, deine Staatskunſt, gruͤnden ſich auf die Er - fahrung aller Zeiten. Wenn ſind die Menſchen jemals anders geweſen? Wenn haben ſie jemals die Tugend hochgeſchaͤzt, als wenn ſie ihrer Dienſte benoͤthigt wa - ren; und wenn iſt ſie ihnen nicht verhaßt geweſen, ſo bald ſie ihren Leidenſchaften im Lichte ſtuhnd?
S 2Dieſe276Agathon.Dieſe Betrachtungen fuͤhrten unſern Helden bis an die aͤuſſerſte Spize des tiefen Abgrunds, der zwiſchen dem Syſtem der Tugend, und dem Syſtem des Hip - pias liegt; aber der erſte ſchuͤchterne Blik, den er hin - unter wagte, war genug, ihn mit Entſezen zuruͤkfahren zu machen. Die Begriffe des weſentlichen Unterſchieds zwiſchen Recht und Unrecht, und die Jdeen des ſittli - chen Schoͤnen, hatten zu tiefe Wurzeln in ſeiner Seele gefaßt, waren zu genau mit den zarteſten Fibern der - ſelben verflochten und zuſammengewachſen, als daß es moͤglich geweſen waͤre, daß irgend eine zufaͤllige Ur - ſache, ſo ſtark ſie immer auf ſeine Einbildung und auf ſeine Leidenſchaften wuͤrken mochte, ſie haͤtte ausreuten koͤnnen. Die Tugend hatte bey ihm keinen andere Sach - walter noͤthig als ſein eignes Herz. Jn eben dem Augenblik, da eine nur allzugegruͤndete Miſanthropie ihm die Menſchen in einem veraͤchtlichen Lichte, und vielleicht wie gewiſſe Spiegel, um ein gutes Theil haͤß - licher zeigte, als ſie wuͤrklich ſind, fuͤhlte er mit der vollkommenſten Gewißheit, daß er, um die Crone des Monarchen von Perſien ſelbſt, weder Hippias noch Phi - liſtus ſeyn wollte; und daß er, ſobald er ſich wieder in die nehmliche Umſtaͤnde geſezt ſaͤhe, eben ſo handeln wuͤrde, wie er gehandelt hatte, ohne ſich durch irgend eine Folge davon erſchreken zu laſſen. Hingegen konnte es nicht wol anders ſeyn, als daß dieſe Betrachtungen, denen er ſich ſeit ſeinem Fall, und ſonderheitlich waͤh - rend ſeiner Gefangenſchaft, faſt gaͤnzlich uͤberließ, den Ueberreſt des moraliſchen Enthuſiaſmus, von dem wirihn277Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. ihn bey ſeiner Flucht aus Smyrna erhizt geſehen haben, vollends verzehren mußten. Der Gedanke fuͤr das Gluͤk der Menſchen, fuͤr das allgemeine Beſte der ganzen Gat - tung zu arbeiten, verliehrt ſeinen maͤchtigen Reiz, ſo - bald wir klein von dieſer Gattung denken. Die Groͤſſe dieſes Vorhabens iſt es eigentlich, was den Reiz derſel - ben ausmacht ‒ ‒ und dieſe ſchrumpft natuͤrlicher Weiſe ſehr zuſammen, ſobald wir uns die Menſchen als eine Heerde von Creaturen vorſtellen, deren groͤſſeſter Theil ſeine ganze Gluͤkſeligkeit, den lezten Endzwek aller ſeiner Bemuͤhungen auf ſeine koͤrperliche Beduͤrfniſſe einſchraͤnkt, und dabey dumm genug iſt, durch eine niedertraͤchtige Unterwuͤrfigkeit unter eine kleine Anzahl der ſchlimmſten ſeiner Gattung, ſich faſt immer in den Fall zu ſezen, auch dieſer bloß thieriſchen Gluͤkſeligkeit nur ſelten oder auf kurze Zeit, bittweiſe oder verſtohlner Weiſe habhaft zu werden. Jedes Thier ſucht ſeine Nahrung ‒ ‒ graͤbt ſich eine Hoͤhle, oder baut ſich ein Neſt ‒ ‒ begattet ſich ‒ ‒ ſchlaͤft ‒ ‒ und ſtirbt. Was thut der groͤſſeſte Theil der Menſchen mehr? Das betraͤchtlichſte Geſchaͤfte, das ſie von den uͤbrigen Thieren voraus haben, iſt die Sorge ſich zu bekleiden, welche die hauptſaͤchlichſte Beſchaͤf - tigung vieler Millionen ausmacht. Und ich ſollte, (ſagte Agathon in einer von ſeinen ſchlimmſten Launen zu ſich ſelbſt) ich ſollte meine Ruhe, meine Vergnuͤgun - gen, meine Kraͤfte, mein Daſeyn der Sorge aufopfern, damit irgend eine beſondere Heerde dieſer edeln Crea - turen beſſer eſſe, ſchoͤner wohne, ſich haͤuffiger begatte, ſich beſſer kleide, und weicher ſchlafe als ſie zuvor tha -S 3ten,278Agathon. ten, oder als andere ihrer Gattung thun? ‒ ‒ Jſt das nicht alles was ſie wuͤnſchen? Und gebrauchen ſie mich dazu? Was ſollte mich bewegen, mir dieſe Verdienſte um ſie zu machen? Jſt vielleicht nur ein einziger unter ihnen, der bey allem was er unternimmt, eine edlere Abſicht hat, als ſeine eigne Befriedigung? Bin ich ihnen etwan einige Hochachtung oder Dankbarkeit dafuͤr ſchuldig, daß ſie fuͤr meine Beduͤrfniſſe oder fuͤr mein Vergnuͤgen arbeiten? Jch bin ſchuldig, ſie dafuͤr zu be - zahlen; das iſt alles was ſie wollen, und alles was ſie an mich fordern koͤnnen.
Himmel! ‒ ‒ ſo daͤucht mich, hoͤre ich hier einige ruͤhrende Stimmen ausruffen ‒ ‒ iſt’s moͤglich? Konnte Agathon ſo denken? So klein, ſo unedel ‒ ‒ ſo kalt, meine ſchoͤnen Damen, ſo kalt! Und ſie werden mir ge - ſtehen, daß man in einer Einkerkerung von zween oder drey Monaten, die man ſich ganz allein durch groſſe und edle Geſinnungen zugezogen, gute Gelegen - heit hat, ſich von der Hize der großmuͤthigen Schwaͤr - merey ein wenig abzukuͤhlen ‒ ‒ Aber was wird nun aus der Tugend unſers Helden werden? ‒ ‒ Was iſt die Tugend ohne dieſes ſchoͤne Feuer, ohne dieſe erhabene Begeiſterung, welche den Menſchen uͤber die uͤbrigen ſeiner Gattung, welche ihn uͤber ſich ſelbſt erhoͤht, und zu einem allgemeinen Wolthaͤter, zu einem Genius, zu einer ſubalternen Gottheit macht? ‒ ‒ Wir geſtehen es, ſie iſt ohne dieſe aͤtheriſche Flamme ein ſehr unanſehn - liches, ſehr wenig glaͤnzendes Ding ‒ ‒ „ Und wie traurig„ iſt279Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. „ iſt es, die Tugend unſers Helden gerade da unter - „ liegen zu ſehen, wo ſie ſich in ihrer groͤſſeſten Staͤrke „ zeigen ſollte? ‒ Wie? ‒ ‒ erliegen, weil man Wider - „ ſtand findet? Die gute Sache aufgeben, weil man, „ und vielleicht ohne Noth, an einem gluͤklichen Aus - „ gang verzweifelt? Was iſt denn die wahre Tugend „ anders, als ein immerwaͤhrender Streit mit den Lei - „ denſchaften, Thorheiten und Laſtern ‒ ‒ in uns, und „ auſſer uns? „ ‒ ‒ Vortreflich! ‒ ‒ und in Bunyaus Reiſe ſo wol ausgefuͤhrt, meine Herren, daß ihr uns hier weiter nichts zu ſagen braucht. Es iſt bedaurlich, daß unſer Held ſeine Rolle nicht beſſer behauptet ‒ ‒ Aber allem Anſehen nach, war er wol niemals ein Held ‒ ‒ und wir hatten Unrecht ihm einen ſo ehren - vollen Namen beyzulegen ‒ ‒ „ Das eben nicht; er fieng „ vortreflich an; er war ein Held, da er ſich den zu - „ dringlichen Liebkoſungen der verfuͤhriſchen Pythia ent - „ riß „ ‒ ‒ Das konnte die ſcheue und ſchaamhafte Un - ſchuld der unbaͤrtigen Jugend gethan haben; und liebte er damals nicht die ſchoͤne Pſyche? ‒ ‒ „ So verdiente „ er doch ein Held genennt zu werden, als er den Muth „ hatte, ſich eines verlaſſenen Unſchuldigen gegen eine „ maͤchtige Parthey anzunehmen? „ ‒ ‒ Jhr koͤnntet vielleicht eben ſoviel aus Ehrgeiz ‒ ‒ oder aus Haß gegen einen der Feinde eures Clienten ‒ ‒ oder aus einer ge - heimen Abſicht auf die Gemalin eures Clienten ‒ ‒ oder um vierzig tauſend Livres aus der Caſſe eures Clienten thun? ‒ ‒ und ihr haͤttet in keinem von dieſen Faͤllen eine Heldenthat gethan. Daß Agathon damals ausS 4edeln280Agathon. edeln Geſinnungen handelte, wiſſen wir ‒ ‒ von ihm ſelbſt; und wir haben Gruͤnde, es ihm zu glauben ‒ ‒ aber er konnte ſich mit der groͤſſeſten Wahrſcheinlichkeit einen glaͤnzenden Succeß verſprechen; und was fuͤr ein Triumph war das fuͤr die Ruhmbegierde eines Juͤng - lings von zwanzig Jahren? ‒ ‒ „ Nun, ſo war er doch „ gewiß ein Held, da er gleichmuͤthig und unerſchuͤtter - „ lich ſich dem ungerechten Verbannungs-Urtheil der „ Athenienſer unterzog, und lieber das aͤuſſerſte erdul - „ den, als ſeine Loßſprechung einer Niedertraͤchtigkeit „ zu danken haben wollte! ‒ ‒ So war er’s damals, „ da er von ſich ſagen konnte: „ Jch verwieß es der „ Tugend nicht, daß ſie mir den Haß und die Verfol - „ gungen der Boͤſen zugezogen hatte; ich fuͤhlte, daß „ ſie ſich ſelbſt belohnt. „ ‒ ‒ Jn der That, er war in dieſem Augenblik groß; aber wir muͤſſen nicht vergeſ - ſen, daß er ſich damals in einem auſſerordeutlichen Zuſtande, auf dem aͤuſſerſten Grade dieſes Enthuſias - mus der Tugend befand, der den Menſchen vergeſſen macht, daß er nur ein Menſch iſt. Dieſe Art von Hel - denthum daurt natuͤrlicher Weiſe nicht laͤnger, als der Paroxyſmus des Affects. Agathon war ſich damals, als er ſo dachte, einer unbeflekten Tugend bewußt; und zu was fuͤr einem Stolz mußte dieſes Gefuͤhl ſeine Seele in einem Augenblik aufſchwellen, da ſich ganz Athen zuſammenverſchworen zu haben ſchien, ihn zu demuͤthigen; in einem Augenblik, da dieſer Stolz der ganzen Laſt ſeines Ungluͤks das Gleichgewicht halten mußte, und ihm den Triumph verſchafte, die Herrenuͤber281Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. uͤber ſein Schikſal die ganze Obermacht, die ihm ſeine Tugend uͤber ſie gab, fuͤhlen zu laſſen? Dieſe Art von Stolz gleicht in ihren Wuͤrkungen der Wuth eines tapfern Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird. Die Gewißheit des Todes, in den er ſich hineinſtuͤrzt, macht, daß er Thaten eines Unſterblichen thut. Aber Agathon hatte dermalen nicht mehr ſoviel Urſache, auf ſeine Tugend ſtolz zu ſeyn. Eben dieſe enthuſiaſtiſche Gemuͤths-Be - ſchaffenheit, welche ihm bey ſeiner Verbannung zu Athen die Geſinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu Smyrna den Schwachheiten eines gemeinen Menſchen ausgeſezt. Er dachte nicht mehr ſo groß von ſich ſelbſt, und da ihm nun, in aͤhnlichen Umſtaͤnden, dieſer heroiſche Stolz nicht mehr zu ſtatten kommen konnte, ſo mußte ſich derſelbe nothwendig in diejenige Art von Miſanthropie verwandeln, welche ſich uͤber die ganze Gattung erſtrekt. Jn dieſem Stuͤke, wie in vielen andern, iſt die Geſchichte Agathons die Geſchichte aller Menſchen. Wir denken ſo lange groß von der menſch - lichen Natur, als wir groß von uns ſelber denken; unſere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menſchen oder kleinere Geſellſchaften zum Gegenſtand. Aber ſo - bald wir in unſrer Meynung von uns ſelbſt fallen, ſinkt durch eine innerliche Gewalt uͤber welche wir nicht Meiſter ſind, unſre Meynung von der ganzen Gattung zu welcher wir gehoͤren; wir verwundern uns, daß wir nicht eher wahrgenommen, daß die Thorheiten, die Laſter derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen der Natur ſelbſt ſind, denen (mehr oder weniger, aufS 5dieſe282Agathon. dieſe oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umſtaͤnde, Temperament und Gewohnheit es mit ſich bringen) ein jeder unterworfen iſt; je genauer wir die Menſchen unterſuchen, je mehr Gruͤnde finden wir, ſo zu den - ken; und dieſe Denkungsart floͤſſet uns, zu eben der Zeit, da ſie uns eine gewiſſe Geringſchaͤzung gegen die ganze Gattung giebt, mehr Nachſicht gegen die Fehler und Gebrechen der einzelnen Perſonen, und beſondern Ge - ſellſchaften, mit denen wir in Verhaͤltniß ſtehen, ein; ſo daß wir das, was wir an jenem tugendhaften Schwulſt, welchen die Einfalt uͤbereilter Weiſe fuͤr die Tugend ſelbſt haͤlt, verliehren, zu eben der Zeit an den nothwendigſten und liebenswuͤrdigſten Tugenden, an Ge - ſelligkeit und Maͤſſigung gewinnen: Tugenden, welche zwar nichts blendendes haben, aber deſto mehr Waͤrme geben, und uns deſto geſchikter machen, unter Ge - ſchoͤpfen zu leben, welche ihrer alle Augenblike benoͤthi - get ſind.
Es iſt ein gemeiner und oft getadelter Fehler des menſchlichen Geſchlechts, daß ſie das Wunderbare mehr lieben als das Natuͤrliche, und das Glaͤnzende mehr als was nicht ſo gut in die Augen faͤllt, wenn es gleich brauchbarer und dauerhafter iſt. Dieſe Art von dem Werthe der Sachen zu urtheilen iſt nirgends betruͤglicher, als wenn ſie auf moraliſche Gegenſtaͤnde angewendet wird. Der Schluß, den man oͤfters von der Erhaben - heit der Begriffe und Empfindungen einer Perſon, und von der Fertigkeit eine gewiſſe Sprache der Begeiſtrungzu283Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. zu reden, welche (wie die homeriſche Goͤtterſprache) allen Dingen andre Namen giebt, ohne daß die Dinge ſelbſt darum etwas anders ſind, als ſie unter ihren ge - woͤhnlichen Namen ſind, auf eine auſſerordentliche Vor - treflichkeit des Characters dieſer Perſon zu machen pflegt, iſt eben ſo falſch, als das Vorurtheil, welches viele ge - gen eine gelaſſene und beſcheidene Tugend gefaßt haben, welche, ohne ſich durch feyrliches Gepraͤnge, hochfliegende Jdeen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen der menſchlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen dieſelben anzukuͤndigen, nur darum weniger zu verſpre - chen ſcheint, um im Werke ſelbſt deſto mehr zu leiſten. Dieſes vorausgeſezt koͤnnten wir vielleicht mit gutem Grunde behaupten, daß die Tugend unſers Helden, durch die neuerliche Veraͤnderung, die in ſeiner Den - kensart vorgieng, in verſchiedenen Betrachtungen, groſſe Vortheile erhalten habe. Aber (wir wollen es nur geſtehen) was ſie dabey auf einer Seite gewann, verlohr ſie auf einer andern wieder. Die Begriffe, welche wir uns von unſrer eignen Natur machen, ha - ben einen entſcheidenden Einfluß auf alle unſre uͤbrigen Begriffe. So irrig, ſo laͤcherlich und kindiſch es iſt, wenn wir uns einbilden (und doch bilden ſich das die Meiſten ein) daß der Menſch die Hauptfigur in der gan - zen Schoͤpfung, und alles andere bloß um ſeinetwillen da ſey ‒ ‒ So natuͤrlich iſt hingegen, daß er es in dem beſondern Syſtem ſeiner eignen Jdeen iſt. Jn dieſer kleinen Welt iſt und bleibt er, er wolle oder wolle nicht, der Mittelpunct ‒ ‒ der Held des Stuͤks, aufden284Agathon. den alles ſich bezieht, und deſſen Gluͤk oder Fall alles entſcheidet. Alles iſt groß, wichtig, intereſſant, wenn die Hauptperſon wichtig iſt, und eine groſſe Rolle zu ſpielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held iſt, was kann das ganze Stuͤk anders ſeyn, als eine Farce?
Man erinnert ſich vermuthlich noch der Zweifel, worinn ſich Agathon verwikelt fand, als er die bezau - berten Ufer von Jonien verließ, wo er, vielleicht zu ſeinem Vortheil, erfahren hatte, daß die Jdeen, welche ſich in den Haynen zu Delphi ſeiner jugendlichen Seele bemaͤchtiget, und durch den Unterricht und Umgang des goͤttlichen Platons zu Athen noch mehr darinn be - feſtiget hatten, ihm bey einer Gelegenheit, wo er ſich mit vollkommner Sicherheit auf ihre Staͤrke und be - ſchuͤzende Kraft verlaſſen hatte, mehr nachtheilig als nuͤz - lich geweſen waren, ja ſich endlich (zu einem billigen Verdacht gegen ihre Realitaͤt) von ganz entgegengeſez - ten ſo unmerklich und gutwillig hatten verdraͤngen laſ - ſen, daß er die Veraͤnderung nicht eher wahrgenom - men, als da ſie ſchon voͤllig zu Stande gekommen war. Agathon hatte damals keine Zeit, dieſer Zweifel wegen mit ſich ſelbſt einig zu werden; er glaubte zwar, oder hofte vielmehr uͤberhaupt, daß dasjenige was in ſeinen vormaligen Grundſaͤzen wahres ſey, ſich mit ſeinen neuerlangten Begriffen ſehr wol vereinigen laſſen werde ‒ ‒ aber er ſah doch noch nicht deutlich genug, wie? ‒ ‒ und wurde beym erſten Anblik Luͤken gewahr, welche ihmdeſto285Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. deſto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war, ſie nach dem Exempel der Meiſten, die ſich in dieſer Schwierigkeit befinden, mit dem erſten Beſten, es moͤchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm ſonſt in die Haͤnde fiele, ſeyn, auszuſtopfen. Jndeß hatten doch damals ſeine vorigen Lieblings-Jdeen noch einen ſtar - ken Anhang in ſeinem Herzen, und er beruhigte ſich, auf die Eingebungen deſſelben hin, mit der Hofnung, daß es ihm, ſobald er in ruhigere Umſtaͤnde kaͤme, leicht ſeyn wuͤrde, die Harmonie zwiſchen ſeinem Kopf und ſeinem Herzen vollkommen wieder herzuſtellen. Allein die Geſchaͤfte und die Zerſtreuungen, welche zu Syra - cus alle ſeine Zeit verſchlangen, hatten ihn genoͤthigt, eine fuͤr ihn ſo wichtige Arbeit lange genug aufzuſchie - ben, um ſie durch immer neu hervorbrechende Schwie - rigkeiten ungleich ſchwerer zu machen, als ſie anfangs geweſen waͤre. Die ungereimte und laͤcherliche Seite der menſchlichen Meynungen, Leidenſchaften, und Ge - wohnheiten iſt gemeiniglich die erſte, welche ſie einem Manne von Verſtand und Wiz zeigen, der die Muſſe nicht hat, ſie mit anhaltender Aufmerkſamkeit zu be - trachten. Agathon gewoͤhnte ſich alſo unvermerkt an dieſe Art, die Sachen anzuſchauen; die natuͤrliche Hei - terkeit und Lebhaftigkeit ſeiner Sinnesart diſponirte ihn ohnehin dazu; und die Syracuſaner, deren Cha - racter eine Vermiſchung des Athenienſiſchen und Corinthi - ſchen, oder eine Compoſition von den widerſprechende - ſten Eigenſchaften, welche ein Volk nur immer haben kan, ausmachte ‒ ‒ und ein Hof, wie Dionyſens Hof war ‒ ‒ ‒ verſahen ihn ſo reichlich mit comiſchen Cha -ractern,286Agathon. ractern, Bildern und Begebenheiten, daß der Abſaz, welchen der gegenwaͤrtige Ton ſeiner Seele (wenn man uns dieſes mahleriſche Kunſt-Wort hier erlauben will) mit ſeinem ehmaligen machte, von Tag zu Tag immer ſtaͤrker werden mußte. Der Oromasdes und Ari - manius der alten Perſen werden uns nicht als toͤdli - chere Feinde vorgeſtellt, als es der comiſche Geiſt, und der Geiſt des Enthuſiaſmus ſind; und die natuͤrliche Antipathie dieſer beyden Geiſter wird dadurch nicht wenig vermehrt, daß beyde gleich geneigt ſind, uͤber die Grenzen der Maͤſſigung hinauszuſchweiffen. Der Enthuſtaſtiſche Geiſt ſteht alles in einem ſtrengen feyer - lichen Licht; der Comiſche alles in einem milden und lachenden; nichts iſt dem erſten leichter als ſo weit zu - gehen, bis ihm alles, was Spiel und Scherz heißt, verdammlich vorkommt; nichts dem andern leichter, als gerade in demjenigen, was jener mit der groͤſſeſten Ernſt - haftigkeit behandelt, am meiſten Stof zum Scherzen und Lachen zu finden.
Nehmen wir zu dieſem noch, daß der leichtſinnige und ſcherzhafte Ton von jeher den Hoͤfen vorzuͤglich ei - gen geweſen iſt ‒ ‒ und den beſondern Umſtand, daß die anmaßlichen Academiſten, oder Hof-Philoſophen des Dionys, den einzigen Ariſtipp ausgenommen, eine Art von Tragi-comiſchen Narren vorſtellten, welche recht mit Fleiß dazu ausgeſucht zu ſeyn ſchienen, um die erha - benen Wiſſenſchaften, fuͤr deren Prieſter und Myſtago - gen ſie ſich ausgeben, ſo veraͤchtlich zu machen, als ſie ſelbſt waren ‒ ‒ Nehmen wir alles dieſes zuſammen, ſo werden wir uns kaum verwundern koͤnnen, wie esmoͤglich287Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. moͤglich geweſen, daß unſer Held nach und nach ſich endlich auf einem Punct befand, wo ihn damals, da er in der Grotte der Nymphen auf Erſcheinungen der Goͤtter wartete ‒ ‒ oder da er die Grundſaͤze, die Ver - heiſſungen und die Freundſchaft des Sophiſten Hippias mit einem ſo feurigen Unwillen von ſich ſtieß ‒ ‒ ver - muthlich niemand, oder nur die ſchlaueſten Kenner des menſchlichen Herzens erwartet haben moͤgen ‒ ‒ nehm - lich da, wo ihm ein groſſer Theil ſeiner vormaligen Jdeen, an denen er zu Smyrna nur zu zweiffeln ange - fangen hatte, nun ſelbſten ganz ſchimaͤriſch und belachens - werth, und diejenigen, deren Gegenſtaͤnde ihm zwar ehrwuͤrdig bleiben mußten, doch ſubjectiviſch betrachtet, in der barokiſchen Geſtalt, wie ſie in der Einbildung der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermiſcht oder verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen ſchienen, als luſtig damit zu machen.
Unſere nachdenkenden Leſer werden nunmehr ganz deutlich begreiffen, warum wir Bedenken getragen ha - ben, dem Urheber der Griechiſchen Handſchrift in ſei - nem allzuguͤnſtigen Urtheil von dem gegenwaͤrtigen mo - raliſchen Zuſtande unſers Helden, Beyfall zu geben. Wir koͤnnen uns nicht verbergen, daß dieſer Zuſtand fuͤr ſeine Tugend gefaͤhrlich iſt, und deſto gefaͤhrlicher, je mehr man in demſelben durch eine gewiſſe Behaglich - keit, Munterkeit des Geiſtes, und andre Anſcheinungen einer voͤlligen Geſundheit, ſicher gemacht zu werden pflegt, ſich in ſeinem natuͤrlichen Zuſtande zu glauben. Nicht als ob es uns eben ſo leid ſey, unſern Helden (den wir mit allen ſeinen Fehlern eben ſo ſehr lieben,als288Agathon. als ob er ein Sir Carl Grandiſon waͤre) auf dem Wege zu ſehen, von allen Arten der Schwaͤrmerey von Grund aus geheilt zu werden ‒ ‒ Denn ſo viel ſchoͤnes und gu - tes ſich immer zu ihrem Vortheil ſagen laſſen mag, ſo bleibt doch gewiß, daß es beſſer iſt geſund ſeyn, und keine Enzuͤkungen haben, als die Harmonie der Sphaͤ - ren hoͤren, und an einem hizigen Fieber liegen ‒ ‒ aber wir beſorgen billig, daß die allzuſtarke Nachlaſſung, welche in der Seele eben ſowol als im Leibe, auf eine uͤbermaͤſſige Spannung zu folgen pflegt, ſeinem Herzen wenigſtens ſo nachtheilig werden koͤnnte, als es die lie - benswuͤrdige Schwaͤrmerey, womit wir ihn behaftet ge - ſehen haben, ſeiner Vernunft ſeyn mochte. Der neue Schwung, den ſeine Denkungsart zu Syracus bekam, wuͤrde uns ziemlich gleichguͤltig ſeyn, wenn die Ver - aͤnderung ſich bloß auf ſpeculative Begriffe oder den Ton und die Vertheilung des Lichts und Schattens in ſei - ner Seele erſtrekte: Aber wenn er dadurch weniger rechtſchaffen, weniger ein Liebhaber der Wahrheit, weniger empfindlich fuͤr das Beſte des menſchlichen Ge - ſchlechts, weniger edelgeſinnt, und wolthaͤtig, weniger zur vorzuͤglichen Theilnehmung an der Gluͤkſeligkeit ir - gend einer beſondern Geſellſchaft (ohne welche die an - maßliche Welt-Buͤrgerſchaft gewiſſer Leute bloſſe Groß - ſprecherey oder hoͤchſtens eine Art von Don-Quiſchotterie iſt) und zur Freundſchaft, dieſem Lieblings-Phantom ſchoͤner Seelen, weniger aufgelegt wuͤrde ‒ ‒ erlaubet mir, ihr ſtrengen Anti-Plantoniſten, denen alles Schi - maͤre heißt, was ſich nicht geometriſch beweiſen laͤßt, erlaubet mir noch weiter zu gehen ‒ ‒ wenn dieſer ſchoͤne,herz -289Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. herzerhoͤhende, wolthaͤtige, und der Tugend ſo vor - theilhafte Gedanke ‒ ‒ fuͤr eine groͤſſere Sphaͤre als dieſes animaliſche Leben, fuͤr eine edlere Art von Exiſtenz, fuͤr vollkomnere Gegenſtaͤnde, und zu einer vollkomnern Art von Activitaͤt, als unſre dermalige beſtimmt zu ſeyn ‒ ‒ und die begeiſternden, wiewol traͤumeriſchen Auſſichten, die uns dieſer Beſte aller Gedanken giebt ‒ ‒ wenn er keinen Reiz, keine Macht auf ſeine Seele mehr haͤtte ‒ ‒ O! Agathon, Agathon! dann wuͤrdeſt du, nicht unſern Haß, nicht eine liebloſe Beurtheilung, nicht eine triumphirende Freude uͤber deinen Fall, aber ‒ ‒ unſer Mitleiden verdienen.
Die Gemuͤths-Verfaſſung worinn wir ihn in dieſem Capitel geſehen haben, ſcheint allerdings nicht ſehr ge - ſchikt zu ſeyn, uns uͤber dieſen Punct ſeinetwegen auſſer Sorgen zu ſezen. Es iſt eine ſo unbeſtaͤndige Sache um die Begriffe, Meynungen und Urtheile eines Men - ſchen! Die Umſtaͤnde, der beſondere Geſichts-Punct, in den ſie uns ſtellen, die Geſellſchaft worinn wir leben, tauſend kleine Einfluͤſſe, die wir einzeln nicht gewahr werden, haben ſoviel Gewalt uͤber dieſes unerklaͤrbare, launiſche, widerſinniſche Ding, unſre Seele! ‒ ‒ daß wir nicht Buͤrge dafuͤr ſeyn wollten, was aus unſerm Helden haͤtte werden koͤnnen, wofern er mit ſolchen Diſpo - ſitionen in eine Geſellſchaft von Hippiaſſen und Alcibia - den, oder zuruͤk in die ſchoͤne Welt zu Smyrna verſezt worden waͤre. Zu gutem Gluͤk ſehen wir ihn im Be - griff, zu Leuten zukommen, welche ihn mit der Menſch -[Agath. II. Th.] Theit290Agathon. heit wieder ausſoͤhnen, und ſeinem ſchon erkaltenden Herzen dieſe beſeelende Waͤrme wieder mittheilen wer - den, ohne welche die Tugend eine bloſſe Speculation iſt, die zwar einen unerſchoͤpflichen Stoff zu ſcharfſinni - gen Betrachtungen giebt, aber unter den vielerley chymi - ſchen Proceſſen, welche die allzuſpizfuͤndige Vernunft mit ihr vornimmt, endlich ein ſo abgezogenes, ſo feines, ſo delicates Ding wird, daß ſich kein Gebrauch davon machen laͤßt.
So ſehr ſich auch die Einbildungs-Kraft unſers Helden abgekuͤhlt hat, ſo unzuverlaͤſſig, uͤbertrieben und grillenhaft er die Geiſter-Lehre und die metaphyſi - ſche Politik ſeines Freundes Plato zu finden glaubt; ſo comiſch ihm ſeine eigene Ausſchweifungen in dem Stande der Bezauberung, worinn er ſich ehemals be - funden, vorkommen; ſo klein er uͤberhaupt von den Menſchen denkt, und ſo feſt er entſchloſſen zu ſeyn ver - meynt, von dem ſchoͤnen Phantom, wie er es izo nennt, von dem Gedanken, ſich Verdienſte um ſeine Gattung zu machen, in ſeinem Leben ſich nicht wieder taͤuſchen zu laſſen; ſo iſt es doch bey weitem noch nicht an dem, daß er dieſe zarte Empfindlichkeit der Seele, und dieſen eingewurzelten Hang zu dem idealiſchen Schoͤnen verlohren haben ſollte, der das geheime Prin - cipium ſeiner ehemaligen Begeiſterung, und aller der manchfaltigen Schwaͤrmereyen, Bezauberungen und Entzuͤkungen, in deren magiſchem Labyrinthe ſie ihn, nach Maßgabe der Umſtaͤnde, herumgefuͤhrt, geweſen iſt. Die verſtohlnen Blike, die er noch ſo gerne indie291Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. die Scenen ſeiner gluͤklichen Jugend wirft; das Bild der liebenswuͤrdigen Pſyche, welches durch alle Veraͤn - derungen, die in ſeiner Seele vorgegangen, nichts von ſeinem Glanze verlohren hat; die Erinnerung die - ſer reinen, unbeſchreiblichen, faſt vergoͤtternden Wol - luſt, in welcher ſein Herz zerfloß, als er es noch in ſeiner Gewalt hatte, Gluͤkliche zu machen; und als die Reinigkeit dieſer goͤttlichen Luſt noch durch keine Erfah - rungen von der Undankbarkeit und Boßheit der Men - ſchen verduͤſtert und truͤbe gemacht wurde ‒ ‒ dieſe Bil - der, denen er ſich noch ſo gerne uͤberlaͤßt ‒ ‒ welche ſich ſelbſt in ſeinen Traͤumen ſeiner geruͤhrten Seele ſo oft und ſo lebhaft darſtellen ‒ ‒ die Seufzer, die Wuͤnſche, die er dieſen geliebten verſchwindenden Schatten nach - ſchikt ‒ ‒ alle dieſe Symptomen ſind uns Buͤrge dafuͤr, daß er noch Agathon iſt; daß die Veraͤnderung in ſeinen Begriffen und Urtheilen, die neue Theorie von allem dem, was wuͤrklich ein Gegenſtand unſrer Nachforſchung zu ſeyn verdient, oder von Eitelkeit und Vorwiz dazu gemacht worden, welche ſich in ſeiner Seele zu entwikeln angefangen, die edlern Theile ſeines Herzens nicht ange - griffen habe; kurz, daß wir uns Hofnung machen koͤn - nen, aus dem Streit der beyden widerwaͤrtigen und feindlichen Geiſter, wodurch ſeine ganze innerliche Ver - faſſung ſeit einiger Zeit erſchuͤttert, verwirrt und in Gaͤhrung geſezt worden, zulezt eine eben ſo ſchoͤne Har - monie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu ſe - hen, wie nach dem Syſtem der alten Morgenlaͤndiſchen Weiſen, aus dem Streit der Finſterniß und des Lichts, dieſe ſchoͤne Welt hervorgegangen ſeyn ſoll.
BJs hieher ſcheint die Geſchichte unſers Helden, wenigſtens in den hauptſaͤchlichſten Stuͤken, dem ordent - lichen Lauf der Natur, und den ſtrengeſten Geſezen der Wahrſcheinlichkeit ſo gemaͤß zu ſeyn, daß wir keinen Grund ſehen, an der Wahrheit derſelben zu zweifeln. Aber in dieſem eilften Buch, wir muͤſſen es geſtehen, ſcheint der Autor aus dieſer unſrer Welt, welche, un - partheyiſch von der Sache reden, zu allen Zeiten nichts beſſers als eine Werkel-Tags-Welt (wie Shakeſpear ſie irgendwo nennt) geweſen iſt, ein wenig in das Land der Jdeen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade ſo ausfallen, wie man ſie haͤtte wuͤnſchen koͤn - nen, und um alles auf einmal zu ſagen, in das Land der ſchoͤnen Seelen, und der utopiſchen Republikenverirret293Eilftes Buch, erſtes Capitel. verirret zu ſeyn. Es ſtehet bey den Leſern, ihm hierinn ſoviel Glauben beyzumeſſen, als ſie gerne wollen; wir an unſerm Theil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unſere Abſichten ſind bereits erreicht, und die gluͤk - lichen oder ungluͤklichen Umſtaͤnde, welche dem Agathon noch bevorſtehen moͤgen, haben nichts damit zu thun. Jndeſſen glauben wir doch, daß der Autor allen den gutherzigen Leuten, welche ſich fuͤr den Helden einer ſolchen Geſchichte nach und nach intereſſiren, und gerne haben, wenn ſich am Ende alles zu allerſeitigem Ver - gnuͤgen, mit Entdekungen, Erkennungen, gluͤklichem Wiederfinden der verlohrnen Freunde, und etlichen Hoch - zeiten endet, einen Gefallen gethan habe, ſeinen Hel - den, nachdem er eine hinlaͤngliche Anzahl guter und ſchlimmer Abentheuer beſtanden hat, endlich fuͤr ſeine ganze uͤbrige Lebens-Zeit gluͤklich zu machen. Es mag ſeyn, daß der Verfaſſer der griechiſchen Handſchrift hierinn ſeinem guten Naturell den Lauf gelaſſen hat; denn in der That, ſcheint es ein Zeichen eines harten und grauſamen Herzens zu ſeyn, welches ein Vergnuͤ - gen an der Quaal und den Thraͤnen ſeiner unſchuldigen Leſer findet, wenn man alles anwendet, uns fuͤr den Helden und die Heldin einer wundervollen Geſchichte einzunehmen, bloß um uns zulezt durch einen ſo jaͤmmer - lichen Ausgang, als eine ſchwermuͤthige, menſchen - feindliche Jmagination nur immer erdenken kan, in ei - nen deſto empfindlichern und unleidlichern Schmerz zu verſenken, da es lediglich bey dem guten Willen des Autors ſtuhnd, uns deſſelben zu uͤberheben. GleichwolT 3aber294Agathon. aber ſcheint uns unſer edler geſinnte Verfaſſer noch eine andre Abſicht dabey gehabt zu haben, welche er, ohne ſich einer noch groͤſſern Unwahrſcheinlichkeit ſchuldig zu machen, nicht wol anders als durch dieſe nicht allzu - wahrſcheinliche Verbindung gluͤklicher Umſtaͤnde, worein er ſeinen Helden in dieſem Buche ſezt, erreichen konnte ‒ ‒ Und was fuͤr eine Abſicht mag das wol ſeyn? ‒ ‒ Jch will es ihnen unverbluͤmt und ohne Umſchweiffe ſagen, meine Herren und Damen, ob ich gleich beſorgen muß, daß die ungewoͤhnliche Offenherzigkeit, welche ich ihnen in dem ganzen Lauffe dieſes Werkes habe ſehen laſſen, mir von einem oder dem andern aus ihrem Mittel uͤbel aufgenommen werden moͤchte ‒ ‒ Unſer Verfaſſer wollte dem Vorwurf ausweichen, welchen Horaz gleichnißweiſe in dem bekannten Verſe ‒ ‒
denjenigen Dichtern macht, in deren Werken das Ende ſich nicht zu dem Anfang ſchikt. Er wollte in ſeinem Helden, deſſen Jugend und erſte Auftritte in der Welt ſo groſſe Hofnungen erwekt hatten, nachdem er ihn durch ſo viele verſchiedene Umſtaͤnde gefuͤhrt, als er fuͤr noͤthig hielt ſeine Tugend zu pruͤfen, zu laͤutern und zu der gehoͤrigen Conſiſtenz zu bringen, am Ende einen ſo weiſen und tugendhaften Mann darſtellen, als man nur immer unter der Sonne zu ſehen wuͤnſchen, oder nach Geſtalt der Sachen, erwarten koͤnnte. Der Enthu - ſiaſmus, der die eigentliche Anlage ſeines Helden zueinem295Eilftes Buch, erſtes Capitel. einem mehr als gewoͤhnlichen Grade moraliſcher Voll - kommenheit enthielt, verhinderte ihn zu eben der Zeit da er ſeine Tugend erhoͤhte, ſo weiſe zu ſeyn, als man ſeyn muß, um nicht mit den erhabenſten Begriffen, und den edelſten Geſinnungen, von ſich ſelbſt und von andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken, welche ihn zu einer hoͤhern Claſſe von Weſen als die gewoͤhn - lichen Menſchen ſind, zu erheben ſchien, ſezte ihn dem Neid, der verkehrten Beurtheilung, den Nachſtellungen und Verfolgungen dieſer Menſchen aus; und machte ihn, welches fuͤr ſeine Tugend das Schlimmſte war, unvermerkt vergeſſen, daß er im Grunde doch immer weder mehr noch weniger ſey, als ein Menſch. Die Erfahrungen, die er endlich hieruͤber bekam, oͤfneten ihm die Augen, und zerſtreuten einen Theil der Bezau - berung; er lernte ſich ſelbſt beſſer kennen; aber er kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und groſ - ſes Theater, auf welches er verſezt wurde, half dieſem Mangel ab; eine immer weiter ausgebreitete und ver - vielfaͤltigte Erfahrung ſtimmte ſeine allzuidealiſche Denk - Art herab, und uͤberfuͤhrte ihn, daß er, wie der groß - muͤthige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha (dieſes lehrreiche Bild der Schwachheiten und Verir - rungen des menſchlichen Geiſtes!) Windmuͤhlen fuͤr Rie - ſen, Wirthshaͤuſer fuͤr bezauberte Schloͤſſer, und Dorf-Nymphen fuͤr goͤttliche Dulcineen angeſehen hatte. Er wurde weiſer, aber auf Unkoſten ſeiner Tugend. So wie die Bezauberung ſeiner Einbildungs-Kraft vor - gieng, hoͤrte auch die Begierde auf, groſſe Thaten zuT 4thun,296Agathon. thun, allem Unrecht in der Welt zu ſteuern, mit den Feinden der allgemeinen Gluͤkſeligkeit ſich herumzuſchla - gen, und die Menſchen, wider ihren Dank und Wil - len, gluͤklich machen zu wollen. Nun ſage man mir, nachdem es mit unſerm Helden dazu gekommen war, (und, alles wol erwogen, mußte es auf eine oder andere Art endlich dazu kommen; denn die edelſte, die liebenswuͤrdigſte Schwaͤrmerey, wenn ſie gar zu lange dauert, und ſich ſo gar durch die Maul-Eſel-Treiber von Jangois nicht austreiben laſſen will, wird endlich zu Narrheit,) was ſollte, was konnte unſer Autor nun weiter mit ihm anfangen? Einen miſanthropiſchen Einſiedler aus ihm machen? ‒ ‒ Dazu war ſein Kopf zu heiter und ſein Herz zu ſchwach ‒ ‒ oder zu zaͤrt - lich ‒ ‒ oder zu gut; was ihr wollt; und zudem mochte unſer Autor, der ein Grieche war, und wenigſtens in die Zeiten des Alciphrons geſezt werden muß, (wie die Gelehrten ohne unſer Erinnern bemerkt haben) vermuthlich von der Vortreflichkeit einer einſiedleriſchen Tugend die erhabenen Begriffe nicht haben, welche man ſich in den wundervollen Zeiten des dreyzehnten und vierzehnten Jahrhunderts bis zu unſern philoſophi - ſchen Zeiten davon gemacht hat, und (allem Anſehen nach) in einigen Laͤndern noch lange machen wird. Jhn wieder in die weite Welt zuruͤkzufuͤhren, waͤre nichts anders geweſen, als ihn der augenſcheinlichſten Gefahr ausſezen, in ſeiner antiplatoniſchen Denk-Art durch immer neue Erfahrungen beſtaͤrkt, und durch die Geſellſchaft wiziger und liebenswuͤrdiger Leute,welche297Eilftes Buch, erſtes Capitel. welche entweder gar keine Grundſaͤze, oder nicht viel beſſere als der weiſe Hippias, gehabt haͤtten, nach und nach auch um dieſen koſtbaren Ueberreſt ſeine ehemalige Tugend gebracht zu werden, den er gluͤklicher Weiſe aus der verpeſteten Luft der groſſen Welt noch davon ge - bracht hat. Vielleicht haͤtte er in ſolchen Umſtaͤnden noch immer eine Art von Mittel zwiſchen Weisheit und Thorheit, eine mehr laͤcherliche als haſſenswuͤrdige Compoſition von kuͤhnem Wiz und unſchluͤſſiger Ver - nunft, von wahren und willkuͤhrlichen Begriffen, von Aberglauben und Unglauben, von guten und boͤſen Lei - denſchaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich betruͤglichen Tugenden und Laſtern; kurz, eine ſo vor - trefliche Art von Geſchoͤpfen werden koͤnnen, wie un - gefehr die meiſten von uns andern find, wir moͤgen es nun einſehen ‒ ‒ und wenn wir’s einſehen, eingeſte - hen ‒ ‒ oder nicht. Bey ſo bewandten Umſtaͤnden, und da es (wie geſagt) nun einmal die Abſicht des Autors war, aus ſeinem Helden einen tugendhaften Weiſen zu machen, und zwar ſolchergeſtalt, daß man ganz deutlich moͤchte begreiffen koͤnnen, wie ein ſolcher Mann ‒ ‒ ſo gebohren ‒ ‒ ſo erzogen ‒ ‒ mit ſolchen Faͤ - higkeiten und Diſpoſitionen ‒ ‒ mit einer ſolchen beſon - dern Beſtimmung derſelben ‒ ‒ nach einer ſolchen Reihe von Erfahrungen, Entwiklungen und Veraͤnderun - gen ‒ ‒ in ſolchen Gluͤks-Umſtaͤnden ‒ ‒ an einem ſolchen Ort und in einer ſolchen Zeit ‒ ‒ in einer ſolchen Ge - ſellſchaft ‒ ‒ unter einem ſolchen Himmels-Strich ‒ ‒ bey ſolchen Nahrungs-Mitteln (denn auch dieſe habenT 5einen298Agathon. einen ſtaͤrkern Einfluß auf Weisheit und Tugend, als ſich manche Moraliſten einbilden) ‒ ‒ bey einer ſolchen Diaͤt ‒ ‒ kurz, unter ſolchen gegebenen Bedingungen, wie alle diejenigen Umſtaͤnde ſind, in welche er den Agathon bisher geſezt hat, und noch ſezen wird ‒ ‒ ein ſo weiſer und tugendhafter Mann habe ſeyn koͤn - nen, und (diejenigen, welche nicht gewohnt ſind zu denken, moͤgen es nun glauben oder nicht,) unter den nemlichen, oder doch ſehr aͤhnlichen Umſtaͤnden, es auch noch heutzutage werden koͤnnte: Da, ſage ich, dieſes ſeine Abſicht war, ſo blieb ihm freylich kein an - drer Weg uͤbrig, als ſeinen Helden in dieſen Zuſam - menhang gluͤklicher Umſtaͤnde zu ſezen, in welchen er ſich nun bald, zu ſeinem eigenen Erſtaunen, befinden wird. Freylich iſt ein ſolcher Zuſammenfluß gluͤklicher Umſtaͤnde allzuſelten, um wahrſcheinlich zu ſeyn. Aber wie ſoll ſich ein armer Autor helfen, der (alles wol uͤberlegt) nur ein einziges Mittel vor ſich ſieht, aus der Sache zu kommen, und dieſes ein gewagtes? Man hilft ſich wie man kann, und wenn es auch durch einen Sprung aus dem Fenſter ſeyn ſollte. Der kleine Held der Koͤnigin von Golconde iſt nicht der erſte, der ſich durch dieſes Mittel helfen mußte: Julius Caͤſar wuͤrde ohne einen ſolchen Sprung das Vergnuͤgen nicht gehabt haben, als Herr der Welt (wie man, zwar laͤcherlich genug, zu ſprechen gewohnt iſt,) durch die Straſſen Roms ins Capitolium einzuziehen.
Und299Eilftes Buch, erſtes Capitel.Und ſoviel mag dann zur Rechtfertigung unſers Au - tors geſagt ſeyn; wenn es anders zu ſeiner Rechtfer - tigung dienen kan, welches wir den Kunſtrichtern uͤber - laſſen muͤſſen. Das Urtheil mag indeſſen ausfallen wie es will, ſo beladet ſich der Herausgeber, wie er ſchon erklaͤrt hat, deſſen im geringſten nicht. Die Abſich - ten, warum er die alte Urkunde, welche zufaͤlliger Weiſe in ſeine Haͤnde gekommen iſt, in einen Auszug von derjenigen Form und Beſchaffenheit, wie die vor - hergehenden zehen Buͤcher weiſen, gebracht hat, ſind bereits erreicht. Es iſt verhoffentlich unnoͤthig, ſich hier - uͤber naͤher zu erklaͤren. Doch ſoviel koͤnnen wir wol ſagen, daß er niemalen daran gedacht hat, einen Roman zu ſchreiben, wie ſich vielleicht manche, un - geachtet des Titels und der Vorrede, zu glauben in den Kopf geſezt haben moͤgen ‒ ‒ und da dieſes Buch, in ſo fern der Herausgeber Theil daran hat, kein Ro - man iſt, noch einer ſeyn ſoll; ſo hat er ſich auch um die ſo genannte Schuͤrzung des Knotens, und ob der Verfaſſer der Urkunde ſeinen Knoten geſchikt oder un - geſchikt entwikelt oder zerſchnitten hat, wenig zu be - kuͤmmern.
Archytas, durch deſſen nachdruͤkliche Verwendung Agathon der Haͤnde ſeiner Feinde zu Syracus entriſſen worden, war ein vertrauter Freund ſeines Vaters Stratonicus geweſen; ihre beyden Familien waren durch die Bande des Gaſtrechts (welches bekannter maſſen den Griechen ſehr heilig war) von uralten Zei - ten her verbunden; der ausgebreitete Ruhm, welchen ſich der Philoſoph von Tarent, als der Wuͤrdigſte un - ter den Nachfolgern des Pythagoras, als ein tiefer Kenner der Geheimniſſe der Natur und der mechani - ſchen Kuͤnſte, als ein weiſer Staatsmann, als ein ge - ſchikter und allezeit gluͤklicher Feldherr, und was allen dieſen Vorzuͤgen die Crone aufſezt, als ein rechtſchaffener Mann, in der vollkommenſten Bedeutung dieſes Worts erworben, hatte den Namen des Archytas unſerm Hel - den ſchon lange ehrwuͤrdig gemacht; und hiezu kam noch, daß deſſen juͤngerer Sohn, Critolaus, in den Zeiten des hoͤchſten Wolſtandes Agathons zu Athen zwey Jahre in ſeinem Hauſe zugebracht, und mit allen erſinn - lichen Freundſchafts-Erweiſungen uͤberhaͤuft, eine Zu - neigung von derjenigen Art fuͤr ihn gefaßt hatte, welche in ſchoͤnen Seelen (denn damals gab es noch ſchoͤne Seelen) ſich nur mit dem Leben endet. Dieſe Freund - ſchaft war zwar durch zufaͤllige Urſachen, und denAufenthalt301Eilftes Buch, zweytes Capitel. Aufenthalt Agathons zu Smyrna eine Zeitlang unter - brochen, aber ſogleich nach ſeinem Entſchluß, bey dem Dionys zu leben, wieder erneuert, und ſeither ſorg - faͤltig unterhalten worden. Agathon hatte waͤhrend ſeiner Staats-Verwaltung ſich oͤfters bey der weiſen Er - fahrenheit des Archytas Raths erholt; und die verſchie - denen Verhaͤltniſſe, worinn die Tarentiner und Syra - cuſaner, beſonders in Abſicht der Handelſchaft, mit einander ſtuhnden, hatten ihm oͤfters Gelegenheit ge - geben, ſich um die erſten verdient zu machen. Bey allen dieſen Umſtaͤnden iſt leicht zu ermeſſen, daß er den zaͤrtlichen und dringenden Einladungen ſeines Freundes Critolaus um ſo weniger widerſtehen konnte, als die Pflichten der Erkenntlichkeit gegen ſeine Erret - ter ihm keine Freyheit zu laſſen ſchienen, andere Be - weggruͤnde bey der Wahl ſeines Aufenthalts in Betrach - tung zu ziehen.
Jn der That haͤtte er ſich auch keinen zu ſeinen nun - mehrigen Abſichten bequemern Ort erwaͤhlen koͤnnen als Tarent. Dieſe Republik war damals gerade in dem Zu - ſtande, worinn ein jeder patriotiſcher Republicaner die ſeinige zu ſehen wuͤnſchen ſoll ‒ ‒ zu klein, um ehrgeizige Projecte zu machen, und zu groß, um dem Ehrgeiz und die Vergroͤßrungs-Sucht ihrer Nachbarn fuͤrchten zu muͤſſen; zu ſchwach, um in andern Unternehmungen, als in den Kuͤnſten des Friedens, ihren Vortheil zu fin - den; ſtark genug, ſich gegen einen jeden nicht allzuuͤber - maͤchtigen Feind (und ſolche Feinde hat eine kleine Re -publik302Agathon. publik ſelten) in ihrer Verfaſſung zu erhalten. Archy - tas hatte ſie, in einer Zeit von mehr als dreiſſig Jah - ren, in welcher er ſieben mal die Stelle des oberſten Befehlhabers in der Republik bekleidete, an die weiſen Geſeze, die er ihnen gegeben hatte, ſo gut angewoͤhnt, daß ſie mehr durch die Macht der Sitten als durch das Anſehen der Geſeze regiert zu werden ſchienen. Der groͤſſeſte Theil der Tarentiner beſtuhnd aus Fabricanten und Handelsleuten. Die Wiſſenſchaften und ſchoͤnen Kuͤnſte ſtuhnden in keiner beſondern Hochachtung bey ihnen; aber ſie waren auch nicht verachtet. Dieſe Gleich - guͤltigkeit bewahrte die Tarentiner vor den Fehlern und Ausſchweiffungen der Athenienſer, bey denen jedermann, bis auf die Gerber und Schuſter, ein Philoſoph und Redner, ein wiziger Kopf und ein Kenner ſeyn wollte. Sie waren eine gute Art von Leuten, einfaͤltig von Sitten, emſig, arbeitſam, regelmaͤſſig, Feinde der Pracht und Verſchwendung,(*)Der Character, der hier den Tarentinern gegeben wird, macht einen ſtarken Abſaz mit demjenigen, den ſie zu den Zeiten des Koͤnigs Pyrrhus hatten, und bis zum Untergang ihrer Freyheit behielten; allein es iſt zu bemerken, daß Archytas und Pyrrhus wenigſtens 80. Jahre von einander entfernt ſind. leutſelig und gaſt - frey gegen die Fremden, Haͤſſer des Gezwungnen, Spiz - fuͤndigen und Uebertriebenen in allen Sachen, und aus eben dieſem Grunde, Liebhaber des Natuͤrlichen und Gruͤndlichen, welche bey allem mehr auf die Materie als auf die Form ſahen, und nicht begreiffen konnten,daß303Eilftes Buch, zweytes Capitel. daß eine fein gearbeitete Schuͤſſel aus corinthiſchem Erzt beſſer ſeyn koͤnne, als eine ſchlechte aus Silber, oder daß ein Narr liebenswuͤrdig ſeyn koͤnne, weil er artig ſey. Sie liebten ihre Freyheit, wie eine Gattin, nicht wie eine Beyſchlaͤferin, ohne Leidenſchaft, und ohne Eiferſucht; ſie ſezten ein billiges Vertrauen in die - jenige, denen ſie die Vormundſchaft uͤber den Staat anvertrauten; aber ſie forderten auch, daß man dieſes Vertrauen verdiene. Der Geiſt der Emſigkeit, der dieſes achtungswuͤrdige und gluͤkliche Volk beſeelte ‒ ‒ der unſchuldigſte und wolthaͤtigſte unter allen ſublunari - ſchen Geiſtern, die uns bekannt ſind ‒ ‒ machte, daß man ſich zu Tarent weniger, als in den meiſten mittelmaͤſſigen Staͤdten zu geſchehen pflegt, um andre bekuͤmmerte; in ſo fern man ſie durch keine geſezwid - rige That, oder durch einen beleidigenden Contraſt mit ihren Sitten aͤrgerte, konnte jeder leben wie er wollte. Alles dieſes zuſammengenommen, machte, wie uns daͤucht, eine ſehr gute Art von republicaniſchem Character; und Agathon haͤtte ſchwerlich einen Freyſtaat finden koͤnnen, welcher geſchikter geweſen waͤre, ſeinen gegen dieſelbe gefaßten Widerwillen zu beſaͤnftigen. Ohne Zweifel hatte dieſes Volk auch ſeine Fehler, wie alle andre; aber der weiſe Archytas, unter welchem der National - Character der Tarentiner erſt eine geſezte und feſte Ge - ſtalt gewonnen hatte, wußte diejenige Art derſelben, welche man die Temperaments-Fehler eines Volks neu - nen kan, ſo kluͤglich zu behandeln, daß ſie durch die Vermiſchung mit ihren Tugenden, beynahe aufhoͤrten,Fehler304Agathon. Fehler zu ſeyn ‒ ‒ eine nothwendige und vielleicht die groͤſſeſte Kunſt eines Geſezgebers, deren genauere Unter - ſuchung und Analyſe wir, beylaͤuffig, denenjenigen empfohlen haben wollen, welche zu der ſchweren, und vermuthlich ſpaͤtern Zeiten aufbehaltnen, aber moͤgli - chen Aufloͤſung eines Problems, welches nur von Lil - liputtiſchen Seelen fuͤr ſchimaͤriſch gehalten wird, der Aufgabe, welche Geſezgebung unter gegebenen Bedingun - gen, die beſte ſey? etwas beyzutragen ſich beruffen fuͤhlen.
Agathon entdekte beym erſten Blik an die Jtaliſchen Ufer, ſeinen Freund Critolaus, der mit einem Ge - folge der edelſten Juͤnglinge von Tarent ihm entgegen - geflogen war, um ihn in einer Art von freundſchaftli - chem Triumph in eine Stadt einzufuͤhren, welche ſich’s zur Ehre rechnete, von einem Manne wie Agathon, vor andern zu ſeinem Aufenthalt erwaͤhlt zu werden. Die angenehme Luft dieſer von einem guͤnſtigen Himmel umfloſſenen Ufer, der Anblik eines der ſchoͤnſten Laͤnder unter der Sonne, und der noch ſuͤſſere Anblik eines Freundes, von dem er bis zur Schwaͤrmerey geliebt wurde, machten unſern Helden in einem einzigen Augen - blik alles Ungemach vergeſſen, das er in Sicilien und in ſeinem ganzen Leben ausgeſtanden hatte. Ein frohes ahnendes Erwarten der Gluͤkſeligkeit, die in dieſem zum erſtenmal betretenen Lande auf ihn wartete, verbreitete eine Art von angenehmer Empfindung durch ſein gan - zes Weſen, welche ſich nicht beſchreiben laͤßt. Die un - beſtimmte Wolluſt, welche alle ſeine Sinnen zugleichein -305Eilftes Buch, zweytes Capitel. einzunehmen ſchien, war nicht dieſes ſeltſame zauberiſche Gefuͤhl, womit ihn die Schoͤnheiten der Natur und die Empfindung ihrer reinſten Triebe, in ſeiner Jugend durchdrungen hatte ‒ ‒ dieſes Gefuͤhl, dieſe Bluͤthe der Empfindlichkeit, dieſe zaͤrtliche Sympathie mit allem was lebt oder zu leben ſcheint; dieſer Geiſt der Freude, der uns aus allen Gegenſtaͤnden entgegenathmet; dieſer magiſche Firniß der ſie uͤberzieht, und uns uͤber einem Anblik, von dem wir zehn Jahre ſpaͤter kaum noch fluͤchtig geruͤhrt werden, in ſtillem Entzuͤken zerflieſſen macht ‒ ‒ dieſes beneidenswuͤrdige Vorrecht der erſten Jugend verliehrt ſich mit dem Anwachs unſrer Jahre unvermerkt, und kan nicht wieder gefunden werden; aber es war etwas, das ihm aͤhnlich war; ſeine Seele ſchien dadurch wie von allen verduͤſternden Fleken ſeines unmittelbar vorhergehenden Zuſtandes ausgewaſchen, und zu den zaͤrtlichen Eindruͤken vorbereitet zu werden, welche ſie in dieſer ueuen Periode ſeines Lebens bekom - men ſollte.
Eine ſeiner gluͤkſeligſten Stunden, (wie er in der Folge oͤfters zu verſichern pflegte) war diejenige, worinn er die perſoͤnliche Bekanntſchaft des Archytas machte. Dieſer ehrwuͤrdige Greis hatte der Natur und der Maͤſ - ſigung, welche von ſeiner Jugend an ein unterſcheiden - der Zug ſeines Characters geweſen war, den Vortheil einer Lebhaftigkeit aller Kraͤfte zu damen, welche in ſeinem Alter etwas ſeltnes iſt, aber bey den alten Griechen lange nicht ſo ſelten war, als bey den meiſten[Agath. II. Th.] UEuro -306Agathon. Europaͤiſchen Voͤlkern unſrer Zeit, bey denen es zur Gewohnheit zu werden angefangen hat, die erſte Haͤlfte des Lebens ſo unbeſonnen zu verſchwenden, daß man in der andern die geheimſten Kraͤfte der Arzney-Kunſt zu Huͤlfe ruffen muß, um einen ſchmachtenden Mittel - ſtand von Seyn und Nichtſeyn, von einem Tag zum andern erbettelter Weiſe fortſchleppen zu koͤnnen. So erkaltet als die Einbildungs-Kraft unſers Helden war, ſo konnte er doch nicht anders als etwas idealiſches in dem Gemiſche von Majeſtaͤt und Anmuth, welches uͤber die ganze Perſon dieſes liebenswuͤrdigen Alten ausge - breitet war, zu empfinden ‒ ‒ und es deſto ſtaͤrker zu empfinden, je ſtaͤrker der Abſaz war, den dieſer Anblik mit allem demjenigen machte, woran ſich ſeine Augen ſeit geraumer Zeit hatten gewoͤhnen muͤſſen ‒ ‒ Und warum konnte er nicht anders? Die Urſache iſt ganz ſimpel; weil dieſes idealiſche nicht in ſeinem Gehirne, ſondern in dem Gegenſtande ſelbſt war. Stellet euch einen groſſen ſtattlichen Mann vor, deſſen Anſehen beym erſten Blik ankuͤndiget, daß er dazu gemacht iſt, andre zu regieren, und dem ihr ungeachtet ſeiner ſilbernen Haare noch ganz wol anſehen koͤnnet, daß er vor fuͤnf - zig Jahren ein ſchoͤner Mann geweſen iſt ‒ ‒ Jhr erin - nert euch ohne Zweifel dergleichen geſehen zu haben; aber das iſt es noch nicht ‒ ‒ Stellet euch vor, daß die - ſer Mann in dem ganzen Lauffe ſeines Lebens ein tu - gendhafter Mann geweſen iſt; daß eine lange Reyhe von Jahren ſeine Tugend zu Weisheit gereift hat; daß die unbewoͤlkte Heiterkeit ſeiner Seele, die Ruhe ſeinesHerzens,307Eilftes Buch, zweytes Capitel. Herzens, die allgemeine Guͤte wovon es beſeelt iſt, das ſtille Bewuſtſeyn eines unſchuldigen und mit guten Thaten erfuͤllten Lebens, ſich in ſeinen Augen und in ſeiner ganzen Geſichts-Bildung mit einer Wahrheit, mit einem Ausdruk von ſtiller Groͤſſe und Wuͤrdigkeit ab - mahlt, deſſen Macht man fuͤhlen muß, man wolle oder nicht ‒ ‒ das iſt, was ihr vielleicht noch nicht geſehen habt ‒ ‒ das iſt das idealiſche, das ich meynte; und das war es was Agathon ſah ‒ ‒ Jhr erinnert euch doch der guten alten Frau Shirley? ‒ ‒ welche ich, fuͤr mei - nen Theil, ſo reizend und ſelbſt idealiſch auch immer die Henrietten Byrons, und ihre Rivalinnen ſind, den - noch in gewiſſen Stunden einem ganzen Serail von Henrietten, Clementinen und Emilien, (die Charlot - ten, Olivien und alle andern Goͤttinnen von dieſer Art, zuſamt der ſchoͤnen Magellone, mit eingerechnet,) vor - ziehen wollte ‒ ‒ Gut; ein Gemaͤhlde von dieſer nemli - chen alten Frau, von der Hand eines van Dyk, (wenn es noch einen van Dyk gaͤbe) wuͤrde ein Cabi - netſtuͤk machen, um welches ich alle Liebes-Goͤttinnen und Grazien der Vanloos und Bouchers, ſo wenig ich ſonſt ein Feind von ihnen waͤre, mit Freuden geben wuͤrde. Archytas, von der Hand eines Apelles (wenn zu ſeiner Zeit ein Apelles geweſen waͤre) wuͤrde das Gegenbild davon ſeyn. Agathon hatte nichts noͤthig, als ihn anzuſehen, um uͤberzeugt zu ſeyn, daß er end - lich gefunden habe, was er ſo oft gewuͤnſcht, aber noch nie gefunden zu haben geglaubt hatte, ohne daß er in der Folge auf eine oder die andere Art ſeines Jrr -U 2thums308Agathon. thums uͤberfuͤhrt worden waͤre ‒ ‒ einen wahrhaftig weiſen Mann, einen Mann, der nichts zu ſeyn ſchei - nen wollte, als was er wuͤrklich war, und an welchem das ſcharfſichtigſte Auge nichts entdeken konnte, das man anders haͤtte wuͤnſchen moͤgen. Die Natur ſchien ſich vorgeſezt zu haben, durch ihn zu beweiſen, daß die Weisheit nicht weniger ein Geſchenke von ihr ſey, als der Genie; und daß, wofern es gleich der Kunſt nicht unmoͤglich iſt, ein ſchlimmes Naturell zu verbeſ - ſern, und aus einem Silen, ſo der Himmel will, ei - nen Socrates zu machen, (ein Triumph, den die Kunſt gleichwol ſehr ſelten davon traͤgt,) es dennoch der Na - tur allein zukomme, dieſe gluͤkliche Temperatur der Elemente, woraus der Menſch zuſammengeſezt iſt, hervorzubringen, welche, unter einem Zuſammenfluß eben ſo gluͤklicher Umſtaͤnde, endlich zu dieſer vollkomm - nen Harmonie aller Kraͤfte und Bewegungen des Men - ſchen, worinn Weisheit und Tugend in Einem Punct zuſammenflieſſen, erhoͤht werden kann. Archytas hatte niemalen weder eine gluͤhende Einbildungs-Kraft, noch heftige Leidenſchaften gehabt; eine gewiſſe Staͤrke, wel - che den Mechaniſmus ſeines Kopfs und ſeines Herzens characteriſierte, hatte von ſeiner Jugend an die Wuͤr - kung der Gegenſtaͤnde auf ſeine Seele gemaͤſſiget; die Eindruͤke, die er von ihnen bekam, waren deutlich und nett genug, um ſeinen Verſtand mit wahren Bil - dern zu erfuͤllen, und die Verwirrung zu verhindern, welche in dem Gehirne derjenigen zu herrſchen pflegt, deren allzuſchlaffe Fibern nur ſchwache und matte Ein -druͤke309Eilftes Buch, zweytes Capitel. druͤke von den Gegenſtaͤnden empfangen; aber ſie waren nicht ſo lebhaft und von keiner ſo ſtarken Erſchuͤtterung begleitet, wie bey denjenigen, welche, durch zaͤrtlichere Werkzeuge und reizbarere Sinnen zu den enthuſiaſti - ſchen Kuͤnſten der Muſen beſtimmet, den zweydeutigen Vorzug einer zauberiſchen Einbildungs-Kraft und eines unendlich empfindlichen Herzens durch die Tyrannie der Leidenſchaften, der ſie, mehr oder weniger, unter - worfen ſind, theuer genug bezahlen muͤſſen. Archytas hatte es dem Mangel dieſes eben ſo ſchimmernden, als wenig beneidenswerthen Vorzugs zu danken, daß er wenig Muͤhe hatte, Ruhe und Ordnung in ſeiner inner - lichen Verfaſſung zu erhalten; daß er anſtatt von ſei - nen Jdeen und Empfindungen beherrſcht zu werden, allezeit Meiſter von ihnen blieb, und die Verirrungen des Geiſtes und des Herzens nur aus der Erfahrung andrer kannte, von denen das ſchwaͤrmeriſche Volk der Helden, Dichter und Virtuoſen aller Arten aus ſeiner eigenen ſprechen kann. Und daher kam es auch, daß die Pythagoraͤiſche Philoſophie, in deren Grundſaͤzen er erzogen worden war ‒ ‒ eben dieſe Philoſophie, welche in dem Gehirne ſo vieler andrer zu einem ſelt - ſamen Gemiſche von Wahrheit und Traͤumerey wur - de, ‒ ‒ ſich durch Nachdenken und Erfahrung in dem ſeinigen zu einem Syſtem von eben ſo ſimpeln, als fruchtbaren und practiſchen Begriffen ausbildete; zu ei - nem Syſtem, welches der Wahrheit naͤher zu kommen ſcheint, als irgend ein anders; welches die menſchliche Natur veredelt, ohne ſie aufzublaͤhen, und ihr Aus -U 3ſichten310Agathon. ſichten in beſſere Welten eroͤfnet, ohne ſie fremd und unbrauchbar in der gegenwaͤrtigen zu machen; welches durch das Erhabenſte und Beſte, was unſre Seele von Gott, von dem Welt-Syſtem, und von ihrer eigenen Natur und Beſtimmung zu denken faͤhig iſt, ihre Lei - denſchaften reiniget und maͤſſiget, ihre Geſinnungen verſchoͤnert, und (was kein ſo kleiner Vortheil iſt, als neunhundert und neun und neunzig Menſchen unter tauſenden ſich einbilden,) ſie von der tyranniſchen Herrſchaft dieſer poͤbelhaften Begriffe befreyet, welche die Seele verunſtalten, ſie klein, niedertraͤchtig, furcht - ſam, falſch und ſclavenmaͤſſig machen; jede edle Nei - gung, jeden groſſen Gedanken abſchreken und erſtiken, und doch darum nicht weniger von politiſchen und reli - gioſen Daͤmagogen unter dem groͤſten Theile des menſch - lichen Geſchlechts, aus Abſichten, woraus dieſe Her - ren billig ein Geheimnis machen, eifrigſt unterhalten werden.
Die zuverlaͤſſigſte Probe uͤber die Guͤte der Philoſo - phie des weiſen Archytas iſt, wie uns daͤucht, der mo - raliſche Character, den ihm das einſtimmige Zeugnis der Alten beylegt. Dieſe Probe, es iſt wahr, geht bey einem Syſtem von metaphyſiſchen Speculationen nicht an; aber die Philoſophie des Archytas war ganz practiſch. Das Exempel ſo vieler groſſen Geiſter, wel - che in der Beſtrebung, uͤber die Grenzen des menſchli - chen Verſtandes hinauszugehen, verungluͤkt waren, haͤtte ihn in dieſem Stuͤke vielleicht nicht weiſer ge -macht,311Eilftes Buch, zweytes Capitel. macht, wenn er mehr Eitelkeit und weniger kaltes Blut gehabt haͤtte; aber ſo wie er war, uͤberließ er dieſe Art von Speculationen ſeinem Freunde Plato, und ſchraͤnkte ſeine Nachforſchungen uͤber die blos intel - lectualiſchen Gegenſtaͤnde lediglich auf dieſe einfaͤltigen Wahrheiten ein, welche das allgemeine Gefuͤhl errei - chen kann, welche die Vernunft bekraͤftiget, und deren wolthaͤtiger Einfluß auf den Wolſtand unſers Privat - Syſtems ſo wol als auf das allgemeine Beſte allein ſchon genugſam iſt, ihren Werth zu beweiſen. Es laͤßt ſich alſo ganz ſicher von dem Leben eines ſolchen Mannes auf die Guͤte ſeiner Denkens-Art ſchlieſſen. Archytas verband alle haͤuslichen und buͤrgerlichen Tu - genden, mit dieſer ſchoͤnſten und goͤttlichſten unter al - len, welche ſich auf keine andre Beziehung gruͤndet, als das allgemeine Band, womit die Natur alle Weſen verknuͤpft. Er hatte das ſeltene Gluͤk, daß die unta - deliche Unſchuld ſeines oͤffentlichen und Privat-Lebens, die Beſcheidenheit, wodurch er den Glanz ſo vieler Verdienſte zu mildern wußte, und die Maͤſſigung, wo - mit er ſich ſeines Anſehens bediente, endlich ſo gar den Neid entwafnete, und ihm die Herzen ſeiner Mitbuͤr - ger ſo gaͤnzlich gewanne, daß er (ungeachtet er ſich ſeines hohen Alters wegen von den Geſchaͤften zuruͤkge - zogen hatte) bis an ſein Ende als die Seele des Staats und der Vater des Vaterlands angeſehen wurde, und in dieſer Qualitaͤt eine Autoritaͤt beybehielt, welcher nur die aͤuſſerlichen Zeichen der koͤniglichen Wuͤrde fehl - ten. Niemals hat ein Deſpot unumſchraͤnkter uͤberU 4die312Agathon. die Leiber ſeiner Sclaven geherrſchet, als dieſer ehr - wuͤrdige Greis uͤber die Herzen eines freyen Volkes; niemals iſt der beſte Vater von ſeinen Kindern zaͤrtli - cher geliebt worden. Gluͤkliches Volk! welches von einem Archytas geregiert wurde, und den ganzen Werth dieſes Gluͤks ſo wol zu ſchaͤzen wußte! ‒ ‒ Und gluͤklicher Agathon, der in einem ſolchen Mann einen Beſchuͤzer, einen Freund, und einen zweyten Vater fand.
Archytas hatte zwey Soͤhne, deren wetteifernde Tu - gend die ſeltene und verdiente Gluͤkſeligkeit ſeines Alters vollkommen machte. Dieſe liebenswuͤrdige Familie lebte in einer Harmonie beyſammen, deren Anblik unſern Helden in die ſelige Einfalt und Unſchuld des goldnen Alters verſezte. Niemals hatte er eine ſo ſchoͤne Ord - nung, eine ſo vollkommne Eintracht, ein ſo regelmaͤſ - ſiges und ſchoͤnes Ganzes geſehen, als das Haus des weiſen Archytas darſtellte. Alle Hausgenoſſen, bis auf die unterſte Claſſe der Bedienten, waren eines ſolchen Hausvaters wuͤrdig. Jedes ſchien fuͤr den Plaz, den es einnahm, ausdruͤklich gemacht zu ſeyn. Archytas hatte keine Sclaven; der freye, aber ſittſame Anſtand ſeiner Bedienten, die Munterkeit, die Genauigkeit, der Wetteifer, womit ſie ihre Pflichten erfuͤllten, das Ver -trauen,313Eilftes Buch, drittes Capitel. trauen, welches man auf ſie ſezte, bewies, daß er Mit - tel gefunden hatte, ſelbſt dieſen rohen und mechaniſchen Seelen ein Gefuͤhl von Ehre und Tugend einzufloͤſſen; die Art wie ſie dienten, und die Art, wie ihnen be - gegnet wurde, ſchien das unedle und demuͤthigende ihres Standes auszuloͤſchen; ſie waren ſtolz darauf, einem ſo vortreflichen Herrn zu dienen, und es war nicht einer, der die Freyheit auch unter den vortheilhafteſten Be - dingungen angenommen haͤtte, wenn er der Gluͤkſelig - keit haͤtte entſagen muͤſſen, ein Hausgenoſſe des Archy - tas zu ſeyn. Das Vergnuͤgen mit ſeinem Zuſtande leuchtete aus jedem Geſicht hervor; aber keine Spur dieſes uͤppigen Uebermuths, der gemeiniglich den muͤſ - ſiggaͤngeriſchen Hauffen der Bedienten in groſſen Haͤu - ſern bezeichnet; alles war in Bewegung; aber ohne die - ſes laͤrmende Geraͤuſch, welches den ſchweren Gang der Maſchine ankuͤndiget; das Haus des Archytas glich dem innwendigen Mechaniſmus des animaliſchen Koͤrpers, in welchem alles in raſtloſer Arbeit begriffen iſt, ohne daß man eine Bewegung wahrnimmt, wenn die aͤuſſern Theile ruhen.
Agathon befand ſich noch in dieſem angenehmen Er - ſtaunen, welches in den erſten Stunden, die er in ei - nem ſo ſonderbaren Hauſe zubrachte, ſich mit jedem Augenblik vermehren mußte; als er auf einmal, und ohne daß ihn die mindeſte innerliche Ahnung dazu vor - bereitet haͤtte, durch eine Entdekung uͤberraſcht wurde, welche ihn beynahe dahin gebracht haͤtte, alles was er ſah, fuͤr einen Traum zu halten.
U 5Das314Agathon.Das Gynaͤceum war, wie man weiß, bey den Grie - chen den Fremden, welche in einem Hauſe aufgenom - men wurden, ordentlicher Weiſe, eben ſo unzugangbar als der Harem bey den Morgenlaͤndern. Aber Agathon wurde in dem Hauſe des Archytas nicht wie ein Frem - der behandelt. Dieſer liebenswuͤrdige Alte fuͤhrte ihn alſo, nachdem ſie ſich ein paar Stunden, welche un - ſerm Helden ſehr kurz wurden, mit einander beſpro - chen hatten, in Begleitung ſeiner beyden Soͤhne in das Jnnerſte des Hauſes, welches von dem weiblichen Theil der Familie bewohnt wurde; um, wie er ſagte, ſeinen Toͤchtern ein Vergnuͤgen, worauf ſie ſich ſchon ſo lange gefreuet haͤtten, nicht laͤnger vorzuenthalten. Stellet euch vor, was fuͤr eine ſuͤſſe Beſtuͤrzung ihn befiel, da die erſte Perſon, die ihm beym Eintritt in die Augen fiel, ſeine Pſyche war! ‒ ‒ Augenblike von dieſer Art laſſen ſich beſſer mahlen, als beſchreiben ‒ ‒ dieſe Er - ſcheinung war ſo unerwartet, daß ſein erſter Gedanke war, ſich durch eine zufaͤllige Aehnlichkeit dieſer jungen Dame mit ſeiner geliebten Pſyche betrogen zu glauben. Er ſtuzte; er betrachtete ſie von neuem; und wenn er nunmehr auch ſeinen Augen nicht haͤtte trauen wollen, ſo ließ ihm das, was in ſeinem Herzen vorgieng, keinen Zweifel uͤbrig. Und doch kam es ihm ſo wenig glaub - lich vor, daß er gluͤklich genug ſeyn ſollte, nach einer ſo langen Abweſenheit und bey ſo wenigem Anſchein, ſie jemals wieder zu ſehen, ſie in dem Gynaͤceo ſeiner Freunde zu Tarent wieder zu finden! Ein andrer Gedanke, der in dieſen Umſtaͤnden ſehr natuͤrlich war, vermehrteſeine315Eilftes Buch, drittes Capitel. ſeine Verwirrung, und hielt ihn zuruͤk, ſich der Freude zu uͤberlaſſen, welche ein eben ſo erwuͤnſchter als wenig verhoffter Anblik uͤber ſeine Seele ergoß. Pſyche ſah nicht ſo aus, als ob ſie eine Sclavin in dieſem Hauſe vorſtelle; was konnte er alſo anders denken, als daß ſie die Gemahlin eines von den Soͤhnen des Archytas ſeyn muͤßte? Es iſt wahr, er haͤtte eben ſo wol denken koͤnnen, daß ſie ſeine wiedergefundene Tochter ſeyn koͤnnte; aber in ſolchen Umſtaͤnden bildet man ſich im - mer das ein, was man am meiſten fuͤrchtet. Jn der That errieth er die Sache aufs erſtemal; Pſyche war ſeit einigen Monaten die Gemahlin des Critolaus.
Unſere Leſer ſehen nun auf den erſten Blik, was fuͤr ſchoͤne Gelegenheit zu pathetiſchen Beſchreibungen und tragiſchen Auftritten uns dieſer kleine Umſtand giebt ‒ ‒ was fuͤr eine Situation! Den Gegenſtand der zaͤrtlich - ſten Neigung ſeines Herzens, ſeine erſte Liebe, nach einer langen ſchmerzlichen Trennung unverhoft wieder finden, aber nur dazu wieder finden, um ſie in den Armen eines andern, und was uns nicht einmal das Recht zu klagen, zu wuͤthen und Rache zu ſchnauben uͤbrig laͤßt, in den Armen unſers liebſten Freundes zu ſehen! ‒ ‒ Zu gutem Gluͤk fuͤr unſern Helden ‒ ‒ und fuͤr den Autor ‒ ‒ waren diejenigen, welche in dieſem Augen - blik Zeugen von ſeiner Beſtuͤrzung waren, keine ſo paſſionierte Liebhaber pathetiſcher Auftritte, daß ſie haͤtten faͤhig ſeyn koͤnnen, an ſeiner Quaal Vergnuͤgen zu finden. Sie wollten ſich ein Vergnuͤgen daraus ma -chen,316Agathon. chen, ihn zu uͤberraſchen; aber es wuͤrde grauſam ge - weſen ſeyn, eine Tragoͤdie mit ihm zu ſpielen, ſo gluͤklich auch am Ende die Entwiklung immer haͤtte ſeyn moͤgen. Die zaͤrtliche Pſyche ſah etliche Augenblike ſei - ner Verwirrung zu; aber laͤnger konnte ſie ſich nicht zuruͤkhalten. Sie flog ihm mit ofnen Armen entgegen, und indem ihre Freuden-Thraͤnen ſeine gluͤhende Wan - gen bethauten, hoͤrte er ſich mit einem Namen benennen, der ihre zaͤrtlichſte Liebkoſungen ſelbſt in Gegenwart eines Gemahls rechtfertigte.
Waͤre die Liebe, welche ſie ihm in dem Hayn zu Delphi eingefloͤßt hatte, weniger platoniſch geweſen, ſo wuͤrde die Entdekung einer Schweſter in der Geliebten ſeines Herzens nicht ſo erfreulich geweſen ſeyn, als ſie ihm war. Aber man erinnert ſich noch, daß ihre Liebe, ſo ausnehmend zaͤrtlich ſie auch geweſen war, doch mehr der Liebe, welche die Natur zwiſchen Geſchwiſtern von uͤbereinſtimmender Gemuͤths-Art ſtiftet, als derjenigen geglichen hatte, welche ſich auf die Zauberey eines an - dern Jnſtincts gruͤndet, von deſſen fiebriſchen Sympto - men die ihrige allezeit frey geblieben war. Sie hatten damals ſchon ein ſonderbares Vergnuͤgen daran gefun - den, ſich einzubilden, daß ihre Seelen wenigſtens ein - ander verſchwiſtert ſeyen, da ſie nicht Grund genug hatten, ſo ſehr ſie es auch wuͤnſchten, die unſchuldige Anmuthung, welche ſie fuͤr einander fuͤhlten, der Wuͤr - kung der Sympathie des Blutes zu zuſchreiben. Aga - thon befand ſich alſo uͤber alles was er haͤtte wuͤnſchenkoͤnnen,317Eilftes Buch, drittes Capitel. koͤnnen, gluͤklich, da er, nach den Erlaͤuterungen, welche ihm gegeben wurden, nicht mehr zweifeln konnte, in Pſyche eine Schweſter, welche er nach der ehmaligen Erzaͤhlung ſeines Vaters fuͤr todt gehalten hatte, wie - der zu finden, und durch ſie ein Theil einer Familie zu werden, fuͤr welche ſein Herz bereits ſo eingenom - men war, daß der Gedanke ſich jemals wieder von ihr zu trennen, ihm unertraͤglich geweſen ſeyn wuͤrde. Nun meine zaͤrtlichen Leſerinnen, mangelte ihm, um ſo gluͤk - ſelig zu ſeyn, als es Sterbliche ſeyn koͤnnen, nichts als daß Archytas ‒ ‒ nicht irgend eine liebenswuͤrdige Tochter oder Nichte hatte, mit der wir ihn vermaͤhlen koͤnnten. Aber ungluͤklicher Weiſe fuͤr ihn hatte Archy - tas keine Tochter; und wofern er Nichten hatte, wel - ches wir nicht fuͤr gewiß ſagen koͤnnen, ſo waren ſie entweder ſchon verheyrathet, oder nicht dazu gemacht, das Bild der ſchoͤnen Danae, und die Erinnerungen ſeiner ehmaligen Gluͤkſeligkeit, welche von Tag zu Tag wieder lebhafter in ſeinem Gemuͤthe wurden, auszuloͤſchen.
Dieſe Erinnerungen hatten ſchon zu Syracus in melancholiſchen Stunden wieder angefangen einige Ge - walt uͤber ſein Herz zu bekommen; der Gram, wovon ſeine Seele in der lezten Periode ſeines Hof-Lebens, ganz verduͤſtert und niedergeſchlagen wurde, veran - laßte ihn, Vergleichungen zwiſchen ſeinem vormaligen und nunmehrigen Zuſtande anzuſtellen, welche unmoͤg - lich anders als zum Vortheil des erſten ausfallen konn - ten. Er machte ſich ſelbſt Vorwuͤrfe, daß er das lie -bens -318Agathon. benswuͤrdigſte unter allen Geſchoͤpfen, in einem Anſtoß von ſchwaͤrmeriſchem Heldenthum, aus ſo ſchlechten Urſachen, auf die bloſſe Anklage eines ſo veraͤchtlichen Menſchen als Hippias, uͤber welche ſie ſich vielleicht, wenn er ſie gehoͤrt haͤtte, vollkommen haͤtte rechtferti - gen koͤnnen, verlaſſen habe. Dieſe That, auf welche er ſich damals, da er ſie fuͤr einen herrlichen Sieg uͤber die unedlere Haͤlfte ſeiner ſelbſt, fuͤr ein groſſes Verſoͤhn - Opfer, welches er der beleidigten Tugend brachte, an - ſah, ſo viel zu gut gethan hatte, ſchien ihm izt un - dankbar und niedertraͤchtig; es ſchmerzte ihn, wenn er dachte, wie gluͤklich er durch die Verbindung ſeines Schikſals mit dem ihrigen haͤtte werden koͤnnen; und der Enthuſiaſmus gewann nichts dabey, wenn er zugleich dachte, durch was fuͤr ſchimaͤriſche Vorſtellungen und Hofnungen er ihn um ſeine Privat-Gluͤkſeligkeit ge - bracht habe. Aber der Gedanke, daß er durch ein ſo ſchnoͤdes Verfahren die ſchoͤne Danae gezwungen habe, ihn zu verachten, zu haſſen, ſich der Zaͤrtlichkeit, die er ihr eingefloͤßt, niemals anders als wie einer ungluͤklichen Schwachheit zu erinnern, deren Andenken ſie mit Gram nnd Reue erfuͤllen mußte ‒ ‒ dieſer Gedanke war ihm ganz unertraͤglich; Danae, ſo ſehr ſie auch beleidigt war, konnte ihn unmoͤglich ſo ſehr verabſcheuen, als er in den Stunden, da dieſe Vorſtellungen ſeine Vernunft uͤber - waͤltigten, ſich ſelbſt verabſcheuete. Allein dieſe Stun - den giengen endlich voruͤber, und das ungeduldige Ge - fuͤhl der gegenwaͤrtigen Uebel trug nicht wenig dazu bey, ihm die Urſachen und Umſtaͤude ſeiner Entfernung vonSmyrna319Eilftes Buch, drittes Capitel. Smyrna in einem ſo ſplenetiſchen Lichte vorzuſtellen. Die gluͤkliche Veraͤnderung, welche die Verſezung in den Schoos der liebenswuͤrdigſten Familie, die vielleicht jemals geweſen iſt, in ſeinen Umſtaͤnden hervorbrachte, veraͤnderte nothwendiger Weiſe auch die Farbe ſeiner Ein - bildungs-Kraft. Haͤtte er Danae nicht verlaſſen, ſo wuͤrde er weder ſeine Schweſter gefunden, noch mit dem weiſen Archytas perſoͤnlich bekannt worden ſeyn. Dieſe Folgen ſeiner tugendhaften Untreue machten den Wunſch, ſie nicht begangen zu haben, unmoͤglich; aber ſie befoͤr - derten dagegen einen andern, der in den Umſtaͤnden, worinn er zu Tarent lebte, ſehr natuͤrlich war. Die heitre Stille, welche in ſeinem ohnehin zur Freude auf - gelegten Gemuͤth in kurzem wieder hergeſtellt wurde; die Freyheit von allen Geſchaͤften und Sorgen; der Genuß alles deſſen, womit die Freundſchaft ein gefuͤhl - volles Herz beſeligen kan; der Anblik der Gluͤkſeligkeit ſeines Freundes Crit〈…〉〈…〉 laus, welche im Beſiz der liebens - wuͤrdigen Pſyche alle Tage zu zunehmen ſchien; der Mangel an Zerſtreuungen, wodurch die Seele verhin - dert wird, ſich in die Sphaͤre ihrer angenehmſten Jdeen und Empfindungen zu concentriren; die natuͤrliche Folge hievon, daß dieſe Jdeen und Empfindungen deſto leb - hafter werden muͤſſen ‒ ‒ alles dieſes vereinigte ſich, ihn nach und nach wieder in Diſpoſitionen zu ſezen, welche die zaͤrtlichſte Erinnerungen an die einſt ſo ſehr geliebte Danae erwekten, und ihn von Zeit zu Zeit in eine Art von ſanfter wolluͤſtiger Melancholie ſezten, worinn ſein Herz ſich ohne Widerſtand in dieſe zauberiſchen Scenenvon320Agathon. von Liebe und Wonne zuruͤkfuͤhren ließ, welche ‒ ‒ aus Urſachen, die wir den Moraliſten zu entwikeln uͤberlaſ - ſen wollen ‒ ‒ durch die in ſeiner Seele vorgegangene Revolution ungleich weniger von ihrem Reiz verlohren hatten, als die abſtractern und bloß intellectualiſchen Gegenſtaͤnde ſeines ehmaligen Enthuſiaſmus. Koͤunen wir ihn verdenken, daß er in ſolchen Stunden die ſchoͤne Danae unſchuldig zu finden wuͤnſchte ‒ ‒ daß er dieſes ſo oft und ſo lebhaft wuͤnſchte, bis er ſich endlich uͤber - redete, ſie fuͤr unſchuldig zu halten ‒ ‒ und daß die Un - moͤglichkeit, ein Gut wieder zu erlangen, deſſen er ſich ſelbſt ſo leichtglaubig und auf eine ſo verhaßte Art be - raubt hatte, ihn zuweilen in eine Traurigkeit verſenkte, die ihm den Geſchmak ſeiner gegenwaͤrtigen Gluͤkſelig - keit verbitterte, und ſich nur deſto tieffer in ſein Gemuͤth eingrub, weil er ſich nicht entſchlieſſen konnte, ſein An - liegen denjenigen anzuvertrauen, denen er, dieſen einzi - gen Winkel ausgenommen, das Jnnerſte ſeiner Seele aufzuſchlieſſen pflegte ‒ ‒ Wohin uns dieſe Vorbereitung wol fuͤhren ſoll? ‒ ‒ werden vielleicht einige von unſern ſcharfſinnigen Leſern denken ‒ ‒ ohne Zweifel wird man uns nun auch die Dame Danae von irgend einem dienſt - willigen Sturmwind herbeyfuͤhren laſſen, nachdem uns, ohne zu wiſſen, wie? das gute Maͤdchen Pſyche, durch einen wahren Schlag mit der Zauberruthe, aus dem Gynaͤceo des alten Archytas entgegengeſprungen iſt ‒ ‒ „ Und warum nicht? ‒ ‒ nachdem wir nun einmal wiſ - ſen, wie gluͤklich wir unſern Freund Agathon dadurch machen koͤnnten „ aber wo bleibt alsdann das Ver -gnuͤgen321Eilftes Buch, drittes Capitel. gnuͤgen der Ueberraſchung, welches andre Autoren ihren Leſern mit ſo vieler Muͤhe und Kunſt zu zuwenden pfle - gen. Es bleibt aus, meine Herren; und Diderot kan Jhnen, wenn Sie wollen, ſagen, warum Sie wenig oder nichts dabey verliehren werden. Jnzwiſchen iſt uns lieb, erinnert worden zu ſeyn, daß wir Jhnen einige Nachricht ſchuldig ſind, wie Pſyche (welche wir, in einen Ganymed verkleidet, in den Haͤnden eines See - raͤubers verlaſſen hatten,) dazu gekommen ſey, die Gemahlin des Critolaus und die Schweſter Aga - thons zu werden. Ein kurzer Auszug aus der Erzaͤh - lung, welche dem Agathon theils von ſeiner Schweſter ſelbſt, theils von ihrer Amme gemacht wurde, (und die lezte hatte den Fehler, ein wenig weitlaͤufiger in ih - ren Erzaͤhlungen zu ſeyn, als wir ſelbſt,) wird hin - laͤnglich ſeyn, dero gerechte Wiſſens-Begierde uͤber die - ſen Punct zu befriedigen.
Ein heftiger Sturm iſt ein ſehr ungluͤklicher Zufall fuͤr Leute, die ſich mitten auf der offenen See, nur durch die Dike eines Vrettes von einem feuchten Tode geſchieden finden; aber fuͤr die Geſchichtſchreiber der Helden und Heldinnen iſt es beynahe der gluͤklichſte unter allen Zu - faͤllen, welche man herbeybringen kan, um ſich aus einer Schwierigkeit herauszuhelfen. Es war alſo ein Sturm, (und Sie haben ſich nicht daruͤber zu beſchwe - ren, meine Herren, denn es iſt, unſers Wiſſens, der erſte in dieſer Geſchichte,) der die lieberswuͤrdige Pſy - che aus der fuͤrchterlichen Gewalt eines verliebten See -[Agath. II. Th.] Xraͤubers322Agathon. raͤubers rettete. Das Schif ſcheiterte an der Jtaliaͤ - niſchen Kuͤſte, einige Meilen von Capua; und Pſyche, von den Nereiden oder Liebes-Goͤttern beſchirmt, war die einzige Perſon auf dem Schiffe, welche auf einem Brette gluͤklich von den Zephyrn ans Land getragen wurde. Die Zephyrn allein waͤren hiezu vielleicht nicht hinreichend geweſen; aber mit Huͤlfe einiger Fiſcher, welche gluͤklicher Weiſe bey der Hand waren, hatte die Sache keine Schwierigkeit. Das war nun alles ſehr gluͤklich; aber es iſt nichts in Vergleichung mit dem, was nun folgen wird. Einer von den Fiſchern (der mitleidigſte ohne Zweifel) fuͤhrte die verkleidete Pſyche, welche ſehr vonnoͤthen hatte, ſich zu troknen, und von dem ausgeſtandenen Ungemach zu erholen, zu ſeinem Weib in ſeine Huͤtte. Die Fiſcherin, (eine huͤbſche, dike Frau von drey oder vier und vierzig Jahren) welche die Mine hatte, in ihrer Jugend kein unempfind - liches Herz gehabt zu haben, bezeugte ungemeines Mit - leiden mit dem Ungluͤk eines ſo liebenswuͤrdigen jungen Herrn, als die ſchoͤne Pſyche zu ſeyn ſchien; ſie pflegte ſeiner, ſo gut es nur immer moͤglich war, und konnte ſich nicht ſatt an ihm ſehen. Es war ihr immer, ſagte ſie, als ob ſie ſchon einmal ein ſolches Geſicht geſehen haͤtte, wie das ſeinige; und ſie konnte es kaum erwarten, bis der ſchoͤne Fremdling im Stande war, nach eingefuͤhrter Gewohnheit, ſeine Geſchichte zu er - zaͤhlen. Aber Pſyche hatte der Ruhe vonnoͤthen; ſie wurde alſo zu Bethe gebracht; und bey dieſer Gelegen - heit entdekte die Fiſcherin, welche auf die kleinſten Um - ſtaͤnde aufmerkſam war, daß der vermeynte Juͤnglingein323Eilftes Buch, drittes Capitel. ein uͤberaus ſchoͤnes Maͤdchen ‒ ‒ aber doch nicht mehr ſo ſchoͤn war, als ſie in ihren Manns-Kleidern aus - geſehen hatte. Es war natuͤrlich, uͤber dieſe Verwand - lung im erſten Augenblik ein wenig mißvergnuͤgt zu ſeyn; aber dieſer kleine voruͤbergehende Unmuth ver - wandelte ſich bald in die lebhafteſte und zaͤrtlichſte Freude ‒ ‒ kurz, es entdekte ſich, daß die Fiſcherin Clonarion, die Amme der ſchoͤnen Pſyche war, wel - che, mit Huͤlfe dieſes Namens, ihrer geliebten Amme ſich wieder eben ſo gut zu erinnern glaubte, als dieſe aus den Geſichts-Zuͤgen der Pſyche, aus ihrer Aehn - lichkeit mit ihrer Mutter, Muſarion, und beſonders aus einem kleinen Mahl, welches ſie unter der linken Bruſt hatte, ihre allerliebſte Pflegtochter erkannte. Clonarion war die vertrauteſte Sclavin der Mutter un - ſrer Heldin geweſen, und ihrer Pflege wurde nach dem Tode derſelben die kleine Pſyche, oder Philoclea, wie ſie eigentlich hieß, anvertraut; denn Pſyche war nur ein Liebkoſungs-Name, den ihr ihre Amme aus Zaͤrtlichkeit gab, und welchen die kleine Philoclea, weil ſie ſich niemals anders als Pſyche oder Pſycharion nennen gehoͤrt hatte, in der Folge als ihren wuͤrkli - chen Namen angab. Stratonicus hatte der Clonarion mit der noch unmuͤndigen Pſyche eine hinlaͤngliche Summe Gelds uͤbergeben, und befohlen, ſie in der Naͤhe von Corinth zu erziehen, weil er dort die beſte Gelegenheit hatte, ſie von Zeit zu Zeit unerkannt zu ſehen. Die junge Pſyche, die Freude und der Stolz ihrer zaͤrtlichen Amme, von der ſie wie ihr eigenes Kind geliebet wurde, wuchs ſo ſchoͤn heran, daß manX 2nichts324Agathon. nichts liebenswuͤrdigers ſehen konnte. Die Hofnung des Gewinnſts reizte endlich einige Boͤſewichter, ſie, da ſie ungefehr fuͤnf bis ſechs Jahre alt war, heimlich wegzuſtehlen, und an die Prieſterin zu Delphi zu ver - kaufen. Ein Halsgeſchmeide, woran ein kleines Bild - nis ihrer Mutter hieng, und womit die junge Pſyche allezeit geſchmuͤkt zu ſeyn pflegte, wurde zugleich mit ihr verkauft, und diente in der Folge zur Beſtaͤtigung, daß ſie wuͤrklich die Tochter des Stratonicus ſey. Clo - narion raufte ſich einen guten Theil ihrer Haare aus, da ſie ihre Pſyche vermißte; und nachdem ſie eine ziem - liche Zeit zugebracht hatte, ſie allenthalben (auſſer da, wo ſie wuͤrklich war,) zu ſuchen, wußte ſie kein an - der Mittel, ſich bey ihrem Herrn von der Schuld ei - ner ſtrafbarn Nachlaͤſſigkeit entledigen zu koͤnnen, als vorzugeben, daß ſie geſtorben ſey; und Stratonicus konnte deſto leichter hintergangen werden, weil er da - mals eben in Geſchaͤfte verwikelt war, welche ihn lange Zeit hinderten, nach Corinth zu kommen. Jnzwiſchen hatte die allenthalben herumirrende Clonarion eine Menge Abentheuer, welche ſich endlich damit endigten, daß ſie die Gattin eines ſchon ziemlich bejahrten Fi - ſchers aus der Gegend von Capua wurde, in deſſen Augen ſie damals wenigſtens ſo ſchoͤn als Thetis und Galathea war. Sie hatte ihre geliebte Pflegtochter in ſo zaͤrtlichem Andenken behalten, daß ſie einer Toch - ter, von der ſie ſelbſt entbunden wurde, den Namen Pſyche gab, blos um ſich derſelben beſtaͤndig zu erin - nern. Der Tod dieſes Kindes, der beynahe in ebendem325Eilftes Buch, drittes Capitel. dem Alter erfolgte, worinn Pſyche geraubt worden war, riß die alte Wunde wieder auf; und da ihr durch dieſe Umſtaͤnde das Bild der jungen Pſyche immer ge - genwaͤrtig blieb, ſo hatte ſie deſto weniger Muͤhe, ſie wieder zu erkennen, ungeachtet vierzehn oder fuͤnfzehn Jahre einige Veraͤnderung in ihren Geſichts-Zuͤgen ge - macht haben mußten. Unſre Heldin vermehrte alſo nunmehr die kleine Familie des alten Fiſchers, welcher ſeinen Aufenthalt veraͤnderte, und in die Gegend von Tarent zog, wo er ſie, weil ſie alle unbekannt waren, fuͤr ſeine Tochter ausgeben konnte. Pſyche bequemte ſich ſo gut in die ſchlechten Umſtaͤnde, worinn ſie bey ihrer Pflegmutter leben mußte, als ob ſie niemals in beſſern gelebt haͤtte, und ließ ſich nichts angelegner ſeyn, als ihr durch emſiges Arbeiten die Laſt ihres Unterhalts zu erleichtern. Endlich fuͤgte es ſich zufaͤlliger Weiſe, daß der junge Critolaus unſre Heldin zu Geſicht be - kam, welche in ihrem baͤuriſchen, aber reinlichen An - zug, und mit friſchen Blumen geſchmuͤkt, demjenigen, dem ſie in einem Hayne begegnete, eher eine von den Geſpielen der Diana, als die Tochter eines armen Fi - ſchers ſcheinen mußte. Critolaus faßte die heftigſte Leidenſchaft fuͤr ſie; weil ſeine Liebe eben ſo tugendhaft, als zaͤrtlich war, ſo brachte er bald die mitleidige Clo - narion auf ſeine Seite; und da Pſyche ſelbſt nunmehr wußte, daß Agathon ihr Bruder ſey, ſo war kein Grund, warum ſie gegen die Zuneigung eines ſo lie - benswuͤrdigen jungen Menſchen unempfindlich haͤtte ſeyn ſollen. Jn der That war Critolaus in mehrern Ab -X 3ſichten326Agathon. ſichten der zweyte Agathon; allein die Umſtaͤnde lieſſen ſo wenig Hofnung zu, daß eine rechtmaͤſſige Verbin - dung zwiſchen ihnen moͤglich ſeyn koͤnnte, daß Pſyche ſich verbunden hielt, ihm dasjenige, was zu ſeinem Vortheil in ihrem Herzen vorgieng, deſto ſorgfaͤltiger zu verbergen, je entſchloſſener er war, ſeiner Liebe alle andre Betrachtungen aufzuopfern. Endlich wußte er ſich nicht anders zu helfen, als daß er das Geheim - nis ſeines Herzens demjenigen entdekte, deſſen Beyfall er am wenigſten zu erhalten hoffen konnte. Die ganze Beredſamkeit der begeiſterten Liebe wuͤrde uͤber einen Weiſen, wie Archytas war, wenig vermocht haben; aber Critolaus ſagte ſo viel auſſerordentliches von dem Geiſt und der Tugend ſeiner Geliebten, daß ſein Va - ter endlich aufmerkſam zu werden anfieng. Archytas hatte die Macht des Daͤmons der Liebe nie erfahren; aber er war menſchlich, guͤtig, und uͤber die gemeine Vorurtheile und Abſichten erhaben. Ein ſchoͤnes und tugendhaftes Maͤdchen war in ſeinen Augen ein ſehr edles Geſchoͤpfe, deſſen Werth durch den Schatten der Niedrigkeit und Armuth nur deſto mehr erhaben wurde. Kaum wurde der junge Critolaus gewahr, daß ſein Vater zu wanken anfieng; ſo wagte er’s, ihm das Ge - heimniß der Geburt ſeiner Geliebten zu entdeken, wel - ches ihm Clonarion, in Hofnung, daß es gute Folgen haben koͤnnte, ohne Wiſſen der ſchoͤnen Pſyche vertraut hatte. Archytas, welchem Stratonicus ehmals ſeine heimliche Verbindung mit Muſarion entdekt hatte, war uͤber dieſen Zufall nicht wenig erfreut; er wuͤnſchte nichtsmehr,327Eilftes Buch, drittes Capitel. mehr, als daß diejenige, fuͤr welche ſein Sohn ſo hef - tig eingenommen war, die Tochter ſeines liebſten Freun - des ſeyn moͤchte; aber er wollte gewiß ſeyn, daß ſie es ſey; und hiezu ſchien ihm das bloſſe Zeugnis eines Fiſcher-Weibs zu wenig. Er veranſtaltete es, daß er Pſychen und ihre angebliche Amme ſelbſt zu ſehen be - kam; er glaubte, in der Geſichtsbildung der erſten ei - nige Zuͤge von ihrem Vater zu entdeken; und die Un - terredung, die er mit ihr hatte, beſtaͤtigte den guͤnſti - gen Eindruk, den ihr Anblik auf ſein Gemuth ge - macht hatte. Er ließ ſich ihre Geſchichte mit allen Um - ſtaͤnden erzaͤhlen, und fand nun immer weniger Urſa - che, an der Wahrheit deſſen zu zweifeln, was ſein Sohn auf die bloſſe Ausſage der Amme, ohne die min - deſte Unterſuchung, fuͤr die ausgemachteſte Wahrheit hielt. Das Halsgeſchmeide, welches Pſyche in den Haͤnden der Pythia hatte zuruͤklaſſen muͤſſen, ſchien ihm allein noch abzugehen, um ihn gaͤnzlich zu uͤber - zeugen. Er ſchikte deswegen einen ſeiner Vertrauten nach Delphi ab; und die Pythia, da ſie ſah, daß ein Mann von ſolcher Wichtigkeit ſich des Schikſals ihrer ehemaligen Sclavin annahm, machte keine Schwierig - keiten, dieſes Merkzeichen der Abkunft derſelben auszu - liefern. Nunmehr glaubte Archytas berechtigt zu ſeyn, Pſyche als die Tochter eines Freundes, deſſen Anden - ken ihm theuer war, anzuſehen; und nun hatte er ſelbſt nichts angelegners, als ſie je eher je lieber in ſeine Fa - milie zu verpflanzen. Sie wurde alſo die Gemahlin des gluͤklichen Critolaus; und dieſe Verbindung gab natuͤrlicher Weiſe neue Beweggruͤnde, ſich der Be -X 4freyung328Agathon. freyung Agathons mit ſo lebhaftem Eifer anzunehmen, als es, obenerzaͤhlter maſſen, geſchehen war.
Agathon hatte zwar viel fruͤher zu leben angefangen, als es gemeiniglich geſchieht; aber er war doch noch lange nicht alt genug, um ſich von der Welt gaͤnzlich zuruͤkzuziehen. Jndeſſen hielt er ſich, nachdem er ſchon zu zweyen malen eine nicht unanſehnliche Rolle auf dem Schauplaz des oͤffentlichen Lebens geſpielt, und ſie fuͤr einen jungen Mann gut genug geſpielt hatte, be - rechtiget, ſo lange er keinen beſondern Beruf erhalten wuͤrde, ſeiner Nation zu dienen, oder ſo lange ſie ſei - ner Dienſte nicht ſchlechterdings vonnoͤthen haͤtte, ſich in den Cirkel des Privat-Lebens zuruͤkzuziehen; und hierinn ſtimmten die Grundſaͤze des weiſen Archytas voͤllig mit ſeiner Art zu denken uͤberein. Ein Mann von mehr als gewoͤhnlicher Faͤhigkeit, ſagte Archytas, hat zu thun genug, an ſeiner eigenen Beſſerung und Vervollkom - nung zu arbeiten; er iſt am geſchikteſten zu dieſer Be - ſchaͤftigung, nachdem er durch eine Reihe betraͤchtlicher Erfahrungen ſich ſelbſt und die Welt kennen zu lernen angefangen hat; und indem er ſolchergeſtalt an ſich ſelbſt arbeitet, arbeitet er wuͤrklich fuͤr die Welt, in -dem329Eilftes Buch, viertes Capitel. dem er dadurch um ſoviel geſchikter wird, ſeinen Freun - den, ſeinem Vaterland, und den Menſchen uͤberhaupt, nuͤzlich zu ſeyn, und es ſey nun mit vielem oder wenigem Gepraͤnge, in einem groͤſſern oder kleinern Cirkel, auf eine oͤffentliche oder nicht ſo merkliche Art, zum allge - meinen Beſten des Syſtems mitzuwuͤrken.
Dieſer Maxime zufolge beſchaͤftigte ſich Agathon, nachdem er zu Tarent einheimiſch zu ſeyn angefangen hatte, hauptſaͤchlich mit den mathematiſchen Wiſſenſchaf - ten, mit Erforſchung der Kraͤfte und Eigenſchaften der natuͤrlichen Dinge, mit der Aſtronomie, kurz mit dem - jenigen Theil der ſpeculativen Philoſophie, welche uns, mit Huͤlfe unſrer Sinnen und behutſamer Vernunft - Schluͤſſe zu einer zwar mangelhaften, aber doch zuver - laͤſſigen Erkenntniß der Natur und ihrer majeſtaͤtiſch - einfaͤltigen, weiſen und wolthaͤtigen Geſeze fuͤhrt. Er verband mit dieſen erhabenen Studien, worinn ihm die Anleitung des Archytas vorzuͤglich zu ſtatten kam, das Leſen der beſten Schriftſteller von allen Claſſen, in - ſonderheit der Geſchichtſchreiber, und das Studium des Alterthums, welches er, ſo wie die Verbal-Critik, fuͤr eine der edelſten und nuͤzlichſten, oder fuͤr eine der nichtswuͤrdigſten Speculationen hielt, je nachdem es auf eine philoſophiſche oder bloß mechaniſche Art getrieben werde. Nicht ſelten ſezte er dieſe auſtrengenden Beſchaͤf - tigungen bey Seite, um, wie er ſagte, mit den Muſen zu ſcherzen; und der natuͤrliche Schwung ſeines Genie machte ihm dieſe Art von Gemuͤths-Ergoͤzung ſo ange -X 5nehm,330Agathon. nehm, daß er Muͤhe hatte ſich wieder von ihr loszu - reiſſen. Auch die Mahlerey und die Muſik, die Schwe - ſtern der Dichtkunſt, deren hoͤhere Theorie ſich in den geheimnißvolleſten Tieffen der Philoſophie verliehrt, hat - ten einen Antheil an ſeinen Stunden, und halfen ihm, das allzueinfoͤrmige in den Beſchaͤftigungen ſeines Geiſtes, und die ſchaͤdlichen Folgen, die aus der Einſchraͤnkung deſſelben auf eine einzige Art von Gegenſtaͤnden entſprin - gen, zu vermeiden.
Die haͤuffigen Unterredungen, welche er mit dem weiſen Archytas hatte, trugen viel und vielleicht das Meiſte bey, ſeinen Geiſt in den tiefſinnigern Specula - tionen uͤber die metaphyſiſchen Gegenſtaͤnde, von Abwe - gen zuruͤkzuhalten. Agathon, welcher ehmals, da al - les in ſeiner Seele zur Empfindung wurde, ſeinen Bey - fall zu leicht uͤberraſchen ließ; fand izt, ſeitdem er mit kaͤlterm Blute philoſophierte, beynahe alles zweifelhaft; die Zahl der menſchlichen Begriffe und Meynungen, welche die Probe einer ruhigen, gleichguͤltigen und ge - nauen Pruͤfung aushielten, wurde alle Tage kleiner fuͤr ihn; die Syſteme der dogmatiſchen Weiſen verſchwanden nach und nach, und zerfloſſen vor den Stralen der pruͤ - fenden Vernunft, wie die Luft-Schloͤſſer und Zauber - Gaͤrten, welche wir zuweilen an Sommer-Morgen im duͤftigen Gewoͤlke zu ſehen glauben, vor der aufgehenden Sonne. Der weiſe Archytas billigte den beſcheidnen Scepticiſmus ſeines Freundes; aber indem er ihn von allzukuͤhnen Reiſen im Lande der Jdeen zu den wenigeneinfaͤl -331Eilftes Buch, viertes Capitel. einfaͤltigen, aber deſto ſchaͤzbarern Wahrheiten zuruͤk - fuͤhrte, welche der Leitfaden zu ſeyn ſcheinen, an wel - chem uns der allgemeine Vater der Weſen durch dieſen Labyrinth des Lebens ſicher hindurchfuͤhren will ‒ ‒ ver - wahrte er ihn vor dieſer gaͤnzlichen Ungewißheit des Geiſtes, welche eine eben ſo groſſe Unentſchloſſenheit und Muthloſigkeit des Willens nach ſich zieht, und dadurch eine Quelle ſo vieler ſchaͤdlicher Folgen fuͤr die Tugend und Religion, und alſo fuͤr die Ruhe und Gluͤkſeligkeit unſers Lebens wird, daß der Zuſtand des bezauberte - ſten Enthuſiaſten dem Zuſtand eines ſolchen Weiſen vor - zuziehen iſt, der aus immerwaͤhrender Furcht zu irren, ſich endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu ver - neinen getraut. Jn der That gleicht die Vernunft in dieſem Stuͤk ein wenig dem Doctor Peter Rezio von Aguero; ſie hat gegen alles, womit unſre Seele ge - naͤhrt werden ſoll, ſoviel einzuwenden, daß dieſe end - lich eben ſowol aus Jnanition verſchmachten muͤßte, wie die ungluͤklichen Statthalter der Jnſel Barataria bey der Diaͤt, wozu ſie das verwuͤnſchte Staͤbchen ihres allzuſcrupuloſen Leibarztes verurtheilte. Das beſte iſt in dieſem Falle, ſich wie Sancho zu helfen. Der Jn - ſtinct und dieſes am wenigſten betruͤgliche Gefuͤhl des Wahren und Guten, welches die Natur allen Men - ſchen zugetheilt hat, koͤnnen uns am beſten ſagen, woran wir uns halten ſollen; und dahin muͤſſen, fruͤher oder ſpaͤter, die groͤſſeſten Geiſter zuruͤkkommen, wenn ſie nicht das Schikſal haben wollen, wie die Taube des Altvaters Noah allenthalben herumzuflattern und nir - gends Ruhe zu finden.
Bey332Agathon.Bey allen dieſen manchfaltigen Beſchaͤftigungen, wo - mit unſer ehmaliger Held ſeine Muſſe zu ſeinem eigenen Vortheil erfuͤllte, blieben ihm doch viele Stunden uͤbrig, welche der Freundſchaft und dem geſelligen Ver - gnuͤgen gewiedmet waren ‒ ‒ und fuͤr ſeine Ruhe nur allzuviele, in denen eine Art von zaͤrtlicher Schwer - muth, deren er ſich nicht erwehren konnte, ſeine Seele in die bezauberten Gegenden zuruͤkfuͤhrte, deren wir im vorigen Capitel ſchon Erwaͤhnung gethan haben. Jn einer ſolchen Gemuͤths-Diſpoſition liebt man vorzuͤglich den Aufenthalt auf dem Lande, wo man Gelegenheit hat, ſeinen Gedanken ungeſtoͤrter nachzuhaͤngen, als unter den Pflichten und Zerſtreuungen des geſelligern Stadt-Lebens. Agathon zog ſich alſo oͤfters in ein Land - gut zuruͤk, welches ſein Bruder Critolaus, ungefehr zwo Stunden von Tarent beſaß, und wo er ſich in ſeiner Geſellſchaft zuweilen mit der Jagd beluſtigte. Hier geſchah es einsmals, daß ſie von einem Ungewit - ter uͤberraſcht wurden, welches wenigſtens ſo heftig war, als dasjenige, wodurch, auf Veranſtaltung zwoer Goͤttinnen, Aeneas und Dido in die nehmliche Hoͤle zuſammengeſcheucht wurden ‒ ‒
Aber da zeigte ſich nirgends keine wirthſchaftliche Hoͤle, welche ihnen einigen Schirm angeboten haͤtte; und das ſchlimmſte war, daß ſie ſich von ihren Leuten verlohren hatten, und eine geraume Zeit nicht wußten, wo ſie waren; ein Zufall, der an ſich ſelbſt wenig auſſer - ordentliches hat, aber wie man ſehen wird, eines dergluͤk -333Eilftes Buch, viertes Capitel. gluͤklichſten Abentheuer veranlaſſete, das unſerm Hel - den jemals zugeſtoſſen iſt. Nachdem ſie ſich endlich aus dem Walde herausgefunden hatten, erkannte Critolaus die Gegend wieder; aber er ſah zugleich, daß ſie et - liche Stunden weit von Haus entfernt waren. Das Ungewitter wuͤthete noch immer fort, und es fand ſich kein naͤherer Ort, wohin ſie ihre Zuflucht nehmen konn - ten, als ein einſames Landhaus, welches ſeit mehr als einem Jahr von einer fremden Dame von ſehr ſonder - barem Character bewohnt wurde. Man vermuthete aus einigen Umſtaͤnden, daß ſie die Wittwe eines Man - nes von Anſehen und Vermoͤgen ſeyn muͤſſe; aber es war bisher unmoͤglich geweſen, ihren Namen und vori - gen Aufenthalt, oder was ſie bewogen haben koͤnnte, ihn zu veraͤndern, und in einer gaͤnzlichen Abgeſchieden - heit von der Welt zu leben, auszuforſchen. Das Ge - ruͤchte ſagte Wunder von ihrer Schoͤnheit; indeſſen war doch niemand der ſich ruͤhmen konnte, ſie geſehen zu haben. Ueberhaupt hatte man eine Zeit lang vieles und deſto mehr von ihr geſprochen, je weniger man wußte; allein da ſie feſt entſchloſſen ſchien, ſich nichts darum zu bekuͤmmern; ſo hatte man endlich auf ein - mal aufgehoͤrt von ihr zu reden, und es der Zeit uͤber - laſſen, das Geheimniß, das unter dieſer Perſon und ihrer ſonderbaren Lebens-Art verborgen ſeyn moͤchte, zu entdeken. Vielleicht, ſagte Critolaus, iſt es eine zweyte Artemiſia, die ſich, ihrem Schmerz ungeſtoͤrt nachzuhaͤn - gen, in dieſer Einoͤde lebendig begraben will. Jch bin ſchon lange begierig geweſen ſie zu ſehen; dieſerSturm334Agathon. Sturm hof’ ich, ſoll uns Gelegenheit dazu geben. Sie kan uns eine Zuflucht in ihrem Hauſe nicht verſagen; und wenn wir nur einmal drinnen ſind, ſo wollen wir wol Mittel finden, vor ſie zu kommen, ob wir gleich die erſten in dieſer Gegend waͤren, denen dieſes Gluͤk zu Theil wuͤrde. Man kann ſich leicht vorſtellen, daß Agathon, ſo gleichguͤltig er auch ſeit ſeiner Entfernung von der ſchoͤnen Danae gegen die Damen war, den - noch begierig werden mußte, eine ſo auſſerordentliche Perſon kennen zu lernen. Sie kamen vor dem aͤuſſer - ſten Thor eines Hauſes an, welches einem verwuͤnſch - ten Schloſſe aͤhnlicher ſah, als einem Landhauſe in Joniſchem oder Corinthiſchem Geſchmake. Das ſchlimme Wetter, ihr anhaltendes Bitten, und vielleicht auch ihre gute Mine brachte zuwegen, daß ſie eingelaſſen wurden. Einige alte Sclaven fuͤhrten ſie in einen Saal, wo man ſie mit vieler Freundlichkeit noͤthigte, alle die kleinen Dienſte anzunehmen, welche ſie in dem Zuſtande, worinn ſie waren, noͤthig hatten. Die Figur dieſer Fremden ſchien die Leute des Hauſes in Verwund - rung zu ſezen, und die Meynung von ihnen zu erweken, daß es Perſonen von Bedeutung ſeyn muͤßten; aber Agathon, deſſen Aufmerkſamkeit bald durch einige Ge - maͤhlde angezogen wurde, womit der Saal ausgeziert war, wurde nicht gewahr, daß er von einer Sclavin mit noch weit groͤſſerer Aufmerkſamkeit betrachtet wurde. Dieſe Sclavin, (wie Critolaus in der Folge erzaͤhlte, denn anfangs hielt er’s bloß fuͤr eine Wuͤrkung der Schoͤn - heit unſers Helden) ſchien einer Perſon gleich zu ſehen, welche nicht weiß, ob ſie ihren Augen trauen ſoll; undnachdem335Eilftes Buch, viertes Capitel. nachdem ſie ihn einige Minuten mit verſchlingenden Bli - ken angeſtarrt hatte, verlohr ſie ſich auf einmal aus dem Saal. Sie lief ſo haſtig dem Zimmer ihrer Gebieterin zu, daß ſie ganz auſſer Athem kam. Und wer mey - nen ſie wol, gnaͤdige Frau, keuchte ſie, daß unten im Saal iſt? Hat es ihnen ihr Herz nicht ſchon geſagt? ‒ ‒ Diana ſey mir gnaͤdig! Was fuͤr ein Zufall das iſt! Wer haͤtte ſich das nur im Traum einbilden koͤnnen? Jch weiß vor Erſtaunen nicht wo ich bin ‒ ‒ Jn der That daͤucht mich, du biſt nicht recht bey Sinnen, ſagte die Dame ein wenig betroffen; und wer iſt denn un - ten im Saal? ‒ ‒ O! bey den Goͤttinnen! ich haͤtte es bey nahe meinen eignen Augen nicht geglaubt ‒ ‒ aber ich erkannte ihn auf den erſten Blik, ob er gleich ein wenig ſtaͤrker worden iſt; es iſt nichts gewiſſer ‒ ‒ er iſt es, er iſt es! ‒ ‒ Plage mich nicht laͤnger mit deinem geheimnißvollen Galimathias, rief die Dame, immer mehr beſtuͤrzt; rede Naͤrrin, wer iſt es? ‒ ‒ Aber ſie errathen doch auch gar nichts, gnaͤdige Frau ‒ ‒ wer iſt es? ‒ ‒ Jch ſage ihnen, daß Agathon unten im Saal iſt, ja Agathon, es kan nichts gewiſſer ſeyn ‒ ‒ er ſelbſt, oder ſein Geiſt, eines von beyden unfehlbar, denn die Mutter die ihn gebohren hat, kan ihn nicht beſſer kennen, als ich ihn erkannt habe, ſobald er den Mantel von ſich warf, worinn er anfangs eingewikelt war ‒ ‒ Das gute Maͤdchen wuͤrde noch laͤnger in die - ſem Ton fortgeplaudert haben, denn ihr Herz uͤberfloß von Freude ‒ ‒ wenn ſie nicht auf einmal wahrgenom - men haͤtte, daß ihre Gebieterin ohnmaͤchtig auf ihren Sopha zuruͤkgeſunken war. Sie hatte einige Muͤhe ſiewieder336Agathon. wieder zu ſich ſelbſt zu bringen; endlich erhohlte ſich die ſchoͤne Dame wieder, aber nur, um uͤber ſich ſelbſt zu zoͤrnen, daß ſie ſich ſo empfindlich fand. Sie machen einem ja ganz bange, Madam, rief die Sclavin ‒ ‒ wenn ſie ſchon bey ſeinem bloſſen Namen in Ohnmacht fallen, wie wird es ihnen erſt werden, wenn ſie ihn ſelbſt ſehen? ‒ ‒ Soll ich gehen, und ihn geſchwinde her - aufhohlen? ‒ ‒ Jhn heraufhohlen? verſezte die Dame; nein wahrhaftig; ich will ihn nicht ſehen! ‒ ‒ Sie wol - len ihn nicht ſehen, Madam? Was fuͤr ein Einfall! Aber es kan nicht ihr Ernſt ſeyn! O! wenn ſie ihn nur ſe - hen ſollten ‒ ‒ er iſt ſo ſchoͤn ‒ ‒ ſo ſchoͤn als er noch nie geweſen iſt, daͤucht mich; ich haͤtte ihn mit den Augen aufeſſen moͤgen; ſie muͤſſen ihn ſehen, Madam ‒ ‒ das waͤre ja unverantwortlich, wenn ſie ihn wieder fortge - hen laſſen wollten, ohne daß er ſie geſehen haͤtte ‒ ‒ wofuͤr haͤtten ſie ſich dann ‒ ‒ Schweige, nichts weiter, rief die Dame; verlaß mich ‒ ‒ aber unterſteh dich nicht wieder in den Saal hinunter zu gehen; wenn er es iſt, ſo will ich nicht, daß er dich erkennen ſoll; ich hoffe doch nicht, daß du mich ſchon verrathen haben ſoll - teſt? ‒ ‒ Nein, Madam, erwiederte die Vertraute; er hat mich noch nicht wahrgenommen, denn er ſchien ganz in die Betrachtung der Gemaͤhlde vertieft, und mich daͤuchte, ich hoͤrte ihn ein oder zweymal ſeufzen; vermuthlich ‒ ‒ Du biſt nicht klug, fiel ihr die Dame ins Wort; verlaß mich ‒ ‒ ich will ihn nicht ſehen, und er ſoll nicht wiſſen, in weſſen Hauſe er iſt; wenn er’s erfaͤhrt, ſo haſt du eine Freundin verlohren ‒ ‒ die Sclavin entfernte ſich alſo, in Hofnung, daß ihreGebie -337Eilftes Buch, viertes Capitel. Gebieterin ſich wol eines beſſern beſinnen wuͤrde, und ‒ ‒ die ſchoͤne Danae blieb alleiu.
Eine Erzaͤhlung alles deſſen, was in ihrem Gemuͤthe vorgieng, wuͤrde etliche Bogen ausfuͤllen, ob es gleich weniger Zeit als ſechs Minuten einnahm. ‒ ‒ Was fuͤr ein Streit! Was fuͤr ein Getuͤmmel von widerwaͤrti - gen Bewegungen! Sie hatte ihn bis auf dieſen Augen - blik ſo zaͤrtlich geliebt ‒ ‒ und glaubte izt zu fuͤhlen, daß ſie ihn haſſe ‒ ‒ Sie fuͤrchtete ſich vor ſeinem Anblik ‒ ‒ und konnte ihn kaum erwarten. Was haͤtte ſie vor einer Stunde gegeben, dieſen Agathon zu ſehen, der, auch undankbar, auch ungetreu, uͤber ihre ganze Seele herrſchte; deſſen Verluſt ihr alle Vorzuͤge ihres ehmali - gen Zuſtandes, den Aufenthalt zu Smyrna, ihre Freunde, ihre Reichthuͤmer, unertraͤglich gemacht hatte ‒ ‒ deſſen Bild, mit allen den zauberiſchen Erinnerungen ihrer ehmaligen Gluͤkſeligkeit, das einzige Gut, das einzige Vergnuͤgen war, welches ſie noch zu empfinden faͤhig war. Aber nun da ſie wußte, daß es in ihrer Gewalt war, ihn wieder zu ſehen, wachte auf einmal ihr ganzer Stolz auf, und ſchien etliche Augenblike ſich nicht entſchlieſſen zu koͤnnen ihm zu vergeben Und wenn auch einen Augenblik darauf die Liebe wieder die Ober - hand erhielt; ſo ſtuͤrzte ſie die Furcht, ihn unempfind - lich zu finden, ſogleich wieder in die vorige Verlegen - heit. Zu allem dieſem kam noch eine andre Betrach - tung, welche vielleicht bey der ſchoͤnen Danae allzuſpiz - fuͤndig ſcheinen koͤnnte, wenn wir nicht zu ihrer Recht - fertigung ſagen muͤßten, daß die Flucht unſers Helden,[Agath. II. Th.] Ydie338Agathon. die Entdekung der Urſachen, welche ihn zu einem ſo gewaltſamen Entſchluß getrieben, der Gedanke daß ihre eigene Fehltritte ſie in den Augen des einzigen Man - nes, den ſie jemals geliebt hatte, veraͤchtlich gemacht ‒ ‒ eine Veraͤnderung in ihrer ganzen Denkens-Art hervor - gebracht hatte, wozu ſie durch den Umgang mit Agathon und jene Seelen-Miſchung, wovon wir bereits im fuͤnf - ten Buche geſprochen haben, vorbereitet worden war. Danae ließ ſich durch die Vorwuͤrfe, welche ſie ſich ſelbſt zu machen hatte, und von denen vielleicht ein guter Theil auf ihre Umſtaͤnde fiel, nicht von dem edeln Vor - ſaz abſchreken, ſich in einem Alter, wo dieſer Vorſaz noch ein Verdienſt in ſich ſchloß der Tugend zu widmen. Jn der That hatte eine Art von verliebter Verzweif - lung den groͤſſeſten Antheil an dem auſſerordentlichen Schritt, ſich aus einer Welt, worinn ſie angebetet wurde, freywillig in eine Einoͤde zu verbannen, wo die Freyheit, ſich mit ihren Empfindungen zu unter - halten, das einzige Bergnuͤgen war, welches ſie fuͤr den Verluſt alles deſſen, was ſie aufopferte, entſchaͤdi - gen mußte. Aber es gehoͤrte doch eine groſſe, und zur Tugend gebildete Seele dazu, um in den glaͤnzenden Umſtaͤnden, worinn ſie lebte, einer ſolchen Verzweif - lung faͤhig zu ſeyn, und in einem Vorſaz auszuhalten, unter welchem eine jede ſchwaͤchere Seele gar bald haͤtte erliegen muͤſſen. Waͤre Danae nur wolluͤſtig ge - weſen, ſo wuͤrde ſie zu Smyrna, und allenthalben Ge - legenheit genug gefunden haben, ſich wegen des Ver - luſts ihres Liebhabers zu troͤſten. Aber ihre Liebe war,wie339Eilftes Buch, viertes Capitel. wie man ſich vielleicht noch erinnern wird, von einer edlern Art, und ſo nahe mit der Liebe der Tugend ſelbſt verwandt, daß wir Urſache haben, zu vermuthen, daß in der gaͤnzlichen Abgeſchiedenheit, worinn unſre Heldin lebte, jene ſich endlich gaͤnzlich in dieſer verloh - ren haben wuͤrde. Allein eben darum, weil ihre Liebe zur Tugend aufrichtig war, machte ſie ſich ein gerech - tes Bedenken, bey dem Bewuſtfeyn der unfreywilligen Schwachheit ihres Herzens fuͤr den allzuliebenswuͤrdigen Agathon, ſich der Gefahr auszuſezen, durch eine nur allzumoͤgliche Wiederkehr ſeiner ehmaligen Empfindun - gen mit dahin geriſſen zu werden; ein Gedanke, der ohne eine uͤbertriebne Meynung von ihren Reizungen zu haben, in ihr entſtehen konnte, und durch das Miß - trauen in ſich ſelbſt, womit die wahre Tugend allezeit begleitet iſt, kein geringes Gewicht erhalten mußte. Solchergeſtalt kaͤmpften Liebe, Stolz und Tugend fuͤr und wider das Verlangen, den Agathon zu ſehen, in ihrem unſchluͤſſigen Herzen ‒ ‒ mit welchem Erfolg laͤßt ſich leicht errathen. Die Liebe muͤßte nicht Liebe ſeyn, wenn ſie nicht Mittel faͤnde, den Stolz und die Tugend ſelbſt endlich auf ihre Seite zu bringen. Sie floͤßte jenem die Begierde ein, zu ſehen wie ſich Agathon hal - ten wuͤrde, wenn er ſo ploͤzlich und unerwartet der einſt ſo ſehr geliebten, und ſo grauſam beleidigten Danae un - ter die Augen kaͤme; und munterte dieſe auf, ſich ſelbſt Staͤrke genug zu zutrauen, von den Entzuͤkungen, in welche er vielleicht bey dieſem Anblik gerathen moͤchte, nicht zu ſehr geruͤhrt zu werden. Kurz; der Erfolg die -Y 2ſes340Agathon. ſes innerlichen Streites war, daß ſie eben im Begrif war, ihre Vertraute (die einzige Perſon, welche ſie bey ihrer Entfernung von Smyrna mit ſich genommen hatte) hereinzuruffen, um ihr die noͤthige Verhaltungs - Befehle zu geben; als dieſe Sclavin ſelbſt hereintrat, und ihrer Dame ſagte, daß die beyden Fremden durch einen von den Sclaven, von denen ſie bedient worden waren, auf eine ſehr dringende Art um die Erlaubniß anhalten lieſſen, vor die Frau des Hauſes gelaſſen zu werden ‒ ‒ Neue Unentſchloſſenheit, uͤber welche ſich niemand wundern wird, der das weibliche Herz kennt. Jn der That klopfte der guten Danae das ihrige in dieſem Augenblik ſo ſtark, daß ſie noͤthig hatte, ſich vorher in eine ruhigere Verfaſſung zu ſezen, ehe ſie es einer ſo ſchweren Probe auszuſtellen ſich getrauen durfte.
Unterdeſſen, bis dieſe ſchoͤne Dame mit ſich ſelbſt einig wird, wozu ſie ſich entſchlieſſen, und wie ſie ſich bey einer ſo erwuͤnſchten, und ſo gefuͤrchteten Zuſam - menkunft verhalten wolle, kehren wir einen Augenblik zu unſerm Helden in den Saal zuruͤk. Je mehr Aga - thon die Gemaͤhlde betrachtete, womit die Waͤnde deſ - ſelben behaͤnget waren, je lebhafter wurde die Einbil - dung, daß er ſie in dem Landhauſe der Danae zu Smyrna geſehen habe. Allein er konnte ſich ſo wenig vorſtellen, wie ſie von dem Orte, wo er ſie vor zweyen Jahren geſehen haͤtte, hieher gekommen ſeyn ſollten, daß er fuͤr weniger unmoͤglich hielt, von ſeiner Ein - bildung betrogen zu werden. Zudem konnte ja dernehm -341Eilftes Buch, viertes Capitel. nehmliche Meiſter unterſchiedliche Copien von ſeinen Stuͤken gemacht haben. Aber wenn er wieder die Augen auf ein Stuͤk heftete, welches die Goͤttin Luna vor - ſtellte, wie ſie mit Augen der Liebe den ſchlafenden Endymion betrachtet ‒ ‒ ſo glaubte er es ſo gewiß fuͤr das nehmliche zu erkennen, vor welchem er in einem Garten-Saal der Danae zu Smyrna oft Viertelſtunden lang in bewundernder Entzuͤkung geſtanden, daß es ihm unmoͤglich war, ſeiner Ueberzeugung zu widerſtehen. Die Verwirrung, in die er dadurch geſezt wurde, iſt un - beſchreiblich ‒ ‒ Sollte Danae ‒ ‒ aber wie koͤnnte das moͤglich ſeyn? ‒ ‒ Und doch ſchien alles das Sonderbare, was ihm Critolaus von der Dame dieſes Hauſes geſagt hatte, den Gedanken zu bekraͤftigen, der in ihm aufſtieg, und den er ſich kaum auszudenken getrauete. Die ſchoͤne Danae haͤtte zufrieden ſeyn koͤnnen, wenn ſie geſehen haͤtte, was in ſeinem Herzen vorgieng. Er haͤtte nicht erſchrokner ſeyn koͤnnen, vor das Antliz einer beleidig - ten Gottheit zu treten, als er es vor dem Gedanken war, ſich dieſer Danae darzuſtellen, welche er ſeit ge - raumer Zeit gewohnt war, ſich wieder ſo unſchuldig vorzuſtellen, als ſie ihm damals, da er ſie verließ, veraͤchtlich und haſſenswuͤrdig ſchien. Allein das Ver - langen ſie zu ſehen, verſchlang endlich alle andre Empfin - dungen, von denen ſein Herz erſchuͤttert wurde. Seine Unruhe war ſo ſichtbar, daß Critolaus ſie bemerken mußte. Agathon wuͤrde beſſer gethan haben, ihm die Urſache davon zu entdeken; aber er that es nicht, und behalf ſich mit der allgemeinen Ausflucht, daß ihm nichtY 3wol342Agathon. wol ſey. Dem ungeachtet bezeugte er ein ſo ungedul - diges Verlangen, die Dame des Hauſes zu ſehen, daß Critolaus aus allem was er an ihm wahrnahm, zu muthmaſſen anfieng, daß irgend ein Geheimniß darun - ter verborgen feyn muͤſſe, deſſen Entwiklung er begierig erwartete. Jnzwiſchen kam der Sclave, den ſie abge - ſchikt hatten, ſie bey ſeiner Gebieterin zu melden, mit der Antwort zuruͤk, daß er Beſehl habe ſie in ihr Zim - mer zufuͤhren. Und hier iſt es, wo wir mehr als jemals zu wuͤnſchen verſucht ſind, daß dieſes Buch von niemand geleſen werden moͤchte, der keine ſchoͤnen See - len glaubt. Die Situation, worinn man unſern Hel - den in wenigen Augenbliken ſehen wird, iſt vielleicht eine von den delicateſten, in welche man in ſeinem Leben kommen kan. Waͤre hier die Rede von ſolchen phantaſierten Charactern, wie diejenige, welche aus dem Gehirn der Verfaſſerin der geheimen Geſchichte von Burgund, und der Koͤnigin von Navarra hervor - gegangen ſind, ſo wuͤrden wir uns kaum in einer klei - nern Verlegenheit befinden, als Agathon ſelbſt, da er mit pochendem Herzen und ſchwerathmender Bruſt dem Sclaven folgte, der ihn ins Vorgemach einer Unbe - kannten fuͤhrte, von der er faſt mit gleicher Heftigkeit wuͤnſchte und fuͤrchtete, daß es Danae ſeyn moͤchte. Allein da Agathon und Danae ſo gut hiſtoriſche Per - ſonen ſind als Brutus, Portia, und hundert andre, welche darum nicht weniger exiſtiert haben, weil ſie nicht gerade ſo dachten, und handelten wie gewoͤhnliche Leute: So bekuͤmmern wir uns wenig, wie dieſer Aga -thon343Eilftes Buch, viertes Capitel. thon und dieſe Danae, vermoͤge der moraliſchen Be - griffe des einen oder andern, der uͤber dieſes Buch gut oder uͤbel urtheilen wird, haͤtten handeln ſollen, oder gehandelt haben wuͤrden, wenn ſie nicht geweſen waͤren, was ſie waren. Das Recht zu urtheilen kann und ſoll niemandem ſtreitig gemacht werden; unſre Pflicht iſt zu erzaͤhlen, nicht zu dichten; und wir koͤnnen nichts da - fuͤr, wenn Agathon bey dieſer Gelegenheit ſich nicht weiſe und heldenmaͤſſig genug, um die Hochachtung ſtrenger Sittenrichter zu verdienen, verhalten; oder wenn Danae die Rechte des weiblichen Stolzes nicht ſo gut behaupten ſollte, als viele andre, welche dem Him - mel danken, daß ſie keine Danaen ſind, an ihrem Plaze gethan haben wuͤrden.
Die ſchoͤne Danae erwartete, auf ihrem Sopha ſtzend, den Beſuch, den ſie bekommen ſollte, mit ſo vie - ler Staͤrke als eine weibliche Seele nur immer zu haben faͤhig ſeyn mag, welche zugleich ſo zaͤrtlich und lebhaft iſt, als eine ſolche Seele ſeyn kann ‒. Ob es wol weib - liche Seelen giebt? ‒ ‒ O mein Herr, ich ſagte ihnen ja, daß der lezte Theil dieſes Capitels nicht fuͤr ſie ge - ſchrieben ſey ‒ ‒ Sie moͤgen vielleicht uͤberall in Zweifel ziehen, ob die Weiber Seelen haben; denn wenn ſie Seelen haben, ſo ſind es weibliche Seelen, der Him - mel bewahre uns vor den Pentheſileen und Maͤnninnen, an denen nichts als die Figur weiblich iſt! ‒ ‒ Doch daruͤber wollen wir izt nicht ſtreiten. Danae erwartete alſo den Anblik ihres Fluͤchtlings mit ziemlicher Stand -Y 4haftigkeit;344Agathon. haftigkeit; aber was in ihrem Herzen vorgieng, moͤgen unſre zaͤrtlichen Leſerinnen, welche faͤhig ſind, ſich an ihre Stelle zu ſezen, in ihrem eigenen Herzen leſen. Sie wußte, daß Agathon einen Gefaͤhrten hatte, und dieſer Umſtand kam ihr zu ſtatten; aber Agathon be - fand ſich wenig dadurch erleichtert. Die Thuͤre des Vor - zimmers wurde ihnen von der Sclavin eroͤfnet ‒ ‒ er er - kannte beym erſten Anblik die Vertraute ſeiner Gelieb - ten, und nun konnte er nicht mehr zweifeln, daß die Dame, die er in einigen Augenbliken ſehen wuͤrde, Danae ſey. Er rafte ſeinen ganzen Muth zuſammen, indem er zitternd hinter ſeinem Freunde Critolaus fort - wankte ‒ ‒ Er ſah ſie, wollte auf ſie zugehen, konnte nicht, heftete ſeine Augen auf ſie, und ſank, vom Ueber - maß ſeiner Empfindlichkeit uͤberwaͤltiget, in die Arme ſeines Freundes zuruͤk. Auf einmal vergaß die ſchoͤne Danae alle die groſſen Entſchlieſſungen von Gelaſſen - heit und Zuruͤkhaltung, welche ſie mit ſo vieler Muͤhe gefaßt hatte. Sie lief in zaͤrtlicher Beſtuͤrzung auf ihn zu, nahm ihn in ihre Arme, ließ dem ganzen Strom ihrer Empfindung den Lauf, und dachte nicht daran, daß ſie einen Zeugen davon hatte, der uͤber alles was er ſah und hoͤrte, erſtaunt ſeyn mußte. Allein die Guͤte ſeines Herzens, und dieſe Sympathie, welche ſchoͤne Seelen in wenigen Augenbliken vertraut mit einander macht, gab ihm in einer Situation, auf die er ſich ſo wenig hatte gefaßt machen koͤnnen, gerade die nehm - liche Art des Betragens ein, die er haͤtte haben koͤn - nen, wenn er ſchon von Jahren her ihr Vertrauter ge -weſen345Eilftes Buch, viertes Capitel. weſen waͤre. Er trug ſeinen Freund auf den Sopha, auf welchen ſich Danae neben ihn hinwarf, und da er nun ſchon genug wußte, um zu ſehen, daß er hier wei - ter nichts helfen konnte, ſo entfernte er ſich unver - merkt weit genug, um unſre Liebenden von dem Zwang einer Zuruͤkhaltung zu entledigen, welche in ſo ſonder - baren Augenbliken ein groͤſſeres Uebel iſt, als die un - empfindlichen Leute ſich vorſtellen koͤnnen. Allmaͤhlich bekam Agathon, an der Seite der gefuͤhlvollen Danae, und von einem ihrer ſchoͤnen Arme umſchlungen, das Vermoͤgen zu athmen wieder; ſein Geſtcht ruhte an ihrem Buſen, und die Thraͤnen, welche ihn zu benezen anfiengen, waren das erſte, was ihr ſeine wiederkeh - rende Empfindung anzeigte. Jhre erſte Bewegung war, ſich von ihm zuruͤkzuziehen; aber ihr Herz verſagte ihr die Kraft dazu; es ſagte ihr, was in dem ſeinigen vor - gieng, und ſie hatte den Muth nicht, ihm eine Lind - rung zu entziehen, welche er ſo noͤthig zu haben ſchien, und in der That noͤthig hatte. Allein in wenigen Augen - bliken machte er ſich ſelbſt den Vorwurf, daß er einer ſo groſſen Guͤtigkeit unwuͤrdig ſey ‒ ‒ er rafte ſich auf, warf ſich zu ihren Fuͤſſen, umfaßte ihre Knie mit einer Empfindung, welche mit Worten nicht ausgedruͤkt wer - den kann, verſuchte es ſie anzuſehen, und ſank, weil er ihren Anblik nicht auszuhalten vermochte, mit Thraͤnen beſchwemmtem Geſicht, auf ihren Schooß nieder. Danae konnte nun nicht zweifeln, daß ſie geliebt werde, und es koſtete ſie, die Entzuͤkung zuruͤkzuhalten, worinn ſie durch dieſe Gewißheit geſezt wurde; aber es war noth -Y 5wendig,346Agathon. wendig, dieſer allzuzaͤrtlichen Scene ein Ende zu machen. Agathon konnte noch nicht reden ‒ ‒ und was haͤtte er reden ſollen? ‒ ‒ Jch bin zufrieden, Agathon, ſagte ſie mit einer Stimme, welche wider ihren Willen verrieth, wie ſchwer es ihr wurde, ihre Thraͤnen zuruͤkzuhal - ten ‒ ‒ Jch bin zufrieden ‒ ‒ du findeſt eine Freundin wieder ‒ ‒ und ich hoffe du werdeſt ſie kuͤnftig deiner Hochachtung weniger unwuͤrdig finden, als jemals ‒ ‒ Keine Entſchuldigungen mein Freund, (denn Agathon wollte etwas ſagen, das einer Entſchuldigung gleich ſah, und woraus er ſich in der heftigen Bewegung, worinn er war, ſchwerlich zu ſeinem Vortheil gezogen haͤtte) du wirſt keine Vorwuͤrfe von mir hoͤren ‒ ‒ wir wollen uns des Vergangenen nur erinnern, um das Vergnuͤgen eines ſo unverhoften Wiederſehens deſto voll - kom̃mer zu genieſſen ‒ ‒ Großmuͤthige, goͤttliche Danae! rief Agathon in einer Entzuͤkung von Dankbarkeit und Liebe ‒ ‒ Keine Beywoͤrter, Agathon, unterbrach ihn Danae, keine Schwaͤrmerey! Du biſt zu ſehr geruͤhrt; beruhige dich ‒ ‒ wir werden Zeit genug haben, uns von allem, was ſeitdem wir uns zum lezten mal geſehen haben, vorgegangen iſt, Rechenſchaft zu geben ‒ ‒ Laß mich das Vergnuͤgen dich wieder gefunden zu haben un - vermiſcht genieſſen; es iſt das erſte, das mir ſeit zweyen Jahren zu Theil wird.
Mit dieſen Worten (und in der That haͤtte ſie die leztern fuͤr ſich ſelbſt behalten koͤnnen, wenn es moͤg - lich waͤre, immer Meiſter von ſeinem Herzen zu ſeyn) ſtuhnd347Eilftes Buch, viertes Capitel. ſtuhnd ſie auf, naͤherte ſich dem Critolaus, und ließ dem mehr als jemals bezauberten Agathon Zeit, ſich in eine ruhigere Gemuͤthsfaſſung zu ſezen.
Cœtera intus agentur ‒ ‒ Unſere ſchoͤnen Leſerinnen wiſſen nun ſchon genug, um ſich vorſtellen zu koͤnnen, was dieſe zaͤrtliche Scene fuͤr Folgen haben mußte. Danae und Critolaus wurden gar bald gute Freunde. Dieſer junge Mann geſtuhnd, ſeine Pſyche ausgenom - men, nichts vollkommners geſehen zu haben, als Danae; und Danae erfuhr mit vielem Vergnuͤgen, daß Critolaus der Gemahl der ſchoͤnen Pſyche, und Pſyche die wieder - gefundene Schweſter Agathons ſey. Sie hatte nicht viel Muͤhe ihre Gaͤſte zu bereden, das Nachtlager in ihrem Hauſe anzunehmen; unſre Liebenden haͤtten alſo die Schuld ſich ſelbſt beymeſſen muͤſſen, wenn ſie keine Gelegenheit gefunden haͤtten, ſich umſtaͤndlich zu beſpre - chen, und gegen einander zu erklaͤren. Die ſchoͤne Danae meldete ihrem Freunde, daß ſie die Verraͤtherey des Hippias, und die Urſache der heimlichen Entweichung Agathons, bey ihrer Zuruͤkkunft nach Smyrna bald ent - dekt habe. Sie verbarg ihm nicht, daß der Schmerz ihn verlohren zu haben, ſie zu dem ſeltſamen Entſchluß gebracht, der Welt zu entſagen, und in irgend einer entlegenen Einoͤde ſich ſelbſt fuͤr die Schwachheiten und Fehltritte ihres vergangenen Lebens zu beſtraffen; jedoch ſezte ſie hinzu, hoffe ſie, daß wenn ſie einmal Gelegen - heit haben wuͤrde, ihm eine ganz aufrichtige und um - ſtaͤndliche Erzaͤhlung der Geſchichte ihres Herzens bisauf348Agathon. auf die Zeit, da ſein Umgang und die Begeiſtrung, worein ſie durch ihn allein zum erſten mal in ihrem Leben geſezt worden, ihrer Seele wie ein neues Weſen gegeben, zu machen ‒ ‒ er Urſache finden wuͤrde ſie, wo nicht immer zu entſchuldigen, doch mehr zu be - dauren als zu verdammen. Die Furcht, den Gedanken in ihr zu veranlaſſen, als ob ſie durch das was ehmals zwiſchen ihnen vorgegangen war, von ſeiner Hochachtung verlohren haͤtte, zwang unſern Helden eine geraume Zeit, die Lebhaftigkeit ſeiner Empfindungen in ſeinem Herzen zu verſchlieſſen. Danae wurde indeſſen mit der Familie des Archytas bekannt, man mußte ſie lieben, ſobald man ſie ſah; und ſie gewann deſto mehr dabey, je beſſer man ſie kennen lernte. Es war uͤberdieß eine von ihren Gaben, daß ſie ſich ſehr leicht und mit der beſten Art in alle Perſonen, Umſtaͤnde und Lebens-Ar - ten ſchiken konnte. Wie konnte es alſo anders ſeyn, als daß ſie in kurzem durch die zaͤrtlichſte Freundſchaft mit dieſer liebenswuͤrdigen Familie verbunden werden mußte? Selbſt der weiſe Archytas liebte ihre Geſell - ſchaft, und ſie machte ſich ein Vergnuͤgen daraus, einem alten Manne von ſo ſeltnen Verdienſten die Beſchwer - den des hohen Alters durch die Annehmlichkeiten ihres Umgangs erleichtern zu helfen. Aber nichts war der Liebe zu vergleichen, welche Pſyche und Danae einan - der einfloͤßten. Niemalen hat vielleicht unter zwo Frauenzimmern, welche ſo geſchikt waren, Rivalinnen zu ſeyn, eine ſo zaͤrtliche, und vollkommne Freundſchaft geherrſchet. Man kann ſich einbilden, ob Agathon dabeyverlohr.349Eilftes Buch, viertes Capitel. verlohr. Er ſah die ſchoͤne Danae alle Tage; er hatte alle Vorrechte eines Bruders bey ihr ‒ ‒ aber wie ſollte es moͤglich geweſen ſeyn, daß er ſich immer daran be - gnuͤgt haͤtte? ‒ ‒ Es gab Augenblike, wo er, von den Erinnerungen ſeiner ehmaligen Gluͤkſeligkeit berauſcht, ſich die Rechte eines beguͤnſtigten Liebhabers herausneh - men wollte. Aber Danae wurde durch den vertrauten Umgang mit ſo tugendhaften Perſonen, als diejenigen waren, mit denen ſie nunmehr lebte, in ihrer neuen Denkungs-Art ſo ſehr beſtaͤrkt, daß die zaͤrtlichſten Ver - fuͤhrungen der Liebe nichts uͤber ſie erhielten. Jn die - ſem Stuͤke wollte ſie nicht mehr Danae fuͤr ihn ſeyn. Das iſt unwahrſcheinlich, werden die Kenner ſagen; un - wahrſcheinlich, antworte ich, aber moͤglich. Mit einem Worte, Danae bewies durch ihr Exempel, daß es ei - ner Danae moͤglich ſey; und Agathon erfuhr es ſo ſehr, daß Pſyche endlich ſelbſt Mitleiden mit ihm zu haben anfieng. Sie wußte die geheime Geſchichte ihrer Freundin; Danae hatte Tugend genug gehabt, ihr eine aufrichtige Erzaͤhlung davon zu machen. Die Bedenk - lichkeiten ſind leicht zu errathen, welche der Gluͤkſelig - keit dieſer Liebenden, welche ſo ganz fuͤr einander ge - ſchaffen zu ſeyn ſchienen, im Wege ſtuhnd. Aber waren ſie wichtig genug, um ihrentwillen ungluͤklich zu ſeyn? ‒ ‒ Hatte er nicht das Beyſpiel des groſſen Perikles vor ſich? Verdiente Danae nicht in allen Betrachtungen das Schikſal der Aſpaſta? ‒ ‒ Es waͤre uns leicht, unſern Leſern hieruͤber aus dem Wunder zu helfen; aber wir uͤberlaſſen es ihnen zu errathen, was er that ‒ ‒ oder auszumachen, was er haͤtte thun ſollen.
Und nun, nachdem wir in dieſem lezten Buche zu Gunſten unſers Helden alles gethan zu haben glauben, was die zaͤrtlichſten Freunde, die er ſich erworben haben kann, (und wir hoffen, daß er einige haben werde,) nur immer zu ſeinem Beſten wuͤnſchen konnten ‒ ‒ Nach - dem er ſo gluͤklich iſt, als es vielleicht noch kein Sterb - licher geweſen iſt ‒ ‒ oder es doch in ſeiner Gewalt hat, gluͤklich zu ſeyn ‒ ‒ Nun bleibt uns nichts uͤbrig, als unſern Leſern und Leſerinnen, welche Geduld genug ge - habt haben, bis zu dieſem Blatte fortzuleſen ‒ ‒ dafuͤr zu danken ‒ ‒ und ſie zu verſichern, daß es uns ſehr angenehm ſeyn ſollte, wenn ſie ſoviel Geſchmak an dieſer Geſchichte gefunden haͤtten, um ſie noch einmal zu leſen ‒ ‒ und noch angenehmer, wenn ſie weiſer oder beſſer dadurch geworden ſeyn ſollten. Jndeſſen iſt das ihre Sache. Der Herausgeber dieſer Geſchichte ſchmeichelt ſich wenigſtens, (und wer ſchmeichelt ſich nicht?) daß er ihnen viele Gelegenheit zu dem einen und zu dem andern gegeben habe; und wofern der Erfolg ſeiner Erwartung nicht entſprechen ſollte, ſo wird er ſich durch das taͤgliche Beyſpiel ſo vieler tauſend Anſtalten und Bemuͤhungen, welche ihren Zwek verfehlen, bernhi - gen, und mit Horaz, ſich in die Tugend ſeiner Abſicht einwikeln.
Uebrigens351Eilftes Buch, fuͤnftes Capitel.Uebrigens kann er nicht umhin, ſeinen Freunden im Vertrauen zu entdeken, daß ihn das griechiſche Manuſcript, welches er in Handen hat, in den Stand ſezt, noch einige Nachtraͤge oder Zugaben zu der Ge - ſchichte des Agathon zu liefern, welche ihrer Neugier vielleicht nicht unwuͤrdig ſeyn moͤchten. Es iſt zum Exem - pel nicht unmoͤglich, daß ſie begierig ſeyn koͤnnten, das Syſtem des weiſen Archytas genauer zu kennen; oder zu wiſſen, wie Agathon in ſeinem fuͤnfzigſten Jahre uͤber alles was im Himmel und auf Erden ein Gegenſtand unſers Nachforſchens, unſrer Gedanken ‒ ‒ Neigungen ‒ ‒ Wuͤnſche ‒ ‒ oder Traͤume zu ſeyn ver - dient, gedacht habe. Vielleicht moͤchte es ihnen auch nicht unangenehm ſeyn, die Geſchichte der ſchoͤnen Danae (ſo wie ſie den Muth gehabt, ſie dem Agathon zu einer Zeit zu erzaͤhlen, da er nicht mehr ſo enthu - ſiaſtiſch, aber deſto billiger dachte) in einer ausfuͤhrli - chen Erzaͤhlung zu leſen? ‒ ‒ Mit allem dieſem koͤnnten wir dem Verlangen unſrer Freunde ein Genuͤge thun ‒ ‒ wenn wir erſt gewiß davon waͤren, daß ſie ein ſolches Verlangen haͤtten ‒ ‒ und wenn wir einige Urſache fin - den ſollten zu hoffen, daß dem Publico durch dieſe Nachtraͤge nur ein halb ſo groſſer Dienſt geleiſtet wuͤrde, als der franzoͤſiſche Verfaſſer des Tractats von den Nachtigallen (deſſen Helvetius erwaͤhnt) dem menſch - lichen Geſchlechte durch, ſein Buch geleiſtet zu haben glaubte.
ENDE.
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Fraktur
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